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Full text of "Grundbegriffe der kunstwissenschaft am übergang vom altertum zum mittelalter, kritisch erörtert und in systematischem zusammenhange dargestellt"

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GRUNDBEGRIFFE 
DER KUNSTWISSENS(iHAFT 



AM ÜBERGANG VOM ALTERTUM ZUM MITTELALTER 

KRITISCH ERÖRTERT UND IN SYSTEMATISCHEM 

ZUSAMMENHANGE DARGESTELLT 



VON 



AUGUST SCHMARSOW 




I 



1905 
LEIPZIG UND BERLIN 

DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER 



FA do'i'Z 



Harvard College Library 

Gift of 

James Loebj 

May 7, 1909 



ALLE RECHTE, EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN. 



\ 



Vorwort 



Eine kritische Erörterung von Grundbegriffen der Kunstwissen-- 
Schaft in systematischem Zusammenhang will selbstverständlich der 
Allgemeinheit dienen^ die sich auf wissenschaftlichem Wege jeweilen 
um die Erkenntnis der Kunst bemüht. Da scheint es dem höheren 
Zweck der Aufgabe zu widersprechen^ wenn hier die Darlegung an 
eine bestimmte Periode der historischen Entwicklung geknüpft wird. 
Ein einzelner Zeitraum der Kunstgeschichte kann niemals alle Er- 
scheinungen zugleich in vollem Maße darbieten; denn die EntfaU 
tung ist an mancherlei Bedingungen gebunden. Jede Betrachtung^ 
die sich so beschränkt, wird auf den einen oder den anderen Teil 
der begrifflich denkbaren Möglichkeiten verzichtest und die Grund- 
anschauungen aus den verschiedenen Gebieten weder vollzählig vor- 
führen noch erschöpfend behandeln können. Wer aber diesen unleug- 
baren Nachteil in den Kauf nimmt, mag dadurch andererseits sich 
große Vorzüge sichern. Mit den übersehbaren Grenzen gewinnt er 
konkrete Bestimmtheit und gleichartigen Charakter aller Beispiele, 
die unter sich in fühlbarer Verwandtschaft stehen^ eben weil sie durch 
die nämliche Zeit bedingt sind. Auch in reicher Abwandlung werden 
sie ein Ganzes bilden. Gelingt es vollends einen Ausschnitt aus dem 
Gange der Entwicklung vorzunehmen, der auch Gegensätze von durch- 
greifender Art in sich vereinigt, so kann der Gewinn^ der mit jenem 
Verzicht auf Vollständigkeit eingetauscht wird, so stark überwiegen, 
daß kein Historiker zweifeln wird, auch bei dem allgemeinen theore- 
tischen Zweck sich für die Wahl eines solchen bedingten Schau- 
platzes zu entscheiden. Dazu kommt aber in unserem Fall noch ein 
besonderer Grund. 

Die wünschenswerten Eigenschaften finden sich kaum irgendwo 
in solcher Fülle und in solcher vermeintlich unvereinbaren Gegen- 
sätzlichkeit beisammen, als in der Übergangszeit zwischen Altertum 
und Mittelalter^ an deren Verständnis gerade jetzt wieder lebhaft 



a» 



IV Vorwort 

gearbeitet wird. Das Wesen der spätaniiken Kunst zu begreifen, 
ist ein Anliegen, das zu den wichtigsten und entscheidendsten unserer 
Wissenschaft gehört. Ja, es ist, wie ein hochverdienter Forscher 
bekennt, „das einschneidendste Problem in der ganzen bisherigen Ge* 
schichte der Menschheit^* überhaupt}) 

Die Voraussetzung für solch ein allgemein gültiges Ergebnis 
ist aber eine Verständigung über die Grundbegriffe der Kunst' 
Wissenschaft, die uns bei all den fragwürdigen Erscheinungen als 
Maßstab dienen sollen, und über die Terminologie, die bei solcher 
gemeinsamen Forscherarbeit unentbehrlicher wird als sonst irgendwo 
auf getrennten Wegen» Hier, wo es sich um die Übergangszeit vom 
Altertum zum Mittelalter und zu allen folgenden Perioden handelt, 
muß das Einvernehmen über die Grundbegriffe und die kurzgefaßten 
Bezeichnungen wiederkehrender Merkmale zwischen zwei bisher ziem- 
lich weit getrennten Lagern erzielt werden, der klassischen Archäo- 
logie auf der einen und der neueren Kunstgeschichte auf der anderen 
Seite, zwischen denen noch heute fast nur die altchristliche Ikono- 
graphie und die Frage nach der Genesis der altchristlichen Basilika 
zu vermitteln versuchen oder die Zankäpfel hinüber- und herüber- 
werfen. Hier bietet sich also erwünschte Gelegenheit, die längst 
notwendig gewordene Annäherung beider Disziplinen auf andere 
Weise wenigstens anzubahnen. 

Wie ich schon früher versucht habe, zur Verständigung über 
das Wesen der einzelnen Künste und ihres gegenseitigen Verhält- 
nisses beizutragen, wähle ich jetzt ebendeshalb diese Übergangszeit, 
um an ihr die Grundbegriffe der Kunstwissenschaft zu bewähren, 
soweit sie eben für solches Einvernehtnen bei der Losung des spät- 
antiken Problems in Betracht kommen. Bei ihrer kritischen Er- 
örterung schließe ich mich in erster Linie an das großangelegte und 
lehrreiche Werk von Alois Riegl über die „Spätrömische Kunst- 
industrie"* (Wien igoi) an, weil es nach der ausgesprochenen Absicht 
des Verfassers hauptsächlich der Behandlung großer prinzipieller 
Fragen gewidmet ist (S. ijp)- Bisher ist nur der erste Band, der die 
Kunst der führenden Mittelmeervölker behandelt, erschienen. Aber 
wenn es möglich wärCy eine Klärung der Sachlage im weiteren 
Kreise aller Beteiligten zu erreichen, so sollte es alsbald geschehen, 
bevor noch der zweite für die Kunst der neu eintretenden „Barbaren*^ 



i) spätrömisch oder orientalisch r Beilage zur Allgemeinen Zeitung, München 
jgo2, S. ijjff. und 102 ff. 



Vorwort V 

au/gesparte Band abgeschlossen wird; denn die Auffassung dieser 
Träger der Zukunft geht die Erforschung aller folgenden Perioden^ 
besonders aber des Mittelalters so viel näher an und muß auf die 
Weiterentwicklung der Kunstgeschichte im engeren Sinne bestimmen- 
den Einfluß gewinnen. So liegt alles an einer gewissenhaften und 
ehrlichen Prüfung der Anschauungen und Prinzipien, die in Riegls 
Werke walten, — d, h. an einer mühsamen Arbeitsleistung, der sich, 
soviel ich weiß, bisher niemand unterzogen hat. Der vorliegende erste 
Band gliedert sich in vier Abschnitte, in denen die einzelnen Künste 
besprochen werden: Architektur — Skulptur — Malerei — und 
Kunstindustrie. Dem aufmerksamen Leser des Ganzen kann jedoch 
nicht entgehen, daß die Erweiterung über die ursprüngliche, im 
Titel allein bezeichnete Aufgabe hinaus, den große?i prinzipiellen 
Fragen zuliebe erst später hinzugekommen ist, als die Fundamente 
bereits gelegt waren. Auf den Grundstock selbständiger Forschung 
stoßen wir in dem Kapitel über die spätrömische Kunstindustrie, 
das nach der Absicht der Auftraggeber den einzigen Inhalt des 
Buches bilden sollte, andererseits aber in der Abhandlung zur 
Geschichte der Relief kunst, die sich unter dem Gesichtspunkt der 
Flächendekoration am unmittelbarsten an jene Studien anschließt. 
Hier liegen {in II und IV) die wertvollsten Ergebnisse der eigen- 
artigen Untersuchung ausgebreitet, durch die sich Alois Riegl ein 
bleibendes Verdienst erworben hat, wie durch seine frühere Schrift: 
Stilfragen, Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik 
{Berlin i8pj). Im Vergleich mit diesen beiden Bestandteilen treten 
die anderen an Gehalt und Durchführung zurück, wenn die ganze 
Tragweite der Betrachtungsweise für die große Kunst auch in ihnen 
erst einzuleuchten vermag. Das Kapitel über die Malerei, das Re- 
lief kunst und Flächendekoration eigentlich vermitteln sollte, hat, 
nach dem eigenen Bekenntnis des Verfassers, aus äußeren Gründen 
etwas dürftig ausfallen müssen.^) Die statuarische Kunst fehlt 
fast ganz, und wenn dies auch mit dem Mangel an Statuen ifi spät' 
römischer Kunst sich von selber rechtfertigen mag, so wird bei den 
prinzipiellen Fragen doch nicht ohne Rücksicht auf das volle plastische 
Ideal des klassischen Altertums auszukommen sein. Zum letzten ein- 
heitlichen Grunde aller Erklärung läßt sich nicht hindurchdringen, 
wenn die Darstellung des Menschen und damit der lebendige Mensch 
selbst, als schöpferisches wie als genießendes Subjekt, nicht in den 



j) Beilage zur Allg, Zeitung a. a. (?., ^^ i6j. 



VI Vorwort 

Mittelpunkt alles künstlerischen Wesens gestellt wird. Nur so 
ergibt sich auch der durchschlagende Gegensatz zwischen dem klassischen 
Altertum und seinen Vorstufen wie seinen Ausgängen^ nur so mit 
dem Verfall der einen Triebkraft zugleich der Aufstieg der anderen^ 
die^ wieder freigeworden, das Wachstum des Neuen bestimmt. — Zu 
unvermittelte und äußerliche Übertragung der an Kleinkunst und 
Flächenschmuck gewonnenen Gesichtspunkte^) stört in dem Kapitel 
über die Architektur^ der in der Reihe der Künste ,,der Vortritt 
gebührt**^ und im Buche selbst auch eingeräumt wird. In diesem 
ersten Abschnitt vermißt^ wie schon Jos. Strzygowski hervorgehoben 
hat^ der uneingeweihte Leser bei der grundlegenden Einführung 
in die Untersuchungsmethode die Auskunft über die selbstgebildete 
Terminologie des Verfassers und die Motivierung seiner Ausdrucks- 
weise. Oft muß auch der vorbereitete Fachgenosse die authentische 
Interpretation erst in den späteren Kapiteln^ ja im letzten Abschnitte 
suchend) Und im Verfolg treten auch Verschiebungen und Fort- 
schritte^ die sich während der Arbeit an den Teilen herausgebildet 
haben, unverkennbar zutage. Ein Zuwachs neuer Gesichtspunkte 
dringt da und dort herein, wird aber nicht mehr vollkommen ange- 
eignet, noch folgerichtig durchgeführt. 

Der Absatz über die altchristliche Basilika ist nach Riegls An* 
gäbe, im Jahrbuch der K. K. Zentralkommission für Kunst- und 
Historische Denkmale (Bd. I, S. 21 jf) ipoj, vor fünf Jahren, also 
i8g8 niedergeschrieben. Das Kapitel über die Architektur steht 
unter dem frischen Eindruck meiner einleitenden Erörterungen zu 
„Barock und Rokoko'* {Leipzig iSgj) über das Malerische in der 
Baukunst und die Unterschiede des architektonischen, des plastischen 
und des malerischen Standpunktes, der Relief und der Bildan- 
schauung. Auch in den ungemein dankenswerten Beiträgen zur 
Geschichte des Reliefs begrüße ich mit Freuden die Wirkung meines 
folgenden Bändchens über Plastik, Malerei und Reliefkunst {i8gp), 
wo zwischen der abtastenden Nahsicht und dem rein optischen Fern- 
bilde eine Mittelregion des bequemen Sehfeldes anerkannt wird, in 
der sich beide Faktoren ausgleichen {Riegls Normalsicht\ Einen 



1) Z, B. S. so, S7f't ^^o/., ij6. 

2) Beilage %ur AÜg, Ztg. igo2, No. 40 u. 41 „Hellas in des Orients Umarmung*^, 
S) Dort auch wird uns erst vollkommen klar, wie etile Anschauungen Riegls, die von 

der Flächendekoration ausgegangen sind, zu Widersprüchen führen müssen (vgl, a. a, O., 
5. Ji, Anmerkung), wenn die Eigenart der einzelnen Künste und die Besonderheit ihres 
KunstwoUens nicht anerkannt wird. 



Vorwort VII 

besseren Bundesgenossen für die Auffassung tastbarer Körperwerte 
und der kubischen Natur des statuarischen Gebildes , gegenüber 
Adolf Hildebrands Vorliebe für das Fernbild, hätte ich mir gar 
nicht wünschen können, wenn ich auch die Bezeichnung ,,Ebene'* für 
eine stoffliche Oberflächenschicht, die zuweilen schon recht fühlbare 
Dicke oder Tiefe hat, nicht anzunehmen vermag und unter ,fRaum'' 
nicht einfach und überall den ,,Tiefraum*^ im eminenten Sinne ver- 
stehen kann. Das sind gefährliche Abkürzungen , die sich aus Ge- 
wohnheitsausdrücken zu Denkfehlern entwickeln, von einem so ernsten 
Forscher jedoch gewiß schnell wieder abgestoßen werden, sowie die 
Möglichkeit irreführender Mißverständnisse einmal erkannt worden 
ist. Die Übereinstimmung in vielen entscheidenden Hauptsachen, 
die uns verbindet, enthält für mich den Aufruf, in eingehender Ab- 
rechnung darzutun, ob sich bei konsequenter Verwertung meiner ein- 
heitlich durchorganisierten Kunstlehre nicht auf dem eingeschlagenen 
Wege weiter gelangen und der befriedigenden Lösung des spät- 
antiken Problems noch näher kommen ließe. 

Dies wäre freilich nur erreichbar bei Anerkennung der selbstän- 
digen Natur jeder der bildenden Künste im Unterschied von ihren 
Nachbarinnen, auch wenn die durchgehende Gemeinschaft des ein' 
mutigen „Kunstwollens'^ einer Zeit in allen vorausgesetzt wird. Die 
Leugnung eines spezifischen Relief stils kann z, B. nur für eine 
Übergangsperiode gelten, die im Schwanken zwischen plastischer und 
malerischer Anschauung das Bewußtsein eines entschiedenen Willens 
verliert, wie eben die Spätantike. Wenn historisch betrachtet eine 
Verschleifung vorliegt, bleibt doch prinzipiell der Unterschied be- 
stehen und erleichtert die Erkenntnis wie die Charakteristik eben- 
jener Schwankungen und Irrgänge, — In der Architektur kan?t 
uns über die einseitige Bevorzugung des „Monumentalstils'* nur die 
Beachtung des Wohnbaues und seiner Schöpfung, des Bewegungs- 
raumes, hinweghelfen. Wenn nicht die Erfinder, so doch die Ver- 
fechter des „Materialstils** sind auch die beschränktesten Vertreter 
des Monumentalen, d, h. die nämlichen „Kunstmaterialisten'*, gegen 
die Biegt zuweilen in heiligem Zorn erglüht. Dauernd kann er mit 
ihnen au^h auf der anderen Seite nicht gehen wollen. Deshalb 
hoffe ich auf ein baldiges und vollständiges Einvernehmen mit ihm. 

Für die Malerei des ausgehenden Altertums luzbe ich jedoch zur 
Ergänzung auch Franz Wickhoff s Einleitung zur „Wiener GenC' 
sis** {iSps) berücksichtigt, zumal da die abweichenden Ansichten 
Riegls von besonders ausschlaggebender Bedeutung sind, aber auch 



VIII Vorwort 

wohl ZU weit gehen. Wtckhoff^) hat der klassischen Archäologie ohne 
Zweifel einen großen Dienst geleistet^ indem er durch Ausblicke in die 
neuere Kunstgeschichte gerade der vernachlässigten Behandlung der 
Spätantike neues Leben einzuflößen versucht. Aber diese Ausblicke 
wirken gelegentlich auch verwirrend und schweifen vom historischen 
Gange ebendort abj wo strenges Festhalten geboten war* Parallelen 
mit der Kunst des Mittelalters^ der Rcfiaissance und vollends des 
Barock oder der Neuzeit werden in der nachstehenden Erörterung 
grundsätzlich vermieden. Ich bin der Überzeugung^ daß von dem 
^.vollendeten Kreislauf der antiken Kunst'* vorerst besser gar nicht 
geredet wird, und daß die Vergleiche ganzer Perioden hüben und 
drüben mehr Unheil anrichten, als Nutzen bringen. Doch das sind 
Fragen der historischen Darstellung, die kaum in Betracht kommen, 
solange sich noch die Prüfung des gemeinsamen Rüstzeugs als 
dringende Aufgabe herausstellt. 

Bei der begrifflichen Auseinandersetzung muß desto größere 
Umsicht und Genauigkeit zur Anwendung kommen. Oberflächliche 
Leute, die eine eindringliche, doch immer auf positive Errungen- 
Schäften ausgehende Kritik nicht von streitsüchtiger, aber meist un- 
fruchtbarer Polemik zu unterscheiden wissen, viögen das wortgetreue 
Verfahren für peinlich halten. Sachverständige, die gleich uns die 
Zusammenhänge der Erscheinungen tiefer zu erfassen suchen, werden 
begreifen, daß es sowohl dem Autor eines bedeutsamen Werkes wie 
den eigenen Arbeiten des hier mitredenden Verfassers gegenüber 
Pflicht war, die Abrechnung zwischen beiden, oft so nah verwandten 
Standpunkten voll und ganz zu geben. Es wäre allerdings möglich 
gewesen, die Meinungsverschiedenheiten ganz ohne Namen zum Aus- 
trag zu bringen; aber ein so unpersönliches Exercitium logicum 
schien mir ein Unrecht gegen einen Mann, der sich neuerdings 
nicht allein über die fortgesetzten leidensclwftlichen Angriffe ein- 
zelner, sondern auch über die Teilnahmlosigkeit der übrigen Forscher 
beklagt. Es wäre auch ein Unrecht gegen mich selbst, der zu ahn- 
liehen Klagen Anlaß hätte, sich aber in der Beharrlichkeit und 



i) Die beiden prachtvoll CMSgestaiteten und sehr teuem Werke der Wiener Fach- 
genossen sind unter so speziellen und für den Gesamtitütalt unbezeichnenden Titeln er- 
schienen, daß ich wie mancher andere Kunsthistoriker erst spät auf sie aufmerksam 
geworden bin. Dagegen bekenne ich mich dankbaren Sinnes, wie zu Schnaase, 
G, Semper, Fr, Th, Vis eher u, a,, besonders auch zu A, v. Eye, dessen Ansichten 
ich zum Teil aus voller Überzeugung angenommen (Ornamentik) oder weiter entwickelt, 
zum Teil berichtigt und umgewandelt habe. 



Vorwort IX 

Zuversicht, mit der er sein Ziel verfolgt, ebensowenig beirren läßt. 
Wahrhaftigkeit der Gesinnung muß sogar aus entschiedener Ab- 
lehnung einzelner Ansichten und lebhafter Verwahrung gegen Fehl- 
griffe noch hervorleuchten und wird wohl ihre versöhnende Kraft 
bewähren. Eine solche Kritik, bei der ich gegen den böswilligen 
Namen „Polemik*' protestiere, bedeutet im Grunde die höchste Ehre, 
die man den Leistungen eines mitstrebenden Fachgenossen anzutun 
vermag. Ausübende Künstler (wie Hildebrand und Klinger, die 
zur Feder gegriffen haben) mögen heutzutage als Orakel gelten, 
das keinen Appell an höhere Instanzen gestattet; unter uns Männern 
der Wissenschaft wollen wir solchen Auktoritätsglauben doch lieber 
nicht einbürgern, wohl aber uns ehrlich die Hand reichen, wo es not 
tut, mit vereinten Kräften vorzudringen. 

Ich bin mir wohl bewußt, daß die nachfolgende Erörterung von 
Grundbegriffen der Kunstwissenschaft durch näheren Anschluß an 
unsere heutige Ästhetik noch hätte gewinnen können. Eine Verstän* 
digung, zunächst mit Theodor Lipps, der selbst vom eifrigen 
Studium Gottfried Sempers ausgegangen ist, wäre wie seine 
„Grundlegung der Ästhetik'^ die ich soeben erst vornehmen kann, 
erkennen läßt, willkommen gewesen. Aber die heute noch unter den 
Kunsthistorikern vorherrschende Abneigung gegen alles „Ästhetische^'' 
läßt keinen Zweifel, daß es richtiger war, wenn ich mich diesmal 
auf den engeren Kreis der Fachgenossen und auf die notwendigsten 
Auseinandersetzungen beschränkte, wie schon die Fülle der geschieht- 
liehen Tatsachen gebot. 

Gelingt es, die Gesinnungsgenossen zur erneuten Prüfung auch 
nur der wesentlichsten Unterschiede heranzuziehen, das Gemeinsame 
festzuhalten und Absonderlichkeiten des Einzelnen abzustreifen, so 
wird sich die weitere Klärung von beiden Seiten schon selber Bahn 
brechen. 

Schmarsow. 



INHALTSÜBERSICHT 



Seite 

I. Einleitung i — 14 

IL Kritik einiger Beispiele 15 — 29 

^ III. Menschliche Organisation 30 — 44 

l IV. Menschengeist und Außenwelt 45 — 54 

V. Die drei Gestaltungsprinzipien A: Symmetrie und Proportio- 
nalität 55 — 69 

VI. Die drei Gestaltungsprinzipien B: Altemierende Reihung — 

Zentrale Symmetrie 70 — 83 

VII. Die drei Gestaltungsprinzipien C: Rhythmus 84 — 99 

VIII. Herstellungsmittel: Körper — Linie 100 — 115 

IX. Die Farben als Kunstmittel 116 — 131 

X. Kleidung — Kunsthandwerk 132 — 146 

XL Tektonik 147 — 164 

XIL Monumentalität 165 — 179 

XIIL Wohnbau — Sakralbau — Monument 180 — 195 

XIV. Zentralbau und Kristallisation 196 — 211 

XV. Langbau und Organisation 212 — 228 

XVI. Monumentale Plastik 229—244 

XVII. Plastische Darstellung des Menschen 245 — 262 

XVIIL Reliefkunst 263—278 

XIX. Malerei 279 — 294 

XX. Auflösung des plastischen Reliefstils 295 — 309 

XXI. Metamorphose des Bildes 310 — 325 

XXII. Geistige Mächte in der darstellenden Kunst 326 — 341 

XXIIL Schluß: Ergebnisse 342 — 351 



I. 

EINLEITUNG 

GOTTFRIED SEMPER — ALOIS RIEGL 

Die Grundbegriffe der Kunstwissenschaft sind immer abhängig 
von den herrschenden Vorstellungen über das Wesen der Kunst 
und die Natur des künstlerischen Schaffens. Wenn die letzteren 
sich verschieben, ergibt sich auch bald das Bedürfnis, die ersteren 
einer Berichtigimg tu unterwerfen. Vollzieht sich jener Wandel der 
allgemeinen Anschauungen langsam und in der Stille, so geht auch 
die Anpassung der Begriffe fast unvermerkt vor sich und bleibt 
der Denkart oder wohl gar dem Gefühl des einzelnen überlassen. 
Kommt aber ein durchgreifender Umschwung zum Bewußtsein, dann 
wird auch der Widerspruch gegen die landläufige Betrachtungs- 
weise laut. Dann versagt der Hauptzweck einer gemeinsamen Aus- 
drucksweise zur Verständigung. Zwischen den Mitarbeitern, auf 
dem nämlichen Gebiete sogar, stellen sich Mißverständnisse tief- 
greifender Art heraus, die zunächst dem dritten auffallen, bald aber 
auch den beiden Beteiligten aufgehen müssen, indem sie fortgesetzt 
unter einem und demselben Worte etwas ganz Verschiedenes 
denken. Nicht nur der Austausch der Meinungen, auch der Aus- 
gleich der Urteile will nicht mehr vonstatten gehen, wie er soll. 

In einem solchen Übergangszustand befindet sich die Kunst- 
wissenschaft eben jetzt Die Vorstellungen vom Wesen des Kunst- 
schaffens und von der Entstehung der Kunstformen, die während 
der letzten dreißig bis vierzig Jahre geherrscht haben, vermögen 
nicht mehr das imentbehrliche Rüstzeug zu liefern. Vielleicht 
haben sie auch während dieses vergangenen Zeitraumes gar nicht 
überall gleichmäßig Anerkennung gefunden, sondern nur bei den 
Archäologen und ihrer Schuldisziplin zu durchgehender Annahme 
gelangen können, in dem vielgestaltigen Gebiet der mittelalterlichen 
und neueren Kunstgeschichte dagegen schon immer eine Ergänzung 

Schmarsow, Knnstwiasenschaft. 1 



2 I. Einleitung 

und Verbesserung von anderen Standpunkten her erfahren. Am 
Ende bedurfte die Fortfuhrung dieser Unterschiede nebeneinander 
erst eines besonderen Anlasses, um sich fühlbar zu machen. Ein Zu- 
sammenstoß der völlig verschiedenen Voraussetzungen mußte not- 
wendig nur dort erfolgen, wo von beiden Seiten derselbe Gegen- 
stand in Angriff genommen wurde, oder wo sich beide Richtungen 
auf einem gemeinsamen Arbeitsgebiet begegneten. Solch eine 
Grenzregion ist zum Beispiel die Zeit, die wir die spätantike oder 
die frühchristliche benennen, je nachdem man vom einen oder vom 
andern Ausgangspunkt herkommt. Sie ist von der sogenannten 
klassischen Archäologie lange vernachlässigt und als eine Zeit des 
Verfalls ungern behandelt worden, von der christlichen Archäologie 
desto eifriger, aber vorwiegend nach inhaltlichen Gesichtspunkten 
bestellt, die das künstlerische Schaffen und die Natur des Kunst- 
werks fast völlig außer acht lassen. Erst neuerdings ist „das spät- 
antike Problem auf die Tagesordnung der wissenschaftlichen 
Forschung gesetzt" und zwar als kunstgeschichtliches im engem 
Sinne, d. h. als durchgehendes Entwicklungsproblem, das geradezu 
den Zusammenhang zwischen Altertum und Mittelalter oder neuerer 
Zeit überhaupt herstellen muß, das also nicht eher von der Tages- 
ordnung verschwinden darf, als bis eine allgemein befriedigende 
Lösung dafür von beiden Seiten und für beide Nachbarn gefunden 
sein wird. Alle Kunsthistoriker, die den Zusammenhang der Er- 
scheinungen hüben und drüben tiefer zu fassen suchen, sind sich 
gegenüber dieser schwerverständlichen, so vielfach dunkeln und 
widerstehenden Zwischenregion bewußt, daß die Arbeit, die nun 
geleistet werden soll, der harten Durchbohrung eines Grenzgebirges 
gleicht. Da ist zweierlei Gefahr vorhanden: entweder man geht 
von jeder Seite nach wie vor seinen eigenen Weg, ohne sich um 
den andern zu kümmern, und geht schließlich aneinander vorbei; 
oder man trifft zusammen und platzt aufeinander, wie zwei feind- 
liche Heere, deren keines die Sprache des andern versteht. Da ist 
es an der Zeit, wenigstens die Waffen und die Werkzeuge ver- 
gleichend zu prüfen, womöglich die Mittel und Wege zu verein- 
baren, selbst wenn es dahingestellt bleiben müßte, ob eine Voraus- 
berechnung des Arbeitsplanes, die ein sicheres Entgegenkommen 
gewährleistet, schon jetzt erreichbar wäre. Eine Revision der ge- 
meinsamen Terminologie gehört jedenfalls zu den ersten Bedingfungen 
einer wünschbaren Verständigung. Mit ihr aber muß die Richtig- 
stellung der Grundbegriffe Hand in Hand gehen. 



Gottfried Semper und Alois Riegl 3 

Wenn wir dem Zeugnis eines mitten im Kampfe stehenden 
Kunstforschers vertrauen dürfen, so hat in den Schulen der klassischen 
Archäologie und der Kunstgeschichte des Altertums überhaupt bis- 
lang eine Vorstellung vom Wesen des Kunstschaffens geherrscht, 
die sich — durchaus mit Unrecht — noch immer auf die Autorität 
des großen Architekten und gelehrten Kenners Gottfried Semper 
beruft. Nur dem gänzlich mißverstandenen und leider unvollendeten 
Werke Gottfried Sempers über den „Stil in den technischen und 
tektonischen Künsten", dem der dritte der Architektur zugedachte 
Teil fehlt, hat jene Theorie entnommen werden können, der zufolge 
das Kunstwerk nichts anderes sein soll, als „ein mechanisches 
Produkt aus Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik". Diese Lehre, 
für deren Aufstellung der baumeisterliche Mann, mit dessen Namen 
man sie deckt, viel zu hoch von der eigenen künstlerischen Tätig- 
keit dachte imd viel zu viel Ehrfurcht vor der historischen Über- 
lieferung aller älteren Kunstperioden bekannte, hat in den Reihen 
der mittelalterlichen \md neueren Kunstforschung wohl niemals so 
weitgehende Verbreitung gefunden, wie ihr nachgesagt wh-d. Wer 
Schnaase, Rumohr und Burckhardt zu lesen gewohnt ist, muß auch 
Semper richtiger verstanden haben, wenigstens so weit, um das ent- 
scheidende Wort „mechanisch" nicht in seine Formel für das Pro- 
dukt der technischen Künste einzuschmuggeln, nachdem Semper 
selbst sogar diesem Beinamen „technisch" eine ironische Auslegung 
gegen die verstockten „Materiellen" beigegeben hatte. Im Gegen- 
satze zu dieser mechanischen Auffassung muß aber Alois Riegl, 
der Historiker des antiken Ornaments und der Erklärer der „Spät- 
römischen Kimstindustrie", aufgewachsen sein, der seit einem Jahr- 
zehnt etwa gegen jenes „Dogma einer materialistischen Metaphysik" 
eine andre Auffassung verficht, die er selbst als „teleologische" be- 
zeichnet Er setzt ihr die Lehre vom absoluten Kunstwollen ent- 
gegen und erblickt im Kunstwerk „das Resultat eines bestinmiten und 
zweckbewußten KunstwoUens, das sich im Kampfe mit Gebrauchs- 
zweck, Rohstoff und Technik durchsetzt". „Diesen drei letzteren 
Faktoren käme darnach nicht mehr jene positiv schöpferische Rolle 
zu, die ihnen jene materialistische Theorie zugedacht hatte, sondern 
eine hemmende, negative: sie bilden gleichsam die Reibungskoeffi- 
zienten innerhalb des Gesamtproduktes". 

Damit stünden wir freilich noch in dem Bezirk der „technischen 
und tektonischen Künste", in dem der Gebrauchszweck eine so 
entscheidende Rolle spielt, daß sowohl die „Idee" bei Semper, der 

1* 



^ I. Einleitung 

doch der Stoff dienstbar (I, xv) sein soll, als auch das „Kunst- 
wollen" bei Riegl, „das sich jeden Rohstoff und jede Technik 
dienstbar macht, anstatt sich von ihnen beherrschen zu lassen" 
(S. 138, Anm.), bis zu einem gewissen Grade sich mit ihm identifi- 
zieren oder verbinden können. Eine völlige Loslösimg des Kunst- 
wollens, so daß wir imstande sind, es durchaus selbständig zu er- 
fassen, tritt wohl erst im freien Kunstschaffen der Plastik imd 
Malerei hervor, nachdem es in der Architektur allmählich sich los- 
gerungen. Aber Riegl hat, seitdem er sich mit der Geschichte der 
Kunstindustrie zu beschäftigen begonnen, auch stets, selbst ange- 
sichts des geringsten Gebrauchsgegenstandes gefragt: „wie spiegelt 
sich darin der Charakter der gleichzeitigen Architektur, Skulptur 
und Malerei?" Und so vermochte er, wie er meint, auch in diesen 
Künsten das Walten der gleichen Triebkräfte nachzuweisen wie in der 
spätrömischen Kunstindustrie (BeiL z. AUg. Ztg. 1902, 163 f.) und hat 
seine Aufgabe „möglichst gleichmäßig für alle vier Gebiete der bilden- 
den Kunst" durchzuführen unternommen. Mit dem „Kimstwollen" als 
leitendem Faktor in der Entwicklung wissen nur die älteren in der 
bisherigen Auffassung befangenen Forscher noch nichts anzufangen. 
Aber sie gehören einer zurückgebliebenen Generation an, die „sich 
heute anschickt, einer andern, neuen Zielen zugewandten Platz zu 
machen". So ist Hoffnung auf gründlichen Wandel, und es verlohnt 
sich, den neuen gemeinsamen Zielen den Weg zu ebnen, indem 
wir die Grundbegriffe der Kunstwissenschaft zwischen beiden 
Generationen erörtern, um so eine Verständigung zu erleichtem. 

„Eine kunsthistorische Betrachtungsweise, die hinter die ober- 
flächliche Erscheinung der Dinge zu dringen trachtet", gesteht auch 
Alois Riegl selbst, „muß sich naturgemäß erst ihre dialektischen 
Ausdrucksmittel schaffen, die nicht von jedem im ersten Momente 
verstanden werden können." Und wenn es sich dabei außerdem 
noch um die Erschließung wesentlich neuer Gebiete handelt, so be- 
darf es bereitwilligen Entgegenkommens imd gewissenhafter Nach- 
prüfung jedenfalls. Gerade in solchem Ringen einer neuen Auf- 
fassung mit der bisher gangbaren ergibt sich aber auch die will- 
kommenste Gelegenheit, die Brauchbarkeit oder Unzulänglichkeit 
der ererbten Grundbegriffe zu erproben. Geschieht es doch nicht 
selten, daß der Begründer einer neuen Einsicht noch selber einen 
Rest der gewohnten Anschauungen beibehält oder sich in her- 
kömmliche Vorurteile verstrickt, die ihm unmöglich machen, die 
Tragweite seiner eigenen Entdeckung vollauf zu ermessen und die 



Das Kunstwollen e 

befreiende Kraft des eigenen Fortschritts in ihrem ganzen Wirkungs- 
kreise durchzuführen. Andrerseits begegnet es im Streit gegen 
eine herrschende Meinung, die man für irrig hält, nur allzuleicht, 
daß man die eigne entgegengesetzte Ansicht einseitiger formuliert 
und mit dem allzu straff gespannten Bogen über das Ziel hinaus- 
schießt. 

Eine solche irreführende, für die Sache selbst aber gar nicht 
notwendige Übertreibung scheint bereits in der Definition des 
„KunstwoUens" enthalten zu sein, die Alois Riegl gegeben hat. Sein 
Kunstwollen soll ein „bestimmtes und zweckbewußtes" sein, das 
sich im Kampfe mit den hemmenden, negativen Faktoren durch- 
setzt. Ein „bestimmtes" gewiß, das ist selbstverständlich überall, 
wo es charakteristisch, für ims erkennbar und ausdrückbar hervor- 
tritt, aber ein „zweckbewußtes" braucht es nicht immer zu sein, 
wenn diese Bezeichnung mehr besagen soll als zielstrebig. Den 
natürlichen Ausgang nehmen wir doch vom naiven Kunstschaffen, 
das instinktiv sein ästhetisches Wollen befriedigt Wir denken es 
als reine Gefühlssache, nicht als verstandesmäßiges, seiner selbst 
und seiner Zwecke ebenso wie seiner Hemmungen und Negationen, 
seiner Wahl und seiner Abwehr oder seiner Gegenmaßregeln klar 
bewußtes, also berechnendes und reflexionsmäßiges. All dies kemn 
es werden, aber erst in Perioden geschidter Überlegung, mannig- 
fach gebrochener Verfeinerung. Wir werden es der spätrömischen 
Kunst unbedenklich zutrauen, der altägyptischen nur, wenn es sich 
tatsächlich beweisen ließe. 

Und ähnlich steht es mit der Betonung des Kampfes gegen Ge- 
brauchszweck, Rohstoff und Technik. Daß mit dem ersten dieser 
Faktoren auch ein friedlicher Ausgleich, ein natürliches Einvernehmen 
möglich ist, haben wir oben bereits angedeutet Das glückliche 
Gelingen des Kunstwerks erwarten wir gewiß auch eher in Fällen, 
wo Rohstoff und Technik nicht gerade widerstreben, sondern dem 
menschlichen Wollen, das sie wählt, bereits entgegenkommen, oder 
wo der „kunstschaffende Gedanke, der sein Gestaltungsgebiet er- 
weitem, seine Bildungsfahigkeit steigern will", seinen unentbehrlichen 
Bundesgenossen verständnisinnig, nicht feindselig und tyrannisch 
gegenübertritt Ob Rohstoff und Technik jemals eine „positiv 
schöpferische Rolle" zu übernehmen imstande sind, ohne Mitwirkung 
des Menschen und sein Wollen, wird mit Recht in Zweifel gezogen. 
Aber auch das Ringen mit der Materie kann als Liebeskampf ver- 
laufen, an den jene Definition gewiß nicht gedacht hat, und dieser 



6 I. Einleitung 

setzt Anpassung von beiden Seiten voraus, „che Tun nell* altro si 
trasforma". „Nicht das Werkzeug, nicht die Technik ist dabei das 
Prius", sondern der Wille zum schöpferischen Tun. „Warum soll 
dies Verhältnis, das die gesamte Kunstgeschichte durchzieht, nicht 
auch für ihre Anfange gelten?"^) 

Stellen wir uns mit Riegl diesen Anfängen naiven Kunst- 
schaffens gegenüber und lassen uns die Mühe nicht verdrießen, der 
prinzipiellen Begründung seiner weiteren Ergebnisse nachzugehen. 
Auch er meint, die naturwissenschaftliche, oder spezieller physiolo- 
gische Herleitung nicht entbehren zu können, wie der moderne 
Künstler Adolf Hildebrand in seinem Problem der Form. Durch 
dessen Gang habe auch ich mich bestimmen lassen, um ihn kritisch 
begleiten zu können und zugleich die Grenze zu bezeichnen, wo 
der eingeschlagene Weg, auf dem man ursprünglich den höchsten 
Triumph exakter Wissenschaft erwartete, zum Abwege wird und 
aufgegeben werden muß, wenn wir vorwärts wollen.*) 

„Die Kulturvölker des Altertums", so beginnt Riegl (S. 17) 
seine g^ndlegende Erörterung, „erblickten in den Außendingen nach 
Analogie der . . . eigenen menschlichen Natur (Anthropismus) stoff- 
liche Individuen, zwar von verschiedener Größe, aber jedes ... zu 
einer Einheit abgeschlossen." (Als bedenklich habe ich die Zusätze 
ausgeschieden, die von „fest zusammenhängenden Teilen" und von 
„untrennbarer** Einheit reden; denn diese Unterschiede entfallen vor 
aller näheren Prüfung und erfordern als Erfahrungen schon das 
Mitspiel des Intellekts, das Riegl gerade vermeiden will.) „Ihre 
sinnliche Wahrnehmung zeigte ihnen die Außendinge verworren 
und unklar untereinander vermengt; mittels der bildenden Kunst 
griifen sie einzelne Individuen heraus und stellten sie in ihrer 
klaren, abgeschlossenen Einheit hin.') 



i) Stilfragen S. 20rrc:2\ 

2) Beiträge zur Ästhetik der bildenden Künste I — III Leipzig 1896 — 99, be- 
sonders Plastik, Malerei und Reliefkunst in ihrem gegenseitigen Verhältnis. Vergl. 
meine Leipziger Antrittsrede über das Wesen der architektonischen Schöpfung 
(8. Nov. 1893) und „über den Wert der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde" 
(23. April 1896) in den Berichten der Kgl. Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften. 
Die ganze Durchführung meiner Kunstiehre habe ich, wie bekannt, schon seit An- 
fang der achtziger Jahre in Göttingen und dann in Breslau als Einleitung in die 
Kunstgeschichte vorgetragen. 

3) Wir fragen wohl: wie kamen sie zu der Fähigkeit, ein eigenes Produkt 
als klar abgeschlossene Einheit hinzustellen, wenn sie nur unklar und verworren die 
AuBendinge untereinander wahrnahmen? 



Riegls Grundlegung 7 

„Zu allererst trachtete man, die individuelle Einheit der Dinge 
auf dem Wege der reinen sinnlichen Wahrnehmung, unter mög- 
lichstem Ausschluß jeglicher aus der Erfahrung stammenden 
Vorstellung zu erfassen. Denn solange es Voraussetzung war, 
daß die Außendinge von uns unabhängige Objekte sind, mußte 
jede Zuhilfenahme des objektiven Bewußtseins, als die Einheit des 
betrachteten Objektes störend, instinktiv vermieden werden." *) 

„Das Sinnesorgan nun, das wir am weitaus häufigsten ge- 
brauchen, um von den Außendingen Notiz zu nehmen, ist das Auge. 
Dieses Organ zeigt uns aber die Dinge bloß als farbige Flächen 
und keineswegs als undurchdringliche stoffliche Individuen; gerade 
die optische Wahrnehmung ist es eben, die uns die Dinge der 
Außenwelt in chaotischer Vermengung erscheinen läßt." 

„Sichere Kunde von der geschlossenen individuellen Einheit 
einzelner Dinge besitzen wir durch den Tastsinn. Durch ihn allein 
verschaffen wir uns Kenntnis von der Undurchdringlichkeit der das 
stoffliche Individuum abschließenden Grenzen. Diese Grenzen sind 
die tastbaren Oberflächen der Dinge.*) Aber dasjenige, was wir 
unmittelbar tasten, sind nicht die ausgedehnten Flächen, sondern 
bloß einzelne Punkte.^ Erst indem sich die Wahrnehmung undurch- 
dringlicher Punkte an einem und demselben stofflichen Individuum 
rasch nacheinander und nebeneinander wiederholt, gelangen wir 
zur Vorstellung der ausgedehnten Fläche mit ihren zwei Dimen- 

i) Voraussetzung ist hierbei, es käme auf exakte Wiederholung der Wirklich- 
keit, völlig adäquate Nachahmung der Außendinge an. Die Sonderung der beiden 
Faktoren — Wahrnehmung und Vorstellung — stand aber, wenn sie überhaupt tat- 
sächlich und nicht bloß logisch durchführbar ist, gewiß nicht so vor dem Bewußtsein 
jener Völker, daß eine Willensentscheidung möglich gewesen wäre. Wie aber sollen 
wir das Zustandekommen der Einheit und Abgeschlossenheit des Gebilds denken 
ohne Mitwirkung des Intellekts? Nennen wir nur den Stein, das Tier und den 
Baum als solche Objekte: wie verschieden ist die Einheit, die Abgeschlossenheit — 
bis zum festen Zusammenhang der Wurzeln mit dem Erdboden ! 

2) Die Undurchdringlichkeit merken wir durch Druck und Stoß. Dann erst 
gehen wir zur Feststellung der den Gegenstand abschließenden Grenzen über und 
fühlen vielleicht, daß es Flächen sind. 

3) Das heißt, wenn wir mit einer Fingerspitze tasten! Das ist aber eine ver- 
feinerte Art des Tastens, Einschränkung auf eine kleinste Fläche, die wir schließlich 
als Punkt, d. h. immer doch noch ausgedehnte kleinste Einheit — vorzustellen suchen. 
Dort setzt die mathematische Abstraktion in der Aussonderung des einfachsten 
Falles ein. Die „undurchdringlichen Punkte" im folgenden Satz bestätigen unsre 
Interpretation dieser Stelle. Später kommt allerdings der elementar psychologische 
Ausdruck „punktuelle Reize" vor (S. 19). Doch lassen wir die psychologischen Dar- 
legimgen auf sich beruhen. 



g I. Einleitung 

sionen, der Höhe und Breite.*) Diese Vorstellung ist also nicht 
mehr durch eine unmittelbare Wahrnehmung des Tastsinns, sondern 
durch eine Kombination mehrerer solcher Wahrnehmungen ge- 
wonnen, die notwendigermaßen die Dazwischenkunft des subjektiven 
Denkprozesses voraussetzt. Im antiken Kunstschaffen muß daher 
seit seinen elementaren Anfangen ein innerer Gegensatz latent ge- 
wesen sein, in dem trotz der grundsätzlich gewollten objektiven 
Auffassung der Dinge eine subjektive Beimischung von Anbeginn 
nicht zu vermeiden war. Und in diesem latenten Gegensatze lag 
der Keim aller späteren Entwicklung." 

„Damit war aber das unumgängliche Maß subjektiver Trübung 
der objektiven Individualität der stofflichen Außendinge für das 
älteste antike Kunstschaffen noch nicht erschöpft. Der Tastsinn 
ist wohl unentbehrlich, um uns von der Undurchdringlichkeit der 
Außendinge zu vergewissem, aber keineswegs, um uns auch von 
deren Ausdehnung zu unterrichten. In letzterer Hinsicht wird er 
vielmehr vom Gesichtssinn weitaus an Leistungsfähigkeit über- 



i) Das Wichtigste an dieser Beobachtung ist die Tatsache, daß das zeitliche 
Element und das räumliche Element ineinandergreifen. Es ist successives Verfahren 
erforderlich, d. h. nacheinander, und räumliche Erstreckung des Substrats, d. h. 
nebeneinander. Was sich daraus ergabt, sind lokalisierte Bewegungsvorstellungen. 
Dazu kommt die Richtung dieses Verlaufes im Raum, d. h. die des Nebeneinander 
in der Horizontale oder in der Vertikale, die wir nach unserm Körper bestimmen, 
in der Länge (Breite) oder in der Höhe, nach links oder nach rechts, nach oben 
oder nach unten. So gelangen wir zu psychischen Synthesen, und dieser Ausdruck 
genügt auch wohl für die Kombination mehrerer solcher Wahmehmungsergebnisse, 
die Riegl als Dazwischenkunft des Denkprozesses bezeichnet. Das Beiwort „subjek- 
tiv" können wir entbehren, denn diese psychische Synthese höherer Ordnung voll- 
zieht sich natumotwendig und hat objektive Gültigkeit für alle gleichorganisierten 
Wesen (Subjekte), wenn wir von „Sinnestäuschungen" absehen. 

Mit der Anerkennung des psychischen und weiter des intellektuellen Faktors 
ist aber ein wichtiger Anhalt gewonnen, den Riegl merkwürdigerweise wieder 
fallen läßt. Der Beitrag des Subjektes ist ein selbstverständliches und unveräußer- 
liches Ingrediens des menschlichen Kunstschaffens seit seinen elementaren Anfängen. 
Er ist naturnotwendig und normal, während wir mit der Bezeichnung subjektiv doch 
das willkürliche oder unwillkürliche Abweichen vom Normalen, als etwas nicht all- 
gemein Gültiges, nicht objektiv Bindendes zu charakterisieren pflegen. 

. Es ist aber das Intellektuelle, das Geistige überhaupt, um das es sich handelt. 
Und hat man sich das klargemacht, so tritt die ganze Verschlungenheit des Um- 
weges zutage, auf dem Riegl erst zu diesem uranfanglichen Faktor gelangt. Die 
Kunst ist eine Auseinandersetzung des Menschen (d. h. seiner leiblichen und 
psychischen oder geistigen Anlage) mit der Welt, in die er gestellt ward. Zu dieser 
Auseinandersetzung gehören immer zwei Pole: Subjekt und Objekt. 



Riegls Grundlegung n 

trofifen. Das Auge vermittelt zwar nur Farbenreize, die nicht 
minder wie die Reize der Undurchdringlichkeit sich bloß auf ein- 
zelnen Punkten mitteilen; und die Vorstellimg von Farbenflächen 
als vervielfältigten Punkten gewinnen wir genau auf dem gleichen 
Wege des Denkprozesses wie diejenige von den tastbaren Ober- 
flächen. Aber das Auge vollzieht die Operation der Vervielfälti- 
gung der Einzelwahmehmungen weit rascher als der Tastsinn, und 
daher ist es auch das Auge, dem wir unsere Vorstellung von Höhe 
und Breite der Dinge hauptsächlich verdanken. Es kommt infolge- 
dessen zu einer neuerlichen Kombination von Wahrnehmungen im 
Bewußtsein des denkenden Beschauers: wo das Auge eine zu- 
sammenhängende Farbenfläche von einheitlichem Reiz wahrnimmt, 
dort taucht auf Grund der Erfahrung auch die Vorstellung von der 
tastbar undurchdringlichen Oberfläche einer abgeschlossenen stoff- 
lichen Individualität auf. Auf solchem Wege konnte es frühzeitig 
geschehen, daß die optische Wahrnehmung allein fiir genügend be- 
funden wurde, um von der stofflichen Einheit eines Außendinges 
Gewißheit zu schaffen, ohne daß hierbei der Tastsinn zur unmittel- 
baren Zeugenschaft herangezogen werden mußte. Aber die wesent- 
liche Vorbedingung hierbei blieb zunächst immer, daß die absolute 
Ebene eingehalten, die Ausdehnung auf die Dimensionen der Höhe 
und der Breite beschränkt blieb."*) 

„Dagegen muß die antike Kunst die Existenz der dritten Di- 



i) In der Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1902 S. 155 hat Riegl selbst zur 
Erklärung dieses Passus beigetragen. Dort heißt es: „alle Andeutungen von festen 
Dingen, die wir auf dem Umwege über den Gesichtssinn empfangen, sind schließlich 
Anweisungen auf die primitiven Erfahrungen des Tastsinns. Was also dem Natur- 
und Kunstwerk unter allen Umständen zukonunt, seine Ausdehnung und Begrenzung, 
erfahren wir im Grunde doch nur durch den Tastsinn; ich habe daher diese Eigen- 
schaften der Dinge die taktischen (tastbaren, von tangere) oder besser griechisch 
die haptischen genannt, im Gegensatze zu den optischen (sichtbaren) wie Farbe 
und Licht. Während die optischen Eigenschaften im Dunkel verschwinden, bleiben 
die tastbaren bestehen: Ausdehnung und Begrenzung sind also die objektiveren, 
Farbe und Licht die subjektiveren Eigenschaften, denn diese hängen in höherem 
Maße von den zufalligen Umständen ab, unter denen sich das betrachtende Subjekt 
befindet." — Da Licht und Farbe aber auch von zufälligen Umständen, unter denen 
sich das betrachtete Objekt befindet, abhängen (Tagesstunde, Wetter), so könnte 
man, genau der Definition Riegls folgend, die haptischen Eigenschaften nur als die 
stabileren, die optischen als die variablen oder transitorischen bezeichnen, oder die 
ersteren als konstitutive, die letzteren als accidentelle. Die Unterscheidung nach 
dem Grade der Objektivität oder Subjektivität wäre damit als überflüssig, zumal sie 
irreführend ist, abzulehnen. 



lO I- Einleitung 

mension — der Tiefe — , die wir für die Raumdimension im engeren 
Sinne anzusehen pflegen, von Anbeginn grundsätzlich verleugnet 
haben. Die Tiefe ist nicht allein mit keinem Sinne wahrnehmbar 
— das gleiche haben wir auch von den beiden Flächendimensionen 
geltend befunden — , sondern auch erst auf einem weit entwickel- 
teren Wege des Denkprozesses zu begreifen als die Flächendimen- 
sionen. Das Auge verrät uns nur Ebenen; wir wissen zwar aus 
verkürzten Umrißlinien und aus Schatten auf Veränderung in der 
Tiefe zu schließen, aber nur an bekannten Objekten, bei deren 
Wahmehmuug uns die Erfahrung zur Seite steht, während beim 
Anblicke unbekannter Objekte wir zunächst im unklaren bleiben, 
ob die wahrnehmbar krummen Umrisse und dunklen Farbenflecken 
nicht in einer Ebene liegen. Wiederum ist es der Tastsinn, der 
uns vom Vorhandensein von Tiefenveränderungen die erste sichere 
Kunde gibt, weil seine viel verzweigten Organe das Einsetzen der 
Prüfung auf verschiedenen Punkten zu gleicher Zeit ermöglichen; 
aber schon die Erkenntnis von Tiefenveränderungen an der Ober- 
fläche und vollends diejenige des Zusammenschlusses in der vollen 
dreidimensionalen Rundform erfordert eine weit ausgiebigere Zu- 
hilfenahme des Denkvermögens als die Konstruierung der Flächen- 
vorstellung aus den Einzelwahrnehmungen punktueller Reize. Wenn 
also bereits ebene Flächen nicht mehr allein auf Grund sinnlicher 
Wahrnehmung, sondern nur unter Appell an die subjektive Reflexion 
aufgenommen werden können, so ist die Heranziehung der letzteren 
in noch weit höherem Maße bei der Aufnahme von gebogenen, ge- 
krümmten Flächen notwendig." 

Hier muß m. E. eine grundlegende Verbesserung einsetzen. 
Schon bei der obigen Besprechung der Rolle des Tastsinns wurde 
nur auf das Tasten mit den Fingerspitzen Rücksicht genommen 
und darauf der Fortschritt vom Punkt durch eine Reihe von Punkten 
zur Linie und von solchen Linien zur Fläche gebaut Nun aber sagten 
wir schon von den beiden Dimensionen der Ebene, Höhe und Breite, 
daß sie zustande kommen, indem die Richtung im Verfolge der 
Punkte eine andere werde, einmal von unten nach oben oder um- 
gekehrt, das andere Mal von links nach rechts oder umgekehrt. 
Dazu kommt nun aber notwendigerweise die dritte Möglichkeit 
der Richtung, nämlich die nach vorn oder nach hinten von uns 
aus; dies aber ist die dritte Dimension. Indessen jene ganze Kon- 
struktion vom Einfachen zum Zusammengesetzten geht doch wohl 
von einer irrigen Voraussetzung aus: sie beruht auf einer Über- 



Ergänzung aus der Tastregion 1 1 

tragnng aus der mathematisch geschulten Naturwissenschaft auf die 
Psychologie und Physiologie, nimmt die Gültigkeit der sozusagen 
euklidischen Methode auch fiir diese Gebiete organischen und seeli- 
schen Lebens an. Nun aber tasten wir doch nicht ausschließlich 
nur mit einem Finger, sondern mit mehreren nebeneinander. Wir 
tasten mit einer Hand, die sich stellen und krümmen kann, die sich 
der ebenen wie der gebogenen Fläche adaptiert. Ja, wir tasten 
nicht mit einer Hand allein, sondern mit beiden Händen zugleich, 
und diese beiden Organe korrespondieren einander. Und dies 
Tasten mit dem paarigen Organ vollzieht sich viel unabsichtlicher 
und unmittelbarer als das Tasten mit einem Finger oder einer 
Reihe von Fingerspitzen zum Verfolg punktueller Reize in der 
Ebene. Im Vorwärtstasten erfassen wir die Körperhaftigkeit, und 
zwar ihre Dicke (Tiefe) mit den anderen Dimensionen zugleich. 
Da wir selbst dreidimensionaler Körper sind, können wir gar nicht 
umhin, die kubische Körperhaftigkeit der Dinge an unserm eigenen 
Leibe zu erfahren. Das Ganze ist auch hier vor den Teilen da.^) 
Unsere drei Dimensionen sind nichts als DiJBFerenzierungen, die sich 
allmählich klären und zum festen Schema ordnen. Vielleicht können 
wir sogar so weit gehen zu sagen: der Mensch bildet die krumm- 
flächigen Kombinationen der Merkmale für seine räumlich-körper- 
liche Orientierung und für seine Vorstellung zuerst aus, weil er 
selbst gar keine Gelegenheit hat, andere Erfahrungen zu machen an 
sich selbst. Sein Körper bietet keine ebenen Flächen, keine sauber 
planimetrischen Figuren dar; es ist alles konvex oder konkav an 
ihm. Deshalb stellt der naive Mensch auch alle anderen Dinge so 
vor und lernt erst allmählich die abweichende Eigenschaft kristal- 
linischer Körper mit regelmäßigen Ebenen in ihrer ganzen Ver- 
schiedenheit verstehen. Die gerade Linie vollends und der Punkt 
sind Ideale, die nach langer Auslese und Berichtigung des Intellekts 
zustande kommen. Sind nicht schon sie Errungenschaften des 
Kunstwollens, des so und nicht anders Habenwollens?*) — wenig- 
stens überall, wo wir sie darstellen. 

Die Hände, mit ihren korrespondierenden Innenflächen und 

i) „Die reine aprioristische und ebenso die konkrete Vorstellung des Raumes 
involviert die Annahme einer Ausdehnung nach allen Dimensionen; die Reduktion 
derselben auf drei ist eine reine Abstraktion des Verstandes." Aubert, Physiol. 
Studien über die Orientierung. Tübingen 1888. Vgl. Beiträge zur Ästh. d. bild. 
Künste I, p. 34. 

2) Vgl. Das Wesen der architektonischen Schöpfung S. 12. 



12 I. Einleitung 

Fingerreihen, sitzen in relativer Drehbarkeit am Gelenk des Armes, 
die Arme wieder in beschränkter Beweglichkeit am Rumpfe. Aus 
dieser besonderen Anlage folgt schon die Inklination zu kubischer 
Auffassung imd Behandlung alles Tastbaren. Dazu kommt aber 
noch eins hinzu: wir tasten nicht allein mit den Händen unter Bei- 
hilfe der vorgestreckten oder seitlich ausgebreiteten Arme, sondern 
auch mit unseren Füßen. Dies geschieht nicht so sehr mit den 
Zehen allein, als vielmehr mit den ganzen Fußsohlen, mit denen 
wir unsere Standfläche auf dem Boden kontrollieren. Und wir 
tasten mit unseren Füßen, von den Zehenspitzen bis zur Ferse, in 
mannigfaltiger Kombination der paarigen, in der Richtung wieder 
korrespondierenden Stellen, auf dem Boden, was da ist, indem wir 
gehen, d. h. Ortsbewegung in einer Richtung vollziehen. Die Rich- 
tung unseres Ganges liegt wieder, dem Bau unseres Korpers ent- 
sprechend, nach vorwärts, also in der Tiefenachse, ^) Rückschritt ist 
ihr bewußtes Gegenteil und Seitwärtsschreiten eine Reihe von 
Modifikationen mehr oder minder erzwungener Art, also gewollte 
Anpassung an Ausnahmebedingnngen. In unserer natürlichen Orts- 
bewegung erleben wir die Tiefenrichtung imd postulieren darnach 
ihre Möglichkeit überall, wo sie nicht ausdrücklich abgeschnitten 
ist, ja selbst der Scheidewand zum Trotz. Aus unserer Körper- 
bewegung erwächst das Grundkapital imserer Raumvorstellungen 
im Verkehr mit den Dingen. 

Alois Riegl gelangt auf seinem Deduktionswege zu folgendem 
Ergebnis: „Die Kunst des Altertums, die auf möglichst objektive 
Wiedergabe der stofflichen Individuen ausgegangen ist, muß infolge- 
dessen die Wiedergabe des Raumes als einer Negation der Stoff- 
lichkeit und Individualität nach Möglichkeit vermieden haben: nicht 
als ob man sich schon damals klar bewußt gewesen wäre, daß der 
Raiun bloß eine Anschauungsform des menschlichen Verstandes ist, 
sondern weil man sich schon durch das naive Bestreben nach reinem 
Erfassen der sinnfälligen Stofflichkeit instinktiv auf möglichste Ein- 
engung der räumlichen Erscheinung hingedrängt gefühlt haben muß. 
Von den drei Raumdimensionen in weiterem Sinne sind aber die 
zwei Flächen- oder Ebendimensionen der Höhe und Breite (Um- 
riß, Silhouette) unentbehrlich, um überhaupt zur Vorstellung einer 
stofflichen Individualität zu gelangen;*) sie werden daher von der 

i) Wert der Dimensionen S. 48f., vgl. 55 f. 

2) Wie schon der Zusatz „Umriß, Silhouette" beweist, schiebt sich hier unwill- 
kürlich die Flächendarstellung unter, die schon auf die dritte Dimension verzichtet. 



Priorität des Rundwerks j^ 

antiken Kunst vom Anbeginn zugelassen. Die Tiefendimension 
hingegen erscheint hierfür nicht unbedingt notwendig, und da sie 
überdies den klaren Eindruck stofflicher Individualität zu trüben 
geeignet ist,^) wird sie von der antiken Kirnst zunächst nach Mög- 
lichkeit unterdrückt. 

Die antiken Kulturvölker haben also die Aufgabe der bildenden 
dahin aufgefaßt,') die Dinge als individuelle stoffliche Erscheinungen 
nicht im Räume (worunter von nun an stets der Tiefraum ver- 
standen sein soll), sondern in der Ebene hinzustellen." 

Wenn Alois Riegl in seinem großen Werke von 1901 von den 
antiken Kulturvölkern aussagt, sie haben in ihrer bildenden Kunst 
die Dinge als individuelle stoffliche Erscheinungen nicht im Räume, 
sondern in der Ebene hingestellt, so erinnern wir wohl mit Recht 
daran, daß er in seinen Stilfragen 1893 die andere und meines 
Erachtens richtige Überzeugung ausgesprochen hatte: 

„Wir werden schon a priori das plastische Kunstschaffen als 
das ältere, primitivere, das in der Fläche bildende als das jüngere, 
raffiniertere bezeichnen dürfen. Etwa ein Tier in feuchtem Ton 
schlecht und recht nachzumodellieren, dazu bedurfte es keiner höheren 
Betätigung des menschlichen Witzes, da das Vorbild in der Natur 
vorlag. Als es sich aber zum erstenmal darum handelte, dasselbe 
Tier auf eine gegebene Fläche zu zeichnen, zu ritzen, zu malen, 
bedurfte es einer geradezu schöpferischen Tat Denn nicht der 
vorbildlich vorhandene Körper wurde in diesem Falle nachgebildet, 
sondern die Silhouette, die Umrißlinie, die in Wirklichkeit nicht 
existiert und vom Menschen erst frei erfunden werden mußte." — 



Zur Vorstellung einer stofflichen Individualität dagegen gehört die dritte Dimension 
als integrierender Bestandteil, sowohl der ursprünglichen Natur dieser Vorstellung 
nach, die wir nur auf Grund unseres eigenen Körpers gewinnen und ausbilden können, 
wie in begrifflicher Abstraktion. Im Augenschein für sich werden die beiden Flächen- 
dimensionen zum Surrogat der dritten, und als solche unentbehrlich. Die eben- 
flächige Darstellung aber ist nur für den einen Sinn, das Auge, verständlich, für 
den Tastsinn überhaupt nicht vorhanden. Die Vorstellung wird auf Grund zwei- 
dimensionaler Anregungen des Bildes nur durch die Erfahrungen des Tastsinnes 
ergänzt. 

i) Auch hier wird nur an die zweidimensionale Darstellung der Gegenstände 
für das Auge gedacht. Den klaren Eindruck trüben können sie nur in der flächen- 
haften Wiedergabe. 

2) Wie weit dies Verfahren bewußt als „Aufgabe der bildenden Kunst" erfaßt 
worden sei, lassen wir besser dahingestellt. Es kommt vielmehr alles auf den Er- 
weis des tatsächlichen Verfahrens aus den Denkmälern an, und diese Prüfung des 
Kunstwollens hat jede Voreingenommenheit doktrinärer Art fernzuhalten. 



^ 



I^ I. Einleitung 

Aber „die Natur blieb für die Kunstformen auch dann noch vor- 
bildlich, als dieselben die Tiefendimension preisgegeben und 
die in der Wirklichkeit nicht existierende umgrenzende Linie zum 
Elemente ihrer Darstellung gemacht hatten" (S. i und 2). 

Denselben Gang der Entwicklung bestätigen aber auch die 
erhaltenen Zeugen der frühesten menschlichen Kunsttätigkeit, die 
bisher gefunden worden sind, in den Höhlen der Dordogne. „Die 
unmittelbare Reproduktion der Naturwesen in ihrer vollen körper- 
lichen Erscheinung steht hiemach im Anfange alles Kunstschaffens: 
die ältesten Kunstwerke sind plastischer Natur — d. h. volles 
Rund werk. — Da man die Naturwesen jedoch immer von einer 
Seite sieht, lernt man sich mit dem Relief begnügen, das eben nur 
so viel vom plastischen Scheine wiedergibt, als das menschliche 
Auge braucht So gewöhnt man sich an die Darstellung in einer 
Fläche und gelangt zum Begriff der Umrißlinie. Endlich verzichtete 
man auf den plastischen Schein vollständig und ersetzte denselben 
durch die Modellierung mittels der Zeichnung** (S. 19 f. 29). 

Gehen wir von diesen Anschauungen aus, die immer auch die 
unsrigen gewesen sind, wenn wir sie auch anders, nämlich aus der 
Organisation des Menschen selber herzuleiten versucht haben, so 
erscheint die oben durchverfolgte Deduktion in dem neuen Buche 
Riegls als eine keineswegs glückliche Verbesserung, die dem aus- 
gesprochenen Ergebnis seiner Beobachtungen über die Rolle der 
Ebene in der antiken Kunst nachträglich angepaßt wurde. Es wird 
alles darauf ankommen, festzustellen, wie weit dieses Ergebnis zu 
Recht besteht und einer wissenschaftlich befriedigenden Analyse 
der Kunstwerke selber verdankt wird. 



IL 

KRITIK DER ERSTEN BEISPIELE RIEGLS 

Damit wir in der richtigen Auffassung des Endergebnisses ganz 
sicher gehen, mag hier noch die zusammenfassende Stelle angeführt 
werden, in der Riegl die erste Hauptphase in der Entwicklung der 
bildenden Künste des Altertums charakterisiert: 

„Größte Strenge der rein sinnlichen Auffassung von der stoff- 
lichen Individualität der Dinge und infolgedessen möglichste An- 
näherung der stofflichen Erscheinung des Kunstwerkes an die 
Ebene. Diese Ebene ist nicht die optische, die uns das Auge bei 
einiger Entfernung von den Dingen vortäuscht, sondern die haptische, 
die uns die Wahrnehmungen des Tastsinnes suggerieren, denn von 
der Gewißheit der tastbaren Undurchdringlichkeit hängt auf dieser 
Stufe der Entwicklung auch die Überzeugung von der stofflichen 
Individualität ab. Vom optischen Standpunkt betrachtet, ist diese 
Ebene diejenige, die das Auge dann wahrnimmt, wenn es an die Ober- * 
fläche eines Dinges so nahe heranrückt, daß alle Umrisse und na^ 
mentlich alle Schatten, durch welche sich eine Tiefenveränderung 
verraten könnte, verschwinden. Die Auffassung von den Dingen, 
die dieses erste Stadium des antiken KunstwoUens kennzeichnet, 
ist somit eine haptische und, soweit sie notgedrungen bis zu einem 
gewissen Grade auch eine optische sein muß, eine nahsichtige; ' ! 

sie findet sich verhältnismäßig am reinsten in der altägyptischen j 

Kunst zum Ausdruck gebracht." 

Bei dem bestimmenden Übergewicht, das darnach den tast- 
baren Eigenschaften der Dinge eingeräumt wird, würden wir infolge 
einer rein sinnlichen Auffassung der Dinge nach ihrer stofflichen 
Individualität gewiß eine möglichste Annäherung der stofflichen 
Erscheinung des Kunstwerks an die Körperlichkeit selbst und nicht 
an einen Teil derselben, die Ebene, erwarten. Doch folgen wir der 
angewandten Methode zur Feststellung des KunstwoUens aus den 
Denkmälern, wenigstens an einigen Beispielen nach. 

Das Architekturideal der Altägypter wäre darnach in der Py- 



l6 11- Kritik der ersten Beispiele Riegls 

ramide zum reinsten Ausdruck gelangt. „Vor welche der vier 
Seiten immer der Beschauer sich hinstellt, sein Auge gewahrt stets 
bloß die einheitliche Ebene des gleichschenkligen Dreiecks, dessen 
scharf abschließende Seiten in keiner Weise an den Tiefenanschluß 
dahinter gemahnen." Damit wird dem Betrachter ein bestimmter 
Standpimkt angewiesen, den er jeder der vier Seiten gegenüber 
einnehmen soll. Dort festgebannt, gewahrt sein Auge allerdings 
nur die einheitliche Ebene des Dreiecks. Aber es gewahrt an dieser 
Ebene noch eine besondere Eigenschaft, nämlich die Stellung oder 
Lage zu dem aufrechtstehenden Beschauer. Diese Ebene steht 
nicht als senkrechte Wand ihm gegenüber. In diesem Falle paßte 
die Beschreibung auf einen Würfel, aber nicht auf die Pyramide, 
Ihre Eigentümlichkeit besteht gerade darin, daß die vier Ebenen 
sich gegeneinander neigen: von der Basis vor dem Menschen bis 
zur Spitze hinauf weicht auch das Dreieck, das soeben gesehen 
wird, zurück, imd wird so, gegen den Himmel gekehrt, zum Licht- 
fanger, der bei seiner kolossalen Höhe wohl auch Abstufimg der 
Helligkeit aufweisen dürfte, und zwar von oben nach unten, wie die 
Fläche sich ausbreitet Doch darauf soll es nicht ankommen; nur 
die scharf abschließenden Seiten des Dreiecks geben in der schrägen 
Lage der Ebene zwischen Gipfel und Hypotenuse schon durch ihren 
Verlauf die Richtimg von vom nach hinten, vom Beschauer weg 
bis zu einem bestimmten Abstand, den die Spitze bezeichnet Sie 
gemahnen also doch, was Riegl leugnet, an den Tiefenanschluß 
dahinter. Nur fallt diese Tiefenerstreckung mit der Höhenrichtung 
zusammen. Endlich aber ist der amgewiesene Standpunkt gerade 
vor solcher rückwärts geneigten Dreiecksebene doch nicht der 
einzige, den wir einnehmen können. Je weniger wir aufgelegt sind, 
uns wie ausschließliche Augengeschöpfe mit einer Ansicht zu be- 
gnügen, desto freieren Gebrauch werden wir von dem Wechsel des 
Standpunktes machen, um die stoffliche Individualität des Dinges 
da möglichst allseitig zu erfassen. Da führt uns unsere Ortsbewe- 
gung notwendig auch vor die scharfe Ecke, wo zwei solcher Drei- 
ecksebenen aneinanderstoßen, und die Flucht dieser schrägen 
Flächen nach hinten und nach oben gibt uns vollends Aufschluß 
über die Distanz zwischen Basis und Spitze, nicht nur der Höhen-, 
sondern auch der Tiefenerstreckung nach. Wiederholen wir dies 
auf allen übrigen Seiten, so steht für uns die Tatsache fest: das 
Ding da mit seinen vier Ebenen ist ein Körper. Alle Seiten 
weichen nach oben zurück bis zum Höhenlot, das von dem Gipfel 



Die* Pyramide i n 

bis auf die Horizontalebene des Erdbodens gefallt wird. Schätzen 
wir dann noch die Regelmäßigkeit der kristallinischen Gesamtform 
ein, wie sich gebührt, die Schärfe ihrer Grenzen, die Abwesen- 
heit alles Schmuckes, so geht uns der Wert des reinen abstrakten 
stereometrischen Gebildes auf. Nun erst stimmen wir bei: „die 
stoffliche Individualität im strengsten altorientalischen Sinne konnte 
kaum einen vollendeteren Ausdruck finden." Riegls Analyse frei- 
lich hat sich die Hauptsache, die Körperhaftigkeit und die Höhen- 
richtung im Verhältnis zur Breitenausdehnung unten, von der Fuß- 
ebene bis zum Gipfelpimkt, entgehen lassen. 

Die Pyramide wäre zweifellos als massives Gebilde zur Körper- 
bildnerin, und zwar zur Tektonik, nicht zur Architektur zu rechnen, 
wenn sie nicht doch Raumgebilde in ihrem Innern einschlösse. 
Die Grabkammer für die Mumie und vollends das Wohngemach 
für die Seele des abgeschiedenen Königs sind freilich eng und 
klein im Vergleich zum Äußeren, das sie birgt; aber sie sind doch 
der Kern des Ganzen. Ebendiese Raumbildung unterscheidet die 
Pyramide von dem rein tektonischen Körper, dem Obelisken, dem 
abstrakten Mal an sich. Ganz anders muß sich dagegen die Raum- 
bildung ausdehnen, wo es sich um Bauten handelt, „die nicht den 
Toten, sondern den bewegungsfrohen Lebenden gewidmet sind". 
Schon die „Pyramidenstutzform des altägyptischen Wohnhauses" 
verkündet in dem Mangel der zusammenfassenden Spitze die anders- 
artige Natur dieses Gesamtkörpers. Es ist die Fassung eines Kol- 
lektivums, müssen wir gegen Riegl betonen, der auch hier nur 
„die schattenlosen, ungegliederten Flächen" der Umfassungsmauern 
von außen betrachtet, aber nichtsdestoweniger von der „kristalli- 
nischen Form des Äußeren" redet, also nicht nur die Ebenen, son- 
dern auch den daraus zusammengesetzten Körper anerkennen 
muß. „Was sich hinter den fensterlosen kurzen Mauern an Raum 
verbirgt, verrät sich in keiner Weise dem von außen Blickenden." 
Gewiß, volle Abgeschlossenheit nach außen. Abfangung des An- 
dringenden, ob der neugierigen Augen oder der habgierigen Hände, 
durch die aufgeschichteten schräg abgleitenden Wände. Aber hat 
nicht auch der von innen blickende Bewohner sein Recht, imd 
doch wohl ein höheres an diesem Kunstwerk? Und waren es nicht 
„die bewegungsfrohen Lebenden", denen der Bau gewidmet sein 
sollte, d. h. eine Mehrzahl, die nicht still sitzen oder liegen wie der 
tote Monarch, sondern sich am Tage hin und her bewegen, Spielraum 
mit Luft und Licht von der Behausimg verlangen, die sie umschließt? 

Schmariow, KaostwissenschafU 2 



i8 n. Kritik der ersten Beispiele Riegls 

Wir werden mißtrauisch gegen die angebliche „Raumscheu" 
der alten Ägfypter, wenn uns nicht einmal ein Blick in ihr Haus- 
wesen gegönnt wird, und lassen dies Vorurteil lieber hinter uns, 
wenn wir die Schwelle der Tempelanlagen betreten. Geradezu ein 
logischer Fehler dient der Absicht, ims dieses Kunstprinzip zu er- 
weisen, in dem Satze: „zunächst wurde der vom Gebrauchszwecke 
geforderte Raum in eine Reihe dunkler Kammern zersplittert, in deren 
Enge ein künstlerischer Raumeindruck ohnehin nicht aufkommen 
konnte." Denn wo ist der vom Gebrauchszweck geforderte Raum 
anders zu fassen als in den vorhandenen Kammern? Von einem 
vorher existierenden Ganzen weiß doch der Ägypter nichts, der in 
diese Flucht von Kammern tritt, die eben genau so vom Zwecke 
des Tempelbaues gefordert wurden, mögen wir das Gebrauchszweck 
nennen oder mit einem höheren Ausdruck künstlerischer Art cha- 
rakterisieren. Jedenfalls aber vermag der unentrinnbare Raumein- 
druck in der Enge dunkler Kammern ebensowohl künstlerisch zu 
sein, wie bei größerer Raum weite, die hier stillschweigend als 
allein berechtigt angenommen wird. Nach dieser allzubequemen 
Eliminierung des inneren Raumgebildes muß ohnehin das Vor- 
handensein von großen Räumen davor oder daneben anerkannt 
werden. Diese offenen Höfe sollen wir jedoch ebenfalls nicht als 
Raumgebilde auffassen, weil ihnen „mit dem Abschlüsse nach oben 
die volle Innenräumlichkeit fehlte", indem wir also abermals einen 
ganz fremden Begriff, nämlich den vom völlig abgeschlossenen 
Innenraum, zulassen müßten, auf den es hier gar nicht ankommt. 
Wir anerkennen auch diese Höfe imter freiem Himmel ebenso wie 
die Sphinxalleen als Raumbildungen der Architektur und erblicken 
auch in der weiteren Durchgliederung vor den Umfassungsmauern 
kein Hindernis, uns im Innern eines solchen Raumes zu fühlen. 
Wenn „den die Seiten abschließenden Wandflächen Säulenreihen 
(d. h. isolierte Formgebilde) vorgesetzt sind", so mag dies geschehen 
sein, wie Riegl sie erklärt, „um den optischen Flächeneindruck der 
Wand dahinter zu brechen und dafür tastbare Einzelformen dem 
Beschauer vor Augen zu rücken." Diese Vorliebe für nicht allein 
vor Augen tretende, sondern in diesem Fall auch berührbare und 
umgehbare Körper, begrüßen wir nur als Bestätigung xmserer aus- 
gesprochenen Ansicht von der Körperhaftigkeit der Pyramiden, 
denen wir die Pylonen am Eingang und die Sphinxreihen am Wege 
des durchschreitenden Besuchers anfügen dürfen. Wir fassen sogar 
die abschließenden Wandflächen hinter den Säulenreihen nicht bloß 



Ägyptischer Tempel ig 

als optische Flächeneindrücke, sondern als hap tische, leibhaftig 
tastbare Ebenen, wenn uns nur die Raiundistanz nicht geleugnet 
wird, die der Agjrpter, vom vorgeschriebenen Wege seitwärts ab- 
weichend, zurücklegen mußte, sowie es ihm darauf ankam, seinem 
Tastvergnügen nachzugehen. 

Desto entschiedener müssen wir ebendeshalb Einspruch er- 
heben, wenn Riegl uns die vollständig geschlossenen großen Säle 
mit fester Decke in den Tempelbauten von Kamak zuerst als 
gänzlich leere Räume sehen läßt, was sie doch niemals waren. Es 
geschieht auch nur, um uns zu beweisen, die Innenräimie hätten 
mit ihren weiten, vom Auge entfernten und daher optisch wirkenden 
Flächen der vier Wände, der Decke und des Fußbodens dem 
Ägypter das höchste Unbehagen verursachen müssen. Das wissen 
wir nicht, denn solche Raumeindrücke gab es gar nicht Wir kommen 
durch das Herbeiziehen dieser andersartigen Vorstellung nur ganz 
verkehrt in das Raumgebilde hinein, das wirklich dastand. Die 
Säle sind also nicht deshalb erst „mit einem Walde deckenstützender 
Säulen in nahen Abständen derart dicht angefüllt, daß alle jene 
Flächen, die im räumlichen Sinne hätten wirken können, zerschnitten 
und zerstückelt wurden", sondern der Sachverhalt liegt gerade 
umgekehrt. Nicht „der Eindruck des Raumes ward trotz der be- 
trächtlichen Ausdehnung zurückgedrängt, ja vernichtet, und dafür 
der Eindruck der Einzelformen (Saiden) dem Auge aufgedrängt", son- 
dern für den „bewegungsfrohen Lebenden" sind die kolossalen 
Salden von gewaltiger Dicke durchaus das Prius des Eindruckes. 
Ihre dichten Reihen, zwischen denen er freilich überall entlang gehen 
kann, gewinnen beim Durchblick im Schreiten durch Verschiebung 
und Überschneidung erst recht an Körperwucht. Ein Körper- 
gedränge imd -geschiebe bewegt sich vor dem Menschen her oder 
auf ihn zu, obgleich er überall dazwischen hin und daran vorbei 
kann, so daß der Ausdruck „ein Wald von Säulen" sich ungerufen 
einstellt, wenn man auch den Wald vor Stämmen nicht zu sehen 
braucht. An diesen Körpergebilden müssen wir das eigentümliche 
Kunstwollen des Ägypters zu fassen suchen, selbst im abgeschlosse- 
nen Innenraum, dessen Begrenzung nach außen in diesem Gedränge 
von Einzelkörpem gar nicht in Betracht kommt. Wenn wir 
dann Riegl vollkommen beistimmen, daß an den geböschten 
Außenflächen der Umfassungswände solches Tempelsaales „absolut 
jede Erinnerung an das Innere unterdrückt ist**, so fragen wir doch 
billigerweise, warum dies Innere nicht auch am ägyptischen Wohn- 

2* 



20 II' Kritik der ersten Beispiele Riegls 

bau ebenso unabhängige Betrachtung verdiente wie beim Tempel. 
Es fehlt in beiden Fällen, ja in allen Beispielen bisher die Verwer- 
tung des menschlichen Subjekts mit seiner Ortsbewegung, das 
ein architektonisches Kunstwerk umwandemd oder durchwandelnd 
an sich erlebt Wie soll denn anders das Ergebnis gewonnen 
werden: „nach außen steht der äg^yptische Tempel mit seinen un- 
gegliederten Mauern da wie eine tastbare Einheit in der Welt**, 
d. h. doch wie ein Körpervolumen? — „im Innern zerfallt er in 
Mikrokosmen, die wieder ihrerseits mit Einzelformen ausgefüllt 
sind'', d. h. doch in Raumgebilde, und seien diese auch nichts als 
Säulenbehälter, die nur so viel Zwischenraum gewähren, als zum 
vollen künstlerischen Genuß dieser Körpergebilde, die, obendrein 
noch mit Bilderschrift bedeckt, ringsum gelesen sein wollen, nun 
einmal erforderlich bleibt Dabei sehen wir vom großen vorge- 
schriebenen Wege durch die ganze Anlage hin, d, h. von der 
Richtungsachse der psychagogischen Veranstaltung noch vorerst 
ab. Ihrer Bedeutung ist schon Gottfried Semper mit dem Namen 
„Prozessionstempel" gerecht geworden.^) 

Demgemäß läßt sich Riegls Charakteristik des hellenischen 
Tempels so umstellen: „Das griechische Säulenhaus imterscheidet 
sich schon äußerlich dadurch vom ägyptischen Tempel, daß es trotz 
der in seinem Innern enthaltenen, allerdings beschränkten Mehrzahl 
von Räumen eine leicht überschaubare, wenn auch nicht streng 
zentralisierte Einheit bildet Es ist, wie das Satteldach mit den 
Dreieckgiebeln vom und hinten, die oblonge Gesamtform, in der 
sich (an den Flanken, nicht an der streng zentralisierten Front) die 
Existenz eines der Bewegung des Menschen eingeräumten Innern 
nach außen verrät Seine einzelnen Seiten sind zwar im ganzen 
immer noch Ebenen, aber im einzelnen nicht mehr imgegliederte 
tastbare Flächen, sondern in die Formenreihen der Säulenportiken 
aufgelöst In den Säulenportiken begegnen wir den ersten An- 
erkennungen der Tiefe, des Schattens und des Raumes an den 



i) Riegls neuerliche Charakteristik B. z. A. Z. 1902 S. 154: „Der altägyptische 
Tempel gibt sich als ein Gebäude und weist dem Beschauer eine ungeteilte ebene 
Wand: er zeigt sich also abgeschlossen in der Höhe und Breite, nicht aber nach 
der Tiefe; und er bleibt ohne alle Gliedenmg in Teile", hält sich eben nur an die 
eine Seite. „Der altägyptische Tempelsaal ist ... in lauter schmale Korridore zer- 
schnitten", enthält denselben Fehler: an Stelle des ästhetischen Eindrucks tritt die 
genetische Beschreibung aus dem Grundriß. Der Vergleich mit Korridoren ist un- 
glücklich. 



Griechischer Tempel 2i 

Dingen, in noch beschränktem Ausdruck, wobei aber das Auge 
sofort an der geschlossenen Cellawand seinen Halt findet, wie an 
der ebenen Grundfläche eines Reliefs." Tritt aber der Besucher selbst 
zwischen die Säulenreihen, so erlebt er doch an diesen Marmor- 
stämmen das nämliche Gefühl der Körperlichkeit in unmittelbarer 
greifbarer Nähe, wie im ägyptischen Säulensaal, nur frei von dem 
Gedränge und Geschiebe der vielfachen Reihen hintereinander. 
Diese Beziehimg auf Nahsicht darf nicht fehlen. Dann erst kommen 
wir zum Genuß der Langseiten beim Umwandeln des Ganzen außer- 
halb. „Will das Auge die Säulen in ihrem gewollten Verhältnisse 
als Teilglieder eines harmonischen Ganzen genießen, so muß es in 
einiger Entfernung von den Teilflächen abrücken, woraus sich er- 
gibt, daß die Aufnahme des griechischen Tempels (doch nicht etwa 
ausschließlich!) aus jener der Normalsicht entsprechenden mäßigen 
Entfernung zu erfolgen hat, in welcher haptische Klarheit des 
Details und optische Übersicht über das Ganze in gleichem Maße 
zur Geltung gelangen können." 

Durchaus irreführend aber ist die Behauptung: auf Schaffung 
von Innenräumen seien auch die Griechen der klassischen Zeit noch 
keineswegs ausgegangen; „der einzige größere Raum im Tempel- 
innem, die Cella, wurde durch die Hypäthralität auf die Entwick- 
lungsstufe des ägyptischen Hofes zurückgedrängt." Zweifellos hat 
die Cella ihren Ursprung im Tempelhof, als geheiligtem Innenbe- 
zirk unter freiem Himmel, und konnte erst bei Beschränkung oder 
Verlegung des Brandopfers sich in das überdachte Zelt verwandeln, 
das, in Holz oder Stein, gewiß die mannigfachsten Übergangsformen 
bewahrte. Wer aber den ästhetischen Wert dieses Raumgebildes 
im Innern als integfrierenden Teil des Kunstwollens begreifen will 
— und das ist er unbedingt — , der darf diese Obergänge zwischen 
Binnenhof und bedachter Cella nicht auseinanderschneiden, einem 
fremdartigen Begriff" des völlig (auch nach oben) geschlossenen 
Innenraums zuliebe. Auch hier liegt das letzte Ziel der Prozession 
vor dem Götterbilde in der Cella, mag auch der größte Teil des 
Festzuges draußen bleiben, die Menge des Volks das Heiligtum 
rings umstellen. Dann wirken die aufrechten Einzelglieder ringsum, 
ob Holzpfahle oder Marmorsäulen, in ihrer ursprünglichen Funktion 
als Wahrzeichen an der Grenze des geheiligten Grundes, und 
machen sich geltend als „greifbar materielle und als solche un- 
mittelbar sinnlich wirkende" Körper, die auch Druck und Stoß der 
Andringenden widerstehen. Jene rein optische Auffassung des 



2 2 II- Kritik der ersten Beispiele Riegls 

Formenspiels in Licht und Schatten ist eine spätere, gewiß langsam 
genug entwickelte, deren allmählichen Fortschritt die Formensprache 
der plastischen Einzelbildung erkennen läßt. So angesehen, darf die 
Frage offen bleiben, ob die Reihen von Einzelgliedem am Äußern 
nicht zunächst sich eher wie eine Herauskehrung der Säulen des 
ägyptischen Tempelsaals oder Hofes nach außen, d. h. wie eine 
rein körperlich für Tastbarkeit und Nahsicht berechnete Grenz- 
scheide darstellten, ob nicht die Behauptung Riegls: „der griechische 
Tempel sei ein Gebäude und zeige noch immer im ganzen eine 
ebene Wand, die aber nun schon in eine Reihe von Formen 
(Peripteros) aufgelöst ist," — eine fortgeschrittene Phcise der Ent- 
wicklung charakterisiert, und zwar besonders mit dem Zusatz: „als 
Ganzes ist er noch in Hohe und Breite abgeschlossen, in den Teilen 
(Säulen) aber schon nach der Tiefe," wenn hiermit die Reliefauf- 
fassung dieser Außenseiten gemeint ist, wie oben im Genuß bei 
normalsichtiger Entfernung. 

Daß unter den Diadochen ein entschiedener Fortschritt in der 
Ausbildung von „monumentalen" Innenräumen geschehen ist, wird 
man kaum bezweifeln. Kühner klingt die Versicherung: „Die 
monumentale Bauform der hellenistischen Zeit ist die einfache 
Rotunde. Auch sie ist noch immer ein Gebäude, aber sie ist nun 
als Ganzes auch nach der Tiefe abgeschlossen und darin ganz 
unorientalisch (vergl. aber die Pyramide als Körper im Raum!). 
Hingegen ist sie wiederum ohne alle Gliederung in geformte Teile, 
und in dieser Hinsicht zum Orientalismus zurückgewandt" „Erst 
der hellenistische Zentralbau gewährt dem Innenraum Eingang, aber 
in einer Weise, die die tastbar isolierte Außenform der Rotunde 
auch im unfaßbaren leeren Innenraum noch deutlich durchfühlen 
läßt." Wir geben diese Stellen zum Verfolg des Gedankenganges 
wieder, gehen aber von den unsichem Beispielen, die archäologische 
Streitfragen heraufbeschwören, zu einem letzten erhaltenen Denk- 
mal über, das allerdings auch zu Zweifeln Anlaß geben mag, aber 
als Abschluß der verfolgten Reihe besonders geeignet scheint, die 
weiteren Wege zu weisen. 

„Den ältesten erhaltenen, völlig geschlossenen Innenraum von 
wahrhaft bedeutenden Dimensionen und ofiFenbar künstlerischen 
Absichten birgt das Pantheon in Rom." Zunächst das Äußere: 
„Abgesehen von dem angelehnten Giebelportikus, stellt es eine 
reine Rotunde dar, die wenigstens für den femsichtigen Anblick 
ein absolut symmetrisches Flächenbild ergibt. Die zentrale tastbare 



Das Pantheon in Rom 2^ 

Formeinheit ist somit noch immer als oberstes Kunstziel festge- 
halten; alle kristallinische Brechung in klargesonderte, ebene Außen- 
flächen erscheint aufgehoben. An die Stelle der absolut ruhigen 
Ebene (des ägyptischen Kunstideals) ist die ruhelose, tiefensuchende 
Kurve, an Stelle der (am griechischen Säulenhaus beobachteten) 
Außengliederung in Teilformen das xmterschiedlose Aufgehen aller 
denkbaren Teilchen in die Form des Ganzen gesetzt. Das fenster- 
lose Pantheon steht darin noch auf gemeinantikem Boden, daß es 
ein zu klarer Einheit geformtes, in feste Grenzen gefaßtes stoffliches 
Individuum sein will. Mit seinem Streben nach unendlicher Tiefen- 
änderung innerhalb seiner festen Grenzen bezeichnet es den extremen 
Gegensatz zum altägyptischen Stil; mit seiner unbedingten Beugimg 
aller möglichen Teile unter die absolute Einheit des Ganzen tritt 
es andrerseits in Gegensatz zur griechisch-klassischen Kunst imd 
nähert sich damit abermals dem altägjrptischen Stil, der ebenfalls 
bloß gliederlose Außenflächen gekannt hat." 

Diese Charakteristik des Äußern läßt einen Bestandteil unbe- 
nutzt, das Kuppeldach, das, wie immer es auch ursprünglich be- 
kleidet gewesen, die Auffassung des Ganzen als eines isolierten 
Körpers erst zwingend vollendet, so daß dieser Eindruck, wie bei 
der Pyramide, alle übrigen überwiegt. Damit haben wir aber eine 
saubere Herausschälung des Zentralbaues, die dem Originalzustand 
kaum entsprechen kann, da er als Hauptsaal der Thermen des 
Agrippa eben einem größeren Komplex von Räumen angehörte. 
Es fragt sich andrerseits, ob wir von der Vorhalle, selbst wenn ihre 
jetzige Gestalt nachhadrianischen Ursprungs ist, so völlig absehen 
dürfen, wie es Riegl beliebt. Der Giebelportikus ist freilich „keine 
Komposition der Rotunde mit dem oblongen Säulenhaus", besonders 
nicht im Sinne einer innem Raumkomposition; aber er bedeutet 
doch „wesentlich nur als Bereicherung des Portals" immer einen 
integrierenden Bestandteil des Äußern, das bei Feststellung des 
KunstwoUens der Zeit, die ihn errichtet hat, nicht außer Betracht 
bleiben darf. Schließt sich im Innem dieser Vorhalle auch die 
dreischiffige Anlage, mit tonnengewölbter Erhebung des mittleren 
Ganges über den flachgedeckten Abseiten, an die Richtungsachse 
des Eintritts in den Zentralbau an, so ist doch der Eindruck des 
Äußern ganz anders geartet Die Giebelfront erscheint nicht wie 
der Pronaos zur Cella gerichtet, sondern quer vorgelegt, eben wie 
ein breiter Portikus, und weist in dieser seitlichen Richtung seiner 
Säulenreihen weiter nach rechts und links. Der Dreieckgiebel und 



2J. 11. Kritik der ersten Beispiele Riegls 

seine Wiederholung am Baukörper dahinter zentralisiert diese 
Breitenausdehnung über dem geraden Gebälk; beide Spitzen lenken 
den Blick zur Höhe gegen die Kuppel und auf die Mitte der Ka^ 
lotte, wo wir die Gipfelung erwarten. Da hier die RundöfFnung 
den Scheitel abschneidet, errichten wir selbst in Gedanken die 
Vertikalachse im Zentrum oder fallen vom Höhepunkt das Lot 
durch die ÖflEnung auf den Mittelpunkt der Kreisfläche des Bodens. 
Erst damit vollendet sich die adäquate Auffassung des Gesamt- 
körpers, wie bei einem kristallinischen Gebilde. 

Unterhalb des zusammenfassenden Gebälks der Vorhalle voll- 
ziehen wir dagegen, dieser Mittelachse der Symmetrie gemäß, die 
Diremtion nach beiden Seiten. Neben der Säulenreihe vom er- 
warten wir einen weitem Zusammenhang, anstoßende, wenn auch 
weiter zurücktretende Ebenen, aus deren Mitte die Reliefebene der 
Tempelfront als Hauptstück hervorragt. Hier verdeckten den Zen- 
tralbau doch wohl Umfassungsmauern des Gebäudekomplexes, zu 
dem die Rotunde mit ihrer Eingangshalle als Hauptportal gehörte. 
Schmuckwände in minder starker Reliefanschauung sollten ihr als 
Folie gedient haben. Und diese Vermutung wird noch unterstützt 
durch den Anblick alter Abbildungen, die in den Interkolumnien 
übermannshohe Schranken zeigen, — wie man meint, eine spät- 
römische Zutat; aber auch ein unverkennbares Wahrzeichen der 
gewollten Flächenauffassung für die gesamte Ausdehnung dieser 
unteren Partien. 

In der Gesamtansicht von dieser Seite sollte jedoch der Kuppel 
jedenfalls die Rolle der Dominante zufallen; sie war der Ruhe- 
punkt, auf den sich alles sammelte, wenn der Beschauer auf dem 
Platz vor der Fcissade das Ganze übersah. Ihre Kurvatur aber 
leitete, wie die Biegung der Seitenflächen des Mauerzylinders, so- 
weit diese noch sichtbar blieben, den Blick in die Tiefe des übrigen 
Komplexes dahinter, bis etwa ein anderes Bauwerk, wie der große 
Saal, den die Ausgrabungen jenseits festgestellt haben, mit seiner 
Wand den weiteren Verfolg dieser Richtung abfing, also auch den 
Körper der Rotunde vor einer letzten Ebene noch isolierte. Da- 
mit erst wird dem Beschauer, in richtiger Entfernung vor der Ge- 
samtansicht, der feste Standpunkt angewiesen, mit dem Riegl von 
vornherein als dem einzig möglichen rechnet, wenn er hsrvorhebt, 
beim Pantheon müsse die Femsicht eintreten. „Nicht zwei Punkte 
einer Zone desselben liegen in der gleichen Ebene, und es bedarf 
daher der einheitlichen Übersicht über sie alle, um die begehrte 



Das Pantheon in Rom 



25 



Einheit, d. h. Symmetrie in Höhe und Breite, wahrzunehmen." Das 
trifft nun aber zunächst nur für die oberen Partien zu, die hinter 
der Umfassungsmauer der altem Thermenanlage oder über der 
Säulenhalle des spätem Umbaues hervorragten. Denken wir aber 
den untern Teil des Zentralkörpers so verdeckt, wie der quergelegte 
Portikus und seine Anweisung auf die Breitenrichtung verlangen, 
dann besteht auch für diese Teile zugleich die Femsicht zu Recht. 
Beim Näherkommen des Betrachters aber fordert die Säulenfront 
auch zur Normalsicht heraus, wie beim griechischen Tempel, und 
beim Eintritt über die Schwelle stellt sich von selbst auch die 
Nahsicht ein, für die das plastische Einzelwerk gearbeitet ward. 
Die Femsicht schließt diese beiden früheren Stadien des Kunstge- 
nusses nicht aus, sondern tritt nur als dritte Möglichkeit hinzu. 
Sie entspricht nur dem dritten Abstände, und zwar allein dem 
festen Standort des Betrachters für die rein optische Anschauung 
des Ganzen als Bild, — d. h. als Fembild, die wir ebendeshalb 
als die spezifisch malerische von den andern zu unterscheiden 
pflegen. (Beitr. 11 S. 12 f.) 

Mit solcher Anerkennung aller, auch der früher bevorzugten 
Möglichkeiten, vermeiden wir die seltsame historische Theorie, die 
sich aus der einseitigen Betonung der Femsicht bei Riegl ergäbe: 
als wären die Altägypter nur kurzsichtige Taster, die Hellenen 
allein normalsichtige Menschen, die Römer erst weitsichtige Späher 
gewesen. Nach dieser Berichtigung anerkennen wir gern den 
Schlußsatz: „Damit verrät das Äußere des Pantheon zugleich das 
Bestreben, sich nicht bloß nach den Flächendimensionen hin, 
sondern auch nach der Tiefe zu isolieren, worin eine offene Aner- 
kennung des kubischen Raumes enthalten ist." Nur eine Differenz 
könnte sich noch ergeben, und zwar was die Tragweite der Ge- 
samtansicht, sei es auch nur in der letzten spätrömischen Redaktion 
der Fassade, betrifft. Wie weit war bei der optischen Auffassung 
vom ruhigen Standpunkt als Bild bereits die Liist an perspekti- 
vischen Effekten und Reizmitteln malerischer Art gediehen? Haben 
wir auch im Außenbau nur den kubischen Raum mit klarer Los- 
lösung des Körpers von dem Hintergrand, d. h. nur ein bestimmtes 
Ausmaß von Raumvolumen, wie im Innern? 

Riegls Verfahren, dem Denkmal das Kunstwollen seiner Ent- 
stehungszeit abzufragen, beschränkt sich auch beim Innern aus- 
schließlich auf den optischen Standpunkt und rechnet, ebensowenig 
wie bei Säulenhallen, mit der Tatsache, daß der Raum den ein- 



26 II' Kritik der ersten Beispiele Riegls 

tretenden Menschen umfangt, und mit der andern, daß der lebendige 
Mensch in der künstlerisch ausgestalteten Umschließung doch seinen 
Standpunkt mannigfach wechseln, seine Ortsbewegung betätigen 
kann. 

„Wohin das Auge des Eingetretenen blickt, auf Seitenwände 
oder Kuppelwölbung, überall stoßt es auf tiefenverändemde Flächen, 
die sich aber nirgends zur Form abgrenzen (?), sondern kontinuier- 
lich in sich selbst zurücklaufen. — So entsteht im Beschauer der 
Begriff des Raumes; aber im übrigen ist im Pantheon alles 
daraufhin berechnet, um zugleich auch das Bewußtsein von den 
stofflichen Grenzen des Raumes wachzurufen, an Stelle des reinen 
Begriffes (?) nach Möglichkeit die sinnliche Vorstellung der tast- 
baren Einheitsform, an Stelle der Tiefe — die Ebene (Höhe 
und Breite) zu setzen." 

So wenig uns die Einfuhrung des reinen Begriffes als eines 
angeblich in abstracto möglichen Prius vor der konkreten Rauman- 
schauung behagen will, so lassen wir das Bedenken doch fallen, 
indem wir vor der letzten Zumutung vollends zurückschrecken. 
Welcher Besucher des Pantheon wird mit offenen Sinnen sich über- 
reden lassen, da werde tatsächlich an Stelle der Tiefe des Raumes 
die Ebene, ein Zweidimensionales, gesetzt. Gespannt verfolgen wir 
die Begründung solcher raumscheuen Illusion des Forschers. „Der 
Eintretende", wird uns erklärt, „merkt nämlich sofort beim ersten 
Blick auf die Bodenfläche die Kreisform der begrenzenden Mauer 
und schließt daraus, daß die Abmessungen der Tiefe und Breite die 
gleichen sind; dazu gesellt sich die weitere unmittelbare Wahr- 
nehmung, daß auch die Höhe und Breite (und damit auch die Tiefe) 
gleich ist: dadurch wird dem Beschauer zwingend das taktische 
(haptische?) Gefühl der Einheit in den Maßen der begrenzenden 
Flächen erweckt." 

Mit all dieser Rechnung, deren Unterlagen wir dem Augenmaß 
verdanken und die wir deshalb lieber nur so weit mitmachen, wie 
sie in der Region des reinen Raumgefühls verbleiben kann, d. h. 
soweit sie den ästhetischen Genuß angeht und nicht den kalkulie- 
renden Verstand, der uns etwas beweisen will, hereinzieht, — mit 
all dieser Orientierung in der Raumform, die uns umschließt, kommen 
wir doch wohl nicht dazu, an die Stelle seiner Tiefenerstreckung die 
Ebene, d. h. eine senkrecht vor uns stehende Parallelebene zu 
setzen, wie es Riegl ergangen scheint, wenn wir ihn recht ver- 
stehen. Vollkommen einverstanden: „Mehr als irgendein anderer 



Das Pantheon in Rom 



27 



Innenraum der Welt hat sich der des Pantheon jene der Reflexion 
unbedürftige, echt antike Klarheit und geschlossene Einheit be- 
wahrt, die streng genommen nur der undurchbrochenen festen stoff- 
lichen Form zukommen kann" (sagen wir lieber: zuzukommen 
scheint). Da lassen wir auch den Begriff des Raumes und die ma- 
thematische Zerlegung in drei Dimensionen lieber draußen, zumal 
wenn uns die eigentliche Raumdimension, in der wir vorwärts 
dringen, dabei abhanden kommen soll. Dringen wir mit dem Auf- 
schwung der Kuppelwölbung zur Höhe, so scheuen wir auch nicht 
den Aufstieg durch die Rundöffnung in ihrem Scheitel, die Licht- 
öffiaung, von der uns Riegl glauben machen will, sie erscheine 
„auch eher als Schlußstein, denn als Durchbrechung". Da bekennen 
wir doch lieber mit Jakob Burckhardt: „Im Innern überwältigt vor 
allem die Einheit und Schönheit des Oberlichtes, welches den 
riesigen Rundbau mit seinen Strahlen imd Reflexen so wunderbar 
anfüllt'* — Wo jetzt aber das flache Rund dies Fenster umgibt, 
da „war für die ernste, monumentale Dekoration der Anlaß zur 
meisterlichsten Schöpfung gegeben. Wer bringt uns die wahren 
alten Formen wieder?" Doch hören wir noch Riegls Schluß: 

„Die frühere römische Kaiserzeit hat also das Raumproblem 
im Innern in der Weise zur Lösimg gebracht, daß sie den Raum 
gleichsam als kubischen Stoff behandelte und denselben in absolut 
gleiche und darum klare Abmessungen einfing. Damit war das 
bisher unmöglich Scheinende (?) zur Wirklichkeit gemacht, der 
freie Raum individualisiert" Mit dem ersten Satz erkläre auch 
ich mich ausdrücklich einverstanden, nur muß noch eine Erklärung 
gefunden werden, wie man aus früheren Entwicklungsstufen zu 
dieser Behandlungsweise kam. Nicht was bisher unmöglich er- 
schien, sondern was auch in andern Verhältnissen immer so be- 
handelt worden war, liegt hier in einem vollkommenen Beispiel vor. 
Damit ergibt sich aber auch der Zweifel, ob die Formulierung des 
„Raumproblems" im zweiten Satze so bestehen kann, nämlich aus 
einem Gegensatz zwischen dem abstrakten freien Raum und dem 
klar begrenzten Raumvolumen in concreto. Die Entscheidung muß 
bis auf weiteres verspart bleiben. Ich fürchte, es liegt derselbe Fall 
vor, wie beim ägyptischen Tempelsaal, wo uns erst die unbestimmte 
Raumweite als modern geläufige Vorstellung untergeschoben ward, 
deren Anwendbarkeit in der Antike aber so gut wie unzulässig er- 
scheint Dies Verfahren mag zur Verständigimg mit dem Leser 
erlaubt sein, muß aber sofort, wenn diese erreicht ist, seine 



28 n. Kritik der ersten Beispiele Riegls 

Berichtigung empfangen. Wer den Raum, wie noch im Pantheon, 
„gleichsam als kubischen Stoff" behandelt, der kennt eben den Be- 
griff des Raumes als eines unendlichen, unbegrenzten überhaupt 
gar nicht, oder geht bei der schöpferischen Gestaltung nicht von 
der Raumleere aus, die selbst etwas Positives wäre. Verhält sich 
doch selbst unsere deutsche Muttersprache noch rein negativ, in- 
dem sie ihre Ohnmacht bekennt, das Unermeßliche, Unabsehbare, 
Unendliche irgendwie anders als mit Notbehelfen, der Verneinung 
des Positiven auszudrücken. 

Aber der geschlossene, nach allen Dimensionen klar definierte 
Innenraum des Pantheon ist noch weiter durch Eigentümlichkeiten 
charakterisiert, die Riegl nicht hervorhebt, und die doch ebenso 
bezeichnend und lehrreich sind für den Zusammenhang mit der 
ganzen früheren Entwicklung des Raumschaffens. Nur nach oben 
vollzieht sich die sphärische Begrenzung. Unten liegt der wag- 
rechte Grund und Boden in klarstem Gegensatz. Hier haben wir 
die unentbehrliche Unterlage für den lebenden Menschen, auf der 
er stehen und gehen kann, die gemeinsame Basis auch für sein 
Bauen. Und wie er selbst, der Schöpfer des Bauwerks, aufrecht 
steht, steht die Wandumschließung, hier ein Mauerzylinder auf der 
Peripherie des Kreises, senkrecht da. Erst droben über dem Kranz- 
gesims dieser vertikalen Wandung beginnt die sphärische Wölbung. 
Nur sie erfüllt das Ideal unseres Sehraumes, in der möglichsten 
Annäherung an die innere Kugelfläche, — ein unverkennbarer Bei- 
trag der optischen Region, die sich selbständig neben den andern 
fühlbar macht. Da haben wir die Analogie zu den drei Stand- 
punkten, die wir außen verfolgten. Da liegt der Zusammenhang mit 
hellenistischen Voriäufem. 

Dann erst berücksichtigen wir die weitere Individualisierung 
ebendieses Zentralraumes im Pantheon, Die Erweiterung des 
Mauerzylinders durch Nischen wechselt in der untern Zone mit den 
schlichten Wandflächen oder festen Körpergrenzen, dunkle Schatten- 
tiefen mit hellen Flächen, wie Säulen und Intervalle sonst im 
kleinen. Hier aber setzt die Redaktion ein, die im wesentlichen 
erst auf die erste Hälfte des zweiten christlichen Jahrhimderts zu- 
rückgeht, im Nebensächlichen noch Beiträge aus verschiedenen 
Zeiten, bis zur Oberzone des Zylinders mit ihrer Bekleidung aus 
dem vorigen Jahrhundert aufweist. Von diesen Wandlungen, die 
mit dem Kassettensystem der Kuppel in Widerspruch stehen oder 
wenigstens keine Achsenbeziehimg teilen, sehen wir ab. Nur die 



Ergänzung der Methode 29 

Tatsache, daß diese Kassetten der innem Kugelfläche sich nach 
oben bis zum letzten Umkreis der Lichtöffnung verjüngen, also die 
Sphäre perspektivisch durchgliedem, stellt uns wieder vor die Frage, 
zu der auch die Gesamtansicht des Außenbaues schließlich hindurch- 
drängte: ist diese künstlerische Umgestaltung der schlichten Halb- 
kugelfläche nicht auch ein Zeugnis bestimmten Kunst woUens? — 
gleichwie die Durcharbeitung der Femsicht zum wirksamen Prospekt 
am Aiißem. 

Damit ist der Ausblick in weitere Entwicklungsreihen eröffnet. 
Machen wir also Halt Hier kam es nur darauf an, die Methode 
Riegls in der Analyse der Denkmäler an einigen Beispielen zu ver- 
folgen. Es hat sich wohl dabei herausgestellt, daß sie in mehr 
als einer Richtung versagt und deshalb nicht ausreicht, dem Kunst- 
wollen — auch nur der Baukunst — vollauf gerecht zu werden. 
Fassen wir die Momente zusammen, mit denen wir Riegls Betrach- 
tungsweise vervollständigen und ergänzen mußten, so fuhren sie 
alle auf einen Hauptpunkt hin: das ist die unentbehrliche Rech- 
nung mit dem menschlichen Subjekt und seiner ganzen 
natürlichen Organisation. Und damit ergibt sich, daß auf dem 
eingeschlagenen Wege keine befriedigende Erklärung erzielt werden 
kann. Es nützt uns nichts, der herkömmlichen Anordnung von 
Architektur zur Skulptur, von Malerei zur Kunstindustrie nachzu- 
gehen. Eine solche Disposition ist verfehlt, wo es gilt, die Ent- 
stehung eines neuen KunstwoUens nachzuweisen, und ganz beson- 
ders für das gesamte Altertum. 



HL 

MENSCHLICHE ORGANISATION 

Auf eine vor allem entscheidende Frage in der bisherigen 
Darlegung wird auch der entgegenkommende Leser des Riegischen 
Buches keine befriedigende Antwort gefunden haben: Wie kamen 
die Kulturvölker des Altertums zu der Eigentümlichkeit, die ihnen 
nachgerechnet wird, in ihrer bildenden Kunst nur der Ebene eine 
so bevorzugte Rolle einzuräumen? Wenn sie in den Außendingen 
stoffliche Individuen, zwar von verschiedener Größe, aber jedes zu 
einer Einheit abgeschlossen, erblickten; wenn sie mittels der bilden- 
den Kunst einzelne Individuen herausgriffen und sie in ihrer klaren 
abgeschlossenen Einheit hinstellten; wie kamen sie dazu, Ebenen 
zu schaffen, und nicht, wie wir glauben sollten, Körper im Raum? 
Die Auffassung nach Analogie der eigenen Menschennatur, der 
Anthropismus, die dabei angerufen werden, konnten sie doch nur 
dazu fuhren, in allen Dingen ringsum Rundkörper vorauszusetzen 
und in Übereinstimmung mit dem eignen Leibe Rundwerk zu 
schaffen. Auf dem Wege der reinen sinnlichen Wahrnehmung er- 
faßt, war nur dieses die individuelle Einheit, die gleich dem 
Menschen auch allen übrigen Objekten in der Welt zukam. Diese 
Auffassung ergab zwingend der Tastsinn mit seinen weitverzweigten 
Organen. Wie hätte die Mitwirkimg des Auges eine solche Ent- 
fremdung von der Hauptsache schon zu einer Zeit herbeiführen 
sollen, die so lange noch auf tastbare Bewährung der Undurchdring- 
lichkeit und Geschlossenheit der Gegenstände erpicht war, wie ims 
immer wiederholt wird. Wir begreifen wohl, — wenn auch nicht, wie 
es so „frühzeitig" geschehen sein soll, — „daß die optische Wahr- 
nehmung allein für genügend befunden wurde, um von der stoff- 
lichen Einheit eines Außendinges Gewißheit zu schaffen, ohne daß 
hierbei der Tastsinn zur unmittelbaren Zeugenschaft herangezogen 
werden mußte**. Aber wir begreifen gar nicht, wie diese Ausschal- 
timg des Tastsinnes für das bildnerische Schaffen maßgebend werden 
konnte, so daß „die wesentlichste Vorbedingung hierbei" erfüllt 



Vorrecht der Hände oj 

ward, nämlich y,daß die absolute Ebene eingehalten, die Ausdeh- 
nung auf die Dimensionen der Höhe und Breite beschränkt blieb", 
— wie Riegl will. Da handelt es sich doch gar nicht um die 
Leistungsfähigkeit des Auges für die Auffassung, bei der immer 
noch hinter dem Sehorgan der getreue Bundesgenosse vergessen 
wäre, dessen stets bereite Hilfe die Erkennung der Gegenstände, 
sowie sie ins Auge fallen, vollzieht und das Sehen so schnellfertig 
macht, sondern es handelt sich um die Darstellung von Objekten 
außer uns und um die unentbehrliche Mitwirkung der natürlichen 
Werkzeuge unseres Körpers zur Hervorbringung solcher Ge- 
bilde. Die Ausschaltung der Tastorgane ist ganz undenkbar; denn 
alles bildnerische Schaffen ist zunächst unsrer Hände Werk. Wenn 
wir glauben sollen, daß bei dieser Arbeit trotzdem die Ebene und 
nicht der Körper aus den Händen der antiken Kulturvölker her- 
vorgegangen sei, oder daß die Ebene auch nur ihr Hauptanliegen 
im Kunstwollen gewesen, so müssen die Ursachen und Beweg- 
gründe dafür zunächst auf dem» eigensten Gebiet der menschlichen 
Betätigung beim Gestalten und Bearbeiten der Rohstoffe selber 
gesucht werden. Das ist allerdings eine Stelle, wo der eigene Weg 
der Untersuchung Riegls zu dem Wege seiner materialistischen 
Widersacher hinüberzuführen, ja unvermeidlich in die Bedingungen 
der Technik imd des Materials zu münden drohte. Deshalb schien 
es geraten, diesen heiklen Punkt nach Möglichkeit zu umgehen. 
Oder sollte sich der Kenner des Kunsthandwerks diese dringliche 
Frage wirklich nicht selber gestellt haben? — Welche Wandlungen 
seines Vorstellungskreises mögen sich seit seinen Arbeiten auf jenem 
Gebiet vollzogen haben, daß er jetzt so unversehens an der ent- 
scheidenden Stelle vorbeigeht? 

Wenn Riegl in den „Stilfragen" am Anfange alles Kunst- 
schaffens das volle Rundwerk sieht, wie sollen die Altägypter dann 
auf einmal zur Ebene übergegangen sein, zum Absolutismus der 
ungeteilten Ebene, und ihr ganzes Kunstwollen diesem Zwange 
untergeordnet haben? — die Ägypter, vor deren Flachrelief dem 
Wiederentdecker dieser Knechtschaft sogar die Bemerkung ent- 
schlüpft: „man muß oft staunen, wenn man die Fingerspitzen 
tastend über altägyptische Relieffiguren gleiten läßt und nun 
die feinste Modellierung dort wahrnimmt, wo das Auge aus einiger 
Entfernung bloß eine ungegliederte tote Fläche zu sehen glaubte." ^) 



i) B. z. A. Z. 1902, S. 155 f. 



3 2 UI. Menschliche Organisation 

Zum wirklichen Tanten eines Reliefs werden wir doch im Kunstge- 
nuß auch bei ägyptischen Werken nicht vorschreiten sollen. Aber 
auch die grundlegende Tatsache wird auf der nämlichen Seite be- 
tont: „Die Ku:*.. des gesamten Altertums ist auf eine möglichst 
klare Abgrenzung der Einzelfig^ nach allen Dimensionen hin aus- 
gegangen. Das Grundziel war die Schaffung fester Grenzen — 
nach Höhe, Breite und Tiefe", d. h. doch vollrunde Körperlichkeit, 
solange nicht die Ebene, dies zweidimensionale Arbeitsfeld, den 
Verfolg der dritten Dimension zum Stillstand brachte. Erscheint 
da nicht die Ebene, das materielle Substrat, als das Hemmnis des 
Kxmstwollens? Wie können wir von den Urhebern dieser Reliefs 
behaupten, sie hätten die Dinge als individuelle stoffliche Er- 
scheinung nicht im Räume, sondern in der Ebene hinstellen wollen, 
nur dieses, nicht jenes habe ihrem Kunstwollen wirklich Tent- 
sprochen? 

Drängt sich da nicht mit vollem Rechte zunächst der Zweifel 
auf, ob das bestimmte zielstrebige Kunstwollen hier im Kampfe 
mit Rohstoff und Technik auch dazu gelangt sei, sich vollständig 
durchzusetzen? Oder darf nicht erwogen werden, weshalb der Alt- 
ägypter sich begnügt habe, mit der Wiedergabe der Körper sozu- 
sagen auf halbem Wege stehen zu bleiben, — auf die dritte Di- 
mension an sich zu verzichten, nur den Schein davon zu retten? 
Gab es nicht etwa einen andern Beweggrund für diesen Verzicht, 
als die unmotivierte Vorliebe für die Ebene allein, als Form und 
Kunstprinzip, auf das man einmal eingeschworen war, man weiß 
nicht wie? 

Auch da stoßen wir auf unzureichende Partien, auf einen 
Mangel der Methode beim Abfragen des Kunstwollens aus den 
Denkmälern, der mit jenen früher aufgewiesenen zusammenhängt, 
und schließlich ebenso darauf hinausläuft, daß der Mensch als 
schöpferisches und genießendes Subjekt nicht nach allen Seiten 
seiner leiblichen und geistigen Organisation eingeführt und als 
Maßstab aller seiner künstlerischen Auseinandersetzungen mit der 
Außenwelt anerkannt worden ist, wie es zu einer befriedigenden 
Erklärung durchaus erforderlich war. Lernt doch der Mensch im 
Verkehr mit den Dingen die andersartige Natur der Dinge im 
Unterschied von der eigenen allmählich kennen und bewerten, ja 
mittlerweile auch benutzen. Sucht er in ihnen doch nicht allein 
die Gegenstände seiner Darstellung, sondern auch die Mittel zu 
deren Hervorbringung. Muß er doch bald genug erfahren, daß die 



Orientierung vom eigenen Körper aus 33 

Bäume und die Felsen älter sind als er und noch seine Kinder 
überleben. Entwickelt er doch endlich im Verkehr mit der Außen- 
welt seine geistige Kraft, so daß es bald nicht mehr möglich fallt, 
bei der sinnlichen Wahrnehmung stehen zu bleiben und die Arbeit 
des Intellekts auszuschließen, wie in der Auffassimg, so in der 
Darstellimg, die ihn selber befriedigen soll. 

Da bewährt sich imsere Definition der Kirnst als schöpferische 
Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, in die er gestellt 
ist, schon darin, daß bei deren Vollzug zwei Pole vorausgesetzt 
sind, der Mensch und die Außenwelt. Der Mensch aber darf nicht 
allein als Körper gefaßt werden, sondern auch als Geist, wenn wir 
einmal genötigt werden, die natürliche Einheit ausdrücklich zu zer- 
legen. Und auch die Außenwelt umfaßt nicht allein die Außen- 
dinge an sich, sondern auch die mannigfaltigen Beziehungen zum 
Empfindungsleben des Menschen und die Anlässe zu psychischer 
und geistiger Durchdringung, die gerade der menschlichen Auf- 
fassimg in ihrer ursprünglichen Eigenart entsprechen. 

Die Auseinandersetzimg des menschlichen Subjekts mit seiner 
Außenwelt muß sich selbstverständlich nach dem Hausgesetz seiner 
eigenen Organisation entwickeln und mit den Fortschritten dieses 
Wachstums zusammengehen. Sie beginnt sicher im wörtlichen Sinne 
vom eigenen Leibe aus, schon deshalb, weil unsere Gliedmaßen als 
Werkzeuge bei jeder Feststellung des Vorhandenen oder jeder Ver- 
schiebung des Bestehenden, die wir vollziehen, als notwendige Ver- 
mittler einzugreifen haben. Aus der Bedingtheit des organischen 
Geschöpfes, das sich selbst als Körper vorfindet, aus den Besonder- 
heiten seiner Lage, aus der es zunächst gar nicht heraus kann oder 
hinauszutrachten Veranlassung fühlt, erwachsen dem Menschen 
die mannigfaltigsten Beziehungen seines Daseins und Lebens. Ort 
und Stellung der beteiligten Organe, der Grad ihrer Beweglichkeit 
oder ihrer Abhängigkeit vom Rumpfe, die Bedingungen des Zu- 
sammenwirkens der beiden Hände an den beiden Armen, der beiden 
Füße an den beiden Beinen, der beiden Augen an der Vorderseite 
des Kopfes samt der inneren Anlage des paarigen Sehapparates, 
alle diese Verhältnisse bestimmen nicht allein unsere Orientierung, 
sondern auch unsere Auffassung und Hervorbringimg, alle Möglich- 
keiten und Außerungs weisen imserer Wirksamkeit, wie die Aus- 
dehnung und die Grenzen unseres Wirkungskreises. 

Der menschliche Körper imterscheidet sich von dem Bau 
der um ihn lebenden Tiere vornehmlich durch seine aufrechte 

Schmarsow, Kaottwiasenschaft. ^ 



34 m* Menschliche Organisation 

Haltung; durch sie wird sein Verhältnis zur Umgebung entscheidend 
bestimmt Die Vertikalachse vom Kopf bis zu den Füßen wird für 
den Menschen zur wichtigsten vor allen übrigen Achsen, die sonst 
an bedeutsamen Stellen durch den Körper gehen. Diese Wachs- 
tumsachse fallt nicht wie beim Vierfüßler zusammen mit der Rich- 
txmgsachse der Ortsbewegimg, ermöglicht also eine Trennung des 
ruhigen Dastehens und damit des festen Standpunktes vom variablen 
Zustand des Gehens und seinem Zielstreben. So gleicht der aufrecht- 
stehende Mann vielmehr dem Baume, nur daß sein Fuß nicht im 
Boden wurzelt, und sein Haupt nicht zur Krone von Gezweig in 
die Luftregion auseinandergeht So verfallt er keiner Abhängigkeit, 
die ihn festhalten könnte, wie zu Füßen, so zu Häupten. Aber 
diese aufrechte Haltung nimmt er mit bei der Bewegimg von Ort 
zu Ort, von einem Standpunkt zum andern, immer als Norm der 
Eigenart, die wohl ins Schwanken kommen und zeitweilig mit 
anderen Haltungen und Lagen vertauscht werden kann, aber immer 
wieder eingenommen wird und ihren Anspruch auf Alleingültigkeit 
fühlbar macht Keine andere Haltimg befriedigt so vollauf; selbst 
beim Sitzen bewahrt sie den unterscheidenden Charakter des Auf- 
rechten. Abweichungen von diesem werden als Abweichimgen 
vom eigensten Recht und Wesen des Menschen eingeschätzt und 
als Annäherungen ans Tierische empfunden, wie das Rekeln, das 
Recken imd Strecken in horizontaler Lage. Im Liegenbleiben ver- 
zichtet der Mensch wiederum, zeitweilig wenigstens, auf einen Teil 
seiner Vorzüge, die das Stehen und Sitzen in aufrechter Haltung 
gewährt Er verzichtet widerruflich vollends auf seine Herrschaft, 
wenn er sich schlafen legt Die Fortdauer dieses passiven Zustandes 
ist das Ende seines Lebens, der Tod. So fühlt sich auch jeder 
Stehende überlegen im Vergleich zum Liegenden. Und der Sitzende 
ist in seinem Verhältnis zwischen dem einen imd dem anderen 
ganz abhängig von der Höhe seines Sitzes, ob dies der Erdboden, 
die Schwelle, eine Bank oder ein Thron sei, oder gar noch höher 
der Baumast oder die Bergspitze, vom Nachen des Luftballons wie 
vom Schiff auf den Wogen gar nicht zu reden. 

So wird die Vertikale für den Menschen die wichtigste Aus- 
dehmmg seines Körpers, und wir nennen die Höhe deshalb unsere 
erste Dimension, im Unterschied von Breite und Tiefe, sowie sich auch 
diese genügend davon differenzieren. Sie ist als Dominante in der 
aufrechten Gestalt gegeben und übt diese Funktion auf alle Körper- 
teile aus, wie auf alle übrigen Achsen, die sich mit ihr kreuzen. 



Vorrecht der ^. Vertikalachse 35 

Sie wird also von selbst als die Trägerin der Schnittpunkte aller 
übrigen Dimensionen unseres Leibes angenommen, und der wich- 
tigste Schnittpunkt dieser Richtungen entwickelt sich wieder oben 
am Ende der Wachstumsachse, in unserem Kopf. 

Verfolgen wir auch diese Reihe von unten nach oben, so ist 
die erste Horizontale in der Stellung unserer Füße gegeben, und 
zwar in der Lage der Fußsohlen auf dem Grund und Boden der 
Erde, auf dem imsere Körperschwere den unentbehrlichen Stütz- 
punkt sucht und findet Die zweite Wagrechte liegt in den Klnie- 
gelenken: sie ist bei ruhiger aufrechter Haltung wesentlich die 
Ausgleichsstelle zwischen der grundlegenden Horizontale in den 
Füßen und der nächstwichtigen im Becken; bei Bewegung zum 
Schreiten usw. natürlich gerade die Stelle, wo der Ausgleich oder 
die Gleichgewichtslage aufgehoben wird. Wo die großen Köpfe 
der Schenkelknochen in das Becken eingebettet sind, vollzieht sich 
die Hauptairbeit zur Aufrechterhaltimg der Vertikale des Rumpfes 
auf seinem Untergestell, dort der Obergang zur Sitzhaltung wie 
zur Beinbewegxmg im Schreiten. Die nächste Horizontale ist wie- 
der von sekimdärer Bedeutung: die größte Verengenmg des Leibes- 
umfangs zwischen Becken und Schulterbreite, die wir noch immer 
französisch „Taille" nennen. Sie ist zugleich eine empfindliche Ton- 
stelle für jede Verschiebung der Weichteile drinnen. In der Schulter- 
höhe liegt dagegen die letzte konstitutive Horizontale, die Basis des 
bekrönenden Mittelstücks. Zwischen den beiden wichtigsten Breiten- 
achsen, Schulterpartie imd Becken, erstreckt sich die ganze Region 
des beweglichen Innern, wo sich die Vorgänge des animalischen 
Lebens vollziehen, von Atmimg und Herztätigkeit zur Ernährung und 
Fortpflanzung, die bald hier, bald da den Anspruch erheben, das Zen- 
trum des organischen Geschöpfes auszumachen, in nicht selten fühl- 
barer Konkurrenz mit dem höher gelegenen Instanzenzug im Kopfe. 

Bevor wir diesen in seinem wirklichen Vorzugswerte anerkennen, 
müssen wir doch nach der Stelle suchen, wo alle Empfindungen des 
Leibes, wie alle kleinsten Signale der äußeren Berührung mit dem 
Medixmi, das ihn umgibt, zusammengehen. Da meldet sich das 
Rückgrat, das vom Becken bis zur Schulterhöhe hinaufsteigt und 
in der Säule des Halses darüber hinausragend den Kopf trägt. 
Auf diesem mittleren Abschnitt der Wachstumsachse liegen jeden- 
falls die Leitungsbahnen für das Zusammenwirken, wie für den 
Widerstreit zwischen den tieferen und den höheren Regionen, deren 
Gleichberechtigung erst durch ethische oder intellektuelle Entwick- 

3* 



36 ni. Menschliche Organisation 

lung in Zweifel gezogen wird. Für den natürlichen Menschen ist 
die Wirbelsäule über dem Beingestell von fühlbarster Wichtigkeit 
und durchgreifender Bedeutung, vom sogenannten Kreuz bis zum 
Genick und vollends mit dem Kopfe darauf, daß sie nicht leicht 
außer acht bleiben kann. Kommt dieser Umstand nur wieder der 
Vertikale zustatten, so entscheidet die Schulterbreite die Differen- 
zierung der zweiten Dimension. 

In Schulterhöhe setzt auch ein gleiches Paar von Gliedmaßen 
an, das für unsere Aufgabe mit in erster Linie hervorgehoben 
werden muß: die beiden Arme, die am Rumpfe herabhangen, aber 
sich heben können in die Breite. Mit den Händen und deren 
Fingerspitzen am Ende bestimmen sie durch ihre Möglichkeit, den 
eigenen Leib zu umspannen und zu betasten, schon entscheidend 
unsere Auffassung von der Rundung der Körperformen, soweit nur 
ihre Bewegimgsfähigkeit reichen will. Heben wir beide Arme 
seitlich zur selben Höhe der Schulterbreite, so verlängert sich 
dieser Durchmesser des eigenen Rumpfes nach rechts und links 
und erweitert damit die Breite der unmittelbaren Körpemähe zu 
einer ausgedehnteren Distanz, die wir von den äußersten Finger- 
spitzen der einen Hand zu denen der anderen rechnen mögen. 
Da liegen die Grenzen unserer Tastsphäre für diesen Standpunkt 
Wir können ihre Peripherie mit dem letzten Berühnmgspimkt des 
ausgestreckten Fingers umschreiben, wenn wir uns in dieser Hal- 
tung mit wagrechten Armen um die eigene Vertikalachse unseres 
Körpers drehen. Ohne dieses Hilfsmittel der Körperdrehung am 
selben Orte würde sich die natürliche Tastsphäre nicht so weit aus- 
dehnen, sondern durch die relative Drehbarkeit der Arme im 
Schultergelenk eingeschränkt sein. Die Distanz, die wir erreichen, 
würde nach hinten besonders nicht so groß sein wie nach vom; die 
Ausspannung in die Breite überwiegt 

Damit kommen wir auf eine neue Besonderheit unserer mensch- 
lichen Organisation, indem wir die Querachsen auf der Vertikalen 
unseres Körpers nicht mehr in der Breite, sondern in der anderen 
Richtung verfolgen, die noch übrigbleibt Auch diese ist noch im 
Bau unseres Leibes selber gegeben: er hat eine ausgemachte Vorder- 
seite und eine dahinter zurückstehende Kehrseite. Schon bei unseren 
Armen ist die Richtung nach vorwärts bevorzugt durch die Weise 
ihrer Anfiigimg an den Rumpf, nicht erst durch die Gewöhnung 
als tätigste Werkzeuge beim Angreifen, Zugreifen, Eingreifen und 
Hantieren aller Art. Wenn wir aber beide Hände nach vom zu 



Breite und Tiefe 



37 



einander nähern, so erleben wir ein wichtiges Ereignis der Tast- 
erfahrung, sowie ihnen irgend etwas außer uns zwischen die Finger 
kommt Wir wenden unwillkürlich die Mittelachse unseres eigenen 
Rumpfes, mit der die Arme in Verbindung stehen, auf das von 
beiden Händen berührte oder erfaßte Substrat an und ertappen 
uns sozusagen darauf, daß wir es damit nach dem eigenen Korper 
auch auf seine Körperlichkeit taxieren« Und was die beiden Hände 
gemeinsam gestalten, wird Korper, solange sie sich selbst über- 
lassen bleiben. Aber auch unsere Füße stehen nach vorwärts und 
sind nur wenig nach den Seiten hinaus gerichtet Unsere Beine 
bewegen sich ausgreifend nach vorwärts und nur in »beschränktem 
Maße seitwärts oder rückwärts. Eben diese natürliche Richtung 
der menschlichen Ortsbewegnng gehört zu den allerwichtig^ten 
Grrundbedingungen unseres ganzen Verhältnisses zur Welt Diese 
Richtungsachse für alle unsere Bewegungen vervollständigt xmsere 
Ausbildung der dritten Dimension, die auf Grund des eigenen 
Korperbaues beginnen mochte, durch die stärksten Eindrücke von 
Kindesbeinen an. Die eigene Ortsbewegung, durch die Gehwerk- 
zeuge vollbracht, bringt diese Ausdehnung zum unmittelbaren Er- 
leben, zum unleugbaren Gefühl, zumal da die Gehwerkzeuge zugleich 
Tastorgane sind, mit denen wir den Boden berühren. Sie übersetzt 
ja eben diese dritte Dimension vorzugsweise ins Nacheinander, in 
die zeitliche Auffassung. Und von diesen successiven Tasterfah- 
rungen aus, die bis zum Kriechen und Wälzen des Kindes zwischen 
den Dingen zurückreichen, entwickelt es sich weiter bis zum vollen 
Bewußtsein. Die Entfernung kann ich abschreiten und zugleich 
auch mit den Händen abtasten; ich muß sie Stück für Stück zurück- 
legen (wie wir bezeichnend sagen), und die fühlbare Verschiebung 
der Dinge gegen meinen Korper ergibt Begleitmerkmale dieses 
Vollzuges, die hintereinander folgen. Kommt dann als höchste 
Instanz das Sehen hinzu, so steigert sich erst die Möglichkeit der 
freien Bewegung zum vollen Genuß. Aber schon ohne diese Hilfe 
scheint kein Faktor der Wirklichkeit so ausschließlich an die Ortsbe- 
wegung gebunden wie die Ausdehnung in die Weite hinaus: nach 
welcher Seite wir unsere Vorderhälfte kehren imd damit unsere Rich- 
tung einstellen, unsere Schritte lenken, da liegt die Welt für uns. 
Wohin unsere Arme greifen, da erstreckt sich das Reich unserer Be- 
tätigung, das wir Schritt für Schritt erobern. Die Richtung des Kopfes 
nach dieser Vorderseite vollendet nur die ausgeprägte Besonderheit 
der Organisation und ist ja bis zu einem gewissen Grade variabeL 



3$ ni. Menschliche Organisation 

Der Kopf, der höchst gestellte Bestandteil unseres Korpers, 
erhält seinen Vorzugswert namentlich durch die Anbringung der 
Sinnesorgane; aber er ist auch durch die Gesamtform auf dem 
Halse schon als letztes Glied an der Höhenachse des Ganzen, als 
Abschlußstelle des Wachstums kenntlich. Mund und Nase, Ohren 
und Augen sitzen auf engem Raum unterhalb des kugelig ausge- 
rundeten Schädels beieinander und bilden so eine Konstellation, 
die von selber zur Zentralstelle werden muß. Erst fortgeschrittenes 
Wissen rechnet dazu als Hauptsache das Gehirn und was damit 
zusammenhängt unter dem Haiarschmuck. Mund und Nase sind 
an der Vorderseite festgelegt, der Mund in die Breite, die Nase 
in die Höhe gerichtet Das Augenpaar legt sich abermals in der 
Breitenachse darüber. Die innere Drehbarkeit der Augäpfel erweitert 
noch den Horizontalismus nach rechts oder nach links herum. So 
nähert sich der Wirkungskreis dieses Sehorgans dem anderen des 
Gehörs. Die beiden Ohren aber sitzen auf den Seiten des Kopfes, 
mit ihren sichtbaren Muscheln wieder aufrecht wie die Nase, aber 
doch, im Ausgleich der Breitenentfaltung nach hinten und oben 
zugleich, ein Bindeglied zwischen dem Antlitz und der Schädel- 
decke. Alle diese Organe erhalten aber den stärksten Zuwachs 
ihrer Tragweite durch die Drehbarkeit des Kopfes auf dem Halse. 
Doch erreicht auch diese nicht die Schulterbreitenachse und be- 
wahrt die Auszeichnung der Vorderseite, solange der Standpunkt 
ruhig innegehalten wird. Erst wenn von hier aus an die Drehbarkeit 
des ganzen Körpers um seine Vertikale imd an die Ortsbewegung 
von einem Standpunkt zum andern appelliert wird, eröffnet sich ein 
ausgiebiges Verfahren im Neben- und Nacheinander der Sinne. 
Dann verschwindet die ruhigere geschlossene Rückseite unseres 
Leibes immer mehr hinter dem Reichtum der Tätigkeit, den die 
überlegen ausgestattete Vorderseite entfaltet, so daß wir kaum 
noch an die Gleichheit beider Hälften mehr glauben. 

Die letzte Entscheidung dieses Obergewichts liegt in der Schnell- 
fertigkeit und der Tragweite des Sehorgans unter unserer Stirn. 
Die Überlegenheit des Auges ist so wohlbekannt und geläufig, daß 
es hier für unseren Zweck mehr darauf ankommt, die fortgesetzte 
Bewährung seines Zusammenhangs mit den übrigen Sinnessphären, 
besonders mit der Tastregion zu betonen. Seine Unabhängigkeit 
wird oft genug überschätzt, weil sie über die Fortdauer der natür- 
lichen Vorarbeit seiner Bundesgenossen hinwegtäuscht. Am leben- 
digsten tritt das allmähliche Wachstum zur Selbständigkeit hervor, 



Tasten, Sehen und Ortsbewegung ^Q 

wenn wir die Metamorphose des Sehens an der Hand der Orts- 
bewegnng verfolgen. Der Blick durcheilt schon die Raumleere, 
die vor uns liegt, gleich dem Femrohr des Feldherm auf der Höhe, 
bevor wir schreitend sie durchmessen. Er ist vorbereite^, die Einzel- 
dinge, deren Fembild er schon gewahrte und die er auf dieses 
Signal hin schon erwartet, wiederzuerkennen, wenn sie nun im 
Gange wirklich an ims vorüberziehen. Aber wir schreiben dem 
Blicke mit diesen Worten schon Eigenschaften zu, die nicht das 
Femrohr besitzt, sondern der Geist des Feldherm hinzutut. Erst 
mit dem Eintritt der Objekte in die Tastsphäre unseres eigenen 
Körpers oder die nächste Nähe, in der uns die Dinge auf den 
Leib rücken, teilt auch das Auge unmittelbar die Arbeit der Tast- 
organe, die es vorher — in verfeinerter, flüchtiger Weise — allein 
zu leisten versuchte, und begleitet die Berührung bestätigend, len- 
kend, absondernd oder zusammenfassend. 

Bei diesem Verkehr mit den Dingen im näheren Umkreis 
imseres eigenen Körpers fällt zuerst eine Eigentümlichkeit unseres 
Seh Verfahrens auf, die jener obenerwähnten unserer beiden Hände 
im Dunkeln gleicht. Wie auf die Breite unseres Tastraumes un- 
mittelbar vor unserem Leibe, wenden wir die Mittelachse der 
eigenen Gestalt auch auf die nämliche Ausdehnung des Sehraumes, 
unser bequemes Sehfeld, an. Vor jeder Erscheinung der Außen- 
welt, auf die unser schweifender Blick stößt, versuchen wir das 
nämliche Verfahren, unsere Vertikalachse auf sie abzutragen, wie 
das Zusammenwirken des paarigen Sehorgans in konvergierender 
Abwärtsneigimg es mit sich bringt. Wir legen sozusagen die 
senkrechte Linie in die zunächst flächenhafte Erscheinung ein, die 
sie vor uns in zwei Teile zerlegt, imd ruhen nicht eher mit dem 
Hin- und Wiederwägen der beiden Seiten, bis annähernd die Ein- 
teilung in gleiche Hälften erreicht ist. Nur dies Ergebnis wenig- 
stens befriedigt, und beruhigt die Kontrolle. Von der Mitte aus 
vollziehen wir also die Diremtion nach beiden Seiten, und die Er- 
streckung dieser beiden Hälften in der Horizontale ist eigentlich 
die Breite, die wir als zweite Dimension von der ersten aus 
gewinnen. 

Nur eine Vertieftmg dieses Verfahrens ist es, wenn in einem 
neuen schnell folgenden Anlauf des betrachtenden Subjekts die 
Probe auf die Körperlichkeit gemacht wird, die beim Tasten sofort 
eintrat, sowie uns irgendein Substrat zwischen die Finger der 
beiden leise vorgestreckten Hände kam. Wir fallen mit unserm 



^O m> Menschliche Organisation 

Blick sozusagen von oben nach unten, kraft der konvergierenden 
Bewegung der Augäpfel in dieser Richtung, das Höhenlot auf das 
Substrat, und haben unsere Merkmale, wie weit die Erscheinung 
auch diesem Anspruch unseres Körpergefiihls entspricht, oder ob es 
versagt. Unter diesem Akte rundet sich das eine zum Körper aus, 
während das andere sich solcher Auffassung nicht einbequemt und 
flächenhaft als Augenschein verharren muß. Entspricht die Erschei- 
nung dieser Wünschelrute von obenher, so liegt darin wieder der 
Anreiz zu einem folgenden Akt Der Blick folgt der senkrechten 
Geraden nun rückläufig von unten nach oben, wie beim Heraus- 
ziehen des eben gefällten Lotes, errichtet also die Gerade als auf- 
rechte Vertikalachse in dem Körper. Damit verwandelt sich das 
Höhenlot in die Richtungsachse, und der Körper teilt die Eigen- 
schaft der aufrechten Haltung mit uns, hat einen Fußpunkt unten 
und einen Höhenpunkt oder ein Kopfende oben. Damit ist aber 
diese erste Dimension auch unleugbar in die Richtung nach auf- 
wärts übersetzt, d. h. in Bewegung nur vollziehbar, also eigent- 
lich eine Form der dritten Dimension, wie die Fällung des Lotes 
abwärts auch, ein Vollzug der Tiefe, die hier nur mit der Höhe 
zusammen auf einer Achse liegt 

Die nämliche Verwandlung kann auch mit der zweiten Dimen- 
sion geschehen. Verfolgten wir die Breite zunächst vom Subjekt 
aus als Ausbreitung von der Mittellinie nach beiden Seiten und als 
Abwägung der beiden Hälften gegeneinander, so wird das anders 
werden können, sowie wir die Selbständigkeit des Objektes uns 
gegenüber anerkennen. Dann müssen wir die Übertragung von 
uns auf dieses Ding wirklich vollziehen, indem wir uns in der Vor- 
stellung oder in der Wirklichkeit heranbemühen. Entspricht das 
Objekt unserer ersten Voraussetzung der Teilungslinie in der Mitte 
nicht recht befriedigend, so versuchen wir mit unserer eigenen Ver- 
tikalachse daran entlangzufahren, wir setzen an einem Endpunkt 
damit ein und gleiten weiter bis zum anderen Ende. Wir geben 
uns, das Subjekt, also an das Objekt hin, fuhren aber selbst eine 
Bewegimg aus, wie ein genaues Abtasten, Punkt für Punkt bis zum 
Vollzug der Linie, oder eine Senkrechte an die andere reihend bis 
zur letzten, die drüben noch ihr Gegenbild findet Damit haben 
wir die Breite in die Länge verwandelt, und auch hier liegt die 
unleugbare Vorstellung des Sichbewegens von Ort zu Ort vor. In- 
dem wir der Richtung der Linie oder Ebene nachgehen, nehmen 
wir selber die Richtung von einem Ende zum anderen, also von 



Die drei Gestaltungsprinzipien ^i 

links nach rechts oder umgekehrt. Wir bewegen uns eigentlich in 
der dritten Dimension, nur daß die Tiefenachse hier mit der Längs- 
achse zusammenfällt, sich in der Richtung erstreckt, die fiir den 
Ruhepunkt, wo wir stillstehen, als Breite angesprochen werden 
mußte. 

Die wirkliche Ortsbewegung oder die Illusion einer solchen 
verwandelt die erste und die zweite Dimension in die dritte. Die 
Hohe wird uns zur Wachstumsachse, die Breite zur Längenerstreckung 
eines Weges. Was ruhig und starr dasteht, wird des lebendigen 
Vollzuges teilhaftig und unterliegt mit der zeitlichen Auffassung 
den Bedingungen des Werdens und Vergehens wie der Mensch 
selber. Die Hauptrichtung alles Nacheinander im Raum bleibt 
jedoch immer die dritte Dimension. 

Was wir soeben verfolgt haben, ist nichts anderes als der na^ 
türliche Urspnmg der drei Hauptgesetze alles menschlichen Schaffens, 
die imter den Namen: Symmetrie, Proportionalität und Rhyth- 
mus bekannt sind. Aus der gemeinsamen Tätigkeit unserer beiden 
Hände, unserer beiden Augen ergibt sich die Symmetrie, das Gestal- 
tungsprinzip der Breitendimension; aus der Auffassung der Ver- 
tikalachse unseres Leibes xmd anderer Korper als Wachstumsachse 
ergibt sich die Proportionalität der Teile übereinander, d. h. 
das Grestaltungsprinzip der ersten Dimension; aus dem Voll- 
zug einer Bewegung aber, zumal in Verbindung mit diesem, 
mit jenem, oder mit beiden zugleich das Gestaltungsprinzip der 
dritten Dimension, der Rhythmus. 

Bevor wir sie näher betrachten können, muß aber die künst- 
lerische Betätigimg des Menschen selbst noch etwas allgemeiner 
in ihrem Wesen bestimmt sein. Suchen wir nach der ursprüng- 
lichsten Auseinandersetzung des reichorganisierten Geschöpfes, das 
wir „Homo sapiens" titulieren, mit der Außenwelt, die auf ihn ein- 
dringt, so kann es nur die unmittelbar hervorbrechende Äußerung 
sein, die wie eine Reflexbewegung eintritt. Das ist das Benehmen 
und Gebahren des Körpers, das mit elementarer Macht sein stummes 
Spiel vollzieht Zu diesem Bereich gesellen sich dann weiterhin 
die Körperbewegungen spontaner Art zu irgendeiner zweckent- 
sprechenden Tätigkeit, sei es Arbeit, sei es Spiel. Da liegt jeden- 
falls der Anfang aller ausdrucksvollen Gebärdung. Schon in diesen 
Regionen unmittelbarer Ausdrucksbewegung waltet aber überall 
die künstlerische Schöpferkraft, Schon die stumme Gebärde ist 
Menschenkunst. 



^2 ni. Menschliche Organisation 

Jeder Gebrauch unseres angeborenen Bewegiingsapparates wird 
ja ursprünglich vom Gefühl begleitet und durchdrungen. Nur von 
diesem Organgefiihl kann auch der Reiz zur Wiederholung der 
gleichen Bewegung ausgehen, wo immer sie ohne weiteren Zweck 
und doch willkürlich rein um ihrer selbst willen vollzogen wird. 
Von hier aus lernen wir jede wahrnehmbare Veränderung an gleich- 
organisierten Wesen verstehen; denn das Bild der Bewegxmg, das wir 
an unsersgleichen erblicken, weckt auch das Echo dieses zugehörigen 
Gefühls in uns selber. Weit unmittelbarer freilich wirkt die Über- 
tragung und die Nachahmung bei leibhaftiger Berührung, Um- 
armung und Verschlingung, wie zwei Herzen und ein Schlag, zwei 
Seelen und ein Gedanke. 

Keine Verschiebung der Formen gegeneinander, keine Be- 
wegung der Gliedmaßen, kein noch so gleichgültiges Ineinander- 
greifen der Teile zu einheitlichem Vollzuge, ja kein Ansatz zu 
solchem Tun ist ohne Ausdruck. Die unbewußte Mitarbeit unserer 
menschlichen Vorstellungsweise meldet sich überall. Noch heute 
verraten die Wörter, die unsere Sprache dafür verwendet, daß alle 
Erscheimmgen solcher Art als Ergebnisse einer Wirkung ausgelegt 
werden, die von innen ausgeht. Immer steht die spontane Tätig- 
keit oder die psychische Macht dahinter, wenn wir von Spannung 
oder Losung der Muskeln, vom Runzeln der Stirn reden, oder wenn 
die tausend kleinen Veränderungen der Hautfalten um die Augen- 
hohle und die Lider als Wirkimgen des Blickes beschrieben werden. 
Der Blick ist uns ja die offenbarste und unmittelbarste Äußerung 
der Seele selbst. Wer aber gewohnt ist, die leiseste Zuckung zu 
beachten, wie der Jäger an seinem Wild, der Krieger an seinem 
Feinde, der liebende Mann an seinem Weibe, ja der Arbeiter an 
seinem Genossen, der kennt auch die Sprache der ganzen Menschen- 
gestalt und all ihrer Glieder an dem andern fast noch besser als 
an sich selbst. 

So wird die unwillkürliche Ausdrucksbewegimg zur Mitteilung, 
die willkürliche zum Austausch aller Regimgen und Antriebe. Sie 
muß sich weiterentwickeln und einen Vorrat geläufiger Zeichen 
schaffen, noch ehe der artikulierte Laut und die Verbindxmg mit 
der Gebärde zum bezeichnenden Worte sich einstellt. Je weniger 
der innere Drang sich im Tone Luft zu machen gelernt hat, desto 
elementarer wirkt er, — und ausgreifend in dem stummen Gebahren. 

Eins aber ist besonders charakteristisch an diesem unver- 
fälschten Sichgehaben und Sichgehenlassen des primitiven Menschen: 



Ausdrucksbewegung und Tätigkeit 43 

die Wiederholung der nämlichen Bewegung. War sie zweckhaft 
zuerst, wird sie gefühlsmäßig noch einmal ausgeführt, und nun erst 
um ihrer selbst willen als Ausdrucksbewegung genossen. War sie 
reflexartig entstanden und unwillkürlich aufgetreten, so wird sie 
mit Bewußtsein erfaßt und absichtlich reproduziert, in rein ästhe- 
tischem Verhalten, um sie durchzukosten, frei vom Zwang, der sie 
geboren. War sie das erstemal Mitteilung an den andern, kehrt 
sie wieder als Vollzug des Gefühls, als einmal gefundener und als 
entsprechend anerkannter Ausdruck, in den sich die Seele ergießt 
wie in eine willkommene Form. Die erste Gebärde verknüpft nur 
zwei Dinge, der erste Bericht gilt nur der nackten Tatsache und 
spricht zum Verstände allein. Die zweite beginnt schon diesen 
einfachen Bestand zu beseelen, sie spricht zum Gemüt. Und eine 
Folge von Variationen umspinnt den Kern mit einem Gewebe 
schillernder Beziehungen. Das ist der mimische Verlauf des 
Ausdrucks und die Grundlage aller weiteren Gestaltung künst- 
lerischer Art 

Denn was ist der Sinn dieser Ausdrucksbewegimgen imd alles 
weiteren künstlerischen Tuns, wenn nicht die Hervorhebung solcher 
Werte des Daseins und Lebens für unser Gefühl? Mögen diese 
Werte nun Dinge sein oder Tatsachen, mögen sie der Außenwelt 
oder Innenwelt angehören: es kommt darauf an, sie dem ewig 
wechselnden Strom des Werdens und Vergehens zu entrücken, sie 
hinzustellen zu freiem Genuß, ja ebendiese Werte als anerkannte 
zu verewigen für den Menschen, sei dies der Schöpfer des Werkes 
allein oder seinesgleichen allesamt. 

Ursprünglich sind diese Werte gewiß nur Dinge, die greifbaren 
Objekte der Außenwelt Und für den urwüchsigen Menschen in 
freier Natur ist der eigene Körper der erste Wert Er zeichnet 
ihn aus durch Schmuck, dessen Art und Anbringung uns wieder 
zurückführt auf die natürlichen Grundlagen seiner Anlage, von 
denen gesprochen ward. Zu seiner eigenen Person gesellt sich 
Weib und Kind, gesellen sich die Gefährten seines Lebens, die er 
sich dienstbar macht, aus der Tierwelt, dann die Werkzeuge seiner 
Arbeit, sein Wehr und WafiFen und endlich seine Behausung. Aber 
zu diesen letzten Besitztümern führt ein großer entscheidender 
Schritt, nämlich der zu wirklich schöpferischem Tun, zu eigener 
Hervorbringung des Wertes, während die ersteren vorgefundene 
Dinge sind, die er nur aneignet und schmückt Zwischen beiden 
liegt der Obergang zur eigentlichen Kunst Vor diesem Schritte 



AA III. Menschliche Organisation 

haben wir es nur mit der Ornamentik zu tun, die, selber noch 
keine Kunst, doch alle schöpferischen Schwestern begleitet, und, 
was wichtiger ist, ihr Verfahren vorbereitet und ihre Gesetze findet, 
noch ehe sie selber ihr erstes Wagnis vollbringen. Sie ist die ur- 
sprünglichste Äußerung des künstlerischen Triebes, die nicht mehr, 
wie die Ausdrucksgebärde, im Augenblicke zerrinnt, sondern dauernd 
wahrnehmbare Zeichen hinterläßt. 



IV. 

MENSCHENGEIST UND AUSSENWELT 

Die Auffassung des Menschen nach Analogie seiner eigenen 
Natur und nach der Besonderheit seiner angeborenen Organisation 
erstreckt sich nun von den gleichorganisierten Wesen, seinen Mit- 
menschen, auf alle Außendinge sonst und gibt ihrer Gestalt oder 
ihrem Verhalten die menschenähnliche Auslegimg, die wir Anthro- 
pismus nennen. Überall stellt sich beim naiven Menschen diese 
Voraussetzimg gleicher Beseelung, gleichen Baues imd gleicher Be- 
wegxmgsfahigkeit ein, solange die Erfahrung des Gegenteils ihn 
nicht anders belehrt. Ja selbst dann noch kehrt sie hartnäckig 
wieder und beansprucht ihr angestammtes Recht Und diese un- 
mittelbare und ursprüngliche Auffassung unserer Sinne und unserer 
Sinnesart, d. h. die menschlich natürliche und menschlich befriedi- 
gende Auslegung ist im Grunde die eigentlich ästhetische. Nur 
auf dieser Grundlage kann sich die beglückende Auseinander- 
setzung mit der Welt vollziehen, die wir Kunst nennen. Daß die 
Welt und der Mensch füreinander seien, ist die Grundbedingfung, 
und der Einklang beider das Ziel alles künstlerischen Schaffens. 

Wie der Baum kraft dieser Anschauungsweise seinen Fuß und 
sein Kopfende hat, wie er aufrecht steht, wie er sich neigt und 
unter dem Sturmwind seufzt; wie die Eiche zimi Widerstand ihre 
knorrigen Aste streckt, die Weide schmiegsam ihre Zweige wiegt; 
wie der Halm auf dem Felde jedem Luftzug nachgibt und aus- 
weichend sich wieder hebt; wie der Bach durch die Klippen tanzt 
und kopfüber von der Höhe stürzt: so werden auch die leblosen 
und unbewegten Dinge als stehend oder sitzend oder liegend auf- 
gefaßt, so daß sie sich darstellen und innere Vorgänge zum Aus- 
druck bringen, wie der Mensch und seinesgleichen oder die ver- 
wandte Tierwelt um ihn her. Der Felsblock steht am Ufer, 
während die Wogen gleich einer Schar von Rossen heranstürmen. 
Die Oase liegt dort mitten in der Wüste, und das altersgraue Nest 



^6 IV. Menschengeist und Außenwelt 

der Gebirgsbewohner sitzt droben zwischen den Vorsprüngen einer 
steilen Wand wie das Vogelnest zwischen den Zweigen des Baumes. 
Nach dieser Analogie mit der menschlichen Gestalt und ihrem Ge- 
haben unterscheiden wir alle Naturformen in durchgeführter Klassen- 
teilung. Man braucht nur die Blumen darauf anzusehen, ob sie 
stehen oder hängen, die Früchte, wie sie am Ast sitzen oder wie 
sie abgenommen in der Hand, auf dem Brett, am Boden unten sich 
ausnehmen, oder endlich die Steine am Wege oder das Geroll am 
Strande zu vergleichen. Die weiße Bohne sitzt in ihrer Schote, 
oder die Erbse steht gar auf ihrem Füßchen; sind sie herausge- 
nommen, liegen sie herum, und keinem Menschen fallt ein, sie mehr 
zu fragen, ob sie sitzen wollen oder gar aufstehen. Bei den Kiesel- 
steinen, die durcheinander gewälzt sich daherschieben, bleibt es 
gleichgültig, wie sie zu solcher Zwangslage passen. Nehmen wir 
sie einzeln vor, schließen wir aus dem Gesamtzug ihrer unregel- 
mäßigen Formen selbst, wer sich mehr zum Stehen, wer mehr zum 
Liegen schickt, oder wer daherrollen mag von Natur. Dies sind 
die gerundeten, jenes die länglichen Körper. Die krummen oder 
die ebenen Flächen, die Erstreckung in die Breite oder in die 
Höhe geben die Entscheidung. Die Bevorzugimg einer Dimen- 
sion, sei es im Dinge selbst oder in unserer Ansicht, stempelt den 
einen Kiesel zum kleinen Eckstein, den andern zur trägen Schwelle. 
Die eine liegt, der andere steht. Wir sehen also die Richtungs- 
achse, wie bei Lebewesen, auch in diese unförmlichen Gebilde aus 
totem Material hinein. Oder anders ausgedrückt, wir abstrahieren 
die Hauptlinie, immer deutlicher als eine Gerade, zwischen den 
beiden äußersten Endpunkten des Körpers, und nehmen sie als 
maßgebend für unser Gefiihl, das sich in diese fremde unorganische 
Form hineinversetzt. Dabei wird ganz natürlich und wie von 
selber die unverständliche Regellosigkeit in solchem Steingeröll 
übersehen, unbewußt außer acht gelassen zuerst, dann gewohnheits- 
mäßig, ja methodisch davon abgesehen. Die Auffassung der 
liegenden Formen nähert sich in unserer menschlichen Sinnesart 
dem eingeschriebenen Oval oder dem umschriebenen Parallelepipedon, 
dessen größere Seiten nach unten und nach oben gekehrt sind; 
die Vorstellung von stehenden Formen bequemt sich summarisch 
demselben Grrundtypus, wenn die kleineren Seiten nach unten imd 
oben gewendet sind, die Längsachse somit Vertikalachse sein muß, 
oder vergleicht sie mit dem eiförmigen Körper oder mit andern 
regelmäßigen Bildungen, die sich dem Prisma, dem Zylinder, der 



Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit ^y 

Pyramide nähern, oder wie wir sonst sie heute geläufig benennen« 
Nur der Würfel, die Kugel können beliebig als stehend oder liegend, 
jener wohl gar als sitzend, diese als rollend aufgefaßt werden. Ja 
unsere Auffassung begnügt sich, wo der Körper sich so nicht fassen 
läßt, wohl mit einer Ansicht und sucht wenigstens auf einer Seite 
das Dreieck, Viereck oder Trapez, um das Ding da wenigstens 
nach solcher Flächenform einzuordnen und durchzufühlen. 

In all diesem Tun stoßen wir auf eine weitere Eigenart des 
Menschen in seinem Verhalten gegenüber den Dingen, und hier 
spielt seine geistige Organisation oder der Mechanismus seiner in- 
tellektuellen Funktionen wohl unleugbar schon eine Rolle. Wir 
können nicht umhin, von der sinnlichen Wahrnehmung zur Vor- 
stellung, von der konkreten Anschauung zum abstrakten Begriff 
oder vom Besondem zmn Allgemeinen überzugehen, — oder „auf- 
zusteigen", wie die Intellektuellen so gern sagen, um zugleich einen 
Wert smgeblich höheren Ranges zu erschleichen. Ob solche Ent- 
fremdung vom sinnlichen Vollgehalt des Erlebnisses ein Vorzug 
sei, läßt sich bestreiten, daß es ein Fortschritt zur Erkenntnis 
sei, wohl trotz dem summarischen Verfahren nicht leugnen. So 
allein werden wir Herr des Wirrsals der Erscheinungen, so schaffen 
wir Ordnung im Gedränge des bunten Wechsels. Unsere Wahrheit 
ist Abstraktion; aber wir können nicht anders: auch dazu führt uns 
innere Nötigung, \md der Vollzug dieser Fähigkeit befriedigt und 
steigert den Antrieb zu solcher Vergewaltigung der Dinge. Der 
Mensch betätigt auch schon in seinen frühesten schöpferischen Ver- 
suchen denselben Drang; eine unverkennbare Vorliebe für Regel- 
mäßigkeit und Gesetzmäßigkeit bezeichnet seinen Weg seit den 
Anfangen aller Kultur. 

Was heißt das: ,3^egelmäßigkeit<' und „Gesetzmäßigkeit"J> Wir 
stehen wieder vor einem Grundbegriffe oder gar einem Pakr von 
solchen, die noch vor dem Eintritt ins Gebiet der Ornamentik klar 
bestimmt werden sollten. Friedrich Th. Vischer definiert die 
,JR.egelmäßigkeit" in den Kritischen Gängen (V) als die „gleich- 
mäßige Wiederkehr unterschiedener, doch gleicher Teile". Dafür 
nennt er als Beispiele: die Säulenordnung, die Folge eines dekora^ 
tiven Musters, die gerade Linie, den Kreis, das Quadrat usw. 
Heinrich Wölfflin^) macht darauf aufmerksam, daß diese Dinge 
doch wohl nicht alle unter einer Definition Platz finden können. 



i) Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur. München 1886 S. 20. 



^8 IV. Menschengeist und Außenwelt 

,3^egelmäßigkeit'' der Abfolge müsse getrennt werden von der 
„Gesetzmäßigkeit*' einer Linie, einer Fig^, wie sie Quadrat und 
Kreis usw. zeigen. Der Unterschied zwischen Regelmäßigkeit und 
Gesetzmäßigkeit gründe sich auf eine tiefgehende Differenz. „Hier 
haben wir ein rein intellektuelles Verhältnis vor uns, dort ein phy- 
sisches. Die Gesetzmäßigkeit, die sich in einem Quadrat ausspricht, 
hat keine Beziehimg zu unserem Organismus, sie gefallt nicht als 
angenehme Daseinsform, sie ist keine allgemeine organische Lebens- 
bedingung, sondern nur ein von unserem Intellekt bevorzugter FalL 
Die Regelmäßigkeit der Folge ist uns etwas Wertvolles, weil unser 
Organismus seiner Anlage gemäß nach Regelmäßigkeit in seinen 
Funktionen verlangt. Wir atmen regelmäßig, jede andauernde 
Tätigkeit vollzieht sich in periodischer Folge." 

Gewiß ist es geboten, den prinzipiellen Unterschied dieser zwei 
Faktoren sich möglichst klarzumachen, — auch wenn sie wohl 
kaum je ganz abgesondert beobachtet werden können, „da jedes in- 
tellektuelle Verhältnis auch irgendeine physische Bedeutung hat". 
Aber auch Wölfflin ist die Trennung noch nicht befriedigend ge- 
lungen. Er nimmt immer nur auf unseren leiblichen Organismus 
Rücksicht, während es sich hier um die feinste innere Orgcmisatioa 
handelt. Er isoliert deshalb den Intellekt, als ob nicht auch dieser 
aufs innigste mit der natürlichen Anlage zusammenhinge. 

„Regelmäßigkeit", die Fr. Th. Vischer als gleichmäßige 
Wiederkehr imterschiedener, doch gleicher Teile definiert, unterliegt 
der zeitlichen Auffassung, da wir doch zunächst an die Regel 
denken, die diu-ch sie erfüllt wird. Im Bereich der Künste zeit- 
licher Anschauiingsform, Musik, Mimik, Poesie, herrscht sie demnach 
ohne weiteres als Grundform. Sowie wir den Begriff auf die räum- 
liche Existenz übertragen, scheint sich eben durch den Vergleich 
mit einem zeitlichen Nacheinander, das die Regel vorschreibt, der 
Widerspruch zum räumlichen Nebeneinander einzustellen. Wir 
sprechen aber trotzdem von einem regelmäßigen Körper, ohne An- 
stoß zu nehmen. Die Erscheinung eines solchen kristallinisch festen 
Gebildes führt uns durch seinen Anblick selbst dazu, das starre 
Dasein sozusagen in zeitliche Auffassimg aufzulösen, indem wir die 
Ansicht von der einen Seite, d. h. das Flächenbild mit seinen 
Anweisungen auf die Tiefendimension, durch andere Ansichten 
ringsum ergänzen, bis wir die Regelmäßigkeit von allen Seiten her 
festgestellt haben. So wenigstens verfahren wir beim gproßen 
Körper, indem wir uns um ihn herumbewegen. Ist er kleiner und 



Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit ^g 

beweglich, nehmen wir ihn in die Hand und drehen ihn herum, bis 
wir dieselbe Prüfung durchgeführt haben. Das Verfahren des Ab- 
sehens entspricht dem des Abtastens, und in der Abfolge gewinnen 
wir die Teilvorstellungen, aus denen sich das Ganze zusammensetzt, 
das wir mit einem Wort zu fassen meinen« Enthält die Vorstellung 
nicht von vornherein den Impuls der Bewegimg mit? — In der 
ganzen Ornamentik und Architektur muß der Vollzug' einer Be- 
wegung zu Hilfe kommen, sei es wirklich, sei es ijsuiginär, um 
den festen Bestand in ein transitorisches Erlebnis zu verwandeln« 
Hier liegt also ein Beitrag des menschlichen Subjektes vor; es 
wird an die innere Mitwirkung des perzipierenden Betrachters 
appelliert imd auch im reinen Schauen die Erfahrung mannigfaltiger 
Betätigung unserer übrigen Organe wachgerufen. 

„Gesetzmäßigkeit" gewährt nach WölfiFlin nur intellektuelles 
Vergnügen \md soll lediglich auf Bevorzugimg eines Falles imter 
vielen (wie z. B. des rechten Winkels, der geraden Linie) beruhen. 
Aber fragen wir, woraus dies Vergnügen, dieser Vorzugswert für 
den Intellekt entspringen möge, so gibt Wölfflin keine Antwort 
mehr. Sie können aber doch nur in der innem Organisation unseres 
Kopfes ihre Begründung finden. Tatsächlich wird der rechte 
Winkel, der Kreis, das Quadrat wie die gerade Linie zum Ideal, 
das wir nicht allein bevorzugen, als Wert anerkennen, wo immer 
uns jene an rechter Stelle begegnen, sondern vielmehr zu erreichen 
suchen, in zahlloser Wiederkehr verwenden, also zu einem Bestand- 
teil unseres regelmäßigen Verfahrens erheben. So kamen wir 
ja dazu, Gebilde, die diesem Ideal entsprechen, regelmäßige Körper 
zu nennen. Warum nennen wir das Quadrat, den Kreis nicht ge- 
setzmäßige Figuren, den Würfel, die Kugel nicht gesetzmäßige 
Körper? Wir gehen von dem subjektiven Erlebnis aus, das sich 
successiv vollzogen hat, und betrachten das Ding nach Maßgabe 
des Verfahrens, das für seine Herstellimg erforderlich wäre. Die 
Differenz macht sich erst fühlbar, wenn wir von der Genesis dieser 
Figuren oder Körper, d. h. von der Regel absehen und sie als 
fertig dastehend betrachten. Unsere Subjektivität hat das Recht 
der Erstgeburt für sich; allmählich erst anerkennen wir die Objek- 
tivität des Bestandes außer uns. Damit aber hört dann die 
successive Auffassimg als solche auf, und die simultane tritt an 
deren Stelle. Auf das Streben nach dem Ideal folgt mm die Befrie- 
digung des Erreichten, auf die Bewegung die Ruhe, auf das Wollen 
der Genuß; es geschieht jedoch nur, indem wir imsere Fordenmg 

Schmartow, Konstwuseoscliaft. 4 



^O I^* Menschengeist und Außenwelt 

vollständig erfüllt finden. Gresetz aber nennen wir in unserem 
Rechtsleben eine menschliche Satzung von allgemein bindender 
Kraft; es wird ihr der Anspruch auf allgemeine Gültigkeit zuge- 
standen, soweit das Gemeinwesen reicht, das sich diese Satzung 
gegeben und ihre Aufrechterhaltung übernommen hat. Es ist die 
bleibende Bedeutung, die wir mit der Bezeichnung Gesetz aus- 
drücken wollen. Wenn in Recht und Staat immer der menschliche 
Wille als Urheber des Gesetzes im Spiele bleibt, sucht er doch die 
Unterstützung in höherer Heiligimg. Ganz anders das Gesetz, das 
die Naturwissenschaft uns erkennen lehrt: die Wiederkehr der 
nämlichen Ergebnisse beim Eintritt der nämlichen Bedingungen 
steht unwiderruflich fest auf sich selber gegründet 

Demnach hätten wir zwei Unterschiede gewonnen, die das 
Gesetz von der Regel sondern. Der nächstliegende ist die simul- 
tane Anschauung. Nur bei dieser rede ich von Gesetzmäßigkeit 
im eigentlichen Sinne, nämlich wenn mir das Quadrat, der Würfel, 
das Polygon oder der Kreis wie ein regelmäßiger Körper als 
ruhiges Bild einleuchtet. Die Übereinstimmung des Gebildes mit 
sich selbst fuhrt zum Verständnis des notwendigen Seins. Sie wird 
als bestehende Tatsache der Außenwelt hingenommen, wo sie zu- 
gleich sich gegen fremde Einflüsse abgeschlossen zeigt Dann ist 
es gleichgültig, ob ich das Gebilde selbst erst hergestellt oder ob 
ich es fertig in der Außenwelt vorgefunden habe. Diese simultane 
Auffassung kann aber selber nur bestehen und sich vor der andern 
behaupten, wenn der zweite Unterschied hinzutritt, dem wir das 
Zugeständnis machen, auf die Anläufe unserer Subjektivität zu ver- 
zichten. Das Gesetz ist etwas Objektives, während die Regel ihren 
Ursprung aus dem lebendigen Verfahren imd Benehmen des Sub- 
jektes nicht verleugnet Gehe ich vom ruhigen Schauen des Ge- 
samtbildes oder vom Festhalten des reinen Begriffs wieder zur be- 
weglichen Prozedur über, zum abtastenden Verfolg der Linien und 
Flächen oder zum ermessenden Vergleich der Einzelbilder ringsum, 
so erlebe ich wieder die Entstehimg , rekapituliere, wie ich es 
machen muß, um es selber zu vollbringen, gewinne die Abfolge 
von Angaben des Rezepts, das die menschliche Vorstellung der 
menschlichen Hand diktiert Ist dieser Verlauf am Ende, das Er- 
gebnis erreicht, so wird in der bleibenden Bedeutung etwas Neues 
fühlbar, nämlich die Übereinstimmung der Regel mit dem Gesetz 
oder umgekehrt der tatsächlichen Existenz mit unserem Postulat 
Der Einklang zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven ist 



RegelmaBigkeit und Gesetzmäßigkeit ^i 

das Ereig^s, der bevorzugte Fall. Das Hausgesetz der mensch- 
lichen Intelligenz und das Naturgesetz da draußen befinden sich 
hier in Harmonie. Darin liegt die höchste Bestätigung, daß Mensch 
und Welt für einander sind, damit erst rühren wir an die Grundbe- 
dingimgen aller schöpferischen Auseinandersetzimg des Menschen 
mit der Außenwelt, an die unweigerlichen Voraussetzungen ihres 
Erfolges und ihrer haltbaren Ergebnisse. Damit verstehen wir 
auch die Genugtuung, die solche Fälle der Kongruenz beider In- 
stcmzen gewähren. 

Wir haben demgemäß wieder die beiden Faktoren der Kunst 
beieinander: Regelmäßigkeit ist der Beitrag des Subjekts, wenn 
auch seinerseits aus den physischen Bedingimgen seines organischen 
Körpers, seiner Ortsbewegung, seiner Hcmtierung, seines abtasten- 
den Sehens, wie seiner Atmung, seines Herzschlages und aller 
anderen Funktionen sich ergebend. Es ist die Aufhötigung seines 
Verfahrens imd seiner Vorstellungsweise, wenn wir nur die eine 
Seite befragen. Gesetzlichkeit dagegen ist der Beitrag der Außen- 
welt, die Wirkimg der Naturkräfte, die wir als Tatsache respek- 
tieren. Wir setzen sie, auch ohne sie noch zu verstehen, als Not^ 
wendigkeit in unsere Rechnung und verehren die furchtbar 
gewaltigen Beweise eines übermenschlichen Zusammenhangs, deren 
elementarer Hereinbruch auch uns Menschen mit sich fortzureißen 
vermag. Nur soweit Natur und Menschengeist auf den nämlichen 
Grundlagen erwachsen, unauflöslich zueinemder gehören und auf- 
eincmder abgestimmt erscheinen, so lange geht das Fazit der Aus- 
einandersetzung rein auf. Für alle diese Fälle wären Gesetzmäßig- 
keit imd Regelmäßigkeit nur die beiden Seiten einer und derselben 
Sache. Aber beide gehen über die konzentrischen Sphären hinaus: 
menschliche Organisation und Denkart hier, Naturanlage und Natur- 
ereignis da weichen auseinander und bleiben fremd, je mehr wir 
uns den Ausgangspunkten nähern. Die Regel ist die wandelbare 
Formel der menschlichen Behandlungsweise, das Gesetz die unent- 
rinnbare Formel des Naturlaufs. Je unklarer noch die Überlegen- 
heit der Natur gefühlt, je unheimlicher die Feindschaft der Elemente 
geahnt wird, desto stärker und einseitiger ist die Befriedigung, die 
bindende Regelmäßigkeit und verständliche Gesetzmäßigkeit ge- 
währen. Es geht dem primitiven Menschen mit diesen Errungen- 
schaften wie dem Landbewohner, wenn er nach langer Irrfahrt auf dem 
Ozean zum ersten Male wieder festen Boden unter den Füßen spürt. 
Aus dem Gegensatz der noch unübersehbaren Außenwelt erklärt sich 

4* 



£2 IV. Menschengeist und Außenwelt 

die lange dauernde Überschätzung alles regelmäßigen Wesens und 
alles gesetzlichen Bestehens, wie der Einheit in der Mannigfaltig-keit 

Zwischen jenem Anfangs- und diesem Endpunkt muß sich auch 
die ganze folgende Analyse der Gestaltungsprinzipien bewegen. 
Sie beginnt bei der Regelmäßigkeit als Disposition der innem An- 
lage des menschlichen Subjekts und läuft aus in der Gesetzmäßig- 
keit der Natiu* als Ausdruck ihres festen Aufbaues und unver- 
brüchlichen Zusammenhcmgs, in dessen objektivem Bestände wir 
selber eingeschlossen sind mit unserem Leben und Schaffen allesamt 
Im Kxmstwerk aber nennen wir die erreichte Einheit zwischen Regel 
und Gesetz den Stil. 

Der erste Ausdruck, der von innen her dem Spiel der Sinnes- 
eindrücke von außen antwortet, setzt das Subjekt, das mensch- 
liche Einzelwesen, als Ausgangspunkt des gesamten weiteren 
Prozesses. Das lebendige Individuum ist der gegebene Mittelpunkt 
aller Beziehungen imd immer wieder der letzte Zielpunkt aller 
noch so ausgebreiteten Streifzüge in die Außenwelt Die Zentral- 
punkte seiner werdenden Weltanschammg liegen notwendig auf 
der Vertikalachse seines Körpers, die vollends im Kopfe die vor- 
nehmste Zentralstelle trägt. Wenden wir das Verfahren der 
menschlichen Auffassung nun auf den Nebenmenschen selber an, 
wie wir sie beim Baume, beim Steine sogar kennen gelernt, so 
stellt sich die gleiche Abstraktion der geraden Richtungslinie 
seines Wachstums auch hier ohne weiteres ein, und die aufrechte 
Vertikale mit dem Kopf oben, die wir schon als Maßstab für die 
abweichenden Erscheinungen der Tierwelt aufgedeckt haben, wird 
auch das entscheidende Merkmal, wo wir imsersgleichen aner- 
kennen. Noch ehe die sonstigen Eigentümlichkeiten der Gestalt 
oder gar die innere Organisation ihm näher vertraut werden, er- 
faßt der Mensch dieses Wahrzeichen seines Leibes wie den Aus- 
zug des Wesentlichsten aus dem Einzelding von unserer Art Die 
nackte Vertikalachse, die vor uns aus dem Boden ragt, eine Stange 
von beträchtlicher Höhe, oder ein Pfahl, ein kahler Stamm von 
stärkerem Umfang, üben unwillkürlich und bei unerwartetem An- 
blick erst recht unfehlbar eine imponierende Wirkung. Diese 
sinnfällige Verkörperung des Höhenlotes ist vollgültiger Ausdruck 
eines stofflichen Individuums gleich uns, das Signal eines andern 
Ichs oder der Repräsentant des eigenen. Es bezeichnet wieder 
solchen selbständigen Träger einer eigenen Wirkungssphäre. Be- 
gnügen wir uns im Fortschritt der geläufigen Beschränkung auf 



Der Mensch als Mal aUer Beziehungen e^ 

den Augenschein auch hier statt der vollrunden Körperlichkeit auf 
die flächenhafte Erscheinung, so schrumpft die menschliche Person wohl 
nicht allein zur Linie, sondern gar zum Punkte zusammen. Dieser 
Mittelpunkt eines Wirkungskreises ist der einfachste und unentbehr* 
lichste Ausdruck der Einheit — eben jener Ausgangspunkt, von 
dem wir oben im geläufigen Bilde gesprochen, der Ichpunkt, auf den 
sich der moderne Mensch in seinem Denken zurückzuziehen pflegt. 

Der natürliche Mensch freilich, mit dem wir am Anfang künst- 
lerischen Scha£fens zu rechnen haben, gibt so leichten Kaufes sein 
Körpergefühl nicht auf. Für ihn ist der erste Wert die eigene 
Existenz, d. h. für ihn sein gesunder Leib. In naiver Anerkennung 
dieses Schatzes zeichnet er ihn aus durch den Schmuck. Und wo 
diese Hervorhebung aufs Ganze gehen soll und nicht auf einzelne 
Gliedmaßen, die er besonders hochzuhalten Ursache hat, da gilt sie 
wieder der aufrechten Mittelachse des Korpers und ihrer Spitze, 
dem Haupt. Er steckt sich eine Feder in den krausgelockten 
Haarschopf oder trägt einen ganzen Federbusch auf dem Scheitel. 
Das ist eine Überhöhung des eigenen Wuchses und mit dieser Ver- 
längerung der Vertikale gewiß auch eine Überhöhimg des Selbstge- 
fühls, genau wie Helmzier oder Zylinderhut des Europäers von heute. 
„Die vereinzelte Einheit", sagt Gottfried Semper, „ward als Versinn- 
lichung der Autorität und des InbegrifiTlichen bereits von dem dunkeln 
Kunstgefühle der ersten Menschen aufgefaßt, und mit wunderbarem 
Instinkt an richtiger Stelle angewandt^) — Das roheste Bestreben 
sich zu schmücken geht zum Teil aus diesem dunkelgeahnten Prin- 
zip hervor. Der Geschmückte ist das Mal des Schmuckes." 

Damit ist auch der gebräuchliche Terminus für die ursprüng- 
lich gesetzte Einheit gegeben. Wir erinnern vorerst nur an den 
Gebrauch des Mals bei Spielen und als Zeichen und Ziel; denn die 
vollgültige Bedeutung kann sich erst im Verlauf der weiteren 
Entwicklung all der Beziehungen zusammenfinden, die wir von ihm 
aus verfolgen müssen. Die Wandelbarkeit dieses Beziehungs- 
zentrums wird sofort einleuchtend, sowie man jenen kurzen Satz: 
„der Geschmückte ist das Mal des Schmuckes" zu weiteren Bei- 
spielen am selben Individuum durchverfolgt. Das Haupt des 
Häuptlings ziert die Feder wie ein aufgesetzter Accent auf die 
Richtungsachse von unten nach oben: es ist nichts als der stehen- 
gebliebene Erfolg der mimischen Ausdrucksbewegung, nichts als 
die Verlängerung der gegebenen Linie, ein Zuwachs des näm- 

i) Prolegomena XXXVII f. Die Erklärung aus Vitruv lassen wir absichtlich weg. 



^^ IV. Menschengeist und Außenwelt 

liehen Sinnes, den sie von Natur schon hat Ein Strick um den 
Leib, ein Gürtel mit Gehänge um die Lenden zeichnet andere 
Werte aus, die sich von selber verstehen. Ein Armband geziemt 
der Rechten, die er im Kampfe braucht, oder der Hand, die ihm 
zahllose Dienste leistet, oder ein ähnliches Band um die Knöchel 
den schnellen Füßen des Läufers. An allen diesen Stellen um- 
spannt der Schmuck den wertvollen Teil und faßt ihn wie in 
einen Rahmen, wie der Goldreif den Edelstein, damit er recht 
hervortrete. Zum geschmückten Mal wird aber auch der einzelne 
Finger der Hsind; er tritt als Korper in den Ring, den wir 
daranstecken. Und die Wahl des Fingers in der Reihe von An- 
wärtern, die sich allmählich den Rang streitig machen, erzählt 
eine ganze Geschichte vom Wandel der Kultur und ihrer Ideale. 
Mit solcher Einengung des Reifen auf ein so schlankes Glied ver- 
lassen wir aber den Maßstab der ursprünglichen Ausdrucksbe- 
wegung, deren bleibendes Zeichen er sein soll, fast allzusehr, imd 
nur die liebkosend spielende Hand des Weibes, die ihn am Finger 
des Helden befestigt, vermag noch so intime Beziehungen auf 
ihren einstigen Sinn zurückzuleiten. Aber wenn der geliebte Mann 
hinauszieht in den Kampf, so hängt sich die Gattin an seinen 
Hals, und wo ihre Arme seinen Nacken umschlangen, befestigt sie 
als beharrende Wiederholung die Halskette, die sie gefertigt. 
Und wie er mit beiden Händen das Antlitz umfaßt, das sein Ent- 
zücken ward, so umrahmt er es wohl mit Perlen oder Geschmeide 
zu beiden Seiten der glatten Stirn, der strahlenden Augen, der 
zierlichen Ohrmuscheln, genau an der Stelle, wo seine streichelnde 
Hand sich in zärtlichem Bemühen erging. Das Ornament selbst 
ist in all seinen mannigfaltigen Variationen nichts anderes als 
ein Niederschlag des mimischen Spieles um solchen Wert herum, 
des anerkennenden Verweilens und beteuernden Wiederkehrens im 
Erfassen des gefundenen Wertes. Und eben die nachfühlende, 
genießende Wiederholung der ähnlichen Gebärde ist der Sinn, der 
allem Reichtum der Motive, allen Abwechslxmgen der Form fiir 
den nämlichen Inhalt zugrunde lieg^. Mit beiden Händen umfassen, 
mit beiden Armen umschlingen, aber auch mit beiden Augen immer 
wieder daran entlanggleiten, als konnten auch sie zugreifen und 
festhalten, was entschwinden will, das sind die allgemein verständ- 
lichen Vorgänge. Sie fuhren unmittelbar zur Erfindung der weiteren 
Motive des Schmuckes, zu denen wir vom Mal aus gelangen. 



V. 
DIE DREI GESTALTUNGSPRINZIPIEN 

SYMMETRIE UND PROPORTIONALITÄT 

Bei der begrifflichen Analyse der Gestaltungsprinzipien, die 
sich in der Ornamentik ausbilden und von hier in das künstlerische 
Schaffen weiterdringen, muß ganz besonders daran festgehalten 
werden, daß es sich um Gestaltimg vom Menschen aus \md für 
Menschen handelt Mag die mimische Ausdrucksbewegung oder 
die praktische Hervorbringung zuerst ins Auge gefaßt werden, d. h. 
die Entstehungsursache dort, die. Gelegenheitsursache hier das Inter- 
esse auf sich ziehen, immer ist die Betätigung des Menschen mit 
seinen Händen die Hauptsache und dabei die Mitwirkung seiner 
Arme, seiner Beine und seiner Augen vor allem zu berücksichtigen. 
Im immittelbaren Umkreis seines Tastraumes oder in der Verschie- 
bung dieser Sphäre von Ort zu Ort müssen wir die nächstliegende 
Erklärung suchen, spät erst auf dem Sehfelde in weiterer Entfer- 
nung. Den Bereich des Tastbaren und des Sichtbaren sollten wir 
aber vorerst gar nicht verlassen. 

Wir wissen ja freilich, daß der Mensch dem, was er Raum 
nennt, überhaupt nur beizukommen vermag, indem er die zeitliche 
Vorstellung auf die räumliche Anschauung überträgt. Aber wir 
wissen auch ebenso, daß er dem, was er Zeit nennt, nur mit Hilfe 
räumlicher Größen beikommen kann. Bewegung \md Beharrung 
sind die menschenmöglichen Annäherungen an die beiden Extreme. 
Für die schöpferische Auseinandersetzung mit der Außenwelt sind 
die Erlebnisse am eigenen Leibe das Maßgebende; sie sind es so 
sehr, daß es gewagt, ja verkehrt erscheint, auch nur die verfeinerten 
Fähigkeiten des Gehörs zur Erklärung herbeizurufen. Es kommt zu- 
nächst auf so viel derbere handgreifliche Unterschiede an, daß selbst 
der Augenschein uns schon zu leicht verleitet, die willkommene 
Auskunft bei ihm allein zu suchen, weil wir modernen Menschen 
sie dort geläufig haben und gewöhnt sind, sie dort zu finden. 

Unter den Bewegungen des Menschen ist natürlich die des 



e5 V. Die drei Gestaltungsprinzipien 

Schreitens die wirksamste, die Ortsbewegnng die sinnfälligste Ver- 
änderung, der pendelnde Gang die stärkste der treibenden Mächte. 
Daneben aber behaupten die Bewegungen der Arme als Hebel an 
seinem Leibe ihr eigenes Reich und mit ihnen die Tätigkeit der 
Hände. Die Faust und was die Finger umspannen, ergeben die 
bequemsten Maße, die Spitze der Finger schon ein Minimum des 
Tastens. Mit der Beweglichkeit der Augen stoßen wir neben dem 
Zuwachs der Tragweite und der Verfeinerung auch auf Einschrän- 
kungen durch ihre Lage im Kopf. 

Unsere Beharrung in ruhigem Zustand ist andererseits eme 
innerlich bewegte. Wenn wir auch nicht gehen und hantieren, so 
atmen wir doch mit unseren Lungen die Luft ein und aus, und sind 
damit einem periodischen Wechsel im ganzen Organismus unter- 
worfen. Mit dem Zustrom des erfrischten Blutes schärfen sich die 
Sinne, mit der Ebbe schwindet ihre Leistungsfähigkeit. Zwischen 
beiden aber merken wir die rastlose Fortdauer des Pulsschlages, 
unmittelbar jedoch nur, wenn das Herz erregter pocht, sonst erst, 
wenn wir absichtlich darauf achten oder in der Stille der Nacht, 
wenn andere Sinne ruhen, dem vernehmlichen Takte lauschen, oder 
gar sein schnelleres Tempo mit dem regelmäßigen Zug des Atems 
vergleichen. 

Dieser organisch belebte Körper ist die erste Einheit, die wir 
kennen, er das Mal für alles weitere Spiel seiner Kräfte. Aus 
seiner Anlage entspringen sogleich zwei verschiedene Anfänge, 
denen wir weiter nachgehen müssen. Ja, es kommt darauf an, die 
beiden Fäden zugleich in der Hand zu behalten. Sie stecken schon 
in dem Versuch, den GrundbegrifiF der „Regelmäßigkeit** zu defi- 
nieren, den wir vorangeschickt haben, hier also wieder aufnehmen 
dürfen, um daran anzuknüpfen. 

Die Regelmäßigkeit wäre nach F. Th. Vischer „die gleichmäßige 
Wiederkehr unterschiedener, doch gleicher Teile". Setzen wir statt 
des letzten Wortes Teil, das schon ein Ganzes vorausnimmt, von dem 
wir noch nichts wissen, vorläufig Objekt oder Element, zur mög- 
lichst neutralen Bezeichnung eines sinnlich wahrnehmbaren Reizes 
ein, — so ist das nächste, was wir brauchen, die Mehrzahl. Dann 
sollen diese Elemente oder Reize unterschieden, also jedenfalls 
unterscheidbar sein, d. h. sie müssen sich gegeneinander abgrenzen, 
wenn sie aneinander geraten, dürfen nicht ineinander fließen, son- 
dern sollen sich isolieren, um als Einheiten aufgefaßt zu werden. 
Damach erst — oder trotzdem noch — sollen sie sich als unterein- 



Voraussetzungen cy 

ander gleiche ausweisen. Schließlich käme die Wiederkehr, die 
gleichmäßige Abfolge hinzu, wodurch sie erst in Fluß geraten 
zu uns. Da haben wir schon das Nebeneinander im Raum imd 
das Nacheinander in der Zeit Dazu gehören aber wieder min- 
destens zwei Elemente. 

Wie kommt das Subjekt von der Einheit zur Mehrzahl, auch 
nur von Eins zu Zwei? Mit dieser Frage stoßen wir erst an den 
eigentlichen Kernpunkt des Problems. Die Einheit unseres Be- 
wußtseins vermögen wir uns selbst nur anschaulich zu machen, 
wenn wir es punktuell, wie ein Nadelauge denken, durch das alle 
Vorstellungen hindurch müssen. Das wäre die konstitutive Vor- 
bedingung imseres zeitlichen Auffassens, wenn nur ein einziges 
Moment Zutritt fände, im selben Augenblick kein zweites hinein- 
käme, sie mögen sich so heftig drängen, so eilig vorüberschlüpfen 
oder so oft wiederkehren, wie sie können. Dieser innere Augenpunkt 
macht \ms die Zeit, wie schon die Pupille in unserem Augapfel 
und die Stelle des deutlichsten Sehens dahinter das successive Ver- 
fahren des Schauens bedingt 

Von der Einzahl zur Mehrzahl gelcmgen wir erst durch die 
Wiederkehr des gleichen Reizes. Gleichheit der Elemente ist die 
Bedingung unseres Zählens und der ganzen Arithmetik. Ich kann 
nicht Apfel zu Birnen rechnen, noch Steine zu Tönen. Die Zahlen- 
reihen sind empirische Bilderverkettungen mit dem spezifischen 
Merkmale, daß in die Verkettung nur durchaus gleichartige Bilder 
eintreten. Wie aber kommen wir dazu, die Bilder zu sondern, die 
andrängenden zu isolieren und als unterschiedene Einheiten anzu- 
erkennen? Diese Scheidimg muß vorausgehen, ehe wir die Gleich- 
heit zwischen dem ersten und dem zweiten feststellen können. 

Damit gelangen wir zurück zu den Beobachtungen, die wir 
bei der Differenzierung der Dimensionen von unserem einheitlichen 
Körper aus verfolgt haben. Denn auch hier gilt dieselbe Quelle 
unseres Begriffes von Einheit. Wir applizieren auf jede Erschei- 
nung, die vor unseren Augen auftaucht, unser Höhenlot als Tren- 
nungslinie und zerlegen sie damit nach links und rechts. Mit dieser 
Diremtion vollzog sich die Breite, die von ihrer Entfaltung nach 
beiden Seiten dann zurückgenommen wird zur Mitte. Bei diesem 
Verfahren ergibt sich, ob die beiden Seiten zu einer Einheit ge- 
hören oder als trennbare Elemente vielleicht nur vorübergehend 
nebeneinander sind. Nur die eigene Mittelachse drüben erweist 
die Gegenwart eines Dinges der Außenwelt Sie ist das Wahr- 



eg V. Die drei Gestaltlingsprinzipien 

zeichen des Gegenstandes. Sie fordert zur simultanen Auffassung 
heraus, während die Elemente dem successiven Verlaufe -wider- 
standslos unterliegen. Ins Nacheinander lösten wir die Breitenaus- 
dehnung auf, wenn wir von einem Ende anfingen, die Elemente 
abzulesen bis zum anderen Ende hin. In dieser successiven Auf- 
fassung nannten wir sie Länge. Hier scheiden sich auch die Wege 
der Gestaltungfsprinzipien, die wir betrachten wollen: Symmetrie 
und Reihung sind die ersten. 

Mitten hinein in dies Verfahren stellt uns auch der Streit der 
Meinimgen. Die verschiedenen Anläufe zur Definition der Sym- 
metrie können nur von hier aus abgeschätzt werden. Wir greifen 
die Aufstellung Theodor Alts^) als erste heraus, weil sie der natür- 
lichen Anschauung am nächsten bleibt und damit ohne weiteres an 
den bisher entwickelten Gedankengang sich anschließt, wenn auch 
ein Vergleich mitten in der Definition nicht eben glücklich da- 
zwischentritt. „Die Symmetrie besteht darin, daß die nebeneinander 
liegenden Hälften eines aufrecht angeschauten Gegenstandes sich 
wechselseitig verhalten wie Spiegelbilder. Sie kann ohne einen 
bedingenden Begriff nicht gefordert werden. Dieser Begriff ist der- 
jenige der Einheit, welchen sie vermöge der Wechselbeziehungen 
der beiden Hälften um die in der Mitte liegende Achse versinn- 
licht." Schon die geforderte Situation wird enger umschrieben, als 
die allgemeine Begriffsbestimmung der Symmetrie verträgt: ein 
Gegenstand — aufrecht angeschaut — seine nebeneinander liegen- 
den Hälften. Aus dem Gegenstand erwächst aber auch die weitere 
Voraussetzung eines die S)rmmetrie bedingenden Begriffes, und 
zwar der Einheit Denn fi-agen wir, woher der Begriff der Einheit 
komme, so leuchtet ein, daß wir ihn hier der Gegenstandsvorstellung 
entnehmen, die diu-ch den Eindruck erweckt wird. Die Forderung 
der Symmetrie setzt aber von vornherein weder einen Gegenstand 
oder ein Gsmzes aus zwei Hälften, noch den Begriff der Einheit 
voraus. Das erste Beispiel, das dem Menschen bekannt sein muß, 
noch ehe er sein eigenes Gesicht oder das anderer Menschen ge- 
sehen zu haben braucht, sind seine eigenen Hände. Sie verhalten 
sich wechselseitig wie „Spiegelbilder", nach dem Wortlaut der mo- 
dernen Definition; aber sie sind nicht die Hälften eines Gegen- 
standes, brauchen nicht aufrecht angeschaut zu werden, sondern 
nur nebeneinander in einer Ebene zu liegen, so daß ihre Innen- 



i) System der Künste, Berlin 1888, S. 47! 



Symmetrie 59 

flächen oder ihre Außenflächen in dieses Sehfeld fallen. Aber sie 
sind nicht nur symmetrisch, sondern zeigen noch andere Gestaltungs- 
prinzipien, die ims z. B. klar werden, wenn wir sie aufeinander 
legen. Sie werden dabei aber unabhängig vom Körper betrachtet, 
zu dem sie gehören. Dieser liefert nur die in der Mitte liegende 
Achse oder den kritischen Punkt, den wir von uns aus einsetzen. 

Wir haben bei Th. Alt den nämlichen Fehler, den schon 
WölfFlin*) an der Definition F. Th. Vischers hervorgehoben hat. Die 
Symmetrie wäre nach Vischer „die Gegenüberstellimg gleicher Teile 
um einen trennenden Mittelpunkt, der ihnen ungleich ist". Dazu 
bemerkt WöMFlin, man könne damit wohl einverstanden sein, sobald 
man sich nur darüber klar sei, daß hier nichts weiter gesagt sein 
solle, als daß bei gegebenem Mittelpunkte die Teile rechts und 
links gleich sein müssen. Die aktive Fassung verleite jedoch zu 
dem Glauben, „es sei in dem Begriff" auch die Aufstellung eines 
Mittelpunktes eingeschlossen, was durchaus unrichtig ist". Leider 
sagt uns auchWölfflin seinerseits nicht, woher der gegebene Mittel- 
punkt kommen soll. Dieser Mittelpunkt ist allerdings die Voraus- 
setzung. Aber wo? Er wird zimächst nur vom menschlichen Sub- 
jekt auf die Erscheinung appliziert und vertritt die aufs Minimum 
reduzierte Vertikalachse, die wir schon bei der Entstehung der 
Breitenausdehnung (Diremtion) als unerläßliche Bedingung für die 
Differenzierung des Nebeneinander im Räume nachgewiesen haben. 
Es ist wichtig, festzuhalten, dciß diese Trennungslinie oder der 
kritische Punkt zunächst nur Zutat des Subjekts ist. Ein zweiter 
Fall entsteht dann erst durch die Objektivierung in der Er- 
scheinung ims gegenüber. In diesem Sinne bestimmt Gottfided 
Semper die erforderliche Situation als: „geregelte Verteilung nach 
horizontaler Ordnung um eine vertikale Achse, die senkrecht 
auf die Bewegungsrichtung*) gedacht wird.** Aber auch diese an- 
schauliche Hilfskonstruktion objektiviert beide Dimensionen im 
Bilde zugleich, oder verführt wenigstens dazu, sie gleichwertig mit 
der Erscheinung selbst vorzustellen, und darin liegt eine Übereilung, 
die \ms zum irreleitenden Ansatz Vischers zurückführt. 

Wenn nämlich Wölffliu seinerseits erklärt: „die Forderung der 
Symmetrie ist abgeleitet von der Anlage imseres Körpers", so hat 



i) Prolegomena zur Architektur, München 1886. 

2) Dieser Ausdruck ist nicht glücklich, da er zur Verwechslung der Symmetrie 
mit der Reihung führt. Lies etwa Querachse oder Horizontale. 



6o V. Die drei Gestaltungsprinztpien 

er so weit ohne Zweifel recht. Wenn er aber weiter auslegt: „das 
heißt, weil wir symmetrisch aufgebaut sind, glauben wir diese Form 
auch von jedem . . . Körper verlangen zu dürfen. Nicht deswegen 
freilich, weil wir luiseren Gattungstypus als den imserigen für den 
schönsten hielten, sondern weil es uns so allein wohl ist," so geht eben 
dieser Blick in den Spiegel oder auf den Mitmenschen über das hinaus, 
worauf es ankommt. Nicht weil wir symmetrisch aufgebaut sind, po- 
stulieren wir dasselbe von allen Körpern außer uns (Anthropismus?); 
weshalb uns nur allein wohl sei, wenn die Außendinge diesem Postulat 
entsprechen, würde uns damit auch nicht erklärt (es sei denn eine Art 
von Atavismus oder heimliches Affentum im Spiele). Wir verlangen 
nach Symmetrie, weil wir paarig organisiert, auf symmetrischer Grund- 
lage orientiert sind. Weil wir zwei korrespondierende Hände wie 
Füße zum Betreten und Betasten haben und zwei korrespondierende 
Netzhautflächen in beiden Augen zum Sehen brauchen, können wir 
gar nicht umhin, dies paarige Ebenmaß auf alle Objekte anzuwenden. 
Es wird uns so zur grundlegenden Gewohnheit des AufFassens, daß 
uns Erscheinungen, die ihm entsprechen, glatt eingehen imd eben 
darum angenehm sind. Deshalb können wir auch, ohne absichtliche 
Ausschaltung dieses geläufigen Verfahrens, gar nicht umhin, im 
Nebeneinander räumliche Werte hervorzubringen, die diesem G^- 
staltimgsprinzip entsprechen. Es ist eine natürliche Funktion, die 
mit der Anerkennung des eigenen Körperbaues zunächst aller- 
dings gar nichts oder fast gar nichts zu t\m hat, übrigens auch 
früher betätigt wird, als der Sinn für die Schönheit des eigenen 
Leibes im Sinne eines plastischen Ideals sich nachweisbar zu regen 
beginnt. Es handelt sich nicht einmal um eine Form, die wir gleich 
uns nur „von jedem Körper verlangen zu dürfen" glauben, wie 
Wölfflin meint, sondern die Forderung erstreckt sich auch auf Er- 
scheinungen, die keine Körper sind, und auf Elemente, die nicht 
wie Vischers vorausgesetzte „Teile um einen trennenden Mittel- 
punkt, der ihnen ungleich ist," also doch in concreto mit ihnen 
zusammen existiert, ein Ganzes bilden. Wir wissen beim Eintritt 
einer Erscheinung in imsere Sinnessphäre, zumal in unseren Ge- 
sichtskreis, noch gar nicht, ob sie sich als Gegenstand ausweisen, 
als Körper bewähren werde. Die Elemente (Reize) brauchen nicht 
einmal zusammenzugehören wie ein Paar, das wir subjektiv zur Ein- 
heit zusammenfassen, geschweige denn einer Einheit anzugehören, 
die wir als objektiv vorhanden anerkennen. Was haben zwei Farben- 
flecken, die irgendwo in der Luft erscheinen, mit dem Begriff „Ein- 



Symmetrie und Reihung 6l 

heit" zu schaffen, der ihre Symmetrie fordert? Sie können sie aufs 
strengste erfüllen, ohne deshalb als Teile eines Körpers angesehen 
zu werden oder gar als Hälften eines Gegenstandes. Wohl aber 
fungiert das betrachtende Subjekt als Einheit, und zwar beim Ver- 
gleich der beiden auf ihre Symmetrie sowohl, als schon bei der 
Vorbedingung, daß dort eine Zweiheit vorliege. Ich identifiziere 
mich zuerst mit dem einen, dann mit dem «mderen; erst so gelsmge 
ich zu dem Ergebnis, sie als zwei objektiv vorhandene Erscheinungen 
anzuerkennen. Der leere Intervall, so schmal oder so breit er sein 
mag, selbst die Linie, der Punkt nur zwischen beiden, dient als 
Negation, als Unbezeichnetes neben den beiden bezeichneten Stellen 
im Raum, die als positive Reize links uad rechts von der neutralen, 
aber n\m kritisch eingenommenen Mitte auftreten. 

Unsere guten deutschen Ausdrücke für Symmetrie: Gleich- 
maß, Ebenmaß, bedeuten uns schon in ihrer Zusammensetzung^ 
daß immer beide Faktoren erforderlich sind: das Maß auf der einen 
vünd das ihm entsprechende Gleiche auf der anderen Seite, das So 
und das Ebenso. 

Weiter vermag unser Verfahren auf diesem Wege nicht zu 
kommen: unser Denkorgan ist nur imstande, zwei Objekte mit- 
einander zu vergleichen. Treten noch andere Reize in unserem 
Sehfelde neben den beiden soeben verglichenen und als symme- 
trisch anerkannten auf, so haben wir nur die Möglichkeit, imseren 
Standpunkt zu verschieben, d. h. den zweiten mit dem dritten, den 
dritten mit dem vierten und so fort den letzten mit dem folgenden 
zu vergleichen. Wir rücken also die Mittelachse oder den Fixations- 
pimkt von Einschnitt zu Einschnitt weiter, von einem symmetrischen 
Paar zum andern, verbinden also die successive Auffassung mit 
der simultanen. Beide lösen sich ja in unserem gewöhnlichen Ver- 
halten naturgemäß einander ab. Aber es fragt sich immer, welcher 
von beiden wir die Oberhand lassen oder welche sich vermöge der 
eigenen Kraft des Ergebnisses das Übergewicht verschafft und 
damit objektive Gültigkeit behauptet, solange diese Kraft vorhält 

Mit der Einsetzung des kritischen Punktes vollzieht sich die 
simultane Auffassung, mit der Verlegimg desselben auf einen fol- 
genden Platz die successive; dazwischen aber fimgiert als Ver- 
mittlerin die Diremtion vom Fixationspunkt nach beiden Seiten und 
die zentripetale Rückkehr auf diesen Punkt im Vergleich zu sei- 
nem Ergebnis. Je öfter sich dies Verfahren wiederholt, desto ein- 
facher wird die Prüfung, desto flotter ihr Verlauf. Je häufiger die 



62 V. Die drei Gestaltungsprinzipien 

Wiederkehr gleicher Elemente folgt, desto bestimmter wird die 
Erwartung immer gleicher Eindrücke. Die Bedeutung der ver- 
glichenen Objekte tritt allmählich zurück, sinkt ganz unter das 
Niveau des Interesses, und die Abfolge der Momente selbst wird die 
Hauptsache, der Verlauf beschleunigt sich imversehens. So entsteht 
aus der S)rmmetrie durch Wiederholung derselben mit lauter 
gleichen Elementen die einfache Reihung, das erste Gliederungs- 
prinzip der Längenausdehnung im Räume. Damit beginnt ein ganz 
anderer Weg, auf dessen Anfang wir später zurückgreifen müssen. 
Sind die aneinander gereihten Elemente absolut gleich, so haben 
wir vollständige Gleichförmigkeit oder durchaus gleichmäßigen Ver- 
lauf, bei dem es schließlich gar nicht mehr auf die Eigenart der 
Elemente oder Reize ankommt sondern nur auf die unausgesetzte 
Succession in der eingeschlagenen Richtung. Die punktuellen Reiz- 
einheiten bilden eine Linie, die nur als Leitfaden der dahinrinnen- 
den Zeit dienen, wie in der Sanduhr die einzelnen Kömer vom 
oberen Glasgefäß ins untere gleiten. 

Sowie dagegen in die gleichartige Reihe ein abweichendes 
Element eintritt, so verändert sich das Wesen der Erscheinung 
vollständig. Wir gehen in unserer Aufzählung der Gestaltungs- 
prinzipien gewöhnlich ohne viel Aufhebens von der einfachen Rei- 
hung zur sogenannten alternierenden aus zwei verschiedenen 
Elementen über. Das erscheint auch so selbstverständlich, wenn 
man es liest, weil in Beispielen daneben sogleich die beiden Ele- 
mente nebeneinander bezeichnet werden. Für die sinnliche An- 
schauung, als Erlebnis, liegt die Sache schon anders. Vollends 
aber kommt es bei der Erfindung und Hervorbringung darauf an, 
sich den Unterschied in seiner ganzen Stärke zum Bewußtsein zu 
bringen. Denken wir ims den Eintritt eines solchen Falles einmal 
als Überraschung, so wird erst die volle Bedeutung des neuen Er- 
eignisses klar. Setzen wir in der einfachen Reihung aaaaaaaaaa 
irgendwo ein b ein, so vergleichen wir diesen fremden Eindringling 
sofort mit dem nächsten a vor ihm und mit dem nächsten a nach 
ihm. Das b fesselt unsere Aufmerksamkeit während beider Seiten- 
blicke auf seine Nachbarn links und rechts. Da steht aba als ein- 
fachster Komplex da. Beide Vergleiche führen auf Ungleichheit; 
das Verweilen bei dem Unbekannten ergabt einen merklichen Still- 
stand im Vollzug des Entlangsehens nach der eingeschlagenen 
Richtung. Nach den beiden Vergleichen mit den Nachbarn erfolgt 
eine Abschiebung nach beiden Seiten imd ein Zurückkehren von 



Proportionalität 63 

dem S3rmmetrischen Paar auf den Ungleichen in der Mitte, — viel- 
leicht gar mit der Stärke des Hinausdrängens, die seinen Wider- 
stand auf die Probe stellt. Je länger die einförmige Reihe verlief, 
desto heftiger wirkt der unerwartete Reiz und behauptet sein 
Übergewicht auch über die anderen, für deren Wirkung wir ab- 
gestumpft sind. Doch schon das gleiche Paar von Nachbarn wird 
zurückstehen hinter dem Neuen in der Mitte. Damit drängt sich 
der Obergang zur simultanen Auffassimg in den gleichmäßigen 
Fluß der successiven. Wir anerkennen die Symmetrie von a und a; 
zwischen beiden aber steht an der Stelle der Trenmmgfslinie oder 
des kritischen Punktes kein neutraler Intervall, sondern ein Posi- 
tives, das neue Element b. Das Subjekt des Betrachters stößt an 
seinem gewohnten Standpunkt auf ein Objekt, das zwischen den 
beiden Schalen der Wage wie die feste Vertikalstange wirkt. Wir 
haben statt der Symmetrie eine dreiteilige Grruppe. Und der Wert- 
unterschied zwischen den drei Gliedern bedingt ein neues Verhältnis: 
Proportionalität 

„Proportion setzt die Ungleichheit voraus", sagt auch F. Th. 
Vischer in seinem Versuch, sie begrifflich zu bestimmen. Diese 
Voraussetzung ihres Auftretens haben wir soeben beim Eintritt 
auch nur eines Ungleichen in die einfache Reihung gleicher Ele- 
mente kennen gelernt. „Die Proportion setzt eine die Ungleichheit 
beherrschende Ordnung fest", lautet es weiter, sagt aber nicht viel, 
wie Vischer selbst gesteht Die abstrakte Formulierung läßt nicht 
erkennen, wie sich solche Festsetzung einer Ordnung vollziehen 
möge, und wie sie dazu gelange, die Ungleichheit der Bestandteile zu 
beherrschen. Aber auch wir stießen in unserem Fall auf die Tatsache, 
daß das Ungleiche über die gleichen Elemente das Übergewicht 
bekam. Die Ausnahme springt als solche über die durchgehende 
Regel hervor. Statt der Koordination entsteht Subordination. 

Der Hinweis Vischers, die Proportion gelte für die vertikale 
Richtung, fuhrt uns wenigstens zu einem bestimmten Bereich ihrer 
Wirksamkeit Auch Gottfried Semper erklärt: die Proportionalität 
ist das Gestaltungsprinzip der Höhendimension; die Vertikale ist 
die proportionale Achse, weil nach dieser Linie die proportionale 
Ordnung der Teile statthat 

Wie der Mensch dazu komme, diese Dimension als erste zu 
erfassen, haben wir aus seinem eigenen Bau zu erklären versucht 
Aus der menschlichen Auffassimg dieser eigenen Vertikalachse und 
deren Übertragung auf andere Außendinge ergibt sich von selber, 



64 ^' ^ic <^i Gestaltungsprinzipien 

wie sie ästhetisch zunächst ausgelegt und dann ausgestaltet werden 
muß. Sie ist die Richtungslinie unseres eigenen Wachstiuns, und 
nach der Hohe, in der wir unser eigenes Haupt tragen, bemessen 
wir alle menschliche Proportionalität, anfangs rein als Großen, nach 
Leibeslänge. Wer seine Nächsten um Haupteslänge überrsigt, der 
beherrscht sie. Er gewohnt sich wohl oder übel, auf sie alle herab- 
zusehen, und sie schauen zu ihm auf. Das Wachstum der Eüinder, 
bis sie als Erwachsene gelten, d. h. ein Durchschnittsmaß erreichen, 
und das Zusammenschrumpfen oder die gebückte Haltung im Greisen- 
alter, gegenüber der aufrechten Streckung in der Vollkraft, sogar 
die starke Konkurrenz der Breitendimension jenseits der Lebens- 
mitte, das alles kommt der Bedeutung imd dem Verständnis dieser 
Richtungslinie als eines Aufstiegs von unten nach oben zugute. 
Daß der untere Endpunkt der Fußpunkt, der obere das Kopfende 
sei, verbindet sich mit dieser Vorstellung, schon lange bevor noch 
das eigentliche Interesse an dem Wuchs und der Gestalt unseres 
Leibes einsetzt und das geheimnisvolle Gesetz der Proportion im 
organischen Geschöpfe zu ahnen beginnt 

Daraus können wir schon abnehmen, wann das Höhenlot auch 
außer uns ästhetisch wirksam werden kann. Am unmittelbarsten 
geschieht es sicher nicht, wenn die Vertikale beliebig irgendwo in 
der Luft steht, sondern wenn sie mit uns auf gleicher Unterlage 
auftritt, oder wenigstens auf einer Horizontalen fußt, die das be- 
kannte Niveau des gemeinsamen Schauplatzes bedeutet Für den 
Beschauer erhält sie, wie Gottfried Semper erklärt, erst dadurch 
selbständige formale Existenz, daß sie „vertikal aufwärts gerichtet 
ist, mit Bezug auf die Ebene des Horizonts, oder auf eine Linie, 
welche letztere repräsentiert" (XXVI). Die erste Abschätzung des 
Größenverhältnisses im allgemeinen beginnt wohl von oben nach 
imten mit der Feststellimg des Höhepunktes und Fällung der Senk- 
rechten auf die horizontale Grundlage. Aber die Anteilnahme des 
Gefühls schlägt den umgekehrten Weg ein, d. h. von unten nach 
oben, eben weil die Erdoberfläche, unser Grund und Boden, den 
zuverlässigsten Ausgangspunkt für das Nachprüfen eines Dinges 
außer uns, nach Analogie unserer eigenen Person, besonders für 
das nacherlebende Durchverfolgen seiner Eigenart gewährt Nach 
oben aber liegt gerade der freie Spielraum für alles, was uns über 
den Kopf wachsen mag. 

Ganz nüchtern, im Anschluß an mathematische BegriflFserklärung 
ausgedrückt, wäre die menschliche Höhendimension immer der kür- 



Proportionalität 5e 

zeste Weg eines Punktes von unten nach oben. Die Bewegung 
dieses Punktes geschieht somit in einer Richtung, die dem Gesetz 
der Schwere oder der Trägheit geradezu entgegengesetzt ist Es 
ist ein Aufstieg, wie der Weg eines kleinsten Gasbläschens durch 
die atmosphärische Luft oder eines Luftbläschens im durchsichtigen 
Wasser vom Grunde bis an die Oberfläche. Sie sind leichter als 
die beiden Medien, sagen wir. Aber wer denkt heute noch bei 
Attraktion imd Repulsion, bei zentriftigaler oder zentripetaler Be- 
wegung nicht an das Spiel von Kräften? Kein Protest der Wissen- 
schaft vermag die menschliche Vorstellung daran irrezumachen; 
revoltiert doch jene mitten im Lager der Atomlehre und nimmt 
ihre Zuflucht zu den Energien« In künstlerischen Dingen hat die 
menschlich natürliche Auslegung des Sinnenscheines immer recht 
Der Gegensatz zwischen Bewegung und Beharrung wird zu einer 
Auseinandersetzung zwischen einem positiven und einem negativen 
Pol, zu einem Ausgleich zwischen Ruhe und Streben. Bei Kraft, 
Bewegung, Streben vermögen wir ims nicht allein etwas Mensch- 
liches vorzustellen, sondern auch etwas zu fühlen und mit zu er- 
leben, weil wir es selbst an uns erfahren. Die dialektisch konstru- 
ierten Gegensätze dazu sind aber nur Negationen des Positiven, 
von relativer Negation bis zu absoluter. Was Behammg sei, ver- 
stehen wir als bewährten Widerstand gegen Anläufe der Bewegung, 
entweder von außen oder von innen her, als Opposition gegen Ver- 
suche der Veränderung. Aber was ist absolute Ruhe fiir den 
natürlich denkenden Menschen? Kaum etwas anderes als Todes- 
starre oder ein Nichts, wo jede Vorstellimg aussetzt 

Streben, Bewegung, Kraft ist also auch der Ausgangspunkt 
der ästhetischen Teilnahme am Geschauten, und sei es nur die 
Richtung einer Linie von unten nach oben. Sowie wir dieser auf- 
gerichteten Vertikale das Recht des eigenen Wachstums zugestehen, 
wie uns selbst, so nehmen wir Anteil an dem Streben nach Selb- 
ständigkeit und Lostrennung des Individuums aus dem Zusammen- 
hang des Alls, aus der Masse oder dem Gewirr der Umgebimg. 
Die positive Kraft des selbständigen Entwickeins zieht uns an, die 
Abhängigkeit von dem Gesamten wird als ihr Widerspiel auch 
unser Feind. Die Gestaltung zwischen Fußpunkt und Spitze ergibt 
sich im Kampf beider Mächte, in ihr spiegelt sich die Geschichte 
des eigenen Aufstiegs in dem Medium, das dafür sorgt, daß die 
Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die Resultante zwischen 
beiden einander entgegenwirkenden Richtungen verkörpert sich 

Schmartow, Koiutwinenachait. 5 



56 V. Die drei Gestaltungsprinzipien 

in der Proportion an der Wachstumsachse. Versetzen wir uns mit 
unserm eigenen Körpergefühl oder nur mit dem Gradmesser seeli- 
scher Energie in diese Verhältnis werte der Form, so erleben wir 
das Ergebnis nach. 

„In diesem Kampfe der organischen Lebenskraft mit der Ma- 
terie einesteils, mit der Willenskraft andemteils entfaltet die Natur 
ihre herrlichsten Schöpfungen," schreibt Gottfried Semper. „Er zeigt 
sich in den schönen elastischen Kurven der Palme, die ihre ma- 
jestätische Blätterkrone kraftvoll emporrichtet, aber dabei den Be- 
dingungen des allgemeinen Gravitationsgesetzes als Ganzes und in 
ihren einzelnen Teilen, den Blättern der Krone, sich schmiegt. 

„Als Reflex und Repräsentant der makrokosmischen Tätigkeit 
macht sich an derartigen Erscheinungen zuerst geltend: die Basis 
des proportionierten Systems. 

„Als Reflex und Repräsentant des individualistischen Triebes 
oder Wirkens tritt dann an derselben proportionierten Erscheinung, 
imd zwar dem Gipfel zunächst, hervor: die Dominante des Systems. 

,3eide sind vermittelt durch ein neutrales tragendes und ge- 
tragenes Mittelglied, an den Eigenschaften beider Vorhergenannten 
partizipierend^ sich beiden gleichmäßig anschließend, und die Gegen- 
sätze an sich vermittelnd." 

Diese naturwissenschaftliche Erklärung des modernen Archi- 
tekten, die von der makrokosmischen Beziehung ausgeht, ist natür- 
lich nicht die des urwüchsigen Menschen. Aber wir kommen mit 
der Unterscheidung des Kopfendes oben, des Fußendes unten und 
des ausgleichenden Mittelkörpers dazwischen genau so weit. Auch 
bei summarischer Einwirkung der Menschengestalt nach ihrer Ver- 
tikalproportion wird der Unterschied des Beingestelles und des 
Rumpfes als des Tragenden und des Getragenen sich fühlbar 
machen. Das letzte Glied oben nennen wir lieber Bekrömmg, 
Spitze oder schlankweg Kopfstück, noch nicht Dominante, indem 
wir diesen Terminus lieber für das proportionierte Ganze aufsparen, 
wenn es seinerseits in weitere Beziehungen eingeht und in der 
Ungleichheit als beherrschendes Hauptglied auftritt 

Solange wir noch bei der proportionierten Einzelerscheinung 
verweilen, gilt es vor allen Dingen den Charakter der Selbst- 
ständigkeit zu betonen. Die Wachstumsachse des Menschen ist 
das Urbild; die Trägerin der aufstrebenden Bewegung im eigenen 
Körper anerkennen wir auch im fremden, am Mitmenschen, wie am 
Baume und in weiterer Übertragung auch am aufrechten Gebilde 



Proportionalitat und Symmetrie 67 

der unorganischen Natur, in der Hauptachse des Kristalles oder 
des Bergkegels. Die Proportionalität von unten nach oben läßt 
uns keinen Zweifel, daß wir es mit einem selbständigen Körper zu 
tun haben. Wir begrüßen das werdende Individuum auch da, wo 
es mit dem Fuße noch im Boden wurzelt oder mit der kompakten 
Masse des Gesteins zusammenhängt. Desto entschiedener meldet 
sich der Anspruch allseitiger Abgeschlossenheit ringsum und klarer 
Begrenzung nach allen Dimensionen. Zur Proportionalität in der 
Hohenrichtung gesellt sich die symmetrische Entfaltung in der 
Breite, nicht aber in einer Achse nur, nach links und rechts, son- 
dern auch nach vom und hinten, oder vielmehr nach allen Seiten 
ringsum, wenn auch in vollständiger Unterordnung dieser anderen 
Dimensionen unter die Hohe, die im Koordinatensystem somit als 
Dominante dasteht Die Unabhängigkeit von Beziehungen ringsum 
wird ausschließlicher sein, wenn auch die Unterscheidung einer aus- 
gemachten Vorderseite wegfallt imd dafür die Geschlossenheit und 
Ruhe der menschlichen Rückseite ringsum waltet, wie am Stamm 
des Baumes. 

So sieht das menschliche Subjekt die Vertikalachse des eigenen 
Leibes nun objektiviert im fremden Körper vor sich stehen. Sie 
eben fordert zum Vergleich mit dem Selbst des lebendigen Indi- 
viduums heraus und behauptet sich als ähnliches Zentrum, das 
innerhalb seiner Machtsphäre sich alles übrige unterordnet Hier 
ist der Begriff der Einheit für die sinnliche Wahrnehmung ver- 
körpert Die Anerkennung des bleibenden Bestandes außer uns 
ist das Ergebnis dieser Vergleiche. Die Regel des eigenen Ver- 
fahrens ist dort Gesetz des Zusammenhalts. Dem veränderlichen 
Wesen der Menschennatur stellt sich die Beharrung der Körper- 
welt in solchem isolierten Beispiel gegenüber. 

Die Dominante tritt in ihrer beherrschenden Kraft aber noch 
lebendiger hervor, wenn andere aufrechte Achsen neben ihr er- 
scheinen, d. h. wenn an den einen Körper in der Mitte sich andere 
Körper anreihen. Wo die eine Vertikale alle übrigen Glieder über- 
ragt, oder ein anderer Kraftüberschuß alle übrigen Kräfte über- 
wiegt, da ist mannigfaltigere Gelegenheit für sie, sich zu bewähren. 
Der einfachste Fall begegnete ims dort, wo zwischen zwei gleiche 
Glieder ein drittes Ungleiches eintrat, in der Folge aba, die durch 
das Übergewicht des Mittelgliedes zu relativem Stillstand gebracht 
ward. In der Diremtion nach beiden Seiten und der Zentralisation 
zurück auf den Fixationspunkt oder die Vertikalachse vollzieht sich 



58 V. Die drei Gestaltungsprinzipien 

aber die Auseinandersetzung der Dominante mit ihren Nachbarn: 
„eine die Ungleichheit beherrschende Ordnung". Und das Gestal- 
tungsergebnis heißt Proportion. Wir haben also Synunetrie und 
Proportionedität auch hier miteinander in Verbindung, nur durch 
die Selbständigkeit der Glieder auch diu-ch Gegensatz gesteigert. 
Hier erst gewinnt die Definition der Symmetrie bei Th. Alt 
eine besondere Bedeutung. Nicht Symmetrie überhaupt, sondern 
eine Steigerung durch Hinzutritt anderer Gestaltungsmomente be- 
steht darin, ,,daß die nebeneinander liegenden Hälften eines aufrecht 
angeschauten Gegenstandes sich wechselseitig verhalten wie Spie- 
gelbilder". Die beiden symmetrischen Glieder sind jedoch außer 
durch diese Gleichheit noch durch eine Ungleichheit charakterisiert, 
etwa in der Betonung einer Richtungsachse. Diese Richtungs- 
achsen beider Teile verlaufen dann etwa nicht parallel aufwärts, 
sondern entweder konvergierend gegen die Mitte oder divergierend 
nach links imd rechts. Damit erscheint auch hier das Gestaltungs- 
prinzip der Proportionalität, im Verhältnis der drei Richtungsachsen 
zunächst als Wachstumsachsen in der Höhendimension. Auf jeden 
Fall haben wir eine Modifikation der Symmetrie oder eine beson- 
dere Form, die durch Einführung eines Gegensatzes gesteigerte 
Symmetrie des Kontrastes. Sie ist geläufig im sogenannten 
Wappenstil. Nun aber vergleiche man z. B. den heraldischen 
Kaiseradler, und zwar den doppelkopfigen mit dem einkopfigen, 
und wende dabei die Erklärung Alts an: die Symmetrie könne 
ohne einen sie bedingenden Begriff nicht gefordert werden; dieser 
Begriff aber sei derjenige der Einheit, den sie vermöge der 
Wechselbeziehung der beiden Hälften um die in der Mitte liegende 
Achse versinnlicht. Die Heraldik kennt die Zusanmienstellung 
zweier S3nmmetrischer Bestandteile, wie Adlerflügel, mit einer 
trennenden Mittellinie ohne weiteres Bindeglied. Wo liegt die 
Einheit? — doch nur in dem subjektiven Postulat, in der Vor- 
stellimg des Menschen. Die Zusammenfassung zu einem Paar wird 
vollzogen; aber das Andringen des vollständigeren Erinnerungs- 
bildes mit Kopf, Rimipf imd Schweif bleibt abgeschnitten diirch 
jenen Trennungsstrich. Beim doppelköpfigen Adler liegt die Ein- 
heit mehr im Schweif als am Kopfende; auch der Rumpf wird 
noch halbiert, nur etwa durch ein Wappen darüber wieder zu- 
sammengefaßt Der einköpfige Adler dagegen gewährt für den 
Begriff der Einheit volle Befriedigimg, die mm nicht mehr will- 
kürlich wie beim anderen, sondern natürlich erscheint Dort ist die 



Symmetrie des Kontrastes 69 

Regel des Wappenstils vollkommener erfüllt; hier verbindet sich 
das Gebilde mit der Einheit des organischen Gewächses, d. h, mit 
dem Natm-gesetz. Das gerade verletzt die Heraldik, stärkt aber 
den Glauben an die Existenz imd das Leben. Der Übergang 
zur Naturwahrheit des lebensfähigen Geschöpfes überzeugt uns, 
daß wir den Boden der Ornamentik und Dekoration zu verlassen 
im Begriff sind und von hier aus schon das Bereich der Körper- 
bildnerin betreten könnten, die der organischen Schönheit huldigt. 



VL 
DIE DREI GESTALTUNGSPRINZIPIEN 

ALTERNIERENDE REIHUNG — ZENTRALE SYMMETRIE 

Da stehen wir auf dem Grenzgebiet zwischen beiden vor einer 
neuen Frage, die wieder zu einer abweichenden Auffassung der 
Symmetrie fuhrt, nämlich derjenigen Alois Riegls. Er erklärt: „an 
der Symmetrie haftet untrennbar die Vorstellung der Ebene" 
(a. a. O. S. 30). „In der Symmetrie verrät sich der unimterbrochene 
haptische Zusammenhang innerhalb der Ebene am überzeugendsten 
dem äußeren Anblick. Die Symmetrie haftet nämlich an den 
Flächendimensionen imd wird durch die Tiefe beeinträchtigt, wo 
nicht aufgehoben. Daher ist die Symmetrie innerhalb der bilden- 
den Kunst des Altertums das wesentlichste Mittel gewesen, um die 
Abgeschlossenheit der stofflichen Individuen in der Ebene zu de- 
monstrieren (a. a, O. S. 20). 

Unzweifelhaft ist die Symmetrie zunächst nur Gestaltungsprin- 
zip der zweiten Dimension, der Breite. Ihre Erscheinimgen fallen 
also in die wagrechte Ausdehnung. Die senkrechte tritt nur inso- 
fern hinzu, als wir sie zum Vergleich der Elemente rechtwinklig 
auf jene Wagrechte gefallt denken. Wir können sie auf einen 
Punkt reduzieren. Schon darin liegt der Erweis, daß die Höhen- 
ausdehnung nicht unmittelbar mit gegeben ist Sie gehört nicht 
notwendig zur Situation für das Auftreten der Symmetrie. Wir 
können also Riegls Behauptung, an der Symmetrie hafte imtrennbar 
die Vorstellung der Ebene, nicht annehmen, und noch weniger die 
andere Formulierung: die Symmetrie hafte an den beiden Flächen- 
dimensionen, d. h. Höhe und Breite. Sie haftet tatsächlich nur an 
der Breite. Sowie die Höhe nicht bloß subjektiv dazu vorgestellt, 
sondern objektiviert wird, so tritt damit das andere Gestaltungs- 
prinzip in sein Recht, die Proportionalität, die an der Vertikal- 
richtung haftet. Erst wo beide, Symmetrie und Proportion, ver- 
bunden auftreten, ist auch die Ebene gegeben. 



Symmetrie — Reihung 71 

Es fragt sich alsdann nur, wo liegt diese Ebene? — Kann sie 
nur Sehebene sein oder auch Tastebene? — Kann es auch die 
Ebene sein, in der wir selbst als Höhenlot fungieren, d. h. die 
Breitenebene unseres Körpers? — Oder gäbe es gar noch weitere 
Möglichkeiten, die beiden Glieder der Symmetrie als Nebeneinander 
im Räume anzuerkennen? — Hört die einmal anerkannte Symmetrie 
auf, als solche zu wirken, wenn die Vorstellung der Ebene aufge- 
hoben wird? 

Zu diesen Problemen gelangen wir folgerichtig weiter, indem 
wir von der einfachen Symmetrie durch die Reihung gleicher Ele- 
mente zur alternierenden Reihe kamen und ihren ersten Verbin- 
dungen mit der Proportionalität nachgingen, die uns von beliebigen 
Elementen zu Körpern, von der Gesetzmäßigkeit kristallinischer 
Gebilde zu Gegenstandsvorstellungen aus der organischen Natur 
weiterführten. Am Anfang dieses Weges begnügten wir ims mit 
Erscheinungen im Sehfelde, dem reinen Augenschein ohne die 
zwingenden Wahrzeichen der Körperwelt, die uns Erinnerungsbilder 
konkreter Gegenstände mit erwecken. Nur so konnten wir zugleich 
der successiven Auffassung der symmetrischen Reihen gerecht 
werden, die lediglich regelmäßige Wiederkehr unterschiedner, doch 
gleicher Reize darboten oder zwei ungleiche Reize miteinander 
abwechseln ließen. Vergessen wir aber nicht, daß wir bei dieser 
Beschränkung auf den Augenschein, die unserer heutigen Gewohn- 
heit entspricht, doch eine Ausschaltung des Getasts begangen 
haben, sowie es sich nicht mehr um die Auffassung, sondern um 
die Darstellung, die ursprüngliche Hervorbringung handelt. Ein 
Gestaltungsprinzip verdankt seinen Ursprung dem Verfahren des 
Urhebers, dem Griff ins Material und der Wahl seiner Mittel. 
Fertig vorgefundene Naturdinge werden gewiß eher ergriffen, ge- 
sammelt und verwertet, als die Herstellung neuer aus bildsamem 
Material beginnt. Aber auch diese Masse ist körperhaft wie jene 
Dinge. Der Indianer reiht die Skalpe seiner besiegten Feinde um 
seinen Gürtel, der Jäger die Zähne des erlegten Ebers oder Bären, 
der Fischer die Muscheln vom Strande oder die Steinchen des 
Baches. Wer solche Dinge nicht findet, formt sich Kügelchen aus 
Tonerde oder Holz, knotet Lederstreifen oder rollt sich Weiden- 
rinde zusammen. Bei dem Hantieren mit solchen Dingen kommt 
die entstehende Reihe schon während der Arbeit in die mannig- 
faltigsten Lagen zu dem Körper, entweder zwischen beiden Händen 
in die Breite, oder vom herunterhängend vom Körper weg in die 



no ^^I* ^ic drei Gestaltungsprinzipien 

Tiefenrichtung, oder irgendwo in bequemer Höhe befestigt dem 
Arbeiter gegenüber zur aufrechten Ansicht. Die Regehi der 
Reihung gelten nach allen Richtungen gleichmäßig, nur in der 
Breite zunächst die S)rmmetrie, nur in der Höhe die Proportionalitat. 
Bei kleineren Gliedern wird immer die Reihung überwiegen, erst 
bei auffallenderen Elementen das eine der beiden anderen Gestal- 
tungsprinzipien, an besonderen Stellen die Verbindung beider zur 
Anwendung kommen. 

Aus der einfachen Sjonmetrie mit Einschaltung eines ungleichen 
Mittelgliedes, wie wir das Beispiel aba in der einfachen Reihung- 
auftretend dachten, entwickelt sich das Prinzip der alternierenden 
Reihung, wenn imter Beibehalt oder Wiederaufnahme der einge- 
schlagenen Richtung der Abfolge nun auch der zweite ungleiche 
Bestandteil wiederholt auftritt, sich also dem ersten Unbekannten 
gleich erweist imd somit als bekannte Größe kein Hemmnis mehr 
bildet. Je öfter die Wiederholung der abwechselnden Elemente 
stattfindet, desto glatter verläuft sie. Über diesen bequemen Ver- 
lauf zweier ungleicher Elemente, der noch dem Pendeln der Arme 
und Beine verwandt bleibt, kommen wir abermals hinaus, sowie 
die Einschaltimg eines dritten — mm wieder unbekannten — Ele- 
mentes erfolgt Wieder tritt ein Aufenthalt in der Succession ein. 
Der Vorgang des Sondems und Vergleichens hinüber imd herüber 
schließt mit der weiteren Grruppe abcba, die als solche noch zu 
simultaner Auffassung herausfordert Mit der Wiederkehr des 
dritten Elementes c kommt sie indes jedenfalls wieder in Fluß. 
So mag sich die weitere Reihung fortsetzen bis zur Vollendung 
der Kette, die als Halsband oder Gürtel, als Spange um den Arm 
oder lun die Fußknöchel, als Kranz um das Haupt gelegt wird, 
Sie umgibt also peripherisch das Mgd des Schmuckes, sei nun ein 
einzelner Körperteil oder der Körper als Ganzes der Wert, dem 
die Auszeichnung gelten soll. Dieser letzte Fall ist der eigentlich 
entscheidende; denn er gibt die Differenz von der früheren Auf- 
fassung. Aber auch bei den andern Fällen müssen wir uns immer 
in der Vorstellung dem kreisförmigen Gebilde anbequemen, um es 
zu verstehen, d. h. ims mittenhinein versetzen, wie der Kopf, der 
Arm darin steckt und umfaßt wird. Die bestimmende Situation 
ist also die, daß das menschliche Subjekt den Mittelpunkt des 
peripherischen Gebildes einnimmt, dort an der Stelle des Mals ent- 
weder in eigener Person seine Vertikalachse errichtet, oder sich 
punktuell an die Stelle denkt, die kritische Übersicht über die 



Zentrale Symmetrie 73 

Reihe abzunehmen, genau so, wie der gefeierte Häuptling oder 
Sieger, ein wertvolles Individuum seines Stammes vom Reigentanz 
seiner Mannen oder Weiber umzingelt wird und die Aufstellung 
oder die Bewegung dieser Körper um den seinigen erlebt. Was 
hier im Tanzreigen oder im Reihenschmuck erscheint, ist die so- 
genannte zentrale Symmetrie, die zur genaueren Bezeichnung 
der planimetrischen Situation auf der wagrechten Grundfläche rich- 
tiger als vielachsige Symmetrie in der Ebene unterschieden 
werden mag. Die entscheidende Lage dieser Ebene ist aber die 
Horizontale unter den Füßen des perzipierenden Subjekts (oder 
höchstens zu Häupten), nicht die Vertikalstellung als Parallelebene, 
wie wir unser Sehfeld annehmen und unsere Wände errichten. Das 
Subjekt steht als Korper in dieser Raumsphäre, die ihm solcher 
Lage gemäß die zweite und die dritte Dimension auf dem Boden 
unterbreitet (oder am Himmel entfaltet). Breitenachse und Tiefen- 
achse sondern sich klar nach der Stellung des Menschen. Wohin 
er seine eigene Vorderseite kehrt, da liegt die Raumtiefe vor ihm, 
während die seitliche Hebung seiner Arme die Querachse bezeichnet 
Er faßt also die Symmetrie im Links und Rechts von sich auf, und 
zwar an der ganzen Peripherie entlang, wie er sich um seine eigene 
Vertikale dreht oder stillstehend den Kreislauf an sich vorüber- 
ziehen läßt Er faßt die Proportionalität dagegen nicht sowohl in 
der Höhenerhebung der Teile, als vielmehr in der Tiefenerstreckung 
vor sich hinaus, und zwar vom Mittelpunkt ab, alle Radien des 
Kreises als Richtungsachsen der Bewegung verfolgend, in die 
Weite ringsum. Das Ganze stellt sich dann wie Ausstrahlung 
vom Zentrum dar. 

Hier müssen wir einen Augenblick verweilen, die besondere 
Art der Proportionalität im Unterschied von der Höhenproportion 
zu erfassen. Wie an der Wachstumsachse von unten nach oben, 
waltet hier an der Bewegungsachse nach vorwärts in die Tiefe 
hinaus ein und dasselbe Gestaltungsprinzip. Aber die Proportion 
im Sinne der Bewegimg oder der Willensrichtung ist, wie auch 
Gottfried Semper betont, prinzipiell verschieden von der Proportion 
im Sinne der vertikalen Gestaltung, und deshalb „ist aus ihr eine 
besondere Kategorie der formalen Schönheit zu machen". „Jedoch 
ist klar," fügt Semper hinzu, „wie zwischen beiden eine weit engere 
Verwandtschaft besteht als zwischen jeder von ihnen und der 



I) Prolegomcna XXXIV, i. 



y^ VI. Die drei Gestaltungsprinzipien 

Symmetrie". Es empfahl sich ako cbingend diese besondere Kate- 
gorie des formalen Schonen oder dies dritte Gestaltungsprinzip 
auch mit einem besonderen Namen zu bezeichnen, der das charakte- 
ristische Wesen, die Verwandtschaft mit der Proportionalitat und 
den Unterschied von der Symmetrie ausprägt. Semper hat sich 
mit dem Namen „Richtung** oder „Direktion" begnügt 

Das Gemeinsame, das die Verwandtschaft dieses neuen Gestal- 
txmgsprinzipes mit der Proportion im Sinne der vertikalen Gestal- 
timg begründet, ist die Bewegungseinheit, der Verfolg der succes- 
siven Momente in einer Richtung. Nur die Richtung selbst kann 
sich von der anderen unterscheiden, braucht es aber nicht, insofern 
die Bewegungsrichtung mit der Höhenachse zusammenfallen kann. 
Geht sie z. B. mit dem Höhenlot zugleich in der Richtung abwärts, 
wie im Fall der Körper nach dem Gesetz der Schwere, so geben 
wir ihr auch den Namen: sie geht in die Tiefe, sagen wir auch 
hier. Sonst aber bezeichnen wir als Tiefenachse diejenige in der 
Richtung nach vorwärts oder in die Feme, imd zwar immer aus- 
schließlicher, je mehr es sich um optische Regionen handelt 

Der Unterschied von der Symmetrie ist zunächst natürlich der- 
selbe, wie bei der Proportionalität im Sinne vertikaler Gestaltung. 
Hier aber handelt es sich nicht mehr um eine Nachbarschaft beider 
Erscheinungen in der aufrechten Parallelebene vor uns, sondern 
um die Lage links und rechts von der Tiefenachse, an der wir die 
proportionale Gestaltung verfolgen sollen. Es ist innerhalb des 
peripherischen Gebildes mit zentraler Symmetrie, in dem wir das 
perzipierende Subjekt stehend dachten, eine Auseinandersetzimg 
seines Körpers mit den um ihn herumgeordneten Körpern im 
Räume, bei der sich alle Richtungsachsen im Msd durchkreuzen. 
Dabei fungiert, wenn wir einen Gürtel oder Kranz als Beispiel 
nehmen, nicht das Auge vorzugsweise, sondern das Getast und das 
Körpergefuhl, die Antwort unseres ganzen Leibes bei unmittelbarer 
Berührung. Versuchen wir jedoch andererseits die neue Situation 
dadurch zu klären, daß wir sie von der früheren herleiten, wo 
Symmetrie und Proportion nur sichtbar in der Vertikalebene vor 
uns standen. Senken wir etwa eine schwarze Wandtafel mit zwei 
symmetrischen Farbenflecken imd der senkrechten Achse dazwischen 
allmählich rückwärts bis zu horizontaler Lage auf dem Tisch. 
Dann verschieben sich die Farbenflecken perspektivisch für unser 
Gesicht, aber die Verkürzung erfolgt wieder symmetrisch. Wenn 
auch die Normalansicht zusammenschwindet, so bleibt doch die 



Symmetrie, Proportionalität, Richtung ye 

neue Erscheinung als symmetrisches Paar kenntlich, um so un- 
mittelbarer, je weniger die Gegenstandsvorstellimg dabei mitspielt 
und zur Erkennung des Dinges reizt, was es eigentlich sei. Bei 
gewisser Entfernung vermögen wir durch Vorbeugen im Abwärts- 
schauen die erforderliche Situation herzustellen, daß die wagrechte 
Ebene als Parallelebene gesehen wird. Bei weiterer Entfernung ist 
das aber nicht mehr möglich und der Unterschied charakterisiert 
sich eben darin, daß die Trennungslinie zwischen beiden Elementen 
radial von unserem Mittelpunkt ausgeht Sind die symmetrischen 
Elemente bestimmte Figuren, d. h. je ein flächenhaftes Ganzes, so 
gehen auch die Mittelachsen dieser Einzelgebilde in ihrer Ver- 
längerung auf uns zu, und dies Abhängigkeitsverhältnis wird 
vollends wirksam, wenn jene S3rmmetrischen Objekte selbst drei- 
dimensionale Körper sind, die wir sonst als selbständig außer uns 
bestehende Einheiten anerkennen. Diese Relation der Körper 
ringsum zu dem Mal in der Mitte entwickelt sich zu einem Ver- 
hältnis von Teilen zum Ganzen, so daß hier Vischers Definition 
von Symmetrie zutreffen würde. Indes eben hier verbindet sich 
durch die Natur dieser Richtungsachsen als Ausstrahlungen von 
dem Zentrum auch mit der Symmetrie ringsum die Proportionalität, 
entweder in alternierender Folge oder an einem und demselben 
Gliede, so daß sich beide Gestaltungsprinzipien miteinander aus- 
gleichen. Eigentlich sind sie, latent wenigstens, in allen Gliedern 
vorhanden, und es kommt nur darauf an, welche von beiden das 
Übergewicht behauptet und dadurch den Charakter der Gestaltung 
bestimmt. Je größer nun aber der Ausschnitt aus der Peripherie 
eines solchen zentralisierten Gebildes wird, desto fühlbarer wird 
auch der Unterschied des von ihm beschriebenen Kreissegmentes 
von dem geradlinigen Verlauf der symmetrischen Reihung, der ein- 
fachen wie der alternierenden und ebenso von der ebenflächigen 
Gruppierung auf horizontaler Grundlinie. Betrachten wir solche 
Beispiele nebeneinander (etwa den Ausschnitt aus dem Blütenkelch, 
den wir einmal liegend, einmal aufrecht annehmen, bei Semper, 
der Stil, I S. xxvi), so leuchtet ein, daß die Trennungslinie, die wir 
m der Mitte einlegen, nicht mehr die Vertikale ist oder bedeutet, 
sondern die Richtungslinie imserer Bewegung nach vorwärts, d. h. 
die Tiefenachse des vor uns liegenden Raumes; — daß der kritische 
Pimkt, auf den wir diese Linie reduzieren könnten, nicht in der 
Reihe der wagrecht geordneten Elemente liegt, sondern vor den- 
selben, eben im Zentrum des Kreises, zu dem jene Bogenstellung 



7 6 VI. Die drei Gestaltungsprinzipien 

gehört. Kraft dieser neuen Funktion ist aber die Zusammenfassung- 
einer größeren Anzahl nebeneinander geordneter Glieder möglich 
als in der früheren Anordnung auf einer geraden Linie, eben weil 
die Elemente nicht mehr gleichwertig in einer Reihe erscheinen, 
sondern perspektivisch differenziert je nach ihrer Distanz und dem- 
gemäß schon unter diesem Gesichtspunkte wieder paarweis von 
beiden Seiten her übereinstimmen, also ohne weiteres zusammen- 
gefaßt werden. Damit erst begreifen wir die Tragweite der Ab- 
hängigkeit von dem Mittelpunkte im ganzen Umkreis. Als Bei- 
spiele hebt schon Semper derartige planimetrische Gebilde im 
Mineralreich hervor, wie Polygone, Sterne und gemischte Formen, 
oft von großem Reichtum, wie die Schneeflocken. „Für sie als 
Ganzes ist Symmetrie, Proportion und Richtung eins. Sie haben 
nur ein einziges Moment der Gestaltung, dessen Kraftmittelpunkt 
das Zentrum ist." Neben der Abhängigkeit aller Teile von diesem 
Zentrum muß sich aber auch zeigen, wie weit die Kraft reicht. 
Nur so kann sich auch allseitige Abgeschlossenheit ergeben, die 
sie für das Außensein indifferent macht Nur dann werden sie uns 
zum flächenhaften Abbild einer kleinen Welt für sich, ein Mikro- 
kosmos. Hier gilt es, die einzelnen Strahlen für sich zu verfolgen 
und ihre proportionale Entwicklung begrenzt zu finden. Sie eben 
offenbaren in ihrer Gestalt die Polarisation zweier Kräfte, den 
Ausgleich der zentrifugalen und zentripetalen Bewegung. Ihre 
radiale Stellimg bezeugt sowohl die Abhängigkeit von der Domi- 
nante wie die Beziehung zum Makrokosmos, der sie umgibt Je 
weiter sie sich erstrecken, desto entschiedener weisen sie auf einen 
weiteren Zusammenhang. Je mehr sie sich am äußersten Ende 
noch verdicken, oder zu massiger Erscheinung sammeln, desto aus- 
geprägter wird das Abbild einer Gravitation von Körpern, einer 
Konstellation von Planeten um ihre Sonne. 

Das Gesetz der Gravitation imi einen Mittelkörper gilt indes 
nicht allein für die Ordnung in einer wagrechten Ebene oder einer 
Horizontalschicht im Räume. Aber der Mensch ist auch kein 
Himmelskörper. Stellen wir uns nur selbst wieder als aufrechten 
Körper an den Platz des Mals, den wir zu Anfang eingenommen, 
so wird sich demgemäß schon die übrige Auseinandersetzung 
unseres Körpers mit den Körpern ringsum noch weiter ergänzen. 
Das Sehen von oben, das Fühlen und Tasten nach allen Seiten, 
die Orts Verhältnisse am Boden zu unseren Füßen: alle Richtungen 
durchkreuzen sich bei dieser Auseinandersetzung im Räume, doch 



Zentrale Symmetrie 77 

immer zwischen der Erdoberfläche oder der wagrechten Unterlage 
einerseits und der Scheitelhöhe unseres Kopfes andererseits. So 
unterscheidet sich unser menschlicher Kosmos einerseits wieder von 
dem Makrokosmos des Alls, von dem der natürliche Sinn nichts 
wahminunt als das wandelbare Himmelszelt, imd andererseits von 
den Mikrokosmen der Körperwelt, die nach anderen Gesetzen ge- 
staltet sind als wir und die wir deshalb als unorganische Natur be- 
zeichnen. Wir stehen im Unterschied von der vorher betrachteten 
vielachsigen Symmetrie in planimetrischen Formen hier vor den 
Erscheinungen der vollkommenen stereometrischen Symmetrie. 
Dies sind die kristallinischen Gebilde, die allseitig gerichtet sind 
und sich allseitig abschließen, zu Polyedern vom regelmäßigen 
Hexaeder bis zur Kugel, die wir als Polyeder von imendlich 
vielen Seitenflächen zu beschreiben versuchen. Wer fragt sich, 
was diese Definition eigentlich will, wenn sie die äußersten Grenz- 
punkte der Kugel, d. h. die Punkte jeder Peripherie derselben für 
imendlich kleine Flächen ausgibt, und damit ihre Natur als äußerste 
Endpunkte der Radien leugnet? Es kommt ihr darauf an, das 
Gesetz der Symmetrie als alleinwaltendes Gestaltungsprinzip anzu- 
erkennen und vom Gesetz der Proportionalität abzusehen, d. h. 
die Kugel als bestehende Körperform zu fassen, nicht als werdende 
zu erklären. Es ist die simultane Anschauung, die sie durchführt, 
ohne die successive zuzulassen. So kommt sie ziun Gesetz statt 
zur Regel, meint sie. Aber auch der Gestaltungsprozeß ist ein 
Gesetz, das sich unfehlbar vollzieht, und auch die beharrende Form 
ist ein regelmäßiger Körper. In der Mathematik herrscht nur 
systematisches, in der Naturwissenschaft genetisches Verfahren. 
Und gerade, wenn wir die lebendige Auffassimg der Kugel als 
Ergebnis ientrifugaler und zentripetaler Bewegung walten lassen, 
gerade so nur bleibt sie uns menschlich nah, unserem eigenen 
Wesen verwandt. Gerade so begrüßen wir in ihrer Form ein 
Ideal, das uns auf der Erde wandelnden Menschen nur zur Hälfte 
erreichbiir bleibt, eben weil uns die wagrechte Ebene unter unseren 
Füßen die untere Hälfte der Sphäre versagt imd alle unsere Aus- 
eineindersetzungen mit der Umgebung im Raum auf die halbe 
Kugel beschränkt. 

Trotzdem behalten wir die Genugtuung in unserem Sehraum, 
der dieser innem Kugelfläche gleicht, wie in unserem Tastraum, 
der sich noch weit enger begrenzt, als Dominante dazustehen und 
in dieser Eigenschaft zwischen allen Dingen xmi uns her durch 



jS VI. Die drei Gestaltungsprinzipien 

Koordination und Subordination einen Kosmos herzustellen, der 
den ersten Prinzipien des Schmückens, Ordnens und Gestaltens 
gerecht wird, wie wir selber« Da fuhren uns die simultane Auf- 
fassung dort und die successive hier zu zwei Ergebnissen ver- 
schiedener Art, zwei GrundbegriflFen, deren einer nur der einen 
Anschauung, der andere nur der anderen Vorstellungsweise ent- 
sprechen sollte, soweit wir beide überhaupt auseinanderzuhalten 
und wenigstens logisch zu scheiden vermögen: System und Orga- 
nismus. 

Ein System ist der Kristall, aber auch der leichte Stern im 
Schnee, wie auch das Planetensystem unserer Sonne im Welten- 
raume. Das griechische Wort bedeutet ja zunächst die Zusammen- 
stellung einer Mehrzahl von Bestandteilen zu einem Ganzen, wie 
die taktische Aufstellung eines Heeres in bestinunter Schlachtord- 
nung, aber auch allgemeiner, wie das lateinische „ Konstellation <% 
den Stand der Gestirne unter einem bestimmten Gesichtspunkt. 
Hernach wird es auch auf geistigem Gebiet fiir die Zusammen- 
Stellung eines übersichtlichen und in sich abgeschlossenen und 
innerlich zusammenhängenden Ganzen von Lehrsätzen gebraucht. 
Wir sprechen von einem System bei einem umfassenderen Kom- 
plex von Begriffen, die auf einem Grundbegriff beruhen, oder in 
größerem Maßstab bei einem Lehrgebäude solcher Art, schließ- 
lich, wo es eine ganze Weltanschauimg enthält, von einem philo- 
sophischen System. 

So verdanken wir auch Kant eine Begriffsbestimmung von 
System im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnis. Er hat diese 
Definition am Ende seiner Kritik der reinen Vernunft, im 
dritten Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre aufgestellt; 
wir brauchen sie nur aus dem Gebiet des Intellektuellen in 
die Körperwelt zurückzuübersetzen, um das Wesentliche zu er- 
halten.^) 



i) Sie lautet wörtlich (in der Kehrbachschen Ausgabe (Reclam) S. 628 f.): „Ich 
verstehe unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter 
einer Idee. Diese ist der Vemunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch 
denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl als die Stelle der Teile unter- 
einander a priori bestimmt wird. 

„Der szientifische Vemunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des 
Ganzen, das mit demselben kongruiert. Die Einheit des Zweckes, worauf sich alle 
Teile und in der Idee desselben auch untereinander beziehen, macht, daß kein Teil 
bei der Erkenntnis der übrigen vermißt werden kann und keine zufallige Hinzu- 



System und Organismus 70 

Setzen wir in den Wortlaut statt „Idee" den allgemeineren 
Terminus „Dominante" ein und wandeln die weiteren Sätze dem- 
gemäß ab, so gelangen wir zu dem „Kosmos'^, den wir soeben als 
räumliche Ordnung von Körpern um ein Mal betrachtet haben. 

Wir verstehen also unter einem System die Einheit der man- 
nigfaltigen Teile unter einer Dominante. Dieser ist der Inbegriff 
(oder Kraftmittelpunkt) von der Form des Ganzen, sofern durch 
denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl als die Stellung 
der Teile untereinander bestimmt wird. 

Die Dominante oder der Inbegriff enthält also den Zweck imd 
die Form des Ganzen, das mit demselben kongruiert. Die Einheit 
des Zweckes, worauf sich alle Teile wie auch untereinander be- 
ziehen, macht, daß kein Teil bei der Anschauung der übrigen ver- 
mißt werden kann und daß keine zufallige Hinzusetzung oder un- 
bestimmte Größe der Vollkommenheit, die nicht ihre a priori 
bestimmten Grrenzen habe, stattfindet Das Ganze ist also ge- 
* gliedert, (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio); es kann zwar 
innerlich (per intus susceptionem), aber nicht äußerlich (per apposi- 
tionem) wachsen. 

Man sieht, in dieser letzten Bestimmung geht die simultane 
Auffassung des Bestandes in die successive des Wachsens und 
Entstehens über. Und tatsächlich folgt — aber nur fiir diesen 
letzten Teil, wo es sich um die Art der Genesis handelt und wo 
die Einverleibimg von innen her, d. h. organisches Wachstum, 
der zufalligen oder willkürlichen Zutat von außen her, d. h. der 
unmotivierten Vergrößerung, gegenübergestellt wird — auch 
bei Kant der Vergleich mit dem „tierischen Körper, dessen 
Wachstum kein Glied hinzusetzt, sondern ohne Veränderung der 
Proportion ein jedes zu seinen Zwecken stärker und tüchtiger 
macht". 

Hier scheiden sich die Wege der Kristallisation in der un- 
organischen Natur von der Organisation in Pflanzen- und Tier- 
welt. Hier tritt also in das menschliche Kunstwerk auch die Mit- 
bestimroimg der eigenen Natur als organisches Geschöpf, wie als 
beseeltes Individuum imd als denkender Geist unwillkürlich und 



Setzung oder unbestimmte Größe der Vollkommenheit, die nicht ihre a priori be- 
stimmten Grenzen habe, stattfindet. 

„Das Ganze ist also gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio); es 
kann zwar innerlich (per intus susceptionem), aber nicht äußerlich (per appositionem) 
wachsen." 



8o VI. Die drei Gestaltungsprinzipien 

selbsverständlich ein, solange nicht in bewußter Scheidung der 
Stoffe und der Mittel eine Wahl zwischen dem einen oder dem 
anderen Wege erfolgt, also verschiedene Künste sich eben darnach 
unterscheiden. In der Ornamentik selber beobachten wir diesen 
Prozeß der Differenzierung, der schon in der Wahl der simultanen 
oder successiven Auffassung sich vorbereitet 

Von der systematischen treten wir auf die Seite der gene- 
tischen Betrachtungsweise hinüber, sowie wir neben dem System 
eines Kristalles den Organismus eines Lebewesens ins Atige 
fassen. Wir verstehen unter einem Organismus, könnte man sagen, 
die Einheit der mannigfaltigen Teile eines von innen heraus ge- 
wachsenen Körpers imter der Herrschaft einer Seele, die als Inbe- 
griff des Ganzen (nach Aristoteles) auch die Form, d. h. sowohl den 
Umfang des Mannigfaltigen als auch die Stellung der Glieder 
untereinander bestimmt Aber wir ertappen uns bald auf der näm- 
lichen Scheidung des festen Bestandes und der wechselnden Er- 
scheinung, oder des inneren Baues (im Skelett) imd des beweg- 
lichen Lebens. Wir brauchen von Organismus eigentlich keine 
Definition, weil wir es selber sind. Wir verlangen darnach erst 
auf den Grrenzgebieten gegen die unorganische Natur, die „tote". 
Das charakteristische Unterscheidimgsmerkmal des Organismus 
wäre wohl in seiner durch innere Zweckmäßigkeit hervorgebrachten 
Selbsterhaltung zu suchen, wonach zwischen seinen Gliedern ein 
solcher Zusammenhang waltet, daß die Erhaltung des einen von 
der Erhaltimg des anderen abhängt Zu der gegenseitigen Er- 
zeugung der Teile durch Assimilation äußerer Stoffe tritt beim 
Organismus dann noch die Erzeugung ähnlicher Organismen in der 
Fortpflanzung, imd damit erst sind wir an dem springenden Pimkt 
der genetischen Erklärung, die hier allein ausreicht Denn, was 
sagt uns die Definition des Organismus als „Naturganzes, worin 
sämtliche Teile sich gegenseitig als Mittel imd Zweck verhalten« — 
wenn wir es nicht selber im voraus wissen? Unsere Vorstellung 
von Organismus beruft sich immer auf die eigene unmittelbare Er- 
fahrung des Menschen, und unser deutsches Wort Lebewesen 
sagt uns an dieser Stelle genug im Vergleich zu dem System des 
Kristalles. 

Kehren wir von diesem Vergleich, der uns einerseits zur 
Architektur als Raumgestalterin, andererseits zur Plastik als Nach- 
ahmung organischer Gestalten führen müßte, zurück zu der grund- 
legenden Situation der zentralen Symmetrie um den Menschen 



Massenkomposition ? gl 

oder ein anderes „Mal" in der Mitte ihrer peripherischen Gebilde, 
so erkennen wir in der Wechselbeziehung beider die relative Ge- 
schlossenheit Die Ausstrahlung des Mals fuhrt auf das Einge- 
schlossene zurück. In diesem periodischen Aus- und Einatmen be- 
steht das eigene Leben, auch in starrer Konstellation. Denken wir 
uns aber den Radien gemäß zwischen dem peripherischen Kranz 
und dem Mal die ganze Kreisfläche ebenfalls mit zahlreichen 
kleineren Elementen gefüllt, so hätten wir eine Erscheinimg vor 
uns, die Alois Riegl neuerdings als Massenkomposition be- 
zeichnet hat und wie einen allgemeinverständlichen Terminus ein- 
zubürgern versucht. Er beruft sich dabei auf Gottfried Semper, 
bei dem dieser Ausdruck jedoch schwerlich in dem Sinne Riegls 
vorkommt (XXX ff.). Semper spricht wohl von der Massenver- 
teilung der Aste, Zweige, Blätter, Blumen und Früchte, die sich 
rings um den Stamm so ordnen, daß dem allseitigen Gleichgewicht 
genügt sei, — und sieht das nämliche Gesetz natürlich da, wo der 
Stamm fehlt, um die Vertikale, die den Schwerpunkt enthält, sich 
erfüllen. Er spricht von „Massengleichgewicht" und „Massenbe- 
dingung", „Massen wirkungf*^ tmd „Massen widerstand"; aber diese 
Ausdrücke würden uns sicher nicht berechtigen, daraus den 
Terminus „Massenkomposition" zu bilden, wenn dies nicht ähn- 
liche G^staltungsprinzipien wie Massenverteilung oder Massen- 
gleichgewicht bedeuten soll. Riegl meint aber eine Form der 
vielachsigen planimetrischen Symmetrie, wie solche an den Schnee- 
kristallen und Blumenkelchen, oder am Querschnitt einer Zitrone, 
eines Baumstammes u. dgl. hervortritt, nur noch eine bestimmte 
Modifikation derart, wie wir sie soeben charakterisiert haben. „Bei 
diesen Gebilden der Natur", sagt Semper, „wirkt das Gesetz der 
Autorität in der Verdichtung der Teile in der nächsten Um- 
gebung des Mittelpunktes der regelmäßigen Figur, den sie um- 
kreisen, umstrahlen, oder teils umkreisen, teils umstrahlen." Eine 
genauere Bestimmung des Gemeinten finde ich nirgends in Zu- 
sammenh£Lng mit dem Begriff der Masse. 

Wie definiert aber Riegl seine „Massenkomposition"? „Die 
Komposition mehrerer Einzelformen zu einer höheren Einheit" ^) — 
„Zwischen die Grundebene und das Individuum wird eine Reihe 
kleinerer Individuen eingeschoben, die das gfrößere wirksamer aus 



I) Beilage zur Allg. Ztg. 1902 S. 154. Spätrömische Kunstindustrie S. 27 f. 
vergl. 114, 141, 178. 

Schmarsow, Kunstwissenschaft. 6 



^2 ^ic clrci Gestaltungsprinzipien 

der Ebene heraustreiben. — So entsteht ein eigener gemusterter 
Grund» aus dem das dominierende Hauptglied (oder Mal) hervor- 
springt" Das wird zunächst niemand unter diesem Ausdrucke 
suchen: denn wir verstehen imter Masse vorzugsweise das kom- 
pakte Material, das Ungegliederte, Ungeformte, das sich gerade 
nicht in Einzelformen auseinanderlegt, also im Gegensatz zum selb- 
ständig Hervortretenden. Der Masse zunächst stünden Ausdrücke 
wie „Menge" und „Gemenge", die schon Bewegung suggerieren, ja 
noch ein ^,Gewirr" der auftauchenden Gestaltungselemente, die sich 
nicht klar zu Einheiten isolieren. Damit ist aber der durchwaltende 
Gegensatz für die Gebilde der zentralen Symmetrie scharf be- 
zeichnet: Einheit und Vielheit Soll zwischen dem Mal, der 
Dominante des Ganzen, und der einschließenden Vielheit noch eine 
Art Zwischenreich von gleichartigen Einzelformen eingeführt werden, 
so hätten wir gewiß für diese Komposition einen Namen zu 
wählen, der sie schärfer charakterisiert und von den äußersten 
Extremen unterscheidet Gerade in dem „Zusammentreten der 
beiden Momente, der vielheitlichen Reihe und des einheitlichen 
Mals, zu einer Gesamtwirkimg*' besteht nach Semper das Interes- 
sante der Erscheinung. „Das Mal als Reflex des einheitlichen 
Beg^ffs" — sagt er — „gegenüber der Vielheit, die durch periphe- 
risch rhythmische Reihung in sich eins wird und zugleich mächtig 
zur Verstärkung der Autorität des Males beiträgt.** (XXXVIII) 
Das stimmt mit der Meinung Riegls überein, aber nicht mit 
seinem Ausdruck „Massenkomposition". Soll in dieser die bevor- 
zugte Einzelform mit mehreren gleichartigen Formen zu einer 
höheren Einheit zusammengeführt werden, indem auch solche sekim- 
dären Formen sich einigermaßen isolieren, so kann diese Mehrzahl 
noch nicht mit demselben Recht als Masse gelten, wie etwa die 
Vielheit der peripherischen Gebilde als einheitlicher Rahmen zu- 
sammengeht^) Es ist vielmehr ein KoUektivum von isolierten 
Körpern oder etwa halbrund hervortretenden, vielleicht nur diu"ch 
Farbenkontraste scharf abgesetzten Elementen. Da wir ,JCollektiv- 
komposition" jedoch nicht gern einführen, wäre wohl Sammel- 
komposition unter einer Dominante die zutreffende Bezeich- 



i) Zwischen einer zählbaren Pluralität der subordinierten Einzelformen, einer 
nicht mehr gezählten, aber vielleicht noch geordneten „Multiplizität" (Semper XXXIX) 
und der Vielheit in Massenwirkung bestehen fühlbare Unterschiede. Vergl. weiter 
unten die Bedeutung für die darstellenden Künste. 



Sammelkomposition 83 

nung.*) Die einschließende Masse der vielgliedrigen Reihung 
ringsum kann durch einen einheitlichen Rahmen vertreten werden; 
sie kann gelegentlich auch ganz fehlen, wo der Abschluß der 
Wirkungssphäre schon durch die Form des Gnmdes gegeben ist. 



i) Es handelt sich nicht um eine kompakte Masse, sondern um eine Ver- 
sammlung oder gar um eine Gesamtheit von Einzelwerten, im Gegensatz zum 
bevorzugten Hauptwert, also eher um eine Häufung, bei der immer noch die ein- 
zelnen als solche erkennbar bleiben. Wieweit in dieser Coacervatio noch Articulatio 
(Gliederung in kleinere Komplexe, Sphären, Zonen usw.) Platz greife, ist dann eine 
weitere Frage. 



6* 



^ I 



VIL 
DIE DREI GESTALTUNGSPRINZIPIEN 

RHYTHMUS 

Der letzte Gegensatz in der zentralen Symmetrie um ein Mal 
als eingerahmten Wert, und damit die Wirksamkeit einer solchen 
Erscheinung, beruht nicht sowohl auf der begrifflichen Antithese 
von Einheit und Vielheit, sondern auf dem lebendigen Kontrast 
von Beharrung und Bewegung. Das Mal beharrt, während die 
kreisende Schar sich bewegt. Durch sein festes aufrechtes Da- 
stehen im bimten Wechsel der Umgebung wird es zur Dominante, 
selbst im mannigfaltigsten Widerspiel zentrifugaler und zentripetaler 
Bestrebungen, ja mitten im xmaufhörlichen Umlauf der wogenden 
Menge. Das bevorzugte, als überragender Wert anerkannte Indi- 
viduum beansprucht bleibende Bedeutung und erhält sie eben 
durch die vorübergehende Wandelbarkeit des Reigentanzes. Die 
transitorische Gültigkeit als ein Ereignis löst auch hier natürlich 
die konstitutive Gültigkeit als System ab, sowie sich unsere Auf- 
merksamkeit durch den Fluß der Bilder mit fortreißen läßt Und 
dies geschieht vorzugsweise durch die Kreisform, die überall gleich- 
mäßig weitergleitet und umschwingt, während die Einstellung we- 
niger fester Punkte die Bewegung hemmt, die Verwandlung der 
Kreissegmente in gerade Linien vollends das Ganze zum Stillstand 
bringt, wie der Übergang vom Kreise zum Polygon und zum Qua- 
drat uns sogleich fühlbar macht. Da steht das System fest 

Folgen wir dem Zuge der Peripherie, so sind wir bald im 
vollen Gange des Geschehens, mitten im Verlauf der Zeit, Was 
alle verschiedenen Erscheinimgen der Symmetrie und Proportio- 
nalität in dieser alternierenden Reihe verkettet, eben die Reihung, 
die durchgehende Succession, bedingt nun abermals ein Gestaltungs- 
prinzip, das der Bewegungseinheit gerecht zu werden vermag. 
Schon an zwei Stellen vorher hätten wir es mit seinem vollen 
Namen einführen können. Einmal, wo Semper sich mit dem Prin- 



Rhythmus 85 

zip der Richtung oder Direktion begnügte, aber in der Proportion 
im Sinne der Bewegung oder der Willensrichtung eine besondere 
Kategorie gegenüber der Proportion im Sinne der vertikalen Ge- 
staltung anerkannte. Das andere Mal, wo wir den Übergang von 
der Breitendiremtion in die Längenabmessung verfolgten, d. h. von 
dem Nebeneinander zum Nacheinander und damit zum Prinzip der 
Reihung gelangten. An dieser dritten Stelle, wo es sich um eine 
geschlossene Aneinanderreihung mannigfaltig wechselnder Elemente 
handelt, die im Kreislauf sozusagen in sich selber zurückkehrt, da 
kommt auch Semper dem richtigen Namen ganz nahe, indem er 
die geschlossene Symmetrie als „Eurhythmie" bezeichnet und von 
„peripherisch rhythmischer Reihung** spricht. Bei jenem ersten, 
von ihm selbst neu ausgelegten, aber vom Altertum überlieferten 
Terminus können wir den Zusatzbestandteil vom als selbstver- 
ständlich entbehren. Das Gestaltungsprinzip als solches kann im 
Unterschied von Symmetrie und Proportionalität nur Rhythmus 
heißen.^) Und wie der Proportionalität die erste Dimension des 
Raumes zufallt, wo sie alle drei beieinander wohnen, der Symmetrie 
die zweite, so ergreift der Rhythmus die dritte Dimension, die 
Richtung in die Tiefe, als sein natürliches Erbteil. Aber dies 
dritte Gestaltimgsprinzip hat ein Vorrecht vor den übrigen. Es 
kann sich nicht allein, wie Symmetrie und Proportionalität mitein- 
ander, seinerseits mit dieser oder jener verbinden, sondern es ver- 
mag sie beide zusammen mit sich zu durchdringen, imd den festen 
Bestand, den sie gewonnen, wieder in lebendiges Geschehen auf- 
zulösen. Es vereinigt die beiden Gesetze durch ein drittes zur 
höheren Einheit, die als Dominante des dynamischen Vollzuges 
über alle anderen Mächte hinwegschreitet. Die Gesamtaufhahme 
eines Kunstwerkes als Erlebnis ist sein Spielraum. 

Auch dies Prinzip nimmt seinen Ursprung im Subjekt Wo 
dem Menschen ein ungeschiedener Verlauf von Reizen zuströmt, 
da reagiert er mit einer Forderung seiner inneren Organisation. 
Schon Hermann Lotze hat die absolut einförmige Aufeinanderfolge 
gleicher Zeitabschnitte als solchen Anlaß genannt Gegenüber der 
quälenden Wirkung gleichmäßiger Schalleindrücke, die wohl nur 



i) Vgl. Schmarsow, Über den Wert der Dimensionen im menschlichen Raum- 
gebilde 1896. Berichte der KgL Ges. d. Wissenschaften S. 59. Weiteres in den Bei- 
trägen zur Ästh. d. bildenden Künste 1896—99 z. B. I, 103 und zuletzt in den Vor- 
trägen über unser Verhältnis zu den bildenden Künsten 1903, S. 112. 



86 VII. Die drei Gestaltungsprinzipien 

durch den Widerspruch zu der periodischen Innervation unseres Auf- 
nahmeorgans erklärt werden kann, hilft sich unsere Naturanlage durch 
unwillkürliches inneres Taktieren; das Individuum fuhrt eine sub- 
jektive Rhythmisierung ein, d. h. eine nicht objektiv vorhandene, 
sondern unversehens im Auftiahmeapparat entstehende, der darge- 
botenen Reizfolge aufgenötigte Zerlegimg.*) Das Gebiet des Ge- 
hörs scheint also zunächst die bevorzugte Sinnessphäre fiir den 
Rhythmus zu sein, wie schon deren nahe Beziehung zu unserer zeit- 
lichen Auffassung ergibt Wenn aber die Geburtsstätte des Rhyth- 
mus, als einer Art Reflex Wirkung auf unangenehme Reizfolgen, 
gerade im Bereich der unmittelbaren und mittelbaren Zeitvorstel- 
lung gesucht wird, seine Wirksamkeit sich aber bis in die allge- 
meinen psychischen Leistimgen hinein wie in die Ordnung succe- 
dierender Empfindungen zu Vorstellungen verfolgen läßt, so begreift 
sich ohne Schwierigkeit, wie die Reaktion dieses psychischen Be- 
sitztums auch kräftig genug werden kann, auf andere unerträgliche 
Reizwiederholungen mit der nämlichen Selbsthilfe zu antworten, 
Sie befreit das aufnehmende Subjekt, indem es sein passives Ver- 
halten mit der erforderlichen Dosis Aktivität durchsetzt Sie dient 
zimächst wenigstens dazu, die Gesundheit zu erhalten und Unzu- 
träglichkeiten auszuschalten. Aber die Reflexbewegung von innen 
her wird bald und notwendig zu einer Willensbewegung und damit 
zu einem produktiven Faktor, der die Gestaltung regelt und Gesetz- 
mäßigkeit hervorbringt. Das zeigt uns sofort die Rhythmisierung 
der Sprache, die jedes Individuum nach seiner individuellen Organi- 
sation vollzieht, ursprünglich unbewußt, aber subjektiv, neben der 
Nachahmung des von andern gehörten Rhythmus, dann immer 
fühlbarer im Zusammenhang mit der spontanen Ausdrucksbewe- 
gung und der Dynamik der seelischen Klräfte, endlich in vollem 
Einklang mit der Natur des geistigen Inhalts. Wenn wir das in 
der Sprechweise des einzelnen, ja in der Schreibart und dem 
Stil beobachten, wieviel elementarer noch wird es der Fall 
sein bei der unmittelbaren Ausdrucksbewegnng, in der Gebärden- 
sprache wie in dem ursprünglichen Gebaren bei allem Tun und 
Treiben 1 Haben wir damit erst die volle Energie der Reaktion in 
Rechnung gesetzt, so begreift sich, daß gleich dem periodischen 
Vorgang des Ein- und Ausatmens auch alle übrigen Prozesse der 



i) Vgl. W. Finder, Einleitende Voruntersuchung zu einer Rhythmik romanischer 
Innenräume. Leipziger Dissertation, Stud. z. Kstgesch. d. Auslands xxrv. Strafiburg 1904. 



Rhythmus Qj 

Machtaußerung unserer Seele von innen nach außen und damit 
auch ihres Einflusses auf andere gleichorganisierte Wesen dem 
nämlichen Gestaltungsprinzip unterliegen. Rhythmus ist subjektiv 
aufgefaßt die Regel, objektiv anerkannt das Gesetz alles Kräfte- 
spiels im Nacheinander. 

Die Unterlage für die Betätigung des Rhythmus ist also der 
Zeitverlauf in seiner absoluten Einförmigkeit, Ungeschiedenheit, 
oder wie wir sonst sagen mögen. Die Zeit hat nur eine einzige 
Ausdehnung, belehren uns die Psychologen, und die Laien, die es 
lesen, stellen sich diese Dimension darnach wohl als gerade Linie 
vor. Nichts aber wäre falscher als diese Veranschaulichung. Wir 
können die Richtung der Zeit weder absehen, noch abtasten; denn 
es existiert ja nur immer ein Zeitpunkt im strengsten Sinne des 
Wortes. Ist da irgendein Vergleich erwünscht, so könnte nur 
der mit dem Nadelöhr gewählt werden, durch den ein Faden läuft. 
Dann existiert gerade der Pimkt, den wir nicht sehen, und die 
beiden übrigen Enden, die wir sehen, existieren noch nicht oder 
nicht mehr. Sie stellen Vergangenheit und Zukimft dar und müßten 
in absteigender und aufsteigender Linie erscheinen, wollten wir 
versinnlichen, wie schnell das bißchen lebhafter Erinnerung auf der 
einen oder das bißchen Erwcirtung (Prädisposition) auf der anderen 
Seite hinabsinken ins Dunkel. Die Gegenwart ist punktuell, ob- 
wohl wir sie breiter vor uns auszumalen pflegen. Punkte wären 
also auch die Elemente des Zeitverlaufs, die wir zur Verfügung 
hätten für irgendwelche Unterscheidung. Das mag die Grundlage 
bilden für die Abtragung von Gehörsempfindtmgen auf diesen Zeit- 
verlauf, also für das künstlerische Verfahren der Musik, die wir 
wohl als reine Zeitdarstellung anerkennen hören. 

Hier aber, wo es sich um die bildenden Künste handelt, wäre 
solch ein unmittelbarer Anschluß, wie gesagt, schwerlich zu emp- 
fehlen. Viel eher könnte man von dem Gang des Menschen, als 
größtem natürlichen Zeitmaß mittels des eigenen Körpers den An- 
fang nehmen. So muß es auch bei der Architektur durchaus ge- 
schehen; denn mit der Ortsbewegxmg kommt der Rhythmus von 
vornherein in das Raumgebilde des Menschen. Solange wir jedoch 
das dritte Gestaltungsprinzip zunächst wie die übrigen an der 
Hand der Ornamentik erörtern, bleiben wir am besten in der 
Mittelregion des Hantierens mit kleinen Körpern und anderen be- 
quemen Mitteln, also bei der Tätigkeit imserer Hände und Finger, 
sowie bei den Ausdrucksbewegungen im Bereich unseres Tast- 



88 VII. Die drei Gestaltungsprinzipien 

raumes. Die Übertragxmg des Verfahrens auf das Sehfeld bringt 
dann schon eine entsprechende Verfeinerung mit sich, wie jeder 
Übergang zum reinen Augenschein, 

Wir kehren also nach diesen vorbereitenden Erwägungen zum 
Verfolg unserer früheren Beispiele der Reihung zurück. Schon 
beim Aneinanderreihen von drei unterschiedenen Elementen macht 
Gottfried Semper auf den Unterschied der Aufnahmefähigkeit zwi- 
schen Ohr und Auge aufmerksam. Die Gliederung der eurhythmi- 
schen Figuren erfolge nach bestimmten Gesetzen der Wiederkehr, 
mit Hebungen und Senkungen usw., aus deren Verkettimg die ge- 
schlossene Figur entstehe. In dieser Beziehimg seien die musikali- 
schen Figuren (Melodien) und die optischen den gleichen Gesetzen 
unterworfen, nur daß das Ohr eine weit verwickeitere Ordnung zu 
verfolgen und aufzulösen vermöge als dzis Auge. Damit sind auch 
wir vollkommen einverstanden. Aber Semper geht in dieser Unter- 
scheidung zu weit, wenn er sie auf die Bedingung des ruhigen 
Schauens zurückführt, weil das Auge „in momentaner Anschauung 
das Ganze in sich aufnehmen soll". Das hieße die simiütane Auf- 
fassung als allein gültig gerade da einführen, wo es sich um suc- 
cessive Auffassimg als herrschende Voraussetzung handelt Da 
würden wir den Rhythmus mit der S5mimetrie verwechseln 
oder zusammenwerfen, wie es Semper in der Tat damit ergangen 
ist, und zugleich die Mitwirkung der Erinnerungsbilder, d. h. der 
Vorstellung ausschließen, die gerade im zeitlichen Verlauf der 
Sinnesempfindungen und deren psychischer Verarbeitung eine so 
große Rolle spielt. Dann wären allerdings „bei optischen Figuren 
kaum mehr als drei Modifikationen der Gliedenmg gestattet", wie 
Semper meint, ja nicht einmal diese; denn wir haben festgestellt, 
wieviel verschiedene Tätigkeiten schon bei der Aufnahme einer 
alternierenden Anordnung oder der einfachsten Nebeneinanderstel- 
lung stattfinden. Auch hier ist festzuhalten, daß unser Sehen immer 
zwischen dem ruhigen Standpunkt für zusammenfassendes Schauen 
und dem beweglichen Schweifen des Blickes abwechselt. Handelt 
es sich in der Reihung doch immer um das Festhalten eines Fixa- 
tionspunktes und das Durchverfolgen desselben in einer Richtung. 
Die Bewegung aber ist hier die Hauptsache, wie es bei der Sym- 
metrie der feste Standpunkt war. Im Rhythmus ist das Transito- 
rische der Aufzug und die Hemmungen dieses Verlaufes nur der 
Einschlag im Gewebe; aber auch dieses Gleichnis darf nur im Voll- 
zuge der Arbeit vorgestellt werden. 



Reibung und Gruppierung 89 

Wollen wir aus der Auffassung der letzt betrachteten Gruppe 
abcba vom festen Standpunkt vor c herauskommen, nachdem wir die 
erste Diremtion von b bis b und dann die zweite von a bis a voll- 
zogen haben und von außen wieder nach innen bis zur Mitte zurück- 
gekehrt sind, so müssen wir, wie gesagt ward, das dritte Element 
wiederkehren lassen, um die festgewordene Aufstellung der Glieder 
abermals in Fluß zu bringen. Ein anderes Mittel, der Erstarrung 
vorzubeugen, liegt darin, das erste Glied vor jedem anderen ein- 
zuschalten, so daß die Reihe abacabaca usw. gleichmäßig fortläuft; 
denn damit haben wir die Ökonomie auf zwei Gradunterschiede 
zurückgeführt, die fortlaufenden Gleichen (a) und die alternierenden 
Ungleichen (bc). Die ersteren bilden dann gleichsam den Leitfaden, 
auf dem sich die regelmäßige Abwechslung der beiden anderen abhebt. 

Meinten wir diesem Prinzip gemäß die gleichfließende Bewe- 
gimg noch sicherer erhalten zu können, indem wir die Wiederkehr 
des durchlaufenden Gliedes verdoppeln, also: aabaacaabaaca usw. 
aufreihen, so stoßen wir auf einen ganz anderen als den erwarteten 
Erfolg. Das erste abweichende Element b veranlaßt uns zuerst, 
seine Nachbarn a als wiederkehrende Trabanten ihm unterzuordnen, 
also die Gruppe aba auszuheben. Ahnlich ereignet es sich, wenn 
das neue abweichende Element c ins Auge fällt mit aca. Erprobten 
wir aber die Kraft dieser Accente, ob sie ausreichen, auch das 
zweite Paar a — a heranzuziehen und festzuhalten, so ergäbe sich 
gerade ein Widerspruch zur gleichmäßigen Reihung als Grund- 
prinzip; wir würden durch die Gruppienmg den Verlauf periodisch 
auseinanderreißen, indem wir ablesen: a — aba — aca — aba — aca [oder 
aber aabaa — c — aabaa, bzw. aab — aacaa — baa versuchen, oder end- 
lich die gleichen Glieder erst zu b, dann zu c heranziehen, also als 
gemeinsam auffassen und damit wieder durch das folgende c in die 
Brüche kommen]. Es trifft also der kritische Punkt, den wir auf 
die Reihe applizieren, einmal mit dem stärkeren Element b zu- 
sammen, andermals mit dem ebenfalls stärkeren Element c, da^ 
zwischen aber in die Mitte zwischen a und a, wo kein objektiver 
Sinneseindruck vorhanden ist, sondern der neutrale Intervall, der 
die gleichen Elemente als Einheiten isoliert. Die Erwartung, hier 
auch, wie bei b, einen Widerstand zu finden, macht die einfache 
Trennung als Lücke fühlbar. Die Zusammenfassung der benach- 
barten gleichen Elemente mit den stärkeren nach links und rechts 
verwandelt die Lücke in eine klaffende Diremtion, und steigert die 
Scheidung zweier Gruppen zu dem Gegensatz zwischen Endglied 



QO VII. Die drei Gestaltungsprinzipien 

der ersten und Anfangsglied der folgenden. Noch deutlicher wird 
dieser Unterschied zwischen einer positiven (mit sinnlichen 2^ichen 
gefüllten) und einer negativen (unbezeichnet oder neutral gelassenen) 
Einsatzstelle unserer Aufmerksamkeit, wenn wir zu der einfach alter- 
nierenden Reihe zurückkehren und hier das erste Glied verdoppeln: 
abaabaabaaba wird unmittelbar: aba — aba — aba — aba, sobald die Wie- 
derholungen in ihrem Verhältnis erfaßt sind. Nur mit Intervallen 
dagegen gliedert sich die Reihe, wenn wir auch b verdoppeln: 
abbaabbaabba. Doch auch hier macht sich zwischen den wiederkehren- 
den Einsatzpimkten ein Wertunterschied geltend, der sich nach der 
Kraft der benachbarten Elemente bemißt. Zwischen a und b oder b 
und a erfolgt die Abschiebung der Ungleichen als unbefriedigendes 
Ergebnis des Vergleichs, das als solches weiterdrängt; zwischen a und 
a, b und b dagegen die Anerkennung der Gleichheit als befriedigendes 
Ergebnis, das als solches beruhigt. Ist aber b das stärkere Element, 
dann wird dieser Intervall des Ausruhens zur Zentralstelle, um mittels 
b links und b rechts auch die benachbarten beiden schwächeren a — a 
heranzuziehen. Und mit dieser Gruppierung tritt die Auseinander- 
reißung zwischen dem benachbarten Paar aa ein, oder der Versuch, 
das zweite a erst noch heranzuziehen, bis wieder bb seine stärkere 
Attraktion bewährt und hier Repulsion als das befriedigende Mittel 
fahlbar macht, so daß dieses schon bei der nächsten Wiederkehr ohne 
weiteres gewählt wird. Das heißt: die positiven Intervalle zwischen 
bb und die negativen zwischen aa wechseln ab. Ein Intervall ist 
zur Dominante geworden, der andere zur entsprechenden Ni ete. 
Halten wir aber den Charakter der successiven Auffassung als 
den durchgehenden fest, so behalten auch diese Gruppierungen, 
diese Dominanten und diese Nieten keinen dauernden Bestand, son- 
dern unterliegen alle wieder dem fortlaufenden Flusse des Ganzen. 
Sie wirken nur als Gliederungsmomente innerhalb der Reihe, so 
daß wir sie richtiger gar nicht als Gruppen anerkennen, d. h. nicht 
als bleibende Synthesen, sondern nur als vorübergehende Asso- 
ziationen oder Komplikationen, wie sie denn auch ihrerseits wieder 
als Reihen oder Perioden bezeichnet werden. Damit ist ausge- 
sprochen, daß wir es mit lauter Erscheinungen des rhythmischen 
Gestaltungsprinzips zu tun haben. Untersuchen wir die Reihen- 
gebilde oder Perioden jedoch näher auf die Zusammensetzung der 
Faktoren und fragen, was die vermeintlichen Gruppen verbindet 
und gegeneinander abgrenzt, so erkennen wir die Wirksamkeit der 
nämlichen beiden Gestaltungsprinzipien, die wir vorher betrachtet 



Dynamik des Rhythmus qi 

haben, Symmetrie und Proportionalität, wieder, nur beide in das 
flüssige Medium der zeitlichen Abfolge hineingesetzt und durch 
die herrschende Bewegungsrichtimg mit fortgerissen, oder nach dem 
Anlauf zum Simultanen wieder aufgelost ins Successive. Sie aber 
sind es, die Abwechslung und Kontrastwirkungen in den gleich- 
mäßigen Verlauf hineinbringen, indem sie durch Spannimg und 
Lösung, durch Widerstand und Wetteifer erst der überlegenen 
Macht des Vollzuges die Gelegenheit gewähren, die ganze dieser 
allein zu Gebote stehende Dynamik zu erproben. Proportionalität 
der Kräfte trat uns in der Wirkungssphäre der Dominanten ent- 
gegen, die symmetrische Glieder an sich heranzogen und damit zu 
einem Stillstand brachten, der zugleich einen Höhepunkt bedeutete, 
Symmetrie der koordinierten Glieder erschien als Grundlage des 
regelmäßigen Verlaufes, wurde jedoch unerwartet zum negativen 
Intervall der Bewegung und entwickelte sich wohl gar zum Gegen- 
pol zwischen den Machtsphären zweier Dominanten; aber nur, um 
bei der Wiederkehr der nämlichen Konstellation den entschiedenen 
Sieg der Bewegung über jeden Versuch der Beharrung zu erreichen. 
Ebendiese Mitbeteiligung der Symmetrie und Proportionalität 
als Bestandteile der rhythmischen Komposition, die über sie beide 
hingreift, ihre eigene Dynamik durchzusetzen, wie der entfesselte 
Strom des Gebirgswassers entwurzelte Baumstämme und weg- 
gespültes Geröll mit sich daherwälzt, — ebendiese Großartigkeit 
der eigensten Natur des Rhythmus hat dazu verleitet, ihn nur da 
anzuerkennen, wo er im kleinen auftritt und ihn womöglich mit 
den Gestaltimgsprinzipien der Flächendimensionen allein zu ver- 
wechseln, als wäre im Bündnis mit jenen sein Wesen erschöpft. 
Dieser ungenügend entwickelten Rolle begegnen wir in den Vor- 
stellimgen Riegls, der schon die Symmetrie auf die Ebene be- 
schränken wollte und die Tiefe nur als Beeinträchtigung ihrer 
vollen Gültigkeit ansah. Er definiert den Rhythmus nicht eben 
glücklich in gedrängter Kürze und Häufung der Ausdrücke als: 
„die reihenweise Wiederholung gleicher Erscheinungen" und hebt 
als Wirkung dieses Kimstmittels hervor, „dem Beschauer die Zu- 
sammengehörigkeit der jeweiligen Teile zu einem individuellen 
Einheitsganzen tmmittelbar überzeugend klarzumachen", aber auch 
„wo mehrere Individuen zusammentreten, daraus eine höhere 
Einheit zu gestalten.*) „Der Rhythmus ist aber," fugt er erklärend 
hinzu, „sofern er dem Beschauer unmittelbar evident erscheinen soll, 

i) Spätrömische Kunstindustrie S. 209 f. 



Q2 VII. Die drei Gestaltungsprinzipien 

notwendig an die Ebene gebunden. Es gibt einen Rhythmus 
aus Elementen nebeneinander und übereinander, aber nicht hinterein- 
ander; in letzterem Falle würden die Einzelformen und -teile einander 
decken und sich damit der immittelbaren sinnlichen Wahrnehmung 
des Beschauers entziehen. Infolgedessen ist eine Kunst, welche 
Einheiten in rhythmischer Komposition vorfahren will, gezwungen, 
in der Ebene zu komponieren und den Tiefraum zu vermeiden." 

Sonach wird hier der Versuch gemacht, den Rhythmus gleicher- 
maßen in die Ebene zu bannen, wie die Symmetrie vorher, wenn 
auch zunächst unter der Voraussetzung der besonderen Absicht, 
daß er dem Beschauer unmittelbar evident erscheinen solle, doch 
schließlich ganz unbedingt mit der Behauptung, es gebe keinen 
Rhythmus aus Elementen hintereinander. Dagegen müssen sich 
schon von vornherein die stärksten Bedenken regen, wenn man 
sich einmal die Natur des Rhythmus klargemacht und als deren 
grundlegende Eigenart das Nacheinander, die successive Aufnahme, 
d. h. das Hintereinander wenigstens in der Zeit erkannt hat. Stellt 
sich da nicht das Hintereinander auch im Räume nur als not- 
wendige Konsequenz von selber ein? Bevor wir uns darüber 
entscheiden, gilt es jedoch etwas näher zu prüfen, welche Erschei- 
nungen Riegl eigentlich im Auge hat und welche Gestaltungs- 
momente hier als Rhythmus eingeführt werden. Er geht offenbar 
von der Voraussetzimg eines festen Standpunktes fiir das ruhige 
Schauen aus. Nur diese Situation erklärt die Annahme, daß die 
Einzelformen und Teile, die im Räume hintereinander liegen, ein- 
ander decken müssen und damit der unmittelbaren sinnlichen Wahr- 
nehmung des Beschauers teilweise entzogen werden. Ein solcher 
fester Standpunkt für optische Aufnahme eines Ganzen, also gegen- 
über imserem Sehfeld hat aber, abgesehen von bestimmten Kunst- 
gattungen, wie Malerei imd Relief, immer nur relative Gültigkeit 
Davon kann hier noch nicht die Rede sein; es kommt vorerst nur 
auf die allgemeingültigen, auch in der Ornamentik geläufigen Bedin- 
gungen fiir das Gestaltungsprinzip an. Sowie wir aber den Rhyth- 
mus aus Elementen übereinander bestehend denken, die Riegl 
zuläßt, merken wir, daß auch bei ihm die Deckung oder Ober- 
schneidung der Formen und Einzelbestandteile derselben eintreten 
kann, sowie wir den Schmuck über unseren Häuptern emgebracht 
vorstellen. Auch da verbindet sich das Hintereinander für das 
Sehen mit dem Übereinander im Räume. Der Fall ist also wieder 
ausgeschlossen. Das heißt: Riegl postuliert Ebenkompositionen, in 



Flächenkomposition oder Tiefenkomposition 03 

denen die Elemente nur übereinander gereiht werden können, weil 
sie sich nicht überschneiden und teilweise verdecken dürfen. Da- 
mit ist auch für den Rhythmus aus Elementen nebeneinander 
dieselbe Einschränkung der Komposition auf einzeln aneinander 
gereihte Objekte beschränkt Die Forderung, der Rhjrthmus solle 
dem Beschauer unmittelbar evident erscheinen, sich ausschließlich 
der direkten sinnlichen Wahrnehmung darbieten, postuliert die 
Ebene; aber nicht umgekehrt, wie Riegl meint, postuliert der 
Rhythmus die Ebene. Es ist nur ein Spezialfall, kein allgemeines 
Gesetz dieses Gestaltungsprinzipes. 

Und gehen wir einmal auf diese Bedingung ein, nehmen die 
Ebene als gegebenes, wenn auch von ganz anderen Motiven des 
Kunstwollens verlangtes Substrat an, und verfolgen auf ihr die 
Erscheinimgen des Rhythmus aus Elementen nebeneinander und 
übereinander. Was haben wir dann als Möglichkeiten in die 
Rechnung zu setzen? Nur die Flächendimensionen, Höhe und 
Breite, also die Senkrechte, die Wagrechte und eine etwaige aus- 
gleichende Richtung zwischen beiden, die wir summarisch als 
Diagonalen bezeichnen mögen. Da ergeben sich als Möglichkeiten 
Erscheinungen der Symmetrie im Nebeneinander, der Proportio- 
nalität im Übereinander und eine Verbindimg beider Momente, 
besonders auch in den Diagonalen. Sollen wir spezifische Äuße- 
rungen des Rhythmus aufnehmen, so müssen wir statt der Sym- 
metrie die Reihung, statt der Proportionalität als festgewordenes 
Ergebnis an der Wachstumsachse ebenfalls die Aneinanderreihung 
von unten nach oben in transitorischer Bewegung zu fassen suchen, 
d. h. die successive Anschauung walten lassen und zusehen, was 
ihr entspricht.*) Und da kommt es zur Entscheidung: entweder 
bringt die Erscheinung objektiv den Eindruck des Nacheinander 
auf uns hervor, oder enthält wenigstens die Aufforderung, subjektiv 
solcher Aufnahme entgegenzukommen, indem wir uns an der Ebene 
entlang bewegen. Dann verwandeln wir die Breite in die Länge 
und ziehen die Höhenachsen in diese Succession hinein, so daß die 
Diagonalrichtung sich als natürlicher Ausgleich der Vertikalen und 
Horizontalen ergibt. Im ersten Falle wird für unsere Vorstellung, 



i) „War der klassische Rhythmus ein solcher des Kontrastes (Dreieckkonipo- 
sition) gewesen, so wird der spätrömische ein solcher der gleichförmigen Reihung 
(Viereckkomposition). Er mußte nun nicht mehr auf Gliederung und Abwechslung, 
die immer verbindend wirken, sondern auf Vereinfachung und Kommassierung be- 
dacht sein" (a. a, O. 210). 



QA VII. Die drei Gestaltungsprinzipien 

im zweiten Falle wirklich für unseren Körper die Ebene aus ihrer 
ursprünglichen Stellung als aufrechte Wand vor uns herausgehoben 
und seitlich zu uns, das heißt als Wand links oder rechts von un- 
serem Körper in die Richtung parallel zu unserer Bewegnngsachse 
übertragen. Wir sehen an ihr entlang oder schreiten an ihr entlang 
von einem Ende zum anderen: es ist eine Längswand im Räume, der 
uns umgibt. Die Einzelformen oder Teile, die wir verfolgen, sei es 
mit dem Blick oder gar mit der tastenden Hand, liegen in der Quer- 
ebene, die durch unsere Schultern oder durch unser Augenpaar gelegt 
erscheint, wenn wir sie mit unserer Ortsbewegung sozusagen Schritt 
für Schritt mit uns vorwärtsschieben durch den Raum hin. Das aber 
ist die Situation für das Hintereinander, wie unter den natürlichen 
Bedingungen unseres Verkehrs mit den Dingen alle Erscheinungen 
an uns herankommen oder umgekehrt alles zuerst nur aus der Feme 
als reiner Augenschem Wahrgenommene alhnählich von unseren 
Tastorganen mit erreicht wird und sich ins Körperhafte, ja, wie wir 
bezeichnend sagen, ins Leibhaftige verwandelt, das auf Druck und 
Stoß, in Wärme oder Kälte, seine Undurchdringlichkeit und Ab- 
geschlossenheit, seine kristallinische Starrheit oder sein organisches 
Leben bewährt. 

Streifen wir alle Vorurteile der privilegierten optischen Sinnes- 
wahmehmung ab, so verdanken wir dieser tastbaren Bewährung 
der Körper nebeneinander, übereinander, gaxxz besonders aber 
hintereinander die stärkste Oberzeugung, mit ihnen dazusein und 
zwischen ihnen zu leben. Das ist der eigentlich bevorzugte Spiel- 
raum für den Rhythmus. Und hier stehen auch die Ebenen, in 
denen die Gestaltungsprinzipien der Symmetrie oder der Proportio- 
nalität getrennt oder verbunden miteinander auftreten können, in 
mannigfaltiger Stellung zu uns: wir können sie durch unseren 
Körper gelegt auffassen nach links und rechts, nach vom und 
hinten, oder unter ihm, über ihm als wagrechte, d. h. als Fußboden 
oder Decke; wir können sie diesen Körperebenen parallel außer 
uns hinstellen, in nahem oder weitem Abstand, soweit unsere Hände 
reichen, wir können sie endlich weiter abschieben, daß wir sie nicht 
mehr berühren, sondern nur noch mit dem Blick zu erreichen ver- 
mögen. Es ist die räumliche Auseinandersetzung im Verfolg der 
dritten Dimension als Richtungsachse unserer Bewegung imd un- 
seres Willens, also auch die ursprünglichste und die durchgreifendste 
Betätigung unseres Kunstwollens, die wir vollziehen. An diesem 
Leitfaden aber ergeht sich der Rhythmus zur Eroberung seiner 



Linienrhythmus ge 

eigensten Domäne und drängt von der Ornamentik mid der mimi- 
schen Ansdrucksbewegung zur Tektonik und Architektur. 

Gehen wir jedoch, um Riegls Aufstellungen völlig gerecht zu 
werden, auch die zahlreichen anderen Stellen seines Buches durch, 
in denen vom Rhythmus an sich oder von rhjrthmischen Erschei- 
nungen bei Gelegenheit einmal die Rede ist! Doch lassen wir 
geflissentlich alle diejenigen außer Betracht, wo nur die figürliche 
Darstellung gemeint ist, und bei Erscheinungen der organischen 
Geschöpfe stets die Verquickung des Rhythmus mit der Proportio- 
nalität vorliegen kann oder tatsächlich zu einer Verwechslung beider 
Gestaltungsprinzipien verleitet. Für imsere grundlegende Erörterung 
hier ist dagegen besonders wichtig die ausgesprochene Unterschei- 
dung des Linienrhythmus und des Farbenrhythmus, wenn auch bei 
letzterem Ausdruck sogleich hinzugefügt werden muß, daß damit 
etwas anderes gemeint ist, als wir darunter verstehen würden, daß 
dieser Name für die damit belegte Sache nicht eingebürgert werden 
darf, sondern den wirklich ihm entsprechenden Erscheinungen vor- 
behalten bleiben muß. 

Linienrhythmus charakterisiert Riegl als „Ausdruck der 
kristallinischen Gesetzlichkeit aller stofflichen Form" (a. a. O. 79 
vgl. 210). Da ergibt sich von selbst, daß eine zweite Klasse von 
Linienrhythmus hinzugehört, in der es sich um organische Geschöpfe 
handelt, deren „rhythmische Gliederung in den Umrissen" (S. 74) 
uns in die lebendige Beweglichkeit des Gewächses überleitet Auf 
dem Linienrhythmus „beruht die antike Ebenkomposition aus Ver- 
tikalen und Horizontalen, von wenigen schwachen Diagonalen unter- 
brochen". „Rhythmisch verbindende Diagonalen" sind ein wichtiges 
Hilfsmittel (S. 90). Im Rhythmus der Linien innerhalb der Ebene 
sucht der antike Künstler die Einheit seines Kunstwerkes (S. 60). 

Prüft man diese Bezeichnimgen näher im Vergleich mit den 
Tatsachen, die zugrunde liegen, so führt der Verfolg des Gemein- 
samen, das den Namen Rhjrthmus rechtfertigen würde, nämlich der 
fortlaufenden Bewegung, gerade zu einem fühlbaren Unterschied. 
Im abtastenden Sehen der Unuisse einer organischen Gestalt liegt 
das Charakteristische in dem fließenden Übergleiten aus einer Rich- 
tung in die andere; die Bewegung vollzieht sich in Hebungen imd 
Senkungen, wie eine Wellenlinie oder ein Rankenzug. Wo aber 
gerade Linien in scharfen Winkeln aufeinanderstoßen, die Senk- 
rechte in die Wagrechte, die Horizontale wieder in die Vertikale 
umspringt, oder Reihen von Höhenloten nebeneinander stehen, von 



q6 VII. Die drei Gestaltungsprinzipien 

wenigen Diagonalen »»durchbrochen'', da fehlt gerade der kontinuier- 
liche Fluß der Bewegung, die Linien setzen sich scharf gegenein- 
ander, die Richtungen stofien hart zusammen. Und wir kommen 
zu diesen Ausdrücken eben durch den mißglückenden Versuch, 
unsere Blickbahn der Erscheinung anzubequemen, unsere Tastbewe- 
gnngen an den Linien entlang so durchzuleiten, wie es imseren 
Organen mit ihrer schmiegsamen Muskulatur entspräche. Wir fühlen 
uns abgestoßen durch den ruckweis erfolgenden Wechsel der Rich- 
tung, durch die starre unbeugsame Härte der kristallinischen Gresetz- 
lichkeit. Da ist keine Bewegung, sondern Beharrung, fester Bestand 
der fremden StoflFlichkeit, die wir als kalt empfinden, noch ehe wir 
sie berühren. Kristallinische Körper und Richtungsgegensätze ge- 
rader Linien sind fiir uns Menschen der Ausdruck anderer Gresetze 
als die im organischen Gewächs, im geschwungenen Umriß ge- 
wohnten Hausgesetze des eigenen Leibes. Die scharfe Kante des 
Würfels wirkt wie ein Taktschlag; aber bis zum nächsten ist kein 
Wechsel, sondern einförmiger Verlauf. Ein Ruck und die Seite ist 
da. Kein Übergang, sondern Gegensatz: Stillstand.^) 

Als Beispiel stelle man sich ein lapidares N und ein geschrie- 
benes SZ zusammen, nur dieses zeigt fließende Bewegung, also 
Linienrhythmus, jenes Gesetzlichkeit im Stillstand, wie der kristal- 
linische Stein. 

Daneben aber gibt es wirklich eine andere Art von Rhythmus, 
die Riegl „Farbenrhythmus" nennt, als wäre dieser Terminus 
geläufig für die Erscheinungen, die er beobachtet hat. Zwischen 
den stärker abgerundeten Einzelformen eines Reliefs entstanden, 
wie er beschreibt, Intervalle, „deren Tiefe niemals so beträchtlich 
war, daß dadurch die Wirkung des an die Ebene gebundenen 
Rhythmus in Frage gestellt worden wäre, doch hinreichend, diese 
Intervalle mehr oder minder mit dunklem Schatten zu erfüllen, die 
mit den vorspringenden hellen Einzelformen dazwischen einen farbi- 
gen Rhythmus von Licht und Schatten, Schwarz und Weiß ergeben" 
(a. a. O. 210). Dieser Rhythmus von Licht und Schatten (60) oder 



i) Ähnliche Verwechslung liegt bei Billroth in dem Aufsatz „Wer ist musika- 
lisch?" vor (Deutsche Rundschau Okt. 1894, Sept. 1895), wo von „ruhendem Rhyth- 
mus" geredet wird, auf Grund der „Vorstellung von Gleichgewicht". Vgl. 
Pinder a. a. O. S. 4. In poetischer Ausdrucksweise könnten wir vom „schlunmiem- 
den" Rhythmus reden, der jeden Augenblick erwachen oder erweckt werden kann, 
aber sicher nur auf Grund der Vorstellung von lebendiger Gravitation, Bewegungs- 
möglichkeit, Atmung. 



Helldunkelrhythmud 07 

»rhythmische Wechsel von belichteten und beschatteten Teilflächen** 
(127) oder „Verteilung von Hell und Dunkel" (77, 174 und passim) ist 
nun aber von ganz anderer Natur als der Rhythmus der Linien in der 
Fläche. Er beruht zunächst auf rein optischen Sinneseindrücken. 
Diese verbinden sich aber sozusagen durch Resonanz mit haptischen 
Empfindungen des Unterschieds von Nah und Fern. Licht und 
Schatten, Hell und Dunkel sind die beiden Kontraste, mit denen 
er zustande kommt In welcher Richtimg aber wirken diese Po- 
tenzen auf uns ein? Nun, selbstverständlich im Nebeneinander oder 
Übereinander, wird die erste Antwort lauten: wie bei Weiß und 
Schwarz, die in eingelegter Steinarbeit etwa in ebenflächigem 
Grunde dastehen und in einer Oberfläche liegen. Aber schon hier 
dürfen wir uns nicht durch das faktische Verhältnis des Materials, 
das sich in einer Ebene ausbreitet, täuschen lassen. Wenn unsere 
Tastorgane hier ebenflächige Ausdehnung als gemeinsames Merkmal 
feststellen, so ist diese Eigenschaft des materiellen Substrats nicht 
mehr entscheidend, sowie wir aus Tastnähe in Sehweite abrücken. 
Optisch verhalten sich Schwarz und Weiß ganz anders, — wie 
feindliche Brüder. Die optischen Potenzen dieser Gegensätze sind 
so stark, daß sie nicht in einer Ebene bleiben, es sei denn, daß 
die eine von ihnen absolut dominiert, wie der weiße Marmor bei 
einem Relief mit ganz flachen Schattenfurchen. Weiß springt vor, 
sagen wir; Schwarz tritt zurück. Das heißt: sie bewegen sich 
gegeneinander, von hinten nach vom und von vom nach hinten zu. 
Die Dynamik spielt sich ab nicht in der materiellen, noch in der 
mathematischen Ebene, sondern nimmt auch die erste Raumschicht 
vor dieser mit in Anspruch. Weiß springt in die Augen, Schwarz 
vertieft sich, zieht sich zurück, scheint eine Raumleere im Vergleich 
zu jenem. Wenn man auch hier noch die Bezeichnung „in der 
Ebene" beibehält, so ist das eine Fiktion.*) Vollends wird es fühlbar, 
wenn das Weiß sich mit dem Vortreten plastisch ausgerundeter 
Formen verbindet, die ims Körpervorstellungen erwecken, während 
das Schwarz als wirkliche Raumleere — in den Intervallen da- 
zwischen auftritt. Selbst wenn wir uns von dem Relief mittels 
einer durchsichtigen Glasplatte absperren, d. h. die Grenzebene 
herstellen, so dxu-chdringt die kontrastierende Energie von Weiß 
und Schwarz noch diese gläserne Scheidewand und demonstriert 



i) Das gesteht sich auch Riegl selbst stillschweigend ein, wenn er oben (210) 
von der relativen Tiefe der Intervalle sagt, sie sei nicht zu beträchtlich usw. 

Schmariow, Konstwissenschaft. 7 



q8 VII. Die drei Gestaltungsprinzipien 

uns ad oculos, dafi sie nicht allein in der „'Ebene" existiert, sondern 
auch in dem Vordergrund zwischen der Platte und uns. Die Weite 
dieses Abstandes einerseits, sowie die Stärke oder Schwäche der 
Erhebung andererseits machen selbstverständlich Unterschiede fühl- 
bar, wie wir Flachrelief und Hochrelief zu bestimmen pflegen. Aber 
wenn man uns zumuten will, der Rhjrthmus sei an die Ebene ge- 
bunden, er könne sich nur im Nebeneinander oder im Übereinander, 
nicht aber im Hintereinander vollziehen, so müssen wir schon mehr 
als ein Auge zudrücken. 

Hier wird wirklich eine Dynamik ausgelost, und deren Bewe- 
gung erfüllt ein Raumvolumen; ihre durchgehende Richtung ist 
die Tiefenachse vom Betrachter bis auf die Grrundfläche, wenn wir 
vom Subjekt ausgehen, von der Grundfläche bis zum Betrachter, 
wenn wir vom Objekt her rechnen, aber natürlich sind infolge. der 
Abstufung zwischen Hebungen und Senkungen auch alle übrigen 
Richtungen, in die Höhe imd die Breite wie in den vermittelnden 
Diagonalen, erreichbar, im ganzen Spielraum dieser Distanzschicht. 
Die Modulationen dieser Bewegung, die periodische Wiederkehr 
der Gliederungen, die Zäsuren und Kadenzen in dem kontinuier- 
lichen Verlauf, sie sind es, die den Ausdruck ,3Jiythmus" für das 
Gestaltungsprinzip auch hier rechtfertigen. 

Dagegen regt sich mit diesem Einblick in das Wesen der 
Erscheinung auch der Einspruch gegen die Bezeichnung dieses 
Helldunkelrhythmus als Farbenrhjrthmus, die Riegl wie selbstver- 
ständlich gebraucht. Licht und Schatten sind keine Farben, son- 
dem Intensitätswerte, wie ein positiver und ein negativer Pol, die 
gleich zwei entgegenwirkenden Kräften für unsere Sinne den Ein- 
druck einer Gegenbewegung, eines Kontrastes und Ausgleichs 
zur Harmonie hervorbringen. Das Helle flutet uns entgegen, das 
Dunkel ebbt von uns weg. Ihr rhythmisch gegliedertes Gewoge 
verfolgen wir mit Genuß. Nicht jeder Wechsel von Licht und 
Schatten braucht rhythmisch abgestuft zu sein, oder ims rhythmisch 
anzumuten, wie Riegl an zahlreichen Stellen vorauszusetzen scheint 
Die Berechtigung dieses Beiwortes wäre von Fall zu Fall zu 
prüfen.*) Wenn aber die Bezeichnung „farbiger Rhjrthmus" dafür 
eintritt, so können wir nicht mehr mitgehen. Die Verwechslung 

i) Vgl. z. B. S. 50, 127, 154, 174 f. Es wird immer gefragt werden müssen, 
wie weit die Rhythmisierung nur vom aufnehmenden Subjekte ausgeht, oder wie 
weit sie durch die künstlerische Behandlung objektiv gegeben ist. Was sollen wir 
z. B. von „flimmernden" Erscheinungen sagen? 



Helldunkelrhythmus go 

mit Farben kommt nur durch die Gleichsetzung von Hell und 
Dunkel mit Weiß und Schwarz in die Rechnung hinein.^) Weißes 
Pigment und schwarzes Pigment auf der Malfläche sind doch etwas 
ganz anderes als Licht imd Schatten im Raum, wenn jene in der 
Malerei auch dieses bedeuten können. 

Das fuhrt uns zu einer Erörterung der technischen Hilfsmittel, 
zur Wahl der verfügbaren Sinnesreize, mit denen die Gestaltungs- 
prinzipien, Symmetrie, Proportionalität und Rhythmus, allesamt zu 
wirtschaften haben. Wir mußten die Klärung der Grundbegriffe 
aus diesem Gebiet schon lange genug für die entscheidende Stelle 
aufsparen, an der wir jetzt angekommen sind. 



i) Aber Riegl nennt vollkommen bewußt „HeU und Dunkel" — „diese Farben- 
werte" a. a. O. S. 50. Dagegen steht S. 38 ganz richtig: „War die Kompositions- 
einheit der klassischen Kunst im Linienrhythmus gelegen, so ruht sie jetzt (in der 
spätrömischen) im Licht- und Schattenrhythmus" ; dann kommt wieder die Täuschung 
im Zusatz: „der sich naturgemäß gleich dem ersteren noch immer in der Ebene, 
nicht aber in dem (ihm unzugänglichen) Räume entfaltet." 



7* 



vm. 

HERSTELLUNGSMITTEL 

KÖRPER — GRUND UND MUSTER — FORM — RELIEF — UMRISS 

Wer einen Wert auszeichnen und für sich oder andere Mit- 
menschen hervorheben will, der greift selbstverständlich zuerst 
nach fertigen Naturdingen, die sich dazu eignen. Und sie eignen 
sich zu diesem Zweck nur, wenn sie sich hinreichend von jenem 
Wert imterscheiden. Haben wir uns das bereits ausgesprochen, so 
ist damit doch ein Weiteres gewonnen, das uns nun angeht: diese 
fertig vorgefundenen Naturdinge sind die ersten Mittel zur An- 
wendimg der soeben erörterten Prinzipien alles Gestaltens, und 
diese ursprünglichsten Mittel sind Körper, gleichwie die ersten 
anerkannten Werte auch. 

Sowie wir sie in die Hand nehmen, um etwas mit ihnen an- 
zufangen, erweisen sie sich als greifbare Objekte. So klein sie im 
Verhältnis zu dem auszuzeichnenden Wert sind, den wir mit ihnen 
schmücken wollen, so klein oder so groß sie dazu sein dürfen, — 
es sind selber Gegenstände wie jener. Und ein Gegenstand ist, 
wie unsere Sprache bezeugt, was uns entgegensteht, uns gegenüber 
standhält. Ein Gegenstand tritt uns entgegen, sagen wir, auch 
wenn wir es sind, die ihm entgegentreten. Wir trauen ihm zu, 
daß er uns Widerstand leistet, wenn wir seine Beharrung irgend- 
wie erprobt haben, und dazu genügt gewöhnlich schon die erste 
Berühnmg. 

Tastbare Eigenschaften dieser vorgefundenen Naturdinge sind 
es zunächst, auf die es ankommt, wenn wir die Mittel des künst- 
lerischen Scha£fens in seinen Anfängen unterscheiden und nach 
ihren Besonderheiten beurteilen wollen. Stoße ich im Dunkeln 
tastend auf einen Gegenstand, wo ich leeren Raum erwartete, so 
erschrecke ich einigermaßen: der Atem stockt, es gibt einen Ruck, 
der fühlbar bis zum Herzen dringt und seinen regelmäßigen Schlag 
aussetzt Jeder Körper, groß imd klein, muß seinen Ort im Raum, 



Körper lOi 

WO wir ihn haben wollen, einnehmen, mag die Ordnung, die wir 
herstellen, nun dauernd oder vorübergehend sein. Wir rechnen 
auf den Druck und Stoß, den er auf gleichorganisierte Wesen wie 
auf ims ausübt: hie et nunc. Seine Körperlichkeit muß auch den 
anderen auffallen, wenn er in deren Tastregion gelangt. 

Einige dieser tastbaren Eigenschaften sind zugleich sichtbare. 
Ihnen gebührt der Vorrang, weil sie in weiterem Umkreis wirken, 
und doch zugleich, beim Sehen schon, die tastbare Bewährung mit 
verheißen, die uns die nämliche Eigenschaft nur für eine andere 
Sinnessphäre bestätigt Aber, lassen wir uns nicht täuschen: die 
Sichtbarkeit ist bei diesen Qualitäten nur das bevorzugte Mittel, 
der Zweck bleibt lange die Tastbarkeit; denn nur diese geht ims 
so nahe, geht uns unmittelbar an. Ebendeshalb unterscheiden sich 
diese Merkmale des Dinges für alle urwüchsigen Menschen so 
außerordentlich von den allein sichtbaren, die keine Kontrolle des 
Tastsinns erlauben und keine Resonanz des Körpergefühls mit er- 
wecken. Beim unerwarteten Ansichtigwerden eines Gegenstandes 
tritt gleichfalls jener fühlbare Ruck ein, wenn auch nicht eigentlich 
als dumpfer Schreck wie im Finstem bei der Berührung. Aber weil 
ich das Objekt sehe und schneller erkenne, folgt auch unmittelbarer 
auf die Beklemmung die gesteigerte Atmung und ein Zuwachs 
körperlichen Hochgefühls, wie im Austausch mit dem Eindruck des 
Dinges da gegenüber. Diese Reaktion erfolgt aber nur dann, 
wenn der erschaute Gegenstand sich körperhaft in vollem Maße 
mit dem Raum um ihn her auseinandersetzt. Bleibt der Gesichts- 
eindruck unentwickelt, ebenflächig, so fehlt ihm die Hauptsache zu 
solcher Wirkung.*) 

Damach versteht sich von selbst, daß die anderen Eigen- 
schaften, die allein sichtbar, aber nicht tastbar sind, weit abfallen 
für das naive Urteil über die Dinge. Sie gewinnen erst hin- 
reichende imd prompt überzeugende Kraft bei Menschen höherer 
Geistesbildung, denen Vorstellungsarbeit geläufig geworden, be- 



i) Ich habe diese Unterschiede in allen meinen Schriften betont, wo immer 
Gelegenheit dazu war, brauche mich deshalb nicht mehr zu erklären, wie weit ich 
mit Riegls Bewertung der haptischen und der optischen Qualitäten einverstanden 
bin. Interessante, wenn auch vielleicht nicht ganz einwandfreie Experimente schil- 
dern Vemon Lee und Anstruther Thomson in der Contemporary Review von 1897. 
Der Aufsatz über Beauty and Ugliness, auf den ich erst durch Justis Zitat in seinem 
Michelangelo 1900 S. 366 aufmerksam geworden, zeigt beträchtliche Unkenntnis der 
deutschen ästhetischen Forschung auf diesem Gebiet. 



I02 VIII. Herstellungsmittel: Körper 

rühren jedoch überhaupt nicht mehr so tief das eigene Selbst des 
Beschauers, oder rühren es wenigstens nicht auf mit so elementarer 
Gewalt; sie finden nicht sowohl den Weg zum Herzen und Gemüte 
als vielmehr zum Verstand und zur Phantasie. Gerade damit be- 
stimmt sich aber ein wesentlicher Unterschied dieser Eigenschaften 
für den vorliegenden Zweck, die schmückenden Dinge dem ge- 
schmückten Mal amterzuordnen. Je leichter sie ins Auge fallen, 
desto weniger fallen sie vielleicht ins Gewicht, und umgekehrt, je 
nach dem Wesen des Wertes. 

Zu den wichtigsten Eigenschaften der Körper, mit denen wir 
hantieren, gehört eben die Schwere. Sie teilen das Schicksal zu 
fallen, wenn sie nicht unterstützt werden oder das Gleichgewicht 
verlieren, mit ims. Deshalb verstehen wir sie ohne weiteres und 
fragen bei allen, ob sie liegen, stehen oder gar hängen. Zum 
Liegen und zum Stehen aber gehört die sichere Unterlage, zum 
Hängen ein Halt, der den Apfel am Baume vor dem Falle be- 
wahrt, sonst läge er bald am Boden. So stellt sich zu allen 
Körpern, mit denen wir verkehren, auch bald die Beziehung zum 
gemeinsamen Grund und Boden ein, auf den auch wir angewiesen 
sind, und aus diesem Verhältnis erwächst eine grundlegende Be- 
dingung für alles schöpferische Gestalten und damit für alles Ver- 
ständnis von Werken der bildenden Kirnst, insonderheit der Orna- 
mentik: das ist der Grund. 

Grund nennen wir den Untergrund für alle beharrliche An- 
ordnung von Körpern im Nebeneinander, vor allem bei jeder Ko- 
ordination im Räume. Und es ist wichtig, sich klar zu halten, daß 
diese Grundebene zunächst die Bodenfläche imter unseren Füßen ist 
und bei jeder Aussonderung auf der Erdoberfläche, bei jeder Ab- 
sonderung als selbständiger Untersatz oder verschiebbare Unter- 
lage, ebendiese Bodenfläche unter uns bedeutet. Nur wer sich 
das immer gegenwärtig hält, versteht auch die abgelöste, in belie- 
bige andere Lage oder Stellimg zu uns gebrachte Grundebene 
richtig, je nach ihrer Übereinstimmung mit oder ihrer Abweichung 
von dieser ursprünglichen Situation, die stets im vollen Sinne des 
Wortes die grundlegende und deshalb die maßgebende Anschauung 
bleibt Wo es sich um körperliche Auseinandersetzung im Räume 
handelt, da ist für menschliche Vorstellungsweise die wagfrechte 
Grundebene das wichtigste Erfordernis, wie (mathematisch aus- 
gedrückt) die Breiten- und Tiefendimension dort das Korrelat zur 
Höhe hier (in uns). 



Grund und Muster 



103 



Je menschlich-natürlicher die Auffassung bleibt, desto bestimmter 
unterscheidet sich das bewegliche Geschöpf, das den Ort zu wechseln 
und auf dem Boden hin und her, auf weitem Felde kreuz und quer 
zu wandern vermeig, von dem beharrenden Grunde, dem es ver- 
traut, solange der Boden nicht imter seinen Füßen weggezogen 
wird oder der Abgrund alles verschlingt Im Vergleich zu dem 
wandelbaren Menschen und seinen Lebensgefährten, den Tieren und 
Vögeln, oder zu seinen bewegungslustigen Gewässern und Himmels- 
lichtem, oder gar zu den flüchtigen Tageszeiten, den Wolken und 
Wettern, bewährt sich der zuverlässige Boden der Mutter Erde als 
das Beständige, der Inbegriff des Ruhigen, auf sich selber Ge- 
gründeten, als die Feste, der Stillstand selber. 

So ist auch in der künstlerischen Gestaltung schon uranfang- 
lich der Grund stets das ruhende Element, und was darauf er- 
scheint, entweder bodenständig oder beweglich. Das heißt, nur die 
Einzelkörper darauf imterliegen entweder der simultanen oder 
der successiven Auffassung; der Grund dagegen ist seiner Natur 
nach von der letzteren ausgeschlossen, er sei denn durch willkür- 
liche Zerlegung und Aufteilimg von Menschenhand abgewandelt Er 
ist immer das unentbehrliche räumlich-körperliche Substrat, an 
dem sich alle Relationen, der Beharrung und der Bewegung, allein 
ermessen lassen, auf dem sich die Grradunterschiede erst abtragen 
müssen, lun in unsere Sinne fallen zu können. 

Auf dem Gnmde befinden sich auch das Mal und seine Um- 
gebung, die wir betrachtet haben. Und legen wir Schmuck an 
das Mal selber, so wird es dadurch zimi Grunde, wie es das Be- 
harrende war im Vergleich zu dem peripherischen Gebilde ringsum. 
Bevor aber solch ein Unterschied und solche Übereinstimmung 
zwischen dem Mal und dem Grunde recht zum Bewußtsein kommt, 
lernt die Ornamentik schon, sich auf etwelcher Unterlage zu be- 
wegen. Sie muß in der Tat Stehen imd Gehen lernen wie ein 
Kind, bevor sie wagen kann, das Mal zu bekränzen oder ihre 
mannigfaltigen Gebilde in die Luft zu hängen. Was immer sie 
hervorbringt, nennen wir im Unterschied vom Grunde: das Muster, 
sei es zunächst auch nur, um einen zusammenfassenden Namen für 
die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu haben, die als mensch- 
liche Zutaten dem Grunde gegenüberstehen. Es ist ein Begriff der 
Kunstlehre imd Kunstwissenschaft, aber in seinen Anfangen auch 
nicht mehr als ein logisches Produkt. Es wäre durchaus irreführend, 
von vornherein aus diesem Namen fiir die willkürliche Zutat des 



I04 ^'^m* Hcrstellungsmittel: Körper 

Menschen, der nur im Vergleich mit dem gegebenen Grunde die 
andere Seite bezeichnen soll (wie ein Unterscheidungszeichen auf 
einem unbeschriebenen Blatte, von dem wir noch gar nicht wissen, 
mit welchen Posten es sich füllen möge), sogleich das Wesen zu 
konstruieren und, dem dialektischen Bedürfnis nachgebend, daraus 
einen Gegensatz zum Grunde zu entwickeln. Wie wir von diesem 
gesagt haben, alles, was sich darauf befinde, unterliege erst dem 
Unterschied der simultanen und der successiven Auffassung, erweise 
sich entweder in Ruhe oder in Bewegung, so gelten beide Mög- 
lichkeiten für das Muster auf dem Grunde. Es kann ruhig sein 
und bleiben wie er, oder beweglich erscheinen imd als transito- 
rische Erscheinung aufgefaßt werden. Es vermag ebensogut die 
Beharrung der festen Ebene zu bestätigen, ja ihr erst recht zum 
Ausdruck zu verhelfen, wie es andererseits imstande ist, sich damit 
in Widerspruch zu setzen, dem ruhenden Substrat eine Bewegung 
aufzunötigen, ja den ganzen Grund aufzuwühlen und in sein Gegen- 
teil zu verkehren, — je nach dem „Kunstwollen" der Menschen, der 
Völker xmd Zeiten. 

Die Verkennung dieser ursprünglich gleichberechtigten Mög- 
lichkeiten imd die voreilige Voraussetzung, daß die logische Kon- 
struktion des Gegensatzes zwischen Grund und Muster im Wesen 
der Sache von vornherein gegeben sei, verleiten Alois Riegl in- 
mitten seiner feinsinnigen Beobachtung zu einerseits ganz irriger 
Auslegung oder in sich widerspruchsvoller Charakteristik der tat- 
sächlich vorliegenden Erscheinungen, und dadurch andererseits zu 
Trugschlüssen über umfassende historische Perioden oder zu Fehl- 
griffen von prinzipieller Bedeutung.*) Er sieht in dem Grunde 
„den fatalen, stets zur Vergleichung herausfordernden Widerpart**, 
dessen vollständige Beseitigung schon von den alten Ägyptern an- 
gestrebt worden sei. „Der Grund wurde (wie er meint) von den 
Altägyptem möglichst unterdrückt, um das Muster widerspruchslos 
als Ebene erscheinen zu lassen.*' Im selben Satze jedoch heißt es: 
„Alles sollte eben, ruhend, Gnmd sein.** Und wenig früher schon: 
„Niemand wird es (angesichts solcher altägyptischer Goldsachen) 
beifallen, die Frage aufzuwerfen, was daran Grund und was Muster 
sei,** — „weil das Ganze den Eindruck einer ruhenden Ebene fest- 
hält**. Wenn dies der richtige Sachverhalt ist, so unterlassen wir 
wohl eher die Frage nach dem Muster als die nach dem Grunde^ 



i) Vgl. besonders a. a. O. 175 — 177. 



Gnind und Muster 



105 



oder wir konstatieren die Tatsache, daß es an den vorliegenden 
Beispielen altägyptischer Kunst eine scharfe Gegenüberstellung von 
Grund und Muster nicht gibt, sondern die Ebene grundhaft behandelt 
wird und innerhalb ihres ruhigen unverrückbaren Charakters keinerlei 
Kontrasterscheinung, die wir als fremde Bewegung ansprechen 
könnten, darbietet. Von einer Tendenz nach Aufhebung dieses (als 
Möglichkeit hinzugedachten) Kontrastes darf also noch gar nicht 
die Rede sein, solange wir das Kunstwollen objektiv aus den Denk- 
mälern interpretieren. Grund und Muster bleiben ursprünglich, so- 
lange sie einer Ebene angehören, eins, zumal da die Bevorzugung 
tastbarer Eigenschaften der Körper (taktile Wertung) erst da ein 
wirkliches Muster emerkennt, wo die Herstellungsmittel desselben 
greifbar aus der Ebene hervorragen. 

Lassen wir vorerst dahingestellt, wie weit sich in der langen 
Entwicklung der altägyptischen Ornamentik schon ein Ansatz zur 
Scheidung und gegensätzlichen Verwertung beider Faktoren beob- 
achten leisse. „In der klassischen Antike," wird uns jedenfalls gesagt, 
„bildeten Muster und Gnmd zwei große Massen, deren jede in sich 
aus engverbundenen und zusammenhängenden Teilen bestand, die 
aber zueinander in einen großen allgemeinen Gegensatz gebracht 
erscheinen!" — „Die Griecheri haben ein merkliches Gleichgewicht 
zwischen Muster und Grund" herzustellen gesucht, während die 
Altagypter diese harmonische Abwägung beider „mit Bewußtsein 
niemals aufkommen ließen". Aber die klare Gegenüberstellung 
von Grund und Muster zeigt sich darin, daß „der Grund stets das 
ruhende Element bedeutet, aus welchem das Muster als das Be- 
wegte hervorspringt". Und wie kamen die Griechen zu dieser 
Auffassung? „Typisch dafür sind die klassischen Rankenbildungen"; 
— „die bewegte Ranke springt schon allein als Motiv aus der 
Grundebene heraus, während das planimetrische Muster keinen 
Anspruch erhebt, die ruhende Ebene zu verlassen". 

Damit sind wir bei der Zurückführung des Gegensatzes auf 
eine ganz andere Ursache angelangt Nicht das Wesen des Musters 
unterscheidet es auch im Charakter von vornherein vom Grunde 
als das Bewegte vom Ruhenden, sondern die Wahl des Ornamentes 
und die damit verbundene oder heraufbeschworene Gegenstands- 
vorstellung; dehn diese steckt hinter dem Motiv der Ranke und 
läßt das einheitliche Gewächs herausspringen aus der Grundebene, 
aus der ein planimetrisches Muster, selbst ^in Zickzack gar nicht 
herauszutreten beansprucht, solange es nicht dxu'ch besondere 



lo6 VIII. Herstellungsmittel: Körper 

Mittel dazu gebracht wird. Da haben wir die beiden Erlassen : die 
sogenannten geometrischen Ornamente und die Nachahmung 
vegetabilischer Naturgebilde, die kraft der verschiedenartigen 
Vorstelltmgen, die sie auslosen, den Gegensatz hervorbringen. Es 
ist nichts anderes als der Unterschied von Kristallisation und Or- 
ganisation, der die Trennung der Wege zwischen simultaner und 
successiver Auffassung hervorruft. Aber ebendamit erhebt sich 
auch die Frage, ob nicht die Auffassung die Wahl des Motives 
veranlaßt hat, während es bei sofortiger Berufung auf die klassischen 
Rankenbildungen so scheinen mußte, als habe das Motiv die 
Auffassung verschuldet und den Widerspruch zwischen Muster imd 
Grund in die Kunstentwicklung hineingetragen. Ebendafur würde 
die genauere Untersuchung der altägyptischen Ornamentik auf ihren 
Fortschritt entscheidend sein. Es begegnen unter den altägyp- 
tischen Denkmälern, wie Riegl treffend hervorhebt, tatsächlich 
solche, an denen die gegebene Fläche in lauter geometrische 
Kompartimente aufgeteilt erscheint. „Hier ist das Muster selbst 
absolute ruhende Ebene." Davon sind jedoch andere Beispiele so- 
fort abzusondern, an denen es sich „um ein zusammenhängendes 
Muster handelt: ein Zickzackmuster z. B. steht hierin mit der klas- 
sischen Wellenranke auf dem gleichen stilistischen Boden". Da 
liegt schon der Übergang vorgezeichnet, und zwcir bildet nicht so- 
wohl das Motiv als vielmehr die Auffassung, oder die Absicht auf 
Bewegung die verbindende Brücke. Ein einseitiges Beharren beim 
geometrischen Ornament war außerdem „bei einem Kulturvolke 
vom Range der Altägypter nicht mehr möglich". Auch sie sind 
bereits zu vegetabilischen Motiven übergegangen; so kommen wir 
allmählich zum Kunstwollen der klassischen Antike und fragen 
nach der innersten Differenz ihres Wesens. Aber diese historische 
Betrachtung ist hier nicht beabsichtigt. Es kommt uns nur auf 
die begriffliche Bestimmung von Grund und Muster an, um irre- 
führenden Unklarheiten vorzubeugen oder offenkundige Mißver- 
ständnisse aufzulösen. 

Zu diesem Zwecke folgen wir der Gegenüberstellung der so- 
genannten vegetabilischen und geometrischen Ornamente, jedoch 
ebenfalls ohne auf die Streitfrage nach ihrem Ursprung und da- 
mit nach dem Erstgeburtsrecht der einen Klasse vor der anderen 
einzugehen. Die Tatsache, daß beide Klassen nebeneinander vor- 
kommen und fortbestehen, ja noch mit einer dritten Erlasse, der 
Tierornamentik, streckenweise friedlich zusammenleben, ist für 



Grund und Muster 107 

diese Gedankenreihe wichtiger als jeder historische Nachweis der 
Genealogie. 

„Ein Motiv, bei dessen Anblick uns eine bestimmte individuelle 
Naturform (z. B. eine Blume, ein Tier) in Erinnenmg gebracht wird," 
schreibt Riegl (175), „macht sich als solches sofort übermächtig 
geltend, und drängt die übrigen Teile der umgebenden Fläche als 
Grund zurück. Niu* bei Motiven, die keine ,naturalis tischen' 
sind, sondern entweder als mathematisch-begriffliche (soge- 
nannte geometrische) Muster der individuellen Lebensfähigkeit ent- 
behren, oder als Teilkonfigurationen des (von Haus aus nicht 
naturalistischen, weil nicht individuellen) Grundes bekannt sind, 
läßt sich eine zeitweilige Verkennung ihrer Bedeutung als Muster 
denken." 

Gehen wir zur Wesensbestimmung des Musters den umge- 
kehrten Weg, d. h. vom gegebenen Grunde aus, wie wir ihn ein- 
gangs bereits eingeschlagen haben, so hätten wir bei der letzten 
Klasse der Riegischen Aufreihimg zuerst einzusetzen, nämlich bei 
den „Teilkonfigurationen des Grundes", die als solche bekannt 
und geläufig sind. Sie gehören zunächst selber zum Grunde, haften 
in ihm oder an ihm und lösen sich so gar nicht von ihm los, wenn 
nicht die subjektive Aiiffassung mehr oder minder nachhilft. Da- 
hin rechnen wir vor allen Dingen die natürlichen Verschiedenheiten 
im Material des Grundes, die Ungleichheiten der Textur oder 
Struktur (wie wir schon in Übertragung von menschlichen Erzeug- 
nissen her zu sagen pflegen), die Streifen des Erdreichs, des Fels- 
bodens, die Maserung des Holzes, die Stromschichten im Metall, 
oder was wir (ebenso voreilig übertragend) als Mustenmg, Zeich- 
nung, Sprenkelung des Granits, der Marmorsorten u. dergl. be- 
schreiben. Wie unsere Ausdrücke bezeugen, geht die Anerken- 
nung des natürlichen Bestandes für die menschliche Phantasie sehr 
leicht und unvermerkt in die genetische Erklärung oder den Ver- 
gleich mit einem flüssigen Zustand über, oder schiebt gar die 
Tätigkeit der Menschenhand unter, wo sie noch gar nichts zu 
schaffen hatte. Dies Hineinsehen einer Bewegung, eines Ent- 
stehungsprozesses in den festvorliegenden Grund klärt uns auf über 
die Natur des entgegenkommenden Bedürfnisses von menschlicher 
Seite und über die Herkunft mancher Motive wirklicher Musterung 
durch menschliche Zutat Das Her Stellungsmittel verwandelt 
sich unwillkürlich in ein Darstellungsmittel. 

Der absolut ruhige, in sich gleichförmige und eintönige Grund 



lo8 VIII. Herstellungsmittel: Körper 

und die nimmer ganz stillstehende, vielgestaltige, und wandelbare 
Menschennatur sind zunächst inkommensurable Großen. Der Mensch 
kann nicht umhin, den kleineren Maßstab seines Körpers, — seiner 
Schritte, seiner Armbewegimgen, seiner Augen und Hände, ja seiner 
Finger auf die Unterlage all seines Tuns und Treibens abzutragen. 
Er begrüßt jeden Anhalt in der ebenmäßigen Fläche als Ausgangs- 
punkt dieser Übertragung. Irgendwelche Teilkonfigiiration des Grun- 
des ist für seine Sinne schon ein Angenehmes, das er willkommen 
heißt und um so lebhafter auffaßt, je größer die Ausdehnung der 
ruhenden Ebene sich allseits erstreckt. Das Unermeßliche wird 
auf die Dauer das Unerträgliche: die Umwandlung des Grundes in 
ein Muster ergibt sich als notwendige Folge. Wer auf weiten 
Strecken des Dünensandes am Meere wandert, der freut sich über 
die Fußspuren in der glatten einfarbigen Wüste und verfolgt sie 
mit Vergnügen wie eine Augenweide. Ganz ähnlich wirken die 
Ackerfurchen auf dem einfarbigen Felde, die regelmäßige Arbeit 
des Pflügers. Die öden weißgetünchten Mauern, die sich straßen- 
lang hinziehen, reizen noch heute den vorübergehenden Schuster- 
jimgen oder Anstreicher unwiderstehlich, daran entlangzufahren, 
und mit Pinselquast oder schwarzen Fingern die Spuren des Ant- 
agonismus zwischen dem lebendigen Individuum und der toten 
Fläche zu hinterlassen. Polizeiwidrigen Unfug nennt der Philister, 
was von anderem Standpimkt als erste, noch sehr rohe, aber doch 
schon ästhetische Wohltat erscheint. Sie bringt uns die Ausdeh- 
nung erst recht zu Sinnen durch Abtragung einer verfolgbaren 
Succession auf das starre Kontinuiun. Und das ist der Zweck aller 
Teilkonfigurationen des Grundes, sobald sie nicht gegeben, 
sondern gewollt sind. 

Im natürlichen Zustande begegnen mm aber nicht allein solche 
in der einheitlichen Mcisse vorhandenen, in der Ebene bleibenden 
Teilungsmomente, sondern auch aus dem Boden aufragende, wie 
kleine Felsblöcke, Steine, Buschwerk und Bäumchen, über die wir 
beim Anblick eines Flußtals, einer Seeküste hinwegsehen, solange 
wir eben die durchgehende Ausdehnung des Terrains als Ganzes 
erfassen. Zur Herstellung eines gleichmäßig geebneten Gnmdes 
müssen diese Störungen beseitigt werden. Von Natur aber sind 
sie eine Musterung der Erdoberfläche, eine Konfiguration, deren 
Bestand auf Anerkennung Anspruch erhebt. Und diese aufrecht- 
stehenden Gegenstände sind Körper, die sich vom Gnmde absetzen, 
nicht in die Ebene fallen, sondern sich in anderer Richtimg davon 



Grund und Muster; Form lOO 

loslosen, individualisieren. Sie sind im wahren Sinne des Wortes eine 
Musterung des Grundes von anderer Hand, nur nicht von Menschen- 
hand, wie das künstlerische Gebilde, das wir so nennen. Jede An- 
ordnung von Körpern auf dem Grunde, die wir früher betrachtet, 
schließt sich hier an: auch sie ist ein Muster im Unterschied vom 
Crrunde. 

Erst nun begreift sich die volle Tragweite des Zeugnisses: bei 
den Altägyptem war das Muster selbst absolute ruhende Ebene; 
man ging darauf aus, es als unbewegliche Stofflichkeit hinzustellen, 
das Muster grundartig erscheinen zu lassen; ja alles sollte eben, 
ruhend, Grund sein. Wo das der Fall ist, gab es noch gar 
keinen „natürlichen Gegensatz zwischen Muster und Grund zu über- 
winden", geschweige denn einen „lästigen Widerpart zu beseitigen"; 
denn Grund und Muster waren noch eins, das Muster nur 
höchstens erst latent oder virtuell vorhanden, wie in Naturstoffen, 

Ganz anders steht die Sache, wenn eine Anordnung von 
Körpern, fertig vorgeftmdenen Naturdingen, als Schmuck auf eine 
Fläche gebracht wird, mit der sie nicht eins werden können und 
werden sollen. Denn nun sind die kleineren Körper in ihrem 
Nebeneinander auf dem einen Substrat immer das Viele, also das 
Bewegtere, das Einteilende, Absetzende, Successive im Vergleich 
zu dem ruhenden, ungeteilten, gleichmäßig daliegenden Grunde. 
Aber diese Körper sind als beliebig ausgewählte Naturdinge auch 
„naturalistisch und individuell"; denken wir nur an eine Reihe von 
Muscheln oder Schneckenhäusern, jedes ein Einzelgebilde für sich, 
das mit dem Boden nichts zu schaffen hat und sich selbst dann 
noch isoliert, wenn es in eine Kalkschicht eingeht und mit als 
Masse verarbeitet wird. Sowie wir seiner ansichtig werden, er- 
kennen wir es als Einzelding und anerkennen es als solches. 

Damit konunen wir zu einem neuen Kunstmittel, das die 
Körper bevorzugen heißt, wo es gilt die Gesetze der Symmetrie 
oder der Reihung anzuwenden, oder mit dieser Koordination der 
Glieder zugleich eine Subordination des Grundes zu erreichen. 
Dies willkommene Mittel der Unterscheidung ist die Form, die, 
ringsum sich abschließend, für den Menschen ohne weiteres schon 
eine selbständige Einheit verkündet Die Form verrät uns sinn- 
fällig das Individuum. Deshalb sind für die Zwecke des Schmückens 
die naheliegenden kleinen Naturdinge, wie Beeren, Nüsse, Kiesel, 
so willkommen. Sie behaupten sich an ihrer Stelle in dreidimen- 
sionaler Entfernung des stofflichen Volumens. 



HO VIII. Herstellungsmittel: Körper 

Aber sie haben in diesem Vorzug auch eine Eigentümlichkeit, 
die für den einen Zweck erwünscht, für den andern unbequem ist, 
nämlich diese individuelle Eigentümlichkeit selbst Jedes solche 
Naturding ist als Einzelexemplar, das sich vom andern unterscheidet, 
eigentlich ein kleines „Mal** für sich. Es fordert zur Sonderbe- 
trachtung, zum Verweilen, ja zum Stillstand heraus, imd das wider- 
spricht dem Fortgang der Reihung. Es ist unbequem für die Her- 
stellung der Symmetrie, und drängt zur Geltendmachung der 
Proportionalität, Es hemmt den gleichmäßigen Verlauf des Ent- 
langteistens oder Absehens; es rhythmisiert auf eigene Hand den 
Fluß der Einheiten. In jedem Individuum steckt die Anlage zum 
Usurpator, sich als „Dominante" aufzuwerfen durch irgendeinen 
auffallenden Unterschied der Form, der den Beschauer gefangen- 
nimmt und die Nachbarn imterordnet 

So ergibt sich für diese Absicht durchgehender Bewegung die 
Notwendigkeit, solche Unterschiede auszugleichen, die Eigentüm- 
lichkeit zu unterdrücken oder fernzuhalten, die Einheiten einer 
Reihe zu assimilieren. So bevorzugen wir zugunsten der glatten 
Abfolge die regelmäßigen Formen, und stellen solche her, wo 
sie nicht vorhanden sind, indem wir Auswüchse abbrechen, oder 
ziehen die Leistungsfähigkeit unserer Hände in noch stärkerem 
Maße heran, vom Abschleifen des vorgefundenen Körpers bis zur 
Neuscha£Fung aus anderem bildsamen MateriaL Damit verstehen 
wir die Wahl der einfachen stereometrischen Gebilde für die Durch- 
führung der Succession, ihre Notwendigkeit bei Gliedern einer fort- 
laufenden Kette. Jede komplizierte Bildung bewirkt in derselben 
Reihe eine Verlangsamimg der Aufnahme; sie muß vermieden 
werden, so willkommen sie für andere Absicht sein mag. 

Einen Aufenthalt im Zuge der Bewegung bewirkt aber auch 
jede Körperlichkeit an sich, indem sie zur Abtastung veranlaßt, 
oder, begnügen wir uns mit dem Sehen, doch die Resonanz der 
Tasterfahrungen herausfordert, bei der Aufiaahme mitzuspielen. Wo 
immer wir über die Einzelwerte des Schmuckes hingleiten sollen, 
kann der volle Reiz der Körperlichkeit zu stark sein. Deshalb 
tritt der Verzicht auf einen Teil dieses Körperwertes ein, wenn 
wir die untere Partie mit dem Grunde verbinden, sie — sei es fak- 
tisch, sei es scheinbar — in die Grundebene eintreten lassen, jede 
Einheit etwa ziu* Hälfte in den Boden versenken. So mindern sich 
die tastbaren Oberflächen des Körpers und überwiegt der Zu- 
sammenhang mit der Ebene. Die Elemente der Konfiguration 



Form — Relief — Umriß III 

treten dann, wo wir den Tastsinn allein walten lassen, als Protu- 
beranzen des Grundes hervor; die Grundfläche gebiert diese An- 
sätze selbständiger Körperbildung aus sich heraus und hält sie 
doch fest in ihrem Schöße. Dies ist die ursprüngliche und recht- 
mäßige Auffassung des Unterscheidimgsmittels, das wir demgemäß 
mit dem Namen Relief bezeichnen: die Erhebung wächst fahlbar 
aus dem Grunde hervor und tritt uns entgegen. Ganz anders, wenn 
wir das Auge zuhilfe nehmen: dann erst überwiegt die Selbständig- 
keit der Körper, und sie erscheinen wie von außen eingesenkt, 
oder angeheftet, je nach der Höhe ihrer Erhebung. Denn hier 
wirkt außer dem tastbaren Verhältnis von Körperrundimg und 
Ebenflächigkeit noch der optische Faktor, Schatten und Licht, mit, 
imd diese Kontraste steigern den Unterschied unverhältnismäßig 
zugunsten der Auffassung von außen: als Muster im Gegensatz 
zum Grunde. 

Wird dagegen zugunsten des Grundes immer mehr auf die 
Körperlichkeit verzichtet, so schwindet das Hochrelief zum Halb- 
relief und dieses zum Flachrelief zusammen, die wir an dieser Stelle 
nur als eine Stufenfolge tastbarer Körperwerte, nicht in ihrer vollen 
Bedeutung auch nach der optischen Wirkimg aufführen wollen. 
Es handelt sich ja nur um die Klassifikation der Unterscheidungs- 
und Annähenmgsmittel für die Zwecke der Ornamentik, und um 
die Abwehr des umgekehrten Verfahrens, von der Ebenflächigkeit 
zur Körpererhebung zu fuhren, als wäre das die selbstverständliche 
Steigerung der Mittel. 

Es liegt um so mehr daran, die beiden Wege mit aller Ent^ 
schiedenheit auseinanderzuhalten, als wir nun, beim Übergang aus 
der Körpererhebung zur Ebenflächigkeit, eine prinzipielle Überein- 
stimmimg mit den Ansichten Riegls bezeugen müssen, die wir eben- 
deshalb nur konsequenter durchverfolgen und von inneren Wider- 
sprüchen freizumachen suchen. Wenn die falsche Voraussetzung 
eines natürlichen Gegensatzes zwischen Muster und Grrund (der 
schon bei den Altägyptem zur bewußt gewollten Überwindimg, ja 
vollständigen Beseitigimg des Grundes geführt haben soll) einmal 
aufgelöst worden und der uranfangliche Unterschied zwischen dem 
lebendigen Subjekt, dem Menschen, und dem festen Substrat, dem 
Grrund und Boden, wieder in seine Rechte eingesetzt ist, so ergibt 
sich das richtige Verständnis der anderen Erscheinungen von selbst 

Wir kommen zum äußersten Zusammenschwinden der Körper- 
form in die Ebene des Grundes, wo die Unterscheidung der Ele- 



112 VIII. Herstellungsmittel: Körper 

mente nur noch durch den Umriß geschehen kann. Die Verwen- 
dung der Naturdinge, die wir anheften konnten, hört auf, oder an 
ihre Stelle tritt ein Ersatz, der sozusagen eine Oberfläche des 
Körpers ablöst und, dünn wie ein Blatt, auf die Grundfläche setzt. 
Dann aber wird gar der letzte entscheidende Schritt getan: zur 
Abbildung der Gegenstände, d. h. zur Hervorbringung der Unter- 
scheidungsmittel durch Menschenhand auf dem gegebenen Gnmde. 

Wer seine Fußspuren im weichen Sande beobachtet hat, oder 
den Abdruck seiner Hand in feuchter Tonerde erscheinen sah, der 
greift wohl zunächst zu diesem Mittel, könnte man meinen. Wo 
es nicht geschieht, sondern die tastbare Rundung bewahrt wird, 
da spricht eben dieses Festhalten der gewohnten Körperform auch 
für den unveräußerlichen Vorzug, der ihr beigemessen wird. Hier 
scheiden sich abermals deutlich Mittel und Wege der optischen 
von denen der haptischen Auffassung und Darstellung. Die funda- 
mentale Verschiedenheit prägt sich schließlich auch da aus, wo die 
Linie allein, als schmale Furche in die Ebene eingeritzt, die 
Grenze zwischen Muster und Grund, oder Abbild imd Fläche 
bedeutet. 

„Die Linie war bei den Altägyptem im wesentlichen bloß 
Umrißlinie," erklärt Riegl (S. 62), „und diese war eine haptische, 
das. heißt eine an den Naturdingen wohl tastbare, aber nicht sicht- 
bare.'* Diese auf den ersten Blick befremdende, aber haarscharf 
zutreffende Behauptung erklärt er an anderer Stelle^) damit: „die 
Umrißlinie erinnert sozusagen unseren Tastsinn unmittelbar daran, 
daß er hier an eine undurchdringliche Grenze stößt." Wichtiger 
noch wäre die Negation der optischen Auffeissung. Der Umriß 
will nicht den Augenschein wiedergeben, sondern die getastete 
Form des Körpers als Grundlage festhalten: die tastbare Form gilt 
als die wirklich bestehende, um nicht zu sagen: einzig wahre; sie ist 
die eigentlich wertvolle, die ergriffen und festgehalten werden soll, 
nicht die sichtbare, der Augenschein, der wandelbare. 

„Die älteste nachweisbare Kunst des Altertums, die altägyp- 
tische, hat also die Umrisse in der Ebene möglichst scharf betont, 
dem tiefeandeutenden Schatten aber bloß in jenem geringsten 
Maße Eingang gewährt, das gerade ausreichte, um eine Modellie- 
rung der Oberfläche nach der Tiefe noch erkennen zu lassen." 
„Die ägyptische ReUeffigur hatte keine Kehrseite, sie verlor sich 



i) Beilage z. AUg. Zeitung, München 1902 S. 155. 



Umriß — Linie 



113 



geflissentlich im Grunde." — Das heißt doch wohl rund und nett: 
im Anfang war der Gnmd, und der Grund war Muster, und das 
Muster war Grund. Auch die Gliederung des Grundes war nichts 
anderes als der Grund selber. Das Unterscheidungsmittel der 
schmalen Furche stört nicht die gnmdhafte Natur des Ganzen, so- 
lange nicht durch andere Entwicklungsmomente der Antrieb zur 
Differenzierung von Grrund imd Muster in die Kunst Äg3rptens 
hineingetragen wird. Nur eine Voraussetzung dürfen wir nicht 
übersehen. Sie liegt in den Worten Riegls: „die Umrißlinie war 
eine an den Naturdingen wohl tastbare, aber nicht sichtbare", 
d. h. der so imirissene Ausschnitt aus der Grundebene appelliert an 
imsere Gegenstandsvorstellung, an unsere Tasterfahrungen beim 
Verkehr mit solchen Naturdingen. Sie ist es, die auch bei Ver- 
mittlung des Auges sofort die Körperlichkeit des erkannten Ob- 
jektes heraufbeschwört Darauf müssen wir später zurückkommen, 
wo die Gegenstandsvorstellung als eigene Instanz unabweisbar in 
die Rechnung tritt 

Jiei den Griechen der klassischen Zeit fand die Linie zimächst 
fortdauernd die gleiche Anwendung als Umrißlinie, daneben aber 
auch eine solche für die Modellierung. Diese Modellierungslinien 
sind jedoch wiederum noch nicht Schatten, sondern Andeutung 
haptischer Begrenzimgslinien gleich den Umrißlinien." Erst später 
meldet sich „der Übergang von der tastbaren Begrenzungslinie zum 
optischen Schatten" (a. a. O. S. 63). 

Diese geschichtlichen Tatsachen beweisen, daß auch der Um- 
riß auf der Fläche seuien Ursprung aus der Körperlichkeit nicht 
verleugnet imd daß unter der Arbeit für das Auge des Betrachters 
doch immer die vornehmste Rücksicht auf die Befriedigung des 
Tastgefühls genommen wird, obgleich die Tastorgane des Be- 
schauers gewiß nicht tatsächlich bei der Aufnahme mitwirken 
sollten, wie sie der wissenschaftliche Forscher gelegentlich wohl 
einmal zuhilfe ruft, ohne sich immer bewußt zu bleiben, daß er da- 
mit bei der ästhetischen Aufnahme aus der Rolle fallt 

Der Wert des Umrisses für das Körpergefühl des Beschauers 
würde jedoch erst da die Feuerprobe bestehen, wo es sich nicht 
um die Abbildung von lebensfähigen Naturdingen, sondern von 
stereometrischen Körpern handelt, die wir in planimetrischer Er- 
scheinung wohl als Figuren oder „mathematisch-begriffliche Muster" 
ansprechen. Erst angesichts solcher geometrischen Musterung 
des Grundes stellt sich der ganze Unterschied der Behandlung 

Schmarsow, KanstwisaeoschafiL g 



114 ^^^^* Hcrstcllungsmittel : Körper 

heraus.^) In jenen ältesten Perioden unserer Kunstgeschichte sind 
auch diese geometrischen Figuren grundhaft und damit körperhaft« 
Bestandteile einer Flächenschicht des gewählten Materials, kein 
flüchtiger Augenschein, also das Gegenteil der rein mathematischen 
Vorstellung. 

Aber gerade vermöge ihrer Körperhaftigkeit kann sich eine 
Verschiebung dieser Gemeinschaft mit dem Grunde für das Gefühl 
des Beschauers, wie für die Behandlung des Künstlers entwickeln. 
Wenn in der ältesten Antike das Ganze den Eindruck einer fest- 
gefügten Ebene bewahrt, so daß nicht einmal darnach gefragt 
werden kann, was daran Gnmd und was Muster sei: allmählich 
sondern sich doch die Körper hier von der Ebene da und bilden 
das Muster im Gegensatz zum Grunde. Zwei große Massen, deren 
jede in sich aus engverbundenen und zusammenhängenden Teilen 
besteht, treten einander gegenüber. Das Muster steigert sich dann 
als ein in allen seinen Teilen festverbundener, wenngleich mannig- 
faltig, vielleicht gar aufs reichste gegliederter Komplex von Ele- 
menten zum Gegenspiel des nicht minder zusammenhängenden, 
weil gegen die Ränder des Dekorationsfeldes hin vom Muster un- 
berührten Grundes. Nun erscheint das Muster als bewegtes Relief 
aus dem ruhenden Grunde daneben hervortretend, und es kommt 
in der klassischen Kunst darauf an, die beiden Faktoren freilich 
klargesondert, aber in harmonischem Gleichgewicht zu halten. In 
hellenistischer Zeit dagegen beginnt die entschiedene Vorliebe für 
starke Bewegimg und lebendige Energie die Oberhand zu nehmen: 
das Motiv des Musters wird zum Protagonisten. Der Grund wird 
zur Folie, deren mannigfaltig verwertbare Funktion doch immer 
auf eine Dienstleistung hinausläuft, mag sie Halt gewähren, hervor- 
heben oder beruhigend wirken. Die Einengung und Verdrängung 
des Grundes durch das Muster, des Ruhenden durch das Bewegte, 
ist die Folge. Bis in die mittlere römische Kaiserzeit erhält sich 
noch ein bestimmter Zusammenhang zwischen den Teilen des 
Musters; dann aber wird auch dies in lauter einzelne kleine Kon- 
figurationen zersplittert, die untereinander keine Einheit mehr 
bilden, weil sie unablässig durch den daz wischengeschobenen 
Grund voneinander getrennt sind. Auch die Grundebene ist dem- 



i) Es begegnen unter den altägyptischen Denkmälern auch solche, an denen 
die gegebene Fläche in lauter geometrische Kompartimente aufgeteilt erscheint. 
Ricgl a. a. O. S. 176. 



Umriß — Linie 



115 



nach schon von der Bewegung ergriffen. Mit der Aufhebung des 
klaren Gegensatzes wird femer auf eine Verwirrung zwischen 
Grund und Muster ausgegangen. Zu der archaischen Einheit 
kehren aber beide Faktoren auch in spätrömischer Zeit niemals 
zurück; denn die dazwischen eingedrungene Bevorzugung der 
optischen Auffassung kann körperlich greifbaren Zusammenhang 
nicht brauchen, muß vielmehr die Auslösung von Tasterfahrungen 
und den Eindruck stofflicher Kontinuität geflissentlich vermeiden. 
Auch diese Geschichte des Verhältnisses von Grund und Muster 
im Altertum beweist niu* den weiten Abstand zwischen dem alt- 
ägyptischen Anfangsstadium und dem spätantiken Ende.^) 



i) Nicht befriedigt hat mich bei Riegl die Analyse der mit Emailarbeit bedeckten 
Flasche von Pinguente (S. 188 f.). Die Komposition ist nicht rein tektonisch, son- 
dern eine sehr charakteristische Durchdringung kristallinischen und organischen 
Wesens, geometrischer und vegetabilischer Motive in einem eigenartigen Medium. 
Schon die Kreuzform in Blattbildung gibt diese Mischung an der Zentralstelle. Die 
ausstrahlende Richtung der vier Arme wird durch die hellen Pimkte in den Zwischen- 
räumen nur leise aufgewogen. Das reziproke Zickzackmuster an der Peripherie gibt 
dagegen rein geometrisch die zentripetale und die zentrifugale Richtung in festem 
Widerhalt. Die fortlaufende Ranke in der äufiersten und in der innersten Zone ver- 
sinnbildlicht den Umlauf in ungestörtem fließendem Vollzuge. Die intermittierende 
Ranke in der breiten Mittelzone zeigt dagegen die Verquickung des vegetabilischen 
Schwunges mit dem geometrischen Zickzack, dessen Höhepunkte nach zwei Rich- 
tungen auseinanderstreben und so eine Spannung zwischen beiden Grenzlinien der 
Zone hervorbringen. In diesem Mittelstreifen kann auch ein flüssiges Medium nicht 
ungehindert verlaufen, sondern stößt sich und staut sich an den Ecken : die Bewegung 
vollzieht sich nur intermittierend, fast ruckweise hier hinaus und dort hinein. So 
wird diese Zone zur Hauptpartie neben der Zentralstelle; sie bilden mit dem Rande 
außen die festeren Bestandteile, die beiden anderen Zonen mit fortlaufender Ranke 
aber die beweglichen Zwischenglieder, wie die Intervalle zwischen Säulen und Wand- 
pfeiler in der Architektur. Dem Umschwünge und seiner zentrifugalen Wirkung 
entsprechend ist auch die äußere dieser flüssigen (Wasser-) Gürtel schmäler gebildet 
als der innere, wie ein Tropfen in der Nähe der Peripherie sich stärker elliptisch 
auslängt, als der dem Zentrum nähere. Diese Beobachtung am nassen Element 
(für das die Flasche bestinmit war) erklärt auch die verschiedene Bohnenform der 
Emailiiguren. Sowie aber der flüssige Charakter als der entscheidende anerkannt 
wird, so wächst auch die Bedeutung der beiden Zonen mit fortlaufender Ranke. In 
diesen Intervallen kreist die Bewegung, die den tektonischen Bestand besiegt und 
in der intermittierenden Ranke den Sieg im Konflikte vor Augen stellt. Das sind 
wichtige Symptome für die Entstehimgszeit, oder gar für die Datierung. 



8» 



rx. 

DIE FARBEN ALS KUNSTMITTEL 

POLYCHROMIE UND KOLORISMUS. FARBENRHYTHMUS 

Außer den tastbaren Eigenschaften haben die Naturdinge, die 
wir zum Schmuck und Zierat verwenden, noch solche, die nur das 
Auge wahrzunehmen vermag. Nicht allein durch die Form unter- 
scheiden sie sich voneinander, sondern auch durch die Farbe des 
Stoffes, aus dem sie bestehen, oder des Kleides wenigstens, das sie 
mitbringen. Da mag die Wissenschaft uns heute darüber aufklären, 
daß die Farben eigentlich nur Empfindungen sind, die vom Lichte 
in uns hervorgerufen werden: der natürliche Mensch schreibt sie 
immer den Körpern zu, von denen sie zu uns dringen; und wo sie 
in enger Verbindung mit den tastbaren Eigenscherften der Korper 
auftreten, da sprechen wir auch in der Kunstlehre von der Natur- 
farbe des Dinges oder (mit Helmholtz) von Körperfarbe. 

Die Wissenschaft bringt uns allmählich zu der Erkenntnis, daß 
alle Farben, die wir unterscheiden, nur einzelne Stufen in einer 
Reihe von Empfindungen sind, die sich mit der Schwingimgsdauer 
des Lichtes fortwährend verschieben. Sie sagt uns, daß die läng- 
sten der für uns sichtbaren Schwingungen die Empfindung Rot 
erzeugen; dann folge Orange, dann Gelb, dann Grün, dann Blau 
und endlich Violett Dem natürlichen Menschen gilt nur das Er- 
lebnis solcher Verschiedenheit, mag er auch gar nicht imstande 
sein, alsbald die ganze Reihe dieser Qualitäten auseinanderzuhalten, 
sondern lange noch an einer kleinen Zahl leicht unterscheidbarer 
Tinten genug Abwechslimg haben. Später, wenn die genannte 
Reihe vollständig ausgebildet ist, fügen wir zwischen Violett und 
Rot wohl gar noch Purpurfarben ein und schließen damit den Kreis 
unserer Farben in sich ab, ohne ims durch den Einwand des Phy- 
sikers stören zu lassen, es gebe gar kein einfarbiges Licht, das 
uns die Empfindung Purpur zu erzeugen vermöchte. Kommt die 
Wirkung auch nur durch Lichtgemenge zuwege, sie selbst ist eine 



j 



Die Farbenreihe — Schwarz und Weiß 



117 



Tatsache, die wir um so weniger als Ausnahme anerkennen, als 
bei der Mehrzahl der wahrgenommenen Körperfarben ein ganz 
ähnliches Verhältnis überwiegt 

Viel wichtiger ist für unser Sinnesleben und damit für unser 
Seelenleben die weitere Erfahrung, daß sich die Farben nicht nur 
nach ihrer Qualität unterscheiden, sondern auch nach ihrer Stärke. 
Die Eigenart der Farbe wird uns lebendig in ihrem Verhalten oder 
ihrem Schicksal neben den anderen. Wo sie allein ist und mit 
sich selber übereinstimmt, freuen wir ims ihres Charakters. Wir 
meinen wohl, sie habe sich so recht vollgesogen und erfüllt mit 
ihrem Schein, sich voll ersättigt, und nennen sie auch in der Kunst- 
sprache eine volle, satte oder saftige Farbe. Wenn uns daneben 
eine andere ähnliche Farbe begegnet, in der sich der Charakter 
nicht so entschieden ausspricht, so nehmen wir sie wohl gar nicht 
für die eigentliche, rechtmäßige und ebenbürtige Vertreterin; sie 
fallt ab im Vergleich zu der echten, reinen und einzig wahren, wie 
ein Bastard. Nur jene reine scheint ims auf sich selber zu beruhen 
imd imstande, sich zu behaupten, wie das Dinge tun. Sie bedarf 
nicht einmal mehr eines Körpers, der sie trägt; sie selbst allein 
verkündet sich als elementare Macht, wie ein materielles Dasein. 

Aber jede solche ganze, gesättigte Farbe hat in der Um- 
gebung ihre Freunde und ihre Feinde, die nicht selten gar in einem 
imd demselben Kleide bald so, bald so sich betätigen. Davon er- 
zählt schon jener Abstand zwischen dem reinen Blut und dem 
Mischling. Die Entfremdung vom eigenen Wesen ist durch die 
Dazwischenkimft von Schwarz oder Weiß geschehen. Diese beiden 
stellen sich anfangs in die Reihe beliebig ein, als wären sie von 
gleicher Art wie die anderen. Sie sind willkommen, denn in ihrer 
Nachbarschaft leuchten die munteren erst recht und gewinnen auch 
die ernsten an Fülle. Gelingt es ihnen aber zu innerer Gemein- 
schaft vorzudringen, so verwandeln sie die reine durchweg und 
bewähren ihre ganz fremde Natur. Sie brechen und schwächen 
den ganzen Charakter bis zur Vernichtung seines Wesens. Mit 
Weiß gemischt, verdünnt sich die Vollkraft; mit Schwarz trübt 
sich die Eigenart; hier wie dort ermattet das Leben. Und finden 
weder Weiß noch Schwarz allein den begehrten Einlaß, dann 
senden sie ihren eigenen Mischling Grau, dem alle Türen offen 
stehen. Er ist weder das eine noch das andere, nennt sich neutral, 
bringft aber Einbuße an allem. Wo er sich einer eigenen gesellen 
darf, spielt er als Folie die Rolle des ergebensten Dieners, um sich 



1 1 8 IX. Die Farben als Kunstmittel 

beim Eindringen ins Innere sofort in den schlimmsten Parasiten zu 
verwandeln. So ist es gekommen, daß die Farben der Korper 
mittlerweile allesamt für zusammengesetzt gelten aus einer ge- 
sättigten Farbe und einer größeren oder geringeren Menge Grrau, 
das sich gelegentlich als unmittelbarer Abkömmling des Weiß, ge- 
legentlich als unmittelbarer Abkömmling des Schwarz ausweist 
Nur wo das Grau gänzlich abwesend geblieben, gibt es noch ge- 
sättigte Farben. Wo die Farbe völlig schwindet, siegt das Grau, 
das öde, stumpfsinnige, apathische, oder wie andere sagen, das vor- 
nehme Grau. 

Das ist die Verschiedenheit der Farben und ihre Geschichte 
in der Natur. Nach der Stärke der Lichtempfindung dagegen be- 
messen wir die Helligkeit der Farben.*) Wollen wir sie loslösen 
aus ihrem Zusammenhang mit dem Wechsel der Erscheinungen und 
ihrer Besonderheit innewerden, um sie künstlerisch zu benutzen, 
so müssen wir, wo es sich um die Farben handelt, die wir den 
Körpern an und für sich zuschreiben, von dem Wandel der Be- 
leuchtung absehen und die farbigen Gegenstände oder die Pig- 
mente (Lokalfarben) untereinander vergleichen bei einerlei Licht 

Sowie wir verschiedene Tinten auf ihre Helligkeit vergleichen, 
stoßen wir auf manche Schwierigkeiten, die auch schon die Aus- 
wahl für künstlerisches Verfahren, wenigstens in den naiven und 
gesunden Anfangen der Ornamentik, sehr einschränken mußten.^ 

Bei höheren Helligkeitsgraden stellt sich aber noch jenes 
Schicksal ein, das den gesättigten Farben durch Weiß und Schwarz 
oder Grau bereitet wird. Sie verlieren bei zu stark wachsender 



i) Ich entnehme die folgenden Tatsachen, deren wir bedürfen, und ihre kune 
Erklärung, soweit sie mir unentbehrlich schien, aus: Ernst Brücke, Die Physiologie 
der Farben für die Zwecke der Kunstgewerbe. Zweite vermehrte und verbesserte 
Auflage, Leipzig, S. Hirzel 1887. 

2) Die Unsicherheit des subjektiven Urteils wird noch vermehrt durch den 
Einfluß, den die Beschaffenheit der Beleuchtung auf die relative Helligkeit der ver- 
schiedenen Pigmente ausübt. Je nachdem das Licht vom klaren oder vom bewölkten 
Himmel einfallt, ist die Beleuchtung verschieden; aber auch die Quantität des ein- 
fallenden Lichtes nimmt ihren Anteil an der relativen Helligkeit der verschiedenen 
Farben. Nicht bei allen Farben ninmit die Empfindung mit wachsender Lichtstärke 
in gleicher Weise zu. Von dem ungleichen Wachstum der Lichtempfindung bei 
Eintritt verschiedener Lichtsorten rührt es her, daß z. B. von einem roten und blauen 
Stoffe, die bei Tage gleich hell erscheinen, in der Dämmerung der rote dunkler 
erscheint als der blaue; daß ein Gelb bei Lichtzuwachs viel heller wird als unter 
gleicher Gunst das Violett, das ursprünglich gleich hell erschien. 



Sättigung — Helligkeit — Intensität hq 

objektiver Lichtstarke die Sättigung und werden weißlich. Hat 
dagegen andererseits die Oberfläche, die uns gefärbt erscheint, gar 
kein Licht mehr zurückzuwerfen, so verwandelt sie sich für uns in 
Schwarz, 

Die Farbenwirkung nimmt endlich gegenüber der Helligkeits- 
wirkimg noch ab durch die Entfernung der Körper, an denen sie 
erscheinen, und zwar mit der Verkleinerung der Netzhautbilder 
durch die Feme. Hier behaupten Schwarz und Weiß allein ihren 
Vorrang. Der Abstand, unter dem wir die Lage farbiger Dinge 
auf farbigem Grunde noch deutlich genug erkennen, ist nie so groß 
wie bei Anwendimg von Schwarz und Weiß allein. Er ist dann 
am kleinsten, wenn die beiden Farben des Grundes und des Musters 
wieder gleiche Helligkeit haben. Die krassesten Farbenunterschiede, 
Blau und Gelb, Rot und Grün, sind nicht imstande, den mangel- 
haften Helligkeitsimterschied zu ersetzen. 

Von einer Farbe, die gesättigt und zugleich hell ist, sagen 
wir deshalb im Kimstgebrauche, sie habe große Intensität.^) 

Die intensivsten Pigmente finden sich unter den gelben; dann 
folgen die rotgelben und die roten. Die grünen, namentlich die 
blaugrünen sind im allgemeinen weniger intensiv, ebenso die blauen 
und violetten. Purpur kann um so intensiver durch Pigmente her- 
gestellt werden, je mehr es sich dem Rot nähert 

Für die praktische Verwendung der Farben in Ornamentik und 



i) Die Intensität der Farbe, wie sie hier für industrielle und künsderische 
Zwecke definiert worden ist, muß wohl unterschieden werden von dem, was man 
bei physiologischen Untersuchungen als Intensität der Farbe zu bezeichnen pflegt 
(Brücke a. a. O.). 

Eine gesättigte Farbe kann auch eine dunkle sein, wenn sie nur nicht so 
dunkel ist, dafi sich ihr Charakter nicht mehr mit voller Entschiedenheit ausprägt. 
Die intensive Farbe dagegen soll uns den Eindruck der Helligkeit machen ; sie muß 
auf uns die Wirkimg eines kräftigen Lichteindruckes hervorbringen. Intensive Farben 
finden wir demgemäß in solchen Pigmenten, die bereits bei den gewöhnlichen mitt- 
leren Beleuchtungsgraden beträchtliche Mengen von Licht zurückstrahlen, während 
zugleich dieses Licht so vorherrschend ist, daß uns die Menge des Weiß darin wenig 
oder gar nicht merklich wird. 

Der Mangel an Intensität kann auf zweierlei Umständen beruhen, entweder 
darauf, daß die Menge des zurückgeworfenen Lichtes überhaupt zu gering ist, oder 
darauf, daß es zu stark mit Weiß gemischt ist. Am geringsten muß die Intensität 
natürlich bei solchen Pigmenten sein, deren Licht stark mit Weiß gemischt und 
doch schwach ist. Es sind dies die Farben, die wir als stark mit Grau gemischt 
ansehen können. Wir bezeichnen sie als gebrochene, die helleren unter ihnen 
auch wohl im Gegensatz zu den intensiven als matte Farben. 



I20 I^- ^ic Farben als Kunstmittel 

Kunstgewerbe ist außerdem noch ein tatsächliches Verhältnis von 
Wichtigkeit, das die offenen Sinne der ältesten Kunstvolker schon 
früh herausgefunden und verwertet haben, das ist die Relation von 
je zweien aus der Reihe als Ergänzungsfarben. 

Zwei Farben, die, gleichzeitig auf derselben Stelle der Netzhaut 
abgebildet, miteinander Weiß geben, sind es, wie wir wissen, die 
solch eine Wechselbeziehung zueinander bewähren. Wo wir die 
eine sehen, stellt sich das Verlangen nach der anderen ein; er- 
scheint auch sie, so erfüllt sich die befriedigende Wirkimg. So 
nennt man sie komplementäre oder Ergänzungsfarben. 

Rot hat Blaugrün, Orange Grünblau, Gelb XJltramarinblau, 
Grüngelb Violett zum Komplement^) 

Wenn für die richtige Auswahl der befriedigenden Ergänzungs- 
paare schon ein feinerer Farbensinn erforderlich sein mag, so ist 
man andererseits gewiß früh schon auf dem Wege praktischer Er- 
fahrung, d. h. durch Mißerfolge belehrt und niu* durch Schaden klug 
geworden bei einem anderen Verhältnis der Farben, an das wir 
schließlich noch erinnern müssen. Es handelt sich um die Tatsache, 
daß es vorspringende und zurücktretende Farben gibt Wie 
Schwarz und Weiß, deren Eigentümlichkeit wir schon bei früherem 



i) Diese Reihe von Farbenpaaren gibt aber nur die konstitutive Unterlage für 
mannigfaltige Modifikationen. Tatsächlich gibt es zu jeder Farbe eine Mehrheit von 
Ergänzungsfarben, die sich durch ihren steigenden Gehalt an weißem Lichte und 
eine demselben entsprechende Helligkeit voneinander unterscheiden. Hiemach 
würden alle Glieder solcher Reihe nur einer und derselben Schattierung angehören, 
da sie alle aus einer und derselben Tinte durch Zumischung von mehr und mehr 
weißen Lichtes entstanden sind. Erfahrungsgemäß verändern aber hierbei gewisse 
Farben ihr Aussehen derartig, daß man die ursprüngliche Tinte nicht wiedererkennt. 
Trotzdem behalten sie die Eigenschaft als Komplement. Das Ultramarinblau z. B. 
wird durch Zumischung von weißem Licht ins Violett gezogen und fungiert so als 
Ergänzung zu Gelb. Weniger auffallend sind die Veränderungen bei anderen Farben. 
Blaugrün wird unter allen Umständen dasselbe Rot zur Ergänzungsfarbe haben, d. h. 
die Komplemente können nur eine unwandelbare Reihe desselben Rot bilden, indem 
sie blasser und blasser werden. Ebenso werden umgekehrt die Ergänzungsfarben 
eines bestimmten Rot alle demselben Blaugrün angehören und sich nur durch 
ihre Helligkeit voneinander imterscheiden. Anders steht das Verhältnis zwischen 
Gelb und Blau. Gewöhnliches Chromgelb fordert als gesättigte Ergänzungsfarbe 
Ultramarinblau oder eine diesem nahekommende, dem Grünblau noch etwas näher 
stehende Tinte, als weniger gesättigte, blassere ein bläuliches Violett, als noch 
blassere Lila. Cyanblau dagegen verlangt als gesättigte Ergänzungsfarbe Goldgelb, 
als weniger gesättigte ein blasses Orange und so fort. 

Doch das sind empirische Tatsachen, die an dieser Stelle nur zur Orientierung 
erwähnt werden. 



Komplementärfarben. Vorspringen und Zurücktreten 121 

Anlaß herbeiziehen mußten, bewähren auch die Farben solche posi- 
tive oder negative Wirkung. 

Die vorspringenden Farben sind Rot, Orange und Gelb; die 
zurücktretenden sind die verschiedenen Arten des Blau. Grün und 
Violett gehören weder mit Bestimmtheit der einen noch der anderen 
Klasse an. Grün verhält sich vorspringend gegen Blau, namentlich 
gegen Ultramarin, aber zurückweichend gegen Rot, Orange und Gelb. 
Violett läßt sich deshalb nicht mit Bestimmtheit einordnen, weil das 
Violett der Pigmente, mit dem wir es hier zu tun haben, neben dem 
monochromatischen Violett immer auch Blau und Rot enthält, also 
ein Gemisch aus Lichtsorten, die sich entgegengesetzt benehmen. 

Die Qualität des farbigen Lichtes bestimmt indessen nicht 
allein, ob eine Farbe vorspringend oder zurücktretend wirke; auch 
die Quantität kommt dabei in Betracht. Dazu will endlich noch die 
Stelle, wo sie erscheinen, mit dreinreden. Wir sind gewohnt, ver- 
tiefte Teile beschattet, vorspringende beleuchtet zu sehen. Kann 
man sich da wundern, wenn auch in Mustern, denen an und für sich 
nicht die Absicht innewohnt, ein Relief vorzutäuschen, die hellen 
Farben mehr vorspringend, die dunklen mehr zurücktretend er- 
scheinen? Diese Wirkung kann so beträchtlich werden, daß sie 
die Wirkimg der Farbe an sich, nach ihrem Range in der Skala, 
überwiegt: daß z. B. ein lichtes Blau vorspringend erscheint neben 
einem dimklen Grrün. Im allgemeinen aber ist dies weniger merk- 
lich bei heterogenen als bei analogen Farben. 

Bei buntfarbigen Mustern kommt dieser Beitrag des Subjekts, 
dessen mitwirkende Gewohnheit wir schon eben festgestellt haben, 
noch in anderer Weise in Betracht Es spielt nämlich dabei 
mit, ob die Farbe in uns eher die Vorstellung eines stark be- 
leuchteten, wenn auch an sich dunkel gefärbten, oder mehr die 
Vorstellimg eines beschatteten, wenn auch an sich heller gefärbten 
Objektes zu erregen geeignet ist Im ersteren Falle wird die Farbe 
mehr vorspringen, im letzteren mehr zurückweichen, und zwar aus 
demselben Grunde, aus dem helle Farben im allgemeinen vor-, 
dunkle im allgemeinen zurücktreten. 

Keiner der hier genannten Einflüsse ist für sich allein so 
mächtig, daß er nicht durch eine geschickte Anordnimg imd sorg- 
fältige Durchführung des Musters überwunden werden konnte; 
aber die fordernden oder widerstrebenden Elemente, die in ihnen 
liegen, sind Grundtatsachen, mit denen um so bestimmter gerechnet 
wird, je weniger wir eine raffinierte Kunst vor uns haben. 



122 I^- ^ic Farben als Kunstmittel 

Schon die letzterwähnten empirischen Unterschiede haben uns 
in die Verhältnisse der Körperwelt zurückgewiesen und auf den 
engen Zusammenhang hingedrängt, in dem die Naturfarben der 
Dinge mit deren tastbaren Eigenschaften stehen. Diese gewohnten, 
festgewurzelten Beziehungen spielen, wie wir soeben finden, auch 
in das Gebiet der freien Verwertung der Farben hinein, wo sie nur 
als Reize für sich auftreten und den Zwecken der Ornamentik 
dienen sollen. Wo die Farbe als Körperfarbe oder Lokalfarbe 
fungiert, da wirkt gerade sie überzeugender, zwingender als man- 
ches andere Merkmal auf unser Wirklichkeitsgefuhl. Es ist das 
Sto£fliche, das uns bei dieser sinnlichen Wirkung in den Bannkreis 
körperlicher Existenz hineinzieht Wo aber die gleichzeitige Be- 
währung für unsere Tastorgane nicht mehr möglich ist oder die 
Resonanz solcher Erfahrungen nicht maßgebend wird, da behauptet 
sich noch inuner die Farbe in ihrer elementaren Kraft, sei es auch 
nur im reinen Augenschein und ohne irgendwelchen Appell an die 
Gegenstandsvorstellung. Rein als ästhetisches Erlebnis aber, so 
abgesondert von allen Relationen sonst, brauchen wir sie noch nicht 
einzufuhren, wenn es gilt, sie nun cds dienendes Hilfsmittel sowohl, 
wie als positiven Wert im künstlerischen Verfahren des Schmuckes 
zu begleiten. 

Hier, wo die Farben als imterschiedene Sinnesreize vom Men- 
schen benutzt und für Menschen bestimmt werden, entweder als 
gleiche oder als ungleiche Elemente einer zusammengehörigen An- 
ordnung von Menschenhand fürs Menschenauge, da sprechen wir 
von Polychromie. Sie ist im Gegensatz zur Naturfarbigkeit der 
Dinge eine vom Subjekt ausgehende Veranstaltung, also eine ihrem 
Wesen nach willkürliche Auswahl der verfugbaren Farben, seien 
diese nun als farbige Naturdinge oder als übertragbare Pigmente 
vorhanden; diese Auswahl wird nach den Prinzipien der Symmetrie, 
der Proportionalität und des Rhythmus geregelt. 

Diese Regel fordert zunächst aus dem Bedürfnis des Subjekts 
heraus unterscheidbare Einheiten. Das sind die einfachen, in ihrem 
Charakter deutlich voneinander abweichenden Farben des vorhin 
angegebenen Kreises; zu ihnen tritt häufig noch Schwarz und 
Weiß hinzu. Werden diese einbezogen, so erheben sie sich sofort zu 
Chorführern, die den ganzen Vorrat in zwei Reihen auseinander- 
treten lassen. Unter Führung von Weiß ordnen sich die hellen, 
gegenüber die dunkeln bis zu Schwarz. Das eine wirft sich gern 
zur Dominante auf, das andere wird zur Folie und damit zum ru- 



Polychromie 123 

higen Grunde. Aber dies natürliche Verhältnis kann auch will- 
kürlich umgekehrt werden. Bleiben die farbigen Mittel allein, so 
bilden die einfachsten Grundfarben zu dritt oder viert, Rot und 
Gelb, Blau und Grrün, den Hauptstock. 

Das Prinzip der Symmetrie fordert zunächst gleiche Elemente; 
zur Symmetrie der Farbe gehört aber nicht nur Identität der 
Farbe als solche, sondern auch des Helligkeitsgrades. Wo 
mehrere symmetrische Paare sich aneinanderreihen, wird die Farbe 
für jedes Paar wieder derselben Tonlage angehören müssen, d. h. 
nur die Qualität (rot, blau, gelb) ist veränderlich, die Helligkeits- 
stärke bleibt dieselbe. Für die ganze symmetrische Zusammen- 
stellung kommt entweder eine helle oder eine dunkle Nuance in 
Betracht Diese Gleichheit der Tonlage gilt um so strenger, je 
schlichter die Reihung ablaufen solL Denn jeder Übergriff aus der 
dunklen in die helle Nuance oder umgekehrt, verletzt die Farben- 
symmetrie. Er bringt einen Wertunterschied in die Anordnung, 
und damit in die bisher ausschließlich waltende Koordination ein 
Neues, die Subordination. Mit dem Eintritt dieser geht aber die 
Symmetrie ihrer Alleinherrschaft verlustig und weicht der Pro- 
portionalität der Farben. 

Dies neue Prinzip fordert die Ungleichheit: jeder Kontrast 
bringt es mit sich. Verschiedene Helligkeitsgrade geraten in fühl- 
bare Abstufung. Wo soeben noch alle Glieder, etwa durch sym- 
metrische Übereinstimmung der Formen, in friedlicher Gleichmäßig- 
keit verharrten oder einförmig dahinflössen, da erhebt sich nun 
durch Unterschiede der Helligkeit in der Farbe ein Widerstreit 
Das Recht des Stärkeren macht sich bemerkbar und setzt sich 
durch. Höhepunkte zeichnen sich aus gegenüber Senkungen. Je 
nach der Große dieses Unterschiedes unterjocht sich ein helles 
Element mehrere symmetrische von dunklerem Ton, vielleicht 
mehrere Paare von solchen verschiedener Farbe. Es bilden sich 
zusanunenfassende Gruppen nach dem Gesetz der Proportionalität 
aller farbigen Bestandteile untereinander. 

Die Intensität der Farbe erhebt ihren Träger zur Dominante. 
Dieser Vorzug aber kann sich in Widerspruch setzen zu der räum- 
lichen Anordnung, so daß der körperlichen Dominante des Systems 
eine farbige Dominante als Konkurrent erwächst. Und die Ent- 
scheidung in einem solchem Schisma wird von den besonderen 
Bedingungen des Falles abhängen. 

Da leuchtet aber auch sofort eine wesentliche Verschiedenheit 



124 



IX. Die Farben als Kunstmittel 



ein. Wenn die Anordnung der Korper den Charakter der Ruhe, 
des gesicherten Bestandes bewahrt, kommt durch die Farbe sofort 
Bewegung in die Konstellation. Eine neue Beziehung dieses far- 
bigen Lebens entsteht schon dadurch, daß die verschiedenen Farben 
symmetrischer Paare oder die Höhepunkte proportionierter Grruppen 
sich, etwa je zwei als Komplementärfarben, einander entsprechen. 
So kommen die Momente der Spannung und Lösung, der Erwartung 
und Erfüllung hinein, und je nach der Stellung nebeneinander in 
Altemanz oder gegenüber in Korresponsion zum Austrag. Das 
heißt, es entwickelt sich durch die latenten Bewegung^faktoren ein 
mannigfaltiges Kräftespiel. Und dies ist die bereits voll entwickelte 
Situation für das dritte Gestaltungsprinzip, den Rhythmus. 

Bei solchem Zusammenwirken der gesättigten Einzelfarben und 
ihrer verschiedenen Helligkeitsgrade, ihrer Intensitäten und ihrer 
Relationen als Komplemente, sprechen wir von Farbenrhythmus im 
eigentlichen Sinne. Und es ist klar, daß die Richtung dieser rhyth- 
mischen Bewegungen bei der Natur der Farben sofort eine verschie- 
dene wird nach allen drei Dimensionen, ganz abgesehen von allem 
Zusammenhang mit körperlichen Substraten. Selbst die polychrome 
Verteilimg auf einer Fläche erstreckt ihr rhythmisches Spiel nicht 
nur nach beiden Ausdehnungen der Grrundebene, also nach Höhe 
und Breite, sondern auch nach vom und hinten, vom Grunde gegen 
uns zu oder von uns in die Tiefe des Grundes. Die hellen Farben 
springen vor und die dunkeln zurück, auch wenn wir die besonderen 
Klassen spezifisch vorspringender oder zurückweichender Farben 
noch gar nicht dabei verwerten. 

Je nach der Distanz der stärksten Kontraste in der ganzen 
Farbenversammlung bestimmt sich auch die Dbtanzschicht zwischen 
der Grundebene und dem Beschauer, die ungefähr als der Spiel- 
raimi für diesen rhythmischen Tanz der farbigen Elemente oder für 
das Auf- imd Abwogen ganzer Reihen, 2^nen, Wirbel und Kom- 
plexe gelten darf. Haben wir es vollends mit Sammelkompositionen 
unter einer Dominante und peripherischer Einrahmung zu tun, so 
vollzieht sich die zentripetale und zentrifugale Bewegung auch wie 
Einatmung und Ausatmung innerhalb des halbkugeligen Raumes 
über dem Grunde, wie in einer Wirkungssphäre, in die unser Augen- 
paar hineinragt, während die Parallelebene ihnen gegenüber nur 
die andere Hälfte der Kugel abschneidet. 

Da dieses Farbenspiel ganz unabhängig von den körperlichen 
Massen sein ätherisches Leben zu entfalten vermag, so stellt sich 



Farbenrhythmus und Helldunkeb-hythmus 125 

noch ein wesentlicher Unterschied im Vergleich mit jeder Kom- 
position körperlicher Massen im Räume heraus. Das ist das gleich- 
sam der Korperwelt entrückte oder doch leicht darüber hinschwe- 
bende Wesen, das uns unwillkürlich veranlaßt, seine Evolutionen 
mit psychischen Erscheinungen zu vergleichen. In der Helligkeit 
oder Intensität der Farben sehen wir ohne weiteres das Erkennungs- 
zeichen geistiger Instanzen. Farbenbewegimgen werden uns zu 
Äquivalenten von Gemütsbewegungen; der Wechsel aus einem ein- 
heitlichen Farbenton in einen anderen wird zur vollen Analogie 
eines Stimmungswechsels. Und in der farbigen Dominante an- 
erkennen wir willig den Träger des Lebensprinzips oder die höchste 
Instanz, die das ganze System zusammenhält, wie die Idee einen 
mannigfach schwankenden Vorstellungskreis ordnend und klärend 
durchsetzt 

Aus dem bimten Wechsel seelischer Stimmungen und ihrem 
wogenden Farbenspektrum glauben wir zu den abstrakten Regionen 
des geistigen Daseins aufzusteigen oder abzukühlen, wenn statt 
der polychromen Komposition nur das Widerspiel der beiden 
äußersten Gegensätze am Ende des Hellen und des Dunkeln vor 
uns auftaucht, das heißt wenn die reine Antithese von Weiß und 
Schwarz das Thema bildet Das Ineinanderwogen von Licht und 
Schatten hingegen, das Aufsteigen der Lichter zur Höhe und das 
Hinabsinken der Schatten zur Tiefe, nennen wir nicht mehr Farben- 
rhythmus, sondern Helldunkelrhythmus oder periodisch geglie- 
derte Bewegung von Schatten und Licht Auch dieses optische 
Erlebnis vollzieht sich uns gegenüber in einem dreidimensionalen 
Raum Volumen, das hinten durch den Reliefgrund imd seine viel- 
leicht schon schwankende Tiefenwirkimg begrenzt sein mag, vom 
dagegen über das materielle Volumen der Gestalttmgsschicht hin- 
ausreicht, so weit wie die höchsten Lichter hervorspringen und 
unseren Augen die Distanz bestimmen, wo sie alle in einer Ebene 
uns gegenüberstehen. Zwischen diesen weißen Höhepimkten und 
den schwarzen Schatten des Grundes liegen auch bei einem weißen 
Marmorrelief die Raimischichten der grauen Töne, der Halblichter 
und der Halbschatten, in denen sich die Formen runden und aus- 
einandersetzen; aber farbigen Augenschein oder gar koloristische 
Reize sollten wir das nicht nennen, wo Genauigkeit des Ausdrucks 
gefordert wird. 

In diesem Zwischenreich der Helligkeitsgrade und ihrer Stufen- 
folge liegen auch die kritischen Grenzen zwischen den vorsprin- 



126 I^ ^^^ Farben als Kunstmittd 

genden und zurückspringenden Elementen, „Entfernen sich 
einzelne Stellen des Musters durch ihren Helligkeitsgrad zu sehr 
von den anderen, indem sie sich vielleicht dem Helligkeitsgrad 
des Grrundes annähern, so geschieht es leicht, daß sie für die Feme 
schlecht wirken" (interpretieren wir Brückes Regel). „Es ist im 
allgemeinen unzweckmäßig, unter den Lokaltonen der verschiedenen 
Teile des Musters größere Helligkeitsdifferenzen auftreten zu lassen, 
als zwischen ihnen und dem Grunde." „Bei Mustern, in denen ein- 
zelne Lokaltöne sich in ihrer Helligkeit zu sehr von den übrigen 
unterscheiden, geschieht es, daß die bezüglichen Partien sich für 
die Feme von dem übrigen Muster trennen"; sie fallen heraus, 
wie man sich in der Künstlersprache drastisch ausdrückt, oder 
schlagen vor, stechen hervor, d. h. vor den anderen Werten in 
ihrem gebundenen Rhythmus. Das Gesetz der Proportionalität ist 
verletzt durch solche Überhöhung der Höhepunkte oder durch ihr 
Gegenteil bei den lochartigen Vertiefungen in der dunklen Grrund- 
ebene. Beruht jener Fehler auf einem zu hoch gegriffenen Trumpf 
des Musters, so beruht dieser auf einem Verstoß gegen den einheit- 
lichen Grund ton. Wir unterscheiden auch hier den Ausdruck 
geflissentlich von dem entsprechenden Terminus in der Farben- 
ökonomie, der Grundfarbe. 

So wie in der Farbenkomposition eine bestimmte Farbe durch 
ihre häufige Wiederholung oder quantitative Ausdehnung das Über- 
gewicht erhält, so kann sie die Bedeutung als Grundfarbe in 
Anspruch nehmen und wird überall, wo kein einfarbiger Grrund in 
größerer Ausdehnung außerhalb des Musters vorhanden ist, als solche . 
vorschlagen. Sie bildet gleichsam die Unterlage für den gesamten 
proportionalen Aufstieg der übrigen Elemente bis zur höchsten 
Dominante imd wirkt in den Grenzen der Subordination als deren 
kontrastierender Widerpart Tritt dagegen keine einzelne Farbe 
als Grundfarbe hervor, so gelangen alle einfach koordinierten 
Farben als gleichwertige Bestandteile des Musters zur Geltung. 
Waltet dieses Verhältnis durchweg, auch unter Verzicht auf eine 
hervortretende Dominante, so kann auch die Ausgleichung des 
Musters mit dem Grunde sich einstellen oder vielmehr die Frage, 
was Grrund, was Muster sei, ganz in Wegfall kommen, weil beide 
noch eins sind. 

Auch in der adtägyptischen Polychromie sollte, wie Alois 
Riegl berichtet, alles eben, ruhend, Grund sein. So lange gab es 
kein Muster im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern nur einen 



Polychromie und Kolorismus 127 

aus lauter farbigen Kompartimenten bestehenden, durch seine 
eigenen Teilkonfigurationen gemusterten Grund. „Was die Farben- 
wahl als solche betrifft, so war sie bei den Altägyptem im allge- 
meinen durch das physische Gesetz der komplementären Ergänzung 
diktiert gewesen, wobei der gewünschte Einheitseindruck durch 
den unmittelbaren Reiz der sinnlichen Wahrnehmung selber erzielt 
wurde" (a. a. O. 177). 

Die Polychromie der klassischen Antike hat auf absolute Klar- 
heit des Musters gesehen und dieses als eine in sich aus engr^er- 
bundenen und zusammenhängenden Teilen bestehende Einheit der 
ebenso einheitlichen Masse des Gnmdes entgegengesetzt Zwischen 
beiden Massen wird ein merkliches Gleichgewicht angestrebt. 

Die Polychromie war, was sie auch nach unserem Begriffe 
bleiben soll, ein System von willkürlich ausgewählten, klar unter- 
scheidbaren Farben, das völlig frei, nur zu künstlerisch berechneter 
Verteilung der Werte und im Einklang mit den Hausgesetzen der 
Ornamentik, d. h. nach den Regeln der Symmetrie, der Proportio- 
nalität und des Rhythmus gehandhabt wird.*) 

Kolorismus ist dagegen etwas ganz anderes. „Koloristisch 
nennen wir**, schreibt Alois Riegl, „eine farbige Gesamtwirkung 
zum Unterschiede von der haptischen (plastischen) und der haptisch- 
op tischen (malerischen)" (a. a. O. S. 38). Da dürfte doch die Unter- 
scheidung der koloristischen von der malerischen Gesamtwirkung, 
die nicht allein auf haptisch-optischer Gesamtwirkung beruhen kann, 
einiges zu wünschen übriglassen. 

Nähere Erläuterung empfangen wir aus dem Satze (S. 156): 
„Eine Kunst mit überwiegend koloristischen Absichten kann über- 
haupt körperlich greifbare Motive nicht wohl brauchen, muß daher 
die tastbjire Körperlichkeit nach Möglichkeit einschränken." Damit 
gewinnen wir die Ausschaltung der tastbaren Eigenschaften der 
Körper und die Anweisung auf den reinen Augenschein. Zu den 
ausschließlich sichtbaren Eigenschaften rechneten wir in erster 
Linie die Farbe, und darnach hätten wir die Übereinstimmung mit 
dem Namen „koloristisch", wie es scheint, auch sicher in der Hand. 
Nicht so bei Riegl. Er braucht den Ausdruck mit Vorliebe und 
fast ausschließlich für Helldunkel Wirkungen, d. h. für Licht- imd 
Schattenrhythmus, unbekümmert um die Farben im eigentlichen 
Sinne. Er sieht in der „Tendenz auf stetigen flimmernden Wechsel 



i) Vgl. Zur Frage nach dem Malerischen, S. 89. 



128 I^- Die Farben als Kunstmittel 

von Hell und Dunkel" eine geradezu koloristische (145), in der 
„wechselseitigen Kompensation von Hell und Dunkel ein koloristi- 
sches Grundmittel" (147). Die vom Spiel der Lichter und Schatten 
erreichte „flimmernde Bewegung verrät die koloristische Absicht" 
(155, 194). Die vollständige Auflösung in kleine helle und dunkle 
Elemente, — positive und negative Kleinzacken beim Akanthus — 
gilt als schlagendes Beispiel für den antiken Kolorismus (156). 
Das bedeutet also die Einschränkimg des Begriffs auf eine einzelne 
Seite der tatsächlichen Erscheinungen, nämlich auf die Helligkeits- 
grade oder gar auf die Schwarzweißwirkungen in höchster Beweg- 
lichkeit Die andere Seite, die wir gerade für die spezifische 
Eigentümlichkeit der Farben weit halten müssen, wird dabei aus 
den Augen verloren. 

Dieser Hauptmangel der Definition wird auch da nicht aus- 
geglichen, wo es sich imi die Unterscheidung des antiken und des 
modernen Kolorismus handelt Der moderne ,4äßt die tonangebende, 
vereinheitlichende Note vom mehr oder minder lichterfiillten Räume 
ausgehen, oder, soweit eine besondere Lichtquelle vorhanden ist, 
läßt er dieselbe durch das Medium des gemeinschaftlichen Raumes 
den übrigen Einzeldingen sich mitteilen: infolgedessen dominiert 
entweder das Licht oder der Schatten, oder aber es stehen Licht 
und Schatten in großen kontrastierenden Massen gegeneinander. 
Der antike Kolorismus dagegen ignoriert den Raum; . , . die Kom- 
positionseinheit ruht im Licht- und Schattenrhythmus, der sich 
naturgemäß noch immer in der Ebene, nicht aber in dem ihm un- 
zugänglichen Räume entfaltet" Sehen wir ab von der letzten, 
unseres Erachtens naturgemäß unstatthaften Einengimg auf die 
Ebene, wo es sich nur um eine Raumschicht, imd zwar auch beim 
Relief um ein über den stofflichen Gestaltungsraum ^) hinausreichen- 
des Raumvolumen handeln kann, so bleibt doch diese Unterschei- 
dung außerordentlich wichtig und für das Verständnis der Spätantike 
von entscheidender Bedeutung. Mit Recht fügt Riegl hinzu: „Es 
begreift sich, daß dieser antike Kolorismus auf uns eine unruhige, 
flackernde Wirkung ausübt" Ob er „die Spätrömer hingegen mit 
der gleichen Empfindung der Harmonie erfüllt hat, die wir Moder- 
nen vom Raumkolorismus empfangen," möchte ich lieber dahin- 
gestellt lassen, da mir zweifelhaft scheint, ob jene Spätrömer gerade 



i) Vgl. Schmarsow, Plastik, Malerei und Reliefkunst. Leipzig, S. Hirzel 1899, 
S. 76 ff. Näheres weiter unten. 



Kolorismus 



129 



die Harmonie als Ziel all ihres spezifischen KunstwoUens erstrebt 
haben. Was sie hier wollten, kann doch gerade in der prickelnden, 
aufreizenden Verwirrung gelegen sein, die niemals Harmonie war 
und ist. Diese optische Wirkung, das ruhelose Flimmern überwiegt 
aber, je flacher das Substrat gehalten ist, je notwendiger also der 
Licht- und Schattenrhythmus über die Bannebene hinausdringt und 
über die Grenzen der Unterlage hinweg in deren Umkreis diffuse 
Bewegung verbreitet 

Was wir unter Kolorismus verstehen, und für alle Künste 
Perioden grundsätzlich verstehen sollten, ist aber nicht die farblose 
Helldunkelwirkung, nicht allein jedwede rhythmische Bewegung 
von Licht und Schatten, sei diese nur auf eine Vordergrundschicht 
des Raumes beschränkt, oder durch die ganze Weite eines Tief- 
raumes hindurchgeführt. Er ist im Gegenteil eine farbige (kolo- 
ristische) Gesamtwirkung im eigentlichen Sinne des Wortes Farbig- 
keit, im Unterschied sowohl von Clair-obscur wie von monochromer 
Behandlung sonst Es ist Einheitlichkeit in der Vielheit der Farben. 
Somit hätten wir den Kolorismus auf der anderen Seite zu unter- 
scheiden von der Polychromie. Diese letztere war, wie wir uns 
gesagt haben, eine willkürliche Veranstaltung, also ein System von 
Farben, das dem menschlichen Bedürfnis nach Ordnung, Regel- 
mäßigkeit, Übersichtlichkeit bei aller Abwechslimg der Reize Ge- 
nüge leistet Es entspricht dem psychischen Verfahren der Zu- 
sammenfassung von Empfindungen zu Vorstellungen, von Komplexen 
unter einer Einheit. Die Farbenreihe der Polychromie besteht aus 
möglichst unterscheidbaren, ja kontrastierenden Elementen, und ihre 
Farbenwerte sind unabhängig von der Naturfarbe der Dinge, un- 
bekümmert um die tastbaren Eigenschaften der Körper, von ihnen 
ablösbare und auf andere übertragbare Pigmente. Der Kolorismus 
dsigegen entsteht gerade im Einverständnis mit den natürlichen 
Körperfarben und Lokalfarben, mit ihrem stofflichen Wesen imd 
und ihrem genetischen Zusanmienhang. Während in der Polychromie 
die Einzelfarben sich scharf voneinander sondern und klar unter- 
scheiden, gehen sie im Kolorismus ineinander über; ganze Reihen 
von Nuancen einer und derselben Farbe folgen hier oder konzen- 
trieren sich auf einen Höhepunkt Der Kolorismus verbindet sich 
mit den Mächten des Lichtes und der Schatten, die im Räume 
walten. Er sucht das höhere Naturgesetz, das über sie alle hin- 
greift, und schafft im Einklang mit diesem; er vervollkommnet sich 
im Fortschritt imseres Naturverständnisses und mit der Ausbreitung 

Schmarsow, Kunstwissenschaft. O 



I^O I^- ^ic Farben als Kunsttnittel 

des Naturgefiihls. Damit aber rühren wir auch an seine Grenzen. 
Mag er sich in seinen eigenen Schöpfungen auch zur farbigen Welt 
zu erweitem streben, so erweist sich der Makrokosmos doch letztlich 
als ein Schauspiel für einen unendlichen Geist, dessen Harmonie 
wir Menschen nur zu ahnen und in Mikrokosmen für imseren Ge- 
sichtskreis wiederzugeben vermögen. Kolorismus ist aber dem- 
gemäß kein System, sondern vielmehr einem Organismus vergleich- 
bar, — jede vollendete Leistung ein Individuiun, in dem sich das 
Naturgesetz zugleich in seiner Mannigfaltigkeit und in seiner Einheit 
bewährt, wie in einem konkreten Fall. Jedes Gemälde ist, als far- 
bige Gesamtwirkung betrachtet, gleichsam ein individuelles Lebe- 
wesen, das sein Bildungsgesetz in sich selber trägt. Deshsdb kann 
die Definition des Kolorismus auch auf dem Gebiet der Malerei 
erst ihren Abschluß finden;*) denn dort erst verbindet sich der 
Farbenrhythmus mit dem Licht- und Schattenrhythmus zu jener Be- 
lebung einer künstlerisch durchgegliederten Tiefenschau, zwischen 
nah imd fem, d. h. zu einer die ganze Weite des Horizonts er- 
füllenden Dynamik, die sich frei und rein im Reiche des Sichtbaren 
allein vollzieht. 

Betrachten wir statt dessen nur ein lehrreiches Beispiel, wie 
der Kolorismus sich in der Natur selbst der Polychromie entwindet. 
Auf den Flügeln der Schmetterlinge, wie auf dem Gefieder der 
Vögel, also aus dem Organismus hervorgegangen, erkennen wir 
den durchgeführten Farbenrhythmus. „In vollkommener Bewährung 
dessen, was wir den Grundton nennen, ist ihre Malerei von vorn- 
herein der höchsten Wirkung sicher. Sie beginnt meistens unter 
mannigfaltigster Zusammenstimmung der wiederkehrenden Akkorde 
mit einem Vorspiel in gebrochenen Tönen, aus dem mit leise da- 
zwischengleitenden Anklängen endlich die reine Farbe des Regen- 
bogens, gewöhnlich in Gestalt des sogenannten Pfauenauges, doch 
nicht ohne daß in dessen unmittelbarer Umgebung die Folie in 
wirksamster Weise wiederholt wäre, als Preis und Ziel des Ganzen 



i) Sowie Koloristen sich ein System ausbilden, das für alle Aufgaben gelten soll» 
oder alle ihre malerischen Einzelschöpfungen durchsetzt, so kommt der Rückfall in 
Polychromie zum Vorschein. Der systematische Kolorismus geht über Naturfarbigkeit 
als seine Unterlage und Voraussetzung willkürlich und abstrahierend hinweg, zu 
konventioneller oder subjektiver Farbenharmonie. Bei Rubens z. B. können wir 
schon von einer Polychromie jenseits der Naturfarbigkeit reden. Andere absichtliche 
Verschiebungen der beiden Register begegnen uns in der Dekorationsmalerei (vgl. 
Beiträge zur Ästhetik der bildenden Künste I, S. 107 ff., 87 ff.). 



Kolorismus 



131 



hervortritt. Im Gegensatz zur bloßen Farbenskala, die erst durch 
künstlerische Verwendung ihren Wert erweisen mag, haben wir 
ein lebendig bewegtes Schauspiel mit Anfang, Entfaltung und 
Abschluß. In dem bedeutungsvollen Vorgange dieses Farben- 
rhjrthmus bewegen sich die Farben als Potenzen des Lichtes durch 
ähnliche Wandlungen wie die Tone eines Musikstückes zur Har- 
monie, ganz so wie unser Dasein und Leben sich zum vollen Be- 
wußtsein hindurchringt, aus dessen eigener Natur heraus wir sowohl 
Melodie wie Farbenstimmung zu verstehen imd zu würdigen ver- 
mögen" (A. v. Eye). 



9* 



X. 

KLEroUNG — KUNSTHAND WERK 

EIGENE BEWEGUNG UND FREMDES MATERIAL 
ZWECKMÄSSIGKEIT UND GEBRAUCHSZWECK 

Schmetterlingsflügel und Vogelgefieder sind wie ein farbiges 
Kleid, das die Natur ihren Kindern mit auf die Welt gegeben, und 
mögen mit ihrer schillernden Pracht den Neid des Menschen 
erwecken. Im heißen Sommer wünscht er sich wohl das glatte 
Schuppenkleid der Fische mit ihren Flossen, im Winter steht sein 
Sinn nach dem zottigen Fell des Bären oder dem wolligen Vlies 
der Schafe. Und diese müssen es hergeben, wenn die Kälte herein- 
bricht. Der Mensch tritt ja nackt ins Leben. Diese Tatsache 
wiederholt sich bei jeder Geburt. Sie wird auch wohl bei der 
Entstehung unseres ganzen Geschlechtes vorgelegen haben, wie 
inmier wir diesen Vorgang für unser Verständnis zurechtlegen 
mögen. Aber die Anlage des Menschen läßt ihm keine Ruhe, 
diese Tatsache als Gegebenheit hinzunehmen. Dem lebendigen 
Drange der Betätigung und des Ausdrucks folgend, legt er alsbald 
Hand an sich selbst und glaubt sich erst wirklich gewonnen zu 
haben, wenn er sich selber wiedergegeben und ausgestattet hat, 
wie er genommen sein will. 

Dieser Trieb schließt den Grrund und das Ziel aller Bildung 
in sich; in ihm liegt das ganze Geheimnis der menschlichen Kultur. 
Mag er in seinen ersten Regungen sich auch für unsere Begriffe 
noch so roh und befremdlich äußern. Die Ringe im Ohr oder in 
der Nase sind, wie der Strick um die Lenden, ebensogut solche 
Umgestaltungen, wie unsere Kronen oder Ordenskreuze. Es sind 
für den Wilden seine Erfindungen, seine Taten, mit denen er vor- 
zustellen glaubt, was er bedeuten mochte, — freilich sind es auch 
Verirrungen und Fehlgeburten der schöpferischen Phantasie, die 
immer dort auftreten, wo es eigentlich nichts umzuformen gibt, am 
eigenen Leibe, In Ländern, wo das Bedürfnis keine Kleidung er- 



Mimik — Ornamentik — Kleidung i^^ 

fordert, wird ja durch Tätowieren ein Äußerstes begangen, und 
wird bewundert, weil es den Trieb nach Ausdruck und Anerkennung 
des eigenen Wertes befriedigt. Nirgend leuchtet so unmittelbar 
ein, daß alle Ornamentik nur bleibender Niederschlag ursprünglich 
mimischer Ausdrucksbewegiing ist, die den wertvollen Gegenstand 
umspielt imd schließlich antastet, wie hier in dem geduldigen 
Linienziehen des Gefühls auf der eigenen Haut Welchen Miß- 
handltmgen der Korper bei solcher Liebkosung unterworfen 
werden kann, lehrt aber noch erstaunlicher die Geschichte der 
Tracht, die Metamorphose der Kleidungsstücke^ selbst bei den 
Kulturvolkern Europas. Die innere Nötigung jedes Triebes, sich 
selbst zu steigern und zu überbieten, muß immer aufs neue angerufen 
werden, um diese Verwandlungen der menschlichen Gestalt auf 
dem Theater der Weltgeschichte einigermaßen zu begreifen, ohne 
das ganze Schauspiel nur wie eine Affenkomödie zu bewerten. Es 
gehört eine beträchtliche Dosis historischer Duldsamkeit dazu, diese 
Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, in die er hinein- 
geboren wird, noch als eine künstlerische anzuerkennen. Und doch 
bewährt sich kaum irgendwo überzeugender als hier das Zusammen- 
spiel von Mimik und Ornamentik beim Zustandekommen der Klei- 
dung imd Tracht, des Anstands imd Benehmens, der Lebensart und 
Sitte. Der Wirkungskreis der beiden uranfänglichen Betätigungs- 
weisen liegt eben in der Wirklichkeit selbst, im ganzen Bereich 
des Lebens. Und eine ausführliche Bearbeitung dieser Gebiete 
würde einen lunfassenden Bestandteil der Kulturgeschichte zu einem 
Beitrag der Kunstgeschichte machen. Solange solche Umarbeitung 
in ihrem Sinne nicht vorliegt, kann die Kunstwissenschaft jene Vor- 
bereitungen des künstlerischen Schaffens auch immer nur als Gegen- 
stand einer Hilfswissenschaft betrachten. 

Wir würden uns natürlich gern prinzipiell einverstanden er- 
klären, wenn Alois Riegl ausspricht: „die Entwickelungsgesetze 
der Tracht sind von dem gleichen allbeherrschenden Kunstwollen 
diktiert, wie diejenigen jeder anderen kunstschaffenden Tätigkeit 
des Menschen." Nur möchten wir auch da wohl an die historische 
Bedingtheit des Kimstwollens erinnern, die Gottfried Semper so 
beherzigenswert in der Analyse des Kunstwerdens betont hat. Er 
stellt sich als Aufgabe nicht „das Hervorbringen einer beliebigen 
Kunstform zu zeigen, sondern deren Entstehen." Seiner Stillehre 
ist das Kunstwerk „ein Ergebnis aller bei seinem Werden tätigen 
Momente." Und wenn Semper, vielleicht in Überschätzimg des 



17^ X. Kleidung — Kunsthandwerk 

Ererbten, der überlieferten „Typen und Symbole, die sich im Gange 
der K\ilturgeschichte auf das mannigfaltigste umbildeten", gemeint 
hat: „nichts ist dabei reine Willkür, sondern alles durch Umstände 
imd Verhältnisse bedungen", so sollte uns Historikern wenigstens 
die Warnung darin einleuchten, dem „allbeherrschenden Kunst- 
wollen" nicht absolute Machtvollkommenheit gerade da zu vindi- 
zieren, wo es in jeder Generation sich so mit dem Vorgefundenen 
und Gewohnheitsmäßigen abzufinden hat, wie bei diesem Eingreifen 
in die Wirklichkeit, in das tägliche Leben selber. Ornamentik ist 
noch keine reine Kunst, weil sie die verherrlichten Werte noch 
nicht selber hervorbringt, haben wir uns oben gesagt. Die Aus- 
drucksbewegung und ihr Niederschlag in Kleidung, Benehmen und 
Lebensart bringen freilich schon selber etwas hervor, sind aber in 
weitem Umfang auch noch omamentale Begleitung anzuerkennender 
Werte, und die flüchtige Natur der Gebärde, wie der Verkleidung, 
reißt sie selber lange mit fort in dem allgemeinen Strom des Ge- 
schehens. Ihre Gestaltungen erheben sich selten zur Freiheit des 
vollen, für sich selber verantwortlichen Kunstwerks und gehören 
deshalb vielfach in das Übergangsgebiet werdender Kunst, gerade 
so wie die Gebilde des Kunstgewerbes für den Gebrauchszweck 
der Arbeit und des Tagewerks. 

Eine andere Schwierigkeit liegt in dem Beweismaterial zur 
Feststellimg des KunstwoUens auf diesem Gebiete. Bei allen 
älteren Perioden sind wir auf die Kunstdenkmäler angewiesen und 
schließen aus diesen auf die Tracht In ihnen aber erscheint die 
Kleidung ja bereits abermals überarbeitet, und zwar nun im aus- 
gesprochen künstlerischen Sinne, noch den Bedingungen der 
Darstellung, den Forderungen des Stiles angepaßt Das Urteil 
über sie kann also nicht für das Urbild, die wirkliche Tracht, ohne 
weiteres gelten. Die freie künstlerisch behandelte Gewandung ist 
aber etwas ganz anderes, oder sollte wenigstens nach den reinen 
Begriffen idealer Kunst etwas ganz anderes sein, als die Tracht, 
das Kostüm. Die Geschichte der „Draperie" hängt mit der Ge- 
schichte der menschlichen Gestalt in plastischer tmd malerischer 
Darstellung aufs engste zusammen, und der Wandel des Kunst- 
woUens, der sich in ihr ausspricht, kann nur dort verfolgt werden. 

Auf jeden Fall gilt jedoch auch für die Tracht dasselbe wie 
bei den Kunstwerken als Urkunden des KunstwoUens. Beobach- 
tungen über Einzelheiten, über diesen oder jenen BestandteU, unter 
diesem oder jenem Gesichtspunkt reichen nicht aus: die Frage 



Gewandung und Tracht I7c 

geht auf das Ganze; die methodische Prüfung muß erschöpfend 
durchgeführt werden. Dies Ganze stellt sich indes in den Anfangs- 
perioden allein als ein verhältnismäßig Einfaches dar, das wir un- 
mittelbar verstehen könnten. Im Lauf der Zeiten wird es ein 
äußerst Kompliziertes und endlich ein so Variables, daß wir mehr 
Rätsel als Aufklärung damit gewinnen, imd daß der vorausgesetzte 
Parallelismus zwischen Tracht und Kunst in manchen Streit über 
die Priorität der einen oder der anderen auslaufen muß. Unter 
diesem Übelstand leiden z, B. auch WölflFlins Versuche, die Klei- 
dung und das Auftreten der Menschen zur genetischen Erklärung 
des Barocks heranzuziehen,*) von dem oberflächlichen Geschwätz 
der kulturgeschichtlichen Ausblicke anderer gar nicht zu reden. 

Gehen wir ausschließlich den ernstgemeinten Bemerkungen 
Riegls über das Altertum nach, so sind schon die Zweifel stärker 
als der Glaube. „Das älteste streng haptische Kunstwollen", meint 
er, ,yfand offenbar seine größte Befriedigung bei Vermeidung aller 
körperlichen Hülle, die ja nur eine Verunklärung der tastbaren 
Körperlichkeit mit sich bringen konnte." Das ist eine Voraus- 
setzung, die prinzipiell sehr erfreulich wäre, wenn nur nicht An- 
thropologen und Ethnographen dagegen Einspruch erhüben. „Die- 
selbe Auffassung klingt noch deutlich bei den Ägyptern an", lesen 
wir weiter; „soweit dieses Volk eine Kleidertracht angenommen 
hat, blieb dieselbe allezeit entweder tastbar faltenlos, oder wo 
Falten vorkommen, wurden sie möglichst seicht, mehr tastbar 
als sichtbar, gemacht" Da wäre wohl Gelegenheit gewesen, 
die Vorliebe für die Ebene bei den Ägyptern als Erklärung dieser 
Gewandflächen einzuführen und damit den Gegensatz zwischen 
Körperrundung und Kleidungsstück zu erklären. Der kurze Be- 
richt (S. 159) geht aber darauf nicht ein, sondern eilt zu den 
Griechen weiter. „Wie sie das Trachtenproblem gelöst haben, ist 
bis zum heutigen Tage einer ihrer größten Ruhmestitel geblieben. 
Das Grundprinzip ihres Kunstwollens — klare Trenmmg und doch 
harmonisch-notwendige Verbindung der Teile untereinander — haben 
sie an der Tracht in der Weise verwirklicht, daß sie die Kleidung 
sich vollkommen frei und selbständig vom Körper loslösen und 
die Glieder dennoch in unmittelbarer Klarheit begleiten ließen. 
Das Mittel hierzu war die gefaltete Draperie; die Kleidung wurde 
dem Körper frei übergeworfen, nicht enge angezogen und auch 



j) Renaissance und Barock. München 1888. 



136 X. Kleidung — Kunsthandwerk 

nicht festgebunden . . . Ein Hinausgehen über dieses Stadium der 
klassisch-antiken Tracht bedeutet schon der gegürtete Chiton, 
Noch bauscht sich das Gewand in freiem Wallen um die Glieder 
herum, aber wenigstens an einer Stelle erscheint es bereits dem 
Körper darunter untergeordnet und dienstbar gemacht . . . Allmäh- 
lich wuchs aber dsis Streben nach Festlegung des Gewandes usw." 
Wieviel erklärt uns diese Reihe von Angaben fiir das Kunstwollen? 
Sie führt uns zur Fibula, zum Gürtel, zur Schnalle, doch nicht zimi 
Urquell all dieser Erfindungen, dem Lebensgefühl und der Selbst- 
darstellung der Menschen, die sie getragen. Wenn wir uns beim 
Ägypter sagen dürften, das Prinzip der ganzen Auffcissung beruhe 
darauf, daß der organische Körper unter das Gesetz der kristalli- 
nischen Regelmäßigkeit gestellt wurde, so hätten wir wenigstens 
einen Ausgangspimkt, den Sieg der menschenwürdigen Freiheit bei 
den Hellenen zu begfreifen, auch imter dem Zuwachs stofflicher 
Hülle über den ganzen Leib. Aber eine solche Theorie würde 
ims mitten hineinfuhren in weitere Zusammenhänge, von denen an 
dieser Stelle noch nicht vorgreifend gehandelt werden kann. Die 
Klleidung bildet nicht nur eine Erweiterung des Leibes, sondern 
auch einen Ausdruck des Geistes. Sie nimmt vom Charakter ihres 
Trägers an und entspricht der höheren Würde, die er selbst sich 
zuschreibt Sie geht als eigene Schöpfung über die zufallig ge- 
gebene, bloß natürliche Beschaffenheit unseres Körpers hinaus, und 
verkündet den Stand der Bildung, wie die Ansprüche des erwor- 
benen Bewußtseins. Bis dahin gibt es noch manche Übergangsstufe 
zu erklimmen. 



Der Schmuck, den wir zunächst nur als Zeichen unserer An- 
erkennung von außen anheften, erhält allmählich nähere Beziehung 
zum Geschmückten. Dau'aus erwächst ihm sinnvolle Bedeutung, 
und diese verleiht wieder jenem einen bestimmten Rang. Diesen 
Vorgang können wir nirgends so überzeugend beobachten, wie an 
der Hand des Kunstgewerbes, des gebrauchszwecklichen Schaffens, 
und seines Zusammenhanges mit Mimik und Ornamentik durchhin. 

Die Werkzeuge, die der Mensch sich erfindet oder auswählt, 
sind zunächst nichts anderes als Fortsetzungen oder Besonderungen 
seiner eigenen natürlichen Organe. Und die wichtigste Vermittlerin 
ist dabei seine Hand, mit der er sie ergreift und handhabt, wie 
wir treffend sagen. Schon diese Hand selber beschäftigt auch im 



Einfühlung I^y 

primitiven Zustand der Lebensweise das scharfblickende, überall 
beobachtende Auge durch ihre Gliederung und ihren Bau bei jeder 
Gelegenheit. Sie wird zu mannigfaltigen Leistungen geschult und 
unter deren Einfluß entwickelt; sie verwandelt im Gebrauch der 
Finger in jedem Augenblick ihre Form und ihr Gebahren. Sowie 
der leiseste Anlauf zu einer zugreifenden oder sich ausstreckenden 
Bewegung genommen wird, so regt sich auch bei ihrem Anblick 
schon die Körperempfindung, die mit solcher Haltung, solcher 
Streckung zusammenhängt^ und wir übertragen den Willensakt in 
den Zusammenhang, der so sichtbar die Teile verkettet, von der 
Hand weiter in den Arm, vom Arm durchs Schultergelenk in den 
Riunpf imd hinein an den Ursprung der zielstrebigen Muskel- 
kontraktion, Wir vergleichen mit diesem Werkzeug aller Werk- 
zeuge unsere minder geschickten Füße. Wie manche wichtige Rolle 
spielen sie durch ihren festeren Zusammenhalt, im Verein vollends 
mit den Beinen bis an die Hüften hinauf 1 Der Vollzug bestimmter 
Arbeitsleistungen und Klraftproben, die gerade im Gelingen die 
größte Befnedig^ung gewähren, kann nicht umhin, die Vorstellung 
des zweckentsprechenden Verlaufs imd des wohlberechneten Inein- 
anderg^eifens edler Glieder auszubilden, und niemals taucht die 
einmal erworbene wieder auf, ohne die Gefühlsnote der Spannung 
und Lösung mit sich emporzufiihren. Ja, der Impuls zur Wieder- 
holung huscht gleichsam vorüber wie eine Abbreviatur des ent- 
scheidenden Verlaufes. Ist es nicht, als enthielte er selbst wie im 
Keime das allerkleinste Abbild der ganzen Entfaltung? 

Unmittelbare Weiterwirkung des eigenen Gefühls über die tat- 
sächlichen Grenzen unseres Körpers erleben wir alle Tage, mögen 
wir mit dem Fuß den Steigbügel treten oder das Roß am Zügel 
lenken, indem imsere Finger im Lederriemen, den sie fassen, den 
Kontakt bis ans Gebiß des Tieres erstrecken, so daß jede kleine 
Zuckung dort am anderen Ende gespürt wird 

So versteht sich ganz von selbst, daß alle Geräte, die wir her- 
stellen, sich nicht allein den Gliedmaßen und Körperteilen, für die 
sie gedacht sind, anbequemen müssen, sondern auch daß sie die 
andere viel anerkennenswertere Eigenschaft ausbilden, in ihrer Ge- 
stalt schon ihre Bestimmung zu verkünden. Die Ausdrucksform 
der menschlichen Bewegung wird auf diesen Gegenstand übertragen, 
unwillkürlich in seine ganze Ausdehnung fortgepflanzt und in der 
Herstellungsarbeit immer fühlbarer durchgeführt Im Gebrauche 
selber wirkt er nicht anders als ein Glied von ims selber, und die 



Ijg X. Kleidung — Kunsthandwerk 

Vorstellung der Tätigkeit pri^ bei jeder neuen Herstellimg des 
Werkzeuges ihm schärfer den Charakter dieser Verwendung auf, 
solange es nur vom eigenen Herrn für diesen besonderen Zweck 
gearbeitet wird. Wie die Hand und ihr Arm, der Fuß und das 
Bein daran, so spricht auch das Instrument, nach deren Ebenbild 
wie ein Hebelarm geformt, oder ihrem Baue als Fortsetzung an- 
gepaßt, den Funktionswert aus, den wir in innerer Einfühlung in 
diesen Gebrauch auch unmittelbar verstehen. Der Anschluß an die 
Korperbewegung des Menschen und die Arbeitsleistung seiner 
Organe geben dem so erwachsenen Gegenstand eine bleibende 
Gebärde, daß manche von ihnen uns auch im Süllstehen oder Da^- 
liegen schon anmuten wie ein abgelöstes Glied, das nur zeitweilig 
außer Dienst bei Seite gestellt worden. Wir erkennen an jenem 
toten Ding da die Verwandtschaft zu dem Mechanismus des orga- 
nischen Geschöpfes. Mag es aus Knochen bestehen wie unser 
Gebein, oder aus Holz wie die Arme des Eichbaums, ja selbst aus 
kaltem Metall, — es entsteht der Eindruck, als sei der Dienst ihm 
nicht allein von außen aufgenötigt, sondern von innen abgewonnen, 
und erfolge demgemäß bereitwillig wie ein Ausfluß der eigenen 
Anlage, wie eine selbstverständliche Betätigung seines Wesens. 
Solange er ungebraucht, nur seines lebendigen Gefährten wartet, 
unterscheiden wir den Gegenstand vom eigenen Leibe, gestehen 
ihm aber einen Anteil von Selbständigkeit zu. Als sprechendes 
Beispiel liegt dort am Boden neben dem schlafenden Jäger sein 
Bogen: seine geschwungene Form verrät die Federkraft, die in ihm 
schlimimert, und die schlaff daran hängende Sehne zeigt die Lösung 
der Glieder wie bei seinem Herrn. Die Armbrust vereinigt mit 
dem Bogen den straff gerichteten Körperteil des Trägers und kann 
auch bei ungespannter Sehne nicht mehr so hilflos und abhängig 
erscheinen, da der Arm sich nicht lässig zu beugen weiß wie der 
unserige. Die Sense wieder nimmt sich aus wie gebogen oder ge- 
knickt, als hätte sie ein Gelenk zwischen beiden Gliedern, deren 
eines sich wie ein verlängerter Arm erstreckt, während der andere 
herumgreift wie eine verlängerte Hand. Im Vollzuge der Leistung, 
deren sie fähig ist, scheint sie und der Mäher zusammengewachsen, 
wie aus einem Guß. Bestimmt der Schnitter die Sense oder die 
Sense den Schnitter? Es ist ein lebendiger Vorgang der Organisa- 
tion, den die Menschenhand, ja imser ganzer Menschenleib vollzieht, 
indem sie das bildsame Material mit ihrem Wesen durchdringen. 
Dieser Übertragimg der Ausdrucksbewegfung imd des Funktions- 



Eigene Bewegung und fremdes Material i^g 

wertes leistet nun aber das verschiedenartige Material, das wir be- 
nutzen, mehr oder minder Widerstand. In seiner Verwandtschaft 
mit unserem Wesen, die ims leicht vertraut wird, oder seiner Fremd- 
heit, die wir zunächst gar nicht verstehen, lernen wir eben den 
Charakter der vorgefundenen Naturstoffe überhaupt unterscheiden. 
Die Aste des Baumes sind wie die Knochen des Tieres nichts 
Unverständliches, Fremdartiges. Das Holz wächst wie unsere eige- 
nen Glieder, streckt sich oder krümmt sich wie sie. Deshalb ge- 
rade wählen wir die abgebrochenen Glieder der Eiche, wo wir einen 
Haken als härteren Vertreter unserer Finger oder unseres Armes 
brauchen können, um ihm die Leistung dauernd zu übertragen, die 
unsere natürlichen Werkzeuge nur vorübergehend erfüllen mögen. 
Ihn setzen wir fest an seinen Ort, aber an unserer Stelle, während 
wir selbst im nächsten Augenblick schon anderswo eingreifen oder 
die mannigfaltigsten Fähigkeiten anderer Art erproben. Die Hal- 
tung des Hakens ist nur eine festgewordene Beugung, die unsere 
Gliedmaßen in schneller Folge mit anderen Stellungen abwechseln 
lassen. Aber was uns schmerzen würde auf die Dauer, leistet er willig 
und ohne Murren. Diese Bereitschaft im Entgegenkommen ist seine 
Gebärde, und beim Aufhängen eines Kleides daran setzt unser vor- 
schauendes Auge die erstarrte wieder in Fluß. Die Wiederholung 
des Erlebnisses macht den stummen Diener zum vertrauten Genossen 
unserer Behausung, dessen andersartigen Vorzug wir anerkennen. 

Das alles geschieht beim Holze wie von selbst, nur weil es 
organisch gewachsen ist und in diesem Stück sich unseren Glieder- 
formen nähert. Auch der regelmäßig behauene Stamm, der diese 
Ähnlichkeit verleugnet, weil man ihm die Rinde abgeschält und 
seiner Rundung die ebenflächige kristallinische Form aufgenötigt 
hat, befremdet uns nur aus der Feme imd als Ganzes in dieser un- 
gewohnten Erscheinung. Kommen wir ihm näher, entdecken wir 
die Spuren des Wachstums in dem Zug seiner Fasern oder Ringe, 
in der verschiedenen Färbung der Teile oder den dimklen Ansatz- 
stellen, wo ein Zweig entsprungen war. Er mutet uns bald lebendig 
an und warm, je mehr wir aus diesen Niederschlägen seine Ge- 
schichte lesen, die von Recken und Strecken, Leben imd Weben 
erzählt wie unsere Erinnerung an gestern und unsere Absichten 
für morgen. 

Ganz anders das Metall. Es ist kalt und hart bei jeder Be- 
rührung; wir fühlen uns abgestoßen wie vom Gestein. Aber es 
hat zwei Vorzüge, die es, sowie wir sie näher kennen lernen, sofort 



i^O ^- Kleidung — Kunsthandwerk 

angelegentlichst empfehlen und keine Mühe scheuen heißen, diese 
Eigenschaften frei zu machen für unseren Gebrauch, und den frem- 
den Schatz der Erde in unseren Dienst zu nehmen: die Biegsamkeit 
und die Zähigkeit zugleich. Was wir vom Holze nur brauchen 
können, wenn wir es bereits passend vorfinden als starres Gewächs, 
das können wir aus dem dünneren Metall herstellen, genau wie wir 
die Beugung haben wollen. Und wo das Holz brechen würde und 
zersplittern, da hält das Metall beharrlich stand, wenn es nur dick 
genug ist, um, wo es darauf ankommt, gerade zu bleiben, sich nicht 
zu biegen und zu krümmen. Auch da sind es im Grunde die ver- 
wandten Eigenschaften, die wir benutzen, um das Material mit 
unserem Willen zu durchdringen, und die fremden, die unsere 
eigene Unzulänglichkeit ergänzen, um eine dauerhafte Wirkung zu 
erzielen. 

Die sachkundige Beschreibung eines Messers aus der Bronzezeit 
(bei A. V. Eye) führt uns imwillkürlich in diesen Hergang ein: „Die 
Schneide ist derart gebogen, daß sie gerade da, wo Zug imd Druck 
der Hand am wirksamsten sind, am tiefsten eingreift und mit ungleich 
größerer Wirkung verfährt als imsere Messer mit gerader Schneide, 
an denen der Zug nur durch stets vermehrten Druck wirksam er- 
halten wird, wenn sie auch günstigeres Material vor jenem voraus 
haben. Denn nach dem Gesetze der Hebelkraft wird dieser Druck 
um so schwächer, je mehr er gegen die Spitze hin vorschreitet 
Den Rücken des alten Messers bildet ein verstärkender Grat, der 
in einfacher Profilierung nach der Seite hin übersteht, die beim 
Glätten eines Gegenstandes oben aufliegt, so daß er beim Schneiden 
nicht hindert. Dieser Grat beginnt beim Griff, wo ausschließlich 
der Druck wirkt, mit der größten Stärke, senkt sich, den Schwimg 
der Schneide begleitend, nach der Spitze zu und wird schwächer, 
weil in dem Maße, wie der Druck aus der eben angegebenen Ur- 
sache nachläßt zu wirken, der sich gleichbleibende Zug eintritt und 
die Verstärkung des oberen Messerrandes unnötig macht. Die 
Spitze biegt sich der Senkung des Rückens entgegenkommend 
nach oben, um den Schnitt sanft verlaufen zu lassen." — Das Ganze 
ist also, man möchte sagen: mit instinktiver Berechnung so nach- 
drücklich der Funktion zugebildet, daß es in der Tat scheint, als 
wolle es fast aus eigenem Antriebe zur Erfüllung seines Amtes 
schreiten. Es ist der Zug der Bewegungslinie, die so lebhaft zu 
uns spricht, wie eine Gebärde der Menschenhand. Und durch sie 
begreifen wir unmittelbar, was sie will, die Schneide da, die von 



Gottfried Semper und seine Ausleger i^i 

diesem Willen ganz durchdrungen scheint Wenn sie völlig ohne 
Rest in diesem Vollzug ihres Wesens aufgeht, taucht sie doch 
immer unverändert wieder daraus hervor, und nur der zweite Teil, 
der GrifF, und sein Zusammenhang mit dem Rückgfrat oben entlang, 
bezeugt die dauernde Beziehung zur Hand und die wiederkehrende 
Abhängigkeit vom Willen des Menschen. 

Damach sind wir vorbereitet, die entscheidende Frage ins Auge 
zu fassen, wie dieses erste Gebiet des schöpferischen Gestaltens 
prinzipiell zu beurteilen sei. Gottfried Semper erkennt in jedem 
technischen Produkt ein Resultat des Zweckes und der Materie. 
Das Gesamtbereich des Kunstgewerbes oder Kunsthandwerks, d. h. 
des gebrauchszwecklichen Schaffens durch Menschenhand, sei dem- 
nach unter zwei Gesichtspunkte zu stellen: 

„erstens das Werk als Resultat des materiellen Dienstes 
oder Gebrauches, der bezweckt wird, sei dieser nun tatsächlich 
oder nur supponiert und in höherer (symbolischer) Auffassung 
genommen; 

„zweitens das Werk als Resultat des Stoffes, der bei der 
Produktion benutzt wird, sowie der Werkzeuge und Proze- 
duren, die dabei in Anwendimg kommen.'' 

Schon aus diesem Wortlaut geht hervor, daß die Auslegung 
unserer Stelle, der zufolge das Kunstwerk nichts anderes als ein 
mechanisches Produkt aus Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik 
sein soll, eine der unglaublichsten Entstellungen und stumpfsinnig- 
sten Verdrehungen bedeutet, die nur bei gänzlichem Mangel an 
jeder begrifflichen Schulung sich so weit imd so lange hat einbürgern 
können, wie Alois Riegl öffentlich bezeugt Was ein „mecha- 
nisches Produkt" aus Gebrauchszweck und Rohstoff überhaupt 
sein soll, ist ganz unerfindlich; denn der Gebrauchszweck oder 
sagen wir gar mit Semper: der materielle Dienst ist doch etwas 
Geistiges, die Vorstellung der künftigen Brauchbarkeit imd des 
beabsichtigten Dienstes, die dem schöpferischen Subjekt vorschwebt, 
ist aber nichts Körperliches, das mit dem Rohstoff zusammenge- 
bracht ein mechanisches Produkt ergeben könnte. Ebenso ist die 
Technik kein physischer Körper, der mit dem Rohstoff in einen 
Topf geworfen, ein solches Produkt ergeben könnte, rein mecha- 
nisch, nicht einmal chemisch, wie diese ,JCunstmaterialisten" nach- 
beten, ohne sich überhaupt etwas dabei zu denken. In solchen 
Köpfen verschmelzen, scheint es, auch „Werkzeuge und Prozeduren", 
die bei der Technik in Anwendung kommen, ohne weiteres imter 



\ 



142 X. Kleidung — Kunsthandwerk 

dem Bann des einen Zauberwortes ,JProdukt" mit dem Stoffe, der 
Materie, in deren Brodem allein ihnen wohl wird. Gottfried Semper 
braucht den Ausdruck gerade, um die eigentümliche Verquickung 
von geistigen imd leiblichen, psychischen und physischen Faktoren 
zu bezeichnen, und braucht an dieser Stelle sogar den anderen 
Ausdruck „Resultat", d. h. Ergebnis und zwar, wie er selbst aus- 
drücklich (S. Vni) betont, „ein Ergebnis aller bei seinem Werden 
tätigen Momente". Und der Zusatz „mechanisch" kommt bei 
Semper überhaupt nicht vor; er enthält eine wahre Blasphemie 
gegen alle Anschauungen des tiefen Denkers von Kimst und Tech- 
nik überhaupt. 

„Die Stillehre faßt das Schone einheitlich", erklärt er, „als 
Produkt oder Resultat, nicht als Summe oder Reihe. Sie sucht 
die Bestandteile der Form, die nicht selbst Form sind, sondern 
Idee, Kraft, Stoff und Mittel, gleichsam die Vorbestandteile und 
Gnmdbedingungen der Form." (a. a. O. Vm.) 

Was ist darnach der „materielle Dienst oder Gebrauch", der 
in erster Linie das Resultat bestimmen soll? Er ist doch selbst- 
verständlich weder Stoff, noch Mittel, noch Klraft, sondern die Idee, 
zumal wenn wir nur an die Bestandteile denken sollen, die nicht 
selbst Form sind. Hier aber, wo nicht wie in jenem Satz von 
,,Form" als Gegenstand der ganzen Aussage die Rede ist, sondern 
von dem „Werk", dem technischen Produkt, dem Gebilde der tech- 
nischen Künste als Ganzem, an dem wir vor allen übrigen Bestand- 
teilen und Bedingungen die Form selber gewahren, da kann es sich 
nur um eine innige Verbindimg der Idee mit der Form handeln, 
nämlich im Zweck, den wir abstrakt vorgestellt als Idee oder 
Zweckgedanken, konkret wahrnehmbar als materiellen Dienst oder 
Gebrauch bezeichnen können, d. h. als Zweckform des Gebildes. 
Dieser Endzweck des Ganzen tritt uns verkörpert in der Form ent- 
gegen. Und diese gewollte Vorstellung beherrscht und durchdringt 
alle übrigen beim Werden des Gebildes tätigen Momente. Des 
Menschen Wille verwertet die Kräfte, wie die Stoffe und die 
Mittel; nur die Idee ist mit ihm selber identisch, und die Idee ist 
nichts anderes als die vorschwebende Form, der gewollte Gebrauchs- 
zweck. Wie weit aber auch die psychischen Momente, die Anempfin- 
dung wie die Ausdrucksbewegung, selbst den Stoff durchdringen, 
sich in die verwandten Eigenschaften unmittelbar ergießen, die 
fremden assimilieren, die völlig abweichenden dagegen für den be- 
absichtigten Dienst ausnutzen, indem sie gerade die Naturgesetz- 



Gebrauchszweck und Idee 'des Werkes 



143 



lichkeit des anderen Stoffes als selbständigen Wert anerkennen, — 
das haben uns die wenigen Beispiele schlagend aufgewiesen. Ob 
die Bezeichnung dieser Faktoren als „Reibungskoeffizienten" bei 
Alois Riegl glücklicher gewählt ist oder das Verhältnis besser er- 
klärt, mag dahingestellt bleiben; denn wir brauchen gar keinen 
solchen Annäherungsversuch an die Dogmatik des Materialismus. 
Die ganze Rotte von Anhängern dieser Dogmen, die Gottfried 
Sempers Namen für einen so namenlosen Blödsinn mißbraucht hat, 
muß zur Strafe auf seinen Namen eingeschworen werden, zuvor 
aber in ihrem Katechismus lernen, wie seine Lehre wirklich lautet 
Diese authentische Lehre kann noch immer die Unterlage bilden, auf 
der auch Riegl imd wir uns über das „Kunstwollen" verständigen 
dürften, nachdem wir jenes „mechanische Produkt" einfach dem Ge- 
lächter preisgegeben imd den Narreteidingen zugesellt haben, zu 
denen es gehört Nach diesem heilsamen Bannfluch ist die un- 
denkbare Formel keines Wortes mehr werti 

Für uns ist jedes Gebilde des Kunsthandwerks ein Abgeord- 
neter des Menschen fiir einen bestimmten Dienst oder Gebrauch, 
mag dieser nun, wie Semper ausdrücklich hinzufügt, tatsächlich 
stattfinden und in Anspruch genommen werden, oder aber nur sup- 
poniert, d. h. untergeschoben oder in der Vorstellung mit seiner 
Form verbunden werden, und damit nur in höherer, das heißt rein 
geistiger Auffassung genommen sein. Der bestimmte Gebrauchs- 
zweck oder der Funktionswert wohnt der Erscheinung des Gegen- 
stands so unzertrennlich inne, wie die Seele in einem Leibe. Diese 
Bestimmung ist die Einheit zwischen Idee und Form. Und sie 
eben sind die Mitgift ins Dasein, die der Mensch seinem Gebilde 
überantwortet hat Das Amt gibt dem Stellvertreter sein Existenz- 
recht, und dessen Ausübung erfüllt sein Leben. Dieser Zweck 
selbst, als Vorstellung abstrahiert, ist die Idee des Kunstwerks in 
dem Gesamtbereich des Schaffens, das wir gegenwärtig ins Auge 
fassen. Nur die Abhängigkeit vom Menschen, ohne dessen Mit- 
wirkimg der Dienst oder Gebrauch nicht zustande kommt trotz 
allem Schein selbständiger Beseelimg, sie allein berechtigt uns 
noch, die Gebilde des Kunsthandwerks von den Kunstwerken völlig 
freier Art einigermaßen zu sondern. Einigermaßen, sagen wir; 
denn wo könnte diese Mitwirkimg des Menschen völlig zurück- 
treten und das Kimstwerk vollkommen für sich allein bestehen? 
Der Gradunterschied, um den es sich handeln kann, tritt in jenen 
Fällen ein, die Semper oben vorgesehen: wo der Gebrauch oder 



144 ^' Kleidung — Kimsthandwerk 

Dienst nur noch unterstellt, nicht wirklich vollzogen wird, wie bei 
einer Vase, wenn sie nicht mehr als Gefäß für eine beliebige 
Flüssigkeit dient, sondern nur durch ihre Erscheinung noch die 
Stelle schmückt oder hervorhebt, wo sie aufgestellt worden ist und 
ruhig, außer Diensten, verharrt. Unter Verzicht auf ihren Gebrauch 
ist sie freigelassen. Sie bleibt sich selbst überlassen; die Ab- 
hängigkeit vom Menschen ist aufgehoben. Aber wir können nicht 
den letzten Schritt tun und erklären, sie sei lediglich Selbstzweck. 
Die Form ruft ins Gedächtnis, was sie ihrer Herkunft nach war; 
ihr Ausdruck bestimmt ihren Charakter als Gefäß, wenn auch als 
kostbares Gefäß für einen wertvollen Inhalt Und ist tatsächlich 
kein Inhalt vorhanden^ so können wir nur einen solchen suppo- 
nieren, hineinlegen in Gedanken; sonst fehlte dieser Gestalt ihre 
Seele, sie wäre ein leeres Prunkstück. Der Inhalt mag schließlich 
eine abstrakte Vorstellung, eine Idee sein, da bleibt die Vase 
wenigstens ein Mal. Ohne solche ihr gleichsam innewohnende Idee 
oder an ihr haftende Ideenverbindung verfallt sie der Dekoration, 
die nur formalen Wert beansprucht. Dann ist sie ein toter Körper 
wie andere auch, die nur im Augenschein eine Berechtig^g haben, 
gerade da zu sein, wo sie sind. 

Der Grundbegriff in allen diesen Beziehungen ist immer der 
Zweck und seine konkrete Durchführung die Zweckmäßigkeit 
Er ist auch das Bindeglied, das die Erzeugnisse des Kimsthand- 
werks mit den Gebilden der eigentlichen Tektonik gemein haben. 
Es ist also an der Zeit, hier auf ihn einzugehen. Mit seltsamer 
Beharrlichkeit trennt auch Riegl den Gebrauchszweck von den 
übrigen Bestandteilen ab und behandelt ihn wie einen fremden, 
von außen gekommenen und draußen gebliebenen Zusatz, mit dem 
sich die Analyse des KunstwoUens nicht zu befassen habe oder 
von dem sie wenigstens unbeschadet absehen dürfe. Das alte Vor- 
urteil beirrt auch ihn, das durch Kants so vielfach mißverstandene 
Ausschließung des praktischen Zweckes und der direkten Nutzbar- 
keit aus dem Bereich des Schönen auch in die Kunstwissenschaft 
hineingekommen ist Ein Vorurteil nenne ich es, weil den Kunst- 
historiker, der die Werke als Urkunden betrachtet, doch solche 
Ausschließung oder Zulassung gar nichts angeht Muß er doch oft 
genug solchen Kunstleistungen seine Aufmerksamkeit widmen, die, 
nach irgendeinem anderen Maßstab als dem geschichtlichen beur- 
teilt, nicht allein hinter den Anforderungen der Schönheit zurück- 
bleiben würden, sondern ausgemachter Häßlichkeit schuldig wären. 



Gebrauchszweck und Idee des Werkes 



145 



Riegls großes Verdienst besteht nun aber gerade darin^ uns die 
Künste der Spätantike erschlossen zu haben, die nur deshalb ver- 
nachlässigt und schief angesehen waren, weil sie einem unhistorisch 
verallgemeinerten Schönheitsideal eben nicht entsprechen. Weshalb 
also nicht auch hier beim Kunstgewerbe überhaupt gründlich auf- 
räumen mit veralteten Klassifikationen? Nun aber liegt angesichts 
des Kunsthandwerks offenbar eine Begriffsverwirrung vor, an der 
Kants Abweisung äußerer Zweckdienlichkeit aus dem Bezirk des 
Schönen gar keine Schuld trägt, sondern nur deren irrige Anwen- 
dung. Betrachten wir ein Gebilde des Kunsthandwerks unter dem 
Gesichtspunkt praktischer Brauchbarkeit, so ist das eben eine 
praktische, keine ästhetische Betrachtungsweise. Ästhetisch wird 
sie erst, wenn wir von dieser notwendigen Vorstufe, allen Eigen- 
nutz hinter uns lassend, zur Anerkennung der Selbständigkeit des 
Werkes übergehen und es nur um seiner selbst willen anschauen, 
ohne uns darum zu kümmern, ob es auch uns noch einmal nütz- 
lich, dienlich und deshalb angenehm werden könne oder nicht. Wir 
sehen es dann höchstens im Gebrauch von einem anderen Menschen 
gehandhabt und schätzen es im Zuscunmenhang mit diesem leben- 
digen Geschöpf, dem wir alle Schönheit zugestehen, deren es fähig 
ist. Der äußere Gebrauchszweck, der materielle Dienst tritt in 
dieser ästhetischen Betrachtung so weit zurück, daß wir den prak- 
tischen Erfolg oder Mißerfolg des Hantierens gar nicht zu be- 
achten pflegen, je mehr wir im Anschauen der schönen Gesamter- 
scheinung aufgehen. Diese Zweckmäßigkeit des Werkzeugs ist 
also lediglich die innere, die Idee des Gebildes, die seine Gestalt 
bestimmt. Der Unterschied kunsthandwerklicher Erzeugnisse dieser 
Art, besonders aller Werkzeuge und Geräte, vom organischen Ge- 
schöpfe besteht nur darin, daß sie einzelnen Gliedmaßen zugebildet 
sind und ihnen entsprechen, also relative Funktions werte darstellen 
und kein selbständiges, ganz in sich abgeschlossenes und auf sich 
allein beruhendes Individuum sind. 

Der bereitwillige Anschluß an die Körperbewegung des 
Menschen und die Arbeitsleistung, die von ihm verlangt wird, gibt, 
wie wir uns gesagt haben, dem Werkzeug eine bleibende Gebärde. 
Unsere zeitliche Anschauung löst sie ins Nacheinander, in die zweck- 
dienliche Abfolge der Momente auf und wandelt sie für unsere 
Phantasie, auch wenn wir das Ding nicht wirklich gebrauchen 
oder gebrauchen sehen, in die Vorstellung des Vollzuges, wie das 
durchgehende Motiv einer Genrefigur. Je selbständiger jedoch das 

Schmarsow, KanstwissenschafU lO 



1^6 ^< Kleidung — Kunsthandwerk 

Gerät ausgebildet wird, so daü es auch außer Dienst auf eigenen 
Füßen stehen und sich unabhängig an seiner Stelle behaupten 
kann, desto mehr tritt die transitorische Gebärdung zurück, um der 
abgeschlossenen Form oder organisch gegliederten Gestalt den 
Vorrang einzuräumen. Der Stuhl z. B., der hier noch als leichter 
Sessel sich den Formen des Menschen anschmiegt und in ge- 
schwungener Haltung dem Sitzenden entgegenkommt, wird dort 
schon selbständiger erscheinen und um so mehr, je ruhiger und 
starrer sein festes Gefuge verharrt Welch ein Abstand trennt den 
Hüker, eine Holzplatte mit einem Bein, wie er beim Melken be- 
nutzt wird, oder mit drei Beinen, wie er bei anderer Arbeit dient, 
von dem Faltstuhl auf der einen, oder gar vom Thronsitze des 
Monarchen auf der anderen Seite! Die Kanne mit eigenem Fuße 
und gebauchtem Leib, oder mit Henkel hinten und Schnabel vorn 
steht aufrecht und macht keine Miene sich zu bücken. Die Vase 
rundet sich nach allen Seiten gleichmäßig und hat wohl, ohne 
Henkelpaar, jede Beziehung abgestreift Sie behauptet vielleicht 
schon durch ihre Ghröße den festen Standort, oder durch reiche 
Gliederung und entschiedene Proportion das eigene Bildungsgesetz 
und die Unabhängigkeit ihres Wesens. Sie wird selber ein „Mal". 



XL 
TEKTONIK 

RAHMENWERK UND GESCHRÄNK — STÜTZWERK UND GESTELL 

Werkzeuge und Geräte, die das Kunsthandwerk liefert, erfüllen 
ihren Gebrauchszweck immer im Zusammenwirken mit dem Menschen. 
Der Hinzutritt des lebendigen Subjekts erst löst den Vollzug der 
Funktion wirklich aus, die bis dahin latent ihm entgegenwartet. Je 
nach dem Grade dieser Bedingtheit, der Beweglichkeit oder Stand- 
festigkeit bestimmt sich die Auffassung des Gebrauchsgegenstandes. 
Dort überwiegt der mimische Charakter, die transitorische Gebärde, 
hier der plastische Körper in Ruhe, die geschlossene Form. Mit 
dem Übergewicht des bleibenden Bestandes nähern wir uns dem 
festen Gefuge, dem tektonischen Aufbau, der sich allen Gelüsten 
unserer beweglichen Phantasie widersetzt, oder ihrem wandelbaren 
Spiel zum Trotz seine unverrückbare Beharrung immer aufs neue 
bewährt. Aber auch hier darf der Übergang vom vorübergehend 
gebrauchten Gerät zur dauerhaften Festigung des Gerüstes nicht 
vergessen werden, wollen wir die Doppelnatur des menschlichen 
Gebildes nicht aus den Augen verlieren und vorschnell durch ein- 
seitige Betrachtung auf Abwege geraten. Lassen wir ein Beispiel 
für sich selber reden. 

Wie schlank und leicht erscheint noch heute unser Regen- 
oder Sonnenschirm! Kaum schwerer als ein Wanderstab, oder gar 
elegant wie ein Spazierstock, begleitet er uns bei veränderlichem 
Wetter überall. Er handhabt sich bequem und entfaltet sich schnell 
über unserem Kopfe, wenn wir ihn brauchen, uia hernach in einem 
anderen Moment ebenso geschwind wieder zusammengeklappt, in 
die unscheinbare Figur und die untergeordnete Rolle an unserer 
Seite zurückzukehren. Schon breiter macht sich der gro&e Sonnen- 
schirm des Malers draußen auf der Wiese; ungelenker benimmt 

lO» 



148 XL Tektonik 

sich erst recht der Familienschirm, wenn der Bauer mit Frau imd 
Kindern zu Markte fahrt. Sein grünes Regendach umspannt aber 
auch die Insassen des Wagens wie ein Zelt. Blicken wir von 
diesem Vertreter der guten alten Zeit zurück auf seinen Stamm- 
baum im Alten Testament, so erscheint er vollends ehrwürdig wie 
die Patriarchen, die in seinem Schatten wohnten. Zusammenge- 
wickelt, auf Kamele gepackt, führt seine Zelte auch ein Nomaden- 
volk mit sich von Ort zu Ort, wie seine Herden von einer Weide 
zur anderen. Noch immer ist es derselbe transportable Gebrauchs- 
gegenstand. Und es hat lange gewährt von da bis zur Verwand- 
lung in ein tektonisches Gerüst von dauerhafterem Bestände. Es 
liegt schon ein weiter Weg der Kultur zwischen dem Zelt des 
Nomaden und der Bambushütte des Karaiben oder dem Negerkral. 

Das tektonische Gerüst ist ein KoUektivum von lauter Einzel- 
bestandteilen, die nur relative Bedeutung haben, deren jedes an 
seiner Stelle den rechten Sinn erhält und nur in Gemeinschaft mit 
den zugehörigen Nachbarn seine Funktion bewähren, also auch 
seine Existenzberechtigung erweisen kann. Dies Kollektivum ist 
aber etwas Höheres als jedes Einzelglied und als die Summe 
aller. Es ist das Ergebnis ihres Zusammenwirkens, auf das es an- 
kommt. Daraus folgt, daß erst, wenn wir das Ganze überschauen, 
auch jeder Teil zu seinem Rechte kommen und unseren Anteil für 
sich erwecken kann, soweit er eben soll imd darf. Wir vermögen 
uns wohl anzuempfinden an seine Leistung, aber ihren Wert im 
Gesamtkomplex doch erst zu erfassen, wenn uns der Zweck, d. h. 
der Grundgedanke des Systems selber aufgegangen ist. Das Ver- 
hältnis ist ähnlich wie bei einer Maschine. Aber bei einigermaßen 
komplizierter Anlage vermögen wir dem beweglichen Mechanismus 
nicht mehr zu folgen, zumal wenn einige Teile sich dem Auge des 
Betrachters entziehen. Dem Uneingeweihten bleibt er gleichgültig 
und fremd, dem Interessierten immer peinlich und unbefriedigend, 
solange noch ein Bindeglied fehlt und der Schlüssel zum letzten 
Geheimnis noch nicht gefunden ist So lesen wir wohl ungeduldig 
und gequält ein Rätselgedicht wieder und wieder, wenn uns die 
Lösung nicht aufgehen will: seine Verse scheinen nur Anläufe zu 
Ideenverbindungen, die zusammengewürfelt worden, aber ebenso 
wieder auseinanderfallen mögen. 

Damit charakterisieren wir aber auch einen intellektuellen 
Vorgang, auf den es beim tektonischen Gebilde nicht ankommen 
kann. Wir dürfen die verstandesmäßige Erkenntnis nicht mit der 



Bewegung und Beharrung i^o 

ästhetischen Aufnahme verwechsehi. Wer die Erscheinung nicht 
nimmt, wie sie geboten wird, sondern hinter sie zurückgeht und, in 
Gedanken wenigstens, die Zusammenfügung aus lauter einzelnen 
Stücken wiederholt, wie das Werk zustande gekommen sein mag, 
der vollzieht doch nur die technische Analyse,' läßt aber nicht der 
unmittelbaren Wirkung auf Sinn und Gefühl freien Lauf. Nicht 
der Einblick hinter die Kulissen ist das Entscheidende bei der 
Auffiihrung eines Schauspiels. Das gilt auch für das Gebilde der 
Tektonik, selbst wenn uns diese im Unterschied vom Theater nicht 
auf einen vorgeschriebenen Standpimkt beschränkt, sondern viel- 
seitigeren Einblick in ihr Gefüge zu gewähren pflegt. Je mehr ihr 
daran liegen mag, das Ineinandergreifen der Teile für sich selber 
sprechen zu lassen, desto mehr muß doch davor gewarnt werden, 
noch weiter aufzudecken, was sie geflissentlich verhüllt Das hieße 
die genetische Erklärung und historische Gelehrsamkeit an die 
Stelle des ästhetischen Genusses setzen. 

Es ist denn auch immer nur die Beschäftigung mit den Einzel- 
gliedem, die den Forscher verleitet, die Analyse walten zu lassen, 
wo nur das Erlebnis zu Recht besteht. Sowie es sich um eine 
ganze Reihe von solchen Gliedern handelt, muß die Vorstellungs- 
arbeit von selbst erlahmen und die Ohnmacht des Rechenexempels 
gefühlt werden. Sie räumen dann von selber der gesunden Einsicht 
den Platz, daß künstlerische Motive solcher Art nur auf den ein- 
fachsten Grundtatsachen allgemein menschlicher Erfahrung beruhen 
können. 

Deshalb wählten wir als Beispiel ein ganz geläufiges Gerät 
mit übersichtlichem und leicht verständlichem Mechanismus. Am 
uralten beweglichen Hausrat haben sich auch alle Wurzelformen 
der Tektonik entwickelt und ihre vollkommene Ausbildung erhalten. 
Ihre wichtigsten Zwecke lassen sich, wie Gottfried Semper aus- 
fuhrt,^) imter vier Aufgaben zusammenfassen: 

das Rahmenwerk mit der umschlossenen Öffnung oder 
I. Füllung; 

das Geschränk, das aus einer Komplikation des Rahmens 

mit seinem Inhalt entsteht, bei der neue Kräfte 
in die Erscheinimg treten; 

i) Ich gebe im folgenden eine Umarbeitung des grundlegenden Kapitels (II, 
VII, § 130 — 138), soweit sich dies mit meinen Überzeugimgen irgend verträgt, im 
Anschluß an den Wortlaut: Gerade so wird die innere Verschiebung des Stande 
punktes desto klarer hervortreten. 



ICQ XI. Tektonik 

Idas Stützwerk, das zum erstenmal das Widerspiel von 
Kraft und Last zum Vorschein bringt; 
das Gestell, das aus einem Zus£immenwirken des Stütz- 
werkes mit dem Rahmenwerk zustande kommt 
* imd damit zur Vollständigkeit in sich gelangt. 
Der Rahmen ist eine der wichtigsten Grundformen der Kunst. 
Wir sahen ihn bereits in der Ornamentik entstehen, wo die rhyth- 
misch-peripherische Bildung den auszuzeichnenden Wert umspielte 
und das Mal des Schmuckes in eine geschlossene Figur einfaßte. 
Der Niederschlag mimischer Bewegungen um den wertvollen 
Gegenstand ergibt zunächst vielleicht nur eine Wiederholung seines 
Umrisses, wie wir liebkosend mit der Hand über die geliebten 
Formen gleiten oder in nahem Abstand noch sie nachzufühlen ver- 
suchen, indem unsere Gebärde ihrem Zuge folgt Es sind haptische 
Umrißlinien, die wir in die Luft malen, wenn der geliebte Körper 
nicht gegenwärtig ist, sondern nur vorgestellt wird. Durch ihre 
ausschließliche Abhängigkeit von diesem Inhalt erhalten sie konzen- 
trische Ordnimg und lunlaufende Gliederung. Dabei fungiert aber 
die nachfühlende Hand als lebendiger Bestandteil des entstehenden 
Rahmens mit; denn sie besorgt die Auseinandersetzung mit der 
weiteren Umgebung, der Raimileere ringsum, den „makrokosmischen 
Bezuges wie Semper sich ausdrückt. Sowie die malende Gebärde 
sich als Niederschlag auf einer Fläche fixiert oder in bildsamem 
Material zu vollnmder Stofflichkeit gestaltet, muß auch dieser Be- 
standteil des Rahmens nach außen hin versinnbildlicht werden und 
den Gegensatz seiner Funktion zu dem Bezug auf den Inhalt aus- 
prägen. Waltet nach innen die zentrale Symmetrie, die konzen- 
trische Wiederholung, so übernimmt das Äußere die allseitige 
Richtung nach außen, die symmetrisch-proportionale Gebilde mit 
zentrifugaler Tendenz aneinanderreiht. So entsteht als lineare Ein- 
rahmung die regelmäßige Figur des Kreises, des Ovals, wo der 
eingerahmte Gegensteind imregelmäßig ist, oder, wo er selbst der 
Kreisform entspricht, nach außen das Polygon. Damit prägt sich 
der Gegensatz des Rahmens zu seinem Inhalt, oder seiner Füllung 
deutlich aus. So rahmen wir die Menschengestalt, wo sie in ganzer 
oder halber Figur in der leeren Raumöffhung des Rahmens er- 
scheint, rechtwinklig ein, durch ein Quadrat oder ein Oblongxun. 

Mit dieser Beziehung zur Menschengestalt kommen wir an 
einen Scheideweg in der Entwicklung des Rahmens, und zwar vom 
omamentalen zum tektonischen. Als peripherische Einrahmung mit 



Der Rahmen 



151 



Schmuckelementen irgendwelcher Art kann das omamentale Ge- 
bilde, gleichwie das mimische, die malende Gebärde in der Luft, 
irgendwo im Räume entstehen. Wird es Muster auf einem Grunde, 
so besteht die grundlegende Situation jedoch unzweifelhaft in der 
Ebene zu unseren Füßen. Dies ist der ursprüngliche Platz für das 
Saumwerk, das in rein formaler, abschließender und begrenzender 
Funktion eine Bodenfläche umzieht. Hier ist der Inhalt oder die 
Füllung zimächst neutral; mag der Rahmen sich unmittelbar auf 
den hackten Erdboden legen und dadurch nur diesen beliebigen 
Fleck Erde aussondern, also eigentlich eine unbezeichnete Raum- 
öflFnung enthalten, oder mag er als Teppichsaum etwa das einfar- 
bige Mittelfeld einer textilen Bekleidung des Bodens, d. h. schon 
eine schmückende Bezeichnung umschließen. Tritt auf diesen 
Teppich aber der Mensch als positiver Inhalt, oder nur als Muster 
auf den füllenden Grund, indem er sich darauf hinstreckt, nieder- 
kniet, sitzt oder steht, so beginnt die neutrale Region sich nach 
ihm zu bestimmen, und unterscheidet ihre Lage oder Stellung im 
Raum nach dem Menschen. Der Rahmen erhebt sich mit dem 
Eingerahmten zu aufrechter Haltung und bewahrt die übernommene 
Richtung auch dann, wenn der Inhalt heraustritt, verschwindet oder 
seinen Platz gar einem anderen einräumt. So unterscheiden wir 
stehende Rahmen von liegenden auch in der Parallelebene uns 
gegenüber und anderen Vertikalebenen im Räume um uns her. 
Wir beurteilen sie zunächst subjektiv nach dem Übergewicht der 
Längenachse oder der Höhenachse, nehmen jene als liegende, diese 
als stehende Formen an. Aber der Rahmen selbst vermag diesen 
Charakter oder jenen auch objektiv auszuprägen, indem er seine 
Widerstandsfähigkeit gegen beliebige Verschiebungen bewährt, d. h. 
festen Bestand gewinnt. Darin besteht eben die Aufgabe der Tek- 
tonik gegenüber dem beweglichen Gebilde der Mimik und Orna- 
mentik; sie festigt das Gefiige zur Stabilität 

Der Weg von der subjektiven Übertragung zur objektiven 
Eigenart verdient es auch hier, daß wir einen Augenblick bei ihm 
verweilen. Gehen wir wiederum von der ursprünglichen Situation 
des Rahmens am Boden aus, so eröffnet sich der Weg zur folgen- 
reichen Verwandlung, sowie wir, statt des Menschen deirin, den 
Grund als Inhalt des Rahmens, die Öffnung an sich ins Auge 
fassen. Hier ist der Inhalt der Rahmenöffhung notwendig ein 
Flächenwert Diese Fläche ist zimächst neutral, völlig unbezeichnet 
Aber dieser Gnmd kann gemustert werden. Nehmen wir an, es 



IC2 XI. Tektonik 

sei ein gepflügter Acker; wir sehen seine geradlinigen Furchen 
von uns auslaufen oder auf uns zulaufen, je nachdem wir sie von 
unseren Füßen weg in die Weite verfolgen, oder umgekehrt von 
einem Fixationspunkt in der Feme zu uns zurück. Es ist ein 
Muster, das wir auf uns beziehen, sagen wir, wenn wir es als vor- 
handen außer uns anerkennen; aber die Bewegung, die wir von uns 
darauf übertragen, ist es, die zunächst den Charakter bestimmt. 
Erst wenn die Furchen unsere eigene Vorwärtsrichtung durchqueren, 
machen sich diese horizontalen Linien als andersartige Richtung 
des Objekts geltend; sie erscheinen als Zeugnisse, wiederholte Be- 
stätigungen seiner Breitenausdehnung. Richten wir nun den 
Rahmen mitsamt seinem gemusterten Flächeninhalt auf, so daß er 
uns gegenüber in der Vertikalebene erscheint, so bekommt er durch 
dieses einfache Muster seinen Charakter. Die Breitenlage, die 
Ausdehnung in der Horizontale des gemusterten Grundes bestimmt 
auch die Auffassung des Rahmens mit, solange dieser nicht durch 
die eigene Form entschieden widerspricht. Die Vertikalrichtüng 
der Furchen oder geradlinige Schraffierung des Grundes von unten 
nach oben oder umgekehrt bestimmt die aufrechte Haltung der 
Fläche zu uns erst recht. Gaben die geraden Linien, von uns ab 
gesehen, am Boden vorher den Eindruck des Ausflusses von uns, 
oder aus der Feme verfolgt den des Einflusses auf uns, so daß die 
Richtung der Tiefe darnach aufgefaßt ward, so wandelt sich dies 
nun in die Unterscheidung des Aufstiegs zur Höhe oder des Ab- 
stiegs, des Falles aus der Höhe zur Erde nieder. Schraffieren wir 
dagegen den Grund mit Horizontalen und Vertikalen, so daß die 
Richtungen sich durchkreuzen, so wird die Bestimmtheit der Rich- 
tung wieder aufgehoben, solange die Teilflächen des Grundes neu- 
trale bzw. zweideutige Formen bilden, wie regelmäßige Quadrierung. 
Sowie die Rechtecke länglich werden, erscheinen sie entweder 
stehend oder liegend, und damit der ganze Grund als quergerichtet 
und geschichtet oder aufrecht hingestellt. Durchkreuzen sich die 
Linien diagonal, so daß ein Rautenmuster entsteht, so bestimmt 
wieder die Haltung dieser Figuren die Auffassung des Ganzen, die 
perpendikulär auf der Spitze stehenden Rauten richten den Flächen- 
inhalt des Rahmens auf, die schräggeneigten verschieben das ganze 
Muster zu ausgesprochener Lagerung. Dagegen kommen wir auf 
das Entstehungsprinzip im Verhältnis von Mal und Einrahmung zu- 
rück, wenn wir die Furchen radial von einem Mittelpunkt ausgehen 
lassen, oder von den Ecken des Rahmens Diagonalen ziehen, die 



Der Rahmen 



153 



sich in einem Punkte schneiden. Dies Zentrum ist der Ort des 
Wertes, bzw. der Standpunkt des Menschen. 

Im Unterschied von den richtungslosen oder allseitig gerichteten 
Gebilden peripherischer Begleitung und Umschließung kommt es 
beim tektonischen Rahmen somit vor allen Dingen auf Entschieden- 
heit der Richtung an. Durch die Bedingungen der Starrheit und 
inneren Unverrückbarkeit wird das tektonische Gefüge des Rahmens 
zu einem weit tätigeren Faktor; ja es bildet ein einfaches System 
für sich. Damit steigert sich natürlich der Gegensatz zwischen 
dem festen Bestand und dem struktiv untätigen Füllwerk, das ent- 
weder ein neutrales Feld oder eine Öffnung, einen unbezeichneten 
leeren Raum ausmachen kann. Da dieser Inhalt der struktiven 
Idee nach gar nicht vorhanden zu sein braucht, sondern nur Rezi- 
pient für einen erwarteten Wert, so vermag er seinerseits auch 
das Gefuge des Rahmens nicht zu verstärken. Er tritt zurück, ent- 
weder wirklich oder scheinbar, gewährt als Vakuum keinen Bei- 
stand und als Füllwerk keinen Anhalt. Der Rahmen dagegen muß 
sich selber konstituieren und sich, auch für das Auge schon, völlig 
fest erweisen. 

Für die künstlerische Ausgestaltung eines Rahmens*) ergeben 
sich drei leitende Motive: erstens dessen Dienst als Rahmen, 
zweitens die struktive Tätigkeit der einrahmenden Teile, drittens 
der Gesamtcharakter des Aufgerichtetseins, der sich in allen Teilen 
wie im Ganzen ausprägt. Diese drei leitenden Motive kongruieren 
aber nicht immer miteinander. In dem Überwiegen des einen oder 
des anderen Zuges liegt der besondere Charakter; nicht selten 
kommt durch Gegenwirkung konstrastierender Eigenschaften erst 
die höchste Entschiedenheit zum Ausdruck. 

Unter den geradlinig-rechtwinkligen Rahmen steht der hori- 
zontal liegende noch den auf dem Boden ausgebreiteten am nächsten. 
Nach der Länge der Rahmenstücke findet eine direkte Spannung, 
ein Zug oder Druck nicht statt, wohl aber indirekt, hervorgerufen 
durch eigene Schwere und Belastung. Somit verlangt das Auge 
für die wagrecht freischwebenden Rahmenschenkel, bei angemessener 
Unterstützung, dieser entsprechend, eine der Last gewachsene Höhe 
— ein Vorherrschen dieser Höhendimension über die andere Horizon- 
tale der Dicke — , sodann eine Übereinstimmung der formalen Aus- 
stattung mit der zwecklichen wie der struktiven Tätigkeit. Die 



1) Vgl. Gottfr. Semper a. a. O. 



154 



XI. Tektonik 



Teile horizontaler Rahmen haben natürlich, wie alles, ihre propor- 
tionale Entwicklung nicht mehr parallel mit der eingerahmten 
Ebene, sondern senkrecht auf ihr. Nicht selten aber wird auch 
der horizontal liegende Rahmen in stärkerem Maße als aufrechter 
charakterisiert, und zwar mit der Annahme eines konventionellen 
Oben und Unten, die demgemäß unterschieden und £ds Grundlinie 
oder Unterlage hier, als Bekrönung oder Firstlinie oben ausge- 
zeichnet werden. Richten wir den horizontalen Rahmen dann 
wirklich auf, so daß er in der vertikalen Parallelebene vor uns er- 
scheint, und zwar zunächst mit ausgesprochener Breitenrichtung, 
so sind natürlich die Teile besonders wichtig, durch die er sich 
von dem horizontal liegenden unterscheidet und sich eben als auf- 
rechter erweist trotz seiner Lagerung in die Quere, die durch das 
Übergewicht seiner Breitenachse auch unsere Auffassung bestimmt 
Die aufrechten Teile und ihre Charakteristik können auch hier 
stärker oder schwächer zur "Geltung kommen, indem wir den 
unteren Rahmenschenkel als Basis, den oberen als Kranzgesims 
ausbilden, oder gar die Mitte desselben noch durch Gipfelung her- 
vorheben. Dies geschieht um so eher, wenn schon der Inhalt dazu 
auffordert, den Rahmen gleichsam als Bühnenöffnung vor dem 
Schauplatz des darin Enthaltenen auszubilden. 

Dann bekommen die beiden seitlichen Leisten eine wichtigere 
Rolle als Träger links und rechts, während der untere Rahmen- 
schenkel den Sockel oder das Podium, der obere die Verdachung 
darstellt. Damit verwandelt sich der Rahmen in ein Gestütz, von 
dem wir hernach zu sprechen haben. Dieser Anklang an einen 
festen Aufbau hat natürlich keine Möglichkeit sich einzufinden, wo 
der Rahmen nicht aus rechtwinklig aneinanderstoßenden Schenkeln 
besteht, sondern aus Kurven zusammengesetzt ist oder gar in ein- 
heitlichem Zuge eine liegende Ellipse beschreibt. 

Entschiedenheit der Richtung bleibt auch die erste Forderung 
bei den stehenden Rahmenformen, sei es geradlinig-rechtwinkligen, sei 
es anderen regelmäßigen Formen. Innerhalb der Grenzen des kon- 
struktiv Möglichen und der gewollten Zweckmäßigkeit gibt immer 
das Übergewicht der Höhenachse den Ausdruck der aufrechten 
Haltung in erster Linie. Häufig entscheidet über die Wahl der 
Proportionen der beabsichtigte Charakter des Ganzen. Nicht selten 
spielt auch die Rücksicht auf kontrastierende Wirkung der benach- 
barten Formen innerhalb eines weiteren Zusammenhanges dabei 
mit, wie z. B. die Abwechslimg liegender imd stehender Formen, 



Der Rahmen — Das Dreieck 



155 



sei es nebeneinander in einer Reihe alternierend, sei es unter- 
einander, oder in mehreren Reihen, deren eine als Hauptreihe sich 
die anderen unterordnet Ebenso wird der Charakter des einzelnen 
stehenden Rahmens verschieden, je nachdem das eine der drei 
leitenden Motive die tonangebende Rolle bei der Formgebung 
übernimmt. Es ist ausgemacht, daß ein Rahmen desto besser 
sammelt, je ausschließlicher er sich auf das Eingerahmte bezieht. 
Betont man dagegen das Interesse für die struktive Tätigkeit seiner 
Teile oder für die dynamischen Eigenschaften des umrahmenden 
Stoffes, so werden wir aiifmerksam auf das Gefüge, auf die Natur 
des Rahmens selbst und werden von dem Inhalt abgezogen. Die 
aufrechte Haltung bleibt um so besser eine ungezwungene, als sie 
ursprünglich nxir ein Reflex der eingerahmten Gestalt auf das 
peripherische Gebilde war imd nur als Begleiterscheinung diente. 
Die Ausbildung eines eigenen Fußendes oder Sockels und Kopf- 
stückes oder Bekrönungsgliedes bleibt immer eine gewagte Sache. 
Die Konkurrenz kann nur durch den Wert des Inhaltes gerecht- 
fertigt werden; sonst wird sie zu dessen Nachteil ausschlagen. Die 
Annäherung des Rahmens an Architekturformen, die für jede Klasse 
von Gliedern einen eigenen Ausdruck darbieten, fordert Ansprüche 
heraus, die nur die bleibende Bedeutung des Eingerahmten erfiillen 
kann. Und sie bindet außerdem den Rahmen und seine FüUung 
immer zwingender an den festen Standort, so daß auch in dieser 
Hinsicht nicht leichtfertig nach solchen Motiven gegriffen werden 
sollte. 

Unter solchen aufrechten Rahmen prägen sich alle diese Funk- 
tionen besonders stark und zugleich am einfachsten am Dreieck 
aus, dcis uns durch seine Eigenart jedoch sofort zu einer folgenden 
Aufgabe der Tektonik hinüberleitet, so daß es nicht an den An- 
fang, sondern an den Schluß der Betrachtung des Rahmenwerks 
gehört. 

Das aufrechte Dreieck entsteht, wenn zwei starre Schenkel in 
schräger Lage aneinanderstoßen und auf einem dritten Stück an 
dessen beiden Enden fußen, so daß dieses ihnen als wagrechtes 
Auflager dient und zugleich ein Band oder eine 2^nge bildet, 
durch die jene Schenkel am Gleiten und Ausweichen verhindert 
werden. Die Unverrückbarkeit dieses festverbundenen Dreiecks ist 
die Grundlage aUer Zunmermannsgefüge. 

Das horizontale Band ist der Spannriegel, der die Schenkel 
zusammenhält. Die Spannkraft greift auf beiden Seiten an die 



156 XI. Tektonik 

Füße der Schenkel und wirkt von beiden Seiten nach der Mitte zu. 
Damit ist die entgegengesetzte Ausdehnung in die Breite, die wir 
Diremtion genannt haben, von der Charakteristik dieses Teiles 
ausgeschlossen. Die Schenkel können ihrerseits nur als steigend 
aufgefaßt werden. Ihre Bewegung gipfelt in der Spitze, wo sie 
zusammenstoßen und, sich gegeneinander stemmend, wechselseitig 
halten oder stützen, — und zwar dieses oder jenes je nach dem 
Winkel, in dem sie aufeinander treffen. Je spitzer der Winkel, desto 
selbständiger erscheint der Aufstieg und damit der gegenseitige 
Widerhalt; je stumpfer, desto mehr tritt die lebendige Energie der 
Schenkel zurück hinter dem Eindruck ihrer Schwere, so daß der 
Gegendruck der beiden lastenden Körper nach den Gesetzen der 
Trägheit mehr Ruhelage als tätige Kraftanstrengung ausspricht 

Betrachtet man diese Rahmenform als Ganzes, so wirkt sie 
verschieden je nach den Verhältnissen ihrer Höhe zur Breite der 
Basis. Soll der Begriff des Aufrechten sich nachdrücklich ver- 
sinnlichen, so muß die Höhenachse die Grrundlinie des Dreiecks 
beträchtlich überragen. Bei stark ansteigenden Dreieckverbänden 
gestattet die Statik die Unterdrückung der horizontalen, die 
Schenkelenden zusammenhaltenden Sehne, weil jene Glieder allein 
fungieren können. Und damit stimmt auch die Ästhetik überein. 
Steil aufsteigende Schenkel geben den Eindruck des einmütigen 
Strebens zweier Individuen zum gemeinsamen Ziel. Mit der Leben- 
digkeit kommt aber auch der Eindruck der Unruhe. Breite Basis 
und stumpfer Winkel darüber verkünden ruhiges Gleichgewicht, 
ungetrübte Harmonie des Daseins. Dort spricht transitorische Be- 
wegung zu uns, hier bleibende Beharrung sich aus. 

Immer ist das Dreieck mit nach oben gerichteter Spitze an 
sich schon das Wahrzeichen des Aufrechten. Die Gegenprobe 
machen wir sofort, wenn wir es umkehren und seine Spitze nach 
unten richten. So wird es gewöhnlich als hängendes Dreieck 
bezeichnet, obgleich, wie wir alsbald sehen werden, diese Bezeich- 
nxmg nicht allgemein zutrifft, sondern sehr wesentliche Ausnahmen 
erleidet. 

Wie das Ganze des aufrechten Dreiecks müssen auch alle 
Teile einzeln für sich das objektive Verhalten der tektonischen 
Form mit aussprechen, wenn diese dem Beschauer ausschließlich 
als aufrechte erscheinen soll. Was sie konstituiert und was sich 
auf ihnen darstellt, muß in gewisser Weise aufgerichtet sein, oder, 
wo nicht, durch andere Motive, die das Aufrechte entschieden be- 



Das Geschränk 



157 



tonen, in diesem Sinne vervollständigt werden. Jeder Teil des 
Gefuges erhält demgemäß seinen eigenen Abschluß nach oben und 
seine Endigxmg nach unten. Den letzten Accent, im Sinne der 
aufrechten Vertikalität erteilt dem Gefiige die alle seine Teile zu- 
sammenfassende Bekrönung auf der Spitze. 

Mit Hilfe dieser Charakteristik der Teile gelingt es sogar, 
einem sogenannten „hängenden" Dreieck, dessen Spitze sich nach 
unten richtet, den Eindruck eines aufrechtstehenden, eines steigen- 
den, ja mit der Spitze sich stützenden Gefuges zu geben. Dann 
aber gehört es, dieser Charakteristik gemäß, vielmehr in die Klasse 
des Stützwerks. 

Bevor wir zu diesem übergehen, muß jedoch das Geschränk 
hier seine Stelle finden, da es aus einer Verbindung des Rahmens 
mit seiner Füllung entsteht, d. h. aus den beiden Bestandteilen, die 
sich zunächst nur als Gegensätze zueinander verhielten, in beider- 
seitiger Durchdringung und Vervielfältigung der Konfiguration zu- 
sammenwächst. 

Das Geschränk oder Gitterwerk ist die rostähnliche Zusammen- 
fügung stabformiger starrer Konstruktionsteile zu einem flächebil- 
denden System. Es wäre sonach, rein struktiv aufgefaßt, nichts 
anderes als ein vervielfachter und unterteilter Rahmen. Es hat auch 
tatsächlich mit diesem die meisten seiner stilistischen Eigenschaften 
gemein; denn der Rahmen selbst war ja der positive Bestandteil in 
jener Gemeinschaft, war schon ein einfaches System, während die 
Öffnung oder das Füllwerk nur als negativer Pol gelten konnte. 
Andererseits aber gehört die ursprüngliche, hier durch vielfache 
Rahmenteilung schon in sich gegliederte Grenzfläche notwendig 
mit dazu, wie beim einfachen Rahmen. Damach wäre das Rahmen- 
system nur in das Innere, die füllende Grundebene, hineingewachsen 
und nichts anderes als eine Musterung des Grundes, die den 
Flächeninhalt oder die Raumöffnung erst als Wert fühlbar macht 
und hervorhebt. Und diesen Sinn bezeugt auch der Ursprung des 
Gitterwerks aus einem Geflecht von leichten Bambusrohren oder 
von Baststreifen, die einem durchbrochenen Mattengeflecht ähnlicher 
sehen als einem eigentlichen Rahmengefuge. So finden wir es bei 
den ostasiatischen Völkern, in China und Neuseeland. Andererseits 
aber festigt sich dies Geschränk zu einem haltbaren Gezimmer, das 
nun nach der bestimmten Lage im Raimi auch seinen besonderen 
Charakter als aufrecht stehendes oder wagrecht ausgebreitetes Ge- 



158 XI. Tektonik 

bilde für den Betrachter kenntlich ausprägt Es kann ebensowohl 
zu unseren Füßen als Decke am Boden liegen, wie zu unseren 
Häupten sich als Decke oder Schirm ausspannen. Es nimmt in 
horizontaler Lage, wie einst auf etruskischen Ruhebetten, die Last 
der Kissen und der Menschen auf, wie es darüber den laubenartigen 
Baldachin bilden kann. Oft wird dem Geschränk eine besondere 
Umrahmung zuteil, so daß es die Füllung des Rahmens ausmacht, 
aber nicht mehr eine neutrale, struktiv unbeteiligte, beliebig auch 
als Raum Vertiefung denkbare Füllung, sondern eine aktiv mit- 
wirkende, struktiv durchsetzte Grenzscheide, über deren Wesen als 
ebenflächige Erscheinung kein Zweifel walten kann. Nur stärkere 
Durchbildung der Rahmenteile verwandelt sie in eine dickere oder 
tiefere Oberflächenschicht, wie beim Eisen- oder Bambusgitter aus 
Rundstäben oder bei der Kassettendecke, dem Wandgetäfel aus 
Holz, wo die Verschalung die Ebene, das Gezimmer den Rahmen 
selbständig machen, oder jene wieder den Grund, dieses das Muster 
abgibt. 

Die struktive Tätigkeit des Geschränks wirkt sogar noch über 
die Grenzen des einschließenden Rahmens hinaus, wenn die Spitzen 
oder Ausläufer der stabformigen Elemente des Rostes über diesen 
Abschluß vorspringen und überkragen. Auch hier bewährt sich 
wieder die Verwandtschaft mit den beweglicheren und verschieb- 
baren Erzeugfnissen des Bastgeflechts: da wirken die Ausläufer wie 
Knoten außerhalb des Rahmens, wie Troddeln oder Quasten, gleich 
den ausstrahlenden Elementen des peripherischen Schmuckes. Ist 
dagegen das Innere schon ein struktiv gefestigtes Gefüge, ein 
Gitterwerk von unverrückbarer Starrheit, so werden auch die Aus- 
läufer zu festen Vorsprüngen, die sogar ein verstecktes System 
nach außen verkünden und den unsichtbaren Zusammenhalt des 
Innern fiir das Auge vertreten können. 

Diese Elemente der Stabkonstruktion sind allerdings außer 
ihrer Funktion als Vorsprünge und Abschlußglieder noch gelegent- 
lich in dynamischem Sinne tätig. Sie werden allmählich zu Stützen 
oder Trägem. Als Stützen dienen sie mit ihrer rückwirkenden 
Festigkeit, als Träger mehr in dem Sinne ihrer relativen Wider- 
standsfähigkeit. Wir haben also erstens freie Ausläufer, entweder 
horizontaler oder vertikaler Geschränke, zweitens dienende Aus- 
läufer, ebenfalls wieder horizontaler oder vertikaler Geschränke. 
Diesen vier Kategorien mit ihren Nuancen, die sehr mannigfaltig 
sind, entsprechen ebensoviel Motive der Formgebung. 



Das Geschränk — Das Stützwerk 



159 



Zunächst herrscht auch hier die Auffassung allseitig gerichteter 
peripherischer Ausstrahlung und Umschließung mit den Motiven 
des Endigens und freien Aufgerichtetseins nach den Vorbildern 
vegetabilischer und animalischer Erscheinungen. Nicht mehr 
geschlossene Aneinanderreihung gleicher Glieder, sondern ungleich- 
formige Ordnung der Vorsprünge je nach ihrer Lage und Stellung 
waltet bei Geschränken, die ein Oben und Unten, ein Vom und 
Hinten haben, an Möbeln, Wagen, Schiffen usw. Noch wichtigere 
Bedeutung als die freien Ausläufer haben jedoch in der Tektonik 
die zugleich dienenden Vorsprünge. Sie können entweder als 
wirklich dienende Teile behandelt, oder aber in edlerer Auf- 
fassung des Grundgedankens durch den Ausdruck kaum in An- 
spruch genommenen Schwunges, innewohnender Federkraft, orga^ 
nisch lebendigen Entgegenwirkens gegen die tote Last, nur als 
äußerst dienstfähig bezeichnet werden. Horizontale Träger dieser 
Art erinnern in ihrer dynamischen Tätigkeit an deis stützende 
Dreieck, dessen Spitze nach unten gekehrt den Stütz- oder An- 
griffspunkt darstellt, während die schrägen Schenkel aufwärts 
wirken und die wagrechte Resultante ihres stützenden Strebens, 
die ursprüngliche Basis, nach oben kehren. Vertikale Ausläufer, 
denen eine dienende Tätigkeit beizulegen ist, nämlich Stützen und 
Füße, sind teils von oben durch die Belastung, teils von unten 
durch die Unterlage, den Boden, in Gegenwirkung versetzt. Dieses 
und das Aufrechtftißende, wie zugleich das Aufrechtaufnehmende, 
das sie enthalten, sind ebensoviele Anhaltpunkte bei ihrer formalen 
Behandlung. Sie sind das Hauptthema des nächstfolgenden Ge- 
füges: des Stützwerks. 

Wie Rahmen imd Geschränk, die beiden ersten Aufgaben der 
Tektonik, eng miteinander zusammengehören, so greifen auch die 
beiden letzten Aufgaben, das Stützwerk und das Gestell, in- 
einander über, die wir ganz im Anschluß an Gottfried Semper, 
wenn auch zu einem anderen Zielpimkt, verfolgen. 

„Wir hätten das tektonische Stützwerk zunächst für sich imd 
hernach erst im Zusammenwirken mit dem Gestützten zu besprechen. 
Es zeigt sich aber, daß jedes Stützwerk in sich selbst schon ein 
solches Zusammenwirken stützender und gestützter Teile enthält 
imd ausdrückt, und daß diese innere Vollständigkeit auf struktiv- 
formalen Grründen beruht, die im ästhetischen Sinne gefaßt und 
weiter ausgebildet werden. 

„Der Künstlersinn macht nämlich aus den gestützten Bestand- 



l6o XL Tektonik 

teilen Vertreter und gleichsam Vorboten der wirklichen Last, er- 
teilt so dem Gestell eine gewisse innere Vervollständigung und 
bildet es zu einer in sich abgeschlossenen Kunstform aus. Ihre 
einheitliche Verbindung mit der außer ihr seienden wirklichen Last 
wird getragen und befestigt durch jene vermittelnden Vertreter der 
letzteren, innerhalb des Stützwerkes. 

„Die Kunst verfolgt dies Prinzip teils nach unten zu, indem 
sie die eigentlichen Stützen des Gestells wieder in gleichem Sinne 
gliedert, teils nach oben zu, indem sie den letzten einheitlichen 
Bezug des Gestells möglichst erweitert und vervollständigt." 

Als Beispiel für solche Gebilde mag auch hier der antike 
Dreifuß verwertet werden; denn er ist unter allen beweglichen Ge- 
stützen das vollkommenste und am reichsten gegliederte, das zu- 
gleich als LibegrifF des Möbels dienen darf. Er entspricht den 
statischen und formalen Anforderungen eines in seinen Teilen un- 
verschiebbaren, sehr stabilen und leicht transportablen Systems in 
jeder Beziehung. Er ist also gleichsam das Ideal eines wohl 
fußenden und doch zugleich sehr mobilen Gerüstes, für das die 
Dreifaltigkeit seines Stütz werks und vornehmlich auch die Ver- 
wertung seiner gitterähnlichen Stabkonstruktion, nach dem Prinzip 
verschränkter Dreiecke, als Kunstform bezeichnend sind. 

Die drei Füße, die gespreizt nach unten auseinandergehen, um 
der Last eine möglichst breite statische Basis zu geben, behalten 
so den Ausdruck eines stützbedürftigen, in seinen Teilen noch un- 
selbständigen Gefüges. Dieser Ausdruck steigert sich noch durch 
den Dreieckverband von Querstäben, die ein leichtes, daher der 
inneren Verstärkung bedürftiges Geschränk bilden. Solche Be- 
festigung mit einander durchkreuzenden Stäben schließt die selb- 
ständige Festigkeit aus. 

Dieses Gestütz hätte somit an sich weder inneren Halt noch 
äußere Zweckmäßigkeit ohne den oberen Klranz, der die drei Füße 
verbindet und dabei zur Aufnahme der Last (des Kessels) dient 
So entspricht er dem oben angegebenen Kunstprinzip, indem er 
als Vertreter des Kessels dem Gestell selbst schon den Ausdruck 
der Zweckmäßigkeit sichert und die äußere Bestimmung zu einem 
inneren Bestandteil des Gefüges macht. Der Kessel bleibt freilich 
von der in sich abgeschlossenen Form des Dreifußes unabhängig, 
wirkt aber mit diesem vereint zu einer höheren einheitlichen Er- 
scheinung zusammen. Der Kranz charakterisiert sich demgemäß 
als krönend (abschließend), zusammenfassend (bindend) und auf- 



Das Gestell i5i 

nehmend (fassend), oft selbst als kelchförmig nach außen sich ent- 
wickelndes Gefäß, als Kessel für den Kessel. Dazu kommen 
noch die Handhaben, die zwischen den Füßen in dreifacher 
Zahl an dem Kranze befestigt sind. Den letzten Abschluß 
des Gesamtwerkes bildet der auf den hochrag'enden Handhaben 
ruhende Deckel. 

Nach dem Vorbilde des Dreifußes verstehen sich alle solche 
Gestelle, die das Stützwerk eines imabhängigen, dem Systeme nicht 
angehörigen Gegenstandes bilden. Wir brauchen darnach das Ge- 
stell nur noch so weit ins Auge zu fassen, als es in sich abge- 
schlossen, nichts außer ihm Befindliches aufzunehmen bestimmt ist 
und vollständig dasteht Natürlich sind beide Arten miteinander 
verwandt; denn auch nicht abgeschlossene Stützwerke, wie z. B. der 
Sessel, der eine Person aufnehmen soll, oder der Kandelaber als 
Träger einer Lampe, können als Gestelle schon in sich selbst einen 
gewissen formalen Abschluß haben und auch ungebraucht auf sich 
selber beruhen. 

Als Inbegriff eines selbständigen und vollständigen tektonischen 
Gerüstes betrachten wir das Ganze eines Dachgezimmers mit dem 
Rahmenwerk und dem Stützwerk seines Unterbaues als Einheit 

Die Bambushütte des Karaiben zeigt uns das von Baum- 
stämmen gestützte, mit Stroh oder Rohr bedeckte und mit Matten- 
geflecht umhegte Schutzdach, das auch Semper wiederholt beschäf- 
tigt hat^) Sie ist ihm ein Beispiel des Hausbaues, das in seiner 
Gesamtheit, wie in seinen Teilen dem Zwecke, zu dem es errichtet 
wurde, durchaus entspricht. Es genügt, wie Semper anerkennt, 
nicht nur den Gesetzen der Statik, sondern auch der Proportionen. 
„Wir sehen hier alle Elemente der Konstruktion in ihren ein- 
fachsten Ausdrucksweisen und Kombinationen. Aber jedes einzelne 
Element der Konstruktion spricht für sich allein und steht in 
keinem Zusammenhang mit den anderen. Jedes Glied ist nur zu- 
fallig tätig; es wurde nicht eigens für die Funktion, die es ver- 
richtet, gebildet Die Stützen sind nichts anderes als Baumstämme. 
Die Wandteilungen sind Matten, welche zwischen den Bäumen auf- 
gehängt sind." Deis können wir alles zugeben, nur nicht das 
Endresultat: „Das Ganze hat nichts mit der Architektur als 
Kunst gemein.- 

Halten wir uns zunächst allein an das tektonische Gerüst, in- 



1) Kl. Sehr. 294. 383. Der Stil S. 263. 

S chmar 8 ow, Kunstwissenschaft. II 



l62 XI. Tektonik 

dem wir von der Raumbildung als der eigentlichen Aufgabe der 
Architektur selbst noch absehen« Die einzelnen Bestandteile sind, 
wenn nicht für jede Funktion, die sie verrichten, eigens gebildet, 
doch für sie ausgewählt. Es sind Reihen von Bambusstämmen 
gleicher Größe, gleichen Wuchses, eben als gleichmäßig bean- 
spruchte Stützen gleichmäßig behauen. Das Prinzip der Regel- 
mäßigkeit, das schon der Ornamentik geläufig ist, waltet hier im 
ganzen Aufbau, soweit die Teile an ihrer Stelle im Ganzen £ds 
unterschiedene, aber gleiche ringsum abfolgen oder einander gegen- 
überstehen sollen. Die Wahrzeichen des Wachstums sind als will- 
konmiene Sprache organischen Lebens erhalten, aber die zufälligen 
Nebensachen, die vertrocknenden Stengel und Blätter beseitigt, nur 
das Konstitutive herausgeschält und erhalten. Mit dem Wachstum 
hängt die Proportion der Stäbe in sich von Natur zusammen; 
aber deutlich bestimmt das anerkannte Gesetz der Symmetrie auch 
die Abstände von Stütze zu Stütze, das der Proportionalität aber 
die Höhe bis zur Querstange, deren Abstand wieder vom unteren 
Rand des vorspringenden Daches und endlich die Höhe des Firstes. 
Dieser Firstrand selbst zeigt die alternierende Reihe von auf- 
ragenden Spitzen imd horizontal fortlaufenden Bindegliedern, wie 
drunten die Abwechslimg der Träger und der Zwischenräume und 
verkündet nach außen das Dasein des regelmäßigen Gefüges 
drinnen, das die schräge Schirmwand des Daches mit seinem Ge- 
flecht verkleidet. Und gerade im Innern waltet der feste Zusammen- 
hang, zu dem alle Teile dienend ineinandergreifen; mag das Schema 
der Konstruktion auch noch so elementar sein: die Anforderungen 
der Tektonik sind erfüllt Dazu kommen dann die Matten mit 
ihren regelmäßigen Vierecken aus verschiedenfarbiger Baumrinde, 
die bereits geometrische Muster und Farbenwechsel für den 
Wandverschluß verwerten. Sie trennen den Schlafraum oder das 
innere Gemach von der offenen Halle, wo der Feuerplatz steht, 
und zwar entfallen drei Fünftel der Gesamtlänge für den offenen, 
zwei Fünftel für den geschlossenen Raum. Und diese zwei Fünftel 
entsprechen der Tiefe des Gemaches, d. h. der Schmalseite des 
ganzen Rechtecks, dcis den Grundplan bezeichnet Diese Ramn- 
bildimg für lebendige Menschen erhebt aber das tektonische Gefuge 
zum Range eines Bauwerkes, so leicht sein Aufbau und so einfach 
das System des Lebens sein mag, das er verkündet Es hat mit 
dem Wesen der Architektur als Kunst mehr gemein, als die Stil- 
lehre, die allein nach den Formen urteilt, zunächst zugeben möchte. 



Die Karaibenhütte 163 

Schon als Wohnbau ist die Karaibenhütte von der Baukunst gar 
nicht zu trennen.^) 

Sie erfüllt die Forderung der Einheit, wenn in absolut formaler 
Beziehung vor allem verlangt wird, daß sie sich als in sich abge- 
schlossenes imd vollständiges Ganzes vor Augen stelle. Der 
schräge Ablauf des Daches leistet schon diese Absonderung 
ringsum. Ganz abgesehen von ihrer materiellen Zweckhaftigkeit, 
zeigt sich diese Form auch vom ästhetisch formalen Gresichtspunkt 
als die vollkommenste Endigung des tektonischen Gestelles nach 
oben. Es ist gleichviel, ob die Grundform, wie hier, eine oblonge 
oder überhaupt viereckige, oder sonst beliebig gestaltet sei; das- 
selbe gilt auch für die runde, ja vielleicht noch in höherem Grade. 
Während das oblonge Dach gewöhnlich aus einer Reihe dreieckiger 
Rahmen besteht, die in aufrechter Haltung hintereinanderfolgen, 
schließen sich die Dreiecke eines kreisrunden Daches eben radial 
einander durchschneidend um eine Mittelachse zusammen. Die 
aufrechten Dreieckrahmen werden bei jeder Form von dem 
wagrechten Rahmen aufgenommen, der die Reihe der Schenkel 
unten zusammenhält imd seinerseits auf dem Gebälk des Stütz- 
werks ruht 

Diese Gesamtheit des Gestützten mag gerade so weit lasten, 
als erforderlich ist, um die stützenden Teile in Tätigkeit zu setzen 
und zu erhalten. So wird diesen Gelegenheit geboten, ihre selb- 
ständige Widerstandskraft zu bewähren und ihre lebendige Energie 
zu betätigen, also ästhetischen Ausdruck zu gewinnen, der als 
Antwort auf jene Last von oben den Beschauer die Harmonie 
beider Bestandteile in unmittelbarer Erfahrung genießen läßt. „For- 
male Erscheinungen, an denen nichts auch nur den Gedanken an 
materielle Existenzfähigkeit und Dauer, also noch viel weniger den 
Zweifel an beidem hervorruft, lassen auch das Auge wenigstens in 
diesem Sinne am meisten beruhigt," erklärt Gottfried Semper (S. 233). 
„Keiner denkt bei einem aufrecht Stehenden, Senkrechten an dessen 
Schwere und, bei richtigem Verhältnis der Höhe zu seiner Basis, 
an dessen Stabilität. Ebensowenig werden wir bei einem horizon- 
tal Liegenden an dessen Gewicht als tätige Kraft erinnert; es ist 
für uns vielmehr zum sprechenden Sinnbild der absoluten Ruhe 
geworden." Dies Ergebnis des Ganzen ist bei einem Wohnbau 



i) Weiteres auBerordentlich lehrreiches Material für den Übergang aus dem 
Möbel in den Wohnbau bei Frobenius, Ozeanische Bautypen; Berlin. 

II» 



104 XI. Tektonik 

sicher der wünschenswerte Ausdruck. Wir sind darin am 
glücklichsten, wenn wir mit dem Zweifel an der Stabilität und mit 
einem wirklichen Konflikt zwischen Kraft imd Last gar nicht be- 
helligt werden. Das ist als natürliches Hausgesetz festzu- 
halten, wo immer der Mensch für den Aufenthalt von 
Menschen allein schafft und gestaltet Sonst können wir uns 
nur an das Ghrundprinzip aller künstlerischen Synthesis erinnern, 
das auch aus allen Beispielen vollendeter Tektonik hervorleuchtet: 
das Ganze ist seinem Zweckgedanken nach vor den Teilen da und 
wiederholt sich in seinen Bestandteilen. Die Teile vereinigen sich 
zu einem Ganzen, das ihnen selber gleichartig, in ihnen schon im 
Keime gleichsam enthalten ist. 



XIL 
MONUMENTALITÄT 

NATURGEBILDE UND MENSCHENAVERK — DAS MAL — OBELISK 
UND PYRAMIDE — BERGWAND UND EBENE — DAS TEKTONISCHE 

EINZELGEBILDE UND DAS BAUGLIED. 

Kehren wir von der Bambushütte des Karaiben, die lediglich 
als ein von Baumstämmen gestütztes, mit Mattengeflecht umhegtes 
Schirmdach angesehen zu werden pflegt, noch einmal zu dem wirk- 
lichen mehr oder minder beweglichen Schirm zurück, den wir auch 
im Zelte des Nomaden wiedererkannten. Da kommt es vor allen 
Dingen auf ein entscheidendes Merkmal an, das hier vorhanden, 
dort beseitigt ist: den Stock, der das Schirmdach trägt, in der Mitte. 

Aus dem zierlichen Stabe, den wir mit aufgespanntem Schirm 
neben unserem Kopfe oder gar vor unserer Nase tragen, wird beim 
Zuwachs der Spannweite ein Stecken, eine Stange. Solch ein 
Schirmstock pflanzt sich neben uns, vor uns hin und beansprucht 
mehr als Rücksicht Er nimmt den Platz früher ein als sein Herr 
und bestimmt den Ort, wohin ihm jener folgen muß. Er wird ein 
Hindernis für jede Mehrzahl von Personen, die sich so dicht wie 
möglich um ihn zusammendrängt. Bei stürmischem Wetter beginnt 
er vollends die Hauptrolle sich anzumaßen, und alle anderen hängen 
von ihm ab. Im Zelte des Nomaden endlich behauptet er dauernd 
den Mittelpunkt und ordnet sich alles unter. Er ist aus dem be- 
quemen Diener ein imbequemer Alleinherrscher geworden. Kein 
Wunder, denn er ist im Umkreis seiner Stäbe und ihrer Leinwand- 
flachen dazwischen nichts anderes als die Dominante in ihrem 
Wirkungskreis. Sowie er im Boden steckt und sein Zeltdach trägt, 
ist er auch das Mal in der ganzen Konstellation. Nehmen wir alle 
Bestandteile solches Schirmzeltes zusammen, so haben wir eine 
Sammelkomposition unter einer Dominante vor uns, nämlich um 
das Mal herum, von dem alle Beziehungen ausgehen, auf das alle 
zurückfuhren. Das Mal ist das Feste, Beharrende; die peripherische 



i66 ^11- Monumentalität 

Reihung ist das Wandelbare, das Bewegliche. Selbst die Ver- 
sammlung konkurrierender Individuen, die in solchem Zelte hausen, 
und seien es die Patriarchen des alten Bundes oder der Pharao 
von Agyptenland mit seiner Familie, sie überlassen dem Grund- 
stock des umgebenden Gerüstes die bevorzugte Zentralstelle, wie 
dem Stamm der Sykomore, unter deren Schatten sie lagerten. 

Die Beseitigung des lästigen Hindernisses freier Bewegimg 
unter dem eigenen Dach und die Übertragung seiner Gesamtfunk- 
tion auf zwei, drei oder gar vier solcher Stangen bedeutet ja den 
Übergang vom transportablen Gebrauchsgegenstand zum ganz 
anders gearteten Gerüst. Was wir unsere „vier Pfähle" nennen, 
die schon die Karaibenhütte aufweist, bezeichnet die ganze Revo- 
lution, die stattfinden mußte, um den Usurpator am eigenen Herde 
loszuwerden. Hinausgewiesen aus unseren „vier Wänden", die 
in der Karaibenhütte schon ebenso vorhanden sind, erscheint er 
aber draußen isoliert erst recht in seiner hervorragenden Bedeu- 
tung und erlebt, wie wir sogleich sehen werden, eine neue Ent- 
wicklungsgeschichte, in der er bald alles, was ihm abgestreift 
wurde, wieder an sich heranzieht, um nun dauernd und anerkamnt 
die Konkurrenz mit dem Menschen und seinen Versammlungen 
aufrechtzuerhalten. Das fuhrt uns mitten hinein in die Geschichte 
der Architektur. 

Zunächst aber müssen wir noch bei ihm selber verweilen; denn 
der erste Umschwung vom labilen zum stabilen Träger ist der 
wichtigste von allen, und zieht den anderen umfassenderen nach 
sich: von Mobilität zur Monumentalität Diese erste Verwand- 
lung nur ergreift ihn selber und stellt sein Wesen geradezu auf 
den Kopf oder verändert von Grund aus seinen Charakter. Wenn 
wir die Spitze eines Stockes, der uns eben noch als Wegiveiser 
oder als SchutzwafFe diente, sich also überallhin kehren mochte, 
nun — an einem Haltepunkt — nach unten richten und in den 
Sand stecken, so steht er für sich allein. Nur der Griff erinnert 
noch an die Zugehörigkeit, aus der wir ihn soeben entlassen. Seine 
Selbständigkeit wird voller Ernst, wenn der Stecken, den wir auf- 
gepflanzt, dieses Zeichen der Handhabe nicht unverkennbar an sich 
trägt, wie statt des gebogenen Griffes ein runder Knauf schon be- 
ziehungslos erscheint, oder wenn wir statt des Wanderstabes gar 
eine Lanze in den Sand gesteckt, so daß ihre Spitze nach oben 
weist So wird aus einer Bohnenstange wohl eine Flaggenstange, 
aus einem beliebigen Pfahl ein Mastbaum, je nach der Richtung 



Das Mal 167 

des verjüngten Stammes zum Grund und Boden. Sowie wir solche 
Beispiele nur nennen und anschaulich vorzustellen versuchen, so 
fühlen wir schon den Unterschied der beiden Enden imten oder 
oben deutlich heraus. Die ursprüngliche Spitze des Spazierstocks 
ist zum Fußpunkt geworden, der Knauf zum Kopfe. Die Lanze 
und der Mastbaum haben ihren Gipfelpunkt behalten, während der 
Pfahl, den wir mit dem schlankeren Ende des Baumstammes nach 
unten in den Boden einrammen, zunächst kopfüber zu stehen 
scheint, solange wir noch an sein Wachstum und seinen natür- 
lichen Zustand erinnert werden. Die Spuren der Herkunft werden 
hier geflissentlicher als dort beseitigt. Herausgerissen aus seinem 
ursprünglichen Zusammenhang und in ein neues, augenfällig ab- 
weichendes Verhältnis zum allgemeinen Grunde gebracht, verkündet 
erst das umgeformte Naturgebilde den Willen des Menschen, der 
ihm ein anderes Amt aufgenötigt und ihn aufgerichtet hat an 
dieser Stelle. Ganz befriedigend und zweifellos wird die Wirkung 
erst, wenn an dem Mastbaum noch ein Wimpel weht, an der Lanze 
die schneidend scharfe Spitze schimmert, oder wenn der Pfahl am 
dicken Ende oben durch ein Kopfstück seine Selbständigkeit be- 
hauptet und ebendort einen Abschluß erhält, wo wir sonst eine 
andere Last erwarten und damit die Aufnahme eines weiteren Zu- 
sammenhangs, den wieder Menschenhand ihm aufgenötigt, hinzu- 
denken. Dieser Dienst unterscheidet die vier Pfahle, wie den 
einen in der Mitte des Zeltes, als Träger des Schirmdaches von 
dem freistehenden Mal, das unabhängig aus dem Boden aufragt. 
Alle solche Unterschiede und Ansprüche sind nur Symptome 
der Anerkennung des Aufrechten als Gegenstand außer uns. Die 
Richtung als unsersgleichen ist die Hauptsache, und je nach 
ihrem Verlauf nach oben oder nach unten bestimmt sich der Chst- 
rakter dieses Körpers im Verhältnis der Vertikale zum Grunde 
unter imseren Füßen und zu dessen Gegenteil, der Luftregion zu 
unseren Häupten. Neutral wird der hölzerne Stamm, den wir be- 
nutzen, erst dann, wenn alle Spuren seines Wachstums beseitigt 
und beide Enden so weit gleich behauen sind, daß nicht mehr er- 
kennbar bleibt, was ursprünglich unten oder oben war. Dann liegt 
aber der gefällte Baumriese auch gleichgültig da wie ein toter 
Körper und bezeugt den Gewaltakt, der ihm widerfahren, auch 
wenn wir ihn aufrichten und hinstellen wie jene andern. Die auf- 
rechte Haltung macht ihn zum Mal geeignet, wie zum Träger; aber 
Freiheit von jedem weiteren Dienst und die Hervorhebung als 



i68 ^11- Monumentalität 

Dominante durch imponierende Große oder andere Wahrzeichen 
entscheidet erst den Charakter des Mals. Nun mag es als Mittel- 
punkt selbst in einem eigenen System von lebendigen Beziehungen 
dem Menschen gegenübertreten und sich im Wechsel der Erschei- 
nungen ringsum behaupten. 

Das Mal ist fast immer bodenständig, aber noch nicht unver- 
rückbar. Es kann vorübergehend diese oder jene Stelle als Mittel- 
punkt eines solchen Systems von lebendigen — sinnlich wahrnehm- 
baren oder geistig anknüpfbaren — Beziehungen kennzeichnen. 
Aber der punktuell fixierbare Wert, den des Menschen Wille so 
zur Anerkennung hinstellt, erhebt unter anderen, transitorischen 
Werten alsbald den Anspruch bleibender Bedeutung. Die beiden 
Extreme des absolut Mobilen und des im Boden haftenden Immo- 
bilen treten allmählich immer klarer auch in der Formensprache 
auseinander. Die Auseinandersetzung mit dem Erdboden unten 
und dem unbezeichneten Luftraum droben gibt diese sprechende 
Charakteristik, die schon den schlichten Träger des Schirmdachs, 
wie den Mastbaum oder die Flaggenstange, von den beweglichen 
Gestellen und Gestützen unterscheidet Der Dreifuß mit seinen 
Querstäben, die im Dreiecksverband die Stützen zusammenhalten, 
mit der gespreizten Haltung der Beine gegeneinander, verwandelt 
diese letzteren in senkrechte Träger imd streift jene ersteren, als 
innere Verstärkungsglieder des beweglichen Systemes, völlig ab, 
wenn es gut, ein massives, in der Selbständigkeit der Teile ge- 
sichertes Stützwerk hinzustellen, wie es der marmorne Dreifiiß oder 
der Altar vollends darzubieten pflegt Dann bleibt auch von den 
Füßen selber nur ein Ansatz übrig, wie an dem leichten Kandelaber 
aus gegossenem Metall, an dem sie noch weit ausgreifen, um die 
geforderte Standfestigkeit zu erreichen. Das gleiche Gerät aus 
getriebenem Metall oder Marmor kann eine Dreifußbasis erhalten, 
bedarf aber außerdem einer mittleren Stütze. Diese letztere allein 
begegnet uns, wie als Schirmstock oder als Zeltstange, auch frei- 
stehend als Mal. Es ist die griechische Stele, die sich wieder 
desto standfester, im Boden haftender erweist, je weniger sie sich 
durch untere Gliederung, Fußgestell oder Basis vom Boden los- 
trennt und abhebt. Erhält sie einen besonderen Sockel, so ist dies 
ein Zeichen für die Vorstellung wenigstens, daß die Stele selbst 
davon abgenommen werden könnte, wie sie einmal darauf gestellt 
ward. Sie bleibt wenigstens für den Gedanken beweglich, wie das 
Weihgeschenk, das sie trägt, während der Sockel an sich gerade 



Obelisk und Pyramide i6g 

die unverrückbare Unterlage darstellt und als Repräsentant der 
Erdoberfläche die Bedeutung des Mals als fest an diese ausgeson- 
derte Stätte gebundenes Wahrzeichen verstärkt. Dagegen erscheint 
die Stele selbst mehr mit dem Boden verwachsen, wo das trennende 
Zwischenglied fehlt Die Ausschweifung des hyperboloiden Schaftes 
nach unten enthält bei der dorischen Stele gleichsam latent die 
Basis, wie der untere Anlauf des Baumes über dem Wurzelgezweig 
im Boden die gleiche Form annimmt Das dorische Kapitell, das 
oben auf dem dünnen Ende des Schaftes aufsitzt und breit aus- 
ladend einen geweihten Gegenstand darbringt, ist das Wahrzeichen 
des Trägerdienstes, der dem schlank aufstrebenden Mal noch zuge- 
mutet wird. Es muß als Widerspruch zu diesem eigenen Wesen 
abgestreift werden, sowie es gilt, die Beziehung nach oben frei 
imd unabhängig weiterzufuhren. So endigt die aufgerichtete 
Lanze, wie der Mastbaum, so auch der Obelisk und die Pyramide 
in der Spitze. 

So verstehen sich die Abstufungen des Ausdrucks zwischen 
Mobilität und Monumentalität je nach der Art und der Ent- 
wicklung der im Mal oder Träger enthaltenen Formmotive. Je 
nach dem Vorhandensein oder Fehlen der Glieder am Fuß- und 
am Kopfende bestimmen sich notwendig auch die Verhältnisse des 
Schaftes. Die unten auswärtsgeschweifte Stele darf höhere Ver- 
hältnisse haben als ein zylindrischer Schaft mit seiner senkrechten 
Grenzlinie; dieser Zylinder wird in sich kräftiger sein müssen, wenn 
er unmittelbar aufstößt, als wenn er durch eine vermittelnde Basis, 
wenn auch nur scheinbar fürs Auge, einen Zuwachs an Stabilität 
erhält Schon die Rundheit des Schaftes, d. h. die Kreisform seines 
horizontalen Durchschnittes, ist wieder ein charakteristisches Kenn- 
zeichen der Selbständigkeit des isolierten Gebildes. Die volle 
Kreisform oder die polygone, die sich jener am meisten annähert, 
verhält sich ringsum gleich ablehnend nach allen Seiten und bietet 
nirgends eine Fläche für den Reflex der Beziehungen, die von 
außen an den aufrechten Körper herankommen könnten. Dagegen 
überläßt der Obelisk seine vier Seiten wohl gar der Bilderschrift, 
d. h. einem Niederschlag solcher Beziehungen, der seine Bedeutimg 
nach allen vier Winden verkündet Die Pyramide nimmt durch 
ihre gewaltigen Dreieckflächen den Zusammenhang mit dem ganzen 
weiten Reiche, nach allen vier Himmelsrichtungen, sogar in ihren 
Aufstieg hinein; aber sie vereinigt in den schräg zusammenfliehen- 
den Ebenen, wie in den scharf hervortretenden Kanten dazwischen 



170 



XIL Monumentalität 



auch in unerbittlicher Folgerichtigkeit die umfassende Weite mit 
der einheitlichen Spitze, in der punktuell, wie in jenem „steinernen 
Sonnenstrahl", die Vertikalachse des Ganzen gipfelt, als imverkenn- 
bare Dominante des monumentalsten Males. 

So entwickelt sich der isolierte Punkt zum festen Körper, ent- 
wickelt sich das fixierte Mal zum dauerhaften und im verrückbaren 
Monument Wollten wir den BegriflF der Monumentalitat nach 
diesen letzten Beispielen fast ewiger Beharrung bestimmen, so wäre 
wohl kein Zweifel, daß sein wichtigstes Merkmal in dem wider- 
standsfähigen, allen Wechsel der Zeiten siegreich überdauernden 
Material zu suchen sei. Ja das letzte dieser Beispiele, die Pyra- 
mide, die als Inbegriff des Monumentalen an sich erscheint, würde 
sogar dazu berechtigen, die Anhäufung einer kompakten Masse 
solchen Materials als entscheidend anzusehen und damit die Steige- 
rung des Maßstabes ins Übermenschliche, die Zusammenwälzung 
und Aufrichtung kolossaler Körpermassen als den UrbegrifF hinzu- 
stellen. Damit würden wir jedoch unleugbar den logischen Fehler 
begehen, der so häufig durch Verwechslung der Mittel mit dem 
Zweck entsteht. Dauerhaftigkeit des Materials und Größe des 
Maßstabes sind und bleiben nur Mittel zur Herstellung monumen- 
taler Werke, oder sie werden willkonmiene Darstellungsmittel, um 
auf die Sinne und damit die Gemüter der Menschen den Eindruck 
der Monumentalität hervorzubringen. Es fragt sich dann nur, ob 
dies unmittelbar, oder erst mittelbar in Verbindung mit anderen 
Faktoren erreicht werden könne. Der eigentliche Zweck des Mo- 
numentes liegt aber in seinem lateinischen Namen ausgesprochen, 
den wir Denkmal übersetzen. Nur um ein Mal zimi Angedenken 
einer Person, sei es einer wirklichen, sei es einer erdachten, oder 
einer Sache, einer Tat, eines Ereignisses, oder endlich einer Be- 
ziehung zwischen zwei solchen Faktoren, einer Idee, kurz nur um die 
Versinnlichung eines solchen Inhalts für möglichste Dauer kcuin es 
sich handeln, wenn wir auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes 
und die ursprüngliche Bestimmung der Sache selbst zurückgehen. 

Der letzte Zweck eines Monumentes ist immer die Verewigung 
eines Wertes und insofern identisch mit dem Zweck jedes Kunst- 
werks überhaupt. Aber es gibt Werte, die nicht an den transito- 
rischen Verlauf gebunden erscheinen, sondern vielmehr als bleiben- 
der Bestand der Veränderlichkeit alles Lebens zugnmde liegen. 
Es sind die konstitutiven Faktoren des Daseins, ja die Existenz 
selber, um die es sich handelt, — also Werte, die den Wechsel 



Das Denkmal 



171 



der Zeiten überragen und deshalb nach dem Verlangen des Menschen 
ihn auch überdauern sollten. Diese sind es, denen die Künste 
räumlicher Anschauimg vor allen ihre Kräfte weihen. Das äußerste 
menschenmögliche Maß der Beharrung zu erreichen, ist das Ziel, 
und der äußerste menschenmögliche Ausschluß aller Bewegung das 
Verfahren, mit dem es erstrebt wird. Erstarrung ist der Preis, um 
den die Beharrung erkauft wird, und die Kristallisation des Da- 
seins auf Kosten der Organisation alles Lebendigen ist der Prozeß, 
der sich mit der Absicht auf Monumentalität verbindet 

Die Verewigung eines solchen Wertes bringt sogleich das 
erste Mittel dazu von selber mit sich: die Verkörperung in 
dauerhaftem möglichst unvergänglichen Material; „denn alles Fleisch 
ist wie Grras". Und in Anbetracht der Größe des Wertes stellt, so- 
lange noch keine höheren Darstellungsmittel gefunden und allge- 
meingültig geworden sind, sich immer die Quantität der aufge- 
wendeten Masse als zweites Mittel ein. Bald ergibt jedoch die 
Erfahrung des unmittelbaren Eindrucks, daß nicht sowohl der Um- 
fang der Masse als vielmehr die Höhe des aufgerichteten Körpers 
das Entscheidende ist, wenn es gilt, nicht nur dem Wissenden das 
Bewußtsein zu stärken und dem Eingeweihten das Gefühl des 
Wertes zu beleben, sondern auch dem Uneingeweihten den Sinn zu 
öffnen imd dem Unwissenden eindringlich den Wert zu verkünden. 
Nur der aufgerichtete Körper über Menschenmaß imponiert dem 
fremden Ankömmling wie dem frommen Pilger. Starre, undurch- 
dringliche Körpergröße und unvergängliche Existenz in sinnlich 
wahrnehmbarer Stofflichkeit miteinander zu verbinden ist für Men- 
schenkunst nicht anders möglich als durch diese Mittel. Deshalb 
kommen wir beim Begriff der Monumentalität so leicht dazu, die 
Auffassung der Mittel, die dazu fuhren, vorwalten zu lassen vor 
dem Zweck, der sie bestimmt. Wir gebrauchen das Wort „monu- 
mental" wohl demgemäß für großartig und gewaltig überhaupt, mit 
einer Bevorzugimg des über Menschenmaß oder doch über Durch- 
schnittsmaß Hinausgehenden, wenn auch nicht ausschließlich für 
das Kolossale imd Ungeheure. 

Die Tatsache, daß unter diesen Mitteln die Überhöhung des 
Maßstabes uns gegenüber sich als das wirksamste herausstellt, weil 
es immer den ersten Eindruck entscheidet und wieder den letzten 
hinterläßt, gleichgut, welche Dauer des Bestandes und welche 
Stofflichkeit des Körpers hinzukomme, belehrt uns femer, daß das 
Hauptmittel, dem Werte zur Anerkennung zu verhelfen, in der 



Ij2 ^n. Monumentalität 

Übertragung des eigenen allerprimitivsten Wertes der Körperlich- 
keit und zwar der Korperhöhe besteht. Diese Gleichheit des ge- 
meinsamen Grundstocks sichert ihm das Verständnis und erklärt 
die Unmittelbarkeit seiner Wirkung auf das GefuhL Die Steige- 
rung der Größe dann, im Gegensatz zu uns, und die unverrückbare 
Beharrung der Körpermasse, im Widerspruch zu unserer beweg- 
lichen Natur, heben das Denkmal vollends heraus aus dem ge- 
wohnten Zusammenhang gleichorganisierter Wesen, aus dem alltäg- 
lichen Leben und Treiben mit unsersgleichen. 

Der ursprüngliche Wert sowohl wie die ursprünglichen Mittel 
zu seiner Dcirstellung sind nichts anderes als Körper, — Körper- 
größe, Körperumfang, vor allem aber Körperhöhe. Das lehren alle 
Zeichen und Wunder ältester Kunst, die wir als Denkmäler an- 
sprechen dürfen. Sowie wir aber den Beispielen selbst näher 
treten, ergeben sich auch Unterschiede und Modifikationen in ihrer 
Reihe, die uns genauer über Sinn und Wesen des KunstwoUens 
unterrichten. Die Pyramide schon unterscheidet sich vom Obe- 
lisken; denn sie ist nicht allein kompakte Körpermasse, sondern 
beherbergt einen oder mehrere Hohlräume, gehört also schon des- 
halb notwendig zur Architektur. Mag die Grabkammer für die 
Mimiie des Königs auch noch so klein, das Wohngemach für den 
abgeschiedenen Geist noch so bescheiden sein im Vergleich zu 
dem Umfang und der Masse des Ganzen: die Bedeutung der Per- 
son steigert auch den Wert des Raumgebildes, das sie umschließt 
Der Obelisk dagegen ist ein massiver Körper, ohne Innenraum 
darin, mag er als Wahrzeichen auch hinreichende Kraft besitzen, 
einen weiten Platz um sich her wie ein Raumgebilde zu zentrali- 
sieren, indem er, wie die Achse des Kristalls, ihm Halt gewährt 
und Richtung gibt nach allen Seiten über dem Grunde, aus dem 
er aufragt und frei nach oben weist in die luftige Weite. Er stellt 
sozusagen den Auszug aus der aufrechten Menschengestalt dar, mit 
Abstreifung aller organischen Gliederung und Rundung der Formen, 
gibt deren wesentlichen Inhalt, unter das Gesetz kristallinischer 
Regelmäßigkeit gebracht Wir sagen uns wohl, die kleine Pyra- 
mide, zu der er sich zuspitzt, sei sein Kopf, — der Sockel, auf 
dem er sich erhebt, sein Fuß; aber wie fremd erscheinen diese 
Teile sonst den Vergleichsstücken am Menschen gegenüber, und 
wie gänzlich andersgeartet vollends der Leib selbst, dessen vier 
gleiche, sich leise, doch stetig nach oben verjüngende Seiten wohl 
gar noch mit Bilderschrift überzogen sind! Die abstrakte stereo- 



Das Denkmal — ein Symbol 173 

metrische Form, die allen körperlichen Bezug zur Umgebung aus- 
schließt, ist gerade die monumentale, die damit jeder Veränderung 
durch solchen Zusammenhang enthoben bleibt Welches auch der 
Inhalt der Aufschrift imd damit das Wesen des hier versinnlichten 
Wertes sein mag, — was unmittelbar zu dem Betrachter spricht, 
ist doch nur der Körper, der aufgerichtete, hohe, der fremd und 
geschlossen dasteht Er weist nach oben über uns selber hinaus, 
aber er ist auch nach dorthin scharf und klar in seiner Körperlichkeit 
begrenzt Es ist schon Willkür, zu behaupten, daß er notwendig 
aufs Unendliche verweise. Nur die Richtimg der Spitze bleibt 
gegeben und tritt hervor. Eben sie hebt den abstrakten Kern der 
Form, die Zentralachse des Kristalls, als ausgesprochene Vertikale 
heraus aus dem übrigen Körper, der diesen Inhalt nur versinnlicht, 
bekleidet, und in solcher StofiFlichkeit dessen Existenz sicherstellt 

Was ist nun diese aufrechte Vertikalachse, an dessen Richtung 
nach oben sich das Gesetz der Proportionalitat vollzieht, was ist 
sie für den Menschen, der sie gewahrt? Wir erkannten sie in jedem 
Mal, dem beweglichen, bei Gelegenheit vorübergehend dort hinge- 
stellten ebenso, wie bei dem imverrückbaren hier, imd begrüßten 
sie als wesentlichen Inhalt der aufgepflanzten Lanze, der Flaggen- 
stange mit dem wehenden Wimpel, ja des Mastbaums auf dem 
schwankenden SchifiF. Noch die Sage weiß zu erzählen, daß der 
habsburgische Landvogt in den Tagen Wilhelm Teils eine Stange 
errichten, seinen Hut darauf stülpen hieß und von den freien 
Schweizern verlangte, davor Reverenz zu machen. Damit ist auch 
gesagt, was die Vertikalachse selbst, ohne die persönliche Be- 
ziehung durch den Hut, bedeutet: sie ist eine Auktoritat für sich, 
die Dominante eines eigenen Wirkungskreises, der Grundstock 
eines von ihr abhängigen Systems, auch wo wir die Bestandteile 
dieses Systemes von Beziehungen nicht mit versinnlicht finden. 
Das heißt, sie ist ein Sjrmbol, dessen Bedeutung und Tragweite 
sehr verschieden sein kann. 

Symbol aber nennen wir, in genauer Übereinstimmung mit 
dem griechischen Wortsinn, ein sinnlich wahrnehmbares Zeichen, 
das erst durch Hinzufugimg eines anderen ihm fehlenden Bruch- 
teiles vom Empfänger ergänzt werden muß, um die Vollständigkeit 
und damit die Vollgültigkeit des Ganzen zu erlangen. Das Symbol 
in der bildenden Kunst ist eine Form, die den Wert nicht selber 
völlig ausgestaltet, sondern nur einen Bruchteil desselben darbietet, 
so daß der fehlende Rest durch die Vorstellung des Betrachters 



»74 



XII. Monumentalität 



hinzugeliefert werden muß. So ist die aufrechte Vertikale in stereo- 
metrisch abstrakter Verkörperung nur das Symbol für die Einheit 
des Individuums, wie der Punkt im Kreise den Ichpunkt in der 
ganzen Sphäre unseres Bewußtseins bedeuten kann. Viel konkreter 
als diese Abstraktion des denkgewohnten Geistes gibt der aufge- 
pflanzte Speer des Häuptlings die Gegenwart des Abwesenden, 
d. h. die Fortdauer seines Willens im beanspruchten Machtbezirk 
wieder, verkündet die Stange mit dem Hut die Auktoritat der 
wohlbekannten Person und ergänzt sich durch die Phantasie der 
Bürger zur gebieterischen PersönUchkeit des Landvogts. So ruft 
der Obelisk, ein starres kristallinisch regelmäßiges Gebilde von 
Stein, das Angedenken eines lebendigen Wesens wach bei allen, 
die das Zeichen verstehen. Sei diese so verewigte Lebenskraft 
nun ein Gott oder ein Held, eine Tat oder ein Gedanke: vorge- 
stellt wird sie nach Analogie des eigenen aufrechten Willens und 
versinnlicht nach Analogie der eigenen hochragenden Gestalt des 
Menschen, mag der Wanderer, der seinen Umkreis betritt, sich 
auch demütig vor dem Wahrzeichen verneigen, sich niederwerfen 
auf die Knie und mit der Stirn den Boden berühren, als ginge die 
Sonne vor ihm auf. 

Das ist die eigentliche und ursprüngliche Bedeutung des „Mo- 
numentum aere perennius", d. h. jeder unvergänglich gewollten 
Verkörperung einer aufrechten Vertikalachse als Symbol eines 
anderen Wesens außer uns,^) eines so konkret in undurchdring- 
licher Stofflichkeit hingestellten Individuums zunächst völlig persön- 
licher Art. Es ist eine Abirrung von diesem allgemein gültigen, 
menschlich unmittelbar gefühlten Inhalt, wenn man die monumen- 
tale Bedeutung in der sakralen Funktion sucht und mit dem Be- 
griff" der Monumentalität ohne weiteres einen religiösen Sinn ver- 
bindet Wenn „in der antiken Welt jeder sakralen Funktion eine 
monumentale Bedeutung zukam'S so darf dies Verhältnis doch nicht 
umgekehrt werden, um die Monumentalität eines Baues, einer 
Statue im allgemeinen zu erklären, selbst nicht im Hinblick auf die 
Tatsache, daß „das ganze antike Leben vom sakralen Wesen durch- 
drungen war, so daß es sakraler Funktionen überall die Fülle gab".*) 
— Dagegen ist die Beziehung des monumentalen „KunstwoUens" 

i) Vgl. Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung S. 24 und 30, 
Anmerkung 9. 

2) AI. Riegl, Zur Entstehung der altchristlichen Basilika. Jahrfo. d. K. K. Zentral- 
kommission für Kunst und historische Denkmale. Bd. I 1903, S. 204 f. 



Das Denkmal — ein Symbol 17^ 

zur Entstehung religiöser Vorstellungen außerordentlich lehrreich. 
Das monumentale Schaffen gewährt in seinen Anfangen auch einen 
tiefen Einblick in die Eigenart und die Ausbildung menschlicher 
Begriffe von übermenschlichen Wesen, sei es der Gottheit, sei es 
der Natur, oder vielmehr beides zusammengenommen. Der antik 
heidnischen Auffassung, vor allem in der Griechenwelt, entspricht 
ausschließlich die eine Auslegung jenes Symbols, nämlich als Re- 
präsentant der Persönlichkeit. Und die Verewigimg dieses Wertes 
der Persönlichkeit ist der alleinige Zweck aller eigentlichen Monu- 
mente. Alle andere Bedeutung ist nur Übertragung von diesem 
Grundbegriff aus, z. B. auf eine denkwürdige Tat oder eine sieg- 
reiche Idee. Wo imser Denken und Fühlen damit in Widerspruch 
gerät, beweist dieser nur unsere weite Entfremdung von der antiken 
Sinnesart, vor allem des abstraüktionssüchtigen Geistes von der 
konkreten, am eigenen Körpergefuhl festhaltenden Sinnlichkeit des 
Hellenen, oder gar des tastbare Werte allein noch würdigenden 
Altorientalen. 

Die aufrechte Vertikalachse des Denkmals bezeichnet denn 
auch die Stelle, wo die Wege der beiden „monimientalsten Künste" 
— Architektur imd Plastik — auseinandergehen, solange sie auch 
auf ihrem eigenen Sonderpfade das Gemeinsame bewahren und in 
mannigfaltiger Ausgestaltung doch den Kern unverändert festhalten. 
Der Obelisk ist nur ein tektonisches, noch kein plastisches Ge- 
bilde im eigentlichen Sinne, ein Werk der Körperbildnerin freilich, 
aber als starrer kristallinischer Körper kein Abbild eines orga- 
nischen Geschöpfes, und als solcher höchstens Symbol eines ver- 
wandten Körperwertes. In seiner stereometrischen Abstraktheit 
zeig^ es das konstitutive Wesen gleichsam herausgeschält, um das 
körperliche Dasein als gemeinsames Erbteil, eben als unvergäng- 
lichen Wert zu verewigen. Sowie die regelmäßige kristallinische 
Form des Steines die Gliederung organischer Gestalt hinzunimmt, 
nähert sie sich auch dem vergänglichen Charakter des Lebewesens. 
Jeder Zuwachs an Natiu-wahrheit im Vergleich mit dem mensch- 
lichen Urbild wird auch Einbuße an Monumentalität des Standbildes, 
und sei es noch so hart von Stein, wie Grranitfiguren der ägyp- 
tischen Skulptiu*, oder noch so kolossal von Maßstab, wie die 
Königsgestalten von Kamak oder der Sphinx von Giseh. 

Ein anderer Weg führt vom Obelisken zur Pyramide, vom 
massiven Denkmal, durch die Aufnahme eines Hohlraumes in seinem 
Innern, zum Monumentalbau der Architektur, die wir als Raum- 



1^6 ^n. Monumentalitat 

gestalterin von ihrer Schwesterkunst, der Körperbildnerin, unter- 
scheiden. Bevor wir jedoch diesem entscheidenden Schritte nach- 
gehen, muß die monumentale Tektonik als Korperbildnerin mit 
ihrem steinharten Material und ihren stereometrischen Formen noch 
allein zu Worte kommen. Die nämlichen Beispiele, die soeben 
genannt worden sind, lehren uns noch mehr nach dieser Seite. 
Das Kunstwollen, das auf Verewigung der Werte gerichtet ist, 
kann nicht umhin, sich zunächst den felsenfesten Bergen zuzuwen- 
den, die aus der Erde ragen, und besonders im Gegensatz zu dem 
ebenen Lande, dem breiten Flußtal mit seinem verschwemmten 
Stromgebiet, oder gar zu der einförmigen Sandwüste, gerade das 
in größtem Maßstabe vor Augen stellen, was die Phemtasie des 
Menschen sich wünschen mag, nachdem sie einmal den Eindruck 
solcher beharrender Riesenformen, gegenüber dem wandelbaren 
Geschicke und dem mannigfaltigen Wechsel der Kulturschicht zu 
ihren Füßen, in sich aufgenommen und verarbeitet hat. Nicht so- 
wohl die Nachahmung eines isolierten Bergkegels in jedem Tumu- 
lus oder in der regelmäßigen Form einer Pyramide gilt es anzu- 
nehmen, obschon der Vergleich sich aufdrängt und durch den An- 
blick von Pyramidenreihen, wie die des Cheops, Chephren und 
Mykerinos bei Giseh, die gleich einer Bergkette zusammenwirken, 
noch verstärkt wird. Sie stellen immer schon das selbstgeschaifene 
Menschenwerk klar und abgesondert dem Naturwerk gegenüber. 
Viel bedeutsamer für die Entstehungsgeschichte monumentaler 
Tektonik ist die Bearbeitung der natürlichen Berge selbst, deren 
schräg abfallende Felswände mit dem erwünschten Material zu- 
gleich das erste Hindernis darbieten und durch den Widerstand, 
den sie leisten, für das Ringen der Menschenhand mit den 
kolossalen Massen vorgefundenen Steines zum ersten Schauplatz 
werden, auf dem sich die Auseinandersetzimg beider Faktoren voll- 
ziehen muß. 

Hier ist die Ebene, die man im Kunstwollen der Altägypter 
gesucht hat, von Natur gegeben. Das heißt, sie ist zunächst nicht 
gewollt, sondern vorgefunden; sie ist das vorhandene Substrat, an 
dem sich das Kunstwollen nur auszulassen und, soweit es seiner 
selbst bewußt geworden, zu bewähren vermag. Mit der Annahme 
eines eigensinnigen Widerspruchs werden wir um so zurückhalten- 
der sein müssen, je auffallender die Ähnlichkeit der selbst errich- 
teten Umfassungsmauern freistehender Bauten mit den schrägen 
Böschimgen solcher Bergwände bestehen bleibt. Ob man vorzieht. 



Bergwand und Ebene 177 

von freiwilliger Nachahmung- des Naturvorbildes aus eigenem 
Antrieb zu reden, oder vielmehr von xmbewußter Wiederholimg, 
die sich notwendig und von selber einstellt^ weil der Schatz von 
Formvorstellungen aus der natürlichen Umgebung gewonnen wird, 
und weil zunächst vielleicht gar kein Anlaß vorlag, über die ge- 
wohnte Anschauung hinaus zur Herstellimg streng senkrechter Ver- 
tikalebenen vorzuschreiten, — die Entscheidung in dieser Alter- 
native verschlägt nicht viel; denn das Ergebnis kommt schließlich 
auf dasselbe heraus: die schrägansteigende Ebene des abschließen- 
den Gebirges bedeutet auch für den Altägypter zunächst die Grrenze 
seines Kunstwollens, erst später vielleicht einen integrierenden Be- 
standteil seines bewußten Schaffens selber auch im flachen Lande 
drunten. 

Als Tummelplatz der monumentalen Absicht imd der formenden 
Menschenhand übt die Vertikalebene aber schon einen bestimmen- 
den Einfluß auf beide Faktoren, d. h. auf das natürliche Gestaltungs- 
werkzeug imd seine ergänzenden Bearbeitimgswerkzeuge, wie 
andererseits auf die Anschauungsweise xmd Vorstellungsgewohnheit 
des schöpferischen Geistes selbst. Kein Wunder, wenn sich eine 
weitgehende Anpassung vollzieht und eine nur uns erstaunliche 
Übereinstimmung aus solchem Verkehr erwächst. Immer jedoch 
bleibt die schrägansteigende Ebene des Berges wie der Pyramide 
nur die eine ins Auge fallende oder in Angriff genommene Seite 
eines Körpers. Und das Ganze, das gewollt wird, kann ebenso- 
wohl ein Körper wie ein Raum sein, d. h. eine Kolossalfigiir, wie 
jene sitzenden Könige, oder ein Höhlengang, wie ihre Gräber, oder 
endlich die Pyramide hier, der Obelisk dort, mit oder ohne Hohl- 
raum hingestellte Körper auf dem allgemeinen Grrunde. 

Fassen wir an dieser Stelle nur noch den tektonischen Einzel- 
körper ins Auge, der dem Felsen abgerungen wird. Mag er am 
Fuße des Berges stehen bleiben oder hinabgerollt und wieder auf- 
gerichtet werden in der Ebene drunten: er ragt isoliert auf, wie 
die ägyptische Säule von mächtigem Umfang. Sie gibt am besten 
Auskimft über das Wesen monumentaler Gestaltung an sich. Auch 
sie ist als aufrechter Körper zugleich Inhaber einer Vertikalachse 
wie der Mensch. Der zylindrische Stamm, ringsum abweisend, 
überall bis auf die eine Höhendimension in abweichende Rundimg 
übergleitend und in sich zurückkehrend, gibt den vollendeten Aus- 
druck imabhängiger, in sich abgeschlossener Haltung, erst recht 
dem Menschen ähnlich, wenn oben ein eigenes Kopfstück abgesondert 

Schmartow, KunatwiMenschaft. 12 



1^8 ^11- Monumentalität 

wird Aber nur das Konstitutive, das Beharrende, selbständig auf sich 
selber Beruhende ist herausgeschält, alles Accessorische, Bewegungs- 
fähige abgestreift. Selbst eine Basis alteriert schon den Charakter 
des in der Erde fußenden Schaftes, der wie ein Baumriese un- 
mittelbar aus dem Boden steigt Und zu diesen negativen Indizien 
kommt als positive das starre, keinem Druck des Fingers nach- 
gebende Material und dessen gewaltiger Umfang, vor allem aber 
die weit über Menschenmaß hinausgehende Höhe. Was das heißt, 
wird erst recht fahlbar, wenn wir uns wirklich einmal in solche 
wuchtige Säule hineinversetzen und uns von innen her mit ihr ver- 
gleichen. Dann begreifen wir, daß das Grundmaß alles mensch- 
lichen Schaffens auch bei monumentaler Größe im Menschen selber 
gegeben ist, und daß jedes Hinauswachsen der tektonischen Form 
über dieses Maß eben den Gradmesser der Vergrößerung gibt, zum 
Ausdruck übermenschlichen Wesens. Gerade der stärkste Gegen- 
satz gegen die Alltagsgewohnheit des Menschengeschlechts scheint 
zu Anfang allein das Entsprechende zur Bezeichnung des Un- 
wandelbaren und Ewigen. Die Steigerung aller Dimensionen ins 
Ungeheuere bedeutet gerade die Aufhebung des kleinen Menschen- 
maßes, und mäßigt sich erst bei edlerer Bildung, wo auch der Ge- 
danke an das Göttliche und der Verkehr mit ihm nicht mehr zu 
den Ausnahmezuständen gehört, die dem Barbaren gewaltsam auf- 
genötigt werden, wie die Herrschaft des Machthabers oder die 
Auktorität der Priesterkaste. Vor allen Körperdimensionen ist es 
aber die Höhe, die wesentlich bleibt, auch wo die Götter sich den 
Menschen nähern; denn für den Menschen, der dazwischen wandelt, 
sind auch diese Formen bestimmt: ihm sollen sie das Göttliche 
versinnlichen und dessen Überlegenheit zu Gemüte fuhren. Er 
muß das tektonische Gebilde körperlich fühlen neben dem eigenen 
Leibe, wenn er durch ihre Reihe hindurchgeht, die aufrechte 
Höhenachse sich gegenüber, wenn er davorsteht, und dieses Gefühl 
wird durch imponierende Steigerung der Vertikalen nicht nur erst 
recht, sondern schon allein hervorgerufen und ausschließlich er- 
reicht Solange die tastbaren Körperwerte bevorzugte Gültigkeit 
behaupten, bleiben auch die anderen Eigenschaften unerläßlich, die 
zur Körperbewegung in der Nähe gehören. Mit erdrückender 
Wucht tritt die Säule des Altägypters neben den menschlichen 
Besucher des Heiligtums. Wie Elephantenbeine stampfen die 
Säulen indischer Grottentempel den Boden, aber auch kurz und 
gedrungen wie diese, mit der lastenden Decke darüber, wenn wir 



Einzelgebilde und Bauglied j^q 

sie mit den Säulenreihen ägyptischer Tempel und deren Verhältnis 
zu ihrem Gebälk oder zur unmittelbar aufhihenden Horizontalebene 
des Daches vergleichen. Nicht allein im Fußboden unten liegt der 
feste, für alle gemeinsame Zusammenhang, sondern auch oben in 
seinem Gegenbild, der flachen Decke oder im Gebälk schon, das 
die Säulen tragen. Dies Joch auf ihren Schultern oder die Last 
auf ihrem Kopf unterscheidet die Säule als Trägerin von dem frei- 
stehenden Mal. Ihre Selbständigkeit ist im Dienst eines gemein- 
samen Zweckes wieder eingeordnet in ein umfassendes Ganzes. 
Ein Koloß reiht sich an den anderen, aber nicht unmittelbar, son- 
dern nach einem gleichgroßen Intervcdl, der wiederum als Raum- 
leere zwischen den Körpern auf diesen Maßstab zurückweist. Der 
kleine Mensch mag zu zweit, zu dritt xmd noch mehr vervielfacht 
hindurchschlüpfen; der Gott, der hier wohnt, braucht solche Weite, 
solche Höhe, um hindurchzuschreiten. Jenseits der ersten Säulen- 
reihe mag aber wieder eine zweite sich vorschieben und den vor- 
wärtsdringenden Blick gar zeitweilig abfangen, um abermals die 
Körperwirkung aus der Nähe zu erzielen, auf die es ankommt So 
ist der ganze Innenraum eines ägyptischen Tempels vielleicht nur 
ein mit Einzelkörpem in gleichem Abstand gefüllter Gestaltungs- 
raum, als dröhnten überall die Schritte des Obergewaltigen, dessen 
Gegenwart das kleine Menschenkind befangt und es niederzwingt 
den Boden zu küssen. Und dennoch sind wir unleugbar bei der 
Raumbildung angelangt, die uns die Tempelhöfe unter freiem 
Himmel erst recht verkünden, d. h. wir haben die Schwelle der 
Architektur bereits überschritten. 



12* 



xm. 

WOHNBAU — SAKRALBAU - MONUMENT 

Architektur ist ihrem innersten Wesen nach Raumgestaltung, 
haben wir immer bekannt, wo es darauf ankam, ihren Grundbegriff 
festzustellen. Solange sie unmittelbar dem dunklen Drange des 
schöpferischen Triebes folgt, bewegt sie sich im Sinne des Raum- 
willens; sie vollzieht sich in der Richtung unseres Vorwärtsgehens, 
Vorwärtshantierens und Vorwärtssehens, also in der dritten Dimen- 
sion, der Tiefe. Die Raumentfaltung vom menschlichen Subjekt 
aus bildet ihre natürlichste Aufgabe und das Hinausschieben der 
Grenze vom Anfang bis ans Ende bleibt die Hauptsache für die 
Gewinnung des Spielraums, der die eigene Person umschließen soll, 
während die seitlichen Verbindungen dazwischen links und rechts 
sich im Entlanggehen wie von selber ergeben. So entsteht, ob in 
dürftigen Zeichen der Phantasie, ob in vollständiger Durchfuhrung 
für die Wirklichkeit das Raumgebilde.*) Die ersten Versuche zur 
Abgrenzung eines näheren Bezirkes gehen kaum über die Anord- 
nungen des Kindes hinaus. Die Spuren der Fußsohlen im Sande, 
die schmale Furche mit dem Stecken gezogen, eine Reihe von 
hellen Feldsteinen auf dem dunklen Erdboden oder von kleinen 
Holzpflöcken auf dem grünen Rasen genügen schon zur fortlaufen- 
den Bezeichnung der Grenzen ringsum. Es ist freilich, wenn wir 
den Vorgang genetisch betrachten, nur ein mimischer Niederschlag 
auf der Gnmdebene, und das Ganze, das zustande kommt, als sinn- 
fälliges Ergebnis, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein 
Rahmen, der drunten am Boden liegend den Menschen als Haupt- 
stück der Füllung einschließt Aber solange die Einhegung ringfsum 
vom selben Standpunkt darinnen übersehbar bleibt, wird auch die 
Beziehimg zum Haupte des aufrechtstehenden Menschen nicht auf- 
gehoben. Liegen die Grenzen auch weiter hinaus, als seine Tast- 
region unmittelbar reicht; hat sich der Urheber auch von der Be- 



i) Vgl. Beiträge II, S. 5 f. Wesen der archit. Schöpfung S. 12. 



Das Raumgebilde i8i 

rührung der einzelnen Zeichen, die er als Träger seines Willens 
aufgereiht, zurückgezogen, so verbindet sie doch sein Blick, soweit 
er vorwärts schaut, und das Erinnerungsbild der anderen Hälfte, 
die rückwärts liegt, ergänzt die sinnliche Wahrnehmung der vor- 
deren zur Vorstellung des Ganzen. Und dieses Ganze ist nicht 
mehr der objektiv am Boden ausgebreitete Rahmen allein, sondern 
enthält das lebendige Subjekt mit; es ist eine räumliche Vorstel- 
lung, für die jene sinnlich wahrnehmbaren Zeichen genügen, um 
ihr Anerkennimg als Projektion in die Außenwelt zu verschaffen. 
Die räumliche Vorstellung, die hier entsteht, gipfelt im Haupte des 
Inhabers. Sie ist subjektiv wie eine Pyramide über jener Grund- 
ebene, wenn wir die Grenzen geradlinig und rechtwinklig gezogen, 
ein Kegel, wenn wir sie kreisrund oder elliptisch angelegt haben. 
Nehmen wir aber die Tatsache hinzu, daß unser gewohnter Seh- 
raum sich immer der Form einer inneren Kugelfläche nähert, so 
dürfen die Verbindungslinien zwischen unserem Sehorgan oder 
unserem Scheitel und den Grenzpunkten drunten am Boden nicht 
geradlinig gedacht werden, sondern als Kurven. Es entsteht also 
über dem Rahmen xmd seinem Ins£tssen notwendig ein sphärisch 
gewölbter Raum, den die Grundebene horizontal abschneidet. Je- 
der Augur weiß das, wenn er sich anschickt, mit dem Lituus den 
Beobachtungsraum abzugrenzen, in dem der Vogelflug entscheiden 
soll. Schneidet er mit dem langen Stabe Vertikalebenen in die 
Luft ein, so reichen sie über die Linien am Boden weit hinaus zur 
Himmelshohe; es sind Scheidewände, wenn auch nur für seine 
Raumvorstellung allein. Führen wir sie wirklich auf, sei es auch 
nur als leichte Vorhänge, wie die Leinwand, die solcher Raimi- 
scheide den Namen gegeben hat, so geht die Verwirklichimg des 
Raumgebildes schon zu direktem Widerspruch mit der natürlichen 
Bildung unserer sphärischen Raum Vorstellung über: das Raumge- 
bilde zeigt eine regelmäßige stereometrische Figur mit senkrecht 
aufsteigenden Seiten, die imter sich wieder rechtwinklig aneinander- 
stoßen. Auf kreisrundem Grundriß fließen sie ineinander zur ein- 
heitlichen Zylinderwand, auf einer Ellipse bildet sich erst recht eine 
Vermittlung mit dem halbkugeligen Sehraum; aber dessen untere 
Sphäre wird doch immer ringsum diu'ch die lotrechte Wandung 
abgeschnitten. 

So erst entsteht, einem tektonischen, auf die Grrundebene ge- 
legten Rahmen entsprechend, das regelmäßige Raumgebilde, dessen 
Wirklichkeit wir eben gerade kraft dieses Unterschiedes von 



i82 XIII. Wohnbau — Sakralbau — Monument 

unserer menschlichen Raumvorstellung anerkennen und als objektiv 
bestehend jederzeit hinnehmen. Das Notwendigste daran bezeich- 
nen wir treffend mit dem Namen „unsere vier Wände". Die Be- 
grenzung des Raumausschnitts nach vorn und nach hinten, nach 
links und rechts ist für uns die Hauptsache. Erst wenn wir hinter 
die Erscheinung zurückgehen und ihren festen Bestand hervor- 
heben wollen, sprechen wir von unseren vier Pfählen, Auch hier 
aber kommt es nicht sowohl auf ihre konstruktive Unentbehrlich- 
keit als Träger der zwischen ihnen ausgespannten Wände an, als 
vielmehr auf die sinnliche Unentbehrlichkeit der sichtbaren und 
tastbaren Zeugen, die wir als Träger unseres Willens hingesetzt 
und als Grenzmäler des für uns ausgesonderten und allen anderen 
gegenüber beanspruchten Raumvoliunens aufgepflanzt haben. Der 
Grund und Boden imter unseren Füßen, in dem sie stecken, ver- 
steht sich von selbst, nämlich als Voraussetzung unseres mensch- 
lichen Körpergefühls und unserer Orientierung auf dem allgemeinen 
Schauplatz dieser Erde, damit aber auch unseres natürlichen, wenn 
auch erst werdenden Raumgefühls, wie es in aufrechtstehenden 
und -gehenden Lebewesen sich ausbilden muß. Die vier Wände 
sind die notwendigen Grrenzen zwischen unserem besonderen Raum 
und dem allgemeinen da draußen; sie erst machen den eingehegten 
Fleck Erde zu unserem Eigentum, in dem wir uns aus der Zerstreuung 
sammeln, wohl gar unter Verzicht auf die weite Welt bescheiden. 
Dagegen vermag der Inhaber solcher vier Wände sehr lange noch 
den sinnlich wahrnehmbaren Abschluß der Decke zu entbehren, 
ohne den horizontalen Wandverschluß über seinem Haupte zu ver- 
missen. Wird Sonnenschein oder Regen ihm lästig, so spannt er 
sein Schirmdach zwischen den Wänden aus, wird es aber gern 
wieder lüften, sobald die äußere Veranlassung zu solcher vorüber- 
gehenden Schutzmaßregel aufhört, es sei denn der Himmel dauernd 
so ungünstig, daß die ganze Absperrung von der Außenwelt zu 
bleibendem Bestände gefestigt werden muß, um die Zwecke des 
häuslichen Lebens zu sichern. Das Raumgebilde kann als solches 
auch unter freiem Himmel schon bestehen; über diese Tatsache 
darf das praktische Bedürfnis, das ebenso früh den Schirm erheischt, 
nicht täuschen, zumal nicht bei einer ästhetischen Betrachtung des 
KunstwoUens, die auch dem ganzen Hause nicht gerecht zu werden 
vermag, wenn sie es nur als Gebrauchsgegenstand beurteilt*) 



i) Beiträge II S. 6. Das Wesen d, archit. Schöpfung S. i6. 



Raumbildung und Verkörperung ig^ 

„Ist nicht seit dem frühesten Kulturerwachen der Menschheit", 
schreibt auch Alois Riegl, „die Absicht aller und jeder Baukunst, 
die über die Schaffung eines bloßen Males hinausging,*) auf Raum- 
bildung gerichtet gewesen? — Die Architektur ist doch eine ge- 
brauchszweckliche Kunst, und ihr Gebrauchszweck lautete in der 
Tat allezeit auf Bildung begrenzter Räume, innerhalb deren dem 
Menschen die Möglichkeit freier Bewegung offen stehen sollte. 
Wie aber schon diese Definition lehrt, zerfallt die Aufgabe der 
Baukunst in zwei Teile, die einander notwendigermaßen ergänzen 
und bedingen, aber gerade darum in einem bestimmten Gegensatze 
zueinander stehen: die Schaffung des (geschlossenen) Raumes als 
solchen und die Schaffung der Raumgrenzen. Damit war dem 
menschlichen Kunstwollen seit Anbeginn die Möglichkeit geöffnet, 
den einen Teil der Aufgabe einseitig auf Kosten der anderen zu 
betreiben. Man konnte die Raumgrenzen derart überwuchern lassen, 
daß das Bauwerk in ein plastisches Bildwerk überging; man konnte 
andererseits die Raumgrenzen in solche Feme hinausschieben, daß 
im Beschauer dadurch der Gedanke an die Unendlichkeit und Un- 
meßbarkeit des freien Raumes erweckt wurde." ^ Die Frage ist 
nur, wie sich ein Volk, eine Zeit zu dem gedachten Gegensatz stellt. 

Diese logische Deduktion leidet jedoch an einem sachlichen 
Fehler. Bei der einen Alternative, wo das Bauwerk zum plastischen 
Bildwerk wird, ist der Zweck, von dem die Definition ausging, ganz 
aus den Augen verloren, nämlich der Gebrauchszweck für freie 
Bewegung des Menschen.^ Er wird beim massiven plastischen 
Bildwerk völlig ausgeschlossen, und ein ganz anderer Zweck, der 
des Denkmals, tritt an die Stelle. Scheiden sich aber darnach die 
Wege, so haben wir den Nutzbau oder Wohnbau auf der einen 
Seite und könnten ihm auf der anderen folgerichtig nur einen 
Monumentalbau gegenüberstellen, der doch in die Plastik ausläuft 



x) Solange es sich dabei um massive Einzelgebilde handelt, haben wir es, wie 
ausdrücklich hervorgehoben werden mag, nur mit Plastik oder Tektonik, noch 
nicht mit Architektur zu tun. Eine weitere Verwahrung wäre gegen das mögliche 
Mißverständnis einzulegen, als wolle Riegl mit dem Ausdruck „hinausging", als 
historischer Angabe, die Priorität des Mals vor dem Nutzbau behaupten. 

2) „Das Absehen auf die körperliche Außenseite", steht Beiträge II S. 8, „kann 
wohl die Raumbildung des Innern so stark überwuchern, daß man der letzteren, ob- 
gleich sie den Kern des Ganzen gibt, wie bei der Pyramide fast vergißt." 

3) „Die Pyramide ist eher ein Bildwerk, denn ein Bauwerk zu nennen," heißt 
es ausdrücklich bei Riegl (S. 22). „Taufkirchen und Grabmalkirchen stellen einen 
Mischtypus dar, der zwischen Architektur und Skulptur inmitten steht" (S. 15). 



184 XIII. Wohnbau — Sakralbau — Monument 

und mit dem Denkmal, als kompakte Masse ohne Innenraum für 
Lebewesen, schon gar nicht mehr zur Architektur gehört, wenn 
diese nur als gebrauchszweckliche Kunst definiert wird. Die 
natürliche Gegenüberstellung, die wir zunächst brauchen, wäre 
jedenfalls „Profanbau und Sakralbau", wenn wir unter dem ersteren 
alle Bauten für menschliche Zwecke, unter dem anderen diejenigen 
für ideale Zwecke verstehen dürfen. Aber die beiden Namen be- 
deuten so keinen ausschließenden Gegensatz; denn auch im Profan- 
bau gibt es ideale Zwecke, ja sakrale Stätten, im Sakralbau auch 
profane Zwecke (Schatzkammer usw.), wenn sie sich auch den 
Blicken entziehen. Die gemeinsame Grundlage und das unver- 
äußerliche Merkmal in der Definition der Architektur als Kunst 
muß also die Raumbildung bleiben. Raumgestalterin ist sie 
von Anfang an bis zu Ende; nur dieser Begriff erschöpft ihr 
Wesen, bei dem freilich die Gestaltung ebenso notwendig ist wie 
der erste Teil des Namens. Der unendliche Raum aber liegt ihr 
als ungestaltet und unermeßlich recht lange fem; spät erst tritt er 
als Kontrast ihrer klaren gesetzmäßigen Schöpfung gegenüber, den 
diese nicht mehr bewältigen kann oder will, ja als ästhetischen 
Gegensatz bei der eigenen Rechnung in Anspruch nimmt 

Das Raumvolumen dagegen, das den Menschen als Spielraum 
umgibt, ist das zunächst Gewollte, nicht die Aufrichtung körper- 
licher Massen, die wir zu dessen Verwirklichimg brauchen. Alle 
statischen und mechanischen Vorkehrungen, wie alle materielle 
Durchfuhrung des Wandverschlusses sind nur Mittel zum Zweck, 
zur Versinnlichung der dunkel geahnten oder klar angeschauten 
Vorstellung des architektonisch Schaffenden. Daß sich die Ent- 
wicklung freilich vom ahnungsvollen Triebe zum absichtsvollen 
Plane nur an der Hand dieser greifbaren Mittel und technischen 
Erfahrungen hindurchringt, daß auch das werdende Raumgebilde 
erst im Vollzug seiner Verwirklichung sich auswächst und auf 
diesem Wege gar manche Verwandlung erleben mag, ist fast allzu 
selbstverständlich, um noch wiederholt zu werden, und doch leider 
noch immer nicht genugsam bekannt Da zur Auflichtung des 
Schirmstockes schon oder der vier Pfahle, die ihn im Zelte über- 
flüssig machen, unsere eigenen Arme und Hände, d. h. unsere Tast- 
werkzeuge gebraucht werden, so ergibt sich von selbst, daß dies 
Raumvolumen sich stets mit Eigentümlichkeiten unseres Tastraumes 
durchsetzt, wenn es auch nicht lange in den engen Grenzen der 
Tastregion selber verharrt. So wird deis Raumgebilde als Einraum 



Gebrauchszweck i g ^ 

auch die Natur des Gestaltungfsraumes bewahren, d. h. er mag bis 
zum massiven Kern der Bauglieder vom Tastgefuhl des Erbauers 
oder Bewohners durchdrungen sein. Und dieser Charakter der 
lebendigen Gliederung, der Verwandtschaft mit menschlich eigenem 
Empfinden kann auch fortbestehen, wenn der persönliche Anteil des 
schöpferischen Subjekts sich auf den Standpunkt des reinen 
Schauens zurückzieht. Nur darf nicht vergessen werden, daß der 
Raumwille doch die eigentliche Seele der architektonischen Schöp- 
fung ist, und daß die Ortsbewegung zwingend das schützende Ge- 
häuse zur geräumigen Wohnung erweitem heißt 

Das Zelt des Nomaden oder die Bambushütte des Karaiben 
sind bessere Ausgangspunkte für das Verständnis der Architektur 
als Kunst, solange es auf den lebendigen Zusammenhang mit dem 
Menschen ankommt, als alle Steinmäler, Obelisken, Menhirs, die man 
als Symbole der Gottesverehrung, d. h. unter einem fremden Gesichts- 
punkt, immer vorangestellt hat Nur vom Wohnbau des Menschen 
aus kann auch das Wesen des Sakralbaues, der Wohnimg des 
Gottes, erschlossen werden, und erst am letzten Ende dieser Reihe 
steht der auf Verewigung bedachte Monumentalbau, der mit 
dem Denkmal des Individuums oder dem Symbol eines reinen 
Idealwertes in der Tektonik oder Plastik mündet, d. h. eben mit 
dem Verzicht auf jeglichen Innenraum sich der Architektur ent- 
fremdet. Die Kimstwissenschaft hat alle Ursache, den Übelstand, 
daß sie für frühere Zeiten fast ausschließlich auf Denkmäler dauer- 
haftesten Materials angewiesen ist, wenigstens dadurch wettzu- 
machen, daß sie der Erforschung des vergänglichen Wohnbaues 
die größte Sorgfalt zuwendet, und wo die Quellen ihrer Kenntnis 
spärlich oder intermittierend fließen, wenigstens theoretisch die 
Wichtigkeit solcher Zeugnisse sicherstellt, da diese allein uns in 
die intime Entstehimgsgeschichte einzuweihen vermögen. Darum 
weg mit allen Vorurteilen, die uns solche unbefangene Auffassung 
der psychologisch wertvollsten Grrundformen versperren, mögen die 
Vorurteile durch den Idealismus der philosophischen Ästhetik oder 
durch den Materialismus der naturwissenschaftlichen Reaktion gegen 
jene zu den Kunsthistorikern gedrungen sein« 

Daß der Gebrauchszweck als solcher keine Ausschließung des 
Werkes aus dem Reiche der Kunstschöpfungen im eigentlichen 
Sinne bedingen kann, haben wir bei der Betrachtung des Kunst- 
handwerks ausgeführt Beim Bauwerk liegt der Gebrauchszweck 
vollends nicht außerhalb, sondern in dem Raumgebilde selber. 



1^5 XUL Wohnbau — Sakralbau — Monument 

Auch beim Wohnbau ist die Beurteilung als Gebrauchsgegenstand 
eine praktische, keine ästhetische; sie mag der letzteren voraus- 
gehen, dieselbe erst recht vorbereiten, darf aber nicht mit ihr ver- 
wechselt werden. Der Zweck, den wir auch in der ästhetischen 
Aufnahme des Bauwerks anerkennen, ist der innere Selbstzweck, 
oder eigentlich ein System von Zwecken, wie es das Leben des 
Menschen innerhalb solcher bleibenden Fassung verfolgt, und das 
in seiner Gesamtheit die Entfaltimg einer zusammenhängenden 
Reihe von Werten seines Daseins darstellt, deren Korrelat im 
Raumgebilde dem Kunstwollen vollauf Gelegenheit gibt sich zu 
bewähren. Wir haben also gar nicht nötig, mit der „Unterschei- 
dung zwischen dem Zweckmäßigen, das der Befriedigung sinnlicher 
Bedürfhisse entspricht, und dem Schönen, das gefallt, auf den 
Boden einer dualistischen Auffassung überzutreten",^) sondern 
nehmen den Begriff des Zweckmäßigen getrost in den Begriff der 
architektonischen Schönheit auf, weil es ohne ein System von 
Zwecken des Menschenlebens, das sich darin ausdrückt, gar keine 
Schönheit der architektonischen Schöpfung geben könnte. Als be- 
wußtes Menschenwerk muß sie auch eine innere Zweckidee ent- 
halten und diese ist der Inhalt des Formgebildes, das Gesetz der 
Kristallisation oder die Seele des Organismus, welches Gleichnis 
immer je nach dem Entwicklungsstadium der Kunst den Vorzug 
verdienen mag. 

Ein anderes Vorurteil ist die Forderung der absoluten Ge- 
schlossenheit, die an das Raumgebilde als künstlerische Einheit 
gestellt wird. Es hat sich in der oben zitierten Definition der 
Baukunst und ihrer Folgenmg bei Riegl in einem unvorsichtigen 
Erklärungszusatz eingeschlichen, wo von der ersten Aufgabe, der 
„Schaffung des (geschlossenen) Raumes" die Rede ist.^ Nur der 
„geschlossene Raum" wäre darnach als Architekturwerk anzukennen. 
Und was ist dieser? Der Begriff wird an anderer Stelle durch 
den negativen Satz umschrieben: mit dem Abschluß nach oben, 
d. h. mit der festen Decke, fehle die volle Innenräumlichkeit {22). 
Der hölzerne Dachstuhl, in den man offen hineinblickt, ja die ver- 
schalte Holzdecke, erlaubt nicht, das Raumgebilde als wahrhaft 
geschlossenen Innenraum aufzufassen (29). „Jeder geschlossene 



i) AI. Riegl, Zur Entstehung der altchristlichen Basilika. Jahrb. d. K. K. 
Zentralkommission für Kunst imd historische Denkmale. Bd. I 1903, S. 196 u. 201. 
2) Spätrömisches Kunstgewerbe, S. 16. 



Geschlossenheit 187 

Innenraum erfordert zwingend die gewölbte Decke," heißt es gar 
ausdrücklich, womit gewiß cdlgemeiner die massiv aus Stein ge- 
fugte Flachdecke auch einbegriffen werden soll. Das ist jedoch 
offenbar eine Verwechslung des geschlossenen Innenraumes mit 
dem monumentalen, wenn wir darunter den aus einheitlichem 
Steinmaterial von unten bis oben hergestellten verstehen. „Eine' 
Kunst, die darauf ausgeht, den Stoff zu geschlossenen Einheiten zu 
formen", ist eben Monumentalkunst (S. 27). Die Verbindung des 
Begriffes „Monumentalität" mit der Einheit des Materials ist 
ist aber eine Auslegung, die wir den „Kunstmaterialisten", d. h. 
gerade Riegls Antipoden verdanken, gegen die er sonst so eifrig 
zu Felde zieht. Einheit des Materials kann nur im Sinne 
des Materialstils verlangt werden.*) Nehmen wir diese For- 
denmg in die Definition der Baukunst auf und bestimmen darnach 
ihre Aufgabe, die Raumschöpfung schon an sich, so beschränken 
wir die Grenzen der Kunst in unerträglicher Weise. Sehen wir in 
dieser Einheit des Stoffes auch nur einen integrierenden Bestand- 
teil des Monumentalbaues, so setzen wir uns in Widerspruch zu 
den Denkmälern wichtigster Perioden der geschichtlichen Entwick- 
lung. Durch beides verschließen wir uns das Verständnis ihres 
Werdeganges gerade bei entscheidenden Beispielen, von denen 
hernach die Rede sein muß. 

Ich habe deshalb überall betont, daß immer die Raumum- 
schließung des beweglichen Subjekts die erste Hauptangelegenheit 
der Architektur sei, d. h. Einfriedigung oder Umwandimg nach den 
Seiten zu, nicht die Bedachung nach oben oder gar die Bezeich- 
nung und Ausbildung des Höhenlotes als Mal. ,J.ange mag sich 
die Einfriedigung, Umhegung imd Umwandung unter freiem Hinmiel 
bewegen. Die Raumgebilde dieser Art, wie der ägyptische Wall- 
fahrtstempel oder der griechische Hypäthraltempel, gehören ebenso 
zur Architektur, wie unsere vier Wände",*) die wir noch heute mit 
Recht als Hauptsache in unserem Bau hervorheben. Auch wir 
unterscheiden den geschlossenen Innenraum als solchen von anderen 
Raumformen, die diesem BegriS nicht vollständig entsprechen. 
Aber wir sehen keinen Grund, ihn als die allein berechtigte künst- 
lerische Form anzuerkennen, sei es auch nur für die Zeit des Alter- 
tums. Gerade wer die Architektur als gebrauchszweckliche Kunst 



i) So ist sie auch bei Gottfried Semper gemeint. Bei Redtenbacher überwiegt 
der utilitaristische Gesichtspunkt der Haltbarkeit. 



i88 XUl. Wohnbau — Sakralbau — Monument 

ansieht, darf doch die Zweckmäßigkeit zusammenhängender Räume 
nicht verkennen. Wir sehen in der RaumofFnung, sei es oben, sei 
es an einer oder an mehreren Seiten, nicht allein eine negative 
Eigenschaft, sondern im Gegenteil einen Zuwachs mannigfaltiger 
Beziehungen, die über den Einraum hinausweisen und ihn mit 
anderen verbinden.*) Die tatsächlichen Erscheinungen, wie sie ge- 
schichtlich beglaubigt vorliegen, dürfen doch nicht einer einseitigen 
Theorie zuliebe geleugfnet oder um jeden Preis wegdisputiert wer- 
den; sondern sie sind es, die unsere zuverlässige Grundlage für die 
Analyse des Kunstwollens bilden, und wo sie unserem Ergebnis 
noch widersprechen, da haben wir vorschnell geurteilt und müssen 
unseren Glauben reformieren. Nach Riegls Meinung konnte der 
Raum ursprünglich gar nicht Gegenstand des antiken Kunst^ 
Schaffens werden, da er „sich nicht stofflich individualisieren läßt'*. 
„Die antike Kunst mußte bei völlig strenger Auffassung ihrer Auf- 
gabe die Existenz des Raumes verneinen und unterdrücken; denn 
er war der geschlossenen Erscheinung der absoluten geschlossenen 
Individualität der Außendinge im Kunstwerk nachteilig." Mag das 
für die Plastik und für den Monumentalbau seine Geltung haben, 
so können wir uns doch nicht einseitig dadurch verleiten lassen, 
von der Architektur überhaupt anzunehmen, sie habe die Aufgabe 
der Raumbildung ursprünglich zurückgedrängt und nach Möglich- 
keit verhehlt, oder ein ganzes Volk wie die Altägypter, ja die 
Baukimst des ganzen Altertums hätte an „Raumscheu" gelitten.*) 
Wenn das Lehmhaus des heutigen Fellachen noch treu die 
Pyramidenstutzform des altägs^ptischen Hauses bewahrt, so können 
wir uns nicht damit abspeisen lassen; wir müssen hinter die fenster- 
losen kurzen Mauern auch ins Innere dringen und uns Rechen- 
Schaft geben, weshalb die gestutzte Form im Unterschied von der 
spitzen P3rramide eben hier nach außen tritt, wo der Bau nicht dem 
Toten oder dem Königsschatten, sondern „den bewegirngsfrohen 
Lebenden" gewidmet ist. Wir können uns nicht aufdringen lassen, 
das pompejanische Haus lehre noch im ersten Jahrhundert der 
römischen Kaiserzeit, wie man sich grundsätzlich gegen jedwede 
InnenraumbUdung gesträubt habe. Gibt es dort, streng genommen, 



i) Barock u. Rokoko, S. 22 f. 

2) A. a. O. S. 17, 22. „In der Tat bildet die Raumscheu einen der wichtigsten 
Charakterzüge der Baukunst des Altertums," heifit es in der Beilage zur Allgemeinen 
Zeitung 1902, S. IJ4, 



Raumbildung und Außenbau 189 

„noch keinen absolut geschlossenen Raum, da fast alle Gelasse 
sich gegen das Atrium ofihen'S so bildet dieser offene Hof doch 
,ydas eigentliche Bewegungsmedium'' und kennzeichnet sich als be- 
vorzugte Statte des Innenlebens, von der aus allein die Organisa- 
tion der ganzen Anlage zu verstehen ist Es erscheint deshalb 
gänzlich verfehlt, den Wohnbau der verschiedensten Völker einfach 
nach ihrem Monumentalbau zu beurteilen, jenen aber unbeachtet 
zu lassen, wenn er ein abweichendes Kunstwollen verrät und sich 
mit diesem nicht über einen Kamm scheeren läßt Angesichts des 
gesamten Wohnhausbaues der Antike kann diu'chaus nicht an dem 
Prinzip festgehalten werden, das man aus dem Sakralbau gewonnen 
zu haben glaubt: „die Schaffung klar begrenzter, streng zentrali- 
sierter Einheiten sei das grundsätzliche Ziel der antiken Baukunst 
gewesen" (S. 26). Wer jemals dem Wesen des architektonischen 
Schaffens nachgesonnen hat, dem sollte von vornherein klar sein, 
daß gerade im Altertum Wohnbau und Tempelbau auf zwei ganz 
verschiedenen Wegen auseinandergehen mußten, und daß eine An- 
näherung beider auch nur einen radikalen Umschwung in der 
Weltanschauung des Heidentums bedeuten konnte. 

Schon die Methode der Betrachtung fuhrt irre, wenn sie ein 
\md dasselbe Schema unterschiedslos auf beide anwendet und allen 
Gesichtspunkten hier wie dort das nämliche Recht zugesteht Von 
der fixen Idee, dem Monumentalbau die Priorität einzuräumen, als 
ob sie selbstverständlich wäre, ganz abgesehen, — schon die Ge- 
wohnheit, immer zuerst den Außenbau, dann den Innenbau vorzu- 
nehmen, ist nicht anders als sinnwidrig, vollends aber, der Grund- 
satz, die beiden Ergebnisse dann gleichmäßig das Urteil bestimmen 
zu lassen, ohne vorher zu fragen, welcher Seite im vorliegenden 
Fall die entscheidende Rolle zukommt Erhebt z. B, der Wohn- 
bau der mittelländischen Völker überhaupt den Anspruch, auch 
ein Außenbau im Sinne der Monumentalkunst sein zu wollen? — 
und, wenn schon, geht solches Absehen über die Eingangsseite 
gegen die Straße hinaus? Kommt es im übrigen auf etwas anderes 
an, als auf Abschließung des Innern nach außen, Absperrung 
gegen den vorübergehenden Fremden? Man gewinnt einen völlig 
falschen Eindruck, wenn das Obergewicht des Innern als des allein 
Maßgebenden hier nicht anerkannt oder auch nur verschleiert wird« 
Ist diese Entscheidung nicht etwa ein Prüfstein des KunstwoUens, 
so gut wie auf der anderen Seite der reiche Außenschmuck des 
Monuments? Und das Innere dieser Wohnbauten selbst? Warum 



IQO 



XIII. Wohnbau — Sakralbau — Monument 



sollten wir den offenen Hof oder gar eine Mehrzahl von Höfen 
hintereinander nicht als Räumlichkeit anerkennen, warum nicht im 
Gegensatz zu jedem Gemach, das daneben eine andere Form der 
Raumgestaltung zeigt? Der Wohnbau ist seiner Natur nach, im 
Unterschied vom Monumentalbau, immer auf Zuwachs angelegt, er 
bleibt bis zu einem gewissen Grade entwicklungsfähig wie ein 
Lebewesen oder gar ein KoUektivum von solchen, die Familie, 
das Hauswesen, das er beherbergt und ausgestaltet. Die gewölbten 
Räume mesopotamischer Paläste sind vielleicht nach unserem Sinn 
eher als Korridore anzusprechen, lange Gänge, die um offene Hofe 
herumliegen, bei deren Anblick mehr das Bewußtsein von den be- 
grenzenden engen Wänden als von dem leeren Räume dazwischen 
wachgerufen wird. Da entsteht für den Erklärer des KunstwoUens 
nur die Frage, welchen Sinn eben diese Raumgebilde für den 
lebenden Mesopotamier haben mochten. Er mag sich fragen, was 
dem bewegungsfrohen und tastfreudigen Orientalen daran gefallen 
habe. Vielleicht war es gerade die Enge samt der Länge dieser 
Gänge, die den Genuß haptischer Werte vermittelte. Vielleicht 
aber genügt die Frage, was gefallen habe, schon gar nicht, das 
Wesen zu erfassen. Im Zusammenhang des Ganzen erst kann sich 
herausstellen, wie weit sie nur etwas Größeres vorbereiten, durch 
die Enge den Eindruck der Weite steigern sollten. Das Ganze mit 
seinen Höfen neben-, hinter-, übereinander darf doch dsa Ende als 
„Raumkunst" bezeichnet werden, wenn wir darunter ßine Raum- 
komposition im großen verstehen, mag auch der leere Tiefraum, 
zumal die xmgegliederte Schattentiefe des geschlossenen Saalbaues 
noch keine Rolle darin spielen.*) 

Selbst beim Sakralbau sollte zunächst immer das Verhältnis 
zwischen Innenanlage und Außenbau festgestellt werden, bevor wir 
nach einem Maßstab für das Gesamturteil greifen; denn ebendies 
Verhältnis bleibt für den Charakter des Ganzen entscheidend. 
iJ^^ach außen steht der ägyptische Tempel mit seinen ungegliederten 
Mauern da wie eine tastbare Einheit in der Welt Er gibt sich 
als ein Gebäude und weist dem Beschauer eine ungeteilte ebene 
Wand" (wir fragen wohl dazwischen, ob hier die Stirnseite oder 



i) Vgl. Beilage z. Allg. Ztg. 1902, S. 155. Der moderne Ausdruck „Raum- 
kunst'', den Strzygowski auf diese mesopotamischen Bauten angewandt hat, ist aller- 
dings ungenau, besonders wenn man sich an dessen Sinn bei Klinger (Malerei und 
Zeichnung) erinnert. Das ganze Mißverständnis zwischen Riegl und Strzygowski be- 
ruht auf mangelliafter Terminologie, wie ein anderes über den „Massenbau" auch. 



Ägyptische Tempelanlagen loi 

die Langseite gemeint sei; denn alle vier Wände können doch, da 
sie rechtwinklig aneinanderstoßen, nicht so* bezeichnet werden). 
,,Er zeigt sich also abgeschlossen in der Höhe und Breite, nicht 
aber nach der Tiefe'S wenn man die Stirnseite allein anschaut, viel- 
leicht; sonst kommen an der Langseite gewisse Abstufungen zum 
Vorschein, die ein Hintereinander verschiedener Kompartimente 
verraten. An den geböschten Außenflächen der Umfassungsmauern, 
in der charakteristischen Konfiguration der P3rramidenstutzwände, 
ist also nicht „absolut jede Erinnerung an das Innere unterdrückt*'. 
Schon durch den fast unabsehbaren Verlauf der Langseiten im 
Verhältnis zum schmalen Eingang offenbart sich das Äußere nicht 
als zentralisierter Körper oder geschlossene Masse, sondern als eine 
den Blick absperrende, jeden seitlichen Zutritt ausschließende Ein- 
fassung einer langen Straße, deren Gesamtausdehnung nur von 
Zwischenbauten imterbrochen wird imd schließlich in eine Baumasse 
einmündet Es ist denn auch von Anfang bis zu Ende, an der 
ganzen Tiefenachse des Baues entlang, eine psychologische Veran- 
staltung für den Pilger. Wenn er zwischen den beiden mächtigen 
Pylonen durch die Pforte Einlaß gefunden hat, geht er durch 
Sphinxalleen von einem Vorhof in den anderen, bis ihm die wuch- 
tigen Säulen immer näher auf den Leib rücken und im geschlossenen 
Saal gar wie ein Wald von Stämmen über ihn hintreten. Aber 
der korridorartige Gang führt auch hier hindurch bis in den völlig 
geschlossenen Bau. Von diesem Innern dürfen wir aber nicht be- 
haupten, daß „der vom Gebrauchszweck geforderte Raum in eine 
Reihe dunkler Kammern zersplittert sei, in deren Enge ein künst- 
lerischer Raumeindruck ohnehin nicht aufkommen konnte''. Dieser 
Komplex von Kammern war eben das vom Gebrauchszweck Ge- 
forderte; ein präexistierender Gesamtraum auf diesem Areal fallt 
von vornherein außer Betracht. Wir dürfen also auch nicht den 
modernen Maßstab eines künstlerischen Raumeindrucks anlegen, 
zumal nicht, wenn wir (mit Riegl) dabei immer an den „Tiefraum" 
denken sollen. Das Raumgefühl, das hier befriedigt oder vielleicht 
gepeinigt ward, war sicher nicht das, was Riegl unter diesem Aus- 
druck verstehen wilL Seine Definition des Begriffes als „das 
wohlige Bewußtsein der Raumerstreckung nach allen Seiten, also 
namentlich auch nach der Breite, selbst wenn dabei die Höhe oder 
Tiefe überwiegt'*,*) — ist eben die Definition des Wohlgefühls der 



1^ H. z. A. Z. 1902, S. 155. 



192 



XIII. Wohnbau — Sakralbau — Monument 



Geräumigkeit, während das Raumgefühl an sich auch haptische 
Auseinandersetzung, ' d« h. alle Erlebnisse der Nähe, der Enge mit 
begreift; denn „hart im Räume stoßen sich die Sachen". Ja selbst 
die Finsternis kann dabei mitspielen. Kam es doch vielleicht ge- 
rade darauf an, das Menschenkind in diesen Andachtskammem 
windelweich zu kneten, — bis es zerknirscht imd erschöpft an der 
Schwelle des AUerheiligsten zusammenbrach, noch ehe es das ver- 
schleierte Bild von Sais zu Gesicht bekommen. Selbst die Kolossal- 
statue des Gottes wirkt noch furchtbarer auf die erschütterten 
Nerven des durch Fasten und Sonnenbrand vorbereiteten Pilgers, 
wenn sie in engem Raum erscheint und nach der Dunkelheit plötz- 
lich bei grellem Fackelschein gezeigt wird. Das Ganze des alt- 
ägyptischen Tempels ist eine Raumkomposition für eine lange 
zeitliche Abfolge von Eindrücken, die nur mit musikalischen oder 
epischen imd dramatischen Kompositionen, d. h. einer Reihe von 
Akten verglichen werden kann, selbst wenn die Aufführung der 
Erlebnisse hier auf keinem anderen Schauplatz als im Innern der 
Menschenbrust vor sich ging.*) 

Ganz anderes will der griechische Tempel mit seinen Säulen- 
reihen um den oblongen Bauköxper der Cella. Hier wird das 
Äußere zur Hauptsache. Ist es doch, als ob ein Hof des ägyp- 
tischen Tempels mit seinen Säulen an der Innenseite der Umfas- 
ungsmauem ebendies Innere nach außen und sein Äußeres nach innen 
gekehrt habe. Hier ist wirklich ein Gebäude von überschaubarem 
Körpervolumen, als Ganzes nach Höhe und Breite abgeschlossen, 
aber ebenfalls durch das Übergewicht der Länge auch nach der 
Tiefenrichtung bestimmt. Sehen wir ihn nur von vom oder nur 
von der Seite an, so zeigt er statt der glatten geschlossenen Wand- 
ebene eine in Einzelformen aufgelöste, eine Reihe von Säulen- 
stämmen, imten und oben eingerahmt, mit den raumöfifnenden In- 
tervallen dazwischen, mit dem Spiel der Schatten und Lichter bis 
hinein an die zweite, wirklich geschlossene Mauer, deren senkrechte 
Ebene hier wie der Reliefgrund zu den ausgerundeten Körpern 
wirkt. Der Innenraum, den dieser Außenbau enthält, und den wir 
als künstlerische Gestaltung anerkennen, auch wenn die Decke 
durch eine öffhimg den freien Himmel hineinschauen ließ, kann 



i) Eine geschichtliche Entwicklungsreihe im langen Verlauf des ägyptischen 
Tempelbaues versucht soeben R. Kautzsch, Die Kunst und das Jenseits, Leipzig 
1905, aufzustellen. 



Griechischer Tempel Iq3 

verhältnismäßig einfach gehalten sein; denn er ist nur das Gehäuse 
des Götterbildes und, bei größerer Tiefe dieses Einraumes, zugleich 
eine mehr oder minder gedeckte Vorhalle vor der Aedicula. Außer 
dem Dache des Gesamtbaues ist es ausschließlich die oblonge 
Form, in der sich, an den Flanken mehr noch als an der streng 
zentralisierten Front, die Existenz eines der Bewegung von Menschen 
eingeräumten Innern nach außen verkündet.^) Kein Wunder auch; 
denn der Tempel als Ganzes ist schon das Ziel ihrer Bewegung: das 
spricht gerade die Hohenrichtung des Griebeis aus, nämlich als Auslauf 
dieses Weges beim Stillstand und als Fermate. Am Fuß des Stufen- 
baues angekonmien, mag sich die Versammlung herumscharen, während 
die Spitze der Prozession in die Halle hinaufzieht und durch die 
Pforte in die Cella mündet Drinnen vermitteln wohl die Priester 
den Verkehr mit der Gottheit allein. Hier aber spricht der Anblick 
des Gottes vor allem, nicht die Wände, die ihn hegen« Und diese 
sind deshalb um so weniger geschmückt, je menschlicher schon die 
Gestalt des Idols selber den Besucher des Heiligtums anmutet; 
sie sind Üagegen reicher belebt, solange das starre Idol selber 
keine genügende Lebensregung bietet Dagegen braucht die 
Außenseite immer eine Formensprache, die zu den versammelten 
Menschen redet und die Wechselwirkimg unterhält, auf die es an- 
kommt Ragend stehen die Säulenstämme, wie ehedem wohl ein- 
gerammte Pfahle als Wächter des heiligen Bezirkes, den Andrang 
des Volkes fernzuhalten, wie noch die Stufen die Aimähenmg er- 
schweren. Festlich bekrönt erheben sie ihre Häupter und tragen 
in Reih \md Glied den Kranz, der sie verbindet, den Rahmen des 
Schirmdaches, das einst nur ein leichtes Zelt, wie die Wände der 
Cella selbst, allmählich fest geworden ist imd die aufgerichteten 
Maler herangezogen hat, den Schutz des Ganzen mitzutragen. 
Das war gewiß alles anders, solange die Opferfiamme unter freiem 
Himmel aufloderte und nur der innerste Bereich die Vorgänge 
zwischen den Priestern und dem Gott durch Vorhänge verbarg. 
Der Rauch stieg empor, und andere Zeichen von drinnen her ent- 
sprachen der Aufmerksamkeit von draußen, so daß der Verkehr 
zwischen Peripherie und Zentrum lebendig blieb. Ebendeshalb 
mochte das Dach noch länger als die festgewordene geschlossene 
Fassung imten den ursprünglichen Charakter des Festapparates 



I) Riegl, Spätrömische Kunstindustrie, S. 23. Vgl. Schmarsow, Barock und 
Rokoko, S. 18 ff. 

Schmartow, Kunstwissenschaft. 13 



IQ4 XIII. Wohnbau ~ Sakralbau — Monument 

bewahren, mochte lange aus Holzkonstruktion bestehen, bis es sich 
völlig schloß, und mit kostbaren Sto£Fen verkleidet, in bunten 
Farben und lauterem Golde den Sonnenschein zurückstrahlen. Aus 
welchem Material sein Gezimmer bestand, ob die Deckplatten sich 
aus Stein oder Holz oder gebrannter Tonerde erwiesen, wenn man 
sie einzeln untersuchte, das war für das Kunstwerk als Ganzes gar 
wenig von Belang, und Gleichmäßigkeit der Herstellungsmittel 
konnte nur von einer späten, schon raffinierten Generation gefor- 
dert werden, der die Unterscheidung des Gotteshauses von der 
Menschenwohnung, Dauerhaftigkeit oder Kostbarkeit an sich be- 
stimmende Rücksichten geworden waren. Das echte immittelbare 
Kunstgefuhl stieß sich nicht an solchem Befunde, sondern fand in 
der Formensprache der Glieder und dem Farbenschmück des 
heiteren Kultus sein volles Genügen. Was man zu Hause im täg- 
lichen Leben kaum ansah, beschäftigte hier das Auge mit dem Aus- 
druck selbsteigener Kräfte, leitete es von Teil zu Teil weiter, durch 
die Reihen zum Ganzen hin. Jedes Glied, das daheim in der 
Wohnimg nur schlicht imd anspruchslos seinen Dienst versah, wenn 
auch bereitwillig und vertraut wie ein Genosse des Daseins, hier 
durfte es sich geltend machen, wenn auch immer im Zusammenhang, 
wie jeder Verehrer beim Feste mitwirkt imd seine gehobene 
Stimmung in der Runde fortpflanzt; hier erschien das Leben aller 
Teile wie ein Ausfluß der unmittelbaren Gegenwart des Gottes selbst. 

Mit diesen Andeutungen haben wir den größten Unterschied 
des Sakralbaues vom Profanbau bezeichnet Wer sich das grie- 
chische Wohnhaus ebenfalls wie ein säulengetragenes herrliches Dach 
vorstellt, der übersetzt sich das ganze Alltagsleben der Griechen 
in Feiertagshöhe und verwischt mit dieser falschen Idealisierung 
den natürlichen Abstand, der ims erst die immer durchschlagende 
Wirkimg des Tempelstils erklärt Damit verschiebt sich aber nicht 
allein die historische Unterlage solcher Kunstschöpfung der Archi- 
tektur, sondern auch das psychologische Verständnis ihres Wesens, 
der Zusammenhang des Kimstwollens mit den übrigen Anschau- 
ungen und sein Verhältnis zur Wirklichkeit 

Kehren wir noch einmal zmn Totaleindruck des hellenischen 
Tempels zurück, so tragen wir auch hier Bedenken, von einem 
streng zentralisierten, allseits geschlossenen Individuum zu reden, 
auf das die antike Kirnst überhaupt grundsätzlich gerichtet ge- 
wesen wäre. Schon die oblonge Gesamtform spricht aus, daß das 
Bauwerk doch einer Richtung zugebildet seL Der Gebrauchszweck 



Hellenistischer Rundtempel igt 

des Innern ist dafür nicht maßgebend; denn die Bewegung auf das 
Götterbild in der Cella geht womöglich nur wenig über die Hälfte 
hinaus, während auf dem anderen Ende hinten wohl gar die Schatz- 
kammer anstößt und die Länge vergrößert Aber die Stirnseite 
mit der Giebelfront davor kehrt sich nach vom in der Längen- 
achse des Ganzen; diese Longitudinalrichtung ist das Entscheidende 
für den Gesamteindruck, der uns entgegentritt, wie den An- 
kommenden einst. Es bedeutet schon eine Steigerung des bewuß- 
ten Gefühls für Abgeschlossenheit, wenn auch die Rückseite sich 
der GiebeUront wenigstens für den Augenschein angleicht und, 
ebenso zentralisiert wie diese, mit dem eigentlichen Antlitz ver- 
wechselt werden kann. Es ist eine begriffliche Konsequenz des 
Anspruchs, der sogar das Standbild des Gottes nach dem Ebenbilde 
des Menschen nicht gerecht zu werden vermag bis auf den Janus 
bifrons der Römer. Und als solche wird sie ein Entwicklungs- 
moment, das erst im Rundtempel seine befriedigende Lösimg 
erreicht. 

Das Problem, das hier zutage tritt, ist im Grnmde nichts anderes, 
als die monumentale Umschließimg eines plastischen Bildwerks, 
d. h. der Statue des Gottes.^) Dessen Stelle nimmt mit dem Wandel 
der Anschauimgen wohl der Heros ein, und endlich das Bildnis 
des Monarchen über seinem Grabe. Der künstlerische Gedanke, 
der hier Architektur und Plastik miteinander vereinigt, haftet an 
der gemeinsamen Vertikalachse im Zentrum, imgefahr wie einst in 
der Pyramide Grrabkammer des Toten und Wohngemach des ab- 
geschiedenen Geistes tief drinnen unter der Spitze lagen. Der 
Rimdtempel ist wirklich ein allseits abgeschlossenes imd isoliertes, 
allein auf sich selber beruhendes Individuum, wie die Statue in 
seinem Innern oder auf seinem Gipfel; er ist der vollendete grie- 
chische Monumentalbau, wenn auch erst hellenistischer Zeit,*) das 
Gegenstück der ägyptischen Pyramide, das in Zentralisation auch 
des Äußeren sogar über die Vierseitigkeit hinausgeht, aber diu-ch 
den Säulengang herum sich wieder öffnet, die allseitige Richtimg 
lebendig auszustrahlen. 



i) Vgl. als Unterlage jedoch die kreisförmig-konischen Tumuli, z. B. den von 
Tarquinii nach Canina. 

2) Vgl. das Philippeion in Olympia, Grundrifi in den Kunsthistorischen Bilder- 
bogen. Durchschnitt bei Woermann, Kunstgesch. I. 333. 



i3* 



XIV. 
ZENTRALBAU UND KRISTALLISATION 

ROTUNDE UND KONCHA. — RUNDBAU UND GRUPPENBAU. — RAUM. 

GRUPPE UND RAUMKOMPOSITION. 

Die Urform des Zentralbaues, die zylindrische Raumform mit 
Kuppelgewölbe, kann ästhetisch nur als Gehäuse eines Indivi- 
duums, seiner Verewigung (Standbild) oder seines Symbols (Verti- 
kalachse) aufgefaßt werden. Wir können uns den ursprünglichen 
Sinn des Gebildes zurückrufen, wenn wir das Baumotiv da ver- 
folgen, wo sich die Hälfte eines solchen überwölbten Zylinders 
gegen den freien Raum oder einen gedeckten Saal öffnet Im 
römischen Tempel steht darin das Götterbild, in der Gerichtshalle 
thront darin der Praetor. In beiden Fällen gehört aber auch die 
andere, nicht ausgeführte Vorderhälfte des Raumgebildes dazu, um 
dessen Bedeutung zu verstehen; denn sie ergänzt erst die Vor- 
stellung des Ganzen, das ideell auch in den anstoßenden Raum 
des Tempels oder der Halle hineinragt, und schon bei der Exedra 
unter freiem Himmel seine abgrenzende Funktion nicht verleugnet. 
Es gilt die Wirkungssphäre der Persönlichkeit, den Machtbezirk 
des Individuums zu versinnlichen und dem ankommenden mensch- 
lichen Subjekt zu Gemüte zu fuhren. Genetisch hergeleitet, ist 
dieser Wirkungskreis des Lebenden, wenn wir ihn auf einen festen 
Standpunkt bannen, zunächst die Tastsphäre. Ihre Grenze gibt die 
enge Zylinderwand im Abstand der seitlich ausgestreckten Arme, so 
daß wir sie eben noch mit den Fingerspitzen berühren. Es ist nur ein 
Hohlraum, von gleichem Volumen etwa wie ein ägyptischer Säulen- 
stamm, der diesen tastbaren Wert auf stoffliche Körperlichkeit 
zurückfahrt und sich deshalb dem Funktionswert eines Trägers ent- 
sprechend konzentrieren mag. Der Tastraum des Gebieters er- 
weitert sich, wenn er durch das Zepter in der Hand seinen Arm 
verlängert und das Haupt des vor ihm stehenden Untertanen be- 
rühren kann. Er erweitert sich abermals, wenn Trabanten, Leib- 



Rotunde und Koncha 



197 



Wächter, Ratgeber, Liktoren, oder wer sie sonst sein mögen, als 
Anhängsel seiner Person hinzutreten. Statt des einen Korpers er- 
scheint eine Mehrzahl, wenn auch nicht gleichwertiger, zur Gruppe 
vereinigt und nach vom gerichtet in diesem Spielraum. So ent- 
wickelt sich schon eine kleine Bühne auf dem Podiimi um die Sella 
curulis, wo sich, jenseits der vom abschließenden idealen Parallel- 
ebene, eine zentripetale oder zentrifugale Bewegimg einstellen mag, 
wie Einatmung und Ausatmung. Und diese letztere dringt gegen 
die Raumgrenze vor dem Halbzylinder der Koncha; der Stab, das 
Schwert, der Wurfspeer in der Hand der Personen durchbricht diese 
Idealebene. Zu dem Tastraum und der Atmosphäre tritt sodann 
unleugbar der Sehraum des Lebenden hinzu. Das Auge dringt 
weiter, und vor dem Blick des Mächtigen erzittern die Untergebenen, 
die in seine Tragweite kamen. Er zwingt sie in seinen Bannkreis, 
wie das Schlangenauge den Vogel in seiner Todesangst, wie das 
Menschenauge den Löwen bändigen soll. Wohin aber diese Magie 
des Blickes nicht dringt, dahin enteilen noch die dienstfertigen 
Satelliten. Aber wo sie den Sehraum des Zuschauers verlassen, 
liegt auch die Grenze der künstlerischen Gestaltung für den festen 
Standpimkt des Mals, den wir angenommen. Die Wirkimg in die 
Feme kommt für die immittelbare sinnliche Wahrnehmung nicht 
in Betracht Das ist auch maßgebend für die höchste Aufgabe, 
die gestellt werden kann: wenn wir statt des Basileus, des Impe- 
rator Augustus nun einen Gt>tt an die Stelle setzen, dessen Macht- 
sphäre das Menschenmaß überschreitet Die bildende Kunst mag 
eine Steigerung ihrer Mittel erfinden, die Grenze des sinnlich Wahr- 
nehmbaren vermag sie nicht hinauszurücken: der unbezeichnete, 
formlose Raimi bleibt um so notwendiger ausgeschlossen, als der 
Rahmen des Mals gegeben, die Einhegung des geweihten Bezirks 
vorausgesetzt ist Die festeste Grenze unter allen diesen verschieb- 
baren bleibt aber die Auffassung von der plastischen Natur des 
Monumentes als Körpereinheit, auch in der Architektur der Antike, 
die wir überall als Raumgestalterin anerkennen. Damit aber stoßen 
wir an einen tiefgreifenden Unterschied des plastischen Bildwerks 
selbst vom lebenden Wesen oder einer Mehrzahl zusammenwirkender 
Personen, die wir an solcher Stelle des zentralen Raumgebildes 
angenommen hatten. Die Marmorstatue vermag nicht über sich 
selbst hinauszutreten, die lebendigste Grruppe von Erz sich nicht 
vom Fleck zu rühren; das Götterbild vollends verharrt in olympi- 
scher Ruhe, abgeschlossen und unabhängig von den wechselnden 



Iq8 XIV. Zentralbau und Kristallisation 

Beziehungen zur Außenwelt. Je unberührter und selbstgewisser es 
in der wirksamen Entfaltung seiner Eigenart doch auf sich selber 
zurückkehrt, desto mehr isoliert es sich von der Umgebung, desto 
ewiger scheint es zu bestehen. Mochte das Bildwerk in der offenen 
Nische sich nach der Vorderseite darstellen, in dem geschlossenen 
Rundbau muß es sich allseits ausrunden und doch die Geschlossen- 
heit des Individuums zur Unwandelbarkeit steigern, daß der Be- 
schauer sich von allen Seiten zu der Mittelachse des Korpers oder 
der Gruppe, d. h. zum Höhepunkt der Dominante zurückgeleitet 
fühlt, wo der feste Kern des Ganzen und das Kraftzentrum aller 
Wirkungen zu suchen ist 

Beim einfachen, strengen Zentralbau, etwa mit dem Grabe des 
Herrschers und seiner Statue darauf, handelt es sich immer noch 
nicht um den leeren Raum als solchen, sondern vielmehr um die 
Rotunde, d. h. den kreisförmigen Rundgang um die körperlich vor- 
handene Dominante, das Standbild und den Sockel in der Mitte. 
Der Umgang innen, die Wandung um diesen, und vielleicht noch 
ein offener Säulengang draußen unter demselben Schirmdach, rahmen 
nur das zentrale Bildwerk ein, wie eine Sammelkomposition das 
Kleinod. Das Prinzip dieser inneren Anlage wiederholt sich im 
Schirmdach mit seinen Akroterien am Rande und seinem Bekrö- 
nungsgliede auf dem Höhepunkt, sei dies ein Pinienzapfen, ein 
Dreifuß oder abermals eine plastische Figur als Wahrzeichen des 
Mals für die Weite ringsumu 

Die Rotunde drinnen kann sich jedoch durch Nischen in der 
Umfassungsmauer erweitem und so in der schlichten Peripherie 
die rhythmische Bewegung ausbilden, die — wie Systole und Dia^ 
stole in der Brust des Menschen — schon einen Hauch atmenden 
Lebens in die starre Masse des Bauwerks bringt. Dies Motiv 
steigert nur das Übergewicht der ausstrahlenden Richtimg, die dem 
plastischen Inhalt zu entströmen scheint, während die zentripetale 
Beziehimg bei der Rückkehr aus der Nische in den fortlaufenden 
Zusammenhang des Kreises, den dargestellten Wert in der Mitte 
suchen heißt. Werden die symmetrischen Erweiterungen innerhalb 
der zylindrischen Form so groß, daß sie eigene Bedeutung gewinnen, 
so können sie, dem Körperwert im Mittelraum entsprechend, auch ihrer- 
seits mit Statuen oder Büsten besetzt werden. Da hätten wir auch 
hier eine Sammelkomposition von lauter Körpern, deren Raum- 
volumen das Innere des Baukörpers erfüllt Die Übereinstimmung 
des Raumgebildes mit der plastisch-tektonischen Gruppen- 



y 



Rotunde mit Nischenkranz 



1Q9 



bildung ergibt gerade die Monumentalität des Bauwerks. 
Das treibende Element dieses Zusammenwirkens von Plastik und Archi- 
tektur ist noch immer das plastische Gestaltungsprinzip, zuerst das 
Bildungrsgesetz nach Analogie des organischen Korpers, dann eines 
Komplexes von solchen, nur mit dem Unterschied, daB die Individuen 
frei nebeneinander gereiht stehen, sich nicht etwa mit einzelnen 
Gliedern ineinanderschlingen wie bei der echten plastischen Gruppe, 
sondern nur durch die Richtung auf die Dominante in der Mitte 
und die gleiche Subordination in ihrem Großenverhältnis, wie in 
ihrem Abstand den Eindruck des Zusanunenhanges hervorbringen. 
Die ganze Konstellation erscheint wie ein System von Trabanten, 
die vaa den Mittelkorper gravitieren; darin liegt aber die gegen- 
seitige Abhängigkeit aller gegeben, die vielleicht nur durch die 
vielachsige S3rmmetrie im Räume den Bestand des Ganzen erhält 
Da es aber menschliche Gestalten sind, legt unsere Vorstellung in 
diese Abhängigkeit imwillkürlich eine geistige Bedeutung hinein. 
Es ist also doch eine Anordnung, die über die rein plastischen Ge- 
setze der organischen Korperwelt hinausgeht, einerseits in den 
Kosmos der unorganischen Natur, andererseits in den der Geister- 
welt übergreift. Und ebendiese Faktoren berechtigen zu dem 
Bündnis mit der Schwesterkunst Architektur, die allein die Zusammen- 
fassung und höhere Einheit, die über diesen Körpern schwebt, ab- 
strakt genug ausdrückt, z. B. die Familie, die Gemeinschaft eines 
Königs mit seinen Feldherren, eines Lehrers mit seinen Jüngern usw. 
Das wird erst recht fühlbar, wenn wir das KoUektivum von 
Statuen oder sonstigen Bildwerken hinwegnehmen und den leeren 
Raimi an sich betrachten. Er erscheint wie das Gehäuse für einen 
Vorstellungskomplex, dessen Glieder von einem gemeinsamen 
GrundbegrifiF ausstrahlen. Verfolgen wir diese Erweiterungen in 
ihrem Zuge zur Selbständigkeit, so mag auch am Bau die Aus- 
rundimg der Nischen über die Kreisform der Umfangsmauer nach 
außen dringen, so daß die vielachsige Symmetrie des Inneren sich 
auch am Baukörper schon für den Ankommenden verkündet. Dann 
ordnen sich auch außen die halbzylindrischen Auswüchse dem zu- 
sammenfassenden Oberbau mit seinem Dache unter, erfüllen also 
im Aufstieg von unten das Gesetz der Proportionalität, wie ein 
Organismus im Wachstum. Wenn wir das Ganze dagegen von 
oben aus der Vogelperspektive betrachten könnten, wie wir uns 
den Grrundriß aufs Papier werfen, so bliebe kein Zweifel, daß es 
sich wie eine Sammelkomposition um das große Mal in der Mitte 



y 



200 XIV. 2^iitralbau und Kristallisation 

von der Grundebene des Erdbodens abhebt Der Kranz von an- 
hängenden Trabanten vermittelt das Kleinod mit dem Grunde; er 
erscheint wie ein eigener gemusterter Grnmd, der dem dominierenden 
Mittelkorper als Folie dient und als solche ihn auch wirksam vor- 
bereitet, während dieser die verschiedenen Anläufe ringsum zu- 
sammenfaßt und über alle hinausragend vorspringt. Der Kranz von 
Halbformen ist wie eine Gestaltungssphäre um die Ganzform, noch 
in der Bildung begriffen, die dies Unikum erreicht hat Nun aber 
sieht der menschliche Betrachter d£is Monument, wenn er heran- 
kommt, immer nur von ^er Seite und kann erst beim Umwandeln 
die peripherische Symmetrie des Ganzen begreifen: die geistige 
Vorstellungstätigkeit erst erbringt die Einheit aller Teile mit dem 
gemeinsamen Hauptkörper. Aus der Feme dagegen erscheint dem 
Blicke das überragende Mittelstück mit zwei beträchtlich schmälern 
Flügeln links und rechts als eine einheitliche, aber dreiteilig ab- 
gestufte Silhouette. Erst beim Näherkommen rundet sich der drei- 
gliedrige Flächeninhalt dieser Figur zu einer Dreifaltigkeit von 
Körpern aus, wie eine plastische Grruppe, die man mit dem Laokoon 
zwischen beiden Söhnen vergleichen könnte. Damit bezeichnen 
wir alle diese Erfahrungen des Wanderers gegenüber dem Bau- 
körper als plastische Eindrücke. Es ist eine Gruppe, die sich erst 
bei weiterem Verkehr als nicht für eine bevorzugte Vorderansicht 
allein berechnet ausweist (wie etwa der Laokoon nur in einer 
Schattennische stehen kann), sondern als allseitig gerichtet, für den 
umwandelnden Betrachter rings gleichmäßig durchgebildet 

Gilt es für solch ein Bauwerk einen bezeichnenden Namen zu 
finden, so würden wir auch hier nicht „Massenkomposition'' wählen, 
die ohnehin nur aus der Vogelperspektive ganz wahrgenommen wer- 
den könnte, und erheben erst recht Einspruch gegen den Terminus 
„Massenbau", den Riegl*) mit jenem promiscue gebraucht Unter 
Massenbau verstehen wir zunächst gar keine kompositioneile 
Eigentümlichkeit, sondern eine technische, nämlich den Bau mit 
kompaktem Material, mit dicken Mauern aus Quadergefüge, Ziegel- 
gemäuer, Gußwerk und dergl., wie er uns sowohl an zyklopischen 
Terrassenbauten des Orients, als auch im Backsteingewölbebau der 
römischen Kaiserzeit begegnet Im Zusammenhang mit dieser tech- 
nischen Tradition, die natürlich ihre künstlerischen Konsequenzen 

i) Beispiele von Sammelkomposition oder nach Riegl Massenkomposition an 
ganz leicht konstruiertem Hüttenbau vgl. bei H. Frobenius, Ozeanische Bautypen, 
III, 12, II, 14, IV, IG. Berlin 1899. 



Massenbau oder Gnippenbau 201 

mit sich bringt, unterscheiden wir allgemein heute den „romanischen 
Massenbau'' von dem ,,gotischen Gliederbau'S der im Gegensatz zu 
jenen gewaltigen Mauermassen imd ihrem Aufwand an Baumaterial, 
eben dem Erbteil der Römerbauten, seinerseits fast völlig in Stein- 
metzarbeit übergeht und ein Baugerippe aus Haustein schafft, das 
allein konstruktiv fungiert und das Rahmenwerk für leichtere Fül- 
lungen bildet. Der Ausdruck Massenbau im Sinne der Riegischen 
Massenkomposition sollte deshalb um so mehr vermieden werden, 
als er zugleich im Sinne des technischen Befundes als massige 
Materialhäufung und kompaktes Volumen von einem und dem- 
selben Bauwerk gebraucht werden könnte, wie eben von römischen 
Zentralbauten in Thermen oder Palästen und in der Moles Hadriani, 
dem kolossalen Grabmal des Kaisers. Auf ein Mißverständnis 
dieser Art geht auch wohl Riegls Berufung auf Semper zurück. 

In unserem Beispiel, wo sich an einen allerdings massigen, 
aber die Raumform adäquat ausprägenden Zentralbau eine Anzahl 
kleinerer halbierter Zentralbauten ansetzt, haben wir statt eines 
einfachen Baukörpers einen Komplex von solchen vor uns, imd 
zwar die Subordination einer Mehrheit von sekundären, unter sich 
gleichwertigen Körpern unter einen größeren primären in der Mitte. 
Die Subordination geht aber bis zur Aufhebung der Selbständig- 
keit, oder die Aussonderung der unter sich koordinierten kleineren 
ist noch nicht bis zur vollen Lostrennung dieser sekundären In- 
dividuen gediehen, ja diese stecken noch zur Hälfte im Hauptkörper 
drin. Die Verquickung der Einzelkörper mit der Dominante geht 
weiter, als die Verschlingimg organischer Geschöpfe in einer pla^ 
stischen Gruppe (ohne Loslösimg ihrer Mitglieder vom gemeinsamen 
Boden) jemals gelangen kann, nämlich bis zur Einverleibung: 
es entsteht eine höhere Einheit, die zwingend an die Vorstellung 
des Wachstums gemahnt, sei es auch der Pflanzenwelt (z. B. Kakteen) 
oder kristallinischer Gebilde. Die Vorstellung bleibt eine eminent 
plastische, nämlich eine in sich gegliederte Körpereinheit Anderer- 
seits aber ist unleugbar, daß das Kollektivgebilde sich am ehesten 
den Leistungen psychischer Synthese vergleicht 

Damach erscheint überall, wo vom Gesamteindruck des Bau- 
körpers von außen die Rede ist, die Bezeichnung als Gruppen- 
bau am besten geeignet,^) um den plastischen Charakter des monu- 



i) Auch Riegl weiß, daß der Gruppenbau, den er Massenbau nennt, haupt- 
sächlich am Äußeren zur Geltung kommt (a. a. O. S. 15). 



202 XIV. Zentralbau und Kristallisation 

mentalen Bauwerkes auszuprägen, während wir unter Baugruppe 
auch einen freieren Komplex von mehreren relativ selbständigen 
Baukorpem verstehen. Wo jedoch auf das Innere zugleich Ruck- 
sicht genommen wird, konnte der Ausdruck Gruppenbau Bedenken 
erregen. Hier liegt alles daran, sich klarzumachen, daß in der 
Tat eine Mehrzahl von niedrigeren, unter sich gleichwertigen Verti- 
kalachsen, wenn auch nur ideell vorhanden, im Kreise um eine 
höhere, ihrem Werte nach überlegene herumstehen. Geben wir 
jeder dieser aufrechten Geraden ihr entsprechendes Raumvolumen, 
so kann das entstehende Raumgebilde mit seiner peripherischen 
Gliederung nur als ein Kollektivum erklärt werden, das einerseits 
durch die Koordination der (halb)zylindrischen Erweiterungen im 
Kreise um den (voll)zylindrischen Hauptraum, andererseits aber 
entscheidend durch die Subordination der peripherischen Reihe 
unter die Dominante charakterisiert wird. Die letztere Bestimmung 
ist eben die ausschlaggebende, die zur Entstehung einer höheren 
Einheit fuhrt, und zwar auch im wortlichen Sinne zur höheren, 
über alle Trabanten hingreifenden Kuppelwölbung, die alle anderen 
sozusagen in sich aufhebt (wie z. B. an der sogenannten Minerva 
Medica in Rom). Ein solches Raumgebilde ist eine zentralisierte 
Sammeleinheit, im Unterschied von der früher besprochenen 
Sammelkomposition, die im Nebeneinander der versammelten Ein- 
heiten bestehen bleibt und sich nicht zu einer Körpereinheit aus- 
wächst, mag auch der verbindende Rahmen und die Kraft der Do- 
minante die Zusammenfassung für unseren Intellekt erleichtem, ja 
zwingend herbeizufuhren. Der Unterschied von dieser Kombination 
isolierter Bestandteile zu einer Sammeleinheit wäre für den Innen- 
raum als solchen wohl mit dem Ausdruck „Raumgruppe'' zu 
fassen, damit wieder der plastische Charakter des Ergebnisses zu 
seinem Recht komme. 

Immer gehört ein solches kompliziertes Raumgebilde im Gegen- 
satz zu dem monumentalen Einraum als dem einfachen und ab- 
soluten Individuum zur Klasse der Raumkompositionen, unter- 
scheidet sich aber von anderen durch das Aufgehen einer Mehr- 
zahl in eine höhere Einheit, die sich alle angereihten Individuen 
gleichmäßig unterordnet und bis zur Hälfte einverleibt, so daß nur 
die Wachstumsachse jedes angegliederten Raumgebildes noch als 
eigene bestehen bleibt. Die ästhetische Gesamtaufhahme einer 
solchen Einheit ist nur im Innern ohne Reflexion möglich, da wir 
den Anblick des Äußern von oben her, als Ausnahmefall oder ganz 



Raumgruppe — Raumkomposition 203 

ausgeschlossen, nicht mitrechnen dürfen. Zur unmittelbar sinnlichen 
Wirkung kommt vom Äußern immer nur eine Seitenansicht Von 
dem gfroßen Baukorper hebt sich stets ein kleinerer Körper oder 
ein Paar, eine Mehrzahl, in mehr oder minder perspektivischer Ver- 
schiebimg, so weit ab, daß sie dem Beschauer wirksam entgegen- 
tritt Es ist ein eminent plastischer Eindruck, der durch die unten 
in starker Ausladung vordringenden Korper „zu deutlichem Bewußt- 
sein bringt, daß der Bau sich auch in der Tiefendimension zu einem 
isolierten Individuimi abschließt,''^) und sich damit zugleich gegen- 
über der vertikalen Parallelebene imseres Sehfeldes isoliert Das 
stoffliche Individuum, hier eine Sammeleinheit, soll sich in voller 
Dreidimensionalität von der Sehebene loslösen; aber zwischen den 
Hauptkörper und den Beschauer wird eine Reihe kleiner Individuen 
eingeschoben, die eine Übergangszone erfüllen imd auch seitlich 
die Erscheinung der Körpermasse mit ihrer räumlichen Umgebung 
vermitteln. Durch sie schon wird ein fühlbarer Zusammenhang 
zwischen der innen wirkenden Dominante und der ungestalteten 
Raum weite, wenn auch noch nicht hergestellt, doch angebahnt, — 
eine Tatsache, die für das Obergleiten von der streng plastischen 
zur malerischen Anschauungsweise, vom tastbaren zum optischen 
Wert besonders beachtenswert erscheint*) Diese Vermittlerrolle 
verwandelt sich, sowie wir in das Innere treten, je nachdem wir 
die zentrifugale oder die zentripetale Bewegung bei unserer Auf- 
nahme vorwalten lassen. Sehen wir die Nischenräume an der Peri- 
pherie als Ausstrahlungen an, so bilden sie zusammen eine ver- 
mittelnde Gestaltungssphäre, die den Abschluß nach außen vor- 
bereitet und die Schroffheit der einfachen zylindrischen Umfassungs- 
mauer mildert. Fassen wir die Nischenräume dagegen von dieser 
äußeren Grenze nach der Mitte wirkend auf, so erscheinen sie wie 
eine Gemeinschaft von Einzelkräften, die sich aufopfernd im Dienst 
einer höheren Einheit bemüht und deren letzten zusammenfassenden 
Aufstieg ermöglicht, indem sie auf eigene Selbständigkeit ver- 

i) Riegl, a. a. O. S. 26. Der Abschnitt über die Minerva Medica leidet aller- 
dings an viel Unklarheiten, die dadurch entstehen, daß der Standpunkt des Be- 
trachters oft gewechselt wird, ohne nähere Angabe darüber. So wird unter Grund- 
ebene bald der Reliefgrund, die vertikale Parallelebene vor uns, bald der Erdboden, 
die horizontale unter uns bei Vogelperspektive verstanden. 

2) Vgl. dazu Sc hm ar so w, Barock und Rokoko 1897, das Kapitel über Michel- 
angelo als Bildner und Baumeister, wo auf die spätrömischen Bauten im Vergleich 
mit St. Peter Rücksicht genommen ist. Prinzipielle Erörterung S. 100 ff. und Ausein- 
andersetzung mit Burckhardt-WölfTlin. 



204 XW, Zentralbau und Kristallisation 

ziehtet Diese Bedeutung einer vermittelnden Obergangszone muA 
um so starker überwiegen, wenn — wie in der Minerva Medica 
zu Rom — die vermehrte Zahl von Nischen schon in ununterbrochener 
Reihe aufeinanderfolgt, ganz besonders aber, wenn sie ebenfalls 
an diesem Beispiele als untere Erweiterung mit einer oberen Fenster- 
reihe im Kuppelraum des Mittelbaues zusammenwirkt Waren (üe 
Fensteröffnungen auch gewiß mit Marmorplatten oder hellem Gitter- 
werk geschlossen, so daß sie nach außen nicht als dunkle Fenster- 
höhlen, d. h. wie Löcher die Einheit der Umfassungsmauer durch- 
brachen, so gewährten sie doch im Innern dem Tageslicht in etwas 
gedämpfter Stärke vollen Zutritt und ließen dem Einfluß der Himmels- 
weite in dieser oberen Region freien Spielraum, der die Schatten- 
tiefen der unteren Zone notwendig als Gegensatz herausfordert. 
So kann die Gesamtwirkung des Rauminnem auf den Kontrast 
von Schatten und Licht gestellt werden und der Helldunkelrhjrthmus 
zwischen unten und oben der optischen Auffassung des Luftmediums 
den Vorrang vor aller plastischen und architektonischen Formen- 
sprache verschaffen. 

Solch ein Kontrast zwischen Lichtgaden oben und Schatten- 
zone darunter charakterisiert jedenfalls den Rundbau von Sta. Co- 
stanza in Rom. Hier ist kein Kranz von Nischen, wie in der 
Minerva Medica, sondern ein ununterbrochener ringförmiger Umgang 
um den Mittelbau gelegt, also keine Mehrheit von Individuen zum 
Dienst herangezogen, sondern eine geschlossene Raumeinheit der 
überragenden untergeordnet und ebenso die umschließende Körper- 
masse als Kontinuum von dem, triumphierend gleichsam, darüber 
hinaussteigenden, leichteren mit Fenstern durchbrochenen Kuppelbau 
unterschieden. *) Der Doppelsäulenkranz, der im gemeinsamen Unter- 
geschoß die beiden Bestandteile trennt, betont zunächst die Selb- 
ständigkeit und gesonderte Existenzfahigkeit beider Raumteile. 
Dann erst werden die konzentrisch geordneten Säulenpaare zu- 
sammengejocht und tragen gemeinsam die Bogenreihe mit der 
Obermauer, über deren geschlossenem Zylinder der Lichtgaden auf- 
steigt. Auch am Äußern wird kein Verwachsen des unteren Ring- 
baues mit dem Tambour sichtbar, wie bei den halbzylindrischen 



i) Deshalb möchte ich nicht mit Riegl S. 28 eine „Fortentwicklung" der 
Nischenreihe der Minerva Medica im fordaufenden Umgang von Sta. Costanza er- 
kennen. Es ist doch ein prinzipieller Unterschied zwischen einer Mehrzahl von In- 
dividuen (wie die Paladine des Königs an der Tafelrunde) und einem Kontinuum, 
(wie die Durchschnittsmasse des Volks, der Gemeinde). 



Minerva Medica und S. Costanza 205 

Trabanten der Minerva Medica durch ihre Halbkuppelwolbungen, 
sondern ein Pultdach lehnt sich ringsum an den zylindrischen 
Mittelkorper, d. h. nur äußerlich an. Es ist kein organischer Zu- 
sammenhang mit der höheren Einheit am Außenbau erkennbar, und 
mit diesem Verzicht auf ein plastisches Erfordernis wird der Cha- 
rakter als Moniunentalbau schon in Frage gestellt Den klassisch« 
antiken Begriffen von Monumentalitat entspricht dieser Gesamt- 
eindruck (wie wir ihn auch rekonstruierend verbessern mögen) 
jedenfalls nicht mehr. Auch in diesem Punkt nähert sich Sta. 
Costanza dem Wesen der christlichen Basilika, die der plastischen 
Durchbildung des Äußern keine Stätte gewährt 

Sta. Costanza ist denn auch ursprünglich als Baptisterium neben 
der Basilika der Konstantina, Tochter Konstantins, erbaut, und fuhrt 
uns auf die christliche Wandlung im Wesen des Zentralbaues, die 
durch die Spätantike schon vorbereitet war. Die christlichen Bap- 
tisterien sind freilich nicht allein „moniunentale Einfassungen der 
Piscina, d. h. der weihevollen Stätte, an der sich die Aufnahme in 
die christliche Gemeinde vollzog".^) Das würde nicht ohne weiteres 
die Adoption des Kuppelbaues und des streng zentralisierten Bau- 
korpers erklären. Wir kommen auch hier nicht aus ohne die Verti- 
kalachse auf dem Mittelpunkt, die noch immer nach antiker An- 
schauung die Trägerin der Einheit und die Dominante des Ganzen 
ist, gleichwie das Standbild, der plastische Körper des heidnischen 
Gottes. Nur eine Vergeistigung hat sich vollzogen, seitdem nicht 
mehr das Idol leibhaftig dasteht, sondern die Raumgestaltimg allein 
auf die fühlbar wirksame Kraft hindrängt, die eben nur an dieser 
Stelle als ideelle Beziehungsachse zwischen Unten und Oben tätig 
sein kann. Sie geht auf das Haupt des Täuflings oder das sym- 
bolische Element des Wassers nieder, wie bei dem vorbildlichen 
Akt der Taufe Christi im Jordan die Stimme des Vaters aus der 
Höhe, oder wie in Darstellungen dieses Ereignisses nach dogmatisch 
ausgeprägter Christenlehre die symbolische Gestalt der Taube herab- 
fahrt auf den Scheitel des Sohnes. Mag auch die Taufe an den 
Neophyten nur im Umkreis dieser Hauptachse vollzogen werden; 
sie selbst bleibt der konstitutive Faktor und enthält das Kraft- 
zentrum, von dem die magische Wirkung des Kontaktes mit dem 
flüssigen Element aiisstrahlt Diesem, die Materie sozusagen auf- 
lösenden, alle Körperwerte umwertenden, ja so weit wie möglich 

ij Riegl, Zur Entstehung der altchristlichen Basilika S. 204. 



2o6 XIV. Zentralbau und Kristallisation 

entwertenden Vergeistigungsprozeß entsprechend, tritt immer be- 
wußter an die Stelle des Einzelgliedes, des stofiFlichen Trägers, die 
Raumöffnung als die eigentliche Hauptsache, in der sich solche 
magische Wirkung bewegen kann, bis zur wunderbaren Wirkung- 
in die Feme. Natürlich wird diese Konsequenz erst allmählich zu 
klarem Bewußtsein hindurchdringen; aber sie läßt sich imzweifel- 
haft beobachten: der Intervall wird die positive Potenz; das sinn- 
liche Material und der begrenzende Korper muß die führende Rolle 
abtreten, er wird zum negativen Faktor, den man eben nur nicht 
entbehren kann. Diese Baugesinnung, die von der monumentalen 
der Antike weit abliegt, ist die eigentlich christliche, die sich früh 
und klar genug manifestiert, so daß sie nicht verkannt werden 
sollte, obwohl sie durch Kompromisse verdunkelt, ja durch starke 
Reaktion der griechisch-römischen Kulturmacht und des uralten 
Kunstgefuhls periodisch zurückgedrängt ward.*) 

Santa Costanza ward nicht allein als Baptisterium neben der 
Basilika errichtet, sondern als Zentralbau von der Stifterin Kon- 
stantina zur Grrabstätte gewählt Der prachtvolle Porphyrsarkophag, 
der 354 die Leiche der in Bithynien gestorbenen Fürstin aufnahm, 
stand in einer, aus der kreisförmigen Umfassungsmauer ausgesparten 
Kapelle, wie später hinzugekommene Särge in den Nischen des 
Umgangs. Zug^unsten des Taufbeckens war von vornherein auf 
den Platz im Mittelraum verzichtet, den die plastische Auffassung 
des Monuments im klassisch-antiken Sinne verlangt hätte. Auch 
ein anderes Zeichen spricht dafür, daß sich in der allgemeinen Auf- 
fassung ein Wandel vollzogen hatte, der wieder eine Etappe auf dem 
Wege vom Mal zum Räume bedeutet. Die Arkadenreihe des Säulen- 
kranzes zeigt den Hauptachsen des Plans entsprechend größere Bögen, 
zwischen denen je zwei kleinere stehen, so daß nicht allein eine rhyth- 
mische Gliederung dieser entsteht, die an die Triptychenreihe des 
Wandgetäfels im Tambour und an die Gruppierung der Fenster im 
Lichtgaden anschloß, sondern im Mittelraum auch die Kreuzform 
ausgeprägt wird Das ist ein Symptom des Zusammenhangs mit 
hellenistisch-orientalischen 2^ntralbauten, die wir erst neuerdings 
nach ihrer vollen Bedeutimg würdigen lernen. Die Aufnahme der 
Kreuz form in die Kreisform des Monumentes charakterisiert ein 
bestimmtes Entwicklimgsstadium dieses Bautypus, den wir zwischen 

I) Sie offenbart sich auch in der Vernachlässigung des struktiven Zusammen- 
hangs in Santa Costanza. Vgl. Schmarsow, Der Kuppelraum von Santa Costanza 
in Rom und der Lichtgaden der altchristlichen Basilika. Leipzig 1904. 



fiaptisterium — Grabmal — Martyrion 207 

Baptisterium und Basilika einordnen müssen und mit einem eigenen 
Namen „Martyrion" belegen dürfen.*) 

Es steht zwischen Denkmal und Kultushalle, also zwischen 
Zentral- und Langhausanlage mitteninne. Der Zentralbau, den 
Konstantin über dem Grabe Christi in Jerusalem errichten ließ, 
haftet noch an diesem Monument, geht aber in der Raumbildung 



i) Vgl. Strzygowski, Der Dom zu Aachen 1904 S.23fr. — Kleinasien ein Neu- 
land der Kimstgeschichte 1903 und Orient oder Rom, 1901. S. 97 ff. zu Tafel IV. 

Martyrion ist zunächst ein Märtyrergrab, das sich zum Denkmal oder zur 
Kultstätte entwickeln kann, d. h. entweder zum tektonischen Körper oder zum archi- 
tektonischen Raumgebilde. Es ist ursprünglich nur ein Gehäuse, wie jene lykischen 
Grabmäler mit der Bahre unter der verhüllenden Kapsel auf einem Untersatz. Die 
Verehnmg der christlichen Blutzeugen errichtet einen Altar über der Gruft oder 
hebt die Gebeine und bettet sie in einem kostbaren Sarkophag über der Erde, der 
nun selbst als Altar dient, oder Anlafi gibt, darum, darüber eine Kapelle zu bauen. 
Ein ägyptischer Leinwandstreifen im Berliner Museiun mit Daniel zwischen zwei 
Löwen nebst Habakuk und einem anderen Zeugen bietet auf dem oberen und un- 
teren Rande Darstellungen christlicher Sakralbauten, deren Mehrzahl mit der Bei- 
schrift „Martyrion" versehen sind. Lassen die anderen Beischriften bei dem gleichen 
Bau, Ecclesia megale als Haupkirche und Michaelskapelle (Martyrion Hag. Mich.), 
auch den Schluß zu, dafi keine Unterscheidung der verschiedenen Klassen des christ- 
lichen Sakralbaues beabsichtigt ist und daß der Name Martyrion schon so populär 
war, daß er auch angewendet wird, wo er keinen Sinn hat, so bleibt doch die ste- 
reotype Form wichtig als Zeugnis, wie ein altes Erbstück hellenistischer Kirnst 
weitergeführt wird. Das übereck gesehene, mit der Giebelfassade nach rechts ge- 
wendete, links dagegen gerade abgeschnittene Bauwerk ist doch als Grabmalsbau 
unverkennbar. Das geschlossene Erdgeschoß ist senkrecht getäfelt; an der Schmal- 
seite führt eine Freitreppe hinauf zur Cella, deren quadratische Offiiung mit zurück- 
gebundenen Vorhängen als offen oder mit einem Kreuz vor dem Eingang bezeichnet 
ist. Ein schlichtes Satteldach deckt den Söller. Im Unterschied von allen auf- 
rechten Zentralanlagen, die sonst z. B. als Grab des Lazarus auf bildlichen 
Darstellungen vorkommen, ist hier ein Langbau für den liegenden Körper des 
Toten gegeben, und die wagerechte Achse (statt der Vertikalen des antiken Mo- 
numents nach Analogie des Standbildes) ermöglicht zugleich den Bewegungsraum 
der Kapelle für den Gottesdienst. Das mag für ein Einzelgrab oder eine geringe 
Zahl genügen. Wo aber bei den Christenverfolgungen Massengräber entstanden 
waren, oder eine nachträgliche Bestattung vieler Märtyrer in pietätvoller FeierUchkeit 
stattgefunden hatte, da stellte sich von selbst die Form der mehrarmigen Gruft- 
anlagen ein (wie etwa jenes Höhlengrab in Palmyra, das einer hellenistischen Juden- 
familie um 259 gehört haben soll), und die einfache Durchkreuzung der Arme ent- 
sprach zugleich dem Bedürfnis, das Christenmartyrion als solches zu kennzeichnen. 
Bei der Überbauung solcher Stätten mit Denkmals- oder Kultusbauten ergaben sich 
zwei Formen : über der Massengruft die kreisförmige oder polygone, über der kreuz- 
förmigen Anlage ebendiese mit vier gleichen Armen, oder einem längeren, die man 
seltsamerweise als griechisches und lateinisches Kreuz zu unterscheiden fortfährt, 
obgleich dazu keine Berechtigung vorliegt. 



2o8 XIV. Zentralbau und Kristallisation 

im Sinne der geistigeren Auffassung weit darüber hinaus. Der 
Verherrlichung der Persönlichkeit gilt noch immer das Oktogon, das 
der Maria vom selben Kaiser zu Antiochien gewidmet ward, wie 
der runde Grabmalsbau für die eigene Mutter Helena in Rom. Ganz 
frei und klar gestaltet die monumentale Umkleidung eiues geist^en 
Wesens, wir wissen nicht, ob heidnischen oder christlichen Ursprungs, 
der bedeutsame Zentralbau von Hierapolis. Nur schm^ windet sich 
ein Umgang zwischen der kreisförmigen Umfassungsmauer und den 
acht Pfeilervorlagen hindurch, die mit einspringenden Winkeln 
ein inneres Oktogon begrenzen, über dem ein aus acht Kappen be- 
stehendes Gewölbe aufstieg. Gregor von Nazianz schildert poetisch 
ein von seinem 374 verstorbenen Vater gestiftetes Martyrion 
als Oktogon mit Emporengeschoß imd Kuppel darüber, aus der 
von Licht umstrahlt lebenswahre Bilder hemiederschauen. Glän- 
zende Wandelhallen umziehen das Achteck außen. Aber die Apostel- 
kirche, die Konstantin in Byzanz als Begräbnisstätte für sich und 
seine Familie erbaute, adoptiert bereits die Kreuzform der Grufl- 
anlagen auch im Monumentalbau, der zugleich dem Kultus dienen 
solL Die Kreuzform zeigt auch die Apostelkirche, die Ambrosius 
382 in Mailand gründet (seit 396 S. Nazarius betitelt) und das 
Grabkirchlein der Galla Placidia zu Ravenna. Gregor von Nyssa 
beschreibt zwischen 379 und 394 ein Martyrion, das er errichten 
will, bereits als Denkmalskirche von kreuzförmigem Grundriß, in 
dessen Mitte ein Kreis mit eingezeichnetem Achteck die vier recht- 
eckigen Flügel verbindet, doch so, daß die Arme deutlich aus dem 
Zentralkörper hervorragen. Ein Achteck, das in den Diagonalen 
von einem wenig vortretenden Kreuz durchsetzt wird, steht in den 
Trümmern von Binbirkilisse, nach dem geringen Durchmesser ge- 
wiß keine Gemeindekirche, sondern das Martyrion eines Heiligen. 
Ein etwas breitgedrückter Kreis von beträchtlichem Umfang mit 
eingeschriebenem Oktogon in Wiranschehr ist durch Anbauten 
in Kreuzform erweitert und erinnert schon an das gestreckte 
Polygon von S. Gereon in Köln. Die Macht der Zentralanlage 
mit schlichter Außenform bestätigt für den fernen Osten noch ein- 
mal der Grundriß der ehemaligen Kirche des hl. Ghregor beim Kloster 
Etschmiadsin am Ararat (die der Katholikos Nerses IIL 640 — 661 
erbaut haben soll). Es ist ein Kreis von über 39 Metern Durch- 
messer, in dessen Mitte zwischen vier gewaltigen Pfeilerdreiecken, 
die eine Kuppel trugen, vier Halbkreise eine vierblättrige Kreuz- 
form beschreiben, die an einer Seite als Tribuna geschlossen, an den 



\_^. 



Raumgruppe — Raumkomposition 209 

übrigen durch Säiüenstellungen geöffnet, das AUerheiligste birgt. 
Im Rücken der inneren Apsis stoßt an den umfassenden Kreis ein 
viereckiger Anbau, der durch einen Doppelbogen von West nach 
Ost in zwei durch je eine Tür zugängliche Klammem geteilt ward, 
also wohl nur als Sakristeiraiun angesprochen werden darf. 

Hsigegen wird in anderen Beispielen Kleinasiens, wie in Derbe 
das der Kreisform ganz nahe kommende Polygon, in Isaura das 
Achteck von einer dem Eingang gegenüber hervortretenden Apsis 
durchbrochen. Damit kommt in den Zentralbau die Vorherrschaft 
einer Richtung, die — im Gegensatz zu dessen allseitiger Richtung 
unter der herrschenden Vertikalachse in der Mitte -— vielmehr 
dem Wesen des Langbaues angehört, dessen Hauptachse, der Be- 
wegungsrichtung des Menschen entsprechend, sich wagerecht über 
die Grundebene erstreckt. Dieser Eintritt der Longitudinale in den 
Zentralbau ist der Anfang einer andern Entwicklungsreihe, die in 
der Hagia Sophia zur höchsten Vollendung gelangte. 

Die Urform des Zentralbaues, der zylindrische Rundbau mit 
Kuppelgewölbe, findet sich auch an der altchristlichen Basilika 
wieder, doch nur als jene offene Hälfte, die wir bereits oben zur 
Erklärung herangezogen haben. Es ist die halbzylindrische, ur- 
sprünglich fensterlose und mit einer Halbkuppel überwölbte Apsis, 
die am Ende des Langbaues aus der Schlußwand heraustritt Betrach- 
ten wir das Gebilde von der Innenseite, so findet sich, daß eben die 
zweite Hälfte, die zunächst von der Masse des übrigen Baukörpers 
nur verdeckt scheinen konnte, tatsächlich abgeschnitten und nicht 
ausgeführt ist Die Apsis ist also nur eine große Nische oder 
Tribuna, wie sie in kleinerem Umfang und nebensächlicher Stellung 
auch an der Marktbasilika vorkommt Aber auch hier gehört die 
Vorderhälfte des Raumgebildes dazu, die, wenn auch nicht körper- 
lich und geschlossen, doch der Vorstellung nach wirksam und fühl- 
bar in den anstoßenden Raum hineinragt Für die plastische Auf- 
fassung des Heidenchristen tritt an die Stelle des Standbildes, das 
in solcher Koncha der römischen Tempel zu sehen war, nun in der 
christlichen Kirche die Person des Apostels, des Glaubensboten 
imd später des Bischofs. Und um diesen reihen sich andere Priester 
und Diakonen zu geschlossener Gruppe, oder zu freierem Zusammen- 
spiel am Altare. Der Diener am Wort, der das starre Götterbild 
durch lebendige Mimik ergänzt und vollends durch weiter verständ- 
liche Sprache noch überbietet, verschwindet aber mit den Seinen 
aus der Tribuna der Basilika, wenn die Versammlung der Gläubigen 

Schmaraow, Kanttwitaeiuchaft. I^ 



2IO XIV. Zentralbau und Kristallisation 

auseinandergeht Der Altar ist nur ein tektonisches Mal, der feste 
Untersatz für die ideale Mittelachse des Raumgebildes. Und die 
Schwesterkünste vermögen nur ein Bild in der Halbkuppel dahinter 
und am Triumphbogenfelde darüber, oder, wo die Statue des Er- 
lösers ausgeschlossen wird, nur ein Symbol als sinnlichen Träger 
und greifbaren Anhalt statt des bleibenden Wertes selber zu liefern. 
Konstantin stellt noch das Standbild Christi^ der sich im Streit um 
das Imperium mächtiger erwiesen als alle Gotter Griechenlands, 
Roms, Ägyptens und des Orients sonst, wie einen Olympischen in 
seinen Kaiserpalast Er erbaut ihm Basiliken, wie sich selbst seinen 
Audienzsaal, und zu Jerusalem gar eine prunkvolle Königshalle für 
Christus Imperator und einen Zentralbau über seinem Grabe. Die 
fortschreitende Reinigung der neuen Staatsreligion beseitigt zu- 
nächst das Standbild als naive Übertragung des Heidentums, wenn 
es auch im Relief der Sarkophage noch wiederholt wird. Aber 
die Apsis der Königshalle hellenistischer Zeit ist auch ihr die selbst- 
verständliche Fassung für die Gegenwart des unsichtbaren Basileus, 
den sie verehrt, oder des Herrn, dessen Person, wenn auch ver- 
geistigt, immer noch als Individuum an dieser einen Stätte haftet, 
der Dominica, wie die Lateiner sagen. Von der Vertikalachse, die 
vom Scheitel der Halbkuppel auf den Mittelpunkt des Halbkreises 
darunter gefallt wird, als unkörperlicher Dominante, strahlt doch 
die magische Kraft aus, wie im Baptisterium, wo sich die Kuppel 
und die Zylinderwand voll ausrundet. In der Kirche, wo sich die 
Tribuna in ihrer ganzen Weite öffnet gegen die versammelte Ge- 
meinde zu, da wirkt auch der Reflex von der sphärischen Fläche 
der Halbkugelwölbung wie von der Kurvatur der senkrechten 
Wandung mit in den anstoßenden Raum des Saales hinaus. Der 
volle Umkreis, nach vom ergänzt, gehört auch hier zur notwendigen 
Abschließung der Berührungssphäre. Die leibliche Gemeinschaft 
ward eine unmittelbare an hohen Festtagen, wo das Wort, die Lehre, 
d. h. die poetische Vermittlimg des Evangeliums, nicht genügte imd 
für Judenchristen wie für Heidenchristen das erlösende Opfer an 
deren Stelle trat Mit den sinnlichen Zeichen der Kommunion tritt die 
Allgewalt der bildenden Kunst in ihr Recht, den Glauben zu stärken 
und die hoifende Zuversicht zur Gewißheit des wirklichen Erleb- 
nisses zu steigern. In der frühchristlichen Zeit, die auch wir kurz 
und gut die kommunistische nennen wollen, war die Einverleibung 
des Opfers ein Hauptbestandteil seiner Gemeinschaft mit den Ver- 
ehrern des Gotteslammes, die Wiederholung der Abendmahlsfeier 



Die Apsis der Basilika 2 1 1 

die höchste Bestätigung seiner Zugehörigkeit zu den erwählten 
Scharen. Der Tisch des Herrn tritt dann an die Stelle als greif- 
bares Substrat, auf dem sich die unmittelbare Berührung mit dem 
ewigen Werte vollzieht, wie das Taufbecken im Baptisterium, wo 
die Einverleibung des Neophjrten in die Gemeinde der Heiligen 
stattfand. Später, als das erlösende Opfer vom Priester allein dar- 
gebracht und empfangen ward, erweitert sich auch der Abstand des 
gewöhnlichen Mitgliedes von der haptischen Zone zur optischen 
Region. Das Meßopfer am Altare fordert nur die Anteilnahme an 
den sichtbaren und hörbaren Ausdrucksmitteln des Vorgangs; eine 
reifere Auffassung mochte den Vorgang völlig in das Innere des 
Gemüts verlegen; aber das war schwerlich die des Volkes. Von 
den Verhältnissen der primitiven Zeit darf niemals abgesehen werden, 
wenn es gilt, den Zusammenhang des Kunstwollens der altchrist- 
lichen Gemeinden mit dem der allgemeinen Kultur des Römer- 
reiches zu verstehen. Die Kunsttradition mußte von der Heiden- 
welt wie vom Judentum auf sie übergehen, wenn jene auch die 
bildenden Künste, dieses die poetisch-musikalischen bevorzugt hat. 
Wer sogleich zu dem vorgerückten Zeitpunkt übergeht, da das 
Christentum Staatsreligion wurde, der verkennt nicht allein die Ver- 
schiebung des Niveaus, die sich eben damit ereignen mußte, son- 
dern gibt auch die wertvollen Residuen selbstschöpferischer An- 
läufe preis, die notwendig durch diese Krisis hindurchgerettet wurden, 
und deren künstlerischer Niederschlag zweifellos sowohl bei juden- 
christlichen Gemeinden, wie inmitten der hellenistischen Kultur 
vorhanden war.^) Solange die griechische Sprache auch in der 
römischen Gemeinde vorherrscht, darf dieses gemeinsame Erbteil 
gewiß auch hier nicht unterschätzt werden, und durch die Verlegung 
der Kaiserresidenz nach Byzanz bekommt es erst recht wieder die 
Oberhand. Das beweist die weitere Entwicklung des Zentralbaues 
und seine Verbindung mit der Basilika deutlicher, als irgendein 
erhaltenes Zeugnis sonst es vermöchte. 

I) Vgl. Felix Witting, Die Anfänge christlicher Architektur, Strafiburg 1902, 
dem jedenfalls das Verdienst zukommt, die Genesis der altchristlichen Basilika ein- 
mal wieder von innen her gesucht zu haben, wenn auch ästhetische Prinzipien und 
praktische Zwecke noch in dem Erklärungsversuch unvermittelt nebeneinander her- 
laufen. 



14* 



XV. 
LANGBAU (BASILIKA) UND ORGANISATION 

Die Apsis als Zentralstelle für die Gegenwart des unsicht- 
baren Gottes der Christenheit macht auch die Basilika, d. h. die 
Konigshalle oder den Audienzsaal des Basileus, geeignet zur Adop- | 

tion für den Gottesdienst der altchristlichen Gemeinde, mag diese 
Eingewöhnung sich schon in der Privatbasilika der Wohnhäuser, 
oder in der Herrichtung anderer Säle für den neuen Zweck heraus- 
gebildet haben. Die Ähnlichkeit mit dem Saalbau der Diadochen- 
paläste und ihren weiteren Abkömmlingen im Römerreich gab dem ^ 

christlichen Gotteshaus den Namen, wie der Basilica forensis, von 
der man es unmittelbar herzuleiten versucht, wo es gilt, sozusagen 
auf dem römischen Boden zu bleiben.^) Ein überdachter Hofraum 
war die Königshalle in der alexandrinischen Welt gewiß ursprünglich 
ebenso, wie .die Markthalle mit angehängtem Richtertribunal es 
war und bleiben durfte. Das gemeinsame Merkmal aller drei Hallen- 
formen ist jedoch im Grunde nur der entscheidende, nicht variable 
Bestandteil mit dem Träger der Dominante an der Zentralstelle, 
nämlich die Tribima oder Apsis, nicht der Sammelraum, an den 
sie sich anschließt, der sich aber seinerseits nach der besonderen 
Aufgabe verändern mag. Bei der Markthalle ist es gleichgültig, 
welche von beiden Richtungsachsen durch ihre Länge das Über- 
gewicht bekommt: der Verkehr der Leute und die Verteilung der 
wechselnden Grruppen steht in keiner dauernden Beziehung zum 
Richterstuhl, der an einer Langseite ebenso gut wie an einer Quer- 
seite angesetzt werden kann. Die Markthalle selbst kann alle übrigen 
Seiten dem freien Zutritt offen halten, die geschlossene selbst ihre 
Eingänge überedl anbringen; denn sie ist nur ein überdachter Platz 

i) Vgl. neuerdings AI. Riegl, Zur Entstehung der altchristlichen Basilika im 
Jahrb. d. K. K. Zentralkommission für Kunst- und historische Denkmale. Bd. I. 
Wien 1903. S. 195 ff. 



Marktbasilika — Prozessionstempel 213 

zum Kommen und Gehen, zum Zirkulieren imd Herumstehen, wie 
der offene Markt, die Loggia mit einer geschlossenen Seite, oder 
die Borsenhalle. Wichtiger bleibt die ausgesprochene Tiefenrichtung 
schon für den Empfangsaal im königlichen Palcist, wenn der Ein- 
zug von Gesandtschaften und die Audienz beim Monarchen sich 
eindrucksvoll gestalten soll; denn d^zu gehört ein beträchtlicher 
Abstand zwischen Zugang und Endziel, ein bequemer Spielraum 
mit ausgeprägter Tendenz auf den Höhepunkt aller Beziehungen. 
Ganz unbedingt gefordert wird jedoch die Vorherrschaft der Länge 
bei der Basilika für den christlichen Gottesdienst Sie ist kein be- 
liebiger Versammlungsraum, nicht für feste Ordnung im Stehen 
oder Sitzen um einen Mittelpunkt wie zur Beratung oder Ver- 
handlung, nicht für imgebundenes Herumgehen, Begrüßen imd 
Schwatzen wie die Marktbasilika, die sich der Straße anbequemt 
Man braucht nur den Gesamteindruck einer altchristlichen Basilika 
von außen auf sich wirken zu lassen, um schon da zu erkennen, 
daß das Richtungsmoment nicht nur nicht gleichgültig, sondern 
evidente Hauptsache des Innern sein muß. 

Schon der Vorhof bedeutet eine Verlängerung der Richtungs- 
achse, wie er andererseits unzweifelhaft erkennen läßt, daß wir den 
Ursprung der ganzen Anlage viel eher im orientalischen oder helle- 
nistischen Wohnbau, als im öffentlichen Profangebäude, des ge- 
schäftlichen Handels imd Wandels, zu suchen haben. Sonst würde 
auch eine Erinnerung an den ägyptischen Wallfahrtstempel gewiß 
eher am Platze sein, besonders an die Verbindung der beiden Be- 
standteile, des Vorhofes unter freiem Himmel mit Säulenreihen an 
der Innenseite der Umfassungsmauern und des überdachten Innen- 
raumes mit seinem korridorartigen Säulengang in der Mitte. Ge- 
rade dieser Vergleich muß aber jeden Versuch, auch den zweiten 
Teil wie einen Versammlungsplatz aufzufassen, gleich dem ersten, als 
einen unkünstlerischen Einfall erweisen; denn das wäre eine Wieder- 
holimg desselben Motivs, die hier, wo das Ganze schon mit der 
Apsis am zweiten Raimi abschließt, erst recht ungeschickt gewesen 
wäre. Solchen Pleonasmus mochte sich der lange Prozessionstempel 
wie eine Jahrmarktsgasse gestatten, weil er seinem andersartigen 
psychagogischen Zweck entsprach; für die fortgeschrittene Ver- 
geistigung der spätrömischen Kultur, ja für die Verfeinerung der 
Ansprüche schon wäre er undenkbar. Das Gemeinsame mit dem 
ägyptischen Tempel bleibt aber gerade der durchgehende Pro- 
zessionsweg, den der ganze Gebäudetraktus der christlichen Basi- 



214 XV. Langbau (Basilika) und Organisation 

lika ebenso, vom engen Eingang in der Hofmauer bis zum Ab- 
schluß, den der Blick nicht mehr absieht, schon von außen verkündet. 

Gerade diese Lebensachse des Organismus zu eliminieren be- 
strebt sich die neueste Theorie, die uns die Entstehung der alt- 
christlichen Basilika erklären wilP) und zwar durch den Vergleich 
mit dem überdachten Hofraum der Markthalle. Der Vorhof unter 
freiem Himmel ist solche Anlage zur Sammlung vor dem Eintritt. 
Bildete schon der antike Portikus einen Gang, der womöglich 
nach allen Seiten, mindestens aber nach einer Seite mit einer 
Säulenreihe durchbrochen war, so haben wir nun solche Gänge ring^ 
um den offenen Platz, an den abschließenden Mauern entlang. 
Sollten im antiken Portikus vielleicht vorwiegend die Säulen, d. h. 
die Reihe „begrenzter, tastbarer, stofflicher Individuen** wirken, 
so kam hier unter dem schrägen Pultdach gewiß noch der Schatten- 
saum in Betracht, der mit den Arkaden zusammen den hellen freien 
Platz, wie eine Bordüre den einheitlichen Teppichgnmd, umzog. 
Im Sonnenschein glänzte das Wasser des Brunnens inmitten der 
belichteten Fläche. Unwillkürlich aber gewann die dem Ein- 
tretenden gegenüberliegende Säulenhalle jenseits des Kantharus 
den Charakter der Schauseite, im Verhältnis zu den beiden Portiken 
links imd rechts den Wert der Dominante. Hier zog die Schatten- 
folie hinter der Säulenreihe den Blick schon vorbereitend in die Tiefe, 
wo in der Schlußwand sich die Pforten des Innern offnen. 

Überschreiten wir die Schwelle, so enteilt unser Blick notwendig 
in der gedämpften Beleuchtung der Basilika bis an das Endziel im 
Grunde; denn auch hier fliehen zwei Säulenreihen links imd rechts, 
wie draußen auf die Vorhcdle, nur länger und deshalb für das ent- 
langgleitende Auge in schnellerer Folge der Einzelglieder zusammen 
auf das Mittelstück, die Tribima, die diesen Richtungsblick abfangt, 
sozusagen zurückstaut, bis er abermals vorzudringen versucht Wir 
würden gewiß zu weit gehen, wenn wir diesen unaufgefordert sich 
einstellenden Richtungsblick zur Orientierung, vom Eingang auf 
das Endziel hin, schon im Sinne des modernen Obei^ewichts op- 
tischer Auffassung und malerischer Anschauungsweise dahin aus- 
beuten wollten, im altchristlichen Innenraum seien schon die spe- 
zifischen Absichten der malerischen Perspektive verfolgt worden. 
Es ist gewiß richtig, wenn gegen eine solche Interpretation Ver- 
wahrung eingelegt wird. Nur muß man mit dem Einspruch nicht 



i) Ricgl a. a. O. 1902, S. 208 f. Vgl. Spätrömische Kunstindustrie S. 28—35. 



Vorhof und Langhaus 215 

wiederum nach der anderen Seite zu weit gehen und die natürliche 
Wirkung auf das menschliche Sehorgan, d. h« die faktische Per- 
spektive wegleugnen wollen, die sich bei dem gewöhnlichen Ab- 
stand der Tribuna vom Eingang notwendig und zwingend einstellt» 
und stets mit einer gewissen geistigen Perspektive verbindet, die 
wir auch beim ägyptischen Tempel trotz der Querbauten immer an 
der Leitungsbahn des vorgeschriebenen Weges erleben. Nur eine 
malerische Perspektive, die den Innenraum als solchen durch einen 
Ausschnitt aus dem imendlichen Räume täuschend zu erweitem 
sucht, haben wir in der altchristlichen Architektur gewiß nicht zu 
erwarten, es sei denn, daß sie uns selbst imleugbar darauf anwiese.^) 

War der Vorhof im Crrunde „nichts anderes als eine Komposition 
von vier Säulenhallen, die sich nach einem gemeinsamen freien 
Platz öffneten*' (R.), so kann von der Basilika nicht mehr dasselbe ge- 
sagt werden. Durch die Säulenhallen, die zur Tribuna hinleiten, 
kommt das Richtungsmoment hier zum entscheidenden Übergewicht. 
Es gelangt zunächst „in der Korridorform der Seitenschiffe imd in 
deren überragender Länge gegenüber der Breite" zum Ausdruck, 
aber keineswegs ^künstlerisch einzig und allein". Daß „der Römer 
der Kaiserzeit im Mittelschiff der Basilika bloß die abschließenden 
Wandebenen, nicht aber den von ihnen eingeschlossenen Raum ge- 
sehen habe", brauchen wir doch wohl nicht zu glauben, und noch 
weniger, daß er an dem Raum, der vor ihm lag, vorbeigesehen 
habe, weil — „eben weil der monumentale Abschluß nach oben, 
die Wölbdecke, fehlt". ^ Die Basilika war, wird uns kurz gesagt, 
nur „eine Kombination der Apsis mit zwei Säulenhallen und einem 
Hofe dazwischen" (209). „Das eigentlich Vorhandene sind demgemäß 
die beiden Seitenschiffe; das Mittelschiff ist bloß gleichsam Relief- 
grund" (210; aber von wo gesehen?), — „architektonisch ein Nichts, 
ein formloser, leerer Raum und nur provisorisch überdeckt" (210). 
Die letzte Folgerung lautet denn auch dahin: „das Mittelschiff ist 
aus der Zahl der künstlerischen Faktoren überhaupt zu streichen" (214). 

Und fragen wir erstaunt, wie das möglich sei, so erhalten wir 
die Antwort: „das künstlerische Element der altchristlichen Basilika 

i) Die Beliebtheit perspektivischer Bravourstücke schon in der Wandmalerei 
Pompejis und in der eingelegten Arbeit der Basilika des Junius Bassus, wie Santa 
Costanza, bis in die allerunpassendste Stelle, die Fußböden, sollte doch absolute 
Leugnung perspektivischer Anwandlungen verbieten. Der Einwurf Riegls gegen 
Witting, visuelle Werte dürften in altchrisüicher Zeit nicht mitspielen, ist deshalb 
selbst sehr gewagt. 

2) A. Riegl, Spätrömische Kunstindustrie S. 29. 



2i6 XV. Langbau (Basilika) und Organisation 

bildeten noch immer hauptsächlich die Säulen. Nicht der Blick vom 
Mittelschiff aus gegen die Apsis, sondern der gerade Draufblick 
von einem Seitenschiffe aus quer über den überdeckten Hof hin 
nach der Front des anderen Seitenschiffes mit ihren Säulenreihen 
und Malereien an der Wand darüber war es, der die künstlerische 
Wirkung des Langhauses bedingte" (208). Bis wir zu diesem Stand- 
punkt gelangen, müssen wir aber schon einigermaßen ins Innere 
vorgerückt sein und haben „die erste Wahrnehmung, die sich dem 
Besucher einer christlichen Basilika sofort aufdrängt,'' schon hinter 
uns gelassen, nämlich den „bestimmten Eindruck der Symmetrie 
und der Ebene," der dadurch entsteht, daß „die Höhe und Breite 
des Mittelschiffes in ein wohltuendes Gleichmaß zueinander gebracht 
sind." Wenn wir dort am Eingang angesichts des Hauptraumes 
vor ims urteilten: „wie enge hängt die christliche Basilika noch mit 
gprundsätzlichen Anforderungen des gemeinantiken KunstwoUens 
zusammen, so lehrt uns der Anblick der Seitenwände dagegen eine 
starke Abweichung von diesen Grundsätzen." 

„Abgesehen von der oberflächlichen, auf flüchtigen Femblick 
berechneten Bildung aller Details, gewahren wir über den Säulen 
eine Mauer, über der Mauer eine Flachdecke, ohne daß zwischen 
diesen einzelnen Reihen eine passende Verbindung hergestellt wäre. 
Die Einschiebung der Mauer zwischen Säulen und Decke bedeutet 
allein schon eine Zerreißimg des notwendigen Zusammenhangs 
zwischen Stützen und Decke: zum bezeichnenden Unterschiede 
gegenüber dem griechischen Säulenhause. Es ist, als ob man es 
geflissentlich darauf angelegt hätte, alle Versinnlichimg eines 
Kausalzusammenhangs zwischen den Teilen aus dem Wege zu 
räimien" (31). „Und diese Aufhebung aller tastbaren Verbindung 
zwischen den Horizontalgliedem hat zur Folge gehabt, daß jener 
Eindruck der Notwendigkeit imd des innigen organischen Zusammen- 
hangs aller Teile, den die klassische Kunst von der Komposition 
verlangt, in der altchristlichen Basilika so gut wie verloren ge- 
gangen ist'' 

Aber vergessen wir nicht: die Anforderungen, die hier gestellt 
werden, sind von dem monumentalen Tempelstil hergenommen, 
und die altchristliche Basilika entstammt vielmehr dem Wohnbau, 
bei dem solche Formensprache gar nicht angebracht war. 
Und wer da behauptet, das Langhaus der Basilika sollte absichtlich 
nicht monumental behandelt werden, wie der Mysterienraum als 
solcher es forderte (R. 205), der darf solchen Anspruch auch an das 



Das Mittelschiff 217 

Verhältnis der Teile gar nicht stellen. Andrerseits aber kann es sich 
nicht allein um ein Negatives handeln, d. h. um die nur verneinende 
Aufhebung des Zusammenhanges; es muß vielmehr in dem Neuen 
auch etwas Positives gewollt sein. Was wird vermieden mit der 
spielenden Bekleidung, die keine strenge Struktur, kein zwingendes 
Ineinandergreifen von unten bis oben darbietet? Die Monumental- 
architektur, die den Ausgleich von Kraft und Last hervorhebt, 
nimmt auch den Menschen, der darin wandelt, in den Ausdruck 
ihres y,organischen*' Zusammenhanges, ihrer zwingenden Kausalität 
gefangen; sie notigt ihn, einzugehen auf ihr tektonisches Gefuge 
und ihre plastische Gediegenheit. Das wollen diese Wände nicht. 
Wo aber der letzte Rest tastbarer Verbindung abgestreift ist, da 
konnte die neue Ordmmg nur optisch vermittelt werden, und was 
der schweifende Blick auf diesen Wänden gewahrt, ist rhythmische 
Gliederung.*) Sie setzt ein bei „dem raschen Wechsel der dich- 
gestellten Säulen mit ihren Interkolumnien'', beherrscht den Licht- 
gaden ,4n der durchbrochenen Reihe von Fenstern." Und beruht 
sie nicht endlich auf dem durchgehenden Kontrast der dunkleren 
Seitenschiffe hinter den Arkaden und dem lichtdurchstromten Ober- 
gaden in der Mitte darüber? Sind das aber nicht lauter Faktoren, 
die nur im großen Saalbau des Hauptschiffes zur Geltung kommen? 
Und dieser sollte aus der Zahl der künstlerischen Faktoren über- 
haupt gestrichen werden? Und zwar eigentlich nur deshalb, weil 
er ein Raum ist, der wie die Behandlung aller Details doch auch 
seinerseits für den ,JFemblick" berechnet sein muß, also als Raum- 
ganzes, als Tiefraum fungieren soll, und zweitens, weil er nur mit 
einer Holzdecke nach oben abgeschlossen wird, also kein monumen- 
taler Innenraum sein kann und sein will. Wenn nun aber diese 
bescheidene Holzkonstruktion, sogar der offene Dachstuhl, dessen 
quergelegte Balken wir uns gewiß auch in polychromem Schmuck 
wie die Wände, ja in kaiserlichen Prunkbauten wohl ganz vergoldet 
vorstellen dürfen, wie noch Theodorichs Hofkirche S. Martino den 
Beinamen „in coelo aureo" vom goldenen „Gehimelze" führt, wenn 
nun gerade diese Deckenform der rh3rthmischen Gliederung der 
unteren Horizontalstreifen, ja dem schnellen, vielleicht gar flim- 
mernden Wechsel von Hell und Dunkel, Goldglanz und Schatten- 
tiefe, d. 1l dem ausgesprochenen Geschmack der Zeit entsprach, 



i) Irreführend ist Riegls Bezeichnung „koloristisch" besonders Spatrömische 
Kunstindustrie S. 31« 



2i8 XV. Langbau (Basilika) und Organisation 

den wir freilich nicht koloristisch nennen mögen, aber als eminent 
optisch, auf ungreifbaren Augenreiz erpicht bereitwilligst an- 
erkennen. 

Zeigt das positive Ergebnis, das wir hervorgelockt haben, nicht 
überzeugend, daß jene andere Erklänmg, die von der Basilika nur 
die Seitenschiffe gelten lassen und das Mittelschiff architektonisch 
gefaßt wie ein Nichts einschätzen will, sich selber ad absurdum 
fuhrt, jedenfalls aber nicht imstande ist, dem KimstwoUen, das sich 
im Ganzen ausspricht, auf dem eingeschlagenen Wege gerecht zu 
werden? Der richtige Ausgangspunkt liegt an dem Anfang, den wir 
für alle architektonischen Schöpfungen aufgestellt haben. „Der 
Langbau ist für die Bewegimg des Menschen in seinem Innern ge» 
schaffen," weiß auch Alois Riegl (S. 28). ,3^wegung bedingt aber 
Verlassen der Ebene [das soll doch wohl die Vertikalebene sein, 
in der sich das Subjekt befindet, die es also hinter sich läßt?], be- 
dingt Berücksichtigung des Tiefraumes, Hinaustreten der Individua- 
lität aus sich selbst, in Verkehr mit dem Räume." Das sind also 
lauter Bedingungen, die im Wohnbau der Vorvergangenheit immer 
gegolten hatten, aber auch im Tempelbau, der Agjrpter wenigstens, 
schon vollauf verwertet waren. Es ist der antiken Kunst, solange 
sie nicht die plastische Monumentalität und damit die Be- 
harrung zu ihrem Ideal erhebt, auch niemads beigefallen, in der 
Ortsbewegung des Menschen einen Widerspruch zur Architektur 
zu erblicken, und diese Bedingung ihrer Aufgabe gar „zu über- 
brücken oder zu verschleiern.'' Ihre Raumgestaltimg spricht schon 
in den Säulenreihen eine offenkundige Anerkennung des Bewegungs- 
elementes aus und nimmt die rhythmische Abfolge von vornherein 
in ihre Gesamtökonomie auf. 

Nur wer im Vorurteil des Monumental- oder Materialstils be- 
fangen ist, vermag auch mit dem Prinzip der Bewegung im Lang- 
bau nichts anzufangen; denn er urteilt immer von dem festen Stand- 
punkt des Mals allein. Aber auch schon von diesem Standpunkt muß 
der Unterschied einleuchten. Ist denn im Langbau noch die Verti- 
kalachse des Monuments die entscheidende Dominante des Ganzen? 
Nein; denn der Dachfirst bietet uns eine fortlaufende Horizontale, 
die zustande kommt wie das Dachgezimmer aus der Wiederholung 
seiner Dreieckrahmen, d. h. durch Aneinanderreihung aufrechter 
Einheiten. Die Dominante der Basilika ist die liegende Horizon- 
talachse, die von der Giebelfront der Eingangsseite bis zum Triumph- 
bogen der Apsis weiterrückt. Für den eintretendon Menschen, der 



Rhythmische Gliederung 219 

auf dem Boden entlang geht, liegt diese Bewegungsachse zwischen 
dem Hauptportal und dem Hochaltar, und erst an der Schwelle 
des Allerheiligsten steht die Vertikalachse eines 2^ntralbaues, eben 
als Höhenlot der Apsis unmittelbar vor ihm, so daB er zu ihr 
aufblickt. 

Kehren wir also zur Schwelle zurück, die wir aus der Vor- 
halle eintretend überschritten haben. Da kommt auch einem Ver- 
ehrer der absoluten Ebene um jeden Preis wohl das Gefühl zum 
Bewußtsein, daß die lebendige Bewegung des Menschen das Er- 
klärungsprinzip ist, das sich unmittelbar aufdrängt „Das Mittel- 
schiff der christlichen Basilika ist begleitet von Säulen,'' gesteht 
er sich, ,ydie so eng gestellt sind, daß sich darauf eine übersichtliche 
Einteilung der Bodenfläche nicht begründen läßt" Und wenn nun 
vollends über diesen Säulenreihen, die den Beschauer links und 
rechts begleiten, an der Obermauer in Mosaikmalerei eme Prozession 
von Heiligen zu sehen ist, wie in jenem S. Martine in coelo aureo 
zu Racvenna, so bedeutet diese Darstellung doch wohl das künst- 
lerische Bewußtwerden des RaumwoUens auch in der Wanddeko- 
ration, und zwar bis zur Nachahmung im Bilde gesteigert, wie es 
nicht gerade den Anfangen des Architekturschaffens zu entsprechen 
pflegt. Ein Blick auf das Wandgetäfel der Basilika des Junius 
Bassus, die einst auf dem Esquilin stand, leitet uns zurück ins Jahr 
317, und die zylindrische Obermauer des Kuppelraumes von Santa 
Costanza wiederholt um 326 — 29 das nämliche Motiv der Triptychon- 
gliederung sogar für den Zentralbau. Das eine ein heidnisches, 
das andere ein christliches Bauwerk unter Konstantin, bestätigen 
beide, daß die Abtragung des rhythmischen Daherwallens durch 
den Raum oder des Kreisens um das Zentrum auch für die optische 
Suggestion in jener Zeit das Maßgebende war, sogar bei sonst 
monumentalen Absichten. 

Die Prozession der Heiligen zum Thron der Höchsten, Marias 
hier, Christi dort, wiederholt in den Männern auf der einen, den 
Frauengestalten auf der anderen Seite, nur in höherer Region imter 
den Auserwählten, was im Erdgeschoß desselben Raumes an fest- 
lichen Tagen von den Mitgliedern der Gemeinde selber vollfuhrt 
ward. Ein weiteres wertvolles Zeugnis, das uns wieder zurück- 
leitet auf die Anfänge, gewährt uns noch der Codex Rossanensis 
(aus dem Anfang des 6. Jahrhimderts) in seinen Darstellungen nach 
dem Abschiedsmal mit dem Osterlamm. Sie geben ims beachtens- 
werte Auskunft, wie wir die Feier der Kommunion als kirchliche 



220 ^^* Langbau (Basilika) und Organisation 

2^remonie zu denken haben. Da steht Christus einmal links mit 
dem Brote und die Jünger nähern sich ehrfurchtsvoll einer nach 
dem anderen, um in gebeugter Haltung den Bissen zu empfangen. 
Auf dem anderen Blatte steht Christus rechts mit dem Kelch imd 
der Zug bewegt sich ebenso gemessen auf ihn zu, indem ein Jünger 
auf den anderen wartet, bis der erste vom Weine getrunken hat 
und der folgende an die Reihe kommt Dies Vorbild der Apostel- 
schar auf eine grofie Gemeinde angewandt, ergibt schon eine an- 
sehnliche Längenausdehnung des erforderlichen Raumes, wenn der 
fungierende Bischof an der Schwelle des AUerheiligsten stand, und 
die Prozession der Männer hier, der Frauen dort, die in zwei Zügen 
durch die Mitte des Langhauses zum Tisch des Herrn geschritten 
waren, mochte ihren Rückweg getrennt nach links imd rechts durch 
die Abseiten nehmen. So war die Teilung des Saales in drei 
Schiffe willkommen, und die Erweiterung der Abseiten aus engen 
korridorartigen Gängen um so selbstverständlicher angezeigt, je 
größer die Zahl der nicht selber beteiligten Angehörigen war, die 
andächtig zuschauend in den sonst verfügbaren Zwischenräumen um 
die Säulenreihen herumstand« In ganz großen HauptbasUiken 
mochte die Spende des Sakraments, später besonders, als der Aus- 
bau des Hochaltars und der Chorschranken sich fester gestaltete, 
ganz in die Seitenräume verlegt und deshalb die Zahl der Schiffe 
von drei auf fünf vermehrt werden, wie in St Peter zu Rom oder 
S. Paolo fuori le mura. Was sich für das feierliche Begängnis des 
Abendmahls ausgebildet hatte, ward natürlich weiter bestimmend 
für die übrigen Vorgänge beim Gottesdienst^). Für das Meßopfer 
war es vollends erwünscht, daß der Ankömmling sich alsbald beim 
Eintritt über den Stand der Funktionen am Altar orientiere; oder 
bei der Predigt vom Bischofstuhl, bei der Verkündigung des Wortes 
vom Lektorium her machte sich als Haupterfordemis geltend, daß 
die Stimme möglichst weit imd ungebrochen in den Raum hinaus- 
dringe. Mit der Steigerung des Mysteriösen und der Unnahbarkeit 
des AUerheiligsten schiebt sich zwischen Eingang und Endziel eine 
Reihe von Abstufungen des Annäherungswertes ein, die in der Zu- 



i) Vgl. Felix Witting, Die Anfange der christlichen Architektur; Gedanken 
über Wesen und Entstehung der christlichen Basilika; Straßburg 1902, wo auch die 
Vorbereitungen des Liebesmahles schon mit hineingezogen werden. Damit aber ver- 
fallt die Erklärung, die sonst mit inneren Motiven rechnet» auf praktische Bedürf- 
nisse zurück, die doch wohl zu transitorische Bedeutung haben, um so entscheidend 
wirken zu können. 



Langhaus und Apsis 221 

lassung der Katechumenen an den Türen und der Ausschließung 
der Büßer vom geweihten Innenraum ihren folgerichtigen Ausdruck 
findet Einer noch späteren, für unseren Zweck aber kaum noch in 
Betracht kommenden Phase der hierarchischen Entwicklung gehört 
dann die Verlängerung des Altarraumes durch den Sängerchor mit 
seinen Schranken und Ambonen an, d. h. eine Gegenbewegung 
oder doch ein Gegendruck vom Preb3rterium her in den Gemeinde- 
raum, ein Widerspiel, das für die fernere Geschichte des Kirchen- 
baues die größte Bedeutung erlangt hat Hier aber, wo es sich 
nicht um die historische Erklärung, sondern die ästhetische Betrach- 
tung der Basilika handelt, fuhrt uns dies allbekannte Symptom 
der dynamischen Wirkung, aus der Tiefe der Apsis hervor, zu 
unserem Ausgang, d« lu zur Bedeutung dieses monumentalen Kernes 
in der ganzen Raumkomposition der altchrisüichen Kirche zurück. 
Denken wir das Langhaus zunächst als Bewegungsraum für 
die Gemeinde auf die Zentralstelle zu, so muß bei der Berührung 
an den Stufen des Altars notwendig ein beruhigter Stillstand, bei 
stärkerer Spannung zwischen beiden Kraftpolen aber ein lebhafter 
Zusammenstoß eintreten und damit eine Verteilung der Massen in 
die Breite, nach links und nach rechts sich von selbst ergeben. 
Das alles sind Vorgänge der Aktivität, die zwischen den beiden 
Hauptfaktoren, der Gemeinde hier, der Priesterschar dort, zum 
Austrag kommen; sie knüpfen sich selbstverständlich an die ver- 
schiedenen Funktionen des unmittelbaren Verkehrs, und damit mehr 
oder minder an die Ortsbewegung. Über ihnen allen aber waltet 
die geistige Beziehung. Über allem Getriebe des kirchlichen 
Lebens, ja vollständig erst recht über der vielköpfigen Versamm- 
lung, die der Geist des Evangeliums einmütig durchdringt, beharrt 
demgemäß der Raum, als bleibende Fassung dieses Verhältnisses. 
Das Langhaus ist ein Kollektivraum, der eine Menge von Indivi- 
duen zusammenfaßt zur Gemeinde, und diese findet ihren Zielpunkt in 
der Vertikalachse der entgegenkommenden Apsis mit deren Inhalt 
Ist der Gemeinderaum gedrängt voll, so geht über alle Köpfe hin- 
weg die einheitliche Zusammenfassung, und diese Einheit ist zu- 
nächst wieder eine Richtungseinheit, die das Anüitz und die Per- 
son jedes Gemeindegliedes auf das gemeinsame Ziel hinlenkt Aber 
die Priesterschar ist gegen die Gemeinde zu gekehrt imd vereinigt 
sich schließlich mit ihr, an jenem verbindenden Mal, zum gemein- 
samen Aufblick. Dort erst liegt die höhere Einheit, deren Be- 
deutung durch. seiüiche Erweiterungen, die aussetzende Gliederung 



222 ^V. Langbau (Basilika) und Organisation [' 

in einem Querhause, das zunächst nur Intervall ist, erst recht 
hervorgehoben und erwartungsvoll gesteigert wird, wie durch eine 
Kunstpause. 

Blicken wir vom Eingang über die Kopfe der Versammlung 
hin, so erscheint ihr gemeinsamer Geist in den Bildern der Apsis- 
wolbung oder in dem einfachsten Symbol, dem Lamme, dem Kreuz, 
der Taube, sozusagen reflektiert Was diesen Erscheinungen enU 
gegenwartet in allen, findet seinen Ausdruck nicht sowohl in der 
Wandelbahn zwischen den Säulen oder in der alternierenden Reihe 
der Körper und der Intervalle, nicht in der Gliederung der Ober- 
mauem, wo andere Bilder sich hinziehen mögen, wohl gar die 
Scharen der Seligen über den Lebenden gegenwärtig sind und 
teilnehmen an ihrer Richtungseinheit, auf das Ziel hin, — sondern 
erst recht in der letzten Region, die sich horizontal unter der 
flachen Decke oder dem schattenden Dach erstreckt Es ist der 
Lichtgaden mit seinen Öffnungen für den Einfluß der Weite, der 
Unendlichkeit draußen und ihrer Sendboten aus der Hohe. In dieser 
rein optischen Region wohnen die Gedanken, die Wünsche, 
das Erlosungsbedürfhis und die Sehnsucht der Gemeinde, wohnt 
ihre Seele als Inbegriff der ganzen Verbrüderung. Das ist der 
Idealraum, der dem höchsten Ausdruck der geistigen Zusammen- 
fassung gewidmet ist Hier mag sich bei hellem Tageslicht noch 
einmal der feierlich einherwallende Zug der hellen und der dunk- 
leren Wellen wiederholen; aber alles Körperliche, die leibliche 
Mitwirkung des einzelnen auch als Glied des Ganzen, hört auf und 
löst sich in schimmernde Bewegung durch den Luftraum. Nur 
schemenhaft stehen zwischen den Fenstern die hochheiligen Zeugen, 
an denen der Schein vorüberschwebt Der Reflex, der Decke, als 
horizontaler Grenzebene, oder der Balkenreihe, mit dem Schatten- 
raum des Daches dahinter, gibt nur den sichtbaren Abschluß, oder 
wenn man will, noch einmal den gedämpften Taktschlag für den 
Bewegungszug. Im Dunkel der Abendfeier jedoch stimmt sich 
dieser Lichtraum über den Häuptern anders, vom Widerschein der 
sinkenden Sonne bis zu den ergrauenden Schattenlagen, die sich 
auch über die Fenster senken, und zum schwarzen Schleier der 
Nacht, dem gegenüber drunten der Kerzenflimmer entflammt imd 
alle Augen auf sich zieht Immer ist der Obergaden im Bewußt- 
sein der Versammelten, wenn auch für das Auge verfinstert, ein 
regelmäßig begrenzter Raum, in dem sich die drei unteren Lang- 
räume oder die beiden Hälften des Ganzen links und rechts von 



Lichtgaden und Durchblick 223 

der mittleren Richtungsachse, zusammenfassen, zu dem sie auf- 
steigen, wie die Hälften unseres Leibes zu ihrem Haupt, der einheit- 
lichen Dominante des Ganzen. 

Zu den gewöhnlichen Tageszeiten des Kirchenbesuchs dringt 
jedoch der Blick vom Eingang unten gegen die Apsis hinten 
diagonal durch die ganze Länge und steigt so von der unteren 
Region der Säulen in unserer Nähe zur glatt verlaufenden Wand 
der Obermauer und zur dritten Höhenlage, dem Lichtgaden, auf, 
um in der Tiefe der Halbkugelwölbung zu münden, oder an der 
Stirnfläche des Triumphbogens sich auszubreiten, wo uns ein Anhalt 
für das innere Schauen in einem sinnfälligen Bilde entgegenkommt 
Das künstlerische Element der altchristlichen Basilika bilden nicht 
mehr ausschließlich die Säulen, so unentbehrlich sie auch unten für 
die unmittelbar körperliche Aufnahme der Ortsbewegung und 
deren rhythmischer Begleitung oder gar Regelung bleiben. Ober 
sie hinaus fuhren die beiden oberen Zonen, die flächenhafte, nicht 
mehr körperlich tastbare, sondern nur vom Auge vermittelte De- 
koration der Obermauer, die dem entlanggleitenden Blick keine 
hinderlichen Vorsprünge entgegenstellen darf, und der Lichtgaden, 
in dem die Intervalle, als Lichtöffnungen, die positiven und die 
Wandflächen dazwischen, nur als Fortleiter des kontinuierlichen 
Verschlusses, die negativen Faktoren oder genauer die Hebungen 
und Senkungen des d3mamischen Rhythmus bilden. Die Flach- 
decke nimmt mehr das Wesen der geschlossenen Ebene, d. h. der 
Obermauer oder des Fußbodens auf; das offene Sparrendach mit 
Querbalken zwischen beiden Wänden wiederholt dagegen das Wesen 
der Säulenreihen mit ihren Intervallen unten. Damach bestimmt 
sich der verschiedene Charakter beider; es sind zwei nebeneinander 
vorkommende Lösungen, aber die letztere betont den Sieg des Be- 
wegimgsprinzips, auf das hier alles ankommt 

Nun tritt auch der Standpunkt, den Riegl als den einzig er- 
laubten hinstellen möchte, in sein Recht, oder sagen wir berichtigend 
vielmehr: die Reihe von solchen Standpunkten für den entlang- 
wandelnden Beschauer, die den geraden Draufblick auf die eine 
Seitenwand in ihrer ganzen Höhe gewähren. Und eben der ent- 
langschreitende Betrachter findet nicht in einem der Seitenschiffe, 
sondern nur in der mittleren Straße zwischen beiden den Zusammen- 
hang, die Korresponsion beider Säulenreihen und Wandglieder, die 
er sozusagen nachschaffend hüben und drüben symmetrisch setzt 
als seine Begleitung und durch seine Blicke in stetem Wechsel 



224 ^^* ^^'^^STb^u (Basilika) und Organisation 

lebendig macht Das Mittelschiff ist Hauptsache. Hier aber 
mag sich bei uns, den klassisch oder gotisch geschulten gleichviel, das 
Bedürfiiis regen, die drei Horizontalstreifen auch als Greschosse auf- 
zufassen und im Aufstieg der Vertikalen struktiv miteinander ver- 
bimden zu sehen. Aber nur die lineare oder die flächenhafte Zu- 
sammenfassung in dieser Richtung, nicht die körperlich greifbare, 
struktiv-organische, liegt im Sinne der altchristlichen Wanddekora- 
tion. Was hier zum Austrag kommen muß, ist wieder die rhyth- 
mische Gliederung im Bewegung^zuge, d. h. die Gleichheit der 
Abschnitte in allen drei Zonen, wie eine durchgehende Takteinteilung. 
Die Interkolumnien unten und die Fenster oben ordnen sich not- 
wendig zueinander als korrespondierende Reihen, so daß je eine 
Öffnung oben mit einer Arkade unten in eine Vertikalachse fallt. 
Demgemäß erweitem sich die Abstände von Säule zu Säule. Aber 
die gleichfließende Reihe wird noch nirgends durch stärkere Ein- 
schnitte unterbrochen. Es kommt mehr auf die Verkettung der 
drei Streifen untereinander, d. h. auf Verbindung zwischen der 
Arkadenreihe unten und der Fensterreihe oben, also in der ge- 
meinsamen Zwischenregion der Obermauer an, als auf senkrechte 
Gliederung vermittels durchgehender Träger für das leichte Dach 
oder Deckengebilde. Die Strophenbildung durch zusammenfassende 
Gruppen gehört erst einer späteren Entwicklung an, auf die wir 
höchstens noch einen kurzen Blick werfen können. 

Der leichtgebauten Privat- oder Palastbasilika, deren Wesen 
das christliche Gotteshaus beibehielt, weil es dem lebendigen Be- 
wegungsprinzip der neuen Religion entsprach, stand, als das 
Christentum durch Konstantin anerkannt wurde, im römischen 
Reiche die monumentale Basilika gegenüber. Ihr klassisches 
Beispiel ist die Maxentiusbasilika am Forum, die in traurigen 
Resten nur wenig über den einstigen Raum auszusagen vermag, 
aber mit ähnlichen Schöpfungen jener Zeit doch imzweifelhaft 
nachhaltige Wirkung ausgeübt hat Ihre drei Bogenhallen sind 
heute noch die Brücke zum byzantinischen Kirchenbau für alle, die 
Kleinasien nicht kennen. 

Der Besucher betrat ein Mittelschiff, dessen Länge in drei quad- 
ratische Kompartimente zerlegt ist^) Diese Quadrate werden durch 



i) Vgl. hierzu Riegl a. a. O. S. 30, dessen Angaben ich im folgenden berich- 
tigen muß, da nicht die optische Betrachtung allein, sondern nur verbunden mit der 
Ortsbewegung die richtige Aufnahme des Raums gewährleistet. 



*i 



■1 



Die monumentale (Maxentius-) Basilika ^25 

gewaltige Pfeiler mit Riesensäiüen davor scharf markiert mid die aiif 
den ersteren immittelbar aufruhenden Kreuzgewölbe, deren Scheitel 
genau über dem Mittelpunkt eines jeden Quadrates liegen, zentral 
zusammengefaßt Die Grenzen der Bodenfläche zeigen dem Einge- 
tretenen sofort die gleichen Abmessimgen der Länge und Breite 
des ersten Raumgebildes, und der Durchblick durch die Mitte gibt 
die Anweisimg auf die zweimalige Wiederholimg der nämlichen 
Große bis zum Abschluß in der Apsis am Ende des dritten Qua- 
drates. Die klare Übersicht über den Gesamtvollzug muß beruhigen, 
wenn auch zwei von diesen Zentraleinheiten nur perspektivisch in 
die erste hineinwirken, und der Verfolg des Weges bis in das 
dritte Quadrat gibt nur die Erfüllung des erwarteten Ablaufs. 
Was alle drei zur Gesamteinheit verbindet, ist aber nicht „Symme- 
trie der Reihung" zu nennen, denn Synunetrie gibt es nur im 
Nebeneinander, nicht im Hintereinander. Was das Auge wirklich 
sieht, ist nur die Proportionalität der sich verjüngenden Quadrate 
an der Bewegungsachse entlang. Der Vollzug durch die Ortsbe- 
wegung aber macht aus der proportionierten Reihe den Rhythmus 
der räumlichen Entfaltung, den wir in der Perspektive vorausahnen 
und im Fortschreiten genießen. Es sind drei festabgegrenzte, in 
sich ganz identische Strophen nacheinander. Und der Durchblick 
beruhigt und klärt diesen Rhythmus zur Harmonie aller Teile. 
Die Dynamik der einfachen Strophe ist hier jedoch gesteigert, in- 
dem sich an jedes Quadrat links imd rechts Raumerweiterungen 
anschließen, die beim durchwandelnden Subjekt gerade unter dem 
Scheitelpunkt des Kreuzgewölbes die größte Wirkimg erreichen, 
indem hier die Querachsen der tonnengewölbten Nebenräume sozu- 
sagen in ihm zusammentreffen. In voller Weite des Mittelquadrats 
selbst öffnen sich diese dunkleren Seitenräume gegen das Haupt- 
schiff, das durch Fenster in den Lünetten der Kreuzgewölbe erhellt 
ist, und begleiten so den Vorwärtsschreitenden mit zunehmender 
und abnehmender Potenz bis an die Schlußecke des Quadrats, wo 
die mächtig einspringende Säule den Zusammenhang mit dem Ge- 
wölbe aufnimmt, und zwar das schließende Viertel des einen und 
das aufgehende des folgenden vermittelt Das Übergewicht der 
Breitendimension über die Höhe, das so entsteht, und die drei- 
malige Erweiterung am Vollzug der Tiefenachse hin bewirken 
wieder großartige Beruhigimg. Dazu kommt die Massigkeit des 
ganzen Aufbaues, der Aufwand dauerhaften, undurchdringlichen 
Materials, um dem Bewegungseindruck vollends den Eindruck des 

Schmariow, KoiutwiMeiucluift. 13 



226 ^^' LsLngbau (Basilika) und Organisation 

Stillstands entgegenzusetzen. Die klare Kristallisation der Raum- 
gruppen macht diese gewölbte Basilika monumental« 

Aber eine solche Zerleg^ung des oblongen Raumes in drei 
Strophen mußte sofort auch in der christlichen Basilika vorbildliche 
Macht gewinnen, als die Apsis sich zum Chor erweitert hatte und, 
durch einen zahlreichen, unter sich abgestuften, aber einheitlich 
wirkenden Klerus, sich ein mächtigeres Widerspiel der vielköpfigen 
Gremeinde gegenüberstellte (Organisation). Der Ausgleich zwischen 
beiden Faktoren konnte dann nur in einem Mittelraum stattfinden, 
der als Drittes zwischen beiden lag (Vierung der romanischen Basi- 
lika). Aber der leichtere Aufbau bestimmte auch ein anderes Tempo 
in dem dynamischen Vollzug zwischen beiden Gewalten (Gotik). 

Ein anderes Verhältnis bildete sich bald genug in der grie- 
chischen Kirche heraus, indem sich der Kaiser als eigenes sicht- 
bares Zentrum der Zentralstelle des unsichtbaren Gottes gegenüber- 
stellte. Dann wurde die Volksmasse buchstäblich in die Mitte 
genommen und in die engeren festeren Grenzen eines Kuppel- 
raumes eingeschlossen, der keine freie Bewegung, sondern nur eine 
vorgeschriebene Stellungnahme in einfacher Unterordnimg erlaubt. 
Bevor diese strenge Zentralisation auch im byzantinischen Kirchen- 
bau durchgreift, strebt eine Reihe von oströmischen Versuchen, 
das Richtungsmoment der Basilika mit der Geschlossenheit des 
Zentralbaues zu verbinden und erlebt ihren höchsten Triumph in 
der Hagia Sophia. Noch herrscht in der elliptischen Gesamtform 
des Innenraumes die Longitudinalachse vom Eingang bis in die 
Apsis. Aber hüben und drüben legt sich ein Halbkreis an das 
mittlere Quadrat, eine Halbkuppel dort und eine andere hier an die 
auf sphärischen Zwickeln höher aufsteigende Zentralkuppel. Zwei 
kleinere Halbkreisöffnungen begleiten, links und rechts radial ge- 
stellt, die Apsis am Ende, und ein gleiches Paar nimmt die Loge 
des Kaisers über dem Eingang in die Mitte. Zwischen diesen drei- 
gliedrigen Gruppen, die in der Kuppel des Quadrates ihre letzte 
Einheit finden, erstrecken sich die Seitenwände des Mittelraumes 
allein noch in gerader Richtung, der Bewegungsachse durch das 
Ganze hin parallel. Im Erdgeschoß imd der Empore darüber 
herrscht die einfache Reihung der Säulen, nur in verschiedenem 
Maßstab der Teile imd verschiedenem Tempo ihrer Abfolge. Aber 
diese Säulenreihen sind schon eingespannt zwischen festen Eck- 
pfeilern am Anfang und Ende. Über ihnen beginnt sofort die Zu* 
sammenfassung im Bogenfeld zu symmetrischen Gruppen in den 



Byzantinische Zentralisation — AuBenbau 2^7 

Fensterreihen und Ziergliedem der Fläche bis zur letzten Einheit 
in der Kuppel hinauf. Überall sonst waltet das Gesetz der zu- 
sammenfassenden Gruppierung' über die fortlaufende Reihung vor, 
d. h. das Prinzip der Beruhigung des Zentralbaues über dasjenige 
lebendiger Beweglichkeit, dem der Langbau sonst so ausgiebig ent- 
sprach. Die Zentralisation unter eine Dominante, wie am Triumph- 
bogen Konstantins, die sich schon an der Längswand der Junius- 
basilika auf dem Esquilin ganz nebenher angekündigt hatte und die 
Triptychenreihe des Wandgetäfels darin, wie im Tambour von 
Sa. Costanza, charakterisiert, wird nun zum Hauptgesetz des ganzen 
Gebildes. Seitdem ist die drei- oder fünfteilige Gruppe unter einem 
beharrenden Höhepunkt das Wahrzeichen der byzantinischen Kunst. 
Das nämliche Gesetz der Dreifaltigkeit meldet sich auch am 
Außenbau der altchristlichen Basilika an den wenigen Stellen, wo 
dieser bedeutsam hervorragen kann aus den einhegenden Umfassungs- 
mauern des geweihten Bezirkes. Die Basilika ist kein so plastisches 
Moniunent wie der g^echische Tempel, sondern das Haus des 
Herrn liegt wie die Häuser der Gläubigen von der Straße zurück- 
gezogen, mit der Innerlichkeit seines Wesens dem Getriebe des 
Alltags und dem profanen Verkehr entzogen. Die LangseitQ des 
Kirchenkörpers kommt fast gar nicht zur Schau. Die Raumkom- 
position des Ganzen kann nur als Grruppenbau nach außen treten; 
es ist ein Komplex von Körpern, keine Verquickung von Teilen 
unter einer höheren Einheit, die als aufrechte Dominante sich er- 
höbe, wie beim Monumentalbau der Römer. Nur die Abstufung des 
Kirchenkörpers, d. h. die Raumgruppe von zwei Flügeln unter 
einer überragenden Mitte, tritt an der Stirnseite heraus, auch diese 
aber hängt durch ein Übergangsglied, die Vorhalle, mit einem 
weiteren Vorbereitungsstadium, dem Vorhof, zusammen, setzt sich 
nicht frei und geschlossen ab, bis zur dreigliedrigen Silhouette, dem 
Basilikaschema, der Giebelfront. Erst wenn die Umfassungs- 
mauern des ganzen Komplexes fallen, tritt er mit dem Baptisterium 
daneben oder gegenüber als lockere Baugruppe in die freie Um- 
gebung, an benachbarte Straßen oder ins offene Land.^) Dann 
erst bekommt der Glockenturm, der sich inzwischen hinzugesellt, 
die Bedeutung eines Mals fiir die geheiligte Oase in der Wüste 
der Erdenwelt, das den ausgesonderten Wert auch weit hinaus 



i) Wie etwa S. Apollinare in Qasse bei Ravenna, das sicher eingeschlossen war, 
wie S. Paolo fuori le mura bei Rom, S. Agnese mit Sa. Costanza. 



228 ^V. Langbau (Basilika) und Organisation 

verkündet Aber er bleibt die freistehende Dominante eines Kom- 
plexes von Baulichkeiten, die wir in ihrer as3rmmetrischen Ver- 
schiebung zu ihm imd ihrer ungleichmäßigen Massenverteilung um 
dies Mal nicht als plastische, sondern nur als malerische 
Gruppe^) anzuerkennen vermögen. 



i) Eine solche war auch S. Vitale in Ravenna mit ihrem ursprünglichen Kom- 
plex ganz asymmetrischer Anbauten. Vgl. hierzu Schmarsow, Barock u. Rokoko, f 
S. 17. Plastik, Malerei u. Relief kunst, S. 127 f. ! 



XVL 
MONUMENTALE PLASTIK 

VEREWIGUNG DES KÖRPERS UND VEREWIGUNG DES GEISTES — 
DIE STATUARISCHE KUNST IN ÄGYPTISCHER UND IN SPÄTRÖMISCHER 

AUFFASSUNG 

Langbau und Zentralbau verhalten sich gegensätzlich zueinan- 
der wie Bewegung und Ruhe.^) Wer sich darüber klar geworden 
ist, sollte auch nach der Ursache fragen, wie das zugeht, und den 
Unterschied des Wesens nicht verkennen, auf den sich dieser 
gegensätzliche Eindruck g^ndet Langbau ist seinem Wesen nach 
„für die Bewegung des Menschen in seinem Innern geschaffen'S er 
schließt sich also der Ortsbewegung des Bewohners an, wächst mit 
ihr und hört mit ihr auf sich fortzusetzen; aber er schließt nicht 
notwendig, sondern willkürlich ab, wie jede willensbestimmte Lebens- 
äufierung des Menschen; er kann in jedem Augenblick weiterge- 
bildet, in einem neuen S^ück von vom angefangen werden; er 
dehnt sich aus imd vervielfältigt seine Gestalt, wie der Mensch mit 
seinen größeren Zwecken wächst So eben entsteht die Wohnung 
als Fassung und Ausdruck unseres stetigen Lebens, so die ver- 
schiedenen Gebäude für profane Bestimmimg, eines ganzen An- 
wesens, einer Burg mit Palas, Gesindehaus, Kapelle, Speicher und 
Stallung, einer Stadt mit allen Stätten des öffentlichen Gemein- 
wesens. Langbau ist also seiner Natur nach der lebendige imd 
bewegliche Wohnbau selber. Seine Lebensachse geht horizontal 
über den Grund und Boden hin, wie die des vierfüßigen Lebe- 
wesens. Als Raumgebilde des aufrecht wandelnden Menschen ent- 
steht er durch Wiederholung unseres eigenen Körpervolumens von 
Schritt zu Schritt vorwärts. Bannen wir aber den Menschen auf 
einen festen Standpunkt, so ist er ein Mal, und es entsteht, wo er 
sich mit einem Raumgebilde umgibt, wie wir oben ausgeführt 



i) Riegi, Spätrömische Kunstindustrie, S. 15. 



230 



XVI. Monumentale Plastik 



haben, der strenge Zentralbau, das Gehäuse mit aufrechter Vertikal- 
achse — das Monument Der Raum, den es enthält, ist auch hier 
zunächst das allemotwendigste Volumen für den eigenen Korper, 
wie eine stehende Mumienkapsel. Die Ortsbewegimg ist ausge- 
schlossen^ also eine Erweiterung nur durch die Bewegung am Orte, 
konzentrische Ausdehnung wie beim Atmungsprozefi unserer Brust 
oder in der Bildungssphäre des Tastraums möglich. Beharrung und 
Bestand heißt der unterscheidende Willensakt, also Ruhe, Starrheit 
sein Ausdruck. Zentralbau ist seiner Natur nach Denkmalsbau, 
seinem Zwecke nach Verewigungswerk. Aber er verewigt das 
Dasein, nicht das Leben; er ist fertig und abgeschlossen, dem 
wechselnden Flufi des Entstehens und Vergehens enthoben, des 
Leibes Notdurft und Nahrung fremd, also in keinem Zusammenhang 
mit der umgebenden Welt, wie die organischen Geschöpfe durch 
die Bedürfhisse ihres Stoffwechsels, sondern in Gegensatz zu ihr 
gestellt, ihre Aufhebung mit Hilfe der unorganischen Materie, die 
länger währt als alles Geborene. Kristallisation ist das innerste 
Wesen des Zentralbaues, Organisation das des Wohnbaues. Des- 
halb verkündet jener Ruhe, dieser Bewegung. 

Es kann also gar nicht die Frage sein, auf welchen von beiden 
die Wahl eines bestimmten Volkes falle. Es war nicht allein nicht 
ausgeschlossen, daß dieselben Kunstvolker zu gleicher Zeit beide 
nebeneinander pflegen mochten, sondern es ist selbstverständlich der 
Fall, sowie es überhaupt eine monumentale Baukunst gibt: der 
Wohnbau ist notwendig, das Denkmal nicht; der Langbau ist ein 
natürliches Ergebnis, der Zentralbau ein willkürliches, die Versinn- 
lichung eines Abstrakten, die Verewigung des absoluten Indivi- 
duums, das gar nicht existiert, sondern nur eine Ausgeburt des 
Menschengeistes ist. 

Gibt es einmal Wohnbau und Monumentalbau, Langbau und 
Zentralbau nebeneinander, so ergibt sich im geschichtlichen Leben 
von selbst ein Ausgleich zwischen beiden, indem man durch Be- 
ruhigimg des Langbaues und Beweglichmachung des Zentralbaues 
beide gewissermaßen einander annähert Dieser Austausch der 
Eigenschaften ist aber, wohlgemerkt, erst möglich, wenn zwischen 
Wohnung imd Denkmal eine gemeinsame Eigenschaft besteht, auf 
Gnmd deren sich die Abwandlung vollziehen kann. Dies Gemein- 
same ist die Raumbildung, die auch ins Innere des massiven tek- 
tonischen Mals eindringt, wie wir im Vergleich des Obelisken mit 
der Pyramide gesehen haben. Und auf der anderen Seite kann 



Denkmal und Raumgebilde 231 

das Raumgebilde nur monumental werden, wenn es das dauerhafte 
starre Material des Denksteins herübemimmt und sich ihm anbe- 
quemt, soweit es seine eigene Natur erlaubt, d. h. wenn es auf 
stetiges Wachstum und beliebige Neubildung verzichtet und dafür 
die feste Form, die abgeschlossene Gestalt eintauscht Damit aber 
ergabt sich eine folgenschwere Wahl, die Entscheidung zwischen 
den Werten des Lebens hier und den Werten des Daseins dort 
Nur das Bestandige läßt sich verewigen, vom Lebendigen vermag 
die bildende Kunst nur einen Abglanz zu retten imd über ihr 
Werk zu breiten, den wieder nur der Lebende als Hauch des 
Lebens zu spüren und zu erneuern vermag. 

Dafi der Langbau zum Steinmaterial greift, um seine Raimige- 
staltung dauernd zu erhalten, ist schon aus praktischen Gründen 
jedermann verstandlich, nur sollten wir diese nicht ohne weiteres 
auch für die ästhetischen Beweggründe annehmen. Wie aber der 
massive Denkstein dazu komme, einen Raum in sich aufzunehmen, 
der seine Standfestigkeit untergräbt, seine Stofflichkeit aushöhlt imd 
mit dem festen Kern auch die Vertikalachse, dies konstitutive 
Merkmal seines aufrechten Wesens im Innern des Körpers vertilgt, 
das ist eine schwierige Frage, um so mehr, wenn der Innenraum 
nicht mehr oder schon von vornherein nicht als „eine durch den 
Gebrauchszweck unvermeidlich geforderte Nebensache" hinzutritt, 
sondern „das Problem künstlerischer Verarbeitung bildet^', viel- 
leicht gar um seiner selbst willen, lediglich zu idealem Zwecke ge- 
wollt und geschaffen wird. Was allen praktischen Köpfen nur 
eine Rätselfrage bleiben kann, beantworten die Denkmäler keiner 
Zeit so schlagend, wie die der Spätantike im Vergleich zu den 
früheren Perioden des Altertums. Es ist freilich eine irreführende 
Behauptung, erst diese spätrömischen Bauten imterschieden sich, 
namentlich von den Bausystemen des vorangegangenen Altertums, 
durch die Raimibildung in ihrem Innern, als ob es nicht schon in 
Ägypten, dem klassischen Land der Monumente, Bauwerke mit 
ausgedehnten Innenräumen gegeben hätte, selbst in ihren Tempeln. 
Daß aber Monumente, lediglich Denkmalsbauten zur Verewigung 
des Individuums, der Persönlichkeit, sich in komplizierte Raumge- 
bilde verwandeln, das ist das charakteristische Symptom der soge- 
nannten spätrömischen Kultur und Kunst. Mit Absicht nennen wir 
die Kultur oder das geistige Leben zuerst; denn der Begriff des 
Individuums ist ein anderer geworden, der Wert, der verewigt 
werden soll, hat sich verschoben. Infolgedessen müssen auch die 



232 



XVI. Monumentale Plastik 



Mittel, zu denen die Kunst greift, um ihn zu gestalten, andere 
werden« Die früheren entsprechen nicht mehr, deshalb werden 
andere gewählt; ja an Stelle der einen Kunst tritt die andere 
Schwester. Statt der Korperbildnerin, der Plastik oder Tektonik, 
die bis dahin das Mal gescha£fen, wird die Raumgestalterin Archi- 
tektur aufgeboten imd schafft den monumentalen Zentralbau, mit 
ausgedehntem, kompliziertem Innenraum. 

Nur diese Ausstrahlung festgeformter Grenzen und ineinander- 
greifender Raimigestalt entspricht dem Begfriff der Persönlichkeit, 
sei sie ein Gott oder ein Mensch, der Imperator des Römerreiches 
oder Christus, Maria. Ein weiteres Symptom ist die Sammeleinheit 
unter einer Dominante: Alexander im Kreise seiner Feldherm, 
dieser Reflektoren seines Wertes, oder Christus im Kreise der 
Apostel, in denen der Unsichtbare noch sich widerspiegelt Das 
körperliche Individuum genügt nicht, in seiner sinnlichen Erschei- 
nung die ganze Persönlichkeit zu erschöpfen, ihre Wirkungssphäre 
muß mit zur Darstellung kommen. Und endlich wird der Versuch, 
das leibliche Abbild in der Statue oder der Büste hinzustellen, 
überhaupt aufgegeben imd die abstrakter formende Architektur 
allein berufen, das auszudrücken, worauf es diesem neuen Zeit- 
bewußtsein ankommt Nicht der Körperwert, der greifbare, stoff- 
liche, ist der eigentliche Wert, der ewige, den die Kunst festhalten 
soll, sondern die Seele ist es, der Geist, der über die sterbliche 
Hülle hinausdring^ und mit magischer Klraft in weiterem Umkreis 
wirkt Wenn die alten Ägypter Materie häuften, Ziegelsteine und 
Quadern zu Bergen auftürmten, so stellen die neuen Römer den 
massiven Pyramiden kolossale Hohlräume gegenüber, nicht die 
Moles, wie noch Hadrian mit seiner Altertümelei, sondern licht- 
durchströmte Innenräume, in denen die lautere Helligkeit des 
selbstbewußten Geistes triumphiert 

In jenen Tagen gibt es keine Statuen mehr, lautet das Ergeb- 
nis der neuesten Forschung. Das ist nur der Revers der Medaille 
mit dem Zentralbau auf der Schauseite. Die vergai^genen Ge- 
schlechter des Heidentums dachten plastisch; die aufsteigende Ge- 
neration denkt architektonisch im eminenten Sinne. Das muß allen 
einleuchten, die das Wesen der architektonischen Schöpftmg nicht 
mit dem der Plastik oder der monumentalen Tektonik, d. h. mit 
der „Kunst körperlicher Massen*' verwechseln und den Wohnbau 
nicht aus der Kunstgeschichte eliminieren wollen, wenngleich er es 
ist, der den „Kirchenbau der spätrömischen Zeit" und damit des 



Plastik und Tektonik 



233 



gesamten Mittelalters gezeitigt hat, wie einst im monumentalsten 
Lande, Ägypten, den Bau der Prozessionstempel. 

Zwischen diesen beiden Extremen liegt die Kulturperiode, 
deren gesamte Kunst unter dem Zeichen der Plastik und monu- 
mentalen Tektonik, d. h, der Korperbildnerin kut* Öoxriv ge- 
standen hat, und das klassische Altertum, genauer das HeUenentum, 
ist ihre Blütezeit Diese Erkenntnis gehört zu den Grundbegriffen 
einer einheitlichen Kunstwissenschaft, die sich keine eklektischen 
Scheuklappen vor die Augen bindet 



Die monumentale Plastik im engeren Sinne ist Darstellung 
unseres organischen Körpers nach seiner bleibenden Bedeutung. 
Von unserer eigenen Organisation ausgehend, faßt sie auch andere 
ähnlich organisierte Geschöpfe nach Maßgabe dieses Wertes auf, 
während die monumentale Tektonik den kristallinischen Körpern 
der unorganischen Natur nachstrebt, die dem Gewächs der Orga- 
nismen ganz fremd sind. Das Absehen beider ist auf die Körper- 
werte gerichtet und schließt demgemäß den umgebenden Raum als 
solchen von ihrer Darstellung aus. Ihre reinste Aufgabe muß in 
der isolierten Rundplastik gesucht werden, d. h. in der statuarischen 
Kunst und im aufgerichteten MaL Ein Hintergrund für das Bild- 
werk, ein Schauplatz mit eigener Bedeutung, die diesen Körper im 
allgemeinen Raum bedingen, beeinflussen, in die Abhängigkeit von 
weiterem Bestände oder gar vom Strom des Geschehens hinein- 
ziehen könnten, sind ursprünglich gar nicht vorhanden oder werden 
unbedingt ausgeschaltet Der Wert, den diese Schwesterkünste er- 
greifen und festbannen wollen, ist gerade das leibhaftige Dasein 
selber, das durch die Beziehungen des Lebens schon beeinträchtigt 
imd gefährdet wird. Es gpilt, ihn herauszureißen aus dem unauf- 
haltsamen Fluß der Zeit, ihn mitten im Wechsel alles Werdens und 
Vergehens zu unwandelbarer Gegenwart hinzustellen, ihn vor allen 
anderen Interessen des Menschenherzens hervorzuheben und als 
höchsten zum Bewußtsein zu bringen« 

Die Bildnerin tektonischer Körper kann diesen Wert nur in 
abstrakter Allgemeinheit bezeichnen; aber sie gerade stellt ihn mit 
unerbittlicher Schärfe und Ausschließlichkeit dar. Im Vergleich 
zur plastischen Wiedergabe organischer Geschöpfe freilich erscheint 
ihre Darstellung unzulänglich und einseitig, so daß die Vorstellung 
nachhelfen und ergänzen muß. In diesem Sinne werden ihre 
Formen symbolisch genannt Aber jede Abwandlung der strengen 



234 



XVI. Monumentale Plastik 



stereometrischen Gebilde, jede Annäherung an die Formen der 
Pflanzen oder Tierwelt mildert auch und schwächt die rücksichts- 
lose Klarheit ihres Wesens, und leitet das eine, worauf es an- 
kommt, in die Bedingfungen des Wachstums und des Lebens, d. h. 
der Zeitlichkeit über. 

Die Darstellung des organischen Geschöpfes scheint solcher 
abstrakten Verewigung des Daseins im kristallinischen Körper als 
unvereinbarer Widerspruch gegenüberzustehen. Schon die Gestalt 
des organischen Gewächses verkündet die mannigfaltige Beziehung, 
verrät in allen Gliedern die Bedingtheit des Wachsens und Ver- 
welkens. Die Beweglichkeit des Organismus stellt sich jeder Auf- 
fassung als feste Form entgegen. Wie weit ist das lebendige In- 
dividuum entfernt von der absoluten Geschlossenheit der regel- 
mäßigen Körper, des Zylinders, des Prismas, des Würfels 1 

Und dennoch wird es unternommen, den Wert des Daseins 
von denen des Lebens zu scheiden, und am organischen Gewächs 
zu verewigen, was sich als bleibender Bestand in starrem Material 
wiedergeben läßt Gewaltsame Fassung in kubische Formen ist die 
erste Msißregel dieses monumentalen Bestrebens, sowie sich das 
Bewußtsein aufringt, daß es sich nicht sowohl um Nachahmung der 
Wirklichkeit handelt, nicht um Darstellung der Lebewesen in ihrem 
Tun und Treiben, in ihrem Zusammenhang mit der Natur, in die 
sie gestellt sind, sondern im Gegenteil um eine Abstraktion des 
Konstcinten, um eine Umdichtung ins Unbewegliche, Starre, Kalte 
und Undurchdringliche, um eine Neuschöpfung in anderer — eben 
unorganischer Natur, um Isolierung ringsum, bis auf den einen im- 
verrückbaren Zusammenhang mit dem körperhaften Grunde, dem 
gemeinsamen Erdboden, auf dem edles Bestehende fußt Eine 
Übertragung aller Gesetze des tektonischen Mals auf das mensch- 
liche Individuum ist die Folge. 

Die Aufrichtung der Vertikalachse ist der Ausgangspunkt für 
beide. Sie ist, wenn auch noch so schematisch, doch an sich schon 
die Sicherstellung der Grrundtatsache, um die es der Körperbildnerin 
zu tun ist. Der Kern des menschlichen Einzelwesens als eines 
selbständigen Körpers im Räume wird damit konstituiert. Von 
dieser Dominante des dreidimensionalen Komplexes beginnt die 
konkrete Gestaltung in irgendwelchem Material; denn nach dem 
Höhenlot unseres eigenen Leibes beurteilen wir alle Kreatur. 
Arbeitet der Bildner in weicher Masse, in Tonerde oder Wachs, 
so geht er tatsächlich von dieser Mittelachse des Rumpfes, des 



Körpereinheit 235 

Kopfes, oder jedes anderen Korperteiles aus und entwickelt die 
Form allmählich nach außen bis zu ihrer begrenzenden Oberfläche. 
Wo dagegen der rohe Steinblock ergriffen wird, daraus ein Men- 
schenbild zu gestalten, da liefert dies raumkörperliche Substrat den 
konstitutiven Grundstock des Individuimis, das Koordinatensystem 
mit der Vertikalachse im Zentrum, auf die sich nun von allen 
Seiten die Bearbeitimg und Ausrundung zubewegt Das Rückgrat 
des aufrechten Korpers, das beim Modellieren in Tonerde und 
Wachs erst hervorgebracht werden muß, ist hier gegeben und wird 
bereits fertig adoptiert Dort überwiegt ein Additionsverfahren, 
bei der Steinskulptur dagegen herrscht ausschließlich Subtraktion. 
Aber diese Methode kann nur angewandt werden, wo die feste 
Korpermasse vorhanden ist; sie setzt also an einem viel späteren 
Punkt des sonst erforderten Weges ein. Monumentale Tektonik 
behaut den gewachsenen Fels, bearbeitet die Bergwand imd ringt 
ihr die Einzelkorper ab. Es versteht sich von selbst, daß die 
Plastik ihrem Beispiel folgt, wo sie denselben monumentalen Zweck 
erreichen wilL 

Die Sicherstellung der tastbaren Körperwerte war es, auf die 
es zunächst ankam, und die Körpereinheit ist der vornehmste unter 
ihnen. Nach der vertikalen Dominante sind es aber die Begren- 
zungen nach allen Seiten, die solche dreidimensionale Körpereinheit 
weiter bewähren« Das kubische Körpervolumen ist zunächst nach 
allen Richtungen außer der Höhe gleichwertig; es gibt kein Vom, 
kein Hinten, keine rechte Seite, die vor der linken einen Vorrang 
hätte. Erst die Übertragung der Menschengestalt mit ausgemachter 
Vorderseite bringt diesen Unterschied hinein; sonst ist alle Bevor- 
zugung der einen Ansicht vor der anderen subjektiv, eine nur 
vom Beschauer versuchte, nicht objektiv im Wesen des Körpers 
gegeben. Seine konstitutiven Eigenschaften sind immer und ewig 
die tastbaren, denen solche Unterscheidung fremd ist; aber sie 
können nur zur Einheit zusammengehen, wenn die Dominante in 
der Mitte die übrigen überragt und allesamt sich unterordnet, in- 
dem jene von allen Seiten zu ihr hinleiten. Sie bewähren sich 
auch so als Emanationen der Vertikale, Entfaltungen vom 2^ntrum 
aus, nicht umgekehrt als von außen zusammengeschobene Konsti- 
tuenten, als Häufung von selbständigen Bestandteilen, aus der die 
Höhenachse des Mals erst hervorgehe. Bei diesem Begriff der 
Körpereinheit darf an die Herstellungsweisen durch Menschenhände 
gar nicht gedacht werden; denn diese sind erst Mittel zimi Zweck. 



236 XVI. Monumentale Plastik 

Hat man sich ihr Wesen einmal klargemacht, so erscheint es 
als eine xmannehmbare Zumutung, die Tiefenachse dieser Korper 
sei der Breitendimension nicht von Anfang an gleichwert^ ausge- 
bildet worden. Beide Ausdehnungen gehen vielmehr m^prünglich 
ineinander über und nur das Verhältnis zur Hohenachse orientiert 
über die Verschiedenheit ihrer Richtung. Die gegensätzliche 
Scheidung der Richtimgen in vier rechtwinklig aufeinanderstoßende 
Seiten ist schon ein Postulat des Intellekts, der bei jener Einheits- 
auffassung mitspielt und nicht eliminiert werden kann. Wenn wir 
also auf die Behauptung stoßen: „die antike Kunst müßte die 
Existenz der dritten Dimension — der Tiefe — von Anbeginn 
gnmdsätzlich verleugnet haben", so können wir nur an der Rich- 
tigkeit der Beobachtungen zweifeln, die zu solchem Ergebnis gefuhrt 
haben. Wir kennen solche Tatsachen nicht, oder anerkennen, wo 
sie vorzuliegen scheinen, nicht die Bedeutung, die nur ein Vorur- 
teil ihnen unterlegen kann. Auch uns ist der Raum, als dessen 
entscheidende Dimension wir die Tiefenerstreckung anzusehen 
pflegen, vom Standpunkt der Körperbildnerin Plastik ein leeres 
Nichts, aber doch der notwendige Gegensatz zum raumerfullenden 
Körper, das künstlerisch zunächst völlig unbezeichnete und unge- 
formte Vakuum, das sich über dem allgemeinen Grunde des Erd- 
bodens ausdehnt und von der körperschaffenden Kunst erfallt und 
durch ihre Körper gestaltet wird. Was über den Tastraum des 
Bildners hinausliegt, ist vollends eine unwahmehmbare Negation 
alles Positiven. Die Plastik des Altertums mag „auf möglichst ob- 
jektive Wiedergabe der stofflichen Einzeldinge ausgegangen'* sein, 
sie mag „die Wiedergabe des Raimies als einer Negation der Stoff- 
lichkeit und Individualität nach Möglichkeit vermieden haben*', oder, 
richtiger ausgedrückt, gar nicht darauf verfallen sein, die Raum- 
tiefe als solche darstellen zu wollen, d. h. als eine entgegenwirkende, 
aus der Weite auf ims zu dringende Potenz mitzugestalten. Aber 
sie braucht trotz alledem die Tiefendimension an ihren Körperge- 
bilden nicht unterdrückt zu haben und deshalb auf „möglichste An- 
näherung der stofflichen Erscheinung des Kunstwerks an die 
Ebene'* ausgegangen zu sein.^) Die Ebene hat nur zwei Dimen- 
sionen, Höhe und Breite; sie schließt also die wichtige Eigenschaft 
der entgegendringenden Rundung der Körper und deren allseitige 
Bewährung der Undurchdringlichkeit für den Tastsinn oder die 
Ortsbewegung aus. 

I) Riegl a. a. O. S. 18 fT. 



Statuarische Kunst Ägyptens 237 

„Die Auffassung von den Dingen, die dieses erste Stadium des 
antiken KunstwoUens kennzeichnet, ist eine haptische, und soweit 
sie notgedrungen bis zu einem gewissen Grrade auch eine optische 
sein muß, ist sie die nahsichtige." Sie soll sich verhältnismäßig 
am reinsten in der altägyptischen Kunst zum Ausdruck gebracht 
finden« Wo aber sind die Belege? Die ägyptischen Wandreliefs 
können unmöglich dafür angerufen werden; denn hier war die 
Ebene nicht durch das Kunstwollen des Bildners hervorgebracht, 
sondern als Bestandteil einer architektonischen Schöpfung bereits 
vorher vorhanden. Sie wurden als aufrechte, ja sogar zuweilen als 
schrägansteigende Wände der Flächendekoration anheimgegeben. 
Oder sollen wir an die sitzenden Herrschergestalten am Felsen- 
tempel von Abusimbel denken, die sich von der behauenen Berg- 
wand abheben? Sie sind vollausgerundete Körper, neben denen 
sogar die rechtwinklig anstoßende Seitenwand links und rechts die 
Tiefendimension der Raumschicht, die sie erfüllen, erst recht zu 
Sinnen fuhrt Und diese massiven Kolosse sind außerdem Glieder 
eines größeren Kunstwerks, wie die Könige am Tempel zu Kamak: 
sie treten als isolierte Körper aus der schrägansteigenden Stein- 
masse des Berges heraus, dringen dem Ankömmling entgegen als 
vorbereitender Kontrast zu dem kubischen Hohlraum drinnen, also 
gerade in der Bedeutung als dreidimensionales Körpervolumen im 
Gegensatz zu dem leeren Raumvolumen des Höhlentempels, der 
Grrabkammem, oder des freistehenden Gebäudekomplexes, dem 
vollendeten Architekturwerk (in Kamak). Sitzende Gestalten auf 
Thronen, deren Rücklehne die Schulter oder gar das Haupt über- 
ragt, wird man nicht als gebunden an die Ebene vorführen können; 
denn die Grundfläche ist durch die Gegenstandsvorstellimg ge- 
fordert, oder sie saßen tatsächlich einst an den Wänden eines 
Innenraumes (Rahotep und Nefert im Museum von Griseh) oder in 
einer tektonischen Umrahmung, die als Nische oder Eingang wieder 
die vertiefte Raumschicht enthält und betont (Renefer, daselbst 
und der Doppelgänger, aus einem Grabe von Sakkara). 

Die Hauptsache bleibt aber die Behandlung der Statuen selbst 
in strenger Frontalansicht und konsequenter Gleichberechtigimg 
aller vier Seiten. Vollständigkeit des Körpers ist das entscheidende 
Anliegen der Darstellung, die darauf ausgeht, den vollgültigen Wert 
der leibhaftigen Existenz zu geben. Keine seitlichen Drehungen, 
die ihn von anderen Dingen abhängig erscheinen lassen. So 
schreitet die Gestalt des Abgeschiedenen aus seinem Grrabe noch. 



238 XVI. Monumentale Plastik 

wie einst aus seinem Hause, dem Ankommenden entgegen; so 
thronen die beiden Kolossalstatuen Amenophis in (Memnon) unten 
am Fuß der Berge im freien Tal, zwei ganz isoliert aus der Grund- 
ebene aufsteigende Maler. So lagert der Sphinx von Giseh, so 
hocken, knien und arbeiten die Kalksteinstatuetten im Museum 
daselbst, so sitzt der Schreiber am Boden (Louvre) und schreitet 
der sogenannte Dorfschulze (Griseh) in unverkümmerter, wenn auch 
in Holz geschnitzter, doch nirgends der parallelen Sehebene ange- 
näherter Ausdehnung ihres Körpers.*) Aber wie jene Rahmenum- 
schliefiung diu'ch eine Tür, eine Nische, oder die Verbindung mit 
einem tektonischen Gebilde, einem Thron, einer Bank, einer Fels- 
stufe oder einem Sockel schon nahelegen und mit sich bringen, ist 
der organische Korper hier mehr oder weniger fühlbar unter das 
Gesetz kristallinischer Regelmäßigkeit gebracht worden. 
Die schematische Begrenzung des Korpers nach allen vier Seiten 
bezeugt jedoch erst recht, wie sehr diesem ältesten, uns noch be- 
kannten Kunstvolk die kubische Klarheit des Massenvoliunens Be- 
dürfnis war und die schärfste Ausprägung seiner drei Dimensionen 
in strikter Gegensätzlichkeit zueinander. Wie Obelisk und Pyra- 
mide wirken auch diese Abbilder menschlicher imd gottlicher Per- 
sonen, trotz aller Zutaten täuschender Wirklichkeitsnachahmimg, 
immer zunächst als konstitutive Faktoren^ die sich als Körper im 
Raum behaupten und sich haarscharf von diesem Luftmedium 
scheiden, wie stereometrische Figuren. Wer durch die Ausladung 
der Extremitäten bei Sitzfiguren oder durch die Bewegung der 
Schreitenden gestört wird,*) den ästhetischen Raum dieser Statuen 
zu erfassen, der betrachte nur einmal einen Torso, ein einzelnes 
abgebrochenes Glied oder gar den Kopf allein, um sich das syste- 
matische Verfahren rings um die Mittelachse klarzumachen. Das 
gekrönte Haupt, das vom Granitblock getrennt, unter dem Namen 
Thutmosis III. im British Museum zu London steht, zeigt besonders 
schlagend, wie die Vertikalachse mit dem kugeligen Abschluß aus 
der konischen Kopfbedeckimg aufragt und der scharfvorkragenden 
Peripherie ihrer untern Wandung antwortet Das Zusammenwachsen 



i) Vgl. die Abbildung des Dorfschulzen (klein, aber frontal) bei Spiegelberg, 
Gesch. d. ägypt. Kunst. Leipzig 1903, S. 30. Daselbst der Doppelgänger des Grabes 
von Sakkara, S. 27. 

2) Besonders lebhaft bei Horfuabra, Holzstatue aus Dahschur, Hirths Stil 
I. Serie, Tafel 11. Daselbst auch die meisten der obengenannten Beispiele in guter 
Abbildung. 



Statuarische Kunst Ägyptens 230 

rechtwinklig regelmäßiger Körper mit der Formemimdung des 
Menschen verrät die dienende Gestalt Uabras im Louvre oder die 
Sen-Muts in Berlin. Immer ist jede Grenzebene „nach Möglichkeit 
symmetrisch gehalten, weil sich in der Symmetrie der unimter- 
brochene tastbare Zusammenhang innerhalb der Ebene am über- 
zeugendsten dem äußeren Anblick verrät", aber zwischen den vier 
Ebenen, die dem herumschreitenden Betrachter geboten werden, 
muß immer die Höhenachse hinzukommen, die mit dem Gesetz der 
Proportionalität alle Teilflächen zusammenfaßt und die Einheit des 
Körpers konstituiert. 

Nicht eine Ebene gibt die statuarische Kunst, sondern einen 
Komplex von krummen Flächen, am allerwenigsten aber gibt sie die 
Sehebene, sondern so und so viel Tastgrenzen des Körpers. Die 
Auskimft über die Grenzen seines Volumens ist wichtiger für den 
Glauben an das Gebilde der Menschenhand, als die Vollständigkeit 
aller Teile des organischen Geschöpfes selber; denn wir können 
ganz leicht von einem nichtvorhandenen Stück absehen, ohne da* 
durch in der Auffassung des Werkes als Abbild eines ims ver- 
wandten Wesens irgendwie behindert zu werden. Nehmen wir doch 
sogar den Sphinx nach seinem Menschenantlitz schon für einen 
König und gar nicht für einen Löwen. In den Götter- und Königs- 
Statuen Ägyptens ist, auch wenn sie starr wie ein Felsblock 
bleiben, der absolute Wert des Daseins im stofflichen Körper mit 
einer Entschiedenheit ausgeprägt, ja mit einer abstrakten Schärfe 
herausgeschält, als gälte es, wie ein Raubtier sich der Beute zu 
versichern. Der Begriff der leibhaftigen Existenz wird in dem 
telsenharten spröden Material ergriffen und versinnlicht, seine Ver- 
ewigung durchgesetzt auf Kosten der organischen Natur des 
Menschenleibes selber. 

Wenn uns dieselbe ägyptische Freiskulptur Tierleiber mit 
Menschenantlitz, dann Menschengestalten mit Tier- und Vogelköpfen 
vorführt, so lehrt sie uns, daß die Erklärung des KunstwoUens hier 
nicht mit „der rein sinnlichen Wahrnehmung unter möglichstem 
Ausschluß jeglicher aus der Erfahrung stammenden Vorstellung** 
auszukommen vermag. Es spielt in der ägyptischen Kunst bereits 
eine beträchtliche Zutat intellektuellen Wesens mit. Als Beweis 
hierfür mögen auch die Flächendarstellimgen herangezogen werden^ 
wo es sich wirklich um die Nachahmung der Menschen und Dinge 
in ihrem natürlichen Verhältnis zueinander handelt: „die bekannten 
schreitenden Figuren der altägyptischen Reliefs und Malereien mit 



240 



XVI. Monumentale Plastik 



ihrer Profilstellung von Kopf und Beinen und Enfacestellung der 
Augen und Schultern. Kein menschliches Subjekt hat jemals einen 
Mitmenschen in solcher Projektion gesehen; aber die ägjrptische 
Kunst „zeigte möglichst alles und sie zeigte es möglichst unver- 
kürzt'^ Fragen wir uns, wie man also zu dieser, der sinnlichen 
Wahrnehmung nicht entsprechenden Vervollständigung der Wieder- 
gabe gekommen sei, so kann die Antwort nur lauten, dafi diese 
Kombination aus verschiedenen Ansichten eben der Gegenstands- 
vorstellung entsprach, die aus verschiedenen Bewegungsvorstel- 
lungen erwachsen war. Was der rein sinnlichen Beobachtung sich 
sehr bald als eine unmögliche Verdrehimg erweist, befriedigt die 
begrifflichen Anforderungen, die an das Menschenbild gestellt 
werden. Der Intellektualismus der altagyptischen Kirnst geht noch 
weiter. In dem Grabe von Sakkara, wo der Bewohner durch die 
Türe heraustretend plastisch dargestellt ist, sieht man an den Aufien- 
seiten des Hauses, links und rechts neben dem Türrahmen, die 
nämliche Gestalt in Profil ausschreitend gemalt, im Begriff die ver- 
schiedenen Abteilungen seines ländlichen Anwesens zu uberschopen. 
Es ist nur die nämliche Person, die in der Mitte da plastisch 
heraustritt, hier in Profilansicht einmal nach der rechten, einmal 
nach der linken Seite gedreht — sozusagen mit ihrem Überblick 
über das Ganze allgegenwärtig. Die Wurzel der zyklischen Kom- 
position liegt hier offen zutage. Und die Gemälde selbst geben in 
Streifen übereinander das Leben und Treiben auf den verschieden- 
sten Stellen der Besitzung als lauter Teilbildchen aufgereiht wieder, 
wie ein Berichterstatter sie herzählen würde, nicht wie sie von 
einem Standpunkt gesehen werden können, also den Gesetzen der 
sprachlichen Mitteilung angepaßt oder fürs Ablesen nacheinander 
bestinmit Die geistige Zusammenfassung liegt in dem Doppel- 
gänger, vor dem sie sich ausbreiten. Es kommt immer nur darauf 
an, die Gegenstandsvorstellimg im erkennenden Betrachter auszu- 
lösen, der sie begrifflich verarbeitet So bieten die ägyptischen 
Wandmalereien eine ganze Enzyklopädie des zeitgenössischen Lebens. 
In ihrem durchgehenden Intellektualismus ergibt sich aber, was 
schon Gottfried Semper ausgesprochen hat, die scheinbar ursprüng- 
lichste Kunst, die ägyptische, bei näherer Prüfung als mindestens 
sekimdär.^) 

Eine so begriffliche Auffassung der Menschengestalt offenbart 



I) Der Stil, Bd, I S. 5. 






Spätrömische Auffassung 241 

auch die statiiarische Kunst in Agsrpten. Sie imterzieht das orga- 
nische Gewächs einer bewußten und summarischen Kristallisation. 
Die räumliche Ausdehnung, die körperbildenden Eigenschaften sind 
die Hauptsache zur klaren, sicheren Bewährung des Daseins an 
ihrer Stelle imd nach allen Seiten. Für die Belebung genügt das 
einfachste Motiv, unterstützt von ein paar überraschenden Merk- 
malen der Wirklichkeit, z. B. der Farbe, der Tracht, den Abzeichen 
des Berufs usw. Das Auge blickt wieder ruhig geradeaus imd 
bekommt durch die strenge symmetrische Bildung den Ausdruck 
rein sinnlichen, beinahe imbewußten Schauens, — kuhäugig, wie 
Homer von Hera sagt, weil der große dunkle Klreis in seiner Tiefe 
keinerlei bestimmte Beziehung von innen her verrät, und das ewige 
Sein unberührt von den wechselnden Interessen allein verkündet, 
— noch apathischer, wenn der Augenstern ganz weggelassen bt, 
und die sphärische Fläche starr und kalt hervortritt 



Dieser Intellektualismus der ägyptischen Skulptur kehrt in auf- 
fallender Obereinstimmung wieder, seit die christliche Religion im 
römischen Kaiserreich den endgültigen Sieg errang. Er hängt mit 
der Verinnerlichimg der christlichen Weltansicht und der Ver- 
geistigung der zeitgenössischen Kultur zusammen, die der Auf- 
nahme des Christentums entgegenkam. Aber es ist selbstverständ- . 
lieh, daß das Kimstwollen nicht identisch wiederkehren konnte, als 
habe die lange Entwicklung dazwischen, besonders die griechische 
in ihren verschiedenen Stadien, gar nicht stattgefunden« „Schon in 
konstantinischer Zeit fallen an den Porträtköpfen diese Kennzeichen 
auf: klare und harte, möglichst wenig gegliederte Unuisse des 
massiven Ganzen und der Teile (z. B. der Schnitt der Lippen, der 
Augenbrauen, Lider) bei unklarer schwammiger Behandlung der 
Detailflächen; die Haare über der Stirn (und an den Brauen) in 
einen dicken massiven Wulst zusammengefaßt, aber im Detail dicht 
gestrichelt; die Haltung des Kopfes streng geradeaus (wie in der 
Frontalität der altorientalischen imd der archaisch-griechischen 
Statuen) ohne die charakteristische Seitenwendung der Porträtköpfe 
des dritten Jahrhunderts; der Blick zwar noch etwas aus der Mitte 
heraus schräg aufwärts bewegt, aber ohne inneres Feuer; die 
Gewanddraperie zusammengeklebt gleich nassen Lappen (in eine 
Ebene gedrängt), die Höhlungen zwischen den ebenen Faltenflächen 
als tief eingefarchte Linien erscheinend, die aber nicht bis zimi 

Schmariow, KanttwiMentchaft, 16 



^2^2 XVI. Monumentale Plastik 

unteren Saume durchlaufen, sondern oberhalb desselben (in der 
Mitte der Fläche) mit einer rundlichen, stark schattenden Höhlung- 
abschließen, unter der offenbaren Absicht, anstatt der haptischen 
eine optische Wirkung zu erzeugen."^) Dies steigert sich bis zu 
einem fast starren „Kristallinismus" in der symmetrischen Bildung 
der geradeaus gerichteten Kopfe, die alle feine Modellierung unter- 
drückt, die Augenlider scharf betont, die Pupillen groß und über- 
trieben deutlich herausarbeitet, so daß oft der ganze Augenstern 
nur wie eine kreisrunde Höhlung bewegungslos in der Mitte des 
Augapfels sitzt 

Nach einer jahrtausendelangen Pause wäre abermals eine Zeit 
angebrochen, da man in der äußeren Erscheinung der Materie und 
in der Unterdrückung jedes geistigen Impulses seine Harmonie 
fand, in der man die geist- und leblose kristallinische Schönheit 
suchte. Und doch würde man sich damit einem Irrtum hingeben. 
Ja, ein gut Teil des richtigen Verständnisses für diese werdende 
christliche Kunst hängt davon ab, daß man sich den Unterschied 
zwischen der altorientalisch-archaischen und der spätrömischen Ver- 
fiachung imd (scheinbaren) Entgeistigung klarmacht*) Die spätro- 
mische Kunst hat den Augenstern nicht bloß nicht unterdruckt, 
sondern im Gegenteil zu einer wirksameren Geltimg gebracht Es 
erscheint unzweifelhaft, daß sie die Bedeutung des Auges für die 
Aufgabe, im Beschauer die Erinnerung an das innere Geistesleben 
des Menschen wachzurufen, nicht nur nicht beseitigen, sondern im 
Gegenteil stärker und nachdrücklicher, als jemals im Altertum 
denkbar gewesen wäre, betonen wollte. Gewahrt man die mächtig 
aufgerissenen Augen dieser spätrömischen Figuren, so wird man 
sofort inne, daß sie geradezu die Hauptsache des Ganzen bilden 
sollen, wie die Seele, als deren Spiegel ja das Auge fungiert, der 
materiellen Körperlichkeit des Menschen gegenüber nach spätheid- 
nisch-altchristlicher Auffassung die Hauptsache ausmacht. Nur 
war das Ziel die Versinnlichung des Geisteslebens an sich 
und nicht irgendeiner individuellen Regung. 

Demgemäß wird auch die körperliche Erscheinung in drei- 
dimensionaler Isolierung der Einzelfigur im Räume gegeben, aber 
dieser Raiun ist nicht mehr der neutrale, für den Tastsinn gar 
nicht wahrnehmbare, sondern der optische Raum, das atmosphärische 



i) Riegl, Spätrömische Kunstindustrie, S. 107. 
2) Riegl, a. a. O., S. 109 fr. 



■ 1 

Spätrömische Auffassung i^j 

Medium, mit seiner Wandelbarkeit durch das Licht und die Luft. 
Unsere Sehebene ist für die Erscheinung maßgebend geworden und 
zwar die Gewohnheit oder die Bevorzugung des Fembildes, das alle 
tastbaren Werte von vornherein ausschließt In viereckiger Massig- 
keit wird die Gesamtfigur von möglichst ungegliederten Geraden 
begrenzt; im Gegensatze dazu ist die Oberfläche durchaus mit 
dichtem, aber seichtem Gefaltel gemustert Die Gesamterscheinung 
wird gleichsam in die Breite gequetscht, wie geradezu geplättete 
Falten am unteren G^wandrande bezeugen; sie wird der extremen 
Femsicht entsprechend möglichst in eine Ebene gedrängt, so daß 
sich selbst ein Arm nicht mehr vorstrecken darf, sondern in ge- 
zwungener Bewegimg seitlich auslegen muß. Die körperlichen 
Bewegungen verlaufen nach rechts oder links, und nur dann, wenn 
sie völlig ruhig verharren, wenden sie auch die volle Frontansicht 
des ganzen Leibes dem Beschauer zu. Das heißt, sie sind wohl 
als raumerfuUend und luftraumumflossen angeschaut, wollen aber 
nicht individuell bewegt erscheinen, nicht wirksam und tätig 
in den Tiefraiun eingreifen wie in eine umgebende Welt, die sie 
gestalten.^) 

Es ist begreiflich, daß den Künstlern erst allmählich die Um- 
wertimg ihrer bisherigen Darstellungsmittel gelingen konnte. Wir 
dürfen in solchen Übergangszeiten nicht immer den leblosen uner- 
freulichen Eindruck auf den modernen Menschen für das Kunst- 
woUen selbst verantwortlich machen. Die Negation des Körper- 
wertes kann in der PlcLStik imd vor allem in der statuarischen 
Kunst nicht sofort durch den positiven Ausdruck der Innenlebens, 
ja des abstrakten Ewigkeitswertes der Seele allein abgelöst und 
wirksam ersetzt werden; denn wie wenige Mittel stehen ihr über- 
haupt zu Gebote 1 Verewigung des absoluten Geistes, der unsterb- 
lichen Seele in Marmor oder anderem toten Stoff, der für die 
sinnliche Wahmehmimg unentbehrlich ist, war ja an und für sich 
ein Widerspruch. Und mit Recht wird hervorgehoben, „daß die 
Porträtstatue, ja alle Rundfigur überhaupt niemals vollständig in 
den^ Wesen der spätrömischen Kunst aufgehen konnte. Hierin 
liegt der Grund für den Verzicht auf die Rundskulptur in der spät- 
römischen Zeit, in der solche Werke nur noch als anachronistische 
Nachzügler etwa in sporadischer Befolgung einer Kulturtradition 



i) Vgl. z. B. die zwei Statuen von mappawerfenden Konsuln im Konservatoren 
palast zu Rom. Riegl, S. iii f. 

i6» 



2^/^ XVL Monumentale Plastik 

vorgekommen sind." Architektur und Malerei waren vornehmlich 
berufen, hier Ersatz imd Ergänzung zu bieten. 

Seine konsequente Durchbildung fand der christliche Intellek- 
tualismus in der plastischen Kunst erst durch die erneuten Be- 
mühungen der byzantinischen Kunstschulen, die das gesamte Erbe 
der hellenistischen Kunstgebiete wieder durchgearbeitet haben 
müssen, um ihrer Darstellung poetischen Inhalts alle verwertbaren 
Ausdrucksmittel zur Wiedergabe des Innenlebens und femwirkender 
Kausalität abzugewinnen. Sie haben auch die Verklärung der 
plastischen Schönheit durch die Auffassung sub specie aetemi 
und damit ihre Rettung für die neue Kultur versucht Aber die 
Bilderstürme haben ihre Errungenschaften wieder preisgegeben 
oder ihre Werke zerstreut. 



xvn. 

PLASTISCHE DARSTELLUNG DES MENSCHEN 

ORGANISCHE SCHÖNHEIT — SYMBOL - TYPUS - INDIVIDUUM — EINZEL« 

STATUE UND GRUPPE 

Plastik im eigentlichen Sinne gibt eine künstlerische Darstel- 
lung unseres organischen Korpers und ihm verwandter organischer 
Geschöpfe als höchster Werte des Daseins. Der angeborenen Be- 
deutung des menschlichen Korperbaues gerecht zu werden, ist 
schon ein Beweis vorgeschrittener Geschmacksbildung. Die orga- 
nische Schönheit des Menschenleibes nachzufühlen und als 
eigentümlichen Wert zu erfassen, setzt eine freiere Weltanschauung 
voraus und kann nur bei unmittelbarer Anerkennxmg des Indivi- 
duums (wenn auch eines bevorzugten Stammes oder herrschenden 
Standes) gedeihen. 

Wir verstehen unter organischer Schönheit eben die höhere 
Einheit zwischen der plastischen und der mimischen. Es ist der 
Wert der fühlbaren Einheit imd Zweckhaftigkeit unseres eigenen 
Leibes, den wir damit anerkennen und darin genießen. Aber 
mimische Schönheit und ihre beweglichen Werte sind nicht ohne 
weiteres auch plcLStische Schönheit; denn die letztere vermag nur 
die bleibenden Werte zu fassen. Auch Mimik und Plastik stehen 
einander gegenüber wie Bewegxmg und Ruhe; aber auch sie ver- 
mögen ihr Wesen vielfach miteinander auszutauschen xmd ihre 
Werke einander anzunähern; denn auf dem greifbaren Zusammen- 
hang unseres Leibes beruhen sie beide. Der Körper als organisches 
Gewächs bleibt für die Plastik immer Anfang imd Endziel ihrer 
Darstellung und somit die Einheit in ihrem ruhigen Bestände. 
Aber sie braucht das Motiv, d. h. den durchgehenden Zug einer 
einheitlichen Bewegung, deren Sinn uns unmittelbar verständlich 
anspricht, um den Zusammenhang im Ganzen, die Einheit der Ge- 
stalt in allen Gliedern zu erweisen. Diese Wirkimg eines Impulses 
findet aber für den Beschauer, der mit dem eigenen Organismus 



2a6 XVII. Plastische Darstellung des Menschen 

vertraut ist, auch da statt, wo die Bewegung nicht so ausgreifend 
durch die ganze Gestalt geht, oder wo sie gar auf einen Teil des 
Körpers beschränkt bleibt, während das übrige in ruhigem Zustand 
verharrt. Sie behält ihre vom ersten Blick erfaßte, für den An- 
klang menschlichen Mitgefühls entscheidende Kraft auch da, wo 
sie als sanfte Regimg rein vegetativen Daseins, wie ein Hauch der 
Seele nur sich äufiert, und wird sich gern darauf beschränken, wo 
es gilt, die ruhevolle Beharrung gerade in leibhaftiger Existenz zu 
feiern.*) Die Verherrlichung unseres eigenen organischen Leibes, 
das glückliche Selbstgefühl des Individuums in dieser natürlichen 
Form, das wohlige Ausruhen im Vollbesitz dieses körperlichen Da^ 
seins sind es, woran der plastischen Kunst vor allem gelegen ist. 
Die harmonische Ausbildung aller Teile, das gesunde, dem Ge- 
samtzweck des Geschöpfes entsprechende Ineinandergreifen aller 
Funktionen sind die Voraussetzungen, die sich dabei von selbst 
ergeben. 

Auch hier ist die Korpereinheit das erste imd wesentlichste 
Erfordernis, das die organische Gestalt, wie die stereometrische 
Figur beim tektonischen Mal, erfüllen muß. Die evidente Verbin* 
düng aller zusammengehörigen Teile zu einer stofiFlichen Einheit 
kann auch hier nur an der Leitungsbahn der Vertikalachse verfolgt 
werden. Sie hat um so selbstverständlichere Berechtig^g, als sie 
beim Menschen zugleich die Wachstumsrichtung ist. Solange sie 
von unten nach oben geradlinig aufsteigt, verfolgen wir in ihr das 
Vorrecht der aufrechten Haltung des Menschenkörpers. Sowie sich 
die Verbindungslinie von unseren Sohlen bis zu unserem Scheitel 
niederwärts gegen den Boden neigt, nähern wir uns dagegen dem 
tierischen Wesen, dem Affen, xmd mit vollendeter Horizontaler- 
streckung dem gewohnten Verhalten der Vierfüßler sonst An 
dieser Wachstumsachse des Menschen entfaltet sich die Propor- 
tionalität des Aufbaues, neben ihr links und rechts die Symme- 
trie der Glieder. Die menschliche Gestalt ist in ihrer Höhe 
nach Verhältnissen gegliedert, die sich innerhalb der Grenzen leicht 
überschaubarer Maße bewegen. Mehr jedoch als diese Proportion 
wirkt für die ästhetische Auffassung zunächst die Wiederholung 
homologer Teile, die innerhalb der vertikalen Gliederung eine 



i) Man spricht sogar von Ruhemotiven und Bewegungsmotiven, ob- 
gleich der erste dieser Ausdrücke wie eine Gontradictio in adjecto, der andere wie 
ein Pleonasmus klingt. 



Organische Schönheit und statuarische Kunst 247 

Symmetrie zusammengesetzterer Art, d. h. Symmetrie des Kon- 
trastes oder Korresponsion hervorbringt Arme imd Beine, Ober- 
und Vorderarm, Ober- und Unterschenkel, Hände und Füße, Hals 
tmd Taille, Brust und Bauch treten uns sogleich als formverwandte 
Teile entgegen. In den Armen und Händen wiederholen sich in 
feinerer und voUkommnerer Form die Beine und Füße. Die Brust 
wiederholt in gleicher Art die Form des Bauches nur übereinander, 
also proportional und in entgegengesetzter Richtung, wie in festerem 
Bau. Indem sich der Bauch nach unten zur Hüfte, die Brust nach 
oben zum Schultergürtel erweitert, den beiden Haltapparaten der 
Extremitäten, deren ein Paar hängend, das andere stützend auftritt, 
vollendet sich die Symmetrie der homologen Grebilde. Während 
aber alle anderen Teile uns in der vertikalen Gliederung der Ge- 
stalt zweimal begegnen, in einer unteren massiveren und in einer 
oberen leichteren Form, ist auf jene beiden Glieder des Rumpfes, 
an denen wir den Aufstieg verfolgen, noch das Haupt gefugt, das 
als der entwickeltste und allein in keinem anderen homologen Organ 
vorgebildete Teil die Dominante bekrönt imd damit das Ganze 
abschließt^) 

Verfolgen wir nun aber, der natürlichen Wachstumsrichtung 
nachgehend, die Proportion des Ganzen von unten nach oben, so 
lesen wir schon die symmetrischen Paare der Gliedmaßen links imd 
rechts bei dieser Bewegung auf xmd es entsteht ein rhythmischer 
Verlauf, in den wir subjektiv die ruhige Harmonie des Ge- 
wächses auflosen. Das Bewegungsmotiv der Gestalt selbst, mag 
es noch so einfach sein, ist dagegen seinerseits eine objektiv ge- 
gebene Bewegxmg, die wir auch wiederum subjektiv aufnehmen 
müssen. Die homologen Glieder können eins zum anderen in 
Gegensatz treten, eine Seite als die bewegte mit der anderen 
ruhigen kontrastieren. Dann geht die Wirkung schon ins Mimische 
über. Aber die Plastik findet ein Mittel, auch hier der Harmonie 
wieder zu ihrem Rechte, der bleibenden Form zur ungeschmälerten 
Geltung zu verhelfen, indem sie im sogenannten Kontrapost die 
Gegensätze in einer höheren Einheit ausgleicht, d. h. den Kontrast 
des imteren Gliederpaares durch den umgekehrten Kontrast des 
oberen Paares aufhebt und der Dominante die Herrschaft wahrt. 
Damit aber ist das Geheimnis der organischen Schönheit an diesem 



I) Ich ergänze hier Wundt, Psychologie II, 217, vgl. Gottfr. Semper, Der 
Stil, Prolegomena. 



248 XVII. Plastische Darstellung des Menschen 

Meisterwerk der Schöpfung noch lange nicht genügend erschlossen. 
Wir brauchen nur an den Kopf und das Antlitz zu erinnern, um 
uns von dem Aufiem auch auf das Innere gewiesen zu finden; doch 
müssen wir uns schon beim Oberblick über die ganze Gestalt und 
ihre Gliedmaßen, besonders aber angesichts der Brust und des 
Bauches sagen, daß die Schöpfung weise und wohltätig den Mecha- 
nismus ins Verborgene verlegt und das Triebwerk unter einer 
Hülle wirken läßt, auf deren sichtbarer Außenseite die schönen 
Formen als Zeugnis auftreten, daß die Aufgabe drinnen wohl ver- 
richtet wird. Während aber die Mimik fast ausschließlich die aus- 
drucksvolle Vorderseite verwertet, kann die echte Plastik, zumal 
die statuarische Kunst, der ruhigeren Rückseite gar nicht entraten. 
Und gerade sie ist es, die dem organischen Gewächs die Ge- 
schlossenheit und, im Hervortreten der Wirbelsäule schon, den Zu- 
sammenhang sichert, indem sie zugleich der mannigfaltig nach 
außen gerichteten Front den Rückhalt an sich selber gewährt. 
Wenn es darauf ankäme, die Plastik auf die Probe zu stellen, was 
sie ohne die Beihilfe der mimischen Schwester für sich allein zu 
leisten vermag, so gibt es keinen herrlicheren Vorwurf als die 
Kehrseite der Menschengestalt,* denn auch dieser Revers trägt die 
Wertangabe in lesbaren Zügen ausgeprägt, nämlich des bleibenden 
Bestandes, während wir an der Schauseite die Mannigfaltigkeit der 
Beziehungen nach außen gar zu leicht überschätzen. Und zwischen 
diesen Gegensätzen gesteigerter Bewegtheit und nachdrücklichen 
Zusammenhalts wird auch die ausgleichende und überzeugende Ver- 
bindung zwischen vom und hinten, auf der rechten oder linken 
Hälfte des Körpers alsbald ihren Wert behaupten. Der Eindruck 
dieser Profilansichten verbietet an sich schon jede Verwechslung des 
dreidimensionalen Komplexes mit einem Flächenschein, einer Ebene. 
Beide an sich so mannigffaltigen, und doch untereinander so 
genau korrespondierenden Hälften vollenden erst das Individuum, 
d. h. das abgeschlossene Einzelwesen der Gattung, des Menschen. 
Damit stoßen wir eigentlich auf den UrbegrifF aller plastischen 
Kunst, die natürliche Geschöpfe in voller Körperlichkeit nachzu- 
schaffen unternimmt. Versuchen wir aber, uns Rechenschaft zu 
geben, was in diesem ersten ursprünglichen Sinne darunter zu ver- 
stehen sei, so merken wir wieder, daß Begriffe, die sich auf die 
eigene Erfahrung des menschlichen Subjekts unmittelbar berufen, 
am allerschwersten zu definieren sind, eben weil sie für selbstver- 
ständlich gelten. Die Naturwissenschaft hat neben der Kunst- 



Individuum 



249 



Wissenschaft begreiflicherweise die nächste Veranlassung, den Sinn 
des Wortes von allzu menschlichen und allzu geistigen Über- 
wucherungen freizumachen imd auf den notwendigen Inhalt ein- 
zuschränken, der auch außerhalb der Gattung Mensch von allen 
Gattungen des Tierreiches und Pflanzenreiches gelten darf. Eben 
dort aber rührt die Morphologie sowohl wie die Biologie, die den 
Begriff genau zu fassen suchen, auch an seine Grenzen: 

JDas Individuum ist eine einheitliche Gemeinschaft, in welcher 
alle Teile zu einem gleichartigen Zwecke zusammenwirken (Einheit). 
Dieser Zweck ist ein innerer (Selbstbestimmung). Und der innere 
Zweck ist auch zuletzt ein äußeres Maß, über welches die Entwick- 
lung des Lebendigen nicht hinausreicht (Form » innerer Zweck)." 

Wir brauchen diese naturwissenschaftliche Definition (n.Virchow), 
die an sich schon viel zu denken gibt, auch in der Kunstwissenschaft, 
um zunächst einmal die konkrete Fassung festzustellen gegenüber 
der Logik, die statt dessen nur das einzelne meint, das unter einen 
allgemeinen Begriff fällt, im Unterschied von der Art und Gattung, 
die eine Vielheit von einzelnen nach einem gemeinsamen Merkmal 
zusammenfaßt. Wir brauchen ihn andererseits, um die Zuspitzxmg 
auf die einzelne menschliche Person abzuwehren, solange sie noch 
nicht am Platze ist, nämlich die Überlastung des Wortes Individuum 
mit dem Inhalt, den wir richtiger als Individualität bezeichnen, 
d. h. mit der Eigenart, die eine einzelne Person von allen anderen 
unterscheidet, oder vollends der geistigen Eigentümlichkeit, die 
man heutzutage unter Individualität zu verstehen pflegt 

Alle nachahmende Kunst geht notwendig von der Darstellung 
des Individuums aus, wie wir es soeben naturwissenschaftlich defi- 
niert haben. Alle nachahmende Kunst, sagen wir mit Absicht; 
denn es gibt auch eine bildende Kunst, die nicht von der Nach- 
ahmimg eines sinnlich wahrgenommenen Individuums ausgeht, son- 
dern dei" Innenwelt des Menschen, dem Bereich seiner Vorstellungen 
oder Ideen entstammt Wir pflegen diese beiden Richtungen als 
Idealismus imd Realismus zu unterscheiden.^) Der dritte hier- 
hergehorige Ausdruck Naturalismus kann daneben genauer nur 
das Äußerste des Realismus, d. h. die vollständigste Hingabe an 
die Natumachahmung bezeichnen, die auf das Recht des Vor- 
stellungsinhalts und der Ideenarbeit des Menschen möglichst ver- 



-i) Ober die notwendige Abwandlung dieser immer relativen Bezeichnungen 
wollen wir uns der Kürze halber nicht verbreiten. 



250 XVII. Plastische Darstellung des Menschen 

ziehtet, sich also von der Naturerscheinung als solcher abhängig- 
macht imd die Natur als Gesetzgeberin anerkennt, der sich der 
Menschengeist unterordnet Damit rühren wir an die Grrenze, wo 
die menschliche Kunst aufhört. Geht aber der Anreiz zur schöpfe- 
rischen Betätigung von dem Menschengeist aus (dessen Vor- 
stellungen freilich auf Eindrücke der Außenwelt zurückgehen), oder 
entspringt der künstlerische Drang dem Grunde der Gefühle, der 
Gemütsbewegungen, die nach Ausdruck ringen, so genügt auch 
bald die stumme Gebärde und der Laut der Stimme nicht mehr, 
den Inhalt bestimmt zu vermitteln. Da greift die menschliche 
Natur zu neugeschaffenen Verbindungen, dem Worte hier, dem 
Bilde dort Aber das eine wie das andere vermag noch nicht 
im ersten Anlauf den Inhalt selber zu geben, den Wert, den sie 
vermitteln sollen, adäquat auszudrücken. Eine Lautgebärde, die 
auf das entgegenkommende Verständnis des Mitmenschen ange- 
wiesen ist, wie das Lallen des Kindes, gibt den Inhalt nicht ganz, 
sondern rechnet auf die Ergänzimg des Fehlenden durch das gleich- 
organisierte Wesen verwandter Art Ein Bild, das diesen mitzu- 
teilenden Inhalt nicht selber zeigt, sondern nur bedeutet, und des- 
halb vom Wissenden durch die vom Zeichen ausgelöste Vorstellimg 
ergänzt werden muß, das nennen wir Symbol. Es ist gegenüber 
jenem der sinnlich wahrgenommenen Erscheinung eines Naturdinges 
nachgeahmten Abbilde ein mindestens zur Hälfte geistiges Produkt, 
die Versinnlichung eines Vorstellungsinhalts für den Mitmenschen. 
So kann sich gleichwie die Lautsprache eine ganze Zeichensprache 
entwickeln, die wir als symbolische Darstellung in diesem 
eigentlichen Sinne anerkennen.^) Damit haben wir einen zweiten 
Ausgangspunkt der bildenden Kunst aufgedeckt: den intellek- 
tuellen Fol, gegenüber dem sinnlichen, von dem die Nach- 
ahmung der Naturdinge in der Außenwelt um ihrer selbst willen 
ausgeht, — zwei Fole, Subjekt und Objekt — wenn wir auch, da 
dieser letztere als sinnlicher Eindruck oder Anschauung ebenso 
dem Menschengeist angehört, an der einheitlichen Grundlage der 
Kunst vollkommen festhalten. 

Schon die statuarische Kunst der Äg^ter bezeugte die Mit- 
wirkung eines intellektuellen Faktors in der Übertragung der regel- 

i) Über den Mißbrauch des Wortes symbolisch für künstlerisch, ideal, intuitiv 
vgl. neuerdings B. Croce, Estetica 1902. S. 37. Wir wünschten, diese andere Be- 
deutung würde auch in der Ästhetik völlig aufgegeben, da mit dem Fremdwort gar 
nichts gewonnen wird. 



Symbol — Typus — Individuum 251 

mäßigen stereometrischen Figur auf die menschliche Gestalt. Das 
Flächenbild des Menschen offenbarte die begriffliche Vollständig- 
keit der Gegenstandsvorstellung als maßgebend, sogar im Wider- 
spruch zur sinnlichen Anschauung, d. h. in einer verdrehten Ansicht 
des Körpers, wie sie in Wirklichkeit nun und nimmer zu erblicken 
war. Daß aber begriffliche Vollständigkeit und nicht etwa rein 
künstlerische Rücksichten der „Ebenkomposition" dabei im Spiel 
gewesen, beweisen die in Vogelschau daneben dargestellten Schau- 
plätze, Feld, Wald, Garten, Ziegelei usw«, deren Plan aufrecht auf 
die Bildfläche gebracht ist, um den Inbegriff des ganzen Terrains 
vorzurechnen. Damit steht ein für allemal die Tatsache fest, daß 
auch in der Kunstgeschichte des Altertums schon mit der sinn- 
lichen Wahrnehmung allein gar nicht auszukommen ist, sowohl far 
die Entstehung als auch für die Aufnahme des Werks, Wir müssen 
die psychische S3mthese, die immer regsame Vorstellungsarbeit des 
Intellekts, ebenso in Rechnung setzen, wenn auch hartnäckige 
„Materialisten'' sich immer dagegen sträuben. Andererseits aber 
liegt ein großer Fehler, eine Art G^lehrtenetymologie darin, den 
Uranfang aller echten bildenden Kunst in der Wiedergabe des In- 
dividuums, des vorhandenen Einzeldinges zu verkennen und den 
Ausgang von der abstrakt-geistigen Potenz als den einzig mög- 
lichen hinzustellen, wie es in der Kulturgeschichte noch wie selbst- 
verständlich angenommen wird. 

Ein weiterer Beweis für imsere Ansicht liegt in der einzig 
möglichen Ableitung des dritten Grundbegriffs, den wir außer 
Symbol und Individuum noch in dieser Reihe brauchen. Er 
kann nur zwischen den beiden Ausgangspunkten gefunden werden, 
das ist von vornherein klar. Aber der Inhalt, den wir damit be- 
greifen, entsteht auch, wie ausdrücklich betont werden muß, auf 
zweierlei Wege, nämlich entweder von dem geistigen Faktor aus- 
gehend: in der Eroberung der Außenwelt, oder vom sinnlichen Ob- 
jekt ausgelöst: bei der Verarbeitung in der Innenwelt Dieser 
dritte Grundbegriff ist der Typus. Er umfaßt also von vornherein 
zwei Beziehungen: er ist nicht mehr ein Zeichen, das statt des 
Wertes selber geboten wird, wie das Symbol, sondern ist eine 
Wiedergabe des Wertes selbst und insofern schon eine Leistung 
der eigentlichen Kunst; er ist aber noch nicht die volle Wieder- 
gabe dieses Wertes, in der ganzen Eigentümlichkeit des Einzel- 
wesens, wie das Individuum in der Wirklichkeit, sondern seiner 
wesentlichen Merkmale, die es als zugehörig zu seiner Art oder 



2^2 XVII. Plastische Darstellung des Menschen 

Gattung ausweisen« Er bevorzugt entweder das Gesetzmäßige 
in der Natur, oder das Regelmäßige im Sinne unseres Intellekts. 
Schon dieser Versuch einer Umschreibung zeigt, daß zwei genetisch 
verschiedene Nuancen darunter verstanden werden, deren Unter- 
scheidung für die entwicklungsgeschichtliche Tendenz sehr ent^ 
scheidend werden kann. Der Typus entsteht entweder durch 
Übertragimg der symbolischen Abstraktion auf die künstlerische 
Wiedergabe des Individutmis (wie bei den Altägyptem), oder durch 
Annäherung der künstlerischen Wiedergabe des Individuums an 
das Allgemeine, die begriffliche Kategorie, unter die es imser In- 
tellekt subsumiert, d. h. an die Art oder die Gattung^ welche die 
Vielheit von Individuen umfaßt (wie in der ostromischen Kunst, 
die schon die volle Bewältigung des Individuums durch die vorauf- 
gegangene Blütezeit vorfindet, aber zugunsten der Vei^eistigung 
auf solche Errungenschaften verzichtet). Damit ergibt sich von 
selbst, daß die Definition dieses dritten GrrundbegrijQfs mit jener 
doppelten Herkunft seines Inhalts zu rechnen und sich vor Ein- 
seitigkeit in der Auffassung von dieser oder jener Seite her zu 
hüten hat, um nicht unvermerkt auch irrige Einschränkung zu ver- 
schulden. Mit den Ausdrücken Typus und typisch wird ja, wie 
jeder denkende Leser weiß, heutzutage ebensoviel^Unfug getrieben, 
wie vor nicht langer Zeit mit S3rmbol und symbolisch; doch würde 
es hier zu weit fähren, allen Mißbrauch nachzurechnen xmd abzu- 
weisen.*) In der Kunstwissenschaft verstehen wir unter Typus 
jedenfalls eine Leistung der Kunst, die auf dem Gebiete der sinn- 
lichen Anschauungen dasselbe oder etwas Ahnliches darbietet, wie 
auf dem Gebiete der geistigen Auffassung der Begriff. Wenn 
wir das Symbol mit Sinnbild übersetzen, konnten wir den Typus 
ein BegrifiFsbild nennen. Es handelt sich jedoch um ein ^anz kon- 
kretes Gebilde der darstellenden Künste, nicht allein um die Ab- 
straktion, den Begriff selbst Wir sind deshalb weit entfernt von 
jener ästhetischen Theorie des Typischen, die in dem Lehrsatz 
gipfelte, die Kunst solle im Individuum die Gattung hervorleuchten 
lassen. Aber wir sehen imsere menschliche Veranlagung auf Be- 
griffsbildung als eine unveräußerliche, ja im Haushalt unseres 

i) Nichts als eine nachlässige Vertauschung der Wörter, oder unklare Begriffs- 
verwirrung liegt vor, wenn man unter dem Typischen gerade das Individuelle als 
solches versteht. Typisch heiBt in diesem Falle charakteristisch, scharf bestimmte 
und überzeugend zutreffende Wiedergabe des Individuellen. Vgl. dazu neuerdings 
B. Croce, Estetica, S. 36 f. 



Ideal 



253 



Geisteslebens so notwendige Eigentümlichkeit an, daß ihre Weiter- 
wirkung auch im Bereiche der Kunst, wie jeder anderen Aus- 
einandersetzung mit der Welt, unausbleiblich erfolgen muß. Der 
Typus ist somit ein natürliches und in der Entwicklungsgeschichte 
der Kunst selbstverständliches Ergebnis des Ausgleichs zwischen 
deni Menschengeist als bewußter Einheit und der Vielheit der 
Dinge da draußen, mag auch der echte Künstlersinn, der auf Hin- 
gabe an die Individuen erpicht ist, sich heute nur ungern zu seiner 
Anerkennung bequemen, ja im schöpferischen Betriebe die zu- 
sammenfassende Verallgemeinerung immer als unvermeidliches Übel 
verfluchen. Es ist eben die Frucht einer Erbsünde des Menschen- 
geschlechts. Der Kunsthistoriker hat alle Ursache, den Tatbestand 
hinzunehmen, wie er vorliegt, und wird diese Urkimden des ge- 
schichtlichen Werdeganges um so weniger ablehnen wollen, als 
unmittelbar daneben sogar ein höchster Wert der Kunst ge- 
funden wird* 

Bewegen wir uns nämlich von der vollen Erfassung des Indi- 
viduums auf den verallgemeinernden Tjrpus der Art oder Gattung 
zu, so stoßen wir in der Mitte dieses Weges auf eine Verquickung 
des Typischen mit dem Individuellen, des ganz besonderen Einzel- 
wesens mit dem höchsten Inbegriff der Gattungsvollkommenheit 
Dieses geläuterte Individuum oder diesen zugleich vollkommenen 
imd überzeugend lebenswahren Typus nennen wir ein Ideal. Wir 
bezeichnen einen einzelnen wohl als Idealmenschen, imd ein Mar- 
morbild als Idealt3rpus. Die Götter Griechenlands sind durch die 
Kirnst der Blütezeit zu Idealen ausgestaltet worden, imd be- 
sonders die Plastik hat darin ihre Hauptaufgabe gefunden, während 
sie später nicht selten dazu gelangt, das Bildnis einer bestimmten 
historischen Person, wie Alexander, zum Ideal zu erhöhen und da^ 
mit den Göttern anzunähern, d. h. an ihrem Teil zum Heroenkultus 
beizutragen.^) Vergebens aber ring^ die altchristliche Kunst, sei 



i) Diese einfache BegrifTsbestimmung macht eigentlich mit einem Schlage die 
Begriffsverwirrung unmöglich, die z. B. Wickhoffs Urteil über die klassische 
Skulptur der Griechen entstellt: „eine Kunst, die auf den Typus ausging, wie die 
griechische" (41), „das griechische Porträt, das sich zu allen Zeiten auf einem Typus 
aufbaut" (S. 36), besonders aber S. 1 1 f. : „Die Kunst des Morgenlandes strebt von der 
individuellen Erscheinung dem Typus zu imd die hellenische Plastik zeigt die Vollen- 
dung dieses Strebens, die abendländische Kunst sucht von dem sich unwillkürlich 
bildenden Typus immer wieder auf die einzelne Erscheinung zurückzufuhren. Auch 
der griechische Künstler kann wie der moderne nur weiterschreiten, indem er 



254 XVII. Plastische Darstellung des Menschen 

es im unbewußten Wetteifer mit solchen Leistungen der Hellenen- 
welt, sei es im vermeintlichen Gegensatz zu deren heidnischem 
Wesen, nach einem Christusideal. Sie liefert statt dessen nur den 
Christust3rpus, der nur periodisch befriedigt und wieder einem 
anderen Platz macht: wie der knabenhaft bartlose dem männlich 
bärtigen, und dieser vollkräftige dem schwächeren und asketischen. 
Alle diese Christustypen vermögen nicht das Christusideal zu er- 
füllen, das sich in fuhrenden Geistern oder in der allgemeinen 
Phantasie der Gemeinden, wenn nicht der ganzen Christenheit aus- 
gebildet hat Das poetische Ideal steht dem Erfolg des anschau- 
lichen Kunstwerks entgegen. 

Auf der anderen Seite des Individuums, das noch voll und 
ganz in seiner Gattung steht, begegnen wir einer zweiten Erschei- 
nung, die ebenfalls über den Durchschnitt hinausragt Hier sind 
es nicht Vollkommenheiten der Gattung, die es auszeichnen, be- 
sonders nicht die physischen Eigenschaften, auf die jedes Abbild 
der plastischen Kunst zunächst angewiesen ist, sondern eher Ab- 
weichungen von der normalen Regelmäßigkeit oder geistige Eigen- 
tümlichkeiten, deren Ausprägung wir eben mit jener Steigerung 
des Begriffes Individuum zu dem der Individualität zu fassen 
suchen. Hier stehen die höheren Werte Persönlichkeit und 
Charakter, die sich dem Ideal anreihen mögen. Ethische und 
intellektuelle Eigenart, nicht selten Einseitigkeiten, die sich mit 
Verkümmerung oder Unterdrückimg- anderer Anlagen verbinden, 
gewinnen dabei das Übergewicht (wie schon in jenem asketischen 
Christus oder Johannes dem Täufer) und werden immer selbstver- 
ständlicher gemeint, je mehr wir uns dem Mittelalter oder den modernen 

immer neue Beobachtungen in der Natur macht, aus ihr immer neue Einzelheiten 
in seine Werke aufninmit. Aber sie dienen ihm nicht dazu, das Individuelle unter- 
scheidend herauszuheben, sondern sie müssen alle mithelfen, einen neuen Typus 
aufeubauen." — Hier fehlt der Begriff des Ideals, in dem gerade die Vollendung der 
hellenischen Plastik liegt. Bei Riegl lesen wir auf der anderen Seite (S. iii, Anm. i): 
„Der Typus hat in der oströmischen Kunst seine vollendetste Abrundung erfahren. 
Es ist das neue Ideal dieser antiken Epigonenkunst, das auf die Emanzipation des 
Raumes und des geistigen Innenlebens aufgebaut, sich zum klassischen, wesentlich 
auf der unmittelbar sinnlichen Erscheinung der Dinge in der Sehebene begründeten 
Ideal verhält, wie die Anthithese zur These; aus der Synthese beider Ideale ist 
unsere eigene moderne Kunst erwachsen." Hier fehlt leider die Erklärung, daß das 
Wort Ideal im ersten Satze subjektiv gemeint ist, d. h. als Ideal der Vorstellung, 
Ziel des Strebens, während es angesichts der klassischen Kunst nur objektiv die 
höhere Einheit zwischen Individuum und Typus bezeichnen, d. h. im Sinne der 
Naturgesetzlichkeit gemeint sein kann. 



Persönlichkeit — Charakter — Häfilichkeit 255 

Zeiten nähern. Dann sprechen wir neben dem Charakter, der nach 
der guten oder nach der schlechten Seite neigen mag, entweder 
als Vollkommenheit oder Unvollkommenheit erscheinen kann, je 
nach dem Einschatzungswert der Faktoren zu seiner Zeit oder zur 
Zeit seiner Beurteiler, — von Subjektivität des Wesens. Dies 
Urteil hängt wieder von dem physischen oder psychischen Ideal 
ab, oder wenigstens von dem Durchschnittswert, der als Objekti- 
vität jener willkürlichen Besonderheit gegenübergestellt wird. 
Harmonisches Gleichgewicht aller Kräfte ist das Ideal, dem das 
klstösische Altertum imd die Renaissance gehuldigt haben, und 
theoretisch wenigstens gilt es auch im Zeitalter der Humanität 
Einseitige Abweichungen, im Widerspruch mit der natürlichen An- 
lage, entwickeln sich bis zur volligen Entstellung der organischen 
Schönheit, und zur Verachtung ihres spezifischen Wertes. Ihre 
äußere Erscheinung ergabt, als Gegensatz zur plastischen Schönheit 
der menschlichen Gestalt, die Häßlichkeit, die an dieser Stelle 
nur als Negation der Vollkommenheit des organischen Geschöpfes, 
als beleidigende Enttäuschung des Anspruchs zweckmäßiger Aus- 
bildung aller Teile des Individuums nach dem Naturgesetz seiner 
Bestimmung eingeführt werden soll; denn nur in diesem teleo- 
logischen Sinne brauchen wir den Begriff häßlich in der plasti- 
schen Kirnst 

Alle Abweichungen aber von der normalen Ausbildung des 
Individuums, die Steigerungen der Individualität, der Persönlichkeit 
nach der geistigen Seite, des Charakters nach der Bevorzugung 
innerer Werte, sind wieder Erscheinungen, die wir unter diesem 
oder jenem T3rpus zusammenzufassen pflegen, und dies ist am 
ehesten ein — Charaktertypus. Sowohl diese Zusammenfassung 
einer Vielheit von Individuen, wie jene andere zur Gattungseinheit, 
lehren uns jedoch ein weiteres Moment für die Darstellung durch 
die Kunst beachten. Vielheit der Individuen hebt den Wert des 
einzelnen mehr oder weniger auf. Jede Plural ität von Er- 
scheinungen führt zum Typus zurück, und zwar zunächst für 
die menschliche Auffassung, die einer gedrängten Menge noch so 
stark entwickelter, mannigfach kontrastierender Individuen nicht 
mehr gerecht zu werden vermag, — infolgedessen notwendiger- 
weise auch in der künstlerischen Darstellung. So entsteht aus 
einer Schar verschiedenartiger Einzelwesen ein Kollektivum. Und 
das Kollektivum vermag sich nur typisch zu manifestieren. Auch 
wenn wir diese Sammeleinheit zu einem Gesamtindividuum ge» 



256 XVII. Plastische Darstellung des Menschen 

steigert vorstellen: die höhere Einheit des Gesamtausdrucks kann 
nur ein typischer Ausdruck ihres Durchschnittswesens sein.^) 

Wird die Vielheit der Individuen oder die Masse individuellen 
Ausdrucks in der Kunst endlich so groß, daß sie mit typischer Gre- 
staltung des Gemeinsamen nicht mehr auszureichen vermag, so 
bleibt ihr schließlich nichts anderes übrig, als abermals der begriff- 
lichen Ökonomie zu folgen und eine stärkere, bzw. höhere Abstrak- 
tion zu versuchen. So gelingt es vielleicht mit Hilfe des Intellekts, 
die unübersehbare Mannigfaltigkeit wieder unter eine übersichtliche 
Größe, womöglich gar in eine konkrete Einheit zusammenzufassen. 
Damit wird dann wenigstens der plastischen Kunst die Möglichkeit 
gerettet, noch ihres Amtes zu walten. Aber sie kehrt damit vom 
Typus der Pluralitat zum Symbol für die Allgemeinheit zurück. 
Wir nennen solche symbolische Darstellung einer umfassenderen 
und komplizierten Ideen verbindimg, zumal wenn die genetische 



i) Hier berührt sich das Typische des KoUektivums mit dem Begriff des 
Konventionellen; denn es pflegt auf einer Vereinbarung oder gar einem Kom- 
promiß zu beruhen wie dieses. Aber die Berühnmg darf nicht verleiten, das Kon- 
ventionelle als einen gleichwertigen Begriff in die Reihe: Symbolisch, Typisch, Indi- 
viduell — einzuordnen, wie es als Zwischenglied zwischen Typisch und IndividueU 
einzuschieben versucht worden ist; denn die Verlegenheit der Kulturgeschichte hat 
damit nur eine logische Fehlgeburt hervorgebracht. Den drei anerkannten Grund- 
begriffen liegt, auch wo sie in der Form des Adjektivs angewandt werden, ein kon- 
kretes Substantiv zugrunde. Diese greifbare Substanz fehlt aber bei „konventionell". 
Das Übereinkommen oder die Verabredung geben uns selber nichts Sachliches in 
die Hand, wenn wir nicht wissen, worauf sich die Konvention bezieht Das Adjek- 
tiv konventionell kann sich also zu jeder Zeit einstellen und für jede beliebige Ein- 
schiebselperiode der Kulturgeschichte gelten, wo eigenartige Errungenschaften ge- 
läufiges Besitztum werden und konventionelle Wiederholung eintritt. Symbolik wird 
konventionell, Typik wird konventionell, sogar Individualität und Subjektivität werden 
konventionell, wie die Mode der Selbstherrlichkeit in Höflingskreisen um das abso- 
lute Königtum und das Ideal des Obermenschen in der kaum noch modernsten 
Generation bezeugen. Konventionell werden alle Stile, selbst der ,jügendstil". 

Nicht viel besser steht es mit dem Begriff der Subjektivität, wenn er eine 
Kulturperiode nicht allein charakterisieren, sondern zugleich deren Inhalt fassen soll. 
Die Kimstwissenschaft muß ihn als solchen ablehnen, und zwar mit derselben Be 
gründimg wie das Konventionelle, nur in umgekehrter Progression. Subjektiv kann 
die Kunst zu allen Zeiten sein, so gut wie individuell, sowie sie anerkanntermaßen 
vom künstlerischen Individuum, nicht vom Kollektiviun ausgeht. Auch Riegls sum- 
marische Antithese zwischen Altertum und Moderne, als sei die Kunst des gesamten 
Altertums ihrem Wesen nach objektiv, die Kunst aller Folgezeit eminent subjektiv 
gewesen, wird die Kunstgeschichte nicht länger befriedigen, als die Beschränkung 
des subjektivistischen Charakters auf einen kleineren Abschnitt der letzten Ver- 
gangenheit bei K. Lamprecht. 



Mehrzahl: Individuum — Typus — Symbol 257 

Erklärung nicht ohne successiven Gedankengang entwickelt werden 
kann, gewöhnlich Allegorie, und dieser Name schon erfüllt neuer- 
dings mit einem gewissen Abscheu. Aber auch diese Erscheinung 
ist eine historische Tatsache, und die Kunstwissenschaft muß sie 
verstehen lernen, um sie objektiv richtiger zu bewerten. Auch die 
Allegorie spitzt sich fast immer, wo sie einigermaßen verständlich 
bleibt, auf ein Symbol zu, das den Schlüssel des ganzen Kom- 
plexes darbietet Das Wesen der Sache ist dasselbe, auch wenn 
dem Symbol sozusagen eine schon konzentrierte Bildungssphäre 
mitgegeben wird, die den Inhalt noch als mannigfaltigen vermittelt 
Das letzte, worauf es ankommt, ist doch die höhere Einheit, die 
Idee des Ganzen, imd diese kann sich nur in einer Gestalt ver- 
körpern oder von einem Zeichen ausgelöst werden, wie z. B. unsere 
modernen Personifikationen bald ein Typus, bald aber ein Individuum 
sind, wo sie nicht gar zu Genrebildern erweitert werden. Und solche 
Einzelfigur wird nur noch durch ihr Attribut als Handel, Industrie 
oder dergleichen kenntlich gemacht So bezeichnete ein Posthorn 
lange die große weitverzweigte Organisation, wird ein geflügeltes 
Rad noch heute als Inbegriff einer Sammeleinheit in edlen Kultur- 
ländern verstanden. 

Wir sehen darnach in der Funktion dieser drei Grundbegriffe 
sich eine Art Klreislauf vollziehen, je nachdem sie auf eine Einzahl 
oder eine Mehrzahl von Naturobjekten der darstellenden Kunst an- 
gewendet werden. Wir steigen angesichts des einzelnen vom Sym- 
bol zum Typus und zum Individuum auf und mit dem Eintritt 
der Mehrzahl vom Individuum wieder abwärts zum Typus und 
kehren vom Typus zum Symbol zurück. Auch dieser Kreislauf 
liegt im Haushalt des Menschengeistes begründet Damit aber 
verbietet sich von selbst eine Anwendung auf den großen Gang 
der Kimstentwicklung, deren jahrtausendelangen Verlauf wir all- 
mählich überblicken lernen. Diese Begaffe sind zu eng an das 
organische Geschöpf imd seine künstlerische Wiedergabe gebunden, 
um den Maßstab für eine Entwicklimgsgeschichte der ganzen Kunst 
oder gar der gesamten Kultur abgeben zu können.^) 

i) Ganz besonders verunglückt ist der Versuch, eine ornamentale Kunst- 
periode zu konstruieren und gar zwischen die symbolische und die typische einzu- 
schalten. Ornamentik ist noch keine Kunst, haben wir uns gesagt; deshalb hat es 
auch niemals eine omamentale Periode der Kunstgeschichte gegeben; sie könnte 
höchstens einer Vorgeschichte der Kunst angehören. Die Menschenwerke, an denen 
das Ornament auftritt, sind dagegen der eigentliche Gegenstand, auf den es ankommt, 
seien es auch nur Erzeugnisse des Kunsthandwerks. 

Schmarsowy Knnttwisseiuchaft. ly 



258 XVII. Plastische DarsteUung des Menschen 

Der Übergang von der Einzahl zur Mehrzahl vollzieht sich ja 
schon in jeder statuarischen Kunst, deren Wesen doch ausschließ- 
lich auf die Körpereinheit des organischen Geschöpfes gestellt ist. 
Aber auch hier bedeutet dieser Übergang einen Abweg nach der 
einen oder nach der anderen Seite. 

Der echte Plastiker geht einzig und allein von der KorjÄrvor- 
stellung aus. Die organische Einheit des selbständigen, der freien 
Bewegung teilhaftigen Geschöpfes wiederzugeben und den Wert 
dieses körperlichen Daseins in der Unabhängigkeit der ringsum 
abgeschlossenen Form festzuhalten, ist sein Bestreben. Deshalb 
streift er alles ab, was Notdurft und Nahrung unseres Leibes an 
Symptomen weiterer Zusammenhänge mit der umgebenden Natur 
und an Kennzeichen des inneren Stoffwechsels, der Veränderung 
und Vergänglichkeit dieser Körperform mit sich bringen. Er be- 
vorzugt das dauerhafte Material, um desto sicherer die volle Schön- 
heit des Gewächses herauszuretten aus dem unaufhaltsamen Wandel 
aller Kreatur und aus dem forteilenden Strom des Geschehens um- 
her. Deshalb wendet sich seine Vorliebe bald auch einer engen 
Auswahl in den Alterstufen zu. Das Kind, das noch knospenhaft 
unentwickelt, den Körperwert verspricht, aber noch nicht vollstän- 
dig bietet, ist ebendeshalb noch wenig geeignet, sein Vorhaben ganz 
zu erfüllen. Der Greis oder gar die alte Frau zeigen in festum- 
schriebenen Formen die Spuren des Verfalls, der Entartung oder 
im Kontrast zu den knochigen Teilen, wulstiges, aufgedunsenes 
Fleisch und eine schlaffe lederne Haut. Aber in der Blüte der 
eben erreichten Ausbildung aller Lebensfunktionen, in der Vollkraft 
der erprobten Zweckhaftigkeit und gleichmäßigen Durchbildung 
zur höchsten erreichbaren Stufe der Vollkommenheit ist das Einzel- 
wesen in glücklichster Befriedigung dem Bildner eine Welt für sich, 
die nichts, gar nichts mit einer weiteren Umgebung zu schaffen 
hat, sondern einzig und allein auf sich selber beruht 

Dennoch drängt die Entwicklung unter dem Einfluß der poeti- 
sehen Phantiisie von der Einzelstatue weiter zur Gesellung eines 
zweiten oder gar eines dritten Körpers. So sehr dieser Zuwachs 
dem Ehrgeiz des Künstlers als Steigerung seines eigenen Erfolges 
erscheinen mag, es bleibt doch ein verhängnisvoller Schritt über 
den ureigenen Boden der plastischen Schöpftmg hinaus, der dem 
KörperbUdner allein gar nicht in den Sinn kommen soUte. Wer 
dem Leben nachjagt, statt das Dasein zu verewigen, gelangt von 
der Einzelfignr zur Gruppe. 






Die plastische Gruppe 259 

Die landläufige Definition dieses Zuwachses erklärt ihn denn 
auch vom Standpunkt der Mimik und der Poesie, wie wir so 
manche Bestimmung von dorther übertragen, da die Ästhetik der 
bildenden Künste sich nur langsam auf sich selber besinnt Jene 
gewohnte Definition versteht unter Gruppe eine Mehrzahl von 
Einzehvesen, die zueinander in Beziehung stehen. Sie geht also 
von der Tätigkeit der Lebewesen aus, die aufeinander gerichtet 
ist, d. h. von den Gesichtspunkten zeitlicher Auffassung, die vom 
mimischen Ausdruck flüchtigster Relationen bis zum Kausalnexus 
einer Fabel aufsteigen. Aber für den Gesichtspunkt räumlicher 
Anschauung ergibt sich diese innere Zusammenfassung als wenig ^\^ 

stichhaltig. 

Mit Recht erhebt deshalb der Bildhauer Adolf Hildebrand ^) da- 
gegen Einspruch: „Eine Gruppe im künstlerischen Sinne", erklärt 
er, „beruht nicht auf einem Zusammenhang, der durch den Vorgang 
entsteht" Aber seine eigene Bestimmung: „es muß ein Erschei- 
nungszusammenhang sein, welcher sich als ideelle Raumein- 
heit gegenüber dem realen Luftraum behauptet," ist ebenfalls noch 
zu weit. Sie beruht auf dem festen Standpunkt optischer An- 
schauung allein, umfaßt also die malerische und gelegentlich auch 
die architektonische Gruppe mit, während Plastik als Körperbild- 
nerin gewiß zunächst nur von den t£istbaren Werten ausgehen 
kann, dagegen nicht an einen festen Standpunkt gebunden ist, 
sondern das Werk ebensogut zu umkreisen vermag. 

Wir verstehen unter Gruppe einen Komplex von Körpern, 
wenn es erlaubt ist, dies Wort zunächst in der üblichen Dehnbar- 
keit des Begriffes zu gebrauchen. Je nach dem Standpunkt aber, 
von dem wir diesen Komplex auffassen, ändert sich die Bedeutung 
des Wortes in den drei bildenden Künsten. 

Nun aber erkennt die Plastik, insbesondere die statuarische 
Kunst, von der wir ausgehen, solange sie auf ihrem eigenen Grund 
und Boden waltet, als höchste Instanz nur die Körpereinheit des 
organischen Geschöpfes, imd zwar des menschlichen Individuums 
an. Sie müßte demnach die Herstellung eines organischen Zu- 
sammenhangs als natürliche Grrundlage fordern. Unter ungesuchten 
Verhältnissen kann dieser höchste Anspruch der statuarischen 
Kunst von der Gruppe schon gar nicht mehr erfüllt werden. Wenn 



i) Das Problem der Form in der bildenden Kunst S. 98. Vgl. dazu Schmarsow, 
Plastik, Malerei und Reliefkimst 1899, S. 123 fr. 

I7» 



26o XVII. Plastische Darstellung des Menschen 

also die Skulptur den Fortschritt zu einer Mehrheit von Einzel- 
wesen erreichen will, so muß sie auf Körpereinheit verzichten. Sie 
kann nur andere AufFassungsweisen unterschieben, die von der 
ihrigen mehr oder minder abweichen. Sucht sie an dem Umkreis 
der Bedingungen organischer Geschöpfe festzuhalten, so vermag 
sie als ihre Aufgabe nur die Herstellung eines möglichst nahen 
Zusammenhangs zwischen den organischen Körpern zu erstreben, 
der durch die natürliche Beweglichkeit des menschlichen Leibes 
imd seiner Gliedmaßen entstehen imd aufrechterhalten werden 
kann. Unleugbar geraten damit die Individuen, die so miteinander 
verbunden werden, in Abhängigkeit voneinander, entweder einzeln 
oder insgesamt Das höchste Anrecht des Subjekts muß preisge- 
geben oder geschmälert werden. Das ist wieder eine Einbuße des 
echten plastischen Wertes. Nur große Vorzüge anderer Art ver- 
mögen sie aufzuwiegen. 

Die innigste Verschlingung aller Körper, wo alle als Teile so- 
zusagen eines Ganzen voneinander abhängig und in ihrer Haltung 
gegenseitig bedingt erscheinen, wäre die letzte Konsequenz; aber 
sie enthält auch die größte Gefahr, daß die Körpervorstellimg, die 
klare Rechenschaft über die ganze Gestalt jedes Individuums, die 
der Plastiker verfolgen muß, bei diesem körperlichen Zusammen- 
hang nicht mehr zu ihrem Recht gelange. Die bekannte Ringer- 
gruppe in Florenz wäre darnach eine der vollkommensten Lösimgen: 
hier erscheint die Gmippe wirklich als Komplex von Körpern, fast 
wie ein Knäuel, der sich auch vom Boden loslösen imd daherroUen 
könnte. Mit solcher Annäherung an die Kugelform entstünden 
aber zwei Abweichungen von der Körpereinheit der Menschen- 
gestalt. Es ginge der Eindruck des festen Standes der Gesamter- 
scheinung verloren und zweitens die charakteristische Gliederung 
des organischen Gewächses. Bei anderen plastischen Gruppen um- 
schreibt denn auch eine regelmäßige stereometrische Figur das 
Ganze, nur sind es die aufrechten, fest auf der Grundfläche stehen- 
den Figuren, die dabei bevorzugt werden. Was aber bedeutet 
solche Annäherung an die kristallinische Körperwelt? Die Einheit 
des Komplexes, die nicht mehr in der organischen Natur gefunden 
werden kann, wird statt dessen in der toten gesucht; die abstrakte 
Form muß ersetzen, was die Gestalterin organischer Körperformen 
nicht mehr zu leisten vermag. 

Es ist unleugbar, was wir schon von ägyptischen Einzelstatuen 
aussagen mußten, eine Zuflucht zur geistigen Vorstellung. Mit 



Künstliche Einheit 261 

Hilfe der abstrakten Form faßt der Intellekt auch die Mehrzahl 
von Individuen noch als Einheit auf. Sehr bald gesellt sich diesem 
äußeren Auskunftsmittel ein inneres zu. Nicht allein im Aufbau der 
Einzelkörper zu einem einigermaßen haltbaren Gefuge, das mit den 
Gesetzen der Statik und Mechanik ebenso rechnen muß wie mit 
der anatomischen Möglichkeit im menschlichen Wuchs, ergibt sich 
die Notwendigkeit innerer Motivierung. Die Forderung überträgt 
sich durch das einheitliche Motiv, das gefimden werden muß, auch 
auf die Innenwelt, und der poetische Kausalnexus oder die Einheit 
des Vorgangs, endlich gar die abstrakte Einheit der Idee werden 
angerufen, um den Anspruch zu erfüllen, dem die natürliche Grund- 
lage der Körpereinheit längst aus den Augen verschwunden ist 

Nehmen wir endlich hinzu, daß in einer Gruppe immer ein In- 
dividuum dem anderen Konkurrenz macht in der Aufmerksamkeit 
imd dem Gefühlsanteil des Betrachters, so ist auch hier der Über- 
gang vom Individuellen zum Typischen angebahnt; ja die Be- 
schränkung auf das Typische wird um so notwendiger als nur 
dieses das Gemeinsame bieten kann. Je mehr der poetische Inhalt 
des Ganzen die Oberhand gewinnt, wird auch der Beschauer darauf 
hingedrängt, den Zusammenhang als Einheit zu erfassen, nicht da- 
von abzuschweifen auf die Glieder der Gmippe für sich.^) 

Damit erst kommen wir auf die wichtigste Konsequenz, die 
sich aus der Anweisung eines Zentralpimktes für die Aufmerksam- 
keit ergibt Die Plastik sucht ihr Wesen als Körperbildnerin auch 
bei der Behandlung einer Mehrzahl wenigstens dadurch zu be- 
friedigen, daß sie diese Einzelkörper unter das gemeinsame Gesetz 
eines Koordinatensystems bringt und einen sie alle zusammen- 
fassenden dreidimensionalen Komplex aus ihnen herstellt. Aber 
da sie Ebenbilder organischer Geschöpfe, Menschengestalten, zu- 
sammenordnet, die diese stereometrische Form eines regelmäßigen 



i) Man betrachte zunächst einmal Niobe und die Tochter, die sich eng an sie 
anschmiegt, allein, dann etwa Menelaos mit dem Leichnam des Patroklos (Florenz), 
Eros und Psyche (Rom, Kapitol) und die drei Grazien (Siena); schon äußerliche 
Vereinigung dreier Körper durch die Schlangen im Laokoon. Andererseits die Er- 
gänzungsversuche der Gruppe Harmodios und Aristogeiton (Neapel) und als Extrem 
gegenüber die beiden Ringer (Bronze, Neapel), zwischen denen schon der Intervall als 
wesentlicher Bestandteil für die Spannung dazugehört. Durchaus poetisch wird der 
Zusammenhang dann in der Gruppe des Menelaos, Abschied von der Mutter (Rom, 
Buoncompagni) und in den Zusanmienstellungen : Orest und Elektra (Neapel), 
Orest und Pylades (Paris) oder Gruppe von S. Udefonso (Madrid, Prado) mehr oder 
minder willkürlicher Art. 



202 XVII. Plastische Darstellung des Menschen 

Körpers nicht massiv ausfüllen, sondern nur innerlich gliedern und 
durchsetzen, so bleibt einmal die Körpereinheit, die erreicht wird, 
eine ideelle, nur in der Vorstellimg hervorgebrachte (wie schon 
gesagt wurde), und es entsteht nicht selten gerade dort, wo wir 
den Schwerpunkt des umschriebenen Körpers suchen würden, ein 
Raumvolumen oder ein hier und da verteilter Schattenraum zwischen 
den Gestalten. Ist die Komposition der Gruppe nicht mehr so ge- 
schlossen, sondern lockerer, vielleicht an der Vorderseite offen, ^) so 
entsteht erst recht der zugehörige Raum, ja durch die Koordina^ 
tion der Körper auf einer Basis notwendig schon ein Gestaltungs- 
raum von mehr oder minder ausgedehnter Tiefe. Das ist ein 
optischer Faktor neben dem körperlich tastbaren, und er muß als 
solcher die Gesamtökonomie imfehlbar mitbestimmen, d. h. zimächst 
einen Zwiespalt hervorrufen, der nur durch einen Kompromiß aus- 
geglichen werden kann. 



i) Den Übergang bilden die Giebelgruppen im festen Dreieckrahmen zur 
Relief anschauung. 



XVIIL 
RELIEFKUNST 

GESTALTUNGSRAUM — RELIEFZONE — GRUNDFLÄCHE — RELIEFSTIL — 

KOMPOSITION — FLACH- UND HOCHRELIEF 

Wer mit seinen Händen in das bildsame Material greift und 
Korper daraus formt, oder mit seiner Hände Arbeit dem ge- 
wachsenen Stein Gestalten organischer Geschöpfe abgewinnt, der 
kennt zunächst keinen anderen vorhandenen Raum, als den Ge- 
staltungsraum, den sein Körpergebilde selbst erfüllt Der Ge- 
staltungsraum des plastischen Künstlers liegt innerhalb seiner Tast- 
region und bleibt darin, solange die Tätigkeit seiner Hände mit 
ihren Werkzeugen an dem Erdklumpen oder dem Marmorblock 
dauert Auch wenn der Meister zur KontroUe seiner Formbildimg 
zurücktritt, d. h. um mit den Augen die Wirkimg des Geformten 
zu prüfen, bleibt der nahe Standpunkt doch der spezifisch plastische, 
weil er die Herstellung der realen Körperlichkeit allein ermöglicht 
und entscheidet Es ist nicht sowohl der optische Standpimkt, als 
der taktile, vor allen Dingen nicht der feste des ruhigen Schauens, 
sondern der bewegliche, rings um die entstehende Körperform ver- 
schiebbare des abtastenden Sehens. In dieser nahen Sphäre des 
menschlichen Tastgefühles liegen die Körperwerte, die der Bildner 
erschafft. Jenseits der Tastregion hat er noch gar nichts zu 
suchen, solange es nur darauf ankommt, die konstitutiven Eigen- 
schaften der stofflichen Existenz zu sichern. Eine schmale Basis 
genügt zur Vertretung des allgemeinen Grundes und Bodens. Sie 
versinnlicht die horizontale Unterlage, auf der die Schwere des 
Körpers lastet und Widerhalt findet Damit ist aber auch voll- 
kommen klar ausgesprochen, daß es sich um die elementarste 
Raumrelation handelt, d. h. die konstitutive, die den dreidimen- 
sionalen Körper an seine Stelle in den Raum setzt Die zwei 
senkrechten Ebenen, der Breite und der Tiefe (Dicke), durchschnei- 
den sich in der Höhenachse und treffen auf die wagerechte Ebene 



204 XVIII. Relicfkunst 

des Grundes. Wird diese wagerechte Ebene durch eine Unterlage 
über den gemeinsamen Boden hinaufgehoben, auf dem wir alle 
fußen, so hebt die Basis auch die Gestalt aus dem gemeinen 
Grunde auf ein „höheres Niveau", enthebt sie bis zu einem gewissen 
Grrade der Dira necessitas, den Durchschnittsbedingungen der sterb- 
lichen Kreatur. Aber den umgebenden Raum zieht die statuarische 
Kunst auch so nicht in ihre Behandlung hinein; es liegt ihr durch- 
aus fem, die leere Möglichkeit weiterer Ausdehnimg außer und 
neben ihrer plastischen Gestalt zum Gegenstand ihrer formenden 
Tätigkeit zu machen. 

Wo der nahe Umkreis um uns selbst, in dem wir dreidimen- 
sionale Körper gleich dem imsrigen anzutreffen gewöhnt sind und 
Gegenstände auf Druck und Stoß zu finden erwarten, aufhört, da 
ist auch das Bereich der Rundplastik zu Ende. Denn sobald das 
Körpergebilde nicht mehr in solcher Nähe sich aufdrängt, sondern 
in einem Abstand auftritt, der uns nicht unmittelbar berührt, da 
wird auch der Maßstab bei seiner Wahrnehmung schon ein anderer. 
Wir bleiben wohl gar völlig imbekümmert um ihn und kehren uns 
gar nicht daran, ob er dasteht oder nicht „Drei Schritt vom 
Leibe" sagt noch mehr als „Noli me tangere". So weit brauchen 
wir ihn aber noch gar nicht zu entfernen, um die Veränderung in 
der sinnlichen Aufnahme deutlich genug zu spüren. Mit jedem 
Schritt nimmt nicht allein die Tastbarkeit des Dinges, sondern auch 
die Tastbeziehung auf uns ab; mit jedem Schritt wächst das Ober- 
gewicht der sichtbaren Werte und der Schaubeziehung; mit jedem 
Schritt schiebt sich eine Raumschicht mehr zwischen uns und das 
Objekt, und diese Raumschicht hört auf, Gestaltungsraum zu 
sein, und wird Gesichtsraum, — wird aus dem körperlich tast- 
baren Wert ein luft- und lichterfiillter optischer Wert Damit ge- 
langen wir an eine Grenze, die wir imser bequemes Sehfeld nennen 
und in jenem geeigneten Abstand als senkrechte Parallelebene vor- 
zustellen pflegen. 

Innerhalb dieses Abstandes von uns ergibt sich also für unsere 
menschliche Organisation ganz natürlich eine Übergangssphäre, in 
der tastbare und sichtbare Werte ineinandergreifen imd sich mit- 
einander ausgleichen müssen. Hier gleitet fiir unser Auge wie für 
unser Körpergefiihl die Auffassung der Einzelkörper für sich in 
die Auffassung ihres Zusammenhangs über, sei es der Dinge unter- 
einander, sei es der Dinge mit ihrer räumlichen Umgebimg. In 
dieser Übergangssphäre waltet, mit anderen Worten ausgedrückt, 



Gestaltungsraum — Reliefzone 265 

die Reliefanschauung.*) So erklärt sich auch die Entstehung 
einer eigenen Reliefkunst, die solche tastbar-sichtbaren Werte 
verkörpert, aus der Natur dieser in unserem Verhältnis zur Außen- 
welt vorhandenen Übergangssphäre und zugleich ihr Charakter als 
eine Art von Zwischenreich, in dem die Grenzen der beiden ver- 
schiedenen Sinnesregionen ineinanderfließen können, bis eine be- 
wußte Scheidung ihres Wesens eintritt. Wir nennen sie deshalb 
die Reliefzone, in der sich wieder untere und obere nach ihrer 
Beziehung zu unseren Tast^ oder zu unseren Sehorganen ausein- 
anderlegen. Gehen wir auch hier von der Seite der Tastregion 
aus, so unterscheidet sich der Gestaltungsraum der Reliefkunst von 
dem der Rimdplastik dadurch, daß er nach hinten zu von einer 
festen, uhdurchsichtigen Grenzfläche abgeschlossen wird und an 
dieser tektonischen Scheidewand des bildsamen, durchfuhlbaren und 
durchschäubaren Raumes haftet. Jenseits dieser Grrundebene liegt 
nicht alldin das Ungeformte und Unbezeichnete, das sich im Fort- 
besteheh eines stofflichen Kontinuums manifestiert, sondern auch 
das Ur/gfeif bare imd Untastbare, also für die Vorstellung ein Va^ 
kuum, Äir den Sehenden ein Schattenreich, das für den echten 
Plastikefa- ein Nichts bleibt, solange er nicht optisch verbildet und 
seineif feigensten Tastnatur entfremdet ist. 

t)ie Grrundebene des Reliefs ist aber, als Stoflfmasse, selbst ein 
tektöüischer Körper, mag sie (wie bei attischen Grabstelen) frei auf- 
gerichtet stehen oder (wie an und in Gebäuden) als Bestandteil zu 
ein^f msissiven Mauer gehören. Sie muß nicht allein als Raum- 
scheide, sondern auch als Angehörige der kristallinischen, d. h. un- 
organischen Körperwelt in Rechnung gesetzt werden. Zunächst 
scheint sie nur die Möglichkeit, das Bildwerk anders als von der 
Vorderseite zu betrachten, für den menschlichen Beschauer abzu- 
schneiden. Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß sie im 
übrigen den Wechsel des Standpunktes gegenüber der vorderen 
Parallelebene ebenso offen läßt, wie auch sonstige tektonische, an 
der Fläche haftende Gebilde diese Freiheit der Ortsbewegung vor 
der Grenze gewähren. Es bleibt sowohl seitliche Verschiebung des 
Standpimktes auf der parallelen Standlinie des Beschauers, als auch 



i) Vgl. Schmarsow, Plastik, Malerei und Reliefkunst, Leipzig 1899, S. 66, 76 f., 
91, 115, 163 fr. Darauf fufit auch durchgehends Riegl in seinem vortrefflichen ge- 
schichtlichen Überblick über den Gang der Reliefkunst während des Altertums. 
Spätrömische Kunstindustrie, S. 51 ff.— 122. 



266 XVIII. Relicfkunst 

Veränderung des Abstandes selber vom nahen abtastenden Sehen 
zum entfernteren Schauen, ja der Übergang zu einem festen Stand- 
punkt möglich. Die tektonische Scheidewand hinten hebt jedoch, 
für dieses Schauen vom festen Standpunkt aus besonders, das Vor- 
dringen des Blickes in die Tiefe dadurch auf, daß sie den weiteren 
Raum verschließt So wirkt sie als negative Instanz, indem sie 
die Durchverfolgung des Schauens von jenem festen und entfernten 
Standpunkt zum rein optischen Verhalten vereitelt. Ebendadurch 
hält sie positiv die freie Wahl seitlicher Bewegungen offen; ja sie 
drängt auf diese variable Prüfung des Sachverhaltes hin, verweist 
auf die Berechtigung des tastenden Sehens aus der Nähe, zur Er- 
gänzung des zusammenfassenden Schauens, indem der rechtwinklig 
gegen sie andringende Blick überall an ihr abgleitet in seitliche 
Richtungen. Sie wirkt als positive Instanz aber nicht allein auf 
die Sinneswahmehmung, sondern auch auf die Vorstellung, und 
zwar dadurch, daß sie selbst sowohl den weiteren Raum bedeuten 
kann, als auch den weiteren Zusammenhang überhaupt: sie über- 
nimmt die Gewähr für alle sonstigen Bedingimgen räumlich-körper- 
lichen Daseins der dargestellten Dinge, sie liefert den ganzen 
Inbegriff der nicht mit dargestellten Welt So zwingt sie, die An- 
wandlungen fortschreitenden Tiefenvollzuges, die in dem betrach- 
tenden Subjekt aufkommen, immer wieder ziirückzustauen imd in 
der einen Schicht des Gestaltungsraumes sich auszubreiten. Damit 
aber nötigt sie uns stets, zur Körpervorstellimg, von der das 
plastische Schaffen ausgegangen, unbeirrt, als zur Hauptsache heim- 
zulenken. Dies leistet sie unvermerkt, solange sie nicht von der 
mächtigen Phantasie des Menschen selbst verwandelt, d. h. aus 
einer tastbaren eine nur sichtbare Ebene wird. 

Auf der anderen Seite nämlich gemahnt die Grrundebene zu- 
nächst an die Hausgesetze der Nachbarin Tektonik. Auch die 
plastische Darstellimg organischer Geschöpfe wird durch sie an 
die Bedingimgen der regelmäßigen Form, an die stereometrische 
Gesetzmäßigkeit der unorganischen Natur, des festen Untergrundes 
aller Lebewesen geknüpft. Und zwar geschieht diese Anlehmmg 
an die Tektonik gerade da, wo die Gebilde der Plastik nicht mehr 
auf sich selber allein beruhen können, wo das Hauptanliegen der 
Kunst nicht mehr deren Körperlichkeit ist, sondern deren Zu- 
sammenhang imtereinander. Zu den Vorzügen der kristallinischen 
Welt und zum Glauben an die Beharrung ihrer Gesetze muß die 
Skulptur ihre Zuflucht nehmen, wenn in ihrer eigenen Organisation 



Grundfläche — Ursprung und Absicht 267 

der dreidimensionale Komplex nicht mehr stark genug ausfallt, um 
sich selber aufrechtzuerhalten, oder wenn die Bewegung, die sie 
zu fassen sucht, den Grundstock ihrer Körperbildung ins Schwanken 
bringt. Mit der Aufrechterhaltung der Reliefebene übernimmt die 
Plastik auch die Handhabung tektonischer Regelmäßigkeit, soweit 
sie sich selber dadurch zu sichern vermag oder sonstige Vorzüge 
aneignen darf, die wieder dem freieren Spiel der Phantasie zu- 
statten kommen. 

Denn die führende Rolle behält beim Relief doch, trotz all 
dieser Annäherungen an die Tektonik, auch im engsten Bündnis 
noch, die Plastik. Die Vorstellung der Körper nach dem Ebenbilde 
des Menschen, also die Organisation und Belebung in diesem Sinne, 
bleibt auch in der Reliefkimst zunächst der Kern ihres Wesens, 
von dem auch unsere Beurteilung ihrer Werke immer auszugehen 
hat, — solange die Entfremdimg durch den Wetteifer mit der 
anderen Nachbarin, Malerei, nicht unverkennbar in die Augen springt 

Wie aber kommt dann die plastische* Vorstellung überhaupt 
dazu, von der dreidimensionalen Körperbildung im ringsum unbe- 
zeichneten Raum zur Projektion ihrer Gestaltung auf die Ebene 
überzugehen? Mancherlei Beweggründe äußerer und innerer Art 
sind in den soeben angestellten Erwägungen schon angedeutet 
Die durchgreifende Erklärung für die schöpferische Phantasie, die 
sich alle Mittel dienstbar macht, liegt in dem umfassenderen Ver- 
langen, auch den Zusammenhang der Individuen unterein- 
ander zur Darstellung zu bringen, also in dem gleichen Antrieb, 
der die statuarische Kunst von der Einzelfignr zur Gruppe hinüber- 
drängt. Aber neben den inneren Gründen, die eine solche Be- 
reicherung des KunstwoUens motivieren, bieten sich auch äußere, 
rein sinnliche Momente als bestimmend an für den Anschluß der 
Plastik an die vertikale Parallelebene, die sonst dem ursprünglichen 
Ziel ihres Schaffens fem genug lag. 

Die technischen Bedingungen der Skulptur, die Bearbeitung 
der gewachsenen Steinmasse, fuhren zunächst darauf hin und stellen 
das Ergebnis ungesucht vor die Sinne. Die Felswand im Gebirge, 
der Riesengestalten sitzender Monarchen abgerungen werden sollen, 
wie vor jenen Grottentempeln Ägyptens, bleibt auch hinter den 
vollrunden Kolossen als Fläche bestehen. Der kleinere Marmor- 
block von kubischer Grundform, der in die Werkstatt geschafft 
worden ist, muß von jeder Seite mit dem Meißel angegriffen werden, 
und der Fortschritt der Gestaltung ist nicht so schnell, daß nicht 



7 



V 



268 XVIII. Reliefkunst 

mancher überraschende Eindruck solcher Übergangsstadien sich 
einprägen sollte. Die bildnerische Vorstellung des Künstlers muß 
unwillkürlich davon beeinflußt werden. Noch Michelangelo verrät 

\ als Dichter, wie seine schöpferische Phantasie unter den Bann 
dieses technisch bedingten Werdegcinges geraten ist. Gerade der 
Gegensatz des kristallinischen Materials und der organischen 
Formen, die sich daraus abheben, kann seinen Einfluß nicht ver- 
fehlen und bringt sogar die Illusion hervor, dieser nur praktisch 
unvermeidliche Umweg von außen nach innen sei der ursprüng- 
lichste, allein berechtigte, sei die Eigenart der Plastik selber. 

Keinen primären, sondern nur einen sekundären Wert gestehen 
wir dem notgedrungenen Verfahren der Steinskulptur zu,*) imd 
zwar, wie sich von selbst versteht, nicht der materialistischen oder 
utilit£iristischen Auslegung, sondern der psychologischen allein. Das 
Erlebnis fand wenigstens in dem Bereich unmittelbarer Berühnmg 
mit dem bildsamen Stoffe statt, sowie das schöpferische Subjekt 
sich mitten bei der Arbeit in das genießende Subjekt verwandeln 
muß, indem es schauend zusammenfaßt, was Hand und Meißel hier 
und da herumfahrend unter der Kontrolle der konvergierenden 
Augen hervorgebracht haben. Am Ende jedoch, wenn die ent- 
stehende Rimdfigur auch von der anderen Seite so weit vorge- 
schritten war, erfolgte die Beseitigung der letzten Reste unge- 
formten Materials zwischen den Gliedern — und damit der Durch- 
bruch einer Öffnung oder mehrerer gar in die tastbare Einheit des 
Körpergebildes. Das ergab für den formenprüfenden Blick des 
Bildners einen unliebsamen Kontrast. Dagegen aber konnte nur 

\ ein Heilmittel helfen: die fertige Figur so weit einer vorhandenen 
Wandfläche anzimähem, daß der störende Lichteinfall verschwand. 
Doch damit geraten wir in die Geschichte der Entwicklung 
selbst, die sich gerade an den Übergang vom nahen abtastenden 
Sehen zum weiteren Abstand der bequemen Schauweite und end- 
lich zum noch entfernteren Standpunkt knüpft*) Sie erst gibt 
dann die weiteren Tatsachen der sinnlichen Wahrnehmung an die 
Hand, die eine gewollte Annäherung des Rundwerks an die ebene 
Fläche veranlassen mochten. Viel entscheidender von vornherein 



i) Wie lange in Griechenland die Bronzeplastik für das Verständnis des Menschen- 
körpers den Vortritt behauptet, ist eine wohlbekannte Tatsache. Man frage sich 
nur, wie das kam. 

2) Vgl. Schmarsow, Plastik, Malerei und Reliefkunst, S. io8, 152 ff., 163—167. 



Reliefstil — Ägypten 269 

wirkten indes sicher die vorhandenen Bedingungen, unter denen 
die Reliefkunst selbst zur Anwendung kommen und zur Ausbildung 
gelangen konnte, d. h. die äußeren Tatsachen, mit denen jede gene- 
tische Erklärung rechnen muß. Grabstelen verlangten einen tekto- 
nischen Bestandteil, der eine Bildfläche darbot, die der Plastik 
ebenso willkommen sein mußte, wie der Malerei. Und die großen 
geschlossenen Wände der ägyptischen Tempelbauten erzählen ja 
wie die Bergwände der Nekropolen genugsam, woher die Ebene 
kam, der sich die Reliefkunst anbequemt. Jene Frage nach dem 
Ursprung des Reliefs kann nur aufgeworfen werden, wenn man 
solche vorhandenen Umstände als Entstehungsursachen prinzipiell 
ablehnt und alles aus dem freien Kunstwollen allein abzuleiten ver- 
sucht, wie Alois Riegl es unternommen hat 

Noch überraschender freilich klingt die vorausgeschickte, nicht 
etwa als Endergebnis gewonnene Doktrin des nämlichen Forschers, 
es gäbe überhaupt keinen Reliefstil als solchen, der nur dem Re- 
lief allein zukäme; denn auch die Rimdfigiir folge bis ans Ende 
der klassischen Zeit nur dem gleichen Kimstwollen wie das Relief 
(S. 55). Da fragt man sich doch wohl erstaunt, weshalb denn die 
Rimdfignr überhaupt entstanden sei, und weshalb nicht die ganze 
Plastik des klassischen Altertums aus lauter Reliefs bestehe? Die 
seltsame Behauptung, die dem Wesen der Korperbildnerin unter 
den Künsten geradeswegs zuwiderläuft, ist nichts als eine Petitio 
principii, oder eine Verwechslung von Ursache und Wirkung, die 
vielleicht auch nur möglich bleibt, wenn man für eine Ebene an- 
sieht, was tatsächlich nur eine Oberflächenschicht, d. h. eine 
Körper- oder Raumschicht von geringerer oder größerer Tiefen- 
ausdehnung sein kann. Einige Stichproben aus der Geschichte der 
Reliefkunst werden das dartun. Wir folgen dabei Riegl selbst: 

„Was das älteste uns bekannte Relief — das altägyptische — 
angestrebt hat, war einerseits die scharfe Heraushebimg des Indi- 
viduums, andererseits seine Ausgleichung und Verbindung mit der 
Ebene. Beide Postulate bedangen einsinder wechselseitig; denn 
jede partielle Deckung zwischen zwei oder mehreren Individuen 
vernichtete den tastbaren Eindruck absoluter Ebene, und jede 
stärkere Ausladung gefährdete umgekehrt den Eindruck ge- 
schlossener Individualität Das ägyptische Relief schuf daher in 
Höhe imd Breite möglichst scharf und unzweideutig abgeg^renzte 
tastbare Flächen, aber in weitestgehender Annäherung an die Ebene 
und daher unter möglichstem Ausschluß jeder augenfälligen Tiefen- 



270 



XVIII. Reliefkunst 



erstreckung, des Raumes und des Schattens. Von den Relationen, 
in welchen die Teile untereinander und zum Ganzen stehen, be- 
rücksichtigt die altägyptische Kunst grundsätzlich nur diejenigen 
in der Höhe und Breite (Ebenrelationen), nicht aber diejenigen in 
der Tiefe (Raumrelationen) . . . Der Grund ist die Scheidewand, 
durch welche aller störende Raum hinter der augenfälligen Ober- 
fläche der Figur einfach abgeschnitten wird." 

„Am deutlichsten gelangt dies Sachverhältnis am Relief en 
creux zum Ausdruck, an welchem der Grund als das höher Aus- 
ladende geradezu als das Wichtigere erscheint; das Herausholen 
der Einzelform aus der stofflichen Urfläche*) ist niemals mehr 
in gleich eindringlicher und immittelbar überzeugender Weise ver- 
sinnlicht worden. Die Relieffiguren sind denkbar flach gehalten, 
so daß möglichst wenig Schatten darin wahrnehmbar wird; sie 
müssen daher in der Nahsicht genossen werden, denn je femer 
man von ihnen abrückt, desto stumpfer und flacher wird die Ober- 
fläche notwendigerweise erscheinen." 

In der altägyptischen Kunst gibt es, wenigstens der Absicht 
nach, nur eine Flächenkomposition. Das Kompositionsgesetz 
war dasjenige der symmetrischen Reihung, das die Figuren mit 
der Ebene verbunden und ausgeglichen und zugleich imtereinander 
isoliert hinsetzte. Zu den in Höhe und Breite wahrnehmbaren 
seitlichen Beziehungen der Teile aum Ganzen an den Dingen, etwa 
am menschlichen Körper, zählen auch die Maßverhältnisse oder 
Proportionen. Die altägyptische Kunst ist grundsätzlich auf Dar- 
stellung der Proportionen ausgegangen.^ Das Kunstmittel zur 
Darstellung der proportionierten Einzelformen war die Umrißlinie, 
und in dieser gelangte bei den Agjrptem das prinzipielle Streben 
aller bildenden Kunst nach Einheit und Klarheit gegenüber der 
Vielheit der proportionalen Beziehungen zum Ausdruck. Die 
Linie wurde in ausgesprochener Tendenz auf eine möglichst 
kristallinisch gesetzliche Komposition, wo es irgend anging, völlig 
gerade gefuhrt, und wo Abweichungen von der Geraden unvermeid- 



i) Woher stammt diese stoffliche Ur fläche? fragen wir kritisch, ihr uranfang- 
liches Wesen erwägend, und können nur antworten: sie liegt im bildsamen Stein- 
material gegeben. Ihre Mutter ist die Stereotomie, nicht etwa die ebenflächige Ur- 
anschauung des ägyptischen KunstwoUens. Ihr Vater ist der Zweck, zu dem man 
\'ertikalebenen aufzurichten pflegt. 

2) Daß sich gerade hierin eine geschichtliche Entwicklung der ägyptischen 
Kunst beobachten läßt, muß hier außer Betracht bleiben. 



Ägypten 271 

lieh waren, sind diese in eine möglichst gesetzliche Kurve gebracht 
worden. In der strengen Proportionalität der Teile und in deren 
einheitlicher Bändigung durch ungegliederte und ungebrochene, 
soweit aber nötig regelmäßig gebogene Umrisse ruht die „Schön- 
heit" dieser ägyptischen Kunstwerke (S. 52 f.). 

Es leuchtet jedoch ein, daß die Isolierung der mit der Ebene 
verbimdenen Einzelfiguren untereinander in absoluter Strenge nicht 
durchfuhrbar ist Die geringste (inhaltliche) Notwendigkeit, zwei 
Figuren in einen engeren augenfälligen Bezug zueinander zu 
bringen, mußte zu einer Durchbrechung des Prinzips der Reihung 
fuhren. Hier lag ein Gegensatz und daher ein Problem: die Ver- 
bindung der Einzelfiguren nicht allein mit der Ebene, sondern auch 
untereinander. Es ist nicht minder klar, daß die tiefräumlichen Be- 
ziehungen — Verkürzungen und Deckungen, Schatten — unmöglich 
vollständig unterdrückt werden können, sobald auch nur die seit- 
lichen Beziehungen zugelassen sind. „Am Profilkopf z. B, findet 
eine Verkürzung von den Schläfen bis zum Nasenrücken, am Bauche 
eine solche von den Hüften bis zum Nabel statt. Deckungen waren 
an der schreitenden menschlichen Figur in der obersten Partie des 
zurückliegenden Beines unvermeidlich; desgleichen fast bei dem 
geringsten Versuche, die Arme in Aktion zu setzen. Die Unter- 
drückung der Räumlichkeit in der ägyptischen Reliefkimst be- 
deutete somit einen zweiten Gegensatz, in welchem abermals 
ein Problem und daher der Keim zu einer Weiterbildung ent- 
halten war." 

Fragen wir ims aber, woher diese beiden Gegensätze? — so 
kann die Antwort doch wohl nur lauten: sie ergeben sich aus dem 
Widerspruch der gegebenen tektonischen Ebene und des taktilen, 
nahsichtigen, auf Körperwerte gerichteten Kunstwollens der 
Ägypter. Die Relief bild er acceptieren das Gesetz der Ebene, die 
ihnen gegeben wird, als das maßgebende und bequemen alles da^ 
rauf Darzustellende diesem Hausgesetz der Flächendekoration an. 
So sind sie trotz vereinzelter Anläufe nicht über die „Ebenrela- 
tionen" und die wechselseitige Isolierung der Einzelfiguren hinaus- 
gelangt. Aber die Widersprüche, die trotzdem übriggeblieben, 
beweisen, daß nicht etwa die Ebene als solche das absolute Kunst- 
ideal des Ägypters gewesen (wie Riegl will). „Die ägyptische 
Relieffigiir hatte keine Kehrseite, sie verlor sich geflissentlich im 
Ghomde," heißt es. Aber weshalb braucht sie keine Rückseite? 
fragen wir, und antworten: weil an ihrer Schauseite im Relief der 



272 



XVIII. Rcliefkunst 



Revers zugleich mitspricht, d. h. der ganze Körper, soviel dies 
irgend erreichbar, ja um den Preis der rein sinnlichen Auffassung 
und Wahrheit des Bildes erkaufbar gewesen ist Eins ist vor allem 
gesichert: die Vertikalachse; das Rückgrat der Kreatur wird mit- 
gegeben. Das heißt, das Kunstwollen war auf die dreidimensionale 
Körperlichkeit gerichtet und dreht sich hier verzweifelt unter dem 
Zwange der Projektion in die Ebene. Der durchschlagende Beweis 
bleibt eben die bekannte Vergewaltigung des Menschenkörpers im 
Relief der Altägypter, die Riegl selbst charakterisiert*) Wir haben 
schon ausgesprochen, daß geradezu ein Begriffsbild des Menschen, 
nach seinen verschiedenen Lebensfunktionen differenziert, hier zur 
Anschauung kommt, wie es der Anspruch an die darstellende 
Kunst Gegenstandsvorstellungen zu bieten, — also ein intellek- 
tueller Faktor erklärt, der einer rein sinnlichen Wahrnehmung hier 
gerade zuwiderläuft Es sind die zeitlich nacheinander abzu- 
lesenden Werte der Körperteile, um die es sich handelt, und nur 
die psychische Synthese stellt die Einheit wieder her. Nur die 
Breite der Brust bis an den Gürtel vertritt den ruhigen Bestand 
in seiner stärksten Ausdehnung, die sich mit Schultern und Ell- 
bogen im Raum behauptet Die Beine sind in Profil ausschreitend 
gezeigt; denn ihr spezifischer Wert ist die Fähigkeit der Ortsbe- 
wegimg durch den Raum hin, von Ort zu Ort Im Kopfe wendet 
sich das Profil in die Weite; denn diese Ansicht enthält die meisten 
Relationen nach auswärts, wie es dem Sitz des Intellekts geziemt 
Aber das Auge entspricht wieder der Vorderansicht des Brust- 
kastens, die Beharrung der Existenz in unwandelbarer Ewigkeit 
auszudrücken, die dieses Abbild bedeuten, ja gewährleisten soll. 
Um diesen abstrakten, rein intellektuellen Unsterblichkeitswert 
handelt es sich auch bei dem Anschluß an die starre kristallinische 
Gesetzlichkeit der tektonischen Ebene: daher ihre absolute Gültig- 
keit im Widerspruch zu aller wirklichen Erscheinungsmöglichkeit 
des Lebens von heut und gestern. Der Intellektualismus des 
äg3rptischen Wesens erklärt diese Form des Kunstwollens, nicht 



i) Dagegen ist diese Verrenkung nicht „der stofflichen Klarheit zuliebe" vor- 
geführt, wie Riegl S. 55 meint. „Der Kopf erscheint in Profil, wobei das eine sicht- 
bare Auge geradeausblickend eingesetzt ist; die Brust mit beiden Schultern und 
Armen ist geradeaus sichtbar, während vom Bauche abwärts wieder eine Umdrehung 
ins Profil erfolgt, das in den schreitenden Beinen ein vollkommenes wird. Diese 
seltsam verrenkte Stellung läßt sich gar nicht anders erklären als aus dem Be- 
streben, den Gesamtkörper in möglichst klarer Vollständigkeit zu zeigen." 



Flachrelief — Assyrien — Griechenland ^y^ 

umgekehrt die rein sinnliche, jegliche aus der Erfahrung stammende 
Vorstellung ausschließende , stoflFgebundene und dumpf befangene 
Auffassung des äg3rptischen Künstlers. Flächendarstellung ist 
immer die stärkste Abstraktion unter den bildenden Künsten, das 
bewährt sich auch hier.*) 

Erst wenn die poetische Aufgabe der darstellenden Künste, 
die in Ägypten vorwaltet und die Relief kunst mit der Malerei fast 
auf eine Stufe stellt, allmählich zurücktritt und der eigentlich 
künstlerischen die Hegemonie einräumt, kann auch das Relief 
seinen plastischen Charakter bewähren und entwickeln. Einen viel 
einheitlicheren Charakter als echtes Flachrelief erreicht deshalb 
die assyrische Kunst mit der ausschließlichen Bevorzugung der 
Profilfigur, aus der die willkürlichen Verdrehungen zugunsten be- 
griflFlicher Vollständigkeit verschwinden und das Rückgrat des 
organischen Gewächses bei Mensch und Tier als Grenze der Re- 
lieferhebung gegen den Grund anerkannt wird. Die Körperbild- 
nerin kommt erst in der griechischen Kunst zu ihrem vollen 
Recht, ja zum Vorrecht vor allen übrigen Schwesterkünsten. „Im 
Relief aber erhält sich der ebene Grund als letzter absolut klarer 
Rückhalt, als beruhigendes Wahrzeichen tastbarer Stofflichkeit." 
Der Fortschritt gegenüber den Ägyptern lag zimächst darin, daß 
die Einzelfiguren zwar nach wie vor schon allein durch ihren 
Gegensatz zum ebenen Grunde, in Höhe und Breite klar begrenzt 
blieben, aber zugleich nicht mehr allein mit der Grundebene, 
sondern auch imtereinander in Verbindung gesetzt wurden: mit 
der Grrundebene, indem die Figuren daraus hervorzuwachsen 
scheinen, — imtereinander, indem einzelne Glieder benachbarter 
Figiu'en in seitliche Beziehungen zueinander treten (R.). Zu den „Eben- 
relationen" darf aber das Fußen der Einzelgestalt auf dem Boden 
nicht gerechnet werden; dies ist vielmehr stets die unvermeid- 
lichste Raiunrelation, die es gibtl — Das Kompositionsgesetz 
entwickelte sich aus der Reihung zum synunetrisch aufgebauten 
Kontrast der einander zugeneigten Figuren, der durch Verschrän- 
kimg der Teile eine Steigerung zum Kontrapost erfahren konnte. 
Auf geometrische Schemata zurückgeführt, ergäbe das ägyptische 
eine Zusammensetzung aus Parallelogrammen (Vertikalen und Ho- 
rizontalen), das griechische eine solche aus ineinander verschränkten 



i) Beischriften und andere erklärende Zutaten beweisen ohnehin, dafi es sich 
um einen Kunstzustand handelt, wo Wort und Bild noch ineinandergreifen. 

Schmartowy Kanstwissenichafu l8 



274 ^^III- Relief Icunst 

gleichschenkligen Dreiecken. Aber „die große Tat der griechischen 
Kunst war die Berücksichtigung der Raumrelationen: Ausladungen 
und Einziehungen, und als ihre künstlerischen Folgeerscheinungen 
dann Deckung, Verkürzung, Schatten" (R. 54). Die Figuren werden 
die Hauptsache und der Versinnlichung der kubischen Räumlich- 
keit der Korper dienen «die Mittel, die das Relief hinzugewinnt. 
Die Figuren nehmen die Gesamthöhe des Reliefstreifens für sich 
in Anspruch, je mehr die Rechnung ausschließlich die plastische 
bleibt. Sie erscheinen in der Regel ganz und gar in Dreiviertel- 
sicht, wie aus dem Grunde herausgewachsen, mit der Fähigkeit sich 
in den freien Raum loszulösen, nur durch das künstlerische Gesetz 
der ebenäächigen Anschauung gebunden, oder anders ausgedrückt: 
durch die tatsächliche Zugehörigkeit zu einer einheitlichen Ober- 
flächenschicht, über deren Vorderebene sie nicht hinaustreten dürfen, 
ohne aus ihrem Gestaltungsraum herauszufallen. Die Figuren sind 
hierbei in lebhafte Bewegung versetzt, um eine reiche Gliederung 
für die kontrapostische Verbindung der Flächenkomposition herbei- 
zuführen. „Deshalb sind sie in mehr oder minder absichtlicher Weise 
nach rechts oder links, nicht aber nach dem Beschauer zu oder von 
diesem weg bewegt" Diese Bevorzugung der diagonalen Richtung 
entspricht dem echt plastischen Bedürfnis, den Körper, der nicht 
von allen Seiten betrachtet werden kann, sich wenigstens in allen 
seinen Teilen entfalten zu lassen, so daß der Überblick über den 
Zusammenhang des ganzen organischen Geschöpfes gegeben wird. 
Die Vermeidung der rechtwinklig gegen den Gnmd oder gegen den 
Beschauer verlaufenden Richtung geradeheraus nach vom oder 
geradehinein in die Tiefe geschieht durchweg begreiflicherweise 
in Rücksicht auf das Raumvolumen der Gestciltungsschicht, gegen 
deren vordere oder hintere Grenze solche Bewegungen gerichtet 
wären, geschieht aber andererseits in Rücksicht auf ein künstle- 
risches Ziel, das die ästhetische Beurteilung des Reliefs überhaupt 
noch immer zu wenig beachtet: es ist der Rhythmus der durch- 
gehenden Bewegimg entweder nach links oder nach rechts, und 
seine Berechnimg für die subjektive Aufnahme des Beschauers. 
„Wenn jemand die Bewegung leugnet, so geh' ihm an der Nas' 
vorbei 1" sagt ja wohl Altmeister Goethe. „Wenn jemand den Relief- 
stil leugnet, so fuhr* ihn am Relief entlang I" könnten wir sagen. 
Solange die Formen der plastischen Gestalten da sich mit ims 
entlang bewegen und in derselben Richtung entfalten oder, wenn 
wir von der anderen Seite kommen, sich uns entgegendrängen und 



Reliefstil — Griechenland — Komposition 275 

dennoch an uns vorübergleiten, ohne auf uns einzustoßen, so lange 
haben wir den echt plastischen, auf tastbar-sichtbare Körperwerte 
gegründeten Reliefstil vor uns, mit dem kein anderes isoliertes 
Bildwerk derselben Zeit übereinstimmt. Das Relief haftet an der 
Wandzone und rechnet künstlerisch immer mit dem entlang- 
wandelnden Betrachter und seiner successiven Auffassung der 
Reihe. Je näher der Reliefstreifen der Tastregion bleibt, desto 
unmittelbarer muß er sich, wo überhaupt Figuren auftreten, an die 
Ortsbewegung und das Körpergefühl des schreitenden Beschauers 
anschließen. Je höher er darüber hinausrückt, desto mehr muß er 
dem entlanggleitenden oder gar freier darüber hinschweifenden 
Blicke Rechnung tragen. Im ersteren Falle bedeutet eine Frontal- 
stellung der Figur immer eine Aufforderung zum Stillstand des 
Betrachters. Er nimmt ihr gegenüber imwillkürlich einen weiteren 
Abstand als beim Hinfahren über die diagonal in Dreiviertelsicht 
mit ihm verlaufenden Körper. Er befolgt zwischen beiden Extremen 
wieder ein anderes Verfahren, wenn sich die Gestalten gegen ihn 
entfalten, aus entgegengesetzter Richtung hervor sich sozusagen 
offnen, wie die geschlossene Knospe sich auftut unter dem Sonnen- 
blick. Dann wird ein Eindringen des dehauenden und Wiederzu- 
rückziehen beim Übergang zum folgenden erfordert, ein Wechsel 
zentripetaler und zentrifugaler Bewegung, die dem umgekehrten 
Wechsel der objektiven Erscheinung entspricht, also abermals ein 
Rhythmus, von noch stärkerer Natur, der sich zum vollen Erlebnis 
plastischen Genießens steigern kann. 

Neben der Flächenkomposition tritt damit ein Übergang zur 
Raumkomposition auf; denn in dem letzterwähnten Falle geht die 
Dynamik des Formenrhythmus über das Volumen der Material- 
schicht und der idealen Parallelebene des Reliefs hinaus. Indem 
die griechische Kunst sich eine stärkere Betonung der Raunu'ela^ 
tionen, als sie das schwachgewellte ägyptische Relief zugelstssen, 
zum Ziele setzt, kommt sie zu kräftigeren Ausladungen und Ein- 
ziehungen, indem die gekrümmten Flächen überwiegen, obwohl die 
Rücksicht auf den durchgehenden Zug am Beschauer vorbei noch 
immer gebietet, die tiefräumlichen Beziehungen (Raumrelationen) 
möglichst in Seitenbewegungen in der vorderen Raumschicht um- 
zusetzen. „An der Stelle der einen Ebene der Ägypter", schreibt 
sogar Riegl selbst, „tritt nun eine Anzahl von Teilebenen; weil sie 
wechselseitig gegeneinander ausladen, ist jede von einem die Aus- 
ladung andeutenden Schatten begrenzt" (R. 55). Da läßt sich aller- 

i8» 



276 XVIII. Reliefkunst 

dings der Begriff der Ebene „im mathematischen Sinne nicht 
mehr aufrechterhalten, wie es auch in der altägyptischen Kunst 
schon der Fall war" (R. 57), und die Beibehaltung dieses Namens 
würde nur den Fortbestand einer falschen Vorstellung oder die 
Vorspiegelung einer falschen Tatsache begünstigen, von der das 
plastische Kunstwollen der Griechen nichts weiß, sondern nur die 
optische Auslegung des Modernen uns etwas weisgemacht hat. 

Mit dem Schatten hat jedoch auch ein nicht tastbares, rein 
optisches Element in die Skulptur Eingang gefunden. Zunächst 
hat auch er noch lediglich der Vermittlung tastbarer Werte zu 
dienen: die gegeneinander ausladenden Teilflächen zu begrenzen. 
Dabei sind die Absätze der Ausladungen niedrig und scharfwinklig, 
der Schatten ist also ein schmaler, zur begrenzenden Funktion ge- 
eignet, ohne weiteren Anspruch für sich selbst zu erheben. Die 
Schatten werden niemals so tief, daß sie den tastbaren Zusammen- 
hang der übereinander ausladenden Flächen unter sich nicht mehr 
erkennen ließen; damit erfüllen sie neben der isolierenden Funktion 
zugleich auch eine verbindende. Selbst an der Draperie wird das 
Auge lediglich durch die belichteten Ausbüge der Falten ange- 
zogen imd betrachtet die schattigen Höhlungen dazwischen bloß 
als ein notwendiges Komplement (R.). „Die offene Zulassung der tief- 
räumlichen Beziehungen, der gekrümmten Fläche imd namentlich 
des Schattens mußte zur natürlichen Folge haben, daß bei der 
Aufnahme des Kunstwerks in stärkerem Grade auf die subjektive 
Mitwirkung des Betrachters gerechnet wurde," doch nicht sowohl 
seines Intellekts, seiner begrifflichen Vorstellungstätigkeit oder 
poetischen Phantasie, als vielmehr seines KörpergefShls, seiner Er- 
fahrungen im lebendigen Verkehr mit plastischen Werten, seiner 
innigen Vertrautheit mit der organischen Schönheit der Menschen- 
gestcdt. Vor allem aber will diese Kunst weder die Wirklichkeit 
in ihrem objektiven Tatbestand hinstellen, noch die Ewigkeit in 
ihrer abstrakten Idee versinnlichen, sondern rein ästhetischen Ge- 
nuß gewähren. 

Eine weitere Steigerung hat die griechische Kunstabsicht auf 
Verbindung der Einzelflguren untereinander in dem Relief der 
hellenistischen Zeit gefunden. Damit ward eine zunehmende 
Isolierung der Körper gegenüber der Grundebene und zugleich 
eine Emanzipation der Raumrelationen unvermeidlich. Das Auge 
begehrt nun erstens nach einer stärkeren Tiefenveränderung, vor 
allem nach stärkeren Ausladimgen. An den ganzen Gestalten ge- 



Hochrelief — Hellenistische Zeit 



277 



langt diese Tendenz in der Weise zum Ausdruck, daß sie sich aus 
dem Grunde heraus nicht mehr nach den Seiten, nach rechts imd 
links allein, sondern auch nach vom und rückwärts, d. h. nach der 
Tiefenachse des Raumes zu bewegen beginnen. In der Detail- 
bildung der Figuren verrät sich die gleiche Tendenz durch den 
entschiedenen Übergang zum Hochrelief: die Muskeln der nackten 
menschlichen Figur z. B. werden hochgewölbt, so daß an Stelle der 
niedrigen Absätze der klassischen Zeit kräftige Vorsprünge treten. 
Doch die klare tastbare Verbindung zwischen den Teilflächen wird 
nicht dadurch beeinträchtigt, denn die zwar vorspringenden, aber 
sanft geneigten Ausladungen erzeugen wohl breitere, doch keines- 
wegs tiefere Schattenlagen (Halbschatten), die fortdauernd ein ab- 
tastendes Sehen ermöglichen. Das Auge begehrt aber zugleich 
auch mehr Tiefenveränderungen nebeneinander als bisher zu sehen, 
und begnügt sich dafür mit einem entsprechend geringerem Aus- 
maß an ebenem Grunde. Damit wird das klassische Gleichgewicht 
zwischen Seiten- und Tiefenbeziehungen gestört zugunsten eines 
allmählich wachsenden Übergewichts der letzteren" (R. 56). An der 
Einzelfigur tritt diese Raumtendenz z. B. in einer Vermehnmg der 
Muskelvorsprünge zutage, die sich durch gehäufte Halbschatten 
verrät, oder in vollerer Herauswölbung des Rumpfes, dessen Quer- 
schnitt sich der Kreisform nähert In der mehrfigurigen Komposi- 
tion werden die Körper enger zusammengerückt und in wechsel- 
seitigen Drehungen verschränkt, oder es werden zu den Figuren 
noch andere Körper hinzugesetzt, besonders um hinter ihnen die 
Lücken zu füllen und den ganzen Grund mit starken Ausladungen 
zu überziehen. Damit entstehen wohl Ansätze eines Hintergrundes; 
aber es fehlt noch jeder verbindende Mittelgrund zwischen vom imd 
hinten (R. 57). — Die Rolle, die dem Räume nxm zugestanden wird, ist 
also nicht die des freien Raumes, der die Figuren in sich aufnimmt, 
die Körper sich unterordnet und sie beeinflußt, sondern es ist noch 
immer nur die des plastischen Gestaltungsraumes, der vorderen 
Raumschicht, die mit Körperformen von der Hand des Bildners 
durchorganisiert worden ist und vom lebendigen Körpergefühl 
des Beschauers durchdrungen werden soll, um die darin ausge- 
breiteten Körperwerte zu genießen.^) 

So gelangen wir zur abschließenden Definition des Hoch- 
reliefs. Das Hochrelief bestimmt sich nicht allein nach dem 



i) Vgl. Schmarsow, Plastik, Malerei und Reliefkunst, S. 115, 163 f. 



2jS XVIII. Reliefkunst 

äußersten Maß der Erhebung, von dem die Namengebung- ausgeht, 
indem es die dritte Dimension der dargestellten Körper bis zur 
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ausdehnen kann. Denn mit 
diesem Maßstab wäre ja zunächst auch die Forderung der Lebens- 
größe gegeben, an die sich die Reliefkunst jedoch ebensowenig 
bindet wie die Rundplastik. Es gehört als ergänzende Bestim- 
mung hinzu, daß die Normalhöhe der Figuren die Gesamthöhe der 
Reliefplatte für sich in Anspruch nimmt, über den Köpfen also 
keine leere Fläche übrig läßt Damit ist die Wirkung unter Lebens- 
größe für die ästhetische Anschauimg ausgeschlossen, mag das 
Maß in Wirklichkeit sein, welches es will. Es gibt aber auch 
keinen Raum außer dem durch die Körper selbst erfüllten Gestal- 
tungsraum, also auch weder in der Höhe noch in der Tiefe einen 
Spielraum anderer Mächte, die diese dargestellten Wesen herab- 
drücken oder verkürzen, gefährden oder irgendwie beeinflussen 
könnten. Nur einer Macht, die über alle hingeht, haben sie außer- 
dem sich anzubequemen, das ist die des Bundesgenossen, durch den 
allein sie als Formgebilde sichtbar werden, das Licht Ein Aus- 
gleich aller Ausladungen mit dem wandelbaren Tageslicht und dem 
ebenso wandelbaren Gegenteil, dem Schatten, ist die unweigerliche 
Forderung, die das Raumvolumen, das der Bildner durchgestaltet, 
auch nach der Vorderseite mit einer idealen (durchsichtigen) Ebene 
verschließt. Diese vordere Parallelebene bietet auch die Einheit 
des Zusammenhangs dar, die dem Bildwerk mit seiner Mehrzahl 
organischer Geschöpfe das Recht des Daseins als künstlerische 
Schöpfung gewährt; aber diese Einheit ist nicht etwa die materielle 
oder mathematische Flächeneinheit, sondern die Erscheinungs- 
einheit in der innigsten Gemeinschaft der Gestalten und ihres 
eigensten zugehörigen Entfaltungsraumes. ^) 

i) Vgl. Näheres über Flach- und Hochrelief in meiner Schrift „Plastik, 
Malerei und Relief kunst", Leipzig 1899. Vgl. dazu Ch. L. Eastlake, Contributions 
to the Literature of the Fine Arts, London 1870, I, Ch. VII Basso-Rilievo. 



XIX. 
MALEREI 

RELIEF UND MALEREI — UMRISS UND SILHOUETTE — PROFIL — BILD — 

KOMPOSITION — FARBE UND SCHATTIERUNG 

Schon die älteste in einiger Vollständigkeit auf uns gekommene 
Kunst, die altägyptische, läßt erkennen, daß sie nicht mehr als y,ur- 
sprünglich" gelten darf, wenn darunter eine von der sinnlichen An- 
schauimg allein beherrschte Kunst verstanden wird; denn sie ist 
bereits von VorsteUimg^arbeit und begpriflFlicher Abstraktion geleitet 
worden. Andererseits aber beiyahrt sie doch so viel vom primitiven 
Wesen, daß auch tieferblickende Forscher sich über den intellek- 
tuellen Gegensatz zu dem stoffgebundenen, dumpf materialistischen 
Verfahren und über das Verhältnis beider gleich notwendigen Be- 
standteile ihres Wesens nicht klar geworden sind. Noch immer sind 
die Überreste eines unentwickelten Kunstgefühls so stark, daß sie 
über die bewußte Vormundschaft des Geistes zu täuschen ver- 
mögen, und gerade sie sind es, denen wir willkommensten Auf- 
schluß über ein noch früheres Stadium der Vorzeit verdanken. 
Als wir den Unterschied von Grund und Muster genetisch zurück- 
verfolgten, kamen wir zu dem Ergebnis, daß in der altägyptischen 
Flächendekoration beide noch ungeschieden waren imd erst im 
Lauf der langen Geschichte sich differenziert haben können. In 
der Pyramide sind die beiden Elemente der Architektur, die wir 
Wand imd Decke nennen, noch ungetrennt, wie in der einheitlichen 
Spannung des Zeltes vorhanden. Dagegen zeigt die jetzt verein- 
zelte Form der Pyramide von Daschur durch die geknickten Drei- 
eckflächen den Fortschritt, den auch das Zelt mit vier Pfählen 
unter und dem p3rramidalen Schirmdach über den Wänden aufweist, 
während andererseits die Stufenpyramiden sich ebenso in Chaldäa 
und Babylon wiederfinden. In diesen gewaltigen Bauwerken 
Ägyptens sind auch die beiden Künste Architektur und Plastik so 
eigenartig verwachsen, daß die Urteile noch heute auseinander- 



28o XIX. Malerei 

gehen, unter welchem Gesichtspunkt sie eigentlich zu betrachten 
seien. Dasselbe dürfen wir angesichts des ägyptischen Reliefs 
aussprechen, sowie einmal ernstlich gefragt wird, ob diese Art der 
Flächendekoration zur Plastik gehöre oder nicht Bei genauerer 
Analyse der darin waltenden Anschauung stellt sich heraus, daß 
wir eher eine Verquickung von Malerei und Skulptur erkennen 
müssen, oder vielmehr ein Kunstwerk, das sich noch nicht bewußt 
für den einen oder den anderen der möglichen Wege entschieden 
hat, sondern vielfach in der Schwebe bleibt Ein solcher Zustand 
war jedoch nur möglich und geraume Zeit haltbar, weil weder das 
eine, noch das andere, sondern ein drittes die Triebfeder des 
Schaffens gewesen ist Der Zweck dieser Flächendekoration war 
gar nicht von der bildenden Kunst als solcher allein bestimmt, wie 
noch Riegl ihn zu erklären sucht, sondern er ward von der Ober- 
leitung den Künstlerscharen diktiert, gleichwie die Tierköpfe auf 
Menschengestalten und manche symbolischen Ausgeburten sonst 
Der Zweck dieser Flächendekoration auf den Wänden der Archi- 
tektur, auf den vier Seiten der Obelisken, auf den GewäLndem von 
Statuen wie auf dem zylindrischen Schaft der Säulen, d. h. überall, 
wo es leeren Grund zu füllen gab, war: — die Vermittlung eines 
Vorstellungsinhalts, der sonst die Sprache zu dienen pflegt Hier 
wird auf der verfugbaren Fläche gedichtet in jeder Form: ge- 
meißelt imd gemalt, aber auch geschrieben und stenographiert. 
Inschriften unterbrechen das Relief und füllen den ruhenden Gtrund 
daneben, gewiß nicht, um diesen für die Anschauung aufzuheben. 
Hieroglyphen stehen in eigenen Rahmen aufgereiht neben den 
plastischen Gestalten, gerade da, wo jedes reine künstlerische Gefühl 
solche Rätselscheiben am wenigsten vertragen mag. Grroße Figuren 
in Profil haben vor sich zahlreiche Streifen mit Bildern, die wie 
Zeilen eines Schriftblattes geradlinig abgegrenzt, aber dicht über- 
einander verlaufen. Kein einheitlicher Maßstab, wie sinnliche Sach- 
lichkeit ihn mit sich bringt, sondern unvereinbare Grrößenunter- 
schiede, die nur der Bedeutungswert der Einzelformen und die 
geläufige Ökonomie der Vorstellungssirbeit erklären und wie selbst- 
verständlich hinnehmen kann. Weder Maler noch Bildhauer würden 
spontan solche Ungereimtheiten über die herrlichen großen Wand- 
ebenen ausbreiten und als unverfälschtes Ergebnis ihres eigensten 
KunstwoUens gelten lassen. Sind doch diese Ergüsse schon unter 
sich im Tempo ganz verschieden, im Charakter so heterogen, daß 
man sie nur dem starren, dem halbflüssigen und dem bereits einmal 



Verquickung von Relief und Malerei in Ägypten 281 

gegossenen Zustand der Metalle vergleichen kann, die in einem 
großen Kessel der Gießhütte dem Feuer des Schmelzofens ausge- 
setzt waren, aber unfertig stehen geblieben sind: die großen unge- 
lösten Blöcke, die kleingeschlaigenen nebeneinander und Strom- 
schichten geschmolzener dazwischen. Wie ein Querschnitt durch 
solch eine zusammengeschweißte Lavamasse muten uns diese Wände 
an, mögen wir unsere Augen walten lassen oder unseren Tastsinn 
befragen. Gibt es hier eine Einheit der sinnlichen Anschauung, 
außer der vorgefundenen Einheit der Ebene? Hat hier nicht der 
Gebrauchszweck als Tyrann gehaust, wie je an einer Gerätschaft? 
Keine andere Ebene als die einer ausgespannten Papyrusrolle, nur 
vergfrößert. Nicht einmal die Schwesterkunst Dichtung allein, son- 
dern Historiographie und Dogmatik, Tendenz und Belehnmg haben 
an erster Stelle das Ganze bestinmit, das diesen Flächenraum er- 
füllt Deshalb ist es gleichgültig, wie viel gemeißelt oder gemalt 
werden muß, je nach den Bedingungen der Helligkeit, des grellen 
Tageslichtes draußen oder der künstlichen Beleuchtung im dunkeln 
Innenraum, oder nach den Gradunterschieden der halboffenen 
Säulengänge, der geschlossenen Säle und der Gruftkammem im 
Fels, in verschiedener Abstuftmg der Mittel, mit deren Notgesetzen 
wir viel zu wenig rechnen, wenn wir die Reste in Museen, im 
nebligen Norden gar studieren: Alles für den einen obersten Zweck 
der Lesbarkeit der Schrift und der Erkennbarkeit der Bilder, der 
Vermittlung des gesamten Vorstellimgsinhalts in der einen oder 
der andern Sprache. So ist man zu dem Einfall gelangt, die ägyp- 
tischen Künstler seien darauf ausgegangen, das Muster möglichst 
als ruhige unbewegliche Stofflichkeit hinzustellen, den Grrund aber 
zu beseitigen oder doch niemals das Bewußtsein aufkommen zu 
lassen, als wäre auch er eine berechtigte Großmacht für sich. 
(R. 177.) — Tatsächlich sind auch diese Wände nur Schriftseiten 
und Bilderbogen in gewaltsamer Erstarrung und mehr oder minder 
monumentalem Zuschnitt. Was der Meißel des Bildners hier in 
bescheidenster Modellierung heraushebt, was der Pinsel des Malers 
mit seinen bunten Farbenkontrasten lebendig macht, das verrät 
sich, imter dem einzig möglichen, das Ganze zusammenfassenden 
Gesichtspunkt der Mitteilung betrachtet, als Überschuß der dienst- 
baren Kräfte, als unwiderstehliche Anwandlungen echt künstle- 
rischen Schaffens unter der Zuchtrute des Arbeitgebers, der den 
eigentlichen Haushalt vor wie nach allein bestimmt. Kein Wunder, 
wenn die Ebene strengstens gewahrt wird, wo die Architektur sie 



282 XIX. Malerei 

gesetzt hat und einheitlichen Wandverschluß für ihr Raumgebilde 
verlangt, — aber auch, wenn die Zylinderfläche der Säule, die aus- 
und eingebogenen Seiten einer kauernden Granitfigur ebenso geduldig 
hingenommen und vollgeschrieben oder überbildert werden. Kein 
Wunder andererseits, wenn die Bilderschrift bald dem Maler, bald 
dem Steinmetzen anheimfallt, und in den meisten Fällen von beiden 
gemeinsam hergestellt wird. Wohl aber wäre, bei so bewandten 
Umständen, eine bewußte Scheidung der beiden Künste, Skulptur 
und Malerei, nach ihrer Eigenart, wie wir sie kennen, damals eine 
ganz erstaunliche Leistung des ästhetischen Gefühls gewesen, zu- 
mal da beide und ganz besonders die Malerei, noch unter der Vor- 
mundschaft des Schriftwesens und der Flächenomamentik standen, 
so daß ein Selbstbewußtsein über die spezifische Natur der Malerei 
als Sonderkimst noch viel weniger ausgebildet sein konnte, als das 
der Körperbildnerin Plastik. 

Eine stichhaltige Unterscheidung beider Schwesterkünste kann 
angesichts des ägyptischen Reliefs zunächst auch nur auf Grund 
der technischen Merkmale gegeben werden. Mit dem Umriß, der 
Linie, die irgendein scharfes Instrument in die Fläche geritzt, ist die 
Grenze zwischen Skulptur und Malerei gezogen, — schmal genug 
und leicht überschreitbar nach beiden Seiten. Wird die Spitze des 
Werkzeuges benutzt, den Umriß zu verstärken, die Furche auszu- 
tiefen, so daß sie über die einheitliche Grund- und Oberfläche 
hinaus den Ansatz anderer Flächen in der Oberflächenschicht beginnt, 
da ist auch über den Anfang der Körperbildung kein Zweifel. 
Wird, vom Umriß ausgehend, nach dem Innern der Form zu ab- 
rundend weitergearbeitet, so daß die Gestalt sich aus dem Grunde 
herauszumodellieren beginnt, da läßt die Hilfe des Lichts vollends 
keine Verwechslimg mehr mit ebenflächiger Abbildimg zvl^) Wird 
statt des farblosen Stiftes dagegen irgendein abfärbender oder gar 
der Pinsel mit farbiger Tinte zur Herstellung der Umrißlinie ge- 
nommen, so hätten wir es ohne Zweifel mit ebenflächiger Kunst, 
mit Zeichnung oder Malerei zu tim. Erst die Ausbeutung eines 
Gegensatzes wie Hell und Dunkel gibt die Unterscheidung selb- 
ständig genug. Wir mögen, wo sie mit trockenen Pigmenten 
arbeitet, eher von Zeichnung, wo aber ein flüssiger Farbstoff auf- 
getragen wird, von Malerei im engeren Sinne reden. (Die Aus- 



i) Vgl. Zur Frage nach dem Malerischen, sein Grundbegriff und seine Ent- 
wicklung 1896, S. 40 f. 



Umrifi — Silhouette — Typus 283 

nähme, die wir mit Pastell machen, bestätigt nur die Regel, lehrt 
aber auch, daß der Begriff der Malerei sich mit der Farbe allein 
nicht erschöpfen läfit.) 

Viel wichtiger ist in diesem Stadium 'der Anfange, das in 
Ägypten noch vorliegt, der Unterschied zwischen dem Umriß imd 
der Silhouette. Beide Ausdrücke dürfen nicht beliebig vertauscht 
werden. Silhouette bezeichnet in der ursprünglichen Bedeutung 
nicht nur den „Umriß des isolierten Profilbildnisses",*) sondern 
immer den einfarbig ausgefüllten, vom Umriß nur begrenzten 
Flächenausschnitt (wie noch jene Porträtsilhouetten aus schwarzem 
Papier, die vor dem Aufkommen der Photographie noch allgemein 
verbreitet waren). Diese monochrome Füllung unterscheidet gerade 
die Silhouette vom Umriß, auch bei Übertragimg des Terminus auf 
die ganze Figur. Gegenüber dem leeren Umriß, der nur die Grenz- 
linie gibt, reden wir deutsch vollkommen entsprechend vom Schat- 
tenriß, in dem der Schatten eben ein gleich wesentlicher Bestand- 
teil ist, wie der Riß. Und es stünde nichts im Wege, den deutschen 
Ausdruck einfach an die Stelle zu setzen, wenn wir nicht einen 
Widerspruch darin fänden, auch den dimkelgefüllten Umriß z. B. 
einer Bronzefigur im Freien als Schattenriß zu bezeichnen, da wir 
bei letzterem zunächst an den im Sonnenschein gegen eine Wand 
geworfenen Schatten denken, der umrissen oder sonst irgendwie 
fixiert worden ist Sowie wir die Bronzefigur, das Urbild, weg- 
nehmen, so erscheint die Differenz des Abbilds fühlbar genug, je 
nachdem nur die leere Grenzlinie gezogen oder auch die Schatten- 
füllung mitgegeben ward. Diese letztere bewirkt einen stärkeren 
Sinneseindruck als der leere Umriß allein, der seinerseits, als 
Grenze des Schattens nur, eine weitgediehene Abstraktion be- 
deutet, die sich von dem leibhctftigen Ding fast wie ein Begriff 
von der lebendigen Anschauung unterscheidet Eine ähnliche Ver- 
stärkung wie der Schattenriß gibt der Eindruck in eine weiche 
Oberfläche, in der diese eingetiefte Silhouette stehen bleibt, da 
eben die Vertiefung als Schattenfänger in der gleichmäßig erhellten 
Grundebene wirkt Sie ist mehr als ein oberflächlicher Abklatsch, 
eben ein eindringlicherer, sich einprägender Abdruck des Gegen- 
standes. Dies ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Typus, 
von dessen weiterer Verwendung als Grrundbegriff, d. h. als Grund- 
bild oder Begriffsbild schon oben die Rede war. In der eingetieften 



I) Wie Wickhoff, Wiener Genesis, Wien 1895, S. 38 f. erklärt. 



284 ^^' Malerei 

Gravierung eines Siegelringes oder Petschafts haben wir also das 
Gegenbild der erhöhten Reliefarbeit, die wir durch den Abdruck 
jener in weichem Wachs oder Siegellack gewinnen. 

„In der äg3rptischen Wandmalerei sind die Figuren zwar streng- 
umrissen, aber innerhalb der Konturen (mit Ausnahme des Mundes, 
der Augen, Haare, Kleider usw.) fast gar nicht modelliert, sondern 
nur mit Farbe ausgefüllt, die so durch ihre einheitliche unge- 
brochene Erstreckung über möglichst weite Flächen die isolierende 
Wirkung der Umrisse noch wesentlich verstärkt. Die Figuren 
heben sich dadurch in strenger Klarheit vom Gnmde ab." „Dieser 
Grund ist die Scheidewand, durch welche aller Raum hinter der 
augenfälligen Oberfläche der Figur einfach abgeschnitten wird." 
(Riegl, S. 51.) 

Aber die Gestalt des Menschen steht auf einer horizontalen 
Linie, die nicht allein den Ort bedeutet, wo der Körper auftritt, 
sondern die wagrechte Ebene, auf der er stehen und gehen kann. 
Mit Vorliebe wird ein Fuß in dieser Richtungslinie vor den anderen 
gesetzt, werden die Beine in schreitender Haltung gegeben. Wenn 
auch die eine Fußsohle so gut wie die andere am Boden haftet, ent- 
steht doch der Eindruck der Ortsbewegung im Räume oder wenig- 
stens ihrer evidenten Möglichkeit Und diese überall wiederkehrende 
Stellung der unteren Hälfte vermag allein den durchgehenden 
Wert vor Augen zu bringen, um den es sich handelt, eben die Be- 
wegimgsfreiheit, das Vorrecht aller Lebenden vor den Toten, das 
gerade hiermit den Verewigten wieder angedichtet werden muß, 
wo immer der Glaube an ihr Fortleben erweckt werden solL Selbst 
die Thronenden sitzen im Profil, nicht der vermeintlichen Monomanie 
der Ebenflächigkeit zuliebe oder aus angeblicher Raumscheu der 
alten Ägypter, sondern im Gegenteil der Willensrichtung zuliebe 
und aus Raimibedürfnis für die Bewegungsfreude. Sie werden mit 
der Richtungsachse ihres Körpers, die in Wirklichkeit nach vom 
verläuft, in die wagerechte Ausdehnung der Wand, d. h. die Längen- 
richtung des Ablesens gedreht, obgleich der Ägypter die Frontal- 
ansicht voUkonmien beherrscht; denn das Ausgreifen der Glied- 
maßen in den Raum, der Beziehung auf alles, was vor dem Indi- 
viduum ausgebreitet liegt, überzeugt allein von der Machtäußerung 
der Person imd vom lebendigen Anteil auch des Schemens. Dieser 
Richtung folgt auch das Profil des Kopfes; aber die Brust entfaltet 
sich zwischen Hals und Gürtel in voller Breite: diesem sinnfälligen 
Kennzeichen körperlicher Existenz im Räume darf kein Abbruch 



Profil und Ebene — Raum und Zeit 285 

geschehen. Die Arme jedoch und die Hände daran bewegen sich 
wieder vorwärts zu unfehlbarer Betätigung als dienstbare Werk- 
zeuge des Willens im Leben. Die eine gerade Linie, auf der die 
Figuren stehen, sitzen usw., und die Horizontalausdehnung der 
Fläche überhaupt, enthält also die Tiefenachse (in die Längener- 
streckung verlegt) und die Breitenachse (in ebendieser Richtung) 
zu gleicher Zeit und entfaltet je nach Bedarf beide übereinander 
am Leitfaden der Höhenachse, die dem Gegenstand als Flächener- 
scheinung mm einmal nicht fehlen darf, wie der Körper im Raum 
nicht seines Rückgrats entbehren kann, um sich bodenständig und 
aufrecht zu behaupten. Jeder dargestellte Körper enthält also auch 
in diesem Flächenbilde alle drei Dimensionen in erstaunlicher 
Folgerichtigkeit. Dafür ist in der frühen Kunst mit unerbittlicher, 
kaum anders als begrifflich erklärbarer Schärfe gesorgt. Auch 
das ein Beweis, daß die erste und die letzte Absicht der ägyptischen 
Malerei auf die Klarheit und Vollständigkeit der Gegenstandsvor- 
stellung gerichtet war. Mit intellektueller Energie packt die Kxmst 
die Werte des Daseins und des Lebens zugleich, und zwingt sie 
gewaltsam in eine Erscheinung zusammen. Niu: uns befremdet der 
Gegensatz der Beharrung und Erstarrung dort, des Bewegungs- 
imd Beziehungsscheines hier. Die Synthese so verschiedener An- 
sichten in ein ilächenhaftes Abbild besitzt noch eine weitere Eigen- 
schaft, an der dem bewegungsfrohen Lebenden außerordentlich 
gelegen war: sie löst sich beim Anschauen unwillkürlich und im- 
vermeidlich aus dem Nebeneinander des Flächenraumes in ein 
Nacheinander der Zeiträumlichkeit auf. Sie existiert nicht nur 
leibhaftig für den vordringenden Blick, dem sie sich entgegensetzt 
und Widerstand leistet, so daß er seitlich abgleiten muß; sondern 
sie wird lebendig und greift aus in Raum und Zeit für den ihr 
nachfolgenden, sie ablesenden, über sie hin imd weiter entlang 
gleitenden Blick. Nur das naturwissenschaftlich beobachtende 
Augengeschöpf von heute sieht allein die Ruhe oder allein die 
Bewegung imd verwickelt sich in die imvereinbaren Widersprüche 
solcher Kombination. Die naive, leicht erregliche Phantasie des 
Orientalen erfaßt die sinnlich überzeugenden Unterlagen, die den 
eigenen Erfahrungen in der Wirklichkeit entsprechen, und über- 
trägt sie unbekümmert in die Welt der Erzählung, die ihn allzeit 
mit sich fortreißt, oder wie wir zu sagen belieben: ins Land der 
Dichtung, wohin sie gehören, wie die Zauberformeln der Hiero- 
glyphen daneben und die Inschriftsprache auf der nämlichen Ebene. 



286 XIX. Malerei 

Neben einer großen Hauptfigur reihen sich auch hier zaUreiche 
Streifen kleinfiguriger Darstellung übereinander, wie die Zeilen 
einer Papyrusrolle, und zwingen erst recht zur Übertragung in die 
zeitliche Abfolge der epischen Poesie, ja zur Aufnahme in schnellerem 
Tempo; denn es sind Auszüge in Abbreviatur, in Stenographie, wo 
ein Teil das Ganze, ein Fall die Menge von Vorkommnissen ver- 
tritt. Diese Reihenbilder enthalten die Erlebnisse, die der Ver- 
ewigte an sich vorüberziehen läßt, die siegreichen Kämpfe, die er 
ausficht, die denkwürdigen Taten, die er vollbringt, den Gesamt- 
betrieb des Handels und Wandels, dem er vorsteht Und die Iden- 
tität der Person des Helden, die hier und da und dort nacheinander 
gegenwärtig gewesen, ist die stillschweigende Voraussetzimg, die im 
Bilde durch die überragende Große des Protagonisten erfüllt wird 

Ein wesentliches Mittel, diesen starren „lebenden Bildern" der 
altägyptischen Malerei die zwingende Realität zu sichern, ist die 
schneidende Strenge des Umrisses und die willkürliche Verstärkung 
der Linien, die sich, wo nicht der Wandfläche, doch dem Auge des 
Beschauers eingraben mit Gewalt „Der menschliche Körper wird 
von einer dunkeln Linie umzogen, desgleichen die Haarmassen, die 
Lippen, die Gewandung; dagegen fehlt eine Modellierung, d. h. eine 
Andeutung der durch Tiefenunterschiede bezeichneten Teilflächen 
so gut wie gänzlich«" 

„Bei den Griechen der klassischen Zeit fand die Linie zu- 
nächst fortdauernd die gleiche Anwendung als Umrißlinie des 
tastbaren Körpers, daneben aber auch eine solche für die Model- 
lierung, indem die (an der Rundfigur und am Relief durch Tiefen- 
unterschiede begrenzten) Teilflächen in der Vasmmialerei durdi 
dunkle Linien (gleich den Umrißlinien) hervorgehoben wurden. 
Diese Modellierungslinien sind aber in der griechischen Vasen- 
malerei noch nicht Schatten, sondern Andeutung tastbarer Be- 
grenzungslinien gleich den Umrissen. In dieser Bedeutung wurden 
sie um so leichter verstanden, als auch in der klassischen Skulptur 
die Schatten, welche die Ausladungen anzeigten, schmal gehalten 
waren" (R. 62). — Ein solches Verhältnis war jedoch auf die Dauer 
nur möglich in Verbindung mit der körperhaften Wirkimg der ein- 
farbig gefüllten Silhouette. Soweit die tastbaren Grrenzen eines 
Individuums reichen, so weit erstreckt sich auch hier noch eine 
einzige ungebrochene Farbe. Die schweirzfigurigen Vasenbilder 
auf rotem Grunde begnügen sich, abgesehen von wenigen Aus- 
nahmen, bei denen etwas Weiß und Gelb hinzutreten, mit dem 



Griechische Zeichnung und Vasenmalerei 287 

einen einfachen, aber starken Kontrast der dekorativen Polychromie.^) 
Körperlichkeit ist der Grundfaktor der Realität, der hier gesichert 
wird, mit Verzicht auf alle Naturfarbigkeit der Teile. Das schwarze 
Pigment zerreißt, schon als sinnloser Fleck, durchschlagend die 
gleichartige Helligkeit der kontinuierlich ausgerundeten Fläche, 
wie „ein Loch in der Natxu^*, sagen unsere Künstler heute. Aber 
die sprechende Lebendigkeit der Silhouette setzt das Individuum 
mit seinen ausgreifenden Gliedmaßen an die Stelle im Raum. 
Dieser Raum ist, das sagt schon die Übersetzimg in die ganz kon- 
ventionelle Zweifarbigkeit des Bildes, durchaus Phantasieraum, 
nur das Mediimi der inneren Anschauung, und sein Vertreter in der 
äußeren Erscheinung, die Fläche, bleibt als solche das Substrat 
der Anschauungseinheit. Sie ist nur die Örtlichkeit, als notwen- 
dige Voraussetzung für das Auftreten menschlicher Personen, Tiere, 
Dinge; aber sie bleibt, wie in der statuarischen Kunst, über diese 
Fimktion der Basis hinaus möglichst unbezeichnet Ist aber eine 
weitere Zutat nötig, so ist auch sie ein Einzelkörper neben den 
anderen. Wie ernst dabei die dreidimensionale Körperlichkeit ge- 
nommen wird, bekunden schon die muskulösen Schenkel, der Brust- 
kasten, die Dickköpfe der Figuren selber (wie an den Metopen von 
Selinunt und ihren phönikischen und ass3rrischen Verwandten) zur 
Genüge auch auf den Vasenbildem. 

Nun aber geht die ausgesprochene Vorliebe für stärkste Be- 
wegungen auf frühgriechischen und etruskischen Vasenbildem durch 
Einheitlichkeit des Zuges in der ganzen Gestalt noch über den 
ägyptischen Doppelsinn zwischen Ruhe und Bewegung hinaus, in- 
dem sich die dort steif, oft hampelmannsartig vorgestreckten Glied- 
maßen mit der Haltung des Rumpfes vermitteln.^ Stellen schon 
jene sprechend genug, wenn auch schematisch, das Gebaren bei 
gewohnter Tätigkeit vor Augen, so „daß der Beschauer auf den 
ersten Blick schon eine Beweg^ung zu sehen glaubt" (wie noch 
Max Klinger bekennt), so kommt hier das zunehmende Verständnis 
für die zielstrebige Abfolge der ineinandergreifenden Teile des 
Mechanismus, der Zusammenhang aller Glieder des organischen 



i) Es ist also unrichtig, von „monochromatischen Vasenbildem" zu schreiben. 
Da immer mindestens zwei Farben (Grund und Muster) verwendet sind, kann auch 
hier nur in technischem Sinne von monochromer Malerei gesprochen werden. Das 
Bild ist dagegen zweifarbig. Monochrome Bilder ergibt nur das Qair-obscur, grau 
in grau, grün in grün usw. 

2) \'gl. Zur Frage nach dem Malerischen, S. 102 ff. 



288 XIX. Malerei 

Gewächses hinzu. Die Übertreibung der Agilität in der schwarz- 
figurigen Vasenmalerei, die in älteren Beispielen nicht selten ein 
tierische Gelenkigkeit und affenartigen Gang erinnert, zeigt gleich- 
sam in einseitiger Unterstreichung den Wert, auf dessen Eroberung 
das Streben ausgeht, im bewußten Gegensatz des griechischen 
KunstwoUens gegen das ägyptische mit seinem latenten Kristalli- 
nismus auch im gemalten Bilde und seinem rechtwinkligen Linien- 
schema in der Flächenbehandlimg. Wer dies treibende Moment 
der griechischen Entwicklung einmal erfaßt hat, der kann den Sinn 
der Stilgeschichte zunächst nur an der Hand der Mimik suchen, 
die geradezu als losende Macht die geometrische Figurenzeichnung 
überwinden hilft Hier liegt die unentbehrliche Schulung als 
Unterlage für das plastische Schönheitsgefuhl der Griechen vor 
ims ausgebreitet; wir brauchen sie nur über alle ikonographischen 
imd archäologischen Gesichtspimkte, so häufig ganz unkünstlerischer 
Art, hinweg zu verfolgen, um auch hier vorurteilsfrei das anfang- 
liche ungeschiedene Zusammenwirken plastischer, mimischer, poe- 
tischer Elemente, d. h. vor allen Dingen eine mit Bewegirngsvor- 
stellimgen durchdrungene Veranschaulichung der Vorgangseinheit 
zwischen den Einzelwesen anzuerkennen. Aus den athletischen 
Gliedermännem und schwarzen Teufehi dort werden in der rotfigu- 
rigen Vasenmalerei immer mehr wohlproportionierte Gestalten mit 
gleichmäßiger Rundimg und Fülle des Fleisches, wenn auch zu- 
nächst zugimsten langgestreckten, schlanken, geschmeidigen Wuchses. 
Es liegt in dem Übergang zur hellen Erscheinung auf dunkehn 
Grunde schon eine stoffliche Erleichterung, die durch die Beschränkt- 
heit der Alternative auf zw^ei Farben, oder vier, sogar zmn radi- 
kalen Umschwung wird. Das Verhältnis zwischen Grund und 
Muster ist damit auf den Kopf gestellt, d. h. eigentlich erst in 
seinem natürlichen Wesen erfaßt und adäquat zum Ausdruck ge- 
kommen: der ruhige Grund dimkel, das bewegliche Muster helL 
Waren jene schwarzen Figuren wie erdgeborene Söhne, ob Giganten 
oder Pygmäen, kraftstrotzend freilich, aber gedrungen, aus dem 
Grunde gestiegen, wie aus schweren Kliunpen geformt, so wandeln 
jetzt neben sonnenverbrannten braunen Gesellen die rosigen Kinder 
eines gemäßigten Klimas und lichte Erscheinungen als Ideal der 
Frauenschönheit. Wenn einst nur Schneeweiß in schreiendem 
Gegensatz zu den schwarzen Figuren vorkam, so vermitteln sie sich 
jetzt wie die Olympischen mit den Menschen ihres Lieblingslandes. 
Söhne und Töchter des Himmels steigen nieder zwischen die Sterb- 



Profil 289 

liehen und veredeln die Rasse, die erst in Goldelfenbein, dann in 
Marmorstatuen sich selber darzustellen lernt. So wird auch in der 
rotfignrigen Vasenmalerei der ausgiebig^e Rhythmus der Körper- 
bewegung allmählich zum maßvolleren mimischen Spiel, ja im Kon- 
trast zur durchgehenden Abfolge der Figurenreihung schon hier 
und da zur ruhigen Harmonie statuarischer Haltung, einer Götter- 
gestalt unter ihrem Gefolge, eines Heros unter den Menschen, einer 
Penelope unter den Freiem. 

Noch immer überwiegt das Profil; denn es eignet sich be- 
sonders für solchen Verlauf eines zusammenhängenden Figuren- 
musters auf dem einfachen Grrunde, das gleichwie das Rankenmotiv 
sich abhebt und seine Oberflächenschicht erfüllt, ohne die Grund- 
form des Gefäßes dadurch zu alterieren. Es eignet sich femer zur 
Veranschaulichung eines Geschehens, zur Vermittlung einer Vor- 
gangseinheit, die den Zusammenhang zwischen den Individuen 
fühlbar macht. Das Profil gibt die Beziehung des einen zu einem 
anderen, sei es der gleichorganisierte Nächste, sei es die ganze 
Umgebung, die weite Welt. Die Gegeneinanderbewegung zweier 
Gestalten zeigt eine Wechselwirkimg. Die Profile mehrerer, auf 
ein Zentrum gekehrt, geben gleichsam im notwendigen Auszug — 
pantomimisch — den ganzen Auftritt Wir glauben die Intensität 
des Einzel woUens zu spüren, das aufeinanderplatzt, ja das Tempo 
der hereinbrechenden Peripetie oder Katastrophe. Und da nun die 
Malerei eben auf den Zusammenhang zwischen den Individuen er- 
picht ist, so darf das Profil schon an sich als ein „malerisches" 
Element angesprochen werden. 

Damit ist zugleich auch die Übertragung des anschaulich be- 
stehenden Bildes ins Zeitliche und Dynamische wieder vollzogen. 
Schon die Rundung des Gefäßes und seine Drehung beim An- 
schauen, oder die Ortsbewegung gar des Betrachters um das still- 
stehende Weihgeschenk tragen zur Umwandlung ins Transitorische 
bei, natürlich in verschiedenem Grade dem lebendigen Gebrauchs- 
zweck oder dem monumentalen Idealwert des Gefäßes entsprechend. 
Aber in der Pantomime imd allem, was ihr nachahmt, steckt noch 
mehr« Es wird nicht nur an die seitlichen Beziehungen des ein- 
zelnen zu gleichorganisierten Wesen oder anderen Dingen der 
Nachbarschaft appelliert, sondern auch an das Kausalitätsbedürfhis 
des Beschauers. Die ergänzende Phantasie vollendet die AufRih- 
rung der angedeuteten Szene desto bereitwilliger, je entschiedener 
die Beweg^ung durchgreift Wo Raum und Zeit ineinanderfließen 

Schmariow, Konstwinenschaft. I9 



290 



XIX. Malerei 



wie hier, wo sie gar in Verschiebung gegeneinander geraten, beim 
Schweifen des Blickes und rückläufigem Verfolg der Reihe, da 
wird ein Nacheinander nach vorwärts oder nach rückwärts ange- 
sponnen, nicht ohne die Frage nach Grund und Folge, oder retro- 
spektiv von der Wirkung zur Ursache zurück. Damit geraten wir 
vollends ins Reich der Dichtung epischer, ja dramatischer Art. 

Mit solcher Einbeziehung eines weiteren Zusammenhangs, der 
über die sichtbaren Personen und Dinge hinausgreift, wäre der 
Weg zur wirklichen Einbeziehung des weiteren Umkreises auch in 
das Bild eröffnet gewesen, wenn das Kunstwollen der Grriechen 
sich nicht auf andere Ziele gerichtet hätte. Es war die selbstän- 
dige Bedeutung der bildenden Kunst überhaupt und ihre eigenar- 
tige Stellung in der hellenischen Kultur, die zunächst von dem 
weiteren Verfolg eines engeren Bündnisses mit der Poesie ab- 
lenkten. Es war andererseits der Sieg der plastischen Auffassung 
aller Kunst, der sowohl die Architektur zu ihrem Tempelstil ge- 
führt, wie die Malerei von einer ausführlicheren Wiedergabe des 
Schauplatzes zurückgehalten hat Jene zunächst der poetischen 
Phantasie entsprungenen Anwandlungen wurden auf lange hinaus 
beiseite gedrängt. In den rotfigurigen Vasenbildem erkennen wir 
den wachsenden Einfluß statuarischen Aufbaues der Gestalt und 
die Verherrlichung der organischen Schönheit des Menschenleibes 
überall. Die ursprünglich dekorative, dem Rankenmotiv ent- 
sprechende Figurenreihe nähert sich hier und da der zentralisierten 
Statuenreihe am Tempelgiebel, und geht demgemäß von der suc- 
cessiven Auffassung der Reliefkomposition zur simultanen Auffas- 
simg des Gxuppenbaues über. Statt des rings lun den Bauch des 
Gefäßes oder den Rand der Schale herumlaufenden Frieses sondert 
sich eine rechtwinklig umgrenzte Bildfläche aus, die den Anschein 
einer aufrechten Vertikalebene bewahrt, auch wo sie vorwärts oder 
rückwärts geneigt auf dem Grunde liegt, und erhält so den 
Charakter des Wandbildes oder der selbständigeren Malerei auf 
einer tektonischen Unterlage, der Steinplatte einer Grabstele oder 
einer sonst irgendwo angebrachten Tafel. Damit entsteht das un- 
abweisbare Bedürfiiis, die Gesamtheit der dargestellten Gegenstände 
in den Grenzen dieses senkrecht vorgestellten Rahmens zu konsti- 
tuieren, d. h. nur in der Fläche, doch nach Maßgabe der beiden 
rechtwinklig aufeinandertreffenden Richtungslinien der Höhe imd 
Breite. Eine Aussonderung des Bildes durch einen eigenen Rahmen 
lag freilich schon in den kreisrunden Bodenflächen der Trinkschalen 



Bild — Komposition 201 

vor; aber der Kreis bleibt beweglich, drehbar wie das Gefäß und 
hat infolgedessen kein festes Oben und Unten. Er kann z. B. auch 
einen Ausschnitt aus der Wasserfläche, aus der Luftregion ent^ 
halten. Erst mit der rechtwinkligen Form wird der Schauplatz 
bodenständig wie der irdische der Menschenwelt Mit dieser Ab- 
grenzung als Einheit aus den dargestellten Körpern und ihrem 
Raumausschnitt ist das Bereich der Malerei und ihrer eigensten 
Leistung klar ausgesondert, wo immer sich das eingerahmte Feld 
ihrer Tätigkeit befindet Die Erscheinungseinheit von Körpern und 
Raum auf der Fläche nennen wir das Bild. Nach wie vor suchen 
die antiken Maler der klassischen Zeit die künstlerische Einheit 
des Bildes in dem rhjrthmischen Fluß der Linien innerhalb dieser 
Ebene, und die plastische Auffassimg der Gestalt als Körper trägt 
nur dazu bei, diesen Linienrh)rthmus zu beruhigen, so daß auch 
das Gemälde die klare in sich geschlossene Harmonie darbietet 
wie die Tempelfront mit ihrer Säulenreihe an der Langseite oder 
gar in zentralisierender Zusammenfassung wie die Statuenreihe im 
Giebelfeld.') 

Die Komposition des Bildes besteht nur in einer Aneinander- 
reihung innerhalb der gemeinsamen Oberflächenschicht; sie geht 
nicht in die Tiefe über den Gestaltungsraum dieses Vordergrundes 
hinaus, nimmt vielmehr in freier Idealität ihrer Anschauungsweise 
die Höhendimensionen zu Hilfe, wo die Breite nicht ausreicht, das 
Nebeneinander der Einzelfiguren und der Grruppen zu fassen. Die 
Wandgemälde eines Polygnot haben wir uns gewiß in strenger An- 
passung an die gegebenen Bedingungen der Architektur vorzu- 
stellen.*) Nur der Ausgleich zwischen der rhythmischen Bewegung 
des betrachtenden Subjekts, das durch die Halle an den Bildern 



i) Ein charakteristisches Symptom des statuarischen Sinnes, der immer mehr 
Boden gewinnt, ist die Ausbildung des Fußens auf dem Vordergrunde, das Haften 
der Sohlen auf dem Niveau des noch so ideal gedachten Schauplatzes: es ist keine 
„Ebenrelation" zu nennen, sondern der Natur der Sache nach eine dreidimensionale 
Raumrelation von Anfang an. Aöc iiioi irod crCji gilt hier nicht abstrakt punktuell, 
wie etwa beim Philosophen oder Mathematiker, sondern für einen Fußbreit Erde, 
d. h. für eine horizontale Fläche, von deren beiden Dimensionen die eine die Breite, 
die andere die Länge des Fußes — also die Tiefenachse sein muß. 

2) Die „geistige Konstruktion" des Zusammenhangs konnte dagegen gerade 
hier zurücktreten, solange der Betrachter in seiner Phantasie den VorsteUungskreis 
der epischen Poesie noch lebendig mitmachte. Die beiden Themata „Iliupersis" 
und „Nekyia" waren offenbar nur Vorwand zur Verherrlichung aller Helden, dort der 
überlebenden, hier der gefallenen. 

19» 



292 Xl^* Malerei 

entlangwandelt, und dem harmonischen Bestände korrespondieren- 
der Glieder auf dem Wandfeld vermochte die monumentale Gesamt- 
wirkung hervorzuzubringen, zumal da sich diese noch auf Flachen- 
dekoration beschränkt und sich keinen eigenen erdichteten Raum 
jenseits der Scheidewand des wirklichen Raumes konstituiert, wie 
die realistische Malerei es später im Anschluß an das Bühnenbild 
erstrebt hat Die Entwicklung der Tafelmalerei, die zunächst an 
die Stelle tritt, entzieht sich ja vollends unserem Urteil; denn aus 
Schriftquellen eine sinnliche Anschauung verlorener Werke ge- 
winnen zu wollen, bleibt immer vergebliche Liebesmüh. So hell- 
seherisch philologische Herstellungsgabe sich auch bewähren mag, 
die künstlerische Leistung vermag sie nicht wieder vor die Augen 
zu bringen, und diese allein vermöchte uns Auskunft zu geben. 

Eins aber ist sicher: räumlichen Zusammenschluß des Bildes 
dürfen wir schon bei der Beschränkung auf wenige Pigmente gar 
nicht erwarten. Die Farben sind zuerst nur als Unterscheidungs- 
mittel verwendet, dann zur Bereicherung des bimtfarbigen Reizes 
selber und seiner rhythmischen Wirkimg vermehrt. Noch später 
erst werden sie zur heiteren Schönfarbigkeit gesteigert Von ihr 
hat uns neuerdings der sogenannte Alexandersarkophag von Sidon 
(aus dem IV. Jahrh. v. Chr.) mit seiner Bemalung einen anschau- 
lichen Begriff gegeben, der manchen falschen Schluß aus litera^ 
rischen Nachrichten als Produkt vorauseilender Phantasie zurück- 
weist*) Hier allein ist ein zuverlässiger Msißstab für das Verhältnis 
der antiken Kunst zur Farbenwelt gegeben. Wie weit der Fort- 
schritt der Malerei in den Tagen des Apelles darnach bemessen 
werden darf, bleibt freilich eine andere Frage. Hier wird nicht 
allein im Ornament ein Paar von Komplementärfarben gewählt, 
gelbe Weinranken auf violettem Grunde, sondern auch in der 
figurenreichen Komposition keine Naturwahrheit der Farben er- 
strebt. Volle, tiefe, reine Töne: Gelb, Purpur und verschiedenes 
Rot, Violett, Blau an den Gewändern und Waffenstücken — sind 
in breiten Massen verschwenderisch ausgebreitet, oft in phan- 
tastischer Wahl; aber alle nackten Körperteile — waren sie wirk- 
lich im Marmorton belassen? — und der Reliefgrund ebenso, so daß 
nur subjektiv im Auge des Beschauers eine farbige Tönimg, dort 
auf heller, hier auf dunkler Unterlage entstehen konnte. Auf den 



I) Vgl Fr. Winter, Archäol. Anzeiger 1894 und Fr. Wickhoff, Die Wiener 
Genesis, S. 47 f. 



Farbengebung — Schattierung 293 

Tafelbildern kann doch die Kamation nur durch farbige Mittel 
herausmodelliert gewesen sein. Darin liegt aber auch der Anfang 
einer naturwahren Farbengebung, die dem ganzen Wesen der 
griechischen Kunst entsprechend von den nackten Körperteilen 
der organischen Geschöpfe ausgegangen und im plastischen Sinne 
verwertet sein muß. Diese natürliche Färbung des Fleisches findet 
sich auch auf dem erhaltenen Beispiel griechischer Malerei aus der 
Zeit nach Apelles, auf dem etruskischen Sarkophag mit einer Ama^- 
zonenschlacht in Florenz und zwar neben dem Versuch, den 
Schinuner des Metalls an den Waffen wiederzugeben. Auch ohne 
den räumlichen Zusammenschluß im Sinne eines Tiefraumes zu er- 
reichen, waren die Maler schon durch die Beobachtung der natür- 
lichen Körperfarben an weitere Konsequenzen für das Bildganze 
gebimden; vor allem an den Ausgleich der verfügbaren Farben- 
reihe zu einer harmonischen Gesamtwirkung auf der Bildfläche. 
Dieser Ausgleich ist möglich durch einen gemeinsamen verbindenden 
Überzug, wie schon Apelles durch eine Art von rauchfarbigem Firnis 
versucht haben soll. Es ist aber auch andererseits möglich durch 
die Verteilung von Schatten und Licht, d. h. durch Annähenmg 
der Bilderscheinung an die Wirkung eines bemalten Reliefs. In 
beiden Fällen konunt es darauf an, der Helldunkeldynamik zwischen 
vortretenden und zurücktretenden Teilen oder schattigen Intervallen 
neben den Körpern die Vormundschaft über die Intensitätsgrade 
der Tinten einzuräumen oder sozusagen die Farbenwerte der Körper 
mit der Helldunkelskala zwischen Weiß und Schwarz zu durch- 
setzen. Diese Skala verschiebt sich gewöhnlich etwas mehr nach 
der einen oder nach der anderen Seite. 

Für die Fortschritte der Malerei wird aber eine wesentliche 
Vorbedingxmg vorausgesetzt: der Übergang von der Auffassung 
tastbarer Körperlichkeit zur vorwiegend optischen Auffassung der 
sichtbaren Erscheinung. Dieser Übergang von der tastbaren Be- 
grenzungslinie zum optischen Schatten findet sich an einem uns 
erhaltenen Werke hellenistischer Zeit, spätestens aus dem III. Jahrh. 
vor Christus, auf den in Bronze gravierten Darstellungen der 
Ficoronischen Cista, die zwar laut Inschrift von einem Römer ge- 
arbeitet war, aber hinsichtlich des Stilcharakters der Figuren noch 
schlechtweg als Werk der griechischen Kunst gelten darf.^) Hier 
sind die Eignen noch von einer festen Umrißlinie umzogen, aber 



i) Riegl a. a. O.» S. 62. 



294 



XIX. Malerei 



die Modellierungslinien in lauter kleine Querschraffierungen aufge- 
löst „Daß diesen Schraffen die alte Linie der Vasenmalerei zu- 
grunde liegt, beweist schon ihre linienhafte gestreckte Gresamtform; 
aber durch die Verbreiterung und Schummerung, die sie der 
Modellierungslinie von einstmals verleihen, verraten sie sich als 
Schatten." Der Schöpfer der Komposition, die hier graviert worden 
ist, verstand noch nicht die Figuren perspektivisch voreinander zu 
ordnen und aus sich überschneidenden Figuren Gruppen zu bilden; 
aber er hat sein Bestreben erfolgreich darauf gerichtet, die zu 
rhythmischer Komposition geordneten Einzelfiguren jede fiir sich 
naturgemäß zu verkürzen.^) 



i) Wickhoff, a. a. O., S. 71. 



XX. 

DIE AUFLÖSUNG DES PLASTISCHEN RELIEFSTILS 

FLACH-, HOCH-, TIEFRELIEF — HINTERGRUND — RELIEFBILDER — 
HELLDUNKELREIZE — RELIEFKOMPOSITION — BILD KOMPOSITION — 

SYSTEMATISCHES SCHEMA 

Allmählich erst entwindet sich die Malerei — das haben die 
wenigen Stichproben aus ihrer Geschichte im Altertum gezeigt — 
als eigene Kunst aus der Flächendekoration auf der einen und 
mimischem oder poetischem Bestreben auf der anderen Seite. Mit 
dem Sehfeld, auf der Grenze zwischen unserer Tastregion und der 
fernen Außenwelt, war freilich der Wirkungskreis für sie gefunden. 
Sie breitet die Körper und ihren Raum, wie sie dort erscheinen, 
im Nebeneinander auf die Fläche, verfolgt also die zweite Dimen- 
sion als die bevorzugte Ausdehnung, auf die sie besonders ange- 
wiesen ist, und sucht in solcher Zusammenfassung zweier Werte, 
d. h. der Gestalten und der Zwischenräume, die neue Aufgabe, die 
sie von den Schwesterkünsten, der Architektur als Raumgestalterin 
und der Plastik als Korperbildnerin, unterscheidet. Kein Wunder 
jedoch, wenn auch bei ihr anfangs die Fignren, sowohl als mensch- 
lich interessante Dinge wie als tastbare Korper, noch fast allein 
die positiven Werte, die Raumteile dazwischen nur negative Inter- 
valle bedeuten, oder doch wie Hebungen imd Senkungen einander 
gegenüberstehen. Die Erfassung des Zusammenhanges, auf den es 
ihr eigentlich ankommt, je mehr sie sich auf ihr selbständiges 
Wesen besinnt, wird zunächst nur möglich, indem sie auf einen 
Teil der vollen Wirklichkeit beider Faktoren verzichtet, nämlich 
auf die dritte Dimension. Ein zweidimensionaler Auszug aus 
Körpern und Raum ist das Ergebnis ihrer Tätigkeit, das Bild, so- 
weit wir es im Altertum verfolgt haben. Die Fläche selbst ist die 
Einheit, in der Körperschein und Raumschein zum Bilde zusammen- 
gehen. Und auf diese Einheit hat es die Malerei immer abgesehen, 
seitdem ihr spezifisches Kunstwollen bewußt wird, mag auch noch 



2o6 XX. Die Auflösung des plastischen Relieüstils 

manches Mal ein Schwanken zwischen der sinnlichen Erscheinung's- 
einheit und der geistigen Vorstellimgseinheit erkennbar bleiben.*) 

Die ausgesprochen plastische Richtung aller bildenden Kunst 
bei den Hellenen konnte jedoch, zumal in der klassischen Blütezeit, 
nicht verfehlen, auch die Malerei nach dieser Seite hin und vom 
eigenen Ziele abzulenken. Ja die Plastik selbst schuf ihr einen 
gefahrlichen Nebenbuhler in dem Relief, so daß die weitere Ent- 
wicklung des Bildes auch nur verständlich wird, wenn wir zuvor 
diese Nachbarkunst weiterverfolgen. 

Auch das Relief gibt ja, wie die Malerei, Körper und Raum 
zugleich, und je weniger noch diese den Vollzug der Tiefenaus- 
dehnung versucht, desto stärker vermag ihr die Reliefkunst den 
Rang streitig zu machen, indem sie die nämliche Zusammenfassung 
auf der Fläche, aber ganz mit den Mitteln der Plastik nach dem 
Sinne der Körperbildnerin zu erreichen strebt Das Flachrelief 
bewahrt das Wesen der tektonischen Flächenschicht auch für seine 
künstlerische Existenz als bildliche Darstellung fast immer in aus- 
schlaggebendem Maße. Es empfängt die Abbilder der lebendigen 
Geschöpfe ursprünglich nur zur Belebung seiner Schauseite wie 
ein Muster aus vegetabilischen oder geometrischen Elementen. 
Der feste Bestand der Stein-, Ton- oder Erzplatte wird nur an der 
Oberfläche ein wenig aufgelockert. Bis zur Grenze der ersten 
dünnen Flächenschicht nur dringen Einritzung und Auskerbung 
vor. Auch hier wird also die Einheit in der tastbaren Vorder- 
fläche gesucht; sie vertritt das Volumen der tektonischen Masse, 
aus der die Figuren sich nur leise herausheben, ohne den optischen 
Gesamteindruck der Ebene zu alterieren. Die dritte Dimension ist 
nur latent in dieser Masse vorheinden, noch ungetrennt von den 
beiden anderen Ausdehnungen, und nur das geringe Quantum, das 
zwischen der tektonischen Fläche und der ideellen Parallelebene 
vom liegt, das niedrige Maß der Erhebung über dem gemeinsamen 
Grrunde, gehört dieser dritten Richtung an. Die natürliche Grenze 
des Flachreliefs kann jedoch nur in der plastischen Anschauung, 
d. h. an den dargestellten Körpern gesucht werden. Und sie lieget 
in der Wachstumsachse der Geschöpfe, der Menschen wie der 
Tiere und der Pflanzen, die in dieser Oberflächenschicht erscheinen. 
Bis an das Rückgrat muß der Körper des Löwen zum Vorschein 
kommen. Um diese Mittelachse des Wachstums imd der Bewegung 



i) Vgl. Zur Frage nach dem Malerischen 1896, S. 36 f., 40 f., 45, 90. 



Flachrelief — Hochrelief 



297 



reihen sich die Paare homologer Glieder. Sie wenigstens muß der 
Umriß enthalten, den das flache Relief zu einem wesentlichen 
Mittel der Darstellung ausbildet^) 

Hochrelief nennen wir dagegen die eigentlich plais tische 
Lösung des Gesamtproblems, die sich von tektonischer Gebunden- 
heit an die Grundebene so weit freimacht, wie sie nicht dem 
höchsten Anliegen der Körperbildnerin, der Gestaltung orga- 
nischer Geschöpfe im dauerhaften Materiale^ dienen will. Die 
Masse des tektonischen Materials liefert dem hellenistischen Hoch- 
relief, das wir zuletzt berührt hatten, nur den Gestaltungsraum vor 
dem abschließenden Grunde, der seinerseits den festen Bestand 
dieser Durchorganisation von Menschenhand sichert Auch die 
stärkste Modellierung der Gebilde durch die entstehenden Gegen- 
sätze von Hell und Dunkel kann indes nur als Äußerung des 
nämlichen eminent plastischen Sinnes aufgefaßt werden, dem es 
um die vollrunde Körperlichkeit zu tun ist. Die tastbaren Körper- 
werte können demgemäß allein im Bereiche des abtastenden Sehens 
durchgekostet, nur in dem mittleren Abstand bequemer Überschau 
über das Sehfeld zusammengefaßt werden. Bei einer Vielheit von 
Einzelgeschöpfen, die im Relief nebeneinander ausgebreitet werden, 
ergibt sich von selbst die Frage, wie weit eine Zusammenfassung 
zur Erscheinungseinheit für unser paariges Sehorgan reichen kann. 
Erst mit dem Gegensatz zwischen dem successiven Entlangsehen 
von einem Ende bis zum anderen, in fühlbarer Nähe, und dem 
simultanen Gesamteindruck, bei weiterem Abstand, leuchtet die 
Alternative völlig ein, zwischen der hier gewählt werden muß. 
Solange die organische Schönheit der Einzelkörper das Hauptan- 
liegen bleibt, mögen auch die beiden Prinzipien der Komposition 
sich miteinander vertragen; denn der Zusammenhang zwischen 
einer Reihe oder einer Grruppe von Individuen bleibt dann immer 
nur Gelegenheitsursache für die Entfaltung der einzelnen und für 
die Abwechslung in den verschiedenen Ansichten, die nur vollrunde 
statuarische Bildung zugleich von allen Seiten an einem und dem- 
selben herrlichen Gewächs vereinigt zeigen kann. Die Reihimg 
der einzelnen, wohl gar im Kontrapost entfalteten und wieder zur 
Einheit beruhigten Körper verbindet sich mit der Gruppierung 
zweier in symmetrischer Entsprechung, oder mit der Zentralisation 
um eine gemeinsame Mittelachse, die ihrerseits wieder durch einen 



i) Vgl. Schmarsow, Plastik, Malerei und Reliefkunst 1899, S. 168 ff. 



2gS X^- I^ic Auflösung des plastischen Reliefstils 

dritten Körper eingenommen werden mag, so daß drei- und mehr- 
gliedrige Komplexe unter der Herrschaft einer Dominante ent- 
stehen. Zu dem Prinzip der Symmetrie in der Breite tritt mithin 
das der Proportionalität in der Höhe, nicht allein an den Indi- 
viduen, sondern auch im Aufbau solcher Reliefgruppen, die der 
schweifende Blick als Ruhepunkte begrüßt und zurückkehrend als 
Einheiten zusammenfaßt. Nur der Fortlauf der Reihung über diese 
Sammeleinheiten hin löst erst in der Blickbewegung über den 
ganzen Reliefstreifen den durchgehenden Rhythmus der Gesamt- 
komposition aus. Eine solche rhythmisch gegliederte Reihe von 
Gestalten und Gruppen, deren Ineinandergreifen sich nur auf einem 
Vordergrunde vollzieht, nennen wir im spezifischen Sinne Relief- 
komposition. Unleugbar spielt noch die successive Auffassung 
die tonangebende Rolle, d. h. der Beschauer gibt die erste, mit 
dem Blick erfaßte Sammeleinheit wieder auf, um zur folgenden 
überzugleiten, und so fort bis zum letzten Abschluß. Die zweite 
Dimension ist die Richtungsachse, es fragt sich nur, ob als Länge 
von einem Ende zum anderen verfolgt, oder als Breite (in der von 
uns scharf unterschiedenen Auffassung als Diremtion), d. h. von der 
Mitte nach beiden Seiten hinaus, und von den Seiten wieder zur 
festen Mitte zurückkehrend, wie der lebendige Vorgang des Ein- 
und Ausatmens. Sowie wir diesen Versuch machen, den ganzen 
Reliefstreifen mit einem ruhigen Blick zusammenzufassen und die 
Auseinandersetzung zwischen dem Zentrum und den Grenzen zu 
erproben, so stellt ein anderes Kompositionsprinzip sich von selber 
ein, dessen Unterschied von jenem fniheren sich bald mit dem 
Namen Bildkomposition bezeichnen läßt Bleiben wir dabei im 
selben Abstand wie vorher im Verfolg der Gestaltenkette, so stellt 
sich heraus, daß die Spannweite des Blickes zu eng ist Das 
gleichmäßig klare Formsehen, das uns bis dahin geleitet, reicht 
nicht so weit von der Mitte nach links und rechts hinaus, wie die 
Länge jener Reliefkomposition sich objektiv darbietet. Nehmen 
wir aber die objektiv vorhandene Längenausdehnung des Marmor- 
frieses als Sehfeld an, so müssen wir, um das Ganze mit einem 
Blick zu umspannen, auch einen weiteren Abstand nehmen. Mit 
diesem entfernteren Standpunkt stellen wir \ms auf den festen 
Zentralpunkt, den das Sehfeld als Bildfläche vorschreibt, und das 
bedeutet einen radikalen Umschwung in der Auffassung des 
Objekts. Bei solchem entfernteren Abstand erkaufen wir den Vor- 
teil der Gesamtansicht des vor uns ausgebreiteten Reliefs mit dem 



Komposition — Tiefrclicf 299 

Verzicht auf das abtastende Sehen der Einzelformen und den er- 
schöpfenden Genuß der organischen Schönheit jedes Individuums 
nach der Reihe oder gar Glied um Glied. Statt dessen erhebt sich 
immer fühlbarer der Anspruch, die kleinen nebeneinander abfolgen- 
den Grruppen zu einer zentralen Einheit zusammengefaßt zu sehen. 
Unserem festen Standpunkt vor dem Bilde soll ein festliegender 
Mittelpunkt im Bilde entsprechen, ein beherrschender Körper gleich 
uns, die Dominante der Gesamtkomposition drüben, alle übrigen 
Bestandteile links und rechts sich unterordnen und für unsere ab- 
schweifende Anschauung bei jeder Wiederkehr zusammenhalten. 
Es ergibt sich die Möglichkeit: eine solche Zentralisation wider- 
spreche der gleichen Kopfhöhe aller Gestalten, wie sie im Hoch- 
relief waltet. Ein längerer Marmorfries erscheint nicht mehr ge- 
eignet für solchen Zusammenschluß. Deshalb wird ein Format mit 
überwiegender Höhe bevorzugt, und die gleiche Höhe der Figuren 
mag anderen Zwecken zuliebe verlassen werden. Damit nicht ge- 
nug; oder darin liegt vielmehr schon — sowie es zur letztgenannten 
Maßregel der Subordination kommt, jedenfalls — ein weiteres 
Moment der Verwandlung. Bei der bequemen Oberschau von dem 
neuen festen Standpunkt gegenüber dem Relief dringt unser Blick 
immer anspruchsvoller gegen die Mitte der Bildfläche vor und da- 
mit auch gegen die Mitte der Komposition vorwärts in den Ge- 
staltung^raum. Er sucht die Tiefe und fordert die fühlbare Aus- 
dehnung der dritten Dimension. Der Gestaltungsraum muß weiter 
zur Aushöhlung und Durchorganisation des bildsamen Reliefgrundes 
vordringen. Damit sinkt aber die Höhenachse der Mittelfigur, die 
bisher den beherrschenden Körperwert, das Gestaltungszentrum 
abgegeben hatte; vor dem übermächtigen TiefenvoUzuge des 
Schauens, der eben mit unserer Willensrichtung identisch ist, kann 
sie nicht lange bestehen: statt der Höhenachse des Vordergrundes 
wird erst eine entlegenere in der Mitte des Schauplatzes zimi Kern 
der Figurenkomposition, dann immer fühlbarer die Tiefenachse des 
ganzen Bühnenraumes zur Dominante der Bildkomposition. Aus 
dem Gestaltungsraum wird ein Bewegungsraum, dessen herrschende 
Richtimg nicht mehr die Breite des Vordergnmdes, sondern die 
Erstreckung von vom nach hinten ist. Der Bildraum ist nun ein 
Tiefraum. 

Das Relief, das diesem Bedürfnis des ruhigen Schauens von 
einem festen, aber entfernten Standpunkt Rechnung trägt, nennen 
wir Tiefrelief, dessen Hausgesetz die Relie^erspektive werden 



300 ^^' I^ic Auflösung des plastischen Reliefstils 

muß. Es ist im Altertum nicht eigentlich zur Ausbildung gelangt 
Bevor wir jedoch dem Wege zu diesem malerischen Relief und 
den Anwandlungen solcher Art auch in der Antike nachgehen, 
muß der Übergang von der vorwiegend abtastenden Anschauung 
des plastischen Kunstwerks zur vorwiegend optischen Aufnahme in 
seiner Bedeutung für das Kunstwollen vollauf gewürdigt werden. 
Er hat sich tatsächlich in der Reliefkunst viel langsamer vollzogen, 
als die begriffliche Definition und die Vorstellimg des modernen 
Menschen uns glauben machen. Nur um letztere abzuwehren, 
mußte die erstere schon hier herbeigezogen werden. 

Die transitorische Auffassung im wörtlichen Sinne, d. h. beim 
Entlanggehen, überwiegt noch entschieden beim Telephosfriese, 
der in Pergamon als charakteristisches Beispiel einer voUig'^ltereir 
Reliefkunst neben dem Hochrelief des Gigantenfrieses Beachtung 
fordert. Hier erscheint der sogenannte „Hintergrund" zwischen den 
Gestalten und der Grundebene eingeschoben. Mit diesem Auf- 
kommen des Hintergrundes in der hellenistischen Reliefkunst war 
kein jäher Bruch in die bisherige Entwicklimg gekommen. Die 
hintere Schicht hat zunächst nur die Aufgabe, die vorderen Figuren 
schärfer von der Fläche zu trennen. Daneben bleibt die Schluß- 
wand hinten noch immer bestehen, und zwar als gemeinsamer 
Stoffgrund aller Gebilde darauf. Die Umrisse der vorderen und 
der hinteren Gegenstände werden noch immer in eine Flächenkom- 
position gebracht, die sich als Einheit des Musters kontinuierlich 
fortlaufend der Einheit des ruhigen Grundes entgegensetzt Eben- 
deshalb kann es auch in dieser Zeit noch nicht zu einer Subordi- 
nation kleinerer Figuren unter eine größere Hauptfigur konunen, so 
daß diese körperlich hervorragend die Dominante in einer um- 
fassenderen Sammelkomposition bildete. Der „Hintergrund" helle- 
nistischer Reliefs wird auch nicht durch menschliche Figuren, son- 
dern durch Bäume, Gebäude und andere unbewegliche Requisiten 
gebildet, so daß sich beide Schichten schon durch die verschiedene 
Natur ihrer Gebilde voneinander abheben (R. 57). Aber Bäume 
und Baulichkeiten sind imter sich wieder sehr verschiedene Dinge 
und können sehr verschieden behandelt werden. Der Baum, der 
seinen Ast in den Schauplatz hineinstreckt oder wie mit einem 
Arme in die Feme hinausweist, kann nicht umhin, Raumwerte für 
den Beschauer hervorzubringen. Er gliedert im ersten Fall das 
Innere des Schauplatzes mit, gibt im anderen eine Anweisung auf 
die Tiefe jenseits. Er gebärdet sich stärker, als das Gebäude je 



Hintergrund — Fricsrelief joi 

vermag. Aber auch dieses kann, durch Obereckstellung z. B., zur 
Raumpotenz werden, kann vorstoßen und zurückschieben, während 
es, von der Langseite oder von der Schmalseite allein gesehen, wie 
eine Mauer seitlich verläuft, also nur eine horizontale Verbindung 
oder ,3benrelation" herstellt. Überall begegnet nur das kubische 
Volumen des durchorganisierten Gestaltungsraumes, soweit es von 
Körpern erfüllt und erfordert wird, noch kein freier Tiefraum. Als 
Folge davon aber stellt sich schärfere Trennung der Individuen 
von der Grundebene, d. h. Lockerung des bisher streng festgehal- 
tenen tastbaren Zusammenhanges im Ganzen ein. Nun aber tritt 
auch so beim Entlanggehen an solchen Reliefs und beim Entlang- 
sehen über diese Abstufung auf der Fläche hin ein Neues hervor, 
das nicht unbeachtet bleiben darf: die Dreiteilung, nämlich in die 
Figurenreihe des Vordergrundes, die wir begleiten oder ent- 
gegenkommend an uns vorüberziehen lassen, — den Schauplatz, 
dessen Wahrzeichen dahinter bestehen bleiben und die Kontinuität 
dieses Ambiente vor Augen stellen, — imd endlich den Grund, der 
über Bäumen und Gebäuden nicht umhin kann, die Luftregion 
wenigstens anzuzeigen. Beide letzten Faktoren gehen zusammen 
zur Skene und kontrastieren so mit den beweglichen Gestalten 
vom wie die Bühnendekoration, als feststehende Folie, mit den 
Schauspielern, die davor hin imd her agieren. Das Theater ist 
denn auch wohl der Ursprung dieser künstlerischen Anschauung. 
Aber ist nicht schon hier ein gemusterter Grund unter das beweg- 
liche Hauptmuster gebreitet, das wir dem Rankenmotiv vergleichen? 
Die malerische Anwandlung ist wohl imleugbar. 

Die Fortdauer der plastischen Auffassimg des Reliefs kann 
daigegen gar nicht wundernehmen, wo immer der fortlaufende 
Friesstreifen angewandt wird, der auf successive Aufnahme durch 
den entlangschreitenden Betrachter rechnen muß: was sich mit tms 
bewegt, in Gestalten gleich uns oder vertrauten Tierformen auf 
dem gemeinsamen Boden, wenn auch auf anderem Niveau wandelt, 
das berührt uns näher. Die Klasse des Friesreliefs sollte des- 
halb grundsätzlich gesondert werden und in bewußten Gegensatz 
treten zu der anderen, wo die Bildkomposition mit dem stillstehen- 
den Beschauer rechnet; denn eben in dem beweglichen Standpunkt 
dort, dem festvorgeschriebenen hier liegt der fundamentale Unter- 
schied des plastischen und des malerischen Reliefs. Dort waltet 
noch immer der Tastsinn, hier gibt die Gesichtsvorstellung den 
Ausschlag. 



302 XX. Die Auflösung des plastischen Reliefstils 

Wer die eigenen Hausgesetze des Reliefstils auch in solchem 
Gegensatz verkennt, der verfallt stets in Mißverstandnisse und irre- 
führende Schlußfolgerungen. Reliefkomposition für transitorische 
Aufnahme herrscht an der Ära Pacis des Augnstus vom Forum 
in Rom, und dasselbe Prinzip vermögen wir auch allein in den 
Reliefs des Titusbogens anzuerkennen. Der gewaltige Unter- 
schied besteht nur in der gesteigerten Bewegung der Darstellung* 
selbst, gegenüber der gemessenen Feierlichkeit der Zeremonie am 
Altarbau, und andererseits in der stärkeren Relieftiefe, die jedoch 
nicht über das einheitliche Raumvolumen des Vordergrundes hinaus- 
greift und nur der Dicke der einrahmenden Pfeiler entspricht 
Hier ist kein Hintergrund, sondern nur ein Zug von Gestalten, 
dessen Durchmesser kaum irgendwo über drei Mannsbreiten hinaus- 
geht Desto stärker wirkt der schlichte Grund, der im letzten 
Drittel des Frieses unter dem schattenden Architrav nur die Luft- 
reg^on über den Köpfen bedeuten kann, in die der siebenarmige 
Leuchter von Jerusalem wie die übrigen Beutestücke und Triumphal- 
zeichen hineinragen. Das enge Tor am Ende zur Rechten ist nur 
eine Andeutung, die nicht nüchtern realistisch genomAien werden 
kann; das verbietet schon die Reduktion aus dem architektonischen 
Maßstab in den plastischen der Figurenkomposition und die Höhe 
der getragenen Gegenstände, die nicht so hindurchgehen würden- 
Alles, was im Sinne der fortlaufenden Bewegung des Zuges unter 
freiem Himmel gesagt worden ist, besteht zu Recht Alles da^ 
gegen, was die Meinung erwecken kann, als sei die künstlerische 
Einheit bereits in einer Bildkomposition mit voller Entwicklung 
der Raumtiefe zu suchen, beruht auf Selbsttäuschung und anachro- 
nistischer Phantasie des modernen Beschauers.^) Eine solche male- 
rische Auslegimg des vorhandenen Werkes läßt sich an Ort tmd 
Stelle schon deshalb gar nicht halten, weil der Triumphbogen selbst 
durch den Abstand der beiden Seitenwände, in denen sich die 
Reliefs befinden, die Betrachtung aus hinreichender Entfernung für 
solche Illusion unmöglich macht Dazu kommt die Höhe, in der sie 
angebracht sind, so deiß schon die Untensicht für den Fußgänger 
die weitere Raumtiefe jenseits des vorderen Gestaltungsraimies 
abschneidet Für solche Vertiefung über den Vordergrund hinaus 



i) Vgl. die Schilderung bei Fr. Wickhoff, Wiener C^nesis S. 43 ff. und deren 
Kritik bei Kiegi a. a. O. S. 61 f. Unabhängig von beiden Schmarsow, Beiträge III, 
S. 182 f. 



Römische Reliefs unter Titus und Trajan ^03 

wäre der feste Standpunkt des Bildsehens, die Konzentration des 
Blickes innerhalb der Grenzen seines Rahmens erforderlich. Die 
ganze Behandlung der plastischen Arbeit aber beweist vollends, 
daß sie für die Ortsbeweg^ng des hindiurchfahrenden Triumphators 
oder der hindurchschreitenden Begleiter berechnet ist, d. h. nicht 
für rein optisches Verhalten, sondern für abtastendes Entlangsehen, 
wie die plastisch -airchitektonische Durchgliederung des Bogen- 
innem nur durch ihren Gegensatz bestätigt Sie ist Wirklichkeit, 
der Triumphzug dort oben ein ideales Kunstwerk, trotz all seiner 
packenden Lebendigkeit. 

Ganz frappant begegnen wir dieser Behandlimg des plastischen 
Körpers für die starke Körperwirkung auch unter ungünstigeren 
Bedingungen des Architekturschmucks an den Trajanischen Relief- 
medaillons, die am Triumphbogen Konstantins wieder verwertet 
wurden. Selbst in dieser zentralisierenden Form der Reliefplatte 
sind Figurenkompositionen angeordnet, die fast den ganzen Diurch- 
messer als Normalhöhe der Körper ausbeuten, und die Reihen oder 
Gruppen von Gestalten runden, sich in der Mitte gerade stärker 
heraus als gegen die abschließenden Halbkreise links und rechts. 
Bei den rechteckigen Tafeln des Oberbaues ist erst recht die Unten- 
sicht als maßgebende Bedingung des Sehens angenonunen und alle 
notwendigen Gegenstände in den Vordergnmd gedrängt, während 
die Höhe künstlich mit Standarten imd Feldzeichen, Architektiu:- 
kulissen usw. gefüllt wird. Auch hier entscheidet das Prinzip der 
Reihung links tmd rechts neben der großen Inschrifttafel über den 
Charakter des Reliefstiles. An Stelle der verbindenden Diagonalen 
treten die Vertikalen tmd Horizontalen, sowohl in der Figurenkom- 
position wie im Hintergrund. Selbst in den Reliefs der Trajans- 
säule, wo die Aufgabe der Darstellungen darin bestand, die Aktion 
von Figuren im Räume hintereinander darzustellen, ist aus dem 
Hintereinander sofort ein Übereinander geworden. Jeder weitere 
Beweis, daß es sich nicht um Raumkompositionen handelt, ist ent- 
behrlich.^) Von diesen spiralisch um den Säulenstamm laufenden 
Bilderstreifen muß noch später unter einem anderen Gesichtspimkt 
die Rede sein. 

Dagegen läßt sich an dem untersten Ringe des Säulenschaftes, 
wo dieser von dem Kranz der Basis seinen Anlauf nimmt, eine Be- 
handlung beobachten, die zunächst durch die besonderen Bedingungen 



1) Riegl a. a. O. S. 60 f. 



304 ^^* ^^^ Auflösung des plastischen Reliefstils 

der geschwungenen Fläche veranlaßt sein mag, aber vorzüglich 
geeignet scheint, in die Eigenart einer ganzen Klasse der helle- 
nistisch-römischen Reliefkimst einzuführen. Es ist eben die 
Flächenbewegung des Grundes, der leise nach unten herabgleitet 
und vorquillt So entsteht der Eindruck eines fließenden Zusammen- 
hanges, wie hier zwischen dem Wasser mit Fahrzeugen darauf und 
dem Uferrand mit Baulichkeiten, der dahinter ansteigt Aber auch 
zwischen felsigen Bestandteilen und darum angeschwemmtem Sand- 
boden oder weichen Massen von Humus zeigt sich ein solcher Ab- 
lauf, meist diagonal durch rechteckig gerahmte in Hochformat als 
Wandschmuck verwendete Marmorplatten der „hellenistischen Re- 
liefbilder**.*) Wie man auch über ihren Ursprung denken mag, den 
Namen Reliefbilder tragen sie mit Recht wegen ihres malerischen 
Charakters. Durch die Terrainbewegung wird die Hohenausdehnung- 
in der raumschaffenden Weise verwertet wie sonst, bei perspekti- 
vischer Verkürzung, die Tiefendimension. Der Kompromiß zwischen 
Über- und Hintereinander zieht aber auch die hier und da auf dem 
Boden stehenden Dinge mit in diesen Zusammenhang, besonders 
wenn sie vereinzelt in die landschafdiche Umgebung hineingesetzt 
werden. Die Körper im Vordergründe setzen sich notwendig mit 
dem ansteigenden Schauplatz in Beziehung, der als Folie sie bald 
hervorheben, bald in sich aufnehmen kann. Zuoberst aber heben 
sich die Gegenstände, meist ein Baum oder ein Architekturstück 
gegen den glatten Reliefgrund ab, der nach solcher Vorbereitung 
nur als ebenso fließendes Medium, d. h. als Luftregion genommen 
werden kann. Wenn vom zuweilen noch Bravourstücke der Natur- 
beobachtung aufgetischt werden, die zunächst wie ein Stilleben für 
sich wirken, so darf das nicht täuschen; sie gehen doch bei weiterem 
Abstand in den Gesamteindruck des Bildes ein. Dies aber ist noch 
immer nicht für einen festen Standpunkt, sondern für den schwei- 
fenden Blick des Beschauers berechnet, der eben nicht senkrecht 
aufsteigend noch wagerecht ablesend, sondern diagonal darüber- 
hin geleitet wird Dieser Blickbahn ist auch die Abflachung des 
ganzen Reliefs angepaßt, wie die Verstreuung der Gegenstände 
auf der bewegten Fläche, die weder einen plastischen noch einen 
architektonischen Zusammenhang aufkommen läßt, sondern die 
Einzeldinge nur als stoffliche Leitmotive benutzt. Erst im Ganzen 

I) Vgl. Th. Schreiber, Die hellenistischen Reliefbilder, Leipzig 1894 und Die 
Wiener Brunnenreliefs, Leipzig 1888. 



Malerischer Realismus der Skulptur 305 

gewinnen sie ihre Erscheinungseinheit, die noch keineswegs eine 
rein optische genannt werden darf und doch eine malerische An- 
wandlung bezeugt; sie hat das Verhältnis aller Bestandteile zum 
Wirkungswert einer durchgreifenden Revision unterzogen und 
scheint mit dem Raum wie mit den Körpern zu spielen.^) 

Der Umschwung vom plastischen zum malerischen Sehen läßt 
sich nicht so einfach und kurz, wie man wohl meint, als Übergang 
zur ausschließlich optischen Aufnahme des Bildwerks bezeichnen. 
Er besteht genauer genommen aus einer Kette von mehreren in- 
einandergreifenden Gliedern. Er ist eine Metamorphose der Sinnes- 
wahmehmungen und der psychischen Leistungen, die viel tiefer 
geht, als rein sinnliches Raffinement des Kunstgenießens aus eigner 
Erfahrung anzunehmen pflegt. 

Bei der ausschließlich pleistischen Richtung des gesamten 
Kunstschaffens im klassischen Altertum mußte auch die Umwand- 
lung der ganzen Plastik selbst, auch der Büsten- und Statuen- 
bildnerei nach Maßgabe der optischen Anschauungsweise voran- 
gehen. Diese aber setzt eine gründliche Entfremdung von allen 
bisher gültigen Körperwerten voraus und schiebt zwischen die feste 
Form des Dargestellten und die Sinnessphäre des Menschen gerade 
die weiche, veränderliche, naturfarbene Schicht wieder ein, die der 
griechische Bildhauer ausgeschaltet hatte, weil sie den bleibenden 
Bestand zu verhüllen oder den tastbaren Kern aufzulockern scheint. 
Das Spiel der Lichter und Schatten im Gelock des Haares, über 
die Furchen der Stirn, die Hautfläche des Nackens; die Farbe der 
Wangen, der Teint der ganzen Epidermis, der rötliche und bläu- 
liche Ton des durchscheinenden Geäders, die helleren Flächen der 
Fettpolster und ihr Kontrast gegen die dunkler getönten Höhlungen 
sind lauter Erscheinungen, die an Stoffwechsel, Ernährungszu- 
stand und Lebensalter gemahnen. Sie erregen nun durch den 
Augenschein auch die Vorstellung der Vergänglichkeit und der 
Abhängigkeit von Bedingungen, die außerhalb des Individuums 
liegen und auf den Zusammenhang mit der weiten Natur hinleiten. 
Je mannigfaltiger die stoffliche Beschaffenheit, je farbiger die 
organische Bildung dieser variablen Übergangssphäre mitspricht 
desto realistischer erscheint die Auffassung. Aber sie richtet sich 
mehr auf die äußere Hülle, die als Grenze schon sich mit allen 



i) Am vollendetsten ist dieser malerische Stil in den ßachen Stuckreliefs aus- 
gebildet, die seinerzeit bei der Villa Farnesina gefunden wurden. 

Schmarsow, Kunstwissenschaft. 20 



jo6 XX. Die Auflösung des plastischen Reliefstils 

Nachbarn befassen muß, mehr auf das Medium, das die Gestalt 
umfließt, als auf den Körper, eben auf die transitorische Erschei- 
nung und nicht auf die feste Form. Dieser Erscheinungszusammen- 
tang gewinnt aber bei der rein optischen Aufnahme seine einheitliche 
Wirkung als Ganzes für den Beschauer erst in weiterer Entfernung. 
Die stoflFliche und farbige Mannigfaltigkeit der Teile geht nicht 
eher zusammen zur Harmonie der Wirkungs werte; sie fordert den 
Abstand des Fembildes. *) Damit vollzieht sich immer entschiedener 
die Ausschaltung des Tastsinnes zugunsten des Gesichtssinnes und 
demgemäß eine Art Entkörperung der Gestalt. Immer fühlbarer 
wird die Vermittlung zwischen der Einzelerscheinung und deren 
räumlicher Umgebimg beachtet und einbezogen, wie schon ein 
flatterndes Gewand die Bewegfung der Luftregion als Ursache mit- 
spielen läßt, wie Farbenillusion das Licht, wie das Licht wieder 
Schatten fordert 

Kein Wunder, wenn bald spezifisch malerische Kompositionen 
auch für die Reliefkunst verwendet und unterschiedslos z. B. auf die 
Sarkophagwände übertragen werden. Diese Anleihe bei der Nach- 
barkimst Malerei ist ihrerseits wieder vorbereitet durch die Ver- 
schleifung aller Unterschiede der technischen Prozeduren, die sich 
in der römischen Reichskunst geltend macht Sie hat das Ihrige 
auch zur Auflösung der eigentlich plastischen Reliefkimst beige- 
tragen. Schon dem alexandrinischen Relief wird eine Verquickung 
mit technischen Hilfsmitteln der Toreutik tmd Goldschmiedekunst 
nachgesagt. Die Oberfläche des Metalls bringt aber bei verschie- 
dener Stellimg der Teilflächen zirni Auge ganz andere Wirkungen her- 
vor, als die nämliche Komposition, die identische Formbildung in 
Marmor. Die Reflexlichter imd Glanzerscheinungen sind es vor 
allem, die der plastischen Bestimmtheit der Gestalten, der klaren 
Begrenzung der Einzelkörper nachteilig werden, und die ohnehin 
schon in diesem Material schlanker erscheinenden Formen in einen 
gemeinsamen Schimmer tauchen. Die Goldschmiede sind es außer- 
dem, die Gold- imd Silberglanz als Folie für Edelsteine mit ihrem 
durchsichtigen Feuer, Perlen mit ihrem zarten Schmelz nebst 
farbigen Emailarbeiten und Kameen verwenden. Kein krasseres 
Beispiel der Stilmischimg dieser Art als der Porphyrsarkophag der 
Helena, den man gern in die Tage Hadrians zurückdatierte: in 



i) Vgl. hierüber Schmarsow, Plastik, Malerei und Relief kunst 1899, Kap. I, 
V, VII mit Riegl a. a. O. 1901, S. 46 f. 



Helldunkelreize 



307 



dem harten Material kleine, aber weitausladende, ganz isolierte Körper, 
die nur mit Kameenschnitt in Onyx oder Achat verglichen werden 
können. Wieder eine andere Quelle sind die etruskischen Terrakotten, 
auf deren Einfluß auch in der Marmorskulptur der Sarkophage mit 
Recht aufmerksam gemacht worden ist: sie erklären den Übergang 
zu optischen Wirkungen wieder nach einer anderen Seite, nämlich 
die Vorliebe für Helldimkelspiel. Nicht um eine zufällige, praktisch 
ganz unmotivierte Nachahmung der einen Technik in der anderen 
kann es sich handeln, nicht um gewohnheitsmäßige Übertragung 
durch töpferhaft geschulte Tonbildner, die man in Marmor Werk- 
stätten gemißbraucht habe; das kann nur Gelegenheitsursachen der 
Entstehimg abgeben. Auf das Gemeinsame in den Sinneseindrücken 
kommt es an imd damit auf die Gleichheit des Kunstwollens, das 
nach diesen Mitteln greift. Optische Reize, Wohlgefallen am Hell- 
dunkel oder der Farbigkeit müssen dies Gemeinsame gewesen sein, 
das die seltsame Übereinstimmimg einer zahlreichen Denkmäler- 
klasse mit jenen Sonderbarkeiten einer uralten imd rohen Kunst 
erklärt An spätheidnischen wie an altchristlichen Sarkophagen 
finden wir die ganze Wandung aufgelockert durch kleine puppen- 
hafte, dicklichte Figuren oder sonstige Gegenstände, in einer Form- 
gebung, wie sie ursprünglich nur der Töpfer modelliert Und um 
jeden Einzelkörper oder sackartigen Wulst mit Kopf darauf legt 
sich ein eigner Schattenraum, wie er ursprünglich nur beim ein- 
zelnen Aufsetzen jeder Puppe in erforderlichem Abstand von der 
nächsten (in Rücksicht auf das Brennen) entsteht So bieten nun 
auch die Marmorsarkophage eine ins Kleinliche gehende Zerklüf- 
tung der zusanmienhängenden Stoffschicht, die bei dem geringen 
Wert der plastischen Bildung kaimi einen anderen Genuß gewähren 
kann als eben den schnellen Wechsel von Hell imd Dunkel, mit 
seiner flimmernden arhythmischen Bewegung für das Auge. Das 
Unpleistische endigt auch hier in dem Unfigürlichen, in den „durch- 
brochenen Arbeiten" aus Metall, Gold, Silber, Bronze usw., aber 
auch aus Terrakotta und Stein, für die der kunstgewerbliche Be- 
trieb der Spätantike so zahlreiche Beispiele liefert, nachdem sie 
längst auf plastische Gestaltung verzichtet hat, — bis ins Koptische 
hinein. 

Damit stoßen wir auf die wesentlichste, sowohl negative wie 
positive Ursache für die Auflösung der Reliefkunst, wie der Plastik 
überhaupt, d, h. des Verfalles, der vorangehen mußte, um das Feld 
für andere Künste freizimiachen, wie dies beim Übergang von 

20 • 



*. 



3o8 XX. Die Auflösung des plastischen Reliefstils 

der statuarischen Kunst zur Architektur bereits verfolgt ward 
Den letzten Stoß bekam das eigentlich antik klassische Kunstwollen 
durch die Entfremdung von den Grundlagen des bildnerischen 
Schaffens, durch das Abhandenkommen des einst so allgemeinen 
Sinnes für die organische Schönheit des menschlichen Körpers 
und der Kenntnis seines Baues , seines Wuchses, seiner Formen- 
sprache in allen Gliedern. Das ist jedoch nur die negative Kehr- 
seite des positiven Umschwungs in der allgemeinen Weltanschauimg. 
Die Entwertung der Leibesschönheit im Gefühl der Zeit ist 
nur eine Folge der neuen, inuner ausschließlicher sich durchsetzen- 
den Bewertung der Seelenreinheit, der Geisteshoheit und 
der Unsterblichkeit dieses inneren Gehalts gegenüber dem ver- 
gänglichen oder gar sündhaften Gefäß. 

Für Rom bezeugt diesen Umschwung als vollendete Tatsache 
der Triumphbogen des Konstantin, ein öffentliches Monument 
vor aller Augen. Freilich mit der Jahreszahl seiner Errichtung 
nach dem Sieg über Maxentius ist kein Termin gewonnen, der 
gleichmäßig auch für das übrige Römerreich seine Geltung hätte. 
Die Reliefs, soweit sie nicht von früheren Denkmälern zusammen- 
gerafft, sondern wirklich 312 gearbeitet worden sind, zeigen das 
Bestreben, die Figuren innerhalb der gemeinsamen Materialschicht 
räumlich zu isolieren.*) Sie sind an den Umrissen tief unter- 
schnitten, so daß sie nirgends augenfällig mit der Grundebene zu- 
sammenhängen. Der Gestaltungsraum hat seinen ehemals tastbaren 
Zusammenhang verloren und zerfällt in eine Aufreihung heller 
Figuren und dunkler Raumschatten dazwischen. Aber die verhält- 
nismäßig seichte Materialschicht, die so durchgegliedert ist, bringt 
nur einen kleinlich flimmernden Gesamteindruck hervor. 

„Genau das gleiche Verhältnis wie zwischen dem Relief als 
Ganzem und den Figuren als seinen Teilen muß zwischen der ein- 
zelnen Fig^ als Ganzem und ihren Teilen, sei es den nackten 
Gliedern, sei es der Gewandung, obwalten. Einfache, geradlinige, 
ungegliederte und unrhythmische, und darum harte, aber klare 
Umrisse begrenzen die Figuren, die zwischen Vorder- und Grund- 
ebene breitgequetscht sind. Dagegen werden deren einzelne Teile 
voneinander durch tiefschattende Furchen isoliert, besonders deut- 
lich in der Haarbehandlung und in der Draperie. Also wie die 
Figuren zum Ganzen, so stehen auch die Glieder und Gewänder 



I) Vgl. Riegl, a. a. O., S. 46 f. 



Triumphbogen Konstantins — Systematisches Schema ^OQ 

zu den Figuren nicht im Verhältnisse tastbarer Verbindung, son- 
dern in demjenigen optischer Isolierung untereinander. Die ein- 
zelnen Figuren geben sich als kubische raumfuUende Körper, und 
als solche müssen sie notwendigerweise vom freien Raum umflossen, 
d. h. von komplementären Schatten eingerahmt sein." (R.) — Die 
Einpressung in eine einzige gemeinsame StofFschicht geschieht hier 
natürlich in Rücksicht auf die Stelle, die den Reliefstreifen an den 
geschlossenen Stirnflächen des Monumentes eingeräumt wird; aber 
sie ist bezeichnend für die ganze Richtung. 

Nur die weitere Konsequenz dieses Verfahrens spricht sich 
auch in der Komposition aus, am stärksten in dem einen gerade 
über dem seitlichen Torbogen angebrachten Relief mit der Ver- 
teilung des Kongiariums. In der Mitte thront der Kaiser auf hohem 
Podium und ganz von vom gesehen, allein die volle Höhe der 
Bildfläche einnehmend, während sie im übrigen ganz in zwei Ge- 
schosse geteilt ist. Fast sämtliche Figuren unten sind dem Zentrum 
zugekehrt. Das Obergeschoß aber zerlegt sich durch einfache oder 
doppelte Pfosten in streng symmetrische Kompartimente, eine 
breite Mittelloge, in die der Oberkörper des Kaisers als Trennungs- 
glied hineinragt, tmd je zwei kleinere links und rechts. In der 
Anordnung der Figuren herrscht wieder strikte Kongruenz oder 
Responsion. Das Ganze bietet also eine starre systematische 
Komposition, die sich über den einheitlichen Körpermaßstab der 
plastischen Kunst von ehedem hinwegsetzt, um schematisch und 
klar die Werte der Personen abzustufen. Freilich darf auch hier 
der Zusammenhang mit der Gesamtkomposition des Triumphbogens 
selbst nicht unbeachtet bleiben. Ebendieses gemeinsame Produkt 
der Plastik und Architektur zeigt eine ebenso komplizierte syste- 
matisch berechnete Anordnung nach den nämlichen Prinzipien. 
Statt der organischen Schönheit, die an den Einzelbildungen schmerz- 
lich vermißt werden mag, haben wir, wie Riegl mit Recht hervor- 
hebt, eine andere Art von Schönheit, die er übereinstimmend mit 
uns die kristallinische nennt, „weil sie das erste und ewigste Form- 
gesetz der leblosen Materie bildet". Aber die treibende Kraft 
dieses neuen KunstwoUens ist unleugbar das intellektuelle Wesen, 
die Vergeistigung aller Kunst, der die Zukunft gehörte.*) 

i) Es ist geradezu, als ob hier christliche Sarkophagbildner mit aufgeboten 
wären, den Triumphbogen Konstantins zu schmücken, so stark stimmt der Stil mit 
dem gleichzeitigen jener überein. 



XXL 
METAMORPHOSE DES BILDES 

RELIEFKOMPOSITION UND RELIEFBILDER — AUGENSCHEINMALEREI UND 
DEKORATION — MONUMENTALE ABSICHTEN DER MOSAIKGEMÄLDE 

Der Übergang vom plastischen zum malerischen Gefiihl in der 
bildenden Kunst kann gar nicht befriedigend dargetan werden, 
wenn man sich ausschließlich an die Skulptur hält*) Von der 
Malerei selbst muß ausgegangen werden, auch wo ihre Werke so 
viel spärlicher erhalten sind. Erst nachdem die optische Aufnahme 
hier durchgedrungen ist und die Erfüllung spezifisch malerischer 
Ansprüche erreicht hat, kann auch die Relieflamst und vollends 
die Statuenbildnerei diesen Wandel so weit annehmen, daß die rein 
sichtbare Erscheinung in merkbarem Maße die Oberhand gewinnt 
über alle tastbaren Werte der Körperlichkeit Niemals vermag 
ein Kompromiß mit der andersgearteten plastischen Kunst uns 
vollgültig das Zeugnis echt malerischen Wollens in einer Schöpfung 
des Malers zu ersetzen. Das ist und bleibt ein Notbehelf, trotz 
aller Hellseherei und Imaginationsgabe des einen oder des anderen 
Forschers. 

Dazu kommt noch ein historisches Moment für die besondere 
Zeit des Übergangs, die wir ins Auge gefaßt haben. In der Spät- 
antike nimmt die Reliefkunst in jeder Form und jeglichem Material 
ungefähr die Stellung ein, wie Holzschnitt und Kupferstich in der 
nordischen Kunst seit dem 15. Jahrhundert Sie ist Gemeingut und 
geläufiges Ausdrucksmittel für jedwede Verbildlichung, muß überall 
herhalten, wo es Flächen zu beleben gilt. Darin liegt das Erbteil 
der Vorherrschaft plastischen Schaffens im klassischen Altertum, 
darin aber auch die Proteusnatur, die sich die Reliefkunst aneignen 



i) Wie dies an wichtiger Stelle von Wickhoff versucht wird, aber schon von 
Strzygowski beanstandet worden ist, während Riegl das Verfahren verteidigt. 



Komposition der Alexanderschlacht ^ 1 1 

mußte, um all den verschiedenartigen Aufgaben der Verzierung zu 
genügen. 

Durchaus plastisch gesonnen bleibt noch ein gut Teil der 
Malerei selbst in hellenistischer Zeit Wenn die damalige Skulptur, 
wie im Gigantenfnes von Pergamon die Verstärkung der Relief- 
höhe und der Schatten zwischen den vollgerundeten Körpern er- 
strebt und die ganze Oberfläche in vorgewölbte Körperformen und 
Schattenfürchen auflöst, so daß ihr Anblick sozusagen „die Tast- 
organe des Beschauers in höherem Grade zum Greifen heraus- 
fordert als alle früheren und späteren Skulpturen des Altertums" (R), 
— so können wir uns nicht wundem, wenn dieser plastische 
Drang auch in der Malerei noch lange seine Befriedigung sucht. 
Werden die Figxiren eines Bildes ebenso nahe aneinandergerückt, 
daß kein offener Zwischenraum oder Hintergrund mehr freibleibt, 
so entsteht bei gleicher Stärke der Modellierung durch Schatten 
auch für das Auge ein geschlossener Gestaltungsraum nach Maß- 
gabe dieses Körpergedränges, wie an den lebendigsten Sarkophagen 
von Sidon im bemalten Relief. 

Das großartigste Historiengemälde des Altertums, das — in 
Mosaik übersetzt xmd zu einem Fußboden gemißbraucht — in 
Pompeji auf uns gekommen ist, die Alexanderschlacht im Museum 
zu Neapel, steht dieser Reliefkomposition noch ganz nahe, trotz 
aller leidenschaftlichen Beweglichkeit, die es durchdringt. Rosse, 
Reiter und Fußsoldaten sind zu kompakten Massen aneinanderge- 
rückt, zum Teil in kühner Verkürzung gezeigt; aber jeder Körper 
^ird klar vom anderen geschieden und für sich energisch heraus- 
modelliert. Der Zug der Bewegung geht fast durchweg von einem 
Ende zum anderen, obwohl der Eindruck der Gegeneinanderfuhrung 
in diagonaler Richtung versucht wird. So geraten auch der an- 
stürmende Alexander, dessen Lanze einen persischen Satrapen 
durchbohrt, und der fliehende Darius, der bei diesem Anblick er- 
starrt, unwahrscheinlich nah aneinamder; aber gerade hier ist die 
Reliefkomposition gebrochen und die rechte Hälfte um das Stück 
leeren Vordergrundes zurückgeschoben. Das ganz in Rückansicht 
gesehene Roß, das dem Perserkönig an den Wagen gebracht wird, 
soll den Raumwert erschaffen, der die beiden Gegner trennt. Nur 
die vorgestreckten Lanzen rechts hinten imd der kahle Baimi, der 
links hinter der Kämpfermasse aufragt, geben den Schein größerer 
Raumtiefe. Aber das ist auch alles; selbst wenn wir statt des 
weißen Grnmdes im Mosaik einen bewölkten Himmel im Original 



^12 XXI. Metamorphose des Bildes 

dächten, bliebe das Wesen der Reliefkomposition bestehen, bei der 
ein räumlicher Zusammenschluß des Schauplatzes gar nicht mitspielt 
Damit beschränkt sich auch die Bedeutung des Urbildes (von 
Philoxenos, um 300 v. Chr.?) als Zeugnis für die monumentale 
Wandmalerei jener Zeit. 

Durchaus plastisch gesonnen sind auch die Kompositionen der 
kampanischen Gemälde, die uns (im L Jahrh. v. Chr.) den Schritt 
zur vollen Beobachtung der natürlichen Körperfarben bezeugen. 
Aber ebendeshalb liegt auch hier nicht der Beweis vor, daß diese 
Bekehrung der schönfarbigen Malerei zur durchgängigen Natur- 
wahrheit von dem räumlichen Zusammenschluß der Bildanschauung 
ausgegangen sei. Im Gegenteil, wir haben alle Ursache anzunehmen, 
daß die Beobachtung und Wiedergabe der wirklichkeitsgemäßen 
Farben zunächst am Einzelnen haftet, am körperlichen, stoflFlichen 
Ding sich durchsetzt und dort lange genug zu tun hat, die ge- 
wohnte Auffassung fester Formen im plastischen Sinne nun an- 
gesichts der Naturfarbigkeit abzuwandeln, aufzulockern, die schnei- 
denden Kontraste der Tinten anzuerkennen, selbst wo sie das 
organische Gewächs zerreißen (wie in der Tracht), die ver- 
mittelnden Nuancen hinzunehmen, wo der Bildner klare Sonderung 
wünschte. Was sind denn die Gemälde mit Mars bei Venus oder 
Herakles und Telephos anders als Reliefkompositionen in Hoch- 
format? „Wenn die Maler die bunten, schönen, ungebrochenen 
Farben, die ihre Vorgänger nach subjektivem Gefühl zusammen- 
stellen durften, nun objektiv nach ihrer Stellung zu den natürlichen 
Vorbildern nebeneinandergesetzt hätten, so wäre das zufällige Zu- 
sammentreffen greller Farben gewiß peinlich, roh, ja unleidlich aus- 
gefallen/'^) — urteilen wir, indem wir nach unserem heutigen Ge- 
schmack die Ausgleichung der Körperfarben zu einer harmonischen 
Gesamtwirkung im Bilde fordern. Aber ebendiese Harmonie ist für 
das moderne Auge, dessen Blick, vom Medium geleitet, sich sozu- 
sagen mit ihm über die Dinge ergießt, notwendig eine andere als 
für da^ antike Auge, das an den Körpern haftet und entlanggleitet 
und nicht über ihre Bildungssphäre hinausdringt zur Weite des 
Alls, weil es eben noch nicht gelernt hat, dies Ungreifbare zu 
fassen und als Bestimmendes anzuerkennen. Es kann nicht genug 
betont werden: auch hier behauptet sich die plastische Anschauung 
der Antike vor der eben erst aufkeimenden malerischen in dem 

i) Wickhoff, Wiener Genesis, S. 52. 



Kampanische Wandmalerei 313 

Festhalten an der Körpervorstellung, die dem umgebenden Räume 
noch keine Macht über diese konstitutiven Werte zugesteht. Dazu 
kommt die Vorliebe der Zeit für üppige Fülle des Fleisches, an 
junonischen Frauen, bakchischen Jünglingen, herkulischen Männern 
und erotischen Eünaben. Die starken Kontraste der Farben heben 
schon die nackten Körper, hier blendend weiß oder weizengelb, 
dort braunrot oder rosig, voneinander ab. Dem fugen sich die Ge- 
wänder ein, wie im Leben selber, farbensatt, bunt, nicht selten grell. 
Und selbst die zarten, wohlabgewogenen Töne der kampanischen 
Bilder (d. h. der heute verblichenen Wandmaderei) wurden, wie 
Wickhoff gesteht, in ihrer „blonden Harmonie zuweilen durch hell- 
jauchzende Noten" gehoben oder durchbrochen. Auch der Maler 
bringt seine Schatten überall dort an, wo das natürliche Vorbild 
der Einzelform, der Menschengestalt, des Baumstammes, eine tast- 
bare Ausladung aufweist. Wenn er unter den zahlreichen natür- 
lichen Ausladungen eine Wahl trifft, so geschieht es nicht nach 
Maßgabe des im freien Räume ringsum verteilten Lichtes, sondern 
einmal nach der Wichtigkeit, die ihm die einzelnen Ausladungen 
für den Zweck der kubisch-räumlichen Isolierung zu besitzen 
scheinen, dann gemäß dem Bedürfnisse nach einer möglichst wirk- 
samen Verteilung von Hell und Dunkel über die Gesamtform.*) Vor- 
trefflich chareikterisiert Riegl, dessen Urteil ich nur etwas abzu- 
wandeln brauche, um auch meine Überzeugung wiederzugeben, den 
Eindruck, den man von der Gesichtsbildung einer gemalten mensch- 
lichen Figur aus der früheren römischen Kaiserzeit empfangt. 
„Stirn und Wangen sind in der Regel ins helle Licht gesetzt, die 
Höhlungen zwischen Brauen, Nase und Wangen in tiefes Dunkel 
gehüllt, aus welchem wiederum die Augen lebhaft hervorglühen. 
Dabei ist nun das Charakteristische, daß diese Art der Licht- und 
Schattenbehandlung an den Köpfen fortwährend in genau gleicher 
Weise wiederkehrt; daraus geht hervor, daß sie nicht (wie heute) 
durch die jeweilige wechselnde Belichtimg des Raumes bedingt 
war, sondern durch das Bestreben, den einzelnen Kopf und die 
Kopfpartien in möglichst geschlossener Einheitsform xmd rhyth- 
misch verteilter Beleuchtung erscheinen zu lassen." Dadurch ent- 
steht für unser Gefühl ein maskenhafter Charakter, mit dem die 
dämonisch strahlenden Augen zuweilen unheimlich kontrastieren. 
Wir stehen an der Grenze der plastisch denkenden und fuhlen- 



i) Vgl. Riegl a. a. O., S. 59. 



n 



ji^ XXI. Metamorphose des Bildes 

den Malerei, die Wickhoff (S. 64 £) als „Naturalismus"*) zu charak- 
terisieren versucht Aber dieser Name trifft nicht eigentlich den 
Nagel auf den Kopf; denn es handelt sich nicht um die Natur als 
Ganzes, sondern nur um das organische Geschöpf, den Menschen, 
dann die Tiere und zuletzt noch die Pflanzen, die sich gerade da- 
mals die Vorliebe für den strotzenden Reichtmn und die üppige 
Schwellung erobern. Wenn es hoch kommt, stellt sich noch der 
Gegensatz kristallinisch-regelmäßiger Formen aus der Tektonik ein. 
Aber vor allen Dingen bleibt doch der Mensch und seine Korper- 
schonheit, nur in farbiger Vollständigkeit, der Gegenstand der 
Augenlust, und die tastbare Unterlage geht bei allen allmählich hin- 
zueroberten Werten dieser kolorierten Plastik nicht verloren, bis 
zu Licht und Schatten, soweit sie an diesen Körpern zum Vor- 
schein kommen. Bei der Übersetzung des angeschauten Körpers 
in eine Darstellung auf der Fläche herrscht das Bestreben vor, die 
bezeichnenden Formen in geschlossenem Zusammenhang zu geben, 
sei dieser in älterer Weise durch umschreibende Linien, sei es in 
fortgeschrittener durch abstufende Modellierung hervorgebracht 
Das einzige Thema dieser Malerei, auch als hochentwickelter 
Farbenkunst, ist noch immer die Wiedergabe der Körperlichkeit, 
die Verherrlichung des plastischen Ideals, solange das Gefühl für 
die organische Schönheit der Kreatur noch den höchsten Maßstab 
für alle Werte der Erscheinungen bedeutet 

Sodann aber gibt es unleugbar andersairtige Gemälde, die auf 
der Stufe der „hellenistischen Reliefbilder*' stehen und eine viel 
weitergehende Hingabe an den Zusammenhang der Natur offen- 
baren, als jene „naturalistische" Wiedergabe der Einzelkörper. Auch 
sie mögen vielleicht noch mehr auf Eindrücken des Theaters be- 
ruhen als auf Beobachtung im Freien; sie mögen gleich jenen Re- 
liefs zunächst aus Bedürfnissen der Wanddekoration imd der 
Flächenbelebimg für den schweifenden Blick erwachsen sein. Aber 
die Eigentümlichkeit der Anschauung besteht doch gerade darin, 
daß die Dinge und der Schauplatz mit allem, was darin ist, gleich- 
wertig mit den Menschen behandelt werden, und daß beide Fak- 
toren zusammen in Fluß kommen, so daß hier und da das Land- 
schaftliche den Vorrang gewinnt und selbst die Handlung der 

i) Gegen die Bezeichnung „Naturalismus" für eine einzelne Stilweise macht 
auch Riegl triftige Gründe geltend, S. 212, Anm. i. Der Ägypter wie der Hellene, 
der Meister des Periklesporträts wie der der Konstantinischen Zeit glaubten allesamt 
naturalistisch zu verfahren, aber jeder hatte seine eigene Auffassung von der Natur. 



Relief bilder — Hirtenlandschaft 31c 

Personen, die darin auftreten, zurücktritt, um einer genrehaften Situa- 
tion die Stelle einzuräumen. Selbst dramatische Auftritte ernster 
Art, wie Orest imd Pylades am Opferaltar beim Auftreten Iphigeniens 
oder Jason und Pelias, werden zu Stimmungsbildern lyrischer Art, 
und wie bei jenen Reliefbildem sind die Genreszenen der eigent- 
liche Inhalt, den sie vermitteln können, hier aber schon der innige 
Einklang des naturwüchsigen Menschen mit seiner heimischen Um- 
gebung oder gar mit einem Anflug von sentimentaler Sehnsucht 
nach solchen naiven Zuständen zurück. Noch spät begegnet uns 
in kleiner Wiederholung als Miniaturgemälde, zum Titelschmuck 
einer illustrierten Handschrift, deren früheste Bestandteile erst dem 
Beginn des IV. Jahrhunderts n. Chr. gehören mögen, ein solches 
Landschaftsbild mit Figfiu-en darin, die ganz mit dem nahen Schau- 
platz verwachsen scheinen. Der oströmische Illustrator des Psalters 
(in Paris)*) zeigt uns David als Hirten die Leyer spielend; eine 
Frauengestalt, die neben ihm sitzend an seiner Schulter lehnt, ist 
durch Beischrift als „Melodia" bezeichnet. Vom bewacht der treue 
Hund die Herde, die friedlich um den Sänger weidet, während 
unten in der Ecke der Berggott „Bethlehems" lagert imd droben 
aus dem Gebüsch hinter dem Brunnen die „Echo" lauschend her- 
vorguckt Wenn uns die Wasserleitung schon in eine bestimmte 
Kultur des oströmischen Reiches versetzt, so wird doch jeder Be- 
trachter der Handschrift, der nicht umsonst in Pompeji gewesen, 
die Namen David und Melodia mit Orpheus und Eurydike oder 
Psiris und Oinone vertauschen und den Berggott wie die Echo 
eher auf dem Ida oder Hymettos, als auf dem Libanon oder gar in 
Bethlehem suchen. Das Entscheidende aber liegt in dem über- 
gleitenden Zusammenhang zwischen der Terrainbildung, den Ver- 
satzstücken des Schauplatzes und den darin eingeordneten Figuren. 
Es ist schon eine Raumanschauung im Bilde, aber wie in jenem 
gemäßigten Relief, doch nur eine bewegte Oberflächenschicht; kein 
Tiefraum für den festen Standpunkt des Beschauers perspektivisch 
dargestellt, sondern ein Ausgleich mit der Höhendimension, wie er 
sich in Untensicht für höhere Stellen der Wandmalerei zu ergeben 
pflegt. Es ist ein Schritt zur Entdeckung des Malerischen, zur 
Darstellung des Zusammenhanges selber zwischen Körpern und 
Raum getan. 

1) Abbildung bei Wickhoff a. a. O. Venturi, Storia dcirArte italianall, S. 450, 
Besonders wichtig sind noch zwei Mosaiken, die Nilpferdlandschaft im Museo 
Kircheriano, und der Fußboden mit der Gesamtschildenmg Ägyptens aus Palestrina. 



^i6 XXI. Metamorphose des Bildes 

Dann aber meint der aufmerksam beobachtende Forscher auch 
unter den Resten kampanischer Gemälde den entscheidenden Um- 
schwung zu entdecken. „Es kam ein Augenblick, wo malerisch 
begabte Ingenien nach langer Übung im Sehen, die sie dem 
^Naturalismus' verdankten, erkannten, daß die Erscheinung nichts 
gemein habe mit ihren künstlich sorgsamen Studien und Bereitungen 
(auf Grund der plastischen Unterlage): daß uns ein Körper, den 
wir in seiner Farbigkeit und zufalligen Beleuchtung erblicken, nicht 
jene zusammenhängende Modellierung zeigt, wie das künstlich be- 
leuchtete Relief, sondern daß sein Bild sich zusammensetzt aus 
nebeneinanderstehenden, unter sich ganz verschiedenen Lichtwerten, 
und ihren physiologischen Wirkungen auf das Auge, daß also das 
Bild, das ein Gegenstand unserem Auge bietet, nicht das eines 
sanft modellierten Reliefs ist, sondern aus einem Nebeneinander 
von Flecken und Punkten verschiedener Färbung und Lichtstärke 
besteht, die keineswegs zusammenhängende Formen geben, sondern 
aus denen wir die Formen erst mit Hilfe von nicht zum Bewußt- 
sein kommenden Erinnerungen an die Körper erschließen, daß vor 
allem nicht alle Gegenstände des Bildes zugleich gleich deutlich 
wahrgenommen werden, sondern nur jene, welche wir fixieren, 
während die anderen, sei es nun dahinter oder davor, mehr oder 
minder in Formen und Umrissen verschwimmen, und das ganz ab- 
gesehen von der schon bekannten Abtönung durch die dazwischen 
liegende Luft. — Der Maler, der diese Beobachtung gemacht und 
in sich verarbeitet hat, — man kann sie natürlich machen, auch 
ohne sie zu formulieren, — wird nun nicht mehr seine Bilder aus 
körperlich durchmodellierten Einzelheiten zusammentragen, nicht 
aus abstrahierten Abrundungen, sondern er wird Farbentöne neben- 
einandersetzen, welche der wirklichen Erscheinung entsprechen, 
und deren Verbindung zu Körpern nicht der vertreibende Pinsel 
auf dem Gemälde, sondern wie bei dem Sehakte die supplierende 
Erfahrung des Beschauers macht. Er zwingt den Betrachter so, 
die letzte Verbindung der Eindrücke zu Formen selbst vorzunehmen, 
und indem er ihn zur Formenbildung mit heranzieht, erregt er in 
ihm die zwingende Überzeugung von der Wirklichkeit des Ge- 
schauten, eben weil er ihn an der Vollendung der Täuschung hat 
geistig mitarbeiten lassen . . ." (Wickhoff a. a, O., S. 65). 

Lassen wir die historische Beziehung auf Ort und Zeit einmal 
ganz aus dem Spiel, so haben wir in diesen Sätzen — und deshalb 
heben wir sie heraus — die zutreffende Charakteristik einer Malerei, 



Augenscheinmalerei und Dekoration ^ly 

die von den bisher betrachteten Versuchen weit abliegt und die 
Wiedergabe des Augenscheines ausschließlich und allein be- 
zweckt. Wo statt der einheitlichen Unterlage der Körperbildung 
der Augenschein seinen flüchtigen Reiz erschließt, da tut sich auch 
neben der tastbaren Korperwelt die durchsichtige Weite des 
Raumes auf und verlockt wohl die kühnsten Entdecker des Male- 
rischen zu Streifzügen in die Welt der Farben und des Lichtes, 
bei denen das Korpergefühl allmählich verloren geht und ein 
anderer Zusammenhang zwischen den Dingen und dem umgebenden 
Räume sich offenbart.*) Aber auch hier muß ein lebendiges Ge- 
fühl des menschlichen Subjektes entgegenkommen, um die duftigen 
Erscheinungen des Halbdunkels ohne Körper, der Farbenharmonie 
oder gar des Farbenrhythmus ohne gewachsene Träger, vielleicht 
gar ohne Leitungsbahnen des Gestaltungsraumes, rein als Fembild 
und Flächenschein überhaupt zu gewahren und als Werte von 
völlig anderer Natur zu erfassen. Wenn die Entdeckung verein- 
zelter Maler fruchtbar werden und verstanden sein sollte bei ihren 
Zeitgenossen, so mußte die psychische Bildung eine tiefgreifende 
Umwandlung des antiken Wesens erreicht haben. Solange diese 
nicht antwortete, blieb die Entdeckung ein sinnliches Raffinement, 
l'art pour l'art. 

Wickhoff möchte diese Art von Malerei mit dem Namen 
„Illusionismus" bezeichnen. Aber er selbst bringt im ersten Satze 
seiner Begründung schon ein starkes Hindernis für die unterschei- 
dende Kraft dieses Namens bei. Wenn er nämlich erklärt: „Illusion 
zu erreichen, sei die Absicht aller Kunst", so macht er einen 
Strich durch die eigene Rechnung; denn dann darf von einer spe- 
zifischen Bedeutung dieses Terminus für eine bestimmte Entwick- 
limgsphase der Malerei ebensowenig wie bei Naturalismus mehr 
die Rede sein. Der Trumpf ist schon verspielt. 

Wichtiger als der Name erscheint allerdings die Frage, ob die 
Ablösung des reinen Augenscheines im Bilde auch in der antiken 
Malerei schon erreicht worden sei. Wickhoff meint sie bejahen zu 
dürfen, und zwar hauptsächlich auf Grund der kampanischen Wand- 
malerei. Er sieht in dem letzten der von August Mau imterschie- 
denen Stile der dekorativen Wandmalerei in Pompeji^ eben seinen 

i) Vgl. Zur Frage nach dem Malerischen (geschrieben ohne Kenntnis des 
Wickhofischen Buches). 

2) Geschichte der dekorativen Wandmalerei in Pompeji (Berlin 1882), dazu 
Wickhoff a. a. O., S. 69 f., vgl. S. 74. 



3i8 XXL Metamorphose des Bildes 

„Illusionsstil'S der somit in die letzte Zeit Pompejis bis zur Ver- 
schüttung im Jahre 79 n. Chr. fallen würde. Es ist der nämliche 
„Grotteskenstil"*), der in den zahlreichen Publikationen über Pom- 
peji fast allein vertreten ist „Generationen von Künstlern holten 
sich aus ihm seit der Wiederaufdeckung Pompejis ihre Motive, wie 
ihn schon Ra£Fael imd seine Schüler bewundert, studiert und be- 
nutzt hatten in den Thermen des Titus, die ebenfalls in diesem 
Stil gemalt waren." Aber d£is Bedenkliche bleibt die Tatsache, 
daß wir es hier mit einem Dekorationsstil zu tun haben, mit Er- 
zeugnissen der Wandmalerei, deren Zweck eben darin besteht, die 
Grenzen des vorhandenen Raumgebildes umzudichten und den 
Menschen mit Hilfe eines phantasievollen Scheines von den Schran- 
ken des Innenraumes zu befreien. Eben in dieser Rolle für die 
gesamte ,3^aumkunst" liegt die Bedeutung jenes vierten Dekora- 
tionsstiles von Pompeji, der damals gewiß nur dem verfeinerten 
Geschmack erst willkommen war. Seine Voraussetzung ist die 
Kenntnis der Perspektive, die in dem früheren Architekturstil er- 
obert und eingeübt sein muß, und ihre Geläufigkeit für Gemälde, 
mag sie auch unvollkommen entwickelt bleiben, ist der stärkste 
Beweis für die Vorherrschaft der optischen Anschauung, der jeden 
Zweifel an der visuellen Natur des Kunstwollens beseitigen muß. 
Nun aber beginnt der neue Stil gar mit diesen perspektivischen 
Überraschungen zu spielen und häuft die Eindrücke verschieden- 
artigster Bravourstücke bis zur Augenverblendung, daß man den 
zauberhaften Wänden eines Feenpalastes gegenüberzustehen und 
unter der luftigen Deckenmalerei von einer Märchenwelt zu träiunen 
glaubt Und mitten in diesem Spiel begegnen auch jene kleinen 
Wimderwerke des sogenannten Illusionsstiles, die doch wohl nur 
als flüchtige Geniestreiche eines routinierten Technikers entstanden 
sind und nur aus den Mitteln der Dekorationsmalerei erklärbar 
scheinen. 

Die phantastisch gaukelnde Wandverzierung imd die flüchtig 
hingehauchte Malerei des Augenscheins ward aber, nachdem sie 
sich weiter eingebürgert hatte, auch zmn adäquaten Ausdruck der 
weltfremden, allen Werten der Wirklichkeit entrückten Sinnesart 
der jimgen Christengemeinden mitten in der romischen Reichs« 



i) Vgl. Schmarsow, Über den Eintritt der Grottesken in die Dekoration der 
Renaissance, Jahrb. der königL preuß. Kunstsammlungen 1881. Pinturicchio in Rom 
1882, S. 2if« und 70 ff. 



Augenscheinmalerei und Dekoration ^lo 

kultur.^) Nicht in den höchsten Leistungen einer überreifen Sinnlich- 
keit, die den intimsten Reiz der Stoffe, die Lebensäußenmg der Materie 
selbst genießen will, und die Mannichfaltigkeit ihrer Erscheinungen 
in das Farbenwunder eines Seestückes, einer Moadscheinnacht hin- 
einzuzaubem weiß, sondern in der bescheidensten Wiederholung, 
der Dutzendware fanden die Christen das künstlerische Mittel, dessen 
sie für ihre Bildersprache bedurften. Was hier in den Wand- 
malereien der Katakomben auftaucht, sind fast lauter Bruchstücke, 
kaiun irgendwo ein ganzer Körper um seiner selbst willen. Dis- 
jecta membra der alten Kunst, entwirklichte Reminiszenzen des 
einst so vollen Besitzes organischer Schönheit. Und nur wie ein 
Gleiohnis in der Rede treten die Bilder hervor, um sogleich wieder 
den Gedanken, den Stimmimgen, dem Worte Platz zu machen. 
Nur äußerlich werden auch die Köpfe und Halbfignren, die schwe- 
benden Gestalten und locker kombinierten Szenen zu übersicht- 
licher Anordnung an der Wand oder der Decke in ein lineares 
Schema zusammengefaßt Sie sollen nur die Erinnerung an eine 
ferne Vergangenheit wecken, als solche für die Zukunft gewähr- 
leisten, aber kaum in die Gegenwart hineinragen, wie die Dinge 
der Wirklichkeit draußen. Und der freischaltende Geist verfugt 
über diese abgerissenen Schnitzel der antiken Kunst und stellt 
daraus einen neuen willkürlichen Zusammenhang her, nach den 
Regeln der Ornamentik, dem Bedürfnis des Auges nach Gleichmaß 
imd Entsprechung zunächst allein. Solange die Neubildung aus 
dem Erbteil noch in Fluß ist, wird auch die Gestaltung des Bildes 
im Einverständnis mit diesen Erfordernissen der gleichmäßigen 
Verteilung auf einer Fläche berechnet imd, wo es not tut, abge- 
wandelt Aber auch diese Gesetze des Gleichmaßes, der Proportio- 
nalität werden nicht im strengen Sinne durchgeführt, sondern die 
spielende Leichtigkeit und geschmeidige Anmut des ererbten 
Wesens wirkt aus der antiken Dekorationsmalerei weiter, solange 
die naive Unbefangenheit ebendieses Anschlusses an den herrschen- 



i) Wenn man schon in Pompeji findet, wie perspektivische Bravourstücke Überali 
verwertet werden und selbst in die Muster der Fußböden eindringen, wo solche 
durchbrochene Arbeit gar nicht am Platze ist; wenn man andererseits, auch in der 
Dekoration christlicher Basiliken, diese Ziermotive sich ausbreiten sieht (vgl. z. B. 
noch St. Demetrius zu Thessalonike, Texier und Pullan, Taf. XVIII f. und die 
Mäanderfriese z, B. in St. Georg, Reichenau), so erscheint es unberechtigt, visuelle 
Eindrücke oder perspektivische Momente bei der Entstehung der Basilika oder ihrer 
Redaktion seit Konstantin ganz ausschließen zu wollen. Vgl. oben S. 214 f. 



320 XXI. Metamorphose des Bildes 

den Kunstgeschmack dauert Von der Reihung, die über ein Paar 
hinausgeht, kommen wir jedoch auch hier zur dreiteiligen Gruppe, 
deren Mittelbild sich zur Dominante entwickeln kann, imd gelangen 
damit von der su«cessiven Auffassung zum festen Standpunkt; von 
ihm aus mögen die beiden Trabanten links und rechts als abhängige 
Glieder aufgelesen werden. An der Decke schließt sich gar die 
Kette alternierender oder zu dreigliedrigen Gruppen verbundener \ 

Bestandteile zum Bilderkreis, und dieser umgibt vielleicht ein 
größeres Mittelbild oder wenigstens ein zusammenfassendes Symbol, 
in dem wir die höhere Einheit des Ganzen zu suchen haben. 
Genug, wir begegnen den nämlichen Kunstgesetzen, die auch im 
Aufbau und im Reliefschmuck am Triimiphbogen Konstantins in 
die Öffentlichkeit traten und ebenso in dem Innern der Basilika, 
die lunius Bassus 317 zu Ehren desselben Kaisers errichten ließ, 
die Wandgliederung und die Austeilung figürlicher Szenen be- 
stimmten.^) Einen weiteren Schritt auf diesem Wege zeigte schon 
der doppelte Bilderkreis in der Kuppel des Baptisteriums, das 
Konstantina, die Tochter des Kaisers, um 325 — 30 errichten ließ 
(Sta. Costanza). Oben standen in zwölf Bildchen die Wundertaten 
Christi über ebensoviel Geschichten des Alten Testaments, so daß 
diese, als Vorboten, der Erfüllung in jenen entsprachen. Die oberen 
waren leichte einfache Reliefkompositionen ohne Hintergrund, wie 
die Malereien der Katakomben, die unteren dagegen malerische 
Bildkompositionen mit unzweifelhafter Vorherrschaft perspektivischer 
Raumdarstellung, aber auch mit schweren architektonischen Kulissen, 
landschaftlichen Versatzstücken und deutlichem Abschluß des 
Hintergrundes. Dieser Abstufung entsprach allem Anschein nach 
die Farbenökonomie im Verhältnis beider Reihen zueinander. Das 
Ganze war ohne Zweifel ein bedeutsamer Fortschritt über die 
Deckenmalerei altchristlicher Cömeterien hinaus, aber auch ein 
Übergang in den Monumentalstil, wie er durch Konstantins Gebot 
schon dem Basilikenbau selber aufgenötigt ward. Das Bündnis mit 
Tektonik und Architektur, das dem duftigen Farbenhauch des rein 
optisch aufgefaßten Bildes der Augenscheinmalerei so fem wie 
möglich gelegen hatte, wird mm zur selbstverständlichen Forderung 
für die Kunst der Staatsreligion. 

In diesem Sinne darf an dem genannten Beispiel von Sta. Costanza 



i) Vgl. mein Programm „l^e^^ Kuppelraum von Sta. Costanza in Rom usw." 
Leipzig 1904. 



Monumentale Absichten im Mosaik ^21 

nicht übersehen werden, dsüi hier die Übertragung in das dauer- 
hafte spröde Material der Mosaikarbeit vorlag. Diese Wahl be- 
deutet ein wichtiges Symptom in der Geschichte der altchristlichen 
Kunst und hängt mit dem Aufschwung monumentalen Wetteifers 
in der Baukunst aufs engste zusammen. Mit diesem prunkhaften 
Material und der umständlichen, jeden unmittelbaren Erguß der 
individuellen Künstlerkraft ausschließenden Technik kommt 
notwendig die Rückkehr zum Lapidarstil in die Malerei und 
der Pomp der Kaiserpaläste in die Kirchen, je mehr sie der Er- 
höhimg des Welterlösers im Reich von dieser Welt Ausdruck 
geben sollen. 

Wo es gilt, die Tragweite solcher entscheidenden Wandlung 
für das Kunstwollen im großen zu ermessen, da kommt es nicht 
auf Wiederholungen des ererbten Besitzes in dekorativen Neben- 
sachen an, wie die Mosaiken am Tonnengewölbe des Umgangs von 
Sta. Costanza, die Riegl ausführlich besprochen hat, sondern auf die 
neuen Errungenschaften einer monumentalen Komposition, wie sie für 
solche Verewigimg in kostbarem Material an bedeutsamer Stelle 
der Bauten notwendig erfordert ward. Eine der frühesten Schöp- 
fungen altchristlicher Mosaikmalerei, die uns erhalten sind, wie das 
Apsisbild in Sta. Pudenziana zu Rom, darf nicht mit wenig 
Worten übergangen werden. Wenn auch zum Teil verdeckt, zer- 
stört und mehrfach restauriert, steht das Ganze doch im wesent- 
lichen noch als Urkunde des IV. Jahrhunderts da, und bedeutet als 
einziges Beispiel seiner Art zweifellos für uns einen Markstein in 
der Entwicklung, der für die östliche Hälfte des Reiches mitzu- 
zeugen geeignet ist 

Christus thront als Imperator im Senat auf erhöhtem Sitz über 
den Aposteln. Unter ihnen aber sind die Apostelfürsten bereits 
die nächsten und, in Profilhaltung einander gegenüber, in unmittel- 
barer Abhängigkeit von dem allein in fast völliger Vorderansicht 
gezeigten Lehrer: Petrus zur Linken ^ Paulus zur Rechten des 
Herrn, also für den Beschauer Petrus rechts und Paulus links. 
Hinter beiden stehen zwei Matronengestalten, die Kirche aus dem 
Judentum und die aus der Heidenwelt, die einen Kranz darbringen 
oder über dem Haupte dieser Stifter halten wie einst die Viktorien. 
Die übrigen Sendboten sitzen paarweise im Gespräch einander zu- 
gekehrt wie die Schriftgelehrten im Tempel vor dem zwölfjährigen 
Jesus, oder griechische Philosophen um ihr Schulhaupt, nicht un- 
frei imd abhängig wie Werkzeuge nur des Geistes, der über sie 

SchmarBow, Kunstwiuenschafit. 21 



^22 XXI. Metamorphose des Bildes 

kommt, sondern wie Persönlichkeiten von mancherlei Gaben und 
verschiedenem Charakter, die sich zur Sammeleinheit fugen und in 
gleichem Streben verbunden sind. Eine architektonische Kom- 
position, die in drei Höhepimkten gipfelt^ schließt sich in dem er- 
höhten Meister als ihrer Dominante zusammen« Schon vor dem 
Thronsitz ist ein Raum im Vordergründe frei für symbolische Zutat; 
hinter ihm erhebt sich auf einem Hügel das Kreuz, um das sich 
am Himmel die Halbfiguren der Evangelistensymbole in korrespon- 
dierender Haltung ordnen. Zwischen diesen heterogenen Bestand- 
teilen, über deren gleichzeitige Entstehung Zweifel aufkonmien 
könnte, liegt eine vermittelnde Zone von außerordentlicher Bedeu- 
tung für den monumentalen Charakter des Mosaikgemäldes. Eine 
halbkreisförmige Pfeilerhalle mit dunklen Eingängen und vergitterten 
Bogenfeldem schließt den Hofraiun unter freiem Himmel in be- 
trächtlicher Weite, so daß die Büste Christi das schräge nach innen 
verlaufende Dach dieses Portikus überragt, und links und rechts 
neben dem Kreuzhügel gucken ähnlich gegliederte Bauten herüber, 
die einen Überblick über Hauptmonumente gewähren. Die Stadt, 
die sich außen um den allerheiligsten Bezirk dieses Hofraumes hin- 
zieht, kann wohl nur die hinunlische Metropole des Gottesreiches 
bedeuten. „Der räumliche Hemizykel ist nicht minder merkwürdig 
als der verhältnismäßig hohe Wolkenhimmel" gesteht auch Alois 
Riegl, der dies kunstgeschichtliche Unikum kurz abtut Aber beide 
stehen als unverrückbare Tatsachen da und zeugen für das Kunst- 
wollen des IV. Jahrhunderts n. Chr. eben durch den Anschluß der 
Komposition an die Architektur der Basilika. Die unverkennbare 
Geschlossenheit des tektonischen Aufbaues der Figurengruppe in 
der Exedra unter freiem Himmel ist fast noch bedeutsamer für die 
monumentale Absicht. Nicht sowohl der Plastik, als vielmehr der 
Baukimst verdankt die Malerei nun die Stärkung, deren sie begehrt, 
und ein enges Bündnis zum Ausdruck der geistigen Werte in der 
architektonischen Schöpfung ist nun die Folge. Nehmen wir hinzu, 
daß der Christus nicht mehr der knabenhafte bartlose Jüngling der 
Katakombenkimst ist, sondern der vollbärtige Mann in frischer 
Kraft, und daß er ims räumlich isoliert erscheint wie ein thronender 
Zeus, der dagegen in der halbrunden Tribuna seines Tempels 
körperlich ausgerundet vorhanden war, so konunen wir ohne Frage 
zu dem an kleinasiatischen Sarkophagen nachgewiesenen „Christus- 
ideal", das wohl als Frucht der konstantinischen Bestrebungen im 
oströmischen Reiche erwachsen ist und sich dem frühchristlich- 



Rom, S. Pudenziana — Ravenna, S. Martino ^23 

römischen» wie dem syrischen Typus gegenüberstellt^) Es ist ein 
unverkennbarer Anlauf, Christus und seine Apostel nach Art der 
Olympischen darzustellen, eine echt antike Apotheose, deren sonstige 
Zeugen nur durch die nachfolgende Reaktion fast vollständig ver- 
nichtet sind.*) 

Konsequenten Fortschritt in der Ausstattung der ganzen Kirche 
mit Mosaikgemälden bezeugt für die Zwischenzeit eines folgenden 
Jahrhunderts die vollendete Tatsache in S. Martino (S. ApoUinare 
nuovo) zu Ravenna, der Hofkirche Theodorichs. Und merk- 
würdigerweise sind die Wimdertaten Christi, die einstige Haupt- 
sache, schon in die oberste, schwer sichtbare Reihe kleiner Bild- 
flächen im Lichtgaden, dicht unter die Decke verwiesen. Es ist 
der alte Besitz von reliefmäßigen Kompositionen aus wenigen 
Figuren, der hier der Vollständigkeit halber wiederholt wird. Da- 
gegen weisen die beiden Schlußstücke an der Obermauer des 
Mittelschiffs, am Zielpunkt der Prozessionen von Heiligen, zwei 
neue Errungenschaften auf: Christus thronend auf der einen, und 
Maria mit dem Knaben auf der anderen Seite, von Engeln als 
Wächtern der heiligen Person umgeben, aber ganz von vom ge- 
sehen — kraftvolle Werke der ostromischen Kunst, mit den Vor- 
boten des byzantinischen Zeremoniells zur Seite. Die Prozessionen 
der Heiligen selbst aber sind, auf Geheiß des katholischen Bischofs 
Maximian, nachträglich durchredigiert, gewiß nicht zum Vorteil der 
freien Bewegung, vielleicht unter Einbuße eines letzten Restes 
statuarischer Körperlichkeit und natürlicher Rhythmik des Ganges. 
Von ganz besonderer Wichtigkeit aber war das Mosaikbild des 
thronenden Theodorich, das bei dieser Gelegenheit ausgemerzt 
wurde, so daß nur noch die offene Halle seines Palastes stehen 
blieb, unter deren Arkaden mit Giebelfassade darüber ursprünglich 
eine Reihe von Gestalten zu sehen war. Die Verbindung des 
Fürsten mit einrahmender Architektur ist ganz ähnlich wie auf 
dem Silberschild des Theodosius, wo der Kaiser und die Seinigen 
nicht mehr allein, statuarisch oder als Grruppe, sondern nur noch 
innerhalb einer festlichen Architektur wirken können und wirken 
sollen. Die beiden Seitenfiguren sind sogar in Maßstab und An- 
sicht fühlbar untergeordnet, wie die Flügel dem Mittelbau. 

i) Vgl. Strzygowski, Orient oder Rom, S. 46 ff. 

2) Wie bescheiden nehmen sich dagegen die Übertragungen halbrunder Raum- 
kompositionen in Relief aus, wie die Handwaschung des Pilatus an einem römischen 
Sarkophag, oder Christus unter den Jüngern am Silberkästchen von S. Nazaro zu Mailand! 

21» 



J24 XXI. Metamorphose des Bildes 

So vermag auch über die Mosaikdarstellung Justinians in 
S. Vitale zu Ravenna keine Analyse genügende Rechenschaft 
zu geben, wenn nur die eine Hälfte in Betracht gezogen wird. Die 
Komposition dieses Zeremonienbildes ist, wie auch Riegl anerkennt, 
„zentralistisch, wenigstens in den Hauptfiguren". ,»Nimmt man das 
Gefolge von Leibwächtern hinzu, so ergibt sich volle Symmetrie 
erst, wenn man das andere Stück mit Theodora daneben stellt'' 
Also geht es nicht an, sich mit der einen Zentralstelle, dem Kaiser, 
zu begnügen, sondern man muß auch die zweite, die Kaiserin, 
hinzunehmen, wie sie an Ort und Stelle sich befinden — d. h. ein- 
ander gegenüber hüben und drüben, so daß beide als Flügelstreifen 
von einem höheren Zentrum in der Mitte abhängen, das eben im 
Altarhause und seiner Tribima liegt Wir haben eine Komposition 
in engstem Anschluß an die Raumbildung der vorhandenen Archi- 
tektur vor uns. Dies ist die Hauptsache, wenn auch die Einfugxmg 
verhältnismäßig xmfrei und nachträglich erfolgt ist, so daß die 
Relieikompositionen auf seitlichen Langwänden fast besser stünden, 
als in der Kurvatur, die sie wenigstens an einem Ende krümmt 
Die Vorlagen könnten sogar in Byzanz entstanden und der Porträt- 
kopf des Bischofs Maximian an Stelle eines anderen ebenso nach- 
träglich hineingeflickt sein. Alle Figuren erscheinen in Frontal- 
ansicht und blicken herein in den Innenraum, der sie vom Be- 
schauer trennt Diese Richtung der Körper und der Augen steht 
im Widerspruch zu der Handlung: denn eigentlich sollen beide 
Reihen, wie in feierlicher Prozession mit ihren Weihegaben, sich 
auf die Eingänge in die Kirche zu bewegen; aber sie strecken nur 
die Geschenke dahin vor und bleiben stehen, wie durch einen 
Zwischenfall gebannt Indes so realistisch gesinnt ist der Künstler 
nicht: im Gegenteil, der geistige Prozeß der isolierten AufFassimg 
jeder darzustellenden Person ist ganz unverkennbar das Bestinunende 
in diesem Widerspruch. Der Kaiser und seine Gemahlin werden 
natürlich streng porträtmäßig gegeben, der Bischof vollends noch 
lebhafter und zwangloser erfaßt; aber auch die Begleiter des 
Monarchen und die Oberzeremonienmeisterin drüben nähern sich 
noch genauer Wiedergabe, wenn auch mehr in der vorgeschriebenen 
Hoftracht und mit den Abzeichen ihres Ranges als in den Zügen 
oder gar im individuellen Körperbau. Ins Typische verfallen schon 
die Leibwächter, die Hofdamen und die Diener. Jede Figur ist 
für sich behandelt, bis auf das Gefolge; die fünf Leibwächter stehen 
in drei Reihen hintereinander, aber so, daß sie sich gegenseitig 



Ravenna, S. Vitale — Himmelblau und Goldgrund 225 

auf die Füße treten, und sind demgemäß abgeflacht, in einen Ge- 
samtumriß zusammengepreßt Lauter Vertikalen reihen sich anein- 
ander, von drei Horizontalen: in Scheitelhöhe, Ellbogenhöhe und 
Fußboden, durchschnitten. Der Betrachter kann nicht anders, als 
die Personen und Sammeleinheiten nach einander in der Weise ab- 
zulesen, wie sie hingebreitet und ausgezeichnet werden nach der 
Vorschrift des Zeremoniells. Die Anwesenheit der einzelnen bei 
dem Kirchgang wird registriert: sie sind da, soweit die Identifizie- 
rung der Personen erfordert wird; aber es gibt weder Raumeinheit 
noch wirkliches Geschehen oder gar überzeugende Handlung im 
Bilde. Erst der Ort im wirklichen Raum, wo sie stehen, bewirkt 
den Zusammenhang. Darin stimmen diese beiden Streifen so sehr 
mit den Prozessionen der Heiligen in S. Martino überein, daß für 
die ursprüngliche Komposition auch eine ähnliche Stelle, d. h. auf 
den Seitenwänden maßgebend gewesen sein muß. An sich gehören 
diese Mosaiken schon mehr zur Graphik als zur Malerei. 

Die Abflachung der Körperreihen zu einer Flächenerscheinung 
entspricht hier dem intellektuellen Vorgang einer fast gleichmäßigen 
Aufmerksamkeit, wie die Kontrolle der Präsenzliste sie erfordert. 
Der Gegensatz der optischen und der haptischen Auffassung hat 
hier nichts mehr zu bedeuten. Da wird auch die neutrale Haltung 
des Flächenraiunes, den die Figuren noch übrig lassen, zu einer 
wesentlichen Erleichterung für die Beweglichkeit der inneren An- 
schauung oder der poetischen Phantasie. Das gleichartige Himmels- 
blau der römischen Mosaiken blieb immer, schon vermöge der 
Glanzlichter auf der Oberfläche des Grundes, eben eine Fläche, 
kein Luftraimi. Aus der Vertikalebene oder der sphärischen Wöl- 
bung wuchsen die Körper und Dinge heraus wie im Relief, selbst 
wenn sich allmählich zwischen Figuren und Grundfläche eine Hinter- 
grundkulisse einschob. Der Goldgrund der byzantinischen Mosaiken 
ist nicht mehr Reliefgrund, sondern idealer Raum;*) aber vermöge 
des Glanzes auf der Oberfläche zunächst ohne Tiefe, ein Schein- 
raum, d. h. eigentlich die Region der geistigen Vorstellung und / 
nicht mehr der sinnlichen Anschauung; für den inneren Blick, nicht 
für das sinnliche Auge: es ist das Reich des Geistes, dem alles 
dient 



i) Vgl. Schmarsow, Zur Frage nach dem Malerischen, S. 47 und Riegl, 
a< a. L/., 1^. o. 



XXIL 
GEISTIGE MÄCHTE IN DER DARSTELLENDEN KUNST 

KONTINUIERENDE, KOMPLETTIERENDE, DISTINGUIERENDE 
DARSTELLUNGSWEISE — ZYKLUS UND SYSTEM — BUCHMALEREI UND 

ORNAMENTIK 

Sinnliche Auffassung tastbarer und sichtbarer Werte genüget 
nur selten zur Erklärung der bildenden Kunst für sich allein; viel- 
leicht kann damit auszukommen nur in solchen Perioden der Kunst- 
geschichte versucht werden, wo die fuhrende Rolle der bildenden 
Künste stetig und unbestritten den Gang der Entwicklung be- 
stimmt Überall sonst bedarf es der Ergänzung durch geistige 
Mächte, die in den Nachbarkünsten der zeitlichen Anschauung im- 
mittelbarer ihren Ausdruck finden.*) Schon in Ägypten stand der 
stofFgebundenen Sinnlichkeit ein starker EinSuß intellektueller Art 
zur Seite, selbst in der Architektur und Statuenbildnerei, geschweige 
denn der Flächendarstellung auf den Wänden. Auch in der g^e- 
chischen Vasenmalerei und Reliefkunst war die mythologische 
Dichtung lange Zeit die treue Bundesgenossin, ja die Meisterin des 
Bildes, bis die organische Schönheit des Leibes und ihre plastische 
Verherrlichung die Oberhand gewann, und die Mimik war die Ver- 
mittlerin nach beiden Seiten. Das Eintreten der Römer in die 
Kunstgeschichte hat man mit ihrem nüchternen Wahrheitssinn und 
praktischen Wesen zu fassen geglaubt, ihnen den Aufschwung des 
Naturalismus und der Geschichtsdarstellung beigemessen. Aber 



i) Ich bin mit Riegl natürlich vollkommen einverstanden, wenn er S. 2U, An- 
merkung 1 zum Heil der Kunstwissenschaft zunächst strenge Scheidung zwischen 
Kunstgeschichte und Ikonographie fordert. Ein Unterschied meiner Auffassung liegt 
nur darin, daß ich Poesie, Mimik und Musik als Künste nicht aus der durch- 
gehenden Entwicklung ausscheiden möchte, da sie zeitweilig die bildenden Künste 
in der führenden Rolle ablösen können und nach dem Haushalt der Kräfte notwendig 
ablösen müssen. Keine Perioden teilung der Kunstgeschichte kann ohne Rücksicht 
auf sie befriedigend ausfallen. 



Einfluß der Poesie 



327 



wir kommen damit nicht aus, wenn — ganz abgesehen von der 
Willkür dieser Preisverteilung — nicht schon von Anbeginn die 
Tätigkeit des Verstandeslebens berücksichtigt wird, die der freien 
Phantasiegestaltung widerstrebt, zersetzend eingreift imd statt der 
Götterideale Personifikationen von Begriffen schafft, die nur Alle- 
gorien nach sich ziehen können. Kein Wunder, wenn in der 
Spätantike, als deis plastische Ideal der Hellenen in die Brüche 
ging, und die inneren Werte wieder das Übergewicht erlangten, 
auch mimische, musikalische und poetische Faktoren überall in der 
bildenden Kunst hervortreten. 

„Der weltbewegende Genius der augusteischen Kunstperiode 
war kein Bildhauer, sondern ein Dichter," schreibt auch Franz 
Wickhoff. „Die Verse des Virgil sind die unübertroffene Muster- 
leistung eines Stiles, der die griechische Überlieferung dem Ge- 
sclimack der lateinischen Völker zuzubereiten versuchte." Streifen 
wir die Tendenz, die an jener Stelle verfolget wird (a. a. O. S. 27) 
völlig ab, und sehen die Tatsache ohne Vorurteil an, so heißt das 
ganz entscheidend: die Poesie ist die fuhrende Kunst im augustei- 
Rom. Und wie Virgil, so sind ja seine Genossen Ovid und Horaz 
die Vermittler der griechischen Dichtung, nicht römische Originale. 
Von der Dichtung fuhrt kein direkter Weg zur statuarischen Kunst, 
sondern durch die malerische Anschauung oder das Relief. Aber 
im augusteischen Rom ist es schon so weit gekommen, daß auch 
die Standbilder im Medium der hinzugedachten Welt leben und 
weben. Schon die berühmte Einzelfigur des Augustus aus Villa 
Livia bei Prima Porta, ist sie denn ohne belebendes Wort, ohne 
erklärende Situation, ohne Ergänzung der harrenden Menge, zu 
der sie hinagiert, verständlich? Sie muß im Verfolg dieses Strebens 
die zugehörige Umgebung mit heraufbeschwören. Und die näm- 
liche Richtung zeigen die Gruppen mit poetischem Inhalt wie die 
des Menelaos, Schüler des Stephanos, „Mutter und Sohn" oder 
„Orest und Elektra", und die künstlich zusammengestellten allesamt. 
Es handelt sich um die Motivierung, die wir hinzudichten müssen, 
und selbst ein Anflug sentimentaler Regung ist als Vehikel dieser 
Mitwirkung des betrachtenden Subjekts in Anspruch genommen. 
Später breitet sich der ganze Niederschlag dieser poetischen 
Invasion über die römischen Sarkophagwände hin. Reliefs mytho- 
logischen Inhalts illustrieren Ovid und Horaz, wenn wir den Gnmd 
ihres Wesens freizulegen suchen, auch ohne daß die Verse dabei 
rezitiert werden. Für manchen gebildeten Römer von damals war 



1 



t 



^28 XXII. Geistige Mächte in der darstellenden Kunst 

■I 

das Werk der bildenden Kunst an sich vielleicht ebensowenig ge- » 

nießbar, wie für manchen Modernen; erst das künstliche Pumpen- 
werk der literarischen Erziehung mußte es lebendig machen. 
Von bildnerischem Kunstwollen ist da nur sehr bedingt zu 
reden. 

Das führt natürlich zu einem engen Bündnis der Dichtkunst 
und der Bildkunst, sobald sie eben gemeinsame Wege gehen. Und 
dieses Einvernehmen ist ein charakteristisches Symptom der spät- 
antiken Entwicklung, wo beide wieder zusammentreten, wie bei den 
Anfängen in Ägypten. Die Vermittlung eines motivierten Zu- 
sammenhangs wird auch hier ein Hauptanliegen. So kommt es, 
daß die Reliefkunst und die Malerei sich dazu hergeben müssen, 
zu erzählen und womöglich den Kausalnexus einer Fabel zu sugge- 
rieren, so daß der Beschauer den Hergang mitzuerleben glaubt. 

Bei aller Mannigfaltigkeit der Darstellungsmittel hat aber die 
bildende Kunst, wie WickhoflF angesichts der Wiener Genesis- 
illustrationen ausführt, nur drei Darstellungsweisen für die Erzählung. 
„Die eine ist älter als die beiden anderen, mit ihr beginnt alle 
historische Kunst überhaupt. Wir wollen sie, weil sie alles, was 
vor- und nachher geschieht und für die Handlimg wichtig ist, voll- 
ständig zu bringen sucht, die komplettierende Darstellung nennen« 
Sie beherrschte schon die alte ägyptische und orientalische Kunst. 
An ihr lernten sie die Griechen, wofür uns die Schildbeschreibung 
des Homer ein schönes Beispiel ist Auch seine Reliefs gehören 
dem komplettierenden Stile an, aber in seii;Ler altertümlichen Gestalt, 
wo er noch nicht Mythen darstellen wollte. 

„Die distinguierende Erzählungsweise, die auch ims wieder 
ausschließlich geläufig geworden ist, hat sich aus der komplettieren- 
den herausgebildet, wie das Drama aus dem Epos herauswuchs. 
Hier wird ein entscheidender Moment gewählt, der die wichtigsten 
Personen zu einer gemeinsamen folgenreichen Handlung vereinigt. 

„Die kontinuierende Darstellung dagegen begleitet die Er- 
zählung, strömt sanft gleitend und ununterbrochen, gleichwie die 
Uferlandschaften bei einer W£isserfahrt an dem Auge vorüberziehen, 
und zeigt die jeweiligen Helden in kontinuierlich sich aneinander- 
reihenden Zuständen. Von einer Ausw*ahl des prägnanten Momentes 
ist überall nichts zu merken. Hier wandeln vor uns Gerechte und 
Sünder, zwei-, drei- und viermal, wenn es nötig, auf demselben 
Bilde erscheinend, unbekümmert um das Gesetz der Erfiahrung, daß 
nur dasjenige zugleich gesehen werden könne, was zu gleicher Zeit 



Drei Darstellungsweisen der Erzählung 329 

vor sich geht, also unmöglich dieselbe Person im selben Augen- 
blicke mehrmals in demselben Räume.*' 

Das sind die Definitionen der drei Darstellungsarten, die wir 
ebensogut auch mit den deutschen Namen: die vervollständi- 
gende, — die unterscheidende — und die fortlaufende Er- 
zählungsweise nennen konnten. Nun aber kommt die chronologische 
Zeitbestimmung Wickhoffs aufs Tapet, die er für seine weitere De- 
duktion eben niir so und nicht anders gebrauchen kann. Sie 
lautet: „Entnahm man die komplettierende Erzählungs weise der 
asiatischen Kunst, ist die distinguierende rein hellenisch, so reichen 
wir bei der kontinuierenden mit dem allgemeinen Begriffe des 
Hellenismus nicht mehr aus. Denn wenn auch mannigfach vorbe- 
reitet, tritt sie doch erst im zweiten Jahrhundert des romischen 
Kaiserreichs als ausgebildeter Stil auf und verbreitet sich überall 
dort, wo die Abhängigkeit von seinem Mittelpunkte deutlich sicht- 
bar ist Es ist das keine hellenische Erzählungsweise mehr, son- 
dern eine romische** (S. 9). 

Die historische Haltbarkeit dieser Behauptimg zu prüfen, ist 
Sache der Archäologie. Wir haben es hier allein mit der begriff- 
lichen Seite solcher Aufstellung zu tuiL Fragen wir vor allen 
Dingen darnach: ist die kontinuierende Darstellung ihrem inneren 
Wesen nach notwendig die späteste von den dreien? Schon die 
Eigentümlichkeit dieser Art, daß sie sich über die Bedingxmgen 
des Sehens im Räume hinwegsetzt, gar nicht gestört wird durch die 
Erfahrung, dieselbe Person könne doch nicht zugleich mehrmals 
auftreten, ist eine Naivität, die wir nicht am Ende der Entwick- 
lungsreihe erwarten können, zumal nicht in einer Zeit, wo die 
optische Auffassung schon so stark überwiegt, und wo die Malerei 
als selbständige Kunst solche Fortschritte erlebt hat, wie Wickhoff 
selber nachzuweisen bestrebt war. Die Nichtachtung des Haus- 
gesetzes alles sichtbaren Erscheinens kann nur aus dem Vorrang 
der poetischen Phantasie erklärt werden. Die kontinuierende Ab- 
bildung folgt ausschließlich dem Hausgesetz der Dichtung und be- 
nutzt das Vorrecht des Poeten, seinen Standpunkt jeden Augen- 
blick zu wechseln imd Raum und Zeit beliebig zu überspringen. 
Nur an die Person des Helden oder eine übersehbare Reihe von 
Mitspielern heftet sich die epische Erzählung und gleitet mit ihnen 
weiter von Situation zu Situation, von Ort zu Ort, unbekümmert 
um die besondere Beschaffenheit dieser Schauplätze; denn nur als 
Emanation des Helden hat die Situation Belang, nur soweit sie 



330 XXII. Geistige Mächte in der darstellenden Kunst 

ihn unmittelbar angeht und aus ihm hervorgeht, selten einmal um 
ihrer selbst willen, so daß die Schilderung der örtlichkeit ein- 
gehender auch für sich selber gegeben werden müßte. Der epische 
Dichter setzt alles in Tätigkeit um, wählt selbst schmückende 
Beiwörter aus Tätigkeitsbezeichnungen und vermeidet alles Ein- 
gehen auf die ruhige Existenz. Je mehr Bewegungen sich drängen, 
desto mehr Energie der Handlung erlebt unsere Phantasie, gleich 
gut, ob der Anreiz durchs Wort vom Ohre, oder durchs Bild vom 
Auge her erfolgt^) Erst wenn die schöpferische Phantasie erlahmt, 
beginnt auch der epische Dichter zu malen, verzettelt sich die er- 
zählende Bildkimst in unbedeutende Zustände und kommt aus der 
breiten Verschwommenheit nicht mehr heraus (vgl. die Wiener 
Genesis). Es ist also die Ökonomie des lebendigen Erzählers, der 
die fortlaufende Darstellung auch im Bilde entspricht Sie ist nach 
allem die ursprünglichste Art der Übersetzung des poetischen 
Stoffes in die bildende Kunst Die komplettierende Darstellimgfs- 
weise nimmt dagegen schon Rücksicht auf die Einheit der Bild- 
fläche und die Ökonomie der übersichtlichen Verteilung; sie wählt 
bereits einen Vorgang unter den vielen, vorher gleichberechtigten 
aus und macht ihn zum Träger der übrigen Momente, die den Zu- 
sammenhang vervollständigen, die Hauptszene motivieren. Es ist 
das Verfahren des epischen Dichters, der aus einer gegenwärtigen 
Situation Ausblicke in die Vergangenheit oder die Zukunft eröffnet, 
aber den Faden seiner fortschreitenden Erzählung darüber nicht 
verliert Er wird nicht fortgerissen vom Lauf der Dinge, sondern 
beherrscht ihn schon. Die distinguierende Darstellung ist nur 
ein Fortschritt auf diesem Wege zur strengen Einheit des Ortes 
und der Zeit, das reifste Ergebnis einer bewußten Organisation des 
Stoffes, das vor allem auf der Auswahl des Wichtigsten und der 
Ausscheidung aller Nebensachen beruht 

Nehmen wir dann hinzu, daß die kontinuierende Erzählung eben 
ununterbrochen, aber nicht selten auch unterschiedslos weiterfließt, 
daß sie wohl Wichtiges und Unwichtiges, Nebensachen und Haupt- 
sachen aneinanderreiht, so erkennen wir in ihr die redselige, durch 
kein Urteil gestörte Lust am Fabulieren selber, das Urbild alles 
Erzählens überhaupt Und wenn Wickhoff selbst anerkennen muß, 
schon in der vorhellenischen orientalischen Kunst kämen Beispiele 
des kontinuierenden Stiles vor, wie die Silberschale von Präneste 



i) Zur Frage nach deni Malerischen, S. 103. 



Die kontinuierende Darstellung ^^i 

(Rom, Mus. Kircher.) mit der Jagd eines mythischen Königs aus 
dem ass)rrischen oder phonikisch-cyprischen Legendenkreise, d, h. 
aus dem VIL Jahrh. v. Chr., so machen wir uns auch die Tatsache 
zunutze, dafi dieser kontinuierende Stil von der hellenischen Kunst 
nicht rezipiert ward Wir deuten „manche Darstellungen, die bei 
flüchtiger Betrachtung ein frühes Auftreten des kontinuierenden 
Stiles bei den Griechen zu belegen scheinen", wie z. B. auf rot- 
figurigen Theseusschalen, eben als Anwandlungen orientalischen 
Wesens, als interessante Symptome des sich losringenden und immer 
bewußter werdenden Kunstsinnes der Hellenen im Unterschied von 
ihren phönikischen Nachbarn. Wir sparen damit alle künstlichen 
Ableitungs versuche, zu denen Wickhoff seine Zuflucht nehmen 
muß.i) 

So kommen wir zu dem umgekehrten Ergebnis: der konti- 
nuierende Stil war keine romische Erzählungsweise, sondern eine 
orientalische. Wie weit der Hellenismus die Vermittlerrolle über- 
nehmen mochte, sie auch in Rom noch einzubürgern, ist eine 
andere Frage; aber die Antwort liegt doch ziemlich auf der Hand, 
wenn das geläufige Auftreten im Römerreich uns in eine Zeit führt, 
wo Rom die Erbschaft der Diadochen antrat und mit der Erobe- 
rung Ägyptens sich auch weiter den Orient erschloß. Schon beim 
Telephosfriese von Pergamon hat K. Robert auf das Prinzip hin- 
gewiesen, daß an den Ecken die Szenen von einer Friesplatte auf 
die andere übergreifen, um die Kontinuität der Darstellung mög- 
lichst zu betonen« Die literarische Behandlung der Telephossage 
sei Voraussetzung dieser detaillierten Erzählung im Relief; und die 
Richtung der Szenenfolge darin entspreche gar der rechtsläufigen 
Schrift, der Gewohnheit des Ablesens von links nach rechts.*) Wie 
geläufig diese Art zu erzählen dem ausgehenden Altertum über- 
haupt war, bezeugen auch die Sarkophage: Selene steigt vom 
Wagen, um den geliebten Schäfer zu küssen, und gleich daneben 
hat sie den Wagen wieder zur Abfahrt bestiegen. Daß die Maler 
der mythologischen Szenen zu jener Zeit nicht anders verfuhren 
als die Steinmetzen der Sarkophage aus dem IL Jahrh. n. Chr., 
beweisen des altem Philostratus Beschreibungen von Gemälden aus 
dem ni. Jahrh., wo auf einem Bilde die Figur des handelnden 
Helden doppelt oder dreifach vorkommt.*) 

i) A. a. O., S. 9, Anm. i und 2. 

2) Jahrb. d. K. D. Arch. Inst. 1888, III, S. 52. 

3) Wickhoff, a. a. O. 



332 XXII. Geistige Mächte in der darstellenden Kunst 

Für die Römer wäre es keine Schmeichelei, wemi die Erfin- 
dung oder Bevorzugung des kontinuierenden Stiles in der Bildkimst 
auf ihre Rechnung käme. Der Römer organisiert doch seinen 
Stoff energischer durch, wenn nicht im künstlerischen Sinne der 
Griechen, doch in der nämlichen verstandesklaren Weise, wie er 
sein Staatswesen organisiert Die kontinuierende Erzählung tritt 
nun aber tatsächlich an den spiraligen Reliefs der Trajans- und 
Marc-Aurelssäule mitten in Rom auf. Hier „vertritt er die 
historische Prosa''. Unimterbrochen folgen sich die Darstellungen 
der kaiserlichen Feldzüge. Dreiundzwanzigmal erscheint der Kaiser 
in der Geschichte eines Feldzugs, und auf den dreiimdzwanzig 
Windungen der Säule begegnet er neunzigmal, auf einer Windung 
oft mehr als viermal dem Beschauer. „Das Kunstmittel der be- 
ständigen Wiederholung, das dem nachdenkenden Verstände die 
Einheit zu zerreißen scheint, erregt die Phantasie des Betrachters, 
der die Empfindung heimträgt, als hätte er den ganzen Krieg an 
des Kaisers Seite mitgemacht'' So urteilen noch heute sonst 
künstlerisch empfindende Beurteiler. Seltsam genug I der geschieht^ 
liehe Zusammenhang, die imperialistische Kunst des kaiserlichen 
Historiographen täuscht über den Unwert dieser Geschmacksver- 
irrung. Ein Genuß für literarische Köpfe, mag sein! — Aber eine 
physisch schon unmögliche Zumutung für den Beschauer, der doch 
die dreiundzwanzig Windungen der Säule nicht „umschreiten" kann, 
ist doch nun und nimmer ein gesundes Werk der bildenden Kunst, 
sondern bleibt eine Ausgeburt des Cäsarenwahns oder seiner 
Sklaven. Das Ganze ist nichts als ein aufgewickelter Rotulus, ein 
um den Säulenstamm geschlungenes Bilderband von Pergament, 
mit dem Aufwand allergenauester Berechnimg in Marmorrelief aus- 
gehauen. Die Einheit liegt nur in der einzigen Dimension der 
Zeit, und nur der Bilderbuchleser, der die Vorlage in die Hand 
nimmt und weiterrollt, vermag die Geschichte dieser Feldzüge zu 
verfolgen; der Betrachter der Säule kann nur verdutzt emporgaffen 
und die Vögel des Himmels beneiden, daß sie all die gemeißelten 
Dinge droben zu sehen bekommen. 

Unter allen Werken der Malerei, die in so spärlicher Zahl auf 
uns gekommen, nähert sich keines den Reliefs der Trajanssäule, 
natürlich dem Wesen der Kimstgattung, nicht der historischen 
Stellung nach, so sehr wie der Josuarotulus der Vaticana, diese 
elf bis zwölf Meter lange Rolle, auf der ununterbrochen die Taten 
des jüdischen Volksführers dargestellt sind. Schon die Ursprung- 



Trajanssäule — Josuarotulus ^^^ 

liehen Aufschriften waren griechisch, also ist kein Zweifel an der 
Herkunft aus der hellenistisch-orientalischen Kunstwelt. Wie den 
Kaiser auf den Siegessäulen sehen wir hier den biblischen Helden 
mit seinem Heere ziehen, kriegen, siegen, erobern, richten und 
immer personlich wieder erscheinen, während sich hinten ununter- 
brochen die Landschaft hinzieht, mit den Szenen imd für die 
Szenen sich verwandelnd. Ist die Trajanssäule das ausgedehnteste 
Werk der kontinuierenden Darstellungsart in der Plastik, so ist es 
der Josuarotulus in der Malerei. Und da die erstere immöglich 
etwas anderes sein kann als die Übertragung einer solchen ge- 
malten Rolle in die dauerhafte Reliefkunst imd auf die monumen- 
tale Form der Triumphsäule, so eröffnet sich auf Grund des Josua- 
rotulus ein weiter Rückblick in die Entstehungsgeschichte der 
kontinuierenden Art, im fernen Osten und nicht erst in Rom, wo 
sie nur das Eindringen des Orientalismus ins Kaisertum verkünden 
kann. 

„Der klassischen Kirnst muß die Vermengfung von Wort und 
Bild grundsätzlich widerstrebt haben,*' schreibt Riegl (a. a. O. 134). 
„Anders jedoch die altorientalische und die frühgriechische Kunst; 
dort diente^ die Schrift zur Erläuterung des Bildes." So ist es 
noch auf dem Josuarotulus, mag er nun Original sein oder ver- 
hältnismäßig späte Kopie. Es kommt hier nicht auf die Malweise 
und die Zeichnung, sondern auf die Darstellungsweise des erzählen- 
den Inhalts allein an. Sie aber ist eine fortlaufende Illustration, 
die sich dem Texte des Buches Josua anschließt und dessen Worten 
zu folgen sucht „Das wäre unmöglich gewesen zur Zeit Alexan- 
ders", meint Wickhoff, „und noch unmöglich zur Zeit des Augustus." 
Erst durch die Ausbildung der „römischen Reichskunst" im zweiten 
und dritten Jahrhundert n. Chr., die in ihrer Weise die griechischen 
Stoffe umgestaltet, hätte sich die bildende Kunst angewöhnt, in 
treuem Anschluß den poetischen Texten zu folgen. „Die Kimst- 
werke des II. — III. Jahrh. n. Chr. folgen den Worten des Homer 
oder Pindar, des Äschylos oder Euripides genauer als jene, die zu 
den Lebzeiten der Dichter dieselben Stoffe behandelt hatten," — 
aber wirklich erst so spät, nicht doch schon früher? „In den Ge- 
mäldebeschreibungen des Philostrat, wie an den mythologischen 
Sarkophagen sehen wir dies Verfahren immer mehr die Obmacht 
gewinnen." Aber weisen nicht die Odysseebilder vom Esquilin, die 
kontinuierende Darstellung als Figurenstaffage in rein malerisch 
aufgefaßte Landschaften hineinstellen, auf einen viel früheren Ur- 



J34 XXII. Geistige Machte in der darstellenden Kunst 

Sprung dieser figürlichen Kompositionen zurück, die wir nach Art 
des Josuarotulus als Bilderrolle zur Odyssee vorstellen dürfen, wie 
die gemalten Urbilder der Tabula Iliaca (I. Jahrh. n. Chr.)? Dabei 
sind wir noch inuner weit entfernt von einer unmittelbaren Ver- 
bindung des Wortes mit dem Bilde im Sinne der Buchmalerei, 
haben vielmehr immer nur Beischrift zur Erläuterung des Bildes. 
— Aber freilich »,eine Darstellungsart wird erst dann wirklich 
lebendig, wenn sich die Gegenstande nach ihren Prinzipien formen 
müssen«*' Die successive Auffassimg der Poesie oder Geschichte 
ist das Entscheidende; sie gebiert auch im Bilde die kontinuierende 
Erzählungsart Um so weniger brauchen .wir aus dem Umstand, 
daß wir sie in Rom mit dem illusionistischen Stil oder der Augen- 
scheinmalerei verbunden finden, den Schluß zu ziehen, sie habe 
auch zugleich mit dieser gekeimt und sei mit jenem aufgewachsen. 
Wir glauben nicht einmal, „diese Verbindung allein habe es ermög- 
licht, daß die kontinuierende Art zu erzählen durch fünfzehnhundert 
Jahre zur herrschenden und meisternden Erzählungsart wurde", 
sondern sind der Überzeugung, daß die Hegemonie der Dichtkunst 
über alle darstellenden Künste und die Verinnerlichung des ganzen 
Wesens, wie die Hauptaufgabe der kirchlichen Kunst des ganzen 
Mittelalters, seit der frühchristlichen Zeit die eigentlichen Ursachen 
gewesen sind, die diese Tatsache erklären. Als dann vollends an 
Stelle der selbständigen Bilderrolle der Kodex trat, wo dem Texte 
selbst die Illustrationen dazu auf einem Blatte gesellt sind, so daß 
sie nebenhergleiten, soweit der Platz reicht, da stellt sich wie in 
der Wiener Genesis zunächst die unterschiedslose Kontinuität von 
selbst wieder ein, zumal bei den Judengeschichten des Alten Testa- 
ments, die selber von diesem Märchenerzählerton erfüllt sind, wie 
Tausendundeine Nacht. 

Von der kontinuierenden Darstellung sollten wir aber genau 
die zyklische Darstellung unterscheiden, die bei Riegl damit 
zusammenzufließen droht „Das ikonographische Prinzip des Ver- 
einigens von Darstellimgen mehrerer räumlich und zeitlich getrenn- 
ter Ereignisse in einem und demselben Bilde'S das nach Riegl 
allen Perioden der antiken Ktmst durchaus gemeinsam gewesen 
ist, sollten wir noch nicht zyklisch nennen, sondern erst das, „was 
diesem Gemeinprinzipe gegenüber die spezifische Neuerung in der 
früheren Kaiserzeit, bezw. der hellenistischen, ausmacht". Es besteht 
in der „Vorführung großer zusammenhängender Zyklen, von denen 
der Beschauer auf einmal immer nur eine oder nur wenige Szenen 



Zyklus — Periode — System — Kosmos 335 

(nicht wie in Gjölbaschi ganze Fluchten von solchen) wahrnehmen 
konnte, aber doch dabei das Bewußtsein hatte, daß die Reihe sich 
vor- und rückwärts in der Zeit, rechts und links in der Ebene fort- 
setzt. Hier mußte wiederum das Bewußtsein, die Erfahrung er- 
gänzend einsetzen'^ (65). 

Die Benennung Zyklus geht nicht sowohl auf den peripheri- 
schen Umlauf und das ununterbrochene Ineinandergreifen, wie das 
in jedem Punkt von der Richtung Abweichen des entstehenden 
Kreises, als vielmehr auf die Geschlossenheit der fertigen 
Zentralisation. Die Reihe von Bildern hat Anfang, Mitte imd 
Ende, ordnet sich so im Raimie nach Art der vielachsigen Sym- 
metrie wie die einheitliche Fabel, die innerlich gegliederte zu- 
sammenhängende Handlimg um ein Zentrum, oder der Verlauf eines 
Dramas in der Zeit. Der Zyklus, d h. der in sich zurückkehrende 
Kreislauf, der sich so als fertig nach außen abschließt, unterscheidet 
sich von der Periode, dem wiederkehrenden Umlauf, der in den 
folgenden übergeht, also spiralische Windungen beschreiben oder 
gleich elliptischen Gliedern einer Kette ineinandergreifen mag. 
Der Bilderzyklus setzt sich aus distinguierenden Darstellungen zu- 
sammen, deren jede einen prägnanten Moment, eine bedeutende 
Situation oder eine folgenreiche Handlung zeigt; oder aber er ver- 
einigt eine Mehrzahl nicht zu einer Erzählung gehöriger, mehr oder 
minder selbständig entwickelter Darstellungen unter einem gemein- 
samen Gesichtspimkt, einer beherrschenden Idee.^) Im letzten 
Falle jedoch sollten wir eigentlich, im Sinne des bleibenden Be- 
standes und der Abhängigkeit aller Ausstrahlimgen von einem 
Kraftzentrum, nicht von Zyklus, sondern von System oder Kosmos 
reden. Aber dieser letzte Ausdruck legt auch den Gedanken an 
die Gravitation und damit des Umschwimgs im Planetensystem 
nahe genug. Wichtiger jedenfalls als die Unterscheidung durch 
einen besonderen Terminus ist der innere Unterschied zwischen 
dem historischen Verlauf der Reihe dort und dem systematischen 
Bestand der Konstellation hier, d. h. je nach dem Vorwalten der 
successiven oder der simultanen Auffassung. Denn in Verfolg der 

■ 

transitorischen Bewegung herrscht der Rhythmus, in der ruhigen 
Zusammenfassung dagegen die Harmonie. 



I) Die Landschaften mit Geschichten der Odyssee im Vatikan, wie die von 
Preller, aber auch die Stanzen Rafaels bieten solche Beispiele zyklischer Darstellung. 
Zum Folgenden vergleiche Rafaels Cappella Chigi in Sta. Maria del Popolo zu Rom. 



330 XXII. Geistige Mächte in der darstellenden Kunst 

In der ersten Klasse wird die peripherische Reihung auch das 
Gesetz der Reliefkomposition bestimmen, wie noch im Telephos- 
fries von Pergamon. Hier mag der fortlaufende Hintergrund die 
Einheit des Schauplatzes bewahren oder nach den Szenen sich ver- 
ändern. Im letzteren Falle hält sich der Beschauer desto eifriger 
an die Einheit der Person. Wenn aber auch diese in der Erschei- 
nung wechselt, von Kindheit zum Alter oder in unerwarteter Ver- 
kleidimg erkannt werden soll, so versagt das Bild, und nur in der 
poetischen Vorstellung, der begrifflichen Identität der Person, im 
inneren Zusammenhang der Fabel kann die Einheit gefunden 
werden. 

Noch stärker wird auf die geistige Aufnahme des Kunstwerks 
und die subjektive Mitwirkung des Beschauers gerechnet, wo eine 
Mehrzahl von Szenen aus verschiedener Räumlichkeit und Zeitlich- 
keit nur durch die Einheit der Idee zusammengefaßt werden« So 
erscheinen bereits alle auf einem spätheidnischen Sarkophagrelief 
mit Adonis aufgereihten Figurengruppen nur unter dem gemeinsamen 
Gesichtspunkt von Garantien für die Erlösung oder die Unsterb- 
lichkeit vereinbar. Erst recht aber ist dies der Fall auf einem alt- 
christlichen Sarkophag aus S. Paolo fuori le mura im Laterans- 
museum, dessen Erfindung Riegl (S. 96) auf die Mitte des £0. Jahrh. 
datieren möchte, wo die Wundertaten Christi mit denen der Pro- 
pheten in zwei Reihen verkettet sind. Rechts oben ist das Opfer 
Abrahams mit der Oberantwortung Christi durch Pilatus in eine 
„unleugbare Raumkomposition'' verbimden, bei der Christus selbst 
als das unschuldige Opfer fast in heroischer Herrlichkeit des Leibes 
neben dem Landpfleger thront und ganz im Vordergrund die ab- 
schließende Ecke bildet Viel ausgesprochener überwieget der Ge- 
dankeninhalt als der eigentliche Wert, der vermittelt werden soll, 
über die verkümmerten Figxu-en und die schon völlig dem Hell- 
dunkelrhythmus zuliebe zerrissene Marmorfiäche an einem andern 
Sarkophag, der den Reliefs des Konstantinsbogens auch dadurch 
verwandt erscheint, daß er bei allem Gedränge der Szenen nach 
symmetrischer Gliederung imd systematischer Disposition um einen 
festen Mittelpunkt strebt, so dafi hier die bekannte Gruppe des 
Daniel zwischen den Löwen gerade unter dem Muschelmedaillon 
mit den beiden Büsten angebracht ist Wie in der Philosophie und 
Religion jener Tage der Geist den Vorrang vor dem Fleische be- 
hauptet, ja den einzigen imd ewigen Wert bedeutet, so zerrinnt 
hier die Form vor dem Inhalt, der nur der Gedankenwelt angehört 



Inhalt und Architektonik der Bilder 33^ 

und nur nach dem Hausgesetz poetischer Komposition gemeistert 
werden kann. Wer eine Deckendekoration der Katakomben mit 
ihrer flüchtigen Versinnlichung in anspruchslosen Bildern auf ihre 
Bedeutung ansieht und im Mittelbilde die Dominante erkennt, um 
die alle anderen Einheiten gravitieren, der versteht auch die 
Festigimg zu monumentalerer Form im Anschluß an die Architektur, 
wenn er im Oratorium Johannis an der Taufkirche des Laterans 
schon auf goldenem Mosaikgrund einer strengen Zusammenfassung 
kärglichen Schmucks um das Symbol des Lammes in der Mitte 
begegnet: ein künstliches Hirngespinst, wie das Netz der Kreuz- 
spinne, muß hier zu Hilfe kommen, die geistigen Beziehungen her- 
zustellen imd das Siegel der Bedeutsamkeit zu lösen. 

Wieder an Sarkophagen zeigt sich die Einordnung der Figuren 
in ein System architektonischer Rahmen, wie schon am Konstan- 
tinsbogen die Einschachtelung korrespondierender Gruppen zu 
finden war. Der sogenannte Probussarkophag hat bereits säulen- 
getrennte Nischen, in die nicht allein an der Vorderseite sondern 
auch auf beiden Schmalseiten verteilt, die Jünger paarweis treten, 
und zwar so, daß sich alle auf den mittleren Intervall beziehen, in 
dem Christus auf erhöhtem Platze zwischen Petrus und Paulus 
steht. Die Komposition der Figuren selbst ist starr, isolierend in 
längliche Viereckumrisse gebannt; nur die Kopfwendung und teil- 
weise der erhobene Arm deutet die Richtung an, in der die Auf- 
merksamkeit aller festgehalten wird. Es kommt also dem Künstler 
und vollends dem gläubigen Betrachter auf die innere Bewegung 
an, neben deren Ausdruck die äußere möglichst zurücktritt. (R., 94.) 
Namentlich das Verlassen des Kontraposts und der Übergang zu nach- 
lässiger neutraler Beziehimg sind Symptome des Verfalls plastischer 
Auffassung, die schließlich in ein unsicheres Auftreten auf den 
Fußspitzen, ein Stehen in der Luft, ohne Boden unter den Füßen, 
ausartet und bei doppelter Figxu*enreihe hintereinander zu den an- 
stößigsten Konflikten der Extremitäten führt. Wer aber neben 
diesen Schattenseiten der Kunst auch die Lichtseiten nicht über- 
sehen will, wer im Verfall der einen den Fortschritt der andern zu 
erkennen weiß, der entdeckt einen Beziehungsreichtum, der über 
die räumliche Trenmmg hinweggreift, ein Spiel der Gegensätze 
mitten im strengen Gefuge, und merkt, wie rhythmische Gänge 
hüben und drüben beruhigt sind zu klarer Harmonie. Sollten wir 
kein Auge haben für die Fülle des seelischen Ausdrucks in den 
Köpfen der Apostel um Christus, der selbst noch wie ein feister 

Schmarsow, Kmutwisienscbaft. 22 



33g XXII. Geistige Machte in der darsteuenden Kunst 

Militärkaiser in der Mitte thront, wie auf dem Deckel des Silber- 
kästchens für die Eucharistie, das in S. Nazaro zu Mailand gefunden 
ward, aber mit Recht früher, in diokletianische Zeit datiert wird? 
Oder sollten wir nicht den frischen Hauch erkennen, der durch 
Nachahmung gemalter Vorlagen in die ravennatischen Sarkophage 
kommt: wenn Petrus und Paulus sich vor dem Herrn verneigen, 
wie er im Freien unter blauem Himmel mit Wolkenstreifen thront, 
zwischen schlanken Palmen, die in der Phantasie eines Künstlers 
aus dem steinichten Syrien nur eine Oase in der Wüste bedeuten 
können, das Paradies gegenüber dem Jammertal der Erde? Aber 
es endet auch hier mit symbolischen Zeichen in einem Architektur- 
schema, das mit diesen Hieroglyphen darin ein ganzes systema- 
tisches Lehrgebäude bedeutet Das Mitspiel des subjektiven 
Bewußtseins wird zur Arbeitsleistung, je komplizierter die Ideen- 
assoziationen werden, die in solche Abbreviaturen hineingeheim- 
nifit sind. 

Endlich kommt es auch zur unmittelbaren Verquickung von 
Wort imd Bild im geschriebenen Texte selber, die das Altertum 
nicht kennt. Erst in einer Zeit, wo die Schrift nicht nur als Surro- 
gat der mündlichen Überlieferung dient, sondern über den Ge- 
brauchszweck hinaus als eigener Wert zu gesteigerter Hochschätzung 
gelangt, wo sie in einer fremden oder schwerverständlichen Sprache 
einen Inhalt birgt, den nur der Eingeweihte zu erschließen vermag, 
— erst da stellt sich auch die Ornamentik ein, die diesen Wert 
auszeichnet und umrankt. Die Initiale verleiht dem Anfang eines 
Abschnittes mehr Nachdruck. Der stärkere Einsatz der Stimme 
wie des Schriftzeichens ist schon ein Symptom des bewußten 
Geistes, der die Gliedenmg des Inhalts übersieht und den Haushalt 
der Mittel beherrscht: er ist ein Merkmal des wohltemperierten 
Rhythmus, den der weitere Vortrag des StoflFes im Einklang mit 
seiner inneren Organisation, je notwendiger desto besser, mit sich 
bringt. Randverzierungen rein omamentalen Charakters, die nur 
als äußerliche Zutat die Textkolumne begleiten, entstehen viel eher 
im Zusammenhang mit dem sinnlichen Eindruck der Schriftzüge 
und der Musterung des Grundes durch diese. Solange die Buch- 
staben lapidare Einzelkörper bleiben, kann auch die Ornamentik 
nur aus isolierten Elementen bestehen, wie wir sie in der Dios- 
korideshandschrift, etwa in der Zeit Justinians auftauchen sehen. 
Eine andere Möglichkeit ist der zusammenfassende Rahmen, der wie 
peripherische Reihung die gesamte Textmasse umzieht, und gleich 



Buchmalerei und Dekoration 33g 

einem Saum das Teppichmuster des Grundes einschließt Hier 
liegt die Einfuhrung eines neuen Kontrastes zwischen Beweglichem 
imd Beständigem offen, wie zwischen Muster und Grund, so daß 
die Randverzierung schon als drittes Element im Bunde der künst- 
lerisch verwertbaren Faktoren auftreten mag. 

Erst wo die Schrift die Einzelbuchötaben des Wortes zum 
durchgehenden Zuge verbindet, gerät der ganze Niederschlag in 
Fluß, in schnellen Lauf (Kursiv). Das Wort bildet eine mimische 
Einheit, die sich von der folgenden sondert; aber im Ganzen der 
Zeile gebärdet sich's weiter bis zum Ende des Satzes, zum Ablauf 
des Gedankens. Erst nun folgt auch die Randverzierung mimetisch 
diesem Eindruck, selbst wenn der Zeichner des Ornaments gar 
nicht zum Leser wird, der auch den Text versteht Unmittelbarer 
natürlich geht es zusammen, wo der Schreiber auch die Schnörkel 
herumlegt. Unwillkürlich verbinden sich Text imd Ziermotive zu 
einer Einheit gegenüber dem Grrunde, und diese kann nur eine 
mimische sein, soweit Schrift imd Linienspiel aus einer Feder 
fließen. Ausdrucksbewegung und Gebärdensprache werden, vom 
gleichen Inhalt durchdrungen, auch den gleichen Charakter ver- 
künden. Damit aber würde die Grenze der Ornamentik über- 
schritten, nämlich sobald auch sie zum Ausdruck des Wertes selber 
gelangt, den sie sonst nur auszeichnend und hervorhebend begleitet 
und umspielt. 

Ein völlig Heterogenes ist im Buche zunächst auch das Bild: 
ein sinnlicher Wert neben einem geistigen. Sowie das Bild sich 
als Kunstwerk durchorganisiert hat imd innerlich abrundet, vollends 
aber, wenn es durch einen Rahmen sich auch äußerlich absondert, 
steht es selbständig und unabhängig da. Es hat mit dem Textblatt 
gar nichts gemein als höchstens den Vorstellungsinhalt, den dort die 
Schrift, hier das Bild im Innern des menschlichen Subjekts auslöst 
Und wie verschieden sind der Leser der Schrift imd der Beschauer 
des Bildes, auch trotz der Personalunion, im Grunde ihres Wesens 
und im Gebrauch ihrer Kräfte! So unterbricht auch das Bild den 
Verlauf der Lektüre; es schaltet gewissermaßen das Spiel des In- 
tellektes aus und schaltet ein Ausruhen in Anschauung ein. Aber 
solche Erholung in der Pause kann jedes beliebige Bild gewähren 
imd erreicht sie vielleicht besser, je fremder es dem Gedankenkreis 
des Gelesenen gegenübertritt. Nur wird auch bald die Willkür 
solcher Abwechslung empfunden, der Widerspruch gegen so ge- 
walttätige Wohltat rege. Erst die Übereinstimmung des geistigen 

22* 



T] 



340 XXII. Geistige Mächte in der darstellenden Kunst 

Gehaltes in beiden Bestandteilen schafft die Einheit des Mediums, 
erhält die vermittelnde Gleichheit der Stimmung. Auf Grund der 
durchgehenden Gemütslage wird erst der Wechsel der Gemütsbe- 
wegungen möglich, wie ein natürliches Erleben, Und der Psychagog, 
der beide Betätigungen, beim Lesen des Textes und beim Schauen 
des Bildes, dirigiert, kann nur der Poet sein, weder der Schreiber 
noch der Maler, es sei denn in der Identität des Autors die höchste 
denkbare Einheit dieses dreifaltigen Kunstwerks erreicht Immer 
jedoch gehören schon Zwittergeschöpfe dazu, wie poetische Maler 
oder malende Poeten, und die literarische Richtimg der Zeit, die 
solche hervorbringt, sie entscheidet auch an sich das Übergewicht 
des geistigen Elements über das sinnliche: der Dichtkimst oder 
der Mimik über die MalereL 

Von Aug^stus bis Justinian sind Poesie und Architektur die 
führenden Künste im ganzen weiten Römerreich gewesen, natürlich 
mit Schwankungen zugunsten der einen oder der anderen Wag- 
schale. Die Plastik wird Reliefkunst, die Malerei wird Illustration. 
Aber das ausgehende Altertum hat noch keine ausgebildete Buch- 
malerei aufzuweisen. So kann es nicht wundernehmen, wenn ein 
aufmerksamer Beobachter wie Riegl zu dem Ergebnis kommt: es 
gebe überhaupt keinen Miniaturstil, keinen spezifischen Stil der 
Buchmalerei (137, i). Richtiger sagen wir woU: es gibt noch 
keinen Miniaturstil während der spätrömischen Jahrhunderte; denn 
diese enthalten nur die Vorgeschichte der langen Entwicklung 
dieses Kunstzweiges. Deshalb kommt auch die Mehrzahl der Buch- 
maler, die wir in den wenigen erhaltenen Beispielen verfolgen 
können, anderswoher: es sind überwiegend Abkönunlinge der Deko- 
rationsmalerei, oft der Freskomalerei im großen, oder der Theater- 
schule näherstehend als der Schreibstube. Gerade die „illusio- 
nistische" Bravour vermag nicht dem tieferen Inhalt gerecht zu 
werden. Die Augenscheinmalerei für reinen Sinnesgenuß bleibt an 
der Oberfläche hängen. Sie vermag Stimmungen zu vermitteln; 
aber sie versteht es nicht, auf geistigem Gebiet das Hochbedeut- 
same von dem Gleichgültigen und Unwichtigen zu scheiden; denn 
ihre Wiege war das Stilleben und das Ziel ihres Strebens die 
duftige Fata Morgana. Intellektuelle Werte hervorzudrängen und 
gebührend auszuprägen eignet sich nur die zeichnerische Art, die 
genaue Rechenschaft über Einzelheiten gibt, und nicht die Fern- 
sicht, sondern die Xahsicht verlangt. 

Hier liegt auch die Wegscheide zwischen kontinuierender und 



Ornamentik — Unendlicher Rapport 3^1 

zyklischer Darstellung. Der klar disponierte Zyklus verlangt keine 
Femsicht (R.), aber doch Umsicht und Übersichtlichkeit, fordert 
bewußte Rh3rthmik des Vortrags und fuhrt, durch verschlungene 
Pfade noch, zurück zur vorbedachten Harmonie. Aber je mehr er 
dies erreicht, desto selbständiger löst er sich wieder vom Buche und 
kann als Bilderzyklus für sich bestehen, ohne Buch, ohne Text; 
denn er erklärt sich selber. 

Das sind jedoch erst Errungenschaften der nordischen Nationen. 
De^ Süden und der Orient vollends bleiben im Geschlinge der kon- 
tinuierenden Darstellung hängen; das bezeugt noch eine letzte Er- 
scheinung der Ornamentik: „der unendliche Rapport". Nicht 
mit der zyklischen (R.), sondern der kontinuierenden Erzähl weise 
gleichen Geistes ist dies dekorative Gesetz, das überall dort zum 
Siege gelangt, wo das Gefühl für organischen Zusammenhang imd 
natürliches Gewächs der Formen abhanden kommt „Das Kom- 
positionsgesetz des unendlichen Rapports beruht auf der Verwen- 
dung eines aus zwei symmetrischen Hälften zusammengesetzten 
Omamentmotives (oder mehrerer solcher in Reihenabwechslung) als 
Streumuster in der Ebene, wobei längs der abschließenden Ränder 
der Gesamtkomposition immer je eine Hälfte des Motivs (in den 
Ecken je ein Viertel) angebracht erscheint. Der Beschauer wird 
dadurch veranlaßt, sich die fehlende Hälfte (oder drei Viertel) in 
Gedanken zu e r g änz en und die Reihe in der Ebene ins Unendliche 
fortzusetzen" (R. 41). Aus der gegebenen Definition erhellt 
schon, daß der unendliche Rapport auf reichen imd kleinlichen 
Wechsel von Muster imd Grund, Hell und Dunkel gerichtet ist 

Neben diesem sinnlichen und zwar ausschließlich optischen 
Faktor tritt aber auch der geistige unleugbar zutage, nämlich die 
ergänzende Mithilfe der Erfahrung, des Intellekts. Diese Mitwirkung 
ist keine schöpferische, sondern nur eine reproduzierende; aber es 
geht mit Grrazie in infinitum, wie alle Kunst, die wieder Orna- 
mentik wird. 



xxm. 

SCHLUSS: ERGEBNISSE 

WESENSBESTIMMUNG DER EINZELKÜNSTE — INNERE ORGANISATION 

DER KUNSTWELT 

Überblicken wir die kritische Erörterung der Grundbegriffe, 
die wir bis dahin verfolgt haben, so ergibt sich eine wertvolle 
Tatsache für das Gesamtgebiet, deren wir uns am Schluß noch 
versichern müssen. Dem aufmerksamen Leser wird freilich kaum 
entgangen sein, daß allen bedeutsamen Problemen, die wir berühren 
mußten, ein gleichartiger Zug gemeinsam war. Von welcher Seite 
her die Frage nach dem Inhalt dieser Begriffe gestellt werden 
mochte, an welchem Punkte der schwebenden Verhandlung immer 
die Kritik einzusetzen hatte, — es handelte sich schließlich stets 
um die Wesensbestimmung der einzelnen Künste als der letzten 
Instanz, die den entscheidenden Aufschluß gab. Nur beim Ein- 
dringen in die innerste Eigenart einer jeden von ihnen, wie bei 
schärfster Auffassung der Unterschiede einerseits, der Obergänge 
andererseits, die der geschichtliche Werdegang zutage fordert, er- 
schloß sich der Kern der Sache. Dann aber gewannen wir ihn 
auch ganz natürlich, ohne die umständlichen Hilfskonstruktionen, 
deren andere bedurften, ohne die gewundene Quälerei oder gar 
irreleitende Vorspiegelimg, von denen sich der eine oder andere 
Versuch der streitenden Parteien nicht freisprechen ließ. Überall, 
wo dieser eine grundlegende Gesichtspunkt der Kimstwissenschaft 
außer acht gelassen war, stellten sich sofort Schiefheiten in der 
Beurteilung der Sachlage, Mißverständnisse in der Erklärung der 
Symptome, Fehlgriffe in der Schlußfolgerung für das Gcinze heraus. 
Die Charakteristik der mannigfaltigen, besonders in der Kirnst des 
Übergangs vom Altertum zum Mittelalter uns oft befremdenden 
Erscheinungen, kann nur gelingen, wenn die streng unterscheidende 
Wesensbestimmung der Künste festgehalten imd allgemein durch- 
geführt wird. 



Genealogie der Künste 343 

Jede umfassende Betrachtung des geschichtlichen Verlaufs einer 
einzekien Kunst fuhrt aber auf den Zusammenhang mit dieser oder 
jener von den übrigen, zunächst in derselben Reihe. So mögen wir 
die Dreizahl, die wir die bildenden Künste nennen, für sich ins Auge 
fassen. Wir verstehen die Plastik als Körperbildnerin, die Archi- 
tektur als Raumgestalterin; sowie uns aber die dritte Schwester 
Malerei als Darstellerin des Erscheinungszusammenhangs zwischen 
Körper und Raum aufgeht, und ihr Werk, das Bild, als zweidimen- 
sionaler Auszug aus diesen beiden Faktoren der Welt, so tritt 
diese jüngere Schwester in ein bestimmtes Verhältnis zu den beiden 
älteren. Sie kann nur eine weitere Entwicklungsstufe im mensch- 
lichen Schaffen bezeichnen, wie sich rein optische Orientierung 
schon als Verfeinerung gegenüber den derberen Erfahrungen der 
Tastregion, der Auseinandersetzung mit den Dingen auf Druck und 
Stoß, oder der Ortsbewegung auf imserem Gnmd und Boden allein 
fühlbar macht Den materiellen Dingen selbst entrücktes Schauen 
über sie hin, in die Feme vollends, soweit unser Auge reicht, ist 
ein geistigeres Verhalten, das wir als „höheren Ranges'' einzu- 
schätzen pflegen. 

Wenn wir auf der anderen Seite den Verfolg der bildenden 
Künste nicht angetreten haben, ohne ihre Vorstufen im Handwerk 
gebührend zu würdigen, so mufite auf die Anfange aller Gestaltung 
und aller schmückenden Begfleitung selbstgefundener oder selbst- 
geschaffener Werte zurückgegriffen werden. Die Grundlagen der 
Ornamentik, die nur Werte auszuzeichnen und zu umspielen, nicht 
selber darzustellen weiß, erkannten wir als Niederschlag mimischen 
Gebarens imd fanden die nämlichen Hausgesetze im Bereich der 
bildenden Künste, die für unsere räumliche Anschauungsform 
arbeiten, wie in den Künsten der zeitlichen Auffassung: Mimik, 
Musik und Poesie. Wie drunten in den Anfängen begegneten uns 
aber schlagende Analogien auch droben im weiteren Aufstieg der 
Entwicklung, oft an wichtigen Scheidewegen im Wandel der Bau- 
kunst und Bildnerei, von der bildlichen Darstellung gar nicht ein- 
mal zu reden. Doch gerade beim Übergang zu höherer Ver- 
geistigimg, von den tastbaren Körperwerten zu den sichtbaren, von 
den Sachen selbst zu ihrem Bilde, oder vollends vom nahen Sehen 
der Einzeldinge zum ferneren Schauen ihres Zusammenhangs, da 
stellte sich immer unvermeidlicher die Notwendigkeit ein, auch die 
unmittelbareren Verkünderinnen des Innenlebens zu berücksich- 
tigen. Das Wort wird der gefährlichste Nebenbuhler des Bildes» 



344 XXIII. Schluß: Ergebnisse 

Gebärdensprache und Ausdrucksbewegiing vermitteln selbst das 
steinerne Standbild des Gottes mit dem warmen Gefühl der leben- 
digen Verehrer. Gesang und Tanz und musikalische Aufführung 
umspielen den Tempel und ergießen sich in seine Räume; in der 
Ortsbewegung durch die Hallen imd Höfe lösen sich die starren 
Mauern imd die Säulenreihen in den Schein lebendigen Geschehens 
auf. Wer Mimik, Musik imd Poesie grundsätzlich von der Be- 
obachtung der bildenden Künste fernhält, begeht schon damit eine 
Einseitigkeit, die bei jedem Wendepunkt vom Körperlichen zum 
Geistigen, von den Werten des Daseins zu denen des Lebens, von 
Beharrung zu Bewegung verhängnisvoll werden muß. Beide Seiten 
des menschlichen Kunstschaffens gehören einmal von Natur zu- 
sammen und sind organisch miteinander verwachsen, wie beim 
Menschen selber die leibliche und die seelische Natur ineinander- 
wirken, oder nur zwei Erscheinungsweisen desselben Ganzen sind, 
und wie bei jeder besonderen Betätigimg dieser oder jener doch 
der ganze Mensch gegenwärtig ist und mitspielt 

Erinnern wir uns endlich, daß das Gebilde unserer Sprache, 
das wir Wort nennen und dem Bilde als dem höchsten Ergebnis 
sinnlicher Anschauung gegenüberstellen, auch wieder eine psychische 
Leistung höheren Ranges ist, zusammengewebt aus dem vokalischen 
und dem konsonantischen Bestandteil, aus Laut und Gebärde, and 
als Lautgebärde eben einen verfeinerten Auszug aus jenen Ele- 
menten darstellt, wie das Bild aus Körper und Raum, so erkennen 
wir das Gesetz des organischen Wachstums, das auf beiden Hemi- 
sphären unserer menschlichen Kunstwelt waltet, und begreifen, daß 
sich schließlich auch Wort und Bild zu verbünden, ja zu durch- 
dringen trachten, wie sie in der Einheit unseres Bewußtseins zu- 
sammenfließen. Kein Wunder also, wenn die Kunst des Wortes, die 
Poesie, und die Kunst des Bildes, die Malerei, nebeneinander ge- 
hören in einem Stufengang der inneren Entwicklung. Kein Wunder 
aber auch, wenn der organische Zusammenhang sich noch weiter 
bewährt und die übrigen Künste von beiden Seiten mit umfaßt 

Zunächst ergibt sich der Parallelismus zwischen den beiden 
Vorstufen Mimik und Plastik, Musik imd Architektur. Das erste 
dieser Paare, mit dem alle Kimstwissenschaft zu beginnen hat, 
weil es sich hier um den Menschen selber und um ihn allein han- 
delt, während die beiden anderen Paare schon Eroberungen in die 
Welt hinaus bedeuten, Mimik und Plastik, steht aber noch in einem 
anderen Verhältnis. Es sind nur die beiden Seiten einer imd der- 



Innere Organisation der Kunstwelt ^/^^ 

selben künstlerischen Auseinandersetzung des Menschen mit der 
Welt, in die er gestellt ist, und zwar die früheste, durchaus anthro- 
pistische Bewältigung dieser Aufgabe und in widerspruchsloser 
Obereinstimmung mit der eigenen Natur des Menschen selber, der 
inneren und der äußeren, in Bewegimg und Beharrung. Sie fordern 
einander und ergänzen einander, wie Dasein und Leben. Wir 
nennen sie deshalb — dies im Kern unseres Wesen wurzelnde 
Paar — Komplementärkünste. Genaue Vergleichung der anderen 
vier Schwestern lehrt, daß auch diese weiteren Auseinandersetzimgen 
mit der Welt, paarweis in einem solchen organischen Verhältnis 
stehen. Architektur und Poesie sind wiederum Komplementär- 
künste. Sie fordern einander und ergfänzen sich zu einer einheit- 
lichen und in sich vollständigen Weltanschauung in künstlerischem 
Sinne. Das dritte Paar, Malerei und Musik ergibt sich darnach 
von selbst, und dieses Verhältnis lenkt schon alle die Vergleiche 
von Architektur und Musik einerseits und Malerei und Poesie 
andererseits, die so häufig beklagte Fehlgeburten der Analogiensucht 
hervorgebracht hatten, auf einen anderen richtigeren Weg. Nicht 
Parallelismus der Erscheinungen ist allein vorhanden; wo er ver- 
sagt, wird die Komplementärwirkung weiterfuhren. Die Frucht- 
barkeit dieser Begriffe hat sich in unserer kritischen Erörterung 
selbst so überzeugend wie nur möglich dargetan: wir sind mit 
ihrem Verfolg durchaus auf historischem Boden und lassen nur die 
Tatsachen für sich selber reden. 

Wer die Plastik als fuhrende Kunst im klassischen Altertum 
anerkennt, wird auch die ergänzende Macht in der Mimik zu 
suchen — kaiun abzulehnen versucht sein. Über diese Brücke ge- 
langen wir jedenfalls erst zur Poesie, die man immer zunächst zu 
nennen pflegt, und je mehr auf dem Gebiet der g^echischen Dich- 
timg das Drama in den Vordergrund tritt, oder dramatische Be- 
handlimg auch im epischen Gang oder im lyrischen Erguß noch 
dasselbe bedeutet, was wir meinen, desto klarer erhellt das mimische 
Element als die notwendige Voraussetzung für beide. 

Dagegen sahen wir in der Spätantike die Architektur die 
fuhrende Rolle übernehmen, selbst im Ersatz des monumentalen 
Standbildes durch den Monumentalbau den Obergang auf dem nun 
selbstverständlichen Wege vor Augen stellen. Gerade die Raum- 
komposition der späteren Kaiserzeit, die Entstehung der Basilika und 
ihre Ausbildung als bevorzugter Bautypus für die christliche Kirche, 
sie fordern zur Ergänzung der zeitgemäßen Weltanschauimg die 



346 XXIII. Schluß: Ergebnisse 

Poesie, als deren Vertreter wir Virgil und Ovid ebenso wie die Ver- 
fasser der Heiligen Schriften und die Prediger des Christenglaubens 
anerkennen. Das heißt, wir kommen mit den malerischen Anwand- 
lungen des Hellenismus nicht aus, sondern brauchen seine litera- 
rische Richtung und deren Fortsetzung bei den Römern, brauchen 
die historische Wendung seit Alexander, bei Julius Cäsar und 
Tacitus, wie in der Wirksamkeit des lebendigen Wortes imter der 
Christengemeinde bis zur Festigung in dem kanonischen Gesamt- 
bestand der Bibel und zur Geschichte des Erlösungswerkes, die, 
um alle Vergangenheit in ihren Zusammenhang zu fassen, auf die 
Anfange des Menschengeschlechtes zurückgreift Die Umwandlung 
mythischer Dichtung in historische Kunst ist ja gerade der ent- 
scheidende Vorgang. Nur er belebt ims noch heute die Baudenk- 
male jener Übergangszeit vom Altertum zum Mittelalter und ver- 
leiht ihnen den Inhalt, den sie fordern. 

Damit ist aber auch das Schicksal der mittelalterlichen Kunst- 
entwicklung vorgezeichnet: von Dichtung zur Mimik, durch Mimik 
erst zur Plastik zurück. Malerei und Musik jedoch scheinen dabei 
zu kurz zu kommen; sie hätten das Recht, gegen solche Diagnose 
Einspruch zu erheben und unsere Ergebnisse imizustoßen, wenn sie 
nicht für alle Künste gleichmäßig gelten. 

Unsere Erörterung von Grundbegriffen auf dem Gebiet der 
bildenden Künste gab nur Anlaß, die Malerei erst spät im eigent- 
lichen Sinne, die Musik fast gar nicht in Betracht zu ziehen, — dem 
Stand der heutigen Forschung bei den Kunsthistorikern entsprechend. 
Das Ergebnis des ganzen Ganges lautete für erstere außerdem: die 
Entdeckung des „Malerischen" sei der Antike, trotz mancher Anläufe 
dahin, besonders in hellenistischer und spätrömischer Zeit, noch 
nicht gelimgen. Gerade darin liegt eine volle Bestätigung der 
Gültigkeit unseres Prinzips auch für dies dritte Paar von Komple- 
raentärkünsten. Wir fanden die Malerei bei den Äg3rptem im 
Bimde mit der Poesie und durch diese mit der Architektur, als 
Flächendekoration von der einen, als Illustration von der anderen 
Seite aufgefaßt Wir fanden die Vasenmalerei der Griechen im 
Bunde mit der Mimik und durch diese mit der Poesie. Wir fanden 
wohl Einzelgestalten aufgereiht in ihren Bildern, aber die Einheit nur 
in der Fläche, selbst der sphärischen der Gefäße, nicht im räumlich- 
körperlichen Erscheinungszusammenhang für das Auge, den das Ge- 
mälde als eigenes Kunstwerk vor uns hinstellt Wir fanden die 
Einheit des Vorgangs, der Fabel, der linearen, ja der körperlichen 



I 



Ceschichtiiche Entwicklung 347 

Komposition, cL h. des Gesamtumrisses oder der Gruppe; aber die 
Selbständigkeit der kleinen Welt im eigenen Rahmen ließ den ent- 
scheidenden Schritt zur Lostrennung der Malerei von den anderen 
Schwesterkünsten vermissen. In der Zeit des Hellenismus sucht 
das optisch ausgebildete Auge den Zusammenhang zwischen Kör- 
pern und Raum, gleitet aber stets wieder in die Einheit der Fläche 
zurück oder bleibt mit der alten Vorliebe an der Einheit des orga- 
nischen Gewächses hängen. Anwandlungen, den reinen Augenschein 
vor die Blicke des Betrachters zu zaubern, können damals noch 
nicht über den engen Kreis raffinierter Kenner und Liebhaber 
hinauswirken. Bis dies geschehen kann, muß die Umwertung edler 
tastbaren in optische Werte für das gemeinsame Fühlen aller voran- 
gegangen sein. Deshalb kommt sowohl das literarisch anerzogene 
Verständnis bei den vornehmen Römern, wie die Verflüchtigung 
aller Sinneseindrücke der farbigen Welt bei den Christen doch 
schließlich nicht dem Aufschwung der Malerei zustatten, sondern 
erleichtert nur die Hegemonie des Geistes, die Allmacht der Innen- 
welt, die Verquickung von Wort und Bild, der die Zukunft gehört, 
so daß die Entdeckung des Malerischen um ein Jahrtausend hinaus- 
geschoben ward. Im Bunde mit der Dichtung, der sie einst in den 
Tagen des königlichen Sängers David gedient hatte, zieht auch 
die Musik, als Gesang mit bescheidener Begleitung durch Instru- 
mente, in die christliche Kirche, und damit in die Kunst der neuen 
Weltanschauimg ein. Der Sinnenrausch, den die Leistungen der spät- 
antiken Musik hervorzubringen getrachtet, bleibt verbannt von ihrer 
Schwelle, wie der duftige Farbenzauber der spätantiken Malerei. 
Erst allmählich schleichen sich die poetisch durchdrungenen Mittel 
beider Künste, also durch die Hintertür, wieder ein, nämlich als 
willkommene Hilfen zur Gemütsbewegung und tragischen Rührung 
der Gemeinde. Martyriendarstellung und Passionsklage leiten uns 
auf die heimlichen Pfade dieser Tradition. Sonst herrscht im Bilde 
der poetische Zusammenhang; Mimik, Epik, Dramatik reichen sich 
dort die Hände. Und in der Musik überwiegt der Rhythmus, das 
Bewegungselement; er gleitet durch die begleitende Mimik von 
den Sängern im Chor ins Gefühl der Versammelten über imd be- 
lebt von dort aus im Mittelalter den Kirchenbau, so daß aus dem 
ererbten Massenbau der Spätantike der Gliederbau des entwickelten 
romanischen Stils erwächst tmd aus der Durchorganisation des 
ganzen Bauwerks von unten bis oben im Sinne mimischer Streckung 
und rhythmischer Gliederung die gotische Kathedrale hervorgeht. 



348 XXIII. Schluß: Ergebnisse 

Erst spät dann, in dem Augenblick, wo aus den Glasgemälden der 
Fenster das Tafelbild auf dem Altare geworden war, wo das be- 
wegliche Sehen der Bilder sich wieder zu ruhiger Anschauung 
vertieft, und wo diese den ganzen Kirchenraum von einem festen 
Standpunkt zu umspannen sucht, erst da eröfihet sich mit der Ent- 
deckung des Malerischen im eigensten Sinne auch die Möglichkeit, 
die Musik als Komplementärkimst dieser Schaulust zu verfolgen, 
und eine neue Entwicklung blüht auch ihr. 

So leitet unser begriffliches Ergebnis weit hinaus über den 
Rahmen der Übergangszeit vom Altertum zum Mittelalter in den 
folgenden Verlauf der Kunstgeschichte und erweist ebendadurch 
die konkrete Brauchbarkeit des scheinbar ganz abstrakten Ertrages. 
Doch vergessen wir nicht: unsere Analyse des „KunstwoUens** be- 
wegte sich, trotz aller Ausblicke in die Nachbarkünste der zeit- 
lichen Darstellungsform, doch immer auf dem gemeinsamen Boden 
der Kunst, — der Kunst allein I Nur die künstlerische Ausgestal- 
tung einer vollständigen Weltansicht ward in Betracht gezogen, 
keine Mitwirkung einer anderen Macht, selbst die Religion nur so 
weit, als sie poetische Kunstform erlangte und künstlerische Vehikel 
zu ihrer Vermittlung heranzog. Darin liegt eine Antwort auf die 
M€Tdßactc cic äXXo t^voc, die ich in Riegls „Parallele zwischen 
bildender Kunst und Weltanschauung des Altertums" (a. a. O. 217, i) 
wenigstens vorläufig noch erkennen muß.^) 

Ich leugne deshalb nicht, auch meine Lehre vom organischen 
Zusammenhang im ganzen Reiche des menschlichen Kunstschaffens 
läuft schließlich auf eine Kunstphilosophie hinaus, die darnach 
trachten muß, den weiteren Zusammenhang mit der Weltanschau- 
img zu vermitteln. Aber sie kommt von der psychologischen 
Grundlage dieses organischen Zusammenhangs selber, d. h. auf 
einem anderen Wege, durch innere Notwendigkeit der Menschen- 
natur dazu, nicht durch äußere Veranlassung und durch fremde 
Erklärungsprinzipien. Wie das Gesetz ihrer inneren Entwicklung 
auf den Wechsel und Austausch der psychischen Klräfte führt und 
uns begreifen lehrt, weshalb im geschichtlichen Gange die Hege- 
monie von der einen Kraft auf die andere übergleiten muß, wenn 
die Mittel der einen erschöpft imd abgenutzt sind, die Mittel der 
anderen aber noch in Bereitschaft liegen und Ersatz bieten, wenn 
gesteigerte Ausbildung des einen Organs auch natürliche Ermüdung 

i) Dies ist zugleich auch eine Antwort auf die Rede von Rudolf Kautzsch über 
die „Kunst und das Jenseits", die beim Druck dieses Buches erschien. 



Die Kunstwissenschaft und ihre Nachbarinnen 



349 



hervorruft und im Rückschlag darauf zum anderen, vielleicht zum 
Gegenpol hinüberdrängt, — so steht auch das Bedür&is nach künst- 
lerischer Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt wieder in 
einem ähnlichen Verhältnis zu anderen Bestrebungen und Befrie- 
digungen der Menschennatur, die eben keine künstlerischen zu sein 
brauchen, ja nicht allzu nah verwandt sein dürfen, um neuen Zu- 
wachs und andersartige Befruchtung zu bieten.^) 



Zunächst jedoch liegt mir am Herzen, der Kunstwissenschaft 
selbst etwas in die Hand zu geben, das ihr beim heutigen Stand 
der Dinge vor allem not tut, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren 
und ihre Selbständigkeit im eigenen Hause zu befestigen. Ich 
erwarte kein Heil für sie von der Vormundschaft der Kultur- 
geschichte. Die glänzenden Glaspaläste eines HippolyteXaine lassen 
den Geistreichtum anderer vorerst nicht ruhen; aber der Kunst- 
historiker sollte bald dahinterkommen, daß ihre Konstruktionen mit 
dem inneren Leben der Kunst kaum etwas zu schaffen haben« 
Diesen Kern gilt es zu erfassen und festzuhalten. 

Auf hohem Meere, wo kein Land zu winken scheint, vermag uns 
niu: ein guter Kompaß zu orientieren. Und der unsrige ist von 
eigener Art") Wie seine Nadel sich auch drehen mag, er weist auf der 
klargeteilten Zone immer auf die Verbindung zwischen zwei diametral 
einander entgegengesetzten Stellen hin, daß wir im Verfolg der einen 
Richtung doch nie der anderen zugehörigen Seite des Paares ver- 
gessen. Der Weiser selbst hält, auf sein Ziel gerichtet, dem Auge 
des Schiffers überall gegenwärtig, daß die Drehung nach dieser oder 
nach jener Seite der Peripherie doch immer die Reihe der anstoßen- 
den Segmente durchlaufen muß, d. h. daß der Obergang von einem 
zum anderen Kurs nur durch diese Folge, von einer zur anderen 
Nachbarin möglich ist, wenn nicht nach allzu heftigem Sturm ein plötz- 
licher Umschwung in die direkt entgegengesetzte Richtung eintritt 
Nur diese drei Wege der Abwandlung sind gegeben, imd sie eben 
beruhen auf der eigentümlichen Anlage der Menschennatur selbst, 
die diese Welt der Kunst aus sich geboren hat imd durch ihren 
eigenen inneren Wandel auch deren äußeres Schicksal wesentlich 

i) Erst bei der letzten Korrektur dieses Bogens kann ich noch auf die kleine 
Schrift von Wilh. Waetzoldt „Das Kunstwerk als Organismus, ein ästhetisch- 
biologischer Versuch", Leipzig, Dürr, 1905 hinweisen. Ich finde darin manche Bestä- 
tigung meiner früheren Ausführungen, die dem Verfasser unbekannt geblieben scheinen. 

2) Vgl. Beiträge zur Ästhetik der bildenden Künste III (1896), S. 229. 



350 XXIII. Schluß: Ergebnisse Die Kunstwissenschaft und ihre Nachbarinnen 

bestimmt Es verlohnt sich, die historische Entwicklung auch femer 
auf dieses Gesetz des organischen Zusammenhangs und des psychi- 
schen Elräftespiels zu prüfen. Für die gemeinsame Arbeit der 
Kunstwissenschaft ist hier eine willkommene Unterlage zur Ver- 
ständigung gewonnen, die sich immer fruchtbarer bewähren wird, 
je mehr die Kunsthistoriker auch der Geschichte der Literatur imd 
der Musik wie der Rolle ihrer Mittlerin Mimik an rechter Stelle 
die Aufmerksamkeit zuwenden, die ihnen gebührt, weil di§ Künste 
der zeitlichen Auffassung einmal demselben Mikrokosmus ange- 
hören, wie die der räumlichen Anschauung, die wir getrennt zu ver- 
folgen doch nur aus Not der Arbeitsteilung übereingekommen sind. 

Wer sich die Eigenart der Architektur, der Plastik, der Malerei 
erst völlig klargemacht hat und das innerste Ziel ihres besonderen 
Wollens im Bewußtsein lebendig hält, dem muß auch die Erkennt- 
nis aufgehen, daß jede Hauptmacht auf dieser Hemisphäre der sinn- 
lichen Anschauimg ihr Widerspiel auf der anderen fordert, und daß 
deren Zusammenwirken erst die Menschennatur vollauf nach ihren 
beiden Seiten befriedigen kann« 

Die „Grenzen der Künste", die wir allein nach Technik und 
Material zu bestimmen versuchen, sind relativ, gegeneinander ver- 
schiebbar, je nach den Tendenzen des KunstwoUens. Wo z. B. der 
Hang zum Plastischen ehedem, zum Malerischen heute die Ober- 
hand gewinnt, da müssen auch die Stoffe sich fügen und die tech- 
nischen Prozeduren sich dazu hergeben. Dort werden Baukunst 
und Malerei selbst plastisch gerichtet, hier Plastik und Architektur 
zur malerischen Erscheinung verbunden« So ist auch für die Charak- 
teristik der Spätantike und des Obergangs ins Mittelalter die Frage 
nach dem Verhältnis der Künste untereinander die grundlegende 
Hauptsache. Die Antwort darauf gibt erst den Schlüssel ziun Ver- 
ständnis des ganzen Umschwungs. Über das herrschende Kunst- 
wollen einer Zeit orientiert uns aber nur die Kontrolle im Vergleich 
mit der Wesensbestimmung der Einzelkünste, die Eigenart ihrer 
Stellung im Organismus der menschlichen Anlage und die genaue 
Beobachtung des Wechsels im Haushalt der Kräfte. Diese Unter- 
schiede und diese Verschiebungen beruhen auf psychologischen und 
physiologischen Gesetzen, das heißt auf den Grundlagen der 
Menschennatur und deren Entwicklung selber: 

„Sie sind notwendig wie des Baumes Frucht" 



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