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GRUNDBEGRIFFE
DER KUNSTWISSENS(iHAFT
AM ÜBERGANG VOM ALTERTUM ZUM MITTELALTER
KRITISCH ERÖRTERT UND IN SYSTEMATISCHEM
ZUSAMMENHANGE DARGESTELLT
VON
AUGUST SCHMARSOW
I
1905
LEIPZIG UND BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER
FA do'i'Z
Harvard College Library
Gift of
James Loebj
May 7, 1909
ALLE RECHTE, EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN.
\
Vorwort
Eine kritische Erörterung von Grundbegriffen der Kunstwissen--
Schaft in systematischem Zusammenhang will selbstverständlich der
Allgemeinheit dienen^ die sich auf wissenschaftlichem Wege jeweilen
um die Erkenntnis der Kunst bemüht. Da scheint es dem höheren
Zweck der Aufgabe zu widersprechen^ wenn hier die Darlegung an
eine bestimmte Periode der historischen Entwicklung geknüpft wird.
Ein einzelner Zeitraum der Kunstgeschichte kann niemals alle Er-
scheinungen zugleich in vollem Maße darbieten; denn die EntfaU
tung ist an mancherlei Bedingungen gebunden. Jede Betrachtung^
die sich so beschränkt, wird auf den einen oder den anderen Teil
der begrifflich denkbaren Möglichkeiten verzichtest und die Grund-
anschauungen aus den verschiedenen Gebieten weder vollzählig vor-
führen noch erschöpfend behandeln können. Wer aber diesen unleug-
baren Nachteil in den Kauf nimmt, mag dadurch andererseits sich
große Vorzüge sichern. Mit den übersehbaren Grenzen gewinnt er
konkrete Bestimmtheit und gleichartigen Charakter aller Beispiele,
die unter sich in fühlbarer Verwandtschaft stehen^ eben weil sie durch
die nämliche Zeit bedingt sind. Auch in reicher Abwandlung werden
sie ein Ganzes bilden. Gelingt es vollends einen Ausschnitt aus dem
Gange der Entwicklung vorzunehmen, der auch Gegensätze von durch-
greifender Art in sich vereinigt, so kann der Gewinn^ der mit jenem
Verzicht auf Vollständigkeit eingetauscht wird, so stark überwiegen,
daß kein Historiker zweifeln wird, auch bei dem allgemeinen theore-
tischen Zweck sich für die Wahl eines solchen bedingten Schau-
platzes zu entscheiden. Dazu kommt aber in unserem Fall noch ein
besonderer Grund.
Die wünschenswerten Eigenschaften finden sich kaum irgendwo
in solcher Fülle und in solcher vermeintlich unvereinbaren Gegen-
sätzlichkeit beisammen, als in der Übergangszeit zwischen Altertum
und Mittelalter^ an deren Verständnis gerade jetzt wieder lebhaft
a»
IV Vorwort
gearbeitet wird. Das Wesen der spätaniiken Kunst zu begreifen,
ist ein Anliegen, das zu den wichtigsten und entscheidendsten unserer
Wissenschaft gehört. Ja, es ist, wie ein hochverdienter Forscher
bekennt, „das einschneidendste Problem in der ganzen bisherigen Ge*
schichte der Menschheit^* überhaupt})
Die Voraussetzung für solch ein allgemein gültiges Ergebnis
ist aber eine Verständigung über die Grundbegriffe der Kunst'
Wissenschaft, die uns bei all den fragwürdigen Erscheinungen als
Maßstab dienen sollen, und über die Terminologie, die bei solcher
gemeinsamen Forscherarbeit unentbehrlicher wird als sonst irgendwo
auf getrennten Wegen» Hier, wo es sich um die Übergangszeit vom
Altertum zum Mittelalter und zu allen folgenden Perioden handelt,
muß das Einvernehmen über die Grundbegriffe und die kurzgefaßten
Bezeichnungen wiederkehrender Merkmale zwischen zwei bisher ziem-
lich weit getrennten Lagern erzielt werden, der klassischen Archäo-
logie auf der einen und der neueren Kunstgeschichte auf der anderen
Seite, zwischen denen noch heute fast nur die altchristliche Ikono-
graphie und die Frage nach der Genesis der altchristlichen Basilika
zu vermitteln versuchen oder die Zankäpfel hinüber- und herüber-
werfen. Hier bietet sich also erwünschte Gelegenheit, die längst
notwendig gewordene Annäherung beider Disziplinen auf andere
Weise wenigstens anzubahnen.
Wie ich schon früher versucht habe, zur Verständigung über
das Wesen der einzelnen Künste und ihres gegenseitigen Verhält-
nisses beizutragen, wähle ich jetzt ebendeshalb diese Übergangszeit,
um an ihr die Grundbegriffe der Kunstwissenschaft zu bewähren,
soweit sie eben für solches Einvernehtnen bei der Losung des spät-
antiken Problems in Betracht kommen. Bei ihrer kritischen Er-
örterung schließe ich mich in erster Linie an das großangelegte und
lehrreiche Werk von Alois Riegl über die „Spätrömische Kunst-
industrie"* (Wien igoi) an, weil es nach der ausgesprochenen Absicht
des Verfassers hauptsächlich der Behandlung großer prinzipieller
Fragen gewidmet ist (S. ijp)- Bisher ist nur der erste Band, der die
Kunst der führenden Mittelmeervölker behandelt, erschienen. Aber
wenn es möglich wärCy eine Klärung der Sachlage im weiteren
Kreise aller Beteiligten zu erreichen, so sollte es alsbald geschehen,
bevor noch der zweite für die Kunst der neu eintretenden „Barbaren*^
i) spätrömisch oder orientalisch r Beilage zur Allgemeinen Zeitung, München
jgo2, S. ijjff. und 102 ff.
Vorwort V
au/gesparte Band abgeschlossen wird; denn die Auffassung dieser
Träger der Zukunft geht die Erforschung aller folgenden Perioden^
besonders aber des Mittelalters so viel näher an und muß auf die
Weiterentwicklung der Kunstgeschichte im engeren Sinne bestimmen-
den Einfluß gewinnen. So liegt alles an einer gewissenhaften und
ehrlichen Prüfung der Anschauungen und Prinzipien, die in Riegls
Werke walten, — d, h. an einer mühsamen Arbeitsleistung, der sich,
soviel ich weiß, bisher niemand unterzogen hat. Der vorliegende erste
Band gliedert sich in vier Abschnitte, in denen die einzelnen Künste
besprochen werden: Architektur — Skulptur — Malerei — und
Kunstindustrie. Dem aufmerksamen Leser des Ganzen kann jedoch
nicht entgehen, daß die Erweiterung über die ursprüngliche, im
Titel allein bezeichnete Aufgabe hinaus, den große?i prinzipiellen
Fragen zuliebe erst später hinzugekommen ist, als die Fundamente
bereits gelegt waren. Auf den Grundstock selbständiger Forschung
stoßen wir in dem Kapitel über die spätrömische Kunstindustrie,
das nach der Absicht der Auftraggeber den einzigen Inhalt des
Buches bilden sollte, andererseits aber in der Abhandlung zur
Geschichte der Relief kunst, die sich unter dem Gesichtspunkt der
Flächendekoration am unmittelbarsten an jene Studien anschließt.
Hier liegen {in II und IV) die wertvollsten Ergebnisse der eigen-
artigen Untersuchung ausgebreitet, durch die sich Alois Riegl ein
bleibendes Verdienst erworben hat, wie durch seine frühere Schrift:
Stilfragen, Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik
{Berlin i8pj). Im Vergleich mit diesen beiden Bestandteilen treten
die anderen an Gehalt und Durchführung zurück, wenn die ganze
Tragweite der Betrachtungsweise für die große Kunst auch in ihnen
erst einzuleuchten vermag. Das Kapitel über die Malerei, das Re-
lief kunst und Flächendekoration eigentlich vermitteln sollte, hat,
nach dem eigenen Bekenntnis des Verfassers, aus äußeren Gründen
etwas dürftig ausfallen müssen.^) Die statuarische Kunst fehlt
fast ganz, und wenn dies auch mit dem Mangel an Statuen ifi spät'
römischer Kunst sich von selber rechtfertigen mag, so wird bei den
prinzipiellen Fragen doch nicht ohne Rücksicht auf das volle plastische
Ideal des klassischen Altertums auszukommen sein. Zum letzten ein-
heitlichen Grunde aller Erklärung läßt sich nicht hindurchdringen,
wenn die Darstellung des Menschen und damit der lebendige Mensch
selbst, als schöpferisches wie als genießendes Subjekt, nicht in den
j) Beilage zur Allg, Zeitung a. a. (?., ^^ i6j.
VI Vorwort
Mittelpunkt alles künstlerischen Wesens gestellt wird. Nur so
ergibt sich auch der durchschlagende Gegensatz zwischen dem klassischen
Altertum und seinen Vorstufen wie seinen Ausgängen^ nur so mit
dem Verfall der einen Triebkraft zugleich der Aufstieg der anderen^
die^ wieder freigeworden, das Wachstum des Neuen bestimmt. — Zu
unvermittelte und äußerliche Übertragung der an Kleinkunst und
Flächenschmuck gewonnenen Gesichtspunkte^) stört in dem Kapitel
über die Architektur^ der in der Reihe der Künste ,,der Vortritt
gebührt**^ und im Buche selbst auch eingeräumt wird. In diesem
ersten Abschnitt vermißt^ wie schon Jos. Strzygowski hervorgehoben
hat^ der uneingeweihte Leser bei der grundlegenden Einführung
in die Untersuchungsmethode die Auskunft über die selbstgebildete
Terminologie des Verfassers und die Motivierung seiner Ausdrucks-
weise. Oft muß auch der vorbereitete Fachgenosse die authentische
Interpretation erst in den späteren Kapiteln^ ja im letzten Abschnitte
suchend) Und im Verfolg treten auch Verschiebungen und Fort-
schritte^ die sich während der Arbeit an den Teilen herausgebildet
haben, unverkennbar zutage. Ein Zuwachs neuer Gesichtspunkte
dringt da und dort herein, wird aber nicht mehr vollkommen ange-
eignet, noch folgerichtig durchgeführt.
Der Absatz über die altchristliche Basilika ist nach Riegls An*
gäbe, im Jahrbuch der K. K. Zentralkommission für Kunst- und
Historische Denkmale (Bd. I, S. 21 jf) ipoj, vor fünf Jahren, also
i8g8 niedergeschrieben. Das Kapitel über die Architektur steht
unter dem frischen Eindruck meiner einleitenden Erörterungen zu
„Barock und Rokoko'* {Leipzig iSgj) über das Malerische in der
Baukunst und die Unterschiede des architektonischen, des plastischen
und des malerischen Standpunktes, der Relief und der Bildan-
schauung. Auch in den ungemein dankenswerten Beiträgen zur
Geschichte des Reliefs begrüße ich mit Freuden die Wirkung meines
folgenden Bändchens über Plastik, Malerei und Reliefkunst {i8gp),
wo zwischen der abtastenden Nahsicht und dem rein optischen Fern-
bilde eine Mittelregion des bequemen Sehfeldes anerkannt wird, in
der sich beide Faktoren ausgleichen {Riegls Normalsicht\ Einen
1) Z, B. S. so, S7f't ^^o/., ij6.
2) Beilage %ur AÜg, Ztg. igo2, No. 40 u. 41 „Hellas in des Orients Umarmung*^,
S) Dort auch wird uns erst vollkommen klar, wie etile Anschauungen Riegls, die von
der Flächendekoration ausgegangen sind, zu Widersprüchen führen müssen (vgl, a. a, O.,
5. Ji, Anmerkung), wenn die Eigenart der einzelnen Künste und die Besonderheit ihres
KunstwoUens nicht anerkannt wird.
Vorwort VII
besseren Bundesgenossen für die Auffassung tastbarer Körperwerte
und der kubischen Natur des statuarischen Gebildes , gegenüber
Adolf Hildebrands Vorliebe für das Fernbild, hätte ich mir gar
nicht wünschen können, wenn ich auch die Bezeichnung ,,Ebene'* für
eine stoffliche Oberflächenschicht, die zuweilen schon recht fühlbare
Dicke oder Tiefe hat, nicht anzunehmen vermag und unter ,fRaum''
nicht einfach und überall den ,,Tiefraum*^ im eminenten Sinne ver-
stehen kann. Das sind gefährliche Abkürzungen , die sich aus Ge-
wohnheitsausdrücken zu Denkfehlern entwickeln, von einem so ernsten
Forscher jedoch gewiß schnell wieder abgestoßen werden, sowie die
Möglichkeit irreführender Mißverständnisse einmal erkannt worden
ist. Die Übereinstimmung in vielen entscheidenden Hauptsachen,
die uns verbindet, enthält für mich den Aufruf, in eingehender Ab-
rechnung darzutun, ob sich bei konsequenter Verwertung meiner ein-
heitlich durchorganisierten Kunstlehre nicht auf dem eingeschlagenen
Wege weiter gelangen und der befriedigenden Lösung des spät-
antiken Problems noch näher kommen ließe.
Dies wäre freilich nur erreichbar bei Anerkennung der selbstän-
digen Natur jeder der bildenden Künste im Unterschied von ihren
Nachbarinnen, auch wenn die durchgehende Gemeinschaft des ein'
mutigen „Kunstwollens'^ einer Zeit in allen vorausgesetzt wird. Die
Leugnung eines spezifischen Relief stils kann z, B. nur für eine
Übergangsperiode gelten, die im Schwanken zwischen plastischer und
malerischer Anschauung das Bewußtsein eines entschiedenen Willens
verliert, wie eben die Spätantike. Wenn historisch betrachtet eine
Verschleifung vorliegt, bleibt doch prinzipiell der Unterschied be-
stehen und erleichtert die Erkenntnis wie die Charakteristik eben-
jener Schwankungen und Irrgänge, — In der Architektur kan?t
uns über die einseitige Bevorzugung des „Monumentalstils'* nur die
Beachtung des Wohnbaues und seiner Schöpfung, des Bewegungs-
raumes, hinweghelfen. Wenn nicht die Erfinder, so doch die Ver-
fechter des „Materialstils** sind auch die beschränktesten Vertreter
des Monumentalen, d, h. die nämlichen „Kunstmaterialisten'*, gegen
die Biegt zuweilen in heiligem Zorn erglüht. Dauernd kann er mit
ihnen au^h auf der anderen Seite nicht gehen wollen. Deshalb
hoffe ich auf ein baldiges und vollständiges Einvernehmen mit ihm.
Für die Malerei des ausgehenden Altertums luzbe ich jedoch zur
Ergänzung auch Franz Wickhoff s Einleitung zur „Wiener GenC'
sis** {iSps) berücksichtigt, zumal da die abweichenden Ansichten
Riegls von besonders ausschlaggebender Bedeutung sind, aber auch
VIII Vorwort
wohl ZU weit gehen. Wtckhoff^) hat der klassischen Archäologie ohne
Zweifel einen großen Dienst geleistet^ indem er durch Ausblicke in die
neuere Kunstgeschichte gerade der vernachlässigten Behandlung der
Spätantike neues Leben einzuflößen versucht. Aber diese Ausblicke
wirken gelegentlich auch verwirrend und schweifen vom historischen
Gange ebendort abj wo strenges Festhalten geboten war* Parallelen
mit der Kunst des Mittelalters^ der Rcfiaissance und vollends des
Barock oder der Neuzeit werden in der nachstehenden Erörterung
grundsätzlich vermieden. Ich bin der Überzeugung^ daß von dem
^.vollendeten Kreislauf der antiken Kunst'* vorerst besser gar nicht
geredet wird, und daß die Vergleiche ganzer Perioden hüben und
drüben mehr Unheil anrichten, als Nutzen bringen. Doch das sind
Fragen der historischen Darstellung, die kaum in Betracht kommen,
solange sich noch die Prüfung des gemeinsamen Rüstzeugs als
dringende Aufgabe herausstellt.
Bei der begrifflichen Auseinandersetzung muß desto größere
Umsicht und Genauigkeit zur Anwendung kommen. Oberflächliche
Leute, die eine eindringliche, doch immer auf positive Errungen-
Schäften ausgehende Kritik nicht von streitsüchtiger, aber meist un-
fruchtbarer Polemik zu unterscheiden wissen, viögen das wortgetreue
Verfahren für peinlich halten. Sachverständige, die gleich uns die
Zusammenhänge der Erscheinungen tiefer zu erfassen suchen, werden
begreifen, daß es sowohl dem Autor eines bedeutsamen Werkes wie
den eigenen Arbeiten des hier mitredenden Verfassers gegenüber
Pflicht war, die Abrechnung zwischen beiden, oft so nah verwandten
Standpunkten voll und ganz zu geben. Es wäre allerdings möglich
gewesen, die Meinungsverschiedenheiten ganz ohne Namen zum Aus-
trag zu bringen; aber ein so unpersönliches Exercitium logicum
schien mir ein Unrecht gegen einen Mann, der sich neuerdings
nicht allein über die fortgesetzten leidensclwftlichen Angriffe ein-
zelner, sondern auch über die Teilnahmlosigkeit der übrigen Forscher
beklagt. Es wäre auch ein Unrecht gegen mich selbst, der zu ahn-
liehen Klagen Anlaß hätte, sich aber in der Beharrlichkeit und
i) Die beiden prachtvoll CMSgestaiteten und sehr teuem Werke der Wiener Fach-
genossen sind unter so speziellen und für den Gesamtitütalt unbezeichnenden Titeln er-
schienen, daß ich wie mancher andere Kunsthistoriker erst spät auf sie aufmerksam
geworden bin. Dagegen bekenne ich mich dankbaren Sinnes, wie zu Schnaase,
G, Semper, Fr, Th, Vis eher u, a,, besonders auch zu A, v. Eye, dessen Ansichten
ich zum Teil aus voller Überzeugung angenommen (Ornamentik) oder weiter entwickelt,
zum Teil berichtigt und umgewandelt habe.
Vorwort IX
Zuversicht, mit der er sein Ziel verfolgt, ebensowenig beirren läßt.
Wahrhaftigkeit der Gesinnung muß sogar aus entschiedener Ab-
lehnung einzelner Ansichten und lebhafter Verwahrung gegen Fehl-
griffe noch hervorleuchten und wird wohl ihre versöhnende Kraft
bewähren. Eine solche Kritik, bei der ich gegen den böswilligen
Namen „Polemik*' protestiere, bedeutet im Grunde die höchste Ehre,
die man den Leistungen eines mitstrebenden Fachgenossen anzutun
vermag. Ausübende Künstler (wie Hildebrand und Klinger, die
zur Feder gegriffen haben) mögen heutzutage als Orakel gelten,
das keinen Appell an höhere Instanzen gestattet; unter uns Männern
der Wissenschaft wollen wir solchen Auktoritätsglauben doch lieber
nicht einbürgern, wohl aber uns ehrlich die Hand reichen, wo es not
tut, mit vereinten Kräften vorzudringen.
Ich bin mir wohl bewußt, daß die nachfolgende Erörterung von
Grundbegriffen der Kunstwissenschaft durch näheren Anschluß an
unsere heutige Ästhetik noch hätte gewinnen können. Eine Verstän*
digung, zunächst mit Theodor Lipps, der selbst vom eifrigen
Studium Gottfried Sempers ausgegangen ist, wäre wie seine
„Grundlegung der Ästhetik'^ die ich soeben erst vornehmen kann,
erkennen läßt, willkommen gewesen. Aber die heute noch unter den
Kunsthistorikern vorherrschende Abneigung gegen alles „Ästhetische^''
läßt keinen Zweifel, daß es richtiger war, wenn ich mich diesmal
auf den engeren Kreis der Fachgenossen und auf die notwendigsten
Auseinandersetzungen beschränkte, wie schon die Fülle der geschieht-
liehen Tatsachen gebot.
Gelingt es, die Gesinnungsgenossen zur erneuten Prüfung auch
nur der wesentlichsten Unterschiede heranzuziehen, das Gemeinsame
festzuhalten und Absonderlichkeiten des Einzelnen abzustreifen, so
wird sich die weitere Klärung von beiden Seiten schon selber Bahn
brechen.
Schmarsow.
INHALTSÜBERSICHT
Seite
I. Einleitung i — 14
IL Kritik einiger Beispiele 15 — 29
^ III. Menschliche Organisation 30 — 44
l IV. Menschengeist und Außenwelt 45 — 54
V. Die drei Gestaltungsprinzipien A: Symmetrie und Proportio-
nalität 55 — 69
VI. Die drei Gestaltungsprinzipien B: Altemierende Reihung —
Zentrale Symmetrie 70 — 83
VII. Die drei Gestaltungsprinzipien C: Rhythmus 84 — 99
VIII. Herstellungsmittel: Körper — Linie 100 — 115
IX. Die Farben als Kunstmittel 116 — 131
X. Kleidung — Kunsthandwerk 132 — 146
XL Tektonik 147 — 164
XIL Monumentalität 165 — 179
XIIL Wohnbau — Sakralbau — Monument 180 — 195
XIV. Zentralbau und Kristallisation 196 — 211
XV. Langbau und Organisation 212 — 228
XVI. Monumentale Plastik 229—244
XVII. Plastische Darstellung des Menschen 245 — 262
XVIIL Reliefkunst 263—278
XIX. Malerei 279 — 294
XX. Auflösung des plastischen Reliefstils 295 — 309
XXI. Metamorphose des Bildes 310 — 325
XXII. Geistige Mächte in der darstellenden Kunst 326 — 341
XXIIL Schluß: Ergebnisse 342 — 351
I.
EINLEITUNG
GOTTFRIED SEMPER — ALOIS RIEGL
Die Grundbegriffe der Kunstwissenschaft sind immer abhängig
von den herrschenden Vorstellungen über das Wesen der Kunst
und die Natur des künstlerischen Schaffens. Wenn die letzteren
sich verschieben, ergibt sich auch bald das Bedürfnis, die ersteren
einer Berichtigimg tu unterwerfen. Vollzieht sich jener Wandel der
allgemeinen Anschauungen langsam und in der Stille, so geht auch
die Anpassung der Begriffe fast unvermerkt vor sich und bleibt
der Denkart oder wohl gar dem Gefühl des einzelnen überlassen.
Kommt aber ein durchgreifender Umschwung zum Bewußtsein, dann
wird auch der Widerspruch gegen die landläufige Betrachtungs-
weise laut. Dann versagt der Hauptzweck einer gemeinsamen Aus-
drucksweise zur Verständigung. Zwischen den Mitarbeitern, auf
dem nämlichen Gebiete sogar, stellen sich Mißverständnisse tief-
greifender Art heraus, die zunächst dem dritten auffallen, bald aber
auch den beiden Beteiligten aufgehen müssen, indem sie fortgesetzt
unter einem und demselben Worte etwas ganz Verschiedenes
denken. Nicht nur der Austausch der Meinungen, auch der Aus-
gleich der Urteile will nicht mehr vonstatten gehen, wie er soll.
In einem solchen Übergangszustand befindet sich die Kunst-
wissenschaft eben jetzt Die Vorstellungen vom Wesen des Kunst-
schaffens und von der Entstehung der Kunstformen, die während
der letzten dreißig bis vierzig Jahre geherrscht haben, vermögen
nicht mehr das imentbehrliche Rüstzeug zu liefern. Vielleicht
haben sie auch während dieses vergangenen Zeitraumes gar nicht
überall gleichmäßig Anerkennung gefunden, sondern nur bei den
Archäologen und ihrer Schuldisziplin zu durchgehender Annahme
gelangen können, in dem vielgestaltigen Gebiet der mittelalterlichen
und neueren Kunstgeschichte dagegen schon immer eine Ergänzung
Schmarsow, Knnstwiasenschaft. 1
2 I. Einleitung
und Verbesserung von anderen Standpunkten her erfahren. Am
Ende bedurfte die Fortfuhrung dieser Unterschiede nebeneinander
erst eines besonderen Anlasses, um sich fühlbar zu machen. Ein Zu-
sammenstoß der völlig verschiedenen Voraussetzungen mußte not-
wendig nur dort erfolgen, wo von beiden Seiten derselbe Gegen-
stand in Angriff genommen wurde, oder wo sich beide Richtungen
auf einem gemeinsamen Arbeitsgebiet begegneten. Solch eine
Grenzregion ist zum Beispiel die Zeit, die wir die spätantike oder
die frühchristliche benennen, je nachdem man vom einen oder vom
andern Ausgangspunkt herkommt. Sie ist von der sogenannten
klassischen Archäologie lange vernachlässigt und als eine Zeit des
Verfalls ungern behandelt worden, von der christlichen Archäologie
desto eifriger, aber vorwiegend nach inhaltlichen Gesichtspunkten
bestellt, die das künstlerische Schaffen und die Natur des Kunst-
werks fast völlig außer acht lassen. Erst neuerdings ist „das spät-
antike Problem auf die Tagesordnung der wissenschaftlichen
Forschung gesetzt" und zwar als kunstgeschichtliches im engem
Sinne, d. h. als durchgehendes Entwicklungsproblem, das geradezu
den Zusammenhang zwischen Altertum und Mittelalter oder neuerer
Zeit überhaupt herstellen muß, das also nicht eher von der Tages-
ordnung verschwinden darf, als bis eine allgemein befriedigende
Lösung dafür von beiden Seiten und für beide Nachbarn gefunden
sein wird. Alle Kunsthistoriker, die den Zusammenhang der Er-
scheinungen hüben und drüben tiefer zu fassen suchen, sind sich
gegenüber dieser schwerverständlichen, so vielfach dunkeln und
widerstehenden Zwischenregion bewußt, daß die Arbeit, die nun
geleistet werden soll, der harten Durchbohrung eines Grenzgebirges
gleicht. Da ist zweierlei Gefahr vorhanden: entweder man geht
von jeder Seite nach wie vor seinen eigenen Weg, ohne sich um
den andern zu kümmern, und geht schließlich aneinander vorbei;
oder man trifft zusammen und platzt aufeinander, wie zwei feind-
liche Heere, deren keines die Sprache des andern versteht. Da ist
es an der Zeit, wenigstens die Waffen und die Werkzeuge ver-
gleichend zu prüfen, womöglich die Mittel und Wege zu verein-
baren, selbst wenn es dahingestellt bleiben müßte, ob eine Voraus-
berechnung des Arbeitsplanes, die ein sicheres Entgegenkommen
gewährleistet, schon jetzt erreichbar wäre. Eine Revision der ge-
meinsamen Terminologie gehört jedenfalls zu den ersten Bedingfungen
einer wünschbaren Verständigung. Mit ihr aber muß die Richtig-
stellung der Grundbegriffe Hand in Hand gehen.
Gottfried Semper und Alois Riegl 3
Wenn wir dem Zeugnis eines mitten im Kampfe stehenden
Kunstforschers vertrauen dürfen, so hat in den Schulen der klassischen
Archäologie und der Kunstgeschichte des Altertums überhaupt bis-
lang eine Vorstellung vom Wesen des Kunstschaffens geherrscht,
die sich — durchaus mit Unrecht — noch immer auf die Autorität
des großen Architekten und gelehrten Kenners Gottfried Semper
beruft. Nur dem gänzlich mißverstandenen und leider unvollendeten
Werke Gottfried Sempers über den „Stil in den technischen und
tektonischen Künsten", dem der dritte der Architektur zugedachte
Teil fehlt, hat jene Theorie entnommen werden können, der zufolge
das Kunstwerk nichts anderes sein soll, als „ein mechanisches
Produkt aus Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik". Diese Lehre,
für deren Aufstellung der baumeisterliche Mann, mit dessen Namen
man sie deckt, viel zu hoch von der eigenen künstlerischen Tätig-
keit dachte imd viel zu viel Ehrfurcht vor der historischen Über-
lieferung aller älteren Kunstperioden bekannte, hat in den Reihen
der mittelalterlichen \md neueren Kunstforschung wohl niemals so
weitgehende Verbreitung gefunden, wie ihr nachgesagt wh-d. Wer
Schnaase, Rumohr und Burckhardt zu lesen gewohnt ist, muß auch
Semper richtiger verstanden haben, wenigstens so weit, um das ent-
scheidende Wort „mechanisch" nicht in seine Formel für das Pro-
dukt der technischen Künste einzuschmuggeln, nachdem Semper
selbst sogar diesem Beinamen „technisch" eine ironische Auslegung
gegen die verstockten „Materiellen" beigegeben hatte. Im Gegen-
satze zu dieser mechanischen Auffassung muß aber Alois Riegl,
der Historiker des antiken Ornaments und der Erklärer der „Spät-
römischen Kimstindustrie", aufgewachsen sein, der seit einem Jahr-
zehnt etwa gegen jenes „Dogma einer materialistischen Metaphysik"
eine andre Auffassung verficht, die er selbst als „teleologische" be-
zeichnet Er setzt ihr die Lehre vom absoluten Kunstwollen ent-
gegen und erblickt im Kunstwerk „das Resultat eines bestinmiten und
zweckbewußten KunstwoUens, das sich im Kampfe mit Gebrauchs-
zweck, Rohstoff und Technik durchsetzt". „Diesen drei letzteren
Faktoren käme darnach nicht mehr jene positiv schöpferische Rolle
zu, die ihnen jene materialistische Theorie zugedacht hatte, sondern
eine hemmende, negative: sie bilden gleichsam die Reibungskoeffi-
zienten innerhalb des Gesamtproduktes".
Damit stünden wir freilich noch in dem Bezirk der „technischen
und tektonischen Künste", in dem der Gebrauchszweck eine so
entscheidende Rolle spielt, daß sowohl die „Idee" bei Semper, der
1*
^ I. Einleitung
doch der Stoff dienstbar (I, xv) sein soll, als auch das „Kunst-
wollen" bei Riegl, „das sich jeden Rohstoff und jede Technik
dienstbar macht, anstatt sich von ihnen beherrschen zu lassen"
(S. 138, Anm.), bis zu einem gewissen Grade sich mit ihm identifi-
zieren oder verbinden können. Eine völlige Loslösimg des Kunst-
wollens, so daß wir imstande sind, es durchaus selbständig zu er-
fassen, tritt wohl erst im freien Kunstschaffen der Plastik imd
Malerei hervor, nachdem es in der Architektur allmählich sich los-
gerungen. Aber Riegl hat, seitdem er sich mit der Geschichte der
Kunstindustrie zu beschäftigen begonnen, auch stets, selbst ange-
sichts des geringsten Gebrauchsgegenstandes gefragt: „wie spiegelt
sich darin der Charakter der gleichzeitigen Architektur, Skulptur
und Malerei?" Und so vermochte er, wie er meint, auch in diesen
Künsten das Walten der gleichen Triebkräfte nachzuweisen wie in der
spätrömischen Kunstindustrie (BeiL z. AUg. Ztg. 1902, 163 f.) und hat
seine Aufgabe „möglichst gleichmäßig für alle vier Gebiete der bilden-
den Kunst" durchzuführen unternommen. Mit dem „Kimstwollen" als
leitendem Faktor in der Entwicklung wissen nur die älteren in der
bisherigen Auffassung befangenen Forscher noch nichts anzufangen.
Aber sie gehören einer zurückgebliebenen Generation an, die „sich
heute anschickt, einer andern, neuen Zielen zugewandten Platz zu
machen". So ist Hoffnung auf gründlichen Wandel, und es verlohnt
sich, den neuen gemeinsamen Zielen den Weg zu ebnen, indem
wir die Grundbegriffe der Kunstwissenschaft zwischen beiden
Generationen erörtern, um so eine Verständigung zu erleichtem.
„Eine kunsthistorische Betrachtungsweise, die hinter die ober-
flächliche Erscheinung der Dinge zu dringen trachtet", gesteht auch
Alois Riegl selbst, „muß sich naturgemäß erst ihre dialektischen
Ausdrucksmittel schaffen, die nicht von jedem im ersten Momente
verstanden werden können." Und wenn es sich dabei außerdem
noch um die Erschließung wesentlich neuer Gebiete handelt, so be-
darf es bereitwilligen Entgegenkommens imd gewissenhafter Nach-
prüfung jedenfalls. Gerade in solchem Ringen einer neuen Auf-
fassung mit der bisher gangbaren ergibt sich aber auch die will-
kommenste Gelegenheit, die Brauchbarkeit oder Unzulänglichkeit
der ererbten Grundbegriffe zu erproben. Geschieht es doch nicht
selten, daß der Begründer einer neuen Einsicht noch selber einen
Rest der gewohnten Anschauungen beibehält oder sich in her-
kömmliche Vorurteile verstrickt, die ihm unmöglich machen, die
Tragweite seiner eigenen Entdeckung vollauf zu ermessen und die
Das Kunstwollen e
befreiende Kraft des eigenen Fortschritts in ihrem ganzen Wirkungs-
kreise durchzuführen. Andrerseits begegnet es im Streit gegen
eine herrschende Meinung, die man für irrig hält, nur allzuleicht,
daß man die eigne entgegengesetzte Ansicht einseitiger formuliert
und mit dem allzu straff gespannten Bogen über das Ziel hinaus-
schießt.
Eine solche irreführende, für die Sache selbst aber gar nicht
notwendige Übertreibung scheint bereits in der Definition des
„KunstwoUens" enthalten zu sein, die Alois Riegl gegeben hat. Sein
Kunstwollen soll ein „bestimmtes und zweckbewußtes" sein, das
sich im Kampfe mit den hemmenden, negativen Faktoren durch-
setzt. Ein „bestimmtes" gewiß, das ist selbstverständlich überall,
wo es charakteristisch, für ims erkennbar und ausdrückbar hervor-
tritt, aber ein „zweckbewußtes" braucht es nicht immer zu sein,
wenn diese Bezeichnung mehr besagen soll als zielstrebig. Den
natürlichen Ausgang nehmen wir doch vom naiven Kunstschaffen,
das instinktiv sein ästhetisches Wollen befriedigt Wir denken es
als reine Gefühlssache, nicht als verstandesmäßiges, seiner selbst
und seiner Zwecke ebenso wie seiner Hemmungen und Negationen,
seiner Wahl und seiner Abwehr oder seiner Gegenmaßregeln klar
bewußtes, also berechnendes und reflexionsmäßiges. All dies kemn
es werden, aber erst in Perioden geschidter Überlegung, mannig-
fach gebrochener Verfeinerung. Wir werden es der spätrömischen
Kunst unbedenklich zutrauen, der altägyptischen nur, wenn es sich
tatsächlich beweisen ließe.
Und ähnlich steht es mit der Betonung des Kampfes gegen Ge-
brauchszweck, Rohstoff und Technik. Daß mit dem ersten dieser
Faktoren auch ein friedlicher Ausgleich, ein natürliches Einvernehmen
möglich ist, haben wir oben bereits angedeutet Das glückliche
Gelingen des Kunstwerks erwarten wir gewiß auch eher in Fällen,
wo Rohstoff und Technik nicht gerade widerstreben, sondern dem
menschlichen Wollen, das sie wählt, bereits entgegenkommen, oder
wo der „kunstschaffende Gedanke, der sein Gestaltungsgebiet er-
weitem, seine Bildungsfahigkeit steigern will", seinen unentbehrlichen
Bundesgenossen verständnisinnig, nicht feindselig und tyrannisch
gegenübertritt Ob Rohstoff und Technik jemals eine „positiv
schöpferische Rolle" zu übernehmen imstande sind, ohne Mitwirkung
des Menschen und sein Wollen, wird mit Recht in Zweifel gezogen.
Aber auch das Ringen mit der Materie kann als Liebeskampf ver-
laufen, an den jene Definition gewiß nicht gedacht hat, und dieser
6 I. Einleitung
setzt Anpassung von beiden Seiten voraus, „che Tun nell* altro si
trasforma". „Nicht das Werkzeug, nicht die Technik ist dabei das
Prius", sondern der Wille zum schöpferischen Tun. „Warum soll
dies Verhältnis, das die gesamte Kunstgeschichte durchzieht, nicht
auch für ihre Anfange gelten?"^)
Stellen wir uns mit Riegl diesen Anfängen naiven Kunst-
schaffens gegenüber und lassen uns die Mühe nicht verdrießen, der
prinzipiellen Begründung seiner weiteren Ergebnisse nachzugehen.
Auch er meint, die naturwissenschaftliche, oder spezieller physiolo-
gische Herleitung nicht entbehren zu können, wie der moderne
Künstler Adolf Hildebrand in seinem Problem der Form. Durch
dessen Gang habe auch ich mich bestimmen lassen, um ihn kritisch
begleiten zu können und zugleich die Grenze zu bezeichnen, wo
der eingeschlagene Weg, auf dem man ursprünglich den höchsten
Triumph exakter Wissenschaft erwartete, zum Abwege wird und
aufgegeben werden muß, wenn wir vorwärts wollen.*)
„Die Kulturvölker des Altertums", so beginnt Riegl (S. 17)
seine g^ndlegende Erörterung, „erblickten in den Außendingen nach
Analogie der . . . eigenen menschlichen Natur (Anthropismus) stoff-
liche Individuen, zwar von verschiedener Größe, aber jedes ... zu
einer Einheit abgeschlossen." (Als bedenklich habe ich die Zusätze
ausgeschieden, die von „fest zusammenhängenden Teilen" und von
„untrennbarer** Einheit reden; denn diese Unterschiede entfallen vor
aller näheren Prüfung und erfordern als Erfahrungen schon das
Mitspiel des Intellekts, das Riegl gerade vermeiden will.) „Ihre
sinnliche Wahrnehmung zeigte ihnen die Außendinge verworren
und unklar untereinander vermengt; mittels der bildenden Kunst
griifen sie einzelne Individuen heraus und stellten sie in ihrer
klaren, abgeschlossenen Einheit hin.')
i) Stilfragen S. 20rrc:2\
2) Beiträge zur Ästhetik der bildenden Künste I — III Leipzig 1896 — 99, be-
sonders Plastik, Malerei und Reliefkunst in ihrem gegenseitigen Verhältnis. Vergl.
meine Leipziger Antrittsrede über das Wesen der architektonischen Schöpfung
(8. Nov. 1893) und „über den Wert der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde"
(23. April 1896) in den Berichten der Kgl. Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften.
Die ganze Durchführung meiner Kunstiehre habe ich, wie bekannt, schon seit An-
fang der achtziger Jahre in Göttingen und dann in Breslau als Einleitung in die
Kunstgeschichte vorgetragen.
3) Wir fragen wohl: wie kamen sie zu der Fähigkeit, ein eigenes Produkt
als klar abgeschlossene Einheit hinzustellen, wenn sie nur unklar und verworren die
AuBendinge untereinander wahrnahmen?
Riegls Grundlegung 7
„Zu allererst trachtete man, die individuelle Einheit der Dinge
auf dem Wege der reinen sinnlichen Wahrnehmung, unter mög-
lichstem Ausschluß jeglicher aus der Erfahrung stammenden
Vorstellung zu erfassen. Denn solange es Voraussetzung war,
daß die Außendinge von uns unabhängige Objekte sind, mußte
jede Zuhilfenahme des objektiven Bewußtseins, als die Einheit des
betrachteten Objektes störend, instinktiv vermieden werden." *)
„Das Sinnesorgan nun, das wir am weitaus häufigsten ge-
brauchen, um von den Außendingen Notiz zu nehmen, ist das Auge.
Dieses Organ zeigt uns aber die Dinge bloß als farbige Flächen
und keineswegs als undurchdringliche stoffliche Individuen; gerade
die optische Wahrnehmung ist es eben, die uns die Dinge der
Außenwelt in chaotischer Vermengung erscheinen läßt."
„Sichere Kunde von der geschlossenen individuellen Einheit
einzelner Dinge besitzen wir durch den Tastsinn. Durch ihn allein
verschaffen wir uns Kenntnis von der Undurchdringlichkeit der das
stoffliche Individuum abschließenden Grenzen. Diese Grenzen sind
die tastbaren Oberflächen der Dinge.*) Aber dasjenige, was wir
unmittelbar tasten, sind nicht die ausgedehnten Flächen, sondern
bloß einzelne Punkte.^ Erst indem sich die Wahrnehmung undurch-
dringlicher Punkte an einem und demselben stofflichen Individuum
rasch nacheinander und nebeneinander wiederholt, gelangen wir
zur Vorstellung der ausgedehnten Fläche mit ihren zwei Dimen-
i) Voraussetzung ist hierbei, es käme auf exakte Wiederholung der Wirklich-
keit, völlig adäquate Nachahmung der Außendinge an. Die Sonderung der beiden
Faktoren — Wahrnehmung und Vorstellung — stand aber, wenn sie überhaupt tat-
sächlich und nicht bloß logisch durchführbar ist, gewiß nicht so vor dem Bewußtsein
jener Völker, daß eine Willensentscheidung möglich gewesen wäre. Wie aber sollen
wir das Zustandekommen der Einheit und Abgeschlossenheit des Gebilds denken
ohne Mitwirkung des Intellekts? Nennen wir nur den Stein, das Tier und den
Baum als solche Objekte: wie verschieden ist die Einheit, die Abgeschlossenheit —
bis zum festen Zusammenhang der Wurzeln mit dem Erdboden !
2) Die Undurchdringlichkeit merken wir durch Druck und Stoß. Dann erst
gehen wir zur Feststellung der den Gegenstand abschließenden Grenzen über und
fühlen vielleicht, daß es Flächen sind.
3) Das heißt, wenn wir mit einer Fingerspitze tasten! Das ist aber eine ver-
feinerte Art des Tastens, Einschränkung auf eine kleinste Fläche, die wir schließlich
als Punkt, d. h. immer doch noch ausgedehnte kleinste Einheit — vorzustellen suchen.
Dort setzt die mathematische Abstraktion in der Aussonderung des einfachsten
Falles ein. Die „undurchdringlichen Punkte" im folgenden Satz bestätigen unsre
Interpretation dieser Stelle. Später kommt allerdings der elementar psychologische
Ausdruck „punktuelle Reize" vor (S. 19). Doch lassen wir die psychologischen Dar-
legimgen auf sich beruhen.
g I. Einleitung
sionen, der Höhe und Breite.*) Diese Vorstellung ist also nicht
mehr durch eine unmittelbare Wahrnehmung des Tastsinns, sondern
durch eine Kombination mehrerer solcher Wahrnehmungen ge-
wonnen, die notwendigermaßen die Dazwischenkunft des subjektiven
Denkprozesses voraussetzt. Im antiken Kunstschaffen muß daher
seit seinen elementaren Anfangen ein innerer Gegensatz latent ge-
wesen sein, in dem trotz der grundsätzlich gewollten objektiven
Auffassung der Dinge eine subjektive Beimischung von Anbeginn
nicht zu vermeiden war. Und in diesem latenten Gegensatze lag
der Keim aller späteren Entwicklung."
„Damit war aber das unumgängliche Maß subjektiver Trübung
der objektiven Individualität der stofflichen Außendinge für das
älteste antike Kunstschaffen noch nicht erschöpft. Der Tastsinn
ist wohl unentbehrlich, um uns von der Undurchdringlichkeit der
Außendinge zu vergewissem, aber keineswegs, um uns auch von
deren Ausdehnung zu unterrichten. In letzterer Hinsicht wird er
vielmehr vom Gesichtssinn weitaus an Leistungsfähigkeit über-
i) Das Wichtigste an dieser Beobachtung ist die Tatsache, daß das zeitliche
Element und das räumliche Element ineinandergreifen. Es ist successives Verfahren
erforderlich, d. h. nacheinander, und räumliche Erstreckung des Substrats, d. h.
nebeneinander. Was sich daraus ergabt, sind lokalisierte Bewegungsvorstellungen.
Dazu kommt die Richtung dieses Verlaufes im Raum, d. h. die des Nebeneinander
in der Horizontale oder in der Vertikale, die wir nach unserm Körper bestimmen,
in der Länge (Breite) oder in der Höhe, nach links oder nach rechts, nach oben
oder nach unten. So gelangen wir zu psychischen Synthesen, und dieser Ausdruck
genügt auch wohl für die Kombination mehrerer solcher Wahmehmungsergebnisse,
die Riegl als Dazwischenkunft des Denkprozesses bezeichnet. Das Beiwort „subjek-
tiv" können wir entbehren, denn diese psychische Synthese höherer Ordnung voll-
zieht sich natumotwendig und hat objektive Gültigkeit für alle gleichorganisierten
Wesen (Subjekte), wenn wir von „Sinnestäuschungen" absehen.
Mit der Anerkennung des psychischen und weiter des intellektuellen Faktors
ist aber ein wichtiger Anhalt gewonnen, den Riegl merkwürdigerweise wieder
fallen läßt. Der Beitrag des Subjektes ist ein selbstverständliches und unveräußer-
liches Ingrediens des menschlichen Kunstschaffens seit seinen elementaren Anfängen.
Er ist naturnotwendig und normal, während wir mit der Bezeichnung subjektiv doch
das willkürliche oder unwillkürliche Abweichen vom Normalen, als etwas nicht all-
gemein Gültiges, nicht objektiv Bindendes zu charakterisieren pflegen.
. Es ist aber das Intellektuelle, das Geistige überhaupt, um das es sich handelt.
Und hat man sich das klargemacht, so tritt die ganze Verschlungenheit des Um-
weges zutage, auf dem Riegl erst zu diesem uranfanglichen Faktor gelangt. Die
Kunst ist eine Auseinandersetzung des Menschen (d. h. seiner leiblichen und
psychischen oder geistigen Anlage) mit der Welt, in die er gestellt ward. Zu dieser
Auseinandersetzung gehören immer zwei Pole: Subjekt und Objekt.
Riegls Grundlegung n
trofifen. Das Auge vermittelt zwar nur Farbenreize, die nicht
minder wie die Reize der Undurchdringlichkeit sich bloß auf ein-
zelnen Punkten mitteilen; und die Vorstellimg von Farbenflächen
als vervielfältigten Punkten gewinnen wir genau auf dem gleichen
Wege des Denkprozesses wie diejenige von den tastbaren Ober-
flächen. Aber das Auge vollzieht die Operation der Vervielfälti-
gung der Einzelwahmehmungen weit rascher als der Tastsinn, und
daher ist es auch das Auge, dem wir unsere Vorstellung von Höhe
und Breite der Dinge hauptsächlich verdanken. Es kommt infolge-
dessen zu einer neuerlichen Kombination von Wahrnehmungen im
Bewußtsein des denkenden Beschauers: wo das Auge eine zu-
sammenhängende Farbenfläche von einheitlichem Reiz wahrnimmt,
dort taucht auf Grund der Erfahrung auch die Vorstellung von der
tastbar undurchdringlichen Oberfläche einer abgeschlossenen stoff-
lichen Individualität auf. Auf solchem Wege konnte es frühzeitig
geschehen, daß die optische Wahrnehmung allein fiir genügend be-
funden wurde, um von der stofflichen Einheit eines Außendinges
Gewißheit zu schaffen, ohne daß hierbei der Tastsinn zur unmittel-
baren Zeugenschaft herangezogen werden mußte. Aber die wesent-
liche Vorbedingung hierbei blieb zunächst immer, daß die absolute
Ebene eingehalten, die Ausdehnung auf die Dimensionen der Höhe
und der Breite beschränkt blieb."*)
„Dagegen muß die antike Kunst die Existenz der dritten Di-
i) In der Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1902 S. 155 hat Riegl selbst zur
Erklärung dieses Passus beigetragen. Dort heißt es: „alle Andeutungen von festen
Dingen, die wir auf dem Umwege über den Gesichtssinn empfangen, sind schließlich
Anweisungen auf die primitiven Erfahrungen des Tastsinns. Was also dem Natur-
und Kunstwerk unter allen Umständen zukonunt, seine Ausdehnung und Begrenzung,
erfahren wir im Grunde doch nur durch den Tastsinn; ich habe daher diese Eigen-
schaften der Dinge die taktischen (tastbaren, von tangere) oder besser griechisch
die haptischen genannt, im Gegensatze zu den optischen (sichtbaren) wie Farbe
und Licht. Während die optischen Eigenschaften im Dunkel verschwinden, bleiben
die tastbaren bestehen: Ausdehnung und Begrenzung sind also die objektiveren,
Farbe und Licht die subjektiveren Eigenschaften, denn diese hängen in höherem
Maße von den zufalligen Umständen ab, unter denen sich das betrachtende Subjekt
befindet." — Da Licht und Farbe aber auch von zufälligen Umständen, unter denen
sich das betrachtete Objekt befindet, abhängen (Tagesstunde, Wetter), so könnte
man, genau der Definition Riegls folgend, die haptischen Eigenschaften nur als die
stabileren, die optischen als die variablen oder transitorischen bezeichnen, oder die
ersteren als konstitutive, die letzteren als accidentelle. Die Unterscheidung nach
dem Grade der Objektivität oder Subjektivität wäre damit als überflüssig, zumal sie
irreführend ist, abzulehnen.
lO I- Einleitung
mension — der Tiefe — , die wir für die Raumdimension im engeren
Sinne anzusehen pflegen, von Anbeginn grundsätzlich verleugnet
haben. Die Tiefe ist nicht allein mit keinem Sinne wahrnehmbar
— das gleiche haben wir auch von den beiden Flächendimensionen
geltend befunden — , sondern auch erst auf einem weit entwickel-
teren Wege des Denkprozesses zu begreifen als die Flächendimen-
sionen. Das Auge verrät uns nur Ebenen; wir wissen zwar aus
verkürzten Umrißlinien und aus Schatten auf Veränderung in der
Tiefe zu schließen, aber nur an bekannten Objekten, bei deren
Wahmehmuug uns die Erfahrung zur Seite steht, während beim
Anblicke unbekannter Objekte wir zunächst im unklaren bleiben,
ob die wahrnehmbar krummen Umrisse und dunklen Farbenflecken
nicht in einer Ebene liegen. Wiederum ist es der Tastsinn, der
uns vom Vorhandensein von Tiefenveränderungen die erste sichere
Kunde gibt, weil seine viel verzweigten Organe das Einsetzen der
Prüfung auf verschiedenen Punkten zu gleicher Zeit ermöglichen;
aber schon die Erkenntnis von Tiefenveränderungen an der Ober-
fläche und vollends diejenige des Zusammenschlusses in der vollen
dreidimensionalen Rundform erfordert eine weit ausgiebigere Zu-
hilfenahme des Denkvermögens als die Konstruierung der Flächen-
vorstellung aus den Einzelwahrnehmungen punktueller Reize. Wenn
also bereits ebene Flächen nicht mehr allein auf Grund sinnlicher
Wahrnehmung, sondern nur unter Appell an die subjektive Reflexion
aufgenommen werden können, so ist die Heranziehung der letzteren
in noch weit höherem Maße bei der Aufnahme von gebogenen, ge-
krümmten Flächen notwendig."
Hier muß m. E. eine grundlegende Verbesserung einsetzen.
Schon bei der obigen Besprechung der Rolle des Tastsinns wurde
nur auf das Tasten mit den Fingerspitzen Rücksicht genommen
und darauf der Fortschritt vom Punkt durch eine Reihe von Punkten
zur Linie und von solchen Linien zur Fläche gebaut Nun aber sagten
wir schon von den beiden Dimensionen der Ebene, Höhe und Breite,
daß sie zustande kommen, indem die Richtung im Verfolge der
Punkte eine andere werde, einmal von unten nach oben oder um-
gekehrt, das andere Mal von links nach rechts oder umgekehrt.
Dazu kommt nun aber notwendigerweise die dritte Möglichkeit
der Richtung, nämlich die nach vorn oder nach hinten von uns
aus; dies aber ist die dritte Dimension. Indessen jene ganze Kon-
struktion vom Einfachen zum Zusammengesetzten geht doch wohl
von einer irrigen Voraussetzung aus: sie beruht auf einer Über-
Ergänzung aus der Tastregion 1 1
tragnng aus der mathematisch geschulten Naturwissenschaft auf die
Psychologie und Physiologie, nimmt die Gültigkeit der sozusagen
euklidischen Methode auch fiir diese Gebiete organischen und seeli-
schen Lebens an. Nun aber tasten wir doch nicht ausschließlich
nur mit einem Finger, sondern mit mehreren nebeneinander. Wir
tasten mit einer Hand, die sich stellen und krümmen kann, die sich
der ebenen wie der gebogenen Fläche adaptiert. Ja, wir tasten
nicht mit einer Hand allein, sondern mit beiden Händen zugleich,
und diese beiden Organe korrespondieren einander. Und dies
Tasten mit dem paarigen Organ vollzieht sich viel unabsichtlicher
und unmittelbarer als das Tasten mit einem Finger oder einer
Reihe von Fingerspitzen zum Verfolg punktueller Reize in der
Ebene. Im Vorwärtstasten erfassen wir die Körperhaftigkeit, und
zwar ihre Dicke (Tiefe) mit den anderen Dimensionen zugleich.
Da wir selbst dreidimensionaler Körper sind, können wir gar nicht
umhin, die kubische Körperhaftigkeit der Dinge an unserm eigenen
Leibe zu erfahren. Das Ganze ist auch hier vor den Teilen da.^)
Unsere drei Dimensionen sind nichts als DiJBFerenzierungen, die sich
allmählich klären und zum festen Schema ordnen. Vielleicht können
wir sogar so weit gehen zu sagen: der Mensch bildet die krumm-
flächigen Kombinationen der Merkmale für seine räumlich-körper-
liche Orientierung und für seine Vorstellung zuerst aus, weil er
selbst gar keine Gelegenheit hat, andere Erfahrungen zu machen an
sich selbst. Sein Körper bietet keine ebenen Flächen, keine sauber
planimetrischen Figuren dar; es ist alles konvex oder konkav an
ihm. Deshalb stellt der naive Mensch auch alle anderen Dinge so
vor und lernt erst allmählich die abweichende Eigenschaft kristal-
linischer Körper mit regelmäßigen Ebenen in ihrer ganzen Ver-
schiedenheit verstehen. Die gerade Linie vollends und der Punkt
sind Ideale, die nach langer Auslese und Berichtigung des Intellekts
zustande kommen. Sind nicht schon sie Errungenschaften des
Kunstwollens, des so und nicht anders Habenwollens?*) — wenig-
stens überall, wo wir sie darstellen.
Die Hände, mit ihren korrespondierenden Innenflächen und
i) „Die reine aprioristische und ebenso die konkrete Vorstellung des Raumes
involviert die Annahme einer Ausdehnung nach allen Dimensionen; die Reduktion
derselben auf drei ist eine reine Abstraktion des Verstandes." Aubert, Physiol.
Studien über die Orientierung. Tübingen 1888. Vgl. Beiträge zur Ästh. d. bild.
Künste I, p. 34.
2) Vgl. Das Wesen der architektonischen Schöpfung S. 12.
12 I. Einleitung
Fingerreihen, sitzen in relativer Drehbarkeit am Gelenk des Armes,
die Arme wieder in beschränkter Beweglichkeit am Rumpfe. Aus
dieser besonderen Anlage folgt schon die Inklination zu kubischer
Auffassung imd Behandlung alles Tastbaren. Dazu kommt aber
noch eins hinzu: wir tasten nicht allein mit den Händen unter Bei-
hilfe der vorgestreckten oder seitlich ausgebreiteten Arme, sondern
auch mit unseren Füßen. Dies geschieht nicht so sehr mit den
Zehen allein, als vielmehr mit den ganzen Fußsohlen, mit denen
wir unsere Standfläche auf dem Boden kontrollieren. Und wir
tasten mit unseren Füßen, von den Zehenspitzen bis zur Ferse, in
mannigfaltiger Kombination der paarigen, in der Richtung wieder
korrespondierenden Stellen, auf dem Boden, was da ist, indem wir
gehen, d. h. Ortsbewegung in einer Richtung vollziehen. Die Rich-
tung unseres Ganges liegt wieder, dem Bau unseres Korpers ent-
sprechend, nach vorwärts, also in der Tiefenachse, ^) Rückschritt ist
ihr bewußtes Gegenteil und Seitwärtsschreiten eine Reihe von
Modifikationen mehr oder minder erzwungener Art, also gewollte
Anpassung an Ausnahmebedingnngen. In unserer natürlichen Orts-
bewegung erleben wir die Tiefenrichtung imd postulieren darnach
ihre Möglichkeit überall, wo sie nicht ausdrücklich abgeschnitten
ist, ja selbst der Scheidewand zum Trotz. Aus unserer Körper-
bewegung erwächst das Grundkapital imserer Raumvorstellungen
im Verkehr mit den Dingen.
Alois Riegl gelangt auf seinem Deduktionswege zu folgendem
Ergebnis: „Die Kunst des Altertums, die auf möglichst objektive
Wiedergabe der stofflichen Individuen ausgegangen ist, muß infolge-
dessen die Wiedergabe des Raumes als einer Negation der Stoff-
lichkeit und Individualität nach Möglichkeit vermieden haben: nicht
als ob man sich schon damals klar bewußt gewesen wäre, daß der
Raiun bloß eine Anschauungsform des menschlichen Verstandes ist,
sondern weil man sich schon durch das naive Bestreben nach reinem
Erfassen der sinnfälligen Stofflichkeit instinktiv auf möglichste Ein-
engung der räumlichen Erscheinung hingedrängt gefühlt haben muß.
Von den drei Raumdimensionen in weiterem Sinne sind aber die
zwei Flächen- oder Ebendimensionen der Höhe und Breite (Um-
riß, Silhouette) unentbehrlich, um überhaupt zur Vorstellung einer
stofflichen Individualität zu gelangen;*) sie werden daher von der
i) Wert der Dimensionen S. 48f., vgl. 55 f.
2) Wie schon der Zusatz „Umriß, Silhouette" beweist, schiebt sich hier unwill-
kürlich die Flächendarstellung unter, die schon auf die dritte Dimension verzichtet.
Priorität des Rundwerks j^
antiken Kunst vom Anbeginn zugelassen. Die Tiefendimension
hingegen erscheint hierfür nicht unbedingt notwendig, und da sie
überdies den klaren Eindruck stofflicher Individualität zu trüben
geeignet ist,^) wird sie von der antiken Kirnst zunächst nach Mög-
lichkeit unterdrückt.
Die antiken Kulturvölker haben also die Aufgabe der bildenden
dahin aufgefaßt,') die Dinge als individuelle stoffliche Erscheinungen
nicht im Räume (worunter von nun an stets der Tiefraum ver-
standen sein soll), sondern in der Ebene hinzustellen."
Wenn Alois Riegl in seinem großen Werke von 1901 von den
antiken Kulturvölkern aussagt, sie haben in ihrer bildenden Kunst
die Dinge als individuelle stoffliche Erscheinungen nicht im Räume,
sondern in der Ebene hingestellt, so erinnern wir wohl mit Recht
daran, daß er in seinen Stilfragen 1893 die andere und meines
Erachtens richtige Überzeugung ausgesprochen hatte:
„Wir werden schon a priori das plastische Kunstschaffen als
das ältere, primitivere, das in der Fläche bildende als das jüngere,
raffiniertere bezeichnen dürfen. Etwa ein Tier in feuchtem Ton
schlecht und recht nachzumodellieren, dazu bedurfte es keiner höheren
Betätigung des menschlichen Witzes, da das Vorbild in der Natur
vorlag. Als es sich aber zum erstenmal darum handelte, dasselbe
Tier auf eine gegebene Fläche zu zeichnen, zu ritzen, zu malen,
bedurfte es einer geradezu schöpferischen Tat Denn nicht der
vorbildlich vorhandene Körper wurde in diesem Falle nachgebildet,
sondern die Silhouette, die Umrißlinie, die in Wirklichkeit nicht
existiert und vom Menschen erst frei erfunden werden mußte." —
Zur Vorstellung einer stofflichen Individualität dagegen gehört die dritte Dimension
als integrierender Bestandteil, sowohl der ursprünglichen Natur dieser Vorstellung
nach, die wir nur auf Grund unseres eigenen Körpers gewinnen und ausbilden können,
wie in begrifflicher Abstraktion. Im Augenschein für sich werden die beiden Flächen-
dimensionen zum Surrogat der dritten, und als solche unentbehrlich. Die eben-
flächige Darstellung aber ist nur für den einen Sinn, das Auge, verständlich, für
den Tastsinn überhaupt nicht vorhanden. Die Vorstellung wird auf Grund zwei-
dimensionaler Anregungen des Bildes nur durch die Erfahrungen des Tastsinnes
ergänzt.
i) Auch hier wird nur an die zweidimensionale Darstellung der Gegenstände
für das Auge gedacht. Den klaren Eindruck trüben können sie nur in der flächen-
haften Wiedergabe.
2) Wie weit dies Verfahren bewußt als „Aufgabe der bildenden Kunst" erfaßt
worden sei, lassen wir besser dahingestellt. Es kommt vielmehr alles auf den Er-
weis des tatsächlichen Verfahrens aus den Denkmälern an, und diese Prüfung des
Kunstwollens hat jede Voreingenommenheit doktrinärer Art fernzuhalten.
^
I^ I. Einleitung
Aber „die Natur blieb für die Kunstformen auch dann noch vor-
bildlich, als dieselben die Tiefendimension preisgegeben und
die in der Wirklichkeit nicht existierende umgrenzende Linie zum
Elemente ihrer Darstellung gemacht hatten" (S. i und 2).
Denselben Gang der Entwicklung bestätigen aber auch die
erhaltenen Zeugen der frühesten menschlichen Kunsttätigkeit, die
bisher gefunden worden sind, in den Höhlen der Dordogne. „Die
unmittelbare Reproduktion der Naturwesen in ihrer vollen körper-
lichen Erscheinung steht hiemach im Anfange alles Kunstschaffens:
die ältesten Kunstwerke sind plastischer Natur — d. h. volles
Rund werk. — Da man die Naturwesen jedoch immer von einer
Seite sieht, lernt man sich mit dem Relief begnügen, das eben nur
so viel vom plastischen Scheine wiedergibt, als das menschliche
Auge braucht So gewöhnt man sich an die Darstellung in einer
Fläche und gelangt zum Begriff der Umrißlinie. Endlich verzichtete
man auf den plastischen Schein vollständig und ersetzte denselben
durch die Modellierung mittels der Zeichnung** (S. 19 f. 29).
Gehen wir von diesen Anschauungen aus, die immer auch die
unsrigen gewesen sind, wenn wir sie auch anders, nämlich aus der
Organisation des Menschen selber herzuleiten versucht haben, so
erscheint die oben durchverfolgte Deduktion in dem neuen Buche
Riegls als eine keineswegs glückliche Verbesserung, die dem aus-
gesprochenen Ergebnis seiner Beobachtungen über die Rolle der
Ebene in der antiken Kunst nachträglich angepaßt wurde. Es wird
alles darauf ankommen, festzustellen, wie weit dieses Ergebnis zu
Recht besteht und einer wissenschaftlich befriedigenden Analyse
der Kunstwerke selber verdankt wird.
IL
KRITIK DER ERSTEN BEISPIELE RIEGLS
Damit wir in der richtigen Auffassung des Endergebnisses ganz
sicher gehen, mag hier noch die zusammenfassende Stelle angeführt
werden, in der Riegl die erste Hauptphase in der Entwicklung der
bildenden Künste des Altertums charakterisiert:
„Größte Strenge der rein sinnlichen Auffassung von der stoff-
lichen Individualität der Dinge und infolgedessen möglichste An-
näherung der stofflichen Erscheinung des Kunstwerkes an die
Ebene. Diese Ebene ist nicht die optische, die uns das Auge bei
einiger Entfernung von den Dingen vortäuscht, sondern die haptische,
die uns die Wahrnehmungen des Tastsinnes suggerieren, denn von
der Gewißheit der tastbaren Undurchdringlichkeit hängt auf dieser
Stufe der Entwicklung auch die Überzeugung von der stofflichen
Individualität ab. Vom optischen Standpunkt betrachtet, ist diese
Ebene diejenige, die das Auge dann wahrnimmt, wenn es an die Ober- *
fläche eines Dinges so nahe heranrückt, daß alle Umrisse und na^
mentlich alle Schatten, durch welche sich eine Tiefenveränderung
verraten könnte, verschwinden. Die Auffassung von den Dingen,
die dieses erste Stadium des antiken KunstwoUens kennzeichnet,
ist somit eine haptische und, soweit sie notgedrungen bis zu einem
gewissen Grade auch eine optische sein muß, eine nahsichtige; ' !
sie findet sich verhältnismäßig am reinsten in der altägyptischen j
Kunst zum Ausdruck gebracht."
Bei dem bestimmenden Übergewicht, das darnach den tast-
baren Eigenschaften der Dinge eingeräumt wird, würden wir infolge
einer rein sinnlichen Auffassung der Dinge nach ihrer stofflichen
Individualität gewiß eine möglichste Annäherung der stofflichen
Erscheinung des Kunstwerks an die Körperlichkeit selbst und nicht
an einen Teil derselben, die Ebene, erwarten. Doch folgen wir der
angewandten Methode zur Feststellung des KunstwoUens aus den
Denkmälern, wenigstens an einigen Beispielen nach.
Das Architekturideal der Altägypter wäre darnach in der Py-
l6 11- Kritik der ersten Beispiele Riegls
ramide zum reinsten Ausdruck gelangt. „Vor welche der vier
Seiten immer der Beschauer sich hinstellt, sein Auge gewahrt stets
bloß die einheitliche Ebene des gleichschenkligen Dreiecks, dessen
scharf abschließende Seiten in keiner Weise an den Tiefenanschluß
dahinter gemahnen." Damit wird dem Betrachter ein bestimmter
Standpimkt angewiesen, den er jeder der vier Seiten gegenüber
einnehmen soll. Dort festgebannt, gewahrt sein Auge allerdings
nur die einheitliche Ebene des Dreiecks. Aber es gewahrt an dieser
Ebene noch eine besondere Eigenschaft, nämlich die Stellung oder
Lage zu dem aufrechtstehenden Beschauer. Diese Ebene steht
nicht als senkrechte Wand ihm gegenüber. In diesem Falle paßte
die Beschreibung auf einen Würfel, aber nicht auf die Pyramide,
Ihre Eigentümlichkeit besteht gerade darin, daß die vier Ebenen
sich gegeneinander neigen: von der Basis vor dem Menschen bis
zur Spitze hinauf weicht auch das Dreieck, das soeben gesehen
wird, zurück, imd wird so, gegen den Himmel gekehrt, zum Licht-
fanger, der bei seiner kolossalen Höhe wohl auch Abstufimg der
Helligkeit aufweisen dürfte, und zwar von oben nach unten, wie die
Fläche sich ausbreitet Doch darauf soll es nicht ankommen; nur
die scharf abschließenden Seiten des Dreiecks geben in der schrägen
Lage der Ebene zwischen Gipfel und Hypotenuse schon durch ihren
Verlauf die Richtimg von vom nach hinten, vom Beschauer weg
bis zu einem bestimmten Abstand, den die Spitze bezeichnet Sie
gemahnen also doch, was Riegl leugnet, an den Tiefenanschluß
dahinter. Nur fallt diese Tiefenerstreckung mit der Höhenrichtung
zusammen. Endlich aber ist der amgewiesene Standpunkt gerade
vor solcher rückwärts geneigten Dreiecksebene doch nicht der
einzige, den wir einnehmen können. Je weniger wir aufgelegt sind,
uns wie ausschließliche Augengeschöpfe mit einer Ansicht zu be-
gnügen, desto freieren Gebrauch werden wir von dem Wechsel des
Standpunktes machen, um die stoffliche Individualität des Dinges
da möglichst allseitig zu erfassen. Da führt uns unsere Ortsbewe-
gung notwendig auch vor die scharfe Ecke, wo zwei solcher Drei-
ecksebenen aneinanderstoßen, und die Flucht dieser schrägen
Flächen nach hinten und nach oben gibt uns vollends Aufschluß
über die Distanz zwischen Basis und Spitze, nicht nur der Höhen-,
sondern auch der Tiefenerstreckung nach. Wiederholen wir dies
auf allen übrigen Seiten, so steht für uns die Tatsache fest: das
Ding da mit seinen vier Ebenen ist ein Körper. Alle Seiten
weichen nach oben zurück bis zum Höhenlot, das von dem Gipfel
Die* Pyramide i n
bis auf die Horizontalebene des Erdbodens gefallt wird. Schätzen
wir dann noch die Regelmäßigkeit der kristallinischen Gesamtform
ein, wie sich gebührt, die Schärfe ihrer Grenzen, die Abwesen-
heit alles Schmuckes, so geht uns der Wert des reinen abstrakten
stereometrischen Gebildes auf. Nun erst stimmen wir bei: „die
stoffliche Individualität im strengsten altorientalischen Sinne konnte
kaum einen vollendeteren Ausdruck finden." Riegls Analyse frei-
lich hat sich die Hauptsache, die Körperhaftigkeit und die Höhen-
richtung im Verhältnis zur Breitenausdehnung unten, von der Fuß-
ebene bis zum Gipfelpimkt, entgehen lassen.
Die Pyramide wäre zweifellos als massives Gebilde zur Körper-
bildnerin, und zwar zur Tektonik, nicht zur Architektur zu rechnen,
wenn sie nicht doch Raumgebilde in ihrem Innern einschlösse.
Die Grabkammer für die Mumie und vollends das Wohngemach
für die Seele des abgeschiedenen Königs sind freilich eng und
klein im Vergleich zum Äußeren, das sie birgt; aber sie sind doch
der Kern des Ganzen. Ebendiese Raumbildung unterscheidet die
Pyramide von dem rein tektonischen Körper, dem Obelisken, dem
abstrakten Mal an sich. Ganz anders muß sich dagegen die Raum-
bildung ausdehnen, wo es sich um Bauten handelt, „die nicht den
Toten, sondern den bewegungsfrohen Lebenden gewidmet sind".
Schon die „Pyramidenstutzform des altägyptischen Wohnhauses"
verkündet in dem Mangel der zusammenfassenden Spitze die anders-
artige Natur dieses Gesamtkörpers. Es ist die Fassung eines Kol-
lektivums, müssen wir gegen Riegl betonen, der auch hier nur
„die schattenlosen, ungegliederten Flächen" der Umfassungsmauern
von außen betrachtet, aber nichtsdestoweniger von der „kristalli-
nischen Form des Äußeren" redet, also nicht nur die Ebenen, son-
dern auch den daraus zusammengesetzten Körper anerkennen
muß. „Was sich hinter den fensterlosen kurzen Mauern an Raum
verbirgt, verrät sich in keiner Weise dem von außen Blickenden."
Gewiß, volle Abgeschlossenheit nach außen. Abfangung des An-
dringenden, ob der neugierigen Augen oder der habgierigen Hände,
durch die aufgeschichteten schräg abgleitenden Wände. Aber hat
nicht auch der von innen blickende Bewohner sein Recht, imd
doch wohl ein höheres an diesem Kunstwerk? Und waren es nicht
„die bewegungsfrohen Lebenden", denen der Bau gewidmet sein
sollte, d. h. eine Mehrzahl, die nicht still sitzen oder liegen wie der
tote Monarch, sondern sich am Tage hin und her bewegen, Spielraum
mit Luft und Licht von der Behausimg verlangen, die sie umschließt?
Schmariow, KaostwissenschafU 2
i8 n. Kritik der ersten Beispiele Riegls
Wir werden mißtrauisch gegen die angebliche „Raumscheu"
der alten Ägfypter, wenn uns nicht einmal ein Blick in ihr Haus-
wesen gegönnt wird, und lassen dies Vorurteil lieber hinter uns,
wenn wir die Schwelle der Tempelanlagen betreten. Geradezu ein
logischer Fehler dient der Absicht, ims dieses Kunstprinzip zu er-
weisen, in dem Satze: „zunächst wurde der vom Gebrauchszwecke
geforderte Raum in eine Reihe dunkler Kammern zersplittert, in deren
Enge ein künstlerischer Raumeindruck ohnehin nicht aufkommen
konnte." Denn wo ist der vom Gebrauchszweck geforderte Raum
anders zu fassen als in den vorhandenen Kammern? Von einem
vorher existierenden Ganzen weiß doch der Ägypter nichts, der in
diese Flucht von Kammern tritt, die eben genau so vom Zwecke
des Tempelbaues gefordert wurden, mögen wir das Gebrauchszweck
nennen oder mit einem höheren Ausdruck künstlerischer Art cha-
rakterisieren. Jedenfalls aber vermag der unentrinnbare Raumein-
druck in der Enge dunkler Kammern ebensowohl künstlerisch zu
sein, wie bei größerer Raum weite, die hier stillschweigend als
allein berechtigt angenommen wird. Nach dieser allzubequemen
Eliminierung des inneren Raumgebildes muß ohnehin das Vor-
handensein von großen Räumen davor oder daneben anerkannt
werden. Diese offenen Höfe sollen wir jedoch ebenfalls nicht als
Raumgebilde auffassen, weil ihnen „mit dem Abschlüsse nach oben
die volle Innenräumlichkeit fehlte", indem wir also abermals einen
ganz fremden Begriff, nämlich den vom völlig abgeschlossenen
Innenraum, zulassen müßten, auf den es hier gar nicht ankommt.
Wir anerkennen auch diese Höfe imter freiem Himmel ebenso wie
die Sphinxalleen als Raumbildungen der Architektur und erblicken
auch in der weiteren Durchgliederung vor den Umfassungsmauern
kein Hindernis, uns im Innern eines solchen Raumes zu fühlen.
Wenn „den die Seiten abschließenden Wandflächen Säulenreihen
(d. h. isolierte Formgebilde) vorgesetzt sind", so mag dies geschehen
sein, wie Riegl sie erklärt, „um den optischen Flächeneindruck der
Wand dahinter zu brechen und dafür tastbare Einzelformen dem
Beschauer vor Augen zu rücken." Diese Vorliebe für nicht allein
vor Augen tretende, sondern in diesem Fall auch berührbare und
umgehbare Körper, begrüßen wir nur als Bestätigung xmserer aus-
gesprochenen Ansicht von der Körperhaftigkeit der Pyramiden,
denen wir die Pylonen am Eingang und die Sphinxreihen am Wege
des durchschreitenden Besuchers anfügen dürfen. Wir fassen sogar
die abschließenden Wandflächen hinter den Säulenreihen nicht bloß
Ägyptischer Tempel ig
als optische Flächeneindrücke, sondern als hap tische, leibhaftig
tastbare Ebenen, wenn uns nur die Raiundistanz nicht geleugnet
wird, die der Agjrpter, vom vorgeschriebenen Wege seitwärts ab-
weichend, zurücklegen mußte, sowie es ihm darauf ankam, seinem
Tastvergnügen nachzugehen.
Desto entschiedener müssen wir ebendeshalb Einspruch er-
heben, wenn Riegl uns die vollständig geschlossenen großen Säle
mit fester Decke in den Tempelbauten von Kamak zuerst als
gänzlich leere Räume sehen läßt, was sie doch niemals waren. Es
geschieht auch nur, um uns zu beweisen, die Innenräimie hätten
mit ihren weiten, vom Auge entfernten und daher optisch wirkenden
Flächen der vier Wände, der Decke und des Fußbodens dem
Ägypter das höchste Unbehagen verursachen müssen. Das wissen
wir nicht, denn solche Raumeindrücke gab es gar nicht Wir kommen
durch das Herbeiziehen dieser andersartigen Vorstellung nur ganz
verkehrt in das Raumgebilde hinein, das wirklich dastand. Die
Säle sind also nicht deshalb erst „mit einem Walde deckenstützender
Säulen in nahen Abständen derart dicht angefüllt, daß alle jene
Flächen, die im räumlichen Sinne hätten wirken können, zerschnitten
und zerstückelt wurden", sondern der Sachverhalt liegt gerade
umgekehrt. Nicht „der Eindruck des Raumes ward trotz der be-
trächtlichen Ausdehnung zurückgedrängt, ja vernichtet, und dafür
der Eindruck der Einzelformen (Saiden) dem Auge aufgedrängt", son-
dern für den „bewegungsfrohen Lebenden" sind die kolossalen
Salden von gewaltiger Dicke durchaus das Prius des Eindruckes.
Ihre dichten Reihen, zwischen denen er freilich überall entlang gehen
kann, gewinnen beim Durchblick im Schreiten durch Verschiebung
und Überschneidung erst recht an Körperwucht. Ein Körper-
gedränge imd -geschiebe bewegt sich vor dem Menschen her oder
auf ihn zu, obgleich er überall dazwischen hin und daran vorbei
kann, so daß der Ausdruck „ein Wald von Säulen" sich ungerufen
einstellt, wenn man auch den Wald vor Stämmen nicht zu sehen
braucht. An diesen Körpergebilden müssen wir das eigentümliche
Kunstwollen des Ägypters zu fassen suchen, selbst im abgeschlosse-
nen Innenraum, dessen Begrenzung nach außen in diesem Gedränge
von Einzelkörpem gar nicht in Betracht kommt. Wenn wir
dann Riegl vollkommen beistimmen, daß an den geböschten
Außenflächen der Umfassungswände solches Tempelsaales „absolut
jede Erinnerung an das Innere unterdrückt ist**, so fragen wir doch
billigerweise, warum dies Innere nicht auch am ägyptischen Wohn-
2*
20 II' Kritik der ersten Beispiele Riegls
bau ebenso unabhängige Betrachtung verdiente wie beim Tempel.
Es fehlt in beiden Fällen, ja in allen Beispielen bisher die Verwer-
tung des menschlichen Subjekts mit seiner Ortsbewegung, das
ein architektonisches Kunstwerk umwandemd oder durchwandelnd
an sich erlebt Wie soll denn anders das Ergebnis gewonnen
werden: „nach außen steht der äg^yptische Tempel mit seinen un-
gegliederten Mauern da wie eine tastbare Einheit in der Welt**,
d. h. doch wie ein Körpervolumen? — „im Innern zerfallt er in
Mikrokosmen, die wieder ihrerseits mit Einzelformen ausgefüllt
sind'', d. h. doch in Raumgebilde, und seien diese auch nichts als
Säulenbehälter, die nur so viel Zwischenraum gewähren, als zum
vollen künstlerischen Genuß dieser Körpergebilde, die, obendrein
noch mit Bilderschrift bedeckt, ringsum gelesen sein wollen, nun
einmal erforderlich bleibt Dabei sehen wir vom großen vorge-
schriebenen Wege durch die ganze Anlage hin, d, h. von der
Richtungsachse der psychagogischen Veranstaltung noch vorerst
ab. Ihrer Bedeutung ist schon Gottfried Semper mit dem Namen
„Prozessionstempel" gerecht geworden.^)
Demgemäß läßt sich Riegls Charakteristik des hellenischen
Tempels so umstellen: „Das griechische Säulenhaus imterscheidet
sich schon äußerlich dadurch vom ägyptischen Tempel, daß es trotz
der in seinem Innern enthaltenen, allerdings beschränkten Mehrzahl
von Räumen eine leicht überschaubare, wenn auch nicht streng
zentralisierte Einheit bildet Es ist, wie das Satteldach mit den
Dreieckgiebeln vom und hinten, die oblonge Gesamtform, in der
sich (an den Flanken, nicht an der streng zentralisierten Front) die
Existenz eines der Bewegung des Menschen eingeräumten Innern
nach außen verrät Seine einzelnen Seiten sind zwar im ganzen
immer noch Ebenen, aber im einzelnen nicht mehr imgegliederte
tastbare Flächen, sondern in die Formenreihen der Säulenportiken
aufgelöst In den Säulenportiken begegnen wir den ersten An-
erkennungen der Tiefe, des Schattens und des Raumes an den
i) Riegls neuerliche Charakteristik B. z. A. Z. 1902 S. 154: „Der altägyptische
Tempel gibt sich als ein Gebäude und weist dem Beschauer eine ungeteilte ebene
Wand: er zeigt sich also abgeschlossen in der Höhe und Breite, nicht aber nach
der Tiefe; und er bleibt ohne alle Gliedenmg in Teile", hält sich eben nur an die
eine Seite. „Der altägyptische Tempelsaal ist ... in lauter schmale Korridore zer-
schnitten", enthält denselben Fehler: an Stelle des ästhetischen Eindrucks tritt die
genetische Beschreibung aus dem Grundriß. Der Vergleich mit Korridoren ist un-
glücklich.
Griechischer Tempel 2i
Dingen, in noch beschränktem Ausdruck, wobei aber das Auge
sofort an der geschlossenen Cellawand seinen Halt findet, wie an
der ebenen Grundfläche eines Reliefs." Tritt aber der Besucher selbst
zwischen die Säulenreihen, so erlebt er doch an diesen Marmor-
stämmen das nämliche Gefühl der Körperlichkeit in unmittelbarer
greifbarer Nähe, wie im ägyptischen Säulensaal, nur frei von dem
Gedränge und Geschiebe der vielfachen Reihen hintereinander.
Diese Beziehimg auf Nahsicht darf nicht fehlen. Dann erst kommen
wir zum Genuß der Langseiten beim Umwandeln des Ganzen außer-
halb. „Will das Auge die Säulen in ihrem gewollten Verhältnisse
als Teilglieder eines harmonischen Ganzen genießen, so muß es in
einiger Entfernung von den Teilflächen abrücken, woraus sich er-
gibt, daß die Aufnahme des griechischen Tempels (doch nicht etwa
ausschließlich!) aus jener der Normalsicht entsprechenden mäßigen
Entfernung zu erfolgen hat, in welcher haptische Klarheit des
Details und optische Übersicht über das Ganze in gleichem Maße
zur Geltung gelangen können."
Durchaus irreführend aber ist die Behauptung: auf Schaffung
von Innenräumen seien auch die Griechen der klassischen Zeit noch
keineswegs ausgegangen; „der einzige größere Raum im Tempel-
innem, die Cella, wurde durch die Hypäthralität auf die Entwick-
lungsstufe des ägyptischen Hofes zurückgedrängt." Zweifellos hat
die Cella ihren Ursprung im Tempelhof, als geheiligtem Innenbe-
zirk unter freiem Himmel, und konnte erst bei Beschränkung oder
Verlegung des Brandopfers sich in das überdachte Zelt verwandeln,
das, in Holz oder Stein, gewiß die mannigfachsten Übergangsformen
bewahrte. Wer aber den ästhetischen Wert dieses Raumgebildes
im Innern als integfrierenden Teil des Kunstwollens begreifen will
— und das ist er unbedingt — , der darf diese Obergänge zwischen
Binnenhof und bedachter Cella nicht auseinanderschneiden, einem
fremdartigen Begriff" des völlig (auch nach oben) geschlossenen
Innenraums zuliebe. Auch hier liegt das letzte Ziel der Prozession
vor dem Götterbilde in der Cella, mag auch der größte Teil des
Festzuges draußen bleiben, die Menge des Volks das Heiligtum
rings umstellen. Dann wirken die aufrechten Einzelglieder ringsum,
ob Holzpfahle oder Marmorsäulen, in ihrer ursprünglichen Funktion
als Wahrzeichen an der Grenze des geheiligten Grundes, und
machen sich geltend als „greifbar materielle und als solche un-
mittelbar sinnlich wirkende" Körper, die auch Druck und Stoß der
Andringenden widerstehen. Jene rein optische Auffassung des
2 2 II- Kritik der ersten Beispiele Riegls
Formenspiels in Licht und Schatten ist eine spätere, gewiß langsam
genug entwickelte, deren allmählichen Fortschritt die Formensprache
der plastischen Einzelbildung erkennen läßt. So angesehen, darf die
Frage offen bleiben, ob die Reihen von Einzelgliedem am Äußern
nicht zunächst sich eher wie eine Herauskehrung der Säulen des
ägyptischen Tempelsaals oder Hofes nach außen, d. h. wie eine
rein körperlich für Tastbarkeit und Nahsicht berechnete Grenz-
scheide darstellten, ob nicht die Behauptung Riegls: „der griechische
Tempel sei ein Gebäude und zeige noch immer im ganzen eine
ebene Wand, die aber nun schon in eine Reihe von Formen
(Peripteros) aufgelöst ist," — eine fortgeschrittene Phcise der Ent-
wicklung charakterisiert, und zwar besonders mit dem Zusatz: „als
Ganzes ist er noch in Hohe und Breite abgeschlossen, in den Teilen
(Säulen) aber schon nach der Tiefe," wenn hiermit die Reliefauf-
fassung dieser Außenseiten gemeint ist, wie oben im Genuß bei
normalsichtiger Entfernung.
Daß unter den Diadochen ein entschiedener Fortschritt in der
Ausbildung von „monumentalen" Innenräumen geschehen ist, wird
man kaum bezweifeln. Kühner klingt die Versicherung: „Die
monumentale Bauform der hellenistischen Zeit ist die einfache
Rotunde. Auch sie ist noch immer ein Gebäude, aber sie ist nun
als Ganzes auch nach der Tiefe abgeschlossen und darin ganz
unorientalisch (vergl. aber die Pyramide als Körper im Raum!).
Hingegen ist sie wiederum ohne alle Gliederung in geformte Teile,
und in dieser Hinsicht zum Orientalismus zurückgewandt" „Erst
der hellenistische Zentralbau gewährt dem Innenraum Eingang, aber
in einer Weise, die die tastbar isolierte Außenform der Rotunde
auch im unfaßbaren leeren Innenraum noch deutlich durchfühlen
läßt." Wir geben diese Stellen zum Verfolg des Gedankenganges
wieder, gehen aber von den unsichem Beispielen, die archäologische
Streitfragen heraufbeschwören, zu einem letzten erhaltenen Denk-
mal über, das allerdings auch zu Zweifeln Anlaß geben mag, aber
als Abschluß der verfolgten Reihe besonders geeignet scheint, die
weiteren Wege zu weisen.
„Den ältesten erhaltenen, völlig geschlossenen Innenraum von
wahrhaft bedeutenden Dimensionen und ofiFenbar künstlerischen
Absichten birgt das Pantheon in Rom." Zunächst das Äußere:
„Abgesehen von dem angelehnten Giebelportikus, stellt es eine
reine Rotunde dar, die wenigstens für den femsichtigen Anblick
ein absolut symmetrisches Flächenbild ergibt. Die zentrale tastbare
Das Pantheon in Rom 2^
Formeinheit ist somit noch immer als oberstes Kunstziel festge-
halten; alle kristallinische Brechung in klargesonderte, ebene Außen-
flächen erscheint aufgehoben. An die Stelle der absolut ruhigen
Ebene (des ägyptischen Kunstideals) ist die ruhelose, tiefensuchende
Kurve, an Stelle der (am griechischen Säulenhaus beobachteten)
Außengliederung in Teilformen das xmterschiedlose Aufgehen aller
denkbaren Teilchen in die Form des Ganzen gesetzt. Das fenster-
lose Pantheon steht darin noch auf gemeinantikem Boden, daß es
ein zu klarer Einheit geformtes, in feste Grenzen gefaßtes stoffliches
Individuum sein will. Mit seinem Streben nach unendlicher Tiefen-
änderung innerhalb seiner festen Grenzen bezeichnet es den extremen
Gegensatz zum altägyptischen Stil; mit seiner unbedingten Beugimg
aller möglichen Teile unter die absolute Einheit des Ganzen tritt
es andrerseits in Gegensatz zur griechisch-klassischen Kunst imd
nähert sich damit abermals dem altägjrptischen Stil, der ebenfalls
bloß gliederlose Außenflächen gekannt hat."
Diese Charakteristik des Äußern läßt einen Bestandteil unbe-
nutzt, das Kuppeldach, das, wie immer es auch ursprünglich be-
kleidet gewesen, die Auffassung des Ganzen als eines isolierten
Körpers erst zwingend vollendet, so daß dieser Eindruck, wie bei
der Pyramide, alle übrigen überwiegt. Damit haben wir aber eine
saubere Herausschälung des Zentralbaues, die dem Originalzustand
kaum entsprechen kann, da er als Hauptsaal der Thermen des
Agrippa eben einem größeren Komplex von Räumen angehörte.
Es fragt sich andrerseits, ob wir von der Vorhalle, selbst wenn ihre
jetzige Gestalt nachhadrianischen Ursprungs ist, so völlig absehen
dürfen, wie es Riegl beliebt. Der Giebelportikus ist freilich „keine
Komposition der Rotunde mit dem oblongen Säulenhaus", besonders
nicht im Sinne einer innem Raumkomposition; aber er bedeutet
doch „wesentlich nur als Bereicherung des Portals" immer einen
integrierenden Bestandteil des Äußern, das bei Feststellung des
KunstwoUens der Zeit, die ihn errichtet hat, nicht außer Betracht
bleiben darf. Schließt sich im Innem dieser Vorhalle auch die
dreischiffige Anlage, mit tonnengewölbter Erhebung des mittleren
Ganges über den flachgedeckten Abseiten, an die Richtungsachse
des Eintritts in den Zentralbau an, so ist doch der Eindruck des
Äußern ganz anders geartet Die Giebelfront erscheint nicht wie
der Pronaos zur Cella gerichtet, sondern quer vorgelegt, eben wie
ein breiter Portikus, und weist in dieser seitlichen Richtung seiner
Säulenreihen weiter nach rechts und links. Der Dreieckgiebel und
2J. 11. Kritik der ersten Beispiele Riegls
seine Wiederholung am Baukörper dahinter zentralisiert diese
Breitenausdehnung über dem geraden Gebälk; beide Spitzen lenken
den Blick zur Höhe gegen die Kuppel und auf die Mitte der Ka^
lotte, wo wir die Gipfelung erwarten. Da hier die RundöfFnung
den Scheitel abschneidet, errichten wir selbst in Gedanken die
Vertikalachse im Zentrum oder fallen vom Höhepunkt das Lot
durch die ÖflEnung auf den Mittelpunkt der Kreisfläche des Bodens.
Erst damit vollendet sich die adäquate Auffassung des Gesamt-
körpers, wie bei einem kristallinischen Gebilde.
Unterhalb des zusammenfassenden Gebälks der Vorhalle voll-
ziehen wir dagegen, dieser Mittelachse der Symmetrie gemäß, die
Diremtion nach beiden Seiten. Neben der Säulenreihe vom er-
warten wir einen weitem Zusammenhang, anstoßende, wenn auch
weiter zurücktretende Ebenen, aus deren Mitte die Reliefebene der
Tempelfront als Hauptstück hervorragt. Hier verdeckten den Zen-
tralbau doch wohl Umfassungsmauern des Gebäudekomplexes, zu
dem die Rotunde mit ihrer Eingangshalle als Hauptportal gehörte.
Schmuckwände in minder starker Reliefanschauung sollten ihr als
Folie gedient haben. Und diese Vermutung wird noch unterstützt
durch den Anblick alter Abbildungen, die in den Interkolumnien
übermannshohe Schranken zeigen, — wie man meint, eine spät-
römische Zutat; aber auch ein unverkennbares Wahrzeichen der
gewollten Flächenauffassung für die gesamte Ausdehnung dieser
unteren Partien.
In der Gesamtansicht von dieser Seite sollte jedoch der Kuppel
jedenfalls die Rolle der Dominante zufallen; sie war der Ruhe-
punkt, auf den sich alles sammelte, wenn der Beschauer auf dem
Platz vor der Fcissade das Ganze übersah. Ihre Kurvatur aber
leitete, wie die Biegung der Seitenflächen des Mauerzylinders, so-
weit diese noch sichtbar blieben, den Blick in die Tiefe des übrigen
Komplexes dahinter, bis etwa ein anderes Bauwerk, wie der große
Saal, den die Ausgrabungen jenseits festgestellt haben, mit seiner
Wand den weiteren Verfolg dieser Richtung abfing, also auch den
Körper der Rotunde vor einer letzten Ebene noch isolierte. Da-
mit erst wird dem Beschauer, in richtiger Entfernung vor der Ge-
samtansicht, der feste Standpunkt angewiesen, mit dem Riegl von
vornherein als dem einzig möglichen rechnet, wenn er hsrvorhebt,
beim Pantheon müsse die Femsicht eintreten. „Nicht zwei Punkte
einer Zone desselben liegen in der gleichen Ebene, und es bedarf
daher der einheitlichen Übersicht über sie alle, um die begehrte
Das Pantheon in Rom
25
Einheit, d. h. Symmetrie in Höhe und Breite, wahrzunehmen." Das
trifft nun aber zunächst nur für die oberen Partien zu, die hinter
der Umfassungsmauer der altem Thermenanlage oder über der
Säulenhalle des spätem Umbaues hervorragten. Denken wir aber
den untern Teil des Zentralkörpers so verdeckt, wie der quergelegte
Portikus und seine Anweisung auf die Breitenrichtung verlangen,
dann besteht auch für diese Teile zugleich die Femsicht zu Recht.
Beim Näherkommen des Betrachters aber fordert die Säulenfront
auch zur Normalsicht heraus, wie beim griechischen Tempel, und
beim Eintritt über die Schwelle stellt sich von selbst auch die
Nahsicht ein, für die das plastische Einzelwerk gearbeitet ward.
Die Femsicht schließt diese beiden früheren Stadien des Kunstge-
nusses nicht aus, sondern tritt nur als dritte Möglichkeit hinzu.
Sie entspricht nur dem dritten Abstände, und zwar allein dem
festen Standort des Betrachters für die rein optische Anschauung
des Ganzen als Bild, — d. h. als Fembild, die wir ebendeshalb
als die spezifisch malerische von den andern zu unterscheiden
pflegen. (Beitr. 11 S. 12 f.)
Mit solcher Anerkennung aller, auch der früher bevorzugten
Möglichkeiten, vermeiden wir die seltsame historische Theorie, die
sich aus der einseitigen Betonung der Femsicht bei Riegl ergäbe:
als wären die Altägypter nur kurzsichtige Taster, die Hellenen
allein normalsichtige Menschen, die Römer erst weitsichtige Späher
gewesen. Nach dieser Berichtigung anerkennen wir gern den
Schlußsatz: „Damit verrät das Äußere des Pantheon zugleich das
Bestreben, sich nicht bloß nach den Flächendimensionen hin,
sondern auch nach der Tiefe zu isolieren, worin eine offene Aner-
kennung des kubischen Raumes enthalten ist." Nur eine Differenz
könnte sich noch ergeben, und zwar was die Tragweite der Ge-
samtansicht, sei es auch nur in der letzten spätrömischen Redaktion
der Fassade, betrifft. Wie weit war bei der optischen Auffassung
vom ruhigen Standpunkt als Bild bereits die Liist an perspekti-
vischen Effekten und Reizmitteln malerischer Art gediehen? Haben
wir auch im Außenbau nur den kubischen Raum mit klarer Los-
lösung des Körpers von dem Hintergrand, d. h. nur ein bestimmtes
Ausmaß von Raumvolumen, wie im Innern?
Riegls Verfahren, dem Denkmal das Kunstwollen seiner Ent-
stehungszeit abzufragen, beschränkt sich auch beim Innern aus-
schließlich auf den optischen Standpunkt und rechnet, ebensowenig
wie bei Säulenhallen, mit der Tatsache, daß der Raum den ein-
26 II' Kritik der ersten Beispiele Riegls
tretenden Menschen umfangt, und mit der andern, daß der lebendige
Mensch in der künstlerisch ausgestalteten Umschließung doch seinen
Standpunkt mannigfach wechseln, seine Ortsbewegung betätigen
kann.
„Wohin das Auge des Eingetretenen blickt, auf Seitenwände
oder Kuppelwölbung, überall stoßt es auf tiefenverändemde Flächen,
die sich aber nirgends zur Form abgrenzen (?), sondern kontinuier-
lich in sich selbst zurücklaufen. — So entsteht im Beschauer der
Begriff des Raumes; aber im übrigen ist im Pantheon alles
daraufhin berechnet, um zugleich auch das Bewußtsein von den
stofflichen Grenzen des Raumes wachzurufen, an Stelle des reinen
Begriffes (?) nach Möglichkeit die sinnliche Vorstellung der tast-
baren Einheitsform, an Stelle der Tiefe — die Ebene (Höhe
und Breite) zu setzen."
So wenig uns die Einfuhrung des reinen Begriffes als eines
angeblich in abstracto möglichen Prius vor der konkreten Rauman-
schauung behagen will, so lassen wir das Bedenken doch fallen,
indem wir vor der letzten Zumutung vollends zurückschrecken.
Welcher Besucher des Pantheon wird mit offenen Sinnen sich über-
reden lassen, da werde tatsächlich an Stelle der Tiefe des Raumes
die Ebene, ein Zweidimensionales, gesetzt. Gespannt verfolgen wir
die Begründung solcher raumscheuen Illusion des Forschers. „Der
Eintretende", wird uns erklärt, „merkt nämlich sofort beim ersten
Blick auf die Bodenfläche die Kreisform der begrenzenden Mauer
und schließt daraus, daß die Abmessungen der Tiefe und Breite die
gleichen sind; dazu gesellt sich die weitere unmittelbare Wahr-
nehmung, daß auch die Höhe und Breite (und damit auch die Tiefe)
gleich ist: dadurch wird dem Beschauer zwingend das taktische
(haptische?) Gefühl der Einheit in den Maßen der begrenzenden
Flächen erweckt."
Mit all dieser Rechnung, deren Unterlagen wir dem Augenmaß
verdanken und die wir deshalb lieber nur so weit mitmachen, wie
sie in der Region des reinen Raumgefühls verbleiben kann, d. h.
soweit sie den ästhetischen Genuß angeht und nicht den kalkulie-
renden Verstand, der uns etwas beweisen will, hereinzieht, — mit
all dieser Orientierung in der Raumform, die uns umschließt, kommen
wir doch wohl nicht dazu, an die Stelle seiner Tiefenerstreckung die
Ebene, d. h. eine senkrecht vor uns stehende Parallelebene zu
setzen, wie es Riegl ergangen scheint, wenn wir ihn recht ver-
stehen. Vollkommen einverstanden: „Mehr als irgendein anderer
Das Pantheon in Rom
27
Innenraum der Welt hat sich der des Pantheon jene der Reflexion
unbedürftige, echt antike Klarheit und geschlossene Einheit be-
wahrt, die streng genommen nur der undurchbrochenen festen stoff-
lichen Form zukommen kann" (sagen wir lieber: zuzukommen
scheint). Da lassen wir auch den Begriff des Raumes und die ma-
thematische Zerlegung in drei Dimensionen lieber draußen, zumal
wenn uns die eigentliche Raumdimension, in der wir vorwärts
dringen, dabei abhanden kommen soll. Dringen wir mit dem Auf-
schwung der Kuppelwölbung zur Höhe, so scheuen wir auch nicht
den Aufstieg durch die Rundöffnung in ihrem Scheitel, die Licht-
öffiaung, von der uns Riegl glauben machen will, sie erscheine
„auch eher als Schlußstein, denn als Durchbrechung". Da bekennen
wir doch lieber mit Jakob Burckhardt: „Im Innern überwältigt vor
allem die Einheit und Schönheit des Oberlichtes, welches den
riesigen Rundbau mit seinen Strahlen imd Reflexen so wunderbar
anfüllt'* — Wo jetzt aber das flache Rund dies Fenster umgibt,
da „war für die ernste, monumentale Dekoration der Anlaß zur
meisterlichsten Schöpfung gegeben. Wer bringt uns die wahren
alten Formen wieder?" Doch hören wir noch Riegls Schluß:
„Die frühere römische Kaiserzeit hat also das Raumproblem
im Innern in der Weise zur Lösimg gebracht, daß sie den Raum
gleichsam als kubischen Stoff behandelte und denselben in absolut
gleiche und darum klare Abmessungen einfing. Damit war das
bisher unmöglich Scheinende (?) zur Wirklichkeit gemacht, der
freie Raum individualisiert" Mit dem ersten Satz erkläre auch
ich mich ausdrücklich einverstanden, nur muß noch eine Erklärung
gefunden werden, wie man aus früheren Entwicklungsstufen zu
dieser Behandlungsweise kam. Nicht was bisher unmöglich er-
schien, sondern was auch in andern Verhältnissen immer so be-
handelt worden war, liegt hier in einem vollkommenen Beispiel vor.
Damit ergibt sich aber auch der Zweifel, ob die Formulierung des
„Raumproblems" im zweiten Satze so bestehen kann, nämlich aus
einem Gegensatz zwischen dem abstrakten freien Raum und dem
klar begrenzten Raumvolumen in concreto. Die Entscheidung muß
bis auf weiteres verspart bleiben. Ich fürchte, es liegt derselbe Fall
vor, wie beim ägyptischen Tempelsaal, wo uns erst die unbestimmte
Raumweite als modern geläufige Vorstellung untergeschoben ward,
deren Anwendbarkeit in der Antike aber so gut wie unzulässig er-
scheint Dies Verfahren mag zur Verständigimg mit dem Leser
erlaubt sein, muß aber sofort, wenn diese erreicht ist, seine
28 n. Kritik der ersten Beispiele Riegls
Berichtigung empfangen. Wer den Raum, wie noch im Pantheon,
„gleichsam als kubischen Stoff" behandelt, der kennt eben den Be-
griff des Raumes als eines unendlichen, unbegrenzten überhaupt
gar nicht, oder geht bei der schöpferischen Gestaltung nicht von
der Raumleere aus, die selbst etwas Positives wäre. Verhält sich
doch selbst unsere deutsche Muttersprache noch rein negativ, in-
dem sie ihre Ohnmacht bekennt, das Unermeßliche, Unabsehbare,
Unendliche irgendwie anders als mit Notbehelfen, der Verneinung
des Positiven auszudrücken.
Aber der geschlossene, nach allen Dimensionen klar definierte
Innenraum des Pantheon ist noch weiter durch Eigentümlichkeiten
charakterisiert, die Riegl nicht hervorhebt, und die doch ebenso
bezeichnend und lehrreich sind für den Zusammenhang mit der
ganzen früheren Entwicklung des Raumschaffens. Nur nach oben
vollzieht sich die sphärische Begrenzung. Unten liegt der wag-
rechte Grund und Boden in klarstem Gegensatz. Hier haben wir
die unentbehrliche Unterlage für den lebenden Menschen, auf der
er stehen und gehen kann, die gemeinsame Basis auch für sein
Bauen. Und wie er selbst, der Schöpfer des Bauwerks, aufrecht
steht, steht die Wandumschließung, hier ein Mauerzylinder auf der
Peripherie des Kreises, senkrecht da. Erst droben über dem Kranz-
gesims dieser vertikalen Wandung beginnt die sphärische Wölbung.
Nur sie erfüllt das Ideal unseres Sehraumes, in der möglichsten
Annäherung an die innere Kugelfläche, — ein unverkennbarer Bei-
trag der optischen Region, die sich selbständig neben den andern
fühlbar macht. Da haben wir die Analogie zu den drei Stand-
punkten, die wir außen verfolgten. Da liegt der Zusammenhang mit
hellenistischen Voriäufem.
Dann erst berücksichtigen wir die weitere Individualisierung
ebendieses Zentralraumes im Pantheon, Die Erweiterung des
Mauerzylinders durch Nischen wechselt in der untern Zone mit den
schlichten Wandflächen oder festen Körpergrenzen, dunkle Schatten-
tiefen mit hellen Flächen, wie Säulen und Intervalle sonst im
kleinen. Hier aber setzt die Redaktion ein, die im wesentlichen
erst auf die erste Hälfte des zweiten christlichen Jahrhimderts zu-
rückgeht, im Nebensächlichen noch Beiträge aus verschiedenen
Zeiten, bis zur Oberzone des Zylinders mit ihrer Bekleidung aus
dem vorigen Jahrhundert aufweist. Von diesen Wandlungen, die
mit dem Kassettensystem der Kuppel in Widerspruch stehen oder
wenigstens keine Achsenbeziehimg teilen, sehen wir ab. Nur die
Ergänzung der Methode 29
Tatsache, daß diese Kassetten der innem Kugelfläche sich nach
oben bis zum letzten Umkreis der Lichtöffnung verjüngen, also die
Sphäre perspektivisch durchgliedem, stellt uns wieder vor die Frage,
zu der auch die Gesamtansicht des Außenbaues schließlich hindurch-
drängte: ist diese künstlerische Umgestaltung der schlichten Halb-
kugelfläche nicht auch ein Zeugnis bestimmten Kunst woUens? —
gleichwie die Durcharbeitung der Femsicht zum wirksamen Prospekt
am Aiißem.
Damit ist der Ausblick in weitere Entwicklungsreihen eröffnet.
Machen wir also Halt Hier kam es nur darauf an, die Methode
Riegls in der Analyse der Denkmäler an einigen Beispielen zu ver-
folgen. Es hat sich wohl dabei herausgestellt, daß sie in mehr
als einer Richtung versagt und deshalb nicht ausreicht, dem Kunst-
wollen — auch nur der Baukunst — vollauf gerecht zu werden.
Fassen wir die Momente zusammen, mit denen wir Riegls Betrach-
tungsweise vervollständigen und ergänzen mußten, so fuhren sie
alle auf einen Hauptpunkt hin: das ist die unentbehrliche Rech-
nung mit dem menschlichen Subjekt und seiner ganzen
natürlichen Organisation. Und damit ergibt sich, daß auf dem
eingeschlagenen Wege keine befriedigende Erklärung erzielt werden
kann. Es nützt uns nichts, der herkömmlichen Anordnung von
Architektur zur Skulptur, von Malerei zur Kunstindustrie nachzu-
gehen. Eine solche Disposition ist verfehlt, wo es gilt, die Ent-
stehung eines neuen KunstwoUens nachzuweisen, und ganz beson-
ders für das gesamte Altertum.
HL
MENSCHLICHE ORGANISATION
Auf eine vor allem entscheidende Frage in der bisherigen
Darlegung wird auch der entgegenkommende Leser des Riegischen
Buches keine befriedigende Antwort gefunden haben: Wie kamen
die Kulturvölker des Altertums zu der Eigentümlichkeit, die ihnen
nachgerechnet wird, in ihrer bildenden Kunst nur der Ebene eine
so bevorzugte Rolle einzuräumen? Wenn sie in den Außendingen
stoffliche Individuen, zwar von verschiedener Größe, aber jedes zu
einer Einheit abgeschlossen, erblickten; wenn sie mittels der bilden-
den Kunst einzelne Individuen herausgriffen und sie in ihrer klaren
abgeschlossenen Einheit hinstellten; wie kamen sie dazu, Ebenen
zu schaffen, und nicht, wie wir glauben sollten, Körper im Raum?
Die Auffassung nach Analogie der eigenen Menschennatur, der
Anthropismus, die dabei angerufen werden, konnten sie doch nur
dazu fuhren, in allen Dingen ringsum Rundkörper vorauszusetzen
und in Übereinstimmung mit dem eignen Leibe Rundwerk zu
schaffen. Auf dem Wege der reinen sinnlichen Wahrnehmung er-
faßt, war nur dieses die individuelle Einheit, die gleich dem
Menschen auch allen übrigen Objekten in der Welt zukam. Diese
Auffassung ergab zwingend der Tastsinn mit seinen weitverzweigten
Organen. Wie hätte die Mitwirkimg des Auges eine solche Ent-
fremdung von der Hauptsache schon zu einer Zeit herbeiführen
sollen, die so lange noch auf tastbare Bewährung der Undurchdring-
lichkeit und Geschlossenheit der Gegenstände erpicht war, wie ims
immer wiederholt wird. Wir begreifen wohl, — wenn auch nicht, wie
es so „frühzeitig" geschehen sein soll, — „daß die optische Wahr-
nehmung allein für genügend befunden wurde, um von der stoff-
lichen Einheit eines Außendinges Gewißheit zu schaffen, ohne daß
hierbei der Tastsinn zur unmittelbaren Zeugenschaft herangezogen
werden mußte**. Aber wir begreifen gar nicht, wie diese Ausschal-
timg des Tastsinnes für das bildnerische Schaffen maßgebend werden
konnte, so daß „die wesentlichste Vorbedingung hierbei" erfüllt
Vorrecht der Hände oj
ward, nämlich y,daß die absolute Ebene eingehalten, die Ausdeh-
nung auf die Dimensionen der Höhe und Breite beschränkt blieb",
— wie Riegl will. Da handelt es sich doch gar nicht um die
Leistungsfähigkeit des Auges für die Auffassung, bei der immer
noch hinter dem Sehorgan der getreue Bundesgenosse vergessen
wäre, dessen stets bereite Hilfe die Erkennung der Gegenstände,
sowie sie ins Auge fallen, vollzieht und das Sehen so schnellfertig
macht, sondern es handelt sich um die Darstellung von Objekten
außer uns und um die unentbehrliche Mitwirkung der natürlichen
Werkzeuge unseres Körpers zur Hervorbringung solcher Ge-
bilde. Die Ausschaltung der Tastorgane ist ganz undenkbar; denn
alles bildnerische Schaffen ist zunächst unsrer Hände Werk. Wenn
wir glauben sollen, daß bei dieser Arbeit trotzdem die Ebene und
nicht der Körper aus den Händen der antiken Kulturvölker her-
vorgegangen sei, oder daß die Ebene auch nur ihr Hauptanliegen
im Kunstwollen gewesen, so müssen die Ursachen und Beweg-
gründe dafür zunächst auf dem» eigensten Gebiet der menschlichen
Betätigung beim Gestalten und Bearbeiten der Rohstoffe selber
gesucht werden. Das ist allerdings eine Stelle, wo der eigene Weg
der Untersuchung Riegls zu dem Wege seiner materialistischen
Widersacher hinüberzuführen, ja unvermeidlich in die Bedingungen
der Technik imd des Materials zu münden drohte. Deshalb schien
es geraten, diesen heiklen Punkt nach Möglichkeit zu umgehen.
Oder sollte sich der Kenner des Kunsthandwerks diese dringliche
Frage wirklich nicht selber gestellt haben? — Welche Wandlungen
seines Vorstellungskreises mögen sich seit seinen Arbeiten auf jenem
Gebiet vollzogen haben, daß er jetzt so unversehens an der ent-
scheidenden Stelle vorbeigeht?
Wenn Riegl in den „Stilfragen" am Anfange alles Kunst-
schaffens das volle Rundwerk sieht, wie sollen die Altägypter dann
auf einmal zur Ebene übergegangen sein, zum Absolutismus der
ungeteilten Ebene, und ihr ganzes Kunstwollen diesem Zwange
untergeordnet haben? — die Ägypter, vor deren Flachrelief dem
Wiederentdecker dieser Knechtschaft sogar die Bemerkung ent-
schlüpft: „man muß oft staunen, wenn man die Fingerspitzen
tastend über altägyptische Relieffiguren gleiten läßt und nun
die feinste Modellierung dort wahrnimmt, wo das Auge aus einiger
Entfernung bloß eine ungegliederte tote Fläche zu sehen glaubte." ^)
i) B. z. A. Z. 1902, S. 155 f.
3 2 UI. Menschliche Organisation
Zum wirklichen Tanten eines Reliefs werden wir doch im Kunstge-
nuß auch bei ägyptischen Werken nicht vorschreiten sollen. Aber
auch die grundlegende Tatsache wird auf der nämlichen Seite be-
tont: „Die Ku:*.. des gesamten Altertums ist auf eine möglichst
klare Abgrenzung der Einzelfig^ nach allen Dimensionen hin aus-
gegangen. Das Grundziel war die Schaffung fester Grenzen —
nach Höhe, Breite und Tiefe", d. h. doch vollrunde Körperlichkeit,
solange nicht die Ebene, dies zweidimensionale Arbeitsfeld, den
Verfolg der dritten Dimension zum Stillstand brachte. Erscheint
da nicht die Ebene, das materielle Substrat, als das Hemmnis des
Kxmstwollens? Wie können wir von den Urhebern dieser Reliefs
behaupten, sie hätten die Dinge als individuelle stoffliche Er-
scheinung nicht im Räume, sondern in der Ebene hinstellen wollen,
nur dieses, nicht jenes habe ihrem Kunstwollen wirklich Tent-
sprochen?
Drängt sich da nicht mit vollem Rechte zunächst der Zweifel
auf, ob das bestimmte zielstrebige Kunstwollen hier im Kampfe
mit Rohstoff und Technik auch dazu gelangt sei, sich vollständig
durchzusetzen? Oder darf nicht erwogen werden, weshalb der Alt-
ägypter sich begnügt habe, mit der Wiedergabe der Körper sozu-
sagen auf halbem Wege stehen zu bleiben, — auf die dritte Di-
mension an sich zu verzichten, nur den Schein davon zu retten?
Gab es nicht etwa einen andern Beweggrund für diesen Verzicht,
als die unmotivierte Vorliebe für die Ebene allein, als Form und
Kunstprinzip, auf das man einmal eingeschworen war, man weiß
nicht wie?
Auch da stoßen wir auf unzureichende Partien, auf einen
Mangel der Methode beim Abfragen des Kunstwollens aus den
Denkmälern, der mit jenen früher aufgewiesenen zusammenhängt,
und schließlich ebenso darauf hinausläuft, daß der Mensch als
schöpferisches und genießendes Subjekt nicht nach allen Seiten
seiner leiblichen und geistigen Organisation eingeführt und als
Maßstab aller seiner künstlerischen Auseinandersetzungen mit der
Außenwelt anerkannt worden ist, wie es zu einer befriedigenden
Erklärung durchaus erforderlich war. Lernt doch der Mensch im
Verkehr mit den Dingen die andersartige Natur der Dinge im
Unterschied von der eigenen allmählich kennen und bewerten, ja
mittlerweile auch benutzen. Sucht er in ihnen doch nicht allein
die Gegenstände seiner Darstellung, sondern auch die Mittel zu
deren Hervorbringung. Muß er doch bald genug erfahren, daß die
Orientierung vom eigenen Körper aus 33
Bäume und die Felsen älter sind als er und noch seine Kinder
überleben. Entwickelt er doch endlich im Verkehr mit der Außen-
welt seine geistige Kraft, so daß es bald nicht mehr möglich fallt,
bei der sinnlichen Wahrnehmung stehen zu bleiben und die Arbeit
des Intellekts auszuschließen, wie in der Auffassimg, so in der
Darstellimg, die ihn selber befriedigen soll.
Da bewährt sich imsere Definition der Kirnst als schöpferische
Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, in die er gestellt
ist, schon darin, daß bei deren Vollzug zwei Pole vorausgesetzt
sind, der Mensch und die Außenwelt. Der Mensch aber darf nicht
allein als Körper gefaßt werden, sondern auch als Geist, wenn wir
einmal genötigt werden, die natürliche Einheit ausdrücklich zu zer-
legen. Und auch die Außenwelt umfaßt nicht allein die Außen-
dinge an sich, sondern auch die mannigfaltigen Beziehungen zum
Empfindungsleben des Menschen und die Anlässe zu psychischer
und geistiger Durchdringung, die gerade der menschlichen Auf-
fassimg in ihrer ursprünglichen Eigenart entsprechen.
Die Auseinandersetzimg des menschlichen Subjekts mit seiner
Außenwelt muß sich selbstverständlich nach dem Hausgesetz seiner
eigenen Organisation entwickeln und mit den Fortschritten dieses
Wachstums zusammengehen. Sie beginnt sicher im wörtlichen Sinne
vom eigenen Leibe aus, schon deshalb, weil unsere Gliedmaßen als
Werkzeuge bei jeder Feststellung des Vorhandenen oder jeder Ver-
schiebung des Bestehenden, die wir vollziehen, als notwendige Ver-
mittler einzugreifen haben. Aus der Bedingtheit des organischen
Geschöpfes, das sich selbst als Körper vorfindet, aus den Besonder-
heiten seiner Lage, aus der es zunächst gar nicht heraus kann oder
hinauszutrachten Veranlassung fühlt, erwachsen dem Menschen
die mannigfaltigsten Beziehungen seines Daseins und Lebens. Ort
und Stellung der beteiligten Organe, der Grad ihrer Beweglichkeit
oder ihrer Abhängigkeit vom Rumpfe, die Bedingungen des Zu-
sammenwirkens der beiden Hände an den beiden Armen, der beiden
Füße an den beiden Beinen, der beiden Augen an der Vorderseite
des Kopfes samt der inneren Anlage des paarigen Sehapparates,
alle diese Verhältnisse bestimmen nicht allein unsere Orientierung,
sondern auch unsere Auffassung und Hervorbringimg, alle Möglich-
keiten und Außerungs weisen imserer Wirksamkeit, wie die Aus-
dehnung und die Grenzen unseres Wirkungskreises.
Der menschliche Körper imterscheidet sich von dem Bau
der um ihn lebenden Tiere vornehmlich durch seine aufrechte
Schmarsow, Kaottwiasenschaft. ^
34 m* Menschliche Organisation
Haltung; durch sie wird sein Verhältnis zur Umgebung entscheidend
bestimmt Die Vertikalachse vom Kopf bis zu den Füßen wird für
den Menschen zur wichtigsten vor allen übrigen Achsen, die sonst
an bedeutsamen Stellen durch den Körper gehen. Diese Wachs-
tumsachse fallt nicht wie beim Vierfüßler zusammen mit der Rich-
txmgsachse der Ortsbewegimg, ermöglicht also eine Trennung des
ruhigen Dastehens und damit des festen Standpunktes vom variablen
Zustand des Gehens und seinem Zielstreben. So gleicht der aufrecht-
stehende Mann vielmehr dem Baume, nur daß sein Fuß nicht im
Boden wurzelt, und sein Haupt nicht zur Krone von Gezweig in
die Luftregion auseinandergeht So verfallt er keiner Abhängigkeit,
die ihn festhalten könnte, wie zu Füßen, so zu Häupten. Aber
diese aufrechte Haltung nimmt er mit bei der Bewegimg von Ort
zu Ort, von einem Standpunkt zum andern, immer als Norm der
Eigenart, die wohl ins Schwanken kommen und zeitweilig mit
anderen Haltungen und Lagen vertauscht werden kann, aber immer
wieder eingenommen wird und ihren Anspruch auf Alleingültigkeit
fühlbar macht Keine andere Haltimg befriedigt so vollauf; selbst
beim Sitzen bewahrt sie den unterscheidenden Charakter des Auf-
rechten. Abweichungen von diesem werden als Abweichimgen
vom eigensten Recht und Wesen des Menschen eingeschätzt und
als Annäherungen ans Tierische empfunden, wie das Rekeln, das
Recken imd Strecken in horizontaler Lage. Im Liegenbleiben ver-
zichtet der Mensch wiederum, zeitweilig wenigstens, auf einen Teil
seiner Vorzüge, die das Stehen und Sitzen in aufrechter Haltung
gewährt Er verzichtet widerruflich vollends auf seine Herrschaft,
wenn er sich schlafen legt Die Fortdauer dieses passiven Zustandes
ist das Ende seines Lebens, der Tod. So fühlt sich auch jeder
Stehende überlegen im Vergleich zum Liegenden. Und der Sitzende
ist in seinem Verhältnis zwischen dem einen imd dem anderen
ganz abhängig von der Höhe seines Sitzes, ob dies der Erdboden,
die Schwelle, eine Bank oder ein Thron sei, oder gar noch höher
der Baumast oder die Bergspitze, vom Nachen des Luftballons wie
vom Schiff auf den Wogen gar nicht zu reden.
So wird die Vertikale für den Menschen die wichtigste Aus-
dehmmg seines Körpers, und wir nennen die Höhe deshalb unsere
erste Dimension, im Unterschied von Breite und Tiefe, sowie sich auch
diese genügend davon differenzieren. Sie ist als Dominante in der
aufrechten Gestalt gegeben und übt diese Funktion auf alle Körper-
teile aus, wie auf alle übrigen Achsen, die sich mit ihr kreuzen.
Vorrecht der ^. Vertikalachse 35
Sie wird also von selbst als die Trägerin der Schnittpunkte aller
übrigen Dimensionen unseres Leibes angenommen, und der wich-
tigste Schnittpunkt dieser Richtungen entwickelt sich wieder oben
am Ende der Wachstumsachse, in unserem Kopf.
Verfolgen wir auch diese Reihe von unten nach oben, so ist
die erste Horizontale in der Stellung unserer Füße gegeben, und
zwar in der Lage der Fußsohlen auf dem Grund und Boden der
Erde, auf dem imsere Körperschwere den unentbehrlichen Stütz-
punkt sucht und findet Die zweite Wagrechte liegt in den Klnie-
gelenken: sie ist bei ruhiger aufrechter Haltung wesentlich die
Ausgleichsstelle zwischen der grundlegenden Horizontale in den
Füßen und der nächstwichtigen im Becken; bei Bewegung zum
Schreiten usw. natürlich gerade die Stelle, wo der Ausgleich oder
die Gleichgewichtslage aufgehoben wird. Wo die großen Köpfe
der Schenkelknochen in das Becken eingebettet sind, vollzieht sich
die Hauptairbeit zur Aufrechterhaltimg der Vertikale des Rumpfes
auf seinem Untergestell, dort der Obergang zur Sitzhaltung wie
zur Beinbewegxmg im Schreiten. Die nächste Horizontale ist wie-
der von sekimdärer Bedeutung: die größte Verengenmg des Leibes-
umfangs zwischen Becken und Schulterbreite, die wir noch immer
französisch „Taille" nennen. Sie ist zugleich eine empfindliche Ton-
stelle für jede Verschiebung der Weichteile drinnen. In der Schulter-
höhe liegt dagegen die letzte konstitutive Horizontale, die Basis des
bekrönenden Mittelstücks. Zwischen den beiden wichtigsten Breiten-
achsen, Schulterpartie imd Becken, erstreckt sich die ganze Region
des beweglichen Innern, wo sich die Vorgänge des animalischen
Lebens vollziehen, von Atmimg und Herztätigkeit zur Ernährung und
Fortpflanzung, die bald hier, bald da den Anspruch erheben, das Zen-
trum des organischen Geschöpfes auszumachen, in nicht selten fühl-
barer Konkurrenz mit dem höher gelegenen Instanzenzug im Kopfe.
Bevor wir diesen in seinem wirklichen Vorzugswerte anerkennen,
müssen wir doch nach der Stelle suchen, wo alle Empfindungen des
Leibes, wie alle kleinsten Signale der äußeren Berührung mit dem
Medixmi, das ihn umgibt, zusammengehen. Da meldet sich das
Rückgrat, das vom Becken bis zur Schulterhöhe hinaufsteigt und
in der Säule des Halses darüber hinausragend den Kopf trägt.
Auf diesem mittleren Abschnitt der Wachstumsachse liegen jeden-
falls die Leitungsbahnen für das Zusammenwirken, wie für den
Widerstreit zwischen den tieferen und den höheren Regionen, deren
Gleichberechtigung erst durch ethische oder intellektuelle Entwick-
3*
36 ni. Menschliche Organisation
lung in Zweifel gezogen wird. Für den natürlichen Menschen ist
die Wirbelsäule über dem Beingestell von fühlbarster Wichtigkeit
und durchgreifender Bedeutung, vom sogenannten Kreuz bis zum
Genick und vollends mit dem Kopfe darauf, daß sie nicht leicht
außer acht bleiben kann. Kommt dieser Umstand nur wieder der
Vertikale zustatten, so entscheidet die Schulterbreite die Differen-
zierung der zweiten Dimension.
In Schulterhöhe setzt auch ein gleiches Paar von Gliedmaßen
an, das für unsere Aufgabe mit in erster Linie hervorgehoben
werden muß: die beiden Arme, die am Rumpfe herabhangen, aber
sich heben können in die Breite. Mit den Händen und deren
Fingerspitzen am Ende bestimmen sie durch ihre Möglichkeit, den
eigenen Leib zu umspannen und zu betasten, schon entscheidend
unsere Auffassung von der Rundung der Körperformen, soweit nur
ihre Bewegimgsfähigkeit reichen will. Heben wir beide Arme
seitlich zur selben Höhe der Schulterbreite, so verlängert sich
dieser Durchmesser des eigenen Rumpfes nach rechts und links
und erweitert damit die Breite der unmittelbaren Körpemähe zu
einer ausgedehnteren Distanz, die wir von den äußersten Finger-
spitzen der einen Hand zu denen der anderen rechnen mögen.
Da liegen die Grenzen unserer Tastsphäre für diesen Standpunkt
Wir können ihre Peripherie mit dem letzten Berühnmgspimkt des
ausgestreckten Fingers umschreiben, wenn wir uns in dieser Hal-
tung mit wagrechten Armen um die eigene Vertikalachse unseres
Körpers drehen. Ohne dieses Hilfsmittel der Körperdrehung am
selben Orte würde sich die natürliche Tastsphäre nicht so weit aus-
dehnen, sondern durch die relative Drehbarkeit der Arme im
Schultergelenk eingeschränkt sein. Die Distanz, die wir erreichen,
würde nach hinten besonders nicht so groß sein wie nach vom; die
Ausspannung in die Breite überwiegt
Damit kommen wir auf eine neue Besonderheit unserer mensch-
lichen Organisation, indem wir die Querachsen auf der Vertikalen
unseres Körpers nicht mehr in der Breite, sondern in der anderen
Richtung verfolgen, die noch übrigbleibt Auch diese ist noch im
Bau unseres Leibes selber gegeben: er hat eine ausgemachte Vorder-
seite und eine dahinter zurückstehende Kehrseite. Schon bei unseren
Armen ist die Richtung nach vorwärts bevorzugt durch die Weise
ihrer Anfiigimg an den Rumpf, nicht erst durch die Gewöhnung
als tätigste Werkzeuge beim Angreifen, Zugreifen, Eingreifen und
Hantieren aller Art. Wenn wir aber beide Hände nach vom zu
Breite und Tiefe
37
einander nähern, so erleben wir ein wichtiges Ereignis der Tast-
erfahrung, sowie ihnen irgend etwas außer uns zwischen die Finger
kommt Wir wenden unwillkürlich die Mittelachse unseres eigenen
Rumpfes, mit der die Arme in Verbindung stehen, auf das von
beiden Händen berührte oder erfaßte Substrat an und ertappen
uns sozusagen darauf, daß wir es damit nach dem eigenen Korper
auch auf seine Körperlichkeit taxieren« Und was die beiden Hände
gemeinsam gestalten, wird Korper, solange sie sich selbst über-
lassen bleiben. Aber auch unsere Füße stehen nach vorwärts und
sind nur wenig nach den Seiten hinaus gerichtet Unsere Beine
bewegen sich ausgreifend nach vorwärts und nur in »beschränktem
Maße seitwärts oder rückwärts. Eben diese natürliche Richtung
der menschlichen Ortsbewegnng gehört zu den allerwichtig^ten
Grrundbedingungen unseres ganzen Verhältnisses zur Welt Diese
Richtungsachse für alle unsere Bewegungen vervollständigt xmsere
Ausbildung der dritten Dimension, die auf Grund des eigenen
Korperbaues beginnen mochte, durch die stärksten Eindrücke von
Kindesbeinen an. Die eigene Ortsbewegung, durch die Gehwerk-
zeuge vollbracht, bringt diese Ausdehnung zum unmittelbaren Er-
leben, zum unleugbaren Gefühl, zumal da die Gehwerkzeuge zugleich
Tastorgane sind, mit denen wir den Boden berühren. Sie übersetzt
ja eben diese dritte Dimension vorzugsweise ins Nacheinander, in
die zeitliche Auffassung. Und von diesen successiven Tasterfah-
rungen aus, die bis zum Kriechen und Wälzen des Kindes zwischen
den Dingen zurückreichen, entwickelt es sich weiter bis zum vollen
Bewußtsein. Die Entfernung kann ich abschreiten und zugleich
auch mit den Händen abtasten; ich muß sie Stück für Stück zurück-
legen (wie wir bezeichnend sagen), und die fühlbare Verschiebung
der Dinge gegen meinen Korper ergibt Begleitmerkmale dieses
Vollzuges, die hintereinander folgen. Kommt dann als höchste
Instanz das Sehen hinzu, so steigert sich erst die Möglichkeit der
freien Bewegung zum vollen Genuß. Aber schon ohne diese Hilfe
scheint kein Faktor der Wirklichkeit so ausschließlich an die Ortsbe-
wegung gebunden wie die Ausdehnung in die Weite hinaus: nach
welcher Seite wir unsere Vorderhälfte kehren imd damit unsere Rich-
tung einstellen, unsere Schritte lenken, da liegt die Welt für uns.
Wohin unsere Arme greifen, da erstreckt sich das Reich unserer Be-
tätigung, das wir Schritt für Schritt erobern. Die Richtung des Kopfes
nach dieser Vorderseite vollendet nur die ausgeprägte Besonderheit
der Organisation und ist ja bis zu einem gewissen Grade variabeL
3$ ni. Menschliche Organisation
Der Kopf, der höchst gestellte Bestandteil unseres Korpers,
erhält seinen Vorzugswert namentlich durch die Anbringung der
Sinnesorgane; aber er ist auch durch die Gesamtform auf dem
Halse schon als letztes Glied an der Höhenachse des Ganzen, als
Abschlußstelle des Wachstums kenntlich. Mund und Nase, Ohren
und Augen sitzen auf engem Raum unterhalb des kugelig ausge-
rundeten Schädels beieinander und bilden so eine Konstellation,
die von selber zur Zentralstelle werden muß. Erst fortgeschrittenes
Wissen rechnet dazu als Hauptsache das Gehirn und was damit
zusammenhängt unter dem Haiarschmuck. Mund und Nase sind
an der Vorderseite festgelegt, der Mund in die Breite, die Nase
in die Höhe gerichtet Das Augenpaar legt sich abermals in der
Breitenachse darüber. Die innere Drehbarkeit der Augäpfel erweitert
noch den Horizontalismus nach rechts oder nach links herum. So
nähert sich der Wirkungskreis dieses Sehorgans dem anderen des
Gehörs. Die beiden Ohren aber sitzen auf den Seiten des Kopfes,
mit ihren sichtbaren Muscheln wieder aufrecht wie die Nase, aber
doch, im Ausgleich der Breitenentfaltung nach hinten und oben
zugleich, ein Bindeglied zwischen dem Antlitz und der Schädel-
decke. Alle diese Organe erhalten aber den stärksten Zuwachs
ihrer Tragweite durch die Drehbarkeit des Kopfes auf dem Halse.
Doch erreicht auch diese nicht die Schulterbreitenachse und be-
wahrt die Auszeichnung der Vorderseite, solange der Standpunkt
ruhig innegehalten wird. Erst wenn von hier aus an die Drehbarkeit
des ganzen Körpers um seine Vertikale imd an die Ortsbewegung
von einem Standpunkt zum andern appelliert wird, eröffnet sich ein
ausgiebiges Verfahren im Neben- und Nacheinander der Sinne.
Dann verschwindet die ruhigere geschlossene Rückseite unseres
Leibes immer mehr hinter dem Reichtum der Tätigkeit, den die
überlegen ausgestattete Vorderseite entfaltet, so daß wir kaum
noch an die Gleichheit beider Hälften mehr glauben.
Die letzte Entscheidung dieses Obergewichts liegt in der Schnell-
fertigkeit und der Tragweite des Sehorgans unter unserer Stirn.
Die Überlegenheit des Auges ist so wohlbekannt und geläufig, daß
es hier für unseren Zweck mehr darauf ankommt, die fortgesetzte
Bewährung seines Zusammenhangs mit den übrigen Sinnessphären,
besonders mit der Tastregion zu betonen. Seine Unabhängigkeit
wird oft genug überschätzt, weil sie über die Fortdauer der natür-
lichen Vorarbeit seiner Bundesgenossen hinwegtäuscht. Am leben-
digsten tritt das allmähliche Wachstum zur Selbständigkeit hervor,
Tasten, Sehen und Ortsbewegung ^Q
wenn wir die Metamorphose des Sehens an der Hand der Orts-
bewegnng verfolgen. Der Blick durcheilt schon die Raumleere,
die vor uns liegt, gleich dem Femrohr des Feldherm auf der Höhe,
bevor wir schreitend sie durchmessen. Er ist vorbereite^, die Einzel-
dinge, deren Fembild er schon gewahrte und die er auf dieses
Signal hin schon erwartet, wiederzuerkennen, wenn sie nun im
Gange wirklich an ims vorüberziehen. Aber wir schreiben dem
Blicke mit diesen Worten schon Eigenschaften zu, die nicht das
Femrohr besitzt, sondern der Geist des Feldherm hinzutut. Erst
mit dem Eintritt der Objekte in die Tastsphäre unseres eigenen
Körpers oder die nächste Nähe, in der uns die Dinge auf den
Leib rücken, teilt auch das Auge unmittelbar die Arbeit der Tast-
organe, die es vorher — in verfeinerter, flüchtiger Weise — allein
zu leisten versuchte, und begleitet die Berührung bestätigend, len-
kend, absondernd oder zusammenfassend.
Bei diesem Verkehr mit den Dingen im näheren Umkreis
imseres eigenen Körpers fällt zuerst eine Eigentümlichkeit unseres
Seh Verfahrens auf, die jener obenerwähnten unserer beiden Hände
im Dunkeln gleicht. Wie auf die Breite unseres Tastraumes un-
mittelbar vor unserem Leibe, wenden wir die Mittelachse der
eigenen Gestalt auch auf die nämliche Ausdehnung des Sehraumes,
unser bequemes Sehfeld, an. Vor jeder Erscheinung der Außen-
welt, auf die unser schweifender Blick stößt, versuchen wir das
nämliche Verfahren, unsere Vertikalachse auf sie abzutragen, wie
das Zusammenwirken des paarigen Sehorgans in konvergierender
Abwärtsneigimg es mit sich bringt. Wir legen sozusagen die
senkrechte Linie in die zunächst flächenhafte Erscheinung ein, die
sie vor uns in zwei Teile zerlegt, imd ruhen nicht eher mit dem
Hin- und Wiederwägen der beiden Seiten, bis annähernd die Ein-
teilung in gleiche Hälften erreicht ist. Nur dies Ergebnis wenig-
stens befriedigt, und beruhigt die Kontrolle. Von der Mitte aus
vollziehen wir also die Diremtion nach beiden Seiten, und die Er-
streckung dieser beiden Hälften in der Horizontale ist eigentlich
die Breite, die wir als zweite Dimension von der ersten aus
gewinnen.
Nur eine Vertieftmg dieses Verfahrens ist es, wenn in einem
neuen schnell folgenden Anlauf des betrachtenden Subjekts die
Probe auf die Körperlichkeit gemacht wird, die beim Tasten sofort
eintrat, sowie uns irgendein Substrat zwischen die Finger der
beiden leise vorgestreckten Hände kam. Wir fallen mit unserm
^O m> Menschliche Organisation
Blick sozusagen von oben nach unten, kraft der konvergierenden
Bewegung der Augäpfel in dieser Richtung, das Höhenlot auf das
Substrat, und haben unsere Merkmale, wie weit die Erscheinung
auch diesem Anspruch unseres Körpergefiihls entspricht, oder ob es
versagt. Unter diesem Akte rundet sich das eine zum Körper aus,
während das andere sich solcher Auffassung nicht einbequemt und
flächenhaft als Augenschein verharren muß. Entspricht die Erschei-
nung dieser Wünschelrute von obenher, so liegt darin wieder der
Anreiz zu einem folgenden Akt Der Blick folgt der senkrechten
Geraden nun rückläufig von unten nach oben, wie beim Heraus-
ziehen des eben gefällten Lotes, errichtet also die Gerade als auf-
rechte Vertikalachse in dem Körper. Damit verwandelt sich das
Höhenlot in die Richtungsachse, und der Körper teilt die Eigen-
schaft der aufrechten Haltung mit uns, hat einen Fußpunkt unten
und einen Höhenpunkt oder ein Kopfende oben. Damit ist aber
diese erste Dimension auch unleugbar in die Richtung nach auf-
wärts übersetzt, d. h. in Bewegung nur vollziehbar, also eigent-
lich eine Form der dritten Dimension, wie die Fällung des Lotes
abwärts auch, ein Vollzug der Tiefe, die hier nur mit der Höhe
zusammen auf einer Achse liegt
Die nämliche Verwandlung kann auch mit der zweiten Dimen-
sion geschehen. Verfolgten wir die Breite zunächst vom Subjekt
aus als Ausbreitung von der Mittellinie nach beiden Seiten und als
Abwägung der beiden Hälften gegeneinander, so wird das anders
werden können, sowie wir die Selbständigkeit des Objektes uns
gegenüber anerkennen. Dann müssen wir die Übertragung von
uns auf dieses Ding wirklich vollziehen, indem wir uns in der Vor-
stellung oder in der Wirklichkeit heranbemühen. Entspricht das
Objekt unserer ersten Voraussetzung der Teilungslinie in der Mitte
nicht recht befriedigend, so versuchen wir mit unserer eigenen Ver-
tikalachse daran entlangzufahren, wir setzen an einem Endpunkt
damit ein und gleiten weiter bis zum anderen Ende. Wir geben
uns, das Subjekt, also an das Objekt hin, fuhren aber selbst eine
Bewegimg aus, wie ein genaues Abtasten, Punkt für Punkt bis zum
Vollzug der Linie, oder eine Senkrechte an die andere reihend bis
zur letzten, die drüben noch ihr Gegenbild findet Damit haben
wir die Breite in die Länge verwandelt, und auch hier liegt die
unleugbare Vorstellung des Sichbewegens von Ort zu Ort vor. In-
dem wir der Richtung der Linie oder Ebene nachgehen, nehmen
wir selber die Richtung von einem Ende zum anderen, also von
Die drei Gestaltungsprinzipien ^i
links nach rechts oder umgekehrt. Wir bewegen uns eigentlich in
der dritten Dimension, nur daß die Tiefenachse hier mit der Längs-
achse zusammenfällt, sich in der Richtung erstreckt, die fiir den
Ruhepunkt, wo wir stillstehen, als Breite angesprochen werden
mußte.
Die wirkliche Ortsbewegung oder die Illusion einer solchen
verwandelt die erste und die zweite Dimension in die dritte. Die
Hohe wird uns zur Wachstumsachse, die Breite zur Längenerstreckung
eines Weges. Was ruhig und starr dasteht, wird des lebendigen
Vollzuges teilhaftig und unterliegt mit der zeitlichen Auffassung
den Bedingungen des Werdens und Vergehens wie der Mensch
selber. Die Hauptrichtung alles Nacheinander im Raum bleibt
jedoch immer die dritte Dimension.
Was wir soeben verfolgt haben, ist nichts anderes als der na^
türliche Urspnmg der drei Hauptgesetze alles menschlichen Schaffens,
die imter den Namen: Symmetrie, Proportionalität und Rhyth-
mus bekannt sind. Aus der gemeinsamen Tätigkeit unserer beiden
Hände, unserer beiden Augen ergibt sich die Symmetrie, das Gestal-
tungsprinzip der Breitendimension; aus der Auffassung der Ver-
tikalachse unseres Leibes xmd anderer Korper als Wachstumsachse
ergibt sich die Proportionalität der Teile übereinander, d. h.
das Grestaltungsprinzip der ersten Dimension; aus dem Voll-
zug einer Bewegung aber, zumal in Verbindung mit diesem,
mit jenem, oder mit beiden zugleich das Gestaltungsprinzip der
dritten Dimension, der Rhythmus.
Bevor wir sie näher betrachten können, muß aber die künst-
lerische Betätigimg des Menschen selbst noch etwas allgemeiner
in ihrem Wesen bestimmt sein. Suchen wir nach der ursprüng-
lichsten Auseinandersetzung des reichorganisierten Geschöpfes, das
wir „Homo sapiens" titulieren, mit der Außenwelt, die auf ihn ein-
dringt, so kann es nur die unmittelbar hervorbrechende Äußerung
sein, die wie eine Reflexbewegung eintritt. Das ist das Benehmen
und Gebahren des Körpers, das mit elementarer Macht sein stummes
Spiel vollzieht Zu diesem Bereich gesellen sich dann weiterhin
die Körperbewegungen spontaner Art zu irgendeiner zweckent-
sprechenden Tätigkeit, sei es Arbeit, sei es Spiel. Da liegt jeden-
falls der Anfang aller ausdrucksvollen Gebärdung. Schon in diesen
Regionen unmittelbarer Ausdrucksbewegung waltet aber überall
die künstlerische Schöpferkraft, Schon die stumme Gebärde ist
Menschenkunst.
^2 ni. Menschliche Organisation
Jeder Gebrauch unseres angeborenen Bewegiingsapparates wird
ja ursprünglich vom Gefühl begleitet und durchdrungen. Nur von
diesem Organgefiihl kann auch der Reiz zur Wiederholung der
gleichen Bewegung ausgehen, wo immer sie ohne weiteren Zweck
und doch willkürlich rein um ihrer selbst willen vollzogen wird.
Von hier aus lernen wir jede wahrnehmbare Veränderung an gleich-
organisierten Wesen verstehen; denn das Bild der Bewegxmg, das wir
an unsersgleichen erblicken, weckt auch das Echo dieses zugehörigen
Gefühls in uns selber. Weit unmittelbarer freilich wirkt die Über-
tragung und die Nachahmung bei leibhaftiger Berührung, Um-
armung und Verschlingung, wie zwei Herzen und ein Schlag, zwei
Seelen und ein Gedanke.
Keine Verschiebung der Formen gegeneinander, keine Be-
wegung der Gliedmaßen, kein noch so gleichgültiges Ineinander-
greifen der Teile zu einheitlichem Vollzuge, ja kein Ansatz zu
solchem Tun ist ohne Ausdruck. Die unbewußte Mitarbeit unserer
menschlichen Vorstellungsweise meldet sich überall. Noch heute
verraten die Wörter, die unsere Sprache dafür verwendet, daß alle
Erscheimmgen solcher Art als Ergebnisse einer Wirkung ausgelegt
werden, die von innen ausgeht. Immer steht die spontane Tätig-
keit oder die psychische Macht dahinter, wenn wir von Spannung
oder Losung der Muskeln, vom Runzeln der Stirn reden, oder wenn
die tausend kleinen Veränderungen der Hautfalten um die Augen-
hohle und die Lider als Wirkimgen des Blickes beschrieben werden.
Der Blick ist uns ja die offenbarste und unmittelbarste Äußerung
der Seele selbst. Wer aber gewohnt ist, die leiseste Zuckung zu
beachten, wie der Jäger an seinem Wild, der Krieger an seinem
Feinde, der liebende Mann an seinem Weibe, ja der Arbeiter an
seinem Genossen, der kennt auch die Sprache der ganzen Menschen-
gestalt und all ihrer Glieder an dem andern fast noch besser als
an sich selbst.
So wird die unwillkürliche Ausdrucksbewegimg zur Mitteilung,
die willkürliche zum Austausch aller Regimgen und Antriebe. Sie
muß sich weiterentwickeln und einen Vorrat geläufiger Zeichen
schaffen, noch ehe der artikulierte Laut und die Verbindxmg mit
der Gebärde zum bezeichnenden Worte sich einstellt. Je weniger
der innere Drang sich im Tone Luft zu machen gelernt hat, desto
elementarer wirkt er, — und ausgreifend in dem stummen Gebahren.
Eins aber ist besonders charakteristisch an diesem unver-
fälschten Sichgehaben und Sichgehenlassen des primitiven Menschen:
Ausdrucksbewegung und Tätigkeit 43
die Wiederholung der nämlichen Bewegung. War sie zweckhaft
zuerst, wird sie gefühlsmäßig noch einmal ausgeführt, und nun erst
um ihrer selbst willen als Ausdrucksbewegung genossen. War sie
reflexartig entstanden und unwillkürlich aufgetreten, so wird sie
mit Bewußtsein erfaßt und absichtlich reproduziert, in rein ästhe-
tischem Verhalten, um sie durchzukosten, frei vom Zwang, der sie
geboren. War sie das erstemal Mitteilung an den andern, kehrt
sie wieder als Vollzug des Gefühls, als einmal gefundener und als
entsprechend anerkannter Ausdruck, in den sich die Seele ergießt
wie in eine willkommene Form. Die erste Gebärde verknüpft nur
zwei Dinge, der erste Bericht gilt nur der nackten Tatsache und
spricht zum Verstände allein. Die zweite beginnt schon diesen
einfachen Bestand zu beseelen, sie spricht zum Gemüt. Und eine
Folge von Variationen umspinnt den Kern mit einem Gewebe
schillernder Beziehungen. Das ist der mimische Verlauf des
Ausdrucks und die Grundlage aller weiteren Gestaltung künst-
lerischer Art
Denn was ist der Sinn dieser Ausdrucksbewegimgen imd alles
weiteren künstlerischen Tuns, wenn nicht die Hervorhebung solcher
Werte des Daseins und Lebens für unser Gefühl? Mögen diese
Werte nun Dinge sein oder Tatsachen, mögen sie der Außenwelt
oder Innenwelt angehören: es kommt darauf an, sie dem ewig
wechselnden Strom des Werdens und Vergehens zu entrücken, sie
hinzustellen zu freiem Genuß, ja ebendiese Werte als anerkannte
zu verewigen für den Menschen, sei dies der Schöpfer des Werkes
allein oder seinesgleichen allesamt.
Ursprünglich sind diese Werte gewiß nur Dinge, die greifbaren
Objekte der Außenwelt Und für den urwüchsigen Menschen in
freier Natur ist der eigene Körper der erste Wert Er zeichnet
ihn aus durch Schmuck, dessen Art und Anbringung uns wieder
zurückführt auf die natürlichen Grundlagen seiner Anlage, von
denen gesprochen ward. Zu seiner eigenen Person gesellt sich
Weib und Kind, gesellen sich die Gefährten seines Lebens, die er
sich dienstbar macht, aus der Tierwelt, dann die Werkzeuge seiner
Arbeit, sein Wehr und WafiFen und endlich seine Behausung. Aber
zu diesen letzten Besitztümern führt ein großer entscheidender
Schritt, nämlich der zu wirklich schöpferischem Tun, zu eigener
Hervorbringung des Wertes, während die ersteren vorgefundene
Dinge sind, die er nur aneignet und schmückt Zwischen beiden
liegt der Obergang zur eigentlichen Kunst Vor diesem Schritte
AA III. Menschliche Organisation
haben wir es nur mit der Ornamentik zu tun, die, selber noch
keine Kunst, doch alle schöpferischen Schwestern begleitet, und,
was wichtiger ist, ihr Verfahren vorbereitet und ihre Gesetze findet,
noch ehe sie selber ihr erstes Wagnis vollbringen. Sie ist die ur-
sprünglichste Äußerung des künstlerischen Triebes, die nicht mehr,
wie die Ausdrucksgebärde, im Augenblicke zerrinnt, sondern dauernd
wahrnehmbare Zeichen hinterläßt.
IV.
MENSCHENGEIST UND AUSSENWELT
Die Auffassung des Menschen nach Analogie seiner eigenen
Natur und nach der Besonderheit seiner angeborenen Organisation
erstreckt sich nun von den gleichorganisierten Wesen, seinen Mit-
menschen, auf alle Außendinge sonst und gibt ihrer Gestalt oder
ihrem Verhalten die menschenähnliche Auslegimg, die wir Anthro-
pismus nennen. Überall stellt sich beim naiven Menschen diese
Voraussetzimg gleicher Beseelung, gleichen Baues imd gleicher Be-
wegxmgsfahigkeit ein, solange die Erfahrung des Gegenteils ihn
nicht anders belehrt. Ja selbst dann noch kehrt sie hartnäckig
wieder und beansprucht ihr angestammtes Recht Und diese un-
mittelbare und ursprüngliche Auffassung unserer Sinne und unserer
Sinnesart, d. h. die menschlich natürliche und menschlich befriedi-
gende Auslegung ist im Grunde die eigentlich ästhetische. Nur
auf dieser Grundlage kann sich die beglückende Auseinander-
setzung mit der Welt vollziehen, die wir Kunst nennen. Daß die
Welt und der Mensch füreinander seien, ist die Grundbedingfung,
und der Einklang beider das Ziel alles künstlerischen Schaffens.
Wie der Baum kraft dieser Anschauungsweise seinen Fuß und
sein Kopfende hat, wie er aufrecht steht, wie er sich neigt und
unter dem Sturmwind seufzt; wie die Eiche zimi Widerstand ihre
knorrigen Aste streckt, die Weide schmiegsam ihre Zweige wiegt;
wie der Halm auf dem Felde jedem Luftzug nachgibt und aus-
weichend sich wieder hebt; wie der Bach durch die Klippen tanzt
und kopfüber von der Höhe stürzt: so werden auch die leblosen
und unbewegten Dinge als stehend oder sitzend oder liegend auf-
gefaßt, so daß sie sich darstellen und innere Vorgänge zum Aus-
druck bringen, wie der Mensch und seinesgleichen oder die ver-
wandte Tierwelt um ihn her. Der Felsblock steht am Ufer,
während die Wogen gleich einer Schar von Rossen heranstürmen.
Die Oase liegt dort mitten in der Wüste, und das altersgraue Nest
^6 IV. Menschengeist und Außenwelt
der Gebirgsbewohner sitzt droben zwischen den Vorsprüngen einer
steilen Wand wie das Vogelnest zwischen den Zweigen des Baumes.
Nach dieser Analogie mit der menschlichen Gestalt und ihrem Ge-
haben unterscheiden wir alle Naturformen in durchgeführter Klassen-
teilung. Man braucht nur die Blumen darauf anzusehen, ob sie
stehen oder hängen, die Früchte, wie sie am Ast sitzen oder wie
sie abgenommen in der Hand, auf dem Brett, am Boden unten sich
ausnehmen, oder endlich die Steine am Wege oder das Geroll am
Strande zu vergleichen. Die weiße Bohne sitzt in ihrer Schote,
oder die Erbse steht gar auf ihrem Füßchen; sind sie herausge-
nommen, liegen sie herum, und keinem Menschen fallt ein, sie mehr
zu fragen, ob sie sitzen wollen oder gar aufstehen. Bei den Kiesel-
steinen, die durcheinander gewälzt sich daherschieben, bleibt es
gleichgültig, wie sie zu solcher Zwangslage passen. Nehmen wir
sie einzeln vor, schließen wir aus dem Gesamtzug ihrer unregel-
mäßigen Formen selbst, wer sich mehr zum Stehen, wer mehr zum
Liegen schickt, oder wer daherrollen mag von Natur. Dies sind
die gerundeten, jenes die länglichen Körper. Die krummen oder
die ebenen Flächen, die Erstreckung in die Breite oder in die
Höhe geben die Entscheidung. Die Bevorzugimg einer Dimen-
sion, sei es im Dinge selbst oder in unserer Ansicht, stempelt den
einen Kiesel zum kleinen Eckstein, den andern zur trägen Schwelle.
Die eine liegt, der andere steht. Wir sehen also die Richtungs-
achse, wie bei Lebewesen, auch in diese unförmlichen Gebilde aus
totem Material hinein. Oder anders ausgedrückt, wir abstrahieren
die Hauptlinie, immer deutlicher als eine Gerade, zwischen den
beiden äußersten Endpunkten des Körpers, und nehmen sie als
maßgebend für unser Gefiihl, das sich in diese fremde unorganische
Form hineinversetzt. Dabei wird ganz natürlich und wie von
selber die unverständliche Regellosigkeit in solchem Steingeröll
übersehen, unbewußt außer acht gelassen zuerst, dann gewohnheits-
mäßig, ja methodisch davon abgesehen. Die Auffassung der
liegenden Formen nähert sich in unserer menschlichen Sinnesart
dem eingeschriebenen Oval oder dem umschriebenen Parallelepipedon,
dessen größere Seiten nach unten und nach oben gekehrt sind;
die Vorstellung von stehenden Formen bequemt sich summarisch
demselben Grrundtypus, wenn die kleineren Seiten nach unten imd
oben gewendet sind, die Längsachse somit Vertikalachse sein muß,
oder vergleicht sie mit dem eiförmigen Körper oder mit andern
regelmäßigen Bildungen, die sich dem Prisma, dem Zylinder, der
Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit ^y
Pyramide nähern, oder wie wir sonst sie heute geläufig benennen«
Nur der Würfel, die Kugel können beliebig als stehend oder liegend,
jener wohl gar als sitzend, diese als rollend aufgefaßt werden. Ja
unsere Auffassung begnügt sich, wo der Körper sich so nicht fassen
läßt, wohl mit einer Ansicht und sucht wenigstens auf einer Seite
das Dreieck, Viereck oder Trapez, um das Ding da wenigstens
nach solcher Flächenform einzuordnen und durchzufühlen.
In all diesem Tun stoßen wir auf eine weitere Eigenart des
Menschen in seinem Verhalten gegenüber den Dingen, und hier
spielt seine geistige Organisation oder der Mechanismus seiner in-
tellektuellen Funktionen wohl unleugbar schon eine Rolle. Wir
können nicht umhin, von der sinnlichen Wahrnehmung zur Vor-
stellung, von der konkreten Anschauung zum abstrakten Begriff
oder vom Besondem zmn Allgemeinen überzugehen, — oder „auf-
zusteigen", wie die Intellektuellen so gern sagen, um zugleich einen
Wert smgeblich höheren Ranges zu erschleichen. Ob solche Ent-
fremdung vom sinnlichen Vollgehalt des Erlebnisses ein Vorzug
sei, läßt sich bestreiten, daß es ein Fortschritt zur Erkenntnis
sei, wohl trotz dem summarischen Verfahren nicht leugnen. So
allein werden wir Herr des Wirrsals der Erscheinungen, so schaffen
wir Ordnung im Gedränge des bunten Wechsels. Unsere Wahrheit
ist Abstraktion; aber wir können nicht anders: auch dazu führt uns
innere Nötigung, \md der Vollzug dieser Fähigkeit befriedigt und
steigert den Antrieb zu solcher Vergewaltigung der Dinge. Der
Mensch betätigt auch schon in seinen frühesten schöpferischen Ver-
suchen denselben Drang; eine unverkennbare Vorliebe für Regel-
mäßigkeit und Gesetzmäßigkeit bezeichnet seinen Weg seit den
Anfangen aller Kultur.
Was heißt das: ,3^egelmäßigkeit<' und „Gesetzmäßigkeit"J> Wir
stehen wieder vor einem Grundbegriffe oder gar einem Pakr von
solchen, die noch vor dem Eintritt ins Gebiet der Ornamentik klar
bestimmt werden sollten. Friedrich Th. Vischer definiert die
,JR.egelmäßigkeit" in den Kritischen Gängen (V) als die „gleich-
mäßige Wiederkehr unterschiedener, doch gleicher Teile". Dafür
nennt er als Beispiele: die Säulenordnung, die Folge eines dekora^
tiven Musters, die gerade Linie, den Kreis, das Quadrat usw.
Heinrich Wölfflin^) macht darauf aufmerksam, daß diese Dinge
doch wohl nicht alle unter einer Definition Platz finden können.
i) Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur. München 1886 S. 20.
^8 IV. Menschengeist und Außenwelt
,3^egelmäßigkeit'' der Abfolge müsse getrennt werden von der
„Gesetzmäßigkeit*' einer Linie, einer Fig^, wie sie Quadrat und
Kreis usw. zeigen. Der Unterschied zwischen Regelmäßigkeit und
Gesetzmäßigkeit gründe sich auf eine tiefgehende Differenz. „Hier
haben wir ein rein intellektuelles Verhältnis vor uns, dort ein phy-
sisches. Die Gesetzmäßigkeit, die sich in einem Quadrat ausspricht,
hat keine Beziehimg zu unserem Organismus, sie gefallt nicht als
angenehme Daseinsform, sie ist keine allgemeine organische Lebens-
bedingung, sondern nur ein von unserem Intellekt bevorzugter FalL
Die Regelmäßigkeit der Folge ist uns etwas Wertvolles, weil unser
Organismus seiner Anlage gemäß nach Regelmäßigkeit in seinen
Funktionen verlangt. Wir atmen regelmäßig, jede andauernde
Tätigkeit vollzieht sich in periodischer Folge."
Gewiß ist es geboten, den prinzipiellen Unterschied dieser zwei
Faktoren sich möglichst klarzumachen, — auch wenn sie wohl
kaum je ganz abgesondert beobachtet werden können, „da jedes in-
tellektuelle Verhältnis auch irgendeine physische Bedeutung hat".
Aber auch Wölfflin ist die Trennung noch nicht befriedigend ge-
lungen. Er nimmt immer nur auf unseren leiblichen Organismus
Rücksicht, während es sich hier um die feinste innere Orgcmisatioa
handelt. Er isoliert deshalb den Intellekt, als ob nicht auch dieser
aufs innigste mit der natürlichen Anlage zusammenhinge.
„Regelmäßigkeit", die Fr. Th. Vischer als gleichmäßige
Wiederkehr imterschiedener, doch gleicher Teile definiert, unterliegt
der zeitlichen Auffassung, da wir doch zunächst an die Regel
denken, die diu-ch sie erfüllt wird. Im Bereich der Künste zeit-
licher Anschauiingsform, Musik, Mimik, Poesie, herrscht sie demnach
ohne weiteres als Grundform. Sowie wir den Begriff auf die räum-
liche Existenz übertragen, scheint sich eben durch den Vergleich
mit einem zeitlichen Nacheinander, das die Regel vorschreibt, der
Widerspruch zum räumlichen Nebeneinander einzustellen. Wir
sprechen aber trotzdem von einem regelmäßigen Körper, ohne An-
stoß zu nehmen. Die Erscheinung eines solchen kristallinisch festen
Gebildes führt uns durch seinen Anblick selbst dazu, das starre
Dasein sozusagen in zeitliche Auffassimg aufzulösen, indem wir die
Ansicht von der einen Seite, d. h. das Flächenbild mit seinen
Anweisungen auf die Tiefendimension, durch andere Ansichten
ringsum ergänzen, bis wir die Regelmäßigkeit von allen Seiten her
festgestellt haben. So wenigstens verfahren wir beim gproßen
Körper, indem wir uns um ihn herumbewegen. Ist er kleiner und
Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit ^g
beweglich, nehmen wir ihn in die Hand und drehen ihn herum, bis
wir dieselbe Prüfung durchgeführt haben. Das Verfahren des Ab-
sehens entspricht dem des Abtastens, und in der Abfolge gewinnen
wir die Teilvorstellungen, aus denen sich das Ganze zusammensetzt,
das wir mit einem Wort zu fassen meinen« Enthält die Vorstellung
nicht von vornherein den Impuls der Bewegimg mit? — In der
ganzen Ornamentik und Architektur muß der Vollzug' einer Be-
wegung zu Hilfe kommen, sei es wirklich, sei es ijsuiginär, um
den festen Bestand in ein transitorisches Erlebnis zu verwandeln«
Hier liegt also ein Beitrag des menschlichen Subjektes vor; es
wird an die innere Mitwirkung des perzipierenden Betrachters
appelliert imd auch im reinen Schauen die Erfahrung mannigfaltiger
Betätigung unserer übrigen Organe wachgerufen.
„Gesetzmäßigkeit" gewährt nach WölfiFlin nur intellektuelles
Vergnügen \md soll lediglich auf Bevorzugimg eines Falles imter
vielen (wie z. B. des rechten Winkels, der geraden Linie) beruhen.
Aber fragen wir, woraus dies Vergnügen, dieser Vorzugswert für
den Intellekt entspringen möge, so gibt Wölfflin keine Antwort
mehr. Sie können aber doch nur in der innem Organisation unseres
Kopfes ihre Begründung finden. Tatsächlich wird der rechte
Winkel, der Kreis, das Quadrat wie die gerade Linie zum Ideal,
das wir nicht allein bevorzugen, als Wert anerkennen, wo immer
uns jene an rechter Stelle begegnen, sondern vielmehr zu erreichen
suchen, in zahlloser Wiederkehr verwenden, also zu einem Bestand-
teil unseres regelmäßigen Verfahrens erheben. So kamen wir
ja dazu, Gebilde, die diesem Ideal entsprechen, regelmäßige Körper
zu nennen. Warum nennen wir das Quadrat, den Kreis nicht ge-
setzmäßige Figuren, den Würfel, die Kugel nicht gesetzmäßige
Körper? Wir gehen von dem subjektiven Erlebnis aus, das sich
successiv vollzogen hat, und betrachten das Ding nach Maßgabe
des Verfahrens, das für seine Herstellimg erforderlich wäre. Die
Differenz macht sich erst fühlbar, wenn wir von der Genesis dieser
Figuren oder Körper, d. h. von der Regel absehen und sie als
fertig dastehend betrachten. Unsere Subjektivität hat das Recht
der Erstgeburt für sich; allmählich erst anerkennen wir die Objek-
tivität des Bestandes außer uns. Damit aber hört dann die
successive Auffassimg als solche auf, und die simultane tritt an
deren Stelle. Auf das Streben nach dem Ideal folgt mm die Befrie-
digung des Erreichten, auf die Bewegung die Ruhe, auf das Wollen
der Genuß; es geschieht jedoch nur, indem wir imsere Fordenmg
Schmartow, Konstwuseoscliaft. 4
^O I^* Menschengeist und Außenwelt
vollständig erfüllt finden. Gresetz aber nennen wir in unserem
Rechtsleben eine menschliche Satzung von allgemein bindender
Kraft; es wird ihr der Anspruch auf allgemeine Gültigkeit zuge-
standen, soweit das Gemeinwesen reicht, das sich diese Satzung
gegeben und ihre Aufrechterhaltung übernommen hat. Es ist die
bleibende Bedeutung, die wir mit der Bezeichnung Gesetz aus-
drücken wollen. Wenn in Recht und Staat immer der menschliche
Wille als Urheber des Gesetzes im Spiele bleibt, sucht er doch die
Unterstützung in höherer Heiligimg. Ganz anders das Gesetz, das
die Naturwissenschaft uns erkennen lehrt: die Wiederkehr der
nämlichen Ergebnisse beim Eintritt der nämlichen Bedingungen
steht unwiderruflich fest auf sich selber gegründet
Demnach hätten wir zwei Unterschiede gewonnen, die das
Gesetz von der Regel sondern. Der nächstliegende ist die simul-
tane Anschauung. Nur bei dieser rede ich von Gesetzmäßigkeit
im eigentlichen Sinne, nämlich wenn mir das Quadrat, der Würfel,
das Polygon oder der Kreis wie ein regelmäßiger Körper als
ruhiges Bild einleuchtet. Die Übereinstimmung des Gebildes mit
sich selbst fuhrt zum Verständnis des notwendigen Seins. Sie wird
als bestehende Tatsache der Außenwelt hingenommen, wo sie zu-
gleich sich gegen fremde Einflüsse abgeschlossen zeigt Dann ist
es gleichgültig, ob ich das Gebilde selbst erst hergestellt oder ob
ich es fertig in der Außenwelt vorgefunden habe. Diese simultane
Auffassung kann aber selber nur bestehen und sich vor der andern
behaupten, wenn der zweite Unterschied hinzutritt, dem wir das
Zugeständnis machen, auf die Anläufe unserer Subjektivität zu ver-
zichten. Das Gesetz ist etwas Objektives, während die Regel ihren
Ursprung aus dem lebendigen Verfahren imd Benehmen des Sub-
jektes nicht verleugnet Gehe ich vom ruhigen Schauen des Ge-
samtbildes oder vom Festhalten des reinen Begriffs wieder zur be-
weglichen Prozedur über, zum abtastenden Verfolg der Linien und
Flächen oder zum ermessenden Vergleich der Einzelbilder ringsum,
so erlebe ich wieder die Entstehimg , rekapituliere, wie ich es
machen muß, um es selber zu vollbringen, gewinne die Abfolge
von Angaben des Rezepts, das die menschliche Vorstellung der
menschlichen Hand diktiert Ist dieser Verlauf am Ende, das Er-
gebnis erreicht, so wird in der bleibenden Bedeutung etwas Neues
fühlbar, nämlich die Übereinstimmung der Regel mit dem Gesetz
oder umgekehrt der tatsächlichen Existenz mit unserem Postulat
Der Einklang zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven ist
RegelmaBigkeit und Gesetzmäßigkeit ^i
das Ereig^s, der bevorzugte Fall. Das Hausgesetz der mensch-
lichen Intelligenz und das Naturgesetz da draußen befinden sich
hier in Harmonie. Darin liegt die höchste Bestätigung, daß Mensch
und Welt für einander sind, damit erst rühren wir an die Grundbe-
dingimgen aller schöpferischen Auseinandersetzimg des Menschen
mit der Außenwelt, an die unweigerlichen Voraussetzungen ihres
Erfolges und ihrer haltbaren Ergebnisse. Damit verstehen wir
auch die Genugtuung, die solche Fälle der Kongruenz beider In-
stcmzen gewähren.
Wir haben demgemäß wieder die beiden Faktoren der Kunst
beieinander: Regelmäßigkeit ist der Beitrag des Subjekts, wenn
auch seinerseits aus den physischen Bedingimgen seines organischen
Körpers, seiner Ortsbewegung, seiner Hcmtierung, seines abtasten-
den Sehens, wie seiner Atmung, seines Herzschlages und aller
anderen Funktionen sich ergebend. Es ist die Aufhötigung seines
Verfahrens imd seiner Vorstellungsweise, wenn wir nur die eine
Seite befragen. Gesetzlichkeit dagegen ist der Beitrag der Außen-
welt, die Wirkimg der Naturkräfte, die wir als Tatsache respek-
tieren. Wir setzen sie, auch ohne sie noch zu verstehen, als Not^
wendigkeit in unsere Rechnung und verehren die furchtbar
gewaltigen Beweise eines übermenschlichen Zusammenhangs, deren
elementarer Hereinbruch auch uns Menschen mit sich fortzureißen
vermag. Nur soweit Natur und Menschengeist auf den nämlichen
Grundlagen erwachsen, unauflöslich zueinemder gehören und auf-
eincmder abgestimmt erscheinen, so lange geht das Fazit der Aus-
einandersetzung rein auf. Für alle diese Fälle wären Gesetzmäßig-
keit imd Regelmäßigkeit nur die beiden Seiten einer und derselben
Sache. Aber beide gehen über die konzentrischen Sphären hinaus:
menschliche Organisation und Denkart hier, Naturanlage und Natur-
ereignis da weichen auseinander und bleiben fremd, je mehr wir
uns den Ausgangspunkten nähern. Die Regel ist die wandelbare
Formel der menschlichen Behandlungsweise, das Gesetz die unent-
rinnbare Formel des Naturlaufs. Je unklarer noch die Überlegen-
heit der Natur gefühlt, je unheimlicher die Feindschaft der Elemente
geahnt wird, desto stärker und einseitiger ist die Befriedigung, die
bindende Regelmäßigkeit und verständliche Gesetzmäßigkeit ge-
währen. Es geht dem primitiven Menschen mit diesen Errungen-
schaften wie dem Landbewohner, wenn er nach langer Irrfahrt auf dem
Ozean zum ersten Male wieder festen Boden unter den Füßen spürt.
Aus dem Gegensatz der noch unübersehbaren Außenwelt erklärt sich
4*
£2 IV. Menschengeist und Außenwelt
die lange dauernde Überschätzung alles regelmäßigen Wesens und
alles gesetzlichen Bestehens, wie der Einheit in der Mannigfaltig-keit
Zwischen jenem Anfangs- und diesem Endpunkt muß sich auch
die ganze folgende Analyse der Gestaltungsprinzipien bewegen.
Sie beginnt bei der Regelmäßigkeit als Disposition der innem An-
lage des menschlichen Subjekts und läuft aus in der Gesetzmäßig-
keit der Natiu* als Ausdruck ihres festen Aufbaues und unver-
brüchlichen Zusammenhcmgs, in dessen objektivem Bestände wir
selber eingeschlossen sind mit unserem Leben und Schaffen allesamt
Im Kxmstwerk aber nennen wir die erreichte Einheit zwischen Regel
und Gesetz den Stil.
Der erste Ausdruck, der von innen her dem Spiel der Sinnes-
eindrücke von außen antwortet, setzt das Subjekt, das mensch-
liche Einzelwesen, als Ausgangspunkt des gesamten weiteren
Prozesses. Das lebendige Individuum ist der gegebene Mittelpunkt
aller Beziehungen imd immer wieder der letzte Zielpunkt aller
noch so ausgebreiteten Streifzüge in die Außenwelt Die Zentral-
punkte seiner werdenden Weltanschammg liegen notwendig auf
der Vertikalachse seines Körpers, die vollends im Kopfe die vor-
nehmste Zentralstelle trägt. Wenden wir das Verfahren der
menschlichen Auffassung nun auf den Nebenmenschen selber an,
wie wir sie beim Baume, beim Steine sogar kennen gelernt, so
stellt sich die gleiche Abstraktion der geraden Richtungslinie
seines Wachstums auch hier ohne weiteres ein, und die aufrechte
Vertikale mit dem Kopf oben, die wir schon als Maßstab für die
abweichenden Erscheinungen der Tierwelt aufgedeckt haben, wird
auch das entscheidende Merkmal, wo wir imsersgleichen aner-
kennen. Noch ehe die sonstigen Eigentümlichkeiten der Gestalt
oder gar die innere Organisation ihm näher vertraut werden, er-
faßt der Mensch dieses Wahrzeichen seines Leibes wie den Aus-
zug des Wesentlichsten aus dem Einzelding von unserer Art Die
nackte Vertikalachse, die vor uns aus dem Boden ragt, eine Stange
von beträchtlicher Höhe, oder ein Pfahl, ein kahler Stamm von
stärkerem Umfang, üben unwillkürlich und bei unerwartetem An-
blick erst recht unfehlbar eine imponierende Wirkung. Diese
sinnfällige Verkörperung des Höhenlotes ist vollgültiger Ausdruck
eines stofflichen Individuums gleich uns, das Signal eines andern
Ichs oder der Repräsentant des eigenen. Es bezeichnet wieder
solchen selbständigen Träger einer eigenen Wirkungssphäre. Be-
gnügen wir uns im Fortschritt der geläufigen Beschränkung auf
Der Mensch als Mal aUer Beziehungen e^
den Augenschein auch hier statt der vollrunden Körperlichkeit auf
die flächenhafte Erscheinung, so schrumpft die menschliche Person wohl
nicht allein zur Linie, sondern gar zum Punkte zusammen. Dieser
Mittelpunkt eines Wirkungskreises ist der einfachste und unentbehr*
lichste Ausdruck der Einheit — eben jener Ausgangspunkt, von
dem wir oben im geläufigen Bilde gesprochen, der Ichpunkt, auf den
sich der moderne Mensch in seinem Denken zurückzuziehen pflegt.
Der natürliche Mensch freilich, mit dem wir am Anfang künst-
lerischen Scha£fens zu rechnen haben, gibt so leichten Kaufes sein
Körpergefühl nicht auf. Für ihn ist der erste Wert die eigene
Existenz, d. h. für ihn sein gesunder Leib. In naiver Anerkennung
dieses Schatzes zeichnet er ihn aus durch den Schmuck. Und wo
diese Hervorhebung aufs Ganze gehen soll und nicht auf einzelne
Gliedmaßen, die er besonders hochzuhalten Ursache hat, da gilt sie
wieder der aufrechten Mittelachse des Korpers und ihrer Spitze,
dem Haupt. Er steckt sich eine Feder in den krausgelockten
Haarschopf oder trägt einen ganzen Federbusch auf dem Scheitel.
Das ist eine Überhöhung des eigenen Wuchses und mit dieser Ver-
längerung der Vertikale gewiß auch eine Überhöhimg des Selbstge-
fühls, genau wie Helmzier oder Zylinderhut des Europäers von heute.
„Die vereinzelte Einheit", sagt Gottfried Semper, „ward als Versinn-
lichung der Autorität und des InbegrifiTlichen bereits von dem dunkeln
Kunstgefühle der ersten Menschen aufgefaßt, und mit wunderbarem
Instinkt an richtiger Stelle angewandt^) — Das roheste Bestreben
sich zu schmücken geht zum Teil aus diesem dunkelgeahnten Prin-
zip hervor. Der Geschmückte ist das Mal des Schmuckes."
Damit ist auch der gebräuchliche Terminus für die ursprüng-
lich gesetzte Einheit gegeben. Wir erinnern vorerst nur an den
Gebrauch des Mals bei Spielen und als Zeichen und Ziel; denn die
vollgültige Bedeutung kann sich erst im Verlauf der weiteren
Entwicklung all der Beziehungen zusammenfinden, die wir von ihm
aus verfolgen müssen. Die Wandelbarkeit dieses Beziehungs-
zentrums wird sofort einleuchtend, sowie man jenen kurzen Satz:
„der Geschmückte ist das Mal des Schmuckes" zu weiteren Bei-
spielen am selben Individuum durchverfolgt. Das Haupt des
Häuptlings ziert die Feder wie ein aufgesetzter Accent auf die
Richtungsachse von unten nach oben: es ist nichts als der stehen-
gebliebene Erfolg der mimischen Ausdrucksbewegung, nichts als
die Verlängerung der gegebenen Linie, ein Zuwachs des näm-
i) Prolegomena XXXVII f. Die Erklärung aus Vitruv lassen wir absichtlich weg.
^^ IV. Menschengeist und Außenwelt
liehen Sinnes, den sie von Natur schon hat Ein Strick um den
Leib, ein Gürtel mit Gehänge um die Lenden zeichnet andere
Werte aus, die sich von selber verstehen. Ein Armband geziemt
der Rechten, die er im Kampfe braucht, oder der Hand, die ihm
zahllose Dienste leistet, oder ein ähnliches Band um die Knöchel
den schnellen Füßen des Läufers. An allen diesen Stellen um-
spannt der Schmuck den wertvollen Teil und faßt ihn wie in
einen Rahmen, wie der Goldreif den Edelstein, damit er recht
hervortrete. Zum geschmückten Mal wird aber auch der einzelne
Finger der Hsind; er tritt als Korper in den Ring, den wir
daranstecken. Und die Wahl des Fingers in der Reihe von An-
wärtern, die sich allmählich den Rang streitig machen, erzählt
eine ganze Geschichte vom Wandel der Kultur und ihrer Ideale.
Mit solcher Einengung des Reifen auf ein so schlankes Glied ver-
lassen wir aber den Maßstab der ursprünglichen Ausdrucksbe-
wegung, deren bleibendes Zeichen er sein soll, fast allzusehr, imd
nur die liebkosend spielende Hand des Weibes, die ihn am Finger
des Helden befestigt, vermag noch so intime Beziehungen auf
ihren einstigen Sinn zurückzuleiten. Aber wenn der geliebte Mann
hinauszieht in den Kampf, so hängt sich die Gattin an seinen
Hals, und wo ihre Arme seinen Nacken umschlangen, befestigt sie
als beharrende Wiederholung die Halskette, die sie gefertigt.
Und wie er mit beiden Händen das Antlitz umfaßt, das sein Ent-
zücken ward, so umrahmt er es wohl mit Perlen oder Geschmeide
zu beiden Seiten der glatten Stirn, der strahlenden Augen, der
zierlichen Ohrmuscheln, genau an der Stelle, wo seine streichelnde
Hand sich in zärtlichem Bemühen erging. Das Ornament selbst
ist in all seinen mannigfaltigen Variationen nichts anderes als
ein Niederschlag des mimischen Spieles um solchen Wert herum,
des anerkennenden Verweilens und beteuernden Wiederkehrens im
Erfassen des gefundenen Wertes. Und eben die nachfühlende,
genießende Wiederholung der ähnlichen Gebärde ist der Sinn, der
allem Reichtum der Motive, allen Abwechslxmgen der Form fiir
den nämlichen Inhalt zugrunde lieg^. Mit beiden Händen umfassen,
mit beiden Armen umschlingen, aber auch mit beiden Augen immer
wieder daran entlanggleiten, als konnten auch sie zugreifen und
festhalten, was entschwinden will, das sind die allgemein verständ-
lichen Vorgänge. Sie fuhren unmittelbar zur Erfindung der weiteren
Motive des Schmuckes, zu denen wir vom Mal aus gelangen.
V.
DIE DREI GESTALTUNGSPRINZIPIEN
SYMMETRIE UND PROPORTIONALITÄT
Bei der begrifflichen Analyse der Gestaltungsprinzipien, die
sich in der Ornamentik ausbilden und von hier in das künstlerische
Schaffen weiterdringen, muß ganz besonders daran festgehalten
werden, daß es sich um Gestaltimg vom Menschen aus \md für
Menschen handelt Mag die mimische Ausdrucksbewegung oder
die praktische Hervorbringung zuerst ins Auge gefaßt werden, d. h.
die Entstehungsursache dort, die. Gelegenheitsursache hier das Inter-
esse auf sich ziehen, immer ist die Betätigung des Menschen mit
seinen Händen die Hauptsache und dabei die Mitwirkung seiner
Arme, seiner Beine und seiner Augen vor allem zu berücksichtigen.
Im immittelbaren Umkreis seines Tastraumes oder in der Verschie-
bung dieser Sphäre von Ort zu Ort müssen wir die nächstliegende
Erklärung suchen, spät erst auf dem Sehfelde in weiterer Entfer-
nung. Den Bereich des Tastbaren und des Sichtbaren sollten wir
aber vorerst gar nicht verlassen.
Wir wissen ja freilich, daß der Mensch dem, was er Raum
nennt, überhaupt nur beizukommen vermag, indem er die zeitliche
Vorstellung auf die räumliche Anschauung überträgt. Aber wir
wissen auch ebenso, daß er dem, was er Zeit nennt, nur mit Hilfe
räumlicher Größen beikommen kann. Bewegung \md Beharrung
sind die menschenmöglichen Annäherungen an die beiden Extreme.
Für die schöpferische Auseinandersetzung mit der Außenwelt sind
die Erlebnisse am eigenen Leibe das Maßgebende; sie sind es so
sehr, daß es gewagt, ja verkehrt erscheint, auch nur die verfeinerten
Fähigkeiten des Gehörs zur Erklärung herbeizurufen. Es kommt zu-
nächst auf so viel derbere handgreifliche Unterschiede an, daß selbst
der Augenschein uns schon zu leicht verleitet, die willkommene
Auskunft bei ihm allein zu suchen, weil wir modernen Menschen
sie dort geläufig haben und gewöhnt sind, sie dort zu finden.
Unter den Bewegungen des Menschen ist natürlich die des
e5 V. Die drei Gestaltungsprinzipien
Schreitens die wirksamste, die Ortsbewegnng die sinnfälligste Ver-
änderung, der pendelnde Gang die stärkste der treibenden Mächte.
Daneben aber behaupten die Bewegungen der Arme als Hebel an
seinem Leibe ihr eigenes Reich und mit ihnen die Tätigkeit der
Hände. Die Faust und was die Finger umspannen, ergeben die
bequemsten Maße, die Spitze der Finger schon ein Minimum des
Tastens. Mit der Beweglichkeit der Augen stoßen wir neben dem
Zuwachs der Tragweite und der Verfeinerung auch auf Einschrän-
kungen durch ihre Lage im Kopf.
Unsere Beharrung in ruhigem Zustand ist andererseits eme
innerlich bewegte. Wenn wir auch nicht gehen und hantieren, so
atmen wir doch mit unseren Lungen die Luft ein und aus, und sind
damit einem periodischen Wechsel im ganzen Organismus unter-
worfen. Mit dem Zustrom des erfrischten Blutes schärfen sich die
Sinne, mit der Ebbe schwindet ihre Leistungsfähigkeit. Zwischen
beiden aber merken wir die rastlose Fortdauer des Pulsschlages,
unmittelbar jedoch nur, wenn das Herz erregter pocht, sonst erst,
wenn wir absichtlich darauf achten oder in der Stille der Nacht,
wenn andere Sinne ruhen, dem vernehmlichen Takte lauschen, oder
gar sein schnelleres Tempo mit dem regelmäßigen Zug des Atems
vergleichen.
Dieser organisch belebte Körper ist die erste Einheit, die wir
kennen, er das Mal für alles weitere Spiel seiner Kräfte. Aus
seiner Anlage entspringen sogleich zwei verschiedene Anfänge,
denen wir weiter nachgehen müssen. Ja, es kommt darauf an, die
beiden Fäden zugleich in der Hand zu behalten. Sie stecken schon
in dem Versuch, den GrundbegrifiF der „Regelmäßigkeit** zu defi-
nieren, den wir vorangeschickt haben, hier also wieder aufnehmen
dürfen, um daran anzuknüpfen.
Die Regelmäßigkeit wäre nach F. Th. Vischer „die gleichmäßige
Wiederkehr unterschiedener, doch gleicher Teile". Setzen wir statt
des letzten Wortes Teil, das schon ein Ganzes vorausnimmt, von dem
wir noch nichts wissen, vorläufig Objekt oder Element, zur mög-
lichst neutralen Bezeichnung eines sinnlich wahrnehmbaren Reizes
ein, — so ist das nächste, was wir brauchen, die Mehrzahl. Dann
sollen diese Elemente oder Reize unterschieden, also jedenfalls
unterscheidbar sein, d. h. sie müssen sich gegeneinander abgrenzen,
wenn sie aneinander geraten, dürfen nicht ineinander fließen, son-
dern sollen sich isolieren, um als Einheiten aufgefaßt zu werden.
Damach erst — oder trotzdem noch — sollen sie sich als unterein-
Voraussetzungen cy
ander gleiche ausweisen. Schließlich käme die Wiederkehr, die
gleichmäßige Abfolge hinzu, wodurch sie erst in Fluß geraten
zu uns. Da haben wir schon das Nebeneinander im Raum imd
das Nacheinander in der Zeit Dazu gehören aber wieder min-
destens zwei Elemente.
Wie kommt das Subjekt von der Einheit zur Mehrzahl, auch
nur von Eins zu Zwei? Mit dieser Frage stoßen wir erst an den
eigentlichen Kernpunkt des Problems. Die Einheit unseres Be-
wußtseins vermögen wir uns selbst nur anschaulich zu machen,
wenn wir es punktuell, wie ein Nadelauge denken, durch das alle
Vorstellungen hindurch müssen. Das wäre die konstitutive Vor-
bedingung imseres zeitlichen Auffassens, wenn nur ein einziges
Moment Zutritt fände, im selben Augenblick kein zweites hinein-
käme, sie mögen sich so heftig drängen, so eilig vorüberschlüpfen
oder so oft wiederkehren, wie sie können. Dieser innere Augenpunkt
macht \ms die Zeit, wie schon die Pupille in unserem Augapfel
und die Stelle des deutlichsten Sehens dahinter das successive Ver-
fahren des Schauens bedingt
Von der Einzahl zur Mehrzahl gelcmgen wir erst durch die
Wiederkehr des gleichen Reizes. Gleichheit der Elemente ist die
Bedingung unseres Zählens und der ganzen Arithmetik. Ich kann
nicht Apfel zu Birnen rechnen, noch Steine zu Tönen. Die Zahlen-
reihen sind empirische Bilderverkettungen mit dem spezifischen
Merkmale, daß in die Verkettung nur durchaus gleichartige Bilder
eintreten. Wie aber kommen wir dazu, die Bilder zu sondern, die
andrängenden zu isolieren und als unterschiedene Einheiten anzu-
erkennen? Diese Scheidimg muß vorausgehen, ehe wir die Gleich-
heit zwischen dem ersten und dem zweiten feststellen können.
Damit gelangen wir zurück zu den Beobachtungen, die wir
bei der Differenzierung der Dimensionen von unserem einheitlichen
Körper aus verfolgt haben. Denn auch hier gilt dieselbe Quelle
unseres Begriffes von Einheit. Wir applizieren auf jede Erschei-
nung, die vor unseren Augen auftaucht, unser Höhenlot als Tren-
nungslinie und zerlegen sie damit nach links und rechts. Mit dieser
Diremtion vollzog sich die Breite, die von ihrer Entfaltung nach
beiden Seiten dann zurückgenommen wird zur Mitte. Bei diesem
Verfahren ergibt sich, ob die beiden Seiten zu einer Einheit ge-
hören oder als trennbare Elemente vielleicht nur vorübergehend
nebeneinander sind. Nur die eigene Mittelachse drüben erweist
die Gegenwart eines Dinges der Außenwelt Sie ist das Wahr-
eg V. Die drei Gestaltlingsprinzipien
zeichen des Gegenstandes. Sie fordert zur simultanen Auffassung
heraus, während die Elemente dem successiven Verlaufe -wider-
standslos unterliegen. Ins Nacheinander lösten wir die Breitenaus-
dehnung auf, wenn wir von einem Ende anfingen, die Elemente
abzulesen bis zum anderen Ende hin. In dieser successiven Auf-
fassung nannten wir sie Länge. Hier scheiden sich auch die Wege
der Gestaltungfsprinzipien, die wir betrachten wollen: Symmetrie
und Reihung sind die ersten.
Mitten hinein in dies Verfahren stellt uns auch der Streit der
Meinimgen. Die verschiedenen Anläufe zur Definition der Sym-
metrie können nur von hier aus abgeschätzt werden. Wir greifen
die Aufstellung Theodor Alts^) als erste heraus, weil sie der natür-
lichen Anschauung am nächsten bleibt und damit ohne weiteres an
den bisher entwickelten Gedankengang sich anschließt, wenn auch
ein Vergleich mitten in der Definition nicht eben glücklich da-
zwischentritt. „Die Symmetrie besteht darin, daß die nebeneinander
liegenden Hälften eines aufrecht angeschauten Gegenstandes sich
wechselseitig verhalten wie Spiegelbilder. Sie kann ohne einen
bedingenden Begriff nicht gefordert werden. Dieser Begriff ist der-
jenige der Einheit, welchen sie vermöge der Wechselbeziehungen
der beiden Hälften um die in der Mitte liegende Achse versinn-
licht." Schon die geforderte Situation wird enger umschrieben, als
die allgemeine Begriffsbestimmung der Symmetrie verträgt: ein
Gegenstand — aufrecht angeschaut — seine nebeneinander liegen-
den Hälften. Aus dem Gegenstand erwächst aber auch die weitere
Voraussetzung eines die S)rmmetrie bedingenden Begriffes, und
zwar der Einheit Denn fi-agen wir, woher der Begriff der Einheit
komme, so leuchtet ein, daß wir ihn hier der Gegenstandsvorstellung
entnehmen, die diu-ch den Eindruck erweckt wird. Die Forderung
der Symmetrie setzt aber von vornherein weder einen Gegenstand
oder ein Gsmzes aus zwei Hälften, noch den Begriff der Einheit
voraus. Das erste Beispiel, das dem Menschen bekannt sein muß,
noch ehe er sein eigenes Gesicht oder das anderer Menschen ge-
sehen zu haben braucht, sind seine eigenen Hände. Sie verhalten
sich wechselseitig wie „Spiegelbilder", nach dem Wortlaut der mo-
dernen Definition; aber sie sind nicht die Hälften eines Gegen-
standes, brauchen nicht aufrecht angeschaut zu werden, sondern
nur nebeneinander in einer Ebene zu liegen, so daß ihre Innen-
i) System der Künste, Berlin 1888, S. 47!
Symmetrie 59
flächen oder ihre Außenflächen in dieses Sehfeld fallen. Aber sie
sind nicht nur symmetrisch, sondern zeigen noch andere Gestaltungs-
prinzipien, die ims z. B. klar werden, wenn wir sie aufeinander
legen. Sie werden dabei aber unabhängig vom Körper betrachtet,
zu dem sie gehören. Dieser liefert nur die in der Mitte liegende
Achse oder den kritischen Punkt, den wir von uns aus einsetzen.
Wir haben bei Th. Alt den nämlichen Fehler, den schon
WölfFlin*) an der Definition F. Th. Vischers hervorgehoben hat. Die
Symmetrie wäre nach Vischer „die Gegenüberstellimg gleicher Teile
um einen trennenden Mittelpunkt, der ihnen ungleich ist". Dazu
bemerkt WöMFlin, man könne damit wohl einverstanden sein, sobald
man sich nur darüber klar sei, daß hier nichts weiter gesagt sein
solle, als daß bei gegebenem Mittelpunkte die Teile rechts und
links gleich sein müssen. Die aktive Fassung verleite jedoch zu
dem Glauben, „es sei in dem Begriff" auch die Aufstellung eines
Mittelpunktes eingeschlossen, was durchaus unrichtig ist". Leider
sagt uns auchWölfflin seinerseits nicht, woher der gegebene Mittel-
punkt kommen soll. Dieser Mittelpunkt ist allerdings die Voraus-
setzung. Aber wo? Er wird zimächst nur vom menschlichen Sub-
jekt auf die Erscheinung appliziert und vertritt die aufs Minimum
reduzierte Vertikalachse, die wir schon bei der Entstehung der
Breitenausdehnung (Diremtion) als unerläßliche Bedingung für die
Differenzierung des Nebeneinander im Räume nachgewiesen haben.
Es ist wichtig, festzuhalten, dciß diese Trennungslinie oder der
kritische Punkt zunächst nur Zutat des Subjekts ist. Ein zweiter
Fall entsteht dann erst durch die Objektivierung in der Er-
scheinung ims gegenüber. In diesem Sinne bestimmt Gottfided
Semper die erforderliche Situation als: „geregelte Verteilung nach
horizontaler Ordnung um eine vertikale Achse, die senkrecht
auf die Bewegungsrichtung*) gedacht wird.** Aber auch diese an-
schauliche Hilfskonstruktion objektiviert beide Dimensionen im
Bilde zugleich, oder verführt wenigstens dazu, sie gleichwertig mit
der Erscheinung selbst vorzustellen, und darin liegt eine Übereilung,
die \ms zum irreleitenden Ansatz Vischers zurückführt.
Wenn nämlich Wölffliu seinerseits erklärt: „die Forderung der
Symmetrie ist abgeleitet von der Anlage imseres Körpers", so hat
i) Prolegomena zur Architektur, München 1886.
2) Dieser Ausdruck ist nicht glücklich, da er zur Verwechslung der Symmetrie
mit der Reihung führt. Lies etwa Querachse oder Horizontale.
6o V. Die drei Gestaltungsprinztpien
er so weit ohne Zweifel recht. Wenn er aber weiter auslegt: „das
heißt, weil wir symmetrisch aufgebaut sind, glauben wir diese Form
auch von jedem . . . Körper verlangen zu dürfen. Nicht deswegen
freilich, weil wir luiseren Gattungstypus als den imserigen für den
schönsten hielten, sondern weil es uns so allein wohl ist," so geht eben
dieser Blick in den Spiegel oder auf den Mitmenschen über das hinaus,
worauf es ankommt. Nicht weil wir symmetrisch aufgebaut sind, po-
stulieren wir dasselbe von allen Körpern außer uns (Anthropismus?);
weshalb uns nur allein wohl sei, wenn die Außendinge diesem Postulat
entsprechen, würde uns damit auch nicht erklärt (es sei denn eine Art
von Atavismus oder heimliches Affentum im Spiele). Wir verlangen
nach Symmetrie, weil wir paarig organisiert, auf symmetrischer Grund-
lage orientiert sind. Weil wir zwei korrespondierende Hände wie
Füße zum Betreten und Betasten haben und zwei korrespondierende
Netzhautflächen in beiden Augen zum Sehen brauchen, können wir
gar nicht umhin, dies paarige Ebenmaß auf alle Objekte anzuwenden.
Es wird uns so zur grundlegenden Gewohnheit des AufFassens, daß
uns Erscheinungen, die ihm entsprechen, glatt eingehen imd eben
darum angenehm sind. Deshalb können wir auch, ohne absichtliche
Ausschaltung dieses geläufigen Verfahrens, gar nicht umhin, im
Nebeneinander räumliche Werte hervorzubringen, die diesem G^-
staltimgsprinzip entsprechen. Es ist eine natürliche Funktion, die
mit der Anerkennung des eigenen Körperbaues zunächst aller-
dings gar nichts oder fast gar nichts zu t\m hat, übrigens auch
früher betätigt wird, als der Sinn für die Schönheit des eigenen
Leibes im Sinne eines plastischen Ideals sich nachweisbar zu regen
beginnt. Es handelt sich nicht einmal um eine Form, die wir gleich
uns nur „von jedem Körper verlangen zu dürfen" glauben, wie
Wölfflin meint, sondern die Forderung erstreckt sich auch auf Er-
scheinungen, die keine Körper sind, und auf Elemente, die nicht
wie Vischers vorausgesetzte „Teile um einen trennenden Mittel-
punkt, der ihnen ungleich ist," also doch in concreto mit ihnen
zusammen existiert, ein Ganzes bilden. Wir wissen beim Eintritt
einer Erscheinung in imsere Sinnessphäre, zumal in unseren Ge-
sichtskreis, noch gar nicht, ob sie sich als Gegenstand ausweisen,
als Körper bewähren werde. Die Elemente (Reize) brauchen nicht
einmal zusammenzugehören wie ein Paar, das wir subjektiv zur Ein-
heit zusammenfassen, geschweige denn einer Einheit anzugehören,
die wir als objektiv vorhanden anerkennen. Was haben zwei Farben-
flecken, die irgendwo in der Luft erscheinen, mit dem Begriff „Ein-
Symmetrie und Reihung 6l
heit" zu schaffen, der ihre Symmetrie fordert? Sie können sie aufs
strengste erfüllen, ohne deshalb als Teile eines Körpers angesehen
zu werden oder gar als Hälften eines Gegenstandes. Wohl aber
fungiert das betrachtende Subjekt als Einheit, und zwar beim Ver-
gleich der beiden auf ihre Symmetrie sowohl, als schon bei der
Vorbedingung, daß dort eine Zweiheit vorliege. Ich identifiziere
mich zuerst mit dem einen, dann mit dem «mderen; erst so gelsmge
ich zu dem Ergebnis, sie als zwei objektiv vorhandene Erscheinungen
anzuerkennen. Der leere Intervall, so schmal oder so breit er sein
mag, selbst die Linie, der Punkt nur zwischen beiden, dient als
Negation, als Unbezeichnetes neben den beiden bezeichneten Stellen
im Raum, die als positive Reize links uad rechts von der neutralen,
aber n\m kritisch eingenommenen Mitte auftreten.
Unsere guten deutschen Ausdrücke für Symmetrie: Gleich-
maß, Ebenmaß, bedeuten uns schon in ihrer Zusammensetzung^
daß immer beide Faktoren erforderlich sind: das Maß auf der einen
vünd das ihm entsprechende Gleiche auf der anderen Seite, das So
und das Ebenso.
Weiter vermag unser Verfahren auf diesem Wege nicht zu
kommen: unser Denkorgan ist nur imstande, zwei Objekte mit-
einander zu vergleichen. Treten noch andere Reize in unserem
Sehfelde neben den beiden soeben verglichenen und als symme-
trisch anerkannten auf, so haben wir nur die Möglichkeit, imseren
Standpunkt zu verschieben, d. h. den zweiten mit dem dritten, den
dritten mit dem vierten und so fort den letzten mit dem folgenden
zu vergleichen. Wir rücken also die Mittelachse oder den Fixations-
pimkt von Einschnitt zu Einschnitt weiter, von einem symmetrischen
Paar zum andern, verbinden also die successive Auffassung mit
der simultanen. Beide lösen sich ja in unserem gewöhnlichen Ver-
halten naturgemäß einander ab. Aber es fragt sich immer, welcher
von beiden wir die Oberhand lassen oder welche sich vermöge der
eigenen Kraft des Ergebnisses das Übergewicht verschafft und
damit objektive Gültigkeit behauptet, solange diese Kraft vorhält
Mit der Einsetzung des kritischen Punktes vollzieht sich die
simultane Auffassung, mit der Verlegimg desselben auf einen fol-
genden Platz die successive; dazwischen aber fimgiert als Ver-
mittlerin die Diremtion vom Fixationspunkt nach beiden Seiten und
die zentripetale Rückkehr auf diesen Punkt im Vergleich zu sei-
nem Ergebnis. Je öfter sich dies Verfahren wiederholt, desto ein-
facher wird die Prüfung, desto flotter ihr Verlauf. Je häufiger die
62 V. Die drei Gestaltungsprinzipien
Wiederkehr gleicher Elemente folgt, desto bestimmter wird die
Erwartung immer gleicher Eindrücke. Die Bedeutung der ver-
glichenen Objekte tritt allmählich zurück, sinkt ganz unter das
Niveau des Interesses, und die Abfolge der Momente selbst wird die
Hauptsache, der Verlauf beschleunigt sich imversehens. So entsteht
aus der S)rmmetrie durch Wiederholung derselben mit lauter
gleichen Elementen die einfache Reihung, das erste Gliederungs-
prinzip der Längenausdehnung im Räume. Damit beginnt ein ganz
anderer Weg, auf dessen Anfang wir später zurückgreifen müssen.
Sind die aneinander gereihten Elemente absolut gleich, so haben
wir vollständige Gleichförmigkeit oder durchaus gleichmäßigen Ver-
lauf, bei dem es schließlich gar nicht mehr auf die Eigenart der
Elemente oder Reize ankommt sondern nur auf die unausgesetzte
Succession in der eingeschlagenen Richtung. Die punktuellen Reiz-
einheiten bilden eine Linie, die nur als Leitfaden der dahinrinnen-
den Zeit dienen, wie in der Sanduhr die einzelnen Kömer vom
oberen Glasgefäß ins untere gleiten.
Sowie dagegen in die gleichartige Reihe ein abweichendes
Element eintritt, so verändert sich das Wesen der Erscheinung
vollständig. Wir gehen in unserer Aufzählung der Gestaltungs-
prinzipien gewöhnlich ohne viel Aufhebens von der einfachen Rei-
hung zur sogenannten alternierenden aus zwei verschiedenen
Elementen über. Das erscheint auch so selbstverständlich, wenn
man es liest, weil in Beispielen daneben sogleich die beiden Ele-
mente nebeneinander bezeichnet werden. Für die sinnliche An-
schauung, als Erlebnis, liegt die Sache schon anders. Vollends
aber kommt es bei der Erfindung und Hervorbringung darauf an,
sich den Unterschied in seiner ganzen Stärke zum Bewußtsein zu
bringen. Denken wir ims den Eintritt eines solchen Falles einmal
als Überraschung, so wird erst die volle Bedeutung des neuen Er-
eignisses klar. Setzen wir in der einfachen Reihung aaaaaaaaaa
irgendwo ein b ein, so vergleichen wir diesen fremden Eindringling
sofort mit dem nächsten a vor ihm und mit dem nächsten a nach
ihm. Das b fesselt unsere Aufmerksamkeit während beider Seiten-
blicke auf seine Nachbarn links und rechts. Da steht aba als ein-
fachster Komplex da. Beide Vergleiche führen auf Ungleichheit;
das Verweilen bei dem Unbekannten ergabt einen merklichen Still-
stand im Vollzug des Entlangsehens nach der eingeschlagenen
Richtung. Nach den beiden Vergleichen mit den Nachbarn erfolgt
eine Abschiebung nach beiden Seiten imd ein Zurückkehren von
Proportionalität 63
dem S3rmmetrischen Paar auf den Ungleichen in der Mitte, — viel-
leicht gar mit der Stärke des Hinausdrängens, die seinen Wider-
stand auf die Probe stellt. Je länger die einförmige Reihe verlief,
desto heftiger wirkt der unerwartete Reiz und behauptet sein
Übergewicht auch über die anderen, für deren Wirkung wir ab-
gestumpft sind. Doch schon das gleiche Paar von Nachbarn wird
zurückstehen hinter dem Neuen in der Mitte. Damit drängt sich
der Obergang zur simultanen Auffassimg in den gleichmäßigen
Fluß der successiven. Wir anerkennen die Symmetrie von a und a;
zwischen beiden aber steht an der Stelle der Trenmmgfslinie oder
des kritischen Punktes kein neutraler Intervall, sondern ein Posi-
tives, das neue Element b. Das Subjekt des Betrachters stößt an
seinem gewohnten Standpunkt auf ein Objekt, das zwischen den
beiden Schalen der Wage wie die feste Vertikalstange wirkt. Wir
haben statt der Symmetrie eine dreiteilige Grruppe. Und der Wert-
unterschied zwischen den drei Gliedern bedingt ein neues Verhältnis:
Proportionalität
„Proportion setzt die Ungleichheit voraus", sagt auch F. Th.
Vischer in seinem Versuch, sie begrifflich zu bestimmen. Diese
Voraussetzung ihres Auftretens haben wir soeben beim Eintritt
auch nur eines Ungleichen in die einfache Reihung gleicher Ele-
mente kennen gelernt. „Die Proportion setzt eine die Ungleichheit
beherrschende Ordnung fest", lautet es weiter, sagt aber nicht viel,
wie Vischer selbst gesteht Die abstrakte Formulierung läßt nicht
erkennen, wie sich solche Festsetzung einer Ordnung vollziehen
möge, und wie sie dazu gelange, die Ungleichheit der Bestandteile zu
beherrschen. Aber auch wir stießen in unserem Fall auf die Tatsache,
daß das Ungleiche über die gleichen Elemente das Übergewicht
bekam. Die Ausnahme springt als solche über die durchgehende
Regel hervor. Statt der Koordination entsteht Subordination.
Der Hinweis Vischers, die Proportion gelte für die vertikale
Richtung, fuhrt uns wenigstens zu einem bestimmten Bereich ihrer
Wirksamkeit Auch Gottfried Semper erklärt: die Proportionalität
ist das Gestaltungsprinzip der Höhendimension; die Vertikale ist
die proportionale Achse, weil nach dieser Linie die proportionale
Ordnung der Teile statthat
Wie der Mensch dazu komme, diese Dimension als erste zu
erfassen, haben wir aus seinem eigenen Bau zu erklären versucht
Aus der menschlichen Auffassimg dieser eigenen Vertikalachse und
deren Übertragung auf andere Außendinge ergibt sich von selber,
64 ^' ^ic <^i Gestaltungsprinzipien
wie sie ästhetisch zunächst ausgelegt und dann ausgestaltet werden
muß. Sie ist die Richtungslinie unseres eigenen Wachstiuns, und
nach der Hohe, in der wir unser eigenes Haupt tragen, bemessen
wir alle menschliche Proportionalität, anfangs rein als Großen, nach
Leibeslänge. Wer seine Nächsten um Haupteslänge überrsigt, der
beherrscht sie. Er gewohnt sich wohl oder übel, auf sie alle herab-
zusehen, und sie schauen zu ihm auf. Das Wachstum der Eüinder,
bis sie als Erwachsene gelten, d. h. ein Durchschnittsmaß erreichen,
und das Zusammenschrumpfen oder die gebückte Haltung im Greisen-
alter, gegenüber der aufrechten Streckung in der Vollkraft, sogar
die starke Konkurrenz der Breitendimension jenseits der Lebens-
mitte, das alles kommt der Bedeutung imd dem Verständnis dieser
Richtungslinie als eines Aufstiegs von unten nach oben zugute.
Daß der untere Endpunkt der Fußpunkt, der obere das Kopfende
sei, verbindet sich mit dieser Vorstellung, schon lange bevor noch
das eigentliche Interesse an dem Wuchs und der Gestalt unseres
Leibes einsetzt und das geheimnisvolle Gesetz der Proportion im
organischen Geschöpfe zu ahnen beginnt
Daraus können wir schon abnehmen, wann das Höhenlot auch
außer uns ästhetisch wirksam werden kann. Am unmittelbarsten
geschieht es sicher nicht, wenn die Vertikale beliebig irgendwo in
der Luft steht, sondern wenn sie mit uns auf gleicher Unterlage
auftritt, oder wenigstens auf einer Horizontalen fußt, die das be-
kannte Niveau des gemeinsamen Schauplatzes bedeutet Für den
Beschauer erhält sie, wie Gottfried Semper erklärt, erst dadurch
selbständige formale Existenz, daß sie „vertikal aufwärts gerichtet
ist, mit Bezug auf die Ebene des Horizonts, oder auf eine Linie,
welche letztere repräsentiert" (XXVI). Die erste Abschätzung des
Größenverhältnisses im allgemeinen beginnt wohl von oben nach
imten mit der Feststellimg des Höhepunktes und Fällung der Senk-
rechten auf die horizontale Grundlage. Aber die Anteilnahme des
Gefühls schlägt den umgekehrten Weg ein, d. h. von unten nach
oben, eben weil die Erdoberfläche, unser Grund und Boden, den
zuverlässigsten Ausgangspunkt für das Nachprüfen eines Dinges
außer uns, nach Analogie unserer eigenen Person, besonders für
das nacherlebende Durchverfolgen seiner Eigenart gewährt Nach
oben aber liegt gerade der freie Spielraum für alles, was uns über
den Kopf wachsen mag.
Ganz nüchtern, im Anschluß an mathematische BegriflFserklärung
ausgedrückt, wäre die menschliche Höhendimension immer der kür-
Proportionalität 5e
zeste Weg eines Punktes von unten nach oben. Die Bewegung
dieses Punktes geschieht somit in einer Richtung, die dem Gesetz
der Schwere oder der Trägheit geradezu entgegengesetzt ist Es
ist ein Aufstieg, wie der Weg eines kleinsten Gasbläschens durch
die atmosphärische Luft oder eines Luftbläschens im durchsichtigen
Wasser vom Grunde bis an die Oberfläche. Sie sind leichter als
die beiden Medien, sagen wir. Aber wer denkt heute noch bei
Attraktion imd Repulsion, bei zentriftigaler oder zentripetaler Be-
wegung nicht an das Spiel von Kräften? Kein Protest der Wissen-
schaft vermag die menschliche Vorstellung daran irrezumachen;
revoltiert doch jene mitten im Lager der Atomlehre und nimmt
ihre Zuflucht zu den Energien« In künstlerischen Dingen hat die
menschlich natürliche Auslegung des Sinnenscheines immer recht
Der Gegensatz zwischen Bewegung und Beharrung wird zu einer
Auseinandersetzung zwischen einem positiven und einem negativen
Pol, zu einem Ausgleich zwischen Ruhe und Streben. Bei Kraft,
Bewegung, Streben vermögen wir ims nicht allein etwas Mensch-
liches vorzustellen, sondern auch etwas zu fühlen und mit zu er-
leben, weil wir es selbst an uns erfahren. Die dialektisch konstru-
ierten Gegensätze dazu sind aber nur Negationen des Positiven,
von relativer Negation bis zu absoluter. Was Behammg sei, ver-
stehen wir als bewährten Widerstand gegen Anläufe der Bewegung,
entweder von außen oder von innen her, als Opposition gegen Ver-
suche der Veränderung. Aber was ist absolute Ruhe fiir den
natürlich denkenden Menschen? Kaum etwas anderes als Todes-
starre oder ein Nichts, wo jede Vorstellimg aussetzt
Streben, Bewegung, Kraft ist also auch der Ausgangspunkt
der ästhetischen Teilnahme am Geschauten, und sei es nur die
Richtung einer Linie von unten nach oben. Sowie wir dieser auf-
gerichteten Vertikale das Recht des eigenen Wachstums zugestehen,
wie uns selbst, so nehmen wir Anteil an dem Streben nach Selb-
ständigkeit und Lostrennung des Individuums aus dem Zusammen-
hang des Alls, aus der Masse oder dem Gewirr der Umgebimg.
Die positive Kraft des selbständigen Entwickeins zieht uns an, die
Abhängigkeit von dem Gesamten wird als ihr Widerspiel auch
unser Feind. Die Gestaltung zwischen Fußpunkt und Spitze ergibt
sich im Kampf beider Mächte, in ihr spiegelt sich die Geschichte
des eigenen Aufstiegs in dem Medium, das dafür sorgt, daß die
Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die Resultante zwischen
beiden einander entgegenwirkenden Richtungen verkörpert sich
Schmartow, Koiutwinenachait. 5
56 V. Die drei Gestaltungsprinzipien
in der Proportion an der Wachstumsachse. Versetzen wir uns mit
unserm eigenen Körpergefühl oder nur mit dem Gradmesser seeli-
scher Energie in diese Verhältnis werte der Form, so erleben wir
das Ergebnis nach.
„In diesem Kampfe der organischen Lebenskraft mit der Ma-
terie einesteils, mit der Willenskraft andemteils entfaltet die Natur
ihre herrlichsten Schöpfungen," schreibt Gottfried Semper. „Er zeigt
sich in den schönen elastischen Kurven der Palme, die ihre ma-
jestätische Blätterkrone kraftvoll emporrichtet, aber dabei den Be-
dingungen des allgemeinen Gravitationsgesetzes als Ganzes und in
ihren einzelnen Teilen, den Blättern der Krone, sich schmiegt.
„Als Reflex und Repräsentant der makrokosmischen Tätigkeit
macht sich an derartigen Erscheinungen zuerst geltend: die Basis
des proportionierten Systems.
„Als Reflex und Repräsentant des individualistischen Triebes
oder Wirkens tritt dann an derselben proportionierten Erscheinung,
imd zwar dem Gipfel zunächst, hervor: die Dominante des Systems.
,3eide sind vermittelt durch ein neutrales tragendes und ge-
tragenes Mittelglied, an den Eigenschaften beider Vorhergenannten
partizipierend^ sich beiden gleichmäßig anschließend, und die Gegen-
sätze an sich vermittelnd."
Diese naturwissenschaftliche Erklärung des modernen Archi-
tekten, die von der makrokosmischen Beziehung ausgeht, ist natür-
lich nicht die des urwüchsigen Menschen. Aber wir kommen mit
der Unterscheidung des Kopfendes oben, des Fußendes unten und
des ausgleichenden Mittelkörpers dazwischen genau so weit. Auch
bei summarischer Einwirkung der Menschengestalt nach ihrer Ver-
tikalproportion wird der Unterschied des Beingestelles und des
Rumpfes als des Tragenden und des Getragenen sich fühlbar
machen. Das letzte Glied oben nennen wir lieber Bekrömmg,
Spitze oder schlankweg Kopfstück, noch nicht Dominante, indem
wir diesen Terminus lieber für das proportionierte Ganze aufsparen,
wenn es seinerseits in weitere Beziehungen eingeht und in der
Ungleichheit als beherrschendes Hauptglied auftritt
Solange wir noch bei der proportionierten Einzelerscheinung
verweilen, gilt es vor allen Dingen den Charakter der Selbst-
ständigkeit zu betonen. Die Wachstumsachse des Menschen ist
das Urbild; die Trägerin der aufstrebenden Bewegung im eigenen
Körper anerkennen wir auch im fremden, am Mitmenschen, wie am
Baume und in weiterer Übertragung auch am aufrechten Gebilde
Proportionalitat und Symmetrie 67
der unorganischen Natur, in der Hauptachse des Kristalles oder
des Bergkegels. Die Proportionalität von unten nach oben läßt
uns keinen Zweifel, daß wir es mit einem selbständigen Körper zu
tun haben. Wir begrüßen das werdende Individuum auch da, wo
es mit dem Fuße noch im Boden wurzelt oder mit der kompakten
Masse des Gesteins zusammenhängt. Desto entschiedener meldet
sich der Anspruch allseitiger Abgeschlossenheit ringsum und klarer
Begrenzung nach allen Dimensionen. Zur Proportionalität in der
Hohenrichtung gesellt sich die symmetrische Entfaltung in der
Breite, nicht aber in einer Achse nur, nach links und rechts, son-
dern auch nach vom und hinten, oder vielmehr nach allen Seiten
ringsum, wenn auch in vollständiger Unterordnung dieser anderen
Dimensionen unter die Hohe, die im Koordinatensystem somit als
Dominante dasteht Die Unabhängigkeit von Beziehungen ringsum
wird ausschließlicher sein, wenn auch die Unterscheidung einer aus-
gemachten Vorderseite wegfallt imd dafür die Geschlossenheit und
Ruhe der menschlichen Rückseite ringsum waltet, wie am Stamm
des Baumes.
So sieht das menschliche Subjekt die Vertikalachse des eigenen
Leibes nun objektiviert im fremden Körper vor sich stehen. Sie
eben fordert zum Vergleich mit dem Selbst des lebendigen Indi-
viduums heraus und behauptet sich als ähnliches Zentrum, das
innerhalb seiner Machtsphäre sich alles übrige unterordnet Hier
ist der Begriff der Einheit für die sinnliche Wahrnehmung ver-
körpert Die Anerkennung des bleibenden Bestandes außer uns
ist das Ergebnis dieser Vergleiche. Die Regel des eigenen Ver-
fahrens ist dort Gesetz des Zusammenhalts. Dem veränderlichen
Wesen der Menschennatur stellt sich die Beharrung der Körper-
welt in solchem isolierten Beispiel gegenüber.
Die Dominante tritt in ihrer beherrschenden Kraft aber noch
lebendiger hervor, wenn andere aufrechte Achsen neben ihr er-
scheinen, d. h. wenn an den einen Körper in der Mitte sich andere
Körper anreihen. Wo die eine Vertikale alle übrigen Glieder über-
ragt, oder ein anderer Kraftüberschuß alle übrigen Kräfte über-
wiegt, da ist mannigfaltigere Gelegenheit für sie, sich zu bewähren.
Der einfachste Fall begegnete ims dort, wo zwischen zwei gleiche
Glieder ein drittes Ungleiches eintrat, in der Folge aba, die durch
das Übergewicht des Mittelgliedes zu relativem Stillstand gebracht
ward. In der Diremtion nach beiden Seiten und der Zentralisation
zurück auf den Fixationspunkt oder die Vertikalachse vollzieht sich
58 V. Die drei Gestaltungsprinzipien
aber die Auseinandersetzung der Dominante mit ihren Nachbarn:
„eine die Ungleichheit beherrschende Ordnung". Und das Gestal-
tungsergebnis heißt Proportion. Wir haben also Synunetrie und
Proportionedität auch hier miteinander in Verbindung, nur durch
die Selbständigkeit der Glieder auch diu-ch Gegensatz gesteigert.
Hier erst gewinnt die Definition der Symmetrie bei Th. Alt
eine besondere Bedeutung. Nicht Symmetrie überhaupt, sondern
eine Steigerung durch Hinzutritt anderer Gestaltungsmomente be-
steht darin, ,,daß die nebeneinander liegenden Hälften eines aufrecht
angeschauten Gegenstandes sich wechselseitig verhalten wie Spie-
gelbilder". Die beiden symmetrischen Glieder sind jedoch außer
durch diese Gleichheit noch durch eine Ungleichheit charakterisiert,
etwa in der Betonung einer Richtungsachse. Diese Richtungs-
achsen beider Teile verlaufen dann etwa nicht parallel aufwärts,
sondern entweder konvergierend gegen die Mitte oder divergierend
nach links imd rechts. Damit erscheint auch hier das Gestaltungs-
prinzip der Proportionalität, im Verhältnis der drei Richtungsachsen
zunächst als Wachstumsachsen in der Höhendimension. Auf jeden
Fall haben wir eine Modifikation der Symmetrie oder eine beson-
dere Form, die durch Einführung eines Gegensatzes gesteigerte
Symmetrie des Kontrastes. Sie ist geläufig im sogenannten
Wappenstil. Nun aber vergleiche man z. B. den heraldischen
Kaiseradler, und zwar den doppelkopfigen mit dem einkopfigen,
und wende dabei die Erklärung Alts an: die Symmetrie könne
ohne einen sie bedingenden Begriff nicht gefordert werden; dieser
Begriff aber sei derjenige der Einheit, den sie vermöge der
Wechselbeziehung der beiden Hälften um die in der Mitte liegende
Achse versinnlicht. Die Heraldik kennt die Zusanmienstellung
zweier S3nmmetrischer Bestandteile, wie Adlerflügel, mit einer
trennenden Mittellinie ohne weiteres Bindeglied. Wo liegt die
Einheit? — doch nur in dem subjektiven Postulat, in der Vor-
stellimg des Menschen. Die Zusammenfassung zu einem Paar wird
vollzogen; aber das Andringen des vollständigeren Erinnerungs-
bildes mit Kopf, Rimipf imd Schweif bleibt abgeschnitten diirch
jenen Trennungsstrich. Beim doppelköpfigen Adler liegt die Ein-
heit mehr im Schweif als am Kopfende; auch der Rumpf wird
noch halbiert, nur etwa durch ein Wappen darüber wieder zu-
sammengefaßt Der einköpfige Adler dagegen gewährt für den
Begriff der Einheit volle Befriedigimg, die mm nicht mehr will-
kürlich wie beim anderen, sondern natürlich erscheint Dort ist die
Symmetrie des Kontrastes 69
Regel des Wappenstils vollkommener erfüllt; hier verbindet sich
das Gebilde mit der Einheit des organischen Gewächses, d. h, mit
dem Natm-gesetz. Das gerade verletzt die Heraldik, stärkt aber
den Glauben an die Existenz imd das Leben. Der Übergang
zur Naturwahrheit des lebensfähigen Geschöpfes überzeugt uns,
daß wir den Boden der Ornamentik und Dekoration zu verlassen
im Begriff sind und von hier aus schon das Bereich der Körper-
bildnerin betreten könnten, die der organischen Schönheit huldigt.
VL
DIE DREI GESTALTUNGSPRINZIPIEN
ALTERNIERENDE REIHUNG — ZENTRALE SYMMETRIE
Da stehen wir auf dem Grenzgebiet zwischen beiden vor einer
neuen Frage, die wieder zu einer abweichenden Auffassung der
Symmetrie fuhrt, nämlich derjenigen Alois Riegls. Er erklärt: „an
der Symmetrie haftet untrennbar die Vorstellung der Ebene"
(a. a. O. S. 30). „In der Symmetrie verrät sich der unimterbrochene
haptische Zusammenhang innerhalb der Ebene am überzeugendsten
dem äußeren Anblick. Die Symmetrie haftet nämlich an den
Flächendimensionen imd wird durch die Tiefe beeinträchtigt, wo
nicht aufgehoben. Daher ist die Symmetrie innerhalb der bilden-
den Kunst des Altertums das wesentlichste Mittel gewesen, um die
Abgeschlossenheit der stofflichen Individuen in der Ebene zu de-
monstrieren (a. a, O. S. 20).
Unzweifelhaft ist die Symmetrie zunächst nur Gestaltungsprin-
zip der zweiten Dimension, der Breite. Ihre Erscheinimgen fallen
also in die wagrechte Ausdehnung. Die senkrechte tritt nur inso-
fern hinzu, als wir sie zum Vergleich der Elemente rechtwinklig
auf jene Wagrechte gefallt denken. Wir können sie auf einen
Punkt reduzieren. Schon darin liegt der Erweis, daß die Höhen-
ausdehnung nicht unmittelbar mit gegeben ist Sie gehört nicht
notwendig zur Situation für das Auftreten der Symmetrie. Wir
können also Riegls Behauptung, an der Symmetrie hafte imtrennbar
die Vorstellung der Ebene, nicht annehmen, und noch weniger die
andere Formulierung: die Symmetrie hafte an den beiden Flächen-
dimensionen, d. h. Höhe und Breite. Sie haftet tatsächlich nur an
der Breite. Sowie die Höhe nicht bloß subjektiv dazu vorgestellt,
sondern objektiviert wird, so tritt damit das andere Gestaltungs-
prinzip in sein Recht, die Proportionalität, die an der Vertikal-
richtung haftet. Erst wo beide, Symmetrie und Proportion, ver-
bunden auftreten, ist auch die Ebene gegeben.
Symmetrie — Reihung 71
Es fragt sich alsdann nur, wo liegt diese Ebene? — Kann sie
nur Sehebene sein oder auch Tastebene? — Kann es auch die
Ebene sein, in der wir selbst als Höhenlot fungieren, d. h. die
Breitenebene unseres Körpers? — Oder gäbe es gar noch weitere
Möglichkeiten, die beiden Glieder der Symmetrie als Nebeneinander
im Räume anzuerkennen? — Hört die einmal anerkannte Symmetrie
auf, als solche zu wirken, wenn die Vorstellung der Ebene aufge-
hoben wird?
Zu diesen Problemen gelangen wir folgerichtig weiter, indem
wir von der einfachen Symmetrie durch die Reihung gleicher Ele-
mente zur alternierenden Reihe kamen und ihren ersten Verbin-
dungen mit der Proportionalität nachgingen, die uns von beliebigen
Elementen zu Körpern, von der Gesetzmäßigkeit kristallinischer
Gebilde zu Gegenstandsvorstellungen aus der organischen Natur
weiterführten. Am Anfang dieses Weges begnügten wir ims mit
Erscheinungen im Sehfelde, dem reinen Augenschein ohne die
zwingenden Wahrzeichen der Körperwelt, die uns Erinnerungsbilder
konkreter Gegenstände mit erwecken. Nur so konnten wir zugleich
der successiven Auffassung der symmetrischen Reihen gerecht
werden, die lediglich regelmäßige Wiederkehr unterschiedner, doch
gleicher Reize darboten oder zwei ungleiche Reize miteinander
abwechseln ließen. Vergessen wir aber nicht, daß wir bei dieser
Beschränkung auf den Augenschein, die unserer heutigen Gewohn-
heit entspricht, doch eine Ausschaltung des Getasts begangen
haben, sowie es sich nicht mehr um die Auffassung, sondern um
die Darstellung, die ursprüngliche Hervorbringung handelt. Ein
Gestaltungsprinzip verdankt seinen Ursprung dem Verfahren des
Urhebers, dem Griff ins Material und der Wahl seiner Mittel.
Fertig vorgefundene Naturdinge werden gewiß eher ergriffen, ge-
sammelt und verwertet, als die Herstellung neuer aus bildsamem
Material beginnt. Aber auch diese Masse ist körperhaft wie jene
Dinge. Der Indianer reiht die Skalpe seiner besiegten Feinde um
seinen Gürtel, der Jäger die Zähne des erlegten Ebers oder Bären,
der Fischer die Muscheln vom Strande oder die Steinchen des
Baches. Wer solche Dinge nicht findet, formt sich Kügelchen aus
Tonerde oder Holz, knotet Lederstreifen oder rollt sich Weiden-
rinde zusammen. Bei dem Hantieren mit solchen Dingen kommt
die entstehende Reihe schon während der Arbeit in die mannig-
faltigsten Lagen zu dem Körper, entweder zwischen beiden Händen
in die Breite, oder vom herunterhängend vom Körper weg in die
no ^^I* ^ic drei Gestaltungsprinzipien
Tiefenrichtung, oder irgendwo in bequemer Höhe befestigt dem
Arbeiter gegenüber zur aufrechten Ansicht. Die Regehi der
Reihung gelten nach allen Richtungen gleichmäßig, nur in der
Breite zunächst die S)rmmetrie, nur in der Höhe die Proportionalitat.
Bei kleineren Gliedern wird immer die Reihung überwiegen, erst
bei auffallenderen Elementen das eine der beiden anderen Gestal-
tungsprinzipien, an besonderen Stellen die Verbindung beider zur
Anwendung kommen.
Aus der einfachen Sjonmetrie mit Einschaltung eines ungleichen
Mittelgliedes, wie wir das Beispiel aba in der einfachen Reihung-
auftretend dachten, entwickelt sich das Prinzip der alternierenden
Reihung, wenn imter Beibehalt oder Wiederaufnahme der einge-
schlagenen Richtung der Abfolge nun auch der zweite ungleiche
Bestandteil wiederholt auftritt, sich also dem ersten Unbekannten
gleich erweist imd somit als bekannte Größe kein Hemmnis mehr
bildet. Je öfter die Wiederholung der abwechselnden Elemente
stattfindet, desto glatter verläuft sie. Über diesen bequemen Ver-
lauf zweier ungleicher Elemente, der noch dem Pendeln der Arme
und Beine verwandt bleibt, kommen wir abermals hinaus, sowie
die Einschaltimg eines dritten — mm wieder unbekannten — Ele-
mentes erfolgt Wieder tritt ein Aufenthalt in der Succession ein.
Der Vorgang des Sondems und Vergleichens hinüber imd herüber
schließt mit der weiteren Grruppe abcba, die als solche noch zu
simultaner Auffassung herausfordert Mit der Wiederkehr des
dritten Elementes c kommt sie indes jedenfalls wieder in Fluß.
So mag sich die weitere Reihung fortsetzen bis zur Vollendung
der Kette, die als Halsband oder Gürtel, als Spange um den Arm
oder lun die Fußknöchel, als Kranz um das Haupt gelegt wird,
Sie umgibt also peripherisch das Mgd des Schmuckes, sei nun ein
einzelner Körperteil oder der Körper als Ganzes der Wert, dem
die Auszeichnung gelten soll. Dieser letzte Fall ist der eigentlich
entscheidende; denn er gibt die Differenz von der früheren Auf-
fassung. Aber auch bei den andern Fällen müssen wir uns immer
in der Vorstellung dem kreisförmigen Gebilde anbequemen, um es
zu verstehen, d. h. ims mittenhinein versetzen, wie der Kopf, der
Arm darin steckt und umfaßt wird. Die bestimmende Situation
ist also die, daß das menschliche Subjekt den Mittelpunkt des
peripherischen Gebildes einnimmt, dort an der Stelle des Mals ent-
weder in eigener Person seine Vertikalachse errichtet, oder sich
punktuell an die Stelle denkt, die kritische Übersicht über die
Zentrale Symmetrie 73
Reihe abzunehmen, genau so, wie der gefeierte Häuptling oder
Sieger, ein wertvolles Individuum seines Stammes vom Reigentanz
seiner Mannen oder Weiber umzingelt wird und die Aufstellung
oder die Bewegung dieser Körper um den seinigen erlebt. Was
hier im Tanzreigen oder im Reihenschmuck erscheint, ist die so-
genannte zentrale Symmetrie, die zur genaueren Bezeichnung
der planimetrischen Situation auf der wagrechten Grundfläche rich-
tiger als vielachsige Symmetrie in der Ebene unterschieden
werden mag. Die entscheidende Lage dieser Ebene ist aber die
Horizontale unter den Füßen des perzipierenden Subjekts (oder
höchstens zu Häupten), nicht die Vertikalstellung als Parallelebene,
wie wir unser Sehfeld annehmen und unsere Wände errichten. Das
Subjekt steht als Korper in dieser Raumsphäre, die ihm solcher
Lage gemäß die zweite und die dritte Dimension auf dem Boden
unterbreitet (oder am Himmel entfaltet). Breitenachse und Tiefen-
achse sondern sich klar nach der Stellung des Menschen. Wohin
er seine eigene Vorderseite kehrt, da liegt die Raumtiefe vor ihm,
während die seitliche Hebung seiner Arme die Querachse bezeichnet
Er faßt also die Symmetrie im Links und Rechts von sich auf, und
zwar an der ganzen Peripherie entlang, wie er sich um seine eigene
Vertikale dreht oder stillstehend den Kreislauf an sich vorüber-
ziehen läßt Er faßt die Proportionalität dagegen nicht sowohl in
der Höhenerhebung der Teile, als vielmehr in der Tiefenerstreckung
vor sich hinaus, und zwar vom Mittelpunkt ab, alle Radien des
Kreises als Richtungsachsen der Bewegung verfolgend, in die
Weite ringsum. Das Ganze stellt sich dann wie Ausstrahlung
vom Zentrum dar.
Hier müssen wir einen Augenblick verweilen, die besondere
Art der Proportionalität im Unterschied von der Höhenproportion
zu erfassen. Wie an der Wachstumsachse von unten nach oben,
waltet hier an der Bewegungsachse nach vorwärts in die Tiefe
hinaus ein und dasselbe Gestaltungsprinzip. Aber die Proportion
im Sinne der Bewegimg oder der Willensrichtung ist, wie auch
Gottfried Semper betont, prinzipiell verschieden von der Proportion
im Sinne der vertikalen Gestaltung, und deshalb „ist aus ihr eine
besondere Kategorie der formalen Schönheit zu machen". „Jedoch
ist klar," fügt Semper hinzu, „wie zwischen beiden eine weit engere
Verwandtschaft besteht als zwischen jeder von ihnen und der
I) Prolegomcna XXXIV, i.
y^ VI. Die drei Gestaltungsprinzipien
Symmetrie". Es empfahl sich ako cbingend diese besondere Kate-
gorie des formalen Schonen oder dies dritte Gestaltungsprinzip
auch mit einem besonderen Namen zu bezeichnen, der das charakte-
ristische Wesen, die Verwandtschaft mit der Proportionalitat und
den Unterschied von der Symmetrie ausprägt. Semper hat sich
mit dem Namen „Richtung** oder „Direktion" begnügt
Das Gemeinsame, das die Verwandtschaft dieses neuen Gestal-
txmgsprinzipes mit der Proportion im Sinne der vertikalen Gestal-
timg begründet, ist die Bewegungseinheit, der Verfolg der succes-
siven Momente in einer Richtung. Nur die Richtung selbst kann
sich von der anderen unterscheiden, braucht es aber nicht, insofern
die Bewegungsrichtung mit der Höhenachse zusammenfallen kann.
Geht sie z. B. mit dem Höhenlot zugleich in der Richtung abwärts,
wie im Fall der Körper nach dem Gesetz der Schwere, so geben
wir ihr auch den Namen: sie geht in die Tiefe, sagen wir auch
hier. Sonst aber bezeichnen wir als Tiefenachse diejenige in der
Richtung nach vorwärts oder in die Feme, imd zwar immer aus-
schließlicher, je mehr es sich um optische Regionen handelt
Der Unterschied von der Symmetrie ist zunächst natürlich der-
selbe, wie bei der Proportionalität im Sinne vertikaler Gestaltung.
Hier aber handelt es sich nicht mehr um eine Nachbarschaft beider
Erscheinungen in der aufrechten Parallelebene vor uns, sondern
um die Lage links und rechts von der Tiefenachse, an der wir die
proportionale Gestaltung verfolgen sollen. Es ist innerhalb des
peripherischen Gebildes mit zentraler Symmetrie, in dem wir das
perzipierende Subjekt stehend dachten, eine Auseinandersetzimg
seines Körpers mit den um ihn herumgeordneten Körpern im
Räume, bei der sich alle Richtungsachsen im Msd durchkreuzen.
Dabei fungiert, wenn wir einen Gürtel oder Kranz als Beispiel
nehmen, nicht das Auge vorzugsweise, sondern das Getast und das
Körpergefuhl, die Antwort unseres ganzen Leibes bei unmittelbarer
Berührung. Versuchen wir jedoch andererseits die neue Situation
dadurch zu klären, daß wir sie von der früheren herleiten, wo
Symmetrie und Proportion nur sichtbar in der Vertikalebene vor
uns standen. Senken wir etwa eine schwarze Wandtafel mit zwei
symmetrischen Farbenflecken imd der senkrechten Achse dazwischen
allmählich rückwärts bis zu horizontaler Lage auf dem Tisch.
Dann verschieben sich die Farbenflecken perspektivisch für unser
Gesicht, aber die Verkürzung erfolgt wieder symmetrisch. Wenn
auch die Normalansicht zusammenschwindet, so bleibt doch die
Symmetrie, Proportionalität, Richtung ye
neue Erscheinung als symmetrisches Paar kenntlich, um so un-
mittelbarer, je weniger die Gegenstandsvorstellimg dabei mitspielt
und zur Erkennung des Dinges reizt, was es eigentlich sei. Bei
gewisser Entfernung vermögen wir durch Vorbeugen im Abwärts-
schauen die erforderliche Situation herzustellen, daß die wagrechte
Ebene als Parallelebene gesehen wird. Bei weiterer Entfernung ist
das aber nicht mehr möglich und der Unterschied charakterisiert
sich eben darin, daß die Trennungslinie zwischen beiden Elementen
radial von unserem Mittelpunkt ausgeht Sind die symmetrischen
Elemente bestimmte Figuren, d. h. je ein flächenhaftes Ganzes, so
gehen auch die Mittelachsen dieser Einzelgebilde in ihrer Ver-
längerung auf uns zu, und dies Abhängigkeitsverhältnis wird
vollends wirksam, wenn jene S3rmmetrischen Objekte selbst drei-
dimensionale Körper sind, die wir sonst als selbständig außer uns
bestehende Einheiten anerkennen. Diese Relation der Körper
ringsum zu dem Mal in der Mitte entwickelt sich zu einem Ver-
hältnis von Teilen zum Ganzen, so daß hier Vischers Definition
von Symmetrie zutreffen würde. Indes eben hier verbindet sich
durch die Natur dieser Richtungsachsen als Ausstrahlungen von
dem Zentrum auch mit der Symmetrie ringsum die Proportionalität,
entweder in alternierender Folge oder an einem und demselben
Gliede, so daß sich beide Gestaltungsprinzipien miteinander aus-
gleichen. Eigentlich sind sie, latent wenigstens, in allen Gliedern
vorhanden, und es kommt nur darauf an, welche von beiden das
Übergewicht behauptet und dadurch den Charakter der Gestaltung
bestimmt. Je größer nun aber der Ausschnitt aus der Peripherie
eines solchen zentralisierten Gebildes wird, desto fühlbarer wird
auch der Unterschied des von ihm beschriebenen Kreissegmentes
von dem geradlinigen Verlauf der symmetrischen Reihung, der ein-
fachen wie der alternierenden und ebenso von der ebenflächigen
Gruppierung auf horizontaler Grundlinie. Betrachten wir solche
Beispiele nebeneinander (etwa den Ausschnitt aus dem Blütenkelch,
den wir einmal liegend, einmal aufrecht annehmen, bei Semper,
der Stil, I S. xxvi), so leuchtet ein, daß die Trennungslinie, die wir
m der Mitte einlegen, nicht mehr die Vertikale ist oder bedeutet,
sondern die Richtungslinie imserer Bewegung nach vorwärts, d. h.
die Tiefenachse des vor uns liegenden Raumes; — daß der kritische
Pimkt, auf den wir diese Linie reduzieren könnten, nicht in der
Reihe der wagrecht geordneten Elemente liegt, sondern vor den-
selben, eben im Zentrum des Kreises, zu dem jene Bogenstellung
7 6 VI. Die drei Gestaltungsprinzipien
gehört. Kraft dieser neuen Funktion ist aber die Zusammenfassung-
einer größeren Anzahl nebeneinander geordneter Glieder möglich
als in der früheren Anordnung auf einer geraden Linie, eben weil
die Elemente nicht mehr gleichwertig in einer Reihe erscheinen,
sondern perspektivisch differenziert je nach ihrer Distanz und dem-
gemäß schon unter diesem Gesichtspunkte wieder paarweis von
beiden Seiten her übereinstimmen, also ohne weiteres zusammen-
gefaßt werden. Damit erst begreifen wir die Tragweite der Ab-
hängigkeit von dem Mittelpunkte im ganzen Umkreis. Als Bei-
spiele hebt schon Semper derartige planimetrische Gebilde im
Mineralreich hervor, wie Polygone, Sterne und gemischte Formen,
oft von großem Reichtum, wie die Schneeflocken. „Für sie als
Ganzes ist Symmetrie, Proportion und Richtung eins. Sie haben
nur ein einziges Moment der Gestaltung, dessen Kraftmittelpunkt
das Zentrum ist." Neben der Abhängigkeit aller Teile von diesem
Zentrum muß sich aber auch zeigen, wie weit die Kraft reicht.
Nur so kann sich auch allseitige Abgeschlossenheit ergeben, die
sie für das Außensein indifferent macht Nur dann werden sie uns
zum flächenhaften Abbild einer kleinen Welt für sich, ein Mikro-
kosmos. Hier gilt es, die einzelnen Strahlen für sich zu verfolgen
und ihre proportionale Entwicklung begrenzt zu finden. Sie eben
offenbaren in ihrer Gestalt die Polarisation zweier Kräfte, den
Ausgleich der zentrifugalen und zentripetalen Bewegung. Ihre
radiale Stellimg bezeugt sowohl die Abhängigkeit von der Domi-
nante wie die Beziehung zum Makrokosmos, der sie umgibt Je
weiter sie sich erstrecken, desto entschiedener weisen sie auf einen
weiteren Zusammenhang. Je mehr sie sich am äußersten Ende
noch verdicken, oder zu massiger Erscheinung sammeln, desto aus-
geprägter wird das Abbild einer Gravitation von Körpern, einer
Konstellation von Planeten um ihre Sonne.
Das Gesetz der Gravitation imi einen Mittelkörper gilt indes
nicht allein für die Ordnung in einer wagrechten Ebene oder einer
Horizontalschicht im Räume. Aber der Mensch ist auch kein
Himmelskörper. Stellen wir uns nur selbst wieder als aufrechten
Körper an den Platz des Mals, den wir zu Anfang eingenommen,
so wird sich demgemäß schon die übrige Auseinandersetzung
unseres Körpers mit den Körpern ringsum noch weiter ergänzen.
Das Sehen von oben, das Fühlen und Tasten nach allen Seiten,
die Orts Verhältnisse am Boden zu unseren Füßen: alle Richtungen
durchkreuzen sich bei dieser Auseinandersetzung im Räume, doch
Zentrale Symmetrie 77
immer zwischen der Erdoberfläche oder der wagrechten Unterlage
einerseits und der Scheitelhöhe unseres Kopfes andererseits. So
unterscheidet sich unser menschlicher Kosmos einerseits wieder von
dem Makrokosmos des Alls, von dem der natürliche Sinn nichts
wahminunt als das wandelbare Himmelszelt, imd andererseits von
den Mikrokosmen der Körperwelt, die nach anderen Gesetzen ge-
staltet sind als wir und die wir deshalb als unorganische Natur be-
zeichnen. Wir stehen im Unterschied von der vorher betrachteten
vielachsigen Symmetrie in planimetrischen Formen hier vor den
Erscheinungen der vollkommenen stereometrischen Symmetrie.
Dies sind die kristallinischen Gebilde, die allseitig gerichtet sind
und sich allseitig abschließen, zu Polyedern vom regelmäßigen
Hexaeder bis zur Kugel, die wir als Polyeder von imendlich
vielen Seitenflächen zu beschreiben versuchen. Wer fragt sich,
was diese Definition eigentlich will, wenn sie die äußersten Grenz-
punkte der Kugel, d. h. die Punkte jeder Peripherie derselben für
imendlich kleine Flächen ausgibt, und damit ihre Natur als äußerste
Endpunkte der Radien leugnet? Es kommt ihr darauf an, das
Gesetz der Symmetrie als alleinwaltendes Gestaltungsprinzip anzu-
erkennen und vom Gesetz der Proportionalität abzusehen, d. h.
die Kugel als bestehende Körperform zu fassen, nicht als werdende
zu erklären. Es ist die simultane Anschauung, die sie durchführt,
ohne die successive zuzulassen. So kommt sie ziun Gesetz statt
zur Regel, meint sie. Aber auch der Gestaltungsprozeß ist ein
Gesetz, das sich unfehlbar vollzieht, und auch die beharrende Form
ist ein regelmäßiger Körper. In der Mathematik herrscht nur
systematisches, in der Naturwissenschaft genetisches Verfahren.
Und gerade, wenn wir die lebendige Auffassimg der Kugel als
Ergebnis ientrifugaler und zentripetaler Bewegung walten lassen,
gerade so nur bleibt sie uns menschlich nah, unserem eigenen
Wesen verwandt. Gerade so begrüßen wir in ihrer Form ein
Ideal, das uns auf der Erde wandelnden Menschen nur zur Hälfte
erreichbiir bleibt, eben weil uns die wagrechte Ebene unter unseren
Füßen die untere Hälfte der Sphäre versagt imd alle unsere Aus-
eineindersetzungen mit der Umgebung im Raum auf die halbe
Kugel beschränkt.
Trotzdem behalten wir die Genugtuung in unserem Sehraum,
der dieser innem Kugelfläche gleicht, wie in unserem Tastraum,
der sich noch weit enger begrenzt, als Dominante dazustehen und
in dieser Eigenschaft zwischen allen Dingen xmi uns her durch
jS VI. Die drei Gestaltungsprinzipien
Koordination und Subordination einen Kosmos herzustellen, der
den ersten Prinzipien des Schmückens, Ordnens und Gestaltens
gerecht wird, wie wir selber« Da fuhren uns die simultane Auf-
fassung dort und die successive hier zu zwei Ergebnissen ver-
schiedener Art, zwei GrundbegriflFen, deren einer nur der einen
Anschauung, der andere nur der anderen Vorstellungsweise ent-
sprechen sollte, soweit wir beide überhaupt auseinanderzuhalten
und wenigstens logisch zu scheiden vermögen: System und Orga-
nismus.
Ein System ist der Kristall, aber auch der leichte Stern im
Schnee, wie auch das Planetensystem unserer Sonne im Welten-
raume. Das griechische Wort bedeutet ja zunächst die Zusammen-
stellung einer Mehrzahl von Bestandteilen zu einem Ganzen, wie
die taktische Aufstellung eines Heeres in bestinunter Schlachtord-
nung, aber auch allgemeiner, wie das lateinische „ Konstellation <%
den Stand der Gestirne unter einem bestimmten Gesichtspunkt.
Hernach wird es auch auf geistigem Gebiet fiir die Zusammen-
Stellung eines übersichtlichen und in sich abgeschlossenen und
innerlich zusammenhängenden Ganzen von Lehrsätzen gebraucht.
Wir sprechen von einem System bei einem umfassenderen Kom-
plex von Begriffen, die auf einem Grundbegriff beruhen, oder in
größerem Maßstab bei einem Lehrgebäude solcher Art, schließ-
lich, wo es eine ganze Weltanschauimg enthält, von einem philo-
sophischen System.
So verdanken wir auch Kant eine Begriffsbestimmung von
System im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnis. Er hat diese
Definition am Ende seiner Kritik der reinen Vernunft, im
dritten Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre aufgestellt;
wir brauchen sie nur aus dem Gebiet des Intellektuellen in
die Körperwelt zurückzuübersetzen, um das Wesentliche zu er-
halten.^)
i) Sie lautet wörtlich (in der Kehrbachschen Ausgabe (Reclam) S. 628 f.): „Ich
verstehe unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter
einer Idee. Diese ist der Vemunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch
denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl als die Stelle der Teile unter-
einander a priori bestimmt wird.
„Der szientifische Vemunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des
Ganzen, das mit demselben kongruiert. Die Einheit des Zweckes, worauf sich alle
Teile und in der Idee desselben auch untereinander beziehen, macht, daß kein Teil
bei der Erkenntnis der übrigen vermißt werden kann und keine zufallige Hinzu-
System und Organismus 70
Setzen wir in den Wortlaut statt „Idee" den allgemeineren
Terminus „Dominante" ein und wandeln die weiteren Sätze dem-
gemäß ab, so gelangen wir zu dem „Kosmos'^, den wir soeben als
räumliche Ordnung von Körpern um ein Mal betrachtet haben.
Wir verstehen also unter einem System die Einheit der man-
nigfaltigen Teile unter einer Dominante. Dieser ist der Inbegriff
(oder Kraftmittelpunkt) von der Form des Ganzen, sofern durch
denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl als die Stellung
der Teile untereinander bestimmt wird.
Die Dominante oder der Inbegriff enthält also den Zweck imd
die Form des Ganzen, das mit demselben kongruiert. Die Einheit
des Zweckes, worauf sich alle Teile wie auch untereinander be-
ziehen, macht, daß kein Teil bei der Anschauung der übrigen ver-
mißt werden kann und daß keine zufallige Hinzusetzung oder un-
bestimmte Größe der Vollkommenheit, die nicht ihre a priori
bestimmten Grrenzen habe, stattfindet Das Ganze ist also ge-
* gliedert, (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio); es kann zwar
innerlich (per intus susceptionem), aber nicht äußerlich (per apposi-
tionem) wachsen.
Man sieht, in dieser letzten Bestimmung geht die simultane
Auffassung des Bestandes in die successive des Wachsens und
Entstehens über. Und tatsächlich folgt — aber nur fiir diesen
letzten Teil, wo es sich um die Art der Genesis handelt und wo
die Einverleibimg von innen her, d. h. organisches Wachstum,
der zufalligen oder willkürlichen Zutat von außen her, d. h. der
unmotivierten Vergrößerung, gegenübergestellt wird — auch
bei Kant der Vergleich mit dem „tierischen Körper, dessen
Wachstum kein Glied hinzusetzt, sondern ohne Veränderung der
Proportion ein jedes zu seinen Zwecken stärker und tüchtiger
macht".
Hier scheiden sich die Wege der Kristallisation in der un-
organischen Natur von der Organisation in Pflanzen- und Tier-
welt. Hier tritt also in das menschliche Kunstwerk auch die Mit-
bestimroimg der eigenen Natur als organisches Geschöpf, wie als
beseeltes Individuum imd als denkender Geist unwillkürlich und
Setzung oder unbestimmte Größe der Vollkommenheit, die nicht ihre a priori be-
stimmten Grenzen habe, stattfindet.
„Das Ganze ist also gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio); es
kann zwar innerlich (per intus susceptionem), aber nicht äußerlich (per appositionem)
wachsen."
8o VI. Die drei Gestaltungsprinzipien
selbsverständlich ein, solange nicht in bewußter Scheidung der
Stoffe und der Mittel eine Wahl zwischen dem einen oder dem
anderen Wege erfolgt, also verschiedene Künste sich eben darnach
unterscheiden. In der Ornamentik selber beobachten wir diesen
Prozeß der Differenzierung, der schon in der Wahl der simultanen
oder successiven Auffassung sich vorbereitet
Von der systematischen treten wir auf die Seite der gene-
tischen Betrachtungsweise hinüber, sowie wir neben dem System
eines Kristalles den Organismus eines Lebewesens ins Atige
fassen. Wir verstehen unter einem Organismus, könnte man sagen,
die Einheit der mannigfaltigen Teile eines von innen heraus ge-
wachsenen Körpers imter der Herrschaft einer Seele, die als Inbe-
griff des Ganzen (nach Aristoteles) auch die Form, d. h. sowohl den
Umfang des Mannigfaltigen als auch die Stellung der Glieder
untereinander bestimmt Aber wir ertappen uns bald auf der näm-
lichen Scheidung des festen Bestandes und der wechselnden Er-
scheinung, oder des inneren Baues (im Skelett) imd des beweg-
lichen Lebens. Wir brauchen von Organismus eigentlich keine
Definition, weil wir es selber sind. Wir verlangen darnach erst
auf den Grrenzgebieten gegen die unorganische Natur, die „tote".
Das charakteristische Unterscheidimgsmerkmal des Organismus
wäre wohl in seiner durch innere Zweckmäßigkeit hervorgebrachten
Selbsterhaltung zu suchen, wonach zwischen seinen Gliedern ein
solcher Zusammenhang waltet, daß die Erhaltung des einen von
der Erhaltimg des anderen abhängt Zu der gegenseitigen Er-
zeugung der Teile durch Assimilation äußerer Stoffe tritt beim
Organismus dann noch die Erzeugung ähnlicher Organismen in der
Fortpflanzung, imd damit erst sind wir an dem springenden Pimkt
der genetischen Erklärung, die hier allein ausreicht Denn, was
sagt uns die Definition des Organismus als „Naturganzes, worin
sämtliche Teile sich gegenseitig als Mittel imd Zweck verhalten« —
wenn wir es nicht selber im voraus wissen? Unsere Vorstellung
von Organismus beruft sich immer auf die eigene unmittelbare Er-
fahrung des Menschen, und unser deutsches Wort Lebewesen
sagt uns an dieser Stelle genug im Vergleich zu dem System des
Kristalles.
Kehren wir von diesem Vergleich, der uns einerseits zur
Architektur als Raumgestalterin, andererseits zur Plastik als Nach-
ahmung organischer Gestalten führen müßte, zurück zu der grund-
legenden Situation der zentralen Symmetrie um den Menschen
Massenkomposition ? gl
oder ein anderes „Mal" in der Mitte ihrer peripherischen Gebilde,
so erkennen wir in der Wechselbeziehung beider die relative Ge-
schlossenheit Die Ausstrahlung des Mals fuhrt auf das Einge-
schlossene zurück. In diesem periodischen Aus- und Einatmen be-
steht das eigene Leben, auch in starrer Konstellation. Denken wir
uns aber den Radien gemäß zwischen dem peripherischen Kranz
und dem Mal die ganze Kreisfläche ebenfalls mit zahlreichen
kleineren Elementen gefüllt, so hätten wir eine Erscheinimg vor
uns, die Alois Riegl neuerdings als Massenkomposition be-
zeichnet hat und wie einen allgemeinverständlichen Terminus ein-
zubürgern versucht. Er beruft sich dabei auf Gottfried Semper,
bei dem dieser Ausdruck jedoch schwerlich in dem Sinne Riegls
vorkommt (XXX ff.). Semper spricht wohl von der Massenver-
teilung der Aste, Zweige, Blätter, Blumen und Früchte, die sich
rings um den Stamm so ordnen, daß dem allseitigen Gleichgewicht
genügt sei, — und sieht das nämliche Gesetz natürlich da, wo der
Stamm fehlt, um die Vertikale, die den Schwerpunkt enthält, sich
erfüllen. Er spricht von „Massengleichgewicht" und „Massenbe-
dingung", „Massen wirkungf*^ tmd „Massen widerstand"; aber diese
Ausdrücke würden uns sicher nicht berechtigen, daraus den
Terminus „Massenkomposition" zu bilden, wenn dies nicht ähn-
liche G^staltungsprinzipien wie Massenverteilung oder Massen-
gleichgewicht bedeuten soll. Riegl meint aber eine Form der
vielachsigen planimetrischen Symmetrie, wie solche an den Schnee-
kristallen und Blumenkelchen, oder am Querschnitt einer Zitrone,
eines Baumstammes u. dgl. hervortritt, nur noch eine bestimmte
Modifikation derart, wie wir sie soeben charakterisiert haben. „Bei
diesen Gebilden der Natur", sagt Semper, „wirkt das Gesetz der
Autorität in der Verdichtung der Teile in der nächsten Um-
gebung des Mittelpunktes der regelmäßigen Figur, den sie um-
kreisen, umstrahlen, oder teils umkreisen, teils umstrahlen." Eine
genauere Bestimmung des Gemeinten finde ich nirgends in Zu-
sammenh£Lng mit dem Begriff der Masse.
Wie definiert aber Riegl seine „Massenkomposition"? „Die
Komposition mehrerer Einzelformen zu einer höheren Einheit" ^) —
„Zwischen die Grundebene und das Individuum wird eine Reihe
kleinerer Individuen eingeschoben, die das gfrößere wirksamer aus
I) Beilage zur Allg. Ztg. 1902 S. 154. Spätrömische Kunstindustrie S. 27 f.
vergl. 114, 141, 178.
Schmarsow, Kunstwissenschaft. 6
^2 ^ic clrci Gestaltungsprinzipien
der Ebene heraustreiben. — So entsteht ein eigener gemusterter
Grund» aus dem das dominierende Hauptglied (oder Mal) hervor-
springt" Das wird zunächst niemand unter diesem Ausdrucke
suchen: denn wir verstehen imter Masse vorzugsweise das kom-
pakte Material, das Ungegliederte, Ungeformte, das sich gerade
nicht in Einzelformen auseinanderlegt, also im Gegensatz zum selb-
ständig Hervortretenden. Der Masse zunächst stünden Ausdrücke
wie „Menge" und „Gemenge", die schon Bewegung suggerieren, ja
noch ein ^,Gewirr" der auftauchenden Gestaltungselemente, die sich
nicht klar zu Einheiten isolieren. Damit ist aber der durchwaltende
Gegensatz für die Gebilde der zentralen Symmetrie scharf be-
zeichnet: Einheit und Vielheit Soll zwischen dem Mal, der
Dominante des Ganzen, und der einschließenden Vielheit noch eine
Art Zwischenreich von gleichartigen Einzelformen eingeführt werden,
so hätten wir gewiß für diese Komposition einen Namen zu
wählen, der sie schärfer charakterisiert und von den äußersten
Extremen unterscheidet Gerade in dem „Zusammentreten der
beiden Momente, der vielheitlichen Reihe und des einheitlichen
Mals, zu einer Gesamtwirkimg*' besteht nach Semper das Interes-
sante der Erscheinung. „Das Mal als Reflex des einheitlichen
Beg^ffs" — sagt er — „gegenüber der Vielheit, die durch periphe-
risch rhythmische Reihung in sich eins wird und zugleich mächtig
zur Verstärkung der Autorität des Males beiträgt.** (XXXVIII)
Das stimmt mit der Meinung Riegls überein, aber nicht mit
seinem Ausdruck „Massenkomposition". Soll in dieser die bevor-
zugte Einzelform mit mehreren gleichartigen Formen zu einer
höheren Einheit zusammengeführt werden, indem auch solche sekim-
dären Formen sich einigermaßen isolieren, so kann diese Mehrzahl
noch nicht mit demselben Recht als Masse gelten, wie etwa die
Vielheit der peripherischen Gebilde als einheitlicher Rahmen zu-
sammengeht^) Es ist vielmehr ein KoUektivum von isolierten
Körpern oder etwa halbrund hervortretenden, vielleicht nur diu"ch
Farbenkontraste scharf abgesetzten Elementen. Da wir ,JCollektiv-
komposition" jedoch nicht gern einführen, wäre wohl Sammel-
komposition unter einer Dominante die zutreffende Bezeich-
i) Zwischen einer zählbaren Pluralität der subordinierten Einzelformen, einer
nicht mehr gezählten, aber vielleicht noch geordneten „Multiplizität" (Semper XXXIX)
und der Vielheit in Massenwirkung bestehen fühlbare Unterschiede. Vergl. weiter
unten die Bedeutung für die darstellenden Künste.
Sammelkomposition 83
nung.*) Die einschließende Masse der vielgliedrigen Reihung
ringsum kann durch einen einheitlichen Rahmen vertreten werden;
sie kann gelegentlich auch ganz fehlen, wo der Abschluß der
Wirkungssphäre schon durch die Form des Gnmdes gegeben ist.
i) Es handelt sich nicht um eine kompakte Masse, sondern um eine Ver-
sammlung oder gar um eine Gesamtheit von Einzelwerten, im Gegensatz zum
bevorzugten Hauptwert, also eher um eine Häufung, bei der immer noch die ein-
zelnen als solche erkennbar bleiben. Wieweit in dieser Coacervatio noch Articulatio
(Gliederung in kleinere Komplexe, Sphären, Zonen usw.) Platz greife, ist dann eine
weitere Frage.
6*
^ I
VIL
DIE DREI GESTALTUNGSPRINZIPIEN
RHYTHMUS
Der letzte Gegensatz in der zentralen Symmetrie um ein Mal
als eingerahmten Wert, und damit die Wirksamkeit einer solchen
Erscheinung, beruht nicht sowohl auf der begrifflichen Antithese
von Einheit und Vielheit, sondern auf dem lebendigen Kontrast
von Beharrung und Bewegung. Das Mal beharrt, während die
kreisende Schar sich bewegt. Durch sein festes aufrechtes Da-
stehen im bimten Wechsel der Umgebung wird es zur Dominante,
selbst im mannigfaltigsten Widerspiel zentrifugaler und zentripetaler
Bestrebungen, ja mitten im xmaufhörlichen Umlauf der wogenden
Menge. Das bevorzugte, als überragender Wert anerkannte Indi-
viduum beansprucht bleibende Bedeutung und erhält sie eben
durch die vorübergehende Wandelbarkeit des Reigentanzes. Die
transitorische Gültigkeit als ein Ereignis löst auch hier natürlich
die konstitutive Gültigkeit als System ab, sowie sich unsere Auf-
merksamkeit durch den Fluß der Bilder mit fortreißen läßt Und
dies geschieht vorzugsweise durch die Kreisform, die überall gleich-
mäßig weitergleitet und umschwingt, während die Einstellung we-
niger fester Punkte die Bewegung hemmt, die Verwandlung der
Kreissegmente in gerade Linien vollends das Ganze zum Stillstand
bringt, wie der Übergang vom Kreise zum Polygon und zum Qua-
drat uns sogleich fühlbar macht. Da steht das System fest
Folgen wir dem Zuge der Peripherie, so sind wir bald im
vollen Gange des Geschehens, mitten im Verlauf der Zeit, Was
alle verschiedenen Erscheinimgen der Symmetrie und Proportio-
nalität in dieser alternierenden Reihe verkettet, eben die Reihung,
die durchgehende Succession, bedingt nun abermals ein Gestaltungs-
prinzip, das der Bewegungseinheit gerecht zu werden vermag.
Schon an zwei Stellen vorher hätten wir es mit seinem vollen
Namen einführen können. Einmal, wo Semper sich mit dem Prin-
Rhythmus 85
zip der Richtung oder Direktion begnügte, aber in der Proportion
im Sinne der Bewegung oder der Willensrichtung eine besondere
Kategorie gegenüber der Proportion im Sinne der vertikalen Ge-
staltung anerkannte. Das andere Mal, wo wir den Übergang von
der Breitendiremtion in die Längenabmessung verfolgten, d. h. von
dem Nebeneinander zum Nacheinander und damit zum Prinzip der
Reihung gelangten. An dieser dritten Stelle, wo es sich um eine
geschlossene Aneinanderreihung mannigfaltig wechselnder Elemente
handelt, die im Kreislauf sozusagen in sich selber zurückkehrt, da
kommt auch Semper dem richtigen Namen ganz nahe, indem er
die geschlossene Symmetrie als „Eurhythmie" bezeichnet und von
„peripherisch rhythmischer Reihung** spricht. Bei jenem ersten,
von ihm selbst neu ausgelegten, aber vom Altertum überlieferten
Terminus können wir den Zusatzbestandteil vom als selbstver-
ständlich entbehren. Das Gestaltungsprinzip als solches kann im
Unterschied von Symmetrie und Proportionalität nur Rhythmus
heißen.^) Und wie der Proportionalität die erste Dimension des
Raumes zufallt, wo sie alle drei beieinander wohnen, der Symmetrie
die zweite, so ergreift der Rhythmus die dritte Dimension, die
Richtung in die Tiefe, als sein natürliches Erbteil. Aber dies
dritte Gestaltimgsprinzip hat ein Vorrecht vor den übrigen. Es
kann sich nicht allein, wie Symmetrie und Proportionalität mitein-
ander, seinerseits mit dieser oder jener verbinden, sondern es ver-
mag sie beide zusammen mit sich zu durchdringen, imd den festen
Bestand, den sie gewonnen, wieder in lebendiges Geschehen auf-
zulösen. Es vereinigt die beiden Gesetze durch ein drittes zur
höheren Einheit, die als Dominante des dynamischen Vollzuges
über alle anderen Mächte hinwegschreitet. Die Gesamtaufhahme
eines Kunstwerkes als Erlebnis ist sein Spielraum.
Auch dies Prinzip nimmt seinen Ursprung im Subjekt Wo
dem Menschen ein ungeschiedener Verlauf von Reizen zuströmt,
da reagiert er mit einer Forderung seiner inneren Organisation.
Schon Hermann Lotze hat die absolut einförmige Aufeinanderfolge
gleicher Zeitabschnitte als solchen Anlaß genannt Gegenüber der
quälenden Wirkung gleichmäßiger Schalleindrücke, die wohl nur
i) Vgl. Schmarsow, Über den Wert der Dimensionen im menschlichen Raum-
gebilde 1896. Berichte der KgL Ges. d. Wissenschaften S. 59. Weiteres in den Bei-
trägen zur Ästh. d. bildenden Künste 1896—99 z. B. I, 103 und zuletzt in den Vor-
trägen über unser Verhältnis zu den bildenden Künsten 1903, S. 112.
86 VII. Die drei Gestaltungsprinzipien
durch den Widerspruch zu der periodischen Innervation unseres Auf-
nahmeorgans erklärt werden kann, hilft sich unsere Naturanlage durch
unwillkürliches inneres Taktieren; das Individuum fuhrt eine sub-
jektive Rhythmisierung ein, d. h. eine nicht objektiv vorhandene,
sondern unversehens im Auftiahmeapparat entstehende, der darge-
botenen Reizfolge aufgenötigte Zerlegimg.*) Das Gebiet des Ge-
hörs scheint also zunächst die bevorzugte Sinnessphäre fiir den
Rhythmus zu sein, wie schon deren nahe Beziehung zu unserer zeit-
lichen Auffassung ergibt Wenn aber die Geburtsstätte des Rhyth-
mus, als einer Art Reflex Wirkung auf unangenehme Reizfolgen,
gerade im Bereich der unmittelbaren und mittelbaren Zeitvorstel-
lung gesucht wird, seine Wirksamkeit sich aber bis in die allge-
meinen psychischen Leistimgen hinein wie in die Ordnung succe-
dierender Empfindungen zu Vorstellungen verfolgen läßt, so begreift
sich ohne Schwierigkeit, wie die Reaktion dieses psychischen Be-
sitztums auch kräftig genug werden kann, auf andere unerträgliche
Reizwiederholungen mit der nämlichen Selbsthilfe zu antworten,
Sie befreit das aufnehmende Subjekt, indem es sein passives Ver-
halten mit der erforderlichen Dosis Aktivität durchsetzt Sie dient
zimächst wenigstens dazu, die Gesundheit zu erhalten und Unzu-
träglichkeiten auszuschalten. Aber die Reflexbewegung von innen
her wird bald und notwendig zu einer Willensbewegung und damit
zu einem produktiven Faktor, der die Gestaltung regelt und Gesetz-
mäßigkeit hervorbringt. Das zeigt uns sofort die Rhythmisierung
der Sprache, die jedes Individuum nach seiner individuellen Organi-
sation vollzieht, ursprünglich unbewußt, aber subjektiv, neben der
Nachahmung des von andern gehörten Rhythmus, dann immer
fühlbarer im Zusammenhang mit der spontanen Ausdrucksbewe-
gung und der Dynamik der seelischen Klräfte, endlich in vollem
Einklang mit der Natur des geistigen Inhalts. Wenn wir das in
der Sprechweise des einzelnen, ja in der Schreibart und dem
Stil beobachten, wieviel elementarer noch wird es der Fall
sein bei der unmittelbaren Ausdrucksbewegnng, in der Gebärden-
sprache wie in dem ursprünglichen Gebaren bei allem Tun und
Treiben 1 Haben wir damit erst die volle Energie der Reaktion in
Rechnung gesetzt, so begreift sich, daß gleich dem periodischen
Vorgang des Ein- und Ausatmens auch alle übrigen Prozesse der
i) Vgl. W. Finder, Einleitende Voruntersuchung zu einer Rhythmik romanischer
Innenräume. Leipziger Dissertation, Stud. z. Kstgesch. d. Auslands xxrv. Strafiburg 1904.
Rhythmus Qj
Machtaußerung unserer Seele von innen nach außen und damit
auch ihres Einflusses auf andere gleichorganisierte Wesen dem
nämlichen Gestaltungsprinzip unterliegen. Rhythmus ist subjektiv
aufgefaßt die Regel, objektiv anerkannt das Gesetz alles Kräfte-
spiels im Nacheinander.
Die Unterlage für die Betätigung des Rhythmus ist also der
Zeitverlauf in seiner absoluten Einförmigkeit, Ungeschiedenheit,
oder wie wir sonst sagen mögen. Die Zeit hat nur eine einzige
Ausdehnung, belehren uns die Psychologen, und die Laien, die es
lesen, stellen sich diese Dimension darnach wohl als gerade Linie
vor. Nichts aber wäre falscher als diese Veranschaulichung. Wir
können die Richtung der Zeit weder absehen, noch abtasten; denn
es existiert ja nur immer ein Zeitpunkt im strengsten Sinne des
Wortes. Ist da irgendein Vergleich erwünscht, so könnte nur
der mit dem Nadelöhr gewählt werden, durch den ein Faden läuft.
Dann existiert gerade der Pimkt, den wir nicht sehen, und die
beiden übrigen Enden, die wir sehen, existieren noch nicht oder
nicht mehr. Sie stellen Vergangenheit und Zukimft dar und müßten
in absteigender und aufsteigender Linie erscheinen, wollten wir
versinnlichen, wie schnell das bißchen lebhafter Erinnerung auf der
einen oder das bißchen Erwcirtung (Prädisposition) auf der anderen
Seite hinabsinken ins Dunkel. Die Gegenwart ist punktuell, ob-
wohl wir sie breiter vor uns auszumalen pflegen. Punkte wären
also auch die Elemente des Zeitverlaufs, die wir zur Verfügung
hätten für irgendwelche Unterscheidung. Das mag die Grundlage
bilden für die Abtragung von Gehörsempfindtmgen auf diesen Zeit-
verlauf, also für das künstlerische Verfahren der Musik, die wir
wohl als reine Zeitdarstellung anerkennen hören.
Hier aber, wo es sich um die bildenden Künste handelt, wäre
solch ein unmittelbarer Anschluß, wie gesagt, schwerlich zu emp-
fehlen. Viel eher könnte man von dem Gang des Menschen, als
größtem natürlichen Zeitmaß mittels des eigenen Körpers den An-
fang nehmen. So muß es auch bei der Architektur durchaus ge-
schehen; denn mit der Ortsbewegxmg kommt der Rhythmus von
vornherein in das Raumgebilde des Menschen. Solange wir jedoch
das dritte Gestaltungsprinzip zunächst wie die übrigen an der
Hand der Ornamentik erörtern, bleiben wir am besten in der
Mittelregion des Hantierens mit kleinen Körpern und anderen be-
quemen Mitteln, also bei der Tätigkeit imserer Hände und Finger,
sowie bei den Ausdrucksbewegungen im Bereich unseres Tast-
88 VII. Die drei Gestaltungsprinzipien
raumes. Die Übertragxmg des Verfahrens auf das Sehfeld bringt
dann schon eine entsprechende Verfeinerung mit sich, wie jeder
Übergang zum reinen Augenschein,
Wir kehren also nach diesen vorbereitenden Erwägungen zum
Verfolg unserer früheren Beispiele der Reihung zurück. Schon
beim Aneinanderreihen von drei unterschiedenen Elementen macht
Gottfried Semper auf den Unterschied der Aufnahmefähigkeit zwi-
schen Ohr und Auge aufmerksam. Die Gliederung der eurhythmi-
schen Figuren erfolge nach bestimmten Gesetzen der Wiederkehr,
mit Hebungen und Senkungen usw., aus deren Verkettimg die ge-
schlossene Figur entstehe. In dieser Beziehimg seien die musikali-
schen Figuren (Melodien) und die optischen den gleichen Gesetzen
unterworfen, nur daß das Ohr eine weit verwickeitere Ordnung zu
verfolgen und aufzulösen vermöge als dzis Auge. Damit sind auch
wir vollkommen einverstanden. Aber Semper geht in dieser Unter-
scheidung zu weit, wenn er sie auf die Bedingung des ruhigen
Schauens zurückführt, weil das Auge „in momentaner Anschauung
das Ganze in sich aufnehmen soll". Das hieße die simiütane Auf-
fassung als allein gültig gerade da einführen, wo es sich um suc-
cessive Auffassimg als herrschende Voraussetzung handelt Da
würden wir den Rhythmus mit der S5mimetrie verwechseln
oder zusammenwerfen, wie es Semper in der Tat damit ergangen
ist, und zugleich die Mitwirkung der Erinnerungsbilder, d. h. der
Vorstellung ausschließen, die gerade im zeitlichen Verlauf der
Sinnesempfindungen und deren psychischer Verarbeitung eine so
große Rolle spielt. Dann wären allerdings „bei optischen Figuren
kaum mehr als drei Modifikationen der Gliedenmg gestattet", wie
Semper meint, ja nicht einmal diese; denn wir haben festgestellt,
wieviel verschiedene Tätigkeiten schon bei der Aufnahme einer
alternierenden Anordnung oder der einfachsten Nebeneinanderstel-
lung stattfinden. Auch hier ist festzuhalten, daß unser Sehen immer
zwischen dem ruhigen Standpunkt für zusammenfassendes Schauen
und dem beweglichen Schweifen des Blickes abwechselt. Handelt
es sich in der Reihung doch immer um das Festhalten eines Fixa-
tionspunktes und das Durchverfolgen desselben in einer Richtung.
Die Bewegung aber ist hier die Hauptsache, wie es bei der Sym-
metrie der feste Standpunkt war. Im Rhythmus ist das Transito-
rische der Aufzug und die Hemmungen dieses Verlaufes nur der
Einschlag im Gewebe; aber auch dieses Gleichnis darf nur im Voll-
zuge der Arbeit vorgestellt werden.
Reibung und Gruppierung 89
Wollen wir aus der Auffassung der letzt betrachteten Gruppe
abcba vom festen Standpunkt vor c herauskommen, nachdem wir die
erste Diremtion von b bis b und dann die zweite von a bis a voll-
zogen haben und von außen wieder nach innen bis zur Mitte zurück-
gekehrt sind, so müssen wir, wie gesagt ward, das dritte Element
wiederkehren lassen, um die festgewordene Aufstellung der Glieder
abermals in Fluß zu bringen. Ein anderes Mittel, der Erstarrung
vorzubeugen, liegt darin, das erste Glied vor jedem anderen ein-
zuschalten, so daß die Reihe abacabaca usw. gleichmäßig fortläuft;
denn damit haben wir die Ökonomie auf zwei Gradunterschiede
zurückgeführt, die fortlaufenden Gleichen (a) und die alternierenden
Ungleichen (bc). Die ersteren bilden dann gleichsam den Leitfaden,
auf dem sich die regelmäßige Abwechslung der beiden anderen abhebt.
Meinten wir diesem Prinzip gemäß die gleichfließende Bewe-
gimg noch sicherer erhalten zu können, indem wir die Wiederkehr
des durchlaufenden Gliedes verdoppeln, also: aabaacaabaaca usw.
aufreihen, so stoßen wir auf einen ganz anderen als den erwarteten
Erfolg. Das erste abweichende Element b veranlaßt uns zuerst,
seine Nachbarn a als wiederkehrende Trabanten ihm unterzuordnen,
also die Gruppe aba auszuheben. Ahnlich ereignet es sich, wenn
das neue abweichende Element c ins Auge fällt mit aca. Erprobten
wir aber die Kraft dieser Accente, ob sie ausreichen, auch das
zweite Paar a — a heranzuziehen und festzuhalten, so ergäbe sich
gerade ein Widerspruch zur gleichmäßigen Reihung als Grund-
prinzip; wir würden durch die Gruppienmg den Verlauf periodisch
auseinanderreißen, indem wir ablesen: a — aba — aca — aba — aca [oder
aber aabaa — c — aabaa, bzw. aab — aacaa — baa versuchen, oder end-
lich die gleichen Glieder erst zu b, dann zu c heranziehen, also als
gemeinsam auffassen und damit wieder durch das folgende c in die
Brüche kommen]. Es trifft also der kritische Punkt, den wir auf
die Reihe applizieren, einmal mit dem stärkeren Element b zu-
sammen, andermals mit dem ebenfalls stärkeren Element c, da^
zwischen aber in die Mitte zwischen a und a, wo kein objektiver
Sinneseindruck vorhanden ist, sondern der neutrale Intervall, der
die gleichen Elemente als Einheiten isoliert. Die Erwartung, hier
auch, wie bei b, einen Widerstand zu finden, macht die einfache
Trennung als Lücke fühlbar. Die Zusammenfassung der benach-
barten gleichen Elemente mit den stärkeren nach links und rechts
verwandelt die Lücke in eine klaffende Diremtion, und steigert die
Scheidung zweier Gruppen zu dem Gegensatz zwischen Endglied
QO VII. Die drei Gestaltungsprinzipien
der ersten und Anfangsglied der folgenden. Noch deutlicher wird
dieser Unterschied zwischen einer positiven (mit sinnlichen 2^ichen
gefüllten) und einer negativen (unbezeichnet oder neutral gelassenen)
Einsatzstelle unserer Aufmerksamkeit, wenn wir zu der einfach alter-
nierenden Reihe zurückkehren und hier das erste Glied verdoppeln:
abaabaabaaba wird unmittelbar: aba — aba — aba — aba, sobald die Wie-
derholungen in ihrem Verhältnis erfaßt sind. Nur mit Intervallen
dagegen gliedert sich die Reihe, wenn wir auch b verdoppeln:
abbaabbaabba. Doch auch hier macht sich zwischen den wiederkehren-
den Einsatzpimkten ein Wertunterschied geltend, der sich nach der
Kraft der benachbarten Elemente bemißt. Zwischen a und b oder b
und a erfolgt die Abschiebung der Ungleichen als unbefriedigendes
Ergebnis des Vergleichs, das als solches weiterdrängt; zwischen a und
a, b und b dagegen die Anerkennung der Gleichheit als befriedigendes
Ergebnis, das als solches beruhigt. Ist aber b das stärkere Element,
dann wird dieser Intervall des Ausruhens zur Zentralstelle, um mittels
b links und b rechts auch die benachbarten beiden schwächeren a — a
heranzuziehen. Und mit dieser Gruppierung tritt die Auseinander-
reißung zwischen dem benachbarten Paar aa ein, oder der Versuch,
das zweite a erst noch heranzuziehen, bis wieder bb seine stärkere
Attraktion bewährt und hier Repulsion als das befriedigende Mittel
fahlbar macht, so daß dieses schon bei der nächsten Wiederkehr ohne
weiteres gewählt wird. Das heißt: die positiven Intervalle zwischen
bb und die negativen zwischen aa wechseln ab. Ein Intervall ist
zur Dominante geworden, der andere zur entsprechenden Ni ete.
Halten wir aber den Charakter der successiven Auffassung als
den durchgehenden fest, so behalten auch diese Gruppierungen,
diese Dominanten und diese Nieten keinen dauernden Bestand, son-
dern unterliegen alle wieder dem fortlaufenden Flusse des Ganzen.
Sie wirken nur als Gliederungsmomente innerhalb der Reihe, so
daß wir sie richtiger gar nicht als Gruppen anerkennen, d. h. nicht
als bleibende Synthesen, sondern nur als vorübergehende Asso-
ziationen oder Komplikationen, wie sie denn auch ihrerseits wieder
als Reihen oder Perioden bezeichnet werden. Damit ist ausge-
sprochen, daß wir es mit lauter Erscheinungen des rhythmischen
Gestaltungsprinzips zu tun haben. Untersuchen wir die Reihen-
gebilde oder Perioden jedoch näher auf die Zusammensetzung der
Faktoren und fragen, was die vermeintlichen Gruppen verbindet
und gegeneinander abgrenzt, so erkennen wir die Wirksamkeit der
nämlichen beiden Gestaltungsprinzipien, die wir vorher betrachtet
Dynamik des Rhythmus qi
haben, Symmetrie und Proportionalität, wieder, nur beide in das
flüssige Medium der zeitlichen Abfolge hineingesetzt und durch
die herrschende Bewegungsrichtimg mit fortgerissen, oder nach dem
Anlauf zum Simultanen wieder aufgelost ins Successive. Sie aber
sind es, die Abwechslung und Kontrastwirkungen in den gleich-
mäßigen Verlauf hineinbringen, indem sie durch Spannimg und
Lösung, durch Widerstand und Wetteifer erst der überlegenen
Macht des Vollzuges die Gelegenheit gewähren, die ganze dieser
allein zu Gebote stehende Dynamik zu erproben. Proportionalität
der Kräfte trat uns in der Wirkungssphäre der Dominanten ent-
gegen, die symmetrische Glieder an sich heranzogen und damit zu
einem Stillstand brachten, der zugleich einen Höhepunkt bedeutete,
Symmetrie der koordinierten Glieder erschien als Grundlage des
regelmäßigen Verlaufes, wurde jedoch unerwartet zum negativen
Intervall der Bewegung und entwickelte sich wohl gar zum Gegen-
pol zwischen den Machtsphären zweier Dominanten; aber nur, um
bei der Wiederkehr der nämlichen Konstellation den entschiedenen
Sieg der Bewegung über jeden Versuch der Beharrung zu erreichen.
Ebendiese Mitbeteiligung der Symmetrie und Proportionalität
als Bestandteile der rhythmischen Komposition, die über sie beide
hingreift, ihre eigene Dynamik durchzusetzen, wie der entfesselte
Strom des Gebirgswassers entwurzelte Baumstämme und weg-
gespültes Geröll mit sich daherwälzt, — ebendiese Großartigkeit
der eigensten Natur des Rhythmus hat dazu verleitet, ihn nur da
anzuerkennen, wo er im kleinen auftritt und ihn womöglich mit
den Gestaltimgsprinzipien der Flächendimensionen allein zu ver-
wechseln, als wäre im Bündnis mit jenen sein Wesen erschöpft.
Dieser ungenügend entwickelten Rolle begegnen wir in den Vor-
stellimgen Riegls, der schon die Symmetrie auf die Ebene be-
schränken wollte und die Tiefe nur als Beeinträchtigung ihrer
vollen Gültigkeit ansah. Er definiert den Rhythmus nicht eben
glücklich in gedrängter Kürze und Häufung der Ausdrücke als:
„die reihenweise Wiederholung gleicher Erscheinungen" und hebt
als Wirkung dieses Kimstmittels hervor, „dem Beschauer die Zu-
sammengehörigkeit der jeweiligen Teile zu einem individuellen
Einheitsganzen tmmittelbar überzeugend klarzumachen", aber auch
„wo mehrere Individuen zusammentreten, daraus eine höhere
Einheit zu gestalten.*) „Der Rhythmus ist aber," fugt er erklärend
hinzu, „sofern er dem Beschauer unmittelbar evident erscheinen soll,
i) Spätrömische Kunstindustrie S. 209 f.
Q2 VII. Die drei Gestaltungsprinzipien
notwendig an die Ebene gebunden. Es gibt einen Rhythmus
aus Elementen nebeneinander und übereinander, aber nicht hinterein-
ander; in letzterem Falle würden die Einzelformen und -teile einander
decken und sich damit der immittelbaren sinnlichen Wahrnehmung
des Beschauers entziehen. Infolgedessen ist eine Kunst, welche
Einheiten in rhythmischer Komposition vorfahren will, gezwungen,
in der Ebene zu komponieren und den Tiefraum zu vermeiden."
Sonach wird hier der Versuch gemacht, den Rhythmus gleicher-
maßen in die Ebene zu bannen, wie die Symmetrie vorher, wenn
auch zunächst unter der Voraussetzung der besonderen Absicht,
daß er dem Beschauer unmittelbar evident erscheinen solle, doch
schließlich ganz unbedingt mit der Behauptung, es gebe keinen
Rhythmus aus Elementen hintereinander. Dagegen müssen sich
schon von vornherein die stärksten Bedenken regen, wenn man
sich einmal die Natur des Rhythmus klargemacht und als deren
grundlegende Eigenart das Nacheinander, die successive Aufnahme,
d. h. das Hintereinander wenigstens in der Zeit erkannt hat. Stellt
sich da nicht das Hintereinander auch im Räume nur als not-
wendige Konsequenz von selber ein? Bevor wir uns darüber
entscheiden, gilt es jedoch etwas näher zu prüfen, welche Erschei-
nungen Riegl eigentlich im Auge hat und welche Gestaltungs-
momente hier als Rhythmus eingeführt werden. Er geht offenbar
von der Voraussetzimg eines festen Standpunktes fiir das ruhige
Schauen aus. Nur diese Situation erklärt die Annahme, daß die
Einzelformen und Teile, die im Räume hintereinander liegen, ein-
ander decken müssen und damit der unmittelbaren sinnlichen Wahr-
nehmung des Beschauers teilweise entzogen werden. Ein solcher
fester Standpunkt für optische Aufnahme eines Ganzen, also gegen-
über imserem Sehfeld hat aber, abgesehen von bestimmten Kunst-
gattungen, wie Malerei imd Relief, immer nur relative Gültigkeit
Davon kann hier noch nicht die Rede sein; es kommt vorerst nur
auf die allgemeingültigen, auch in der Ornamentik geläufigen Bedin-
gungen fiir das Gestaltungsprinzip an. Sowie wir aber den Rhyth-
mus aus Elementen übereinander bestehend denken, die Riegl
zuläßt, merken wir, daß auch bei ihm die Deckung oder Ober-
schneidung der Formen und Einzelbestandteile derselben eintreten
kann, sowie wir den Schmuck über unseren Häuptern emgebracht
vorstellen. Auch da verbindet sich das Hintereinander für das
Sehen mit dem Übereinander im Räume. Der Fall ist also wieder
ausgeschlossen. Das heißt: Riegl postuliert Ebenkompositionen, in
Flächenkomposition oder Tiefenkomposition 03
denen die Elemente nur übereinander gereiht werden können, weil
sie sich nicht überschneiden und teilweise verdecken dürfen. Da-
mit ist auch für den Rhythmus aus Elementen nebeneinander
dieselbe Einschränkung der Komposition auf einzeln aneinander
gereihte Objekte beschränkt Die Forderung, der Rhjrthmus solle
dem Beschauer unmittelbar evident erscheinen, sich ausschließlich
der direkten sinnlichen Wahrnehmung darbieten, postuliert die
Ebene; aber nicht umgekehrt, wie Riegl meint, postuliert der
Rhythmus die Ebene. Es ist nur ein Spezialfall, kein allgemeines
Gesetz dieses Gestaltungsprinzipes.
Und gehen wir einmal auf diese Bedingung ein, nehmen die
Ebene als gegebenes, wenn auch von ganz anderen Motiven des
Kunstwollens verlangtes Substrat an, und verfolgen auf ihr die
Erscheinimgen des Rhythmus aus Elementen nebeneinander und
übereinander. Was haben wir dann als Möglichkeiten in die
Rechnung zu setzen? Nur die Flächendimensionen, Höhe und
Breite, also die Senkrechte, die Wagrechte und eine etwaige aus-
gleichende Richtung zwischen beiden, die wir summarisch als
Diagonalen bezeichnen mögen. Da ergeben sich als Möglichkeiten
Erscheinungen der Symmetrie im Nebeneinander, der Proportio-
nalität im Übereinander und eine Verbindimg beider Momente,
besonders auch in den Diagonalen. Sollen wir spezifische Äuße-
rungen des Rhythmus aufnehmen, so müssen wir statt der Sym-
metrie die Reihung, statt der Proportionalität als festgewordenes
Ergebnis an der Wachstumsachse ebenfalls die Aneinanderreihung
von unten nach oben in transitorischer Bewegung zu fassen suchen,
d. h. die successive Anschauung walten lassen und zusehen, was
ihr entspricht.*) Und da kommt es zur Entscheidung: entweder
bringt die Erscheinung objektiv den Eindruck des Nacheinander
auf uns hervor, oder enthält wenigstens die Aufforderung, subjektiv
solcher Aufnahme entgegenzukommen, indem wir uns an der Ebene
entlang bewegen. Dann verwandeln wir die Breite in die Länge
und ziehen die Höhenachsen in diese Succession hinein, so daß die
Diagonalrichtung sich als natürlicher Ausgleich der Vertikalen und
Horizontalen ergibt. Im ersten Falle wird für unsere Vorstellung,
i) „War der klassische Rhythmus ein solcher des Kontrastes (Dreieckkonipo-
sition) gewesen, so wird der spätrömische ein solcher der gleichförmigen Reihung
(Viereckkomposition). Er mußte nun nicht mehr auf Gliederung und Abwechslung,
die immer verbindend wirken, sondern auf Vereinfachung und Kommassierung be-
dacht sein" (a. a, O. 210).
QA VII. Die drei Gestaltungsprinzipien
im zweiten Falle wirklich für unseren Körper die Ebene aus ihrer
ursprünglichen Stellung als aufrechte Wand vor uns herausgehoben
und seitlich zu uns, das heißt als Wand links oder rechts von un-
serem Körper in die Richtung parallel zu unserer Bewegnngsachse
übertragen. Wir sehen an ihr entlang oder schreiten an ihr entlang
von einem Ende zum anderen: es ist eine Längswand im Räume, der
uns umgibt. Die Einzelformen oder Teile, die wir verfolgen, sei es
mit dem Blick oder gar mit der tastenden Hand, liegen in der Quer-
ebene, die durch unsere Schultern oder durch unser Augenpaar gelegt
erscheint, wenn wir sie mit unserer Ortsbewegung sozusagen Schritt
für Schritt mit uns vorwärtsschieben durch den Raum hin. Das aber
ist die Situation für das Hintereinander, wie unter den natürlichen
Bedingungen unseres Verkehrs mit den Dingen alle Erscheinungen
an uns herankommen oder umgekehrt alles zuerst nur aus der Feme
als reiner Augenschem Wahrgenommene alhnählich von unseren
Tastorganen mit erreicht wird und sich ins Körperhafte, ja, wie wir
bezeichnend sagen, ins Leibhaftige verwandelt, das auf Druck und
Stoß, in Wärme oder Kälte, seine Undurchdringlichkeit und Ab-
geschlossenheit, seine kristallinische Starrheit oder sein organisches
Leben bewährt.
Streifen wir alle Vorurteile der privilegierten optischen Sinnes-
wahmehmung ab, so verdanken wir dieser tastbaren Bewährung
der Körper nebeneinander, übereinander, gaxxz besonders aber
hintereinander die stärkste Oberzeugung, mit ihnen dazusein und
zwischen ihnen zu leben. Das ist der eigentlich bevorzugte Spiel-
raum für den Rhythmus. Und hier stehen auch die Ebenen, in
denen die Gestaltungsprinzipien der Symmetrie oder der Proportio-
nalität getrennt oder verbunden miteinander auftreten können, in
mannigfaltiger Stellung zu uns: wir können sie durch unseren
Körper gelegt auffassen nach links und rechts, nach vom und
hinten, oder unter ihm, über ihm als wagrechte, d. h. als Fußboden
oder Decke; wir können sie diesen Körperebenen parallel außer
uns hinstellen, in nahem oder weitem Abstand, soweit unsere Hände
reichen, wir können sie endlich weiter abschieben, daß wir sie nicht
mehr berühren, sondern nur noch mit dem Blick zu erreichen ver-
mögen. Es ist die räumliche Auseinandersetzung im Verfolg der
dritten Dimension als Richtungsachse unserer Bewegung imd un-
seres Willens, also auch die ursprünglichste und die durchgreifendste
Betätigung unseres Kunstwollens, die wir vollziehen. An diesem
Leitfaden aber ergeht sich der Rhythmus zur Eroberung seiner
Linienrhythmus ge
eigensten Domäne und drängt von der Ornamentik mid der mimi-
schen Ansdrucksbewegung zur Tektonik und Architektur.
Gehen wir jedoch, um Riegls Aufstellungen völlig gerecht zu
werden, auch die zahlreichen anderen Stellen seines Buches durch,
in denen vom Rhythmus an sich oder von rhjrthmischen Erschei-
nungen bei Gelegenheit einmal die Rede ist! Doch lassen wir
geflissentlich alle diejenigen außer Betracht, wo nur die figürliche
Darstellung gemeint ist, und bei Erscheinungen der organischen
Geschöpfe stets die Verquickung des Rhythmus mit der Proportio-
nalität vorliegen kann oder tatsächlich zu einer Verwechslung beider
Gestaltungsprinzipien verleitet. Für imsere grundlegende Erörterung
hier ist dagegen besonders wichtig die ausgesprochene Unterschei-
dung des Linienrhythmus und des Farbenrhythmus, wenn auch bei
letzterem Ausdruck sogleich hinzugefügt werden muß, daß damit
etwas anderes gemeint ist, als wir darunter verstehen würden, daß
dieser Name für die damit belegte Sache nicht eingebürgert werden
darf, sondern den wirklich ihm entsprechenden Erscheinungen vor-
behalten bleiben muß.
Linienrhythmus charakterisiert Riegl als „Ausdruck der
kristallinischen Gesetzlichkeit aller stofflichen Form" (a. a. O. 79
vgl. 210). Da ergibt sich von selbst, daß eine zweite Klasse von
Linienrhythmus hinzugehört, in der es sich um organische Geschöpfe
handelt, deren „rhythmische Gliederung in den Umrissen" (S. 74)
uns in die lebendige Beweglichkeit des Gewächses überleitet Auf
dem Linienrhythmus „beruht die antike Ebenkomposition aus Ver-
tikalen und Horizontalen, von wenigen schwachen Diagonalen unter-
brochen". „Rhythmisch verbindende Diagonalen" sind ein wichtiges
Hilfsmittel (S. 90). Im Rhythmus der Linien innerhalb der Ebene
sucht der antike Künstler die Einheit seines Kunstwerkes (S. 60).
Prüft man diese Bezeichnimgen näher im Vergleich mit den
Tatsachen, die zugrunde liegen, so führt der Verfolg des Gemein-
samen, das den Namen Rhjrthmus rechtfertigen würde, nämlich der
fortlaufenden Bewegung, gerade zu einem fühlbaren Unterschied.
Im abtastenden Sehen der Unuisse einer organischen Gestalt liegt
das Charakteristische in dem fließenden Übergleiten aus einer Rich-
tung in die andere; die Bewegung vollzieht sich in Hebungen imd
Senkungen, wie eine Wellenlinie oder ein Rankenzug. Wo aber
gerade Linien in scharfen Winkeln aufeinanderstoßen, die Senk-
rechte in die Wagrechte, die Horizontale wieder in die Vertikale
umspringt, oder Reihen von Höhenloten nebeneinander stehen, von
q6 VII. Die drei Gestaltungsprinzipien
wenigen Diagonalen »»durchbrochen'', da fehlt gerade der kontinuier-
liche Fluß der Bewegung, die Linien setzen sich scharf gegenein-
ander, die Richtungen stofien hart zusammen. Und wir kommen
zu diesen Ausdrücken eben durch den mißglückenden Versuch,
unsere Blickbahn der Erscheinung anzubequemen, unsere Tastbewe-
gnngen an den Linien entlang so durchzuleiten, wie es imseren
Organen mit ihrer schmiegsamen Muskulatur entspräche. Wir fühlen
uns abgestoßen durch den ruckweis erfolgenden Wechsel der Rich-
tung, durch die starre unbeugsame Härte der kristallinischen Gresetz-
lichkeit. Da ist keine Bewegung, sondern Beharrung, fester Bestand
der fremden StoflFlichkeit, die wir als kalt empfinden, noch ehe wir
sie berühren. Kristallinische Körper und Richtungsgegensätze ge-
rader Linien sind fiir uns Menschen der Ausdruck anderer Gresetze
als die im organischen Gewächs, im geschwungenen Umriß ge-
wohnten Hausgesetze des eigenen Leibes. Die scharfe Kante des
Würfels wirkt wie ein Taktschlag; aber bis zum nächsten ist kein
Wechsel, sondern einförmiger Verlauf. Ein Ruck und die Seite ist
da. Kein Übergang, sondern Gegensatz: Stillstand.^)
Als Beispiel stelle man sich ein lapidares N und ein geschrie-
benes SZ zusammen, nur dieses zeigt fließende Bewegung, also
Linienrhythmus, jenes Gesetzlichkeit im Stillstand, wie der kristal-
linische Stein.
Daneben aber gibt es wirklich eine andere Art von Rhythmus,
die Riegl „Farbenrhythmus" nennt, als wäre dieser Terminus
geläufig für die Erscheinungen, die er beobachtet hat. Zwischen
den stärker abgerundeten Einzelformen eines Reliefs entstanden,
wie er beschreibt, Intervalle, „deren Tiefe niemals so beträchtlich
war, daß dadurch die Wirkung des an die Ebene gebundenen
Rhythmus in Frage gestellt worden wäre, doch hinreichend, diese
Intervalle mehr oder minder mit dunklem Schatten zu erfüllen, die
mit den vorspringenden hellen Einzelformen dazwischen einen farbi-
gen Rhythmus von Licht und Schatten, Schwarz und Weiß ergeben"
(a. a. O. 210). Dieser Rhythmus von Licht und Schatten (60) oder
i) Ähnliche Verwechslung liegt bei Billroth in dem Aufsatz „Wer ist musika-
lisch?" vor (Deutsche Rundschau Okt. 1894, Sept. 1895), wo von „ruhendem Rhyth-
mus" geredet wird, auf Grund der „Vorstellung von Gleichgewicht". Vgl.
Pinder a. a. O. S. 4. In poetischer Ausdrucksweise könnten wir vom „schlunmiem-
den" Rhythmus reden, der jeden Augenblick erwachen oder erweckt werden kann,
aber sicher nur auf Grund der Vorstellung von lebendiger Gravitation, Bewegungs-
möglichkeit, Atmung.
Helldunkelrhythmud 07
»rhythmische Wechsel von belichteten und beschatteten Teilflächen**
(127) oder „Verteilung von Hell und Dunkel" (77, 174 und passim) ist
nun aber von ganz anderer Natur als der Rhythmus der Linien in der
Fläche. Er beruht zunächst auf rein optischen Sinneseindrücken.
Diese verbinden sich aber sozusagen durch Resonanz mit haptischen
Empfindungen des Unterschieds von Nah und Fern. Licht und
Schatten, Hell und Dunkel sind die beiden Kontraste, mit denen
er zustande kommt In welcher Richtimg aber wirken diese Po-
tenzen auf uns ein? Nun, selbstverständlich im Nebeneinander oder
Übereinander, wird die erste Antwort lauten: wie bei Weiß und
Schwarz, die in eingelegter Steinarbeit etwa in ebenflächigem
Grunde dastehen und in einer Oberfläche liegen. Aber schon hier
dürfen wir uns nicht durch das faktische Verhältnis des Materials,
das sich in einer Ebene ausbreitet, täuschen lassen. Wenn unsere
Tastorgane hier ebenflächige Ausdehnung als gemeinsames Merkmal
feststellen, so ist diese Eigenschaft des materiellen Substrats nicht
mehr entscheidend, sowie wir aus Tastnähe in Sehweite abrücken.
Optisch verhalten sich Schwarz und Weiß ganz anders, — wie
feindliche Brüder. Die optischen Potenzen dieser Gegensätze sind
so stark, daß sie nicht in einer Ebene bleiben, es sei denn, daß
die eine von ihnen absolut dominiert, wie der weiße Marmor bei
einem Relief mit ganz flachen Schattenfurchen. Weiß springt vor,
sagen wir; Schwarz tritt zurück. Das heißt: sie bewegen sich
gegeneinander, von hinten nach vom und von vom nach hinten zu.
Die Dynamik spielt sich ab nicht in der materiellen, noch in der
mathematischen Ebene, sondern nimmt auch die erste Raumschicht
vor dieser mit in Anspruch. Weiß springt in die Augen, Schwarz
vertieft sich, zieht sich zurück, scheint eine Raumleere im Vergleich
zu jenem. Wenn man auch hier noch die Bezeichnung „in der
Ebene" beibehält, so ist das eine Fiktion.*) Vollends wird es fühlbar,
wenn das Weiß sich mit dem Vortreten plastisch ausgerundeter
Formen verbindet, die ims Körpervorstellungen erwecken, während
das Schwarz als wirkliche Raumleere — in den Intervallen da-
zwischen auftritt. Selbst wenn wir uns von dem Relief mittels
einer durchsichtigen Glasplatte absperren, d. h. die Grenzebene
herstellen, so dxu-chdringt die kontrastierende Energie von Weiß
und Schwarz noch diese gläserne Scheidewand und demonstriert
i) Das gesteht sich auch Riegl selbst stillschweigend ein, wenn er oben (210)
von der relativen Tiefe der Intervalle sagt, sie sei nicht zu beträchtlich usw.
Schmariow, Konstwissenschaft. 7
q8 VII. Die drei Gestaltungsprinzipien
uns ad oculos, dafi sie nicht allein in der „'Ebene" existiert, sondern
auch in dem Vordergrund zwischen der Platte und uns. Die Weite
dieses Abstandes einerseits, sowie die Stärke oder Schwäche der
Erhebung andererseits machen selbstverständlich Unterschiede fühl-
bar, wie wir Flachrelief und Hochrelief zu bestimmen pflegen. Aber
wenn man uns zumuten will, der Rhjrthmus sei an die Ebene ge-
bunden, er könne sich nur im Nebeneinander oder im Übereinander,
nicht aber im Hintereinander vollziehen, so müssen wir schon mehr
als ein Auge zudrücken.
Hier wird wirklich eine Dynamik ausgelost, und deren Bewe-
gung erfüllt ein Raumvolumen; ihre durchgehende Richtung ist
die Tiefenachse vom Betrachter bis auf die Grrundfläche, wenn wir
vom Subjekt ausgehen, von der Grundfläche bis zum Betrachter,
wenn wir vom Objekt her rechnen, aber natürlich sind infolge. der
Abstufung zwischen Hebungen und Senkungen auch alle übrigen
Richtungen, in die Höhe imd die Breite wie in den vermittelnden
Diagonalen, erreichbar, im ganzen Spielraum dieser Distanzschicht.
Die Modulationen dieser Bewegung, die periodische Wiederkehr
der Gliederungen, die Zäsuren und Kadenzen in dem kontinuier-
lichen Verlauf, sie sind es, die den Ausdruck ,3Jiythmus" für das
Gestaltungsprinzip auch hier rechtfertigen.
Dagegen regt sich mit diesem Einblick in das Wesen der
Erscheinung auch der Einspruch gegen die Bezeichnung dieses
Helldunkelrhythmus als Farbenrhjrthmus, die Riegl wie selbstver-
ständlich gebraucht. Licht und Schatten sind keine Farben, son-
dem Intensitätswerte, wie ein positiver und ein negativer Pol, die
gleich zwei entgegenwirkenden Kräften für unsere Sinne den Ein-
druck einer Gegenbewegung, eines Kontrastes und Ausgleichs
zur Harmonie hervorbringen. Das Helle flutet uns entgegen, das
Dunkel ebbt von uns weg. Ihr rhythmisch gegliedertes Gewoge
verfolgen wir mit Genuß. Nicht jeder Wechsel von Licht und
Schatten braucht rhythmisch abgestuft zu sein, oder ims rhythmisch
anzumuten, wie Riegl an zahlreichen Stellen vorauszusetzen scheint
Die Berechtigung dieses Beiwortes wäre von Fall zu Fall zu
prüfen.*) Wenn aber die Bezeichnung „farbiger Rhjrthmus" dafür
eintritt, so können wir nicht mehr mitgehen. Die Verwechslung
i) Vgl. z. B. S. 50, 127, 154, 174 f. Es wird immer gefragt werden müssen,
wie weit die Rhythmisierung nur vom aufnehmenden Subjekte ausgeht, oder wie
weit sie durch die künstlerische Behandlung objektiv gegeben ist. Was sollen wir
z. B. von „flimmernden" Erscheinungen sagen?
Helldunkelrhythmus go
mit Farben kommt nur durch die Gleichsetzung von Hell und
Dunkel mit Weiß und Schwarz in die Rechnung hinein.^) Weißes
Pigment und schwarzes Pigment auf der Malfläche sind doch etwas
ganz anderes als Licht imd Schatten im Raum, wenn jene in der
Malerei auch dieses bedeuten können.
Das fuhrt uns zu einer Erörterung der technischen Hilfsmittel,
zur Wahl der verfügbaren Sinnesreize, mit denen die Gestaltungs-
prinzipien, Symmetrie, Proportionalität und Rhythmus, allesamt zu
wirtschaften haben. Wir mußten die Klärung der Grundbegriffe
aus diesem Gebiet schon lange genug für die entscheidende Stelle
aufsparen, an der wir jetzt angekommen sind.
i) Aber Riegl nennt vollkommen bewußt „HeU und Dunkel" — „diese Farben-
werte" a. a. O. S. 50. Dagegen steht S. 38 ganz richtig: „War die Kompositions-
einheit der klassischen Kunst im Linienrhythmus gelegen, so ruht sie jetzt (in der
spätrömischen) im Licht- und Schattenrhythmus" ; dann kommt wieder die Täuschung
im Zusatz: „der sich naturgemäß gleich dem ersteren noch immer in der Ebene,
nicht aber in dem (ihm unzugänglichen) Räume entfaltet."
7*
vm.
HERSTELLUNGSMITTEL
KÖRPER — GRUND UND MUSTER — FORM — RELIEF — UMRISS
Wer einen Wert auszeichnen und für sich oder andere Mit-
menschen hervorheben will, der greift selbstverständlich zuerst
nach fertigen Naturdingen, die sich dazu eignen. Und sie eignen
sich zu diesem Zweck nur, wenn sie sich hinreichend von jenem
Wert imterscheiden. Haben wir uns das bereits ausgesprochen, so
ist damit doch ein Weiteres gewonnen, das uns nun angeht: diese
fertig vorgefundenen Naturdinge sind die ersten Mittel zur An-
wendimg der soeben erörterten Prinzipien alles Gestaltens, und
diese ursprünglichsten Mittel sind Körper, gleichwie die ersten
anerkannten Werte auch.
Sowie wir sie in die Hand nehmen, um etwas mit ihnen an-
zufangen, erweisen sie sich als greifbare Objekte. So klein sie im
Verhältnis zu dem auszuzeichnenden Wert sind, den wir mit ihnen
schmücken wollen, so klein oder so groß sie dazu sein dürfen, —
es sind selber Gegenstände wie jener. Und ein Gegenstand ist,
wie unsere Sprache bezeugt, was uns entgegensteht, uns gegenüber
standhält. Ein Gegenstand tritt uns entgegen, sagen wir, auch
wenn wir es sind, die ihm entgegentreten. Wir trauen ihm zu,
daß er uns Widerstand leistet, wenn wir seine Beharrung irgend-
wie erprobt haben, und dazu genügt gewöhnlich schon die erste
Berühnmg.
Tastbare Eigenschaften dieser vorgefundenen Naturdinge sind
es zunächst, auf die es ankommt, wenn wir die Mittel des künst-
lerischen Scha£fens in seinen Anfängen unterscheiden und nach
ihren Besonderheiten beurteilen wollen. Stoße ich im Dunkeln
tastend auf einen Gegenstand, wo ich leeren Raum erwartete, so
erschrecke ich einigermaßen: der Atem stockt, es gibt einen Ruck,
der fühlbar bis zum Herzen dringt und seinen regelmäßigen Schlag
aussetzt Jeder Körper, groß imd klein, muß seinen Ort im Raum,
Körper lOi
WO wir ihn haben wollen, einnehmen, mag die Ordnung, die wir
herstellen, nun dauernd oder vorübergehend sein. Wir rechnen
auf den Druck und Stoß, den er auf gleichorganisierte Wesen wie
auf ims ausübt: hie et nunc. Seine Körperlichkeit muß auch den
anderen auffallen, wenn er in deren Tastregion gelangt.
Einige dieser tastbaren Eigenschaften sind zugleich sichtbare.
Ihnen gebührt der Vorrang, weil sie in weiterem Umkreis wirken,
und doch zugleich, beim Sehen schon, die tastbare Bewährung mit
verheißen, die uns die nämliche Eigenschaft nur für eine andere
Sinnessphäre bestätigt Aber, lassen wir uns nicht täuschen: die
Sichtbarkeit ist bei diesen Qualitäten nur das bevorzugte Mittel,
der Zweck bleibt lange die Tastbarkeit; denn nur diese geht ims
so nahe, geht uns unmittelbar an. Ebendeshalb unterscheiden sich
diese Merkmale des Dinges für alle urwüchsigen Menschen so
außerordentlich von den allein sichtbaren, die keine Kontrolle des
Tastsinns erlauben und keine Resonanz des Körpergefühls mit er-
wecken. Beim unerwarteten Ansichtigwerden eines Gegenstandes
tritt gleichfalls jener fühlbare Ruck ein, wenn auch nicht eigentlich
als dumpfer Schreck wie im Finstem bei der Berührung. Aber weil
ich das Objekt sehe und schneller erkenne, folgt auch unmittelbarer
auf die Beklemmung die gesteigerte Atmung und ein Zuwachs
körperlichen Hochgefühls, wie im Austausch mit dem Eindruck des
Dinges da gegenüber. Diese Reaktion erfolgt aber nur dann,
wenn der erschaute Gegenstand sich körperhaft in vollem Maße
mit dem Raum um ihn her auseinandersetzt. Bleibt der Gesichts-
eindruck unentwickelt, ebenflächig, so fehlt ihm die Hauptsache zu
solcher Wirkung.*)
Damach versteht sich von selbst, daß die anderen Eigen-
schaften, die allein sichtbar, aber nicht tastbar sind, weit abfallen
für das naive Urteil über die Dinge. Sie gewinnen erst hin-
reichende imd prompt überzeugende Kraft bei Menschen höherer
Geistesbildung, denen Vorstellungsarbeit geläufig geworden, be-
i) Ich habe diese Unterschiede in allen meinen Schriften betont, wo immer
Gelegenheit dazu war, brauche mich deshalb nicht mehr zu erklären, wie weit ich
mit Riegls Bewertung der haptischen und der optischen Qualitäten einverstanden
bin. Interessante, wenn auch vielleicht nicht ganz einwandfreie Experimente schil-
dern Vemon Lee und Anstruther Thomson in der Contemporary Review von 1897.
Der Aufsatz über Beauty and Ugliness, auf den ich erst durch Justis Zitat in seinem
Michelangelo 1900 S. 366 aufmerksam geworden, zeigt beträchtliche Unkenntnis der
deutschen ästhetischen Forschung auf diesem Gebiet.
I02 VIII. Herstellungsmittel: Körper
rühren jedoch überhaupt nicht mehr so tief das eigene Selbst des
Beschauers, oder rühren es wenigstens nicht auf mit so elementarer
Gewalt; sie finden nicht sowohl den Weg zum Herzen und Gemüte
als vielmehr zum Verstand und zur Phantasie. Gerade damit be-
stimmt sich aber ein wesentlicher Unterschied dieser Eigenschaften
für den vorliegenden Zweck, die schmückenden Dinge dem ge-
schmückten Mal amterzuordnen. Je leichter sie ins Auge fallen,
desto weniger fallen sie vielleicht ins Gewicht, und umgekehrt, je
nach dem Wesen des Wertes.
Zu den wichtigsten Eigenschaften der Körper, mit denen wir
hantieren, gehört eben die Schwere. Sie teilen das Schicksal zu
fallen, wenn sie nicht unterstützt werden oder das Gleichgewicht
verlieren, mit ims. Deshalb verstehen wir sie ohne weiteres und
fragen bei allen, ob sie liegen, stehen oder gar hängen. Zum
Liegen und zum Stehen aber gehört die sichere Unterlage, zum
Hängen ein Halt, der den Apfel am Baume vor dem Falle be-
wahrt, sonst läge er bald am Boden. So stellt sich zu allen
Körpern, mit denen wir verkehren, auch bald die Beziehung zum
gemeinsamen Grund und Boden ein, auf den auch wir angewiesen
sind, und aus diesem Verhältnis erwächst eine grundlegende Be-
dingung für alles schöpferische Gestalten und damit für alles Ver-
ständnis von Werken der bildenden Kirnst, insonderheit der Orna-
mentik: das ist der Grund.
Grund nennen wir den Untergrund für alle beharrliche An-
ordnung von Körpern im Nebeneinander, vor allem bei jeder Ko-
ordination im Räume. Und es ist wichtig, sich klar zu halten, daß
diese Grundebene zunächst die Bodenfläche imter unseren Füßen ist
und bei jeder Aussonderung auf der Erdoberfläche, bei jeder Ab-
sonderung als selbständiger Untersatz oder verschiebbare Unter-
lage, ebendiese Bodenfläche unter uns bedeutet. Nur wer sich
das immer gegenwärtig hält, versteht auch die abgelöste, in belie-
bige andere Lage oder Stellimg zu uns gebrachte Grundebene
richtig, je nach ihrer Übereinstimmung mit oder ihrer Abweichung
von dieser ursprünglichen Situation, die stets im vollen Sinne des
Wortes die grundlegende und deshalb die maßgebende Anschauung
bleibt Wo es sich um körperliche Auseinandersetzung im Räume
handelt, da ist für menschliche Vorstellungsweise die wagfrechte
Grundebene das wichtigste Erfordernis, wie (mathematisch aus-
gedrückt) die Breiten- und Tiefendimension dort das Korrelat zur
Höhe hier (in uns).
Grund und Muster
103
Je menschlich-natürlicher die Auffassung bleibt, desto bestimmter
unterscheidet sich das bewegliche Geschöpf, das den Ort zu wechseln
und auf dem Boden hin und her, auf weitem Felde kreuz und quer
zu wandern vermeig, von dem beharrenden Grunde, dem es ver-
traut, solange der Boden nicht imter seinen Füßen weggezogen
wird oder der Abgrund alles verschlingt Im Vergleich zu dem
wandelbaren Menschen und seinen Lebensgefährten, den Tieren und
Vögeln, oder zu seinen bewegungslustigen Gewässern und Himmels-
lichtem, oder gar zu den flüchtigen Tageszeiten, den Wolken und
Wettern, bewährt sich der zuverlässige Boden der Mutter Erde als
das Beständige, der Inbegriff des Ruhigen, auf sich selber Ge-
gründeten, als die Feste, der Stillstand selber.
So ist auch in der künstlerischen Gestaltung schon uranfang-
lich der Grund stets das ruhende Element, und was darauf er-
scheint, entweder bodenständig oder beweglich. Das heißt, nur die
Einzelkörper darauf imterliegen entweder der simultanen oder
der successiven Auffassung; der Grund dagegen ist seiner Natur
nach von der letzteren ausgeschlossen, er sei denn durch willkür-
liche Zerlegung und Aufteilimg von Menschenhand abgewandelt Er
ist immer das unentbehrliche räumlich-körperliche Substrat, an
dem sich alle Relationen, der Beharrung und der Bewegung, allein
ermessen lassen, auf dem sich die Grradunterschiede erst abtragen
müssen, lun in unsere Sinne fallen zu können.
Auf dem Gnmde befinden sich auch das Mal und seine Um-
gebung, die wir betrachtet haben. Und legen wir Schmuck an
das Mal selber, so wird es dadurch zimi Grunde, wie es das Be-
harrende war im Vergleich zu dem peripherischen Gebilde ringsum.
Bevor aber solch ein Unterschied und solche Übereinstimmung
zwischen dem Mal und dem Grunde recht zum Bewußtsein kommt,
lernt die Ornamentik schon, sich auf etwelcher Unterlage zu be-
wegen. Sie muß in der Tat Stehen imd Gehen lernen wie ein
Kind, bevor sie wagen kann, das Mal zu bekränzen oder ihre
mannigfaltigen Gebilde in die Luft zu hängen. Was immer sie
hervorbringt, nennen wir im Unterschied vom Grunde: das Muster,
sei es zunächst auch nur, um einen zusammenfassenden Namen für
die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu haben, die als mensch-
liche Zutaten dem Grunde gegenüberstehen. Es ist ein Begriff der
Kunstlehre imd Kunstwissenschaft, aber in seinen Anfangen auch
nicht mehr als ein logisches Produkt. Es wäre durchaus irreführend,
von vornherein aus diesem Namen fiir die willkürliche Zutat des
I04 ^'^m* Hcrstellungsmittel: Körper
Menschen, der nur im Vergleich mit dem gegebenen Grunde die
andere Seite bezeichnen soll (wie ein Unterscheidungszeichen auf
einem unbeschriebenen Blatte, von dem wir noch gar nicht wissen,
mit welchen Posten es sich füllen möge), sogleich das Wesen zu
konstruieren und, dem dialektischen Bedürfnis nachgebend, daraus
einen Gegensatz zum Grunde zu entwickeln. Wie wir von diesem
gesagt haben, alles, was sich darauf befinde, unterliege erst dem
Unterschied der simultanen und der successiven Auffassung, erweise
sich entweder in Ruhe oder in Bewegung, so gelten beide Mög-
lichkeiten für das Muster auf dem Grunde. Es kann ruhig sein
und bleiben wie er, oder beweglich erscheinen imd als transito-
rische Erscheinung aufgefaßt werden. Es vermag ebensogut die
Beharrung der festen Ebene zu bestätigen, ja ihr erst recht zum
Ausdruck zu verhelfen, wie es andererseits imstande ist, sich damit
in Widerspruch zu setzen, dem ruhenden Substrat eine Bewegung
aufzunötigen, ja den ganzen Grund aufzuwühlen und in sein Gegen-
teil zu verkehren, — je nach dem „Kunstwollen" der Menschen, der
Völker xmd Zeiten.
Die Verkennung dieser ursprünglich gleichberechtigten Mög-
lichkeiten imd die voreilige Voraussetzung, daß die logische Kon-
struktion des Gegensatzes zwischen Grund und Muster im Wesen
der Sache von vornherein gegeben sei, verleiten Alois Riegl in-
mitten seiner feinsinnigen Beobachtung zu einerseits ganz irriger
Auslegung oder in sich widerspruchsvoller Charakteristik der tat-
sächlich vorliegenden Erscheinungen, und dadurch andererseits zu
Trugschlüssen über umfassende historische Perioden oder zu Fehl-
griffen von prinzipieller Bedeutung.*) Er sieht in dem Grunde
„den fatalen, stets zur Vergleichung herausfordernden Widerpart**,
dessen vollständige Beseitigung schon von den alten Ägyptern an-
gestrebt worden sei. „Der Grund wurde (wie er meint) von den
Altägyptem möglichst unterdrückt, um das Muster widerspruchslos
als Ebene erscheinen zu lassen.*' Im selben Satze jedoch heißt es:
„Alles sollte eben, ruhend, Gnmd sein.** Und wenig früher schon:
„Niemand wird es (angesichts solcher altägyptischer Goldsachen)
beifallen, die Frage aufzuwerfen, was daran Grund und was Muster
sei,** — „weil das Ganze den Eindruck einer ruhenden Ebene fest-
hält**. Wenn dies der richtige Sachverhalt ist, so unterlassen wir
wohl eher die Frage nach dem Muster als die nach dem Grunde^
i) Vgl. besonders a. a. O. 175 — 177.
Gnind und Muster
105
oder wir konstatieren die Tatsache, daß es an den vorliegenden
Beispielen altägyptischer Kunst eine scharfe Gegenüberstellung von
Grund und Muster nicht gibt, sondern die Ebene grundhaft behandelt
wird und innerhalb ihres ruhigen unverrückbaren Charakters keinerlei
Kontrasterscheinung, die wir als fremde Bewegung ansprechen
könnten, darbietet. Von einer Tendenz nach Aufhebung dieses (als
Möglichkeit hinzugedachten) Kontrastes darf also noch gar nicht
die Rede sein, solange wir das Kunstwollen objektiv aus den Denk-
mälern interpretieren. Grund und Muster bleiben ursprünglich, so-
lange sie einer Ebene angehören, eins, zumal da die Bevorzugung
tastbarer Eigenschaften der Körper (taktile Wertung) erst da ein
wirkliches Muster emerkennt, wo die Herstellungsmittel desselben
greifbar aus der Ebene hervorragen.
Lassen wir vorerst dahingestellt, wie weit sich in der langen
Entwicklung der altägyptischen Ornamentik schon ein Ansatz zur
Scheidung und gegensätzlichen Verwertung beider Faktoren beob-
achten leisse. „In der klassischen Antike," wird uns jedenfalls gesagt,
„bildeten Muster und Gnmd zwei große Massen, deren jede in sich
aus engverbundenen und zusammenhängenden Teilen bestand, die
aber zueinander in einen großen allgemeinen Gegensatz gebracht
erscheinen!" — „Die Griecheri haben ein merkliches Gleichgewicht
zwischen Muster und Grund" herzustellen gesucht, während die
Altagypter diese harmonische Abwägung beider „mit Bewußtsein
niemals aufkommen ließen". Aber die klare Gegenüberstellung
von Grund und Muster zeigt sich darin, daß „der Grund stets das
ruhende Element bedeutet, aus welchem das Muster als das Be-
wegte hervorspringt". Und wie kamen die Griechen zu dieser
Auffassung? „Typisch dafür sind die klassischen Rankenbildungen";
— „die bewegte Ranke springt schon allein als Motiv aus der
Grundebene heraus, während das planimetrische Muster keinen
Anspruch erhebt, die ruhende Ebene zu verlassen".
Damit sind wir bei der Zurückführung des Gegensatzes auf
eine ganz andere Ursache angelangt Nicht das Wesen des Musters
unterscheidet es auch im Charakter von vornherein vom Grunde
als das Bewegte vom Ruhenden, sondern die Wahl des Ornamentes
und die damit verbundene oder heraufbeschworene Gegenstands-
vorstellung; dehn diese steckt hinter dem Motiv der Ranke und
läßt das einheitliche Gewächs herausspringen aus der Grundebene,
aus der ein planimetrisches Muster, selbst ^in Zickzack gar nicht
herauszutreten beansprucht, solange es nicht dxu'ch besondere
lo6 VIII. Herstellungsmittel: Körper
Mittel dazu gebracht wird. Da haben wir die beiden Erlassen : die
sogenannten geometrischen Ornamente und die Nachahmung
vegetabilischer Naturgebilde, die kraft der verschiedenartigen
Vorstelltmgen, die sie auslosen, den Gegensatz hervorbringen. Es
ist nichts anderes als der Unterschied von Kristallisation und Or-
ganisation, der die Trennung der Wege zwischen simultaner und
successiver Auffassung hervorruft. Aber ebendamit erhebt sich
auch die Frage, ob nicht die Auffassung die Wahl des Motives
veranlaßt hat, während es bei sofortiger Berufung auf die klassischen
Rankenbildungen so scheinen mußte, als habe das Motiv die
Auffassung verschuldet und den Widerspruch zwischen Muster imd
Grund in die Kunstentwicklung hineingetragen. Ebendafur würde
die genauere Untersuchung der altägyptischen Ornamentik auf ihren
Fortschritt entscheidend sein. Es begegnen unter den altägyp-
tischen Denkmälern, wie Riegl treffend hervorhebt, tatsächlich
solche, an denen die gegebene Fläche in lauter geometrische
Kompartimente aufgeteilt erscheint. „Hier ist das Muster selbst
absolute ruhende Ebene." Davon sind jedoch andere Beispiele so-
fort abzusondern, an denen es sich „um ein zusammenhängendes
Muster handelt: ein Zickzackmuster z. B. steht hierin mit der klas-
sischen Wellenranke auf dem gleichen stilistischen Boden". Da
liegt schon der Übergang vorgezeichnet, und zwcir bildet nicht so-
wohl das Motiv als vielmehr die Auffassung, oder die Absicht auf
Bewegung die verbindende Brücke. Ein einseitiges Beharren beim
geometrischen Ornament war außerdem „bei einem Kulturvolke
vom Range der Altägypter nicht mehr möglich". Auch sie sind
bereits zu vegetabilischen Motiven übergegangen; so kommen wir
allmählich zum Kunstwollen der klassischen Antike und fragen
nach der innersten Differenz ihres Wesens. Aber diese historische
Betrachtung ist hier nicht beabsichtigt. Es kommt uns nur auf
die begriffliche Bestimmung von Grund und Muster an, um irre-
führenden Unklarheiten vorzubeugen oder offenkundige Mißver-
ständnisse aufzulösen.
Zu diesem Zwecke folgen wir der Gegenüberstellung der so-
genannten vegetabilischen und geometrischen Ornamente, jedoch
ebenfalls ohne auf die Streitfrage nach ihrem Ursprung und da-
mit nach dem Erstgeburtsrecht der einen Klasse vor der anderen
einzugehen. Die Tatsache, daß beide Klassen nebeneinander vor-
kommen und fortbestehen, ja noch mit einer dritten Erlasse, der
Tierornamentik, streckenweise friedlich zusammenleben, ist für
Grund und Muster 107
diese Gedankenreihe wichtiger als jeder historische Nachweis der
Genealogie.
„Ein Motiv, bei dessen Anblick uns eine bestimmte individuelle
Naturform (z. B. eine Blume, ein Tier) in Erinnenmg gebracht wird,"
schreibt Riegl (175), „macht sich als solches sofort übermächtig
geltend, und drängt die übrigen Teile der umgebenden Fläche als
Grund zurück. Niu* bei Motiven, die keine ,naturalis tischen'
sind, sondern entweder als mathematisch-begriffliche (soge-
nannte geometrische) Muster der individuellen Lebensfähigkeit ent-
behren, oder als Teilkonfigurationen des (von Haus aus nicht
naturalistischen, weil nicht individuellen) Grundes bekannt sind,
läßt sich eine zeitweilige Verkennung ihrer Bedeutung als Muster
denken."
Gehen wir zur Wesensbestimmung des Musters den umge-
kehrten Weg, d. h. vom gegebenen Grunde aus, wie wir ihn ein-
gangs bereits eingeschlagen haben, so hätten wir bei der letzten
Klasse der Riegischen Aufreihimg zuerst einzusetzen, nämlich bei
den „Teilkonfigurationen des Grundes", die als solche bekannt
und geläufig sind. Sie gehören zunächst selber zum Grunde, haften
in ihm oder an ihm und lösen sich so gar nicht von ihm los, wenn
nicht die subjektive Aiiffassung mehr oder minder nachhilft. Da-
hin rechnen wir vor allen Dingen die natürlichen Verschiedenheiten
im Material des Grundes, die Ungleichheiten der Textur oder
Struktur (wie wir schon in Übertragung von menschlichen Erzeug-
nissen her zu sagen pflegen), die Streifen des Erdreichs, des Fels-
bodens, die Maserung des Holzes, die Stromschichten im Metall,
oder was wir (ebenso voreilig übertragend) als Mustenmg, Zeich-
nung, Sprenkelung des Granits, der Marmorsorten u. dergl. be-
schreiben. Wie unsere Ausdrücke bezeugen, geht die Anerken-
nung des natürlichen Bestandes für die menschliche Phantasie sehr
leicht und unvermerkt in die genetische Erklärung oder den Ver-
gleich mit einem flüssigen Zustand über, oder schiebt gar die
Tätigkeit der Menschenhand unter, wo sie noch gar nichts zu
schaffen hatte. Dies Hineinsehen einer Bewegung, eines Ent-
stehungsprozesses in den festvorliegenden Grund klärt uns auf über
die Natur des entgegenkommenden Bedürfnisses von menschlicher
Seite und über die Herkunft mancher Motive wirklicher Musterung
durch menschliche Zutat Das Her Stellungsmittel verwandelt
sich unwillkürlich in ein Darstellungsmittel.
Der absolut ruhige, in sich gleichförmige und eintönige Grund
lo8 VIII. Herstellungsmittel: Körper
und die nimmer ganz stillstehende, vielgestaltige, und wandelbare
Menschennatur sind zunächst inkommensurable Großen. Der Mensch
kann nicht umhin, den kleineren Maßstab seines Körpers, — seiner
Schritte, seiner Armbewegimgen, seiner Augen und Hände, ja seiner
Finger auf die Unterlage all seines Tuns und Treibens abzutragen.
Er begrüßt jeden Anhalt in der ebenmäßigen Fläche als Ausgangs-
punkt dieser Übertragung. Irgendwelche Teilkonfigiiration des Grun-
des ist für seine Sinne schon ein Angenehmes, das er willkommen
heißt und um so lebhafter auffaßt, je größer die Ausdehnung der
ruhenden Ebene sich allseits erstreckt. Das Unermeßliche wird
auf die Dauer das Unerträgliche: die Umwandlung des Grundes in
ein Muster ergibt sich als notwendige Folge. Wer auf weiten
Strecken des Dünensandes am Meere wandert, der freut sich über
die Fußspuren in der glatten einfarbigen Wüste und verfolgt sie
mit Vergnügen wie eine Augenweide. Ganz ähnlich wirken die
Ackerfurchen auf dem einfarbigen Felde, die regelmäßige Arbeit
des Pflügers. Die öden weißgetünchten Mauern, die sich straßen-
lang hinziehen, reizen noch heute den vorübergehenden Schuster-
jimgen oder Anstreicher unwiderstehlich, daran entlangzufahren,
und mit Pinselquast oder schwarzen Fingern die Spuren des Ant-
agonismus zwischen dem lebendigen Individuum und der toten
Fläche zu hinterlassen. Polizeiwidrigen Unfug nennt der Philister,
was von anderem Standpimkt als erste, noch sehr rohe, aber doch
schon ästhetische Wohltat erscheint. Sie bringt uns die Ausdeh-
nung erst recht zu Sinnen durch Abtragung einer verfolgbaren
Succession auf das starre Kontinuiun. Und das ist der Zweck aller
Teilkonfigurationen des Grundes, sobald sie nicht gegeben,
sondern gewollt sind.
Im natürlichen Zustande begegnen mm aber nicht allein solche
in der einheitlichen Mcisse vorhandenen, in der Ebene bleibenden
Teilungsmomente, sondern auch aus dem Boden aufragende, wie
kleine Felsblöcke, Steine, Buschwerk und Bäumchen, über die wir
beim Anblick eines Flußtals, einer Seeküste hinwegsehen, solange
wir eben die durchgehende Ausdehnung des Terrains als Ganzes
erfassen. Zur Herstellung eines gleichmäßig geebneten Gnmdes
müssen diese Störungen beseitigt werden. Von Natur aber sind
sie eine Musterung der Erdoberfläche, eine Konfiguration, deren
Bestand auf Anerkennung Anspruch erhebt. Und diese aufrecht-
stehenden Gegenstände sind Körper, die sich vom Gnmde absetzen,
nicht in die Ebene fallen, sondern sich in anderer Richtimg davon
Grund und Muster; Form lOO
loslosen, individualisieren. Sie sind im wahren Sinne des Wortes eine
Musterung des Grundes von anderer Hand, nur nicht von Menschen-
hand, wie das künstlerische Gebilde, das wir so nennen. Jede An-
ordnung von Körpern auf dem Grunde, die wir früher betrachtet,
schließt sich hier an: auch sie ist ein Muster im Unterschied vom
Crrunde.
Erst nun begreift sich die volle Tragweite des Zeugnisses: bei
den Altägyptem war das Muster selbst absolute ruhende Ebene;
man ging darauf aus, es als unbewegliche Stofflichkeit hinzustellen,
das Muster grundartig erscheinen zu lassen; ja alles sollte eben,
ruhend, Grund sein. Wo das der Fall ist, gab es noch gar
keinen „natürlichen Gegensatz zwischen Muster und Grund zu über-
winden", geschweige denn einen „lästigen Widerpart zu beseitigen";
denn Grund und Muster waren noch eins, das Muster nur
höchstens erst latent oder virtuell vorhanden, wie in Naturstoffen,
Ganz anders steht die Sache, wenn eine Anordnung von
Körpern, fertig vorgeftmdenen Naturdingen, als Schmuck auf eine
Fläche gebracht wird, mit der sie nicht eins werden können und
werden sollen. Denn nun sind die kleineren Körper in ihrem
Nebeneinander auf dem einen Substrat immer das Viele, also das
Bewegtere, das Einteilende, Absetzende, Successive im Vergleich
zu dem ruhenden, ungeteilten, gleichmäßig daliegenden Grunde.
Aber diese Körper sind als beliebig ausgewählte Naturdinge auch
„naturalistisch und individuell"; denken wir nur an eine Reihe von
Muscheln oder Schneckenhäusern, jedes ein Einzelgebilde für sich,
das mit dem Boden nichts zu schaffen hat und sich selbst dann
noch isoliert, wenn es in eine Kalkschicht eingeht und mit als
Masse verarbeitet wird. Sowie wir seiner ansichtig werden, er-
kennen wir es als Einzelding und anerkennen es als solches.
Damit konunen wir zu einem neuen Kunstmittel, das die
Körper bevorzugen heißt, wo es gilt die Gesetze der Symmetrie
oder der Reihung anzuwenden, oder mit dieser Koordination der
Glieder zugleich eine Subordination des Grundes zu erreichen.
Dies willkommene Mittel der Unterscheidung ist die Form, die,
ringsum sich abschließend, für den Menschen ohne weiteres schon
eine selbständige Einheit verkündet Die Form verrät uns sinn-
fällig das Individuum. Deshalb sind für die Zwecke des Schmückens
die naheliegenden kleinen Naturdinge, wie Beeren, Nüsse, Kiesel,
so willkommen. Sie behaupten sich an ihrer Stelle in dreidimen-
sionaler Entfernung des stofflichen Volumens.
HO VIII. Herstellungsmittel: Körper
Aber sie haben in diesem Vorzug auch eine Eigentümlichkeit,
die für den einen Zweck erwünscht, für den andern unbequem ist,
nämlich diese individuelle Eigentümlichkeit selbst Jedes solche
Naturding ist als Einzelexemplar, das sich vom andern unterscheidet,
eigentlich ein kleines „Mal** für sich. Es fordert zur Sonderbe-
trachtung, zum Verweilen, ja zum Stillstand heraus, imd das wider-
spricht dem Fortgang der Reihung. Es ist unbequem für die Her-
stellung der Symmetrie, und drängt zur Geltendmachung der
Proportionalität, Es hemmt den gleichmäßigen Verlauf des Ent-
langteistens oder Absehens; es rhythmisiert auf eigene Hand den
Fluß der Einheiten. In jedem Individuum steckt die Anlage zum
Usurpator, sich als „Dominante" aufzuwerfen durch irgendeinen
auffallenden Unterschied der Form, der den Beschauer gefangen-
nimmt und die Nachbarn imterordnet
So ergibt sich für diese Absicht durchgehender Bewegung die
Notwendigkeit, solche Unterschiede auszugleichen, die Eigentüm-
lichkeit zu unterdrücken oder fernzuhalten, die Einheiten einer
Reihe zu assimilieren. So bevorzugen wir zugunsten der glatten
Abfolge die regelmäßigen Formen, und stellen solche her, wo
sie nicht vorhanden sind, indem wir Auswüchse abbrechen, oder
ziehen die Leistungsfähigkeit unserer Hände in noch stärkerem
Maße heran, vom Abschleifen des vorgefundenen Körpers bis zur
Neuscha£Fung aus anderem bildsamen MateriaL Damit verstehen
wir die Wahl der einfachen stereometrischen Gebilde für die Durch-
führung der Succession, ihre Notwendigkeit bei Gliedern einer fort-
laufenden Kette. Jede komplizierte Bildung bewirkt in derselben
Reihe eine Verlangsamimg der Aufnahme; sie muß vermieden
werden, so willkommen sie für andere Absicht sein mag.
Einen Aufenthalt im Zuge der Bewegung bewirkt aber auch
jede Körperlichkeit an sich, indem sie zur Abtastung veranlaßt,
oder, begnügen wir uns mit dem Sehen, doch die Resonanz der
Tasterfahrungen herausfordert, bei der Aufiaahme mitzuspielen. Wo
immer wir über die Einzelwerte des Schmuckes hingleiten sollen,
kann der volle Reiz der Körperlichkeit zu stark sein. Deshalb
tritt der Verzicht auf einen Teil dieses Körperwertes ein, wenn
wir die untere Partie mit dem Grunde verbinden, sie — sei es fak-
tisch, sei es scheinbar — in die Grundebene eintreten lassen, jede
Einheit etwa ziu* Hälfte in den Boden versenken. So mindern sich
die tastbaren Oberflächen des Körpers und überwiegt der Zu-
sammenhang mit der Ebene. Die Elemente der Konfiguration
Form — Relief — Umriß III
treten dann, wo wir den Tastsinn allein walten lassen, als Protu-
beranzen des Grundes hervor; die Grundfläche gebiert diese An-
sätze selbständiger Körperbildung aus sich heraus und hält sie
doch fest in ihrem Schöße. Dies ist die ursprüngliche und recht-
mäßige Auffassung des Unterscheidimgsmittels, das wir demgemäß
mit dem Namen Relief bezeichnen: die Erhebung wächst fahlbar
aus dem Grunde hervor und tritt uns entgegen. Ganz anders, wenn
wir das Auge zuhilfe nehmen: dann erst überwiegt die Selbständig-
keit der Körper, und sie erscheinen wie von außen eingesenkt,
oder angeheftet, je nach der Höhe ihrer Erhebung. Denn hier
wirkt außer dem tastbaren Verhältnis von Körperrundimg und
Ebenflächigkeit noch der optische Faktor, Schatten und Licht, mit,
imd diese Kontraste steigern den Unterschied unverhältnismäßig
zugunsten der Auffassung von außen: als Muster im Gegensatz
zum Grunde.
Wird dagegen zugunsten des Grundes immer mehr auf die
Körperlichkeit verzichtet, so schwindet das Hochrelief zum Halb-
relief und dieses zum Flachrelief zusammen, die wir an dieser Stelle
nur als eine Stufenfolge tastbarer Körperwerte, nicht in ihrer vollen
Bedeutung auch nach der optischen Wirkimg aufführen wollen.
Es handelt sich ja nur um die Klassifikation der Unterscheidungs-
und Annähenmgsmittel für die Zwecke der Ornamentik, und um
die Abwehr des umgekehrten Verfahrens, von der Ebenflächigkeit
zur Körpererhebung zu fuhren, als wäre das die selbstverständliche
Steigerung der Mittel.
Es liegt um so mehr daran, die beiden Wege mit aller Ent^
schiedenheit auseinanderzuhalten, als wir nun, beim Übergang aus
der Körpererhebung zur Ebenflächigkeit, eine prinzipielle Überein-
stimmimg mit den Ansichten Riegls bezeugen müssen, die wir eben-
deshalb nur konsequenter durchverfolgen und von inneren Wider-
sprüchen freizumachen suchen. Wenn die falsche Voraussetzung
eines natürlichen Gegensatzes zwischen Muster und Grrund (der
schon bei den Altägyptem zur bewußt gewollten Überwindimg, ja
vollständigen Beseitigimg des Grundes geführt haben soll) einmal
aufgelöst worden und der uranfangliche Unterschied zwischen dem
lebendigen Subjekt, dem Menschen, und dem festen Substrat, dem
Grrund und Boden, wieder in seine Rechte eingesetzt ist, so ergibt
sich das richtige Verständnis der anderen Erscheinungen von selbst
Wir kommen zum äußersten Zusammenschwinden der Körper-
form in die Ebene des Grundes, wo die Unterscheidung der Ele-
112 VIII. Herstellungsmittel: Körper
mente nur noch durch den Umriß geschehen kann. Die Verwen-
dung der Naturdinge, die wir anheften konnten, hört auf, oder an
ihre Stelle tritt ein Ersatz, der sozusagen eine Oberfläche des
Körpers ablöst und, dünn wie ein Blatt, auf die Grundfläche setzt.
Dann aber wird gar der letzte entscheidende Schritt getan: zur
Abbildung der Gegenstände, d. h. zur Hervorbringung der Unter-
scheidungsmittel durch Menschenhand auf dem gegebenen Gnmde.
Wer seine Fußspuren im weichen Sande beobachtet hat, oder
den Abdruck seiner Hand in feuchter Tonerde erscheinen sah, der
greift wohl zunächst zu diesem Mittel, könnte man meinen. Wo
es nicht geschieht, sondern die tastbare Rundung bewahrt wird,
da spricht eben dieses Festhalten der gewohnten Körperform auch
für den unveräußerlichen Vorzug, der ihr beigemessen wird. Hier
scheiden sich abermals deutlich Mittel und Wege der optischen
von denen der haptischen Auffassung und Darstellung. Die funda-
mentale Verschiedenheit prägt sich schließlich auch da aus, wo die
Linie allein, als schmale Furche in die Ebene eingeritzt, die
Grenze zwischen Muster und Grund, oder Abbild imd Fläche
bedeutet.
„Die Linie war bei den Altägyptem im wesentlichen bloß
Umrißlinie," erklärt Riegl (S. 62), „und diese war eine haptische,
das. heißt eine an den Naturdingen wohl tastbare, aber nicht sicht-
bare.'* Diese auf den ersten Blick befremdende, aber haarscharf
zutreffende Behauptung erklärt er an anderer Stelle^) damit: „die
Umrißlinie erinnert sozusagen unseren Tastsinn unmittelbar daran,
daß er hier an eine undurchdringliche Grenze stößt." Wichtiger
noch wäre die Negation der optischen Auffeissung. Der Umriß
will nicht den Augenschein wiedergeben, sondern die getastete
Form des Körpers als Grundlage festhalten: die tastbare Form gilt
als die wirklich bestehende, um nicht zu sagen: einzig wahre; sie ist
die eigentlich wertvolle, die ergriffen und festgehalten werden soll,
nicht die sichtbare, der Augenschein, der wandelbare.
„Die älteste nachweisbare Kunst des Altertums, die altägyp-
tische, hat also die Umrisse in der Ebene möglichst scharf betont,
dem tiefeandeutenden Schatten aber bloß in jenem geringsten
Maße Eingang gewährt, das gerade ausreichte, um eine Modellie-
rung der Oberfläche nach der Tiefe noch erkennen zu lassen."
„Die ägyptische ReUeffigur hatte keine Kehrseite, sie verlor sich
i) Beilage z. AUg. Zeitung, München 1902 S. 155.
Umriß — Linie
113
geflissentlich im Grunde." — Das heißt doch wohl rund und nett:
im Anfang war der Gnmd, und der Grund war Muster, und das
Muster war Grund. Auch die Gliederung des Grundes war nichts
anderes als der Grund selber. Das Unterscheidungsmittel der
schmalen Furche stört nicht die gnmdhafte Natur des Ganzen, so-
lange nicht durch andere Entwicklungsmomente der Antrieb zur
Differenzierung von Grrund imd Muster in die Kunst Äg3rptens
hineingetragen wird. Nur eine Voraussetzung dürfen wir nicht
übersehen. Sie liegt in den Worten Riegls: „die Umrißlinie war
eine an den Naturdingen wohl tastbare, aber nicht sichtbare",
d. h. der so imirissene Ausschnitt aus der Grundebene appelliert an
imsere Gegenstandsvorstellung, an unsere Tasterfahrungen beim
Verkehr mit solchen Naturdingen. Sie ist es, die auch bei Ver-
mittlung des Auges sofort die Körperlichkeit des erkannten Ob-
jektes heraufbeschwört Darauf müssen wir später zurückkommen,
wo die Gegenstandsvorstellung als eigene Instanz unabweisbar in
die Rechnung tritt
Jiei den Griechen der klassischen Zeit fand die Linie zimächst
fortdauernd die gleiche Anwendung als Umrißlinie, daneben aber
auch eine solche für die Modellierung. Diese Modellierungslinien
sind jedoch wiederum noch nicht Schatten, sondern Andeutung
haptischer Begrenzimgslinien gleich den Umrißlinien." Erst später
meldet sich „der Übergang von der tastbaren Begrenzungslinie zum
optischen Schatten" (a. a. O. S. 63).
Diese geschichtlichen Tatsachen beweisen, daß auch der Um-
riß auf der Fläche seuien Ursprung aus der Körperlichkeit nicht
verleugnet imd daß unter der Arbeit für das Auge des Betrachters
doch immer die vornehmste Rücksicht auf die Befriedigung des
Tastgefühls genommen wird, obgleich die Tastorgane des Be-
schauers gewiß nicht tatsächlich bei der Aufnahme mitwirken
sollten, wie sie der wissenschaftliche Forscher gelegentlich wohl
einmal zuhilfe ruft, ohne sich immer bewußt zu bleiben, daß er da-
mit bei der ästhetischen Aufnahme aus der Rolle fallt
Der Wert des Umrisses für das Körpergefühl des Beschauers
würde jedoch erst da die Feuerprobe bestehen, wo es sich nicht
um die Abbildung von lebensfähigen Naturdingen, sondern von
stereometrischen Körpern handelt, die wir in planimetrischer Er-
scheinung wohl als Figuren oder „mathematisch-begriffliche Muster"
ansprechen. Erst angesichts solcher geometrischen Musterung
des Grundes stellt sich der ganze Unterschied der Behandlung
Schmarsow, KanstwisaeoschafiL g
114 ^^^^* Hcrstcllungsmittel : Körper
heraus.^) In jenen ältesten Perioden unserer Kunstgeschichte sind
auch diese geometrischen Figuren grundhaft und damit körperhaft«
Bestandteile einer Flächenschicht des gewählten Materials, kein
flüchtiger Augenschein, also das Gegenteil der rein mathematischen
Vorstellung.
Aber gerade vermöge ihrer Körperhaftigkeit kann sich eine
Verschiebung dieser Gemeinschaft mit dem Grunde für das Gefühl
des Beschauers, wie für die Behandlung des Künstlers entwickeln.
Wenn in der ältesten Antike das Ganze den Eindruck einer fest-
gefügten Ebene bewahrt, so daß nicht einmal darnach gefragt
werden kann, was daran Gnmd und was Muster sei: allmählich
sondern sich doch die Körper hier von der Ebene da und bilden
das Muster im Gegensatz zum Grunde. Zwei große Massen, deren
jede in sich aus engverbundenen und zusammenhängenden Teilen
besteht, treten einander gegenüber. Das Muster steigert sich dann
als ein in allen seinen Teilen festverbundener, wenngleich mannig-
faltig, vielleicht gar aufs reichste gegliederter Komplex von Ele-
menten zum Gegenspiel des nicht minder zusammenhängenden,
weil gegen die Ränder des Dekorationsfeldes hin vom Muster un-
berührten Grundes. Nun erscheint das Muster als bewegtes Relief
aus dem ruhenden Grunde daneben hervortretend, und es kommt
in der klassischen Kunst darauf an, die beiden Faktoren freilich
klargesondert, aber in harmonischem Gleichgewicht zu halten. In
hellenistischer Zeit dagegen beginnt die entschiedene Vorliebe für
starke Bewegimg und lebendige Energie die Oberhand zu nehmen:
das Motiv des Musters wird zum Protagonisten. Der Grund wird
zur Folie, deren mannigfaltig verwertbare Funktion doch immer
auf eine Dienstleistung hinausläuft, mag sie Halt gewähren, hervor-
heben oder beruhigend wirken. Die Einengung und Verdrängung
des Grundes durch das Muster, des Ruhenden durch das Bewegte,
ist die Folge. Bis in die mittlere römische Kaiserzeit erhält sich
noch ein bestimmter Zusammenhang zwischen den Teilen des
Musters; dann aber wird auch dies in lauter einzelne kleine Kon-
figurationen zersplittert, die untereinander keine Einheit mehr
bilden, weil sie unablässig durch den daz wischengeschobenen
Grund voneinander getrennt sind. Auch die Grundebene ist dem-
i) Es begegnen unter den altägyptischen Denkmälern auch solche, an denen
die gegebene Fläche in lauter geometrische Kompartimente aufgeteilt erscheint.
Ricgl a. a. O. S. 176.
Umriß — Linie
115
nach schon von der Bewegung ergriffen. Mit der Aufhebung des
klaren Gegensatzes wird femer auf eine Verwirrung zwischen
Grund und Muster ausgegangen. Zu der archaischen Einheit
kehren aber beide Faktoren auch in spätrömischer Zeit niemals
zurück; denn die dazwischen eingedrungene Bevorzugung der
optischen Auffassung kann körperlich greifbaren Zusammenhang
nicht brauchen, muß vielmehr die Auslösung von Tasterfahrungen
und den Eindruck stofflicher Kontinuität geflissentlich vermeiden.
Auch diese Geschichte des Verhältnisses von Grund und Muster
im Altertum beweist niu* den weiten Abstand zwischen dem alt-
ägyptischen Anfangsstadium und dem spätantiken Ende.^)
i) Nicht befriedigt hat mich bei Riegl die Analyse der mit Emailarbeit bedeckten
Flasche von Pinguente (S. 188 f.). Die Komposition ist nicht rein tektonisch, son-
dern eine sehr charakteristische Durchdringung kristallinischen und organischen
Wesens, geometrischer und vegetabilischer Motive in einem eigenartigen Medium.
Schon die Kreuzform in Blattbildung gibt diese Mischung an der Zentralstelle. Die
ausstrahlende Richtung der vier Arme wird durch die hellen Pimkte in den Zwischen-
räumen nur leise aufgewogen. Das reziproke Zickzackmuster an der Peripherie gibt
dagegen rein geometrisch die zentripetale und die zentrifugale Richtung in festem
Widerhalt. Die fortlaufende Ranke in der äufiersten und in der innersten Zone ver-
sinnbildlicht den Umlauf in ungestörtem fließendem Vollzuge. Die intermittierende
Ranke in der breiten Mittelzone zeigt dagegen die Verquickung des vegetabilischen
Schwunges mit dem geometrischen Zickzack, dessen Höhepunkte nach zwei Rich-
tungen auseinanderstreben und so eine Spannung zwischen beiden Grenzlinien der
Zone hervorbringen. In diesem Mittelstreifen kann auch ein flüssiges Medium nicht
ungehindert verlaufen, sondern stößt sich und staut sich an den Ecken : die Bewegung
vollzieht sich nur intermittierend, fast ruckweise hier hinaus und dort hinein. So
wird diese Zone zur Hauptpartie neben der Zentralstelle; sie bilden mit dem Rande
außen die festeren Bestandteile, die beiden anderen Zonen mit fortlaufender Ranke
aber die beweglichen Zwischenglieder, wie die Intervalle zwischen Säulen und Wand-
pfeiler in der Architektur. Dem Umschwünge und seiner zentrifugalen Wirkung
entsprechend ist auch die äußere dieser flüssigen (Wasser-) Gürtel schmäler gebildet
als der innere, wie ein Tropfen in der Nähe der Peripherie sich stärker elliptisch
auslängt, als der dem Zentrum nähere. Diese Beobachtung am nassen Element
(für das die Flasche bestinmit war) erklärt auch die verschiedene Bohnenform der
Emailiiguren. Sowie aber der flüssige Charakter als der entscheidende anerkannt
wird, so wächst auch die Bedeutung der beiden Zonen mit fortlaufender Ranke. In
diesen Intervallen kreist die Bewegung, die den tektonischen Bestand besiegt und
in der intermittierenden Ranke den Sieg im Konflikte vor Augen stellt. Das sind
wichtige Symptome für die Entstehimgszeit, oder gar für die Datierung.
8»
rx.
DIE FARBEN ALS KUNSTMITTEL
POLYCHROMIE UND KOLORISMUS. FARBENRHYTHMUS
Außer den tastbaren Eigenschaften haben die Naturdinge, die
wir zum Schmuck und Zierat verwenden, noch solche, die nur das
Auge wahrzunehmen vermag. Nicht allein durch die Form unter-
scheiden sie sich voneinander, sondern auch durch die Farbe des
Stoffes, aus dem sie bestehen, oder des Kleides wenigstens, das sie
mitbringen. Da mag die Wissenschaft uns heute darüber aufklären,
daß die Farben eigentlich nur Empfindungen sind, die vom Lichte
in uns hervorgerufen werden: der natürliche Mensch schreibt sie
immer den Körpern zu, von denen sie zu uns dringen; und wo sie
in enger Verbindung mit den tastbaren Eigenscherften der Korper
auftreten, da sprechen wir auch in der Kunstlehre von der Natur-
farbe des Dinges oder (mit Helmholtz) von Körperfarbe.
Die Wissenschaft bringt uns allmählich zu der Erkenntnis, daß
alle Farben, die wir unterscheiden, nur einzelne Stufen in einer
Reihe von Empfindungen sind, die sich mit der Schwingimgsdauer
des Lichtes fortwährend verschieben. Sie sagt uns, daß die läng-
sten der für uns sichtbaren Schwingungen die Empfindung Rot
erzeugen; dann folge Orange, dann Gelb, dann Grün, dann Blau
und endlich Violett Dem natürlichen Menschen gilt nur das Er-
lebnis solcher Verschiedenheit, mag er auch gar nicht imstande
sein, alsbald die ganze Reihe dieser Qualitäten auseinanderzuhalten,
sondern lange noch an einer kleinen Zahl leicht unterscheidbarer
Tinten genug Abwechslimg haben. Später, wenn die genannte
Reihe vollständig ausgebildet ist, fügen wir zwischen Violett und
Rot wohl gar noch Purpurfarben ein und schließen damit den Kreis
unserer Farben in sich ab, ohne ims durch den Einwand des Phy-
sikers stören zu lassen, es gebe gar kein einfarbiges Licht, das
uns die Empfindung Purpur zu erzeugen vermöchte. Kommt die
Wirkung auch nur durch Lichtgemenge zuwege, sie selbst ist eine
j
Die Farbenreihe — Schwarz und Weiß
117
Tatsache, die wir um so weniger als Ausnahme anerkennen, als
bei der Mehrzahl der wahrgenommenen Körperfarben ein ganz
ähnliches Verhältnis überwiegt
Viel wichtiger ist für unser Sinnesleben und damit für unser
Seelenleben die weitere Erfahrung, daß sich die Farben nicht nur
nach ihrer Qualität unterscheiden, sondern auch nach ihrer Stärke.
Die Eigenart der Farbe wird uns lebendig in ihrem Verhalten oder
ihrem Schicksal neben den anderen. Wo sie allein ist und mit
sich selber übereinstimmt, freuen wir ims ihres Charakters. Wir
meinen wohl, sie habe sich so recht vollgesogen und erfüllt mit
ihrem Schein, sich voll ersättigt, und nennen sie auch in der Kunst-
sprache eine volle, satte oder saftige Farbe. Wenn uns daneben
eine andere ähnliche Farbe begegnet, in der sich der Charakter
nicht so entschieden ausspricht, so nehmen wir sie wohl gar nicht
für die eigentliche, rechtmäßige und ebenbürtige Vertreterin; sie
fallt ab im Vergleich zu der echten, reinen und einzig wahren, wie
ein Bastard. Nur jene reine scheint ims auf sich selber zu beruhen
imd imstande, sich zu behaupten, wie das Dinge tun. Sie bedarf
nicht einmal mehr eines Körpers, der sie trägt; sie selbst allein
verkündet sich als elementare Macht, wie ein materielles Dasein.
Aber jede solche ganze, gesättigte Farbe hat in der Um-
gebung ihre Freunde und ihre Feinde, die nicht selten gar in einem
imd demselben Kleide bald so, bald so sich betätigen. Davon er-
zählt schon jener Abstand zwischen dem reinen Blut und dem
Mischling. Die Entfremdung vom eigenen Wesen ist durch die
Dazwischenkimft von Schwarz oder Weiß geschehen. Diese beiden
stellen sich anfangs in die Reihe beliebig ein, als wären sie von
gleicher Art wie die anderen. Sie sind willkommen, denn in ihrer
Nachbarschaft leuchten die munteren erst recht und gewinnen auch
die ernsten an Fülle. Gelingt es ihnen aber zu innerer Gemein-
schaft vorzudringen, so verwandeln sie die reine durchweg und
bewähren ihre ganz fremde Natur. Sie brechen und schwächen
den ganzen Charakter bis zur Vernichtung seines Wesens. Mit
Weiß gemischt, verdünnt sich die Vollkraft; mit Schwarz trübt
sich die Eigenart; hier wie dort ermattet das Leben. Und finden
weder Weiß noch Schwarz allein den begehrten Einlaß, dann
senden sie ihren eigenen Mischling Grau, dem alle Türen offen
stehen. Er ist weder das eine noch das andere, nennt sich neutral,
bringft aber Einbuße an allem. Wo er sich einer eigenen gesellen
darf, spielt er als Folie die Rolle des ergebensten Dieners, um sich
1 1 8 IX. Die Farben als Kunstmittel
beim Eindringen ins Innere sofort in den schlimmsten Parasiten zu
verwandeln. So ist es gekommen, daß die Farben der Korper
mittlerweile allesamt für zusammengesetzt gelten aus einer ge-
sättigten Farbe und einer größeren oder geringeren Menge Grrau,
das sich gelegentlich als unmittelbarer Abkömmling des Weiß, ge-
legentlich als unmittelbarer Abkömmling des Schwarz ausweist
Nur wo das Grau gänzlich abwesend geblieben, gibt es noch ge-
sättigte Farben. Wo die Farbe völlig schwindet, siegt das Grau,
das öde, stumpfsinnige, apathische, oder wie andere sagen, das vor-
nehme Grau.
Das ist die Verschiedenheit der Farben und ihre Geschichte
in der Natur. Nach der Stärke der Lichtempfindung dagegen be-
messen wir die Helligkeit der Farben.*) Wollen wir sie loslösen
aus ihrem Zusammenhang mit dem Wechsel der Erscheinungen und
ihrer Besonderheit innewerden, um sie künstlerisch zu benutzen,
so müssen wir, wo es sich um die Farben handelt, die wir den
Körpern an und für sich zuschreiben, von dem Wandel der Be-
leuchtung absehen und die farbigen Gegenstände oder die Pig-
mente (Lokalfarben) untereinander vergleichen bei einerlei Licht
Sowie wir verschiedene Tinten auf ihre Helligkeit vergleichen,
stoßen wir auf manche Schwierigkeiten, die auch schon die Aus-
wahl für künstlerisches Verfahren, wenigstens in den naiven und
gesunden Anfangen der Ornamentik, sehr einschränken mußten.^
Bei höheren Helligkeitsgraden stellt sich aber noch jenes
Schicksal ein, das den gesättigten Farben durch Weiß und Schwarz
oder Grau bereitet wird. Sie verlieren bei zu stark wachsender
i) Ich entnehme die folgenden Tatsachen, deren wir bedürfen, und ihre kune
Erklärung, soweit sie mir unentbehrlich schien, aus: Ernst Brücke, Die Physiologie
der Farben für die Zwecke der Kunstgewerbe. Zweite vermehrte und verbesserte
Auflage, Leipzig, S. Hirzel 1887.
2) Die Unsicherheit des subjektiven Urteils wird noch vermehrt durch den
Einfluß, den die Beschaffenheit der Beleuchtung auf die relative Helligkeit der ver-
schiedenen Pigmente ausübt. Je nachdem das Licht vom klaren oder vom bewölkten
Himmel einfallt, ist die Beleuchtung verschieden; aber auch die Quantität des ein-
fallenden Lichtes nimmt ihren Anteil an der relativen Helligkeit der verschiedenen
Farben. Nicht bei allen Farben ninmit die Empfindung mit wachsender Lichtstärke
in gleicher Weise zu. Von dem ungleichen Wachstum der Lichtempfindung bei
Eintritt verschiedener Lichtsorten rührt es her, daß z. B. von einem roten und blauen
Stoffe, die bei Tage gleich hell erscheinen, in der Dämmerung der rote dunkler
erscheint als der blaue; daß ein Gelb bei Lichtzuwachs viel heller wird als unter
gleicher Gunst das Violett, das ursprünglich gleich hell erschien.
Sättigung — Helligkeit — Intensität hq
objektiver Lichtstarke die Sättigung und werden weißlich. Hat
dagegen andererseits die Oberfläche, die uns gefärbt erscheint, gar
kein Licht mehr zurückzuwerfen, so verwandelt sie sich für uns in
Schwarz,
Die Farbenwirkung nimmt endlich gegenüber der Helligkeits-
wirkimg noch ab durch die Entfernung der Körper, an denen sie
erscheinen, und zwar mit der Verkleinerung der Netzhautbilder
durch die Feme. Hier behaupten Schwarz und Weiß allein ihren
Vorrang. Der Abstand, unter dem wir die Lage farbiger Dinge
auf farbigem Grunde noch deutlich genug erkennen, ist nie so groß
wie bei Anwendimg von Schwarz und Weiß allein. Er ist dann
am kleinsten, wenn die beiden Farben des Grundes und des Musters
wieder gleiche Helligkeit haben. Die krassesten Farbenunterschiede,
Blau und Gelb, Rot und Grün, sind nicht imstande, den mangel-
haften Helligkeitsimterschied zu ersetzen.
Von einer Farbe, die gesättigt und zugleich hell ist, sagen
wir deshalb im Kimstgebrauche, sie habe große Intensität.^)
Die intensivsten Pigmente finden sich unter den gelben; dann
folgen die rotgelben und die roten. Die grünen, namentlich die
blaugrünen sind im allgemeinen weniger intensiv, ebenso die blauen
und violetten. Purpur kann um so intensiver durch Pigmente her-
gestellt werden, je mehr es sich dem Rot nähert
Für die praktische Verwendung der Farben in Ornamentik und
i) Die Intensität der Farbe, wie sie hier für industrielle und künsderische
Zwecke definiert worden ist, muß wohl unterschieden werden von dem, was man
bei physiologischen Untersuchungen als Intensität der Farbe zu bezeichnen pflegt
(Brücke a. a. O.).
Eine gesättigte Farbe kann auch eine dunkle sein, wenn sie nur nicht so
dunkel ist, dafi sich ihr Charakter nicht mehr mit voller Entschiedenheit ausprägt.
Die intensive Farbe dagegen soll uns den Eindruck der Helligkeit machen ; sie muß
auf uns die Wirkimg eines kräftigen Lichteindruckes hervorbringen. Intensive Farben
finden wir demgemäß in solchen Pigmenten, die bereits bei den gewöhnlichen mitt-
leren Beleuchtungsgraden beträchtliche Mengen von Licht zurückstrahlen, während
zugleich dieses Licht so vorherrschend ist, daß uns die Menge des Weiß darin wenig
oder gar nicht merklich wird.
Der Mangel an Intensität kann auf zweierlei Umständen beruhen, entweder
darauf, daß die Menge des zurückgeworfenen Lichtes überhaupt zu gering ist, oder
darauf, daß es zu stark mit Weiß gemischt ist. Am geringsten muß die Intensität
natürlich bei solchen Pigmenten sein, deren Licht stark mit Weiß gemischt und
doch schwach ist. Es sind dies die Farben, die wir als stark mit Grau gemischt
ansehen können. Wir bezeichnen sie als gebrochene, die helleren unter ihnen
auch wohl im Gegensatz zu den intensiven als matte Farben.
I20 I^- ^ic Farben als Kunstmittel
Kunstgewerbe ist außerdem noch ein tatsächliches Verhältnis von
Wichtigkeit, das die offenen Sinne der ältesten Kunstvolker schon
früh herausgefunden und verwertet haben, das ist die Relation von
je zweien aus der Reihe als Ergänzungsfarben.
Zwei Farben, die, gleichzeitig auf derselben Stelle der Netzhaut
abgebildet, miteinander Weiß geben, sind es, wie wir wissen, die
solch eine Wechselbeziehung zueinander bewähren. Wo wir die
eine sehen, stellt sich das Verlangen nach der anderen ein; er-
scheint auch sie, so erfüllt sich die befriedigende Wirkimg. So
nennt man sie komplementäre oder Ergänzungsfarben.
Rot hat Blaugrün, Orange Grünblau, Gelb XJltramarinblau,
Grüngelb Violett zum Komplement^)
Wenn für die richtige Auswahl der befriedigenden Ergänzungs-
paare schon ein feinerer Farbensinn erforderlich sein mag, so ist
man andererseits gewiß früh schon auf dem Wege praktischer Er-
fahrung, d. h. durch Mißerfolge belehrt und niu* durch Schaden klug
geworden bei einem anderen Verhältnis der Farben, an das wir
schließlich noch erinnern müssen. Es handelt sich um die Tatsache,
daß es vorspringende und zurücktretende Farben gibt Wie
Schwarz und Weiß, deren Eigentümlichkeit wir schon bei früherem
i) Diese Reihe von Farbenpaaren gibt aber nur die konstitutive Unterlage für
mannigfaltige Modifikationen. Tatsächlich gibt es zu jeder Farbe eine Mehrheit von
Ergänzungsfarben, die sich durch ihren steigenden Gehalt an weißem Lichte und
eine demselben entsprechende Helligkeit voneinander unterscheiden. Hiemach
würden alle Glieder solcher Reihe nur einer und derselben Schattierung angehören,
da sie alle aus einer und derselben Tinte durch Zumischung von mehr und mehr
weißen Lichtes entstanden sind. Erfahrungsgemäß verändern aber hierbei gewisse
Farben ihr Aussehen derartig, daß man die ursprüngliche Tinte nicht wiedererkennt.
Trotzdem behalten sie die Eigenschaft als Komplement. Das Ultramarinblau z. B.
wird durch Zumischung von weißem Licht ins Violett gezogen und fungiert so als
Ergänzung zu Gelb. Weniger auffallend sind die Veränderungen bei anderen Farben.
Blaugrün wird unter allen Umständen dasselbe Rot zur Ergänzungsfarbe haben, d. h.
die Komplemente können nur eine unwandelbare Reihe desselben Rot bilden, indem
sie blasser und blasser werden. Ebenso werden umgekehrt die Ergänzungsfarben
eines bestimmten Rot alle demselben Blaugrün angehören und sich nur durch
ihre Helligkeit voneinander imterscheiden. Anders steht das Verhältnis zwischen
Gelb und Blau. Gewöhnliches Chromgelb fordert als gesättigte Ergänzungsfarbe
Ultramarinblau oder eine diesem nahekommende, dem Grünblau noch etwas näher
stehende Tinte, als weniger gesättigte, blassere ein bläuliches Violett, als noch
blassere Lila. Cyanblau dagegen verlangt als gesättigte Ergänzungsfarbe Goldgelb,
als weniger gesättigte ein blasses Orange und so fort.
Doch das sind empirische Tatsachen, die an dieser Stelle nur zur Orientierung
erwähnt werden.
Komplementärfarben. Vorspringen und Zurücktreten 121
Anlaß herbeiziehen mußten, bewähren auch die Farben solche posi-
tive oder negative Wirkung.
Die vorspringenden Farben sind Rot, Orange und Gelb; die
zurücktretenden sind die verschiedenen Arten des Blau. Grün und
Violett gehören weder mit Bestimmtheit der einen noch der anderen
Klasse an. Grün verhält sich vorspringend gegen Blau, namentlich
gegen Ultramarin, aber zurückweichend gegen Rot, Orange und Gelb.
Violett läßt sich deshalb nicht mit Bestimmtheit einordnen, weil das
Violett der Pigmente, mit dem wir es hier zu tun haben, neben dem
monochromatischen Violett immer auch Blau und Rot enthält, also
ein Gemisch aus Lichtsorten, die sich entgegengesetzt benehmen.
Die Qualität des farbigen Lichtes bestimmt indessen nicht
allein, ob eine Farbe vorspringend oder zurücktretend wirke; auch
die Quantität kommt dabei in Betracht. Dazu will endlich noch die
Stelle, wo sie erscheinen, mit dreinreden. Wir sind gewohnt, ver-
tiefte Teile beschattet, vorspringende beleuchtet zu sehen. Kann
man sich da wundern, wenn auch in Mustern, denen an und für sich
nicht die Absicht innewohnt, ein Relief vorzutäuschen, die hellen
Farben mehr vorspringend, die dunklen mehr zurücktretend er-
scheinen? Diese Wirkung kann so beträchtlich werden, daß sie
die Wirkimg der Farbe an sich, nach ihrem Range in der Skala,
überwiegt: daß z. B. ein lichtes Blau vorspringend erscheint neben
einem dimklen Grrün. Im allgemeinen aber ist dies weniger merk-
lich bei heterogenen als bei analogen Farben.
Bei buntfarbigen Mustern kommt dieser Beitrag des Subjekts,
dessen mitwirkende Gewohnheit wir schon eben festgestellt haben,
noch in anderer Weise in Betracht Es spielt nämlich dabei
mit, ob die Farbe in uns eher die Vorstellung eines stark be-
leuchteten, wenn auch an sich dunkel gefärbten, oder mehr die
Vorstellimg eines beschatteten, wenn auch an sich heller gefärbten
Objektes zu erregen geeignet ist Im ersteren Falle wird die Farbe
mehr vorspringen, im letzteren mehr zurückweichen, und zwar aus
demselben Grunde, aus dem helle Farben im allgemeinen vor-,
dunkle im allgemeinen zurücktreten.
Keiner der hier genannten Einflüsse ist für sich allein so
mächtig, daß er nicht durch eine geschickte Anordnimg imd sorg-
fältige Durchführung des Musters überwunden werden konnte;
aber die fordernden oder widerstrebenden Elemente, die in ihnen
liegen, sind Grundtatsachen, mit denen um so bestimmter gerechnet
wird, je weniger wir eine raffinierte Kunst vor uns haben.
122 I^- ^ic Farben als Kunstmittel
Schon die letzterwähnten empirischen Unterschiede haben uns
in die Verhältnisse der Körperwelt zurückgewiesen und auf den
engen Zusammenhang hingedrängt, in dem die Naturfarben der
Dinge mit deren tastbaren Eigenschaften stehen. Diese gewohnten,
festgewurzelten Beziehungen spielen, wie wir soeben finden, auch
in das Gebiet der freien Verwertung der Farben hinein, wo sie nur
als Reize für sich auftreten und den Zwecken der Ornamentik
dienen sollen. Wo die Farbe als Körperfarbe oder Lokalfarbe
fungiert, da wirkt gerade sie überzeugender, zwingender als man-
ches andere Merkmal auf unser Wirklichkeitsgefuhl. Es ist das
Sto£fliche, das uns bei dieser sinnlichen Wirkung in den Bannkreis
körperlicher Existenz hineinzieht Wo aber die gleichzeitige Be-
währung für unsere Tastorgane nicht mehr möglich ist oder die
Resonanz solcher Erfahrungen nicht maßgebend wird, da behauptet
sich noch inuner die Farbe in ihrer elementaren Kraft, sei es auch
nur im reinen Augenschein und ohne irgendwelchen Appell an die
Gegenstandsvorstellung. Rein als ästhetisches Erlebnis aber, so
abgesondert von allen Relationen sonst, brauchen wir sie noch nicht
einzufuhren, wenn es gilt, sie nun cds dienendes Hilfsmittel sowohl,
wie als positiven Wert im künstlerischen Verfahren des Schmuckes
zu begleiten.
Hier, wo die Farben als imterschiedene Sinnesreize vom Men-
schen benutzt und für Menschen bestimmt werden, entweder als
gleiche oder als ungleiche Elemente einer zusammengehörigen An-
ordnung von Menschenhand fürs Menschenauge, da sprechen wir
von Polychromie. Sie ist im Gegensatz zur Naturfarbigkeit der
Dinge eine vom Subjekt ausgehende Veranstaltung, also eine ihrem
Wesen nach willkürliche Auswahl der verfugbaren Farben, seien
diese nun als farbige Naturdinge oder als übertragbare Pigmente
vorhanden; diese Auswahl wird nach den Prinzipien der Symmetrie,
der Proportionalität und des Rhythmus geregelt.
Diese Regel fordert zunächst aus dem Bedürfnis des Subjekts
heraus unterscheidbare Einheiten. Das sind die einfachen, in ihrem
Charakter deutlich voneinander abweichenden Farben des vorhin
angegebenen Kreises; zu ihnen tritt häufig noch Schwarz und
Weiß hinzu. Werden diese einbezogen, so erheben sie sich sofort zu
Chorführern, die den ganzen Vorrat in zwei Reihen auseinander-
treten lassen. Unter Führung von Weiß ordnen sich die hellen,
gegenüber die dunkeln bis zu Schwarz. Das eine wirft sich gern
zur Dominante auf, das andere wird zur Folie und damit zum ru-
Polychromie 123
higen Grunde. Aber dies natürliche Verhältnis kann auch will-
kürlich umgekehrt werden. Bleiben die farbigen Mittel allein, so
bilden die einfachsten Grundfarben zu dritt oder viert, Rot und
Gelb, Blau und Grrün, den Hauptstock.
Das Prinzip der Symmetrie fordert zunächst gleiche Elemente;
zur Symmetrie der Farbe gehört aber nicht nur Identität der
Farbe als solche, sondern auch des Helligkeitsgrades. Wo
mehrere symmetrische Paare sich aneinanderreihen, wird die Farbe
für jedes Paar wieder derselben Tonlage angehören müssen, d. h.
nur die Qualität (rot, blau, gelb) ist veränderlich, die Helligkeits-
stärke bleibt dieselbe. Für die ganze symmetrische Zusammen-
stellung kommt entweder eine helle oder eine dunkle Nuance in
Betracht Diese Gleichheit der Tonlage gilt um so strenger, je
schlichter die Reihung ablaufen solL Denn jeder Übergriff aus der
dunklen in die helle Nuance oder umgekehrt, verletzt die Farben-
symmetrie. Er bringt einen Wertunterschied in die Anordnung,
und damit in die bisher ausschließlich waltende Koordination ein
Neues, die Subordination. Mit dem Eintritt dieser geht aber die
Symmetrie ihrer Alleinherrschaft verlustig und weicht der Pro-
portionalität der Farben.
Dies neue Prinzip fordert die Ungleichheit: jeder Kontrast
bringt es mit sich. Verschiedene Helligkeitsgrade geraten in fühl-
bare Abstufung. Wo soeben noch alle Glieder, etwa durch sym-
metrische Übereinstimmung der Formen, in friedlicher Gleichmäßig-
keit verharrten oder einförmig dahinflössen, da erhebt sich nun
durch Unterschiede der Helligkeit in der Farbe ein Widerstreit
Das Recht des Stärkeren macht sich bemerkbar und setzt sich
durch. Höhepunkte zeichnen sich aus gegenüber Senkungen. Je
nach der Große dieses Unterschiedes unterjocht sich ein helles
Element mehrere symmetrische von dunklerem Ton, vielleicht
mehrere Paare von solchen verschiedener Farbe. Es bilden sich
zusanunenfassende Gruppen nach dem Gesetz der Proportionalität
aller farbigen Bestandteile untereinander.
Die Intensität der Farbe erhebt ihren Träger zur Dominante.
Dieser Vorzug aber kann sich in Widerspruch setzen zu der räum-
lichen Anordnung, so daß der körperlichen Dominante des Systems
eine farbige Dominante als Konkurrent erwächst. Und die Ent-
scheidung in einem solchem Schisma wird von den besonderen
Bedingungen des Falles abhängen.
Da leuchtet aber auch sofort eine wesentliche Verschiedenheit
124
IX. Die Farben als Kunstmittel
ein. Wenn die Anordnung der Korper den Charakter der Ruhe,
des gesicherten Bestandes bewahrt, kommt durch die Farbe sofort
Bewegung in die Konstellation. Eine neue Beziehung dieses far-
bigen Lebens entsteht schon dadurch, daß die verschiedenen Farben
symmetrischer Paare oder die Höhepunkte proportionierter Grruppen
sich, etwa je zwei als Komplementärfarben, einander entsprechen.
So kommen die Momente der Spannung und Lösung, der Erwartung
und Erfüllung hinein, und je nach der Stellung nebeneinander in
Altemanz oder gegenüber in Korresponsion zum Austrag. Das
heißt, es entwickelt sich durch die latenten Bewegung^faktoren ein
mannigfaltiges Kräftespiel. Und dies ist die bereits voll entwickelte
Situation für das dritte Gestaltungsprinzip, den Rhythmus.
Bei solchem Zusammenwirken der gesättigten Einzelfarben und
ihrer verschiedenen Helligkeitsgrade, ihrer Intensitäten und ihrer
Relationen als Komplemente, sprechen wir von Farbenrhythmus im
eigentlichen Sinne. Und es ist klar, daß die Richtung dieser rhyth-
mischen Bewegungen bei der Natur der Farben sofort eine verschie-
dene wird nach allen drei Dimensionen, ganz abgesehen von allem
Zusammenhang mit körperlichen Substraten. Selbst die polychrome
Verteilimg auf einer Fläche erstreckt ihr rhythmisches Spiel nicht
nur nach beiden Ausdehnungen der Grrundebene, also nach Höhe
und Breite, sondern auch nach vom und hinten, vom Grunde gegen
uns zu oder von uns in die Tiefe des Grundes. Die hellen Farben
springen vor und die dunkeln zurück, auch wenn wir die besonderen
Klassen spezifisch vorspringender oder zurückweichender Farben
noch gar nicht dabei verwerten.
Je nach der Distanz der stärksten Kontraste in der ganzen
Farbenversammlung bestimmt sich auch die Dbtanzschicht zwischen
der Grundebene und dem Beschauer, die ungefähr als der Spiel-
raimi für diesen rhythmischen Tanz der farbigen Elemente oder für
das Auf- imd Abwogen ganzer Reihen, 2^nen, Wirbel und Kom-
plexe gelten darf. Haben wir es vollends mit Sammelkompositionen
unter einer Dominante und peripherischer Einrahmung zu tun, so
vollzieht sich die zentripetale und zentrifugale Bewegung auch wie
Einatmung und Ausatmung innerhalb des halbkugeligen Raumes
über dem Grunde, wie in einer Wirkungssphäre, in die unser Augen-
paar hineinragt, während die Parallelebene ihnen gegenüber nur
die andere Hälfte der Kugel abschneidet.
Da dieses Farbenspiel ganz unabhängig von den körperlichen
Massen sein ätherisches Leben zu entfalten vermag, so stellt sich
Farbenrhythmus und Helldunkeb-hythmus 125
noch ein wesentlicher Unterschied im Vergleich mit jeder Kom-
position körperlicher Massen im Räume heraus. Das ist das gleich-
sam der Korperwelt entrückte oder doch leicht darüber hinschwe-
bende Wesen, das uns unwillkürlich veranlaßt, seine Evolutionen
mit psychischen Erscheinungen zu vergleichen. In der Helligkeit
oder Intensität der Farben sehen wir ohne weiteres das Erkennungs-
zeichen geistiger Instanzen. Farbenbewegimgen werden uns zu
Äquivalenten von Gemütsbewegungen; der Wechsel aus einem ein-
heitlichen Farbenton in einen anderen wird zur vollen Analogie
eines Stimmungswechsels. Und in der farbigen Dominante an-
erkennen wir willig den Träger des Lebensprinzips oder die höchste
Instanz, die das ganze System zusammenhält, wie die Idee einen
mannigfach schwankenden Vorstellungskreis ordnend und klärend
durchsetzt
Aus dem bimten Wechsel seelischer Stimmungen und ihrem
wogenden Farbenspektrum glauben wir zu den abstrakten Regionen
des geistigen Daseins aufzusteigen oder abzukühlen, wenn statt
der polychromen Komposition nur das Widerspiel der beiden
äußersten Gegensätze am Ende des Hellen und des Dunkeln vor
uns auftaucht, das heißt wenn die reine Antithese von Weiß und
Schwarz das Thema bildet Das Ineinanderwogen von Licht und
Schatten hingegen, das Aufsteigen der Lichter zur Höhe und das
Hinabsinken der Schatten zur Tiefe, nennen wir nicht mehr Farben-
rhythmus, sondern Helldunkelrhythmus oder periodisch geglie-
derte Bewegung von Schatten und Licht Auch dieses optische
Erlebnis vollzieht sich uns gegenüber in einem dreidimensionalen
Raum Volumen, das hinten durch den Reliefgrund imd seine viel-
leicht schon schwankende Tiefenwirkimg begrenzt sein mag, vom
dagegen über das materielle Volumen der Gestalttmgsschicht hin-
ausreicht, so weit wie die höchsten Lichter hervorspringen und
unseren Augen die Distanz bestimmen, wo sie alle in einer Ebene
uns gegenüberstehen. Zwischen diesen weißen Höhepimkten und
den schwarzen Schatten des Grundes liegen auch bei einem weißen
Marmorrelief die Raimischichten der grauen Töne, der Halblichter
und der Halbschatten, in denen sich die Formen runden und aus-
einandersetzen; aber farbigen Augenschein oder gar koloristische
Reize sollten wir das nicht nennen, wo Genauigkeit des Ausdrucks
gefordert wird.
In diesem Zwischenreich der Helligkeitsgrade und ihrer Stufen-
folge liegen auch die kritischen Grenzen zwischen den vorsprin-
126 I^ ^^^ Farben als Kunstmittd
genden und zurückspringenden Elementen, „Entfernen sich
einzelne Stellen des Musters durch ihren Helligkeitsgrad zu sehr
von den anderen, indem sie sich vielleicht dem Helligkeitsgrad
des Grrundes annähern, so geschieht es leicht, daß sie für die Feme
schlecht wirken" (interpretieren wir Brückes Regel). „Es ist im
allgemeinen unzweckmäßig, unter den Lokaltonen der verschiedenen
Teile des Musters größere Helligkeitsdifferenzen auftreten zu lassen,
als zwischen ihnen und dem Grunde." „Bei Mustern, in denen ein-
zelne Lokaltöne sich in ihrer Helligkeit zu sehr von den übrigen
unterscheiden, geschieht es, daß die bezüglichen Partien sich für
die Feme von dem übrigen Muster trennen"; sie fallen heraus,
wie man sich in der Künstlersprache drastisch ausdrückt, oder
schlagen vor, stechen hervor, d. h. vor den anderen Werten in
ihrem gebundenen Rhythmus. Das Gesetz der Proportionalität ist
verletzt durch solche Überhöhung der Höhepunkte oder durch ihr
Gegenteil bei den lochartigen Vertiefungen in der dunklen Grrund-
ebene. Beruht jener Fehler auf einem zu hoch gegriffenen Trumpf
des Musters, so beruht dieser auf einem Verstoß gegen den einheit-
lichen Grund ton. Wir unterscheiden auch hier den Ausdruck
geflissentlich von dem entsprechenden Terminus in der Farben-
ökonomie, der Grundfarbe.
So wie in der Farbenkomposition eine bestimmte Farbe durch
ihre häufige Wiederholung oder quantitative Ausdehnung das Über-
gewicht erhält, so kann sie die Bedeutung als Grundfarbe in
Anspruch nehmen und wird überall, wo kein einfarbiger Grrund in
größerer Ausdehnung außerhalb des Musters vorhanden ist, als solche .
vorschlagen. Sie bildet gleichsam die Unterlage für den gesamten
proportionalen Aufstieg der übrigen Elemente bis zur höchsten
Dominante imd wirkt in den Grenzen der Subordination als deren
kontrastierender Widerpart Tritt dagegen keine einzelne Farbe
als Grundfarbe hervor, so gelangen alle einfach koordinierten
Farben als gleichwertige Bestandteile des Musters zur Geltung.
Waltet dieses Verhältnis durchweg, auch unter Verzicht auf eine
hervortretende Dominante, so kann auch die Ausgleichung des
Musters mit dem Grunde sich einstellen oder vielmehr die Frage,
was Grrund, was Muster sei, ganz in Wegfall kommen, weil beide
noch eins sind.
Auch in der adtägyptischen Polychromie sollte, wie Alois
Riegl berichtet, alles eben, ruhend, Grund sein. So lange gab es
kein Muster im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern nur einen
Polychromie und Kolorismus 127
aus lauter farbigen Kompartimenten bestehenden, durch seine
eigenen Teilkonfigurationen gemusterten Grund. „Was die Farben-
wahl als solche betrifft, so war sie bei den Altägyptem im allge-
meinen durch das physische Gesetz der komplementären Ergänzung
diktiert gewesen, wobei der gewünschte Einheitseindruck durch
den unmittelbaren Reiz der sinnlichen Wahrnehmung selber erzielt
wurde" (a. a. O. 177).
Die Polychromie der klassischen Antike hat auf absolute Klar-
heit des Musters gesehen und dieses als eine in sich aus engr^er-
bundenen und zusammenhängenden Teilen bestehende Einheit der
ebenso einheitlichen Masse des Gnmdes entgegengesetzt Zwischen
beiden Massen wird ein merkliches Gleichgewicht angestrebt.
Die Polychromie war, was sie auch nach unserem Begriffe
bleiben soll, ein System von willkürlich ausgewählten, klar unter-
scheidbaren Farben, das völlig frei, nur zu künstlerisch berechneter
Verteilung der Werte und im Einklang mit den Hausgesetzen der
Ornamentik, d. h. nach den Regeln der Symmetrie, der Proportio-
nalität und des Rhythmus gehandhabt wird.*)
Kolorismus ist dagegen etwas ganz anderes. „Koloristisch
nennen wir**, schreibt Alois Riegl, „eine farbige Gesamtwirkung
zum Unterschiede von der haptischen (plastischen) und der haptisch-
op tischen (malerischen)" (a. a. O. S. 38). Da dürfte doch die Unter-
scheidung der koloristischen von der malerischen Gesamtwirkung,
die nicht allein auf haptisch-optischer Gesamtwirkung beruhen kann,
einiges zu wünschen übriglassen.
Nähere Erläuterung empfangen wir aus dem Satze (S. 156):
„Eine Kunst mit überwiegend koloristischen Absichten kann über-
haupt körperlich greifbare Motive nicht wohl brauchen, muß daher
die tastbjire Körperlichkeit nach Möglichkeit einschränken." Damit
gewinnen wir die Ausschaltung der tastbaren Eigenschaften der
Körper und die Anweisung auf den reinen Augenschein. Zu den
ausschließlich sichtbaren Eigenschaften rechneten wir in erster
Linie die Farbe, und darnach hätten wir die Übereinstimmung mit
dem Namen „koloristisch", wie es scheint, auch sicher in der Hand.
Nicht so bei Riegl. Er braucht den Ausdruck mit Vorliebe und
fast ausschließlich für Helldunkel Wirkungen, d. h. für Licht- imd
Schattenrhythmus, unbekümmert um die Farben im eigentlichen
Sinne. Er sieht in der „Tendenz auf stetigen flimmernden Wechsel
i) Vgl. Zur Frage nach dem Malerischen, S. 89.
128 I^- Die Farben als Kunstmittel
von Hell und Dunkel" eine geradezu koloristische (145), in der
„wechselseitigen Kompensation von Hell und Dunkel ein koloristi-
sches Grundmittel" (147). Die vom Spiel der Lichter und Schatten
erreichte „flimmernde Bewegung verrät die koloristische Absicht"
(155, 194). Die vollständige Auflösung in kleine helle und dunkle
Elemente, — positive und negative Kleinzacken beim Akanthus —
gilt als schlagendes Beispiel für den antiken Kolorismus (156).
Das bedeutet also die Einschränkimg des Begriffs auf eine einzelne
Seite der tatsächlichen Erscheinungen, nämlich auf die Helligkeits-
grade oder gar auf die Schwarzweißwirkungen in höchster Beweg-
lichkeit Die andere Seite, die wir gerade für die spezifische
Eigentümlichkeit der Farben weit halten müssen, wird dabei aus
den Augen verloren.
Dieser Hauptmangel der Definition wird auch da nicht aus-
geglichen, wo es sich imi die Unterscheidung des antiken und des
modernen Kolorismus handelt Der moderne ,4äßt die tonangebende,
vereinheitlichende Note vom mehr oder minder lichterfiillten Räume
ausgehen, oder, soweit eine besondere Lichtquelle vorhanden ist,
läßt er dieselbe durch das Medium des gemeinschaftlichen Raumes
den übrigen Einzeldingen sich mitteilen: infolgedessen dominiert
entweder das Licht oder der Schatten, oder aber es stehen Licht
und Schatten in großen kontrastierenden Massen gegeneinander.
Der antike Kolorismus dagegen ignoriert den Raum; . , . die Kom-
positionseinheit ruht im Licht- und Schattenrhythmus, der sich
naturgemäß noch immer in der Ebene, nicht aber in dem ihm un-
zugänglichen Räume entfaltet" Sehen wir ab von der letzten,
unseres Erachtens naturgemäß unstatthaften Einengimg auf die
Ebene, wo es sich nur um eine Raumschicht, imd zwar auch beim
Relief um ein über den stofflichen Gestaltungsraum ^) hinausreichen-
des Raumvolumen handeln kann, so bleibt doch diese Unterschei-
dung außerordentlich wichtig und für das Verständnis der Spätantike
von entscheidender Bedeutung. Mit Recht fügt Riegl hinzu: „Es
begreift sich, daß dieser antike Kolorismus auf uns eine unruhige,
flackernde Wirkung ausübt" Ob er „die Spätrömer hingegen mit
der gleichen Empfindung der Harmonie erfüllt hat, die wir Moder-
nen vom Raumkolorismus empfangen," möchte ich lieber dahin-
gestellt lassen, da mir zweifelhaft scheint, ob jene Spätrömer gerade
i) Vgl. Schmarsow, Plastik, Malerei und Reliefkunst. Leipzig, S. Hirzel 1899,
S. 76 ff. Näheres weiter unten.
Kolorismus
129
die Harmonie als Ziel all ihres spezifischen KunstwoUens erstrebt
haben. Was sie hier wollten, kann doch gerade in der prickelnden,
aufreizenden Verwirrung gelegen sein, die niemals Harmonie war
und ist. Diese optische Wirkung, das ruhelose Flimmern überwiegt
aber, je flacher das Substrat gehalten ist, je notwendiger also der
Licht- und Schattenrhythmus über die Bannebene hinausdringt und
über die Grenzen der Unterlage hinweg in deren Umkreis diffuse
Bewegung verbreitet
Was wir unter Kolorismus verstehen, und für alle Künste
Perioden grundsätzlich verstehen sollten, ist aber nicht die farblose
Helldunkelwirkung, nicht allein jedwede rhythmische Bewegung
von Licht und Schatten, sei diese nur auf eine Vordergrundschicht
des Raumes beschränkt, oder durch die ganze Weite eines Tief-
raumes hindurchgeführt. Er ist im Gegenteil eine farbige (kolo-
ristische) Gesamtwirkung im eigentlichen Sinne des Wortes Farbig-
keit, im Unterschied sowohl von Clair-obscur wie von monochromer
Behandlung sonst Es ist Einheitlichkeit in der Vielheit der Farben.
Somit hätten wir den Kolorismus auf der anderen Seite zu unter-
scheiden von der Polychromie. Diese letztere war, wie wir uns
gesagt haben, eine willkürliche Veranstaltung, also ein System von
Farben, das dem menschlichen Bedürfnis nach Ordnung, Regel-
mäßigkeit, Übersichtlichkeit bei aller Abwechslimg der Reize Ge-
nüge leistet Es entspricht dem psychischen Verfahren der Zu-
sammenfassung von Empfindungen zu Vorstellungen, von Komplexen
unter einer Einheit. Die Farbenreihe der Polychromie besteht aus
möglichst unterscheidbaren, ja kontrastierenden Elementen, und ihre
Farbenwerte sind unabhängig von der Naturfarbe der Dinge, un-
bekümmert um die tastbaren Eigenschaften der Körper, von ihnen
ablösbare und auf andere übertragbare Pigmente. Der Kolorismus
dsigegen entsteht gerade im Einverständnis mit den natürlichen
Körperfarben und Lokalfarben, mit ihrem stofflichen Wesen imd
und ihrem genetischen Zusanmienhang. Während in der Polychromie
die Einzelfarben sich scharf voneinander sondern und klar unter-
scheiden, gehen sie im Kolorismus ineinander über; ganze Reihen
von Nuancen einer und derselben Farbe folgen hier oder konzen-
trieren sich auf einen Höhepunkt Der Kolorismus verbindet sich
mit den Mächten des Lichtes und der Schatten, die im Räume
walten. Er sucht das höhere Naturgesetz, das über sie alle hin-
greift, und schafft im Einklang mit diesem; er vervollkommnet sich
im Fortschritt imseres Naturverständnisses und mit der Ausbreitung
Schmarsow, Kunstwissenschaft. O
I^O I^- ^ic Farben als Kunsttnittel
des Naturgefiihls. Damit aber rühren wir auch an seine Grenzen.
Mag er sich in seinen eigenen Schöpfungen auch zur farbigen Welt
zu erweitem streben, so erweist sich der Makrokosmos doch letztlich
als ein Schauspiel für einen unendlichen Geist, dessen Harmonie
wir Menschen nur zu ahnen und in Mikrokosmen für imseren Ge-
sichtskreis wiederzugeben vermögen. Kolorismus ist aber dem-
gemäß kein System, sondern vielmehr einem Organismus vergleich-
bar, — jede vollendete Leistung ein Individuiun, in dem sich das
Naturgesetz zugleich in seiner Mannigfaltigkeit und in seiner Einheit
bewährt, wie in einem konkreten Fall. Jedes Gemälde ist, als far-
bige Gesamtwirkung betrachtet, gleichsam ein individuelles Lebe-
wesen, das sein Bildungsgesetz in sich selber trägt. Deshsdb kann
die Definition des Kolorismus auch auf dem Gebiet der Malerei
erst ihren Abschluß finden;*) denn dort erst verbindet sich der
Farbenrhythmus mit dem Licht- und Schattenrhythmus zu jener Be-
lebung einer künstlerisch durchgegliederten Tiefenschau, zwischen
nah imd fem, d. h. zu einer die ganze Weite des Horizonts er-
füllenden Dynamik, die sich frei und rein im Reiche des Sichtbaren
allein vollzieht.
Betrachten wir statt dessen nur ein lehrreiches Beispiel, wie
der Kolorismus sich in der Natur selbst der Polychromie entwindet.
Auf den Flügeln der Schmetterlinge, wie auf dem Gefieder der
Vögel, also aus dem Organismus hervorgegangen, erkennen wir
den durchgeführten Farbenrhythmus. „In vollkommener Bewährung
dessen, was wir den Grundton nennen, ist ihre Malerei von vorn-
herein der höchsten Wirkung sicher. Sie beginnt meistens unter
mannigfaltigster Zusammenstimmung der wiederkehrenden Akkorde
mit einem Vorspiel in gebrochenen Tönen, aus dem mit leise da-
zwischengleitenden Anklängen endlich die reine Farbe des Regen-
bogens, gewöhnlich in Gestalt des sogenannten Pfauenauges, doch
nicht ohne daß in dessen unmittelbarer Umgebung die Folie in
wirksamster Weise wiederholt wäre, als Preis und Ziel des Ganzen
i) Sowie Koloristen sich ein System ausbilden, das für alle Aufgaben gelten soll»
oder alle ihre malerischen Einzelschöpfungen durchsetzt, so kommt der Rückfall in
Polychromie zum Vorschein. Der systematische Kolorismus geht über Naturfarbigkeit
als seine Unterlage und Voraussetzung willkürlich und abstrahierend hinweg, zu
konventioneller oder subjektiver Farbenharmonie. Bei Rubens z. B. können wir
schon von einer Polychromie jenseits der Naturfarbigkeit reden. Andere absichtliche
Verschiebungen der beiden Register begegnen uns in der Dekorationsmalerei (vgl.
Beiträge zur Ästhetik der bildenden Künste I, S. 107 ff., 87 ff.).
Kolorismus
131
hervortritt. Im Gegensatz zur bloßen Farbenskala, die erst durch
künstlerische Verwendung ihren Wert erweisen mag, haben wir
ein lebendig bewegtes Schauspiel mit Anfang, Entfaltung und
Abschluß. In dem bedeutungsvollen Vorgange dieses Farben-
rhjrthmus bewegen sich die Farben als Potenzen des Lichtes durch
ähnliche Wandlungen wie die Tone eines Musikstückes zur Har-
monie, ganz so wie unser Dasein und Leben sich zum vollen Be-
wußtsein hindurchringt, aus dessen eigener Natur heraus wir sowohl
Melodie wie Farbenstimmung zu verstehen imd zu würdigen ver-
mögen" (A. v. Eye).
9*
X.
KLEroUNG — KUNSTHAND WERK
EIGENE BEWEGUNG UND FREMDES MATERIAL
ZWECKMÄSSIGKEIT UND GEBRAUCHSZWECK
Schmetterlingsflügel und Vogelgefieder sind wie ein farbiges
Kleid, das die Natur ihren Kindern mit auf die Welt gegeben, und
mögen mit ihrer schillernden Pracht den Neid des Menschen
erwecken. Im heißen Sommer wünscht er sich wohl das glatte
Schuppenkleid der Fische mit ihren Flossen, im Winter steht sein
Sinn nach dem zottigen Fell des Bären oder dem wolligen Vlies
der Schafe. Und diese müssen es hergeben, wenn die Kälte herein-
bricht. Der Mensch tritt ja nackt ins Leben. Diese Tatsache
wiederholt sich bei jeder Geburt. Sie wird auch wohl bei der
Entstehung unseres ganzen Geschlechtes vorgelegen haben, wie
inmier wir diesen Vorgang für unser Verständnis zurechtlegen
mögen. Aber die Anlage des Menschen läßt ihm keine Ruhe,
diese Tatsache als Gegebenheit hinzunehmen. Dem lebendigen
Drange der Betätigung und des Ausdrucks folgend, legt er alsbald
Hand an sich selbst und glaubt sich erst wirklich gewonnen zu
haben, wenn er sich selber wiedergegeben und ausgestattet hat,
wie er genommen sein will.
Dieser Trieb schließt den Grrund und das Ziel aller Bildung
in sich; in ihm liegt das ganze Geheimnis der menschlichen Kultur.
Mag er in seinen ersten Regungen sich auch für unsere Begriffe
noch so roh und befremdlich äußern. Die Ringe im Ohr oder in
der Nase sind, wie der Strick um die Lenden, ebensogut solche
Umgestaltungen, wie unsere Kronen oder Ordenskreuze. Es sind
für den Wilden seine Erfindungen, seine Taten, mit denen er vor-
zustellen glaubt, was er bedeuten mochte, — freilich sind es auch
Verirrungen und Fehlgeburten der schöpferischen Phantasie, die
immer dort auftreten, wo es eigentlich nichts umzuformen gibt, am
eigenen Leibe, In Ländern, wo das Bedürfnis keine Kleidung er-
Mimik — Ornamentik — Kleidung i^^
fordert, wird ja durch Tätowieren ein Äußerstes begangen, und
wird bewundert, weil es den Trieb nach Ausdruck und Anerkennung
des eigenen Wertes befriedigt. Nirgend leuchtet so unmittelbar
ein, daß alle Ornamentik nur bleibender Niederschlag ursprünglich
mimischer Ausdrucksbewegiing ist, die den wertvollen Gegenstand
umspielt imd schließlich antastet, wie hier in dem geduldigen
Linienziehen des Gefühls auf der eigenen Haut Welchen Miß-
handltmgen der Korper bei solcher Liebkosung unterworfen
werden kann, lehrt aber noch erstaunlicher die Geschichte der
Tracht, die Metamorphose der Kleidungsstücke^ selbst bei den
Kulturvolkern Europas. Die innere Nötigung jedes Triebes, sich
selbst zu steigern und zu überbieten, muß immer aufs neue angerufen
werden, um diese Verwandlungen der menschlichen Gestalt auf
dem Theater der Weltgeschichte einigermaßen zu begreifen, ohne
das ganze Schauspiel nur wie eine Affenkomödie zu bewerten. Es
gehört eine beträchtliche Dosis historischer Duldsamkeit dazu, diese
Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, in die er hinein-
geboren wird, noch als eine künstlerische anzuerkennen. Und doch
bewährt sich kaum irgendwo überzeugender als hier das Zusammen-
spiel von Mimik und Ornamentik beim Zustandekommen der Klei-
dung imd Tracht, des Anstands imd Benehmens, der Lebensart und
Sitte. Der Wirkungskreis der beiden uranfänglichen Betätigungs-
weisen liegt eben in der Wirklichkeit selbst, im ganzen Bereich
des Lebens. Und eine ausführliche Bearbeitung dieser Gebiete
würde einen lunfassenden Bestandteil der Kulturgeschichte zu einem
Beitrag der Kunstgeschichte machen. Solange solche Umarbeitung
in ihrem Sinne nicht vorliegt, kann die Kunstwissenschaft jene Vor-
bereitungen des künstlerischen Schaffens auch immer nur als Gegen-
stand einer Hilfswissenschaft betrachten.
Wir würden uns natürlich gern prinzipiell einverstanden er-
klären, wenn Alois Riegl ausspricht: „die Entwickelungsgesetze
der Tracht sind von dem gleichen allbeherrschenden Kunstwollen
diktiert, wie diejenigen jeder anderen kunstschaffenden Tätigkeit
des Menschen." Nur möchten wir auch da wohl an die historische
Bedingtheit des Kimstwollens erinnern, die Gottfried Semper so
beherzigenswert in der Analyse des Kunstwerdens betont hat. Er
stellt sich als Aufgabe nicht „das Hervorbringen einer beliebigen
Kunstform zu zeigen, sondern deren Entstehen." Seiner Stillehre
ist das Kunstwerk „ein Ergebnis aller bei seinem Werden tätigen
Momente." Und wenn Semper, vielleicht in Überschätzimg des
17^ X. Kleidung — Kunsthandwerk
Ererbten, der überlieferten „Typen und Symbole, die sich im Gange
der K\ilturgeschichte auf das mannigfaltigste umbildeten", gemeint
hat: „nichts ist dabei reine Willkür, sondern alles durch Umstände
imd Verhältnisse bedungen", so sollte uns Historikern wenigstens
die Warnung darin einleuchten, dem „allbeherrschenden Kunst-
wollen" nicht absolute Machtvollkommenheit gerade da zu vindi-
zieren, wo es in jeder Generation sich so mit dem Vorgefundenen
und Gewohnheitsmäßigen abzufinden hat, wie bei diesem Eingreifen
in die Wirklichkeit, in das tägliche Leben selber. Ornamentik ist
noch keine reine Kunst, weil sie die verherrlichten Werte noch
nicht selber hervorbringt, haben wir uns oben gesagt. Die Aus-
drucksbewegung und ihr Niederschlag in Kleidung, Benehmen und
Lebensart bringen freilich schon selber etwas hervor, sind aber in
weitem Umfang auch noch omamentale Begleitung anzuerkennender
Werte, und die flüchtige Natur der Gebärde, wie der Verkleidung,
reißt sie selber lange mit fort in dem allgemeinen Strom des Ge-
schehens. Ihre Gestaltungen erheben sich selten zur Freiheit des
vollen, für sich selber verantwortlichen Kunstwerks und gehören
deshalb vielfach in das Übergangsgebiet werdender Kunst, gerade
so wie die Gebilde des Kunstgewerbes für den Gebrauchszweck
der Arbeit und des Tagewerks.
Eine andere Schwierigkeit liegt in dem Beweismaterial zur
Feststellimg des KunstwoUens auf diesem Gebiete. Bei allen
älteren Perioden sind wir auf die Kunstdenkmäler angewiesen und
schließen aus diesen auf die Tracht In ihnen aber erscheint die
Kleidung ja bereits abermals überarbeitet, und zwar nun im aus-
gesprochen künstlerischen Sinne, noch den Bedingungen der
Darstellung, den Forderungen des Stiles angepaßt Das Urteil
über sie kann also nicht für das Urbild, die wirkliche Tracht, ohne
weiteres gelten. Die freie künstlerisch behandelte Gewandung ist
aber etwas ganz anderes, oder sollte wenigstens nach den reinen
Begriffen idealer Kunst etwas ganz anderes sein, als die Tracht,
das Kostüm. Die Geschichte der „Draperie" hängt mit der Ge-
schichte der menschlichen Gestalt in plastischer tmd malerischer
Darstellung aufs engste zusammen, und der Wandel des Kunst-
woUens, der sich in ihr ausspricht, kann nur dort verfolgt werden.
Auf jeden Fall gilt jedoch auch für die Tracht dasselbe wie
bei den Kunstwerken als Urkunden des KunstwoUens. Beobach-
tungen über Einzelheiten, über diesen oder jenen BestandteU, unter
diesem oder jenem Gesichtspunkt reichen nicht aus: die Frage
Gewandung und Tracht I7c
geht auf das Ganze; die methodische Prüfung muß erschöpfend
durchgeführt werden. Dies Ganze stellt sich indes in den Anfangs-
perioden allein als ein verhältnismäßig Einfaches dar, das wir un-
mittelbar verstehen könnten. Im Lauf der Zeiten wird es ein
äußerst Kompliziertes und endlich ein so Variables, daß wir mehr
Rätsel als Aufklärung damit gewinnen, imd daß der vorausgesetzte
Parallelismus zwischen Tracht und Kunst in manchen Streit über
die Priorität der einen oder der anderen auslaufen muß. Unter
diesem Übelstand leiden z, B. auch WölflFlins Versuche, die Klei-
dung und das Auftreten der Menschen zur genetischen Erklärung
des Barocks heranzuziehen,*) von dem oberflächlichen Geschwätz
der kulturgeschichtlichen Ausblicke anderer gar nicht zu reden.
Gehen wir ausschließlich den ernstgemeinten Bemerkungen
Riegls über das Altertum nach, so sind schon die Zweifel stärker
als der Glaube. „Das älteste streng haptische Kunstwollen", meint
er, ,yfand offenbar seine größte Befriedigung bei Vermeidung aller
körperlichen Hülle, die ja nur eine Verunklärung der tastbaren
Körperlichkeit mit sich bringen konnte." Das ist eine Voraus-
setzung, die prinzipiell sehr erfreulich wäre, wenn nur nicht An-
thropologen und Ethnographen dagegen Einspruch erhüben. „Die-
selbe Auffassung klingt noch deutlich bei den Ägyptern an", lesen
wir weiter; „soweit dieses Volk eine Kleidertracht angenommen
hat, blieb dieselbe allezeit entweder tastbar faltenlos, oder wo
Falten vorkommen, wurden sie möglichst seicht, mehr tastbar
als sichtbar, gemacht" Da wäre wohl Gelegenheit gewesen,
die Vorliebe für die Ebene bei den Ägyptern als Erklärung dieser
Gewandflächen einzuführen und damit den Gegensatz zwischen
Körperrundung und Kleidungsstück zu erklären. Der kurze Be-
richt (S. 159) geht aber darauf nicht ein, sondern eilt zu den
Griechen weiter. „Wie sie das Trachtenproblem gelöst haben, ist
bis zum heutigen Tage einer ihrer größten Ruhmestitel geblieben.
Das Grundprinzip ihres Kunstwollens — klare Trenmmg und doch
harmonisch-notwendige Verbindung der Teile untereinander — haben
sie an der Tracht in der Weise verwirklicht, daß sie die Kleidung
sich vollkommen frei und selbständig vom Körper loslösen und
die Glieder dennoch in unmittelbarer Klarheit begleiten ließen.
Das Mittel hierzu war die gefaltete Draperie; die Kleidung wurde
dem Körper frei übergeworfen, nicht enge angezogen und auch
j) Renaissance und Barock. München 1888.
136 X. Kleidung — Kunsthandwerk
nicht festgebunden . . . Ein Hinausgehen über dieses Stadium der
klassisch-antiken Tracht bedeutet schon der gegürtete Chiton,
Noch bauscht sich das Gewand in freiem Wallen um die Glieder
herum, aber wenigstens an einer Stelle erscheint es bereits dem
Körper darunter untergeordnet und dienstbar gemacht . . . Allmäh-
lich wuchs aber dsis Streben nach Festlegung des Gewandes usw."
Wieviel erklärt uns diese Reihe von Angaben fiir das Kunstwollen?
Sie führt uns zur Fibula, zum Gürtel, zur Schnalle, doch nicht zimi
Urquell all dieser Erfindungen, dem Lebensgefühl und der Selbst-
darstellung der Menschen, die sie getragen. Wenn wir uns beim
Ägypter sagen dürften, das Prinzip der ganzen Auffcissung beruhe
darauf, daß der organische Körper unter das Gesetz der kristalli-
nischen Regelmäßigkeit gestellt wurde, so hätten wir wenigstens
einen Ausgangspimkt, den Sieg der menschenwürdigen Freiheit bei
den Hellenen zu begfreifen, auch imter dem Zuwachs stofflicher
Hülle über den ganzen Leib. Aber eine solche Theorie würde
ims mitten hineinfuhren in weitere Zusammenhänge, von denen an
dieser Stelle noch nicht vorgreifend gehandelt werden kann. Die
Klleidung bildet nicht nur eine Erweiterung des Leibes, sondern
auch einen Ausdruck des Geistes. Sie nimmt vom Charakter ihres
Trägers an und entspricht der höheren Würde, die er selbst sich
zuschreibt Sie geht als eigene Schöpfung über die zufallig ge-
gebene, bloß natürliche Beschaffenheit unseres Körpers hinaus, und
verkündet den Stand der Bildung, wie die Ansprüche des erwor-
benen Bewußtseins. Bis dahin gibt es noch manche Übergangsstufe
zu erklimmen.
Der Schmuck, den wir zunächst nur als Zeichen unserer An-
erkennung von außen anheften, erhält allmählich nähere Beziehung
zum Geschmückten. Dau'aus erwächst ihm sinnvolle Bedeutung,
und diese verleiht wieder jenem einen bestimmten Rang. Diesen
Vorgang können wir nirgends so überzeugend beobachten, wie an
der Hand des Kunstgewerbes, des gebrauchszwecklichen Schaffens,
und seines Zusammenhanges mit Mimik und Ornamentik durchhin.
Die Werkzeuge, die der Mensch sich erfindet oder auswählt,
sind zunächst nichts anderes als Fortsetzungen oder Besonderungen
seiner eigenen natürlichen Organe. Und die wichtigste Vermittlerin
ist dabei seine Hand, mit der er sie ergreift und handhabt, wie
wir treffend sagen. Schon diese Hand selber beschäftigt auch im
Einfühlung I^y
primitiven Zustand der Lebensweise das scharfblickende, überall
beobachtende Auge durch ihre Gliederung und ihren Bau bei jeder
Gelegenheit. Sie wird zu mannigfaltigen Leistungen geschult und
unter deren Einfluß entwickelt; sie verwandelt im Gebrauch der
Finger in jedem Augenblick ihre Form und ihr Gebahren. Sowie
der leiseste Anlauf zu einer zugreifenden oder sich ausstreckenden
Bewegung genommen wird, so regt sich auch bei ihrem Anblick
schon die Körperempfindung, die mit solcher Haltung, solcher
Streckung zusammenhängt^ und wir übertragen den Willensakt in
den Zusammenhang, der so sichtbar die Teile verkettet, von der
Hand weiter in den Arm, vom Arm durchs Schultergelenk in den
Riunpf imd hinein an den Ursprung der zielstrebigen Muskel-
kontraktion, Wir vergleichen mit diesem Werkzeug aller Werk-
zeuge unsere minder geschickten Füße. Wie manche wichtige Rolle
spielen sie durch ihren festeren Zusammenhalt, im Verein vollends
mit den Beinen bis an die Hüften hinauf 1 Der Vollzug bestimmter
Arbeitsleistungen und Klraftproben, die gerade im Gelingen die
größte Befnedig^ung gewähren, kann nicht umhin, die Vorstellung
des zweckentsprechenden Verlaufs imd des wohlberechneten Inein-
anderg^eifens edler Glieder auszubilden, und niemals taucht die
einmal erworbene wieder auf, ohne die Gefühlsnote der Spannung
und Lösung mit sich emporzufiihren. Ja, der Impuls zur Wieder-
holung huscht gleichsam vorüber wie eine Abbreviatur des ent-
scheidenden Verlaufes. Ist es nicht, als enthielte er selbst wie im
Keime das allerkleinste Abbild der ganzen Entfaltung?
Unmittelbare Weiterwirkung des eigenen Gefühls über die tat-
sächlichen Grenzen unseres Körpers erleben wir alle Tage, mögen
wir mit dem Fuß den Steigbügel treten oder das Roß am Zügel
lenken, indem imsere Finger im Lederriemen, den sie fassen, den
Kontakt bis ans Gebiß des Tieres erstrecken, so daß jede kleine
Zuckung dort am anderen Ende gespürt wird
So versteht sich ganz von selbst, daß alle Geräte, die wir her-
stellen, sich nicht allein den Gliedmaßen und Körperteilen, für die
sie gedacht sind, anbequemen müssen, sondern auch daß sie die
andere viel anerkennenswertere Eigenschaft ausbilden, in ihrer Ge-
stalt schon ihre Bestimmung zu verkünden. Die Ausdrucksform
der menschlichen Bewegung wird auf diesen Gegenstand übertragen,
unwillkürlich in seine ganze Ausdehnung fortgepflanzt und in der
Herstellungsarbeit immer fühlbarer durchgeführt Im Gebrauche
selber wirkt er nicht anders als ein Glied von ims selber, und die
Ijg X. Kleidung — Kunsthandwerk
Vorstellung der Tätigkeit pri^ bei jeder neuen Herstellimg des
Werkzeuges ihm schärfer den Charakter dieser Verwendung auf,
solange es nur vom eigenen Herrn für diesen besonderen Zweck
gearbeitet wird. Wie die Hand und ihr Arm, der Fuß und das
Bein daran, so spricht auch das Instrument, nach deren Ebenbild
wie ein Hebelarm geformt, oder ihrem Baue als Fortsetzung an-
gepaßt, den Funktionswert aus, den wir in innerer Einfühlung in
diesen Gebrauch auch unmittelbar verstehen. Der Anschluß an die
Korperbewegung des Menschen und die Arbeitsleistung seiner
Organe geben dem so erwachsenen Gegenstand eine bleibende
Gebärde, daß manche von ihnen uns auch im Süllstehen oder Da^-
liegen schon anmuten wie ein abgelöstes Glied, das nur zeitweilig
außer Dienst bei Seite gestellt worden. Wir erkennen an jenem
toten Ding da die Verwandtschaft zu dem Mechanismus des orga-
nischen Geschöpfes. Mag es aus Knochen bestehen wie unser
Gebein, oder aus Holz wie die Arme des Eichbaums, ja selbst aus
kaltem Metall, — es entsteht der Eindruck, als sei der Dienst ihm
nicht allein von außen aufgenötigt, sondern von innen abgewonnen,
und erfolge demgemäß bereitwillig wie ein Ausfluß der eigenen
Anlage, wie eine selbstverständliche Betätigung seines Wesens.
Solange er ungebraucht, nur seines lebendigen Gefährten wartet,
unterscheiden wir den Gegenstand vom eigenen Leibe, gestehen
ihm aber einen Anteil von Selbständigkeit zu. Als sprechendes
Beispiel liegt dort am Boden neben dem schlafenden Jäger sein
Bogen: seine geschwungene Form verrät die Federkraft, die in ihm
schlimimert, und die schlaff daran hängende Sehne zeigt die Lösung
der Glieder wie bei seinem Herrn. Die Armbrust vereinigt mit
dem Bogen den straff gerichteten Körperteil des Trägers und kann
auch bei ungespannter Sehne nicht mehr so hilflos und abhängig
erscheinen, da der Arm sich nicht lässig zu beugen weiß wie der
unserige. Die Sense wieder nimmt sich aus wie gebogen oder ge-
knickt, als hätte sie ein Gelenk zwischen beiden Gliedern, deren
eines sich wie ein verlängerter Arm erstreckt, während der andere
herumgreift wie eine verlängerte Hand. Im Vollzuge der Leistung,
deren sie fähig ist, scheint sie und der Mäher zusammengewachsen,
wie aus einem Guß. Bestimmt der Schnitter die Sense oder die
Sense den Schnitter? Es ist ein lebendiger Vorgang der Organisa-
tion, den die Menschenhand, ja imser ganzer Menschenleib vollzieht,
indem sie das bildsame Material mit ihrem Wesen durchdringen.
Dieser Übertragimg der Ausdrucksbewegfung imd des Funktions-
Eigene Bewegung und fremdes Material i^g
wertes leistet nun aber das verschiedenartige Material, das wir be-
nutzen, mehr oder minder Widerstand. In seiner Verwandtschaft
mit unserem Wesen, die ims leicht vertraut wird, oder seiner Fremd-
heit, die wir zunächst gar nicht verstehen, lernen wir eben den
Charakter der vorgefundenen Naturstoffe überhaupt unterscheiden.
Die Aste des Baumes sind wie die Knochen des Tieres nichts
Unverständliches, Fremdartiges. Das Holz wächst wie unsere eige-
nen Glieder, streckt sich oder krümmt sich wie sie. Deshalb ge-
rade wählen wir die abgebrochenen Glieder der Eiche, wo wir einen
Haken als härteren Vertreter unserer Finger oder unseres Armes
brauchen können, um ihm die Leistung dauernd zu übertragen, die
unsere natürlichen Werkzeuge nur vorübergehend erfüllen mögen.
Ihn setzen wir fest an seinen Ort, aber an unserer Stelle, während
wir selbst im nächsten Augenblick schon anderswo eingreifen oder
die mannigfaltigsten Fähigkeiten anderer Art erproben. Die Hal-
tung des Hakens ist nur eine festgewordene Beugung, die unsere
Gliedmaßen in schneller Folge mit anderen Stellungen abwechseln
lassen. Aber was uns schmerzen würde auf die Dauer, leistet er willig
und ohne Murren. Diese Bereitschaft im Entgegenkommen ist seine
Gebärde, und beim Aufhängen eines Kleides daran setzt unser vor-
schauendes Auge die erstarrte wieder in Fluß. Die Wiederholung
des Erlebnisses macht den stummen Diener zum vertrauten Genossen
unserer Behausung, dessen andersartigen Vorzug wir anerkennen.
Das alles geschieht beim Holze wie von selbst, nur weil es
organisch gewachsen ist und in diesem Stück sich unseren Glieder-
formen nähert. Auch der regelmäßig behauene Stamm, der diese
Ähnlichkeit verleugnet, weil man ihm die Rinde abgeschält und
seiner Rundung die ebenflächige kristallinische Form aufgenötigt
hat, befremdet uns nur aus der Feme imd als Ganzes in dieser un-
gewohnten Erscheinung. Kommen wir ihm näher, entdecken wir
die Spuren des Wachstums in dem Zug seiner Fasern oder Ringe,
in der verschiedenen Färbung der Teile oder den dimklen Ansatz-
stellen, wo ein Zweig entsprungen war. Er mutet uns bald lebendig
an und warm, je mehr wir aus diesen Niederschlägen seine Ge-
schichte lesen, die von Recken und Strecken, Leben imd Weben
erzählt wie unsere Erinnerung an gestern und unsere Absichten
für morgen.
Ganz anders das Metall. Es ist kalt und hart bei jeder Be-
rührung; wir fühlen uns abgestoßen wie vom Gestein. Aber es
hat zwei Vorzüge, die es, sowie wir sie näher kennen lernen, sofort
i^O ^- Kleidung — Kunsthandwerk
angelegentlichst empfehlen und keine Mühe scheuen heißen, diese
Eigenschaften frei zu machen für unseren Gebrauch, und den frem-
den Schatz der Erde in unseren Dienst zu nehmen: die Biegsamkeit
und die Zähigkeit zugleich. Was wir vom Holze nur brauchen
können, wenn wir es bereits passend vorfinden als starres Gewächs,
das können wir aus dem dünneren Metall herstellen, genau wie wir
die Beugung haben wollen. Und wo das Holz brechen würde und
zersplittern, da hält das Metall beharrlich stand, wenn es nur dick
genug ist, um, wo es darauf ankommt, gerade zu bleiben, sich nicht
zu biegen und zu krümmen. Auch da sind es im Grunde die ver-
wandten Eigenschaften, die wir benutzen, um das Material mit
unserem Willen zu durchdringen, und die fremden, die unsere
eigene Unzulänglichkeit ergänzen, um eine dauerhafte Wirkung zu
erzielen.
Die sachkundige Beschreibung eines Messers aus der Bronzezeit
(bei A. V. Eye) führt uns imwillkürlich in diesen Hergang ein: „Die
Schneide ist derart gebogen, daß sie gerade da, wo Zug imd Druck
der Hand am wirksamsten sind, am tiefsten eingreift und mit ungleich
größerer Wirkung verfährt als imsere Messer mit gerader Schneide,
an denen der Zug nur durch stets vermehrten Druck wirksam er-
halten wird, wenn sie auch günstigeres Material vor jenem voraus
haben. Denn nach dem Gesetze der Hebelkraft wird dieser Druck
um so schwächer, je mehr er gegen die Spitze hin vorschreitet
Den Rücken des alten Messers bildet ein verstärkender Grat, der
in einfacher Profilierung nach der Seite hin übersteht, die beim
Glätten eines Gegenstandes oben aufliegt, so daß er beim Schneiden
nicht hindert. Dieser Grat beginnt beim Griff, wo ausschließlich
der Druck wirkt, mit der größten Stärke, senkt sich, den Schwimg
der Schneide begleitend, nach der Spitze zu und wird schwächer,
weil in dem Maße, wie der Druck aus der eben angegebenen Ur-
sache nachläßt zu wirken, der sich gleichbleibende Zug eintritt und
die Verstärkung des oberen Messerrandes unnötig macht. Die
Spitze biegt sich der Senkung des Rückens entgegenkommend
nach oben, um den Schnitt sanft verlaufen zu lassen." — Das Ganze
ist also, man möchte sagen: mit instinktiver Berechnung so nach-
drücklich der Funktion zugebildet, daß es in der Tat scheint, als
wolle es fast aus eigenem Antriebe zur Erfüllung seines Amtes
schreiten. Es ist der Zug der Bewegungslinie, die so lebhaft zu
uns spricht, wie eine Gebärde der Menschenhand. Und durch sie
begreifen wir unmittelbar, was sie will, die Schneide da, die von
Gottfried Semper und seine Ausleger i^i
diesem Willen ganz durchdrungen scheint Wenn sie völlig ohne
Rest in diesem Vollzug ihres Wesens aufgeht, taucht sie doch
immer unverändert wieder daraus hervor, und nur der zweite Teil,
der GrifF, und sein Zusammenhang mit dem Rückgfrat oben entlang,
bezeugt die dauernde Beziehung zur Hand und die wiederkehrende
Abhängigkeit vom Willen des Menschen.
Damach sind wir vorbereitet, die entscheidende Frage ins Auge
zu fassen, wie dieses erste Gebiet des schöpferischen Gestaltens
prinzipiell zu beurteilen sei. Gottfried Semper erkennt in jedem
technischen Produkt ein Resultat des Zweckes und der Materie.
Das Gesamtbereich des Kunstgewerbes oder Kunsthandwerks, d. h.
des gebrauchszwecklichen Schaffens durch Menschenhand, sei dem-
nach unter zwei Gesichtspunkte zu stellen:
„erstens das Werk als Resultat des materiellen Dienstes
oder Gebrauches, der bezweckt wird, sei dieser nun tatsächlich
oder nur supponiert und in höherer (symbolischer) Auffassung
genommen;
„zweitens das Werk als Resultat des Stoffes, der bei der
Produktion benutzt wird, sowie der Werkzeuge und Proze-
duren, die dabei in Anwendimg kommen.''
Schon aus diesem Wortlaut geht hervor, daß die Auslegung
unserer Stelle, der zufolge das Kunstwerk nichts anderes als ein
mechanisches Produkt aus Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik
sein soll, eine der unglaublichsten Entstellungen und stumpfsinnig-
sten Verdrehungen bedeutet, die nur bei gänzlichem Mangel an
jeder begrifflichen Schulung sich so weit imd so lange hat einbürgern
können, wie Alois Riegl öffentlich bezeugt Was ein „mecha-
nisches Produkt" aus Gebrauchszweck und Rohstoff überhaupt
sein soll, ist ganz unerfindlich; denn der Gebrauchszweck oder
sagen wir gar mit Semper: der materielle Dienst ist doch etwas
Geistiges, die Vorstellung der künftigen Brauchbarkeit imd des
beabsichtigten Dienstes, die dem schöpferischen Subjekt vorschwebt,
ist aber nichts Körperliches, das mit dem Rohstoff zusammenge-
bracht ein mechanisches Produkt ergeben könnte. Ebenso ist die
Technik kein physischer Körper, der mit dem Rohstoff in einen
Topf geworfen, ein solches Produkt ergeben könnte, rein mecha-
nisch, nicht einmal chemisch, wie diese ,JCunstmaterialisten" nach-
beten, ohne sich überhaupt etwas dabei zu denken. In solchen
Köpfen verschmelzen, scheint es, auch „Werkzeuge und Prozeduren",
die bei der Technik in Anwendung kommen, ohne weiteres imter
\
142 X. Kleidung — Kunsthandwerk
dem Bann des einen Zauberwortes ,JProdukt" mit dem Stoffe, der
Materie, in deren Brodem allein ihnen wohl wird. Gottfried Semper
braucht den Ausdruck gerade, um die eigentümliche Verquickung
von geistigen imd leiblichen, psychischen und physischen Faktoren
zu bezeichnen, und braucht an dieser Stelle sogar den anderen
Ausdruck „Resultat", d. h. Ergebnis und zwar, wie er selbst aus-
drücklich (S. Vni) betont, „ein Ergebnis aller bei seinem Werden
tätigen Momente". Und der Zusatz „mechanisch" kommt bei
Semper überhaupt nicht vor; er enthält eine wahre Blasphemie
gegen alle Anschauungen des tiefen Denkers von Kimst und Tech-
nik überhaupt.
„Die Stillehre faßt das Schone einheitlich", erklärt er, „als
Produkt oder Resultat, nicht als Summe oder Reihe. Sie sucht
die Bestandteile der Form, die nicht selbst Form sind, sondern
Idee, Kraft, Stoff und Mittel, gleichsam die Vorbestandteile und
Gnmdbedingungen der Form." (a. a. O. Vm.)
Was ist darnach der „materielle Dienst oder Gebrauch", der
in erster Linie das Resultat bestimmen soll? Er ist doch selbst-
verständlich weder Stoff, noch Mittel, noch Klraft, sondern die Idee,
zumal wenn wir nur an die Bestandteile denken sollen, die nicht
selbst Form sind. Hier aber, wo nicht wie in jenem Satz von
,,Form" als Gegenstand der ganzen Aussage die Rede ist, sondern
von dem „Werk", dem technischen Produkt, dem Gebilde der tech-
nischen Künste als Ganzem, an dem wir vor allen übrigen Bestand-
teilen und Bedingungen die Form selber gewahren, da kann es sich
nur um eine innige Verbindimg der Idee mit der Form handeln,
nämlich im Zweck, den wir abstrakt vorgestellt als Idee oder
Zweckgedanken, konkret wahrnehmbar als materiellen Dienst oder
Gebrauch bezeichnen können, d. h. als Zweckform des Gebildes.
Dieser Endzweck des Ganzen tritt uns verkörpert in der Form ent-
gegen. Und diese gewollte Vorstellung beherrscht und durchdringt
alle übrigen beim Werden des Gebildes tätigen Momente. Des
Menschen Wille verwertet die Kräfte, wie die Stoffe und die
Mittel; nur die Idee ist mit ihm selber identisch, und die Idee ist
nichts anderes als die vorschwebende Form, der gewollte Gebrauchs-
zweck. Wie weit aber auch die psychischen Momente, die Anempfin-
dung wie die Ausdrucksbewegung, selbst den Stoff durchdringen,
sich in die verwandten Eigenschaften unmittelbar ergießen, die
fremden assimilieren, die völlig abweichenden dagegen für den be-
absichtigten Dienst ausnutzen, indem sie gerade die Naturgesetz-
Gebrauchszweck und Idee 'des Werkes
143
lichkeit des anderen Stoffes als selbständigen Wert anerkennen, —
das haben uns die wenigen Beispiele schlagend aufgewiesen. Ob
die Bezeichnung dieser Faktoren als „Reibungskoeffizienten" bei
Alois Riegl glücklicher gewählt ist oder das Verhältnis besser er-
klärt, mag dahingestellt bleiben; denn wir brauchen gar keinen
solchen Annäherungsversuch an die Dogmatik des Materialismus.
Die ganze Rotte von Anhängern dieser Dogmen, die Gottfried
Sempers Namen für einen so namenlosen Blödsinn mißbraucht hat,
muß zur Strafe auf seinen Namen eingeschworen werden, zuvor
aber in ihrem Katechismus lernen, wie seine Lehre wirklich lautet
Diese authentische Lehre kann noch immer die Unterlage bilden, auf
der auch Riegl imd wir uns über das „Kunstwollen" verständigen
dürften, nachdem wir jenes „mechanische Produkt" einfach dem Ge-
lächter preisgegeben imd den Narreteidingen zugesellt haben, zu
denen es gehört Nach diesem heilsamen Bannfluch ist die un-
denkbare Formel keines Wortes mehr werti
Für uns ist jedes Gebilde des Kunsthandwerks ein Abgeord-
neter des Menschen fiir einen bestimmten Dienst oder Gebrauch,
mag dieser nun, wie Semper ausdrücklich hinzufügt, tatsächlich
stattfinden und in Anspruch genommen werden, oder aber nur sup-
poniert, d. h. untergeschoben oder in der Vorstellung mit seiner
Form verbunden werden, und damit nur in höherer, das heißt rein
geistiger Auffassung genommen sein. Der bestimmte Gebrauchs-
zweck oder der Funktionswert wohnt der Erscheinung des Gegen-
stands so unzertrennlich inne, wie die Seele in einem Leibe. Diese
Bestimmung ist die Einheit zwischen Idee und Form. Und sie
eben sind die Mitgift ins Dasein, die der Mensch seinem Gebilde
überantwortet hat Das Amt gibt dem Stellvertreter sein Existenz-
recht, und dessen Ausübung erfüllt sein Leben. Dieser Zweck
selbst, als Vorstellung abstrahiert, ist die Idee des Kunstwerks in
dem Gesamtbereich des Schaffens, das wir gegenwärtig ins Auge
fassen. Nur die Abhängigkeit vom Menschen, ohne dessen Mit-
wirkimg der Dienst oder Gebrauch nicht zustande kommt trotz
allem Schein selbständiger Beseelimg, sie allein berechtigt uns
noch, die Gebilde des Kunsthandwerks von den Kunstwerken völlig
freier Art einigermaßen zu sondern. Einigermaßen, sagen wir;
denn wo könnte diese Mitwirkimg des Menschen völlig zurück-
treten und das Kimstwerk vollkommen für sich allein bestehen?
Der Gradunterschied, um den es sich handeln kann, tritt in jenen
Fällen ein, die Semper oben vorgesehen: wo der Gebrauch oder
144 ^' Kleidung — Kimsthandwerk
Dienst nur noch unterstellt, nicht wirklich vollzogen wird, wie bei
einer Vase, wenn sie nicht mehr als Gefäß für eine beliebige
Flüssigkeit dient, sondern nur durch ihre Erscheinung noch die
Stelle schmückt oder hervorhebt, wo sie aufgestellt worden ist und
ruhig, außer Diensten, verharrt. Unter Verzicht auf ihren Gebrauch
ist sie freigelassen. Sie bleibt sich selbst überlassen; die Ab-
hängigkeit vom Menschen ist aufgehoben. Aber wir können nicht
den letzten Schritt tun und erklären, sie sei lediglich Selbstzweck.
Die Form ruft ins Gedächtnis, was sie ihrer Herkunft nach war;
ihr Ausdruck bestimmt ihren Charakter als Gefäß, wenn auch als
kostbares Gefäß für einen wertvollen Inhalt Und ist tatsächlich
kein Inhalt vorhanden^ so können wir nur einen solchen suppo-
nieren, hineinlegen in Gedanken; sonst fehlte dieser Gestalt ihre
Seele, sie wäre ein leeres Prunkstück. Der Inhalt mag schließlich
eine abstrakte Vorstellung, eine Idee sein, da bleibt die Vase
wenigstens ein Mal. Ohne solche ihr gleichsam innewohnende Idee
oder an ihr haftende Ideenverbindung verfallt sie der Dekoration,
die nur formalen Wert beansprucht. Dann ist sie ein toter Körper
wie andere auch, die nur im Augenschein eine Berechtig^g haben,
gerade da zu sein, wo sie sind.
Der Grundbegriff in allen diesen Beziehungen ist immer der
Zweck und seine konkrete Durchführung die Zweckmäßigkeit
Er ist auch das Bindeglied, das die Erzeugnisse des Kimsthand-
werks mit den Gebilden der eigentlichen Tektonik gemein haben.
Es ist also an der Zeit, hier auf ihn einzugehen. Mit seltsamer
Beharrlichkeit trennt auch Riegl den Gebrauchszweck von den
übrigen Bestandteilen ab und behandelt ihn wie einen fremden,
von außen gekommenen und draußen gebliebenen Zusatz, mit dem
sich die Analyse des KunstwoUens nicht zu befassen habe oder
von dem sie wenigstens unbeschadet absehen dürfe. Das alte Vor-
urteil beirrt auch ihn, das durch Kants so vielfach mißverstandene
Ausschließung des praktischen Zweckes und der direkten Nutzbar-
keit aus dem Bereich des Schönen auch in die Kunstwissenschaft
hineingekommen ist Ein Vorurteil nenne ich es, weil den Kunst-
historiker, der die Werke als Urkunden betrachtet, doch solche
Ausschließung oder Zulassung gar nichts angeht Muß er doch oft
genug solchen Kunstleistungen seine Aufmerksamkeit widmen, die,
nach irgendeinem anderen Maßstab als dem geschichtlichen beur-
teilt, nicht allein hinter den Anforderungen der Schönheit zurück-
bleiben würden, sondern ausgemachter Häßlichkeit schuldig wären.
Gebrauchszweck und Idee des Werkes
145
Riegls großes Verdienst besteht nun aber gerade darin^ uns die
Künste der Spätantike erschlossen zu haben, die nur deshalb ver-
nachlässigt und schief angesehen waren, weil sie einem unhistorisch
verallgemeinerten Schönheitsideal eben nicht entsprechen. Weshalb
also nicht auch hier beim Kunstgewerbe überhaupt gründlich auf-
räumen mit veralteten Klassifikationen? Nun aber liegt angesichts
des Kunsthandwerks offenbar eine Begriffsverwirrung vor, an der
Kants Abweisung äußerer Zweckdienlichkeit aus dem Bezirk des
Schönen gar keine Schuld trägt, sondern nur deren irrige Anwen-
dung. Betrachten wir ein Gebilde des Kunsthandwerks unter dem
Gesichtspunkt praktischer Brauchbarkeit, so ist das eben eine
praktische, keine ästhetische Betrachtungsweise. Ästhetisch wird
sie erst, wenn wir von dieser notwendigen Vorstufe, allen Eigen-
nutz hinter uns lassend, zur Anerkennung der Selbständigkeit des
Werkes übergehen und es nur um seiner selbst willen anschauen,
ohne uns darum zu kümmern, ob es auch uns noch einmal nütz-
lich, dienlich und deshalb angenehm werden könne oder nicht. Wir
sehen es dann höchstens im Gebrauch von einem anderen Menschen
gehandhabt und schätzen es im Zuscunmenhang mit diesem leben-
digen Geschöpf, dem wir alle Schönheit zugestehen, deren es fähig
ist. Der äußere Gebrauchszweck, der materielle Dienst tritt in
dieser ästhetischen Betrachtung so weit zurück, daß wir den prak-
tischen Erfolg oder Mißerfolg des Hantierens gar nicht zu be-
achten pflegen, je mehr wir im Anschauen der schönen Gesamter-
scheinung aufgehen. Diese Zweckmäßigkeit des Werkzeugs ist
also lediglich die innere, die Idee des Gebildes, die seine Gestalt
bestimmt. Der Unterschied kunsthandwerklicher Erzeugnisse dieser
Art, besonders aller Werkzeuge und Geräte, vom organischen Ge-
schöpfe besteht nur darin, daß sie einzelnen Gliedmaßen zugebildet
sind und ihnen entsprechen, also relative Funktions werte darstellen
und kein selbständiges, ganz in sich abgeschlossenes und auf sich
allein beruhendes Individuum sind.
Der bereitwillige Anschluß an die Körperbewegung des
Menschen und die Arbeitsleistung, die von ihm verlangt wird, gibt,
wie wir uns gesagt haben, dem Werkzeug eine bleibende Gebärde.
Unsere zeitliche Anschauung löst sie ins Nacheinander, in die zweck-
dienliche Abfolge der Momente auf und wandelt sie für unsere
Phantasie, auch wenn wir das Ding nicht wirklich gebrauchen
oder gebrauchen sehen, in die Vorstellung des Vollzuges, wie das
durchgehende Motiv einer Genrefigur. Je selbständiger jedoch das
Schmarsow, KanstwissenschafU lO
1^6 ^< Kleidung — Kunsthandwerk
Gerät ausgebildet wird, so daü es auch außer Dienst auf eigenen
Füßen stehen und sich unabhängig an seiner Stelle behaupten
kann, desto mehr tritt die transitorische Gebärdung zurück, um der
abgeschlossenen Form oder organisch gegliederten Gestalt den
Vorrang einzuräumen. Der Stuhl z. B., der hier noch als leichter
Sessel sich den Formen des Menschen anschmiegt und in ge-
schwungener Haltung dem Sitzenden entgegenkommt, wird dort
schon selbständiger erscheinen und um so mehr, je ruhiger und
starrer sein festes Gefuge verharrt Welch ein Abstand trennt den
Hüker, eine Holzplatte mit einem Bein, wie er beim Melken be-
nutzt wird, oder mit drei Beinen, wie er bei anderer Arbeit dient,
von dem Faltstuhl auf der einen, oder gar vom Thronsitze des
Monarchen auf der anderen Seite! Die Kanne mit eigenem Fuße
und gebauchtem Leib, oder mit Henkel hinten und Schnabel vorn
steht aufrecht und macht keine Miene sich zu bücken. Die Vase
rundet sich nach allen Seiten gleichmäßig und hat wohl, ohne
Henkelpaar, jede Beziehung abgestreift Sie behauptet vielleicht
schon durch ihre Ghröße den festen Standort, oder durch reiche
Gliederung und entschiedene Proportion das eigene Bildungsgesetz
und die Unabhängigkeit ihres Wesens. Sie wird selber ein „Mal".
XL
TEKTONIK
RAHMENWERK UND GESCHRÄNK — STÜTZWERK UND GESTELL
Werkzeuge und Geräte, die das Kunsthandwerk liefert, erfüllen
ihren Gebrauchszweck immer im Zusammenwirken mit dem Menschen.
Der Hinzutritt des lebendigen Subjekts erst löst den Vollzug der
Funktion wirklich aus, die bis dahin latent ihm entgegenwartet. Je
nach dem Grade dieser Bedingtheit, der Beweglichkeit oder Stand-
festigkeit bestimmt sich die Auffassung des Gebrauchsgegenstandes.
Dort überwiegt der mimische Charakter, die transitorische Gebärde,
hier der plastische Körper in Ruhe, die geschlossene Form. Mit
dem Übergewicht des bleibenden Bestandes nähern wir uns dem
festen Gefuge, dem tektonischen Aufbau, der sich allen Gelüsten
unserer beweglichen Phantasie widersetzt, oder ihrem wandelbaren
Spiel zum Trotz seine unverrückbare Beharrung immer aufs neue
bewährt. Aber auch hier darf der Übergang vom vorübergehend
gebrauchten Gerät zur dauerhaften Festigung des Gerüstes nicht
vergessen werden, wollen wir die Doppelnatur des menschlichen
Gebildes nicht aus den Augen verlieren und vorschnell durch ein-
seitige Betrachtung auf Abwege geraten. Lassen wir ein Beispiel
für sich selber reden.
Wie schlank und leicht erscheint noch heute unser Regen-
oder Sonnenschirm! Kaum schwerer als ein Wanderstab, oder gar
elegant wie ein Spazierstock, begleitet er uns bei veränderlichem
Wetter überall. Er handhabt sich bequem und entfaltet sich schnell
über unserem Kopfe, wenn wir ihn brauchen, uia hernach in einem
anderen Moment ebenso geschwind wieder zusammengeklappt, in
die unscheinbare Figur und die untergeordnete Rolle an unserer
Seite zurückzukehren. Schon breiter macht sich der gro&e Sonnen-
schirm des Malers draußen auf der Wiese; ungelenker benimmt
lO»
148 XL Tektonik
sich erst recht der Familienschirm, wenn der Bauer mit Frau imd
Kindern zu Markte fahrt. Sein grünes Regendach umspannt aber
auch die Insassen des Wagens wie ein Zelt. Blicken wir von
diesem Vertreter der guten alten Zeit zurück auf seinen Stamm-
baum im Alten Testament, so erscheint er vollends ehrwürdig wie
die Patriarchen, die in seinem Schatten wohnten. Zusammenge-
wickelt, auf Kamele gepackt, führt seine Zelte auch ein Nomaden-
volk mit sich von Ort zu Ort, wie seine Herden von einer Weide
zur anderen. Noch immer ist es derselbe transportable Gebrauchs-
gegenstand. Und es hat lange gewährt von da bis zur Verwand-
lung in ein tektonisches Gerüst von dauerhafterem Bestände. Es
liegt schon ein weiter Weg der Kultur zwischen dem Zelt des
Nomaden und der Bambushütte des Karaiben oder dem Negerkral.
Das tektonische Gerüst ist ein KoUektivum von lauter Einzel-
bestandteilen, die nur relative Bedeutung haben, deren jedes an
seiner Stelle den rechten Sinn erhält und nur in Gemeinschaft mit
den zugehörigen Nachbarn seine Funktion bewähren, also auch
seine Existenzberechtigung erweisen kann. Dies Kollektivum ist
aber etwas Höheres als jedes Einzelglied und als die Summe
aller. Es ist das Ergebnis ihres Zusammenwirkens, auf das es an-
kommt. Daraus folgt, daß erst, wenn wir das Ganze überschauen,
auch jeder Teil zu seinem Rechte kommen und unseren Anteil für
sich erwecken kann, soweit er eben soll imd darf. Wir vermögen
uns wohl anzuempfinden an seine Leistung, aber ihren Wert im
Gesamtkomplex doch erst zu erfassen, wenn uns der Zweck, d. h.
der Grundgedanke des Systems selber aufgegangen ist. Das Ver-
hältnis ist ähnlich wie bei einer Maschine. Aber bei einigermaßen
komplizierter Anlage vermögen wir dem beweglichen Mechanismus
nicht mehr zu folgen, zumal wenn einige Teile sich dem Auge des
Betrachters entziehen. Dem Uneingeweihten bleibt er gleichgültig
und fremd, dem Interessierten immer peinlich und unbefriedigend,
solange noch ein Bindeglied fehlt und der Schlüssel zum letzten
Geheimnis noch nicht gefunden ist So lesen wir wohl ungeduldig
und gequält ein Rätselgedicht wieder und wieder, wenn uns die
Lösung nicht aufgehen will: seine Verse scheinen nur Anläufe zu
Ideenverbindungen, die zusammengewürfelt worden, aber ebenso
wieder auseinanderfallen mögen.
Damit charakterisieren wir aber auch einen intellektuellen
Vorgang, auf den es beim tektonischen Gebilde nicht ankommen
kann. Wir dürfen die verstandesmäßige Erkenntnis nicht mit der
Bewegung und Beharrung i^o
ästhetischen Aufnahme verwechsehi. Wer die Erscheinung nicht
nimmt, wie sie geboten wird, sondern hinter sie zurückgeht und, in
Gedanken wenigstens, die Zusammenfügung aus lauter einzelnen
Stücken wiederholt, wie das Werk zustande gekommen sein mag,
der vollzieht doch nur die technische Analyse,' läßt aber nicht der
unmittelbaren Wirkung auf Sinn und Gefühl freien Lauf. Nicht
der Einblick hinter die Kulissen ist das Entscheidende bei der
Auffiihrung eines Schauspiels. Das gilt auch für das Gebilde der
Tektonik, selbst wenn uns diese im Unterschied vom Theater nicht
auf einen vorgeschriebenen Standpimkt beschränkt, sondern viel-
seitigeren Einblick in ihr Gefüge zu gewähren pflegt. Je mehr ihr
daran liegen mag, das Ineinandergreifen der Teile für sich selber
sprechen zu lassen, desto mehr muß doch davor gewarnt werden,
noch weiter aufzudecken, was sie geflissentlich verhüllt Das hieße
die genetische Erklärung und historische Gelehrsamkeit an die
Stelle des ästhetischen Genusses setzen.
Es ist denn auch immer nur die Beschäftigung mit den Einzel-
gliedem, die den Forscher verleitet, die Analyse walten zu lassen,
wo nur das Erlebnis zu Recht besteht. Sowie es sich um eine
ganze Reihe von solchen Gliedern handelt, muß die Vorstellungs-
arbeit von selbst erlahmen und die Ohnmacht des Rechenexempels
gefühlt werden. Sie räumen dann von selber der gesunden Einsicht
den Platz, daß künstlerische Motive solcher Art nur auf den ein-
fachsten Grundtatsachen allgemein menschlicher Erfahrung beruhen
können.
Deshalb wählten wir als Beispiel ein ganz geläufiges Gerät
mit übersichtlichem und leicht verständlichem Mechanismus. Am
uralten beweglichen Hausrat haben sich auch alle Wurzelformen
der Tektonik entwickelt und ihre vollkommene Ausbildung erhalten.
Ihre wichtigsten Zwecke lassen sich, wie Gottfried Semper aus-
fuhrt,^) imter vier Aufgaben zusammenfassen:
das Rahmenwerk mit der umschlossenen Öffnung oder
I. Füllung;
das Geschränk, das aus einer Komplikation des Rahmens
mit seinem Inhalt entsteht, bei der neue Kräfte
in die Erscheinimg treten;
i) Ich gebe im folgenden eine Umarbeitung des grundlegenden Kapitels (II,
VII, § 130 — 138), soweit sich dies mit meinen Überzeugimgen irgend verträgt, im
Anschluß an den Wortlaut: Gerade so wird die innere Verschiebung des Stande
punktes desto klarer hervortreten.
ICQ XI. Tektonik
Idas Stützwerk, das zum erstenmal das Widerspiel von
Kraft und Last zum Vorschein bringt;
das Gestell, das aus einem Zus£immenwirken des Stütz-
werkes mit dem Rahmenwerk zustande kommt
* imd damit zur Vollständigkeit in sich gelangt.
Der Rahmen ist eine der wichtigsten Grundformen der Kunst.
Wir sahen ihn bereits in der Ornamentik entstehen, wo die rhyth-
misch-peripherische Bildung den auszuzeichnenden Wert umspielte
und das Mal des Schmuckes in eine geschlossene Figur einfaßte.
Der Niederschlag mimischer Bewegungen um den wertvollen
Gegenstand ergibt zunächst vielleicht nur eine Wiederholung seines
Umrisses, wie wir liebkosend mit der Hand über die geliebten
Formen gleiten oder in nahem Abstand noch sie nachzufühlen ver-
suchen, indem unsere Gebärde ihrem Zuge folgt Es sind haptische
Umrißlinien, die wir in die Luft malen, wenn der geliebte Körper
nicht gegenwärtig ist, sondern nur vorgestellt wird. Durch ihre
ausschließliche Abhängigkeit von diesem Inhalt erhalten sie konzen-
trische Ordnimg und lunlaufende Gliederung. Dabei fungiert aber
die nachfühlende Hand als lebendiger Bestandteil des entstehenden
Rahmens mit; denn sie besorgt die Auseinandersetzung mit der
weiteren Umgebung, der Raimileere ringsum, den „makrokosmischen
Bezuges wie Semper sich ausdrückt. Sowie die malende Gebärde
sich als Niederschlag auf einer Fläche fixiert oder in bildsamem
Material zu vollnmder Stofflichkeit gestaltet, muß auch dieser Be-
standteil des Rahmens nach außen hin versinnbildlicht werden und
den Gegensatz seiner Funktion zu dem Bezug auf den Inhalt aus-
prägen. Waltet nach innen die zentrale Symmetrie, die konzen-
trische Wiederholung, so übernimmt das Äußere die allseitige
Richtung nach außen, die symmetrisch-proportionale Gebilde mit
zentrifugaler Tendenz aneinanderreiht. So entsteht als lineare Ein-
rahmung die regelmäßige Figur des Kreises, des Ovals, wo der
eingerahmte Gegensteind imregelmäßig ist, oder, wo er selbst der
Kreisform entspricht, nach außen das Polygon. Damit prägt sich
der Gegensatz des Rahmens zu seinem Inhalt, oder seiner Füllung
deutlich aus. So rahmen wir die Menschengestalt, wo sie in ganzer
oder halber Figur in der leeren Raumöffhung des Rahmens er-
scheint, rechtwinklig ein, durch ein Quadrat oder ein Oblongxun.
Mit dieser Beziehung zur Menschengestalt kommen wir an
einen Scheideweg in der Entwicklung des Rahmens, und zwar vom
omamentalen zum tektonischen. Als peripherische Einrahmung mit
Der Rahmen
151
Schmuckelementen irgendwelcher Art kann das omamentale Ge-
bilde, gleichwie das mimische, die malende Gebärde in der Luft,
irgendwo im Räume entstehen. Wird es Muster auf einem Grunde,
so besteht die grundlegende Situation jedoch unzweifelhaft in der
Ebene zu unseren Füßen. Dies ist der ursprüngliche Platz für das
Saumwerk, das in rein formaler, abschließender und begrenzender
Funktion eine Bodenfläche umzieht. Hier ist der Inhalt oder die
Füllung zimächst neutral; mag der Rahmen sich unmittelbar auf
den hackten Erdboden legen und dadurch nur diesen beliebigen
Fleck Erde aussondern, also eigentlich eine unbezeichnete Raum-
öflFnung enthalten, oder mag er als Teppichsaum etwa das einfar-
bige Mittelfeld einer textilen Bekleidung des Bodens, d. h. schon
eine schmückende Bezeichnung umschließen. Tritt auf diesen
Teppich aber der Mensch als positiver Inhalt, oder nur als Muster
auf den füllenden Grund, indem er sich darauf hinstreckt, nieder-
kniet, sitzt oder steht, so beginnt die neutrale Region sich nach
ihm zu bestimmen, und unterscheidet ihre Lage oder Stellung im
Raum nach dem Menschen. Der Rahmen erhebt sich mit dem
Eingerahmten zu aufrechter Haltung und bewahrt die übernommene
Richtung auch dann, wenn der Inhalt heraustritt, verschwindet oder
seinen Platz gar einem anderen einräumt. So unterscheiden wir
stehende Rahmen von liegenden auch in der Parallelebene uns
gegenüber und anderen Vertikalebenen im Räume um uns her.
Wir beurteilen sie zunächst subjektiv nach dem Übergewicht der
Längenachse oder der Höhenachse, nehmen jene als liegende, diese
als stehende Formen an. Aber der Rahmen selbst vermag diesen
Charakter oder jenen auch objektiv auszuprägen, indem er seine
Widerstandsfähigkeit gegen beliebige Verschiebungen bewährt, d. h.
festen Bestand gewinnt. Darin besteht eben die Aufgabe der Tek-
tonik gegenüber dem beweglichen Gebilde der Mimik und Orna-
mentik; sie festigt das Gefiige zur Stabilität
Der Weg von der subjektiven Übertragung zur objektiven
Eigenart verdient es auch hier, daß wir einen Augenblick bei ihm
verweilen. Gehen wir wiederum von der ursprünglichen Situation
des Rahmens am Boden aus, so eröffnet sich der Weg zur folgen-
reichen Verwandlung, sowie wir, statt des Menschen deirin, den
Grund als Inhalt des Rahmens, die Öffnung an sich ins Auge
fassen. Hier ist der Inhalt der Rahmenöffhung notwendig ein
Flächenwert Diese Fläche ist zimächst neutral, völlig unbezeichnet
Aber dieser Gnmd kann gemustert werden. Nehmen wir an, es
IC2 XI. Tektonik
sei ein gepflügter Acker; wir sehen seine geradlinigen Furchen
von uns auslaufen oder auf uns zulaufen, je nachdem wir sie von
unseren Füßen weg in die Weite verfolgen, oder umgekehrt von
einem Fixationspunkt in der Feme zu uns zurück. Es ist ein
Muster, das wir auf uns beziehen, sagen wir, wenn wir es als vor-
handen außer uns anerkennen; aber die Bewegung, die wir von uns
darauf übertragen, ist es, die zunächst den Charakter bestimmt.
Erst wenn die Furchen unsere eigene Vorwärtsrichtung durchqueren,
machen sich diese horizontalen Linien als andersartige Richtung
des Objekts geltend; sie erscheinen als Zeugnisse, wiederholte Be-
stätigungen seiner Breitenausdehnung. Richten wir nun den
Rahmen mitsamt seinem gemusterten Flächeninhalt auf, so daß er
uns gegenüber in der Vertikalebene erscheint, so bekommt er durch
dieses einfache Muster seinen Charakter. Die Breitenlage, die
Ausdehnung in der Horizontale des gemusterten Grundes bestimmt
auch die Auffassung des Rahmens mit, solange dieser nicht durch
die eigene Form entschieden widerspricht. Die Vertikalrichtüng
der Furchen oder geradlinige Schraffierung des Grundes von unten
nach oben oder umgekehrt bestimmt die aufrechte Haltung der
Fläche zu uns erst recht. Gaben die geraden Linien, von uns ab
gesehen, am Boden vorher den Eindruck des Ausflusses von uns,
oder aus der Feme verfolgt den des Einflusses auf uns, so daß die
Richtung der Tiefe darnach aufgefaßt ward, so wandelt sich dies
nun in die Unterscheidung des Aufstiegs zur Höhe oder des Ab-
stiegs, des Falles aus der Höhe zur Erde nieder. Schraffieren wir
dagegen den Grund mit Horizontalen und Vertikalen, so daß die
Richtungen sich durchkreuzen, so wird die Bestimmtheit der Rich-
tung wieder aufgehoben, solange die Teilflächen des Grundes neu-
trale bzw. zweideutige Formen bilden, wie regelmäßige Quadrierung.
Sowie die Rechtecke länglich werden, erscheinen sie entweder
stehend oder liegend, und damit der ganze Grund als quergerichtet
und geschichtet oder aufrecht hingestellt. Durchkreuzen sich die
Linien diagonal, so daß ein Rautenmuster entsteht, so bestimmt
wieder die Haltung dieser Figuren die Auffassung des Ganzen, die
perpendikulär auf der Spitze stehenden Rauten richten den Flächen-
inhalt des Rahmens auf, die schräggeneigten verschieben das ganze
Muster zu ausgesprochener Lagerung. Dagegen kommen wir auf
das Entstehungsprinzip im Verhältnis von Mal und Einrahmung zu-
rück, wenn wir die Furchen radial von einem Mittelpunkt ausgehen
lassen, oder von den Ecken des Rahmens Diagonalen ziehen, die
Der Rahmen
153
sich in einem Punkte schneiden. Dies Zentrum ist der Ort des
Wertes, bzw. der Standpunkt des Menschen.
Im Unterschied von den richtungslosen oder allseitig gerichteten
Gebilden peripherischer Begleitung und Umschließung kommt es
beim tektonischen Rahmen somit vor allen Dingen auf Entschieden-
heit der Richtung an. Durch die Bedingungen der Starrheit und
inneren Unverrückbarkeit wird das tektonische Gefüge des Rahmens
zu einem weit tätigeren Faktor; ja es bildet ein einfaches System
für sich. Damit steigert sich natürlich der Gegensatz zwischen
dem festen Bestand und dem struktiv untätigen Füllwerk, das ent-
weder ein neutrales Feld oder eine Öffnung, einen unbezeichneten
leeren Raum ausmachen kann. Da dieser Inhalt der struktiven
Idee nach gar nicht vorhanden zu sein braucht, sondern nur Rezi-
pient für einen erwarteten Wert, so vermag er seinerseits auch
das Gefuge des Rahmens nicht zu verstärken. Er tritt zurück, ent-
weder wirklich oder scheinbar, gewährt als Vakuum keinen Bei-
stand und als Füllwerk keinen Anhalt. Der Rahmen dagegen muß
sich selber konstituieren und sich, auch für das Auge schon, völlig
fest erweisen.
Für die künstlerische Ausgestaltung eines Rahmens*) ergeben
sich drei leitende Motive: erstens dessen Dienst als Rahmen,
zweitens die struktive Tätigkeit der einrahmenden Teile, drittens
der Gesamtcharakter des Aufgerichtetseins, der sich in allen Teilen
wie im Ganzen ausprägt. Diese drei leitenden Motive kongruieren
aber nicht immer miteinander. In dem Überwiegen des einen oder
des anderen Zuges liegt der besondere Charakter; nicht selten
kommt durch Gegenwirkung konstrastierender Eigenschaften erst
die höchste Entschiedenheit zum Ausdruck.
Unter den geradlinig-rechtwinkligen Rahmen steht der hori-
zontal liegende noch den auf dem Boden ausgebreiteten am nächsten.
Nach der Länge der Rahmenstücke findet eine direkte Spannung,
ein Zug oder Druck nicht statt, wohl aber indirekt, hervorgerufen
durch eigene Schwere und Belastung. Somit verlangt das Auge
für die wagrecht freischwebenden Rahmenschenkel, bei angemessener
Unterstützung, dieser entsprechend, eine der Last gewachsene Höhe
— ein Vorherrschen dieser Höhendimension über die andere Horizon-
tale der Dicke — , sodann eine Übereinstimmung der formalen Aus-
stattung mit der zwecklichen wie der struktiven Tätigkeit. Die
1) Vgl. Gottfr. Semper a. a. O.
154
XI. Tektonik
Teile horizontaler Rahmen haben natürlich, wie alles, ihre propor-
tionale Entwicklung nicht mehr parallel mit der eingerahmten
Ebene, sondern senkrecht auf ihr. Nicht selten aber wird auch
der horizontal liegende Rahmen in stärkerem Maße als aufrechter
charakterisiert, und zwar mit der Annahme eines konventionellen
Oben und Unten, die demgemäß unterschieden und £ds Grundlinie
oder Unterlage hier, als Bekrönung oder Firstlinie oben ausge-
zeichnet werden. Richten wir den horizontalen Rahmen dann
wirklich auf, so daß er in der vertikalen Parallelebene vor uns er-
scheint, und zwar zunächst mit ausgesprochener Breitenrichtung,
so sind natürlich die Teile besonders wichtig, durch die er sich
von dem horizontal liegenden unterscheidet und sich eben als auf-
rechter erweist trotz seiner Lagerung in die Quere, die durch das
Übergewicht seiner Breitenachse auch unsere Auffassung bestimmt
Die aufrechten Teile und ihre Charakteristik können auch hier
stärker oder schwächer zur "Geltung kommen, indem wir den
unteren Rahmenschenkel als Basis, den oberen als Kranzgesims
ausbilden, oder gar die Mitte desselben noch durch Gipfelung her-
vorheben. Dies geschieht um so eher, wenn schon der Inhalt dazu
auffordert, den Rahmen gleichsam als Bühnenöffnung vor dem
Schauplatz des darin Enthaltenen auszubilden.
Dann bekommen die beiden seitlichen Leisten eine wichtigere
Rolle als Träger links und rechts, während der untere Rahmen-
schenkel den Sockel oder das Podium, der obere die Verdachung
darstellt. Damit verwandelt sich der Rahmen in ein Gestütz, von
dem wir hernach zu sprechen haben. Dieser Anklang an einen
festen Aufbau hat natürlich keine Möglichkeit sich einzufinden, wo
der Rahmen nicht aus rechtwinklig aneinanderstoßenden Schenkeln
besteht, sondern aus Kurven zusammengesetzt ist oder gar in ein-
heitlichem Zuge eine liegende Ellipse beschreibt.
Entschiedenheit der Richtung bleibt auch die erste Forderung
bei den stehenden Rahmenformen, sei es geradlinig-rechtwinkligen, sei
es anderen regelmäßigen Formen. Innerhalb der Grenzen des kon-
struktiv Möglichen und der gewollten Zweckmäßigkeit gibt immer
das Übergewicht der Höhenachse den Ausdruck der aufrechten
Haltung in erster Linie. Häufig entscheidet über die Wahl der
Proportionen der beabsichtigte Charakter des Ganzen. Nicht selten
spielt auch die Rücksicht auf kontrastierende Wirkung der benach-
barten Formen innerhalb eines weiteren Zusammenhanges dabei
mit, wie z. B. die Abwechslimg liegender imd stehender Formen,
Der Rahmen — Das Dreieck
155
sei es nebeneinander in einer Reihe alternierend, sei es unter-
einander, oder in mehreren Reihen, deren eine als Hauptreihe sich
die anderen unterordnet Ebenso wird der Charakter des einzelnen
stehenden Rahmens verschieden, je nachdem das eine der drei
leitenden Motive die tonangebende Rolle bei der Formgebung
übernimmt. Es ist ausgemacht, daß ein Rahmen desto besser
sammelt, je ausschließlicher er sich auf das Eingerahmte bezieht.
Betont man dagegen das Interesse für die struktive Tätigkeit seiner
Teile oder für die dynamischen Eigenschaften des umrahmenden
Stoffes, so werden wir aiifmerksam auf das Gefüge, auf die Natur
des Rahmens selbst und werden von dem Inhalt abgezogen. Die
aufrechte Haltung bleibt um so besser eine ungezwungene, als sie
ursprünglich nxir ein Reflex der eingerahmten Gestalt auf das
peripherische Gebilde war imd nur als Begleiterscheinung diente.
Die Ausbildung eines eigenen Fußendes oder Sockels und Kopf-
stückes oder Bekrönungsgliedes bleibt immer eine gewagte Sache.
Die Konkurrenz kann nur durch den Wert des Inhaltes gerecht-
fertigt werden; sonst wird sie zu dessen Nachteil ausschlagen. Die
Annäherung des Rahmens an Architekturformen, die für jede Klasse
von Gliedern einen eigenen Ausdruck darbieten, fordert Ansprüche
heraus, die nur die bleibende Bedeutung des Eingerahmten erfiillen
kann. Und sie bindet außerdem den Rahmen und seine FüUung
immer zwingender an den festen Standort, so daß auch in dieser
Hinsicht nicht leichtfertig nach solchen Motiven gegriffen werden
sollte.
Unter solchen aufrechten Rahmen prägen sich alle diese Funk-
tionen besonders stark und zugleich am einfachsten am Dreieck
aus, dcis uns durch seine Eigenart jedoch sofort zu einer folgenden
Aufgabe der Tektonik hinüberleitet, so daß es nicht an den An-
fang, sondern an den Schluß der Betrachtung des Rahmenwerks
gehört.
Das aufrechte Dreieck entsteht, wenn zwei starre Schenkel in
schräger Lage aneinanderstoßen und auf einem dritten Stück an
dessen beiden Enden fußen, so daß dieses ihnen als wagrechtes
Auflager dient und zugleich ein Band oder eine 2^nge bildet,
durch die jene Schenkel am Gleiten und Ausweichen verhindert
werden. Die Unverrückbarkeit dieses festverbundenen Dreiecks ist
die Grundlage aUer Zunmermannsgefüge.
Das horizontale Band ist der Spannriegel, der die Schenkel
zusammenhält. Die Spannkraft greift auf beiden Seiten an die
156 XI. Tektonik
Füße der Schenkel und wirkt von beiden Seiten nach der Mitte zu.
Damit ist die entgegengesetzte Ausdehnung in die Breite, die wir
Diremtion genannt haben, von der Charakteristik dieses Teiles
ausgeschlossen. Die Schenkel können ihrerseits nur als steigend
aufgefaßt werden. Ihre Bewegung gipfelt in der Spitze, wo sie
zusammenstoßen und, sich gegeneinander stemmend, wechselseitig
halten oder stützen, — und zwar dieses oder jenes je nach dem
Winkel, in dem sie aufeinander treffen. Je spitzer der Winkel, desto
selbständiger erscheint der Aufstieg und damit der gegenseitige
Widerhalt; je stumpfer, desto mehr tritt die lebendige Energie der
Schenkel zurück hinter dem Eindruck ihrer Schwere, so daß der
Gegendruck der beiden lastenden Körper nach den Gesetzen der
Trägheit mehr Ruhelage als tätige Kraftanstrengung ausspricht
Betrachtet man diese Rahmenform als Ganzes, so wirkt sie
verschieden je nach den Verhältnissen ihrer Höhe zur Breite der
Basis. Soll der Begriff des Aufrechten sich nachdrücklich ver-
sinnlichen, so muß die Höhenachse die Grrundlinie des Dreiecks
beträchtlich überragen. Bei stark ansteigenden Dreieckverbänden
gestattet die Statik die Unterdrückung der horizontalen, die
Schenkelenden zusammenhaltenden Sehne, weil jene Glieder allein
fungieren können. Und damit stimmt auch die Ästhetik überein.
Steil aufsteigende Schenkel geben den Eindruck des einmütigen
Strebens zweier Individuen zum gemeinsamen Ziel. Mit der Leben-
digkeit kommt aber auch der Eindruck der Unruhe. Breite Basis
und stumpfer Winkel darüber verkünden ruhiges Gleichgewicht,
ungetrübte Harmonie des Daseins. Dort spricht transitorische Be-
wegung zu uns, hier bleibende Beharrung sich aus.
Immer ist das Dreieck mit nach oben gerichteter Spitze an
sich schon das Wahrzeichen des Aufrechten. Die Gegenprobe
machen wir sofort, wenn wir es umkehren und seine Spitze nach
unten richten. So wird es gewöhnlich als hängendes Dreieck
bezeichnet, obgleich, wie wir alsbald sehen werden, diese Bezeich-
nxmg nicht allgemein zutrifft, sondern sehr wesentliche Ausnahmen
erleidet.
Wie das Ganze des aufrechten Dreiecks müssen auch alle
Teile einzeln für sich das objektive Verhalten der tektonischen
Form mit aussprechen, wenn diese dem Beschauer ausschließlich
als aufrechte erscheinen soll. Was sie konstituiert und was sich
auf ihnen darstellt, muß in gewisser Weise aufgerichtet sein, oder,
wo nicht, durch andere Motive, die das Aufrechte entschieden be-
Das Geschränk
157
tonen, in diesem Sinne vervollständigt werden. Jeder Teil des
Gefuges erhält demgemäß seinen eigenen Abschluß nach oben und
seine Endigxmg nach unten. Den letzten Accent, im Sinne der
aufrechten Vertikalität erteilt dem Gefiige die alle seine Teile zu-
sammenfassende Bekrönung auf der Spitze.
Mit Hilfe dieser Charakteristik der Teile gelingt es sogar,
einem sogenannten „hängenden" Dreieck, dessen Spitze sich nach
unten richtet, den Eindruck eines aufrechtstehenden, eines steigen-
den, ja mit der Spitze sich stützenden Gefuges zu geben. Dann
aber gehört es, dieser Charakteristik gemäß, vielmehr in die Klasse
des Stützwerks.
Bevor wir zu diesem übergehen, muß jedoch das Geschränk
hier seine Stelle finden, da es aus einer Verbindung des Rahmens
mit seiner Füllung entsteht, d. h. aus den beiden Bestandteilen, die
sich zunächst nur als Gegensätze zueinander verhielten, in beider-
seitiger Durchdringung und Vervielfältigung der Konfiguration zu-
sammenwächst.
Das Geschränk oder Gitterwerk ist die rostähnliche Zusammen-
fügung stabformiger starrer Konstruktionsteile zu einem flächebil-
denden System. Es wäre sonach, rein struktiv aufgefaßt, nichts
anderes als ein vervielfachter und unterteilter Rahmen. Es hat auch
tatsächlich mit diesem die meisten seiner stilistischen Eigenschaften
gemein; denn der Rahmen selbst war ja der positive Bestandteil in
jener Gemeinschaft, war schon ein einfaches System, während die
Öffnung oder das Füllwerk nur als negativer Pol gelten konnte.
Andererseits aber gehört die ursprüngliche, hier durch vielfache
Rahmenteilung schon in sich gegliederte Grenzfläche notwendig
mit dazu, wie beim einfachen Rahmen. Damach wäre das Rahmen-
system nur in das Innere, die füllende Grundebene, hineingewachsen
und nichts anderes als eine Musterung des Grundes, die den
Flächeninhalt oder die Raumöffnung erst als Wert fühlbar macht
und hervorhebt. Und diesen Sinn bezeugt auch der Ursprung des
Gitterwerks aus einem Geflecht von leichten Bambusrohren oder
von Baststreifen, die einem durchbrochenen Mattengeflecht ähnlicher
sehen als einem eigentlichen Rahmengefuge. So finden wir es bei
den ostasiatischen Völkern, in China und Neuseeland. Andererseits
aber festigt sich dies Geschränk zu einem haltbaren Gezimmer, das
nun nach der bestimmten Lage im Raimi auch seinen besonderen
Charakter als aufrecht stehendes oder wagrecht ausgebreitetes Ge-
158 XI. Tektonik
bilde für den Betrachter kenntlich ausprägt Es kann ebensowohl
zu unseren Füßen als Decke am Boden liegen, wie zu unseren
Häupten sich als Decke oder Schirm ausspannen. Es nimmt in
horizontaler Lage, wie einst auf etruskischen Ruhebetten, die Last
der Kissen und der Menschen auf, wie es darüber den laubenartigen
Baldachin bilden kann. Oft wird dem Geschränk eine besondere
Umrahmung zuteil, so daß es die Füllung des Rahmens ausmacht,
aber nicht mehr eine neutrale, struktiv unbeteiligte, beliebig auch
als Raum Vertiefung denkbare Füllung, sondern eine aktiv mit-
wirkende, struktiv durchsetzte Grenzscheide, über deren Wesen als
ebenflächige Erscheinung kein Zweifel walten kann. Nur stärkere
Durchbildung der Rahmenteile verwandelt sie in eine dickere oder
tiefere Oberflächenschicht, wie beim Eisen- oder Bambusgitter aus
Rundstäben oder bei der Kassettendecke, dem Wandgetäfel aus
Holz, wo die Verschalung die Ebene, das Gezimmer den Rahmen
selbständig machen, oder jene wieder den Grund, dieses das Muster
abgibt.
Die struktive Tätigkeit des Geschränks wirkt sogar noch über
die Grenzen des einschließenden Rahmens hinaus, wenn die Spitzen
oder Ausläufer der stabformigen Elemente des Rostes über diesen
Abschluß vorspringen und überkragen. Auch hier bewährt sich
wieder die Verwandtschaft mit den beweglicheren und verschieb-
baren Erzeugfnissen des Bastgeflechts: da wirken die Ausläufer wie
Knoten außerhalb des Rahmens, wie Troddeln oder Quasten, gleich
den ausstrahlenden Elementen des peripherischen Schmuckes. Ist
dagegen das Innere schon ein struktiv gefestigtes Gefüge, ein
Gitterwerk von unverrückbarer Starrheit, so werden auch die Aus-
läufer zu festen Vorsprüngen, die sogar ein verstecktes System
nach außen verkünden und den unsichtbaren Zusammenhalt des
Innern fiir das Auge vertreten können.
Diese Elemente der Stabkonstruktion sind allerdings außer
ihrer Funktion als Vorsprünge und Abschlußglieder noch gelegent-
lich in dynamischem Sinne tätig. Sie werden allmählich zu Stützen
oder Trägem. Als Stützen dienen sie mit ihrer rückwirkenden
Festigkeit, als Träger mehr in dem Sinne ihrer relativen Wider-
standsfähigkeit. Wir haben also erstens freie Ausläufer, entweder
horizontaler oder vertikaler Geschränke, zweitens dienende Aus-
läufer, ebenfalls wieder horizontaler oder vertikaler Geschränke.
Diesen vier Kategorien mit ihren Nuancen, die sehr mannigfaltig
sind, entsprechen ebensoviel Motive der Formgebung.
Das Geschränk — Das Stützwerk
159
Zunächst herrscht auch hier die Auffassung allseitig gerichteter
peripherischer Ausstrahlung und Umschließung mit den Motiven
des Endigens und freien Aufgerichtetseins nach den Vorbildern
vegetabilischer und animalischer Erscheinungen. Nicht mehr
geschlossene Aneinanderreihung gleicher Glieder, sondern ungleich-
formige Ordnung der Vorsprünge je nach ihrer Lage und Stellung
waltet bei Geschränken, die ein Oben und Unten, ein Vom und
Hinten haben, an Möbeln, Wagen, Schiffen usw. Noch wichtigere
Bedeutung als die freien Ausläufer haben jedoch in der Tektonik
die zugleich dienenden Vorsprünge. Sie können entweder als
wirklich dienende Teile behandelt, oder aber in edlerer Auf-
fassung des Grundgedankens durch den Ausdruck kaum in An-
spruch genommenen Schwunges, innewohnender Federkraft, orga^
nisch lebendigen Entgegenwirkens gegen die tote Last, nur als
äußerst dienstfähig bezeichnet werden. Horizontale Träger dieser
Art erinnern in ihrer dynamischen Tätigkeit an deis stützende
Dreieck, dessen Spitze nach unten gekehrt den Stütz- oder An-
griffspunkt darstellt, während die schrägen Schenkel aufwärts
wirken und die wagrechte Resultante ihres stützenden Strebens,
die ursprüngliche Basis, nach oben kehren. Vertikale Ausläufer,
denen eine dienende Tätigkeit beizulegen ist, nämlich Stützen und
Füße, sind teils von oben durch die Belastung, teils von unten
durch die Unterlage, den Boden, in Gegenwirkung versetzt. Dieses
und das Aufrechtftißende, wie zugleich das Aufrechtaufnehmende,
das sie enthalten, sind ebensoviele Anhaltpunkte bei ihrer formalen
Behandlung. Sie sind das Hauptthema des nächstfolgenden Ge-
füges: des Stützwerks.
Wie Rahmen imd Geschränk, die beiden ersten Aufgaben der
Tektonik, eng miteinander zusammengehören, so greifen auch die
beiden letzten Aufgaben, das Stützwerk und das Gestell, in-
einander über, die wir ganz im Anschluß an Gottfried Semper,
wenn auch zu einem anderen Zielpimkt, verfolgen.
„Wir hätten das tektonische Stützwerk zunächst für sich imd
hernach erst im Zusammenwirken mit dem Gestützten zu besprechen.
Es zeigt sich aber, daß jedes Stützwerk in sich selbst schon ein
solches Zusammenwirken stützender und gestützter Teile enthält
imd ausdrückt, und daß diese innere Vollständigkeit auf struktiv-
formalen Grründen beruht, die im ästhetischen Sinne gefaßt und
weiter ausgebildet werden.
„Der Künstlersinn macht nämlich aus den gestützten Bestand-
l6o XL Tektonik
teilen Vertreter und gleichsam Vorboten der wirklichen Last, er-
teilt so dem Gestell eine gewisse innere Vervollständigung und
bildet es zu einer in sich abgeschlossenen Kunstform aus. Ihre
einheitliche Verbindung mit der außer ihr seienden wirklichen Last
wird getragen und befestigt durch jene vermittelnden Vertreter der
letzteren, innerhalb des Stützwerkes.
„Die Kunst verfolgt dies Prinzip teils nach unten zu, indem
sie die eigentlichen Stützen des Gestells wieder in gleichem Sinne
gliedert, teils nach oben zu, indem sie den letzten einheitlichen
Bezug des Gestells möglichst erweitert und vervollständigt."
Als Beispiel für solche Gebilde mag auch hier der antike
Dreifuß verwertet werden; denn er ist unter allen beweglichen Ge-
stützen das vollkommenste und am reichsten gegliederte, das zu-
gleich als LibegrifF des Möbels dienen darf. Er entspricht den
statischen und formalen Anforderungen eines in seinen Teilen un-
verschiebbaren, sehr stabilen und leicht transportablen Systems in
jeder Beziehung. Er ist also gleichsam das Ideal eines wohl
fußenden und doch zugleich sehr mobilen Gerüstes, für das die
Dreifaltigkeit seines Stütz werks und vornehmlich auch die Ver-
wertung seiner gitterähnlichen Stabkonstruktion, nach dem Prinzip
verschränkter Dreiecke, als Kunstform bezeichnend sind.
Die drei Füße, die gespreizt nach unten auseinandergehen, um
der Last eine möglichst breite statische Basis zu geben, behalten
so den Ausdruck eines stützbedürftigen, in seinen Teilen noch un-
selbständigen Gefüges. Dieser Ausdruck steigert sich noch durch
den Dreieckverband von Querstäben, die ein leichtes, daher der
inneren Verstärkung bedürftiges Geschränk bilden. Solche Be-
festigung mit einander durchkreuzenden Stäben schließt die selb-
ständige Festigkeit aus.
Dieses Gestütz hätte somit an sich weder inneren Halt noch
äußere Zweckmäßigkeit ohne den oberen Klranz, der die drei Füße
verbindet und dabei zur Aufnahme der Last (des Kessels) dient
So entspricht er dem oben angegebenen Kunstprinzip, indem er
als Vertreter des Kessels dem Gestell selbst schon den Ausdruck
der Zweckmäßigkeit sichert und die äußere Bestimmung zu einem
inneren Bestandteil des Gefüges macht. Der Kessel bleibt freilich
von der in sich abgeschlossenen Form des Dreifußes unabhängig,
wirkt aber mit diesem vereint zu einer höheren einheitlichen Er-
scheinung zusammen. Der Kranz charakterisiert sich demgemäß
als krönend (abschließend), zusammenfassend (bindend) und auf-
Das Gestell i5i
nehmend (fassend), oft selbst als kelchförmig nach außen sich ent-
wickelndes Gefäß, als Kessel für den Kessel. Dazu kommen
noch die Handhaben, die zwischen den Füßen in dreifacher
Zahl an dem Kranze befestigt sind. Den letzten Abschluß
des Gesamtwerkes bildet der auf den hochrag'enden Handhaben
ruhende Deckel.
Nach dem Vorbilde des Dreifußes verstehen sich alle solche
Gestelle, die das Stützwerk eines imabhängigen, dem Systeme nicht
angehörigen Gegenstandes bilden. Wir brauchen darnach das Ge-
stell nur noch so weit ins Auge zu fassen, als es in sich abge-
schlossen, nichts außer ihm Befindliches aufzunehmen bestimmt ist
und vollständig dasteht Natürlich sind beide Arten miteinander
verwandt; denn auch nicht abgeschlossene Stützwerke, wie z. B. der
Sessel, der eine Person aufnehmen soll, oder der Kandelaber als
Träger einer Lampe, können als Gestelle schon in sich selbst einen
gewissen formalen Abschluß haben und auch ungebraucht auf sich
selber beruhen.
Als Inbegriff eines selbständigen und vollständigen tektonischen
Gerüstes betrachten wir das Ganze eines Dachgezimmers mit dem
Rahmenwerk und dem Stützwerk seines Unterbaues als Einheit
Die Bambushütte des Karaiben zeigt uns das von Baum-
stämmen gestützte, mit Stroh oder Rohr bedeckte und mit Matten-
geflecht umhegte Schutzdach, das auch Semper wiederholt beschäf-
tigt hat^) Sie ist ihm ein Beispiel des Hausbaues, das in seiner
Gesamtheit, wie in seinen Teilen dem Zwecke, zu dem es errichtet
wurde, durchaus entspricht. Es genügt, wie Semper anerkennt,
nicht nur den Gesetzen der Statik, sondern auch der Proportionen.
„Wir sehen hier alle Elemente der Konstruktion in ihren ein-
fachsten Ausdrucksweisen und Kombinationen. Aber jedes einzelne
Element der Konstruktion spricht für sich allein und steht in
keinem Zusammenhang mit den anderen. Jedes Glied ist nur zu-
fallig tätig; es wurde nicht eigens für die Funktion, die es ver-
richtet, gebildet Die Stützen sind nichts anderes als Baumstämme.
Die Wandteilungen sind Matten, welche zwischen den Bäumen auf-
gehängt sind." Deis können wir alles zugeben, nur nicht das
Endresultat: „Das Ganze hat nichts mit der Architektur als
Kunst gemein.-
Halten wir uns zunächst allein an das tektonische Gerüst, in-
1) Kl. Sehr. 294. 383. Der Stil S. 263.
S chmar 8 ow, Kunstwissenschaft. II
l62 XI. Tektonik
dem wir von der Raumbildung als der eigentlichen Aufgabe der
Architektur selbst noch absehen« Die einzelnen Bestandteile sind,
wenn nicht für jede Funktion, die sie verrichten, eigens gebildet,
doch für sie ausgewählt. Es sind Reihen von Bambusstämmen
gleicher Größe, gleichen Wuchses, eben als gleichmäßig bean-
spruchte Stützen gleichmäßig behauen. Das Prinzip der Regel-
mäßigkeit, das schon der Ornamentik geläufig ist, waltet hier im
ganzen Aufbau, soweit die Teile an ihrer Stelle im Ganzen £ds
unterschiedene, aber gleiche ringsum abfolgen oder einander gegen-
überstehen sollen. Die Wahrzeichen des Wachstums sind als will-
konmiene Sprache organischen Lebens erhalten, aber die zufälligen
Nebensachen, die vertrocknenden Stengel und Blätter beseitigt, nur
das Konstitutive herausgeschält und erhalten. Mit dem Wachstum
hängt die Proportion der Stäbe in sich von Natur zusammen;
aber deutlich bestimmt das anerkannte Gesetz der Symmetrie auch
die Abstände von Stütze zu Stütze, das der Proportionalität aber
die Höhe bis zur Querstange, deren Abstand wieder vom unteren
Rand des vorspringenden Daches und endlich die Höhe des Firstes.
Dieser Firstrand selbst zeigt die alternierende Reihe von auf-
ragenden Spitzen imd horizontal fortlaufenden Bindegliedern, wie
drunten die Abwechslimg der Träger und der Zwischenräume und
verkündet nach außen das Dasein des regelmäßigen Gefüges
drinnen, das die schräge Schirmwand des Daches mit seinem Ge-
flecht verkleidet. Und gerade im Innern waltet der feste Zusammen-
hang, zu dem alle Teile dienend ineinandergreifen; mag das Schema
der Konstruktion auch noch so elementar sein: die Anforderungen
der Tektonik sind erfüllt Dazu kommen dann die Matten mit
ihren regelmäßigen Vierecken aus verschiedenfarbiger Baumrinde,
die bereits geometrische Muster und Farbenwechsel für den
Wandverschluß verwerten. Sie trennen den Schlafraum oder das
innere Gemach von der offenen Halle, wo der Feuerplatz steht,
und zwar entfallen drei Fünftel der Gesamtlänge für den offenen,
zwei Fünftel für den geschlossenen Raum. Und diese zwei Fünftel
entsprechen der Tiefe des Gemaches, d. h. der Schmalseite des
ganzen Rechtecks, dcis den Grundplan bezeichnet Diese Ramn-
bildimg für lebendige Menschen erhebt aber das tektonische Gefuge
zum Range eines Bauwerkes, so leicht sein Aufbau und so einfach
das System des Lebens sein mag, das er verkündet Es hat mit
dem Wesen der Architektur als Kunst mehr gemein, als die Stil-
lehre, die allein nach den Formen urteilt, zunächst zugeben möchte.
Die Karaibenhütte 163
Schon als Wohnbau ist die Karaibenhütte von der Baukunst gar
nicht zu trennen.^)
Sie erfüllt die Forderung der Einheit, wenn in absolut formaler
Beziehung vor allem verlangt wird, daß sie sich als in sich abge-
schlossenes imd vollständiges Ganzes vor Augen stelle. Der
schräge Ablauf des Daches leistet schon diese Absonderung
ringsum. Ganz abgesehen von ihrer materiellen Zweckhaftigkeit,
zeigt sich diese Form auch vom ästhetisch formalen Gresichtspunkt
als die vollkommenste Endigung des tektonischen Gestelles nach
oben. Es ist gleichviel, ob die Grundform, wie hier, eine oblonge
oder überhaupt viereckige, oder sonst beliebig gestaltet sei; das-
selbe gilt auch für die runde, ja vielleicht noch in höherem Grade.
Während das oblonge Dach gewöhnlich aus einer Reihe dreieckiger
Rahmen besteht, die in aufrechter Haltung hintereinanderfolgen,
schließen sich die Dreiecke eines kreisrunden Daches eben radial
einander durchschneidend um eine Mittelachse zusammen. Die
aufrechten Dreieckrahmen werden bei jeder Form von dem
wagrechten Rahmen aufgenommen, der die Reihe der Schenkel
unten zusammenhält imd seinerseits auf dem Gebälk des Stütz-
werks ruht
Diese Gesamtheit des Gestützten mag gerade so weit lasten,
als erforderlich ist, um die stützenden Teile in Tätigkeit zu setzen
und zu erhalten. So wird diesen Gelegenheit geboten, ihre selb-
ständige Widerstandskraft zu bewähren und ihre lebendige Energie
zu betätigen, also ästhetischen Ausdruck zu gewinnen, der als
Antwort auf jene Last von oben den Beschauer die Harmonie
beider Bestandteile in unmittelbarer Erfahrung genießen läßt. „For-
male Erscheinungen, an denen nichts auch nur den Gedanken an
materielle Existenzfähigkeit und Dauer, also noch viel weniger den
Zweifel an beidem hervorruft, lassen auch das Auge wenigstens in
diesem Sinne am meisten beruhigt," erklärt Gottfried Semper (S. 233).
„Keiner denkt bei einem aufrecht Stehenden, Senkrechten an dessen
Schwere und, bei richtigem Verhältnis der Höhe zu seiner Basis,
an dessen Stabilität. Ebensowenig werden wir bei einem horizon-
tal Liegenden an dessen Gewicht als tätige Kraft erinnert; es ist
für uns vielmehr zum sprechenden Sinnbild der absoluten Ruhe
geworden." Dies Ergebnis des Ganzen ist bei einem Wohnbau
i) Weiteres auBerordentlich lehrreiches Material für den Übergang aus dem
Möbel in den Wohnbau bei Frobenius, Ozeanische Bautypen; Berlin.
II»
104 XI. Tektonik
sicher der wünschenswerte Ausdruck. Wir sind darin am
glücklichsten, wenn wir mit dem Zweifel an der Stabilität und mit
einem wirklichen Konflikt zwischen Kraft imd Last gar nicht be-
helligt werden. Das ist als natürliches Hausgesetz festzu-
halten, wo immer der Mensch für den Aufenthalt von
Menschen allein schafft und gestaltet Sonst können wir uns
nur an das Ghrundprinzip aller künstlerischen Synthesis erinnern,
das auch aus allen Beispielen vollendeter Tektonik hervorleuchtet:
das Ganze ist seinem Zweckgedanken nach vor den Teilen da und
wiederholt sich in seinen Bestandteilen. Die Teile vereinigen sich
zu einem Ganzen, das ihnen selber gleichartig, in ihnen schon im
Keime gleichsam enthalten ist.
XIL
MONUMENTALITÄT
NATURGEBILDE UND MENSCHENAVERK — DAS MAL — OBELISK
UND PYRAMIDE — BERGWAND UND EBENE — DAS TEKTONISCHE
EINZELGEBILDE UND DAS BAUGLIED.
Kehren wir von der Bambushütte des Karaiben, die lediglich
als ein von Baumstämmen gestütztes, mit Mattengeflecht umhegtes
Schirmdach angesehen zu werden pflegt, noch einmal zu dem wirk-
lichen mehr oder minder beweglichen Schirm zurück, den wir auch
im Zelte des Nomaden wiedererkannten. Da kommt es vor allen
Dingen auf ein entscheidendes Merkmal an, das hier vorhanden,
dort beseitigt ist: den Stock, der das Schirmdach trägt, in der Mitte.
Aus dem zierlichen Stabe, den wir mit aufgespanntem Schirm
neben unserem Kopfe oder gar vor unserer Nase tragen, wird beim
Zuwachs der Spannweite ein Stecken, eine Stange. Solch ein
Schirmstock pflanzt sich neben uns, vor uns hin und beansprucht
mehr als Rücksicht Er nimmt den Platz früher ein als sein Herr
und bestimmt den Ort, wohin ihm jener folgen muß. Er wird ein
Hindernis für jede Mehrzahl von Personen, die sich so dicht wie
möglich um ihn zusammendrängt. Bei stürmischem Wetter beginnt
er vollends die Hauptrolle sich anzumaßen, und alle anderen hängen
von ihm ab. Im Zelte des Nomaden endlich behauptet er dauernd
den Mittelpunkt und ordnet sich alles unter. Er ist aus dem be-
quemen Diener ein imbequemer Alleinherrscher geworden. Kein
Wunder, denn er ist im Umkreis seiner Stäbe und ihrer Leinwand-
flachen dazwischen nichts anderes als die Dominante in ihrem
Wirkungskreis. Sowie er im Boden steckt und sein Zeltdach trägt,
ist er auch das Mal in der ganzen Konstellation. Nehmen wir alle
Bestandteile solches Schirmzeltes zusammen, so haben wir eine
Sammelkomposition unter einer Dominante vor uns, nämlich um
das Mal herum, von dem alle Beziehungen ausgehen, auf das alle
zurückfuhren. Das Mal ist das Feste, Beharrende; die peripherische
i66 ^11- Monumentalität
Reihung ist das Wandelbare, das Bewegliche. Selbst die Ver-
sammlung konkurrierender Individuen, die in solchem Zelte hausen,
und seien es die Patriarchen des alten Bundes oder der Pharao
von Agyptenland mit seiner Familie, sie überlassen dem Grund-
stock des umgebenden Gerüstes die bevorzugte Zentralstelle, wie
dem Stamm der Sykomore, unter deren Schatten sie lagerten.
Die Beseitigung des lästigen Hindernisses freier Bewegimg
unter dem eigenen Dach und die Übertragung seiner Gesamtfunk-
tion auf zwei, drei oder gar vier solcher Stangen bedeutet ja den
Übergang vom transportablen Gebrauchsgegenstand zum ganz
anders gearteten Gerüst. Was wir unsere „vier Pfähle" nennen,
die schon die Karaibenhütte aufweist, bezeichnet die ganze Revo-
lution, die stattfinden mußte, um den Usurpator am eigenen Herde
loszuwerden. Hinausgewiesen aus unseren „vier Wänden", die
in der Karaibenhütte schon ebenso vorhanden sind, erscheint er
aber draußen isoliert erst recht in seiner hervorragenden Bedeu-
tung und erlebt, wie wir sogleich sehen werden, eine neue Ent-
wicklungsgeschichte, in der er bald alles, was ihm abgestreift
wurde, wieder an sich heranzieht, um nun dauernd und anerkamnt
die Konkurrenz mit dem Menschen und seinen Versammlungen
aufrechtzuerhalten. Das fuhrt uns mitten hinein in die Geschichte
der Architektur.
Zunächst aber müssen wir noch bei ihm selber verweilen; denn
der erste Umschwung vom labilen zum stabilen Träger ist der
wichtigste von allen, und zieht den anderen umfassenderen nach
sich: von Mobilität zur Monumentalität Diese erste Verwand-
lung nur ergreift ihn selber und stellt sein Wesen geradezu auf
den Kopf oder verändert von Grund aus seinen Charakter. Wenn
wir die Spitze eines Stockes, der uns eben noch als Wegiveiser
oder als SchutzwafFe diente, sich also überallhin kehren mochte,
nun — an einem Haltepunkt — nach unten richten und in den
Sand stecken, so steht er für sich allein. Nur der Griff erinnert
noch an die Zugehörigkeit, aus der wir ihn soeben entlassen. Seine
Selbständigkeit wird voller Ernst, wenn der Stecken, den wir auf-
gepflanzt, dieses Zeichen der Handhabe nicht unverkennbar an sich
trägt, wie statt des gebogenen Griffes ein runder Knauf schon be-
ziehungslos erscheint, oder wenn wir statt des Wanderstabes gar
eine Lanze in den Sand gesteckt, so daß ihre Spitze nach oben
weist So wird aus einer Bohnenstange wohl eine Flaggenstange,
aus einem beliebigen Pfahl ein Mastbaum, je nach der Richtung
Das Mal 167
des verjüngten Stammes zum Grund und Boden. Sowie wir solche
Beispiele nur nennen und anschaulich vorzustellen versuchen, so
fühlen wir schon den Unterschied der beiden Enden imten oder
oben deutlich heraus. Die ursprüngliche Spitze des Spazierstocks
ist zum Fußpunkt geworden, der Knauf zum Kopfe. Die Lanze
und der Mastbaum haben ihren Gipfelpunkt behalten, während der
Pfahl, den wir mit dem schlankeren Ende des Baumstammes nach
unten in den Boden einrammen, zunächst kopfüber zu stehen
scheint, solange wir noch an sein Wachstum und seinen natür-
lichen Zustand erinnert werden. Die Spuren der Herkunft werden
hier geflissentlicher als dort beseitigt. Herausgerissen aus seinem
ursprünglichen Zusammenhang und in ein neues, augenfällig ab-
weichendes Verhältnis zum allgemeinen Grunde gebracht, verkündet
erst das umgeformte Naturgebilde den Willen des Menschen, der
ihm ein anderes Amt aufgenötigt und ihn aufgerichtet hat an
dieser Stelle. Ganz befriedigend und zweifellos wird die Wirkung
erst, wenn an dem Mastbaum noch ein Wimpel weht, an der Lanze
die schneidend scharfe Spitze schimmert, oder wenn der Pfahl am
dicken Ende oben durch ein Kopfstück seine Selbständigkeit be-
hauptet und ebendort einen Abschluß erhält, wo wir sonst eine
andere Last erwarten und damit die Aufnahme eines weiteren Zu-
sammenhangs, den wieder Menschenhand ihm aufgenötigt, hinzu-
denken. Dieser Dienst unterscheidet die vier Pfahle, wie den
einen in der Mitte des Zeltes, als Träger des Schirmdaches von
dem freistehenden Mal, das unabhängig aus dem Boden aufragt.
Alle solche Unterschiede und Ansprüche sind nur Symptome
der Anerkennung des Aufrechten als Gegenstand außer uns. Die
Richtung als unsersgleichen ist die Hauptsache, und je nach
ihrem Verlauf nach oben oder nach unten bestimmt sich der Chst-
rakter dieses Körpers im Verhältnis der Vertikale zum Grunde
unter imseren Füßen und zu dessen Gegenteil, der Luftregion zu
unseren Häupten. Neutral wird der hölzerne Stamm, den wir be-
nutzen, erst dann, wenn alle Spuren seines Wachstums beseitigt
und beide Enden so weit gleich behauen sind, daß nicht mehr er-
kennbar bleibt, was ursprünglich unten oder oben war. Dann liegt
aber der gefällte Baumriese auch gleichgültig da wie ein toter
Körper und bezeugt den Gewaltakt, der ihm widerfahren, auch
wenn wir ihn aufrichten und hinstellen wie jene andern. Die auf-
rechte Haltung macht ihn zum Mal geeignet, wie zum Träger; aber
Freiheit von jedem weiteren Dienst und die Hervorhebung als
i68 ^11- Monumentalität
Dominante durch imponierende Große oder andere Wahrzeichen
entscheidet erst den Charakter des Mals. Nun mag es als Mittel-
punkt selbst in einem eigenen System von lebendigen Beziehungen
dem Menschen gegenübertreten und sich im Wechsel der Erschei-
nungen ringsum behaupten.
Das Mal ist fast immer bodenständig, aber noch nicht unver-
rückbar. Es kann vorübergehend diese oder jene Stelle als Mittel-
punkt eines solchen Systems von lebendigen — sinnlich wahrnehm-
baren oder geistig anknüpfbaren — Beziehungen kennzeichnen.
Aber der punktuell fixierbare Wert, den des Menschen Wille so
zur Anerkennung hinstellt, erhebt unter anderen, transitorischen
Werten alsbald den Anspruch bleibender Bedeutung. Die beiden
Extreme des absolut Mobilen und des im Boden haftenden Immo-
bilen treten allmählich immer klarer auch in der Formensprache
auseinander. Die Auseinandersetzung mit dem Erdboden unten
und dem unbezeichneten Luftraum droben gibt diese sprechende
Charakteristik, die schon den schlichten Träger des Schirmdachs,
wie den Mastbaum oder die Flaggenstange, von den beweglichen
Gestellen und Gestützen unterscheidet Der Dreifuß mit seinen
Querstäben, die im Dreiecksverband die Stützen zusammenhalten,
mit der gespreizten Haltung der Beine gegeneinander, verwandelt
diese letzteren in senkrechte Träger imd streift jene ersteren, als
innere Verstärkungsglieder des beweglichen Systemes, völlig ab,
wenn es gut, ein massives, in der Selbständigkeit der Teile ge-
sichertes Stützwerk hinzustellen, wie es der marmorne Dreifiiß oder
der Altar vollends darzubieten pflegt Dann bleibt auch von den
Füßen selber nur ein Ansatz übrig, wie an dem leichten Kandelaber
aus gegossenem Metall, an dem sie noch weit ausgreifen, um die
geforderte Standfestigkeit zu erreichen. Das gleiche Gerät aus
getriebenem Metall oder Marmor kann eine Dreifußbasis erhalten,
bedarf aber außerdem einer mittleren Stütze. Diese letztere allein
begegnet uns, wie als Schirmstock oder als Zeltstange, auch frei-
stehend als Mal. Es ist die griechische Stele, die sich wieder
desto standfester, im Boden haftender erweist, je weniger sie sich
durch untere Gliederung, Fußgestell oder Basis vom Boden los-
trennt und abhebt. Erhält sie einen besonderen Sockel, so ist dies
ein Zeichen für die Vorstellung wenigstens, daß die Stele selbst
davon abgenommen werden könnte, wie sie einmal darauf gestellt
ward. Sie bleibt wenigstens für den Gedanken beweglich, wie das
Weihgeschenk, das sie trägt, während der Sockel an sich gerade
Obelisk und Pyramide i6g
die unverrückbare Unterlage darstellt und als Repräsentant der
Erdoberfläche die Bedeutung des Mals als fest an diese ausgeson-
derte Stätte gebundenes Wahrzeichen verstärkt. Dagegen erscheint
die Stele selbst mehr mit dem Boden verwachsen, wo das trennende
Zwischenglied fehlt Die Ausschweifung des hyperboloiden Schaftes
nach unten enthält bei der dorischen Stele gleichsam latent die
Basis, wie der untere Anlauf des Baumes über dem Wurzelgezweig
im Boden die gleiche Form annimmt Das dorische Kapitell, das
oben auf dem dünnen Ende des Schaftes aufsitzt und breit aus-
ladend einen geweihten Gegenstand darbringt, ist das Wahrzeichen
des Trägerdienstes, der dem schlank aufstrebenden Mal noch zuge-
mutet wird. Es muß als Widerspruch zu diesem eigenen Wesen
abgestreift werden, sowie es gilt, die Beziehung nach oben frei
imd unabhängig weiterzufuhren. So endigt die aufgerichtete
Lanze, wie der Mastbaum, so auch der Obelisk und die Pyramide
in der Spitze.
So verstehen sich die Abstufungen des Ausdrucks zwischen
Mobilität und Monumentalität je nach der Art und der Ent-
wicklung der im Mal oder Träger enthaltenen Formmotive. Je
nach dem Vorhandensein oder Fehlen der Glieder am Fuß- und
am Kopfende bestimmen sich notwendig auch die Verhältnisse des
Schaftes. Die unten auswärtsgeschweifte Stele darf höhere Ver-
hältnisse haben als ein zylindrischer Schaft mit seiner senkrechten
Grenzlinie; dieser Zylinder wird in sich kräftiger sein müssen, wenn
er unmittelbar aufstößt, als wenn er durch eine vermittelnde Basis,
wenn auch nur scheinbar fürs Auge, einen Zuwachs an Stabilität
erhält Schon die Rundheit des Schaftes, d. h. die Kreisform seines
horizontalen Durchschnittes, ist wieder ein charakteristisches Kenn-
zeichen der Selbständigkeit des isolierten Gebildes. Die volle
Kreisform oder die polygone, die sich jener am meisten annähert,
verhält sich ringsum gleich ablehnend nach allen Seiten und bietet
nirgends eine Fläche für den Reflex der Beziehungen, die von
außen an den aufrechten Körper herankommen könnten. Dagegen
überläßt der Obelisk seine vier Seiten wohl gar der Bilderschrift,
d. h. einem Niederschlag solcher Beziehungen, der seine Bedeutimg
nach allen vier Winden verkündet Die Pyramide nimmt durch
ihre gewaltigen Dreieckflächen den Zusammenhang mit dem ganzen
weiten Reiche, nach allen vier Himmelsrichtungen, sogar in ihren
Aufstieg hinein; aber sie vereinigt in den schräg zusammenfliehen-
den Ebenen, wie in den scharf hervortretenden Kanten dazwischen
170
XIL Monumentalität
auch in unerbittlicher Folgerichtigkeit die umfassende Weite mit
der einheitlichen Spitze, in der punktuell, wie in jenem „steinernen
Sonnenstrahl", die Vertikalachse des Ganzen gipfelt, als imverkenn-
bare Dominante des monumentalsten Males.
So entwickelt sich der isolierte Punkt zum festen Körper, ent-
wickelt sich das fixierte Mal zum dauerhaften und im verrückbaren
Monument Wollten wir den BegriflF der Monumentalitat nach
diesen letzten Beispielen fast ewiger Beharrung bestimmen, so wäre
wohl kein Zweifel, daß sein wichtigstes Merkmal in dem wider-
standsfähigen, allen Wechsel der Zeiten siegreich überdauernden
Material zu suchen sei. Ja das letzte dieser Beispiele, die Pyra-
mide, die als Inbegriff des Monumentalen an sich erscheint, würde
sogar dazu berechtigen, die Anhäufung einer kompakten Masse
solchen Materials als entscheidend anzusehen und damit die Steige-
rung des Maßstabes ins Übermenschliche, die Zusammenwälzung
und Aufrichtung kolossaler Körpermassen als den UrbegrifF hinzu-
stellen. Damit würden wir jedoch unleugbar den logischen Fehler
begehen, der so häufig durch Verwechslung der Mittel mit dem
Zweck entsteht. Dauerhaftigkeit des Materials und Größe des
Maßstabes sind und bleiben nur Mittel zur Herstellung monumen-
taler Werke, oder sie werden willkonmiene Darstellungsmittel, um
auf die Sinne und damit die Gemüter der Menschen den Eindruck
der Monumentalität hervorzubringen. Es fragt sich dann nur, ob
dies unmittelbar, oder erst mittelbar in Verbindung mit anderen
Faktoren erreicht werden könne. Der eigentliche Zweck des Mo-
numentes liegt aber in seinem lateinischen Namen ausgesprochen,
den wir Denkmal übersetzen. Nur um ein Mal zimi Angedenken
einer Person, sei es einer wirklichen, sei es einer erdachten, oder
einer Sache, einer Tat, eines Ereignisses, oder endlich einer Be-
ziehung zwischen zwei solchen Faktoren, einer Idee, kurz nur um die
Versinnlichung eines solchen Inhalts für möglichste Dauer kcuin es
sich handeln, wenn wir auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes
und die ursprüngliche Bestimmung der Sache selbst zurückgehen.
Der letzte Zweck eines Monumentes ist immer die Verewigung
eines Wertes und insofern identisch mit dem Zweck jedes Kunst-
werks überhaupt. Aber es gibt Werte, die nicht an den transito-
rischen Verlauf gebunden erscheinen, sondern vielmehr als bleiben-
der Bestand der Veränderlichkeit alles Lebens zugnmde liegen.
Es sind die konstitutiven Faktoren des Daseins, ja die Existenz
selber, um die es sich handelt, — also Werte, die den Wechsel
Das Denkmal
171
der Zeiten überragen und deshalb nach dem Verlangen des Menschen
ihn auch überdauern sollten. Diese sind es, denen die Künste
räumlicher Anschauimg vor allen ihre Kräfte weihen. Das äußerste
menschenmögliche Maß der Beharrung zu erreichen, ist das Ziel,
und der äußerste menschenmögliche Ausschluß aller Bewegung das
Verfahren, mit dem es erstrebt wird. Erstarrung ist der Preis, um
den die Beharrung erkauft wird, und die Kristallisation des Da-
seins auf Kosten der Organisation alles Lebendigen ist der Prozeß,
der sich mit der Absicht auf Monumentalität verbindet
Die Verewigung eines solchen Wertes bringt sogleich das
erste Mittel dazu von selber mit sich: die Verkörperung in
dauerhaftem möglichst unvergänglichen Material; „denn alles Fleisch
ist wie Grras". Und in Anbetracht der Größe des Wertes stellt, so-
lange noch keine höheren Darstellungsmittel gefunden und allge-
meingültig geworden sind, sich immer die Quantität der aufge-
wendeten Masse als zweites Mittel ein. Bald ergibt jedoch die
Erfahrung des unmittelbaren Eindrucks, daß nicht sowohl der Um-
fang der Masse als vielmehr die Höhe des aufgerichteten Körpers
das Entscheidende ist, wenn es gilt, nicht nur dem Wissenden das
Bewußtsein zu stärken und dem Eingeweihten das Gefühl des
Wertes zu beleben, sondern auch dem Uneingeweihten den Sinn zu
öffnen imd dem Unwissenden eindringlich den Wert zu verkünden.
Nur der aufgerichtete Körper über Menschenmaß imponiert dem
fremden Ankömmling wie dem frommen Pilger. Starre, undurch-
dringliche Körpergröße und unvergängliche Existenz in sinnlich
wahrnehmbarer Stofflichkeit miteinander zu verbinden ist für Men-
schenkunst nicht anders möglich als durch diese Mittel. Deshalb
kommen wir beim Begriff der Monumentalität so leicht dazu, die
Auffassung der Mittel, die dazu fuhren, vorwalten zu lassen vor
dem Zweck, der sie bestimmt. Wir gebrauchen das Wort „monu-
mental" wohl demgemäß für großartig und gewaltig überhaupt, mit
einer Bevorzugimg des über Menschenmaß oder doch über Durch-
schnittsmaß Hinausgehenden, wenn auch nicht ausschließlich für
das Kolossale imd Ungeheure.
Die Tatsache, daß unter diesen Mitteln die Überhöhung des
Maßstabes uns gegenüber sich als das wirksamste herausstellt, weil
es immer den ersten Eindruck entscheidet und wieder den letzten
hinterläßt, gleichgut, welche Dauer des Bestandes und welche
Stofflichkeit des Körpers hinzukomme, belehrt uns femer, daß das
Hauptmittel, dem Werte zur Anerkennung zu verhelfen, in der
Ij2 ^n. Monumentalität
Übertragung des eigenen allerprimitivsten Wertes der Körperlich-
keit und zwar der Korperhöhe besteht. Diese Gleichheit des ge-
meinsamen Grundstocks sichert ihm das Verständnis und erklärt
die Unmittelbarkeit seiner Wirkung auf das GefuhL Die Steige-
rung der Größe dann, im Gegensatz zu uns, und die unverrückbare
Beharrung der Körpermasse, im Widerspruch zu unserer beweg-
lichen Natur, heben das Denkmal vollends heraus aus dem ge-
wohnten Zusammenhang gleichorganisierter Wesen, aus dem alltäg-
lichen Leben und Treiben mit unsersgleichen.
Der ursprüngliche Wert sowohl wie die ursprünglichen Mittel
zu seiner Dcirstellung sind nichts anderes als Körper, — Körper-
größe, Körperumfang, vor allem aber Körperhöhe. Das lehren alle
Zeichen und Wunder ältester Kunst, die wir als Denkmäler an-
sprechen dürfen. Sowie wir aber den Beispielen selbst näher
treten, ergeben sich auch Unterschiede und Modifikationen in ihrer
Reihe, die uns genauer über Sinn und Wesen des KunstwoUens
unterrichten. Die Pyramide schon unterscheidet sich vom Obe-
lisken; denn sie ist nicht allein kompakte Körpermasse, sondern
beherbergt einen oder mehrere Hohlräume, gehört also schon des-
halb notwendig zur Architektur. Mag die Grabkammer für die
Mimiie des Königs auch noch so klein, das Wohngemach für den
abgeschiedenen Geist noch so bescheiden sein im Vergleich zu
dem Umfang und der Masse des Ganzen: die Bedeutung der Per-
son steigert auch den Wert des Raumgebildes, das sie umschließt
Der Obelisk dagegen ist ein massiver Körper, ohne Innenraum
darin, mag er als Wahrzeichen auch hinreichende Kraft besitzen,
einen weiten Platz um sich her wie ein Raumgebilde zu zentrali-
sieren, indem er, wie die Achse des Kristalls, ihm Halt gewährt
und Richtung gibt nach allen Seiten über dem Grunde, aus dem
er aufragt und frei nach oben weist in die luftige Weite. Er stellt
sozusagen den Auszug aus der aufrechten Menschengestalt dar, mit
Abstreifung aller organischen Gliederung und Rundung der Formen,
gibt deren wesentlichen Inhalt, unter das Gesetz kristallinischer
Regelmäßigkeit gebracht Wir sagen uns wohl, die kleine Pyra-
mide, zu der er sich zuspitzt, sei sein Kopf, — der Sockel, auf
dem er sich erhebt, sein Fuß; aber wie fremd erscheinen diese
Teile sonst den Vergleichsstücken am Menschen gegenüber, und
wie gänzlich andersgeartet vollends der Leib selbst, dessen vier
gleiche, sich leise, doch stetig nach oben verjüngende Seiten wohl
gar noch mit Bilderschrift überzogen sind! Die abstrakte stereo-
Das Denkmal — ein Symbol 173
metrische Form, die allen körperlichen Bezug zur Umgebung aus-
schließt, ist gerade die monumentale, die damit jeder Veränderung
durch solchen Zusammenhang enthoben bleibt Welches auch der
Inhalt der Aufschrift imd damit das Wesen des hier versinnlichten
Wertes sein mag, — was unmittelbar zu dem Betrachter spricht,
ist doch nur der Körper, der aufgerichtete, hohe, der fremd und
geschlossen dasteht Er weist nach oben über uns selber hinaus,
aber er ist auch nach dorthin scharf und klar in seiner Körperlichkeit
begrenzt Es ist schon Willkür, zu behaupten, daß er notwendig
aufs Unendliche verweise. Nur die Richtimg der Spitze bleibt
gegeben und tritt hervor. Eben sie hebt den abstrakten Kern der
Form, die Zentralachse des Kristalls, als ausgesprochene Vertikale
heraus aus dem übrigen Körper, der diesen Inhalt nur versinnlicht,
bekleidet, und in solcher StofiFlichkeit dessen Existenz sicherstellt
Was ist nun diese aufrechte Vertikalachse, an dessen Richtung
nach oben sich das Gesetz der Proportionalitat vollzieht, was ist
sie für den Menschen, der sie gewahrt? Wir erkannten sie in jedem
Mal, dem beweglichen, bei Gelegenheit vorübergehend dort hinge-
stellten ebenso, wie bei dem imverrückbaren hier, imd begrüßten
sie als wesentlichen Inhalt der aufgepflanzten Lanze, der Flaggen-
stange mit dem wehenden Wimpel, ja des Mastbaums auf dem
schwankenden SchifiF. Noch die Sage weiß zu erzählen, daß der
habsburgische Landvogt in den Tagen Wilhelm Teils eine Stange
errichten, seinen Hut darauf stülpen hieß und von den freien
Schweizern verlangte, davor Reverenz zu machen. Damit ist auch
gesagt, was die Vertikalachse selbst, ohne die persönliche Be-
ziehung durch den Hut, bedeutet: sie ist eine Auktoritat für sich,
die Dominante eines eigenen Wirkungskreises, der Grundstock
eines von ihr abhängigen Systems, auch wo wir die Bestandteile
dieses Systemes von Beziehungen nicht mit versinnlicht finden.
Das heißt, sie ist ein Sjrmbol, dessen Bedeutung und Tragweite
sehr verschieden sein kann.
Symbol aber nennen wir, in genauer Übereinstimmung mit
dem griechischen Wortsinn, ein sinnlich wahrnehmbares Zeichen,
das erst durch Hinzufugimg eines anderen ihm fehlenden Bruch-
teiles vom Empfänger ergänzt werden muß, um die Vollständigkeit
und damit die Vollgültigkeit des Ganzen zu erlangen. Das Symbol
in der bildenden Kunst ist eine Form, die den Wert nicht selber
völlig ausgestaltet, sondern nur einen Bruchteil desselben darbietet,
so daß der fehlende Rest durch die Vorstellung des Betrachters
»74
XII. Monumentalität
hinzugeliefert werden muß. So ist die aufrechte Vertikale in stereo-
metrisch abstrakter Verkörperung nur das Symbol für die Einheit
des Individuums, wie der Punkt im Kreise den Ichpunkt in der
ganzen Sphäre unseres Bewußtseins bedeuten kann. Viel konkreter
als diese Abstraktion des denkgewohnten Geistes gibt der aufge-
pflanzte Speer des Häuptlings die Gegenwart des Abwesenden,
d. h. die Fortdauer seines Willens im beanspruchten Machtbezirk
wieder, verkündet die Stange mit dem Hut die Auktoritat der
wohlbekannten Person und ergänzt sich durch die Phantasie der
Bürger zur gebieterischen PersönUchkeit des Landvogts. So ruft
der Obelisk, ein starres kristallinisch regelmäßiges Gebilde von
Stein, das Angedenken eines lebendigen Wesens wach bei allen,
die das Zeichen verstehen. Sei diese so verewigte Lebenskraft
nun ein Gott oder ein Held, eine Tat oder ein Gedanke: vorge-
stellt wird sie nach Analogie des eigenen aufrechten Willens und
versinnlicht nach Analogie der eigenen hochragenden Gestalt des
Menschen, mag der Wanderer, der seinen Umkreis betritt, sich
auch demütig vor dem Wahrzeichen verneigen, sich niederwerfen
auf die Knie und mit der Stirn den Boden berühren, als ginge die
Sonne vor ihm auf.
Das ist die eigentliche und ursprüngliche Bedeutung des „Mo-
numentum aere perennius", d. h. jeder unvergänglich gewollten
Verkörperung einer aufrechten Vertikalachse als Symbol eines
anderen Wesens außer uns,^) eines so konkret in undurchdring-
licher Stofflichkeit hingestellten Individuums zunächst völlig persön-
licher Art. Es ist eine Abirrung von diesem allgemein gültigen,
menschlich unmittelbar gefühlten Inhalt, wenn man die monumen-
tale Bedeutung in der sakralen Funktion sucht und mit dem Be-
griff" der Monumentalität ohne weiteres einen religiösen Sinn ver-
bindet Wenn „in der antiken Welt jeder sakralen Funktion eine
monumentale Bedeutung zukam'S so darf dies Verhältnis doch nicht
umgekehrt werden, um die Monumentalität eines Baues, einer
Statue im allgemeinen zu erklären, selbst nicht im Hinblick auf die
Tatsache, daß „das ganze antike Leben vom sakralen Wesen durch-
drungen war, so daß es sakraler Funktionen überall die Fülle gab".*)
— Dagegen ist die Beziehung des monumentalen „KunstwoUens"
i) Vgl. Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung S. 24 und 30,
Anmerkung 9.
2) AI. Riegl, Zur Entstehung der altchristlichen Basilika. Jahrfo. d. K. K. Zentral-
kommission für Kunst und historische Denkmale. Bd. I 1903, S. 204 f.
Das Denkmal — ein Symbol 17^
zur Entstehung religiöser Vorstellungen außerordentlich lehrreich.
Das monumentale Schaffen gewährt in seinen Anfangen auch einen
tiefen Einblick in die Eigenart und die Ausbildung menschlicher
Begriffe von übermenschlichen Wesen, sei es der Gottheit, sei es
der Natur, oder vielmehr beides zusammengenommen. Der antik
heidnischen Auffassung, vor allem in der Griechenwelt, entspricht
ausschließlich die eine Auslegung jenes Symbols, nämlich als Re-
präsentant der Persönlichkeit. Und die Verewigimg dieses Wertes
der Persönlichkeit ist der alleinige Zweck aller eigentlichen Monu-
mente. Alle andere Bedeutung ist nur Übertragung von diesem
Grundbegriff aus, z. B. auf eine denkwürdige Tat oder eine sieg-
reiche Idee. Wo imser Denken und Fühlen damit in Widerspruch
gerät, beweist dieser nur unsere weite Entfremdung von der antiken
Sinnesart, vor allem des abstraüktionssüchtigen Geistes von der
konkreten, am eigenen Körpergefuhl festhaltenden Sinnlichkeit des
Hellenen, oder gar des tastbare Werte allein noch würdigenden
Altorientalen.
Die aufrechte Vertikalachse des Denkmals bezeichnet denn
auch die Stelle, wo die Wege der beiden „monimientalsten Künste"
— Architektur imd Plastik — auseinandergehen, solange sie auch
auf ihrem eigenen Sonderpfade das Gemeinsame bewahren und in
mannigfaltiger Ausgestaltung doch den Kern unverändert festhalten.
Der Obelisk ist nur ein tektonisches, noch kein plastisches Ge-
bilde im eigentlichen Sinne, ein Werk der Körperbildnerin freilich,
aber als starrer kristallinischer Körper kein Abbild eines orga-
nischen Geschöpfes, und als solcher höchstens Symbol eines ver-
wandten Körperwertes. In seiner stereometrischen Abstraktheit
zeig^ es das konstitutive Wesen gleichsam herausgeschält, um das
körperliche Dasein als gemeinsames Erbteil, eben als unvergäng-
lichen Wert zu verewigen. Sowie die regelmäßige kristallinische
Form des Steines die Gliederung organischer Gestalt hinzunimmt,
nähert sie sich auch dem vergänglichen Charakter des Lebewesens.
Jeder Zuwachs an Natiu-wahrheit im Vergleich mit dem mensch-
lichen Urbild wird auch Einbuße an Monumentalität des Standbildes,
und sei es noch so hart von Stein, wie Grranitfiguren der ägyp-
tischen Skulptiu*, oder noch so kolossal von Maßstab, wie die
Königsgestalten von Kamak oder der Sphinx von Giseh.
Ein anderer Weg führt vom Obelisken zur Pyramide, vom
massiven Denkmal, durch die Aufnahme eines Hohlraumes in seinem
Innern, zum Monumentalbau der Architektur, die wir als Raum-
1^6 ^n. Monumentalitat
gestalterin von ihrer Schwesterkunst, der Körperbildnerin, unter-
scheiden. Bevor wir jedoch diesem entscheidenden Schritte nach-
gehen, muß die monumentale Tektonik als Korperbildnerin mit
ihrem steinharten Material und ihren stereometrischen Formen noch
allein zu Worte kommen. Die nämlichen Beispiele, die soeben
genannt worden sind, lehren uns noch mehr nach dieser Seite.
Das Kunstwollen, das auf Verewigung der Werte gerichtet ist,
kann nicht umhin, sich zunächst den felsenfesten Bergen zuzuwen-
den, die aus der Erde ragen, und besonders im Gegensatz zu dem
ebenen Lande, dem breiten Flußtal mit seinem verschwemmten
Stromgebiet, oder gar zu der einförmigen Sandwüste, gerade das
in größtem Maßstabe vor Augen stellen, was die Phemtasie des
Menschen sich wünschen mag, nachdem sie einmal den Eindruck
solcher beharrender Riesenformen, gegenüber dem wandelbaren
Geschicke und dem mannigfaltigen Wechsel der Kulturschicht zu
ihren Füßen, in sich aufgenommen und verarbeitet hat. Nicht so-
wohl die Nachahmung eines isolierten Bergkegels in jedem Tumu-
lus oder in der regelmäßigen Form einer Pyramide gilt es anzu-
nehmen, obschon der Vergleich sich aufdrängt und durch den An-
blick von Pyramidenreihen, wie die des Cheops, Chephren und
Mykerinos bei Giseh, die gleich einer Bergkette zusammenwirken,
noch verstärkt wird. Sie stellen immer schon das selbstgeschaifene
Menschenwerk klar und abgesondert dem Naturwerk gegenüber.
Viel bedeutsamer für die Entstehungsgeschichte monumentaler
Tektonik ist die Bearbeitung der natürlichen Berge selbst, deren
schräg abfallende Felswände mit dem erwünschten Material zu-
gleich das erste Hindernis darbieten und durch den Widerstand,
den sie leisten, für das Ringen der Menschenhand mit den
kolossalen Massen vorgefundenen Steines zum ersten Schauplatz
werden, auf dem sich die Auseinandersetzimg beider Faktoren voll-
ziehen muß.
Hier ist die Ebene, die man im Kunstwollen der Altägypter
gesucht hat, von Natur gegeben. Das heißt, sie ist zunächst nicht
gewollt, sondern vorgefunden; sie ist das vorhandene Substrat, an
dem sich das Kunstwollen nur auszulassen und, soweit es seiner
selbst bewußt geworden, zu bewähren vermag. Mit der Annahme
eines eigensinnigen Widerspruchs werden wir um so zurückhalten-
der sein müssen, je auffallender die Ähnlichkeit der selbst errich-
teten Umfassungsmauern freistehender Bauten mit den schrägen
Böschimgen solcher Bergwände bestehen bleibt. Ob man vorzieht.
Bergwand und Ebene 177
von freiwilliger Nachahmung- des Naturvorbildes aus eigenem
Antrieb zu reden, oder vielmehr von xmbewußter Wiederholimg,
die sich notwendig und von selber einstellt^ weil der Schatz von
Formvorstellungen aus der natürlichen Umgebung gewonnen wird,
und weil zunächst vielleicht gar kein Anlaß vorlag, über die ge-
wohnte Anschauung hinaus zur Herstellimg streng senkrechter Ver-
tikalebenen vorzuschreiten, — die Entscheidung in dieser Alter-
native verschlägt nicht viel; denn das Ergebnis kommt schließlich
auf dasselbe heraus: die schrägansteigende Ebene des abschließen-
den Gebirges bedeutet auch für den Altägypter zunächst die Grrenze
seines Kunstwollens, erst später vielleicht einen integrierenden Be-
standteil seines bewußten Schaffens selber auch im flachen Lande
drunten.
Als Tummelplatz der monumentalen Absicht imd der formenden
Menschenhand übt die Vertikalebene aber schon einen bestimmen-
den Einfluß auf beide Faktoren, d. h. auf das natürliche Gestaltungs-
werkzeug imd seine ergänzenden Bearbeitimgswerkzeuge, wie
andererseits auf die Anschauungsweise xmd Vorstellungsgewohnheit
des schöpferischen Geistes selbst. Kein Wunder, wenn sich eine
weitgehende Anpassung vollzieht und eine nur uns erstaunliche
Übereinstimmung aus solchem Verkehr erwächst. Immer jedoch
bleibt die schrägansteigende Ebene des Berges wie der Pyramide
nur die eine ins Auge fallende oder in Angriff genommene Seite
eines Körpers. Und das Ganze, das gewollt wird, kann ebenso-
wohl ein Körper wie ein Raum sein, d. h. eine Kolossalfigiir, wie
jene sitzenden Könige, oder ein Höhlengang, wie ihre Gräber, oder
endlich die Pyramide hier, der Obelisk dort, mit oder ohne Hohl-
raum hingestellte Körper auf dem allgemeinen Grrunde.
Fassen wir an dieser Stelle nur noch den tektonischen Einzel-
körper ins Auge, der dem Felsen abgerungen wird. Mag er am
Fuße des Berges stehen bleiben oder hinabgerollt und wieder auf-
gerichtet werden in der Ebene drunten: er ragt isoliert auf, wie
die ägyptische Säule von mächtigem Umfang. Sie gibt am besten
Auskimft über das Wesen monumentaler Gestaltung an sich. Auch
sie ist als aufrechter Körper zugleich Inhaber einer Vertikalachse
wie der Mensch. Der zylindrische Stamm, ringsum abweisend,
überall bis auf die eine Höhendimension in abweichende Rundimg
übergleitend und in sich zurückkehrend, gibt den vollendeten Aus-
druck imabhängiger, in sich abgeschlossener Haltung, erst recht
dem Menschen ähnlich, wenn oben ein eigenes Kopfstück abgesondert
Schmartow, KunatwiMenschaft. 12
1^8 ^11- Monumentalität
wird Aber nur das Konstitutive, das Beharrende, selbständig auf sich
selber Beruhende ist herausgeschält, alles Accessorische, Bewegungs-
fähige abgestreift. Selbst eine Basis alteriert schon den Charakter
des in der Erde fußenden Schaftes, der wie ein Baumriese un-
mittelbar aus dem Boden steigt Und zu diesen negativen Indizien
kommt als positive das starre, keinem Druck des Fingers nach-
gebende Material und dessen gewaltiger Umfang, vor allem aber
die weit über Menschenmaß hinausgehende Höhe. Was das heißt,
wird erst recht fahlbar, wenn wir uns wirklich einmal in solche
wuchtige Säule hineinversetzen und uns von innen her mit ihr ver-
gleichen. Dann begreifen wir, daß das Grundmaß alles mensch-
lichen Schaffens auch bei monumentaler Größe im Menschen selber
gegeben ist, und daß jedes Hinauswachsen der tektonischen Form
über dieses Maß eben den Gradmesser der Vergrößerung gibt, zum
Ausdruck übermenschlichen Wesens. Gerade der stärkste Gegen-
satz gegen die Alltagsgewohnheit des Menschengeschlechts scheint
zu Anfang allein das Entsprechende zur Bezeichnung des Un-
wandelbaren und Ewigen. Die Steigerung aller Dimensionen ins
Ungeheuere bedeutet gerade die Aufhebung des kleinen Menschen-
maßes, und mäßigt sich erst bei edlerer Bildung, wo auch der Ge-
danke an das Göttliche und der Verkehr mit ihm nicht mehr zu
den Ausnahmezuständen gehört, die dem Barbaren gewaltsam auf-
genötigt werden, wie die Herrschaft des Machthabers oder die
Auktorität der Priesterkaste. Vor allen Körperdimensionen ist es
aber die Höhe, die wesentlich bleibt, auch wo die Götter sich den
Menschen nähern; denn für den Menschen, der dazwischen wandelt,
sind auch diese Formen bestimmt: ihm sollen sie das Göttliche
versinnlichen und dessen Überlegenheit zu Gemüte fuhren. Er
muß das tektonische Gebilde körperlich fühlen neben dem eigenen
Leibe, wenn er durch ihre Reihe hindurchgeht, die aufrechte
Höhenachse sich gegenüber, wenn er davorsteht, und dieses Gefühl
wird durch imponierende Steigerung der Vertikalen nicht nur erst
recht, sondern schon allein hervorgerufen und ausschließlich er-
reicht Solange die tastbaren Körperwerte bevorzugte Gültigkeit
behaupten, bleiben auch die anderen Eigenschaften unerläßlich, die
zur Körperbewegung in der Nähe gehören. Mit erdrückender
Wucht tritt die Säule des Altägypters neben den menschlichen
Besucher des Heiligtums. Wie Elephantenbeine stampfen die
Säulen indischer Grottentempel den Boden, aber auch kurz und
gedrungen wie diese, mit der lastenden Decke darüber, wenn wir
Einzelgebilde und Bauglied j^q
sie mit den Säulenreihen ägyptischer Tempel und deren Verhältnis
zu ihrem Gebälk oder zur unmittelbar aufhihenden Horizontalebene
des Daches vergleichen. Nicht allein im Fußboden unten liegt der
feste, für alle gemeinsame Zusammenhang, sondern auch oben in
seinem Gegenbild, der flachen Decke oder im Gebälk schon, das
die Säulen tragen. Dies Joch auf ihren Schultern oder die Last
auf ihrem Kopf unterscheidet die Säule als Trägerin von dem frei-
stehenden Mal. Ihre Selbständigkeit ist im Dienst eines gemein-
samen Zweckes wieder eingeordnet in ein umfassendes Ganzes.
Ein Koloß reiht sich an den anderen, aber nicht unmittelbar, son-
dern nach einem gleichgroßen Intervcdl, der wiederum als Raum-
leere zwischen den Körpern auf diesen Maßstab zurückweist. Der
kleine Mensch mag zu zweit, zu dritt xmd noch mehr vervielfacht
hindurchschlüpfen; der Gott, der hier wohnt, braucht solche Weite,
solche Höhe, um hindurchzuschreiten. Jenseits der ersten Säulen-
reihe mag aber wieder eine zweite sich vorschieben und den vor-
wärtsdringenden Blick gar zeitweilig abfangen, um abermals die
Körperwirkung aus der Nähe zu erzielen, auf die es ankommt So
ist der ganze Innenraum eines ägyptischen Tempels vielleicht nur
ein mit Einzelkörpem in gleichem Abstand gefüllter Gestaltungs-
raum, als dröhnten überall die Schritte des Obergewaltigen, dessen
Gegenwart das kleine Menschenkind befangt und es niederzwingt
den Boden zu küssen. Und dennoch sind wir unleugbar bei der
Raumbildung angelangt, die uns die Tempelhöfe unter freiem
Himmel erst recht verkünden, d. h. wir haben die Schwelle der
Architektur bereits überschritten.
12*
xm.
WOHNBAU — SAKRALBAU - MONUMENT
Architektur ist ihrem innersten Wesen nach Raumgestaltung,
haben wir immer bekannt, wo es darauf ankam, ihren Grundbegriff
festzustellen. Solange sie unmittelbar dem dunklen Drange des
schöpferischen Triebes folgt, bewegt sie sich im Sinne des Raum-
willens; sie vollzieht sich in der Richtung unseres Vorwärtsgehens,
Vorwärtshantierens und Vorwärtssehens, also in der dritten Dimen-
sion, der Tiefe. Die Raumentfaltung vom menschlichen Subjekt
aus bildet ihre natürlichste Aufgabe und das Hinausschieben der
Grenze vom Anfang bis ans Ende bleibt die Hauptsache für die
Gewinnung des Spielraums, der die eigene Person umschließen soll,
während die seitlichen Verbindungen dazwischen links und rechts
sich im Entlanggehen wie von selber ergeben. So entsteht, ob in
dürftigen Zeichen der Phantasie, ob in vollständiger Durchfuhrung
für die Wirklichkeit das Raumgebilde.*) Die ersten Versuche zur
Abgrenzung eines näheren Bezirkes gehen kaum über die Anord-
nungen des Kindes hinaus. Die Spuren der Fußsohlen im Sande,
die schmale Furche mit dem Stecken gezogen, eine Reihe von
hellen Feldsteinen auf dem dunklen Erdboden oder von kleinen
Holzpflöcken auf dem grünen Rasen genügen schon zur fortlaufen-
den Bezeichnung der Grenzen ringsum. Es ist freilich, wenn wir
den Vorgang genetisch betrachten, nur ein mimischer Niederschlag
auf der Gnmdebene, und das Ganze, das zustande kommt, als sinn-
fälliges Ergebnis, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein
Rahmen, der drunten am Boden liegend den Menschen als Haupt-
stück der Füllung einschließt Aber solange die Einhegung ringfsum
vom selben Standpunkt darinnen übersehbar bleibt, wird auch die
Beziehimg zum Haupte des aufrechtstehenden Menschen nicht auf-
gehoben. Liegen die Grenzen auch weiter hinaus, als seine Tast-
region unmittelbar reicht; hat sich der Urheber auch von der Be-
i) Vgl. Beiträge II, S. 5 f. Wesen der archit. Schöpfung S. 12.
Das Raumgebilde i8i
rührung der einzelnen Zeichen, die er als Träger seines Willens
aufgereiht, zurückgezogen, so verbindet sie doch sein Blick, soweit
er vorwärts schaut, und das Erinnerungsbild der anderen Hälfte,
die rückwärts liegt, ergänzt die sinnliche Wahrnehmung der vor-
deren zur Vorstellung des Ganzen. Und dieses Ganze ist nicht
mehr der objektiv am Boden ausgebreitete Rahmen allein, sondern
enthält das lebendige Subjekt mit; es ist eine räumliche Vorstel-
lung, für die jene sinnlich wahrnehmbaren Zeichen genügen, um
ihr Anerkennimg als Projektion in die Außenwelt zu verschaffen.
Die räumliche Vorstellung, die hier entsteht, gipfelt im Haupte des
Inhabers. Sie ist subjektiv wie eine Pyramide über jener Grund-
ebene, wenn wir die Grenzen geradlinig und rechtwinklig gezogen,
ein Kegel, wenn wir sie kreisrund oder elliptisch angelegt haben.
Nehmen wir aber die Tatsache hinzu, daß unser gewohnter Seh-
raum sich immer der Form einer inneren Kugelfläche nähert, so
dürfen die Verbindungslinien zwischen unserem Sehorgan oder
unserem Scheitel und den Grenzpunkten drunten am Boden nicht
geradlinig gedacht werden, sondern als Kurven. Es entsteht also
über dem Rahmen xmd seinem Ins£tssen notwendig ein sphärisch
gewölbter Raum, den die Grundebene horizontal abschneidet. Je-
der Augur weiß das, wenn er sich anschickt, mit dem Lituus den
Beobachtungsraum abzugrenzen, in dem der Vogelflug entscheiden
soll. Schneidet er mit dem langen Stabe Vertikalebenen in die
Luft ein, so reichen sie über die Linien am Boden weit hinaus zur
Himmelshohe; es sind Scheidewände, wenn auch nur für seine
Raumvorstellung allein. Führen wir sie wirklich auf, sei es auch
nur als leichte Vorhänge, wie die Leinwand, die solcher Raimi-
scheide den Namen gegeben hat, so geht die Verwirklichimg des
Raumgebildes schon zu direktem Widerspruch mit der natürlichen
Bildung unserer sphärischen Raum Vorstellung über: das Raumge-
bilde zeigt eine regelmäßige stereometrische Figur mit senkrecht
aufsteigenden Seiten, die imter sich wieder rechtwinklig aneinander-
stoßen. Auf kreisrundem Grundriß fließen sie ineinander zur ein-
heitlichen Zylinderwand, auf einer Ellipse bildet sich erst recht eine
Vermittlung mit dem halbkugeligen Sehraum; aber dessen untere
Sphäre wird doch immer ringsum diu'ch die lotrechte Wandung
abgeschnitten.
So erst entsteht, einem tektonischen, auf die Grrundebene ge-
legten Rahmen entsprechend, das regelmäßige Raumgebilde, dessen
Wirklichkeit wir eben gerade kraft dieses Unterschiedes von
i82 XIII. Wohnbau — Sakralbau — Monument
unserer menschlichen Raumvorstellung anerkennen und als objektiv
bestehend jederzeit hinnehmen. Das Notwendigste daran bezeich-
nen wir treffend mit dem Namen „unsere vier Wände". Die Be-
grenzung des Raumausschnitts nach vorn und nach hinten, nach
links und rechts ist für uns die Hauptsache. Erst wenn wir hinter
die Erscheinung zurückgehen und ihren festen Bestand hervor-
heben wollen, sprechen wir von unseren vier Pfählen, Auch hier
aber kommt es nicht sowohl auf ihre konstruktive Unentbehrlich-
keit als Träger der zwischen ihnen ausgespannten Wände an, als
vielmehr auf die sinnliche Unentbehrlichkeit der sichtbaren und
tastbaren Zeugen, die wir als Träger unseres Willens hingesetzt
und als Grenzmäler des für uns ausgesonderten und allen anderen
gegenüber beanspruchten Raumvoliunens aufgepflanzt haben. Der
Grund und Boden imter unseren Füßen, in dem sie stecken, ver-
steht sich von selbst, nämlich als Voraussetzung unseres mensch-
lichen Körpergefühls und unserer Orientierung auf dem allgemeinen
Schauplatz dieser Erde, damit aber auch unseres natürlichen, wenn
auch erst werdenden Raumgefühls, wie es in aufrechtstehenden
und -gehenden Lebewesen sich ausbilden muß. Die vier Wände
sind die notwendigen Grrenzen zwischen unserem besonderen Raum
und dem allgemeinen da draußen; sie erst machen den eingehegten
Fleck Erde zu unserem Eigentum, in dem wir uns aus der Zerstreuung
sammeln, wohl gar unter Verzicht auf die weite Welt bescheiden.
Dagegen vermag der Inhaber solcher vier Wände sehr lange noch
den sinnlich wahrnehmbaren Abschluß der Decke zu entbehren,
ohne den horizontalen Wandverschluß über seinem Haupte zu ver-
missen. Wird Sonnenschein oder Regen ihm lästig, so spannt er
sein Schirmdach zwischen den Wänden aus, wird es aber gern
wieder lüften, sobald die äußere Veranlassung zu solcher vorüber-
gehenden Schutzmaßregel aufhört, es sei denn der Himmel dauernd
so ungünstig, daß die ganze Absperrung von der Außenwelt zu
bleibendem Bestände gefestigt werden muß, um die Zwecke des
häuslichen Lebens zu sichern. Das Raumgebilde kann als solches
auch unter freiem Himmel schon bestehen; über diese Tatsache
darf das praktische Bedürfnis, das ebenso früh den Schirm erheischt,
nicht täuschen, zumal nicht bei einer ästhetischen Betrachtung des
KunstwoUens, die auch dem ganzen Hause nicht gerecht zu werden
vermag, wenn sie es nur als Gebrauchsgegenstand beurteilt*)
i) Beiträge II S. 6. Das Wesen d, archit. Schöpfung S. i6.
Raumbildung und Verkörperung ig^
„Ist nicht seit dem frühesten Kulturerwachen der Menschheit",
schreibt auch Alois Riegl, „die Absicht aller und jeder Baukunst,
die über die Schaffung eines bloßen Males hinausging,*) auf Raum-
bildung gerichtet gewesen? — Die Architektur ist doch eine ge-
brauchszweckliche Kunst, und ihr Gebrauchszweck lautete in der
Tat allezeit auf Bildung begrenzter Räume, innerhalb deren dem
Menschen die Möglichkeit freier Bewegung offen stehen sollte.
Wie aber schon diese Definition lehrt, zerfallt die Aufgabe der
Baukunst in zwei Teile, die einander notwendigermaßen ergänzen
und bedingen, aber gerade darum in einem bestimmten Gegensatze
zueinander stehen: die Schaffung des (geschlossenen) Raumes als
solchen und die Schaffung der Raumgrenzen. Damit war dem
menschlichen Kunstwollen seit Anbeginn die Möglichkeit geöffnet,
den einen Teil der Aufgabe einseitig auf Kosten der anderen zu
betreiben. Man konnte die Raumgrenzen derart überwuchern lassen,
daß das Bauwerk in ein plastisches Bildwerk überging; man konnte
andererseits die Raumgrenzen in solche Feme hinausschieben, daß
im Beschauer dadurch der Gedanke an die Unendlichkeit und Un-
meßbarkeit des freien Raumes erweckt wurde." ^ Die Frage ist
nur, wie sich ein Volk, eine Zeit zu dem gedachten Gegensatz stellt.
Diese logische Deduktion leidet jedoch an einem sachlichen
Fehler. Bei der einen Alternative, wo das Bauwerk zum plastischen
Bildwerk wird, ist der Zweck, von dem die Definition ausging, ganz
aus den Augen verloren, nämlich der Gebrauchszweck für freie
Bewegung des Menschen.^ Er wird beim massiven plastischen
Bildwerk völlig ausgeschlossen, und ein ganz anderer Zweck, der
des Denkmals, tritt an die Stelle. Scheiden sich aber darnach die
Wege, so haben wir den Nutzbau oder Wohnbau auf der einen
Seite und könnten ihm auf der anderen folgerichtig nur einen
Monumentalbau gegenüberstellen, der doch in die Plastik ausläuft
x) Solange es sich dabei um massive Einzelgebilde handelt, haben wir es, wie
ausdrücklich hervorgehoben werden mag, nur mit Plastik oder Tektonik, noch
nicht mit Architektur zu tun. Eine weitere Verwahrung wäre gegen das mögliche
Mißverständnis einzulegen, als wolle Riegl mit dem Ausdruck „hinausging", als
historischer Angabe, die Priorität des Mals vor dem Nutzbau behaupten.
2) „Das Absehen auf die körperliche Außenseite", steht Beiträge II S. 8, „kann
wohl die Raumbildung des Innern so stark überwuchern, daß man der letzteren, ob-
gleich sie den Kern des Ganzen gibt, wie bei der Pyramide fast vergißt."
3) „Die Pyramide ist eher ein Bildwerk, denn ein Bauwerk zu nennen," heißt
es ausdrücklich bei Riegl (S. 22). „Taufkirchen und Grabmalkirchen stellen einen
Mischtypus dar, der zwischen Architektur und Skulptur inmitten steht" (S. 15).
184 XIII. Wohnbau — Sakralbau — Monument
und mit dem Denkmal, als kompakte Masse ohne Innenraum für
Lebewesen, schon gar nicht mehr zur Architektur gehört, wenn
diese nur als gebrauchszweckliche Kunst definiert wird. Die
natürliche Gegenüberstellung, die wir zunächst brauchen, wäre
jedenfalls „Profanbau und Sakralbau", wenn wir unter dem ersteren
alle Bauten für menschliche Zwecke, unter dem anderen diejenigen
für ideale Zwecke verstehen dürfen. Aber die beiden Namen be-
deuten so keinen ausschließenden Gegensatz; denn auch im Profan-
bau gibt es ideale Zwecke, ja sakrale Stätten, im Sakralbau auch
profane Zwecke (Schatzkammer usw.), wenn sie sich auch den
Blicken entziehen. Die gemeinsame Grundlage und das unver-
äußerliche Merkmal in der Definition der Architektur als Kunst
muß also die Raumbildung bleiben. Raumgestalterin ist sie
von Anfang an bis zu Ende; nur dieser Begriff erschöpft ihr
Wesen, bei dem freilich die Gestaltung ebenso notwendig ist wie
der erste Teil des Namens. Der unendliche Raum aber liegt ihr
als ungestaltet und unermeßlich recht lange fem; spät erst tritt er
als Kontrast ihrer klaren gesetzmäßigen Schöpfung gegenüber, den
diese nicht mehr bewältigen kann oder will, ja als ästhetischen
Gegensatz bei der eigenen Rechnung in Anspruch nimmt
Das Raumvolumen dagegen, das den Menschen als Spielraum
umgibt, ist das zunächst Gewollte, nicht die Aufrichtung körper-
licher Massen, die wir zu dessen Verwirklichimg brauchen. Alle
statischen und mechanischen Vorkehrungen, wie alle materielle
Durchfuhrung des Wandverschlusses sind nur Mittel zum Zweck,
zur Versinnlichung der dunkel geahnten oder klar angeschauten
Vorstellung des architektonisch Schaffenden. Daß sich die Ent-
wicklung freilich vom ahnungsvollen Triebe zum absichtsvollen
Plane nur an der Hand dieser greifbaren Mittel und technischen
Erfahrungen hindurchringt, daß auch das werdende Raumgebilde
erst im Vollzug seiner Verwirklichung sich auswächst und auf
diesem Wege gar manche Verwandlung erleben mag, ist fast allzu
selbstverständlich, um noch wiederholt zu werden, und doch leider
noch immer nicht genugsam bekannt Da zur Auflichtung des
Schirmstockes schon oder der vier Pfahle, die ihn im Zelte über-
flüssig machen, unsere eigenen Arme und Hände, d. h. unsere Tast-
werkzeuge gebraucht werden, so ergibt sich von selbst, daß dies
Raumvolumen sich stets mit Eigentümlichkeiten unseres Tastraumes
durchsetzt, wenn es auch nicht lange in den engen Grenzen der
Tastregion selber verharrt. So wird deis Raumgebilde als Einraum
Gebrauchszweck i g ^
auch die Natur des Gestaltungfsraumes bewahren, d. h. er mag bis
zum massiven Kern der Bauglieder vom Tastgefuhl des Erbauers
oder Bewohners durchdrungen sein. Und dieser Charakter der
lebendigen Gliederung, der Verwandtschaft mit menschlich eigenem
Empfinden kann auch fortbestehen, wenn der persönliche Anteil des
schöpferischen Subjekts sich auf den Standpunkt des reinen
Schauens zurückzieht. Nur darf nicht vergessen werden, daß der
Raumwille doch die eigentliche Seele der architektonischen Schöp-
fung ist, und daß die Ortsbewegung zwingend das schützende Ge-
häuse zur geräumigen Wohnung erweitem heißt
Das Zelt des Nomaden oder die Bambushütte des Karaiben
sind bessere Ausgangspunkte für das Verständnis der Architektur
als Kunst, solange es auf den lebendigen Zusammenhang mit dem
Menschen ankommt, als alle Steinmäler, Obelisken, Menhirs, die man
als Symbole der Gottesverehrung, d. h. unter einem fremden Gesichts-
punkt, immer vorangestellt hat Nur vom Wohnbau des Menschen
aus kann auch das Wesen des Sakralbaues, der Wohnimg des
Gottes, erschlossen werden, und erst am letzten Ende dieser Reihe
steht der auf Verewigung bedachte Monumentalbau, der mit
dem Denkmal des Individuums oder dem Symbol eines reinen
Idealwertes in der Tektonik oder Plastik mündet, d. h. eben mit
dem Verzicht auf jeglichen Innenraum sich der Architektur ent-
fremdet. Die Kimstwissenschaft hat alle Ursache, den Übelstand,
daß sie für frühere Zeiten fast ausschließlich auf Denkmäler dauer-
haftesten Materials angewiesen ist, wenigstens dadurch wettzu-
machen, daß sie der Erforschung des vergänglichen Wohnbaues
die größte Sorgfalt zuwendet, und wo die Quellen ihrer Kenntnis
spärlich oder intermittierend fließen, wenigstens theoretisch die
Wichtigkeit solcher Zeugnisse sicherstellt, da diese allein uns in
die intime Entstehimgsgeschichte einzuweihen vermögen. Darum
weg mit allen Vorurteilen, die uns solche unbefangene Auffassung
der psychologisch wertvollsten Grrundformen versperren, mögen die
Vorurteile durch den Idealismus der philosophischen Ästhetik oder
durch den Materialismus der naturwissenschaftlichen Reaktion gegen
jene zu den Kunsthistorikern gedrungen sein«
Daß der Gebrauchszweck als solcher keine Ausschließung des
Werkes aus dem Reiche der Kunstschöpfungen im eigentlichen
Sinne bedingen kann, haben wir bei der Betrachtung des Kunst-
handwerks ausgeführt Beim Bauwerk liegt der Gebrauchszweck
vollends nicht außerhalb, sondern in dem Raumgebilde selber.
1^5 XUL Wohnbau — Sakralbau — Monument
Auch beim Wohnbau ist die Beurteilung als Gebrauchsgegenstand
eine praktische, keine ästhetische; sie mag der letzteren voraus-
gehen, dieselbe erst recht vorbereiten, darf aber nicht mit ihr ver-
wechselt werden. Der Zweck, den wir auch in der ästhetischen
Aufnahme des Bauwerks anerkennen, ist der innere Selbstzweck,
oder eigentlich ein System von Zwecken, wie es das Leben des
Menschen innerhalb solcher bleibenden Fassung verfolgt, und das
in seiner Gesamtheit die Entfaltimg einer zusammenhängenden
Reihe von Werten seines Daseins darstellt, deren Korrelat im
Raumgebilde dem Kunstwollen vollauf Gelegenheit gibt sich zu
bewähren. Wir haben also gar nicht nötig, mit der „Unterschei-
dung zwischen dem Zweckmäßigen, das der Befriedigung sinnlicher
Bedürfhisse entspricht, und dem Schönen, das gefallt, auf den
Boden einer dualistischen Auffassung überzutreten",^) sondern
nehmen den Begriff des Zweckmäßigen getrost in den Begriff der
architektonischen Schönheit auf, weil es ohne ein System von
Zwecken des Menschenlebens, das sich darin ausdrückt, gar keine
Schönheit der architektonischen Schöpfung geben könnte. Als be-
wußtes Menschenwerk muß sie auch eine innere Zweckidee ent-
halten und diese ist der Inhalt des Formgebildes, das Gesetz der
Kristallisation oder die Seele des Organismus, welches Gleichnis
immer je nach dem Entwicklungsstadium der Kunst den Vorzug
verdienen mag.
Ein anderes Vorurteil ist die Forderung der absoluten Ge-
schlossenheit, die an das Raumgebilde als künstlerische Einheit
gestellt wird. Es hat sich in der oben zitierten Definition der
Baukunst und ihrer Folgenmg bei Riegl in einem unvorsichtigen
Erklärungszusatz eingeschlichen, wo von der ersten Aufgabe, der
„Schaffung des (geschlossenen) Raumes" die Rede ist.^ Nur der
„geschlossene Raum" wäre darnach als Architekturwerk anzukennen.
Und was ist dieser? Der Begriff wird an anderer Stelle durch
den negativen Satz umschrieben: mit dem Abschluß nach oben,
d. h. mit der festen Decke, fehle die volle Innenräumlichkeit {22).
Der hölzerne Dachstuhl, in den man offen hineinblickt, ja die ver-
schalte Holzdecke, erlaubt nicht, das Raumgebilde als wahrhaft
geschlossenen Innenraum aufzufassen (29). „Jeder geschlossene
i) AI. Riegl, Zur Entstehung der altchristlichen Basilika. Jahrb. d. K. K.
Zentralkommission für Kunst imd historische Denkmale. Bd. I 1903, S. 196 u. 201.
2) Spätrömisches Kunstgewerbe, S. 16.
Geschlossenheit 187
Innenraum erfordert zwingend die gewölbte Decke," heißt es gar
ausdrücklich, womit gewiß cdlgemeiner die massiv aus Stein ge-
fugte Flachdecke auch einbegriffen werden soll. Das ist jedoch
offenbar eine Verwechslung des geschlossenen Innenraumes mit
dem monumentalen, wenn wir darunter den aus einheitlichem
Steinmaterial von unten bis oben hergestellten verstehen. „Eine'
Kunst, die darauf ausgeht, den Stoff zu geschlossenen Einheiten zu
formen", ist eben Monumentalkunst (S. 27). Die Verbindung des
Begriffes „Monumentalität" mit der Einheit des Materials ist
ist aber eine Auslegung, die wir den „Kunstmaterialisten", d. h.
gerade Riegls Antipoden verdanken, gegen die er sonst so eifrig
zu Felde zieht. Einheit des Materials kann nur im Sinne
des Materialstils verlangt werden.*) Nehmen wir diese For-
denmg in die Definition der Baukunst auf und bestimmen darnach
ihre Aufgabe, die Raumschöpfung schon an sich, so beschränken
wir die Grenzen der Kunst in unerträglicher Weise. Sehen wir in
dieser Einheit des Stoffes auch nur einen integrierenden Bestand-
teil des Monumentalbaues, so setzen wir uns in Widerspruch zu
den Denkmälern wichtigster Perioden der geschichtlichen Entwick-
lung. Durch beides verschließen wir uns das Verständnis ihres
Werdeganges gerade bei entscheidenden Beispielen, von denen
hernach die Rede sein muß.
Ich habe deshalb überall betont, daß immer die Raumum-
schließung des beweglichen Subjekts die erste Hauptangelegenheit
der Architektur sei, d. h. Einfriedigung oder Umwandimg nach den
Seiten zu, nicht die Bedachung nach oben oder gar die Bezeich-
nung und Ausbildung des Höhenlotes als Mal. ,J.ange mag sich
die Einfriedigung, Umhegung imd Umwandung unter freiem Hinmiel
bewegen. Die Raumgebilde dieser Art, wie der ägyptische Wall-
fahrtstempel oder der griechische Hypäthraltempel, gehören ebenso
zur Architektur, wie unsere vier Wände",*) die wir noch heute mit
Recht als Hauptsache in unserem Bau hervorheben. Auch wir
unterscheiden den geschlossenen Innenraum als solchen von anderen
Raumformen, die diesem BegriS nicht vollständig entsprechen.
Aber wir sehen keinen Grund, ihn als die allein berechtigte künst-
lerische Form anzuerkennen, sei es auch nur für die Zeit des Alter-
tums. Gerade wer die Architektur als gebrauchszweckliche Kunst
i) So ist sie auch bei Gottfried Semper gemeint. Bei Redtenbacher überwiegt
der utilitaristische Gesichtspunkt der Haltbarkeit.
i88 XUl. Wohnbau — Sakralbau — Monument
ansieht, darf doch die Zweckmäßigkeit zusammenhängender Räume
nicht verkennen. Wir sehen in der RaumofFnung, sei es oben, sei
es an einer oder an mehreren Seiten, nicht allein eine negative
Eigenschaft, sondern im Gegenteil einen Zuwachs mannigfaltiger
Beziehungen, die über den Einraum hinausweisen und ihn mit
anderen verbinden.*) Die tatsächlichen Erscheinungen, wie sie ge-
schichtlich beglaubigt vorliegen, dürfen doch nicht einer einseitigen
Theorie zuliebe geleugfnet oder um jeden Preis wegdisputiert wer-
den; sondern sie sind es, die unsere zuverlässige Grundlage für die
Analyse des Kunstwollens bilden, und wo sie unserem Ergebnis
noch widersprechen, da haben wir vorschnell geurteilt und müssen
unseren Glauben reformieren. Nach Riegls Meinung konnte der
Raum ursprünglich gar nicht Gegenstand des antiken Kunst^
Schaffens werden, da er „sich nicht stofflich individualisieren läßt'*.
„Die antike Kunst mußte bei völlig strenger Auffassung ihrer Auf-
gabe die Existenz des Raumes verneinen und unterdrücken; denn
er war der geschlossenen Erscheinung der absoluten geschlossenen
Individualität der Außendinge im Kunstwerk nachteilig." Mag das
für die Plastik und für den Monumentalbau seine Geltung haben,
so können wir uns doch nicht einseitig dadurch verleiten lassen,
von der Architektur überhaupt anzunehmen, sie habe die Aufgabe
der Raumbildung ursprünglich zurückgedrängt und nach Möglich-
keit verhehlt, oder ein ganzes Volk wie die Altägypter, ja die
Baukimst des ganzen Altertums hätte an „Raumscheu" gelitten.*)
Wenn das Lehmhaus des heutigen Fellachen noch treu die
Pyramidenstutzform des altägs^ptischen Hauses bewahrt, so können
wir uns nicht damit abspeisen lassen; wir müssen hinter die fenster-
losen kurzen Mauern auch ins Innere dringen und uns Rechen-
Schaft geben, weshalb die gestutzte Form im Unterschied von der
spitzen P3rramide eben hier nach außen tritt, wo der Bau nicht dem
Toten oder dem Königsschatten, sondern „den bewegirngsfrohen
Lebenden" gewidmet ist. Wir können uns nicht aufdringen lassen,
das pompejanische Haus lehre noch im ersten Jahrhundert der
römischen Kaiserzeit, wie man sich grundsätzlich gegen jedwede
InnenraumbUdung gesträubt habe. Gibt es dort, streng genommen,
i) Barock u. Rokoko, S. 22 f.
2) A. a. O. S. 17, 22. „In der Tat bildet die Raumscheu einen der wichtigsten
Charakterzüge der Baukunst des Altertums," heifit es in der Beilage zur Allgemeinen
Zeitung 1902, S. IJ4,
Raumbildung und Außenbau 189
„noch keinen absolut geschlossenen Raum, da fast alle Gelasse
sich gegen das Atrium ofihen'S so bildet dieser offene Hof doch
,ydas eigentliche Bewegungsmedium'' und kennzeichnet sich als be-
vorzugte Statte des Innenlebens, von der aus allein die Organisa-
tion der ganzen Anlage zu verstehen ist Es erscheint deshalb
gänzlich verfehlt, den Wohnbau der verschiedensten Völker einfach
nach ihrem Monumentalbau zu beurteilen, jenen aber unbeachtet
zu lassen, wenn er ein abweichendes Kunstwollen verrät und sich
mit diesem nicht über einen Kamm scheeren läßt Angesichts des
gesamten Wohnhausbaues der Antike kann diu'chaus nicht an dem
Prinzip festgehalten werden, das man aus dem Sakralbau gewonnen
zu haben glaubt: „die Schaffung klar begrenzter, streng zentrali-
sierter Einheiten sei das grundsätzliche Ziel der antiken Baukunst
gewesen" (S. 26). Wer jemals dem Wesen des architektonischen
Schaffens nachgesonnen hat, dem sollte von vornherein klar sein,
daß gerade im Altertum Wohnbau und Tempelbau auf zwei ganz
verschiedenen Wegen auseinandergehen mußten, und daß eine An-
näherung beider auch nur einen radikalen Umschwung in der
Weltanschauung des Heidentums bedeuten konnte.
Schon die Methode der Betrachtung fuhrt irre, wenn sie ein
\md dasselbe Schema unterschiedslos auf beide anwendet und allen
Gesichtspunkten hier wie dort das nämliche Recht zugesteht Von
der fixen Idee, dem Monumentalbau die Priorität einzuräumen, als
ob sie selbstverständlich wäre, ganz abgesehen, — schon die Ge-
wohnheit, immer zuerst den Außenbau, dann den Innenbau vorzu-
nehmen, ist nicht anders als sinnwidrig, vollends aber, der Grund-
satz, die beiden Ergebnisse dann gleichmäßig das Urteil bestimmen
zu lassen, ohne vorher zu fragen, welcher Seite im vorliegenden
Fall die entscheidende Rolle zukommt Erhebt z. B, der Wohn-
bau der mittelländischen Völker überhaupt den Anspruch, auch
ein Außenbau im Sinne der Monumentalkunst sein zu wollen? —
und, wenn schon, geht solches Absehen über die Eingangsseite
gegen die Straße hinaus? Kommt es im übrigen auf etwas anderes
an, als auf Abschließung des Innern nach außen, Absperrung
gegen den vorübergehenden Fremden? Man gewinnt einen völlig
falschen Eindruck, wenn das Obergewicht des Innern als des allein
Maßgebenden hier nicht anerkannt oder auch nur verschleiert wird«
Ist diese Entscheidung nicht etwa ein Prüfstein des KunstwoUens,
so gut wie auf der anderen Seite der reiche Außenschmuck des
Monuments? Und das Innere dieser Wohnbauten selbst? Warum
IQO
XIII. Wohnbau — Sakralbau — Monument
sollten wir den offenen Hof oder gar eine Mehrzahl von Höfen
hintereinander nicht als Räumlichkeit anerkennen, warum nicht im
Gegensatz zu jedem Gemach, das daneben eine andere Form der
Raumgestaltung zeigt? Der Wohnbau ist seiner Natur nach, im
Unterschied vom Monumentalbau, immer auf Zuwachs angelegt, er
bleibt bis zu einem gewissen Grade entwicklungsfähig wie ein
Lebewesen oder gar ein KoUektivum von solchen, die Familie,
das Hauswesen, das er beherbergt und ausgestaltet. Die gewölbten
Räume mesopotamischer Paläste sind vielleicht nach unserem Sinn
eher als Korridore anzusprechen, lange Gänge, die um offene Hofe
herumliegen, bei deren Anblick mehr das Bewußtsein von den be-
grenzenden engen Wänden als von dem leeren Räume dazwischen
wachgerufen wird. Da entsteht für den Erklärer des KunstwoUens
nur die Frage, welchen Sinn eben diese Raumgebilde für den
lebenden Mesopotamier haben mochten. Er mag sich fragen, was
dem bewegungsfrohen und tastfreudigen Orientalen daran gefallen
habe. Vielleicht war es gerade die Enge samt der Länge dieser
Gänge, die den Genuß haptischer Werte vermittelte. Vielleicht
aber genügt die Frage, was gefallen habe, schon gar nicht, das
Wesen zu erfassen. Im Zusammenhang des Ganzen erst kann sich
herausstellen, wie weit sie nur etwas Größeres vorbereiten, durch
die Enge den Eindruck der Weite steigern sollten. Das Ganze mit
seinen Höfen neben-, hinter-, übereinander darf doch dsa Ende als
„Raumkunst" bezeichnet werden, wenn wir darunter ßine Raum-
komposition im großen verstehen, mag auch der leere Tiefraum,
zumal die xmgegliederte Schattentiefe des geschlossenen Saalbaues
noch keine Rolle darin spielen.*)
Selbst beim Sakralbau sollte zunächst immer das Verhältnis
zwischen Innenanlage und Außenbau festgestellt werden, bevor wir
nach einem Maßstab für das Gesamturteil greifen; denn ebendies
Verhältnis bleibt für den Charakter des Ganzen entscheidend.
iJ^^ach außen steht der ägyptische Tempel mit seinen ungegliederten
Mauern da wie eine tastbare Einheit in der Welt Er gibt sich
als ein Gebäude und weist dem Beschauer eine ungeteilte ebene
Wand" (wir fragen wohl dazwischen, ob hier die Stirnseite oder
i) Vgl. Beilage z. Allg. Ztg. 1902, S. 155. Der moderne Ausdruck „Raum-
kunst'', den Strzygowski auf diese mesopotamischen Bauten angewandt hat, ist aller-
dings ungenau, besonders wenn man sich an dessen Sinn bei Klinger (Malerei und
Zeichnung) erinnert. Das ganze Mißverständnis zwischen Riegl und Strzygowski be-
ruht auf mangelliafter Terminologie, wie ein anderes über den „Massenbau" auch.
Ägyptische Tempelanlagen loi
die Langseite gemeint sei; denn alle vier Wände können doch, da
sie rechtwinklig aneinanderstoßen, nicht so* bezeichnet werden).
,,Er zeigt sich also abgeschlossen in der Höhe und Breite, nicht
aber nach der Tiefe'S wenn man die Stirnseite allein anschaut, viel-
leicht; sonst kommen an der Langseite gewisse Abstufungen zum
Vorschein, die ein Hintereinander verschiedener Kompartimente
verraten. An den geböschten Außenflächen der Umfassungsmauern,
in der charakteristischen Konfiguration der P3rramidenstutzwände,
ist also nicht „absolut jede Erinnerung an das Innere unterdrückt*'.
Schon durch den fast unabsehbaren Verlauf der Langseiten im
Verhältnis zum schmalen Eingang offenbart sich das Äußere nicht
als zentralisierter Körper oder geschlossene Masse, sondern als eine
den Blick absperrende, jeden seitlichen Zutritt ausschließende Ein-
fassung einer langen Straße, deren Gesamtausdehnung nur von
Zwischenbauten imterbrochen wird imd schließlich in eine Baumasse
einmündet Es ist denn auch von Anfang bis zu Ende, an der
ganzen Tiefenachse des Baues entlang, eine psychologische Veran-
staltung für den Pilger. Wenn er zwischen den beiden mächtigen
Pylonen durch die Pforte Einlaß gefunden hat, geht er durch
Sphinxalleen von einem Vorhof in den anderen, bis ihm die wuch-
tigen Säulen immer näher auf den Leib rücken und im geschlossenen
Saal gar wie ein Wald von Stämmen über ihn hintreten. Aber
der korridorartige Gang führt auch hier hindurch bis in den völlig
geschlossenen Bau. Von diesem Innern dürfen wir aber nicht be-
haupten, daß „der vom Gebrauchszweck geforderte Raum in eine
Reihe dunkler Kammern zersplittert sei, in deren Enge ein künst-
lerischer Raumeindruck ohnehin nicht aufkommen konnte''. Dieser
Komplex von Kammern war eben das vom Gebrauchszweck Ge-
forderte; ein präexistierender Gesamtraum auf diesem Areal fallt
von vornherein außer Betracht. Wir dürfen also auch nicht den
modernen Maßstab eines künstlerischen Raumeindrucks anlegen,
zumal nicht, wenn wir (mit Riegl) dabei immer an den „Tiefraum"
denken sollen. Das Raumgefühl, das hier befriedigt oder vielleicht
gepeinigt ward, war sicher nicht das, was Riegl unter diesem Aus-
druck verstehen wilL Seine Definition des Begriffes als „das
wohlige Bewußtsein der Raumerstreckung nach allen Seiten, also
namentlich auch nach der Breite, selbst wenn dabei die Höhe oder
Tiefe überwiegt'*,*) — ist eben die Definition des Wohlgefühls der
1^ H. z. A. Z. 1902, S. 155.
192
XIII. Wohnbau — Sakralbau — Monument
Geräumigkeit, während das Raumgefühl an sich auch haptische
Auseinandersetzung, ' d« h. alle Erlebnisse der Nähe, der Enge mit
begreift; denn „hart im Räume stoßen sich die Sachen". Ja selbst
die Finsternis kann dabei mitspielen. Kam es doch vielleicht ge-
rade darauf an, das Menschenkind in diesen Andachtskammem
windelweich zu kneten, — bis es zerknirscht imd erschöpft an der
Schwelle des AUerheiligsten zusammenbrach, noch ehe es das ver-
schleierte Bild von Sais zu Gesicht bekommen. Selbst die Kolossal-
statue des Gottes wirkt noch furchtbarer auf die erschütterten
Nerven des durch Fasten und Sonnenbrand vorbereiteten Pilgers,
wenn sie in engem Raum erscheint und nach der Dunkelheit plötz-
lich bei grellem Fackelschein gezeigt wird. Das Ganze des alt-
ägyptischen Tempels ist eine Raumkomposition für eine lange
zeitliche Abfolge von Eindrücken, die nur mit musikalischen oder
epischen imd dramatischen Kompositionen, d. h. einer Reihe von
Akten verglichen werden kann, selbst wenn die Aufführung der
Erlebnisse hier auf keinem anderen Schauplatz als im Innern der
Menschenbrust vor sich ging.*)
Ganz anderes will der griechische Tempel mit seinen Säulen-
reihen um den oblongen Bauköxper der Cella. Hier wird das
Äußere zur Hauptsache. Ist es doch, als ob ein Hof des ägyp-
tischen Tempels mit seinen Säulen an der Innenseite der Umfas-
ungsmauem ebendies Innere nach außen und sein Äußeres nach innen
gekehrt habe. Hier ist wirklich ein Gebäude von überschaubarem
Körpervolumen, als Ganzes nach Höhe und Breite abgeschlossen,
aber ebenfalls durch das Übergewicht der Länge auch nach der
Tiefenrichtung bestimmt. Sehen wir ihn nur von vom oder nur
von der Seite an, so zeigt er statt der glatten geschlossenen Wand-
ebene eine in Einzelformen aufgelöste, eine Reihe von Säulen-
stämmen, imten und oben eingerahmt, mit den raumöfifnenden In-
tervallen dazwischen, mit dem Spiel der Schatten und Lichter bis
hinein an die zweite, wirklich geschlossene Mauer, deren senkrechte
Ebene hier wie der Reliefgrund zu den ausgerundeten Körpern
wirkt. Der Innenraum, den dieser Außenbau enthält, und den wir
als künstlerische Gestaltung anerkennen, auch wenn die Decke
durch eine öffhimg den freien Himmel hineinschauen ließ, kann
i) Eine geschichtliche Entwicklungsreihe im langen Verlauf des ägyptischen
Tempelbaues versucht soeben R. Kautzsch, Die Kunst und das Jenseits, Leipzig
1905, aufzustellen.
Griechischer Tempel Iq3
verhältnismäßig einfach gehalten sein; denn er ist nur das Gehäuse
des Götterbildes und, bei größerer Tiefe dieses Einraumes, zugleich
eine mehr oder minder gedeckte Vorhalle vor der Aedicula. Außer
dem Dache des Gesamtbaues ist es ausschließlich die oblonge
Form, in der sich, an den Flanken mehr noch als an der streng
zentralisierten Front, die Existenz eines der Bewegung von Menschen
eingeräumten Innern nach außen verkündet.^) Kein Wunder auch;
denn der Tempel als Ganzes ist schon das Ziel ihrer Bewegung: das
spricht gerade die Hohenrichtung des Griebeis aus, nämlich als Auslauf
dieses Weges beim Stillstand und als Fermate. Am Fuß des Stufen-
baues angekonmien, mag sich die Versammlung herumscharen, während
die Spitze der Prozession in die Halle hinaufzieht und durch die
Pforte in die Cella mündet Drinnen vermitteln wohl die Priester
den Verkehr mit der Gottheit allein. Hier aber spricht der Anblick
des Gottes vor allem, nicht die Wände, die ihn hegen« Und diese
sind deshalb um so weniger geschmückt, je menschlicher schon die
Gestalt des Idols selber den Besucher des Heiligtums anmutet;
sie sind Üagegen reicher belebt, solange das starre Idol selber
keine genügende Lebensregung bietet Dagegen braucht die
Außenseite immer eine Formensprache, die zu den versammelten
Menschen redet und die Wechselwirkimg unterhält, auf die es an-
kommt Ragend stehen die Säulenstämme, wie ehedem wohl ein-
gerammte Pfahle als Wächter des heiligen Bezirkes, den Andrang
des Volkes fernzuhalten, wie noch die Stufen die Aimähenmg er-
schweren. Festlich bekrönt erheben sie ihre Häupter und tragen
in Reih \md Glied den Kranz, der sie verbindet, den Rahmen des
Schirmdaches, das einst nur ein leichtes Zelt, wie die Wände der
Cella selbst, allmählich fest geworden ist imd die aufgerichteten
Maler herangezogen hat, den Schutz des Ganzen mitzutragen.
Das war gewiß alles anders, solange die Opferfiamme unter freiem
Himmel aufloderte und nur der innerste Bereich die Vorgänge
zwischen den Priestern und dem Gott durch Vorhänge verbarg.
Der Rauch stieg empor, und andere Zeichen von drinnen her ent-
sprachen der Aufmerksamkeit von draußen, so daß der Verkehr
zwischen Peripherie und Zentrum lebendig blieb. Ebendeshalb
mochte das Dach noch länger als die festgewordene geschlossene
Fassung imten den ursprünglichen Charakter des Festapparates
I) Riegl, Spätrömische Kunstindustrie, S. 23. Vgl. Schmarsow, Barock und
Rokoko, S. 18 ff.
Schmartow, Kunstwissenschaft. 13
IQ4 XIII. Wohnbau ~ Sakralbau — Monument
bewahren, mochte lange aus Holzkonstruktion bestehen, bis es sich
völlig schloß, und mit kostbaren Sto£Fen verkleidet, in bunten
Farben und lauterem Golde den Sonnenschein zurückstrahlen. Aus
welchem Material sein Gezimmer bestand, ob die Deckplatten sich
aus Stein oder Holz oder gebrannter Tonerde erwiesen, wenn man
sie einzeln untersuchte, das war für das Kunstwerk als Ganzes gar
wenig von Belang, und Gleichmäßigkeit der Herstellungsmittel
konnte nur von einer späten, schon raffinierten Generation gefor-
dert werden, der die Unterscheidung des Gotteshauses von der
Menschenwohnung, Dauerhaftigkeit oder Kostbarkeit an sich be-
stimmende Rücksichten geworden waren. Das echte immittelbare
Kunstgefuhl stieß sich nicht an solchem Befunde, sondern fand in
der Formensprache der Glieder und dem Farbenschmück des
heiteren Kultus sein volles Genügen. Was man zu Hause im täg-
lichen Leben kaum ansah, beschäftigte hier das Auge mit dem Aus-
druck selbsteigener Kräfte, leitete es von Teil zu Teil weiter, durch
die Reihen zum Ganzen hin. Jedes Glied, das daheim in der
Wohnimg nur schlicht imd anspruchslos seinen Dienst versah, wenn
auch bereitwillig und vertraut wie ein Genosse des Daseins, hier
durfte es sich geltend machen, wenn auch immer im Zusammenhang,
wie jeder Verehrer beim Feste mitwirkt imd seine gehobene
Stimmung in der Runde fortpflanzt; hier erschien das Leben aller
Teile wie ein Ausfluß der unmittelbaren Gegenwart des Gottes selbst.
Mit diesen Andeutungen haben wir den größten Unterschied
des Sakralbaues vom Profanbau bezeichnet Wer sich das grie-
chische Wohnhaus ebenfalls wie ein säulengetragenes herrliches Dach
vorstellt, der übersetzt sich das ganze Alltagsleben der Griechen
in Feiertagshöhe und verwischt mit dieser falschen Idealisierung
den natürlichen Abstand, der ims erst die immer durchschlagende
Wirkimg des Tempelstils erklärt Damit verschiebt sich aber nicht
allein die historische Unterlage solcher Kunstschöpfung der Archi-
tektur, sondern auch das psychologische Verständnis ihres Wesens,
der Zusammenhang des Kimstwollens mit den übrigen Anschau-
ungen und sein Verhältnis zur Wirklichkeit
Kehren wir noch einmal zmn Totaleindruck des hellenischen
Tempels zurück, so tragen wir auch hier Bedenken, von einem
streng zentralisierten, allseits geschlossenen Individuum zu reden,
auf das die antike Kirnst überhaupt grundsätzlich gerichtet ge-
wesen wäre. Schon die oblonge Gesamtform spricht aus, daß das
Bauwerk doch einer Richtung zugebildet seL Der Gebrauchszweck
Hellenistischer Rundtempel igt
des Innern ist dafür nicht maßgebend; denn die Bewegung auf das
Götterbild in der Cella geht womöglich nur wenig über die Hälfte
hinaus, während auf dem anderen Ende hinten wohl gar die Schatz-
kammer anstößt und die Länge vergrößert Aber die Stirnseite
mit der Giebelfront davor kehrt sich nach vom in der Längen-
achse des Ganzen; diese Longitudinalrichtung ist das Entscheidende
für den Gesamteindruck, der uns entgegentritt, wie den An-
kommenden einst. Es bedeutet schon eine Steigerung des bewuß-
ten Gefühls für Abgeschlossenheit, wenn auch die Rückseite sich
der GiebeUront wenigstens für den Augenschein angleicht und,
ebenso zentralisiert wie diese, mit dem eigentlichen Antlitz ver-
wechselt werden kann. Es ist eine begriffliche Konsequenz des
Anspruchs, der sogar das Standbild des Gottes nach dem Ebenbilde
des Menschen nicht gerecht zu werden vermag bis auf den Janus
bifrons der Römer. Und als solche wird sie ein Entwicklungs-
moment, das erst im Rundtempel seine befriedigende Lösimg
erreicht.
Das Problem, das hier zutage tritt, ist im Grnmde nichts anderes,
als die monumentale Umschließimg eines plastischen Bildwerks,
d. h. der Statue des Gottes.^) Dessen Stelle nimmt mit dem Wandel
der Anschauimgen wohl der Heros ein, und endlich das Bildnis
des Monarchen über seinem Grabe. Der künstlerische Gedanke,
der hier Architektur und Plastik miteinander vereinigt, haftet an
der gemeinsamen Vertikalachse im Zentrum, imgefahr wie einst in
der Pyramide Grrabkammer des Toten und Wohngemach des ab-
geschiedenen Geistes tief drinnen unter der Spitze lagen. Der
Rimdtempel ist wirklich ein allseits abgeschlossenes imd isoliertes,
allein auf sich selber beruhendes Individuum, wie die Statue in
seinem Innern oder auf seinem Gipfel; er ist der vollendete grie-
chische Monumentalbau, wenn auch erst hellenistischer Zeit,*) das
Gegenstück der ägyptischen Pyramide, das in Zentralisation auch
des Äußeren sogar über die Vierseitigkeit hinausgeht, aber diu-ch
den Säulengang herum sich wieder öffnet, die allseitige Richtimg
lebendig auszustrahlen.
i) Vgl. als Unterlage jedoch die kreisförmig-konischen Tumuli, z. B. den von
Tarquinii nach Canina.
2) Vgl. das Philippeion in Olympia, Grundrifi in den Kunsthistorischen Bilder-
bogen. Durchschnitt bei Woermann, Kunstgesch. I. 333.
i3*
XIV.
ZENTRALBAU UND KRISTALLISATION
ROTUNDE UND KONCHA. — RUNDBAU UND GRUPPENBAU. — RAUM.
GRUPPE UND RAUMKOMPOSITION.
Die Urform des Zentralbaues, die zylindrische Raumform mit
Kuppelgewölbe, kann ästhetisch nur als Gehäuse eines Indivi-
duums, seiner Verewigung (Standbild) oder seines Symbols (Verti-
kalachse) aufgefaßt werden. Wir können uns den ursprünglichen
Sinn des Gebildes zurückrufen, wenn wir das Baumotiv da ver-
folgen, wo sich die Hälfte eines solchen überwölbten Zylinders
gegen den freien Raum oder einen gedeckten Saal öffnet Im
römischen Tempel steht darin das Götterbild, in der Gerichtshalle
thront darin der Praetor. In beiden Fällen gehört aber auch die
andere, nicht ausgeführte Vorderhälfte des Raumgebildes dazu, um
dessen Bedeutung zu verstehen; denn sie ergänzt erst die Vor-
stellung des Ganzen, das ideell auch in den anstoßenden Raum
des Tempels oder der Halle hineinragt, und schon bei der Exedra
unter freiem Himmel seine abgrenzende Funktion nicht verleugnet.
Es gilt die Wirkungssphäre der Persönlichkeit, den Machtbezirk
des Individuums zu versinnlichen und dem ankommenden mensch-
lichen Subjekt zu Gemüte zu fuhren. Genetisch hergeleitet, ist
dieser Wirkungskreis des Lebenden, wenn wir ihn auf einen festen
Standpunkt bannen, zunächst die Tastsphäre. Ihre Grenze gibt die
enge Zylinderwand im Abstand der seitlich ausgestreckten Arme, so
daß wir sie eben noch mit den Fingerspitzen berühren. Es ist nur ein
Hohlraum, von gleichem Volumen etwa wie ein ägyptischer Säulen-
stamm, der diesen tastbaren Wert auf stoffliche Körperlichkeit
zurückfahrt und sich deshalb dem Funktionswert eines Trägers ent-
sprechend konzentrieren mag. Der Tastraum des Gebieters er-
weitert sich, wenn er durch das Zepter in der Hand seinen Arm
verlängert und das Haupt des vor ihm stehenden Untertanen be-
rühren kann. Er erweitert sich abermals, wenn Trabanten, Leib-
Rotunde und Koncha
197
Wächter, Ratgeber, Liktoren, oder wer sie sonst sein mögen, als
Anhängsel seiner Person hinzutreten. Statt des einen Korpers er-
scheint eine Mehrzahl, wenn auch nicht gleichwertiger, zur Gruppe
vereinigt und nach vom gerichtet in diesem Spielraum. So ent-
wickelt sich schon eine kleine Bühne auf dem Podiimi um die Sella
curulis, wo sich, jenseits der vom abschließenden idealen Parallel-
ebene, eine zentripetale oder zentrifugale Bewegimg einstellen mag,
wie Einatmung und Ausatmung. Und diese letztere dringt gegen
die Raumgrenze vor dem Halbzylinder der Koncha; der Stab, das
Schwert, der Wurfspeer in der Hand der Personen durchbricht diese
Idealebene. Zu dem Tastraum und der Atmosphäre tritt sodann
unleugbar der Sehraum des Lebenden hinzu. Das Auge dringt
weiter, und vor dem Blick des Mächtigen erzittern die Untergebenen,
die in seine Tragweite kamen. Er zwingt sie in seinen Bannkreis,
wie das Schlangenauge den Vogel in seiner Todesangst, wie das
Menschenauge den Löwen bändigen soll. Wohin aber diese Magie
des Blickes nicht dringt, dahin enteilen noch die dienstfertigen
Satelliten. Aber wo sie den Sehraum des Zuschauers verlassen,
liegt auch die Grenze der künstlerischen Gestaltung für den festen
Standpimkt des Mals, den wir angenommen. Die Wirkimg in die
Feme kommt für die immittelbare sinnliche Wahrnehmung nicht
in Betracht Das ist auch maßgebend für die höchste Aufgabe,
die gestellt werden kann: wenn wir statt des Basileus, des Impe-
rator Augustus nun einen Gt>tt an die Stelle setzen, dessen Macht-
sphäre das Menschenmaß überschreitet Die bildende Kunst mag
eine Steigerung ihrer Mittel erfinden, die Grenze des sinnlich Wahr-
nehmbaren vermag sie nicht hinauszurücken: der unbezeichnete,
formlose Raimi bleibt um so notwendiger ausgeschlossen, als der
Rahmen des Mals gegeben, die Einhegung des geweihten Bezirks
vorausgesetzt ist Die festeste Grenze unter allen diesen verschieb-
baren bleibt aber die Auffassung von der plastischen Natur des
Monumentes als Körpereinheit, auch in der Architektur der Antike,
die wir überall als Raumgestalterin anerkennen. Damit aber stoßen
wir an einen tiefgreifenden Unterschied des plastischen Bildwerks
selbst vom lebenden Wesen oder einer Mehrzahl zusammenwirkender
Personen, die wir an solcher Stelle des zentralen Raumgebildes
angenommen hatten. Die Marmorstatue vermag nicht über sich
selbst hinauszutreten, die lebendigste Grruppe von Erz sich nicht
vom Fleck zu rühren; das Götterbild vollends verharrt in olympi-
scher Ruhe, abgeschlossen und unabhängig von den wechselnden
Iq8 XIV. Zentralbau und Kristallisation
Beziehungen zur Außenwelt. Je unberührter und selbstgewisser es
in der wirksamen Entfaltung seiner Eigenart doch auf sich selber
zurückkehrt, desto mehr isoliert es sich von der Umgebung, desto
ewiger scheint es zu bestehen. Mochte das Bildwerk in der offenen
Nische sich nach der Vorderseite darstellen, in dem geschlossenen
Rundbau muß es sich allseits ausrunden und doch die Geschlossen-
heit des Individuums zur Unwandelbarkeit steigern, daß der Be-
schauer sich von allen Seiten zu der Mittelachse des Korpers oder
der Gruppe, d. h. zum Höhepunkt der Dominante zurückgeleitet
fühlt, wo der feste Kern des Ganzen und das Kraftzentrum aller
Wirkungen zu suchen ist
Beim einfachen, strengen Zentralbau, etwa mit dem Grabe des
Herrschers und seiner Statue darauf, handelt es sich immer noch
nicht um den leeren Raum als solchen, sondern vielmehr um die
Rotunde, d. h. den kreisförmigen Rundgang um die körperlich vor-
handene Dominante, das Standbild und den Sockel in der Mitte.
Der Umgang innen, die Wandung um diesen, und vielleicht noch
ein offener Säulengang draußen unter demselben Schirmdach, rahmen
nur das zentrale Bildwerk ein, wie eine Sammelkomposition das
Kleinod. Das Prinzip dieser inneren Anlage wiederholt sich im
Schirmdach mit seinen Akroterien am Rande und seinem Bekrö-
nungsgliede auf dem Höhepunkt, sei dies ein Pinienzapfen, ein
Dreifuß oder abermals eine plastische Figur als Wahrzeichen des
Mals für die Weite ringsumu
Die Rotunde drinnen kann sich jedoch durch Nischen in der
Umfassungsmauer erweitem und so in der schlichten Peripherie
die rhythmische Bewegung ausbilden, die — wie Systole und Dia^
stole in der Brust des Menschen — schon einen Hauch atmenden
Lebens in die starre Masse des Bauwerks bringt. Dies Motiv
steigert nur das Übergewicht der ausstrahlenden Richtimg, die dem
plastischen Inhalt zu entströmen scheint, während die zentripetale
Beziehimg bei der Rückkehr aus der Nische in den fortlaufenden
Zusammenhang des Kreises, den dargestellten Wert in der Mitte
suchen heißt. Werden die symmetrischen Erweiterungen innerhalb
der zylindrischen Form so groß, daß sie eigene Bedeutung gewinnen,
so können sie, dem Körperwert im Mittelraum entsprechend, auch ihrer-
seits mit Statuen oder Büsten besetzt werden. Da hätten wir auch
hier eine Sammelkomposition von lauter Körpern, deren Raum-
volumen das Innere des Baukörpers erfüllt Die Übereinstimmung
des Raumgebildes mit der plastisch-tektonischen Gruppen-
y
Rotunde mit Nischenkranz
1Q9
bildung ergibt gerade die Monumentalität des Bauwerks.
Das treibende Element dieses Zusammenwirkens von Plastik und Archi-
tektur ist noch immer das plastische Gestaltungsprinzip, zuerst das
Bildungrsgesetz nach Analogie des organischen Korpers, dann eines
Komplexes von solchen, nur mit dem Unterschied, daB die Individuen
frei nebeneinander gereiht stehen, sich nicht etwa mit einzelnen
Gliedern ineinanderschlingen wie bei der echten plastischen Gruppe,
sondern nur durch die Richtung auf die Dominante in der Mitte
und die gleiche Subordination in ihrem Großenverhältnis, wie in
ihrem Abstand den Eindruck des Zusanunenhanges hervorbringen.
Die ganze Konstellation erscheint wie ein System von Trabanten,
die vaa den Mittelkorper gravitieren; darin liegt aber die gegen-
seitige Abhängigkeit aller gegeben, die vielleicht nur durch die
vielachsige S3rmmetrie im Räume den Bestand des Ganzen erhält
Da es aber menschliche Gestalten sind, legt unsere Vorstellung in
diese Abhängigkeit imwillkürlich eine geistige Bedeutung hinein.
Es ist also doch eine Anordnung, die über die rein plastischen Ge-
setze der organischen Korperwelt hinausgeht, einerseits in den
Kosmos der unorganischen Natur, andererseits in den der Geister-
welt übergreift. Und ebendiese Faktoren berechtigen zu dem
Bündnis mit der Schwesterkunst Architektur, die allein die Zusammen-
fassung und höhere Einheit, die über diesen Körpern schwebt, ab-
strakt genug ausdrückt, z. B. die Familie, die Gemeinschaft eines
Königs mit seinen Feldherren, eines Lehrers mit seinen Jüngern usw.
Das wird erst recht fühlbar, wenn wir das KoUektivum von
Statuen oder sonstigen Bildwerken hinwegnehmen und den leeren
Raimi an sich betrachten. Er erscheint wie das Gehäuse für einen
Vorstellungskomplex, dessen Glieder von einem gemeinsamen
GrundbegrifiF ausstrahlen. Verfolgen wir diese Erweiterungen in
ihrem Zuge zur Selbständigkeit, so mag auch am Bau die Aus-
rundimg der Nischen über die Kreisform der Umfangsmauer nach
außen dringen, so daß die vielachsige Symmetrie des Inneren sich
auch am Baukörper schon für den Ankommenden verkündet. Dann
ordnen sich auch außen die halbzylindrischen Auswüchse dem zu-
sammenfassenden Oberbau mit seinem Dache unter, erfüllen also
im Aufstieg von unten das Gesetz der Proportionalität, wie ein
Organismus im Wachstum. Wenn wir das Ganze dagegen von
oben aus der Vogelperspektive betrachten könnten, wie wir uns
den Grrundriß aufs Papier werfen, so bliebe kein Zweifel, daß es
sich wie eine Sammelkomposition um das große Mal in der Mitte
y
200 XIV. 2^iitralbau und Kristallisation
von der Grundebene des Erdbodens abhebt Der Kranz von an-
hängenden Trabanten vermittelt das Kleinod mit dem Grunde; er
erscheint wie ein eigener gemusterter Grnmd, der dem dominierenden
Mittelkorper als Folie dient und als solche ihn auch wirksam vor-
bereitet, während dieser die verschiedenen Anläufe ringsum zu-
sammenfaßt und über alle hinausragend vorspringt. Der Kranz von
Halbformen ist wie eine Gestaltungssphäre um die Ganzform, noch
in der Bildung begriffen, die dies Unikum erreicht hat Nun aber
sieht der menschliche Betrachter d£is Monument, wenn er heran-
kommt, immer nur von ^er Seite und kann erst beim Umwandeln
die peripherische Symmetrie des Ganzen begreifen: die geistige
Vorstellungstätigkeit erst erbringt die Einheit aller Teile mit dem
gemeinsamen Hauptkörper. Aus der Feme dagegen erscheint dem
Blicke das überragende Mittelstück mit zwei beträchtlich schmälern
Flügeln links und rechts als eine einheitliche, aber dreiteilig ab-
gestufte Silhouette. Erst beim Näherkommen rundet sich der drei-
gliedrige Flächeninhalt dieser Figur zu einer Dreifaltigkeit von
Körpern aus, wie eine plastische Grruppe, die man mit dem Laokoon
zwischen beiden Söhnen vergleichen könnte. Damit bezeichnen
wir alle diese Erfahrungen des Wanderers gegenüber dem Bau-
körper als plastische Eindrücke. Es ist eine Gruppe, die sich erst
bei weiterem Verkehr als nicht für eine bevorzugte Vorderansicht
allein berechnet ausweist (wie etwa der Laokoon nur in einer
Schattennische stehen kann), sondern als allseitig gerichtet, für den
umwandelnden Betrachter rings gleichmäßig durchgebildet
Gilt es für solch ein Bauwerk einen bezeichnenden Namen zu
finden, so würden wir auch hier nicht „Massenkomposition'' wählen,
die ohnehin nur aus der Vogelperspektive ganz wahrgenommen wer-
den könnte, und erheben erst recht Einspruch gegen den Terminus
„Massenbau", den Riegl*) mit jenem promiscue gebraucht Unter
Massenbau verstehen wir zunächst gar keine kompositioneile
Eigentümlichkeit, sondern eine technische, nämlich den Bau mit
kompaktem Material, mit dicken Mauern aus Quadergefüge, Ziegel-
gemäuer, Gußwerk und dergl., wie er uns sowohl an zyklopischen
Terrassenbauten des Orients, als auch im Backsteingewölbebau der
römischen Kaiserzeit begegnet Im Zusammenhang mit dieser tech-
nischen Tradition, die natürlich ihre künstlerischen Konsequenzen
i) Beispiele von Sammelkomposition oder nach Riegl Massenkomposition an
ganz leicht konstruiertem Hüttenbau vgl. bei H. Frobenius, Ozeanische Bautypen,
III, 12, II, 14, IV, IG. Berlin 1899.
Massenbau oder Gnippenbau 201
mit sich bringt, unterscheiden wir allgemein heute den „romanischen
Massenbau'' von dem ,,gotischen Gliederbau'S der im Gegensatz zu
jenen gewaltigen Mauermassen imd ihrem Aufwand an Baumaterial,
eben dem Erbteil der Römerbauten, seinerseits fast völlig in Stein-
metzarbeit übergeht und ein Baugerippe aus Haustein schafft, das
allein konstruktiv fungiert und das Rahmenwerk für leichtere Fül-
lungen bildet. Der Ausdruck Massenbau im Sinne der Riegischen
Massenkomposition sollte deshalb um so mehr vermieden werden,
als er zugleich im Sinne des technischen Befundes als massige
Materialhäufung und kompaktes Volumen von einem und dem-
selben Bauwerk gebraucht werden könnte, wie eben von römischen
Zentralbauten in Thermen oder Palästen und in der Moles Hadriani,
dem kolossalen Grabmal des Kaisers. Auf ein Mißverständnis
dieser Art geht auch wohl Riegls Berufung auf Semper zurück.
In unserem Beispiel, wo sich an einen allerdings massigen,
aber die Raumform adäquat ausprägenden Zentralbau eine Anzahl
kleinerer halbierter Zentralbauten ansetzt, haben wir statt eines
einfachen Baukörpers einen Komplex von solchen vor uns, imd
zwar die Subordination einer Mehrheit von sekundären, unter sich
gleichwertigen Körpern unter einen größeren primären in der Mitte.
Die Subordination geht aber bis zur Aufhebung der Selbständig-
keit, oder die Aussonderung der unter sich koordinierten kleineren
ist noch nicht bis zur vollen Lostrennung dieser sekundären In-
dividuen gediehen, ja diese stecken noch zur Hälfte im Hauptkörper
drin. Die Verquickung der Einzelkörper mit der Dominante geht
weiter, als die Verschlingimg organischer Geschöpfe in einer pla^
stischen Gruppe (ohne Loslösimg ihrer Mitglieder vom gemeinsamen
Boden) jemals gelangen kann, nämlich bis zur Einverleibung:
es entsteht eine höhere Einheit, die zwingend an die Vorstellung
des Wachstums gemahnt, sei es auch der Pflanzenwelt (z. B. Kakteen)
oder kristallinischer Gebilde. Die Vorstellung bleibt eine eminent
plastische, nämlich eine in sich gegliederte Körpereinheit Anderer-
seits aber ist unleugbar, daß das Kollektivgebilde sich am ehesten
den Leistungen psychischer Synthese vergleicht
Damach erscheint überall, wo vom Gesamteindruck des Bau-
körpers von außen die Rede ist, die Bezeichnung als Gruppen-
bau am besten geeignet,^) um den plastischen Charakter des monu-
i) Auch Riegl weiß, daß der Gruppenbau, den er Massenbau nennt, haupt-
sächlich am Äußeren zur Geltung kommt (a. a. O. S. 15).
202 XIV. Zentralbau und Kristallisation
mentalen Bauwerkes auszuprägen, während wir unter Baugruppe
auch einen freieren Komplex von mehreren relativ selbständigen
Baukorpem verstehen. Wo jedoch auf das Innere zugleich Ruck-
sicht genommen wird, konnte der Ausdruck Gruppenbau Bedenken
erregen. Hier liegt alles daran, sich klarzumachen, daß in der
Tat eine Mehrzahl von niedrigeren, unter sich gleichwertigen Verti-
kalachsen, wenn auch nur ideell vorhanden, im Kreise um eine
höhere, ihrem Werte nach überlegene herumstehen. Geben wir
jeder dieser aufrechten Geraden ihr entsprechendes Raumvolumen,
so kann das entstehende Raumgebilde mit seiner peripherischen
Gliederung nur als ein Kollektivum erklärt werden, das einerseits
durch die Koordination der (halb)zylindrischen Erweiterungen im
Kreise um den (voll)zylindrischen Hauptraum, andererseits aber
entscheidend durch die Subordination der peripherischen Reihe
unter die Dominante charakterisiert wird. Die letztere Bestimmung
ist eben die ausschlaggebende, die zur Entstehung einer höheren
Einheit fuhrt, und zwar auch im wortlichen Sinne zur höheren,
über alle Trabanten hingreifenden Kuppelwölbung, die alle anderen
sozusagen in sich aufhebt (wie z. B. an der sogenannten Minerva
Medica in Rom). Ein solches Raumgebilde ist eine zentralisierte
Sammeleinheit, im Unterschied von der früher besprochenen
Sammelkomposition, die im Nebeneinander der versammelten Ein-
heiten bestehen bleibt und sich nicht zu einer Körpereinheit aus-
wächst, mag auch der verbindende Rahmen und die Kraft der Do-
minante die Zusammenfassung für unseren Intellekt erleichtem, ja
zwingend herbeizufuhren. Der Unterschied von dieser Kombination
isolierter Bestandteile zu einer Sammeleinheit wäre für den Innen-
raum als solchen wohl mit dem Ausdruck „Raumgruppe'' zu
fassen, damit wieder der plastische Charakter des Ergebnisses zu
seinem Recht komme.
Immer gehört ein solches kompliziertes Raumgebilde im Gegen-
satz zu dem monumentalen Einraum als dem einfachen und ab-
soluten Individuum zur Klasse der Raumkompositionen, unter-
scheidet sich aber von anderen durch das Aufgehen einer Mehr-
zahl in eine höhere Einheit, die sich alle angereihten Individuen
gleichmäßig unterordnet und bis zur Hälfte einverleibt, so daß nur
die Wachstumsachse jedes angegliederten Raumgebildes noch als
eigene bestehen bleibt. Die ästhetische Gesamtaufhahme einer
solchen Einheit ist nur im Innern ohne Reflexion möglich, da wir
den Anblick des Äußern von oben her, als Ausnahmefall oder ganz
Raumgruppe — Raumkomposition 203
ausgeschlossen, nicht mitrechnen dürfen. Zur unmittelbar sinnlichen
Wirkung kommt vom Äußern immer nur eine Seitenansicht Von
dem gfroßen Baukorper hebt sich stets ein kleinerer Körper oder
ein Paar, eine Mehrzahl, in mehr oder minder perspektivischer Ver-
schiebimg, so weit ab, daß sie dem Beschauer wirksam entgegen-
tritt Es ist ein eminent plastischer Eindruck, der durch die unten
in starker Ausladung vordringenden Korper „zu deutlichem Bewußt-
sein bringt, daß der Bau sich auch in der Tiefendimension zu einem
isolierten Individuimi abschließt,''^) und sich damit zugleich gegen-
über der vertikalen Parallelebene imseres Sehfeldes isoliert Das
stoffliche Individuum, hier eine Sammeleinheit, soll sich in voller
Dreidimensionalität von der Sehebene loslösen; aber zwischen den
Hauptkörper und den Beschauer wird eine Reihe kleiner Individuen
eingeschoben, die eine Übergangszone erfüllen imd auch seitlich
die Erscheinung der Körpermasse mit ihrer räumlichen Umgebung
vermitteln. Durch sie schon wird ein fühlbarer Zusammenhang
zwischen der innen wirkenden Dominante und der ungestalteten
Raum weite, wenn auch noch nicht hergestellt, doch angebahnt, —
eine Tatsache, die für das Obergleiten von der streng plastischen
zur malerischen Anschauungsweise, vom tastbaren zum optischen
Wert besonders beachtenswert erscheint*) Diese Vermittlerrolle
verwandelt sich, sowie wir in das Innere treten, je nachdem wir
die zentrifugale oder die zentripetale Bewegung bei unserer Auf-
nahme vorwalten lassen. Sehen wir die Nischenräume an der Peri-
pherie als Ausstrahlungen an, so bilden sie zusammen eine ver-
mittelnde Gestaltungssphäre, die den Abschluß nach außen vor-
bereitet und die Schroffheit der einfachen zylindrischen Umfassungs-
mauer mildert. Fassen wir die Nischenräume dagegen von dieser
äußeren Grenze nach der Mitte wirkend auf, so erscheinen sie wie
eine Gemeinschaft von Einzelkräften, die sich aufopfernd im Dienst
einer höheren Einheit bemüht und deren letzten zusammenfassenden
Aufstieg ermöglicht, indem sie auf eigene Selbständigkeit ver-
i) Riegl, a. a. O. S. 26. Der Abschnitt über die Minerva Medica leidet aller-
dings an viel Unklarheiten, die dadurch entstehen, daß der Standpunkt des Be-
trachters oft gewechselt wird, ohne nähere Angabe darüber. So wird unter Grund-
ebene bald der Reliefgrund, die vertikale Parallelebene vor uns, bald der Erdboden,
die horizontale unter uns bei Vogelperspektive verstanden.
2) Vgl. dazu Sc hm ar so w, Barock und Rokoko 1897, das Kapitel über Michel-
angelo als Bildner und Baumeister, wo auf die spätrömischen Bauten im Vergleich
mit St. Peter Rücksicht genommen ist. Prinzipielle Erörterung S. 100 ff. und Ausein-
andersetzung mit Burckhardt-WölfTlin.
204 XW, Zentralbau und Kristallisation
ziehtet Diese Bedeutung einer vermittelnden Obergangszone muA
um so starker überwiegen, wenn — wie in der Minerva Medica
zu Rom — die vermehrte Zahl von Nischen schon in ununterbrochener
Reihe aufeinanderfolgt, ganz besonders aber, wenn sie ebenfalls
an diesem Beispiele als untere Erweiterung mit einer oberen Fenster-
reihe im Kuppelraum des Mittelbaues zusammenwirkt Waren (üe
Fensteröffnungen auch gewiß mit Marmorplatten oder hellem Gitter-
werk geschlossen, so daß sie nach außen nicht als dunkle Fenster-
höhlen, d. h. wie Löcher die Einheit der Umfassungsmauer durch-
brachen, so gewährten sie doch im Innern dem Tageslicht in etwas
gedämpfter Stärke vollen Zutritt und ließen dem Einfluß der Himmels-
weite in dieser oberen Region freien Spielraum, der die Schatten-
tiefen der unteren Zone notwendig als Gegensatz herausfordert.
So kann die Gesamtwirkung des Rauminnem auf den Kontrast
von Schatten und Licht gestellt werden und der Helldunkelrhjrthmus
zwischen unten und oben der optischen Auffassung des Luftmediums
den Vorrang vor aller plastischen und architektonischen Formen-
sprache verschaffen.
Solch ein Kontrast zwischen Lichtgaden oben und Schatten-
zone darunter charakterisiert jedenfalls den Rundbau von Sta. Co-
stanza in Rom. Hier ist kein Kranz von Nischen, wie in der
Minerva Medica, sondern ein ununterbrochener ringförmiger Umgang
um den Mittelbau gelegt, also keine Mehrheit von Individuen zum
Dienst herangezogen, sondern eine geschlossene Raumeinheit der
überragenden untergeordnet und ebenso die umschließende Körper-
masse als Kontinuum von dem, triumphierend gleichsam, darüber
hinaussteigenden, leichteren mit Fenstern durchbrochenen Kuppelbau
unterschieden. *) Der Doppelsäulenkranz, der im gemeinsamen Unter-
geschoß die beiden Bestandteile trennt, betont zunächst die Selb-
ständigkeit und gesonderte Existenzfahigkeit beider Raumteile.
Dann erst werden die konzentrisch geordneten Säulenpaare zu-
sammengejocht und tragen gemeinsam die Bogenreihe mit der
Obermauer, über deren geschlossenem Zylinder der Lichtgaden auf-
steigt. Auch am Äußern wird kein Verwachsen des unteren Ring-
baues mit dem Tambour sichtbar, wie bei den halbzylindrischen
i) Deshalb möchte ich nicht mit Riegl S. 28 eine „Fortentwicklung" der
Nischenreihe der Minerva Medica im fordaufenden Umgang von Sta. Costanza er-
kennen. Es ist doch ein prinzipieller Unterschied zwischen einer Mehrzahl von In-
dividuen (wie die Paladine des Königs an der Tafelrunde) und einem Kontinuum,
(wie die Durchschnittsmasse des Volks, der Gemeinde).
Minerva Medica und S. Costanza 205
Trabanten der Minerva Medica durch ihre Halbkuppelwolbungen,
sondern ein Pultdach lehnt sich ringsum an den zylindrischen
Mittelkorper, d. h. nur äußerlich an. Es ist kein organischer Zu-
sammenhang mit der höheren Einheit am Außenbau erkennbar, und
mit diesem Verzicht auf ein plastisches Erfordernis wird der Cha-
rakter als Moniunentalbau schon in Frage gestellt Den klassisch«
antiken Begriffen von Monumentalitat entspricht dieser Gesamt-
eindruck (wie wir ihn auch rekonstruierend verbessern mögen)
jedenfalls nicht mehr. Auch in diesem Punkt nähert sich Sta.
Costanza dem Wesen der christlichen Basilika, die der plastischen
Durchbildung des Äußern keine Stätte gewährt
Sta. Costanza ist denn auch ursprünglich als Baptisterium neben
der Basilika der Konstantina, Tochter Konstantins, erbaut, und fuhrt
uns auf die christliche Wandlung im Wesen des Zentralbaues, die
durch die Spätantike schon vorbereitet war. Die christlichen Bap-
tisterien sind freilich nicht allein „moniunentale Einfassungen der
Piscina, d. h. der weihevollen Stätte, an der sich die Aufnahme in
die christliche Gemeinde vollzog".^) Das würde nicht ohne weiteres
die Adoption des Kuppelbaues und des streng zentralisierten Bau-
korpers erklären. Wir kommen auch hier nicht aus ohne die Verti-
kalachse auf dem Mittelpunkt, die noch immer nach antiker An-
schauung die Trägerin der Einheit und die Dominante des Ganzen
ist, gleichwie das Standbild, der plastische Körper des heidnischen
Gottes. Nur eine Vergeistigung hat sich vollzogen, seitdem nicht
mehr das Idol leibhaftig dasteht, sondern die Raumgestaltimg allein
auf die fühlbar wirksame Kraft hindrängt, die eben nur an dieser
Stelle als ideelle Beziehungsachse zwischen Unten und Oben tätig
sein kann. Sie geht auf das Haupt des Täuflings oder das sym-
bolische Element des Wassers nieder, wie bei dem vorbildlichen
Akt der Taufe Christi im Jordan die Stimme des Vaters aus der
Höhe, oder wie in Darstellungen dieses Ereignisses nach dogmatisch
ausgeprägter Christenlehre die symbolische Gestalt der Taube herab-
fahrt auf den Scheitel des Sohnes. Mag auch die Taufe an den
Neophyten nur im Umkreis dieser Hauptachse vollzogen werden;
sie selbst bleibt der konstitutive Faktor und enthält das Kraft-
zentrum, von dem die magische Wirkung des Kontaktes mit dem
flüssigen Element aiisstrahlt Diesem, die Materie sozusagen auf-
lösenden, alle Körperwerte umwertenden, ja so weit wie möglich
ij Riegl, Zur Entstehung der altchristlichen Basilika S. 204.
2o6 XIV. Zentralbau und Kristallisation
entwertenden Vergeistigungsprozeß entsprechend, tritt immer be-
wußter an die Stelle des Einzelgliedes, des stofiFlichen Trägers, die
Raumöffnung als die eigentliche Hauptsache, in der sich solche
magische Wirkung bewegen kann, bis zur wunderbaren Wirkung-
in die Feme. Natürlich wird diese Konsequenz erst allmählich zu
klarem Bewußtsein hindurchdringen; aber sie läßt sich imzweifel-
haft beobachten: der Intervall wird die positive Potenz; das sinn-
liche Material und der begrenzende Korper muß die führende Rolle
abtreten, er wird zum negativen Faktor, den man eben nur nicht
entbehren kann. Diese Baugesinnung, die von der monumentalen
der Antike weit abliegt, ist die eigentlich christliche, die sich früh
und klar genug manifestiert, so daß sie nicht verkannt werden
sollte, obwohl sie durch Kompromisse verdunkelt, ja durch starke
Reaktion der griechisch-römischen Kulturmacht und des uralten
Kunstgefuhls periodisch zurückgedrängt ward.*)
Santa Costanza ward nicht allein als Baptisterium neben der
Basilika errichtet, sondern als Zentralbau von der Stifterin Kon-
stantina zur Grrabstätte gewählt Der prachtvolle Porphyrsarkophag,
der 354 die Leiche der in Bithynien gestorbenen Fürstin aufnahm,
stand in einer, aus der kreisförmigen Umfassungsmauer ausgesparten
Kapelle, wie später hinzugekommene Särge in den Nischen des
Umgangs. Zug^unsten des Taufbeckens war von vornherein auf
den Platz im Mittelraum verzichtet, den die plastische Auffassung
des Monuments im klassisch-antiken Sinne verlangt hätte. Auch
ein anderes Zeichen spricht dafür, daß sich in der allgemeinen Auf-
fassung ein Wandel vollzogen hatte, der wieder eine Etappe auf dem
Wege vom Mal zum Räume bedeutet. Die Arkadenreihe des Säulen-
kranzes zeigt den Hauptachsen des Plans entsprechend größere Bögen,
zwischen denen je zwei kleinere stehen, so daß nicht allein eine rhyth-
mische Gliederung dieser entsteht, die an die Triptychenreihe des
Wandgetäfels im Tambour und an die Gruppierung der Fenster im
Lichtgaden anschloß, sondern im Mittelraum auch die Kreuzform
ausgeprägt wird Das ist ein Symptom des Zusammenhangs mit
hellenistisch-orientalischen 2^ntralbauten, die wir erst neuerdings
nach ihrer vollen Bedeutimg würdigen lernen. Die Aufnahme der
Kreuz form in die Kreisform des Monumentes charakterisiert ein
bestimmtes Entwicklimgsstadium dieses Bautypus, den wir zwischen
I) Sie offenbart sich auch in der Vernachlässigung des struktiven Zusammen-
hangs in Santa Costanza. Vgl. Schmarsow, Der Kuppelraum von Santa Costanza
in Rom und der Lichtgaden der altchristlichen Basilika. Leipzig 1904.
fiaptisterium — Grabmal — Martyrion 207
Baptisterium und Basilika einordnen müssen und mit einem eigenen
Namen „Martyrion" belegen dürfen.*)
Es steht zwischen Denkmal und Kultushalle, also zwischen
Zentral- und Langhausanlage mitteninne. Der Zentralbau, den
Konstantin über dem Grabe Christi in Jerusalem errichten ließ,
haftet noch an diesem Monument, geht aber in der Raumbildung
i) Vgl. Strzygowski, Der Dom zu Aachen 1904 S.23fr. — Kleinasien ein Neu-
land der Kimstgeschichte 1903 und Orient oder Rom, 1901. S. 97 ff. zu Tafel IV.
Martyrion ist zunächst ein Märtyrergrab, das sich zum Denkmal oder zur
Kultstätte entwickeln kann, d. h. entweder zum tektonischen Körper oder zum archi-
tektonischen Raumgebilde. Es ist ursprünglich nur ein Gehäuse, wie jene lykischen
Grabmäler mit der Bahre unter der verhüllenden Kapsel auf einem Untersatz. Die
Verehnmg der christlichen Blutzeugen errichtet einen Altar über der Gruft oder
hebt die Gebeine und bettet sie in einem kostbaren Sarkophag über der Erde, der
nun selbst als Altar dient, oder Anlafi gibt, darum, darüber eine Kapelle zu bauen.
Ein ägyptischer Leinwandstreifen im Berliner Museiun mit Daniel zwischen zwei
Löwen nebst Habakuk und einem anderen Zeugen bietet auf dem oberen und un-
teren Rande Darstellungen christlicher Sakralbauten, deren Mehrzahl mit der Bei-
schrift „Martyrion" versehen sind. Lassen die anderen Beischriften bei dem gleichen
Bau, Ecclesia megale als Haupkirche und Michaelskapelle (Martyrion Hag. Mich.),
auch den Schluß zu, dafi keine Unterscheidung der verschiedenen Klassen des christ-
lichen Sakralbaues beabsichtigt ist und daß der Name Martyrion schon so populär
war, daß er auch angewendet wird, wo er keinen Sinn hat, so bleibt doch die ste-
reotype Form wichtig als Zeugnis, wie ein altes Erbstück hellenistischer Kirnst
weitergeführt wird. Das übereck gesehene, mit der Giebelfassade nach rechts ge-
wendete, links dagegen gerade abgeschnittene Bauwerk ist doch als Grabmalsbau
unverkennbar. Das geschlossene Erdgeschoß ist senkrecht getäfelt; an der Schmal-
seite führt eine Freitreppe hinauf zur Cella, deren quadratische Offiiung mit zurück-
gebundenen Vorhängen als offen oder mit einem Kreuz vor dem Eingang bezeichnet
ist. Ein schlichtes Satteldach deckt den Söller. Im Unterschied von allen auf-
rechten Zentralanlagen, die sonst z. B. als Grab des Lazarus auf bildlichen
Darstellungen vorkommen, ist hier ein Langbau für den liegenden Körper des
Toten gegeben, und die wagerechte Achse (statt der Vertikalen des antiken Mo-
numents nach Analogie des Standbildes) ermöglicht zugleich den Bewegungsraum
der Kapelle für den Gottesdienst. Das mag für ein Einzelgrab oder eine geringe
Zahl genügen. Wo aber bei den Christenverfolgungen Massengräber entstanden
waren, oder eine nachträgliche Bestattung vieler Märtyrer in pietätvoller FeierUchkeit
stattgefunden hatte, da stellte sich von selbst die Form der mehrarmigen Gruft-
anlagen ein (wie etwa jenes Höhlengrab in Palmyra, das einer hellenistischen Juden-
familie um 259 gehört haben soll), und die einfache Durchkreuzung der Arme ent-
sprach zugleich dem Bedürfnis, das Christenmartyrion als solches zu kennzeichnen.
Bei der Überbauung solcher Stätten mit Denkmals- oder Kultusbauten ergaben sich
zwei Formen : über der Massengruft die kreisförmige oder polygone, über der kreuz-
förmigen Anlage ebendiese mit vier gleichen Armen, oder einem längeren, die man
seltsamerweise als griechisches und lateinisches Kreuz zu unterscheiden fortfährt,
obgleich dazu keine Berechtigung vorliegt.
2o8 XIV. Zentralbau und Kristallisation
im Sinne der geistigeren Auffassung weit darüber hinaus. Der
Verherrlichung der Persönlichkeit gilt noch immer das Oktogon, das
der Maria vom selben Kaiser zu Antiochien gewidmet ward, wie
der runde Grabmalsbau für die eigene Mutter Helena in Rom. Ganz
frei und klar gestaltet die monumentale Umkleidung eiues geist^en
Wesens, wir wissen nicht, ob heidnischen oder christlichen Ursprungs,
der bedeutsame Zentralbau von Hierapolis. Nur schm^ windet sich
ein Umgang zwischen der kreisförmigen Umfassungsmauer und den
acht Pfeilervorlagen hindurch, die mit einspringenden Winkeln
ein inneres Oktogon begrenzen, über dem ein aus acht Kappen be-
stehendes Gewölbe aufstieg. Gregor von Nazianz schildert poetisch
ein von seinem 374 verstorbenen Vater gestiftetes Martyrion
als Oktogon mit Emporengeschoß imd Kuppel darüber, aus der
von Licht umstrahlt lebenswahre Bilder hemiederschauen. Glän-
zende Wandelhallen umziehen das Achteck außen. Aber die Apostel-
kirche, die Konstantin in Byzanz als Begräbnisstätte für sich und
seine Familie erbaute, adoptiert bereits die Kreuzform der Grufl-
anlagen auch im Monumentalbau, der zugleich dem Kultus dienen
solL Die Kreuzform zeigt auch die Apostelkirche, die Ambrosius
382 in Mailand gründet (seit 396 S. Nazarius betitelt) und das
Grabkirchlein der Galla Placidia zu Ravenna. Gregor von Nyssa
beschreibt zwischen 379 und 394 ein Martyrion, das er errichten
will, bereits als Denkmalskirche von kreuzförmigem Grundriß, in
dessen Mitte ein Kreis mit eingezeichnetem Achteck die vier recht-
eckigen Flügel verbindet, doch so, daß die Arme deutlich aus dem
Zentralkörper hervorragen. Ein Achteck, das in den Diagonalen
von einem wenig vortretenden Kreuz durchsetzt wird, steht in den
Trümmern von Binbirkilisse, nach dem geringen Durchmesser ge-
wiß keine Gemeindekirche, sondern das Martyrion eines Heiligen.
Ein etwas breitgedrückter Kreis von beträchtlichem Umfang mit
eingeschriebenem Oktogon in Wiranschehr ist durch Anbauten
in Kreuzform erweitert und erinnert schon an das gestreckte
Polygon von S. Gereon in Köln. Die Macht der Zentralanlage
mit schlichter Außenform bestätigt für den fernen Osten noch ein-
mal der Grundriß der ehemaligen Kirche des hl. Ghregor beim Kloster
Etschmiadsin am Ararat (die der Katholikos Nerses IIL 640 — 661
erbaut haben soll). Es ist ein Kreis von über 39 Metern Durch-
messer, in dessen Mitte zwischen vier gewaltigen Pfeilerdreiecken,
die eine Kuppel trugen, vier Halbkreise eine vierblättrige Kreuz-
form beschreiben, die an einer Seite als Tribuna geschlossen, an den
\_^.
Raumgruppe — Raumkomposition 209
übrigen durch Säiüenstellungen geöffnet, das AUerheiligste birgt.
Im Rücken der inneren Apsis stoßt an den umfassenden Kreis ein
viereckiger Anbau, der durch einen Doppelbogen von West nach
Ost in zwei durch je eine Tür zugängliche Klammem geteilt ward,
also wohl nur als Sakristeiraiun angesprochen werden darf.
Hsigegen wird in anderen Beispielen Kleinasiens, wie in Derbe
das der Kreisform ganz nahe kommende Polygon, in Isaura das
Achteck von einer dem Eingang gegenüber hervortretenden Apsis
durchbrochen. Damit kommt in den Zentralbau die Vorherrschaft
einer Richtung, die — im Gegensatz zu dessen allseitiger Richtung
unter der herrschenden Vertikalachse in der Mitte -— vielmehr
dem Wesen des Langbaues angehört, dessen Hauptachse, der Be-
wegungsrichtung des Menschen entsprechend, sich wagerecht über
die Grundebene erstreckt. Dieser Eintritt der Longitudinale in den
Zentralbau ist der Anfang einer andern Entwicklungsreihe, die in
der Hagia Sophia zur höchsten Vollendung gelangte.
Die Urform des Zentralbaues, der zylindrische Rundbau mit
Kuppelgewölbe, findet sich auch an der altchristlichen Basilika
wieder, doch nur als jene offene Hälfte, die wir bereits oben zur
Erklärung herangezogen haben. Es ist die halbzylindrische, ur-
sprünglich fensterlose und mit einer Halbkuppel überwölbte Apsis,
die am Ende des Langbaues aus der Schlußwand heraustritt Betrach-
ten wir das Gebilde von der Innenseite, so findet sich, daß eben die
zweite Hälfte, die zunächst von der Masse des übrigen Baukörpers
nur verdeckt scheinen konnte, tatsächlich abgeschnitten und nicht
ausgeführt ist Die Apsis ist also nur eine große Nische oder
Tribuna, wie sie in kleinerem Umfang und nebensächlicher Stellung
auch an der Marktbasilika vorkommt Aber auch hier gehört die
Vorderhälfte des Raumgebildes dazu, die, wenn auch nicht körper-
lich und geschlossen, doch der Vorstellung nach wirksam und fühl-
bar in den anstoßenden Raum hineinragt Für die plastische Auf-
fassung des Heidenchristen tritt an die Stelle des Standbildes, das
in solcher Koncha der römischen Tempel zu sehen war, nun in der
christlichen Kirche die Person des Apostels, des Glaubensboten
imd später des Bischofs. Und um diesen reihen sich andere Priester
und Diakonen zu geschlossener Gruppe, oder zu freierem Zusammen-
spiel am Altare. Der Diener am Wort, der das starre Götterbild
durch lebendige Mimik ergänzt und vollends durch weiter verständ-
liche Sprache noch überbietet, verschwindet aber mit den Seinen
aus der Tribuna der Basilika, wenn die Versammlung der Gläubigen
Schmaraow, Kanttwitaeiuchaft. I^
2IO XIV. Zentralbau und Kristallisation
auseinandergeht Der Altar ist nur ein tektonisches Mal, der feste
Untersatz für die ideale Mittelachse des Raumgebildes. Und die
Schwesterkünste vermögen nur ein Bild in der Halbkuppel dahinter
und am Triumphbogenfelde darüber, oder, wo die Statue des Er-
lösers ausgeschlossen wird, nur ein Symbol als sinnlichen Träger
und greifbaren Anhalt statt des bleibenden Wertes selber zu liefern.
Konstantin stellt noch das Standbild Christi^ der sich im Streit um
das Imperium mächtiger erwiesen als alle Gotter Griechenlands,
Roms, Ägyptens und des Orients sonst, wie einen Olympischen in
seinen Kaiserpalast Er erbaut ihm Basiliken, wie sich selbst seinen
Audienzsaal, und zu Jerusalem gar eine prunkvolle Königshalle für
Christus Imperator und einen Zentralbau über seinem Grabe. Die
fortschreitende Reinigung der neuen Staatsreligion beseitigt zu-
nächst das Standbild als naive Übertragung des Heidentums, wenn
es auch im Relief der Sarkophage noch wiederholt wird. Aber
die Apsis der Königshalle hellenistischer Zeit ist auch ihr die selbst-
verständliche Fassung für die Gegenwart des unsichtbaren Basileus,
den sie verehrt, oder des Herrn, dessen Person, wenn auch ver-
geistigt, immer noch als Individuum an dieser einen Stätte haftet,
der Dominica, wie die Lateiner sagen. Von der Vertikalachse, die
vom Scheitel der Halbkuppel auf den Mittelpunkt des Halbkreises
darunter gefallt wird, als unkörperlicher Dominante, strahlt doch
die magische Kraft aus, wie im Baptisterium, wo sich die Kuppel
und die Zylinderwand voll ausrundet. In der Kirche, wo sich die
Tribuna in ihrer ganzen Weite öffnet gegen die versammelte Ge-
meinde zu, da wirkt auch der Reflex von der sphärischen Fläche
der Halbkugelwölbung wie von der Kurvatur der senkrechten
Wandung mit in den anstoßenden Raum des Saales hinaus. Der
volle Umkreis, nach vom ergänzt, gehört auch hier zur notwendigen
Abschließung der Berührungssphäre. Die leibliche Gemeinschaft
ward eine unmittelbare an hohen Festtagen, wo das Wort, die Lehre,
d. h. die poetische Vermittlimg des Evangeliums, nicht genügte imd
für Judenchristen wie für Heidenchristen das erlösende Opfer an
deren Stelle trat Mit den sinnlichen Zeichen der Kommunion tritt die
Allgewalt der bildenden Kunst in ihr Recht, den Glauben zu stärken
und die hoifende Zuversicht zur Gewißheit des wirklichen Erleb-
nisses zu steigern. In der frühchristlichen Zeit, die auch wir kurz
und gut die kommunistische nennen wollen, war die Einverleibung
des Opfers ein Hauptbestandteil seiner Gemeinschaft mit den Ver-
ehrern des Gotteslammes, die Wiederholung der Abendmahlsfeier
Die Apsis der Basilika 2 1 1
die höchste Bestätigung seiner Zugehörigkeit zu den erwählten
Scharen. Der Tisch des Herrn tritt dann an die Stelle als greif-
bares Substrat, auf dem sich die unmittelbare Berührung mit dem
ewigen Werte vollzieht, wie das Taufbecken im Baptisterium, wo
die Einverleibung des Neophjrten in die Gemeinde der Heiligen
stattfand. Später, als das erlösende Opfer vom Priester allein dar-
gebracht und empfangen ward, erweitert sich auch der Abstand des
gewöhnlichen Mitgliedes von der haptischen Zone zur optischen
Region. Das Meßopfer am Altare fordert nur die Anteilnahme an
den sichtbaren und hörbaren Ausdrucksmitteln des Vorgangs; eine
reifere Auffassung mochte den Vorgang völlig in das Innere des
Gemüts verlegen; aber das war schwerlich die des Volkes. Von
den Verhältnissen der primitiven Zeit darf niemals abgesehen werden,
wenn es gilt, den Zusammenhang des Kunstwollens der altchrist-
lichen Gemeinden mit dem der allgemeinen Kultur des Römer-
reiches zu verstehen. Die Kunsttradition mußte von der Heiden-
welt wie vom Judentum auf sie übergehen, wenn jene auch die
bildenden Künste, dieses die poetisch-musikalischen bevorzugt hat.
Wer sogleich zu dem vorgerückten Zeitpunkt übergeht, da das
Christentum Staatsreligion wurde, der verkennt nicht allein die Ver-
schiebung des Niveaus, die sich eben damit ereignen mußte, son-
dern gibt auch die wertvollen Residuen selbstschöpferischer An-
läufe preis, die notwendig durch diese Krisis hindurchgerettet wurden,
und deren künstlerischer Niederschlag zweifellos sowohl bei juden-
christlichen Gemeinden, wie inmitten der hellenistischen Kultur
vorhanden war.^) Solange die griechische Sprache auch in der
römischen Gemeinde vorherrscht, darf dieses gemeinsame Erbteil
gewiß auch hier nicht unterschätzt werden, und durch die Verlegung
der Kaiserresidenz nach Byzanz bekommt es erst recht wieder die
Oberhand. Das beweist die weitere Entwicklung des Zentralbaues
und seine Verbindung mit der Basilika deutlicher, als irgendein
erhaltenes Zeugnis sonst es vermöchte.
I) Vgl. Felix Witting, Die Anfänge christlicher Architektur, Strafiburg 1902,
dem jedenfalls das Verdienst zukommt, die Genesis der altchristlichen Basilika ein-
mal wieder von innen her gesucht zu haben, wenn auch ästhetische Prinzipien und
praktische Zwecke noch in dem Erklärungsversuch unvermittelt nebeneinander her-
laufen.
14*
XV.
LANGBAU (BASILIKA) UND ORGANISATION
Die Apsis als Zentralstelle für die Gegenwart des unsicht-
baren Gottes der Christenheit macht auch die Basilika, d. h. die
Konigshalle oder den Audienzsaal des Basileus, geeignet zur Adop- |
tion für den Gottesdienst der altchristlichen Gemeinde, mag diese
Eingewöhnung sich schon in der Privatbasilika der Wohnhäuser,
oder in der Herrichtung anderer Säle für den neuen Zweck heraus-
gebildet haben. Die Ähnlichkeit mit dem Saalbau der Diadochen-
paläste und ihren weiteren Abkömmlingen im Römerreich gab dem ^
christlichen Gotteshaus den Namen, wie der Basilica forensis, von
der man es unmittelbar herzuleiten versucht, wo es gilt, sozusagen
auf dem römischen Boden zu bleiben.^) Ein überdachter Hofraum
war die Königshalle in der alexandrinischen Welt gewiß ursprünglich
ebenso, wie .die Markthalle mit angehängtem Richtertribunal es
war und bleiben durfte. Das gemeinsame Merkmal aller drei Hallen-
formen ist jedoch im Grunde nur der entscheidende, nicht variable
Bestandteil mit dem Träger der Dominante an der Zentralstelle,
nämlich die Tribima oder Apsis, nicht der Sammelraum, an den
sie sich anschließt, der sich aber seinerseits nach der besonderen
Aufgabe verändern mag. Bei der Markthalle ist es gleichgültig,
welche von beiden Richtungsachsen durch ihre Länge das Über-
gewicht bekommt: der Verkehr der Leute und die Verteilung der
wechselnden Grruppen steht in keiner dauernden Beziehung zum
Richterstuhl, der an einer Langseite ebenso gut wie an einer Quer-
seite angesetzt werden kann. Die Markthalle selbst kann alle übrigen
Seiten dem freien Zutritt offen halten, die geschlossene selbst ihre
Eingänge überedl anbringen; denn sie ist nur ein überdachter Platz
i) Vgl. neuerdings AI. Riegl, Zur Entstehung der altchristlichen Basilika im
Jahrb. d. K. K. Zentralkommission für Kunst- und historische Denkmale. Bd. I.
Wien 1903. S. 195 ff.
Marktbasilika — Prozessionstempel 213
zum Kommen und Gehen, zum Zirkulieren imd Herumstehen, wie
der offene Markt, die Loggia mit einer geschlossenen Seite, oder
die Borsenhalle. Wichtiger bleibt die ausgesprochene Tiefenrichtung
schon für den Empfangsaal im königlichen Palcist, wenn der Ein-
zug von Gesandtschaften und die Audienz beim Monarchen sich
eindrucksvoll gestalten soll; denn d^zu gehört ein beträchtlicher
Abstand zwischen Zugang und Endziel, ein bequemer Spielraum
mit ausgeprägter Tendenz auf den Höhepunkt aller Beziehungen.
Ganz unbedingt gefordert wird jedoch die Vorherrschaft der Länge
bei der Basilika für den christlichen Gottesdienst Sie ist kein be-
liebiger Versammlungsraum, nicht für feste Ordnung im Stehen
oder Sitzen um einen Mittelpunkt wie zur Beratung oder Ver-
handlung, nicht für imgebundenes Herumgehen, Begrüßen imd
Schwatzen wie die Marktbasilika, die sich der Straße anbequemt
Man braucht nur den Gesamteindruck einer altchristlichen Basilika
von außen auf sich wirken zu lassen, um schon da zu erkennen,
daß das Richtungsmoment nicht nur nicht gleichgültig, sondern
evidente Hauptsache des Innern sein muß.
Schon der Vorhof bedeutet eine Verlängerung der Richtungs-
achse, wie er andererseits unzweifelhaft erkennen läßt, daß wir den
Ursprung der ganzen Anlage viel eher im orientalischen oder helle-
nistischen Wohnbau, als im öffentlichen Profangebäude, des ge-
schäftlichen Handels imd Wandels, zu suchen haben. Sonst würde
auch eine Erinnerung an den ägyptischen Wallfahrtstempel gewiß
eher am Platze sein, besonders an die Verbindung der beiden Be-
standteile, des Vorhofes unter freiem Himmel mit Säulenreihen an
der Innenseite der Umfassungsmauern und des überdachten Innen-
raumes mit seinem korridorartigen Säulengang in der Mitte. Ge-
rade dieser Vergleich muß aber jeden Versuch, auch den zweiten
Teil wie einen Versammlungsplatz aufzufassen, gleich dem ersten, als
einen unkünstlerischen Einfall erweisen; denn das wäre eine Wieder-
holimg desselben Motivs, die hier, wo das Ganze schon mit der
Apsis am zweiten Raimi abschließt, erst recht ungeschickt gewesen
wäre. Solchen Pleonasmus mochte sich der lange Prozessionstempel
wie eine Jahrmarktsgasse gestatten, weil er seinem andersartigen
psychagogischen Zweck entsprach; für die fortgeschrittene Ver-
geistigung der spätrömischen Kultur, ja für die Verfeinerung der
Ansprüche schon wäre er undenkbar. Das Gemeinsame mit dem
ägyptischen Tempel bleibt aber gerade der durchgehende Pro-
zessionsweg, den der ganze Gebäudetraktus der christlichen Basi-
214 XV. Langbau (Basilika) und Organisation
lika ebenso, vom engen Eingang in der Hofmauer bis zum Ab-
schluß, den der Blick nicht mehr absieht, schon von außen verkündet.
Gerade diese Lebensachse des Organismus zu eliminieren be-
strebt sich die neueste Theorie, die uns die Entstehung der alt-
christlichen Basilika erklären wilP) und zwar durch den Vergleich
mit dem überdachten Hofraum der Markthalle. Der Vorhof unter
freiem Himmel ist solche Anlage zur Sammlung vor dem Eintritt.
Bildete schon der antike Portikus einen Gang, der womöglich
nach allen Seiten, mindestens aber nach einer Seite mit einer
Säulenreihe durchbrochen war, so haben wir nun solche Gänge ring^
um den offenen Platz, an den abschließenden Mauern entlang.
Sollten im antiken Portikus vielleicht vorwiegend die Säulen, d. h.
die Reihe „begrenzter, tastbarer, stofflicher Individuen** wirken,
so kam hier unter dem schrägen Pultdach gewiß noch der Schatten-
saum in Betracht, der mit den Arkaden zusammen den hellen freien
Platz, wie eine Bordüre den einheitlichen Teppichgnmd, umzog.
Im Sonnenschein glänzte das Wasser des Brunnens inmitten der
belichteten Fläche. Unwillkürlich aber gewann die dem Ein-
tretenden gegenüberliegende Säulenhalle jenseits des Kantharus
den Charakter der Schauseite, im Verhältnis zu den beiden Portiken
links imd rechts den Wert der Dominante. Hier zog die Schatten-
folie hinter der Säulenreihe den Blick schon vorbereitend in die Tiefe,
wo in der Schlußwand sich die Pforten des Innern offnen.
Überschreiten wir die Schwelle, so enteilt unser Blick notwendig
in der gedämpften Beleuchtung der Basilika bis an das Endziel im
Grunde; denn auch hier fliehen zwei Säulenreihen links imd rechts,
wie draußen auf die Vorhcdle, nur länger und deshalb für das ent-
langgleitende Auge in schnellerer Folge der Einzelglieder zusammen
auf das Mittelstück, die Tribima, die diesen Richtungsblick abfangt,
sozusagen zurückstaut, bis er abermals vorzudringen versucht Wir
würden gewiß zu weit gehen, wenn wir diesen unaufgefordert sich
einstellenden Richtungsblick zur Orientierung, vom Eingang auf
das Endziel hin, schon im Sinne des modernen Obei^ewichts op-
tischer Auffassung und malerischer Anschauungsweise dahin aus-
beuten wollten, im altchristlichen Innenraum seien schon die spe-
zifischen Absichten der malerischen Perspektive verfolgt worden.
Es ist gewiß richtig, wenn gegen eine solche Interpretation Ver-
wahrung eingelegt wird. Nur muß man mit dem Einspruch nicht
i) Ricgl a. a. O. 1902, S. 208 f. Vgl. Spätrömische Kunstindustrie S. 28—35.
Vorhof und Langhaus 215
wiederum nach der anderen Seite zu weit gehen und die natürliche
Wirkung auf das menschliche Sehorgan, d. h« die faktische Per-
spektive wegleugnen wollen, die sich bei dem gewöhnlichen Ab-
stand der Tribuna vom Eingang notwendig und zwingend einstellt»
und stets mit einer gewissen geistigen Perspektive verbindet, die
wir auch beim ägyptischen Tempel trotz der Querbauten immer an
der Leitungsbahn des vorgeschriebenen Weges erleben. Nur eine
malerische Perspektive, die den Innenraum als solchen durch einen
Ausschnitt aus dem imendlichen Räume täuschend zu erweitem
sucht, haben wir in der altchristlichen Architektur gewiß nicht zu
erwarten, es sei denn, daß sie uns selbst imleugbar darauf anwiese.^)
War der Vorhof im Crrunde „nichts anderes als eine Komposition
von vier Säulenhallen, die sich nach einem gemeinsamen freien
Platz öffneten*' (R.), so kann von der Basilika nicht mehr dasselbe ge-
sagt werden. Durch die Säulenhallen, die zur Tribuna hinleiten,
kommt das Richtungsmoment hier zum entscheidenden Übergewicht.
Es gelangt zunächst „in der Korridorform der Seitenschiffe imd in
deren überragender Länge gegenüber der Breite" zum Ausdruck,
aber keineswegs ^künstlerisch einzig und allein". Daß „der Römer
der Kaiserzeit im Mittelschiff der Basilika bloß die abschließenden
Wandebenen, nicht aber den von ihnen eingeschlossenen Raum ge-
sehen habe", brauchen wir doch wohl nicht zu glauben, und noch
weniger, daß er an dem Raum, der vor ihm lag, vorbeigesehen
habe, weil — „eben weil der monumentale Abschluß nach oben,
die Wölbdecke, fehlt". ^ Die Basilika war, wird uns kurz gesagt,
nur „eine Kombination der Apsis mit zwei Säulenhallen und einem
Hofe dazwischen" (209). „Das eigentlich Vorhandene sind demgemäß
die beiden Seitenschiffe; das Mittelschiff ist bloß gleichsam Relief-
grund" (210; aber von wo gesehen?), — „architektonisch ein Nichts,
ein formloser, leerer Raum und nur provisorisch überdeckt" (210).
Die letzte Folgerung lautet denn auch dahin: „das Mittelschiff ist
aus der Zahl der künstlerischen Faktoren überhaupt zu streichen" (214).
Und fragen wir erstaunt, wie das möglich sei, so erhalten wir
die Antwort: „das künstlerische Element der altchristlichen Basilika
i) Die Beliebtheit perspektivischer Bravourstücke schon in der Wandmalerei
Pompejis und in der eingelegten Arbeit der Basilika des Junius Bassus, wie Santa
Costanza, bis in die allerunpassendste Stelle, die Fußböden, sollte doch absolute
Leugnung perspektivischer Anwandlungen verbieten. Der Einwurf Riegls gegen
Witting, visuelle Werte dürften in altchrisüicher Zeit nicht mitspielen, ist deshalb
selbst sehr gewagt.
2) A. Riegl, Spätrömische Kunstindustrie S. 29.
2i6 XV. Langbau (Basilika) und Organisation
bildeten noch immer hauptsächlich die Säulen. Nicht der Blick vom
Mittelschiff aus gegen die Apsis, sondern der gerade Draufblick
von einem Seitenschiffe aus quer über den überdeckten Hof hin
nach der Front des anderen Seitenschiffes mit ihren Säulenreihen
und Malereien an der Wand darüber war es, der die künstlerische
Wirkung des Langhauses bedingte" (208). Bis wir zu diesem Stand-
punkt gelangen, müssen wir aber schon einigermaßen ins Innere
vorgerückt sein und haben „die erste Wahrnehmung, die sich dem
Besucher einer christlichen Basilika sofort aufdrängt,'' schon hinter
uns gelassen, nämlich den „bestimmten Eindruck der Symmetrie
und der Ebene," der dadurch entsteht, daß „die Höhe und Breite
des Mittelschiffes in ein wohltuendes Gleichmaß zueinander gebracht
sind." Wenn wir dort am Eingang angesichts des Hauptraumes
vor ims urteilten: „wie enge hängt die christliche Basilika noch mit
gprundsätzlichen Anforderungen des gemeinantiken KunstwoUens
zusammen, so lehrt uns der Anblick der Seitenwände dagegen eine
starke Abweichung von diesen Grundsätzen."
„Abgesehen von der oberflächlichen, auf flüchtigen Femblick
berechneten Bildung aller Details, gewahren wir über den Säulen
eine Mauer, über der Mauer eine Flachdecke, ohne daß zwischen
diesen einzelnen Reihen eine passende Verbindung hergestellt wäre.
Die Einschiebung der Mauer zwischen Säulen und Decke bedeutet
allein schon eine Zerreißimg des notwendigen Zusammenhangs
zwischen Stützen und Decke: zum bezeichnenden Unterschiede
gegenüber dem griechischen Säulenhause. Es ist, als ob man es
geflissentlich darauf angelegt hätte, alle Versinnlichimg eines
Kausalzusammenhangs zwischen den Teilen aus dem Wege zu
räimien" (31). „Und diese Aufhebung aller tastbaren Verbindung
zwischen den Horizontalgliedem hat zur Folge gehabt, daß jener
Eindruck der Notwendigkeit imd des innigen organischen Zusammen-
hangs aller Teile, den die klassische Kunst von der Komposition
verlangt, in der altchristlichen Basilika so gut wie verloren ge-
gangen ist''
Aber vergessen wir nicht: die Anforderungen, die hier gestellt
werden, sind von dem monumentalen Tempelstil hergenommen,
und die altchristliche Basilika entstammt vielmehr dem Wohnbau,
bei dem solche Formensprache gar nicht angebracht war.
Und wer da behauptet, das Langhaus der Basilika sollte absichtlich
nicht monumental behandelt werden, wie der Mysterienraum als
solcher es forderte (R. 205), der darf solchen Anspruch auch an das
Das Mittelschiff 217
Verhältnis der Teile gar nicht stellen. Andrerseits aber kann es sich
nicht allein um ein Negatives handeln, d. h. um die nur verneinende
Aufhebung des Zusammenhanges; es muß vielmehr in dem Neuen
auch etwas Positives gewollt sein. Was wird vermieden mit der
spielenden Bekleidung, die keine strenge Struktur, kein zwingendes
Ineinandergreifen von unten bis oben darbietet? Die Monumental-
architektur, die den Ausgleich von Kraft und Last hervorhebt,
nimmt auch den Menschen, der darin wandelt, in den Ausdruck
ihres y,organischen*' Zusammenhanges, ihrer zwingenden Kausalität
gefangen; sie notigt ihn, einzugehen auf ihr tektonisches Gefuge
und ihre plastische Gediegenheit. Das wollen diese Wände nicht.
Wo aber der letzte Rest tastbarer Verbindung abgestreift ist, da
konnte die neue Ordmmg nur optisch vermittelt werden, und was
der schweifende Blick auf diesen Wänden gewahrt, ist rhythmische
Gliederung.*) Sie setzt ein bei „dem raschen Wechsel der dich-
gestellten Säulen mit ihren Interkolumnien'', beherrscht den Licht-
gaden ,4n der durchbrochenen Reihe von Fenstern." Und beruht
sie nicht endlich auf dem durchgehenden Kontrast der dunkleren
Seitenschiffe hinter den Arkaden und dem lichtdurchstromten Ober-
gaden in der Mitte darüber? Sind das aber nicht lauter Faktoren,
die nur im großen Saalbau des Hauptschiffes zur Geltung kommen?
Und dieser sollte aus der Zahl der künstlerischen Faktoren über-
haupt gestrichen werden? Und zwar eigentlich nur deshalb, weil
er ein Raum ist, der wie die Behandlung aller Details doch auch
seinerseits für den ,JFemblick" berechnet sein muß, also als Raum-
ganzes, als Tiefraum fungieren soll, und zweitens, weil er nur mit
einer Holzdecke nach oben abgeschlossen wird, also kein monumen-
taler Innenraum sein kann und sein will. Wenn nun aber diese
bescheidene Holzkonstruktion, sogar der offene Dachstuhl, dessen
quergelegte Balken wir uns gewiß auch in polychromem Schmuck
wie die Wände, ja in kaiserlichen Prunkbauten wohl ganz vergoldet
vorstellen dürfen, wie noch Theodorichs Hofkirche S. Martino den
Beinamen „in coelo aureo" vom goldenen „Gehimelze" führt, wenn
nun gerade diese Deckenform der rh3rthmischen Gliederung der
unteren Horizontalstreifen, ja dem schnellen, vielleicht gar flim-
mernden Wechsel von Hell und Dunkel, Goldglanz und Schatten-
tiefe, d. 1l dem ausgesprochenen Geschmack der Zeit entsprach,
i) Irreführend ist Riegls Bezeichnung „koloristisch" besonders Spatrömische
Kunstindustrie S. 31«
2i8 XV. Langbau (Basilika) und Organisation
den wir freilich nicht koloristisch nennen mögen, aber als eminent
optisch, auf ungreifbaren Augenreiz erpicht bereitwilligst an-
erkennen.
Zeigt das positive Ergebnis, das wir hervorgelockt haben, nicht
überzeugend, daß jene andere Erklänmg, die von der Basilika nur
die Seitenschiffe gelten lassen und das Mittelschiff architektonisch
gefaßt wie ein Nichts einschätzen will, sich selber ad absurdum
fuhrt, jedenfalls aber nicht imstande ist, dem KimstwoUen, das sich
im Ganzen ausspricht, auf dem eingeschlagenen Wege gerecht zu
werden? Der richtige Ausgangspunkt liegt an dem Anfang, den wir
für alle architektonischen Schöpfungen aufgestellt haben. „Der
Langbau ist für die Bewegimg des Menschen in seinem Innern ge»
schaffen," weiß auch Alois Riegl (S. 28). ,3^wegung bedingt aber
Verlassen der Ebene [das soll doch wohl die Vertikalebene sein,
in der sich das Subjekt befindet, die es also hinter sich läßt?], be-
dingt Berücksichtigung des Tiefraumes, Hinaustreten der Individua-
lität aus sich selbst, in Verkehr mit dem Räume." Das sind also
lauter Bedingungen, die im Wohnbau der Vorvergangenheit immer
gegolten hatten, aber auch im Tempelbau, der Agjrpter wenigstens,
schon vollauf verwertet waren. Es ist der antiken Kunst, solange
sie nicht die plastische Monumentalität und damit die Be-
harrung zu ihrem Ideal erhebt, auch niemads beigefallen, in der
Ortsbewegung des Menschen einen Widerspruch zur Architektur
zu erblicken, und diese Bedingung ihrer Aufgabe gar „zu über-
brücken oder zu verschleiern.'' Ihre Raumgestaltimg spricht schon
in den Säulenreihen eine offenkundige Anerkennung des Bewegungs-
elementes aus und nimmt die rhythmische Abfolge von vornherein
in ihre Gesamtökonomie auf.
Nur wer im Vorurteil des Monumental- oder Materialstils be-
fangen ist, vermag auch mit dem Prinzip der Bewegung im Lang-
bau nichts anzufangen; denn er urteilt immer von dem festen Stand-
punkt des Mals allein. Aber auch schon von diesem Standpunkt muß
der Unterschied einleuchten. Ist denn im Langbau noch die Verti-
kalachse des Monuments die entscheidende Dominante des Ganzen?
Nein; denn der Dachfirst bietet uns eine fortlaufende Horizontale,
die zustande kommt wie das Dachgezimmer aus der Wiederholung
seiner Dreieckrahmen, d. h. durch Aneinanderreihung aufrechter
Einheiten. Die Dominante der Basilika ist die liegende Horizon-
talachse, die von der Giebelfront der Eingangsseite bis zum Triumph-
bogen der Apsis weiterrückt. Für den eintretendon Menschen, der
Rhythmische Gliederung 219
auf dem Boden entlang geht, liegt diese Bewegungsachse zwischen
dem Hauptportal und dem Hochaltar, und erst an der Schwelle
des Allerheiligsten steht die Vertikalachse eines 2^ntralbaues, eben
als Höhenlot der Apsis unmittelbar vor ihm, so daB er zu ihr
aufblickt.
Kehren wir also zur Schwelle zurück, die wir aus der Vor-
halle eintretend überschritten haben. Da kommt auch einem Ver-
ehrer der absoluten Ebene um jeden Preis wohl das Gefühl zum
Bewußtsein, daß die lebendige Bewegung des Menschen das Er-
klärungsprinzip ist, das sich unmittelbar aufdrängt „Das Mittel-
schiff der christlichen Basilika ist begleitet von Säulen,'' gesteht
er sich, ,ydie so eng gestellt sind, daß sich darauf eine übersichtliche
Einteilung der Bodenfläche nicht begründen läßt" Und wenn nun
vollends über diesen Säulenreihen, die den Beschauer links und
rechts begleiten, an der Obermauer in Mosaikmalerei eme Prozession
von Heiligen zu sehen ist, wie in jenem S. Martine in coelo aureo
zu Racvenna, so bedeutet diese Darstellung doch wohl das künst-
lerische Bewußtwerden des RaumwoUens auch in der Wanddeko-
ration, und zwar bis zur Nachahmung im Bilde gesteigert, wie es
nicht gerade den Anfangen des Architekturschaffens zu entsprechen
pflegt. Ein Blick auf das Wandgetäfel der Basilika des Junius
Bassus, die einst auf dem Esquilin stand, leitet uns zurück ins Jahr
317, und die zylindrische Obermauer des Kuppelraumes von Santa
Costanza wiederholt um 326 — 29 das nämliche Motiv der Triptychon-
gliederung sogar für den Zentralbau. Das eine ein heidnisches,
das andere ein christliches Bauwerk unter Konstantin, bestätigen
beide, daß die Abtragung des rhythmischen Daherwallens durch
den Raum oder des Kreisens um das Zentrum auch für die optische
Suggestion in jener Zeit das Maßgebende war, sogar bei sonst
monumentalen Absichten.
Die Prozession der Heiligen zum Thron der Höchsten, Marias
hier, Christi dort, wiederholt in den Männern auf der einen, den
Frauengestalten auf der anderen Seite, nur in höherer Region imter
den Auserwählten, was im Erdgeschoß desselben Raumes an fest-
lichen Tagen von den Mitgliedern der Gemeinde selber vollfuhrt
ward. Ein weiteres wertvolles Zeugnis, das uns wieder zurück-
leitet auf die Anfänge, gewährt uns noch der Codex Rossanensis
(aus dem Anfang des 6. Jahrhimderts) in seinen Darstellungen nach
dem Abschiedsmal mit dem Osterlamm. Sie geben ims beachtens-
werte Auskunft, wie wir die Feier der Kommunion als kirchliche
220 ^^* Langbau (Basilika) und Organisation
2^remonie zu denken haben. Da steht Christus einmal links mit
dem Brote und die Jünger nähern sich ehrfurchtsvoll einer nach
dem anderen, um in gebeugter Haltung den Bissen zu empfangen.
Auf dem anderen Blatte steht Christus rechts mit dem Kelch imd
der Zug bewegt sich ebenso gemessen auf ihn zu, indem ein Jünger
auf den anderen wartet, bis der erste vom Weine getrunken hat
und der folgende an die Reihe kommt Dies Vorbild der Apostel-
schar auf eine grofie Gemeinde angewandt, ergibt schon eine an-
sehnliche Längenausdehnung des erforderlichen Raumes, wenn der
fungierende Bischof an der Schwelle des AUerheiligsten stand, und
die Prozession der Männer hier, der Frauen dort, die in zwei Zügen
durch die Mitte des Langhauses zum Tisch des Herrn geschritten
waren, mochte ihren Rückweg getrennt nach links imd rechts durch
die Abseiten nehmen. So war die Teilung des Saales in drei
Schiffe willkommen, und die Erweiterung der Abseiten aus engen
korridorartigen Gängen um so selbstverständlicher angezeigt, je
größer die Zahl der nicht selber beteiligten Angehörigen war, die
andächtig zuschauend in den sonst verfügbaren Zwischenräumen um
die Säulenreihen herumstand« In ganz großen HauptbasUiken
mochte die Spende des Sakraments, später besonders, als der Aus-
bau des Hochaltars und der Chorschranken sich fester gestaltete,
ganz in die Seitenräume verlegt und deshalb die Zahl der Schiffe
von drei auf fünf vermehrt werden, wie in St Peter zu Rom oder
S. Paolo fuori le mura. Was sich für das feierliche Begängnis des
Abendmahls ausgebildet hatte, ward natürlich weiter bestimmend
für die übrigen Vorgänge beim Gottesdienst^). Für das Meßopfer
war es vollends erwünscht, daß der Ankömmling sich alsbald beim
Eintritt über den Stand der Funktionen am Altar orientiere; oder
bei der Predigt vom Bischofstuhl, bei der Verkündigung des Wortes
vom Lektorium her machte sich als Haupterfordemis geltend, daß
die Stimme möglichst weit imd ungebrochen in den Raum hinaus-
dringe. Mit der Steigerung des Mysteriösen und der Unnahbarkeit
des AUerheiligsten schiebt sich zwischen Eingang und Endziel eine
Reihe von Abstufungen des Annäherungswertes ein, die in der Zu-
i) Vgl. Felix Witting, Die Anfange der christlichen Architektur; Gedanken
über Wesen und Entstehung der christlichen Basilika; Straßburg 1902, wo auch die
Vorbereitungen des Liebesmahles schon mit hineingezogen werden. Damit aber ver-
fallt die Erklärung, die sonst mit inneren Motiven rechnet» auf praktische Bedürf-
nisse zurück, die doch wohl zu transitorische Bedeutung haben, um so entscheidend
wirken zu können.
Langhaus und Apsis 221
lassung der Katechumenen an den Türen und der Ausschließung
der Büßer vom geweihten Innenraum ihren folgerichtigen Ausdruck
findet Einer noch späteren, für unseren Zweck aber kaum noch in
Betracht kommenden Phase der hierarchischen Entwicklung gehört
dann die Verlängerung des Altarraumes durch den Sängerchor mit
seinen Schranken und Ambonen an, d. h. eine Gegenbewegung
oder doch ein Gegendruck vom Preb3rterium her in den Gemeinde-
raum, ein Widerspiel, das für die fernere Geschichte des Kirchen-
baues die größte Bedeutung erlangt hat Hier aber, wo es sich
nicht um die historische Erklärung, sondern die ästhetische Betrach-
tung der Basilika handelt, fuhrt uns dies allbekannte Symptom
der dynamischen Wirkung, aus der Tiefe der Apsis hervor, zu
unserem Ausgang, d« lu zur Bedeutung dieses monumentalen Kernes
in der ganzen Raumkomposition der altchrisüichen Kirche zurück.
Denken wir das Langhaus zunächst als Bewegungsraum für
die Gemeinde auf die Zentralstelle zu, so muß bei der Berührung
an den Stufen des Altars notwendig ein beruhigter Stillstand, bei
stärkerer Spannung zwischen beiden Kraftpolen aber ein lebhafter
Zusammenstoß eintreten und damit eine Verteilung der Massen in
die Breite, nach links und nach rechts sich von selbst ergeben.
Das alles sind Vorgänge der Aktivität, die zwischen den beiden
Hauptfaktoren, der Gemeinde hier, der Priesterschar dort, zum
Austrag kommen; sie knüpfen sich selbstverständlich an die ver-
schiedenen Funktionen des unmittelbaren Verkehrs, und damit mehr
oder minder an die Ortsbewegung. Über ihnen allen aber waltet
die geistige Beziehung. Über allem Getriebe des kirchlichen
Lebens, ja vollständig erst recht über der vielköpfigen Versamm-
lung, die der Geist des Evangeliums einmütig durchdringt, beharrt
demgemäß der Raum, als bleibende Fassung dieses Verhältnisses.
Das Langhaus ist ein Kollektivraum, der eine Menge von Indivi-
duen zusammenfaßt zur Gemeinde, und diese findet ihren Zielpunkt in
der Vertikalachse der entgegenkommenden Apsis mit deren Inhalt
Ist der Gemeinderaum gedrängt voll, so geht über alle Köpfe hin-
weg die einheitliche Zusammenfassung, und diese Einheit ist zu-
nächst wieder eine Richtungseinheit, die das Anüitz und die Per-
son jedes Gemeindegliedes auf das gemeinsame Ziel hinlenkt Aber
die Priesterschar ist gegen die Gemeinde zu gekehrt imd vereinigt
sich schließlich mit ihr, an jenem verbindenden Mal, zum gemein-
samen Aufblick. Dort erst liegt die höhere Einheit, deren Be-
deutung durch. seiüiche Erweiterungen, die aussetzende Gliederung
222 ^V. Langbau (Basilika) und Organisation ['
in einem Querhause, das zunächst nur Intervall ist, erst recht
hervorgehoben und erwartungsvoll gesteigert wird, wie durch eine
Kunstpause.
Blicken wir vom Eingang über die Kopfe der Versammlung
hin, so erscheint ihr gemeinsamer Geist in den Bildern der Apsis-
wolbung oder in dem einfachsten Symbol, dem Lamme, dem Kreuz,
der Taube, sozusagen reflektiert Was diesen Erscheinungen enU
gegenwartet in allen, findet seinen Ausdruck nicht sowohl in der
Wandelbahn zwischen den Säulen oder in der alternierenden Reihe
der Körper und der Intervalle, nicht in der Gliederung der Ober-
mauem, wo andere Bilder sich hinziehen mögen, wohl gar die
Scharen der Seligen über den Lebenden gegenwärtig sind und
teilnehmen an ihrer Richtungseinheit, auf das Ziel hin, — sondern
erst recht in der letzten Region, die sich horizontal unter der
flachen Decke oder dem schattenden Dach erstreckt Es ist der
Lichtgaden mit seinen Öffnungen für den Einfluß der Weite, der
Unendlichkeit draußen und ihrer Sendboten aus der Hohe. In dieser
rein optischen Region wohnen die Gedanken, die Wünsche,
das Erlosungsbedürfhis und die Sehnsucht der Gemeinde, wohnt
ihre Seele als Inbegriff der ganzen Verbrüderung. Das ist der
Idealraum, der dem höchsten Ausdruck der geistigen Zusammen-
fassung gewidmet ist Hier mag sich bei hellem Tageslicht noch
einmal der feierlich einherwallende Zug der hellen und der dunk-
leren Wellen wiederholen; aber alles Körperliche, die leibliche
Mitwirkung des einzelnen auch als Glied des Ganzen, hört auf und
löst sich in schimmernde Bewegung durch den Luftraum. Nur
schemenhaft stehen zwischen den Fenstern die hochheiligen Zeugen,
an denen der Schein vorüberschwebt Der Reflex, der Decke, als
horizontaler Grenzebene, oder der Balkenreihe, mit dem Schatten-
raum des Daches dahinter, gibt nur den sichtbaren Abschluß, oder
wenn man will, noch einmal den gedämpften Taktschlag für den
Bewegungszug. Im Dunkel der Abendfeier jedoch stimmt sich
dieser Lichtraum über den Häuptern anders, vom Widerschein der
sinkenden Sonne bis zu den ergrauenden Schattenlagen, die sich
auch über die Fenster senken, und zum schwarzen Schleier der
Nacht, dem gegenüber drunten der Kerzenflimmer entflammt imd
alle Augen auf sich zieht Immer ist der Obergaden im Bewußt-
sein der Versammelten, wenn auch für das Auge verfinstert, ein
regelmäßig begrenzter Raum, in dem sich die drei unteren Lang-
räume oder die beiden Hälften des Ganzen links und rechts von
Lichtgaden und Durchblick 223
der mittleren Richtungsachse, zusammenfassen, zu dem sie auf-
steigen, wie die Hälften unseres Leibes zu ihrem Haupt, der einheit-
lichen Dominante des Ganzen.
Zu den gewöhnlichen Tageszeiten des Kirchenbesuchs dringt
jedoch der Blick vom Eingang unten gegen die Apsis hinten
diagonal durch die ganze Länge und steigt so von der unteren
Region der Säulen in unserer Nähe zur glatt verlaufenden Wand
der Obermauer und zur dritten Höhenlage, dem Lichtgaden, auf,
um in der Tiefe der Halbkugelwölbung zu münden, oder an der
Stirnfläche des Triumphbogens sich auszubreiten, wo uns ein Anhalt
für das innere Schauen in einem sinnfälligen Bilde entgegenkommt
Das künstlerische Element der altchristlichen Basilika bilden nicht
mehr ausschließlich die Säulen, so unentbehrlich sie auch unten für
die unmittelbar körperliche Aufnahme der Ortsbewegung und
deren rhythmischer Begleitung oder gar Regelung bleiben. Ober
sie hinaus fuhren die beiden oberen Zonen, die flächenhafte, nicht
mehr körperlich tastbare, sondern nur vom Auge vermittelte De-
koration der Obermauer, die dem entlanggleitenden Blick keine
hinderlichen Vorsprünge entgegenstellen darf, und der Lichtgaden,
in dem die Intervalle, als Lichtöffnungen, die positiven und die
Wandflächen dazwischen, nur als Fortleiter des kontinuierlichen
Verschlusses, die negativen Faktoren oder genauer die Hebungen
und Senkungen des d3mamischen Rhythmus bilden. Die Flach-
decke nimmt mehr das Wesen der geschlossenen Ebene, d. h. der
Obermauer oder des Fußbodens auf; das offene Sparrendach mit
Querbalken zwischen beiden Wänden wiederholt dagegen das Wesen
der Säulenreihen mit ihren Intervallen unten. Damach bestimmt
sich der verschiedene Charakter beider; es sind zwei nebeneinander
vorkommende Lösungen, aber die letztere betont den Sieg des Be-
wegimgsprinzips, auf das hier alles ankommt
Nun tritt auch der Standpunkt, den Riegl als den einzig er-
laubten hinstellen möchte, in sein Recht, oder sagen wir berichtigend
vielmehr: die Reihe von solchen Standpunkten für den entlang-
wandelnden Beschauer, die den geraden Draufblick auf die eine
Seitenwand in ihrer ganzen Höhe gewähren. Und eben der ent-
langschreitende Betrachter findet nicht in einem der Seitenschiffe,
sondern nur in der mittleren Straße zwischen beiden den Zusammen-
hang, die Korresponsion beider Säulenreihen und Wandglieder, die
er sozusagen nachschaffend hüben und drüben symmetrisch setzt
als seine Begleitung und durch seine Blicke in stetem Wechsel
224 ^^* ^^'^^STb^u (Basilika) und Organisation
lebendig macht Das Mittelschiff ist Hauptsache. Hier aber
mag sich bei uns, den klassisch oder gotisch geschulten gleichviel, das
Bedürfiiis regen, die drei Horizontalstreifen auch als Greschosse auf-
zufassen und im Aufstieg der Vertikalen struktiv miteinander ver-
bimden zu sehen. Aber nur die lineare oder die flächenhafte Zu-
sammenfassung in dieser Richtung, nicht die körperlich greifbare,
struktiv-organische, liegt im Sinne der altchristlichen Wanddekora-
tion. Was hier zum Austrag kommen muß, ist wieder die rhyth-
mische Gliederung im Bewegung^zuge, d. h. die Gleichheit der
Abschnitte in allen drei Zonen, wie eine durchgehende Takteinteilung.
Die Interkolumnien unten und die Fenster oben ordnen sich not-
wendig zueinander als korrespondierende Reihen, so daß je eine
Öffnung oben mit einer Arkade unten in eine Vertikalachse fallt.
Demgemäß erweitem sich die Abstände von Säule zu Säule. Aber
die gleichfließende Reihe wird noch nirgends durch stärkere Ein-
schnitte unterbrochen. Es kommt mehr auf die Verkettung der
drei Streifen untereinander, d. h. auf Verbindung zwischen der
Arkadenreihe unten und der Fensterreihe oben, also in der ge-
meinsamen Zwischenregion der Obermauer an, als auf senkrechte
Gliederung vermittels durchgehender Träger für das leichte Dach
oder Deckengebilde. Die Strophenbildung durch zusammenfassende
Gruppen gehört erst einer späteren Entwicklung an, auf die wir
höchstens noch einen kurzen Blick werfen können.
Der leichtgebauten Privat- oder Palastbasilika, deren Wesen
das christliche Gotteshaus beibehielt, weil es dem lebendigen Be-
wegungsprinzip der neuen Religion entsprach, stand, als das
Christentum durch Konstantin anerkannt wurde, im römischen
Reiche die monumentale Basilika gegenüber. Ihr klassisches
Beispiel ist die Maxentiusbasilika am Forum, die in traurigen
Resten nur wenig über den einstigen Raum auszusagen vermag,
aber mit ähnlichen Schöpfungen jener Zeit doch imzweifelhaft
nachhaltige Wirkung ausgeübt hat Ihre drei Bogenhallen sind
heute noch die Brücke zum byzantinischen Kirchenbau für alle, die
Kleinasien nicht kennen.
Der Besucher betrat ein Mittelschiff, dessen Länge in drei quad-
ratische Kompartimente zerlegt ist^) Diese Quadrate werden durch
i) Vgl. hierzu Riegl a. a. O. S. 30, dessen Angaben ich im folgenden berich-
tigen muß, da nicht die optische Betrachtung allein, sondern nur verbunden mit der
Ortsbewegung die richtige Aufnahme des Raums gewährleistet.
*i
■1
Die monumentale (Maxentius-) Basilika ^25
gewaltige Pfeiler mit Riesensäiüen davor scharf markiert mid die aiif
den ersteren immittelbar aufruhenden Kreuzgewölbe, deren Scheitel
genau über dem Mittelpunkt eines jeden Quadrates liegen, zentral
zusammengefaßt Die Grenzen der Bodenfläche zeigen dem Einge-
tretenen sofort die gleichen Abmessimgen der Länge und Breite
des ersten Raumgebildes, und der Durchblick durch die Mitte gibt
die Anweisimg auf die zweimalige Wiederholimg der nämlichen
Große bis zum Abschluß in der Apsis am Ende des dritten Qua-
drates. Die klare Übersicht über den Gesamtvollzug muß beruhigen,
wenn auch zwei von diesen Zentraleinheiten nur perspektivisch in
die erste hineinwirken, und der Verfolg des Weges bis in das
dritte Quadrat gibt nur die Erfüllung des erwarteten Ablaufs.
Was alle drei zur Gesamteinheit verbindet, ist aber nicht „Symme-
trie der Reihung" zu nennen, denn Synunetrie gibt es nur im
Nebeneinander, nicht im Hintereinander. Was das Auge wirklich
sieht, ist nur die Proportionalität der sich verjüngenden Quadrate
an der Bewegungsachse entlang. Der Vollzug durch die Ortsbe-
wegung aber macht aus der proportionierten Reihe den Rhythmus
der räumlichen Entfaltung, den wir in der Perspektive vorausahnen
und im Fortschreiten genießen. Es sind drei festabgegrenzte, in
sich ganz identische Strophen nacheinander. Und der Durchblick
beruhigt und klärt diesen Rhythmus zur Harmonie aller Teile.
Die Dynamik der einfachen Strophe ist hier jedoch gesteigert, in-
dem sich an jedes Quadrat links imd rechts Raumerweiterungen
anschließen, die beim durchwandelnden Subjekt gerade unter dem
Scheitelpunkt des Kreuzgewölbes die größte Wirkimg erreichen,
indem hier die Querachsen der tonnengewölbten Nebenräume sozu-
sagen in ihm zusammentreffen. In voller Weite des Mittelquadrats
selbst öffnen sich diese dunkleren Seitenräume gegen das Haupt-
schiff, das durch Fenster in den Lünetten der Kreuzgewölbe erhellt
ist, und begleiten so den Vorwärtsschreitenden mit zunehmender
und abnehmender Potenz bis an die Schlußecke des Quadrats, wo
die mächtig einspringende Säule den Zusammenhang mit dem Ge-
wölbe aufnimmt, und zwar das schließende Viertel des einen und
das aufgehende des folgenden vermittelt Das Übergewicht der
Breitendimension über die Höhe, das so entsteht, und die drei-
malige Erweiterung am Vollzug der Tiefenachse hin bewirken
wieder großartige Beruhigimg. Dazu kommt die Massigkeit des
ganzen Aufbaues, der Aufwand dauerhaften, undurchdringlichen
Materials, um dem Bewegungseindruck vollends den Eindruck des
Schmariow, KoiutwiMeiucluift. 13
226 ^^' LsLngbau (Basilika) und Organisation
Stillstands entgegenzusetzen. Die klare Kristallisation der Raum-
gruppen macht diese gewölbte Basilika monumental«
Aber eine solche Zerleg^ung des oblongen Raumes in drei
Strophen mußte sofort auch in der christlichen Basilika vorbildliche
Macht gewinnen, als die Apsis sich zum Chor erweitert hatte und,
durch einen zahlreichen, unter sich abgestuften, aber einheitlich
wirkenden Klerus, sich ein mächtigeres Widerspiel der vielköpfigen
Gremeinde gegenüberstellte (Organisation). Der Ausgleich zwischen
beiden Faktoren konnte dann nur in einem Mittelraum stattfinden,
der als Drittes zwischen beiden lag (Vierung der romanischen Basi-
lika). Aber der leichtere Aufbau bestimmte auch ein anderes Tempo
in dem dynamischen Vollzug zwischen beiden Gewalten (Gotik).
Ein anderes Verhältnis bildete sich bald genug in der grie-
chischen Kirche heraus, indem sich der Kaiser als eigenes sicht-
bares Zentrum der Zentralstelle des unsichtbaren Gottes gegenüber-
stellte. Dann wurde die Volksmasse buchstäblich in die Mitte
genommen und in die engeren festeren Grenzen eines Kuppel-
raumes eingeschlossen, der keine freie Bewegung, sondern nur eine
vorgeschriebene Stellungnahme in einfacher Unterordnimg erlaubt.
Bevor diese strenge Zentralisation auch im byzantinischen Kirchen-
bau durchgreift, strebt eine Reihe von oströmischen Versuchen,
das Richtungsmoment der Basilika mit der Geschlossenheit des
Zentralbaues zu verbinden und erlebt ihren höchsten Triumph in
der Hagia Sophia. Noch herrscht in der elliptischen Gesamtform
des Innenraumes die Longitudinalachse vom Eingang bis in die
Apsis. Aber hüben und drüben legt sich ein Halbkreis an das
mittlere Quadrat, eine Halbkuppel dort und eine andere hier an die
auf sphärischen Zwickeln höher aufsteigende Zentralkuppel. Zwei
kleinere Halbkreisöffnungen begleiten, links und rechts radial ge-
stellt, die Apsis am Ende, und ein gleiches Paar nimmt die Loge
des Kaisers über dem Eingang in die Mitte. Zwischen diesen drei-
gliedrigen Gruppen, die in der Kuppel des Quadrates ihre letzte
Einheit finden, erstrecken sich die Seitenwände des Mittelraumes
allein noch in gerader Richtung, der Bewegungsachse durch das
Ganze hin parallel. Im Erdgeschoß imd der Empore darüber
herrscht die einfache Reihung der Säulen, nur in verschiedenem
Maßstab der Teile imd verschiedenem Tempo ihrer Abfolge. Aber
diese Säulenreihen sind schon eingespannt zwischen festen Eck-
pfeilern am Anfang und Ende. Über ihnen beginnt sofort die Zu*
sammenfassung im Bogenfeld zu symmetrischen Gruppen in den
Byzantinische Zentralisation — AuBenbau 2^7
Fensterreihen und Ziergliedem der Fläche bis zur letzten Einheit
in der Kuppel hinauf. Überall sonst waltet das Gesetz der zu-
sammenfassenden Gruppierung' über die fortlaufende Reihung vor,
d. h. das Prinzip der Beruhigung des Zentralbaues über dasjenige
lebendiger Beweglichkeit, dem der Langbau sonst so ausgiebig ent-
sprach. Die Zentralisation unter eine Dominante, wie am Triumph-
bogen Konstantins, die sich schon an der Längswand der Junius-
basilika auf dem Esquilin ganz nebenher angekündigt hatte und die
Triptychenreihe des Wandgetäfels darin, wie im Tambour von
Sa. Costanza, charakterisiert, wird nun zum Hauptgesetz des ganzen
Gebildes. Seitdem ist die drei- oder fünfteilige Gruppe unter einem
beharrenden Höhepunkt das Wahrzeichen der byzantinischen Kunst.
Das nämliche Gesetz der Dreifaltigkeit meldet sich auch am
Außenbau der altchristlichen Basilika an den wenigen Stellen, wo
dieser bedeutsam hervorragen kann aus den einhegenden Umfassungs-
mauern des geweihten Bezirkes. Die Basilika ist kein so plastisches
Moniunent wie der g^echische Tempel, sondern das Haus des
Herrn liegt wie die Häuser der Gläubigen von der Straße zurück-
gezogen, mit der Innerlichkeit seines Wesens dem Getriebe des
Alltags und dem profanen Verkehr entzogen. Die LangseitQ des
Kirchenkörpers kommt fast gar nicht zur Schau. Die Raumkom-
position des Ganzen kann nur als Grruppenbau nach außen treten;
es ist ein Komplex von Körpern, keine Verquickung von Teilen
unter einer höheren Einheit, die als aufrechte Dominante sich er-
höbe, wie beim Monumentalbau der Römer. Nur die Abstufung des
Kirchenkörpers, d. h. die Raumgruppe von zwei Flügeln unter
einer überragenden Mitte, tritt an der Stirnseite heraus, auch diese
aber hängt durch ein Übergangsglied, die Vorhalle, mit einem
weiteren Vorbereitungsstadium, dem Vorhof, zusammen, setzt sich
nicht frei und geschlossen ab, bis zur dreigliedrigen Silhouette, dem
Basilikaschema, der Giebelfront. Erst wenn die Umfassungs-
mauern des ganzen Komplexes fallen, tritt er mit dem Baptisterium
daneben oder gegenüber als lockere Baugruppe in die freie Um-
gebung, an benachbarte Straßen oder ins offene Land.^) Dann
erst bekommt der Glockenturm, der sich inzwischen hinzugesellt,
die Bedeutung eines Mals fiir die geheiligte Oase in der Wüste
der Erdenwelt, das den ausgesonderten Wert auch weit hinaus
i) Wie etwa S. Apollinare in Qasse bei Ravenna, das sicher eingeschlossen war,
wie S. Paolo fuori le mura bei Rom, S. Agnese mit Sa. Costanza.
228 ^V. Langbau (Basilika) und Organisation
verkündet Aber er bleibt die freistehende Dominante eines Kom-
plexes von Baulichkeiten, die wir in ihrer as3rmmetrischen Ver-
schiebung zu ihm imd ihrer ungleichmäßigen Massenverteilung um
dies Mal nicht als plastische, sondern nur als malerische
Gruppe^) anzuerkennen vermögen.
i) Eine solche war auch S. Vitale in Ravenna mit ihrem ursprünglichen Kom-
plex ganz asymmetrischer Anbauten. Vgl. hierzu Schmarsow, Barock u. Rokoko, f
S. 17. Plastik, Malerei u. Relief kunst, S. 127 f. !
XVL
MONUMENTALE PLASTIK
VEREWIGUNG DES KÖRPERS UND VEREWIGUNG DES GEISTES —
DIE STATUARISCHE KUNST IN ÄGYPTISCHER UND IN SPÄTRÖMISCHER
AUFFASSUNG
Langbau und Zentralbau verhalten sich gegensätzlich zueinan-
der wie Bewegung und Ruhe.^) Wer sich darüber klar geworden
ist, sollte auch nach der Ursache fragen, wie das zugeht, und den
Unterschied des Wesens nicht verkennen, auf den sich dieser
gegensätzliche Eindruck g^ndet Langbau ist seinem Wesen nach
„für die Bewegung des Menschen in seinem Innern geschaffen'S er
schließt sich also der Ortsbewegung des Bewohners an, wächst mit
ihr und hört mit ihr auf sich fortzusetzen; aber er schließt nicht
notwendig, sondern willkürlich ab, wie jede willensbestimmte Lebens-
äufierung des Menschen; er kann in jedem Augenblick weiterge-
bildet, in einem neuen S^ück von vom angefangen werden; er
dehnt sich aus imd vervielfältigt seine Gestalt, wie der Mensch mit
seinen größeren Zwecken wächst So eben entsteht die Wohnung
als Fassung und Ausdruck unseres stetigen Lebens, so die ver-
schiedenen Gebäude für profane Bestimmimg, eines ganzen An-
wesens, einer Burg mit Palas, Gesindehaus, Kapelle, Speicher und
Stallung, einer Stadt mit allen Stätten des öffentlichen Gemein-
wesens. Langbau ist also seiner Natur nach der lebendige imd
bewegliche Wohnbau selber. Seine Lebensachse geht horizontal
über den Grund und Boden hin, wie die des vierfüßigen Lebe-
wesens. Als Raumgebilde des aufrecht wandelnden Menschen ent-
steht er durch Wiederholung unseres eigenen Körpervolumens von
Schritt zu Schritt vorwärts. Bannen wir aber den Menschen auf
einen festen Standpunkt, so ist er ein Mal, und es entsteht, wo er
sich mit einem Raumgebilde umgibt, wie wir oben ausgeführt
i) Riegi, Spätrömische Kunstindustrie, S. 15.
230
XVI. Monumentale Plastik
haben, der strenge Zentralbau, das Gehäuse mit aufrechter Vertikal-
achse — das Monument Der Raum, den es enthält, ist auch hier
zunächst das allemotwendigste Volumen für den eigenen Korper,
wie eine stehende Mumienkapsel. Die Ortsbewegimg ist ausge-
schlossen^ also eine Erweiterung nur durch die Bewegung am Orte,
konzentrische Ausdehnung wie beim Atmungsprozefi unserer Brust
oder in der Bildungssphäre des Tastraums möglich. Beharrung und
Bestand heißt der unterscheidende Willensakt, also Ruhe, Starrheit
sein Ausdruck. Zentralbau ist seiner Natur nach Denkmalsbau,
seinem Zwecke nach Verewigungswerk. Aber er verewigt das
Dasein, nicht das Leben; er ist fertig und abgeschlossen, dem
wechselnden Flufi des Entstehens und Vergehens enthoben, des
Leibes Notdurft und Nahrung fremd, also in keinem Zusammenhang
mit der umgebenden Welt, wie die organischen Geschöpfe durch
die Bedürfhisse ihres Stoffwechsels, sondern in Gegensatz zu ihr
gestellt, ihre Aufhebung mit Hilfe der unorganischen Materie, die
länger währt als alles Geborene. Kristallisation ist das innerste
Wesen des Zentralbaues, Organisation das des Wohnbaues. Des-
halb verkündet jener Ruhe, dieser Bewegung.
Es kann also gar nicht die Frage sein, auf welchen von beiden
die Wahl eines bestimmten Volkes falle. Es war nicht allein nicht
ausgeschlossen, daß dieselben Kunstvolker zu gleicher Zeit beide
nebeneinander pflegen mochten, sondern es ist selbstverständlich der
Fall, sowie es überhaupt eine monumentale Baukunst gibt: der
Wohnbau ist notwendig, das Denkmal nicht; der Langbau ist ein
natürliches Ergebnis, der Zentralbau ein willkürliches, die Versinn-
lichung eines Abstrakten, die Verewigung des absoluten Indivi-
duums, das gar nicht existiert, sondern nur eine Ausgeburt des
Menschengeistes ist.
Gibt es einmal Wohnbau und Monumentalbau, Langbau und
Zentralbau nebeneinander, so ergibt sich im geschichtlichen Leben
von selbst ein Ausgleich zwischen beiden, indem man durch Be-
ruhigimg des Langbaues und Beweglichmachung des Zentralbaues
beide gewissermaßen einander annähert Dieser Austausch der
Eigenschaften ist aber, wohlgemerkt, erst möglich, wenn zwischen
Wohnung imd Denkmal eine gemeinsame Eigenschaft besteht, auf
Gnmd deren sich die Abwandlung vollziehen kann. Dies Gemein-
same ist die Raumbildung, die auch ins Innere des massiven tek-
tonischen Mals eindringt, wie wir im Vergleich des Obelisken mit
der Pyramide gesehen haben. Und auf der anderen Seite kann
Denkmal und Raumgebilde 231
das Raumgebilde nur monumental werden, wenn es das dauerhafte
starre Material des Denksteins herübemimmt und sich ihm anbe-
quemt, soweit es seine eigene Natur erlaubt, d. h. wenn es auf
stetiges Wachstum und beliebige Neubildung verzichtet und dafür
die feste Form, die abgeschlossene Gestalt eintauscht Damit aber
ergabt sich eine folgenschwere Wahl, die Entscheidung zwischen
den Werten des Lebens hier und den Werten des Daseins dort
Nur das Bestandige läßt sich verewigen, vom Lebendigen vermag
die bildende Kunst nur einen Abglanz zu retten imd über ihr
Werk zu breiten, den wieder nur der Lebende als Hauch des
Lebens zu spüren und zu erneuern vermag.
Dafi der Langbau zum Steinmaterial greift, um seine Raimige-
staltung dauernd zu erhalten, ist schon aus praktischen Gründen
jedermann verstandlich, nur sollten wir diese nicht ohne weiteres
auch für die ästhetischen Beweggründe annehmen. Wie aber der
massive Denkstein dazu komme, einen Raum in sich aufzunehmen,
der seine Standfestigkeit untergräbt, seine Stofflichkeit aushöhlt imd
mit dem festen Kern auch die Vertikalachse, dies konstitutive
Merkmal seines aufrechten Wesens im Innern des Körpers vertilgt,
das ist eine schwierige Frage, um so mehr, wenn der Innenraum
nicht mehr oder schon von vornherein nicht als „eine durch den
Gebrauchszweck unvermeidlich geforderte Nebensache" hinzutritt,
sondern „das Problem künstlerischer Verarbeitung bildet^', viel-
leicht gar um seiner selbst willen, lediglich zu idealem Zwecke ge-
wollt und geschaffen wird. Was allen praktischen Köpfen nur
eine Rätselfrage bleiben kann, beantworten die Denkmäler keiner
Zeit so schlagend, wie die der Spätantike im Vergleich zu den
früheren Perioden des Altertums. Es ist freilich eine irreführende
Behauptung, erst diese spätrömischen Bauten imterschieden sich,
namentlich von den Bausystemen des vorangegangenen Altertums,
durch die Raimibildung in ihrem Innern, als ob es nicht schon in
Ägypten, dem klassischen Land der Monumente, Bauwerke mit
ausgedehnten Innenräumen gegeben hätte, selbst in ihren Tempeln.
Daß aber Monumente, lediglich Denkmalsbauten zur Verewigung
des Individuums, der Persönlichkeit, sich in komplizierte Raumge-
bilde verwandeln, das ist das charakteristische Symptom der soge-
nannten spätrömischen Kultur und Kunst. Mit Absicht nennen wir
die Kultur oder das geistige Leben zuerst; denn der Begriff des
Individuums ist ein anderer geworden, der Wert, der verewigt
werden soll, hat sich verschoben. Infolgedessen müssen auch die
232
XVI. Monumentale Plastik
Mittel, zu denen die Kunst greift, um ihn zu gestalten, andere
werden« Die früheren entsprechen nicht mehr, deshalb werden
andere gewählt; ja an Stelle der einen Kunst tritt die andere
Schwester. Statt der Korperbildnerin, der Plastik oder Tektonik,
die bis dahin das Mal gescha£fen, wird die Raumgestalterin Archi-
tektur aufgeboten imd schafft den monumentalen Zentralbau, mit
ausgedehntem, kompliziertem Innenraum.
Nur diese Ausstrahlung festgeformter Grenzen und ineinander-
greifender Raimigestalt entspricht dem Begfriff der Persönlichkeit,
sei sie ein Gott oder ein Mensch, der Imperator des Römerreiches
oder Christus, Maria. Ein weiteres Symptom ist die Sammeleinheit
unter einer Dominante: Alexander im Kreise seiner Feldherm,
dieser Reflektoren seines Wertes, oder Christus im Kreise der
Apostel, in denen der Unsichtbare noch sich widerspiegelt Das
körperliche Individuum genügt nicht, in seiner sinnlichen Erschei-
nung die ganze Persönlichkeit zu erschöpfen, ihre Wirkungssphäre
muß mit zur Darstellung kommen. Und endlich wird der Versuch,
das leibliche Abbild in der Statue oder der Büste hinzustellen,
überhaupt aufgegeben imd die abstrakter formende Architektur
allein berufen, das auszudrücken, worauf es diesem neuen Zeit-
bewußtsein ankommt Nicht der Körperwert, der greifbare, stoff-
liche, ist der eigentliche Wert, der ewige, den die Kunst festhalten
soll, sondern die Seele ist es, der Geist, der über die sterbliche
Hülle hinausdring^ und mit magischer Klraft in weiterem Umkreis
wirkt Wenn die alten Ägypter Materie häuften, Ziegelsteine und
Quadern zu Bergen auftürmten, so stellen die neuen Römer den
massiven Pyramiden kolossale Hohlräume gegenüber, nicht die
Moles, wie noch Hadrian mit seiner Altertümelei, sondern licht-
durchströmte Innenräume, in denen die lautere Helligkeit des
selbstbewußten Geistes triumphiert
In jenen Tagen gibt es keine Statuen mehr, lautet das Ergeb-
nis der neuesten Forschung. Das ist nur der Revers der Medaille
mit dem Zentralbau auf der Schauseite. Die vergai^genen Ge-
schlechter des Heidentums dachten plastisch; die aufsteigende Ge-
neration denkt architektonisch im eminenten Sinne. Das muß allen
einleuchten, die das Wesen der architektonischen Schöpftmg nicht
mit dem der Plastik oder der monumentalen Tektonik, d. h. mit
der „Kunst körperlicher Massen*' verwechseln und den Wohnbau
nicht aus der Kunstgeschichte eliminieren wollen, wenngleich er es
ist, der den „Kirchenbau der spätrömischen Zeit" und damit des
Plastik und Tektonik
233
gesamten Mittelalters gezeitigt hat, wie einst im monumentalsten
Lande, Ägypten, den Bau der Prozessionstempel.
Zwischen diesen beiden Extremen liegt die Kulturperiode,
deren gesamte Kunst unter dem Zeichen der Plastik und monu-
mentalen Tektonik, d. h, der Korperbildnerin kut* Öoxriv ge-
standen hat, und das klassische Altertum, genauer das HeUenentum,
ist ihre Blütezeit Diese Erkenntnis gehört zu den Grundbegriffen
einer einheitlichen Kunstwissenschaft, die sich keine eklektischen
Scheuklappen vor die Augen bindet
Die monumentale Plastik im engeren Sinne ist Darstellung
unseres organischen Körpers nach seiner bleibenden Bedeutung.
Von unserer eigenen Organisation ausgehend, faßt sie auch andere
ähnlich organisierte Geschöpfe nach Maßgabe dieses Wertes auf,
während die monumentale Tektonik den kristallinischen Körpern
der unorganischen Natur nachstrebt, die dem Gewächs der Orga-
nismen ganz fremd sind. Das Absehen beider ist auf die Körper-
werte gerichtet und schließt demgemäß den umgebenden Raum als
solchen von ihrer Darstellung aus. Ihre reinste Aufgabe muß in
der isolierten Rundplastik gesucht werden, d. h. in der statuarischen
Kunst und im aufgerichteten MaL Ein Hintergrund für das Bild-
werk, ein Schauplatz mit eigener Bedeutung, die diesen Körper im
allgemeinen Raum bedingen, beeinflussen, in die Abhängigkeit von
weiterem Bestände oder gar vom Strom des Geschehens hinein-
ziehen könnten, sind ursprünglich gar nicht vorhanden oder werden
unbedingt ausgeschaltet Der Wert, den diese Schwesterkünste er-
greifen und festbannen wollen, ist gerade das leibhaftige Dasein
selber, das durch die Beziehungen des Lebens schon beeinträchtigt
imd gefährdet wird. Es gpilt, ihn herauszureißen aus dem unauf-
haltsamen Fluß der Zeit, ihn mitten im Wechsel alles Werdens und
Vergehens zu unwandelbarer Gegenwart hinzustellen, ihn vor allen
anderen Interessen des Menschenherzens hervorzuheben und als
höchsten zum Bewußtsein zu bringen«
Die Bildnerin tektonischer Körper kann diesen Wert nur in
abstrakter Allgemeinheit bezeichnen; aber sie gerade stellt ihn mit
unerbittlicher Schärfe und Ausschließlichkeit dar. Im Vergleich
zur plastischen Wiedergabe organischer Geschöpfe freilich erscheint
ihre Darstellung unzulänglich und einseitig, so daß die Vorstellung
nachhelfen und ergänzen muß. In diesem Sinne werden ihre
Formen symbolisch genannt Aber jede Abwandlung der strengen
234
XVI. Monumentale Plastik
stereometrischen Gebilde, jede Annäherung an die Formen der
Pflanzen oder Tierwelt mildert auch und schwächt die rücksichts-
lose Klarheit ihres Wesens, und leitet das eine, worauf es an-
kommt, in die Bedingfungen des Wachstums und des Lebens, d. h.
der Zeitlichkeit über.
Die Darstellung des organischen Geschöpfes scheint solcher
abstrakten Verewigung des Daseins im kristallinischen Körper als
unvereinbarer Widerspruch gegenüberzustehen. Schon die Gestalt
des organischen Gewächses verkündet die mannigfaltige Beziehung,
verrät in allen Gliedern die Bedingtheit des Wachsens und Ver-
welkens. Die Beweglichkeit des Organismus stellt sich jeder Auf-
fassung als feste Form entgegen. Wie weit ist das lebendige In-
dividuum entfernt von der absoluten Geschlossenheit der regel-
mäßigen Körper, des Zylinders, des Prismas, des Würfels 1
Und dennoch wird es unternommen, den Wert des Daseins
von denen des Lebens zu scheiden, und am organischen Gewächs
zu verewigen, was sich als bleibender Bestand in starrem Material
wiedergeben läßt Gewaltsame Fassung in kubische Formen ist die
erste Msißregel dieses monumentalen Bestrebens, sowie sich das
Bewußtsein aufringt, daß es sich nicht sowohl um Nachahmung der
Wirklichkeit handelt, nicht um Darstellung der Lebewesen in ihrem
Tun und Treiben, in ihrem Zusammenhang mit der Natur, in die
sie gestellt sind, sondern im Gegenteil um eine Abstraktion des
Konstcinten, um eine Umdichtung ins Unbewegliche, Starre, Kalte
und Undurchdringliche, um eine Neuschöpfung in anderer — eben
unorganischer Natur, um Isolierung ringsum, bis auf den einen im-
verrückbaren Zusammenhang mit dem körperhaften Grunde, dem
gemeinsamen Erdboden, auf dem edles Bestehende fußt Eine
Übertragung aller Gesetze des tektonischen Mals auf das mensch-
liche Individuum ist die Folge.
Die Aufrichtung der Vertikalachse ist der Ausgangspunkt für
beide. Sie ist, wenn auch noch so schematisch, doch an sich schon
die Sicherstellung der Grrundtatsache, um die es der Körperbildnerin
zu tun ist. Der Kern des menschlichen Einzelwesens als eines
selbständigen Körpers im Räume wird damit konstituiert. Von
dieser Dominante des dreidimensionalen Komplexes beginnt die
konkrete Gestaltung in irgendwelchem Material; denn nach dem
Höhenlot unseres eigenen Leibes beurteilen wir alle Kreatur.
Arbeitet der Bildner in weicher Masse, in Tonerde oder Wachs,
so geht er tatsächlich von dieser Mittelachse des Rumpfes, des
Körpereinheit 235
Kopfes, oder jedes anderen Korperteiles aus und entwickelt die
Form allmählich nach außen bis zu ihrer begrenzenden Oberfläche.
Wo dagegen der rohe Steinblock ergriffen wird, daraus ein Men-
schenbild zu gestalten, da liefert dies raumkörperliche Substrat den
konstitutiven Grundstock des Individuimis, das Koordinatensystem
mit der Vertikalachse im Zentrum, auf die sich nun von allen
Seiten die Bearbeitimg und Ausrundung zubewegt Das Rückgrat
des aufrechten Korpers, das beim Modellieren in Tonerde und
Wachs erst hervorgebracht werden muß, ist hier gegeben und wird
bereits fertig adoptiert Dort überwiegt ein Additionsverfahren,
bei der Steinskulptur dagegen herrscht ausschließlich Subtraktion.
Aber diese Methode kann nur angewandt werden, wo die feste
Korpermasse vorhanden ist; sie setzt also an einem viel späteren
Punkt des sonst erforderten Weges ein. Monumentale Tektonik
behaut den gewachsenen Fels, bearbeitet die Bergwand imd ringt
ihr die Einzelkorper ab. Es versteht sich von selbst, daß die
Plastik ihrem Beispiel folgt, wo sie denselben monumentalen Zweck
erreichen wilL
Die Sicherstellung der tastbaren Körperwerte war es, auf die
es zunächst ankam, und die Körpereinheit ist der vornehmste unter
ihnen. Nach der vertikalen Dominante sind es aber die Begren-
zungen nach allen Seiten, die solche dreidimensionale Körpereinheit
weiter bewähren« Das kubische Körpervolumen ist zunächst nach
allen Richtungen außer der Höhe gleichwertig; es gibt kein Vom,
kein Hinten, keine rechte Seite, die vor der linken einen Vorrang
hätte. Erst die Übertragung der Menschengestalt mit ausgemachter
Vorderseite bringt diesen Unterschied hinein; sonst ist alle Bevor-
zugung der einen Ansicht vor der anderen subjektiv, eine nur
vom Beschauer versuchte, nicht objektiv im Wesen des Körpers
gegeben. Seine konstitutiven Eigenschaften sind immer und ewig
die tastbaren, denen solche Unterscheidung fremd ist; aber sie
können nur zur Einheit zusammengehen, wenn die Dominante in
der Mitte die übrigen überragt und allesamt sich unterordnet, in-
dem jene von allen Seiten zu ihr hinleiten. Sie bewähren sich
auch so als Emanationen der Vertikale, Entfaltungen vom 2^ntrum
aus, nicht umgekehrt als von außen zusammengeschobene Konsti-
tuenten, als Häufung von selbständigen Bestandteilen, aus der die
Höhenachse des Mals erst hervorgehe. Bei diesem Begriff der
Körpereinheit darf an die Herstellungsweisen durch Menschenhände
gar nicht gedacht werden; denn diese sind erst Mittel zimi Zweck.
236 XVI. Monumentale Plastik
Hat man sich ihr Wesen einmal klargemacht, so erscheint es
als eine xmannehmbare Zumutung, die Tiefenachse dieser Korper
sei der Breitendimension nicht von Anfang an gleichwert^ ausge-
bildet worden. Beide Ausdehnungen gehen vielmehr m^prünglich
ineinander über und nur das Verhältnis zur Hohenachse orientiert
über die Verschiedenheit ihrer Richtung. Die gegensätzliche
Scheidung der Richtimgen in vier rechtwinklig aufeinanderstoßende
Seiten ist schon ein Postulat des Intellekts, der bei jener Einheits-
auffassung mitspielt und nicht eliminiert werden kann. Wenn wir
also auf die Behauptung stoßen: „die antike Kunst müßte die
Existenz der dritten Dimension — der Tiefe — von Anbeginn
gnmdsätzlich verleugnet haben", so können wir nur an der Rich-
tigkeit der Beobachtungen zweifeln, die zu solchem Ergebnis gefuhrt
haben. Wir kennen solche Tatsachen nicht, oder anerkennen, wo
sie vorzuliegen scheinen, nicht die Bedeutung, die nur ein Vorur-
teil ihnen unterlegen kann. Auch uns ist der Raum, als dessen
entscheidende Dimension wir die Tiefenerstreckung anzusehen
pflegen, vom Standpunkt der Körperbildnerin Plastik ein leeres
Nichts, aber doch der notwendige Gegensatz zum raumerfullenden
Körper, das künstlerisch zunächst völlig unbezeichnete und unge-
formte Vakuum, das sich über dem allgemeinen Grunde des Erd-
bodens ausdehnt und von der körperschaffenden Kunst erfallt und
durch ihre Körper gestaltet wird. Was über den Tastraum des
Bildners hinausliegt, ist vollends eine unwahmehmbare Negation
alles Positiven. Die Plastik des Altertums mag „auf möglichst ob-
jektive Wiedergabe der stofflichen Einzeldinge ausgegangen'* sein,
sie mag „die Wiedergabe des Raimies als einer Negation der Stoff-
lichkeit und Individualität nach Möglichkeit vermieden haben*', oder,
richtiger ausgedrückt, gar nicht darauf verfallen sein, die Raum-
tiefe als solche darstellen zu wollen, d. h. als eine entgegenwirkende,
aus der Weite auf ims zu dringende Potenz mitzugestalten. Aber
sie braucht trotz alledem die Tiefendimension an ihren Körperge-
bilden nicht unterdrückt zu haben und deshalb auf „möglichste An-
näherung der stofflichen Erscheinung des Kunstwerks an die
Ebene'* ausgegangen zu sein.^) Die Ebene hat nur zwei Dimen-
sionen, Höhe und Breite; sie schließt also die wichtige Eigenschaft
der entgegendringenden Rundung der Körper und deren allseitige
Bewährung der Undurchdringlichkeit für den Tastsinn oder die
Ortsbewegung aus.
I) Riegl a. a. O. S. 18 fT.
Statuarische Kunst Ägyptens 237
„Die Auffassung von den Dingen, die dieses erste Stadium des
antiken KunstwoUens kennzeichnet, ist eine haptische, und soweit
sie notgedrungen bis zu einem gewissen Grrade auch eine optische
sein muß, ist sie die nahsichtige." Sie soll sich verhältnismäßig
am reinsten in der altägyptischen Kunst zum Ausdruck gebracht
finden« Wo aber sind die Belege? Die ägyptischen Wandreliefs
können unmöglich dafür angerufen werden; denn hier war die
Ebene nicht durch das Kunstwollen des Bildners hervorgebracht,
sondern als Bestandteil einer architektonischen Schöpfung bereits
vorher vorhanden. Sie wurden als aufrechte, ja sogar zuweilen als
schrägansteigende Wände der Flächendekoration anheimgegeben.
Oder sollen wir an die sitzenden Herrschergestalten am Felsen-
tempel von Abusimbel denken, die sich von der behauenen Berg-
wand abheben? Sie sind vollausgerundete Körper, neben denen
sogar die rechtwinklig anstoßende Seitenwand links und rechts die
Tiefendimension der Raumschicht, die sie erfüllen, erst recht zu
Sinnen fuhrt Und diese massiven Kolosse sind außerdem Glieder
eines größeren Kunstwerks, wie die Könige am Tempel zu Kamak:
sie treten als isolierte Körper aus der schrägansteigenden Stein-
masse des Berges heraus, dringen dem Ankömmling entgegen als
vorbereitender Kontrast zu dem kubischen Hohlraum drinnen, also
gerade in der Bedeutung als dreidimensionales Körpervolumen im
Gegensatz zu dem leeren Raumvolumen des Höhlentempels, der
Grrabkammem, oder des freistehenden Gebäudekomplexes, dem
vollendeten Architekturwerk (in Kamak). Sitzende Gestalten auf
Thronen, deren Rücklehne die Schulter oder gar das Haupt über-
ragt, wird man nicht als gebunden an die Ebene vorführen können;
denn die Grundfläche ist durch die Gegenstandsvorstellimg ge-
fordert, oder sie saßen tatsächlich einst an den Wänden eines
Innenraumes (Rahotep und Nefert im Museum von Griseh) oder in
einer tektonischen Umrahmung, die als Nische oder Eingang wieder
die vertiefte Raumschicht enthält und betont (Renefer, daselbst
und der Doppelgänger, aus einem Grabe von Sakkara).
Die Hauptsache bleibt aber die Behandlung der Statuen selbst
in strenger Frontalansicht und konsequenter Gleichberechtigimg
aller vier Seiten. Vollständigkeit des Körpers ist das entscheidende
Anliegen der Darstellung, die darauf ausgeht, den vollgültigen Wert
der leibhaftigen Existenz zu geben. Keine seitlichen Drehungen,
die ihn von anderen Dingen abhängig erscheinen lassen. So
schreitet die Gestalt des Abgeschiedenen aus seinem Grrabe noch.
238 XVI. Monumentale Plastik
wie einst aus seinem Hause, dem Ankommenden entgegen; so
thronen die beiden Kolossalstatuen Amenophis in (Memnon) unten
am Fuß der Berge im freien Tal, zwei ganz isoliert aus der Grund-
ebene aufsteigende Maler. So lagert der Sphinx von Giseh, so
hocken, knien und arbeiten die Kalksteinstatuetten im Museum
daselbst, so sitzt der Schreiber am Boden (Louvre) und schreitet
der sogenannte Dorfschulze (Griseh) in unverkümmerter, wenn auch
in Holz geschnitzter, doch nirgends der parallelen Sehebene ange-
näherter Ausdehnung ihres Körpers.*) Aber wie jene Rahmenum-
schliefiung diu'ch eine Tür, eine Nische, oder die Verbindung mit
einem tektonischen Gebilde, einem Thron, einer Bank, einer Fels-
stufe oder einem Sockel schon nahelegen und mit sich bringen, ist
der organische Korper hier mehr oder weniger fühlbar unter das
Gesetz kristallinischer Regelmäßigkeit gebracht worden.
Die schematische Begrenzung des Korpers nach allen vier Seiten
bezeugt jedoch erst recht, wie sehr diesem ältesten, uns noch be-
kannten Kunstvolk die kubische Klarheit des Massenvoliunens Be-
dürfnis war und die schärfste Ausprägung seiner drei Dimensionen
in strikter Gegensätzlichkeit zueinander. Wie Obelisk und Pyra-
mide wirken auch diese Abbilder menschlicher imd gottlicher Per-
sonen, trotz aller Zutaten täuschender Wirklichkeitsnachahmimg,
immer zunächst als konstitutive Faktoren^ die sich als Körper im
Raum behaupten und sich haarscharf von diesem Luftmedium
scheiden, wie stereometrische Figuren. Wer durch die Ausladung
der Extremitäten bei Sitzfiguren oder durch die Bewegung der
Schreitenden gestört wird,*) den ästhetischen Raum dieser Statuen
zu erfassen, der betrachte nur einmal einen Torso, ein einzelnes
abgebrochenes Glied oder gar den Kopf allein, um sich das syste-
matische Verfahren rings um die Mittelachse klarzumachen. Das
gekrönte Haupt, das vom Granitblock getrennt, unter dem Namen
Thutmosis III. im British Museum zu London steht, zeigt besonders
schlagend, wie die Vertikalachse mit dem kugeligen Abschluß aus
der konischen Kopfbedeckimg aufragt und der scharfvorkragenden
Peripherie ihrer untern Wandung antwortet Das Zusammenwachsen
i) Vgl. die Abbildung des Dorfschulzen (klein, aber frontal) bei Spiegelberg,
Gesch. d. ägypt. Kunst. Leipzig 1903, S. 30. Daselbst der Doppelgänger des Grabes
von Sakkara, S. 27.
2) Besonders lebhaft bei Horfuabra, Holzstatue aus Dahschur, Hirths Stil
I. Serie, Tafel 11. Daselbst auch die meisten der obengenannten Beispiele in guter
Abbildung.
Statuarische Kunst Ägyptens 230
rechtwinklig regelmäßiger Körper mit der Formemimdung des
Menschen verrät die dienende Gestalt Uabras im Louvre oder die
Sen-Muts in Berlin. Immer ist jede Grenzebene „nach Möglichkeit
symmetrisch gehalten, weil sich in der Symmetrie der unimter-
brochene tastbare Zusammenhang innerhalb der Ebene am über-
zeugendsten dem äußeren Anblick verrät", aber zwischen den vier
Ebenen, die dem herumschreitenden Betrachter geboten werden,
muß immer die Höhenachse hinzukommen, die mit dem Gesetz der
Proportionalität alle Teilflächen zusammenfaßt und die Einheit des
Körpers konstituiert.
Nicht eine Ebene gibt die statuarische Kunst, sondern einen
Komplex von krummen Flächen, am allerwenigsten aber gibt sie die
Sehebene, sondern so und so viel Tastgrenzen des Körpers. Die
Auskimft über die Grenzen seines Volumens ist wichtiger für den
Glauben an das Gebilde der Menschenhand, als die Vollständigkeit
aller Teile des organischen Geschöpfes selber; denn wir können
ganz leicht von einem nichtvorhandenen Stück absehen, ohne da*
durch in der Auffassung des Werkes als Abbild eines ims ver-
wandten Wesens irgendwie behindert zu werden. Nehmen wir doch
sogar den Sphinx nach seinem Menschenantlitz schon für einen
König und gar nicht für einen Löwen. In den Götter- und Königs-
Statuen Ägyptens ist, auch wenn sie starr wie ein Felsblock
bleiben, der absolute Wert des Daseins im stofflichen Körper mit
einer Entschiedenheit ausgeprägt, ja mit einer abstrakten Schärfe
herausgeschält, als gälte es, wie ein Raubtier sich der Beute zu
versichern. Der Begriff der leibhaftigen Existenz wird in dem
telsenharten spröden Material ergriffen und versinnlicht, seine Ver-
ewigung durchgesetzt auf Kosten der organischen Natur des
Menschenleibes selber.
Wenn uns dieselbe ägyptische Freiskulptur Tierleiber mit
Menschenantlitz, dann Menschengestalten mit Tier- und Vogelköpfen
vorführt, so lehrt sie uns, daß die Erklärung des KunstwoUens hier
nicht mit „der rein sinnlichen Wahrnehmung unter möglichstem
Ausschluß jeglicher aus der Erfahrung stammenden Vorstellung**
auszukommen vermag. Es spielt in der ägyptischen Kunst bereits
eine beträchtliche Zutat intellektuellen Wesens mit. Als Beweis
hierfür mögen auch die Flächendarstellimgen herangezogen werden^
wo es sich wirklich um die Nachahmung der Menschen und Dinge
in ihrem natürlichen Verhältnis zueinander handelt: „die bekannten
schreitenden Figuren der altägyptischen Reliefs und Malereien mit
240
XVI. Monumentale Plastik
ihrer Profilstellung von Kopf und Beinen und Enfacestellung der
Augen und Schultern. Kein menschliches Subjekt hat jemals einen
Mitmenschen in solcher Projektion gesehen; aber die ägjrptische
Kunst „zeigte möglichst alles und sie zeigte es möglichst unver-
kürzt'^ Fragen wir uns, wie man also zu dieser, der sinnlichen
Wahrnehmung nicht entsprechenden Vervollständigung der Wieder-
gabe gekommen sei, so kann die Antwort nur lauten, dafi diese
Kombination aus verschiedenen Ansichten eben der Gegenstands-
vorstellung entsprach, die aus verschiedenen Bewegungsvorstel-
lungen erwachsen war. Was der rein sinnlichen Beobachtung sich
sehr bald als eine unmögliche Verdrehimg erweist, befriedigt die
begrifflichen Anforderungen, die an das Menschenbild gestellt
werden. Der Intellektualismus der altagyptischen Kirnst geht noch
weiter. In dem Grabe von Sakkara, wo der Bewohner durch die
Türe heraustretend plastisch dargestellt ist, sieht man an den Aufien-
seiten des Hauses, links und rechts neben dem Türrahmen, die
nämliche Gestalt in Profil ausschreitend gemalt, im Begriff die ver-
schiedenen Abteilungen seines ländlichen Anwesens zu uberschopen.
Es ist nur die nämliche Person, die in der Mitte da plastisch
heraustritt, hier in Profilansicht einmal nach der rechten, einmal
nach der linken Seite gedreht — sozusagen mit ihrem Überblick
über das Ganze allgegenwärtig. Die Wurzel der zyklischen Kom-
position liegt hier offen zutage. Und die Gemälde selbst geben in
Streifen übereinander das Leben und Treiben auf den verschieden-
sten Stellen der Besitzung als lauter Teilbildchen aufgereiht wieder,
wie ein Berichterstatter sie herzählen würde, nicht wie sie von
einem Standpunkt gesehen werden können, also den Gesetzen der
sprachlichen Mitteilung angepaßt oder fürs Ablesen nacheinander
bestinmit Die geistige Zusammenfassung liegt in dem Doppel-
gänger, vor dem sie sich ausbreiten. Es kommt immer nur darauf
an, die Gegenstandsvorstellimg im erkennenden Betrachter auszu-
lösen, der sie begrifflich verarbeitet So bieten die ägyptischen
Wandmalereien eine ganze Enzyklopädie des zeitgenössischen Lebens.
In ihrem durchgehenden Intellektualismus ergibt sich aber, was
schon Gottfried Semper ausgesprochen hat, die scheinbar ursprüng-
lichste Kunst, die ägyptische, bei näherer Prüfung als mindestens
sekimdär.^)
Eine so begriffliche Auffassung der Menschengestalt offenbart
I) Der Stil, Bd, I S. 5.
Spätrömische Auffassung 241
auch die statiiarische Kunst in Agsrpten. Sie imterzieht das orga-
nische Gewächs einer bewußten und summarischen Kristallisation.
Die räumliche Ausdehnung, die körperbildenden Eigenschaften sind
die Hauptsache zur klaren, sicheren Bewährung des Daseins an
ihrer Stelle imd nach allen Seiten. Für die Belebung genügt das
einfachste Motiv, unterstützt von ein paar überraschenden Merk-
malen der Wirklichkeit, z. B. der Farbe, der Tracht, den Abzeichen
des Berufs usw. Das Auge blickt wieder ruhig geradeaus imd
bekommt durch die strenge symmetrische Bildung den Ausdruck
rein sinnlichen, beinahe imbewußten Schauens, — kuhäugig, wie
Homer von Hera sagt, weil der große dunkle Klreis in seiner Tiefe
keinerlei bestimmte Beziehung von innen her verrät, und das ewige
Sein unberührt von den wechselnden Interessen allein verkündet,
— noch apathischer, wenn der Augenstern ganz weggelassen bt,
und die sphärische Fläche starr und kalt hervortritt
Dieser Intellektualismus der ägyptischen Skulptur kehrt in auf-
fallender Obereinstimmung wieder, seit die christliche Religion im
römischen Kaiserreich den endgültigen Sieg errang. Er hängt mit
der Verinnerlichimg der christlichen Weltansicht und der Ver-
geistigung der zeitgenössischen Kultur zusammen, die der Auf-
nahme des Christentums entgegenkam. Aber es ist selbstverständ- .
lieh, daß das Kimstwollen nicht identisch wiederkehren konnte, als
habe die lange Entwicklung dazwischen, besonders die griechische
in ihren verschiedenen Stadien, gar nicht stattgefunden« „Schon in
konstantinischer Zeit fallen an den Porträtköpfen diese Kennzeichen
auf: klare und harte, möglichst wenig gegliederte Unuisse des
massiven Ganzen und der Teile (z. B. der Schnitt der Lippen, der
Augenbrauen, Lider) bei unklarer schwammiger Behandlung der
Detailflächen; die Haare über der Stirn (und an den Brauen) in
einen dicken massiven Wulst zusammengefaßt, aber im Detail dicht
gestrichelt; die Haltung des Kopfes streng geradeaus (wie in der
Frontalität der altorientalischen imd der archaisch-griechischen
Statuen) ohne die charakteristische Seitenwendung der Porträtköpfe
des dritten Jahrhunderts; der Blick zwar noch etwas aus der Mitte
heraus schräg aufwärts bewegt, aber ohne inneres Feuer; die
Gewanddraperie zusammengeklebt gleich nassen Lappen (in eine
Ebene gedrängt), die Höhlungen zwischen den ebenen Faltenflächen
als tief eingefarchte Linien erscheinend, die aber nicht bis zimi
Schmariow, KanttwiMentchaft, 16
^2^2 XVI. Monumentale Plastik
unteren Saume durchlaufen, sondern oberhalb desselben (in der
Mitte der Fläche) mit einer rundlichen, stark schattenden Höhlung-
abschließen, unter der offenbaren Absicht, anstatt der haptischen
eine optische Wirkung zu erzeugen."^) Dies steigert sich bis zu
einem fast starren „Kristallinismus" in der symmetrischen Bildung
der geradeaus gerichteten Kopfe, die alle feine Modellierung unter-
drückt, die Augenlider scharf betont, die Pupillen groß und über-
trieben deutlich herausarbeitet, so daß oft der ganze Augenstern
nur wie eine kreisrunde Höhlung bewegungslos in der Mitte des
Augapfels sitzt
Nach einer jahrtausendelangen Pause wäre abermals eine Zeit
angebrochen, da man in der äußeren Erscheinung der Materie und
in der Unterdrückung jedes geistigen Impulses seine Harmonie
fand, in der man die geist- und leblose kristallinische Schönheit
suchte. Und doch würde man sich damit einem Irrtum hingeben.
Ja, ein gut Teil des richtigen Verständnisses für diese werdende
christliche Kunst hängt davon ab, daß man sich den Unterschied
zwischen der altorientalisch-archaischen und der spätrömischen Ver-
fiachung imd (scheinbaren) Entgeistigung klarmacht*) Die spätro-
mische Kunst hat den Augenstern nicht bloß nicht unterdruckt,
sondern im Gegenteil zu einer wirksameren Geltimg gebracht Es
erscheint unzweifelhaft, daß sie die Bedeutung des Auges für die
Aufgabe, im Beschauer die Erinnerung an das innere Geistesleben
des Menschen wachzurufen, nicht nur nicht beseitigen, sondern im
Gegenteil stärker und nachdrücklicher, als jemals im Altertum
denkbar gewesen wäre, betonen wollte. Gewahrt man die mächtig
aufgerissenen Augen dieser spätrömischen Figuren, so wird man
sofort inne, daß sie geradezu die Hauptsache des Ganzen bilden
sollen, wie die Seele, als deren Spiegel ja das Auge fungiert, der
materiellen Körperlichkeit des Menschen gegenüber nach spätheid-
nisch-altchristlicher Auffassung die Hauptsache ausmacht. Nur
war das Ziel die Versinnlichung des Geisteslebens an sich
und nicht irgendeiner individuellen Regung.
Demgemäß wird auch die körperliche Erscheinung in drei-
dimensionaler Isolierung der Einzelfigur im Räume gegeben, aber
dieser Raiun ist nicht mehr der neutrale, für den Tastsinn gar
nicht wahrnehmbare, sondern der optische Raum, das atmosphärische
i) Riegl, Spätrömische Kunstindustrie, S. 107.
2) Riegl, a. a. O., S. 109 fr.
■ 1
Spätrömische Auffassung i^j
Medium, mit seiner Wandelbarkeit durch das Licht und die Luft.
Unsere Sehebene ist für die Erscheinung maßgebend geworden und
zwar die Gewohnheit oder die Bevorzugung des Fembildes, das alle
tastbaren Werte von vornherein ausschließt In viereckiger Massig-
keit wird die Gesamtfigur von möglichst ungegliederten Geraden
begrenzt; im Gegensatze dazu ist die Oberfläche durchaus mit
dichtem, aber seichtem Gefaltel gemustert Die Gesamterscheinung
wird gleichsam in die Breite gequetscht, wie geradezu geplättete
Falten am unteren G^wandrande bezeugen; sie wird der extremen
Femsicht entsprechend möglichst in eine Ebene gedrängt, so daß
sich selbst ein Arm nicht mehr vorstrecken darf, sondern in ge-
zwungener Bewegimg seitlich auslegen muß. Die körperlichen
Bewegungen verlaufen nach rechts oder links, und nur dann, wenn
sie völlig ruhig verharren, wenden sie auch die volle Frontansicht
des ganzen Leibes dem Beschauer zu. Das heißt, sie sind wohl
als raumerfuUend und luftraumumflossen angeschaut, wollen aber
nicht individuell bewegt erscheinen, nicht wirksam und tätig
in den Tiefraiun eingreifen wie in eine umgebende Welt, die sie
gestalten.^)
Es ist begreiflich, daß den Künstlern erst allmählich die Um-
wertimg ihrer bisherigen Darstellungsmittel gelingen konnte. Wir
dürfen in solchen Übergangszeiten nicht immer den leblosen uner-
freulichen Eindruck auf den modernen Menschen für das Kunst-
woUen selbst verantwortlich machen. Die Negation des Körper-
wertes kann in der PlcLStik imd vor allem in der statuarischen
Kunst nicht sofort durch den positiven Ausdruck der Innenlebens,
ja des abstrakten Ewigkeitswertes der Seele allein abgelöst und
wirksam ersetzt werden; denn wie wenige Mittel stehen ihr über-
haupt zu Gebote 1 Verewigung des absoluten Geistes, der unsterb-
lichen Seele in Marmor oder anderem toten Stoff, der für die
sinnliche Wahmehmimg unentbehrlich ist, war ja an und für sich
ein Widerspruch. Und mit Recht wird hervorgehoben, „daß die
Porträtstatue, ja alle Rundfigur überhaupt niemals vollständig in
den^ Wesen der spätrömischen Kunst aufgehen konnte. Hierin
liegt der Grund für den Verzicht auf die Rundskulptur in der spät-
römischen Zeit, in der solche Werke nur noch als anachronistische
Nachzügler etwa in sporadischer Befolgung einer Kulturtradition
i) Vgl. z. B. die zwei Statuen von mappawerfenden Konsuln im Konservatoren
palast zu Rom. Riegl, S. iii f.
i6»
2^/^ XVL Monumentale Plastik
vorgekommen sind." Architektur und Malerei waren vornehmlich
berufen, hier Ersatz imd Ergänzung zu bieten.
Seine konsequente Durchbildung fand der christliche Intellek-
tualismus in der plastischen Kunst erst durch die erneuten Be-
mühungen der byzantinischen Kunstschulen, die das gesamte Erbe
der hellenistischen Kunstgebiete wieder durchgearbeitet haben
müssen, um ihrer Darstellung poetischen Inhalts alle verwertbaren
Ausdrucksmittel zur Wiedergabe des Innenlebens und femwirkender
Kausalität abzugewinnen. Sie haben auch die Verklärung der
plastischen Schönheit durch die Auffassung sub specie aetemi
und damit ihre Rettung für die neue Kultur versucht Aber die
Bilderstürme haben ihre Errungenschaften wieder preisgegeben
oder ihre Werke zerstreut.
xvn.
PLASTISCHE DARSTELLUNG DES MENSCHEN
ORGANISCHE SCHÖNHEIT — SYMBOL - TYPUS - INDIVIDUUM — EINZEL«
STATUE UND GRUPPE
Plastik im eigentlichen Sinne gibt eine künstlerische Darstel-
lung unseres organischen Korpers und ihm verwandter organischer
Geschöpfe als höchster Werte des Daseins. Der angeborenen Be-
deutung des menschlichen Korperbaues gerecht zu werden, ist
schon ein Beweis vorgeschrittener Geschmacksbildung. Die orga-
nische Schönheit des Menschenleibes nachzufühlen und als
eigentümlichen Wert zu erfassen, setzt eine freiere Weltanschauung
voraus und kann nur bei unmittelbarer Anerkennxmg des Indivi-
duums (wenn auch eines bevorzugten Stammes oder herrschenden
Standes) gedeihen.
Wir verstehen unter organischer Schönheit eben die höhere
Einheit zwischen der plastischen und der mimischen. Es ist der
Wert der fühlbaren Einheit imd Zweckhaftigkeit unseres eigenen
Leibes, den wir damit anerkennen und darin genießen. Aber
mimische Schönheit und ihre beweglichen Werte sind nicht ohne
weiteres auch plcLStische Schönheit; denn die letztere vermag nur
die bleibenden Werte zu fassen. Auch Mimik und Plastik stehen
einander gegenüber wie Bewegxmg und Ruhe; aber auch sie ver-
mögen ihr Wesen vielfach miteinander auszutauschen xmd ihre
Werke einander anzunähern; denn auf dem greifbaren Zusammen-
hang unseres Leibes beruhen sie beide. Der Körper als organisches
Gewächs bleibt für die Plastik immer Anfang imd Endziel ihrer
Darstellung und somit die Einheit in ihrem ruhigen Bestände.
Aber sie braucht das Motiv, d. h. den durchgehenden Zug einer
einheitlichen Bewegung, deren Sinn uns unmittelbar verständlich
anspricht, um den Zusammenhang im Ganzen, die Einheit der Ge-
stalt in allen Gliedern zu erweisen. Diese Wirkimg eines Impulses
findet aber für den Beschauer, der mit dem eigenen Organismus
2a6 XVII. Plastische Darstellung des Menschen
vertraut ist, auch da statt, wo die Bewegung nicht so ausgreifend
durch die ganze Gestalt geht, oder wo sie gar auf einen Teil des
Körpers beschränkt bleibt, während das übrige in ruhigem Zustand
verharrt. Sie behält ihre vom ersten Blick erfaßte, für den An-
klang menschlichen Mitgefühls entscheidende Kraft auch da, wo
sie als sanfte Regimg rein vegetativen Daseins, wie ein Hauch der
Seele nur sich äufiert, und wird sich gern darauf beschränken, wo
es gilt, die ruhevolle Beharrung gerade in leibhaftiger Existenz zu
feiern.*) Die Verherrlichung unseres eigenen organischen Leibes,
das glückliche Selbstgefühl des Individuums in dieser natürlichen
Form, das wohlige Ausruhen im Vollbesitz dieses körperlichen Da^
seins sind es, woran der plastischen Kunst vor allem gelegen ist.
Die harmonische Ausbildung aller Teile, das gesunde, dem Ge-
samtzweck des Geschöpfes entsprechende Ineinandergreifen aller
Funktionen sind die Voraussetzungen, die sich dabei von selbst
ergeben.
Auch hier ist die Korpereinheit das erste imd wesentlichste
Erfordernis, das die organische Gestalt, wie die stereometrische
Figur beim tektonischen Mal, erfüllen muß. Die evidente Verbin*
düng aller zusammengehörigen Teile zu einer stofiFlichen Einheit
kann auch hier nur an der Leitungsbahn der Vertikalachse verfolgt
werden. Sie hat um so selbstverständlichere Berechtig^g, als sie
beim Menschen zugleich die Wachstumsrichtung ist. Solange sie
von unten nach oben geradlinig aufsteigt, verfolgen wir in ihr das
Vorrecht der aufrechten Haltung des Menschenkörpers. Sowie sich
die Verbindungslinie von unseren Sohlen bis zu unserem Scheitel
niederwärts gegen den Boden neigt, nähern wir uns dagegen dem
tierischen Wesen, dem Affen, xmd mit vollendeter Horizontaler-
streckung dem gewohnten Verhalten der Vierfüßler sonst An
dieser Wachstumsachse des Menschen entfaltet sich die Propor-
tionalität des Aufbaues, neben ihr links und rechts die Symme-
trie der Glieder. Die menschliche Gestalt ist in ihrer Höhe
nach Verhältnissen gegliedert, die sich innerhalb der Grenzen leicht
überschaubarer Maße bewegen. Mehr jedoch als diese Proportion
wirkt für die ästhetische Auffassung zunächst die Wiederholung
homologer Teile, die innerhalb der vertikalen Gliederung eine
i) Man spricht sogar von Ruhemotiven und Bewegungsmotiven, ob-
gleich der erste dieser Ausdrücke wie eine Gontradictio in adjecto, der andere wie
ein Pleonasmus klingt.
Organische Schönheit und statuarische Kunst 247
Symmetrie zusammengesetzterer Art, d. h. Symmetrie des Kon-
trastes oder Korresponsion hervorbringt Arme imd Beine, Ober-
und Vorderarm, Ober- und Unterschenkel, Hände und Füße, Hals
tmd Taille, Brust und Bauch treten uns sogleich als formverwandte
Teile entgegen. In den Armen und Händen wiederholen sich in
feinerer und voUkommnerer Form die Beine und Füße. Die Brust
wiederholt in gleicher Art die Form des Bauches nur übereinander,
also proportional und in entgegengesetzter Richtung, wie in festerem
Bau. Indem sich der Bauch nach unten zur Hüfte, die Brust nach
oben zum Schultergürtel erweitert, den beiden Haltapparaten der
Extremitäten, deren ein Paar hängend, das andere stützend auftritt,
vollendet sich die Symmetrie der homologen Grebilde. Während
aber alle anderen Teile uns in der vertikalen Gliederung der Ge-
stalt zweimal begegnen, in einer unteren massiveren und in einer
oberen leichteren Form, ist auf jene beiden Glieder des Rumpfes,
an denen wir den Aufstieg verfolgen, noch das Haupt gefugt, das
als der entwickeltste und allein in keinem anderen homologen Organ
vorgebildete Teil die Dominante bekrönt imd damit das Ganze
abschließt^)
Verfolgen wir nun aber, der natürlichen Wachstumsrichtung
nachgehend, die Proportion des Ganzen von unten nach oben, so
lesen wir schon die symmetrischen Paare der Gliedmaßen links imd
rechts bei dieser Bewegung auf xmd es entsteht ein rhythmischer
Verlauf, in den wir subjektiv die ruhige Harmonie des Ge-
wächses auflosen. Das Bewegungsmotiv der Gestalt selbst, mag
es noch so einfach sein, ist dagegen seinerseits eine objektiv ge-
gebene Bewegxmg, die wir auch wiederum subjektiv aufnehmen
müssen. Die homologen Glieder können eins zum anderen in
Gegensatz treten, eine Seite als die bewegte mit der anderen
ruhigen kontrastieren. Dann geht die Wirkung schon ins Mimische
über. Aber die Plastik findet ein Mittel, auch hier der Harmonie
wieder zu ihrem Rechte, der bleibenden Form zur ungeschmälerten
Geltung zu verhelfen, indem sie im sogenannten Kontrapost die
Gegensätze in einer höheren Einheit ausgleicht, d. h. den Kontrast
des imteren Gliederpaares durch den umgekehrten Kontrast des
oberen Paares aufhebt und der Dominante die Herrschaft wahrt.
Damit aber ist das Geheimnis der organischen Schönheit an diesem
I) Ich ergänze hier Wundt, Psychologie II, 217, vgl. Gottfr. Semper, Der
Stil, Prolegomena.
248 XVII. Plastische Darstellung des Menschen
Meisterwerk der Schöpfung noch lange nicht genügend erschlossen.
Wir brauchen nur an den Kopf und das Antlitz zu erinnern, um
uns von dem Aufiem auch auf das Innere gewiesen zu finden; doch
müssen wir uns schon beim Oberblick über die ganze Gestalt und
ihre Gliedmaßen, besonders aber angesichts der Brust und des
Bauches sagen, daß die Schöpfung weise und wohltätig den Mecha-
nismus ins Verborgene verlegt und das Triebwerk unter einer
Hülle wirken läßt, auf deren sichtbarer Außenseite die schönen
Formen als Zeugnis auftreten, daß die Aufgabe drinnen wohl ver-
richtet wird. Während aber die Mimik fast ausschließlich die aus-
drucksvolle Vorderseite verwertet, kann die echte Plastik, zumal
die statuarische Kunst, der ruhigeren Rückseite gar nicht entraten.
Und gerade sie ist es, die dem organischen Gewächs die Ge-
schlossenheit und, im Hervortreten der Wirbelsäule schon, den Zu-
sammenhang sichert, indem sie zugleich der mannigfaltig nach
außen gerichteten Front den Rückhalt an sich selber gewährt.
Wenn es darauf ankäme, die Plastik auf die Probe zu stellen, was
sie ohne die Beihilfe der mimischen Schwester für sich allein zu
leisten vermag, so gibt es keinen herrlicheren Vorwurf als die
Kehrseite der Menschengestalt,* denn auch dieser Revers trägt die
Wertangabe in lesbaren Zügen ausgeprägt, nämlich des bleibenden
Bestandes, während wir an der Schauseite die Mannigfaltigkeit der
Beziehungen nach außen gar zu leicht überschätzen. Und zwischen
diesen Gegensätzen gesteigerter Bewegtheit und nachdrücklichen
Zusammenhalts wird auch die ausgleichende und überzeugende Ver-
bindung zwischen vom und hinten, auf der rechten oder linken
Hälfte des Körpers alsbald ihren Wert behaupten. Der Eindruck
dieser Profilansichten verbietet an sich schon jede Verwechslung des
dreidimensionalen Komplexes mit einem Flächenschein, einer Ebene.
Beide an sich so mannigffaltigen, und doch untereinander so
genau korrespondierenden Hälften vollenden erst das Individuum,
d. h. das abgeschlossene Einzelwesen der Gattung, des Menschen.
Damit stoßen wir eigentlich auf den UrbegrifF aller plastischen
Kunst, die natürliche Geschöpfe in voller Körperlichkeit nachzu-
schaffen unternimmt. Versuchen wir aber, uns Rechenschaft zu
geben, was in diesem ersten ursprünglichen Sinne darunter zu ver-
stehen sei, so merken wir wieder, daß Begriffe, die sich auf die
eigene Erfahrung des menschlichen Subjekts unmittelbar berufen,
am allerschwersten zu definieren sind, eben weil sie für selbstver-
ständlich gelten. Die Naturwissenschaft hat neben der Kunst-
Individuum
249
Wissenschaft begreiflicherweise die nächste Veranlassung, den Sinn
des Wortes von allzu menschlichen und allzu geistigen Über-
wucherungen freizumachen imd auf den notwendigen Inhalt ein-
zuschränken, der auch außerhalb der Gattung Mensch von allen
Gattungen des Tierreiches und Pflanzenreiches gelten darf. Eben
dort aber rührt die Morphologie sowohl wie die Biologie, die den
Begriff genau zu fassen suchen, auch an seine Grenzen:
JDas Individuum ist eine einheitliche Gemeinschaft, in welcher
alle Teile zu einem gleichartigen Zwecke zusammenwirken (Einheit).
Dieser Zweck ist ein innerer (Selbstbestimmung). Und der innere
Zweck ist auch zuletzt ein äußeres Maß, über welches die Entwick-
lung des Lebendigen nicht hinausreicht (Form » innerer Zweck)."
Wir brauchen diese naturwissenschaftliche Definition (n.Virchow),
die an sich schon viel zu denken gibt, auch in der Kunstwissenschaft,
um zunächst einmal die konkrete Fassung festzustellen gegenüber
der Logik, die statt dessen nur das einzelne meint, das unter einen
allgemeinen Begriff fällt, im Unterschied von der Art und Gattung,
die eine Vielheit von einzelnen nach einem gemeinsamen Merkmal
zusammenfaßt. Wir brauchen ihn andererseits, um die Zuspitzxmg
auf die einzelne menschliche Person abzuwehren, solange sie noch
nicht am Platze ist, nämlich die Überlastung des Wortes Individuum
mit dem Inhalt, den wir richtiger als Individualität bezeichnen,
d. h. mit der Eigenart, die eine einzelne Person von allen anderen
unterscheidet, oder vollends der geistigen Eigentümlichkeit, die
man heutzutage unter Individualität zu verstehen pflegt
Alle nachahmende Kunst geht notwendig von der Darstellung
des Individuums aus, wie wir es soeben naturwissenschaftlich defi-
niert haben. Alle nachahmende Kunst, sagen wir mit Absicht;
denn es gibt auch eine bildende Kunst, die nicht von der Nach-
ahmimg eines sinnlich wahrgenommenen Individuums ausgeht, son-
dern dei" Innenwelt des Menschen, dem Bereich seiner Vorstellungen
oder Ideen entstammt Wir pflegen diese beiden Richtungen als
Idealismus imd Realismus zu unterscheiden.^) Der dritte hier-
hergehorige Ausdruck Naturalismus kann daneben genauer nur
das Äußerste des Realismus, d. h. die vollständigste Hingabe an
die Natumachahmung bezeichnen, die auf das Recht des Vor-
stellungsinhalts und der Ideenarbeit des Menschen möglichst ver-
-i) Ober die notwendige Abwandlung dieser immer relativen Bezeichnungen
wollen wir uns der Kürze halber nicht verbreiten.
250 XVII. Plastische Darstellung des Menschen
ziehtet, sich also von der Naturerscheinung als solcher abhängig-
macht imd die Natur als Gesetzgeberin anerkennt, der sich der
Menschengeist unterordnet Damit rühren wir an die Grrenze, wo
die menschliche Kunst aufhört. Geht aber der Anreiz zur schöpfe-
rischen Betätigung von dem Menschengeist aus (dessen Vor-
stellungen freilich auf Eindrücke der Außenwelt zurückgehen), oder
entspringt der künstlerische Drang dem Grunde der Gefühle, der
Gemütsbewegungen, die nach Ausdruck ringen, so genügt auch
bald die stumme Gebärde und der Laut der Stimme nicht mehr,
den Inhalt bestimmt zu vermitteln. Da greift die menschliche
Natur zu neugeschaffenen Verbindungen, dem Worte hier, dem
Bilde dort Aber das eine wie das andere vermag noch nicht
im ersten Anlauf den Inhalt selber zu geben, den Wert, den sie
vermitteln sollen, adäquat auszudrücken. Eine Lautgebärde, die
auf das entgegenkommende Verständnis des Mitmenschen ange-
wiesen ist, wie das Lallen des Kindes, gibt den Inhalt nicht ganz,
sondern rechnet auf die Ergänzimg des Fehlenden durch das gleich-
organisierte Wesen verwandter Art Ein Bild, das diesen mitzu-
teilenden Inhalt nicht selber zeigt, sondern nur bedeutet, und des-
halb vom Wissenden durch die vom Zeichen ausgelöste Vorstellimg
ergänzt werden muß, das nennen wir Symbol. Es ist gegenüber
jenem der sinnlich wahrgenommenen Erscheinung eines Naturdinges
nachgeahmten Abbilde ein mindestens zur Hälfte geistiges Produkt,
die Versinnlichung eines Vorstellungsinhalts für den Mitmenschen.
So kann sich gleichwie die Lautsprache eine ganze Zeichensprache
entwickeln, die wir als symbolische Darstellung in diesem
eigentlichen Sinne anerkennen.^) Damit haben wir einen zweiten
Ausgangspunkt der bildenden Kunst aufgedeckt: den intellek-
tuellen Fol, gegenüber dem sinnlichen, von dem die Nach-
ahmung der Naturdinge in der Außenwelt um ihrer selbst willen
ausgeht, — zwei Fole, Subjekt und Objekt — wenn wir auch, da
dieser letztere als sinnlicher Eindruck oder Anschauung ebenso
dem Menschengeist angehört, an der einheitlichen Grundlage der
Kunst vollkommen festhalten.
Schon die statuarische Kunst der Äg^ter bezeugte die Mit-
wirkung eines intellektuellen Faktors in der Übertragung der regel-
i) Über den Mißbrauch des Wortes symbolisch für künstlerisch, ideal, intuitiv
vgl. neuerdings B. Croce, Estetica 1902. S. 37. Wir wünschten, diese andere Be-
deutung würde auch in der Ästhetik völlig aufgegeben, da mit dem Fremdwort gar
nichts gewonnen wird.
Symbol — Typus — Individuum 251
mäßigen stereometrischen Figur auf die menschliche Gestalt. Das
Flächenbild des Menschen offenbarte die begriffliche Vollständig-
keit der Gegenstandsvorstellung als maßgebend, sogar im Wider-
spruch zur sinnlichen Anschauung, d. h. in einer verdrehten Ansicht
des Körpers, wie sie in Wirklichkeit nun und nimmer zu erblicken
war. Daß aber begriffliche Vollständigkeit und nicht etwa rein
künstlerische Rücksichten der „Ebenkomposition" dabei im Spiel
gewesen, beweisen die in Vogelschau daneben dargestellten Schau-
plätze, Feld, Wald, Garten, Ziegelei usw«, deren Plan aufrecht auf
die Bildfläche gebracht ist, um den Inbegriff des ganzen Terrains
vorzurechnen. Damit steht ein für allemal die Tatsache fest, daß
auch in der Kunstgeschichte des Altertums schon mit der sinn-
lichen Wahrnehmung allein gar nicht auszukommen ist, sowohl far
die Entstehung als auch für die Aufnahme des Werks, Wir müssen
die psychische S3mthese, die immer regsame Vorstellungsarbeit des
Intellekts, ebenso in Rechnung setzen, wenn auch hartnäckige
„Materialisten'' sich immer dagegen sträuben. Andererseits aber
liegt ein großer Fehler, eine Art G^lehrtenetymologie darin, den
Uranfang aller echten bildenden Kunst in der Wiedergabe des In-
dividuums, des vorhandenen Einzeldinges zu verkennen und den
Ausgang von der abstrakt-geistigen Potenz als den einzig mög-
lichen hinzustellen, wie es in der Kulturgeschichte noch wie selbst-
verständlich angenommen wird.
Ein weiterer Beweis für imsere Ansicht liegt in der einzig
möglichen Ableitung des dritten Grundbegriffs, den wir außer
Symbol und Individuum noch in dieser Reihe brauchen. Er
kann nur zwischen den beiden Ausgangspunkten gefunden werden,
das ist von vornherein klar. Aber der Inhalt, den wir damit be-
greifen, entsteht auch, wie ausdrücklich betont werden muß, auf
zweierlei Wege, nämlich entweder von dem geistigen Faktor aus-
gehend: in der Eroberung der Außenwelt, oder vom sinnlichen Ob-
jekt ausgelöst: bei der Verarbeitung in der Innenwelt Dieser
dritte Grundbegriff ist der Typus. Er umfaßt also von vornherein
zwei Beziehungen: er ist nicht mehr ein Zeichen, das statt des
Wertes selber geboten wird, wie das Symbol, sondern ist eine
Wiedergabe des Wertes selbst und insofern schon eine Leistung
der eigentlichen Kunst; er ist aber noch nicht die volle Wieder-
gabe dieses Wertes, in der ganzen Eigentümlichkeit des Einzel-
wesens, wie das Individuum in der Wirklichkeit, sondern seiner
wesentlichen Merkmale, die es als zugehörig zu seiner Art oder
2^2 XVII. Plastische Darstellung des Menschen
Gattung ausweisen« Er bevorzugt entweder das Gesetzmäßige
in der Natur, oder das Regelmäßige im Sinne unseres Intellekts.
Schon dieser Versuch einer Umschreibung zeigt, daß zwei genetisch
verschiedene Nuancen darunter verstanden werden, deren Unter-
scheidung für die entwicklungsgeschichtliche Tendenz sehr ent^
scheidend werden kann. Der Typus entsteht entweder durch
Übertragimg der symbolischen Abstraktion auf die künstlerische
Wiedergabe des Individutmis (wie bei den Altägyptem), oder durch
Annäherung der künstlerischen Wiedergabe des Individuums an
das Allgemeine, die begriffliche Kategorie, unter die es imser In-
tellekt subsumiert, d. h. an die Art oder die Gattung^ welche die
Vielheit von Individuen umfaßt (wie in der ostromischen Kunst,
die schon die volle Bewältigung des Individuums durch die vorauf-
gegangene Blütezeit vorfindet, aber zugunsten der Vei^eistigung
auf solche Errungenschaften verzichtet). Damit ergibt sich von
selbst, daß die Definition dieses dritten GrrundbegrijQfs mit jener
doppelten Herkunft seines Inhalts zu rechnen und sich vor Ein-
seitigkeit in der Auffassung von dieser oder jener Seite her zu
hüten hat, um nicht unvermerkt auch irrige Einschränkung zu ver-
schulden. Mit den Ausdrücken Typus und typisch wird ja, wie
jeder denkende Leser weiß, heutzutage ebensoviel^Unfug getrieben,
wie vor nicht langer Zeit mit S3rmbol und symbolisch; doch würde
es hier zu weit fähren, allen Mißbrauch nachzurechnen xmd abzu-
weisen.*) In der Kunstwissenschaft verstehen wir unter Typus
jedenfalls eine Leistung der Kunst, die auf dem Gebiete der sinn-
lichen Anschauungen dasselbe oder etwas Ahnliches darbietet, wie
auf dem Gebiete der geistigen Auffassung der Begriff. Wenn
wir das Symbol mit Sinnbild übersetzen, konnten wir den Typus
ein BegrifiFsbild nennen. Es handelt sich jedoch um ein ^anz kon-
kretes Gebilde der darstellenden Künste, nicht allein um die Ab-
straktion, den Begriff selbst Wir sind deshalb weit entfernt von
jener ästhetischen Theorie des Typischen, die in dem Lehrsatz
gipfelte, die Kunst solle im Individuum die Gattung hervorleuchten
lassen. Aber wir sehen imsere menschliche Veranlagung auf Be-
griffsbildung als eine unveräußerliche, ja im Haushalt unseres
i) Nichts als eine nachlässige Vertauschung der Wörter, oder unklare Begriffs-
verwirrung liegt vor, wenn man unter dem Typischen gerade das Individuelle als
solches versteht. Typisch heiBt in diesem Falle charakteristisch, scharf bestimmte
und überzeugend zutreffende Wiedergabe des Individuellen. Vgl. dazu neuerdings
B. Croce, Estetica, S. 36 f.
Ideal
253
Geisteslebens so notwendige Eigentümlichkeit an, daß ihre Weiter-
wirkung auch im Bereiche der Kunst, wie jeder anderen Aus-
einandersetzung mit der Welt, unausbleiblich erfolgen muß. Der
Typus ist somit ein natürliches und in der Entwicklungsgeschichte
der Kunst selbstverständliches Ergebnis des Ausgleichs zwischen
deni Menschengeist als bewußter Einheit und der Vielheit der
Dinge da draußen, mag auch der echte Künstlersinn, der auf Hin-
gabe an die Individuen erpicht ist, sich heute nur ungern zu seiner
Anerkennung bequemen, ja im schöpferischen Betriebe die zu-
sammenfassende Verallgemeinerung immer als unvermeidliches Übel
verfluchen. Es ist eben die Frucht einer Erbsünde des Menschen-
geschlechts. Der Kunsthistoriker hat alle Ursache, den Tatbestand
hinzunehmen, wie er vorliegt, und wird diese Urkimden des ge-
schichtlichen Werdeganges um so weniger ablehnen wollen, als
unmittelbar daneben sogar ein höchster Wert der Kunst ge-
funden wird*
Bewegen wir uns nämlich von der vollen Erfassung des Indi-
viduums auf den verallgemeinernden Tjrpus der Art oder Gattung
zu, so stoßen wir in der Mitte dieses Weges auf eine Verquickung
des Typischen mit dem Individuellen, des ganz besonderen Einzel-
wesens mit dem höchsten Inbegriff der Gattungsvollkommenheit
Dieses geläuterte Individuum oder diesen zugleich vollkommenen
imd überzeugend lebenswahren Typus nennen wir ein Ideal. Wir
bezeichnen einen einzelnen wohl als Idealmenschen, imd ein Mar-
morbild als Idealt3rpus. Die Götter Griechenlands sind durch die
Kirnst der Blütezeit zu Idealen ausgestaltet worden, imd be-
sonders die Plastik hat darin ihre Hauptaufgabe gefunden, während
sie später nicht selten dazu gelangt, das Bildnis einer bestimmten
historischen Person, wie Alexander, zum Ideal zu erhöhen und da^
mit den Göttern anzunähern, d. h. an ihrem Teil zum Heroenkultus
beizutragen.^) Vergebens aber ring^ die altchristliche Kunst, sei
i) Diese einfache BegrifTsbestimmung macht eigentlich mit einem Schlage die
Begriffsverwirrung unmöglich, die z. B. Wickhoffs Urteil über die klassische
Skulptur der Griechen entstellt: „eine Kunst, die auf den Typus ausging, wie die
griechische" (41), „das griechische Porträt, das sich zu allen Zeiten auf einem Typus
aufbaut" (S. 36), besonders aber S. 1 1 f. : „Die Kunst des Morgenlandes strebt von der
individuellen Erscheinung dem Typus zu imd die hellenische Plastik zeigt die Vollen-
dung dieses Strebens, die abendländische Kunst sucht von dem sich unwillkürlich
bildenden Typus immer wieder auf die einzelne Erscheinung zurückzufuhren. Auch
der griechische Künstler kann wie der moderne nur weiterschreiten, indem er
254 XVII. Plastische Darstellung des Menschen
es im unbewußten Wetteifer mit solchen Leistungen der Hellenen-
welt, sei es im vermeintlichen Gegensatz zu deren heidnischem
Wesen, nach einem Christusideal. Sie liefert statt dessen nur den
Christust3rpus, der nur periodisch befriedigt und wieder einem
anderen Platz macht: wie der knabenhaft bartlose dem männlich
bärtigen, und dieser vollkräftige dem schwächeren und asketischen.
Alle diese Christustypen vermögen nicht das Christusideal zu er-
füllen, das sich in fuhrenden Geistern oder in der allgemeinen
Phantasie der Gemeinden, wenn nicht der ganzen Christenheit aus-
gebildet hat Das poetische Ideal steht dem Erfolg des anschau-
lichen Kunstwerks entgegen.
Auf der anderen Seite des Individuums, das noch voll und
ganz in seiner Gattung steht, begegnen wir einer zweiten Erschei-
nung, die ebenfalls über den Durchschnitt hinausragt Hier sind
es nicht Vollkommenheiten der Gattung, die es auszeichnen, be-
sonders nicht die physischen Eigenschaften, auf die jedes Abbild
der plastischen Kunst zunächst angewiesen ist, sondern eher Ab-
weichungen von der normalen Regelmäßigkeit oder geistige Eigen-
tümlichkeiten, deren Ausprägung wir eben mit jener Steigerung
des Begriffes Individuum zu dem der Individualität zu fassen
suchen. Hier stehen die höheren Werte Persönlichkeit und
Charakter, die sich dem Ideal anreihen mögen. Ethische und
intellektuelle Eigenart, nicht selten Einseitigkeiten, die sich mit
Verkümmerung oder Unterdrückimg- anderer Anlagen verbinden,
gewinnen dabei das Übergewicht (wie schon in jenem asketischen
Christus oder Johannes dem Täufer) und werden immer selbstver-
ständlicher gemeint, je mehr wir uns dem Mittelalter oder den modernen
immer neue Beobachtungen in der Natur macht, aus ihr immer neue Einzelheiten
in seine Werke aufninmit. Aber sie dienen ihm nicht dazu, das Individuelle unter-
scheidend herauszuheben, sondern sie müssen alle mithelfen, einen neuen Typus
aufeubauen." — Hier fehlt der Begriff des Ideals, in dem gerade die Vollendung der
hellenischen Plastik liegt. Bei Riegl lesen wir auf der anderen Seite (S. iii, Anm. i):
„Der Typus hat in der oströmischen Kunst seine vollendetste Abrundung erfahren.
Es ist das neue Ideal dieser antiken Epigonenkunst, das auf die Emanzipation des
Raumes und des geistigen Innenlebens aufgebaut, sich zum klassischen, wesentlich
auf der unmittelbar sinnlichen Erscheinung der Dinge in der Sehebene begründeten
Ideal verhält, wie die Anthithese zur These; aus der Synthese beider Ideale ist
unsere eigene moderne Kunst erwachsen." Hier fehlt leider die Erklärung, daß das
Wort Ideal im ersten Satze subjektiv gemeint ist, d. h. als Ideal der Vorstellung,
Ziel des Strebens, während es angesichts der klassischen Kunst nur objektiv die
höhere Einheit zwischen Individuum und Typus bezeichnen, d. h. im Sinne der
Naturgesetzlichkeit gemeint sein kann.
Persönlichkeit — Charakter — Häfilichkeit 255
Zeiten nähern. Dann sprechen wir neben dem Charakter, der nach
der guten oder nach der schlechten Seite neigen mag, entweder
als Vollkommenheit oder Unvollkommenheit erscheinen kann, je
nach dem Einschatzungswert der Faktoren zu seiner Zeit oder zur
Zeit seiner Beurteiler, — von Subjektivität des Wesens. Dies
Urteil hängt wieder von dem physischen oder psychischen Ideal
ab, oder wenigstens von dem Durchschnittswert, der als Objekti-
vität jener willkürlichen Besonderheit gegenübergestellt wird.
Harmonisches Gleichgewicht aller Kräfte ist das Ideal, dem das
klstösische Altertum imd die Renaissance gehuldigt haben, und
theoretisch wenigstens gilt es auch im Zeitalter der Humanität
Einseitige Abweichungen, im Widerspruch mit der natürlichen An-
lage, entwickeln sich bis zur volligen Entstellung der organischen
Schönheit, und zur Verachtung ihres spezifischen Wertes. Ihre
äußere Erscheinung ergabt, als Gegensatz zur plastischen Schönheit
der menschlichen Gestalt, die Häßlichkeit, die an dieser Stelle
nur als Negation der Vollkommenheit des organischen Geschöpfes,
als beleidigende Enttäuschung des Anspruchs zweckmäßiger Aus-
bildung aller Teile des Individuums nach dem Naturgesetz seiner
Bestimmung eingeführt werden soll; denn nur in diesem teleo-
logischen Sinne brauchen wir den Begriff häßlich in der plasti-
schen Kirnst
Alle Abweichungen aber von der normalen Ausbildung des
Individuums, die Steigerungen der Individualität, der Persönlichkeit
nach der geistigen Seite, des Charakters nach der Bevorzugung
innerer Werte, sind wieder Erscheinungen, die wir unter diesem
oder jenem T3rpus zusammenzufassen pflegen, und dies ist am
ehesten ein — Charaktertypus. Sowohl diese Zusammenfassung
einer Vielheit von Individuen, wie jene andere zur Gattungseinheit,
lehren uns jedoch ein weiteres Moment für die Darstellung durch
die Kunst beachten. Vielheit der Individuen hebt den Wert des
einzelnen mehr oder weniger auf. Jede Plural ität von Er-
scheinungen führt zum Typus zurück, und zwar zunächst für
die menschliche Auffassung, die einer gedrängten Menge noch so
stark entwickelter, mannigfach kontrastierender Individuen nicht
mehr gerecht zu werden vermag, — infolgedessen notwendiger-
weise auch in der künstlerischen Darstellung. So entsteht aus
einer Schar verschiedenartiger Einzelwesen ein Kollektivum. Und
das Kollektivum vermag sich nur typisch zu manifestieren. Auch
wenn wir diese Sammeleinheit zu einem Gesamtindividuum ge»
256 XVII. Plastische Darstellung des Menschen
steigert vorstellen: die höhere Einheit des Gesamtausdrucks kann
nur ein typischer Ausdruck ihres Durchschnittswesens sein.^)
Wird die Vielheit der Individuen oder die Masse individuellen
Ausdrucks in der Kunst endlich so groß, daß sie mit typischer Gre-
staltung des Gemeinsamen nicht mehr auszureichen vermag, so
bleibt ihr schließlich nichts anderes übrig, als abermals der begriff-
lichen Ökonomie zu folgen und eine stärkere, bzw. höhere Abstrak-
tion zu versuchen. So gelingt es vielleicht mit Hilfe des Intellekts,
die unübersehbare Mannigfaltigkeit wieder unter eine übersichtliche
Größe, womöglich gar in eine konkrete Einheit zusammenzufassen.
Damit wird dann wenigstens der plastischen Kunst die Möglichkeit
gerettet, noch ihres Amtes zu walten. Aber sie kehrt damit vom
Typus der Pluralitat zum Symbol für die Allgemeinheit zurück.
Wir nennen solche symbolische Darstellung einer umfassenderen
und komplizierten Ideen verbindimg, zumal wenn die genetische
i) Hier berührt sich das Typische des KoUektivums mit dem Begriff des
Konventionellen; denn es pflegt auf einer Vereinbarung oder gar einem Kom-
promiß zu beruhen wie dieses. Aber die Berühnmg darf nicht verleiten, das Kon-
ventionelle als einen gleichwertigen Begriff in die Reihe: Symbolisch, Typisch, Indi-
viduell — einzuordnen, wie es als Zwischenglied zwischen Typisch und IndividueU
einzuschieben versucht worden ist; denn die Verlegenheit der Kulturgeschichte hat
damit nur eine logische Fehlgeburt hervorgebracht. Den drei anerkannten Grund-
begriffen liegt, auch wo sie in der Form des Adjektivs angewandt werden, ein kon-
kretes Substantiv zugrunde. Diese greifbare Substanz fehlt aber bei „konventionell".
Das Übereinkommen oder die Verabredung geben uns selber nichts Sachliches in
die Hand, wenn wir nicht wissen, worauf sich die Konvention bezieht Das Adjek-
tiv konventionell kann sich also zu jeder Zeit einstellen und für jede beliebige Ein-
schiebselperiode der Kulturgeschichte gelten, wo eigenartige Errungenschaften ge-
läufiges Besitztum werden und konventionelle Wiederholung eintritt. Symbolik wird
konventionell, Typik wird konventionell, sogar Individualität und Subjektivität werden
konventionell, wie die Mode der Selbstherrlichkeit in Höflingskreisen um das abso-
lute Königtum und das Ideal des Obermenschen in der kaum noch modernsten
Generation bezeugen. Konventionell werden alle Stile, selbst der ,jügendstil".
Nicht viel besser steht es mit dem Begriff der Subjektivität, wenn er eine
Kulturperiode nicht allein charakterisieren, sondern zugleich deren Inhalt fassen soll.
Die Kimstwissenschaft muß ihn als solchen ablehnen, und zwar mit derselben Be
gründimg wie das Konventionelle, nur in umgekehrter Progression. Subjektiv kann
die Kunst zu allen Zeiten sein, so gut wie individuell, sowie sie anerkanntermaßen
vom künstlerischen Individuum, nicht vom Kollektiviun ausgeht. Auch Riegls sum-
marische Antithese zwischen Altertum und Moderne, als sei die Kunst des gesamten
Altertums ihrem Wesen nach objektiv, die Kunst aller Folgezeit eminent subjektiv
gewesen, wird die Kunstgeschichte nicht länger befriedigen, als die Beschränkung
des subjektivistischen Charakters auf einen kleineren Abschnitt der letzten Ver-
gangenheit bei K. Lamprecht.
Mehrzahl: Individuum — Typus — Symbol 257
Erklärung nicht ohne successiven Gedankengang entwickelt werden
kann, gewöhnlich Allegorie, und dieser Name schon erfüllt neuer-
dings mit einem gewissen Abscheu. Aber auch diese Erscheinung
ist eine historische Tatsache, und die Kunstwissenschaft muß sie
verstehen lernen, um sie objektiv richtiger zu bewerten. Auch die
Allegorie spitzt sich fast immer, wo sie einigermaßen verständlich
bleibt, auf ein Symbol zu, das den Schlüssel des ganzen Kom-
plexes darbietet Das Wesen der Sache ist dasselbe, auch wenn
dem Symbol sozusagen eine schon konzentrierte Bildungssphäre
mitgegeben wird, die den Inhalt noch als mannigfaltigen vermittelt
Das letzte, worauf es ankommt, ist doch die höhere Einheit, die
Idee des Ganzen, imd diese kann sich nur in einer Gestalt ver-
körpern oder von einem Zeichen ausgelöst werden, wie z. B. unsere
modernen Personifikationen bald ein Typus, bald aber ein Individuum
sind, wo sie nicht gar zu Genrebildern erweitert werden. Und solche
Einzelfigur wird nur noch durch ihr Attribut als Handel, Industrie
oder dergleichen kenntlich gemacht So bezeichnete ein Posthorn
lange die große weitverzweigte Organisation, wird ein geflügeltes
Rad noch heute als Inbegriff einer Sammeleinheit in edlen Kultur-
ländern verstanden.
Wir sehen darnach in der Funktion dieser drei Grundbegriffe
sich eine Art Klreislauf vollziehen, je nachdem sie auf eine Einzahl
oder eine Mehrzahl von Naturobjekten der darstellenden Kunst an-
gewendet werden. Wir steigen angesichts des einzelnen vom Sym-
bol zum Typus und zum Individuum auf und mit dem Eintritt
der Mehrzahl vom Individuum wieder abwärts zum Typus und
kehren vom Typus zum Symbol zurück. Auch dieser Kreislauf
liegt im Haushalt des Menschengeistes begründet Damit aber
verbietet sich von selbst eine Anwendung auf den großen Gang
der Kimstentwicklung, deren jahrtausendelangen Verlauf wir all-
mählich überblicken lernen. Diese Begaffe sind zu eng an das
organische Geschöpf imd seine künstlerische Wiedergabe gebunden,
um den Maßstab für eine Entwicklimgsgeschichte der ganzen Kunst
oder gar der gesamten Kultur abgeben zu können.^)
i) Ganz besonders verunglückt ist der Versuch, eine ornamentale Kunst-
periode zu konstruieren und gar zwischen die symbolische und die typische einzu-
schalten. Ornamentik ist noch keine Kunst, haben wir uns gesagt; deshalb hat es
auch niemals eine omamentale Periode der Kunstgeschichte gegeben; sie könnte
höchstens einer Vorgeschichte der Kunst angehören. Die Menschenwerke, an denen
das Ornament auftritt, sind dagegen der eigentliche Gegenstand, auf den es ankommt,
seien es auch nur Erzeugnisse des Kunsthandwerks.
Schmarsowy Knnttwisseiuchaft. ly
258 XVII. Plastische DarsteUung des Menschen
Der Übergang von der Einzahl zur Mehrzahl vollzieht sich ja
schon in jeder statuarischen Kunst, deren Wesen doch ausschließ-
lich auf die Körpereinheit des organischen Geschöpfes gestellt ist.
Aber auch hier bedeutet dieser Übergang einen Abweg nach der
einen oder nach der anderen Seite.
Der echte Plastiker geht einzig und allein von der KorjÄrvor-
stellung aus. Die organische Einheit des selbständigen, der freien
Bewegung teilhaftigen Geschöpfes wiederzugeben und den Wert
dieses körperlichen Daseins in der Unabhängigkeit der ringsum
abgeschlossenen Form festzuhalten, ist sein Bestreben. Deshalb
streift er alles ab, was Notdurft und Nahrung unseres Leibes an
Symptomen weiterer Zusammenhänge mit der umgebenden Natur
und an Kennzeichen des inneren Stoffwechsels, der Veränderung
und Vergänglichkeit dieser Körperform mit sich bringen. Er be-
vorzugt das dauerhafte Material, um desto sicherer die volle Schön-
heit des Gewächses herauszuretten aus dem unaufhaltsamen Wandel
aller Kreatur und aus dem forteilenden Strom des Geschehens um-
her. Deshalb wendet sich seine Vorliebe bald auch einer engen
Auswahl in den Alterstufen zu. Das Kind, das noch knospenhaft
unentwickelt, den Körperwert verspricht, aber noch nicht vollstän-
dig bietet, ist ebendeshalb noch wenig geeignet, sein Vorhaben ganz
zu erfüllen. Der Greis oder gar die alte Frau zeigen in festum-
schriebenen Formen die Spuren des Verfalls, der Entartung oder
im Kontrast zu den knochigen Teilen, wulstiges, aufgedunsenes
Fleisch und eine schlaffe lederne Haut. Aber in der Blüte der
eben erreichten Ausbildung aller Lebensfunktionen, in der Vollkraft
der erprobten Zweckhaftigkeit und gleichmäßigen Durchbildung
zur höchsten erreichbaren Stufe der Vollkommenheit ist das Einzel-
wesen in glücklichster Befriedigung dem Bildner eine Welt für sich,
die nichts, gar nichts mit einer weiteren Umgebung zu schaffen
hat, sondern einzig und allein auf sich selber beruht
Dennoch drängt die Entwicklung unter dem Einfluß der poeti-
sehen Phantiisie von der Einzelstatue weiter zur Gesellung eines
zweiten oder gar eines dritten Körpers. So sehr dieser Zuwachs
dem Ehrgeiz des Künstlers als Steigerung seines eigenen Erfolges
erscheinen mag, es bleibt doch ein verhängnisvoller Schritt über
den ureigenen Boden der plastischen Schöpftmg hinaus, der dem
KörperbUdner allein gar nicht in den Sinn kommen soUte. Wer
dem Leben nachjagt, statt das Dasein zu verewigen, gelangt von
der Einzelfignr zur Gruppe.
Die plastische Gruppe 259
Die landläufige Definition dieses Zuwachses erklärt ihn denn
auch vom Standpunkt der Mimik und der Poesie, wie wir so
manche Bestimmung von dorther übertragen, da die Ästhetik der
bildenden Künste sich nur langsam auf sich selber besinnt Jene
gewohnte Definition versteht unter Gruppe eine Mehrzahl von
Einzehvesen, die zueinander in Beziehung stehen. Sie geht also
von der Tätigkeit der Lebewesen aus, die aufeinander gerichtet
ist, d. h. von den Gesichtspunkten zeitlicher Auffassung, die vom
mimischen Ausdruck flüchtigster Relationen bis zum Kausalnexus
einer Fabel aufsteigen. Aber für den Gesichtspunkt räumlicher
Anschauung ergibt sich diese innere Zusammenfassung als wenig ^\^
stichhaltig.
Mit Recht erhebt deshalb der Bildhauer Adolf Hildebrand ^) da-
gegen Einspruch: „Eine Gruppe im künstlerischen Sinne", erklärt
er, „beruht nicht auf einem Zusammenhang, der durch den Vorgang
entsteht" Aber seine eigene Bestimmung: „es muß ein Erschei-
nungszusammenhang sein, welcher sich als ideelle Raumein-
heit gegenüber dem realen Luftraum behauptet," ist ebenfalls noch
zu weit. Sie beruht auf dem festen Standpunkt optischer An-
schauung allein, umfaßt also die malerische und gelegentlich auch
die architektonische Gruppe mit, während Plastik als Körperbild-
nerin gewiß zunächst nur von den t£istbaren Werten ausgehen
kann, dagegen nicht an einen festen Standpunkt gebunden ist,
sondern das Werk ebensogut zu umkreisen vermag.
Wir verstehen unter Gruppe einen Komplex von Körpern,
wenn es erlaubt ist, dies Wort zunächst in der üblichen Dehnbar-
keit des Begriffes zu gebrauchen. Je nach dem Standpunkt aber,
von dem wir diesen Komplex auffassen, ändert sich die Bedeutung
des Wortes in den drei bildenden Künsten.
Nun aber erkennt die Plastik, insbesondere die statuarische
Kunst, von der wir ausgehen, solange sie auf ihrem eigenen Grund
und Boden waltet, als höchste Instanz nur die Körpereinheit des
organischen Geschöpfes, imd zwar des menschlichen Individuums
an. Sie müßte demnach die Herstellung eines organischen Zu-
sammenhangs als natürliche Grrundlage fordern. Unter ungesuchten
Verhältnissen kann dieser höchste Anspruch der statuarischen
Kunst von der Gruppe schon gar nicht mehr erfüllt werden. Wenn
i) Das Problem der Form in der bildenden Kunst S. 98. Vgl. dazu Schmarsow,
Plastik, Malerei und Reliefkimst 1899, S. 123 fr.
I7»
26o XVII. Plastische Darstellung des Menschen
also die Skulptur den Fortschritt zu einer Mehrheit von Einzel-
wesen erreichen will, so muß sie auf Körpereinheit verzichten. Sie
kann nur andere AufFassungsweisen unterschieben, die von der
ihrigen mehr oder minder abweichen. Sucht sie an dem Umkreis
der Bedingungen organischer Geschöpfe festzuhalten, so vermag
sie als ihre Aufgabe nur die Herstellung eines möglichst nahen
Zusammenhangs zwischen den organischen Körpern zu erstreben,
der durch die natürliche Beweglichkeit des menschlichen Leibes
imd seiner Gliedmaßen entstehen imd aufrechterhalten werden
kann. Unleugbar geraten damit die Individuen, die so miteinander
verbunden werden, in Abhängigkeit voneinander, entweder einzeln
oder insgesamt Das höchste Anrecht des Subjekts muß preisge-
geben oder geschmälert werden. Das ist wieder eine Einbuße des
echten plastischen Wertes. Nur große Vorzüge anderer Art ver-
mögen sie aufzuwiegen.
Die innigste Verschlingung aller Körper, wo alle als Teile so-
zusagen eines Ganzen voneinander abhängig und in ihrer Haltung
gegenseitig bedingt erscheinen, wäre die letzte Konsequenz; aber
sie enthält auch die größte Gefahr, daß die Körpervorstellimg, die
klare Rechenschaft über die ganze Gestalt jedes Individuums, die
der Plastiker verfolgen muß, bei diesem körperlichen Zusammen-
hang nicht mehr zu ihrem Recht gelange. Die bekannte Ringer-
gruppe in Florenz wäre darnach eine der vollkommensten Lösimgen:
hier erscheint die Gmippe wirklich als Komplex von Körpern, fast
wie ein Knäuel, der sich auch vom Boden loslösen imd daherroUen
könnte. Mit solcher Annäherung an die Kugelform entstünden
aber zwei Abweichungen von der Körpereinheit der Menschen-
gestalt. Es ginge der Eindruck des festen Standes der Gesamter-
scheinung verloren und zweitens die charakteristische Gliederung
des organischen Gewächses. Bei anderen plastischen Gruppen um-
schreibt denn auch eine regelmäßige stereometrische Figur das
Ganze, nur sind es die aufrechten, fest auf der Grundfläche stehen-
den Figuren, die dabei bevorzugt werden. Was aber bedeutet
solche Annäherung an die kristallinische Körperwelt? Die Einheit
des Komplexes, die nicht mehr in der organischen Natur gefunden
werden kann, wird statt dessen in der toten gesucht; die abstrakte
Form muß ersetzen, was die Gestalterin organischer Körperformen
nicht mehr zu leisten vermag.
Es ist unleugbar, was wir schon von ägyptischen Einzelstatuen
aussagen mußten, eine Zuflucht zur geistigen Vorstellung. Mit
Künstliche Einheit 261
Hilfe der abstrakten Form faßt der Intellekt auch die Mehrzahl
von Individuen noch als Einheit auf. Sehr bald gesellt sich diesem
äußeren Auskunftsmittel ein inneres zu. Nicht allein im Aufbau der
Einzelkörper zu einem einigermaßen haltbaren Gefuge, das mit den
Gesetzen der Statik und Mechanik ebenso rechnen muß wie mit
der anatomischen Möglichkeit im menschlichen Wuchs, ergibt sich
die Notwendigkeit innerer Motivierung. Die Forderung überträgt
sich durch das einheitliche Motiv, das gefimden werden muß, auch
auf die Innenwelt, und der poetische Kausalnexus oder die Einheit
des Vorgangs, endlich gar die abstrakte Einheit der Idee werden
angerufen, um den Anspruch zu erfüllen, dem die natürliche Grund-
lage der Körpereinheit längst aus den Augen verschwunden ist
Nehmen wir endlich hinzu, daß in einer Gruppe immer ein In-
dividuum dem anderen Konkurrenz macht in der Aufmerksamkeit
imd dem Gefühlsanteil des Betrachters, so ist auch hier der Über-
gang vom Individuellen zum Typischen angebahnt; ja die Be-
schränkung auf das Typische wird um so notwendiger als nur
dieses das Gemeinsame bieten kann. Je mehr der poetische Inhalt
des Ganzen die Oberhand gewinnt, wird auch der Beschauer darauf
hingedrängt, den Zusammenhang als Einheit zu erfassen, nicht da-
von abzuschweifen auf die Glieder der Gmippe für sich.^)
Damit erst kommen wir auf die wichtigste Konsequenz, die
sich aus der Anweisung eines Zentralpimktes für die Aufmerksam-
keit ergibt Die Plastik sucht ihr Wesen als Körperbildnerin auch
bei der Behandlung einer Mehrzahl wenigstens dadurch zu be-
friedigen, daß sie diese Einzelkörper unter das gemeinsame Gesetz
eines Koordinatensystems bringt und einen sie alle zusammen-
fassenden dreidimensionalen Komplex aus ihnen herstellt. Aber
da sie Ebenbilder organischer Geschöpfe, Menschengestalten, zu-
sammenordnet, die diese stereometrische Form eines regelmäßigen
i) Man betrachte zunächst einmal Niobe und die Tochter, die sich eng an sie
anschmiegt, allein, dann etwa Menelaos mit dem Leichnam des Patroklos (Florenz),
Eros und Psyche (Rom, Kapitol) und die drei Grazien (Siena); schon äußerliche
Vereinigung dreier Körper durch die Schlangen im Laokoon. Andererseits die Er-
gänzungsversuche der Gruppe Harmodios und Aristogeiton (Neapel) und als Extrem
gegenüber die beiden Ringer (Bronze, Neapel), zwischen denen schon der Intervall als
wesentlicher Bestandteil für die Spannung dazugehört. Durchaus poetisch wird der
Zusammenhang dann in der Gruppe des Menelaos, Abschied von der Mutter (Rom,
Buoncompagni) und in den Zusanmienstellungen : Orest und Elektra (Neapel),
Orest und Pylades (Paris) oder Gruppe von S. Udefonso (Madrid, Prado) mehr oder
minder willkürlicher Art.
202 XVII. Plastische Darstellung des Menschen
Körpers nicht massiv ausfüllen, sondern nur innerlich gliedern und
durchsetzen, so bleibt einmal die Körpereinheit, die erreicht wird,
eine ideelle, nur in der Vorstellimg hervorgebrachte (wie schon
gesagt wurde), und es entsteht nicht selten gerade dort, wo wir
den Schwerpunkt des umschriebenen Körpers suchen würden, ein
Raumvolumen oder ein hier und da verteilter Schattenraum zwischen
den Gestalten. Ist die Komposition der Gruppe nicht mehr so ge-
schlossen, sondern lockerer, vielleicht an der Vorderseite offen, ^) so
entsteht erst recht der zugehörige Raum, ja durch die Koordina^
tion der Körper auf einer Basis notwendig schon ein Gestaltungs-
raum von mehr oder minder ausgedehnter Tiefe. Das ist ein
optischer Faktor neben dem körperlich tastbaren, und er muß als
solcher die Gesamtökonomie imfehlbar mitbestimmen, d. h. zimächst
einen Zwiespalt hervorrufen, der nur durch einen Kompromiß aus-
geglichen werden kann.
i) Den Übergang bilden die Giebelgruppen im festen Dreieckrahmen zur
Relief anschauung.
XVIIL
RELIEFKUNST
GESTALTUNGSRAUM — RELIEFZONE — GRUNDFLÄCHE — RELIEFSTIL —
KOMPOSITION — FLACH- UND HOCHRELIEF
Wer mit seinen Händen in das bildsame Material greift und
Korper daraus formt, oder mit seiner Hände Arbeit dem ge-
wachsenen Stein Gestalten organischer Geschöpfe abgewinnt, der
kennt zunächst keinen anderen vorhandenen Raum, als den Ge-
staltungsraum, den sein Körpergebilde selbst erfüllt Der Ge-
staltungsraum des plastischen Künstlers liegt innerhalb seiner Tast-
region und bleibt darin, solange die Tätigkeit seiner Hände mit
ihren Werkzeugen an dem Erdklumpen oder dem Marmorblock
dauert Auch wenn der Meister zur KontroUe seiner Formbildimg
zurücktritt, d. h. um mit den Augen die Wirkimg des Geformten
zu prüfen, bleibt der nahe Standpunkt doch der spezifisch plastische,
weil er die Herstellung der realen Körperlichkeit allein ermöglicht
und entscheidet Es ist nicht sowohl der optische Standpimkt, als
der taktile, vor allen Dingen nicht der feste des ruhigen Schauens,
sondern der bewegliche, rings um die entstehende Körperform ver-
schiebbare des abtastenden Sehens. In dieser nahen Sphäre des
menschlichen Tastgefühles liegen die Körperwerte, die der Bildner
erschafft. Jenseits der Tastregion hat er noch gar nichts zu
suchen, solange es nur darauf ankommt, die konstitutiven Eigen-
schaften der stofflichen Existenz zu sichern. Eine schmale Basis
genügt zur Vertretung des allgemeinen Grundes und Bodens. Sie
versinnlicht die horizontale Unterlage, auf der die Schwere des
Körpers lastet und Widerhalt findet Damit ist aber auch voll-
kommen klar ausgesprochen, daß es sich um die elementarste
Raumrelation handelt, d. h. die konstitutive, die den dreidimen-
sionalen Körper an seine Stelle in den Raum setzt Die zwei
senkrechten Ebenen, der Breite und der Tiefe (Dicke), durchschnei-
den sich in der Höhenachse und treffen auf die wagerechte Ebene
204 XVIII. Relicfkunst
des Grundes. Wird diese wagerechte Ebene durch eine Unterlage
über den gemeinsamen Boden hinaufgehoben, auf dem wir alle
fußen, so hebt die Basis auch die Gestalt aus dem gemeinen
Grunde auf ein „höheres Niveau", enthebt sie bis zu einem gewissen
Grrade der Dira necessitas, den Durchschnittsbedingungen der sterb-
lichen Kreatur. Aber den umgebenden Raum zieht die statuarische
Kunst auch so nicht in ihre Behandlung hinein; es liegt ihr durch-
aus fem, die leere Möglichkeit weiterer Ausdehnimg außer und
neben ihrer plastischen Gestalt zum Gegenstand ihrer formenden
Tätigkeit zu machen.
Wo der nahe Umkreis um uns selbst, in dem wir dreidimen-
sionale Körper gleich dem imsrigen anzutreffen gewöhnt sind und
Gegenstände auf Druck und Stoß zu finden erwarten, aufhört, da
ist auch das Bereich der Rundplastik zu Ende. Denn sobald das
Körpergebilde nicht mehr in solcher Nähe sich aufdrängt, sondern
in einem Abstand auftritt, der uns nicht unmittelbar berührt, da
wird auch der Maßstab bei seiner Wahrnehmung schon ein anderer.
Wir bleiben wohl gar völlig imbekümmert um ihn und kehren uns
gar nicht daran, ob er dasteht oder nicht „Drei Schritt vom
Leibe" sagt noch mehr als „Noli me tangere". So weit brauchen
wir ihn aber noch gar nicht zu entfernen, um die Veränderung in
der sinnlichen Aufnahme deutlich genug zu spüren. Mit jedem
Schritt nimmt nicht allein die Tastbarkeit des Dinges, sondern auch
die Tastbeziehung auf uns ab; mit jedem Schritt wächst das Ober-
gewicht der sichtbaren Werte und der Schaubeziehung; mit jedem
Schritt schiebt sich eine Raumschicht mehr zwischen uns und das
Objekt, und diese Raumschicht hört auf, Gestaltungsraum zu
sein, und wird Gesichtsraum, — wird aus dem körperlich tast-
baren Wert ein luft- und lichterfiillter optischer Wert Damit ge-
langen wir an eine Grenze, die wir imser bequemes Sehfeld nennen
und in jenem geeigneten Abstand als senkrechte Parallelebene vor-
zustellen pflegen.
Innerhalb dieses Abstandes von uns ergibt sich also für unsere
menschliche Organisation ganz natürlich eine Übergangssphäre, in
der tastbare und sichtbare Werte ineinandergreifen imd sich mit-
einander ausgleichen müssen. Hier gleitet fiir unser Auge wie für
unser Körpergefiihl die Auffassung der Einzelkörper für sich in
die Auffassung ihres Zusammenhangs über, sei es der Dinge unter-
einander, sei es der Dinge mit ihrer räumlichen Umgebimg. In
dieser Übergangssphäre waltet, mit anderen Worten ausgedrückt,
Gestaltungsraum — Reliefzone 265
die Reliefanschauung.*) So erklärt sich auch die Entstehung
einer eigenen Reliefkunst, die solche tastbar-sichtbaren Werte
verkörpert, aus der Natur dieser in unserem Verhältnis zur Außen-
welt vorhandenen Übergangssphäre und zugleich ihr Charakter als
eine Art von Zwischenreich, in dem die Grenzen der beiden ver-
schiedenen Sinnesregionen ineinanderfließen können, bis eine be-
wußte Scheidung ihres Wesens eintritt. Wir nennen sie deshalb
die Reliefzone, in der sich wieder untere und obere nach ihrer
Beziehung zu unseren Tast^ oder zu unseren Sehorganen ausein-
anderlegen. Gehen wir auch hier von der Seite der Tastregion
aus, so unterscheidet sich der Gestaltungsraum der Reliefkunst von
dem der Rimdplastik dadurch, daß er nach hinten zu von einer
festen, uhdurchsichtigen Grenzfläche abgeschlossen wird und an
dieser tektonischen Scheidewand des bildsamen, durchfuhlbaren und
durchschäubaren Raumes haftet. Jenseits dieser Grrundebene liegt
nicht alldin das Ungeformte und Unbezeichnete, das sich im Fort-
besteheh eines stofflichen Kontinuums manifestiert, sondern auch
das Ur/gfeif bare imd Untastbare, also für die Vorstellung ein Va^
kuum, Äir den Sehenden ein Schattenreich, das für den echten
Plastikefa- ein Nichts bleibt, solange er nicht optisch verbildet und
seineif feigensten Tastnatur entfremdet ist.
t)ie Grrundebene des Reliefs ist aber, als Stoflfmasse, selbst ein
tektöüischer Körper, mag sie (wie bei attischen Grabstelen) frei auf-
gerichtet stehen oder (wie an und in Gebäuden) als Bestandteil zu
ein^f msissiven Mauer gehören. Sie muß nicht allein als Raum-
scheide, sondern auch als Angehörige der kristallinischen, d. h. un-
organischen Körperwelt in Rechnung gesetzt werden. Zunächst
scheint sie nur die Möglichkeit, das Bildwerk anders als von der
Vorderseite zu betrachten, für den menschlichen Beschauer abzu-
schneiden. Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß sie im
übrigen den Wechsel des Standpunktes gegenüber der vorderen
Parallelebene ebenso offen läßt, wie auch sonstige tektonische, an
der Fläche haftende Gebilde diese Freiheit der Ortsbewegung vor
der Grenze gewähren. Es bleibt sowohl seitliche Verschiebung des
Standpimktes auf der parallelen Standlinie des Beschauers, als auch
i) Vgl. Schmarsow, Plastik, Malerei und Reliefkunst, Leipzig 1899, S. 66, 76 f.,
91, 115, 163 fr. Darauf fufit auch durchgehends Riegl in seinem vortrefflichen ge-
schichtlichen Überblick über den Gang der Reliefkunst während des Altertums.
Spätrömische Kunstindustrie, S. 51 ff.— 122.
266 XVIII. Relicfkunst
Veränderung des Abstandes selber vom nahen abtastenden Sehen
zum entfernteren Schauen, ja der Übergang zu einem festen Stand-
punkt möglich. Die tektonische Scheidewand hinten hebt jedoch,
für dieses Schauen vom festen Standpunkt aus besonders, das Vor-
dringen des Blickes in die Tiefe dadurch auf, daß sie den weiteren
Raum verschließt So wirkt sie als negative Instanz, indem sie
die Durchverfolgung des Schauens von jenem festen und entfernten
Standpunkt zum rein optischen Verhalten vereitelt. Ebendadurch
hält sie positiv die freie Wahl seitlicher Bewegungen offen; ja sie
drängt auf diese variable Prüfung des Sachverhaltes hin, verweist
auf die Berechtigung des tastenden Sehens aus der Nähe, zur Er-
gänzung des zusammenfassenden Schauens, indem der rechtwinklig
gegen sie andringende Blick überall an ihr abgleitet in seitliche
Richtungen. Sie wirkt als positive Instanz aber nicht allein auf
die Sinneswahmehmung, sondern auch auf die Vorstellung, und
zwar dadurch, daß sie selbst sowohl den weiteren Raum bedeuten
kann, als auch den weiteren Zusammenhang überhaupt: sie über-
nimmt die Gewähr für alle sonstigen Bedingimgen räumlich-körper-
lichen Daseins der dargestellten Dinge, sie liefert den ganzen
Inbegriff der nicht mit dargestellten Welt So zwingt sie, die An-
wandlungen fortschreitenden Tiefenvollzuges, die in dem betrach-
tenden Subjekt aufkommen, immer wieder ziirückzustauen imd in
der einen Schicht des Gestaltungsraumes sich auszubreiten. Damit
aber nötigt sie uns stets, zur Körpervorstellimg, von der das
plastische Schaffen ausgegangen, unbeirrt, als zur Hauptsache heim-
zulenken. Dies leistet sie unvermerkt, solange sie nicht von der
mächtigen Phantasie des Menschen selbst verwandelt, d. h. aus
einer tastbaren eine nur sichtbare Ebene wird.
Auf der anderen Seite nämlich gemahnt die Grrundebene zu-
nächst an die Hausgesetze der Nachbarin Tektonik. Auch die
plastische Darstellimg organischer Geschöpfe wird durch sie an
die Bedingimgen der regelmäßigen Form, an die stereometrische
Gesetzmäßigkeit der unorganischen Natur, des festen Untergrundes
aller Lebewesen geknüpft. Und zwar geschieht diese Anlehmmg
an die Tektonik gerade da, wo die Gebilde der Plastik nicht mehr
auf sich selber allein beruhen können, wo das Hauptanliegen der
Kunst nicht mehr deren Körperlichkeit ist, sondern deren Zu-
sammenhang imtereinander. Zu den Vorzügen der kristallinischen
Welt und zum Glauben an die Beharrung ihrer Gesetze muß die
Skulptur ihre Zuflucht nehmen, wenn in ihrer eigenen Organisation
Grundfläche — Ursprung und Absicht 267
der dreidimensionale Komplex nicht mehr stark genug ausfallt, um
sich selber aufrechtzuerhalten, oder wenn die Bewegung, die sie
zu fassen sucht, den Grundstock ihrer Körperbildung ins Schwanken
bringt. Mit der Aufrechterhaltung der Reliefebene übernimmt die
Plastik auch die Handhabung tektonischer Regelmäßigkeit, soweit
sie sich selber dadurch zu sichern vermag oder sonstige Vorzüge
aneignen darf, die wieder dem freieren Spiel der Phantasie zu-
statten kommen.
Denn die führende Rolle behält beim Relief doch, trotz all
dieser Annäherungen an die Tektonik, auch im engsten Bündnis
noch, die Plastik. Die Vorstellung der Körper nach dem Ebenbilde
des Menschen, also die Organisation und Belebung in diesem Sinne,
bleibt auch in der Reliefkimst zunächst der Kern ihres Wesens,
von dem auch unsere Beurteilung ihrer Werke immer auszugehen
hat, — solange die Entfremdimg durch den Wetteifer mit der
anderen Nachbarin, Malerei, nicht unverkennbar in die Augen springt
Wie aber kommt dann die plastische* Vorstellung überhaupt
dazu, von der dreidimensionalen Körperbildung im ringsum unbe-
zeichneten Raum zur Projektion ihrer Gestaltung auf die Ebene
überzugehen? Mancherlei Beweggründe äußerer und innerer Art
sind in den soeben angestellten Erwägungen schon angedeutet
Die durchgreifende Erklärung für die schöpferische Phantasie, die
sich alle Mittel dienstbar macht, liegt in dem umfassenderen Ver-
langen, auch den Zusammenhang der Individuen unterein-
ander zur Darstellung zu bringen, also in dem gleichen Antrieb,
der die statuarische Kunst von der Einzelfignr zur Gruppe hinüber-
drängt. Aber neben den inneren Gründen, die eine solche Be-
reicherung des KunstwoUens motivieren, bieten sich auch äußere,
rein sinnliche Momente als bestimmend an für den Anschluß der
Plastik an die vertikale Parallelebene, die sonst dem ursprünglichen
Ziel ihres Schaffens fem genug lag.
Die technischen Bedingungen der Skulptur, die Bearbeitung
der gewachsenen Steinmasse, fuhren zunächst darauf hin und stellen
das Ergebnis ungesucht vor die Sinne. Die Felswand im Gebirge,
der Riesengestalten sitzender Monarchen abgerungen werden sollen,
wie vor jenen Grottentempeln Ägyptens, bleibt auch hinter den
vollrunden Kolossen als Fläche bestehen. Der kleinere Marmor-
block von kubischer Grundform, der in die Werkstatt geschafft
worden ist, muß von jeder Seite mit dem Meißel angegriffen werden,
und der Fortschritt der Gestaltung ist nicht so schnell, daß nicht
7
V
268 XVIII. Reliefkunst
mancher überraschende Eindruck solcher Übergangsstadien sich
einprägen sollte. Die bildnerische Vorstellung des Künstlers muß
unwillkürlich davon beeinflußt werden. Noch Michelangelo verrät
\ als Dichter, wie seine schöpferische Phantasie unter den Bann
dieses technisch bedingten Werdegcinges geraten ist. Gerade der
Gegensatz des kristallinischen Materials und der organischen
Formen, die sich daraus abheben, kann seinen Einfluß nicht ver-
fehlen und bringt sogar die Illusion hervor, dieser nur praktisch
unvermeidliche Umweg von außen nach innen sei der ursprüng-
lichste, allein berechtigte, sei die Eigenart der Plastik selber.
Keinen primären, sondern nur einen sekundären Wert gestehen
wir dem notgedrungenen Verfahren der Steinskulptur zu,*) imd
zwar, wie sich von selbst versteht, nicht der materialistischen oder
utilit£iristischen Auslegung, sondern der psychologischen allein. Das
Erlebnis fand wenigstens in dem Bereich unmittelbarer Berühnmg
mit dem bildsamen Stoffe statt, sowie das schöpferische Subjekt
sich mitten bei der Arbeit in das genießende Subjekt verwandeln
muß, indem es schauend zusammenfaßt, was Hand und Meißel hier
und da herumfahrend unter der Kontrolle der konvergierenden
Augen hervorgebracht haben. Am Ende jedoch, wenn die ent-
stehende Rimdfigur auch von der anderen Seite so weit vorge-
schritten war, erfolgte die Beseitigung der letzten Reste unge-
formten Materials zwischen den Gliedern — und damit der Durch-
bruch einer Öffnung oder mehrerer gar in die tastbare Einheit des
Körpergebildes. Das ergab für den formenprüfenden Blick des
Bildners einen unliebsamen Kontrast. Dagegen aber konnte nur
\ ein Heilmittel helfen: die fertige Figur so weit einer vorhandenen
Wandfläche anzimähem, daß der störende Lichteinfall verschwand.
Doch damit geraten wir in die Geschichte der Entwicklung
selbst, die sich gerade an den Übergang vom nahen abtastenden
Sehen zum weiteren Abstand der bequemen Schauweite und end-
lich zum noch entfernteren Standpunkt knüpft*) Sie erst gibt
dann die weiteren Tatsachen der sinnlichen Wahrnehmung an die
Hand, die eine gewollte Annäherung des Rundwerks an die ebene
Fläche veranlassen mochten. Viel entscheidender von vornherein
i) Wie lange in Griechenland die Bronzeplastik für das Verständnis des Menschen-
körpers den Vortritt behauptet, ist eine wohlbekannte Tatsache. Man frage sich
nur, wie das kam.
2) Vgl. Schmarsow, Plastik, Malerei und Reliefkunst, S. io8, 152 ff., 163—167.
Reliefstil — Ägypten 269
wirkten indes sicher die vorhandenen Bedingungen, unter denen
die Reliefkunst selbst zur Anwendung kommen und zur Ausbildung
gelangen konnte, d. h. die äußeren Tatsachen, mit denen jede gene-
tische Erklärung rechnen muß. Grabstelen verlangten einen tekto-
nischen Bestandteil, der eine Bildfläche darbot, die der Plastik
ebenso willkommen sein mußte, wie der Malerei. Und die großen
geschlossenen Wände der ägyptischen Tempelbauten erzählen ja
wie die Bergwände der Nekropolen genugsam, woher die Ebene
kam, der sich die Reliefkunst anbequemt. Jene Frage nach dem
Ursprung des Reliefs kann nur aufgeworfen werden, wenn man
solche vorhandenen Umstände als Entstehungsursachen prinzipiell
ablehnt und alles aus dem freien Kunstwollen allein abzuleiten ver-
sucht, wie Alois Riegl es unternommen hat
Noch überraschender freilich klingt die vorausgeschickte, nicht
etwa als Endergebnis gewonnene Doktrin des nämlichen Forschers,
es gäbe überhaupt keinen Reliefstil als solchen, der nur dem Re-
lief allein zukäme; denn auch die Rimdfigiir folge bis ans Ende
der klassischen Zeit nur dem gleichen Kimstwollen wie das Relief
(S. 55). Da fragt man sich doch wohl erstaunt, weshalb denn die
Rimdfignr überhaupt entstanden sei, und weshalb nicht die ganze
Plastik des klassischen Altertums aus lauter Reliefs bestehe? Die
seltsame Behauptung, die dem Wesen der Korperbildnerin unter
den Künsten geradeswegs zuwiderläuft, ist nichts als eine Petitio
principii, oder eine Verwechslung von Ursache und Wirkung, die
vielleicht auch nur möglich bleibt, wenn man für eine Ebene an-
sieht, was tatsächlich nur eine Oberflächenschicht, d. h. eine
Körper- oder Raumschicht von geringerer oder größerer Tiefen-
ausdehnung sein kann. Einige Stichproben aus der Geschichte der
Reliefkunst werden das dartun. Wir folgen dabei Riegl selbst:
„Was das älteste uns bekannte Relief — das altägyptische —
angestrebt hat, war einerseits die scharfe Heraushebimg des Indi-
viduums, andererseits seine Ausgleichung und Verbindung mit der
Ebene. Beide Postulate bedangen einsinder wechselseitig; denn
jede partielle Deckung zwischen zwei oder mehreren Individuen
vernichtete den tastbaren Eindruck absoluter Ebene, und jede
stärkere Ausladung gefährdete umgekehrt den Eindruck ge-
schlossener Individualität Das ägyptische Relief schuf daher in
Höhe imd Breite möglichst scharf und unzweideutig abgeg^renzte
tastbare Flächen, aber in weitestgehender Annäherung an die Ebene
und daher unter möglichstem Ausschluß jeder augenfälligen Tiefen-
270
XVIII. Reliefkunst
erstreckung, des Raumes und des Schattens. Von den Relationen,
in welchen die Teile untereinander und zum Ganzen stehen, be-
rücksichtigt die altägyptische Kunst grundsätzlich nur diejenigen
in der Höhe und Breite (Ebenrelationen), nicht aber diejenigen in
der Tiefe (Raumrelationen) . . . Der Grund ist die Scheidewand,
durch welche aller störende Raum hinter der augenfälligen Ober-
fläche der Figur einfach abgeschnitten wird."
„Am deutlichsten gelangt dies Sachverhältnis am Relief en
creux zum Ausdruck, an welchem der Grund als das höher Aus-
ladende geradezu als das Wichtigere erscheint; das Herausholen
der Einzelform aus der stofflichen Urfläche*) ist niemals mehr
in gleich eindringlicher und immittelbar überzeugender Weise ver-
sinnlicht worden. Die Relieffiguren sind denkbar flach gehalten,
so daß möglichst wenig Schatten darin wahrnehmbar wird; sie
müssen daher in der Nahsicht genossen werden, denn je femer
man von ihnen abrückt, desto stumpfer und flacher wird die Ober-
fläche notwendigerweise erscheinen."
In der altägyptischen Kunst gibt es, wenigstens der Absicht
nach, nur eine Flächenkomposition. Das Kompositionsgesetz
war dasjenige der symmetrischen Reihung, das die Figuren mit
der Ebene verbunden und ausgeglichen und zugleich imtereinander
isoliert hinsetzte. Zu den in Höhe und Breite wahrnehmbaren
seitlichen Beziehungen der Teile aum Ganzen an den Dingen, etwa
am menschlichen Körper, zählen auch die Maßverhältnisse oder
Proportionen. Die altägyptische Kunst ist grundsätzlich auf Dar-
stellung der Proportionen ausgegangen.^ Das Kunstmittel zur
Darstellung der proportionierten Einzelformen war die Umrißlinie,
und in dieser gelangte bei den Agjrptem das prinzipielle Streben
aller bildenden Kunst nach Einheit und Klarheit gegenüber der
Vielheit der proportionalen Beziehungen zum Ausdruck. Die
Linie wurde in ausgesprochener Tendenz auf eine möglichst
kristallinisch gesetzliche Komposition, wo es irgend anging, völlig
gerade gefuhrt, und wo Abweichungen von der Geraden unvermeid-
i) Woher stammt diese stoffliche Ur fläche? fragen wir kritisch, ihr uranfang-
liches Wesen erwägend, und können nur antworten: sie liegt im bildsamen Stein-
material gegeben. Ihre Mutter ist die Stereotomie, nicht etwa die ebenflächige Ur-
anschauung des ägyptischen KunstwoUens. Ihr Vater ist der Zweck, zu dem man
\'ertikalebenen aufzurichten pflegt.
2) Daß sich gerade hierin eine geschichtliche Entwicklung der ägyptischen
Kunst beobachten läßt, muß hier außer Betracht bleiben.
Ägypten 271
lieh waren, sind diese in eine möglichst gesetzliche Kurve gebracht
worden. In der strengen Proportionalität der Teile und in deren
einheitlicher Bändigung durch ungegliederte und ungebrochene,
soweit aber nötig regelmäßig gebogene Umrisse ruht die „Schön-
heit" dieser ägyptischen Kunstwerke (S. 52 f.).
Es leuchtet jedoch ein, daß die Isolierung der mit der Ebene
verbimdenen Einzelfiguren untereinander in absoluter Strenge nicht
durchfuhrbar ist Die geringste (inhaltliche) Notwendigkeit, zwei
Figuren in einen engeren augenfälligen Bezug zueinander zu
bringen, mußte zu einer Durchbrechung des Prinzips der Reihung
fuhren. Hier lag ein Gegensatz und daher ein Problem: die Ver-
bindung der Einzelfiguren nicht allein mit der Ebene, sondern auch
untereinander. Es ist nicht minder klar, daß die tiefräumlichen Be-
ziehungen — Verkürzungen und Deckungen, Schatten — unmöglich
vollständig unterdrückt werden können, sobald auch nur die seit-
lichen Beziehungen zugelassen sind. „Am Profilkopf z. B, findet
eine Verkürzung von den Schläfen bis zum Nasenrücken, am Bauche
eine solche von den Hüften bis zum Nabel statt. Deckungen waren
an der schreitenden menschlichen Figur in der obersten Partie des
zurückliegenden Beines unvermeidlich; desgleichen fast bei dem
geringsten Versuche, die Arme in Aktion zu setzen. Die Unter-
drückung der Räumlichkeit in der ägyptischen Reliefkimst be-
deutete somit einen zweiten Gegensatz, in welchem abermals
ein Problem und daher der Keim zu einer Weiterbildung ent-
halten war."
Fragen wir ims aber, woher diese beiden Gegensätze? — so
kann die Antwort doch wohl nur lauten: sie ergeben sich aus dem
Widerspruch der gegebenen tektonischen Ebene und des taktilen,
nahsichtigen, auf Körperwerte gerichteten Kunstwollens der
Ägypter. Die Relief bild er acceptieren das Gesetz der Ebene, die
ihnen gegeben wird, als das maßgebende und bequemen alles da^
rauf Darzustellende diesem Hausgesetz der Flächendekoration an.
So sind sie trotz vereinzelter Anläufe nicht über die „Ebenrela-
tionen" und die wechselseitige Isolierung der Einzelfiguren hinaus-
gelangt. Aber die Widersprüche, die trotzdem übriggeblieben,
beweisen, daß nicht etwa die Ebene als solche das absolute Kunst-
ideal des Ägypters gewesen (wie Riegl will). „Die ägyptische
Relieffigiir hatte keine Kehrseite, sie verlor sich geflissentlich im
Ghomde," heißt es. Aber weshalb braucht sie keine Rückseite?
fragen wir, und antworten: weil an ihrer Schauseite im Relief der
272
XVIII. Rcliefkunst
Revers zugleich mitspricht, d. h. der ganze Körper, soviel dies
irgend erreichbar, ja um den Preis der rein sinnlichen Auffassung
und Wahrheit des Bildes erkaufbar gewesen ist Eins ist vor allem
gesichert: die Vertikalachse; das Rückgrat der Kreatur wird mit-
gegeben. Das heißt, das Kunstwollen war auf die dreidimensionale
Körperlichkeit gerichtet und dreht sich hier verzweifelt unter dem
Zwange der Projektion in die Ebene. Der durchschlagende Beweis
bleibt eben die bekannte Vergewaltigung des Menschenkörpers im
Relief der Altägypter, die Riegl selbst charakterisiert*) Wir haben
schon ausgesprochen, daß geradezu ein Begriffsbild des Menschen,
nach seinen verschiedenen Lebensfunktionen differenziert, hier zur
Anschauung kommt, wie es der Anspruch an die darstellende
Kunst Gegenstandsvorstellungen zu bieten, — also ein intellek-
tueller Faktor erklärt, der einer rein sinnlichen Wahrnehmung hier
gerade zuwiderläuft Es sind die zeitlich nacheinander abzu-
lesenden Werte der Körperteile, um die es sich handelt, und nur
die psychische Synthese stellt die Einheit wieder her. Nur die
Breite der Brust bis an den Gürtel vertritt den ruhigen Bestand
in seiner stärksten Ausdehnung, die sich mit Schultern und Ell-
bogen im Raum behauptet Die Beine sind in Profil ausschreitend
gezeigt; denn ihr spezifischer Wert ist die Fähigkeit der Ortsbe-
wegimg durch den Raum hin, von Ort zu Ort Im Kopfe wendet
sich das Profil in die Weite; denn diese Ansicht enthält die meisten
Relationen nach auswärts, wie es dem Sitz des Intellekts geziemt
Aber das Auge entspricht wieder der Vorderansicht des Brust-
kastens, die Beharrung der Existenz in unwandelbarer Ewigkeit
auszudrücken, die dieses Abbild bedeuten, ja gewährleisten soll.
Um diesen abstrakten, rein intellektuellen Unsterblichkeitswert
handelt es sich auch bei dem Anschluß an die starre kristallinische
Gesetzlichkeit der tektonischen Ebene: daher ihre absolute Gültig-
keit im Widerspruch zu aller wirklichen Erscheinungsmöglichkeit
des Lebens von heut und gestern. Der Intellektualismus des
äg3rptischen Wesens erklärt diese Form des Kunstwollens, nicht
i) Dagegen ist diese Verrenkung nicht „der stofflichen Klarheit zuliebe" vor-
geführt, wie Riegl S. 55 meint. „Der Kopf erscheint in Profil, wobei das eine sicht-
bare Auge geradeausblickend eingesetzt ist; die Brust mit beiden Schultern und
Armen ist geradeaus sichtbar, während vom Bauche abwärts wieder eine Umdrehung
ins Profil erfolgt, das in den schreitenden Beinen ein vollkommenes wird. Diese
seltsam verrenkte Stellung läßt sich gar nicht anders erklären als aus dem Be-
streben, den Gesamtkörper in möglichst klarer Vollständigkeit zu zeigen."
Flachrelief — Assyrien — Griechenland ^y^
umgekehrt die rein sinnliche, jegliche aus der Erfahrung stammende
Vorstellung ausschließende , stoflFgebundene und dumpf befangene
Auffassung des äg3rptischen Künstlers. Flächendarstellung ist
immer die stärkste Abstraktion unter den bildenden Künsten, das
bewährt sich auch hier.*)
Erst wenn die poetische Aufgabe der darstellenden Künste,
die in Ägypten vorwaltet und die Relief kunst mit der Malerei fast
auf eine Stufe stellt, allmählich zurücktritt und der eigentlich
künstlerischen die Hegemonie einräumt, kann auch das Relief
seinen plastischen Charakter bewähren und entwickeln. Einen viel
einheitlicheren Charakter als echtes Flachrelief erreicht deshalb
die assyrische Kunst mit der ausschließlichen Bevorzugung der
Profilfigur, aus der die willkürlichen Verdrehungen zugunsten be-
griflFlicher Vollständigkeit verschwinden und das Rückgrat des
organischen Gewächses bei Mensch und Tier als Grenze der Re-
lieferhebung gegen den Grund anerkannt wird. Die Körperbild-
nerin kommt erst in der griechischen Kunst zu ihrem vollen
Recht, ja zum Vorrecht vor allen übrigen Schwesterkünsten. „Im
Relief aber erhält sich der ebene Grund als letzter absolut klarer
Rückhalt, als beruhigendes Wahrzeichen tastbarer Stofflichkeit."
Der Fortschritt gegenüber den Ägyptern lag zimächst darin, daß
die Einzelfiguren zwar nach wie vor schon allein durch ihren
Gegensatz zum ebenen Grunde, in Höhe und Breite klar begrenzt
blieben, aber zugleich nicht mehr allein mit der Grundebene,
sondern auch imtereinander in Verbindung gesetzt wurden: mit
der Grrundebene, indem die Figuren daraus hervorzuwachsen
scheinen, — imtereinander, indem einzelne Glieder benachbarter
Figiu'en in seitliche Beziehungen zueinander treten (R.). Zu den „Eben-
relationen" darf aber das Fußen der Einzelgestalt auf dem Boden
nicht gerechnet werden; dies ist vielmehr stets die unvermeid-
lichste Raiunrelation, die es gibtl — Das Kompositionsgesetz
entwickelte sich aus der Reihung zum synunetrisch aufgebauten
Kontrast der einander zugeneigten Figuren, der durch Verschrän-
kimg der Teile eine Steigerung zum Kontrapost erfahren konnte.
Auf geometrische Schemata zurückgeführt, ergäbe das ägyptische
eine Zusammensetzung aus Parallelogrammen (Vertikalen und Ho-
rizontalen), das griechische eine solche aus ineinander verschränkten
i) Beischriften und andere erklärende Zutaten beweisen ohnehin, dafi es sich
um einen Kunstzustand handelt, wo Wort und Bild noch ineinandergreifen.
Schmartowy Kanstwissenichafu l8
274 ^^III- Relief Icunst
gleichschenkligen Dreiecken. Aber „die große Tat der griechischen
Kunst war die Berücksichtigung der Raumrelationen: Ausladungen
und Einziehungen, und als ihre künstlerischen Folgeerscheinungen
dann Deckung, Verkürzung, Schatten" (R. 54). Die Figuren werden
die Hauptsache und der Versinnlichung der kubischen Räumlich-
keit der Korper dienen «die Mittel, die das Relief hinzugewinnt.
Die Figuren nehmen die Gesamthöhe des Reliefstreifens für sich
in Anspruch, je mehr die Rechnung ausschließlich die plastische
bleibt. Sie erscheinen in der Regel ganz und gar in Dreiviertel-
sicht, wie aus dem Grunde herausgewachsen, mit der Fähigkeit sich
in den freien Raum loszulösen, nur durch das künstlerische Gesetz
der ebenäächigen Anschauung gebunden, oder anders ausgedrückt:
durch die tatsächliche Zugehörigkeit zu einer einheitlichen Ober-
flächenschicht, über deren Vorderebene sie nicht hinaustreten dürfen,
ohne aus ihrem Gestaltungsraum herauszufallen. Die Figuren sind
hierbei in lebhafte Bewegung versetzt, um eine reiche Gliederung
für die kontrapostische Verbindung der Flächenkomposition herbei-
zuführen. „Deshalb sind sie in mehr oder minder absichtlicher Weise
nach rechts oder links, nicht aber nach dem Beschauer zu oder von
diesem weg bewegt" Diese Bevorzugung der diagonalen Richtung
entspricht dem echt plastischen Bedürfnis, den Körper, der nicht
von allen Seiten betrachtet werden kann, sich wenigstens in allen
seinen Teilen entfalten zu lassen, so daß der Überblick über den
Zusammenhang des ganzen organischen Geschöpfes gegeben wird.
Die Vermeidung der rechtwinklig gegen den Gnmd oder gegen den
Beschauer verlaufenden Richtung geradeheraus nach vom oder
geradehinein in die Tiefe geschieht durchweg begreiflicherweise
in Rücksicht auf das Raumvolumen der Gestciltungsschicht, gegen
deren vordere oder hintere Grenze solche Bewegungen gerichtet
wären, geschieht aber andererseits in Rücksicht auf ein künstle-
risches Ziel, das die ästhetische Beurteilung des Reliefs überhaupt
noch immer zu wenig beachtet: es ist der Rhythmus der durch-
gehenden Bewegimg entweder nach links oder nach rechts, und
seine Berechnimg für die subjektive Aufnahme des Beschauers.
„Wenn jemand die Bewegung leugnet, so geh' ihm an der Nas'
vorbei 1" sagt ja wohl Altmeister Goethe. „Wenn jemand den Relief-
stil leugnet, so fuhr* ihn am Relief entlang I" könnten wir sagen.
Solange die Formen der plastischen Gestalten da sich mit ims
entlang bewegen und in derselben Richtung entfalten oder, wenn
wir von der anderen Seite kommen, sich uns entgegendrängen und
Reliefstil — Griechenland — Komposition 275
dennoch an uns vorübergleiten, ohne auf uns einzustoßen, so lange
haben wir den echt plastischen, auf tastbar-sichtbare Körperwerte
gegründeten Reliefstil vor uns, mit dem kein anderes isoliertes
Bildwerk derselben Zeit übereinstimmt. Das Relief haftet an der
Wandzone und rechnet künstlerisch immer mit dem entlang-
wandelnden Betrachter und seiner successiven Auffassung der
Reihe. Je näher der Reliefstreifen der Tastregion bleibt, desto
unmittelbarer muß er sich, wo überhaupt Figuren auftreten, an die
Ortsbewegung und das Körpergefühl des schreitenden Beschauers
anschließen. Je höher er darüber hinausrückt, desto mehr muß er
dem entlanggleitenden oder gar freier darüber hinschweifenden
Blicke Rechnung tragen. Im ersteren Falle bedeutet eine Frontal-
stellung der Figur immer eine Aufforderung zum Stillstand des
Betrachters. Er nimmt ihr gegenüber imwillkürlich einen weiteren
Abstand als beim Hinfahren über die diagonal in Dreiviertelsicht
mit ihm verlaufenden Körper. Er befolgt zwischen beiden Extremen
wieder ein anderes Verfahren, wenn sich die Gestalten gegen ihn
entfalten, aus entgegengesetzter Richtung hervor sich sozusagen
offnen, wie die geschlossene Knospe sich auftut unter dem Sonnen-
blick. Dann wird ein Eindringen des dehauenden und Wiederzu-
rückziehen beim Übergang zum folgenden erfordert, ein Wechsel
zentripetaler und zentrifugaler Bewegung, die dem umgekehrten
Wechsel der objektiven Erscheinung entspricht, also abermals ein
Rhythmus, von noch stärkerer Natur, der sich zum vollen Erlebnis
plastischen Genießens steigern kann.
Neben der Flächenkomposition tritt damit ein Übergang zur
Raumkomposition auf; denn in dem letzterwähnten Falle geht die
Dynamik des Formenrhythmus über das Volumen der Material-
schicht und der idealen Parallelebene des Reliefs hinaus. Indem
die griechische Kunst sich eine stärkere Betonung der Raunu'ela^
tionen, als sie das schwachgewellte ägyptische Relief zugelstssen,
zum Ziele setzt, kommt sie zu kräftigeren Ausladungen und Ein-
ziehungen, indem die gekrümmten Flächen überwiegen, obwohl die
Rücksicht auf den durchgehenden Zug am Beschauer vorbei noch
immer gebietet, die tiefräumlichen Beziehungen (Raumrelationen)
möglichst in Seitenbewegungen in der vorderen Raumschicht um-
zusetzen. „An der Stelle der einen Ebene der Ägypter", schreibt
sogar Riegl selbst, „tritt nun eine Anzahl von Teilebenen; weil sie
wechselseitig gegeneinander ausladen, ist jede von einem die Aus-
ladung andeutenden Schatten begrenzt" (R. 55). Da läßt sich aller-
i8»
276 XVIII. Reliefkunst
dings der Begriff der Ebene „im mathematischen Sinne nicht
mehr aufrechterhalten, wie es auch in der altägyptischen Kunst
schon der Fall war" (R. 57), und die Beibehaltung dieses Namens
würde nur den Fortbestand einer falschen Vorstellung oder die
Vorspiegelung einer falschen Tatsache begünstigen, von der das
plastische Kunstwollen der Griechen nichts weiß, sondern nur die
optische Auslegung des Modernen uns etwas weisgemacht hat.
Mit dem Schatten hat jedoch auch ein nicht tastbares, rein
optisches Element in die Skulptur Eingang gefunden. Zunächst
hat auch er noch lediglich der Vermittlung tastbarer Werte zu
dienen: die gegeneinander ausladenden Teilflächen zu begrenzen.
Dabei sind die Absätze der Ausladungen niedrig und scharfwinklig,
der Schatten ist also ein schmaler, zur begrenzenden Funktion ge-
eignet, ohne weiteren Anspruch für sich selbst zu erheben. Die
Schatten werden niemals so tief, daß sie den tastbaren Zusammen-
hang der übereinander ausladenden Flächen unter sich nicht mehr
erkennen ließen; damit erfüllen sie neben der isolierenden Funktion
zugleich auch eine verbindende. Selbst an der Draperie wird das
Auge lediglich durch die belichteten Ausbüge der Falten ange-
zogen imd betrachtet die schattigen Höhlungen dazwischen bloß
als ein notwendiges Komplement (R.). „Die offene Zulassung der tief-
räumlichen Beziehungen, der gekrümmten Fläche imd namentlich
des Schattens mußte zur natürlichen Folge haben, daß bei der
Aufnahme des Kunstwerks in stärkerem Grade auf die subjektive
Mitwirkung des Betrachters gerechnet wurde," doch nicht sowohl
seines Intellekts, seiner begrifflichen Vorstellungstätigkeit oder
poetischen Phantasie, als vielmehr seines KörpergefShls, seiner Er-
fahrungen im lebendigen Verkehr mit plastischen Werten, seiner
innigen Vertrautheit mit der organischen Schönheit der Menschen-
gestcdt. Vor allem aber will diese Kunst weder die Wirklichkeit
in ihrem objektiven Tatbestand hinstellen, noch die Ewigkeit in
ihrer abstrakten Idee versinnlichen, sondern rein ästhetischen Ge-
nuß gewähren.
Eine weitere Steigerung hat die griechische Kunstabsicht auf
Verbindung der Einzelflguren untereinander in dem Relief der
hellenistischen Zeit gefunden. Damit ward eine zunehmende
Isolierung der Körper gegenüber der Grundebene und zugleich
eine Emanzipation der Raumrelationen unvermeidlich. Das Auge
begehrt nun erstens nach einer stärkeren Tiefenveränderung, vor
allem nach stärkeren Ausladimgen. An den ganzen Gestalten ge-
Hochrelief — Hellenistische Zeit
277
langt diese Tendenz in der Weise zum Ausdruck, daß sie sich aus
dem Grunde heraus nicht mehr nach den Seiten, nach rechts imd
links allein, sondern auch nach vom und rückwärts, d. h. nach der
Tiefenachse des Raumes zu bewegen beginnen. In der Detail-
bildung der Figuren verrät sich die gleiche Tendenz durch den
entschiedenen Übergang zum Hochrelief: die Muskeln der nackten
menschlichen Figur z. B. werden hochgewölbt, so daß an Stelle der
niedrigen Absätze der klassischen Zeit kräftige Vorsprünge treten.
Doch die klare tastbare Verbindung zwischen den Teilflächen wird
nicht dadurch beeinträchtigt, denn die zwar vorspringenden, aber
sanft geneigten Ausladungen erzeugen wohl breitere, doch keines-
wegs tiefere Schattenlagen (Halbschatten), die fortdauernd ein ab-
tastendes Sehen ermöglichen. Das Auge begehrt aber zugleich
auch mehr Tiefenveränderungen nebeneinander als bisher zu sehen,
und begnügt sich dafür mit einem entsprechend geringerem Aus-
maß an ebenem Grunde. Damit wird das klassische Gleichgewicht
zwischen Seiten- und Tiefenbeziehungen gestört zugunsten eines
allmählich wachsenden Übergewichts der letzteren" (R. 56). An der
Einzelfigur tritt diese Raumtendenz z. B. in einer Vermehnmg der
Muskelvorsprünge zutage, die sich durch gehäufte Halbschatten
verrät, oder in vollerer Herauswölbung des Rumpfes, dessen Quer-
schnitt sich der Kreisform nähert In der mehrfigurigen Komposi-
tion werden die Körper enger zusammengerückt und in wechsel-
seitigen Drehungen verschränkt, oder es werden zu den Figuren
noch andere Körper hinzugesetzt, besonders um hinter ihnen die
Lücken zu füllen und den ganzen Grund mit starken Ausladungen
zu überziehen. Damit entstehen wohl Ansätze eines Hintergrundes;
aber es fehlt noch jeder verbindende Mittelgrund zwischen vom imd
hinten (R. 57). — Die Rolle, die dem Räume nxm zugestanden wird, ist
also nicht die des freien Raumes, der die Figuren in sich aufnimmt,
die Körper sich unterordnet und sie beeinflußt, sondern es ist noch
immer nur die des plastischen Gestaltungsraumes, der vorderen
Raumschicht, die mit Körperformen von der Hand des Bildners
durchorganisiert worden ist und vom lebendigen Körpergefühl
des Beschauers durchdrungen werden soll, um die darin ausge-
breiteten Körperwerte zu genießen.^)
So gelangen wir zur abschließenden Definition des Hoch-
reliefs. Das Hochrelief bestimmt sich nicht allein nach dem
i) Vgl. Schmarsow, Plastik, Malerei und Reliefkunst, S. 115, 163 f.
2jS XVIII. Reliefkunst
äußersten Maß der Erhebung, von dem die Namengebung- ausgeht,
indem es die dritte Dimension der dargestellten Körper bis zur
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ausdehnen kann. Denn mit
diesem Maßstab wäre ja zunächst auch die Forderung der Lebens-
größe gegeben, an die sich die Reliefkunst jedoch ebensowenig
bindet wie die Rundplastik. Es gehört als ergänzende Bestim-
mung hinzu, daß die Normalhöhe der Figuren die Gesamthöhe der
Reliefplatte für sich in Anspruch nimmt, über den Köpfen also
keine leere Fläche übrig läßt Damit ist die Wirkung unter Lebens-
größe für die ästhetische Anschauimg ausgeschlossen, mag das
Maß in Wirklichkeit sein, welches es will. Es gibt aber auch
keinen Raum außer dem durch die Körper selbst erfüllten Gestal-
tungsraum, also auch weder in der Höhe noch in der Tiefe einen
Spielraum anderer Mächte, die diese dargestellten Wesen herab-
drücken oder verkürzen, gefährden oder irgendwie beeinflussen
könnten. Nur einer Macht, die über alle hingeht, haben sie außer-
dem sich anzubequemen, das ist die des Bundesgenossen, durch den
allein sie als Formgebilde sichtbar werden, das Licht Ein Aus-
gleich aller Ausladungen mit dem wandelbaren Tageslicht und dem
ebenso wandelbaren Gegenteil, dem Schatten, ist die unweigerliche
Forderung, die das Raumvolumen, das der Bildner durchgestaltet,
auch nach der Vorderseite mit einer idealen (durchsichtigen) Ebene
verschließt. Diese vordere Parallelebene bietet auch die Einheit
des Zusammenhangs dar, die dem Bildwerk mit seiner Mehrzahl
organischer Geschöpfe das Recht des Daseins als künstlerische
Schöpfung gewährt; aber diese Einheit ist nicht etwa die materielle
oder mathematische Flächeneinheit, sondern die Erscheinungs-
einheit in der innigsten Gemeinschaft der Gestalten und ihres
eigensten zugehörigen Entfaltungsraumes. ^)
i) Vgl. Näheres über Flach- und Hochrelief in meiner Schrift „Plastik,
Malerei und Relief kunst", Leipzig 1899. Vgl. dazu Ch. L. Eastlake, Contributions
to the Literature of the Fine Arts, London 1870, I, Ch. VII Basso-Rilievo.
XIX.
MALEREI
RELIEF UND MALEREI — UMRISS UND SILHOUETTE — PROFIL — BILD —
KOMPOSITION — FARBE UND SCHATTIERUNG
Schon die älteste in einiger Vollständigkeit auf uns gekommene
Kunst, die altägyptische, läßt erkennen, daß sie nicht mehr als y,ur-
sprünglich" gelten darf, wenn darunter eine von der sinnlichen An-
schauimg allein beherrschte Kunst verstanden wird; denn sie ist
bereits von VorsteUimg^arbeit und begpriflFlicher Abstraktion geleitet
worden. Andererseits aber beiyahrt sie doch so viel vom primitiven
Wesen, daß auch tieferblickende Forscher sich über den intellek-
tuellen Gegensatz zu dem stoffgebundenen, dumpf materialistischen
Verfahren und über das Verhältnis beider gleich notwendigen Be-
standteile ihres Wesens nicht klar geworden sind. Noch immer sind
die Überreste eines unentwickelten Kunstgefühls so stark, daß sie
über die bewußte Vormundschaft des Geistes zu täuschen ver-
mögen, und gerade sie sind es, denen wir willkommensten Auf-
schluß über ein noch früheres Stadium der Vorzeit verdanken.
Als wir den Unterschied von Grund und Muster genetisch zurück-
verfolgten, kamen wir zu dem Ergebnis, daß in der altägyptischen
Flächendekoration beide noch ungeschieden waren imd erst im
Lauf der langen Geschichte sich differenziert haben können. In
der Pyramide sind die beiden Elemente der Architektur, die wir
Wand imd Decke nennen, noch ungetrennt, wie in der einheitlichen
Spannung des Zeltes vorhanden. Dagegen zeigt die jetzt verein-
zelte Form der Pyramide von Daschur durch die geknickten Drei-
eckflächen den Fortschritt, den auch das Zelt mit vier Pfählen
unter und dem p3rramidalen Schirmdach über den Wänden aufweist,
während andererseits die Stufenpyramiden sich ebenso in Chaldäa
und Babylon wiederfinden. In diesen gewaltigen Bauwerken
Ägyptens sind auch die beiden Künste Architektur und Plastik so
eigenartig verwachsen, daß die Urteile noch heute auseinander-
28o XIX. Malerei
gehen, unter welchem Gesichtspunkt sie eigentlich zu betrachten
seien. Dasselbe dürfen wir angesichts des ägyptischen Reliefs
aussprechen, sowie einmal ernstlich gefragt wird, ob diese Art der
Flächendekoration zur Plastik gehöre oder nicht Bei genauerer
Analyse der darin waltenden Anschauung stellt sich heraus, daß
wir eher eine Verquickung von Malerei und Skulptur erkennen
müssen, oder vielmehr ein Kunstwerk, das sich noch nicht bewußt
für den einen oder den anderen der möglichen Wege entschieden
hat, sondern vielfach in der Schwebe bleibt Ein solcher Zustand
war jedoch nur möglich und geraume Zeit haltbar, weil weder das
eine, noch das andere, sondern ein drittes die Triebfeder des
Schaffens gewesen ist Der Zweck dieser Flächendekoration war
gar nicht von der bildenden Kunst als solcher allein bestimmt, wie
noch Riegl ihn zu erklären sucht, sondern er ward von der Ober-
leitung den Künstlerscharen diktiert, gleichwie die Tierköpfe auf
Menschengestalten und manche symbolischen Ausgeburten sonst
Der Zweck dieser Flächendekoration auf den Wänden der Archi-
tektur, auf den vier Seiten der Obelisken, auf den GewäLndem von
Statuen wie auf dem zylindrischen Schaft der Säulen, d. h. überall,
wo es leeren Grund zu füllen gab, war: — die Vermittlung eines
Vorstellungsinhalts, der sonst die Sprache zu dienen pflegt Hier
wird auf der verfugbaren Fläche gedichtet in jeder Form: ge-
meißelt imd gemalt, aber auch geschrieben und stenographiert.
Inschriften unterbrechen das Relief und füllen den ruhenden Gtrund
daneben, gewiß nicht, um diesen für die Anschauung aufzuheben.
Hieroglyphen stehen in eigenen Rahmen aufgereiht neben den
plastischen Gestalten, gerade da, wo jedes reine künstlerische Gefühl
solche Rätselscheiben am wenigsten vertragen mag. Grroße Figuren
in Profil haben vor sich zahlreiche Streifen mit Bildern, die wie
Zeilen eines Schriftblattes geradlinig abgegrenzt, aber dicht über-
einander verlaufen. Kein einheitlicher Maßstab, wie sinnliche Sach-
lichkeit ihn mit sich bringt, sondern unvereinbare Grrößenunter-
schiede, die nur der Bedeutungswert der Einzelformen und die
geläufige Ökonomie der Vorstellungssirbeit erklären und wie selbst-
verständlich hinnehmen kann. Weder Maler noch Bildhauer würden
spontan solche Ungereimtheiten über die herrlichen großen Wand-
ebenen ausbreiten und als unverfälschtes Ergebnis ihres eigensten
KunstwoUens gelten lassen. Sind doch diese Ergüsse schon unter
sich im Tempo ganz verschieden, im Charakter so heterogen, daß
man sie nur dem starren, dem halbflüssigen und dem bereits einmal
Verquickung von Relief und Malerei in Ägypten 281
gegossenen Zustand der Metalle vergleichen kann, die in einem
großen Kessel der Gießhütte dem Feuer des Schmelzofens ausge-
setzt waren, aber unfertig stehen geblieben sind: die großen unge-
lösten Blöcke, die kleingeschlaigenen nebeneinander und Strom-
schichten geschmolzener dazwischen. Wie ein Querschnitt durch
solch eine zusammengeschweißte Lavamasse muten uns diese Wände
an, mögen wir unsere Augen walten lassen oder unseren Tastsinn
befragen. Gibt es hier eine Einheit der sinnlichen Anschauung,
außer der vorgefundenen Einheit der Ebene? Hat hier nicht der
Gebrauchszweck als Tyrann gehaust, wie je an einer Gerätschaft?
Keine andere Ebene als die einer ausgespannten Papyrusrolle, nur
vergfrößert. Nicht einmal die Schwesterkunst Dichtung allein, son-
dern Historiographie und Dogmatik, Tendenz und Belehnmg haben
an erster Stelle das Ganze bestinmit, das diesen Flächenraum er-
füllt Deshalb ist es gleichgültig, wie viel gemeißelt oder gemalt
werden muß, je nach den Bedingungen der Helligkeit, des grellen
Tageslichtes draußen oder der künstlichen Beleuchtung im dunkeln
Innenraum, oder nach den Gradunterschieden der halboffenen
Säulengänge, der geschlossenen Säle und der Gruftkammem im
Fels, in verschiedener Abstuftmg der Mittel, mit deren Notgesetzen
wir viel zu wenig rechnen, wenn wir die Reste in Museen, im
nebligen Norden gar studieren: Alles für den einen obersten Zweck
der Lesbarkeit der Schrift und der Erkennbarkeit der Bilder, der
Vermittlung des gesamten Vorstellimgsinhalts in der einen oder
der andern Sprache. So ist man zu dem Einfall gelangt, die ägyp-
tischen Künstler seien darauf ausgegangen, das Muster möglichst
als ruhige unbewegliche Stofflichkeit hinzustellen, den Grrund aber
zu beseitigen oder doch niemals das Bewußtsein aufkommen zu
lassen, als wäre auch er eine berechtigte Großmacht für sich.
(R. 177.) — Tatsächlich sind auch diese Wände nur Schriftseiten
und Bilderbogen in gewaltsamer Erstarrung und mehr oder minder
monumentalem Zuschnitt. Was der Meißel des Bildners hier in
bescheidenster Modellierung heraushebt, was der Pinsel des Malers
mit seinen bunten Farbenkontrasten lebendig macht, das verrät
sich, imter dem einzig möglichen, das Ganze zusammenfassenden
Gesichtspunkt der Mitteilung betrachtet, als Überschuß der dienst-
baren Kräfte, als unwiderstehliche Anwandlungen echt künstle-
rischen Schaffens unter der Zuchtrute des Arbeitgebers, der den
eigentlichen Haushalt vor wie nach allein bestimmt. Kein Wunder,
wenn die Ebene strengstens gewahrt wird, wo die Architektur sie
282 XIX. Malerei
gesetzt hat und einheitlichen Wandverschluß für ihr Raumgebilde
verlangt, — aber auch, wenn die Zylinderfläche der Säule, die aus-
und eingebogenen Seiten einer kauernden Granitfigur ebenso geduldig
hingenommen und vollgeschrieben oder überbildert werden. Kein
Wunder andererseits, wenn die Bilderschrift bald dem Maler, bald
dem Steinmetzen anheimfallt, und in den meisten Fällen von beiden
gemeinsam hergestellt wird. Wohl aber wäre, bei so bewandten
Umständen, eine bewußte Scheidung der beiden Künste, Skulptur
und Malerei, nach ihrer Eigenart, wie wir sie kennen, damals eine
ganz erstaunliche Leistung des ästhetischen Gefühls gewesen, zu-
mal da beide und ganz besonders die Malerei, noch unter der Vor-
mundschaft des Schriftwesens und der Flächenomamentik standen,
so daß ein Selbstbewußtsein über die spezifische Natur der Malerei
als Sonderkimst noch viel weniger ausgebildet sein konnte, als das
der Körperbildnerin Plastik.
Eine stichhaltige Unterscheidung beider Schwesterkünste kann
angesichts des ägyptischen Reliefs zunächst auch nur auf Grund
der technischen Merkmale gegeben werden. Mit dem Umriß, der
Linie, die irgendein scharfes Instrument in die Fläche geritzt, ist die
Grenze zwischen Skulptur und Malerei gezogen, — schmal genug
und leicht überschreitbar nach beiden Seiten. Wird die Spitze des
Werkzeuges benutzt, den Umriß zu verstärken, die Furche auszu-
tiefen, so daß sie über die einheitliche Grund- und Oberfläche
hinaus den Ansatz anderer Flächen in der Oberflächenschicht beginnt,
da ist auch über den Anfang der Körperbildung kein Zweifel.
Wird, vom Umriß ausgehend, nach dem Innern der Form zu ab-
rundend weitergearbeitet, so daß die Gestalt sich aus dem Grunde
herauszumodellieren beginnt, da läßt die Hilfe des Lichts vollends
keine Verwechslimg mehr mit ebenflächiger Abbildimg zvl^) Wird
statt des farblosen Stiftes dagegen irgendein abfärbender oder gar
der Pinsel mit farbiger Tinte zur Herstellung der Umrißlinie ge-
nommen, so hätten wir es ohne Zweifel mit ebenflächiger Kunst,
mit Zeichnung oder Malerei zu tim. Erst die Ausbeutung eines
Gegensatzes wie Hell und Dunkel gibt die Unterscheidung selb-
ständig genug. Wir mögen, wo sie mit trockenen Pigmenten
arbeitet, eher von Zeichnung, wo aber ein flüssiger Farbstoff auf-
getragen wird, von Malerei im engeren Sinne reden. (Die Aus-
i) Vgl. Zur Frage nach dem Malerischen, sein Grundbegriff und seine Ent-
wicklung 1896, S. 40 f.
Umrifi — Silhouette — Typus 283
nähme, die wir mit Pastell machen, bestätigt nur die Regel, lehrt
aber auch, daß der Begriff der Malerei sich mit der Farbe allein
nicht erschöpfen läfit.)
Viel wichtiger ist in diesem Stadium 'der Anfange, das in
Ägypten noch vorliegt, der Unterschied zwischen dem Umriß imd
der Silhouette. Beide Ausdrücke dürfen nicht beliebig vertauscht
werden. Silhouette bezeichnet in der ursprünglichen Bedeutung
nicht nur den „Umriß des isolierten Profilbildnisses",*) sondern
immer den einfarbig ausgefüllten, vom Umriß nur begrenzten
Flächenausschnitt (wie noch jene Porträtsilhouetten aus schwarzem
Papier, die vor dem Aufkommen der Photographie noch allgemein
verbreitet waren). Diese monochrome Füllung unterscheidet gerade
die Silhouette vom Umriß, auch bei Übertragimg des Terminus auf
die ganze Figur. Gegenüber dem leeren Umriß, der nur die Grenz-
linie gibt, reden wir deutsch vollkommen entsprechend vom Schat-
tenriß, in dem der Schatten eben ein gleich wesentlicher Bestand-
teil ist, wie der Riß. Und es stünde nichts im Wege, den deutschen
Ausdruck einfach an die Stelle zu setzen, wenn wir nicht einen
Widerspruch darin fänden, auch den dimkelgefüllten Umriß z. B.
einer Bronzefigur im Freien als Schattenriß zu bezeichnen, da wir
bei letzterem zunächst an den im Sonnenschein gegen eine Wand
geworfenen Schatten denken, der umrissen oder sonst irgendwie
fixiert worden ist Sowie wir die Bronzefigur, das Urbild, weg-
nehmen, so erscheint die Differenz des Abbilds fühlbar genug, je
nachdem nur die leere Grenzlinie gezogen oder auch die Schatten-
füllung mitgegeben ward. Diese letztere bewirkt einen stärkeren
Sinneseindruck als der leere Umriß allein, der seinerseits, als
Grenze des Schattens nur, eine weitgediehene Abstraktion be-
deutet, die sich von dem leibhctftigen Ding fast wie ein Begriff
von der lebendigen Anschauung unterscheidet Eine ähnliche Ver-
stärkung wie der Schattenriß gibt der Eindruck in eine weiche
Oberfläche, in der diese eingetiefte Silhouette stehen bleibt, da
eben die Vertiefung als Schattenfänger in der gleichmäßig erhellten
Grundebene wirkt Sie ist mehr als ein oberflächlicher Abklatsch,
eben ein eindringlicherer, sich einprägender Abdruck des Gegen-
standes. Dies ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Typus,
von dessen weiterer Verwendung als Grrundbegriff, d. h. als Grund-
bild oder Begriffsbild schon oben die Rede war. In der eingetieften
I) Wie Wickhoff, Wiener Genesis, Wien 1895, S. 38 f. erklärt.
284 ^^' Malerei
Gravierung eines Siegelringes oder Petschafts haben wir also das
Gegenbild der erhöhten Reliefarbeit, die wir durch den Abdruck
jener in weichem Wachs oder Siegellack gewinnen.
„In der äg3rptischen Wandmalerei sind die Figuren zwar streng-
umrissen, aber innerhalb der Konturen (mit Ausnahme des Mundes,
der Augen, Haare, Kleider usw.) fast gar nicht modelliert, sondern
nur mit Farbe ausgefüllt, die so durch ihre einheitliche unge-
brochene Erstreckung über möglichst weite Flächen die isolierende
Wirkung der Umrisse noch wesentlich verstärkt. Die Figuren
heben sich dadurch in strenger Klarheit vom Gnmde ab." „Dieser
Grund ist die Scheidewand, durch welche aller Raum hinter der
augenfälligen Oberfläche der Figur einfach abgeschnitten wird."
(Riegl, S. 51.)
Aber die Gestalt des Menschen steht auf einer horizontalen
Linie, die nicht allein den Ort bedeutet, wo der Körper auftritt,
sondern die wagrechte Ebene, auf der er stehen und gehen kann.
Mit Vorliebe wird ein Fuß in dieser Richtungslinie vor den anderen
gesetzt, werden die Beine in schreitender Haltung gegeben. Wenn
auch die eine Fußsohle so gut wie die andere am Boden haftet, ent-
steht doch der Eindruck der Ortsbewegung im Räume oder wenig-
stens ihrer evidenten Möglichkeit Und diese überall wiederkehrende
Stellung der unteren Hälfte vermag allein den durchgehenden
Wert vor Augen zu bringen, um den es sich handelt, eben die Be-
wegimgsfreiheit, das Vorrecht aller Lebenden vor den Toten, das
gerade hiermit den Verewigten wieder angedichtet werden muß,
wo immer der Glaube an ihr Fortleben erweckt werden solL Selbst
die Thronenden sitzen im Profil, nicht der vermeintlichen Monomanie
der Ebenflächigkeit zuliebe oder aus angeblicher Raumscheu der
alten Ägypter, sondern im Gegenteil der Willensrichtung zuliebe
und aus Raimibedürfnis für die Bewegungsfreude. Sie werden mit
der Richtungsachse ihres Körpers, die in Wirklichkeit nach vom
verläuft, in die wagerechte Ausdehnung der Wand, d. h. die Längen-
richtung des Ablesens gedreht, obgleich der Ägypter die Frontal-
ansicht voUkonmien beherrscht; denn das Ausgreifen der Glied-
maßen in den Raum, der Beziehung auf alles, was vor dem Indi-
viduum ausgebreitet liegt, überzeugt allein von der Machtäußerung
der Person imd vom lebendigen Anteil auch des Schemens. Dieser
Richtung folgt auch das Profil des Kopfes; aber die Brust entfaltet
sich zwischen Hals und Gürtel in voller Breite: diesem sinnfälligen
Kennzeichen körperlicher Existenz im Räume darf kein Abbruch
Profil und Ebene — Raum und Zeit 285
geschehen. Die Arme jedoch und die Hände daran bewegen sich
wieder vorwärts zu unfehlbarer Betätigung als dienstbare Werk-
zeuge des Willens im Leben. Die eine gerade Linie, auf der die
Figuren stehen, sitzen usw., und die Horizontalausdehnung der
Fläche überhaupt, enthält also die Tiefenachse (in die Längener-
streckung verlegt) und die Breitenachse (in ebendieser Richtung)
zu gleicher Zeit und entfaltet je nach Bedarf beide übereinander
am Leitfaden der Höhenachse, die dem Gegenstand als Flächener-
scheinung mm einmal nicht fehlen darf, wie der Körper im Raum
nicht seines Rückgrats entbehren kann, um sich bodenständig und
aufrecht zu behaupten. Jeder dargestellte Körper enthält also auch
in diesem Flächenbilde alle drei Dimensionen in erstaunlicher
Folgerichtigkeit. Dafür ist in der frühen Kunst mit unerbittlicher,
kaum anders als begrifflich erklärbarer Schärfe gesorgt. Auch
das ein Beweis, daß die erste und die letzte Absicht der ägyptischen
Malerei auf die Klarheit und Vollständigkeit der Gegenstandsvor-
stellung gerichtet war. Mit intellektueller Energie packt die Kxmst
die Werte des Daseins und des Lebens zugleich, und zwingt sie
gewaltsam in eine Erscheinung zusammen. Niu: uns befremdet der
Gegensatz der Beharrung und Erstarrung dort, des Bewegungs-
imd Beziehungsscheines hier. Die Synthese so verschiedener An-
sichten in ein ilächenhaftes Abbild besitzt noch eine weitere Eigen-
schaft, an der dem bewegungsfrohen Lebenden außerordentlich
gelegen war: sie löst sich beim Anschauen unwillkürlich und im-
vermeidlich aus dem Nebeneinander des Flächenraumes in ein
Nacheinander der Zeiträumlichkeit auf. Sie existiert nicht nur
leibhaftig für den vordringenden Blick, dem sie sich entgegensetzt
und Widerstand leistet, so daß er seitlich abgleiten muß; sondern
sie wird lebendig und greift aus in Raum und Zeit für den ihr
nachfolgenden, sie ablesenden, über sie hin imd weiter entlang
gleitenden Blick. Nur das naturwissenschaftlich beobachtende
Augengeschöpf von heute sieht allein die Ruhe oder allein die
Bewegung imd verwickelt sich in die imvereinbaren Widersprüche
solcher Kombination. Die naive, leicht erregliche Phantasie des
Orientalen erfaßt die sinnlich überzeugenden Unterlagen, die den
eigenen Erfahrungen in der Wirklichkeit entsprechen, und über-
trägt sie unbekümmert in die Welt der Erzählung, die ihn allzeit
mit sich fortreißt, oder wie wir zu sagen belieben: ins Land der
Dichtung, wohin sie gehören, wie die Zauberformeln der Hiero-
glyphen daneben und die Inschriftsprache auf der nämlichen Ebene.
286 XIX. Malerei
Neben einer großen Hauptfigur reihen sich auch hier zaUreiche
Streifen kleinfiguriger Darstellung übereinander, wie die Zeilen
einer Papyrusrolle, und zwingen erst recht zur Übertragung in die
zeitliche Abfolge der epischen Poesie, ja zur Aufnahme in schnellerem
Tempo; denn es sind Auszüge in Abbreviatur, in Stenographie, wo
ein Teil das Ganze, ein Fall die Menge von Vorkommnissen ver-
tritt. Diese Reihenbilder enthalten die Erlebnisse, die der Ver-
ewigte an sich vorüberziehen läßt, die siegreichen Kämpfe, die er
ausficht, die denkwürdigen Taten, die er vollbringt, den Gesamt-
betrieb des Handels und Wandels, dem er vorsteht Und die Iden-
tität der Person des Helden, die hier und da und dort nacheinander
gegenwärtig gewesen, ist die stillschweigende Voraussetzimg, die im
Bilde durch die überragende Große des Protagonisten erfüllt wird
Ein wesentliches Mittel, diesen starren „lebenden Bildern" der
altägyptischen Malerei die zwingende Realität zu sichern, ist die
schneidende Strenge des Umrisses und die willkürliche Verstärkung
der Linien, die sich, wo nicht der Wandfläche, doch dem Auge des
Beschauers eingraben mit Gewalt „Der menschliche Körper wird
von einer dunkeln Linie umzogen, desgleichen die Haarmassen, die
Lippen, die Gewandung; dagegen fehlt eine Modellierung, d. h. eine
Andeutung der durch Tiefenunterschiede bezeichneten Teilflächen
so gut wie gänzlich«"
„Bei den Griechen der klassischen Zeit fand die Linie zu-
nächst fortdauernd die gleiche Anwendung als Umrißlinie des
tastbaren Körpers, daneben aber auch eine solche für die Model-
lierung, indem die (an der Rundfigur und am Relief durch Tiefen-
unterschiede begrenzten) Teilflächen in der Vasmmialerei durdi
dunkle Linien (gleich den Umrißlinien) hervorgehoben wurden.
Diese Modellierungslinien sind aber in der griechischen Vasen-
malerei noch nicht Schatten, sondern Andeutung tastbarer Be-
grenzungslinien gleich den Umrissen. In dieser Bedeutung wurden
sie um so leichter verstanden, als auch in der klassischen Skulptur
die Schatten, welche die Ausladungen anzeigten, schmal gehalten
waren" (R. 62). — Ein solches Verhältnis war jedoch auf die Dauer
nur möglich in Verbindung mit der körperhaften Wirkimg der ein-
farbig gefüllten Silhouette. Soweit die tastbaren Grrenzen eines
Individuums reichen, so weit erstreckt sich auch hier noch eine
einzige ungebrochene Farbe. Die schweirzfigurigen Vasenbilder
auf rotem Grunde begnügen sich, abgesehen von wenigen Aus-
nahmen, bei denen etwas Weiß und Gelb hinzutreten, mit dem
Griechische Zeichnung und Vasenmalerei 287
einen einfachen, aber starken Kontrast der dekorativen Polychromie.^)
Körperlichkeit ist der Grundfaktor der Realität, der hier gesichert
wird, mit Verzicht auf alle Naturfarbigkeit der Teile. Das schwarze
Pigment zerreißt, schon als sinnloser Fleck, durchschlagend die
gleichartige Helligkeit der kontinuierlich ausgerundeten Fläche,
wie „ein Loch in der Natxu^*, sagen unsere Künstler heute. Aber
die sprechende Lebendigkeit der Silhouette setzt das Individuum
mit seinen ausgreifenden Gliedmaßen an die Stelle im Raum.
Dieser Raum ist, das sagt schon die Übersetzimg in die ganz kon-
ventionelle Zweifarbigkeit des Bildes, durchaus Phantasieraum,
nur das Mediimi der inneren Anschauung, und sein Vertreter in der
äußeren Erscheinung, die Fläche, bleibt als solche das Substrat
der Anschauungseinheit. Sie ist nur die Örtlichkeit, als notwen-
dige Voraussetzung für das Auftreten menschlicher Personen, Tiere,
Dinge; aber sie bleibt, wie in der statuarischen Kunst, über diese
Fimktion der Basis hinaus möglichst unbezeichnet Ist aber eine
weitere Zutat nötig, so ist auch sie ein Einzelkörper neben den
anderen. Wie ernst dabei die dreidimensionale Körperlichkeit ge-
nommen wird, bekunden schon die muskulösen Schenkel, der Brust-
kasten, die Dickköpfe der Figuren selber (wie an den Metopen von
Selinunt und ihren phönikischen und ass3rrischen Verwandten) zur
Genüge auch auf den Vasenbildem.
Nun aber geht die ausgesprochene Vorliebe für stärkste Be-
wegungen auf frühgriechischen und etruskischen Vasenbildem durch
Einheitlichkeit des Zuges in der ganzen Gestalt noch über den
ägyptischen Doppelsinn zwischen Ruhe und Bewegung hinaus, in-
dem sich die dort steif, oft hampelmannsartig vorgestreckten Glied-
maßen mit der Haltung des Rumpfes vermitteln.^ Stellen schon
jene sprechend genug, wenn auch schematisch, das Gebaren bei
gewohnter Tätigkeit vor Augen, so „daß der Beschauer auf den
ersten Blick schon eine Beweg^ung zu sehen glaubt" (wie noch
Max Klinger bekennt), so kommt hier das zunehmende Verständnis
für die zielstrebige Abfolge der ineinandergreifenden Teile des
Mechanismus, der Zusammenhang aller Glieder des organischen
i) Es ist also unrichtig, von „monochromatischen Vasenbildem" zu schreiben.
Da immer mindestens zwei Farben (Grund und Muster) verwendet sind, kann auch
hier nur in technischem Sinne von monochromer Malerei gesprochen werden. Das
Bild ist dagegen zweifarbig. Monochrome Bilder ergibt nur das Qair-obscur, grau
in grau, grün in grün usw.
2) \'gl. Zur Frage nach dem Malerischen, S. 102 ff.
288 XIX. Malerei
Gewächses hinzu. Die Übertreibung der Agilität in der schwarz-
figurigen Vasenmalerei, die in älteren Beispielen nicht selten ein
tierische Gelenkigkeit und affenartigen Gang erinnert, zeigt gleich-
sam in einseitiger Unterstreichung den Wert, auf dessen Eroberung
das Streben ausgeht, im bewußten Gegensatz des griechischen
KunstwoUens gegen das ägyptische mit seinem latenten Kristalli-
nismus auch im gemalten Bilde und seinem rechtwinkligen Linien-
schema in der Flächenbehandlimg. Wer dies treibende Moment
der griechischen Entwicklung einmal erfaßt hat, der kann den Sinn
der Stilgeschichte zunächst nur an der Hand der Mimik suchen,
die geradezu als losende Macht die geometrische Figurenzeichnung
überwinden hilft Hier liegt die unentbehrliche Schulung als
Unterlage für das plastische Schönheitsgefuhl der Griechen vor
ims ausgebreitet; wir brauchen sie nur über alle ikonographischen
imd archäologischen Gesichtspimkte, so häufig ganz unkünstlerischer
Art, hinweg zu verfolgen, um auch hier vorurteilsfrei das anfang-
liche ungeschiedene Zusammenwirken plastischer, mimischer, poe-
tischer Elemente, d. h. vor allen Dingen eine mit Bewegirngsvor-
stellimgen durchdrungene Veranschaulichung der Vorgangseinheit
zwischen den Einzelwesen anzuerkennen. Aus den athletischen
Gliedermännem und schwarzen Teufehi dort werden in der rotfigu-
rigen Vasenmalerei immer mehr wohlproportionierte Gestalten mit
gleichmäßiger Rundimg und Fülle des Fleisches, wenn auch zu-
nächst zugimsten langgestreckten, schlanken, geschmeidigen Wuchses.
Es liegt in dem Übergang zur hellen Erscheinung auf dunkehn
Grunde schon eine stoffliche Erleichterung, die durch die Beschränkt-
heit der Alternative auf zw^ei Farben, oder vier, sogar zmn radi-
kalen Umschwung wird. Das Verhältnis zwischen Grund und
Muster ist damit auf den Kopf gestellt, d. h. eigentlich erst in
seinem natürlichen Wesen erfaßt und adäquat zum Ausdruck ge-
kommen: der ruhige Grund dimkel, das bewegliche Muster helL
Waren jene schwarzen Figuren wie erdgeborene Söhne, ob Giganten
oder Pygmäen, kraftstrotzend freilich, aber gedrungen, aus dem
Grunde gestiegen, wie aus schweren Kliunpen geformt, so wandeln
jetzt neben sonnenverbrannten braunen Gesellen die rosigen Kinder
eines gemäßigten Klimas und lichte Erscheinungen als Ideal der
Frauenschönheit. Wenn einst nur Schneeweiß in schreiendem
Gegensatz zu den schwarzen Figuren vorkam, so vermitteln sie sich
jetzt wie die Olympischen mit den Menschen ihres Lieblingslandes.
Söhne und Töchter des Himmels steigen nieder zwischen die Sterb-
Profil 289
liehen und veredeln die Rasse, die erst in Goldelfenbein, dann in
Marmorstatuen sich selber darzustellen lernt. So wird auch in der
rotfignrigen Vasenmalerei der ausgiebig^e Rhythmus der Körper-
bewegung allmählich zum maßvolleren mimischen Spiel, ja im Kon-
trast zur durchgehenden Abfolge der Figurenreihung schon hier
und da zur ruhigen Harmonie statuarischer Haltung, einer Götter-
gestalt unter ihrem Gefolge, eines Heros unter den Menschen, einer
Penelope unter den Freiem.
Noch immer überwiegt das Profil; denn es eignet sich be-
sonders für solchen Verlauf eines zusammenhängenden Figuren-
musters auf dem einfachen Grrunde, das gleichwie das Rankenmotiv
sich abhebt und seine Oberflächenschicht erfüllt, ohne die Grund-
form des Gefäßes dadurch zu alterieren. Es eignet sich femer zur
Veranschaulichung eines Geschehens, zur Vermittlung einer Vor-
gangseinheit, die den Zusammenhang zwischen den Individuen
fühlbar macht. Das Profil gibt die Beziehung des einen zu einem
anderen, sei es der gleichorganisierte Nächste, sei es die ganze
Umgebung, die weite Welt. Die Gegeneinanderbewegung zweier
Gestalten zeigt eine Wechselwirkimg. Die Profile mehrerer, auf
ein Zentrum gekehrt, geben gleichsam im notwendigen Auszug —
pantomimisch — den ganzen Auftritt Wir glauben die Intensität
des Einzel woUens zu spüren, das aufeinanderplatzt, ja das Tempo
der hereinbrechenden Peripetie oder Katastrophe. Und da nun die
Malerei eben auf den Zusammenhang zwischen den Individuen er-
picht ist, so darf das Profil schon an sich als ein „malerisches"
Element angesprochen werden.
Damit ist zugleich auch die Übertragung des anschaulich be-
stehenden Bildes ins Zeitliche und Dynamische wieder vollzogen.
Schon die Rundung des Gefäßes und seine Drehung beim An-
schauen, oder die Ortsbewegung gar des Betrachters um das still-
stehende Weihgeschenk tragen zur Umwandlung ins Transitorische
bei, natürlich in verschiedenem Grade dem lebendigen Gebrauchs-
zweck oder dem monumentalen Idealwert des Gefäßes entsprechend.
Aber in der Pantomime imd allem, was ihr nachahmt, steckt noch
mehr« Es wird nicht nur an die seitlichen Beziehungen des ein-
zelnen zu gleichorganisierten Wesen oder anderen Dingen der
Nachbarschaft appelliert, sondern auch an das Kausalitätsbedürfhis
des Beschauers. Die ergänzende Phantasie vollendet die AufRih-
rung der angedeuteten Szene desto bereitwilliger, je entschiedener
die Beweg^ung durchgreift Wo Raum und Zeit ineinanderfließen
Schmariow, Konstwinenschaft. I9
290
XIX. Malerei
wie hier, wo sie gar in Verschiebung gegeneinander geraten, beim
Schweifen des Blickes und rückläufigem Verfolg der Reihe, da
wird ein Nacheinander nach vorwärts oder nach rückwärts ange-
sponnen, nicht ohne die Frage nach Grund und Folge, oder retro-
spektiv von der Wirkung zur Ursache zurück. Damit geraten wir
vollends ins Reich der Dichtung epischer, ja dramatischer Art.
Mit solcher Einbeziehung eines weiteren Zusammenhangs, der
über die sichtbaren Personen und Dinge hinausgreift, wäre der
Weg zur wirklichen Einbeziehung des weiteren Umkreises auch in
das Bild eröffnet gewesen, wenn das Kunstwollen der Grriechen
sich nicht auf andere Ziele gerichtet hätte. Es war die selbstän-
dige Bedeutung der bildenden Kunst überhaupt und ihre eigenar-
tige Stellung in der hellenischen Kultur, die zunächst von dem
weiteren Verfolg eines engeren Bündnisses mit der Poesie ab-
lenkten. Es war andererseits der Sieg der plastischen Auffassung
aller Kunst, der sowohl die Architektur zu ihrem Tempelstil ge-
führt, wie die Malerei von einer ausführlicheren Wiedergabe des
Schauplatzes zurückgehalten hat Jene zunächst der poetischen
Phantasie entsprungenen Anwandlungen wurden auf lange hinaus
beiseite gedrängt. In den rotfigurigen Vasenbildem erkennen wir
den wachsenden Einfluß statuarischen Aufbaues der Gestalt und
die Verherrlichung der organischen Schönheit des Menschenleibes
überall. Die ursprünglich dekorative, dem Rankenmotiv ent-
sprechende Figurenreihe nähert sich hier und da der zentralisierten
Statuenreihe am Tempelgiebel, und geht demgemäß von der suc-
cessiven Auffassung der Reliefkomposition zur simultanen Auffas-
simg des Gxuppenbaues über. Statt des rings lun den Bauch des
Gefäßes oder den Rand der Schale herumlaufenden Frieses sondert
sich eine rechtwinklig umgrenzte Bildfläche aus, die den Anschein
einer aufrechten Vertikalebene bewahrt, auch wo sie vorwärts oder
rückwärts geneigt auf dem Grunde liegt, und erhält so den
Charakter des Wandbildes oder der selbständigeren Malerei auf
einer tektonischen Unterlage, der Steinplatte einer Grabstele oder
einer sonst irgendwo angebrachten Tafel. Damit entsteht das un-
abweisbare Bedürfiiis, die Gesamtheit der dargestellten Gegenstände
in den Grenzen dieses senkrecht vorgestellten Rahmens zu konsti-
tuieren, d. h. nur in der Fläche, doch nach Maßgabe der beiden
rechtwinklig aufeinandertreffenden Richtungslinien der Höhe imd
Breite. Eine Aussonderung des Bildes durch einen eigenen Rahmen
lag freilich schon in den kreisrunden Bodenflächen der Trinkschalen
Bild — Komposition 201
vor; aber der Kreis bleibt beweglich, drehbar wie das Gefäß und
hat infolgedessen kein festes Oben und Unten. Er kann z. B. auch
einen Ausschnitt aus der Wasserfläche, aus der Luftregion ent^
halten. Erst mit der rechtwinkligen Form wird der Schauplatz
bodenständig wie der irdische der Menschenwelt Mit dieser Ab-
grenzung als Einheit aus den dargestellten Körpern und ihrem
Raumausschnitt ist das Bereich der Malerei und ihrer eigensten
Leistung klar ausgesondert, wo immer sich das eingerahmte Feld
ihrer Tätigkeit befindet Die Erscheinungseinheit von Körpern und
Raum auf der Fläche nennen wir das Bild. Nach wie vor suchen
die antiken Maler der klassischen Zeit die künstlerische Einheit
des Bildes in dem rhjrthmischen Fluß der Linien innerhalb dieser
Ebene, und die plastische Auffassimg der Gestalt als Körper trägt
nur dazu bei, diesen Linienrh)rthmus zu beruhigen, so daß auch
das Gemälde die klare in sich geschlossene Harmonie darbietet
wie die Tempelfront mit ihrer Säulenreihe an der Langseite oder
gar in zentralisierender Zusammenfassung wie die Statuenreihe im
Giebelfeld.')
Die Komposition des Bildes besteht nur in einer Aneinander-
reihung innerhalb der gemeinsamen Oberflächenschicht; sie geht
nicht in die Tiefe über den Gestaltungsraum dieses Vordergrundes
hinaus, nimmt vielmehr in freier Idealität ihrer Anschauungsweise
die Höhendimensionen zu Hilfe, wo die Breite nicht ausreicht, das
Nebeneinander der Einzelfiguren und der Grruppen zu fassen. Die
Wandgemälde eines Polygnot haben wir uns gewiß in strenger An-
passung an die gegebenen Bedingungen der Architektur vorzu-
stellen.*) Nur der Ausgleich zwischen der rhythmischen Bewegung
des betrachtenden Subjekts, das durch die Halle an den Bildern
i) Ein charakteristisches Symptom des statuarischen Sinnes, der immer mehr
Boden gewinnt, ist die Ausbildung des Fußens auf dem Vordergrunde, das Haften
der Sohlen auf dem Niveau des noch so ideal gedachten Schauplatzes: es ist keine
„Ebenrelation" zu nennen, sondern der Natur der Sache nach eine dreidimensionale
Raumrelation von Anfang an. Aöc iiioi irod crCji gilt hier nicht abstrakt punktuell,
wie etwa beim Philosophen oder Mathematiker, sondern für einen Fußbreit Erde,
d. h. für eine horizontale Fläche, von deren beiden Dimensionen die eine die Breite,
die andere die Länge des Fußes — also die Tiefenachse sein muß.
2) Die „geistige Konstruktion" des Zusammenhangs konnte dagegen gerade
hier zurücktreten, solange der Betrachter in seiner Phantasie den VorsteUungskreis
der epischen Poesie noch lebendig mitmachte. Die beiden Themata „Iliupersis"
und „Nekyia" waren offenbar nur Vorwand zur Verherrlichung aller Helden, dort der
überlebenden, hier der gefallenen.
19»
292 Xl^* Malerei
entlangwandelt, und dem harmonischen Bestände korrespondieren-
der Glieder auf dem Wandfeld vermochte die monumentale Gesamt-
wirkung hervorzuzubringen, zumal da sich diese noch auf Flachen-
dekoration beschränkt und sich keinen eigenen erdichteten Raum
jenseits der Scheidewand des wirklichen Raumes konstituiert, wie
die realistische Malerei es später im Anschluß an das Bühnenbild
erstrebt hat Die Entwicklung der Tafelmalerei, die zunächst an
die Stelle tritt, entzieht sich ja vollends unserem Urteil; denn aus
Schriftquellen eine sinnliche Anschauung verlorener Werke ge-
winnen zu wollen, bleibt immer vergebliche Liebesmüh. So hell-
seherisch philologische Herstellungsgabe sich auch bewähren mag,
die künstlerische Leistung vermag sie nicht wieder vor die Augen
zu bringen, und diese allein vermöchte uns Auskunft zu geben.
Eins aber ist sicher: räumlichen Zusammenschluß des Bildes
dürfen wir schon bei der Beschränkung auf wenige Pigmente gar
nicht erwarten. Die Farben sind zuerst nur als Unterscheidungs-
mittel verwendet, dann zur Bereicherung des bimtfarbigen Reizes
selber und seiner rhythmischen Wirkimg vermehrt. Noch später
erst werden sie zur heiteren Schönfarbigkeit gesteigert Von ihr
hat uns neuerdings der sogenannte Alexandersarkophag von Sidon
(aus dem IV. Jahrh. v. Chr.) mit seiner Bemalung einen anschau-
lichen Begriff gegeben, der manchen falschen Schluß aus litera^
rischen Nachrichten als Produkt vorauseilender Phantasie zurück-
weist*) Hier allein ist ein zuverlässiger Msißstab für das Verhältnis
der antiken Kunst zur Farbenwelt gegeben. Wie weit der Fort-
schritt der Malerei in den Tagen des Apelles darnach bemessen
werden darf, bleibt freilich eine andere Frage. Hier wird nicht
allein im Ornament ein Paar von Komplementärfarben gewählt,
gelbe Weinranken auf violettem Grunde, sondern auch in der
figurenreichen Komposition keine Naturwahrheit der Farben er-
strebt. Volle, tiefe, reine Töne: Gelb, Purpur und verschiedenes
Rot, Violett, Blau an den Gewändern und Waffenstücken — sind
in breiten Massen verschwenderisch ausgebreitet, oft in phan-
tastischer Wahl; aber alle nackten Körperteile — waren sie wirk-
lich im Marmorton belassen? — und der Reliefgrund ebenso, so daß
nur subjektiv im Auge des Beschauers eine farbige Tönimg, dort
auf heller, hier auf dunkler Unterlage entstehen konnte. Auf den
I) Vgl Fr. Winter, Archäol. Anzeiger 1894 und Fr. Wickhoff, Die Wiener
Genesis, S. 47 f.
Farbengebung — Schattierung 293
Tafelbildern kann doch die Kamation nur durch farbige Mittel
herausmodelliert gewesen sein. Darin liegt aber auch der Anfang
einer naturwahren Farbengebung, die dem ganzen Wesen der
griechischen Kunst entsprechend von den nackten Körperteilen
der organischen Geschöpfe ausgegangen und im plastischen Sinne
verwertet sein muß. Diese natürliche Färbung des Fleisches findet
sich auch auf dem erhaltenen Beispiel griechischer Malerei aus der
Zeit nach Apelles, auf dem etruskischen Sarkophag mit einer Ama^-
zonenschlacht in Florenz und zwar neben dem Versuch, den
Schinuner des Metalls an den Waffen wiederzugeben. Auch ohne
den räumlichen Zusammenschluß im Sinne eines Tiefraumes zu er-
reichen, waren die Maler schon durch die Beobachtung der natür-
lichen Körperfarben an weitere Konsequenzen für das Bildganze
gebimden; vor allem an den Ausgleich der verfügbaren Farben-
reihe zu einer harmonischen Gesamtwirkung auf der Bildfläche.
Dieser Ausgleich ist möglich durch einen gemeinsamen verbindenden
Überzug, wie schon Apelles durch eine Art von rauchfarbigem Firnis
versucht haben soll. Es ist aber auch andererseits möglich durch
die Verteilung von Schatten und Licht, d. h. durch Annähenmg
der Bilderscheinung an die Wirkung eines bemalten Reliefs. In
beiden Fällen konunt es darauf an, der Helldunkeldynamik zwischen
vortretenden und zurücktretenden Teilen oder schattigen Intervallen
neben den Körpern die Vormundschaft über die Intensitätsgrade
der Tinten einzuräumen oder sozusagen die Farbenwerte der Körper
mit der Helldunkelskala zwischen Weiß und Schwarz zu durch-
setzen. Diese Skala verschiebt sich gewöhnlich etwas mehr nach
der einen oder nach der anderen Seite.
Für die Fortschritte der Malerei wird aber eine wesentliche
Vorbedingxmg vorausgesetzt: der Übergang von der Auffassung
tastbarer Körperlichkeit zur vorwiegend optischen Auffassung der
sichtbaren Erscheinung. Dieser Übergang von der tastbaren Be-
grenzungslinie zum optischen Schatten findet sich an einem uns
erhaltenen Werke hellenistischer Zeit, spätestens aus dem III. Jahrh.
vor Christus, auf den in Bronze gravierten Darstellungen der
Ficoronischen Cista, die zwar laut Inschrift von einem Römer ge-
arbeitet war, aber hinsichtlich des Stilcharakters der Figuren noch
schlechtweg als Werk der griechischen Kunst gelten darf.^) Hier
sind die Eignen noch von einer festen Umrißlinie umzogen, aber
i) Riegl a. a. O.» S. 62.
294
XIX. Malerei
die Modellierungslinien in lauter kleine Querschraffierungen aufge-
löst „Daß diesen Schraffen die alte Linie der Vasenmalerei zu-
grunde liegt, beweist schon ihre linienhafte gestreckte Gresamtform;
aber durch die Verbreiterung und Schummerung, die sie der
Modellierungslinie von einstmals verleihen, verraten sie sich als
Schatten." Der Schöpfer der Komposition, die hier graviert worden
ist, verstand noch nicht die Figuren perspektivisch voreinander zu
ordnen und aus sich überschneidenden Figuren Gruppen zu bilden;
aber er hat sein Bestreben erfolgreich darauf gerichtet, die zu
rhythmischer Komposition geordneten Einzelfiguren jede fiir sich
naturgemäß zu verkürzen.^)
i) Wickhoff, a. a. O., S. 71.
XX.
DIE AUFLÖSUNG DES PLASTISCHEN RELIEFSTILS
FLACH-, HOCH-, TIEFRELIEF — HINTERGRUND — RELIEFBILDER —
HELLDUNKELREIZE — RELIEFKOMPOSITION — BILD KOMPOSITION —
SYSTEMATISCHES SCHEMA
Allmählich erst entwindet sich die Malerei — das haben die
wenigen Stichproben aus ihrer Geschichte im Altertum gezeigt —
als eigene Kunst aus der Flächendekoration auf der einen und
mimischem oder poetischem Bestreben auf der anderen Seite. Mit
dem Sehfeld, auf der Grenze zwischen unserer Tastregion und der
fernen Außenwelt, war freilich der Wirkungskreis für sie gefunden.
Sie breitet die Körper und ihren Raum, wie sie dort erscheinen,
im Nebeneinander auf die Fläche, verfolgt also die zweite Dimen-
sion als die bevorzugte Ausdehnung, auf die sie besonders ange-
wiesen ist, und sucht in solcher Zusammenfassung zweier Werte,
d. h. der Gestalten und der Zwischenräume, die neue Aufgabe, die
sie von den Schwesterkünsten, der Architektur als Raumgestalterin
und der Plastik als Korperbildnerin, unterscheidet. Kein Wunder
jedoch, wenn auch bei ihr anfangs die Fignren, sowohl als mensch-
lich interessante Dinge wie als tastbare Korper, noch fast allein
die positiven Werte, die Raumteile dazwischen nur negative Inter-
valle bedeuten, oder doch wie Hebungen imd Senkungen einander
gegenüberstehen. Die Erfassung des Zusammenhanges, auf den es
ihr eigentlich ankommt, je mehr sie sich auf ihr selbständiges
Wesen besinnt, wird zunächst nur möglich, indem sie auf einen
Teil der vollen Wirklichkeit beider Faktoren verzichtet, nämlich
auf die dritte Dimension. Ein zweidimensionaler Auszug aus
Körpern und Raum ist das Ergebnis ihrer Tätigkeit, das Bild, so-
weit wir es im Altertum verfolgt haben. Die Fläche selbst ist die
Einheit, in der Körperschein und Raumschein zum Bilde zusammen-
gehen. Und auf diese Einheit hat es die Malerei immer abgesehen,
seitdem ihr spezifisches Kunstwollen bewußt wird, mag auch noch
2o6 XX. Die Auflösung des plastischen Relieüstils
manches Mal ein Schwanken zwischen der sinnlichen Erscheinung's-
einheit und der geistigen Vorstellimgseinheit erkennbar bleiben.*)
Die ausgesprochen plastische Richtung aller bildenden Kunst
bei den Hellenen konnte jedoch, zumal in der klassischen Blütezeit,
nicht verfehlen, auch die Malerei nach dieser Seite hin und vom
eigenen Ziele abzulenken. Ja die Plastik selbst schuf ihr einen
gefahrlichen Nebenbuhler in dem Relief, so daß die weitere Ent-
wicklung des Bildes auch nur verständlich wird, wenn wir zuvor
diese Nachbarkunst weiterverfolgen.
Auch das Relief gibt ja, wie die Malerei, Körper und Raum
zugleich, und je weniger noch diese den Vollzug der Tiefenaus-
dehnung versucht, desto stärker vermag ihr die Reliefkunst den
Rang streitig zu machen, indem sie die nämliche Zusammenfassung
auf der Fläche, aber ganz mit den Mitteln der Plastik nach dem
Sinne der Körperbildnerin zu erreichen strebt Das Flachrelief
bewahrt das Wesen der tektonischen Flächenschicht auch für seine
künstlerische Existenz als bildliche Darstellung fast immer in aus-
schlaggebendem Maße. Es empfängt die Abbilder der lebendigen
Geschöpfe ursprünglich nur zur Belebung seiner Schauseite wie
ein Muster aus vegetabilischen oder geometrischen Elementen.
Der feste Bestand der Stein-, Ton- oder Erzplatte wird nur an der
Oberfläche ein wenig aufgelockert. Bis zur Grenze der ersten
dünnen Flächenschicht nur dringen Einritzung und Auskerbung
vor. Auch hier wird also die Einheit in der tastbaren Vorder-
fläche gesucht; sie vertritt das Volumen der tektonischen Masse,
aus der die Figuren sich nur leise herausheben, ohne den optischen
Gesamteindruck der Ebene zu alterieren. Die dritte Dimension ist
nur latent in dieser Masse vorheinden, noch ungetrennt von den
beiden anderen Ausdehnungen, und nur das geringe Quantum, das
zwischen der tektonischen Fläche und der ideellen Parallelebene
vom liegt, das niedrige Maß der Erhebung über dem gemeinsamen
Grrunde, gehört dieser dritten Richtung an. Die natürliche Grenze
des Flachreliefs kann jedoch nur in der plastischen Anschauung,
d. h. an den dargestellten Körpern gesucht werden. Und sie lieget
in der Wachstumsachse der Geschöpfe, der Menschen wie der
Tiere und der Pflanzen, die in dieser Oberflächenschicht erscheinen.
Bis an das Rückgrat muß der Körper des Löwen zum Vorschein
kommen. Um diese Mittelachse des Wachstums imd der Bewegung
i) Vgl. Zur Frage nach dem Malerischen 1896, S. 36 f., 40 f., 45, 90.
Flachrelief — Hochrelief
297
reihen sich die Paare homologer Glieder. Sie wenigstens muß der
Umriß enthalten, den das flache Relief zu einem wesentlichen
Mittel der Darstellung ausbildet^)
Hochrelief nennen wir dagegen die eigentlich plais tische
Lösung des Gesamtproblems, die sich von tektonischer Gebunden-
heit an die Grundebene so weit freimacht, wie sie nicht dem
höchsten Anliegen der Körperbildnerin, der Gestaltung orga-
nischer Geschöpfe im dauerhaften Materiale^ dienen will. Die
Masse des tektonischen Materials liefert dem hellenistischen Hoch-
relief, das wir zuletzt berührt hatten, nur den Gestaltungsraum vor
dem abschließenden Grunde, der seinerseits den festen Bestand
dieser Durchorganisation von Menschenhand sichert Auch die
stärkste Modellierung der Gebilde durch die entstehenden Gegen-
sätze von Hell und Dunkel kann indes nur als Äußerung des
nämlichen eminent plastischen Sinnes aufgefaßt werden, dem es
um die vollrunde Körperlichkeit zu tun ist. Die tastbaren Körper-
werte können demgemäß allein im Bereiche des abtastenden Sehens
durchgekostet, nur in dem mittleren Abstand bequemer Überschau
über das Sehfeld zusammengefaßt werden. Bei einer Vielheit von
Einzelgeschöpfen, die im Relief nebeneinander ausgebreitet werden,
ergibt sich von selbst die Frage, wie weit eine Zusammenfassung
zur Erscheinungseinheit für unser paariges Sehorgan reichen kann.
Erst mit dem Gegensatz zwischen dem successiven Entlangsehen
von einem Ende bis zum anderen, in fühlbarer Nähe, und dem
simultanen Gesamteindruck, bei weiterem Abstand, leuchtet die
Alternative völlig ein, zwischen der hier gewählt werden muß.
Solange die organische Schönheit der Einzelkörper das Hauptan-
liegen bleibt, mögen auch die beiden Prinzipien der Komposition
sich miteinander vertragen; denn der Zusammenhang zwischen
einer Reihe oder einer Grruppe von Individuen bleibt dann immer
nur Gelegenheitsursache für die Entfaltung der einzelnen und für
die Abwechslung in den verschiedenen Ansichten, die nur vollrunde
statuarische Bildung zugleich von allen Seiten an einem und dem-
selben herrlichen Gewächs vereinigt zeigen kann. Die Reihimg
der einzelnen, wohl gar im Kontrapost entfalteten und wieder zur
Einheit beruhigten Körper verbindet sich mit der Gruppierung
zweier in symmetrischer Entsprechung, oder mit der Zentralisation
um eine gemeinsame Mittelachse, die ihrerseits wieder durch einen
i) Vgl. Schmarsow, Plastik, Malerei und Reliefkunst 1899, S. 168 ff.
2gS X^- I^ic Auflösung des plastischen Reliefstils
dritten Körper eingenommen werden mag, so daß drei- und mehr-
gliedrige Komplexe unter der Herrschaft einer Dominante ent-
stehen. Zu dem Prinzip der Symmetrie in der Breite tritt mithin
das der Proportionalität in der Höhe, nicht allein an den Indi-
viduen, sondern auch im Aufbau solcher Reliefgruppen, die der
schweifende Blick als Ruhepunkte begrüßt und zurückkehrend als
Einheiten zusammenfaßt. Nur der Fortlauf der Reihung über diese
Sammeleinheiten hin löst erst in der Blickbewegung über den
ganzen Reliefstreifen den durchgehenden Rhythmus der Gesamt-
komposition aus. Eine solche rhythmisch gegliederte Reihe von
Gestalten und Gruppen, deren Ineinandergreifen sich nur auf einem
Vordergrunde vollzieht, nennen wir im spezifischen Sinne Relief-
komposition. Unleugbar spielt noch die successive Auffassung
die tonangebende Rolle, d. h. der Beschauer gibt die erste, mit
dem Blick erfaßte Sammeleinheit wieder auf, um zur folgenden
überzugleiten, und so fort bis zum letzten Abschluß. Die zweite
Dimension ist die Richtungsachse, es fragt sich nur, ob als Länge
von einem Ende zum anderen verfolgt, oder als Breite (in der von
uns scharf unterschiedenen Auffassung als Diremtion), d. h. von der
Mitte nach beiden Seiten hinaus, und von den Seiten wieder zur
festen Mitte zurückkehrend, wie der lebendige Vorgang des Ein-
und Ausatmens. Sowie wir diesen Versuch machen, den ganzen
Reliefstreifen mit einem ruhigen Blick zusammenzufassen und die
Auseinandersetzung zwischen dem Zentrum und den Grenzen zu
erproben, so stellt ein anderes Kompositionsprinzip sich von selber
ein, dessen Unterschied von jenem fniheren sich bald mit dem
Namen Bildkomposition bezeichnen läßt Bleiben wir dabei im
selben Abstand wie vorher im Verfolg der Gestaltenkette, so stellt
sich heraus, daß die Spannweite des Blickes zu eng ist Das
gleichmäßig klare Formsehen, das uns bis dahin geleitet, reicht
nicht so weit von der Mitte nach links und rechts hinaus, wie die
Länge jener Reliefkomposition sich objektiv darbietet. Nehmen
wir aber die objektiv vorhandene Längenausdehnung des Marmor-
frieses als Sehfeld an, so müssen wir, um das Ganze mit einem
Blick zu umspannen, auch einen weiteren Abstand nehmen. Mit
diesem entfernteren Standpunkt stellen wir \ms auf den festen
Zentralpunkt, den das Sehfeld als Bildfläche vorschreibt, und das
bedeutet einen radikalen Umschwung in der Auffassung des
Objekts. Bei solchem entfernteren Abstand erkaufen wir den Vor-
teil der Gesamtansicht des vor uns ausgebreiteten Reliefs mit dem
Komposition — Tiefrclicf 299
Verzicht auf das abtastende Sehen der Einzelformen und den er-
schöpfenden Genuß der organischen Schönheit jedes Individuums
nach der Reihe oder gar Glied um Glied. Statt dessen erhebt sich
immer fühlbarer der Anspruch, die kleinen nebeneinander abfolgen-
den Grruppen zu einer zentralen Einheit zusammengefaßt zu sehen.
Unserem festen Standpunkt vor dem Bilde soll ein festliegender
Mittelpunkt im Bilde entsprechen, ein beherrschender Körper gleich
uns, die Dominante der Gesamtkomposition drüben, alle übrigen
Bestandteile links und rechts sich unterordnen und für unsere ab-
schweifende Anschauung bei jeder Wiederkehr zusammenhalten.
Es ergibt sich die Möglichkeit: eine solche Zentralisation wider-
spreche der gleichen Kopfhöhe aller Gestalten, wie sie im Hoch-
relief waltet. Ein längerer Marmorfries erscheint nicht mehr ge-
eignet für solchen Zusammenschluß. Deshalb wird ein Format mit
überwiegender Höhe bevorzugt, und die gleiche Höhe der Figuren
mag anderen Zwecken zuliebe verlassen werden. Damit nicht ge-
nug; oder darin liegt vielmehr schon — sowie es zur letztgenannten
Maßregel der Subordination kommt, jedenfalls — ein weiteres
Moment der Verwandlung. Bei der bequemen Oberschau von dem
neuen festen Standpunkt gegenüber dem Relief dringt unser Blick
immer anspruchsvoller gegen die Mitte der Bildfläche vor und da-
mit auch gegen die Mitte der Komposition vorwärts in den Ge-
staltung^raum. Er sucht die Tiefe und fordert die fühlbare Aus-
dehnung der dritten Dimension. Der Gestaltungsraum muß weiter
zur Aushöhlung und Durchorganisation des bildsamen Reliefgrundes
vordringen. Damit sinkt aber die Höhenachse der Mittelfigur, die
bisher den beherrschenden Körperwert, das Gestaltungszentrum
abgegeben hatte; vor dem übermächtigen TiefenvoUzuge des
Schauens, der eben mit unserer Willensrichtung identisch ist, kann
sie nicht lange bestehen: statt der Höhenachse des Vordergrundes
wird erst eine entlegenere in der Mitte des Schauplatzes zimi Kern
der Figurenkomposition, dann immer fühlbarer die Tiefenachse des
ganzen Bühnenraumes zur Dominante der Bildkomposition. Aus
dem Gestaltungsraum wird ein Bewegungsraum, dessen herrschende
Richtimg nicht mehr die Breite des Vordergnmdes, sondern die
Erstreckung von vom nach hinten ist. Der Bildraum ist nun ein
Tiefraum.
Das Relief, das diesem Bedürfnis des ruhigen Schauens von
einem festen, aber entfernten Standpunkt Rechnung trägt, nennen
wir Tiefrelief, dessen Hausgesetz die Relie^erspektive werden
300 ^^' I^ic Auflösung des plastischen Reliefstils
muß. Es ist im Altertum nicht eigentlich zur Ausbildung gelangt
Bevor wir jedoch dem Wege zu diesem malerischen Relief und
den Anwandlungen solcher Art auch in der Antike nachgehen,
muß der Übergang von der vorwiegend abtastenden Anschauung
des plastischen Kunstwerks zur vorwiegend optischen Aufnahme in
seiner Bedeutung für das Kunstwollen vollauf gewürdigt werden.
Er hat sich tatsächlich in der Reliefkunst viel langsamer vollzogen,
als die begriffliche Definition und die Vorstellimg des modernen
Menschen uns glauben machen. Nur um letztere abzuwehren,
mußte die erstere schon hier herbeigezogen werden.
Die transitorische Auffassung im wörtlichen Sinne, d. h. beim
Entlanggehen, überwiegt noch entschieden beim Telephosfriese,
der in Pergamon als charakteristisches Beispiel einer voUig'^ltereir
Reliefkunst neben dem Hochrelief des Gigantenfrieses Beachtung
fordert. Hier erscheint der sogenannte „Hintergrund" zwischen den
Gestalten und der Grundebene eingeschoben. Mit diesem Auf-
kommen des Hintergrundes in der hellenistischen Reliefkunst war
kein jäher Bruch in die bisherige Entwicklimg gekommen. Die
hintere Schicht hat zunächst nur die Aufgabe, die vorderen Figuren
schärfer von der Fläche zu trennen. Daneben bleibt die Schluß-
wand hinten noch immer bestehen, und zwar als gemeinsamer
Stoffgrund aller Gebilde darauf. Die Umrisse der vorderen und
der hinteren Gegenstände werden noch immer in eine Flächenkom-
position gebracht, die sich als Einheit des Musters kontinuierlich
fortlaufend der Einheit des ruhigen Grundes entgegensetzt Eben-
deshalb kann es auch in dieser Zeit noch nicht zu einer Subordi-
nation kleinerer Figuren unter eine größere Hauptfigur konunen, so
daß diese körperlich hervorragend die Dominante in einer um-
fassenderen Sammelkomposition bildete. Der „Hintergrund" helle-
nistischer Reliefs wird auch nicht durch menschliche Figuren, son-
dern durch Bäume, Gebäude und andere unbewegliche Requisiten
gebildet, so daß sich beide Schichten schon durch die verschiedene
Natur ihrer Gebilde voneinander abheben (R. 57). Aber Bäume
und Baulichkeiten sind imter sich wieder sehr verschiedene Dinge
und können sehr verschieden behandelt werden. Der Baum, der
seinen Ast in den Schauplatz hineinstreckt oder wie mit einem
Arme in die Feme hinausweist, kann nicht umhin, Raumwerte für
den Beschauer hervorzubringen. Er gliedert im ersten Fall das
Innere des Schauplatzes mit, gibt im anderen eine Anweisung auf
die Tiefe jenseits. Er gebärdet sich stärker, als das Gebäude je
Hintergrund — Fricsrelief joi
vermag. Aber auch dieses kann, durch Obereckstellung z. B., zur
Raumpotenz werden, kann vorstoßen und zurückschieben, während
es, von der Langseite oder von der Schmalseite allein gesehen, wie
eine Mauer seitlich verläuft, also nur eine horizontale Verbindung
oder ,3benrelation" herstellt. Überall begegnet nur das kubische
Volumen des durchorganisierten Gestaltungsraumes, soweit es von
Körpern erfüllt und erfordert wird, noch kein freier Tiefraum. Als
Folge davon aber stellt sich schärfere Trennung der Individuen
von der Grundebene, d. h. Lockerung des bisher streng festgehal-
tenen tastbaren Zusammenhanges im Ganzen ein. Nun aber tritt
auch so beim Entlanggehen an solchen Reliefs und beim Entlang-
sehen über diese Abstufung auf der Fläche hin ein Neues hervor,
das nicht unbeachtet bleiben darf: die Dreiteilung, nämlich in die
Figurenreihe des Vordergrundes, die wir begleiten oder ent-
gegenkommend an uns vorüberziehen lassen, — den Schauplatz,
dessen Wahrzeichen dahinter bestehen bleiben und die Kontinuität
dieses Ambiente vor Augen stellen, — imd endlich den Grund, der
über Bäumen und Gebäuden nicht umhin kann, die Luftregion
wenigstens anzuzeigen. Beide letzten Faktoren gehen zusammen
zur Skene und kontrastieren so mit den beweglichen Gestalten
vom wie die Bühnendekoration, als feststehende Folie, mit den
Schauspielern, die davor hin imd her agieren. Das Theater ist
denn auch wohl der Ursprung dieser künstlerischen Anschauung.
Aber ist nicht schon hier ein gemusterter Grund unter das beweg-
liche Hauptmuster gebreitet, das wir dem Rankenmotiv vergleichen?
Die malerische Anwandlung ist wohl imleugbar.
Die Fortdauer der plastischen Auffassimg des Reliefs kann
daigegen gar nicht wundernehmen, wo immer der fortlaufende
Friesstreifen angewandt wird, der auf successive Aufnahme durch
den entlangschreitenden Betrachter rechnen muß: was sich mit tms
bewegt, in Gestalten gleich uns oder vertrauten Tierformen auf
dem gemeinsamen Boden, wenn auch auf anderem Niveau wandelt,
das berührt uns näher. Die Klasse des Friesreliefs sollte des-
halb grundsätzlich gesondert werden und in bewußten Gegensatz
treten zu der anderen, wo die Bildkomposition mit dem stillstehen-
den Beschauer rechnet; denn eben in dem beweglichen Standpunkt
dort, dem festvorgeschriebenen hier liegt der fundamentale Unter-
schied des plastischen und des malerischen Reliefs. Dort waltet
noch immer der Tastsinn, hier gibt die Gesichtsvorstellung den
Ausschlag.
302 XX. Die Auflösung des plastischen Reliefstils
Wer die eigenen Hausgesetze des Reliefstils auch in solchem
Gegensatz verkennt, der verfallt stets in Mißverstandnisse und irre-
führende Schlußfolgerungen. Reliefkomposition für transitorische
Aufnahme herrscht an der Ära Pacis des Augnstus vom Forum
in Rom, und dasselbe Prinzip vermögen wir auch allein in den
Reliefs des Titusbogens anzuerkennen. Der gewaltige Unter-
schied besteht nur in der gesteigerten Bewegung der Darstellung*
selbst, gegenüber der gemessenen Feierlichkeit der Zeremonie am
Altarbau, und andererseits in der stärkeren Relieftiefe, die jedoch
nicht über das einheitliche Raumvolumen des Vordergrundes hinaus-
greift und nur der Dicke der einrahmenden Pfeiler entspricht
Hier ist kein Hintergrund, sondern nur ein Zug von Gestalten,
dessen Durchmesser kaum irgendwo über drei Mannsbreiten hinaus-
geht Desto stärker wirkt der schlichte Grund, der im letzten
Drittel des Frieses unter dem schattenden Architrav nur die Luft-
reg^on über den Köpfen bedeuten kann, in die der siebenarmige
Leuchter von Jerusalem wie die übrigen Beutestücke und Triumphal-
zeichen hineinragen. Das enge Tor am Ende zur Rechten ist nur
eine Andeutung, die nicht nüchtern realistisch genomAien werden
kann; das verbietet schon die Reduktion aus dem architektonischen
Maßstab in den plastischen der Figurenkomposition und die Höhe
der getragenen Gegenstände, die nicht so hindurchgehen würden-
Alles, was im Sinne der fortlaufenden Bewegung des Zuges unter
freiem Himmel gesagt worden ist, besteht zu Recht Alles da^
gegen, was die Meinung erwecken kann, als sei die künstlerische
Einheit bereits in einer Bildkomposition mit voller Entwicklung
der Raumtiefe zu suchen, beruht auf Selbsttäuschung und anachro-
nistischer Phantasie des modernen Beschauers.^) Eine solche male-
rische Auslegimg des vorhandenen Werkes läßt sich an Ort tmd
Stelle schon deshalb gar nicht halten, weil der Triumphbogen selbst
durch den Abstand der beiden Seitenwände, in denen sich die
Reliefs befinden, die Betrachtung aus hinreichender Entfernung für
solche Illusion unmöglich macht Dazu kommt die Höhe, in der sie
angebracht sind, so deiß schon die Untensicht für den Fußgänger
die weitere Raumtiefe jenseits des vorderen Gestaltungsraimies
abschneidet Für solche Vertiefung über den Vordergrund hinaus
i) Vgl. die Schilderung bei Fr. Wickhoff, Wiener C^nesis S. 43 ff. und deren
Kritik bei Kiegi a. a. O. S. 61 f. Unabhängig von beiden Schmarsow, Beiträge III,
S. 182 f.
Römische Reliefs unter Titus und Trajan ^03
wäre der feste Standpunkt des Bildsehens, die Konzentration des
Blickes innerhalb der Grenzen seines Rahmens erforderlich. Die
ganze Behandlung der plastischen Arbeit aber beweist vollends,
daß sie für die Ortsbeweg^ng des hindiurchfahrenden Triumphators
oder der hindurchschreitenden Begleiter berechnet ist, d. h. nicht
für rein optisches Verhalten, sondern für abtastendes Entlangsehen,
wie die plastisch -airchitektonische Durchgliederung des Bogen-
innem nur durch ihren Gegensatz bestätigt Sie ist Wirklichkeit,
der Triumphzug dort oben ein ideales Kunstwerk, trotz all seiner
packenden Lebendigkeit.
Ganz frappant begegnen wir dieser Behandlimg des plastischen
Körpers für die starke Körperwirkung auch unter ungünstigeren
Bedingungen des Architekturschmucks an den Trajanischen Relief-
medaillons, die am Triumphbogen Konstantins wieder verwertet
wurden. Selbst in dieser zentralisierenden Form der Reliefplatte
sind Figurenkompositionen angeordnet, die fast den ganzen Diurch-
messer als Normalhöhe der Körper ausbeuten, und die Reihen oder
Gruppen von Gestalten runden, sich in der Mitte gerade stärker
heraus als gegen die abschließenden Halbkreise links und rechts.
Bei den rechteckigen Tafeln des Oberbaues ist erst recht die Unten-
sicht als maßgebende Bedingung des Sehens angenonunen und alle
notwendigen Gegenstände in den Vordergnmd gedrängt, während
die Höhe künstlich mit Standarten imd Feldzeichen, Architektiu:-
kulissen usw. gefüllt wird. Auch hier entscheidet das Prinzip der
Reihung links tmd rechts neben der großen Inschrifttafel über den
Charakter des Reliefstiles. An Stelle der verbindenden Diagonalen
treten die Vertikalen tmd Horizontalen, sowohl in der Figurenkom-
position wie im Hintergrund. Selbst in den Reliefs der Trajans-
säule, wo die Aufgabe der Darstellungen darin bestand, die Aktion
von Figuren im Räume hintereinander darzustellen, ist aus dem
Hintereinander sofort ein Übereinander geworden. Jeder weitere
Beweis, daß es sich nicht um Raumkompositionen handelt, ist ent-
behrlich.^) Von diesen spiralisch um den Säulenstamm laufenden
Bilderstreifen muß noch später unter einem anderen Gesichtspimkt
die Rede sein.
Dagegen läßt sich an dem untersten Ringe des Säulenschaftes,
wo dieser von dem Kranz der Basis seinen Anlauf nimmt, eine Be-
handlung beobachten, die zunächst durch die besonderen Bedingungen
1) Riegl a. a. O. S. 60 f.
304 ^^* ^^^ Auflösung des plastischen Reliefstils
der geschwungenen Fläche veranlaßt sein mag, aber vorzüglich
geeignet scheint, in die Eigenart einer ganzen Klasse der helle-
nistisch-römischen Reliefkimst einzuführen. Es ist eben die
Flächenbewegung des Grundes, der leise nach unten herabgleitet
und vorquillt So entsteht der Eindruck eines fließenden Zusammen-
hanges, wie hier zwischen dem Wasser mit Fahrzeugen darauf und
dem Uferrand mit Baulichkeiten, der dahinter ansteigt Aber auch
zwischen felsigen Bestandteilen und darum angeschwemmtem Sand-
boden oder weichen Massen von Humus zeigt sich ein solcher Ab-
lauf, meist diagonal durch rechteckig gerahmte in Hochformat als
Wandschmuck verwendete Marmorplatten der „hellenistischen Re-
liefbilder**.*) Wie man auch über ihren Ursprung denken mag, den
Namen Reliefbilder tragen sie mit Recht wegen ihres malerischen
Charakters. Durch die Terrainbewegung wird die Hohenausdehnung-
in der raumschaffenden Weise verwertet wie sonst, bei perspekti-
vischer Verkürzung, die Tiefendimension. Der Kompromiß zwischen
Über- und Hintereinander zieht aber auch die hier und da auf dem
Boden stehenden Dinge mit in diesen Zusammenhang, besonders
wenn sie vereinzelt in die landschafdiche Umgebung hineingesetzt
werden. Die Körper im Vordergründe setzen sich notwendig mit
dem ansteigenden Schauplatz in Beziehung, der als Folie sie bald
hervorheben, bald in sich aufnehmen kann. Zuoberst aber heben
sich die Gegenstände, meist ein Baum oder ein Architekturstück
gegen den glatten Reliefgrund ab, der nach solcher Vorbereitung
nur als ebenso fließendes Medium, d. h. als Luftregion genommen
werden kann. Wenn vom zuweilen noch Bravourstücke der Natur-
beobachtung aufgetischt werden, die zunächst wie ein Stilleben für
sich wirken, so darf das nicht täuschen; sie gehen doch bei weiterem
Abstand in den Gesamteindruck des Bildes ein. Dies aber ist noch
immer nicht für einen festen Standpunkt, sondern für den schwei-
fenden Blick des Beschauers berechnet, der eben nicht senkrecht
aufsteigend noch wagerecht ablesend, sondern diagonal darüber-
hin geleitet wird Dieser Blickbahn ist auch die Abflachung des
ganzen Reliefs angepaßt, wie die Verstreuung der Gegenstände
auf der bewegten Fläche, die weder einen plastischen noch einen
architektonischen Zusammenhang aufkommen läßt, sondern die
Einzeldinge nur als stoffliche Leitmotive benutzt. Erst im Ganzen
I) Vgl. Th. Schreiber, Die hellenistischen Reliefbilder, Leipzig 1894 und Die
Wiener Brunnenreliefs, Leipzig 1888.
Malerischer Realismus der Skulptur 305
gewinnen sie ihre Erscheinungseinheit, die noch keineswegs eine
rein optische genannt werden darf und doch eine malerische An-
wandlung bezeugt; sie hat das Verhältnis aller Bestandteile zum
Wirkungswert einer durchgreifenden Revision unterzogen und
scheint mit dem Raum wie mit den Körpern zu spielen.^)
Der Umschwung vom plastischen zum malerischen Sehen läßt
sich nicht so einfach und kurz, wie man wohl meint, als Übergang
zur ausschließlich optischen Aufnahme des Bildwerks bezeichnen.
Er besteht genauer genommen aus einer Kette von mehreren in-
einandergreifenden Gliedern. Er ist eine Metamorphose der Sinnes-
wahmehmungen und der psychischen Leistungen, die viel tiefer
geht, als rein sinnliches Raffinement des Kunstgenießens aus eigner
Erfahrung anzunehmen pflegt.
Bei der ausschließlich pleistischen Richtung des gesamten
Kunstschaffens im klassischen Altertum mußte auch die Umwand-
lung der ganzen Plastik selbst, auch der Büsten- und Statuen-
bildnerei nach Maßgabe der optischen Anschauungsweise voran-
gehen. Diese aber setzt eine gründliche Entfremdung von allen
bisher gültigen Körperwerten voraus und schiebt zwischen die feste
Form des Dargestellten und die Sinnessphäre des Menschen gerade
die weiche, veränderliche, naturfarbene Schicht wieder ein, die der
griechische Bildhauer ausgeschaltet hatte, weil sie den bleibenden
Bestand zu verhüllen oder den tastbaren Kern aufzulockern scheint.
Das Spiel der Lichter und Schatten im Gelock des Haares, über
die Furchen der Stirn, die Hautfläche des Nackens; die Farbe der
Wangen, der Teint der ganzen Epidermis, der rötliche und bläu-
liche Ton des durchscheinenden Geäders, die helleren Flächen der
Fettpolster und ihr Kontrast gegen die dunkler getönten Höhlungen
sind lauter Erscheinungen, die an Stoffwechsel, Ernährungszu-
stand und Lebensalter gemahnen. Sie erregen nun durch den
Augenschein auch die Vorstellung der Vergänglichkeit und der
Abhängigkeit von Bedingungen, die außerhalb des Individuums
liegen und auf den Zusammenhang mit der weiten Natur hinleiten.
Je mannigfaltiger die stoffliche Beschaffenheit, je farbiger die
organische Bildung dieser variablen Übergangssphäre mitspricht
desto realistischer erscheint die Auffassung. Aber sie richtet sich
mehr auf die äußere Hülle, die als Grenze schon sich mit allen
i) Am vollendetsten ist dieser malerische Stil in den ßachen Stuckreliefs aus-
gebildet, die seinerzeit bei der Villa Farnesina gefunden wurden.
Schmarsow, Kunstwissenschaft. 20
jo6 XX. Die Auflösung des plastischen Reliefstils
Nachbarn befassen muß, mehr auf das Medium, das die Gestalt
umfließt, als auf den Körper, eben auf die transitorische Erschei-
nung und nicht auf die feste Form. Dieser Erscheinungszusammen-
tang gewinnt aber bei der rein optischen Aufnahme seine einheitliche
Wirkung als Ganzes für den Beschauer erst in weiterer Entfernung.
Die stoflFliche und farbige Mannigfaltigkeit der Teile geht nicht
eher zusammen zur Harmonie der Wirkungs werte; sie fordert den
Abstand des Fembildes. *) Damit vollzieht sich immer entschiedener
die Ausschaltung des Tastsinnes zugunsten des Gesichtssinnes und
demgemäß eine Art Entkörperung der Gestalt. Immer fühlbarer
wird die Vermittlung zwischen der Einzelerscheinung und deren
räumlicher Umgebimg beachtet und einbezogen, wie schon ein
flatterndes Gewand die Bewegfung der Luftregion als Ursache mit-
spielen läßt, wie Farbenillusion das Licht, wie das Licht wieder
Schatten fordert
Kein Wunder, wenn bald spezifisch malerische Kompositionen
auch für die Reliefkunst verwendet und unterschiedslos z. B. auf die
Sarkophagwände übertragen werden. Diese Anleihe bei der Nach-
barkimst Malerei ist ihrerseits wieder vorbereitet durch die Ver-
schleifung aller Unterschiede der technischen Prozeduren, die sich
in der römischen Reichskunst geltend macht Sie hat das Ihrige
auch zur Auflösung der eigentlich plastischen Reliefkimst beige-
tragen. Schon dem alexandrinischen Relief wird eine Verquickung
mit technischen Hilfsmitteln der Toreutik tmd Goldschmiedekunst
nachgesagt. Die Oberfläche des Metalls bringt aber bei verschie-
dener Stellimg der Teilflächen zirni Auge ganz andere Wirkungen her-
vor, als die nämliche Komposition, die identische Formbildung in
Marmor. Die Reflexlichter imd Glanzerscheinungen sind es vor
allem, die der plastischen Bestimmtheit der Gestalten, der klaren
Begrenzung der Einzelkörper nachteilig werden, und die ohnehin
schon in diesem Material schlanker erscheinenden Formen in einen
gemeinsamen Schimmer tauchen. Die Goldschmiede sind es außer-
dem, die Gold- imd Silberglanz als Folie für Edelsteine mit ihrem
durchsichtigen Feuer, Perlen mit ihrem zarten Schmelz nebst
farbigen Emailarbeiten und Kameen verwenden. Kein krasseres
Beispiel der Stilmischimg dieser Art als der Porphyrsarkophag der
Helena, den man gern in die Tage Hadrians zurückdatierte: in
i) Vgl. hierüber Schmarsow, Plastik, Malerei und Relief kunst 1899, Kap. I,
V, VII mit Riegl a. a. O. 1901, S. 46 f.
Helldunkelreize
307
dem harten Material kleine, aber weitausladende, ganz isolierte Körper,
die nur mit Kameenschnitt in Onyx oder Achat verglichen werden
können. Wieder eine andere Quelle sind die etruskischen Terrakotten,
auf deren Einfluß auch in der Marmorskulptur der Sarkophage mit
Recht aufmerksam gemacht worden ist: sie erklären den Übergang
zu optischen Wirkungen wieder nach einer anderen Seite, nämlich
die Vorliebe für Helldimkelspiel. Nicht um eine zufällige, praktisch
ganz unmotivierte Nachahmung der einen Technik in der anderen
kann es sich handeln, nicht um gewohnheitsmäßige Übertragung
durch töpferhaft geschulte Tonbildner, die man in Marmor Werk-
stätten gemißbraucht habe; das kann nur Gelegenheitsursachen der
Entstehimg abgeben. Auf das Gemeinsame in den Sinneseindrücken
kommt es an imd damit auf die Gleichheit des Kunstwollens, das
nach diesen Mitteln greift. Optische Reize, Wohlgefallen am Hell-
dunkel oder der Farbigkeit müssen dies Gemeinsame gewesen sein,
das die seltsame Übereinstimmimg einer zahlreichen Denkmäler-
klasse mit jenen Sonderbarkeiten einer uralten imd rohen Kunst
erklärt An spätheidnischen wie an altchristlichen Sarkophagen
finden wir die ganze Wandung aufgelockert durch kleine puppen-
hafte, dicklichte Figuren oder sonstige Gegenstände, in einer Form-
gebung, wie sie ursprünglich nur der Töpfer modelliert Und um
jeden Einzelkörper oder sackartigen Wulst mit Kopf darauf legt
sich ein eigner Schattenraum, wie er ursprünglich nur beim ein-
zelnen Aufsetzen jeder Puppe in erforderlichem Abstand von der
nächsten (in Rücksicht auf das Brennen) entsteht So bieten nun
auch die Marmorsarkophage eine ins Kleinliche gehende Zerklüf-
tung der zusanmienhängenden Stoffschicht, die bei dem geringen
Wert der plastischen Bildung kaimi einen anderen Genuß gewähren
kann als eben den schnellen Wechsel von Hell imd Dunkel, mit
seiner flimmernden arhythmischen Bewegung für das Auge. Das
Unpleistische endigt auch hier in dem Unfigürlichen, in den „durch-
brochenen Arbeiten" aus Metall, Gold, Silber, Bronze usw., aber
auch aus Terrakotta und Stein, für die der kunstgewerbliche Be-
trieb der Spätantike so zahlreiche Beispiele liefert, nachdem sie
längst auf plastische Gestaltung verzichtet hat, — bis ins Koptische
hinein.
Damit stoßen wir auf die wesentlichste, sowohl negative wie
positive Ursache für die Auflösung der Reliefkunst, wie der Plastik
überhaupt, d, h. des Verfalles, der vorangehen mußte, um das Feld
für andere Künste freizimiachen, wie dies beim Übergang von
20 •
*.
3o8 XX. Die Auflösung des plastischen Reliefstils
der statuarischen Kunst zur Architektur bereits verfolgt ward
Den letzten Stoß bekam das eigentlich antik klassische Kunstwollen
durch die Entfremdung von den Grundlagen des bildnerischen
Schaffens, durch das Abhandenkommen des einst so allgemeinen
Sinnes für die organische Schönheit des menschlichen Körpers
und der Kenntnis seines Baues , seines Wuchses, seiner Formen-
sprache in allen Gliedern. Das ist jedoch nur die negative Kehr-
seite des positiven Umschwungs in der allgemeinen Weltanschauimg.
Die Entwertung der Leibesschönheit im Gefühl der Zeit ist
nur eine Folge der neuen, inuner ausschließlicher sich durchsetzen-
den Bewertung der Seelenreinheit, der Geisteshoheit und
der Unsterblichkeit dieses inneren Gehalts gegenüber dem ver-
gänglichen oder gar sündhaften Gefäß.
Für Rom bezeugt diesen Umschwung als vollendete Tatsache
der Triumphbogen des Konstantin, ein öffentliches Monument
vor aller Augen. Freilich mit der Jahreszahl seiner Errichtung
nach dem Sieg über Maxentius ist kein Termin gewonnen, der
gleichmäßig auch für das übrige Römerreich seine Geltung hätte.
Die Reliefs, soweit sie nicht von früheren Denkmälern zusammen-
gerafft, sondern wirklich 312 gearbeitet worden sind, zeigen das
Bestreben, die Figuren innerhalb der gemeinsamen Materialschicht
räumlich zu isolieren.*) Sie sind an den Umrissen tief unter-
schnitten, so daß sie nirgends augenfällig mit der Grundebene zu-
sammenhängen. Der Gestaltungsraum hat seinen ehemals tastbaren
Zusammenhang verloren und zerfällt in eine Aufreihung heller
Figuren und dunkler Raumschatten dazwischen. Aber die verhält-
nismäßig seichte Materialschicht, die so durchgegliedert ist, bringt
nur einen kleinlich flimmernden Gesamteindruck hervor.
„Genau das gleiche Verhältnis wie zwischen dem Relief als
Ganzem und den Figuren als seinen Teilen muß zwischen der ein-
zelnen Fig^ als Ganzem und ihren Teilen, sei es den nackten
Gliedern, sei es der Gewandung, obwalten. Einfache, geradlinige,
ungegliederte und unrhythmische, und darum harte, aber klare
Umrisse begrenzen die Figuren, die zwischen Vorder- und Grund-
ebene breitgequetscht sind. Dagegen werden deren einzelne Teile
voneinander durch tiefschattende Furchen isoliert, besonders deut-
lich in der Haarbehandlung und in der Draperie. Also wie die
Figuren zum Ganzen, so stehen auch die Glieder und Gewänder
I) Vgl. Riegl, a. a. O., S. 46 f.
Triumphbogen Konstantins — Systematisches Schema ^OQ
zu den Figuren nicht im Verhältnisse tastbarer Verbindung, son-
dern in demjenigen optischer Isolierung untereinander. Die ein-
zelnen Figuren geben sich als kubische raumfuUende Körper, und
als solche müssen sie notwendigerweise vom freien Raum umflossen,
d. h. von komplementären Schatten eingerahmt sein." (R.) — Die
Einpressung in eine einzige gemeinsame StofFschicht geschieht hier
natürlich in Rücksicht auf die Stelle, die den Reliefstreifen an den
geschlossenen Stirnflächen des Monumentes eingeräumt wird; aber
sie ist bezeichnend für die ganze Richtung.
Nur die weitere Konsequenz dieses Verfahrens spricht sich
auch in der Komposition aus, am stärksten in dem einen gerade
über dem seitlichen Torbogen angebrachten Relief mit der Ver-
teilung des Kongiariums. In der Mitte thront der Kaiser auf hohem
Podium und ganz von vom gesehen, allein die volle Höhe der
Bildfläche einnehmend, während sie im übrigen ganz in zwei Ge-
schosse geteilt ist. Fast sämtliche Figuren unten sind dem Zentrum
zugekehrt. Das Obergeschoß aber zerlegt sich durch einfache oder
doppelte Pfosten in streng symmetrische Kompartimente, eine
breite Mittelloge, in die der Oberkörper des Kaisers als Trennungs-
glied hineinragt, tmd je zwei kleinere links und rechts. In der
Anordnung der Figuren herrscht wieder strikte Kongruenz oder
Responsion. Das Ganze bietet also eine starre systematische
Komposition, die sich über den einheitlichen Körpermaßstab der
plastischen Kunst von ehedem hinwegsetzt, um schematisch und
klar die Werte der Personen abzustufen. Freilich darf auch hier
der Zusammenhang mit der Gesamtkomposition des Triumphbogens
selbst nicht unbeachtet bleiben. Ebendieses gemeinsame Produkt
der Plastik und Architektur zeigt eine ebenso komplizierte syste-
matisch berechnete Anordnung nach den nämlichen Prinzipien.
Statt der organischen Schönheit, die an den Einzelbildungen schmerz-
lich vermißt werden mag, haben wir, wie Riegl mit Recht hervor-
hebt, eine andere Art von Schönheit, die er übereinstimmend mit
uns die kristallinische nennt, „weil sie das erste und ewigste Form-
gesetz der leblosen Materie bildet". Aber die treibende Kraft
dieses neuen KunstwoUens ist unleugbar das intellektuelle Wesen,
die Vergeistigung aller Kunst, der die Zukunft gehörte.*)
i) Es ist geradezu, als ob hier christliche Sarkophagbildner mit aufgeboten
wären, den Triumphbogen Konstantins zu schmücken, so stark stimmt der Stil mit
dem gleichzeitigen jener überein.
XXL
METAMORPHOSE DES BILDES
RELIEFKOMPOSITION UND RELIEFBILDER — AUGENSCHEINMALEREI UND
DEKORATION — MONUMENTALE ABSICHTEN DER MOSAIKGEMÄLDE
Der Übergang vom plastischen zum malerischen Gefiihl in der
bildenden Kunst kann gar nicht befriedigend dargetan werden,
wenn man sich ausschließlich an die Skulptur hält*) Von der
Malerei selbst muß ausgegangen werden, auch wo ihre Werke so
viel spärlicher erhalten sind. Erst nachdem die optische Aufnahme
hier durchgedrungen ist und die Erfüllung spezifisch malerischer
Ansprüche erreicht hat, kann auch die Relieflamst und vollends
die Statuenbildnerei diesen Wandel so weit annehmen, daß die rein
sichtbare Erscheinung in merkbarem Maße die Oberhand gewinnt
über alle tastbaren Werte der Körperlichkeit Niemals vermag
ein Kompromiß mit der andersgearteten plastischen Kunst uns
vollgültig das Zeugnis echt malerischen Wollens in einer Schöpfung
des Malers zu ersetzen. Das ist und bleibt ein Notbehelf, trotz
aller Hellseherei und Imaginationsgabe des einen oder des anderen
Forschers.
Dazu kommt noch ein historisches Moment für die besondere
Zeit des Übergangs, die wir ins Auge gefaßt haben. In der Spät-
antike nimmt die Reliefkunst in jeder Form und jeglichem Material
ungefähr die Stellung ein, wie Holzschnitt und Kupferstich in der
nordischen Kunst seit dem 15. Jahrhundert Sie ist Gemeingut und
geläufiges Ausdrucksmittel für jedwede Verbildlichung, muß überall
herhalten, wo es Flächen zu beleben gilt. Darin liegt das Erbteil
der Vorherrschaft plastischen Schaffens im klassischen Altertum,
darin aber auch die Proteusnatur, die sich die Reliefkunst aneignen
i) Wie dies an wichtiger Stelle von Wickhoff versucht wird, aber schon von
Strzygowski beanstandet worden ist, während Riegl das Verfahren verteidigt.
Komposition der Alexanderschlacht ^ 1 1
mußte, um all den verschiedenartigen Aufgaben der Verzierung zu
genügen.
Durchaus plastisch gesonnen bleibt noch ein gut Teil der
Malerei selbst in hellenistischer Zeit Wenn die damalige Skulptur,
wie im Gigantenfnes von Pergamon die Verstärkung der Relief-
höhe und der Schatten zwischen den vollgerundeten Körpern er-
strebt und die ganze Oberfläche in vorgewölbte Körperformen und
Schattenfürchen auflöst, so daß ihr Anblick sozusagen „die Tast-
organe des Beschauers in höherem Grade zum Greifen heraus-
fordert als alle früheren und späteren Skulpturen des Altertums" (R),
— so können wir uns nicht wundem, wenn dieser plastische
Drang auch in der Malerei noch lange seine Befriedigung sucht.
Werden die Figxiren eines Bildes ebenso nahe aneinandergerückt,
daß kein offener Zwischenraum oder Hintergrund mehr freibleibt,
so entsteht bei gleicher Stärke der Modellierung durch Schatten
auch für das Auge ein geschlossener Gestaltungsraum nach Maß-
gabe dieses Körpergedränges, wie an den lebendigsten Sarkophagen
von Sidon im bemalten Relief.
Das großartigste Historiengemälde des Altertums, das — in
Mosaik übersetzt xmd zu einem Fußboden gemißbraucht — in
Pompeji auf uns gekommen ist, die Alexanderschlacht im Museum
zu Neapel, steht dieser Reliefkomposition noch ganz nahe, trotz
aller leidenschaftlichen Beweglichkeit, die es durchdringt. Rosse,
Reiter und Fußsoldaten sind zu kompakten Massen aneinanderge-
rückt, zum Teil in kühner Verkürzung gezeigt; aber jeder Körper
^ird klar vom anderen geschieden und für sich energisch heraus-
modelliert. Der Zug der Bewegung geht fast durchweg von einem
Ende zum anderen, obwohl der Eindruck der Gegeneinanderfuhrung
in diagonaler Richtung versucht wird. So geraten auch der an-
stürmende Alexander, dessen Lanze einen persischen Satrapen
durchbohrt, und der fliehende Darius, der bei diesem Anblick er-
starrt, unwahrscheinlich nah aneinamder; aber gerade hier ist die
Reliefkomposition gebrochen und die rechte Hälfte um das Stück
leeren Vordergrundes zurückgeschoben. Das ganz in Rückansicht
gesehene Roß, das dem Perserkönig an den Wagen gebracht wird,
soll den Raumwert erschaffen, der die beiden Gegner trennt. Nur
die vorgestreckten Lanzen rechts hinten imd der kahle Baimi, der
links hinter der Kämpfermasse aufragt, geben den Schein größerer
Raumtiefe. Aber das ist auch alles; selbst wenn wir statt des
weißen Grnmdes im Mosaik einen bewölkten Himmel im Original
^12 XXI. Metamorphose des Bildes
dächten, bliebe das Wesen der Reliefkomposition bestehen, bei der
ein räumlicher Zusammenschluß des Schauplatzes gar nicht mitspielt
Damit beschränkt sich auch die Bedeutung des Urbildes (von
Philoxenos, um 300 v. Chr.?) als Zeugnis für die monumentale
Wandmalerei jener Zeit.
Durchaus plastisch gesonnen sind auch die Kompositionen der
kampanischen Gemälde, die uns (im L Jahrh. v. Chr.) den Schritt
zur vollen Beobachtung der natürlichen Körperfarben bezeugen.
Aber ebendeshalb liegt auch hier nicht der Beweis vor, daß diese
Bekehrung der schönfarbigen Malerei zur durchgängigen Natur-
wahrheit von dem räumlichen Zusammenschluß der Bildanschauung
ausgegangen sei. Im Gegenteil, wir haben alle Ursache anzunehmen,
daß die Beobachtung und Wiedergabe der wirklichkeitsgemäßen
Farben zunächst am Einzelnen haftet, am körperlichen, stoflFlichen
Ding sich durchsetzt und dort lange genug zu tun hat, die ge-
wohnte Auffassung fester Formen im plastischen Sinne nun an-
gesichts der Naturfarbigkeit abzuwandeln, aufzulockern, die schnei-
denden Kontraste der Tinten anzuerkennen, selbst wo sie das
organische Gewächs zerreißen (wie in der Tracht), die ver-
mittelnden Nuancen hinzunehmen, wo der Bildner klare Sonderung
wünschte. Was sind denn die Gemälde mit Mars bei Venus oder
Herakles und Telephos anders als Reliefkompositionen in Hoch-
format? „Wenn die Maler die bunten, schönen, ungebrochenen
Farben, die ihre Vorgänger nach subjektivem Gefühl zusammen-
stellen durften, nun objektiv nach ihrer Stellung zu den natürlichen
Vorbildern nebeneinandergesetzt hätten, so wäre das zufällige Zu-
sammentreffen greller Farben gewiß peinlich, roh, ja unleidlich aus-
gefallen/'^) — urteilen wir, indem wir nach unserem heutigen Ge-
schmack die Ausgleichung der Körperfarben zu einer harmonischen
Gesamtwirkung im Bilde fordern. Aber ebendiese Harmonie ist für
das moderne Auge, dessen Blick, vom Medium geleitet, sich sozu-
sagen mit ihm über die Dinge ergießt, notwendig eine andere als
für da^ antike Auge, das an den Körpern haftet und entlanggleitet
und nicht über ihre Bildungssphäre hinausdringt zur Weite des
Alls, weil es eben noch nicht gelernt hat, dies Ungreifbare zu
fassen und als Bestimmendes anzuerkennen. Es kann nicht genug
betont werden: auch hier behauptet sich die plastische Anschauung
der Antike vor der eben erst aufkeimenden malerischen in dem
i) Wickhoff, Wiener Genesis, S. 52.
Kampanische Wandmalerei 313
Festhalten an der Körpervorstellung, die dem umgebenden Räume
noch keine Macht über diese konstitutiven Werte zugesteht. Dazu
kommt die Vorliebe der Zeit für üppige Fülle des Fleisches, an
junonischen Frauen, bakchischen Jünglingen, herkulischen Männern
und erotischen Eünaben. Die starken Kontraste der Farben heben
schon die nackten Körper, hier blendend weiß oder weizengelb,
dort braunrot oder rosig, voneinander ab. Dem fugen sich die Ge-
wänder ein, wie im Leben selber, farbensatt, bunt, nicht selten grell.
Und selbst die zarten, wohlabgewogenen Töne der kampanischen
Bilder (d. h. der heute verblichenen Wandmaderei) wurden, wie
Wickhoff gesteht, in ihrer „blonden Harmonie zuweilen durch hell-
jauchzende Noten" gehoben oder durchbrochen. Auch der Maler
bringt seine Schatten überall dort an, wo das natürliche Vorbild
der Einzelform, der Menschengestalt, des Baumstammes, eine tast-
bare Ausladung aufweist. Wenn er unter den zahlreichen natür-
lichen Ausladungen eine Wahl trifft, so geschieht es nicht nach
Maßgabe des im freien Räume ringsum verteilten Lichtes, sondern
einmal nach der Wichtigkeit, die ihm die einzelnen Ausladungen
für den Zweck der kubisch-räumlichen Isolierung zu besitzen
scheinen, dann gemäß dem Bedürfnisse nach einer möglichst wirk-
samen Verteilung von Hell und Dunkel über die Gesamtform.*) Vor-
trefflich chareikterisiert Riegl, dessen Urteil ich nur etwas abzu-
wandeln brauche, um auch meine Überzeugung wiederzugeben, den
Eindruck, den man von der Gesichtsbildung einer gemalten mensch-
lichen Figur aus der früheren römischen Kaiserzeit empfangt.
„Stirn und Wangen sind in der Regel ins helle Licht gesetzt, die
Höhlungen zwischen Brauen, Nase und Wangen in tiefes Dunkel
gehüllt, aus welchem wiederum die Augen lebhaft hervorglühen.
Dabei ist nun das Charakteristische, daß diese Art der Licht- und
Schattenbehandlung an den Köpfen fortwährend in genau gleicher
Weise wiederkehrt; daraus geht hervor, daß sie nicht (wie heute)
durch die jeweilige wechselnde Belichtimg des Raumes bedingt
war, sondern durch das Bestreben, den einzelnen Kopf und die
Kopfpartien in möglichst geschlossener Einheitsform xmd rhyth-
misch verteilter Beleuchtung erscheinen zu lassen." Dadurch ent-
steht für unser Gefühl ein maskenhafter Charakter, mit dem die
dämonisch strahlenden Augen zuweilen unheimlich kontrastieren.
Wir stehen an der Grenze der plastisch denkenden und fuhlen-
i) Vgl. Riegl a. a. O., S. 59.
n
ji^ XXI. Metamorphose des Bildes
den Malerei, die Wickhoff (S. 64 £) als „Naturalismus"*) zu charak-
terisieren versucht Aber dieser Name trifft nicht eigentlich den
Nagel auf den Kopf; denn es handelt sich nicht um die Natur als
Ganzes, sondern nur um das organische Geschöpf, den Menschen,
dann die Tiere und zuletzt noch die Pflanzen, die sich gerade da-
mals die Vorliebe für den strotzenden Reichtmn und die üppige
Schwellung erobern. Wenn es hoch kommt, stellt sich noch der
Gegensatz kristallinisch-regelmäßiger Formen aus der Tektonik ein.
Aber vor allen Dingen bleibt doch der Mensch und seine Korper-
schonheit, nur in farbiger Vollständigkeit, der Gegenstand der
Augenlust, und die tastbare Unterlage geht bei allen allmählich hin-
zueroberten Werten dieser kolorierten Plastik nicht verloren, bis
zu Licht und Schatten, soweit sie an diesen Körpern zum Vor-
schein kommen. Bei der Übersetzung des angeschauten Körpers
in eine Darstellung auf der Fläche herrscht das Bestreben vor, die
bezeichnenden Formen in geschlossenem Zusammenhang zu geben,
sei dieser in älterer Weise durch umschreibende Linien, sei es in
fortgeschrittener durch abstufende Modellierung hervorgebracht
Das einzige Thema dieser Malerei, auch als hochentwickelter
Farbenkunst, ist noch immer die Wiedergabe der Körperlichkeit,
die Verherrlichung des plastischen Ideals, solange das Gefühl für
die organische Schönheit der Kreatur noch den höchsten Maßstab
für alle Werte der Erscheinungen bedeutet
Sodann aber gibt es unleugbar andersairtige Gemälde, die auf
der Stufe der „hellenistischen Reliefbilder*' stehen und eine viel
weitergehende Hingabe an den Zusammenhang der Natur offen-
baren, als jene „naturalistische" Wiedergabe der Einzelkörper. Auch
sie mögen vielleicht noch mehr auf Eindrücken des Theaters be-
ruhen als auf Beobachtung im Freien; sie mögen gleich jenen Re-
liefs zunächst aus Bedürfnissen der Wanddekoration imd der
Flächenbelebimg für den schweifenden Blick erwachsen sein. Aber
die Eigentümlichkeit der Anschauung besteht doch gerade darin,
daß die Dinge und der Schauplatz mit allem, was darin ist, gleich-
wertig mit den Menschen behandelt werden, und daß beide Fak-
toren zusammen in Fluß kommen, so daß hier und da das Land-
schaftliche den Vorrang gewinnt und selbst die Handlung der
i) Gegen die Bezeichnung „Naturalismus" für eine einzelne Stilweise macht
auch Riegl triftige Gründe geltend, S. 212, Anm. i. Der Ägypter wie der Hellene,
der Meister des Periklesporträts wie der der Konstantinischen Zeit glaubten allesamt
naturalistisch zu verfahren, aber jeder hatte seine eigene Auffassung von der Natur.
Relief bilder — Hirtenlandschaft 31c
Personen, die darin auftreten, zurücktritt, um einer genrehaften Situa-
tion die Stelle einzuräumen. Selbst dramatische Auftritte ernster
Art, wie Orest imd Pylades am Opferaltar beim Auftreten Iphigeniens
oder Jason und Pelias, werden zu Stimmungsbildern lyrischer Art,
und wie bei jenen Reliefbildem sind die Genreszenen der eigent-
liche Inhalt, den sie vermitteln können, hier aber schon der innige
Einklang des naturwüchsigen Menschen mit seiner heimischen Um-
gebung oder gar mit einem Anflug von sentimentaler Sehnsucht
nach solchen naiven Zuständen zurück. Noch spät begegnet uns
in kleiner Wiederholung als Miniaturgemälde, zum Titelschmuck
einer illustrierten Handschrift, deren früheste Bestandteile erst dem
Beginn des IV. Jahrhunderts n. Chr. gehören mögen, ein solches
Landschaftsbild mit Figfiu-en darin, die ganz mit dem nahen Schau-
platz verwachsen scheinen. Der oströmische Illustrator des Psalters
(in Paris)*) zeigt uns David als Hirten die Leyer spielend; eine
Frauengestalt, die neben ihm sitzend an seiner Schulter lehnt, ist
durch Beischrift als „Melodia" bezeichnet. Vom bewacht der treue
Hund die Herde, die friedlich um den Sänger weidet, während
unten in der Ecke der Berggott „Bethlehems" lagert imd droben
aus dem Gebüsch hinter dem Brunnen die „Echo" lauschend her-
vorguckt Wenn uns die Wasserleitung schon in eine bestimmte
Kultur des oströmischen Reiches versetzt, so wird doch jeder Be-
trachter der Handschrift, der nicht umsonst in Pompeji gewesen,
die Namen David und Melodia mit Orpheus und Eurydike oder
Psiris und Oinone vertauschen und den Berggott wie die Echo
eher auf dem Ida oder Hymettos, als auf dem Libanon oder gar in
Bethlehem suchen. Das Entscheidende aber liegt in dem über-
gleitenden Zusammenhang zwischen der Terrainbildung, den Ver-
satzstücken des Schauplatzes und den darin eingeordneten Figuren.
Es ist schon eine Raumanschauung im Bilde, aber wie in jenem
gemäßigten Relief, doch nur eine bewegte Oberflächenschicht; kein
Tiefraum für den festen Standpunkt des Beschauers perspektivisch
dargestellt, sondern ein Ausgleich mit der Höhendimension, wie er
sich in Untensicht für höhere Stellen der Wandmalerei zu ergeben
pflegt. Es ist ein Schritt zur Entdeckung des Malerischen, zur
Darstellung des Zusammenhanges selber zwischen Körpern und
Raum getan.
1) Abbildung bei Wickhoff a. a. O. Venturi, Storia dcirArte italianall, S. 450,
Besonders wichtig sind noch zwei Mosaiken, die Nilpferdlandschaft im Museo
Kircheriano, und der Fußboden mit der Gesamtschildenmg Ägyptens aus Palestrina.
^i6 XXI. Metamorphose des Bildes
Dann aber meint der aufmerksam beobachtende Forscher auch
unter den Resten kampanischer Gemälde den entscheidenden Um-
schwung zu entdecken. „Es kam ein Augenblick, wo malerisch
begabte Ingenien nach langer Übung im Sehen, die sie dem
^Naturalismus' verdankten, erkannten, daß die Erscheinung nichts
gemein habe mit ihren künstlich sorgsamen Studien und Bereitungen
(auf Grund der plastischen Unterlage): daß uns ein Körper, den
wir in seiner Farbigkeit und zufalligen Beleuchtung erblicken, nicht
jene zusammenhängende Modellierung zeigt, wie das künstlich be-
leuchtete Relief, sondern daß sein Bild sich zusammensetzt aus
nebeneinanderstehenden, unter sich ganz verschiedenen Lichtwerten,
und ihren physiologischen Wirkungen auf das Auge, daß also das
Bild, das ein Gegenstand unserem Auge bietet, nicht das eines
sanft modellierten Reliefs ist, sondern aus einem Nebeneinander
von Flecken und Punkten verschiedener Färbung und Lichtstärke
besteht, die keineswegs zusammenhängende Formen geben, sondern
aus denen wir die Formen erst mit Hilfe von nicht zum Bewußt-
sein kommenden Erinnerungen an die Körper erschließen, daß vor
allem nicht alle Gegenstände des Bildes zugleich gleich deutlich
wahrgenommen werden, sondern nur jene, welche wir fixieren,
während die anderen, sei es nun dahinter oder davor, mehr oder
minder in Formen und Umrissen verschwimmen, und das ganz ab-
gesehen von der schon bekannten Abtönung durch die dazwischen
liegende Luft. — Der Maler, der diese Beobachtung gemacht und
in sich verarbeitet hat, — man kann sie natürlich machen, auch
ohne sie zu formulieren, — wird nun nicht mehr seine Bilder aus
körperlich durchmodellierten Einzelheiten zusammentragen, nicht
aus abstrahierten Abrundungen, sondern er wird Farbentöne neben-
einandersetzen, welche der wirklichen Erscheinung entsprechen,
und deren Verbindung zu Körpern nicht der vertreibende Pinsel
auf dem Gemälde, sondern wie bei dem Sehakte die supplierende
Erfahrung des Beschauers macht. Er zwingt den Betrachter so,
die letzte Verbindung der Eindrücke zu Formen selbst vorzunehmen,
und indem er ihn zur Formenbildung mit heranzieht, erregt er in
ihm die zwingende Überzeugung von der Wirklichkeit des Ge-
schauten, eben weil er ihn an der Vollendung der Täuschung hat
geistig mitarbeiten lassen . . ." (Wickhoff a. a, O., S. 65).
Lassen wir die historische Beziehung auf Ort und Zeit einmal
ganz aus dem Spiel, so haben wir in diesen Sätzen — und deshalb
heben wir sie heraus — die zutreffende Charakteristik einer Malerei,
Augenscheinmalerei und Dekoration ^ly
die von den bisher betrachteten Versuchen weit abliegt und die
Wiedergabe des Augenscheines ausschließlich und allein be-
zweckt. Wo statt der einheitlichen Unterlage der Körperbildung
der Augenschein seinen flüchtigen Reiz erschließt, da tut sich auch
neben der tastbaren Korperwelt die durchsichtige Weite des
Raumes auf und verlockt wohl die kühnsten Entdecker des Male-
rischen zu Streifzügen in die Welt der Farben und des Lichtes,
bei denen das Korpergefühl allmählich verloren geht und ein
anderer Zusammenhang zwischen den Dingen und dem umgebenden
Räume sich offenbart.*) Aber auch hier muß ein lebendiges Ge-
fühl des menschlichen Subjektes entgegenkommen, um die duftigen
Erscheinungen des Halbdunkels ohne Körper, der Farbenharmonie
oder gar des Farbenrhythmus ohne gewachsene Träger, vielleicht
gar ohne Leitungsbahnen des Gestaltungsraumes, rein als Fembild
und Flächenschein überhaupt zu gewahren und als Werte von
völlig anderer Natur zu erfassen. Wenn die Entdeckung verein-
zelter Maler fruchtbar werden und verstanden sein sollte bei ihren
Zeitgenossen, so mußte die psychische Bildung eine tiefgreifende
Umwandlung des antiken Wesens erreicht haben. Solange diese
nicht antwortete, blieb die Entdeckung ein sinnliches Raffinement,
l'art pour l'art.
Wickhoff möchte diese Art von Malerei mit dem Namen
„Illusionismus" bezeichnen. Aber er selbst bringt im ersten Satze
seiner Begründung schon ein starkes Hindernis für die unterschei-
dende Kraft dieses Namens bei. Wenn er nämlich erklärt: „Illusion
zu erreichen, sei die Absicht aller Kunst", so macht er einen
Strich durch die eigene Rechnung; denn dann darf von einer spe-
zifischen Bedeutung dieses Terminus für eine bestimmte Entwick-
limgsphase der Malerei ebensowenig wie bei Naturalismus mehr
die Rede sein. Der Trumpf ist schon verspielt.
Wichtiger als der Name erscheint allerdings die Frage, ob die
Ablösung des reinen Augenscheines im Bilde auch in der antiken
Malerei schon erreicht worden sei. Wickhoff meint sie bejahen zu
dürfen, und zwar hauptsächlich auf Grund der kampanischen Wand-
malerei. Er sieht in dem letzten der von August Mau imterschie-
denen Stile der dekorativen Wandmalerei in Pompeji^ eben seinen
i) Vgl. Zur Frage nach dem Malerischen (geschrieben ohne Kenntnis des
Wickhofischen Buches).
2) Geschichte der dekorativen Wandmalerei in Pompeji (Berlin 1882), dazu
Wickhoff a. a. O., S. 69 f., vgl. S. 74.
3i8 XXL Metamorphose des Bildes
„Illusionsstil'S der somit in die letzte Zeit Pompejis bis zur Ver-
schüttung im Jahre 79 n. Chr. fallen würde. Es ist der nämliche
„Grotteskenstil"*), der in den zahlreichen Publikationen über Pom-
peji fast allein vertreten ist „Generationen von Künstlern holten
sich aus ihm seit der Wiederaufdeckung Pompejis ihre Motive, wie
ihn schon Ra£Fael imd seine Schüler bewundert, studiert und be-
nutzt hatten in den Thermen des Titus, die ebenfalls in diesem
Stil gemalt waren." Aber d£is Bedenkliche bleibt die Tatsache,
daß wir es hier mit einem Dekorationsstil zu tun haben, mit Er-
zeugnissen der Wandmalerei, deren Zweck eben darin besteht, die
Grenzen des vorhandenen Raumgebildes umzudichten und den
Menschen mit Hilfe eines phantasievollen Scheines von den Schran-
ken des Innenraumes zu befreien. Eben in dieser Rolle für die
gesamte ,3^aumkunst" liegt die Bedeutung jenes vierten Dekora-
tionsstiles von Pompeji, der damals gewiß nur dem verfeinerten
Geschmack erst willkommen war. Seine Voraussetzung ist die
Kenntnis der Perspektive, die in dem früheren Architekturstil er-
obert und eingeübt sein muß, und ihre Geläufigkeit für Gemälde,
mag sie auch unvollkommen entwickelt bleiben, ist der stärkste
Beweis für die Vorherrschaft der optischen Anschauung, der jeden
Zweifel an der visuellen Natur des Kunstwollens beseitigen muß.
Nun aber beginnt der neue Stil gar mit diesen perspektivischen
Überraschungen zu spielen und häuft die Eindrücke verschieden-
artigster Bravourstücke bis zur Augenverblendung, daß man den
zauberhaften Wänden eines Feenpalastes gegenüberzustehen und
unter der luftigen Deckenmalerei von einer Märchenwelt zu träiunen
glaubt Und mitten in diesem Spiel begegnen auch jene kleinen
Wimderwerke des sogenannten Illusionsstiles, die doch wohl nur
als flüchtige Geniestreiche eines routinierten Technikers entstanden
sind und nur aus den Mitteln der Dekorationsmalerei erklärbar
scheinen.
Die phantastisch gaukelnde Wandverzierung imd die flüchtig
hingehauchte Malerei des Augenscheins ward aber, nachdem sie
sich weiter eingebürgert hatte, auch zmn adäquaten Ausdruck der
weltfremden, allen Werten der Wirklichkeit entrückten Sinnesart
der jimgen Christengemeinden mitten in der romischen Reichs«
i) Vgl. Schmarsow, Über den Eintritt der Grottesken in die Dekoration der
Renaissance, Jahrb. der königL preuß. Kunstsammlungen 1881. Pinturicchio in Rom
1882, S. 2if« und 70 ff.
Augenscheinmalerei und Dekoration ^lo
kultur.^) Nicht in den höchsten Leistungen einer überreifen Sinnlich-
keit, die den intimsten Reiz der Stoffe, die Lebensäußenmg der Materie
selbst genießen will, und die Mannichfaltigkeit ihrer Erscheinungen
in das Farbenwunder eines Seestückes, einer Moadscheinnacht hin-
einzuzaubem weiß, sondern in der bescheidensten Wiederholung,
der Dutzendware fanden die Christen das künstlerische Mittel, dessen
sie für ihre Bildersprache bedurften. Was hier in den Wand-
malereien der Katakomben auftaucht, sind fast lauter Bruchstücke,
kaiun irgendwo ein ganzer Körper um seiner selbst willen. Dis-
jecta membra der alten Kunst, entwirklichte Reminiszenzen des
einst so vollen Besitzes organischer Schönheit. Und nur wie ein
Gleiohnis in der Rede treten die Bilder hervor, um sogleich wieder
den Gedanken, den Stimmimgen, dem Worte Platz zu machen.
Nur äußerlich werden auch die Köpfe und Halbfignren, die schwe-
benden Gestalten und locker kombinierten Szenen zu übersicht-
licher Anordnung an der Wand oder der Decke in ein lineares
Schema zusammengefaßt Sie sollen nur die Erinnerung an eine
ferne Vergangenheit wecken, als solche für die Zukunft gewähr-
leisten, aber kaum in die Gegenwart hineinragen, wie die Dinge
der Wirklichkeit draußen. Und der freischaltende Geist verfugt
über diese abgerissenen Schnitzel der antiken Kunst und stellt
daraus einen neuen willkürlichen Zusammenhang her, nach den
Regeln der Ornamentik, dem Bedürfnis des Auges nach Gleichmaß
imd Entsprechung zunächst allein. Solange die Neubildung aus
dem Erbteil noch in Fluß ist, wird auch die Gestaltung des Bildes
im Einverständnis mit diesen Erfordernissen der gleichmäßigen
Verteilung auf einer Fläche berechnet imd, wo es not tut, abge-
wandelt Aber auch diese Gesetze des Gleichmaßes, der Proportio-
nalität werden nicht im strengen Sinne durchgeführt, sondern die
spielende Leichtigkeit und geschmeidige Anmut des ererbten
Wesens wirkt aus der antiken Dekorationsmalerei weiter, solange
die naive Unbefangenheit ebendieses Anschlusses an den herrschen-
i) Wenn man schon in Pompeji findet, wie perspektivische Bravourstücke Überali
verwertet werden und selbst in die Muster der Fußböden eindringen, wo solche
durchbrochene Arbeit gar nicht am Platze ist; wenn man andererseits, auch in der
Dekoration christlicher Basiliken, diese Ziermotive sich ausbreiten sieht (vgl. z. B.
noch St. Demetrius zu Thessalonike, Texier und Pullan, Taf. XVIII f. und die
Mäanderfriese z, B. in St. Georg, Reichenau), so erscheint es unberechtigt, visuelle
Eindrücke oder perspektivische Momente bei der Entstehung der Basilika oder ihrer
Redaktion seit Konstantin ganz ausschließen zu wollen. Vgl. oben S. 214 f.
320 XXI. Metamorphose des Bildes
den Kunstgeschmack dauert Von der Reihung, die über ein Paar
hinausgeht, kommen wir jedoch auch hier zur dreiteiligen Gruppe,
deren Mittelbild sich zur Dominante entwickeln kann, imd gelangen
damit von der su«cessiven Auffassung zum festen Standpunkt; von
ihm aus mögen die beiden Trabanten links und rechts als abhängige
Glieder aufgelesen werden. An der Decke schließt sich gar die
Kette alternierender oder zu dreigliedrigen Gruppen verbundener \
Bestandteile zum Bilderkreis, und dieser umgibt vielleicht ein
größeres Mittelbild oder wenigstens ein zusammenfassendes Symbol,
in dem wir die höhere Einheit des Ganzen zu suchen haben.
Genug, wir begegnen den nämlichen Kunstgesetzen, die auch im
Aufbau und im Reliefschmuck am Triimiphbogen Konstantins in
die Öffentlichkeit traten und ebenso in dem Innern der Basilika,
die lunius Bassus 317 zu Ehren desselben Kaisers errichten ließ,
die Wandgliederung und die Austeilung figürlicher Szenen be-
stimmten.^) Einen weiteren Schritt auf diesem Wege zeigte schon
der doppelte Bilderkreis in der Kuppel des Baptisteriums, das
Konstantina, die Tochter des Kaisers, um 325 — 30 errichten ließ
(Sta. Costanza). Oben standen in zwölf Bildchen die Wundertaten
Christi über ebensoviel Geschichten des Alten Testaments, so daß
diese, als Vorboten, der Erfüllung in jenen entsprachen. Die oberen
waren leichte einfache Reliefkompositionen ohne Hintergrund, wie
die Malereien der Katakomben, die unteren dagegen malerische
Bildkompositionen mit unzweifelhafter Vorherrschaft perspektivischer
Raumdarstellung, aber auch mit schweren architektonischen Kulissen,
landschaftlichen Versatzstücken und deutlichem Abschluß des
Hintergrundes. Dieser Abstufung entsprach allem Anschein nach
die Farbenökonomie im Verhältnis beider Reihen zueinander. Das
Ganze war ohne Zweifel ein bedeutsamer Fortschritt über die
Deckenmalerei altchristlicher Cömeterien hinaus, aber auch ein
Übergang in den Monumentalstil, wie er durch Konstantins Gebot
schon dem Basilikenbau selber aufgenötigt ward. Das Bündnis mit
Tektonik und Architektur, das dem duftigen Farbenhauch des rein
optisch aufgefaßten Bildes der Augenscheinmalerei so fem wie
möglich gelegen hatte, wird mm zur selbstverständlichen Forderung
für die Kunst der Staatsreligion.
In diesem Sinne darf an dem genannten Beispiel von Sta. Costanza
i) Vgl. mein Programm „l^e^^ Kuppelraum von Sta. Costanza in Rom usw."
Leipzig 1904.
Monumentale Absichten im Mosaik ^21
nicht übersehen werden, dsüi hier die Übertragung in das dauer-
hafte spröde Material der Mosaikarbeit vorlag. Diese Wahl be-
deutet ein wichtiges Symptom in der Geschichte der altchristlichen
Kunst und hängt mit dem Aufschwung monumentalen Wetteifers
in der Baukunst aufs engste zusammen. Mit diesem prunkhaften
Material und der umständlichen, jeden unmittelbaren Erguß der
individuellen Künstlerkraft ausschließenden Technik kommt
notwendig die Rückkehr zum Lapidarstil in die Malerei und
der Pomp der Kaiserpaläste in die Kirchen, je mehr sie der Er-
höhimg des Welterlösers im Reich von dieser Welt Ausdruck
geben sollen.
Wo es gilt, die Tragweite solcher entscheidenden Wandlung
für das Kunstwollen im großen zu ermessen, da kommt es nicht
auf Wiederholungen des ererbten Besitzes in dekorativen Neben-
sachen an, wie die Mosaiken am Tonnengewölbe des Umgangs von
Sta. Costanza, die Riegl ausführlich besprochen hat, sondern auf die
neuen Errungenschaften einer monumentalen Komposition, wie sie für
solche Verewigimg in kostbarem Material an bedeutsamer Stelle
der Bauten notwendig erfordert ward. Eine der frühesten Schöp-
fungen altchristlicher Mosaikmalerei, die uns erhalten sind, wie das
Apsisbild in Sta. Pudenziana zu Rom, darf nicht mit wenig
Worten übergangen werden. Wenn auch zum Teil verdeckt, zer-
stört und mehrfach restauriert, steht das Ganze doch im wesent-
lichen noch als Urkunde des IV. Jahrhunderts da, und bedeutet als
einziges Beispiel seiner Art zweifellos für uns einen Markstein in
der Entwicklung, der für die östliche Hälfte des Reiches mitzu-
zeugen geeignet ist
Christus thront als Imperator im Senat auf erhöhtem Sitz über
den Aposteln. Unter ihnen aber sind die Apostelfürsten bereits
die nächsten und, in Profilhaltung einander gegenüber, in unmittel-
barer Abhängigkeit von dem allein in fast völliger Vorderansicht
gezeigten Lehrer: Petrus zur Linken ^ Paulus zur Rechten des
Herrn, also für den Beschauer Petrus rechts und Paulus links.
Hinter beiden stehen zwei Matronengestalten, die Kirche aus dem
Judentum und die aus der Heidenwelt, die einen Kranz darbringen
oder über dem Haupte dieser Stifter halten wie einst die Viktorien.
Die übrigen Sendboten sitzen paarweise im Gespräch einander zu-
gekehrt wie die Schriftgelehrten im Tempel vor dem zwölfjährigen
Jesus, oder griechische Philosophen um ihr Schulhaupt, nicht un-
frei imd abhängig wie Werkzeuge nur des Geistes, der über sie
SchmarBow, Kunstwiuenschafit. 21
^22 XXI. Metamorphose des Bildes
kommt, sondern wie Persönlichkeiten von mancherlei Gaben und
verschiedenem Charakter, die sich zur Sammeleinheit fugen und in
gleichem Streben verbunden sind. Eine architektonische Kom-
position, die in drei Höhepimkten gipfelt^ schließt sich in dem er-
höhten Meister als ihrer Dominante zusammen« Schon vor dem
Thronsitz ist ein Raum im Vordergründe frei für symbolische Zutat;
hinter ihm erhebt sich auf einem Hügel das Kreuz, um das sich
am Himmel die Halbfiguren der Evangelistensymbole in korrespon-
dierender Haltung ordnen. Zwischen diesen heterogenen Bestand-
teilen, über deren gleichzeitige Entstehung Zweifel aufkonmien
könnte, liegt eine vermittelnde Zone von außerordentlicher Bedeu-
tung für den monumentalen Charakter des Mosaikgemäldes. Eine
halbkreisförmige Pfeilerhalle mit dunklen Eingängen und vergitterten
Bogenfeldem schließt den Hofraiun unter freiem Himmel in be-
trächtlicher Weite, so daß die Büste Christi das schräge nach innen
verlaufende Dach dieses Portikus überragt, und links und rechts
neben dem Kreuzhügel gucken ähnlich gegliederte Bauten herüber,
die einen Überblick über Hauptmonumente gewähren. Die Stadt,
die sich außen um den allerheiligsten Bezirk dieses Hofraumes hin-
zieht, kann wohl nur die hinunlische Metropole des Gottesreiches
bedeuten. „Der räumliche Hemizykel ist nicht minder merkwürdig
als der verhältnismäßig hohe Wolkenhimmel" gesteht auch Alois
Riegl, der dies kunstgeschichtliche Unikum kurz abtut Aber beide
stehen als unverrückbare Tatsachen da und zeugen für das Kunst-
wollen des IV. Jahrhunderts n. Chr. eben durch den Anschluß der
Komposition an die Architektur der Basilika. Die unverkennbare
Geschlossenheit des tektonischen Aufbaues der Figurengruppe in
der Exedra unter freiem Himmel ist fast noch bedeutsamer für die
monumentale Absicht. Nicht sowohl der Plastik, als vielmehr der
Baukimst verdankt die Malerei nun die Stärkung, deren sie begehrt,
und ein enges Bündnis zum Ausdruck der geistigen Werte in der
architektonischen Schöpfung ist nun die Folge. Nehmen wir hinzu,
daß der Christus nicht mehr der knabenhafte bartlose Jüngling der
Katakombenkimst ist, sondern der vollbärtige Mann in frischer
Kraft, und daß er ims räumlich isoliert erscheint wie ein thronender
Zeus, der dagegen in der halbrunden Tribuna seines Tempels
körperlich ausgerundet vorhanden war, so konunen wir ohne Frage
zu dem an kleinasiatischen Sarkophagen nachgewiesenen „Christus-
ideal", das wohl als Frucht der konstantinischen Bestrebungen im
oströmischen Reiche erwachsen ist und sich dem frühchristlich-
Rom, S. Pudenziana — Ravenna, S. Martino ^23
römischen» wie dem syrischen Typus gegenüberstellt^) Es ist ein
unverkennbarer Anlauf, Christus und seine Apostel nach Art der
Olympischen darzustellen, eine echt antike Apotheose, deren sonstige
Zeugen nur durch die nachfolgende Reaktion fast vollständig ver-
nichtet sind.*)
Konsequenten Fortschritt in der Ausstattung der ganzen Kirche
mit Mosaikgemälden bezeugt für die Zwischenzeit eines folgenden
Jahrhunderts die vollendete Tatsache in S. Martino (S. ApoUinare
nuovo) zu Ravenna, der Hofkirche Theodorichs. Und merk-
würdigerweise sind die Wimdertaten Christi, die einstige Haupt-
sache, schon in die oberste, schwer sichtbare Reihe kleiner Bild-
flächen im Lichtgaden, dicht unter die Decke verwiesen. Es ist
der alte Besitz von reliefmäßigen Kompositionen aus wenigen
Figuren, der hier der Vollständigkeit halber wiederholt wird. Da-
gegen weisen die beiden Schlußstücke an der Obermauer des
Mittelschiffs, am Zielpunkt der Prozessionen von Heiligen, zwei
neue Errungenschaften auf: Christus thronend auf der einen, und
Maria mit dem Knaben auf der anderen Seite, von Engeln als
Wächtern der heiligen Person umgeben, aber ganz von vom ge-
sehen — kraftvolle Werke der ostromischen Kunst, mit den Vor-
boten des byzantinischen Zeremoniells zur Seite. Die Prozessionen
der Heiligen selbst aber sind, auf Geheiß des katholischen Bischofs
Maximian, nachträglich durchredigiert, gewiß nicht zum Vorteil der
freien Bewegung, vielleicht unter Einbuße eines letzten Restes
statuarischer Körperlichkeit und natürlicher Rhythmik des Ganges.
Von ganz besonderer Wichtigkeit aber war das Mosaikbild des
thronenden Theodorich, das bei dieser Gelegenheit ausgemerzt
wurde, so daß nur noch die offene Halle seines Palastes stehen
blieb, unter deren Arkaden mit Giebelfassade darüber ursprünglich
eine Reihe von Gestalten zu sehen war. Die Verbindung des
Fürsten mit einrahmender Architektur ist ganz ähnlich wie auf
dem Silberschild des Theodosius, wo der Kaiser und die Seinigen
nicht mehr allein, statuarisch oder als Grruppe, sondern nur noch
innerhalb einer festlichen Architektur wirken können und wirken
sollen. Die beiden Seitenfiguren sind sogar in Maßstab und An-
sicht fühlbar untergeordnet, wie die Flügel dem Mittelbau.
i) Vgl. Strzygowski, Orient oder Rom, S. 46 ff.
2) Wie bescheiden nehmen sich dagegen die Übertragungen halbrunder Raum-
kompositionen in Relief aus, wie die Handwaschung des Pilatus an einem römischen
Sarkophag, oder Christus unter den Jüngern am Silberkästchen von S. Nazaro zu Mailand!
21»
J24 XXI. Metamorphose des Bildes
So vermag auch über die Mosaikdarstellung Justinians in
S. Vitale zu Ravenna keine Analyse genügende Rechenschaft
zu geben, wenn nur die eine Hälfte in Betracht gezogen wird. Die
Komposition dieses Zeremonienbildes ist, wie auch Riegl anerkennt,
„zentralistisch, wenigstens in den Hauptfiguren". ,»Nimmt man das
Gefolge von Leibwächtern hinzu, so ergibt sich volle Symmetrie
erst, wenn man das andere Stück mit Theodora daneben stellt''
Also geht es nicht an, sich mit der einen Zentralstelle, dem Kaiser,
zu begnügen, sondern man muß auch die zweite, die Kaiserin,
hinzunehmen, wie sie an Ort und Stelle sich befinden — d. h. ein-
ander gegenüber hüben und drüben, so daß beide als Flügelstreifen
von einem höheren Zentrum in der Mitte abhängen, das eben im
Altarhause und seiner Tribima liegt Wir haben eine Komposition
in engstem Anschluß an die Raumbildung der vorhandenen Archi-
tektur vor uns. Dies ist die Hauptsache, wenn auch die Einfugxmg
verhältnismäßig xmfrei und nachträglich erfolgt ist, so daß die
Relieikompositionen auf seitlichen Langwänden fast besser stünden,
als in der Kurvatur, die sie wenigstens an einem Ende krümmt
Die Vorlagen könnten sogar in Byzanz entstanden und der Porträt-
kopf des Bischofs Maximian an Stelle eines anderen ebenso nach-
träglich hineingeflickt sein. Alle Figuren erscheinen in Frontal-
ansicht und blicken herein in den Innenraum, der sie vom Be-
schauer trennt Diese Richtung der Körper und der Augen steht
im Widerspruch zu der Handlung: denn eigentlich sollen beide
Reihen, wie in feierlicher Prozession mit ihren Weihegaben, sich
auf die Eingänge in die Kirche zu bewegen; aber sie strecken nur
die Geschenke dahin vor und bleiben stehen, wie durch einen
Zwischenfall gebannt Indes so realistisch gesinnt ist der Künstler
nicht: im Gegenteil, der geistige Prozeß der isolierten AufFassimg
jeder darzustellenden Person ist ganz unverkennbar das Bestinunende
in diesem Widerspruch. Der Kaiser und seine Gemahlin werden
natürlich streng porträtmäßig gegeben, der Bischof vollends noch
lebhafter und zwangloser erfaßt; aber auch die Begleiter des
Monarchen und die Oberzeremonienmeisterin drüben nähern sich
noch genauer Wiedergabe, wenn auch mehr in der vorgeschriebenen
Hoftracht und mit den Abzeichen ihres Ranges als in den Zügen
oder gar im individuellen Körperbau. Ins Typische verfallen schon
die Leibwächter, die Hofdamen und die Diener. Jede Figur ist
für sich behandelt, bis auf das Gefolge; die fünf Leibwächter stehen
in drei Reihen hintereinander, aber so, daß sie sich gegenseitig
Ravenna, S. Vitale — Himmelblau und Goldgrund 225
auf die Füße treten, und sind demgemäß abgeflacht, in einen Ge-
samtumriß zusammengepreßt Lauter Vertikalen reihen sich anein-
ander, von drei Horizontalen: in Scheitelhöhe, Ellbogenhöhe und
Fußboden, durchschnitten. Der Betrachter kann nicht anders, als
die Personen und Sammeleinheiten nach einander in der Weise ab-
zulesen, wie sie hingebreitet und ausgezeichnet werden nach der
Vorschrift des Zeremoniells. Die Anwesenheit der einzelnen bei
dem Kirchgang wird registriert: sie sind da, soweit die Identifizie-
rung der Personen erfordert wird; aber es gibt weder Raumeinheit
noch wirkliches Geschehen oder gar überzeugende Handlung im
Bilde. Erst der Ort im wirklichen Raum, wo sie stehen, bewirkt
den Zusammenhang. Darin stimmen diese beiden Streifen so sehr
mit den Prozessionen der Heiligen in S. Martino überein, daß für
die ursprüngliche Komposition auch eine ähnliche Stelle, d. h. auf
den Seitenwänden maßgebend gewesen sein muß. An sich gehören
diese Mosaiken schon mehr zur Graphik als zur Malerei.
Die Abflachung der Körperreihen zu einer Flächenerscheinung
entspricht hier dem intellektuellen Vorgang einer fast gleichmäßigen
Aufmerksamkeit, wie die Kontrolle der Präsenzliste sie erfordert.
Der Gegensatz der optischen und der haptischen Auffassung hat
hier nichts mehr zu bedeuten. Da wird auch die neutrale Haltung
des Flächenraiunes, den die Figuren noch übrig lassen, zu einer
wesentlichen Erleichterung für die Beweglichkeit der inneren An-
schauung oder der poetischen Phantasie. Das gleichartige Himmels-
blau der römischen Mosaiken blieb immer, schon vermöge der
Glanzlichter auf der Oberfläche des Grundes, eben eine Fläche,
kein Luftraimi. Aus der Vertikalebene oder der sphärischen Wöl-
bung wuchsen die Körper und Dinge heraus wie im Relief, selbst
wenn sich allmählich zwischen Figuren und Grundfläche eine Hinter-
grundkulisse einschob. Der Goldgrund der byzantinischen Mosaiken
ist nicht mehr Reliefgrund, sondern idealer Raum;*) aber vermöge
des Glanzes auf der Oberfläche zunächst ohne Tiefe, ein Schein-
raum, d. h. eigentlich die Region der geistigen Vorstellung und /
nicht mehr der sinnlichen Anschauung; für den inneren Blick, nicht
für das sinnliche Auge: es ist das Reich des Geistes, dem alles
dient
i) Vgl. Schmarsow, Zur Frage nach dem Malerischen, S. 47 und Riegl,
a< a. L/., 1^. o.
XXIL
GEISTIGE MÄCHTE IN DER DARSTELLENDEN KUNST
KONTINUIERENDE, KOMPLETTIERENDE, DISTINGUIERENDE
DARSTELLUNGSWEISE — ZYKLUS UND SYSTEM — BUCHMALEREI UND
ORNAMENTIK
Sinnliche Auffassung tastbarer und sichtbarer Werte genüget
nur selten zur Erklärung der bildenden Kunst für sich allein; viel-
leicht kann damit auszukommen nur in solchen Perioden der Kunst-
geschichte versucht werden, wo die fuhrende Rolle der bildenden
Künste stetig und unbestritten den Gang der Entwicklung be-
stimmt Überall sonst bedarf es der Ergänzung durch geistige
Mächte, die in den Nachbarkünsten der zeitlichen Anschauung im-
mittelbarer ihren Ausdruck finden.*) Schon in Ägypten stand der
stofFgebundenen Sinnlichkeit ein starker EinSuß intellektueller Art
zur Seite, selbst in der Architektur und Statuenbildnerei, geschweige
denn der Flächendarstellung auf den Wänden. Auch in der g^e-
chischen Vasenmalerei und Reliefkunst war die mythologische
Dichtung lange Zeit die treue Bundesgenossin, ja die Meisterin des
Bildes, bis die organische Schönheit des Leibes und ihre plastische
Verherrlichung die Oberhand gewann, und die Mimik war die Ver-
mittlerin nach beiden Seiten. Das Eintreten der Römer in die
Kunstgeschichte hat man mit ihrem nüchternen Wahrheitssinn und
praktischen Wesen zu fassen geglaubt, ihnen den Aufschwung des
Naturalismus und der Geschichtsdarstellung beigemessen. Aber
i) Ich bin mit Riegl natürlich vollkommen einverstanden, wenn er S. 2U, An-
merkung 1 zum Heil der Kunstwissenschaft zunächst strenge Scheidung zwischen
Kunstgeschichte und Ikonographie fordert. Ein Unterschied meiner Auffassung liegt
nur darin, daß ich Poesie, Mimik und Musik als Künste nicht aus der durch-
gehenden Entwicklung ausscheiden möchte, da sie zeitweilig die bildenden Künste
in der führenden Rolle ablösen können und nach dem Haushalt der Kräfte notwendig
ablösen müssen. Keine Perioden teilung der Kunstgeschichte kann ohne Rücksicht
auf sie befriedigend ausfallen.
Einfluß der Poesie
327
wir kommen damit nicht aus, wenn — ganz abgesehen von der
Willkür dieser Preisverteilung — nicht schon von Anbeginn die
Tätigkeit des Verstandeslebens berücksichtigt wird, die der freien
Phantasiegestaltung widerstrebt, zersetzend eingreift imd statt der
Götterideale Personifikationen von Begriffen schafft, die nur Alle-
gorien nach sich ziehen können. Kein Wunder, wenn in der
Spätantike, als deis plastische Ideal der Hellenen in die Brüche
ging, und die inneren Werte wieder das Übergewicht erlangten,
auch mimische, musikalische und poetische Faktoren überall in der
bildenden Kunst hervortreten.
„Der weltbewegende Genius der augusteischen Kunstperiode
war kein Bildhauer, sondern ein Dichter," schreibt auch Franz
Wickhoff. „Die Verse des Virgil sind die unübertroffene Muster-
leistung eines Stiles, der die griechische Überlieferung dem Ge-
sclimack der lateinischen Völker zuzubereiten versuchte." Streifen
wir die Tendenz, die an jener Stelle verfolget wird (a. a. O. S. 27)
völlig ab, und sehen die Tatsache ohne Vorurteil an, so heißt das
ganz entscheidend: die Poesie ist die fuhrende Kunst im augustei-
Rom. Und wie Virgil, so sind ja seine Genossen Ovid und Horaz
die Vermittler der griechischen Dichtung, nicht römische Originale.
Von der Dichtung fuhrt kein direkter Weg zur statuarischen Kunst,
sondern durch die malerische Anschauung oder das Relief. Aber
im augusteischen Rom ist es schon so weit gekommen, daß auch
die Standbilder im Medium der hinzugedachten Welt leben und
weben. Schon die berühmte Einzelfigur des Augustus aus Villa
Livia bei Prima Porta, ist sie denn ohne belebendes Wort, ohne
erklärende Situation, ohne Ergänzung der harrenden Menge, zu
der sie hinagiert, verständlich? Sie muß im Verfolg dieses Strebens
die zugehörige Umgebung mit heraufbeschwören. Und die näm-
liche Richtung zeigen die Gruppen mit poetischem Inhalt wie die
des Menelaos, Schüler des Stephanos, „Mutter und Sohn" oder
„Orest und Elektra", und die künstlich zusammengestellten allesamt.
Es handelt sich um die Motivierung, die wir hinzudichten müssen,
und selbst ein Anflug sentimentaler Regung ist als Vehikel dieser
Mitwirkung des betrachtenden Subjekts in Anspruch genommen.
Später breitet sich der ganze Niederschlag dieser poetischen
Invasion über die römischen Sarkophagwände hin. Reliefs mytho-
logischen Inhalts illustrieren Ovid und Horaz, wenn wir den Gnmd
ihres Wesens freizulegen suchen, auch ohne daß die Verse dabei
rezitiert werden. Für manchen gebildeten Römer von damals war
1
t
^28 XXII. Geistige Mächte in der darstellenden Kunst
■I
das Werk der bildenden Kunst an sich vielleicht ebensowenig ge- »
nießbar, wie für manchen Modernen; erst das künstliche Pumpen-
werk der literarischen Erziehung mußte es lebendig machen.
Von bildnerischem Kunstwollen ist da nur sehr bedingt zu
reden.
Das führt natürlich zu einem engen Bündnis der Dichtkunst
und der Bildkunst, sobald sie eben gemeinsame Wege gehen. Und
dieses Einvernehmen ist ein charakteristisches Symptom der spät-
antiken Entwicklung, wo beide wieder zusammentreten, wie bei den
Anfängen in Ägypten. Die Vermittlung eines motivierten Zu-
sammenhangs wird auch hier ein Hauptanliegen. So kommt es,
daß die Reliefkunst und die Malerei sich dazu hergeben müssen,
zu erzählen und womöglich den Kausalnexus einer Fabel zu sugge-
rieren, so daß der Beschauer den Hergang mitzuerleben glaubt.
Bei aller Mannigfaltigkeit der Darstellungsmittel hat aber die
bildende Kunst, wie WickhoflF angesichts der Wiener Genesis-
illustrationen ausführt, nur drei Darstellungsweisen für die Erzählung.
„Die eine ist älter als die beiden anderen, mit ihr beginnt alle
historische Kunst überhaupt. Wir wollen sie, weil sie alles, was
vor- und nachher geschieht und für die Handlimg wichtig ist, voll-
ständig zu bringen sucht, die komplettierende Darstellung nennen«
Sie beherrschte schon die alte ägyptische und orientalische Kunst.
An ihr lernten sie die Griechen, wofür uns die Schildbeschreibung
des Homer ein schönes Beispiel ist Auch seine Reliefs gehören
dem komplettierenden Stile an, aber in seii;Ler altertümlichen Gestalt,
wo er noch nicht Mythen darstellen wollte.
„Die distinguierende Erzählungsweise, die auch ims wieder
ausschließlich geläufig geworden ist, hat sich aus der komplettieren-
den herausgebildet, wie das Drama aus dem Epos herauswuchs.
Hier wird ein entscheidender Moment gewählt, der die wichtigsten
Personen zu einer gemeinsamen folgenreichen Handlung vereinigt.
„Die kontinuierende Darstellung dagegen begleitet die Er-
zählung, strömt sanft gleitend und ununterbrochen, gleichwie die
Uferlandschaften bei einer W£isserfahrt an dem Auge vorüberziehen,
und zeigt die jeweiligen Helden in kontinuierlich sich aneinander-
reihenden Zuständen. Von einer Ausw*ahl des prägnanten Momentes
ist überall nichts zu merken. Hier wandeln vor uns Gerechte und
Sünder, zwei-, drei- und viermal, wenn es nötig, auf demselben
Bilde erscheinend, unbekümmert um das Gesetz der Erfiahrung, daß
nur dasjenige zugleich gesehen werden könne, was zu gleicher Zeit
Drei Darstellungsweisen der Erzählung 329
vor sich geht, also unmöglich dieselbe Person im selben Augen-
blicke mehrmals in demselben Räume.*'
Das sind die Definitionen der drei Darstellungsarten, die wir
ebensogut auch mit den deutschen Namen: die vervollständi-
gende, — die unterscheidende — und die fortlaufende Er-
zählungsweise nennen konnten. Nun aber kommt die chronologische
Zeitbestimmung Wickhoffs aufs Tapet, die er für seine weitere De-
duktion eben niir so und nicht anders gebrauchen kann. Sie
lautet: „Entnahm man die komplettierende Erzählungs weise der
asiatischen Kunst, ist die distinguierende rein hellenisch, so reichen
wir bei der kontinuierenden mit dem allgemeinen Begriffe des
Hellenismus nicht mehr aus. Denn wenn auch mannigfach vorbe-
reitet, tritt sie doch erst im zweiten Jahrhundert des romischen
Kaiserreichs als ausgebildeter Stil auf und verbreitet sich überall
dort, wo die Abhängigkeit von seinem Mittelpunkte deutlich sicht-
bar ist Es ist das keine hellenische Erzählungsweise mehr, son-
dern eine romische** (S. 9).
Die historische Haltbarkeit dieser Behauptimg zu prüfen, ist
Sache der Archäologie. Wir haben es hier allein mit der begriff-
lichen Seite solcher Aufstellung zu tuiL Fragen wir vor allen
Dingen darnach: ist die kontinuierende Darstellung ihrem inneren
Wesen nach notwendig die späteste von den dreien? Schon die
Eigentümlichkeit dieser Art, daß sie sich über die Bedingxmgen
des Sehens im Räume hinwegsetzt, gar nicht gestört wird durch die
Erfahrung, dieselbe Person könne doch nicht zugleich mehrmals
auftreten, ist eine Naivität, die wir nicht am Ende der Entwick-
lungsreihe erwarten können, zumal nicht in einer Zeit, wo die
optische Auffassung schon so stark überwiegt, und wo die Malerei
als selbständige Kunst solche Fortschritte erlebt hat, wie Wickhoff
selber nachzuweisen bestrebt war. Die Nichtachtung des Haus-
gesetzes alles sichtbaren Erscheinens kann nur aus dem Vorrang
der poetischen Phantasie erklärt werden. Die kontinuierende Ab-
bildung folgt ausschließlich dem Hausgesetz der Dichtung und be-
nutzt das Vorrecht des Poeten, seinen Standpunkt jeden Augen-
blick zu wechseln imd Raum und Zeit beliebig zu überspringen.
Nur an die Person des Helden oder eine übersehbare Reihe von
Mitspielern heftet sich die epische Erzählung und gleitet mit ihnen
weiter von Situation zu Situation, von Ort zu Ort, unbekümmert
um die besondere Beschaffenheit dieser Schauplätze; denn nur als
Emanation des Helden hat die Situation Belang, nur soweit sie
330 XXII. Geistige Mächte in der darstellenden Kunst
ihn unmittelbar angeht und aus ihm hervorgeht, selten einmal um
ihrer selbst willen, so daß die Schilderung der örtlichkeit ein-
gehender auch für sich selber gegeben werden müßte. Der epische
Dichter setzt alles in Tätigkeit um, wählt selbst schmückende
Beiwörter aus Tätigkeitsbezeichnungen und vermeidet alles Ein-
gehen auf die ruhige Existenz. Je mehr Bewegungen sich drängen,
desto mehr Energie der Handlung erlebt unsere Phantasie, gleich
gut, ob der Anreiz durchs Wort vom Ohre, oder durchs Bild vom
Auge her erfolgt^) Erst wenn die schöpferische Phantasie erlahmt,
beginnt auch der epische Dichter zu malen, verzettelt sich die er-
zählende Bildkimst in unbedeutende Zustände und kommt aus der
breiten Verschwommenheit nicht mehr heraus (vgl. die Wiener
Genesis). Es ist also die Ökonomie des lebendigen Erzählers, der
die fortlaufende Darstellung auch im Bilde entspricht Sie ist nach
allem die ursprünglichste Art der Übersetzung des poetischen
Stoffes in die bildende Kunst Die komplettierende Darstellimgfs-
weise nimmt dagegen schon Rücksicht auf die Einheit der Bild-
fläche und die Ökonomie der übersichtlichen Verteilung; sie wählt
bereits einen Vorgang unter den vielen, vorher gleichberechtigten
aus und macht ihn zum Träger der übrigen Momente, die den Zu-
sammenhang vervollständigen, die Hauptszene motivieren. Es ist
das Verfahren des epischen Dichters, der aus einer gegenwärtigen
Situation Ausblicke in die Vergangenheit oder die Zukunft eröffnet,
aber den Faden seiner fortschreitenden Erzählung darüber nicht
verliert Er wird nicht fortgerissen vom Lauf der Dinge, sondern
beherrscht ihn schon. Die distinguierende Darstellung ist nur
ein Fortschritt auf diesem Wege zur strengen Einheit des Ortes
und der Zeit, das reifste Ergebnis einer bewußten Organisation des
Stoffes, das vor allem auf der Auswahl des Wichtigsten und der
Ausscheidung aller Nebensachen beruht
Nehmen wir dann hinzu, daß die kontinuierende Erzählung eben
ununterbrochen, aber nicht selten auch unterschiedslos weiterfließt,
daß sie wohl Wichtiges und Unwichtiges, Nebensachen und Haupt-
sachen aneinanderreiht, so erkennen wir in ihr die redselige, durch
kein Urteil gestörte Lust am Fabulieren selber, das Urbild alles
Erzählens überhaupt Und wenn Wickhoff selbst anerkennen muß,
schon in der vorhellenischen orientalischen Kunst kämen Beispiele
des kontinuierenden Stiles vor, wie die Silberschale von Präneste
i) Zur Frage nach deni Malerischen, S. 103.
Die kontinuierende Darstellung ^^i
(Rom, Mus. Kircher.) mit der Jagd eines mythischen Königs aus
dem ass)rrischen oder phonikisch-cyprischen Legendenkreise, d, h.
aus dem VIL Jahrh. v. Chr., so machen wir uns auch die Tatsache
zunutze, dafi dieser kontinuierende Stil von der hellenischen Kunst
nicht rezipiert ward Wir deuten „manche Darstellungen, die bei
flüchtiger Betrachtung ein frühes Auftreten des kontinuierenden
Stiles bei den Griechen zu belegen scheinen", wie z. B. auf rot-
figurigen Theseusschalen, eben als Anwandlungen orientalischen
Wesens, als interessante Symptome des sich losringenden und immer
bewußter werdenden Kunstsinnes der Hellenen im Unterschied von
ihren phönikischen Nachbarn. Wir sparen damit alle künstlichen
Ableitungs versuche, zu denen Wickhoff seine Zuflucht nehmen
muß.i)
So kommen wir zu dem umgekehrten Ergebnis: der konti-
nuierende Stil war keine romische Erzählungsweise, sondern eine
orientalische. Wie weit der Hellenismus die Vermittlerrolle über-
nehmen mochte, sie auch in Rom noch einzubürgern, ist eine
andere Frage; aber die Antwort liegt doch ziemlich auf der Hand,
wenn das geläufige Auftreten im Römerreich uns in eine Zeit führt,
wo Rom die Erbschaft der Diadochen antrat und mit der Erobe-
rung Ägyptens sich auch weiter den Orient erschloß. Schon beim
Telephosfriese von Pergamon hat K. Robert auf das Prinzip hin-
gewiesen, daß an den Ecken die Szenen von einer Friesplatte auf
die andere übergreifen, um die Kontinuität der Darstellung mög-
lichst zu betonen« Die literarische Behandlung der Telephossage
sei Voraussetzung dieser detaillierten Erzählung im Relief; und die
Richtung der Szenenfolge darin entspreche gar der rechtsläufigen
Schrift, der Gewohnheit des Ablesens von links nach rechts.*) Wie
geläufig diese Art zu erzählen dem ausgehenden Altertum über-
haupt war, bezeugen auch die Sarkophage: Selene steigt vom
Wagen, um den geliebten Schäfer zu küssen, und gleich daneben
hat sie den Wagen wieder zur Abfahrt bestiegen. Daß die Maler
der mythologischen Szenen zu jener Zeit nicht anders verfuhren
als die Steinmetzen der Sarkophage aus dem IL Jahrh. n. Chr.,
beweisen des altem Philostratus Beschreibungen von Gemälden aus
dem ni. Jahrh., wo auf einem Bilde die Figur des handelnden
Helden doppelt oder dreifach vorkommt.*)
i) A. a. O., S. 9, Anm. i und 2.
2) Jahrb. d. K. D. Arch. Inst. 1888, III, S. 52.
3) Wickhoff, a. a. O.
332 XXII. Geistige Mächte in der darstellenden Kunst
Für die Römer wäre es keine Schmeichelei, wemi die Erfin-
dung oder Bevorzugung des kontinuierenden Stiles in der Bildkimst
auf ihre Rechnung käme. Der Römer organisiert doch seinen
Stoff energischer durch, wenn nicht im künstlerischen Sinne der
Griechen, doch in der nämlichen verstandesklaren Weise, wie er
sein Staatswesen organisiert Die kontinuierende Erzählung tritt
nun aber tatsächlich an den spiraligen Reliefs der Trajans- und
Marc-Aurelssäule mitten in Rom auf. Hier „vertritt er die
historische Prosa''. Unimterbrochen folgen sich die Darstellungen
der kaiserlichen Feldzüge. Dreiundzwanzigmal erscheint der Kaiser
in der Geschichte eines Feldzugs, und auf den dreiimdzwanzig
Windungen der Säule begegnet er neunzigmal, auf einer Windung
oft mehr als viermal dem Beschauer. „Das Kunstmittel der be-
ständigen Wiederholung, das dem nachdenkenden Verstände die
Einheit zu zerreißen scheint, erregt die Phantasie des Betrachters,
der die Empfindung heimträgt, als hätte er den ganzen Krieg an
des Kaisers Seite mitgemacht'' So urteilen noch heute sonst
künstlerisch empfindende Beurteiler. Seltsam genug I der geschieht^
liehe Zusammenhang, die imperialistische Kunst des kaiserlichen
Historiographen täuscht über den Unwert dieser Geschmacksver-
irrung. Ein Genuß für literarische Köpfe, mag sein! — Aber eine
physisch schon unmögliche Zumutung für den Beschauer, der doch
die dreiundzwanzig Windungen der Säule nicht „umschreiten" kann,
ist doch nun und nimmer ein gesundes Werk der bildenden Kunst,
sondern bleibt eine Ausgeburt des Cäsarenwahns oder seiner
Sklaven. Das Ganze ist nichts als ein aufgewickelter Rotulus, ein
um den Säulenstamm geschlungenes Bilderband von Pergament,
mit dem Aufwand allergenauester Berechnimg in Marmorrelief aus-
gehauen. Die Einheit liegt nur in der einzigen Dimension der
Zeit, und nur der Bilderbuchleser, der die Vorlage in die Hand
nimmt und weiterrollt, vermag die Geschichte dieser Feldzüge zu
verfolgen; der Betrachter der Säule kann nur verdutzt emporgaffen
und die Vögel des Himmels beneiden, daß sie all die gemeißelten
Dinge droben zu sehen bekommen.
Unter allen Werken der Malerei, die in so spärlicher Zahl auf
uns gekommen, nähert sich keines den Reliefs der Trajanssäule,
natürlich dem Wesen der Kimstgattung, nicht der historischen
Stellung nach, so sehr wie der Josuarotulus der Vaticana, diese
elf bis zwölf Meter lange Rolle, auf der ununterbrochen die Taten
des jüdischen Volksführers dargestellt sind. Schon die Ursprung-
Trajanssäule — Josuarotulus ^^^
liehen Aufschriften waren griechisch, also ist kein Zweifel an der
Herkunft aus der hellenistisch-orientalischen Kunstwelt. Wie den
Kaiser auf den Siegessäulen sehen wir hier den biblischen Helden
mit seinem Heere ziehen, kriegen, siegen, erobern, richten und
immer personlich wieder erscheinen, während sich hinten ununter-
brochen die Landschaft hinzieht, mit den Szenen imd für die
Szenen sich verwandelnd. Ist die Trajanssäule das ausgedehnteste
Werk der kontinuierenden Darstellungsart in der Plastik, so ist es
der Josuarotulus in der Malerei. Und da die erstere immöglich
etwas anderes sein kann als die Übertragung einer solchen ge-
malten Rolle in die dauerhafte Reliefkunst imd auf die monumen-
tale Form der Triumphsäule, so eröffnet sich auf Grund des Josua-
rotulus ein weiter Rückblick in die Entstehungsgeschichte der
kontinuierenden Art, im fernen Osten und nicht erst in Rom, wo
sie nur das Eindringen des Orientalismus ins Kaisertum verkünden
kann.
„Der klassischen Kirnst muß die Vermengfung von Wort und
Bild grundsätzlich widerstrebt haben,*' schreibt Riegl (a. a. O. 134).
„Anders jedoch die altorientalische und die frühgriechische Kunst;
dort diente^ die Schrift zur Erläuterung des Bildes." So ist es
noch auf dem Josuarotulus, mag er nun Original sein oder ver-
hältnismäßig späte Kopie. Es kommt hier nicht auf die Malweise
und die Zeichnung, sondern auf die Darstellungsweise des erzählen-
den Inhalts allein an. Sie aber ist eine fortlaufende Illustration,
die sich dem Texte des Buches Josua anschließt und dessen Worten
zu folgen sucht „Das wäre unmöglich gewesen zur Zeit Alexan-
ders", meint Wickhoff, „und noch unmöglich zur Zeit des Augustus."
Erst durch die Ausbildung der „römischen Reichskunst" im zweiten
und dritten Jahrhundert n. Chr., die in ihrer Weise die griechischen
Stoffe umgestaltet, hätte sich die bildende Kunst angewöhnt, in
treuem Anschluß den poetischen Texten zu folgen. „Die Kimst-
werke des II. — III. Jahrh. n. Chr. folgen den Worten des Homer
oder Pindar, des Äschylos oder Euripides genauer als jene, die zu
den Lebzeiten der Dichter dieselben Stoffe behandelt hatten," —
aber wirklich erst so spät, nicht doch schon früher? „In den Ge-
mäldebeschreibungen des Philostrat, wie an den mythologischen
Sarkophagen sehen wir dies Verfahren immer mehr die Obmacht
gewinnen." Aber weisen nicht die Odysseebilder vom Esquilin, die
kontinuierende Darstellung als Figurenstaffage in rein malerisch
aufgefaßte Landschaften hineinstellen, auf einen viel früheren Ur-
J34 XXII. Geistige Machte in der darstellenden Kunst
Sprung dieser figürlichen Kompositionen zurück, die wir nach Art
des Josuarotulus als Bilderrolle zur Odyssee vorstellen dürfen, wie
die gemalten Urbilder der Tabula Iliaca (I. Jahrh. n. Chr.)? Dabei
sind wir noch inuner weit entfernt von einer unmittelbaren Ver-
bindung des Wortes mit dem Bilde im Sinne der Buchmalerei,
haben vielmehr immer nur Beischrift zur Erläuterung des Bildes.
— Aber freilich »,eine Darstellungsart wird erst dann wirklich
lebendig, wenn sich die Gegenstande nach ihren Prinzipien formen
müssen«*' Die successive Auffassimg der Poesie oder Geschichte
ist das Entscheidende; sie gebiert auch im Bilde die kontinuierende
Erzählungsart Um so weniger brauchen .wir aus dem Umstand,
daß wir sie in Rom mit dem illusionistischen Stil oder der Augen-
scheinmalerei verbunden finden, den Schluß zu ziehen, sie habe
auch zugleich mit dieser gekeimt und sei mit jenem aufgewachsen.
Wir glauben nicht einmal, „diese Verbindung allein habe es ermög-
licht, daß die kontinuierende Art zu erzählen durch fünfzehnhundert
Jahre zur herrschenden und meisternden Erzählungsart wurde",
sondern sind der Überzeugung, daß die Hegemonie der Dichtkunst
über alle darstellenden Künste und die Verinnerlichung des ganzen
Wesens, wie die Hauptaufgabe der kirchlichen Kunst des ganzen
Mittelalters, seit der frühchristlichen Zeit die eigentlichen Ursachen
gewesen sind, die diese Tatsache erklären. Als dann vollends an
Stelle der selbständigen Bilderrolle der Kodex trat, wo dem Texte
selbst die Illustrationen dazu auf einem Blatte gesellt sind, so daß
sie nebenhergleiten, soweit der Platz reicht, da stellt sich wie in
der Wiener Genesis zunächst die unterschiedslose Kontinuität von
selbst wieder ein, zumal bei den Judengeschichten des Alten Testa-
ments, die selber von diesem Märchenerzählerton erfüllt sind, wie
Tausendundeine Nacht.
Von der kontinuierenden Darstellung sollten wir aber genau
die zyklische Darstellung unterscheiden, die bei Riegl damit
zusammenzufließen droht „Das ikonographische Prinzip des Ver-
einigens von Darstellimgen mehrerer räumlich und zeitlich getrenn-
ter Ereignisse in einem und demselben Bilde'S das nach Riegl
allen Perioden der antiken Ktmst durchaus gemeinsam gewesen
ist, sollten wir noch nicht zyklisch nennen, sondern erst das, „was
diesem Gemeinprinzipe gegenüber die spezifische Neuerung in der
früheren Kaiserzeit, bezw. der hellenistischen, ausmacht". Es besteht
in der „Vorführung großer zusammenhängender Zyklen, von denen
der Beschauer auf einmal immer nur eine oder nur wenige Szenen
Zyklus — Periode — System — Kosmos 335
(nicht wie in Gjölbaschi ganze Fluchten von solchen) wahrnehmen
konnte, aber doch dabei das Bewußtsein hatte, daß die Reihe sich
vor- und rückwärts in der Zeit, rechts und links in der Ebene fort-
setzt. Hier mußte wiederum das Bewußtsein, die Erfahrung er-
gänzend einsetzen'^ (65).
Die Benennung Zyklus geht nicht sowohl auf den peripheri-
schen Umlauf und das ununterbrochene Ineinandergreifen, wie das
in jedem Punkt von der Richtung Abweichen des entstehenden
Kreises, als vielmehr auf die Geschlossenheit der fertigen
Zentralisation. Die Reihe von Bildern hat Anfang, Mitte imd
Ende, ordnet sich so im Raimie nach Art der vielachsigen Sym-
metrie wie die einheitliche Fabel, die innerlich gegliederte zu-
sammenhängende Handlimg um ein Zentrum, oder der Verlauf eines
Dramas in der Zeit. Der Zyklus, d h. der in sich zurückkehrende
Kreislauf, der sich so als fertig nach außen abschließt, unterscheidet
sich von der Periode, dem wiederkehrenden Umlauf, der in den
folgenden übergeht, also spiralische Windungen beschreiben oder
gleich elliptischen Gliedern einer Kette ineinandergreifen mag.
Der Bilderzyklus setzt sich aus distinguierenden Darstellungen zu-
sammen, deren jede einen prägnanten Moment, eine bedeutende
Situation oder eine folgenreiche Handlung zeigt; oder aber er ver-
einigt eine Mehrzahl nicht zu einer Erzählung gehöriger, mehr oder
minder selbständig entwickelter Darstellungen unter einem gemein-
samen Gesichtspimkt, einer beherrschenden Idee.^) Im letzten
Falle jedoch sollten wir eigentlich, im Sinne des bleibenden Be-
standes und der Abhängigkeit aller Ausstrahlimgen von einem
Kraftzentrum, nicht von Zyklus, sondern von System oder Kosmos
reden. Aber dieser letzte Ausdruck legt auch den Gedanken an
die Gravitation und damit des Umschwimgs im Planetensystem
nahe genug. Wichtiger jedenfalls als die Unterscheidung durch
einen besonderen Terminus ist der innere Unterschied zwischen
dem historischen Verlauf der Reihe dort und dem systematischen
Bestand der Konstellation hier, d. h. je nach dem Vorwalten der
successiven oder der simultanen Auffassung. Denn in Verfolg der
■
transitorischen Bewegung herrscht der Rhythmus, in der ruhigen
Zusammenfassung dagegen die Harmonie.
I) Die Landschaften mit Geschichten der Odyssee im Vatikan, wie die von
Preller, aber auch die Stanzen Rafaels bieten solche Beispiele zyklischer Darstellung.
Zum Folgenden vergleiche Rafaels Cappella Chigi in Sta. Maria del Popolo zu Rom.
330 XXII. Geistige Mächte in der darstellenden Kunst
In der ersten Klasse wird die peripherische Reihung auch das
Gesetz der Reliefkomposition bestimmen, wie noch im Telephos-
fries von Pergamon. Hier mag der fortlaufende Hintergrund die
Einheit des Schauplatzes bewahren oder nach den Szenen sich ver-
ändern. Im letzteren Falle hält sich der Beschauer desto eifriger
an die Einheit der Person. Wenn aber auch diese in der Erschei-
nung wechselt, von Kindheit zum Alter oder in unerwarteter Ver-
kleidimg erkannt werden soll, so versagt das Bild, und nur in der
poetischen Vorstellung, der begrifflichen Identität der Person, im
inneren Zusammenhang der Fabel kann die Einheit gefunden
werden.
Noch stärker wird auf die geistige Aufnahme des Kunstwerks
und die subjektive Mitwirkung des Beschauers gerechnet, wo eine
Mehrzahl von Szenen aus verschiedener Räumlichkeit und Zeitlich-
keit nur durch die Einheit der Idee zusammengefaßt werden« So
erscheinen bereits alle auf einem spätheidnischen Sarkophagrelief
mit Adonis aufgereihten Figurengruppen nur unter dem gemeinsamen
Gesichtspunkt von Garantien für die Erlösung oder die Unsterb-
lichkeit vereinbar. Erst recht aber ist dies der Fall auf einem alt-
christlichen Sarkophag aus S. Paolo fuori le mura im Laterans-
museum, dessen Erfindung Riegl (S. 96) auf die Mitte des £0. Jahrh.
datieren möchte, wo die Wundertaten Christi mit denen der Pro-
pheten in zwei Reihen verkettet sind. Rechts oben ist das Opfer
Abrahams mit der Oberantwortung Christi durch Pilatus in eine
„unleugbare Raumkomposition'' verbimden, bei der Christus selbst
als das unschuldige Opfer fast in heroischer Herrlichkeit des Leibes
neben dem Landpfleger thront und ganz im Vordergrund die ab-
schließende Ecke bildet Viel ausgesprochener überwieget der Ge-
dankeninhalt als der eigentliche Wert, der vermittelt werden soll,
über die verkümmerten Figxu-en und die schon völlig dem Hell-
dunkelrhythmus zuliebe zerrissene Marmorfiäche an einem andern
Sarkophag, der den Reliefs des Konstantinsbogens auch dadurch
verwandt erscheint, daß er bei allem Gedränge der Szenen nach
symmetrischer Gliederung imd systematischer Disposition um einen
festen Mittelpunkt strebt, so dafi hier die bekannte Gruppe des
Daniel zwischen den Löwen gerade unter dem Muschelmedaillon
mit den beiden Büsten angebracht ist Wie in der Philosophie und
Religion jener Tage der Geist den Vorrang vor dem Fleische be-
hauptet, ja den einzigen imd ewigen Wert bedeutet, so zerrinnt
hier die Form vor dem Inhalt, der nur der Gedankenwelt angehört
Inhalt und Architektonik der Bilder 33^
und nur nach dem Hausgesetz poetischer Komposition gemeistert
werden kann. Wer eine Deckendekoration der Katakomben mit
ihrer flüchtigen Versinnlichung in anspruchslosen Bildern auf ihre
Bedeutung ansieht und im Mittelbilde die Dominante erkennt, um
die alle anderen Einheiten gravitieren, der versteht auch die
Festigimg zu monumentalerer Form im Anschluß an die Architektur,
wenn er im Oratorium Johannis an der Taufkirche des Laterans
schon auf goldenem Mosaikgrund einer strengen Zusammenfassung
kärglichen Schmucks um das Symbol des Lammes in der Mitte
begegnet: ein künstliches Hirngespinst, wie das Netz der Kreuz-
spinne, muß hier zu Hilfe kommen, die geistigen Beziehungen her-
zustellen imd das Siegel der Bedeutsamkeit zu lösen.
Wieder an Sarkophagen zeigt sich die Einordnung der Figuren
in ein System architektonischer Rahmen, wie schon am Konstan-
tinsbogen die Einschachtelung korrespondierender Gruppen zu
finden war. Der sogenannte Probussarkophag hat bereits säulen-
getrennte Nischen, in die nicht allein an der Vorderseite sondern
auch auf beiden Schmalseiten verteilt, die Jünger paarweis treten,
und zwar so, daß sich alle auf den mittleren Intervall beziehen, in
dem Christus auf erhöhtem Platze zwischen Petrus und Paulus
steht. Die Komposition der Figuren selbst ist starr, isolierend in
längliche Viereckumrisse gebannt; nur die Kopfwendung und teil-
weise der erhobene Arm deutet die Richtung an, in der die Auf-
merksamkeit aller festgehalten wird. Es kommt also dem Künstler
und vollends dem gläubigen Betrachter auf die innere Bewegung
an, neben deren Ausdruck die äußere möglichst zurücktritt. (R., 94.)
Namentlich das Verlassen des Kontraposts und der Übergang zu nach-
lässiger neutraler Beziehimg sind Symptome des Verfalls plastischer
Auffassung, die schließlich in ein unsicheres Auftreten auf den
Fußspitzen, ein Stehen in der Luft, ohne Boden unter den Füßen,
ausartet und bei doppelter Figxu*enreihe hintereinander zu den an-
stößigsten Konflikten der Extremitäten führt. Wer aber neben
diesen Schattenseiten der Kunst auch die Lichtseiten nicht über-
sehen will, wer im Verfall der einen den Fortschritt der andern zu
erkennen weiß, der entdeckt einen Beziehungsreichtum, der über
die räumliche Trenmmg hinweggreift, ein Spiel der Gegensätze
mitten im strengen Gefuge, und merkt, wie rhythmische Gänge
hüben und drüben beruhigt sind zu klarer Harmonie. Sollten wir
kein Auge haben für die Fülle des seelischen Ausdrucks in den
Köpfen der Apostel um Christus, der selbst noch wie ein feister
Schmarsow, Kmutwisienscbaft. 22
33g XXII. Geistige Machte in der darsteuenden Kunst
Militärkaiser in der Mitte thront, wie auf dem Deckel des Silber-
kästchens für die Eucharistie, das in S. Nazaro zu Mailand gefunden
ward, aber mit Recht früher, in diokletianische Zeit datiert wird?
Oder sollten wir nicht den frischen Hauch erkennen, der durch
Nachahmung gemalter Vorlagen in die ravennatischen Sarkophage
kommt: wenn Petrus und Paulus sich vor dem Herrn verneigen,
wie er im Freien unter blauem Himmel mit Wolkenstreifen thront,
zwischen schlanken Palmen, die in der Phantasie eines Künstlers
aus dem steinichten Syrien nur eine Oase in der Wüste bedeuten
können, das Paradies gegenüber dem Jammertal der Erde? Aber
es endet auch hier mit symbolischen Zeichen in einem Architektur-
schema, das mit diesen Hieroglyphen darin ein ganzes systema-
tisches Lehrgebäude bedeutet Das Mitspiel des subjektiven
Bewußtseins wird zur Arbeitsleistung, je komplizierter die Ideen-
assoziationen werden, die in solche Abbreviaturen hineingeheim-
nifit sind.
Endlich kommt es auch zur unmittelbaren Verquickung von
Wort imd Bild im geschriebenen Texte selber, die das Altertum
nicht kennt. Erst in einer Zeit, wo die Schrift nicht nur als Surro-
gat der mündlichen Überlieferung dient, sondern über den Ge-
brauchszweck hinaus als eigener Wert zu gesteigerter Hochschätzung
gelangt, wo sie in einer fremden oder schwerverständlichen Sprache
einen Inhalt birgt, den nur der Eingeweihte zu erschließen vermag,
— erst da stellt sich auch die Ornamentik ein, die diesen Wert
auszeichnet und umrankt. Die Initiale verleiht dem Anfang eines
Abschnittes mehr Nachdruck. Der stärkere Einsatz der Stimme
wie des Schriftzeichens ist schon ein Symptom des bewußten
Geistes, der die Gliedenmg des Inhalts übersieht und den Haushalt
der Mittel beherrscht: er ist ein Merkmal des wohltemperierten
Rhythmus, den der weitere Vortrag des StoflFes im Einklang mit
seiner inneren Organisation, je notwendiger desto besser, mit sich
bringt. Randverzierungen rein omamentalen Charakters, die nur
als äußerliche Zutat die Textkolumne begleiten, entstehen viel eher
im Zusammenhang mit dem sinnlichen Eindruck der Schriftzüge
und der Musterung des Grundes durch diese. Solange die Buch-
staben lapidare Einzelkörper bleiben, kann auch die Ornamentik
nur aus isolierten Elementen bestehen, wie wir sie in der Dios-
korideshandschrift, etwa in der Zeit Justinians auftauchen sehen.
Eine andere Möglichkeit ist der zusammenfassende Rahmen, der wie
peripherische Reihung die gesamte Textmasse umzieht, und gleich
Buchmalerei und Dekoration 33g
einem Saum das Teppichmuster des Grundes einschließt Hier
liegt die Einfuhrung eines neuen Kontrastes zwischen Beweglichem
imd Beständigem offen, wie zwischen Muster und Grund, so daß
die Randverzierung schon als drittes Element im Bunde der künst-
lerisch verwertbaren Faktoren auftreten mag.
Erst wo die Schrift die Einzelbuchötaben des Wortes zum
durchgehenden Zuge verbindet, gerät der ganze Niederschlag in
Fluß, in schnellen Lauf (Kursiv). Das Wort bildet eine mimische
Einheit, die sich von der folgenden sondert; aber im Ganzen der
Zeile gebärdet sich's weiter bis zum Ende des Satzes, zum Ablauf
des Gedankens. Erst nun folgt auch die Randverzierung mimetisch
diesem Eindruck, selbst wenn der Zeichner des Ornaments gar
nicht zum Leser wird, der auch den Text versteht Unmittelbarer
natürlich geht es zusammen, wo der Schreiber auch die Schnörkel
herumlegt. Unwillkürlich verbinden sich Text imd Ziermotive zu
einer Einheit gegenüber dem Grrunde, und diese kann nur eine
mimische sein, soweit Schrift imd Linienspiel aus einer Feder
fließen. Ausdrucksbewegung und Gebärdensprache werden, vom
gleichen Inhalt durchdrungen, auch den gleichen Charakter ver-
künden. Damit aber würde die Grenze der Ornamentik über-
schritten, nämlich sobald auch sie zum Ausdruck des Wertes selber
gelangt, den sie sonst nur auszeichnend und hervorhebend begleitet
und umspielt.
Ein völlig Heterogenes ist im Buche zunächst auch das Bild:
ein sinnlicher Wert neben einem geistigen. Sowie das Bild sich
als Kunstwerk durchorganisiert hat imd innerlich abrundet, vollends
aber, wenn es durch einen Rahmen sich auch äußerlich absondert,
steht es selbständig und unabhängig da. Es hat mit dem Textblatt
gar nichts gemein als höchstens den Vorstellungsinhalt, den dort die
Schrift, hier das Bild im Innern des menschlichen Subjekts auslöst
Und wie verschieden sind der Leser der Schrift imd der Beschauer
des Bildes, auch trotz der Personalunion, im Grunde ihres Wesens
und im Gebrauch ihrer Kräfte! So unterbricht auch das Bild den
Verlauf der Lektüre; es schaltet gewissermaßen das Spiel des In-
tellektes aus und schaltet ein Ausruhen in Anschauung ein. Aber
solche Erholung in der Pause kann jedes beliebige Bild gewähren
imd erreicht sie vielleicht besser, je fremder es dem Gedankenkreis
des Gelesenen gegenübertritt. Nur wird auch bald die Willkür
solcher Abwechslung empfunden, der Widerspruch gegen so ge-
walttätige Wohltat rege. Erst die Übereinstimmung des geistigen
22*
T]
340 XXII. Geistige Mächte in der darstellenden Kunst
Gehaltes in beiden Bestandteilen schafft die Einheit des Mediums,
erhält die vermittelnde Gleichheit der Stimmung. Auf Grund der
durchgehenden Gemütslage wird erst der Wechsel der Gemütsbe-
wegungen möglich, wie ein natürliches Erleben, Und der Psychagog,
der beide Betätigungen, beim Lesen des Textes und beim Schauen
des Bildes, dirigiert, kann nur der Poet sein, weder der Schreiber
noch der Maler, es sei denn in der Identität des Autors die höchste
denkbare Einheit dieses dreifaltigen Kunstwerks erreicht Immer
jedoch gehören schon Zwittergeschöpfe dazu, wie poetische Maler
oder malende Poeten, und die literarische Richtimg der Zeit, die
solche hervorbringt, sie entscheidet auch an sich das Übergewicht
des geistigen Elements über das sinnliche: der Dichtkimst oder
der Mimik über die MalereL
Von Aug^stus bis Justinian sind Poesie und Architektur die
führenden Künste im ganzen weiten Römerreich gewesen, natürlich
mit Schwankungen zugunsten der einen oder der anderen Wag-
schale. Die Plastik wird Reliefkunst, die Malerei wird Illustration.
Aber das ausgehende Altertum hat noch keine ausgebildete Buch-
malerei aufzuweisen. So kann es nicht wundernehmen, wenn ein
aufmerksamer Beobachter wie Riegl zu dem Ergebnis kommt: es
gebe überhaupt keinen Miniaturstil, keinen spezifischen Stil der
Buchmalerei (137, i). Richtiger sagen wir woU: es gibt noch
keinen Miniaturstil während der spätrömischen Jahrhunderte; denn
diese enthalten nur die Vorgeschichte der langen Entwicklung
dieses Kunstzweiges. Deshalb kommt auch die Mehrzahl der Buch-
maler, die wir in den wenigen erhaltenen Beispielen verfolgen
können, anderswoher: es sind überwiegend Abkönunlinge der Deko-
rationsmalerei, oft der Freskomalerei im großen, oder der Theater-
schule näherstehend als der Schreibstube. Gerade die „illusio-
nistische" Bravour vermag nicht dem tieferen Inhalt gerecht zu
werden. Die Augenscheinmalerei für reinen Sinnesgenuß bleibt an
der Oberfläche hängen. Sie vermag Stimmungen zu vermitteln;
aber sie versteht es nicht, auf geistigem Gebiet das Hochbedeut-
same von dem Gleichgültigen und Unwichtigen zu scheiden; denn
ihre Wiege war das Stilleben und das Ziel ihres Strebens die
duftige Fata Morgana. Intellektuelle Werte hervorzudrängen und
gebührend auszuprägen eignet sich nur die zeichnerische Art, die
genaue Rechenschaft über Einzelheiten gibt, und nicht die Fern-
sicht, sondern die Xahsicht verlangt.
Hier liegt auch die Wegscheide zwischen kontinuierender und
Ornamentik — Unendlicher Rapport 3^1
zyklischer Darstellung. Der klar disponierte Zyklus verlangt keine
Femsicht (R.), aber doch Umsicht und Übersichtlichkeit, fordert
bewußte Rh3rthmik des Vortrags und fuhrt, durch verschlungene
Pfade noch, zurück zur vorbedachten Harmonie. Aber je mehr er
dies erreicht, desto selbständiger löst er sich wieder vom Buche und
kann als Bilderzyklus für sich bestehen, ohne Buch, ohne Text;
denn er erklärt sich selber.
Das sind jedoch erst Errungenschaften der nordischen Nationen.
De^ Süden und der Orient vollends bleiben im Geschlinge der kon-
tinuierenden Darstellung hängen; das bezeugt noch eine letzte Er-
scheinung der Ornamentik: „der unendliche Rapport". Nicht
mit der zyklischen (R.), sondern der kontinuierenden Erzähl weise
gleichen Geistes ist dies dekorative Gesetz, das überall dort zum
Siege gelangt, wo das Gefühl für organischen Zusammenhang imd
natürliches Gewächs der Formen abhanden kommt „Das Kom-
positionsgesetz des unendlichen Rapports beruht auf der Verwen-
dung eines aus zwei symmetrischen Hälften zusammengesetzten
Omamentmotives (oder mehrerer solcher in Reihenabwechslung) als
Streumuster in der Ebene, wobei längs der abschließenden Ränder
der Gesamtkomposition immer je eine Hälfte des Motivs (in den
Ecken je ein Viertel) angebracht erscheint. Der Beschauer wird
dadurch veranlaßt, sich die fehlende Hälfte (oder drei Viertel) in
Gedanken zu e r g änz en und die Reihe in der Ebene ins Unendliche
fortzusetzen" (R. 41). Aus der gegebenen Definition erhellt
schon, daß der unendliche Rapport auf reichen imd kleinlichen
Wechsel von Muster imd Grund, Hell und Dunkel gerichtet ist
Neben diesem sinnlichen und zwar ausschließlich optischen
Faktor tritt aber auch der geistige unleugbar zutage, nämlich die
ergänzende Mithilfe der Erfahrung, des Intellekts. Diese Mitwirkung
ist keine schöpferische, sondern nur eine reproduzierende; aber es
geht mit Grrazie in infinitum, wie alle Kunst, die wieder Orna-
mentik wird.
xxm.
SCHLUSS: ERGEBNISSE
WESENSBESTIMMUNG DER EINZELKÜNSTE — INNERE ORGANISATION
DER KUNSTWELT
Überblicken wir die kritische Erörterung der Grundbegriffe,
die wir bis dahin verfolgt haben, so ergibt sich eine wertvolle
Tatsache für das Gesamtgebiet, deren wir uns am Schluß noch
versichern müssen. Dem aufmerksamen Leser wird freilich kaum
entgangen sein, daß allen bedeutsamen Problemen, die wir berühren
mußten, ein gleichartiger Zug gemeinsam war. Von welcher Seite
her die Frage nach dem Inhalt dieser Begriffe gestellt werden
mochte, an welchem Punkte der schwebenden Verhandlung immer
die Kritik einzusetzen hatte, — es handelte sich schließlich stets
um die Wesensbestimmung der einzelnen Künste als der letzten
Instanz, die den entscheidenden Aufschluß gab. Nur beim Ein-
dringen in die innerste Eigenart einer jeden von ihnen, wie bei
schärfster Auffassung der Unterschiede einerseits, der Obergänge
andererseits, die der geschichtliche Werdegang zutage fordert, er-
schloß sich der Kern der Sache. Dann aber gewannen wir ihn
auch ganz natürlich, ohne die umständlichen Hilfskonstruktionen,
deren andere bedurften, ohne die gewundene Quälerei oder gar
irreleitende Vorspiegelimg, von denen sich der eine oder andere
Versuch der streitenden Parteien nicht freisprechen ließ. Überall,
wo dieser eine grundlegende Gesichtspunkt der Kimstwissenschaft
außer acht gelassen war, stellten sich sofort Schiefheiten in der
Beurteilung der Sachlage, Mißverständnisse in der Erklärung der
Symptome, Fehlgriffe in der Schlußfolgerung für das Gcinze heraus.
Die Charakteristik der mannigfaltigen, besonders in der Kirnst des
Übergangs vom Altertum zum Mittelalter uns oft befremdenden
Erscheinungen, kann nur gelingen, wenn die streng unterscheidende
Wesensbestimmung der Künste festgehalten imd allgemein durch-
geführt wird.
Genealogie der Künste 343
Jede umfassende Betrachtung des geschichtlichen Verlaufs einer
einzekien Kunst fuhrt aber auf den Zusammenhang mit dieser oder
jener von den übrigen, zunächst in derselben Reihe. So mögen wir
die Dreizahl, die wir die bildenden Künste nennen, für sich ins Auge
fassen. Wir verstehen die Plastik als Körperbildnerin, die Archi-
tektur als Raumgestalterin; sowie uns aber die dritte Schwester
Malerei als Darstellerin des Erscheinungszusammenhangs zwischen
Körper und Raum aufgeht, und ihr Werk, das Bild, als zweidimen-
sionaler Auszug aus diesen beiden Faktoren der Welt, so tritt
diese jüngere Schwester in ein bestimmtes Verhältnis zu den beiden
älteren. Sie kann nur eine weitere Entwicklungsstufe im mensch-
lichen Schaffen bezeichnen, wie sich rein optische Orientierung
schon als Verfeinerung gegenüber den derberen Erfahrungen der
Tastregion, der Auseinandersetzung mit den Dingen auf Druck und
Stoß, oder der Ortsbewegung auf imserem Gnmd und Boden allein
fühlbar macht Den materiellen Dingen selbst entrücktes Schauen
über sie hin, in die Feme vollends, soweit unser Auge reicht, ist
ein geistigeres Verhalten, das wir als „höheren Ranges'' einzu-
schätzen pflegen.
Wenn wir auf der anderen Seite den Verfolg der bildenden
Künste nicht angetreten haben, ohne ihre Vorstufen im Handwerk
gebührend zu würdigen, so mufite auf die Anfange aller Gestaltung
und aller schmückenden Begfleitung selbstgefundener oder selbst-
geschaffener Werte zurückgegriffen werden. Die Grundlagen der
Ornamentik, die nur Werte auszuzeichnen und zu umspielen, nicht
selber darzustellen weiß, erkannten wir als Niederschlag mimischen
Gebarens imd fanden die nämlichen Hausgesetze im Bereich der
bildenden Künste, die für unsere räumliche Anschauungsform
arbeiten, wie in den Künsten der zeitlichen Auffassung: Mimik,
Musik und Poesie. Wie drunten in den Anfängen begegneten uns
aber schlagende Analogien auch droben im weiteren Aufstieg der
Entwicklung, oft an wichtigen Scheidewegen im Wandel der Bau-
kunst und Bildnerei, von der bildlichen Darstellung gar nicht ein-
mal zu reden. Doch gerade beim Übergang zu höherer Ver-
geistigimg, von den tastbaren Körperwerten zu den sichtbaren, von
den Sachen selbst zu ihrem Bilde, oder vollends vom nahen Sehen
der Einzeldinge zum ferneren Schauen ihres Zusammenhangs, da
stellte sich immer unvermeidlicher die Notwendigkeit ein, auch die
unmittelbareren Verkünderinnen des Innenlebens zu berücksich-
tigen. Das Wort wird der gefährlichste Nebenbuhler des Bildes»
344 XXIII. Schluß: Ergebnisse
Gebärdensprache und Ausdrucksbewegiing vermitteln selbst das
steinerne Standbild des Gottes mit dem warmen Gefühl der leben-
digen Verehrer. Gesang und Tanz und musikalische Aufführung
umspielen den Tempel und ergießen sich in seine Räume; in der
Ortsbewegung durch die Hallen imd Höfe lösen sich die starren
Mauern imd die Säulenreihen in den Schein lebendigen Geschehens
auf. Wer Mimik, Musik imd Poesie grundsätzlich von der Be-
obachtung der bildenden Künste fernhält, begeht schon damit eine
Einseitigkeit, die bei jedem Wendepunkt vom Körperlichen zum
Geistigen, von den Werten des Daseins zu denen des Lebens, von
Beharrung zu Bewegung verhängnisvoll werden muß. Beide Seiten
des menschlichen Kunstschaffens gehören einmal von Natur zu-
sammen und sind organisch miteinander verwachsen, wie beim
Menschen selber die leibliche und die seelische Natur ineinander-
wirken, oder nur zwei Erscheinungsweisen desselben Ganzen sind,
und wie bei jeder besonderen Betätigimg dieser oder jener doch
der ganze Mensch gegenwärtig ist und mitspielt
Erinnern wir uns endlich, daß das Gebilde unserer Sprache,
das wir Wort nennen und dem Bilde als dem höchsten Ergebnis
sinnlicher Anschauung gegenüberstellen, auch wieder eine psychische
Leistung höheren Ranges ist, zusammengewebt aus dem vokalischen
und dem konsonantischen Bestandteil, aus Laut und Gebärde, and
als Lautgebärde eben einen verfeinerten Auszug aus jenen Ele-
menten darstellt, wie das Bild aus Körper und Raum, so erkennen
wir das Gesetz des organischen Wachstums, das auf beiden Hemi-
sphären unserer menschlichen Kunstwelt waltet, und begreifen, daß
sich schließlich auch Wort und Bild zu verbünden, ja zu durch-
dringen trachten, wie sie in der Einheit unseres Bewußtseins zu-
sammenfließen. Kein Wunder also, wenn die Kunst des Wortes, die
Poesie, und die Kunst des Bildes, die Malerei, nebeneinander ge-
hören in einem Stufengang der inneren Entwicklung. Kein Wunder
aber auch, wenn der organische Zusammenhang sich noch weiter
bewährt und die übrigen Künste von beiden Seiten mit umfaßt
Zunächst ergibt sich der Parallelismus zwischen den beiden
Vorstufen Mimik und Plastik, Musik imd Architektur. Das erste
dieser Paare, mit dem alle Kimstwissenschaft zu beginnen hat,
weil es sich hier um den Menschen selber und um ihn allein han-
delt, während die beiden anderen Paare schon Eroberungen in die
Welt hinaus bedeuten, Mimik und Plastik, steht aber noch in einem
anderen Verhältnis. Es sind nur die beiden Seiten einer imd der-
Innere Organisation der Kunstwelt ^/^^
selben künstlerischen Auseinandersetzung des Menschen mit der
Welt, in die er gestellt ist, und zwar die früheste, durchaus anthro-
pistische Bewältigung dieser Aufgabe und in widerspruchsloser
Obereinstimmung mit der eigenen Natur des Menschen selber, der
inneren und der äußeren, in Bewegimg und Beharrung. Sie fordern
einander und ergänzen einander, wie Dasein und Leben. Wir
nennen sie deshalb — dies im Kern unseres Wesen wurzelnde
Paar — Komplementärkünste. Genaue Vergleichung der anderen
vier Schwestern lehrt, daß auch diese weiteren Auseinandersetzimgen
mit der Welt, paarweis in einem solchen organischen Verhältnis
stehen. Architektur und Poesie sind wiederum Komplementär-
künste. Sie fordern einander und ergfänzen sich zu einer einheit-
lichen und in sich vollständigen Weltanschauung in künstlerischem
Sinne. Das dritte Paar, Malerei und Musik ergibt sich darnach
von selbst, und dieses Verhältnis lenkt schon alle die Vergleiche
von Architektur und Musik einerseits und Malerei und Poesie
andererseits, die so häufig beklagte Fehlgeburten der Analogiensucht
hervorgebracht hatten, auf einen anderen richtigeren Weg. Nicht
Parallelismus der Erscheinungen ist allein vorhanden; wo er ver-
sagt, wird die Komplementärwirkung weiterfuhren. Die Frucht-
barkeit dieser Begriffe hat sich in unserer kritischen Erörterung
selbst so überzeugend wie nur möglich dargetan: wir sind mit
ihrem Verfolg durchaus auf historischem Boden und lassen nur die
Tatsachen für sich selber reden.
Wer die Plastik als fuhrende Kunst im klassischen Altertum
anerkennt, wird auch die ergänzende Macht in der Mimik zu
suchen — kaiun abzulehnen versucht sein. Über diese Brücke ge-
langen wir jedenfalls erst zur Poesie, die man immer zunächst zu
nennen pflegt, und je mehr auf dem Gebiet der g^echischen Dich-
timg das Drama in den Vordergrund tritt, oder dramatische Be-
handlimg auch im epischen Gang oder im lyrischen Erguß noch
dasselbe bedeutet, was wir meinen, desto klarer erhellt das mimische
Element als die notwendige Voraussetzung für beide.
Dagegen sahen wir in der Spätantike die Architektur die
fuhrende Rolle übernehmen, selbst im Ersatz des monumentalen
Standbildes durch den Monumentalbau den Obergang auf dem nun
selbstverständlichen Wege vor Augen stellen. Gerade die Raum-
komposition der späteren Kaiserzeit, die Entstehung der Basilika und
ihre Ausbildung als bevorzugter Bautypus für die christliche Kirche,
sie fordern zur Ergänzung der zeitgemäßen Weltanschauimg die
346 XXIII. Schluß: Ergebnisse
Poesie, als deren Vertreter wir Virgil und Ovid ebenso wie die Ver-
fasser der Heiligen Schriften und die Prediger des Christenglaubens
anerkennen. Das heißt, wir kommen mit den malerischen Anwand-
lungen des Hellenismus nicht aus, sondern brauchen seine litera-
rische Richtung und deren Fortsetzung bei den Römern, brauchen
die historische Wendung seit Alexander, bei Julius Cäsar und
Tacitus, wie in der Wirksamkeit des lebendigen Wortes imter der
Christengemeinde bis zur Festigung in dem kanonischen Gesamt-
bestand der Bibel und zur Geschichte des Erlösungswerkes, die,
um alle Vergangenheit in ihren Zusammenhang zu fassen, auf die
Anfange des Menschengeschlechtes zurückgreift Die Umwandlung
mythischer Dichtung in historische Kunst ist ja gerade der ent-
scheidende Vorgang. Nur er belebt ims noch heute die Baudenk-
male jener Übergangszeit vom Altertum zum Mittelalter und ver-
leiht ihnen den Inhalt, den sie fordern.
Damit ist aber auch das Schicksal der mittelalterlichen Kunst-
entwicklung vorgezeichnet: von Dichtung zur Mimik, durch Mimik
erst zur Plastik zurück. Malerei und Musik jedoch scheinen dabei
zu kurz zu kommen; sie hätten das Recht, gegen solche Diagnose
Einspruch zu erheben und unsere Ergebnisse imizustoßen, wenn sie
nicht für alle Künste gleichmäßig gelten.
Unsere Erörterung von Grundbegriffen auf dem Gebiet der
bildenden Künste gab nur Anlaß, die Malerei erst spät im eigent-
lichen Sinne, die Musik fast gar nicht in Betracht zu ziehen, — dem
Stand der heutigen Forschung bei den Kunsthistorikern entsprechend.
Das Ergebnis des ganzen Ganges lautete für erstere außerdem: die
Entdeckung des „Malerischen" sei der Antike, trotz mancher Anläufe
dahin, besonders in hellenistischer und spätrömischer Zeit, noch
nicht gelimgen. Gerade darin liegt eine volle Bestätigung der
Gültigkeit unseres Prinzips auch für dies dritte Paar von Komple-
raentärkünsten. Wir fanden die Malerei bei den Äg3rptem im
Bimde mit der Poesie und durch diese mit der Architektur, als
Flächendekoration von der einen, als Illustration von der anderen
Seite aufgefaßt Wir fanden die Vasenmalerei der Griechen im
Bunde mit der Mimik und durch diese mit der Poesie. Wir fanden
wohl Einzelgestalten aufgereiht in ihren Bildern, aber die Einheit nur
in der Fläche, selbst der sphärischen der Gefäße, nicht im räumlich-
körperlichen Erscheinungszusammenhang für das Auge, den das Ge-
mälde als eigenes Kunstwerk vor uns hinstellt Wir fanden die
Einheit des Vorgangs, der Fabel, der linearen, ja der körperlichen
I
Ceschichtiiche Entwicklung 347
Komposition, cL h. des Gesamtumrisses oder der Gruppe; aber die
Selbständigkeit der kleinen Welt im eigenen Rahmen ließ den ent-
scheidenden Schritt zur Lostrennung der Malerei von den anderen
Schwesterkünsten vermissen. In der Zeit des Hellenismus sucht
das optisch ausgebildete Auge den Zusammenhang zwischen Kör-
pern und Raum, gleitet aber stets wieder in die Einheit der Fläche
zurück oder bleibt mit der alten Vorliebe an der Einheit des orga-
nischen Gewächses hängen. Anwandlungen, den reinen Augenschein
vor die Blicke des Betrachters zu zaubern, können damals noch
nicht über den engen Kreis raffinierter Kenner und Liebhaber
hinauswirken. Bis dies geschehen kann, muß die Umwertung edler
tastbaren in optische Werte für das gemeinsame Fühlen aller voran-
gegangen sein. Deshalb kommt sowohl das literarisch anerzogene
Verständnis bei den vornehmen Römern, wie die Verflüchtigung
aller Sinneseindrücke der farbigen Welt bei den Christen doch
schließlich nicht dem Aufschwung der Malerei zustatten, sondern
erleichtert nur die Hegemonie des Geistes, die Allmacht der Innen-
welt, die Verquickung von Wort und Bild, der die Zukunft gehört,
so daß die Entdeckung des Malerischen um ein Jahrtausend hinaus-
geschoben ward. Im Bunde mit der Dichtung, der sie einst in den
Tagen des königlichen Sängers David gedient hatte, zieht auch
die Musik, als Gesang mit bescheidener Begleitung durch Instru-
mente, in die christliche Kirche, und damit in die Kunst der neuen
Weltanschauimg ein. Der Sinnenrausch, den die Leistungen der spät-
antiken Musik hervorzubringen getrachtet, bleibt verbannt von ihrer
Schwelle, wie der duftige Farbenzauber der spätantiken Malerei.
Erst allmählich schleichen sich die poetisch durchdrungenen Mittel
beider Künste, also durch die Hintertür, wieder ein, nämlich als
willkommene Hilfen zur Gemütsbewegung und tragischen Rührung
der Gemeinde. Martyriendarstellung und Passionsklage leiten uns
auf die heimlichen Pfade dieser Tradition. Sonst herrscht im Bilde
der poetische Zusammenhang; Mimik, Epik, Dramatik reichen sich
dort die Hände. Und in der Musik überwiegt der Rhythmus, das
Bewegungselement; er gleitet durch die begleitende Mimik von
den Sängern im Chor ins Gefühl der Versammelten über imd be-
lebt von dort aus im Mittelalter den Kirchenbau, so daß aus dem
ererbten Massenbau der Spätantike der Gliederbau des entwickelten
romanischen Stils erwächst tmd aus der Durchorganisation des
ganzen Bauwerks von unten bis oben im Sinne mimischer Streckung
und rhythmischer Gliederung die gotische Kathedrale hervorgeht.
348 XXIII. Schluß: Ergebnisse
Erst spät dann, in dem Augenblick, wo aus den Glasgemälden der
Fenster das Tafelbild auf dem Altare geworden war, wo das be-
wegliche Sehen der Bilder sich wieder zu ruhiger Anschauung
vertieft, und wo diese den ganzen Kirchenraum von einem festen
Standpunkt zu umspannen sucht, erst da eröfihet sich mit der Ent-
deckung des Malerischen im eigensten Sinne auch die Möglichkeit,
die Musik als Komplementärkimst dieser Schaulust zu verfolgen,
und eine neue Entwicklung blüht auch ihr.
So leitet unser begriffliches Ergebnis weit hinaus über den
Rahmen der Übergangszeit vom Altertum zum Mittelalter in den
folgenden Verlauf der Kunstgeschichte und erweist ebendadurch
die konkrete Brauchbarkeit des scheinbar ganz abstrakten Ertrages.
Doch vergessen wir nicht: unsere Analyse des „KunstwoUens** be-
wegte sich, trotz aller Ausblicke in die Nachbarkünste der zeit-
lichen Darstellungsform, doch immer auf dem gemeinsamen Boden
der Kunst, — der Kunst allein I Nur die künstlerische Ausgestal-
tung einer vollständigen Weltansicht ward in Betracht gezogen,
keine Mitwirkung einer anderen Macht, selbst die Religion nur so
weit, als sie poetische Kunstform erlangte und künstlerische Vehikel
zu ihrer Vermittlung heranzog. Darin liegt eine Antwort auf die
M€Tdßactc cic äXXo t^voc, die ich in Riegls „Parallele zwischen
bildender Kunst und Weltanschauung des Altertums" (a. a. O. 217, i)
wenigstens vorläufig noch erkennen muß.^)
Ich leugne deshalb nicht, auch meine Lehre vom organischen
Zusammenhang im ganzen Reiche des menschlichen Kunstschaffens
läuft schließlich auf eine Kunstphilosophie hinaus, die darnach
trachten muß, den weiteren Zusammenhang mit der Weltanschau-
img zu vermitteln. Aber sie kommt von der psychologischen
Grundlage dieses organischen Zusammenhangs selber, d. h. auf
einem anderen Wege, durch innere Notwendigkeit der Menschen-
natur dazu, nicht durch äußere Veranlassung und durch fremde
Erklärungsprinzipien. Wie das Gesetz ihrer inneren Entwicklung
auf den Wechsel und Austausch der psychischen Klräfte führt und
uns begreifen lehrt, weshalb im geschichtlichen Gange die Hege-
monie von der einen Kraft auf die andere übergleiten muß, wenn
die Mittel der einen erschöpft imd abgenutzt sind, die Mittel der
anderen aber noch in Bereitschaft liegen und Ersatz bieten, wenn
gesteigerte Ausbildung des einen Organs auch natürliche Ermüdung
i) Dies ist zugleich auch eine Antwort auf die Rede von Rudolf Kautzsch über
die „Kunst und das Jenseits", die beim Druck dieses Buches erschien.
Die Kunstwissenschaft und ihre Nachbarinnen
349
hervorruft und im Rückschlag darauf zum anderen, vielleicht zum
Gegenpol hinüberdrängt, — so steht auch das Bedür&is nach künst-
lerischer Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt wieder in
einem ähnlichen Verhältnis zu anderen Bestrebungen und Befrie-
digungen der Menschennatur, die eben keine künstlerischen zu sein
brauchen, ja nicht allzu nah verwandt sein dürfen, um neuen Zu-
wachs und andersartige Befruchtung zu bieten.^)
Zunächst jedoch liegt mir am Herzen, der Kunstwissenschaft
selbst etwas in die Hand zu geben, das ihr beim heutigen Stand
der Dinge vor allem not tut, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren
und ihre Selbständigkeit im eigenen Hause zu befestigen. Ich
erwarte kein Heil für sie von der Vormundschaft der Kultur-
geschichte. Die glänzenden Glaspaläste eines HippolyteXaine lassen
den Geistreichtum anderer vorerst nicht ruhen; aber der Kunst-
historiker sollte bald dahinterkommen, daß ihre Konstruktionen mit
dem inneren Leben der Kunst kaum etwas zu schaffen haben«
Diesen Kern gilt es zu erfassen und festzuhalten.
Auf hohem Meere, wo kein Land zu winken scheint, vermag uns
niu: ein guter Kompaß zu orientieren. Und der unsrige ist von
eigener Art") Wie seine Nadel sich auch drehen mag, er weist auf der
klargeteilten Zone immer auf die Verbindung zwischen zwei diametral
einander entgegengesetzten Stellen hin, daß wir im Verfolg der einen
Richtung doch nie der anderen zugehörigen Seite des Paares ver-
gessen. Der Weiser selbst hält, auf sein Ziel gerichtet, dem Auge
des Schiffers überall gegenwärtig, daß die Drehung nach dieser oder
nach jener Seite der Peripherie doch immer die Reihe der anstoßen-
den Segmente durchlaufen muß, d. h. daß der Obergang von einem
zum anderen Kurs nur durch diese Folge, von einer zur anderen
Nachbarin möglich ist, wenn nicht nach allzu heftigem Sturm ein plötz-
licher Umschwung in die direkt entgegengesetzte Richtung eintritt
Nur diese drei Wege der Abwandlung sind gegeben, imd sie eben
beruhen auf der eigentümlichen Anlage der Menschennatur selbst,
die diese Welt der Kunst aus sich geboren hat imd durch ihren
eigenen inneren Wandel auch deren äußeres Schicksal wesentlich
i) Erst bei der letzten Korrektur dieses Bogens kann ich noch auf die kleine
Schrift von Wilh. Waetzoldt „Das Kunstwerk als Organismus, ein ästhetisch-
biologischer Versuch", Leipzig, Dürr, 1905 hinweisen. Ich finde darin manche Bestä-
tigung meiner früheren Ausführungen, die dem Verfasser unbekannt geblieben scheinen.
2) Vgl. Beiträge zur Ästhetik der bildenden Künste III (1896), S. 229.
350 XXIII. Schluß: Ergebnisse Die Kunstwissenschaft und ihre Nachbarinnen
bestimmt Es verlohnt sich, die historische Entwicklung auch femer
auf dieses Gesetz des organischen Zusammenhangs und des psychi-
schen Elräftespiels zu prüfen. Für die gemeinsame Arbeit der
Kunstwissenschaft ist hier eine willkommene Unterlage zur Ver-
ständigung gewonnen, die sich immer fruchtbarer bewähren wird,
je mehr die Kunsthistoriker auch der Geschichte der Literatur imd
der Musik wie der Rolle ihrer Mittlerin Mimik an rechter Stelle
die Aufmerksamkeit zuwenden, die ihnen gebührt, weil di§ Künste
der zeitlichen Auffassung einmal demselben Mikrokosmus ange-
hören, wie die der räumlichen Anschauung, die wir getrennt zu ver-
folgen doch nur aus Not der Arbeitsteilung übereingekommen sind.
Wer sich die Eigenart der Architektur, der Plastik, der Malerei
erst völlig klargemacht hat und das innerste Ziel ihres besonderen
Wollens im Bewußtsein lebendig hält, dem muß auch die Erkennt-
nis aufgehen, daß jede Hauptmacht auf dieser Hemisphäre der sinn-
lichen Anschauimg ihr Widerspiel auf der anderen fordert, und daß
deren Zusammenwirken erst die Menschennatur vollauf nach ihren
beiden Seiten befriedigen kann«
Die „Grenzen der Künste", die wir allein nach Technik und
Material zu bestimmen versuchen, sind relativ, gegeneinander ver-
schiebbar, je nach den Tendenzen des KunstwoUens. Wo z. B. der
Hang zum Plastischen ehedem, zum Malerischen heute die Ober-
hand gewinnt, da müssen auch die Stoffe sich fügen und die tech-
nischen Prozeduren sich dazu hergeben. Dort werden Baukunst
und Malerei selbst plastisch gerichtet, hier Plastik und Architektur
zur malerischen Erscheinung verbunden« So ist auch für die Charak-
teristik der Spätantike und des Obergangs ins Mittelalter die Frage
nach dem Verhältnis der Künste untereinander die grundlegende
Hauptsache. Die Antwort darauf gibt erst den Schlüssel ziun Ver-
ständnis des ganzen Umschwungs. Über das herrschende Kunst-
wollen einer Zeit orientiert uns aber nur die Kontrolle im Vergleich
mit der Wesensbestimmung der Einzelkünste, die Eigenart ihrer
Stellung im Organismus der menschlichen Anlage und die genaue
Beobachtung des Wechsels im Haushalt der Kräfte. Diese Unter-
schiede und diese Verschiebungen beruhen auf psychologischen und
physiologischen Gesetzen, das heißt auf den Grundlagen der
Menschennatur und deren Entwicklung selber:
„Sie sind notwendig wie des Baumes Frucht"
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