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Full text of "Grundlinien der Philosophie des Rechts"

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LP9-NiaB 

U.B.C.  LIBRARY 


THE  LIBRARY 


THE  UNIVERSITY  OF 
BRITISH  COLUMBIA 


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in  2010  with  funding  from 

University  of  British  Columbia  Library 


http://www.archive.org/details/grundlinienderphOOhege 


Philosophische  Bibliothek 

Band  124. 


Naturrecht  und  Staatswissenschafi 
im  Grundrisse. 


I 


Zum  Gebrauch  für  seine  Vorlesungen 

vun 

D.  Georg  Wilhelm  Friedrich  Hegel, 

Oidentl.  Professor  der  Philosophie  an  der  Königl.  Universität  zu  Berlin. 


Berlin,  1831. 

In   der  Nicolai'schen   Buchhandlung. 


Neue  Ausgabe 


Oeorg  Lassou, 

Pastor  ai  St.  Bartholomäus,  Berlin. 


Leipzig  1911. 

Verlag  von  Felix  Meiner. 


Philosophische  Bibliothek 

Band  124. 

Grundlinien 
der  Philosophie  des  Rechts. 


Von 

D.  Georg  Wilhelm  Friedrieli  Hege), 

Ordentl.  Professor  der  Philosophie  an  der  Königl.  Universität  zu  Berlin. 


Berliii,  1831. 

In   der  Nieolai'sclien  Buchhandlunsf. 


Mit  den  von  Gaus  redigierten  Zusätzen  aus  Hegels  Vorlesungen 
neu  herausgegeben  von 

Creorg  Lasson, 

Pastor  an  St.  Bartholomäus,  Berlin. 


Leipzig  1911. 

Verlag  von  Felix  Meiner. 


Copyright  1911  by  Felix  Meiner  in  Leipzig. 
Alle  iicchte,   einschließlich  des  Übersetzungerechts,    vorbehalte: 


Vorrede  des  Herausgebers. 


Die  vorliegende  Ausgabe  von  Hegels  Rechtsphilosophie 
gibt  im  Unterschiede  von  der  am  meisten  gebrauchten 
Gansschen  Ausgabe  die  Gestalt  des  Werkes  wieder,  in  der 
es  von  Hegel  selbst  im  Jahre  1821  veröffentlicht  worden 
ist.  Die  zahlreichen  und  zum  Teil  höchst  wertvollen  Zu- 
sätze aus  Kollegheften,  die  Gans  den  einzelnen  Paragraphen 
eingefügt  und  dadurch  er  bisweilen  sogar  den  ursprüng- 
lichen Text  gesprengt  hatte,  bilden  für  sich  gesammelt  einen 
zweiten  Teil  unserer  Ausgabe. 

In  dem  ursprünglichen  Drucke  hatte  Hegel  eine  große 
Zahl  von  Verweisungen  auf  Stellen  seiner  Phänomenologie 
und  Encyclopädie  gegeben,  von  denen  Gans  die  meisten 
unterdrückt  hat.  Sie  sind  in  unserer  Ausgabe  wiederher- 
gestellt und  durch  die  Bezugnahme  auf  die  späteren  Auf- 
lagen jener  Werke  brauchbarer  gemacht  worden. 

Über  die  Grundsätze  bei  der  Revision  des  ziemlich 
fehlerhaften  Textes  der  ersten  Ausgabe  ist  im  Anhange 
das  Erforderliche  bemerkt  worden. 

Bei  der  Einleitung  hat  sich  der  Herausgebor  diesmal 
auf  den  Versuch  beschränken  müssen,  das  großartige  Werk 
durch  eine  immanente  Kritik  dem  Verständnisse  der  Gegen- 
wart näher  zu  bringen.  Er  hofft,  daß  es  ihm  bei  einer 
späteren  Gelegenheit  beschieden  sein  wird,  die  geistes- 
geschichtliche Entwickelung  zu  zeichnen,  als  deren  relativer 
Abschluß  Hegels  Rechtsphilosophie  erscheint.  Für  die 
Leser,  deren  Interesse  nicht  in  erster  Linie  auf  philo- 
sophische Systematik  geht,  wird  es  sich  empfehlen,  die 
Einleitung  mit  der  Lektüre  des  dritten  Kapitels  zu  beginnen 
und  dann  zu  sehen,  ob  sie  dadurch  für  die  Lektüre  auch 
des  zweiten  und  ersten  interessiert  worden  sind. 

Es  werden  demnächst  dreißig  Jahre  vergangen  sein, 
seit  das  ,, System  der  Rechtsphilosophie"  von  Adolf 
Lasson  erschienen  ist,  das  erste  umfassende  rechtsphilo- 
sophische  Werk,  das  auf  Hegels  Grundlage  weiter  zu  bauen 


VI  Vorrede  des  Herauflgeberg. 

unternahm.  Der  Herausgeber  braucht  wohl  nicht  zu  ver- 
sichern, daß  er  an  seine  jetzige  Aufgabe  nie  würde  heran- 
getreten sein,  hätte  nicht  seine  Jugend  unter  dem  Einflüsse 
dieses  Werkes  und  der  Gedankenwelt  gestanden,  die  darin 
fortlebte.  Wenn  Adolf  Lassen  zwei  Menschenalter  nach  dem 
Erscheinen  der  Hegeischen  Rechtsphilosophie  durch  seine 
selbständige  Schöpfung  für  die  Lebenskraft  der  Philosophie 
Hegels  Zeugnis  abgelegt  hat,  so  mag  für  diese«  Zeugnis  eine 
bescheidene  Bestätigung  auch  darin  gefunden  werden,  daß 
jetzt  nach  einem  weiteren  Menschenalter  es  dem  Heraus- 
geber hat  vergönnt  sein  dürfen,  das  Werk  Hegels  selbst 
den  Freunden  deutscher  Wissenschaft  aufs  neue  vorzulegen. 

Berlin  NO.  43,  Ostern  1911. 

Georg  Lassen. 


Einleitung  des  Herausgebers. 


Die  Rechtsphilosophie  Hegels  ist  von  den  Werken  des 
Philosophen  das  einzige,  das  er  einem  besonderen,  genau 
begrenzten  Unterteile  seines  Systems  gewidmet  hat.  Die 
Phänomenologie  und  die  Encyclopädie  behandeln,  jede  unter 
einem  eigentümlichen  Gesichtspunkte,  den  gesamten  Inhalt 
des  menschlichen  Bewußtseins.  Die  Logik  beschränkt  sich 
zwar  auf  die  Entwickelung  der  reinen  Vernunftbestim- 
mungen, die  jenen  Inhalt  gestalten  und  beherrschen;  aber 
so  gibt  eben  auch  sie  sich  als  ein  Abbild  der  Totalität.  Nicht 
daß  sie  nur  den  Rahmen  darböte,  in  den  der  ganze  Reichtum 
des  Wirklichen  sich  einspannen  läßt,  sondern  sie  bildet  den 
alles  umfassenden  Grund-  und  Aufriß,  den  dieser  mit  seinem 
Leben  sowohl  erfüllt  wie  auch  innehält.  Die  Probe  darauf,  ob 
die  Anlage  seines  Systems  und  die  Auswahl  seiner  leitenden 
Kategorien  geeignet  sei,  ein  gesondertes,  durch  die  Er- 
fahrungswissenschaft vernünftig  bearbeitetes  Gebiet  der 
Wirklichkeit  in  seinem  eigenen  Zusammenhange  und  in  der 
lebendigen  Fülle  seiner  Momente  im  einzelnen  zu  begreifen 
und  darzustellen,  hat  Hegel  schriftstellerisch  nur  in  der 
Rechtsphilosophie  geliefert. 

Es  wird  immer  zu  beklagen  bleiben,  daß  von  seiner 
eigenen  Hand  uns  nur  die  Skizzen  sind  überliefert 
worden,  die  er  in  der  Encyclopädie  von  den  übrigen 
Lebenskreisen  in  der  Natur  wie  in  der  geistigen  Wirk- 
lichkeit entworfen  hat.  Ihre  notgedrungen  schematische 
Gestalt  ruft  bei  dem  unvorbereiteten  Leser  den  Ein- 
druck hervor,  daß  Hegel  ganz  einseitig  der  Abstraktion 
ergeben  gewesen  sei  und  durch  seine  logischen  Konstruk- 
tionen gewaltsam  das  quellende  Leben  der  wirklichen  Welt 
auf  ein  paar  begriffliche  Formeln  reduziert  habe.  Seine 
Zuhörer,  denen  er  in  seinen  Vorlesungen  die  ganze  Breite 
der  Erscheinungswelt  und  der  empirischen  Kenntnisse 
seiner  Zeit  mit  erstaunlicher  Beherrschung  des  Stoffes  vor- 
trug, wußten  es  besser.  Und  der  Abdruck  seiner  Vor- 
lesungen in  der  Ausgabe  seiner  gesammelten  Werke  hätte 


Vm  Einleitung  des  Herausgebers. 

auch  weitere  Kreise  eines  Besseren  belehren  können,  wenn 
nicht  auf  Grund  von  Hegels  Logik  und  Encyclopädie  das 
Urteil  über  ihn  schon  festgestanden  hätte.  Freilich  war 
die  vielfach  unausgeglichene  Form,  in  der  jene  Vor- 
lesungen veröffentlicht  wurden,  ein  Hindernis,  mit  Hegels 
Gedankenwelt  genauer  vertraut  zu  werden.  Einzig  die 
Bände  mit  den  Vorlesungen  über  Ästhetik  und  Philosophie 
der  Geschichte  entsprachen  auch  literarisch  den  Anforde- 
rungen, die  man  an  ein  lesbares  philosophisches  Werk 
zu  stellen  berechtigt  ist.  Von  ihnen  und  von  der  Rechts- 
philosophie aus  haben  sich  dann  auch  stets  noch  die  meisten 
Leser  über  das  herrschende  Vorurteil  gegen  Hegel  erheben 
können. 

Gegenwärtig  ist  es  insbesondere  die  Rechtsphilosophie 
und  die  mit  ihr  im  engsten  systematischen  Zusammenhange 
stehende  Philosophie  der  Geschichte,  auf  die  sich  das  In- 
teresse an  Hegel  konzentriert.  An  diesen  Werken  ist  mit 
Händen  zu  greifen,  welch  einen  Fortschritt  nicht  bloß 
in  wissenschaftlicher  Erkenntnis,  sondern  auch  im  poli- 
tischen Bewußtsein  sie  bewirkt  haben.  Das  Staatsrecht 
Hegels  hat  jene  große  gesetzgeberische  Bewegung  vor- 
bereitet, die  aus  Preußen  und  aus  Deutschland  einen 
modernen  Staat  gemacht  hat.  Darum  wird  Hegel  von 
Mein  ecke  einer  der  drei  großen  Staatsbefreier*)  neben 
Ranke  und  Bismarck  genannt.  Übrigens  aber  braucht  man 
nur  zu  lesen,  wie  z,  B,  Berolzheimer,  der  Hegels  Me- 
thode gänzlich  verwirft,  über  Hegels  Rechtsphilosophie  ur- 
teilt, um  zu  verstehen,  daß  diesem  Werke  dauernd  eine 
i>rundlegende  Bedeutung  zuerkannt  bleiben  wird.  Er  sagt: 
,,Die  Rechtsphilosophie  Hegels  im  einzelnen  zeigt  trotz  der 
Schiefheit  seines  Systems  und  ungeachtet  mannigfacher 
Irrtümer  die  Größe  dieses  genialen  Mannes.  Alles  ist  wohl 
durchdacht  und  mit  dem  Stempel  seiner  Persönlichkeit  aus- 
gezeichnet. Da  ist  nichts  fremden  Lehrmeinungen  nach- 
geredet, sondern  selbst  jedes  Detail  mit  lebendigem,  indi- 
viduellem Geist  erfüllt,  mit  einer  Intuition  des  Gedankens,  die 
vielfach  die  höchste  Bewunderung  erweckt."**)  Wenn  neuer- 
dings Joseph  Kohler   mit  seiner  Rechtsphilosophie***) 

*)  Meinecke,  Friedrich,  Weltbürgertum  und  National- 
staat.    1908.     S.  265. 

**)  Berolzheimer,  System  der  Rechts- und  Wissenschafts- 
philosophie.     2.  Bd.     München  1905.     S.  241. 

***)  Kohl  er,     Josejih,     Lehrbuch    der    Rechtsphilosophie, 
B  erlin-Leipzig,  1 909. 


Einleitung  des  Herausgebers,  IX 

ausdrücklich  an  Hegel  wieder  anzuknüpfen  unternimmt, 
wenn  die  Zahl  der  Abhandlungen  stetig  wächst,  die  sich 
mit  Problemen  der  Hegeischen  Rechts-  und  Geschichts- 
philosophie beschäftigen,  so  dürfen  wir  daraus  einerseits 
entnehmen,  daß  dem  heutigen  Geschlechte  Hegel  von  der 
Seite  am  anziehendsten  und  am  leichtesten  zugänglich  ist, 
wo  er  am  deutlichsten  in  die  Fülle  des  Konkreten  und  in 
die  Welt  der  Praxis  sich  ausgebreitet  hat,  und  dürfen 
andererseits  hoffen,  daß  von  hier  aus  mit  der  Belebung 
des  philosophischen  Geistes  überhaupt  auch  das  Verständnis 
für  den  ganzen  Hegel  wieder  wachsen  und  sich  vertiefen 
wird. 

Es  läßt  sich  nämlich  nicht  verkennen,  daß  zunächst  die 
Art,  wie  Hegel  aus  der  Vergessenheit,  der  sein  Name 
während  der  lezten  Jahrzehnte  anheimgefallen  war,  wieder 
hervorgezogen  wird,  unter  einer  gewissen  Einseitigkeit 
leidet.  Man  hat  es  sich  so  oft  verkündigen  lassen,  Hegel 
sei  ein  allen  Wirklichkeitssinnes  barer  dialektischer  Jon- 
gleur, der  aus  abstrakten  Begriffen  heraus  sich  anmaße, 
die  ganze  Welt  zu  konstruieren,  daß  man  jetzt,  wo  man 
dem  wirklichen  Hegel  auf  die  Spur  zu  kommen  anfängt, 
in  das  entgegengesetzte  Extrem  verfällt,  ihn  rein  als  den 
großen  Realisten  und  Empiriker*)  zu  preisen  und  seine 
Methode,  die  Seele  seiner  Philosophie,  a!s  das  Belanglose 
und  geschichtlich  Überwundene  möglichst  außer  acht  zu 
lassen.  Aber  damit  wird  man  dem  großen  Denker  wieder 
nicht  gerecht.  Hegel  steht  tatsächlich  über  dem  Unter- 
schiede von  Apriorismus  und  Aposteriorismus;  er  hat  nicht 
bloß  in  der  logischen  Theorie,  sondern  auch  in  ihrer  wissen- 
schaftlichen Anwendung  auf  die  besonderen  Gegenstände  der 
Erfahrung  die  Einheit  dieser  Gegensätze  nachgewiesen.  Da 
er  die  Vernunft  nicht  einseitig  in  der  Intelligenz  des  Sub- 
jektes sucht,  sondern  die  Wirklichkeit  als  vernünftig  er- 
kennt, kann  er  gar  nicht  anders  als  unablässig  von  der 
Wirklichkeit  lernen.  Da  er  dieselbe  Vernunft,  die  in  der 
Wirklichkeit  sich  manifestiert,  in  dem  denkenden  Selbst- 
bewußtsein tätig  sieht,  ist  er  verpflichtet,  diesem  den 
ganzen  Inhalt  der  Erfahrung  zu  eigen  zu  machen,  ihm 
„die  wesentlichste  Gestalt  der  Freiheit  (des  Apriorischen) 
des  Denkens  und  die  Bewährung  der  Notwendigkeit"  zu 
geben,  so  daß,  indem  das  Denken  diesen  Inhalt  aufnimmt, 


**)  Plenge,  Dr.  Johannes,' Marx  u.  Hegel,  Tübingen  1911, 
nennt  Hegel  einen  „Empiriker  von  überwältigender  Größe".  (S.36). 


X  Einleitung  des  Heraasgebers. 

es  zugleich  sich  aus  sich  selbst  entwickelt*).  Die  Wahrheit 
oder  der  Geist  ist  ihm  genau  so  gegenwärtig  in  der  kon- 
kreten Einzelheit  des  Ich  wie  in  der  konkreten  Universalität 
der  gesamten  Wirklichkeit;  und  der  Begriff  ist  es,  der  für 
das  Erkennen  ihre  Einheit  ausspricht.  Die  Welt  als  be- 
griffene Welt  ist  selbst  der  Begriff,  das  Ich  als  das  Be- 
greifen seiner  selbst  ist  derselbe  Begriff;  in  dieser  geistigen 
Totalität  hängt  das  ideelle  und  das  reelle  Moment  unlöslich 
zusammen.  Nun  mag  man  diese  Gesamtanschauung  Hegels 
schließlich  akzeptieren  oder  verwerfen,  gleichviel.  Jeden- 
falls kann  man  nicht  hoffen,  ihn  auch  nur  in  einem  einzelnen 
Punkte  richtig  zu  verstehen,  wenn  man  diesen  Punkt  nicht 
auf  dem  Hintergrunde  jener  Gesamtanschauung  betrachtet. 
Deshalb  geht  es  nicht  an,  die  systematische  Seite  seiner 
Arbeit  einfach  zu  übersehen  und  sich  an  seine  Urteile  über 
das  Konkrete  zu  halten;  man  wird  den  Sinn  dieser  Urteile 
so  nicht  erfassen  und  Hegel  Anschauungen  zuzuschreiben 
Gefahr  laufen,  die  seiner  Denkweise  fremd  sind. 

Dazu  kommt  ein  weiteres.  Wenn  Hegel,  soweit  man 
ihn  als  Methodiker  betrachtet,  als  der  Vollender  einer 
philosophischen  Arbeit  gelten  kann,  an  der  seit  Kant  eine 
ganze  Reihe  der  scharfsinnigsten  Geister  tätig  gewesen 
sind,  so  hat  er  als  ,, Empiriker"  in  dem  Ernst,  mit  dem 
er  sich  um  das  Begreifen  der  gegenständlichen  Welt,  vor 
allem  des  geschichtlich-sittlichen  Lebens  der  Menschheit 
bemüht,  eigentlich  keinen  Vorgänger  gehabt.  Die  Ansätze 
dazu  waren  ja  in  der  Kantischen  und  nachkantischen  Phi- 
losophie reichlich  vorhanden;  aber  über  allgemeine  An- 
schauungen hinaus  in  die  konkrete  Gliederung  der  ,, vor- 
handenen Wirklichkeit"  einzudringen,  waren  ihre  Wortfiihrer 
noch  immer  durch  ,,die  Fessel  irgend  eines  Abstraktums" 
(S.  15),  durch  die  aus  der  Aufklärungszeit  nachwirkende 
Vorstellung  gehindert,  als  habe  vielmehr  die  Intelligenz, 
der  selbstbewußte  Geist  die  Regel  aufzustellen  und  den 
Maßstab  anzugeben,  wonach  sich  die  Wirklichkeit  zu  richten 
habe.  Indem  Hegel  von  dieser  Fessel  sich  gänzlich  befreit 
und  der  Wirklichkeit  ihre  inwohnende  Vernünftigkeit  und 
den  freien  Gang  ihrer  Entwickelung  abzulauschen  sich  be- 
müht, steht  er  vor  der  Aufgabe,  Neuland  zu  pflügen.  Er 
ist  Anfänger  und  als  solcher  nicht  nur  abhängig  von  dem 
Stande  der  empirischen  Wissenschaften  seiner  Zeit,  sondern 


*}  Hegel,  Encyclopädie,  3.  Aufl.,  §  12.     (Phil.  Bibl.,  Bd.  33, 
S.  45  f.) 


Einleitung  des  Herausgebers.  XI 

obenein  dem  Gesetze  aller  irdischen  Tätigkeit  unterworfen, 
daß  der  Anfang  noch  nicht  die  Vollendung  ist.  Selbst 
wenn  man  die  methodische  Grundidee  seiner  Philosophie 
für  schlagend  richtig  hält,  so  hat  man  damit  keineswegs 
gesagt,  daß  er  nicht  in  den  Einzelausführungen,  die 
sich  mit  dem  mannigfaltigen  Stoffe  natürlicher  und 
geistiger  Tatsachen  befassen  und  sie  in  die  Freiheit  des 
Gedankens  aufnehmen  wollen,  mancherlei  Wichtiges  über- 
sehen, wesentliche  Beziehungen  verkannt,  unwesentliche 
hervorgehoben,  kurz,  sich  vielfach  geirrt  und  den  ent- 
scheidenden Gesichtspunkt  verfehlt  habe.  Hält  man 
nun  bei  der  Prüfung  von  Hegels  Leistungen  sich  aus- 
schließlich an  seinen  Aufbau  dieser  partikularen  Tat- 
sachen, so  ist  man  versucht,  das  Schiefe  oder  Mangelhafte, 
was  man  darin  findet,  kurzerhand  seinem  System  und  seiner 
Methode  zur  Last  zu  legen.  In  Wahrheit  aber  muß  man 
doch  sagen,  so  irrtümlich  manche  seiner  Einzelauffassungen 
sein  mögen,  so  wenig  entscheiden  sie,  die  als  erste 
bahnbrechende  Versuche  zu  gelten  haben,  über  den  Wert 
oder  Unwert  seines  Systems.  Im  Gegenteil,  daß  Hegel  über- 
haupt an  diese  Arbeit  der  geistigen  Durchdringung  des 
Konkreten  mit  solcher  zielsicheren  und  selbstgewissen  Ent- 
schiedenheit herantreten  und  auf  diesem  Boden  so'  Großes 
erreichen  konnte,  spricht  doch  außerordentlich  zugunsten 
der  philosophischen  Gesamtanschauung,  von  der  aus  er 
diese  Arbeit  unternommen  hat. 

So  haben  wir  Anlaß  genug,  uns,  wenn  wir  für  seine 
Rechtsphilosophie  das  rechte  Verständnis  gewinnen  wollen, 
zuerst  danach  umzusehen,  welche  Stellung  sie  eigentlich 
innerhalb  seines  gesamten  philosophischen  Systems  ein- 
nimmt. 


1.  Kapitt'l.    Die  Stellung  der  Rechtspkilosopbie 
in  Hegels  System. 

I.  Die  drei  Teile  der  Philosophie  des  Geistes. 

In  seiner  Encyclopädie  hat  Hegel  das  gesamte  Gebiet 
des  Wissens  in  die  drei  großen  Sphären  der  allgemeinen 
Vernunftbestimmungen,  des  natürlichen  Daseins  und  des 
selbstbewußten  Geistes  gegliedert,  wonach  dann  der  Um- 
kreis der  philosophischen  Wissenschaften  durch  die  Logik, 
die  Naturphilosophie  und  die  Philosophie  des  Geistes  aus- 
gefüllt wird.    Jene  drei  Sphären  stehen  selbstverständlich 


XII  Einleitung  des  Herauegebers. 

nicht  isoliert  für  sich  da;  schon  weil  das  Wissen,  das  sie 
alle  drei  umfaßt,  seinerseits  der  dritten  dieser  Sphären 
angehört,  ergibt  sich,  daß  sie  nicht  außereinander,  sondern 
ineinander  liegen.  Die  Form  der  Darstellung,  die  Hegel 
in  der  Encyclopädie  gewählt  hat  und  die  das  Übergehen 
der  in  der  Logik  sich  entfaltenden  Idee  durch  die  Natur 
zum  Geiste  aufzeigt,  hält  sich  an  die  erste  Bestimmung 
des  Wissens,  wonach  es  das  reine  Denken  ist,  dessen 
Allgemeinheit  sich  in  dem  konkreten  Inhalte  der  Wirk- 
lichkeit bewährt.  Der  Gang  dieser  Entwickelung  ist  der 
Gang  der  logischen  Notwendigkeit,  und  das  Verhältnis 
des  konkreten  Inhalts  zu  dem  Logischen  ist  das  der  Er- 
scheinung zum  Wesen.  Aus  diesem  Verhältnis  geht  als 
der  Begriff  und  das  Prinzip  seiner  beiden  Seiten  das 
Geistige,  die  Identität  der  Allgemeinheit  und  der  Einzelheit 
in  dem  Selbstbewußtsein  oder  in  der  freien  geistigen  Per- 
sönlichkeit hervor,  —  das  Resultat  dieses  Schlusses,  das 
zu  der  Unmittelbarkeit  des  Anfanges,  dem  reinen  Denken, 
zurückkehrt.  *) 

Diese  Art  aber  des  Zusammenschauens  jener  drei 
Sphären  ist  nicht  die  einzig  mögliche.  In  den  merkwürdigen 
letzten  Paragraphen  seiner  Encyclopädie  stellt  Hegel  den 
Zusammenhang  der  Wahrheit  als  einen  Schluß  aus  drei 
Schlüssen  dar.  Der  Gang  des  erkennenden  Denkens,  wie 
ihn  die  Encyclopädie  selbst  nimmt,  entspricht  dem  ersten 
dieser  Schlüsse  und  zeichnet  gleichsam  das  Ansich  der  philo- 
sophischen Erkenntnis.  Der  zweite  Schluß,  den  er  den 
,, Schluß  der  geistigen  Reflexion  in  der  Idee"  nennt,  nimmt 
zum  Ausgangspunkte  die  Natur,  in  der  dem  Denken  das 
Geistige  bereits  gesetzt  erscheint,  so  daß  dann  durch  die 
Vermittlung  des  subjektiv  erkennenden  Geistes  die  all- 
gemeine Vernunft,  das  Logische  als  der  Begriff  des  Geistes 
und  als  das  Dasein  der  Freiheit,  in  dem  Wissen  als  Resultat 
hervorgeht.  Diesen  Schluß  gibt  der  Gang  der  Darstellung 
in  Hegels  Phänomenologie  wieder,  die  aus  dem  natür- 
lichen Verhältnis  des  Bewußtseins  zu  seinem  Gegen- 
stande den  vernünftigen  Zusammenhang  der  gesamten  Wirk- 
lichkeit entwickelt  und  in  dem  Wissen  des  absoluten 
Geistes  endet**). 

Den  dritten  Schluß  nennt  Hegel  „die  Idee  der  Philo- 


*)  Encyclopädie,  3.  Aufl.  §§  574—575.    (Phil.  Bibl.   Bd.  33, 
S.  498). 

♦*)  Ebda.  §  576  (S.  498  f.). 


Einleitunnf  des  Herausgebers.  XIII 

Sophie  selbst".  Für  sie  ist  der  Geist  ,,als  der  Prozeß  der 
subjektiven  Tätigkeit  der  Idee"  die  Voraussetzung,  die  Natur 
„das  allgemeine  Extrem  als  der  Prozeß  der  ansichseienden 
objektiven  Idee".  Die  Mitte,  in  der  sich  beide  Extreme 
einigen  und  entzweien,  ist  ,,die  sich  wissende  Vernunft",  die 
sich  in  beiden  Erscheinungen  der  Idee  manifestiert.  Da 
nun  zugleich  die  Natur  der  Sache  oder  der  Begriff,  der 
sieh  fortbewegt  und  entwickelt,  und  zugleich  die  Tätigkeit 
des  Erkennens,  die  dieselbe  Bewegung  des  Begriffes  ist, 
in  jener  allgemeinen  Vernunft  vereinigt  erscheinen,  so 
ergibt  dieses  vollkommene  Ineinander  ,,die  ewige  an  und 
für  sich  seiende  Idee"  oder  ,,den  absoluten  Geist",  der  „sich 
ewig  als  solcher  betätigt,  erzeugt  und  genießt"*).  Eine  Dar- 
stellung des  Ganzen  der  Erkenntnis  in  der  Form  dieses 
Schlusses  hat  Hegel  nicht  geliefert;  die  Ansätze  dazu  liegen 
aber  in  seiner  Religionsphilosophie  und  teilweise  in  der 
Ästhetik  vor.  Immerhin  darf  man  vermuten,  daß  er  selbst 
eine  solche  Gestalt  des  philosophischen  Gedankens  recht 
eigentlich  als  die  esoterische  Philosophie  betrachtet  habe, 
von  der  er  schon  als  Fünfundzwanzigjähriger  an  Schelling 
geschrieben  hat:  ,, Immer  wird  freilich  so  eine  esoterische 
Philosophie  bleiben,  die  Idee  Gottes  als  des  absoluten  Ich 
wird  darunter  gehören."**) 

Wie  dem  auch  sei,  es  ergibt  sich  aus  diesen  Erörte- 
rungen Hegels  für  die  sogenannten  drei  Teile  seines 
Systems,  daß  man  sie  keineswegs  in  dem  Sinne  als  Teile 
auffassen  darf,  wie  es  sonst  bei  logischen  Dispositionen 
zu  geschehen  pflegt.  Sie  gelten  ihm  als  Momente  des 
Ganzen;  und  für  den  Begriff  des  Momentes  ist  dies  das 
Bezeichnende,  daß  es  selbst  das  Ganze  ist,  nur  unter  Hervor- 
hebung einer,  dem  Ganzen  inhärierenden  Bestimmung.  Hier 
nun  kommt  obenein  hinzu,  daß  eines  der  drei  Momente,  der 
Geist,  gleichzeitig  Moment  und  gleichzeitig  die  absolute 
Totalität  selber  ist.  Er  hat  eine  von  den  beiden  anderen 
Momenten  unterschiedene  Form  und  ist  zugleich  jedes  der 
beiden  anderen  Momente  selbst,  die  ihrerseits  wiederum  Mo- 
mente des  Geistes  sind,  ihn  in  einer  eigentümlichen  Bestimmt- 
heit repräsentieren.  Daß  philosophiegeschichtlich  hier  der 
Fortschritt  Hegels  über  Schelling  hinaus  liegt,  mag  an 
dieser  Stelle  nur  im  Vorübergehen  e^^^ähnt  werden.  Indem 
Hegel  erklärt:  das  Absolute  ist  Subjekt,  bestimmt  er  den 


*)  Ebda.'  §  577  (S.  499). 

*)  Briefe^von  und  an  Hegel,  Leipzig  1887.     1.  Bd.    S.  15. 


XIV  Einleitung  des  Herausgebers. 

Geist  als  das  über  das  Logische  und  über  die  Natur  hinüber- 
greifende Prinzip  und  faßt  die  Wahrheit  als  die  Selbst- 
bestimmung der  die  gesamte  Objektivität  frei  aus  sich 
produzierenden  und  in  sich  aufnehmenden  vernünftigen 
Persönlichkeit.  Gewiß,  der  Geist  ist  bei  Hegel  sowohl  Ver- 
nunft wie  Idee,  Natur  wie  Individuum.  Aber  in  seiner 
entwickelten  Wahrheit  ist  er  als  der  gleichzeitig  begreifende 
und  begriffene  Begriff  die  Persönlichkeit  und  die  Freiheit, 
das  Selbst  und  der  Wille,  mit  einem  Worte  das  Ich,  das 
zugleich  die  Einzelheit  und  die  Totalität  ist. 

Von  diesen  Voraussetzungen  aus  will  die  Einteilung 
der  Hegeischen  Encyclopädie  und  insbesondere  ihr  dritter 
Teil,  die  „Philosophie  des  Geistes"  verstanden  sein.  In 
diesem  ist  von  dem  Geiste  in  seiner  Geistesform  die  Rede; 
und  es  soll  nachgewiesen  werden,  daß  der  Geist  in  dieser 
Form  das  Resultat  und  das  Prinzip  aller  Wirklichkeit  und 
ihrer  Erkenntnis  ist.  Im  Grunde  also  handelt  dieser  ganze 
Teil  schon  von  dem  absoluten  Geiste,  und  die  Unterschiede, 
die  er  an  diesem  hervorhebt,  fallen  innerhalb  der  Mani- 
festation des  absoluten  Geistes  als  solchen.  Durch  seine  Ein- 
teilung werden  somit  wiederum  nicht  etwa  drei  einander  ko- 
ordinierte selbständige  Gebiete  voneinander  getrennt,  son- 
dern es  werden  Bestimmungen  herausgehoben,  die  sich  an 
dem  Ganzen  und  durch  es  gleichmäßig  hindurchgehend  vor- 
finden. Dafür  spricht  schon  die  Bezeichnung  der  beiden 
ersten  Abschnitte,  die  vom  subjektiven  und  vom  objektiven 
Geiste  handeln  sollen. 

Hegel  hat  selbst  in  dem  Zusätze  zu  §  26  der  Rechts- 
philosophie (S.  293)  hervorgehoben,  daß  sich  das  Subjektive 
und  das  Objektive  nicht  fest  gegenüberstehen,  sondern 
vielmehr  ineinander  übergehen.  Ein  Subjekt  ist  nur,  indem 
es  ein  Objekt  hat,  ein  Objekt  ist  immer  das  Objekt  eines 
Subjekts.  Man  kann  je  nach  dem  Gesichtspunkte,  von 
dem  man  ausgeht,  das,  was  man  einmal  subjektiv  nennt, 
das  andere  Mal  objektiv  nennen  und  umgekehrt.  Oder 
anders  ausgedrückt  und  zwar  in  einer  Weise,  die  zunächst 
schwerfällig  klingen  mag,  aber  den  geduldigen  Leser  am 
schnellsten  in  die  Denkgewohnheiten  der  Zeit  Hegels  hinein- 
führen kann:  die  Wirklichkeit  ist  Subjekt-Objektivität,  das 
eine  Mal  mit  dem  Akzent  auf  dem  subjektiven  Momente, 
subjektive  Subjekt-Objektivität,  das  andere  Mal  mit  dem 
Akzent  auf  dem  objektiven  Momente,  objektive  Subjekt- 
Objektivität.  In  dem  absoluten  Geiste,  in  der  Freiheit 
des  Ich  sind  Subjektivität  und  Objektivität  identische  Mo- 


Einleitung  des  Herausgebers.  XV 

mente,  die  sich  zwar  nicht,  wie  Schelling  meinte,  zur  In- 
differenz neutralisieren,  dagegen  aber  in  ihrer  Reziprozität 
das  einheitliche  Leben  des  Geistes  ausmachen.  So  sind  die 
Bezeichnungen  subjektiver  und  objektiver  Geist  nicht  ein- 
ander ausschließende  Kategorien,  sondern  sie  beide  sind 
Bezeichnungen  derselben  Totalität  nach  einem  ihrer  Mo- 
mente. Das  tritt  auch  in  der  Hegeischen  Darstellung  sehr 
deutlich  hervor,  wenn  am  Anfange  der  Betrachtung  des 
subjektiven  Geistes  gerade  die  Naturbestimmtheit  des  Sub- 
jekts, seine  Gebundenheit  an  die  objektiven  Einflüsse  der 
physischen  Elemente  behandelt  und  wenn  bei  der  Ent- 
wickelung  der  Moralität  in  der  Mitte  und  am  Wendepunkte 
des  Abschnittes  über  den  objektiven  Geist  gerade  die 
schärfste  Zuspitzung  der  sich  auf  sich  selber  stellenden 
Subjektivität  dargestellt  wird. 

Die  Frage  mag  hier  noch  offen  bleiben,  ob  Hegel  etwa 
besser  getan  hätte,  den  drei  Teilen  seiner  Geistesphilosophie 
Überschriften  zu  geben,  die  irrige  Auffassungen  mit  größerer 
Sicherheit  hätten  ausschließen  können.  Jedenfalls  ist,  was 
Hegel  von  Anfang  an  vor  der  Seele  steht,  sobald  er  über 
den  Geist  als  geistige  Wirklichkeit  zu  reden  beginnt,  schon 
die  Subjekt-Objektivität,  ganz  allgemein  gefaßt,  das  Dasein 
des  Geistes  in  der  Form  des  Bewußtseins.  Die  Aufgabe, 
die  ihm  in  der  Encyclopädie  überhaupt  gestellt  ist,  besteht 
darin,  die  allgemeinen  Vernunftbestimmungen  in  allem 
Dasein  nachzuweisen.  Deshalb  betrachtet  er  nun  auch  den 
Geist  zunächst  in  der  Form  seines  einfachen  Seins,  die  Er- 
scheinung des  bewußten  Individuums,  gleichsam  die  er- 
scheinende Natur  des  Geistes.  Weil  seine  Natur  in  der 
Innerlichkeit,  der  ,, Reflexion  in  sich"  besteht,  also  als 
subjektives  Bewußtsein  erscheint,  so  gibt  er  diesem  Ab- 
schnitt die  Überschrift  ,,der  subjektive  Geist".  Das  andere 
Moment,  das  in  der  Erscheinung  des  Geistes  hervortritt, 
ist  nun  selbstverständlich  das  Wesen  des  Geistes,  Vernunft 
und  Allgemeingültigkeit  zu  sein  und  dadurch  über  das 
Insichsein  hinauszugehen.  Das  Ziel  dieses  Hinausgehens 
ist  dann  das  freie  Sichselbstbestimmen.  Dies  Wesen  des 
Geistes  sieht  Hegel  an  der  Wirklichkeit  hervortreten  als 
allgemeinen  Willen,  der  die  Individuen  beherrscht,  verbindet 
und  sie  ihre  Freiheit  in  vernünftigen  Ordnungen  ihres  Zu- 
sammenlebens objektiv  vollführen  läßt.  Er  nennt  den  Geist, 
wie  er  sich  in  der  geschichtlichen  Organisation  der  Freiheit 
eine  eigene  Gestalt  gibt,  den  „objektiven  Geist"  und  widmet 
ihm  den  zweiten  Abschnitt  seiner  Philosophie  des  Geistes. 


XVI  Einleitung  des  Herausgebers. 

Den  Abschluß  aber  sieht  er  nun  dadurch  vollzogen,  daß 
sich  auf  jeder  Stufe  dieser  Organisation  die  Subjektivität 
vollkommen  mit  dem  Bewußtsein  ihrer  vernünftigen  Freiheit 
durchdringt  und  daß  in  der  Einzelheit  des  Ich  die  Totalität 
des  Geistes  sich  selber  begreift.  In  diesem  Begriff  des 
Geistes,  der  als  das  persönliche  Leben  der  Totalität  sich 
in  absoluter  Freiheit  entfaltet,  hat  Hegel  den  Grund  er- 
reicht, aus  dem  alles  Dasein  hervorgeht,  und  den  Zweck, 
dem  alles  Dasein  dient.  Der  absolute  Geist,  das  Ich,  das 
in  sich  alle  Wirklichkeit  hervorbringt  und  in  ihr  sich 
selbst  begreift,  bildet  den  Abschluß  des  Hegeischen  Systems 
und  das  Fundament  seiner  Gedankenwelt.  Der  objektive 
Geist,  von  dem  die  Rechtsphilosophie  handelt,  soll,  mit 
ihm  verglichen,  ein  zwar  unbedingt  wesentliches  Moment, 
aber  noch  nicht  den  Abschluß  oder  die  vollkommene  Mani- 
festation des  Geistes  bedeuten.  Doch  vollzieht  diese  sich 
vermittelst  der  geistigen  Objektivität  und  ihrer  geschicht- 
lichen Entfaltung  als  der  durch  sie  hindurchwaltende  zeit- 
lose Prozeß  der  freien  Versöhnung  des  Einzelnen  und  des 
Allgemeinen,  des  Endlichen  und  des  Unendlichen,  des  Indi- 
viduums und  des  absoluten  Begriffs. 

II.  Der  objektive  Geist. 

Hegel  ist  zu  dem  Begriffe  des  „objektiven  Geistes" 
nicht  unvermittelt  gelangt.  In  seiner  Phänomenologie 
behandelt  der  ganze  Abschnitt,  den  er  speziell  „der  Geist" 
überschreibt,  die  Sphäre  geistigen  Lebens,  die  er  später 
unter  der  Bezeichnung  „der  objektive  Geist"  betrachtet. 
Natürlich  ist  der  Gang  der  Gedankenentwickelung  in  der 
Phänomenologie  vollkommen  anders  als  in  der  encyclo- 
pädischen  Darstellung  des  Systems.  Dort  betrachtet  Hegel 
die  Wirklichkeit  unter  dem  Gesichtspunkte  der  einander 
entsprechenden  Entfaltung  des  Bewußtseins  und  seiner 
Welt,  So  tritt  in  der  Phänomenologie  gerade  in  dem  Ab- 
schnitt über  den  Geist  ein  Gedankenfortschritt  auf,  der 
durch  die  geschichtliche  Entwickelung  des  sittlichen 
Bewußtseins  und  seiner  Ausgestaltung  in  Staat  und  Gesell- 
schaft bestimmt  erscheint.  Wo  aber  es  darauf  ankam, 
ein  System  der  Wissenschaften  zu  geben,  also  die  bereits 
wissenschaftlich  geordneten  und  begriffenen  Sphären  der 
Wirklichkeit  in  ihrem  Zusammenhange  auf  Grund  der  lo- 
gischen Notwendigkeit  und  als  Erscheinungen  der  allge- 
meinen Vernunft  darzustellen,  war  selbstverständlich  ein 


Einleitung  des  Herausgebers.  XVII 

vollkommen  anderer  Aufriß  der  Objektivität  erforderlich. 
In  der  Encyclopädie  der  philosophischen  Wissenschaften 
kann  nicht  das  mit  dem  Reifen  des  sittlichen  Bewußtseins 
parallel  gehende  Sichausgestalten  der  sittlichen  Welt  ge- 
schildert werden,  sondern  diese  sittliche  Welt  tritt  nach 
ihren  reinen  Vernunftbestimmungen  als  ein  wohlgegliedertes 
Ganzes  vor  das  vernünftige  Denken,  und  das  geschichtliche 
Werden  dieser  Gestalt  erscheint  ihrer  geistigen  Substanz 
gegenüber  als  das  Accidentielle,  Damit  übrigens  soll  nicht 
bestritten  werden,  daß  nicht  in  diesem  oder  jenem  Punkte 
der  dialektische  Fortschritt  in  der  Phänomenologie  dem 
reinen  Begriffe  der  Sache  genauer  entsprechen  könne  als 
der  Aufbau  der  einzelnen  Partien  in  dem  Systeme  des  ob- 
jektiven Geistes. 

In  den  Entwürfen  der  Propädeutik*),  die  Hegel  in 
den  ersten  Jahren  seines  Nürnberger  Aufenthaltes  verfaßt 
hat,  finden  sich  die  Grundzüge  seiner  Lehre  vom  objektiven 
Geiste,  wie  er  sie  später  innerhalb  der  Encyclopädie  und 
als  besonderes  Werk  in  der  Rechtsphilosophie  ausgeführt 
hat,  bereits  niedergelegt.  Er  hat  aber  dort  den  Ausdruck 
„objektiver  Geist"  noch  nicht  angewendet.  Die  „Wissen- 
schaft des  Geistes",  wie  er  bereits  den  dritten  Teil  seines 
Systems  nennt,  gliedert  sich  ihm  in  die  drei  Abschnitte 
,,der  Geist  in  seinem  Begriff",  ,,der  praktische  Geist", 
„der  Geist  in  seiner  reinen  Darstellung".  Danach  behandelt 
der  erste  Abschnitt  den  Geist  rein  als  Intelligenz  und 
schließt  mit  dem  ,, denkenden  Geiste"  ab.  Die  Propädeutik 
also  kennt  noch  nicht  den  ,, objektiven"  Geist  im  Unter- 
schiede von  dem  ,, praktischen",  sondern  behandelt  die  ganze 
Lehre  vom  sittlichen  Leben  unter  dem  Titel  der  „praktische" 
aeist. 

Gewiß  ist  die  genauere  systematische  Durchbildung 
iieser  grundlegenden  Begriffe,  an  der  Hegei  bis  zuletzt 
sich  nicht  genug  hat  tun  können,  ihm  für  die  klare 
Jliederung  seines  Systems  und  die  scharfe  Erfassung  der 
iiestimratheiten,  deren  Zusammenhängen  er  nachzudenken 
iich  abgemüht  hat,  von  wesentlichster  Bedeutung  gewesen. 
Vber  die  noch  unentwickeltere  Form  der  Darstellung, 
lie  noch  nicht  alle  begrifflichen  Unterschiede  bis  zur 
etzten  Feinheit  herausgearbeitet  hat,  kann  unter  Um- 
itänden  uns  dazu  nützlich  sein,  den  Ort  deutlicher  zu  er- 
:ennen,   in  dem  diese  verschiedenen  Bestimmungen  ihren 

1  *)  Hegels  sämtliche  Werke,  18    Bd.,  Berlin  1840. 

Hegel,  Bechtsphilosophie.  B 


XVIII  Einleitung-  des  Herausgebers. 

Ursprung  nehmen.  Darum  wird  gerade  das,  was  Hegel 
in  der  Propädeutik  über  den  praktischen  Geist  sagt,  uns 
zur  Einsicht  in  die  Gedankengänge  verhelfen  können,  durch 
die  er  auf  seine  Lehre  vom  objektiven  Geiste  gekommen  ist. 
Den  Ausgangspunkt  für  diese  Lehre  bildet  das 
Dasein  der  Intelligenz  als  Individuums.  Die  Intelligenz 
trägt  in  sich  die  Allgemeingültigkeit  und  die  Freiheit; 
das  Individuum  also  ist  zugleich,  und  besonders  in 
Rücksicht  auf  seinen  Willen,  als  ein  Allgemeines  an- 
zuerkennen. Darum  heii3t  es  in  der  Propädeutik  (S.  6): 
„Der  Einzelne  ist  nach  seinem  reinen  Willen  ein  allge-  | 
meines  Wesen."  Diese  Allgemeinheit  führt  dazu,  daß  sicli 
in  den  Vielen  eine  Gemeinsamkeit  des  Urteilens  und  Han- 
delns manifestiert;  und  diese  Gemeinsamkeit  kommt  nicht 
zufällig  durch  Übereinstimmung  der  Einzelnen  zustande, 
sondern  sie  ist  das  herrschende  Prinzip,  die  Substanz  für 
die  Gestaltung  der  Einzelwillen.  ,,Wenn  der  Wille  nicht 
ein  allgemeiner  wäre,  so  würden  keine  eigentlichen  Ge- 
setze stattfinden,  nichts,  was  Alle  wahrhaft  verpflichten 
könnte  .  .  .  Die  Besonderheit  oder  Einzelheit  des  Menschen 
steht  der  Allgemeinheit  des  Willens  nicht  im  Wege,  sondern 
ist  ihr  untergeordnet.  Eine  Handlung,  die  rechtlich  oder 
moralisch  oder  sonst  vortrefflich  ist,  wird  zwar  von  einem 
Einzelnen  getan,  alle  aber  stimmen  ihr  bei:  sie  erkennen  also 
sich  selbst  oder  ihren  eigenen  Willen  darin."  (ebda.  S.  24.) 
Damit  ist  der  Boden  gegeben,  auf  dem  sich  die  Rechts- 
ordnung erheben  kann.  ,,Das  Recht  besteht  darin,  daß 
jeder  Einzelne  von  dem  Anderen  als  ein  freies  Wesen 
respektiert  und  behandelt  werde;  denn  nur  insofern  hat  derjj. 
freie  Wille  sich  selbst  im  Anderen  zum  Gegenstand  und  In- 
halt." (ebda,  S.  33.)  ,, Insofern  jeder  als  ein  freies  Wesen  an- 
erkannt wird,  ist  er  eine  Person."  (ebda.  S.  34.)  Danach  läßt 
sich  dann  der  praktische  Geist  als  die  das  Leben  der  Wirk- 
lichkeit gestaltende  geistige  Macht  folgendermaßen  be- 
stimmen: ,,der  praktische  Geist  hat  nicht  nur  Ideen,  sondern 
ist  die  lebendige  Idee  selbst.  Er  ist  der  sich  aus  sich  selbst 
bestimmende  und  seinen  Bestimmungen  äußerliche  Realität  |ij^ 
gebende  Geist  ,  .  .  Der  praktische  Geist  heißt  vornehmlich 
freier  Wille,  insofern  das  Ich  von  aller  Bestimmtheit,  in 
der  es  ist,  abstrahieren  kann  und  in  aller  Bestimmtheit 
unbestimmt  und  in  der  Gleichheit  mit  sich  selbst  bleibt."  Jj, 
(ebda.  S.  193.)  Der  Boden  der  freien  Subjektivität  wird  also  ijt 
dadurch  nicht  verlassen,  daß  sie  einer  die  Äußerlichkeit  iij'. 
gestaltenden    objektiven    Macht    untergeordnet    erscheint,  i 


Einleitung  des  Herausgebers.  XIX 

Denn  diese  Macht  ist  der  Geist  des  Individuums  selbst, 
der  es  befähigt,  sich  als  Subjekt  zu  fassen  und  aller  äußer- 
lichen Bestimmtheit  gegenüber  frei  zu  sein.  Das  Bewußtsein 
dieser  Freiheit  erscheint  zwar  in  dem  Einzelnen  nicht  ohne 
weiteres  zum  Begriff  der  freien  Persönlichkeit  entwickelt; 
wohl  aber  ist  es  in  dem  bloßen  Ichbewußtsein  schon  ent- 
halten. Und  so  besitzen  es  die  Einzelnen  in  ihrer  Teilnahme 
an  der  gemeinsamen,  von  ihnen  mitgewollten  Ordnung. 
,,Der  Geist  als  freies,  selbstbewußtes  Wesen  ist  das  sich 
selbst  gleiche  Ich,  das  in  seiner  absolut  negativen  Be- 
ziehung zuerst  ausschließendes  Ich,  einzelnes  freies  Wesen 
oder  Person  ist.  Das  Recht  ist  das  Verhältnis  der  Menschen, 
insofern  sie  abstrakte  Personen  sind."   (ebda.  S.  195.) 

Diese  ganz  einfachen  Kategorien  zeichnen  den 
Rahmen,  den  Hegel  in  seiner  Encyclopädie  und  in  der 
Einleitung  zur  Rechtsphilosophie  mit  einer  Menge  genauerer 
und  in  kunstvollster  Gliederung  miteinander  verbundener 
Bestimmungen  ausgefüllt  hat.  Schon  in  der  ersten  Auflage 
der  Encyclopädie,  die  vier  Jahre  früher  als  die  Rechts- 
philosophie erschien,  ist  die  Gliederung  der  Philosophie 
des  Geistes  in  der  Weise  geändert,  daß  der  erste  Teil,  ,,der 
subjektive  Geist'',  in  seinem  letzten  Kapitel  auch  den  „prak- 
tischen Geist"  in  sich  faßt  und  der  zweite  Teil,  den  Hegel 
vorher  mit  dem  Titel  ,,der  praktische  Geist"  bezeichnet 
hatte,  jetzt  der  ,, objektive  Geist"  überschrieben  ist,  während 
der  dritte  Teil,  der  bisher  „der  Geist  in  seiner  reinen  Dar- 
stellung'  geheißen  hatte,  nunmehr  als  „der  absolute  Geist" 
tituliert  wird.  Seltsam  genug  bleibt  freilich,  daß  nun  der 
dritte  Abschnitt  des  Kapitels  über  den  subjektiven  Geist 

■  einfach  die  Bezeichnung  „der  Geist"  trägt,  unter  welcher 

■  zuerst    der    theoretische    und    dann    der    praktische   Geist 
ibgehandelt  wird.  Daß  Hegel  auf  die  Dauer  auch  mit  dieser 

•  jliederung   sich   noch   nicht   zufrieden   geben   konnte,    ist 

•  Degreiflich.    Doch  hat  er  auch  in  der  dritten  Ausgabe  der 

•  Encyclopädie,  wo  er  das  endgültige  Schema  für  diesen  Teil 
;''  seines    Systems    gefunden    hat,    inhaltlich    an    den    Aus- 

■  ührungen  der  ersten  Ausgabe  im  wesentlichen  festgehalten. 
liese  Ausführungen  schließen  sich  eng  an  das  an,  was 
vir  aus  der  Propädeutik  schon  kennen. 

Der  praktische  Geist  ist,  insofern  er  abstrakt  für  sich 

ii,  der  Geist  als  Intelligenz.    Er  bestimmt  sich  selbst  und 

U   freier   Wille,   ,, erfülltes   Fürsichsein"   oder   Einzelheit. 

-■  lIs  solche  unmittelbar  sich  vorfindend  ist  er  praktisches 

3>'refühl,    das   seine   an   sich   vernünftigen   Bestimmungen 

B* 


XX  Einleitung  des  Herausgebers. 

in  der  Form  der  bloßen  Eigenheit  oder  Subjektivität  hat. 
Indem  es  sich  zu  den  Bestimmtheiten,  die  es  zur  Äußerung 
als  Lust  oder  Unlust  bewegen,  urteilend  verhält  und  einer 
oder  der  anderen  einzelnen  Bestimmtheit  sich  zuwendet,  so 
ist  der  Wille  Trieb,  Neigung  und  Leidenschaft.  Auch 
als  solcher  ist  er  an  sich  vernünftig,  denn  er  geht  aus  der 
vernünftigen  Natur  des  Geistes  hervor.  Zugleich  aber  ist 
er  noch  natürlicher  Wille,  und  darum  bildet  die  Mannig- 
faltigkeit seiner  Triebe,  Neigungen  und  Leidenschaften 
keinen  vernünftigen  Zusammenhang,  wie  er  ihn  hernach 
im  Organismus  des  allgemeinen  sittlichen  Willens  erreicht; 
sondern  sie  erscheinen  als  zufällig  und  nur  äußerlich  not- 
wendig. Nun  aber  bildet  in  dieser  Mannigfaltigkeit  der 
praktische  Geist,  der  sein  Interesse  dahineinlegt,  die  ver- 
bindende Einheit  aller  seiner  Triebe,  Neigungen  und  Leiden- 
schaften; und  indem  diese  Einheit  als  sein  Zweck  sich 
geltend  macht,  erscheint  der  Wille  als  einheitliches  Streben, 
als  das  Streben  nach  Glückseligkeit.  Hier  wird  der 
Wille  für  sich  frei,  oder  er  ist  die  Willkür  als  ein  in  un- 
endlichem Prozeß  sich  immer  erneuerndes  und  sich  selber 
darin  reflektierendes  einheitliches  Begehren.  So  kommt 
der  Geist  zu  dem  Bewußtsein  seiner  selbst  als  des  Objektes 
seines  Wollens,  dem  keine  äußerliche  Bestimmtheit  genug 
tut.  Er  ist  sich  dieser  einzelne  Wille  seiner  selbst  und 
also  der  über  alles  Einzelne  hinübergreifende  allgemeine 
Wille,  diese  absolute  Einzelheit,  die  absolute  Allgemeinheit 
ist.  So  ist  er  wahrhaft  frei.  Er  ist  sich  selbst  Zweck,  und 
also  als  allgemeiner,  objektiver  Wille  objektiver  Geist 
überhaupt.  *) 

Bis  hierher  folgt  der  Text  der  späteren  Ausgaben  der 
Encyclopädie  dem  der  ersten  Ausgabe,   nur  daß  er  aus- 
führlicher ist.    Daß  aber   der  Übergang  von  dem  ersten, 
zum  zweiten  Teile  der  Geistesphilosophie  Hegel  noch  nicht; 
befriedigte,   beweist  die  dritte   Ausgabe,   die  dem  vorher 
aufgestellten  Unterschiede  zwischen  dem  praktischen  und 
dem  objektiven  Geiste  noch  einen  neuen  Unterschied  hin-i 
zufügt,  den  zwischen  dem  freien  und  dem  objektiven  Geiste.! 
Der  erste  Teil,  „der  subjektive  Geist"  hat  jetzt  als  drittes 
Kapitel  die  „Psychologie",   ein  in  dem  Sinne,  wie  Hegel 
das  Wort  versteht,   ganz  passender  Ersatz  für  den  Tite" 
„der  Geist"  in  der  ersten  Ausgabe.   Und  dieses  Kapitel  hat 


*) "Encyclopädie,    1.  Aufl.,    Heidelberg  1817,    !^§  388—3991 
S.  251—258. 


Einleitung  des  Herausgebers.  XXI 

nun  nicht  mehr  bloß  zwei  Abschnitte,  der  „theoretische" 
und  der  „praktische"  Geist,  sondern  es  findet  seinen  Ab- 
schluß in  einem  dritten  Abschnitte,  der  überschrieben  ist 
,,der  freie  Geist".  Was  Hegel  über  den  freien  Geist 
sagt,  ist  in  etwas  klarerer,  wenngleich  immer  noch 
sehr  mühsamer  Ausdrucksweise  dasselbe,  was  er  in  der 
ersten  Ausgabe  in  den  einleitenden  Paragraphen  des  zweiten 
Teiles  über  den  objektiven  Geist  gesagt  hat.  Der  Geist 
ist  wahrhaft  freier  Wille  als  die  Einheit  des  theoretischen 
und  praktischen  Geistes,  Wille  als  freie  Intelligenz.  Er  ist 
die  durch  sich  gesetzte  unmittelbare  Einzelheit,  die  ebenso 
die  allgemeine  Einzelheit,  die  Freiheit  selbst  ist.  Der  freie 
Geist,  der  sein  Wesen  zur  Bestimmung  und  zum  Zwecke 
hat,  ist  auf  diese  Weise  die  Idee  der  an  und  für  sich 
seienden  Vernunft,  aber  darum  nur  der  Begriff,  nicht  schon 
die  Totalität  und  Wirklichkeit  des  absoluten  Geistes.  Denn 
es  besteht  hier  noch  der  Unterschied  zweier  Seiten.  Die 
Seite  des  Daseins  der  Vernunft  ist  der  einzelne  Wille  des 
Subjekts,  dem  der  Begriff  des  absoluten  Geistes  seinen 
Inhalt  und  Zweck,  seine  Bestimmung  gibt.  Als  das  formell 
freie,  inhaltlich  bestimmte  Werkzeug  dieses  Begriffs  ist 
der  einzelne  freie  Wille  die  Tätigkeit,  diesen  Begriff  äußer- 
lich zu  vollführen,  in  der  Wirklichkeit  ihn  zu  entwickeln. 
Als  die  andere  Seite  müßte  von  Hegel  wohl  das  Wesen  der 
Vernunft  oder  die  Substanz  der  Freiheit  gemeint  sein,  d.  i. 
eine  Bestimmung  der  Innerlichkeit,  des  Fürsichseins,  der  Un- 
'  endlichkeit,  die  zu  dem  Dasein  sich  negativ  verhält.  Die 
Identität  der  beiden  Seiten,  soweit  sie  durch  den  freien 
Geist,  durch  die  Tätigkeit  des  endlichen  Willens  hervorge- 
'  bracht  wird,  bleibt  noch  mit  diesem  Gegensatze  des  Äußeren 
^'  und  Inneren  behaftet.  Der  freie,  aber  endliche  Wille, 
:'  in  dem  die  Idee  erscheint  und  der  die  Tätigkeit  ist,  ihren 
"  3ich  entfaltenden  Inhalt  als  Wirklichkeit  zu  setzen,  —  ist 
ler  objektive  Geist.*)  Damit  ist  der  Übergang  zum 
'.weiten  Teil  erreicht. 

Dieser  objektive  Geist  nun,  an  dem  die  wirkliche  Ver- 
lünftigkeit  die  Seite  äußerlichen  Erscheinens,  also  auch 
ler  Differenz  von  Wesen  und  Erscheinung  behält,  sieht 
lieh  als  solcher  einer  äußerlich  vorgefundenen  Objektivität 
gegenüber,  in  der  er  seinen  Begriff,  die  Freiheit,  zu  reali- 


*j  Enzyklopädie,    3.    Aufl.,    §  481  f.,    (Phil.    Bibl,    Bd.   33, 
i.  416ff.). 


XXn  Einleitung  des  Herausgebers. 

sieren  hat,  so  daß  sie  eine  durch  ihn  bestimmte  Welt  und 
er  in  ihr  bei  sich  selbst,  mit  sich  zusammengeschlossen  sei. 
,,Die  Freiheit,  zur  Wirklichkeit  einer  Welt  gestaltet,  erhält 
die  Form  von  Notwendigkeit,  deren  substanzieller  Zu- 
sammenhang das  System  der  Freiheitsbestimmungen,  und 
der  erscheinende  Zusammenhang  als  die  Macht,  das  An- 
erkanntsein, d.  i.  ihr  Gelten  im  Bewußtsein  ist."  Dieses 
Gelten  gestaltet  sich  als  Gesetz,  Sitte  und  Pflicht;  das 
System  der  Freiheitsbestimmungen  aber  gliedert  sich  ent- 
sprechend dem  Begriff  des  freien  Willens  als  eine  Realität, 
die  das  Dasein  des  freien  Willens  ist.  Ganz  allgemein  ist 
diese  Realität  das  Recht,  worunter  das  Dasein  aller  Be- 
stimmungen der  Freiheit  zu  verstehen  ist.  Es  erscheint 
zuerst  als  das  formelle,  abstrakte  Recht  der  Person,  sodann 
als  das  Recht  der  Subjektivität  oder  als  die  Moralität  und 
schließlich  als  das  Recht  .des  substanziellen,  des  in  sich 
allgemeinen  vernünftigen  Willens  oder  als  die  der  Freiheit 
gemäße  Wirklichkeit,  die  Sittlichkeit  in  Familie,  bürger- 
licher Gesellschaft  und  Staat.*) 

Wir  haben  diese  systematischen  Überleitungen,  die 
formell  zu  den  schwierigsten  Partien  in  Hegels  Schriften 
gehören,  hier  einigermaßen  verdeutlichen  zu  sollen  gemeint, 
um  den  Standpunkt,  von  dem  aus  Hegel  die  Welt  des  objek- 
tiven Geistes,  der  sittlichen  Wirklichkeit  betrachtet,  ge- 
nauer festlegen  zu  können.  Vergleichen  wir  mit  diesen  De- 
duktionen die  Darstellung  des  freien  Willens,  die  Hegel  in  der 
Einleitung  zur  Rechtsphilosophie  selber  gibt,  so 
finden  wir  zunächst,  daß  er  hier  die  spekulativen  Zusammen- 
hänge, die  überaus  mühsamen  Bestimmungen  über  die  Idee 
an  sich,  die  nnr  der  Begriff  des  absoluten  Geistes  ist,  usw. 
beiseite  gelassen,  dafür  aber  die  Psychologie  des  Willens 
selber  sehr  viel  eingehender  ausgeführt  hat.  An  den  Grund- 
gedanken ist  keine  Modifikation  vorgenommen.  Hegel  stellt 
auch  hier  die  Entwickelung  des  praktischen  Geistes  bis 
zu  dem  wahrhaft  freien  Willen  dar,  der  den  freien  Willen 
will.  (§  27.)  Er  gebraucht  übrigens  hier  den  Ausdruck 
,, objektiver  Geist"  gar  nicht,  sondern  spricht  immer  von 
dem  Willen.  Die  nächste  Wahrheit  der  Intelligenz,  die  sich 
durch  Gefühl  und  Vorstellen  zum  Denken  entwickelt  und 
sich  dadurch  als  Wille  hervorbringt,  ist  der  praktische 
Geist.   Der  praktische  Geist  ist  der  Wille  1.  als  abstraktes 


*)  Ebenda  §§  483—487,  S.  419  ff. 


Einleitung'  des  Herausgebers.  XXIII 

Ich,  2.  als  daseiendes  oder  besonderes  Ich  und  3.  als  Begriff 
oder  als  Selbstbestimmung  des  Ich,  d.  h.  als  freier  Wille. 
(§  4 — 7.)  Darauf  wird  dem  besondern  oder  endlichen  Ich 
eine  glänzende  Darstellung  gewidmet;  der  Fortschritt  geht 
auch  hier  über  den  Willen,  der  als  Trieb,  Neigung,  Leiden- 
schaft existiert,  zur  Vertiefung  in  sich,  dem  Begriffe  der 
Willkür  und  der  Reflexion  auf  die  Glückseligkeit,  wodurch 
der  natürliche  Wille  zum  gebildeten  Willen  wird  und  sich 
in  der  Allgemeinheit,  zu  der  er  dadurch  gelangt,  als  der 
an  und  für  sich  unendliche,  freie  Wille  erfaßt.  (§  8 — 20.) 
In  dem  freien  Willen,  der  denkende  Intelligenz  ist,  vollzieht 
sich  die  Einheit  von  Subjekt  und  Objekt,  er  ist  daseiender 
und  sich  begreifender  Begriff,  die  sich  gegenwärtige  Idee 
oder  der  Geist.  (§  21 — 24.)  An  ihm  tritt  das  subjektive 
Moment  hervor  in  den  Bestimmungen  des  Selbstbewußtseins 
und  der  Einzelheit,  die  wir  aus  den  §§  5—7  schon  kennen, 
daß  der  Wille  abstraktes  Beisichselbstsein  oder  reine  Form, 
zweitens  besonderer  Wille  oder  Willkür  und  zufälliger  Inhalt 
beliebiger  Zwecke,  drittens  einseitige  Form,  eben  nur 
Wollen  oder  Gewolltes,  aber  noch  nicht  Ausgeführtes  ist. 
Das  objektive  Moment  dagegen  in  den  Bestimmungen  der 
Begriffsgemäßheit  und  Vernünftigkeit  des  Willens  macht 
den  Willen  erstens  als  einen  Vernunfttrieb  oder  eine  Ver- 
nunftanlage zum  unmittelbar  objektiven  Willen,  zweitens 
zu  einem  der  Autorität  unterworfenen,  also  subjektiv  noch 
unfreien  Willen  (kindlicher,  sklavischer,  abergläubischer 
Wille)  und  läßt  ihn  drittens  zum  äußeren  Dasein  sich  ge- 
stalten als  existierenden  Willen,  ausgeführten  Zweck  (das 
Werk  und  die  Institution).  Aus  diesen  beiden  Momenten,  die 
in  der  Idee  des  freien  Willens  eins  sind,  ergibt  sich  die 
Entwickelung  des  freien  Willens  zur  Totalität  seines 
Systems,  die  das  Substanzielle  der  Idee  ist  und  deshalb 
im  Selbstbewußtsein  wie  im  Dasein  dieselbe  Wirklichkeit  ist. 
Diese  Wirklichkeit  ist  das  Recht  als  das  Dasein  des 
freien  Willens,  das  sich  dem  Begriffe  gemäß  im  ab- 
strakten Recht,  in  der  Moralität  und  in  der  Sittlichkeit 
als  dem  organisierten  Gemeinschaftsleben  seine  daseienden 
Gestaltungen  gibt,  bis  in  dem  Rechte  des  Weltgeistes,  der 
jede  dieser  besonderen  Gestaltungen  zugleich  wieder  ne- 
giert, der  Grund  dieser  ganzen  gestalteten  V/irklichkeit 
an  den  Tag  tritt,  —  der  absolute  Geist.  (§  25 — 33.)  In  dem 
Hinweise  auf  das  absolute  Recht  des  Weltgeistes  nämlich 
liegt  der  systematische  Übergang  zum  dritten  Teile  der 
Geistesphilosophie,  der  Lehre  vom  absoluten  Geist. 


XXIV  Einleitung  des  Herausgebers. 

III.  Obiektiver  und  absoluter  Geist. 

Betrachten  wir  prüfend  die  Bestimmungen,  durch  die 
Hegel  den  ,, objektiven  Geist"  als  gesonderte  Sphäre  inner- 
halb der  Geistesphilosophie  gegen  die  beiden  anderen 
Sphären  abgrenzt,  so  müssen  wir  anerkennen,  daß  diese 
Abgrenzung  gegen  die  erste  Sphäre,  den  subjektiven  Geist, 
vollkommen  klar  und  einfach  ist.  Dieser  ist  die  Intelligenz 
als  natürliche  Einzelheit  des  Selbstbewußtseins,  jener  ist, 
wie  Hegel  schon  in  der  Phänomenologie  sich  ausdrückt, 
das  sittliche  Leben  eines  Volks,  das  Individuum,  das  eine 
Welt  ist*),  Oder  legen  wir  mit  der  Encyclopädie  und  der 
Rechtsphilosophie  den  Begriff  des  Willens  zugrunde,  so 
ist  der  objektive  Geist  die  Erscheinung  des  wahrhaft  freien 
Willens,  der  nicht  mehr  sein  Anderes,  eine  ihm  vorliegende 
Äußerlichkeit  als  solche  bestimmt,  sondern  der  sich  selbst 
in  der  Vfirklichkeit  die  seinem  Wesen  vernunftgemäßen 
Bestimmungen  gibt.  So  ist  dann  das  sittliche  Leben  die 
wirkliche  Organisation  des  an  und  für  sich  freien  Willens. 

Eben  darum  erweist  es  sich  nun  aber  als  überaus 
schwierig,  den  so  bestimmten  objektiven  Geist  irgendwie 
gegen  den  absoluten  Geist  abzugrenzen.  Die  außerordent- 
lich mühsame  Konstruktion  des  Überganges  vom  subjektiven 
zum  objektiven  Geiste,  an  der  Hegel  bis  zuletzt  noch  ge- 
ändert hat,  ist  aus  dieser  Schwierigkeit  zu  erklären.  Denn 
nicht  die  Unterscheidung  von  dem  subjektiven  Geiste  hat 
zu  diesen  Konstruktionsversuchen  den  Anlaß  gegeben,  son- 
dern das  Bedürfnis  Hegels,  gleich  am  Anfange  des  Ab- 
schnittes über  den  objektiven  Geist  klarzulegen,  inwieweit 
dieser  mit  dem  absoluten  Geiste  identisch  sei  und  worin 
er  noch  hinter  diesem  zurückstehe.  Daher  jene  Distink- 
tionen  zwischen  Idee  und  Begriff,  die  an  dieser  Stelle 
nicht  den  Eindruck  einer  sich  natürlich  ergebenden  Glie- 
derung hervorrufen. 

In  dem  letzten  Paragraphen  der  Rechtsphilosophie 
(S.  279)  hat  Hegel  den  Ausdruck  „absoluter  Geist"  durch 
den  andern  ersetzt:  „die  ideelle  Welt",  der  mit  dem  Titel  aus 
der  Propädeutik  „der  Geist  in  seiner  ideellen  Darstellung" 
übereinkommt.  Diese  Art  der  Bezeichnung  des  absoluten 
Geistes  reicht  schon  dazu  aus,  sofort  klarzulegen,  worin  das 
Unbefriedigende  der  Hegeischen  Konstruktion  liegt.  Die 
ideelle  Welt  ist  von  der  sittlichen  Welt  überhaupt  nicht  zu 
trennen.   In  dem  Augenblicke,  wo  man  zu  dem  Begriffe  des 

*)  Phil.  Bibl.,  Bd.  114,  S.  286. 


Einleitung  des  Herausgebers.  XXV 

sich  selbst  bestimmenden  wahrhaften  Willens,  des  freien 
Willens  gelangt  ist,  der  den  freien  Willen  will,  befindet  man 
sich  bereits  auf  dem  Boden  der  absoluten  Versöhnung  des 
Realen  und  des  Ideellen;  dieser  Wille  ist  der  Prozeß  dieser 
Versöhnung  und  die  an  und  für  sich  seiende  Identität. 
Gewiß  gibt  es  auch  hier  noch  Unterschiede,  insofern  der 
freie  Wille,  der  sich  selbst  bestimmt,  in  diesen  seinen 
Bestimmungen  seine  eigene  Wahrheit  fortschreitend  ent- 
wickelt und  begreift.  Hegel  selbst  unterscheidet  innerhalb 
des  objektiven  Geistes  drei  solcher  Bestimmungen,  die  sich 
der  freie  Wille  gibt  und  die  alle  der  Wahrheit  seines 
Wesens  entsprechen  oder  begriffsgemäß  sind.  Der  Wille 
bestimmt  sich  nämlich  zuerst  als  abstrakte  Person,  sodann 
als  besondere  Subjektivität  und  drittens  als  allgemeine 
Vernünftigkeit  oder  als  Moment  in  dem  sittlichen  Ganzen. 
Aber  alle  diese  Bestimmungen  sind  als  solche  ideell  und 
werden  eben  deshalb  realisiert,  zu  objektiver  Gestaltung 
gebracht  in  der  Organisation  des  abstrakten  Rechtes,  der 
Moralität,  der  sittlichen  Gemeinschaft.  Wenn  wir  oben 
bemerkt  hatten,  daß  in  der  Geistesphilosophie  der  Gegen- 
stand des  Denkens  von  Anfang  bis  zu  Ende  die  Subjekt- 
objektivität sei,  so  müssen  wir  anerkennen,  daß  die  sittliche 
Wirklichkeit,  die  Hegel  unter  dem  Titel  des  „objektiven 
Geistes"  behandelt,  in  Wahrheit  nicht  den  bestimmenden 
Charakter  vorherrschender  Objektivität  trägt,  sondern 
durchaus  in  das  Gebiet  der  ,, subjektiv-objektiven  Subjekt- 
Objektivität"  gehört.  Sie  zeigt  das  Ideeile  und  Reelle  nicht 
mehr  derart  gesondert,  daß  etwa  nur  ein  ideeller  Gehalt 
in  ihr  das  Wesen  bildete,  das  in  der  Realität  erschiene, 
sondern  die  Realität  ist  selbst  ideell  und  die  Idealität  real, 
ein  sich  gestaltender  Wille,  eine  Form  der  Vergeistigung 
sowohl  der  Wirklichkeit  wie  des  Subjekts,  d.  h.  gerade  das, 
was  Hegel  den  absoluten  Geist  an  und  für  sich  nennt. 
Er  ist  hier  über  eine  gewisse  Unklarheit  doch  nicht  hinaus- 
gekommen, was  sich  am  deutlichsten  daran  zeigt,  daß  er 
in  der  Rechtsphilosophie  den  an  und  für  sich  seienden 
Willen  wahrhaft  und  wirklich  unendlich  nennt  (§  22),  in  der 
Encyclopädie  dagegen  (§482)  ihn  als  endlichen,  der  im 
Endlichen  tätig  ist,  die  Idee  zu  entwickeln,  beschreibt. 
Wir  müssen  also  auf  Grund  der  Hegeischen  Anschauungs- 
weise selbst  feststellen,  daß  die  Sache  den  Unterschied 
zwischen  objektivem  und  absolutem  Geist,  so  wie  Hegel  den 
objektiven  Geist  bestimmt,  nicht  zuläßt. 

Es  ist  nur  natürlich,   daß  sich  aus  dieser  Tatsache 


XX^rr  Einleitung  des  Herausgebers. 

eine  Anzahl  von  Mängeln  und  Unklarheiten  in  der  Hegel- 
schen  Darstellung  ergeben,  die  auch  schon  frühzeitig  be- 
merkt, wenn  auch  nicht  bis  auf  ihren  Ursprung  zurück- 
geführt worden  sind.  Der  erste  auffallende  Mißstand  ist 
die  Trennung  der  Religion  von  dem  sittlichen  Leben.  Jenr- 
wird  unter  dem  Abschnitte  ,,der  absolute  Geist"  behandelt, 
während  in  dem  Abschnitte  über  den  objektiven  Geist  der 
Staat  als  die  höchste  Gestalt  der  Sittlichkeit  dargestellt 
wird.  Daß  Hegel  die  Sittlichkeit  als  das  wahre  Dasein 
der  Freiheit  versteht,  ist  vollkommen  richtig.  Daß  er 
aber  die  Sittlichkeit  allein  in  der  Form  des  Staatsrechts 
verkörpert  sieht,  ist  ein  Mangel.  Er  erkennt  selbst  an, 
daß  dem  Staate  die  Religion  zugrunde  liegt,  daß  sie  in 
dem  staatlichen  Leben  selbst  als  Gesinnung  der  Staats- 
glieder dem  Rechte  und  der  Staatsordnung  zur  Realität 
und  Anerkennung  verhilft.  Er  macht  gelegentlich  auch  die 
Bemerkung,  daß  sich  der  Staat  mit  der  rechtlichen  Hand- 
lung seiner  Angehörigen  begnüge,  während  in  der  Religion 
auf  die  Gemütsweise,  die  innerliche  Selbstbestimmung  des 
Subjekts  der  Nachdruck  fällt,  (S,  855.)  Dennoch  bleibt  er 
dabei  stehen,  die  Organisation  der  Sittlichkeit  allein  im  Staate 
zu  finden.  Daneben  aber  hat  er  doch  auch  der  Religion  mit 
großem  Nachdruck  den  Charakter  der  Objektivität  zu- 
erkannt und  läßt  sie  zu  ihrer  Wahrheit  erst  im  Kultus 
kommen,  der  gleichzeitig  die  gläubige  Praxis  des  einzelnen 
Frommen  wie  die  Organisation  der  Glaubensgemeinschaft 
oder  die  Realisierung  der  Religion  zur  Kirche  ist.  Tat- 
sächlich also  ist  hier  das  ideelle  und  das  reelle  Moment, 
die  Willensbestimmung  und  ihre  Verwirklichung  im  Dasein 
ebenso  vorhanden  wie  im  Staate.  Und  indem  Hegel  'dessen- 
ungeachtet nur  den  Staat  als  sittliche  Organisation  be- 
trachtet, kommt  er  ins  Gedränge,  sobald  die  Frage  nach 
dem  Verhältnis  von  Staat  und  Kirche  auftaucht.  Er  hat 
dieses  Verhältnis  systematisch  nie  entwickelt;  die  lange 
Anmerkung  zu  §  270  der  Rechtsphilosophie  läßt  die  Schwie- 
rigkeit deutlich  erkennen,  die  diese  Frage  ihm  bereitet. 
Er  hat  wohl  den  Konflikt  der  beiden  Organisationen  sehr 
eingehend  erörtern,  aber  ihre  innere  Beziehung  aufeinander 
nicht  wahrhaft  zum  Ausdruck  bringen  können.  Denn  diese 
Beziehung  ergibt  sich  erst  dann,  wenn  man  im  Staate  und 
seinem  Recht  zwar  eine  vernünftige  Selbstbestimmung  und 
Ausgestaltung  der  Freiheit  sieht,  aber  nicht  die  ab- 
schließende und  umfassende,  sondern  die  grundlegende  und 
für  höhere  Formen  des  sittlichen  Lebens  vorbereitende. 


I 


Einleitung  des  Herausg-ebers.  XXVII 

Daß  Hegel  in  diesem  Punkte  nicht  zur  vollen 
Klarheit  gelangt  ist,  erklärt  sich  aus  dem  entschiedenen 
Gegensatze,  in  dem  er  sowohl  gegen  das  Naturrecht  wie 
gegen  die  Kantische  und  Fichtesche  Staatslehre  sich  dauernd 
befunden  hat.  Es  widerstrebte  ihm  auf  das  äußerste,  das 
Recht  und  den  Staat  nur  als  eine  auf  äußere  Notwendig- 
keiten gegründete,  nur  vermittelst  des  Zwanges  wirkende 
Organisation  anzusehen.  Er  hatte  die  klare  Erkenntnis 
davon,  daß  aller  Gehalt  des  sittlichen  Lebens  in  der  Or- 
ganisation des  Staates  gleichsam  wie  in  einem  schirmenden 
Gefäße  eingeschlossen  sei.  Dadurch  kam  er  auf  die  An- 
schauung des  Staates  als  der  sittlichen  Totalität.  Das 
Dasein  der  Freiheit  in  jeder  Form  heißt  ihm  deshalb  Recht; 
die  Moralität,  die  Sittlichkeit,  ja  selbst  der  Prozeß  der 
Weltgeschichte  fällt  ihm  unter  die  generelle  Bezeichnung 
Recht.  Damit  aber  ist  der  Begriff  des  Rechtes  zu  einer 
Unbestimmtheit  erweitert,  die  seiner  vernünftigen  Be- 
grenzung widerspricht;  und  auch  der  Staat  erscheint  mit 
unsicherer  Begrenzung  als  der  allgemeine  Ort  alles  sitt- 
lichen Lebens,  in  dem  die  besonderen  Gestalten  des  Sitt- 
lichen Gefahr  laufen  zu  verschwinden. 

Nicht  minder  bedenklich  erscheint  die  Stellung,  die 
Hegel  der  Moralität  gibt.  Er  erkennt  einerseits  an,  daß 
die  Begriffe  der  Pflicht,  der  Tugend  und  des  Gewissens 
in  dem  Ganzen  der  Sittlichkeit  notwendig  gelten.  Aber 
indem  er  zwischen  dem  abstrakten  Personenrecht  und  dem 
Staatsleben  die  Moralität  als  einen  besonderen  Standpunkt 
des  rein  subjektiven  Willens  einfügt,  vermag  er  ihr  nicht 
wirklich  gerecht  zu  werden.  Sie  ist  gewiß  nicht  der  höchste 
sittliche  Standpunkt.  Sie  trägt,  wie  Hegel  in  unvergleich- 
licher Meisterschaft  nachgewiesen  hat,  den  sie  auflösenden 
Widerspruch  des  allgemeinen  Vernunftgebotes  und  der  be- 
sonderen subjektiven  Freiheit  in  sich,  und  dieser  Wider- 
spruch kann  nicht  anders  als  in  dem  Opfer  der  Besonderheit, 
in  der  sittlichen  Tat  des  Geistes  überwunden  werden,  der 
von  seiner  Eigenheit  abläßt  und  sich  dem  allgemeinen,  dem 
absoluten  Geiste  vertrauend  hingibt.  In  diesem  Sinne  hat 
Hegel  treffend  in  der  Phänomenologie  den  Übergang  von 
der  Moralität  zur  Religion  gezeichnet*).  Wenn  er  dagegen 
in  der  "Rechtsphilosophie  auf  die  Moralität  die  Darstellung 
des  staatlichen  Organismus  folgen  läßt,  so  hat  er  natürlich 
auch  einen  vernünftigen  dialektischen  Fortschritt  im  Sinne, 


*)  Phil.  Bibl.,  Bd.  \U,  S.  432 ff. 


XXVIII  Einleitung  des  Herausgebers. 

Im  abstrakten  Rechte  sieht  er  das  objektive  Moment,  in 
derMoralität  das  subjektive  und  in  dem  Staate  das  Sittliche 
als  konkrete  Gestalt  verwirklicht.  Aber  dieser  Fortschritt  ist 
selbst  abstrakt,  weil  die  ihn  beherrschenden  Kategorien  so 
einseitig  auf  die  realen  Momente  sich  nicht  verteilen  lassen. 
Schon  das  abstrakte  Recht  ruht  auf  der  Subjektivität  des 
rechtlichen  Willens;  in  der  Moralität  ist  das  objektive  Mo- 
ment des  Geziemenden,  der  Pflicht,  der  Allgemeingültigkeit 
enthalten.  Und  wenn  man  die  Totalität  des  Sittlichen  in 
der  Form  des  staatlichen  Lebens  finden  möchte,  so  scheint 
diese  vielmehr  dem  Standpunkte  der  Moralität  untergeordnet 
zu  sein.  Denn  wie  gegenüber  der  Religion,  so  ist  auch 
gegenüber  der  Moralität  der  Gehorsam  gegen  den  Staat 
zunächst  nur  eine  Verpflichtung  zu  rechtlichem  Handeln, 
während  in  der  Moralität  der  Inhalt  der  Pflichten  weit 
mannigfaltiger  und  ihre  Form  weit  innerlicher  ist. 

Die  Selbstbestimmung  nämlich,  die  sich  der  freie  Wille 
in  der  Moralität  gibt,  verbindet  die  pflichtmäßige  Handlung 
viel  enger  mit  der  geistigen  Substanz  des  Subjektes,  als 
es  die  rechtliche  Gesinnung  tut.  Die  Moralität  gibt  deshalb 
auch  wohl  den  rechtlichen  Handlungen  eine  innerlichere 
Beziehung;  aber  nicht  in  diesen  Handlungen  besteht  ihr 
eigentliches  Lebenselement.  Als  Voraussetzung  dafür,  daß 
sie  überhaupt  in  Wirksamkeit  trete,  muß  die  Sphäre  des 
gegenseitigen  Anerkanntseins  der  Rechtspersonen  und 
Rechtsordnungen  gelten;  in  dieser  Sphäre  erhebt  sich  der 
freie  Wille  zum  Bewußtsein  der  Pflicht  und  zu  der  Re- 
flexion in  sich,  dem  Gewissen.  Aber  hierzu  entwickelt,  gibt 
sich  der  Wille  auch  im  Äußeren  eine  neue  Gestalt,  die  von 
dem  Rechts-  und  Staatsleben  deutlich  gesondert  und,  wenn 
auch  nicht  wie  dieses  in  der  Form  natürlicher  NotNvendig- 
keit,  so  doch  in  der  Allgemeingültigkeit  bindender  Gesetze 
wirklich  ist.  Der  Staat  regelt  die  Eigentumsverhältnisse; 
die  Ehrlichkeit  kann  er  nicht  realisieren.  Er  gibt  eine  Ehe- 
gesetzgebung; Keuschheitsgebote  liegen  außerhalb  seiner 
Macht.  Er  ordnet  das  Armenwesen;  Menschenliebe  zu 
verordnen  vermag  er  nicht.  Und  dennoch  besteht,  zwar 
keine  staatliche,  wohl  aber  eine  moralische  Gesetzgebung, 
die  solche  Forderungen  allgemeingültig  erhebt,  ein  Sitten- 
gesetz, an  das  sich  ein  weiterer  oder  engerer  Kreis  inner- 
lich verbundener  Subjekte  gebunden  weiß  und  durch 
das  ihr  Zusammenleben  geregelt  wird.  Dies  System  ob- 
jektiver Pflichten,  die  von  dem  Gewissen  als  die  ungeschrie- 
benen göttlichen  Gesetze  anerkannt  werden,  greift  in  der 


Einleitung  des  Herausgebers,  XXIX 

Äußerlichkeit  wie  in  der  Innerlichkeit  viel  weiter  um  sich 
als  die  staatliche  Ordnung.  Darum  liegt  es  in  dem  Cha- 
rakter des  moralischen  Willens,  der  das  Subjekt  in  seinem 
Fürsichsein  darstellt,  daß  er  allen  Handlungen  des  Subjekts 
die  Beziehung  auf  seine  Innerlichkeit  aufdrückt  und  also 
jede  Form  des  Sollens,  die  gesellschaftlichen,  die  staat- 
lichen, die  religiösen  Pflichten,  zu  moralischen  Pflichten 
macht.  Hierin  schon  kündet  sich  die  objektive  Dialektik  an, 
die  den  Standpunkt  der  Moralität  in  sich  auflöst  und  über 
sich  hinausführt.  Denn  er  ist  so  wenig  wie  das  Staats- 
leben der  Standpunkt  der  absoluten  Sittlichkeit.  Das  Sitten- 
gesetz hat  inhaltlich  ein  Moment  der  Zufälligkeit  in  sich, 
und  der  moralische  Wille  das  Moment  der  subjektiven  Be- 
sonderheit. Deshalb  löst  sich  der  Standpunkt  der  Moralität 
in  dem  Subjektivismus  auf,  der  alle  Allgemeingültigkeit 
des  Sittlichen  in  der  Souveränetät  des  sich  selbst  behaup- 
tenden Individuums  negiert,  und  schlägt  so  in  die  voll- 
kommene Unsittlichkeit  um.  Damit  aber  ist  nichts  daran 
geändert,  daß  der  Wille  in  der  Moralität  sich  bereits 
wahrhafter  begriffen  hat  als  in  dem  Organismus  von  Recht 
und  Staat. 

Daß  Hegel  der  Moralität  diese  Stellung  nicht  belassen 
hat,  obwohl  die  Anlage  der  Phänomenologie  ihn  darauf 
hätte  hinführen  können,  liegt  an  der  scharfen  und  mit  der 
Zeit  immer  verschärften  Gegnerschaft,  in  der  er  sich  zu 
der  subjektivistischen  Stimmung  und  Denkweise  der  da- 
maligen gebildeten  und  gelehrten  Welt  befand.  Er  wußte 
gewiß  den  Fortschritt  zu  schätzen,  den  die  Kantische  Ethik 
gegenüber  der  Sentimentalität  der  Aufklärung  bedeutet. 
Aber  er  hatte  mit  sicherem  Blicke  erfaßt,  daß  aus  dem 
subjektiven  Idealismus  dieser  Ethik  heraus  auf  der  anderen 
Seite  dem  überlieferten  Gefühlsstandpunkt  und  der  Eitelkeit 
des  aufgeklärten  Besserwissens  ein  neuer  Vorschub  würde 
geleistet  werden.  Der  Weg,  den  er  die  Theologie  durch 
Schleiermacher,  die  Philosophie  beispielsweise  durch  Fries 
einschlagen  sah,  erschien  ihm  wegen  des  Ausgangspunktes 
von  subjektiven  psychologischen  Bestimmungen  her  im 
höchsten  Maße  verderblich.  Er  erkannte  in  dem  wissen- 
schaftlichen Subjektivismus  einen  Ausdruck  des  Geistes, 
der  das  Zeitalter  beherrschte,  und  einen  Faktor,  der  in 
gefährlicher  Weise  die  Herrschaft  dieses  Geistes  be- 
festigen und  stärken  mußte.  Um  so  mehr  erblickte  er  seine 
Aufgabe  darin,  die  Objektivität  des  Wahren  und  des  Guten 
in  den  Institutionen  der  nationalen  Sittlichkeit  mit  aller 


XXX  Einleitung-  des  Herausgebers. 

Strenge  hervorzuheben,  und  verweilte  deshalb,  wo  es  sich 
um  die  Darstellung  der  Moralität  handelte,  vor  allem  bei 
der  Kritik  des  ihr  innewohnenden  subjektivistischen  Mo- 
mentes. Glänzender  als  in  dem  langen  Paragraphen  140 
seiner  Rechtsphilosophie  ist  die  Pathologie  des  Gewissens- 
standpunktes niemals  entwickelt  worden.  Es  ist  auch  nicht 
zu  leugnen,  daß  Hegel  seinerzeit  dazu  dringenden  Anlaß 
gehabt  hat;  zitterte  doch,  als  er  diese  Seiten  schrieb,  durch 
ganz  Deutschland  noch  die  unbeschreibliche  Erregung,  die 
durch  die  unselige  Tat  Sands  hervorgerufen  worden  war. 
Zweifellos  hat  Hegel  gerade  diese  Tat  im  Sinne  gehabt,  als 
er  den  mit  den  Argumenten  der  Gewissensmoral  übervoll 
bepackten  Satz  schrieb:  „Mord  aus  Haß  und  Rache,  d.  i. 
um  das  Selbstgefühl  seines  Rechts,  des  Rechts  überhaupt 
und  das  Gefühl  der  Schlechtigkeit  des  anderen,  seines  Un- 
rechts gegen  mich  oder  gegen  andere,  gegen  die  Welt 
oder  das  Volk  überhaupt,  durch  die  Vertilgung  dieses 
schlechten  Menschen,  der  das  Schlechte  selbst  in  sich  hat, 
womit  zum  Zwecke  der  Ausrottung  des  Schlechten  we- 
nigstens ein  Beitrag  geliefert  wird,  zu  befriedigen,  ist  auf 
diese  Weise,  um  der  positiven  Seite  seines  Inhalts  willen, 
zur  guten  Absicht  und  damit  zur  guten  Handlung  gemacht." 
(S.  123.) 

Wenn  sich  hierdurch  erklären  läßt,  weshalb  Hegel 
der  Moralität  keine  wesentlichere  positive  Stellung  in 
seinem  System  des  Sittlichen  eingeräumt  hat,  so  bleibt 
dabei  doch  die  Tatsache  bestehen,  daß  er  auf  diese  Weise 
auch  der  Aufgabe  nicht  gerecht  geworden  ist,  das  dauernde 
Verhältnis  der  rechtlichen  Gesinnung  und  Handlung  zur 
moralischen  klar  zu  bestimmen,  Legalität  und  Moralität 
deutlich  voneinander  zu  sondern,  Sitte,  Pflichtgefühl,  ideale 
Gesinnung  in  ihrem  eigentümlichen  Werte  gegenüber  dem 
Gehorsam  gegen  die  Staatsordnung  zu  würdigen.  Wo  er 
von  der  Entstehung  rechtlich  geordneter  Verhältnisse 
spricht,  da  erkennt  er  ein  Heroenrecht  an,  das  aus  der 
freien  Machtvollkommenheit  der  Idee  heraus  über  die  vor- 
handene Gestalt  der  äußeren  Welt  sich  hinwegsetzt.  Der 
absoluten  Souveränetät  des  von  dem  Bewußtsein  der  Idee 
getragenen  Gewissens  ihr  Recht  gegenüber  aller  sittlichen 
Institution  einzuräumen,  findet  er  in  seinem  System  nicht 
ausreichend  Gelegenheit.  Er  hätte  eben  dann  den  staat- 
lichen Organismus  nicht  mit  der  Sittlichkeit  als  solcher 
identifizieren  dürfen,-  sondern  ihn  betrachten  müssen  als 
ein  in  sich  der  Ergänzung  und  Bereicherung  durch  tiefere 


Einleitung  des  Herausgebers.  XXXI 

Bestimmungen  der  Freiheit  bedürftiges  Fundament  für  alles 
sittliche  Leben,  Daß  er  schließlich  dieser  Bedürftigkeit 
des  Staates,  seiner  inneren  Unvollkommenheit  sich  bewußt 
gewesen  ist,  beweist  seine  Auffassung  der  Geschichte  als 
des  Gerichtes,  das  über  alle  einzelnen  Staaten  ergeht  und 
den  wahrhaft  freien  Willen  erst  in  dem  Prozesse  der  Welt- 
geschichte sich  realisieren  läßt. 

Gerade  hier  aber,  bei  der  Betrachtung  der  Ge- 
schichte, zeigt  sich  am  deutlichsten,  daß  die  Art,  wie 
Hegel  objektiven  und  absoluten  Geist  auseinanderhalten  will, 
unhaltbar  ist.  Die  Geschichte  ist  einerseits  für  ihn  Staaten- 
geschichte. Der  Staat  bildet  gleichsam  den  Körper,  den 
sich  der  Volksgeist  gibt.  In  dem  Volksgeiste  spricht  sich 
ein  einheitliches  geistiges  Prinzip  aus,  das  sich  gleichmäßig 
durch  alle  Lebensäußerungen  des  Volkes,  seinen  staat- 
lichen Organismus,  wie  seine  geistigen  Hervorbringungen 
realisiert.  Indem  einer  dieser  Volksgeister  nach  dem  an- 
deren zur  Blüte  und  zum  Verfalle  kommt,  macht  sich  in 
der  Geschichte  der  allgemeine,  der  Weltgeist  geltend,  ,,wie 
er  in  einem  inneren  Zusammenhange  durch  die  Geschichte 
der  getrennt  erscheinenden  Nationen  und  ihre  Schicksale 
die  verschiedenen  Stufen  seiner  Bildung  durchlaufen  hat". 
Die  philosophische  Betrachtung  der  Geschichte  stellt  also 
,,den  allgemeinen  Geist  als  Substanz,  erscheinend  in  seinen 
Accidenzen,  dar,  so  daß  diese  seine  Gestalt  oder  Äußer- 
lichkeit nicht  seinem  Wesen  gleichmäßig  gebildet  ist. 
Seine  höhere  Darstellung  ist  seine  Gestaltung  in  einfacher 
geistiger  Form""*).  Diese  Auffassung  der  Geschichte,  die 
Hegel  in  seiner  Propädeutik  vorgetragen  und  in  der  Philo- 
sophie der  Geschichte  ausführlich  entwickelt  hat,  hält  also 
die  drei  Begriffe  Volksgeist,  Weltgeist  und  absoluter  Geist 
so  auseinander,  daß  die  irdische  und  zeitliche  Form,  in 
der  sich  der  Geist  manifestiert,  auf  die  Seite  der  Volks- 
geister und  des  Weltgeistes  fällt,  während  der  absolute 
Geist  der  zeitlose,  ewig  in  sich  präsente  und  alle  zeit- 
lichen Unterschiede  aufhebende  Geist  ist,  wie  er  sich  in 
Kunst,  Religion  und  Philosophie  offenbart. 

Dieser  Unterschied  aber  ergibt  sich  gar  kein  Unter- 
schied zu  sein.  Denn  die  Geschichte  fällt  andererseits 
ausdrücklich  innerhalb  des  absoluten  Geistes.  Kunst,  Re- 
ligion und  Philosophie  haben  selbst  ihre  Geschichte  und 
nur,   weil  sie  selbst  in  geschichtlicher  Bestimmtheit  auf- 


*)  Hegels  Werke,  18.  Bd.,  S.  201. 


XXXII  Einleitung  des  Herausgebers. 

treten  und  so  das  Innere  der  einzelnen  Volksgeister  bilden, 
ist  „die  geistige  Wirklichkeit  in  ihrem  ganzen  Umfange 
von  Innerlichkeit  und  Äußerlichkeit"  in  der  Weltgeschichte 
das  Element  des  Daseins  des  allgemeinen  Geistes,  So  be- 
stimmt Hegel  in  der  Rechtsphilosophie  (S.  271)  den  Begriff 
der  Geschichte.  Und  als  seine  Grundanschauung  tritt  her- 
vor, daß  es  gerade  der  absolute  Geist  selbst  ist,  der  die  Ver- 
söhnung des  ewigen  Seins  und  des  geschichtlichen  Wer- 
dens in  der  Wirklichkeit  vollzieht.  Hegel  ist  durch  und 
durch  Geschichtsphilosoph;  ihm  gilt  die  Geschichte  als 
der  Prozeß,  durch  den  der  Geist  sich  seiner  selbst  in 
seinem  absoluten  Gegensatz  bemächtigt  und  also  die  To- 
talität seiner  freien  Selbstbestimmung  in  ihrer  ganzen  Herr- 
lichkeit entfaltet.  Und  zwar  vollzieht  dieser  Prozeß  sich 
ebensosehr  zeitlich  im  geschichtlichen  Fortschritt  wie 
zeitlos  in  der  ideellen  Tat  des  Geistes,  die  ,,das  Selbst- 
erkennen im  absoluten  Anderssein"  ist  und  in  Kunst,  Re- 
ligion und  Wissenschaft,  die  selbst  geschichtlich  sich  ent- 
wickeln, sich  unablässig  vollzieht.  So  ist  die  Anknüpfung 
des  geschichtlichen  Werdens  an  das  Dasein  des  Staates 
insofern  einseitig,  als  der  Staat  vielmehr  erst  durch  die 
tieferen  Mächte  des  ideellen  Lebens  selbst  zu  einer  ge- 
schichtlichen Erscheinung  wird.  Das,  was  den  Gegenstand 
der  geschichtlichen  Entwickelung  bildet,  die  geistige  Wirk- 
lichkeit, die  Hegel  eigentlich  im  Auge  hat,  ist  nicht  die 
Staatsordnung  als  solche,  sondern  die  umfassende  Gemein- 
schaft der  sittlichen  Kultur,  die  am  Staate  wohl  ihre  Form 
hat,  aber  an  und  für  sich  das  Leben  des  freien  Geistes  in  den 
höheren  Bildungen  der  künstlerischen,  religiösen  und  wissen- 
schaftlichen Tätigkeit  ist.  Solcher  Gemeinschaften  erscheinen 
auf  Erden  viele,  mannigfaltig  gestaltete,  je  nach  den  Prin- 
zipien der  Innerlichkeit,  die  sich  in  ihnen  ausprägen.  Diese 
verschiedenen  Prinzipien  sind  die  Volksgeister;  in  ihnen  sich 
fortentwickelnd  als  die  allgemeine  Vernunft  ihrer  zeit- 
lichen Aufeinanderfolge  erscheint  der  allgemeine  Geist  oder 
der  Weltgeist;  in  ihnen  aber  sich  erhaltend  und  die  be- 
ständige Versöhnung  setzend,  das  Ich  und  seine  Welt 
zur  Identität  verklärend,  lebt  der  absolute  Geist.  Das 
System  der  Volksgeister  also  und  der  geschichtlichen  Reiche 
dieser  Welt  ist  der  Weltgeist;  dennoch  ist  auch  der  Volks- 
geist schon  ,,das  sich  wissende  und  wollende  Göttliche". 
(S.  195.)  Das  System  aber  der  Iche  und  ihres  ewigen  Lebens 
im  Begriffe  der  Wahrheit  ist  der  absolute  Geist.  Und 
dieses  System  der  Iche  hat  Hegel  nie  anders  verstanden. 


Einleitung  des  Herausgebers.  XXXIII 

es  läßt  sich  auch  gar  nicht  anders  verstehen,  als  daß  es 
selbst  Ich,  das  Subjekt-Objekt,  der  Geist  als  die  absolute 
Persönlichkeit  ist,  nicht  bloß  die  rd^ig,  sondern  der  arga- 
rt}y6g  des  Geisterreiches. 

Was  Hegel  als  den  Prozeß  der  Freiheit  darstellt,  das 
findet,  wie  wir  sehen,  nicht  in  der  Staatsordnung,  sondern 
erst  in  der  Religion  und  in  der  absoluten  Philosophie, 
d.  h.  der  vollkommenen  Theorie,  die  zugleich  absolute 
Praxis  der  Selbstbefreiung  ist,  seine  Vollendung.  Der  Gang 
der  Entwickelung  geht  geradlinig  über  das  Recht  und  den 
Staat  hinüber  zu  den  vollkommeneren  Manifestationen  der 
Freiheit.  Daß  Hegel  bei  der  Staatslehre  einen  Einschnitt" 
gemacht  hat,  den  auch  die  Hereinziehung  ihrer  objektiven 
Kritik  durch  die  Weltgeschichte  nicht  beseitigt,  hat  dem 
Verständnis  seiner  Gesamtanschauung  schwer  geschadet. 
Schon  sehr  früh  haben  die  Versuche  eingesetzt,  die  schein- 
bare „Verabsolutierung"  des  Rechts  und  des  Staates  zu 
korrigieren.  Die  einen  sind  darauf  zurückgegangen,  die 
Moralität  als  die  Grundlage  des  gesamten  sittlichen  Lebens 
anzusehen,  in  ihr  die  höchste  Form  der  Sittlichkeit  zu 
finden  und  auch  Recht  und  Staat  wieder  auf  die  Moral, 
für  die  sie  wohl  auch  den  Namen  Ethik  brauchen,  zu 
gründen.  Damit  ist  das  unermeßliche  Verdienst,  das  sich 
Hegel  durch  die  Kritik  der  Moralität  erworben  hat,  wieder 
verloren  gegangen;  gleichzeitig  aber  ist  auch  der  Gewinn 
aus  der  Kantisch-Fichteschen  Rechtslehre  aufgegeben 
worden,  die  vernunftgemäße  Scheidung  von  Legalität  und 
Moralität.  Von  der  anderen  Seite  hat  man  die  Engigkeit  der 
Beschränkung  des  Sittlichen  auf  das  Staatsleben  dadurch 
beseitigen  wollen,  daß  man  statt  des  staatlichen  Organismus 
die  bürgerliche  Gesellschaft  als  soziale  Gemeinschaft  sämt- 
licher natürlicher  und  geistiger  Interessen  für  die  Reali- 
sation der  Freiheit  ausgab.  Die  politischen  und  wirt- 
schaftlichen Bewegungen  der  Zeit  seit  Hegel  haben  diese 
Auffassung  begünstigt  und  den  Sozialismus  wie  einen  legi- 
timen Fortsetzer  der  Hegeischen  Gedankenarbeit  erscheinen 
lassen.  In  Wahrheit  bedeutet  dieser  Rückgang  in  die 
grenzenlose  Weite  der  zufälligen  Interessen  eine  Ver- 
wischung aller  vernünftigen  Unterschiede  im  Wesen  des 
Menschen  wie  im  Bau  der  Wirklichkeit,  eine  Konfusion,  bei 
der  vor  allem  die  Idee  der  Freiheit  gänzlich  verloren  geht. 
Die  Absicht  und  den  Grundgedanken  Hegels  faßt  nur  der, 
den  die  äußere  Gliederung  seines  Systems  nicht  darüber 
täuscht,  daß  er  in  Wahrheit  den  Prozeß  der  Freiheit  erst 

Hegel.  Hechtsphilosophie.  C 


XXXIV  Einleitung  des  Herausgebers. 

in  der  Religion  zur  Ruhe  kommen  läßt  und  daß  die  Er- 
scheinungen, die  er  unter  dem  Titel  des  objektiven  Geistes 
zusammenfaßt,  auf  Grund  seiner  eigenen  Anschauungen 
eigentlich  schon  in  das  Gebiet  des  sich  in  sich  begreifenden 
absoluten  Geistes  hineingehören.  — 

Wenn  wir  in  diesen  Ausführungen  den  Aufbau  der 
Hegeischen  Geistesphilosophie  als  dem  Gedanken  Hegels 
selbst  nicht  ganz  adäquat  erwiesen  haben,  so  möchten  vnr 
doch  entschieden  dagegen  Einspruch  erheben,  daß  man 
diesen  Mangel  etwa  der  Methode  oder  dem  Systeme  Hegels 
als  solchem  zur  Last  lege.  Unklarheit  oder  Schiefheit  in 
einer  einzelnen  Begriffsentwickelung  bedeutet  noch  lange 
nicht  Unklarheit  oder  Schiefheit  in  der  Methode  der  Be- 
griffsbildung selbst.  Die  persönlichen  und  zeitgeschicht- 
lichen Anlässe,  die  Hegel  bewogen  haben,  in  seinem  Systeme 
dem  Staat  eine  allzu  umfassende  Stellung  anzuweisen,  haben 
wir  bereits  hervorgehoben;  sie  stammen  jedenfalls  nicht 
aus  seiner  Methode.  Im  Gegenteil  möchten  wir  uns  zu 
behaupten  getrauen,  daß  Hegel,  als  er  seine  Geistes- 
philosophie nach  den  drei  Momenten  des  subjektiven,  des 
objektiven  und  des  absoluten  Geistes  auseinanderlegte,  mit 
genialer  Intuition  das  vollkommen  begriffsgemäße  Schema 
für  das  System  der  Geisteswissenschaften  entworfen  und 
nur  infolge  der  zeitgeschichtlichen  Beschränkung  seiner 
Individualität  diejenige  Sphäre  der  geistigen  Wirklichkeit 
nicht  zu  erfassen  vermocht  hat,  die  als  eigentliche  Mani- 
festation des  objektiven  Geistes  allein  in  Betracht  kommt. 
Die  Lücke,  die  dadurch  in  dem  System  entsteht,  hat  er  so 
ausgefüllt,  daß  er  Erscheinungen  aus  der  Sphäre  des 
absoluten  Geistes  auf  die  beiden  Abschnitte,  die  dem  ob- 
jektiven und  dem  absoluten  Geiste  gewidmet  sein  sollten, 
verteilt  hat.  So  meinen  wir,  daß  es  nur  der  Ergänzung  jener 
Lücke  bedürfen  würde,  um  die  vollkommene  Schlüssigkeit 
und  innere  Übereinstimmung  des  Hegeischen  Systems  zur 
klaren  Anschauung  zu  bringen.  Es  sei  uns  gestattet,  mit 
wenigen  Strichen  den  Aufbau,  so  wie  wir  ihn  im  Geiste 
Hegels  für  sachgemäß  halten,  zu  skizzieren. 

Die  Geistesphilosophie  handelt  von  dem  Geist  in 
Geistesform,  das  ist  von  der  geistigen  Wirklichkeit  oder 
der  Subjekt-Objektivität,  die  in  sich  als  der  Totalität  alles 
Sein  umfaßt.  An  ihr  ist  das  subjektive  Moment,  wie  Hegel 
es  in  dem  ersten  Teile  der  Geistesphilosophie  zutreffend 
entwickelt  hat,  der  Geist,  der  sich  als  Einzelheit  daseiend 
erfaßt,   die  freie  Intelligenz  als  Individuum.    Das  zweite 


Einleitung  des  Herausgebers.  XXXV 

Moment  würde  nun  der  objektive  Geist  zu  bilden  haben, 
eine  geistige  Wirklichkeit,  die  objektiv  als  Intelligenz  er- 
scheint, aber  noch  nicht  als  Selbstbestimmung  des  subjek- 
tiven Geistes,  Es  handelt  sich  also  hier  um  eine  Sphäre 
des  Daseins,  die  nicht  mehr  bloße  Natur,  sondern  intelli- 
gente Natur,  ebenso  aber  noch  nicht  freies  Sichselbst- 
bestimmen  im  Anderssein,  sondern  erst  dies  Anderssein  in 
seiner  eigenen  vernünftigen  Bestimmtheit  ist.  In  den  §§  25 
bis  26  der  Rechtsphilosophie  (S.  40  f.)  ist  auf  den  Gegen- 
satz des  subjektiven  und  objektiven  Willens,  auf  den  Unter- 
schied zwischen  dem  Wollen  und  dem  Werk,  aus  dem 
?ine  derartige  Gestalt  der  Äußerlichkeit  hervorgeht, 
leutlich  hingewiesen.  Der  objektive  Geist  wäre  dem- 
lach  der  freie  Geist,  der  die  ihm  vorliegende  Objektivität 
vie  eine  selbständige  Intelligenz  organisiert,  die  Natur 
n  eine  zweite  geistige  Natur  umwandelt,  von  der  er 
.  üch  in  seiner  Freiheit  unterscheidet  und  in  der  er 
:  iine  von  ihm  unterschiedene  Allgemeinheit  und  Freiheit 
viederfindet.  Diese  Organisation  der  Natur  als  intelligenter 
lat  Hegel  in  dem  Abschnitt  über  die  bürgerliche  Gesell- 
■  ichaft  in  manchen  genialen  Einzelzügen  voilkornmen  richtig 
Tfaßt;  nur  hat  er  sie  in  ihrer  vollen  Bedeutung  noch  nicht 
'rapfunden  und  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  noch  nicht 
imschreiben  können.  Heute  würde  es  ihm  wohl  möglich 
;ein,  den  Abschnitt  über  den  objektiven  Geist  mit  der  Ent- 
•  vickelung  jener  Sphäre  zu  füllen  und  in  ihm  die  Philosophie 
ler  Technik,  der  Wirtschaft  und  der  Gesellschaft 
;ur  Darstellung  zu  bringen. 

In  dem  Abschnitt  über  den  absoluten  Geist  würde  es 
ich  dann  um  den  freien  Geist  handeln,  der  sich  selbst 
ils  die  Totalität  bestimmt.  Er  erscheint  zuerst  als  der 
isthetische  Geist,  der  sein  Wesen  in  der  Erscheinung 
)egreift  und  sich  zum  äußerlichen  Dasein  einer  Welt  der 
innvollen  Formen  erweitert.  Aus  ihm  würde  sich  der 
(wissenschaftliche  Geist  ergeben,  der  in  seiner  In- 
elligenz  den  Sinn  oder  die  Vernunft  der  Dinge  erfaßt 
md  die  Welt  als  nach  allen  Sphären  ihres  Daseins  be- 
;riffene  in  sich  zieht.  Aus  dieser  doppelten  Identität  würde 
iann  der  sittliche  Geist  hervorleuchten,  der  die  Vernunft 
Is  die  sich  selbst  setzende,  schöpieri  che  und  versöhnende 
''reiheit  des  Subjekts  begreift  und  sich  als  das  absolute 
ch  wirklich  wird.  Der  Prozeß  dieses  sittlichen  Willens 
mrde  angeschaut  werden  müssen  in  den  Stufen  des  recht- 
ichen    Willens,     des   im   weiteren   Sinne   moralischen 

c* 


XXXVI  Einleitung  des  Herausgebers. 

Willens,  der  die  Bestimmungen  der  Pietät,  der  Sitte  und 
der  eigentlichen  Moralität  in  sich  schließt,  und  des  reli- 
giösen Willens,  der  die  Selbstbestimmung  in  der  seligen 
Anschauung  des  Absoluten,  und  deshalb  in  seiner  ent- 
wickelten Form  absolute  Philosophie  ist. 

Erst  hier,  wo  das  System  in  seinen  Anfang  zurückkehrt, 
Sein  und  Begriff,  Idee  und  Natur,  subjektiver  und  objek- 
tiver Geist  zur  reinen  Unmittelbarkeit  der  daseienden  Ein- 
zelheit, zur  Realisierung  der  Idee  der  Gottmenschheit  ge- 
langt, ist  die  Stelle  gegeben,  wo  sich  der  Geist  in  seiner 
Geschichte  anzuschauen  und  in  ihr  seine  Wahrheit  zu 
reproduzieren  vermag.  Wie  jedes  seiner  Momente  sich 
in  die  Zeit  eingebildet  und  in  ihr  auseinandergelegt  hat, 
das  muß  in  der  Äthetik,  der  Wissenschaftslehre  und 
der  Ethik  betrachtet  werden.  Wie  aber  dieses  zeitliche 
Sichauseinanderlegen  der  verschiedenen  Momente  in  dem 
Zusammenschluß  ihrer  einander  entsprechenden  Epochen 
die  Aufeinanderfolge  besonderer  geistiger  Prinzipien  oder 
Volksgeister  und  so  eine  Geschichte  nationaler  Kultur- 
gemeinschaften bildet,  die  in  dieser  Aufeinanderfolge 
den  allgemeinen  Geist  der  Wahrheit  und  der  Freiheit 
offenbaren,  das  legt  hier  in  der  Philosophie  der  Ge- 
schichte der  Geist  als  sein  eigenes  Werden  dar.  Indem 
aber  diese  letzte  Arbeit  des  sich  selbst  begreifenden  Geistes 
während  des  Ganges  der  Geschichte  beständig  fortgedauert 
und  jede  Epoche  in  der  Philosophie  ihrer  Zeit  ihren  in- 
wohnenden Begriff  ausgesprochen  hat,  bedeutet  nun  die 
Geschichte  der  Philosophie,  philosophisch  entwickelt, 
die  letzte  Rückkehr  des  freien  Geistes  in  sich  selbst,  die 
Rechtfertigung  der  Vernünftigkeit  alles  Wirklichen  und 
seine  Vergeistigung  zu  dem  freien  Leben  des  begriffenen 
Begriffs,  —  und  also  die  wahre  Theodizee. 


3.  Kapitel.    Das  System  der  Hegeischen  Rechts- 
philosophie. 

I.  Seine  Voraussetzung. 

Gehen  wir  nun  dazu  über,  das  System  der  Rechtsphilo- 
sophie selbst  zu  betrachten,  wie  es  Hegel  in  dem  vor- 
liegenden Werke  entworfen  hat,  so  ist  zuerst  hervorzu- 
heben die  Voraussetzung,  von  der  es  ausgeht,  die  Grund- 
anschauung,  auf   der  es  ruht.    Diese  ist,   in  aller  Kürze 


Einleitung  des  Herausgebers.  XXXVII 

bezeichnet,  die  Vernünftigkeit  des  Wirklichen.  Hegel 
selbst  hat  in  seiner  Vorrede  zur  Rechtsphilosophie  diese 
Grundanschauung  auf  das  stärkste  hervorgehoben.  Aber 
ihre  Entwicklung  und  Durchführung  für  den  gesamten  In- 
halt des  Bewußtseins  hat  er  als  bereits  geleistet  angesehen. 

Das  Werk,  in  dem  er  diese  Leistung  in  seiner  Weise 
vollbracht  hat,  ist  seine  Phänomenologie  gewesen,  auf 
die  er  auch  in  dem  vorliegenden  Werke  häufig  zurückweist. 
Man  hat  eine  von  Michelet  berichtete  Äußerung  Hegels,  der 
die  Phänomenologie  seine  Entdeckungsreisen  genannt  haben 
soll,  gerne  so  verstanden,  als  hätte  Hegel  dieses  Werk 
als  eine  Sammlung  von  Experimenten,  als  etwas  Proviso- 
risches bezeichnen  wollen,  mit  dessen  Hilfe  er  erst  hinter- 
her zu  seinem  wahren  Standpunkte  gekommen  sei.  In 
diesem  Lichte  könnte  man  aber  höchstens  Hegels  Ab- 
handlung über  das  Naturrecht  betrachten;  denn  hier  hat 
er  seine  Methode  noch  nicht  gefunden,  und  der  sein 
ganzes  System  beherrschende  Begriff  des  Geistes  taucht 
erst  am  Schlüsse  siegverheißend  auf,  ohne  bereits  die 
ihm  gemäße  Entwäckelung  gefunden  zu  haben.  In  der 
Phänomenologie  dagegen  liegt  der  Gedanke  Hegels  be- 
reits zu  voller  Klarheit  methodisch  durchgearbeitet  vor. 
Aber  im  Gegensatze  zu  der  Begrenzung  und  dem  Auf- 
bau seiner  späteren  Arbeiten,  in  denen  er  überall  sich 
an  sein  in  der  Logik  entworfenes  Schema  der  Kategorien 
hält,  hat  die  Form  der  Phänomenologie  etwas  Eigenartiges, 
das  nachher  so  nicht  wieder  bei  Hegel  begegnet.  Wie  er 
dort  den  umfassenden  Zusammenhang  der  Erfahrungen  des 
Bewußtseins  auseinanderlegt  und  durch  die  Analyse  des 
Bewußtseins  sämtliche  Gebiete  der  Wirklichkeit  unter  die 
Macht  des  Begriffes  zwingt,  das  kann  er  wohl  mit  Ent- 
deckungsreisen vergleichen,  auf  denen  wirklich  diese  Ge- 
biete sich  seiner  Erkenntnis  haben  erschließen  müssen. 
Jedenfalls  ist  ohne  Vertrautheit  mit  der  Phänomenologie 
das  Hegeische  Denken  in  seiner  eigentlichen  Größe  gar 
nicht  zu  verstehen. 

Durch  die  Kantische  Philosophie  war  die  Vernünftig- 
keit als  das  Wesen  der  Subjektivität  zum  wissenschaft- 
lichen Bewußtsein  gekommen.  Die  Vernünftigkeit  der  Ob- 
jektivität hatte  Schelling  mit  genialer  Intuition  behauptet. 
Beide  Prinzipien  hat  Hegel  übernommen.  Die  Einheit  aber, 
die  vernünftige  Wirklichkeit,  in  der  die  subjektive  und 
die  objektive  Seite  zur  Identität  kommen,  im  Sinne  Schel- 
lings   intuitiv,    d.  h.    doch   wieder    bloß   subjektiv,    aufzu- 


XXXVIII  Einleitung  des  Herausgebers. 

fassen,  erklärt  er  für  ungenügend.  Für  ihn  bedarf  es  der 
strengen  Methode,  die  sich  den  Bestimmtheiten  der  Wirk- 
lichkeit genau  anschließt  und  aus  ihnen  selbst  heraus  den  j^ 
inneren  vernünftigen  Zusammenhang  des  Ganzen  sich  '  > 
manifestieren  läßt.  So  ist  Hegel  darauf  geführt  worden, 
in  der  Phänomenologie  erstens  die  stete  Entsprechung 
zwischen  dem  Bewußtsein  und  seinem  Gegenstande  nach- 
zuweisen, also  die  Wirklichkeit  in  allen  ihren  Erscheinungs- 
formen als  Identität  des  Objektiven  und  des  Subjektiven, 
d.  h.  als  vernünftig  darzustellen  und  zweitens  diese  Dar- 
stellung vermittels  der  dialektischen  Methode  vorzunehmen, 
die  in  seinem  Sinne  nichts  anderes  ist,  als  ein  Aufmerken 
auf  die  der  Sache  selbst  innewohnende  Bewegung  des  Be- 
griffes. Er  hat  auf  diese  Weise  die  Mangelhaftigkeit  der 
sonstigen  Behauptungen  philosophischer  Wahrheit  ab- 
stellen wollen,  die  sich  damit  zu  begnügen  pflegten,  ent- 
weder das  Wissen  des  gewöhnlichen  Bewußtseins  kurzer- 
hand als  unwahr  zu  verwerfen  oder  zu  behaupten,  daß  in 
diesem  die  wahre  Erkenntnis  irgendwie  als  bessere  Ahnung 
schon  vorhanden  sei*).  Auf  ein  festes  Fundament  wii-d 
das  wissenschaftliche  Denken  damit  nicht  gestellt.  Dahin 
kann  es  nicht  anders  kommen,  als  daß  es  den  Weg  er- 
kennt, auf  dem  sich  in  fortschreitender  Vergeistigung 
seiner  Bestimmungen  das  Subjekt  mit  der  Objektivität  in 
eins  setzt,  bis  es  sich  zum  Wissen  des  Begriffes  erhoben  hat. 
Vermittelst  dieser  Erkenntnis  wird  die  Tatsache  der  Er- 
fahrung, wird  das  Dasein  und  die  Erscheinung,  die  Beziehung 
von  Subjektivität  und  Objektivität  überhaupt  erst  begreil- 
lich  und  die  gesamte  Wirklichkeit  zu  dem  vernünftigen 
Zusammenhange  geistigen  Lebens  erhellt,  als  der  sie  von 
jeder  Wissenschaft  ohne  weiteres  vorausgesetzt  wird.  Denn 
alle  Wissenschaft  geht  auf  gar  nichts  anderes  aus,  al.-^ 
in  ihrem  Gegenstande  die  Vernunft  an  den  Tag  zu  bringen. 
Es  ist  nicht  zu  verwundern,  daß  Hegel  seinen  Grund- 
gedanken am  glänzendsten  auf  demjenigen  Gebiete  des 
Wirklichen  hat  durchführen  können,  wo  die  Objektivität 
selbst  sich  bereits  durch  den  bewußten  Gedanken  und  Willen 
des  Menschen  gestaltet  zeigt.  Für  die  geschichtliche  Welt, 
das  staatliche  und  religiöse  Leben  hat  Hegel  das  lebhafteste 
Interesse  gehabt,  längst  ehe  er  zu  einem  selbständigen 
philosophischen  Standpunkte  gelangt  war.  Aber  eben  in 
diesem  Interesse  kündigt  sich  der  spätere  Standpunkt  seines 


*)  Phil.  Bibl.,  Bd.  114,  S.  53. 


Einleitung  des  Herausgebers.  XXXIX 

Denkens  schon  an.  Denn  gerade  in  der  geschichtlichen 
Wirklichkeit  kommt  die  Identität  des  Objektiven  und  des 
Subjektiven  unmittelbar  zur  Erscheinung;  die  wirkliche 
Welt  ist  hier  die  Welt  des  geistigen  Lebens  und  der  sitt- 
lichen Ordnungen.  Sie  hat  stets  für  Hegel  den  eigentlichen 
Mittelpunkt  seiner  Gedankenwelt  gebildet,  weil  er  in  ihr  die 
Vernünftigkeit  als  eine  wirklich  existierende  Tatsache  auf- 
zeigen konnte,  die  von  dem  allgemeinen  Bewußtsein  aner- 
kannt wird.  Demgemäß  faßt  er  den  Geist  selbst  seinem 
Wesen  nach  als  den  sittlichen  oder  als  den  die  Vernunft,  d.  h, 
sein  eigenes  Wesen,  wollenden  Geist.  Das  Denken  und  der 
Wille  sind  ihm  nicht  zwei  verschiedene  Vermögen,  zwei  ge- 
sonderte Teile  in  dem  Subjekt.  Sie  sind  wesentlich  identisch; 
denn  der  Geist  ist  Freiheit.  Und  zwar  ist  er  als  Denken  Frei- 
heit von  den  besonderen  Bestimmungen  des  Objekts,  die  er 
zur  Allgemeinheit  der  Vernunft  erhebt,  und  als  Wille  Frei- 
heit von  den  besonderen  Bestimmungen  des  Subjekts,  die 
er  in  der  Allgemeinheit  des  Ich  aufhebt.  Der  hergebrachte 
Unterschied  zwischen  Determinismus  und  Indeterminismus 
liegt  tief  unter  dieser  Anschauung,  die  den  Willen  als  ver- 
nünftige Selbstbestimmung  begreift.  Insofern  der  Wille 
im  Individuum  auftritt,  ist  seine  Freiheit  ein  Werden,  ein 
Prozeß;  insofern  die  Freiheit  sich  zur  allgemeinen  Gestalt 
des  Lebens  einer  Gesamtheit  organisiert,  entfaltet  sie  sick 
im  Fortschritte  der  Geschichte.  Insofern  der  besondere 
Wille  des  Individuums  und  der  allgemeine  Wille  der  Ge- 
samtheit sich  selbst  zum  Bewußtsein  kommen  in  der 
geistigen  Anschauung  ihrer  Idee,  zu  der  sie  in  der  Religion 
sich  erheben,  ist  auf  jeder  Stufe  des  Werdens  und  der  Ge- 
schichte die  absolute  Versöhnung  vorhanden  und  die  Wahr- 
heit offenbar,    daß  der   Geist  alle   Wirklichkeit  ist. 

Deshalb  hat  die  Lehre  vom  Sittlichen  nicht  etwa  sich 
auszudenken,  wie  es  in  der  menschlichen  Gemeinschaft 
zugehen  sollte,  aber  nicht  zugeht.  Sondern  sie  hat  den 
sittlichen  Organismus,  zu  dem  sich  der  freie  Geist  aus- 
gestaltet hat,  als  die  Ausprägung  der  Vernunft  auf  dem 
Gebiete  des  sittlichen  Lebens  zu  erkennen.  Gewiß  gibt 
es  auf  diesem  Gebiete  ein  Soll;  ja,  daß  dieses  Soll  darin 
herrscht,  macht  es  gerade  zu  dem  Schauplatze  des  Lebens 
in  der  Freiheit  des  Geistes.  Aber  dieses  Soll  als  Aufgabe 
für  das  einzelne  Subjekt  wäre  gar  nicht  denkbar,  wenn 
es  nicht  bereits  geistig  verwirklicht  wäre  als  die  allgemeine 
Ordnung  und  Einsicht,  die  der  Einzelne  anerkennt.  Des- 
halb ist  das  Sittliche  jederzeit  schon  das  Wirkliche  und 


XL  Einleitung  des  Herausgebers. 

niemals  das  bloß  als  Forderung  Vorgestellte,  dem  sich 
die  Menschheit  im  unendlichen  Prozeß  entgegenstreckte 
ohne  Hoffnung,  es  jemals  zu  erreichen.  Darum  kann  Hegel 
in  der  Vorrede  zur  Rechtsphilosophie  sagen:  Ohnehin  über 
Recht,  Sittlichkeit,  Staat  ist  die  Wahrheit  ebenso  sehr 
alt  als  in  den  öffentlichen  Gesetzen,  der  öffentlichen  Moral 
und  Religion  dargelegt  und  bekannt  (S.  5), 

In  diesen  Worten  ist  kurz  und  bündig  die  Voraus- 
setzung ausgesprochen,  von  der  Hegel  in  seiner  Rechts- 
philosophie ausgeht.  Das  ganze  folgende  Werk  hat  den 
A^achweis  zu  liefern,  daß  diese  Voraussetzung  zutrifft  oder 
daß  die  Anschauung  der  Wirklichkeit  als  vernünftiger, 
die  Hegel  in  der  Phänomenologie  an  dem  gesamten  In- 
halte des  Bewußtseins  durchgeführt  hat,  sich  auch  auf 
dem  Gebiete  von  Recht  und  Staat  als  die  Wahrheit  erweist. 
Das  ist  der  Grund,  weshalb  Hegel  an  den  Eingang  seiner 
Rechtsphilosophie  die  berühmten  Worte  gestellt  hat:  Was 
wirklich  ist,  das  ist  vernünftig;  und  was  vernünftig  ist, 
das  ist  wirklich*). 

In  diesen  Worten  liegt  eingeschlossen  die  Aufgabe 
für  die  Wissenschaft,  wie  sie  Hegel  auch  sonst  formuliert 
hat:  das  zu  erkennen,  was  ist.  Hier  aber  tut  sich  auch 
die  eigentümliche  Schwierigkeit  für  die  Philosophie  des 
sittlich  geistigen  Lebens  auf,  indem  das  Seiende,  das  es 
hier  zu  erkennen  gilt,  ein  Werdendes  ist.  Die  geschicht- 
liche Wirklichkeit  zeigt  ebenso  sehr,  daß  die  Wahrheit 
über  Recht,  Sittlichkeit  und  Staat  uralt  und  von  jeher  in 
der  öffentlichen  Ordnung  verwirklicht  gewesen  ist,  wie 
sie  zugleich  erkennen  läßt,  daß  in  dem  Bewußtsein  der 
Freiheit  wie  in  ihrer  realen  Organisation  ein  steter  Fort- 
schritt stattfindet.  Dadurch  kommt  in  die  Einheit  dieser 
subjektiv-objektiven  Wirklichkeit  die  Trennung  hinein,  daß 
unter  Umständen  zwischen  dem  vernünftigen  Selbstbewußt- 
sein und  der  bestehenden  Ordnung  keine  Übereinstimmung 
mehr  herrscht.  Für  Hegel  hat  sich  dieser  Zwiespalt  in  der 
Gestalt  Pia  tos  verkörpert,  der  nicht  in  subjektivistischer 
Eitelkeit,  sondern  aus  einem  tieferen  Bedürfnisse  der  Ver- 
nunft mit  der  geltenden  staatlichen  Sittlichkeit  des  Griechen- 
tums zerfiel. 

Diese   griechische   Sittlichkeit,     die    als   höchste   Be- 


*)  Über  diese  Worte  siehe  die  genaueren  Ausführungen  in 
der  Abhandlung  des  Herausgebers:  Kreuz  und  Rose,  Beiträge 
zur  Hegelforschung.     1.  Heft.     Berlin  1909. 


Einleitung  des  Herausgebers.  XLI 

Stimmung  des  Geistes  nur  die  der  natürlichen  Individualität 
kannte,  schloß  einen  Mangel  in  sich  ein;  ein  tieferes 
Prinzip,  das  der  unendlichen  Freiheit  der  Subjektivität, 
machte  sich  an  ihr  als  Sehnsucht  und  in  der  Sophistik 
als  Verderben  geltend.  Die  Hilfe  für  diese  Sehnsucht  mußte 
aus  der  Höhe  kommen,  d.  h.  durch  eine  neue  Offenbarung 
des  religiösen  Geistes,  Plato  hat  diese  Hilfe  dadurch 
schaffen  wollen,  daß  er  eine  neue  äußerliche  Staatsord- 
nung erdachte,  durch  die  er  mindestens  den  herrschenden 
Stand  zu  jener  Freiheit  der  Subjektivität  führen  wollte, 
in  der  er  das  Prinzip  der  neuen  Zeit  richtig  erkannt  hatte. 
Aber  mit  solcher  äußerlichen,  in  dem  abstrakten  Gedanken 
beharrenden  Korrektur  der  geschichtlichen  Wirklichkeit 
war  die  Hilfe  nicht  zu  schaffen.  Plato  hat  durch  seine 
Staatskonstruktion  gerade  das  Prinzip  selbst,  um  das  es 
ihm  zu  tun  war,  die  freie  unendliche  Persönlichkeit,  am 
tiefsten  verletzt.  (S.  13  f.)  Er  hat  nicht  gewußt,  daß  die 
Philosophie  die  ihr  vorliegende  Gestalt  des  Lebens  nur  zu 
erkennen,  nicht  zu  verjüngen  vermag.  Was  der  Weltgeist 
schafft,  wenn  er  aus  den  vorhandenen  Elementen  des  Be- 
wußtseins, —  in  die  als  letzter  Gewinn  jeder  geschichtlichen 
Epoche  auch  die  Philosophie  als  die  begriffene  Erkennt- 
nis dieser  Epoche  aufgenommen  wird,  —  eine  neue  Gestalt 
des  Lebens  hervorgehen  läßt,  das  schafft  er  in  der  Tiefe  des 
substantiellen  Bev/ußtseins  der  Menschheit,  nicht  auf  dem 
Boden  der  abstrakten  Wissenschaft. 

In  diesen  Gedankengängen  darf  man  den  Versuch 
Hegels  erkennen,  seine  Stellungnahme  gegenüber  der  sub- 
jektivistischen  Moralität  seiner  Zeit  zu  rechtfertigen.  Er 
gibt  die  Möglichkeit  zu,  daß  die  vorhandene  sittliche  Ord- 
nung dem  tieferen  Bedürfnis  nicht  genügen  kann.  Er 
leugnet  zugleich  die  Möglichkeit  einer  Reform  vermittelst 
der  Wissenschaft.  Nur  aus  der  Tiefe  des  religiösen  Geistes 
läßt  sich  eine  Neugestaltung  der  sittlichen  Wirklichkeit 
vollbringen.  Nun  aber  ist  im  Christentum  und  speziell 
in  der  Reformation  die  Religion  zu  ihrer  Vollendung  ge- 
kommen. Infolgedessen  erklärt  Hegel  in  der  Gegenwart  eine 
verneinende  Stellung  gegenüber  der  auf  diesem  religiösen 
Boden  erwachsenen  Gestalt  der  Sittlichkeit  schlechtweg 
für  nichts  als  rückschrittliche  und  beschränkte  subjekti- 
vistische  Eitelkeit.  Das  Moment  der  Wahrheit  in  dieser 
Betrachtungsweise  läßt  sich,  besonders  im  Blick  auf  die 
tatsächliche  Erscheinung  des  Subjektivismus  in  der  Zeit 
Hegels,  gar  nicht  verkennen.    Aber  auch  ihre  Einseitigkeit 


XLII  Eiuleituug  des  Herausgebers. 

wird  man  offen  anerkennen  müssen.  Sie  hat  ihren  Grund 
in  der  Anschauung  Hegels  von  dem  sittlichen  Organismus, 
dessen  höchste  Verkörperung  ihm  die  staatliche  Ordnung 
ist.  Dadurch  empfängt  das  staatliche  Leben  seiner  Gegen- 
wart, da  es  doch  einmal  auf  dem  Boden  des  protestantischen 
Christentums  sich  gestaltet  hat,  eine  Art  von  sakrosanktem 
Charakter,  der  doch  höchstens  der  religiösen  Idee  selbst, 
und  zwar  auch  ihr  nur  nach  der  ideellen  Seite,  nicht  nach 
ihrer  zeitgeschichtlichen  Ausprägung  in  Kirche  und  Theo- 
logie zukommen  könnte.  Die  Tatsache  tritt  zurück,  daß 
auch  auf  der  Höhe  dieses  religiösen  Standpunktes  der 
Fortschritt  in  der  Ausbildung  sämtlicher  Sphären  des 
menschlichen  Gemeinschaftslebens  niemals  ruhen  kann  und 
daß  dieser  Fortschritt  gefördert  wird  durch  die  in  dem 
subjektiven  Bewußtsein  erwachende  Kritik  des  Bestehenden, 
durch  das  in  der  Innerlichkeit  sich  geltend  machende  Prin- 
zip der  vernünftigen  Einsicht.  Es  lag  damals  im  Geiste 
der  Zeit,  daß  diese  Kritik  zum  guten  Teile  weit  hinter  dem 
erreichten  Standpunkte  der  wahrhaft  staatlichen  Freiheit 
zurückblieb  und  aus  religiösen  Tendenzen  hervorging,  die 
nicht  auf  der  Höhe  der  Religion  des  Geistes  standen. 
Immerhin  unterscheidet  die  Polemik  Hegels  nicht  genügend 
zwischen  dem  zufälligen  Unvermögen  der  Richtungen,  die 
zu  seiner  Zeit  auf  Fortbildung  des  politischen  Lebens  hin- 
arbeiteten, und  zv/ischen  dem  absoluten  Rechte  des  ver- 
nünftigen Selbstbewußtseins,  sich  niemals  mit  dem  erreichten 
und  vorhandenen  Zustande  zufrieden  zu  geben.  Das  hat 
ihm  den  Vorwurf  reaktionärer  Gesinnung  und  rücksichts- 
loser Verherrlichung  der  staatlichen  Zustände  des  da- 
maligen Preußens  zugezogen.  Der  Vorwurf  ist  sachlich 
nicht  im  mindesten  berechtigt.  Denn  gerade  Hegels  Staats- 
lehre geht  in  den  wesentlichsten  Punkten  über  das 
hinaus,  was  zu  seiner  Zeit  in  Preußen  bestehende  Ordnung 
war.  Formell  aber  weist  der  Vorwurf  auf  die  Schwäche  in 
der  Hegeischen  Systematik  des  Sittlichen  hin,  aus  der  man 
wohl  alle  Unzulänglichkeiten  in  seinem  System  der  Rechts- 
philosophie herleiten  kann,  nämlich  auf  die  ungenügende 
Sonderung  der  höheren  und  innerlicheren  Formen  des  Sitt- 
lichen von  der  staatlichen  Organisation  und  auf  die  daraus 
folgende  Verabsolutierung,  ]a  Vergötterung  des  Staates. 

IL   Die  Anlage   des  Systems. 

Nirgends    mehr    als    bei    der    Betrachtung    konkreter 
Wirklichkeit  ist   die  Darstellungsform  Hegels  am  Platze, 


Einleitung  des  Herausgebers.  3ILI1I 

der  von  den  abstrakten  Momenten  des  Begriffes  ausgeht 
und  aus  ihrer  Einseitigkeit  selbst  heraus  den  Begriff  zur 
umfassenden  Totalität  sich  entfalten  läßt.  Ist  doch  schon 
das  vernünftige  Bewußtsein,  das  von  dialektischer  Methode 
gar  nichts  weiß,  daran  gewöhnt,  sich  das  Konkrete  als 
eine  Einheit  verschiedener  abstrakter  Momente  verständlich 
zu  machen.  Wenn  dabei  für  das  Bewußtsein  die  Kategorie 
des  Ganzen  und  der  Teile  vorherrscht,  so  gewinnt  für  das 
wissenschaftliche  Denken  der  Begriff  in  dem  dialektischen 
Bestimmen  seiner  selbst  die  innere  Lebendigkeit,  die  das 
Ganze  als  die  Selbstbewegung  seiner  Momente,  das  Kon- 
krete als  ihr  Resultat  und  zugleich  als  den  Grund,  aus  dem 
sie  hervorgeht,   erkennen  läßt. 

Indem  Hegel  das  sittliche  Leben  in  seiner  Totalität  als 
die  Wirklichkeit  des  freien  Geistes  zu  betrachten  unter- 
nimmt, geht  er  mit  Recht  von  demjenigen  Momente  dieser 
Wirklichkeit  aus,  durch  das  sie  in  ihrer  abstrakten  Form  als 
das  äußerlich  anerkannte  und  geltende  Recht  bestimmt 
wird.  Die  Einheit  zwischen  dem  Willen  des  Subjekts  und  dem 
allgemeinen  Willen  ist  als  bewußte  und  freie  Einheit  ira 
Rechte  vorhanden.  Aber  sie  ist  noch  rein  abstrakt,  weil 
auf  der  Seite  der  Einzelheit  die  Verinnerlichung  zur  Sub- 
jektivität fehlt  und  der  Einzelne  schlechtweg  wie  jeder 
andere  bloß  als  Rechtsperson  gilt,  und  weil  ebenso  auf  der 
Seite  der  Allgemeinheit  nur  eine  Realisierung  der  ver- 
nünftigen Notwendigkeit,  der  äußerlich  bindenden  Ordnung 
vorhanden  ist. 

Daß  von  diesem  abstrakten  Momente  aus  der  Fort- 
schritt in  der  Verwirklichung  der  Freiheit  sich  in  der 
Richtung  vollziehen  muß,  in  der  sich  der  einzelne  und 
der  allgemeine  Wille  innerlich  einander  nähern,  bis  sie 
in  einem  System  der  vollkommenen  Freiheit  zur  Identität 
gelangen  und  jedes  einzelne  Subjekt  sich  als  Träger  und 
Verkörperung  des  allgemeinen  Geistes  weiß  und  betätigt, 
auch  das  hat  Hegel  mit  vollkommener  Klarheit  erkannt 
und  ausgesprochen.  Nun  aber  macht  sich  jener  Mangel 
in  seiner  Auffassung  geltend,  daß  er  als  das  Prinzip  und 
Resultat  der  wirklichen  Freiheit  das  staatliche  Leben,  den 
Organismus  des  Staatsrechtes  ansieht.  Wohl  gilt  ihm  dieser 
Organismus  als  innerlich  erfüllt  mit  den  ideellen  Kräften 
des  Lebens  im  Geiste;  aber  darum  bleibt  doch  der  Übel- 
stand vorhanden,  daß  die  Totalität  des  sittlichen  Lebens, 
die  eben  nicht  in  Form  einer  gesetzlichen  Äußerlichkeit, 
sondern  als  das  Ganze  der  sittlichen  Kulturgemeinschaft, 


XLYI  Einleitung  des  Herausgebers. 

des  Eigentums  zu  sein,  innerhalb  der  bürgerlichen  Ge- 
sellschaft auf,  obwohl  schon  im  abstrakten  Recht  von 
dem  Vertrage  und  seiner  Verletzung  die  Rede  war  und  in 
der  eigentlichen  Staatslehre  erst  bei  Besprechung  der  Re- 
gierungsgewalt dieser  Gegenstand  zum  Abschluß  kommen 
kann  (S.  240ff.),  Die  Lehre  von  der  Strafe  wird  in  das 
abstrakte  Recht  hineingesetzt  und  erscheint  dann  in  §220 
in  dem  Abschnitte  über  das  Gericht  noch  einmal  an  ganz 
anderer  Stelle,  aber  mit  identischem  Inhalt.  Vom  Ver- 
brechen ist  ebenso  schon  im  abstrakten  Recht  die  Rede, 
vmä  dabei  muß  nachher  vom  Staatsverbrechen  wieder  be- 
sonders gehandelt  werden,  und  eine  Partikularität  wie  da? 
Preßdelikt  erhält  in  §  319  eine  ganz  abgesonderte  Be- 
handlung. 

Schon  früh  hat  man  auch  darauf  hingewiesen,  daß 
die  Einteilung  der  Lehre  vom  abstrakten  Recht  in  die  drei 
Kapitel:  Eigentum,  Vertrag,  Unrecht  und  Verbrechen  dem 
Begriffe  der  Sache  wenig  entspricht.  Das  zusammen- 
fassende Moment  für  Eigentum  und  Vertrag  läßt  sich 
unmöglich  in  dem  Unrecht  finden.  Ebenso  hat  man  stets 
die  Einteilung  des  Unrechts  nach  den  drei  Begriffen  des 
unbefangenen  Unrechts,  des  Betruges  und  des  Verbrechens 
unbefriedigend  gefunden.  Betrug  ist  durch  das  Bewußtsein 
des  gesetz-  und  rechtswidrigen  Willens  als  eine  Art  des 
Verbrechens  bestimmt;  daneben  ist  der  Unterschied  zwischen 
der  heuchlerischen  Benutzung  rechtsgültiger  Formen  und 
der  offenen  Abweichung  von  diesen  Formen  nur  accidon- 
tieller  Art.  Nicht  minder  fehlt  es  dem  Übergange  vom 
abstrakten  Rechte  zur  Moralität  an  dialektischer  Schlüssig- 
keit. Wohl  tritt  in  der  Strafe  der  innerliche  Geist  des 
Rechts,  das  Rechtsbewußtsein  hervor,  in  dem  sich  der 
allgemeine  Wille  zur  Innerlichkeit  des  Pflichtgefühls 
verlieft.  Aber  das  geschieht  nicht  bloß  in  der  Strafe; 
Eigentum  und  Vertrag  offenbaren  ihrerseits  dieses  tiefere 
Gefühl  der  Verpflichtung  bereits  in  der  gleichen  Weise; 
sie  könnten  ohne  das  Rechtsgefühl  und  das  Pflichtbewußt- 
sein überhaupt  nicht  zu  Bestände  kommen.  Es  erweist 
sich  hier,  welche  Schwierigkeiten  durch  das  Einschieben 
der  Moralität  zwischen  das  abstrakte  Recht  und  die  Staats- 
lehre entstehen.  Zunächst  ist  zu  sagen,  daß  der  Abschnitt 
über  Vorsatz,  Handlung  und  Fahrlässigkeit  überhaupt  nicht 
in  das  Kapitel  ,,Moralität"  paßt.  Es  handelt  sich  hier  deut- 
lich um  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  des  rechtlichen 
Willens,    Insbesondere  der  Lehre  vom  Unrecht  ist  durch 


Einleitung  des  Herausgebers.  XLVII 

diese  unrichtige  Anordnung  eine  Reihe  von  Gesichtspunkten 
vorenthalten,  die  notwendig  zu  ihr  gehören.  Ohnehin  aber 
ist  schon  die  Anerkennung  von  Eigentum  und  der  Abschluß 
eines  Vertrages  zweifellos  als  „Handlung"  zu  charakteri- 
sieren. 

Innerhalb  des  Rechtslebens  die  Moralität  als  eine  ge- 
sonderte Erscheinung  zu  betrachten,  geht  eben  darum  nicht 
an,  weil  ja  der  moralische  Wille  jede  einzelne  Rechts- 
bestimmung zu  seinem  Inhalte  machen  kann,  also  über  das 
ganze  Rechtsgebiet  hinübergreift.  Auch  im  abstrakten  Rechte 
schon  ist  Recht  und  Pflicht  in  jedem  Individuum  eins;  ich 
fühle  mich  zum  Schutze  meines  Eigentums,  zur  Heiligung 
des  Vertrages  verpflichtet  in  dem  Bewußtsein,  dadurch  das 
Eigentum  eines  jeden,  die  Allgemeinheit  von  Treu  und 
Glauben  zu  schützen.  Dadurch,  daß  Hegel  selbst  in  §  213 
von  der  moralischen  Seite  und  den  moralischen  Geboten, 
als  welche  den  Willen  nach  seiner  eigensten  Subjektivität 
und  Besonderheit  betreffen,  erklärt,  daß  sie  nicht  Gegen- 
stand der  positiven  Gesetzgebung  sein  können  (S.  172), 
und  dadurch,  daß  er  in  §  207  der  Moralität  in  dem  bürger- 
lichen Leben  eine  eigene  Sphäre  und  eigentümliche  Stelle 
zuweist  (S.  168),  hat  er  der  Sache  nach  selbst  zugestanden, 
daß  die  Moralität  eine  Verwirklichung  des  sittlichen  Willens 
von  eigener  Art  und  für  Recht  und  Staat  gleichsam  un- 
erreichbar ist,  während  sie  dem  Rechte  und  dem  Staate 
in  seinem  ganzen  Umfange  eine  innere  Sanktionierung  ver- 
leiht durch  die  Aufnahme  seiner  Ordnungen  in  das  Innere 
des  Pflichtbewußtseins.  Hegel  hat  sich  von  einem  durch- 
aus berechtigten  Gedanken  leiten  lassen,  als  er  der  Fichte- 
schen abstrakten  Trennung  von  Legalität  und  Moralität 
die  Tatsache  entgegenstellte,  daß  beide  Momente  im  Sitt- 
lichen unlösbar  vereint  seien.  Wenn  Fichte  von  dem  Staate 
fordert,  sein  vernünftiger  Zwangsmechanismus  müsse  so 
unbedingt  fungieren  können,  daß  er  sich  zu  erhalten  im- 
stande sei,  auch  wenn  alle  einzelnen  Menschen  im  Staate 
Schelmen  wären,  so  hebt  Hegel  mit  vollem  Rechte  hervor, 
daß  ein  Staat  gar  nicht  würde  existieren  können,  wenn  nicht 
eine  innere  Gesinnungsgemeinschaft  zwischen  seinen  An- 
gehörigen bestände.  Ebendeshalb  aber  liegt  in  solcher 
Gesinnungsgemeinschaft  ein  durch  das  gesamte  Volksleben 
hindurchgehendes  und  über  das  Rechtsleben  hinüber- 
greifendes Moment  vor,  das  nicht  als  in  der  Sittlichkeit 
des  Staates  aufgehend,  sondern  als  sie  tragend  und  ver- 
tiefend   zu   Recht    und    Staat    hinzukommt.     Deshalb   hat 


XL VIII  Einleitung  des  Herausgebers. 

auch,  wie  wir  schon  im  ersten  Kapitel  hervorgehoben 
haben,  die  Moralität  in  der  Pliänomenologie  den  sach- 
gemäßeren Platz  erhalten  als  in  der  Rechtsphilosophie. 
Denn  dort  tritt  sie  auf  als  das  Hinausgehen  des  freien  Geistes 
über  die  staatliche  Sittlichkeit  und  leitet  selbst  durch  die 
ihr  immanente  Dialektik  zur  Religion  hinüber. 

Auch  in  dem  dritten  Teile  der  Rechtsphilosophie,  in 
der  eigentlichen  Staatslehre  kehrt  die  Erscheinung  wieder, 
daß  Hegel,  weil  er  unter  dem  Staate  die  sittliche  Totalität 
begreifen  möchte,  heterogene  Elemente  ineinanderfügt. 
Er  hat  hier  den  begrifflichen  Unterschied  von  Element 
und  von  Moment  nicht  scharf  im  Auge  behalten.  Schon 
von  der  Familie  wird  man  nicht  sagen  können,  daß  sie 
ein  Moment  des  staatlichen  Lebens  sei;  sie  ist  als  ein 
Element  menschlichen  Gemeinschaftslebens  zu  bezeichnen, 
dessen  sich  der  Staat  annimmt  und  das  er  im  Ehe-  und 
Familienrecht  wie  andere  Sphären  des  Gemeinschaftslebens 
seiner  Ordnung  einfügt.  In  noch  höherem  Maße  trifft 
diese  Bemerkung  auf  die  bürgerliche  Gesellschaft  zu,  deren 
Interessen  das  wichtigste  Material  für  die  rechtliche  Or- 
ganisation, keineswegs  aber  selbst  Gebilde  der  Rechts- 
ordnung und  Rechtsentwickelung  sind.  Man  wird  als  die 
Momente  des  staatlichen  Organismus  das  Recht,  die  Ver- 
fassung und  die  Politik  nennen  müssen  und  in  Gebilden 
wie  Gesellschaft  und  Familie  Elemente  sehen,  aus  denen 
sich  der  Organismus  nährt  und  erhält. 

Infolge  dieser  Einbeziehung  der  selbständigen  Systeme 
von  Familie  und  Gesellschaft  in  die  Staatslehre  ergeben 
sich  nun  wieder  allerlei  unbefriedigende  Gedankenverbin- 
dungen. So  wird  von  der  Ehescheidung  und  von  dem 
Erbrecht  unmittelbar  im  Anschluß  an  die  Erziehung  ge- 
handelt. Die  glänzenden  Ausführungen  über  Weltverkehr 
und  Kolonisation  stehen  unter  dem  Kapitel  Polizei.  Das 
Verhältnis  des  Staates  zu  Religion  und  Kirche  wird  in 
§  270  „beiläufig",  sein  Verhältnis  zur  Wissenschaft  ebenda 
in  ganz  kurzen  Andeutungen  erledigt,  während  doch  min- 
destens die  Religionsgemeinschaft  in  demselben  Maße  wie 
die  bürgerliche  Gesellschaft  der  systematischen  Darlegung 
ihres  Verhältnisses  zum  Staate  bedurft  hätte.  Aber  hier 
kommt  Hegel  über  eine  bloße  Feststellung  des  zu  seiner 
Zeit  bestehenden  Verhältnisses  nicht  wesentlich  hinaus. 

Diese  Beobachtung  nun  gibt  uns  einen  Schlüssel  zum 
Verständnis  der  eigentümlichen  Anlage  des  ganzen  Buches. 
Hegel    zeichnet    in   seiner   Staatslehre    das   Idealbild  de^ 


I 


*'  Einleitung  des  Herausgebers.  XLIX 

Staates  seiner  Gegenwart.  Dieser  moderne  Staat  ist  das 
historische  Resultat  der  bisherigen  geschichtlichen  Ent- 
wicklung des  freien  Geistes.  Das  historische  Resultat  aber 
ist  mit  dem  logischen  Resultat,  dem  Begriff,  der  aus  seinen 
vernünftigen  Momenten  sich  aufbaut,  nicht  in  jedem  Augen- 
blicke identisch.  Und  doch  sieht  es  Hegel  als  seine  Aufgabe 
an,  den  vernünftigen  Begriff  des  Rechtes  als  eine  ewig- 
bleibende Wahrheit  festzustellen.  Was  aber  tatsächlich  an 
dem  Rechte  ewig  und  unveränderlich  ist,  das  ist  nichts  als 
jene  Form  der  Bindung  des  Willens  an  eine  als  vernünftig 
anerkannte  Ordnung;  der  besondere  Inhalt  dieser  Ordnung 
ist  überall  dem  geschichtlichen  Fortschritte  unterworfen. 
Darum  entspricht  es  dem  wahren  Geiste  des  Hegeischen 
Systems  wenig,  wenn  er  in  dem  ,, abstrakten  Rechte",  dem 
Rechte  der  Person  als  solcher  eine  Art  von  zeitlosem  Ver- 
nunftrecht konstruiert.  In  dem  Bestreben,  dem  Rechte 
einen  logischen  Inhalt  zu  geben,  Imt  sich  Hegel  hier  zu  einer 
Abstraktion  verleiten  lassen,  die  mit  seiner  sonstigen  lebens- 
vollen Auffassung  von  Staat  und  Geschichte  in  Widerspruch 
steht.  In  dem  Rechte  walten  vernünftige  Kategorien;  aber 
ihr  Walten  vollzieht  sich  auf  dem  geschichtlichen  Boden 
und  in  der  Ordnung  der  zeitlich  verschiedenen  natürlichen 
und  sittlichen  Zustände  der  Völker.  Wenn  Hegel  §  66  die 
Person  in  abstracto  faßt,  wie  sie  rein  für  sich  ist,  und 
aus  dieser  abstrakten  Bestimmung  ebenso  abstrakte  Forde- 
rungen für  das  Recht  der  persönlichen  Freiheit  aufstellt, 
so  befindet  er  sich  damit  in  dem  Ideenkreise  des  Natur- 
rechtes,  und  seine  Forderungen  entsprechen  den  „Menschen- 
rechten" der  Aufklärungszeit.  Aber  im  Rechte  geht  es 
nicht  um  eine  abstrakte  Vorstellung  der  Person  für  sich, 
sondern  um  das  konkrete  Verhältnis  wirklicher  Personen 
zueinander;  und  der  Inhalt  dieses  Verhältnisses  wird  be- 
stimmt durch  den  jeweiligen  Reifestand  der  nationalen 
Sittlichkeit.  Darum  gibt  es  keine  ein  für  allemal  „unver- 
äußerlichen" Rechte.  Von  einem  Vernunftrechte,  das  zu 
allen  Zeiten  gleich  sein  könnte,  läßt  sich  nicht  sprechen, 
woTil  aber  von  einem  für  jede  Zeit  und  jedes  Volk  eigen- 
tümlich vernünftigen  Recht.  Zu  diesem  Gedanken,  der  ihn 
dem  Standpunkte  der  historischen  Rechtsschule  zuführt,  hat 
sich  Hegel  in  dem  dritten  Teile  seines  Werkes  erhoben.  ,,Der 
Staat  als  Geist  eines  Volkes  ist  'das  alle  seine  Verhältnisse 
durchdringende  Gesetz,  die  Sitte  und  das  Bewußtsein  seiner 
Individuen"  (§  274).  In  diesem  Sinne  betrachtet  Hegel 
die   Staatsidee   seiner  Zeit  zugleich   logisch  und  zugleich 

Hegel,  Kechtsphilosophie.  D 


L  Einleitung  des  Herausgebers. 

geschichtlich  als  das  vernünftige  Resultat  der  gesamten 
bisherigen  Bewegung  des  seine  Freiheit  verwirklichenden 
freien  Geistes.  Aber  darum  wird  auch  dieser  Entwurf 
des  modernen  Staates  gerechtfertigt  erst  durch  den  letzten 
Paragraphen  des  Abschnittes  über  die  Weltgeschichte. 
Nicht  den  Staat,  wie  er  sein  soll,  sondern  den  Staat,  zu 
dem  es  der  Weltgeist  gegenwärtig  gebracht  hat,  will  Hegel 
in  seiner  Rechtsphilosophie  darstellen. 

III,    Die    Ergebnisse    der    Hegeischen   Rechts- 
philosophie. 

Unsere  Darstellung  der  Anlage  des  Hegeischen  Werks 
hat  wesentlich  kritischen  Charakter  tragen  und  die  Mängel 
in  seinem  Aufbau  hervorheben  müssen.  Es  würde  aber  im 
höchsten  Grade  verkehrt  sein,  wollte  man  um  dieser  Mängel 
willen  von  der  großartigen  Leistung,  dem  „Wunderwerk" 
Hegels,  wie  J.  Kohler  sich  ausdrückt*),  gering  denken. 
Weder  berühren  sie  den  allgemeinen  Gedanken,  von  dem 
aus  Hegel  die  ganze  Welt  des  Sittlichen  zu  begreifen  unter- 
nimmt: es  wird  sein  unvergängliches  Verdienst  bleiben,  sie 
als  die  Verwirklichung  des  sich  selbst  fortschreitend  reiner 
bestimmenden  freien  Geistes  begriffen  und  damit  den  Ge- 
danken der  Freiheit  so  tief  wie  kein  anderer  in  das  Zeit- 
bewußtsein und  die  wissenschaftliche  Bildung  der  Nation 
hineingesenkt  zu  haben.  Noch  hat  die  Unvollkommenheit 
der  besonderen  Gestaltung  des  Systems  ein  Hindernis  dafür 
gebildet,  daß  Hegel  in  den  einzelnen  Bestimmungen  der 
konkreten  Gebilde  auf  dem  Gebiete  des  sittlichen  Lebens 
nicht  mit  genialem  Blicke  das  Wesentliche  und  Wahre  er- 
fassen und  ihr  Verständnis  mit  ebenso  tiefsinniger  Ein- 
sicht wie  schlichter  Sachlichkeit  fördern  konnte.  Ob  er  bei 
diesem  oder  jenem  Rechtsinstitut  durchaus  das  Richtige 
getroffen  hat,  oder  ob  nicht  vom  speziell  juristischen  Stand- 
punkte gegen  einzelne  seiner  Auffassungen  Widerspruch 
erhoben  werden  kann,  das  bleibe  hier  dahingestellt  und 
der  fachmännischen  Kritik  überlassen.  Dagegen  darf  nicht 
übergangen  werden,  was  sein  Werk  an  bleibenden  Errungen- 
schaften und  fruchtbaren  Anregungen  für  die  Fortbildung 
der  Lehre  vom  Sittlichen  in  sich  trägt. 

Man  wird  schon  den  Ausgangspunkt  für  seine  Lehre 
vom  abstrakten  Recht  als  solch  einen  fruchtbaren  Keim 

*)  a.  a.  0.,  S.  6. 


I 


Einleitung  des  Herausgebers.  LI 

bezeichnen  können.  Indem  Hegel  als  den  Grundgedanken 
des  abstrakten  Rechtes  das  Gebot  aufstellt:  Sei  eine  Person 
und  respektiere  die  anderen  als  Personen,  stellt  er  das 
Recht  auf  den  Boden  der  organisierten  Personengemein- 
schaft und  ermöglicht  die  sachgemäße  Begrenzung  der 
Wirkungssphäre  des  Rechts,  für  das  der  Mensch  in  der 
allgemeinen  Bestimmung,  Rechtsperson  zu  sein,  in  Betracht 
kommt.  Wenn  ihm  hierbei  Kant  und  Fichte  schon  vor- 
gearbeitet hatten  und  er  dann  in  der  Lehre  vom  Eigentum 
und  vom  Vertrage  auf  im  wesentlichen  schon  gebahnten 
Wegen  wandelt,  so  bringt  seine  Lehre  vom  Unrecht  einen 
der  Gesichtspunkte,  durch  den  er  auf  die  Rechtslehre 
maßgebend  eingewirkt  und  eine  nicht  wieder  zum  Schweigen 
zu  bringende  Diskussion  angeregt  hat,  wir  meinen  seine 
Theorie  der  Strafe*). 

Schon  in  seiner  Abhandlung  über  das  Naturrecht  hat 
Hegel  mit  äußerster  Schärfe  sich  dagegen  verwahrt,  daß 
man  bei  der  Strafe  den  Zwang,  der  dem  Übeltäter  angedroht 
oder  angetan  wird,  für  das  entscheidende  Moment  ausgebe. 
Bei  dieser  Art  von  Betrachtung  vermißt  er  jede  innere 
Beziehung  zwischen  dem  Unrecht  und  seiner  Sühne.  Es 
bleibt  nur  die  äußere  Satzung  bestehen,  daß  für  ein  be- 
stimmtes Unrecht  der  Übeltäter  einen  bestimmten  Nach- 
teil auf  sich  nehmen  muß.  ,,Der  Staat  hält,  als  richter- 
liche Gewalt,  einen  Markt  mit  Bestimmtheiten,  die  Ver- 
brechen heißen  und  die  ihm  gegen  andere  Bestimmtheiten 
feil  sind,  und  das  Gesetzbuch  ist  der  Preiskurant"**). 
Hegel  selbst  erklärt  dagegen  für  die  Idee,  die  im  Straf- 
rechte zum  Ausdruck  kommt,  die  Wiedervergeltung,  die 
eine  innere  Überwindung  des  Verbrechens  bedeutet.  An 
dieser  Auffassung  hat  er  immer  festgehalten  und  besonders 
gegenüber  der  hohen  Geltung,  die  sich  die  Feuerbachsche 
Straftheorie  errang,  seinen  Widerspruch  gegen  die  so- 
genannten relativen  Straftheorien  mit  ebensoviel  Klarheit 
wie  Kürze  zu  begründen  gewußt. 

Er  geht  bei  der  Betrachtung  der  Strafe  nicht  aus  von 
der  einseitigen  Rücksicht  auf  den  einzelnen  Verbrecher 
und    seine    einzelne   Tat.     Jeder   Einzelne,    soweit    er   für 


*)  Vergl.  dazu  jetzt  die  Abhandlung:  Sulz:  Dr.  jur.  Eugen, 
Hegels  philosopliische  Begründung  des  Strafrechts  und  deren  Aus- 
bau in  der  deutschen  Strafrechtswissenschaft.  Berlin  und  Leip- 
zig 1910. 

**)  Krit.  Jouru.  der  Phil.,  2.  Bd.,  2.  St.,  Tübingen  1802,  S,  60. 

D* 


LH  Einleitung  des  Herausgebers. 

das  Recht  in  Betracht  kommt,  ist  ein  freier  Wille  und  also 
ein  allgemeines  Wesen;  jede  Tat  eines  vernünftigen 
Menschen  trägt  als  solche  in  sich  den  Anspruch  auf  Ver- 
nünftigkeit, die  Behauptung  von  Allgemeingültigkeit.  Nur 
wenn  man  den  Verbrecher  in  diesem  Lichte  sieht,  wird 
man  seiner  Menschenwürde  gerecht,  während  jede  Theorie 
der  Strafe,  nach  der  diese  als  psychologischer  Zwang  auf 
den  Menschen  wirken  soll,  ihn  als  ein  unfreies  Wesen  an- 
sieht und  entwürdigt  (S.  310).  Ein  Recht  zur  Strafe  kann 
es  nur  dann  geben,  wenn  in  ihr  die  Gerechtigkeit  sich  ver- 
v.irklicht,  die  Vernunft  sich  als  das  Prinzip  in  dem  Leben 
der  rechtlichen  Personengemeinschaft  erweist.  Und  so  ver- 
hält es  sich  in  der  Tat,  Denn  das  Unrecht  ist  nicht  bloß 
eine  zufällige  Äußerung  irgendeines  individuellen  Willens, 
sondern  es  stellt  einen  Streit  dar  zwischen  dem  allgemeinen 
Willen,  der  in  der  Rechtsordnung  verkörpert  ist,  und 
dem  besonderen  Willen  des  Individuums,  der  sich  als  all- 
gemeine Macht  gegen  die  Rechtsordnung  erhebt.  Der 
Eigenwille  aber  in  solcher  Entgegensetzung  ist  in  sich  selbst 
nichtig.  Diese  seine  Nichtigkeit  muß  an  ihm  selbst  offen- 
bar werden.  Indem  er  die  Strafe  erleidet,  bestätigt  er  den 
Bestand  und  das  Recht  des  allgemeinen  Willens.  So  ist 
die  Strafe  ihrem  Begriffe  nach  die  Wiederherstellung  des 
verletzten  oder  die  Selbstbehauptung  des  feindlich  ange- 
griffenen Rechts.  Der  Verbrecher,  der  bestraft  wird, 
kommt  in  erster  Linie  nicht  als  ein  besonderer,  so  oder  so 
gearteter  Mensch,  sondern  als  eine  einzelne  Verkörperung 
des  unrechtlichen  Willens  in  Betracht.  Das  schließt  natür- 
lich nicht  aus,  daß  die  besondere  Gestalt  der  Strafe  auf  die 
Besonderheiten  des  zu  Bestrafenden  Rücksicht  nimmt  und 
daß  auf  dem  einmal  anerkannten  Rechtsboden  relative 
Zwecke  der  Wohltat  für  den  Einzelnen  und  die  Gemein- 
schaft ins  Auge  gefaßt  werden  können.  Die  Nützlich- 
keiten der  Verhütung  des  Unrechts,  der  Abschreckung 
oder  der  Besserung  des  Übeltäters,  der  Sicherung  der  Ge- 
sellschaft haben  alle  ihre  Stelle  innerhalb  der  Strafrechti- 
pflege.  Aber  keiner  dieser  relativen  Gesichtspunkte  reicht 
zur  Begründung  dafür  aus,  daß  es  überhaupt  ein  Straf- 
recht gibt.  Dieses  kann  nur  durch  die  absolute  Theorie 
der  Strafe  als  der  begrifflich  notwendigen  Wiederher- 
stellung der  Rechtsordnung  begründet  werden. 

In  diesen  Gedanken  hat  Hegel  ein  äußerst  frucht- 
bares Prinzip  ausgesprochen.  Seine  weitere  Ausbildung, 
insbesondere    das    Unternehmen,     die    relativen    Gesichts- 


Einleitung  des  Herausgebers.  LIII 

punkte  bei  der  Strafe  mit  ihrem  absoluten  Begriffe  in  ge- 
nauere Beziehung  zu  setzen,  hat  er  sich  selbst  rein 
aai3erlich  schon  dadurch  erschwert,  daß  er  auf  das  Straf- 
recht nicht  in  einheitlichem  Zusammenhange,  sondern  an 
ganz  verschiedenen  Stellen  seines  Werkes  zu  sprechen 
kommt.  V/ie  lebhaft  er  selbst  das  Bedürfnis  empfunden 
hat,  die  Strafe  doch  auch  an  die  Subjektivität  des  Ver- 
brechers innerlich  heranzubringen,  zeigt  seine  Behauptung, 
daß  der  Verbrecher,  indem  er  die  Strafe  erleidet,  selbst 
ihr  Recht  anerkenne,  daß  sie  das  Recht  sei,  auf  das  der 
Verbrecher  Anspruch  habe,  sein  wahrer  an  sich  seiender 
Wille  (S.  89).  Es  ist  aber  dabei  doch  deutlich,  daß  der 
Verbrecher  selbst  in  den  meisten  Fällen  von  dieser  An- 
erkennung nichts  wird  wissen  und  seinen  wahren  Willen 
hartnäckig  verleugnen  wollen,  so  daß  auf  diese  Weise  das 
Recht  der  Strafe  dem  Bestraften  gegenüber  ein  schlechthin 
Äußerliches  bleiben  wird.  Hier  wird  eben  eine  weitere 
Behandlung  des  Verbrechers  eintreten  und  über  das  Recht 
hinausgreifend  ein  erziehliches  Einwirken  auf  den  Bestraften 
durch  den  Staat  angeordnet  werden  müssen,  damit  der 
Verbrecher  auch  seine  Freiheit  im  Erleiden  der  Strafe 
wiederfinde,  —  ein  neuer  Beweis  dafür,  daß  der  Staat 
ohne  die  höheren  sittlichen  Lebensformen,  insbesondere 
die  Religion,   nicht  auszukommen  vermag. 

Ist  Hegel  mit  seiner  Straftheorie  bei  den  Rechtslehrern 
der  Folgezeit  in  weitem  Umfange  durchgedrungen,  so  hat 
er  dagegen  für  seine  Darstellung  der  Moralität  nur 
selten  Verständnis-  gefunden.  Him  selbst  lag  nichts  so  am 
Herzen  als  die  Überwindung  des  moralischen  Subjektivis- 
mus durch  die  wahre  sittliche  Freiheit  in  der  Hingebung 
an  das  Absolute,  das  nicht  eine  abstrakte  Vorstellung, 
sondern  das  konkrete  Wahre  selbst  ist.  Darum  ist  er 
nicht  müde  geworden,  gegen  die  auf  Kantischer  Basis 
erwachsenen  Grundsätze  der  subjektiven  Moral  den  scho- 
nungslosesten Kampf  zu  führen.  Die  Kantische  Moral  hatte 
das  Große,  daß  sie  den  Begriff  des  Sittlichen  von  allen 
psychologischen  und  sozialutilitarischen  Rücksichten  löste 
und  ihn  als  das  absolute  Soll,  die  in  der  Innerlichkeit  des 
Subjekts  lebendige  Pflicht  nachwies.  Damit  aber  waren  zwei 
Irrwege  nahegelegt.  Den  einen,  den  Weg  des  gesetzlichen 
Rigorismus,  hat  Kant  selbst  beschritten.  Ihn  überwunden 
zu  haben  ist  das  besondere  Verdienst  Schillers,  von  dem 
in  diesem  Punkte  Fichte,  Schelling  und  Hegel  gelernt 
haben.   Den  anderen  Irrweg  beschritten  gerade  im  Gegen- 


IjIV  Einleitung  des  Herausgebers. 

satz  zu  der  rigoristischen  Moral  Kants  die  Romantiker, 
die  aus  der  Pflicht  und  dem  Gewissen  statt  eines  Gesetzes 
ein  Gefühl  machten.  Ihnen  galt  Hegels  Kampf  vor  allem. 
Erfolg  hat  er  damit  kaum  gehabt.  Äußerlich  mag  daran 
die  Einseitigkeit  mit  schuld  gewesen  sein,  zu  der  ihn 
seine  Gegnerschaft  gegen  den  Standpunkt  der  Moralität 
verleitete,  daß  er  nämlich  den  positiven  Wert  dieses  Stand- 
punktes zu  wenig  hervorhob.  Hauptsächlich  aber  ist  er 
in  diesem  Kampfe  erfolglos  geblieben,  weil  er  hier  gegen 
die  eigentliche  Krankheit  seiner  Zeit  gestritten  hat,  die 
ein  Einzelner,  und  sei  er  noch  so  geistesmächtig,  zu  ver- 
treiben nicht  die  Kraft  besitzt.  Es  ist  auch  heute  noch  so 
oder  vielmehr  heute  in  höherem  Grade  als  seit  langer  Zeit, 
daß  die  sophistische  Selbstbehauptung  der  Subjektivität 
in  den  Kreisen  unserer  Bildung  die  Herrschaft  führt  und 
die  Gesundheit  des  nationalen  Lebens  bedroht  durch  „die 
Prinzipien,  v/elche  das,  was  recht  ist,  auf  die  subjektiven 
Zwecke  und  Meinungen,  auf  das  subjektive  Gefühl  und  die 
partikuläre  Überzeugung  stellen,  —  Prinzipien,  aus  welchen 
die  Zerstörung  ebenso  der  inneren  Sittlichkeit  und  des 
rechtschaffenen  Gewissens,  der  Liebe  und  des  Rechts  unter 
den  Privatpersonen,  als  die  Zerstörung  der  öffentlichen 
Ordnung  und  der  Staatsgesetze  folgt"  (S.  11). 

Hegel  hat  dadurch,  daß  er  Jen  moralischen  Stand- 
punkt in  alle  seine  Verzweigungen  verfolgt  und  ihn  durch 
sich  selbst  sich  auflösen  läßt,  sich  ein  Verdienst  erworben, 
das  in  seiner  ganzen  Bedeutung  erst  spätere  Epochen  er- 
fassen werden.  Er  hat  in  der  Phänomenologie  den  ,, seiner 
selbst  gewissen  Geist"  oder  die  Moralität  dargestellt  mit 
der  Beziehung  auf  das  moralische  Lehrsystem,  in  dem 
dieser  Geist  sich  ausspricht  und  sich  als  mit  sich  selbst 
in  vollkommenem  Widerspruch  manifestiert.  Er  hat  in 
der  Rechtsphilosophie  die  Moralität  von  der  Seite  dar- 
gestellt, wie  das  seiner  selbst  gewisse  Subjekt  sich  zu  den 
vorgefundenen  rechtlichen  und  sittlichen  Ordnungen  mit 
souveräner  Freiheit  verhält.  Dabei  hatte  er  ganz  bestimmte 
Erscheinungen  seiner  Zeit,  insbesondere  Friedrich  Schlegels 
Standpunkt  der  Ironie  im  Auge.  Aber  seine  Kritik  dieser 
Erscheinungen  ist  durchaus  allgemeingültig.  Der  Nach- 
weis, daß  die  Berufung  auf  das  subjektive  Gewissen  not- 
wendig zur  jesuitischen  Kasuistik  führen,  daß  die  Be- 
freiung des  Subjekts  von  jeder  allgemeingültigen  bleibenden 
Wahrheit  als  das  Böse  selbst  gelten  muß,  wird  immer 
wahr  bleiben,  so  wenig  angenehm  er  auch  denen  klingen! 


Einleitung  des  Herausgebers.  LV 

mag,  die  zu  einem  tieferen  Freiheitsbegriff  als  dem  des 
subjektiven  Beliebens  nicht  vorzudringen  vermögen.  Daß 
freilich  der  seiner  selbst  gewiß  gewordene  Geist,  um  aus 
der  Haltlosigkeit  des  Subjektivismus  herauszukommen,  nicht 
einfach  auf  die  bürgerliche  Ordnung  im  Staate  zurück- 
verwiesen werden  kann,  ist  ohne  weiteres  klar.  Hegel 
würde  mit  seiner  Kritik  der  Moralität  doch  vielleicht  mehr 
Eindruck  gemacht  haben,  wenn  er  in  der  Rechtsphilosophie 
denselben  Weg  wie  in  der  Phänomenologie  gegangen  wäre, 
den  Geist  aus  der  Moralität  nicht  in  dem  Staatsrechte 
münden,  sondern  zum  Leben  in  dem  Absoluten,  zur  Religion 
und  Philosophie  sich  erheben  zu  lassen. 

So  wenig  die  Paragraphen  über  das  Gute  und  das 
Gewissen  zur  Rechtsphilosophie  im  engeren  Sinne  gehören, 
so  stark  sind  auch  die  ersten  Abschnitte  des  letzten  Teiles 
der  Rechtsphilosophie,  die  von  der  Familie  und  der  bürger- 
lichen Gesellschaft  handeln,  mit  Gegenständen  durchsetzt, 
die  außerhalb  der  Rechtslehre  fallen.  Aber  gerade  hier 
hat  Hegel  Ausführungen  von  höchstem  Werte  und  grund- 
legender Bedeutung  gemacht.  In  sehr  entschiedenem  Gegen- 
satze sowohl  gegen  die  Auffassung  Kants  von  der  Ehe, 
der  sie  nur  als  Rechtsgeschäft  betrachtet,  wie  gegen  den 
romantischen  Libertinismus,  der  alle  rechtliche  Bindung 
des  Gefühls  verachtet,  bestimmt  Hegel  in  einer  Weise,  die 
dem  nächsten  Empfinden  nüchtern  vorkommen  mag,  aber 
eben  in  dieser  Nüchternheit  die  Sache  selbst  nach  ihrer 
bleibenden  unendlichen  Bedeutung  ausspricht,  die  Ehe  als 
die  rechtlich  sittliche  Liebe  (S.  329),  als  das  unmittelbare 
sittliche  Verhältnis,  durch  das  die  natürliche  Verbindung  der 
Geschlechter  in  geistige  Liebe  umgewandelt  wird  (S.140ff.), 
Die  Art,  wie  er  das  Sittliche  dieses  Verhältnisses  hervor- 
hebt, zeigt  ihn  ebenso  als  den  tiefen,  mitfühlenden  Kenner 
der  menschlichen  Natur  wie  als  den  klaren,  praktischen 
Beurteiler  der  menschlichen  Verhältnisse. 

Mindestens  ebenso  bedeutsam  sind  seine  Ausführungen 
über  Kindererziehung.  Daß  Hegel  ein  eminenter  wissen- 
schaftlicher Pädagoge  gewesen  ist,  das  ist  bis  jetzt  noch 
bei  weitem  nicht  genügend  anerkannt,  trotzdem  sich  schon 
vor  bald  sechzig  Jahren  Gustav  Thaulow  redlich  be- 
müht hat,  die  Welt  davon  zu  überzeugen*).  Gewiß  war 
es  unmöglich,   in  dem  Rahmen  der  Rechtsphilosophie  ein 

*)  Thaulow  Gustas,  Hegels  Ansichten  über  Erziehung 
und  Unterricht.     4  Bände.     Kiel,  1853—54. 


LVI  Einleitung  des  Herausgebers. 

umfassendes  System  der  Pädagogik  darzulegen;  aber  immer 
wird  es  der  höchsten  Bewunderung  würdig  sein,  wie  in 
den  drei  kurzen  Paragraphen  173 — 175  dieses  Werkes 
Hegel  die  grundlegenden  Begriffe  der  Erziehung  präzisiert 
und  die  damals  geläufigen  und  heute  mit  neuer  Kraft 
aufgelebten  pädagogischen  Verkehrtheiten  mit  wenigen, 
aber  entscheidenden  Worten  abtut.  Gerade  diese  Para- 
graphen können  der  Beachtung  in  unseren  Tagen  nicht 
genug  empfohlen  werden. 

Den  Ruhm  einer  bahnbrechenden  Leistung,  die  in  der 
seitherigen  Ausbildung  der  Wissenschaft  dauernd  fortwirkt, 
hat  sich  Hegel  dadurch  erworben,  daß  er  die  bürgerliche 
Gesellschaft  als  eine  vom  Staate  unterschiedene  Form  des 
menschlichen  Zusammenlebens  verstanden  und  in  ihrer  Be- 
deutung anschaulich  gemacht  hat.  In  der  Gesellschaft 
handelt  es  sich  noch  nicht  um  die  Verwirklichung  des  an 
und  für  sich  freien  Willens,  v/ie  im  Recht  und  in  der  Sitt- 
lichkeit. Hier  wird  der  selbstsüchtige  Zweck  verwirklicht 
in  der  Form  der  Allgemeinheit,  daß  nämlich  die  selbst- 
süchtigen Zwecke  der  Einzelnen  sich  als  eine  natürliche 
Gemeinsamkeit  der  Interessen  herausstellen.  In  der  Phäno- 
menologie hat  Hegel  das  Zusammenwirken  der  Einzelnen 
mit  ihren  besonderen  Zwecken,  das  zu  einer  objektiv  ver- 
nünftigen Gemeinsamkeit  sich  gestaltet,  unter  dem  treffen- 
den Titel  ,,Das  geistige  Tierreich"  dargestellt*).  Eine  Be- 
merkung in  der  Religionsphilosophie**)  läßt  erkennen,  daß 
er  bei  dieser  Darstellung  an  ,,die  römische  Welt"  ge- 
dacht und  also  den  römischen  Staat  als  den  ,,Not-  und 
Verstandesstaat"  angesehen  hat,  der  seinen  Inhalt  in  der 
rechtlichen  Ordnung  dieses  Systems  von  Interessen  findet 
(S.  155).  Aber  noch  an  einer  anderen  Stelle  der  Phäno- 
menologie, da  wo  er  ,,die  Bildung  und  ihr  Reich  der  Wirk- 
lichkeit"***) behandelt,  tritt  in  dem  Gegensatze  von  Staats- 
macht und  Reichtum  die  Welt  der  natürlichen  Interessen  als 
bestimmendes  Moment  des  Gemeinschaftslebens  auf;  und 
hier  ist  auch  die  Stelle,  wo  die  Gliederung  dieser  Welt 
in  die  gesonderten  Massen  der  Stände  und  der  Korporationen 
zu  ihrer  Entwicklung  kommt. 

In  seiner  Abhandlung  über  das  Naturrecht  hatte  Hegel 
im  Sinne  der  Antike  von  den  Ständen  als  von  ruhenden 


*)  Phil.  Bibl.,  Bd.  114,  S.  259 ff. 
**)  Hegels  Werke,  Bd.  12,  2.  Aufl.,  S.  184. 
***)  Phil.  Bibl.,  Bd.  114,  S.  321  ff. 


Einleitung  des  Herausgebers.  LYII 

und  übermächtigen  Bestimmtheiten  gehandelt,  an  die  durch 
äußere  Notw'endigkeit  die  einzelnen  Staatsangehörigen  ver- 
teilt sind.  Er  hatte  aber  auch  dort  schon  darauf  hingewiesen, 
wie  die  moderne  Entwickelung  den  Stand  des  bourgeois 
derart  zum  allgemeinen  Stande  gemacht  habe,  daß  die 
natürliche  antike  Scheidung  der  Stände  nicht  mehr  fort- 
bestehe. Er  hat  dann  in  der  Phänomenologie  bei  der  Dar- 
stellung der  sittlichen  Welt,  die  wesentlich  seine  Auf- 
fassung der  antiken  Sittlichkeit  wiedergibt,  von  der  Son- 
derung in  Stände  gar  nicht  mehr  gesprochen;  und  auch 
bei  seiner  Schilderung  der  Welt  der  Bildung  erwähnt  er 
zwar  die  Stände,  aber  in  dem  tieferen  Sinne,  wonach 
sie  nicht  Naturbestimmtheiten,  sondern  gewußte  und  ge- 
wollte Interessenverbände  darstellen.  Hier  in  der  Rechts- 
philosophie hat  er  nun  für  die  komplizierten  Erscheinungen 
dieses  Gebietes  die  befriedigende  Systematik  gefunden.  Es 
ist  ihm  gleicherweise  gelungen,  die  ursprüngliche,  durch 
das  natürliche  Bedürfnis  gebotene  Sonderung  der  Menschen 
in  Stände  zu  ihrem  Rechte  kommen  zu  lassen,  wie  auch 
die  aus  diesem  Boden  hervorgehende  freie  Interessen- 
gemeinschaft, den  genossenschaftlichen  Verband  oder  die 
Korporation  in  ihrer  ungemeinen  Bedeutung  für  den  Auf- 
bau der  Gesellschaft  zu  würdigen.  Was  ihn  dazu  befähigt, 
ist  sein  tiefes  Bewußtsein  für  die  persönliche  Freiheit,  in 
deren  Anerkennung  als  des  allgemeingültigen  Prinzipes  für 
die  menschliche  Gemeinschaft  er  das  unterscheidende 
Merkmal  und  den  eigentlichen  Adelstitel  der  modernen  Zeit 
erblickt.  Auf  Grund  dieser  persönlichen  Freiheit  hören 
die  natürlichen  Stände  auf,  den  Charakter  von  Kasten  zu 
tragen;  die  freie  Berufswahl  macht  den  Einzelnen  von  der 
unabänderlichen  Naturbestimmtheit  los.  Dafür  findet  er 
in  dem  genossenschaftlichen  Verbände  eine  vernünftige, 
auf  dem  Bewußtsein  der  Ehre  gegründete  höhere  Allge- 
meinheit, der  er  sich  mit  seinen  persönlichen  Zwecken 
einfügt,  gleichsam  eine  Idealisierung  seines  natürlichen 
Daseins.  Es  bedarf  keiner  weiteren  Ausführungen  darüber, 
wie  fruchtbar  diese  Gedanken  Hegels  sich  erwiesen  haben. 
Der  klare  Blick  Hegels  für  die  Realitäten  des  Lebens 
hat  ihn  im  besonderen  Maße  befähigt,  der  neuen  Wissen- 
schaft, deren  Grundlagen  in  England  und  Frankreich  gelegt 
worden  waren,  der  Nationalökonomie,  ihren  Platz  in 
dem  Zusammenhange  der  Wissenschaften  anzuweisen.  Er 
hat  mit  lebhaftem  Interesse  sich  in  die  Schriften  von 
Adam  Smith.  J,  B.  Say  und  David  Ricardo  vertieft  und  die 


LVIII  Einleitung  des  Herausgebers. 

Befriedigung  empfunden,  daß  sie  in  der  Sphäre  der  Be- 
dürfnisse den  in  der  Sache  wirksamen  und  sie  regierenden 
Verstand  ans  Licht  gebracht  und  die  Vernünftigkeit  nach- 
gewiesen haben,  die  auf  diesem  Gebiete  des  scheinbar  un- 
endlichen Widerstreites  einzelner  Interessen  waltet.  Sein 
Sinn  für  organischen  Zusammenhang  begrüßte  freudig  diese 
AVissenschaft,  die  es  klar  macht,  wie  das  System  mensch- 
licher Bedürfnisse  und  ihrer  Bewegung  durch  die  ihm 
immanente  Vernunft  zu  einem  organischen  Ganzen  von 
Unterschieden  gegliedert  wird  (S.  164).  Was  er  über  die 
menschlichen  Bedürfnisse,  ihre  Differenzierung  und  end- 
lose Steigerung,  was  er  über  die  Arbeit  und  ihre  Arten 
sagt,  vor  allem  seine  Würdigung  der  Industrie,  des  Handels 
und  des  Weltverkehrs,  mit  der  er  weit  über  den  preußischen 
Horizont  seiner  Zeit  hinausgedrungen  ist,  bietet  noch  immer 
eine  solide  Grundlage  für  das  Verständnis  des  wirtschaft- 
lichen Lebens, 

Man  wird  es  für  weniger  erfreulich  ansehen  dürfen, 
daß  seine  Auffassung  von  dem  notwendigen  Zusammen- 
hange zwischen  wachsendem  Wohlstande  und  zunehmender 
Armut  in  den  Vorstellungen  weiter  Kreise  schier  unaus- 
rottbar feste  Wurzeln  geschlagen  hat.  In  dieser  Frage 
hat  er  mit  den  großartigen  Fortschritten  in  der  Pro- 
duktionsweise und  im  Verkehrswegen  noch  nicht  rechnen 
können,  die  seitdem  eingetreten  sind  und  auf  Grund  deren 
es  heute  schon  vollkommen  deutlich  ist,  daß  wachsender 
Wohlstand  nicht  Kapitalanhäufung  in  einzelnen  Händen, 
sondern  sich  stetig  ausbreitende  Anteilnahme  immer  zahl- 
reicherer Glieder  der  Gesellschaft  an  dem  Nationalvermögen 
bedeutet,  —  vorausgesetzt  nämlich,  daß  nicht  der  Staat 
durch  protektionistische  Eingriffe  den  natürlichen  Gang  der 
Dinge  stört  und  verkehrt.  Durch  diesen  Fortschritt  wird  so- 
wohl das  Übermaß  des  Reichtums  wie  des  Elends  einge- 
schränkt und  auch  die  Armenpflege  auf  andere  Grundsätze 
gestellt,  als  sie  Hegel  noch  vertrat.  Den  Pöbel  auf  den 
öffentlichen  Bettel  anzuweisen  (S.  189),  wird  man  heute  nicht 
mehr  für  ratsam  halten.  Ebensowenig  wird  man  behaupten 
wollen,  daß  die  Dialektik  von  Überproduktion  und  Zwang 
zum  Produzieren,  die  gewiß  wirtschaftliche  Notstände  her- 
vorrufen kann  oder  richtiger  ihr  Symptom  ist,  den  Pöbel 
erzeugt;  diesen  bringen  nicht  ökonomische  Verhältnisse, 
sondern  moralische  Schäden  hervor. 

Wenn  auch  die  Art,  wie  zwischen  diese  Erörterungen 
sozialer  Probleme  Kapitel  aus  der  eigentlichen  Rechtslehre 


Einleitung-  des  Herausgebers.  LIX 

eingeschoben  sind,  uns  fremdartig  berühren  muß  und 
zu  den  Mängeln  zu  zählen  ist,  die  das  Werk  Hegels  als 
einen  ersten  Schritt  auf  neuer  Bahn  charakterisieren,  so 
bleibt  sein  Verdienst  dadurch  ungeschmälert.  Ja,  die 
Lebendigkeit  und  Vielseitigkeit  des  Bildes,  das  er  auf  diese 
Weise  von  dem  modernen  Staate  und  den  mannigfachen 
Sphären  seiner  Tätigkeit  entwirft,  würde  er  zu  seiner  Zeit 
auf  andere  Weise  kaum  haben  erreichen  können.  Erst 
durch  den  Unterbau,  den  er  so  dem  politischen  Staate  ge- 
geben hat,  wird  es  ihm  möglich,  die  glänzende  Zeichnung 
des  Staatsrechtes  zu  entwerfen,  die  wahrhaft  aus  einem 
Guß  das  Staatsideal  seiner  Zeit  unter  stetem  Anschluß  an 
seine  in  der  Wirklichkeit  bereits  erreichten  Gestaltungen 
in  der  lebensvollsten  Gliederung  dieses  komplizierten  Or- 
ganismus uns  vor  Augen  stellt.  Zweifellos  ist  es  dieser  Teil 
seines  Werkes,  der  von  Anfang  an  die  kräftigste  und  nach- 
haltigste Wirkung  auf  das  allgemeine  Bewußtsein  in  Wissen- 
schaft und  Bildung  geübt  hat.  Die  konstitutionelle 
Monarchie,  wie  er  sie  hier  als  den  derzeitigen  Abschluß 
der  geschichtlichen  Entwickelung  des  Staates  und  der 
wissenschaftlichen  Entwickelung  der  Staatsidee  darstellt, 
hat  während  des  vergangenen  Jahrhunderts  sich  tatsächlich 
in  der  Wirklichkeit  des  nationalen  Lebens  als  das  allen 
anderen  Staatsformen  überlegene  Prinzip  erwiesen.  Ein 
Blick  auf  die  Geschichte  Preußens,  Deutschlands  und 
Italiens  genügt,  um  das  zu  erkennen.  Es  kommt  der  Wissen- 
schaft nicht  zu,  Prophezeiungen  darüber  zu  versuchen, 
was  die  Zukunft  bringen  wird.  Aber  im  Blick  auf  unsere 
Gegenwart  wird  man  wohl  getrost  die  Behauptung  wagen 
dürfen,  daß  ein  höheres  Staatsideal,  eine  Organisation  von 
reicherer  Mannigfaltigkeit  und  freierer  geistiger  Einheit 
als  die  der  konstitutionellen  Monarchie  bis  jetzt  noch 
nirgends  aufgetaucht  ist.  Darum  wird  auch  das  zwanzigste 
Jahrhundert  vermutlich  sehr  wohl  daran  tun,  mit  Hegels 
Staatslehre  sich  noch  recht  ernsthaft  zu  beschäftigen. 


Drittes  Kapitel.    Der  Gleist  der  Hegelschen 
Staatslelire. 

L  Die  historische  Idee. 

Die  Rechtsphilosophie  Hegels  läßt  sich  in  keinem 
Sinne  als  das  Werk  bloß  dieses  einzelnen  Mannes  ver- 
stehen.    Sie    bezeichnet    den    Gipfelpunkt    einer   geistigen 


LX  Einleitung  des  Herausgebers. 

Arbeit,  an  der  seit  mindestens  einem  halben  Jahrhundert 
die  führenden  Männer  des  Zeitalters  tätig  gewesen  waren. 
Die  große  Bewegung,  deren  Anfänge  schon  bei  Leibniz 
und  Lessing  zu  bemerken  sind,  und  deren  Ziel  es  war,  das 
Bewußtsein  der  Zeit  über  den  Standpunkt  der  Aufklärung 
hinaus  zu  einer  tieferen  Einsicht  in  das  Wesen  der  Dinge 
und  des  Menschen  zu  führen,  hat  in  dem  Werke  Hegels 
eine  Art  von  krönendem  Abschluß  gefunden.  Hegel  selbst 
ist  von  dieser  Bewegung,  seitdem  er  selbständig  zu  denken 
begonnen  hat,  ebenso  getragen  worden,  wie  er  selbst 
in  sie  eingegriffen  und  mit  unvergleichlicher  Kraft  der  Zu- 
sammenfassung ihre  verschiedenen  Momente  in  dem  Ganzen 
seines  Systems   vereinigt   hat. 

Über  den  Dienst,  den  die  Aufklärung  dem  Fortschritte 
der  Menschheit  geleistet  hat,  wird  man  nicht  leicht  zu 
hoch  denken  können.  Sie  hat  in  dem  großen  Entwick- 
lungsprozeß des  Freiheitsbewußtseins,  der  mit  der  Re- 
formation eingesetzt  hat,  einen  entscheidenden  Wende- 
punkt gebracht.  Die  Reformation  hatte  dem  Menschen 
in  der  Verbindung  mit  dem  Ewigen,  das  er  im  Glauben  in 
sich  selbst  besaß,  die  Freiheit  gegenüber  der  ganzen 
Welt  gebracht.  Vermittelst  der  Aufklärung  fand  er  nun 
in  sich  selbst  auch  das  Prinzip  der  Weltlichkeit  und 
wurde  so  wieder  in  dieser  heimisch,  aber  nicht  als  ihr  Diener, 
sondern  als  ihr  sie  belebender  Geist.  Dies  Gefühl,  daß 
die  ganze  Welt  für  ihn  da  sei  und  er  sie  für  sich  zu 
nutzen  vermöge,  erhob  das  Selbstbewußtsein  des  Menschen 
zu  frohmütigem  Geltendmachen  seiner  Überzeugungen  und 
seiner  Grundsätze  und  schwellte  seine  Brust  in  der  Ge- 
wißheit, der  Mittelpunkt  des  Daseins,  der  Maßstab  aller 
Dinge  zu  sein.  Von  hier  aus  konnte  das  regste  geistige 
Leben  seinen  Ausgang  nehmen.  Aber  freilich  konnte  es 
dabei  nicht  stehen  bleiben.  Denn  dem  tieferdringenden 
Geiste  mußte  sich  nur  zu  bald  der  Standpunkt  der  Auf- 
klärung als  einseitig  und  dürftig  erweisen.  Das  un- 
bedingte Vertrauen  auf  die  eigene  Einsicht,  die  doch 
offenbar  selbst  keineswegs  unbedingt  war,  sondern  sehr 
deutlich  die  Schranken  der  Bildung  ihrer  Zeit  an  sich  trug, 
der  Gesichtspunkt  des  individuellen  Wohls  oder  des  all- 
gemeinen Nutzens,  von  dem  aus  diese  Einsicht  die  Welt 
der  Dinge  beurteilte,  die  daraus  hervorgehende  Ent- 
fremdung des  Gemütes  von  dem  Ewigen  und  Unendlichen 
und  seine  selbstgefällige  Beschränkung  auf  die  ihm  fami- 
liär gewordene  Weltlichkeit  gab  der  Aufklärung  die  Merk- 


Einleitung  des  Herausgebers.  LXI 

male  zugleich  der  Philisterhaftigkeit  und  der  Frivolität, 
des  altklugen  Besserwissens  und  der  dünkelhaften  Bor- 
niertheit. Was  sie  der  Menschheit  errungen  hatte,  dies 
Bewußtsein  der  Herrscherstellung  in  der  Welt,  das  konnte 
nicht  wieder  verloren  gehen;  die  Form  aber,  in  der  sie 
dieses  Bewußtsein  zum  Ausdruck  brachte,  mußte  wahr- 
hafteren Gestaltungen   weichen. 

Von  zwei  Seiten  ist  das  geistige  Gericht  an  der  Auf- 
klärung vollzogen  worden.  Die  Philosophie  Kants  machte 
der  Eitelkeit  der  subjektiven  Einsicht  ein  Ende,  indem 
sie  die  Wahrheit  und  das  Gute  nicht  in  der  individuellen 
Meinung,  die  von  der  Aufklärung  mit  dem  stolzen  Namen 
Vernunft  bezeichnet  wurde,  sondern  nur  in  der  reinen 
Vernunft  anerkannte,  in  der  Kategorie  und  dem  ewigen 
Reiche  des  Begriffs.  Von  der  anderen  Seite,  als  deren 
bahnbrechende  Vertreter  Montesquieu  und  Herder  zu  nennen 
genügen  möge,  wurde  der  beschränkten  Vernünftigkeit 
des  damaligen  Zeitgeistes  die  objektive  Vernunft  des  Histo- 
rischen entgegengehalten  und  die  gestaltenden  Mächte 
der  Wirklichkeit,  Recht  und  Staat,  Sitte  und  Religion  als 
Erzeugnisse  und  Entfaltungen  eines  einheitlichen  geistigen 
Lebens  der  Nationen  und  der  Menschheit  erfaßt,  an  das  die 
geläufigen  Maßstäbe  der  Aufklärung  gar  nicht  herau- 
freichten. Diese  beiden  Strömungen  haben  sich  früh  mit- 
einander vermischt.  Bei  Kant  selbst  zeigen  sich  die  An- 
sätze zur  Geschichtsphilosophie  schon  ganz  deutlich.  In 
Schiller  vollzieht  sich  zum  ersten  Male  die  bewußte  Ver- 
einigung dieser  beiden  fruchtbarsten  Tendenzen  seiner  Zeit. 
Durch  ihn  ist  wieder  Fichte  stark  beeinflußt  worden, 
während  auf  Schelling  vor  allem  Goethe,  auch  ein  Jünger 
Herders,  eingewirkt  hat.  Bei  Hegel  finden  wir  alle  die 
Gedankenelemente  vereinigt,  die  durch  die  Arbeit  jener 
Männer  ans  Licht  gebracht  worden  sind.  Er  ist,  was  das 
Prinzip  seiner  Rechtsphilosophie  betrifft,  mit  vollem  Be- 
wußtsein Fortsetzer  und  Vollender.  Was  er  als  das  Kenn- 
zeichen des  großen  Mannes  angibt,  daß  er,  was  seine  Zeit 
will,  ausspricht,  ihr  sagt  und  vollbringt  (S.  368),  das 
trifft  auf  ihn  selbst  zu,  indem  er  die  wissenschaftliche 
Tendenz,  die  trotz  des  Widerstandes  der  überlieferten 
Schulweisheit  auf  den  Kathedern  und  trotz  der  bequemen 
Denkgewohnheiten  im  großen  Publikum  siegreich  die  füh- 
renden Geister  sich  gewann,  zur  Klarheit  über  sich  selbst 
lind  zur  systematischen  Begründung  brachte. 

Für  das  Verhalten  der  Aufklärung  zu  der  geschichtlichen 


LXII  Einleitung  des  Herausgebers. 

Wirklichkeit  war  nichts  bezeichnender  als  ihre  Auffassung 
von  Recht  und  Staat.  Zu  Religion  und  Kirche  hat  sie  die 
verschiedenartigsten  Stellungen  genommen;  sie  sah  sich 
hier  darauf  angewiesen,  sich  kritisch  mit  den  Glaubens- 
lehren auseinanderzusetzen,  die  noch  bis  zu  ihrem  Auf- 
kommen, ja  inmitten  der  aufgeklärten  Gesellschaft  selbst, 
voll  in  Kraft  waren.  Für  ihre  Beurteilung  von  Recht  und 
Staat  dagegen  konnte  sie  sich  ohne  weiteres  einer  bereits 
im  Mittelalter  emporgekommenen  und  seitdem  zu  größter 
formaler  Vollendung  gediehenen  Disziplin  bedienen,  die 
ihrerseits  von  je  an  auf  Grundsätzen  sich  aufgebaut  hatte, 
wie  sie  dem  Wesen  der  Aufklärung  kongenial  waren.  Diese 
Disziplin  ist  das  Naturrecht,  das  mit  einer  merkv/ürdigen 
Zähigkeit  seinen  Platz  in  der  Wissenschaft  behauptet  hat, 
um  nach  vielhundertjähriger  Herrschaft  erst  in  der  Auf- 
klärung zur  unbedingtesten  Wirksamkeit  zu  gelangen.  Es 
ist  hier  nicht  der  Ort,  auf  die  Geschichte  der  Rechtsphilo- 
sophie und  insbesondere  des  Naturrechts  einzugehen.  Er- 
wähnen \fir  aber  auch  nur  die  Tatsache,  daß  eigentlich 
in  der  Zeit  zwischen  Aristoteles  und  Hegel  die  rechts- 
philosophische Arbeit  durchweg  naturrechtliche  Züge  ?in 
sich  getragen  hat,  so  läßt  sich  .daraus  wohl  entnehmen, 
daß  die  besondere  Art  des  Rechtsgebietes  mit  seiner  in 
Form  äußerer  Notwendigkeit  auftretenden  z^veckmäßigen 
Ordnung  dem  Nachdenken  die  Versuchung  besonders  nahe- 
gelegt hat,  diese  äußerliche  vernünftige  Ordnung  aus 
abstrakten  Grundsätzen  zu  konstruieren  und  sie  wie  eine 
künstliche,  absichtlich  veranstaltete  Einrichtung  anzusehen. 
Damit  entfernte  sich  dann  freilich  die  philosophische  Rechts- 
lehre grundsätzlich  von  dem  geschichtlich  gewordenen, 
dem  geltenden  Rechte  und  wurde  immer  mehr,  statt  eine 
Wissenschaft  von  dem  Seienden  zu  sein  und  die  Wirklich- 
keit zu  begreifen,  zu  einer  Forderung  des  Seinsollenden 
und  zu  einer  Anklage  gegen  die  Wirklichkeit,  die  damit 
nicht  übereinstimmt.  Welche  Gewalt  des  Begriffes  und 
welche  geschichtliche  Notwendigkeit  in  dieser  Betrachtungs- 
weise gelebt  hat,  das  lehrt  die  Stiftung  der  Freistaaten 
von  Nordamerika  wie  die  große  französische  Revolution; 
der  Gedanke  des  Naturrechtes  hat  hier  zur  Gestaltung  der 
staatlichen  Wirklichkeit  den  tiefsten  Antrieb  gegeben. 
Aber  eben  damit  ist  er  selbst  doch  auch  wieder  als  ein 
geschichtliches  Moment  von  relativer  Geltung  inmitten 
der  großen  geschichtlichen  Zusammenhänge  offenbar  ge- 
worden.   Und  es  entsprach  nur  der  Logik  der  Geschichte, 


Einleitung  des  Herausgebers.  LXIII 

dai3  gerade  damals,  als  das  Naturrecht  zum  wirksamen 
Faktor  der  Staatenbildung  sich  aufgeschwungen  hatte,  die 
Zeit  seiner  unbeschränkten  Herrschaft  auf  dem  Felde  des 
Gedankens  vorüber  war  und  eine  wissenschaftliche  Auf- 
fassung emporkam,  die  es  in  seiner  zeitgeschichtlichen 
Einseitigkeit  erkannte  und  überwand. 

Das  Verhältnis,  das  im  Naturrecht  der  Gedanke  seinem 
Gegenstande  gegenüber  einnimmt,  ist  das  des  abstrakten 
t)enkens  zu  einer  äußerlich  vorgestellten,  in  der  Natur 
gegebenen  Tatsache.  Darum  gleicht  das  Verfahren  der 
Juristen,  die  das  Naturrecht  ausbauen,  auffallend  dem  Ver- 
fahren der  Physiker,  die  den  Naturerscheinungen  auf  den 
Grund  zu  gehen  suchen.  Hier  wie  dort  wird  auf  dem 
Grunde  der  Erscheinungen  eine  abstrakte  Regel,  ein  ver- 
ständiger Zusammenhang  behauptet,  den  man  dadurch  auf- 
zuhellen unternimmt,  daß  man  die  zusammengesetzten 
Erscheinungen  aus  vorausgesetzten  einfachen  Bestim- 
mungen sich  bilden  läi3t.  D.  h.  es  wird  von  Hypothesen 
ausgegangen,  von  gedachten  Wirklichkeiten,  die  nur  im 
Denken  wirklich  sind.  Die  Physik  operiert  mit  Atomen 
und  Kräften,  mit  Materie  und  Bewegung,  Produkten  eines 
vorstellungsmäßigen  Denkens,  über  die  sie  nicht  weiter 
zurückgeht  zur  Untersuchung  des  Denkens,  dem  sie  ent- 
stammen. Das  Naturrecht  operiert  ebenso  mit  einem  recht- 
losen Naturzustande,  mit  Personen,  die  gleich  den  Atomen 
einer  Masse  sich  zusammenfinden,  mit  einem  ursprüng- 
lichen Gesellschafts-  oder  Staatsvertrage,  durch  den  diese 
Personen  miteinander  sich  verbinden  und  ihre  abstrakte 
Unabhängigkeit  freiwillig  gegeneinander  beschränken.  Alle 
diese  Vorstellungen  sind  schlechtweg  ausgedacht  und 
werden  als  wirklich  nur  im  Gedanken  vorausgesetzt.  Sie 
haben  für  die  Erkenntnis  des  Gegenstandes  selbst  un- 
streitig wichtige  Dienste  geleistet.  Der  Irrtum  der  Natur- 
rechtslehrer bestand  aber  darin,  daß  sie  alle  diese  Hypo- 
thesen als  Wirklichkeiten  annahmen  und  nicht  als  das, 
was  auch  die  Hypothesen  der  Physiker  sind,  die  dessen 
freilich  oft  ebenso  unbewußt  bleiben,  nämlich  Hilfslinien 
für  das  Verständnis  und  nützliche  Konstruktionen,  nicht 
aber  lebendige  und  tätige  Momente,  aus  denen  sich  die 
Wirklichkeit  aufbaut.  Das  Naturrecht  übersah  genau,  wie 
es  die  Physik  noch  heute  tut,  daß,  indem  es  die  Ent- 
stehung des  Ganzen  aus  hypothetischen  einfachen  Ele- 
menten erklären  wollte,  es  bereits  diejenigen  Bedingungen 
und  Gesetze  dabei  wirksam  sein  ließ,   die  nur  innerhalb 


LXIV  Einleitung-  des  Herausgebers. 

dieses  Ganzen  als  bestehender  Ordnung  einen  Sinn  haben 
und  denkbar  sein  können.  Alle  die  Vorgänge,  durch  die 
man  das  Entstehen  der  Welt  erklären  will,  setzen 
das  Bestehen  der  Welt  nach  ihren  Gesetzen  und  Ele- 
menten schon  voraus.  Alle  Konstruktionen,  die  das  Werden 
des  Staates  veranschaulichen  sollen,  beruhen  auf  der  An- 
nahme der  Vernünftigkeit  der  staatlichen  Zusammenhänge, 
die  sie  aus  äußerlicher  Kausalität  herzuleiten  sich  ein- 
bilden. 

,  In  diesem  Punkte  haben  Kant  und  Fichte  die  natur- 
rechtliche Auffassung  beseitigt.  Sie  haben  nicht  aus  an- 
genommenen Daten  eines  ursprünglichen  empirischen  Zu- 
standes  der  Menschheit  den  Staat  und  das  Recht  sich  ent- 
wickeln lassen,  sondern  sind  auf  die  vernünftige  Natur 
des  Menschen  zurückgegangen  und  haben  die  Staats-  und 
Rechtsordnung  als  eine  Manifestation  dieser  Vernunft  dar- 
gestellt. Fichte,  der  sich  der  Vorstellung  des  Staats^ 
Vertrages  sehr  ernsthaft  bedient,  erklärt  doch  deutlich, 
daß  er  damit  keinen  wirklichen,  zwischen  den  empirischen 
Menschen  vollzogenen  Akt  meine,  sondern  ihn  gleichsam 
als  ein  Symbol  für  die  sittliche  Notwendigkeit  ansehe, 
die  den  Menschen  gebietet,  miteinander  in  staatlicher  Ge- 
meinschaft zu  leben.  Darin  aber  gleicht  die  Stellung  Kants 
und  Fichtes  noch  der  naturrechtlichen  Anschauung,  daß 
sie  auf  Grund  der  Postulate  der  praktischen  Vernunft  das 
Recht  und  den  Staat  nach  einem  normalen  Muster  kon- 
struieren wollen  und  also  die  bestehende  staatliche  Wirk- 
lichkeit vernachlässigen.  Bei  Kant  begegnen  wir  dem 
Ideal  der  Staatenrepublik  und  dem  Traum  eines  ewigen 
Friedens;  bei  Fichte  nimmt  der  Staat,  wie  er  nach  ihm 
sein  soll,  vielfach  ganz  phantastische  Formen  an.  Beiden 
aber  gebührt  ein  aulJerordentliches  Verdienst  deshalb,  weil 
sie  in  Kraft  ihrer  Erkenntnis  von  dem  wahrhaft  Sittlichen 
es  vermocht  haben,  zwischen  dem  Rechtsgebot  und  der 
Gewissenspflicht,  zwischen  Legalität  und  Moralität  klar, 
wenn  auch  in  abstrakt  einseitiger  Zuspitzung  zu  unter- 
scheiden. 

Was  dem  Naturrecht  und  der  Philosophie  des  sub- 
jektiven Idealismus  gemeinsam  war,  die  Geringschätzung 
des  geschichtlich  vorhandenen  Rechtes  und  Staates,  wurde 
durch  die  historische  Anschauungsweise  bekämpft, 
die  mit  wachsender  Kraft  und  Klarheit  sich  dazu  erhob, 
in  den  Formen  des  menschlichen  Gemeinschaftslebens,  wie 
sie  die  verschiedenen  Nationen  und  Volksstämme  aufwiesen. 


Einleitung  des  Herausgebers.  LXV 

die  Schöpfungen  des  Volksgeistes  zu  sehen,  der  gleichsam 
unbewußt  die  reichsten  Schätze  inneren  Lebens,  seine 
Fülle  an  Gemüt  und  Glauben  in  diesen  äußeren,  aber 
sinn-  und  bedeutungsvollen  Ordnungen  ausgesprochen  habe. 
In  dieser  Anschauung  flössen  die  verschiedensten  Strö- 
mungen des  damaligen  Geisteslebens  zusammen.  Der  auf 
altgläubiger  religiöser  Grundlage  ruhende  Widerspruch 
gegen  die  Aufklärung,  der  von  jeher  dem  seichten  Witze 
der  Weltverbesserer  die  tiefe  Weisheit  der  göttlichen  Ord- 
nungen des  sittlichen  Lebens  entgegengehalten  hatte,  ver- 
band sich  hier  mit  dem  erleuchteten  Blicke  des  echten 
Historikers,  der  für  den  bleibenden  Wert  wie  für  die  ge- 
schichtliche Bedingtheit  der  verschiedenen  Volkstümer  ein 
gleich  klares  Verständnis  hatte.  Dazu  kam  die  roman- 
tische Begeisterung  für  das,  was  jenseits  der  verständigen 
Erkenntnis  und  der  menschlichen  Veranstaltung  liegt,  und 
der  politische  Widerstand  gegen  die  auflösenden  Tendenzen 
'.'iner  abstrakten  Freiheitsschwärmerei.  So  zeigt  diese  histo- 
rische Richtung  die  verschiedensten  Züge,  die  Gabe  tiefen 
innerlichen  Verständnisses  für  Volkstum  und  ideales  Leben, 
eindringende  Gelehrsamkeit,  der  sich  die  Pforten  der  Ver- 
gangenheit aufschließen,  phantastische  Schwärmerei  für 
glücklich  vergangene  und  überwundene  Zustände  und  eine 
plumpe,  die  geistige  und  sittliche  Freiheit  verkennende 
und  mißachtende  reaktionäre  Gesinnung.  Gerade  diese  un- 
klare Mischung  der  Tendenzen  aber,  die  alle  in  der  Opposi- 
tion gegen  die  Aufklärung  und  gegen  den  Rationalismus  des 
subjektiven  Idealismus  sich  zusammenfanden,  beweist,  daß 
diese  Opposition  die  eigentliche  weltgeschichtliche  Auf- 
gabe jener  Zeit  ausgemacht  hat.  In  der  Anerkennung  der 
Bedeutsamkeit  dieser  Aufgabe  soll  man  sich  auch  dadurch 
nicht  irre  machen  lassen,  daß  der  Kampf  gegen  Auf- 
klärung und  Rationalismus  sehr  unerfreuliche  Erschei- 
nungen im  Gefolge  gehabt  hat.  Unerfreulicher  als  die 
Ausschreitungen,  von  denen  die  aufklärerische  Bewegung 
war  begleitet  worden,  sind  sie  auch  nicht  gewesen.  Und 
wo  es  sich  um  die  Überv.'indung  eines  zugleich  so  geistes- 
mächtigen wie  einseitigen  Prinzipes  handelte,  durch  das 
seit  einigen  Jahrzehnten  geradezu  die  Gestalt  Europas 
war  verändert  worden,  konnte  es  ohne  Einseitigkeiten 
und  Gewalttätigkeiten  auf  der  Seite  des  überlegenen  Prin- 
zips natürlich  auch  nicht  abgehen.  Überhaupt  ist  der  da- 
mals entfachte  Gegensatz  noch  längst  nicht  zur  Ruhe 
gekommen.    Nur   wenige    erleuchtete   Geister   haben   sich 

Hegel,  Rechtsphilosophie.  E 


LXVI  Einleitung  des  Herausgebers. 

damals  über  den  gärenden  Zwiespalt  der  Zeit  erhoben  und 
den  Standpunkt  der  Versöhnung,  die  Freiheit  des  Lrebens 
in  der  geistigen  Totalität  erreicht;  und  heute  wird  das 
Bewoßtsein  der  gebildeten  Welt  noch  von  demselben  Zwie- 
spalt zerrissen,  an  dem  sich,  etwa  Goethe,  Hegel  und  ihre 
Gesinnungsgenossen  ausgenommen,  die  nachnapoleonische 
Zeit  abmühte.  Darüber  darf  man  sich  nicht  im  mindesten 
wundern.  Noch  weniger  braucht  man  deshalb  an  jenem 
Standpunkte  der  Versöhnung  zu  verzweifeln,  auf  den  Goethe 
und  Hegel  hingewiesen  haben  und  zu  dem  dieser  Zwiespalt 
gebieterisch  hindrängt.  Der  Menschheit  ist  damit  eine  Auf- 
gabe gestellt,  deren  Lösung  dem  gebildeten  Bewußtsein  an- 
zueignen  noch   säkularer    Anstrengungen   bedürfen   wird. 

Dem  ungeschichtlichen  Geiste  des  Naturrechts  gegen- 
über vertritt  Hegel  mit  vollem  Bewußtsein  die  tiefere 
Einsicht,  die  im  Rückgange  auf  die  objektive  Vernunft 
das  Recht  der  Geschichte  und  den  in  der  Wirklichkeit 
mächtigen  Geist  zur  Anerkennung  zu  bringen  sucht.  In 
Übereinstimmung  mit  Kant  und  Fichte,  dabei  aber  in  aus- 
gesprochenem Anschloß  an  Aristoteles  erkennt  er  in  Recht 
und  Staat  eine  Schöpfung  der  objektiven  Vernunft,  nicht 
ein  künstliches  Machwerk  von  Menschen,  die  für  ihre 
zufälligen  Bedürfnisse  sorgen.  Aber  er  geht  über  Kant 
und  Fichte  hinaus,  indem  er  grundsätzlich  den  geschicht- 
lichen Charakter  des  Staates  als  der  erscheinenden  Ge- 
stalt des  Volksgeistes  auf  das  entschiedenste  betont.  Deshalb 
hat  er  mit  der  Vertragstheorie  in  jeder  Form  vollständig 
gebrochen.  Der  Staat  gilt  ihm  als  die  Grundlage  für  alles 
wahrhaft  menschliche  Leben;  darum  ist  er  aus  eigenem 
Rechte  da,  ein  irdischer  Gott,  und  nicht  erst  aus  Ver- 
trägen seiner  Angehörigen  entstanden.  Der  Staat  als 
solcher  ist  demnach  souverän;  und  die  Doktorfrage  nach 
dem  Träger  der  Souveränetät,  die  in  den  früheren  Jahr- 
hunderten so  ernste  politische  Bedeutung  gehabt  hatte, 
wurde  hier  gegenstandslos,  wo  weder  die  Untertanen  noch 
der  Herrscher  isoliert  für  sich  in  Betracht  kommen,  sondern 
das  Volk  als  Ganzes,  der  organisierte  Staat,  die  Souve- 
ränetät besitzt,  die  selbstverständlich  deshalb  in  der  natur- 
gemäi3en  Spitze  dieser  Organisation,  in  dem  Monarchen 
als  dem  Repräsentanten  der  Gesamtheit,  zur  Anschauung 
gebracht  wird. 

Wenn  in  diesem  Punkte  die  Abwendung  Hegels  von 
abstrakten  Theorien  vollständig  ist,  die  den  Staat  als  eine 
Zusammensetzung  aus  selbständigen  Elementen  auffassen 


Einleitung  des  Herausgebers.  LXVII 

und  seine  Einheit  „als  eine  Wirksamkeit  nur  gegenseitiger 
Dämme"  begreifen,  so  erklärt  sich  damit  auch  seine  Ab- 
neigung gegen  die  Sonderung  von  Legalität  und  Moralität, 
wie  sie  bei  Kant  und  Fichte  ausgesprochen  ist.    Weil  er 
in  dem  Staate  das  auf  sich  selbst  ruhende  und  durch  sich 
selbst  bestehende  sittliche  Ganze  erkennen  möchte,  so  läßt 
er  Moralität  und  Religion  darin  befaßt  sein  und  empört 
sich  gegen  die  Meinung,  die  den  Staat  und  sein  Rechtsgebot 
abgesondert  von  dem  höheren  ideellen  Leben  der  sittlichen 
Persönlichkeit  betrachtet.    Es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß 
er   damit   selbst   wieder   einer   Einseitigkeit  verfallen  ist; 
und  das  tritt  am  deutlichsten  daran  hervor,  daß  er  nun 
sich   genötigt   sieht,    gleichsam   vor   und   unabhängig  von 
dem  Staate   eine   Sphäre   des   abstrakten  Vernunftrechtes 
anzunehmen,  über  die  er  wesentlich  in  der  Art  des  philo- 
sophischen  Naturrechts    handelt.     (Vgl.    oben   Kapitel   II, 
S.  XLIV.)    Gewiß  ist  es  ein  in  seiner  Weise  geistvoller 
Gedanke,  daß  er,  um  die  konkrete  Herrlichkeit  des  sitt- 
lichen Lebens  im  Staate  zusammenzufassen,  die  abstrakteren 
Bestimmungen   des   Personenrechts   zu    einer   gesonderten 
Gestaltung    vereinigt,    in    der    die    Formeln    des   Rechtes 
herrschen,  ,,das  mit  uns  geboren  ist".   Diese  Scheidung  er- 
innert lebhaft  an  Hegels  Auffassung  der  räumlichen  Welt 
und  ihrer  Bewegung,  wo  er  in  dem  beschränkten  Gebiete 
der  irdischen  Mechanik  die  abstrakte  Formel  der  Schwer- 
kraft gelten  läßt,  dagegen  für  die  absolute  Mechanik  des 
Sonnensystems   diese   Formel   rundweg   ablehnt   und   seine 
Bewegung    als    die    ihm    immanente    Vernünftigkeit    dar- 
stellt.   Diese  freie   unendliche   Bewegung   im  System  der 
Planeten  und  die  konkrete  Organisation  des  Staatsganzen 
bieten  eine  interessante  Analogie.    Immerhin  ist  hier  der 
Punkt,    wo    man    erkennen    muß,    daß    Hegel    weder    die 
Gesichtspunkte   des   Naturrechts   ganz   überwunden,    noch 
den   Gewinn  aus   dem   Kant-Fichteschen   Standpunkt   voll- 
kommen festgehalten  hat.    Denn  wenn  auch  in  Wirklichkeit 
seine  Auffassung  des  Sittlichen  noch  viel  gründlicher  der 
Sache  gerecht  wird  als  die  Moralität  des  subjektiven  Idealis- 
mus, so  vermeidet  er  mit  seiner  überstarken  Betonung  der 
Sittlichkeit  im  Staate  doch  nicht  den  Schein,  als  biege  seine 
Ethik  wieder  in   eine  Lehre  der  Legalität  um,   betrachte 
das  sittliche  Individuum  abschließend  unter  der  Kategorie 
des  Staatsbürgers  und   halte  es  für  das   Ideal  aller  sitt- 
lichen Bildung,  einfach  ,,als  der  Bürger  eines  Staates  von 
guten  Gesetzen  zu  leben".    (S.  138.) 

E* 


LXVIII  Einleitung  des  Herausgebers. 

Daß  dies  nicht  Hegels  eigentliche  Meinung  ist, 
brauchen  wir  hier  nicht  noch  einmal  zu  versichern.  Der 
Staat  mit  guten  Gesetzen  ist  ihm  eben  der  Staat,  in  dem 
das  tiefste  Verhältnis  des  Menschen  zum  Absoluten,  die 
Religion,  alle  Gesetze  und  Lebensordnungen  durchdringt. 
Diese  Anschauung  hat  er  in  seiner  Jugend  an  dem  Ideal 
des  alten  Griechentums  in  sich  aufgenommen  und  sehr 
viel  Mühe  gehabt,  die  geschichtliche  Wirklichkeit  des 
modernen  Staatslebens  mit  diesem  Ideal  zu  vereinen.  Der 
Zwiespalt  zwischen  der  äußeren'Gestalt  des  Daseins  und  dem 
Triebe  der  freien  Subjektivität,  den  er  hier  empfand,  hat  ihn 
schon  rein  erfahrungsgemäß  gegen  die  Übertreibungen  der 
historischen  Schule  eingenommen,  die  ebensowenig  in  Rück- 
sicht der  wissenschaftlichen  Gründlichkeit  vor  seinem  philo- 
sophischen Gewissen  bestehen  konnte.  Er  hat  mit  derselben ' 
Erbitterung  gegen  die  Richtung  gekämpft,  die  das  positive, 
insbesondere  das  römische  Recht  als  schlechthin  positiv 
und  keiner  Ableitung  aus  dem  philosophischen  Geiste  be- 
dürftig proklamierte,  wie  gegen  jene  subjekti\astische  Rich- 
tung, die  allem  Bestehenden  das  Zeugnis  ihres  Gefühls 
und  das  Recht  des  Herzens  entgegenstellte.  Sein  Ideal 
der  Freiheit  sah  er  durch  beide  Richtungen  gleich  schwer 
gefährdet.  Was  er  als  das  Ziel  der  Geschichte,  als  die 
bauende  Macht  in  Recht  und  Staat  begriffen  hatte,  das  war 
der  freie  Geist,  der  seine  vernünftige  Allgemeinheit  fort- 
schreitend realisiert  und  in  seinen  Schöpfungen  sich  selbst 
begreift  und  vollendet.  Daß  man  das  Recht  mit  dem  ma- 
gischen Halbdunkel  einer  geheiligten  Überlieferung  wollte 
umkleidet  bleiben  lassen,  erschien  ihm  als*  eine  Versündi- 
gung an  Menschenwürde  und  Freiheit.  Erst  wenn  der 
subjektive  Geist  sich  in  dem  Rechte  mit  freier  Erkenntnis 
einheimisch  gemacht  und  die  aus  der  geschichtlichen  Wirk- 
lichkeit hervorleuchtende  objektive  Vernunft  auch  für  das 
Selbstbewußtsein  zu  einem  System  der  Gesetzgebung,  zu 
einer  einsichtig  begründeten  gesetzlichen  Freiheit  ge- 
staltet hat,  ist  der  Zweck  der  Rechtsbildung  erfüllt.  Des- 
halb hat  Hegel  die  Meinung,  daß  die  Gegenwart  keinen 
Beruf  zu  einer  allgemeinen  Gesetzgebung  habe,  als  einen 
seiner  Zeit  angetanen  Schimpf  empfunden  (S.  171).  Er  hat 
die  historische  Anschauung,  die  sein  Zeitalter  über  die 
Flachheit  der  Aufklärung  emporhob,  in  seinem  System 
zur  gedanklichen  Vollendung  gebracht.  Aber  die  Be- 
schränktheit und  die  rückschrittliche  Neigung  der  histo- 
rischen Schule  hat  er  geistesmächtig  zurückgewiesen. 


Einleitung  des  Herausgebers.  LXIX 

II.  Die  liberale    Idee. 

Wenn  also  Hegel  bei  den  Anschauungen  der  Auf- 
klärung nicht  stehen  geblieben  ist,  so  hat  er  doch  dankbar 
den  Gewinn  anerkannt  und  festgehalten,  den  die  Mensch- 
heit aus  dieser  Bewegung  hat  ziehen  dürfen.  Gerade  dem 
Naturrecht  verdankt  die  moderne  Kultur  Außerordent- 
liches, weil  ihm  ein  Gedanke  von  höchster  Fruchtbarkeit 
zugrunde  liegt,  der  Gedanke  des  „angeborenen  Rechtes 
des  Individuums".  Dies  Recht  erscheint  in  dem  Staate 
aus  Rücksicht  der  allgemeinen  Wohlfahrt  eingeschränkt, 
wird  aber  besonders  in  Rücksicht  auf  die  geistige  und 
sittliche  Freiheit  als  unantastbar  fortbestehend  festgehalten. 
Seiner  Substanz  nach  ist  dieser  Gedanke  echt  protestan- 
tisch und  entspricht  der  Höhe  des  Selbstbewußtseins,  zu 
dem  die  Menschheit  durch  die  Reformation  war  erhoben 
worden.  Die  Formulierung,  die  das  Naturrecht  diesem 
Gedanken  gab,  war  freilich  unrichtig  und  beruhte  auf 
einer  Verwechselung  der  Begriffe  ,, Recht"  und  „sittliches 
Ideal".  Indem  aber  das  sittliche  Ideal  der  geistigen 
Freiheit  des  Menschen  zur  treibenden  Kraft  des  geistigen 
Lebens  jener  Epoche  wurde,  so  konnte  es  gar  nicht  anders 
sein,  als  daß  es  mit  den  überkommenen  rechtlichen  Zu- 
ständen in  Konflikt  geriet,  die  ja  zum  größten  Teil  noch 
aus  der  Zeit  der  mittelalterlichen  Anschauungen  und  Ideale 
sich  erhalten  hatten.  Daher  begreift  es  sich  wohl,  daß 
sich  dies  neue  Ideal  mehr  und  mehr  fordernd  in  der  Ge- 
stalt des  Rechtsanspruches  gegen  die  bestehende  Wirklich- 
keit wandte,  und  daß  alle  Herzen,  die  für  Recht  und  Frei- 
heit glühten,  jener  großen  Umwälzung  zujauchzten, 
die  in  Frankreich  dem  verrotteten  ancien  regime  ein  Ende 
machte  und  eine  neue  Ordnung  der  Dinge  auf  Grund  der 
Prinzipien  des  Naturrechts  ins  Leben  zu  führen  unter- 
nahm. Hegel  hat  in  seiner  Studentenzeit  zu  Tübingen  die 
Freiheitsschwärmerei  jener  Tage  voll  Begeisterung  mit- 
empfunden. Er  hat  während  seiner  Hauslehrerzeit  in  der 
Schweiz  das  Musterbild  einer  im  geistlosen  Gewohnheits- 
recht verhärteten  Oligarchie  an  der  Berner  Staatsver- 
fassung persönlich  kennen  gelernt  und  ihrer  Bekämpfung 
seine  erste  publizistische,  übrigens  anonym  veröffentlichte, 
Arbeit   gewidmet*).     Den   Idealen,    denen   er   damals  ge- 


*)  Falkenheim,   Dr.  Hugo,   Eine  unbekannte   politische 
Druckschrift  Hegels.     Preußische  Jahrbücher,  Bd.  138,  S.  193  ff. 


LXX  Einleitung  des  Herausgebers. 

huldigt  hat,  ist  er  sein  Leben  lang  treugeblieben  und  hat 
die  Erinnerung  an  die  ersten  Zeiten  der  französischen 
Revolution,  an  jenen  „herrlichen  Sonnenaufgang"  der  Frei- 
heit in  seinen  Vorlesungen*)  wie  bei  gelegentlichen  ge- 
selligen Feiern**)  noch  in  den  Jahren  seines  Alters  hoch- 
gehalten. 

Indessen  hat  sich  Hegel  der  revolutionären  Strömung 
niemals  ohne  Vorbehalt  hingegeben.  Die  hinreißende, 
faszinierende  Gewalt  der  Rousseauschen  Gedanken 
hat  er  so  tief  wie  die  Besten  seiner  Zeit  gefühlt 
und  sich  des  Sieges  gefreut,  den  sie  über  eine  zum  Unter- 
gange  reife  Welt  errangen.  Läßt  sich  doch  auch  nicht 
verkennen,  daß  gerade  in  Rousseau,  trotzdem  er  die  poli- 
tischen Tendenzen  der  Aufklärung  abschließend  verkörpert, 
schon  ein  tieferes  Prinzip,  das  der  Aufklärung  entgegen- 
steht, ans  Licht  ringt.  Geschichtslos,  ja  geschichtsfeind- 
lich,  wie  er  ist,  öffnet  er,  indem  er  die  Verstandeskultur 
seiner  Zeit  verwirft,  der  romantischen  Schwärmerei,  dem 
Rückgang  auf  die  Ursprünglichkeit  des  Gefühls  die  Bahn 
und  untergräbt  damit  selbst  die  Fundamente,  auf  denen  die 
Aufklärung  ihr  rationelles  System  errichtet  hatte.  In 
Deutschland  hat  gerade  diese  Seite  der  Rousseauschen 
Ideen  auf  die  empfänglichen  Gemüter  der  Jugend  besonders 
stark  eingewirkt  und  natürlich  auch  in  Hegels  Brust 
verwandte  Saiten  zum  Anklingen  gebracht.  Aber  bald 
hat  Hegel  an  dem  abstrakten  Radikalismus  dieser  Ideen 
kein  Genüge  mehr  gefunden.  Er  hat  klar  erfaßt,  worin 
sie  hinter  der  Wahrheit  zurückblieben  und  nach  Zer- 
störung des  Vorhandenen  selbst  wieder  eine  verkehrte  Welt 
hervorzurufen  geeignet  waren.  Diese  Erkenntnis  hat  sich 
ihm  fast  gleichzeitig  mit  seiner  Freude  über  den  Sieg  der 
Freiheit  enthüllt.  Das  Schreckensregiment  in  Frankreich, 
das  er  schon  1794  mit  Abscheu  als  ,,die  Schändlichkeit 
der  Robespierroten"  bezeichnete***),  hat  einen  nicht  minder 
tiefen  Eindruck  in  ihm  hinterlassen  als  die  Anfänge  der 
großen  Revolution.  Und  durch  alle  seine  späteren 
Schriften  zittert  der  Nachhall  der  Empörung  hindurch,  in  die 

*)  Hegels  Vorlesungen  über  die  Philosophie  der  Geschichte, 
herausgegeben  von  F.  Brunstäd,  Leipzig,  Reclam,  S.  552. 

**)  Kuno  Fischer,  Hegels  Leben,  Werke  und  Lehre, 
2.  Aufl.  1911,  S.  1232.  —  Hierzu  und  zum  Folgenden  vgl.  die 
ausgezeichnete  Darstellung  bei  Max  Lenz,  Geschichte  der  Uni- 
versität Berlin,  II,  1,  S.  187  flf. 

***)  Briefe  von  und  an  Hegel,  Leipzig  1887,  Bd.  1.  S.  9. 


Einleitung  des  Herausgebers.  LXXI 

ihn  jener  furchtbare  Ausbruch  des  revolutionären  Fanatis- 
mus versetzt  hatte. 

Aus  diesen  Erlebnissen  heraus  ist  ihm  das  Urteil 
erwachsen,  das  er  in  §  258  der  Rechtsphilosophie 
über  die  Rousseausche  Theorie  ausspricht.  Er  rühmt 
das  Verdienst  Rousseaus,  als  Prinzip  des  Staates  kein 
bloß  formell,  sondern  ein  inhaltlich  geistiges  Prin- 
zip, den  Gedanken  in  der  Form  des  Willens,  aufgestellt 
zu  haben,  aber  er  hebt  zugleich  hervor,  daß  Rousseau, 
indem  er  den  Willen  als  den  einzelnen  Willen  und  darum 
den  Staat  als  die  beabsichtigte  Veranstaltung  vieler  ge- 
meinschaftlicher Willen  gefaßt  habe,  in  Abstraktionen 
stecken  geblieben  sei,  deren  Konsequenzen  das  an  und  für 
sich  seiende  Göttliche  des  Staates,  seine  absolute  Autorität 
und  Majestät  zerstören  mußten.  So  haben  diese  Abstrak- 
tionen, als  sie  zur  Gewalt  gediehen,  einerseits  zum  ersten 
Male  in  der  Menschengeschichte  das  ungeheure  Schau- 
spiel hervorgebracht,  daß  die  Verfassung  eines  großen 
wirklichen  Staates  ganz  von  vorn  und  vom  Gedanken  an- 
gefangen werden  sollte.  Andererseits  haben  sie,  weil  es 
nur  ideenlose  Abstraktionen  sind,  diesen  Versuch  zur 
fürchterlichsten  und  grellsten  Begebenheit  gemacht  (S.  197). 

Was  Hegel  als  Frucht  der  vorhergehenden  Standpunkte 
festhält,  ist  so  das  Ideal  der  bürgerlichen  Freiheit, 
die  darauf  beruht,  daß  der  Staat  zu  einer  begrifflich  ent- 
wickelten systematischen  Gesetzgebung  vorgeschritten  ist, 
die  den  Geist  der  Nation  in  Form  des  Gedankens  ausspricht 
und  also  jedem  Angehörigen  des  Staates  zum  Wissen  seines 
wahren  Wesens  verhilft.  In  seinem  Eifer  für  den  Gedanken 
der  Freiheit  entfernt  sich  Hegel  sogar  bisweilen  wieder 
von  dem  historischen  Begriffe  des  Rechts  und  verfällt  in 
die  Urteilsweise,  die  dem  Naturrecht  eigentümlich  ist. 
So  führt  er  einen  hartnäckigen  Kampf  gegen  manche 
Härten  des  alten  römischen  Rechtes  und  erklärt  geradezu 
das  in  früheren  Zeiten  geltend  gewesene  Recht  sachlich 
für  Unrecht.  Insbesondere  bei  der  Besprechung  der  Skla- 
verei geht  er  von  der  Ansicht  aus,  daß  sowohl  das  Recht 
wie  die  Rechtswissenschaft  von  dem  Standpunkte  des 
freien  Willens  anfangen,  beide  also  über  den  unwahren 
Standpunkt,  auf  dem  der  Mensch  als  Naturwesen  gelte 
und  deshalb  der  Sklaverei  fähig  sei,  schon  hinaus  seien 
(S.  62).  Wenngleich  diese  Ausführung  mit  der  konkreten 
und  historischen  Auffassung  des  Rechtes,  auf  die  Hegel 
abzielt,  sich  nicht  verträgt,  so  bildet  sie  doch  ein  leuch- 


LXXII  Einleitung  des  Herausgebers. 

tendes  Zeugnis  für  die  Entschiedenheit,  mit  der  er  das 
Prinzip  der  Freiheit  als  den  wahren  Inhalt  alles  Rechtes 
festhält. 

Wenn  er  als  den  Grundsatz  der  neuen  Zeit  den  Satz 
bezeichnet,  daß  alle  frei  seien,  so  sieht  er  auch  in  der 
Entwickelung  des  Staatswesens  dies  Prinzip  dahin  tätig, 
daß  allen  Staatsangehörigen  irgendeine  Art  von  Teil- 
nahme an  dem  staatlichen  Leben  eingeräumt  werde. 
Bei  seiner  Behandlung  der  Korporationen  erblickt  er  den 
Wert  dieser  Gebilde  vor  allem  darin,  daß  sich  die  freie 
Initiative  des  urteilsfähigen  und  tatkräftigen  Bürgefs  in 
ihnen  betätigen  kann.  Ebenso  will  er  auch  dem  Staate 
selbst  diese  Kräfte  der  freien  Individualität  zugute  kommen 
lassen.  Daher  tritt  er  nachdrücklich  für  das  Institut  der 
Laienrichter,  für  das  Geschworenengericht  ein,  durch  das 
dem  Selbstbewußtsein  der  Mitglieder  der  bürgerlichen  Gesell- 
schaft sein  Recht  und  den  Entscheidungen  des  Gerichtes 
ein  Zutrauen  gewonnen  wird,  das  auf  der  Empfindung  ruht, 
daß  jenes  Recht  keine  fremde,  den  Bürger  vergewaltigende 
Macht  sei.  (S.  182.)  Aus  wesentlich  demselben  Gesichtspunkte 
hält  er  es  für  erforderlich,  daß  in  dem  Staate  der  Freiheit 
neben  die  Beamtenschaft  die  Volksvertretung  als  ein 
Bestandteil  der  gesetzgebenden  Gewalt  trete  und  als  ver- 
mittelndes Organ  zwischen  der  Regierung  einerseits  und 
der  ganzen  Volksmasse  andererseits  die  Gemeinsamkeit 
verkörpere,  zu  der  sich  durch  die  Staatsgesinnung,  die 
alle  durchdringt,  die  verschiedenen  Interessenkreise  der 
Stände  und  Korporationen  mit  den  Organen  der  Staats- 
regierung zusammenschließen.  Der  Gesichtspunkt,  der  alle 
diese  Ausführungen  Hegels  beherrscht,  ist  der,  daß  kein 
Bestandteil  des  Ganzen  isoliert  für  sich  zu  seiner  Wahr- 
heit kommen  kann,  und  daß  die  staatliche  Freiheit,  also 
auch  die  wahre  Freiheit  jedes  einzelnen  Staatsangehörigen, 
in  dem  Bewußtsein  der  unbedingten  Zusammengehörigkeit 
und  Einheit  aller  Momente  des  staatlichen  Organismus 
sich  verwirklicht. 

Die  bürgerliche  Freiheit  gedeiht  demnach  nur  in  dem 
festen  Rahmen  der  sta-atlichen  Organisation.  In  diesen 
Rahmen  muß  sich  auch  die  höchste  Spitze  der  Regierungs- 
gewalt einfügen.  Wir  haben  oben  bereits  erwähnt,  daß 
für  Hegel  die  Souveränetät  das  Kennzeichen  des  Staates 
als  solchen,  daß  begrifflich  der  Staat  selbst  der  Souverän 
ist.  Nun  aber  erfordert  die  Notwendigkeit  der  Sache  ein 
staatliches    Organ ,    in   dem  diese   Souveränetät   zur   An- 


Einleitung  des  Herausgebers.  LXXIII 

schauung  kommt.  Dies  Organ  kann  nur  ein  einzelnes 
Subjekt,  ein  bestimmtes  Individuum  sein.  Bedeutet  doch 
die  Souveränetät  des  Staates  nichts  anderes,  als  daß  der 
Staat  ein  vollkommen  unabhängiger  bewußter  Wille  ist. 
Darin  erweist  er  sich  als  daseiender  Geist.  Der  Geist 
nun  ist  seinem  Wesen  nach  Subjekt;  im  Staate  aber  kommt 
dies  sein  Wesen  nicht  rein  zur  Erscheinung.  Vielmehr 
bleibt  im  Staate  als  dem  in  der  Äußerlichkeit  sich  organi- 
sierenden freien  Geiste  der  Unterschied  von  Wesen  und 
Erscheinung  darin  erhalten,  daß  der  Staatswille,  obwohl 
bewußter  persönlicher  Wille,  sich  zwar  einer  Mehrheit 
von  Subjekten  bemächtigt  und  durch  die  ganze  Menge  seiner 
Glieder  hindurchwirkt,  dabei  aber  sie  alle  in  ihrer  be- 
sonderen Gestalt  frei  läßt  und  sich  nicht  selbst  als  ein 
umfassendes  absolutes  Subjekt  Erscheinung  gibt.  Wohl 
aber  stellt  sich  seine  subjektive  Geistnatur  in  einem 
besonderen  Organe  dar,  ohne  das  sein  ganzer  Organismus 
nicht  bestehen  kann.  Dieses  Organ  ist  der  Monarch, 
die  Spitze  der  Subjektivität,  der  den  einheitlichen  Staats- 
v/illen  zu  repräsentieren  und  auszusprechen  hat.  Hegel 
ist  über  die  Einwürfe,  daß  es  doch  auch  nichtmonar- 
chische Staaten  gebe,  mit  der  abweisenden  Bemerkung 
hinweggegangen,  daß  unvollkommene  und  zufällige  Bil- 
dungen der  Äußerlichkeit  nichts  gegen  den  Begriff  der 
Sache  auszurichten  vermögen.  Er  hätte  dem  Verständnis 
wohl  noch  einen  Schritt  weiter  entgegenkommen  und  darauf 
hinweisen  können,  daß,  wie  immer  die  Staatsverfassung 
äußerlich  möge  gestaltet  sein,  die  letzte  Entscheidung 
unvermeidlich  bei  einem  persönlichen  Willen  ruht,  der 
einerseits,  wo  etwa  ein  Kollegium  an  der  Spitze  des 
Staates  steht,  der  Vorsitzende  oder  der  die  anderen  unter 
seinen  Einfluß  Zwingende  sein,  der  andererseits,  wo 
schlechtweg  die  Mehrheit  regieren  soll,  deren  Beschlüsse 
zu  exekutieren  die  Macht  haben  und  darum  auch  die 
Freiheit  besitzen  muß,  selbst  über  diese  Beschlüsse  die 
letzte  Entscheidung  zu  treffen. 

Der  Idee  nach  also  fordert  die  Natur  des  Staates 
ein  nicht  nachträglich  durch  künstliche  Veranstaltung,  son- 
dern auf  natürliche  Weise  zum  Monarchen  bestimmtes  Indi- 
viduum; das  Geburts-  und  Erbrecht  ist  im  Begriffe  selbst 
das  Fundament  für  die  Majestät.  Alle  Abweichungen  hier- 
von, die  geschichtlich  vorkommen,  obwohl  freilich  die 
Erblichkeit  der  Monarchie  ja  auch  tatsächlich  die  Regel 
ist  und  sich  aus  mancherlei  Schwankungen  und  Störungen 


LXXIV  Einleitung  des  Herausgebers. 

immer  wiederherzustellen  pflegt,  gehören  in  die  Sphäre 
der  Zufälligkeit  und  der  Unangemessenheit  an  den  Be- 
griff, die  natürlich  auch  sowohl  wirklich  wie  vernünftig 
ist;  denn  der  Begriff  ist  ja  gerade  dazu  berufen,  seine 
Widerstände  zu  überwinden  und  sich  in  ihnen  durchzu- 
setzen. Aus  diesem  Grunde  wird  man  Hegels  Ausführungen 
zu  diesem  Thema  nicht  gerecht,  sobald  man  vergißt,  daß 
er  bei  der  Ausarbeitung  seiner  Staatslehre  die  geschicht- 
liche Entwickelung  der  Menschheit  zum  freien  Selbsbewußt- 
sein  schon  voraussetzt  und  also  sich  für  berechtigt  halten 
darf,  für  den  modernen  Staat  die  Form  der  Verfassung 
zu  fordern ,  die  seiner  im  Geschichtsverlaufe  klar 
herausgetretenen  Idee  gemäß  ist.  Man  braucht  nur 
daran  zu  denken,  wie  Hegel  in  der  Phänomenologie  den 
unbeschränkten  Herrn  der  Welt,  den  Cäsar,  oder  den 
absoluten  Gebieter  über  seine  Vasallen,  den  roi  soleil,  ge- 
schildert hat*),  um  einzusehen,  daß  die  konstitutionelle 
Erbmonarchie,  wie  er  sie  in  der  Rechtsphilosophie  ent- 
wickelt und  für  die  er  keineswegs  einfach  aus  dem  damaligen 
Preußen,  sondern  eher  noch  aus  England  die  wichtigsten 
Bestimmungen  sich  geholt  hat,  nicht  ein  abstraktes  Schema, 
das  über  jeden  nationalen  Staat  könnte  hinübergestülpt 
werden,  sondern  die  Staatsform  darstellen  soll,  zu  der 
nach  seinem  Urteil  der  Prozeß  des  politischen  Lebens 
sich  hinbewegte  und  die  herbeiführen  zu  helfen  das  ver- 
nünftige Selbstbewußtsein  aller  denkenden  Politiker  be- 
strebt sein  mußte.  Wie  sehr  auch  hier  der  Gegensatz 
gegen  alle  absolutistischen  Neigungen  und  legitimistischen 
Theorien  in  Hegel  lebendig  war,  das  beweist  seine  be- 
rühmte Bemerkung,  daß  in  einer  wohlgeordneten  Monarchie 
dem  Gesetz  allein  die  objektive  Seite  zukomme  und  der 
Monarch  ihm  nur  das  subjektive  ,,ich  will"  hinzuzu- 
fügen habe,  und  der  Satz:  „man  fordert  daher  mit 
Unrecht  objektive  Eigenschaften  an  dem  Monarchen;  er 
hat  nur  ja  zu  sagen  und  den  Punkt  auf  das  i  zu  setzen" 
(S.  361).  Ebendahin  gehört  die  Bemerkung:  „wenn  man 
die  Idee  des  Monarchen  erfassen  will,  so  kann  man  sich 
nicht  damit  begnügen,  zu  sagen,  daß  Gott  die  Könige  ein- 
gesetzt habe;  denn  Gott  hat  alles,  auch  das  Schlechteste 
gemacht"  (S,  361).  Deshalb  ist  es  sehr  begreiflich,  daß 
Hegel  an  derselben  Stelle,  wo  er  sich  gegen  den  abstrakten 
Liberalismus    der    Rousseauschen    Ideen    mit    besonnener 


*)  Phil.  Eibl.,  Bd.  114,  S.  .SUff.,  S.  332 ff. 


Einleitung  des  Herausgebers.  LXXV 

Weißheit  ausgesprochen  hat,  mit  vernichtender  Schärfe 
den  einflußreichsten  Vertreter  der  Restaurationsideen, 
K.  L,  von  Hall  er,  abgefertigt  und  die  Rechtslehre,  die  sich 
mit  Verachtung  des  Gedankens  und  der  Freiheit  auf  die 
göttliche  Einsetzung  der  Macht  und  auf  die  zwingende 
Ordnung  der  Natur  beruft,  als  ebenso  unvernünftig  und 
unwahrhaftig  wie  der  Ehre  Gottes  und  der  Würde  des 
Menschen  zuwider  gebrandmarkt  hat.   (S.  198  ff.) 

Dem  gedankenlosen  Lobpreise  der  st-aatlichen  Un- 
freiheit, der  obenein  noch  mit  Redensarten  unreifer 
Frömmigkeit  verbrämt  zu  sein  pflegte,  stand  die  rein  ver- 
standesmäßige Auffassung  des  Staates  als  einer  zu  be- 
stimmten natürlichen  Zwecken  eingerichteten  Anstalt 
gegenüber.  Das  öffentliche  Wohl,  das  Volkswohl,  die  Wohl- 
fahrt der  einzelnen  sah  man  als  die  Staatszwecke  an;  die 
Regierung,  die  Verwaltung  sollten  um  dieser  Zwecke 
willen  da  sein.  Die  Bestimmung  darüber,  was  eigentlich 
als  das  Wohl  zu  gelten  habe,  dem  der  Staat  nachtrachten 
soll,  fand  man  nicht  in  den  überlieferten  Kulturgütern  der 
Nation,  in  ihren  Sitten,  ihrem  Glauben,  dem  Geist  ihrer 
Gesetze  und  öffentlichen  Ordnungen;  man  erwartete 
sie  von  der  Klugheit  der  Parteiführer,  von  der  fort- 
schreitenden Aufklärung  des  Volkes,  von  den  Meinungen 
und  Gefühlen  der  Menge.  Die  Behörden  und  die  Verfassung 
bedeuteten  nichts  als  einen  äußerlichen  Apparat,  den  man 
nach  Belieben  müßte  im  Sinne  der  jeweiligen  Parteiparole  » 
können  spielen  lassen.  Die  Hauptsorge  mußte  demnach 
sein,  die  Macht  des  Staates  in  keinem  seiner  Organe  zur 
Selbständigkeit  kommen  zu  lassen,  eines  der  Organe  gegen 
das  andere  in  Wettbewerb  zu  setzen  und  die  entscheidende 
Gewalt  nirgends  in  dem  gegliederten  Staatsorganisraus, 
sondern  in  dem  ungeordneten  Drange  der  Volksmasse 
zum  Ausdruck  zu  bringen,  die  durch  ihre  wechseln- 
den Stimmungen  bald  die  eine,  bald  die  andere  Partei 
ans  Ruder  bringt  und  also  aus  der  Regierung  wieder- 
um nichts  als  eine  Partei  macht,  gegen  die  zu  op- 
ponieren Pflicht  jedes  freidenkenden  Bürgers  wird. 
Wenigstens  ist  auf  diese  Weise  die  Regierung  immer 
der  politische  Feind  eines  Teiles  der  Nation,  und  diese 
ist  in  Faktionen  zerrissen  und  mit  sich  selbst  uneins.  So 
etwa  zeichnet  Hegel  in  seiner  Philosophie  der  Geschichte*) 
den  vulgären  Liberalismus,  als  dessen  Heimat  er  Frank- 

♦)  a.  a.  0.  S.  557. 


LXXVI  Einleitung  des  Herausgebers. 

reich  betrachtete.  Dai3  er  ihm  die  gegliederte  Staats- 
macht in  der  Majestät  und  Autorität  ihrer  geistigen  Selb- 
ständigkeit entgegenstellte,  daß  er  den  zufälligen  Inter- 
essen und  der  unverständigen  Meinung  der  Vielen  die 
fachmännische  Einsicht  und  politische  Weisheit  der  ge- 
schäftskundigen Staatsdiener  vorzog,  dajß  er  auch  in  den 
Parlamenten  nicht  die  Vertretung  des  atomisierten  Haufens, 
sondern  der  wahrhaft  wertvollen  bürgerlichen  Lebenskreise, 
eine  Versammlung  nicht  der  die  Instinkte  und  das  geistige 
Niveau  der  Masse  teilenden  Agitatoren,  sondern  der  besten 
und  sachverständigsten  Männer  der  Nation  hergestellt  zu 
sehen  wünschte,  wird  man  ihm  schwerlich  verübeln  dürfen. 
Auch  hat  ihm  die  Geschichte  des  Parlamentarismus  bis 
zum  heutigen  Tage  kaum  unrecht  gegeben.  Worauf  es  aber 
zum  ersprießlichen  Wirken  der  Volksvertretung  am 
meisten  ankommt  und  woneben  jeder  äußerliche  Unter- 
schied des  "Wahlrechtes  bedeutungslos  erscheint,  das 
ist  das  Vorherrschen  der  Staatsgesinnung  im  Volke  über 
alle  partikularen  Interessen.  Keine  äußerliche  Einrichtung 
vermag  solche  Staatsgesinnung  hervorzurufen;  wo  sie 
fehlt,  nützt  das  demokratischste  Wahlrecht  so  V\enig  wie 
das  vorsichtigst  abgestufte.  Wenn  Hegel  seinen  Ent- 
wurf einer  freien  und  vernünftigen  Verfassung  für  den 
Stand  der  nationalen  Kultur  entwickelt,  auf  dem  er  zu  seiner 
Zeit  die  politisch  reifsten  Nationen  sah,  setzt  er 
natürlich  die  Bedingung  voraus,  daß  diese  Verfassung 
ein  Produkt  des  nationalen  Geistes,  daß  ihre  Grundlage 
die  durch  die  ganze  Nation  einheitlich  hindurchherrschende 
bürgerliche  Sittlichkeit   sei. 

Die  bürgerliche  Sittlichkeit  als  das  allein  wahrhaft 
tragfähige  Fundament  eines  wahrhaft  freien  Staates  hat 
Hegel  nach  ihrer  substanziellen  Form  in  dem  antiken, 
speziell  in  dem  griechischen  Staate  verwirklicht  geschaut 
und  hat  von  den  schwärmerischen  Tagen  seiner  jugend- 
lichen Griechenbegeisterung  an  unwandelbar  das  Ideal- 
bild dieser  schönen  Sittliclikeit  bewundert  und  verehrt. 
Aber  er  hat  nicht  daran  gedacht,  in  diesem  Idealbilde 
schon  die  Vollendung  der  sittlichen  Idee  zu  sehen.  Die 
schöne  Einheit  von  Staatsordnung  und  persönlichem  Staats- 
bewußtsein bei  den  Griechen  erklärt  er  daraus,  daß  so- 
wohl die  Staatsordnung  wie  die  Persönlichkeit  noch  natür- 
lich gebunden,  noch  nicht  nach  allen  ihren  Momenten 
für  sich  entwickelt  waren,  so  daß  auf  diese  Einheit  not- 
wendig  eine   schmerzliche   Trennung   folgen   mußte.    Die 


Einleitung  des  Herausgebers.  LXXVII 

griechische  Polis  trug  wie  der  griechische  Mensch  den 
Charakter  einer  natürlichen  Individualität.  Zuerst  auf  dem 
Gebiete  des  Selbstbewußtseins  mußte  der  Trieb  sich  geltend 
machen,  über  diese  Bestimmung  zu  dem  Bewußtsein  der 
unendlichen  subjektiven  Freiheit  fortzuschreiten.  V/ie  sich 
die  unendliche  Subjektivität  über  die  Schranken  der 
Polis  hinwegsetzt  und  sich  vom  staatlichen  Leben  in  die 
Freiheit  der  Abstraktion  und  des  weltbürgerlichen  Privat- 
lebens zurückzieht,  dehnt  sich  auch  der  Staat  über  seine 
individuelle  Form  aus  zum  Weltreich.  In  der  Allmacht 
Roms  geht  die  antike  Welt  der  schönen  Individuen  zu- 
grunde, und  es  bildet  sich  der  Rechtszustand  heraus, 
vor  dem  aller  Unterschied  der  Subjekte  verschwunden 
ist  und  jedes  nur  wie  jedes  andere  als  Person  gilt*). 
Diesem  Extrem  der  staatlichen  Bildung  entspricht  die 
selbständige  Entfaltung  der  Subjektivität,  die  sich  im 
Christentum  in  ihrer  Unendlichkeit  erfaßt  und  ihre  Heimat 
in  dem  Jenseits  des  natürlichen  Staates,  in  dem  Reiche 
Gottes  findet.  Das  Reich  Gottes  aber  muß  seine  Wirklich- 
keit erweisen,  indem  es  sich  zu  einem  Staate  Gottes  auf 
Erden  gestaltet.  Hinwiederum  faßt  der  weltliche  Staat 
in  dem  durch  die  religiöse  Erneuerung  der  Welt  neu- 
belebten Boden  frischer  Volksindividualitäten  Wurzel,  und 
es  entstehen  neue  nationale  Reiche.  Der  geschichtliche 
Prozeß,  der  sich  nun  vollzieht,  ist  die  Auseinandersetzung 
zwischen  dem  irdischen  und  dem  Gottesstaate,  zwischen 
dem  nationalen  weltlichen  und  dem  religiösen  intellek- 
tuellen Reiche;  und  erst  im  harten  Kampfe  dieser  Reiche, 
in  der  allmählichen  Durchdringung  des  Diesseits  mit  dem 
Jenseits  und  umgekehrt,  kommt  die  wahre  staatliche  Sitt- 
lichkeit wieder  zum  Vorschein.  (§359—60.  S.2781)  Den 
Wendepunkt  bildet  die  Reformation,  die  das  Selbstbewußt- 
sein mit  seiner  Welt  wie  mit  seinem  Jenseits  versöhnt  und 
an  Stelle  einer  weltfremden  und  widerspruchsvollen  Heilig- 
keit die  bürgerliche  Sittlichkeit  zum  Prinzip  des  Gemein- 
schaftslebens macht**). 

Von  dieser  Grundanschauung  aus  erklärt  sich  die 
Stellung,  die  Hegel  in  der  Rechtsphilosophie  zu  der  Frage 
nach  dem  Verhältnis  von  Staat  und  Kirche  einnimmt. 
Von  einer  äußerlichen  Vereinerleiung  des  staatlichen  und 
religiösen  Lebens  will  er  auf  dem  Boden  der  christlichen 


*=)  Phänomenologie,  Phil.  Bibl.,  Bd.  114,  S.  311  ff.,  S.  384. 
*)  Encyclopädie,  3.  Aufl.  §  551.     Phil.  Bibl.   Bd.  33,  S.  473. 


LXXVIII  Einleitung  des  Herausgebers. 

Kultur  schlechterdings  nichts  wissen.  Schon  in  seinen 
ungedruckten  Jugendarbeiten  hat  er  den  Abstand  der 
christlichen  Religion  von  der  antiken  darin  gefunden,  es 
sei  „das  Schicksal  der  christlichen  Religion,  daß  Kirche 
und  Staat,  Gottesdienst  und  Leben,  Frömmigkeit  und 
Tugend,  geistliches  und  weltliches  Tun  nie  in  eins  zu- 
sammenschmelzen können.  Es  ist  gegen  ihren  wesentlichen 
Charakter,  in  einer  unpersönlichen,  lebendigen  Schönheit 
Ruhe  zu  finden"*).  Wohl  aber  hat  Hegel  in  dem  Prinzip 
des  protestantischen  Glaubens  jene  Macht  der  Innerlich- 
keit erblickt,  die,  wenngleich  sie  auf  dem  Gebiete  der 
religiösen  Gemeinschaft  sich  auch  zu  besonderen  kirch- 
lichen Bildungen  gestalten  muß,  dem  staatlichen  Organis- 
mus nicht  fremd  und  herrschsüchtig  gegenübersteht, 
sondern  ihm  die  tiefere  Weihe  gibt  und  die  Staats- 
angehörigen mit  dem  Geiste  sittlicher  Bildung  zu  durch- 
dringen vermag,  durch  den  im  Staate  die  Verkörperung  der 
sittlichen  Freiheit  zur  Anschauung  kommt**).  Er  hat  in 
dieser  gut  protestantischen  Gesinnung  einen  echt  lutherischen 
Zorn  gegen  die  römische  Kirche  und  ihr  Prinzip  der  Un- 
freiheit im  Religiösen  in  sich  genährt,  das  sie  zur  herrsch- 
süchtigen Überhebung  über  den  Staat  und  sein  Prinzip 
der  bürgerlichen  Sittlichkeit  treibt***).  So  hat  er  es  auch 
klar  und  rund  ausgesprochen,  „daß  mit  der  katholischen 
Religion  keine  vernünftige  Verfassung  möglich  ist"t). 
Aber  als  er  die  Rechtsphilosophie  schrieb,  sah  er  die 
Vernünftigkeit  des  Staates  in  erster  Linie  nicht  von  der 
katholischen  Kirche,  sondern  von  Strömungen  innerhalb  des 
Protestantismus  bestritten,  die  mit  dem  modernen  Prinzip 
des  subjektivistischen  Religionsstandpunktes  zusammen- 
hingen. Insbesondere  empörte  ihn  die  Manier,  „auf 
das  Gefühl  das  zu  stellen,  was  die  und  zwar  mehr- 
tausendjährige Arbeit  der  Vernunft  und  ihres  Ver- 
standes ist"  und  „daß  solche  Ansicht  sich  auch  die 
Gestalt  der  Frömmigkeit  annimmt"  (S.  9).  Die  Be- 
ziehung auf  diese  pietistisch  verschwimmende,  poli- 
tisch  demokratisierende   Richtung   beherrscht    seine   Aus- 

*)  Nohl,  Hermann,  Hegels  Theologische  Jugendschriften. 
Tübingen  1907,  S.  342. 

**)  Vgl.  hierzu  Max  Lenz  a.  a.  0.  S.  194 f. 
***)  Encycl.  3.  Aufl.  §  552,  Phil.  Bibl.  Bd.  83,  S.  466.  —  Vgl. 
auch  Cousins  Äußerung  bei  Kuno  Fischer,  a.  a.  0.  S.  176. 

-{•)  Vorlesungen   über  die  Philosophie  der  Geschichte,   her- 
ausgeg.  von  Brunstäd,  S.  554. 


Einleitung-  des  Herausgebers.  LXXIX 

führungen  in  §270  der  Rechtsphilosophie  durchaus.  Er 
ist  wohl  anderwärts  der  Tatsache  gerechter  geworden,  daß 
sich  die  christliche  Religion,  und  gerade  der  Protestantis- 
mus in  dem  Dogma  und  in  dem  Kultus  eine  Gestalt  von 
selbständigem  Wahrheitsgehalte  gegeben  habe.  Hier  inter- 
essiert ihn  ausschließlich  die  Behauptung  der  Staats- 
autorität gegenüber  allen  auf  der  Basis  des  Gefühls  oder 
des  individuellen  Verstandes  erwachsenen  Sondertendenzen. 
Schon  als  Fünfundzwanzigjähriger  hatte  er  es  als  schweren 
Schaden  des  staatlichen  Lebens  erkannt,  daß  der  Staat 
vor  den  Korporationen  kapituliert  und  sich  zum  Voll- 
strecker ihrer  Interessen  gemacht  habe.  Die  Kirche,  die 
Zünfte,  aber  ebenso  auch  die  Wissenschaft  in  der  Gestalt 
der  Gelehrtenzunft,  machen  dem  Staate  über  sein  Ver- 
halten, die  Gelehrtenzunft  z.  B.  über  die  Auswahl  seiner 
Beamten,  drückende  Vorschriften  in  ihrem  Interesse*). 

Diese  strenge  Auffassung  der  Staatshoheit  kehrt  in  der 
Rechtsphilosophie  in  begrifflich  vertiefter  Form  wieder.  Die 
Religion  ist  das  belebende  Prinzip  für  den  Staat,  solange  sie 
in  der  Sphäre  des  Glaubens  und  der  Einfachheit  der  Andacht 
sich  hält.  Sie  ist  der  Aufsicht  des  Staates  unterworfen  und 
seinem  Schutze  anbefohlen,  soweit  sie  sich  zu  einer  äußeren 
kirchlichen  Gemeinschaft  organisiert.  Sie  steht,  soweit 
sie  ihre  Lehre  auf  Glauben  und  Autorität  gründet,  in  der 
Form  ihrer  Wahrheit  hinter  dem  Staate  zurück,  der  den 
in  ihm  waltenden  sittlichen  Geist  durch  seine  Verfassung 
und  Gesetze  wesentlich  in  der  Form  des  Gedankens  hat 
und  also  der  Religion  gegenüber  das  Wissende  ist.  Des- 
halb tritt  auch  der  Staat  auf  die  Seite  der  Wissenschaft 
und  der  Freiheit  des  Denkens  gegenüber  kirchlichem  Ge- 
wissenszwang. Dabei  aber  behauptet  er  der  Wissenschaft 
gegenüber  genau  die  gleiche  Oberhoheit  wie  gegenüber 
der  Religion.  Weder  die  eine  noch  die  andere  hat  An- 
spruch auf  Unabhängigkeit  vom  Staate,  der  nur  als  ein 
Mittel  für  sie  als  einen  Selbstzweck  zu  sorgen  habe.  Viel- 
mehr „hat  der  Staat  gegen  das  Meinen  schlechter  Grund- 
sätze, sobald  es  sich  zu  einem  allgemeinen  und  die  Wirk- 
lichkeit anfressenden  Dasein  macht,  die  objektive  Wahr- 
heit und  die  Grundsätze  des  sittlichen  Lebens  in  Schutz 
zu  nehmen"  —  eine  Wahrheit,  die  heute,  wo  ,,der  Formalis- 
mus der  unbedingten  Subjektivität"  wieder  nur  zu  geneigt 
ist,    „den    wissenschaftlichen    Ausgangspunkt    zu     seinem 

*)  Nohl,  Hermann,  a.  a.  0.  S.  184 f. 


LXXX  l'iinleitnng  des  Herausgebers. 

Grunde  zu  nehmen  und  die  Lehrveranstaltungen  des  Staates 
selbst  zu  der  Prätension  einer  Kirche  gegen  ihn  zu  er- 
heben und  zu  kehren"  (S.  218)  manchen  Ohren  unerfreu- 
lich klingen  mag,  darum  aber  nicht  minder  feststeht. 

Ein  Demokrat  ist  Hegel,  wie  man  sieht,  trotz  seiner 
liberalen  Gesinnung  sicherlich  nicht  gewesen.  Aber  Libe- 
ralismus und  Demokratie  sind  auch  zwei  sehr  verschiedene 
Dinge.  Jener  hat  selbst  bei  der  aufgeklärten  Despotie 
unter  Umständen  eine  sicherere  Freistatt  gefunden  als 
in  durch  und  durch  demokratischen  Gemeinwesen.  Da- 
gegen ist  die  Art,  wie  Hegel  für  die  staatliche  Ordnung 
und  die  bürgerliche  Freiheit  eintritt  und  den  Staat  gegen 
alle  kirchlichen  Machtgelüste  und  doktrinären  Velleitäten 
auf  sich  selbst  und  die  ihm  inwohnende  Idee  der  sittlichen 
Freiheit  stellt,  ein  wahrhaft  glänzendes  Zeugnis  für  die 
echt  liberale  Gesinnung,  die  ihn  beseelt  hat,  und  die  be- 
griffsgemäß dem  konservativen  Gedanken  nicht  etv\'a 
widerspricht,  sondern  ihn  in  sich  einschließt.  Von  dem 
wahrhaft  staatsmännischen  Geiste  eines  besonnenen  Libe- 
ralismus, der  sein  Werk  durchweht,  hat  die  politische 
Entwicklung  unserer  Nation  eine  na<;lihaltige  und  segens- 
reiche Einwirkung  empfangen. 

III,  Die  nationale  Idee. 

So  wird  ein  unbefangener  Beobachter  wohl  aner- 
kennen müssen,  daß  die  alte  Tradition,  die  Hegel  als 
einen  politischen  Reaktionär  darstellt,  so  wenig  durch 
seine  Rechtsphilosophie  bestätigt  wird  wie  durch  seine 
gesamte  Haltung  während  aller  Epochen  seines  Lebens- 
ganges. Man  hat  gemeint,  Hegel  habe  seine  Rechtsphilo- 
sophie geschrieben,  um  den  preußischen  Staat  in  seiner 
damaligen  Form  zu  verherrlichen.  Dabei  ist  das  Gemälde 
des  konstitutionellen  Staates,  das  er  entwirft,  gerade  im 
Vergleich  mit  dem  damaligen  Preußen  vollkommen  ein 
Zukunftsbild.  Sein  Eintreten  für  die  Schwurgerichte,  seine 
Konstruktion  des  Zv/eikammersystems,  seine  Begeisterung 
für  den  Welthandel  und  den  überseeischen  Verkehr  gehen 
weit  über  die  Gesichtspunkte  hinaus,  die  in  dem  Staats- 
leben Preußens  zu  seiner  Zeit  maßgebend  waren.  Und 
wenn  er  die  erbliche  Monarchie  mit  Nachdruck  vertrat, 
so  war  darin  auch  nicht  die  leiseste  Spur  von  Hinneigung 
zu  absolutistischen  Tendenzen  zu  finden;  im  Gegenteil  tritt 
gerade  hier  sein  Standpunkt  der  aufgeklärten  Einsicht 
in  die  Staatsnotwendigkeiten  besonders  klar  zutage.   Nicht 


I 


Einleitung  des  Herausgebers.  LXXXI 

dem  vonnärzlichen  Zustande  Preußens  hat  sein  System 
den  wissenschaftlichen  Halt  geboten;  wohl  aber  ist  es  ein 
Wegbereiter  für  das  moderne  Preußen  geworden.  In  den 
Grundanschauungen  der  späteren  preußischen  Rechts- 
wissenschaft ebenso  wie  in  der  Gesinnung,  aus  der  heraus 
das  Staatsrecht  Preußens  und  Deutschlands  auf  seine 
dauernden  Verfassungsgrundlagen  ist  gestellt  worden,  hat 
der  Hegeische  Begriff  vom  Staate  als  der  Organisation 
der  Freiheit  fortgewirkt. 

Aber,  so  wirft  man  ein,  Hegel  ist  doch  der  Günstling 
der  in  Preußen  herrschenden  Clique  gewesen  und  hat  dem 
Minister  Altenstein  als  der  wahre  preußische  Staats- 
philosoph gegolten.  In  der  Tat  ist  die  warme  Verehrung 
Altensteins  für  Hegel  und  das  Vertrauen  des  Ministers 
auf  die  innere  Wahrheit  der  Hegeischen  Philosophie  und 
ihren  daraus  folgenden  Wert  für  die  geistig  sittliche  Bildung 
der  Nation  einer  der  bemerkenswertesten  Züge  in  der 
Geistesgeschichte  jener  Zeit.  Aber  man  würde  Hegel  wie 
Altenstein  unrecht  tun,  wollte  man  ihr  Bündnis  damit 
erklären,  daß  sie  in  reaktionären  Gelüsten  sich  begegnet 
wären,  Altenstein  war  selbst  das  Gegenteil  eines  Reaktio- 
närs und  stand  der  kleinen  rückschrittlichen  Clique,  die 
durch  die  Verhältnisse  jener  Zeit  in  Preußen  zu  großem 
Einflüsse  gekommen  war,  innerlich  ganz  fern.  Seiner 
Richtung  nach  gehörte  er,  wenn  auch  vielleicht  nicht  mit 
besonderer  Selbständigkeit,  dem  Kreise  der  Männer  an, 
die  über  die  Einseitigkeit  des  doktrinären  Liberalismus 
ebenso  wie  des  romantischen  Subjektivismus  zu  einer  ge- 
läuterten, ebenso  gesund  konservativen  wie  bewußt  libe- 
ralen Staatsauffassung  vorgedrungen  waren.  Denn  liberal 
und   konservativ   sind   keine   ausschließenden   Gegensätze. 

Das  hergebrachte  Urteil  über  jene  seltsam  ver- 
worrene nachnapoleonische  Zeit  ist  weiter  als  bis  zu  dem 
Verständnis  für  die  Aufklärung  und  den  Rationalismus 
auf  der  einen  Seite  und  ihr  zugehöriges  romantisches 
Korrelat  in  der  Schleiermacherschen  Gefühlsreligion  und 
pietistischen  Deutschtümelei  auf  der  anderen  Seite  noch 
nicht  vorgedrungen.  Alles,  was  sich  gegen  jene  beiden 
Tendenzen  wehrte  und  sie  zurückdrängte,  nennt  man 
am  liebsten  auch  heute  noch  ohne  Unterschied  ein- 
fach ,, Reaktion",  Nun  mußten  freilich  die  Einseitig- 
keiten und  Schwächen  jener  Tendenzen  notwendig  eine 
Reaktion  hervorrufen.  Und  in  deren  Gefolge  mußten 
sich  auch  Bestrebungen  geltend  machen,    die  unverständig 

Hegel,  Kechtsphilosophie.  F 


LXXXII  Einleitung  des  Herausgebers. 

und  kurzsichtig  auf  gewaltsame  Unterdrückung  der  Geister 
und  auf  z^vangsweise  Wiederherstellung  überwundener  Zu- 
stände abzielten.  Das  liegt  in  der  Natur  der  Dinge.  Wo 
eine  geistige  Bewegung  aufkommt,  die  Macht  über  die 
Gemüter  gewinnt,  da  gibt  es  auch  Parteien,  die  sie  fanatisch 
und  radikal  übertreiben  und  in  Unvernunft  verkehren. 
So  ist  es  bei  der  Reformation,  so  bei  der  Aufklärung  ge- 
gangen; wie  hätte  es  bei  dem  Erwachen  des  historischen 
und  nationalen  Sinnes,  der  den  Geist  der  Aufklärung  ab- 
zulösen berufen  war,  anders  gehen  können?  Aber  es  wäre 
höchst  ungerecht,  diese  höhere  Stufe  geistiger  Bildung, 
auf  der  sich  zu  halten  freilich  noch  der  gegenwärtigen 
Generation  nicht  gelingen  will,  na-ch  den  Ausschreitungen 
zu  beurteilen,  die  ihr  erstes  Auftreten  in  der  Wirklichkeit 
begleitet  haben.  Diese  Bildungsform,  die  aus  den  mannig- 
fachen Momenten  der  bisherigen  Geistesentwicklung  zur 
inneren  Einheit  sich  durchgerungen  hatte,  könnte  man 
vielleicht  am  kürzesten  bald  als  objektiven,  bald  als  abso- 
luten Idealismus  bezeichnen.  Als  seine  charakteristischen 
Vertreter  muß  'man  für  die  Sphäre  der  allgemein  mensch- 
lichen Bildung  Goethe,  für  die  Sphäre  der  philosophischen 
Erkenntnis  Hegel,  für  die  Sphäre  der  volkstümlichen  Emp- 
findung, des  ursprünglichen  vorstelliingsmäßigen  Bewußt- 
seins die  Kreise  der  christlichen  Erweckung,  der  erneuerten 
kirchlichen  Gläubigkeit  ins  Auge  fassen,  Kreise,  in  denen 
wir  z.  B.  die  Namen  Bethman  Hollweg,  Bismarck  und 
Caprivi  finden. 

In  dem  geistigen  Leben,  das  seiner  Substanz  nach 
einheitlich  diese  drei  Sphären  durchdrang,  lagen  die  Quellen 
der  Kraft  für  den  mächtigen  Aufstieg  Preußens  und 
Deutschlands  im  vorigen  Jahrhundert.  Man  würde  sehr 
unrecht  tun,  wollte  man  um  der  Demagogenverfolgungen 
oder  um  der  Hengstenbergischen  Kirchenzeitung  willen 
■die  tiefe  innere  Berechtigung  dieser  neuen  Form  des  natio- 
nalen Bev.'ußtscins  verkennen,  in  der  zum  ersten  Male  das 
subjektive  Moment  der  freien  überlegenen  Persönlichkeit, 
wie  es  die  Aufklärung  herausgebildet  hatte,  mit  dem  ob- 
jektiven Moment  der  geschichtlichen  Überlieferung,  des 
Besitzes  an  heiligen  Gütern  der  Menschheits-  und  natio- 
nalen Kultur  wirklich  zusam.menschmolz.  Hegel  selber 
hat  wahrlich  schwer  genug  unter  der  Unzulänglichkeit 
und  dem  Unverstände  zu  leiden  gehabt,  mit  dem  dies  Prin- 
zip sich  zunächst  in  dem  allgemeinen  Bewußtsein  geltend 
machte.     Er,  der  dem  christlichen  Dogma  in  lutherischer 


Einleitung  des  Herausgebers.  LXXXIII 

Fassung  den  Rang  der  höchsten  Wahrheitsoffenbarung  vin- 
dizierte, sah  sich  von  derjenigen  pietistischen  Orthodoxie, 
die  —  zum  Teil  noch  aus  der  Schleiermacherschen  Über- 
lieferung her  —  gegen  das  begriffliche  Denken  über  gött- 
liche Dinge  den  heftigsten  Abscheu  empfand,  auf  das 
bitterste  angefeindet.  Trotzdem  hat  er  seine  innere  Gemein- 
samkeit mit  dem  Geiste,  der  in  jener  Orthodoxie  entstellt 
und  verkümmert  zum  Ausdrucke  kam,  nie  verleugnet;  und 
es  mutet  fast  tragisch  an,  wie  er  in  der  zweiten  und  dritten 
Auflage  seiner  Encyclopädie,  deren  Vorreden  er  zu  scharfen 
Streitschriften  gegen  den  gedankenlosen  Pietismus  wie 
gegen  die  schmähsüchtige  Orthodoxie  gestaltet  hatte,  bei 
jeder  Gelegenheit  bemüht  ist,  von  seiner  Philosophie  nach- 
zuweisen, daß  gerade  sie  und  nicht  die  damaligen  theo- 
logischen Versuche  dem  Geiste  und  der  Wahrheit  des 
Christentums  genugtue. 

Um  so  mehr  wird  man  die  Stellung  Altensteins  zu 
Hegel  zu  würdigen  haben.  Es  war  ohne  Zweifel  die  Ab- 
sicht des  Ministers,  sich  auf  den  Boden  zu  stellen,  den  das 
vernünftige  Selbstbewußtsein  damals  sich  gewonnen  hatte. 
Er  handelte  gewissenhaft  im  Sinne  der  Aufgabe,  die  dem 
preußischen  Kultusminister  gestellt  ist,  wenn  er  an  den 
Universitäten  dem  neuen  Geiste  Raum  schaffte,  der  da- 
mals den  Fortschritt  über  die  eingewohnte  Manier  be- 
zeichnete. Überdies  entsprach  dieser  Geist  gerade  dem, 
was  in  dem  preußischen  Volke  von  jeher  am  kraftvollsten 
lebendig  war.  Gewiß  war  für  Preußen  die  Aufklärung 
eines  der  wirksamsten  Momente  in  seiner  Entwickelung 
zum  modernen  Staate  gewesen;  der  aufgeklärte  Despotis- 
mus des  großen  Friedrich  hat  zu  diesem  Staate  die  Funda- 
mente gelegt.  Aber  Hegel  hat  in  seiner  Jugend  wohl  be- 
merkt, daß  dieser  Staat  Friedrichs  des  Großen  eigentlich 
1  ein  Mechanismus  sei,  dem  die  Seele  mangele.  Dem  Volks- 
•  geiste  war  dieser  Bau  fremd  geblieben.  Denn  die  Auf- 
klärung hatte  wohl  die  dünne  Schicht  der  Gebildeten  für 
sich  gewonnen;  den  Geist  der  Nation  aber  hatte  sie  nicht 
umgewandelt.  Der  war  durch  den  lutherischen  Glauben 
gebildet  worden  und  beruhte  fest  auf  diesem  Grunde  seiner 
inneren  sittlichen  Freiheit.  Es  war  darum  kein  fremdes 
Element,  das  sich  in  dem  öffentlichen  Leben  Preußens 
geltend  machte,  als  die  lutherische  Gläubigkeit  in  den 
Gedankenkreisen  der  preußishen  Gelehrtenwelt  und  Be- 
amtenschaft wieder  durchdrang.  Im  Gegenteil  kam  da- 
I  durch  erst  das  preußische  Wesen  in  seiner  Eigentümlich- 

1  F* 


LXXXIV  Einleitung  des  Herausgebers. 

keit  recht  zur  Wirkung.  Dies  religiöse  Element  war  wohl 
der  Aufklärung,  keineswegs  aber  dem  preui3ischen  Staate 
oder  der  geistigen  Grundlage  entgegengesetzt,  auf  der  er 
ruhte. 

Man  wird  deslialb  Altenstein  daraus  keinen  Vorwurf 
machen  dürfen,  daß  er  auf  die  theologischen  Lehrstühle, 
die  bis  dahin  im  Besitze  der  deutschen  Aufklärung  ge- 
wesen waren,  Vertreter  der  neuen  Gläubigkeit  einsetzte*), 
selbst  wenn  unter  ihnen  auch  unsympathische  und  be- 
schränkte Rückschrittler  sich  befunden  haben.  Der  Minister 
bewies  damit  nur  sein  richtiges  Urteil  über  die  Lebens- 
kraft der  theologischen  Richtungen  jener  Zeit.  Der  Ratio- 
nalismus war  nicht  bloß  mehr  eine  absterbende,  sondern 
eine  abgestorbene  Richtung;  sein  Erbe  wurde  bald  von  der 
sogenannten  Hegeischen  Linken  angetreten.  Die  deutsche 
Aufklärung  hatte  das  volle  Maß  der  Möglichkeiten  er- 
schöpft, die  sie  zur  Weiterbildung  des  geistigen  Lebens  dar- 
geboten hatte.  Schleiermacher  selbst  hatte  die  neue,  zur  Or- 
thodoxie mehr  und  mehr  hintreibende  Strömung  geweckt 
und  gefördert  und  sah  aus  den  Keimen,  die  er  ausgestreut 
hatte,  eine  Saat  aufgehen,  die  ihn,  der  mit  beiden  Füßen  in 
der  Aufklärung  stehen  geblieben  war,  wenig  erfreute.  Es 
hat  sich  in  Preußen  öfter  ereignet,  daß  die  Theologie  gegen 
den  Willen  der  Fakultäten  und  die  Kirche  gegen  die  Meinung 
der  Kirchenbehörde  von  dem  Kultusminister  wesentlich  und 
fruchtbar  gefördert  worden  ist.  Das  gilt  auch  von  den 
Maßnahmen  Altensteins.  Mindestens  die  Berufung  eines 
Mannes  wie  Tholuck  müßte  doch  dem  Minister  als  Ver- 
dienst angerechnet  werden.  Dieser  geniale  Menschen- 
bildner, den  übrigens  Hegel  nach  Halle  mit  dem  Wunsche 
entlassen  liat:  Bringen  Sie  ein  Pereat  dem  Hallischeu 
Rationalismus!  ist  durch  seine  Wirksamkeit  dortselbst  zu 
einem  Wohltäter  unseres  Vaterlandes  in  gar  nicht  zu  be- 
rechnendem Umfange  geworden.  Hat  er  doch  eine  Reih(^ 
Generationen  von  Pfarrern  großgezogen,  wie  e«  deren 
gleich  tüchtig  und  volkstümlich  selten  gegeben  hat.  Hegel 
hat,  als  der  engherzige  Pietismus  auch  an  ihm  sich  zu 
reiben  anfing,  gegen  Tholuck  eine  derbe  Kritik  wegen  seiner 
mangelnden  gedanklichen  Durchbildung  gerichtet.  Tho- 
luck aber  hat  sie  sich  ad  notam  genommen  und  ist  durch 
das  Studium  des  Aristoteles  und  Hegels  zu  Hengstenbergs 
schwerem  Ärger  auf  eine  solidere  wissenschaftliche  Grund- 


*')  Älax  Lenz,  a.  a.  0.  S.  7. 


Einleitung-  des  Herausgehers.  LXXXV 

läge  gekommen,  hat  auch  offen  anerkannt,  daß  Schleier- 
machers Einfluß  "bei  ihm  mehr  negative  Stellung,  Hegel- 
sche  Einflüsse  mehr  positive  Stellung  hervorgerufen 
haben*). 

Wir  haben  also  keinen  Grund,  Hegel  wegen  der  Freund- 
schaft, die  ihm  Altenstein  gewidmet  hat,  für  verdächtig 
zu  erklären,  um  so  weniger  als  Altenstein,  wenn  es  darauf 
ankam,  sich  zugunsten  der  philosophischen  Bildung  sehr 
energisch  gegen  die  Denkfeindschaft  der  gefühlsmäßigen 
Rechtgläubigkeit  zur  Wehre  setzte**).  Von  beiden  Männern 
wird  man  sagen  dürfen,  daß  sie  prinzipiell  hoch  über  den 
Gegensätzen  standen,  die  in  dem  öffentlichen  Leben  ihrer 
Zeit  miteinander  rangen,  und  daß  sie  eben  darum  bald 
als  zu  der  einen,  bald  als  zu  der  anderen  Seite  gehörig 
erscheinen  mußten.  Es  war  ja  eine  eigentümliche  Fügung 
der  Dinge,  daß  sowohl  die  Demokratie  wie  die  Reaktion 
damals  ihre  Nahrung  aus  den  gleichen  Quellen  sogen; 
beide  waren  je  nachdem  aufklärerisch  oder  religiös  ge- 
färbt. Die  Demokraten  waren  zum  guten  Teile  überspannte 
Pietisten,  die  Bureaukraten  ebenso  vielfach  Bewunderer 
des  französischen,  aus  dem  Naturrecht  und  der  Revolution 
erzeugten  Verwaltungsmechanismus.  Es  konnte  gar  nicht 
ausbleiben,  daß  ein  Philosoph,  der  das  relative  Recht  und 
Unrecht  all  solcher  Sinnesweisen  hatte  begreifen  lernen, 
bei  seiner  Berührung  mit  dem  öffentlichen  Leben  bald 
der  einen,  bald  der  anderen  Richtung  als  Bundesgenosse 
erscheinen  mußte. 

Nun  war  es  gewiß  nicht  bloß  die  Eigentümlichkeit  der 
geschichtlichen  Situation,  sondern  in  hohem  Maße  auch 
die  persönliche  Eigenart  Hegels,  die  es  mit  sich  gebracht 
hat,  daß  er  durch  seine  Vorrede  zur  Rechtsphilo- 
sophie als  der  unbedingte  Gesinnungsgenosse  der  schroff- 
sten Reaktion  erschien.  Diese  Vorrede,  deren  rein  philo- 
sophischer Inhalt  von  dem  höchsten  Werte  ist,  klingt  durch 
ihre  Bezugnahme  auf  Zeitereignisse,  die  damals  die  öffent- 
liche Meinung  erregten,  geradezu  wie  eine  Verteidigung 
nicht  bloß  der  Karlsbader  Beschlüsse,  sondern  aller  Greuel 
der  Demagogenverfolgung  und  wie  eine  Verurteilung  des 
nationalen  Idealismus.  Zweifellos  trägt  sie  stärker  als 
irgendeine  Hegeische  Arbeit  den  Charakter  einer  Gelegen- 


*)  Witte,  Das  Leben  D.  Tholucks.  2.  Bd.  1886,  S.  409. 
"**)  Vgl.  den  Kampf  um  die  Habilitation  0.  v.  Gerlachs,  bei 
Max  Lenz.  a.  a.  0.  S.  350ff. 


LXXXVI  Einleitung  des  Herausgebers. 

heitsschriit  und  offenbart  nicht  bloß  den  tiefen  Geist  des 
Philosophen,  sondern  auch  seine  Fähigkeit  zu  unbarm- 
herziger, vernichtender  Polemik.  Sein  Groll,  der  sich  in 
dieser  Vorrede  entlud,  richtete  sich  aber  auch  gegen 
einen  Feind,  wider  den  er  vom  Beginn  seiner  schrift- 
stellerischen Tätigkeit  an  beständig  gekämpft  hatte.  Die 
„Reflexionsphilo&ophie  der  Subjektivität",  der  er  sogar 
in  der  Form  der  Kantischen  Moral  geradezu  Unsittlich- 
keit  vorgeworfen  hatte*),  sah  er  zu  einer  allgemeinen 
Weltweisheit  ausgebreitet  und  verwässert.  Einen  der  ,, Heer- 
führer dieser  Seichtigkeit",  Fries,  hatte  er  bereits  in 
der  Einleitung  seiner  Logik  1812  mit  rücksichtsloser 
Schroffheit  behandelt**).  Die  von  Fries  wider  ihn  ge- 
richtete Kritik  hatte  die  Erbitterung  Hegels  gegen  den 
Standpunkt  und  die  Persönlichkeit  von  Fries  nur  verschärft. 
Er  sah  in  dessen  Methode  eine  Pseudowissenschaft,  die 
zunächst  den  wissenschaftlichen  Geist  und  dann  die  sitt- 
liche Ordnung  zu  zerstören  drohte.  Nun  war  durch  die 
Torheiten  bei  dem  Wartburgfeste  von  1817  und  noch  mehr 
durch  die  Mordtat  Sands  die  Gefahr  offenbar  geworden, 
die  in  der  Pflege  der  subjektivistischen  Geistesrichtung 
an  den  Universitäten  tatsächlich  lag.  Alle  Welt  erschrak 
über  das,  was  als  praktische  Folge  der  populären  2ieit- 
philosophie  erschien.  Diesen  Augenblick  hat  Hegel  be- 
nutzt, um  mit  der  ihm  so  sehr  verhai3ten  wissenschaft- 
lichen Richtung  endgültig  abzurechnen.  Er  durfte  hoffen, 
ihre  Verderblichkeit  werde  aus  ihren  Folgen  jedermann 
einleuchten,  und  begrüßte  es  in  gewissem  Sinne  mit 
Genugtuung,  daß  „jene  sich  so  nennende  Philosophie" 
aus  der  Beschränkung  auf  die  bloß  theoretischen  Erörte- 
rungen den  Schritt  getan  habe,  sich  in  der  Wirklichkeit 
durchzusetzen.  Dadurch  habe  sie  den  Widerstand  der  Re- 
gierungen gegen  sich  wachrufen  müssen,  die  das  nicht 
dulden  können,  was  die  substanzielle  Quelle  von  den  Taten, 
die  allgemeinen  Grundsätze,  verdirbt  (S.  11). 

Das  war  die  Konstellation,  die  es  bewirkte,  daß  Hegel 
auf   seinem    'Wege    mit   den   Reaktionären   zusammentraf, 

-)  Krit.  Journ.  d.  Pliil.,  2.  Bd.,  2.  St.,  S.  39. 
**)  „Eine  soeben  ei'schieuene  neueste  Bearbeitung  dieser 
Wissenscbaft,  System  der  Logik  von  Fries,  kehrt  zu  den  antliro- 
pologischen  Grundlagen  zurück.  Die  Seichtigkeit  der  dabei  zu- 
gininde  liegenden  Vorstelking  oder  Meinung  an  und  für  sich  und 
der  Ausführung  überhebt  mich  der  Mühe,  irgend  eine  Rücksicht 
auf  diese  bedeutuuoslose  Erscheinung  zu  nehmen." 


I 


Einleitung  des  Herausgebers.  LXXXVII 

die  für  Privilegien  und  Absolutismus  kämpften,  während 
er  für  Staatsautorität  und  wahre,  sittlich  gegründete  Frei- 
heit  eintrat.    Aber   darum   ist   er   nicht  ein  Scherge   der 
Reaktion  geworden;  viel  eher  darf  man  behaupten,  daß  in 
jenem  kritischen  Zeitpunkte  selbst  die  Reaktion  einen  not- 
wendigen und  wahrhaften  Gedanken  zu  verfechten  helfen 
mußte.    Überaus   interessant  ist  es  zu  sehen,  wie  Worte 
aus    Hegels    Vorrede    zur    Rechtsphilosophie    schon    zwei 
Jahre,    ehe   sie   geschrieben   war,    in   dem   Gutachten   an- 
klingen,  das  der   Bischof  Eylert  dem  Könige  Friedrich 
Wilhelm  III.    über    den    Brief    de    Wettes   an    die   Mutter 
Sands  erstattet  hat.    Dort  heißt  es:  ,, Ständen  diese  Ideen 
als    solche    isoliert    da,    gehörten    sie    dieser    oder    jener 
philosophischen    Schule    an,     blieben    sie    in    der    abge- 
schlossenen  Sphäre   abstrakter   Systeme,    so   möchte   man 
sie  sich  selbst  überlassen  und  von  der  Zeit,   die  sie  ge- 
lehrt hat,  auch  ihren  Untergang  erwarten:  aber  sie  leben 
nicht  bloß  im  spekulierenden  Verstände  und  der  trockenen 
Vorstellung,  sie  sind  auch  in  das  Gemüt  und  seine  Affekte 
eingedrungen;  sie  greifen  tief  und  zerstörend  in  das  wirk- 
liche Leben  ein;  sie  bilden  Faktionen  und  schließen  Bünd- 
nisse; sie  bewaffnen  sich  mit  dem  Dolche  und  haben  eine 
die  bestehende  Ordnung  angreifende,   politische,   tief  und 
weit   verzweigte   Tendenz    erhalten"*).    Man   möchte   fast 
auf  persönliche   Beziehungen  zwischen  Hegel  und  Eylert 
8chliei3en,    die    es    diesem    ermöglicht    haben,    sich    einer 
Ausdrucksweise  zu  bedienen,  wie  sie  für  Hegel  charakte- 
ristisch zu  sein  scheint.   Jedenfalls  aber  zeigt  diese  Überein- 
stimmung, daß  Hegel,  als  er  in  seiner  Vorrede  gegen  seine 
alten  Feinde  vorging,  sich  dazu  durch  die  aller  Welt  vor 
Augen   liegenden   Tatsachen   konnte   aufgefordert   fühlen. 
Das  Jahr  darauf  hat  er  einen  ähnlichen  Vorstoß,  und 
wieder  in  einer  Vorrede,  gemacht.    Endlich  war  nämlich, 
in    demselben    Jahre    wie    Hegels    Rechtsphilosophie,    der 
erste     Band     der     langerwarteten     Schleiermacherschen 
Glaubenslehre     erschienen.      Dieses    Vorkommnis    in     der 
Wissenschaft  sah  Hegel  in  demselben  Lichte  an  wie  die 
Kompromittierung  der  Friesschen  Richtung  in  der  Politik, 
nämlich  als  ein  ganz  offenbares  Fiasko  und  einen  Beweis 
der  vollkommenen  Wertlosigkeit  der  Schleiermacherschen 
Theologie.    In  diesem  Sinne  schrieb  er  privatim  an  Hin- 
richs:  „Von  Daub  erwarte  ich  eine  offene  Erklärung,  ob 


*)  Max  Lenz,  a.  a.  0.  S.  74. 


LXXXVIII  Einleitung  des  Herausgebers, 

denn  das  die  Dogmatik  der  unirten,  evangelischen  Kirche 
sey,  was  man  uns  —  freylich  nur  in  einem  erst  ersten 
Teile,  vermutlich  weil  man  für  Weiteres  in  diesen  Zeiten 
der  Unterdrückung,  wie  man  es  heißt  —  nicht  traut  — 
als  solche  zu  bieten  die  Unverschämtheit  und  Plattheit 
gehabt  hat"*).  In  der  Überzeugung,  daß  nunmehr  diese 
Theologie  sich  selber  das  Urteil  gesprochen  habe,  hat 
dann  Hegel  in  der  Vorrede  zu  Hinrichs'  Religionsphilo- 
sophie die  Hinrichtung  an  ihr  vollziehen  wollen,  als  er 
über  die  ,, tierische  Unwissenheit  von  Gott"  klagte,  die 
sich  in  der  modernen  Theologie  kundtue,  und  erklärte, 
nach  ihren  Prinzipien  sei  „der  Hund  der  beste  Christ"**), 
Bei  Unzähligen  in  der  Mit-  und  Nachwelt  hat  sich  Hegel 
durch  diese  beiden  Vorreden  ganz  gewaltig  geschadet; 
er  hatte  die  Festigkeit  völlig  unterschätzt,  mit  der  die  von 
ihm  verworfenen  Richtungen  sich  in  der  Stimmung  der 
Menschen  eingewurzelt  hatten.  Aber  von  ihm  war  es 
durchaus  ehrlich  gehandelt  und  im  Bewußtsein,  ohne  Rück- 
sicht auf  Menschen  schlechthin  der  Sache  zu  dienen,  wenn 
er  die  Gelegenheit  benutzte,  die  sich  ihm  zu  bieten  schien, 
um  mit  den  ihm  widerwärtigsten  Gedankenrichtungen  ab- 
zurechnen. So  hat  er  über  seine  Vorrede  zur  Rechts- 
philosophie und  ihren  Eindruck  auf  die  Öffentlichkeit  auch 
selbst  an  Daub  geschrieben:  ,,Mit  meinem  Vorwort  und 
dahin  einschlagenden  Äußerungen  habe  ich  allerdings,  wie 
Sie  gesehen  haben  werden,  dieser  kahlen  und  an- 
maßenden Sekte,  —  dem  Kalbe,  wie  man  in  Schwaben  zu 
reden  pflegt,  ins  Auge  schlagen  wollen;  sie  war  gewohnt, 
unbedingt  das  Wort  zu  haben,  und  ist  zum  Teil  sehr  ver- 
wundert gewesen,  daß  man  von  wissenschaftlicher  Seite 
nichts  auf  sie  halte  und  gar  den  Mut  haben  könne,  öffent- 
lich gegen  sie  zu  sprechen;  hier,  wo  diese  Parthie  ins- 
besondere das  Wort  zu  führen  gewohnt  ist  und  war  und 
sich  für  eine  puissance  hielt,  —  habe  ich  freylich  saure, 
wenigstens  stumme  Gesichter  gegen  mich  zu  sehen  gehabt. 
Auf  vormals  sogenannte  Schmalzgesellenschaft  konnten 
sie  nicht  schieben,  was  ich  gesagt,  und  waren  daher  um 
so  mehr  in  Verlegenheit,   in  welche  Kategorieen  sie  die 


*)  Briefe  von  und  an  Hegel,  ßd.  2,  S.  66,  —  Das  Original 
des  Briefes,  wonach  obiges  Zitat  gegeben  ist,  befindet  sich  auf 
der  Kgl.  Bibl.  in  Berlin. 

**)  Hegels  Wwe.,  17.  Bd.,  S.  303,  295. 


Einleitung  des  Herausgebers.  LXXXIX 

Sache  bringen  sollten"*).  —  Später  hat  man  doch  die 
Kategorie  der  Schmalzgesellenschaft  gar  zu  gerne  an- 
gewandt, aber  dadurch  nur  bewiesen,  daß  man  sich  eben  auf 
die  Warte  des  Philosophen  zu  begeben  nicht  fähig  sei,  der 
die  verschiedenen  Strömungen  der  Zeit  von  höherem  Ge- 
sichtspunkte als  ihre  Parteigänger  zu  betrachten  weiß. 
In  Wahrheit  ist  Hegel  von  der  nationalen  Idee  tief 
durchdrungen  gewesen,  wenngleich  er,  auch  hierin  Goethe 
verwandt,  für  die  deutsche  Nationalität  vorerst  die  Ein- 
heit in  dem  geistigen  Leben,  hauptsächlich  in  dem  prote- 
stantischen Glauben  als  die  allein  wirkliche  ansah  und  die 
unwirklichen  Aspirationen  auf  eine  von  unten  herauf  ,, durch 
die  heilige  Kette  der  Freundschaft"  zu  erreichende  poli- 
tische Einheit  als  Torheiten  verv/arf.  Zu  genau  hatte  er 
die  politische  Zersplitterung  Deutschlands,  zu  genau  den 
die  einzelnen  „Völkchen"  beseelenden  Geist  der  Besonder- 
heit und  des  Eigensinns  kennen  gelernt,  als  daß  er  an 
eine  Wiedergeburt  des  deutschen  Reiches  aus  dem  „Brei 
des  Herzens"  hätte  glauben  können.  Als  er  in  seiner  etwa 
1802  geschriebenen,  aber  damals  ungedruckt  gebliebenen, 
glänzenden  Abhandlung  über  die  ,, Verfassung  Deutsch- 
lands"**) die  einfache  Wahrheit  aussprach,  daß  Deutsch- 
land kein  Staat  mehr,  seine  Verfassung  nichts  als  ein  Ge- 
dankending sei,  da  hat  er  doch  nicht  bloß  in  der  Stimmung 
der  Resignation  festgestellt,  was  damals  war,  er  hat  auch  mit' 
wahrhaft  prophetischem  Blicke  den  einzigen  Ausweg  aus 
der  trostlosen  Zerfahrenheit  der  deutschen  Zustände  vor- 
gezeichnet. ,,Der  gemeine  Haufe  des  deutschen  Volkes 
nebst  seinen  Landständen,  die  von  gar  nichts  anderem 
als  von  Trennung  der  deutschen  Völkerschaften  wissen, 
und  denen  die  Vereinigung  derselben  et^vas  ganz  Fremdes 
ist,  müßte  durch  die  Gewalt  eines  Eroberers  in  eine 
Masse  versammelt,  sie  müßten  gezwungen  werden,  sich 
als  zu  Deutschland  gehörig  zu  betrachten.  Dieser  The- 
seus  müßte  Großmut  genug  haben,  dem  Volke,  das  er 
aus  zerstreuten  Völkchen  geschaffen  hätte,  einen  Anteil 
an  dem,  was  alle  betrifft,  einzuräumen  —  weil  eine 
demokratische  Verfassung,  wie  sie  Theseus  seinem  Volke 
gab,  in  unseren  Zeiten  und  großen  Staaten  ein  Widerspruch 
in   sich   selbst   ist,    so   würde   der   Anteil   eine    Organi- 


*)  Briefe  von  u.  an  Hegel.  Bd.  2,  S.  46. 
*  *)  Kritik   der  Verfassung   Deutschlands   von  Georg  Friedr. 
Wilh.  Hegel,  herausgegeben  von  Dr.  Georg  MoUat,  Kassel  1893. 


XC  Einleitung  des  Herausgebers. 

sation  sein  ■ —  Charakter  genug,  um  —  wenn  er  auch 
nicht  wie  Theseus  mit  Undank  belohnt  würde,  sondern 
sich  durch  die  Direktion  der  Staatsmacht,  die  er  in  Händen 
hätte,  davor  sichern  könnte  —  den  Haß  tragen  zu  wollen, 
den  Richelieu  und  andere  große  Menschen  auf  sich  luden, 
welche  die  Besonderheiten  und  Eigentümlichkeiten  der 
Menschen  zertrümmerten.  —  Begriff  und  Einsicht  führen 
etwas  so  Mißtrauisches  gegen  sich  mit,  daß  sie  durch  die 
Gewalt  gerechtfertigt  werden  müssen:  dann  unterwirft 
sich  ihnen  der  Mensch."*) 

Als  Hegel  diese  Zeilen  schrieb,  stand  ihm  schon  das 
Bild  Napoleons  vor  der  Seele,  der  mit  Gewalt  in  Frank- 
reich Begriff  und  Einsicht  zur  Herrschaft  gebracht  hatte 
und  hernach  auch  in  Deutschland  als  der  Zertrümmerer 
verrotteter  Unordnungen  und  als  Wegbereiter  für  zweck- 
mäßigen Wiederaufbau  vernünftiger  Ordnungen  ein  welt- 
geschichtliches Reinigungsamt  führen  sollte.  In  diesem 
Sinne  verdiente  er  wohl  die  Bewunderung,  die  ihm  Hegel 
zollte.  Sein  Sturz  aber  bestätigte  dem  Philosophen, 
was  er  schon  in  der  Phänomenologie  ausgesprochen  hatte, 
daß  auf  die  Erscheinung  des  freien  Selbstbewußtseins 
als  einer  die  Wirklichkeit  zerstörenden  und  nach  sich 
selbst  formenden  Einzelheit  die  neue  Gestalt  des  mora- 
lischen Geistes  folgen  müsse**),  dem  die  Wirklichkeit 
nichts  als  die  Stätte  der  Bewährung  seiner  inneren  Frei- 
heit ist.  Damit  sieht  er  dann  den  Fortschritt,  zu  dem  der 
Weltgeist  der  Zeit  das  Kommando  gegeben  hat***),  wieder 
auf  die  Seite  der  inneren  Entfaltung  der  in  den  Volks- 
geistern vorhandenen  Kräfte  gelegt  und,  während  ihm  die 
äußerliche  Organisiererei  in  Bayern  als  ein  ziemlich  sub- 
stanzloses Verfahren  erscheint,  so  lenken  sich  seine  Blicke 
allmählich  auf  Preußen  hin  als  auf  den  Staat,  der  von 
innen  heraus  dem  Streben  der  Zeit  entgegenkommt. 

In  seiner  Schrift  über  die  Verfassung  Deutschlands 
hatte  Hegel  noch  sehr  unfreundlich  von  Preußen  ge- 
sprochen.    „Welche    Dürre,"    so    schreibt    er,    „im    preu- 


*)  a.  a.  0.  S.  130 f. 
**)  Briefe  von  und  an  Hegel,  Bd.  I,  S.  271  f.  —  Phänomen., 
Phil.  Bibl.  Bd.  114,  S.  387. 

***)  Briefe  von  u.  an  Hegel,  Bd.  1,  S.  401.  —  Ausfdlirlicher 
aber  ungefähr  im  gleichen  Sinne,  handelt  hierüber  Max  Lenz, 
a.  a.  0.  S.  197  ff. 


Einleitung  des  Herausgebers.  XCI 

ßischen  Staate  herrscht,  das  fällt  jedem  auf,  der  das  erste 
Dorf  desselben  betritt  oder  seinen  völligen  Mangel  an 
wissenschaftlichem  und  künstlerischem  Genie  sieht  oder 
seine  Stärke  nicht  nach  der  ephemeren  Energie  betrachtet, 
zu  der  ein  einzelnes  Genie  ihn  für  eine  Zeit  hinauf  zu 
zwingen  gewußt  hat."*)  Indessen  hat  er  doch  Preußen 
in  derselben  Schrift  auch  schon  von  einer  anderen  Seite 
her  betrachtet,  wenngleich  mit  Mißtrauen  und  Abneigung, 
Er  schreibt:  „Preußen  ist  durch  diese  seine  Macht  außer 
der  Sphäre  des  gemeinschaftlichen  Interesses  getreten  und 
deswegen  nicht  mehr  für  die  Stände  als  der  natürliche 
Mittelpunkt  für  Erhaltung  der  Selbständigkeit  anzusehen. 
Es  kann  die  Allianz  anderer  Stände  wünschen,  {]s  ist  hierin 
unabhängig  von  dem  Bestände  der  deutschen  Fürsten,  Es 
kann  sich  für  sich  schützen.  Der  Bund  der  deutschen 
Stände  mit  ihm  ist  demnach  ungleich;  denn  es  bedarf 
derselben  weniger,  als  sie  desselben  bedürfen,  und  der 
Vorteil  muß  also  auch  ungleich  sein,  Preußen  kann  selbst 
Besorgnisse  erwecken."**)  So  wird  man  sein  damaliges 
Urteil  dahin  zusammenfassen  können,  daß  Preußen  Macht 
und  Organisation  habe,  aber  keinen  Geist,  der  sie  belebte. 
Inzwischen  aber  war  nun  durch  die  Steinschen  Reformen 
auch  der  Geist  geweckt  worden,  Sie  verbanden  in  glück- 
liclister  Weise  die  großen  Prinzipien  der  modernen  Frei- 
heit mit  dem  bestehenden  staatlichen  Organismus.  Der 
seiner  selbst  bewoißte  freie  Geist  zog  in  die  preußische 
Staatsordnung  ein,  und  Hegel  konnte  dort  verwirklicht 
sehen,  was  er  dereinst  als  Forderung  an  einen  gebildeten 
Staat  aufgestellt  hatte:  ,,Den  Widerspruch,  daß  der  Staat 
die  höchste  Gewalt  sei,  und  daß  die  einzelnen  durch  sie 
nicht  erdrückt  seien,  löst  die  Macht  der  Gesetze  .  .  , 
Auf  der  Lösung  dieser  Aufgabe  beruht  alle  Weisheit  der 
Organisation  der  Staaten,"***)  Darum  konnte  Hegel,  als  er 
nach  Berlin  übergesiedelt  war,  der  einleitenden  Ansprache, 
mit  der  er  seine  Heidelberger  Vorlesungen  über  die  Philo- 
sophie der  Geschichte  begonnen  hatte,  die  Bemerkung 
anfügen:  „Wir  sind  überhaupt  jetzt  so  weit  gekommen,  zu 
solchem  größeren  Ernst  und  höherem  Bedürfnis  gelangt, 
daß  uns  nur  Ideen  und  das,  was  sich  vor  unserer  A^ernunft 


*)  a.  a.  0,  S.  23  f. 

**)  a.  a.  0.  S.  105. 

*'■*)  a.  a.  0.  S.  137. 


XCII  Einleitung  des  Herausgebers. 

rechtfertigt,  gelten  kann.  —  Der  preußische  Staat  ist 
es  dann  näher,  der  auf  Intelligenz  gebaut  ist."*) 

Daß  Hegel  diese  Überzeugung  sich  bewahrt  hat  trotz 
der  vielfach  so  weit  hinter  den  Stein-Scharnhorstschen 
Idealen  zurückbleibenden  Wirklichkeit  der  vormärzlichen 
Zustände  Preußens,  beweist  nur  seinen  tiefen  staats- 
männischen Sinn,  der  nicht  an  den  vergänglichen  Er- 
scheinungen der  Oberfläche  haftet,  sondern  an  das  Sub- 
stanzielle,  den  bleibenden  Begriff  sich  hält.  Es  scheint 
für  unser  Vaterland  die  Regel  zu  bestehen,  daß  nach 
kaum  einem  Jahrzehnt  ungemeinen  politischen  Auf- 
schwunges lange  Zeiten  ^  des  enttäuschenden  Schwankens, 
des  Rückgreifens  auf  vergangene  Verhältnisse  folgen,  da- 
mit in  solcher  Unruhe  und  Unbefriedigung  sich  das  neue 
Prinzip  wie  ein  Baum  in  schlechtem  Wetter  erst  inner- 
lich stärke  und  als  unentbehrlich  herausstelle.  Ist  es 
doch  nach  der  Wiedergeburt  des  deutschen  Reiches  in  der 
glorreichen  Zeit  Wilhelms  I,  nicht  anders  gegangen,  und  wäre 
es  doch  höchst  kurzsichtig,  wollte  man  die  Stimmung  der 
Reichsverdrossenheit  in  sich  nähren,  weil  unsere  Gegen- 
wart so  mannigfach  von  den  Idealen  abweicht,  die  dem 
neuen  Reiche  bei  seiner  Geburt  mit  in  die  Wiege  gelegt 
worden  sind.  Nein,  es  gilt  in  geschichtlichem  Sinne 
weiter  schauen  als  über  die  Spanne  weniger  Jahre  oder 
auch  Jahrzehnte  und  überzeugt  sein,  daß,  wo  eine  wahr- 
hafte Idee  am  Werke  ist,  sie  sich  durch  die  ihr  entgegen- 
stehenden Hemmungen  nur  immer  siegreicher  hindurch- 
ringen wird.  An  der  Idee,  die  er  im  preußischen  Staate 
sich  verwirklichen  sah,  hat  Hegel  festgehalten.  Er  hat 
Preußen  als  den  Staat  des  Gedankens  und  der  wahren 
bürgerlichen  Freiheit,  Berlin  als  den  Mittelpunkt  der  deut- 
schen Politik  und  Bildung  erkannt  und  geliebt.  Und 
darum  war  er  freilich  für  das  Treiben  der  Großdeutschen 
nicht  zu  haben. 

Zwar  in  Heidelberg  hat  er  durch  seinen  Schüler  Careve 
den  Burschenschaften  nahe  gestanden  und  noch  in  Berlin 
ein  burschenschaftliches  Fest  mitgemacht,  bei  dem  es  ziem- 
lich toll  herging**)  —  schwerlich  zu  Hegels  besonderer 
Freude.  Aber  an  dem  Traume  der  deutschen  Republik  hat 
er  nie  gehangen  und  hat  sich,  sobald  der  Zwiespalt  zwischen 
der  Staatsmacht  und  den  demokratisch  großdeutschen  Ten- 

*)  Hegels  Wwe.,  13.  Bd.,  1.  Aufl.,  S.  4  Anm. 
**)  Max  Lenz,  a.  a.  0.  S.  53f. 


Einleitung  des  Herausgebers.  XCIII 

denzen  offen  ausbrach,  mit  voller  Entschiedenheit  auf  die 
Seite  der  Staatsmacht  gestellt.  In  §322  der  Rechtsphilo- 
sophie hat  er  die  bezeichnenden  Worte  geschrieben:  „Die- 
jenigen, welche  von  Wünschen  einer  Gesamtheit,  die  einen 
mehr  oder  weniger  selbständigen  Staat  ausmacht  und  ein 
eigenes  Zentrum  hat,  sprechen  —  von  Wünschen,  diesen 
Mittelpunkt  und  seine  Selbständigkeit  zu  verlieren,  um 
mit  einem  anderen  ein  Ganzes  auszumachen,  wissen  wenig 
von  der  Natur  einer  Gesamtheit  und  dem  Selbstgefühl, 
das  ein  Volk  in  seiner  Unabhängigkeit  hat."  (S.  2611) 
Gewiß,  damit  hat  er  sich  als  einen  ausgemachten  ,, Real- 
politiker'' gekennzeichnet;  aber  soweit  ist  doch  hoffentlich 
nun  bei  uns  das  politische  Urteil  allmählich  gereift,  daß 
wir  für  einen  Politiker  nur  den  halten,  der  mit  den  ge- 
gebenen Verhältnissen  rechnet.  Hegel  hat  wahrhaftig  dem 
Idealen  seinen  zukommenden  Platz  eingeräumt.  Er  hat 
nicht  nur  allgemein  die  ideelle  Welt  als  den  eigentlichen 
Inhalt  und  Reichtum  des  Staates  anerkannt,  sondern  mit 
hohem  Freimut  und  männlicher  Begeisterung  die  großen 
Ideale  der  deutschen  Nation,  die  Prinzipien  der  Innerlich- 
keit und  des  protestantischen  Gewissens,  der  sittlichen 
und  der  bürgerlichen  Freiheit  verfochten  und  verherr- 
licht. Wenn  er  als  das  unentbehrliche  Gefäß,  das  diesen 
kostbaren  Inhalt  zu  schützen  bestimmt  war,  den  Staat 
in  seiner  selbständigen  Hoheit  seinen  Zeitgenossen  vor 
Augen  gestellt  und  sie  zwar  den  Nationalstaat,  aber  nicht 
einen  erträumten,  sondern  den  geschichtlich  vorhandenen 
und  aus  eigener  Macht  sich  entwickelnden  hat  verstehen 
lehren  wollen,  so  hat  er  auch  damit  ein  Fundament  gelegt, 
auf  dem  die  späteren  Geschlechter  über  den  von  ihm  ent- 
worfenen Bau  v/eiter  hinaus  bauen  konnten.  Er  verdient  auch 
in  dieser  Hinsicht  den  Namen,  den  Rosenkranz*)  ihm  mit 
gutem  Recht  beigelegt  hat:  der  deutsche  Nationalphilosoph. 


*)  Rosenkranz,  Karl,   Hegel  als  deutscher  Xationalphilo- 
sopb.    Leipzig  1870. 


Jnlialtsverzeichnis. 

Seite 

Vorrede  des  Herausgebers V 

Einleitung  des  Herausgebebers VII — XCIII 

1.  Kapitel.    Die  Stellung-  der  Rechtsphilosophie  in 
Hegels  System. 

T.  Die  drei  Teile  der  Philosophie  des  Geistes XI 

II.  Der  objektive  Geist XVI 

III.  Objektiver  und  absoluter  Geist XXIV 

2.  Kapitel.    Das  System  der  Hegeischen  Rechts- 
philosophie. 

I.  Seine  Voraussetzung XXXVI 

II.  Seine  Anlage XLIl 

III.  Seine  Ergebnisse L 

3.  Kapitel.    Der  Geist  der  Hegelschen  Sprachlehre. 

I.  Die  historische  Idee LIX 

II.  Die  liberale  Idee LXIX 

III.  Die  nationale  Idee LXXX 


Hegels  Grundlinien  der  Philosophie  des 
Rechts. 

VoiTede 3 

Einleitung.    Begriff  der  Philosophie  des  Kechts,  des  Willens, 

der  Freiheit  und  des  Rechts.    §  1—32 18 

Einteilung.    §  33 45 

Erster  Teil. 
Das  abstrakte  Recht. 

§  34—104. 

Erster  Abschnitt.     Das  Eigentum.    §41—71 52 

a)  Besitznahme.    §  54 — 58 60 

b)  Gebrauch  der  Sache.    §  59—64 63 

c)  Entäußerung  des  Eigentums.    §  65 — 70 67 

Übergang  vom  Eigentum  zum  Vertrag.     §  71    .     .     .  73 

Zweiter  Abschnitt.     Der  Vertrag.    §  72 — 80 74 

Dritter  Abschnitt.     Das  Unrecht.    §82  —  104 82 

a)  Unbefangenes  (Zivil-)Unrecht.    §  84—86 82 

b)  Betrug.    §  87—89 ' 83 

c)  Zwang  und  Verbrechen.    §  90—103 84 

Übergang  vom  Recht  zur  Moralität.    §  104  ....  93 


Inhaltsverzeichnis.  XCV 

Zweiter  Teil. 
Sie  Moralität. 

§    105—141.  Seito 

Erster  Abschnitt.    Der  Vorsatz  und  die  Schuld.    §  106—118  100 

Zweiter  Abschnitt.    Die  Absicht  und  das  Wohl.    §  119—128  102 

Dritter  Abschnitt.    Das  Gute  und  das  Gewissen.    §  129 — 141  109 

Moralische  Formen  des  Bösen.  Heuchelei,  Probabilismus, 

gute  Absicht,  Überzeugung,   Ironie.     Anm.  zu  §  140  118 

Übergang  der  Moralität  zur  Sittlichkeit.     §  141     .     .     .  131 

Dritter  Teil. 
Die  Sittlichkeit. 

§  142—360. 

Erster  Abschnitt.     Die  Familie.    §  158—181 140 

A.  Die  Ehe.     §  161—169 140 

B.  Das  Vermögen  der  Familie.    §  170—172     ....  146 

C.  Die  Erziehung  der  Kinder  und   die  Auflösung  der 
Familie.    §  173—181 147 

Zweiter  Abschnitt.  Die  bürgerliche  Gesellschaft.  §  182—256  154 

A.  Das  System  der  Bedürfnisse.    §  189—208    ....  159 

a)  Die  Art  des   Bedürfnisses  und  der  Befriedigung. 

§  190—195 160 

b)  Die  Art  der  Arbeit.    §  196—198 162 

c)  Das  Vermögen  und  die  Stände.    §  199—208    .     .  168 

B.  Die  Rechtspflege.     §  209—229 169 

a)  Das  Recht  als  Gesetz.    §  211—214 169 

b)  Das  Dasein  des  Gesetzes.    §  215—218      ....  174 

c)  Das  Gericht.    §  219—229   .' 177 

C.  Die  Polizei  und  Korporation.    §  230—256    ....  183 

a)  Die  Polizei.    §  2'31— 249 184 

b)  Die  Korporation.    §  250—256 191 

Dritter  Abschnitt.     Der  Staat.    §  257—360 195 

A.  Das  innere  Staatsrecht    §  260—329 202 

I.   Innere  Verfassung  für  sich.    §  272—320     ...  219 

a)  Die  fürstliche  Gewalt.    §  275—286    ....  225 

b)  Die  Regierungsgewalt.    §  287—297    ....  237 

c)  Die  gesetzgebende  Gewalt.    §  298—320     .     .  243 
II.  Die  Souveränität  gegen  außen.  '§  321—329    .     .  261 

B.  Das  äußere  Staatsrecht.    §  330—340 266 

C.  Die  Weltgeschichte.    §  341—360 271 


Zusätze  aus  Hegels  Torlesungen,  redigiert  von  Eduard 

Gans 283 


Ilatiirieclit  und  Staatswissenschaft. 


Hegel,  Eechtsphilosophie. 


Vorrede. 


Die  unmittelbare  Veranlassung  zur  Herausgabe  dieses 
Grundrisses  ist  das  Bedürfnis,  meinen  Zuhörern  einen  Leit- 
faden zu  den  Vorlesungen  in  die  Hände  zu  geben,  welche 
ich  meinem  Amte  gemäß  über  die  Philosophie  des 
Rechts  halte.  Dieses  Lehrbuch  ist  eine  weitere,  ins- 
b'esondere  mehr  systematische  Ausführung  derselben 
Grundbegriffe,  welche  über  diesen  Teil  der  Philosophie 
in  der  von  mir  sonst  für  meine  Vorlesungen  bestimmten 
Encyklopädie  der  philosophischen  Wissenschaften 
(Heidelberg  1817)  i)  bereits  enthalten  sind. 

Daß  dieser  Grundriß  aber  im  Druck  erscheinen  sollte, 
hiermit  auch  vor  das  größere  Publikum  kommt,  wurde  die 
Veranlassung,  die  Anmerkungen,  die  zunächst  in  kurzer 
Erwähnung  die  verwandten  oder  abvv^eichenden  Vorstel- 
lungen, weiteren  Folgen  und  dergleichen  andeuten  sollten, 
was  in  den  Vorlesungen  seine  gehörige  Erläuterung  er- 
halten würde,  manchmal  schon  hier  weiter  auszuführen, 
um  den  abstrakteren  Inhalt  des  Textes  zuweilen  zu  verdeut- 
lichen, und  auf  naheliegende,  in  dermaliger  Zeit  gäng  und 
gäbe  Vorstellungen  eine  ausgedehntere  Rücksicht  zu 
nehmen.  So  ist  eine  Anzahl  weitläufigerer  Anmerkungen 
entstanden,  als  der  Zweck  und  Stil  eines  Kompendiums  sonst 
mit  sich  bringt.  Ein  eigentliches  Kompendium  iedoch  hat  den 
für  fertig  angesehenen  Umkreis  einer  Wissenschaft  zum 
Gegenstande,  und  das  ihm  Eigentümliche  ist,  vielleicht 
einen  kleinen  Zusatz  hier  und  da  ausgenommen,  vornehm- 
lich die  Zusammenstellung  und  Ordnung  der  wesentlichen 
Momente  eines  Inhalts,  der  längst  ebenso  zugegeben  und 

1)  Von  Hegel  selbst  noch  in  zwei  späteren,  stark  vei-mebrten 
Auflagen  herausgegeben  (1827,  1830).  Die  3.  Auflage  ist  als 
Bd.  33  der  Phil.  Bibl.  von  Georg  Lasson  neu  herausgegeben 
worden.  H.  citiert  in  dem  obigen  Werke  natürlich  immer  die 
1.  Aufl.;  unter  dem  Strich  werden  hier  die  entsprechenden  §§ 
der  3.  Aufl.  angegeben. 

1* 


4  Vorrede. 

bekannt  ist,  als  jene  Form  ihre  längst  ausgemachten  Regeln 
und  Manieren  hat.  Von  einem  philosophischen  Grundriß 
erwartet  man  diesen  Zuschnitt  schon  etwa  darum  nicht, 
weil  man  sich  vorstellt,  das,  was  die  Philosophie  vor  sich 
bringe,  sei  ein  so  übernächtiges  Werk  als  das  Gewebe  der 
Penelope,  das  jeden  Tag  von  vorne  angefangen  werde. 

Allerdings  weicht  dieser  Grundriß  zunächst  von  einem 
gewöhnlichen  Kompendium  durch  die  Methode  ab,  die  darin 
das  Leitende  ausmacht.  Daß  aber  die  philosophische  Art 
des  Fortschreitens  von  einer  Materie  zu  einer  anderen  und 
des  wissenschaftlichen  Beweisens,  diese  spekulative  Er- 
kenntnisweise überhaupt,  wesentlich  sich  von  anderer  Er- 
kenntnisweise unterscheidet,  wird  hier  vorausgesetzt.  Die. 
Einsicht  in  die  Notwendigkeit  einer  solchen  Verschieden- 
heit kann  es  allein  sein,  was  die  Philosophie  aus  dem 
schmählichen  Verfall,  in  welchen  sie  in  unseren  Zeiten 
versunken  ist,  herauszureißen  vermögen  wird.  Man  hat 
wohl  die  Unzulänglichkeit  der  Formen  und  Regeln  der  vor- 
maligen Logik,  des  Definierens,  Einteilens  und  Schließens, 
welche  die  Regeln  der  Verstandeserkenntnis  enthalten,  für 
die  spekulative  Wissenschaft  erkannt,  oder  mehr  nur  ge- 
fühlt als  erkannt,  und  dann  diese  Regeln  nur  als  Fesseln 
weggeworfen,  um  aus  dem  Herzen,  der  Phantasie,  der  zu- 
fälligen Anschauung  willkürlich  zu  sprechen;  und  da  denn 
doch  auch  Reflexion  und  Gedankenverhältnisse  eintreten 
müssen,  verfährt  man  bewußtlos  in  der  verachteten  Me- 
thode des  ganz  gewöhnlichen  Folgerns  und  Räsonnements. 
—  Die  Natur  des  spekulativen  Wissens  habe  ich  in  meiner 
Wissenschaft  der  Logik^)  ausführlich  entwickelt;  in 
diesem  Grundriß  ist  darum  nur  hier  und  da  eine  Erläuterung 
über  Fortgang  und  Methode  hinzugefügt  worden.  Bei  der 
konkreten  und  in  sich  so  mannigfaltigen  Beschaffenheit 
des  Gegenstandes  ist  es  zwar  vernachlässigt  worden,  in 
allen  und  jeden  Einzelheiten  die  logische  Fortleitung  nach- 
zuweisen und  herauszuheben;  teils  konnte  dies  bei  voraus- 
gesetzter Bekanntschaft  mit  der  wissenschaftlichen  Me- 
thode für  überflüssig  gehalten  werden,  teils  wird  aber  es 
von  selbst  auffallen,  daß  das  Ganze  wie  die  Ausbildung 
seiner  Glieder  auf  dem  logischen  Geiste  beruht.    Von  dieser 

1)  Nürnberg,  1812 — 16,  in  3  Bdn.  Den  ersten  Band  bat 
Hegel  selbst  in  seinem  letzten  Lebensjahre  noch  umgearbeitet; 
in  dieser  Fassung  ist  er  als  Bd.  3  der  „Werke"  Hs.  erschienen. 
Bd.  4  und  5  der  „Werke"  geben  die  anderen  Bände  der  Original- 
ausgabe in  unverändertem  Abdruck  -wieder. 


I 


Vorrede.  5 

Seite  möchte  ich  auch  vornehmlich,  daß  diese  Abhand- 
lung gefaßt  und  beurteilt  \\ürde.  Denn  das,  um  was  es  in  der- 
selben zu  tun  ist,  ist  die  Wissenschaft,  und  in  der  Wissen- 
schaft ist  der  Inhalt  wesentlich  an  die  Form  gebunden. 

Man  kann  zwar  von  denen,  die  es  am  gründlichsten 
zu  nehmen  scheinen,  hören,  die  Form  sei  etwas  Äußeres 
und  für  die  Sache  Gleichgültiges,  es  komme  nur  auf  diese 
an;  man  kann  weiter  das  Geschäft  des  Schriftstellers,  ins- 
besondere des  philosophischen  darein  setzen,  Wahrheiten 
zu  entdecken,  Wahrheiten  zu  sagen,  Wahrheiten  und 
richtige  Begriffe  zu  verbreiten.  Wenn  man  nun  betrachtet, 
wie  solches  Geschäft  wirklich  betrieben  zu  werden  pflegt,  so 
sieht  man  einesteils  denselben  alten  Kohl  immer  wieder 
aufkochen  und  nach  allen  Seiten  hin  ausgeben  —  ein 
Geschäft,  das  wohl  auch  sein  Verdienst  um  die  Bildung 
und  Erweckung  der  Gemüter  haben  wird,  wenn  es  gleich 
mehr  als  ein  vielgeschäftiger  Überfluß  angesehen  werden 
könnte  —  „denn  sie  haben  Mosen  und  die  Propheten,  laß 
sie  dieselben  hören" i).  Vornehmlich  hat  man  vielfältige 
Gelegenheit,  sich  über  den  Ton  und  die  Prätension,  die  sich 
dabei  zu  erkennen  gibt,  zu  verwundern,  nämlich  als  ob 
es  der  Welt  nur  noch  an  diesen  eifrigen  Verbreitern  von 
Wahrheiten  gefehlt  hätte,  und  als  ob  der  aufgewärmte  Kohl 
neue  und  unerhörte  Wahrheiten  brächte,  und  vornehmlich 
immer  „in  jetziger  Zeit"  hauptsächlich  zu  beherzigen  wäre. 
Andernteils  aber  sieht  man,  was  von  solchen  Wahrheiten 
von  der  einen  Seite  her  ausgegeben  wird,  durch  eben 
dergleichen  von  anderen  Seiten  her  ausgespendete  Wahr- 
heiten verdrängt  und  weggeschwemmt  werden.  Was  nun 
in  diesem  Gedränge  von  Wahrheiten  weder  Altes  noch 
Neues,  sondern  Bleibendes  sei,  wie  soll  dieses  aus  diesen 
formlos  hin-  und  hergehenden  Betrachtungen  sich  heraus- 
heben —  wie  anders  sich  unterscheiden  und  bewähren,  als 
durch  die  Wissenschaft? 

Ohnehin  über  Recht,  Sittlichkeit,  Staat  ist  die 
Wahrheit  ebensosehr  alt,  als  in  den  öffentlichen 
Gesetzen,  der  öffentlichen  Moral  und  Religion 
offen  dargelegt  und  bekannt.  Was  bedarf  diese 
Wahrheit  weiter,  insofern  der  denkende  Geist  sie  in  dieser 
nächsten  Weise  zu  besitzen  nicht  zufrieden  ist,  als  sie  auch 
zu  begreifen,  und  dem  schon  an  sich  selbst  vernünftigen 
Inhalt  auch  die  vernünftige  Form  zu  gewinnen,  damit  er 

1)  Luk.  16,  29. 


6  Vorrede. 

für  das  freie  Denken  gerechtfertigt  erscheine,  welches 
nicht  bei  dem  Gegebenen,  es  sei  durch  die  äußere  po- 
sitive Autorität  des  Staates  oder  der  Übereinstimmung  der 
Menschen,  oder  durch  die  Autorität  des  inneren  Geiülils 
und  Herzens  und  das  unmittelbar  beistimmende  Zeugnis 
des  Geistes  unterstützt,  stehen  bleibt,  sondern  von  sich 
ausgeht  und  eben  damit  fordert,  sich  im  Innersten  mit 
der  Wahrheit  geeint  zu  wissen? 

Das  einfache  Verhalten  des  unbefangenen  Gemütes 
ist,  sich  mit  zutrauensvoller  Überzeugung  an  die  öffent- 
lich bekannte  Wahrheit  zu  halten,  und  auf  diese  feste- 
Grundlage  seine  Handlungsweise  und  feste  Stellung  im 
Leben  zu  bauen.  Gegen  dieses  einfache  Verhalten  tut  sich 
etwa  schon  die  vermeinte  Schwierigkeit  auf,  v>^ie  aus  den 
unendlich  verschiedenen  Meinungen  sich  das,  was 
darin  das  allgemein  Anerkannte  und  Gültige  sei,  unter- 
scheiden und  herausfinden  lasse;  und  man  kann  diese  Ver- 
legenheit leicht  für  einen  rechten  und  wahrhaften  Ernst 
um  die  Sache  nehmen.  In  der  Tat  sind  aber  die,  welche 
sich  auf  diese  Verlegenheit  et^vas  zugute  tun,  in  dem 
Falle,  den  Wald  vor  den  Bäumen  nicht  zu  sehen,  und  es 
ist  nur  die  Verlegenheit  und  Schwierigkeit  vorhanden, 
welche  sie  selbst  veranstalten;  ja  diese  ihre  Verlegenheit 
und  Schwierigkeit  ist  vielmehr  der  Beweis,  daß  sie  etwas 
anderes  als  das  allgemein  Anerkannte  und  Geltende,  als 
die  Substanz  des  Rechten  und  Sittlichen  wollen.  Denn 
ist  es  darum  wahrhaft,  und  nicht  um  die  Eitelkeit  und 
Besonderheit  des  Meinens  und  Seins  zu  tun,  so  hielten 
sie  sich  an  das  substantielle  Rechte,  nämlich  an  die  Ge- 
bote der  Sittlichkeit  und  des  Staats,  und  richteten  ihr  Leben 
darnach  ein.  —  Die  weitere  Schwierigkeit  aber  kommt  von 
der  Seite,  daß  der  Mensch  denkt  und  im  Denken  seine 
Freiheit  und  den  Grund  der  Sittlichkeit  sucht.  Dieses 
Recht,  so  hoch,  so  göttlich  es  ist,  wird  aber  in  Unrecht 
verkehrt,  wenn  nur  dies  für  Denken  gilt  und  das  Denken 
nur  dann  sich  frei  weiß,  insofern  es  vom  Allgemein- 
Anerkannten  und  Gültigen  abweiche  und  sich  etwas 
Besonderes  zu  erfinden  gewußt  habe. 

Am  festesten  konnte  in  unserer  Zeit  die  Vorstellung, 
als  ob  die  Freiheit  des  Denkens  und  des  Geistes  überhaupt 
sich  nur  durch  die  Abweichung,  ja  Feindschaft  gegen  das 
öffentlich  Anerkannte  beweise,  in  Beziehung  auf  den 
Staat  eingewurzelt,  und  hiernach  absonderlich  eine  Phi- 
losophie über  den  Staat  wesentlich  die  Aufgabe  zu  haben 


Vorrede.  7 

scheinen,  auch  eine  Theorie  und  eben  eine  neue  und 
besondere  zu  erfinden  und  zu  geben.  Wenn  man  diese 
Vorstellung  und  das  ihr  gemäße  Treiben  sieht,  so  sollte 
man  meinen,  als  ob  noch  kein  Staat  und  Staatsverfassung 
in  der  Welt  gewesen,  noch  gegenwärtig  vorhanden  sei, 
sondern  als  ob  man  jetzt  —  und  dies  Jetzt  dauert  immer 
fort  —  ganz  von  vorne  anzufangen,  und  die  sittliche  Welt 
nur  auf  ein  solches  jetziges  Ausdenken  und  Ergründen 
und  Begründen  gewartet  habe.  Von  der  Natur  gibt  man 
zu,  daß  die  Philosophie  sie  zu  erkennen  habe,  wie  sie  ist, 
daß  der  Stein  der  Weisen  irgendwo,  aber  in  der  Natur 
selbst  verborgen  liege,  daß  sie  in  sich  vernünftig  sei 
und  das  Wissen  diese  in  ihr  gegenwärtige,  wirkliche 
Vernunft,  nicht  die  auf  der  Oberfläche  sich  zeigenden 
Gestaltungen  und  Zufälligkeiten,  sondern  ihre  ewige  Har- 
mionie,  aber  als  ihr  immanentes  Gesetz  und  Wesen  zu  er- 
forschen und  begreifend  zu  fassen  habe.  Die  sittliche 
Welt  dagegen,  der  Staat,  sie,  die  Vernunft,  wie  sie  sich 
im  Elemente  des  Selbstbewußtseins  verwirklicht,  soll  nicht 
des  Glücks  genießen,  daß  es  die  Vernunft  ist,  welche  in 
der  Tat  in  diesem  Elemente  sich  zur  Kraft  und  Gewalt 
gebracht  habe,  darin  behaupte  und  inwohne.  Ds,s  geistige 
Universum  soll  vielmehr  dem  Zufall  und  der  Willkür  preis- 
gegeben, es  soll  gottverlassen  sein,  so  daß  nach  diesem 
Atheismus  der  sittlichen  Welt  das  Wahre  sich  außer 
ihr  befinde,  und  zugleich,  weil  doch  auch  Vernunft  darin 
sein  soll,  das  Wahre  nur  ein  Problema  sei.  Hierin  aber 
liege  die  Berechtigung,  ja  die  Verpflichtung  für  jedes 
Denken,  auch  seinen  Anlauf  zu  nehmen,  doch  nicht  um 
den  Stein  der  Weisen  zu  suchen,  denn  durch  das  Philo- 
sophieren unserer  Zeit  ist  das  Suchen  erspart  und  jeder 
gewiß,  so  wie  er  steht  und  geht,  diesen  St^ein  in  seiner 
Gewalt  zu  haben.  Nun  geschieht  es  freilich,  daß  die- 
jenigen, welche  in  dieser  Wirklichkeit  des  Staats  leben 
und  ihr  Wissen  und  Wollen  darin  befriedigt  finden,  —  und 
deren  sind  viele,  ja  mehr  als  es  meinen  und  wissen,  denn 
im  Grunde  sind  es  Alle,  —  daß  also  wenigstens  die- 
jenigen, v/elche  mit  Bewußtsein  ihre  Befriedigung  im 
Staate  haben,  jener  Anläufe  und  Versicherungen  lachen 
und  sie  für  ein  bald  lustigeres  oder  ernsteres,  ergötzliches 
oder  gefährliches,  leeres  Spiel  nehmen.  Jenes  unruhige 
Treiben  der  Reflexion  und  Eitelkeit,  sowie  die  Aufnahme 
und  Begegnung,  welche  sie  erfährt,  wäre  nun  eine  Sache 
für  sich,  die  sich  auf  ihre  Weise  in  sich  entwickelt;  aber 


8  Vorrede. 

es  ist  die  Philosophie  überhaupt,  welche  sich  durch 
jenes  Getreibe  in  mannigfaltige  Verachtung  und  Mißkredit 
gesetzt  hat.  Die  schlimmste  der  Verachtungen  ist  diese. 
daß  wie  gesagt  jeder,  wie  er  so  steht  und  geht,  über  die 
Philosophie  überhaupt  Bescheid  zu  v/issen  und  abzusprechen 
imstande  zu  sein  überzeugt  ist.  Keiner  anderen  Kunst 
und  Wissenschaft  wird  diese  letzte  Verachtung  bezeigt, 
zu  meinen,  daß  man  sie  geradezu  inne  habe. 

In  der  Tat,  was  wir  von  der  Philosophie  der  neueren 
Zeit  mit  der  größten  Prätension  über  den  Staat  haben 
ausgehen  sehen,  berechtigte  wohl  jeden,  der  Lust  hatte 
mitzusprechen,  zu  dieser  Überzeugung,  ebensolches  von  sich 
aus  geradezu  machen  zu  können  und  damit  sich  den  Beweis, 
im  Besitz  der  Philosophie  zu  sein,  zu  geben.  Ohnehin  hat  die 
sich  so  nennende  Philosophie  es  ausdrücklich  ausgesprochen, 
daß  das  Wahre  selbst  nicht  erkannt  werden  könne, 
sondern  daß  dies  das  Wahre  sei,  was  jeder  über  die  sitt- 
lichen Gegenstände,  vornehmlich  über  Staat,  Regierung 
und  Verfassung,  sich  aus  seinem  Herzen,  Gemüt  und 
Begeisterung  aufsteigen  lasse.  Was  ist  darüber  nicht 
alles  der  Jugend  insbesondere  zum  Munde  geredet  worden? 
Die  Jugend  hat  es  sich  denn  auch  wohl  gesagt  sein  lassen. 
Den  Seinen  gibt  Er's  schlaf end^),  —  ist  auf  die 
Wissenschaft  angewendet  worden,  -and  damit  hat  jeder 
Schlafende  sich  zu  den  Seinen  gezählt;  was  er  so  im 
Schlafe  der  Begriffe  bekommen,  war  denn  freilich  auch 
Ware  darnach.  —  Ein  Heerführer  dieser  Seichtigkeit,  die 
sich  Philosophieren  nennt,  Herr  Fries*),  hat  sich  nicht 
entblödet,  bei  einer  feierlichen,  berüchtigt  gewordenen 
öffentlichen  Gelegenheit-)  in  einer  Rede  über  den  Gegen- 
stand von  Staat  und  Staatsverfassung  die  Vorstellung  zu 
geben:  „in  dem  Volke,  in  welchem  echter  Gemeingeist 
herrsche,  würde  jedem  Geschäft  der  öffentlichen  Ange- 
legenheiten das  Leben  von  unten  aus  dem  Volke 
kommen,  würden  jedem  einzelnen  Werke  der  Volksbildung 
und  des  volkstümlichen  Dienstes  sich  lebendige  Gesell- 
schaften weihen,  durch  die  heilige  Kette  der  Freund- 
schaft unverbrüchlich  vereinigt",  und  dergleichen.  —  Di?3 

*)  Von  der  Seichtigkeit  seiner  Wissenschaft  habe  ich  sonst 
Zeugnis  gegeben;  s.  Wissenschaft  der  Logik  (Nürnberg  1812), 
Einl.  S.  XVII.    LA.nm.,  in  den  „Werken",  Bd.  3,  S.  39,  fortgelassen.] 

^)  Ps.  127,  'J.  —  -)  Bei  dem  Wartburgfeste  der  deutschen 
Burschenschaften  am  18.  Oktober  1817. 


Vorrede.  9 

ist  der  Hauptsinn  der  Seichtigkeit,  die  Vv''issenschaft  statt 
auf  die  Entv/iclcelung  des  Gedankens  und  Begriffs,  viel- 
melir  auf  die  unmittelbare  Wahrnehmung  und  die  zufällige 
Einbildung  zu  stellen,  ebenso  die  reiche  Gliederung  des 
Sittlichen  in  sich,  welche  der  Staat  ist,  die  Architektonik 
seiner  Vernünftigkeit,  die  durch  die  bestimmte  Unter- 
scheidung der  Kreise  des  öffentlichen  Lebens  und  ihrer 
Berechtigungen  und  durch  die  Strenge  des  Maßes,  in  dem 
sich  jeder  Pfeiler,  Bogen  und  Strebung  hält,  die  Stärke 
des  Ganzen  aus  der  Harmonie  seiner  Glieder  hervorgehen 
macht,  - — ■  diesen  gebildeten  Bau  in  den  Brei  des  „Herzens, 
der  Freundschaft  und  Begeisterung"  zusammenfließen  zu 
lassen.  Wie  nach  Epikur  die  Welt  überhaupt,  so  ist  frei- 
lich nicht,  aber  so  sollte,  die  sittliche  Welt  nach  solcher 
Vorstellung,  der  subjektiven  Zufälligkeit  des  Meinens  und 
der  Willkür  übergeben  werden.  Mit  dem  einfachen  Haus- 
mittel, auf  das  Gefühl  das  zu  stellen,  was  die  und  zwar 
mehrtausendjährige  Arbeit  der  Vernunft  und  ihres  Ver- 
standes ist,  ist  freilich  alle  die  Mühe  der  von  dem  denkenden 
Begriffe  geleiteten  Vernunfteinsicht  und  Erkenntnis  erspart. 
Mephistopheles  bei  Goethe,  —  eine  gute  Autorität,  — 
sagt  darüber  ungefähr i),  was  ich  auch  sonst  angeführt: 

„Verachte  nur  Verstand  und  Wissenschaft, 
des  Menschen  allerhöchste  Gaben  — 
so  hast  dem  Teufel  dich  ergeben 
und   mußt   zugrunde   gehn." 

Unmittelbar  nahe  liegt  es,  daß  solche  Ansicht  sich  auch 
die  Gestalt  der  Frömmigkeit  annimmt;  denn  mit  vvas 
allem  hat  dieses  Getreibe  sich  nicht  zu  autorisieren  ver- 
sucht! Mit  der  Gottseligkeit  und  der  Bibel  aber  hat  es 
sich  die  höchste  Berechtigung,  die  sittliche  Ordnung  und 
die  Objektivität  der  Gesetze  zu  verachten,  zu  geben  ver- 
meint. Denn  wohl  ist  es  auch  die  Frömmigkeit,  welche  die 
in  der  Welt  zu  einem  organischen  Reiche  auseinander  ge- 
schlagene Wahrheit  zur  einfacheren  Anschauung  des  Ge- 
fühls einwickelt.  Aber  sofern  sie  rechter  Art  ist,  gibt 
sie  die  Form  dieser  Region  auf,  sobald  sie  aus  dem  Innern 
heraus  in  den  Tag  der  Entfaltung  und  des  geoffenbarten 
Reichtums  der  Idee  eintritt,  und  bringt  aus  ihrem  inneren 
Gottesdienst  die  Verehrung  gegen  eine  an  und  für  sich 

1)  Die  Wiedergabe  der  Goetheschen  Verse  ist  in  der  Tat 
höchst  inkorrekt.  H.  hat  sie  früher  schon  in  der  Phänomenologie 
citiert,  Lassonsche  Ausgabe,  S.  237  (Phil.  Bibl.  Bd.  114). 


10  Vorrede. 

seiende,  über  die  subjektive  Form  des  Gefühls  erhabene, 
Wahrheit  und  Gesetze  mit. 

Die  besondere  Form  des  Übeln  Gewissens,  welche  sich 
in  der  Art  der  Beredsamkeit,  zu  der  sich  jene  Seichtig- 
keit  aufspreizt,  kund  tut,  kann  hierbei  bemerkliöh  ge- 
macht werden;  und  zwar  zunächst,  daß  sie  da,  wo  sie  am 
geistlosesten  ist,  am  meisten  vom  Geiste  spricht,  wo 
sie  am  totesten  und  ledernsten  redet,  das  Wort  Leben  und 
ins  Leben  einführen,  wo  sie  die  größte  Selbst-sucht  des 
leeren  Hochmuts  kund  tut,  am  meisten  das  Wort  Volk  im 
Munde  führt.  Das  eigentümliche  Wahrzeichen  aber,  das 
sie  an  der  Stirne  trägt,  ist  der  Haß  gegen  dao_  Gesetz. 
Daß  Recht  und  Sittlichkeit,  und  die  wirkliche  Welt  des 
Rechts  und  des  Sittlichen  sich  durch  den  Gedanken  er- 
faßt, durch  Gedanken  sich  die  Form  der  Vernünftigkeit, 
nämlich  Allgemeinheit  und  Bestimmtheit  gibt,  dies,  das 
Gesetz,  ist  es,  was  jenes  sich  das  Belieben  vorbehaltende 
Gefühl,  jenes  das  Rechte  in  die  subjektive  Überzeugung 
stellende  Gewissen,  mit  Grund  als  das  sich  feindseligste 
ansieht.  Die  Form  des  Rechten  als  einer  Pflicht  und  als 
eines  Gesetzes  Vv^ird  von  ihm  als  ein  toter,  kalter  Buch- 
stabe und  als  eine  Fessel  empfunden;  denn  es  erkennt 
in  ihm  nicht  sich  selbst,  sich  in  ihm  somit  nicht  frei,  weil 
das  Gesetz  die  Vernunft  der  Sache  ist,  und  diese  dem 
Gefühle  nicht  verstattet,  sich  an  der  eigenen  Partikularität 
zu  v/ärmen.  Das  Gesetz  ist  darum,  v/ie  im  Laufe  dieses 
Lehrbuchs  irgendwo  angemerkt  worden  i),  vornehmlich  das 
Schiboleth,  an  dem  die  falschen  Brüder  und  Freunde  des 
sogenannten   Volkes    sich   abscheiden. 

Indem  nun  die  Rabulisterei  der  Willkür  sich  des 
Namens  der  Philosophie  bemächtigt  und  ein  großes 
Publikum  in  die  Meinung  zu  versetzen  vermocht  hat,  als  ob 
dergleichen  Treiben  Philosophie  sei,  so  ist  es  fast  gar 
zur  Unehre  geworden,  über  die  Natur  des  Staats  noch 
philosophisch  zu  sprechen;  und  es  ist  rechtlichen  Männern 
nicht  zu  verargen,  wenn  sie  in  Ungeduld  geraten,  sobald 
sie  von  philosophischer  Wissenschaft  des  Staats  reden 
hören.  Noch  weniger  ist  sich  zu  verwundern,  wenn  die 
Regierungen  auf  solches  Philosophieren  endlich  die  Auf- 
merksamkeit gerichtet  haben,  da  ohnehin  bei  uns  die  Philo- 
sophie nicht  wie  etwa  bei  den  Griechen  als  eine  private 
Kunst   exerziert   wird,   sondern   sie   eine    öffentliche,   das 


»)  §258  Anm.  S.  198 f. 


Vorrede.  U 

Publikum  berührende  Existenz,  vornehmlich  oder  allein  im 
Staatsdienste,  hat.  Wenn  die  Regierungen  ihren  diesem 
Fache  gewidmeten  Gelehrten  das  Zutrauen  bewiesen  haben, 
sich  für  die  Ausbildung  und  den  Gehalt  der  Philosophie  auf 
sie  gänzlich  zu  verlassen,  —  wäre  es  hier  und  da,  wenn 
man  will,  nicht  so  sehr  Zutrauen,  als  Gleichgültigkeit  gegen 
die  Wissenschaft  selbst  gewesen,  und  das  Lehramt  derselben 
nur  traditionell  beibehalten  worden  (wie  man  denn,  soviel 
mir  bekannt  ist,  in  Frankreich  die  Lehrstühle  der  Meta- 
physik v/enigstens  hat  eingehen  lassen)  —  so  ist  ihnen 
vielfältig  jenes  Zutrauen  schlecht  vergolten  worden,  oder 
wo  man,  im  anderen  Fall,  Gleichgültigkeit  sehen  wollte, 
so  wäre  der  Erfolg,  das  Verkommen  gründlicher  Erkennt- 
nis, als  ein  Büßen  dieser  Gleichgültigkeit  anzusehen.  Zu- 
nächst scheint  wohl  die  Seichtigkeit  etwa  am  allerverträg- 
lichsten,  wenigstens  mit  äußerer  Ordnung  und  Ruhe  zu 
sein,  v/eil  sie  nicht  dazu  kommt,  die  Substanz  der  Sachen 
zu  berühren,  ja  nur  zu  ahnen;  sie  würde  somit  zunächst 
wenigstens  polizeilich  nichts  gegen  sich  haben,  wenn  nicht 
der  Staat  noch  das  Bedürfnis  tieferer  Bildung  und  Einsicht 
in  sich  schlösse  und  die  Befriedigung  desselben  von  der 
Wissenschaft  forderte.  Aber  die  Seichtigkeit  führt  von 
selbst  in  Rücksicht  des  Sittlichen,  des  Rechts  und  der 
Pflicht  überhaupt,  auf  diejenigen  Grundsätze,  welche  in 
dieser  Sphäre  das  Seichte  ausmachen,  auf  die  Prinzipien 
der  Sophisten,  die  wir  aus  Plato  so  entschieden  kennen 
lernen,  —  die  Prinzipien,  welche  das,  was  Recht  ist,  auf  die 
subjektiven  Zwecke  und  Meinungen,  auf  das  sub- 
jektive Gefühl  und  die  partikuläre  Überzeugung 
stellen,  — •  Prinzipien,  aus  welchen  die  Zerstörung  ebenso 
der  inneren  Sittlichkeit  und  des  rechtschaffenen  Gewissens, 
der  Liebe  und  des  Rechts  unter  den  Privatpersonen,  als  die 
Zerstörung  der  öffentlichen  Ordnung  und  der  Staatsgesetze 
folgt.  Die  Bedeutung,  welche  dergleichen  Erscheinungen 
für  die  Regierungen  gewinnen  müssen,  wird  sich  nicht 
etwa  durch  den  Titel  abweisen  lassen,  der  sich  auf  das  ge- 
schenkte Zutrauen  selbst  und  auf  die  Autorität  eines  Amtes 
stützte,  um  an  den  Staat  zu  fordern,  daß  er  das,  v/as  die 
substantielle  Quelle  von  den  Taten,  die  allgemeinen  Grund- 
sätze, verdirbt,  und  sogar  dessen  Trotz,  als  ob  es  sich  so 
gehörte,  gewähren  und  walten  lassen  solle.  Wem  Gott 
ein  Amt  gibt,  dem  gibt  er  auch  Verstand,  —  ist 
ein  alter  Scherz,  den  man  wohl  in  unseren  Zeiten  nicht 
gar  für  Ernst  wird  behaupten  wollen. 


1 2  Vorrede. 

In  der  Wichtigkeit  der  Art  und  Weise  des  Philoso- 
phierens, welche  durch  die  Umstände  bei  den  Regierungen 
aufgefrischt  worden  ist,  läßt  sich  das  Moment  des  Schutzes 
und  Vorschubs  nicht  verkennen,  dessen  das  Studium  der 
Philosophie  nach  vielen  anderen  Seiten  hin  bedürftig  ge- 
worden zu  sein  scheint.  Denn  liest  man  in  so  vielen  Pro- 
duktionen aus  dem  Fache  der  positiven  Wissenschaften,  in- 
gleichen der  religiösen  Erbaulichkeit  und  anderer  unbe- 
stimmter Literatur,  wie  darin  nicht  nur  die  vorhin  er- 
wähnte Verachtung  gegen  die  Philosophie  bezeigt  ist,  daß 
solche,  die  zugleich  beweisen,  daß  sie  in  der  Gedanken- 
bildung völlig  zurück  sind  und  Philosophie  ihnen  etwas 
ganz  Fremdes  ist,  doch  sie  als  etwas  bei  sich  Abgetanes 
behandeln,  —  sondern  wie  daselbst  ausdrücklich  gegen 
die  Philosophie  losgezogen  und  ihr  Inhalt,  die  begrei- 
fende Erkenntnis  Gottes  und  der  physischen  und  gei- 
stigen Natur,  die  Erkenntnis  der  Wahrheit  als  für 
eine  törichte,  ja  sündhafte  Anmaßung  erklärt,  wie  die 
Vernunft,  und  wieder  die  Vernunft,  und  in  unendlicher 
Wiederholung  die  Vernunft  angeklagt,  herabgesetzt  und 
verdammt,  —  oder  wie  wenigstens  zu  erkennen  gegeben 
wird,  wie  unbequem  bei  einem  großen  Teile  des  wissen- 
schaftlich sein  sollenden  Treibens  die  doch  unabwend- 
baren Ansprüche  des  Begriffes  fallen,  —  wenn  man,  sage 
ich,  dergleichen  Erscheinungen  vor  sich  hat,  so  möchte 
man  beinahe  dem  Gedanken  Raum  geben,  daß  von  dieser 
Seite  die  Tradition  nicht  mehr  ehrwürdig,  noch  hin- 
reichend wäre,  dem  philosophischen  Studium  die  Toleranz 
und  die  öffentliche  Existenz  zu  sichern*).  —  Die  zu  unserer 
Zeit  gäng  und  gäben  Deklamationen  und  Anmaßungen 
gegen   die   Philosophie  bieten   das   sonderbare   Schauspiel 


*)  Dergleichen  Ansichten  fielen  mir  bei  einem  Briefe  Job. 
V.  Müllers  ("Werke,  Teil  VIII,  S.  56)  ein,  wo  es  vom  Zustande 
Roms  im  Jahre  1803,  als  diese  Stadt  unter  französischer  Herr- 
schaft stand,  unter  anderem  heißt:  „Befragt,  wie  es  um  die  ilöent- 
lichen  Lehranstalten  stehe,  antwortete  ein  Professor:  On  les 
tolere  eomme  les  bordeis."  —  Die  sogenannte  Vernunftlehre, 
nämlich  die  Logik,  kann  man  wohl  sogar  noch  empfehlen 
hören,  etwa  mit  der  Überzeugung,  daß  man  sich  mit  ihr  als 
trockener  und  unfruchtbarer  Wissenschaft  entweder  ohnehin  nicht 
mehr  beschäftige,  oder  wenn  dies  hin  und  wieder  geschehe,  man 
in  ihr  nur  inhaltslose,  also  nichtsgebende  und  nichtsverderbeude 
Formeln  erhalte,  daß  somit  die  Empfehlung  auf  keinen  Fall 
schaden,  sowie  nichts  nützen  werde. 


I 


Von-ede.  13 

dar,  daß  sie  durch  jene  Seichtigkeit,  zu  der  diese  Wissen- 
schaft degradiert  worden  ist,  einerseits  ihr  Recht  haben, 
und  andererseits  selbst  in  diesem  Elemente  wurzeln,  gegen 
das  sie  undankbar  gerichtet  sind.  Denn  indem  jenes  sich 
so  nennende  Philosophieren  die  Erkenntnis  der  Wahrheit 
für  einen  törichten  Versuch  erklärt  hat,  hat  es,  wie  der 
Despotismus  der  Kaiser  Roms  Adel  und  Sklaven,  Tugend 
und  Laster,  Ehre  und  Unehre,  Kenntnis  und  Unwissenheit 
gleichgemacht  hat,  alle  Gedanken  und  alle  Stoffe  ni- 
velliert, —  so  daß  die  Begriffe  des  Wahren,  die  Gesetze 
des  Sittlichen  auch  weiter  nichts  sind  als  Meinungen  und 
subjektive  Überzeugungen,  und  die  verbrecherischsten 
Grundsätze  als  Überzeugungen  mit  jenen  Gesetzen  in 
gleiche  Würde  gestellt  sind,  und  daß  ebenso  jede  noch 
so  kahle  und  partikuläre  Objekte  und  noch  so  stroherne 
Materien  in  gleiche  Würde  gestellt  sind  mit  dem,  was  das 
Interesse  aller  denkenden  Menschen  und  die  Bänder  der 
sittlichen  Welt  ausmacht. 

Es  ist  darum  als  ein  Glück  für  die  Wissenschaft  zu 
achten,  —  in  der  Tat  ist  es,  wie  bemerkt,  die  Not- 
wendigkeit der  Sache,  — ■  daß  jenes  Philosophieren, 
das  sich  als  eine  Schulweisheit  in  sich  fortspinnen 
mochte,  sich  in  näheres  Verhältnis  mit  der  Wirklichkeit 
gesetzt  hat,  in  welcher  es  mit  den  Grundsätzen  der  Rechte 
und  der  Pflichten  Ernst  ist,  und  welche  im  Tage  des  Be- 
wußtseins derselben  lebt,  und  daß  es  somit  zum  öffent- 
lichen Bruche  gekommen  ist.  Es  ist  eben  diese  Stel- 
lung der  Philosophie  zur  Wirklichkeit,  welche  die 
Mißverständnisse  betreffen,  und  ich  kehre  hiermit  zu  dem 
zurück,  was  ich  vorhin  bemerkt  habe,  daß  die  Philosophie, 
weil  sie  das  Ergründen  des  Vernünftigen  ist,  eben 
damit  das  Erfassen  des  Gegenwärtigen  und  Wirk- 
lichen, nicht  das  Aufstellen  eines  Jenseitigen  ist,  das 
Gott  weiß  wo  sein  sollte,  —  oder  von  dem  man  in  der 
Tat  wohl  zu  sagen  weiß,  wo  es  ist,  nämlich  in  dem  Irrtum 
eines  einseitigen,  leeren  Räsonnierens.  Im  Verlaufe  der 
folgenden  Abhandlung  habe  ich  bemerkt,  daß  selbst  die 
platonische  Republik,  welche  als  das  Sprichwort  eines 
leeren  Ideals  gilt,  wesentlich  nichts  aufgefaßt  hat  als 
die  Natur  der  griechischen  Sittlichkeit,  und  daß  dann  im 
Bewußtsein  des  in  sie  einbrechenden  tieferen  Prinzips,  das 
an  ihr  unmittelbar  nur  als  eine  noch  unbefriedigte  Sehn- 
sucht und  damit  nur  als  Verderben  erscheinen  konnte, 
Plato   aus    eben   der    Sehnsucht   die   Hilfe   dagegen   hat 


1^  Von-ede. 

suchen  müssen,  aber  sie,  die  aus  der  Höhe  kommen  mußte, 
zunächst  nur  ,in  einer  äußeren  besonderen  Form  jener 
Sittlichkeit  suchen  konnte,  durch  welche  er  jenes  Ver- 
derben zu  gewältigen  sich  ausdachte,  und  wodurch  er 
ihren  tieferen  Trieb,  die  freie  unendliche  Persönlichkeit, 
gerade  am  tiefsten  verletzte.  Dadurch  aber  hat  er  sich 
als  der  große  Geist  bewiesen,  daß  eben  das  Prinzip,  um 
welches  sich  das  Unterscheidende  seiner  Idee  dreht,  die 
Angel  ist,  um  welche  die  bevorstehende  Umwälzung  der 
Welt  sich  gedreht  hat. 

Was  vernünftig  ist,  das  ist  wirklich; 
und  was  wirklich  ist,  das  ist  vernünftig. 

In  dieser  Überzeugung  steht  jedes  unbefangene  Be- 
wußtsein, wie  die  Philosophie,  und  hiervon  geht  diese 
ebenso  in  Betrachtung  des  geistigen  Universums  aus,  als 
des  natürlichen.  Wenn  die  Reflexion,  das  Gefühl  oder 
welche  Gestalt  das  subjektive  Bewußtsein  habe,  die  Gegen- 
wart für  ein  Eitles  ansieht,  über  sie  hinaus  ist  und  es 
besser  Vv^eiß,  so  befindet  es  sich  im  Eiteln,  und  weil  es 
Wirklichkeit  nur  in  der  Gegenwart  hat,  ist  es  so  selbst 
nur  Eitelkeit.  Wenn  umgekehrt  die  Idee  für  das  gilt,  was 
nur  so  eine  Idee,  eine  Vorstellung  in  einem  Meinen  ist, 
so  gewährt  hingegen  die  Philosophie  die  Einsicht,  daß 
nichts  wirklich  ist  als  die  Idee.  Darauf  kommt  es  dann 
an,  in  dem  Scheine  des  Zeitlichen  und  Vorübergehenden 
die  Substanz,  die  immanent,  und  das  Ewige,  das  gegen- 
wärtig ist,  zu  erkennen.  Denn  das  Vernünftige,  was  sy- 
nonym ist  mit  der  Idee,  indem  es  in  seiner  Wirklichkeit 
zugleich  in  die  äußere  Existenz  tritt,  tritt  in  einem  un- 
endlichen Reichtum  von  Formen,  Erscheinungen  und  Ge- 
staltungen hervor,  und  umzieht  seinen  Kern  mit  der  bunten 
Rinde,  in  welcher  das  Bewußtsein  zunächst  haust,  welche 
der  Begriff  erst  durchdringt,  um  den  inneren  Puls  zu 
finden  und  ihn  ebenso  in  den  äußeren  Gestaltungen  noch 
schlagend  zu  fühlen.  Die  unendlich  mannigfaltigen  Ver- 
hältnisse aber,  die  sich  in  dieser  Äußerlichkeit,  dui*ch  das 
Scheinen  des  Wesens  in  sie,  bilden,  dieses  unendliche  Ma- 
terial und  seine  Regulierung,  ist  nicht  Gegenstand  der 
Philosophie.  Sie  mischte  sich  damit  in  Dinge,  die  sie  nicht 
angehen;  guten  Rat  darüber  zu  erteilen,  kann  sie  sich  er- 
sparen; Plato  konnte  es  unterlassen,  den  Ammen  anzu- 
empfehlen, mit  den  Kindern  nie  stillezustehen,  sie  immer 
auf  den  Armen  zu  schaukeln,  ebenso  Fichte  die  Vervoll- 


i 


Vorrede.  15 

kommnung  der  Paßpolizei  bis  dahin,  wie  man  es  nannte, 
zu  konstruieren,  daß  von  den  Verdächtigen  nicht  nur 
das  Signalement  in  den  Paß  gesetzt,  sondern  das  Porträt 
darin  gemalt  werden  solle.  In  dergleichen  Ausführungen 
ist  VOR  Philosophie  keine  Spur  mehr  zu  sehen,  und  sie 
kann  dergleichen  Ultraweisheit  um  so  mehr  lassen,  als 
sie  über  diese  unendliche  Menge  von  Gegenständen  ge- 
rade am  liberalsten  sich  zeigen  soll.  Damit  wird  die 
Wissenschaft  auch  von  dem  Hasse,  den  die  Eitelkeit  des 
Besserwissens  auf  eine  Menge  von  Umständen  und  Insti- 
tutionen v/irft,  —  ein  Haß,  in  welchem  sich  die  Kleinlich- 
keit am  meisten  gefällt,  weil  sie  nur  dadurch  zu  einem 
Selbstgefühl  kommt,   —  sich  am   entferntesten  zeigen. 

So  soll  denn  diese  Abhandlung,  insofern  sie  die  Staats- 
wissenschaft enthält,  nichts  anderes  sein  als  der  Versuch, 
den  Staat  als  ein  in  sich  Vernünftiges  zu  begreifen 
und  darzustellen.  Als  philosophische  Schrift  muß  sie 
am  entferntesten  davon  sein,  einen  Staat,  Wie  er  sein 
soll,  konstruieren  zu  sollen;  die  Belehrung,  die  in  ihr 
liegen  kann,  kann  nicht  darauf  gehen,  den  Staat  zu  be- 
lehren, wie  er  sein  soll,  sondern  vielmehr,  wie  er,  das 
sittliche  Universum,   erkannt  werden  soll. 

'Idov  'PöSog,  löov  xal  ro  jT^drjfia. 
Hie  Rhodus,  hie  saltus. 

Das  was  ist  zu  begreifen,  ist  die  Aufgabe  der  Philo- 
sophie, denn  das,  was  ist,  ist  die  Vernunft.  Was  das 
Individuum  betrifft,  so  ist  ohnehin  jedes  ein  Sohn  seiner 
Zeit;  so  ist  auch  die  Philosophie,  ihre  Zeit  in  Gedanken 
erlaßt.  Es  ist  ebenso  töricht  zu  wähnen,  irgendeine 
Philosophie  gehe  über  ihre  gegenwärtige  Welt  hinaus,  als, 
ein  Individuum  überspringe  seine  Zeit,  springe  über  Rhodus 
hinaus.  Geht  seine  Theorie  in  der  Tat  drüber  hinaus, 
baut  es  sich  eine  Welt,  wie  sie  sein  soll,  so  existiert 
sie  wohl,  aber  nur  in  seinem  Meinen,  —  einem  weichen 
Elemente,   dem  sich  alles  Beliebige  einbilden  läßt. 

Mit  weniger  Veränderung  würde  jene  Redensart  lauten: 

Hier  ist  die  Rose,  hier  tanze. 

Was  zwischen  der  Vernunft  als  selbstbewußtem  Geiste 
und  der  Vernunft  als  vorhandener  Wirklichkeit  liegt,  was 
jene  Vernunft  von  dieser  scheidet  und  in  ihr  nicht  die  Be- 
friedigung finden  läßt,  ist  die  Fessel  irgend  eines  Ab- 
straktums,  das  nicht  zum  Begriffe  befreit  ist.     Die  Ver- 


1 6  Vorrede. 

nunft  als  die  Rose  im  Kreuze  der  Gegenwart  zu  erkennen 
und  damit  dieser  sich  zu  erfreuen,  diese  vernünftige  Ein- 
sicht ist  die  Versöhnung  mit  der  Wirklichkeit,  welche 
die  Philosophie  denen  gewährt,  an  die  einmal  die  innere 
Anforderung  ergangen  ist,  zu  begreifen,  und  in  dem, 
was  substantiell  ist,  ebenso  die  subjektive  Freiheit  zu 
erhalten,  sowie  mit  der  subjektiven  Freiheit  nicht  in  einem 
Besonderen  und  Zufälligen,  sondern  in  dem,  was  an  und 
für  sich  ist,  zu  stehen. 

Dies  ist  es  auch,  was  den  konkreteren  Sinn  dessen  aus- 
macht, was  oben!)  abstrakter  als  Einheit  der  Form  und 
des  Inhalts  bezeichnet  worden  ist,  denn  die  Form  in 
ihrer  konkretesten  Bedeutung  ist  die  Vernunft  als  begrei- 
fendes Erkennen,  und  der  Inhalt  die  Vernunft  als  das  sub- 
stantielle Wesen  der  sittlichen,  wie  der  natürlichen  Wirk- 
lichkeit; die  bewußte  Identität  von  beidem  ist  die  philoso- 
phische Idee.  —  Es  ist  ein  großer  Eigensinn,  der  Eigen- 
sinn, der  dem  Menschen  Ehre  macht,  nichts  in  der  Gesin- 
nung anerkennen  zu  wollen,  was  nicht  durch  den  Gedanken 
gerechtfertigt  ist,  —  und  dieser  Eigensinn  ist  das  Cha- 
rakteristische der  neueren  Zeit,  ohnehin  das  eigentüm- 
liche Prinzip  des  Protestantismus,  Was  Luther  als 
Glauben  im  Gefühl  und  im  Zeugnis  des  Geistes  begonnen, 
es  ist  dasselbe,  was  der  weiterhin  gereifte  Geist  im  Be- 
griffe zu  fassen,  und  so  in  der  Gegenwart  sich  zu  be- 
freien, und  dadurch  in  ihr  sich  zu  finden  bestrebt  ist.  Wie 
es  ein  berühmtes  Wort-)  geworden  ist,  daß  eine  halbe  Phi- 
losophie von  Gott  abführe,  —  und  es  ist  dieselbe  Halbheit, 
die  das  Erkennen  in  eine  Annäherung  zur  Wahrheit 
setzt,  —  die  wahre  Philosophie  aber  zu  Gott  führe,  so 
ist  es  dasselbe  mit  dem  Staate.  So  wie  die  Vernunft  sich 
nicht  mit  der  Annäherung,  als  welche  weder  kalt  noch  warm 
ist  und  darum  ausgespien  wird  3),  ebensowenig  begnügt  sie 
sich  mit  der  kalten  Verzweiflung,  die  zugibt,  daß  es  in  dieser 
Zeitlichkeit  wohl  schlecht  oder  höchstens  mittelmäßig  zu- 
gehe, aber  eben  in  ihr  nichts  Besseres  zu  haben  und  nur 
darum  Frieden  mit  der  Wirklichkeit  zu  halten  sei;  es  ist 
ein  wärmerer  Friede  mit  ihr,  den  die  Erkenntnis  ver- 
schafft. 

*)  S.  4  f.  —  2j  H.  meint  vermutlich  tlen  Ausspruch  Baco's  von 
V'erulam,  „leves  gustus  in  philosophia  movere  fortasse  ad  atheisminn, 
sed  pleniores  haustus  ad  religionem  reducere"'  (de  augm.  sc.  T,  5).  — 
3)  Apok.  3,  16. 


Vorrede.  17 

Um  noch  über  das  Belehren,  wie  die  Welt  sein 
soll,  ein  Wort  zu  sagen,  so  kommt  dazu  ohnehin  die  Philo- 
sophie immer  zu  spät.  Als  der  Gedanke  der  Welt  erscheint 
sie  erst  in  der  Zeit,  nachdem  die  Wirklichkeit  ihren  Bil- 
dungsprozeß vollendet  und  sich  fertig  gemacht  hat.  Dies, 
was  der  Begriff  lehrt,  zeigt  notwendig  ebenso  die  Ge- 
schichte, daß  erst  in  der  Reife  der  Wirklichkeit  das  Ideale 
dem  Realen  gegenüber  erscheint  und  jenes  sich  dieselbe 
Welt,  in  ihrer  Substanz  erfaßt,  in  Gestalt  eines  intellek- 
tuellen Reichs  erbaut.  Wenn  die  Philosophie  ihr  Grau  in 
Grau  malt,  dann  ist  eine  Gestalt  des  Lebens  alt  geworden, 
und  mit  Grau  in  Grau  läßt  sie  sich  nicht  verjüngen,  sondern 
nur  erkennen;  die  Eule  der  Minerva  beginnt  erst  mit 
der  einbrechenden  Dämmerung  ihren  Flug. 

Doch  es  ist  Zeit,  dieses  Vorwort  zu  schließen;  als 
Vorwort  kam  ihm  ohnehin  nur  zu,  äußerlich  und  subjektiv 
von  dem  Standpunkt  der  Schrift,  der  es  vorangeschickt  ist, 
zu  sprechen.  Soll  philosophisch  von  einem  Inhalte  ge- 
sprochen werden,  so  verträgt  er  nur  eine  wissenschaftliche, 
objektive  Behandlung,  wie  denn  auch  dem  Verfasser  Wider- 
rede anderer  Art  als  eine  wissenschaftliche  Abhandlung 
der  Sache  selbst,  nur  für  ein  subjektives  Nachwort  und 
beliebige  Versicherung  gelten  und  ihm  gleichgültig  sein 
muß. 

Berlin,  den  25.  Juni  1820. 


Hegel,  Rechtsphilosophie. 


Einleitung. 


§  1- 

Die  philosophische  Rechtswissenschaft  hat  die 
Idee  des  Rechts,  den  Begriff  des  Rechts  und  dessen  Ver- 
wirklichung zum  Gegenstande. 

Die  Philosophie  hat  es  mit  Ideen,  und  darum  nicht 
mit  dem,  was  man  bloße  Begriffe  zu  heißen  pflegt, 
zu  tun,  sie  zeigt  vielmehr  deren  Einseitigkeit  und  Un- 
wahrheit auf,  sowie,  daß  der  Begriff  (nicht  das,  was  l 
man  oft  so  nennen  hört,  aber  nur  eine  abstrakte  Yer- 
standesbestimmung  ist)  allein  es  ist,  was  Wirklich- 
keit hat  und  zwar  so,  daß  er  sich  diese  selbst  gibt. 
Alles,  was  nicht  diese  durch  den  Begriff  selbst  gesetzte 
Wirklichkeit  ist,  ist  vorübergehendes  Dasein,  äußer- 
liche Zufälligkeit,  Meinung,  wesenlose  Erscheinung,  Un- 
wahrheit, Täuschung  u.  s.  f.  Die  Gestaltung,  welche 
sich  der  Begriff  in  seiner  Verwirklichung  gibt,  ist  zur 
Erkenntnis  des  Begriffs  selbst,  das  andere,  von  der 
Form,  nur  als  Begriff  zu  sein,  unterschiedene  wesent- 
liche Moment  der  Idee. 

§  2. 

Die  Rechtswissenschaft  ist  ein  Teil  der  Philosophie. 
Sie  hat  daher  die  Idee,  als  welche  die  Vernunft  eines 
Gegenstandes  ist,  aus  dem  Begriffe  zu  entwickeln,  oder, 
was  dasselbe  ist,  der  eigenen  immanenten  Entwickelung 
der  Sache  selbst  zuzusehen.  Als  Teil  hat  sie  einen  be- 
stimmten Anfangspunkt,  welcher  das  Resultat  und 
die  Wahrheit  von  dem  ist,  was  vorhergeht,  und  was  den 
sogenannten  Beweis  desselben  ausmacht.  Der  Begriff 
des  Rechts  fällt  daher  seinem  Werden  nach  außerhalb 
der  Wissenschaft  des  Rechts,  seine  Deduktion  ist  hier  vor- 
ausgesetzt und  er  ist  als  gegeben  aufzunehmen. 


J 


Einleitung.    §  2.  19 

Nach  der  formellen,  nicht  philosophischen  Methode 
der  Wissenschaften  wird  zuerst  die  Definition,  we- 
nigstens um  der  äußeren  wissenschaftlichen  Form  wegen, 
gesucht  und  verlangt.  Der  positiven  Rechtswissenschaft 
kann  es  übrigens  auch  darum  nicht  sehr  zu  tun  sein,  da 
sie  vornehmlich  darauf  geht,  anzugeben,  was  Rechtens 
ist,  d.  h,  welches  die  besonderen  gesetzlichen  Bestim- 
mungen sind,  weswegen  man  zur  Warnung  sagte:  omnis 
definitio  in  jure  civili  periculosa.  Und  in  der  Tat,  je 
unzusammenhängender  und  widersprechender  in  sich  die 
Bestimmungen  eines  Rechtes  sind,  desto  weniger  sind 
Definitionen  in  demselben  möglich,  denn  diese  sollen 
vielmehr  allgemeine  Bestimmungen  enthalten,  diese  aber 
machen  unmittelbar  das  Widersprechende,  hier  das  Un- 
rechtliche, in  seiner  Blöße  sichtbar.  So  z.  B.  wäre  für 
das  römische  Recht  keine  Definition  vom  Menschen 
möglich,  denn  der  Sklave  ließe  sich  darunter  nicht  sub- 
sumieren, in  seinem  Stand  ist  jener  Begriff  vielmehr 
verletzt;  ebenso  perikulös  würde  die  Definition  von  Eigen- 
tum und  Eigentümer  für  viele  Verhältnisse  erscheinen. 
—  Die  Deduktion  aber  der  Definition  wird  etwa  aus 
der  Etymologie,  vornehmlich  daraus  geführt,  daß  sie 
aus  den  besonderen  Fällen  abstrahiert  und  dabei  das 
Gefühl  und  die  Vorstellung  der  Menschen  zum  Grunde 
gelegt  wird.  Die  Richtigkeit  der  Definition  wird  dann 
in  die  Übereinstimmung  mit  den  vorhandenen  Vorstel- 
lungen gesetzt.  Bei  dieser  Methode  wird  das,  was  allein 
wissenschaftlich  wesentlich  ist,  in  Ansehung  des  In- 
halts die  Notwendigkeit  der  Sache  an  und  für  sich 
selbst  (hier  des  Rechts),  in  Ansehung  der  Form  aber 
die  Natur  des  Begriffs,  beiseite  gestellt.  Vielmehr  ist 
in  der  philosophischen  Erkenntnis  die  Notwendigkeit 
eines  Begriffs  die  Hauptsache,  und  der  Gang,  als  Re- 
sultat, geworden  zu  sein,  sein  Beweis  und  Deduktion. 
Indem  so  sein  Inhalt  für  sich  notwendig  ist,  so  ist 
das  Zweite,  sich  umzusehen,  was  in  den  Vorstellungen 
und  in  der  Sprache  demselben  entspricht.  Wie  aber 
dieser  Begriff  für  sich  in  seiner  Wahrheit  und  wie  er 
in  der  Vorstellung  ist,  dies  kann  nicht  nur  verschieden 
voneinander,  sondern  muß  es  auch  der  Form  und  Gestalt 
nach  sein.  Wenn  jedoch  die  Vorstellung  nicht  auch  ihrem 
Inhalte  nach  falsch  ist,  kann  wohl  der  Begriff,  als  in 
ihr  enthalten  und,  seinem  Wesen  nach,  in  ihr  vorhanden 
aufgezeigt,  d.  h.  die  Vorstellung  zur  Form  des  Begriffs 


20  Einleitung.    §  3. 

erhoben  werden.  Aber  sie  ist  so  wenig  Maßstab  und 
Kriterium  des  für  sich  selbst  notwendigen  und  wahren 
Begriffs,  daß  sie  vielmehr  ihre  Wahrheit  aus  ihm  zu 
nehmen,  sich  aus  ihm  zu  berichtigen  und  zu  erkennen 
hat.  —  Wenn  aber  jene  Weise  des  Erkennens  mit  ihren 
Förmlichkeiten  von  Definitionen,  Schließen,  Beweisen 
u.  dergl.,  einerseits  mehr  oder  weniger  verschwunden 
ist,  so  ist  es  dagegen  ein  schlimmer  Ersatz,  den  sie 
durch  eine  andere  Manier  erhalten  hat,  nämlich  die 
Ideen  überhaupt,  so  auch  die  des  Rechts  und  dessen 
weiterer  Bestimmungen  als  Tatsachen  des  Bewußt- 
seins unmittelbar  aufzugreifen  und  zu  behaupten,  und 
das  natürliche  oder  ein  gesteigertes  Gefühl,  die  eigene 
Brust  und  die  Begeisterung  zur  Quelle  des  Rechts 
zu  machen.  Wenn  diese  Methode  die  bequemste  unter 
allen  ist,  so  ist  sie  zugleich  die  unphilosophischste,  — 
andere  Seiten  solcher  Ansicht  hier  nicht  zu  erwähnen, 
die  nicht  bloß  auf  das  Erkennen,  sondern  unmittelbar 
auf  das  Handeln  Beziehung  hat.  Wenn  die  erste  zwar 
formelle  Methode  doch  noch  die  Form  des  Begriffes  in 
der  Definition,  und  im  Beweise  die  Form  einer  Not- 
wendigkeit des  Erkennens  fordert,  so  macht  die  Manier 
des  unmittelbaren  Bewußtseins  und  Gefühls  die  Sub- 
jektivität, Zufälligkeit  und  Willkür  des  Wissens  zum 
Prinzip.  —  Worin  das  wissenschaftliche  Verfahren  der 
Philosophie  bestehe,  ist  hier  aus  der  philosophischen 
Logik  vorauszusetzen. 

§  3. 
Das  Recht  ist  positiv  überhaupt  a)  durch  die  Form, 
in  einem  Staate  Gültigkeit  zu  haben,  und  diese  gesetz- 
liche Autorität  ist  das  Prinzip  für  die  Kenntnis  desselben, 
die  positive  Rechtswissenschaft,  b)  Dem  Inhalte 
nach  erhält  dies  Recht  ein  positives  Element  a)  durch 
den  besonderen  Nationalcharakter  eines  Volkes,  die 
Stufe  seiner  geschichtlichen  Entwickelung  und  den  Zu- 
sammenhang aller  der  Verhältnisse,  die  der  Naturnot- 
wendigkeit angehören,  ß)  durch  die  Not^vendigkeit,  daß 
ein  System  eines  gesetzlichen  Rechts  die  Anwendung  des 
allgemeinen  Begriffes  auf  die  besondere  von  außen  sich 
gebende  Beschaffenheit  der  Gegenstände  und  Fälle  ent- 
halten muß,  —  eine  Anwendung,  die  nicht  mehr  spekula- 
tives Denken  und  Entwickelung  des  Begriffes,  sondern 
Subsumtion  des  Verstandes  ist;  y)  durch  die  für  die  Ent- 


Einleitung.    §  3.  21 

Scheidung   in   der   Wirklichkeit    erforderlichen   letzten 

Bestimmungen. 

Wenn  dem  positiven  Rechte  und  den  Gesetzen  das 
Gefühl  des  Herzens,  Neigung  und  Willkür  entgegen- 
gesetzt wird,  so  kann  es  wenigstens  nicht  die  Philo- 
sophie sein,  welche  solche  Autoritäten  anerkennt.  — 
Daß  Gewalt  und  Tyrannei  ein  Element  des  positiven 
Rechts  sein  kann,  ist  demselben  zufällig  und  geht  seine 
Natur  nicht  an.  Es  wird  späterhin  §§  211 — 214  die 
Stelle  aufgezeigt  werden,  wo  das  Recht  positiv  werden 
muß.  Hier  sind  die  daselbst  sich  ergeben  werdenden 
Bestimmungen  nur  angeführt  worden,  um  die  Grenze  des 
philosophischen  Rechts  zu  bezeichnen,  und  um  sogleich 
die  etwaige  Vorstellung  oder  gar  Forderung  zu  be- 
seitigen, als  ob  durch  dessen  systematische  Entwicke- 
lung  ein  positives  Gesetzbuch,  d.  i.  ein  solches,  wie  der 
wirkliche  Staat  eines  bedarf,  herauskommen  solle.  —  Daß 
das  Naturrecht  oder  das  philosophische  Recht  vom  posi- 
tiven verschieden  ist,  dies  darein  zu  verkehren,  daß 
sie  einander  entgegengesetzt  und  widerstreitend  sind, 
wäre  ein  großes  Mißverständnis;  jenes  ist  zu  diesem 
vielmehr  im  Verhältnis  von  Institutionen  zu  Pandekten. 
—  In  Ansehung  des  im  §  zuerst  genannten  geschicht- 
lichen Elements  im  positiven  Rechte  hat  Montesquieu 
die  wahrhafte  historische  Ansicht,  den  echt  philoso- 
phischen Standpunkt,  angegeben,  die  Gesetzgebung  über- 
haupt und  ihre  besonderen  Bestimmungen  nicht  isoliert 
und  abstrakt  zu  betrachten,  sondern  vielmehr  als  ab- 
hängiges Moment  einer  Totalität,  im  Zusammenhange 
mit  allen  übrigen  Bestimmungen,  welche  den  Charakter 
einer  Nation  und  einer  Zeit  ausmachen;  in  diesem  Zu- 
sammenhange erhalten  sie  ihre  wahrhafte  Bedeutung, 
sowie  damit  ihre  Rechtfertigung.  —  Das  in  der  Zeit  er- 
scheinende Hervortreten  und  Entwickeln  von  Rechts- 
bestimmungen zu  betrachten,  —  diese  rein  geschicht- 
liche Bemühung,  sowie  die  Erkenntnis  ihrer  verstän- 
digen Konsequenz,  die  aus  der  Vergleichung  derselben 
mit  bereits  vorhandenen  Rechtsverhältnissen  hervor- 
geht, hat  in  ihrer  eigenen  Sphäre  ihr  Verdienst  und  ihre 
Würdigung  und  steht  außer  dem  Verhältnis  mit  der  philo- 
sophischen Betrachtung,  insofern  nämlich  die  Entwicke- 
lung  aus  historischen  Gründen  sich  nicht  selbst  ver- 
wechselt mit  der  Entwickelung  aus  dem  Begriffe,  und 
die  geschichtliche  Erklärung  und  Rechtfertigung  nicht 


22  Einleitung.    §  3. 

zur  Bedeutung  einer  an  und  für  sich  gültigen  Recht- 
fertigung ausgedehnt  wird.  Dieser  Unterschied,  der  sehr 
wichtig  und  wohl  festzuhalten  ist,  ist  zugleich  sehr  ein- 
leuchtend; eine  Rechtsbestimmung  kann  sich  aus  den 
Umständen  und  vorhandenen  Rechts-Institutionen 
als  vollkommen  gegründet  und  konsequent  zeigen 
lassen  und  doch  an  und  für  sich  unrechtlich  und  un- 
vernünftig sein,  wie  eine  Menge  der  Bestimmungen  des 
römischen  Privatrechts,  die  aus  solchen  Institutionen, 
als  die  römische  väterliche  Gewalt,  der  römische  Ehe- 
stand, ganz  konsequent  flössen.  Es  seien  aber  auch 
Rechtsbestimmungen  rechtlich  und  vernünftig,  so  ist  es 
etwas  ganz  anderes,  dies  von  ihnen  aufzuzeigen,  was 
allein  durch  den  Begriff  wahrhaftig  geschehen  kann,  und 
ein  anderes,  das  Geschichtliche  ihres  Hervortretens  dar- 
zustellen, die  Umstände,  Fälle,  Bedürfnisse  und  Begeben- 
heiten, welche  ihre  Feststellung  herbeigeführt  haben. 
Ein  solches  Aufzeigen  und  (pragmatisches)  Erkennen 
aus  den  näheren  oder  entfernteren  geschichtlichen  Ur- 
sachen heißt  man  häufig:  Erklären  oder  noch  lieber 
Begreifen,  in  der  Meinung,  als  ob  durch  dieses  Auf- 
zeigen des  Geschichtlichen  alles  oder  vielmehr  das  We- 
sentliche, worauf  es  allein  ankomrae,  geschehe,  um  das 
Gesetz  oder  Rechts-Institution  zu  begreifen;  w^ährend 
vielmehr  das  wahrhaft  Wesentliche,  der  Begriff  der 
Sache,  dabei  gar  nicht  zur  Sprache  gekommen  ist.  — - 
Man  pflegt  so  auch  von  den  römischen,  germanischen 
Rechtsbegriffen,  von  Rechtsbegriffen,  vfie  sie  in 
diesem  oder  jenem  Gesetzbuche  bestimmt  seien,  zu 
sprechen,  während  dabei  nichts  von  Begriffen,  son- 
dern allein  allgemeine  Rechtsbestimmungen,  Ver- 
standessätze, Grundsätze,  Gesetze  u.  dergl.  vor- 
kommen. —  Durch  Hintansetzung  jenes  Unterschiedes 
gelingt  es,  den  Standpunkt  zu  verrücken  und  die  Frage 
nach  der  wahrhaften  Rechtfertigung  in  eine  Rechtferti- 
gung aus  Umständen,  Konsequenz  aus  Voraussetzungen, 
die  für  sich  etwa  ebensowenig  taugen  u.  s.  f.,  hinüber 
zu  spielen  und  überhaupt  das  Relative  an  die  Stelle 
des  Absoluten,  die  äußerliche  Erscheinung  an  die  Stelle 
der  Natur  der  Sache  zu  setzen.  Es  geschieht  der  ge- 
schichtlichen Rechtfertigung,  wenn  sie  das  äußerliche 
Entstehen  mit  dem  Entstehen  aus  dem  Begriffe  ver- 
wechselt, daß  sie  dann  bewußtlos  das  Gegenteil  dessen 
tut,   was   sie  beabsichtigt.     Wenn  das  Entstehen   einer 


Einleitung.    §  3.  23 

Institution  unter  ihren  bestimmten  Umständen  sich  voll- 
kommen zweckmäßig  und  notwendig  erweist  und  hier- 
mit das  geleistet  ist,  was  der  historische  Standpunkt 
erfordert,  so  folgt,  wenn  dies  für  eine  allgemeine  Recht- 
fertigung der  Sache  selbst  gelten  soll,  vielmehr  das 
Gegenteil,  daß  nämlich,  weil  solche  Umstände  nicht 
mehr  vorhanden  sind,  die  Institution  hiermit  vielmehr 
ihren  Sinn  und  ihr  Recht  verloren  hat.  So,  wenn  z.  B. 
für  Aufrechthaltung  der  Klöster  ihr  Verdienst  um 
Urbarmachung  und  Bevölkerung  von  Wüsteneien,  um 
Erhaltung  der  Gelehrsamkeit  durch  Unterricht  und  Ab- 
schreiben u.  s.  f.  geltend  gemacht  und  dies  Verdienst 
als  Grund  und  Bestimmung  für  ihr  Fortbestehen  an- 
gesehen worden  ist,  so  folgt  aus  demselben  vielmehr,  daß 
sie  unter  den  ganz  veränderten  Umständen,  insoweit 
wenigstens,  überflüssig  und  unzweckmäßig  geworden  sind. 

—  Indem  nun  die  geschichtliche  Bedeutung,  das  ge- 
schichtliche Aufzeigen  und  Begreiflichmachen  des  Ent- 
stehens, und  die  philosophische  Ansicht  gleichfalls  des 
Entstehens  und  Begriffes  der  Sache  in  verschiedenen 
Sphären  zu  Hause  sind,  so  können  sie  insofern  eine 
gleichgültige  Stellung  gegeneinander  behalten.  Indem 
sie  aber,  auch  im  Wissenschaftlichen,  diese  ruhige  Stel- 
lung nicht  immer  behalten,  so  führe  ich  noch  etwas 
diese  Berührung  Betreffendes  an,  wie  es  in  Herrn 
Hugosi)  Lehrbuch  der  Geschichte  des  römischen 
Rechts  erscheint,  woraus  zugleich  eine  weitere  Er- 
läuterung jener  Manier  des  Gegensatzes  hervorgehen 
kann.  Herr  Hugo  führt  daselbst  (5.  Auflage  §  53)  an, 
„daß  Cicero  die  zwölf  Tafeln,  mit  einem  Seitenblicke 
auf  die  Philosophen,  lobe",  ,,der  Philosoph  Phavorinus 
aber  sie  ganz  ebenso  behandle,  wie  seitdem  schon  mancher 
große  Philosoph  das  positive  Recht  behandelt  habe". 
Herr  Hugo  spricht  ebendaselbst  die  ein  für  allemal 
fertige  Erwiderung  auf  solche  Behandlung  in  dem  Grunde 
aus,  „weil  Phavorinus  die  zwölf  Tafeln  ebensowenig, 
als  diese  Philosophen  das  positive  Recht  verstanden". 

—  Was  die  Zurechtweisung  des  Philosophen  Phavo- 
rinus durch  den  Rechtsgelehrten  Sextus  Cäcilius 
bei  Gellius  noct.  Attic.  XX.  1.  betrifft,  so  spricht  sie 
zunächst  das  bleibende  und  wahrhafte  Prinzip  der  Recht- 


>)  Hugo,  Gustav  Eitter  von,  1764—1844,  seit  1788  Professor 
in  Göttingen. 


24l  Einleitung.    §  8. 

fertigung  des  seinem  Gehalte  nach  bloß  Positiven  aus. 
Non    ignoras,    sagt   Cäcilius    sehr    gut    zu    Phavorinus, 
legum  opjmrtunitates  et  medelas  pro  temporum  moribus 
et  pro   rerum  publicarum  generibus,  ac   pro   utilitatum 
praesentium  rationibus,  proque  vitiorum,  quibus  meden- 
dum  est,  fervoribus,  mutari  ac  flecti,  neque  uno  statu 
consistere,    quin,    ut   facies    coeli    et   maris,    ita   rerum 
atque  fortunae  tempestatibus  varientur.    Quid  salubrius 
Visum  est  rogatione  illa  Stolonis  etc.,  quid  utilius  ple- 
biscito  Voconio  etc.,  quid  tam  necessarium  existimatum 
est,  quam  lex  Licinia  etc.?    Omnia  tarnen  haec  vhUteratn 
et  operta  sunt  civitatis  opulentia  etc.  —  Diese  Gesetze 
sind  insofern  positiv,  als  sie  ihre  Bedeutung  und  Zweck- 
mäßigkeit in  den  Umständen,  somit  nur  einen  histo- 
rischen Wert  überhaupt  haben,  deswegen  sind  sie  auch 
vergänglicher  Natur.    Die  Weisheit  der  Gesetzgeber  und 
Regierungen  in  dem,  was  sie  für  vorhandene  Umstände 
getan    und    für    Zeitverhältnisse    festgesetzt    haben,    ist 
eine  Sache  für  sich  und  gehört  der  Würdigung  der  Ge- 
schichte an,  von  der  sie  um  so  tiefer  anerkannt  werden 
wird,  je  mehr  eine  solche  Würdigung  von  philosophischen 
Gesichtspunkten   unterstützt   ist.   —   Von   den   ferneren 
Eechtfertigungen  der  zwölf  Tafeln  gegen  den  Phavo- 
rinus aber  will  ich  ein  Beispiel  anführen,  weil  Cäcilius 
dabei  den  unsterblichen  Betrug  der  Methode  des  Ver- 
standes und  seines  Räsonnierens  anbringt,   nämlich  für 
eine   schlechte   Sache   einen   guten   Grund   anzu- 
geben und  zu  meinen,  sie  damit  gerechtfertigt  zu  haben. 
Für    das   abscheuliche   Gesetz,    welches   dem   Gläubiger 
nach    den    verlaufenen    Fristen    das    Recht    gab,    den 
Schuldner  zu  töten  oder  ihn  als  Sklaven  zu  verkaufen, 
ja  wenn  der  Gläubiger  mehrere  waren,  von  ihm  sich 
Stücke  abzuschneiden  und  ihn  so  unter  sich  zu 
teilen,  und  zwar  so,  daß,  wenn  einer  zu  viel  oder  zu 
wenig  abgeschnitten  hätte,  ihm  kein  Rechtsnach- 
teil daraus  entstehen  sollte  (eine  Klausel,  welche 
Shakespeares  Shylock,  im  Kaufmann  von  Vene- 
dig, zugute  gekommen  und  von  ihm  dankbarst  akzeptiert 
worden  wäre),  —  führt  Cäcilius  den  guten  Grund  an, 
daß  Treu  und  Glauben  dadurch  um  so  mehr  gesichert 
[werden]  und  es  eben,  um  der  Abscheulichkeit  des  Ge- 
setzes willen,  nie  zur  Anwendung  desselben  habe  kommen 
sollen.      Seiner    Gedankenlosigkeit   entgeht   dabei    nicht 
bloß  die  Reflexion,  daß  eben  durch  diese  Bestimmung 


Einleitung.    §  3.  25 

jene  Absicht,  die  Sicherung  der  Treu  und  Glaubens,  ver- 
nichtet wird,  sondern  daß  er  selbst  unmittelbar  darauf 
ein  Beispiel  von  der  durch  seine  unmäßige  Strafe  ver- 
fehlten Wirkung  des  Gesetzes  über  die  falschen  Zeugnisse 
anführt.  —  Was  aber  Herr  Hugo  damit  will,  daß 
Phavorinus  das  Gesetz  nicht  verstanden  habe,  ist  nicht 
abzusehen;  jeder  Schulknabe  ist  wohl  fähig,  es  zu  ver- 
stehen, und  am  besten  würde  der  genannte  Shylock  auch 
noch  die  angeführte,  für  ihn  so  vorteilhafte  Klausel 
verstanden  haben;  —  unter  Verstehen  müßte  Herr 
Hugo  nur  diejenige  Bildung  des  Verstandes  meinen, 
welche  sich  bei  einem  solchen  Gesetze  durch  einen  guten 
Grund  beruhigt.  —  Ein  anderes  ebendaselbst  dem  Pha- 
vorinus vom  Cäcilius  nachgewiesenes  Nichtverstehen 
kann  übrigens  ein  Philosoph  schon,  ohne  eben  schamrot 
zu  werden,  eingestehen,  —  daß  nämlich  jumentum, 
v/elches  nur  „und  nicht  eine  arcera",  nach  dem  Gesetze 
einem  Kranken,  um  ihn  als  Zeugen  vor  Gericht  zu  bringen, 
zu  leisten  sei,  nicht  nur  ein  Pferd,  sondern  auch  eine 
Kutsche  oder  Wagen  bedeutet  haben  soll.  Cäcilius  konnte 
aus  dieser  gesetzlichen  Bestimmung  einen  weiteren  Be- 
weis von  der  Vortrefflichkeit  und  Genauigkeit  der  alten 
Gesetze  ziehen,  daß  sie  sich  nämlich  sogar  darauf  ein- 
ließen, für  die  Sistierung  eines  kranken  Zeugen  vor  Ge- 
richt die  Bestimmung  nicht  bloß  bis  zum  Unterschiede 
von  einem  Pferde  und  einem  Wagen,  sondern  von  Wagen 
und  Wagen,  einem  bedeckten  und  ausgefütterten,  wie 
Cäcilius  erläutert,  und  einem,  der  nicht  so  bequem  ist, 
—  zu  treiben.  —  Man  hätte  hiermit  die  Wahl  zwischen 
der  Härte  jenes  Gesetzes  oder  zwischen  der  Unbedeutend- 
heit solcher  Bestimmungen,  —  aber  die  Unbedeutendheit 
von  solchen  Sachen  und  vollends  von  den  gelehrten  Er- 
läuterungen derselben  auszusagen,  würde  einer  der 
größten  Verstöße  gegen  diese  und  andere  Gelehrsam- 
keit sein. 

Herr  Hugo  kommt  aber  auch  im  angeführten  Lehr- 
buche auf  die  Vernünftigkeit,  in  Ansehung  des  rö- 
mischen Rechts  zu  sprechen;  was  mir  davon  aufgestoßen 
ist,  ist  folgendes.  Nachdem  derselbe  in  der  Abhandlung 
des  Zeitraums  von  Entstehung  des  Staats  bis  auf 
die  zwölf  Tafeln  §  38  und  39  gesagt,  „daß  man  (in 
Rom)  viele  Bedürfnisse  gehabt  und  genötigt  war,  zu  ar- 
beiten, wobei  man  als  Gehilfen  Zug-  und  Lasttiere 
brauchte,  wie  sie  bei  uns  vorkommen,  daß  der  Boden 


26  Einleitung.    §  3. 

eine  Abwechselung  von  Hügeln  und  Tälern  war,  und  die 
Stadt  auf  einem  Hügel  lag  u.  s.  w.  —  Anführungen,  durch 
welche  vielleicht  der  Sinn  Montesquieus  hat  erfüllt 
sein  sollen,  wodurch  man  aber  schwerlich  seinen  Geist 
getroffen  finden  wird,  —  so  führt  er  nun  §  40  zwar  an, 
„daß  der  rechtliche  Zustand  noch  sehr  weit  davon  ent- 
fernt war,  den  höchsten  Forderungen  der  Vernunft 
ein  Genüge  zu  tun",  (ganz  richtig;  das  römische  Fa- 
milienrecht, die  Sklaverei  u.  s.  f.  tut  auch  sehr  geringen 
Forderungen  der  Vernunft  kein  Genüge);  aber  bei  den 
folgenden  Zeiträumen  vergißt  Herr  Hugo  anzugeben,  in 
welchem  und  ob  in  irgend  einem  derselben  das  römische 
Recht  den  höchsten  Forderungen  der  Vernunft 
Genüge  geleistet  habe.  Jedoch  von  den  juristischen 
Klassikern,  in  dem  Zeiträume  der  höchsten  Ausbil- 
dung des  römischen  Rechts,  als  Wissenschaft, 
wird  §  289  gesagt,  „daß  man  schon  lange  bemerkt,  daß 
die  juristischen  Klassiker  durch  Philosophie  gebildet 
waren";  aber  „wenige  wissen  (durch  die  vielen  Auf- 
lagen des  Lehrbuchs  des  Herrn  Hugo  wissen  es  nun  doch 
mehrere),  daß  es  keine  Art  von  Schriftstellern  gibt, 
die  im  konsequenten  Schließen  aus  Grundsätzen  so  sehr 
verdienten,  den  Mathematikern  und  in  einer  ganz  auf- 
fallenden Eigenheit  der  Entwickelung  der  Begriffe  dem 
neueren  Schöpfer  der  Metaphysik  an  die  Seite  gesetzt 
zu  werden,  als  gerade  die  römischen  Rechtsgeiehrten: 
letzteres  belege  der  merkwürdige  Umstand,  daß  nir- 
gend so  viele  Trichotomien  vorkommen,  als  bei  den 
juristischen  Klassikern  und  bei  Kant".  —  Jene  von 
Leibniz  gerühmte  Konsequenz  ist  gewiß  eine  wesent- 
liche Eigenschaft  der  Rechtswissenschaft,  wie  der  Mathe- 
matik und  jeder  anderen  verständigen  Wissenschaft;  aber 
mit  der  Befriedigung  der  Forderungen  der  Vernunft  und 
mit  der  philosophischen  Wissenschaft  hat  diese  Ver- 
standes-Konsequenz  noch  nichts  zu  tun.  Außerdem  ist 
aber  wohl  die  Inkonsequenz  der  römischen  Rechts- 
gelehrten und  der  Prätoren  als  eine  ihrer  größten  Tu- 
genden zu  achten,  als  durch  welche  sie  von  ungerechten 
und  abscheulichen  Institutionen  abwichen,  aber  sich  ge- 
nötigt sahen,  callide  leere  Wortunterschiede  (wie  das, 
was  doch  auch  Erbschaft  war,  eine  Bonorum  possessio 
zu  nennen)  und  eine  selbst  alberne  Ausflucht  (und 
Albernheit  ist  gleichfalls  eine  Inkonsequenz)  zu  ersinnen, 
um  den  Buchstaben  der  Tafeln  zu  retten,  wie  durch  die 


Einleitung.    §  4.  27 

iictio,  vTiöxQioig,  eine  filia  sei  ein  filius  (Heinecc.  Antiq. 
Rom.,  IIb.  L,  tit,  IL,  §  24).  —  Possierlich  aber  ist  es, 
die  juristischen  Klassiker  wegen  einiger  trichotomi- 
scher  Einteilungen  —  vollends  nach  den  daselbst 
Anm.  5  angeführten  Beispielen  —  mit  Kant  zusammen- 
gestellt und  so  etwas  Entwickelung  der  Begriffe  geheißen 
zu  sehen. 


Der  Boden  des  Rechts  ist  überhaupt  das  Geistige, 
und  seine  nähere  Stelle  und  Ausgangspunkt  der  Wille, 
welcher  frei  ist,  so  daß  die  Freiheit  seine  Substanz  und 
Bestimmung  ausmacht,  und  das  Rechtssystem  das  Reich 
der  verwirklichten  Freiheit,  die  Welt  des  Geistes  aus  ihm 
selbst    hervorgebracht,   als   eine    zweite   Natur,    ist. 

In  Ansehung  der  Freiheit  des  Willens  kann  an  die 
vormalige  Verfahrungsart  des  Erkennens  erinnert  wer- 
den. Man  setzte  nämlich  die  Vorstellung  des  Wil- 
lens voraus  und  versuchte  aus  ihr  eine  Definition  des- 
selben herauszubringen  und  festzusetzen;  dann  wurde 
nach  der  Weise  der  vormaligen  empirischen  Psychologie 
aus  den  verschiedenen  Empfindungen  und  JErscheinun- 
gen  des  gewöhnlichen  Bewußtseins,  als  Reue,  Schuld 
u.  dergl.,  als  welche  sich  nur  aus  dem  freien  Willen 
ßollen  erklären  lassen,  der  sogenannte  Beweis  ge- 
führt, daß  der  Wille  frei  sei.  Bequemer  ist  es  aber, 
sich  kurzweg  daran  zu  halten,  daß  die  Freiheit  als 
eine  Tats-ache  des  Bewußtseins  gegeben  sei  und  an 
sie  geglaubt  werden  müsse.  Daß  der  Wille  frei  und 
was  Wille  und  Freiheit  ist  —  die  Deduktion  hiervon 
kann,  wie  schon  bemerkt  ist  (§  2),  allein  im  Zusammen- 
hange des  Ganzen  stattfinden.  Die  Grundzüge  dieser 
Prämisse,  —  daß  der  Geist  zunächst  Intelligenz  und 
daß  die  Bestimmungen,  durch  welche  sie  in  ihrer  Ent- 
wickelung fortgeht,  vom  Gefühl,  durch  Vorstellen, 
zum  Denken,  der  Weg  sind,  sich  als  Wille  hervor- 
zubringen, welcher,  als  der  praktische  Geist  überhaupt, 
die  nächste  Wahrheit  der  Intelligenz  ist,  —  habe  ich 
in  meiner  Encyklopädie  der  philosophischen 
Wissenschaften  (Heidelberg,  1817)  dargestellt  und 
hoffe,  deren  weitere  Ausführung  dereinst  geben  zu 
können.  Es  ist  mir  um  so  mehr  Bedürfnis,  dadurch,  wie 
ich  hoffe,  zu  gründlicherer  Erkenntnis  der  Natur  des 
Geistes  das  Meinige  beizutragen,  da  sich,  wie  daselbst 


28  Einleitung.    §  5. 

§  367  Anm,  ^)  bemerkt  ist,  nicht  leicht  eine  philo- 
sophische Wissenschaft  in  so  vernachlässigtem  und 
schlechtem  Zustande  befindet  als  die  Lehre  vom 
Geiste,  die  man  gewöhnlich  Psychologie  nennt.  —  In 
Ansehung  der  in  diesem  und  in  den  folgenden  §§  der 
Einleitung  angegebenen  Momente  des  Begriffes  des 
Willens,  welche  das  Resultat  jener  Prämisse  sind,  kann 
sich  übrigens  zum  Behuf  des  Vorstellens  auf  das  Selbst- 
bewußtsein eines  jeden  berufen  werden.  Jeder  wird 
zunächst  in  sich  finden,  von  allem,  was  es  sei,  abstra- 
hieren zu  können  und  ebenso  sich  selbst  bestimmen, 
jeden  Inhalt  durch  sich  in  sich  setzen  zu  können,  und 
ebenso  für  die  weiteren  Bestimmungen  das  Beispiel  in 
seinem  Selbstbewußtsein  haben. 

§5. 

Der  Wille  enthält  «)  das  Element  der  reinen  Un- 
bestimmtheit oder  der  reinen  Reflexion  des  Ich  in  sich, 
in  welcher  jede  Beschränkung,  jeder  durch  die  Natur,  die 
Bedürfnisse,  Begierden  und  Triebe  unmittelbar  vorhandener, 
oder,  wodurch  es  sei,  gegebener  und  bestimmter  Inhalt  auf- 
gelöst ist;  die  schrankenlose  Unendlichkeit  der  absoluten 
Abstraktion  oder  Allgemeinheit,  das  reine  Denken 
seiner  selbst. 

Diejenigen,  welche  das  Denken  als  ein  besonderes,  |li 
eigentümliches  Vermögen,  getrennt  vom  Willen,  als  lO 
einem  gleichfalls  eigentümlichen  Vermögen,  betrachten  |8 
und  weiter  gar  das  Denken  als  dem  Willen,  besonders  j^ 
dem  guten  Willen  für  nachteilig  halten,  zeigen  sogleich  ll 
von  vornherein,  daß  sie  gar  nichts  von  der  Natur  des  'I 
Willens  wissen;  eine  Bemerkung,  die  über  denselben  ;i 
Gegenstand  noch  öfters  zu  machen  sein  wird.  —  Wenn 
die  eine  hier  bestimmte  Seite  des  Willens,  —  diese  : 
absolute  Möglichkeit,  von  jeder  Bestimmung,  in  der 
Ich  mich  finde,  oder  die  Ich  in  mich  gesetzt  habe,  ab- 
strahieren zu  können,  die  Flucht  aus  allem  Inhalte  als 
einer  Schranke,  es  ist,  wozu  der  Wille  sich  bestimmt, 
oder  die  für  sich  von  der  Vorstellung  als  die  Freiheit 
festgehalten  wird,  so  ist  dies  die  negative  oder  die 
Freiheit  des  Verstandes.  —  Es  ist  die  Freiheit  der 
Leere,  welche  zur  wirklichen  Gestalt  und  zur   Leiden- 

*)  In  der  3.  Aufl.  §  444  (Lassonsche  Ausgabe,  Phil.  Bibl. 
Bd.  33,  S.  383  f.). 


Einleitung.    §  6.  29 

Schaft  erhoben  und  zwar,  bloß  theoretisch  bleibend, 
im  Religiösen  der  Fanatismus  der  indischen  reinen  Be- 
schauung, aber  zur  Wirklichkeit  sich  wendend,  im  Poli- 
tischen wie  im  Religiösen  der  Fanatismus  der  Zer- 
trümmerung aller  bestehenden  gesellschaftlichen  Ord- 
nung, und  die  Hinwegräumung  der  einer  Ordnung  ver- 
dächtigen Individuen,  wie  die  Vernichtung  jeder  sich 
wieder  hervortun  wollenden  Organisation  wird^).  Nur 
indem  er  etwas  zerstört,  hat  dieser  negative  Wille 
das  Gefühl  seines  Daseins;  er  meint  wohl  etwa  irgend 
einen  positiven  Zustand  zu  wollen,  z.  B.  den  Zustand 
allgemeiner  Gleichheit  oder  allgemeinen  religiösen 
Lebens,  aber  er  will  in  der  Tat  nicht  die  positive  Wirk- 
lichkeit desselben,  denn  diese  führt  sogleich  irgend  eine 
Ordnung,  eine  Besonderung  sowohl  von  Einrichtungen 
als  von  Individuen  herbei,  die  Besonderung  und  objektive 
Bestimmung  ist  es  aber,  aus  deren  Vernichtung  dieser 
negativen  Freiheit  ihr  Selbstbewußtsein  hervorgeht.  So 
kann  das,  was  sie  zu  wollen  meint,  für  sich  schon 
nur  eine  abstrakte  Vorstellung,  und  die  Verwirklichung 
derselben  nur  die  Furie  des  Zerstörens  sein. 


ß)  Ebenso  ist  Ich  das  Übergehen  aus  unterschieds- 
loser Unbestimmtheit  zur  Unterscheidung,  Bestimmen 
und  Setzen  einer  Bestimmtheit  als  eines  Inhalts  und  Gegen- 
stands. —  Dieser  Inhalt  sei  nun  weiter  als  durch  die 
Natur  gegeben  oder  aus  dem  Begriffe  des  Geistes  erzeugt. 
Durch  dies  Setzen  seiner  selbst  als  eines  bestimmten  tritt 
Ich  in  das  Dasein  überhaupt;  —  das  absolute  Moment 
der  Endlichkeit   oder  Besonderung   des   Ich. 

Dies  zweite  Moment  der  Bestimmung  ist  ebenso 
Negativität,  Aufheben  als  das  erste  —  es  ist  nämlich 
das  Aufheben  der  ersten  abstrakten  Negativität.  —  Wie 
das  Besondere  überhaupt  im  Allgemeinen,  so  ist  deswegen 
dies  zweite  Moment  im  ersten  schon  enthalten  und  nur 
ein  Setzen  dessen,  was  das  erste  schon  an  sich  ist; 
—  das  erste  Moment,  als  erstes  für  sich  nämlich  ist 
nicht  die  wahrhafte  Unendlichkeit,  oder  konkrete  All- 
gemeinheit, der  Begriff,  —  sondern  nur  ein  Bestimmtes, 
Einseitiges;  nämlich  weil  es  die  Abstraktion  von  aller 

*)  Vgl.  „Die  absolute  Freiheit  und  der  Schrecken".    Hegel, 
Phänomenologie  (Phil.  Bibl.  ßd.  114,  S.  378 ff.). 


30  Einleitung.    §  7. 

Bestimmtheit  ist,  ist  es  selbst  nicht  ohne  die  Bestimmt- 
heit; und  als  ein  Abstraktes,  Einseitiges  zu  sein,  macht 
seine  Bestimmtheit,  Mangelhaftigkeit  und  Endlichkeit  aus. 

—  Die  Unterscheidung  und  Bestimmung  der  zwei  ange- 
gebenen Momente  findet  sich  in  der  Fichteschen  Philo- 
sophie, ebenso  in  der  Kan tischen  u. s. f. ;  nur,  um  bei  der 
Fichteschen  Darstellung  stehen  zu  bleiben,  ist  Ich  als 
das  Unbegrenzte  (im  ersten  Satze  der  Fichteschen  Wissen- 
schaftslehre) ganz  nur  als  Positives  genommen  (so 
ist  es  die  Allgemeinheit  und  Identität  des  Verstandesj, 
so  daß  dieses  abstrakte  Ich  für  sich  das  Wahre  sein 
soll,  und  daß  darum  ferner  die  Beschränkung,  —  das 
Negative  überhaupt,  sei  es  als  eine  gegebene,  äußere 
Schranke  oder  als  eigene  Tätigkeit  des  Ich  —  (im 
zweiten  Satze)  hinzukommt.  —  Die  im  Allgemeinen 
oder  Identischen,  wie  im  Ich,  immanente  Negativität 
aufzufassen,  war  der  weitere  Schritt,  den  die  spekulative 
Philosophie  zu  machen  hatte;  —  ein  Bedürfnis,  von 
welchem  diejenigen  nichts  ahnen,  welche  den  Dualis- 
mus der  Unendlichkeit  und  Endlichkeit  nicht  einmal 
in  der  Immanenz  und  Abstraktion,  wie  Fichte,  auffassen. 

§  7. 
y)  Der  Wille  ist  die  Einheit  dieser  beiden  Momente;  — 
die  in  sich  reflektierte  und  dadurch  zur  Allgemeinheit 
zurückgeführte  Besonderheit,  —  Einzelnheit;  die 
Selbstbestimmung  des  Ich,  in  Einem  sich  als  das 
Negative  seiner  selbst,  nämlich  als  bestimmt,  beschränkt 
zu  setzen  und  bei  sich,  d.  i.  in  seiner  Identität  mit  sich 
und  Allgemeinheit  zu  bleiben,  und  in  der  Bestimmung  sich 
nur  mit  sich  selbst  zusammen  zu  schließen.  —  Ich  bestimmt 
sich,  insofern  es  die  Beziehung  der  Negativität  auf  sich 
selbst  ist;  als  diese  Beziehung  auf  sich  ist  es  ebenso 
gleichgültig  gegen  diese  Bestimmtheit,  weiß  sie  als  die 
seinige  und  ideelle,  als  eine  bloße  Möglichkeit,  durch 
die  es  nicht  gebunden  ist,  sondern  in  der  es  nur  ist,  weil 
es  sich  in  derselben  setzt.  —  Dies  ist  die  Freiheit  des 
Willens,  welche  seinen  Begriff  oder  Substantialität,  seine 
Schwere  so  ausmacht,  wie  die  Schwere  die  Substantialität 
des  Körpers. 

Jedes  Selbstbewußtsein  weiß  sich  als  Allgemeines, 

—  als  die  Möglichkeit,  von  allem  Bestimmten  zu  abstra- 
hieren, —  als  Besonderes  mit  einem  bestimmten  Gegen- 
stande, Inhalt,  Zweck.   Diese  beiden  Momente  sind  jedoch 


Einleitung.    §  8.  31 

nur  Abstraktionen;  das  Konkrete  und  Wahre  (und  alles 
Wahre  ist  konkret)  ist  die  Allgemeinheit,  welche  zum 
Gegensatze  das  Besondere  hat,  das  aber  durch  seine 
Reflexion  in  sich  mit  dem  Allgemeinen  ausgeglichen  ist. 
—  Diese  Einheit  ist  die  Einzel nh ei t,  aber  sie  nicht 
in  ihrer  Unmittelbarkeit  als  Eins,  wie  die  Einzelnheit 
in  der  Vorstellung  ist,  sondern  nach  ihrem  Begriffe 
(Encykl.  der  philosoph.  Wissenschaften,  §  112 — lll)i), 
• —  oder  diese  Einzelnheit  ist  eigentlich  nichts  anderes  als 
der  Begriff  selbst.  Jene  beiden  ersten  Momente,  daß  der 
Wille  von  allem  abstrahieren  könne  und  daß  er  auch 
bestimmt  sei  —  durch  sich  oder  anderes  —  werden 
leicht  zugegeben  und  gefaßt,  weil  sie  für  sich  un- 
wahre und  Verstandes-Momente  sind;  aber  das  dritte, 
das  Wahre  und  Spekulative  (und  alles  Wahre,  insofern 
es  begriffen  wird,  kann  nur  spekulativ  gedacht  werden) 
ist  es,  in  welches  einzugehen  sich  der  Verstand  weigert, 
der  immer  gerade  den  Begriff  das  Unbegreifliche  nennt. 
Der  Erweis  und  die  nähere  Erörterung  dieses  Innersten 
der  Spekulation,  der  Unendlichkeit,  als  sich  auf  sich 
beziehender  Negativität,  dieses  letzten  Quellpunktes  aller 
Tätigkeit,  Lebens  und  Bewußtseins,  gehört  der  Logik 
als  der  rein  spekulativen  Philosophie  an.  —  Es  kann 
hier  nur  noch  bemerklich  gemacht  werden,  daß  wenn 
man  so  spricht:  der  Wille  ist  allgemein,  der  Wille 
bestimmt  sich,  man  den  Willen  schon  als  vorausgesetztes 
Subjekt,  oder  Substrat  ausdrückt,  aber  er  ist  nicht 
ein  Fertiges  und  Allgemeines  vor  seinem  Bestimmen 
und  vor  dem  Aufheben  und  der  Idealität  dieses  Be- 
stimmens, sondern  er  ist  erst  Wille  als  diese  sich  in 
sich  vermittelnde  Tätigkeit  und  Rückkehr  in  sich. 


Das  weiter  Bestimmte  der  Besonderung  (/?.  §  8) 
lacht  den  Unterschied  der  Formen  des  Willens  aus; 
,)  insofern  die  Bestim.mtheit  der  formelle  Gegensatz  von 
Subjektivem  und  Objektivem  als  äußerlicher  unmittel- 
•arer  Existenz  ist,  so  ist  dies  der  formale  Wille  als 
ielbstbewußtsein,  welcher  eine  Außenwelt  vorfindet,  und 
,1s  die  in  der  Bestimmtheit  in  sich  zurückkehrende  Einzeln- 
leit  der  Prozeß  ist,  den  subjektiven  Zweck  durch  die 
/"ermittelung  der  Tätigkeit  und  eines  Mittels  in  die  Ob- 

1)  In  der  3.  Aufl.  §§  163-165  (Phil.  Bibl.  Bd.  33,  S.  159 ff.). 


32  Einleitung.    §  9—10. 

jektivität  zu  übersetzen.  Im  Geiste,  wie  er  an  und 
für  sich  ist,  als  in  welchem  die  Bestimmtheit  schlechthin 
die  seinige  und  wahrhafte  ist  (Encyklop.,  §363)i),  macht 
das  Verhältnis  des  Bewußtseins  nur  die  Seite  der  Er- 
scheinung des  Willens  aus,  welche  hier  nicht  mehr  für 
sich  in  Betrachtung  kommt. 

§9. 
b)  Insofern  die  Willensbestimmungen  die  eigenen  des 
Willens,  seine  in  sich  reflektierte  Besonderung  überhaupt 
sind,  sind  sie  Inhalt.  Dieser  Inhalt  als  Inhalt  des  Willens 
ist  ihm  nach  der  in  a)  angegebenen  Form  Zweck,  teils 
innerlicher  oder  subjektiver  in  dem  vorstellenden  Wollen, 
teils  durch  die  Vermittelung  der  das  Subjektive  in  die 
Objektivität  übersetzenden  Tätigkeit  verwirklichter,  aus- 
geführter Zweck. 

§  10. 
Dieser  Inhalt  oder  die  unterschiedene  Willensbestim- 
mung ist  zunächst  unmittelbar.  So  ist  der  Wille  nur 
an  sich  frei,  oder  für  uns,  oder  es  ist  überhaupt  der 
Wille  in  seinem  Begriffe.  Erst  indem  der  Wille  sich 
selbst  zum  Gegenstande  hat,  ist  er  für  sich,  was  er  an 
sich  ist. 

Die  Endlichkeit  besteht  nach  dieser  Bestimmung 
darin,  daß,  w^as  etwas  an  sich  oder  seinem  Begriffe 
nach  ist,  eine  von  dem  verschiedene  Existenz  oder  Er- 
scheinung ist,  was  es  für  sich  ist;  so  ist  z.  B.  das 
abstrakte  Außereinander  der  Natur  an  sich  der  Raum, 
für  sich  aber  die  Zeit.  Es  ist  hierüber  das  Gedoppelte 
zu  bemerken,  erstens,  daß,  weil  das  Wahre  nur  die 
Idee  ist,  wenn  man  einen  Gegenstand  oder  Bestimmung, 
nur  wie  er  an  sich  oder  im  Begriffe  ist,  erfaßt,  man 
ihn  noch  nicht  in  seiner  Wahrheit  hat;  alsdann,  daß 
etwas,  wie  es  als  Begriff  oder  an  sich  ist,  gleichfalls 
existiert  und  diese  Existenz  eine  eigene  Gestalt  des 
Gegenstandes  ist  (wie  vorhin  der  Raum);  die  Trennung 
des  Ansich-  und  Fürsichseins,  die  im  Endlichen  vorhanden 
ist,  macht  zugleich  sein  bloßes  Dasein  oder  Erschei- 
nung aus  —  (wie  unmittelbar  [hernach]  ein  Beispiel  am 
natürlichen  Willen  und  dann  [am]  formellen  Rechte  u.  s.  f. 
vorkommen  wird).    Der  Verstand  bleibt  bei  dem  bloßen 

»)  In  der  3.  Aufl.  §  440  (Phil.  Bibl.  Bd.  33,  S.  380). 


Einleitung.    §  11—12.  33 

An  sichsein  stehen  und  nennt  so  die  Freiheit  nach  diesem 
Ansichsein  ein  Vermögen,  wie  sie  denn  so  in  der 
Tat  nur  die  Möglichkeit  ist.  Aber  er  sieht  diese  Be- 
stimmung als  absolute  und  perennierende  an  und  nimmt 
ihre  Beziehung  auf  das,  was  sie  will,  überhaupt  auf 
ihre  Realität,  nur  für  eine  Anwendung  auf  einen  ge- 
gebenen Stoff  an,  die  nicht  zum  Wesen  der  Freiheit 
selbst  gehöre;  er  hat  es  auf  diese  Weise  nur  mit  dem 
Abstraktum,  nicht  mit  ihrer  Idee  und  Wahrheit  zu  tun. 

§  11- 

Der  nur  erst  an  sich  freie  Wille  ist  der  unmittel- 
lare  oder  natürliche  Wille,  Die  Bestimmungen  des 
Jnterschieds,  welchen  der  sich  selbst  bestimmende  Begriff 
m  Willen  setzt,  erscheinen  im  unmittelbaren  Willen  als  ein 
inmittelbar  vorhandener  Inhalt,  —  es  sind  die  Triebe, 
Begierden,  Neigungen,  durch  die  sich  der  Wille  von 
^Tatur  bestimmt  findet.  Dieser  Inhalt  nebst  dessen  ent- 
i^ickelten  Bestimmungen  kommt  zwar  von  der  Vernünftig- 
:eit  des  Willens  her  und  ist  so  an  sich  vernünftig,  aber 
n  solche  Form  der  Unmittelbarkeit  ausgelassen,  ist  er 
loch  nicht  in  Form  der  Vernünftigkeit.  Dieser  Inhalt 
3t  zwar  für  mich  der  Mein  ige  überhaupt;  diese  Form 
md  jener  Inhalt  sind  aber  noch  verschieden,  —  der 
Ville  ist  so  in  sich  endlicher  Wille. 

Die  empirische  Psychologie  erzählt  und  beschreibt 
diese  Triebe  und  Neigungen  und  die  sich  darauf  gründen- 
den Bedürfnisse,  wie  sie  dieselben  in  der  Erfahrung  vor- 
findet oder  vorzufinden  vermeint,  und  sucht  auf  die  ge- 
wöhnliche Weise  diesen  gegebenen  Stoff  zu  klassifi- 
zieren. Was  das  Objektive  dieser  Triebe  und  wie 
dasselbe  in  seiner  Wahrheit  ohne  die  Form  der  Un- 
vernünftigkeit, in  der  es  Trieb  ist,  und  wie  es  zugleich 
in  seiner  Existenz  gestaltet  ist,  davon  unten. 

§12. 

Das  System  dieses  Inhalts,  wie  es  sich  im  Willen  un- 
littelbar  vorfindet,  ist  nur  als  eine  Menge  und  Mannig- 
altigkeit  von  Trieben,  deren  jeder  der  Meinige  überhaupt 
leben  anderen,  und  zugleich  ein  Allgemeines  und  Un- 
bestimmtes ist,  das  vielerlei  Gegenstände  und  Weisen  der 
Befriedigung  hat.  [Dadurch]  Daß  der  Wille  sich  in  dieser 
:edoppelten   Unbestimmtheit   die  Form   der   Einzelnheit 

Hegel,  Eechtsphilosophie.  3 


34  Einleitung.    §  13—14. 

gibt  (§  7),  ist  er  beschließend  und  nur  als  beschließender 

Wille  überhaupt  ist  er  wirklicher  Wille. 

Statt  etwas  beschließen,  d.  h.  die  Unbestimmt- 
heit, in  welcher  der  eine  sowohl  als  der  andere  Inhalt 
zunächst  nur  ein  möglicher  ist,  aufheben,  hat  unsere 
Sprache  auch  den  Ausdruck:  sich  entschließen,  indem 
die  Unbestimmtheit  des  Willens  selbst,  als  das  Neutrale, 
aber  unendlich  Befruchtete,  der  Urkeim  alles  Daseins, 
in  sich  die  Bestimmungen  und  Zwecke  enthält  und  sie 
nur  aus  sich  hervorbringt. 

§  13. 
Durch  das  Beschließen  setzt  der  Wille  sich  als  Willen 
eines  bestimmten  Individuums  und  als  sich  hinaus  gegen 
anderes  unterscheidenden.  Außer  dieser  Endlichkeit  als 
Bewußtsein  (§  8)  ist  der  unmittelbare  Wille  aber  um  des 
Unterschieds  seiner  Form  und  seines  Inhalts  (§  11)  willen 
formell,  es  kommt  ihm  nur  das  abstrakte  Beschließen, 
als  solches,  zu,  und  der  Inhalt  ist  noch  nicht  der  Inhalt 
und  das  Werk  seiner  Freiheit. 

Der  Intelligenz  als  denkend  bleibt  der  Gegenstand 
und  Inhalt  Allgemeines,  sie  selbst  verhält  sich  als 
allgemeine  Tätigkeit.  Im  Willen  hat  das  Allgemeine 
zugleich  wesentlich  die  Bedeutung  des  Meinigen,  als 
Einzelnheit,  und  im  unmittelbaren  d.  i.  formellen 
Willen,  als  der  abstrakten,  noch  nicht  mit  seiner  freien 
Allgemeinheit  erfüllten  Einzelnheit.  Im  Willen  beginnt 
daher  die  eigene  Endlichkeit  der  Intelligenz,  und 
nur  dadurch,  daß  der  Wille  sich  zum  Denken  wieder 
erhebt  und  seinen  Zwecken  die  immanente  Allgemein- 
heit gibt,  hebt  er  den  Unterschied  der  Form  und  des 
Inhalts  auf  und  macht  sich  zum  objektiven,  unendlichen 
Willen.  Diejenigen  verstehen  daher  wenig  von  der  Natur 
des  Denkens  und  Wollens,  welche  meinen,  im  Willen 
überhaupt  sei  der  Mensch  unendlich,  im  Denken  aber 
sei  er  oder  gar  die  Vernunft  beschränkt.  Insofern 
Denken  und  Wollen  noch  unterschieden  sind,  ist  viel- 
mehr das  Umgekehrte  das  Wahre,  und  die  denkende 
Vernunft  ist  als  Wille  dies,  sich  zur  Endlichkeit  zu 
entschließen. 

§14. 

Der  endliche  Wille,  als  nur  nach  der  Seite  der  Form 
sich  in  sich  reflektierendes  und  bei  sich   selbst  seiendes 


II 


Einleitung.    §  35.  35. 

unendliches  Ich  (§  5)  steht  über  dem  Inhalt,  den 
unterschiedenen  Trieben,  sowie  über  den  weiteren  einzelnen 
Arten  ihrer  Verwirklichung  und  Befriedigung,  wie  es  zu- 
gleich, als  nur  formell  unendliches,  an  diesen  Inhalt,  als 
die  Bestimmungen  seiner  Natur  und  seiner  äußeren  Wirk- 
lichkeit, jedoch  als  unbestimmtes  nicht  an  diesen  oder  jenen 
Inhalt,  gebunden  ist  (§  6  u,  11).  Derselbe  ist  insofern 
für  die  Reflexion  des  Ich  in  sich  nur  ein  Möglicher,  als 
der  Meinige  zu  sein  oder  auch  nicht,  und  Ich  die  Möglich- 
keit, mich  zu  diesem  oder  einem  anderen  zu  bestimmen, 
—  unter  diesen  für  dasselbe  nach  dieser  Seite  äußeren 
Bestimmungen  zu  wählen. 

§15. 

Die  Freiheit  des  Willens  ist  nach  dieser  Bestimmung 
Willkür  —  in  welcher  dies  beides  enthalten  ist,  die 
freie  von  allem  abstrahierende  Reflexion  und  die  Ab- 
hängigkeit von  dem  innerlich  oder  äußerlich  gegebenen 
Inhalte  und  Stoffe,  Weil  dieser  an  sich  als  Zweck  not- 
wendige Inhalt  zugleich  gegen  jene  Reflexion  als  Mög- 
licher bestimmt  ist,  so  ist  die  Willkür  die  Zufälligkeit, 
wie  sie  als  Wille  ist. 

Die  gewöhnlichste  Vorstellung,  die  man  bei  der  Frei- 
heit hat,  ist  die  der  Willkür,  — •  die  Mitte  der  Reflexion 
zwischen  dem  Willen  als  bloß  durch  die  natürlichen 
Triebe  bestimmt,  und  dem  an  und  für  sich  freien  Willen. 
Wenn  man  sagen  hört,  die  Freiheit  überhaupt  sei  dies, 
daß  man  tun  könne,  was  man  wolle,  so  kann  solche 
Vorstellung  nur  für  gänzlichen  Mangel  an  Bildung  des 
Gedankens  genommen  werden,  in  welcher  sich  von  dem, 
was  der  an  und  für  sich  freie  Wille,  Recht,  Sittlichkeit 
u.  s.  f.  ist,  noch  keine  Ahnung  findet.  Die  Reflexion, 
die  formelle  Allgemeinheit  und  Einheit  des  Selbst- 
bewußtseins, ist  die  abstrakte  Gewißheit  des  Willens 
von  seiner  Freiheit,  aber  sie  ist  noch  nicht  die  Wahr- 
heit derselben,  weil  sie  sich  noch  nicht  selbst  zum 
Inhalte  und  Zwecke  hat,  die  subjektive  Seite  also  noch 
ein  anderes  ist  als  die  gegenständliche;  der  Inhalt  dieser 
Selbstbestimmung  bleibt  deswegen  auch  schlechthin  nur 
ein  Endliches.  Die  Willkür  ist,  statt  der  Wille  in  seiner 
Wahrheit  zu  sein,  vielmehr  der  Wille  als  der  Wider- 
■  Spruch.  — -  In  dem  zur  Zeit  der  Wolf  ischen  Metaphysik 
vornehmlich    geführten    Streit,    ob    der    Wille    wirklich 


36  Einleitung.    §  16—17. 

frei,  oder  ob  das  Wissen  von  seiner  Freiheit  nur  eine 
Täuschung  sei,  war  es  die  Willkür,  die  man  vor  Augen 
gehabt.  Der  Determinismus  hat  mit  Recht  der  Ge- 
wißheit jener  abstrakten  Selbstbestimmung  den  Inhalt 
entgegengehalten,  der  als  ein  vorgefundener  nicht 
in  jener  Gewißheit  enthalten  und  daher  ihr  von  außen 
kommt,  obgleich  dies  Außen  der  Trieb,  Vorstellung,  über- 
haupt das,  auf  welche  Weise  es  sei,  so  erfüllte  Bewußt- 
sein ist,  daß  der  Inhalt  nicht  das  Eigene  der  selbst  be- 
stimmenden Tätigkeit  als  solcher  ist.  Indem  hiermit  nur 
das  formelle  Element  der  freien  Selbstbestimmung  in 
der  Willkür  immanent,  das  andere  Element  aber  ein  ihr 
gegebenes  ist,  so  kann  die  Willkür  allerdings,  wenn  sie 
die  Freiheit  sein  soll,  eine  Täuschung  genannt  werden. 
Die  Freiheit  in  aller  Reflexionsphilosophie,  wie  in  der 
Kantischen  und  dann  der  Friesischen  vollendeten 
Verseichtigung  der  Kantischen,  ist  nichts  anders,  als 
jene  formale  Selbsttätigkeit. 

§  16. 

Das  im  Entschluß  Gewählte  (§  14)  kann  der  Wille 
ebenso  wieder  aufgeben  (§  5).  Mit  dieser  Möglichkeit  aber, 
ebenso  über  jeden  anderen  Inhalt,  den  er  an  die  Stelle  setzt, 
und  ins  Unendliche  fort  hinauszugehen,  kommt  er  nicht 
über  die  Endlichkeit  hinaus,  weil  jeder  solcher  Inhalt  ein 
von  der  Form  Verschiedenes,  hiermit  ein  Endliches,  und 
das  Entgegengesetzte  der  Bestimmtheit,  die  Unbestimmt- 
heit, —  Unentschlossenheit  oder  Abstraktion,  —  nur  das 
andere  gleichfalls  einseitige  Moment  ist. 

§  IT. 

Der  Widerspruch,  welcher  die  Willkür  ist  (§  15),  hat 
als  Dialektik  der  Triebe  und  Neigungen  die  Erschei- 
nung, daß  sie  sich  gegenseitig  stören,  die  Befriedigung 
des  einen  die  Unterordnung  oder  Aufopferung  der  Befrie- 
digung des  anderen  fordert  u.  s.  f.;  und  indem  der  Trieb 
nur  einfache  Richtung  seiner  Bestimmtheit  ist,  das  Maß 
somit  nicht  in  sich  selbst  hat,  so  ist  dies  unterordnende  oder 
aufopfernde  Bestimmen  das  zufällige  Entscheiden  der  Will- 
kür, sie  verfahre  nun  dabei  mit  berechnendem  Verstände, 
bei  welchem  Triebe  mehr  Befriedigung  zu  gewinnen  sei, 
oder   nach   welcher  anderen   beliebigen  Rücksicht. 


Einleitung.    §  18—20.  37 

§  18. 

In  Ansehung  der  Beurteilung  der  Triebe  hat  die 
Dialektik  die  Erscheinung,  daß  als  immanent,  somit 
positiv,  die  Bestimmungen  des  unmittelbaren  Willens  gut 
sind;  der  Mensch  heißt  so  von  Natur  gut.  Insofern 
sie  aber  Naturbestimmungen,  also  der  Freiheit  und 
dem  Begriffe  des  Geistes  überhaupt  entgegen  und  das  Ne- 
gative sind,  sind  sie  auszurotten;  der  Mensch  heißt 
so  von  Natur  böse.  Das  Entscheidende  für  die  eine  oder 
die  andere  Behauptung  ist  auf  diesem  Standpunkt«  gleich- 
falls die  subjektive  Willkür. 

§  19- 
In  der  Forderung  der  Reinigung  der  Triebe  liegt 
die  allgemeine  Vorstellung,  daß  sie  von  der  Form  ihrer 
unmittelbaren  Naturbestimmtheit  und  von  dem  Subjektiven 
und  Zufälligen  des  Inhalts  befreit  und  auf  ihr  substantielles 
Wesen  zurückgeführt  vv^erden.  Das  Wahrhafte  dieser  un- 
bestimmten Forderung  ist,  daß  die  Triebe  als  das  ver- 
nünftige System  der  Willensbestimmung  seien;  sie  so  aus 
dem  Begriffe  zu  fassen,  ist  der  Inhalt  der  Wissenschaft 
des  Rechts. 

Der  Inhalt  dieser  Wissenschaft  kann  nach  allen 
seinen  einzelnen  Momenten  z.  B.  Recht,  Eigentum,  Mo- 
ralität,  Familie,  Staat  u.  s.  f.  in  der  Form  vorgetragen 
werden,  daß  der  Mensch  von  Natur  den  Trieb  zum 
Recht,  auch  den  Trieb  zum  Eigentum,  zur  Moralität, 
auch  den  Trieb  der  Geschlechterliebe,  den  Trieb  zur 
Geselligkeit  u.  s.  f.  habe.  Will  man  statt  dieser  Form 
der  empirischen  Psychologie  vornehmer  Weise  eine  phi- 
losophische Gestalt  haben,  so  ist  diese  nach  dem,  was, 
wie  vorhin  bemerkt  worden,  in  neuerer  Zeit  für  Philo- 
sophie gegolten  hat  und  noch  gilt,  wohlfeil  damit  zu 
bekommen,  daß  man  sagt,  der  Mensch  finde  als  Tat- 
sache seines  Bewußtseins  in  sich,  daß  er  das  Recht, 
Eigentum,  den  Staat  u.  s.  i.  wolle.  Weiterhin  wird  eine 
andere  Form  desselben  Inhalts,  der  hier  in  Gestalt  von 
Trieben  erscheint,  nämlich  die  von  Pflichten,  ein- 
treten. 

§  20. 
Die  auf  die  Triebe  sich  beziehende  Reflexion  bringt, 
als  sie  vorstellend,  berechnend,  sie  untereinander  und  dann 


38  Einleitung.    §  21. 

mit  ihren  Mitteln,  Folgen  u.  s.  f.  und  mit  einem  Ganzen  der 
Befriedigung  —  der  Glückseligkeit  —  vergleichend, 
die  formelle  Allgemeinheit  an  diesen  Stoff,  und  rei- 
niget denselben  auf  diese  äußerliche  Weise  von  seiner 
Roheit  und  Barbarei.  Dies  Hervortreiben  der  Allgemein- 
heit des  Denkens  ist  der  absolute  Wert  der  Bildung 
(vergl.  §  187). 

§21. 

Die  Wahrheit  aber  dieser  formellen,  für  sich  unbe- 
stimmten und  ihre  Bestimmtheit  an  jenem  Stoffe  vor- 
findenden Allgemeinheit,  ist  die  sich  selbst  bestim- 
mende Allgemeinheit,  der  Wille,  die  Freiheit.  In- 
dem er  die  Allgemeinheit,  sich  selbst,  als  die  unendliche 
Form  zu  seinem  Inhalte,  Gegenstande  und  Zweck  hat,  ist 
er  nicht  nur  der  an  sich,  sondern  ebenso  der  für  sich 
freie  Wille  —  die  wahrhafte  Idee. 

Das  Selbstbewußtsein  des  Willens,  als  Begierde, 
Trieb  ist  sinnlich,  wie  das  Sinnliche  überhaupt  die 
Äußerlichkeit  und  damit  das  Außersichsein  des  Selbst- 
bewußtseins bezeichnet.  Der  reflektierende  Wille 
hat  die  zwei  Elemente,  jenes  Sinnliche  und  die  denkende 
Allgemeinheit;  der  an  und  für  sich  seiende  Wille 
hat  den  Willen  selbst  als  solchen,  hiermit  sich  in 
seiner  reinen  Allgemeinheit,  zu  seinem  Gegenstande, 
—  der  Allgemeinheit,  welche  eben  dies  ist,  daß  die  Un- 
mittelbarkeit der  Natürlichkeit  und  die  Partiku- 
larität,  mit  welcher  ebenso  die  Natürlichkeit  behaftet, 
als  sie  von  der  Reflexion  hervorgebracht  wird,  in  ihr  auf- 
gehoben ist.  Dies  Aufheben  aber  und  Erheben  ins  All- 
gemeine ist  das,  was  die  Tätigkeit  des  Denkens  heißt 
Das  Selbstbewußtsein,  das  seinen  Gegenstand,  Inhalt 
und  Zweck  bis  zu  dieser  Allgemeinheit  reinigt  und  er- 
hebt, tut  dies  als  das  im  Willen  sich  durchsetzende 
Denken.  Hier  ist  der  Punkt,  auf  welchem  es  er- 
hellt, daß  der  Wille  nur  als  denkende  Intelligenz  wahr- 
hafter, freier  Wille  ist.  Der  Sklave  weiß  nicht  sein 
Wesen,  seine  Unendlichkeit,  die  Freiheit,  er  weiß  sich 
nicht  als  Wesen;  —  und  er  weiß  sich  so  nicht,  das  ist, 
er  denkt  sich  nicht.  Dies  Selbstbewußtsein,  das  durch 
das  Denken  sich  als  Wesen  erfaßt,  und  damit  eben  sich 
von  dem  Zufälligen  und  Unwahren  abtut,  macht  das 
Prinzip  des  Rechts,  der  Moralität  und  aller  Sittlichkeit 
aus.     Die,   welche  philosophisch  vom  Recht,   Moralität, 


I 


Einleitung.    §  22—23.  39 

Sittlichkeit  sprechen,  und  dabei  das  Denken  ausschließen 
wollen,  und  an  das  Gefühl,  Herz  und  Brust,  an  die  Be- 
geisterung verweisen,  sprechen  damit  die  tiefste  Ver- 
achtung aus,  in  welche  der  Gedanke  und  die  Wissen- 
schaft gefallen  ist,  indem  so  die  Wissenschaft  sogar 
selbst,  über  sich  in  Verzweiflung  und  in  die  höchste 
Mattigkeit  versunken,  die  Barbarei  und  das  Gedanken- 
lose sich  zum  Prinzip  macht  und  so  viel  an  ihr  wäre, 
dem  Menschen  alle  Wahrheit,  Wert  und  Würde  raubte. 

§  22. 

Der  an  und  für  sich  seiende  Wille  ist  wahrhaft  un- 
endlich, weil  sein  Gegenstand  er  selbst,  hiermit  derselbe 
für  ihn  nicht  ein  Anderes  noch  Schranke,  sondern  er 
darin  vielmehr  nur  in  sich  zurückgekehrt  ist.  Er  ist 
ferner  nicht  bloße  Möglichkeit,  Anlage,  Vermögen 
(potentia),  sondern  das  Wirklich-Unendliche  (infini- 
tum  actu),  weil  das  Dasein  des  Begriffs,  oder  seine  gegen- 
ständliche Äußerlichkeit  das  Innerliche  selbst  ist. 

Wenn  man  daher  nur  vom  freien  Willen,  als  solchem, 
spricht,  ohne  die  Bestimmung,  daß  er  der  an  und  für 
sich  freie  Wille  ist,  so  spricht  man  nur  von  der  An- 
lage der  Freiheit,  oder  von  dem  natürlichen  und  end- 
lichen Willen  (§  11)  und  eben  damit,  der  Worte  und  der 
Meinung  unerachtet,  nicht  vom  freien  Willen.  — ■  Indem 
der  Verstand  das  Unendliche  nur  als  Negatives  und  da- 
mit als  ein  Jenseits  faßt,  meint  er  dem  Unendlichen  um 
so  mehr  Ehre  anzutun,  je  mehr  er  es  von  sich  weg  in 
die  Weite  hinausschiebt  und  als  ein  Fremdes  von  sich 
entfernt.  Im  freien  Willen  hat  das  wahrhaft  Unend- 
liche Wirklichkeit  und  Gegenwart,  —  er  selbst  ist  diese 
in  sich  gegenwärtige  Idee. 

§  23. 

Nur  in  dieser  Freiheit  ist  der  Wille  schlechthin  bei 
sich,  weil  er  sich  auf  nichts  als  auf  sich  selbst  bezieht, 
sowie  damit  alles  Verhältnis  der  Abhängigkeit  von 
etwas  anderem  hinwegfällt.  —  Er  ist  wahr  oder  viel- 
mehr die  Wahrheit  selbst,  weil  sein  Bestimmen  darin  be- 
steht, in  seinem  Dasein,  d.  i.  als  sich  gegenüberstehendes 
zu  sein,  was  sein  Begriff  ist,  oder  der  reine  Begriff  die 
Anschauung  seiner  selbst  zu  seinem  Zwecke  und  Rea- 
lität hat. 


40  Einleitung.    §  24—25. 

§24. 

Er   ist   allgemein,   weil   in   ihm  alle   Beschränkung 
und  besondere  Einzelnheit  aufgehoben  ist,  als  welche  allein 
in  der   Verschiedenheit  des  Begriffes  und  seines  Gegen- 
standes   oder    Inhalts,    oder   nach   anderer   Form,    in   der 
Verschiedenheit   seines    subjektiven  Fürsichseins   —    und 
seines  Ansichseins,  seiner  ausschließenden  und  beschlie- 
ßenden Einzelnheit  —  und  seiner  Allgemeinheit  selbst,  liegt. 
Die  verschiedenen  Bestimmungen  der  Allgemein- 
heit ergeben  sich  in  der  Logik  (s.  Encyklop.  der  philos. 
Wissenschaften,   §    118 — 126)  i).     Bei   diesem  Ausdruck 
fällt  dem  Vorstellen  zunächst  die  abstrakte  und  äußer- 
liche ein;  aber  bei  der  an  und  für  sich  seienden  Allge- 
meinheit, wie  sie  sich  hier  bestimmt  hat,  ist  weder  an 
die   Allgemeinheit   der  Reflexion,   die   Gemeinschaft- 
lichkeit oder  die  Allheit  zu  denken,  noch  an  die  ab- 
strakte  Allgemeinheit,    welche   außer   dem   Einzelnen, 
auf  der  anderen  Seite  steht,  die  abstrakte  Verstandes- 
identität (§  6  Anm.).    Es  ist  die  in  sich  konkrete  und 
so  für  sich  seiende  Allgemeinheit,  welche  die  Substanz, 
die  immanente  Gattung  oder  immanent«  Idee  des  Selbst- 
bewußtseins ist;  —  der  Begriff  des  freien  Willens,  als 
das   über   seinen   Gegenstand   übergreifende,   durch 
seine  Bestimmung  hindurchgehende  Allgemeine, 
das  in  ihr  mit  sich  identisch  ist.  —  Das  an  und  für  sich 
seiende    Allgemeine    ist   überhaupt    das,    was    man    das 
Vernünftige  nennt  und  was  nur  auf  diese  spekulative 
Weise  gefaßt  werden  kann. 

§  25. 

Das  Subjektive  heißt  in  Ansehung  des  Willens  über- 
haupt die  Seite  seines  Selbstbewußtseins,  der  Einzelnheit 
(§  7)  im  Unterschiede  von  seinem  an  sich  seienden  Be- 
griffe, daher  heißt  seine  Subjektivität  a)  die  reine  Form, 
die  absolute  Einheit  des  Selbstbewußtseins  mit  sich, 
in  der  es  als  Ich  =  Ich  schlechthin  innerlich  und  ab- 
straktes Beruhen  auf  sich  ist  —  die  reine  Gewißheit 
seiner  selbst,  unterschieden  von  der  Wahrheit;  ß)  die  Be- 
sonderheit des  Willens  als  die  Willkür  und  der  zufällige 
Inhalt  beliebiger  Zwecke;  y)  überhaupt  die  einseitige  Form 

1)  In  der  3.  Aufl.   §§  169—178  (Phil.  Bibl.  Bd.  33,  S.  164  ff.). 


Einleitung.    §  26.  41 

(§  8),  insofern  das  Gewollte,  wie  es  seinem  Inhalte  nach 
sei,  nur  erst  ein  dem  Selbstbewußtsein  angehöriger  Inhalt 
und   unausgeführter  Zweck  ist. 

§  26. 
Der  Wille  a)  insofern  er  sich  selbst  zu  seiner  Bestim- 
mung hat  und  so  seinem  Begriffe  gemäß  und  wahrhaftig 
ist,  ist  der  schlechthin  objektive  Wille,  ß)  der  ob- 
jektive Wille  aber,  als  ohne  die  unendliche  Form  des 
Selbstbewußtseins  ist  der  in  sein  Objekt  oder  Zustand, 
wie  er  seinem  Inhalte  nach  beschaffen  sei,  versenkte  Wille 
—  der  kindliche,  sittliche,  wie  der  sklavische,  abergläubische 
U.S. f.  —  ;■)  Die  Objektivität  ist  endlich  die  einseitige  Form 
im  Gegensatze  der  subjektiven  Willensbestiramung,  hiermit 
die  Unmittelbarkeit  des  Daseins,  als  äußerliche  Existenz; 
der  Wille  wird  sich  in  diesem  Sinne  erst  durch  die  Aus- 
führung seiner  Zwecke  objektiv. 

Diese  logischen  Bestimmungen  von  Subjektivität  und 
Objektivität  sind  hier  in  der  Absicht  besonders  auf- 
geführt worden,  um  in  Ansehung  ihrer,  da  sie  in  der 
Folge  oft  gebraucht  werden,  ausdrücklich  zu  bemerken, 
daß  es  ihnen  wie  anderen  Unterschieden  und  entgegen- 
gesetzten Reflexionsbestimraungen  geht,  um  ihrer  End- 
lichkeit und  daher  ihrer  dialektischen  Natur  willen  in 
ihr  Entgegengesetztes  überzugehen.  Anderen  solchen 
Bestimmungen  des  Gegensatzes  bleibt  jedoch  ihre  Be- 
deutung fest  für  Vorstellung  und  Verstand,  indem  ihre 
Identität  noch  als  ein  Innerliches  ist.  Im  Willen  hin- 
gegen führen  solche  Gegensätze,  welche  abstrakte  und 
zugleich  Bestimmungen  von  ihm,  der  nur  als  das  Kon- 
krete gewußt  werden  kann,  sein  sollen,  von  selbst  auf 
diese  ihre  Identität  und  auf  die  Verwechslung  ihrer  Be- 
deutungen; —  eine  Verwechslung,  die  dem  Verstände 
bewußtlos  nur  begegnet.  —  So  ist  der  Wille,  als  die  in 
sich  seiende  Freiheit,  die  Subjektivität  selbst,  diese 
ist  damit  sein  Begriff  und  so  seine  Objektivität;  End- 
lichkeit aber  ist  seine  Subjektivität,  im  Gegensatze  gegen 
die  Objektivität;  aber  eben  in  diesem  Gegensatze  ist  der 
Wille  nicht  bei  sich,  mit  dem  Objekte  verwickelt,  und  seine 
Endlichkeit  besteht  ebensowohl  darin,  nicht  subjektiv  zu 
sein  u.s.f.  —  Was  daher  im  folgenden  das  Subjektive  oder 
Objektive  des  Willens  für  eine  Bedeutung  haben  soll,  hat 
jedesmal  aus  dem  Zusammenhang  zu  erhellen,  der  ihre 
Stellung  in  Beziehung  auf  die  Totalität  enthält. 


42  Einleitung.    §  27—29. 

§27. 

Die  absolute  Bestimmung  oder,  wenn  man  will,  der 
absolute  Trieb  des  freien  Geistes  (§  21),  daß  ihm  seine  Frei- 
heit Gegenstand  sei  —  objektiv  sowohl  in  dem  Sinne,  daß 
sie  als  das  vernünftige  System  seiner  selbst,  als  in  dem 
Sinne,  daß  dies  unmittelbare  Wirklichkeit  sei  (§  26)  — 
um  für  sich,  als  Idee  zu  sein,  was  der  Wille  an  sich  ist; 
—  der  abstrakte  Begriff  der  Idee  des  Willens  ist  über- 
haupt der  freie  Wille,  der  den  freien  Willen  will. 

§  28. 

Die  Tätigkeit  des  Willens,  den  Widerspruch  der  Sub- 
jektivität und  Objektivität  aufzuheben  und  seine  Zwecke 
aus  jener  Bestimmung  in  diese  überzusetzen  und  in  der 
Objektivität  zugleich  bei  sich  zu  bleiben,  ist  außer  der 
formalen  Weise  des  Bewußtseins  (§  8),  worin  die  Objek- 
tivität nur  als  unmittelbare  Wirklichkeit  ist,  die  wesent- 
liche Entwickelung  des  substantiellen  Inhalts  der  Idee 
(§  21),  eine  Entwickelung,  in  welcher  der  Begriff  die  zu- 
nächst selbst  abstrakte  Idee  zur  Totalität  ihres  Systems 
bestimmt,  die  als  das  Substantielle  unabhängig  von  dem 
Gegensatze  eines  bloß  subjektiven  Zwecks  und  seiner  Reali- 
sierung,  dasselbe  in  diesen  beiden  Formen  ist. 

§29. 

Dies,  daß  ein  Dasein  überhaupt,  Dasein  des  freien 
Willens  ist,  ist  das  Recht.  —  Es  ist  somit  überhaupt 
die  Freiheit,  als  Idee. 

Die  Kantische  (Kants  Rechtslehre  Einl.)  und  auch 
allgemeiner  angenommene  Bestimmung,  worin  „die  Be- 
schränkung meiner  Freiheit  oder  Willkür,  daß  sie 
mit  jedermanns  Willkür  nach  einem  allgemeinen  Gesetze 
zusammen  bestehen  könne",  das  Hauptmoment  ist  —  ent- 
hält teils  nur  eine  negative  Bestimmung,  die  der  Be- 
schränkung, teils  läuft  das  Positive,  das  allgemeine  oder 
sogenannte  Vernunftgesetz,  die  Übereinstimmung  der 
Willkür  des  einen  mit  der  Willkür  des  anderen,  auf  die 
bekannte  formelle  Identität  und  den  Satz  des  Wider- 
spruchs hinaus.  Die  angeführte  Definition  des  Rechts 
enthält  die  seit  Rousseau  vornehmlich  verbreitete  An- 
sicht, nach  welcher  der  Wille,  nicht  als  an  und  für  sich 
seiender,  vernünftiger,  der  Geist  nicht  als  wahrer  Geist, 


< 


Einleitung.    §  30.  43 

sondern  als  besonderes  Individuum,  als  Wille  des  Ein- 
zelnen in  seiner  eigentümlichen  Willkür,  die  substantielle 
Grundlage  und  das  Erste  sein  soll.  Nach  diesem  ein- 
mal angenommenen  Prinzip  kann  das  Vernünftige  frei- 
lich nur  als  beschränkend  für  diese  Freiheit,  sowie  auch 
nicht  als  immanent  Vernünftiges,  sondern  nur  als  ein 
äußeres,  formelles  Allgemeines  herauskommen.  Jene  An- 
sicht ist  ebenso  ohne  allen  spekulativen  Gedanken  und 
von  dem  philosophischen  Begriffe  verworfen,  als  sie  in 
den  Köpfen  und  in  der  Wirklichkeit  Erscheinungen  her- 
vorgebracht hat,  deren  Fürchterlichkeit  nur  an  der  Seich- 
tigkeit  der  Gedanken,  auf  die  sie  sich  gründeten,  eine 
Parallele  hat, 

§30. 

Das  Recht  ist  etwas  Heiliges  überhaupt,  allein 
weil  es  das  Dasein  des  absoluten  Begriffes,  der  selbst- 
bewußten Freiheit  ist.  —  Der  Formalismus  des  Rechte 
aber  (und  weiterhin  der  Pflicht)  entsteht  aus  dem  Unter- 
schiede der  Entwickelung  des  Freiheitsbegriffs.  Gegen 
formelleres,  d.  i.  abstrakteres  und  darum  beschränkteres 
Recht,  hat  die  Sphäre  und  Stufe  des  Geistes,  in  welcher 
er  die  weiteren  in  seiner  Idee  enthaltenen  Momente  zur 
Bestimmung  und  Wirklichkeit  in  sich  gebracht  hat,  als 
die  konkretere  in  sich  reichere  und  wahrhafter  allgemeine 
eben  damit  auch  ein  höheres  Recht. 

Jede  Stufe  der  Entwickelung  der  Idee  der  Freiheit 
hat  ihr  eigentümliches  Recht,  weil  sie  das  Dasein  der 
Freiheit  in  einer  ihrer  eigenen  Bestimmungen  ist.  Wenn 
vom  Gegensatze  der  Moralität,  der  Sittlichkeit  gegen  das 
Recht  gesprochen  wird,  so  ist  unter  dem  Rechte  nur 
das  erste  formelle  der  abstrakten  Persönlichkeit  ver- 
standen. Die  Moralität,  die  Sittlichkeit,  das  Staatsinter- 
esse ist  jedes  ein  eigentümliches  Recht,  weil  jede  dieser 
Gestalten  Bestimmung  und  Dasein  der  Freiheit  ist. 
In  Kollision  können  sie  nur  kommen,  insofern  sie  auf 
gleicher  Linie  stehen,  Rechte  zu  sein;  wäre  der  mora- 
lische Standpunkt  des  Geistes  nicht  auch  ein  Recht,  die 
Freiheit  in  einer  ihrer  Formen,  so  könnte  sie  gar  nicht 
in  Kollision  mit  dem  Rechte  der  Persönlichkeit  oder 
einem  anderen  kommen,  weil  ein  solches  den  Freiheits- 
begriff, die  höchste  Bestimmung  des  Geistes,  in  sich 
enthält,   gegen  welchen   Anderes   ein   substanzloses   ist. 


44  Einleitung.    §  31. 

Aber  die  Kollision  enthält  zugleich  dies  andere  Moment, 
daß  sie  beschränkt  und  damit  auch  eins  dem  anderen 
untergeordnet  ist;  nur  das  Recht  des  Weltgeistes  ist  das 
uneingeschränkt  absolute. 

§  31. 

Die  Methode,  wie  in  der  Wissenschaft  der  Begriff  sich 
aus  sich  selbst  entwickelt  und  nur  ein  im^manentes  Fort- 
schreiten und  Hervorbringen  seiner  Bestimmungen  ist  — 
der  Fortgang  nicht  durch  die  Versicherung,  daß  es  ver- 
schiedene Verhältnisse  gebe,  und  dann  durch  das  An- 
wenden des  Allgemeinen  auf  solchen  von  sonst  her  auf- 
genommenen Stoff  geschieht,  ist  hier  gleichfalls  aus  der 
Logik  vorausgesetzt. 

Das  bewegende  Prinzip  des  Begriffs,  als  die  Be- 
sonderungen  des  Allgemeinen  nicht  nur  auflösend,  son- 
dern auch  hervorbringend,  heiße  ich  die  Dialektik, 
—  Dialektik  also  nicht  in  dem  Sinne,  daß  sie  einen  dem 
Gefühl,  dem  unmittelbaren  Bewußtsein  überhaupt  ge- 
gebenen Gegenstand,  Satz  u.  s.  f.  auflöst,  verwirrt,  herüber 
und  hinüber  führt  und  es  nur  mit  Herleiten  seines 
Gegenteils  zu  tun  hat,  —  eine  negative  Weise,  wie  sie 
häufig  auch  bei  P lato  erscheine.  Sie  kann  so  das  Gegen- 
teil einer  Vorstellung,  oder  entschieden  wie  der  alte 
Skeptizismus  den  Widerspruch  derselben,  oder  auch 
matter  Weise  eine  Annäherung  zur  Wahrheit,  eine 
moderne  Halbheit,  als  ihr  letztes  Resultat  ansehen.  Die 
höhere  Dialektik  des  Begriffes  ist,  die  Bestimmung  nicht 
bloß  als  Schranke  und  Gegenteil,  sondern  aus  ihr  den 
positiven  Inhalt  und  Resultat  hervorzubringen  und  auf- 
zufassen, als  wodurch  sie  allein  Ent Wickelung  und 
immanentes  Fortschreiten  ist.  Diese  Dialektik  ist  dann 
nicht  äußeres  Tun  eines  subjektiven  Denkens,  sondern 
die  eigene  Seele  des  Inhalts,  die  organisch  ihre  Zweige 
und  Früchte  hervortreibt.  Dieser  Entwickelung  der  Idee 
als  eigener  Tätigkeit  ihrer  Vernunft  sieht  das  Denken 
als  subjektives,  ohne  seinerseits  eine  Zutat  hinzuzufügen, 
nur  zu.  Etwas  vernünftig  betrachten  heißt,  nicht  an 
den  Gegenstand  von  außen  her  eine  Vernunft  hinzu- 
bringen und  ihn  dadurch  bearbeiten,  sondern  der  Gegen- 
stand ist  für  sich  selbst  vernünftig;  hier  ist  es  der  Geist 
in  seiner  Freiheit,  die  höchste  Spitze  der  selbstbewußten 
Vernunft,  die  sich  Wirklichkeit  gibt  und  als  existierende 


Einleitimg.    §  32.     Einteilung.    §  33.  45 

Welt  erzeugt;  die  Wissenschaft  hat  nur  das  Geschäft, 
diese  eigene  Arbeit  der  Vernunft  der  Sache  zum  Be- 
wußtsein zu  bringen. 

§  32. 

Die  Bestimmungen  in  der  Entvvickelung  des  Be- 
griffs sind  einerseits  selbst  Begriffe,  andererseits,  weil  der 
Begriff  wesentlich  als  Idee  ist,  sind  sie  in  der  Form  des 
Daseins,  und  die  Reihe  der  sich  ergebenden  Begriffe  ist 
damit  zugleich  eine  Reihe  von  Gestaltungen;  so  sind  sie 
in  der  Wissenschaft  zu  betrachten. 

In  spekulativerem  Sinn  ist  die  Weise  des  Daseina 
eines  Begriffes  und  seine  Bestimmtheit  eins  und  das- 
selbe. Es  ist  aber  zu  bemerken,  daß  die  Momente,  deren 
Resultat  eine  weiter  bestimmte  Form  ist,  ihm  als  Be- 
griffsbestimmungen in  der  wissenschaftlichen  Entwicke- 
lung  der  Idee  vorangehen,  aber  nicht  in  der  zeitlichen 
Entwickelung  als  Gestaltungen  ihm  vorausgehen.  So 
hat  die  Idee,  wie  sie  als  Familie  bestimmt  ist,  die  Be- 
griffsbestimmungen zur  Voraussetzung,  als  deren  Re- 
sultat sie  im  folgenden  dargestellt  werden  wird.  Aber 
daß  diese  inneren  Voraussetzungen  auch  für  sich  schon 
als  Gestaltungen,  als  Eigentumsrecht,  Vertrag,  Mo- 
ralität  u.s.  f.  vorhanden  seien,  dies  ist  die  andere  Seite  der 
Entwickelung,  die  nur  in  höher  vollendeter  Bildung  es 
zu  diesem  eigentümlich  gestalteten  Dasein  ihrer  Mo- 
mente gebracht  hat. 

Eioteilung. 

§33. 

Nach  dem  Stufengange  der  Entwickelung  der  Idee  des 
an  und  für  sich  freien  Willens  ist  der  Wille 

A.  unmittelbar;  sein  Begriff  daher  abstrakt,  —  die 
Persönlichkeit,  —  und  sein  Dasein  eine  unmittel- 
bare äußerliche  Sache;  — •  die  Sphäre  des  abstrakten 
oder  formellen  Rechts. 

B.  der  Wille  aus  dem  äußeren  Dasein  in  sich  reflektiert, 
als  subjektive  Einzelnheit  bestimmt  gegen  das 
Allgemeine,  —  dasselbe,  teils  als  Inneres,  das 
Gute,  teils  als  Äußeres,  eine  vorhandene  Welt, 
und  diese  beiden  Seiten  der  Idee  als  nur  durch  ein- 


46  Einteilung.    §  33. 

ander  vermittelt;  die  Idee  in  ihrer  Entzweiung 
oder  besonderen  Existenz,  das  Recht  des  sub- 
jektiven Willens  im  Verhältnis  zum  Recht  der 
Welt  und  zum  Recht  der,  aber  nur  an  sich  sei- 
enden, Idee;  —  die  Sphäre  der  Moralität. 
C.  die  Einheit  und  Wahrheit  dieser  bsiden  abstrakten 
Momente,  —  die  gedachte  Idee  des  Guten  realisiert 
in  dem  in  sich  reflektierten  Willen  und  in  äußer- 
licher Welt;  ■ —  so  daß  die  Freiheit  als  die  Sub- 
stanz ebensosehr  als  Wirklichkeit  und  Notwen- 
digkeit existiert,  wie  als  subjektiver  Wille;  — 
die  Idee  in  ihrer  an  und  für  sich  allgemeinen  Existenz; 
die  Sittlichkeit. 
Die  sittliche  Substanz  aber  ist  gleichfalls 

a.  natürlicher   Geist;  —  die   Familie, 

b.  in  ihrer  Entzweiung  und  Erscheinung;  —  die 
bürgerliche  Gesellschaft, 

c.  der  Staat,  als  die  in  der  freien  Selbständigkeit  des 
besonderen  Willens  ebenso  allgemeine  und  objektive 
Freiheit;  —  welcher  wirkliche  und  organische  Geist 
a.  eines  Volks  sich  ß.  durch  das  Verhältnis  der  be- 
sonderen Volksgeister  hindurch,  y.  in  der  Welt- 
geschichte zum  allgemeinen  Weltgeiste  wirklich  wird 
und  offenbart,   dessen  Recht  das  Höchste  ist 

Daß  eine  Sache  oder  Inhalt,  der  erst  seinem  Be- 
griffe nach,  oder  wie  er  an  sich  ist,  gesetzt  ist,  die 
Gestalt  der  Unmittelbarkeit  oder  des  Seins  hat,  ist 
aus  der  spekulativen  Logik  vorausgesetzt;  ein  anderes  ist 
der  Begriff,  der  in  der  Form  des  Begriffs  für  sich  ist; 
dieser  ist  nicht  mehr  ein  Unmittelbares.  —  Gleicher- 
weise ist  das  die  Einteilung  bestimmende  Prinzip  voraus- 
gesetzt. Die  Einteilung  kann  auch  als  eine  historische 
Vorausangabe  der  Teile  angesehen  werden,  denn  die 
verschiedenen  Stufen  müssen  als  Entwickelungsmomente 
der  Idee  sich  aus  der  Natur  des  Inhalts  selbst  hervor- 
bringen. Eine  philosophische  Einteilung  ist  überhaupt 
nicht  eine  äußerliche,  nach  irgendeinem  oder  mehreren 
aufgenommenen  Einteilungsgründen  gemachte  äußere 
Klassifizierung  eines  vorhandenen  Stoffes,  sondern  das 
immanente  Unterscheiden  des  Begriffes  selbst.  —  Mo- 
ralität und  Sittlichkeit,  die  gewöhnlich  etwa  als 
gleichbedeutend  gelten,  sind  hier  in  wesentlich  ver- 
schiedenem Sinne  genommen.     Inzwischen  scheint  auch 


I 


Einteilung,    §  33.  47 

die  Vorstellung  sie  zu  unterscheiden;  der  Kantische 
Sprachgebrauch  bedient  sich  vorzugsweise  des  Ausdrucks 
Moralität,  wie  denn  die  praktischen  Prinzipien  dieser 
Philosophie  sich  durchaus  auf  diesen  Begriff  beschränken, 
den  Standpunkt  der  Sittlichkeit  sogar  unmöglich 
machen,  ja  selbst  sie  ausdrücklich  zernichten  und  em- 
pören. Wenn  aber  Moralität  und  Sittlichkeit,  ihrer  Ety- 
mologie nach,  auch  gleichbedeutend  wären,  so  hinderte 
dies  nicht,  diese  einmal  verschiedenen  Worte  für  ver- 
schiedene Begriffe  zu  benutzen. 


Erster  Teil. 

Das  abstrakte  Recht. 


§34. 

Der  an  und  für  sich  freie  Vv'ille,  wie  er  in  seinem 
abstrakten  Begriffe  ist,  ist  in  der  Bestimmtheit  der 
Unmittelbarkeit.  Nach  dieser  ist  er  seine  gegen  die 
Realität  negative,  nur  sich  abstrakt  auf  sich  beziehende 
Wirklichkeit,  —  in  sich  einzelner  Wille  eines  Sub- 
jekts. Nach  dem  Momente  der  Besonderheit  des 
Willens  hat  er  einen  weiteren  Inhalt  bestimmter  Zwecke 
und  als  ausschließende  Einzelnheit  diesen  Inhalt  zu- 
gleich als  eine  äußere,  unmittelbai=  vorgefundene  Welt 
vor  sich. 

§35. 

Die  Allgemeinheit  dieses  für  sich  freien  Willens 
ist  die  formelle,  die  selbstbewußte  sonst  inhaltslose  ein- 
fache Beziehung  auf  sich  in  seiner  Einzelnheit,  —  das 
Subjekt  ist  insofern  Person.  In  der  Persönlichkeit 
liegt,  daß  ich  als  Dieser  vollkommen  nach  allen  Seiten 
(in  innerlicher  Willkür,  Trieb  und  Begierde,  sowie  nach 
unmittelbarem  äußerlichen  Dasein)  bestimmte  und  end- 
liche, doch  schlechthin  reine  Beziehung  auf  mich  bin  und 
in  der  Endlichkeit  mich  so  als  das  Unendliche,  All- 
gemeine und  Freie  weiß. 

Die  Persönlichkeit  fängt  erst  da  an,  insofern  das 
Subjekt  nicht  bloß  ein  Selbstbewußtsein  überhaupt  von 
sich  hat  als  konkretem  auf  irgendeine  Weise  bestimmtem, 
sondern  vielmehr  ein  Selbstbewußtsein  von  sich  als  voll- 
kommen abstraktem  Ich,  in  welchem  alle  konkrete  Be- 
schränktheit und  Gültigkeit  negiert  und  ungültig  ist. 
In  der  Persönlichkeit  ist  daher  das  Wissen  seiner  als 


I 


Das  abstrakte  Recht.    §  36—38.  49 

Gegenstandes,  aber  als  durch  das  Denken  in  die 
einfache  Unendlichkeit  erhobenen  und  dadurch  mit  sich 
rein-identischen  Gegenstandes.  Individuen  und  Völker 
haben  noch  keine  Persönlichkeit,  insofern  sie  noch  nicht 
zu  diesem  reinen  Denken  und  Wissen  von  sich  gekommen 
sind.  Der  an  und  für  sich  seiende  Geist  unterscheidet 
sich  dadurch  von  dem  erscheinenden  Geiste,  daß  in 
derselben  Bestimmung,  worin  dieser  nur  Selbstbewußt- 
sein, —  Bewußtsein  von  sich,  aber  nur  nach  dem 
natürlichen  Willen  und  dessen  noch  äußerlichen  Gegen- 
sätzen ist  (Phänomenologie  des  Geistes.  Bamberg  und 
Würzburg  1807,  S.  101  s.  f.  und  Encyklopädie  der 
philos.  Wissensch.  §  844)^),  der  Geist  sich  als  abstraktes 
und  zwar  freies  Ich  zum  Gegenstande  und  Zwecke  hat 
und  so  Person  ist. 

§  36. 

1.  Die  Persönlichkeit  enthält  überhaupt  die  Rechts- 
fähigkeit und  macht  den  Begriff  und  die  selbst  abstrakte 
Grundlage  des  abstrakten  und  daher  formellen  Rechtes 
aus.  Das  Rechtsgebot  ist  daher:  sei  eine  Person  und 
respektiere  die  anderen  als  Personen. 

§  37. 

2.  Die  Besonderheit  des  Willens  ist  wohl  Moment 
des  ganzen  Bewußtseins  des  Willens  (§  34),  aber  in  der 
abstrakten  Persönlichkeit  als  solcher  noch  nicht  enthalten. 
Sie  ist  daher  zwar  vorhanden,  aber  als  von  der  Persön- 
lichkeit, der  Bestimmung  der  Freiheit,  noch  verschieden, 
Begierde,  Bedürfnis,  Triebe,  zufälliges  Belieben  u.  s.  f.  ■ — 
Im  formellen  Rechte  kommt  es  daher  nicht  auf  das  be- 
sondere Interesse,  meinen  Nutzen  oder  mein  Wohl  an  — 
ebensowenig  auf  den  besonderen  Bestimmungsgrund  meines 
Willens,  auf  die  Einsicht  und  Absicht. 

§  38. 
In  Beziehung  auf  die  konkrete  Handlung  und  mora- 
lische und  sittliche  Verhältnisse  ist  gegen  deren  weiteren 
Inhalt  das  abstrakte  Recht  nur  eine  Möglichkeit,  die 
rechtliche  Bestimmung  daher  nur  eine  Erlaubnis  oder 
Befugnis.  Die  Notwendigkeit  dieses  Rechts  beschränkt 
sich   aus   demselben   Grunde   seiner   Abstraktion   auf    das 


1)  Phänomenologie,  Lassonsche  Ausg.,   S.  1 16  f.  (Phil.  Bibl. 
114.  Bd.);  Encyklop.  3.  Aufl.  §  424  (Phil.  Bibl.  Bd.  33,  S.  374 f.). 
Hegel,  Kechtsphilosophie.  4 


50  Erster  Teil,    i;  39—40. 

Negative,  die  Persönlichkeit  und  das  daraus  Folgende 
nicht  zu  verletzen.  Es  gibt  daher  nur  Rechtsverbote, 
und  die  positive  Form  von  Rechtsgeboten  hat  ihrem  letzten 
Inhalte  nach  das  Verbot  zugrunde  liegen. 

§  39. 

3.  Die  beschließende  und  unmittelbare  Einzelnheit 
der  Person  verhält  sich  zu  einer  vorgefundenen  Natur, 
welcher  hiermit  die  Persönlichkeit  des  Willens  als  ein 
Subjektives  gegenübersteht,  aber  dieser,  als  in  sich  un- 
endlich und  allgemein,  ist  die  Beschränkung,  nur  sub- 
jektiv zu  sein,  widersprechend  und  nichtig.  Sie  ist  das 
Tätige,  sie  aufzuheben  und  sich  Realität  zu  geben,  oder, 
was  dasselbe  ist,  jenes  Dasein  als  das   ihrige  zu  set2ien. 

§  40. 
Das  Recht  ist  zuerst  das  unmittelbare  Dasein,  welches 
sich  die  Freiheit  auf  unmittelbare  Weise  gibt, 

a)  Besitz,  welcher  Eigentum  ist;  —  die  Freiheit  ist 
hier  die  des  abstrakten  Willens  überhaupt,  oder  eben  damit 
einer  einzelnen  sich  nur  zu  sich  verhaltenden  Person. 

b)  Die  Person,  sich  von  sich  unterscheidend,  verhält 
sich  zu  einer  anderen  Person  und  zwar  haben  beide  nur 
als  Eigentümer  für  einander  Dasein.  Ihre  an  sich  seiende 
Identität  erhält  Existenz  durch  das  Übergehen  des  Eigen- 
tums des  einen  in  das  des  anderen  mit  gemeinsamen  Wülen 
und  Erhaltung  ihres  Rechts,  —  im  Vertrag. 

c)  Der  Wille  als  (a)  in  seiner  Beziehung  auf  sich,  nicht 
von  einer  anderen  Person  (b),  sondern  in  sich  selbst 
unterschieden,  ist  er,  als  besonderer  Wille  von  sich  als 
an  und  für  sich  seiendem  verschieden  und  entgegen- 
gesetzt, —  Unrecht  und  Verbrechen. 

Die  Einteilung  des  Rechts  in  Personen-Sachen- 
recht und  das  Recht  zu  Aktionen  hat,  so  wie  die  vielen 
anderen  dergleichen  Einteilungen,  zunächst  den  Zweck, 
die  Menge  des  vorliegenden  unorganischen  Stoffs  in  eine 
äußerliche  Ordnung  zu  bringen.  Es  liegt  in  diesem  Ein- 
teilen vornehmlich  die  Verwirrung,  Rechte,  welche  sub- 
stantielle Verhältnisse,  wie  Familie  und  Staat,  zu  ihrer 
Voraussetzung  haben,  und  solche,  die  sich  auf  die  bloße 
abstrakte  Persönlichkeit  beziehen,  kunterbunt  zu  ver- 
mischen. In  diese  Verwirrung  gehört  die  Kantische  und 
sonst  beliebt  gewordene  Einteilung  in  sächliche,  per- 
sönliche   und    dinglichpersönliche   Rechte.     Das 


Das  abstrakte  Recht.    §  40.  51 

Schiefe  und  Begriff  lose  der  Einteilung  in  Personen- 
und  Sachenrecht,  das  in  dem  römischen  Rechte  zu- 
grunde liegt,  zu  entwickeln  (das  Recht  zu  Aktionen  be- 
trifft die  Rechtspflege  und  gehört  nicht  in  diese  Ord- 
nung), würde  zu  weit  führen.  Hier  erhellt  schon  so 
viel,  daß  nur  die  Persönlichkeit  ein  Recht  an  Sachen 
gibt  und  daher  das  persönliche  Recht  wesentlich  Sachen- 
recht ist,  —  Sache  im  allgemeinen  Sinne  als  das  der 
Freiheit  überhaupt  Äußerliche,  wozu  auch  mein  Körper, 
mein  Leben  gehört.  Dies  Sachenrecht  ist  das  Recht 
der  Persönlichkeit  als  solcher.  Was  aber  das  im 
römischen  Rechte  sogenannte  Personenrecht  betrifft, 
so  soll  der  Mensch  erst,  mit  einem  gewissen  status 
betrachtet,  eine  Person  sein  (Heineccii  Elem.  Jur.  Civ., 
§  LXXV.);  im  römischen  Rechte  ist  hiermit  sogar  die 
Persönlichkeit  selbst,  als  gegenüber  der  Sklaverei,  nur 
ein  Stand,  Zustand.  Der  Inhalt  des  römischen  so- 
genannten Personenrechts  betrifft  dann  außer  dem  Recht 
an  Sklaven,  wozu  ungefähr  auch  die  Kinder  gehören, 
und  dem  Zustande  der  Rechtlosigkeit  (capitis  dimi- 
nutio)  die  Familienverhältnisse.  Bei  Kant  sind 
vollends  die  Familienverhältnisse,  die  auf  dingliche 
Weise  persönlichen  Rechte.  —  Das  römische  Per- 
sonenrecht ist  daher  nicht  das  Recht  der  Person  als 
solcher,   sondern  wenigstens  der  besonderen  Person; 

—  späterhin  wird  sich  zeigen,  daß  das  Familienverhält- 
nis vielmehr  das  Aufgeben  der  Persönlichkeit  zu 
seiner  substantiellen  Grundlage  hat.  Es  kann  nun 
nicht  anders  als  verkehrt  erscheinen,  das  Recht  der  be- 
sonders bestimmten  Person  vor  dem  allgemeinen 
Rechte  der  Persönlichkeit  abzuhandeln.  —  Die  persön- 
lichen Rechte  bei  Kant  sind  die  Rechte,  die  aus 
einem  Vertrage  entstehen,   daß  Ich  etwas   gebe,   leiste 

—  das  jus  ad  rem  im  römischen  Recht,  das  aus  einer 
Obligatio  entspringt.  Es  ist  allerdings  nur  eine  Person, 
die  aus  einem  Vertrage  zu  leisten  hat,  sowie  auch  nur  eine 
Person,  die  das  Recht  an  eine  solche  Leistung  erwirbt, 
aber  ein  solches  Recht  kann  man  darum  nicht  ein  persön- 
liches nennen;  jede  Art  von  Rechten  kommt  nur  einer 
Person  zu,  und  objektiv  ist  ein  Recht  aus  dem  Ver- 
trage nicht  Recht  an  eine  Person,  sondern  nur  an  ein 
ihr  Äußerliches,  oder  etwas  von  ihr  zu  Veräußerndes, 
immer  an  eine  Sache. 


52  Erster  Teil.     Das  abstrakte  Recht.    §  41—43. 

Erster  Abschnitt. 

Bas  Eigentum. 

§41. 

Die  Person  muß  sich  eine  äußere  Sphäre  ihrer 
Freiheit  geben,  um  als  Idee  zu  sein.  Weil  die  Person 
der  an  und  für  sich  seiende  unendliche  Wille  in  dieser 
ersten  noch  ganz  abstrakten  Bestimmung  ist,  so  ist  dies 
von  ihm  Unterschiedene,  was  die  Sphäre  seiner  Freiheit 
ausmachen  kann,  gleichfalls  als  das  von  ihm  unmittelbar 
Verschiedene  und  Trennbare  bestimmt. 

§42. 

Das  von  dem  freien  Geiste  unmittelbar  Verschiedene  ist 
für  ihn  und  an  sich  das  Äußerliche  überhaupt,  —  eine 
Sache,   ein  Unfreies,   Unpersönliches  und  Rechtloses. 

Sache  hat  wie  das  Objektive  die  entgegengesetzten 
Bedeutungen,  das  eine  Mal,  wenn  man  sagt:  das  ist 
die  Sache,  es  kommt  auf  die  Sache,  nicht  auf  die 
Person  an,  —  die  Bedeutung  des  Substantiellen;  das 
andere  Mal  gegen  die  Person  (nämlich  nicht  das  be- 
sondere Subjekt)  ist  die  Sache  das  Gegenteil  des  Sub- 
stantiellen, das  seiner  Bestimmung  nach  nur  Äußer- 
liche. —  Was  für  den  freien  Geist,  der  vom  bloßen 
Bewußtsein  wohl  unterschieden  werden  muß,  das  Äußer- 
liche ist,  ist  es  an  und  für  sich,  darum  ist  die  Begriffs- 
bestimmung der  Natur  dies,  das  Äußerliche  an  ihr 
selbst  zu  sein. 

§  43. 

Die  Person  hat  als  der  unmittelbare  Begriff  und 
damit  auch  wesentlich  Einzelne  eine  natürliche  Existenz, 
teils  an  ihr  selbst,  teils  als  eine  solche,  zu  der  sie  als 
einer  Außenwelt  sich  verhält.  —  Nur  von  diesen  Sachen, 
als  die  es  unmittelbar,  nicht  von  Bestimmungen,  die  es 
durch  die  Vermittelung  des  Willens  zu  werden  fähig  sind, 
ist  hier  bei  der  Person,  die  selbst  noch  in  ihrer  ersten 
Unmittelbarkeit  ist,  die  Rede. 

Geistige  Geschicklichkeiten,  Wissenschaften,  Künste, 
selbst  Religiöses  (Predigten,  Messen,  Gebete,  Segen  in  ge- 
weihten Dingen),  Erfindungen  u,  s.  f.  werden  Gegenstände  |l 


I 


Erster  Abschnitt.     Das  Eigentum.    §  43.  53 

des  Vertrags,  anerkannten  Sachen  in  Weise  desKaufens, 
Verkaufens  u.  s.  f.  gleichgesetzt.  Man  kann  fragen,  ob 
der  Künstler,  der  Gelehrte  u.  s.  f.  im  juristischen  Besitze 
seiner  Kunst,  Wissenschaft,  seiner  Fähigkeit,  eine  Predigt 
zu  halten,  Messe  zu  lesen  u.  s.  w.  sei,  d.  i.  ob  dergleichen 
Gegenstände  Sachen  seien.  Man  wird  Anstand  nehmen, 
solche  Geschicklichkeiten,  Kenntnisse,  Fähigkeiten  u.  s.  f. 
Sachen  zu  nennen:  da  über  dergleichen  Besitz  einer- 
seits als  über  Sachen  verhandelt  und  kontrahiert  wird, 
er  andererseits  aber  ein  Inneres  und  Geistiges  ist,  kann 
der  Verstand  über  die  juristische  Qualifikation  desselben 
in  Verlegenheit  sein,  da  ihm  nur  der  Gegensatz:  daß 
etwas  entweder  Sache  oder  Nicht-Sache  (wie  das  Ent- 
weder unendlich,  Oder  endlich),  vorschwebt,  Kennt- 
nisse, Wissenschaften,  Talente  u.  s.  f.  sind  freilich  dem 
freien  Geiste  eigen  und  ein  Innerliches  desselben,  nicht 
ein  Äußerliches,  aber  ebensosehr  kann  er  ihnen  durch 
die  Äußerung  ein  äußerliches  Dasein  geben  und  sie 
veräußern  (s.  unten),  wodurch  sie  unter  die  Bestim- 
mung von  Sachen  gesetzt  werden.  Sie  sind  also  nicht 
zuerst  ein  Unmittelbares,  sondern  werden  es  erst  durch 
die  Vermittelung  des  Geistes,  der  sein  Inneres  zur  Un- 
mittelbarkeit und  Äußerlichkeit  herabsetzt,  —  Nach  der 
unrechtlichen  und  unsittlichen  Bestimmung  des  römischen 
Eechts  waren  die  Kinder  Sachen  für  den  Vater  und 
dieser  hiermit  im  juristischen  Besitze  seiner  Kinder,  und 
doch  wohl  stand  er  auch  im  sittlichen  Verhältnisse  der 
Liebe  zu  ihnen  (das  freilich  durch  jenes  Unrecht  sehr 
geschwächt  werden  mußte).  Es  fand  darin  also  eine, 
aber  ganz  unrechtliche  Vereinigung  der  beiden  Bestim- 
mungen von  Sache  und  Nicht-Sache  statt,  —  Im  ab- 
strakten Rechte,  das  nur  die  Person  als  solche,  somit 
auch  das  Besondere,  was  zum  Dasein  und  Sphäre  ihrer 
Freiheit  gehört,  nur  insofern  zum  Gegenstande  hat,  als 
es  als  ein  von  ihr  Trennbares  und  unmittelbar  Ver- 
schiedenes ist,  dies  mache  seine  wesentliche  Bestimmung 
aus,  oder  es  könne  sie  nur  erst  vermittelst  des  sub- 
jektiven Willens  erhalten,  kommen  geistige  Geschick- 
lichkeiten, Wissenschaften  u.  s.  f.  allein  nach  ihrem  juristi- 
schen Besitze  in  Betracht;  der  Besitz  des  Körpers  und 
des  Geistes,  der  durch  Bildung,  Studium,  Gewöhnung  u.  s.  f. 
erworben  wird,  und  als  ein  inneres  Eigentum  des 
Geistes  ist,  ist  hier  nicht  abzuhandeln.  Von  dem  Über- 
gange aber  eines  solchen  geistigen  Eigentums  in  die 


54  Erster  Teil.     Das  abstrakte  Recht.    §  44— 4ü. 

Äui3erlichkeit,  in  welcher  es  unter  die  Bestimmung  eines 
juristisch-rechtlichen  Eigentums  fällt,  ist  erst  bei  der 
Veräußerung  zu  sprechen, 

§44. 

Die  Person  hat  das  Recht,  in  jede  Sache  ihren  Willen 
zu  legen,  welche  dadurch  die  Meinige  ist,  zu  ihrem 
substantiellen  Zwecke,  da  sie  einen  solchen  nicht  in  sich 
selbst  hat,  ihrer  Bestimmung  und  Seele  meinen  Willen 
erhält,  —  absolutes  Zueignungsrecht  des  Menschen  auf 
alle  Sachen. 

Diejenige  sogenannte  Philosophie,  welche  den  un- 
mittelbaren einzelnen  Dingen,  dem  Unpersönlichen, 
Realität  im  Sinne  von  Selbständigkeit  und  wahrhaftem 
Für-  und  Insichsein  zuschreibt,  ebenso  diejenige,  welche 
versichert,  der  Geist  könne  die  Wahrheit  nicht  erkennen 
und  nicht  wissen,  was  das  Ding  an  sich  ist,  wird  von 
dem  Verhalten  des  freien  Willens  gegen  diese  Dinge 
unmittelbar  widerlegt.  Wenn  für  das  Bewußtsein,  für 
das  Anschauen  und  Vorstellen  die  sogenannten  Außen- 
dinge den  Schein  von  Selbständigkeit  haben,  so  ist 
dagegen  der  freie  Wille  der  Idealismus,  die  Wahrheit 
solcher  Wirklichkeit. 

§45. 

Daß  Ich  etwas  in  meiner  selbst  äußeren  Gewalt  habe, 
macht  den  Besitz  aus,  sowie  die  besondere  Seite,  daß 
Ich  etwas  aus  natürlichem  Bedürfnisse,  Triebe  und  der 
Willkür  zu  dem  Meinigen  mache,  das  besondere  Interesse 
des  Besitzes  ist.  Die  Seite  aber,  daß  Ich  als  freier  Wille 
mir  im  Besitze  gegenständlich  und  hiermit  auch  erst  wirk- 
licher Wille  bin,  macht  das  Wahrhafte  und  Rechtliche 
darin,  die  Bestimmung  des  Eigentums  aus. 

Eigentum  zu  haben,  erscheint  in  Rücksicht  auf  das 
Bedürfnis,  indem  dieses  zum  Ersten  gemacht  wird,  als 
Mittel;  die  wahrhafte  Stellung  aber  ist,  daß  vom  Stand- 
punkte der  Freiheit  aus  das  Eigentum  als  das  erste 
Dasein  derselben,  wesentlicher  Zweck  für  sich  ist. 

§  46. 
Da   mir    im   Eigentum   mein    Wille    als    persönlicher, 
somit  als  Wille  des  Einzelnen  objektiv  wird,  so  erhält  es 
5en  Charakter  von  Privateigentum,  und  gemeinschaft- 
liches Eigentum,  das  seiner  Natur  nach  vereinzelt  besessen 


I 


Erster  Abschnitt.     Das  Eigentum.    >5  47.  55 

werden  kann,  die  Bestimmung  von  einer  an  sich  auflös- 
baren Gemeinschaft,  in  der  meinen  Anteil  zu  lassen,  für 
sich  Sache  der  Willkür  ist. 

Die  Benutzung  elementarischer  Gegenstände  ist, 
ihrer  Natur  nach,  nicht  fähig,  zu  Privatbesitz  partiku- 
larisiert  zu  werden.  —  Die  agrarischen  Gesetze  in 
Rom  enthalten  einen  Kampf  zwischen  Gemeinsamkeit 
und  Privateigentümlichkeit  des  Grundbesitzes;  die  letztere 
mußte  als  das  vernünftigere  Moment,  obgleich  auf  Kosten 
anderen  Rechts,  die  Oberhand  behalten.  —  Familien- 
fideikommissarisches  Jjjgentum  enthält  ein  Moment, 
dem  das  Recht  der  Persönlichkeit  und  damit  des  Privat- 
eigentums entgegensteht.  Aber  die  Bestimmungen,  die 
das  Privateigentum  betreffen,  können  höheren  Sphären 
des  Rechts,  einem  Gemeinwesen,  dem  Staate  unter- 
geordnet werden  müssen,  wie  in  Rücksicht  auf 
Privateigentümlichkeit  beim  Eigentum  einer  soge- 
nannten moralischen  Person,  Eigentum  in  toter  Hand, 
der  Fall  ist.  Jedoch  können  solche  Ausnahmen  nicht 
im  Zufall,  in  Privatwillkür,  Privatnutzen,  sondern  nur 
in  dem  vernünftigen  Organismus  des  Staats  begründet 
sein,  —  Die  Idee  des  platonischen  Staats  enthält  das 
Unrecht  gegen  die  Person,  des  Privateigentums  unfähig 
zu  sein,  als  allgemeines  Prinzip.  Die  Vorstellung  von 
einer  frommen  oder  freundschaftlichen  und  selbst  er- 
zwungenen Verbrüderung  der  Menschen  mit  Gemein- 
schaft der  Güter  und  der  Verbannung  des  privat- 
eigentümlichen Prinzips  kann  sich  der  Gesinnung  leicht 
darbieten,  welche  die  Natur  der  Freiheit  des  Geistes 
und  des  Rechts  verkennt  und  sie  nicht  in  ihren  be- 
stimmten Momenten  erfaßt.  Was  die  moralische  oder 
religiöse  Rücksicht  betrifft,  so  hielt  Epikur  seine 
Freunde,  wie  sie,  einen  solchen  Bund  der  Gütergemein- 
schaft zu  errichten,  vorhatten,  gerade  aus  dem  Grunde 
davon  ab,  weil  dies  ein  Mißtrauen  beweise,  und  die 
einander  mißtrauen,  nicht  Freunde  seien.  (Diog.  Laert. 
I.  X.  n.  VI.) 

§  47. 
Als  Person  bin  Ich  selbst  unmittelbar  Einzelner, 
—  dies  heißt  in  seiner  weiteren  Bestimmung  zunächst: 
Ich  bin  lebendig  in  diesem  organischen  Körper,, 
welcher  mein  dem  Inhalte  nach  allgemeines  ungeteiltes 
äußeres   Dasein,    die   reale    Möglichkeit   alles   Aveiter    be- 


56  Erster  Teil.     Das  abstrakte  Hecht.    §  48. 

stimmten  Daseins  ist.  Aber  als  Person  habe  ich  zugleich 
mein  Leben  und  Körper,  wie  andere  Sachen,  nur  in- 
sofern es  mein  Wille  ist. 

Daß  Ich  nach  der  Seite,  nach  welcher  Ich  nicht 
als  der  für  sich  seiende,  sondern  als  der  unmittelbare 
Begriff  existiere,  lebendig  bin  und  einen  organischen 
Körper  habe,  beruht  auf  dem  Begriffe  des  Lebens  und 
dem  des  Geistes  als  Seele,  —  auf  Momenten,  die  aus 
der  Naturphilosophie  (Encyklop.  der  philos.  Wissensch. 
§  259  ff.  vgl.  §  161,  164  und  298)  und  der  Anthropologie 
(ebendas.  §  318)^)  aufgenommen  sind.  — 

Ich  habe  diese  Glieder,  das  Leben  nur,  insofern 
ich  will;  das  Tier  kann  sich  nicht  selbst  verstümmeln 
oder  umbringen,   aber  der  Mensch. 

§  48. 

Der  Körper,  insofern  er  unmittelbares  Dasein  ist,  ist 
er  dem  Geiste  nicht  angemessen;  um  williges  Organ  und 
beseeltes  Mittel  desselben  zu  sein,  muß  er  erst  von  ihm 
in  Besitz  genommen  werden  (§  57).  —  Aber  für 
andere  bin  ich  wesentlich  ein  Freies  in  meinem  Körper, 
wie  ich  ihn  unmittelbar  habe. 

Nur  weil  Ich  als  Freies  im  Körper  lebendig  bin, 
darf  dieses  lebendige  Dasein  nicht  zum  Lasttiere  miß- 
braucht werden.  Insofern  Ich  lebe,  ist  meine  Seele  (der 
Begriff  und  höher  das  Freie)  und  der  Leib  nicht  ge- 
schieden, dieser  ist  das  Dasein  der  Freiheit  und  ,Ich 
empfinde  in  ihm.  Es  ist  daher  nur  ideeloser,  sophi- 
stischer Verstand,  welcher  die  Unterscheidung  machen 
kann,  daß  das  Ding  an  sich,  die  Seele,  nicht  berührt 
oder  angegriffen  werde,  wenn  der  Körper  mißhandelt 
und  die  Existenz  der  Person  der  Gewalt  eines  anderen 
unterworfen  wird.  Ich  kann  mich  aus  meiner  Existenz 
in  mich  zurückziehen  und  sie  zur  äußerlichen  machen. 
—  die  besondere  Empfindung  aus  mir  hinaushalten  und 
in  den  Fesseln  frei  sein.  Aber  dies  ist  mein  Wille, 
für  den  anderen  bin  Ich  in  meinem  Körper;  frei  für 
den  anderen  bin  ich  nur  als  frei  im  Dasein,  ist  ein 
identischer  Satz  (s.  meine  Wissensch.   der  Logik  I.  Bd.. 


1)  In  der  3.  Aufl.  §  336 ff.;  vgl.  §§  213,  216,  376  (Phil. 
Bibl.  Bd.  33,  S.  303ff".,  190,  194,  331)  u.  §§  388ff".  (Phil.  Bibl. 
Bd.  C3,  S.  339  ß".). 


Erster  Abschnitt.     Das  Eigentum.    §  49.  57 

S.   49ff,)^).    Meinem   Körper   von   anderen    angetane 
Gewalt  ist  Mir  angetane  Gewalt. 

Dai3,  weil  Ich  empfinde,  die  Berührung  und  Gewalt 
gegen  meinen  Körper  mich  unmittelbar  als  wirklich 
und  gegenwärtig  berührt,  macht  den  unterschied 
zwischen  persönlicher  Beleidigung  und  zwischen  Ver- 
letzung meines  äußeren  Eigentums,  als  in  welchem  mein 
Wille  nicht  in  dieser  unmittelbaren  Gegenwart  und  Wirk- 
lichkeit ist. 

§  49. 
Im  Verhältnisse  zu  äußerlichen  Dingen  ist  das  Ver- 
nünftige, daß  Ich  Eigentum  besitze;  die  Seite  des  Be- 
sonderen aber  begreift  die  subjektiven  Zwecke,  Bedürf- 
nisse, die  Willkür,  die  Talente,  äußere  Umstände  u.  s.  f. 
(§  45);  hiervon  hängt  der  Besitz  bloß  als  solcher  ab, 
aber  diese  besondere  Seite  ist  in  dieser  Sphäre  der  ab- 
strakten Persönlichkeit  noch  nicht  identisch  mit  der  Frei- 
heit gesetzt.  Was  und  wieviel  Ich  besitze,  ist  daher 
eine  rechtliche  Zufälligkeit. 

In  der  Persönlichkeit  sind  die  mehreren  Personen, 
wenn  man  hier  von  mehreren  sprechen  will,  wo  noch 
kein  solcher  Unterschied  stattfindet,  gleich.  Dies  ist 
aber  ein  leerer  tautologischer  Satz;  denn  die  Person  ist 
als  das  Abstrakte  eben  das  noch  nicht  Besonderte  und 
in  bestimmtem  Unterschiede  Gesetzte.  —  Gleichheit 
ist  die  abstrakte  Identität  des  Verstandes,  auf  welche 
das  reflektierende  Denken,  und  damit  die  Mittelmäßigkeit 
des  Geistes  überhaupt,  zunächst  verfällt,  wenn  ihm  die 
Beziehung  der  Einheit  auf  einen  Unterschied  vorkommt. 
Hier  wäre  die  Gleichheit  nur  Gleichheit  der  abstrakten 
Personen  als  solcher,  außer  welcher  eben  damit  alles, 
was  den  Besitz  betrifft,  dieser  Boden  der  Ungleich- 
heit, fällt.  —  Die  bisweilen  gemachte  Forderung  der 
Gleichheit  in  Austeilung  des  Erdbodens  oder  gar  des 
weiter  vorhandenen  Vermögens,  ist  ein  um  so  leererer 
und  oberflächlicherer  Verstand,  als  in  diese  Besonderheit 
nicht  nur  die  äußere  Naturzufälligkeit,  sondern  auch 
der  ganze  Umfang  der  geistigen  Natur  in  ihrer  un- 
endlichen Besonderheit  und  Verschiedenheit,  sowie  in 
ihrer  zum  Organismus  entwickelten  Vernunft  fällt,   — 

1)  In  der~2rAufl.  (Hegels  AVwe.  3.  Bd.  1833)  ist  dieser 
Abschnitt  der  Logik  stark  verändert;  dem  obigen  Zitat  entspricht 
dort  S.  115ff. 


58  Erster  Teil.     Das  abstrakte  Recht.    §  ')0—ö-2. 

Von  einer  Ungerechtigkeit  der  Natur  über  un- 
gleiches Austeilen  des  Besitzes  und  Vermögens  kann 
nicht  gesprochen  werden,  denn  die  Natur  ist  nicht  frei, 
und  darum  weder  gerecht,  noch  ungerecht.  Daß  alle 
Menschen  ihr  Auskommen  für  ihre  Bedürfnisse  haben 
sollen,  ist  teils  ein  moralischer  und,  in  dieser  Unbestimmt- 
heit ausgesprochen,  zwar  wohlgemeinter,  aber,  wie  das 
bloß  Wohlgemeinte  überhaupt,  nichts  Objektives  seiender 
Wunsch,  teils  ist  Auskommen  etwas  anderes  als  Besitz 
und  gehört  einer  anderen  Sphäre,  der  bürgerlichen 
Gesellschaft,  an. 

§  50. 

Daß  die  Sache  dem  in  der  Zeit  zufällig  Ersten,  der 

sie  in  Besitz  nimmt,  angehört,  ist,  weil  ein  Zweiter  nicht  in 

Besitz  nehmen  kann,  was  bereits  Eigentum  eines  anderen  ist, 

eine  sich  unmittelbar  verstehende,  überflüssige  Bestimmung. 

§  51. 
Zum  Eigentum  als  dem  Dasein  der  Persönlichkeit, 
ist  meine  innerliche  Vorstellung  und  Wille,  daß  etwas 
mein  sein  solle,  nicht  hinreichend,  sondern  es  wird  dazu 
die  Besitzergreifung  erfordert.  Das  Dasein,  welches 
jenes  Wollen  hierdurch  erhält,  schließt  die  Erkennbarkeit 
für  andere  in  sich.  —  Daß  die  Sache,  von  der  Ich  Besitz 
nehmen  kann,  herrenlos  sei,  ist  (wie  §  50)  eine  sich  von 
selbst  verstehende  negative  Bedingung,  oder  bezieht  sich 
vielmehr  auf  das  antizipierte  Verhältnis  zu  anderen. 

§  52. 
Die  Besitzergreifung  macht  die  Materie  der  Sache  zu 
meinem  Eigentum,  da  die  Materie  für  sich  nicht  ihr  eigen  ist. 
Die  Materie  leistet  mir  Widerstand  (und  sie  ist 
nur  dies,  mir  Widerstand  zu  leisten),  d.  i.  sie  zeigt  mir 
ihr  abstraktes  Fürsichsein  nur  als  abstraktem  Geiste, 
nämlich  als  sinnlichem  (verkehrter  Weise  hält  das 
sinnliche  Vorstellen  das  sinnliche  Sein  des  Geistes  für 
das  Konkrete  und  das  Vernünftige  für  das  Abstrakte), 
aber  in  Beziehung  auf  den  Willen  und  Eigentum  hat 
dies  Fürsichsein  der  Materie  keine  Wahrheit.  Das  Besitz- 
ergreifen als  äußerliches  Tun,  wodurch  das  allgemeine 
Zueignungsrecht  der  Naturdinge  verwirklicht  wird,  tritt 
in  die  Bedingungen  der  physischen  Stärke,  der  List, 
der  Geschicklichkeit,  der  Vermittelung  überhaupt,  wo- 
durch man  körperlicherweise  etwas  habhaft  wird.    Nach 


Erster  Abschnitt.     Das  Eigentum.    §  53.  59 

der  qualitativen  Verschiedenheit  der  Naturdinge  hat 
deren  Bemächtigung  und  Besitznahme  einen  unendlich 
vielfachen  Sinn  und  eine  ebenso  unendliche  Beschränkung 
und  Zufälligkeit.  Ohnehin  ist  die  Gattung  und  das  Ele- 
mentarische, als  solches,  nicht  Gegenstand  der  per- 
sönlichen Einzelnheit;  um  dies  zu  werden  und  er- 
griffen werden  zu  können,  muß  es  erst  vereinzelt 
werden  (ein  Atemzug  der  Luft,  ein  Schluck  Wassers). 
An  der  Unmöglichkeit,  eine  äui3erliche  Gattung  als  solche 
und  das  Elementarische  in  Besitz  nehmen  zu  können, 
ist  nicht  die  äußerliche  physische  Unmöglichkeit  als 
das  letzte  zu  betrachten,  sondern  daß  die  Person  als 
Wille  sich  als  Einzelnheit  bestimmt  und  als  Person 
zugleich  unmittelbare  Einzelnheit  ist,  hiermit  sich  auch 
als  solche  zum  Äußerlichen  als  zu  Einzelnheiten  verhält. 
(§  13  Anm.,  §  43.)  —  Die  Bemächtigung  und  das  äußer- 
liche Besitzen  wird  daher  auch  auf  unendliche  Weise 
mehr  oder  weniger  unbestimmt  und  unvollkommen. 
Immer  aber  ist  die  Materie  nicht  ohne  wesentliche  Form 
und  nur  durch  diese  ist  sie  etwas.  Je  mehr  ich  mir 
diese  Form  aneigne,  desto  mehr  komme  ich  auch  in 
den  wirklichen  Besitz  der  Sache.  Das  Verzehren  von 
Nahrungsmitteln  ist  eine  Durchdringung  und  Verände- 
rung ihrer  qualitativen  Natur,  durch  die  sie  vor  dem 
Verzehren  das  sind,  was  sie  sind.  Die  Ausbildung  meines 
organischen  Körpers  zu  Geschicklichkeiten,  sowie  die 
Bildung  meines  Geistes  ist  gleichfalls  eine  mehr  oder 
weniger  vollkommene  Besitznahme  und  Durchdringung; 
der  Geist  ist  es,  den  ich  mir  am  vollkommensten  zu 
eigen  machen  kann.  Aber  diese  Wirklichkeit  der 
Besitzergreifung  ist  verschieden  von  dem  Eigentum 
als  solchem,  welches  durch  den  freien  Willen  vollendet 
ißt.  Gegen  ihn  hat  die  Sache  nicht  ein  Eigentümliches 
für  sich  zurückbehalten,  wenn  schon  im  Besitze,  als 
einem  äußerlichen  Verhältnis,  noch  eine  Äußerlichkeit 
zurückbleibt.  Über  das  leere  Abstraktum  einer  Materie 
ohne  Eigenschaften,  welches  im  Eigentum  außer  mir 
und  der  Sache  eigen  bleiben  soll,  muß  der  Gedanke 
Meister  werden. 

§  53. 
Das   Eigentum   hat  seine   näheren   Bestimmungen   im 
Verhältnisse   des    Willens    zur    Sache;    dieses    ist   a)    un- 
mittelbar Besitznahme,  insofern  der  Wille  in  der  Sache. 


60        Erster  Teil.     Das  abstrakte  Recht.     Erster  Abschnitt. 

als  einem  Positiven,  sein  Dasein  hat;  ß)  insofern  sie 
ein  Negatives  gegen  ihn  ist,  hat  er  sein  Dasein  in  ihr 
als  einem  zu  Negierenden,  —  Gebrauch,  y)  die  Reflexion 
des  Willens  in  sich  aus  der  Sache  —  Veräußerung;  — 
positives,  negatives  und  unendliches  Urteil  des 
Willens  über   die  Sache. 

A.  Besitznahme. 

§54. 

Die  Besitznahme  ist  teils  die  unmittelbare  körper- 
liche Ergreifung,  teils  die  Formierung,  teils  die 
bloße  Bezeichnung. 

§55. 

a)  Die  körperliche  Ergreifung  ist  nach  der  sinn- 
lichen Seite,  indem  Ich  in  diesem  Besitzen  unmittelbar 
gegenwärtig  bin  und  damit  mein  Wille  ebenso  erkennbar 
ist,  die  vollständigste  Weise;  aber  überhaupt  nur  sub- 
jektiv, temporär  und  dem  Umfange  nach,  sowie  auch  durch 
die  qualitative  Natur  der  Gegenstände  höchst  eingeschränkt. 
—  Durch  den  Zusammenhang,  in  den  ich  etwas  mit  ander- 
wärts mir  schon  eigentümlichen  Sachen  bringen  kann, 
oder  etwas  sonst  zufälligerweise  kommt,  durch  andere 
Vermittelungen  wird  der  Umfang  dieser  Besitznahme  etwas 
ausgedehnt. 

Mechanische  Kräfte,  Waffen,  Instrumente  erweitern 
den  Bereich  meiner  Gewalt.  —  Zusammenhänge,  wie 
des  meinen  Boden  bespülenden  Meeres,  Stromes,  eines 
zur  Jagd,  Weide,  und  anderer  Benutzung  tauglichen 
Bodens,  der  an  mein  festes  Eigentum  angrenzt,  der 
Steine  und  anderer  Mineralienlager  unter  meinem  Acker, 
Schätze  in  oder  unter  meinem  Grundeigentum  u.  s.  f.,  — 
oder  Zusammenhänge,  die  erst  in  der  Zeit  und  zufällig 
erfolgen  (wie  ein  Teil  der  sogenannten  natürlichen 
Accessionen,  Alluvion  und  dergleichen,  auch  Stran- 
dung) — ,  die  Foetura  ist  wohl  eine  Accession  zu  meinem 
Vermögen,  aber,  als  ein  organisches  Verhältnis,  kein 
äußerliches  Hinzukommen  zu  einer  anderen  von  mir 
besessenen  Sache  und  daher  von  ganz  anderer  Art, 
als  die  sonstigen  Accessionen,  —  sind  teils  leichtere 
zum  Teil  ausschließende  Möglichkeiten,  etwas  in  Besitz 
zu  nehmen  oder  zu  benutzen  für  einen  Besitzer  gegen 
einen  anderen,  teils  kann  das  Hinzugekommene  als  ein 


Das  Eigentum.     A.  Besitznahme.    §  56 — 57.  gl 

unselbständiges  Accidens  der  Sache,  zu  der  es  hinzu- 
gekommen, angesehen  werden.  Es  sind  dies  überhaupt 
äußerliche  Verknüpfungen,  die  nicht  den  Begriff  und 
die  Lebendigkeit  zu  ihrem  Bande  haben.  Sie  fallen 
daher  dem  Verstände  für  Herbeibringung  und  Ab- 
wägung der  Gründe  und  Gegengründe  und  der  positiven 
Gesetzgebung  zur  Entscheidung,  nach  einem  Mehr  oder 
Weniger  von  Wesentlichkeit  oder  Unwesentlichkeit  der 
Beziehungen,  anheim. 

§56. 

ß)  Durch  die  Formierung  erhält  die  Bestimmung, 
daß  etwas  das  Meinige  ist,  eine  für  sich  bestehende 
Äußerlichkeit  und  hört  auf,  auf  meine  Gegenwart  in 
diesem  Raum  und  in  dieser  Zeit  und  auf  die  Gegenwart 
meines  Wissens  und  Wollens  beschränkt  zu   sein. 

Das  Formieren  ist  insofern  die  der  Idee  an- 
gemessenste Besitznahme,  weil  sie  das  Subjektive  und 
Objektive  in  sich  vereinigt,  übrigens  nach  der  qualita- 
tiven Natur  der  Gegenstände  und  nach  der  Verschieden- 
heit der  subjektiven  Zwecke  unendlich  verschieden.  — 
Es  gehört  hierher  auch  das  Formieren  des  Organischen, 
an  welchem  das,  was  ich  an  ihm  tue,  nicht  als  ein 
Äußerliches  bleibt,  sondern  assimiliert  wird;  Bearbeitung 
der  Erde,  Kultur  der  Pflanzen,  Bezähmen,  Füttern  und 
Hegen  der  Tiere;  —  weiter  vermittelnde  Veranstaltun- 
gen zur  Benutzung  elementarischer  Stoffe  oder  Kräfte, 
veranstaltete  Einwirkung  eines  Stoffes  auf  einen 
anderen  u.  s.  f. 

§57. 

Der  Mensch  ist  nach  der  unmittelbaren  Existenz 
an  ihm  selbst  ein  Natürliches,  seinem  Begriffe  Äußeres; 
erst  durch  die  Ausbildung  seines  eigenen  Körpers  und 
Geistes,  wesentlich  dadurch,  daß  sein  Selbstbewußt- 
sein sich  als  freies  erfaßt,  nimmt  er  sich  in  Besitz 
und  wird  das  Eigentum  seiner  selbst  und  gegen  andere. 
Dieses  Besitznehmen  ist  umgekehrt  ebenso  dies,  das,  was 
er  seinem  Begriffe  nach  (als  eine  Möglichkeit,  Ver- 
mögen, Anlage)  ist,  in  die  Wirklichkeit  zu  setzen,  wo- 
durch es  ebensowohl  erst  als  das  Seinige  gesetzt,  als 
auch  als  Gegenstand  und  vom  einfachen  Selbstbewußtsein 
unterschieden  und  dadurch  fähig  wird,  die  Form  der 
Sache  zu  erhalten  (vergl.  Anm.  zu  §  43). 


62        Erster  Teil.     Das  abstrakte  Recht.     Erster  Abschnitt. 

Die  behauptete  Berechtigung  der  Sklaverei  (in 
allen  ihren  näheren  Begründungen  durch  die  physische 
Gewalt,  Kriegsgefangenschaft,  Rettung  und  Erhaltung 
des  Lebens,  Ernährung,  Erziehung,  Wohltaten,  eigene 
Einwilligung  u.  s.  f.),  sowie  die  Berechtigung  einer  Herr- 
schaft, als  bloßer  Herrenschaft  überhaupt  und  alle 
historische  Ansicht  über  das  Recht  der  Sklaverei 
und  der  Herrenschaft  beruht  auf  dem  Standpunkt, 
den  Menschen  als  Naturwesen  überhaupt  nach 
einer  Existenz  (v/ozu  auch  die  Willkür  gehört)  zu 
nehmen,  die  seinem  Begriffe  nicht  angemessen  ist.  Die 
Behauptung  des  absoluten  Unrechts  der  Sklaverei  hin- 
gegen hält  am  Begriffe  des  Menschen  als  Geistes, 
als  des  an  sich  freien,  fest  und  ist  einseitig  darin, 
daß  sie  den  Menschen  als  von  Natur  frei,  oder,  was 
dasselbe  ist,  den  Begriff  als  solchen  in  seiner  Unmittel- 
barkeit, nicht  die  Idee,  als  das  Wahre  nimmt.  Diese 
Antinomie  beruht,  wie  alle  Antinomie,  auf  dem  for- 
mellen Denken,  das  die  beiden  Momente  einer  Idee, 
getrennt,  jedes  für  sich,  damit  der  Idee  nicht  angemessen 
und  in  seiner  Unwahrheit,  festhält  und  behauptet.  Der 
freie  Geist  ist  eben  dieses  (§  21),  nicht  als  der  bloße 
Begriff  oder  an  sich  zu  sein,  sondern  diesen  Formalis- 
mus seiner  selbst  und  damit  die  unmittelbare  natürliche 
Existenz  aufzuheben  und  sich  die  Existenz  nur  als  die 
seinige,  als  freie  Existenz,  zu  geben.  Die  Seite  der 
Antinomie,  die  den  Begriff  der  Freiheit  behauptet,  hat 
daher  den  Vorzug,  den  absoluten  Ausgangspunkt, 
aber  auch  nur  den  Ausgangspunkt  für  die  Wahrheit 
zu  enthalten,  während  die  andere  Seite,  welche  bei  der 
begrifflosen  Existenz  stehen  bleibt,  den  Gesichtspunkt 
von  Vernünftigkeit  und  Recht  gar  nicht  enthält.  Der 
Standpunkt  des  freien  Willens,  womit  das  Recht  und  die 
Rechtswissenschaft  anfängt,  ist  über  den  unwahren  Stand- 
punkt, auf  welchem  der  Mensch  als  Naturwesen  und 
nur  als  an  sich  seiender  Begriff,  der  Sklaverei  daher 
fähig  ist,  schon  hinaus.  Diese  frühere  unwahre  Er- 
scheinung betrifft  den  Geist,  welcher  nur  erst  auf  dem 
Standpunkte  seines  Bewußtseins  ist;  die  Dialektik  des 
Begriffs  und  des  nur  erst  unmittelbaren  Bewußtseins 
der  Freiheit,  bewirkt  daselbst  den  Kampf  des  An- 
erkennens  und  das  Verhältnis  der  Herrenschaft 
und  der  Knechtschaft  (s.  Phänomenologie  des  Geistes, 
S.    115ff.    und    Encyklop.    der    philosoph.    Wissensch. 


Das  Eigentum.    B.  Gebrauch  der  Sache.    §  58 — 59.  (53 

§  352ff.)^).  Daß  aber  der  objektive  Geist,  der  Inhalt 
des  Eechts,  nicht  selbst  wieder  nur  in  seinem  sub- 
jelitiven  Begriffe,  und  damit,  daß  dies,  daß  der  Mensch 
an  und  für  sich  nicht  zur  Sklaverei  bestimmt  sei,  nicht 
wieder  als  ein  bloßes  Sollen  aufgefaßt  werde,  dies 
findet  allein  in  der  Erkenntnis  statt,  daß  die  Idee  der 
Freiheit  wahrhaft  nur  als  der  Staat  ist. 

§58. 

y)  Die  für  sich  nicht  wirkliche,  sondern  meinen  Willen 
nur  vorstellende  Besitznahme  ist  ein  Zeichen  an  der 
Sache,  dessen  Bedeutung  sein  soll,  daß  Ich  meinen  Willen 
in  sie  gelegt  habe.  Diese  Besitznahme  ist  nach  dem 
gegenständlichen  Umfang  und  der  Bedeutung  sehr  un- 
bestimmt. 

B.  Der  Gebrauch  der  Sache. 

§59. 

Durch  die  Besitznahme  erhält  die  Sache  das  Prädikat 
die  meinige  zu  sein,  und  der  Wille  hat  eine  positive 
Beziehung  auf  sie.  In  dieser  Identität  ist  die  Sache  ebenso- 
sehr als  ein  Negatives  gesetzt  und  mein  Wille  in  dieser 
Bestimmung  ein  besonderer,  Bedürfnis,  Belieben  u.  s.  f . 
Aber  mein  Bedürfnis  als  Besonderheit  eines  Willens  ist 
das  Positive,  welches  sich  befriedigt,  und  die  Sache,  als 
das  an  sich  Negative,  ist  nur  für  dasselbe  und  dient 
ihm.  —  Der  Gebrauch  ist  diese  Realisierung  meines 
Bedürfnisses  durch  die  Veränderung,  Vernichtung,  Ver- 
zehrung der  Sache,  deren  selbstlose  Natur  dadurch  ge- 
offenbart wird  und  die  so  ihre  Bestimmung  erfüllt. 

Daß  der  Gebrauch  die  reelle  Seite  und  Wirklichkeit 
des  Eigentums  ist,  schwebt  der  Vorstellung  vor,  wenn 
sie  Eigentum,  von  dem  kein  Gebrauch  gemacht  wii-d, 
für  totes  und  herrenloses  ansieht  und  bei  unrechtmäßiger 
Bemächtigung  desselben  es  als  Grund,  daß  es  vom  Eigen- 
tümer nicht  gebraucht  worden  sei,  anführt.  - —  Aber 
der  Wille  des  Eigentümers,  nach  welchem  eine  Sache 
die  seinige  ist,  ist  die  erste  substantielle  Grundlage, 
von  der  die  weitere  Bestimmung,  der  Gebrauch,  nur 
die  Erscheinung  und  besondere  Weise  ist,  die  jener  all- 
gemeinen Grundlage  nachsteht. 

1)  Phänomenol.,  Lassonsche  Ausg.  (Phil.  Bibl.  Bd.  114),  S. 
127 ff.;  Encykl.  3.  Aufl.,  §§  430ff.  (Phil.  Bibl.  Bd.  33,  S.  376 ff.). 


64        Erster  Teil.     Das  abstrakte  Recht.    Erster  Abschnitt. 

§  60. 

Die  Benutzung  einer  Sache  in  unmittelbarer  Er- 
greifung ist  für  sich  eine  einzelne  Besitznahme.  Inso- 
fern aber  die  Benutzung  sich  auf  ein  fortdauerndes  Be- 
dürfnis gründet  und  wiederholte  Benutzung  eines  sich  er- 
neuernden Erzeugnisses  ist,  etwa  auch  zum  Behufe  der 
Erhaltung  dieser  Erneuerung  sich  beschränkt,  so  machen 
diese  und  andere  Umstände  jene  unmittelbare  einzelne 
Ergreifung  zu  einem  Zeichen,  daß  sie  die  Bedeutung 
einer  allgemeinen  Besitznahme,  damit  der  Besitznahme  der 
elementarischen  oder  organischen  Grundlage  oder  der 
sonstigen  Bedingungen  solcher  Erzeugnisse  haben  soll. 

§61. 

Da  die  Substanz  der  Sache  für  sich,  die  mein  Eigen- 
tum ist,  ihre  Äußerlichkeit,  d.  i.  ihre  Nichtsubstantialität 
ist,  —  sie  ist  gegen  mich  nicht  Endzweck  in  sich  selbst 
(§  42),  —  und  diese  realisierte  Äußerlichkeit  der  Gebrauch 
oder  die  Benutzung,  die  ich  von  ihr  mache,  ist,  so  ist 
der  ganze  Gebrauch  oder  Benutzung  die  Sache  in 
ihrem  ganzen  Umfange,  so  daß,  wenn  jener  mir  zu- 
steht, Ich  der  Eigentümer  der  Sache  bin,  von  welcher 
über  den  ganzen  Umfang  des  Gebrauchs  hinaus  nichts 
übrig  bleibt,  was  Eigentum  eines  anderen  sein  könnte. 

§  62. 

Nur  ein  teilweiser  oder  temporärer  Gebrauch, 
sowie  ein  teilweiser  oder  temporärer  Besitz  (als  die 
selbst  teilweise  oder  temporäre  Möglichkeit,  die  Sache 
zu  gebrauchen),  der  mir  zusteht,  ist  daher  vom  Eigen- 
tum e  der  Sache  selbst  unterschieden.  Wenn  der  ganze 
Umfang  des  Gebrauches  mein  wäre,  das  abstrakte  Eigen- 
tum aber  eines  anderen  sein  sollte,  so  wäre  die  Sache 
als  die  meinige  von  meinem  Willen  gänzlich  durchdrungen 
(vorh.  §  und  §  52),  und  zugleich  darin  ein  für  mich  Un- 
durchdringliches, der  und  zwar  leere  Wille  eines  anderen. 
—  Ich  mir  in  der  Sache  als  positiver  Wille  objektiv  und 
zugleich  nicht  objektiv,  —  das  Verhältnis  eines  absoluten 
Widerspruchs.  —  Das  Eigentum  ist  daher  wesentlich 
freies,  volles  Eigentum. 

Die  Unterscheidung  unter  dem  Rechte  auf  den 
ganzen  Umfang  des  Gebrauchs  und  unter  ab- 
straktem Eigentum  gehört  dem  leeren  Verstände,  dem 


Das  Eigentum,    ß.  Gebrauch  der  Sache.    §  62.  65 

die  Idee,  hier  als  Einheit  des  Eigentums  oder  auch  des 
persönlichen  Willens  überhaupt,  und  der  Realität  des- 
selben, nicht  das  Wahre  ist,  sondern  dem  diese  beiden 
Momente  in  ihrer  Absonderung  voneinander  für  etwas 
Wahres  gelten.  Diese  Unterscheidung  ist  daher  als 
wirkliches  Verhältnis  das  einer  leeren  Herrenschaft,  das 
(wenn  die  Verrücktheit  nicht  nur  von  der  bloßen  Vor- 
stellung des  Subjektes  und  seiner  Wirklichkeit,  die  in 
unmittelbarem  Widerspruche  in  einem  sind,  gesagt  würde) 
eine  Verrücktheit  der  Persönlichkeit  genannt  werden 
könnte,  weil  das  Mein  in  einem  Objekte  unvermittelt 
mein  einzelner  ausschliei3ender  Wille  und  ein  anderer 
einzelner  ausschließender  Wille  sein  sollte.  —  In  den 
Institut,  libr.  II.  tit.  IV.  ist  gesagt:  ususfructus  est  jus 
alienis  rebus  utendi,  fruendi  salva  rerum  substantia. 
Weiterhin  heißt  es  ebendaselbst:  ne  tamen  in  Universum 
inutiles  essent  proprietates,  semper  abscedente  usufructu: 
placuit  certis  modis  extingui  usumfructum  et  ad  pro- 
prietatem  reverti.  —  Placuit  —  als  ob  es  erst  ein  Be- 
lieben oder  Beschluß  wäre,  jener  leeren  Unterscheidung 
durch  diese  Bestimmung  einen  Sinn  zu  geben.  Eine 
proprietas  semper  abscedente  usufructu  wäre  nicht  nur 
inutilis,  sondern  keine  proprietas  mehr.  —  Andere  Unter- 
scheidungen des  Eigentums  selbst,  wie  in  res  mancipi 
und  nee  mancipi,  das  dominium  Quiritarium  und  Bo- 
nitarium  und  dergleichen  zu  erörtern,  gehört  nicht  hier- 
her, da  sie  sich  auf  keine  Begriffsbestimmung  des  Eigen- 
tums beziehen  und  bloß  historische  Delikatessen  dieses 
Rechts  sind.  —  Aber  die  Verhältnisse  des  dominii  di- 
recti  und  des  dominii  utilis,  der  emphyteutische  Ver- 
trag und  die  weiteren  Verhältnisse  von  Lehngütern  mit 
ihren  Erb-  und  anderen  Zinsen,  Güten,  Handlohn  u.  s.  f. 
in  ihren  mancherlei  Bestimmungen,  wenn  solche  Lasten 
unablösbar  sind,  enthalten  einerseits  die  obige  Unter- 
scheidung, anderseits  auch  nicht,  eben  insofern  mit  dem 
dominio  utili  Lasten  verbunden  sind,  wodurch  das  do- 
minium directum  zugleich  ein  dominium  utile  wird.  Ent- 
hielten solche  Verhältnisse  nichts,  als  nur  jene  Unter- 
scheidung in  ihrer  strengen  Abstraktion,  so  stünden  darin 
eigentlich  nicht  zwei  Herren  (domini),  sondern  ein 
Eigentümer  imd  ein  leerer  Herr  gegeneinander  über. 
Um  der  Lasten  willen  aber  sind  es  zwei  Eigentümer, 
welche  im  Verhältnisse  stehen.  Jedoch  sind  sie  nicht 
im    Verhältnisse     eines    gemeinschaftlichen    Eigen- 

Hegel,  ßechtsphilosophie.  5 


66         Erster  Teil.     Das  abstrakte  Recht.    Erster  Abschnitt. 

tums.  Zu  solchem  Verhältnisse  liegt  der  Übergang  von 
jenem  am  nächsten;  —  ein  Übergang,  der  dann  darin 
schon  begonnen  hat,  wenn  an  dem  dominium  directum 
der  Ertrag  berechnet  und  als  das  Wesentliche  an- 
gesehen, somit  das  Unberechenbare  der  Herrenschaft  über 
ein  Eigentum,  welche  etwa  für  das  Edle  gehalten 
worden,  dem  Utile,  welches  hier  das  Vernünftige  ist, 
nachgesetzt  wird. 

Es  ist  wohl  an  die  anderthalb  tausend  Jahre,  daß 
die  Freiheit  der  Person  durch  das  Christentum  zu 
erblühen  angefangen  hat  und  unter  einem  übrigens 
kleinen  Teile  des  Menschengeschlechts  allgemeines 
Prinzip  geworden  ist.  Die  Freiheit  des  Eigentums 
aber  ist  seit  gestern,  kann  man  sagen,  hier  und  da  als 
Prinzip  anerkannt  worden.  —  Ein  Beispiel  aus  der  Welt- 
geschichte über  die  Länge  der  Zeit,  die  der  Geist  braucht, 
in  seinem  Selbstbewußtsein  fortzuschreiten  —  und  gegen 
die  Ungeduld  des  Meinens. 

§  63. 

Die  Sache  im  Gebrauch  ist  eine  einzelne  nach  Qua- 
lität und  Quantität  bestimmte  und  in  Beziehung  auf  ein 
spezifisches  Bedürfnis.  Aber  ihre  spezifische  Brauchbar- 
keit ist  zugleich  als  quantitativ  bestimmt  vergleich- 
bar mit  anderen  Sachen  von  derselben  Brauchbarkeit, 
sowie  das  spezifische  Bedürfnis,  dem  sie  dient,  zugleich 
Bedürfnis  überhaupt  und  darin  nach  seiner  Besonder- 
heit ebenso  mit  anderen  Bedürfnissen  vergleichbar  ist, 
und  darnach  auci  die  Sache  mit  solchen,  die  für  andere 
Bedürfnisse  brauchbar  sind.  Diese  ihre  Allgemeinheit, 
deren  einfache  Bestimmtheit  aus  der  Partikularität  der 
Sache  hervorgeht,  so  daß  von  dieser  spezifischen  Qua- 
lität zugleich  abstrahiert  wird,  ist  der  Wert  der  Sache, 
worin  ihre  wahrhafte  Substantialität  bestimmt  und  Gegen- 
stand des  Bewußtseins  ist.  Als  voller  Eigentümer  der 
Sache  bin  ich  es  ebenso  von  ihrem  Werte,  als  von  dem 
Gebrauche  derselben. 

Der    Lehnsträger   hat  den   Unterschied  in    seinem 

Eigentum,  daß  er  nur  der  Eigentümer  des  Gebrauchs, 

nicht  des  Werts  der  Sache  sein  soll. 

§  64. 

Die  dem  Besitze  gegebene  Form  und  das  Zeichen  sind 
selbst  äußerliche  Umstände,  ohne  die  subjektive  Gegenwart 


i 


Das  Eigentum.    C.  Entäußerung  desselben.    §  65.  67 

des  Willens,  die  allein  deren  Bedeutung  und  Wert  aus- 
macht. Diese  Gegenwart  aber,  die  der  Gebrauch,  Be- 
nutzung oder  sonstiges  Äußern  des  Willens  ist,  fällt  in 
die  Zeit,  inRücksicht  welcher  die  Objektivität  die  Fort- 
dauer dieses  Äußerns  ist.  Ohne  diese  wird  die  Sache,  als 
von  der  Wirklichkeit  des  Willens  und  Besitzes  verlassen, 
herrenlos;  Ich  verliere  oder  erwerbe  daher  Eigentum  durch 
Verjährung. 

Die  Verjährung  ist  daher  nicht  bloß  aus  einer  äußer- 
lichen, dem  strengen  Recht  zuwiderlaufenden  Rücksicht 
in  das  Recht  eingeführt  worden,  der  Rücksicht,  die  Strei- 
tigkeiten und  Verwirrungen  abzuschneiden,  die  durch 
alte  Ansprüche  in  die  Sicherheit  des  Eigentums  kommen 
würden  u.  s.  f.  Sondern  die  Verjährung  gründet  sich  auf 
die  Bestimmung  der  Realität  des  Eigentums,  der  Not- 
wendigkeit, daß  der  Wille,  etwas  zu  haben,  sich  äußere. 
—  Öffentliche  Denkmale  sind  Nationaleigentum  oder 
eigentlich,  wie  die  Kunstwerke  überhaupt  in  Rücksicht 
auf  Benutzung,  gelten  sie  durch  die  ihnen  inwohnende 
Seele  der  Erinnerung  und  der  Ehre,  als  lebendige  und 
selbständige  Zwecke;  verlassen  aber  von  dieser  Seele, 
werden  sie  nach  dieser  Seite  für  eine  Nation  herrenlos 
und  zufälliger  Privatbesitz,  wie  z.  B.  die  griechischen, 
ägyptischen  Kunstwerke  in  der  Türkei.  —  Das  Privat- 
eigentumsrecht der  Familie  eines  Schriftstellers 
an  dessen  Produktionen  verjährt  sich  aus  ähnlichem 
Grunde;  sie  werden  in  dem  Sinne  herrenlos,  daß  sie  (auf 
entgegengesetzte  Weise,  wie  jene  Denkmale)  in  allge- 
meines Eigentum  übergehen  und  nach  ihrer  besonderen 
Benutzung  der  Sache  in  zufälligen  Privatbesitz.  —  Bloßes 
Land,  zu  Gräbern  oder  auch  für  sich  auf  ewige  Zeiten 
zum  Nichtgebrauch  geweiht,  enthält  eine  leere  un- 
gegenwärtige Willkür,  durch  deren  Verletzung  nichts 
Wirkliches  verletzt  wird,  deren  Achtung  daher  auch  nicht 
garantiert  werden  kann. 

C.  Entäußerung  des  Eigentums. 

§  65. 
Meines  Eigentums  kann  ich  mich  entäußern,  da  es 
das  meinige  nur  ist,  insofern  ich  meinen  Willen  darein 
lege,  —  so  daß  ich  meine  Sache  überhaupt  von  mir  als 
herrenlos  lasse  (derelinquiere),  oder  sie  dem  Willen  eines 
anderen  zum  Besitzen  überlasse,  —  aber  nur  insofern 
die  Sache  ihrer  Natur  nach  ein  Äußerliches  ist. 

5* 


68        Erster  Teil.     Das  abstrakte  Recht.    Erster  Abschnitt. 

§66. 

Unveräußerlich  sind  daher  diejenigen  Güter,  oder 
vielmehr  substantiellen  Bestimmungen,  sowie  das  Recht  an 
sie  unverjährbar,  welche  meine  eigenste  Person  und 
das  allgemeine  Wesen  meines  Selbstbewui3tseins  ausmachen, 
wie  meine  Persönlichkeit  überhaupt,  meine  allgemeine 
Willensfreiheit,    Sittlichkeit,    Religion. 

Daß  das,  was  der  Geist  seinem  Begriffe  nach  oder 
an  sich  ist,  auch  im  Dasein  und  für  sich  sei  (somit 
Person,  des  Eigentums  fähig  sei,  Sittlichkeit,  Religion 
habe),  —  diese  Idee  ist  selbst  sein  Begriff  (als  causa  sui, 
das  ist,  als  freie  Ursache,  ist  er  solches,  cujus  natura  non 
potest  concipi  nisi  existens.  Spinoza  Eth.  S.  I.  Def.  I.). 
In  eben  diesem  Begriffe,  nur  durch  sich  selbst  und 
als  unendliche  Rückkehr  in  sich  aus  der  natürlichen 
Unmittelbarkeit  seines  Daseins,  das  zu  sein,  was  er  ist, 
liegt  die  Möglichkeit  des  Gegensatzes  zwischen  dem, 
was  er  nur  an  sich  und  nicht  auch  für  sich  ist  (§  57), 
sowie  umgekehrt  zwischen  dem,  was  er  nur  für  sich, 
nicht  an  sich  ist  (im  Willen  das  Böse);  —  und  hierin 
die  Möglichkeit  der  Entäußerung  der  Persönlich- 
keit und  seines  substantiellen  Seins  —  diese  Entäuße- 
rung geschehe  auf  eine  bewußtlose  oder  ausdrückliche 
Weise.  —  Beispiele  von  Entäußerung  der  Persönlich- 
keit sind  die  Sklaverei,  Leibeigenschaft,  Unfähigkeit 
Eigentum  zu  besitzen,  die  Unfreiheit  desselben  u.  s.  f.; 
Entäußerung  der  intelligenten  Vernttnftigkeit,  Moralität, 
Sittlichkeit,  Religion  kommt  vor  im  Aberglauben,  in 
der  anderen  eingeräumten  Autorität  und  Vollmacht,  mir, 
was  ich  für  Handlungen  begehen  solle  (wenn  einer  sich 
ausdrücklich  zum  Raube,  Morde  u.  s.  f.  oder  zur  Möglich- 
keit von  Verbrechen  verdingt),  mir,  was  Gewissenspflicht, 
religiöse  Wahrheit  sei  u.  s.  f.  zu  bestimmen  und  vorzu- 
schreiben. —  Das  Recht  an  solches  Unveräußerliche  ist 
unverjährbar,  denn  der  Akt,  wodurch  ich  von  meiner 
Persönlichkeit  und  substantiellem  Wesen  Besitz  nehme, 
mich  zu  einem  Rechts-  und  Zurechnungsfähigen,  Mora- 
lischen, Religiösen  mache,  entnimmt  diese  Bestimmungen 
eben  der  Äußerlichkeit,  die  allein  ihnen  die  Fähigkeit 
gab,  im  Besitz  eines  anderen  zu  sein.  Mit  diesem  Auf- 
heben der  Äußerlichkeit  fällt  die  Zeitbestimmung  und 
alle  Gründe  weg,  die  aus  meinem  früheren  Konsens  oder 
Gefallenlassen  genommen  werden  können.    Diese  Rück- 


It 


Das  Eigentum.   C.  Entäußerung  desselben.    §  67 — 68.  69 

kehr  meiner  in  mich  selbst,  wodurch  Ich  mich  als  Idee, 
als  rechtliche  und  moralische  Person  existierend  mache, 
hebt  das  bisherige  Verhältnis  und  das  Unrecht  auf,  das 
Ich  und  der  andere  meinem  Begrüf  und  Vernunft  angetan 
hat,  die  unendliche  Existenz  des  Selbstbewußtseins  als 
ein  Äußerliches  behandeln  lassen  und  behandelt  zu  haben. 
—  Diese  Rückkehr  in  mich  deckt  den  Widerspruch  auf, 
anderen  meine  Rechtfähigkeit,  Sittlichkeit,  Religiosität 
in  Besitz  gegeben  zu  haben,  was  ich  selbst  nicht  besaß, 
und  was,  sobald  ich  es  besitze,  eben  wesentlich  nur  als 
das  Meinige  und  nicht  als  ein  Äußerliches  existiert. 

§67. 

Von  meinen  besonderen,  körperlichen  und  gei- 
stigen Geschicklichkeiten  und  Möglichkeiten  der  Tätig- 
keit kann  ich  einzelne  Produktionen  und  einen  in  der 
Zeit  beschränkten  Gebrauch  an  einen  anderen  ver- 
äußern, weil  sie  nach  dieser  Beschränkung  ein  äußer- 
liches Verhältnis  zu  meiner  Totalität  und  Allgemein- 
heit erhalten.  Durch  die  Veräußerung  meiner  ganzen 
durch  die  Arbeit  konkreten  Zeit  und  der  Totalität  meiner 
Produktion  würde  ich  das  Substantielle  derselben,  meine 
allgemeine  Tätigkeit  und  Wirklichkeit,  meine  Persön- 
lichkeit zum  Eigentum  eines  anderen  machen. 

Es  ist  dasselbe  Verhältnis,  wie  oben  §  61  zwischen 
der  Substanz  der  Sache  und  ihrer  Benutzung;  wie 
diese,  nur  insofern  sie  beschränkt  ist,  von  jener  ver- 
schieden ist,  so  ist  auch  der  Gebrauch  meiner  Kräfte 
von  ihnen  selbst  und  damit  von  mir  nur  unterschieden, 
insofern  er  quantitativ  beschränkt  ist;  —  die  Totalität 
der  Äußerungen  einer  Kraft  ist  die  Kraft  selbst,  —  der 
Accidenzen  die  Substanz,  —  der  Besonderungen  das  All- 
gemeine. 

§  68. 
Das  Eigentümliche  an  der  geistigen  Produktion  kann 
durch  die  Art  und  Weise  der  Äußerung  unmittelbar  in 
solche  Äußerlichkeit  einer  Sache  umschlagen,  die  nun 
ebenso  von  anderen  produziert  werden  kann;  so  daß  mit 
deren  Erwerb  der  nunmehrige  Eigentümer,  außerdem  daß 
er  damit  sich  die  mitgeteilten  Gedanken  oder  die  tech- 
nische Erfindung  zu  eigen  machen  kann,  welche  Mög- 
lichkeit zum  Teil  (bei  schriftstellerischen  Werken)  die 
einzige  Bestimmung  und  den  Wert  des  Erwerbs  ausmacht. 


\ 


70        Erster  Teil.     Das  absti-akte  Recht.     Erster  Abschnitt. 

zugleich  in  den  Besitz  der  allgemeinen  Art  und  Weise, 
sich  so  zu  äußern  und  solche  Sachen  vielfältig  hervorzu- 
bringen, kommt. 

Bei  Kunstwerken  ist  die  den  Gedanken  in  einem 
äußerlichen  Material  verbildlichende  Form  als  Ding  so 
sehr  das  Eigentümliche  des  produzierenden  Individuums, 
daß  ein  Nachmachen  derselben  wesentlich  das  Produkt 
der  eigenen  geistigen  und  technischen  Geschicklichkeit 
ist.  Bei  einem  schriftstellerischen  Werke  ist  die  Form, 
wodurch  es  eine  äußerliche  Sache  ist,  so  wie  bei  der 
Erfindung  einer  technischen  Vorrichtung,  mechani- 
scher Art,  —  dort,  weil  der  Gedanke  nur  in  einer 
Reihe  vereinzelter  abstrakter  Zeichen,  nicht  in  kon- 
kreter Bildnerei  dargestellt  wird,  hier,  weil  er  über- 
haupt einen  mechanischen  Inhalt  hat,  —  und  die  Art 
und  Weise,  solche  Sachen  als  Sachen  zu  produzieren, 
gehört  unter  die  gewöhnlichen  Fertigkeiten.  —  Zwischen 
den  Extremen  des  Kunstwerks  und  der  handwerksmäßigen 
Produktion  gibt  es  übrigens  Übergänge,  die  bald  mehr, 
bald  weniger  von  dem  einen  oder  dem  anderen  an  sich 
haben. 

§69. 

Indem  der  Erwerber  eines  solchen  Produkts  an  dem 
Exemplar  als  Einzelnem  den  vollen  Gebrauch  und  Wert 
desselben  besitzt,  so  ist  er  vollkommener  und  freier  Eigen- 
tümer desselben  als  eines  Einzelnen,  obgleich  der  Ver- 
fasser der  Schrift  oder  der  Erfinder  der  technischen  Vor- 
richtung Eigentümer  der  allgemeinen  Art  und  Weise 
bleibt,  dergleichen  Produkte  und  Sachen  zu  vervielfältigen, 
als  welche  allgemeine  Art  und  Weise  er  nicht  unmittelbar 
veräußert  hat,  sondern  sich  dieselbe  als  eigentümliche 
Äußerung  vorbehalten  kann. 

Das  Substantielle  des  Rechts  des  Schriftstellers  und 
Erfinders  ist  zunächst  nicht  darin  zu  suchen,  daß  er  bei 
der  Entäußerung  des  einzelnen  Exemplares  es  willkür- 
lich zur  Bedingung  macht,  daß  die  damit  in  den  Besitz 
des  anderen  kommende  Möglichkeit,  solche  Produkte 
nunmehr  als  Sachen  gleichfalls  hervorzubringen,  nicht 
Eigentum  des  anderen  werde,  sondern  Eigentum  des  Er- 
finders bleibe.  Die  erste  Frage  ist,  ob  eine  solche 
Trennung  des  Eigentums  der  Sache  von  der  mit  ihr 
gegebenen  Möglichkeit,  sie  gleichfalls  zu  produzieren, 
im  Begriffe  zulässig  ist  und  das  volle,  freie  Eigentum 


Das  Eigentum.    C.  Entäußerung  desselben,    §  69.  71 

(§  62)  nicht  aufhebt,  —  worauf  es  erst  in  die  Willkür  des 
ersten  geistigen  Produzenten  kommt,  diese  Möglichkeit 
für  sich  zu  behalten,  oder  als  einen  Wert  zu  veräußern 
oder  für  sich  keinen  Wert  darauf  zu  legen  und  mit  der 
einzelnen  Sache  auch  sie  preiszugeben.  Diese  Möglich- 
keit hat  nämlich  das  Eigene,  an  der  Sache  die  Seite  zu 
sein,  wonach  diese  nicht  nur  eine  Besitzung,  sondern  ein 
Vermögen  ist  (s.  unten  §  170  ff.),  so  daß  dies  in 
der  besonderen  Art  und  Weise  des  äußeren  Gebrauchs 
liegt,  der  von  der  Sache  gemacht  wird,  und  von  dem 
Gebrauche,  zu  welchem  die  Sache  unmittelbar  bestimmt 
ist,  verschieden  und  trennbar  ist  (er  ist  nicht,  wie  man 
es  heißt,  eine  solche  accessio  naturalis  wie  die  foetura). 
Da  nun  der  Unterschied  in  das  seiner  Natur  nach  Teil- 
bare, in  den  äußerlichen  Gebrauch  fällt,  so  ist  die  Zu- 
rückbehaltung des  einen  Teils  bei  Veräußerung  des 
anderen  Teils  des  Gebrauchs  nicht  der  Vorbehalt  einer 
Herrenschaft  ohne  Utile.  —  Die  bloß  negative,  aber  aller- 
erste Beförderung  der  Wissenschaften  und  Künste  ist, 
diejenigen,  die  darin  arbeiten,  gegen  Diebstahl  zu 
sichern  und  ihnen  den  Schutz  ihres  Eigentums  angedeihen 
zu  lassen;  wie  die  allererste  und  wächtigste  Beförderung 
des  Handels  und  der  Industrie  war,  sie  gegen  die  Räuberei 
auf  den  Landstraßen  sicher  zu  stellen.  —  Indem  übrigens 
das  Geistesprodukt  die  Bestimmung  hat,  von  anderen  In- 
dividuen aufgefaßt  und  ihrer  Vorstellung,  Gedächtnis, 
Denken  u.  s.  f.  zu  eigen  gemacht  zu  werden  und  ihre  Äuße- 
rung, wodurch  sie  das  Gelernte  (denn  Lernen  heißt 
nicht  nur,  mit  dem  Gedächtnis  die  Worte  auswendig 
lernen  —  die  Gedanken  anderer  können  nur  durch  Denken 
aufgefaßt  werden,  und  dies  Nach-denken  ist  auch  Lernen) 
gleichfalls  zu  einer  veräußerbaren  Sache  machen, 
hat  immer  leicht  irgendeine  eigentümliche  Form,  so  daß 
sie  das  daraus  erwachsende  Vermögen  als  ihr  Eigen- 
tum betrachten  und  für  sich  das  Recht  solcher  Produk- 
tion daraus  behaupten  können.  Die  Fortpflanzung  der 
Wissenschaften  überhaupt  und  das  bestimmte  Lehr- 
geschäft insbesondere  ist,  seiner  Bestimmung  und  Pflicht 
nach,  am  bestimmtesten  bei  positiven  Wissenschaften, 
der  Lehre  einer  Kirche,  der  Jurisprudenz  u.  s.  f.  die  Re- 
petition  festgesetzter,  überhaupt  schon  geäußerter  und 
von  außen  aufgenommener  Gedanken,  somit  auch  in 
Schriften,  welche  dies  Lehrgeschäft  und  die  Fortpflan- 
zung und  Verbreitung  der  Wissenschaften  zum  Zweck 


72       Erster  Teil.    Das  abstrakte  Recht.     Erster  AbBchnitt. 

haben.  Inwiefern  nun  die  in  der  wiederholenden  Äuße- 
rung sich  ergebende  Form  den  vorhandenen  wissen- 
schaftlichen Schatz  und  insbesondere  die  Gedanken 
solcher  anderer,  die  noch  im  äußerlichen  Eigentum  ihrer 
Geistesprodukte  sind,  in  ein  spezielles  geistiges  Eigen- 
tum des  reproduzierenden  Individuums  verwandle,  und 
ihm  hiermit  das  Recht,  sie  auch  zu  seinem  äußerlichen 
Eigentum  zu  machen,  gehe  oder  inwiefern  nicht,  — 
inwiefern  solche  Wiederholung  in  einem  schriftstelle- 
rischen Werke  ein  Plagiat  werde,  läßt  sich  nicht  durch 
eine  genaue  Bestimmung  angeben  und  hiermit  nicht 
rechtlich  und  gesetzlich  festsetzen.  Das  Plagiat  müßte 
daher  eine  Sache  der  Ehre  sein  und  von  dieser  zurück- 
gehalten werden.  —  Gesetze  gegen  den  Nachdruck  er- 
füllen daher  ihren  Zweck,  das  Eigentum  der  Schrift- 
steller und  der  Verleger  rechtlich  zu  sichern,  zwar  in 
dem  bestimmten,  aber  sehr  beschränkten  Umfange.  Die 
Leichtigkeit,  absichtlich  an  der  Form  etwas  zu  ändern 
oder  ein  Modifikatiönchen  an  einer  großen  Wissenschaft, 
an  einer  umfassenden  Theorie,  welche  das  Werk  eines 
anderen  ist,  zu  erfinden,  oder  schon  die  Unmöglichkeit, 
im  Vortrage  des  Aufgefaßten  bei  den  Worten  des  Ur- 
hebers zu  bleiben,  führen  für  sich  außer  den  besonderen 
Zwecken,  für  welche  eine  solche  Wiederholung  nötig 
wird,  die  unendliche  Vielfachheit  von  Veränderungen 
herbei,  die  dem  fremden  Eigentum  den  mehr  oder  weniger 
oberflächlichen  Stempel  des  Seinigen  aufdrücken;  wie 
die  hundert  und  aber  hundert  Kompendien,  Auszüge, 
Sammlungen  u.  s.  f.,  Rechenbücher,  Geometrien,  Erbau- 
ungsschriften u.  s.  f.  zeigen,  wie  jeder  Einfall  einer  kri- 
tischen Zeitschrift,  Musenalmanachs,  Konversationslexi- 
kons U.S. f.  sogleich  ebenfalls  unter  demselben  oder  einem 
veränderten  Titel  wiederholt,  aber  als  etwas  Eigentüm- 
liches behauptet  werden  kann;  —  wodurch  denn  leicht 
dem  Schriftsteller  oder  erfindenden  Unternehmer  der 
Gewinn,  den  ihm  sein  Werk  oder  Einfall  versprach,  zu- 
nichte gemacht  oder  gegenseitig  heruntergebracht  oder 
allen  ruiniert  wird.  —  Was  aber  die  Wirkung  der 
Ehre  gegen  das  Plagiat  betrifft,  so  ist  dabei  dies  auf- 
fallend, daß  der  Ausdruck  Plagiat  oder  gar  gelehrter 
Diebstahl  nicht  mehr  gehört  wird  —  es  sei,  entweder 
daß  die  Ehre  ihre  Wirkung  getan,  das  Plagiat  zu  ver- 
drängen, oder  daß  es  aufgehört  hat,  gegen  die  Ehre 
zu  sein  und  das  Gefühl  hierüber  verschwunden  ist,  oder 


Das  Eigentum.     Übergang  zum  Vertrage.    §  70 — 71.         73 

daß  ein  Einfällchen  und  Veränderung  einer  äußeren  Form 
sich  als  Originalität  und  selbstdenkendes  Produzieren 
so  hoch  anschlägt,  um  den  Gedanken  an  ein  Plagiat  gar 
nicht  in  sich  aufkommen  zu  lassen. 

§70. 

Die  umfassende  Totalität  der  äußerlichen  Tätigkeit, 
das  Leben,  ist  gegen  die  Persönlichkeit,  als  welche 
selbst  diese  und  unmittelbar  ist,  kein  Äußerliches.  Die 
Entäußerung  oder  Aufopferung  desselben  ist  vielmehr  das 
Gegenteil,  als  das  Dasein  dieser  Persönlichkeit.  Ich  habe 
daher  zu  jener  Entäußerung  überhaupt  kein  Recht,  und  nur 
eine  sittliche  Idee,  als  in  welcher  diese  unmittelbar 
einzelne  Persönlichkeit  an  sich  untergegangen,  und  die 
deren  wirkliche  Macht  ist,  hat  ein  Recht  darauf,  so 
daß  zugleich  wie  das  Leben  als  solches  unmittelbar, 
auch  der  Tod  die  unmittelbare  Negativität  desselben 
ist,  daher  er  von  außen,  als  eine  Natursache,  oder  im 
Dienste  der  Idee,  von  fremder  Hand  empfangen  werden 
muß. 

Übergrang  vom  Eigentum  zum  Vertrage. 

§  71. 
Das  Dasein  ist  als  bestimmtes  Sein  wesentlich  Sein 
für  anderes  (siehe  oben  Anmerk.  zu  §  48);  das  Eigen- 
tum, nach  der  Seite,  daß  es  ein  Dasein  als  äußerliche 
Sache  ist,  ist  für  andere  Äußerlichkeiten  und  im  Zusammen- 
hange dieser  Notwendigkeit  und  Zufälligkeit.  Aber  als 
Dasein  des  Willens  ist  es  als  für  anderes  nur  für  den 
Willen  einer  anderen  Person.  Diese  Beziehung  von  Willen 
auf  Willen  ist  der  eigentümliche  und  wahrhafte  Boden, 
in  welchem  die  Freiheit  Dasein  hat.  Diese  Vermittelung, 
Eigentum  nicht  mehr  nur  vermittelst  einer  Sache  und 
meines  subjektiven  Willens  zu  haben,  sondern  ebenso  ver- 
mittelst eines  anderen  Willens,  und  hiermit  in  einem  ge- 
meinsamen Willen  zu  haben,  macht  die  Sphäre  des  Ver- 
trags aus. 

I  Es  ist  durch  die  Vernunft  ebenso  notwendig,  daß 

'  die  Menschen  in  Vertragsverhältnisse  eingehen,  — 
schenken,  tauschen,  handeln  u.  s.  f.,  —  als  daß  sie  Eigen- 
tum besitzen  (§  45  Anm.).  Wenn  für  ihr  Bewußtsein 
das  Bedürfnis  überhaupt,  das  Wohlwollen,  der  Nutzen 
u.  s.  f.  es  ist,  was  sie  zu  Verträgen  führt,  so  ist  ies  an 


74  Erster  Teil.     Das  abstrakte  Recht.    §  72—74. 

sich  die  Vernunft,  nämlich  die  Idee  des  reellen  (d.  i. 
nur  im  Willen  vorhandenen)  Daseins  der  freien  Persön- 
lichkeit. —  Der  Vertrag  setzt  voraus,  daß  die  darein 
Tretenden  sich  als  Personen  und  Eigentümer  aner- 
kennen; da  er  ein  Verhältnis  des  objektiven  Geistes 
ist,  so  ist  das  Moment  der  Anerkennung  schon  in  ihm 
enthalten  und   vorausgesetzt  (vergl.   §§  35;  57  Anm.). 


Zweiter  Abschnitt. 

Der  Vertrag. 

§72. 

Das  Eigentum,  von  dem  die  Seite  des  Daseins  oder 
der  Äußerlichkeit  nicht  mehr  nur  eine  Sache  ist,  son- 
dern das  Moment  eines  (und  hiermit  anderen)  Willens  in 
sich  enthält,  kommt  durch  den  Vertrag  zustande,  — 
als  den  Prozeß,  in  welchem  der  Widerspruch,  daß  Ich 
für  mich  seiender,  den  anderen  Willen  ausschließender 
Eigentümer  insofern  bin  und  bleibe,  als  Ich  in  einem  mit 
dem  anderen  identischen  Willen  aufhöre,  Eigentümer  zu 
sein,   sich   darstellt  und   vermittelt. 

§73. 

Ich  kann  mich  eines  Eigentums  nicht  nur  (§  65)  als 
einer  äußerlichen  Sache  entäußern,  sondern  muß  durch 
den  Begriff  mich  desselben  als  Eigentums  entäußern,  da- 
mit mir  mein  Wille,  als  daseiend,  gegenständlich  sei. 
Aber  nach  diesem  Momente  ist  mein  WUle  als  entäußerter 
zugleich  ein  anderer.  Dies  somit,  worin  diese  Not- 
wendigkeit des  Begriffes  reell  ist,  ist  die  Einheit  unter- 
schiedener Willen,  in  der  also  ihre  Unterschiedenheit  und 
Eigentümlichkeit  sich  aufgibt.  Aber  in  dieser  Identität 
ihres  Willens  ist  (auf  dieser  Stufe)  ebenso  dies  enthalten, 
daß  jeder  ein  mit  dem  anderen  nicht  identischer,  für 
sich   eigentümlicher  Wille  sei   und  bleibe. 

§74. 

Dies  Verhältnis  ist  somit  die  Vermittelung  eines  in 
der  absoluten  Unterscheidung  fürsichseiender  Eigentümer 
identischen  Willens,  und  enthält,  daß  jeder  mit  seinem 
und  des  anderen  Willen,  aufhört  Eigentümer  zu  sein,  es 


s 

I 


Zweiter  Abschnitt.     Der  Vertrag.    §  75.  75 

bleibt  und  es  wird;  —  die  Vermittelung  des  Willens, 
ein  und  zwar  einzelnes  Eigentum  aufzugeben,  und  des 
Willens,  ein  solches,  hiermit  das  eines  anderen,  anzu- 
nehmen, und  zwar  in  dem  identischen  Zusammenhange, 
daß  das  eine  Wollen  nur  zum  Entschluß  kommt,  insofern 
das  andere  Wollen  vorhanden  ist. 

§  75. 

Da  die  beiden  kontrahierenden  Teile  als  unmittel- 
bare selbständige  Personen  sich  zueinander  verhalten,  so 
geht  der  Vertrag  a)  von  der  Willkür  aus;  ß)  der  iden- 
tische Wille,  der  durch  den  Vertrag  in  das  Dasein  tritt, 
ist  nur  ein  durch  sie  gesetzter,  somit  nur  gemein- 
samer, nicht  an  und  für  sich  allgemeiner;  y)  der  Gegen- 
stand des  Vertrages  ist  eine  einzelne  äußerliche  Sache, 
denn  nur  eine  solche  ist  ihrer  bloßen  Willkür,  sie  zu  ent- 
äußern (§  65  ff.)  unterworfen. 

Unter  den  Begriff  vom  Vertrag  kann  daher  die 
Ehe  nicht  subsumiert  werden;  diese  Subsumtion  ist  in 
ihrer  —  Schändlichkeit,  muß  man  sagen,  —  bei  Kant 
(Metaphys.  Anfangsgr.  der  Rechtslehre,  S.  106  ff.)0 
aufgestellt.  —  Ebensowenig  liegt  die  Natur  des  Staats 
im  Vertragsverhältnisse,  ob  der  Staat  als  ein  Vertrag 
aller  mit  allen,  oder  als  ein  Vertrag  dieser  aller  mit 
dem  Fürsten  und  der  Regierung  genommen  werde.  — 
Die  Einmischung  dieses,  sowie  der  Verhältnisse  des 
Privateigentums  überhaupt,  in  das  Staatsverhältnis,  hat 
die  größten  Verwirrungen  im  Staatsrecht  und  in  der 
Wirklichkeit  hervorgebracht.  Wie  in  früheren  Perioden 
die  Staatsrechte  und  Staatspflichten  als  ein  unmittel- 
bares Privateigentum  besonderer  Individuen  gegen  das 
Recht  des  Fürsten  und  Staats  angesehen  und  behauptet 
worden,  so  sind  in  einer  neueren  Zeitperiode  die  Rechte 
des  Fürsten  und  des  Staats  als  Vertragsgegenstände 
und  auf  ihn  gegründet,  als  ein  bloß  Gemeinsames 
des  Willens  und  aus  der  Willkür  der  in  einen  Staat 
Vereinigten  Hervorgegangenes,  betrachtet  worden.  — 
So  verschieden  einerseits  jene  beiden  Standpunkte  sind, 
so  haben  sie  dies  gemein,  die  Bestimmungen  des  Privat- 
eigentums in  eine  Sphäre  übergetragen  zu  haben,  die 
von  ganz  anderer  und  höherer  Natur  ist.  —  Siehe  unten: 
Sittlichkeit  und   Staat. 

1)  Metaphysik  der  Sitten.  I.  Teil  §§  24—27. 


76  Erster  Teil.     Das  abstrakte  Recht.    §  76—17. 

§76. 

Formell  ist  der  Vertrag,  insofern^  die  beiden  Ein- 
willigungen, wodurch  der  gemeinsame  Wille  zustande 
kommt,  das  negative  Moment  der  Entäußerung  einer  Sache 
und  das  Positive  der  Annahme  derselben,  an  die  beiden 
Kontrahenten  verteilt  sind;  —  Schenkungsvertrag.  — 
Reell  aber  kann  er  genannt  werden,  insofern  jeder  der 
beiden  kontrahierenden  Willen  die  Totalität  dieser  ver- 
mittelnden Momente  ist,  somit  darin  ebenso  Eigentümer 
wird  und  bleibt;  —  Tauschvertrag. 

§77. 

Indem  jeder  im  reellen  Vertrage  dasselbe  Eigentum 
behält,  mit  welchem  er  eintritt  und  welches  er  zugleich 
aufgibt,  so  unterscheidet  sich  jenes  identisch  bleibende, 
als  das  im  Vertrage  an  sich  seiende  Eigentum,  von  den 
äußerlichen  Sachen,  welche  im  Tausche  ihren  Eigentümer 
verändern.  Jenes  ist  der  Wert,  in  welchem  die  Vertrags- 
gegenstände bei  aller  qualitativen  äußeren  Verschieden- 
heit der  Sachen  einander  gleich  sind,  das  Allgemeine 
derselben  (§  63). 

Die  Bestimmung,  daß  einp  laesio  enormis  die 
im  Vertrag  eingegangene  Verpflichtung  aufhebe,  hat 
somit  ihre  Quelle  im  Begriffe  des  Vertrags  und  näher 
in  dem  Momente,  daß  der  Kontrahierende  durch  die 
Entäußerung  seines  Eigentums,  Eigentümer  und  in 
näherer  Bestimmung,  quantitativ  derselbe  bleibt.  Die 
Verletzung  aber  ist  nicht  nur  enorm  (als  eine  solche 
wird  sie  angenommen,  wenn  sie  die  Hälfte  des  Werts 
übersteigt),  sondern  unendlich,  wenn  über  ein  un- 
veräußerliches Gut  (§  66)  ein  Vertrag  oder  Stipu- 
lation überhaupt  zu  ihrer  Veräußerung  eingegangen  wäre. 
—  Eine  Stipulation  übrigens  ist  zunächst  ihrem  In- 
halte nach  vom  Vertrage  [so]  unterschieden,  daß  sie  irgend- 
einen einzelnen  Teil  oder  Moment  des  ganzen  Vertrags 
bedeutet,  dann  auch  daß  sie  die  förmliche  Festsetzung 
desselben  ist,  wovon  nachher.  Sie  enthält  nach  jener 
Seite  nur  die  formelle  Bestimmung  des  Vertrags,  die 
Einwilligung  des  einen,  etwas  zu  leisten,  und  die  Ein- 
willigung des  anderen  zu  sein,  es  anzunehmen;  sie  ist 
darum  zu  den  sogenannten  einseitigen  Verträgen  ge- 
zählt worden.  Die  Unterscheidung  der  Verträge  in  ein- 
seitige und  zweiseitige,  sowie  andere  Einteilungen  der- 


Zweiter  Abschnitt.     Der  Vertrag.    §  78—79.  77 

selben  im  römischen  Rechte  sind  teils  oberflächliche 
Zusammenstellungen  nach  einer  einzelnen  oft  äußer- 
lichen Rücksicht,  wie  der  Art  und  Weise  ihrer  Förm- 
lichkeit, teils  vermischen  sie  unter  anderen  auch  Be- 
stimmungen, welche  die  Natur  des  Vertrags  selbst  be- 
treffen, und  solche,  welche  sich  erst  auf  die  Rechts- 
pflege (actiones)  und  die  rechtlichen  Wirkungen  nach 
dem  positiven  Gesetze  beziehen,  oft  aus  ganz  äußer- 
lichen Umständen  herstammen  und  den  Begriff  des  Rechts 
verletzen. 

§78. 

Der  Unterschied  von  Eigentum  und  Besitz,  der  sub- 
stantiellen und  der  äußerlichen  Seite  (§  45),  wird  im  Vertrag 
zu  dem  Unterschiede  des  gemeinsamen  Willens  als  Über- 
einkunft, und  der  Verwirklichung  derselben  durch  die 
Leistung.  Jene  zustande  gekommene  Übereinkunft  ist, 
für  sich  im  Unterschiede  von  der  Leistung,  ein  Vorge- 
stelltes, welchem  daher  nach  der  eigentümlichen  Weise 
des  Daseins  der  Vorstellungen  in  Zeichen  (Encyklop, 
der  Philosoph.  Wissenschaften  §  379  f.)  ^)  ein  besonderes 
Dasein,  in  dem  Ausdrucke  der  Stipulation  durch  Förm- 
lichkeiten der  Gebärden  und  anderer  symbolischer  Hand- 
lungen, insbesondere  in  bestimmter  Erklärung  durch  die 
Sprache,  dem  der  geistigen  Vorstellung  würdigsten  Ele- 
mente, zu  geben  ist. 

Die  Stipulation  ist  nach  dieser  Bestimmung  zwar 
die  Form,  wodurch  der  im  Vertrag  abgeschlossene 
Inhalt  als  ein  erst  vorgestellter  sein  Dasein  hat.  Aber 
das  Vorstellen  ist  nur  Form  und  hat  nicht  den  Sinn,  als 
ob  damit  der  Inhalt  noch  ein  Subjektives,  so  oder  so 
zu  Wünschendes  und  zu  Wollendes  sei,  sondern  der  In- 
halt ist  die  durch  den  Willen  vollbrachte  Abschließung 
hierüber. 

§  79. 

Die  Stipulation  enthält  die  Seite  des  Willens,  daher  das 
Substantielle  des  Rechtlichen  im  Vertrage,  gegen 
welches  der,  insofern  der  Vertrag  noch  nicht  erfüllt  ist, 
noch  bestehende  Besitz  für  sich  nur  das  Äußerliche  ist,  das 
seine  Bestimmung  allein  in  jener  Seite  hat.  Durch  die 
Stipulation  habe  ich  ein  Eigentum  und  besondere  Willkür; 

1)  In  der  3.  Aufl.  §  458  f.  (Phil.  Bibl.  Bd.  33,  S.  396  ff.). 


78  Erster  Teil.     Das  abstrakte  Recht.    §  79. 

darüber  aufgegeben,  und  es  ist  bereits  Eigentum  des 
anderen  geworden,  ich  bin  daher  durch  sie  unmittelbar 
zur  Leistung  rechtlich  verbunden. 

Der  Unterschied  von  einem  bloßen  Versprechen  und 
einem  Vertrag  liegt  darin,  daß  in  jenem  das,  was  ich 
schenken,  tun,  leisten  wolle,  als  ein  Zukünftiges  aus- 
gesprochen ist  und  noch  eine  subjektive  Bestimmung 
meines  Willens  bleibt,  die  ich  hiermit  noch  ändern  kann. 
Die  Stipulation  des  Vertrages  hingegen  ist  schon  selbst 
das  Dasein  meines  Willensbeschlusses  in  dem  Sinne, 
daß  ich  meine  Sache  hiermit  veräußert,  sie  itzt  auf- 
gehört habe,  mein  Eigentum  zu  sein,  und  daß  ich  sie 
bereits  als  Eigentum  des  anderen  anerkenne.  Die  rö- 
mische Unterscheidung  zwischen  pactum  und  contractus 
ist  von  schlechter  Art.  —  Fichte  hat  einst  die  Behaup- 
tung aufgestellt,  daß  die  Verbindlichkeit,  den  Ver- 
trag zu  halten,  nur  erst  mit  der  beginnenden  Leistung 
des  anderen  für  mich  anfange,  weil  ich  vor  der  Leistung 
in  der  Unwissenheit  darüber  sei,  ob  der  andere  es  ernst- 
lich mit  seiner  Äußerung  gemeint  habe;  die  Verbind- 
lichkeit vor  der  Leistung  sei  daher  nur  moralischer, 
nicht  rechtlicher  Natur  i).  Allein  die  Äußerung  der 
Stipulation  ist  nicht  eine  Äußerung  überhaupt,  sondern 
enthält  den  zustande  gekommenen  gemeinsamen 
Willen,  in  welchem  die  Willkür  der  Gesinnung  und 
ihrer  Änderung  sich  aufgehoben  hat.  Es  handelt  sich 
deswegen  nicht  um  die  Möglichkeit,  ob  der  andere  inner- 
lich anders  gesinnt  gewesen  oder  geworden  sei,  sondern 
ob  er  das  Recht  dazu  habe.  Wenn  der  andere  auch  zu 
leisten  anfängt,  bleibt  mir  gleichfalls  die  Willkür  des 
Unrechts.  Jene  Ansicht  zeigt  ihre  Nichtigkeit  gleich 
dadurch,  daß  das  Rechtliche  des  Vertrags  auf  die 
schlechte  Unendlichkeit,  den  Prozeß  ins  Unendliche,  ge- 
stellt wäre,  auf  die  unendliche  Teilbarkeit  der  Zeit,  der 
Materie  des  Tuns  u.  s.  f.  Das  Dasein,  das  der  Wille 
in  der .  Förmlichkeit  der  Gebärde,  oder  in  der  für  sich 
bestimmten  Sprache  hat,  ist  schon  sein  als  des  intellek- 
tuellen, vollständiges  Dasein,  von  dem  die  Leistung  nur 
die  selbstlose  Folge  ist.  —  Daß  es  übrigens  im  positiven 
Rechte  sogenannte  Real-Kontrakte  gibt,  zum  Unter- 
schiede  von    sogenannten  Konsensual-Kontrakten    in 

*)  Beiträge  zur  Berichtig,  d.  Urt.  üb.  d.  franz.  Rev.    Sämtl, 
Werke  VI,  S.  111  ff. 


Zweiter  Abschnitt      Der  Vertrag.    §  80.  79 

dem  Sinne,  daß  jene  nur  für  vollgültig  angesehen  werden, 
wenn  zu  der  Einwilligung  die  wirkliche  Leistung  (res, 
traditio  rei)  hinzukommt,  tut  nichts  zur  Sache.  Jene 
sind  teils  die  besonderen  Fälle,  wo  mich  diese  Übergabe 
erst  in  den  Stand  setzt,  meinerseits  leisten  zu  können, 
und  meine  Verbindlichkeit,  zu  leisten,  sich  allein  auf 
die  Sache,  insofern  ich  sie  in  die  Hände  erhalten,  bezieht, 
wie  beim  Darlehn,  Leihkontrakt  und  Depositum  (was 
auch  noch  bei  anderen  Verträgen  der  Fall  sein  kann); 
—  ein  Umstand,  der  nicht  die  Natur  des  Verhältnisses 
der  Stipulation  zur  Leistung,  sondern  die  Art  und  Weise 
des  Leistens  betrifft  —  teils  bleibt  es  überhaupt  der  Will- 
kür überlassen,  in  einem  Vertrag  zu  stipulieren,  daß  die 
Verbindlichkeit  des  einen  zur  Leistung  nicht  im  Vertrage 
als  solchem  selbst  liegen,  sondern  erst  von  der  Leistung 
des  anderen  abhängig  sein  solle. 

§  80. 
Die  Einteilung  der  Verträge  und  eine  darauf  ge- 
gründete verständige  Abhandlung  ihrer  Arten  ist  nicht 
von  äußerlichen  Umständen,  sondern  von  Unterschieden, 
die  in  der  Natur  des  Vertrages  selbst  liegen,  herzunehmen.  — 
Diese  Unterschiede  sind  der  von  formellem  und  von  reellem 
Vertrag,  dann  von  Eigentum  und  von  Besitz  und  Gebrauch, 
Wert  und  von  spezifischer  Sache.  Es  ergeben  sich  dem- 
nach folgende  Arten:  (Die  hier  gegebene  Einteilung 
trifft  im  ganzen  mit  der  Kantischen  Einteilung,  Metaphys. 
Anfangsgründe  der  Eechtslehre,  S.  120  ff.  0,  zusammen, 
und  es  wäre  längst  zu  erwarten  gewesen,  daß  der  gewöhn- 
liche Schlendrian  der  Einteilung  der  Verträge  in  Real- 
und  Konsensual-,  genannte  und  ungenannte  Kontrakte  u.s.  f. 
gegen  die  vernünftige  Einteilung  aufgegeben  worden  wäre.) 
A.  Sc henkungs vertrag,  und  zwar 

1)  einer   Sache;   eigentlich  sogenannte   Schenkung, 

2)  das  Leihen  einer  Sache,  als  Verschenkung  eines 
Teils  oder  des  beschränkten  Genusses  und 
Gebrauchs  derselben;  der  Verleiher  bleibt  hierbei 
Eigentümer  der  Sache  (mutuum  und  commoda- 
tum  ohne  Zinsen).  Die  Sache  ist  dabei  entweder 
eine  spezifische,  oder  aber  wird  sie,  wenn  sie  auch 
eine  solche  ist,  doch  als  eine  allgemeine  angesehen 
oder  gilt  (wie  Geld)  als  eine  für  sich  allgemeine. 

1)  Metaphysik  der  Sitten  I.  Teil,  §  31. 


80  Erster  Teil.     Das  abstrakte  Recht.    §  80. 

3)  Schenkung  einer  Dienstleistung  überhaupt, 
z.  B.  der  bloßen  Aufbewahrung  eines  Eigentums 
(depositum);  —  die  Schenkung  einer  Sache  mit  der 
besonderen  Bedingung,  daß  der  andere  erst  Eigen- 
tümer wird  auf  den  Zeitpunkt  des  Todes  des 
Schenkenden,  d.  h.  auf  den  Zeitpunkt,  wo  dieser 
ohnehin  nicht  mehr  Eigentümer  ist;  die  testamen- 
tarische Disposition  liegt  nicht  im  Begriffe  des 
Vertrags,  sondern  setzt  die  bürgerliche  Gesell- 
schaft und  eine  positive  Gesetzgebung  voraus. 
B.  Tauschvertrag, 

1)  Tausch  als   solcher: 

«)  einer  Sache  überhaupt,  d.  i.  einer  spezifischen 
Sache  gegen  eine  andere  desgleichen. 

ß)  Kauf  oder  Verkauf  (emtio  venditio);  Tausch 
einer  spezifischen  Sache  gegen  eine,  die  als 
die  allgemeine  bestimmt  ist,  d.  i.  welche  nur 
als  der  Wert  ohne  die  andere  spezifische  Be- 
stimmung zur  Benutzung  gilt,  —  gegen  Geld. 

2)  Vermietung  (locatio  conductio),  Veräußerung  des 
temporären  Gebrauchs  eines  Eigentums  gegen 
Mietzins,   und  zwar 

a)  einer  spezifischen  Sache,  eigentliche  Vermie- 
tung —  oder 

ß)  einer  allgemeinen  Sache,  so  daß  der  Ver- 
leiher nur  Eigentümer  dieser,  oder,  was  dasselbe 
ist,  des  Wertes  bleibt,  —  Anleihe  (mutuum, 
jenes  auch  commodatum  mit  einem  Mietzins;  — 
die  weitere  empirische  Beschaffenheit  der  Sache, 
ob  sie  ein  Stock,  Geräte,  Haus  u.s.f.,  res  fungibilis 
oder  non  fungibilis  ist,  bringt  (wie  im  Verleihen 
als  Schenken  Nr.  2)  andere  besondere,  übrigens 
aber  nicht  wichtige  Bestimmungen  herbei). 

3)  Lohnvertrag  (locatio  operae),  VeräuJ3enmg  mei- 
nes Produzierens  oder  Dienstleistens,  in- 
sofern es  nämlich  veräußerlich  ist,  auf  eine  be- 
schränkte Zeit  oder  nach  sonst  einer  Beschrän- 
kung (s.  §  67). 

Verwandt  ist  hiermit  das  Mandat  und  andere  Ver- 
träge, wo  die  Leistung  auf  Charakter  und  Zutrauen 
oder  auf  höheren  Talenten  beruht  und  eine  Inkom- 
mensurabilität  des  Geleisteten  gegen  einen  äußeren 


Zweiter  Abschnitt.     Der  Vertrag.    §81.  81 

Wert  (der  hier  auch  nicht  Lohn,  sondern  Honorar 
heii3t)  eintritt. 
C.  Vervollständigung  eines  Vertrags  (cautio)  durch 
Verpfändung. 

Bei  den  Verträgen,  wo  ich  die  Benutzung  einer 
Sache  veräui3ere,  bin  ich  nicht  im  Besitz,  aber  noch 
Eigentümer  derselben  (wie  bei  der  Vermietung). 
Ferner  kann  ich  bei  Tausch-,  Kauf-,  auch  Schenkungs- 
verträgen Eigentümer  geworden  sein,  ohne  noch  im 
Besitz  zu  sein,  sowie  überhaupt  in  Ansehung  irgend- 
einer Leistung,  wenn  nicht:  Zug  um  Zug,  statt- 
findet, diese  Trennung  eintritt.  Daß  ich  nun  auch 
im  wirklichen  Besitze  des  Werts,  als  welcher 
noch  oder  bereits  mein  Eigentum  ist,  in  dem  einen 
Falle  bleibe,  oder  in  dem  anderen  Falle  darein  gesetzt 
werde,  ohne  daß  ich  im  Besitze  der  spezifischen 
Sache  bin,  die  ich  überlasse  oder  die  mir  werden  soll, 
dies  wird  durch  das  Pfand  bewirkt,  —  eine  spezi- 
fische Sache,  die  aber  nur  nach  dem  Werte  meines 
zum  Besitz  überlassenen  oder  des  mir  schuldigen 
Eigentums,  mein  Eigentum  ist,  nach  ihrer  spezifischen 
Beschaffenheit  und  Mehrwerte  aber  Eigentum  des 
Verpfändenden  bleibt.  Die  Verpfändung  ist  daher  nicht 
selbst  ein  Vertrag,  sondern  nur  eine  Stipulation  (§  77), 
das  einen  Vertrag  in  Rücksicht  auf  den  Besitz  des 
Eigentums  vervollständigende  Moment.  —  Hypo- 
thek, Bürgschaft  sind  besondere  Formen  hiervon. 

§  8L 

Im  Verhältnis  unmittelbarer  Personen  zueinander  über- 
haupt ist  ihr  Wille,  ebensosehr  wie  an  sich  identisch 
und  im  Vertrage  von  ihnen  gemeinsam  gesetzt,  so  auch 
ein  besonderer.  Es  ist,  weil  sie  unmittelbare  Per- 
sonen sind,  zufällig,  ob  ihr  besonderer  Wille  mit  dem 
an  sich  seienden  Willen  übereinstimmend  sei,  der  durch 
jenen  allein  seine  Existenz  hat.  Als  besonderer  für  sich 
v^om  allgemeinen  verschieden,  tritt  er  in  Willkür  und 
Fälligkeit  der  Einsicht  imd  des  Wollens  gegen  das  auf, 
>vas  an  sich  Recht  ist,  —  das  Unrecht. 

Den  Übergang  zum  Unrecht  macht  die  logische  höhere 
Notwendigkeit,  daß  die  Momente  des  Begriffs,  hier  das 
Recht  an  sich,  oder  der  Wille  als  allgemeiner,  und 
das  Recht  in  seiner   Existenz,   welche   eben  die  Be- 

Hegel.  Eechtsphilosophie.  G 


82     Erster  Teil.    Das  abstrakte  Recht.    Dritter  Abschnitt. 

Sonderheit  des  Willens  ist,  als  für  sich  verschieden 
gesetzt  seien,  was  zur  abstrakten  Realität  des  Be- 
griffs gehört.  —  Diese  Besonderheit  des  Willens  für 
sich  aber  ist  Willkür  und  Zufälligkeit,  die  ich  im  Ver- 
trage nur  als  Willkür  über  eine  einzelne  Sache,  nicht 
als  die  Willkür  und  Zufälligkeit  des  Willens  selbst  auf- 
gegeben habe. 


Dritter  Abschnitt. 

Das  rnrecht. 

§82. 
Im  Vertrage  ist  das  Recht  an  sich  als  ein  Ge- 
setztes, seine  innere  Allgemeinheit  als  ein  Gemein- 
sames der  Willkür  und  besonderen  Willens.  Diese  Er- 
scheinung des  Rechts,  in  welchem  dasselbe  und  sein 
wesentliches  Dasein,  der  besondere  Wille,  unmittelbar,  d.  i. 
zufällig  übereinstimmen,  geht  im  Unrecht  zum  Schein 
fort,  —  zur  Entgegensetzung  des  Rechts  an  sich  und  des 
besonderen  Willens,  als  in  welchem  es  ein  besonderes 
Recht  wird.  Die  Wahrheit  dieses  Scheins  aber  ist,  daß 
er  nichtig  ist  und  daß  das  Recht  durch  das  Negieren 
dieser  seiner  Negation  sich  wiederherstellt,  durch  welchen 
Prozeß  seiner  Vermittelung,  aus  seiner  Negation  zu  sich 
zurückzukehren,  es  sich  als  Wirkliches  und  Geltendes 
bestimmt,  da  es  zuerst  nur  an  sich  und  etwas  Unmittel- 
bar e  s  war. 

§  83. 
Das  Recht,  das  als  ein  Besonderes  und  damit  Man- 
nigfaltiges gegen  seine  an  sich  seiende  Allgemeinheit 
und  Einfachheit  die  Form  eines  Scheines  erhält,  ist 
ein  solcher  Schein  teils  an  sich  oder  unmittelbar,  teils 
wird  es  durch  das  Subjekt  als  Schein,  teils  schlecht- 
hin als  nichtig  gesetzt,  —  unbefangenes  oder 
bürgerliches  Unrecht,   Betrug  und  Verbrechen. 

A.  ünbefaugrenes  Unrecht. 

§  84. 

Die  Besitznahme  (§  54)  und  der  Vertrag  für  sich  und 
nach  ihren  besonderen  Arten,  zunächst  verschiedene  Äuße- 
rungen und  Folgen  meines  Willens  überhaupt,  sind,  weil 


A.  Das  Unrecht.     B.  Betrug.    §  85—87.  83 

der  Wille  das  in  sich  Allgemeine  ist,  in  Beziehung  auf 
das  Anerkennen  Anderer,  Rechtsgründe.  In  ihrer  Äußer- 
lichkeit gegeneinander  und  Mannigfaltigkeit  liegt  es,  daß 
sie  in  Beziehung  auf  eine  und  dieselbe  Sache  verschiedenen 
Personen  angehören  können,  deren  jede  aus  ihrem  be- 
sonderen Rechtsgrunde  die  Sache  für  ihr  Eigentum  an- 
sieht; womit  Rechtskollisionen  entstehen. 

§  85. 

Diese  Kollision,  in  der  die  Sache  aus  einem  Rechts- 
grunde  angesprochen  wird,  und  welche  die  Sphäre  des 
bürgerlichen  Rechtsstreits  ausmacht,  enthält  die  An- 
erkennung des  Rechts  als  des  Allgemeinen  und  Ent- 
scheidenden, so  daß  die  Sache  dem  gehören  soll,  der  das 
Recht  dazu  hat.  Der  Streit  betrifft  nur  die  Subsumtion 
der  Sache  unter  das  Eigentum  des  einen  oder  des  anderen; 
—  ein  schlechtweg  negatives  Urteil,  wo  im  Prädikate 
des  Meinigen  nur  das  Besondere  negiert  wird. 

§86. 

In  den  Parteien  ist  die  Anerkennung  des  Rechts  mit 
dem  entgegengesetzten  besonderen  Interesse  und  eben- 
solcher Ansicht  verbunden.  Gegen  diesen  Schein  tritt 
zugleich  in  ihm  selbst  (vorherg.  §)  das  Recht  an  sich 
als  vorgestellt  und  gefordert  hervor.  Es  ist  aber  zunächst 
nur  als  ein  Sollen,  weil  der  Wille  noch  nicht  als  ein 
solcher  vorhanden  ist,  der  sich  von  der  Unmittelbarkeit 
des  Interesses  befreit,  als  besonderer  den  allgemeinen 
Willen  zum  Zwecke  hätte;  noch  ist  er  hier  als  eine  solche 
anerkannte  Wirklichkeit  bestimmt,  gegen  welche  die  Par- 
teien auf  ihre  besondere  Ansicht  und  Interesse  Verzicht  zu 
tun   hätten. 


B.  Betrug. 

§87. 

Das  Recht  an  sich  in  seinem  Unterschiede  von  dem 
Recht  als  besonderem  und  daseiendem,  ist  als  ein  gefor- 
dertes zwar  als  das  Wesentliche  bestimmt,  aber  darin 
zugleich  nur  ein  gefordertes,  nach  dieser  Seite  etwas 
bloß  subjektives,  damit  unwesentliches  und  bloß  schei- 
nendes.    So  das  Allgemeine  von  dem  besonderen  Willen 


84     Erster  Teil.    Das  abstrakte  Recht.    Dritter  Abschnitt. 

zu  einem  nur  scheinenden,  —  zunächst  im  Vertrage  zur  nur 
äußerlichen  Gemeinsamkeit  des  AVillens  herabgesetzt,  ist 
es  der  Betrug, 


Im  Vertrage  erwerbe  ich  ein  Eigentum  um  der  be- 
sonderen Beschaffenheit  der  Sache  willen,  und  zugleich 
nach  ihrer  inneren  Allgemeinheit  teils  nach  dem  Werte, 
teils  als  aus  dem  Eigentum  des  anderen.  Durch  die  Will- 
kür des  anderen  kann  mir  ein  falscher  Schein  hierüber 
vorgebracht  werden,  so  daß  es  mit  dem  Vertrage  als  beider- 
seitiger freier  Einwilligung  des  Tausches  über  diese  Sache, 
nach  ihrer  unmittelbaren  Einzelnheit,  seine  Richtig- 
keit hat,  aber  die  Seite  des  an  sich  seienden  Allgemeinen 
darin  fehlt.  (Das  unendliche  Urteil  nach  seinem  positiven 
Ausdrucke  oder  identischen  Bedeutung.  S.  Encyklop.  der 
Philosoph.  Wissensch.  §  121)  M. 

§89. 

Daß  gegen  diese  Annahme  der  Sache  bloß  als  dieser, 
und  gegen  den  bloß  meinenden,  sowie  den  willkürlichen 
Willen,  das  Objektive  oder  Allgemeine  teils  als  Wert 
erkennbar,  teils  als  Recht  geltend  sei,  teils  die  gegen  das 
Recht  subjektive  Willkür  aufgehoben  werde,  —  ist  hier 
zunächst  gleichfalls  nur  eine  Forderung. 

C.  Zwaug:  und  Verbrechen. 

§90. 

Daß  mein  Wille  im  Eigentum  sich  in  eine  äußer- 
liche Sache  legt,  darin  liegt,  daß  er  ebensosehr  als  er  in 
ihr  reflektiert  wird,  an  ihr  ergriffen  und  unter  die  Not- 
wendigkeit gesetzt  wird.  Er  kann  darin  teils  Gewalt  über- 
haupt leiden,  teils  kann  ihm  durch  die  Gewalt  zur  Be- 
dingung irgendeines  Besitzes  oder  positiven  Seins  eine 
Aufopferung  oder  Handlung  gemacht,  —  Zwang  angetan 
werden. 

§91. 
Als  Lebendiges  kann  der  Mensch  wohl  bezwungen, 
d.    h,    seine  physische   und   sonst  äußerliche   Seite   unter 
die  Gewalt  anderer  gebracht,   aber  der  freie  Wille  kann 

1)  In  der  3.  Aufl.  §  173  (Phil.  Bibl.  Bd.  33,  S.  166). 


Das  Unrecht.    C.  Zwang  und  Verbrechen.    §  92—94.       85 

an  und  für  sich  nicht  gezwungen  werden  (§  5),  als  nur 
sofern  er  sich  selbst  aus  der  Äußerlichkeit,  an  der 
er  festgehalten  wird,  oder  aus  deren  Vorstellung  nicht 
zurückzieht  (§7).  Es  kann  nur  der  zu  etwas  gezwungen 
werden,  der  sich  zwingen  lassen  will. 

§  92. 
Weil  der  Wille,  nur  insofern  er  Dasein  hat,  Idee  oder 
wirklich  frei  und  das  Dasein,  in  welches  er  sich  gelegt 
hat,  Sein  der  Freiheit  ist,  so  zerstört  Gewalt  oder  Zwang 
in  ihrem  Begriff  sich  unmittelbar  selbst,  als  Äußerung  eines 
Willens,  welche  die  Äußerung  oder  Dasein  eines  Willens 
aufhebt.  Gewalt  oder  Zwang  ist  daher,  abstrakt  genommen, 
unrechtlich. 

§  93. 
Der  Zwang  hat  davon,   daß  er  sich  in  seinem  Be- 
griffe zerstört,  die  reelle  Darstellung  darin,  daß  Zwang 
durch   Zwang   aufgehoben   wird;   er   ist   daher   nicht 
nur  bedingt  rechtlich,  sondern  notwendig,  —  nämlich  als 
zweiter  Zwang,  der  ein  Aufheben  eines  ersten  Zwanges  ist. 
Verletzung  eines  Vertrages  durch  Nichtleistung  des 
Stipulierten,  oder  der  Rechtspflichten  gegen  die  Familie, 
[den]  Staat,  durch  Tun  oder  Unterlassen,  ist  insofern  erster 
Zwang  oder  wenigstens  Gewalt,   als  ich  ein  Eigentum, 
das  eines  anderen  ist,  oder  eine  schuldige  Leistung  dem- 
selben   vorenthalte    oder    entziehe.    —    Pädagogischer 
Zwang,  oder  Zwang  gegen  Wildheit  und  Roheit  ausgeübt, 
erscheint  zwar  als  erster  nicht  auf  Vorangehung  eines 
ersten  erfolgend.    Aber  der  nur  natürliche  Wille  ist  an 
sich  Gewalt  gegen  die  an  sich  seiende  Idee  der  Freiheit, 
welche  gegen  solchen  ungebildeten  Willen  in  Schutz  zu 
nehmen  und  in  ihm  zur  Geltung  zu  bringen  ist.     Ent- 
weder ist  ein  sittliches  Dasein  in  Familie  oder  Staat  schon 
gesetzt,   gegen  welche  jene  Natürlichkeit  eine  Gewalt- 
tätigkeit ist,   oder  es  ist  nur  ein  Naturzustand,  —  Zu- 
stand  der   Gewalt  überhaupt   vorhanden,   so   begründet 
die  Idee  gegen  diesen  ein  Heroenrechti). 

§  94. 

Das  abstrakte  Recht  ist  Zwangs  recht,  weil  das  Un- 
recht gegen  dasselbe  eine  Gewalt  gegen  das  Dasein  meiner 

~~«)  Vgl.  §  359. 


86      Erster  Teil.    Das  abstrakte  Recht.    Dritter  Abschnitt. 

Freiheit  in  einer  äußerlichen  Sache  ist;  die  Erhaltung 
dieses  Daseins  gegen  die  Gewalt  hiermit  selbst  als  eine 
äußerliche  Handlung  und  eine  jene  erste  aufhebende  Ge- 
walt ist. 

Das  abstrakte  oder  strenge  Recht  sogleich  von  vorn- 
herein als  ein  Recht  definieren,  zu  dem  man  zwingen 
dürfe,  —  heißt  es  an  einer  Folge  auffassen,  welche  erst 
in  dem  Umwege  des  Unrechts  eintritt. 

§  95. 
Der   erste   Zwang  als   Gewalt  von   dem  Freien  aus- 
geübt,   welche   das   Dasein   der   Freiheit   in   seinem  kon- 
kreten   Sinne,    das   Recht   als   Recht   verletzt,    ist  Ver- 
brechen, —  ein  negativ-unendliches  Urteil  in  seinem 
vollständigen   Sinne,    (siehe   meine   Logik  2.   B.   S.   99)^), 
durch  welches   nicht  nur  das  Besondere,   die   Subsumtion 
einer  Sache  unter  meinen  Willen  (§  85),  sondern  zugleich 
das   Allgemeine,    Unendliche  im   Prädikate   des   Meinigen, 
die  Rechtsfähigkeit  und  zwar   ohne  die   Vermittelung 
meiner   Meinung   (wie   im   Betrug)    (§   88),   ebenso  gegen 
diese  negiert  wird,  —  die  Sphäre  des  peinlichen  Rechts. 
Das  Recht,  dessen  Verletzung  das  Verbrechen  ist, 
hat  zwar  bis  hierher  nur  erst  die  Gestaltungen,  die  wir 
gesehen  haben,  das  Verbrechen  hiermit  auch  zunächst  nur 
die  auf  diese  Bestimmungen  sich  beziehende  nähere  Be- 
deutung.    Aber  das  in  diesen  Formen  Substantielle  ist 
das   Allgemeine,    das   in   seiner   weiteren   Entwickelung 
und  Gestaltung  dasselbe  bleibt  und  daher  ebenso  dessen 
Verletzung,  das  Verbrechen,  seinem  Begriffe  nach.    Den 
besonderen,    weiter   bestimmten   Inhalt,    z.    B.    in   Mein- 
eid, Staatsverbrechen,  Münz-,  Wechselverfälschung  u.  s.  f. 
betrifft  daher  auch  die  im  folgenden  §  zu  berücksich- 
tigende Bestimmung. 

§96. 

Insofern  es  der  daseiende  Wille  ist,  welcher  allein 
verletzt  werden  kann,  dieser  aber  im  Dasein  in  die  Sphäre 
eines  quantitativen  Umfangs,  sowie  qualitativer  Bestim- 
mungen eingetreten,  somit  danach  verschieden  ist,  so  macht 
es  ebenso  einen  Unterschied  für  die  objektive  Seite  der 
Verbrechen  aus,  ob  solches  Dasein  und  dessen  Bestimmt- 
heit überhaupt  in  ihrem  ganzen  Umfang,  hiermit  in  der 
ihrem  Begriffe  gleichen  Unendlichkeit  (wie  in  Mord,  Skla- 

1)  HegelTWweTö.  Bd.  (1833),  SToä 


i 


Das  Um-echt.    C.  Zwang  und  Verbrechen.    §  97—98.       87 

verei,  Religionszwang  u.  s.  f.),  oder  nur  nach  einem  Teile, 
sowie  nach  welcher  qualitativen  Bestimmung  verletzt  ist. 
Die  stoische  Ansicht,  daß  es  nur  eine  Tugend  und 
ein  Laster  gibt,  die  drakonische  Gesetzgebung,  die  jedes 
Verbrechen  mit  dem  Tode  bestraft,  wie  die  Roheit  der 
formellen  Ehre,  welche  die  unendliche  Persönlichkeit 
in  jede  Verletzung  legt,  haben  dies  gemein,  daß  sie  bei 
dem  abstrakten  Denken  des  freien  Willens  und  der 
Persönlichkeit  stehenbleiben,  und  sie  nicht  in  ihrem 
konkreten  und  bestimmten  Dasein,  das  sie  als  Idee  haben 
muß,  nehmen.  —  Der  Unterschied  von  Raub  und  Dieb- 
stahl bezieht  sich  auf  das  Qualitative,  daß  bei  jenem 
Ich  auch  als  gegenwärtiges  Bewußtsein,  also  als  diese 
subjektive  Unendlichkeit  verletzt  und  persönliche  Ge- 
walt gegen  mich  verübt  ist.  —  Manche  qualitative  Be- 
stimmungen, wie  die  Gefährlichkeit  für  die  öffent- 
liche Sicherheit,  haben  in  den  weiter  bestimmten  Ver- 
hältnissen ihren  Grund,  aber  sind  auch  öfters  erst  auf 
dem  Umwege  der  Folgen,  statt  aus  dem  Begriffe  der 
Sache,  aufgefaßt;  —  wie  eben  das  gefährlichere  Ver- 
brechen für  sich  in  seiner  unmittelbaren  Beschaffenheit, 
eine  dem  Umfange  oder  der  Qualität  nach  schwerere 
Verletzung  ist.  —  Die  subjektive  moralische  Qualität 
bezieht  sich  auf  den  höheren  Unterschied,  inwiefern  ein 
Ereignis  und  Tat  überhaupt  eine  Handlung  ist,  und  be- 
trifft deren  subjektive  Natur  selbst,  wovon  nachher. 

§97. 

Die  geschehene  Verletzung  des  Rechts  als  Rechts  ist 
zwar  eine  positive,  äußerliche  Existenz,  die  aber  in 
sich  nichtig  ist.  Die  Manifestation  dieser  ihrer  Nich- 
tigkeit ist  die  ebenso  in  die  Existenz  tretende  Vernichtung 
jener  Verletzung,  —  die  Wirklichkeit  des  Rechts,  als  seine 
sich  mit  sich  durch  Aufhebung  seiner  Verletzung  ver- 
mittelnde Notwendigkeit. 

§  98. 
Die   Verletzung  als  nur  an  dem  äußerlichen  Dasein 
oder  Besitze  ist  ein  Übel,  Schaden  an  irgendeiner  Weise 
des  Eigentums  oder  Vermögens;  die  Aufhebung  der  Ver- 
letzung als  einer  Beschädigung  ist  die  zivile  Genugtuung 
als  Ersatz,  insofern  ein  solcher  überhaupt  stattfinden  kann. 
In  dieser  Seite  der  Genugtuung  muß  schon  an  die 
Stelle  der   qualitativen  spezifischen   Beschaffenheit  des 


88      Erster  Teil.    Das  abstrakte  Recht.    Dritter  Abschnitt. 

Schadens,  insofern  die  Beschädigung  eine  Zerstörung 
und  überhaupt  unwiederherstellbar  ist,  die  allgemeine 
Beschaffenheit  derselben,  als  Wert,  treten. 

§99. 

Die  Verletzung  aber,  welche  dem  an  sich  seienden 
Willen  (und  zwar  hiermit  ebenso  diesem  Willen  des  Ver- 
letzers,   als    des   Verletzten    und    aller)    widerfahren,    hat 
an  diesem  an  sich  seienden  Willen  als  solchem  keine  po- 
sitive Existenz,  so  wenig  als  an  dem  bloßen  Produkte. 
Für   sich    ist  dieser  an  sich  seiende  Wille   (das  Recht, 
Gesetz  an  sich)  vielmehr  das  nicht  äußerlich  Existierende 
und  insofern  das  Unverletzbare.    Ebenso  ist  die  Verletzung 
für  den  besonderen  Willen  des  Verletzten  und  der  übrigen 
nur  etwas  Negatives.    Die  positive  Existenz  der  Ver- 
letzung ist  nur  als   der  besondere   Wille   des  Ver- 
brechers.    Die   Verletzung  dieses  als   eines   daseienden 
Willens  also  ist  das  Aufheben  des  Verbrechens,  das  sonst 
gelten  würde,  und  ist  die  Wiederherstellung  des  Rechts. 
Die  Theorie  der  Strafe  ist  eine  der  Materien,  die 
in   der   positiven   Rechtswissenschaft   neuerer   Zeit   am 
schlechtesten  weggekommen  sind,  weil  in  dieser  Theorie 
der  Verstand  nicht  ausreicht,  sondern  es  wesentlich  auf 
den   Begriff  ankommt.   —   Wenn   das   Verbrechen   und 
dessen  Aufhebung,  als  welche  sich  weiterhin  als  Strafe 
bestimmt,  nur  als  ein  Übel  überhaupt  betrachtet  wird, 
so  kann  man  es  freilich  als  unvernünftig  ansehen,  ein 
Übel  bloß  deswegen  zu  wollen,  weil  schon  ein  anderes 
Übel  vorhanden  ist.    (Klein,i)  Grunds,  des  peinlichen 
Rechts,  §  9  f.)  Dieser  oberflächliche  Charakter  eines  Ü  b  e  1  s 
wird  in  den  verschiedenen  Theorien  über  die  Strafe,  der 
Verhütungs-,  Abschreckungs-,  Androhungs-,  Besserungs- 
usw.  Theorie,  als  das  Erste  vorausgesetzt,  und  was  da- 
gegen herauskommen  soll,  ist  ebenso  oberflächlich  als 
ein  Gutes  bestimmt.     Es  ist  aber  weder  bloß  um  ein 
Übel,  noch  um  dies  oder  jenes  Gute  zu  tun,  sondern  es 
handelt  sich  bestimmt  um  Unrecht  und  um  Gerech- 
tigkeit.    Durch    jene    oberflächlichen    Gesichtspunkte 
aber  wird  die  objektive  Betrachtung  der  Gerechtig- 
keit, welche  der  erste  und  substantielle  Gesichtspunkt 
bei  dem  Verbrechen  ist,  beiseite  gestellt,  und  es  folgt 

1)  Klein,  Ernst  Ferdin.,  1743—1810,  seit  1800  Geh.  Ober- 
tribunalsrat in  Berlin. 


Das  Unrecht.    C.  Zwang  und  Verbrechen.    §  100.  89 

von  selbst,  daß  der  moralische  Gesichtspunkt,  die  sub- 
jektive Seite  des  Verbrechens,  vermischt  mit  trivialen 
psychologischen  Vorstellungen  von  den  Reizen  und  der 
Stärke  sinnlicher  Triebfedern  gegen  die  Vernunft,  von 
psychologischem  Zwang  und  Einwirkung  auf  die  Vor- 
stellung (als  ob  eine  solche  nicht  durch  die  Freiheit 
ebensowohl  zu  etwas  nur  Zufälligem  herabgesetzt  würde) 
—  zum  Wesentlichen  wird.  Die  verschiedenen  Rück- 
sichten, welche  zu  der  Strafe  als  Erscheinung  und  ihrer 
Beziehung  auf  das  besondere  Bewußtsein  gehören,  und 
die  Folgen  auf  die  Vorstellung  (abzuschrecken,  zu  bessern 
i:.  s.  f.)  betreffen,  sind  an  ihrer  Stelle,  und  zwar  vornehm- 
lich bloß  in  Rücksicht  der  Modalität  der  Strafe,  wohl  von 
wesentlicher  Betrachtung,  aber  setzen  die  Begründung 
voraus,  daß  das  Strafen  an  und  für  sich  gerecht  sei. 
In  dieser  Erörterung  kommt  es  allein  darauf  an,  daß 
das  Verbrechen  und  zwar  nicht  als  die  Hervorbringung 
eines  Übels,  sondern  als  Verletzung  des  Rechts  als  Rechts 
aufzuheben  ist,  und  dann  welches  die  Existenz  ist, 
die  das  Verbrechen  hat  und  die  aufzuheben  ist;  sie  ist 
das  wahrhafte  Übel,  das  wegzuräumen  ist,  und  worin 
sie  liege,  der  wesentliche  Punkt;  solange  die  Begriffe 
hierüber  nicht  bestimmt  erkannt  sind,  so  lange  muß  Ver- 
wirrung in  der  Ansicht  der  Strafe  herrschen. 

§  100. 

Die  Verletzung,  die  dem  Verbrecher  widerfährt,  ist 
nicht  nur  an  sich  gerecht,  —  als  gerecht  ist  sie  zugleich 
sein  an  sich  seiender  Wille,  ein  Dasein  seiner  Freiheit, 
sein  Recht;  sondern  sie  ist  auch  ein  Recht  an  den  Ver- 
brecher selbst,  d.  i.  in  seinem  daseienden  Willen,  in 
seiner  Handlung  gesetzt.  Denn  in  seiner  als  eines  Ver- 
nünftigen Handlung  liegt,  daß  sie  etwas  Allgemeines, 
daß  durch  sie  ein  Gesetz  aufgestellt  ist,  das  er  in  ihr  für 
sich  anerkannt  hat,  unter  welches  er  also,  als  unter  sein 
Recht  subsumiert  werden  darf. 

Beccaria^)  hat  dem  Staate  das  Recht  zur  Todesstrafe 
bekanntlich  aus  dem  Grunde  abgesprochen,  weil  nicht 
präsumiert  werden  könne,  daß  im  gesellschaftlichen  Ver- 
trage die  Einwilligung  der  Individuen,  sich  töten  zu 
lassen,  enthalten  sei,  vielmehr  das  Gegenteil  angenommen 

1)  Cesare  Beccaria,  1735 — 93,   dei  delitti  e  della  peue, 
Monaco  1764. 


90      Erster  Teil.    Das  abstrakte  Recht.    Dritter  Abschnitt. 

werden  müsse.  Allein  der  Staat  ist  überhaupt  nicht  ein 
Vertrag  (s.  §  75),  noch  ist  der  Schutz  und  die  Siche- 
rung des  Lebens  und  Eigentums  der  Individuen  als 
einzelner  so  unbedingt  sein  substantielles  Wesen,  viel- 
mehr ist  er  das  Höhere,  welches  dieses  Leben  und 
Eigentum  selbst  auch  in  Anspruch  nimmt  und  die  Auf- 
opferung desselben  fordert.  —  Ferner  ist  [es]  nicht  nur 
der  Begriff  des  Verbrechens,  das  Vernünftige  desselben 
an  und  für  sich,  mit  oder  ohne  Einwilligung  der 
Einzelnen,  was  der  Staat  geltend  zu  machen  hat,  sondern 
auch  die  formelle  Vernünftigkeit,  das  Wollen  des  Ein- 
zelnen, liegt  in  der  Handlung  des  Verbrechers.  Daß 
die  Strafe  darin  als  sein  eigenes  Recht  enthaltend  an- 
gesehen wird,  darin  wird  der  Verbrecher  als  Vernünf- 
tiges geehrt.  —  Diese  Ehre  wird  ihm  nicht  zuteil, 
wenn  aus  seiner  Tat  selbst  nicht  der  Begriff  und  der 
Maßstab  seiner  Strafe  genommen  wird;  —  ebensowenig 
auch,  wenn  er  nur  als  schädliches  Tier  betrachtet  wird, 
das  unschädlich  zu  machen  sei,  oder  in  den  Zwecken 
der  Abschreckung  und  Besserung.  —  Ferner  in  Rück- 
sicht auf  die  Weise  der  Existenz  der  Gerechtigkeit  ist 
ohnehin  die  Form,  welche  sie  im  Staate  hat,  nämlich  als 
Strafe,  nicht  die  einzige  Form  und  der  Staat  nicht  die 
bedingende    Voraussetzung    der    Gerechtigkeit   an   sich. 

§  lOL 
Das  Aufheben  des  Verbrechens  ist  insofern  Wieder- 
vergeltung, als  sie  dem  Begriffe  nach  Verletzung  der 
Verletzung  ist  und  dem  Dasein  nach  das  Verbrechen  einen 
bestimmten,  qualitativen  und  quantitativen  Umfang,  hier- 
mit auch  dessen  Negation  als  Dasein  einen  ebensolchen 
hat.  Diese  auf  dem  Begriffe  beruhende  Identität  ist  aber 
nicht  die  Gleichheit  in  der  spezifischen,  sondern  in  der 
an  sich  seienden  Beschaffenheit  der  Verletzung,  —  nach 
dem  Werte  derselben. 

Da  in  der  gewöhnlichen  Wissenschaft  die  Definition 
einer  Bestimmung,  hier  der  Strafe,  aus  der  allge- 
meinen Vorstellung  der  psychologischen  Erfahrung 
des  Bewußtseins  genommen  werden  soll,  so  würde  diese 
wohl  zeigen,  daß  das  allgemeine  Gefühl  der  Völker  und 
Individuen  bei  dem  Verbrechen  ist  und  gewesen  ist,  daß 
es  Strafe  verdiene  und  dem  Verbrecher  geschehen 
solle,  wie  er  getan  hat.  Es  ist  nicht  abzusehen,  wie 
diese  Wissenschaften,   welche  die  Quelle  ihrer  Bestim- 


Das  Unrecht.    0.  Zwang  und  Verbrechen.    §101.  91 

mungen  in  der  allgemeinen  Vorstellung  haben,  das  andere 
Mal  einer  solchen  auch  sogenannten  allgemeinen  Tat- 
sache des  Bewußtseins  widersprechende  Sätze  annehmen. 
—  Eine  Hauptschwierigkeit  hat  aber  die  Bestimmung 
der  Gl  eichheit  in  die  Vorstellung  der  Wiedervergel- 
tung hereingebracht;  die  Gerechtigkeit  der  Strafbestim- 
mungen nach  ihrer  qualitativen  und  quantitativen  Be- 
schaffenheit ist  aber  ohnehin  ein  Späteres  als  das  Sub- 
stantielle der  Sache  selbst.  Wenn  man  sich  auch  für 
dieses  weitere  Bestimmen  nach  anderen  Prinzipien  um- 
sehen müßte,  als  für  das  Allgemeine  der  Strafe,  so 
bleibt  dieses,  was  es  ist.  Allein  der  Begriff  selbst  muß 
überhaupt  das  Grundprinzip  auch  für  das  Besondere 
enthalten.  Diese  Bestimmung  des  Begriffs  ist  aber  eben 
jener  Zusammenhang  der  Notwendigkeit,  daß  das  Ver- 
brechen als  der  an  sich  nichtige  Wille,  somit  seine  Ver- 
nichtung, —  die  als  Strafe  erscheint,  —  in  sich  selbst 
enthält.  Die  innere  Identität  ist  es,  die  am  äußerlichen 
Dasein  sich  für  den  Verstand  als  Gleichheit  reflektiert. 
Die  qualitative  und  quantitative  Beschaffenheit  des  Ver- 
brechens und  seines  Aufhebens  fällt  nun  in  die  Sphäre  der 
Äußerlichkeit;  in  dieser  ist  ohnehin  keine  absolute  Be- 
stimmung möglich  (vergl.  §  49);  diese  bleibt  im  Felde 
der  Endlichkeit  nur  eine  Forderung,  die  der  Ver- 
stand immer  mehr  zu  begrenzen  hat,  was  von  der 
höchsten  Wichtigkeit  ist,  die  aber  ins  Unendliche  fort- 
geht und  nur  eine  Annäherung  zuläßt,  die  perennierend 
ist.  —  Übersieht  man  nicht  nur  diese  Natur  der  Endlich- 
keit, sondern  bleibt  man  auch  vollends  bei  der  ab- 
strakten, spezifischen  Gleichheit  stehen,  so  ent- 
steht nicht  nur  eine  unübersteigliche  Schwierigkeit,  die 
Strafen  zu  bestimmen  (vollends  wenn  noch  die  Psycho- 
logie die  Größe  der  sinnlichen  Triebfedern,  und  die  da- 
mit verbundene,  —  wie  man  will,  entweder  um  so 
größere  Stärke  des  bösen  Willens,  oder  auch  die  um 
so  geringere  Stärke  und  Freiheit  des  Willens  über- 
haupt herbeibringt),  sondern  es  ist  sehr  leicht,  die  Wieder- 
vergeltung der  Strafe  (als  Diebstahl  um  Diebstahl,  Raub 
um  Raub,  Aug'  um  Aug',  Zahn  um  Zahn,  wobei  man 
sich  vollends  den  Täter  als  einäugig  oder  zahnlos  vor- 
stellen kann),  als  Absurdität  darzustellen,  mit  der  aber 
der  Begriff  nichts  zu  tun  hat,  sondern  die  allein  jener 
herbeigebrachten  spezifischen  Gleichheit  zu  schul- 
den kommt.     Der  Wert  als  das  innere  Gleiche  von 


92      Erster  Teil.    Da3  abstrakte  Recht.    Dritter  Abschnitt. 

Sachen,  die  in  ihrer  Existenz  spezifisch  ganz  verschieden 
sind,  ist  eine  Bestimmung,  die  schon  bei  den  Verträgen 
(s.  oben)  ingleichen  in  der  Zivilklage  gegen  Verbrechen 
(§  95)  vorkommt,  und  wodurch  die  Vorstellung  aus  der 
unmittelbaren  Beschaffenheit  der  Sache  in  das  All- 
gemeine hinübergehoben  wird.  Bei  dem  Verbrechen, 
als  in  welchem  das  Unendliche  der  Tat  die  Grund- 
bestimmung ist,  verschwindet  das  bloß  äußerlich  Spe- 
zifische um  so  mehr,  und  die  Gleichheit  bleibt  nur  die 
Grundregel  für  das  Wesentliche,  was  der  Verbrecher 
verdient  hat,  aber  nicht  für  die  äußere  spezifische  Ge- 
stalt dieses  Lohns.  Nur  nach  der  letzteren  sind  Dieb- 
stahl, Raub  und  Geld-,  Gefängnisstrafe  u.  s.  f.  schlecht- 
hin Ungleiche,  aber  nach  ihrem  Werte,  ihrer  allgemeineif 
Eigenschaft,  Verletzungen  zu  sein,  sind  sie  Vergleich- 
bare. Es  ist  dann,  wie  bemerkt,  die  Sache  des  Ver- 
standes, die  Annäherung  an  die  Gleichheit  dieses  ihres 
Wertes  zu  suchen.  Wird  der  an  sich  seiende  Zu- 
sammenhang des  Verbrechens  und  seiner  Vernichtung 
und  dann  der  Gedanke  des  Wertes  und  der  Vergleich- 
barkeit beider  nach  dem  Werte  nicht  gefaßt,  so  kann 
es  dahin  kommen,  daß  man  (Klein,  Grunds,  des  peinl. 
Rechts,  §  9)  in  einer  eigentlichen  Strafe  eine  nur  will- 
kürliche Verbindung  eines  Übels  mit  einer  unerlaubten 
Handlung  sieht. 

§  102. 

Das  Aufheben  des  Verbrechens  ist  in  dieser  Sphäre 
der  Unmittelbarkeit  des  Rechts  zunächst  Rache,  dem  In- 
halte nach  gerecht,  insofern  sie  Wiedervergeltung  ist. 
Aber  der  Form  nach  ist  sie  die  Handlung  eines  subjek- 
tiven Willens,  der  in  jede  geschehene  Verletzung  seine 
Unendlichkeit  legen  kann  und  dessen  Gerechtigkeit  daher 
überhaupt  zufällig,  sowie  er  auch  für  den  anderen  nur 
als  besonderer  ist.  Die  Rache  wird  hierdurch,  daß  sie 
als  positive  Handlung  eines  besonderen  Willens  ist,  eine 
neue  Verletzung:  sie  verfällt  als  dieser  Widerspruch  in 
den  Progreß  ins  Unendliche  und  erbt  sich  von  Geschlechtern 
zu   Geschlechtern   ins  Unbegrenzte   fort. 

Wo  die  Verbrechen  nicht  als  crimina  publica,  sondern 
privata  (wie  bei  den  Juden,  bei  den  Römern  Diebstahl, 
Raub,  bei  den  Engländern  noch  in  einigem  u.  s.  f.)  ver- 
folgt  und   bestraft  werden,    hat   die   Strafe   wenigstens 


Das  Unrecht.    Übergang  zur  Moralität.    §  103 — 104.        93 

noch  einen  Teil  von  Rache  an  sich.  Von  der  Privatrache 
ist  die  Racheübung  der  Heroen,  abenteuernder  Ritter 
u.  s.  f.  verschieden,  die  in  die  Entstehung  der  Staaten 
fällt. 

§  103. 

Die  Forderung,  daß  dieser  Widerspruch  (wie  der 
Widerspruch  beim  anderen  Unrecht)  (§  86,  89),  der  hier 
an  der  Art  und  Weise  des  Aufhebens  des  Unrechts  vor- 
handen ist,  aufgelöst  sei,  ist  die  Forderung  einer  vom  sub- 
jektiven Interesse  und  Gestalt,  sowie  von  der  Zufälligkeit 
der  Macht  befreiten,  so  nicht  rächenden,  sondern  stra- 
fenden Gerechtigkeit.  Darin  liegt  zunächst  die  For- 
derung eines  Willens,  der  als  besonderer  subjektiver 
Wille  das  Allgemeine  als  solches  wolle.  Dieser  Begriff 
der  Moralität  aber  ist  nicht  nur  ein  Gefordertes,  sondern 
in  dieser  Bewegung  selbst  hervorgegangen. 

Übergang'  vom  Recht  in  Moralität. 

§  104. 

Das  Verbrechen  und  die  rächende  Gerechtigkeit  stellt 
nämlich  die  Gestalt  der  Entwickelung  des  Willens,  als 
in  die  Unterscheidung  des  allgemeinen  an  sich  und  des 
einzelnen,  für  sich  gegen  jenen  seienden,  hinaus- 
gegangen dar,  und  ferner,  daß  der  an  sich  seiende  Wille 
durch  Aufheben  dieses  Gegensatzes  in  sich  zurückgekehrt 
und  damit  selbst  für  sich  und  wirklich  geworden  ist. 
So  ist  und  gilt  das  Recht,  gegen  den  bloß  für  sich 
seienden  einzelnen  Willen  bewährt,  als  durch  seine  Not- 
wendigkeit wirklich.  —  Diese  Gestaltung  ist  ebenso  zu- 
gleich die  fortgebildete  innere  Begriffsbestimmtheit  des 
Willens.  Nach  seinem  Begriffe  ist  seine  Verwirklichung 
an  ihm  selbst  dies,  das  Ansichsein  und  die  Form  der  Un- 
mittelbarkeit, in  welcher  er  zunächst  ist  und  diese  als 
Gestalt  am  abstrakten  Rechte  hat,  aufzuheben  (§  21),  — 
somit  sich  zunächst  in  dem  Gegensatze  des  allgemeinen 
an  sich  und  des  einzelnen  für  sich  seienden  Willens  zu 
setzen,  und  dann  durch  das  Aufheben  dieses  Gegensatzes, 
die  Negation  der  Negation,  sich  als  Wille  in  seinem  Da- 
sein, daß  er  nicht  nur  freier  Wille  an  sich,  sondern  für 
sich  selbst  ist,  als  sich  auf  sich  beziehende  Negativität  zu 
bestimmen.    Seine  Persönlichkeit,  als  welche  der  Wille 


94  Erster  Teil.     Das  abstrakte  Recht, 

im  abstrakten  Rechte  nur  ist,  hat  derselbe  so  nunmehr  zu 
seinem  Gegenstande;  die  so  für  sich  unendliche  Sub- 
jektivität der  Freiheit  macht  das  Prinzip  des  moralischen 
Standpunkts  aus. 

Sehen  wir  näher  auf  die  Momente  zurück,  durch 
welche  der  Begriff  der  Freiheit  sich  aus  der  zunächst 
abstrakten  zur  sich  auf  sich  selbst  beziehenden  Be- 
stimmtheit des  Willens,  hiermit  zur  Selbstbestim- 
mung der  Subjektivität  fortbildet,  so  ist  diese  Be- 
stimmtheit im  Eigentum  das  abstrakte  Meinige  und 
daher  in  einer  äußerlichen  Sache,  —  im  Vertrage  das 
durch  Willen  vermittelte  und  nur  gemeinsame 
Meinige,  —  im  Unrecht  ist  der  Wille  der  Rechtssphäre, 
sein  abstraktes  Ansichsein  oder  Unmittelbarkeit  als  Zu- 
fälligkeit durch  den  einzelnen  selbst  zufälligen 
Willen  gesetzt.  Im  moralischen  Standpunkt  ist  sie  so 
überwunden,  daß  diese  Zufälligkeit  selbst  als  in  sich 
reflektiert  und  mit  sich  identisch  die  unendliche  in 
sich  seiende  Zufälligkeit  des  Willens,  seine  Subjek- 
tivität ist. 


Zweiter  Teil. 

Die  Moralität. 


§  105. 

Der  moralische  Standpunkt  ist  der  Standpunkt  des 
Willens,  insofern  er  nicht  bloß  an  sich,  sondern  für 
sich  unendlich  ist  (vorh.  §).  Diese  Reflexion  des  Willens 
in  sich  und  seine  für  sich  seiende  Identität  gegen  das 
Ansichsein  und  die  Unmittelbarkeit  und  die  darin  sich 
entwickelnden  Bestimmtheiten  bestimmt  die  Person  zum 
Subjekte, 

§  106. 
Indem  die  Subjektivität  nunmehr  die  Bestimmtheit  des 
Begriffs  ausmacht  und  von  ihm  als  solchem,  dem  an  sich 
seienden  Willen,  unterschieden  [ist],  und  zwar,  indem  der  Wille 
des  Subjekts  als  des  für  sich  seienden  Einzelnen  zugleich 
ist  (die  Unmittelbarkeit  auch  noch  an  ihm  hat),  macht 
sie  das  Dasein  des  Begriffs  aus.  —  Es  hat  sich  damit 
für  die  Freiheit  ein  höherer  Boden  bestimmt;  an  der 
Idee  ist  itzt  die  Seite  der  Existenz  oder  ihr  reales 
Moment  die  Subjektivität  des  Willens.  Nur  im  Willen, 
als  subjektivem,  kann  die  Freiheit  oder  der  an  sich  seiende 
Wille  wirklich  sein. 

Die  zweite  Sphäre,  die  Moralität,  stellt  daher  im 
Ganzen  die  reale  Seite  des  Begriffs  der  Freiheit  dar, 
und  der  Prozeß  dieser  Sphäre  ist,  den  zunächst  nur  für 
sich  seienden  Willen,  der  unmittelbar  nur  an  sich 
identisch  ist  mit  dem  an  sich  seienden  oder  allgemeinen 
Willen,  nach  diesem  Unterschiede,  in  welchem  er  sich 
in  sich  vertieft,  aufzuheben,  und  ihn  für  sich  als  iden- 
tisch mit  dem  an  sich  seienden  Willen  zu  setzen.  Diese 
Bewegung  ist  sonach  die  Bearbeitung  dieses  nunmehrigen 
Bodens  der  Freiheit,  der  Subjektivität,  die[se,  die]  zu- 
nächst abstrakt,  nämlich  vom  Begriffe  unterschieden 
ist,  ihm  gleich  [zu  machen]  und  dadurch  für  die  Idee 


96  Zweiter  Teil.    Die  Moralität.     §  107—108. 

ihre  wahrhafte  Realisation  zu  erhalten,  daß  der  sub- 
jektive Wille  sich  zum  ebenso  objektiven,  hiermit  wahr- 
haft konkreten  bestimmt. 

§107. 

Die   Selbstbestimmung   des   Willens    ist    zugleich 

Moment  seines  Begriffs  und   die   Subjektivität   nicht  nur 

die  Seite  seines  Daseins,  sondern  seine  eigene  Bestimmung 

(§  104).    Der  als  subjektiv  bestimmte,  für  sich  freie  Wille, 

zunächst  als   Begriff,   hat,   um   als    Idee   zu   sein,   selbst 

Dasein.     Der  moralische  Standpunkt  ist  daher  in  seiner 

Gestalt   das  Recht   des   subjektiven   Willens.     Nach 

diesem  Rechte  anerkennt  und  ist  der  Wüle  nur  etwas, 

insofern  es  das  Seinige,  er  darin  sich  als  Subjektives  ist. 

Derselbe  Prozeß  des  moralischen  Standpunktes  (s, 

Anm.   z.   vor.   §)    hat    nach    dieser    Seite    die    Gestalt, 

die  Entwicklung  des  Rechts  des  subjektiven  Willens 

zu  sein  —  oder  der  Weise  seines  Daseins,  —  so  daß 

er  das,  was  er  als  das  Seinige  in  seinem  Gegenstande 

erkennt,  dazu  fortbestimmt,  sein  wahrhafter  Begriff,  das 

Objektive  im  Sinne  seiner  Allgemeinheit  zu  sein. 

§108. 

Der  subjektive  Wille  als  unmittelbar  für  sich  und  von 
dem  an  sich  seienden  unterschieden  (§  106  Anm.)  ist 
daher  abstrakt,  beschränkt  und  formell.  Die  Subjektivität 
ist  aber  nicht  nur  formell,  sondern  macht  als  das  unend- 
liche Selbstbestimmen  des  Willens  das  Formelle  desselben 
aus.  Weil  es  in  diesem  seinem  ersten  Hervortreten  am 
einzelnen  Willen  noch  nicht  als  identisch  mit  dem  Be- 
griffe des  Willens  gesetzt  ist,  so  ist  der  moralische  Stand- 
punkt der  Standpunkt  des  Verhältnisses  und  des  Sollens 
oder  der  Forderung.  —  Und  indem  die  Differenz  der  Sub- 
jektivität ebenso  die  Bestimmung  gegen  die  Objektivität 
als  äußerliches  Dasein  enthält,  so  tritt  hier  auch  der  Stand- 
punkt des  Bewußtseins  ein  (§8),  —  überhaupt  der 
Standpunkt  der  Differenz,  Endlichkeit  und  Erschei- 
nung des  Willens. 

Das  Moralische  ist  zunächst  nicht  schon  als  das  dem 
Unmoralischen  Entgegengesetzte  bestimmt,  wie  das  Recht 
nicht  unmittelbar  das  dem  Unrecht  Entgegengesetzte, 
sondern  es  ist  der  allgemeine  Standpunkt  des  Mora- 
lischen sowohl  als  des  Unmoralischen,  der  auf  der  Sub- 
jektivität des  Willens  beruht. 


Die  Moralitiit.    §109—111.  97 

§  109. 
Dieses  Formelle  enthält  seiner  allgemeinen  Bestimmung 
nach  zuerst  die  Entgegensetzung  der  Subjektivität  und  Ob- 
jektivität und  die  sich  daraui  beziehende  Tätigkeit  (§  8),  — 
deren  Momente  näher  diese  sind:  Dasein  und  Bestimmt- 
heit ist  im  Begriffe  identisch  (vergl.  §  104)  und  der 
Wille  als  subjektiv  ist  selbst  dieser  Begriff,  —  beides 
und  zwar  für  sich  zu  unterscheiden  und  sie  als  identisch 
zu  setzen.  Die  Bestimmtheit  ist  im  sich  selbst  bestimmen- 
den Willen  a)  zunächst  als  durch  ihn  selbst  in  ihm  ge- 
setzt; —  die  Besonderung  seiner  in  ihm.  selbst,  ein  Inhalt, 
den  er  sich  gibt.  Dies  ist  die  erste  Negation  und  dereu 
formelle  Grenze,  nur  ein  Gesetztes,  Subjektives  zu  sein. 
Als  die  unendliche  Reflexion  in  sich  ist  diese  Grenze 
für  ihn  selbst  und  er  ß)  das  Wollen,  diese  Schranke 
aufzuheben,  —  die  Tätigkeit,  diesen  Inhalt  aus  der 
Subjektivität  in  die  Objektivität  überhaupt,  in  ein  un- 
mittelbares Dasein  zu  übersetzen.  ;■)  Die  einfache 
Identität  des  Willens  mit  sich  in  dieser  Entgegensetzung 
ist  der  sich  in  beiden  gleichbleibende,  und  gegen  diese 
Unterschiede  der  Form  gleichgültige  Inhalt,  der  Zweck. 

§  110. 
Diese  Identität  des  Inhalts  erhält  aber  auf  dem  mora- 
lischen Standpunkt,   wo   die  Freiheit,    diese   Identität  des 
"Willens  mit  sich,  für  ihn  ist   (§  105),   die  nähere  eigen- 
tümliche Bestimmung. 

a)  Der  Inhalt  ist  für  mich  als  der  meinige  so  be- 
stimmt, daß  er  in  seiner  Identität  nicht  nur  als  mein 
innerer  Zv»^eck,  sondern  auch,  insofern  er  die  äui3er- 
liche  Objektivität  erhalten  hat,  meine  Subjektivität  für 
mich   enthalte. 

§  111. 

b)  Der  Inhalt,  ob  er  zwar  ein  Besonderes  entliält 
(dies  sei  sonst  genommen,  woher  es  wolle),  hat  als  Inhalt 
des  in  seiner  Bestimmtheit  in  sich  reflektierten,  hier- 
mit mit  sich  identischen  und  allgemeinen  Willens,  a)  die 
Bestimmung  in  ihm  selbst,  dem  an  sich  seienden  Willen 
angemessen  zu  sein  oder  die  Objektivität  deo  Begriffes 
zu  haben,  ß)  indem  der  subjektive  Wille  als  für  sich 
seiender  zugleich  noch  formell  ist  (§  108),  ist  dies  nur 
Forderung,  und  er  enthält  ebenso  die  Möglichkeit,  dem 
Begriffe  nicht  angemessen  zu  sein. 

Hegel,  Eechtsphilosophie.  7 


98  Zweiter  Teil.     Die  Moralität.    §  112—113. 

§  112. 

c)  Indem  ich  meine  Subjektivität  in  Ausführung  meiner 
Zwecke  erhalte  (§  110),  hebe  ich  darin  als  [in]  der 
Objektivierung  derselben  diese  Subjektivität  zugleich  als 
unmittelbare,  somit  als  diese  meine  einzelne  auf.  Aber 
die  so  mit  mir  identische  äußerliche  Subjektivität  ist  der 
Wille  anderer  (§  73).  —  Der  Boden  der  Existenz  des 
Willens  ist  nun  die  Subjektivität  (§  106)  und  der  Vv'ille 
anderer  die  zugleich  mir  andere  Existenz,  die  ich  meinem 
Zv^^ecke  gebe.  —  Die  Ausführung  meines  Zwecks  hat  daher 
diese  Identität  meines  und  anderer  Willen  in  sich,  —  sie 
hat  eine  positive  Beziehung  auf  den  Willen  anderer. 

Die  Objektivität  des  ausgeführten  Zwecks  schließt 
daher  die  drei  Bedeutungen  in  sich,  oder  enthält  viel- 
mehr in  Einem  die  drei  Momente:  a)  Äußerliches  un- 
mittelbares Dasein  (§  109),^)  dem  Begriffe  angemessen 
(§  112),  y)  allgemeine  Subjektivität  zu  sein.  Die 
Subjektivität,  die  sich  in  dieser  Objektivität  erhält, 
ist  a)  daß  der  objektive  Zweck  der  meinige  sei,  so  daß 
Ich  mich  als  Diesen  darin  erhalte  (§  110);  ,?j  und  ;■) 
der  Subjektivität  ist  schon  mit  den  Momenten  ß)  und  ;•) 
der  Objektivität  zusammengefallen.  —  Daß  diese  Bestim- 
mungen so,  auf  dem  moralischen  Standpunkte  sich  unter- 
scheidend, nur  zum  Widerspruche  vereinigt  sind,  macht 
näher  das  Erscheinende  oder  die  Endlichkeit  dieser 
Sphäre  aus  (§  108)  und  die  Entwicklung  dieses  Stand- 
punkts ist  die  Entwicklung  dieser  Widersprüche  und 
deren  Auflösungen,  die  aber  innerhalb  desselben  nur 
relativ  sein  können. 

§  113. 

Die  Äußerung  des  Willens  als  subjektiven  oder 
moralischen  ist  Handlung.  Die  Handlung  enthält  die 
aufgezeigten  Bestimmungen,  a)  von  mir  in  ihrer  Äußer- 
lichkeit als  die  meinige  gewußt  zu  werden,  ß)  die  wesent- 
liche Beziehung  auf  den  Begriff  als  ein  Sollen  und  y)  auf 
den  Willen  anderer  zu  sein. 

Erst  die  Äußerung  des  moralischen  Willens  ist 
Handlung.  Das  Dasein,  das  der  Wille  im  formellen 
Rechte  sich  gibt,  ist  in  einer  unmittelbaren  Sache, 
ist  selbst  unmittelbar  und  hat  für  sich  zunächst  keine 
ausdrückliche  Beziehung  auf  den  Begriff,  der  als 
noch  nicht  gegen  den  subjektiven  Willen,  von  ihm  nicht 


Die  Moralität.    §  114.  99 

unterschieden  ist,  noch  eine  positive  Beziehung  auf 
den  Willen  anderer;  das  Rechtsgebot  ist  seiner  Grund- 
bestimmung nach  nur  Verbot  (§  38).  Der  Vertrag 
und  das  Unrecht  fangen  zwar  an,  eine  Beziehung  auf 
•  den  Willen  anderer  zu  haben  —  aber  die  Überein- 
stimmung, die  in  jenem  zustande  kommt,  gründet  sich 
auf  die  Willkür;  und  die  wesentliche  Beziehung,  die 
darin  auf  den  Willen  des  anderen  ist,  ist  als  rechtliche 
das  Negative,  mein  Eigentum  (dem  Werte  nach)  zu 
behalten  und  dem  anderen  das  Seinige  zu  lassen.  Die 
Seite  des  Verbrechens  dagegen  als  aus  dem  subjek- 
tiven Willen  kommend  und  nach  der  Art  und  Weise, 
wie  es  in  ihm  seine  Existenz  hat,  kommt  hier  erst  in 
Betracht.  —  Die  gerichtliche  Handlung  (actio),  als 
mir  nicht  nach  ihrem  Inhalt,  der  durch  Vorschriften 
bestimmt  ist,  imputabel,-  enthält  nur  einige  Momente 
der  moralischen  eigentlichen  Handlung  und  zwar  in 
äußerlicher  Weise;  eigentliche  moralische  Handlung 
zu  sein  ist  daher  eine  von  ihr  als  gerichtlicher  unter- 
schiedene Seite. 

§  114. 

Das  Recht  des  moralischen  Willens  enthält  die  drei 
Seiten: 

a)  Das  abstrakte  oder  formelle  Recht  der  Hand- 
lung, daß,  wie  sie  ausgeführt  in  unmittelbarem  Dasein 
ist,  ihr  Inhalt  überhaupt  der  meinige,  daß  sie  so  Vor- 
satz des  subjektiven  Willens  sei. 

b)  Das  Besondere  der  Handlung  ist  ihr  innerer 
Inhalt,  a)  wie  für  mich  dessen  allgemeiner  Charakter 
bestimmt  ist,  was  den  Wert  der  Handlung  und  das,  wo- 
nach sie  für  mich  gilt,  —  die  Absicht,  ausmacht;  — 
ß)  ihr  Inhalt,  als  mein  besonderer  Zweck  meines  parti- 
kulären subjektiven  Daseins,  —  ist  das  Wohl, 

c)  Dieser  Inhalt  als  Inneres  zugleich  in  seine  All- 
gemeinheit, als  in  die  an  und  für  sich  seiende  Objek- 
tivität erhoben,  ist  der  absolute  Zweck  des  Willens,  das 
Gute,  in  der  Sphäre  der  Reflexion  mit  dem  Gegensatze 
der  subjektiven  Allgemeinheit,  teils  des  Bösen,  teils 
des  Gewissens. 


100        Zweiter  Teil.     Die  Moralität.     Erster  Abschnitt. 
Erster  Abschnitt. 

Der  Vorsatz  und  die  Schuld. 

§  115. 

Die  Endlichkeit  des  subjektiven  Willens  in  der  Un- 
mittelbarkeit des  Handelns  besteht  unmittelbar  darin,  daß 
er  für  sein  Handeln  einen  vorausgesetzten  äußerlichen 
Gegenstand  mit  mannigfaltigen  Umständen  hat.  Die  Tat 
setzt  eine  Veränderung  an  diesem  vorliegenden  Dasein 
und  der  Wille  hat  schuld  überhaupt  daran,  insofern  in 
dem  veränderten  Dasein  das  abstrakte  Prädikat  des 
Meinigen  liegt. 

Eine  Begebenheit,  ein  hervorgegangener  Zustand  ist 
eine  konkrete  äußerliche  Wirklichkeit,  die  deswegen 
unbestimmbar  viele  Umstände  an  ihr  hat.  Jedes  einzelne 
Moment,  das  sich  als  Bedingung,  Grund,  Ursache 
eines  solchen  Umstandes  zeigt,  und  somit  das  Seinige 
beigetragen  hat,  kann  angesehen  werden,  daß  es  schuld 
daran  sei  oder  wenigstens  schuld  daran  habe.  Der 
formelle  Verstand  hat  daher  bei  einer  reichen  Begeben- 
heit (z.  B.  der  französischen  Revolution)  an  einer  un- 
zähligen Menge  von  Umständen  die  Wahl,  welchen  er 
als  einen,  der  schuld  sei,  behaupten  mW. 

§  116. 

Meine  eigene  Tat  ist  es  z^var  nicht,  wenn  Dinge, 
deren  Eigentümer  ich  bin,  und  die  als  äußerliche  in  mannig- 
faltigem Zusammenhange  stehen  und  wirken  (wie  es  auch 
mit  mir  selbst  als  mechanischem  Körper  oder  als  Leben- 
digem der  Fall  sein  kann),  anderen  dadurch  Schaden  ver- 
ursachen. Dieser  fällt  mir  aber  mehr  oder  weniger 
zur  Last,  weil  jene  Dinge  überhaupt  die  meinigen, 
jedoch  auch  nach  ihrer  eigentümlichen  Natur  nur  mehr 
oder  weniger  meiner  Herrschaft,  Aufmerksamkeit  u.  s.  f. 
unterworfen  sind. 

§117. 

Der  selbst  handelnde  Wille  hat  in  seinem  auf  das 
vorliegende  Dasein  gerichteten  Zwecke  die  Vorstellung 
der  Umstände  desselben.  Aber  weil  er,  um  dieser  Vor- 
aussetzung  willen,    endlich  ist,    ist   die    gegenständliche 


I 


Der  Vorsatz  und  die  Schuld.    §  118.  101 

Erscheinung  für  ihn  zufällig  und  kann  in  sich  etwas 
anderes  enthalten,  als  in  seiner  Vorstellung.  Das  Recht 
des  Willens  aber  ist,  in  seiner  Tat  nur  dies  als  seine 
Handlung  anzuerkennen,  und  nur  an  dem  schuld  zu 
haben,  was  er  von  ihren  Voraussetzungen  in  seinem  Zwecke 
weiß,  was  davon  in  seinem  Vorsatze  lag.  —  Die  Tat  kann 
nur  als  Schuld  des  Willens  zugerechnet  werden;  — 
das  Recht  des  Wissens. 

§  118. 

Die  Handlung  ferner  als  in  äußerliches  Dasein  ver- 
setzt, das  sich  nach  seinem  Zusammenhange  in  äußerer 
Notwendigkeit  nach  allen  Seiten  entwickelt,  hat  mannig- 
faltige Folgen.  Die  Folgen,  als  die  Gestalt,  die  den 
Zweck  der  Handlung  zur  Seele  hat,  sind  das  Ihrige  (das 
der  Handlung  Angehörige),  — ■  zugleich  aber  ist  sie,  als 
der  in  die  Äußerlichkeit  gesetzte  Zweck,  den  äußer- 
lichen Mächten  preisgegeben,  welche  ganz  anderes  daran 
knüpfen,  als  sie  für  sich  ist  und  sie  in  entfernte,  fremde 
Folgen  fortwälzen  1).  Es  ist  ebenso  das  Recht  des  Willens, 
sich  nur  das  erster e  zuzurechnen,  weil  nur  sie  in 
seinem  Vorsatze  liegen. 

Was  zufällige  und  was  notwendige  Folgen  sind, 
enthält  die  Unbestimmtheit  dadurch,  daß  die  innere  Not- 
wendigkeit am  Endlichen  als  äußere  Notwendigkeit, 
als  ein  Verhältnis  von  einzelnen  Dingen  zu  einander  ins 
Dasein  tritt,  die  als  selbständige  gleichgültig  gegen 
einander  und  äußerlich  zusammen  kommen.  Der  Grund- 
satz: bei  den  Handlungen  die  Konsequenzen  verachten, 
und  der  andere:  die  Handlungen  aus  den  Folgen  be- 
urteilen, und  sie  zum  Maßstabe  dessen,  was  recht  und 
gut  sei,  zu  machen  —  ist  beides  gleich  abstrakter 
Verstand.  Die  Folgen,  als  die  eigene  immanente  Ge- 
staltung der  Handlung,  manifestieren  nur  deren  Natur 
und  sind  nichts  anderes  als  sie  selbst;  die  Handlung 
kann  sie  daher  nicht  verleugnen  und  verachten.  Aber 
umgekehrt  ist  unter  ihnen  ebenso  das  äußerlich  Ein- 
greifende und  zufällig  Hinzukommende   begriffen,    was 


^)  Schiller,  Wallensteins  Tod,  1.  Aufz.,  4.  Auftritt:  In  meiner 
Brust  war  meine  Tat  noch  mein;  einmal  entlassen  aus  dem  sichern 
Winkel  des  Herzens,  ihrem  mütterlichen  Boden,  hinausgegeben 
in  des  Lebens  Fremde,  gehört  sie  jenen  tück'scheu  Mächten 
an,  die  keines  Menschen  Kunst  vertraulich  macht. 


102      Zweiter  Teil.     Die  Moralität.     Zweiter  Abschnitt, 

die  Natur  der  Handlung  selbst  nichts  angeht.  —  Die 
Entwicklun'g  des  Widerspruchs,  den  die  Notwendig- 
keit des  Endlichen  enthält,  ist  im  Dasein  eben  das 
Umschlagen  von  Notwendigkeit  in  Zufälligkeit  und  um- 
gekehrt. Handeln  heißt  daher  nach  dieser  Seite,  sich 
diesem  Gesetze  preisgeben.  —  Hierin  liegt,  daß 
es  dem  Verbrecher,  wenn  seine  Handlung  weniger 
schlimme  Folgen  hat,  zugute  kommt,  sowie  die  gute 
Handlung  es  sich  muß  gefallen  lassen,  keine  oder  weniger 
Folgen  gehabt  zu  haben,  und  daß  dem  Verbrechen, 
aus  dem  sich  die  Folgen  vollständiger  entmckelt  haben, 
diese  zur  Last  fallen,  —  Das  heroische  Selbstbewußt- 
sein (wie  in  den  Tragödien  der  Alten,  ödips  u.  s.  f.)  ist 
aus  seiner  Gediegenheit  noch  nicht  zur  Reflexion  des 
Unterschiedes  von  Tat  und  Handlung,  der  äußer- 
lichen Begebenheit  und  dem  Vorsatze  und  Wissen  der 
Umstände,  sowie  zur  Zersplitterung  der  Folgen  fort- 
gegangen, sondern  übernimmt  die  Schuld  im  ganzen 
Umfange  der  Tat^). 


Zweiter  Abschnitt. 

Die  Absicht  und  das  Wohl. 

§  119. 

Das  äußerliche  Dasein  der  Handlung  ist  ein  mannig- 
faltiger Zusammenhang,  der  unendlich  in  Einzelnheiten 
geteilt  betrachtet  werden  kann  und  die  Handlung  so, 
daß  sie  nur  eine  solche  Einzelnheit  zunächst  be- 
rührt habe.  Aber  die  Wahrheit  des  Einzelnen  ist  das 
Allgemeine,  und  die  Bestimmtheit  der  Handlung  ist  für 
sich  nicht  ein  zu  einer  äußerlichen  Einzelnheit  isolierter, 
sondern  den  mannigfaltigen  Zusammenhang  in  sich  ent- 
haltender allgemeiner  Inhalt,  Der  Vorsatz,  als  von 
einem  Denkenden  ausgehend,  enthält  nicht  bloß  die 
Einzelnheit,  sondern  wesentlich  jene  allgemeine  Seite, 
—  die  Absicht. 

Absicht   enthält   etymologisch   die   Abstraktion, 
teils  die  Form  der  Allgemeinheit,  teils  das  Heraus- 

')  Zu  diesen  Ausführungen  vergl.  in  H.s  Phänomenologie 
den  Abschnitt  über  die  „sittliche  Handlung  u,  s.  w.-  (Phil,  Bibl., 
Bd.  114,  S.  300  ff.). 


Die  Absicht  und  das  Wohl.    §  120.  103 

nehmen  einer  besonderen  Seite  der  konkreten  Sache. 
Das  Bemühen  der  Rechtfertigung  durch  die  Absicht 
ist  das  Isolieren  einer  einzelnen  Seite  überhaupt,  die 
als  das  subjektive  Wesen  der  Handlung  behauptet  wird. 
—  Das  Urteil  über  eine  Handlung  als  äußerliche  Tat 
noch  ohne  die  Bestimmung  ihrer  rechtlichen  oder  un- 
rechtlichen Seite,  erteilt  derselben  ein  allgemeines 
Prädikat,  daß  sie  Brandstiftung,  Tötung  u.  s.  f.  ist.  — 
Dje  vereinzelte  Bestimmtheit  der  äußerlichen  Wirk- 
lichkeit zeigt  das,  was  ihre  Natur  ist,  als  äußerlichen 
Zusammenhang.  Die  Wirklichkeit  wird  zunächst  nur 
an  einem  einzelnen  Punkte  berührt  (\vie  die  Brand- 
stiftung nur  einen  kleinen  Punkt  des  Holzes  unmittel- 
bar trifft,  was  nur  einen  Satz,  kein  Urteil  gibt),  aber 
die  allgemeine  Natur  dieses  Punktes  enthält  seine  Aus- 
dehnung. Im  Lebendigen  ist  das  Einzelne  unmittelbar 
nicht  als  Teil,  sondern  als  Organ,  in  welchem  das  All- 
gemeine als  solches  gegenwärtig  existiert,  so  daß  beim 
Morde  nicht  ein  Stück  Fleisch,  als  etwas  Einzelnes, 
sondern  darin  selbst  das  Leben  verletzt  wird.  Es  ist 
einesteils  die  subjektive  Reflexion,  welche  die  logische 
Natur  des  Einzelnen  und  Allgemeinen  nicht  kennt,  die 
sich  in  die  Zersplitterung  in  Einzelnheiten  und  Folgen 
einläßt,  andrerseits  ist  es  die  Natur  der  endlichen  Tat 
selbst,  solche  Absonderungen  der  Zufälligkeiten  zu  ent- 
halten. —  Die  Erfindung  des  dolus  indirectus  hat  in 
dem  Betrachteten  ihren  Grund. 

§  120. 

Das  Recht  der  Absicht  ist,  daß  die  allgemeine 
Qualität  der  Handlung  nicht  nur  an  sich  sei,  sondern 
von  dem  Handelnden  gewußt  werde,  somit  schon  in 
seinem  subjektiven  Willen  gelegen  habe;  sowie  umgekehrt 
das  Recht  der  Objektivität  der  Handlung,  wie  es  ge- 
nannt werden  kann,  ist,  sich  vom  Subjekt  als  Denken- 
dem als  gewußt  und  gewollt  zu  behaupten. 

Dies  Recht  zu  dieser  Einsicht  führt  die  gänzliche 
oder  geringere  Zurechnungsunfähigkeit  der  Kinder, 
Blödsinnigen,  Verrückten  u.  s.  f.  bei  ihren  Handlungen  mit 
sich.  —  Wie  aber  die  Handlungen  nach  ihrem  äußer- 
lichen Dasein  Zufälligkeiten  der  Folgen  in  sich  schließen, 
so  enthält  auch  das  subjektive  Dasein  die  Unbestimmt- 
heit, die  sich  auf  die  Macht  und  Stärke  des  Selbstbewußt- 


104      Zweiter  Teil.     Die  Moralität.     Zweiter  AUcIinitt. 

seins  und  der  Besonnenheit  bezieht,  —  eine  Unbestimmt- 
heit, die  jedoch  nur  in  Ansehung  des  Blödsinns,  der 
Verrücktheit,  u.  dergl.  wie  des  Kindesalters  in  Rück- 
sicht kommen  kann,  weil  nur  solche  entschiedene 
Zustände  den  Charakter  des  Denkens  und  der  Willens- 
freiheit aufheben  und  es  zulassen,  den  Handelnden  nicht 
nach  der  Ehre,  ein  Denkendes  und  ein  'Wille  zu  sein, 
zu  nehmen. 

§  121. 

Die  allgemeine  Qualität  der  Handlung  ist  der  auf  die 
einfache  Form  der  Allgemeinheit  zurückgebrachte, 
mannigfaltige  Inhalt  der  Handlung  überhaupt.  Aber  das 
Subjekt  hat  als  in  sich  reflektiertes,  somit  gegen  die  ob- 
jektive Besonderheit  Besonderes,  in  seinem  Zwecke 
seinen  eigenen  besonderen  Inhalt,  der  die  bestimmende 
Seele  der  Handlung  ist.  Daß  dies  Moment  der  Besonder- 
heit des  Handelnden  in  der  Handlung  enthalten  und  aus- 
geführt ist,  macht  die  subjektive  Freiheit  in  ihrer 
konkreteren  Bestimmung  aus,  das  Recht  des  Subjekts, 
in  der  Handlung  seine  Befriedigung  zu  finden. 

§  122. 

Durch  dies  Besondere  hat  die  Handlung  subjektiven 
Wert,  Interesse  für  mich.  Gegen  diesen  Zweck,  die 
Absicht  dem  Inhalte  nach,  ist  das  Unmittelbare  der 
Handlung  in  ihrem  weiteren  Inhalte  zum  Mittel  herab- 
gesetzt. Insofern  solcher  Zweck  ein  Endliches  ist,  kann 
er  wieder  zum  Mittel  für  eine  weitere  Absicht  u.  s.  f.  ins 
Unendliche  herabgesetzt  werden. 

§  123. 

Für  den  Inhalt  dieser  Zwecke  ist  hier  nur  a)  die 
formelle  Tätigkeit  selbst  vorhanden,  —  daß  das  Subjekt 
bei  dem,  was  es  als  seinen  Zweck  ansehen  und  befördern 
soll,  mit  seiner  Tätigkeit  sei;  —  wofür  sich  die  Menschen 
als  für  das  Ihrige  interessieren  oder  interessieren  sollen, 
dafür  wollen  sie  tätig  sein,  ß)  Weiter  bestimmten  Inhalt 
aber  hat  die  noch  abstrakte  und  formelle  Freiheit  der 
Subjektivität  nur  an  ihrem  natürlichen  subjektiven 
Dasein,  Bedürfnissen,  Neigungen,  Leidenschaften,  Mei- 
nungen, Einfällen  u.  s.  f.  Die  Befriedigung  dieses  Inhalts 
ist  das  Wohl  oder  die  Glückseligkeit  in  ihren  beson- 


Die  Absiebt  und  das  Wolil.    §  124.  105 

I   deren  Besümmungen  und  im  Allgemeinen,  die  Zwecke  der 
Endlichkeit  überhaupt. 

Es  ist  dies  als  der  Standpunkt  des  Verhältnisses 
(§  108),  auf  dem  das  Subjekt  zu  seiner  Unterschiedenheit 
bestimmt,  somit  als  Besonderes  gilt,  der  Ort,  wo  der 
Inhalt  des  natürlichen  Willens  (§  11)  eintritt;  er  ist 
hier  aber  nicht,  wie  er  unmittelbar  ist,  sondern  dieser 
Inhalt  ist  als  dem  in  sich  reflektierten  Willen  angehörig, 
zu  einem  allgemeinen  Zwecke,  des  Wohls  oder  der 
Glückseligkeit  (Encykl.  §  395 ff.) ^)  erhoben,  —  dem 
Standpunkt  des,  den  Willen  noch  nicht  in  seiner  Freiheit 
erfassenden,  sondern  über  seinen  Inhalt  als  einen  natür- 
lichen und  gegebenen  reflektierenden  Denkens,  — 
wie  z.  B.  zu  Krösus'  und  Solons  Zeit. 

§  124. 
Indem  auch  die  subjektive  Befriedigung  des  Indi- 
viduums selbst  (darunter  die  Anerkennung  seiner  in  Ehre 
und  Ruhm)  in  der  Ausführung  an  und  für  sich  gelten- 
der Zwecke  enthalten  ist,  so  ist  beides,  die  Forderung,  daß 
nur  ein  solcher  als  gewollt  und  erreicht  erscheine,  wie 
die  Ansicht,  als  ob  die  objektiven  und  die  subjektiven 
Zwecke  einander  im  Wollen  ausschließen,  eine  leere  Be- 
hauptung des  abstrakten  Verstandes.  Ja  sie  wird  zu  etwas 
Schlechtem,  wenn  sie  darein  übergeht,  die  subjektive  Be- 
friedigung, weil  solche  (wie  immer  in  einem  vollbrachten 
Werke)  vorhanden,  als  die  wesentliche  Absicht  des 
Handelnden  und  den  objektiven  Zweck  als  ein  solches  zu 
behaupten,  das  ihm  nur  ein  Mittel  zu  jener  gewesen  sei. 
—  Was  das  Subjekt  ist,  ist  die  Reihe  seiner  Hand- 
lungen. Sind  diese  eine  Reihe  wertloser  Produktionen, 
so  ist  die  Subjektivität  des  Wollens  ebenso  eine  wertlose; 
ist  dagegen  die  Reihe  seiner  Taten  substantieller  Natur, 
so  ist  es  auch  der  innere  Wille  des  Individuums. 

Das  Recht  der  Besonderheit  des  Subjekts,  sich 
befriedigt  zu  finden,  oder,  was  dasselbe  ist,  das  Recht 
der  subjektiven  Freiheit  macht  den  Wende-  und 
Mittelpunkt  in  dem  Unterschiede  des  Altertums  und 
der  modernen  Zeit.  Dies  Recht  in  seiner  Unendlichkeit 
ist  im  Christentum  ausgesprochen  und  zum  allgemeinen 
wirklichen  Prinzip  einer  neuen  Form  der  Welt  gemacht 
worden.  Zu  dessen  näheren  Gestaltungen  gehören  die 
Liebe,  das  Romantische,   der  Zweck  der   ewigen  Selig- 

1)  In  der  3.  Aufl.  §§  478—480  (Phil.  ßibl.  Bd.  33,  S.  415  f.). 


106       Zweiter  Teil.     Die  Moralität.     Zweiter  Abschnitt. 

keit  des  Individuums  u.  s.  f.,  —  alsdann  die  Moralität  und 
das  Gewissen,  ferner  die  anderen  Formen,  die  teils  im 
folgenden  als  Prinzip  der  bürgerlichen  Gesellschaft  und  als 
Momente  der  politischen  Verfassung  sich  hervortun  werden, 
teils  aber  überhaupt  in  der  Geschichte,  insbesondere  in 
der  Geschichte  der  Kunst,  der  Wissenschaften  und  der 
Philosophie  auftreten.  —  Dies  Prinzip  der  Besonderheit 
ist  nun  allerdings  ein  Moment  des  Gegensatzes,  und 
zunächst  wenigstens  ebensowohl  identisch  mit  dem 
Allgemeinen,  als  unterschieden  von  ihm.  Die  abstrakte 
Reflexion  fixiert  aber  dies  Moment  in  seinem  Unter- 
schiede und  Entgegensetzung  gegen  das  Allgemeine  und 
bringt  so  eine  Ansicht  der  Moralität  hervor,  daß  diese 
nur  als  feindseliger  Kampf  gegen  die  eigene  Befriedi- 
gung perenniere,  —  die  Forderung 

,,mit  Abscheu  zu  tun,  was  die  Pflicht  gebeut"^). 
Eben  dieser  Verstand  bringt  diejenige  psychologische 
Ansicht  der  Geschichte  hervor,  welche  alle  große  Taten 
und  Individuen  damit  kleinzumachen  und  herabzuwür- 
digen versteht,  daß  sie  Neigungen  und  Leidenschaften, 
die  aus  der  substantiellen  Wirksamkeit  gleichfalls  ihre 
Befriedigung  fanden,  sowie  Ruhm  und  Ehre  und  andere 
Folgen,  überhaupt  die  besondere  Seite,  welche  er  vor- 
her zu  etwas  für  sich  Schlechtem  dekretierte,  zur  Haupt- 
absicht und  wirkenden  Triebfeder  der  Handlungen  um- 
schafft; —  er  versichert,  weil  große  Handlungen  und 
die  Wirksamkeit,  die  in  einer  Reihe  solcher  Handlungen 
bestand,  Großes  in  der  Welt  hervorgebracht,  und  für 
das  handelnde  Individuum  die  Folge  der  Macht, 
der  Ehre  und  des  Ruhms  gehabt,  so  gehöre  nicht  jenes 
Große,  sondern  nur  dies  Besondere  und  Äußerliche,  das 
davon  auf  das  Individuum  fiel,  diesem  an;  weil  dies 
Besondere  Folge,  so  sei  es  darum  auch  als  Zweck, 
und  zwar  selbst  als  einziger  Zweck  gewesen.  —  Solche 
Reflexion  hält  sich  an  das  Subjektive  der  großen  Indi- 
viduen, als  in  welchem  sie  selbst  steht  und  übersieht 
in  dieser  selbstgemachten  Eitelkeit  das  Substantielle  der- 
selben; —  es  ist  die  Ansicht  ,,der  psychologischen 
Kammerdiener,  für  welche  es  keine  Helden  gibt,  nicht 
weil  diese  keine  Helden,  sondern  weil  jene  nur  die 
Kammerdiener  sind"  (Phänomenol.  des  Geistes  S.  616)-), 


1)  Schiller,  Die  Philosophen  (,.Gewissensskrupel",  ,.Entschei- 
dung").   —    -)  Lassonsche  Ausgabe  (Phil.  Bibl.  114.  Bd.),  S.  430. 


I 


Die  Absicht  und  das  Wohl.    §  125—126.  107 

§  125. 
Das  Subjektive  mit  dem  besonderen  Inhalte  des 
Wohls  steht  als  in  sich  Reflektiertes,  Unendliches  zugleich 
in  Beziehung  auf  das  Allgemeine,  den  an  sich  seienden 
Willen.  Dies  Moment,  zunächst  an  dieser  Besonderheit 
selbst  gesetzt,  ist  es  das  Wohl  auch  anderer,  —  in 
vollständiger,  aber  ganz  leerer  Bestimmung,  das  Wohl 
aller.  Das  Wohl  vieler  anderer  Besonderer  überhaupt 
ist  dann  auch  wesentlicher  Zweck  und  Recht  der  Sub- 
jektivität. Indem  sich  aber  das  von  solchem  besonderen 
Inhalt  unterschiedene,  an  und  für  sich  seiende  All- 
gemeine hier  weiter  noch  nicht  bestimmt  hat,  denn  als 
das  Recht,  so  können  jene  Zwecke  des  Besonderen  von 
diesem  verschieden,  demselben  gemiäß  sein,  aber  auch 
nicht. 

§  126. 

Meine  sowie  der  anderen  Besonderheit  ist  aber  nur 
überhaupt  ein  Recht,  insofern  ich  ein  Freies  bin.  Sie 
kann  sich  daher  nicht  im  Widerspruche  dieser  ihrer  sub- 
stantiellen Grundlage  behaupten;  und  eine  Absicht  meines 
Wohls,  sowie  des  Wohls  anderer,  —  in  welchem  Falle 
sie  insbesondere  eine  moralische  Absicht  genannt  wird, 
—  kann  nicht  eine  unrechtliche  Handlung  recht- 
fertigen. 

Es  ist  vorzüglich  eine  der  verderbten  Maximen 
unserer  Zeit,  die  teils  aus  der  vorkantischen  Periode 
des  guten  Herzens  herstammt,  und  z,  B.  die  Quint- 
essenz bekannter  rührender  dramatischer  Darstellungen 
ausmacht,  bei  unrechtlichen  Handlungen  für  die  so- 
genannte moralische  Absicht  zu  interessieren  und 
schlechte  Subjekte  mit  einem  seinsollenden  guten  Herzen, 
d.  i.  einem  solchen,  welches  sein  eigenes  Wohl  und  etwa 
auch  das  Wohl  anderer  will,  vorzustellen;  teils  aber  ist 
diese  Lehre  in  gesteigerter  Gestalt  wieder  aufgewärmt 
und  die  innere  Begeisterung  und  das  Gemüt,  d.  i.  die 
Form  der  Besonderheit  als  solche,  zum  Kriterium  dessen, 
was  recht,  vernünftig  und  vortrefflich  sei,  gemacht 
worden,  so  daß  Verbrechen  und  deren  leitende  Ge- 
danken, wenn  es  die  plattsten,  hohlsten  Einfälle  und 
törichtsten  Meinungen  seien,  darum  rechtlich,  vernünftig 
und  vortrefflich  wären,  weil  sie  aus  dem  Gemüt  und 
aus  der  Begeisterung  kommen;  das  Nähere  s.  unten 
§  140  Anm.  —  Es  ist  übrigens  der  Standpunkt  zu  beachten, 


108       Zweiter  Teil.     Die  Moralität.     Dritter  Abschnitt. 

auf  dem  Recht  und  Wohl  hier  betrachtet  sind,  nämlich  al.t 
formelles  Recht  und  als  besonderes  Wohl  des  Einzelnen; 
das  sogenannte  allgemeine  Beste,  das  Wohl  de-.- 
Staates,  d.  i.  das  Recht  des  wirklichen  konkreten  Geistes, 
ist  eine  ganz  andere  Sphäre,  in  der  das  formelle  Recht 
ebenso  ein  untergeordnetes  Moment  ist  als  das  besondere 
Wohl  und  die  Glückseligkeit  des  Einzelnen.  Daß  e^ 
einer  der  häufigen  Mißgriffe  der  Abstraktion  ist,  das 
Privatrecht  wie  das  Privatwohl  als  an  und  für  sich 
gegen  das  Allgemeine  des  Staats  geltend  zu  machen, 
ist  schon  oben^)  bemerkt. 

§  127. 
Die  Besonderheit  der  Interessen  des  natürlichen 
Willens  in  ihre  einfache  Totalität  zusammengefaßt,  ist 
das  persönliche  Dasein  als  Leben.  Dieses  in  der  letzten 
Gefahr  und  in  der  Kollision  mit  dem  rechtlichen  Eigen- 
tum eines  anderen  hat  ein  Notrecht  (nicht  als  Billigkeit, 
sondern  als  Recht)  anzusprechen,  indem  auf  der  einen 
Seite  die  unendliche  Verletzung  des  Daseins  und  darin 
die  totale  Rechtlosigkeit,  auf  der  anderen  Seite  nur  die 
Verletzung  eines  einzelnen  beschränkten  Daseins  der  Frei- 
heit steht,  wobei  zugleich  das  Recht  als  solches  und  die 
Rechtsfähigkeit  des  nur  in  diesem  Eigentum  Verletzten 
anerkannt  wird. 

Aus  dem  Notrecht  fließt  die  Wohltat  der  Kompe- 
tenz, daß  einem  Schuldner  Handwerkszeuge,  Ackergeräte, 
Kleider,  überhaupt  von  seinem  Vermögen,  d.  i.  vom 
Eigentum  der  Gläubiger  so  viel  gelassen  wird,  als  zur 
Möglichkeit  seiner  —  sogar  standesgemäßen  —  Er- 
nährung dienend,  angesehen  wird. 

§  128. 

Die  Not  offenbart  sowohl  die  Endlichkeit  und  damit 
die  Zufälligkeit  des  Rechts  als  des  Wohls,  —  des  ab- 
strakten Daseins  der  Freiheit,  ohne  daß  es  als  Existenz 
der  besonderen  Person  ist,  und  der  Sphäre  des  besonderen 
Willens  ohne  die  Allgemeinheit  des  Rechts.  Ihre  Ein- 
seitigkeit und  Idealität  ist  damit  gesetzt,  wie  sie  an 
ihnen  selbst  im  Begriffe  schon  bestimmt  ist;  das  Recht 
hat  bereits  (§  106)  sein  Dasein  als  den  besonderen  Willen 
bestimmt,  und  die  Subjektivität  in  ihrer  umfassenden  Be- 

»)  §  29. 


Das  Gute  und  das  CTe\\dssen.    §  129—131.  109 

Sonderheit  ist  selbst  das  Dasein  der  Freiheit  (§  127),  so 
wie  sie  an  sich  als  unendliche  Beziehung  des  Willens  auf 
sich  das  Allgemeine  der  Freiheit  ist.  Die  beiden  Momente 
an  ihnen  so  zu  ihrer  Wahrheit,  ihrer  Identität,  integriert, 
aber  zunächst  noch  in  relativer  Beziehung  aufeinander, 
sind  das  Gute,  als  das  erfüllte,  an  und  für  sich  be- 
stimmte Allgemeine,  und  das  Gewissen,  als  die  in  sich 
wissende  und  in  sich  den  Inhalt  bestimmende  unendliche 
Subjektivität. 

Dritter  Abschnitt. 

Das  Oute  und  das  Oewissen. 

§129. 

Das  Gute  ist  die  Idee,  als  Einheit  des  Begriffs 
des  Willens  und  des  besonderen  Willens,  —  in  welcher 
das  abstrakte  Recht,  wie  das  Wohl  und  die  Subjektivität 
des  Wissens  und  die  Zufälligkeit  des  äußerlichen  Daseins, 
als  für  sich  selbständig  aufgehoben,  damit  aber  ihrem 
Wesen  nach  darin  enthalten  und  erhalten  sind,  — 
die  realisierte  Freiheit,  der  absolute  Endzweck 
der  Welt. 

§  130. 

Das  Wohl  hat  in  dieser  Idee  keine  Gültigkeit  für  sich 
als  Dasein  des  einzelnen  besonderen  Willens,  sondern  nur 
als  allgemeines  Wohl  und  wesentlich  als  allgemein  an 
sich,  d.  i.  nach  der  Freiheit;  —  das  Wohl  ist  nicht  ein 
Gutes  ohne  das  Recht.  Ebenso  ist  das  Recht  nicht  das 
Gute  ohne  das  Wohl  (fiat  justitia  soll  nicht  pereat  mundus 
zur  Folge  haben).  Das  Gute  hiermit,  als  die  Notwendig- 
keit, wirklich  zu  sein  durch  den  besonderen  Willen,  und 
zugleich  als  die  Substanz  desselben,  hat  das  absolute 
Recht  gegen  das  abstrakte  Recht  des  Eigentums  und 
die  besonderen  Zwecke  des  Wohls.  Jedes  dieser  Momente, 
insofern  es  von  dem  Guten  unterschieden  wird,  hat  nur 
Gültigkeit,  insofern  es  ihm  gemäß  und  ihm  unter- 
geordnet ist. 

§  131. 
Für  den  subjektiven  Willen  ist  das  Gute  ebenso  das 
schlechthin  Wesentliche,  und  er  hat  nur  Wert  und  Würde, 
insofern  er  in  seiner  Einsicht  und  Absicht  demselben  gemäß 


110       Zweiter  Teil.     Die  Moralität.     Dritter  Abschnitt. 

ist.  Insofern  das  Gute  hier  noch  diese  abstrakte  Idee 
des  Guten  ist,  so  ist  der  subjektive  Wille  noch  nicht  als 
in  dasselbe  aufgenommen  und  ihm  gemäß  gesetzt;  er 
steht  somit  in  einem  Verhältnis  zu  demselben  und  zwar 
in  dem,  daß  das  Gute  für  denselben  das  Substantielle 
sein,  —  daß  er  dasselbe  zum  Zwecke  machen  und  voll- 
bringen soll,  —  wie  das  Gute  seinerseits  nur  im  sub- 
jektiven Willen  die  Vermittlung  hat,  durch  welche  es  in 
Wirklichkeit  tritt. 

§  132. 

Das  Recht  des  subjektiven  Willens  ist,  daß  das, 
was  er  als  gültig  anerkennen  soll,  von  ihm  als  gut  ein- 
gesehen werde,  und  daß  ihm  eine  Handlung,  als  der 
in  die  äußerliche  Objektivität  tretende  Zweck,  nach  seiner 
Kenntnis  von  ihrem  Werte,  den  sie  in  dieser  Objektivität 
hat,  als  rechtlich  oder  unrechtlich,  gut  oder  böse,  gesetz- 
lich oder  ungesetzlich  zugerechnet  werde. 

Das  Gute  ist  überhaupt  das  Wesen  des  Willens  in 
seiner  Substantialität  und  Allgemeinheit,  —  der 
Wille  in  seiner  Wahrheit;  —  es  ist  deswegen  schlechthin 
nur  im  Denken  und  durch  das  Denken.  Die  Behaup- 
tung daher,  daß  der  Mensch  das  Wahre  nicht  erkennen 
könne,  sondern  es  nur  mit  Erscheinungen  zu  tun  habe, 
—  daß  das  Denken  dem  guten  Willen  schade,  diese  und 
dergleichen  Vorstellungen  nehmen,  wie  den  intellek- 
tuellen, ebenso  allen  sittlichen  Wert  und  Würde  aus  dem 
Geiste  hinweg.  —  Das  Recht,  nichts  anzuerkennen,  was 
Ich  nicht  als  vernünftig  einsehe,  ist  das  höchste  Recht 
dos  Subjekts,  aber  durch  seine  subjektive  Bestimmung 
zugleich  formell,  und  das  Recht  des  Vernünftigen 
als  des  Objektiven  an  das  Subjekt  bleibt  dagegen  fest 
stehen.  —  Wegen  ihrer  formellen  Bestimmung  ist  die 
Einsicht  ebensowohl  fähig,  wahr,  als  bloße  Meinung 
und  Irrtum  zu  sein.  Daß  das  Individuum  zu  jenem 
Rechte  seiner  Einsicht  gelange,  dies  gehört  nach  dem 
Standpunkte  der  noch  moralischen  Sphäre,  seiner  be- 
sonderen subjektiven  Bildung  an.  Ich  kann  an  mich 
die  Forderung  machen,  und  es  als  ein  subjektives  Recht 
in  mir  ansehen,  dai3  Ich  eine  Verpflichtung  aus  guten 
Gründen  einsehe  und  die  Überzeugung  von  derselben 
habe,  und  noch  mehr,  daß  ich  sie  aus  ihrem  Begriffe 
und  Natur  erkenne.    Was  ich  für  die  Befriedigung  meiner 


Das  Gute  und  das  Gewissen.     §  132.  IH 

Überzeugung  von  dem  Guten,  Erlaubten  odei"  Unerlaubten 
einer  Handlung  und  damit  von  ihrer  Zurechnungsfähig- 
keit in  dieser  Rücksicht,  fordere,  tut  aber  dem  Rechte 
der  Objektivität  keinen  Eintrag.  —  Dieses  Recht  der 
Einsicht  in  das  Gute  ist  unterschieden  vom  Recht  der 
Einsicht  (§  117)  in  Ansehung  der  Handlung  als  solcher; 
das  Recht  der  Objektivität  hat  nach  dieser  die  Gestalt, 
daß,  da  die  Handlung  eine  Veränderung  ist,  die  in 
einer  wirklichen  Welt  existieren  soll,  also  in  dieser  an- 
erkannt sein  will,  sie  dem,  was  darin  gilt,  überhaupt 
gemäß  sein  muß.  Wer  in  dieser  Wirklichkeit  handeln 
will,  hat  sich  eben  damit  ihren  Gesetzen  unterworfen, 
und  das  Recht  der  Objektivität  anerkannt.  —  Gleicher- 
weise hat  im  Staate,  als  der  Objektivität  des  Ver- 
nunftbegriifs,  die  gerichtliche  Zurechnung  nicht  bei 
dem  stehen  zu  bleiben,  was  einer  seiner  Vernunft  gemäß 
hält  oder  nicht,  nicht  bei  der  subjektiven  Einsicht  in 
die  Rechtlichkeit  oder  Unrechtlichkeit,  in  das  Gute  oder 
Böse,  und  bei  den  Forderungen,  die  er  für  die  Befriedi- 
gung seiner  Überzeugung  macht.  In  diesem  objektiven 
Felde  gilt  das  Recht  der  Einsicht  als  Einsicht  in  das 
Gesetzliche  oder  Ungesetzliche,  als  in  das  geltende 
Recht,  und  sie  beschränkt  sich  auf  ihre  nächste  Be- 
deutung, nämlich  Kenntnis  als  Bekanntschaft  mit 
dem  zu  sein,  was  gesetzlich  und  insofern  verpflichtend 
ist.  Durch  die  Öffentlichkeit  der  Gesetze  und  durch 
die  allgemeinen  Sitten  benimmt  der  Staat  dem  Rechte 
der  Einsicht  die  formelle  Seite  und  die  Zufälligkeit  für 
das  Subjekt,  welche  dies  Recht  auf  dem  dermaligen 
Standpunkte  noch  hat.  Das  Recht  des  Subjekts,  die 
Handlung  in  der  Bestimmung  des  Guten  oder  Bösen, 
des  Gesetzlichen  oder  Ungesetzlichen  zu  kennen,  hat 
bei  Kindern,  Blödsinnigen,  Verrückten  die  Folge,  auch 
nach  dieser  Seite  die  Zurechnungsfähigkeit  zu  vermindern 
oder  aufzuheben.  Eine  bestimmte  Grenze  läßt  sich  jedoch 
für  diese  Zustände  und  deren  Zurechnungsfähigkeit  nicht 
festsetzen.  Verblendung  des  Augenblicks  aber,  Gereizt- 
heit der  Leidenschaft,  Betrunkenheit,  überhaupt  was  man 
die  Stärke  sinnlicher  Triebfedern  nennt  (insofern  das, 
was  ein  Notrecht  (§  120)  begründet,  ausgeschlossen  ist), 
zu  Gründen  in  der  Zurechnung  und  der  Bestimmung  des 
Verbrechens  selbst  und  seiner  Strafbarkeit  zu 
machen,  und  solche  Umstände  anzusehen,  als  ob  durch 
sie  die  Schuld  des  Verbrechers  hinweggenommen  werde, 


112       Zweiter  Teil.     Die  Moralität.     Dritter  Abscbnitt. 

heißt   ihn   gleichfalls   (vergl.    §  100,    119    Anm.)    nicht 
nach  dem  Rechte  und  der  Ehre  des  Menschen  behandeln, 
als    dessen   Natur    eben    dies    ist,    wesentlich    ein     All- 
gemeines, nicht  ein  abstrakt-Augenblickliches  und  Ver- 
einzeltes des  Wissens  zu  sein.  —  Wie  der  Mordbrenner 
\  nicht  diese  zollgroße  Fläche  eines  Holzes,    die   er  mit 
i  dem  Lichte  berührte,  als  isoliert,  sondern  in  ihr  das  All- 
1  gemeine,  das  Haus,  in  Brand  gesteckt  hat,  so  ist  er  als 
1  Subjekt   nicht   das   Einzelne    dieses    Augenblicks    oder 
1  diese   isolierte   Empfindung   der   Hitze    der    Rache;    so 
(  wäre  er  ein  Tier,   das  wegen  seiner  Schädlichkeit  und 
der  Unsicherheit,   Anwandlungen   der  "Wut  unterworfen 
zu  sein,   vor  den  Kopf   geschlagen   werden  müßte.   — 
Daß    der   Verbrecher   im    Augenblick   seiner    Handlung 
sich  das  Unrecht  und  die  Strafbarkeit  derselben  deutlich 
müsse  vorgestellt  haben,  um  ihm  als  Verbrechen  zu- 
gerechnet werden  zu  können,  —  diese  Forderung,  die 
ihm  das  Recht  seiner  moralischen  Subjektivität  zu  be- 
wahren scheint,  spricht  ihm  vielmehr  die  innewohnende 
intelligente  Natur  ab,  die  in  ihrer  tätigen  Gegenwärtig- 
keit nicht  an  die  Wolfisch-psychologische  Gestalt  von 
deutlichen    Vorstellungen    gebunden    und    nur    im 
Falle  des  Wahnsinns  so  verrückt  ist,  um  von  dem  Wissen 
und  Tun  einzelner  Dinge  getrennt  zu  sein.  —  Die  Sphäre, 
wo  jene  Um.stände  als  Milderungsgründe  der  Strafe  in 
Betracht  kommen,   ist  eine  andere   als  die  des  RechtvS, 
die  Sphäre  der  Gnade. 

§  133. 

Das  Gute  hat  zu  dem  besonderen  Subjekte  das  Ver- 
iiältnis,  das  Wesentliche  seines  Willens  zu  sein,  der 
hiermit  darin  schlechthin  seine  Verpflichtung  hat.  Indem 
die  Besonderheit  von  dem  Guten  unterschieden  ist  und 
in  den  subjektiven  V/illen  fällt,  so  hat  das  Gute  zunächst 
nur  die  Bestimmung  der  allgemeinen  abstrakten 
Wesentlichkeit,  • —  der  Pflicht;  —  um  dieser  ihrer 
Bestimmung  willen  soll  die  Pflicht  um  der  Pflicht 
v/illen  getan  werden. 

§  134. 

Weil  das  Handeln  für  sich  einen  besonderen  Inhalt  und 
bestimmten  Zweck  erfordert,  das  Abstraktum  der  Pflicht 
aber  noch  keinen  solchen  enthält,  so  entsteht  die  Frage: 


Das  Gute  und  das  Gewisseu.    §  1.'].j.  113 

was  ist  Pflicht?  Für  diese  Bestimmung  ist  zunächst 
noch  nichts  vorhanden,  als  dies:  Recht  zu  tun  und  für  das 
Wohl,  sein  eigenes  Wohl  und  das  Wohl  in  allgemeiner 
Bestimmung,  das  Wohl  anderer,  zu  sorgen  (s.  §  119). 

§  135. 
Diese  Bestimmungen  sind  aber  in  der  Bestimmung 
der  Pflicht  selbst  nicht  enthalten,  sondern  indem  beide 
bedingt  und  beschränkt  sind,  führen  sie  eben  damit  den 
Übergang  in  die  höhere  Sphäre  des  Unbedingten,  der 
Pflicht,  herbei.  Der  Pflicht  selbst,  insofern  sie  im  mora- 
lischen Selbstbewußtsein,  das  Wesentliche  oder  Allgemeine 
desselben  ist,  wie  es  sich  innerhalb  seiner  auf  sich  nur 
bezieht,  bleibt  damit  nur  die  abstrakte  Allgemeinheit,  [sie] 
hat  die  inhaltslose  Identität,  oder  das  abstrakte  Posi- 
tive, das  Bestimmungslose  zu  ihrer  Bestimmung. 

So  wesentlich  es  ist,  die  reine  unbedingte  Selbst- 
bestimmung des  Willens  als  die  Wurzel  der  Pflicht 
herauszuheben,  wie  denn  die  Erkenntnis  des  Willens  erst 
durch  die  Kantische  Philosophie  ihren  festen  Grund 
und  Ausgangspunkt  durch  den  Gedanken  seiner  unend- 
lichen Autonomie  gewonnen  hat  (s.  §  133),  so  sehr  setzt 
die  Festhaltung  des  bloß  moralischen  Standpunkts,  der 
nicht  in  den  Begriff  der  Sittlichkeit  übergeht,  diesen  Ge- 
winn zu  einem  leeren  Formalismus  und  die  mora- 
lische V/issenschaft  zu  einer  Eednerei  von  der  Pflicht 
um  der  Pflicht  willen  herunter.  Von  diesem  Stand- 
punkt aus  ist  keine  immanente  Pflichtenlehre  möglich; 
man  kann  von  außen  her  wohl  einen  Stoff  herein- 
nehmen, und  dadurch  auf  besondere  Pflichten  kommen, 
aber  aus  jener  Bestimmung  der  Pflicht  als  dem  Mangel 
des  Widerspruchs,  [oder  als]  der  formellen  Über- 
einstimmung mit  sich,  welche  nichts  anderes  ist  als 
die  Festsetzung  der  abstrakten  Unbestimmtheit,  kann 
nicht  zur  Bestimmung  von  besonderen  Pflichten  über- 
gegangen werden,  noch  wenn  ein  solcher  besonderer 
Inhalt  für  das  Handeln  zur  Betrachtung  kommt,  liegt 
ein  Kriterium  in  jenem  Prinzip,  ob  er  eine  Pflicht  sei 
oder  nicht.  —  Im  Gegenteil  kann  alle  unrechtliche  und 
unm.oralische  Handlungsweise  auf  diese  Weise  gerecht- 
fertigt werden.  —  Die  weitere  Kantische  Form,  die 
Fähigkeit  einer  Handlung,  als  allgemeine  Maxime  vor- 
gestellt zu  werden,  führt  zwar  die  konkretere  Vor- 
stellung eines  Zustandes  herbei,   aber   enthält   für  sich 

Hegel,  EechtsphUosophie.  8 


114       Zweiter  Teil.     Die  Moralität.     Dritter  Abschnitt. 

kein  weiteres  Prinzip,  als  jenen  Mangel  des  Widerspruchs 
und  die  formelle  Identität.  —  Daß  kein  Eigentum 
stattfindet,  enthält  für  sich  ebensowenig  einen  Wider- 
spruch, als  daß  dieses  oder  jenes  einzelne  Volk,  Fa- 
milie u.  s.  f .  nicht  existiere,  oder  daß  überhaupt  keine 
Menschen  leben.  Wenn  es  sonst  für  sich  fest  und 
vorausgesetzt  ist,  daß  Eigentum  und  Menschenleben  sein 
und  respektiert  werden  soll,  dann  ist  es  ein  Widerspruch, 
einen  Diebstahl  oder  Mord  zu  begehen;  ein  Widerspruch 
kann  sich  nur  mit  etwas  ergeben,  das  ist,  mit  einem 
Inhalt,  der  als  festes  Prinzip  zum  voraus  zugrunde  liegt. 
In  Beziehung  auf  ein  solches  ist  erst  eine  Handlung 
entweder  damit  übereinstimmend  oder  im  Widerspruch. 
Aber  die  Pflicht,  welche  nur  als  solche,  nicht  um  eines 
Inhalts  willen,  gewollt  werden  soll,  die  formelle  Iden- 
tität ist  eben  dies,  allen  Inhalt  und  Bestimmung  aus- 
zuschließen. 

Die  weiteren  Antinomien  und  Gestaltungen  des  peren- 
nierenden Sollens,  in  welchen  sich  der  bloß  mora- 
lische Standpunkt  des  Verhältnisses  nur  herumtreibt, 
ohne  sie  lösen  und  über  das  Sollen  hinauskommen  zu 
können,  habe  ich  Phänomenol.  des  Geistes  S.  550ff.  ent- 
wickelt; vergl.  Encyklop.  der  philos.  Wissenschaften 
§  420  ff.  1). 

§136. 

Um  der  abstrakten  Beschaffenheit  des  Guten  willt-n 
fällt  das  andere  Moment  der  Idee,  die  Besonderheit 
überhaupt,  in  die  Subjektivität,  die  in  ihrer  in  sich  reflek- 
tierten Allgemeinheit  die  absolute  Gewißheit  ihrer  selbst 
in  sich,  das  Besonderheit  Setzende,  das  Bestimmende  und 
Entscheidende  ist,  —  das  Gewissen. 

§137. 

Das  wahrhafte  Gewissen  ist  die  Gesinnung,  das,  was 
an  und  für  sich  gut  ist,  zu  wollen;  es  hat  daher  feste 
Grundsätze;  und  zwar  sind  ihm  diese  die  für  sich  objek- 
tiven Bestimmungen  und  Pflichten.  Von  diesem  seinem 
Inhalte,  der  Wahrheit,  unterschieden,  ist  es  nur  die  for- 

*)  Phänomenol.,  (Die  moralische  Weltanschauung,  die  Ver- 
stellung); Lassonsche  Ausgabe  (Phil,  ßibl.,  114.  Bd.),  S.  389  ff. 
Encykiop.,  3.  Aufl.  §  507  ff.  (Phil.  Bibl.,  33.  Bd.,  S.  429  ff.). 


Das  Gute  und  das  Gewisseu.    §  137.  115 

melle  Seite  der  Tätigkeit  des  Willens,  der  als  dieser 
keinen  eigentümlichen  Inhalt  hat.  Aber  das  objektive 
System  dieser  Grundsätze  und  Pflichten  und  die  Vereinigung 
des  subjektiven  Wissens  mit  demselben,  ist  erst  auf  dem 
Standpunkte  der  Sittlichkeit  vorhanden.  Hier  auf  dem 
formellen  Standpunkte  der  Moralität  ist  das  Gewissen  ohne 
diesen  objektiven  Inhalt,  so  für  sich  die  unendliche  for- 
melle Gewißheit  seiner  selbst,  die  eben  darum  zugleich 
als  die  Gewißheit  dieses  Subjekts  ist. 

Das  Gewissen  drückt  die  absolute  Berechtigung 
des  subjektiven  Selbstbewußtseins  aus,  nämlich  in  sich 
und  aus  sich  selbst  zu  wissen,  was  Recht  und  Pflicht 
ist,  und  nichts  anzuerkennen,  als  was  es  so  als  das  Gute 
weiß,  zugleich  in  der  Behauptung,  daß,  was  es  so  weiß 
und  will,  in  Wahrheit  Recht  und  Pflicht  ist.  Das 
Gewissen  ist  als  diese  Einheit  des  subjektiven  Wissens 
und  dessen,  was  an  und  für  sich  ist,  ein  Heiligtum, 
welches  anzutasten  Frevel  wäre.  Ob  aber  das  Gewissen 
eines  bestimmten  Individuums  dieser  Idee  des  Ge- 
wissens gemäß  ist,  ob  das,  was  es  für  gut  hält  oder 
ausgibt,  auch  wirklich  gut  ist,  dies  erkennt  sich  allein 
aus  .dem  Inhalt  dieses  Gutseinsollenden.  Was  Recht 
und  Pflicht  ist,  ist  als  das  an  und  für  sich  Vernünftige 
der  Willensbestimmungen,  wesentlich  weder  das  be- 
sondere Eigentum  eines  Individuums,  noch  in  der  Form 
von  Empfindung  oder  sonst  einem  einzelnen,  d.  i.  sinn- 
lichen Wissen,  sondern  wesentlich  von  allgemeinen, 
gedachten  Bestimmungen,  d.  i.  in  der  Form  von  Ge- 
setzen und  Grundsätzen.  Das  Gewissen  ist  daher 
diesem  Urteil  unterworfen,  ob  es  wahrhaft  ist  oder 
nicht,  und  seine  Berufung  nur  auf  sein  Selbst  ist  un- 
mittelbar dem  entgegen,  was  es  sein  will,  die  Regel  einer 
vernünftigen,  an  und  für  sich  gültigen  allgemeinen 
Handlungsweise.  Der  Staat  kann  deswegen  das  Gewissen 
in  seiner  eigentümlichen  Form,  d.  i.  als  subjektives 
Wissen  nicht  anerkennen,  so  wenig  als  in  der  Wissen- 
schaft die  subjektive  Meinung,  die  Versicherung  und 
Berufung  auf  eine  subjektive  Meinung,  eine  Gültigkeit 
hat.  Was  im  wahrhaften  Gewissen  nicht  unterschieden 
ist,  ist  aber  unterscheidbar,  und  es  ist  die  bestimmende 
Subjektivität  des  Wissens  und  Wollens,  welche  sich  von 
dem  wahrhaften  Inhalte  trennen,  sich  für  sich  setzen 
und  denselben  zu  einer  Form  und  Schein  herabsetzen 
Jcann.     Die  Zweideutigkeit  in   Ansehung  des   Gewissens 


1 

IIG       Zweiter  Teil.     Die  Moralität.     Dritter  Abschnitt. 

liegt  daher  darin,  daß  es  in  der  Bedeutung  jener  Iden- 
tität des  subjektiven  Wissens  und  Wollens  und  des  wahr- 
haften Guten  vorausgesetzt,  und  so  als  ein  Heiliges  be- 
hauptet und  anerkannt  wird,  und  ebenso  als  die  nur 
subjektive  Reflexion  des  Selbstbewußtseins  in  sich  doch 
auf  die  Berechtigung  Anspruch  macht,  welche  jener 
Identität  selbst  nur  vermöge  ihres  an  und  für  sich 
gültigen  vernünftigen  Inhalts  zukommt.  In  den  mora- 
lischen Standpunkt,  wie  er  in  dieser  Abhandlung  von 
dem  sittlichen  unterschieden  wird,  fällt  nur  das  formelle 
Gewissen;  das  wahrhafte  ist  nur  erwähnt  worden,  um 
seinen  Unterschied  anzugeben  und  das  mögliche  Miß- 
verständnis zu  beseitigen,  als  ob  hier,  wo  nur  das  formelle 
Gewissen  betrachtet  wird,  von  dem  wahrhaften  die  Rede 
wäre,  welches  in  der,  in  der  Folge  erst  vorkommenden 
sittlichen  Gesinnung  enthalten  ist.  Das  religiöse  Ge- 
wissen gehört  aber  überhaupt  nicht  in  diesen  Kreis. 

§  138. 

Diese  Subjektivität  als  die  abstrakte  Selbstbestimmung 
und  reine  Gewißheit  nur  ihrer  selbst,  verflüchtigt  ebenso 
alle  Bestimmtheit  des  Rechts,  der  Pflicht  und  des  Da- 
seins in  sich,  als  sie  die  urteilende  Macht  ist,  für  einen 
Inhalt  nur  aus  sich  zu  bestimmen,  was  gut  ist,  und  zu- 
gleich die  Macht,  welcher  das  zuerst  nur  vorgestellte  und 
sein  sollende  Gute  eine  Wirklichkeit  verdankt. 

Das  Selbstbewußtsein,  das  überhaupt  zu  dieser  ab- 
soluten Reflexion  in  sich  gekommen  ist,  weiß  sich  in 
ihr  als  ein  solches,  dem  alle  vorhandene  und  gegebene 
Bestimmung  nichts  anhaben  kann  noch  soll.  Als  all- 
gemeinere Gestaltung  in  der  Geschichte  (bei  Sokrates, 
den  Stoikern  u.  s.  f.)  erscheint  die  Richtung,  nach  innen 
in  sich  zu  suchen  und  aus  sich  zu  wissen  und  zu  be- 
stimmen, was  recht  und  gut  ist,  in  Epochen,  wo  das, 
was  als  das  Rechte  und  Gute  in  der  Wirklichkeit  und 
Sitte  gilt,  den  besseren  Willen  nicht  befriedigen  kann; 
wenn  die  vorhandene  Welt  der  Freiheit  ihm  ungetreu 
geworden,  findet  er  sich  in  den  geltenden  Pflichten 
nicht  mehr,  und  muß  die  in  der  Wirklichkeit  verlorene 
Harmonie  nur  in  der  ideellen  Innerlichkeit  zu  gewinnen 
suchen.  Indem  so  das  Selbstbewußtsein  sein  formelles 
Recht  erfaßt  und  erworben,  kommt  es  nun  darauf  an, 
wie  der  Inhalt  beschaffen  ist,  den  es  sich  gibt. 


Das  Gute  und  das  Gewissen,    §  139.  1X7 

§  139. 

Das  Selbstbewußtsein  in  der  Eitelkeit  aller  sonst 
geltenden  Bestimmungen  und  in  der  reinen  Innerlichkeit 
des  Willens,  ist  ebensosehr  die  Möglichkeit,  das  an  und 
für  sich  Allgemeine,  als  die  Willkür,  die  eigene 
Besonderheit  über  das  Allgemeine  zum  Prinzipe  zu 
machen,  und  sie  durch  Handeln  zu  realisieren  —  böse 
zu  sein. 

Das  Gewissen  ist  als  formelle  Subjektivität  schlecht- 
hin dies,  auf  dem  Sprunge  zu  sein,  ins  Böse  umzu- 
schlagen; an  der  für  sich  seienden,  für  sich  wissenden 
und  beschließenden  Gewißheit  seiner  selbst  haben  beide, 
die  Moralität  und  das  Böse,  ihre  gemeinschaftliche 
Wurzel. 

Der  Ursprung  des  Bösen  überhaupt  liegt  in  dem 
Mysterium,  d.  i.  in  dem  Spekulativen  der  Freiheit,  ihrer 
Notwendigkeit,  aus  der  Natürlichkeit  des  Willens 
herauszugehen,  und  gegen  sie  innerlich  zu  sein.  Es 
ist  diese  Natürlichkeit  des  Willens,  welche  als  der  Wider- 
spruch seiner  selbst,  und  mit  sich  unverträglich  in  jenem 
Gegensatz  zur  Existenz  kommt,  und  es  ist  so  diese 
Besonderheit  des  Willens  selbst,  welche  sich  weiter 
als  das  Böse  bestimmt.  Die  Besonderheit  ist  nämlich 
nur  als  das  Gedoppelte,  hier  der  Gegensatz  der  Natür- 
lichkeit gegen  die  Innerlichkeit  des  Willens,  welche  in 
diesem  Gegensatze  nur  ein  relatives  und  formelles 
Fürsichsein  ist,  das  seinen  Inhalt  allein  aus  den  Be- 
stimmungen des  natürlichen  Willens,  der  Begierde,  Trieb, 
Neigung  u.  s.  f.  schöpfen  kann.  Von  diesen  Begierden, 
Trieben  u.  s,  f.  heißt  es  nun,  daß  sie  gut  oder  auch  böse 
sein  können.  Aber  indem  der  Wille  sie  in  dieser  Be- 
stimmung von  Zufälligkeit,  die  sie  als  natürliche 
haben,  und  damit  die  Form,  die  er  hier  hat,  die  Besonder- 
heit, selbst  zur  Bestimmung  seines  Inhalts  macht,  so 
ist  er  der  Allgemeinheit,  als  dem  inneren  Objektiven, 
dem  Guten,  welches  zugleich  mit  der  Reflexion  des 
AVillens  in  sich  und  dem  erkennenden  Bewußtsein,  als 
das  andere  Extrem  zur  unmittelbaren  Objektivität,  dem 
bloß  Natürlichen,  eintritt,  entgegengesetzt,  und  so  ist 
diese  Innerlichkeit  des  Willens  böse.  Der  Mensch  ist 
daher  zugleich,  sowohl  an  sich  oder  von  Natur  als 
durch  seine  Reflexion  in  sich,  böse,  so  daß  weder 
die  Natur  als  solche,  d.  i.  wenn  sie  nicht  Natürlichkeit 


118       Zweiter  Teil.     Die  Moralität.     Dritter  Abechnitt. 

des  in  ihrem  besonderen  Inhalte  bleibenden  Willens  wäre, 
noch  die  in  sich  gehende  Reflexion,  das  Erkennen 
überhaupt,  wenn  es  sich  nicht  in  jenem  Gegensatz  hielte, 
für  sich  das  Böse  ist.  ■ —  Mit  dieser  Seite  der  Not- 
wendigkeit des  Bösen  ist  ebenso  absolut  vereinigt, 
daß  dies  Böse  bestimmt  ist  als  das,  was  notwendig  nicht 
sein  soll,  —  d.  i.  daß  es  aufgehoben  werden  soll,  nicht 
daß  jener  erste  Standpunkt  der  Entzweiung  überhaupt 
nicht  hervortreten  solle,  —  er  macht  vielmehr  die  Schei- 
dung des  unvernünftigen  Tieres  und  des  Menschen  aus, 
—  sondern  daß  nicht  auf  ihm  stehen  geblieben,  und  die 
Besonderheit  nicht  zum  Wesentlichen  gegen  das  All- 
gemeine festgehalten,  daß  er  als  nichtig  überwunden 
werde.  Ferner  bei  dieser  Notwendigkeit  des  Bösen  ist 
es  die  Subjektivität,  als  die  Unendlichkeit  dieser 
Reflexion,  welche  diesen  Gegensatz  vor  sich  hat  und 
in  ihm  ist;  wenn  sie  auf  ihm  stehen  bleibt,  d.  i.  böse 
ist,  so  ist  sie  somit  für  sich,  hält  sich  als  Einzelne 
und  ist  selbst  diese  Willkür.  Das  einzelne  Subjekt  als 
solches  hat  deswegen  schlechthin  die  Schuld  seines 
Bösen. 

§  140. 
Indem  das  Selbstbewußtsein  an  seinem  Zwecke   eine 
positive  Seite  (§  135),  deren  er  notwendig  hat,  weil  er 
dem  Vorsatze  des  konkreten  wirklichen  Handelns  an- 
gehört, herauszubringen  weiß,  so  vermag  es  um  solcher, 
als  einer  Pflicht  und  vortrefflichen  Absicht  willen, 
die   Handlung,    deren   negativer    wesentlicher    Inhalt     zu- 
gleich in  ihm,  als  in  sich  Reflektierten,   somit  des  All- 
gemeinen des  Willens  sich  Bewußten,  in  der  Vergleichung 
mit   diesem   stehet,    [für]   andere   und   sich   selbst  als 
gut  zu  behaupten,  —  [für]  andere,  so  ist  es  die  Heuchelei, 
—  [für]  sich  selbst,  so  ist  es  die  noch  höhere  Spitze  der 
sich  als  das  Absolute  behauptenden  Subjektivität. 
Diese  letzte  abstruseste  Form  des  Bösen,   wodurch 
das  Böse  in  Gutes,  und  das  Gute  in  Böses  verkehrt  wird, 
das   Bewußtsein    sich   als    diese   Macht,    und    deswegen 
sich   als   absolut  weiß,    —   ist    die   höchste   Spitze   der 
Subjektivität  im  moralischen  Standpunkte,  die  Form,  zu 
vvelcher  das  Böse  in  unserer  Zeit  und  zwar  durch  die 
Philosophie,  d.  h.  eine  Seichtigkeit  des  Gedankens,  welche  ^ 
einen  tiefen  Begriff  in  diese  Gestalt  verrückt  hat,  und  * 
sich   den  Namen  der  Philosophie,    ebenso   wie  sie  dem 


Daß  Gute  und  das  Gewissen.    §  140.  119 

Bösen  den  Namen  des  Guten  anmaßt,  gediehen  ist.  Ich 
will  in  dieser  Anmerkung  die  Hauptgestalten  dieser 
Subjektivität,  die  gäng  und  gäbe  geworden  sind,  kurz 
angeben.    Was 

a)  die  Heuchelei  betrifft,  so  sind  in  ihr  die 
Momente  enthalten  a)  das  Wissen  des  wahrhaften  All- 
gemeinen, es  sei  in  Form  nur  des  Gefühls  von  Recht 
und  Pflicht,  oder  in  Form  weiterer  Kenntnis  und  Er- 
kenntnis davon;  ß)  das  Wollen  des  diesem  Allgemeinen 
widerstrebenden  Besonderen  und  zwar  y)  als  ver- 
gleichendes Wissen  beider  Momente,  so  daß  für  das 
wollende  Bewußtsein  selbst  sein  besonderes  Wollen  als 
Böses  bestimmt  ist.  Diese  Bestimmungen  drücken  das 
Handeln  mit  bösem  Gewissen  aus,  noch  nicht  die 
Heuchelei  als  solche.  —  Es  ist  eine  zu  einer  Zeit  sehr 
wichtig  gewordene  Frage  gewesen,  ob  eine  Handlung 
nur  insofern  böse  sei,  als  sie  mit  bösem  Gewissen 
geschehen,  d.  h.  mit  dem  entwickelten  Bewußtsein 
der  soeben  angegebenen  Momente.  —  Pascal  zieht  (Les 
Provinc.  4e  lettre)  sehr  gut  die  Folge  aus  der  Bejahung 
der  Frage:  Hs  seront  tous  damnes  ces  demi-pecheurs, 
qui  ont  quelque  amour  pour  la  vertu.  Mais  pour  ces  f  rancs- 
pecheurs,  pecheurs  endurcis,  pecheurs  sans  melange, 
pleins  et  acheves,  l'enfer  ne  les  tient  pas:  ils  ont  trompe 
le  diable  ä  force  de  s'y  abandonner*).  —  Das  subjektive 
Recht  des  Selbstbewußtseins,  daß  es  die  Handlung  unter 
der  Bestimmung,  wie  sie  an  und  für  sich  gut  oder  böse 
ist,  wisse,  muß  mit  dem  absoluten  Rechte  der  Objek- 
tivität dieser  Bestimmung  nicht  so  in  Kollision  ge- 
dacht werden,  daß  beide  als  trennbar  gleichgültig 
und  zufällig  gegeneinander  vorgestellt  werden,  welches 
Verhältnis  insbesondere  auch  bei  den  vormaligen  Fragen 


*)  Pascal  führt  daselbst  auch  die  Fürbitte  Christi  am 
Kreuze  für  seine  Feinde  an:  Vater  vergib  ihnen,  denn  sie 
wissen  nicht,  was  sie  tun;  —  eine  überflüssige  Bitte,  wenn 
der  Umstand,  daß  sie  nicht  gewußt,  was  sie  getan,  ihrer  Hand- 
lung die  Qualität  erteilt  hatte,  nicht  böse  zu  sein,  somit  der 
Vergebung  nicht  zu  bedürfen.  Ingleichen  führt  er  die  Ansicht 
des  Aristoteles  an  (die  Stelle  steht  Eth.  Nicom.  III,  2.): 
welcher  unterscheidet,  ob  der  Handelnde  ouh  sldtüg  oder  dyvowv 
sei;  in  jenem  Falle  der  Unwissenheit  handelt  er  unfreiwillig 
(diese  Unwissenheit  bezieht  sich  auf  die  äußeren  Umstände) 
(b.  oben  §  117)  und  die  Handlung  ist  ihm  nicht  zuzurechnen. 
Über  den  anderen  Fall  aber  sagt  Aristoteles:    „Jeder  Schlechte 


120       Zweiter  Teil.     Die  Moralität.     Dritter  Abschnitt. 

Über  die  wirksame  Gnade ^)  zugrunde  gelegt  wurde. 
Das  Böse  ist  nach  der  formellen  Seite  das  Eigenste 
des  Individuums,  indem  es  eben  seine  sich  schlechthin 
lur  sich  eigen  setzende  Subjektivität  ist,  und  damit 
schlechthin  seine  Schuld  (s,  §  139  und  Anm.  zu  vorher- 
geh, §),  und  nach  der  objektiven  Seite  ist  der  Mensch, 
seinem  Begriffe  nach  als  Geist,  Vernünftiges  über- 
haupt, und  hat  die  Bestimmung  der  sich  wissenden  All- 
gemeinheit schlechthin  in  sich.  Es  heißt  ihn  daher  nicht 
nach  der  Ehre  seines  Begriffes  behandeln,  wenn  die 
Seite  des  Guten  und  damit  die  Bestimmung  seiner  bösen 
Handlung  als  einer  bösen  von  ihm  getrennt,  und  sie 
ihm  nicht  als  böse  zugerechnet  würde.  Wie  bestimmt 
oder  in  Vv^elchem  Grade  der  Klarheit  oder  Dunkelheii; 
das  Bewußtsein  jener  Momente  in  ihrer  Unterschieden- 
heit  zu  einem  Erkennen  entwickelt,  und  inwiefern 
eine  böse  Handlung  mehr  oder  weniger  mit  förmlichem 
bösen  Gewissen  vollbracht  sei,  dies  ist  die  gleichgültigere, 
mehr  das  Empirische  betreffende  Seite. 

b)  Böse  aber  und  mit  bösem  Gewissen  handeln  ist 
noch  nicht  die  Heuchelei;  in  dieser  kommt  die  formelle 
Bestimmung  der  Unwahrheit  hinzu,  das  Böse  zunächst 
für  andere  als  gut  zu  behaupten,  und  sich  überhaupt 
äußerlich  als  gut,  gewissenhaft,  fromm  u.  dergl.  zu 
stellen,  was  auf  diese  Weise  nur  ein  Kunststück  des 
Betrugs  für  andere  ist.  Der  Böse  kann  aber  ferner  in 
seinem  sonstigen  Gutestun  oder  Frömmigkeit,  überhaupt 
in  guten  Gründen,  für  sich  selbst  eine  Berechtigung 
zum  Bösen  finden,  indem  er  durch  sie  es  für  sich  zum 
Guten  verkehrt.  Diese  Möglichkeit  liegt  in  der  Sub- 
jektivität, welche  als  abstrakte  Negativität  alle  Bestim- 
mungen sich  unterworfen,  und  aus  ihr  kommend  weiß. 
Zu  dieser  Verkehrung  ist 


erkennt  nicht,  was  zu  tun  und  was  zu  lassen  ist,  und  eben  dieser 
Mangel  {ä/nagria)  ist  es,  was  die  Menschen  ungerecht  und  über- 
haupt böse  macht.  Die  Nichterkenntnis  der  Wahl  des  Guten 
und  Bösen  macht  nicht,  daß  eine  Handlung  unfreiv\'illig  ist 
(nicht  zugerechnet  werden  kann),  sondern  nur,  daß  sie 
schlecht  ist."  Aristoteles  hatte  freilich  eine  tiefere  Einsicht 
in  den  Zusammenhang  des  Erkenneus  und  Wolleus,  als  in  einer 
flachen  Philosophie  gäng  und  gäbe  geworden  ist,  welche  lehrt, 
daß  das  Nichterkennen,  das  Gemüt  und  die  Begeisterung 
die  wahrhaften  Prinzipien  des  sittlichen  Handelns  seien. 

1)  Tn  den  Jansenistisrlien  Streitigkeitou. 


Das  Gute  und  das  Gewissen,    i;  140.  X21 

c)  diejenige  Gestalt  zunächst  zu  rechnen,  welche  als 
der  Probabilismus  bekannt  ist.  Er  macht  zum  Prinzip, 
dai3  eine  Handlung,  für  die  das  Bewußtsein  irgend- 
einen guten  Grund  aufzutreiben  weiß,  es  sei  auch  nur 
die  Autorität  eines  Theologen,  und  wenn  es  auch 
andere  Theologen  von  dessen  Urteil  noch  so  sehr  ab- 
weichend weiß,  —  erlaubt  ist,  und  daß  das  Gewissen 
darüber  sicher  sein  kann.  Selbst  bei  dieser  Vorstellung 
ist  noch  dies  richtige  Bewußtsein  vorhanden,  daß  ein 
solcher  Grund  und  Autorität  nur  Probabilität  gebe, 
obgleich  dies  zur  Sicherheit  des  Gewissens  hinreiche; 
es  ist  darin  zugegeben,  daß  ein  guter  Grund  nur  von 
solcher  Beschaffenheit  ist,  daß  es  neben  ihm  andere, 
wenigstens  ebenso  gute  Gründe  geben  könne.  Auch 
diese  Spur  von  Objektivität  ist  noch  hierbei  zu  erkennen, 
daß  es  ein  Grund  sein  soll,  der  bestimme.  Indem  aber 
die  Entscheidung  des  Guten  oder  Bösen  auf  die  vielen 
guten  Gründe,  worunter  auch  jene  Autoritäten  be- 
griffen sind,  gestellt  ist,  dieser  Gründe  aber  so  viele 
und  entgegengesetzte  sind,  so  liegt  hierin  zugleich  dies, 
daß  es  nicht  diese  Objektivität  der  Sache,  sondern  die 
Subjektivität  ist,  welche  zu  entscheiden  hat,  —  die 
Seite,  wodurch  Belieben  und  Willkür  über  gut  und  böse 
zum  Entscheidenden  gemacht  wird,  und  die  Sittlichkeit, 
wie  die  Religiosität,  untergraben  ist.  Daß  es  aber  die 
eigene  Subjektivität  ist,  in  welche  die  Entscheidung  fällt, 
dies  ist  noch  nicht  als  das  Prinzip  ausgesprochen,  viel- 
mehr wird,  wie  bemerkt,  ein  Grund  als  das  Entscheidende 
ausgegeben;  der  Probabilismus  ist  soweit  noch  eine  Ge- 
stalt der  Heuchelei. 

d)  Die  nächst  höhere  Stufe  ist,  daß  der  gute  Wille 
darin  bestehen  soll,  daß  er  das  Gute  will;  dies  Wollen 
des  abstrakt-Guten  soll  hinreichen,  ja  die  einzige 
Erfordernis  sein,  damit  die  Handlung  gut  sei.  Indem 
die  Handlung  als  bestimmtes  Wollen  einen  Inhalt  hat, 
das  abstrakte  Gute  aber  nichts  bestimmt,  so  ist  es 
der  besonderen  Subjektivität  vorbehalten,  ihm  seine  Be- 
stimmung und  Erfüllung  zu  geben.  Wie  im  Probabilis- 
mus für  den,  der  nicht  selbst  ein  gelehrter  Reverend 
Pere  ist,  es  die  Autorität  eines  solchen  Theologen  ist, 
auf  welche  die  Subsumtion  eines  bestimmten  Inhalts 
unter  die  allgemeine  Bestimmung  des  Guten  gemacht 
werden  kann,  so  ist  hier  jedes  Subjekt  unmittelbar  in 
diese  Würde  eingesetzt,  in  das  abstrakte  Gute  den  Inhalt 


122       Zweiter  Teil.     Die  Moralität.     Dritter  Abschnitt. 

ZU  legen,  oder  was  dasselbe  ist,  einen  Inhalt  unter  ein 
Allgemeines  zu  subsumieren.  Dieser  Inhalt  ist  an  der 
Handlung  als  konkreter  überhaupt  eine  Seite,  deren  sie 
mehrere  hat,  Seiten,  welche  ihr  vielleicht  sogar  das 
Prädikat  einer  verbrecherischen  und  schlechten  geben 
können.  Jene  meine  subjektive  Bestimmung  des  Guten 
aber  ist  das  in  der  Handlung  von  mir  gewußte  Gute, 
die  gute  Absicht  (§  111).  Es  tritt  hiermit  ein  Gegen- 
satz von  Bestimmungen  ein,  nach  deren  einer  die  Hand- 
lung gut,  nach  anderen  aber  verbrecherisch  ist.  Damit 
scheint  auch  die  Frage  bei  der  wirklichen  Handlung 
einzutreten,  ob  denn  die  Absicht  wirklich  gut  sei. 
Daß  aber  das  Gute  wirkliche  Absicht  ist,  dies  kann 
nun  nicht  nur  überhaupt,  sondern  muß  auf  dem  Stand- 
punkte, wo  das  Subjekt  das  abstrakte  Gute  zum  Be- 
stimmungsgrund hat,  sogar  immer  der  Fall  sein  können. 
Was  durch  eine  solche  nach  anderen  Seiten  sich  als  ver- 
brecherisch und  böse  bestimmende  Handlung  von  der 
guten  Absicht  verletzt  wird,  ist  freilich  auch  gut,  und 
es  schiene  darauf  anzukommen,  welche  unter  diesen 
Seiten  die  wesentlichste  wäre.  Aber  diese  objektive 
Frage  fällt  hier  hinweg,  oder  vielmehr  ist  es  die  Sub- 
jektivität des  Bewußtseins  selbst,  deren  Entscheidung 
das  Objektive  allein  ausmacht.  "Wesentlich  und  gut 
sind  ohnehin  gleichbedeutend;  jenes  ist  eine  ebensolche 
Abstraktion,  wie  dieses;  gut  ist,  was  in  Rücksicht  des 
Willens  wesentlich  ist,  und  das  Wesentliche  in  dieser 
Rücksicht  soll  eben  das  sein,  daß  eine  Handlung  für 
mich  als  gut  bestimmt  ist.  Die  Subsumtion  aber  jeden 
beliebigen  Inhalts  unter  das  Gute  ergibt  sich  für  sich 
unmittelbar  daraus,  daß  dies  abstrakte  Gute,  da  es  gar 
keinen  Inhalt  hat,  sich  ganz  nur  darauf  reduziert,  über- 
haupt etwas  Positives  zu  bedeuten,  —  etwas,  das  in 
irgendeiner  Rücksicht  gilt,  und  nach  seiner  unmittel- 
baren Bestimmung  auch  als  ein  wesentlicher  Zweck  gelten 
kann;  —  z.  B.  Armen  Gutes  tun,  für  mich,  für  mein 
Leben,  für  meine  Familie  sorgen  u.  s.  f.  Ferner  wie  das 
Gute  das  Abstrakte  ist,  so  ist  damit  auch  das  Schlechte 
das  Inhaltslose,  das  von  meiner  Subjektivität  seine  Be- 
stimmung erhält;  und  es  ergibt  sich  nach  dieser  Seite 
auch  der  moralische  Zweck,  das  unbestimmte  Schlechte 
zu  hassen  und  auszurotten.  —  Diebstahl,  Feigheit,  Mord 
u.  s.  f.,  haben  als  Handlungen,  d.  i.  überhaupt  als  von  einem 
subjektiven  Willen  vollbrachte,  unmittelbar  die  Bestim- 


Das  Orute  und  das  Gewissen.    ^  140.  123 

mung,  die  Befriedigung  eines  solchen  Willens,  hiermit 
ein  Positives  zu  sein,  und  um  die  Handlung  zu  einer 
guten  zu  machen,  kommt  es  nur  darauf  an,  diese  posi- 
tive Seite  als  meine  Absicht  bei  derselben  zu  wissen, 
und  diese  Seite  ist  für  die  Bestimmung  der  Handlung, 
daß  sie  gut  ist,  die  wesentliche,  darum,  weil  ich  sie 
als  das  Gute  in  meiner  Absicht  weiß.  Diebstahl,  um 
den  Armen  Gutes  zu  tun,  Diebstahl,  Entlaufen  aus  der 
Schlacht,  um  der  Pflicht  willen  für  sein  Leben,  für 
seine  (vielleicht  auch  dazu  arme)  Familie  zu  sorgen  — 
Mord,  aus  Haß  und  Rache,  d.  i.  um  das  Selbstgefühl 
seines  Rechts,  des  Rechts  überhaupt,  und  das  Gefühl 
der  Schlechtigkeit  des  andern,  seines  Unrechts  gegen 
mich  oder  gegen  andere,  gegen  die  Welt  oder  das 
Volk  überhaupt,  durch  die  Vertilgung  dieses  schlechten 
Menschen,  der  das  Schlechte  selbst  in  sich  hat,  womit 
zum  Zwecke  der  Ausrottung  des  Schlechten  wenigstens 
ein  Beitrag  geliefert  wird,  zu  befriedigen,  sind  auf 
diese  Weise,  um  der  positiven  Seite  ihres  Inhalts  willen, 
zur  guten  Absicht  und  damit  zur  guten  Handlung  ge- 
macht. Es  reicht  eine  höchst  geringe  Verstandes- 
bildung dazu  hin,  um,  wie  jene  gelehrten  Theologen, 
für  jede  Handlung  eine  positive  Seite,  und  damit  einen 
guten  Grund  und  Absicht  herauszufinden.  —  So  hat 
man  gesagt,  daß  es  eigentlich  keinen  Bösen  gebe,  denn 
er  will  das  Böse  nicht  um  des  Bösen  willen,  d.  i.  nicht 
das  rein  Negative  als  solches,  sondern  er  will  immer 
etwas  Positives,  somit  nach  diesem  Standpunkte  ein 
Gutes.  In  diesem  abstrakten  Guten  ist  der  Unterschied 
von  gut  und  böse,  und  alle  wirklichen  Pflichten  ver- 
schwunden; deswegen  bloß  das  Gute  wollen,  und  bei 
einer  Handlung  eine  gute  Absicht  haben,  dies  ist  so 
vielmehr  das  Böse,  insofern  das  Gute  nur  in  dieser 
Abstraktion  gewollt,  und  damit  die  Bestimmung  des- 
selben der  Willkür  des  Subjekts  vorbehalten  wird. 

An  diese  Stelle  gehört  auch  der  berüchtigte  Satz: 
der  Zweck  heiligt  die  Mittel.  —  So  für  sich  zu- 
nächst ist  dieser  Ausdruck  trivial  und  nichtssagend. 
Man  kann  ebenso  unbestimmt  erwidern,  daß  ein  heiliger 
Zweck  wohl  die  Mittel  heilige,  aber  ein  unheiliger  Zweck 
sie  nicht  heilige.  Wenn  der  Zweck  recht  ist,  so  sind 
es  auch  die  Mittel,  ist  insofern  ein  tautologischer  Aus- 
druck, als  das  Mittel  eben  das  ist,  was  nichts  für  sich, 
sondern  um  eines  anderen  willen  ist,  und  darin,  in  dem 


124       Zweitor  Teil.     Die  Ivioralitüt.     Dritter  Abschnitt. 

Zwecke,  seine  Bestimmung  und  Wert  hat,  —  wenn  es 
njimlich  in  Wahriieit  ein  Mittel  isi.  —  Es  ist  aber 
mit  ienem  Satze  nicht  der  bloß  formelle  Sinn  gemeint, 
sondern  es  wird  darunter  etwas  Bestimmteres  verstanden, 
daß  nämlich  für  einen  guten  Zweck  etwas  als  Mittel 
zu  gebrauchen,  was  für  sich  schlechthin  kein  Mittel 
ist,  etwas  zu  verletzen,  was  für  sich  heilig  ist,  ein  Ver- 
brechen also  zum  Mittel  eines  guten  Zwecks  zu  machen, 
erlaubt,  ja  auch  wohl  Pflicht  sei.  Es  schwebt  bei  jenem 
Satze  einerseits  das  unbestimmte  Bewußtsein  von  der 
Dialektik  des  vorhin  bemerkten  Positiven  in  ver- 
einzelten rechtlichen  oder  sittlichen  Bestimmungen,  oder 
solcher  ebenso  unbestimmten  allgemeinen  Sätze  vor,  wie: 
du  sollst  nicht  töten,  oder:  du  sollst  für  dein 
AVohl,  für  das  Wohl  deiner  Familie  sorgen.  Die 
Gerichte,  Krieger  haben  nicht  nur  das  Recht,  sondern 
die  Pflicht,  Menschen  zu  töten,  wo  aber  genau  be- 
stimmt ist,  wegen  welcher  Qualität  Menschen  und  unter 
welchen  Umständen  dies  erlaubt  und  Pflicht  sei.  So' 
muß  auch  mein  Wohl,  meiner  Familie  Wohl  höheren 
Zwecken  nach-  und  somit  zu  Mitteln  herabgesetzt  werden. 
Was  sich  aber  als  Verbrechen  bezeichnet,  ist  nicht  so 
eine  unbestimmt  gelassene  Allgemeinheit,  die  noch  einer 
Dialektik  unterläge,  sondern  hat  bereits  seine  bestimmte 
objektive  Begrenzung.  Was  solcher  Bestimmung  nun 
in  dem  Zwecke,  der  dem  Verbrechen  seine  Natur  be- 
nehmen sollte,  entgegengestellt  wird,  der  heilige  Zweck, 
ist  nichts  anderes,  als  die  subjektive  Meinung  von 
dem,  was  gut  und  besser  sei.  Es  ist  dasselbe,  was  darin 
geschieht,  daß  das  Wollen  beim  abstrakt  Guten  stehen 
bleibt,  daß  nämlich  alle  an  und  für  sich  seiende  und 
geltende  Bestimmtheit  des  Guten  und  Schlechten,  des 
Rechts  und  Unrechts,  aufgehoben,  und  dem  Gefühl,  Vor- 
stellen und  Belieben  des  Individuums  diese  Bestimmung 
zugeschrieben  wird.  —  Die  subjektive  Meinung  wird 
endlich  ausdrücklich  als  die  Regel  des  Rechts  und  der 
Pflicht  ausgesprochen,   indem 

e)  die  Überzeugung,  welche  etwas  für  recht 
hält,  es  sein  soll,  wodurch  die  sittliche  Natur  einer 
Handlung  bestimmt  werde.  Das  Gute,  das  man  will, 
hat  noch  keinen  Inhalt;  das  Prinzip  der  Überzeugung 
enthält  nun  dies  Nähere,  daß  die  Subsumtion  einer  Hand- 
lung unter  die  Bestimmung  des  Guten  dem  Subjekte 
zustehe.     Hiermit   ist  auch   der  Schein   von   einer  sitt- 


Das  (iute  und  das  Grewissen.    §  140.  J25 

liehen  Objektivität  vollends  verschwunden.  Solche  Lehre 
hängt  unmittelbar  mit  der  öfters  erwähnten  sich  so 
nennenden  Philosophie  zusammen,  welche  die  Erkenn- 
barkeit des  Wahren,  —  und  das  Wahre  des  wollenden 
Geistes,  seine  Vernünftigkeit,  insofern  er  sich  verwirk- 
licht, sind  die  sittlichen  Gebote,  —  leugnet.  Indem 
ein  solches  Philosophieren  die  Erkenntnis  des  Wahren 
für  eine  leere,  den  Kreis  des  Erkennens,  der  nur  das 
Scheinende  sei,  überfliegende  Eitelkeit  ausgibt,  muß  es 
unmittelbar  auch  das  Scheinende  in  Ansehung  des  Han- 
delns zum  Prinzip  machen  und  das  Sittliche  somit  in  die 
eigentümliche  Weltansicht  des  Individuums  und  seine 
besondere  Überzeugung  setzen.  Die  Degradation, 
in  welche  so  die  Philosophie  herabgesunken  ist,  erscheint 
freilich  zunächst  vor  der  Welt  als  eine  höchst  gleich- 
gültige Begebenheit,  die  nur  dem  müßigen  Schul- 
geschwätze widerfahren  sei,  aber  notwendig  bildet  sich 
solche  Ansicht  in  die  Ansicht  des  Sittlichen,  als  in  einen 
wesentlichen  Teil  der  Philosophie  hinein,  und  dann  erst 
erscheint  an  der  Wirklichkeit  und  für  sie,  was  an  jenen 
Ansichten  ist.  —  Durch  die  Verbreitung  der  Ansicht, 
daß  die  subjektive  Überzeugung  es  sei,  wodurch  die 
sittliche  Natur  einer  Handlung  allein  bestimmt  werde, 
ist  es  geschehen,  daß  wohl  vormals  viel,  aber  heutiges- 
tags  wenig  mehr  von  Heuchelei  die  Rede  ist;  denn 
die  Qualifizierung  des  Bösen  als  Heuchelei  hat  zugrunde 
liegen,  daß  gewisse  Handlungen  an  und  für  sich  Ver- 
gehen, Laster  und  Verbrechen  sind,  daß,  der  sie  begehe, 
sie  notwendig  als  solche  wisse,  insofern  er  die  Grund- 
sätze und  äußeren  Handlungen  der  Frömmigkeit  und 
Rechtlichkeit  eben  in  dem  Scheine,  zu  dem  er  sie  miß- 
braucht, wisse  und  anerkenne.  Oder  in  Ansehung  des 
Bösen  überhaupt  galt  die  Voraussetzung,  daß  es  Pflicht 
sei,  das  Gute  zu  erkennen,  und  es  vom  Bösen  zu  unter- 
scheiden zu  wissen.  Auf  allen  Fall  aber  galt  die  ab- 
solute Forderung,  daß  der  Mensch  keine  lasterhafte  und 
verbrecherische  Handlungen  begehe,  und  daß  sie  ihm, 
insofern  er  ein  Mensch  und  kein  Vieh  ist,  als  solche 
zugerechnet  werden  müssen.  Wenn  aber  das  gute  Herz, 
die  gute  Absicht  und  die  subjektive  Überzeugung  für 
das  erklärt  wird,  was  den  Handlungen  ihren  Wert  gebe, 
so  gibt  es  keine  Heuchelei  und  überhaupt  kein  Böses 
mehr,  denn  was  einer  tut,  weiß  er  durch  die  Reflexion 
der  guten   Absichten  und   Bewegungsgründe   zu    etwas 


126       Zweiter  Teil.     Die  Moralität.     Dritter  Abschnitt. 

Gutem  zu  machen,  und  durch  das  Moment  seiner  Über- 
zeugung ist  es  gut*).  So  gibt  es  nicht  mehr  Ver- 
brechen und  Laster  an  und  für  sich,  und  an  die  Stelle 
des  obeni)  angeführten  frank  und  freien,  verhärteten, 
ungetrübten  Sündigens  ist  das  Bewußtsein  der  voll- 
kommenen Rechtfertigung  durch  die  Absicht  und  Über- 
zeugung getreten.  Meine  Absicht  des  Guten  bei  meiner 
Handlung,  und  meine  Überzeugung  davon,  daß  es  gut 
ist,  macht  sie  zum  Guten.  Insofern  von  einem  Be- 
urteilen und  Richten  der  Handlung  die  Rede  wird,  ist 
es  vermöge  dieses  Prinzips  nur  nach  der  Absicht  und 
Überzeugung  des  Handelnden,  nach  seinem  Glauben, 
daß  er  gerichtet  werden  solle,  —  nicht  in  dem  Sinne, 
wie  Christus  einen  Glauben  an  die  objektive  Wahr- 
heit fordert,  so  daß  für  den,  der  einen  schlechten  Glauben 
hat,  d.  h.  eine  ihrem  Inhalte  nach  böse  Überzeugung, 
auch  das  Urteil  schlecht,  d.  h.  diesem  bösen  Inhalte 
gemäß  ausfalle,  sondern  nach  dem  Glauben  im  Sinn 
der  Überzeugungstreue,  ob  der  Mensch  in  seinem 
Handeln  seiner  Überzeugung  treu  geblieben,  der  for- 
mellen subjektiven  Treue,  welche  allein  das  Pflicht- 
mäßige enthalte.  —  Bei  diesem  Prinzip  der  Überzeugung, 
weil  sie  zugleich  als  ein  Subjektives  bestimmt  ist, 
muß  sich  zwar  auch  der  Gedanke  an  die  Möglichkeit 
eines  Irrtums  aufdringen,  worin  somit  die  Voraus- 
setzung eines  an  und  für  sich  seienden  Gesetzes  liegt. 
Aber  das  Gesetz  handelt  nicht,  es  ist  nur  der  wirk- 
liche Mensch,  der  handelt,  und  bei  dem  Werte  der 
menschlichen  Handlungen  kann  es  nach  jenem  Prinzipe 


*)  „Daß  er  sich  vollkommen  überzeugt  fühle,  daran 
zweifle  ich  nicht  im  mindesten.  Aber  wieviele  Menschen 
beginnen  nicht  aus  einer  solchen  gefühlten  Überzeugung  die 
ärgsten  Frevel.  Also,  wenn  dieser  Grund  überall  entschuldigen 
mag,  BO  gibt  es  kein  vernünftiges  Urteil  mehr  über  gute 
und  böse,  ehrwürdige  und  verächtliche  Entschlie- 
ßungen; der  Wahn  hat  dann  gleiche  Rechte  mit  der  Ver- 
nunft, oder  die  Vernunft  hat  dann  überhaupt  keine  Rechte, 
kein  gültiges  Ansehen  mehr;  ihre  Stimme  ist  ein  Unding;  wer 
nur  nicht  zweifelt,  der  ist  in  der  Wahrheit! 

Mir  schaudert  vor  den  Folgen  einer  solchen  Toleranz,  die 
eine  ausschließende  zum  Voi'teil  der  Unvernunft  wäre." 

Fr.  H.  Jacobi  an  den  Grafen  Holmer.  Eutin,  5.  Aug.  1800 
über  Gr.  Stolbergs  Rel.  Veränderung  (ßrennus.  Berlin,  Aug.  1802). 

1)  S.  119. 


Das  Gute  uud  das  Gewissen.    §  140.  127 

nur  darauf  ankommen,  inwiefern  er  jenes  Gesetz  in 
seine  Überzeugung  aufgenommen  hat.  Wenn  es  aber 
sonach  nicht  die  Handlungen  sind,  die  nach  jenem  Ge- 
setze zu  beurteilen,  d.  h.  überhaupt  danach  zu  bemessen 
sind,  so  ist  nicht  abzusehen,  zu  was  jenes  Gesetz  noch 
sein  und  dienen  soll.  Solches  Gesetz  ist  zu  einem  nur 
äußeren  Buchstaben,  in  der  Tat  einem  leeren  Wort 
heruntergesetzt,  denn  erst  durch  meine  Überzeugung  wird 
es  zu  einem  Gesetze,  einem  mich  Verpflichtenden  und 
Bindenden,  gemacht.  —  Daß  solches  Gesetz  die  Auto- 
rität Gottes,  des  Staats,  für  sich  hat,  auch  die  Autorität 
von  Jahrtausenden,  in  denen  es  das  Band  war,  in  welchem 
die  Menschen  und  alles  ihr  Tun  und  Schicksal  sich 
zusammenhält  und  Bestehen  hat,  —  Autoritäten,  welche 
eine  Unzahl  Überzeungungen  von  Individuen  in 
sich  schließen,  —  und  daß  Ich  dagegen  die  Autorität 
meiner  einzelnen  Überzeugung  setze,  —  als  meine  sub- 
jektive Überzeugung  ist  ihre  Gültigkeit  nur  Autorität, 
—  dieser  zunächst  ungeheuer  scheinende  Eigendünkel  ist 
durch  das  Prinzip  selbst  beseitigt,  als  welches  die  sub- 
jektive Überzeugung  zur  Regel  macht.  —  Wenn  nun 
zwar  durch  die  höhere  Inkonsequenz,  welche  die  durch 
seichte  Wissenschaft  und  schlechte  Sophisterei  unver- 
treibliche  Vernunft  und  Gewissen  hereinbringen,  die 
Möglichkeit  eines  Irrtums  zugegeben  wird,  so  ist 
damit,  daß  das  Verbrechen  und  das  Böse  überhaupt  ein 
Irrtum  sei,  der  Fehler  auf  sein  Geringstes  reduziert. 
Denn  Irren  ist  menschlich,  —  wer  hätte  sich  nicht 
über  dies  und  jenes,  ob  ich  gestern  Kohl  oder  Kraut 
zu  Mittag  gegessen  habe,  und  über  Unzähliges,  Unwich- 
tigeres und  Wichtigeres,  geirrt?  Jedoch  der  Unter- 
schied von  Wichtigem  und  Unwichtigem  fällt  hinweg, 
wenn  es  allein  die  Subjektivität  der  Überzeugung  und 
das  Beharren  bei  derselben  ist,  worauf  es  ankommt. 
Jene  höhere  Inkonsequenz  von  der  Möglichkeit  eines 
Irrtums  aber,  die  aus  der  Natur  der  Sache  kommt,  setzt 
sich  in  der  Wendung,  daß  eine  schlechte  Überzeugung 
nur  ein  Irrtum  ist,  in  der  Tat  nur  in  die  andere  Inkonse- 
quenz der  Unredlichkeit  um;  das  eine  Mal  soll  es  die 
Überzeugung  sein,  auf  welche  das  Sittliche  und  der 
höchste  Wert  des  Menschen  gestellt  ist,  sie  wird  hier- 
mit für  das  Höchste  und  Heilige  erklärt,  und  das  andere 
Mal  ist  es  weiter  nichts,  um  das  es  sich  handelt,  als 
ein   Irren,    mein    Überzeugtsein    ein    geringfügiges   und 


128       Zweiter  Teil.     Die  Moralität.     Dritter  Abschnitt. 

zufälliges,  —  eigentlich  etwas  Äußerliches,  das  mir  sv> 
oder  so  begegnen  kann.  In  der  Tat  ist  mein  Über- 
zeugtsein etwas  höchst  Geringfügiges,  wenn  ich  nichts 
Wahres  erkennen  kann;  so  ist  es  gleichgültig,  wie  ich 
denke,  und  es  bleibt  mir  zum  Denken  jenes  leere  Gute, 
das  Abstraktum  des  Verstandes.  —  Es  ergibt  sich 
übrigens,  um  dies  noch  zu  bemerken,  nach  diesem  Prinzip 
der  Berechtigung  aus  dem  Grunde  der  Überzeugung 
die  Konsequenz  tür  die  Handlungsweise  anderer  gegen 
mein  Handeln,  daß,  indem  sie  nach  ihrem  Glauben 
und  Überzeugung  meine  Handlungen  für  Verbrechen 
halten,  sie  ganz  recht  daran  tun;  —  eine  Konsequenz, 
bei  der  ich  nicht  nur  nichts  zum  voraus  behalte,  sondern 
im  Gegenteil  nur  von  dem  Standpunkte  der  Freiheit  und 
Ehre  in  das  Verhältnis  der  Unfreiheit  und  Unehre  herab- 
gesetzt bin,  nämlich  in  der  Gerechtigkeit,  welche  an  sich 
auch  das  Meinige  ist,  nur  eine  fremde  subjektive  Über- 
zeugung zu  erfahren,  und  in  ihrer  Ausübung  mich  nur 
von  einer  äußeren  Gewalt  behandelt  zu  meinen. 

f)  Die  höchste  Form  endlich,  in  welcher  diese  Sub- 
jektivität sich  vollkommen  erfaßt  und  ausspricht,  ist 
die  Gestalt,  die  man  mit  einem  vom  Plato  erborgten 
Namen  Ironie  genannt  hat;  —  denn  nur  der  Name  ist 
von  Plato  genommen,  der  ihn  von  einer  Weise  des 
Sokrates  brauchte,  welche  dieser  in  einer  persönlichen 
Unterredung  gegen  die  Einbildung  des  ungebildeten  und 
des  sophistischen  Bewußtseins  zum  Behuf  der  Idee  der 
Wahrheit  und  Gerechtigkeit  anwandte,  aber  nur  jenes 
Bewußtsein,  die  Idee  selbst  nicht,  ironisch  behandelte. 
Die  Ironie  betrifft  nur  ein  Verhalten  des  Gesprächs  gegen 
Personen;  ohne  die  persönliche  Richtung  ist  die  we- 
sentliche Bewegung  des  Gedankens  die  Dialektik,  und 
Plato  war  so  weit  entfernt,  das  Dialektische  für  sich 
oder  gar  die  Ironie  für  das  Letzte  und  für  die  Idee  selbst 
zu  nehmen,  daß  er  im  Gegenteil  das  Herüber-  und  Hin- 
übergehen des  Gedankens  vollends  einer  subjektiven  Mei- 
nung in  die  Substantialität  der  Idee  versenkte  und 
endigte*).  —  Die  hier  noch  zu  betrachtende  Spitze  der 


*)  Mein  verstorbener  Kollege,  Professor  Solger'),  hat  zwar 
den  vom  Herrn  Fried,  v.  Schlegel  in  einer  früheren  Periode 
seiner    schriftstellerischen    Laufbahn    aufgebrachten    und    bis    zu 

>)  Solger,  Karl  Wilhelm  Ferdinand,  1730—1819. 


Das  Gute  und  das  Gewissen.    §  140.  129 

sich  als  das  Letzte  erfassenden  Subjektivität  kann  nur 
dies  sein,  sich  noch  als  jenes  Beschließen  und  Ent- 
scheiden über  Wahrheit,  Recht  und  Pflicht  zu  wissen, 
welches  in  den  vorhergehenden  Formen  schon  an  sich 
vorhanden  ist.  Sie  besteht  also  darin,  das  sittlich  Ob- 
jektive wohl  zu  wissen,  aber  nicht  sich  selbst  vergessend 
und  auf  sich  Verzicht  tuend  in  den  Ernst  desselben  sich 
zu  vertiefen  und  aus  ihm  zu  handeln,   sondern  in  der 


jener  Bich  selLst  als  das  Höchste  wissenden  Subjektivität  gestei- 
gerten Ausdruck  der  Ironie  aufgenommen,  aber  sein  von  solcher 
Bestimmung  entfernter  besserer  Sinn  und  seine  philosophische 
Einsicht  hat  darin  nur  vornehmlich  die  Seite  des  eigentlichen 
Dialektischen,  des  bewegenden  Pulses  der  spekulativen  Betrach- 
tung ergriffen  und  festgehalten.  Ganz  klar  aber  kann  ich  daa 
nicht  finden,  noch  mit  den  Begriffen  übereinstimmen,  welche 
derselbe  noch  in  seiner  letzten,  gehaltvollen  Arbeit,  einer  aus- 
führlichen Kritik  über  die  Vorlesungen  des  Herrn  August 
Wilhelm  v.  Schlegel  über  dramatische  Kunst  und 
Literatur  (Wiener  Jahrb.  Bd.  VII,  S.  90ff.)  entwickelt.  „Die 
wahre  Ironie,"  sagt  Solger  daselbst  S.  92,  „geht  von  dem  Ge- 
sichtspunkt aus,  daß  der  Mensch,  solange  er  in  dieser  gegen- 
wärtigen Welt  lebt,  seine  Bestimmung  auch  im  höchsten  Sinne 
des  Worts  nur  in  dieser  Welt  erfüllen  kann.  Alles,  womit  wir 
über  endliche  Zwecke  hinauszugehen  glauben,  ist  eitle 
und  leere  Einbildung.  —  Auch  das  Höchste  ist  für  unser  Han- 
deln nur  in  begrenzter  endlicher  Gestaltung  da."  Dies 
ist,  richtig  verstanden,  platonisch  und  sehr  wahr  gegen  das  daselbst 
vorher  erwähnte  leere  Streben  in  das  (abstrakte)  Unendliche 
gesagt.  Daß  aber  das  Höchste  in  begrenzter  endlicher  Ge- 
staltung ist,  wie  das  Sittliche,  —  und  das  Sittliche  ist  wesent- 
lich als  Wirklichkeit  und  Handlung,  —  dies  ist  sehr  verschieden 
davon,  daß  es  ein  endlicher  Zweck  sei;  die  Gestaltung,  die 
Form  des  Endlichen,  benimmt  dem  Inhalt,  dem  Sittlichen  nichts 
von  seiner  Substantialität  und  der  Unendlichkeit,  die  es  in  sich 
selbst  hat.  Es  heißt  v.eiter:  „Und  eben  deswegen  ist  es  (das  Höchste) 
;t n  uns  so  nichtig  als  das  Geringste  und  gehet  notwendig 
mit  uns  und  unserm  nichtigen  Sinne  unter,  denn  in 
Wahrheit  ist  es  nur  da  in  Gott,  und  in  diesem  Untergange  ver- 
klärt es  sich  als  ein  Göttliches,  an  welchem  wir  nicht  teil  haben 
würden,  wenn  es  nicht  eine  unmittelbare  Gegenwart  dieses  Gött- 
lichen gäbe,  die  sich  eben  im  Verschwinden  unserer  Wirklich- 
keit offenbart;  die  Stimmung  aber,  welcher  dieses  unmittelbar  in 
den  menschlichen  Begebenheiten  selbst  einleuchtet,  ist  die  tra- 
gische Ironie."  Auf  den  willkürlichen  Namen  Ironie  käme  es 
nicht  an;  aber  darin  liegt  etwas  Unklares,  daß  es  das  Höchste 
sei,  was  mit  unserer  Nichtigkeit  untergehe,  und  daß  erst  im 
Verschwinden  unserer  Wirklichkeit  das  Göttliche  sich  offenbare, 
Heg-el,  Kechtsphilosophie.  9 


130       Zweiter  Teil.     Die  Moralität     Dritter  Abschnitt. 

Beziehung  darauf  dasselbe  zugleich  von  sich  zu  halten, 
und  sich  als  das  zu  wissen,  welches  so  will  und  be- 
schließt, und  auch  ebensogut  anders  wollen  und 
beschließen  kann.  —  Ihr  nehmt  ein  Gesetz  in  der  Tat 
und  ehrlicherweise  als  an  und  für  sich  seiend,  Ich  bin 
auch  dabei  und  darin,  aber  auch  noch  weiter  als  Ihr, 
ich  bin  auch  darüber  hinaus  und  kann  es  so  oder  so 
machen.  Nicht  die  Sache  ist  das  Vortreffliche,  sondern 
Ich  bin  der  Vortreffliche,  und  bin  der  Meister  über  das 
Gesetz  und  die  Sache,  der  damit,  als  mit  seinem  Be- 
lieben, nur  spielt,  und  in  diesem  ironischen  Bewußt- 


wie  es  auch  S.  91  ebendaselbst  heißt:  „wir  sehen  die  Helden 
irre  werden  an  dem  Edelsten  und  Schönsten  in  ihren  Gesin- 
nungen und  Gefühlen,  nicht  bloß  in  Rücksicht  des  Erfolgs,  son- 
dern auch  ihrer  Quelle  und  ihres  Wertes,  ja  wir  erheben 
uns  an  dem  Untergange  des  Besten  selbst."  Daß  der  tra- 
gische Untergang  höchst  sittlicher  Gestalten  nur  insofern  interes- 
sieren (der  gerechte  Untergang  aufgespreizter  reiner  Schurken 
und  Verbrecher,  wie  z.  B.  der  Held  in  einer  modernen  Tragödie, 
der  Schuld'),  einer  ist,  hat  zwar  ein  kriminaljuristisches  Inter- 
esse, aber  keines  für  die  wahre  Kunst,  von  der  hier  die  Rede 
ist),  erheben  und  mit  sich  selbst  versöhnen  kann,  als  solche  Ge- 
stalten gegeneinander  mit  gleich  berechtigten  unterschiedenen 
sittlichen  Mächten,  welche  durch  Unglück  in  Kollision  gekommen, 
auftreten  und  so  nun  durch  diese  ihre  Entgegensetzung  gegen 
ein  Sittliches  Schuld  haben,  woraus  das  Recht  und  das  Unrecht 
beider,  und  damit  die  wahre  sittliche  Idee  gereinigt  und  trium- 
phierend über  diese  Einseitigkeit,  somit  versöhnt  in  uns  her- 
vorgeht, daß  sonach  nicht  das  Höchste  in  uns  es  ist,  welches 
untergeht,  und  wir  uns  nicht  am  Untergange  des  Besten, 
sondern  im  Gegenteil  am  Triumph  des  Wahi-en  erheben,  — 
daß  dies  das  wahrhafte  rein  sittliche  Interesse  der  antiken  Tra- 
gödie ist  (in  der  romantischen  erleidet  diese  Bestimmung  noch 
eine  weitere  Modifikation), ')  habe  ich  in  der  Phänomenologie 
des  Geistes  (S.  404if.  vgl.  683 ff.) 3)  ausgeführt.  Die  sittliche 
Idee  aber  ohne  jenes  Unglück  der  Kollision  und  den 
Untergang  der  in  diesem  Unglück  befangenen  Individuen  ist  in 
der  sittlichen  Welt  wirklich  und  gegenwärtig,  und  daß  dies 
Höchste  sich  nicht  in  seiner  Wirklichkeit  als  ein  Nichtiges 
darstellt,  dies  ist  es,  was  die  reale  sittliche  Existenz,  der  Staat, 
bezweckt  und  bewirkt,  und  was  in  ihm  das  sittliche  Selbstbewußt- 
sein besitzt,  anschaut  und  weiß,  und  das  denkende  Erkennen  begreift. 

1)  Von  Adolf  Müllner,  1774—1829. 

2)  Vgl.  Hegels  Ästhetik,  Wwe.  Bd.  10,  2.  Aufl.  1843,  S.  542  ff. 
s)  Lassonsche  Ausgabe    (Phil.   Bibl.,    114.   Bd.)    S.  305  ff.. 

S.  471  ff. 


Übergang  zur  Sittlichkeit.    §  141.  131 

sein,  in  welchem  Ich  das  Höchste  untergehen  lasse, 
nur  mich  genieße.  —  Diese  Gestalt  ist  nicht  nur  die 
Eitelkeit  alles  sittlichen  Inhalts  der  Rechte,  Pflichten, 
Gesetze,  —  das  Böse,  und  zwar  das  in  sich  ganz  all- 
gemeine Böse,  —  sondern  sie  tut  auch  die  Form,  die 
subjektive  Eitelkeit,  hinzu,  sich  selbst  als  diese  Eitel- 
keit alles  Inhalts  zu  wissen,  und  in  diesem  Wissen  sich 
als  das  Absolute  zu  wissen.  —  Inwiefern  diese  absolute 
Selbstgefälligkeit  nicht  ein  einsamer  Gottesdienst  seiner 
selbst  bleibt,  sondern  etwa  auch  eine  Gemeinde  bilden 
kann,  deren  Band  und  Substanz  etwa  auch  die  gegen- 
seitige Versicherung  von  Gewissenhaftigkeit,  guten  Ab- 
sichten, das  Erfreuen  über  diese  wechselseitige  Rein- 
heit, vornehmlich  aber  das  Laben  an  der  Herrlichkeit 
dieses  Sich-Wissens  und  Aussprechens,  und  an  der  Herr- 
lichkeit dieses  Hegens  und  Pflegens  ist,  —  inwiefern 
das,  was  schöne  Seele  genannt  worden,  die  in  der 
Eitelkeit  aller  Objektivität  und  damit  in  der  Unwirklich- 
keit  ihrer  selbst  verglimmende  edlere  Subjektivität,  ferner 
andere  Gestaltungen,  mit  der  betrachteten  Stufe  ver- 
wandte Wendungen  sind,  —  habe  ich  Phänomenologie  des 
Geistes  S.  605  ff.  i)  abgehandelt,  wo  der  ganze  Abschnitt 
c)  das  Gewissen,  insbesondere  auch  in  Rücksicht  des 
Überganges  in  eine  —  dort  übrigens  anders  bestimmte, 
höhere    Stufe    überhaupt,    verglichen   werden   kann. 

Übergang  von  der  Moralität  in  Sittlichkeit. 

§  141. 
Für  das  Gute,  als  das  substantielle  Allgemeine  der 
Freiheit,  aber  noch  Abstrakte,  sind  daher  ebensosehr 
Bestimmungen  überhaupt  und  das  Prinzip  derselben,  aber 
als  mit  ihm  identisch,  gefordert,  wie  für  das  Ge- 
wissen, das  nur  abstrakte  Prinzip  des  Bestimmens,  die 
Allgemeinheit  und  Objektivität  seiner  Bestimmungen  ge- 
fordert ist.  Beide,  jedes  so  für  sich  zur  Totalität  ge- 
steigert, werden  zum  Bestimmungslosen,  das  bestimmt  sein 
soll.  - —  Aber  die  Integration  beider  relativen  Totalitäten 
zur  absoluten  Identität  ist  schon  an  sich  vollbracht,  in- 
dem eben  diese  für  sich  in  ihrer  Eitelkeit  verschwebende 
Subjektivität  der  reinen  Gewißheit  seiner  selbst  iden- 
tisch ist  mit  der  abstrakten  Allgemeinheit  des  Guten; 
—  die,  somit  konkrete,  Identität  des  Guten  und  des  sub- 

»)  Lassonsche  Ausgabe  (Phil.  Bibl.,  114.  Bd.),  S.  419  ff. 

9* 


132  Zweiter  Teil.     Die  Moralität. 

jektiven   Willens,    die   Wahrheit   derselben,    ist   die   Sitt- 
lichkeit. 

Das  Nähere  über  einen  solchen  Übergang  des  Be- 
griffs macht  sich  in  der  Logik  verständlich.  Hier  nur 
soviel,  daß  die  Natur  des  Beschränkten  und  Endlichen, 

—  und  solches  sind  hier  das  abstrakte,  nur  sein  sol- 
lende Gute  und  die  ebenso  abstrakte,  nur  gut  sein  sol- 
lende Subjektivität,  —  an  ihnen  selbst  ihr  Gegenteil, 
das  Gute  seine  Wirklichkeit,  und  die  Subjektivität  (das 
Moment  der  Wirklichkeit  des  Sittlichen)  das  Gute, 
haben,  aber  daß  sie  als  einseitige  noch  nicht  gesetzt 
sind  als  das,  was  sie  an  sich  sind.  Dies  Gesetztwerden 
erreichen  sie  in  ihrer  Negativität,  darin  daß  sie,  wie  sie 
sich  einseitig,  jedes  das  nicht  an  ihnen  haben  zu 
sollen,  was  an  sich  an  ihnen  ist,  —  das  Gute  ohne  Sub- 
jektivität und  Bestimmung,  und  das  Bestimmende,  die 
Subjektivität  ohne  das  Ansichseiende  —  als  Totalitäten 
für  sich  konstituieren,  sich  aufheben  und  dadurch  zu 
Momenten  herabsetzen,  —  zu  Momenten  des  Begriffs, 
der  als  ihre  Einheit  offenbar  wird  und  eben  durch  dies 
Gesetztsein  seiner  Momente  Realität  erhalten  hat,  so- 
mit nun  als  Idee  ist,  —  Begriff,  der  seine  Bestimmungen 
zur  Realität  herausgebildet  und  zugleich  in  ihrer  Identität 
als  ihr  an  sich  seiendes  Wesen  ist.  —  Das  Dasein  der 
Freiheit,  welches  unmittelbar  als  das  Recht  war,  ist  ■ 
in  der  Reflexion  des  Selbstbewußtseins  zum  Guten  be- 
stimmt; das  Dritte,  hier  in  seinem  Übergänge  als  die 
Wahrheit  dieses  Guten  und  der  Subjektivität,  ist  daher 
ebensosehr  die  Wahrheit  dieser  und  des  Rechts.  —  Das 
Sittliche  ist  subjektive  Gesinnung,  aber  des  an  sich 
seienden  Rechts;  —  daß  diese  Idee  die  Wahrheit  des 
Freiheitsbegriffs  ist,  dies  kann  nicht  ein  Vorausgesetztes, 
aus  dem  Gefühl  oder  woher  sonst  Genommenes,  sondern 

—  in  der  Philosophie  —  nur  ein  Bewiesenes  sein. 
Diese  Deduktion  desselben  ist  aliein  darin  enthalten, 
daß  das  Recht  und  das  moralische  Selbstbewußtsein  an 
ihnen  selbst  sich  zeigen,  darin  als  in  ihr  Resultat  zu- 
rückzugehen. —  Diejenigen,  welche  des  Beweisens  und 
Deduzierens  in  der  Philosophie  entübrigt  sein  zu  können 
glauben,  zeigen,  daß  sie  von  dem  ersten  Gedanken  dessen, 
was  Philosophie  ist,  noch  entfernt  sind  und  mögen  wohl 
sonst  reden,  aber  in  der  Philosophie  haben  die  kein 
Recht  mitzureden,  die  ohne  Begriff  reden  wollen. 


Dritter  Teil. 

Die  Sittlichkeit. 


§142. 

Die  Sittlichkeit  ist  die  Idee  der  Freiheit,  als  das 
lebendige  Gute,  das  in  dem  Selbstbewußtsein  sein  Wissen, 
Wollen,  und  durch  dessen  Handeln  seine  Wirklichkeit,  so- 
wie dieses  an  dem  sittlichen  Sein  seine  an  und  für  sich 
seiende  Grundlage  und  bewegenden  Zweck  hat,  —  der  zur 
vorhandenen  Welt  und  zur  Natur  des  Selbstbe- 
wußtseins  gewordene   Begriff  der   Freiheit. 

§  143. 

Indem  diese  Einheit  des  Begriffs  des  Willens  und 
seines  Daseins,  welches  der  besondere  Wille  ist.  Wissen 
ist,  ist  das  Bewußtsein  des  Unterschiedes  dieser  Momente 
der  Idee  vorhanden,  aber  so,  daß  nunmehr  jedes  für  sich 
selbst  die  Totalität  der  Idee  ist,  und  sie  zur  Grundlage 
und  Inhalt  hat. 

§144. 

a)  Das  objektive  Sittliche,  das  an  die  Stelle  des  ab- 
strakten Guten  tritt,  ist  die  durch  die  Subjektivität  als 
unendliche  Form  konkrete  Substanz.  Sie  setzt  daher 
Unterschiede  in  sich,  welche  hiermit  durch  den  Begriff 
bestimmt  sind,  und  wodurch  das  Sittliche  einen  festen  In- 
halt hat,  der  für  sich  notwendig  und  ein,  über  das  sub- 
jektive Meinen  und  Belieben  erhabenes,  Bestehen  ist,  die 
an  und  für  sich  seienden  Gesetze  und  Einrich- 
tungen. 

§145. 

Daß  das  Sittliche  das  System  dieser  Bestimmungen 
der  Idee  ist,  macht  die  Vernünftig keit  desselben  aus. 
Es  ist  auf  diese  Weise  die  Freiheit  oder  der  an  und  für 


13-i  Dritter  Teil.    §  li6— J47. 

sich  seiende  Wille  als  das  Objektive,  Kreis  der  Notwendig- 
keit, dessen  Momente  die  sittlichen  Mächte  sind,  welche 
das  Leben  der  Individuen  regieren  und  in  diesen  als  ihren 
Accidenzen,  ihre  Vorstellung,  erscheinende  Gestalt  und 
Wirklichkeit  haben. 

§146. 

ß)  Die  Substanz  ist  in  diesem  ihrem  wirklichen 
Selbstbewußtsein  sich  wissend  und  damit  Objekt  des 
Wissens.  Für  das  Subjekt  haben  die  sittliche  Substanz, 
ihre  Gesetze  und  Gewalten  einerseits  als  Gegenstand  das 
Verhältnis,  daß  sie  sind,  im  höchsten  Sinne  der  Selb- 
ständigkeit, —  eine  absolute,  unendlich  festere  Autorität 
und  Macht  als  das  Sein  der  Natur. 

Die  Sonne,  Mond,  Berge,  Flüsse,  überhaupt  die  um- 
gebenden Naturobjekte  sind,  sie  haben  für  das  Bewußt- 
sein die  Autorität  nicht  nur  überhaupt  zu  sein,  sondern 
auch  eine  besondere  Natur  zu  haben,  welche  es  gelten 
läßt,  nach  ihr  in  seinem  Verhalten  zu  ihnen,  seiner  Be- 
schäftigung mit  ihnen  und  ihrem  Gebrauche  sich  richtet. 
Die  Autorität  der  sittlichen  Gesetze  ist  unendlich  höher, 
weil  die  Naturdinge  nur  auf  die  ganz  äußerliche  und 
vereinzelte  Weise  die  Vernünftigkeit  darstellen,  und 
sie  unter  die  Gestalt  der  Zufälligkeit  verbergen. 

§147. 

Andererseits  sind  sie  dem  Subjekte  nicht  ein  Frem- 
des, sondern  es  gibt  das  Zeugnis  des  Geistes  von 
ihnen  als  von  seinem  eigenen  Wesen,  in  welchem 
es  sein  Selbstgefühl  hat,  und  darin  als  seinem  von 
sich  ununterschiedenen  Elemente  lebt,  —  ein  Verhältnis, 
das  unmittelbar,  noch  identischer,  als  selbst  Glaube  und 
Zutrauen,  ist. 

Glaube  und  Zutrauen  gehören  der  beginnenden  Re- 
flexion an  und  setzen  eine  Vorstellung  und  Unterschied 
voraus;  —  wie  es  z.  B.  verschieden  wäre,  an  die  heid- 
nische Religion  glauben,  und  ein  Heide  sein.  Jenes 
Verhältnis  oder  vielmehr  verhältnislose  Identität,  in  der 
das  Sittliche  die  wirkliche  Lebendigkeit  des  Selbstbewußt- 
seins ist,  kann  allerdings  in  ein  Verhältnis  des  Glaubens 
und  der  Überzeugung,  und  in  ein  durch  weitere  Re- 
flexion vermitteltes  übergehen,  in  eine  Einsicht  durch 


Die  Sittlichkeit.    §  148— U9.  135 

Gründe,  die  auch  von  irgend  besonderen  Zwecken,  Inter- 
essen und  Rücksichten,  von  Furcht  oder  Hoffnung,  oder 
von  geschichtlichen  Voraussetzungen  anfangen  können. 
Die  adäquate  Erkenntnis  derselben  aber  gehört  dem 
denkenden  Begriffe  an. 

§  148. 

Als  diese  substantiellen  Bestimmungen  sind  sie  für  das 
Individuum,  welches  sich  von  ihnen  als  das  Subjektive 
und  in  sich  Unbestimmte  oder  das  besonders  Bestimmte 
unterscheidet,  hiermit  im  Verhältnisse  zu  ihnen  als 
zu  seinem  Substantiellen  steht,  — ■  Pflichten  für  seinen 
Willen  bindend. 

Die  ethische  Pflichtenlehre,  d.  i.  wie  sie  ob- 
jektiv ist,  nicht  in  dem  leeren  Prinzip  der  moralischen 
Subjektivität  befaßt  sein  soll,  als  welches  vielmehr  nichts 
bestimmt  (§  134),  —  ist  daher  die  in  diesem  dritten 
Teile  folgende  systematische  Entwickelung  des  Kreises 
der  sittlichen  Notwendigkeit.  Der  Unterschied  dieser 
Darstellung  von  der  Form  einer  Pflichtenlehre  liegt 
allein  darin,  daß  in  dem  Folgenden  die  sittlichen  Be- 
stimmungen sich  als  die  notwendigen  Verhältnisse  er- 
geben, hierbei  stehen  geblieben  und  nicht  zu  jeder  der- 
selben noch  der  Nachsatz  gefügt  wird,  also  ist  diese 
Bestimmung  für  den  Menschen  eine  Pflicht.  — Eine 
Pflichienlehre,  insofern  sie  nicht  philosophische  Wissen- 
schaft ist,  nimmt  aus  den  Verhältnissen  als  vorhandenen 
ihren  Stoff,  und  zeigt  den  Zusammenhang  desselben 
mit  den  eigenen  Vorstellungen,  allgemein  sich  vor- 
findenden Grundsätzen  und  Gedanken,  Zwecken,  Trieben, 
Em.pfindungen  u.  s.  f.,  und  kann  als  Gründe  die  weiteren 
Folgen  einer  jeden  Pflicht  in  Beziehung  auf  die  anderen 
sittlichen  Verhältnisse,  sowie  auf  das  Wohl  und  die 
Meinung  hinzufügen.  Eine  immanente  und  konsequente 
Pflichtenlehre  kann  aber  nichts  anderes  sein,  als  die  Ent- 
wickelung der  Verhältnisse,  die  durch  die  Idee  der 
Freiheit  notwendig,  und  daher  wirklich  in  ihrem  ganzen 
Umfange,  im  Staat  sind. 

§  149. 

Als  Beschränkung  kann  die  bindende  Pflicht  nur 
gegen  die  unbestimmte  Subjektivität  oder  abstrakte  Frei- 


136  Dritter  Teil.    §  150. 

heit,  und  gegen  die  Triebe  des  natürlichen,  oder  des  sein 
unbestimmtes  Gute  aus  seiner  Willkür  bestimmenden  mo- 
ralischen Willens  erscheinen.  Das  Individuum  hat  aber 
in  der  Pflicht  vielmehr  seine  Befreiung,  teils  von  der 
Abhängigkeit,  in  der  es  in  dem  bloßen  Naturtriebe  steht, 
sowie  von  der  Gedrücktheit,  in  der  es  als  subjektive  Be- 
sonderheit in  den  moralischen  Reflexionen  des  SoUens 
und  Mögens  ist,  teils  von  der  unbestimmten  Subjektivität, 
die  nicht  zum  Dasein  und  der  objektiven  Bestimmtheit 
des  Handelns  kommt,  und  in  sich  und  als  eine  Unwirk- 
lichkeit  bleibt.  In  der  Pflicht  befreit  das  Individuum 
sich   zur   substantiellen   Freiheit. 

§150. 

Das  Sittliche,  insofern  es  sich  an  dem  individuellen 
durch  die  Natur  bestimmten  Charakter  als  solchem  reflek- 
tiert, ist  die  Tugend,  die,  insofern  sie  nichts  zeigt,  als 
die  einfache  Angemessenheit  des  Individuums  an  die 
Pflichten  der  Verhältnisse,  denen  es  angehört.  Recht- 
schaffenheit ist. 

Was  der  Mensch  tun  müsse,  welches  die  Pflichten 
sind,  die  er  zu  erfüllen  hat,  um.  tugendhaft  zu  sein,  ist 
in  einem  sittlichen  Gemeinwesen  leicht  zu  sagen,  — 
es  ist  nichts  anderes  von  ihm  zu  tun,  als  was  ihm  in 
seinen  Verhältnissen  vorgezeichnet,  ausgesprochen  und 
bekannt  ist.  Die  Rechtschaffenheit  ist  das  Allgemeine, 
was  an  ihn  teils  rechtlich,  teils  sittlich  gefordert  werden 
kann.  Sie  erscheint  aber  für  den  moralischen  Stand- 
punkt leicht  als  etwas  Untergeordneteres,  über  das  man 
an  sich  und  andere  noch  mehr  fordern  müsse;  denn  die 
Sucht,  etwas  Besonderes  zu  sein,  genügt  sich  nicht 
mit  dem,  was  das  An-  und  Fürsichseiende  und  All- 
gemeine ist;  sie  findet  erst  in  einer  Ausnahme  das 
Bewußtsein  der  Eigentümlichkeit.  —  Die  verschie- 
denen Seiten  der  Rechtschaffenheit  können  ebenso- 
gut auch  Tugenden  genannt  werden,  weil  sie  ebenso- 
sehr Eigentum,  —  obwohl  in  der  Vergleichung  mit 
anderen  nicht  besonderes,  —  des  Individuums  sind. 
Das  Reden  aber  von  der  Tugend  grenzt  leicht  an  leere 
Deklamation,  weil  damit  nur  von  einem  Abstrakten  und 
Unbestimmten  gesprochen  w^ird,  sowie  auch  solche  Rede 
mit  ihren  Gründen  und  Darstellungen  sich  an  das  In- 
dividuum als  an  eine  Willkür  und  subjektives  Belieben 


I 


Die  Sittlichkeit.    §  150.  137 

wendet.  Unter  einem  vorhandenen  sittlichen  Zustande, 
dessen  Verhältnisse  vollständig  entwickelt  und  verwirk- 
licht sind,  hat  die  eigentliche  Tugend  nur  in  außer- 
ordentlichen Umständen  und  Kollisionen  jener  Verhält- 
nisse ihre  Stelle  und  Wirklichkeit;  —  in  wahrhaften 
Kollisionen,  denn  die  moralische  Reflexion  kann  sich 
allenthalben  Kollisionen  erschaffen  und  sich  das  Bewußt- 
sein von  etwas  Besonderem  und  von  gebrachten  Opfern 
geben.  Im  ungebildeten  Zustande  der  Gesellschaft  und 
des  Gemeinwesens  kommt  deswegen  mehr  die  Form  der 
Tugend  als  solcher  vor,  weil  hier  das  Sittliche  und  dessen 
Verwirklichung  mehr  ein  individuelles  Belieben  und 
eine  eigentümliche  geniale  Natur  des  Individuums  ist, 
wie  denn  die  Alten  besonders  von  Herkules  die  Tugend 
prädiziert  haben.  Auch  in  den  alten  Staaten,  weil  in 
ihnen  die  Sittlichkeit  nicht  zu  diesem  freien  System 
einer  selbständigen  Entwickelung  und  Objektivität  ge- 
diehen war,  mußte  es  die  eigentümliche  Genialität  der 
Individuen  sein,  welche  diesen  Mangel  ersetzte.  —  Die 
Lehre  von  den  Tugenden,  insofern  sie  nicht  bloß 
Pflichtenlehre  ist,  somit  das  Besondere,  auf  Natur- 
bestimmtheit Gegründete  des  Charakters  umfaßt,  wird 
hiermit   eine   geistige  Naturgeschichte   sein. 

Indem  die  Tugenden  das  Sittliche  in  der  Anwendung 
auf  das  Besondere,  und  nach  dieser  subjektiven  Seite 
ein  Unbestimmtes  sind,  so  tritt  für  ihre  Bestimmung  das 
Quantitative  des  Mehr  und  Weniger  ein;  ihre  Betrachtung 
führt  daher  die  gegenüberstehenden  Mängel  oder  Laster 
herbei,  wie  bei  Aristoteles,  der  die  besondere  Tugend 
daher  seinem  richtigen  Sinne  nach  als  die  Mitte  zwischen 
einem  Zuviel  und  einem  Zuwenig  bestimmte.  —  Der- 
selbe Inhalt,  welcher  die  Form  von  Pflichten  und  dann 
von  Tugenden  annimmt,  ist  es  auch,  der  die  Form  von 
Trieben  hat  (§  19  Anm.).  Auch  sie  haben  denselben 
Inhalt  zu  ihrer  Grundlage,  aber  weil  er  in  ihnen  noch 
dem  unmittelbaren  Willen  und  der  natürlichen  Emp- 
findung angehört,  und  zur  Bestimmung  der  Sittlich- 
keit nicht  heraufgebildet  ist,  so  haben  sie  mit  dem  In- 
halte der  Pflichten  und  Tugenden  nur  den  abstrakten 
Gegenstand  gemein,  der  als  bestimmungslos  in  sich  selbst, 
die  Grenze  des  Guten  oder  Bösen  für  sie  nicht  enthält, 
—  oder  sie  sind  nach  der  Abstraktion  des  Positiven  gut, 
und  umgekehrt  nach  der  Abstraktion  des  Negativen 
böse  (§  18). 


138  Dritter  Teil.    §  151  —  153. 

§  151. 
Aber  in  der  einfachen  Identität  mit  der  Wirklich- 
keit der  Individuen  erscheint  das  Sittliche,  als  die  all- 
gemeine Handlungsweise  derselben  —  als  Sitte,  —  die 
Gewohnheit  desselben  als  eine  zweite  Natur,  die  an 
die  Stelle  des  ersten  bloß  natürlichen  Willens  gesetzt,  und 
die  durchdringende  Seele,  Bedeutung  und  Wirklichkeit  ihres 
Daseins  ist,  der  als  eine  Welt  lebendige  und  vorhandene 
Geist,  dessen  Substanz  so  erst  als  Geist  ist. 

§152. 
Die  sittliche  Substantialität  ist  auf  diese  Weise 
zu  ihrem  Rechte  und  dieses  zu  seinem  Gelten  gekommen, 
daß  in  ihr  nämlich  die  Eigenwilligkeit  und  das  eigene  Ge- 
wissen des  Einzelnen,  das  für  sich  wäre  und  einen  Gegensatz 
gegen  sie  machte,  verschwunden  [sind],  indem  der  sittliche 
Charakter  das  unbewegte,  aber  in  seinen  Bestimmungen 
zur  wirklichen  Vernünftigkeit  aufgeschlossene  Allgemeine 
als  seinen  bewegenden  Zweck  weiß,  und  seine  Würde, 
sowie  alles  Bestehen  der  besonderen  Zwecke  in  ihm  ge- 
gründet erkennt  und  wirklich  darin  hat.  Die  Subjektivität 
ist  selbst  die  absolute  Form  und  die  existierende  Wirklich- 
keit der  Substanz,  und  der  Unterschied  des  Subjekts  von 
ihr  als  seinem  Gegenstande,  Zwecke  und  Macht  ist  nur 
der  zugleich  ebenso  unmittelbar  verschwundene  Unterschied 
der  Form. 

Die  Subjektivität,  welche  den  Boden  der  Existenz 
für  den  Freiheitsbegriff  ausmacht  (§  106)  und  auf  dem 
moralischen  Standpunkte  noch  im  Unterschiede  von 
diesem  ihrem  Begriff  ist,  ist  im  Sittlichen  die  ihm  adä- 
quate Existenz  desselben. 

§153. 

Das  Recht  der  Individuen   für   ihre   subjektive 
Bestimmung  zur  Freiheit  hat  darin,  daß  sie  der  sitt- 
lichen Wirklichkeit  angehören,  seine  Erfüllung,  indem  die 
Gewißheit    ihrer    Freiheit   in    solcher    Objektivität   ihre 
Wahrheit  hat,  und  sie  im  Sittlichen  ihr  eigenes  Wesen, 
ihre    innere    Allgemeinheit   wirklich    besitzen    (§   417). 
Auf  die  Frage  eines  Vaters,  nach  der  besten  Weise 
seinen  Sohn  sittlich  zu  erziehen,  gab  ein  Pythagoreer  (auch 
anderen  wird  sie  in  den  Mund  gelegt)  die  Antwort:  wenn 
du  ihn  zum  Bürger  eines  Staats  von  guten  Gesetzen 
machst. 


Die  Sittlichkeit.    §  154—157.  139 

§154. 
Das  Recht  der  Individuen  an  ihre  Besonderheit  ist 
ebenso  in  der  sittlichen  Substantialität  enthalten,  denn  die 
Besonderheit    ist    die   äußerlich    erscheinende    Weise,    in 
welcher  das  Sittliche  existiert. 

§  155. 
In  dieser  Identität  des  allgemeinen  und  besonderen 
Willens  fällt  somit  Pflicht  und  Recht  in  Eins,  und  der 
Mensch  hat  durch  das  Sittliche  insofern  Rechte,  als  er 
Pflichten,  und  Pflichten,  insofern  er  Rechte  hat.  Im  ab- 
strakten Rechte  habe  Ich  das  Recht,  und  ein  anderer  die 
Pflicht  gegen  dasselbe,  — •  im  Moralischen  soll  nur  das 
Recht  meines  eigenen  Wissens  und  Wollens,  sowie  meines 
Wohls  mit  den  Pflichten  geeint  und   objektiv  sein. 

§  156. 
Die  sittliche  Substanz,  als  das  für  sich  seiende  Selbst- 
bewußtsein mit  seinem  Begriffe  geeint  enthaltend,  ist  der 
wirkliche   Geist   einer  Familie   und   eines   Volks. 

§  157. 
Der   Begriff   dieser  Idee   ist  nur  als   Geist,   als   sich 
Wissendes   und   Wirkliches,    indem   er   die   Objektivierung 
seiner  selbst,   die  Bewegung  durch  die  Form  seiner  Mo- 
mente ist.    Er  ist  daher: 

A.  der  unmittelbare  oder  natürliche  sittliche  Geist; 
—  die  Familie. 

Diese  Substantialität  geht  in  den  Verlust  ihrer  Ein- 
heit, in  die  Entzweiung  und  in  den  Standpunkt  des  Rela- 
tiven über,  und  ist  so 

B.  bürgerliche  Gesellschaft,  eine  Verbindung  der 
Glieder  als  selbständiger  Einzelner  in  einer  so- 
mit formellen  Allgemeinheit,  durch  ihre  Be- 
dürfnisse, und  durch  die  Rechtsverfassung  als 
Mittel  der  Sicherheit  der  Personen  und  des  Eigen- 
tums und  durch  eine  äußerliche  Ordnung  für 
ihre  besonderen  und  gemeinsamen  Interessen,  welcher 
äußerliche  Staat  sich 

C.  in  den  Zweck  und  die  Wirklichkeit  des  substantiellen 
Allgemeinen,  und  des  demselben  gewidmeten  öffent- 
lichen Lebens,  —  in  die  Staatsverfassung  zurück- 
und   zusammennimmt. 


140       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Erster  Abschnitt, 

Erster  Abschnitt. 
Die  Familie. 

§  158. 
Die  Familie  hat  als  die  unmittelbare  Substantia- 
lität  des  Geistes  seine  sich  empfindende  Einheit,  die 
Liebe,  zu  ihrer  Bestimmung,  so  daß  die  Gesinnung  ist, 
das  Selbstbewußtsein  seiner  Individualität  in  dieser  Ein- 
heit als  an  und  für  sich  seiender  Wesentlichkeit  zu  haben, 
um  in  ihr  nicht  als  eine  Person  für  sich,  sondern  als  Mit- 
glied zu  sein. 

§159. 
Das  Recht,  welches  dem  Einzelnen  auf  den  Grund 
der  Familien-Einheit  zukommt,  und  was  zunächst  sein  Leben 
in  dieser  Einheit  selbst  ist,  tritt  nur  insofern  in  die  Form 
Rechtens  als  des  abstrakten  Momentes  der  bestimmten 
Einzelnheit  hervor,  als  die  Familie  in  die  Auflösung  über- 
geht, und  die,  welche  als  Glieder  sein  sollen,  in  ihrer  Ge- 
sinnung und  Wirklichkeit,  als  selbständige  Personen  werden, 
und  was  sie  in  der  Familie  für  ein  bestimmtes  Moment 
ausmachten,  nun  in  der  Absonderung,  also  nur  nach  äußer- 
lichen Seiten  (Vermögen,  Alimentation,  Kosten  der  Er- 
ziehung u.  dergl.)  erhalten. 

§  160. 
Die  Familie  vollendet  sich  in  den  drei  Seiten: 

a)  in  der  Gestalt  ihres  unmittelbaren  Begriffes  als  Ehe, 

b)  in  dem  äußerlichen  Dasein,  dem  Eigentum  und  Gut 
der  Familie  und  der  Sorge  dafür; 

c)  in  der  Erziehung  der  Kinder  und  der  Auflösung  der 
Familie. 

A.  Die  Ehe. 

§  161. 
Die  Ehe  enthält,  als  das  unmittelbare  sittliche 
Verhältnis,  erstens  das  Moment  der  natürlichen  Le- 
bendigkeit, und  zwar  als  substantielles  Verhältnis  die  Le- 
bendigkeit in  ihrer  Totalität,  nämlich  als  Wirklichkeit  der 
Gattung  und  deren  Prozeß.  (S.  Encykl.  der  philos.  Wiss. 
§167  ff.  und  288  ff.)0  Aber  im  Selbstbewußtsein  wird 
zweitens  die  nur  innerliche  oder  an  sich  seiende  und 

»)  3.  Aufl.  §  220  ff.  u.  §  366  ff.  (Phil.  Bibl.,  33.  Bd.,  S.  195  ff., 
323  ff.). 


Die  Familie.     A.  Die  Ehe.    §  162.  141 

eben  damit  in  ihrer  Existenz  nur  äußerliche  Einheit  der 
natürlichen  Geschlechter  in  eine  geistige,  in  selbstbe- 
wußte  Liebe,   umgewandelt. 

§  162. 
Als  subjektiver  Ausgangspunkt  der  Ehe  kann  mehr 
die  besondere  Neigung  der  beiden  Personen,  die  in  dies 
Verhältnis  treten,  oder  die  Vorsorge  und  Veranstaltung 
der  Eltern  u.  s.  f.  erscheinen;  der  objektive  Ausgangspunkt 
aber  ist  die  freie  Einwilligung  der  Personen  und  zwar 
dazu.  Eine  Person  auszumachen,  ihre  natürliche  und 
einzelne  Persönlichkeit  in  jener  Einheit  aufzugeben,  welche 
nach  dieser  Rücksicht  eine  Selbstbeschränkung,  aber  eben, 
indem  sie  in  ihr  ihr  substantielles  Selbstbewußtsein  gewinnen, 
ihre  Befreiung  ist. 

Die  objektive  Bestimmung,  somit  die  sittliche  Pflicht, 
ist,  in  den  Stand  der  Ehe  zu  treten.  Wie  der  äußerliche 
Ausgangspunkt  beschaffen  ist,  ist  seiner  Natur  nach 
zufällig,  und  hängt  insbesondere  von  der  Bildung  der 
Reflexion  ab.  Die  Extreme  hierin  sind  das  eine,  daß 
die  Veranstaltung  der  wohlgesinnten  Eltern  den  Anfang 
macht,  und  in  den  zur  Vereinigung  der  Liebe  fürein- 
ander bestimmt  werdenden  Personen  hieraus,  daß  sie 
sich,  als  hierzu  bestimmt,  bekannt  werden,  die  Neigung 
entsteht,  — •  das  andere,  daß  die  Neigung  in  den  Per- 
sonen, als  in  diesen  unendlich  partikularisierten  zuerst 
erscheint.  —  Jenes  Extrem  oder  überhaupt  der  Weg, 
worin  der  Entschluß  zur  Verehelichung  den  Anfang 
macht,  und  die  Neigung  zur  Folge  hat,  so  daß  bei  der 
wirklichen  Verheiratung  nun  beides  vereinigt  ist,  kann 
selbst  als  der  sittlichere  Weg  angesehen  werden.  —  In 
dem  anderen  Extrem  ist  es  die  unendlich  besondere 
Eigentümlichkeit,  welche  ihre  Prätensionen  geltend  macht 
und  mit  dem  subjektiven  Prinzip  der  modernen  Welt 
(s.  oben  §  124  Anm.)  zusammenhängt.  —  In  den  mo- 
dernen Dramen  und  anderen  Kunstdarstellungen  aber, 
wo  die  Geschlechterliebe  das  Grundinteresse  ausmacht, 
wird  das  Element  von  durchdringender  Frostigkeit,  das 
darin  angetroffen  wird,  in  die  Hitze  der  dargestellten 
Leidenschaft  durch  die  damit  verknüpfte  gänzliche  Zu- 
fälligkeit, dadurch  nämlich  gebracht,  daß  das  ganze 
Interesse  als  nur  auf  diesen  beruhend  vorgestellt  wird, 
was  wohl  für  diese  von  unendlicher  Wichtigkeit  sein 
kann,  aber  es  an  sich  nicht  ist. 


142       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Erster  Abschnitt. 

§163. 
Das  Sittliche  der  Ehe  besteht  in  dem  Bewußtsein 
dieser  Einheit  als  substantiellen  Zweckes,  hiermit  in  der 
Liebe,  dem  Zutrauen  und  der  Gemeinsamkeit  der  ganzen 
individuellen  Existenz,  —  in  welcher  Gesinnung  und  Wirk- 
lichkeit der  natürliche  Trieb  zur  Modalität  eines  Natur- 
moments, das  eben  in  seiner  Befriedigung  zu  erlöschen 
bestimmt  ist,  herabgesetzt  wird,  das  geistige  Band  in 
seinem  Rechte  als  das  Substantielle,  hiermit  als  das  über 
die  Zufälligkeit  der  Leidenschaften  und  des  zeitlichen  be- 
sonderen Beliebens  erhabene,  an  sich  unauflösliche  sich 
heraushebt. 

Daß  die  Ehe  nicht  das  Verhältnis  eines  Vertrags 
über  ihre  wesentliche  Grundlage  ist,  ist  oben  bemerkt 
worden  (§  75),  denn  sie  ist  gerade  dies,  vom  Vertrags- 
Standpunkte,  der  in  ihrer  Einzelnheit  selbständigen  Per- 
sönlichkeit, auszugehen,  um  ihn  aufzuheben.  Die  Iden- 
tifizierung der  Persönlichkeiten,  wodurch  die  Familie 
eine  Person  ist,  und  die  Glieder  derselben  Accidenzen 
(die  Substanz  ist  aber  wesentlich  das  Verhältnis  zu 
ihr  selbst  von  Accidenzen  (s.  Encyklop.  der  phil. 
Wissensch.  §  98)  i),  isit  der  sittliche  Geist,  der  für  sich, 
abgestreift  von  der  mannigfaltigen  Äußerlichkeit,  die 
er  in  seinem  Dasein,  als  in  diesen  Individuen  und  den 
in  der  Zeit  und  auf  mancherlei  Weisen  bestimmten  Inter- 
essen der  Erscheinung  hat,  —  als  eine  Gestalt  für  die 
Vorstellung  herausgehoben,  als  die  Penaten  u.  s.  f.  ver- 
ehrt worden  ist,  und  überhaupt  das  ausmacht,  worin  der 
religiöse  Charakter  der  Ehe  und  Familie,  die  Pietät, 
liegt.  Es  ist  eine  weitere  Abstraktion,  wenn  das  Gött- 
liche, Substantielle  von  seinem  Dasein  getrennt,  und  so 
auch  die  Empfindung  und  das  Bewußtsein  der  geistigen 
Einheit,  als  fälschlich  sogenannte  platonische  Liebe 
fixiert  worden  ist;  diese  Trennung  hängt  mit  der  mön- 
chischen Ansicht  zusammen,  durch  welche  das  Moment 
der  natürlichen  Lebendigkeit  als  das  schlechthin  Ne- 
gative bestimmt,  und  ihm  eben  durch  diese  Trennung 
eine  unendliche  Wichtigkeit  für  sich  gegeben  wird. 

§164. 
Wie  die  Stipulation  des  Vertrags  schon  für  sich  den 
wahrhaften   Übergang  des  Eigentums   enthält  (§  79),    so 

»)  In  der  3.  Aufl.  §  160  (Phil.  Bibl.  33.  Bd.,  S.  150). 


Die  Familie.     A.  Die  Ehe.    §  1G4.  143 

macht  die  feierliche  Erklärung  der  Einwilligung  zum  sitt- 
lichen Bande  der  Ehe  und  die  entsprechende  Anerkennung 
und  Bestätigung  desselben  durch  die  Familie  und  Gemeinde 
—  (dai3  in  dieser  Rücksicht  die  Kirche  eintritt,  ist  eine 
weitere  hier  nicht  auszuführende  Bestimmung)  —  die  förm- 
liche Schließung  und  Wirklichkeit  der  Ehe  aus,  so 
daß  diese  Verbindung  nur  durch  das  Vorangehen  dieser 
Zeremonie  als  der  Vollbringung  des  Substantiellen  durch 
das  Zeichen,  die  Sprache,  als  das  geistigste  Dasein  des 
Geistigen   (§  78),  als   sittlich  konstituiert  ist.     Damit  ist 
das  sinnliche,  der  natürlichen  Lebendigkeit  angehörige  Mo- 
ment in  sein  sittliches  Verhältnis  als  eine  Folge  und  Ac- 
cidentalität  gesetzt,   welche   dem  äußerlichen  Dasein  der 
sittlichen   Verbindung  angehört,   die   auch   in  der   gegen- 
seitigen   Liebe    und   Beihilfe   allein    erschöpft   sein    kann. 
Wenn  darnach  gefragt  wird,   was  als  der  Haupt- 
zweck der   Ehe  angesehen   werden  müsse,   um  daraus 
die  gesetzlichen  Bestimmungen  schöpfen  oder  beurteilen 
zu    können,    so    wird    unter    diesem    Hauptzwecke    ver- 
standen, welche  von  den  einzelnen  Seiten  ihrer  Wirklich- 
keit als  die  vor  den  anderen  wesentliche  angenommen 
werden  müsse.     Aber  keine  für  sich  macht  den  ganzen 
Umfang  ihres  an  und  für  sich  seienden  Inhalts,  des  Sitt- 
lichen,  aus,   und  die   eine   oder  die  andere  Seite  ihrer 
Existenz  kann,  unbeschadet  des  Wesens  der  Ehe,  fehlen, 
—  Wenn  das  Schließen  der  Ehe  als  solches,  die  Feier- 
lichkeit, wodurch  das  Wesen  dieser  Verbindung  als  ein 
über  das  Zufällige  der  Empfindung  und  besonderer 
Neigung  erhabenes  Sittliches  ausgesprochen  und  kon- 
statiert wird,  für  eine  äußerliche  Formalität  und 
ein  sogenanntes  bloß  bürgerliches  Gebot  genommen 
wird,  so  bleibt  diesem  Akte  nichts  übrig,  als  etwa  den 
Zweck    der    Erbaulichkeit    und    der  Beglaubigung    des 
bürgerlichen  Verhältnisses  zu  haben,  oder  gar  die  bloß 
positive  Willkür  eines  bürgerlichen  oder  kirchlichen  Ge- 
botes zu  sein,    das  der  Natur  der  Ehe  nicht  nur  gleich- 
gültig sei,  sondern  das  auch,  insofern  von  dem  Gemüt 
von    wegen    des   Gebots    ein    Wert   auf    dies    förmliche 
Schließen    gelegt,    und    als    voranzugehende    Bedingung 
der  gegenseitigen  vollkommenen  Hingebung  angesehen 
werde,  die  Gesinnung  der  Liebe  veruneinige  und  als  ein 
Fremdes    der    Innigkeit    dieser    Einigung    zuwiderlaufe. 
Solche   Meinung,    indem  sie   den   höchsten   Begriff  von 
der   Freiheit,    Innigkeit   und   Vollendung   der   Liebe   zu 


144       Dritter  Teil.    Die  Sittlichkeit.    Erster  Abschnitt. 

geben  die  Prätension  hat,  leugnet  vielmehr  das  Sittliche 
der  Liebe,  die  höhere  Hemmung  und  Zurücksetzung  des 
bloßen  Naturtriebs,  welche  schon  auf  eine  natürliche 
Weise  in  der  Scham  enthalten  ist,  und  durch  das  be- 
stimmtere geistige  Bewußtsein  zur  Keuschheit  und 
Zucht  erhoben  ist.  Näher  ist  durch  jene  Ansicht  die 
sittliche  Bestimmung  verworfen,  die  darin  besteht,  daß 
das  Bewußtsein  sich  aus  seiner  Natürlichkeit  und  Sub- 
jektivität zum  Gedanken  des  Substantiellen  sammelt,  und 
statt  sich  das  Zufällige  und  die  Willkür  der  sinnlichen 
Neigung  immer  noch  vorzubelis.lten,  die  Verbindung 
dieser  Willkür  entnimmt  und  dem  Substantiellen,  den 
Penaten  sich  verpflichtend,  übergibt,  und  das  sinnliche 
Moment  zu  einem  von  dem  Wahrhaften  und  Sittlichen 
des  Verhältnisses  und  der  Anerkennung  der  Verbindung 
als  einer  sittlichen,  nur  bedingten  herabsetzt.  —  Es 
ist  die  Frechheit  und  der  sie  unterstützende  Verstand, 
welcher  die  spekulative  Natur  des  substantiellen  Ver- 
hältnisses nicht  zu  fassen  vermag,  der  aber  das  sittliche 
unverdorbene  Gemüt,  wie  die  Gesetzgebungen  christ- 
licher Völker  entsprechend  sind. 

§  165. 

Die  natürliche  Bestimmtheit  der  beiden  Geschlechter 
erhält  durch  ihre  Vernünftigkeit  intellektuelle  und  sitt- 
liche Bedeutung.  Diese  Bedeutung  ist  durch  den  Unter- 
schied bestimmt,  in  welchen  sich  die  sittliche  Substantia- 
lität  als  Begriff  an  sich  selbst  dirimiert,  um  aus  ihm  ihre 
Lebendigkeit  als  konkrete  Einheit  zu  gewinnen. 

§166. 

Das  Eine  ist  daher  das  Geistige,  als  das  sich  Ent- 
zweiende in  die  für  sich  seiende  persönliche  Selb- 
ständigkeit und  in  das  Wissen  und  Wollen  der  freien  All- 
gemeinheit, das  Selbstbewußtsein  des  begreifenden  Ge- 
dankens und  [das]  Wollen  des  objektiven  Endzwecks;  —  das 
Andere  das  in  der  Einigkeit  sich  erhaltende  Geistige  als 
Wissen  und  Wollen  des  Substantiellen  in  Form  der  kon- 
kreten Einzelnheit  und  der  Empfindung;  —  jenes  im 
Verhältnis  nach  außen  das  Mächtige  und  Betätigende;  dieses 
das  Passive  und  Subjektive.  Der  Mann  hat  daher  sein 
wirkliches  substantielles  Leben  im  Staate,  der  Wissen- 
schaft    u.    dergl.,      und     sonst    im    Kampfe     und     der 


Die  FamiUe.     A.  Die  Ehe.    §  167—168.  145 

Arbeit  mit  der  Außenwelt  und  mit  sich  selbst,  so  daß 
er  nur  aus  seiner  Entzweiung  die  selbständige  Einigkeit 
mit  sich  erkämpft,  deren  ruhige  Anschauung  und  die  emp- 
findende subjektive  Sittlichkeit  er  in  der  Familie  hat,  in 
welcher  die  Frau  ihre  substantielle  Bestimmung  und  in 
dieser  Pietät  ihre  sittliche  Gesinnung  hat. 

Die  Pietät  wird  daher  in  einer  der  erhabensten 
Darstellungen  derselben,  der  Sophokleischen  Anti- 
gene, vorzugsweise  als  das  Gesetz  des  Weibes  aus- 
gesprochen, und  als  das  Gesetz  der  empfindenden  sub- 
jektiven Substantialität,  der  Innerlichkeit,  die  noch  nicht 
ihre  vollkommene  Verwirklichung  erlangt,  als  das  Gesetz 
der  alten  Götter,  des  Unterirdischen,  als  ewiges  Gesetz, 
von  dem  niemand  weiß,  von  wannen  es  erschien,  und 
im  Gegensatz  gegen  das  offenbare,  das  Gesetz  des 
Staates  dargestellt;  —  ein  Gegensatz,  der  der  höchste 
sittliche  und  darum  der  höchste  tragische,  und  in  der 
Weiblichkeit  und  Männlichkeit  daselbst  individualisiert 
ist;  vgl.  Phänomen,  des  Geistes  S.  383  ff.,  417  ff.  i). 

§  167. 

Die  Ehe  ist  wesentlich  Monogamie,  weil  die  Persön- 
lichkeit, die  unmittelbare  ausschließende  Einzelnheit  es 
ist,  welche  sich  in  dies  Verhältnis  legt  und  hingibt,  dessen 
Wahrheit  und  Innigkeit  (die  subjektive  Form  der 
Substantialität)  somit  nur  aus  der  gegenseitigen  un- 
geteilten Hingebung  dieser  Persönlichkeit  hervorgeht; 
diese  kommt  zu  ihrem  Rechte,  im  anderen  ihrer  selbst 
bewußt  zu  sein,  nur  insofern  das  andere  als  Person,  d.  i. 
als  atome  Einzelnheit  in  dieser  Identität  ist. 

Die  Ehe,  und  wesentlich  die  Monogamie,  ist  eines 
der  absoluten  Prinzipien,  worauf  die  Sittlichkeit  eines 
Gemeinwesens  beruht;  die  Stiftung  der  Ehe  wird  daher 
als  eines  der  Momente  der  göttlichen  oder  heroischen 
Gründung  der  Staaten  aufgeführt. 

§  168. 

Weil  es  ferner  diese  sich  selbst  unendlich  eigene  Persön- 
lichkeit der  beiden  Geschlechter  ist,  aus  deren  freien 
Hingebung  die  Ehe  hervorgeht,  so  muß  sie  nicht  inner- 

1)  LasBonBche  Ausgabe  (Phil.  Bibl.,  114.  Bd.)  S.  282f.,  309ff. 
Hegel,  Rechtsphilosophie.  ;J0 


146       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Erster  Abschnitt 

halb  des  schon  natürlich-identischen,  sich  bekannten 
und  in  aller  Einzelnheit  vertraulichen  Kreises,  in  welchem 
die  Individuen  nicht  eine  sich  selbst  eigentümliche  Persön- 
lichkeit gegeneinander  haben,  geschlossen  werden,  sondern 
aus  getrennten  Familien  und  ursprünglich  verschiedener 
Persönlichkeit  sich  finden.  Die  Ehe  unter  Blutsver- 
wandten ist  daher  dem  Begriffe,  welchem  die  Ehe  als 
eine  sittliche  Handlung  der  Freiheit,  nicht  als  eine  Ver- 
bindung unmittelbarer  Natürlichkeit  und  deren  Triebe 
ist,  somit  auch  wahrhafter  natürlicher  Empfindung  zu- 
wider. 

Wenn  man  die  Ehe  selbst  als  nicht  im  Naturrecht, 
sondern  bloß  als  im  natürlichen  Geschlechtstrieb  ge- 
gründet und  als  einen  willkürlichen  Vertrag  betrachtet, 
ebenso,  wenn  man  für  die  Monogamie  äußere  Gründe 
sogar  aus  dem  physischen  Verhältnisse  der  Anzahl  der 
Männer  und  Weiber,  ebenso  für  das  Verbot  der  Ehe 
unter  Blutsverwandten  nur  dunkele  Gefühle  angegeben 
hat:  so  lag  dabei  die  gewöhnliche  Vorstellung  von  einem 
Naturzustande  und  einer  Natürlichkeit  des  Rechts,  und 
der  Mangel  am  Begriffe  der  Vernünftigkeit  und  Frei- 
heit, zum  Grunde. 

§  169. 

Die  Familie  hat  als  Person  ihre  äußerliche  Realität 
in  einem  Eigentum,  in  dem  sie  das  Dasein  ihrer  sub- 
stantiellen Persönlichkeit  nur  als  in  einem  Vermögen  hat. 

B.  Das  Vermögen  der  Familie. 

§170. 

Die  Familie  hat  nicht  nur  Eigentum,  sondern  für  sie 
als  allgemeine  und  fortdauernde  Person  tritt  das  Be- 
dürfnis und  die  Bestimmungeines  bleib  enden  und  sicheren 
Besitzes,  eines  Vermögens  ein.  Das  im  abstrakten  Eigen- 
tum willkürliche  Moment  des  besonderen  Bedürfnisses  des 
bloß  Einzelnen  und  die  Eigensucht  der  Begierde  ver- 
ändert sich  hier  in  die  Sorge  und  den  Erwerb  für  ein 
Gemeinsames,   in  ein  Sittliches. 

Einführung  des  festen  Eigentums  erscheint  mit  Ein- 
führung der  Ehe  in  den  Sagen  von  den  Stiftungen  der 
Staaten,  oder  wenigstens  eines  geselligen  gesitteten 
Lebens,  in  Verbindung.  —  Worin  übrigens  jenes  Ver- 


Die  Familie.    B.  Vermögen  der  Familie.    §171—173.      147 

mögen  bestehe,  und  welches  die  wahrhafte  Weise  seiner 
Befestigung  sei,  ergibt  sich  in  der  Sphäre  der  bürger- 
lichen Gesellschaft. 

§  171. 

Die  Familie  als  rechtliche  Person  gegen  andere  hat 
der  Mann  als  ihr  Haupt  zu  vertreten.  Ferner  kommt  ihm 
vorzüglich  der  Erwerb  nach  außen,  die  Sorge  für  die 
Bedürfnisse,  sowie  die  Disposition  und  Verwaltung  des 
Familienvermögens  zu.  Dieses  ist  gemeinsames  Eigentum, 
so  daß  kein  Glied  der  Familie  ein  besonderes  Eigentum, 
jedes  aber  sein  Recht  an  das  Gemeinsame  hat.  Dieses 
Recht  und  jene  dem  Haupte  der  Familie  zustehende  Dis- 
position können  aber  in  Kollision  kommen,  indem  das  in 
der  Familie  noch  Unmittelbare  der  sittlichen  Gesinnung 
(§  158)  der  Besonderung  und  Zufälligkeit  offen  ist. 

§  172. 

Durch  eine  Ehe  konstituiert  sich  eine  neue  Familie, 
welche  ein  für  sich  Selbständiges  gegen  die  Stämme 
oder  Häuser  ist,  von  denen  sie  ausgegangen  ist;  die  Ver- 
bindung mit  solchen  hat  die  natürliche  Blutsverwandtschaft 
zur  Grundlage,  die  neue  Familie  aber  die  sittliche  Liebe. 
Das  Eigentum  eines  Individuums  steht  daher  auch  in  wesent- 
lichem Zusammenhang  mit  seinem  Eheverhältnis,  und  nur 
in  entfernterem  mit  seinem  Stamme  oder  Hause, 

Die  Ehepakten,  wenn  in  ihnen  für  die  Güter- 
gemeinschaft der  Eheleute  eine  Beschränkung  liegt,  die 
Anordnung  eines  bestehenden  Rechtsbeistandes  der  Frau 
u.  dergl.,  haben  insofern  den  Sinn,  gegen  den  Fall 
der  Trennung  der  Ehe  durch  natürlichen  Tod,  Scheidung 
u.  dergl.  gerichtet  und  Sicherungsversuche  zu  sein, 
wodurch  den  unterschiedenen  Gliedern  auf  solchen  Fall 
ihr  Anteil  an  dem  Gemeinsamen  erhalten  wird. 

C.  Die  Erziehung'  der  Kinder  und  die  Auflösung^  der  Familie. 

§  173. 

In  den  Kindern  wird  die  Einheit  der  Ehe,  welche  als 
substantiell  nur  Innigkeit  und  Gesinnung,  als  existierend 
aber  in  den  beiden  Subjekten  gesondert  ist,  als  Einheit 
selbst  eine  für  sich  seiende  Existenz  und  Gegen- 

10* 


148       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Erster  Abschnitt. 

stand,  den  sie  als  ihre  Liebe,  als  ihr  substantielles  Dasein, 
lieben.  — •  Der  natürlichen  Seite  nach  wird  die  Voraus- 
setzung unmittelbar  vorhandener  Personen,  —  als 
Eltern,  —  hier  zum  Resultate,  —  ein  Fortgang,  der  sich 
in  den  unendlichen  Progreß  der  sich  erzeugenden  und 
voraussetzenden  Geschlechter  verläuft,  —  die  Weise,  wie 
in  der  endlichen  Natürlichkeit  der  einfache  Geist  der 
Penaten  seine  Existenz  als  Gattung  darstellt. 

§174. 

Die  Kinder  haben  das  Recht,  aus  dem  gemeinsamen 
Familienvermögen  ernährt  und  erzogen  zu  werden.  Das 
Recht  der  Eltern  auf  die  Dienste  der  Kinder  als  Dienste 
gründet  und  beschränkt  sich  auf  das  Gemeinsame  der 
Familiensorge  überhaupt.  Ebenso  bestimmt  sich  das  Recht 
der  Eltern  über  die  Willkür  der  Kinder  durch  den  Zweck, 
sie  in  Zucht  zu  halten  und  zu  erziehen.  Der  Zweck  von 
Bestrafungen  ist  nicht  die  Gerechtigkeit  als  solche,  son- 
dern subjektiver,  moralischer  Natur,  Abschreckung  der 
noch  in  Natur  befangenen  Freiheit  und  Erhebung  des 
Allgemeinen  in  ihr  Bewußtsein  und  ihren  Willen. 

§  175. 

Die  Kinder  sind  an  sich  Freie,  und  das  Leben  ist  das 
unmittelbare  Dasein  nur  dieser  Freiheit,  sie  gehören  daher 
weder  anderen,  noch  den  Eltern  als  Sachen  an.  Ihre 
Erziehung  hat  die  in  Rücksicht  auf  das  Familienverhält- 
nis positive  Bestimmung,  daß  die  Sittlichkeit  in  ihnen 
zur  unmittelbaren,  noch  gegensatzlosen  Empfindung  ge- 
bracht [werde],  und  das  Gemüt  darin  als  dem  Grunde 
des  sittlichen  Lebens,  in  Liebe,  Zutrauen  und  Gehorsam 
sein  erstes  Leben  gelebt  habe,  —  dann  aber  die  in  Rück- 
sicht auf  dasselbe  Verhältnis  negative  Bestimmung,  die 
Kinder  aus  der  natürlichen  Unmittelbarkeit,  in  der  sie  sich 
ursprünglich  befinden,  zur  Selbständigkeit  und  freien  Per- 
sönlichkeit und  damit  zur  Fähigkeit,  aus  der  natürlichen 
Einheit  der  Familie  zu  treten,   zu  erheben. 

Das  Sklavenverhältnis  der  römischen  Kinder  ist  eine 
der  diese  Gesetzgebung  befleckendsten  Institutionen,  und 
diese  Kränkung  der  Sittlichkeit  in  ihrem  innersten  und 
zartesten  Leben  ist  eins  der  wichtigsten  Momente,  den 
weltgeschichtlichen  Charakter  der  Römer  und  ihre  Rich- 
tung auf  den  Rechts-Formalismus  zu  verstehen.  —  Die 


Die  Familie.    C.  Erziehung  der  Kinder  u.  s.  w.    §176 — 177.      149 

Notwendigkeit,  erzogen  zu  werden,  ist  in  den  Kindern 
als  das  eigene  Gefühl,  in  sich,  wie  sie  sind,  unbefriedigt 
zu  sein,  —  als  der  Trieb,  der  Welt  der  Erwachsenen, 
die  sie  als  ein  Höheres  ahnen,  anzugehören,  der  Wunsch, 
groß  zu  werden.  Die  spielende  Pädagogik  nimmt  das 
Kindische  schon  selbst  als  etwas,  das  an  sich  gelte,  gibt 
es  den  Kindern  so  und  setzt  ihnen  das  Ernsthafte  und 
sich  selbst  in  kindische,  von  den  Kindern  selbst  gering 
geachtete  Form  herab.  Indem  sie  so  dieselben  in  der 
ünfertigkeit,  in  der  sie  sich  fühlen,  vielmehr  als  fertig 
vorzustellen  und  darin  befriedigt  zu  machen  bestrebt  ist, 
—  stört  und  verunreinigt  sie  deren  wahres  eigenes 
besseres  Bedürfnis,  und  bewirkt  teils  die  Interesselosig- 
keit und  Stumpfheit  für  die  substantiellen  Verhältnisse 
der  geistigen  Welt,  teils  die  Verachtung  der  Menschen, 
da  sich  ihnen  als  Kindern  dieselben  selbst  kindisch  und 
verächtlich  vorgestellt  haben,  und  dann  die  sich  an  der 
eigenen  Vortrefflichkeit  weidende  Eitelkeit  und  Eigen- 
dünkel. 

§  176. 
Weil  die  Ehe  nur  erst  die  unmittelbare  sittliche  Idee 
ist,  hiermit  ihre  objektive  Wirklichkeit  in  der  Innigkeit 
der  subjektiven  Gesinnung  und  Empfindung  hat,  so  liegt 
darin  die  erste  Zufälligkeit  ihrer  Existenz.  So  wenig  ein 
Zwang  stattfinden  kann,  in  die  Ehe  zu  treten,  so  wenig 
gibt  es  sonst  ein  nur  rechtliches  positives  Band,  das  die 
Subjekte  bei  entstandenen  widrigen  und  feindseligen  Ge- 
sinnungen und  Handlungen  zusammenzuhalten  vermöchte. 
Es  ist  aber  eine  dritte  sittliche  Autorität  gefordert,  welche 
das  Recht  der  Ehe,  der  sittlichen  Substantialität,  gegen 
die  bloße  Meinung  von  solcher  Gesinnung  und  gegen  die 
Zufälligkeit  bloß  temporärer  Stimmun_g  u.  s.  f.  festhält,  diese 
von  der  totalen  Entfremdung  unterscheidet,  und  die  letztere 
konstatiert,  um  erst  in  diesem  Falle  die  Ehe  scheiden 
zu  können. 

§177. 

Die  sittliche  Auflösung  der  Familie  liegt  darin,  daß 
die  Kinder  zur  freien  Persönlichkeit  erzogen,  in  der  Voll- 
jährigkeit anerkannt  werden,  als  rechtliche  Personen 
und  fähig  zu  sein,  teils  eigenes  freies  Eigentum  zu  haben, 
teils  eigene  Familien  zu  stiften,  —  die  Söhne  als  Häupter, 
und  die  Töchter  als  Frauen,  —  eine  Familie,  in  welcher 
sie  nunmehr  ihre  substantielle  Bestimmung   haben,  gegen 


150       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Erster  Abschnitt. 

die  ihre  erste  Familie  als  nur  erster  Grund  und  Aus- 
gangspunkt zurücktritt,  und  noch  mehr  das  Abstraktum 
des  Stammes  keine  Rechte  hat. 

§  178. 
Die  natürliche  Auflösung  der  Familie  durch  den  Tod 
der  Eltern,  insbesondere  des  Mannes,  hat  die  Erbschaft 
in  Ansehung  des  Vermögens  zur  Folge;  ihrem  Wesen 
nach  ein  Eintreten  in  den  eigentümlichen  Besitz  des  an 
sich  gemeinsamen  Vermögens,  —  ein  Eintreten,  das  mit 
den  entfernteren  Graden  der  Verwandtschaft  und  im  Zu- 
stande der  die  Personen  und  Familien  verselbständigenden 
Zerstreuung  der  bürgerlichen  Gesellschaft  um  so  unbe- 
stimmter wird,  als  die  Gesinnung  der  Einheit  sich  um  so 
mehr  verliert,  und  als  jede  Ehe  das  Aufgeben  der  vorigen 
Familienverhältnisse  und  die  Stiftung  einer  neuen  selb- 
ständigen Familie  wird. 

Der  Einfall,  als  Grund  der  Erbschaft  den  Umstand 
anzusehen,  daß  durch  den  Tod  das  Vermögen  herren- 
loses Gut  werde,  und  als  solches  dem,  der  sich  zuerst 
in  Besitz  setzt,  zufalle,  diese  Besitzergreifung  aber  wohl 
meistens  von  den  Verwandten,  als  der  gewöhnlich 
nächsten  Umgebung  werde  vorgenommen  werden,  — 
welcher  gewöhnliche  Zufall  dann  durch  die  positiven 
Gesetze  der  Ordnung  wegen  zur  Regel  erhoben  werde, 
—  dieser  Einfall  läßt  die  Natur  des  Familienverhält- 
nisses unberücksichtigt. 

§  179. 
Es  entsteht  durch  dies  Auseinanderlallen  die  Freiheit 
für  die  Willkür  der  Individuen,  teils  überhaupt  ihr  Ver- 
mögen mehr  nach  Belieben,  Meinungen  und  Zwecken  der 
Einzelnheit  zu  verwenden,  teils  gleichsam  einen  Kreis  von 
Freunden,  Bekannten  u.  s.  f.  statt  einer  Familie  anzusehen 
und  diese  Erklärung  mit  den  rechtlichen  Folgen  der  Erb- 
schaft in  einem  Testamente  zu  machen. 

In  die  Bildung  eines  solchen  Kreises,  worin  die 
sittliche  Berechtigung  des  Willens  zu  einer  solchen  Dis- 
position über  das  Vermögen  läge,  tritt,  besonders  inso- 
fern sie  schon  die  Beziehung  auf  das  Testieren  mit  sich 
führt,  so  viele  Zufälligkeit,  Willkür,  Absichtlichkeit  für 
selbstsüchtige  Zwecke  u.  s.  f.  ein,  daß  das  sittliche  Mo- 
ment etwas  sehr  Vages  ist,  und  die  Anerkennung  der 
Befugnis   der    Willkür,    zu    testieren,    viel    leichter    für 


Die  Familie.    C.  Erziehung  der  Kinder  u.  s.  w.    §  180.      151 

Verletzung  sittlicher  Verhältnisse  und  für  niederträch- 
tige Bemühungen  und  ebensolche  Abhängigkeiten  Ver- 
anlassung wird,  wie  sie  auch  törichter  Willkür  und  der 
Heimtücke,  an  die  sogenannten  Wohltaten  und  Geschenke, 
auf  den  Fall  des  Todes,  in  welchem  mein  Eigentum 
ohnehin  aufhört,  mein  zu  sein,  Bedingungen  der  Eitelkeit 
und  einer  herrischen  Quälerei  zu  knüpfen,  Gelegenheit 
und  Berechtigung  gibt, 

§  180. 
Das  Prinzip,  daß  die  Glieder  der  Familie  zu  selb- 
ständigen rechtlichen  Personen  werden  (§  177),  läßt  inner- 
halb des  Kreises  der  Familie  etwas  von  dieser  Willkür 
und  Unterscheidung  unter  den  natürlichen  Erben  eintreten, 
die  aber  nur  höchst  beschränkt  stattfinden  kann,  um  das 
Grundverhältnis  nicht  zu  verletzen. 

Die  bloße  direkte  Willkür  des  Verstorbenen  kann 
nicht  zum  Prinzip  für  das  Recht,  zu  testieren,  gemacht 
werden,  insbesondere  nicht  insofern  sie  dem  substan- 
tiellen Rechte  der  Familie  gegenüber  stehet,  deren  Liebe, 
Verehrung  gegen  ihr  ehemaliges  Mitglied  es  doch  vor- 
nehmlich nur  sein  könnte,  welche  dessen  Willkür  nach 
seinem  Tode  beachtete.  Eine  solche  Willkür  enthält 
für  sich  nichts,  das  höher  als  das  Familienrecht  selbst 
zu  respektieren  wäre;  im  Gegenteil.  Das  sonstige  Gelten 
einer  Letzten- Wlllens-Disposition  läge  allein  in  der  will- 
kürlichen Anerkennung  der  anderen.  Ein  solches  Gelten 
kann  ihr  vornehmlich  nur  eingeräumt  werden,  insofern 
das  Familienverhältnis,  in  welchem  sie  absorbiert  isi,  ent- 
fernter und  unwirksamer  wird.  Unwirksamkeit  desselben 
aber,  wo  es  wirklich  vorhanden  ist,  gehört  zum  Un- 
sittlichen, und  die  ausgedehnte  Gültigkeit  jener  Willkür 
gegen  ein  solches  enthält  die  Schwächung  seiner  Sitt- 
lichkeit in  sich.  —  Diese  Willkür  aber  innerhalb  der 
Familie  zum  Hauptprinzip  der  Erbfolge  zu  machen,  ge- 
hörte zu  der  vorhin  bemerkten  Härte  und  Unsittlichkeit 
der  römischen  Gesetze,  nach  denen  der  Sohn  auch  vom 
Vater  verkauft  werden  konnte,  und  wenn  er  von  anderen 
freigelassen  wurde,  in  die  Gewalt  des  Vaters  zurück- 
kehrte, und  erst  auf  die  dritte  Freilassung  aus  der 
Sklaverei  wirklich  frei  wurde,  —  nach  denen  der  Sohn 
überhaupt  nicht  de  jure  volljährig  und  eine  rechtliche 
Person  wurde  und  nur  den  Kriegsraub,  peculium  ca- 
strense,    als   Eigentum    besitzen    konnte,    und    wenn   er 


152       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Erster  Abschnitt. 

durch  jenen  dreimaligen   Verkauf   und   Loslassung   aus 
der  väterlichen  Gewalt  trat,  nicht  mit  denen,  die  noch 
in  der  Familienknechtschaft  geblieben  waren,  ohne  Testa- 
mentseinsetzung erbte,  —  ebenso  daß  die  Frau  (insofern 
sie  nicht  in   die   Ehe   als   in   ein  Sklavenverhältnis,   in 
manum  conveniret,  in  mancipio  esset,   sondern  als  Ma- 
trone trat)  nicht  so  sehr  der  Familie,  die  sie  durch  die 
Heirat  an  ihrem  Teile  gestiftet  und  die  nunmehr  wirk- 
lich die  ihrige  ist,   als  vielmehr  der,   aus  der  sie  ab- 
stammte,  angehörig   blieb,    und   daher    vom   Erben   des 
Vermögens     der    wirklich    Ihrigen    ebenso     ausge- 
schlossen,  als  die  Gattin  und   Mutter  von  diesen  nicht 
beerbt  wurde.  —  Daß  das  Unsittliche  solcher  und  anderer 
Rechte   bei   weiterhin    erwachendem    Gefühle    der   Ver- 
nünftigkeit im  Wege  der  Rechtspflege,  z.  B.  mit  Beihilfe 
des    Ausdrucks:    von    bonorum    possessio    (daß    hiervon 
wieder  possessio  bonorum  unterschieden  ist,   gehört  zu 
solchen   Kenntnissen,    die   den    gelehrten    Juristen    aus- 
machen)  statt   hereditas,    durch   die    Fiktion,    eine   filia 
in  einen  filius  umzutaufen,  eludiert  wurde,  ist  oben  schon 
(§  3    Anm.)    als    die    traurige    Notwendigkeit    für    den 
Richter  bemerkt  worden,    das  Vernünftige   pfiffiger- 
weise gegen  schlechte  Gesetze,   wenigstens   in  einigen 
Folgen  einzuschwärzen.    Die  fürchterliche  Instabilität  der 
wichtigsten  Institutionen  und  ein  tumultuarisches  Gesetz- 
geben gegen  die  Ausbrüche  der  daraus  entspringenden 
Übel,    hängt    damit    zusammen.    —    Welche     unsittliche 
Folgen  dies  Recht  der  Willkür  im  Testamentmachen  bei 
den  Römern  hatte,  ist  sattsam  aus  der  Geschichte  und 
Lucians  und  anderer  Schilderungen  bekannt.  —  Es  liegt 
in    der   Natur    der    Ehe    selbst,    als    der    unmittelbaren 
Sittlichkeit,    die   Vermischung    vom    substantiellen    Ver- 
hältnis, natürlicher  Zufälligkeit  und  innerer  Willkür;  — 
wenn  nun  der  Willkür  durch  das  Knechtschaftsverhältnis 
der  Kinder  und  die  anderen  bemerkten  und  sonst  damit 
zusammenhängenden  Bestimmungen,  vollends  auch  durcli 
die  Leichtigkeit  der  Ehescheidungen  bei   den  Römern, 
gegen   das   Recht   des    Substantiellen    der   Vorzug    ein- 
geräumt wird,   so  daß   selbst   Cicero,   —  und  wieviel 
Schönes  hat  er  nicht  über  das  Honestum  und  Decorum 
in    seinen    Officiis    und     allenthalben    anderwärts    ge- 
schrieben! —  die  Spekulation  machte,  seine  Gattin  fort- 
zuschicken, um  durch  das  Heiratsgut  einer  neuen  seine 
Schulden  zu  bezahlen,  —  so  ist  dem  Verderben  der  Sitten 


J 


Die  Familie.    C.  Erziehung  der  Kinder  u.  s.  w.    §181.      153 

ein  gesetzlicher  Weg  gebahnt,  oder  vielmehr  die  Gesetze 
sind  die  Notwendigkeit  desselben. 

Die  Institution  des  Erbrechts,  zur  Erhaltung  und 
zum  Glanz  der  Familie  durch  Substitutionen  und 
Familienf ideikommisse,  entweder  die  Töchter  zu- 
gunsten der  Söhne,  oder  zugunsten  des  ältesten  Sohnes 
die  übrigen  Kinder  von  der  Erbschaft  auszuschliei3en, 
oder  überhaupt  eine  Ungleichheit  eintreten  zu  lassen, 
verletzt  teils  das  Prinzip  der  Freiheit  des  Eigentums 
(§  62),  teils  beruhet  sie  auf  einer  Willkür,  die  an  und 
für  sich  kein  Recht  hat,  anerkannt  zu  werden,  —  näher 
auf  dem  Gedanken,  diesen  Stamm  oder  Haus,  nicht 
sowohl  diese  Familie  aufrecht  erhalten  zu  wollen.  Aber 
nicht  dieses  Haus  oder  Stamm,  sondern  die  Familie 
als  solche  ist  die  Idee,  die  solches  Recht  hat,  und 
durch  die  Freiheit  des  Vermögens  und  die  Gleichheit 
des  Erbrechts  wird  ebensowohl  die  sittliche  Gestaltung 
erhalten,  als  die  Familien  vielmehr  als  durch  das 
Gegenteil  erhalten  werden.  —  In  solchen  Institutionen 
ist,  wie  in  den  römischen,  das  Recht  der  Ehe  (§  172) 
überhaupt  verkannt,  daß  sie  die  vollständige  Stiftung 
einer  eigentümlichen  wirklichen  Familie  ist,  und  gegen 
sie  das,  was  Familie  überhaupt  heißt,  stirps,  gens,  nur 
ein  sich  mit  den  Generationen  immer  weiter  entfernen- 
des und  sich  verunwirklichendes  Abstraktum  wird 
(§  177).  Die  Liebe,  das  sittliche  Moment  der  Ehe,  ist 
als  Liebe  Empfindung  für  wirkliche,  gegenwärtige  Indi- 
viduen, nicht  für  ein  Abstraktum.  —  Daß  sich  die  Ver- 
standesabstraktion als  das  weltgeschichtliche  Prinzip  des 
Römerreichs  zeigt,  s,  unten  §  356.  —  Daß  aber  die 
höhere  politische  Sphäre  ein  Recht  der  Erstgeburt  und 
ein  eisernes  Staramvermögen,  doch  nicht  als  eine  Will- 
kür, sondern  als  aus  der  Idee  des  Staates  notwendig 
herbeiführt,  davon  unten  §  306. 

Ülbergang  der  Familie  in  die  bürgerliehe  Gesellschaft. 

§181. 

Die  Familie  tritt  auf  natürliche  Weise,  und  wesentlich 
durch  das  Prinzip  der  Persönlichkeit  in  eine  Vielheit 
von  Familien  auseinander,  welche  sich  überhaupt  als  selb- 
ständige konkrete  Personen  und  daher  äußerlich  zuein- 
ander verhalten.  Oder  die  in  der  Einheit  der  Familie  als 
der  sittlichen   Idee,    als   die    noch   in   ihrem   Begriffe  ist, 


15-1      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Zwtiter  Abschnitt. 

gebundenen  Momente,  müssen  von  ihm  zur  selbständigen 
Realität  entlassen  werden;  —  die  Stufe  der  Differenz, 
Zunächst  abstrakt  ausgedrückt,  gibt  dies  die  Bestimmung 
der  Besonderheit,  welche  sich  zwar  auf  die  Allgemein- 
heit bezieht,  so  daß  diese  die,  aber  nur  noch  innerliche, 
Grundlage  und  deswegen  auf  formelle  in  das  Besondere 
nur  scheinende  Weise  ist.  Dies  Reflexionsverhältnis 
stellt  daher  zunächst  den  Verlust  der  Sittlichkeit  dar,  oder, 
da  sie  als  das  Wesen  notwendig  scheinend  ist  (Encykl. 
der  philos.  Wissensch.  §  64  ff.,  §  81ff.)0,  macht  es  die 
Erscheinungswelt  des  Sittlichen,  die  bürgerliche  Ge- 
sellschaft aus. 

Die  Erweiterung  der  Familie  als  Übergehen  der- 
selben in  ein  anderes  Prinzip  ist  in  der  Existenz  teils 
die  ruhige  Erweiterung  derselben  zu  einem  Volke,  — 
einer  Nation,  die  somit  einen  gemeinschaftlichen  natür- 
lichen Ursprung  hat,  teils  die  Versammlung  zerstreuter 
Familiengemeinden,  entweder  durch  herrische  Gewalt, 
oder  durch  freiwillige,  von  den  verknüpfenden  Bedürf- 
nissen und  der  Wechselwirkung  ihrer  Befriedigung  ein- 
geleitete Vereinigung. 


Zweiter  Abschnitt. 

Die  bürgerliche  Gesellschaft. 

§182. 

Die  konkrete  Person,  welche  sich  als  besondere 
Zweck  ist,  als  ein  Ganzes  von  Bedürfnissen  und  eine  Ver- 
mischung von  Naturnotwendigkeit  und  Willkür,  ist  das 
eine  Prinzip  der  bürgerlichen  Gesellschaft,  —  aber  die 
besondere  Person  als  wesentlich  in  Beziehung  auf  andere 
solche  Besonderheit,  so  daß  jede  durch  die  andere  und 
zugleich  schlechthin  nur  als  durch  die  Form  der  All- 
gemeinheit, das  andere  Prinzip,  vermittelt  sich 
geltend  macht  und  befriedigt. 

§  183. 
Der  selbstsüchtige  Zweck   in   seiner   Verwirklichung, 
so  durch  die  Allgemeinheit  bedingt,  begründet  ein  System 

1)  In  der  3.  Autl.  §  llöff.,  §  131  ff.,  (Phil.  Bibl.  33.  Bd.. 
S.   128ff.,  139  ff.). 


Die  bürgerliche  Gesellschaft,    tj  184 — 185.  155 

allseitiger  Abliängigkeit,  daß  die  Subsistenz  und  das  Wohl 
des  Einzelnen  und  sein  rechtliches  Dasein  in  die  Sub- 
sistenz, das  Wohl  und  Recht  aller  verflochten,  darauf  ge- 
gründet und  nur  in  diesem  Zusammenhange  wirklich  und 
gesichert  ist.  —  Man  kann  dies  System  zunächst  als  den 
äußeren  Staat,  —  Not-  und  Verstandesstaat  an- 
sehen. 

§184. 

Die  Idee  in  dieser  ihrer  Entzweiung  erteilt  den  Mo- 
menten eigentümliches  Dasein,  —  der  Besonder- 
heit das  Recht,  sich  nach  allen  Seiten  zu  entwickeln 
and  zu  ergehen,  und  der  Allgemeinheit  das  Recht,  sich 
ils  Grund  und  notwendige  Form  der  Besonderheit,  sowie 
ils  die  Macht  über  sie  und  ihren  letzten  Zweck  zu  erweisen, 
—  Es  ist  das  System  der  in  ihre  Extreme  verlorenen  Sitt- 
Uchkeit,  was  das  abstrakte  Moment  der  Realität  der 
dee  ausmacht,  welche  hier  nur  als  die  relative  Tota- 
ität  und  innere  Notwendigkeit  an  dieser  äußeren 
i]rscheinung  ist^). 

§  185. 

Die  Besonderheit  für   sich,    einerseits    als   sich   nach 

,llen  Seiten   auslassende   Befriedigung   ihrer    Bedürfnisse, 

ufälliger  Willkür  und  subjektiven  Beliebens,   zerstört  in 

hren  Genüssen  sich   selbst   und    ihren   substantiellen   Be- 

riff;   andererseits   als    unendlich    erregt,    und    in    durch- 

ängiger  Abhängigkeit  von  äußerer  Zufälligkeit  und  Will- 

ür,  sowie  von  der  Macht  der  Allgemeinheit  beschränkt, 

;t  die  Befriedigung  des  notwendigen,   wie  des  zufälligen 

edürfnisses  zufällig.    Die  bürgerliche  Gesellschaft  bietet 

,.i  diesen  Gegensätzen  und  ihrer  Verwickelung  das  Schau- 

Diel  ebenso  der  Ausschweifung,  des  Elends  und  des  beiden 

emeinschaftlichen  physischen  und  sittlichen  Verderbens  dar. 

Die    selbständige    Entwickelung    der    Besonderheit 

(vergl.   §  124  Anm.)   ist   das   Moment,   welches  sich  in 

den  alten  Staaten  als  das  hereinbrechende  Sittenverderben 

und  der  letzte  Grund  des   Untergangs  derselben  zeigt. 

Diese  Staaten,  teils  im  patriarchalischen  und  religiösen 

Prinzip,    teils   im   Prinzip    einer    geistigeren,     aber   ein- 

^)  Hierzu  vgl.  den  Abschnitt  der  Phänomenologie:  „Die 
..iduug  und  ihr  Reich  der  Wirklichkeit"  (Phil,  ßibl.,  Bd.  114, 
J  320  ff.). 


156     Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

lächeren  Sittlichkeit,  —  überhaupt  auf  ursprüngliche 
natürliche  Anschauung  gebaut,  konnten  die  Entzweiung 
derselben  und  die  unendliche  Reflexion  des  Selbstbewußt- 
seins in  sich  nicht  aushalten,  und  erlagen  dieser  Re- 
flexion, wie  sie  sich  hervorzutun  anfing,  der  Gesinnung 
und  dann  der  Wirklichkeit  nach,  weil  ihrem  noch  einfachen 
i'rinzip  die  wahrhaft  unendliche  Kraft  mangelte,  die 
allein  in  derjenigen  Einheit  liegt,  welche  den  Gegensatz 
der  Vernunft  zu  seiner  ganzen  Stärke  auseinander- 
gehen läßt,  und  ihn  überwältigt  hat,  in  ihm  somit  sich 
erhält,  und  ihn  in  sich  zusammenhält.  —  Plato 
in  seinem  Staate  stellt  die  substantielle  Sittlichkeit  in 
ihrer  idealen  Schönheit  und  Wahrheit  dar,  er  ver- 
mag aber  mit  dem  Prinzip  der  selbständigen  Besonder- 
heit, das  in  seiner  Zeit  in  die  griechische  Sittlichkeit 
hereingebrochen  war,  nicht  anders  fertig  zu  werden, 
als  daß  er  ihm  seinen  nur  substantiellen  Staat  entgegen- 
stellte und  dasselbe  bis  in  seine  Anfänge  hinein,  die 
es  im  Privateigentum  (§  46  Anm.)  und  in  der  Familie 
hat,  und  dann  in  seiner  weiteren  Ausbildung  als  die 
eigene  Willkür  und  Wahl  des  Standes  u.  s.  f.,  ganz  aus- 
schloß. Dieser  Mangel  ist  es,  der  auch  die  große  sub- 
stantielle Wahrheit  seines  Staates  verkennen  und  den- 
selben gewöhnlich  für  eine  Träumerei  des  abstrakten 
Gedankens,  für  das,  was  man  oft  gar  ein  Ideal  zu 
nennen  pflegt,  ansehen  macht.  Das  Prinzip  der  selb- 
ständigen in  sich  unendlichen  Persönlichkeit 
des  Einzelnen,  der  subjektiven  Freiheit,  das  innerlich 
in  der  christlichen  Religion  und  äußerlich,  daher  mit 
der  abstrakten  Allgemeinheit  verknüpft,  in  der  römi- 
schen Welt  aufgegangen  ist,  kommt  in  jener  nur  sub- 
stantiellen Form  des  wirklichen  Geistes  nicht  zu  seinem 
Rechte.  Dies  Prinzip  ist  geschichtlich  später  als  die 
griechische  Welt,  und  ebenso  ist  die  philosophische 
Reflexion,  die  bis  zu  dieser  Tiefe  hinabsteigt,  später  als 
die  substantielle  Idee  der  griechischen  Philosophie. 

§  186. 
Aber  das  Prinzip  der  Besonderheit  geht  eben  damit,  daß 
es  sich  für  sich  zur  Totalität  entwickelt,  in  die  Allgemein- 
heit über,  und  hat  allein  in  dieser  seine  Wahrheit  und 
das  Recht  seiner  positiven  Wirklichkeit.  Diese  Einheit, 
die  wegen  der  Selbständigkeit  beider  Prinzipien  auf  diesem 
Standpunkte   der   Entzweiung    (§  184)    nicht    die   sittliche 


Die  bürgerliche  Gesellschaft,    §187.  157 

Identität  ist,  ist  eben  damit  nicht  als  Freiheit,  sondern 
als  Notwendigkeit,  daß  das  Besondere  sich  zur  Form 
der  Allgemeinheit  erhebe,  in  dieser  Form  sein  Be- 
stehen suche  und  habe. 

§  187. 
Die  Individuen  sind  als  Bürger  dieses  Staates  Privat- 
personen, welche  ihr  eigenes  Interesse  zu  ihrem  Zwecke 
haben.  Da  dieser  durch  das  Allgemeine  vermittelt  ist,  das 
ihnen  somit  als  Mittel  erscheint,  so  kann  er  von  ihnen 
nur  erreicht  werden,  insofern  sie  selbst  ihr  Wissen,  Wollen 
und  Tun  auf  allgemeine  Weise  bestimmen,  und  sich  zu 
einem  Gliede  der  Kette  dieses  Zusammenhanges  machen. 
Das  Interesse  der  Idee  hierin,  das  nicht  im  Bewußtsein 
dieser  Mitglieder  der  bürgerlichen  Gesellschaft  als  solcher 
liegt,  ist  der  Prozeß,  die  Einzelnheit  und  Natürlichkeit 
derselben  durch  die  Naturnotwendigkeit  ebenso  als  durch 
die  Willkür  der  Bedürfnisse,  zur  formellen  Freiheit 
und  formellen  Allgemeinheit  des  Wissens  und  Wollens 
zu  erheben,  die  Subjektivität  in  ihrer  Besonderheit  zu 
bilden. 

Es  hängt  mit  den  Vorstellungen  von  der  Unschuld 
des  Naturzustandes,  von  Sitteneinfalt  ungebildeter  Völker 
einerseits,  und  andererseits  mit  dem  Sinne,  der  die  Be- 
dürfnisse, deren  Befriedigung,  die  Genüsse  und  Bequem- 
lichkeiten des  partikulären  Lebens  u,  s.  f.  als  absolute 
Zwecke  betrachtet,  zusammen,  wenn  die  Bildung  dort 
als  etwas  nur  Äußerliches,  dem  Verderben  Ange- 
höriges, hier  als  bloßes  Mittel  für  jene  Zwecke  be- 
trachtet wird;  die  eine  wie  die  andere  Ansicht  zeigt 
die  Unbekanntschaft  mit  der  Natur  des  Geistes  und 
dem  Zwecke  der  Vernunft.  Der  Geist  hat  seine  Wirk- 
lichkeit nur  dadurch,  daß  er  sich  in  sich  selbst  entzweit, 
in  den  Naturbedürfnissen  und  in  dem  Zusammenhange 
dieser  äußeren  Notwendigkeit  sich  diese  Schranke  und 
Endlichkeit  gibt,  und  eben  damit,  daß  er  sich  in  sie 
hinein  bildet,  sie  überwindet  und  darin  sein  objek- 
tives Dasein  gewinnt.  Der  Vernunftzweck  ist  deswegen 
weder  jene  natürliche  Sitteneinfalt,  noch  in  der  Ent- 
wickelung  der  Besonderheit  die  Genüsse  als  solche,  die 
durch  die  Bildung  erlangt  werden,  sondern  daß  die 
Natureinfalt,  d.  i.  teils  die  passive  Selbstlosigkeit, 
teils  die  Roheit  des  Wissens  und  Willens,  d.  i,  die  Un- 
mittelbarkeit  und   Einzelnheit,    in    die    der    Geist 


158     Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

versenkt  ist,  weggearbeitet  werde  und  zunächst  diese 
seine  Äußerlichkeit  die  Vernünftigkeit,  der  sie  fähig 
ist,  erhalte,  nämlich  die  Form  der  Allgemeinheit, 
die  Verständigkeit.  Auf  diese  Weise  nur  ist  der 
Geist  in  dieser  Äußerlichkeit  als  solcher  einheimisch 
und  bei  sich.  Seine  Freiheit  hat  so  in  derselben  ein 
Dasein,  und  er  wird  in  diesem,  seiner  Bestimmung  zur 
Freiheit  an  sich  fremden  Elemente  für  sich,  hat  es 
nur  mit  solchem  zu  tun,  dem  sein  Siegel  aufgedrückt 
und  [das]  von  ihm  produziert  ist.  —  Eben  damit  kommt 
denn  die  Form  der  Allgemeinheit  für  sich  im  Ge- 
danken zur  Existenz,  —  die  Form,  welche  allein  das 
würdige  Element  für  die  Existenz  der  Idee  ist.  —  Die 
Bildung  ist  daher  in  ihrer  absoluten  Bestimmung  die 
Befreiung  und  die  Arbeit  der  höheren  Befreiung,  näm- 
lich der  absolute  Durchgangspunkt  zu  der,  nicht  mehr 
unmittelbaren,  natürlichen,  sondern  geistigen,  ebenso  zur 
Gestalt  der  Allgemeinheit  erhobenen  unendlich  subjek- 
tiven Substantialität  der  Sittlichkeit.  —  Diese  Befrei- 
ung ist  im  Subjekt  die  harte  Arbeit  gegen  die  bloße 
Subjektivität  des  Benehmens,  gegen  die  Unmittelbarkeit 
der  Begierde,  sowie  gegen  die  subjektive  Eitelkeit  der 
Empfindung  und  die  Willkür  des  Beliebens.  Daß  sie 
diese  harte  Arbeit  ist,  macht  einen  Teil  der  Ungunst 
aus,  der  auf  sie  fällt.  Durch  diese  Arbeit  der  Bildung 
ist  es  aber,  daß  der  subjektive  Wille  selbst  in  sich 
die  Objektivität  gewinnt,  in  der  er  seinerseits  allein 
würdig  und  fähig  ist,  die  Wirklichkeit  der  Idee  zu 
sein.  —  Ebenso  macht  zugleich  diese  Form  der  All- 
gemeinheit, zu  der  sich  die  Besonderheit  verarbeitet 
und  heraufgebildet  hat,  die  Verständigkeit,  daß  die  Be- 
sonderheit zum  wahrhaften  Fürsichsein  der  Einzeln- 
heit wird,  und  indem  sie  der  Allgemeinheit  den  er- 
füllenden Inhalt  und  ihre  unendliche  Selbstbestimmung 
gibt,  selbst  in  der  Sittlichkeit  als  unendlich  fürsich- 
seiende,  freie  Subjektivität  ist.  Dies  ist  der  Standpunkt, 
der  die  Bildung  als  immanentes  Moment  des  Abso- 
luten, und  ihren  unendlichen  Wert   erweist. 

§  188. 
Die  bürgerliche  Gesellschaft  enthält  die  drei  Momente: 
A.  Die  Vermittel ung   des   Bedürfnisses   und   die   Be- 
friedigung des  Einzelnen   durch  seine   Arbeit  und 


Bürgerl.  Gesellsch,    A.  System  d.  Bedürfnisso.    §  189.      15  9 

durch  die  Arbeit  und  Befriedigung  der  Bedürfnisse 
aller  Übrigen,  —  das  System  der  Bedürfnisse. 

B.  Die  Wirklichkeit  des  darin  enthaltenen  Allgemeinen 
der  Freiheit,  der  Schutz  des  Eigentums  durch  die 
Rechtspflege. 

C.  Die  Vorsorge  gegen  die  in  jenen  Systemen  zurück- 
bleibende Zufälligkeit  und  die  Besorgung  des  be- 
sonderen Interesses  als  eines  Gemeinsamen,  durch 
die  Polizei  und  Korporation. 


A.  Das  System  der  Bedürfnisse. 

§  189. 

Die  Besonderheit  zunächst  als  das  gegen  das  All- 
gemeine des  Willens  überhaupt  Bestimmte  (§  60)  ist  sub- 
jektives Bedürfnis,  welches  seine  Objektivität,  d.  i.  Be- 
friedigung durch  das  Mittel,  n)  äußerer  Dinge,  die  nun 
ebenso  das  Eigentum  und  Produkt  anderer  Bedürfnisse 
und  Willen  sind,  und  ß)  durch  die  Tätigkeit  und  Arbeit, 
als  das  die  beiden  Seiten  Vermittelnde  erlangt.  Indem 
sein  Zweck  die  Befriedigung  der  subjektiven  Besonder- 
heit ist,  aber  in  der  Beziehung  auf  die  Bedürfnisse  und 
die  freie  Willkür  anderer  die  Allgemeinheit  sich  geltend 
macht,  so  ist  dies  Scheinen  der  Vernünftigkeit  in  diese 
Sphäre  der  Endlichkeit  der  Verstand,  die  Seite,  auf  die 
es  in  der  Betrachtung  ankommt,  und  welche  das  Ver- 
söhnende innerhalb  dieser   Sphäre   selbst   ausmacht. 

Die  Staatsökonomie  ist  die  Wissenschaft,  die 
von  diesen  Gesichtspunkten  ihren  Ausgang  hat,  dann 
aber  das  Verhältnis  und  die  Bewegung  der  Massen  in 
ihrer  qualitativen  und  quantitativen  Bestimmtheit  und 
Verwickelung  darzulegen  hat.  —  Es  ist  dies  eine  der 
Wissenschaften,  die  in  neuerer  Zeit  als  ihrem  Boden 
entstanden  ist.  Ihre  Entwickelung  zeigt  das  Inter- 
essante, wie  der  Gedanke  (s.  Smith,  Say,  Ricardo)  1)  aus 

*)  Adam  Smith,  1723—90;  inquiry  into  the  nature  and 
cause  of  the  wealth  of  nations,  Lond.  1776.  —  Jean  Baptiste 
Say,  1767—1832;  traite  d'economie  politique,  Paris  1803.  — 
David  Ricardo,  1772 — 1828;  on  the  principles  of  political 
economy  and  taxation,  Lond.  1817. 


160     Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

der  unendlichen  Menge  von  Einzelnheiten,  die  zunächst 
vor  ihm  liegen,  die  einfachen  Prinzipien  der  Sache,  den 
in  ihr  wirksamen  und  sie  regierenden  Verstand  heraus- 
findet. —  Wie  es  einerseits  das  Versöhnende  ist,  in 
der  Sphäre  der  Bedürfnisse  dies  in  der  Sache  liegende 
und  sich  betätigende  Scheinen  der  Vernünftigkeit  zu 
erkennen,  so  ist  umgekehrt  dies  das  Feld,  wo  der  Ver- 
stand der  subjektiven  Zwecke  und  moralischen  Meinun- 
gen seine  Unzufriedenheit  und  moralische  Verdrießlich- 
keit ausläßt.  — 

a)  Die  Art  des  Bedürfnisses  und  der  Befriedigung. 

§  190. 

Das  Tier  hat  einen  beschränkten  Kreis  von  Mitteln 
und  Weisen  der  Befriedigung  seiner  gleichfalls  beschränkten 
Bedürfnisse,  Der  Mensch  beweist  auch  in  dieser  Ab- 
hängigkeit zugleich  sein  Hinausgehen  über  dieselbe  und 
seine  Allgemeinheit,  zunächst  durch  die  Vervielfäl- 
tigung der  Bedürfnisse  und  Mittel,  und  dann  durch  Zer- 
legung und  Unterscheidung  des  konkreten  Bedürf- 
nisses in  einzelne  Teile  und  Seiten,  welche  verschiedene 
partikularisierte,  damit  abstraktere  Bedürfnisse 
werden. 

Im  Rechte  ist  der  Gegenstand  die  Person,  im 
moralischen  Standpunkte  das  Subjekt,  in  der  Familie 
das  Familienglied,  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
überhaupt  der  Bürger  (als  bourgeois)  —  hier  auf  dem 
Standpunkte  der  Bedürfnisse  (vergl,  §  123  Anm.)  ist  es 
das  Konkretum  der  Vorstellung,  das  man  Mensch 
nennt;  es  jst  also  erst  hier  und  auch  eigentlich  nur 
hier  vom  Menschen  in  diesem  Sinne  die  Rede. 

§191. 

Ebenso  teilen  und  vervielfältigen  sich  die  Mittel 
für  die  partikularisierten  Bedürfnisse  und  überhaupt  die 
Weisen  ihrer  Befriedigung,  welche  wieder  relative  Zwecke 
und  abstrakte  Bedürfnisse  werden;  —  eine  ins  Unendliche 
fortgehende  Vervielfältigung,  welche  in  eben  dem  Maße 
eine  Unterscheidung  dieser  Bestimmungen  und  Be- 
urteilung der  Angemessenheit  der  Mittel  zu  ihren 
Zwecken,  —  die  Verfeinerung,  ist. 


Bürger!.  Gesellsch.  A.  System  der  Bedürfnisse.   §192—194.    161 

§192. 

Die  Bedürfnisse  und  die  Mittel  werden  als  reelles 
Dasein  ein  Sein  für  andere,  durch  deren  Bedürfnisse  und 
Arbeit  die  Befriedigung  gegenseitig  bedingt  ist.  Die  Ab- 
straktion, die  eine  Qualität  der  Bedürfnisse  und  der  Mittel 
wird  (s.  vorherg.  §),  wird  auch  eine  Bestimmung  der  gegen- 
seitigen Beziehung  der  Individuen  aufeinander;  diese  All- 
gemeinheit als  Anerkanntsein  ist  das  Moment,  welches 
sie  in  ihrer  Vereinzelung  und  Abstraktion  zu  konkreten, 
als  gesellschaftlichen,  Bedürfnissen,  Mitteln  und  Weisen 
der  Befriedigung  macht. 

§  193. 

Dies  Moment  wird  so  eine  besondere  Zweckbestim- 
mung für  die  Mittel  für  sich  und  deren  Besitz,  sowie  für 
die  Art  und  Weise  der  Befriedigung  der  Bedürfnisse.  Es 
enthält  ferner  unmittelbar  die  Forderung  der  Gleichheit 
mit  den  anderen  hierin;  das  Bedürfnis  dieser  Gleichheit 
einerseits  und  das  Sich-gleich-machen,  die  Nachahmung, 
wie  andererseits  das  Bedürfnis  der  darin  ebenso  vor- 
handenen Besonderheit,  sich  durch  eine  Auszeichnung 
geltend  zu  machen,  wird  selbst  eine  wirkliche  Quelle  der 
Vervielfältigung  der  Bedürfnisse  und  ihrer  Verbreitung. 

§  194. 

Indem  im  gesellschaftlichen  Bedürfnisse,  als  der  Ver- 
knüpfung vom  unmittelbaren  oder  natürlichen  und  vom 
geistigen  Bedürfnisse  der  Vorstellung,  das  letztere  sich 
als  das  Allgemeine  zum  Überwiegenden  macht,  so  liegt 
in  diesem  gesellschaftlichen  Momente  die  Seite  der  Be- 
freiung, daß  die  strenge  Naturnotwendigkeit  des  Be- 
dürfnisses versteckt  wird,  und  der  Mensch  sich  zu  seiner, 
und  zwar  einer  allgemeinen  Meinung  und  einer  nur  selbst- 
gemachten Notwendigkeit,  statt  nur  zu  äußerlicher,  zu 
innerer  Zufälligkeit,  zur  Willkür,  verhält. 

Die  Vorstellung,  als  ob  der  Mensch  in  einem  so- 
genannten Naturzustande,  worin  er  nur  sogenannte  ein- 
fache Naturbedürfnisse  hätte  und  für  ihre  Befriedigung 
nur  Mittel  gebrauchte,  wie  eine  zufällige  Natur  sie  ihm 
unmittelbar  gewährte,  in  Rücksicht  auf  die  Bedürfnisse 
in  Freiheit  lebte,  ist,  noch  ohne  Rücksicht  des  Moments 
der  Befreiung,  die  in  der  Arbeit  liegt,  wovon  nachher, 

Hegel,   Rechtsphilosophie.  jl 


162      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Zweiter  Abschnitt. 

—  eine  unwahre  Meinung,  weil  das  Naturbedürinis  als 
solches  und  dessen  unmittelbare  Befriedigung  nur  der 
Zustand  der  in  die  Natur  versenkten  Geistigkeit  und 
damit  der  Roheit  und  Unfreiheit  wäre,  und  die  Freiheit 
allein  in  der  Reflexion  des  Geistigen  in  sich,  seiner 
Unterscheidung  von  dem  Natürlichen  und  seinem  Reflexe 
auf  dieses,  liegt. 

§  195. 

Diese  Befreiung  ist  formell,  indem  die  Besonderheit 
der  Zwecke  der  zugrunde  liegende  Inhalt  bleibt.  Die  Rich- 
tung des  gesellschaftlichen  Zustandes  auf  die  unbestimmte 
Vervielfältigung  und  Spezifizierung  der  Bedürfnisse,  Mittel 
und  Genüsse,  welche,  sowie  der  Unterschied  zwischen 
natürlichem  und  gebildetem  Bedürfnisse,  keine  Grenzen  hat, 
—  der  Luxus  —  ist  eine  ebenso  unendliche  Vermehrung 
der  Abhängigkeit  und  Not,  welche  es  mit  einer  den  un- 
endlichen Widerstand  leistenden  Materie,  nämlich  mit 
äui3eren  Mitteln  von  der  besonderen  Art,  Eigentum  des 
freien  Willens  zu  sein,  dem  somit  absolut  Harten,  zu 
tun  hat. 

b)  Die  Art  der  Arbeit. 

§  196. 

Die  Vermittelung,  den  partikularisierten  Bedürf- 
nissen angemessene  ebenso  partikularisierte  Mittel  zu 
bereiten  und  zu  erwerben,  ist  die  Arbeit,  welche  das  von 
der  Natur  unmittelbar  gelieferte  Material  für  diese  viel- 
fachen Zwecke  durch  die  mannigfaltigsten  Prozesse  spezi- 
fiziert. Diese  Formierung  gibt  nun  dem  Mittel  den  Wert 
und  seine  Zweckmäßigkeit,  so  daß  der  Mensch  in  seiner 
Konsumtion  sich  vornehmlich  zu  menschlichen  Produk- 
tionen verhält  und  solche  Bemühungen  es  sind,  die  er 
verbraucht. 

§  197. 

An  der  Mannigfaltigkeit  der  interessierenden  Bestim- 
mungen und  Gegenstände  entwickelt  sich  die  theoretische 
Bildung,  nicht  nur  eine  Mannigfaltigkeit  von  Vorstel- 
lungen und  Kenntnissen,  sondern  auch  eine  Beweglichkeit 
und  Schnelligkeit  des  Vorstellens  und  des  Übergehens  von 
einer   Vorstellung   zur   anderen,    das   Fassen   verwickelter 


Bürgerl.  Gesellsch.  A.  System  der  Bedürfnisse.   §  198—199.     163 

und  allgemeiner  Beziehungen  u.  s.  1  —  die  Bildung  des  Ver- 
standes überhaupt,  damit  auch  der  Sprache.  —  Die  prak- 
tische Bildung  durch  die  Arbeit  besteht  in  dem  sich 
erzeugenden  Bedürfnis  und  der  Gewohnheit  der  Be- 
schäftigung überhaupt,  dann  der  Beschränkung  seines 
Tuns,  teils  nach  der  Natur  des  Materials,  teils  aber  vor- 
nehmlich nach  der  Willkür  anderer,  und  einer  durch  diese 
Zucht  sich  erwerbenden  Gewohnheit  objektiver  Tätig- 
keit und  allgemeingültiger  Geschicklichkeiten. 

§198. 

Das  Allgemeine  und  Objektive  in  der  Arbeit  liegt  aber 
in  der  Abstraktion,  welche  die  Spezifizierung  der  Mittel 
und  Bedürfnisse  bewirkt,  damit  ebenso  die  Produktion  spezi- 
fiziert und  die  Teilung  der  Arbeiten  hervorbringt.  Das 
Arbeiten  des  Einzelnen  wird  durch  die  Teilung  einfacher 
und  hierdurch  die  Geschicklichkeit  in  seiner  abstrakten 
Arbeit,  sowie  die  Menge  seiner  Produktionen  größer.  Zu- 
gleich vervollständigt  diese  Abstraktion  der  Geschicklich- 
keit und  des  Mittels  die  Abhängigkeit  und  die  Wechsel- 
beziehung der  Menschen  für  die  Befriedigung  der  üb- 
rigen Bedürfnisse  zur  gänzlichen  Notwendigkeit.  Die  Ab- 
straktion des  Produzierens  macht  das  Arbeiten  ferner 
immermehr  mechanisch  und  damit  am  Ende  fähig,  daß 
der  Mensch  davon  wegtreten  und  an  seine  Stelle  die 
Maschine  eintreten  lassen  kann. 

c)  Das  Vermögen. 

§199. 

In  dieser  Abhängigkeit  und  Gegenseitigkeit  der  Arbeit 
und  der  Befriedigung  der  Bedürfnisse  schlägt  die  sub- 
jektive Selbstsucht  in  den  Beitrag  zur  Befriedi- 
gung der  Bedürfnisse  aller  anderen  um,  —  in  die 
Vermittelung  des  Besonderen  durch  das  Allgemeine  als 
dialektische  Bewegung,  so  daß,  indem  jeder  für  sich  er- 
wirbt, produziert  und  genießt,  er  eben  damit  für  den 
Genuß  der  Übrigen  produziert  und  erwirbt.  Diese  Not- 
wendigkeit, die  in  der  allseitigen  Verschlingung  der  Ab- 
hängigkeit aller  liegt,  ist  nunmehr  für  jeden  das  all- 
gemeine, bleibende  Vermögen  (s.  §  170),  das  für 
ihn  die  Möglichkeit  enthält,  durch  seine  Bildung  und  Ge- 
schicklichkeit daran  teilzunehmen,  um  für  seine  Subsistenz 

11* 


164      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

gesichert  zu  sein,  —  so  wie  dieser  durch  seine  Arbeit 
vermittelte  Erwerb  das  allgemeine  Vermögen  erhält  und 
vermehrt. 

§  200. 

Die  Möglichkeit  der  Teilnahme  an  dem  all- 
gemeinen Vermögen,  das  besondere  Vermögen,  ist  aber 
bedingt,  teils  durch  eine  unmittelbare  eigene  Grundlage 
(Kapital),  teils  durch  die  Geschicklichkeit,  welche  ihrer- 
seits wieder  selbst  durch  jenes,  dann  aber  durch  die  zu- 
fälligen Umstände  bedingt  ist,  deren  Mannigfaltigkeit  die 
Verschiedenheit  in  der  Entwickelung  der  schon  für 
sich  ungleichen  natürlichen  körperlichen  und  geistigen 
Anlagen  hervorbringt,  —  eine  Verschiedenheit,  die  in  dieser 
Sphäre  der  Besonderheit  nach  allen  Richtungen  und  von 
allen  Stufen  sich  hervortut  und  mit  der  übrigen  Zufällig- 
keit und  Willkür  die  Ungleichheit  des  Vermögens  und 
der  Geschicklichkeiten  der  Individuen  zur  notwendigen 
Folge  hat. 

Dem  in  der  Idee  enthaltenen  objektiven  Rechte 
der  Besonderheit  des  Geistes,  welches  die  von  der 
Natur  —  dem  Elemente  der  Ungleichheit  —  gesetzte 
Ungleichheit  der  Menschen  in  der  bürgerlichen  Ge- 
sellschaft nicht  nur  nicht  aufhebt,  sondern  aus 
dem  Geiste  produziert,  sie  zu  einer  Ungleichheit 
der  Geschicklichkeit,  des  Vermögens  und  selbst 
der  intellektuellen  und  moralischen  Bildung  erhobt, 
—  die  Forderung  der  Gleichheit  entgegensetzen, 
gehört  dem  leeren  Verstände  an,  der  dies  sein  Ab- 
straktum  und  sein  Sollen  für  das  Reelle  und  Vernünf- 
tige nimmt.  Diese  Sphäre  der  Besonderheit,  die  sich 
das  Allgemeine  einbildet,  behält  in  dieser  nur  relativen 
Identität  mit  demselben  ebensosehr  die  natürliche  als 
willkürliche  Besonderheit,  damit  den  Rest  des  Natur- 
zustandes, in  sich.  Ferner  ist  es  die  im  Systeme  mensch- 
licher Bedürfnisse  und  ihrer  Bewegung  immanente  Ver- 
nunft, welche  dasselbe  zu  einem  organischen  Ganzen 
von  Unterschieden  gliedert;  s.  folg.  §. 

§201. 

Die  unendlich  mannigfachen  Mittel  und  deren  ebenso 
unendlich  sich  verschränkende  Bewegung  in  der  gegen- 
seitigen Hervorbringung  und  Austauschung  sammelt  durch 


ßürgerl.  Gesellsch.   A.  System  der  Bedürfnisse.   §  202—203.     165 

die  ihrem  Inhalte  inwohnende  Allgemeinheit  und  unter- 
scheidet sich  in  allgemeinen  Massen,  so  daß  der 
ganze  Zusammenhang  sich  zu  besonderen  Systemen 
der  Bedürfnisse,  ihrer  Mittel  und  Arbeiten,  der  Arten 
und  Weisen  der  Befriedigung  und  der  theoretischen  und 
praktischen  Bildung,  —  Systemen,  denen  die  Individuen 
zugeteilt  sind,  —  zu  einem  Unterschiede  der  Stände,  aus- 
bildet. 

§  202. 

Die  Stände  bestimmen  sich  nach  dem  Begriffe  als 
der  substantielle  oder  unmittelbare,  der  reflektierende 
oder  formelle,  und  dann  als  der  allgemeine  Stand. 

§  203. 

a)  Der  substantielle  Stand  hat  sein  Vermögen 
an  den  Naturprodukten  eines  Bodens,  den  er  bearbeitet, 
—  eines  Bodens,  der  ausschließendes  Privateigentum  zu 
sein  fähig  ist  und  nicht  nur  unbestimmte  Abnutzung,  sondern 
eine  objektive  Formierung  erfordert.  Gegen  die  Anknüp- 
fung der  Arbeit  und  des  Erwerbs  an  einzelne  feste  Natur- 
epochen und  die  Abhängigkeit  des  Ertrags  von  der  ver- 
änderlichen Beschaffenheit  des  Naturprozesses  macht  sich 
der  Zweck  des  Bedürfnisses  zu  einer  Vorsorge  auf  die 
Zukunft,  behält  aber  durch  ihre  Bedingungen  die  Weise 
einer  weniger  durch  die  Reflexion  und  eigenen  Willen 
vermittelten  Subsistenz,  und  darin  überhaupt  die  substan- 
tielle Gesinnung  einer  unmittelbaren  auf  dem  Familien- 
verhältnisse und  dem  Zutrauen  beruhenden  Sittlichkeit. 

Mit  Recht  ist  der  eigentliche  Anfang  und  die  erste 
Stiftung  der  Staaten  in  die  Einführung  des  Acker- 
baues, nebst  der  Einführung  der  Ehe  gesetzt  worden, 
indem  jenes  Prinzip  das  Formieren  des  Bodens  und  da- 
mit ausschließendes  Privateigentum  mit  sich  führt  (vergl. 
§  170  Anm.),  und  das  im  Schweifenden  seine  Subsistenz 
suchende,  schweifende  Leben  des  Wilden  zur  Ruhe  des 
Privatrechts  und  zur  Sicherheit  der  Befriedigung  des  Be- 
dürfnisses zurückführt,  womit  sich  die  Beschränkung 
der ,  Geschlechterliebe  zur  Ehe,  und  damit  die  Erweite- 
rung dieses  Bandes  zu  einem  fortdauernden  in  sich 
allgemeinen  Bunde,  des  Bedürfnisses  zur  Familien- 
sorge und  des  Besitzes  zum  Familiengute  verknüpft. 
Sicherung,  Befestigung,  Dauer  der  Befriedigung  der  Bedürf- 


166       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

nisse  u.  s.f.  —  Charaktere,  wodurch  sich  diese  Institutionen 
zunächst  empfehlen,  sind  nichts  anderes  als  Formen 
der  Allgemeinheit  und  Gestaltungen,  wie  die  Vernünftig- 
keit, der  absolute  Endzweck,  sich  in  diesen  Gegenständen 
geltend  macht.  —  Was  kann  für  diese  Materie  inter- 
essanter sein,  als  meines  sehr  verehrten  Freundes,  Herrn 
Creuzers,  ebenso  geistreiche  als  gelehrte  Auf- 
schlüsse, die  derselbe  insbesondere  im  vierten  Band 
seiner  Mythologie  und  Symbolik  über  die  agrono- 
mischen Feste,  Bilder  und  Heiligtümer  der  Alten  uns 
gegeben  hat,  welche  sich  der  Einführung  des  Acker- 
baues und  der  damit  zusammenhängenden  Institutionen 
als  göttlicher  Taten  bewußt  worden  sind  und  ihnen  so 
religiöse  Verehrung  widmeten  0. 

Daß  der  substantielle  Charakter  dieses  Standes  von 
Seiten  der  Gesetze  des  Privatrechts,  insbesondere  der 
Rechtspflege,  sowie  von  selten  des  Unterrichts  und 
der  Bildung,  auch  der  Religion,  Modifikationen,  nicht  in 
Ansehung  des  substantiellen  Inhalts,  aber  in  An- 
sehung der  Form  und  Reflexions-Entwickelung 
nach  sich  zieht,  ist  eine  weitere  Folge,  die  ebenso  in 
Ansehung  der  anderen  Stände  statt  hat. 

§204. 

b)  Der  Stand  des  Gewerbes  hat  die  Formierung 
des  Naturprodukts  zu  seinem  Geschäfte  und  ist  für  die 
Mittel  seiner  Subsistenz  an  seine  Arbeit,  an  die  Ref  le.xion 
und  den  Verstand,  sowie  wesentlich  an  die  Vermittelung 
mit  den  Bedürfnissen  und  den  Arbeiten  anderer  angewiesen. 
Was  er  vor  sich  bringt  und  genießt,  hat  er  vornehmlich 
sich  selbst,  seiner  eigenen  Tätigkeit  zu  danken.  — 
Sein  Geschäft  unterscheidet  sich  wieder,  als  Arbeit  für 
einzelne  Bedürfnisse  in  konkreterer  Weise  und  auf  Ver- 
langen Einzelner,  in  den  Handwerksstand,  —  als  ab- 
straktere Gesamtmasse  der  Arbeit  für  einzelne  Bedürf- 
nisse aber  eines  allgemeineren  Bedarfs,  in  den  Fabri- 
kantenstand, —  und  als  Geschäft  des  Tausches  der  ver- 
einzelten Mittel  gegeneinander  vornehmlich  durch  das  all- 
gemeine Tauschmittel,  das  Geld,  in  welchem  der  abstrakte 
Wert  aller  Waren  wirklich  ist,   in  den    Handelsstand. 


1)  Creuzer,  Georg  JFriedrich.  1771  — 1858,  seit  1804  Professor 
in  Heidelberg:  „Symbolik  u.  Mythologie  der  alten  Völker,  be- 
sonders der  (iriechen". 


Bürgerl.  Gesellsch,  A.  System  der  Bedürfnisse.   §205—206.     1G7 

§  205. 

c)  Der  allgemeine  Stand  hat  die  allgemeinen 
Interessen  des  gesellschaftlichen  Zustandes  zu  seinem 
Geschäfte;  der  direkten  Arbeit  für  die  Bedürfnisse 
muß  er  daher  entweder  durch  Privatvermögen  oder 
dadurch  enthoben  sein,  daß  er  vom  Staat,  der  seine  Tätig- 
keit in  Anspruch  nimmt,  schadlos  gehalten  wird,  so  daß 
das  Privatinteresse  in  seiner  Arbeit  für  das  Allgemeine 
seine  Befriedigung  findet. 

§  206. 

Der  Stand,  als  die  sich  objektiv  gewordene  Besonder- 
heit, teilt  sich  so  einerseits  nach  dem  Begriffe  in  seine 
allgemeinen  Unterschiede.  Andererseits  aber,  welchem  be- 
sonderem Stande  das  Individuum  angehöre,  darauf  haben 
Naturell,  Geburt  und  Umstände  ihren  Einfluß,  aber  die 
letzte  und  wesentliche  Bestimmung  liegt  in  der  subjek- 
tiven Meinung  und  der  besonderen  Willkür,  die  sich 
in  dieser  Sphäre  ihr  Recht,  Verdienst  und  ihre  Ehre  gibt,  so 
daß,  was  in  ihr  durch  innere  Notwendigkeit  geschieht, 
zugleich  durch  die  Willkür  vermittelt  ist  und  für  das 
subjektive  Bewußtsein  die  Gesta-lt  hat,  das  Werk  seines 
Willens  zu  sein. 

Auch  in  dieser  Rücksicht  tut  sich  in  bezug  auf  das 
Prinzip  der  Besonderheit  und  der  subjektiven  Willkür 
der  Unterschied  in  dem  politischen  Leben  des  Morgen- 
landes und  Abendlandes,  und  der  antiken  und  der  mo- 
dernen Welt  hervor.  Die  Einteilung  des  Ganzen  in 
Stände  erzeugt  sich  bei  jenen  zwar  objektivvonselbst, 
weil  sie  an  sich  vernünftig  ist;  aber  das  Prinzip  der 
subjektiven  Besonderheit  erhält  dabei  nicht  zugleich  sein 
Recht,  indem  z.  B.  die  Zuteilung  der  Individuen  zu  den 
Ständen  den  Regenten,  wie  in  dem  platonischen  Staate 
(de  Rep.  III.,  p.  320  ed.  Bip.  T.  VI.),  oder  der  bloßen 
Geburt,  wie  in  den  indischen  Kasten,  überlassen  ist. 
So  in  die  Organisation  des  Ganzen  nicht  aufgenommen 
und  in  ihm  nicht  versöhnt,  zeigt  sich  deswegen  die  sub- 
jektive Besonderheit,  weil  sie  als  wesentliches  Moment 
gleichfalls  hervortritt,  als  Feindseliges,  als  Verderben 
der  gesellschaftlichen  Ordnung  (s.  §  185  Anm.),  ent- 
weder als  sie  über  den  Haufen  werfend,  wie  in  den 
griechischen    Staaten   und   in    der    römischen   Republik, 


168      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Z.veiter  Absclinitt. 

oder  wenn  diese  als  Gewalt  habend  oder  etwa  als  re- 
ligiöse Autorität  sich  erhält,  als  innere  Verdorbenheit 
und  vollkommene  Degradation,  wie  gewissermaßen 
bei  den  Lakedämoniern  und  jetzt  am  vollständigsten 
bei  den  Indern  der  Fall  ist.  —  Von  der  objektiven  Ord- 
nung aber  in  Angemessenheit  mit  ihr  und  zugleich  in 
ihrem  Recht  erhalten,  wird  die  subjektive  Besonderheit 
zum  Prinzip  aller  Belebung  der  bürgerlichen  Gesellschaft, 
der  Entwickelung  der  denkenden  Tätigkeit,  des  Ver- 
dienstes und  der  Ehre.  Die  Anerkennung  und  das  Recht, 
daß,  was  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft  und  im  Staate 
durch  die  Vernunft  notwendig  ist,  zugleich  durch  die 
Willkür  vermittelt  geschehe,  ist  die  nähere  Bestim- 
mung dessen,  was  vornehmlich  in  der  allgemeinen  Vor- 
stellung Freiheit  heißt  (§  121). 

§  207. 

Das  Individuum  gibt  sich  nur  Wirklichkeit,  indem  es 
in  das  Dasein  überhaupt,  somit  in  die  bestimmte  Be- 
sonderheit tritt,  hiermit  ausschließend  sich  auf  eine 
der  besonderen  Sphären  des  Bedürfnisses  beschränkt. 
Die  sittliche  Gesinnung  in  diesem  Systeme  ist  daher  die 
Rechtschaffenheit,  und  die  Standesehre,  sich  und 
zwar  aus  eigener  Bestimmung  durch  seine  Tätigkeit,  Fleiß 
und  Geschicklichkeit  zum  Gliede  eines  der  Momente  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  zu  machen  und  als  solches  zu 
erhalten,  und  nur  durch  diese  Vermittelung  mit  dem  All- 
gemeinen für  sich  zu  sorgen,  sowie  dadurch  in  seiner  Vor- 
stellung und  der  Vorstellung  anderer  anerkannt  zi  sein. 
—  Die  Moralität  hat  ihre  eigentümliche  Stelle  in  dieser 
Sphäre,  wo  die  Reflexion  [des  Individuums]  auf  sein  Tun,  der 
Zv/eck  der  besonderen  Bedürfnisse  und  des  Wohls  herr- 
schend ist  und  die  Zufälligkeit  in  Befriedigung  derselben 
auch  eine  zufällige  und  einzelne  Hilfe  zur  Pflicht  macht. 

Daß  das  Individuum  sich  zunächst  (d.  i,  besonders 
in  der  Juge.;d)  gegen  die  Vorstellung  sträubt,  sich  zu 
einem  besonderen  Stande  zu  entschließen,  und  dies  als 
eine  Beschränkung  seiner  allgemeinen  Bestimmung  und 
als  eine  bloß  äußerliche  Notwendigkeit  ansieht,  liegt 
in  dem  abstrakten  Denken,  das  an  dem  Allgemeinen  und 
damit  Unwirklichen  stehen  bleibt  und  nicht  erkennt,  daß 
um  dazusein,  der  Begriff  überhaupt  in  den  Unter- 
schied  des  Begriffs  und  seiner  Realität,   und  damit  in 


Bürgerl.  Gesellschaft,    ß.  Rechtspflege.    §  208—211.       169 

die  Bestimmtheit  und  Besonderheit  tritt  (s.  §  7),  und 
daß  es  nur  damit  Wirklichkeit  und  sittliche  Objektivität 
gewinnen  kann. 

§  208. 
Das  Prinzip  dieses  Systems  der  Bedürfnisse  hat  als 
die  eigene  Besonderheit  des  Wissens  und  des  WoUens  die 
an  und  für  sich  seiende  Allgemeinheit,  die  Allgemein- 
heit der  Freiheit  nur  abstrakt,  somit  als  Recht  des 
Eigentums  in  sich,  welches  aber  hier  nicht  mehr  nur 
an  sich,  sondern  in  seiner  geltenden  Wirklichkeit,  als 
Schutz  des  Eigentums  durch  die  Rechtspflege  ist. 

B.  Die  Rechtspflege. 

§209. 
Das  Relative  der  Wechselbeziehung  der  Bedürfnisse 
und  der  Arbeit  für  sie  hat  zunächst  seine  Reflexion  in 
sich,   überhaupt  in  der  unendlichen  Persönlichkeit,   dem 
(abstrakten)  Rechte.     Es  ist  aber  diese  Sphäre  des  Re- 
lativen, als  Bildung,  selbst,  welche  dem  Rechte  das  Da- 
sein   gibt,    als    allgemein    Anerkanntes,    Gewußtes 
und  Gewolltes  zu  sein,  und  vermittelt  durch  dies  Gewußt- 
und  Gewolltsein  Gelten  und  objektive  Wirklichkeit  zu  haben. 
Es  gehört  der  Bildung,  dem  Denken  als  Bewußtsein 
des  Einzelnen  in  Form  der  Allgemeinheit,  daß  Ich  als 
allgemeine  Person  aufgefaßt  werde,  worin  Alle  iden- 
tisch sind.    Der  Mensch  gilt  so,  weil  er  Mensch  ist, 
nicht  weil  er  Jude,  Katholik,  Protestant,  Deutscher,  Ita- 
liener u.  s.  f.  ist.    Dies  Bev/ußtsein,  dem  der  Gedanke 
gilt,  ist  von  unendlicher  Wichtigkeit,  —  nur  dann  mangel- 
haft,  wenn   es  etwa  als  Kosmopolitismus  sich  dazu 
fixiert,   dem   konkreten   Staatsleben   gegenüberzustehen. 

§  210. 
Die  objektive  Wirklichkeit  des  Rechts  ist,  teils  für 
das  Bewußtsein  zu  sein,  überhaupt  gewußt  zu  werden, 
teils  die  Macht  der  Wirklichkeit  zu  haben  und  zu  gelten 
und  damit  auch  als  allgemein  Gültiges  gewußt  zu 
werden, 

a)  Das  Recht  als  Gesetz. 
§  211. 
Was  an  sich  Recht  ist,  ist  in  seinem  objektiven  Dasein 
gesetzt,  d,  i.  durch  den  Gedanken  für  das  Bewußtsein  be- 


170     Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

stimmt  und  als  das,  was  Recht  ist  und  gilt,  bekannt,  das 
Gesetz;  und  das  Recht  ist  durch  diese  Bestimmung  po- 
sitives Recht  überhaupt. 

Etwas  als  Allgemeines  setzen,  —  d.i.  es  als  All- 
gemeines zum  Bewußtsein  bringen  —  ist  bekanntlich 
Denken  (vergl.  oben  §  13  Anm.  und  §  21  Anm.);  indem 
es  so  den  Inhalt  auf  seine  einfachste  Form  zurückbringt, 
gibt  es  ihm  seine  letzte  Bestimmtheit.  Was  Recht 
ist,  erhält  erst  damit,  daß  es  zum  Gesetze  wird,  nicht  nur 
die  Form  seiner  Allgemeinheit,  sondern  seine  wahr- 
hafte Bestimmtheit.  Es  ist  darum  bei  der  Vorstellung 
des  Gesetzgebens  nicht  bloß  da-s  eine  Moment  vor  sich 
zu  haben,  daß  dadurch  etwas  als  die  für  alle  gültige 
Regel  des  Benehmens  ausgesprochen  werde;  sondern  das 
innere  wesentliche  Moment  ist  vor  diesem  anderen  die 
Erkenntnis  des  Inhalts  in  seiner  bestimmten  All- 
gemeinheit. Gewohnheitsrechte  selbst,  da  nur  die 
Tiere  ihr  Gesetz  als  Instinkt  haben,  nur  die  Menschen 
aber  es  sind,  die  es  als  Gewohnheit  haben,  enthalten  das 
Moment,  als  Gedanken  zu  sein  und  gewußt  zu  werden. 
Ihr  Unterschied  von  Gesetzen  besteht  nur  darin,  daß  sie 
auf  eine  subjektive  und  zufällige  Weise  geweißt  werden, 
daher  für  sich  unbestimmter  [sind]  und  die  Allgemeinheit 
des  Gedankens  getrübter,  außerderu  die  Kenntnis  des  Rechts 
nach  dieser  und  jener  Seite  und  überhaupt  ein  zufälliges 
Eigentum  Weniger  ist.  Daß  sie  durch  ihre  Form,  als 
Gewohnheiten  zu  sein,  den  Vorzug  haben  sollen,  ins 
Leben  übergegangen  zu  sein  ( —  man  spricht  heutiges- 
tags  übrigens  gerade  da  am  meisten  vom  Leben  und 
vom  Übergehen  ins  Leben,  wo  man  in  dem  totesten 
Stoffe  und  in  den  totesten  Gedanken  versiert  — )  ist  eine 
Täuschung,  da  die  geltenden  Gesetze  einer  Nation  da- 
durch, daß  sie  geschrieben  und  gesammelt  sind,  nicht 
aufhören,  ihre  Gewohnheiten  zu  sein.  Wenn  die  Ge- 
wohnheitsrechte dazu  kommen,  gesammelt  und  zusammen- 
gestellt zu  werden,  was  bei  einem  nur  zu  einiger  Bildung 
gediehenen  Volke  bald  geschehen  muß,  so  ist  dann  diese 
Sammlung  das  Gesetzbuch,  das  sich  freilich,  weil  es 
bloße  Sammlung  ist,  durch  seine  Unförmlichkeit, 
Unbestimmtheit  und  Lückenhaftigkeit  auszeichnen  wird. 
Es  wird  sich  vornehmlich  von  einem  eigentlich  soge- 
nannten Gesetzbuche  dadurch  unterscheiden,  daß  dieses 
die  Rechtsprinzipien  in  ihrer  Allgemeinheit  und  damit 
in  ihrer  Bestimmtheit  denkend  auffaßt  und  ausspricht. 


Bürgerl.  Gesellschaft.    B.  Rechtspflege.    §212.  171 

Englands  Landrecht  oder  gemeines  Recht  ist  be- 
kanntlich in  Statuten  (förmlichen  Gesetzen)  und  in 
einem  sogenannten  ungeschriebenen  Gesetze  ent- 
halten; dieses  ungeschriebene  Gesetz  ißt  übrigens  ebenso- 
gut geschrieben,  und  dessen  Kenntnis  kann  und  muß 
durch  Lesen  allein  (der  vielen  Quartanten,  die  es  aus- 
füllt) erworben  werden.  Welche  ungeheure  Verwirrung 
aber  auch  in  der  dortigen  Rechtspflege  sowohl  als  in 
der  Sache  liegt,  schildern  die  Kenner  derselben.  Ins- 
besondere bemerken  sie  den  Umstand,  daß,  da  dies  un- 
geschriebene Gesetz  in  den  Dezisionen  der  Gerichtshöfe 
und  Richter  enthalten  ist,  die  Richter  damit  fortdauernd 
die  Gesetzgeber  machen,  daß  sie  auf  die  Autorität 
ihrer  Vorgänger,  als  die  nichts  getan  als  das  unge- 
schriebene Gesetz  ausgesprochen  haben,  ebenso  ange- 
wiesen sind  als  nicht  angewiesen  sind,  da  sie  selbst 
das  ungeschriebene  Gesetz  in  sich  haben  und  daraus  das 
Recht  haben,  über  die  vorhergegangenen  Entscheidungen 
zu  urteilen,  ob  sie  demselben  angemessen  sind  oder 
nicht.  —  Gegen  eine  ähnliche  Verwirrung,  die  in  der 
späteren  römischen  Rechtspflege  aus  den  Autoritäten 
aller  der  verschiedenen  berühmten  Juriskonsuiten  ent- 
stehen konnte,  wurde  von  einem  Kaiser  das  sinnreiche 
Auskunftsmittel  getroffen,  das  den  Namen  Citiergesetz 
führt  und  eine  Art  von  kollegialischer  Einrichtung  unter 
den  längst  verstorbenen  Rechtsgelehrten,  mit  Mehr- 
heit der  Stimmen  und  einem  Präsidenten,  einführte  (s. 
Herrn  Hugos  röm..  Rechtsgeschichte  §  854).  ■ —  Einer 
gebildeten  Nation  oder  dem  juristischen  Stande  in  der- 
selben die  Fähigkeit  abzusprechen,  ein  Gesetzbuch  zu 
machen,  —  da  es  nicht  darum  zu  tun  sein  kann,  ein 
System  ihrem  Inhalte  nach  neuer  Gesetze  zu  machen, 
sondern  den  vorhandenen  gesetzlichen  Inhalt  in  seiner 
bestimmten  Allgemeinheit  zu  erkennen,  d.  i.  ihn  denkeiid 
zu  fassen,  —  mit  Hinzuiügung  der  Anwendung  aufs  Be- 
sondere, —  wäre  einer  der  größten  Schimpfe*),  der 
einer  Nation  oder  jenem  Stande  angetan  werden  könnte. 

§  212. 

In  dieser  Identität  des  Ansichseins  und  des  Gesetzt- 
seins hat  nur  das  als  Recht  Verbindlichkeit,  was  Gesetz 

*)  Gegen  Savignys  Schrift    „Vom  Berufe  unserer  Zeit  zur 
Gesetzgebung-'. 


172      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit,     Zweiter  Abschnitt. 

ist.  Indem  das  Gesetztsein  die  Seite  des  Daseins  aus- 
macht, in  der  auch  das  Zufällige  des  Eigenwillens  und 
anderer  Besonderheit  eintreten  kann,  so  kann  das,  was 
Gesetz  ist,  in  seinem  Inhalte  noch  von  dem  verschieden 
sein,   was  an  sich  Recht  ist. 

Im  positiven  Rechte  ist  daher  das,  was  gesetz- 
mäßig ist,  die  Quelle  der  Erkenntnis  dessen,  was  Recht 
ist,  oder  eigentlich,  was  Rechtens  ist;  —  die  positive 
Rechtswissenschaft  ist  insofern  eine  historische  Wissen- 
schaft, welche  die  Autorität  zu  ihrem  Prinzip  hat.  Was 
noch  übrigens  geschehen  kann,  ist  Sache  des  Verstandes 
und  betrifft  die  äußere  Ordnung,  Zusammenstellung. 
Konsequenz,  weitere  Anwendung  u.  dergl.  Wenn  der 
Verstand  sich  auf  die  Natur  der  Sache  selbst  einläßt, 
so  zeigen  die  Theorien,  z.  B.  des  Kriminalrechts,  was 
er  mit  seinem  Räsonnement  aus  Gründen  anrichtet.  — 
Indem  die  positive  Wissenschaft  einerseits  nicht  nur 
das  Recht,  sondern  auch  die  notwendige  Pflicht  hat,  so- 
wohl die  historischen  Fortgänge  als  die  Anwendungen 
und  ZerSpaltungen  der  gegebenen  Rechtsbestimmungen 
in  alle  Einzelnheiten  aus  ihren  positiven  Datis  zu  dedu- 
zieren und  ihre  Konsequenz  zu  zeigen,  so  darf  sie  auf 
der  anderen  Seite  sich  wenigstens  nicht  absolut  ver- 
wundern, wenn  sie  es  auch  als  eine  Querfrage  für  ihre 
Beschäftigung  ansieht,  wenn  nun  gefragt  wird,  ob  denn 
nach  allen  diesen  Beweisen  eine  Rechtsbestimmung  ver- 
nünftig ist.  —  Vergl.  über  das  Verstehen  §  3  Anm. 

§213. 

Das  Recht,  indem  es  in  das  Dasein  zunächst  in  der 
Form  des  Gesetztseins  tritt,  tritt  auch  dem  Inhalte  nach 
als  Anwendung  in  die  Beziehung  auf  den  Stoff  der  in 
der  bürgerlichen  Gesellschaft  ins  Unendliche  sich  ver- 
einzelnden und  verwickelnden  Verhältnisse  und  Arten  des 
Eigentums  und  der  Verträge,  —  ferner  der  auf  Gemüt, 
Liebe  und  Zutrauen  beruhenden  sittlichen  Verhältnisse, 
jedoch  dieser  nur  insofern  sie  die  Seite  des  abstrakten 
Rechts  enthalten  (§  159);  die  moralische  Seite  und  mo- 
ralischen Gebote,  als  welche  den  Willen  nach  seiner 
eigensten  Subjektivität  und  Besonderheit  betreffen,  können 
nicht  Gegenstand  der  positiven  Gesetzgebung  sein.  Weiteren 
Stoff  liefern  die  aus  der  Rechtspflege  selbst,  aus  dem 
Staat  u.  s.  f.  fließenden  Rechte  und  Pflichten, 


Bürgerl.  Gesellschaft.    B.Rechtspflege.    §214.  173 

§214. 

Außer  der  Anwendung  auf  das  Besondere  schließt 
aber  das  Gesetztsein  des  Rechts  die  Anwendbarkeit  auf 
den  einzelnen  Fall  in  sich.  Damit  tritt  es  in  die  Sphäre 
des  durch  den  Begriff  Unbestimmten,  Quantitativen  (des 
Quantitativen  für  sich  oder  als  Bestimmung  des  Werts 
bei  Tausch  eines  Qualitativen  gegen  ein  anderes  Qualita- 
tives). Die  Begriffsbestimmtheit  gibt  nur  eine  allgemeine 
Grenze,  innerhalb  deren  noch  ein  Hin-  und  Hergehen  statt- 
findet. Dieses  muß  aber  zum  Behuf  der  Verwirklichung 
abgebrochen  werden,  womit  eine  innerhalb  jener  Grenze 
zufällige   und   willkürliche  Entscheidung   eintritt. 

In  dieser  Zuspitzung  des  Allgemeinen,  nicht  nur 
zum  Besonderen,  sondern  zur  Vereinzelung,  d.  i.  zur  un- 
mittelbaren Anwendung,  ist  es  vornehmlich,  wo  das 
rein  Positive  der  Gesetze  liegt.  Es  läßt  sich  nicht 
vernünftig  bestimmen,  noch  durch  die  Anwendung  einer 
aus  dem  Begriffe  herkommenden  Bestimmtheit  ent- 
scheiden, ob  für  ein  Vergehen  eine  Leibesstrafe  von 
vierzig  Streichen  oder  von  vierzig  weniger  eins,  noch 
ob  eine  Geldstrafe  von  fünf  Talern  oder  aber  von  vier 
Talern  und  dreiundzwanzig  u.  s.  f.  Groschen,  noch  ob  eine 
Gefängnisstrafe  von  einem  Jahre  oder  von  dreihundert- 
undvierundsechzig  u.  s.  f.  oder  von  einem  Jahre  und  einem, 
zwei  oder  drei  Tagen,  das  Gerechte  sei.  Und  doch  ist 
schon  ein  Streich  zuviel,  ein  Taler  oder  ein  Groschen, 
eine  Woche,  ein  Tag  Gefängnis  zuviel  oder  zuwenig 
eine  Ungerechtigkeit.  — •  Die  Vernunft  ist  es  selbst, 
welche  anerkennt,  daß  die  Zufälligkeit,  der  Widerspruch 
und  Schein  ihre,  aber  beschränkte,  Sphäre  und  Recht 
hat,  und  sich  nicht  bemüht,  dergleichen  Widersprüche 
ins  Gleiche  und  Gerechte  zu  bringen;  hier  ist  allein  noch 
das  Interesse  der  Verwirklichung,  das  Interesse,  daß 
überhaupt  bestimmt  und  entschieden  sei,  es  sei,  auf 
welche  Weise  es  (innerhalb  einer  Grenze)  wolle,  vor- 
handen. Dieses  Entscheiden  gehört  der  formellen  Ge- 
wißheit seiner  selbst,  der  abstrakten  Subjektivität  an, 
welche  sich  ganz  nur  daran  halten  mag,  —  daß  sie, 
innerhalb  jener  Grenze,  nur  abbreche  und  festsetze, 
damit  festgesetzt  sei,  —  oder  auch  an  solche  Bestim- 
mungsgründe, wie  eine  runde  Zahl  ist,  oder  als  die  Zahl 
Vierzig  weniger  Eins  enthalten  mag.  —  Daß  das  Gesetz 
etwa  nicht  diese  letzte  Bestimmtheit,  welche  die  Wirk- 


174     Dritter  Teil.     Dii;  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

lichkeit  erfordert,  festsetzt,  sondern  sie  dem  Richter 
zu  entscheiden  überläßt  und  ihn  nur  durch  ein  Minimum 
und  Maximum  beschränkt,  tut  nichts  zur  Sache,  denn 
dies  Minimum  und  Maximum  ist  jedes  selbst  eine  solche 
runde  Zahl  und  hebt  es  nicht  auf,  daß  von  dem  Richter 
alsdann  eine  solche  endliche,  rein  positive  Bestimmung 
gefaßt  werde,  sondern  gesteht  es  demselben,  wie  not- 
wendig, zu. 

b)  Das  Dasein  des  Gesetzes. 

§215. 

Die  Verbindlichkeit  gegen  das  Gesetz  schließt  von 
den  Seiten  des  Rechts  des  Selbstbewußtseins  (§  132  mit 
der  Anm.)  die  Notwendigkeit  ein,  daß  die  Gesetze  all- 
gemein  bekannt  gemacht  seien. 

Die  Gesetze  so  hoch  aufhängen,  wie  Dionysius 
der  Tyrann  tat,  daß  sie  kein  Bürger  lesen  konnte,  — 
oder  aber  sie  in  den  weitläufigen  Apparat  von  gelehrten 
Büchern,  Sammlungen  von  Dezisionen  abweichender  Ur- 
teile und  Meinungen,  Gewohnheiten  u.  s.  f.  und  noch 
dazu  in  einer  fremden  Sprache  vergraben,  so  daß  die 
Kenntnis  des  geltenden  Rechts  nur  denen  zugänglich  ist, 
die  sich  gelehrt  darauf  legen,  —  ist  ein  und  dasselbe 
Unrecht.  —  Die  Regenten,  welche  ihren  Völkern,  wenn 
auch  nur  eine  unförmliche  Sammlung,  wie  Justinian, 
noch  mehr  aber  ein  Land  recht,  als  geordnetes  und 
bestimmtes  Gesetzbuch,  gegeben  haben,  sind  nicht  nur 
die  größten  Wohltäter  derselben  geworden  und  mit  Dank 
dafür  von  ihnen  gepriesen  worden,  sondern  sie  haben 
damit  einen  großen  Akt  der  Gerechtigkeit  exerziert. 

§216. 

Für  das  öffentliche  Gesetzbuch  sind  einerseits  ein- 
fache allgemeine  Bestimmungen  zu  fordern,  andererseits 
führt  die  Natur  des  endlichen  Stoffs  auf  endlose  Fort- 
bestimmung. Der  Umfang  der  Gesetze  soll  einerseits  ein 
fertiges  geschlossenes  Ganzes  sein,  andererseits  ist  er 
das  fortgehende  Bedürfnis  neuer  gesetzlicher  Bestim- 
mungen. Da  diese  Antinomie  aber  in  die  Spezialisie- 
rung der  allgemeinen  Grundsätze  fällt,  welche  fest  bestehen 
bleiben,  so  bleibt  dadurch  das  Recht  an  ein  fertiges  Ge- 
setzbuch ungeschmälert,  sowie  daran,  daß  diese  allgemeinen 


Bürgerl.  Gesellschaft.    B.  Rechtspflege.    §217.  175 

einfachen    Grundsätze   für    sich,    unterschieden   von   ihrer 
Spezialisierung,    faßlich   und   aufstellbar   sind. 

Eine  Hauptquelle  der  Verwickelung  der  Gesetz- 
gebung ist  zwar,  wenn  in  die  ursprünglichen,  ein  Unrecht 
enthaltenden,  somit  bloß  historischen  Institutionen,  mit 
der  Zeit  das  Vernünftige,  an  und  für  sich  Rechtliche  ein- 
dringt, wie  bei  den  römischen  oben  (§  180  Anm.)  bemerkt 
worden,  dem  alten  Lehnsrechte  u.  s.  f.  Aber  es  ist  wesent- 
lich, einzusehen,  daß  die  Natur  des  endlichen  Stoffes 
selbst  es  mit  sich  bringt,  daß  an  ihm  die  Anwendung 
auch  der  an  und  für  sich  vernünftigen,  der  in  sich  all- 
gemeinen Bestimmungen  auf  den  Progreß  ins  Unend- 
liche führt.  —  An  ein  Gesetzbuch  die  Vollendung  zu 
fordern,  daß  es  ein  absolut  fertiges,  keiner  weiteren 
Fortbestimmung  fähiges  sein  solle,  —  eine  Forderung, 
welche  vornehmlich  eine  deutsche  Krankheit  ist,  — 
und  aus  dem  Grunde,  weil  es  nicht  so  vollendet  werden 
könne,  es  nicht  zu  etwas  sogenanntem  Unvollkommenen, 
d.  h.  nicht  zur  Wirklichkeit  kommen  zu  lassen,  beruht 
beides  auf  der  Mißkennung  der  Natur  endlicher  Gegen- 
stände, wie  das  Privatrecht  ist,  als  in  denen  die  soge- 
nannte Vollkommenheit  das  Perennieren  der  Annähe- 
rung ist,  und  auf  der  Mißkennung  des  Unterschiedes 
des  Vernunft-Allgemeinen  und  des  Verstandes-Allge- 
meinen  und  dessen  Anwenden  auf  den  ins  Unendliche 
gehenden  Stoff  der  Endlichkeit  und  Einzelnheit.  —  Le 
plus  grand  ennemi  du  bien  c'est  le  mieux^),  —  ist  der 
Ausdruck  des  wahrhaften  gesunden  Menschenverstandes 
gegen  den  eitlen  räsonnierenden  und  reflektierenden. 

§217. 

Wie  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft  das  Recht  an 
sich  zum  Gesetze  wird,  so  geht  auch  das  vorhin  unmittel- 
bare und  abstrakte  Dasein  meines  einzelnen  Rechts  in 
die  Bedeutung  des  Anerkanntseins  als  eines  Daseins  in 
dem  existierenden  allgemeinen  Willen  und  Wissen  über. 
Die  Erwerbungen  und  Handlungen  über  Eigentum  müssen 
daher  mit  der  Form,  welche  ihnen  jenes  Dasein  gibt, 
vorgenommen  und  ausgestattet  werden.  Das  Eigentum 
beruht  nun  auf  Vertrag  und  auf  den  dasselbe  des  Be- 
weises fähig  und  rechtskräftig  machenden  Förmlich- 
keiten. 


1)  In  der  1.  Aufl. ;   le  Meilleur. 


176     Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

Die  ursprünglichen  d.  1.  unmittelbaren  Erwerbungs- 
arten und  Titel  (§  54  ff.)  fallen  in  der  bürgerlichen  Ge- 
sellschaft eigentlich  hinweg  und  kommen  nur  als  einzelne 
Zufälligkeiten  oder  beschränkte  Momente  vor.  —  Es 
ist  teils  das  im  Subjektiven  stehen  bleibende  Gefühl, 
teils  die  Reflexion,  die  am  Abstraktum  ihrer  Wesentlich- 
keiten hält,  welche  die  Förmlichkeiten  verwirft,  die 
seinerseits  wieder  der  tote  Verstand  gegen  die  Sache 
festhalten  und  ins  Unendliche  vermehren  kann.  — 
Übrigens  liegt  es  im  Gange  der  Bildung,  von  der  sinn- 
lichen und  unmittelbaren  Form  eines  Inhaltes  mit  langer 
und  harter  Arbeit  zur  Form  seines  Gedankens  und  da- 
mit einem  ihm  gemäßen  einfachen  Ausdruck  zu  ge- 
langen, daß  im  Zustande  einer  nur  erst  beginnenden 
Rechtsbildung  die  Solennitäten  und  Formalitäten  von 
großer  Umständlichkeit  [sind]  und  mehr  als  Sache  selbst 
denn  als  das  Zeichen  gelten;  woher  denn  auch  im  rö- 
mischen Rechte  eine  Menge  von  Bestimmungen  und  be- 
sonders von  Ausdrücken  aus  den  Solennitäten  beibehalten 
worden  sind,  statt  durch  Gedankenbestimmungen  und 
deren  adäquaten  Ausdruck  ersetzt  worden  zu  sein. 

§218. 

Indem  Eigentum  und  Persönlichkeit  in  der  bürger- 
lichen Gesellschaft  gesetzliche  Anerkennung  und  Gültig- 
keit haben,  so  ist  das  Verbrechen  nicht  mehr  nur  Ver- 
letzung eines  subjektiv-Unendlichen,  sondern  der  all- 
gemeinen Sache,  die  eine  in  sich  feste  und  starke  Exi- 
stenz hat.  Es  tritt  damit  der  Gesichtspunkt  der  Gefähr- 
lichkeit der  Handlung  für  die  Gesellschaft  ein,  wodurch 
einerseits  die  Größe  des  Verbrechens  verstärkt  wird, 
andererseits  aber  setzt  die  ihrer  selbst  sicher  gewordene 
Macht  der  Gesellschaft  die  äußerliche  Wichtigkeit  der 
Verletzung  herunter  und  führt  daher  eine  größere  Milde  in 
der  Ahndung  desselben  herbei. 

Daß  in  einem  Mitgliede  der  Gesellschaft  die  anderen 
alle  verletzt  sind,  verändert  die  Natur  des  Verbrechens 
nicht  nach  seinem  Begriffe,  sondern  nach  der  Seite  der 
äußeren  Existenz,  der  Verletzung,  die  nun  die  Vor- 
stellung und  das  Bewußtsein  der  bürgerlichen  Gesell- 
schaft, nicht  nur  das  Dasein  des  unmittelbar  Verletzten 
trifft.  In  den  Heroenzeiten  (siehe  die  Tragödien  der 
Alten)  sehen  sich  die  Bürger  durch  die  Verbrechen, 
welche  die  Glieder  der  Königshäuser  gegeneinander  be- 


Bürgerl.  Gesellschaft.    B.  Rechtspflege.    §  219.  177 

gehen,  nicht  als  verletzt  an,  —  Indem  das  Verbrechen, 
an  sich  eine  unendliche  Verletzung,  als  ein  Dasein 
nach  qualitativen  und  quantitativen  Unterschieden  be- 
messen werden  muß  (§  96),  welches  nun  wesentlich  als 
Vorstellung  und  Bewußtsein  von  dem  Gelten  der 
Gesetze  bestimmt  ist,  so  ist  die  Gefährlichkeit  für 
die  bürgerliche  Gesellschaft  eine  Bestimmung  seiner 
Größe,  oder  auch  eine  seiner  qualitativen  Bestimmungen. 
—  Diese  Qualität  nun  oder  Größe  ist  aber  nach  dem 
Zustande  der  bürgerlichen  Gesellschaft  veränderlich, 
und  in  ihm  liegt  die  Berechtigung,  sowohl  einen  Dieb- 
stahl von  etlichen  Sous  oder  einer  Rübe  mit  dem  Tode, 
als  einen  Diebstahl,  der  das  Hundert-  und  Mehrfache 
von  dergleichen  Werten  beträgt,  mit  einer  gelinden 
Strafe  zu  belegen.  Der  Gesichtspunkt  der  Gefährlich- 
keit für  die  bürgerliche  Gesellschaft,  indem  er  die  Ver- 
brechen zu  aggravieren  scheint,  ist  es  vielmehr  vor- 
nehmlich, der  ihre  Ahndung  vermindert  hat.  Ein  Straf- 
kodex gehört  darum  vornehmlich  seiner  Zeit  und  dem 
Zustand  der  bürgerlichen  Gesellschaft  in  ihr  an. 

c)  Das  Gericht. 

§219. 

Das  Recht,  in  der  Form  des  Gesetzes  in  das  Dasein 
getreten,  ist  für  sich,  steht  dem  besonderen  Wollen 
und  Meinen  vom  Rechte  selbständig  gegenüber  imd  hat 
sich  als  Allgemeines  geltend  zu  machen.  Diese  Er- 
kenntnis und  Verwirklichung  des  Rechts  im  besonderen 
Falle,  ohne  die  subjektive  Empfindung  des  besonderen 
Interesses,  kommt  einer  öffentlichen  Macht,  dem  Ge- 
richte, zu. 

Die  historische  Entstehung  des  Richters  und  der 
Gerichte  mag  die  Form  des  patriarchalischen  Verhält- 
nisses oder  der  Gewalt  oder  der  freiwilligen  Wahl 
gehabt  haben;  für  den  Begriff  der  Sache  ist  dies  gleich- 
gültig. Die  Einführung  des  Rechtsprechens  von  selten 
der  Fürsten  und  Regierungen  als  bloße  Sache  einer  be- 
liebigen Gefälligkeit  und  Gnade  anzusehen,  wie  Herr 
von  Ha  11  er  (in  seiner  Restauration  der  Staatswissen- 
schaft) tut,  gehört  zu  der  Gedankenlosigkeit,  die  davon 
nichts  ahnt,  daß  beim  Gesetz  und  Staate  davon  die 
Rede  sei,  daß  ihre  Institutionen  überhaupt  als  vernünf- 
tig an  und  für  sich  notwendig  sind,  und  die  Form,  wie 

Hegel,  Rechtsphilosophie.  12 


178      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt; 

sie  entstanden  und  eingeführt  worden,  das  nicht  ist,  um 
das  es  sich  bei  Betrachtung  ihres  vernünftigen  Grundes 
handelt.  —  Das  andere  Extrem  zu  dieser  Ansicht  ist 
die  Roheit,  die  Rechtspflege,  wie  in  den  Zeiten  des 
Faustrechts,  für  ungehörige  Gewalttätigkeit,  Unter- 
drückung der  Freiheit  und  Despotismus  zu  achten.  Die 
Rechtspflege  ist  so  sehr  als  Pflicht  wie  als  Recht  der 
öffentlichen  Macht  anzusehen,  das  ebensowenig  auf 
einem  Belieben  der  Individuen,  eine  Macht  damit  zu 
beauftragen   oder   nicht,   beruht. 

§  220. 

Das  Recht  gegen  das  Verbrechen  in  der  Form  der 
Rache  (§  102)  ist  nur  Recht  an  sich,  nicht  in  der  Form 
Rechtens,  d.  i.  nicht  in  seiner  Existenz  gerecht.  Statt 
der  verletzten  Partei  tritt  das  verletzte  Allgemeine  auf, 
das  im  Gerichte  eigentümliche  Wirklichkeit  hat,  und  über- 
nimmt die  Verfolgung  und  Ahndung  des  Verbrechens, 
welche  damit  die  nur  subjektive  und  zufällige  Wieder- 
vergeltung durch  Rache  zu  sein  aufhört  und  sich  in  die 
wahrhafte  Versöhnung  des  Rechts  mit  sich  selbst,  in  Strafe 
verwandelt,  —  in  objektiver  Rücksicht,  als  Versöhnung 
des  durch  Aufheben  des  Verbrechens  sich  selbst  wieder- 
herstellenden und  damit  als  gültig  verwirklichenden 
Gesetzes,  und  in  subjektiver  Rücksicht  des  Verbrechers, 
als  seines  von  ihm  gewußten  und  für  ihn  und  zu  seinem 
Schutze  gültigen  Gesetzes,  in  dessen  Vollstreckung 
an  ihm  er  somit  selbst  die  Befriedigung  der  Gerechtig- 
keit, nur  die  Tat  des  Seinigen,  findet. 

§221. 

Das  Mitglied  der  bürgerlichen  Gesellschaft  hat  das 
Recht,  im  Gericht  zu  stehen,  sowie  die  Pflicht,  sich 
vor  Gericht  zu  stellen  und  sein  streitiges  Recht  nur 
von  dem  Gericht  zu  nehmen. 

§  222. 

Vor  den  Gerichten  erhält  das  Recht  die  Bestimmung, 
ein  erweisbares  sein  zu  müssen.  Der  Rechtsgang 
setzt  die  Parteien  in  den  Stand,  ihre  Beweismittel  und 
Rechtsgründe  geltend  zu  machen,  und  den  Richter,  sich  in 
die  Kenntnis  der  Sache  zu  setzen.     Diese  Schritte  sind 


Bürgerl.  Gesellschaft.    B,  Rechtspflege.    §  223—224.       179 

selbst  Rechte;  ihr  Gang  muß  somit  gesetzlich  bestimmt 
sein,  und  sie  machen  auch  einen  wesentlichen  Teil  der 
theoretischen   Rechtswissenschaft  aus. 

§  223. 

Durch  die  Zersplitterung  dieser  Handlungen  in  immer 
mehr  vereinzelte  Handlungen  und  deren  Rechte,  die  in  sich 
keine  Grenze  enthält,  tritt  der  Rechtsgang,  an  sich  schon 
Mittel,  als  etwas  Äußerliches  seinem  Zwecke  gegenüber. 

—  Indem  den  Parteien  das  Recht,  solchen  weitläufigen 
Formalismus  durchzumachen,  der  ihr  Recht  ist,  zusteht, 
so  ist,  indem  er  ebenso  zu  einem  Übel  und  selbst  Werk- 
zeuge des  Unrechts  gemacht  werden  kann,  es  ihnen  von 
Gerichts  wegen,  —  um  die  Parteien  und  das  Recht  selbst 
als  die  substantielle  Sache,  worauf  es  ankommt,  gegen 
den  Rechtsgang  und  dessen  Mißbrauch  in  Schutz  zu  nehmen, 

—  zur  Pflicht  zu  machen,  einem  einfachen  Gerichte 
(Schieds-,  Friedensgericht)  und  dem  Versuche  des  Ver- 
gleichs sich  zu  unterwerfen,  ehe  sie  zu  jenem  schreiten. 

Die  Billigkeit  enthält  einen  dem  formellen  Rechte 
aus  moralischen  oder  anderen  Rücksichten  geschehenden 
Abbruch,  und  bezieht  sich  zunächst  auf  den  Inhalt  des 
Rechtsstreites.  Ein  Billigkeitsgerichtshof  aber  wird 
die  Bedeutung  haben,  daß  er  über  den  einzelnen  Fall, 
ohne  sich  an  die  Formalitäten  des  Rechtsganges  und 
insbesondere  an  die  objektiven  Beweismittel,  wie  sie 
gesetzlich  gefaßt  werden  können,  zu  halten,  sowie  nach 
dem  eigenen  Interesse  des  einzelnen  Falles  als  dieses, 
nicht  im  Interesse  einer  allgemeinen  zu  machenden  ge- 
setzlichen Disposition,   entscheidet. 

§224. 

Wie  die  öffentliche  Bekanntmachung  der  Gesetze  unter 
die  Rechte  des  subjektiven  Bewußtseins  fällt  (§  215),  so 
auch  die  Möglichkeit,  die  Verwirklichung  des  Gesetzes 
im  besonderen  Falle,  nämlich  den  Verlauf  von  äußerlichen 
Handlungen,  von  Rechtsgründen  u.  s.  f.  zu  kennen,  indem 
dieser  Verlauf  an  sich  eine  allgemein  gültige  Geschichte 
ist,  und  der  Fall  seinem  besonderen  Inhalte  nach  zwar 
nur  das  Interesse  der  Parteien,  der  allgemeine  Inhalt  aber 
das  Recht  darin,  und  dessen  Entscheidung  das  Interesse 
aller   betrifft,    —  Öffentlichkeit   der   Rechtspflege. 

12* 


180      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

Deliberationen  der  Mitglieder  des  Gerichts  über  das 
zu  fällende  Urteil  unter  sich  sind  Äußerungen  der  noch 
besonderen  Meinungen  und  Ansichten,  also  ihrer  Natur 
nach  nichts  öffentliches. 

§225. 

In  dem  Geschäfte  des  Rechtsprechens  als  der  An- 
wendung des  Gesetzes  auf  den  einzelnen  Fall  unter- 
scheiden sich  die  zwei  Seiten,  erstens  die  Erkenntnis 
der  Beschaffenheit  des  Falles  nach  seiner  unmittelbaren 
Einzelnheit,  ob  ein  Vertrag  u.  s.  f.  vorhanden,  eine  ver- 
letzende Handlung  begangen,  und  wer  deren  Täter  sei,  und 
im  peinlichen  Hechte  die  Reflexion  als  Bestimmung  der 
Handlung  nach  ihrem  substantiellen,  verbrecherischen 
Charakter  (§  119  Anm.),  —  zweitens  die  Subsumtion  des 
Falles  unter  das  Gesetz  der  Wiederherstellung  des  Rechts, 
worunter  im  Peinlichen  die  Strafe  begriffen  ist.  Die  Ent- 
scheidungen über  diese  beiden  verschiedenen  Seiten  sind 
verschiedene  Funktionen. 

In  der  römischen  Gerichtsverfassung  kam  die  Unter- 
scheidung dieser  Funktionen  darin  vor,  daß  der  Prätor 
seine  Entscheidung  gab,  im  Fall  sich  die  Sache  so 
oder  so  verhalte,  und  daß  er  zui-  Untersuchung  dieses 
Verhaltens  einen  besonderen  Judex  bestellte.  —  Die 
Charakterisierung  einer  Handlung  nach  ihrer  bestimmten 
verbrecherischen  Qualität  (ob  z.  B.  ein  Mord  oder  Tötung) 
ist  im  englischen  Rechtsverfahren  der  Einsicht  oder 
Willkür  des  Anklägers  überlassen,  und  das  Gericht  kann 
keine  andere  Bestimmung  fassen,  wenn  es  jene  unrichtig 
findet. 

§  226. 

Vornehmlich  die  Leitung  des  ganzen  Ganges  der  Unter- 
suchung, dann  der  Rechtshandlungen  der  Parteien,  als 
welche  selbst  Rechte  sind  (§  222),  dann  auch  die  zweite 
Seite  des  Rechtsurteils  (s.  vorherg.  §)  ist  ein  eigentüm- 
liches Geschäft  des  juristischen  Richters,  für  welchen  als 
Organ  des  Gesetzes  der  Fall  zur  Möglichkeit  der  Sub- 
sumtion vorbereitet,  d.  i.  aus  seiner  erscheinenden  empi- 
rischen Beschaffenheit  heraus,  zur  anerkannten  Tatsache 
und  zur  allgemeinen  Qualifikation  erhoben  worden  sein 
muß. 


Bürgerl.  G-esellschaft.    B.  Rechtspflege.    §  227.   '         181 

§  227. 

Die  erstere  Seite,  die  Erkenntnis  des  Falles  in  seiner 
unmittelbaren  Einzelnheit  und  seine  Qualifizierung  ent- 
hält für  sich  kein  Rechtsprechen.  Sie  ist  eine  Erkenntnis, 
wie  sie  jedem  gebildeten  Menschen  zusteht.  Inso- 
fern für  die  Qualifikation  der  Handlung  das  subjektive  Mo- 
ment der  Einsicht  und  Absicht  des  Handelnden  (s.  IL  T.) 
wesentlich  ist,  und  der  Beweis  ohnehin  nicht  Vernunft- 
oder abstrakte  Verstandesgegenstände,  sondern  nur  Einzeln- 
heiten, Umstände  und  Gegenstände  sinnlicher  Anschauung 
und  subjektiver  Gewißheit  betrifft,  daher  keine  absolut 
objektive  Bestimmung  in  sich  enthält,  so  ist  das  Letzte 
in  der  Entscheidung  die  subjektive  Überzeugung  und 
das  Gewissen  (animi  sententia),  wie  in  Ansehung  des  Be- 
weises, der  auf  Aussagen  und  Versicherungen  anderer 
beruht,  der  Eid  die  zwar  subjektive,  aber  letzte  Bewäh- 
rung ist. 

Bei  dem  in  Rede  stehenden  Gegenstand  ist  es  eine 
Hauptsache,  die  Natur  des  Beweisens,  auf  welches 
es  hier  ankommt,  ins  Auge  zu  fassen  und  es  von  dem 
Erkennen  und  Beweisen  anderer  Art  zu  unterscheiden. 
Eine  Vernunftbestimmung,  wie  der  Begriff  des  Rechts 
selbst  ist,  zu  beweisen,  d.  i.  ihre  Notwendigkeit  zu  er- 
kennen, erfordert  eine  andere  Methode  als  der  Beweis 
eines  geometrischen  Lehrsatzes.  Ferner  bei  letzterem 
ist  die  Figur  vom  Verstände  bestimmt  und  einem  Ge- 
setze gemäß  bereits  abstrakt  gemacht;  aber  bei  einem 
empirischen  Inhalt,  wie  eine  Tatsache  ist,  ist  der  Stoff 
des  Erkennens  die  gegebene  sinnliche  Anschauung  und 
die  sinnliche  subjektive  Gewißheit  und  das  Aussprechen 
und  Versichern  von  solcher,  —  woran  nun  das  Schließen 
und  Kombinieren  aus  solchen  Aussagen,  Zeugnissen,  Um- 
ständen u.  dergl.  tätig  ist.  Die  objektive  Wahrheit, 
welche  aus  solchem  Stoffe  und  der  ihm  gemäßen  Me- 
thode hervorgeht,  —  die  bei  dem  Versuche  sie  für  sich 
objektiv  zu  bestimmen,  auf  halbe  Beweise  und  in 
weiterer  wahrhafter  Konsequenz,  die  zugleich  eine  for- 
m.elle  Inkonsequenz  in  sich  enthält,  auf  außerordent- 
liche Strafen  führt,  —  hat  einen  ganz  anderen  Sinn  als 
die  Wahrheit  einer  Vernunftbestimmung  oder  eines  Satzes, 
dessen  Stoff  sich  der  Verstand  bereits  abstrakt  be- 
stimmt hat.  Daß  nun  solche  empirische  Wahrheit  einer 
Begebenheit  zu  erkennen,  in  der  eigentlich  juristischen 


182      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

Bestimmung  eines  Gerichts,  daß  in  dieser  eine  eigen- 
tümliche Qualität  hierfür  und  damit  ein  ausschließendes 
Recht  an  sich  und  Notwendigkeit  liege,  dies  aufzuzeigen 
machte  einen  Hauptgesichtspunkt  bei  der  Frage  aus, 
inwiefern  den  förmlichen  juristischen  Gerichtshöfen  das 
Urteil  über  das  Faktum  wie  über  die  Rechtsfrage  zu- 
zuschreiben sei. 

§  228. 

Das  Recht  des  Selbstbewußtseins  der  Partei  ist  im 
Richterspruch  nach  der  Seite,  daß  er  die  Subsumtion 
des  qualifizierten  Falles  unter  das  Gesetz  ist,  in  An- 
sehung des  Gesetzes  dadurch  bewahrt,  daß  das  Gesetz 
bekannt  und  damit  das  Gesetz  der  Partei  selbst,  und  in 
Ansehung  der  Subsumtion,  daß  der  Rechtsgang  öffent- 
lich ist.  Aber  in  Ansehung  der  Entscheidung  über  den 
besonderen,  subjektiven  und  äußerlichen  Inhalt  der 
Sache,  dessen  Erkenntnis  in  die  ersten  der  §  225  ange- 
gebenen Seiten  fällt,  findet  jenes  Recht  in  dem  Zutrauen 
zu  der  Subjektivität  der  Entscheidenden  seine  Befriedigung. 
Dies  Zutrauen  gründet  sich  vornehmlich  auf  die  Gleich- 
heit der  Partei  mit  denselben  nach  ihrer  Besonderheit, 
dem  Stande,  u.  dergl. 

Das  Recht  des  Selbstbewußtseins,  das  Moment  der 
subjektiven  Freiheit,  kann  als  der  substantielle  Ge- 
sichtspunkt in  der  Frage  über  Notwendigkeit  der  öffent- 
lichen Rechtspflege  und  der  sogenannten  Geschwornen- 
gerichte  angesehen  werden.  Auf  ihn  reduziert  sich  das 
Wesentliche,  was  in  der  Form  der  Nützlichkeit  für 
diese  Institutionen  vorgebracht  werden  kann.  Nach 
anderen  Rücksichten  und  Gründen  von  diesen  oder  jenen 
Vorteilen  oder  Nachteilen,  kann  herüber  und  hinüber 
gestritten  werden;  sie  sind  wie  alle  Gründe  des  Räsonne- 
ments  sekundär  und  nicht  entscheidend,  oder  aber  aus 
anderen  vielleicht  höheren  Sphären  genommen.  Daß 
die  Rechtspflege  an  sich  von  rein  juristischen  Gerichten 
gut,  vielleicht  besser  als  mit  anderen  Institutionen,  aus- 
geübt werden  könne,  um  diese  Möglichkeit  handelt 
es  sich  insofern  nicht,  als,  wenn  sich  auch  diese  Mög- 
lichkeit zur  Wahrscheinlichkeit,  ja  selbst  zur  Notwendig- 
keit steigern  ließe,  es  von  der  anderen  Seite  immer 
das  Recht  des  Selbstbewußtseins  ist,  welches  dabei 
seine  Ansprüche  behält  und  sie  nicht  befriedigt  findet. 


Bürgerl.  Gesellsch.    C.  Polizei  u.  Korporation.    §  229—230.     183 

—  Wenn  die  Kenntnis  des  Rechts  durch  die  Beschaffen- 
heit dessen,  was  die  Gesetze  in  ihrem  Umfange  ausmacht, 
ferner  des  Ganges  der  gerichtlichen  Verhandlungen,  und 
die  Möglichkeit  das  Recht  zu  verfolgen,  Eigentum 
eines  auch  durch  Terminologie,  die  für  die,  um  deren 
Recht  es  geht,  eine  fremde  Sprache  ist,  sich  ausschließend 
machenden  Standes  ist,  so  sind  die  Mitglieder  der  bürger- 
lichen Gesellschaft,  die  für  die  Subsistenz  auf  ihre 
Tätigkeit,  ihr  eigenes  Wissen  und  Wollen  an- 
gewiesen sind,  gegen  das  nicht  nur  Persönlichste  und 
Eigenste,  sondern  auch  das  Substantielle  und  Vernünftige 
darin,  das  Recht,  fremde  gehalten  und  unter  Vor- 
mundschaft, selbst  in  eine  Art  von  Leibeigenschaft 
gegen  solchen  Stand,  gesetzt.  Wenn  sie  wohl  das  Recht 
haben,  im  Gerichte  leiblich,  mit  den  Füßen,  zugegen 
zu  sein  (in  judicio  stare),  so  ist  dies  wenig,  wenn 
sie  nicht  geistig,  mit  ihrem  eigenen  Wissen  gegen- 
wärtig sein  sollen,  und  das  Recht,  das  sie  erlangen, 
bleibt  ein  äußerliches  Schicksal  für  sie, 

§  229. 

In  der  Rechtspflege  führt  sich  die  bürgerliche  Gesell- 
schaft, in  der  sich  die  Idee  in  der  Besonderheit  verloren  [hat] 
und  in  die  Trennung  des  Inneren  und  Äußeren  auseinander- 
gegangen ist,  zu  deren  Begriffe,  der  Einheit  des  an  sich 
seienden  Allgemeinen  mit  der  subjektiven  Besonderheit 
zurück,  jedoch  diese  im  einzelnen  Falle  und  jenes  in  der 
Bedeutung  des  abstrakten  Rechts.  Die  Verwirklichung 
dieser  Einheit  in  der  Ausdehnung  auf  den  ganzen  Umfang 
der  Besonderheit,  zunächst  als  relativer  Vereinigung,  macht 
die  Bestimmung  der  Polizei,  und  in  beschränkter,  aber 
konkreter  Totalität,  die  Korporation  aus. 

C.  Die  Polizei  uud  Korporation. 

§  230. 

Im  System  der  Bedürfnisse  ist  die  Subsistenz 
und  das  Wohl  jedes  Einzelnen  als  eine  Möglichkeit, 
deren  Wirklichkeit  durch  seine  Willkür  und  natürliche 
Besonderheit  ebenso  als  durch  das  objektive  System  der 
Bedürfnisse  bedingt  ist;  durch  die  Rechtspflege  wird  die 
Verletzung  des  Eigentums  und  der  Persönlichkeit  getilgt. 
Das  in  der  Besonderheit  wirkliche  Recht  enthält  aber 


184      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

sowohl,  daß  die  Zufälligkeiten  gegen  den  einen  und 
den  anderen  Zweck  aufgehoben  seien,  und  die  un- 
gestörte Sicherheit  der  Person  und  des  Eigentums 
bewirkt,  als  daß  die  Sicherung  der  Subsistenz  und  des 
Wohls  der  Einzelnen,  —  daß  das  besondere  Wohl  als 
Recht  behandelt  und  verwirklicht  sei. 

a)  Die  Polizei. 

§231. 

Die  sichernde  Macht  des  Allgemeinen  bleibt  zinichst, 
insofern  für  den  einen  oder  anderen  Zweck  der  besondere 
Wille  noch  das  Prinzip  ist,  teils  au'  den  Kreis  der  Zufällig- 
keiten beschränkt,  teils  eine  äußere  Ordnung. 

§  232. 
Außer  den  Verbrechen,  welche  die  allgemeine  Macht 
zu  verhindern  oder  zur  gerichtlichen  Behandlung  zu  bringen 
hat,  —  der  Zufälligkeit  als  Willkür  des  Bösen,  —  har 
die  erlaubte  Yvlllkür  für  sich  rechtlicher  Handlungen  und 
des  Privatgebrauchs  des  Eigentums  auch  äußerliche  Be- 
ziehungen auf  andere  Einzelne,  sowie  auf  sonstige  öffent- 
liche Veranstaltungen  eines  gemeinsamen  Zwecks.  Durch 
diese  allgemeine  Seite  werden  Privathandlungen  eine  Zu- 
fälligkeit, die  aus  meiner  Gev.-alt  tritt  und  den  anderen 
zum  Schaden  und  Unrecht  gereichen  kann  oder  gereicht. 

§  233. 
Dies  ist  zwar  nur  eine  Möglichkeit  des  Schadens, 
aber  daß  die  Sache  nichts  schadet,  ist  als  eine  Zufälligkeit 
gleichfalls  nicht  mehr;  dies  ist  die  Seite  des  Unrechts, 
die  in  solchen  Handlungen  liegt,  somit  der  letzte  Grund 
der  polizeilichen  Strafgerechtigkeit. 

§  234. 

Die  Beziehungen  des  äußerlichen  Daseins  fallen  in 
die  Verstandesunendlichkei';;  es  ist  daher  keine  Grenze  an 
sich  vorhanden,  was  schädlich  oder  nicht  schädlich,  auch 
in  Rücksicht  auf  Verbrechen,  was  verdächtig  oder  unver- 
dächtig sei,  was  zu  verbieten  oder  zu  beaufsichtigen,  oder 
mit  Verboten,  Beaufsichtigung  und  Verdacht,  Nachfrage 
und  Rechenschaf tgebung  verschont  zu  lassen  sei.  Es  sind 
die  Sitten,  der  Geist  der  übrigen  Verfassung,  der  jedes- 
malige Zustand,  die  Gefahr  des  Augenblicks  u.  s.  f.,  welche 
die  näheren  Bestimmungen  geben. 


Bürgerl.  Gesellsch.    C.  Polizei  u.  Korporation.    §  236 — 236.      185 

§  235. 

In  der  unbestimmten  Vervielfältigung  und  Verschrän- 
kung der  täglichen  Bedürfnisse  ergeben  sich  in  Rücksicht 
auf  die  Herbeischaffung  und  den  Umtausch  der 
Mittel  ihrer  Befriedigung,  auf  deren  ungehinderte  Mög- 
lichkeit sich  jeder  verläßt,  sowie  in  Rücksicht  der  darüber 
so  sehr  als  möglich  abzukürzenden  Untersuchungen  und 
Verhandlungen  Seiten,  die  ein  gemeinsames  Interesse  sind 
und  zugleich  für  alle  das  Geschäft  von  einem,  —  und 
Mittel  und  Veranstaltungen,  welche  für  gemeinschaftlichen 
Gebrauch  sein  können.  Diese  allgemeinen  Geschäfte 
und  gemeinnützigen  Veranstaltungen  fordern  die  Auf- 
sicht und  Vorsorge  der  öffentlichen  Macht. 

§  236. 

Die  verschiedenen  Interessen  der  Produzenten  und 
Konsumenten  können  in  Kollision  miteinander  kommen,  und 
wenn  sich  zwar  das  richtige  Verhältnis  im  ganzen  von 
selbst  herstellt,  so  bedarf  die  Ausgleichung  auch  einer 
über  beiden  stehenden  mit  Bewußtsein  vorgenommenen 
Regulierung.  Das  Recht  zu  einer  solchen  für  das  Einzelne 
(z.  B.  Taxation  der  Artikel  der  gemeinsten  Lebensbedürfnisse) 
liegt  darin,  daß  durch  das  öffentliche  Ausstellen  Waren, 
die  von  ganz  allgemeinem,  alltäglichem  Gebrauche  sind, 
nicht  sowohl  einem  Individuum  als  solchem,  sondern  ihm 
als  Allgemeinem,  dem  Publikum,  angeboten  werden,  dessen 
Recht,  nicht  betrogen  zu  werden,  und  die  Untersuchung 
der  Waren,  als  ein  gemeinsames  Geschäft  von  einer  öffent- 
lichen Macht  vertreten  und  besorgt  werden  kann.  —  Vor- 
nehmlich aber  macht  die  Abhängigkeit  großer  Industrie- 
zv/eige  von  auswärtigen  Umständen  und  entfernten  Kom- 
binationen, welche  die  an  jene  Sphären  angewiesenen  und 
gebundenen  Individuen  in  ihrem  Zusammenhang  nicht  über- 
sehen können,  eine  allgemeine  Vorsorge  und  Leitung  not- 
wendig. 

Gegen  die  Freiheit  des  Gewerbes  und  Handels  in 
der  bürgerlichen  Gesellschaft  ist  das  andere  Extrem 
die  Versorgung,  sowie  die  Bestimmung  der  Arbeit  aller 
durch  öffentliche  Veranstaltung,  —  wie  etwa  auch  die 
alte  Arbeit  der  Pyramiden  und  der  anderen  ungeheuren 
ägyptischen  und  asiatischen  Werke,  welche  für  öffent- 
liche Zwecke,  ohne  die  Vermittelung  der  Arbeit  des 
Einzelnen  durch  seine  besondere  Willkür   und  sein  be- 


186      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt, 

sonderes  Interesse,  hervorgebracht  wurden.  Dieses  Inter- 
esse ruft  jene  Freiheit  gegen  die  höhere  Regulierung 
an,  bedarf  aber,  je  mehr  es  blind  in  den  selbstsüchtigen 
Zweck  vertieft  [ist],  um  so  mehr  einer  solchen,  um  zum 
Allgemeinen  zurückgeführt  zu  werden  und  um  die  ge- 
fährlichen Zuckungen  und  die  Dauer  des  Zwischenraumes, 
in  welchem  sich  die  Kollisionen  auf  dem  Wege  bewußt- 
loser Notwendigkeit  ausgleichen  sollen,  abzukürzen  und 
zu  mildern. 

§  237. 

Wenn  nun  die  Möglichkeit  der  Teilnahme  an  dem 
allgemeinen  Vermögen  für  die  Individuen  vorhanden  und 
durch  die  öffentliche  Macht  gesichert  ist,  so  bleibt  sie, 
ohnehin  daß  diese  Sicherung  unvollständig  bleiben  muß, 
noch  von  der  subjektiven  Seite  den  Zufälligkeiten  unter- 
worfen, und  um  so  mehr,  je  mehr  sie  Bedingungen  der 
Geschicklichkeit,  Gesundheit,  Kapital  u.  s.  w.  voraussetzt. 

§  238. 

Zunächst  ist  die  Familie  das  substantielle  Ganze,  dem 
die  Vorsorge  für  diese  besondere   Seite  des  Individuums 
sowohl  in  Rücksicht  der  Mittel  und  Geschicklichkeiten,  um 
aus  dem  allgemeinen  Vermögen  sich  [etwas]  erwerben  zu 
können,  als  auch  [in  Rücksicht]  seiner  Subsistenz  und  Ver- 
sorgung im  Falle  eintretender  Unfähigkeit,  angehört.    Die 
bürgerliche   Gesellschaft   reißt  aber   das   IndiWduum   aus 
diesem  Bande  heraus,  entfremdet  dessen  Glieder  einander    j 
und  anerkennt  sie  als  selbständige  Personen;  sie  substituiert    ) 
ferner   statt   der   äußeren   unorganischen    Natur   und    des    ' 
väterlichen  Bodens,   in  welchem   der   Einzelne  seine  Sub-    i 
sistenz   hatte,    den   ihrigen    und    unterwirft   das   Bestehen    \ 
der  ganzen  Familie  selbst,  der  Abhängigkeit  von  ihr,  der    j 
Zufälligkeit.     So  ist  das  Individuum   Sohn  der  bürger-    j 
liehen    Gesellschaft    geworden,     die    ebensosehr    An-    I 
Sprüche  an  ihn,  als  er  Rechte  auf  sie  hat.  1 

§  239. 

Sie  hat  in  diesem  Charakter  der  allgemeinen 
Familie  die  Pflicht  und  das  Recht  gegen  die  Willkür 
und  Zufälligkeit  der  Eltern,  auf  die  Erziehung,  insofern 
sie  sich  auf  die   Fähigkeit,   Mitglied  der  Gesellschaft  zu 


Bürgerl.  Gesellsch.    C.  Polizei  u.  Korporation.    §  240 — 242,      187 

werden,  bezieht,  vornehmlich  wenn  sie  nicht  von  den 
Eltern  selbst,  sondern  von  anderen  zu  vollenden  ist,  Auf- 
sicht und  Einwirkung  zu  haben,  —  ingleichen  insofern 
gemeinsame  Veranstaltungen  dafür  gemacht  werden  können, 
diese  zu  treffen. 

§240. 

Gleicherweise  hat  sie  die  Pilicht  und  das  Recht  über 
die,  welche  durch  Verschwendung  die  Sicherheit  ihrer  und 
ihrer  Familie  Subsistenz  vernichten,  [sie]  in  V^ormundschaft 
zu  nehmen  und  an  ihrer  Stelle  den  Zweck  der  Gesellschaft 
und  den  ihrigen  auszuführen. 

§  241. 
Aber  ebenso  als  die  Willkür  können  zufällige,  phy- 
sische und  in  den  äußeren  Verhältnissen  (§  200)  liegende 
Umstände  Individuen  zur  Armut  herunterbringen,  einem  Zu- 
stande, der  ihnen  die  Bedürfnisse  der  bürgerlichen  Gesell- 
schaft läßt,  und  der  —  indem  sie  ihnen  zugleich  die  natür- 
lichen Erwerbsmittel  (§  217)  entzogen  [hat]  und  das  weitere 
Band  der  Familie  als  eines  Stammes  aufhebt,  (§  181)  — 
dagegen  sie  aller  Vorteile  der  Gesellschaft,  Erwerbsfähig- 
keit von  Geschicklichkeiten  und  Bildung  überhaupt,  auch 
der  Rechtspflege,  Gesundheitssorge,  sdbst  oft  des  Trostes 
der  Religion  u.  s.  f.  mehr  oder  weniger  verlustig  macht. 
Die  allgemeine  Macht  übernimmt  die  Stelle  der  Familie 
bei  den  Armen,  ebensosehr  in  Rücksicht  ihres  unmittel- 
baren Mangels  als  der  Gesinnung  der  Arbeitsscheu,  Bös- 
artigkeit und  der  weiteren  Laster,  die  aus  solcher  Lage 
und  dem  Gefühl   ihres   Unrechts    entspringen. 

§  242. 
Das  Subjektive  der  Armut  und  überhaupt  der  Not 
aller  Art,  der  schon  in  seinem  Naturkreise  jedes  Individuum 
ausgesetzt  ist,  erfordert  auch  eine  subjektive  Hilfe  ebenso 
in  Rücksicht  der  besonderen  Umstände  als  des  Ge- 
müts und  der  Liebe.  Hier  ist  der  Ort,  wo  bei  aller 
allgemeinen  Veranstaltung  die  Moralität  genug  zu  tian 
findet.  Weil  aber  diese  Hilfe  für  sich  und  in  ihren  Wir- 
kungen von  der  Zufälligkeit  abhängt,  so  geht  das  Streben 
der  Gesellschaft  dahin,  in  der  Notdurft  und  ihrer  Abhilfe 
das  Allgemeine  herauszufinden  und  zu  veranstalten,  und 
jene  Hilfe  enbehrlicher  zu  machen. 


188      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

Das  Zufällige  des  Almosens,  der  Stiftungen,  wie 
des  Lampenbrennens  bei  Heiligenbildern  u.  s.  f.  wird  er- 
gänzt durch  öffentliche  Armenanstalten,  Krankenhäuser, 
Straßenbeleuchtung  u.  s.  w.  Der  Mildtätigkeit  bleibt  noch 
genug  für  sich  zu  tun  übrig,  und  es  ist  eine  falsche 
Ansicht,  wenn  sie  der  Besonderheit  des  Gemüts  und 
der  Zufälligkeit  ihrer  Gesinnung  und  Kenntnis  diese 
Abhilfe  der  Not  allein  vorbehalten  wissen  will,  und  sich 
durch  die  verpflichtenden  allgemeinen  Anordnungen 
und  Gebote  verletzt  und  gekränkt  fühlt.  Der  öffentliche 
Zustand  ist  im  Gegenteil  für  um  so  vollkommener  zu 
achten,  je  weniger  dem  Individuum  für  sich  nach 
seiner  besonderen  Meinung,  in  Vergleich  mit  dem, 
was  auf  allgemeine  Weise  veranstaltet  ist,  zu  tun  übrig 
bleibt. 

§  243. 

Wenn  die  bürgerliche  Gesellschaft  sich  in  ungehinderter 
Wirksamkeit  befindet,  so  ist  sie  innerhalb  ihrer  selbst  in 
fortschreitender  Bevölkerung  und  Industrie  be- 
griffen. —  Durch  die  Verallgemeinerung  des  Zu- 
sammenhangs der  Menschen  durch  ihre  Bedürfnisse  und 
der  Weisen,  die  Mittel  für  diese  vi  bereiten  und  herbei- 
zubringen, vermehrt  sich  die  Anhäufung  der  Reich- 
tümer, —  denn  aus  dieser  gedoppelten  Allgemeinheit  wird 
der  gröi3te  Gewinn  gezogen,  —  auf  der  einen  Seite,  wie 
auf  der  anderen  Seite  die  Vereinzelung  und  Beschränkt- 
heit der  besonderen  Arbeit  und  damit  die  Abhängigkeit 
und  Not  der  an  diese  Arbeit  gebundenen  Klasse,  womit 
die  Unfähigkeit  der  Empfindung  und  des  Genusses  der 
weiteren  Fähigkeiten  und  besonders  der  geistigen  Vorteile 
der  bürgerlichen  Gesellschaft  zusammenhängt. 

§244. 

Das  Herabsinken  einer  großen  Masse  unter  das  Maß 
einer  gewissen  Subsistenzweise,  die  sich  von  selbst  als 
die  für  ein  Mitglied  der  Gesellschaft  notwendige  reguliert. 
—  und  damit  zum  Verluste  des  Gefühls  des  Rechts,  der 
Rechtlichkeit  und  der  Ehre,  durch  eigene  Tätigkeit  und 
Arbeit  zu  bestehen,  —  bringt  die  Erzeugung  des  Pöbels 
hervor,  die  hinwiederum  zugleich  die  größere  Leichtig- 
keit, unverhältnismäßige  Reichtümer  in  wenige  Hände  zu 
konzentrieren,  mit  sich  führt. 


Bürgerl.  Gesellsch.    C.  Polizei  u.  Korporation.    §  245 — 247.     X89 

§245. 
Wird  der  reicheren  Klasse  die  direkte  Last  aufgelegt, 
oder  es  wären  in  anderem  öffentlichen  Eigentum  (reichen 
Hospitälern,  Stiftungen,  Klöstern)  die  direkten  Mittel  vor- 
handen, die  der  Armut  zugehende  Masse  auf  dem  Stande 
ihrer  ordentlichen  Lebensweise  zu  erhalten,  so  würde  die 
Subsistenz  der  Bedürftigen  gesichert,  ohne  durch  die  Ar- 
beit vermittelt  zu  sein,  was  gegen  das  Prinzip  der  bürger- 
lichen Gesellschaft  und  des  Gefühls  ihrer  Individuen  von 
ihrer  Selbständigkeit  und  Ehre  wäre;  —  oder  sie  würde 
durch  Arbeit  (durch  Gelegenheit  dazu)  vermittelt,  so  würde 
die  Menge  der  Produktionen  vermehrt,  in  deren  Überfluß 
und  dem  Mangel  der  verhältnismäßigen  selbst  produktiven 
Konsumenten,  gerade  das  Übel  bestehet,  das  auf  beide 
Weisen  sich  nur  vergröi3ert.  Es  kommt  hierin  zum  Vor- 
schein, daß  bei  dem  Übermaße  des  Reichtums  die 
bürgerliche  Gesellschaft  nicht  reich  genug  ist,  d.  h.  an 
dem  ihr  eigentümlichen  Vermögen  nicht  genug  besitzt,  dem 
Übermaße  der  Armut  und  der  Erzeugung  des  Pöbels  zu 
steuern. 

Diese  Erscheinungen  lassen  sich  im  großen  an 
Englands  Beispiel  studieren,  sowie  näher  die  Erfolge, 
welche  die  Armentaxe,  unermeßliche  Stiftungen  und  eben- 
so unbegrenzte  Privatwohltätigkeit,  vor  allem  aus  dabei 
das  Aufheben  der  Korporationen  gehabt  haben.  Als  das 
direkteste  Mittel  hat  sich  daselbst  (vornehmlich  in  Schott- 
land) gegen  Armut  sowohl  als  insbesondere  gegen  die 
Abwerfung  der  Scham  und  Ehre,  der  subjektiven  Basen 
der  Gesellschaft,  und  gegen  die  Faulheit  und  Verschwen- 
dung u.  s.  f.,  woraus  der  Pöbel  hervorgeht,  dies  erprobt, 
die  Armen  ihrem  Schicksal  zu  überlassen  und  sie  auf 
den  öffentlichen  Bettel   anzuweisen. 

§246. 
Durch  diese  ihre  Dialektik  wird  die  bürgerliche  Gesell- 
schaft über  sich  hinausgetrieben,  zunächst  diese  be- 
stimmte Gesellschaft,  um  außer  ihr  in  anderen  Völkern, 
die  ihr  an  den  Mitteln,  woran  sie  Überfluß  hat,  oder  über- 
haupt an  Kunstfleiß  u.  s.  f.  nachstehen,  Konsumenten  und 
damit  die  nötigen  Subsistenzmittel  zu  suchen. 

§  247. 
Wie   für   das    Prinzip    des    Familienlebens    die    Erde, 
fester  Grund  und  Boden,  Bedingung  ist,  so  ist  für  die 


190      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

Industrie  das  nach  außen  sie  belebende  natürliche  Element, 
das  Meer.  In  der  Sucht  des  Erwerbs,  dadurch,  daß  sie 
ihn  der  Gefahr  aussetzt,  erhebt  sie  sich  zugleich  über 
ihn  und  versetzt  das  Festwerden  an  der  Erdscholle  und 
den  begrenzten  Kreisen  des  bürgerlichen  Lebens,  seine 
Genüsse  und  Begierden  mit  dem  Elemente  der  Flüssig- 
keit, der  Gefahr  und  des  Unterganges.  So  bringt  sie 
ferner  durch  dies  größte  Medium  der  Verbindung  entfernie 
Länder  in  die  Beziehung  des  Verkehrs,  eines  den  Vertrag 
einführenden  rechtlichen  Verhältnisses,  in  welchem  Ver- 
kehr sich  zugleich  das  größte  Bildungsmittel,  und  der 
Handel  seine  welthistorische  Bedeutung  findet. 

Daß  die  Flüsse  keine  natürlichen  Grenzen 
sind,  für  welche  sie  in  neueren  Zeiten  haben  sollen 
geltend  gemacht  werden,  sondern  sie  und  ebenso  die 
Meere  vielmehr  die  Menschen  verbinden,  daß  es  ein 
unrichtiger  Gedanke  ist,  wenn  Horaz  sagt  (Carm.  I,  3): 

deus  abscidit 

Prudens  Oceano  dissociabili 
Terras, 

zeigen  nicht  nur  die  Bassins  der  Flüsse,  die  von  einem 
Stamme  oder  Volke  bewohnt  werden,  sondern  auch  z.  B. 
die  sonstigen  Verhältnisse  Griechenlands,  loniens  und 
Großgriechenlands,  —  Bretagnes  und  Britanniens,  Däne- 
marks und  Norwegens,  Schwedens,  Finnlands,  Livlands 
U.S. f.,  —  vornehmlich  auch  im  Gegensatze  des  geringeren 
Zusammenhangs  der  Bewohner  des  Küstenlandes  mit 
denen  des  inneren  Landes.  —  Welches  Bildungsmittel 
aber  in  dem  Zusammenhange  mit  dem  Meere  liegt,  dafür 
vergleiche  man  das  Verhältnis  der  Nationen,  in  welchen 
der  Kunstfleiß  aufgeblüht  ist,  zum  Meere,  mit  denen,  die 
sich  die  Schiffahrt  untersagt  [haben],  und  wie  die  Ägypter, 
die  Inder,  in  sich  verdumpft  und  in  den  fürchterlichsten 
und  schmählichsten  Aberglauben  versunken  sind;  —  und 
wie  alle  großen,  in  sich  strebenden  Nationen  sich  zum 
Meere  drängen. 

§248. 

Dieser  erweiterte  Zusammenhang  bietet  auch  das 
Mittel  der  Kolonisation,  zu  welcher  —  einer  sporadischen 
oder  systematischen  —  die  ausgebildete  bürgerliche  Ge- 
sellschaft  getrieben   wird,    und    wodurch    sie   teils    einem 


Bürgerl.  Gesellsch.    C.  Polizei  u.  Korporation.    §249—251.      191 

Teil  ihrer  Bevölkerung  in  einem  neuen  Boden  die  Rückkehr 
zum  Familienprinzip,  teils  sich  selbst  damit  einen  neuen 
Bedarf  und  Feld  ihres  Arbeitsfleißes  verschafft. 

§  249. 
Die  polizeiliche  Vorsorge  verwirklicht  und  erhält  zu- 
nächst das  Allgemeine,  welches  in  der  Besonderheit  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  enthalten  ist,  als  eine  äußere 
Ordnung  und  Veranstaltung  zum  Schutz  und  Sicherheit 
der  Massen  von  besonderen  Zwecken  und  Interessen,  als 
welche  in  diesem  Allgemeinen  ihr  Bestehen  haben,  sowie 
sie  als  höhere  Leitung  Vorsorge  für  die  Interessen  (§  246), 
die  über  diese  Gesellschaft  hinausführen,  trägt.  Indem 
nach  der  Idee  die  Besonderheit  selbst  dieses  Allgemeine, 
das  in  ihren  immanenten  Interessen  ist,  zum  Zweck  und 
Gegenstand  ihres  Willens  und  ihrer  Tätigkeit  macht,  so 
kehrt  das  Sittliche  als  ein  Immanentes  in  die  bürger- 
liche Gesellschaft  zurück;  dies  macht  die  Bestimmung 
der  Korporation  aus, 

b)  Die  Korporation. 

§  250. 
Der  ackerbauende  Stand  hat  an  der  Substantialität 
seines  Familien-  und  Naturlebens  in  ihm  selbst  unmittelbar 
sein  konkretes  Allgemeines,  in  welchem  er  lebt,  der  all- 
gemeine Stand  hat  in  seiner  Bestimmung  das  Allgemeine 
für  sich  zum  Zwecke  seiner  Tätigkeit  und  zu  seinem  Boden. 
Die  Mitte  zwischen  beiden,  der  Stand  des  Gewerbes,  ist 
auf  das  Besondere  wesentlich  gerichtet  und  ihm  ist 
daher  vornehmlich  die  Korporation  eigentümlich. 

§251. 

Das  Arbeitswesen  der  bürgerlichen  Gesellschaft  zer- 
fällt nach  der  Natur  seiner  Besonderheit  in  verschiedene 
Zweige.  Indem  solches  an  sich  Gleiche  der  Besonderheit 
als  Gemeinsames  in  der  Genossenschaft  zur  Existenz 
kommt,  faßt  und  betätigt  der  auf  sein  Besonderes  ge- 
richtete, selbstsüchtige  Zweck  zugleich  sich  als  all- 
gemeinen, und  das  Mitglied  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
ist,  nach  seiner  besonderen  Geschicklichkeit,  Mit- 
glied der  Korporation,  deren  allgemeiner  Zweck  damit 
ganz  konkret  ist  und  keinen  weiteren  Umfang  hat,  als 
der  im  Gewerbe,  dem  eigentümlichen  Geschäfte  und  Inter- 
esse, liegt. 


192      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

§  252. 

Die  Korporation  hat  nach  dieser  Bestimmung  unter 
der  Aufsicht  der  öffentlichen  Macht  das  Recht,  ihre  eigenen 
innerhalb  ihrer  eingeschlossenen  Interessen  zu  besorgen, 
Mitglieder  nach  der  objektiven  Eigenschaft  ihrer  Geschick- 
lichkeit und  Rechtschaffenheit,  in  einer  durch  den  all- 
gemeinen Zusammenhang  sich  bestimmenden  Anzahl  an- 
zunehmen und  für  die  ihr  Angehörigen  die  Sorge  gegen 
die  besonderen  Zufälligkeiten,  sowie  für  die  Bildung  zur 
Fähigkeit,  ihr  zugeteilt  zu  werden,  zu  tragen  —  überhaupt 
für  sie  als  zweite  Familie  einzutreten,  welche  Stellung 
für  die  allgemeine,  von  den  Individuen  und  ihrer  be- 
sonderen Notdurft  entferntere  bürgerliche  Gesellschaft  un- 
bestimmter bleibt. 

Der  Gewerbsmann  ist  verschieden  vom  Tagelöhner 
wie  von  dem,  der  zu  einem  einzelnen  zufälligen  Dienst 
bereit  ist.  Jener,  der  Meister,  oder  der  es  werden 
will,  ist  Mitglied  der  Genossenschaft  nicht  für  einzelnen 
zufälligen  Erv.'erb,  sondern  für  den  ganzen  Umfang, 
das  Allgemeine  seiner  besonderen  Subsistenz.  —  Pri- 
vilegien als  Rechte  eines  in  eine  Korporation  gefaßten 
Zweigs  der  bürgerlichen  Gesellschaft,  und  eigentliche 
Privilegien  nach  ihrer  Etymologie  unterscheiden  sich 
dadurch  voneinander,  daß  die  letzteren  Ausnahmen  vom 
allgemeinen  Gesetze  nach  Zufälligkeit  sind,  jene  aber 
nur  gesetzlich  gemachte  Bestimmungen,  die  in  der  Natur 
'  der  Besonderheit  eines  wesentlichen  Zweigs  der  Ge- 
sellschaft selbst  liegen. 

§  253. 

In  der  Korporation  hat  die  Familie  nicht  nur  ihren 
festen  Boden  als  die  durch  Befähigung  bedingte  Siche- 
rung der  Subsistenz,  ein  festes  Vermögen  (§  170),  son- 
dern beides  ist  auch  anerkannt,  so  daß  das  Mitglied  einer 
Korporation  seine  Tüchtigkeit  und  sein  ordentliches  Aus- 
und  Fortkommen,  daß  es  etwas  ist,  durch  keine  weitere 
äußere  Bezeig ungen  darzulegen  nötig  hat.  So  ist  auch 
anerkannt,  daß  es  einem  Ganzen,  das  selbst  ein  Glied 
der  allgemeinen  Gesellschaft  ist,  angehört  und  für  den 
uneigennützigeren  Zweck  dieses  Ganzen  Interesse  und  Be- 
mühungen hat:  —  es  hat  so  in  seinem  Stande  seine 
Ehre. 


Bürgerl,  Gesellsch.    C.  Polizei  u.  Korporation.    §  254—255,      19  3 

Die  Institution  der  Korporation  entspricht  durch 
ihre  Sicherung  des  Vermögens  insofern  der  Einführung 
des  Ackerbaues  und  des  Privateigentums  in  einer  anderen 
Sphäre  (§  203  Anm.),  —  Wenn  über  Luxus  und  Ver- 
schwendungssucht der  gewerbtreibenden  Klassen,  womit 
die  Erzeugung  des  Pöbels  (§  244)  zusammenhängt, 
Klagen  zu  erheben  sind,  so  ist  bei  den  anderen  Ursachen 

—  (z.  B.  das  immer  mehr  mechanisch  Werdende  der  Ar- 
beit) —  der  sittliche  Grund,  wie  er  im  obigen  liegt,  nicht 
zu  übersehen.  Ohne  Mitglied  einer  berechtigten  Kor- 
poration zu  sein  (und  nur  als  berechtigt  ist  ein  Gemein- 
sames eine  Korporation),  ist  der  Einzelne  ohne  Standes- 
ehre, durch  seine  Isolierung  auf  die  selbstsüchtige 
Seite  des  Gewerbs  reduziert,  seine  Subsistenz  und  Genuß 
nichts  Stehendes.  Er  wird  somit  seine  Anerkennung 
durch  die  äußerlichen  Darlegungen  seines  Erfolgs  in 
seinem  Gewerbe  zu  erreichen  suchen,  Darlegungen, 
welche  unbegrenzt  sind,  weil  seinem  Stande  gemäß  zu 
leben  nicht  stattfindet,  da  der  Stand  nicht  existiert  — 
denn  nur  das  Gemeinsame  existiert  in  der  bürger- 
lichen Gesellschaft,  was  gesetzlich  konstituiert  und  an- 
erkannt ist  —  sich  also  auch  keine  ihm  angemessene 
allgemeinere  Lebensweise  macht.  —  In  der  Korporation 
verliert  die  Hilfe,  welche  die  Armut  empfängt,  ihr  Zu- 
fälliges, sowie  ihr  mit  Unrecht  Demütigendes,  und  der 
Reichtum  in  seiner  Pflicht  gegen  seine  Genossenschaft 
den  Hochmut  und  den  Neid,  den  er,  und  zwar  jenen 
in  seinem  Besitzer,  diesen  in  den  anderen  erregen  kann, 

—  die  Rechtschaffenheit  erhält  ihre  wahrhafte  Aner- 
kennung und  Ehre. 

§254. 

In  der  Korporation  liegt  nur  insofern  eine  Beschrän- 
kung des  sogenannten  natürlichen  Rechts,  seine  Ge- 
schicklichkeit auszuüben  und  damit  zu  erwerben,  was  zu 
erwerben  ist,  als  sie  darin  zur  Vernünftigkeit  bestimmt, 
nämlich  von  der  eigenen  Meinung  und  Zufälligkeit,  der 
eigenen  Gefahr  wie  der  Gefahr  für  andere,  befreit,  an- 
erkannt, gesichert  und  zugleich  zur  bewußten  Tätigkeit 
für  einen  gemeinsamen  Zweck  erhoben  wird. 

§  255. 

Zur  Familie  macht  die  Korporation  die  zweite, 
die  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft  gegründete  sittliche 

Hegel,  Eeektsphilosophie.  I3 


194      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Zweiter  Abschnitt. 

Wurzel  des  Staats  aus.  Die  erstere  enthält  die  Momente 
der  subjektiven  Besonderheit  und  der  objektiven  Allgeraein- 
heit in  substantieller  Einheit;  die  zweite  aber  diese 
Momente,  die  zunächst  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
zur  in  sich  reflektierten  Besonderheit  des  Bedürf- 
nisses und  Genusses  und  zur  abstrakten  rechtlichen  All- 
gemeinheit entzweit  sind,  auf  innerliche  Weise  vereinigt, 
so  daß  in  dieser  Vereinigung  das  besondere  Wohl  als 
Eecht  und  verwirklicht  ist.- 

Heiligkeit  der  Ehe  und  die  Ehre  in  der  Korpora- 
tion sind  die  zwei  Momente,  um  welche  sich  die  Des- 
organisation der  bürgerlichen  Gesellschaft  dreht. 

§  256. 
Der  Zv/eck  der  Korporation  als  beschränkter  und  end- 
licher hat  seine  Wahrheit,  —  sowie  die  in  der  polizei- 
lichen äußerlichen  Anordnung  vorhandene  Trennung  und 
deren  relative  Identität,  —  in  dem  an  und  für  sich  all- 
gemeinen Zwecke  und  dessen  absoluter  Wirklichkeit; 
die  Sphäre  der  bürgerlichen  Gesellschaft  geht  daher  in 
den  Staat  über, 

Stadt  und  Land,  —  jene  der  Sitz  des  bürgerlichen 
Gewerbes,  der  in  sich  aufgehenden  und  vereinzelnden  Re- 
flexion, dieses  der  Sitz  der  auf  der  Natur  ruhenden 
Sittlichkeit,  —  die  im  Verhältnis  zu  anderen  rechtlichen 
Personen  ihre  Selbsterhaltung  vermittelnden  Individuen 
und  die  Familie  machen  die  beiden  noch  ideellen  Mo- 
mente überhaupt  aus,  aus  denen  der  Staat  als  ihr  wahr- 
hafter Grund  hervorgeht.  —  Diese  Entwickelung 
der  unmittelbaren  Sittlichkeit  durch  die  Entzweiung  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  hindurch  zum  Staate,  der  als 
ihren  wahrhaften  Grund  sich  zeigt,  und  nur  eine  solche 
Entwickelung  ist  der  wissenschaftliche  Beweis  des 
Begriffes  des  Staate.  —  Weil  im  Gange  des  wissenschaffc- 
liehen  Begriffes  der  Staat  als  Resultat  erscheint,  indem 
er  sich  als  wahrhafter  Grund  ergibt,  so  hebt  jene 
Vermittelung  und  jener  Schein  sich  ebensosehr  zur 
Unmittelbarkeit  auf.  In  der  Wirklichkeit  ist  darum 
der  Staat  überhaupt  vielmehr  das  Erste,  innerhalb 
dessen  sich  erst  die  Familie  zur  bürgerlichen  Gesell- 
schaft ausbildet,  und  es  ist  die  Idee  des  Staates  selbst, 
welche  sich  in  diese  beiden  Momente  dirimiert;  in  der 
Entwickelung  der  bürgerlichen  Gesellschaft  gewinnt  die 
sittliche  Substanz  ihre  unendliche  Form,  welche  die 


Dritter  Abschnitt.     Der  Staat.     §  257—258.  195 

beiden  Momente  in  sich  enthält:  1.  der  unendlichen 
Unterscheidung  bis  zum  für-sich-seienden  Insichsein 
des  Selbstbewußtseins,  und  2.  der  Form  der  Allgemein- 
heit, welche  in  der  Bildung  ist,  der  Form  des  Ge- 
dankens, wodurch  der  Geist  sich  in  Gesetzen  und 
Institutionen,  seinem  gedachten  Willen,  als  orga- 
nische Totalität  objektiv   und  wirklich   ist. 

Dritter  Abschnitt. 

Der  Staat. 

§257. 

Der    Staat   ist   die    Wirklichkeit   der    sittlichen    Idee, 
—   der   sittliche   Geist   als    der   offenbare,    sich    selbst 
deutliche,    substantielle   Wille,    der    sich   denkt   und    weiß 
und  das,  was  er  weiß  und  insofern  er  es  weiß,  vollführt. 
An  der  Sitte  hat  er  seine  unmittelbare,  und  an  dem  Selbst- 
bewußtsein des  Einzelnen,  dem  Wissen  und  Tätigkeit  des- 
selben seine  vermittelte  Existenz,  sowie  dieses  durch  die 
Gesinnung  in  ihm,  als  seinem  Wesen,  Zweck  und  Produkte 
seiner  Tätigkeit,   seine  substantielle    Freiheit    hat. 
Die   Penaten   sind  die  inneren,   unteren  Götter, 
der  Volksgeist  (Athene)  das  sich  wissende  und  wol- 
lende  Göttliche;   die   Pietät   die   Empfindung   und   in 
Empfindung  sich  benehmende  Sittlichkeit  —  die  poli- 
tische Tugend  das  Wollen  des  an  und  für  sich  seienden 
gedachten  Zweckes. 

§  258. 

Der  Staat  ist  als  die  Wirklichkeit  des  substantiellen 
Willens,  die  er  in  dem  zu  seiner  Allgemeinheit  erhobenen 
besonderen  Selbstbewußtsein  hat,  das  an  und  für  sich 
Vernünftige.  Diese  substantielle  Einheit  ist  absoluter 
unbewegter  Selbstzweck,  in  welchem  die  Freiheit  zu  ihrem 
höchsten  Recht  kommt,  sowie  dieser  Endzweck  das  höchste 
Recht  gegen  die  Einzelnen  hat,  deren  höchste  Pflicht 
es  ist,  Mitglieder  des  Staats  zu  sein. 

Wenn  der  Staat  mit  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
verwechselt  und  seine  Bestimmung  in  die  Sicherheit  und 
den  Schutz  des  Eigentums  und  der  persönlichen  Frei- 
heit gesetzt  wird,  so  ist  das  Interesse  der  Einzelnen 
als  solcher  der  letzte  Zweck,  zu  welchem  sie  vereinigt 

13* 


196  Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit. 

sind,  und  es  folgt  hieraus  ebenso,  daß  es  etwas  Be- 
liebiges ist,  Mitglied  des  Staates  zu  sein.  —  Er  hat  aber 
ein  ganz  anderes  Verhältnis  zum  Individuum;  indem  er 
objektiver  Geist  ist,  so  hat  das  Individuum  selbst  nur 
Objektivität,  Wahrheit  und  Sittlichkeit,  als  es  ein  Glied 
desselben  ist.  Die  Vereinigung  als  solche  ist  selbst 
der  wahrhafte  Inhalt  und  Zweck,  und  die  Bestimmung 
der  Individuen  ist  ein  allgemeines  Leben  zu  führen; 
ihre  weitere  besondere  Befriedigung,  Tätigkeit,  Weise 
des  Verhaltens  hat  dies  Substantielle  und  Allgemein- 
gültige zu  seinem  Ausgangspunkte  und  Resultate.  — 
Die  Vernünftigkeit  besteht,  abstrakt  betrachtet,  über- 
haupt in  der  sich  durchdringenden  Einheit  der  Allge- 
meinheit und  der  Einzelnheit,  und  hier  konkret  dem  In- 
halte nach  in  der  Einheit  der  objektiven  Freiheit,  d.  i. 
des  allgemeinen  substantiellen  Willens,  und  der  subjek- 
tiven Freiheit  als  des  individuellen  Wissens  und  seines 
besondere  Zwecke  suchenden  Willens  —  und  deswegen 
der  Form  nach  in  einem  nach  gedachten,  d.  h.  all- 
gemeinen Gesetzen  und  Grundsätzen  sich  bestimmenden 
Handeln.  —  Diese  Idee  ist  das  an  und  für  sich  ewige  und 
notwendige  Sein  des  Geistes.  —  Welches  nun  aber  der 
historische  Ursprung  des  Staates  überhaupt,  oder  viel- 
mehr jedes  besonderen  Staates,  seiner  Rechte  und  Be- 
stimmungen sei  oder  gewesen  sei,  ob  er  zuerst  aus 
patriarchalischen  Verhältnissen,  aus  Furcht  oder  Zu- 
trauen, aus  der  Korporation  u.  s.  f.  hervorgegangen,  und 
wie  sich  das,  worauf  sich  solche  Rechte  gründen,  im 
Bewußtsein  als  göttliches,  positives  Recht  oder  Ver- 
trag, Gewohnheit  und  so  fort  gefaßt  und  befestigt 
habe,  geht  die  Idee  des  Staates  selbst  nicht  an,  sondern 
ist  in  Rücksicht  auf  das  wissenschaftliche  Erkennen, 
von  dem  hier  allein  die  Rede  ist,  als  die  Erscheinung  eine 
historische  Sache;  in  Rücksicht  auf  die  Autorität  eines 
wirklichen  Staates,  insofern  sie  sich  auf  Gründe  ein- 
läßt, sind  diese  aus  den  Formen  des  in  ihm  gültigen 
Rechts  genommen.  —  Die  philosophische  Betrachtung 
hat  es  nur  mit  dem  Inwendigen  von  allem  diesem,  dem 
gedachten  Begriffe  zu  tun.  In  Ansehung  des  Auf- 
suchens  dieses  Begriffes  hat  Rousseau  das  Verdienst 
gehabt,  ein  Prinzip,  das  nicht  nur  seiner  Form  nach 
(wie  etwa  der  Sozialitätstrieb,  die  göttliche  Autorität), 
sondern  dem  Inhalte  nach  Gedanke  ist,  und  zwar  das 
Denken  selbst  ist,  nämlich  den  Willen  als  Prinzip  des 


Dritter  Abschnitt.    Der  Staat.     §  258.  197 

Staats  aufgestellt  zu  haben.  Allein  indem  er  den  Willen 
nur  in  bestimmter  Form  des  einzelnen  Willens  (wie 
nachher  auch  Fichte)  und  den  allgemeinen  Willen  nicht 
als  das  an  und  für  sich  Vernünftige  des  Willens,  sondern 
nur  als  das  Gemeinschaftliche,  das  aus  diesem  ein- 
zelnen Willen  als  bewußtem  hervorgehe,  faßte:  so 
wird  die  Vereinigung  der  Einzelnen  im  Staat  zu  einem 
Vertrag,  der  somit  ihre  Willkür,  Meinung  und  be- 
liebige, ausdrückliche  Einwilligung  zur  Grundlage  hat, 
und  es  folgen  die  weiteren  bloß  verständigen,  das  an 
und  für  sich  seiende  Göttliche  und  dessen  absolute  Auto- 
rität und  Majestät  zerstörenden  Konsequenzen.  Zur  Ge- 
walt gediehen,  haben  diese  Abstraktionen  deswegen  wohl 
einerseits  das,  seit  wir  vom  Menschengeschlechte  wissen, 
erste  ungeheure  Schauspiel  hervorgebracht,  die  Ver- 
fassung eines  großen  wirklichen  Staates  mit  Umsturz 
alles  Bestehenden  und  Gegebenen,  nun  ganz  von  vorne 
und  vom  Gedanken  anzufangen  und  ihr  bloß  das  ver- 
meinte Vernünftige  zur  Basis  geben  zu  wollen, 
andererseits,  weil  es  nur  ideenlose  Abstraktionen  sind, 
haben  sie  den  Versuch  zur  fürchterlichsten  und  grellsten 
Begebenheit  gemacht.  —  Gegen  das  Prinzip  des  einzelnen 
Willens  ist  an  den  Grundbegriff  zu  erinnern,  daß  der  ob- 
jektive Wille  das  an  sich  in  seinem  Begriffe  Vernünf- 
tige ist,  ob  es  von  einzelnen  erkannt  und  von  ihrem 
Belieben  gewollt  werde  oder  nicht:  —  daß  das  Entgegen- 
gesetzte, das  Wissen  und  Wollen,  die  Subjektivität  der 
Freiheit,  die  in  jenem  Prinzip  allein  festgehalten  ist, 
nur  das  eine,  darum  einseitige  Moment  der  Idee  des 
vernünftigen  Willens  enthält,  der  dies  nur  dadurch 
ist,  daß  er  ebenso  an  sich,  als  daß  er  für  sich  ist. 
—  Das  andere  Gegenteil  von  dem  Gedanken,  den  Staat 
in  der  Erkenntnis  als  ein  für  sich  Vernünftiges  zu  fassen, 
ist,  die  Äußerlichkeit  der  Erscheinung,  der  Zufällig- 
keit der  Not,  der  Schutzbedürftigkeit,  der  Stärke,  des 
Eeichtums  u.  s.  f.  nicht  als  Momente  der  historischen  Ent- 
wickelung,  sondern  für  die  Substanz  des  Staates  zu 
nehmen.  Es  ist  hier  gleichfalls  die  Einzelnheit  der  In- 
dividuen, welche  das  Prinzip  des  Erkennens  ausmacht, 
jedoch  nicht  einmal  der  Gedanke  dieser  Einzelnheit, 
sondern  im  Gegenteil  die  empirischen  Einzelnheiten  nach 
ihren  zufälligen  Eigenschaften,  Kraft  und  Schwäche, 
Eeichtum  und  Armut  u.  s.  f.  Solcher  Einfall,  das  an  und 
für  sich  Unendliche  und  Vernünftige  im  Staat  zu 


198  Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit. 

Übersehen  und  den  Gedanken  aus  dem  Auffassen  seiner 
inneren  Natur  zu  verbannen,  ist  wohl  nie  so  UQver- 
mischt  aufgetreten,  als  in  Herrn  v.  Hallers^)  Restau- 
ration der  Staatswissenschaft,  —  unvermischt, 
denn  in  allen  Versuchen,  das  Wesen  des  Staats  zu  fassen, 
wenn  auch  die  Prinzipien  noch  so  einseitig  oder  ober- 
flächlich sind,  führt  diese  Absicht  selbst,  den  Staat  zu 
begreifen,  Gedanken,  allgemeine  Bestimmungen  mit 
sich;  hier  aber  ist  mit  Bewußtsein  auf  den  vernünftigen 
Inhalt,  der  der  Staat  ist,  und  auf  die  Form  des  Gedankens 
nicht  nur  Verzicht  getan,  sondern  es  wird  gegen  das 
Eine  und  gegen  das  Andere  mit  leidenschaftlicher  Hitze 
gestürmt.  Einen  Teil  der,  wie  Herr  von  Haller  versichert, 
ausgebreiteten  Wirkung  seiner  Grundsätze  verdankt  diese 
Restauration  wohl  dem  Umstände,  daß  er  in  der  Dar- 
stellung aller  Gedanken  sich  abzutun  gewußt  und 
das  Ganze  so  aus  einem  Stücke  gedankenlos  zu  halten 
gewußt  hat;  denn  auf  diese  Weise  fällt  die  Verwirrung 
und  Störung  hinweg,  welche  den  Eindruck  einer  Darstel- 
lung schwächt,  in  der  unter  das  Zufällige  [eine]  Anmah- 
nung  an  das  Substantielle,  unter  das  bloß  Empirische 
und  Äußerliche  eine  Erinnerung  an  das  Allgemeine  und 
Vernünftige  gemischt  und  so  in  der  Sphäre  des  Dürf- 
tigen und  Gehaltlosen  an  das  Höhere,  Unendliche  er- 
innert wird.  —  Konsequent  ist  darum  diese  Darstel- 
lung gleichfalls,  denn  indem  statt  des  Substantiellen  die 
Sphäre  des  Zufälligen  als  das  Wesen  des  Staates  ge- 
nommen wird,  so  besteht  die  Konsequenz  bei  solchem 
Inhalt  eben  in  der  völligen  Inkonsequenz  einer  Gedanken- 
losigkeit, die  sich  ohne  Rückblick  fortlaufen  läßt  und 
sich  in  dem  Gegenteil  dessen,  was  sie  soeben  gebilligt, 
ebensogut  zu  Hause  findet*). 


*)  Das  genannte  Buch  ist  um  des  angegebenen  Charakters 
willen  von  origineller  Art.  Der  Unmut  des  Verf.  könnte  für  eich 
etwas  Edles  haben,  indem  derselbe  sich  an  den  vorhin  erwähnten, 
von  Rousseau  vornehmlich  ausgegangenen  falschen  Theorien 
und  hauptsächlich  an  deren  versuchter  Realisierung  entzündet  hat. 
Aber  der  Hr.  v.  Haller  hat  sich,  um  sich  zu  retten,  in  ein  Gegen- 
teil geworfen,  das  ein  völliger  Mangel  an  Gedanken  ist  und  bei 
dem  deswegen  von  Gehalt  nicht  die  Rede  sein  kann;  —  nämlich  in 
den  bitteraten  Haß  gegen  alle  Gesetze,  Gesetzgebung,  alles 
förmlich  und  gesetzlich  bestimmte  Rechte.    Der  Half  des 

»)  Haller,  Karl  Ludwig  von,  1768—1854;  war  1806—1817 
Professor  der  Rechtswissenschaften  in  Bern. 


Dritter  Abschnitt.     Der  Staat.     §  259.  199 

§  259. 

Die  Idee  des  Staates  hat:  a)  unmittelbare  Wirklich- 
keit und   ist  der  individuelle  Staat  als  sich    auf  sich   be- 


Gesetzes, gesetzlich  bestimmten  Rechts  ist  das  Schiboleth, 
an  dem  sich  der  Fanatismus,  der  Schwachsinn  und  die  Heuchelei 
der  guten  Absichten  offenbaren  und  unfehlbar  zu  erkennen  geben, 
was  sie  sind,  sie  mögen  sonst  Kleider  umnehmen,  welche  sie 
wollen.  —  Eine  Originalität,  wie  die  von  Hallersche,  ist  immer 
eine  merkwürdige  Erscheinung  und  für  diejenigen  meiner  Leser, 
welche  das  Buch  noch  nicht  kennen,  will  ich  einiges  zur  Probe 
anführen.  Xachdem  Hr.  v.  H.  (S.  342 ff.  1.  ßd.)  seinen  Haupt- 
grundsatz aufgestellt,  „daß  nämlich  wie  im  Unbelebten  das 
Größere  das  Kleine,  das  Mächtige  das  Schwache  verdrängt  u.  s.  f., 
so  auch  unter  den  Tieren  und  dann  unter  den  Menschen  das- 
selbe Gesetz,  unter  edleren  Gestalten  (oft  wohl  auch  unter  un- 
edlen?) wiederkomme",  und  „daß  dies  also  die  ewige  unab- 
änderliche Ordnung  Gottes  sei,  daß  der  Mächtigere 
herrsche,  herrschen  müsse  und  immer  herrschen  werde" ;  —  man 
sieht  schon  hieraus  und  ebenso  aus  dem  Folgenden,  in  welchem 
Sinne  hier  die  Macht  gemeint  ist,  nicht  die  Macht  des  Gerechten 
und  Sittlichen,  sondern  die  zufällige  Naturgewalt;  —  so  belegt 
er  dies  nun  weiterhin  und  unter  anderen  Gründen  auch  damit 
(S.  365  f.),  daß  die  Natur  es  mit  bewundernswürdiger  Weisheit 
also  geordnet,  daß  gerade  das  Gefühl  eigener  Überlegenheit 
unwiderstehlich  den  Charakter  veredelt  und  die  Entwicklung  eben 
derjenigen  Tugenden  begünstigt,  welche  für  die  Untergebenen 
am  notwendigsten  sind.  Er  fragt  mit  vieler  schulrhetorischen 
Ausführung,  „ob  es  im  Reiche  der  Wissenschaften  die  Starken 
oder  Schwachen  sind,  welche  Autorität  und  Zutrauen  mehr  zu 
niedrigen  eigennützigen  Zwecken  und  zum  Verderben  der  gläu- 
bigen Menschen  mißbrauchen,  ob  unter  den  Rechtsgelehrten  die 
Meister  in  der  Wissenschaft  die  Legulejen  und  Rabulisten  sind, 
welche  die  Hoffnung  gläubiger  Klienten  betrügen,  die  das  Weiße 
schwarz,  das  Schwarze  weiß  machen,  die  die  Gesetze  zum  Vehikel 
des  Unrechts  mißbrauchen,  ihre  Schutzbedürftigen  dem  Bettelstab 
entgegenführen  und  wie  hungrige  Geier  das  unschuldige  Lamm 
zerfleischen" ,  u.  s.  f.  Hier  vergißt  Hr.  v.  H.,  daß  er  solche  Rhetorik 
gerade  zur  Unterstützung  des  Satzes  anführt,  daß  die  Herrschaft 
des  Mächtigeren  ewige  Ordnung  Gottes  sei,  die  Ordnung,  nach 
welcher  der  Geier  das  unschuldige  Lamm  zerfleischt,  daß  also 
die  durch  Gesetzeskenntnis  Mächtigeren  ganz  recht  daran  tun,  die 
gläubigen  Schutzbedürftigen  als  die  Schwachen  zu  plündern.  Es 
wäre  aber  zuviel  gefordert,  daß  da  zwei  Gedanken  zusammengebracht 
wären,  wo  sich  nicht  einer  findet.  —  Daß  Hr.  v.  Haller  ein  Feind  von 
Gesetzbüchern  ist,  versteht  sich  von  selbst;  die  bürgerlichen 
Gesetze  sind  nach  ihm  überhaupt  einesteils  „unnötig,  indem  sie  aus 
dem  natürlichen   Gesetze  sich  von  selbst  verstehen",  —  es 


200  Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit. 

ziehender   Organismus,    ■ —    Verfassung   oder   inneres 
Staatsrecht; 


wäre,  seit  es  Staaten  gibt,  viele  Mühe  erspart  worden,  die  auf  das 
Gesetzgeben  und  die  Gresetzbücher  verwandt  worden,  und  die  noch 
darauf  und  auf  das  Studium  des  gesetzlichen  Rechts  verwendet 
wird,  wenn  man  sich  von  je  bei  dem  gründlichen  Gedanken, 
daß  sich  alles  das  von  selbst  verstehe,  beruhigt  hätte,  — 
„andernteils  werden  die  Gesetze  eigentlich  nicht  den  Privat- 
personen gegeben,  sondern  als  Instruktionen  für  die  Unter- 
richter, um  ihnen  den  Willen  des  Gerichtsherru  bekannt  zu  machen. 
Die  Gerichtsbarkeit  ist  ohnehin  (1.  B.  S.  297;  1.  T.  S.  254 
und  allervvärts)  nicht  eine  Pflicht  des  Staats,  sondern  eine  Wohl- 
tat, nämlich  eine  Hilfleistung  von  Mächtigeren  und  bloß  supple- 
torisch;  unter  den  Mitteln  zur  Sicherung  des  Rechts  ist  sie  nicht 
das  vollkommenste,  vielmehr  unsicher  und  ungewiß,  „das 
Mittel,  das  uns  unsere  neueren  Rechtsgelehrten  allein  lassen  und 
uns  die  drei  anderen  Mittel  rauben,  gerade  diejenigen,  die 
am  schnellsten  und  sichersten  zum  Ziele  führen,  und  die 
außer  jenem  dem  Menschen  die  freundliche  Natur  zur  Siche- 
rung seiner  rechtlichen  Freiheit  gegeben  hat"  —  und 
diese  drei  sind  (was  meint  man  wohl?)  1.  eigene  Befolgung 
und  Einschärfung  des  natürlichen  Gesetzes,  2.  Widerstand 
gegen  Unrecht,  3.  Flucht,  wo  keine  Hilfe  mehr  zu  finden." 
(Wie  unfreundlich  sind  doch  die  Rechtsgelehrten  in  Vergleich 
der  freundlichen  Xatur!)  „Das  natürlif^he  göttliche  Gesetz 
aber,  das  (1.  B.  S.  292)  die  allgütige  Natur  jedem  gegeben,  ist: 
Ehre  in  jedem  deinesgleichen  (nach  dem  Prinzip  des  Verfassers 
müßte  es  heißen:  Ehre,  der  nicht  deinesgleichen,  sondern  der 
der  Mächtigere  ist) ;  beleidige  niemand,  der  dich  nicht  belei- 
digt; fordere  nichts,  was  er  dir  nicht  schuldig  ist  (was  ist  er 
aber  schuldig?),  ja  noch  mehr:  Liebe  deinen  Nächsten  und  nütze 
ihm,  wo  du  kannst."  —  Die  Einpflanzung  dieses  Gesetzes 
soll  es  sein,  was  Gesetzgebung  und  Verfassung  überflüssig  mache. 
Es  wäre  merkwürdig  zu  sehen,  wie  Hr.  v.  H.  es  sich  begreiflich 
macht,  daß  dieser  Einpflanzung  ungeachtet  doch  Gesetzgebungen 
und  Verfassungen  in  die  Welt  gekommen  sind!  —  In  Bd.  3 
S.  862  f.  kommt  der  Herr  Verf.  auf  die  „sogenannten  National- 
freiheiten" —  d.  i.  die  Rechts-  und  Verfassungsgesetze  der  Natio- 
nen; jedes  gesetzlich  bestimmte  Recht  hieß  in  diesem  großen 
Sinne  eine  Freiheit;  —  er  sagt  von  diesen  Gesetzen  unter 
anderm,  „daß  ihr  Inhalt  gewöhnlich  sehr  unbedeutend  sei,  ob 
man  gleich  in  Büchern  auf  dergleichen  urkundliche  Frei- 
heiten einen  großen  Wert  setzen  möge".  Wenn  man  dann  sieht, 
daß  es  die  Nationalfreiheiten  der  deutschen  Reichsstände,  der 
englischen  Nation  —  die  Charta  magna,  „die  aber  wenig  ge- 
lesen und  wegen  der  veralteten  Ausdrücke  noch  weniger 
verstanden  wird" ,  die  bill  of  rights  u.  s.  f.  — ,  der  ungarischen 
Nation  u.  s.  f.  sind,  von  welchen  der  Verfasser  spricht :  so  wundert 


Dritter  Abschnitt.     Der  Staat.     §  259.  201 

b)  geht  sie  in  das  Verhältnis  des  einzelnen  Staates 
zu  anderen   Staaten  über,   —  äußeres  Staatsrecht; 

c)  ist  sie  die  allgemeine  Idee  als  Gattung  und  ab- 


man  sich  zu  erfahren,  daß  diese  sonst  für  so  wichtig  gehaltenen 
Besitztümer  etwas  Unbedeutendes  sind,  und  daß  bei  diesen  Natio- 
nen auf  ihre  Gesetze,  die  zu  jedem  Stück  Kleidung,  das  die 
Individuen  tragen,  zu  jedem  Stück  Brot,  das  sie  essen,  konkur- 
riert haben  und  täglich  und  stündlich  in  allem  konkurrieren, 
bloß  in  Büchern  ein  Wert  gelegt  werde.  —  Auf  das  preu- 
ßische allgemeine  Gesetzbuch,  um  noch  dies  anzuführen,  ist 
H.v.H.  besonders  übel  zu  sprechen  (1.  B.  S.  185 ff.),  weil  die  un- 
philosophischen Irrtümer  (wenigstens  noch  nicht  die  Kantische 
Philosophie,  auf  welche  Hr.  v.  Haller  am  erbittertsten  ist)  dabei 
ihren  unglaublichen  Einfluß  bewiesen  haben,  unter  anderem 
vornehmlich,  weil  darin  vom  Staate,  Staatsvermögen,  dem 
Zwecke  des  Staats,  vom  Oberhaupte  des  Staats,  von  Pflichten 
des  Obei'haupts,  Staatsdienern  u.  s.  f.  die  Rede  sei.  Am  ärgsten 
ist  dem  Hrn.  v.  H.  „das  Recht,  zur  Bestreitung  der  Staats- 
bedürfnisse das  Privatvermögen  der  Personen,  ihr  Gewerbe, 
Produkte  oder  Konsumtion  mit  Abgaben  zu  belegen;  —  weil 
somit  der  König  selbst,  da  das  Staatsverniögen  nicht  als  Privat- 
eigentum des  Fürsten,  sondern  als  Staatsvermögen  qualifiziert 
wird,  so  auch  die  preußischen  Bürger  nichts  Eigenes 
mehr  haben,  weder  ihren  Leib  noch  ihr  Gut,  und  alle  Unter- 
tanen gesetzlich  Leibeigene  seien,  denn  —  sie  dürfen 
sich  dem  Dienst  des  Staats  nicht  entziehen". 

"t^j  Zu  aller  dieser  unglaublichen  Krudität  könnte  man  die  Rüh- 
rung am  possierlichsten  finden,  mit  der  Hr.  v.  Haller  das  unaus- 
sprechliche Vergnügen  über  seine  Entdeckungen  beschreibt  (l.B. 
Vorrede),  —  „eine  Freude,  wie  nur  der  "Wahrheitsfreund  sie 
fühlen  kann,  wenn  er  nach  redlichem  Forschen  die  Gewißheit 
erhält,  daß  er  gleichsam  (jawohl,  gleichsam!)  den  Ausspruch 
der  Natur,  das  "Wort  Gottes  selbst,  getroffen  habe"  (das 
Wort  Gottes  unterscheidet  vielmehr  seine  Offenbarungen  von  den 
Aussprüchen  der  Natur  und  des  natürlichen  Menschen  sehr  aus- 
drücklich), —  „wie  er  vor  lauter  Bewunderung  hätte  niedersinken 
mögen,  ein  Strom  von  freudigen  Tränen  seinen  Augen  entquoll, 
und  die  lebendige  Religiosität  von  da  in  ihm  entstanden  ist".  — 
Hr,  V.  H.  hätte  es  aus  Religiosität  vielmehr  als  das  härteste 
Strafgericht  Gottes  beweinen  müssen,  —  denn  es  ist  das  Här- 
teste, was  dem  Menschen  widerfahren  kann,  —  vom  Denken  und 
der  Vernünftigkeit,  von  der  Verehrung  der  Gesetze  und  von  der 
Erkenntnis,  wie  unendlich  wichtig,  göttlich  es  ist,  daß  die  Pflichten 
des  Staats  und  die  Rechte  der  Bürger,  wie  die  Rechte  des  Staats 
und  die  Pflichten  der  Bürger  gesetzlich  bestimmt  sind,  so- 
weit abgekommen  zu  sein,  daß  sich  ihm  das  Absurde  für  das 
Wort  Gottes  unterschiebt. 


202      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

solute  Macht  gegen  die  individuellen  Staaten,  der  Geist,  der 
sich  im  Prozesse  der  Weltgeschichte  seine  Wirklich- 
keit gibt. 

A.  Das  innere  Staatsrecht. 

§  260. 

Der  Staat  ist  die  Wirklichkeit  der  konkreten  Freiheit; 
die  konkrete  Freiheit  aber  besteht  darin,  daß  die  per- 
sönliche Einzelnheit  und  deren  besondere  Interessen  so- 
wohl ihre  vollständige  Entwickelung  und  die  Anerken- 
nung ihres  Rechts  für  sich  (im  Systeme  der  Familie 
und  der  bürgerlichen  Gesellschaft)  haben,  als  sie  durch 
sich  selbst  in  das  Interesse  des  AJlgemeinen  teils  über- 
gehen, teils  mit  Wissen  und  Willen  dasselbe  und  zwar 
als  ihren  eigenen  substantiellen  Geist  anerkennen  und 
für  dasselbe  als  ihren  Endzweck  tätig  sind,  so  daß 
weder  das  Allgemeine  ohne  das  besondere  Interesse,  Wissen 
und  Wollen  gelte  und  vollbracht  werde,  noch  daß  die  In- 
dividuen bloß  für  das  letztere  als  Privatpersonen  leben, 
und  nicht  zugleich  in  und  für  das  Allgemeine  wollen  und 
eine  dieses  Zwecks  bewußte  Wirksamkeit  haben.  Das 
Prinzip  der  modernen  Staaten  hat  diese  ungeheuere  Stärke 
und  Tiefe,  das  Prinzip  der  Subjektivität  sich  zum  selb- 
ständigen Extreme  der  persönlichen  Besonderheit  voll- 
enden zu  lassen  und  zugleich  es  in  die  substantielle 
Einheit  zurückzuführen  und  so  in  ihm  selbst  diese  zu 
erhalten. 

§  261. 

Gegen  die  Sphären  des  Privatrechts  und  Privatwohls, 
der  Familie  und  der  bürgerlichen  Gesellschaft  ist  der  Staat 
einerseits  eine  äußerliche  Notwendigkeit  und  ihre  höhere 
Macht,  deren  Natur  ihre  Gesetze,  sowie  ihre  Interessen 
untergeordnet  und  davon  abhängig  sind;  aber  andererseits 
ist  er  ihr  immanenter  Zweck  und  hat  seine  Stärke  in 
der  Einheit  seines  allgemeinen  Endzwecks  und  des  be- 
sonderen Interesses  der  Individuen,  darin,  daß  sie  insofern 
Pflichten  gegen  ihn  haben,  als  sie  zugleich  Rechte  haben 
(§  155). 

Daß  den  Gedanken  der  Abhängigkeit  insbesondere 
auch  der  privatrechtlichen  Gesetze  von  dem  bestimmten 
Charakter  des  Staats,  und  die  philosophische  Ansicht, 
den  Teil  nur  in  seiner  Beziehung  auf  das  Ganze  zu  be- 


Der  Staat.   A.  Das  innere  Staatsrecht.    §261.  203 

trachten,  vornehmlich  Montesquieu  in  seinem  be- 
rühmten Werke:  Der  Geist  der  G  esetze,  ins  Auge 
gefaßt  und  auch  ins  einzelne  auszuführen  versucht  hat, 
ist  schon  oben  §  3  Anm.  bemerkt  worden.  —  Da  die 
Pflicht  zunächst  das  Verhalten  gegen  etwas  für  mich 
Substantielles,  an  und  für  sich  Allgemeines  ist,  das 
Recht  dagegen  das  Dasein  überhaupt  dieses  Substan- 
tiellen ist,  damit  die  Seite  seiner  Besonderheit  und 
meiner  besonderen  Freiheit  ist,  so  erscheint  beides 
auf  den  formellen  Stufen  an  verschiedene  Seiten  oder 
Personen  verteilt.  Der  Staat,  als  Sittliches,  als  Durch- 
dringung des  Substantiellen  und  des  Besonderen,  ent- 
hält, daß  meine  Verbindlichkeit  gegen  das  Substantielle 
zugleich  das  Dasein  meiner  besonderen  Freiheit,  d.  i. 
in  ihm  Pflicht  und  Recht  in  einer  und  derselben  Be- 
ziehung vereinigt  sind.  Weil  aber  ferner  zugleich 
im  Staate  die  unterschiedenen  Momente  zu  ihrer  eigen- 
tümlichen Gestaltung  und  Realität  kommen,  hiermit 
der  Unterschied  von  Recht  und  Pflicht  wieder  eintritt, 
so  sind  sie,  indem  sie  an  sich,  d.  i.  formell  identisch 
sind,  zugleich  ihrem  Inhalte  nach  verschieden.  Im 
Privatrechtlichen  und  Moralischen  fehlt  die  wirkliche 
Notwendigkeit  der  Beziehung,  und  damit  ist  nur  die  ab- 
strakte Gleichheit  des  Inhalts  vorhanden;  was  in  diesen 
abstrakten  Sphären  dem  einen  recht  ist,  soll  auch  dem 
anderen  recht,  und  was  dem  einen  Pflicht  ist,  soll  auch 
dem  anderen  Pflicht  sein.  Jene  absolute  Identität  der 
Pflicht  und  des  Rechts  findet  nur  als  gleiche  Identität 
des  Inhalts  statt,  in  der  Bestimmung,  daß  dieser 
Inhalt  selbst  der  ganz  allgemeine,  nämlich  das  eine 
Prinzip  der  Pflicht  und  des  Rechts,  die  persön- 
liche Freiheit  des  Menschen  ist.  Sklaven  haben  des- 
wegen keine  Pflichten,  weil  sie  keine  Rechte  haben; 
und  umgekehrt  —  (von  religiösen  Pflichten  ist  hier 
nicht  die  Rede).  —  Aber  in  der  konkreten,  sich  in  sich 
entwickelnden  Idee  unterscheiden  sich  ihre  Momente, 
und  ihre  Bestimmtheit  wird  zugleich  ein  verschiedener 
Inhalt;  in  der  Familie  hat  der  Sohn  nicht  Rechte  des- 
selben Inhalts  als  er  Pflichten  gegen  den  Vater,  und 
der  Bürger  nicht  Rechte  desselben  Inhalts  als  er 
Pflichten  gegen  Fürst  und  Regierung  hat.  —  Jener  Be- 
griff von  Vereinigung  von  Pflicht  und  Recht  ist  eine 
der  wichtigsten  Bestimmungen  und  enthält  die  innere 
Stärke  der  Staaten.  —  Die  abstrakte  Seite  der  Pflicht 


204      Dritter  Teil.     Die  »Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

bleibt  dabei  stehen,  das  besondere  Interesse  als  ein  un- 
wesentliches, selbst  unwürdiges  Moment  zu  übersehen 
und  zu  verbannen.  Die  konkrete  Betrachtung,  die  Idee, 
zeigt  das  Moment  der  Besonderheit  ebenso  wesentlich 
und  damit  seine  Befriedigung  als  schlechthin  notwendig; 
das  Individuum  muß  in  seiner  Pflichterfüllung  auf  irgend- 
eine Weise  zugleich  sein  eigenes  Interesse,  seine  Be- 
friedigung oder  Rechnung  finden,  und  ihm  aus  seinem 
Verhältnis  im  Staat  ein  Recht  erwachsen,  wodurch  die 
allgemeine  Sache  seine  eigene  besondere  Sache  wird. 
Das  besondere  Interesse  soll  wahrhaft  nicht  beiseite  ge- 
setzt oder  gar  unterdrückt,  sondern  mit  dem  Allgemeinen 
in  Übereinstimmung  gesetzt  werden,  wodurch  es  selbst 
und  das  Allgemeine  erhalten  wird.  Das  Individuum, 
nach  seinen  Pflichten  Untertan,  findet  als  P5ürger  in 
ihrer  Erfüllung  den  Schutz  seiner  Person  und  Eigentums, 
die  Berücksichtigung  seines  besonderen  Wohls  und  die 
Befriedigung  seines  substantiellen  Wesens,  das  Bewußt- 
sein und  das  Selbstgefühl,  Mitglied  dieses  Ganzen  zu 
sein,  und  in  dieser  Vollbringung  der  Pflichten  als  Lei- 
stungen und  Geschäfte  für  den  Staat  hat  dieser  seine 
Erhaltung  und  sein  Bestehen.  Nach  der  abstrakten  Seite 
wäre  das  Interesse  des  Allgemeinen  nur,  daß  seine  Ge- 
schäfte, die  Leistungen,  die  es  erfordert,  als  Pflichten 
vollbracht  werden. 

§  262. 

Die  wirkliche  Idee,  der  Geist,  der  sich  selbst  in  die 
zwei  ideellen  Sphären  seines  Begriffs,  'die  Familie  und 
die  bürgerliche  Gesellschaft,  als  in  seine  Endlichkeit 
scheidet,  um  aus  ihrer  Idealität  für  sich  unendlicher  wirk- 
licher Geist  zu  sein,  teilt  somit  diesen  Sphären  das  Material 
dieser  seiner  endlichen  Wirklichkeit,  die  Individuen  als  die 
Menge  zu,  so  daß  diese  Zuteilung  am  p]inzelnen  durch 
die  Umstände,  die  Willkür  und  eigene  Wahl  seiner  Be- 
stimmung vermittelt  erscheint  (§  185  und  Anm.  das.). 

§  263. 

In  diesen  Sphären,  in  denen  seine  Momente,  die  Einzeln- 
heit und  Besonderheit,  ihre  unmittelbare  und  reflektierte 
Realität  haben,  ist  der  Geist  als  ihre  in  sie  scheinende 
objektive  Allgemeinheit,  als  die  Macht  des  Vernünftigen 
in  der  Notwendigkeit  (§  184),  nämlich  als  die  im  Vor- 
herigen  betrachteten   Institutionen. 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  264—268.       205 

§264. 
Die  Individuen  der  Menge,  da  sie  selbst  geistige  Na- 
turen und  damit  das  gedoppelte  Moment,  nämlich  das  Extrem 
der  für  sich  wissenden  und  wollenden  Einzelnheit  und 
das  Extrem  der  das  Substantielle  wissenden  und  wollenden 
Allgemeinheit  in  sich  enthalten,  und  daher  zu  dem  Rechte 
dieser  beiden  Seiten  nur  gelangen,  insofern  sie  sowohl 
als  Privat-  wie  als  substantielle  Personen  wirklich  sind, 
—  erreichen  in  jenen  Sphären  teils  unmittelbar  das  erstere, 
teils  das  andere  so,  daß  sie  in  den  Institutionen,  als  dem 
an  sich  seienden  Allgemeinen  ihrer  besonderen  Inter- 
essen ihr  wesentliches  Selbstbewußtsein  haben,  teils  daß 
sie  ihnen  ein  auf  einen  allgemeinen  Zweck  gerichtetes  Ge- 
schäft und  Tätigkeit  in  der  Korporation  gewähren. 

§265. 
Diese  Institutionen  machen  die  Verfassung,  d.  i.  die 
entwickelte  und  verwirklichte  Vernünftigkeit,  im  Be- 
sonderen aus  und  sind  darum  die  feste  Basis  des  Staats, 
sowie  des  Zutrauens  und  der  Gesinnung  der  Individuen  für 
denselben  und  die  Grundsäulen  der  öffentlichen  Freiheit, 
da  in  ihnen  die  besondere  Freiheit  realisiert  und  vernünftig, 
damit  in  ihnen  selbst  an  sich  die  Vereinigung  der  Freiheit 
und  Notwendigkeit  vorhanden  ist. 

§  266. 
Aber  der  Geist  ist  nicht  nur  als  diese  Notwendigkeit 
und  als  ein  Reich  der  Erscheinung,  sondern  als  die  Ideali- 
tät derselben,  und  als  ihr  Inneres  sich  objektiv  und  wirk- 
lich; so  ist  diese  substantielle  Allgemeinheit  sich  selbst 
Gegenstand  und  Zweck,  und  jene  Notwendigkeit  hierdurch 
sich  ebensosehr  in  Gestalt  der   Freiheit. 

§  267. 
Die  Notwendigkeit  in  der  Idealität  ist  die  Ent- 
wickelung  der  Idee  innerhalb  ihrer  selbst;  sie  ist  als 
subjektive  Substantialität  die  politische  Gesinnung,  als 
objektive  in  Unterscheidung  von  jener  der  Organismus 
des  Staats,  der  eigentlich  politische  Staat  und  seine 
Verfassung. 

§  268. 
Die  politische  Gesinnung,  der  Patriotismus  über- 
haupt,   als   die    in   Wahrheit    stehende   Gewißheit    (bloß 


206      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

subjektive  Gewißheit  geht  nicht  aus  der  Wahrheit  hervor, 
und  ist  nur  Meinung)  und  das  zur  Gewohnheit  gewordene 
Wollen  ist  nur  Resultat  der  im  Staate  bestehenden  Insti- 
tutionen, als  in  welchem  die  Vernünftigkeit  wirklich  vor- 
handen ist,  sowie  sie  durch  das  ihnen  gemäJße  Handeln 
ihre  Betätigung  erhält.  —  Diese  Gesinnung  ist  überhaupt 
das  Zutrauen  (das  zu  mehr  oder  weniger  gebildeter  Ein- 
sicht übergehen  kann),  —  das  Bewußtsein,  daß  mein  sub- 
stantielles und  besonderes  Interesse  im  Interesse  und 
Zwecke  eines  anderen  (hier  des  Staats)  als  im  Verhältnis 
zu  mir  als  Einzelnem  bewahrt  und  enthalten  ist,  —  womit 
eben  dieser  unmittelbar  kein  anderer  für  mich  ist  und 
Ich  in  diesem  Bewußtsein  frei  bin. 

Unter  Patriotismus  wird  häufig  nur  die  Aufgelegt- 
heit zu  außerordentlichen  Aufopferungen  und  Hand- 
lungen verstanden.  Wesentlich  aber  ist  er  die  Gesinnung, 
welche  in  dem  gewöhnlichen  Zustande  und  Lebensverhält- 
nisse das  Gemeinwesen  für  die  substantielle  Grundlage 
und  Zweck  zu  wissen  gewohnt  ist.  Dieses  bei  dem  ge- 
wöhnlichen Lebensgange  sich  in  allen  Verhältnissen  be- 
währende Bewußtsein  ist  es  dann,  aus  dem  sich  auch 
die  Aufgelegtheit  zu  außergewöhnlicher  Anstrengung  be- 
gründet. Wie  aber  die  Menschen  häufig  lieber  groß- 
mütig als  rechtlich  sind,  so  überreden  sie  sich  leicht, 
jenen  außerordentlichen  Patriotismus  zu  besitzen,  um 
sich  diese  wahrhafte  Gesinnung  zu  ersparen  oder  ihren 
Mangel  zu  entschuldigen.  —  Wenn  ferner  die  Gesinnung 
als  das  angesehen  wird,  das  für  sich  den  Anfang  machen 
und  aus  subjektiven  Vorstellungen  und  Gedanken  hervor- 
gehen könne,  so  wird  sie  mit  der  Meinung  verwechselt, 
da  sie  bei  dieser  Ansicht  ihres  wahrhaften  Grundes, 
der  objektiven  Realität,   entbehrt. 

§  269. 

Ihren  besonders  bestimmten  Inhalt  nimmt  die  Ge- 
sinnung aus  den  verschiedenen  Seiten  des  Organismus  des 
Staats.  Dieser  Organismus  ist  die  Entwickelung  der 
Idee  zu  ihren  Unterschieden  und  zu  deren  objektiver  Wirk- 
lichkeit. Diese  unterschiedenen  Seiten  sind  so  die  ver- 
ßchiedenen  Gewalten  und  deren  Geschäfte  und  Wirk- 
samkeiten, wodurch  das  Allgemeine  sich  fortwährend,  und 
zwar  indem  sie  durch  die  Natur  des  Begriffes  bestimmt 
sind,  auf  notwendige  Weise  hervorbringt,  und  indem 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  270.  207 

es  ebenso  seiner  Produktion  vorausgesetzt  ist,  sich  er- 
hält; —  dieser  Organismus  ist  die  politische  Ver- 
fassung. 

§  270. 

Daß  der  Zweck  des  Staates  das  allgemeine  Interesse 
als  solches  und  darin  als  ihrer  Substanz  die  Erhaltung 
der  besonderen  Interessen  ist,  ist  1.  seine  abstrakte 
Wirklichkeit  oder  Substantialität;  aber  sie  ist  2.  seine 
Notwendigkeit,  als  sie  sich  in  die  Begriffsunterschiede 
seiner  Vvlrksamkeit  dirimiert,  welche  durch  jene  Substan- 
tialität ebenso  wirkliche  feste  Bestimmungen,  Gewalten 
sind;  3.  eben  diese  Substantialität  ist  aber  der  als  durch 
die  Form  der  Bildung  hindurch  gegangene  sich 
wissende  und  wollende  Geist.  Der  Staat  weiß  daher,  was 
er  will,  und  weiß  es  in  seiner  Allgemeinheit,  als  Ge- 
dachtes; er  wirkt  und  handelt  deswegen  nach  gewußten 
Zwecken,  gekannten  Grundsätzen,  und  nach  Gesetzen,  die 
es  nicht  nur  an  sich,  sondern  fürs  Bewußtsein  sind;  und 
ebenso,  insofern  seine  Handlungen  sich  auf  vorhandene 
umstände  und  Verhältnisse  beziehen,  nach  der  bestimmten 
Kenntnis  derselben. 

Es  ist  hier  der  Ort,  das  Verhältnis  des  Staats 
zur  Religion  zu  berühren,  da  in  neueren  Zeiten  so  oft 
wiederholt  worden  ist,  daß  die  Religion  die  Grundlage 
des  Staates  sei,  und  da  diese  Behauptung  auch  mit  der 
Prätension  gemacht  wird,  als  ob  mit  ihr  die  Wissen- 
schaft des  Staats  erschöpft  sei,  —  und  keine  Behauptung 
mehr  geeignet  ist,  so  viele  Verwirrung  hervorzubringen, 
ja  die  Verwirrung  selbst  zur  Verfassung  des  Staats,  zur 
Form,  welche  die  Erkenntnis  haben  solle,  zu  erheben. 
—  Es  kann  zunächst  verdächtig  scheinen,  daß  die  Reli- 
gion vornehmlich  auch  für  die  Zeiten  öffentlichen  Elends, 
der  Zerrüttung  und  Unterdrückung  empfohlen  und  ge- 
sucht, und  an  sie  für  Trost  gegen  das  Unrecht  und  für 
Hoffnung  zum  Ersatz  des  Verlustes  gewiesen  wird. 
Wenn  es  dann  ferner  als  eine  Anweisung  der  Religion 
angesehen  wird,  gegen  die  weltlichen  Interessen,  den 
Gang  und  die  Geschäfte  der  Wirklichkeit  gleichgültig 
zu  sein,  der  Staat  aber  der  Geist  ist,  der  in  der  Welt 
steht:  so  scheint  die  Hinweisung  auf  die  Religion  ent- 
weder nicht  geeignet,  das  Interesse  und  Geschäft  des 
Staats  zum  wesentlichen  ernstlichen  Zweck  zu  erheben, 


208       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

oder  scheint  andererseits  im  Staatsregiment  alles  für 
Sache  gleichgültiger  Willkür  auszugeben,  es  sei,  daß 
nur  die  Sprache  geführt  werde,  als  ob  im  Staate  die 
Zwecke  der  Leidenschaften,  unrechtlicher  Gewalt  u.  s.  f. 
das  Herrschende  wären,  oder  daß  solches  Hinweisen 
auf  die  Religion  weiter  für  sich  allein  gelten  und  das 
Bestimmen  und  Handhaben  des  Rechten  in  Anspruch 
nehmen  will.  Wie  es  für  Hohn  angesehen  würde,  wenn 
alle  Empfindung  gegen  die  Tyrannei  damit  abgewiesen 
würde,  daß  der  Unterdrückte  seinen  Trost  in  der  Religion 
finde:  so  ist  ebenso  nicht  zu  vergessen,  daß  die  Religion 
eine  Form  annehmen  kann,  welche  die  härteste  Knecht- 
schaft unter  den  Fesseln  des  Aberglaubens  und  die 
Degradation  des  Menschen  unter  das  Tier  (wie  bei  den 
Ägyptern  und  Indern,  welche  Tiere  als  ihre  höheren 
V/esen  verehren)  zur  Folge  hat.  Diese  Erscheinung 
kann  wenigstens  darauf  aufmerksam  machen,  daß  nicht 
von  der  Religion  ganz  überhaupt  zu  sprechen  sei,  und 
gegen  sie,  wie  sie  in  gewissen  Gestalten  ist,  vielmehr 
eine  rettende  Macht  gefordert  ist,  die  sich  der  Rechte 
der  Vernunft  und  des  Selbstbewußtseins  annehme.  — 
Die  wesentliche  Bestimmung  aber  über  das  Verhältnis 
von  Religion  und  Staat  ergibt  sich  nur,  indem  an  ihren 
Begriff  erinnert  wird.  Die  Religion  hat  die  absolute 
Wahrheit  zu  ihrem  Inhalt,  und  damit  fällt  auch  das 
Höchste  der  Gesinnung  in  sie.  Als  Anschauung,  Gefühl, 
vorstellende  Erkenntnis,  die  sich  mit  Gott,  als  der  un- 
eingeschränkten Grundlage  und  Ursache,  an  der  alles 
hängt,  beschäftigt,  enthält  sie  die  Forderung,  daß  alles 
auch  in  dieser  Beziehung  gefaßt  werde  und  in  ihr  seine 
Bestätigung,  Rechtfertigung,  Vergewisserung  erlange. 
Staat  und  Gesetze,  wie  die  Pflichten,  erhalten  in  diesem 
Verhältnis  für  das  Bewußtsein  die  höchste  Bewährung 
und  die  höchste  Verbindlichkeit;  denn  selbst  Staat, 
Gesetze  und  Pflichten  sind  in  ihrer  Wirklichkeit  ein 
Bestimmtes,  das  in  eine  höhere  Sphäre  als  in  seine  Grund- 
lage übergeht  (Encyklop.  der  philos.  Wissensch.  §  453)  i). 
Deswegen  enthält  die  Religion  auch  den  Ort,  der  in 
aller  Veränderung  und  in  dem  Verlust  wirklicher  Zwecke, 
Interessen  und  Besitztümer,  das  Bewußtsein  des  Un- 
wandelbaren und  der  höchsten  Freiheit  und  Befriedigung 


1)  In  der  3.  Aufl.  §§  553,  554   (Phil.  ßibl.   33.  Bd.,   S.  474). 


Der  Staat.   A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  270.  209 

gewährt*).  Wenn  nun  die  Religion  so  die  Grundlage 
ausmacht,  v/elche  das  Sittliche  überhaupt  und  näher  die 
Natur  des  Staats  als  den  göttlichen  Willen  enthält,  so  ist 
es  zugleich  nur  Grundlage,  was  sie  ist,  und  hier  ist 
es,  worin  beide  auseinandergehen.  Der  Staat  ist  gött- 
licher Wille  als  gegenwärtiger,  sich  zur  wirklichen  Ge- 
stalt und  Organisation  einer  Welt  entfaltender 
Geist.  —  Diejenigen,  die  bei  der  Form  der  Religion 
gegen  den  Staat  stehen  bleiben  wollen,  verhalten  sich 
wie  die,  welche  in  der  Erkenntnis  das  Rechte  zu  haben 
meinen,  wenn  sie  nur  immer  beim  Wesen  bleiben  und 
von  diesem  Abstraktum  nicht  zum  Dasein  fortgehen, 
oder  wie  die  (s.  oben  §  140  Anm.),  welche  nur  das 
abstrakte  Gute  wollen  und  der  Willkür  das,  w^as 
gut  ist,  zu  bestimmen  vorbehalten.  Die  Religion  ist 
das  Verhältnis  zum  Absoluten  in  Form  des  Gefühls, 
der  Vorstellung,  des  Glaubens,  und  in  ihrem  alles 
enthaltenden  Zentrum  ist  alles  nur  als  ein  Accidentelles, 
auch  Verschwindendes.  Wird  an  dieser  Form  auch  in 
Beziehung  auf  den  Staat  so  festgehalten,  daß  sie  auch 
für  ihn  das  wesentlich  Bestimmende  und  Gültige  sei, 
so  ist  er,  als  der  zu  bestehenden  Unterschieden,  Ge- 
setzen und  Einrichtungen  entwickelte  Organismus,  dem 
Schwanken,  der  Unsicherheit  und  Zerrüttung  preis- 
gegeben. Das  Objektive  und  Allgemeine,  die  Gesetze, 
anstatt  als  bestehend  und  gültig  bestimmt  zu  sein,  er- 
halten die  Bestimmung  eines  Negativen  gegen  jene  alles 
Bestimmte  einhüllende  und  eben  damit  zum  Subjektiven 
werdende  Form,  und  für  das  Betragen  der  Menschen 
ergibt  sich  die  Folge:  dem   Gerechten  ist  kein  Gesetz 


*)  Die  Religion  hat  wie  die  Erkenntnis  und  Wissen- 
schaft eine  eigentümliche,  von  der  des  Staates  verschiedene 
Form  zu  ihrem  Prinzip;  sie  treten  daher  in  den  Staat  ein,  teils 
im  Verhältnis  von  Mitteln  der  Bildung  und  Gesinnung,  teils, 
insofern  sie  wesentlich  Selbstzwecke  sind,  nach  der  Seite,  daß 
sie  äußerliches  Dasein  haben.  In  beiden  Rücksichten  verhalten 
sich  die  Prinzipien  des  Staates  anwendend  auf  sie;  in  einer 
vollständig  konkreten  Abhandlung  vom  Staate  müssen  jene  Sphä- 
ren, sowie  die  Kunst,  die  bloß  natürlichen  Verhältnisse,  u.s.f.  gleich- 
falls in  der  Beziehung  und  Stellung,  die  sie  im  Staate  haben, 
betrachtet  werden;  aber  hier  in  dieser  Abhandlung,  wo  es  das 
Prinzip  des  Staats  ist,  das  in  seiner  eigentümlichen  Sphäre 
nach  seiner  Idee  durchgeführt  wird,  kann  von  ihren  Prinzipien 
und  der  Anwendung  des  Rechts  des  Staats  auf  sie  nur  bei- 
läufig gesprochen  werden. 

Hegel,  Eechtsphilosophie.  24 


210       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit,     Dritter  Abschnitt. 

gegeben;  seid  fromm,  so  könnt  ihr  sonst  treiben,  was 
ihr  wollt,  —  ihr  könnt  der  eigenen  Willkür  und  Leiden- 
schaft euch  überlassen  und  die  anderen,  di.^  Unrecht 
dadurch  erleiden,  an  den  Trost  und  die  Hoffnung  der 
Religion  verweisen,  oder  noch  schlimmer,  sie  als  ir- 
religiös verwerfen  und  verdammen.  Insofern  aber  dies 
negative  Verhalten  nicht  bloß  eine  innere  Gesinnu.v^ 
und  Ansicht  bleibt,  sondern  sich  an  die  Wirldichkeit 
wendet  und  in  ihr  sich  geltend  macht,  entsteht  der 
religiöse  Fanatismus,  der,  wie  der  politische,  alle 
Staatseinrichtung  und  gesetzliche  Ordnung  als  beengende, 
der  inneren,  der  Unendlichkeit  des  Gemüts  unangemessene 
Schranken,  und  somit  Privateigentum,  Ehe,  die  Ver- 
hältnisse und  Arbeiten  der  bürgerlichen  Gesellschaft  u.s.  f. 
als  der  Liebe  und  der  Freiheit  des  Gefühls  unwürdig 
verbannt.  Da  für  wirkliches  Dasein  und  Handeln  jedoch 
entschieden  werden  muß,  so  tritt  dasselbe  ein  wie  bei  der 
sich  als  das  Absolute  wissenden  Subjektiv  ii.ät  des  Willens 
überhaupt  (§  140),  daß  aus  der  subjektiven  Vorstellung, 
d.  i.  dem  Meinen  und  dem  Belieben  der  Willkür 
entschieden  wird.  —  Das  Wahre  aber  gegen  dieses  in  die 
Subjektivität  des  Fühlens  und  Vorstellens  sich  einhüllende 
Wahre  ist  der  ungeheuere  Überschritt  des  Inneren  in 
das  Äußere,  der  Einbildung  der  Vernunft  in  die  Reali- 
tät, woran  die  ganze  Weltgeschichte  gearbeitet,  und 
durch  welche  Arbeit  die  gebildete  Menschheit  die  Wirk- 
lichkeit und  das  Bewußtsein  des  vernünftigen  Daseins, 
der  Staatseinrichtungen  und  der  Gesetze  gewonnen  hat. 
Von  denen,  die  den  Herrn  suchen  und  in  ihrer  un- 
gebildeten Meinung  alles  unmittelbar  zu  haben  sich 
versichern,  statt  sich  die  Arbeit  aufzulegen,  ihre  Sub- 
jektivität zur  Erkenntnis  der  Wahrheit  und  zum  Wissen 
des  objektiven  Rechts  und  der  Pflicht  zu  erheben,  kann 
nur  Zertrümmerung  aller  sittlichen  Verhältnisse,  Albern- 
heit und  Abscheulichkeit  ausgehen,  —  notwendige  Konse- 
quenzen der  auf  ihrer  Form  ausschließend  bestehenden 
und  sich  so  gegen  die  Wirklichkeit  und  die  in  Form 
des  Allgemeinen,  der  Gesetze,  vorhandene  Wahrheit 
wendenden  Gesinnung  der  Religion.  Doch  ist  nicht  not- 
wendig, daß  diese  Gesinnung  so  zur  Verwirklichung  fort- 
gehe; sie  kann  mit  ihrem  negativen  Standpunkt  allerdings 
auch  als  ein  Inneres  bleiben,  sich  den  Einrichtungen 
und  Gesetzen  fügen  und  es  bei  der  Ergebung  und  dem 
Seufzen  oder  dem  Verachten  und  Wünschen  bewenden 


Der  Staat.   A.  Das  innere  Staatsrecht.    §270.  211 

lassen.  Es  ist  nicht  die  Kraft,  sondern  die  Schwäche, 
welche  in  unseren  Zeiten  die  Keligiosität  zu  einer  pole- 
mischen Art  von  Frömmigkeit  gemacht  hat,  sie  hänge 
nun  mit  einem  wahren  Bedürfnis,  oder  auch  bloß  mit 
nicht  befriedigter  Eitelkeit  zusammen.  Scatc  sein  Meinen 
mit  der  Arbeit  des  Studiums  zu  bezwingen  und  sein 
Wollen  der  Zucht  zu  unterwerfen  und  es  dadurch  zum 
freien  Gehorsam  zu  erheben,  ist  es  das  Wohlfeilste,  auf 
die  Erkenntnis  objektiver  Wahrheit  Verzicht  zu  tun,  ein 
Gefühl  der  Gedrücktheit  und  damit  den  Eigendünkel  zu 
bewahren,  und  an  der  Gottseligkeit  bereits  alle  Er- 
fordernis zu  haben,  um  die  Natur  der  Gesetze  und  der 
Staatseinrichtungen  zu  durchschauen,  über  sie  abzu- 
sprechen und,  wie  sie  beschaffen  sein  sollten  und  müßten, 
anzugeben,  und  zwar,  weil  solches  aus  einem  frommen 
Herzen  komme,  auf  eine  unfehlbare  und  unantastbare 
Weise;  denn  dadurch,  daß  Absichten  und  Behauptungen 
die  Eeligion  zur  Grundlage  machen,  könne  man  ihnen 
weder  nach  ihrer  Seichtigkeit,  noch  nach  ihrer  Unrecht- 
lichkeit  etwas  anhaben. 

Insofern  aber  die  Religion,  wenn  sie  wahrhafter 
Art  ist,  ohne  solche  negative  und  polemische  Richtung 
gegen  den  Staat  ist,  ihn  vielmehr  anerkennt  und  bestätigt, 
so  hat  sie  ferner  für  sich  ihren  Zustand  und  ihre 
Äußerung.  Das  Geschäft  iiires  Kultus  besteht  in 
Handlungen  und  Lehre;  sie  bedarf  dazu  Besitztümer 
und  Eigentums,  sowie  dem  Dienste  der  Gemeinde 
gewidmeter  Individuen.  Es  entsteht  damit  ein  Ver- 
hältnis von  Staat  und  Kirchengemeinde.  Die  Bestimmung 
dieses  Verhältnisses  ist  einfach.  Es  ist  in  der  Natur 
der  Sache,  daß  der  Staat  eine  Pflicht  erfüllt,  der  Ge- 
meinde für  ihren  religiösen  Zweck  allen  Vorschub  zu 
tun  und  Schutz  zu  gewähren,  ja,  indem  die  Religion  das 
ihn  für  das  Tiefste  der  Gesinnung  integrierende  Moment 
ist,  von  allen  seinen  Angehörigen  zu  fordern,  daß  sie 
sich  zu  einer  Kirchengemeinde  halten,  —  übrigens  zu 
irgendeiner,  denn  auf  den  Inhalt,  insofern  er  sich  auf 
das  Innere  der  Vorstellung  bezieht,  kann  sich  der  Staat 
nicht  einlassen.  Der  in  seiner  Organisation  ausgebildete 
und  darum  starke  Staat  kann  sich  hierin  desto  liberaler 
verhalten.  Einzelnheiten,  die  ihn  berührten,  ganz  über- 
sehen, und  selbst  Gemeinden  (wobei  es  freilich  auf  die 
Anzahl  ankommt)  in  sich  aushalten,  welche  selbst  die 
direkten  Pflichten  gegen  ihn  religiös  nicht  anerkennen, 

14* 


212       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

indem  er  nämlich  die  Mitglieder  derselben  der  bürger- 
lichen Gesellschaft  unter  deren  Gesetzen  überläßt  und 
mit  passiver,  etwa  durch  Verwandelung  und  Tausch  ver- 
mittelter, Erfüllung  der  direkten  Pflichten  gegen  ihn 
zufrieden  ist*).  —  Insofern  aber  die  kirchliche  Gemeinde 
Eigentum   besitzt,   sonstige  Handlungen   des   Kultus 


*)  Von  Quäkern,  "Wiedertäufern  u.  s.  f.  kann  mau  sagen,  daß 
sie  nur  aktive  Mitglieder  der  bürgerlichen  Gesellschaft  sind,  und 
als  Privatpersonen  nur  im  Privatverkehr  mit  anderen  stehen,  und 
selbst  in  diesem  Verhältnisse  hat  man  ihnen  den  Eid  erlassen; 
die  direkten  Pflichten  gegen  den  Staat  erfüllen  sie  auf  eine  pas- 
sive Weise,  und  von  einer  der  wichtigsten  Pflichten,  ihn  gegen 
Feinde  zu  verteidigen,  die  sie  direkt  verleugnen,  wird  etwa  zu- 
gegeben, sie  durch  Tausch  gegen  andere  Leistung  zu  erfüllen. 
Gegen  solche  Sekten  ist  es  im  eigentlichen  Sinne  der  Fall,  daß 
der  Staat  Toleranz  ausübt;  denn  da  sie  die  Pflichtengegen  ihn 
nicht  anerkennen,  können  sie  auf  das  Recht,  Mitglieder  desselben 
zu  sein,  nicht  Anspruch  machen.  Als  einst  im  nordamerika- 
nischen Kongreß  die  Abschaffung  der  Sklaverei  der  Neger  mit 
größerem  Nachdruck  betrieben  wurde,  machte  ein  Deputierter 
aus  den  südlichen  Provinzen  die  treffende  Erwiderung:  „Gebt 
uns  die  Neger  zu,  wir  geben  euch  die  Quäker  zu."  —  Nur  durch 
seine  sonstige  Stärke  kann  der  Staat  solche  Anomalien  übersehen 
und  dulden  und  sich  dabei  vornehmlich  auf  die  Macht  der  Sitten 
und  der  inneren  Vernünftigkeit  seiner  Institutionen  verlassen,  daß 
diese,  indem  er  seine  Rechte  hierin  nicht  strenge  geltend  macht, 
die  Unterscheidung  vermindern  und  überwinden  werde.  So  for- 
melles Recht  man  etwa  gegen  die  Juden  in  Ansehung  der  Ver- 
leihung selbst  von  bürgerlichen  Rechten  gehabt  hätte,  indem 
sie  sich  nicht  bloß  als  eine  besondere  Religionspartei,  sondern 
als  einem  fremden  Volke  angehörig  ansehen  sollten,  so  sehr  hat 
das  aus  diesen  und  anderen  Gesichtspunkten  erhobene  Geschrei 
übersehen,  daß  sie  zu  allererst  Menschen  sind  und  daß  dies 
nicht  nur  eine  flache,  abstrakte  Qualität  ist  (§  209  Anm),  sondern 
daß  darin  liegt,  daß  durch  die  zugestandenen  bürgerlichen  Rechte 
vielmehr  das  Selbstgefühl,  als  rechtliche  Personen  in  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  zu  gelten,  und  aus  dieser  unendlichen 
von  allem  anderen  freien  Wurzel  die  verlangte  Ausgleichung  der 
Denkungsart  und  Gesinnung  zustande  kommt.  Die  den  Juden 
vorgeworfene  Trennung  hätte  sich  vielmehr  erhalten  und  wäre 
dem  ausschließenden  Staate  mit  Recht  zur  Schuld  und  Vorwurf 
geworden;  denn  er  hätte  damit  sein  Prinzip,  die  objektive  In- 
stitution und  deren  Macht  verkannt  (vgl.  §  268  Anm.  am  Ende). 
Die  Behauptung  dieser  Ausschließung,  indem  sie  aufs  höchste 
Recht  zu  haben  vermeinte,  hat  sich  auch  in  der  Erfahrung  am 
törichtsten,  die  Handlungsart  der  Regierungen  hingegen  als  das 
Weise  und  Würdige  erwiesen.  — 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §270.  213 

ausübt  und  Individuen  dafür  im  Dienste  hat,  tritt  sie 
aus  dem  Inneren  in  das  Weltliche  und  damit  in  das 
Gebiet  des  Staats  herüber  und  stellt  sich  dadurch  un- 
mittelbar unter  seine  Gesetze,  Der  Eid,  das  Sittliche 
überhaupt,  wie  das  Verhältnis  der  Ehe  führen  zwar  die 
innere  Durchdringung  und  die  Erhebung  der  Gesinnung 
mit  sich,  welche  durch  die  Eeligion  ihre  tiefste  Ver- 
gewisserung erhält;  indem  die  sittlichen  Verhältnisse 
wesentlich  Verhältnisse  der  wirklichen  Vernünftig- 
keit sind,  so  sind  es  die  Rechte  dieser,  welche  darin 
zuerst  zu  behaupten  sind,  und  zu  welchen  die  kirch- 
liche Vergewisserung  als  die  nur  innere,  abstraktere 
Seite  hinzutritt.  —  In  Ansehung  weiterer  Äußerungen, 
die  von  der  kirchlichen  Vereinigung  ausgehen,  so  ist 
bei  der  Lehre  das  Innere  gegen  das  Äußere  das  Über- 
wiegendere als  bei  den  Handlungen  des  Kultus  und 
anderen  damit  zusammenhängenden  Benehmungen,  wo 
die  rechtliche  Seite  wenigstens  sogleich  für  sich  als 
Sache  des  Staats  erscheint;  (wohl  haben  sich  Kirchen 
auch  die  Exemtion  ihrer  Diener  und  ihres  Eigentums 
von  der  Macht  und  Gerichtsbarkeit  des  Staates,  sogar 
die  Gerichtsbarkeit  über  weltliche  Personen  in  Gegen- 
ständen, bei  denen  wie  Ehescheidungssachen,  Eides- 
angelegenheiten u.  s.  f.  die  Religion  konkurriert,  genom- 
men). —  Die  polizeiliche  Seite  in  Rücksicht  solcher 
Handlungen  ist  freilich  unbestimmter,  aber  dies  liegt  in  der 
Natur  dieser  Seite  ebenso  auch  gegen  andere  ganz  bürger- 
liche Handlungen  (s.  oben  §  234).  Insofern  die  religiöse 
Gemeinschaftlichkeit  von  Individuen  sich  zu  einer  Ge- 
meinde, einer  Korporation  erhebt,  steht  sie  überhaupt 
unter  der  oberpolizeilichen  Oberaufsicht  des  Staats.  — 
Die  Lehre  selbst  aber  hat  ihr  Gebiet  in  dem  Gewissen, 
steht  in  dem  Rechte  der  subjektiven  Freiheit  des 
Selbstbewußtseins,  —  der  Sphäre  der  Innerlichkeit,  die 
als  solche  nicht  das  Gebiet  des  Staates  ausmacht.  Jedoch 
hat  auch  der  Staat  eine  Lehre,  da  seine  Einrichtungen 
und  das  ihm  Geltende  überhaupt  über  das  Rechtliche, 
Verfassung  u.s.f.  wesentlich  in  der  Form  des  Gedankens 
als  Gesetz  ist,  und  indem  er  kein  Mechanismus,  sondern 
das  vernünftige  Leben  der  selbstbewußten  Freiheit,  das 
System  der  sittlichen  Welt  ist,  so  ist  die  Gesinnung, 
sodann  das  Bewußtsein  derselben  in  Grundsätzen  ein 
wesentliches  Moment  im  wirklichen  Staate.  Hinwiederum 
ist  die  Lehre   der  Kirche    nicht   bloß   ein  Inneres   des 


214      -Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

Gewissens,  sondern  als  Lehre  vielmehr  Äußerung,  und 
Äu£3erung  zugleich  über  einen  Inhalt,  der  mit  den  sitt- 
lichen Grundsätzen  und  Staatsgesetzen  aufs  innigste  zu- 
sammenhängt oder  sie  unmittelbar  selbst  Letriift.  Staat 
und  Kirche  trelfen  also  hier  direkt  zusammen  oder 
gegeneinander.  Die  Verschiedenheit  beider  Gebiete 
kann  von  der  Kirche  zu  dem  schroffen  Gegensatz  ge- 
trieben werden,  dai3  sie,  als  den  absoluten  Inhalt  der 
Religion  in  sich  enthaltend,  das  Geistige  überhaupt 
und  damit  auch  das  sittliche  Element  als  ihren  Teil 
betrachtet,  den  Staat  aber  als  ein  mechanisches  Gerüste 
für  die  ungeistigen  äußerlichen  Zwecke,  sich  als  das 
Reich  Gottes  oder  wenigstens  als  den  Weg  und  Vorplatz 
dazu,  den  Staat  aber  als  das  Reich  der  Welt,  d.  i.  des 
Vergänglichen  und  Endlichen,  sich  damit  als  den  Selbst- 
zweck, den  Staat  aber  nur  als  bloßes  Mittel  begreift. 
Mit  dieser  Prätension  verbindet  sich  dann  in  Ansehung 
des  Lehrens  die  Forderung,  daß  der  Staat  die  Kirche 
darin  nicht  nur  mit  vollkommener  Freiheit  gev/ähren 
lasse,  sondern  unbedingten  Respekt  vor  ihrem  Lehren, 
wie  es  auch  beschaffen  sein  möge,  denn  diese  Bestim- 
mung komme  nur  ihr  zu,  als  Lehren  habe.  Wie  die 
Kirche  zu  dieser  Prätension  aus  dem  ausgedehnten 
Grunde,  daß  das  geistige  Element  überhaupt  ihr  Eigen- 
tum sei,  kommt,  die  Wissenschaft  und  Erkenntnis 
überhaupt  aber  gleichfalls  in  diesem  Gebiete  steht,  für 
sich  wie  eine  Kirche  sich  zur  Totalität  von  eigentüm- 
lichem Prinzipe  ausbildet,  welche  sich  auch  als  an  die 
Stelle  der  Kirche  selbst  noch  mit  größerer  Berechtigung 
tretend  betrachten  kann,  so  wird  dann  für  die  Wissen- 
schaft dieselbe  Unabhängigkeit  vom  Staate,  der  nur  als 
ein  Mittel  für  sie  als  einen  Selbstzweck  zu  sorgen  habe, 
verlangt.  —  Es  ist  für  dieses  Verhältnis  übrigens  gleich- 
gültig, ob  die  dem  Dienste  der  Gemeinde  sich  widmenden 
Individuen  und  Vorsteher  es  etwa  zu  einer  vom  Staate 
ausgeschiedenen  Existenz  getrieben  haben,  so  daß  nur 
die  übrigen  Mitglieder  dem  Staate  unterworfen  sind, 
oder  sonst  im  Staate  stehen  und  ihre  kirchliche  Be- 
stimmung nur  eine  Seite  ihres  Standes  sei,  welche  sie 
gegen  den  Staat  getrennt  halten.  —  Zunächst  ist  zu  be- 
merken, daß  ein  solches  Verhältnis  mit  der  Vorstellung 
vom  Staat  zusammenhängt,  nach  welcher  er  seine  Be- 
stimmung nur  hat  im  Schutz  und  Sicherheit  des  Lebens, 
Eigentums  und  der  Willkür  eines  jeden,  insofern  sie  das 


Der  Staat.    A.  Das  iuuere  Staatsrecht.    §  270.  215 

Leben  und  Eigentum  und  die  Willkür  der  anderen  nicht 
verletzt,  und  der  Staat  so  nur  als  eine  Veranstaltung 
der  Not  betrachtet  wird.  Das  Element  des  höheren 
Geistigen,  des  an  und  für  sich  Wahren,  ist  auf  diese 
Weise  als  subjektive  Religiosität  oder  als  theoretische 
Wissenschaft  jenseits  des  Staates  gestellt,  der,  als  der 
Laie  an  und  für  sich,  nur  zu  respektieren  habe,  und 
das  eigentliche  Sittliche  fällt  so  bei  ihm  ganz  aus. 
Daß  es  nun  geschichtlich  Zeiten  und  Zustände  von 
Barbarei  gegeben,  wo  alles  höhere  Geistige  in  der 
Kirche  seinen  Sitz  hatte  und  der  Staat  nur  ein  weltliches 
Regiment  der  Gewalttätigkeit,  der  Willkür  und  Leiden- 
schaft und  jener  abstrakte  Gegensatz  das  Hauptprinzip 
der  Wirklichkeit  war  (s,  §  358),  gehört  in  die  Geschichte, 
Aber  es  ist  ein  zu  blindes  und  seichtes  Verfahren,  diese 
Stellung  als  die  wahrhaft  der  Idee  gemäi3e  anzugeben. 
Die  Entwickelung  dieser  Idee  hat  vielmehr  dies  als  die 
Wahrheit  erwiesen,  daß  der  Geist,  als  frei  und  ver- 
nünftig, an  sich  sittlich  ist,  und  die  wahrhafte  Idee 
die  wirkliche  Vernünftigkeit,  und  diese  es  ist,  welche 
als  Staat  existiert.  Es  ergab  sich  ferner  aus  dieser 
Idee  ebensosehr,  daß  die  sittliche  Wahrheit  in  der- 
selben für  das  denkende  Bewußtsein,  als  in  die  Form 
der  Allgemeinheit  verarbeiteter  Inhalt,  als  Gesetz, 
ist,  —  der  Staat  überhaupt  seine  Zwecke  weiß,  sie 
mit  bestimmtem  Bewußtsein  und  nach  Grundsätzen  er- 
kennt und  betätigt.  Wie  oben  bemerkt  ist,  hat  nun  die 
Religion  das  Wahre  zu  ihrem  allgemeinen  Gegenstande, 
jedoch  als  einen  gegebenen  Inhalt,  der  in  seinen  Grund- 
bestimmungen nicht  durch  Denken  und  Begriffe  erkannt 
ist;  ebenso  ist  das  Verhältnis  des  Individuums  zu  diesem 
Gegenstande  eine  auf  Autorität  gegründete  Verpflich- 
tung, und  das  Zeugnis  des  eigenen  Geistes  und 
Herzens,  als  worin  das  Moment  der  Freiheit  enthalten 
ist,  ist  Glaube  und  Empfindung,  —  Es  ist  die  philo- 
sophische Einsicht,  welche  erkennt,  daß  Kirche  und  Staat 
nicht  im  Gegensatze  des  Inhalts  der  Wahrheit  und 
Vernünftigkeit,  aber  im  Unterschiede  der  Form  stehen. 
V/enn  daher  die  Kirche  in  das  Lehren  übergeht  (es 
gibt  und  gab  auch  Kirchen,  die  nur  einen  Kultus  haben; 
andere,  worin  er  die  Hauptsache  und  das  Lehren  und 
das  gebildetere  Bewußtsein  nur  Nebensache  ist)  und 
ihr  Lehren  objektive  Grundsätze,  die  Gedanken  des 
Sittlichen  und  Vernünftigen  betrifft,  so  geht  sie  in  dieser 


216      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

Äußerung  unmittelbar  in  das  Gebiet  des  Staats  herüber. 
Gegen  ihren  Glauben  und  ihre  Autorität  über  das 
Sittliche,  Recht,  Gesetze,  Institutionen,  gegen  ihre  sub- 
jektive Überzeugung  ist  der  Staat  vielmehr  das 
Wissende;  in  seinem  Prinzip  bleibt  wesentlich  der 
Inhalt  nicht  in  der  Form  des  Gefühls  und  Glaubens 
stehen,  sondern  gehört  dem  bestimmten  Gedanken  an. 
Wie  der  an  und  für  sich  seiende  Inhalt,  in  der  Gestalt 
der  Religion  als  besonderer  Inhalt,  als  die  der  Kirche 
als  religiöser  Gemeinschaft  eigentümlichen  Lehren,  er- 
scheint, so  bleiben  sie  außer  dem  Bereiche  des  Staats 
(im  Protestantismus  gibt  es  auch  keine  Geistlichkeit, 
welche  ausschließender  Depositär  der  kirchlichen  Lehre 
wäre,  weil  es  in  ihm  keine  Laien  gibt);  indem  sich  die 
sittlichen  Grundsätze  und  die  Staatsordnung  überhaupt 
in  das  Gebiet  der  Religion  herüberziehen  und  nicht 
nur  in  Beziehung  darauf  setzen  lassen,  sondern  auch 
gesetzt  werden  sollen,  so  gibt  diese  Beziehung  einerseits 
dem  Staate  selbst  die  religiöse  Beglaubigung;  anderer- 
seits bleibt  ihm  das  Recht  und  die  Form  der  selbst- 
bewußten, objektiven  Vernünftigkeit,  das  Recht,  sie 
geltend  zu  machen  und  gegen  Behauptungen,  die  aus 
der  subjektiven  Gestalt  der  Wahrheit  entspringen,  mit 
welcher  Versicherung  und  Autorität  sie  sich  auch 
umgebe,  zu  behaupten.  Weil  das  Prinzip  seiner  Form 
als  Allgemeines  wesentlich  der  Gedanke  ist,  so  ist  es 
auch  geschehen,  daß  von  seiner  Seite  die  Freiheit 
des  Denkens  und  der  Wissenschaft  ausgegangen 
ist  (und  eine  Kirche  hat  vielmehr  den  Jordanus  Bruno 
verbrannt,  den  Galilei  wegen  der  Darstellung  des 
kopernikanischen  Sonnensystems  auf  den  Knien  Ab- 
bitte tun  lassen  u.  s.  f.)  *).     Auf  seiner  Seite  hat  darum 


*)  Laplace,  Darstellung  des  "\Velts5-stenis,  V.  Buch. 
4.  Kap.  „Da  Gralilei  die  Entdeckungen  (zu  denen  ihm  das 
Teleskop  verhalf,  die  Lichtgestalten  der  Venus  u.  s.  f.)  bekannt 
machte,  zeigte  er  zugleich,  daß  sie  die  Bewegungen  der  Erde 
unwidersprechlich  be\nesen.  Aber  die  Vorstellung  dieser  Be- 
wegung wurde  durch  eine  Versammlung  der  Kardinäle  für  ketze- 
risch erklärt,  Galilei,  ihr  berühmtester  A'ert eidiger,  vor  das 
Inquisitiousgericht  gefordert  und  genötigt,  sie  zu  widerrufen,  um 
einem  harten  Gefängnis  zu  entgehen.  —  Bei  dem  Manne  von  Geist 
ist  die  Leidenschaft  für  die  Wahrheit  eine  der  stärksten  Leiden- 
schaften. Galilei,  durch  seine  eigenen  Beobachtungen  von 
der  Bewegung  der  Erde   überzeugt,    dachte  lange   Zeit   auf  ein 


Der  Staat.    A.  Das  inuere  Staatsrecht.    §270.  217 

auch  die  Wissenschaft  ihre  Stelle;  denn  sie  hat  das- 
selbe Element  der  Form  als  der  Staat,  sie  hat  den 
Zweck  des  Erkennens,  und  zwar  der  gedachten  ob- 
jektiven Wahrheit  und  Vernünftigkeit.  Das  denkende 
Erkennen  kann  zwar  auch  aus  der  Wissenschaft  in  das 
Meinen  und  in  das  Räsonnieren  aus  Gründen  herunter- 
fallen, sich  auf  sittliche  Gegenstände  und  die  Staats- 
organisation wendend  in  Widerspruch  gegen  deren  Grund- 
sätze sich  setzen,  und  dies  etwa  auch  mit  denselben 
Prätensionen,  als  die  Kirche  für  ihr  Eigentümliches 
macht,  auf  dies  Meinen  als  auf  Vernunft  und  das  Recht 
des  subjektiven  Selbstbewußtseins,  in  seiner  Meinung 
und  Überzeugung  frei  zu  sein.  Das  Prinzip  dieser  Sub- 
jektivität des  Wissens  ist  oben  (§  140  Anm.)  betrachtet 


neues  Werk,  worin  er  alle  Beweise  dafür  zu  entwickeln  sich  vor- 
genommen hatte.  Aber  um  sich  zugleich  der  Verfolgung  zu  ent- 
ziehen, dereu  Opfer  er  hätte  werden  müssen,  wählte  er  die  Aus- 
kunft, sie  in  der  Form  von  Dialogen  zwischen  drei  Personen 
darzustellen;  man  sieht  wohl,  daß  der  Vorteil  auf  der  Seite  des 
A'erteidigers  des  kopernikanischen  Systems  war;  da  aber  Galilei 
nicht  zwischen  ihnen  entschied  und  den  Einwürfen  der  Anhänger 
des  Ptolemäus  so  viel  Gewicht  gab,  als  nur  möglich  war,  so  durfte 
er  wohl  erwarten,  im  Genüsse  der  Ruhe,  die  sein  hohes  Alter 
und  seine  Arbeiten  verdienten,  nicht  gestört  zu  werden.  Er 
wurde  in  seinem  siebzigsten  Jahre  aufs  neue  vor  das  Inquisitions- 
tribunal gefordert;  man  schloß  ihn  in  ein  Gefängnis  ein,  wo  man 
eine  zweite  Widerrufung  seiner  Meinungen  von  ihm  forderte, 
unter  Andi'ohung  der  für  die  wieder  abgefallenen  Ketzer  be- 
stimmten Strafe.  Man  ließ  ihn  folgende  Abschwörungsformel 
unterschreiben:  „Ich  Galilei,  der  ich  in  meinem  siebzigsten 
Jahre  mich  persönlich  vor  dem  Gerichte  eingefunden,  auf  den 
Knien  liegend,  und  die  Augen  auf  die  heiligen  Evangelien,  die 
ich  mit  meinen  Händen  berühre,  gerichtet,  schwöre  ab,  verfluche 
und  verwünsche  mit  redlichem  Herzen  und  wahrem  Glauben  die 
Ungereimtheit,  Falschheit  und  Ketzerei  der  Lehre  von  der  Be- 
wegung der  Erde  u.  s.  f."  Welch  ein  Anblick  war  das,  einen  ehr- 
würdigen Greis,  berühmt  durch  ein  langes,  der  Erforschung  der 
Natur  einzig  gewidmetes  Leben,  gegen  das  Zeugnis  seines  eigenen 
Gewissens  die  Wahrheit,  die  er  mit  Überzeugungskraft  erwiesen 
hatte,  auf  den  Knien  abschwören  zu  sehen.  Ein  Urteil  der  In- 
quisition verdammte  ihn  zu  immerwährender  Gefangenschaft.  Ein 
Jahr  hernach  wurde  er,  auf  die  Verwendung  des  Großherzogs 
von  Florenz,  in  Freiheit  gesetzt.  —  Er  starb  1642.  Seinen  Ver- 
lust betrauerte  Europa,  das  durch  seine  Arbeiten  erleuchtet  und 
über  das  von  einem  verhaßten  Tribunale  gegen  einen  so  großen 
Mann  gefällte  Urteil  aufgebracht  war." 


218       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

worden;  hierher  gehört  nur  die  Bemerkung,  daß  nach 
einer  Seite  der  Staat  gegen  das  Meinen,  —  eben  insofern 
es  nur  Meinung,  ein  subjektiver  inlialt  ist  und  darum,  es 
spreize  sich  noch  so  hoch  auf,  keine  wahre  Kraft  und 
Gewalt  in  sich  hat,  —  ebenso  wie  die  Maler,  die  sich  auf 
ihrer  Palette  an  die  drei  Grunlfarben  halten,  gegen 
die  Schulweisheit  von  den  sieben  Grundfarben,  eine 
unendliche  Gleichgültigkeit  ausüben  kann.  Nach  der 
anderen  Seite  aber  hat  der  Staat  gegen  dies  Meinen 
schlechter  Grundsätze,  indem  es  sich  zu  einem  all- 
gemeinen und  die  Wirklichkeit  anfressenden  Dasein 
macht,  ohnehin  insofern  der  Formalismus  der  unbedingten 
Subjektivität  den  wissenschaftlichen  Ausgangspunkt  zu 
seinem  Grunde  nehmen  und  die  Lehrveranstaltungen 
des  Staates  selbst  zu  der  Prätension  einer  Kirche  gegen 
ihn  erheben  und  kehren  wollte,  die  objektive  Wahrheit 
und  die  Grundsätze  des  sittlichen  Lebens  in  Schutz  zu 
nehmen,  sowie  er  im  ganzen  gegen  die,  eine  unbeschränkte 
und  unbedingte  Autorität  ansprechende,  Kirchs  um- 
gekehrt das  formelle  Recht  des  Selbstbewui3tseins  an  die 
eigene  Einsicht,  Überzeugung  und  überhaupt  Denken 
dessen,  v/as  als  objektive  Wahrheit  gelten  soll,  geltend 
zu  machen  hat. 

Die  Einheit  des  Staates  und  der  Kirche,  eine 
auch  in  neuen  Zeiten  viel  besprochene  und  als  höchstes 
Ideal  aufgestellte  Bestimmung  kann  noch  erwähnt  werden. 
Wenn  die  wesentliche  Einheit  derselben  die  der  Wahrheit 
der  Grundsätze  und  Gesinnung  ist,  so  ist  ebenso  wesent- 
lich, daß  mit  dieser  Einlieit  der  Unterschied,  den  sie 
in  der  Form  ihres  Bewußtseins  haben,  zur  besonderen 
Existenz  gekommen  sei.  Im  orientalischen  Despotis- 
mus ist  jene  so  oft  gewünschte  Einheit  der  Kirche  und 
des  Staates,  aber  damit  ist  der  Staat  nicht  vorhanden, 
—  nicht  die  selbstbewußte,  des  Geistes  allein  würdige 
Gestaltung  in  Kecht,  freier  Sittlichkeit  und  organischer 
Entwickelung.  —  Damit  ferner  der  Staat  als  die  sich 
wissende,  sittliche  Wirklichkeit  des  Geistes  zum  Dasein 
komme,  ist  seine  Unterscheidung  von  der  Form  der 
Autorität  und  des  Glaubens  notwendig;  diese  Unterschei- 
dung tritt  aber  nur  hervor,  insofern  die  kirchliche  Seite 
in  sich  selbst  zur  Trennung  kommt;  nur  so,  über  den 
besonderen  Kirchen,  hat  der  Staat  die  Allgemein- 
heit des  Gedankens,  das  Prinzip  seiner  Form,  gewonnen 
und  bringt  sie  zur  Existenz;  um  dies  zu  erkennen,  muß 


DerSttiat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §271—272.       219 

man  wissen,  nicht  nur  was  die  Allgemeinheit  an  sich, 
sondern  was  ihre  Existenz  ist.  Es  ist  daher  so  weit 
gefehlt,  daß  für  den  Staat  die  kirchliche  Trennung  ein 
Unglück  wäre  oder  gewesen  wäre,  daß  er  nur  durch 
sie  hat  werden  können,  was  seine  Bestimmung  ist,  die 
selbstbewußte  Vernünftigkeit  und  Sittlichkeit.  Ebenso 
ist  es  das  Glücklichste,  was  der  Kirche  für  ihre  eigene 
und  was  dem  Gedanken  für  seine  Freiheit  und  Vernünf- 
tigkeit hat  widerfahren  können. 

§  271. 

Die  politische  Verfassung  ist  fürs  erste:  die  Organi- 
sation des  Staates  und  der  Prozeß  seines  organischen  Lebens 
in  Beziehung  auf  sich  selbst,  in  welcher  er  seine  Mo- 
mente innerhalb  seiner  selbst  unterscheidet  und  sie  zum 
Bestehen  entfaltet. 

Zweitens  ist  er  als  eine  Individualität  ausschlie- 
ßendes Eins,  welches  sich  damit  zu  anderen  verhält, 
seine  Unterscheidung  also  nach  außen  kehrt  und  nach 
dieser  Bestimmung  seine  bestehenden  Unterschiede  inner- 
halb seiner  selbst  in  ihrer  Idealität  setzt. 

1.  Innere  Terfassuiig:  für  sieli. 

§  272. 

Die  Verfassung  ist  vernünftig,  insofern  der  Staat  seine 
Wirksamkeit  nach  der  Natur  des  Begriffs  in  sich 
unterscheidet  und  bestimmt,  und  zwar  so,  daß  jede 
dieser  Gewalten  selbst  in  sich  die  Totalität  dadurch 
ist,  daß  sie  die  anderen  Momente  in  sich  wirksam  hat  und 
enthält,  und  daß  sie,  weil  sie  den  Unterschied  des  Begriffs 
ausdrücken,  schlechthin  in  seiner  Idealität  bleiben  und 
nur  ein  individuelles  Ganzes  ausmachen. 

Es  ist  über  Verfassung  wie  über  die  Vernunft  selbst 
in  neueren  Zeiten  unendlich  viel  Geschwätze,  und  zwar 
in  Deutschland  das  schalste  durch  diejenigen  in  die  Welt 
gekommen,  welche  sich  überredeten,  es  am  besten  und 
selbst  mit  Ausschluß  aller  anderen  und  am  ersten  der 
Regierungen  zu  verstehen,  was  Verfassung  sei,  und  die 
unabweisliche  Berechtigung  darin  zu  haben  meinten,  daß 
die  Religion  und  die  Frömmigkeit  die  Grundlage  aller 
dieser  ihrer  Seichtigkeiten  sein  sollte.  Es  ist  kein 
Wunder,  wenn  dieses  Geschwätze  die  Folge  gehabt  hat, 
daß   vernünftigen   Männern  die   Worte   Vernunft,   Auf- 


220      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

klärung,  Recht  u.  s.  f.  wie  Verfassung  und  Freiheit  ekel- 
haft geworden  sind,  und  man  sich  schämen  möchte,  noch 
über  politische  Verfassung  auch  mitzusprechen.  Wenig- 
stens aber  mag  man  von  diesem  Überdrusse  die  Wirkung 
hoffen,  daß  die  Überzeugung  allgemeiner  werde,  daß 
eine  philosophische  Erkenntnis  solcher  Gegenstände 
nicht  aus  dem  Räsonnement,  aus  Zwecken,  Gründen  und 
Nützlichkeiten,  noch  viel  weniger  aus  dem  Gemüt,  der 
Liebe  und  der  Begeisterung,  sondern  allein  aus  dem 
Begriffe  hervorgehen  könne,  und  daß  diejenigen,  welche 
das  Göttliche  für  unbegreiflich  und  die  Erkenntnis  des 
Wahren  für  ein  nichtiges  Unternehmen  halten,  sich  ent- 
halten müssen,  mitzusprechen.  Was  sie  aus  ihrem  Ge- 
müte  und  ihrer  Begeisterung  an  unverdautem  Gerede 
oder  an  Erbaulichkeit  hervorbringen,  beides  kann  we- 
nigstens nicht  die  Prätension  auf  philosophische  Be- 
achtung machen. 

Von  den  kursierenden  Vorstellungen  ist  in  Beziehung 
auf  den  §  269  die  von  der  notwendigen  Teilung  der 
Gewalten  des  Staates  zu  erwähnen,  —  einer  höchst 
wichtigen  Bestimmung,  welche  mit  Recht,  wenn  sie  näm- 
lich in  ihrem  wahren  Sinne  genommen  worden  wäre, 
als  die  Garantie  der  öffentlichen  Freiheit  betrachtet 
werden  konnte,  —  einer  Vorstellung,  von  welcher  aber 
gerade  die,  welche  aus  Begeisterung  und  Liebe  zu 
sprechen  meinen,  nichts  wissen  und  nichts  wissen  wollen; 
—  denn  in  ihr  ist  es  eben,  wo  das  Moment  der  vernünf- 
tigen Bestimmtheit  liegt.  Das  Prinzip  der  Teilung 
der  Gewalten  enthält  nämlich  das  wesentliche  Moment 
des  Unterschiedes,  der  realen  Vernünftigkeit;  aber 
wie  es  der  abstrakte  Verstand  faßt,  liegt  darin  teils 
die  falsche  Bestimmung  der  absoluten  Selbständig- 
keit der  Gewalten  gegeneinander,  teils  die  Einseitig- 
keit, ihr  Verhältnis  zu  einander  als  ein  Negatives,  als 
gegenseitige  Beschränkung  aufzufassen.  In  dieser 
Ansicht  wird  es  eine  Feindseligkeit,  eine  Angst  vor  jeder, 
was  jede  gegen  die  andere  als  gegen  ein  Übel  hervor- 
bringt, mit  der  Bestimmung,  sich  ihr  entgegenzusetzen 
und  durch  diese  Gegengewichte  ein  allgemeines  Gleich- 
gewicht, aber  nicht  eine  lebendige  Einheit  zu  bewirken. 
Nur  die  Selbstbestimmung  des  Begriffs  in  sich,  nicht 
irgend  andere  Zwecke  und  Nützlichkeiten,  ist  es,  welche 
den  absoluten  Ursprung  der  unterschiedenen  Gewalten 
enthält,   und   um  derentwillen  allein  die   Staats-Ürgani- 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  273.  221 

sation  als  das  in  sich  Vernünftige  und  das  Abbild  der 
ewigen  Vernunft  ist,  —  Wie  der  Begriff,  und  dann  in 
konkreter  Weise  die  Idee  sich  an  ihnen  selbst  bestimmen 
und  damit  ihre  Momente  abstrakt  der  Allgemeinheit,  Be- 
sonderheit und  Einzelnheit  setzen,  ist  aus  der  Logik, 
—  freilich  nicht  der  sonst  gäng  und  gäben  —  zu  er- 
kennen. Überhaupt  das  Negative  zum  Ausgangspunkt 
zu  nehmen,  und  das  Wollen  des  Bösen  und  das  Mißtrauen 
dagegen  zum  Ersten  zu  machen,  und  von  dieser  Voraus- 
setzung aus  nun  pfiffigerweise  Dämme  auszuklügeln,  die 
Einheit  als  eine  Wirksamkeit  nur  gegenseitiger  Dämme  zu 
begreifen,  charakterisiert  dem  Gedanken  nach  den  ne- 
gativen Verstand  und  der  Gesinnung  nach  die  An- 
sicht des  Pöbels.  (S.  oben  §  244.)  —  Mit  der  Selb- 
ständigkeit der  Gewalten,  z.  B.  der,  wie  sie  genannt 
worden  sind,  exekutiven  und  der  gesetzgebenden 
Gewalt,  ist,  wie  man  dies  auch  im  großen  gesehen  hat, 
die  Zertrümmerung  des  Staats  unmittelbar  gesetzt  oder, 
insofern  der  Staat  sich  wesentlich  erhält,  der  Kampf, 
daß  die  eine  Gewalt  die  andere  unter  sich  bringt,  da- 
durch zunächst  die  Einheit,  wie  sie  sonst  beschaffen 
sei,  bewirkt  und  so  allein  das  Wesentliche,  das  Bestehen 
des  Staates  rettet. 

§  273. 

Der  politische  Staat  dirimiert  sich  somit  in  die  sub- 
stantiellen Unterschiede: 

a)  der  Gewalt,  das  Allgemeine  zu  bestimmen  und  fest- 
zusetzen, —  der  gesetzgebenden  Gewalt, 

■  b)  der  Subsumtion  der  besonderen  Sphären  und  ein- 
zelnen Fälle  unter  das  Allgemeine,  —  der  Regierungs- 
gewalt, 

c)  der  Subjektivität  als  der  letzten  Willensentscheidung, 
der  fürstlichen  Gewalt,  —  in  der  die  unterschiedenen 
Gewalten  zur  individuellen  Einheit  zusammengefaßt  sind, 
die  also  die  Spitze  und  der  Anfang  des  Ganzen,  —  der 
konstitutionellen    Monarchie,    ist. 

Die  Ausbildung  des  Staats  zur  konstitutionellen  Mo- 
narchie ist  das  Werk  der  neueren  Welt,  in  welcher  die 
substantielle  Idee  die  unendliche  Form  gewonnen  hat. 
Die  Geschichte  dieser  Vertiefung  des  Geistes  der  Welt 
in  sich,  oder  was  dasselbe  ist,  diese  freie  Ausbildung, 
in  der  die  Idee  ihre  Momente  —  und  nur  ihre  Momente^ 


222       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

sind  es  —  als  Totalitäten  aus  sich  entläßt  und  sie  eben 
damit  in  der  idealen  Einheit  des  Begriffs  enthält,  als 
worin  die  reelle  Vernünftigkeit  besteht,  —  die  Geschichte 
dieser  wahrhaften  Gestaltung  des  sittlichen  Lebens  ist 
die  Sache  der  allgemeinen  Weltgeschichte. 

Die  alte  Einteilung  der  Verfassungen  in  Monarchie, 
Aristokratie  und  Demokratie  hat  die  noch  unge- 
trennte substantielle  Einheit  zu  ihrer  Grundlage, 
welche  zu  ihrer  inneren  Unterscheidung  (einer  ent- 
wickelten Organisation  in  sich)  und  damit  zur  Tiefe  und 
konkreten  Vernünftigkeit  noch  nicht  gekommen 
ist.  Für  jenen  Standpunkt  der  alten  Welt  ist  daher  diese 
Einteilung  die  wahre  und  richtige;  denn  der  Unterschied 
als  an  jener  noch  substantiellen,  nicht  zur  absoluten  Ent- 
faltung in  sich  gediehenen  Einheit  ist  wesentlich  ein 
äußerlicher  und  erscheint  zunächst  als  Unterschied 
^der  Anzahl  (Encykl.  der  Phil.  §  82)*)  derjenigen,  in 
welchen  jene  substantielle  Einheit  immanent  sein  soll. 
Diese  Formen,  welche  auf  solche  Weise  verschiedenen 
Ganzen  angehören,  sind  in  der  konstitutionellen  Mo- 
narchie zu  Momenten  herabgesetzt;  der  Monarch  ist 
einer;  mit  der  Regierungsgewalt  treten  einige  und 
mit  der  gesetzgebenden  Gewalt  tritt  die  Vielheit  über- 
haupt ein.  Aber  solche  bloß  quaiiiitative  Unterschiede 
sind,  wie  gesagt,  nur  oberflächlich  und  geben  nicht  den 
Begriff  der  Sache  an.  Es  ist  gleichfalls  nicht  passend, 
wenn  in  neuerer  Zeit  soviel  vom  demokratischen,  aristo- 
kratischen Elemente  in  der  Monarchie  gesprochen 
worden  ist;  denn  diese  dabei  gemeinten  Bestimmungen, 
eben  insofern  sie  in  der  Monarchie  stattfinden,  sind 
nicht  mehr  Demokratisches  und  Aristokratisches.  —  Es 
gibt  Vorstellungen  von  Verfassungen,  wo  nur  das  Ab- 
straktum  von  Staat  oben  hingestellt  ist,  welches  re- 
giere und  befehle,  und  es  unentschieden  gelassen  und 
als  gleichgültig  angesehen  wird,  ob  an  der  Spitze  dieses 
Staates  einer  oder  mehrere  oder  alle  stehen.  —  „Alle 
diese  Formen,"  sagt  so  Fichte  in  s.  Naturrecht,  1.  T. 
S.  196,  [§  16]  „sind,  wenn  nur  ein  Ephorat,  (ein  von  ihm 
erfundenes,  sein  sollendes  Gegengewicht  gegen  die  oberste 
Gewalt)**)  vorhanden  ist,  rechtsgemäß  und  können  allge- 

*rin  crer  3.  Aufl..  §  132    (Phil.  Bibl.  Bd.  33.  S.  139  f.). 
**)  Vgl.  Hegel,   Über    die   wissenschaftlichen  Behandlungs- 
arten des  Naturrechts,  Krit.  Journ.  der  Phil.,   2.  Bd.   2  St.,  Tü- 
bingen 1802,  S.  52flF.  (Wwe.  1.  Band.,  S.  3t)5f.). 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  273.  223 

meines   Recht   im   St-aate   hervorbringen   und   erhalten." 

—  Eine  solche  Ansicht  (wie  auch  jene  Erfindung  eines 
Ephorats)  stammt  aus  der  vorhin  bemerkten  Seichtig- 
keit  des  Begriffes  vom  Staate.  Bei  einem  ganz  einfachen 
Zustande  der  Gesellschaft  haben  diese  Unterschiede  frei- 
lich wenig  oder  keine  Bedeutung,  wie  denn  Moses  in 
seiner  Gesetzgebung  für  den  Fall,  daß  das  Volk  einen 
König  verlange,  vv^eiter  keine  Abänderung  der  Institu- 
tionen, sondern  nur  für  den  König  das  Gebot  hinzufügt. 
daß  seine  Kavallerie,  seine  Frauen  und  sein  Gold  und 
Silber  nicht  zahlreich  sein  solle  (5.  B.  Mose  17,  16  ff.). 

—  Man  kann  übrigens  in  einem  Siane  allerdings  sager., 
daß  auch  für  die  Idee  jene  drei  Formen  (die  monar- 
chische mit  eingeschlossen  in  der  beschränkten  Be- 
deutung nämlich,  in  der  sie  neben  die  aristokratische 
und  demokratische  gestellt  wird)  gleichgültig  sind, 
aber  in  dem  entgegengesetzten  Sinne,  weil  sie  insgesamt 
der  Idee  in  ihrer  vernünftigen  Entwickelung  (§  272) 
nicht  gemäß  sind  und  diese  in  keiner  derselben  ihr 
Recht  und  Wirklichkeit  erlangen  könnte.  Deswegen  ist 
es  auch  zur  ganz  müßigen  Frage  geworden,  welche  die 
vorzüglichste  unter  ihnen  wäre;  —  von  solchen  Formen 
kann  nur  historischer  Weise  die  Rede  sein.  ■ —  Sonst 
aber  muß  man  auch  in  diesem  Stücke,  wie  in  so  vielen 
anderen,  den  tiefen  Blick  Montesquieus  in  seiner  be- 
rühmt gewordenen  Angabe  der  Prinzipien  dieser  Regie- 
rungsformen anerkennen,  aber  diese  Angabe,  um  ihre 
Richtigkeit  anzuerkennen,  nicht  mißverstehen.  Bekannt- 
lich gab  er  als  Prinzip  der  Demokratie  die  Tugend 
an;  denn  in  der  Tat  beruht  solche  Verfassung  auf  der 
Gesinnung  als  der  nur  substantiellen  Form,  in  v;elcher 
die  Vernünftigkeit  des  an  und  für  sich  seienden  Willens 
in  ihr  noch  existiert.  Wenn  Montesquieu  aber  hinzu- 
fügt, daß  England  im  siebzehnten  Jahrhundert  das 
schöne  Schauspiel  gegeben  habe,  die  Anstrengungen^  eine 
Demokratie  zu  errichten,  als  unmächtig  zu  zeigen,  da  die 
Tugend  in  den  Führern  gemangelt  habe,  —  und  wenn 
er  ferner  hinzusetzt,  daß  wenn  die  Tugend  in  der  Re- 
publik verschwindet,  der  Ehrgeiz  sich  derer,  deren  Ge- 
müt desselben  fähig  ist,  und  die  Habsucht  sich  aller 
bemächtigt,  und  der  Staat  alsdann,  eine  allgemeine  Beute, 
seine  Stärke  nur  in  der  Macht  einiger  Individuen  und  in 
der  Ausgelassenheit  aller  habe,  —  so  ist  darüber  zu 
bemerken,  daß  bei  einem  ausgebildeteren  Zustande  der 


224       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

Gesellschaft  und  bei  der  Entwickelung  und  dem  Frei- 
werden der  Mächte  der  Besonderheit,  die  Tugend 
der  Häupter  des  Staats  unzureichend  und  eine  andere 
Form  des  vernünftigen  Gesetzes,  als  nur  die  der  Ge- 
sinnung erforderlich  wird,  damit  das  Ganze  die  Kraft, 
sich  zusammenzuhalten  und  den  Kräften  der  entwickelten 
Besonderheit  ihr  positives  wie  ihr  negatives  Recht  an- 
gedeihen  zu  lassen,  besitze.  Gleicherweise  ist  das  Miß- 
verständnis zu  entfernen,  als  ob  damit,  daß  in  der  de- 
mokratischen Republik  die  Gesinnung  der  Tugend  die 
substantielle  Form  ist,  in  der  Monarchie  diese  Gesinnung 
für  entbehrlich  oder  gar  für  abwesend  erklärt,  und 
vollends  als  ob  Tugend  und  die  in  einer  gegliederten 
Organisation  gesetzlich  bestimmte  Wirksamkeit  ein- 
ander entgegengesetzt  und  unverträglich  wäre.  —  Daß 
in  der  Aristokratie  die  Mäßigung  das  Prinzip  sei, 
bringt  die  hier  beginnende  Abscheidung  der  öffentlichen 
Macht  und  des  Privatinteresses  mit  sich,  welche  zugleich 
sich  so  unmittelbar  berühren,  daß  diese  Verfassung  in 
sich  auf  dem  Sprunge  steht,  unmittelbar  zum  härtesten 
Zustande  der  Tyrannei  oder  Anarchie  (man  sehe  die 
römische  Geschichte)  zu  werden  und  sich  zu  vernichten. 
—  Daß  Montesquieu  die  Ehre  als  das  Prinzip  der  Mo- 
narchie erkennt,  daraus  ergibt  sich  für  sich  schon, 
daß  er  nicht  die  patriarchalische  oder  antike  überhaupt, 
noch  die  zu  objektiver  Verfassung  gebildete,  sondern 
die  Feudal-Monarchie  und  zwar  insofern  die  Verhält- 
nisse ihres  inneren  Staatsrechts  zu  rechtlichem  Privat- 
eigentume  und  Privilegien  von  Individuen  und  Korpo- 
rationen befestigt  sind,  versteht.  Indem  in  dieser  Ver- 
fassung das  Staatsleben  auf  privilegierter  Persönlich- 
keit beruht,  in  deren  Belieben  ein  großer  Teil  dessen 
gelegt  ist,  was  für  das  Bestehen  des  Staates  getan 
werden  muß,  so  ist  das  Objektive  dieser  Leistungen  nicht 
auf  Pflichten,  sondern  auf  Vorstellung  und  Mei- 
nung gestellt,  somit  statt  der  Pflicht  nur  die  Ehre  das, 
was  den  Staat  zusammenhält. 

Eine  andere  Frage  bietet  sich  leicht  dar:  wer  die 
Verfassung  machen  soll?  Diese  Frage  scheint  deut- 
lich, zeigt  sich  aber  bei  näherer  Betrachtung  sogleich 
sinnlos.  Denn  sie  setzt  voraus,  daß  keine  Verfassung 
vorhanden,  somit  ein  bloßer  atomistischer  Haufen  von 
Individuen  beisammen  sei.  Wie  ein  Haufen,  ob  durch 
sich  oder  andere,  durch  Güte,   Gedanken  oder  Gewalt, 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  274—275.       225 

ZU  einer  Verfassung  kommen  würde,  müßte  ihm  über- 
lassen bleiben,  denn  mit  einem  Haufen  hat  es  der  Begriff 
nicht  zu  tun.  —  Setzt  aber  jene  Frage  schon  eine  vor- 
handene Verfassung  voraus,  so  bedeutet  das  Machen 
nur  eine  Veränderung,  und  die  Voraussetzung  einer  Ver- 
fassung enthält  es  unmittelbar  selbst,  daß  die  Ver- 
änderung nur  auf  verfassungsmäßigem  Wege  geschehen 
könne.  —  Überhaupt  aber  ist  es  schlechthin  wesentlich, 
daß  die  Verfassung,  obgleich  in  der  Zeit  hervorgegangen, 
nicht  als  ein  Gemachtes  angesehen  werde;  denn  sie 
ist  vielmehr  das  schlechthin  an  und  für  sich  Seiende, 
das  darum  als  das  Göttliche  und  Beharrende,  und  als 
über  der  Sphäre  dessen,  was  gemacht  wird,  zu  be- 
trachten ist. 

§274. 

Da  der  Geist  nur  als  das  wirklich  ist,  als  was  er  sich 
weiß,  und  der  Staat,  als  Geist  eines  Volkes,  zugleich  das 
alle  seine  Verhältnisse  durchdringende  Gesetz,  die 
Sitte  und  das  Bewußtsein  seiner  Individuen  ist,  so  hängt 
die  Verfassung  eines  bestimmten  Volkes  überhaupt  von  der 
Weise  und  Bildung  des  Selbstbewußtseins  desselben  ab; 
in  diesem  liegt  seine  subjektive  Freiheit,  und  damit  die 
Wirklichkeit  der  Verfassung. 

Einem  Volke  eine,  wenn  auch  ihrem  Inhalte  nach 
mehr  oder  weniger  vernünftige  Verfassung  a  priori 
geben  zu  wollen,  —  dieser  Einfall  übersähe  gerade 
das  Moment,  durch  welches  sie  mehr  als  ein  Gedanken- 
ding wäre.  Jedes  Volk  hat  deswegen  die  Verfassung, 
die  ihm  angemessen  ist  und  für  dasselbe  gehört. 

a)  Die  fürstliche  Gewalt. 
§  275. 
Die  fürstliche  Gewalt  enthält  selbst  die  drei  Momente 
der  Totalität  in  sich  (§  272),  die  Allgemeinheit  der 
Verfassung  und  der  Gesetze,  die  Beratung  als  Beziehung 
des  Besonderen  auf  das  Allgemeine,  und  das  Moment 
der  letzten  Entscheidung  als  der  Selbstbestimmung, 
in  welche  alles  Übrige  zurückgeht,  und  wovon  es  den 
Anfang  der  Wirklichkeit  nimmt.  Dieses  absolute  Selbst- 
bestimmen macht  das  unterscheidende  Prinzip  der  fürst- 
lichen Gewalt  als  solcher  aus,  welches  zuerst  zu  ent- 
wickeln ist. 

Hegel,  Rechtsphilosophie.  15 


226        Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

§  276. 

1.  Die  Grundbestimmung  des  politischen  Staats  ist  die 
substantielle  Einheit  als  Idealität  seiner  Momente,  in 
welcher  a)  die  besonderen  Gewalten  und  Geschäfte  des- 
selben ebenso  aufgelöst  als  erhalten,  und  nur  so  erhalten 
sind,  als  sie  keine  unabhängige,  sondern  allein  eine  solche 
und  so  weit  gehende  Berechtigung  haben,  als  in  der  Idee 
des  Ganzen  bestimmt  ist,  —  von  seiner  Macht  ausgehen  und 
flüssige  Glieder  desselben  als  ihres  einlachen  Selbsts  sind. 

§277. 

ß)  Die  besonderen  Geschäfte  und  Wirksamkeiten  des 
Staats  sind  als  die  wesentlichen  Momente  desselben  ihm 
eigen,  und  an  die  Individuen,  durch  welche  sie  gehand- 
habt und  betätigt  werden,  nicht  nach  deren  unmittelbarer 
Persönlichkeit,  sondern  nur  nach  ihren  allgemeinen  und 
objektiven  Qualitäten  geknüpft  und  daher  mit  der  be- 
sonderen Persönlichkeit  als  solcher,  äußerlicher-  und  zu- 
fälligerweise verbunden.  Die  Staatsgeschäfte  und  Gewalten 
können  daher  nicht  Privateigentum  sein. 

§  278. 

Diese  beiden  Bestimmungen,  daß  die  besonderen  Ge- 
schäfte und  Gewalten  des  Staats  weder  für  sich,  noch  in 
dem  besonderen  Willen  von  Individuen  selbständig  und 
fest  sind,  sondern  in  der  Einheit  des  Staats  als  ihrem  ein- 
fachen Selbst  ihre  letzte  Wurzel  haben,  macht  die  Sou- 
veränetät  des  Staats  aus. 

Dies  ist  die  Souveränetät  nach  innen,  sie  hat 
noch  eine  andere  Seite,  die  nach  außen,  s,  unten.  — 
In  der  ehemaligen  Feudalmonarchie  war  der  Staat 
wohl  nach  außen,  aber  nach  innen  war  nicht  etwa  nur 
der  Monarch  nicht,  sondern  der  Staat  nicht  souverän. 
Teils  waren  (vergl.  §  273  Anm.)  die  besonderen  Geschäfte 
und  Gewalten  des  Staats  und  der  bürgerlichen  Gesell- 
schaft in  unabhängigen  Korporationen  und  Gemeinden 
verfaßt,  das  Ganze  daher  mehr  ein  Aggregat  als  ein 
Organismus,  teils  waren  sie  Privateigentum  von  Indi- 
viduen, und  damit  was  von  denselben  in  Rücksicht  auf 
das  Ganze  getan  werden  sollte,  in  deren  Meinung  und 
Belieben  gestellt,  —  Der  Idealismus,  der  die  Sou- 
veränetät ausmacht,  ist  dieselbe  Bestimmung,  nach  welcher 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  278.  227 

im  animalischen  Organismus  die  sogenannten  Teile  des- 
selben nicht  Teile,  sondern  Glieder,  organische  Momente 
sind,  und  deren  Isolieren  und  Für-sich-bestehen  die  Krank- 
heit ist  (s.  Encykl,  der  phil.  Wissensch.  §  293)  i),  das- 
selbe Prinzip,  das  im  abstrakten  Begriffe  des  Willens 
(s,  folg.  §  Anm.)  als  die  sich  auf  sich  beziehende  Negati- 
vität  und  damit  zur  Einzelnheit  sich  bestimmende 
Allgemeinheit  vorkam  (§  7),  in  welcher  alle  Besonderheit 
und  Bestimmtheit  eine  aufgehobene  ist,  der  absolute 
sich  selbst  bestimmende  Grund;  um  sie  zu  fassen,  muß 
man  überhaupt  den  Begriff  dessen,  was  die  Substanz  und 
die  wahrhafte  Subjektivität  des  Begriffes  ist,  inne  haben. 
—  Weil  die  Souveränetät  die  Idealität  aller  besonderen 
Berechtigung  ist,  so  liegt  der  Mißverstand  nahe,  der 
auch  sehr  gewöhnlich  ist,  sie  für  bloße  Macht  und  leere 
\Villkür,  und  Souveränetät  für  gleichbedeutend  mit  Despo- 
tismus zu  nehmen.  Aber  der  Despotismus  bezeichnet 
überhaupt  den  Zustand  der  Gesetzlosigkeit,  wo  der  be- 
sondere Wille  als  solcher,  es  sei  nun  eines  Monarchen 
oder  eines  Volks  (Ochlokratie),  als  Gesetz  oder  viel- 
mehr statt  des  Gesetzes  gilt,  da  hingegen  die  Souveräne- 
tät gerade  im  gesetzlichen,  konstitutionellen  Zustande 
das  Moment  der  Idealität  der  besonderen  Sphären  und 
Geschäfte  ausmacht,  daß  nämlich  eine  solche  Sphäre 
nicht  ein  Unabhängiges,  in  ihren  Zwecken  und  Wirkungs- 
weisen Selbständiges  und  sich  nur  in  sich  Vertiefendes, 
sondern  in  diesen  Zwecken  und  Wirkungsweisen  vom 
Zwecke  des  Ganzen  (den  man  im  allgemeinen  mit 
einem  unbestimmteren  Ausdrucke  das  Wohl  des  Staats 
genannt  hat)  bestimmt  und  abhängig  sei.  Diese  Idealität 
kommt  auf  die  gedoppelte  Weise  zur  Erscheinung.  — 
Im  friedlichen  Zustande  gehen  die  besonderen  Sphären 
und  Geschäfte  den  Gang  der  Befriedigung  ihrer  be- 
sonderen Geschäfte  und  Zwecke  fort,  und  eß  ist  teils 
nur  die  Weise  der  bewußtlosen  Notwendigkeit  der 
Sache,  nach  welcher  ihre  Selbstsucht  in  den  Beitrag 
zur  gegenseitigen  Erhaltung  und  zur  Erhaltung  des 
Ganzen  umschlägt  (s,  §  183),  teils  aber  ist  es  die 
direkte  Einwirkung  von  oben,  wodurch  sie  sowohl 
zu  dem  Zwecke  des  Ganzen  fortdauernd  zurückgeführt 
und  danach  beschränkt  (s.  Regierungsgewalt  §  289),  als 
angehalten  werden,  zu  dieser  Erhaltung  direkte  Leistun- 

0  In  der  3.  Aufl.  §  371  (Phil.  Bibl.  Bd.  33,  S.  327 f.). 

15* 


228      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  AbBchnitt. 

gen  zu  machen;  —  im  Zustande  der  Not  aber,  es  sei 
innerer  oder  äußerlicher,  ist  es  die  Souveränetät,  in 
deren  einfachen  Begriff  der  dort  in  seinen  Besonder- 
heiten bestehende  Organismus  zusammengeht,  und  welcher 
die  Rettung  des  Staats  mit  Aufopferung  dieses  sonst 
Berechtigten  anvertraut  ist,  wo  denn  jener  Idealismus 
zu  seiner  eigentümlichen  Wirklichkeit  kommt  (s.  unten 
§  321). 

§279. 

2.  Die  Souveränetät,  zunächst  nur  der  allgemeine 
Gedanke  dieser  Idealität,  existiert  nur  als  die  ihrer  selbst 
gewisse  Subjektivität  und  als  die  abstrakte,  insofern 
grundlose  Selbstbestimmung  des  Willens,  in  welcher 
das  Letzte  der  Entscheidung  liegt.  Es  ist  dies  das  Indi- 
viduelle des  Staats  als  solches,  der  selbst  nur  darin  einer 
ist.  Die  Subjektivität  aber  ist  in  ihrer  Wahrheit  nur  als 
Subjekt,  die  Persönlichkeit  nur  als  Person,  und  in  der 
zur  reellen  Vernünftigkeit  gediehenen  Verfassung  hat  jedes 
der  drei  Momente  des  Begriffes  seine  für  sich  wirk- 
liche ausgesonderte  Gestaltung,  Dies  absolut  entschei- 
dende Moment  des  Ganzen  ist  daher  nicht  die  Individualität 
überhaupt,  sondern  ein  Individuum,  der  Monarch. 

Die  immanente  Entwickelung  einer  Wissenschaft,  die 
Ableitung  ihres  ganzen  Inhalts  aus  dem  einfachen 
Begriffe  ( —  sonst  verdient  eine  Wissenschaft  wenig- 
stens nicht  den  Namen  einer  philosophischen  Wissen- 
schaft — )  zeigt  das  Eigentümliche,  daß  der  eine  und 
derselbe  Begriff,  hier  der  Wille,  der  anfangs,  weil  es 
der  Anfang  ist,  abstrakt  ist,  sich  erhält,  aber  seine 
Bestimmungen  und  zwar  ebenso  nur  durch  sich  selbst 
verdichtet  und  auf  diese  Weise  einen  konkreten  Inhalt 
gewinnt.  So  ist  es  das  Grundmoment  der  zuerst  im 
unmittelbaren  Rechte  abstrakten  Persönlichkeit,  welches 
sich  durch  seine  verschiedenen  Formen  von  Subjektivität 
fortgebildet  hat,  und  hier  im  absoluten  Rechte,  dem 
Staate,  der  vollkommen  konkreten  Objektivität  des 
Willens,  die  Persönlichkeit  des  Staats  ist,  seine 
Gewißheit  seiner  selbst  —  dieses  Letzte,  was  alle 
Besonderheiten  in  dem  einfachen  Selbst  aufhebt,  das 
Abwägen  der  Gründe  und  Gegenstände,  zwischen  denen 
sich  immer  herüber  und  hinüber  schwanken  läßt,  ab- 
bricht, und  sie  durch  das:  Ich  will,  beschließt,  und 
alle  Handlung  und  Wirklichkeit  anfängt.  —  Die  Person- 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  279.  229 

lichkeit  und  die  Subjektivität  überhaupt  hat  aber  ferner, 
als  unendliches  sich  auf  sich  Beziehendes,  schlechthin 
nur  Wahrheit  und  zwar  seine  nächste  unmittelbare 
Wahrheit  als  Person,  für  sich  seiendes  Subjekt,  und 
das  für  sich  Seiende  ist  ebenso  schlechthin  Eines.  Die 
Persönlichkeit  des  Staates  ist  nur  als  eine  Person,  der 
Monarch,  wirklich.  —  Persönlichkeit  drückt  den  Begriff 
als  solchen  aus,  die  Person  enthält  zugleich  die  Wirk- 
lichkeit desselben,  und  der  Begriff  ist  nur  mit  dieser 
Bestimmung  Idee,  Wahrheit.  —  Eine  sogenannte  mora- 
lische Person,  Gesellschaft,  Gemeinde,  Familie,  so  kon- 
kret sie  in  sich  ist,  hat  die  Persönlichkeit  nur  als 
Moment,  abstrakt  in  ihr;  sie  ist  darin  nicht  zur  Wahr- 
heit ihrer  Existenz  gekommen.  Der  Staat  aber  ist  eben 
diese  Totalität,  in  welcher  die  Momente  des  Begriffs 
zur  Wirklichkeit  nach  ihrer  eigentümlichen  Wahrheit 
gelangen.  —  Alle  diese  Bestimmungen  sind  schon  für 
sich  und  in  ihren  Gestaltungen  im  ganzen  Vorlauf  dieser 
Abhandlung  erörtert,  aber  hier  darum  wiederholt  worden, 
weil  man  sie  zwar  in  ihren  besonderen  Gestaltungen 
leicht  zugibt,  aber  da  sie  gerade  nicht  wiedererkennt 
und  auffaßt,  wo  sie  in  ihrer  wahrhaften  Stellung,  nicht 
vereinzelt,  sondern  nach  ihrer  Wahrheit,  als  Momente 
der  Idee  vorkommen.  —  Der  Begriff  des  Monarchen 
ist  deswegen  der  schwerste  Begriff  für  das  Räsonnement, 
d.  h.  für  die  reflektierende  Verstandesbetrachtung,  weil 
es  in  den  vereinzelten  Bestimmungen  stehen  bleibt  und 
darum  dann  auch  nur  Gründe.,  endliche  Gesichtspunkte 
und  das  Ableiten  aus  Gründen  kennt.  So  stellt  es 
dann  die  Würde  des  Monarchen  als  etwas  nicht  nur 
der  Form,  sondern  ihrer  Bestimmung  nach  Abgeleitetes 
dar;  vielmehr  ist  sein  Begriff,  nicht  ein  Abgeleitetes, 
sondern  das  schlechthin  aus  sich  Anfangende  zu 
sein.  Am  nächsten  trifft  daher  hiermit  die  Vorstellung 
zu,  das  Recht  des  Monarchen  als  auf  göttliche  Autorität 
gegründet  zu  betrachten,  denn  darin  ist  das  Unbedingte 
desselben  enthalten.  Aber  es  ist  bekannt,  welche  Miß- 
verständnisse sich  hieran  geknüpft  haben,  und  die  Auf- 
gabe der  philosophischen  Betrachtung  ist,  eben  dies 
Göttliche  zu  begreifen. 

Volkssouveränetät  kann  in  dem  Sinn  gesagt 
werden,  daß  ein  Volk  überhaupt  nach  außen  ein  Selb- 
ständiges sei  und  einen  eigenen  Staat  ausmache  wie 
das  Volk  von  Großbritannien,  aber  das  Volk  von  Eng- 


230       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

land  oder  Schottland,  Irland,  oder  von  Venedig,  Genua, 
Ceylon  u.  s.  f.  kein  souveränes  Volk  mehr  sei,  seitdem 
sie  aufgehört  haben,  eigene  Fürsten  oder  oberste  Re- 
gierungen für  sich  zu  haben.  —  Man  kann  so  auch 
von  der  Souveränetät  nach  innen  sagen,  daß  sie 
im  Volke  residiere,  wenn  man  nur  überhaupt  vom 
Ganzen  spricht,  ganz  so  wie  vorhin  (§  277,  278)  ge- 
zeigt ist,  daß  dem  Staate  Souveränetät  zukomme.  Aber 
Volkssouveränetät  als  im  Gegensatze  gegen  die  im 
Monarchen  existierende  Souveränetät  genommen, 
ist  der  gewöhnliche  Sinn,  in  welchem  man  in  neueren 
Zeiten  von  Volkssouveränetät  zu  sprechen  angefangen 
hat,  —  in  diesem  Gegensatze  gehört  die  Volkssouveränetät 
zu  den  verworrenen  Gedanken,  denen  die  wüste  Vor- 
stellung des  Volkes  zugrunde  liegt.  Das  Volk,  ohne 
seinen  Monarchen  und  die  eben  damit  notwendig  und 
unmittelbar  zusammenhängende  Gegliederung  des 
Ganzen  genommen,  ist  die  formlose  Masse,  die  kein 
Staat  mehr  ist  und  der  keine  der  Bestimmungen,  die 
nur  in  dem  in  sich  geformten  Ganzen  vorhanden 
sind,  —  Souveränetät,  Regierung,  Gerichte,  Obrigkeit, 
Stände  und  was  es  sei,  —  mehr  zukommt.  Damit  daß  solche 
auf  eine  Organisation,  das  Staatsleben,  sich  beziehende 
Momente  in  einem  Volke  hervortreten^  hört  es  auf,  dies 
unbestimmte  Abstraktum  zu  sein,  das  in  der  blol3  all- 
gemeinen Vorstellung  Volk  heißt,  —  Wird  unter  der 
Volkssouveränetät  die  Form  der  Republik  und  zwar  be- 
stimmter der  Demokratie  verstanden  (denn  unter  Re- 
publik begreift  man  sonstige  mannigfache  empirische 
Vermischungen,  die  in  eine  philosophische  Betrachtung 
ohnehin  nicht  gehören),  so  ist  teils  oben  (bei  §  273  in 
der  Anmerkung)  das  Nötige  gesagt,  teils  kann  gegen 
die  entwickelte  Idee  nicht  mehr  von  solcher  Vorstellung 
die  Rede  sein.  —  In  einem  Volke,  das  weder  als  ein 
patriarchalischer  Stamm,  noch  in  dem  unentwickelten 
Zustande,  in  welchem  die  Formen  der  Demokratie  oder 
Aristokratie  möglich  sind  (s.  Anm.  ebend.),  noch  sonst 
in  einem  willkürlichen  und  unorganischen  Zustande  vor- 
gestellt, sondern  als  eine  in  sich  entwickelte,  wahrhaft 
organische  Totalität  gedacht  wird,  ist  die  Souveränetät 
als  die  Persönlichkeit  des  Ganzen,  und  diese  in  der  ihrem 
Begriffe  gemäßen  Realität,  als  die  Person  des  Mo- 
narchen. 

Auf  der  vorhin  bemerkten  Stufe,   auf  welcher  die 


Der  Staat.    A.  Das  inuere  Staatsrecht.    §  279.  231 

Einteilung  der  Veriassungen  in  Demokratie,  Aristokratie 
und  Monarchie  gemacht  worden  ist,  dem  Standpunkte 
der  noch  in  sich  bleibenden  substantiellen  Einheit,  die 
noch  nicht  zu  ihrer  unendlichen  Unterscheidung  und 
Vertiefung  in  sich  gekommen  ist,  tritt  das  Moment  der 
letzten  sich  selbst  bestimmenden  Willensent- 
scheidung nicht  als  immanentes  organisches  Moment 
des  Staats  für  sich  in  eigentümliche  Wirklichkeit 
heraus.  Immer  muß  zwar  auch  in  jenen  unausgebil- 
deteren  Gestaltungen  des  Staats  eine  individuelle  Spitze, 
entweder  wie  in  den  dahin  gehörenden  Monarchien  für 
sich  vorhanden  sein,  oder  wie  in  den  Aristokratien, 
vornehmlich  aber  in  den  Demokratien,  sich  in  den  Staats- 
männern, Feldherren,  nach  Zufälligkeit  und  dem  be- 
sonderen Bedürfnis  der  Umstände  erheben;  denn  alle 
Handlung  und  Wirklichkeit  hat  ihren  Anfang  und  ihre 
Vollführung  in  der  entschiedenen  Einheit  eines  An- 
führers. Aber  eingeschlossen  in  die  gediegen  bleibende 
Vereinung  der  Gewalten,  muß  solche  Subjektivität  des 
Entscheidens  teils  ihrem  Entstehen  und  Hervortreten 
nach  zufällig,  teils  überhaupt  untergeordnet  sein;  nicht 
anderswo  daher  als  jenseits  solcher  bedingten  Spitzen 
konnte  das  unvermischte,  reine  Entscheiden,  ein  von 
außen  her  bestimmendes  Fatum,  liegen.  Als  Moment 
der  Idee  miußte  es  in  die  Existenz  treten,  aber  außerhalb 
der  menschlichen  Freiheit  und  ihres  Kreises,  den  der 
Staat  befaßt,  wurzelnd.  —  Hier  liegt  der  Ursprung  des 
Bedürfnisses,  von  Orakeln,  dem  Dämon  (beim  So- 
krates),  aus  Eingeweiden  der  Tiere,  dem  Fressen  und 
Fluge  der  Vögel  U.S.  f.  die  letzte  Entscheidung  über  die 
großen  Angelegenheiten  und  für  die  wichtigen  Momente 
des  Staats  zu  holen  —  eine  Entscheidung,  welche  die 
Menschen,  noch  nicht  die  Tiefe  des  Selbstbewußtseins 
erfassend,  und  aus  der  Gediegenheit  der  substantiellen 
Einheit  zu  diesem  Fürsichsein  gekommen,  noch  nicht 
innerhalb  des  menschlichen  Seins  zu  sehen  die  Stärke 
hatten.  —  Im  Dämon  des  Sokrates  (vergl.  oben  §  138) 
können  wir  den  Anfang  sehen,  daß  der  sich  vorher 
nur  jenseits  seiner  selbst  versetzende  Wille  sich  in 
sich  verlegte  und  sich  innerhalb  seiner  erkannte,  — 
der  Anfang  der  sich  wissenden  und  damit  wahrhaften 
Freiheit.  Diese  reelle  Freiheit  der  Idee,  da  sie  eben 
dies  ist,  jedem  der  Momente  der  Vernünftigkeit  seine 
eigene,  gegenwärtige,  selbstbewußte  Wirklichkeit  zu 


232       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

geben,  ist  es,  welche  somit  die  letzte  sich  selbst  be- 
stimmende Gewißheit,  die  die  Spitze  im  Begriffe  des 
Willens  ausmacht,  der  Funktion  eines  Bewußtseins  zu- 
teilt. Diese  letzte  Selbstbestimmung  kann  aber  nur  in- 
sofern in  die  Sphäre  der  menschlichen  Freiheit  fallen, 
als  sie  die  Stellung  der  für  sich  abgesonderten, 
über  alle  Besonderung  und  Bedingung  erhabenen 
Spitze  hat;  denn  nur  so  ist  sie  nach  ihrem  Begriffe 
wirklich. 

§  280. 

3.  Dieses  letzte  Selbst  des  Staatswillens  ist  in  dieser 
seiner  Abstraktion  einfach  und  daher  unmittelbare 
Einzelnheit;  in  seinem  Begriffe  selbst  liegt  hiermit  die 
Bestimmung  der  Natürlichkeit;  der  Monarch  ist  daher 
wesentlich  als  dieses  Individuum,  abstrahiert  von  allem 
anderen  Inhalte,  und  dieses  Individuum  auf  unmittelbare 
natürliche  Weise,  durch  die  natürliche  Geburt,  zur  Würde 
des  Monarchen  bestimmt. 

Dieser  Übergang  vom  Begriff  der  reinen  Selbst- 
bestimmung in  die  Unmittelbarkeit  des  Seins  und  damit 
in  die  Natürlichkeit  ist  rein  spekulativer  Natur,  seine 
Erkenntnis  gehört  daher  der  logischen  Philosophie  an. 
Es  ist  übrigens  im  ganzen  derselbe  Übergang,  welcher 
als  die  Natur  des  Willens  überhaupt  bekannt  und  der 
Prozeß  ist,  einen  Inhalt  aus  der  Subjektivität  (als  vor- 
gestellten Zweck)  in  das  Dasein  zu  übersetzen  (§  8). 
Aber  die  eigentümliche  Form  der  Idee  und  des  Über- 
ganges, der  hier  betrachtet  wird,  ist  das  unmittelbare 
Umschlagen  der  reinen  Selbstbestimmung  des  Willens 
(des  einfachen  Begriffes  selbst)  in  ein  Dieses  und  natür- 
liches Dasein,  ohne  die  Vermittelung  durch  einen  be- 
sonderen Inhalt  —  (einen  Zweck  im  Handeln).  —  Im 
sogenannten  ontologischen  Beweise  vom  Dasein 
Gottes  ist  es  dasselbe  Umschlagen  des  absoluten  Be- 
griffes in  das  Sein,  was  die  Tiefe  der  Idee  in  der 
neueren  Zeit  ausgemacht  hat,  was  aber  in  der  neuesten 
Zeit  für  das  Unbegreifliche  ausgegeben  worden  ist, 
—  wodurch  man  denn,  weil  nur  die  Einheit  des  Begriffs 
imd  des  Daseins  (§  23)  die  Wahrheit  ist,  auf  das  Er- 
kennen der  Wahrheit  Verzicht  geleistet  hat.  Indem 
das  Bewußtsein  des  Verstandes  diese  Einheit  nicht  in 
sich  hat  und  bei  der  Trennung  der  beiden  Momente 
der  Wahrheit  stehen   bleibt,   gibt    es   etwa   bei  diesem 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  281.  233 

Gegenstande  noch  einen  Glauben  an  jene  Einheit  zu. 
Aber  indem  die  Vorstellung  des  Monarchen  als  dem 
gewöhnlichen  Bewußtsein  ganz  anheimfallend  angesehen 
wird,  so  bleibt  hier  um  so  mehr  der  Verstand  bei  seiner 
Trennung  und  den  daraus  fließenden  Ergebnissen  seiner 
räsonnierenden  Gescheitheit  stehen  und  leugnet  dann,  daß 
das  Moment  der  letzten  Entscheidung  im  Staate  an  und 
für  sich  (d.  i.  im  Vernunftbegriff)  mit  der  unmittel- 
baren Natürlichkeit  verbunden  sei;  woraus  zunächst  die 
Zufälligkeit  dieser  Verbindung,  und  indem  die  ab- 
solute Verschiedenheit  jener  Momente  als  das  Vernünf- 
tige behauptet  wird,  weiter  die  Unvernünftigkeit  solcher 
Verbindung  gefolgert  wird,  so  daß  hieran  sich  die 
anderen,  die  Idee  des  Staates  zerrüttenden,  Konsequenzen 
knüpfen. 

§281. 

Beide  Momente  in  ihrer  ungetrennten  Einheit,  da^ 
letzte  grundlose  Selbst  des  Willens  und  die  damit  ebenso 
grundlose  Existenz,  als  der  Natur  anheimgestellte  Be- 
stimmung, —  diese  Idee  des  von  der  Willkür  Unbewegten 
macht  die  Majestät  des  Monarchen  aus.  In  dieser  Ein- 
heit liegt  die  wirkliche  Einheit  des  Staats,  welche  nur 
durch  diese  ihre  innere  und  äußere  Unmittelbarkeit, 
der  Möglichkeit,  in  die  Sphäre  der  Besonderheit,  deren 
Willkür,  Zwecke  und  Ansichten  herabgezogen  zu  werden, 
dem  Kampf  der  Faktionen  gegen  Faktionen  um  den  Thron, 
und  der  Schv/ächung  und  Zertrümmerung  der  Staatsgewalt 
entnommen  ist. 

Geburts-  und  Erbrecht  machen  den  Grund  der  Legi- 
timität als  Grund  nicht  eines  bloß  positiven  Rechts, 
sondern  zugleich  in  der  Idee  aus.  —  Daß  durch  die 
festbestimmte  Thronfolge,  d.  i.  die  natürliche  Succession, 
bei  der  Erledigung  des  Throns  den  Faktionen  vorgebeugt 
ist,  ist  eine  Seite,  die  mit  Recht  für  die  Erblichkeit  des- 
selben längst  geltend  gemacht  worden  ist.  Diese  Seite 
ist  jedoch  nur  Folge,  und  zum  Grunde  gemacht  zieht 
sie  die  Majestät  in  die  Sphäre  des  Räsonnements  her- 
unter und  gibt  ihr,  deren  Charakter  diese  grundlose 
Unmittelbarkeit  und  dies  letzte  Insichsein  ist,  nicht  die 
ihr  immanente  Idee  des  Staates,  sondern  etwas  außer 
ihr,  einen  von  ihr  verschiedenen  Gedanken,  etwa  das 
Wohl  des  Staates  oder  Volkes  zu  ihrer  Begründung. 
Aus    solcher    Bestimmung    kann    wohl    die     Erblichkeit 


23-i       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschuitt. 

durch  medios  terminos  gefolgert  werden;  sie  läßt  aber 
auch  andere  medios  terminos  und  damit  andere  Konse- 
quenzen zu,  —  und  es  ist  nur  zu  bekannt,  welche  Konse- 
quenzen aus  diesem  \Vohl  des  Volkes  (salut  du  peuple) 
gezogen  worden  sind.  —  Deswegen  darf  auch  nur  die 
Philosophie  diese  Majestät  denkend  betrachten,  denn  jede 
andere  Weise  der  Untersuchung  als  die  spekulative  der 
unendlichen,  in  sich  selbst  begründeten  Idee,  hebt  an  und 
für  sich  die  Natur  der  Majestät  auf.  —  Das  Wahl- 
reich scheint  leicht  die  natürlichste  Vorstellung  zu 
sein,  d.  h.  sie  liegt  der  Seichtigkeit  des  Gedankens 
am  nächsten;  weil  es  die  Angelegenheit  und  das  Inter- 
esse des  Volks  sei,  das  der  Monarch  zu  besorgen  habe, 
so  müsse  es  auch  der  Wahl  des  Volkes  überlassen 
bleiben,  wen  es  mit  der  Besorgung  seines  Wohls  be- 
auftragen wolle,  und  nur  aus  dieser  Beauftragung  ent- 
stehe das  Recht  zur  Regierung.  Diese  Ansicht,  wie 
die  Vorstellungen  vom  Monarchen  als  oberstem  Staats- 
beamten, von  einem  Vertragsverhältnisse  zwischen  dem- 
selben und  dem  Volke  u.  s.  f.  geht  von  dem  Willen  als 
Belieben,  Meinung  und  Willkür  der  Vielen  aus,  ■ — 
einer  Bestimmung,  die,  wie  längst  betrachtet  worden, 
in  der  bürgerlichen  Gesellschaft  als  erste  gilt,  oder 
vielmehr  sich  nur  geltend  machen  will,  aber  weder  das 
Prinzip  der  Familie,  noch  weniger  des  Staats  ist,  über- 
haupt der  Idee  der  Sittlichkeit  entgegensteht.  —  Daß 
das  Wahlreich  vielmehr  die  schlechteste  der  Institu- 
tionen ist,  ergibt  sich  schon  für  das  Räsonnement  aus 
den  Folgen,  die  für  dasselbe  übrigens  nur  als  etwas 
Mögliches  und  Wahrscheinliches  erscheinen,  in  der 
Tat  aber  wesentlich  in  dieser  Institution  liegen.  Die 
Verfassung  wird  nämlich  in  einem  Wahlreich  durch  die 
Natur  des  Verhältnisses,  daß  in  ihm  der  partikuläre 
Wille  zum  letzten  Entscheidenden  gemacht  ist,  zu  einer 
Wahlkapitulation,  d.  h.  zu  einer  Ergebung  der  Staats- 
gewalt auf  die  Diskretion  des  partikulären  Willens, 
woraus  die  Verwandlung  der  besonderen  Staatsgewalten 
in  Privateigentum,  die  Schwächung  und  der  Verlust  der 
Souveränetät  des  Staats,  und  damit  seine  innere  Auf- 
lösung und  äußere  Zertrümmerung  hervorgeht. 

§  282. 

Aus  der  Souveränetät  des  Monarchen  fließt  das  Be- 
gnadigungsrecht der  Verbrecher,  denn  ihr  nur  kommt 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  283—284.       235 

die  Verwirklichung  der  Macht  des  Geistes  zu,  das  Ge- 
schehene ungeschehen  zu  machen  und  im  Vergeben  und 
Vergessen  das  Verbrechen  zu  vernichten. 

Das  Begnadigungsrecht  ist  eine  der  höchsten  An- 
erkennungen der  Majestät  des  Geistes.  —  Dies  Recht 
gehört  übrigens  zu  den  Anwendungen  oder  Reflexen  der 
Bestimmungen  der  höheren  Sphäre  auf  eine  vorher- 
gehende. —  Dergleichen  Anwendungen  aber  gehören  der 
besonderen  Wissenschaft  an,  die  ihren  Gegenstand  in 
seinem  empirischen  Umfange  abzuhandeln  hat  (vergl. 
§  270  Anm.  [S.  209]).  —  Zu  solchen  Anwendungen  ge- 
hört auch,  daß  die  Verletzungen  des  Staats  überhaupt, 
oder  der  Souveränetät,  Majestät  und  der  Persönlichkeit 
des  Fürsten,  unter  den  Begriff  des  Verbrechens,  der 
früher  (§  95  bis  102)  vorgekommen  ist,  subsumiert,  und 
zwar  als  die  höchsten  Verbrechen,  [sowie]  die  besondere 
Verfahrungsart  [dagegen]  u.  s.  f.  bestimmt  werden. 

§283. 

Das  zweite  in  der  Fürstengewalt  Enthaltene  ist  das 
Moment  der  Besonderheit,  oder  des  bestimmten  Inhalts 
und  der  Subsumtion  desselben  unter  das  Allgemeine.  In- 
sofern es  eine  besondere  Existenz  erhält,  sind  es  oberste 
beratende  Stellen  und  Individuen,  die  den  Inhalt  der  vor- 
kommenden Staatsangelegenheiten  oder  der  aus  vorhan- 
denen Bedürfnissen  nötig  werdenden  gesetzlichen  Bestim- 
mungen mit  ihren  objektiven  Seiten,  den  Entscheidungs- 
gründen, darauf  sich  beziehenden  Gesetzen,  Umständen 
u.  s.  1  zur  Entscheidung  vor  den  Monarchen  bringen.  Die 
Erwählung  der  Individuen  zu  diesem  Geschäfte  wie  deren 
Entfernung  fällt,  da  sie  es  mit  der  unmittelbaren  Person 
des  Monarchen  zu  tun  haben,  in  seine  unbeschränkte 
Willkür. 

§  284. 

Insofern  das  Objektive  der  Entscheidung,  die  Kennt- 
nis des  Inhalts  und  der  Umstände,  die  gesetzlichen  und 
andere  Bestimmungsgründe,  allein  der  Verantwortung, 
d.  i.  des  Beiweises  der  Objektivität  fähig  ist  und  daher  einer 
von  dem  persönlichen  Willen  des  Monarchen  als  solchem 
unterschiedenen  Beratung  zukommen  kann,  sind  diese  be- 
ratenden Stellen  oder  Individuen  allein  der  Verantwortung 


236       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

unterworfen;  die  eigentümliche  Majestät  des  Monarchen, 
als  die  letzte  entscheidende  Subjektivität,  ist  aber  über  alle 
Verantwortlichkeit  für  die  Regierungshandlungen  erhoben. 

§  285. 

Das  dritte  Moment  der  fürstlichen  Gewalt  betrifft 
das  an  und  für  sich  Allgemeine,  welches  in  subjektiver 
Rücksicht  in  dem  Gewissen  des  Monarchen,  in  ob- 
jektiver Rücksicht  im  Ganzen  der  Verfassung  und  in 
den  Gesetzen  besteht;  die  fürstliche  Gewalt  setzt  inso- 
fern die  anderen  Momente  voraus,  wie  jedes  von  diesen 
sie  voraussetzt. 

§  286. 

Die  objektive  Garantie  der  fürstlichen  Gewalt,  der 
rechtlichen  Succession  nach  der  Erblichkeit  des  Thrones 
u.  s.  f.  liegt  darin,  daß  wie  diese  Sphäre  ihre  von  den  anderen 
durch  die  Vernunft  bestimmten  Momenten  ausgeschiedene 
Wirklichkeit  hat,  ebenso  die  anderen  für  sich  die  eigentüm- 
lichen Rechte  und  Pflichten  ihrer  Bestimmung  haben;  jedes 
Glied,  indem  es  sich  für  sich  erhält,  erhält  im  vernünftigen 
Organismus  eben  damit  die  anderen  in  ihrer  Eigentüm- 
lichkeit. 

Die  monarchische  Verfassung  zur  erblichen  nach 
Primogenitur  festbestimmten  Thronfolge  herausgearbeitet 
zu  haben,  so  daß  sie  hiermit  zum  patriarchalischen 
Prinzip,  von  dem  sie  geschichtlich  ausgegangen  ist,  aber 
in  der  höheren  Bestimmung  als  die  absolute  Spitze  eines 
organisch  entwickelten  Staates  zurückgeführt  worden, 
ist  eines  der  späteren  Resultate  der  Geschichte,  das 
für  die  öffentliche  Freiheit  und  vernünftige  Verfassung 
am  wichtigsten  ist,  obgleich  es,  wie  vorhin  bemerkt, 
wenn  schon  respektiert,  doch  häufig  am  wenigsten  be- 
griffen wird.  Die  ehemaligen  bloßen  Feudalmonarchien, 
fiowie  die  Despotien  zeigen  in  der  Geschichte  darum  diese 
Abwechslung  von  Empörungen,  Gewalttaten  der  Fürsten, 
innerlichen  Kriegen,  Untergang  fürstlicher  Individuen 
und  Dynastien,  und  die  daraus  hervorgehende  innere 
und  äußere,  allgemeine  Verwüstung  und  Zerstörung,  weil 
in  solchem  Zustand  die  Teilung  des  Staatsgeschäfts, 
indem  seine  Teile  Vasallen,  Paschas  u.  s.  f.  übertragen  sind, 
nur  mechanisch,  nicht  ein  Unterschied  der  Bestimmung 
und  Form,  sondern  nur  ein  Unterschied  größerer  oder 
geringerer  Gewalt  ist.    So  erhält  und  bringt  jeder  Teil, 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  287—288.       237 

indem  er  sich  erhält,  nur  sich  und  darin  nicht  zugleich 
die  anderen  hervor,  und  hat  zur  unabhängigen  Selb- 
ständigkeit alle  Momente  vollständig  an  ihm  selbst.  Im 
organischen  Verhältnisse,  in  welchem  Glieder,  nicht  Teile, 
sich  zueinander  verhalten,  erhält  jedes  die  anderen,  in- 
dem es  seine  eigene  Sphäre  erfüllt;  jedem  ist  für  die 
eigene  Selbsterhaltung  ebenso  die  Erhaltung  der 
anderen  Glieder  substantieller  Zweck  und  Produkt.  Die 
Garantien,  nach  denen  gefragt  wird,  es  sei  für  die  Festig- 
keit der  Thronfolge,  der  fürstlichen  Gewalt  überhaupt, 
für  Gerechtigkeit,  öffentliche  Freiheit  u.  s.  f.,  sind  Siche- 
rungen durch  Institutionen.  Als  subjektive  Ga- 
rantien können  Liebe  des  Volkes,  Charakter,  Eide,  Ge- 
walt u.  s.  f.  angesehen  werden,  aber  sowie  von  Verfassung 
gesprochen  wird,  ist  die  Rede  nur  von  objektiven  Ga- 
rantien, den  Institutionen,  d.  i.  den  organisch  ver- 
schränkten und  sich  bedingenden  Momenten.  So  sind 
sich  öffentliche  Freiheit  überhaupt  und  Erblichkeit  des 
Thrones  gegenseitige  Garantien  und  stehen  im  absoluten 
Zusammenhang,  weil  die  öffentliche  Freiheit  die  ver- 
nünftige Verfassung  ist,  und  die  Erblichkeit  der  fürst- 
lichen Gewalt  das,  wie  gezeigt,  in  ihrem  Begriffe  liegende 
Moment. 

b)  Die  Regierungsgewalt. 

§  287. 

Von  der  Entscheidung  ist  die  Ausführung  und  An- 
wendung der  fürstlichen  Entscheidungen,  überhaupt  das 
Fortführen  und  Imstandeerhalten  des  bereits  Entschiedenen, 
der  vorhandenen  Gesetze,  Einrichtungen,  Anstalten  für  ge- 
meinschaftliche Zwecke  u.  dergl.  unterschieden.  Dies  Ge- 
schäft der  Subsumtion  überhaupt  begreift  die  Regie- 
rungsgewalt in  sich,  worunter  ebenso  die  richter- 
lichen und  polizeilichen  Gewalten  begriffen  sind,  welche 
unmittelbarer  auf  das  Besondere  der  bürgerlichen  Gesell- 
schaft Beziehung  haben  und  das  allgemeine  Interesse  in 
diesen  Zwecken  geltend  machen. 

§  288. 

Die  gemeinschaftlichen  besonderen  Interessen,  die 
in  die  bürgerliche  Gesellschaft  fallen  und  außer  dem  an 
und  für  sich  seienden  Allgemeinen  des  Staates  selbst 
liegen  (§  256),  haben  ihre  Verwaltung  in  den  Korporationen 


238       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

(§  251)  der  Gemeinden  und  sonstiger  Gewerbe  und  Stände, 
und  deren  Obrigkeiten,  Vorsteher,  Verwalter  u.  dergl. 
Insofern  diese  Angelegenheiten,  die  sie  besorgen,  einer- 
seits das  Privateigentum  und  Interesse  dieser  be- 
sonderen Sphären  sind,  und  nach  dieser  Seite  ihre  Auto- 
rität mit  auf  dem  Zutrauen  ihrer  Standesgenossen  und 
Bürgerschaften  beruht,  andererseits  diese  Kreise  den 
höheren  Interessen  des  Staates  untergeordnet  sein  müssen, 
wird  sich  für  die  Besetzung  dieser  Stellen  im  allgemeinen 
eine  Mischung  von  gemeiner  Wahl  dieser  Interessenten 
und  von  einer  höheren  Bestätigung  und  Bestimmung  er- 
geben. 

§  289. 

Die  Festhaltung  des  allgemeinen  Staatsinter- 
esses und  des  Gesetzlichen  in  diesen  besonderen  Rechten 
und  die  Zurückführung  derselben  auf  jenes  erfordert  eine 
Besorgung  durch  Abgeordnete  der  Regierungsgewalt,  die 
exekutiven  Staatsbeamten  und  die  höheren  bera- 
tenden, insofern  kollegialisch  konstituierten  Behörden, 
welche  in  den  obersten,  den  Monarchen  berührenden  Spitzen, 
zusammenlaufen. 

Wie  die  bürgerliche  Gesellschaft  der  Kampfplatz  des 
individuellen  Privatinteresses  aller  gegen  alle  ist,  so  hat 
hier  der  Konflikt  desselben  gegen  die  gemeinschaft- 
lichen besonderen  Angelegenheiten,  und  dieser  zusammen 
mit  jenem  gegen  die  höheren  Gesichtspunkte  und  An- 
ordnungen des  Staats,  seinen  Sitz.  Der  Korporations- 
geist, der  sich  in  der  Berechtigung  der  besonderen 
Sphären  erzeugt,  schlägt  in  sich  selbst  zugleich  in  den 
Geist  des  Staates  um,  indem  er  an  dem  Staate  das  Mittel 
der  Erhaltung  der  besonderen  Zwecke  hat.  Dies  ist  das 
Geheimnis  des  Patriotismus  der  Bürger  nach  dieser  Seite, 
daß  sie  den  Staat  als  ihre  Substanz  wissen,  weil  er  ihre 
besonderen  Sphären,  deren  Berechtigung  und  Autorität 
wie  deren  Wohlfahrt,  erhält.  In  dem  Korporationsgeist, 
da  er  die  Einwurzelung  des  Besonderen  in  das 
Allgemeine  unmittelbar  enthält,  ist  insofern  die 
Tiefe  und  die  Stärke  des  Staates,  die  er  in  der  Gesin- 
nung hat. 

Die  Verwaltung  der  Korporations-Angelegenheiten 
durch  ihre  eigenen  Vorsteher  wird,  da  sie  zwar  ihre 
eigentümlichen  Interessen  und  Angelegenheiten,  aber  un- 


•  Der  Staat.    A .  Das  innere  Staatsrecht.    §290—291.       239 

vollständiger  den  Zusammenhang  der  entfernteren  Be- 
dingungen und  die  allgemeinen  Gesichtspunkte  kennen 
und  vor  sich  haben,  häufig  ungeschickt  sein  —  außer- 
dem daß  weitere  Umstände  dazu  beitragen,  z.  B.  die  nahe 
Privat-Berührung  und  sonstige  Gleichheit  der  Vorsteher 
mit  den  ihnen  untergeordnet  sein  Sollenden,  ihre  mannig- 
fachere Abhängigkeit  u.  s.  f.  Diese  eigene  Sphäre  kann 
aber  als  dem  Moment  der  formellen  Freiheit  über- 
lassen angesehen  werden,  wo  das  eigene  Erkennen,  Be- 
schließen und  Ausführen,  sowie  die  kleinen  Leiden- 
schaften und  Einbildungen  einen  Tummelplatz  haben,  sich 
zu  ergehen,  —  und  dies  um  so  mehr,  je  weniger  der 
Gehalt  der  Angelegenheit,  die  dadurch  verdorben,  we- 
niger gut,  mühseliger  u.  s.  f.  besorgt  wird,  für  das  All- 
gemeinere des  Staates  von  Wichtigkeit  ist,  und  je  mehr 
die  mühselige  oder  törichte  Besorgung  solcher  gering- 
fügiger Angelegenheit  in  direktem  Verhältnisse  mit  der 
Befriedigung  und  Meinung  von  sich  steht,  die  daraus 
geschöpft  wird. 

§  290. 

In  dem  Geschäfte  der  Regierung  findet  sich  gleich- 
falls die  Teilung  der  Arbeit  (§  198)  ein.  Die  Orga- 
nisation der  Behörden  hat  insofern  die  formelle,  aber 
schwierige  Aufgabe,  daß  von  unten,  wo  das  bürgerliche 
Leben  konkret  ist,  dasselbe  auf  konkrete  Weise  regiert 
werde,  daß  dies  Geschäft  aber  in  seine  abstrakten  Zweige 
geteilt  sei,  die  von  eigentümlichen  Behörden  als  unter- 
schiedenen Mittelpunkten  behandelt  werden,  deren  Wirk- 
samkeit nach  unten,  sowie  in  der  obersten  Regierungs- 
gewalt in  eine  konkrete  Übersicht  wieder  zusammenlaufe. 

§29L 

Die  Regierungsgeschäfte  sind  objektiver,  für  sich 
ihrer  Substanz  nach  bereits  entschiedener  Natur  (§  287) 
und  durch  Individuen  zu  vollführen  und  zu  verwirklichen. 
Zwischen  beiden  liegt  keine  unmittelbare  natürliche  Ver- 
knüpfung; die  Individuen  sind  daher  nicht  durch  die  na- 
türliche Persönlichkeit  und  die  Geburt  dazu  bestimmt.  Für 
ihre  Bestimmung  zu  denselben  ist  das  objektive  Moment 
die  Erkenntnis  und  der  Erweis  ihrer  Befähigung,  —  ein 
Erweis,  der  dem  Staate  sein  Bedürfnis,  und  als  die  einzige 
Bedingung  zugleich  jedem  Bürger  die  Möglichkeit,  sich 
dem  allgemeinen  Stande  zu  widmen,  sichert. 


240      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.     Dritter  Abschnitt. 

§  292. 

Die  subjektive  Seite,  daß  dieses  Individuum  aus  meh- 
reren, deren  es,  da  hier  das  Objektive  nicht  (wie  z.  B.  bei 
der  Kunst)  in  Genialität  liegt,  notwendig  unbestimmt 
mehrere  gibt,  unter  denen  der  Vorzug  nichts  absolut  Be- 
stimmbares ist,  zu  einer  Stelle  gewählt  und  ernannt  und 
zur  Führung  des  öffentlichen  Geschäfts  bevollmächtigt 
wird,  diese  Verknüpfung  des  Individuums  und  des  Amtes, 
als  zweier  für  sich  gegeneinander  immer  zufälligen  Seiten, 
kommt  der  fürstlichen  als  der  entscheidenden  und  souve- 
ränen Staatsgewalt  zu, 

§  293. 

Die  besonderen  Staatsgeschäfte,  welche  die  Monarchie 
den  Behörden  übergibt,  machen  einen  Teil  der  objektiven 
Seite  der  dem  Monarchen  innewohnenden  Souveränetät  aus; 
ihr  bestimmter  Unterschied  ist  ebenso  durch  die  Natur 
der  Sache  gegeben;  und  wie  die  Tätigkeit  der  Behörden 
eine  Pflichterfüllung,  so  ist  ihr  Geschäft  auch  ein  der 
Zufälligkeit  entnommenes  Recht. 

§294. 

Das  Individuum,  das  durch  den  souveränen  Akt  (§  292) 
einem  amtlichen  Berufe  verknüpft  ist,  ist  auf  seine  Pflicht- 
erfüllung, das  Substantielle  seines  Verhältnisses,  als  Be- 
dingung dieser  Verknüpfung  angewiesen,  in  welcher  es 
als  Folge  dieses  substantiellen  Verhältnisses  das  Ver- 
mögen und  die  gesicherte  Befriedigung  seiner  Besonder- 
heit (§  264)  und  Befreiung  seiner  äußeren  Lage  und  Amts- 
tätigkeit von  sonstiger  subjektiver  Abhängigkeit  und  Ein- 
fluß findet. 

Der  Staat  zählt  nicht  auf  willkürliche,  beliebige  Lei- 
stungen (eine  Rechtspflege  z.  B.,  die  von  fahrenden 
Rittern  ausgeübt  wurde),  eben  weil  sie  beliebig  und 
willkürlich  sind,  und  sich  die  Vollführung  der  Leistungen 
nach  subjektiven  Ansichten,  ebenso  wie  die  beliebige 
Nichtleistung  und  die  Ausführung  subjektiver  Zwecke 
vorbehalten.  Das  andere  Extrem  zum  fahrenden  Ritter 
wäre  in  Beziehung  auf  den  Staatsdienst  das  des  Staats- 
bedienten,  der  bloß  nach  der  Not,  ohne  wahrhafte  Pflicht 
und  ebenso  ohne  Recht  seinem  Dienste  verknüpft  wäre. 
—  Der  Staatsdienst  fordert  vielmehr  die  Aufopferung 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsreclit.    §  295.  241 

selbständiger  und  beliebiger  Befriedigung  subjektiver 
Zwecke,  und  gibt  eben  damit  das  Recht,  sie  in  der  pflicht- 
mäßigen Leistung,  aber  nur  in  ihr  zu  finden.  Hierin 
liegt  nach  dieser  Seite  die  Verknüpfung  des  allgemeinen 
und  besonderen  Interesses,  welche  den  Begriff  und  die 
innere  Festigkeit  des  Staates  ausmacht  (§  260).  —  Das 
Amtsverhältnis  ist  gleichfalls  kein  Vertrags  Verhältnis 
(§  75),  obgleich  ein  gedoppeltes  Einwilligen  und  ein 
Leisten  von  beiden  Seiten  vorhanden  ist.  Der  Bedienstete 
ist  nicht  für  eine  einzelne  zufällige  Dienstleistung  be- 
rufen, wie  der  Mandatarius,  sondern  legt  das  Haupt- 
interesse seiner  geistigen  und  besonderen  Existenz  in 
dies  Verhältnis.  Ebenso  ist  es  nicht  eine  ihrer  Qualität 
nach  äußerliche,  nur  besondere  Sache,  die  er  zu  leisten 
hätte  und  die  ihm  anvertraut  wäre;  der  Wert  einer 
solchen  ist  als  Inneres  von  ihrer  Äußerlichkeit  ver- 
schieden und  wird  bei  der  Nichtleistung  des  Stipulierten 
noch  nicht  verletzt  (§  77).  Was  aber  der  Staatsdiener 
zu  leisten  hat,  ist  wie  es  unmittelbar  ist,  ein  Wert  an 
und  für  sich.  Das  Unrecht  durch  Nichtleistung  oder 
positive  Verletzung  (dienstwidrige  Handlung,  und  beides 
ist  eine  solche)  ist  daher  Verletzung  des  allgemeinen  In- 
halts selbst  (vergl.  §  95,  ein  negativ  unendliches  Urteil), 
desvv'egen  Vergehen  oder  auch  Verbrechen.  —  Durch 
die  gesicherte  Befriedigung  des  besonderen  Bedürfnisses 
ist  die  äußere  Not  gehoben,  welche,  die  Mittel  dazu  auf 
Kosten  der  Amtstätigkeit  und  Pflicht  zu  suchen,  ver- 
anlassen kann.  In  der  allgemeinen  Staatsgewalt  finden 
die  mit  seinen  Geschäften  Beauftragten  Schutz  gegen 
die  andere  subjektive  Seite,  gegen  die  Privatleiden- 
schaiten  der  Regierten,  deren  Privatinteresse  u.  s.  f. 
durch  das  Geltendmachen  des  Allgemeinen  dagegen  be- 
leidigt wird. 

§  295. 

Die  Sicherung  des  Staates  und  der  Regierten  gegen 
den  Mißbrauch  der  Gewalt  von  selten  der  Behörden  und 
ihrer  Beamten  liegt  einerseits  unmittelbar  in  ihrer  Hie- 
rarchie und  Verantwortlichkeit,  andererseits  in  der  Be- 
rechtigung der  Gemeinden,  Korporationen,  als  wodurch 
die  Einmischung  subjektiver  Willkür  in  die  den  Beamten 
anvertraute  Gewalt  für  sich  gehemmt  und  die  in  das  einzelne 
Benehmen  nicht  reichende  Kontrolle  von  oben,  von  unten 
ergänzt  wird. 

Hegel,  Rechtsphilosopkie.  \Q 


242        Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

Im  Benehmen  und  in  der  Bildung  der  Beamten  liegt 
der  Punkt,  wo  die  Gesetze  und  Entscheidungen  der  Re- 
gierung die  Einzelnheit  berühren  und  in  der  Wirklich- 
keit geltend  gemacht  werden.  Dies  ist  somit  die  Stelle, 
von  welcher  die  Zufriedenheit  und  das  Zutrauen  der 
Bürger  zur  Regierung,  sowie  die  Ausführung  oder  Schwä- 
chung und  Vereitelung  ihrer  Absichten  nach  der  Seite 
abhängt,  daß  die  Art  und  Weise  der  Ausführung  von 
der  Empfindung  und  Gesinnung  leicht  so  hoch  ange- 
schlagen wird  als  der  Inhalt  des  Auszuführenden  selbst, 
der  schon  für  sich  eine  Last  enthalten  kann.  In  der 
Unmittelbarkeit  und  Persönlichkeit  dieser  Berührung 
liegt  es,  daß  die  Kontrolle  von  oben  von  dieser  Seite  un- 
vollständiger ihren  Zweck  erreicht,  der  auch  an  dem  ge- 
meinschaftlichen Interesse  der  Beamten  als  eines  gegen 
die  Untergebenen  und  gegen  die  Oberen  sich  zusammen- 
schließenden Standes,  Hindernisse  finden  kann,  deren 
Beseitigung  insbesondere  bei  etwa  sonst  noch  unvoll- 
kommeneren Institutionen,  das  höhere  Eingreifen  der 
Souveränetät  (wie  z.  B.  Friedrichs  II.  in  der  berüchtigt- 
gemachten  Müller  Arnoldschen  Sache)  erfordert  und  be- 
rechtigt. 

§  296. 

Daß  aber  die  Leidenschaftslosigkeit,  Rechtlichkeit  und 
Milde  des  Benehmens  Sitte  werde,  hängt  teils  mit  der 
direkten  sittlichen  und  Gedankenbildung  zusammen, 
welche  dem,  was  die  Erlernung  der  sogenannten  Wissen- 
schaften der  Gegenstände  dieser  Sphären,  die  erforder- 
liche Geschäftseinübung,  die  wirkliche  Arbeit  u.  s.  f.  von 
Mechanismus  u.  dergl.  in  sich  hat,  das  geistige  Gleich- 
gewicht hält;  teils  ist  die  Größe  des  Staat«  ein  Haupt- 
moment, wodurch  sowohl  das  Gewicht  von  Familien-  und 
anderen  Privatverbindungen  geschwächt,  als  auch  Rache, 
Haß  und  andere  solche  Leidenschaften  ohnmächtiger  und 
damit  stumpfer  werden;  in  der  Beschäftigung  mit  den  in 
dem  großen  Staate  vorhandenen  großen  Interessen  gehen 
für  sich  diese  subjektiven  Seiten  unter  und  erzeugt  sich 
die  Gewohnheit  allgemeiner  Interessen,  Ansichten  und  Ge- 
schäfte. 

§  297. 

Die  Mitglieder  der  Regierung  und  die  Staatsbeamten 
machen  den  Hauptteil  des  Mittelstandes  aus,  in  welchen 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  298-299.       243 

die  gebildete  Intelligenz  und  das  rechtliche  Bewußtsein  der 
Masse  eines  Volkes  fällt.  Daß  er  nicht  die  isolierte  Stel- 
lung einer  Aristokratie  nehme,  und  Bildung  und  Geschick- 
lichkeit nicht  zu  einem  Mittel  der  Willkür  und  einer  Herren- 
schaft werde,  wird  durch  die  Institutionen  der  Souveränetät 
von  oben  herab  und  der  Korporationsrechte  von  unten 
herauf  bewirkt. 

So  hatte  sich  vormals  die  Rechtspflege,  deren  Objekt 
das  eigentümliche  Interesse  aller  Individuen  ist,  dadurch, 
daß  die  Kenntnis  des  Rechts  sich  in  Gelehrsamkeit  und 
fremde  Sprache  und  die  Kenntnis  des  Rechtsganges  in 
verwickelten  Formalismus  verhüllte,  in  ein  Instrument 
des   Gewinns   und   der   Beherrschung  verwandelt. 

c)  Die  gesetzgebende  Gewalt. 

§  298. 

Die  gesetzgebende  Gewalt  betrifft  die  Gesetze 
als  solche,  insofern  sie  weiterer  Fortbestimmung  bedürfen, 
und  die  ihrem  Inhalte  nach  ganz  allgemeinen  inneren  An- 
gelegenheiten. Diese  Gewalt  ist  selbst  ein  Teil  der  Ver- 
fassung, welche  ihr  vorausgesetzt  ist  und  insofern  an  und 
für  sich  außer  deren  direkten  Bestimmung  liegt,  aber  in 
der  Fortbildung  der  Gesetze  und  in  dem  fortschreitenden 
Charakter  der  allgemeinen  Regierungsangelegenheiten  ihre 
weitere  Entwickelung  erhält. 

§  299. 

Diese  Gegenstände  bestimmen  sich  in  Beziehung  auf 
die  Individuen  näher  nach  den  zwei  Seiten:  a)  was  durch 
den  Staat  ihnen  zugute  kommt,  und  sie  zu  genießen  und 
ß)  was  sie  demselben  zu  leisten  haben.  Unter  jenem  sind 
die  privatrechtlichen  Gesetze  überhaupt,  die  Rechte  der 
Gemeinden  und  Korporationen  und  ganz  allgemeine  Ver- 
anstaltungen und  indirekt  (§  298)  das  Ganze  der  Ver- 
fassung begriffen.  Das  zu  Leistende  aber  kann  nur,  in- 
dem es  auf  Geld,  als  den  existierenden  allgemeinen  Wert 
der  Dinge  und  der  Leistungen,  reduziert  wird,  auf  eine 
gerechte  Weise  und  zugleich  auf  eine  Art  bestimmt  werden, 
daß  die  besonderen  Arbeiten  und  Dienste,  die  der  Ein- 
zelne leisten  kann,  durch  seine  Willkür  vermittelt  werden. 
Was  Gegenstand  der  allgemeinen  Gesetzgebung  und 
was  der  Bestimmung  der  Administrativ-Behörden  und  der 

16* 


244        Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

Regulierung  der  Regierung  überhaupt  anheim  zu  stellen 
sei,  läßt  sich  zwar  im  allgemeinen  so  unterscheiden,  daß 
in  jene  nur  das  dem  Inhalte  nach  ganz  Allgemeine,  die 
gesetzlichen  Bestimmungen,  in  diese  aber  das  Besondere 
und  die  Art  und  Weise  der  Exekution  falle.  Aber 
völlig  bestimmt  ist  diese  Unterscheidung  schon  dadurch 
nicht,  daß  das  Gesetz,  damit  es  Gesetz,  nicht  ein  bloßes 
Gebot  überhaupt  sei  (wie  „du  sollst  nicht  töten",  vergl. 
mit  Anm.  zum  §  140  S.  124),  in  sich  bestimmt  sein 
muß;  je  bestimmter  es  aber  ist,  desto  mehr  nähert  sich 
sein  Inhalt  der  Fähigkeit,  so  wie- es  ist,  ausgeführt  zu 
werden.  Zugleich  aber  würde  die  so  weit  gehende  Be- 
stimmung den  Gesetzen  eine  empirische  Seite  geben, 
welche  in  der  wirklichen  Ausführung  Abänderungen 
unterworfen  werden  müßte,  was  dem  Charakter  von  Ge- 
setzen Abbruch  täte.  In  der  organischen  Einheit  der 
Staatsgewalten  liegt  es  selbst,  daß  es  ein  Geist  ist,  der 
das  Allgemeine  festsetzt,  und  der  es  zu  seiner  be- 
stimmten Wirklichkeit  bringt  und  ausführt.  —  Es  kann 
im  Staate  zunächst  auffallen,  daß  von  den  vielen  Ge- 
schicklichkeiten, Besitztümern,  Tätigkeiten,  Talenten  und 
darin  liegenden  unendlich  mannigfaltigen  lebendigen 
Vermögen,  die  zugleich  mit  Gesinnung  verbunden  sind, 
der  Staat  keine  direkte  Leistung  fordert,  sondern  nur 
das  eine  Vermögen  in  Anspruch  nimmt,  das  als  Geld 
erscheint.  —  Die  Leistungen,  die  sich  auf  die  Verteidi- 
gung des  Staates  gegen  Feinde  beziehen,  gehören  erst  zu 
der  Pflicht  der  folgenden  Abteilung.  In  der  Tat  ist  das 
Geld  aber  nicht  ein  besonderes  Vermögen  neben  den 
übrigen,  sondern  es  ist  das  Allgemeine  derselben,  in- 
sofern sie  sich  zu  der  Äußerlichkeit  des  Daseins  pro- 
duzieren, in  der  sie  als  eine  Sache  gefaßt  werden 
können.  Nur  an  dieser  äußerlichsten  Spitze  ist  die 
quantitative  Bestimmtheit  und  damit  die  Gerechtig- 
keit und  Gleichheit  der  Leistungen  möglich.  —  Plato 
läßt  in  seinem  Staate  die  Individuen  den  besonderen 
Ständen  durch  die  Oberen  zuteilen  und  ihnen  ihre  be- 
sonderen Leistungen  auflegen  (vergl.  §  185,  Anm.); 
in  der  Feudalmonarchie  hatten  Vasallen  ebenso  un- 
bestimmte Dienste,  aber  auch  in  ihrer  Besonderheit, 
z.  B.  das  Richteramt  u.  s.  f.  zu  leisten;  die  Leistungen  im 
Orient,  Ägypten  für  die  unermeßlichen  Architekturen 
u.  s.  f.  sind  ebenso  von  besonderer  Qualität  u.  s.  f.  In 
diesen  Verhältnissen  mangelt  das  Prinzip  der  subjek- 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §300 — 301.        245 

tiven  Freiheit,  daß  das  substantielle  Tun  des  Indi- 
viduums, das  in  solchen  Leistungen  ohnehin  seinem  In- 
halte nach  ein  Besonderes  ist,  durch  seinen  besonderen 
Willen  vermittelt  sei;  —  ein  Recht,  das  allein  durch 
die  Forderung  der  Leistungen  in  der  Form  des  allge- 
meinen Wertes  möglich,  und  das  der  Grund  ist,  der  diese 
Verwandlung  herbeigeführt  hat. 

§  300. 

In  der  gesetzgebenden  Gewalt  als  Totalität  sind  zu- 
nächst die  zwei  anderen  Momente  wirksam,  das  monar- 
chische als  dem  die  höchste  Entscheidung  zukommt,  — 
die  Regierungsgewalt  als  das,  mit  der  konkreten  Kennt- 
nis und  Übersicht  des  Ganzen  in  seinen  vielfachen  Seiten 
und  den  darin  festgewordenen  wirklichen  Grundsätzen,  so- 
wie mit  der  Kenntnis  der  Bedürfnisse  der  Staatsgewalt 
insbesondere,  beratende  Moment,  —  endlich  das  stän- 
dische Element. 

§  301. 

Das  ständische  Element  hat  die  Bestimmung,  daß 
die  allgemeine  Angelegenheit  nicht  nur  an  sich,  sondern 
auch  für  sich,  d.  i.  daß  das  Moment  der  subjektiven 
formellen  Freiheit,  das  öffentliche  Bewußtsein  als 
empirische  Allgemeinheit  der  Ansichten  und  Gedanken 
der  Vielen,  darin  zur  Existenz  komme. 

Der  Ausdruck:  die  Vielen  (oi  tioUoI)  bezeichnet 
die  empirische  Allgemeinheit  richtiger  als  das  gäng 
und  gäbe:  Alle.  Denn  wenn  man  sagen  wird,  daß  es 
sich  von  selbst  verstehe,  daß  unter  diesen  Allen  zu- 
nächst wenigstens  die  Kinder,  Weiber  u.  s.  f.  nicht  gemeint 
seien,  so  versteht  es  sich  hiermit  noch  mehr  von  selbst, 
daß  man  den  ganz  bestimmten  Ausdruck:  Alle  nicht 
gebrauchen  sollte,  wo  es  sich  um  noch  etwas  ganz  Un- 
bestimmtes handelt.  —  Es  sind  überhaupt  so  unsäglich 
viele  schiefe  und  falsche  Vorstellungen  und  Redens- 
arten über  Volk,  Verfassung  und  Stände  in  den  Umlauf 
der  Meinung  gekommen,  daß  es  eine  vergebliche  Mühe 
wäre,  sie  aufführen,  erörtern  und  berichtigen  zu  wollen. 
Die  Vorstellung,  die  das  gewöhnliche  Bewußtsein  über 
die  Notwendigkeit  oder  Nützlichkeit  der  Konkurrenz  von 
Ständen  zunächst  vor  sich  zu  haben  pflegt,  ist  vornehm- 
lich  etwa,   daß   die   Abgeordneten   aus  dem  Volk   oder 


246        Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

gar  das  Volk  es  am  besten  verstehen  müsse,  was 
zu  seinem  Besten  diene,  und  daß  es  den  ungezweifelt 
besten  Willen  für  dieses  Beste  habe.  Was  das  erstere 
betrifft,  so  ist  vielmehr  der  Fall,  daß  das  Volk,  insofern 
mit  diesem  Worte  ein  besonderer  Teil  der  Mitglieder 
eines  Staats  bezeichnet  ist,  den  Teil  ausdrückt,  der 
nicht  weiß  was  er  will.  Zu  wissen,  was  man  will, 
und  noch  mehr  was  der  an  und  für  sich  seiende  Wille, 
die  Vernunft,  will,  ist  die  Frucht  tiefer  Erkenntnis  und 
Einsicht,  welche  eben  nicht  die  Sache  des  Volks  ist. 
—  Die  Gewährleistung,  die  für  das  allgemeine  Beste 
und  die  öffentliche  Freiheit  in  den  Ständen  liegt,  findet 
sich  bei  einigem  Nachdenken  nicht  in  der  besonderen 
Einsicht  derselben  —  denn  die  höchsten  Staatsbeamten 
haben  notwendig  tiefere  und  umfassendere  Einsicht  in 
die  Natur  der  Einrichtungen  und  Bedürfnisse  des  Staats, 
sowie  die  größere  Geschicklichkeit  und  Gewohnheit 
dieser  Geschäfte  und  können  ohne  Stände  das  Beste 
tun,  wie  sie  auch  fortwährend  bei  den  ständischen  Ver- 
sammlungen das  Beste  tun  müssen,  —  sondern  sie  liegt 
teils  wohl  in  einer  Zutat  von  Einsicht  der  Abgeordneten, 
vornehmlich  in  das  Treiben  der  den  Augen  der  höheren 
Stellen  ferner  stehenden  Beamten,  und  insbesondere  in 
dringendere  und  speziellere  Bedürfnisse  und  Mängel, 
die  sie  in  konkreter  Anschauung  vor  sich  haben,  teils 
aber  in  derjenigen  Wirkung,  welche  die  zu  erwartende  . 
Zensur  Vieler  und  zwar  eine  öffentliche  Zensur  mit  sich  ( 
führt,  schon  im  voraus  die  beste  Einsicht  auf  die  Ge-  ■ 
Schäfte  und  vorzulegenden  Entwürfe  zu  verwenden  und 
sie  nur  den  reinsten  Motiven  gemäß  einzurichten,  —  eine  / 
Nötigung,  die  ebenso  für  die  Mitglieder  der  Stände  i 
selbst  wirksam  ist.  Was  aber  den  vorzüglich  guten  J 
Willen  der  Stände  für  das  allgemeine  Beste  betrifft,  ! 
so  ist  schon  oben  (§  272  Anm.)  bemerkt  worden,  daß 
es  zu  der  Ansicht  des  Pöbels,  dem  Standpunkte  des 
Negativen  überhaupt  gehört,  bei  der  Regierung  einen 
bösen  oder  weniger  guten  Willen  vorauszusetzen;  — ■ 
eine  Voraussetzung,  die  zunächst,  wenn  in  gleicher  Form 
geantwortet  werden  sollte,  die  Rekrimination  zur  Folge 
hätte,  daß  die  Stände,  da  sie  von  der  Einzelnheit,  dem 
Privatstandpunkt  und  den  besonderen  Interessen  her- 
kommen, für  diese  auf  Kosten  des  allgemeinen  Inter- 
esses ihre  Wirksamkeit  zu  gebrauchen  geneigt  seien, 
da  hingegen  die  anderen  Momente  der  Staatsgewalt  schon 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  302.  2-i7 

für  sich  auf  den  Standpunkt  des  Staates  gestellt  und 
dem  allgemeinen  Zwecke  gewidmet  sind.  Was  hiermit 
die  Garantie  überhaupt  betrifft,  welche  besonders  in 
den  Ständen  liegen  soll,  so  teilt  auch  jede  andere  der 
Staatsinstitutionen  dies  mit  ihnen,  eine  Garantie  des 
öffentlichen  Wohls  und  der  vernünftigen  Freiheit  zu 
sein,  und  es  gibt  darunter  Institutionen,  wie  die  Sou- 
veränetät  des  Monarchen,  die  Erblichkeit  der  Thronfolge, 
Gerichtsverfassung  u.  s.  f.,  in  welchen  diese  Garantie  noch 
in  viel  stärkerem  Grade  liegt.  Die  eigentümliche  Be- 
griffsbestimmung der  Stände  ist  deshalb  darin  zu  suchen, 
daß  in  ihnen  das  subjektive  Moment  der  allgemeinen 
Freiheit,  die  eigene  Einsicht  und  der  eigene  Wille  der 
Sphäre,  die  in  dieser  Darstellung  bürgerliche  Gesell- 
schaft genannt  worden  ist,  in  Beziehung  auf  den 
Staat  zur  Existenz  kommt.  Daß  dies  Moment  eine 
Bestimmung  der  zur  Totalität  entwickelten  Idee  ist,  diese 
innere  Notwendigkeit,  welche  nicht  mit  äußeren  Not- 
wendigkeiten und  Nützlichkeiten  zu  verwechseln 
ist,  folgt,  wie  überall,  aus  dem  philosophischen  Gesichts- 
punkte. 

§  302. 

Alsvermittelndes  Organ  betrachtet,  stehen  die  Stände 
zwischen  der  Regierung  überhaupt  einerseits,  und  dem 
in  die  besonderen  Sphären  und  Individuen  aufgelösten 
Volke  andererseits,  Ihre  Bestimmung  fordert  an  sie  so 
sehr  den  Sinn  und  die  Gesinnung  des  Staats  und 
der  Regierung  als  der  Interessen  der  besonderen 
Kreise  und  der  Einzelnen,  Zugleich  hat  diese  Stellung 
die  Bedeutung  einer  mit  der  organisierten  Regierungs- 
gewalt gemeinschaftlichen  Vermittelung,  daß  weder  die 
fürstliche  Gewalt  als  Extrem  isoliert  und  dadurch  als 
bloße  Herrschergewalt  und  Willkür  erscheine,  noch  daß 
die  besonderen  Interessen  der  Gemeinden,  Korporationen 
und  der  Individuen  sich  isolieren,  oder  noch  mehr,  daß 
die  Einzelnen  nicht  zur  Darstellung  einer  Menge  und  eines 
Haufens,  zu  einem  somit  unorganischen  Meinen  und 
Wollen,  und  zur  bloß  massenhaften  Gewalt  gegen  den 
organischen  Staat  kommen. 

Es  gehört  zu  den  v/ichtigsten  logischen  Einsichten, 
daß  ein  bestimmtes  Moment,  das  als  im  Gegensatze 
stehend  die  Stellung  eines  Extrems  hat,  es  dadurch 
zu  sein  aufhört  und  organisches  Mom.ent  ist,  daß  es 


248       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

zugleich  Mitte  ist.     Bei  dem  hier  betrachteten  Gegen- 
stand ist  es  um  so  wichtiger,  diese  Seite  herauszuheben, 
weil  es  zu  den  häufigen,  aber  höchst  gefährlichen  Vor-  : 
urteilen  gehört,  Stände  hauptsächlich  im  Ge.3ichtspunkte  j 
des   Gegensatzes   gegen    die  Regierung,   als   ob   dies  | 
ihre  wesentliche  Stellung  wäre,  vorzustellen.    Organisch, 
d.  i.    in    die    Totalität   aufgenommen,    beweist    sich   das  ; 
ständische   Element   nur    durch  die  Funktion  der  Ver-  | 
mittelung.     Damit   ist    dpr   Gegensatz  selbst   zu   einem  i 
Schein   herabgesetzt.    Wenn    er,   insofern   er   seine   Er- 
scheinung hat,  nicht  bloß  die  Oberfläche  beträfe,  sondern 
wirklich    ein   substantieller    Gegensatz   würde,    so   wäre 
•der    Staat     in    seinem    Untergange    begriffen.    —   Das  i 
Zeichen,   daß   der   Widerstreit  nicht  dieser  Art  ist,   er-  i 
gibt  sich  der  Natur  der  Sache  nach  dadurch,  wenn  die  ' 
Gegenstände  desselben  nicht  die  wesentlichen  Elemente  ' 
des   Staatsorganismus,    sondern    speziellere   und   gleich-   ' 
gültigere    Dinge    betreffen,    und    die   Leidenschaft,    die 
sich  doch  an  diesen  Inhalt  knüpft,  zur  Parteisucht  um 
ein   bloß   subjektives    Interesse,    etwa   um   die   höheren 
Staatsstellen,  wird. 

§  303. 

Der  allgemeine,  näher  dem  Dienst  der  Regie- 
rung sich  widmende  Stand  hat  unmittelbar  in  seiner  Be- 
stimmung, das  Allgemeine  zum  Zwecke  seiner  wesentlichen 
Tätigkeit  zu  haben;  in  dem  ständischen  Elemente  der 
gesetzgebenden  Gewalt  kommt  der  Privatstand  zu  einer 
politischen  Bedeutung  und  Vürksamkeit.  Derselbe 
kann  nun  dabei  weder  als  bloße  ungeschiedene  Masse, 
noch  als  eine  in  ihre  Atome  aufgelöste  Menge  erscheinen, 
sondern  als  das,  was  er  bereits  ist,  nämlich  unterschieden 
in  den  auf  das  substantielle  Verhältnis,  und  in  den  auf 
die  besonderen  Bedürfnisse  und  die  sie  vermittelnde  Arbeit 
sich  gründenden  Stand  (§  201  ff.).  Nur  so  knüpft  sich 
in  dieser  Rücksicht  wahrhaft  das  im  Staate  wirkliche 
Besondere  an  das  Allgemeine  an. 

Dies  geht  gegen  eine  andere  gangbare  Vorstellung, 
daß,  indem  der  Privatstand  zur  Teilnahme  an  der  all- 
gemeinen Sache  in  der  gesetzgebenden  Gewalt  erhoben 
wird,  er  dabei  in  Form  der  Einzelnen  erscheinen  müsse, 
sei  es,  daß  sie  Stellvertreter  für  diese  Funktion  wählen, 
oder  daß  gar  selbst  jeder  eine  Stimme  dabei  exerzieren 
solle.  Diese  atomistische,  abstrakte  Ansicht  verschwindet 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  304,  249 

schon  in  der  Familie  wie  in  der  bürgerlichen  Gesell- 
schaft, wo  der  Einzelne  nur  als  Mitglied  eines  All- 
gemeinen zur  Erscheinung  kommt.  Der  Staat  aber  ist 
wesentlich  eine  Organisation  von  solchen  Gliedern,  die 
für  sich  Kreise  sind,  und  in  ihm  soll  sich  kein  Moment 
als  eine  unorganische  Menge  zeigen.  Die  Vielen  als 
Einzelne,  was  man  gerne  unter  Volk  versteht,  sind  wohl 
ein  Zusammen,  aber  nur  als  die  Menge,  —  eine 
formlose  Masse,  deren  Bewegung  und  Tun  eben  damit 
nur  elementarisch,  vernunftlos,  wild  und  fürchterlich 
wäre.  Wie  man  in  Beziehung  auf  Verfassung  noch 
vom  Volke,  dieser  unorganischen  Gesamtheit,  sprechen 
hört,  so  kann  man  schon  zum  voraus  wissen,  daß  man 
nur  Allgemeinheiten  und  schiefe  Deklamationen  zu  er- 
warten hat,  ■ —  Die  Vorstellung,  welche  die  in  jenen 
Kreisen  schon  vorhandenen  Gemeinwesen,  wo  sie  ins 
Politische,  d.  i.  in  den  Standpunkt  der  höchsten  kon- 
kreten Allgemeinheit  eintreten,  wieder  in  eine  Menge 
von  Individuen  auflöst,  hält  eben  damit  das  bürgerliche 
und  das  politische  Leben  voneinander  getrennt,  und  stellt 
dieses  sozusagen,  in  die  Luft,  da  seine  Basis  nur  die 
abstrakte  Einzelnheit  der  Willkür  und  Meinung,  somit 
das  Zufällige,  nicht  eine  an  und  für  sich  feste  und 
berechtigte  Grundlage  sein  würde.  —  Obgleich  in 
den  Vorstellungen  sogenannter  Theorien  die  Stände  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  überhaupt  und  die  Stände 
in  politischer  Bedeutung  weit . auseinander  liegen,  so 
hat  doch  die  Sprache  noch  diese  Vereinigung  erhalten, 
die  früher  ohnehin  vorhanden  war. 

§  304, 

Den  in  den  früheren  Sphären  bereits  vorhandenen 
Unterschied  der  Stände  enthält  das  politisch-ständische  Ele- 
ment zugleich  in  seiner  eigenen  Bestimmung.  Seine  zu- 
nächst abstrakte  Stellung,  nämlich  des  Extrems  der 
empirischen  Allgemeinheit  gegen  das  fürstliche 
oder  monarchische  Prinzip  überhaupt,  —  in  der  nur 
die  Möglichkeit  der  Übereinstimmung,  und  damit 
ebenso  die  Möglichkeit  feindlicher  Entgegensetzung 
liegt,  —  diese  abstrakte  Stellung  wird  nur  dadurch  zum 
vernünftigen  Verhältnisse  (zum  Schlüsse,  vergl.  Anm. 
zu  §  302),  daß  ihre  Vermittelung  zur  Existenz  kommt. 
Wie  von  selten  der  fürstlichen  Gewalt  die  Regierungs- 
gewalt (§  300)  schon  diese  Bestimmung  hat,  so  muß  auch 


250      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

von  der  Seite  der  Stände  aus  ein  Moment  derselben  nach  - 
der  Bestimmung  gekehrt  sein,  wesentlich  als  das  Moment  ■ 
der  Mitte  zu  existieren. 

§  305. 

Der  eine  der  Stände  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
enthält  das  Prinzip,  das  für  sich  fähig  ist,  zu  dieser  poli- 
tischen Beziehung  konstituiert  zu  werden,  der  Stand  der 
natürlichen  Sittlichkeit  nämlich,  der  das  Familienleben  und, 
in  Rücksicht  der  Subsistenz,  den  Grundbesitz  zu  seiner  Basis, 
somit  in  Rücksicht  seiner  Besonderheit  ein  auf  sich  be- 
ruhendes Wollen,  und  die  Naturbestimmung,  welche  das 
fürstliche  Element  in  sich  schließt,  mit  diesem  gemein  hat. 

§  306. 

Für  die  politische  Stellung  und  Bedeutung  wird  er 
näher  konstituiert,  insofern  sein  Vermögen  ebenso  un- 
abhängig vom  Staatsvermögen  als  von  der  Unsicherheit 
des  Gewerbes,  der  Sucht  des  Gewinns  und  der  Veränder- 
lichkeit des  Besitzes  überhaupt,  —  wie  von  der  Gunst 
der  Regierungsgewalt  so  von  der  Gunst  der  Menge,  und 
selbst  gegen  die  eigene  Willkür  dadurch  festgestellt 
ist,  daß  die  für  diese  Bestimmung  berufenen  Mitglieder 
dieses  Standes,  des  Rechts  der  anderen  Bürger,  teils  über 
ihr  ganzes  Eigentum  frei  zu  disponieren,  teils  es  nach 
der  Gleichheit  der  Liebe  zu  den  Kindern,  an  sie  übergehend 
zu  wissen,  entbehren;  —  das  Vermögen  wird  so  ein  un- 
veräußerliches, mit  dem  Majorate  belastetes  Erbgut. 

§  307. 

Das  Recht  dieses  Teils  des  substantiellen  Standes  ist 
auf  diese  Weise  zwar  einerseits  auf  das  Naturprinzip  der 
Familie  gegründet,  dieses  aber  zugleich  durch  harte  Auf- 
opferungen für  den  politischen  Zweck  verkehrt,  womit 
dieser  Stand  wesentlich  an  die  Tätigkeit  für  diesen  Zweck 
angewiesen  und  gleichfalls  infolge  hiervon  ohne  die  Zu- 
fälligkeit einer  Wahl  durch  die  Geburt  dazu  berufen 
und  berechtigt  ist.  Damit  hat  er  die  feste,  substantielle 
Stellung  zwischen  der  subjektiven  Willkür  oder  Zufällig- 
keit der  beiden  Extreme,  und  wie  er  (s,  vorherg.  §)  ein 
Gleichnis  des  Moments  der  fürstlichen  Gewalt  in  sich  trägt, 
so  teilt  er  auch  mit  dem  anderen  Extreme  die  im  übrigen 
gleichen  Bedürfnisse  und  gleichen  Rechte,  und  wird  so 
zugleich  Stütze  des  Thrones  und  der  Gesellschaft. 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  308.  251 

§  308. 

In  den  anderen  Teil  des  ständischen  Elements  fällt 
die  bewegliche  Seite  der  bürgerlichen  Gesellschaf  t, 
die  äiißerlich  wegen  der  Menge  ihrer  Glieder,  wesentlich 
aber  wegen  der  Natur  ihrer  Bestimmung  und  Beschäf- 
tigung, nur  durch  Abgeordnete  eintreten  kann.  Insofern 
diese  von  der  bürgerlichen  Gesellschaft  abgeordnet  werden, 
liegt  es  unmittelbar  nahe,  daß  dies  diese  tut  als  das, 
was  sie  ist,  —  somit  nicht  als  in  die  Einzelnen  atomistisch 
aufgelöst  und  nur  für  einen  einzelnen  und  temporären 
Akt  sich  auf  einen  Augenblick  ohne  weitere  Haltung  ver- 
sammelnd, sondern  als  in  ihre  ohnehin  konstituierten  Ge- 
nossenschaften, Gemeinden  und  Korporationen  gegliedert, 
welche  auf  diese  Weise  einen  politischen  Zusammenhang 
erhalten.  In  ihrer  Berechtigung  zu  solcher  von  der  fürst- 
lichen Gewalt  aufgerufenen  Abordnung,  wie  in  der  Be- 
rechtigung des  ersten  Standes  zur  Erscheinung  (§  307) 
findet  die  Existenz  der  Stände  und  ihrer  Versammlung 
eine  konstituierte,  eigentümliche  Garantie. 

Daß  alle  einzeln  an  der  Beratung  und  Beschließung 
über  die  allgemeinen  Angelegenheiten  des  Staates  An- 
teil haben  sollen,  weil  diese  Alle  Mitglieder  des  Staates, 
und  dessen  Angelegenheiten  die  Angelegenheiten  aller 
sind,  bei  denen  sie  mit  ihrem  Wissen  und  Willen  zu 
sein  ein  Recht  haben,  —  diese  Vorstellung,  welche 
das  demokratische  Element  ohne  alle  vernünftige 
Form  in  den  Staats-Organismus,  der  nur  durch  solche 
Form  es  ist,  setzen  wollte,  liegt  darum  so  nahe,  weil  sie 
bei  der  abstrakten  Bestimmung,  Mitglied  des  Staates 
zu  sein,  stehen  bleibt,  und  das  oberflächliche  Denken 
sich  an  Abstraktionen  hält.  Die  vernünftige  Betrach- 
tung, das  Bewußtsein  der  Idee,  ist  konkret  und  trifft 
insofern  mit  dem  wahrhaften  praktischen  Sinne,  der 
selbst  nichts  anderes  als  der  vernünftige  Sinn,  der  Sinn 
der  Idee  ist,  zusammen,  —  der  jedoch  nicht  mit  bloßer 
Geschäftsroutine  und  dem  Horizonte  einer  beschränkten 
Sphäre  zu  verwechseln  ist.  Der  konkrete  Staat  ist  das 
in  seine  besonderen  Kreise  gegliederte  Ganze; 
das  Mitglied  des  Staates  ist  ein  Mitglied  eines  solchen 
Standes;  nur  in  dieser  seiner  objektiven  Bestimmung 
kann  es  im  Staate  in  Betracht  kommen.  Seine  allgemeine 
Bestimmung  überhaupt  enthält  das  gedoppelte  Moment, 
Privatperson  und  als  denkendes  ebensosehr  Bewußt- 


252      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

sein  und  Wollen  des  Allgemeinen  zu  sein;  dieses  Be- 
wußtsein und  Wollen  aber  ist  nur  dann  nicht  leer,  sondern 
erfüllt  und  wirklich  lebendig,  wenn  es  mit  der  Be- 
sonderheit, —  und  diese  ist  der  besondere  Stand  und 
Bestimmung,  —  erfüllt  ist;  oder  das  Individuum  ist  Gat- 
tung, hat  aber  seine  immanente  allgemeine  Wirk- 
lichkeit als  nächste  Gattung.  —  Seine  \virkliche  und 
lebendige  Bestimmung  für  das  Allgemeine  erreicht  es 
daher  zunächst  in  seiner  Sphäre  der  Korporation,  Ge- 
meinde u.  s.  f,  (§  251),  wobei  ihm  offen  gelassen  ist,  durch 
seine  Geschicklichkeit  in  jede,  für  die  es  sich  befähigt, 
worunter  auch  der  allgemeine  Stand  gehört,  einzutreten. 
Eine  andere  Voraussetzung,  die  in  der  Vorstellung,  daß 
alle  an  den  Staatsangelegenheiten  teilhaben  sollen,  liegt, 
daß  nämlich  alle  sich  auf  diese  Angelegenheiten 
verstehen,  ist  ebenso  abgeschmackt,  als  man  sie  dessen 
ungeachtet  häufig  hören  kann.  In  der  öffentlichen  Mei- 
nung (s.  §  316)  aber  ist  jedem  der  Weg  offen,  auch  sein 
subjektives  Meinen  über  das  Allgemeine  zu  äußern  und 
geltend  zu  machen. 

§  309. 

Da  die  Abordnung  zur  Beratung  und  Beschließung 
über  die  allgemeinen  Angelegenheiten  geschieht,  hat 
sie  den  Sinn,  daß  durch  das  Zutrauen  solche  Individuen 
dazu  bestimmt  werden,  die  sich  besser  auf  diese  An- 
gelegenheiten verstehen  als  die  Abordnenden,  wie  auch, 
daß  sie  nicht  das  besondere  Interesse  einer  Gemeinde, 
Korporation  gegen  das  allgemeine,  sondern  wesentlich 
dieses  geltend  machen.  Sie  haben  damit  nicht  das  Ver- 
hältnis, kommittierte  oder  Instruktionen  überbringende 
Mandatarien  zu  sein,  um  so  weniger,  als  die  Zusammen- 
kunft die  Bestimmung  hat,  eine  lebendige,  sich  gegen- 
seitig unterrichtende  und  überzeugende,  gemeinsam  be- 
ratende Versammlung  zu  sein. 

§310. 

Die  Garantie  der  diesem  Zweck  entsprechenden  Eigen- 
schaften und  der  Gesinnung,  —  da  das  unabhängige  Ver- 
mögen schon  in  dem  ersten  Teile  der  Stände  sein  Recht 
verlangt,  —  zeigt  sich  bei  dem  zweiten  Teile,  der  aus 
dem  beweglichen  und  veränderlichen  Elemente  der  bürger- 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §311.  253 

liehen  Gesellschaft  hervorgeht,  vornehmlich  in  der,  durch 
wirkliche  Geschäftsführung,  in  obrigkeitlichen  oder 
Staatsämtern  erworbenen  und  durch  die  Tat  bewährten 
Gesinnung,  Geschicklichkeit  und  Kenntnis  der  Einrich- 
tungen und  Interessen  des  Staats  und  der  bürgerlichen  Ge- 
sellschaft, und  dem  dadurch  gebildeten  und  erprobten 
obrigkeitlichen  Sinn  und  Sinn  des  Staates. 

Die  subjektive  Meinung  von  sich  findet  leicht  die 
Forderung  solcher  Garantien,  wenn  sie  in  Rücksicht  auf 
das  sogenannte  Volk  gemacht  wird,  überflüssig,  ja  selbst 
etwa  beleidigend.  Der  Staat  hat  aber  das  Objektive, 
nicht  eine  subjektive  Meinung  und  deren  Selbstzutrauea 
zu  seiner  Bestimmung;  die  Individuen  können  nur  das 
für  ihn  sein,  was  an  ihnen  objektiv  erkennbar  und 
erprobt  ist,  und  er  hat  hierauf  bei  diesem  Teile  des 
ständischen  Elements  um  so  mehr  zu  sehen,  als  der- 
selbe seine  Wurzel  in  den  auf  das  Besondere  gerichteten 
Interessen  und  Beschäftigungen  hat,  wo  die  Zufälligkeit, 
Veränderlichkeit  und  Willkür  ihr  Recht  sich  zu  ergehen 
hat.  —  Die  äußere  Bedingung,  ein  gewisses  Vermögen, 
erscheint  bloß  für  sich  genommen  als  das  einseitige 
Extrem  der  Äußerlichkeit  gegen  das  andere  ebenso  ein- 
seitige, das  bloß  subjektive  Zutrauen  und  die  Meinung 
der  Wählenden.  Eins  wie  das  andere  macht  in  seiner 
Abstraktion  einen  Kontrast  gegen  die  konkreten  Eigen- 
schaften, die  zur  Beratung  von  Staatsgeschäften  er- 
forderlich, und  die  in  den  im  §  202  angedeuteten  Bestim- 
mungen enthalten  sind.  —  Ohnehin  hat  bei  der  Wahl  zu 
obrigkeitlichen  und  anderen  Ämtern  der  Genossenschaften 
und  Gemeinden  die  Eigenschaft  des  Vermögens  schon  die 
Sphäre,  wo  sie  ihre  Wirkung  hat  ausüben  können,  be- 
sonders wenn  manche  dieser  Geschäfte  unentgeltlich  ver- 
waltet werden,  und  direkt  in  Rücksicht  auf  das  stän- 
dische Geschäft,  wenn  die  Mitglieder  kein  Gehalt  be- 
ziehen. 

§  311. 

Die  Abordnung,  als  von  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
ausgehend,  hat  ferner  den  Sinn,  daß  die  Abgeordneten  mJt 
deren  speziellen  Bedürfnissen,  Hindernissen,  besonderen 
Interessen  bekannt  seien  und  ihnen  selbst  angehören.  In- 
dem sie  nach  der  Natur  der  bürgerlichen  Gesellschaft  von 
ihren  verschiedenen  Korporationen  ausgeht  (§  308),   und 


254      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

die  einfache  Weise  dieses  Ganges  nicht  durch  Abstraktionen 
und  die  atomistischen  Vorstellungen  gestört  wird,  so  er- 
füllt sie  damit  unmittelbar  jenen  Gesichtspunkt,  und  Wählen 
ist  entweder  überhaupt  etwas  Überflüssiges  oder  reduziert 
sich  auf  ein  geringes  Spiel  der  Meinung  und  der  Willkür. 
Es  bietet  sich  von  selbst  das  Interesse  dar,  daß  unter 
den  Abgeordneten  sich  für  jeden  besonderen  großen 
Zweig  der  Gesellschaft,  z.  B.  für  den  Handel,  für  die 
Fabriken  u.  s.  f.  Individuen  befinden,  die  ihn  gründlich 
kennen  und  ihm  selbst  angehören;  —  in  der  Vorstellung 
eines  losen  unbestimmten  Wählens  ist  dieser  wichtige 
Umstand  nur  der  Zufälligkeit  preisgegeben.  Jeder  solcher 
Zweig  hat  aber  gegen  den  anderen  gleiches  Recht,  re- 
präsentiert zu  werden.  Wenn  die  Abgeordneten  als  Re- 
präsentanten betrachtet  werden,  so  hat  dies  einen 
organisch  vernünftigen  Sinn  nur  dann,  daß  sie  nicht  Re- 
präsentanten als  von  Einzelnen,  von  einer  Menge 
seien,  sondern  Repräsentanten  einer  der  wesentlichen 
Sphären  der  Gesellschaft,  Repräsentanten  ihrer  großen 
Interessen.  Das  Repräsentieren  hat  damit  auch  nicht 
mehr  die  Bedeutung,  daß  einer  an  der  Stelle  eines 
anderen  sei,  sondern  das  Interesse  selbst  ist  in  seinem 
Repräsentanten  wirklich  gegenwärtig,  so^vie  der 
Repräsentant  für  sein  eigenes  objektives  Element  da 
ist.  —  Von  dem  Wählen  durch  die  vielen  Einzelnen  kann 
noch  bemerkt  werden,  daß  notwendig  besonders  in  großen 
Staaten  die  Gleichgültigkeit  gegen  das  Geben  seiner 
Stimme,  als  die  in  der  Menge  eine  unbedeutende  Wirkung 
hat,  eintritt,  und  die  Stimmberechtigten,  diese  Berechti- 
gung mag  ihnen  als  etwas  noch  so  Hohes  angeschlagen 
und  vorgestellt  werden,  eben  zum  Stimmgeben  nicht  er- 
scheinen; —  so  daß  aus  solcher  Institution  vielmehr 
das  Gegenteil  ihrer  Bestimmung  erfolgt  und  die  Wahl 
in  die  Gewalt  Weniger,  einer  Partei,  somit  des  besonderen, 
zufälligen  Interesses  fällt,  das  gerade  neutralisiert  werden 
sollte. 

§312. 

Von  den  zwei  im  ständischen  Elemente  enthaltenen 
Seiten  (§  305,  308)  bringt  jede  in  die  Beratung  eine  be- 
sondere Modifikation,  und  weil  überdem  das  eine  Moment 
die  eigentümliche  Funktion  der  Vermittelung  innerhalb 
dieser  Sphäre  und  zwar  zwischen  Existierenden  hat,  so  er- 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  313—315.      255 

gibt  sich  für  dasselbe  gleichfalls  eine  abgesonderte  Exi- 
stenz; die  ständische  Versammlung  wird  sich  somit  in  zwei 
Kammern  teilen. 

§313. 

Durch  diese  Sonderung  erhält  nicht  nur  die  Reife  der 
Entschließung  vermittelst  einer  Mehrheit  von  Instanzen 
ihre  größere  Sicherung,  und  wird  die  Zufälligkeit  einer 
Stimmung  des  Augenblicks,  wie  die  Zufälligkeit,  welche 
die  Entscheidung  durch  die  Mehrheit  der  Stimmenanzahl 
annehmen  kann,  entfernt,  sondern  vornehmlich  kommt  das 
ständische  Element  weniger  in  den  Fall,  der  Regierung 
direkt  gegenüberzustehen,  oder  im  Falle  das  vermittelnde 
Moment  sich  gleichfalls  auf  der  Seite  des  zweiten  Standes 
befindet,  wird  das  Gewicht  seiner  Ansicht  um  so  mehr 
verstärkt,  als  sie  so  unparteiischer  und  sein  Gegensatz 
neutralisiert  erscheint, 

§314. 

Da  die  Institution  von  Ständen  nicht  die  Bestimmung 
hat,  daß  durch  sie  die  Angelegenheit  des  Staates  an  sich 
aufs  beste  beraten  und  beschlossen  v;erde,  von  welcher 
Seite  ^ie  nur  einen  Zuwachs  ausmachen  (§  301),  sondern 
ihre  unterscheidende  Bestimmung  darin  besteht,  daß  in 
ihrem  Mitwissen,  Mitberaten  und  Mitbeschließen  über  die 
allgemeinen  Angelegenheiten,  in  Rücksicht  der  an  der  Re- 
gierung nicht  teilhabenden  Glieder  der  bürgerlichen  Ge- 
sellchaft,  das  Moment  der  formellen  Freiheit  sein  Recht 
erlange,  so  erhält  zunächst  das  Moment  der  allgemeinen 
Kenntnis  durch  die  Öffentlichkeit  der  Ständeverhand- 
lungen seine  Ausdehnung. 

§  315. 

Die  Eröffnung  dieser  Gelegenheit  von  Kenntnissen 
hat  die  allgemeinere  Seite,  daß  so  die  öffentliche  Mei- 
nung erst  zu  wahrhaften  Gedanken  und  zur  Einsicht 
in  den  Zustand  und  Begriff  des  Staates  und  dessen  An- 
gelegenheiten, und  damit  erst  zu  einer  Fähigkeit,  dar- 
über vernünftiger  zu  urteilen,  kommt;  sodann  auch 
die  Geschäfte,  die  Talente,  Tugenden  und  Geschicklich- 
keiten der  Staatsbehörden  und  Beamten  kennen  und  achten 


256      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

lernt.  Wie  diese  Talente  an  solcher  öffentlichkeit  eine 
mächtige  Gelegenheit  der  Entwickelung  und  einen  Schau- 
platz hoher  Ehre  erhalten,  so  ist  sie  wieder  das  Heilmittel 
gegen  den  Eigendünkel  der  Einzelnen  und  der  Menge,  und 
ein  Bildungsmittel  für  diese  und  zwar  eines  der  größten. 

§316. 

Die  formelle,  subjektive  Freiheit,  daß  die  Einzelnen 
als  solche  ihr  eigenes  Urteilen,  Meinen  und  Raten  über 
die  allgemeinen  Angelegenheiten  haben  und  äußern,  hat 
in  dem  Zusammen,  welches  öffentliche  Meinung  heißt, 
ihre  Erscheinung.  Das  an  und  für  sich  Allgemeine,  das 
Substantielle  und  Wahre,  ist  darin  mit  seinem  Gegen- 
teile, dem  für  sich  Eigentümlichen  und  Besonderen 
des  Meinens  der  Vielen,  verknüpft;  diese  Existenz  ist 
daher  der  vorhandene  Widerspruch  ihrer  selbst,  das  Er- 
kennen als  Erscheinung;  die  Wesentlichkeit  ebenso  un- 
mittelbar als  die  Unwesentlichkeit, 


§  317. 

Die  öffentliche  Meinung  enthält  daher  in  sich  die 
ewigen  substantiellen  Prinzipien  der  Gerechtigkeit,  den 
wahrhaften  Inhalt  und  das  Resultat  der  ganzen  Verfassung, 
Gesetzgebung  und  des  allgemeinen  Zustandes  überhaupt, 
in  Form  des  gesunden  Menschenverstandes  als  der 
durch  Alle  in  Gestalt  von  Vorurteilen  hindurchgehenden 
sittlichen  Grundlage,  sowie  die  wahrhaften  Bedürfnisse 
und  richtigen  Tendenzen  der  Wirklichkeit.  —  Zugleich, 
wie  dies  Innere  ins  Bewußtsein  tritt  und  in  allgemeinen 
Sätzen  zur  Vorstellung  kommt,  teils  für  sich,  teils  zum 
Behuf  des  konkreten  Räsonnierens  über  Begebenheiten,  An- 
ordnungen und  Verhältnisse  des  Staates  und  gefühlte  Be- 
dürfnisse, so  tritt  die  ganze  Zufälligkeit  des  Meinens,  seine 
Unwissenheit  und  Verkehrung,  falsche  Kenntnis  und  Be- 
urteilung ein.  Indem  es  dabei  um  das  Be\Mißtsein  der 
Eigentümlichkeit  der  Ansicht  und  Kenntnis  zu  tun  ist, 
so  ist  eine  Meinung,  je  schlechter  ihr  Inhalt  ist,  desto  eigen- 
tümlicher; denn  das  Schlechte  ist  das  in  seinem  Inhalte 
ganz  Besondere  und  Eigentümliche,  das  Vernünftige  da- 
gegen das  an  und  für  sich  Allgemeine,  und  das  Eigen- 
tümliche ist  das,  worauf  das  Meinen  sich  etwas  ein- 
bildet. 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staaterecht.    §  318.  257 

Es  ist  darum  nicht  für  eine  Verschiedenheit  sub- 
jektiver Ansicht  zu  halten,  wenn  es  das  eine  Mal  heißt: 

Vox  populi,  vox  dei; 
und  das  andere  Mal  (bei  Ariosto*)  z.  B.): 

Che'l  Volgare  ignorante  ogn'  un  riprenda 
E  parli  piü  di  quel  che  meno  intenda. 

Beides  liegt  zumal  in  der  öffentlichen  Meinung;  — 
indem  in  ihr  Wahrheit  und  endloser  Irrtum  so  un- 
mittelbar vereinigt  ist,  so  ist  es  mit  dem  einen  oder 
dem  anderen  nicht  wahrhafter  Ernst.  Womit  es  Ernst 
ist,  dies  kann  schwer  zu  unterscheiden  scheinen;  in  der 
Tat  wird  es  dies  auch  sein,  wenn  man  sich  an  die  un- 
mittelbare Äußerung  der  öffentlichen  Meinung  hält. 
Indem  aber  das  Substantielle  ihr  Inneres  ist,  so  ist  es 
nur  mit  diesem  wahrhaft  Ernst;  dies  kann  aber  nicht 
aus  ihr,  sondern  eben  darum,  weil  es  das  Substantielle 
ist,  nur  aus  und  für  sich  selbst  erkannt  werden.  Welche 
Leidenschaft  in  das  Geraeinte  auch  gelegt  sei,  und  wie 
ernsthaft  behauptet  oder  angegriffen  und  gestritten 
werde,  so  ist  dies  kein  Kriterium  über  das,  um  was  es 
in  der  Tat  zu  tun  sei;  aber  dies  Meinen  würde  am  aller- 
wenigsten sich  darüber  verständigen  lassen,  daß  seine 
Ernsthaftigkeit  nichts  Ernstliches  sei.  —  Ein  großer 
Geist  ^)  hat  die  Frage  zur  öffentlichen  Beantwortung  auf- 
gestellt, ob  es  erlaubt  sei,  ein  Volk  zu  täuschen? 
Man  mußte  antworten,  daß  ein  Volk  über  seine  substantielle 
•Grundlage,  das  Wesen  und  bestimmten  Charakter  seines 
Geistes  sich  nicht  täuschen  lasse,  aber  über  die  Weise,  wie  es 
diesen  weiß,  und  nachdieser  Weise  seine  Handlungen,  Ereig- 
nisse U.S. f.  beurteilt,  —  von  sich  selbst  getäuscht  wird. 

§  318. 
Die   öffentliche  Meinung  verdient  daher   ebenso   ge- 
achtet, als  verachtet  zu  werden,  dieses  nach  ihrem  kon- 
*)  Oder  bei  Goethe: 

Zuschlagen  kann  die  Masse, 

Da  ist  sie  respektabel: 

Urteilen  gelingt  ihr  miserabel. 

')  Friedrich  der  Große  durch  die  Preisfrage  der  Berliner 
Akademie  von  1778:  S'il  peut  etre  utile  de  tromper  un  peuple? 
(Hamack,  Gesch.  der  Preui3.  Akademie,  kl.  Ausg.,  S.  321  ff.) 
Vgl.  Goethe,  Gedichte,  Epigrammatisch:  Lug  und  Trug.  Die 
Frage  wurde  schon  im  Altertum  verhandelt  und  im  18.  Jahrh.. 
mit  Vorliebe  bejahend  beantwortet. 

He grel ,  Rechtsphilosophie.  17 


258      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

kreten  Bewußtsein  und  Äußerung,  jenes  nach  ihrer  wesent- 
lichen Grundlage,  die,  mehr  oder  weniger  getrübt,  in  jenes 
Konkrete  nur  scheint.  Da  sie  in  ihr  nicht  den  Maßstab 
der  Unterscheidung  noch  die  Fähigkeit  hat,  die  substantielle 
Seite  zum  bestimmten  Wissen  in  sich  heraufzuheben,  so  ist 
die  Unabhängigkeit  von  ihr  die  erste  formelle  Bedingung 
zu  etwas  Großem  und  Vernünftigem  (in  der  Wirklichkeit 
wie  in  der  Wissenschaft).  Dieses  kann  seinerseits  sicher 
sein,  daß  sie  es  sich  in  der  Folge  gefallen  lassen,  aner- 
kennen und  es  zu  einem  ihrer   Vorurteile  machen  werde. 

§319. 

Die  Freiheit  der  öffentlichen  Mitteilung  —  (der^  n 
eines  Mittel,  die  Presse,  was  es  an  weitreichender  Bt- 
rührung  vor  dem  anderen,  der  mündlichen  Rede,  voraus 
hat,  ihm  dagegen  an  der  Lebendigkeit  zurücksteht), 
die  Befriedigung  jenes  prickelnden  Triebes,  seine  Meinu.. 
zu  sagen  und  gesagt  zu  haben,  hat  ihre  direkte  Sicherung 
in  den  ihre  Ausschweifungen  teils  verhindernden,  teils 
bestrafenden  polizeilichen  und  Rechtsgesetzen  und  Anord- 
nungen; die  indirekte  Sicherung  aber  in  der  Unschädlich- 
keit, welche  vornehmlich  in  der  Vernünftigkeit  der  Ver- 
fassung, der  Festigkeit  der  Regierung,  dann  auch  in  der 
Öffentlichkeit  der  Ständeversammlungen  begründet  ist,  — 
in  letzterem,  insofern  sich  in  diesen  Versammlungen  die 
gediegene  und  gebildete  Einsicht  über  die  Interessen  des 
Staates  ausspricht  und  anderen  wenig  Bedeutendes  zu  sagen 
übrig  läßt,  hauptsächlich  die  Meinung  ihnen  benommen 
wird,  als  ob  solches  Sagen  von  eigentümlicher  Wichtig- 
keit und  Wirkung  sei;  —  ferner  aber  in  der  Gleichgültig- 
keit und  Verachtung  gegen  seichtes  und  gehässiges  Reden, 
zu  der  es  sich  notwendig  bald  heruntergebracht  hat. 

Preßfreiheit  definieren  als  die  Freiheit,  zu  reden 
und  zu  schreiben,  was  man  will,  stehet  dem  parallel, 
wenn  man  die  Freiheit  überhaupt  als  die  Freiheit  angibt, 
zu  tun,  was  man  will.  —  Solches  Reden  gehört  der 
noch  ganz  ungebildeten  Roheit  und  Oberflächlichkeit  des 
Vorstellens  an.  Es  ist  übrigens  der  Natur  der  Sache 
nach  nirgends,  daß  der  Formalismus  so  hartnäckig  fest- 
hält und  so  wenig  sich  verständigen  läßt,  als  in  dieser 
Materie.  Denn  der  Gegenstand  ist  das  Flüchtigste,  Be- 
sonderste, Zufälligste  des  Meinens  in  unendlicher  Man- 
nigfaltigkeit des  Inhalts  und  der  Wendungen;  über  die 
direkte  Aufforderung  zum  Diebstahl,  Mord,  Aufruhr  u.  s.  f. 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  319.  259 

hinaus  liegt  die  Kunst  und  Bildung  der  Äußerung,  die  für 
sich  als  ganz  allgemein  und  unbestimmt  erscheint,  aber 
teils  zugleich  auch  eine  ganz  bestimmte  Bedeutung  ver- 
steckt, teils  mit  Konsequenzen  zusammenhängt,  die  nicht 
wirklich  ausgedrückt  sind,  und  von  denen  es  unbestimm- 
bar ist,,  sowohl  ob  sie  richtig  folgen,  als  auch  ob  sie  in 
jener  Äußerung  enthalten  sein  sollen.  Diese  Unbestimm- 
barkeit  des  Stoffes  und  der  Form  läßt  die  Gesetze  darüber 
diejenige  Bestimmtheit  nicht  erreichen,  welche  vom  Ge- 
setz gefordert  wird,  und  macht  das  Urteil,  indem  Ver- 
gehen, Unrecht,  Verletzung  hier  die  besonderste  sub- 
jektivste Gestalt  haben,  gleichfalls  zu  einer  ganz  sub- 
jektiven Entscheidung.  Außerdem  ist  die  Verletzung 
an  die  Gedanken,  die  Meinung  und  den  Willen  der  anderen 
gerichtet,  diese  sind  das  Element,  in  welchem  sie  eine 
Wirklichkeit  erlangt;  dieses  Element  gehört  aber  der 
Freiheit  der  anderen  an,  und  es  hängt  daher  von  diesen 
ab,  ob  jene  verletzende  Handlung  eine  wirkliche  Tat  ist. 
—  Gegen  die  Gesetze  kann  daher  sowohl  ihre  Unbe- 
stimmtheit aufgezeigt  werden,  als  sich  für  die  Äußerung 
Wendungen  und  Formierungen  des  Ausdrucks  erfinden 
lassen,  wodurch  man  die  Gesetze  umgeht  oder  die  richter- 
liche Entscheidung  als  ein  subjektives  Urteil  behauptet 
wird.  Ferner  kann  dagegen,  w^enn  die  Äußerung  als  eine 
verletzende  Tat  behandelt  wird,  behauptet  werden, 
daß  es  keine  Tat,  sondern  sowohl  nur  ein  Meinen  und 
Denken  als  nur  ein  Sagen  sei;  so  wird  in  einem  Atem 
aus  der  bloßen  Subjektivität  des  Inhalts  und  der  Form, 
aus  der  Unbedeutendheit  und  Unwichtigkeit  eines 
bloßen  Meinens  und  Sagens  die  Straflosigkeit  des- 
selben, und  für  eben  dieses  Meinen  als  für  mein  und 
zwar  geistigstes  Eigentum  und  für  das  Sagen  als  für 
die  Äußerung  und  Gebrauch  dieses  meines  Eigentums 
der  hohe  Respekt  und  Achtung  gefordert.  —  Das 
Substantielle  aber  ist  und  bleibt,  daß  Verletzung  der 
Ehre  von  Individuen  überhaupt,  Verleumdung,  Schmä- 
hung, Verächtlichmachung  der  Regierung,  ihrer  Behörden 
und  Beamten,  der  Person  des  Fürsten  insbesondere,  Ver- 
höhnung der  Gesetze,  Aufforderung  zum  Aufruhr  u.  s.  f. 
Verbrechen,  Vergehen  mit  den  mannigfaltigsten  Ab- 
stufungen sind.  Die  größere  Unbestimmbarkeit,  welche 
solche  Handlungen  durch  das  Element  erhalten,  worin 
sie  ihre  Äußerung  haben,  hebt  jenen  ihren  substantiellen 
Charakter  nicht  auf,  und  hat  deswegen  nur  die  Folge, 

27* 


260       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  AbscLiiitt. 

daß  der  subjektive  Boden,  auf  welchem  sie  begangen 
werden,  auch  die  Natur  und  Gestalt  der  Reaktion 
bestimmt;  dieser  Boden  des  Vergehens  selbst  ist  es, 
welcher  in  der  Reaktion,  sei  sie  nun  als  polizeiliche  Ver- 
hinderung der  Verbrechen,  oder  als  eigentliche  Strafe 
bestimmt,  die  Subjektivität  der  Ansicht,  Zufälligkeit  u. 
dergl.  zur  Notwendigkeit  macht.  Der  Formalismus  legt 
sich  hier,  wie  immer  darauf,  aus  einzelnen  Seiten,  die 
der  äui3erlichen  Erscheinung  angehören,  und  aus  Ab- 
straktionen, die  er  daraus  schöpft,  die  substantielle  und 
konkrete  Natur  der  Sache  wegzuräsonnieren.  —  Die 
Wissenschaften  aber,  da  sie,  wenn  sie  nämlich  anders 
Wissenschaften  sind,  sowohl  sich  überhaupt  nicht  auf 
dem  Boden  des  Meinens  und  subjektiver  Ansichten  be- 
finden, als  auch  ihre  Darstellung  nicht  in  der  Kunst  der 
Wendungen,  des  Anspielens,  halben  Aussprechens  und 
Versteckens,  sondern  in  dem  unzweideutigen,  bestimmten 
und  offenen  Aussprechen  der  Bedeutung  und  des  Sinnes 
besteht,  fallen  nicht  unter  die  Kategorie  dessen,  was 
die  öffentliche  Meinung  ausmacht  (§  316).  —  Übrigens 
indem,  wie  vorhin  bemerkt,  das  Element,  in  welchem  die 
Ansichten  und  deren  Äußerungen,  als  solche  zu  einer 
ausgeführten  Handlung  werden  und  ihre  wirkliche 
Existenz  erreichen,  die  Intelligenz,  Grundsätze,  Meinungen 
anderer  sind,  so  hängt  diese  Seite  der  Handlungen,  ihre 
eigentliche  Wirkung  und  die  Gefährlichkeit  für  die 
Individuen,  die  Gesellschaft  und  den  Staat  (vergl.  §  218), 
auch  von  der  Beschaffenheit  dieses  Bodens  ab,  wie  ein 
Funke  auf  einen  Pulverhaufen  geworfen  eine  ganz 
andere  Gefährlichkeit  hat  als  auf  feste  Erde,  wo 
er  spurlos  vergeht.  —  Wie  daher  die  wissenschaft- 
liche Äußerung  ihr  Recht  und  ihre  Sicherung  in  ihrem 
Stoffe  und  Inhalt  hat,  so  kann  das  Unrecht  der  Äußerung 
auch  eine  Sicherung,  oder  wenigstens  eine  Duldung  in 
der  Verachtung  erhalten,  in  welche  sie  sicli  versetzt  hat. 
Ein  Teil  solcher  für  sich  auch  gesetzlich  strafbaren  Ver- 
gehen kann  auf  die  Rechnung  derjenigen  Art  von  Ne- 
mesis kommen,  welche  die  innere  Ohnmacht,  die  sich 
durch  die  überwiegenden  Talente  und  Tugenden  gedrückt 
fühlt,  auszuüben  gedrungen  ist,  um  gegen  solche  Über- 
macht zu  sich  selbst  zu  kommen  und  der  eigenen  Nich- 
tigkeit ein  Selbstbewußtsein  wiederzugeben,  wie  die  rö- 
mischen Soldaten  an  ihren  Imperatoren  im  Triumphzug 
für  den  harten  Dienst  und  Gehorsam,  vornehmlich  dafür, 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §320—322.        261 

daß  ihr  Name  in  jener  Ehre  nicht  zum  Zählen  kam,  durch 
Spottlieder  eine  harmlosere  Nemesis  ausübten  und  sich 
in  eine  Art  von  Gleichgewicht  mit  ihnen  setzten.  Jene 
schlechte  und  gehässige  Nemesis  wird  durch  die  Ver- 
achtung um  ihren  Effekt  gebracht,  und  dadurch,  wie 
das  Publikum,  das  etwa  einen  Kreis  um  solche  Ge- 
schäftigkeit bildet,  auf  die  bedeutungslose  Schadenfreude 
und  die  eigene  Verdammnis,  die  sie  in  sich  hat,  be- 
schränkt. 

§  320. 

Die  Subjektivität,  welche  als  Auflösung  des  be- 
stehenden Staatslebens  in  dem  seine  Zufälligkeit  geltend 
machen  wollenden  und  sich  eben  so  zerstörenden  Meinen 
und  Räsonnieren  ihre  äußerlichste  Erscheinung  hat,  hat 
ihre  wahrhafte  Wirklichkeit  in  ihrem  Gegenteile,  der  Sub- 
jektivität, als  identisch  mit  dem  substantiellen  Willen, 
weiche  den  Begriff  der  fürstlichen  Gewalt  ausmacht,  und 
welche  als  Idealität  des  Ganzen  in  dem  Bisherigen  noch 
nicht  zu  ihrem  Rechte  und  Dasein  gekommen  ist. 

II.  Die  SouTeränetät  gegen  außen. 

§  321. 
Die  Souveränetät  nach  innen  (§  278)  ist  diese 
Idealität  insofern,  als  die  Momente  des  Geistes  und  seiner 
Wirklichkeit,  des  Staates,  in  ihrer  Notwendigkeit  ent- 
faltet sind  und  als  Glieder  desselben  bestehen.  Aber 
der  Geist  als  in  der  Freiheit  unendlich  negative  Be- 
ziehung auf  sich,  ist  ebenso  wesentlich  Für-sich-sein, 
das  den  bestehenden  Unterschied  in  sich  aufgenommen 
hat  und  damit  ausschließend  ist.  Der  Staat  hat  in  dieser 
Bestimmung  Individualität,  welche  wesentlich  als  Indi- 
viduum, und  im  Souverän  als  wirkliches,  unmittelbares 
Individuum  ist  (§  279). 

§  322. 
Die  Individualität,  als  ausschließendes  Für-sich-sein, 
erscheint  als  Verhältnis  zu  anderen  Staaten,  deren 
jeder  selbständig  gegen  die  anderen  ist.  Indem  in  dieser 
Selbständigkeit  das  Für-sich-sein  des  wirklichen  Geistes 
sein  Dasein  hat,  ist  sie  die  erste  Freiheit  und  die  höchste 
Ehre  eines  Volkes. 

Diejenigen,    welche   von   Wünschen    einer    Gesamt- 
heit, die  einen  mehr  oder  weniger  selbständigen  Staat 


262       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

ausmacht  und  ein  eigenes  Zentrum  hat,  sprechen,  — 
von  Wünschen,  diesen  Mittelpunkt  und  seine  Selbständig- 
keit zu  verlieren,  um  mit  einem  anderen  ein  Ganzes  aus- 
zumachen, wissen  wenig  von  der  Natur  einer  Gesamt- 
heit und  dem  Selbstgefühl,  das  ein  Volk  in  seiner  Unab- 
hängigkeit hat.  —  Die  erste  Gewalt,  in  welcher  Staaten 
geschichtlich  auftreten,  ist  daher  diese  Selbständigkeit 
überhaupt,  wenn  sie  auch  ganz  abstrakt  ist,  und 
keine  weitere  innere  Entwickelung  hat;  es  gehört  des- 
wegen zu  dieser  ursprünglichen  Erscheinung,  daß  ein 
Individuum  an  ihrer  Spitze  steht,  Patriarch,  Stammes- 
haupt u.  s.  f. 

§  323. 
Im  Dasein  erscheint  so  diese  negative  Beziehung 
des  Staates  auf  sich  als  Beziehung  eines  anderen  auf  ein 
anderes,  und  als  ob  das  Negative  ein  Äußerliches 
wäre.  Die  Existenz  dieser  negativen  Beziehung  hat  darum 
die  Gestalt  eines  Geschehens  und  der  Verwickelung  mit 
zufälligen  Begebenheiten,  die  von  außen  kommen.  Aber 
sie  ist  sein  höchstes  eigenes  Moment,  —  seine  wirkliche 
Unendlichkeit  als  die  Idealität  alles  Endlichen  in  ihm,  — 
die  Seite,  worin  die  Substanz  als  die  absolute  Macht  gegen 
alles  Einzelne  und  Besondere,  gegen  das  Leben,  Eigentum 
und  dessen  Rechte,  wie  gegen  die  weiteren  Kreise,  die 
Nichtigkeit  derselben  zum  Dasein  und  Bewußtsein  bringt. 

§324. 

Diese  Bestimmung,  mit  welcher  das  Interesse  und  das 
Recht  der  Einzelnen  als  ein  verschwindendes  Moment  ge- 
setzt ist,  ist  zugleich  das  Positive,  nämlich  ihrer  nicht 
zufälligen  und  veränderlichen,  sondern  an  und  für  sich 
seienden  Individualität.  Dies  Verhältnis  und  die  An- 
erkennung desselben  ist  daher  ihre  substantielle  Pflicht, 
—  die  Pflicht,  durch  Gefahr  und  Aufopferung  ihres  Eigen- 
tums und  Lebens,  ohnehin  ihres  Meinens  und  alles  dessen, 
was  von  selbst  in  dem  Umfange  des  Lebens  begriffen  ist, 
diese  substantielle  Individualität,  die  Unabhängigkeit  und 
Souveränetät  des  Staates  zu  erhalten. 

Es  gibt  eine  sehr  schiefe  Berechnung,  wenn  bei 
der  Forderung  dieser  Aufopferung  der  Staat  nur  als 
bürgerliche  Gesellschaft,  und  als  sein  Endzweck  nur  die 
Sicherung  des  Lebens  und  Eigentums  der  Indivi- 
duen betrachtet  wird;  denn  diese  Sicherheit  wird  nicht 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  324.  263 

durch  die  Aufopferung  dessen  erreicht,  was  gesichert 
werden  soll;  —  im  Gegenteil.  —  In  dem  Angegebenen 
liegt  das  sittliche  Moment  des  Krieges,  der  nicht  als 
absolutes  Übel  und  als  eine  bloß  äußerliche  Zufällig- 
keit zu  betrachten  ist,  welche,  sei  es  in  was  es  wolle, 
in  den  Leidenschaften  der  Machthabenden  oder  der 
Völker,  in  Ungerechtigkeiten  u.  s.  f.,  überhaupt  in  solchem, 
das  nicht  sein  soll,  seinen  somit  selbst  zufälligen  Grund 
habe.  Was  von  der  Natur  des  Zufälligen  ist,  dem  wider- 
fährt das  Zufällige,  und  dieses  Schicksal  eben  ist  somit 
die  Notwendigkeit,  —  wie  überhaupt  der  Begriff  und 
die  Philosophie  den  Gesichtspunkt  der  bloßen  Zufällig- 
keit verschwinden  macht  und  in  ihr,  als  dem  Schein, 
ihr  Wesen,  die  Notwendigkeit,  erkennt.  Es  ist  not- 
wendig, daß  das  Endliche,  Besitz  und  Leben  als  Zu- 
fälliges gesetzt  werde,  weil  dies  der  Begriff  des  End- 
lichen ist.  Diese  Notwendigkeit  hat  einerseits  die  Ge- 
stalt von  Naturgewalt,  und  alles  Endliche  ist  sterblich 
und  vergänglich.  Im  sittlichen  Wesen  aber,  dem  Staate, 
wird  der  Natur  diese  Gewalt  abgenommen,  und  die  Not- 
wendigkeit zum  Werke  der  Freiheit,  einem  Sittlichen 
erhoben;  —  jene  Vergänglichkeit  wird  ein  gewolltes 
Vorübergehen,  und  die  zum  Grunde  liegende  Negativität 
zur  substantiellen  eigenen  Individualität  des  sittlichen 
Wesens.  —  Der  Krieg  als  der  Zustand,  in  welchem  mit 
der  Eitelkeit  der  zeitlichen  Güter  und  Dinge,  die  sonst 
eine  erbauliche  Redensart  zu  sein  pflegt,  Ernst  gemacht 
wird,  ist  hiermit  das  Moment,  worin  die  Idealität  des 
Besonderen  ihr  Recht  erhält  und  Wirklichkeit  wird; 
—  er  hat  die  höhere  Bedeutung,  daß  durch  ihn,  wie  ich 
es  anderwärts*)  ausgedrückt  habe,  „die  sittliche  Ge- 
sundheit der  Völker  in  ihrer  Indifferenz  gegen  das  Fest- 
werden der  endlichen  Bestimmtheiten  erhalten  wird,  wie 
die  Bewegung  der  Winde  die  See  vor  der  Fäulnis  be- 
wahrt, in  welche  sie  eine  dauernde  Ruhe,  wie  die  Völker 
ein  dauernder  oder  gar  ein  ewiger  Friede  versetzen 
würde''.  —  Daß  dies  übrigens  nur  philosophische  Idee, 
oder  wie  man  es  anders  auszudrücken  pflegt,  eine  Recht- 
fertigung der  Vorsehung  ist,  und  daß  die  wirklichen 
Kriege  noch  einer  anderen  Rechtfertigung  bedürfen, 
davon  hernach.  —  Daß  die  Idealität,  welche  im  Kriege 


7 


*)  Über  die  wissensch.  Behandl.  des  Naturrechts.  Krit.  Journ. 
d.  Phil.    2.  Bd.,  2.  St.,  S.  62.    (Wwe.  I,  S.  373.) 


264      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

als  in  einem  zufälligen  Verhältnisse  nach  außen  liegend, 
zum  Vorschein  kommt,  und  die  Idealität,  nach  welcher 
die  inneren  Staatsgewalten  organische  Momente  des 
Ganzen  sind,  —  dieselbe  ist,  kommt  in  der  geschicht- 
lichen Erscheinung  unter  anderen  in  der  Gestalt  vor,  daß 
glückliche  Kriege  innere  Unruhen  verhindert  und  die 
innere  Staatsmacht  befestigt  haben.  Daß  Völker,  die 
Souveränetät  nach  innen  nicht  ertragen  wollend  oder 
fürchtend,  von  anderen  unterjocht  werden,  und  mit  um 
so  weniger  Erfolg  und  Ehre  sich  für  ihre  Unabhängig- 
keit bemüht  haben,  je  weniger  es  nach  innen  zu  einer 
ersten  Einrichtung  der  Staatsgewalt  kommen  konnte 
( —  ihre  Freiheit  ist  gestorben  an  der  Furcht  zu 
sterben  — );  —  daß  Staaten,  welche  die  Garantie  ihrer 
Selbständigkeit  nicht  in  ihrer  bewaffneten  Macht,  sondern 
in  anderen  Rücksichten  haben  (wie  z.  B.  gegen  Nach- 
barn unverhältnismäßig  kleine  Staaten),  bei  einer  inneren 
Verfassung  bestehen  können,  die  für  sich  weder  Ruhe 
nach  innen,  noch  nach  außen  verbürgte  u.  s.  f.  —  sind 
Erscheinungen,   die  eben  dahin  gehören. 

§325. 

Indem  die  Aufopferung  für  die  Individualität  des 
Staates  das  substantielle  Verhältnis  aller  und  hiermit  all- 
gemeine Pflicht  ist,  so  ^vird  es  zugleich,  als  die  eine 
Seite  der  Idealität  gegen  die  Realität  des  besonderen 
Bestehens,  selbst  zu  einem  besonderen  Verhältnis,  und 
ihm  ein  eigener  Stand,  der  Stand  der  Tapferkeit  ge- 
widmet. 

§  326. 

Zwiste  der  Staaten  miteinander  können  irgendeine  be- 
sondere Seite  ihres  Verhältnisses  zum  Gegenstand  haben; 
für  diese  Zwiste  hat  auch  der  besondere,  der  Verteidi- 
gung des  Staates  gewidmete,  Teil  seine  Hauptbestimmung. 
Insofern  aber  der  Staat  als  solcher,  seine  Selbständigkeit, 
in  Gefahr  kommt,  so  ruft  die  Pflicht  alle  seine  Bürger  zu 
seiner  Verteidigung  auf.  Wenn  so  das  Ganze  zur  Macht 
geworden  und  aus  seinem  inneren  Leben  in  sich  nach  außen 
gerissen  ist,  so  geht  damit  der  Verteidigungskrieg  in  Er- 
oberungskrieg über. 

Daß  die  bewaffnete  Macht  des  Staates,  ein  stehen- 
des Heer,  und  die  Bestimmung  für  das  besondere  Ge- 


Der  Staat.    A.  Das  innere  Staatsrecht.    §  327—328.        265 

schält  seiner  Verteidigung  zu  einem  Stande  wird,  ist 
dieselbe  Notwendigkeit,  durch  welche  die  anderen  be- 
sonderen Momente,  Interessen  und  Geschäfte  zu  einer  Ehe, 
zu  Gewerbs-,  Staats-,  Geschäfts-  u.  s.  f.  Ständen  werden. 
Das  Räsonnement,  das  an  Gründen  herüber  und  hinüber 
geht,  ergeht  sich  in  Betrachtungen  über  die  größeren 
Vorteile  oder  über  die  größeren  Nachteile  der  Einfüh- 
rung stehender  Heere,  und  die  Meinung  entscheidet  sich 
gern  für  das  letztere,  weil  der  Begriff  der  Sache  schwerer 
zu  fassen  ist  als  einzelne  und  äußerliche  Seiten,  und 
dann  weil  die  Interessen  und  Zwecke  der  Besonderheit 
(die  Kosten  mi't  ihren  Folgen,  größeren  Auflagen  u.  s.  f.) 
in  dem  Bewußtsein  der  bürgerlichen  Gesellschaft  für 
höher  angeschlagen  werden  als  das  an  und  für  sich 
Notwendige,  das  auf  diese  Weise  nur  als  ein  Mittel  für 
jene  gilt. 

§  327. 

Die  Tapferkeit  ist  für  sich  eine  formelle  Tugend, 
weil  sie  die  höchste  Abstraktion  der  Freiheit  von  allen 
besonderen  Zwecken,  Besitzen,  Genuß  und  Leben,  aber  diese 
Negation  auf  eine  äußerlich-wirkliche  Weise,  und 
die  Entäußerung,  als  Vollführung,  an  ihr  selbst  nicht 
geistiger  Natur  ist,  die  innere  Gesinnung  dieser  oder  jener 
Grund,  und  ihr  wirkliches  Resultat  auch  nicht  für  sich 
und  nur  für  andere  sein  kann. 

§  328. 

Der  Gehalt  der  Tapferkeit  als  Gesinnung  liegt  in  dem 
wahrhaften  absoluten  Endzweck,  der  Souveräne  tat  des 
Staates;  —  die  Wirklichkeit  dieses  Endzwecks  als  Werk 
der  Tapferkeit  hat  das  Hingeben  der  persönlichen  Wirk- 
lichkeit zu  ihrer  Vermittelung.  Diese  Gestalt  enthält  da- 
her die  Härte  der  höchsten  Gegensätze:  die  Entäußerung 
selbst,  aber  als  Existenz  der  Freiheit;  —  die  höchste 
Selbständigkeit  des  Fürsichseins,  deren  Existenz  zu- 
gleich in  dem  Mechanischen  einer  äußeren  Ordnung 
und  des  Dienstes  ist,  —  gänzlichen  Gehorsam  und  Abtun 
des  eigenen  Meinens  und  Räsonnierens,  so  Abwesenheit 
des  eigenen  Geistes,  und  intensivste  und  umfassende  augen- 
blickliche Gegenwart  des  Geistes  und  Entschlossenheit, 
—  das  feindseligste  und  dabei  persönlichste  Handeln  gegen 
Individuen,  bei  vollkommen  gleichgültiger,  ja  guter  Ge- 
sinnung gegen  sie  als  Individuen. 


266      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

Das  Leben  daran  setzen,  ist  freilich  mehr  als  den 
Tod  nur  fürchten,  aber  ist  sonach  das  bloß  Negative,  und 
hat  darum  keine  Bestimmung  und  Wert  für  sich;  —  das 
Positive,  der  Zweck  und  Inhalt  gibt  diesem  Mute  erst 
die  Bedeutung;  Räuber,  Mörder,  mit  einem  Zwecke, 
welcher  Verbrechen  ist,  Abenteurer  mit  einem  sich  in 
seiner  Meinung  gemachten  Zwecke  u.  s.  f.  haben  auch 
jenen  Mut,  das  Leben  daran  zu  setzen.  —  Das  Prinzip  der 
modernen  Welt,  der  Gedanke  und  das  Allgemeine, 
hat  der  Tapferkeit  die  höhere  Gestalt  gegeben,  daß 
ihre  Äußerung  mechanischer  zu .  sein  scheint  und  nicht 
als  Tun  dieser  besonderen  Person,  sondern  nur  als 
Gliedes  eines  Ganzen,  —  ebenso  daß  sie  als  nicht 
gegen  einzelne  Personen,  sondern  gegen  ein  feindseliges 
Ganze  überhaupt  gekehrt,  somit  der  persönliche  Mut 
als  ein  nicht  persönlicher  erscheint.  Jenes  Prinzip  hat 
darum  das  Feuergewehr  erfunden,  und  nicht  eine  zu- 
fällige Erfindung  dieser  Waffe  hat  die  bloß  persönliche 
Gestalt   der    Tapferkeit   in   die   abstraktere   verwandelt. 

§  329. 

Seine  Richtung  nach  außen  hat  der  Staat  darin,  daß  er 
ein  individuelles  Subjekt  ist.  Sein  Verhältnis  zu  anderen 
fällt  daher  in  die  fürstliche  Gewalt,  der  es  deswegen 
unmittelbar  und  allein  zukommt,  die  bewaffnete  Macht  zu 
befehligen,  die  Verhältnisse  mit  den  anderen  Staaten  durch 
Gesandte  u.  s.  f.  zu  unterhalten,  Krieg  und  Frieden,  und 
andere  Traktate  zu  schließen. 

B.  Das  äußere  Staatsrecht. 

§  330. 

Das  äußere  Staatsrecht  geht  von  dem  Verhältnisse 
selbständiger  Staaten  aus;  was  an  und  für  sich  in  dem- 
selben ist,  erhält  daher  die  Form  des  Sollens,  weil,  daß 
es  wirklich  ist,  auf  unterschiedenen  souveränen  Wil- 
len beruht. 

§33L 

Das  Volk  als  Staat  ist  der  Geist  in  seiner  substantiellen 
Vernünftigkeit  und  unmittelbaren  Wirklichkeit,  daher  die 
absolute  Macht  auf  Erden;  ein  Staat  ist  folglich  gegen  den 
anderen   in  souveräner  Selbständigkeit.     Als  solcher  für 


Der  Staat.    B.  Das  äußere  Staatsrecht.    §  332.  2G7 

den  anderen  zu  sein,  d.  i.  von  ihm  anerkannt  zu  sein, 
ist  seine  erste  absolute  Berechtigung.  Aber  diese  Be- 
rechtigung ist  zugleich  nur  formell,  und  die  Forderung 
dieser  Anerkennung  des  Staates,  bloß  weil  er  ein  solcher 
sei,  abstrakt;  ob  er  ein  so  an  und  für  sich  Seiendes  in 
der  Tat  sei,  kommt  auf  seinen  Inhalt,  Verfassung,  Zustand 
an,  und  die  Anerkennung,  als  eine  Identität  beider  ent- 
haltend, beruht  ebenso  auf  der  Ansicht  und  dem  Willen 
des  anderen. 

So  wenig  der  Einzelne  eine  wirkliche  Person  ist 
ohne  Relation  zu  anderen  Personen  (§  71  u.  sonst);  so 
wenig  ist  der  Staat  ein  wirkliches  Individuum  ohne  Ver- 
hältnis zu  anderen  Staaten  (§  322).  Die  Legitimität  eines 
Staates  und  näher,  insofern  er  nach  außen  gekehrt  ist, 
seiner  fürstlichen  Gewalt,  ist  einerseits  ein  Verhältnis, 
das  sich  ganz  nach  innen  bezieht  (ein  Staat  soll  sich 
nicht  in  die  inneren  Angelegenheiten  des  anderen 
mischen)  —  andererseits  muß  sie  ebenso  wesentlich 
durch  die  Anerkennung  der  anderen  Staaten  vervoll- 
ständigt werden.  Aber  diese  Anerkennung  fordert  eine 
Garantie,  daß  er  die  anderen,  die  ihn  anerkennen  sollen, 
gleichfalls  anerkenne,  d.  i.  sie  in  ihrer  Selbständigkeit 
respektieren  werde,  und  somit  kann  es  ihnen  nicht  gleich- 
gültig sein,  was  in  seinem  Innern  vorgeht.  —  Bei  einem 
nomadischen  Volke  z.  B.,  überhaupt  bei  einem  solchen, 
das  auf  einer  niederen  Stufe  der  Kultur  steht,  tritt  sogar 
die  Frage  ein,  inwiefern  es  als  ein  Staat  betrachtet  werden 
könne.  Der  religiöse  Gesichtspunkt  (ehemals  bei  dem 
jüdischen  Volke,  den  mohammedanischen  Völkern)  kann 
noch  eine  höhere  Entgegensetzung  enthalten,  welche 
die  allgemeine  Identität,  die  zur  Anerkennung  gehört, 
nicht  zuläßt. 

§  332. 

Die  unmittelbare  Wirklichkeit,  in  der  die  Staaten  zu- 
einander sind,  besondert  sich  zu  mannigfaltigen  Verhält- 
nissen, deren  Bestimmung  von  der  beiderseitigen  selb- 
ständigen Willkür  ausgeht  und  somit  die  formelle  Natur 
von  Verträgen  überhaupt  hat.  Der  Stoff  dieser  Ver- 
träge ist  jedoch  von  unendlich  geringerer  Mannigfaltig- 
keit als  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft,  in  der  die 
Einzelnen  nach  den  vielfachsten  Rücksichten  in  gegen- 
seitiger Abhängigkeit  stehen,  da  hingegen  selbständige 
Staaten  vornehmlich  sich  in  sich  befriedigende  Ganze  sind. 


268       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

§  333. 

Der  Grundsatz  des  Völkerrechts,  als  des  allge- 
meinen, an  und  für  sich  zwischen  den  Staaten  gelten 
sollenden  Rechts,  zum  Unterschiede  von  dem  besonderen 
Inhalt  der  positiven  Traktate,  ist,  daß  die  Traktate,  als 
auf  welchen  die  Verbindlichkeiten  der  Staaten  gegenein- 
ander beruhen,  gehalten  werden  sollen.  Weil  aber  deren 
Verhältnis  ihre  Souveränetät  zum  Prinzip  hat,  so  sind  sie 
insofern  im  Naturzustande  gegeneinander,  und  ihre  Rechte 
haben  nicht  in  einem  allgemeinen  zur  Macht  über  sie  kon- 
stituierten, sondern  in  ihrem  besonderen  Willen  ihre  Wirk- 
lichkeit. Jene  allgemeine  Bestimmung  bleibt  daher  beim 
Sollen,  und  der  Zustand  wird  eine  Abwechslung  von  dem 
den  Traktaten  gemäßen  Verhältnisse  und  von  der  Auf- 
hebung desselben. 

Es  gibt  keinen  Prätor,  höchstens  Schiedsrichter  und 
Vermittler  zwischen  Staaten,  und  auch  diese  nur  zu- 
fälligerweise, d.  i.  nach  besonderen  Willen.  Die  Kan- 
tische Vorstellung  eines  ewigen  Friedens  durch  einen 
Staatenbund,  welcher  jeden  Streit  schlichtete  und  als 
eine  von  jedem  einzelnen  Staate  anerkannte  Macht  jede 
Mißhelligkeit  beilegte  und  damit  die  Entscheidung  durch 
Krieg  unmöglich  machte,  setzt  die  Einstimmung  der 
Staaten  voraus,  welche  auf  moralischen,  religiösen  oder 
welchen  Gründen  und  Rücksichten,  überhaupt  immer  auf 
besonderen  souveränen  u'illen  bsruhte  und  dadurch  mit 
Zufälligkeit  behaftet  bliebe. 

§334. 

Der  Streit  der  Staaten  kann  deswegen,  insofern  die 
besonderen  Willen  keine  Übereinkunft  finden,  nur  durch 
Krieg  entschieden  werden.  Welche  Verletzungen  aber, 
deren  in  ihrem  weit  umfassenden  Bereich  und  bei  den  viel- 
seitigen Beziehungen  durch  ihre  Angehörigen  leicht  und 
in  Menge  vorkommen  können,  als  bestimmter  Bruch  der 
Traktate  oder  Verletzung  der  Anerkennung  und  Ehre  an- 
zusehen seien,  bleibt  ein  an  sich  Unbestimmbares,  indem 
ein  Staat  seine  Unendlichkeit  und  Ehre  in  jede  seiner 
Einzelnheiten  legen  kann  und  um  so  mehr  zu  dieser  Reiz- 
barkeit geneigt  ist,  je  mehr  eine  kräftige  Individualität 
durch  lange  innere  Ruhe  dazu  getrieben  wird,  sich  einen 
Stoff  der  Tätigkeit  nach  außen  zu  suchen  und  zu  schaffen. 


Der  Staat.    B.  Das  äußere  Staatsrecht.    §  335—337.       269 

§  335. 

Überdem  kann  der  Staat  als  Geistiges  überhaupt  nicht 
dabei  stehenbleiben,  bloß  die  Wirklichkeit  der  Ver- 
letzung beachten  zu  wollen,  sondern  es  kommt  die  Vor- 
stellung von  einer  solchen  als  einer  von  einem  anderen 
Staate  drohenden  Gefahr,  mit  dem  Herauf-  und  dem  Hin- 
abgehen an  größeren  oder  geringeren  Wahrscheinlich- 
keiten, Vermutungen  der  Absichten  u.  s.  f.  als  Ursache  von 
Zwisten  hinzu. 

§  336. 

Indem  die  Staaten  in  ihrem  Verhältnisse  der  Selb- 
ständigkeit als  besondere  Willen  gegeneinander  sind,  und 
das  Gelten  der  Traktate  selbst  hierauf  beruht,  der  be- 
sondere Wille  des  Ganzen  aber  nach  seinem  Inhalte 
sein  Wohl  überhaupt  ist,  so  ist  dieses  das  höchste  Gesetz 
in  seinem  Verhalten  zu  anderen,  um  so  mehr,  als  die  Idee 
des  Staates  eben  dies  ist,  daß  in  ihr  der  Gegensatz  von 
dem  Rechte  als  abstrakter  Freiheit,  und  vom  erfüllenden 
besonderen  Inhalte,  dem  Wohl,  aufgehoben  sei,  und  die 
erste  Anerkennung  der  Staaten  (§  331)  auf  sie  als  kon- 
krete Ganze  geht. 

§  337. 

Das  substantielle  Wohl  des  Staates  ist  sein  Wohl  als 
eines  besonderen  Staates  in  seinem  bestimmten  Interesse 
und  Zustande  und  den  ebenso  eigentümlichen  äußeren  Um- 
ständen nebst  dem  besonderen  Traktaten-Verhältnisse;  die 
Regierung  ist  somit  eine  besondere  Weisheit,  nicht 
die  allgemeine  Vorsehung  (vergl.  §  324  Anm.)  — ■  sowie 
der  Zweck  im  Verhältnisse  zu  anderen  Staaten  und  das 
Prinzip  für  die  Gerechtigkeit  der  Kriege  und  Traktate  nicht 
ein  allgemeiner  (philanthropischer)  Gedanke,  sondern  das 
wirklich  gekränkte  oder  bedrohte  Wohl  in  seiner  be- 
stimmten Besonderheit  ist. 

Es  ist  zu  einer  Zeit  der  Gegensatz  von  Moral  und — 
Politik,  und  die  Forderung,  daß  die  zweite  der  ersteren 
gemäß  sei,  viel  besprochen  worden.  Hierher  gehört 
nur,  darüber  überhaupt  zu  bemerken,  daß  das  Wohl  eines 
Staates  eine  ganz  andere  Berechtigung  hat  als  das  Wohl 
des  Einzelnen,  und  die  sittliche  Substanz,  der  Staat, 
ihr  Dasein,   d.  i.  ihr  Recht  unmittelbar  in  einer  nicht 


\ 


270      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

abstrakten,  sondern  in  konkreter  Existenz  hat,  und  daß 
nur  diese  konkrete  Existenz,  nicht  einer  der  vielen  für 
moralische  Gebote  gehaltenen  allgemeinen  Gedanken, 
Prinzip  ihres  Handelns  und  Benehmens  sein  kann.  Die 
Ansicht  von  dem  vermeintlichen  Unrechte,  das  die  Po- 
litik immer  in  diesem  vermeintlichen  Gegensatze  haben 
soll,  beruht  noch  vielmehr  auf  der  Seichtigkeit  der  Vor- 
stellungen von  Moralität,  von  der  Natur  des  Staates 
und  dessen  Verhältnisse  zum  moralischen  Gesichtspunkte. 

§  338. 

Darin,  daß  die  Staaten  sich  als  solche  gegenseitig 
anerkennen,  bleibt  auch  im  Kriege,  dem  Zustande  der 
Rechtlosigkeit,  der  Gewalt  und  Zufälligkeit,  ein  Band, 
in  welchem  sie  an  und  für  sich  seiend  füreinander  gelten, 
so  daß  im  Kriege  selbst  der  Krieg  als  ein  Vorübergehen- 
sollendes bestimmt  ist.  Er  enthält  damit  die  völkerrecht- 
liche Bestimmung,  daß  in  ihm  die  Möglichkeit  des  Friedens 
erhalten,  somit  z.  B.  die  Gesandten  respektiert,  und  über- 
haupt, daß  er  nicht  gegen  die  inneren  Institutionen  und 
das  friedliche  Familien-  und  Privatleben,  nicht  gegen  die 
Privatpersonen  geführt  werde. 

§  339. 

Sonst  beruht  das  gegenseitige  Verhalten  im  Kriege 
(z.  B,  daß  Gefangene  gemacht  werden)  und  was  im  Frieden 
ein  Staat  den  Angehörigen  eines  anderen  an  Rechten  für 
den  Privatverkehr  einräumt  u.  s.  f.,  vornehmlich  auf  den 
Sitten  der  Nationen,  als  der  inneren  unter  allen  Verhält- 
nissen sich  erhaltenden  Allgemeinheit  des  Betragens. 

§  340. 

In  das  Verhältnis  der  Staaten  gegeneinander,  weil  sie 
darin  als  besondere  sind,  fällt  das  höchst  bewegte  Spiel 
der  inneren  Besonderheit  der  Leidenschaften,  Interessen, 
Zwecke,  der  Talente  und  Tugenden,  der  Gewalt,  des  Un- 
rechts und  der  Laster,  wie  der  äußeren  Zufälligkeit,  in 
den  größten  Dimensionen  der  Erscheinung,  —  ein  Spiel, 
worin  das  sittliche  Ganze  selbst,  die  Selbständigkeit  des 
Staates,  der  Zufälligkeit  ausgesetzt  wird.  Die  Prinzipien 
der  Volksgeister  sind  um  ihrer  Besonderheit  willen, 
in   der   sie  als   existierende   Individuen   ihre   objektive 


Der  Staat.     C.  Die  Weltgeschichte.    §341—343.  271 

Wirklichkeit  und  ihr  Selbstbewußtsein  haben,  überhaupt 
beschränkte,  und  ihre  Schicksale  und  Taten  in  ihrem  Ver- 
hältnisse zueinander  sind  die  erscheinende  Dialektik  der 
Endlichkeit  dieser  Geister,  aus  welcher  der  allgemeine 
Geist,  der  Geist  der  Welt,  als  unbeschränkt  ebenso 
sich  hervorbringt,  als  er  es  ist,  der  sein  Recht,  —  und 
sein  Recht  ist  das  allerhöchste,  —  an  ihnen  in  der  Welt- 
geschichte, als  dem  Weltgerichte,  ausübt. 

C.  Die  Weltgeschichte. 

§341. 

Das  Element  des  Daseins  des  allgemeinen  Geistes, 
welches  in  der  Kunst  Anschauung  und  Bild,  in  der  Religion 
Gefühl  und  Vorstellung,  in  der  Philosophie  der  reine,  freie 
Gedanke  ist,  ist  in  der  Weltgeschichte  die  geistige 
Wirklichkeit  in  ihrem  ganzen  Umfange  von  Innerlichkeit 
und  Äußerlichkeit.  Sie  ist  ein  Gericht,  weil  in  seiner  an 
und  für  sich  seienden  Allgemeinheit  das  Besondere, 
die  Penaten,  die  bürgerliche  Gesellschaft  und  die  Völker- 
geister in  ihrer  bunten  Wirklichkeit,  nur  als  Ideelles  sind, 
und  die  Bewegung  des  Geistes  in  diesem  Elemente  ist,  dies 
darzustellen. 

§  342. 

Die  Weltgeschichte  ist  ferner  nicht  das  bloße  Gericht 
seiner  Macht,  d.  i.  die  abstrakte  und  vernunftlose  Not- 
wendigkeit eines  blinden  Schicksals,  sondern  weil  er  an 
und  für  sich  Vernunft,  und  ihr  Für  sichsein  im  Geiste 
Wissen  ist,  ist  sie  die  aus  dem  Begriffe  nur  seiner  Freiheit 
notwendige  Entwickelung  der  Momente  der  Vernunft  und 
damit  seines  Selbstbewußtseins  und  seiner  Freiheit,  - — 
die  Auslegung  und  Verwirklichung  des  allgemeinen 
Geistes. 

§  343. 

Die  Geschichte  des  Geistes  ist  seine  Tat,  denn  er  ist 
nur,  was  er  tut,  und  seine  Tat  ist,  sich  und  zwar  hier  als 
Geist  sich  zum  Gegenstande  seines  Bewußtseins  zu  machen, 
sich  für  sich  selbst  auslegend  zu  erfassen.  Dies  Erfassen 
ist  sein  Sein  und  Prinzip,  und  die  Vollendung  eines  Er- 
fassens ist  zugleich  seine  Entäußerung  und  sein  Übergang. 
Der,  formell  ausgedrückt,  von  neuem  dies  Erfassen  er- 


272       Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

fassende,  und  was  dasselbe  ist,  aus  der  Entäußerung  in  sieh 
gehende  Geist,  ist  der  Geist  der  höheren  Stufe  gegen  sich, 
wie  er  in  jenem  ersteren  Erfassen  stand. 

Die  Frage  über  die  Perfektibilität  und  Er- 
ziehung des  Menschengeschlechts  fällt  hierher. 
Diejenigen,  welche  diese  Perfektibilität  behauptet  haben, 
haben  etwas  von  der  Natur  des  Geistes  geahnet,  seiner 
Natur,  Fvöjdi  amvzov  zum  Gesetze  seines  Seins  zu  haben, 
und  indem  er  das  erfaßt,  was  er  ist,  eine  höhere  Gestalt 
als  diese,  die  sein  Sein  ausmachte,  zu  sein.  Aber  denen, 
welche  diesen  Gedanken  verwerfen,  ist  der  Geist  ein 
leeres  Wort  geblieben,  sowie  die  Geschichte  ein  ober- 
flächliches Spiel  zufälliger,  sogenannter  nur  mensch- 
licher Bestrebungen  und  Leidenschaften.  Wenn  sie  da- 
bei auch  in  den  Ausdrücken  von  Vorsehung  und  Plan 
der  Vorsehung  den  Glauben  eines  höheren  Waltens  aus- 
sprechen, so  bleiben  dies  unerfüllte  Vorstellungen,  indem 
sie  auch  ausdrücklich  den  Plan  der  Vorsehung  für  ein 
ihnen   Unerkennbares   und  Unbegreifliches   ausgeben. 

§  344. 

Die  Staaten,  Völker  und  Individuen  in  diesem  Ge- 
schäfte des  Weltgeistes  stehen  in  ihrem  besonderen  be- 
stimmten Prinzipe  auf,  das  an  ihrer  Verfassung  und 
der  ganzen  Breite  ihres  Zustandes  seine  Auslegung  und 
Wirklichkeit  hat,  deren  sie  sich  bewußt  und  in  deren  Inter- 
esse vertieft,  sie  zugleich  bewußtlose  Werkzeuge  und 
Glieder  jenes  inneren  Geschäfts  sind,  worin  diese  Gestalten 
vergehen,  der  Geist  an  und  für  sich  aber  sich  den  Über- 
gang in  seine  nächste  höhere  Stufe  vorbereitet  und  er- 
arbeitet. 

§345. 

Gerechtigkeit  und  Tugend,  Unrecht,  Gewalt  und  Laster, 
Talente  und  ihre  Taten,  die  kleinen  und  die  großen  Leiden- 
schaften, Schuld  und  Unschuld,  Herrlichkeit  des  individu- 
ellen und  des  Volkslebens,  Selbständigkeit,  Glück  und  Un- 
glück der  Staaten  und  der  Einzelnen  haben  in  der  Sphäre 
der  bewußten  Wirklichkeit  ihre  bestimmte  Bedeutung  und 
Wert,  und  finden  darin  ihr  Urteil  und  ihre,  jedoch  un- 
vollkommene, Gerechtigkeit.  Die  Vv^eltgeschichte  fällt 
außer  diesen  Gesichtspunkten;  in  ihr  erhält  dasjenige  not- 
wendige Moment  der  Idee  des  Weltgeistes,  welches  gegen- 


Der  Staat.     C.  Die  Weltgeschichte.    §346—347.        273 

wärtig  seine  Stufe  ist,  sein  absolutes  Recht,  und  das 
darin  lebende  Volk  und  dessen  Taten  erhalten  ihre  Voll- 
lührung,  und  Glück  und  Ruhm. 

§  346. 

Weil  die  Geschichte  die  Gestaltung  des  Geistes  in 
Form  des  Geschehens,  der  unmittelbaren  natürlichen  Wirk- 
lichkeit ist,  so  sind  die  Stufen  der  Entwickelung  als  un- 
mittelbare natürliche  Prinzipien  vorhanden,  und 
diese,  weil  sie  natürliche  sind,  sind  als  eine  Vielheit  außer- 
einander,  somit  ferner  so,  daß  einem  Volke  eines  der- 
selben zukommt,  —  seine  geographische  und  anthro- 
pologische Existenz. 

§  347.  . 

Dem  Volke,  dem  solches  Moment  als  natürliches  I 
Prinzip  zukommt,  ist  die  Vollstreckung  desselben  in  dem  \ 
Fortgange  des  sich  entwickelnden  Selbstbewußtseins  des 
Weltgeistes  übertragen.  Dieses  Volk  ist  in  der  Welt- 
geschichte, für  diese  Epoche,  —  und  es  kann  (§346)  in 
ihr  nur  einmal  Epoche  machen,  —  das  Herrschende. 
Gegen  dies  sein  absolutes  Recht,  Träger  der  gegenwärtigen 
Entwickelungsstufe  des  Weltgeistes  zu  sein,  sind  die  Geister 
der  anderen  Völker  rechtlos,  und  sie,  wie  die,  deren  Epoche 
vorbei  ist,   zählen  nicht  mehr  in  der  Weltgeschichte. 

Die  spezielle  Geschichte  eines  welthistorischen  Volks 
enthält  teils  die  Entwickelung  seines  Prinzips  von  seinem 
kindlichen  eingehüllten  Zustande  aus  bis  zu  seiner  Blüte, 
wo  es  zum  freien  sittlichen  Selbstbewußtsein  gekommen, 
nun  in  die  allgemeine  Geschichte  eingreift,  —  teils  auch 
die  Periode  des  Verfalls  und  Verderbens;  —  denn  so 
bezeichnet  sich  an  ihm  das  Hervorgehen  eines  höheren 
Prinzips  als  nur  des  Negativen  seines  eigenen.  Damit 
wird  der  Übergang  des  Geistes  in  jenes  Prinzip  und  so 
der  Weltgeschichte  an  ein  anderes  Volk  angedeutet,  — 
eine  Periode,  von  welcher  aus  jenes  Volk  das  absolute 
Interesse  verloren  hat,  das  höhere  Prinzip  zwar  dann 
auch  positiv  in  sich  aufnimmt  und  sich  hineinbildet,  aber 
darin  als  in  einem  Empfangenen  nicht  mit  immanenter 
Lebendigkeit  und  Frische  sich  verhält,  —  vielleicht  seine 
Selbständigkeit  verliert,  vielleicht  auch  sich  als  beson- 
derer Staat  oder  ein  Kreis  von  Staaten  fortsetzt  oder 
fortschleppt  und  in  mannigfaltigen  inneren  Versuchen 
und  äußeren  Kämpfen  nach  Zufall  herumschlägt. 

Hegel,  Eechtsphilosophie.  18 


274      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Absclmitt. 

§  348. 

An  der  Spitze  aller  Handlungen,  somit  auch  der  welt- 
historischen, stehen  Individuen  als  die  das  Substantielle 
verwirklichenden  Subjektivitäten  (§  279  Anm.  S.  229).  Als 
diesen  Lebendigkeiten  der  substantiellen  Tat  des  Weltgeistes 
und  so  unmittelbar  identisch  mit  derselben,  ist  sie  ihnen 
selbst  verborgen  und  nicht  Objekt  und  Zweck  (§  344); 
sie  haben  auch  die  Ehre  derselben  und  Dank  nicht  bei 
ihrer  Mitwelt  (ebendas.),  noch  bei  der  öffentlichen  Meinung 
der  Nachwelt,  sondern  als  formelle  Subjektivitäten  nur  bei 
dieser    Meinung   ihren   Teil    als    unsterblichen    Ruhm. 

§  349. 

Ein  Volk  ist  zunächst  noch  kein  Staat,  und  der  Über- 
gang einer  Familie,  Horde,  Stammes,  Menge  u.  s.  f.  in  den 
Zustand  eines  Staates  macht  die  formelle  Realisierung 
der  Idee  überhaupt  in  ihm  aus.  Ohne  diese  Form  er- 
mangelt es  als  sittliche  Substanz,  die  es  an  sich  ist,  der 
Objektivität,  in  Gesetzen  als  gedachten  Bestimmungen  ein 
allgemeines  und  allgemeingültiges  Dasein  für  sich  und  für 
die  anderen  zu  haben,  und  wird  daher  nicht  anerkannt; 
seine  Selbständigkeit,  als  ohne  objektive  Gesetzlichkeit  und 
für  sich  feste  Vernünftigkeit  nur  formell,  ist  nicht  Souve- 
ränetät. 

Auch  in  der  gewöhnlichen  Vorstellung  nennt  man 
einen  patriarchalischen  Zustand  nicht  eine  Verfassung, 
noch  ein  Volk  in  diesem  Zustande  einen  Sta-at,  noch 
seine  Unabhängigkeit  Souveränetät.  Vor  den  Anfang  der 
wirklichen  Geschichte  fällt  daher  einerseits  die  interesse- 
lose, dumpfe  Unschuld,  andererseits  die  Tapferkeit  des 
formellen  Kampfes  des  Anerkennens  und  der  Rache 
(vergl.  §  331  u.  S.  62). 

§  350. 

In  gesetzlichen  Bestimmungen  und  in  objektiven  In- 
stitutionen, von  der  Ehe  und  dem  Ackerbau  ausgehend 
(s.  §  203  Anm.),  hervorzutreten,  ist  das  absolute  Recht 
der  Idee,  es  sei,  daß  die  Form  dieser  ihrer  Verwirklichung 
als  göttliche  Gesetzgebung  und  Wohltat,  oder  als  Gewalt 
und  Unrecht  erscheine;  —  dies  Recht  ist  das  Heroen- 
recht zur  Stiftung  von  Staaten. 


i 


Der  Staat.     C.  Die  Weltgeschichte.    §  351—353.         275 

§  351. 

Aus  derselben  Bestimmung  geschieht,  daß  zivilisierte 
Nationen  andere,  welche  ihnen  in  den  substantiellen  Mo- 
menten des  Staates  zurückstehen  (Viehzuchttreibende  die 
Jägervölker,  die  Ackerbauenden  beide  u.  s.  f.),  als  Barbaren 
mit  dem  Bewußtsein  eines  ungleichen  Rechts,  und  deren 
Selbständigkeit  als  etwas  Formelles  betrachten  und  be- 
handeln. 

In  den  Kriegen  und  Streitigkeiten,  die  unter  solchen 
Verhältnissen  entspringen,  macht  daher  das  Moment, 
daß  sie  Kämpfe  des  Anerkennens  in  Beziehung  auf  einen 
bestimmten  Gehalt  sind,  den  Zug  aus,  der  ihnen  eine 
Bedeutung  für  die  Weltgeschichte  gibt. 

§  352. 

Die  konkreten  Ideen,  die  Völkergeister,  haben  ihre 
Wahrheit  und  Bestimmung  in  der  konkreten  Idee,  wie  sie 
die  absolute  Allgemeinheit  ist,  —  dem  Weltgeist,  um 
dessen  Thron  sie  als  die  Vollbringer  seiner  Verwirklichung, 
und  als  Zeugen  und  Zieraten  seiner  Herrlichkeit  stehen. 
Indem  er  als  Geist  nur  die  Bewegung  seiner  Tätigkeit  ist, 
sich  absolut  zu  wissen,  hiermit  sein  Bewußtsein  von  der 
Form  der  natürlichen  Unmittelbarkeit  zu  befreien  und  zu 
sich  selbst  zu  kommen,  so  sind  die  Prinzipien  der  Ge- 
staltungen dieses  Selbstbewußtseins  in  dem  Gange  seiner 
Befreiung,    —    der   welthistorischen   Reiche,    viere. 

§  353. 

In  der  ersten  als  unmittelbaren  Offenbarung  hat 
er  zum  Prinzip  die  Gestalt  des  substantiellen  Geistes 
als  der  Identität,  in  welcher  die  Einzelnheit  in  ihr  Wesen 
versenkt  und  für  sich  unberechtigt  bleibt. 

Das  zweite  Prinzip  ist  das  Wissen  dieses  substantiellen 
Geistes,  so  daß  er  der  positive  Inhalt  und  Erfüllung  und 
das  Fürsichsein  als  die  lebendige  Form  desselben  ist, 
die  schöne  sittliche  Individualität. 

Das  dritte  ist  das  in  sich  Vertiefen  des  wissenden 
Fürsichseins  zur  abstrakten  Allgemeinheit  und  da- 
mit zum  unendlichen  Gegensatze  gegen  die  somit  ebenso 
geistverlassene   Objektivität. 

Das  Prinzip  der  vierten  Gestaltung  ist  das  Umschlagen 
dieses  Gegensatzes  des  Geistes,  in  seiner  Innerlichkeit  seine 
Wahrheit  und  konkretes  Wesen  zu  empfangen  und  in  der 

18* 


276      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

Objektivität  einheimiscii  und  versöhnt  zu  sein,  und  weil 
dieser  zur  ersten  Substantialität  zurückgekommene  Geist 
der  aus  dem  unendlichen  Gegensatze  zurückge- 
kehrte ist,  diese  seine  Wahrheit  als  Gedanke  und  als  Welt 
gesetzlicher  Wirklichkeit  zu  erzeugen  und  zu  wissen. 

§354. 
Nach  diesen  vier  Prinzipien  sind  der  welthistorischen 
Reiche  die  viere:  1.  das  orientalische,  2.  das  grie- 
chische, 3.  das  römische,  4.  das  germanische. 

§  355. 
1.  Das  orientalische  Reich. 
Dies  erste  Reich  ist  die  vom  patriarchalischen  Natui-- 
ganzen  ausgehende,  in  sich  ungetrennte,  substantielle  Welt- 
anschauung, in  der  die  weltliche  Regierung  Theokratie, 
der  Herrscher  auch  Hoherpriester  oder  Gott,  Staatsver- 
fassung und  Gesetzgebung  zugleich  Religion,  sowie  die 
religiösen  und  moralischen  Gebote  oder  vielmehr  Gebräuche 
ebenso  Staats-  und  Rechtsgesetze  sind.  In  der  Pracht  dieses 
Ganzen  geht  die  individuelle  Persönlichkeit  rechtlos  unter, 
die  äußere  Natur  ist  unmittelbar  göttlich  oder  ein  Schmuck 
des  Gottes,  und  die  Geschichte  der  Wirklichkeit  Poesie. 
Die  nach  den  verschiedenen  Seiten  der  Sitten,  Regierung 
und  des  Staates  hin  sich  entwickelnden  Unterschiede  werden, 
an  der  Stelle  der  Gesetze,  bei  einfacher  Sitte,  schwerfällige, 
weitläufige,  abergläubische  Zeremonien,  —  Zufälligkeiten 
persönlicher  Gewalt  und  willkürlichen  Herrschens,  und  die 
Gegliederung  in  Stände  eine  natürliche  Festigkeit  von 
Kasten.  Der  orientalische  Staat  ist  daher  nur  lebendig  in 
seiner  Bewegung,  welche,  —  da  in  ihm  selbst  nichts  stät 
und,  was  fest  ist,  versteinert  ist,  —  nach  außen  geht,  ein 
elementarisches  Toben  und  Verwüsten  wird;  die  innerliche 
Ruhe  ist  ein  Privatleben  und  Versinken  in  Schwäche  und 
Ermattung. 

Das  Moment  der  noch  substantiellen,  natür- 
lichen Geistigkeit  in  der  Staatsbildung,  das  als  Form 
in  der  Geschichte  jedes  Staates  den  absoluten  Ausgangs- 
punkt macht,  ist  an  den  besonderen  Staaten  geschicht- 
lich zugleich  mit  tiefem  Sinn  und  mit  Gelehrsamkeit  in 
der  Schrift:  Vom  Untergange  der  Naturstaaten, 
Berlin  1812,  (vom  Hrn.  Dr.  Stuhr^)  hervorgehoben  und 

1)   P.  F.  Stuhr,    1787—1851,   Privatdozent,    seit   1826  Prot, 
extraord.  in  Berlin. 


Der  Staat.     C.  Die  Weltgeschichte.    §356—357.        277 

nachgewiesen,  und  damit  der  vernünftigen  Betrachtung 
der  Geschichte  der  Verfassung  und  der  Geschichte  über- 
haupt der  Weg  gebahnt.  Das  Prinzip  der  Subjektivität 
und  selbstbewußten  Freiheit  ist  dort  gleichfalls  in  der 
germanischen  Nation  aufgezeigt,  jedoch,  indem  die  Ab- 
handlung nur  bis  zum  Untergang  der  Naturstaaten  geht, 
auch  nur  bis  dahin  geführt,  wo  es  teils  als  unruhige  Be- 
weglichkeit, menschliche  Willkür  und  Verderben,  teils 
in  seiner  besonderen  Gestalt  als  Gemüt  erscheint  und 
sich  nicht  bis  zur  Objektivität  der  selbstbewußten 
Substantialität,  zu  organischer  Gesetzlichkeit,  ent- 
wickelt hat. 

§  356. 
2.  Das  griechische  Reich. 

Dieses  hat  jene  substantielle  Einheit  des  Endlichen  und 
Unendlichen,  aber  nur  zur  mysteriösen,  in  dumpfe  Er- 
innerung, in  Höhlen  und  in  Bilder  der  Tradition  zurück- 
gedrängten Grundlage,  welche  aus  dem  sich  unterschei- 
denden Geiste  zur  individuellen  Geistigkeit  und  in  den 
Tag  des  Wissens  herausgeboren,  zur  Schönheit  und  zur 
freien  und  heiteren  Sittlichkeit  gemäßigt  und  verklärt  ist. 
In  dieser  Bestimmung  geht  somit  das  Prinzip  per- 
sönlicher Individualität  sich  auf,  noch  als  nicht  in  sich 
selbst  befangen,  sondern  in  seiner  idealen  Einheit  ge- 
halten; —  teils  zerfällt  das  Ganze  darum  in  einen  Kreis 
besonderer  Volksgeister,  teils  ist  einerseits  die  letzte 
Willensentschließung  noch  nicht  in  die  Subjektivität  des 
für  sich  seienden  Selbstbev/ußtseins,  sondern  in  eine  Macht, 
die  höher  und  außerhalb  desselben  sei,  gelegt  (vergl. 
§  279  Anm.),  und  andererseits  ist  die  dem  Bedürfnisse  an- 
gehörige  Besonderheit  noch  nicht  in  die  Freiheit  aufge- 
nommen,  sondern  an  einen  Sklavenstand  ausgeschlossen. 

§857. 
3.  Das  römische  Reich. 
In  diesem  Reiche  vollbringt  sich  die  Unterscheidung 
zur  unendlichen  Zerreißung  des  sittlichen  Lebens  in  die 
Extreme  persönlichen  privaten  Selbstbewußtseins  und 
abstrakter  Allgemeinheit.  Die  Entgegensetzung,  aus- 
gegangen von  der  substantiellen  Anschauung  einer  Aristo- 
kratie gegen  das  Prinzip  freier  Persönlichkeit  in  demokra- 
tischer Form,  entwickelt  sich  nach  jener  Seite  zum  Aber- 


278      Dritter  Teil.     Die  Sittlichkeit.    Dritter  Abschnitt. 

glauben  und  zur  Behauptung  kalter,  habsüchtiger  Gewalt, 
nach  dieser  zur  Verdorbenheit  eines  Pöbels,  und  die  Auf- 
lösung des  Ganzen  endigt  sich  in  das  allgemeine  Unglück 
und  den  Tod  des  sittlichen  Lebens,  worin  die  Völker- 
individualitäten in  der  Einheit  eines  Pantheons  ersterben, 
alle  Einzelne  zu  Privatpersonen  und  zu  Gleichen  mit  for- 
mellem Rechte  herabsinken,  welche  hiermit  nur  eine  ab- 
strakte, ins  Ungeheure  sich  treibende  Willkür  zusammen- 
hält. 

§  358. 
4.  Das  germanische  Reich. 

Aus  diesem  Verluste  seiner  selbst  und  seiner  Welt 
und  dem  unendlichen  Schmerz  desselben,  als  dessen  Volk 
das  israelitische  bereit  gehalten  war,  erfaßt  der  in  sich 
zurückgedrängte  Geist  in  dem  Extreme  seiner  absoluten 
Negativität,  dem  an  und  für  sich  seienden  Wende- 
punkt, die  unendliche  Positivität  dieses  seines  Innern, 
das  Prinzip  der  Einheit  der  göttlichen  und  menschlichen 
Natur,  die  Versöhnung  als  der  innerhalb  des  Selbstbewußt- 
seins und  der  Subjektivität  erschienenen  objektiven  Wahr- 
heit und  Freiheit,  welche  dem  nordischen  Prinzip  der  ger- 
manischen  Völker  zu  vollführen  übertragen  wird. 

§  359. 

Die  Innerlichkeit  des  Prinzips,  als  die  noch  abstrakte, 
in  Empfindung  als  Glauben,  Liebe  und  Hoffnung  existie- 
rende, Versöhnung  und  Lösung  alles  Gegensatzes,  ent- 
faltet ihren  Inhalt,  ihn  zur  Wirklichkeit  und  selbstbewußten 
Vernünftigkeit  zu  erheben,  zu  einem  vom  Gemüte,  der 
Treue  und  Genossenschaft  Freier  ausgehenden  weltlichen 
Reiche,  das  in  dieser  seiner  Subjektivität  ebenso  ein  Reich 
der  für  sich  seienden  rohen  Willkür  und  der  Barbarei  der 
Sitten  ist  —  gegenüber  einer  jenseitigen  Welt,  einem  in- 
tellektuellen Reiche,  dessen  Inhalt  wohl  jene  Wahrheit 
seines  Geistes,  aber  als  noch  ungedacht  in  die  Barbarei 
der  Vorstellung  gehüllt  ist,  und,  als  geistige  Macht  über 
das  wirkliche  Gemüt,  sich  als  eine  unfreie  fürchterliche 
Gewalt  gegen  dasselbe  verhält. 

§  360. 

Indem  —  in  dem  harten  Kampfe  dieser  im  Unterschiede, 
der  hier  seine  absolute  Entgegensetzung  gewonnen,  stehen- 


Der  Staat.     C.  Die  Weltgeschichte.     §  360.  279 

den  und  zugleich  in  einer  Einheit  und  Idee  wurzelnden 
Reiche,  —  das  Geistliche  die  Existenz  seines  Himmels 
zum  irdischen  Diesseits  und  zur  gemeinen  Weltlichkeit, 
in  der  Wirklichkeit  und  in  der  Vorstellung,  degradiert, 
das  Weltliche  dagegen  sein  abstraktes  Fürsichsein  zum 
Gedanken  und  dem  Prinzipe  vernünftigen  Seins  und  Wissens, 
zur  Vernünftigkeit  des  Rechts  und  Gesetzes  hinaufbildet, 
ist  an  sich  der  Gegensatz  zur  marklosen  Gestalt  ge- 
schwunden; die  Gegenwart  hat  ihre  Barbarei  und  unrecht- 
liche Willkür,  und  die  Wahrheit  hat  ihr  Jenseits  und  ihre 
zufällige  Gewalt  abgestreift,  so  daß  die  wahrhafte  Ver- 
söhnung objektiv  geworden,  welche  den  Staat  zum  Bilde 
und  zur  Wirklichkeit  der  Vernunft  entfaltet,  worin  das 
Selbstbewußtsein  die  Wirklichkeit  seines  substantiellen 
Wissens  und  Wollens  in  organischer  Entwickelung,  wie  in 
der  Religion  das  Gefühl  und  die  Vorstellung  dieser  seiner 
Wahrheit  als  idealer  Wesenheit,  in  der  Wissenschaft 
aber  die  freie  begriffene  Erkenntnis  dieser  Wahrheit  als 
einer  und  derselben  in  ihren  sich  ergänzenden  Manifesta^ 
tionen,  dem  Staate,  der  Natur  und  der  ideellen  Welt, 
findet. 


Zusätze 

aus  Hegels  Vorlesungen, 

zusammengestellt 

von 

Eduard  Gfans 


Zusätze. 


1.  Zusatz  zur  Vorrede.  (Das  Selbstbewußtsein 
und  die  Rechtsordnung.)  Es  gibt  zweierlei  Arten  von 
Gesetzen,  Gesetze  der  Natur  und  des  Rechts:  die  Gesetze 
der  Natur  sind  schlechthin  und  gelten  so,  wie  sie  sind; 
sie  leiden  an  keiner  Verkümmerung,  obgleich  man  sich 
in  einzelnen  Fällen  dagegen  vergehen  kann.  Um  zu  wissen, 
was  das  Gesetz  der  Natur  ist,  müssen  wir  dieselbe  kennen 
lernen,  denn  diese  Gesetze  sind  richtig:  nur  unsere  Vor- 
stellungen davon  können  falsch  sein.  Der  Maßstab  dieser 
Gesetze  ist  außer  uns,  und  unser  Erkennen  tut  nichts 
zu  ihnen  hinzu,  befördert  sie  nicht:  nur  unsere  Erkennt- 
nis über  sie  kann  sich  erweitern.  Die  Kenntnis  des  Rechts 
ist  einerseits  ebenso,  andererseits  nicht.  Wir  lernen  die 
Gesetze  ebenso  kennen,  wie  sie  schlechthin  da  sind;  so 
hat  sie  mehr  oder  weniger  der  Bürger,  und  der  positive 
Jurist  bleibt  nicht  minder  bei  dem,  was  gegeben  ist,  stehen. 
Aber  der  Unterschied  ist,  daß  bei  den  Rechtsgesetzen  sich 
der  Geist  der  Betrachtung  erhebt,  und  schon  die  Ver- 
schiedenheit der  Gesetze  darauf  aufmerksam  macht,  daß 
sie  nicht  absolut  sind.  Die  Rechtsgesetze  sind  Gesetztes, 
von  Menschen  Herkommendes.  Mit  diesem  kann  not- 
wendig die  innere  Stimme  in  Kollision  treten,  oder  sich 
ihm  anschließen.  Der  Mensch  bleibt  bei  dem  Daseienden 
nicht  stehen,  sondern  behauptet  in  sich  den  Maßstab  zu 
haben  von  dem,  was  recht  ist:  er  kann  der  Notwendigkeit 
und  der  Gewalt  äußerer  Autorität  unterworfen  sein,  aber 
niemals  wie  der  Notwendigkeit  der  Natur,  denn  ihm  sagt 
immer  sein  Inneres,  wie  es  sein  solle,  und  in  sich  selbst 
findet  er  die  Bewährung  oder  Nichtbewährung  dessen, 
was  gilt.  In  der  Natur  ist  die  höchste  Wahrheit,  daß  ein 
Gesetz  überhaupt  ist;  in  den  Gesetzen  des  Rechts  gilt 
die  Sache  nicht,  weil  sie  ist,  sondern  jeder  fordert,  sie  solle 


284  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

seinem  eigenen  Kriterium  entsprechen.  Hier  also  ist  ein 
Widerstreit  möglich  dessen,  was  ist,  und  dessen,  was  sein 
soll,  des  an  und  für  sich  seienden  Rechts,  welches  un- 
verändert bleibt,  und  der  Willkürlichkeit  der  Bestimmung 
dessen,  was  als  Recht  gelten  solle.  Solche  Trennung  und 
solcher  Kampf  findet  sich  nur  auf  dem  Boden  des  Geistes, 
und  weil  der  Vorzug  des  Geistes  somit  zum  Unfrieden  und 
zur  Unseligkeit  zu  führen  scheint,  so  wird  man  häufig 
zur  Betrachtung  der  Natur  aus  der  Willkür  des  Lebens 
zurückverwiesen  und  soll  sich  an  derselben  ein  Muster 
nehmen.  Gerade  in  diesen  Gegensätzen  aber  des  an  und 
für  sich  seienden  Rechts  und  dessen,  was  die  Willkür 
als  Recht  geltend  macht,  liegt  das  Bedürfnis,  gründlich 
das  Rechte  erkennen  zu  lernen.  Seine  Vernunft  muß  dem 
Menschen  im  Rechte  entgegenkommen;  er  muß  also  die 
Vernünftigkeit  des  Rechts  betrachten,  und  dies  ist  die 
Sache  unserer  Wissenschaft,  im  Gegensatz  der  positiven 
Jurisprudenz,  die  es  oft  nur  mit  Widersprüchen  zu  tun 
hat.  Die  gegenwärtige  Welt  hat  dazu  noch  ein  dringenderes 
Bedürfnis,  denn  vor  alten  Zeiten  war  noch  Achtung  und 
Ehrfurcht  vor  dem  bestehenden  Gesetz  da;  jetzt  aber  hat 
die  Bildung  der  Zeit  eine  andere  Wendung  genommen,  und 
der  Gedanke  hat  sich  an  die  Spitze  alles  dessen  gestellt, 
was  gelten  soll.  Theorien  stellen  sich  dem  Daseienden 
gegenüber  und  wollen  als  an  und  für  sich  richtig  und  not- 
wendig erscheinen.  Nunmehr  wird  es  spezielleres  Be- 
dürfnis, die  Gedanken  des  Rechts  zu  erkennen  und  zu  be- 
greifen. Da  sich  der  Gedanke  zur  wesentlichen  Form 
erhoben  hat,  so  muß  man  auch  das  Recht  als  Gedanken 
zu  fassen  suchen.  Dies  scheint  zufälligen  Meinungen  Tür 
und  Tor  zu  öffnen,  wenn  der  Gedanke  über  das  Recht 
kommen  soll;  aber  der  wahrhafte  Gedanke  ist  keine  Mei- 
nung über  die  Sache,  sondern  der  Begriff  der  Sache  selbst. 
Der  Begriff  der  Sache  kommt  uns  nicht  von  Natur.  Jeder 
Mensch  hat  Finger,  kann  Pinsel  und  Farben  haben,  darum 
aber  ist  er  noch  kein  Maler.  Ebenso  ist  es  mit  dem  Denken. 
Der  Gedanke  des  Rechts  ist  nicht  etwa,  was  jedermann 
aus  erster  Hand  hat,  sondern  das  richtige  Denken  ist  das 
Kennen  und  Erkennen  der  Sache,  und  unsere  Erkenntnis 
Boll  daher  wissenschaftlich  sein. 

2.  Zusatz  zu  §  1.  (Die  Idee.)  Der  Begriff  und 
seine  Existenz  sind  zwei  Seiten,  geschieden  und  einig, 
wie  Seele  und  Leib.  Der  Körper  ist  dasselbe  Leben  als  die 
Seele,  und  dennoch  können  beide  als  auseinanderliegende 


Zu  §  1—4.  285 

genannt  werden.  Eine  Seele  ohne  Leib  wäre  nichts  Leben- 
diges, und  ebenso  umgekehrt.  So  ist  das  Dasein  des  Be- 
griffs sein  Körper,  sowie  dieser  der  Seele,  die  ihn  her- 
vorbrachte, gehorcht.  Die  Keime  haben  den  Baum  in  sich 
und  enthalten  seine  ganze  Kraft,  obgleich  sie  noch  nicht 
er  selbst  sind.  Der  Baum  entspricht  ganz  dem  einfachen 
Bilde  des  Keimes.  Entspricht  der  Körper  nicht  der  Seele, 
so  ist  es  eben  etwas  Elendes.  Die  Einheit  des  Daseins 
und  des  Begriffs,  des  Körpers  und  der  Seele  ist  die  Idee. 
Sie  ist  nicht  nur  Harmonie,  sondern  vollkommene  Durch- 
dringung. Nichts  lebt,  was  nicht  auf  irgendeine  Weise 
Idee  ist.  Die  Idee  des  Rechts  ist  die  Freiheit,  und  um 
wahrhaft  aufgefaßt  zu  werden,  muß  sie  in  ihrem  Begrüf 
und  in  dessen  Dasein  zu  erkennen  sein. 

3.  Zusatz  zu  §  2.  (Der  Anfang  in  der  Philoso- 
phie.) Die  Philosophie  bildet  einen  Kreis:  sie  hat  ein 
Erstes,  Unmittelbares,  da  sie  überhaupt  anfangen  muß, 
ein  nicht  Erwiesenes,  das  kein  Resultat  ist.  Aber  womit 
die  Philosophie  anfängt,  ist  unmittelbar  relativ,  indem  es 
an  einem  anderen  Endpunkt  als  Resultat  erscheinen  muß. 
Sie  ist  eine  Folge,  die  nicht  in  der  Luft  hängt,  nicht  ein 
unmittelbar    Anfangendes,    sondern   sie   ist  sich   rundend. 

4.  Zusatz  zu  §4.  (Freiheit,  praktisches  und  the- 
oretisches Verhalten.)  Die  Freiheit  des  Willens  ist  am 
besten  durch  eine  Hinweisung  auf  die  physische  Natur 
zu  erklären.  Die  Freiheit  ist  nämlich  ebenso  eine  Grund- 
bestimmung des  Willens,  wie  die  Schwere  eine  Grund- 
bestimmung der  Körper  ist.  Wenn  man  sagt,  die  Materie 
ist  schwer,  so  könnte  man  meinen,  dieses  Prädikat  sei  nur 
zufällig:  es  ist  es  aber  nicht,  denn  nichts  ist  unschwer 
an  der  Materie:  diese  ist  vielmehr  die  Schwere  selbst. 
Das  Schwere  macht  den  Körper  aus  und  ist  der  Körper. 
Ebenso  ist  es  mit  der  Freiheit  und  dem  Willen,  denn  das 
Freie  ist  der  Wille.  Wille  ohne  Freiheit  ist  ein  leeres  Wort, 
sowie  die  Freiheit  nur  als  Wille,  als  Subjekt  wirklich  ist. 

Was  aber  den  Zusammenhang  des  Willens  mit  dem 
Denken  betrifft,  so  ist  darüber  folgendes  zu  bemerken. 
Der  Geist  ist  das  Denken  überhaupt,  und  der  Mensch  unter- 
scheidet sich  vom  Tier  durch  das  Denken.  Aber  man 
muß  sich  nicht  vorstellen,  daß  der  Mensch  einerseits 
denkend,  andererseits  wollend  sei,  und  daß  er  in  der  einen 
Tasche  das  Denken,  in  der  anderen  das  Wollen  habe,  denn 
dies  wäre  eine  leere  Vorstellung.  Der  Unterschied  zwischen 
Denken  und  Willen  ist  nur  der  zwischen  dem  theoretischen 


286  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

und  praktischen  Verhalten,  aber  es  sind  nicht  etwa  zwei 
Vermögen,  sondern  der  Wille  ist  eine  besondere  Weis - 
des  Denkens:  das  Denken  als  sich  übersetzend  ins  Daseir.. 
als  Trieb  sich  Dasein  zu  geben. 

Dieser  Unterschied  zwischen  Denken  und  Willen  kann 
so  ausgedrückt  werden.  Indem  ich  einen  Gegenstand 
denke,  mache  ich  ihn  zum  Gedanken,  und  nehme  ihm 
das  Sinnliche:  ich  mache  ihn  zu  etwas,  das  wesentlich 
und  unmittelbar  das  Meinige  ist:  denn  erst  im  Denken 
bin  ich  bei  mir,  erst  das  Begreifen  ist  das  Durchbohren 
des  Gegenstandes,  der  nicht  mehr  mir  gegenübersteht, 
und  dem  ich  das  Eigene  genommen  habe,  das  er  für 
sich  gegen  mich  hatte.  Wie  Adam  zu  Eva  sagt:  du 
bist  Fleisch  von  meinem  Fleisch  und  Bein  von  meinei: 
Bein,  so  sagt  der  Geist:  dies  ist  Geist  von  meine:: 
Geist,  und  die  Fremdheit  ist  verschwunden.  Jede  Vor- 
stellung ist  eine  Verallgemeinerung,  und  diese  gehört  dei: 
Denken  an.  Etwas  allgemein  machen  heißt  es  denker. 
Ich  ist  das  Denken  und  ebenso  das  Allgemeine.  Wenn  icn 
Ich  sage,  so  lasse  ich  darin  jede  Besonderheit  fallen,  den 
Charakter,  das  Naturell,  die  Kenntnisse,  das  Alter.  Ic- 
ist  ganz  leer,  punktuell,  einfach,  aber  tätig  in  diese 
Einfachheit.  Das  bunte  Gemälde  der  Welt  ist  vor  mir; 
ich  stehe  ihm  gegenüber  und  hebe  bei  diesem  Verhalten 
den  Gegensatz  auf,  mache  diesen  Inhalt  zu  dem  meinigei: 
Ich  ist  in  der  Welt  zu  Hause,  wenn  es  sie  kennt,  nocn 
mehr,  wenn  es  sie  begriffen  hat.  So  weit  das  theoretische 
Verhalten. 

Das  praktische  Verhalten  fängt  dagegen  beim  Denken, 
beim  Ich  selbst  an  und  erscheint  zuvörderst  als  ent- 
gegengesetzt, weil  es  nämlich  gleich  eine  Trennung 
aufstellt.  Indem  ich  praktisch,  tätig  bin,  d.  h.  handele, 
bestimme  ich  mich,  und  mich  bestimmen  heißt  eben  einen 
Unterschied  setzen.  Aber  diese  Unterschiede,  die  ich  setze, 
sind  dann  wieder  die  meinigen,  die  Bestimmungen  kommen 
mir  zu,  und  die  Zwecke,  wozu  ich  getrieben  bin,  gehören 
mir  an.  Wenn  ich  nun  auch  diese  Bestimmungen  und 
Unterschiede  herauslasse,  das  heißt  in  die  sogenannte 
Aoßenwelt  setze,  so  bleiben  sie  doch  die  meinigen:  sie  sind 
das,  was  ich  getan,  gemacht  habe,  sie  tragen  die  Spur 
meines  Geistes. 

Wenn  dieses  nun  der  Unterschied  des  theoretischen 
und  praktischen  Verhaltens  ist,  so  ist  nunmehr  das 
Verhältnis  beider  anzugeben.    Das  Theoretische  ist  wesent- 


Zu  §  4-5.  287 

lieh  im  Praktischen  enthalten:  es  geht  gegen  die  Vor- 
stellung, daß  beide  getrennt  sind,  denn  man  kann  keinen 
Willen  haben  ohne  Intelligenz,  Im  Gegenteil,  der  Wille 
hält  das  Theoretische  in  sich:  der  Wille  bestimmt  sich; 
diese  Bestimmung  ist  zunächst  ein  Inneres:  was  ich 
will,  stelle  ich  mir  vor,  ist  Gegenstand  für  mich.  Das 
Tier  handelt  nach  Instinkt,  wird  durch  ein  Inneres  ge- 
trieben, und  ist  so  auch  praktisch;  aber  es  hat  keinen 
Willen,  weil  es  sich  das  nicht  vorstellt,  was  es  begehrt. 
Ebensowenig  kann  man  sich  aber  ohne  Willen  theoretisch 
verhalten  oder  denken;  denn  indem  wir  denken,  sind  wir 
eben  tätig.  Der  Inhalt  des  Gedachten  erhält  wohl  die 
Form  des  Seienden,  aber  dies  Seiende  ist  ein  Vermitteltes, 
durch  unsere  Tätigkeit  Gesetztes,  Diese  Unterschiede  sind 
also  untrennbar:  sie  sind  eines  und  dasselbe,  und  in  jeder 
Tätigkeit,  sowohl  des  Denkens  als  des  Wollens,  finden  sich 
beide  Momente. 

5,  Zusatz  zu  §  5.  (Die  abstrakte  Freiheit.)  In 
diesem  Elemente  des  Willens  liegt,  daß  ich  mich  von  allem 
losmachen,  alle  Zwecke  aufgeben,  von  allem  abstrahieren 
kann.  Der  Mensch  allein  kann  alles  fallen  lassen,  auch 
sein  Leben:  er  kann  einen  Selbstmord  begehen.  Das 
Tier  kann  dieses  nicht;  es  bleibt  immer  nur  negativ,  in 
einer  ihm  fremden  Bestimmung,  an  die  es  sich  nur  ge- 
wöhnt. Der  Mensch  ist  das  reine  Denken  seiner  selbst, 
und  nur  denkend  ist  der  Mensch  diese  Kraft,  sich  All- 
gemeinheit zu  geben,  d.  h.  alle  Besonderheit,  alle  Be- 
stimmtheit zu  verlöschen.  Diese  negative  Freiheit  oder 
diese  Freiheit  des  Verstandes  ist  einseitig,  aber  dies  Ein- 
seitige enthält  immer  eine  wesentliche  Bestimmung  in 
sich:  es  ist  daher  nicht  wegzuwerfen;  aber  der  Mangel 
des  Verstandes  ist,  daß  er  eine  einseitige  Bestimmung 
zur  einzigen  und  höchsten  erhebt.  Geschichtlich  kommt 
diese  Form  der  Freiheit  häufig  vor.  Bei  den  Indern 
z.  B.  wird  es  für  das  Höchste  gehalten,  bloß  in  dem 
Wissen  seiner  einfachen  Identität  mit  sich  zu  verharren, 
in  diesem  leeren  Raum  seiner  Innerlichkeit  zu  verbleiben 
wie  das  farblose  Licht  in  der  reinen  Anschauung,  und 
jeder  Tätigkeit  des  Lebens,  jedem  Zweck,  jeder  Vor- 
stellung zu  entsagen.  Auf  diese  Weise  wird  der  Mensch 
zu  Brahm;  es  ist  kein  Unterschied  des  endlichen  Menschen 
und  des  Brahm  mehr:  jede  Differenz  ist  vielmehr  in 
dieser  Allgemeinheit  verschwunden.  Konkreter  erscheint 
diese  Form  im  tätigen  Fanatismus  des  politischen  wie  des 


288  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

religiösen  Lebens.  Dahin  gehört  z.  B.  die  Schreckens- 
zeit der  französischen  Revolution,  in  welcher  aller  Unter- 
schied der  Talente,  der  Autorität  aufgehoben  werden  sollte. 
Diese  Zeit  war  eine  Erzitterung,  ein  Erbeben*),  eine  Un- 
verträglichkeit gegen  jedes  Besondere;  denn  der  Fanatis- 
mus will  ein  Abstraktes,  keine  Gegliederung:  wo  sich 
Unterschiede  hervortun,  findet  er  dieses  seiner  Unbestimmt- 
heit zuwider  und  hebt  sie  auf.  Deswegen  hat  auch  das 
Volk  in  der  Revolution  die  Institutionen,  die  es  selbst 
gemacht  hatte,  wieder  zerstört,  weil  jede  Institution  dem 
abstrakten  Selbstbewußtsein  der  Gleichheit  zuwider  ist. 

6.  Zusatz  zu  §  6.  (Die  Besonderung  des  Willens.) 
Dieses  zweite  Moment  erscheint  als  das  entgegengesetzte; 
es  ist  in  seiner  allgemeinen  Weise  aufzufassen,  es  gehört 
zur  Freiheit,  macht  aber  nicht  die  ganze  Freiheit  aus. 
Das  Ich  geht  hier  aus  unterschiedsloser  Unbestimmtheit 
zur  Unterscheidung,  zum  Setzen  einer  Bestimmtheit,  als 
eines  Inhalts  und  Gegenstandes  über.  Ich  will  nicht  bloß, 
sondern  ich  will  etwas.  Ein  Wille,  der,  wie  im  vorigen 
Paragraphen  auseinandergesetzt  ist,  nur  das  abstrakt  All- 
gemeine will,  will  nichts,  und  ist  deswegen  kein  Wille. 
Das  Besondere,  was  der  Wille  will,  ist  eine  Beschränkung, 
denn  der  Wille  muß,  um  Wille  zu  sein,  sich  überhaupt 
beschränken.  Daß  der  Wille  etwas  will,  ist  die  Schranke, 
die  Negation.  Die  Besonderung  ist  so  das,  was  in  der 
Regel  Endlichkeit  genannt  wird.  Gewöhnlich  hält  die 
Reflexion  das  erste  Moment,  nämlich  das  Unbestimmte, 
für  das  Absolute  und  Höhere,  dagegen  das  Beschränkte 
für  eine  bloße  Negation  dieser  Unbestimmtheit.  Aber 
diese  Unbestimmtheit  ist  selbst  nur  eine  Negation  gegen 
das  Bestimmte,  gegen  die  Endlichkeit:  Ich  ist  diese  Ein- 
samkeit und  absolute  Negation.  Der  unbestimmte  Wille 
ist  insofern  ebenso  einseitig  als  der  bloß  in  der  Be- 
stimmtheit stehende. 

7.  Zusatz  zu  §  7.  (Der  konkrete  Begriff  der 
Freiheit.)  Das,  was  wir  eigentlich  Willen  nennen,  ent- 
hält die  beiden  vorigen  Momente  in  sich.  Ich  ist  zuvörderst 
als  solches  reine  Tätigkeit,  das  Allgemeine,  das  bei  sich 
ist;  aber  dieses  Allgemeine  bestimmt  sich,  und  insofern 
ist  es  nicht  mehr  bei  sich,  sondern  setzt  sich  als  ein 
anderes  und  hört  auf,  das  Allgemeine  zu  sein.  Das  dritte 
ist  nun,  daß  es  in  seiner  Beschränkung,  in  diesem  anderen 


*)  Vielleicht:  Erbitterung,  Erheben. 


Zu  §  7-10.  289 

bei  sich  selbst  sei,  daß,  indem  es  sich  bestimmt,  es  dennoch 
bei  sich  bleibe  und  nicht  aufhöre  das  Allgemeine  fest- 
zuhalten: dieses  ist  dann  der  konkrete  Begriff  der  Freiheit, 
während  die  beiden  vorigen  Momente  durchaus  abstrakt  und 
einseitig  befunden  worden  sind.  Diese  Freiheit  haben 
wir  aber  schon  in  der  Form  der  Empfindung,  z.  B.  in 
der  Freundschaft  und  Liebe.  Hier  ist  man  nicht  einseitig 
in  sich,  sondern  man  beschränkt  sich  gern  in  Beziehung 
auf  ein  anderes,  weiß  sich  aber  in  dieser  Beschränkung 
als  sich  selbst.  In  der  Bestimmtheit  soll  sich  der  Mensch 
nicht  bestimmt  fühlen,  sondern  indem  man  das  andere  als 
anderes  betrachtet,  hat  man  darin  erst  sein  Selbstgefühl. 
Die  Freiheit  liegt  also  weder  in  der  Unbestimmtheit  noch 
in  der  Bestimmtheit,  sondern  sie  ist  beides.  Den  Willen, 
der  sich  auf  ein  Dieses  lediglich  beschränkt,  hat  der  Eigen- 
sinnige, welcher  unfrei  zu  sein  vermeint,  wenn  er  diesen 
Willen  nicht  hat.  Der  Wille  ist  aber  nicht  an  ein  Be- 
schränktes gebunden,  sondern  muß  weiter  gehen,  denn 
die  Natur  des  Willens  ist  nicht  diese  Einseitigkeit  und 
Gebundenheit;  sondern  die  Freiheit  ist,  ein  Bestimmtes  zu 
wollen,  aber  in  dieser  Bestimmtheit  bei  sich  zu  sein  und 
wieder  in  das  Allgemeine  zurückzukehren. 

8.  Zusatz  zu  §  8,  (Die  Zweckbestimmtheit  des 
Willens.)  Die  Betrachtung  der  Bestimmtheit  des  Willens 
gehört  dem  Verstände  an  und  ist  zunächst  nicht  speku- 
lativ. Der  Wille  ist  überhaupt  nicht  nur  im  Sinne  des 
Inhalts,  sondern  auch  im  Sinne  der  Form  bestimmt.  Die 
Bestimmtheit  der  Form  nach  ist  der  Zweck  und  die  Aus- 
führung des  Zweckes:  der  Zweck  ist  zunächst  nur  ein  mir 
Innerliches,  Subjektives,  aber  er  soll  auch  objektiv 
werden,  den  Mangel  der  bloßen  Subjektivität  abwerfen. 
Man  kann  hier  fragen,  warum  ist  er  dieser  Mangel.  Wenn 
das,  was  Mangel  hat,  nicht  zugleich  über  seinem  Mangel 
steht,  so  ist  der  Mangel  für  dasselbe  kein  Mangel.  Für 
uns  ist  das  Tier  ein  Mangelhaftes,  für  sich  nicht.  Der 
Zweck,  insofern  er  nur  erst  unser  ist,  ist  für  uns  ein 
Mangel,  denn  Freiheit  und  Wille  sind  uns  Einheit  des 
Subjektiven  und  Objektiven.  Der  Zweck  ist  also  objektiv 
zu  setzen  und  kommt  dadurch  nicht  in  eine  neue  einseitige 
Bestimmung,  sondern  nur  zu  seiner  Realisation. 

9.  Zusatz  zu  §  10.  (Ansich  und  Fürsich  der 
Freiheit.)  Der  Wille,  der  bloß  dem  Begriffe  nach  Wille 
ist,  ist  an  sich  frei,  aber  auch  zugleich  unfrei,  denn  wahr- 
haft frei  wäre  er   erst   als  wahrhaft   bestimmter   Inhalt, 

Hegel,  Rechtsphilosophie.  19 


290  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

dann  ist  er  für  sich  frei,  hat  die  Freiheit  zum  Gegenstande, 
ist  die  Freiheit.  Was  nur  erst  nach  seinem  Begriffe  ist, 
was  an  sich  bloß  ist,  ist  nur  unmittelbar,  nur  natürlich. 
Dies  ist  uns  auch  in  der  Vorstellung  bekannt.  Das  Kind 
ist  an  sich  Mensch,  hat  erst  an  sich  Vernunft,  ist  erst 
Möglichkeit  der  Vernunft  und  der  Freiheit,  und  ist  nur 
so  dem  Begriff  nach  frei.  Was  nun  so  erst  an  sich  ist,  ist 
nicht  in  seiner  Wirklichkeit.  Der  Mensch,  der  an  sich  ver- 
nünftig ist,  muß  sich  durch  die  Produktion  seiner  selbst  durch- 
arbeiten durch  das  Hinausgehen  aus  sich,  aber  ebenso  durch 
das  Hineinbilden  in  sich,  daß  er  es  auch  für  sich  werde. 

10.  Zusatz  zu  §  11.  (Trieb  und  Freiheit.)  Triebe, 
Begierden,  Neigungen  hat  auch  das  Tier,  aber  das  Tier 
hat  keinen  Willen  und  muß  dem  Triebe  gehorchen,  wenn 
nichts  Äußeres  es  abhält.  Der  Mensch  steht  aber  als  das 
ganz  Unbestimmte  über  den  Trieben  und  kann  sie  als 
die  seinigen  bestimmen  und  setzen.  Der  Trieb  ist  in  der 
Natur,  aber  daß  ich  ihn  in  dieses  Ich  setze,  hängt  von 
meinem  Willen  ab,  der  sich  also  darauf,  daß  er  in  der 
Natur  liegt,  nicht  berufen  kann. 

11.  Zusatz  zu  §  13.  (Die  Wirklichkeit  des 
Wollens.)  Ein  Wille,  der  nichts  beschließt,  ist  kein 
wirklicher  Wille;  der  Charakterlose  kommt  nie  zum  Be- 
schließen. Der  Grund  des  Zaudeius  kann  auch  in  einer 
Zärtlichkeit  des  Gemüts  liegen,  welches  weiß,  daß  im 
Bestimmen  es  sich  mit  der  Endlichkeit  einläßt,  sich  eine 
Schranke  setzt,  und  die  Unendlichkeit  aufgibt:  es  will 
aber  nicht  der  Totalität  entsagen,  die  es  beabsichtigt.  Ein 
solches  Gemüt  ist  ein  totes,  wenn  es  auch  ein  schönes  sein 
will.  Wer  Großes  will,  sagt  Goethe,  muß  sich  beschränken 
können*).  Durch  das  Beschließen  allein  tritt  der  Mensch 
in  die  Wirklichkeit,  wie  sauer  es  ihm  auch  wird;  denn 
die  Trägheit  will  aus  dem  Brüten  in  sich  nicht  heraus- 
gehen, in  der  sie  sich  eine  allgemeine  Möglichkeit  bei- 
behält. Aber  Möglichkeit  ist  noch  nicht  Wirklichkeit. 
Der  Wille,  der  seiner  sicher  ist,  verliert  sich  darum  im 
Bestimmten  noch  nicht. 

12.  Zusatz  zu  §  15.  (Willkür  und  Partikularität.) 
Da  ich  die  Möglichkeit  habe,  mich  hier  oder  dort  zu 
bestimmen,    d.  h.    da    ich    wählen    kann,    so    besitze    ich 


*)  „Wer  Grroßes  will,  muß  sich  zusammenraffen;  In  der 
Beschränkung  zeigt  sich  erst  der  Meister."  Aus  dem  Sonett 
„Natur  imd  Kunst".     (Gedichte.    Epigrammatisch.) 


Zu  §  11-17.  291 

W,illkür,  was  man  gewöhnlich  Freiheit  nennt.  Die  Wahl, 
die  ich  habe,  liegt  in  der  Allgemeinheit  des  Willens,  daß 
ich  dieses  oder  jenes  zu  dem  Meinigen  machen  kann. 
Dies  Meinige  ist  als  besonderer  Inhalt  mir  nicht  ange- 
messen, ist  also  getrennt  von  mir,  und  nur  in  der  Möglich- 
keit das  Meinige  zu  sein,  sowie  ich  die  Möglichkeit  bin, 
mich  mit  ihm  zusammenzuschließen.  Die  Wahl  liegt  daher 
in  der  Unbestimmtheit  des  Ich.  und  in  der  Bestimmtheit 
eines  Inhalts.  Der  Wille  ist  also  dieses  Inhalts  willen  nicht 
frei,  obgleich  er  die  Seite  der  Unendlichkeit  formell  an 
sich  hat;  ihm  entspricht  keiner  dieser  Inhalte:  in  keinem 
hat  er  wahrhaft  sich  selbst.  In  der  Willkür  ist  das  ent- 
halten, daß  der  Inhalt  nicht  durch  die  Natur  meines 
Willens  bestimmt  ist  der  Meinige  zu  sein,  sondern  durch 
Zufälligkeit;  ich  bin  also  ebenso  abhängig  von  diesem 
Inhalt,  und  dies  ist  der  Widerspruch,  der  in  der  Willkür 
liegt.  Der  gewöhnliche  Mensch  glaubt  frei  zu  sein,  wenn 
ihm  willkürlich  zu  handeln  erlaubt  ist;  aber  gerade  in  der 
Willkür  liegt,  daß  er  nicht  frei  ist.  Wenn  ich  das  Ver- 
nünftige will,  so  handle  ich  nicht  als  partikulares  Indivi- 
duum, sondern  nach  den  Begriffen  der  Sittlichkeit  über- 
haupt; in  einer  sittlichen  Handlung  mache  ich  nicht  mich 
selbst,  sondern  die  Sache  geltend.  Der  Mensch  aber,  indem 
er  etwas  Verkehrtes  tut,  läßt  seine  Partikularität  am 
meisten  hervortreten.  Das  Vernünftige  ist  die  Landstraße, 
wo  jeder  geht,  wo  niemand  sich  auszeichnet.  Wenn  große 
Künstler  ein  Werk  vollenden,  so  kann  man  sagen:  so  muß 
es  sein;  d.  h.  des  Künstlers  Partikularität  ist  ganz  ver- 
schwunden und  keine  Manier  erscheint  darin.  Phidias 
hat  keine  Manier;  die  Gestalt  selbst  lebt  und  tritt  hervor. 
Aber  je  schlechter  der  Künstler  ist,  desto  mehr  sieht  man 
ihn  selbst,  seine  Partikularität  und  Willkür.  Bleibt  man 
bei  der  Betrachtung  in  der  Willkür  stehen,  daß  der  Mensch 
dieses  oder  jenes  wollen  könne,  so  ist  dies  allerdings  seine 
Freiheit;  aber  hält  man  die  Ansicht  fest,  daß  der  Inhalt 
ein  gegebener  sei,  so  wird  der  Mensch  dadurch  bestimmt 
und  ist  eben  nach  dieser  Seite  hin  nicht  mehr  frei. 

13.  Zusatz  zu  §  17.  (Der  Widerstreit  der  Triebe.) 
Die  Triebe  und  Neigungen  sind  zunächst  Inhalt  des  Willens, 
und  nur  die  Reflexion  steht  über  denselben;  aber  diese 
Triebe  werden  selbst  treibend,  drängen  einander,  stören 
sich,  und  wollen  alle  befriedigt  werden.  Wenn  ich  nun 
mit  Hintenansetzung  aller  anderen  mich  bloß  in  einen  der- 
selben hineinlege,  so  befinde  ich  mich  in  einer  zerstörenden 

19* 


292  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

Beschränktheit,  denn  ich  habe  meine  Allgemeinheit  eben 
dadurch  aufgegeben,  welche  ein  System  aller  Triebe  ist. 
Ebensowenig  ist  aber  mit  einem  bloßen  Unterordnen  der 
Triebe  geholfen,  worauf  der  Verstand  gewöhnlich  kommt, 
weil  hier  kein  Maß  dieser  Anordnung  zu  geben  ist  und 
die  Forderung  daher  gewöhnlich  in  die  Langweiligkeit  all- 
gemeiner Redensarten  ausläuft. 

14.  Zusatz  zu  §  18.  (Die  Lehre  von  der  Erb- 
sünde.) Die  christliche  Lehre,  daß  der  Mensch  von  Natur 
böse  sei,  steht  höher  wie  die  andere,  die  ihn  für  gut 
hält;  ihrer  philosophischen  Auslegung  zufolge  ist  sie  also 
zu  fassen.  Als  Geist  ist  der  Mensch  ein  freies  Wesen,  das 
die  Stellung  hat,  sich  nicht  durch  Naturimpulse  bestimmen 
zu  lassen.  Der  Mensch,  als  im  unmittelbaren  und  un- 
gebildeten Zustande,  ist  daher  in  einer  Lage,  in  der  er 
nicht  sein  soll  und  von  der  er  sich  befreien  muß.  Die 
Lehre  von  der  Erbsünde,  ohne  welche  das  Christentum 
nicht  die  Religion  der  Freiheit  wäre,  hat  diese  Bedeutung. 

15.  Zusatz  zu  §  20,  (Die  Glückseligkeit.)  In 
der  Glückseligkeit  hat  der  Gedanke  schon  eine  Macht 
über  die  Naturgewalt  der  Triebe,  indem  er  nicht  mit  dem 
Augenblicklichen  zufrieden  ist,  sondern  ein  Ganzes  von 
Glück  erheischt.  Es  hängt  dieses  insofern  mit  der  Bil- 
dung zusammen,  als  letztere  es  ebenfalls  ist,  welche  ein 
Allgemeines  geltend  macht.  In  dem  Ideal  von  Glück- 
seligkeit liegen  aber  zwei  Momente:  erstens  ein  Allge- 
meines, das  höher  ist  als  alle  Besonderheiten;  da  nun  aber 
der  Inhalt  dieses  Allgemeinen  wiederum  der  nur  allgemeine 
Genuß  ist,  so  tritt  hier  noch  einmal  das  Einzelne  und  Be- 
sondere, also  ein  Endliches  auf,  und  es  muß  auf  den  Trieb 
zurückgegangen  werden.  Indem  der  Inhalt  der  Glück- 
seligkeit in  der  Subjektivität  und  Empfindung  eines  jeden 
liegt,  ist  dieser  allgemeine  Zweck  seinerseits  partikular, 
und  in  ihm  also  noch  keine  wahre  Einheit  des  Inhalts 
und  der  Form  vorhanden. 

16.  Zusatz  zu  §21.  (Der  wahrhafte  Wille.)  Wahr- 
heit in  der  Philosophie  heißt  das,  daß  der  Begriff  der  Rea- 
lität entspreche.  Ein  Leib  ist  z.  B.  die  Realität,  die  Seele 
der  Begriff;  Seele  und  Leib  sollen  sich  aber  angemessen 
sein.  Ein  toter  Mensch  ist  daher  noch  eine  Existenz,  aber 
keine  wahrhafte  mehr,  ein  begriffloses  Dasein;  deswegen 
verfault  der  tote  Körper.  So  ist  der  wahrhafte  Wille,  daß 
das,  was  er  will,  sein  Inhalt,  identisch  mit  ihm  sei,  daß 
also  die  Freiheit  die  Freiheit  wolle. 


Zu  §  18-2G.  293 

17.  Zusatz    zu   §   22.     (Die   Unendlichkeit    des 
'    Willens.)     Man   hat  mit  Recht  die  Unendlichkeit  unt«r 

dem  Bilde  eines  Kreises  vorgestellt,  denn  die  gerade  Linie 
,    geht  hinaus  und  immer  weiter  hinaus    und  bezeichnet  die 
■    bloß  negative  schlechte  Unendlichkeit,  die  nicht  wie  die 
!    wahre  eine  Rückkehr  in  sich  selbst  hat.     Der  freie  Wille 
ist  wahrhaft  unendlich;  denn  er  ist  nicht  bloß  eine  Mög- 
lichkeit und  Anlage,  sondern  sein  äußerliches  Dasein  ist 
seine  Innerlichkeit,  er  selbst. 

18.  Zusatz  zu  §  26.  (Objektiver  und  subjektiver 
Wille.  Gewöhnlich  glaubt  man,  das  Subjektive  und  Ob- 
jektive stehe  sich  fest  einander  gegenüber.  Dies  ist  aber 
nicht  der  Fall,  da  es  vielmehr  ineinander  übergeht,  denn 
es  sind  keine  abstrakten  Bestimmungen,  wie  positiv  und 
negativ,  sondern  sie  haben  schon  eine  konkretere  Be- 
deutung. Betrachten  wir  zunächst  den  Ausdruck  subjektiv, 
so  kann  dies  heißen  ein  Zweck,  der  nur  der  eines  be- 
stimmten Subjekts  ist.  In  diesem  Sinne  ist  ein  sehr 
schlechtes  Kunstwerk,  das  die  Sache  nicht  erreicht,  ein 
bloß  subjektives.  Es  kann  aber  auch  ferner  dieser  Aus- 
druck auf  den  Inhalt  des  AVillens  gehen  und  ist  dann  un- 
gefähr mit  Willkürlichem  gleichbedeutend:  der  subjektive 
Inhalt  ist  der,  welcher  bloß  dem  Subjekte  angehört.  So 
sind  z.  B.  schlechte  Handlungen  bloß  subjektive.  Dann 
kann  aber  ebenso  jenes  reine  leere  Ich  subjektiv  genannt 
werden,  das  nur  sich  als  Gegenstand  hat,  und  von  allem 
weiteren  Inhalt  zu  abstrahieren  die  Kraft  besitzt.  Die  Sub- 
jektivität hat  also,  teils  eine  ganz  partikulare,  teils  eine 
hochberechtigte  Bedeutung,  indem  alles,  was  ich  aner- 
kennen soll,  auch  die  Aufgabe  hat,  ein  Meiniges  zu  werden, 
und  in  mir  Geltung  zu  erlangen.  Dies  ist  die  unendliche 
Habsucht  der  Subjektivität,  alles  in  dieser  einfachen  Quelle 
des  reinen  Ich  zusammenzufassen  und  zu  verzehren.  —  Nicht 
minder  kann  das  Objektive  verschieden  gefaßt  werden. 
Wir  können  darunter  alles  verstehen,  was  wir  uns  gegen- 
ständlich machen,  seien  es  wirkliche  Existenzen  oder  bloße 
Gedanken,  die  wir  uns  gegenüberstellen;  ebenso  begreift 
man  aber  auch  darunter  die  Unmittelbarkeit  des  Daseins, 
in  dem  der  Zweck  sich  realisieren  soll:  wenn  der  Zweck 
auch  selbst  ganz  partikular  und  subjektiv  ist,  so  nennen 
wir  ihn  doch  objektiv,  wenn  er  erscheint.  Aber  der  ob- 
jektive Wille  ist  auch  derjenige,  in  welchem  Wahrheit 
ist.  So  ist  Gottes  Wille,  der  sittliche  Wille  ein  objektiver. 
Endlich  kann  man  auch  den  Willen  objektiv  heißen,  der 


294  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

ganz  in  sein  Objekt  versenkt  ist,  den  kindlichen,  der  im 
Zutrauen,  ohne  subjektive  Freiheit  steht,  und  den  skla- 
vischen, der  sich  noch  nicht  als  frei  weiI3  und  deswegen 
ein  willenloser  Wille  ist.  Objektiv  ist  in  diesem  Sinne 
ein  jeder  Wille,  der  durch  fremde  Autorität  geleitet  handelt 
und  noch  nicht  die  unendliche  Rückkehr  in  sich  voll- 
endet hat. 

19.  Zusatz  zu  §  32.  (Die  Entwickelung  des  Be- 
griffs in  der  Wissenschaft  und  in  seinen  daseien- 
den Gestalten.)  Die  Idee  muß  sich  immer  weiter  in  sich 
bestimmen,  da  sie  im  Anfange  nur  erst  abstrakter  Bagriff 
ist.  Dieser  anfängliche  abstrakte  Begriff  wird  aber  nie 
aufgegeben,  sondern  er  wird  nur  immer  in  sich  reicher, 
und  die  letzte  Bestimmung  ist  somit  die  reichste.  Die  frülier 
nur  an  sich  seienden  Bestimmungen  kommen  dadurch  zu 
ihrer  freien  Selbständigkeit,  so  aber,  daß  der  Begriff 
die  Seele  bleibt,  die  alles  zusammenhält,  und  die  nur  durch 
ein  immanentes  Verfahren  zu  ihren  eigenen  Unterschieden 
gelangt.  Man  kann  daher  nicht  sagen,  daß  der  Begriff 
zu  etwas  Neuem  komme,  sondern  die  letzte  Bestimmung 
fällt  in  der  Einheit  mit  der  ersten  wieder  zusammen.  Wenn 
auch  so  der  Begriff  in  seinem  Dasein  auseinandergegangen 
scheint,  so  ist  dieses  eben  nur  ein  Schein,  der  sich  im 
Fortgange  als  solcher  aufweist,  indem  alle  Einzelnheiten 
in  den  Begriff  des  Allgemeinen  schließlich  wieder  zurück- 
kehren. In  den  empirischen  Wissenschaften  analysiert  man 
gewöhnlich  das,  was  in  der  Vorstellung  gefunden  wird,  und 
wenn  man  nun  das  Einzelne  auf  das  Gemeinschaftliche 
zurückgebracht  hat,  so  nennt  man  dieses  alsdann  den  Be- 
griff. So  verfahren  wir  nicht,  denn  wir  wollen  nur  zu- 
sehen, wie  sich  der  Begriff  selbst  bestimmt,  und  tun  uns 
die  Gewalt  an,  nichts  von  unserem  Meinen  und  Denken 
hinzugeben.  Was  wir  auf  diese  Weise  erhalten,  ist  aber 
eine  Reihe  von  Gedanken,  und  eine  andere  Reihe  daseiender 
Gestalten,  bei  denen  es  sich  fügen  kann,  daß  die  Ordnung 
der  Zeit  in  der  wirklichen  Erscheinung  zum  Teil  anders 
ist  als  die  Ordnung  des  Begriffs.  So  kann  man  z.  B.  nicht 
sagen,  daß  das  Eigentum  vor  der  Familie  dagewesen  sei, 
und  trotzdem  wird  es  vor  derselben  abgehandelt.  Man 
könnte  hier  also  die  Frage  aufwerfen,  warum  wir  nicht 
mit  dem  Höchsten,  d.  h.  mit  dem  konkret  'Wahren  be- 
ginnen. Die  Antwort  wird  sein,  weil  wir  eben  das  Wahre 
in  Form  eines  Resultates  sehen  wollen  und  dazu  wesentlich 
gehört,  zuerst  den  abstrakten  Begriff  selbst  zu  begreifen. 


Zu  §  32-33.  295 

Das,  was  wirklich  ist,  die  Gestalt  des  Begriffes,  ist  uns 
somit  erst  das  Folgende  und  Weitere,  wenn  es  auch  in  der 
Wirklichkeit  selbst  das  Erste  wäre.  Unser  Fortgang  ist 
der,  daß  die  abstrakten  Formen  sich  nicht  als  für  sich 
bestehend,  sondern  als  unwahre  aufweisen. 

20.  Zusatz  zu  §  33.  (Die  Stufenreihe  der  Ver- 
wirklichungen der  Freiheit.)  Wenn  wir  hier  vom 
Rechte  sprechen,  so  meinen  wir  nicht  bloß  das  bürgerliche 
Recht,  das  man  gewöhnlich  darunter  versteht,  sondern  Mo- 
ralität,  Sittlichkeit  und  Weltgeschichte,  die  ebenfalls  hier- 
her gehören,  weil  der  Begriff  die  Gedanken  der  Wahr- 
heit nach  zusammenbringt.  Der  freie  Wille  muß  sich  zu- 
nächst, um  nicht  abstrakt  zu  bleiben,  ein  Dasein  geben, 
und  das  erste  sinnliche  Material  dieses  Daseins  sind  die 
Sachen,  d.  h.  die  äußeren  Dinge.  Diese  erste  Weise 
der  Freiheit  ist  die,  welche  wir  als  Eigentum  kennen 
sollen,  die  Sphäre  des  formellen  und  abstrakten  Rechts, 
wozu  nicht  minder  das  Eigentum  in  seiner  vermittelten 
Gestalt  als  Vertrag,  und  das  Recht  in  seiner  Verletzung 
als  Verbrechen  und  Strafe  gehören.  Die  Freiheit,  die 
wir  hier  haben,  ist  das,  was  wir  Person  nennen,  d.  h. 
das  Subjekt,  das  frei  und  zwar  für  sich  frei  ist,  und 
sich  in  den  Sachen  ein  Dasein  gibt.  Diese  bloße  Unmittel- 
barkeit des  Daseins  aber  ist  der  Freiheit  nicht  angemessen, 
und  die  Negation  dieser  Bestimmung  ist  die  Sphäre  der 
M oral i tat.  Ich  bin  nicht  mehr  bloß  frei  in  dieser  un- 
mittelbaren Sache,  sondern  ich  bin  es  auch  in  der  auf- 
gehobenen Unmittelbarkeit,  d.  h.  ich  bin  es  in  mir  selbst, 
im  Subjektiven.  In  dieser  Sphäre  ist  es,  wo  es  auf 
meine  Einsicht  und  Absicht  und  auf  meinen  Zweck  an- 
kommt, indem  die  Äußerlichkeit  als  gleichgültig  gesetzt 
wird.  Das  Gute,  das  hier  der  allgemeine  Zweck  ist,  soll 
aber  nicht  bloß  in  meinem  Innern  bleiben,  sondern  es  soll 
sich  realisieren.  Der  subjektive  Wille  nämlich  fordert,  daß 
sein  Inneres,  d.  h.  sein  Zweck,  äußeres  Dasein  erhalte, 
daß  also  das  Gute  in  der  äußerlichen  Existenz  solle 
vollbracht  v^^erden.  Die  Moralität,  wie  das  frühere  Moment 
des  formellen  Rechts,  sind  beide  Abstraktionen,  deren 
Wahrheit  erst  die  Sittlichkeit  ist.  Die  Sittlichkeit  ist 
so  die  Einheit  des  Willens  in  seinem  Begriffe,  und  des 
Willens  des  Einzelnen,  d.  h.  des  Subjekts.  Ihr  erstes 
Dasein  ist  wiederum  ein  Natürliches,  in  Form  der  Liebe 
und  Empfindung,  die  Familie:  das  Individuum  iiat  hier 
seine  spröde  Persönlichkeit  aufgehoben,  und  befindet  sich 


296  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

mit  seinem  Bewußtsein  in  einem  Ganzen.  Aber  auf  der 
folgenden  Stufe  ist  der  Verlust  der  eigentlichen  Sittlich- 
keit und  der  substantiellen  Einheit  zu  sehen;  die  Familie 
zerfällt,  und  die  Glieder  verhalten  sich  als  selbständige 
zueinander,  indem  nur  das  Band  des  gegenseitigen  Bedürf- 
nisses sie  umschlingt.  Diese  Stufe  der  bürgerlichen 
Gesellschaft  hat  man  häufig  für  den  Staat  angesehen. 
Aber  der  Staat  ist  erst  das  Dritte,  die  Sittlichkeit,  und  der 
Geist,  in  welchem  die  ungeheure  Vereinigung  der  Selb- 
ständigkeit der  Individualität,  und  der  allgemeinen  Sub- 
stantialität  stattfindet.  Das  Recht  des  Staates  ist  daher 
höher  als  andere  Stufen:  es  ist  die  Freiheit  in  ihrer  kon- 
kretesten Gestaltung,  welche  nur  noch  unter  die  höchste 
absolute   Wahrheit   des  Weltgeistes   fällt. 

21.  Zusatz  zu  §34.  Abstraktheit  und  Unmittel- 
barkeit des  Willens.)  Wenn  gesagt  v^-ird,  der  an  und 
für  sich  freie  Wille,  wie  er  in  seinem  abstrakten  Begriffe 
ist,  sei  in  der  Bestimmtheit  der  Unmittelbarkeit,  so  muJß 
darunter  folgendes  verstanden  werden.  Die  vollendete 
Idee  des  Willens  wäre  der  Zustand,  in  welchem  der  Be- 
griff sich  völlig  realisiert  hätte,  und  in  welchem  das 
Dasein  desselben  nichts  als  die  Entwickelung  seiner  selbst 
wäre.  Im  Anfange  ist  der  Begriff  aber  abstrakt,  d.  h.  alle 
Bestimmungen  sind  zwar  in  ihm  enthalten,  aber  auch  nur 
enthalten:  sie  sind  nur  an  sich,  und  noch  nicht  zur  Totali- 
tät in  sich  selbst  entwickelt.  Wenn  ich  sage,  ich  bin 
frei,  so  ist  Ich  noch  dieses  gegensatzlose  Insichsein,  da- 
gegen im  Moralischen  schon  ein  Gegensatz  ist,  denn  da 
bin  ich  als  einzelner  Wille,  und  das  Gute  ist  das  All- 
gemeine, obgleich  es  in  mir  selbst  ist.  Hier  hat  der 
Wille  also  schon  die  Unterschiede  von  Einzelnheit  und 
Allgemeinheit  in  sich  selbst  und  ist  somit  bestimmt.  Aber 
im  Anfang  ist  ein  solcher  Unterschied  nicht  vorhanden, 
denn  in  der  ersten  abstrakten  Einheit  ist  noch  kein  Fort- 
gang und  keine  Vermitteln ng:  der  Wille  ist  so  in  der 
Form  der  Unmittelbarkeit,  des  Seins.  Die  wesentliche 
Einsicht,  die  hier  zu  erlangen  wäre,  ist  nun,  daß  diese 
erste  Unbestimmtheit  selbst  eine  Bestimmtheit  ist.  Denn 
die  Unbestimmtheit  liegt  darin,  daß  zwischen  dem  Willen 
und  seinem  Inhalt  noch  kein  Unterschied  ist;  aber  sie 
selbst,  dem  Bestimmten  entgegengesetzt,  fällt  in  die  Be- 
stimmung ein  Bestimmtes  zu  sein.  Die  abstrakte  Identität 
ist  es,  welche  hier  die  Bestimmtheit  ausmacht;  der  Wille 
wird  dadurch  einzelner  Wille  —  die  Person. 


Zu  §  34-41.  297 

22,  Zusatz  zu  §  35,  (Hoheit  und  Niedrigkeit 
■des  Begriffes  Person,)  Der  für  sich  seiende  oder 
abstrakte  Wille  ist  die  Person,  Das  Höchste  des  Menschen 
ist  Person  zu  sein,  aber  trotzdem  ist  die  bloße  Abstrak- 
tion Person  schon  im  Ausdruck  etwas  Verächtliches, 
Vom  Subjekte  ist  die  Person  wesentlich  verschieden;  denn 
das  Subjekt  ist  nur  die  Möglichkeit  der  Persönlichkeit, 
da  jedes  Lebendige  überhaupt  ein  Subjekt  ist.  Die  Person 
ist  also  das  Subjekt,  für  das  diese  Subjektivität  ist,  denn 
in  der  Person  bin  ich  schlechthin  für  mich:  sie  ist  die 
Einzelnheit  der  Freiheit  im  reinen  Fürsichsein,  Als  diese 
Person  weiß  ich  mich  frei  in  mir  selbst  und  kann  von 
allem  abstrahieren,  da  nichts  vor  mir  als  die  reine  Persön- 
lichkeit steht,  und  doch  bin  ich  als  Dieser  ein  ganz  Be- 
stimmtes: so  alt,  so  groß,  in  diesem  Kaume,  und  was 
alles  für  Partikularitäten  noch  sein  mögen.  Die  Person 
ist  also  in  Einem  das  Hohe  und  das  ganz  Niedrige;  es 
liegt  in  ihr  diese  Einheit  des  Unendlichen  und  schlecht- 
hin Endlichen,  der  bestimmten  Grenze  und  des  durchaus 
Grenzenlosen,  Die  Hoheit  der  Person  ist  es,  welche  diesen 
Widerspruch  aushalten  kann,  den  nichts  Natürliches  in 
sich  hat  oder  ertragen  könnte. 

23,  Zusatz  zu  §  37,  (Formelles  Recht  als  Be- 
fugnis.) Weil  die  Besonderheit  in  der  Person  noch  nicht 
als  Freiheit  vorhanden  ist,  so  ist  alles,  was  auf  die  Be- 
sonderheit ankommt,  hier  ein  Gleichgültiges,  Hat 
jemand  kein  Interesse  als  sein  formelles  Recht,  so  kann 
dieses  reiner  Eigensinn  sein,  wie  es  einem  beschränkten 
Herzen  und  Gemüte  oft  ztikommt;  denn  der  rohe  Mensch 
steift  sich  am  meisten  auf  sein  Recht,  indes  der  groß- 
artige Sinn  darauf  sieht,  was  die  Sache  sonst  noch  für 
Seiten  hat.  Das  abstrakte  Recht  ist  also  nur  erst  bloße 
Möglichkeit,  und  insofern  gegen  den  ganzen  Umfang  des 
Verhältnisses  etwas  Formelles,  Deshalb  gibt  die  recht- 
liche Bestimmung  eine  Befugnis,  aber  es  ist  nicht 
absolut  notwendig,  daß  ich  mein  Recht  verfolge,  weil 
es  nur  eine  Seite  des  ganzen  Verhältnisses  ist,  Mög- 
lichkeit ist  nämlich  Sein,  das  die  Bedeutung  hat,  auch 
nicht  zu  sein, 

24,  Zusatz  zu  §  41.  (Die  Vernünf tigkeit  des 
Eigentums.)  Das  Vernünftige  des  Eigentums  liegt  nicht 
in  der  Befriedigung  der  Bedürfnisse,  sondern  darin,  daß 
sich  die  bloße  Subjektivität  der  Persönlichkeit  aufhebt. 
Erst  im  Eigentume  ist  die  Person  als   Vernunft.     Wenn 


298  Zusätze  zu  -Hegels  Rechtsphilosophie. 

auch  diese  erste  Realität  meiner  Freiheit  in  einer  äuiJerlicheii 
Sache,  somit  eine  schlechte  Realität  ist,   so  kann  die  ab- 
strakte Persönlichkeit  eben  in  ihrer  Unmittelbarkeit  kei 
anderes  Dasein,  als  in  der  Bestimmung  der  Unmittelbar- 
keit haben. 

25.  Zusatz  zu  §  42.  (Das  Äui3erliche.)  Da  der 
Sache  die  Subjektivität  abgeht,  ist  sie  nicht  bIoi3  dem 
Subjekte,  sondern  sich  selbst  das  Äußerliche.  Raum  uni 
Zeit  sind  auf  diese  Weise  äußerlich.  Ich  als  sinnlicli. 
bin  selbst  äußerlich,  räumlich  und  zeitlich.  Ich,  inde: 
ich  sinnliche  Anschauungen  habe,  habe  sie  von  etwas,  d: 
sich  selbst  äußerlich  ist.  Das  Tier  kann  anschauen,  aber 
die  Seele  des  Tieres  hat  nicht  die  Seele,  nicht  sich  selbst 
zum  Gegenstand,  sondern  ein  Äußerliches. 

26.  Zusatz  zu  §  44.  (Der  Idealismus  des  Willens,  i 
Alle  Dinge  können  Eigentum  des  Menschen  werden,  wl^ 
dieser  freier  Wille,  und  als  solcher  an  und  für  sich  is-, 
das  Entgegenstehende  aber  diese  Eigenschaft  nicht  ha  . 
Jeder  hat  also  das  Recht,  seinen  \VilIen  zur  Sache  zu 
machen,  oder  die  Sache  zu  seinem  Willen,  d.  h.  mit 
anderen  Worten,  die  Sache  aufzuheben  und  zu  der  seinigen 
umzuschaffen;  denn  die  Sache  als  Äußerlichkeit  hat  keinen 
Selbstzweck,  ist  nicht  die  unendliche  Beziehung  ihrer  au 
sich  selbst,  sondern  sich  selbst  ein  Äußerliches.  Er. 
solches  Äußerliche  ist  auch  das  Lebendige  (das  Tieri. 
und  insofern  selber  eine  Sache.  Nur  der  Wille  ist  da.- 
Unendliche,  gegen  alles  andere  Absolute,  während  das 
andere  seinerseits  nur  relativ  ist.  Sich  zueignen  heißt 
im  Grunde  somit  nur  die  Hoheit  meines  Willens  gegen  di 
Sache  manifestieren  und  aufv.-eisen,  daß  diese  nicht  a;: 
und  für  sich,  nicht  Selbstzweck  ist.  Diese  Manifestation 
geschieht  dadurch,  daß  ich  in  die  Sache  einen  anderen 
Zweck  lege,  als  sie  unmittelbar  hatte:  ich  gebe  dem 
Lebendigen  als  meinem  Eigentum  eine  andere  Seele,  als 
es  hatte;  ich  gebe  ihm  meine  Seele.  Der  freie  Wille  ist 
somit  der  Idealismus,  der  die  Dinge  nicht,  wie  sie  sind, 
für  an  und  für  sich  hält,  während  der  Realismus  dieselben 
für  absolut  erklärt,  wenn  sie  sich  auch  nur  in  der  Form 
der  Endlichkeit  befinden.  Schon  das  Tier  hat  nicht  mehr 
diese  realistische  Philosophie,  denn  es  zehrt  die  Dinge 
auf  und  beweist  dadurch,  daß  sie  nicht  absolut  selb- 
ständig sind*). 


")  Vgl.  Phänom.,  Lassonsche  Ausg.  S.  73  (Phil.  Bibl.  ßd.  144). 


Zu  §  42-50.  299 

27.  Zusatz  zu  §  46.  (Privateigentum.)  Im  Eigen- 
tum ist  mein  Wille  persönlich,  die  Person  ist  aber  ein 
Dieses:  also  wird  das  Eigentum  das  Persönliche  dieses 
Willens.  Da  ich  meinem  Willen  Dasein  durch  das  Eigen- 
tum gebe,  so  muß  das  Eigentum  auch  die  Bestimmung 
haben,  das  Diese,  das  Meine  zu  sein.  Dies  ist  die  wich- 
tige Lehre  von  der  Notwendigkeit  des  Privateigentums, 
Wenn  Ausnahmen  durch  den  Staat  gemacht  werden  können, 
so  ist  es  doch  dieser  allein,  der  sie  machen  kann;  häufig 
ist  aber  von  demselben,  namentlich  in  unserer  Zeit,  das 
Privateigentum  wiederhergestellt  worden.  So  haben  z,  B. 
viele  Staaten  mit  Recht  die  Klöster  aufgehoben,  weil  ein 
Gemeinwesen  letztlich  kein  solches  Recht  am  Eigentum 
hat  als  die  Person. 

28.  Zusatz  zu  §  47.  (Rechtlosigkeit  des  Tieres.) 
Die  Tiere  haben  sich  zwar  im  Besitz;  ihre  Seele  ist  im 
Besitz  ihres  Körpers,  aber  sie  haben  kein  Recht  auf  ihr 
Leben,  weil  sie  es  nicht  wollen. 

29.  Zusatz  zu  §  49.  (Gleichheit  der  Güter.)  Die 
Gleichheit,  die  man  etwa  in  Beziehung  auf  die  Verteilung 
der  Güter  einführen  möchte,  würde,  da  das  Vermögen 
vom  Fleiß  abhängt,  ohnehin  in  kurzer  Zeit  wieder  zer- 
stört werden.  Was  sich  aber  nicht  ausführen  läßt,  das 
soll  auch  nicht  ausgeführt  werden.  Denn  die  Menschen 
sind  freilich  gleich,  aber  nur  als  Personen,  d.  h.  rück- 
sichtlich der  Quelle  ihres  Besitzes.  Demzufolge  müßte 
jeder  Mensch  Eigentum  haben.  "Will  man  daher  von  Gleich- 
heit sprechen,  so  ist  es  diese  Gleichheit,  die  man  be- 
trachten muß.  Außer  derselben  fällt  aber  die  Bestimmung 
der  Besonderheit,  die  Frage,  wieviel  ich  besitze.  Hier 
ist  die  Behauptung  falsch,  daß  die  Gerechtigkeit  fordere, 
das  Eigentum  eines  jeden  solle  gleich  sein;  denn  diese 
fordert  nur,  daß  jeder  Eigentum  haben  solle.  Vielmehr 
ist  die  Besonderheit  das,  wo  gerade  die  Ungleichheit  ihren 
Platz  hat,  und  die  Gleichheit  wäre  hier  Unrecht,  Es 
ist  ganz  richtig,  daß  die  Menschen  häufig  nach  den 
Gütern  der  anderen  Lust  bekommen;  dies  ist  aber  eben 
das  Unrecht,  denn  das  Recht  ist  das,  was  gleichgültig  gegen 
die  Besonderheit  bleibt. 

30.  Zusatz  zu  §  50.  (Erste  Besitzergreifung.) 
Die  bisherigen  Bestimmungen  betrafen  hauptsächlich  den 
Satz,  daß  die  Persönlichkeit  Dasein  im  Eigentum  haben 
müsse.  Daß  nun  der  erste  Besitzergreifende  auch  Eigen- 
tümer sei,  geht  aus  dem  Gesagten  hervor.    Der  Erste  ist 


300  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

nicht  dadurch  rechtlicher  Eigentümer,  weil  er  der  Erste- 
ist,  sondern  weil  er  freier  Wille  ist,  denn  erst  dadurch, 
daß  ein  anderer  nach  ihm  kommt,  wird  er  der  Erste. 

31.  Zusatz  zu  §  51.  (Besitzerklärung.)  Daß  die 
Person  ihren  Willen  in  eine  Sache  legt,  ist  erst  der  Begriff 
des  Eigentums,  und  das  weitere  ist  eben  die  Realisation 
desselben.  Mein  innerer  Willensaktus,  welcher  sagt,  daß 
etwas  mein  sei^  muß  auch  für  andere  erkennbar  werden. 
Mache  ich  eine  Sache  zur  meinigen,  so  gebe  ich  ihr  dieses 
Prädikat,  das  an  ihr  in  äußerlicher  Form  erscheinen  und 
nicht  bloß  in  meinem  inneren  Willen  stehen  bleiben  muß. 
Unter  Kindern  pflegt  es  zu  geschehen,  daß  diese  gegen 
die  Besitzergreifung  anderer  das  frühere  Wollen  hervor- 
heben; für  Erwachsene  ist  aber  dieses  Wollen  nicht  hin- 
reichend, denn  die  Form  der  Subjektivität  muß  entfernt 
werden    und  sich  zur  Objektivität  herausarbeiten. 

32.  Zusatz  zu  §  52.  (Form  und  Materie  des  Be- 
sitzes.) Fichte  hat  die  Frage  aufgeworfen,  ob,  wenn 
ich  die  Materie  formiere,  dieselbe  auch  mein  sei.  ^)  Es 
müßte  nach  ihm,  wenn  ich  aus  Gold  einen  Becher  ver- 
fertigt habe,  einem  anderen  freistehen,  das  Gold  zu  nehmen, 
wenn  er  nur  dadurch  meine  Arbeit  nicht  verletzt.  So 
trennbar  dies  auch  in  der  Vorstellung  ist,  so  ist  in  der 
Tat  dieser  Unterschied  eine  leere  Spitzfindigkeit;  denn 
wenn  ich  ein  Feld  in  Besitz  nehme  und  beackere,  so  ist 
nicht  nur  die  Furche  mein  Eigentum,  sondern  das  weitere, 
die  Erde,  die  dazu  gehört.  Ich  will  nämlich  diese  Materie, 
das  Ganze  in  Besitz  nehmen;  sie  bleibt  daher  nicht  herren- 
los, nicht  ihr  eigen.  Denn  wenn  die  Materie  auch  außer- 
halb der  Form  bleibt,  die  ich  dem  Gegenstande  gegeben 
habe,  so  ist  die  Form  eben  ein  Zeichen,  daß  die  Sache 
mein  sein  soll;  sie  bleibt  daher  nicht  außer  meinem 
Willen,  nicht  außerhalb  dessen,  was  ich  gewollt  habe.  Es 
ist  daher  nichts  da,  was  von  einem  anderen  in  Besitz  zu 
nehmen  wäre. 

33.  Zusatz  zu  §  54.  (Weisen  der  Besitznahme.) 
Diese  Weisen  der  Besitznahme  enthalten  den  Fortgang 
von  der  Bestimmung  der  Einzelnheit  zu  der  der  Allgemein- 
heit. Die  körperliche  Ergreifung  kann  nur  an  der  einzelnen 
Sache  stattfinden,  dagegen  die  Bezeichnung  die  Besitz- 
nahme durch  die  Vorstellung  ist.  Ich  verhalte  mich 
dabei  vorstellend    und  meine,   daß  die  Sache  nach  ihrer 

1)  Fichte,  Gnindl.  des  Naturrechts,  §  19  A. 


Zu  §51-58.  301 

Ganzheit  mein  sei,  nicht  bloß  der  Teil,  den  ich  körperlich 
in  Besitz  nehmen  kann. 

34.  Zusatz  zu  §  55.  (Körperliche  Besitznahme.) 
Die  Besitznahme  ist  ganz  vereinzelter  Art;  ich  nehme  nicht 
mehr  in  Besitz,  als  ich  mit  meinem  Körper  berühre.  Aber 
das  zweite  ist  sogleich,  daß  die  äußeren  Dinge  eine 
weitere  Ausdehnung  haben,  als  ich  fassen  kann.  Indem 
ich  so  etwas  in  Besitz  habe,  ist  auch  damit  ein  anderes 
in  Verbindung.  Ich  übe  die  Besitznahme  durch  die  Hand, 
aber  der  Bereich  derselben  kann  erweitert  werden.  Die 
Hand  ist  dieses  große  Organ,  das  kein  Tier  hat,  und  was 
ich  mit  ihr  fasse,  kann  selbst  ein  Mittel  werden,  womit 
ich  weiter  greife.  Wenn  ich  etwas  besitze,  so  geht  der 
Verstand  gleich  dahin  über,  daß  nicht  bloß  das  unmittel- 
bar Besessene,  sondern  das  damit  Zusammenhängende  mein 
sei.  Hier  muß  das  positive  Recht  seine  Feststellungen 
machen,  denn  aus  dem  Begriffe  läßt  sich  nichts  weiter 
herleiten. 

35.  Zusatz  zu  §  56.  (Die  Formierung).  Diese 
Formierung  kann  empirisch  die  verschiedenartigsten  Ge- 
stalten annehmen.  Der  Acker,  den  ich  bebaue,  wird  da- 
durch formiert.  In  Beziehung  auf  das  Unorganische  ist 
die  Formierung  nicht  immer  direkt.  Wenn  ich  z.  B.  eine 
Windmühle  baue,  so  habe  ich  die  Luft  nicht  formiert,  aber 
ich  mache  eine  Form  zur  Benutzung  der  Luft,  die  mir 
deswegen  nicht  genommen  werden  darf,  weil  ich  sie  selbst 
nicht  formiert  habe.  Auch,  daß  ich  Wild  schone,  kann 
als  eine  Weise  der  Formierung  angesehen  werden,  dem) 
es  ist  ein  Benehmen  in  Rücksicht  auf  die  Erhaltung  des 
Gegenstandes.  Nur  ist  freilich  die  Dressur  der  Tiere 
eine  direktere,  mehr  von  mir  ausgehende  Formierung. 

36.  Zusatz  zu  §  57.  (Die  Sklaverei.)  Hält  man 
die  Seite  fest,  daß  der  Mensch  an  und  für  sich  frei  sei, 
so  verdammt  man  damit  die  Sklaverei.  Aber  daß  jemand 
Sklave  ist,  liegt  in  seinem  eigenen  Willen,  so  wie  es  im 
Willen  eines  Volkes  liegt,  wenn  es  unterjocht  wird.  Es 
ist  somit  nicht  bloß  ein  Unrecht  derer,  welche  Sklaven 
machen  oder  welche  unterjochen,  sondern  der  Sklaven 
und  Unterjochten  selbst.  Die  Sklaverei  fällt  in  den  Über- 
gang von  der  Natürlichkeit  der  Menschen  zum  wahrhaft 
sittlichen  Zustande:  sie  fällt  in  eine  Welt,  wo  noch  ein 
Unrecht  Recht  ist.  Hier  gilt  das  Unrecht  und  befindet 
sich  ebenso  notwendig  an  seinem  Platz. 

37.  Zusatz  zu  §  58.     (Die  Bezeichnung  des  Be- 


302  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

Sitzes.)  Die  Besitznahme  durch  die  Bezeichnung  Ist  die 
vollliommenste  von  allen,  denn  auch  die  übrigen  Arter. 
haben  mehr  oder  minder  die  Wirkung  des  Zeichens  ah 
sich.  Wenn  ich  eine  Sache  ergreife  oder  formiere,  so 
ist  die  letzte  Bedeutung  ebenfalls  ein  Zeichen,  und  zwar 
für  andere,  um  diese  auszuschließen,  und  um  zu  zeigen, 
daß  ich  meinen  Willen  in  die  Sache  gelegt  habe.  Der 
Begriff  des  Zeichens  ist  nämlich,  daß  die  Sache  nicht 
gilt  als  das,  was  sie  ist,  sondern  als  das,  was  sie  bedeuten 
soll.  Die  Kokarde  bedeutet  z.  B.  das  Bürgersein  in  einem 
Staate,  obgleich  die  Farbe  mit  der  Nation  keinen  Zu- 
sammenhang hat  und  nicht  sich,  sondern  die  Nation  dar- 
stellt. Darin,  daß  der  Mensch  ein  Zeichen  geben  und 
durch  dieses  erwerben  kann,  zeigt  er  eben  seine  Herr- 
schaft über  die  Dinge. 

38.  Zusatz  zu  §  59.  (Der  Gebrauch.)  Wenn  ich 
im  Zeichen  die  Sache  überhaupt  auf  allgemeine  V/eise  in 
Besitz  nehme,  so  liegt  im  Gebrauche  noch  ein  allgemeineres 
Verhältnis,  indem  die  Sache  alsdann  nicht  in  ihrer  Be- 
sonderheit anerkannt,  sondern  von  mir  negiert  wird.  Die 
Sache  ist  zum  Mittel  der  Befriedigung  m,eines  Bedürf- 
nisses herabgesetzt.  Wenn  ich  und  die  Sache  zusammen- 
kommen, so  muß,  damit  wir  identisch  werden,  einer  seine 
Qualität  verlieren.  Ich  bin  aber  lebendig,  der  Wollende 
und  wahrhaft  Affirmative;  die  Sache  dagegen  ist  das 
Natürliche.  Diese  muß  also  zugrunde  gehen  und  ich  er- 
halte mich,  was  überhaupt  der  Vorzug  und  die  Vernunft 
des  Organischen  ist. 

39.  Zusatz  zu  §  61.  (Gebrauch  und  Eigentum.) 
Das  Verhältnis  des  Gebrauchs  zum  Eigentum  ist  dasselbe, 
wie  von  der  Substanz  zum  Accidentellen,  vom  Inneren 
zum  Äußeren,  von  der  Kraft  zu  der  Äußerung  derselben. 
Diese  letztere  ist  nur,  insofern  sie  sich  äußert;  der  Acker 
ist  nur  Acker,  insofern  er  Ertrag  hat.  Wer  also  den 
Gebrauch  eines  Ackers  hat,  ist  der  Eigentümer  des  Ganzen, 
und  es  ist  eine  leere  Abstraktion,  noch  ein  anderes  Eigen- 
tum am  Gegenstand  selbst  anzuerkennen. 

40.  Zusatz  zu  §  63.  (Der  Wert.)  Das  Qualitative 
verschwindet  hier  in  der  Form  des  Quantitativen.  Indem 
ich  nämlich  vom  Bedürfnis  spreche,  ist  dieses  der  Titel, 
worunter  die  vielfachsten  Dinge  sich  bringen  lassen,  und 
die  Gemeinsamkeit  derselben  macht,  daß  ich  sie  alsdann 
messen  kann.  Der  Fortgang  des  Gedankens  ist  hier  somit 
von  der  spezifischen  Qualität  der  Sache  zur  Gleichgültig- 


Zu  §  59-65.  303 

keit  dieser  Bestimmtheit,  also  zur  Quantität.  Ähnliches 
kommt  in  der  Mathematik  vor.  Definiere  ich  z.  B.,  was 
der  Kreis,  was  die  Ellipse  und  Parabel  sind,  so  sehen  wir, 
daß  sie  spezifisch  verschieden  gefunden  werden.  Trotzdem 
bestimmt  sich  der  Unterschied  dieser  verschiedenen  Kurven 
bloß  quantitativ,  so  nämlich,  daß  es  nur  auf  einen  quanti- 
tativen Unterschied  ankommt,  der  sich  auf  den  Koeffizienten 
allein,  auf  die  bloß  empirische  Größe  bezieht.  Im  Eigen- 
tum ist  die  quantitative  Bestimmtheit,  die  aus  der  qualita- 
tiven hervortritt,  der  Wert.  Das  Qualitative  gibt  hier 
das  Quantum  für  die  Quantität  und  ist  als  solches  ebenso 
erhalten,  wie  aufgehoben.  Betrachtet  man  den  Begriff  des 
Werts,  so  wird  die  Sache  selbst  nur  als  ein  Zeichen  an- 
gesehen und  sie  gilt  nicht  als  sie  selber,  sondern  als  das, 
was  sie  wert  ist.  Ein  Wechsel  z.  B.  stellt  nicht  seine  Papier- 
natur vor,  sondern  ist  nur  ein  Zeichen  eines  anderen  All- 
gemeinen, des  Wertes.  Der  Wert  einer  Sache  kann  sehr 
verschiedenartig  sein  in  Beziehung  auf  das  Bedürfnis;  wenn 
man  aber  nicht  das  Spezifische,  sondern  das  Abstrakte  des 
Wertes  ausdrücken  will,  so  ist  dieses  das  Geld.  Das  Geld 
repräsentiert  alle  Dinge,  aber  indem  es  nicht  das  Bedürfnis 
selbst  darstellt,  sondern  nur  ein  Zeichen  für  dasselbe  ist, 
wird  es  selbst  wieder  von  dem  spezifischen  Werte  regiert, 
den  es  als  Abstraktes  nur  ausdrückt.  Man  kann  überhaupt 
Eigentümer  einer  Sache  sein,  ohne  zugleich  der  ihres  Wertes 
zu  werden.  Eine  Familie,  die  ihr  Gut  nicht  verkaufen  oder 
verpfänden  kann,  ist  nicht  Herrin  des  Wertes.  Da  diese 
Form  des  Eigentums  aber  dem  Begriffe  desselben  unan- 
gemessen ist,  so  sind  solche  Beschränkungen  (Lehen,  Fidei- 
kommisse)    meistens   im   Verschwinden. 

41.  Zusatz  zu  §  64.  (Die  Verjährung.)  Die  Ver- 
jährung beruht  auf  der  Vermutung,  daß  ich  aufgehört  habe, 
die  Sache  als  die  meinige  zu  betrachten.  Denn  dazu,  daß 
etwas  das  Meinige  bleibe,  gehört  Fortdauer  meines  Willens, 
und  diese  zeigt  sich  durch  Gebrauch  oder  Aufbewahrung. 
—  Der  Verlust  des  Wertes  öffentlicher  Denkmale  hat  sich 
in  der  Reformation  häufig  bei  den  Meßstiftungen  erwiesen. 
Der  Geist  der  alten  Konfession,  d.  h.  der  Meßstiftungen 
war  entflogen,  und  sie  konnten  daher  als  Eigentum  in  Besitz 
genommen  werden. 

42.  Zusatz  zu  §  65.  (Entäußerung.)  Wenn  die 
Verjährung  eine  Entäußerung  mit  nicht  direkt  erklärtem 
Willen  ist,  so  ist  die  wahre  Entäußerung  eine  Erklärung 
des  Willens,  daß  ich  die  Sache  nicht  mehr  als  die  meinige 


304  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

ansehen  will.  Das  Ganze  kann  auch  so  gefaßt  werden,  daß 
die  Entäußerung  eine  wahre  Besitzergreifung  sei.  Die  un- 
mittelbare Besitznahme  ist  das  erste  Moment  des  Eigen- 
tums. Durch  den  Gebrauch  wird  ebenfalls  Eigentum  er- 
worben, und  das  dritte  Moment  ist  alsdann  die  Einheit 
beider,    Besitzergreifung   durch   Entäußerung. 

43.  Zusatz  zu  §  66.  (Unveräußerliche  Rechte.) 
Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  daß  der  Sklave  ein  abso- 
lutes Recht  hat,  sich  frei  zu  machen,  daß  wenn  jemand 
seine  Sittlichkeit  zu  Raub  und  Mord  verdungen  hat,  dieses 
an  und  für  sich  nichtig  ist,  und  jeder  die  Befugnis  besitzt, 
diesen  Vertrag  zurückzunehmen.  Ebenso  verhält  es  sich 
mit  der  Verdingung  der  Religiosität  an  einen  Priester, 
der  mein  Beichtvater  ist,  denn  solche  Innerlichkeit  hat  der 
Mensch  mit  sich  allein  abzumachen.  Eine  Religiosität, 
bei  welcher  der  eine  Teil  in  die  Hand  eines  anderen  gelegt 
wird,  ist  keine  Religiosität,  denn  der  Geist  ist  nur  einer, 
und  er  soll  in  mir  wohnen;  mir  soll  die  Vereinigung  des 
An-  und  Fürsichseins  angehören. 

44.  Zusatz  zu  §  67.  (Sklaverei  und  Gesindever- 
hältnis.) Der  hier  auseinandergesetzte  Unterschied  ist 
der  zwischen  einem  Sklaven  und  dem  heutigen  Gesinde, 
oder  einem  Tagelöhner.  Der  athenäische  Sklave  hatte 
vielleicht  leichtere  Verrichtung  und  geistigere  Arbeit  als 
in  der  Regel  unsere  Dienstboten,  aiber  er  war  dennoch 
Sklave,  weil  der  ganze  Umfang  seiner  Tätigkeit  dem  Herrn 
veräußert  war. 

45.  Zusatz  zu  §  70.  (Selbstmord.)  Die  einzelne 
Person  ist  allerdings  ein  Untergeordnetes,  das  dem  sitt- 
lichen Ganzen  sich  weihen  muß.  Wenn  der  Staat  daher 
das  Leben  fordert,  so  muß  das  Individuum  es  geben,  —  aber 
darf  der  Mensch  sich  selbst  das  Leben  nehmen?  Man 
kann  das  Sichtöten  zuvörderst  als  eine  Tapferkeit  ansehen, 
aber  als  eine  schlechte  von  Schneidern  und  Mägden. 
Dann  kann  es  wiederum  als  ein  Unglück  betrachtet  werden, 
indem  Zerrissenheit  des  Innern  dazu  führt;  aber  die  Haupt- 
frage ist,  habe  ich  ein  Recht  dazu?  Die  Antwort  wird 
sein,  daß  ich  als  dies  Individuum  nicht  Herr  über  mein 
Leben  bin,  denn  die  umfassende  Totalität  der  Tätigkeit, 
das  Leben,  ist  gegen  die  Persönlichkeit,  die  selbst  diese 
unmittelbar  ist,  kein  Äußerliches.  Spricht  man  also  von 
einem  Recht,  das  die  Person  über  ihr  Leben  habe,  so  ist 
dies  ein  Widerspruch,  denn  es  hieße,  die  Person  habe  ein 
Recht  über  sich.    Dieses  hat  sie  aber  nicht,  denn  sie  steht 


Zu  §  G6-76.  305 

nicht  über  sich  und  kann  sich  nicht  richten.  Wenn  Her- 
kules sich  verbrannte,  wenn  Brutus  sich  in  sein  Schwert 
stürzte,  so  ist  dieses  das  Benehmen  des  Heroen  gegen  seine 
Persönlichkeit;  aber  wenn  vom  einfachen  Recht,  sich  zu 
töten,  gehandelt  wird,  so  darf  dies  auch  den  Heroen  ab- 
gesprochen  werden. 

46.  Zusatz  zu  §  71.  (Der  allgemeine  Wille  als 
Fundament  des  Vertrages.)  Im  Vertrage  habe  ich 
Eigentum  durch  gemeinsamen  Willen;  es  ist  nämlich  das 
Interesse  der  Vernunft,  daß  der  subjektive  Wille  allge- 
meiner werde  und  sich  zu  dieser  Verwirklichung  erhebe. 
Die  Bestimmung  dieses  Willens  bleibt  also  im  Vertrage, 
aber  in  Gemeinsamkeit  mit  einem  anderen  Willen.  Der 
allgemeine  Wille  dagegen  tritt  hier  nur  noch  in  der  Form 
und  Gestalt  der  Gemeinsamkeit  auf. 

47.  Zusatz  zu  §  75.  (Die  Theorie  des  Staates  als 
Vertrages.)  In  neuerer  Zeit  ist  es  sehr  beliebt  gewesen, 
den  Staat  als  Vertrag  aller  mit  allen  anzusehen.  Alle 
schlössen,  sagt  man,  mit  dem  Fürsten  einen  Vertrag, 
und  dieser  wieder  mit  den  Untertanen.  Diese  Ansicht 
kommt  daher,  daß  man  oberflächlicherweise  nur  an  eine 
Einheit  verschiedener  Willen  denkt.  Im  Vertrage  aber 
sind  zwei  identische  Willen,  die  beide  Personen  sind  und 
Eigentümer  bleiben  wollen;  der  Vertrag  geht  also  von 
der  Willkür  der  Person  aus,  und  diesen  Ausgangspunkt  hat 
die  Ehe  ebenfalls  mit  dem  Vertrage  gemein.  Beim  Staat 
aber  ist  dies  gleich  anders,  denn  es  liegt  nicht  in  der  Willkür 
der  Individuen,  sich  vom  Staate  zu  trennen,  da  man  schon 
Bürger  desselben  nach  der  Naturseite  hin  ist.  Die  ver- 
nünftige Bestimmung  des  Menschen  ist,  im  Staate  zu  leben; 
und  ist  noch  kein  Staat  da,  so  ist  die  Forderung  der  Ver- 
nunft vorhanden,  daß  er  gegründet  werde.  Ein  Staat  muß 
eben  die  Erlaubnis  dazu  geben,  daß  man  in  ihn  trete  oder 
ihn  verlasse;  dies  ist  also  nicht  von  der  Willkür  der 
Einzelnen  abhängig,  und  der  Staat  beruht  somit  nicht  auf 
Vertrag,  der  Willkür  voraussetzt.  Es  ist  falsch,  wenn 
man  sagt,  es  sei  in  der  Willkür  aller,  einen  Staat  zu  gründen: 
es  ist  vielmehr  für  jeden  absolut  notwendig,  daß  er  im 
Staate  sei.  Der  große  Fortschritt  des  Staats  in  neuerer 
Zeit  ist,  daß  derselbe  Zweck  an  und  für  sich  bleibt  und 
nicht  jeder  in  Beziehung  auf  denselben  wie  im  Mittelalter 
nach  seiner  Privatstipulation  verfahren  darf. 

48.  Zusatz  zu  §  76.  (Der  reelle  Vertrag.)  Zum 
Vertrag  gehören  zwei  Einwilligungen  über  zwei  Sachen:  ich 

Hegel,  Eechtsphilosophie.  20 


306  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

will  nämlich  Eigentum  erv/erben  und  aufgeben.  Der  reeL 
Vertrag  ist  der,  wo  jeder  das  Ganze  tut,  Eigentum  aufgil^ 
und  erwirbt,  und  im  Aufgeben  Eigentümer  bleibt:  der  formeL 
Vertrag  ist,  wo  nur  einer  Eigentum  erwirbt  oder  auf  gib 

49.  Zusatz  zu  §  78.     (Zeichen  des  Vertrage/. 
Wie    wir    in   der    Lehre    vom    Eigentum    den    Unterschie 
zwischen    Eigentum    und    Besitz,    zwischen    dem    Substa- 
tiellen    und    bloß   Äußerlichen    hatten,    so    haben    wir   i: 
Vertrage  die  Differenz  zwischen  dem  gemeinsamen  Will" 
als  Übereinkunft    und  dem  besonderen  als  Leistung.     Ii. 
der  Natur   des   Vertrages   liegt  es,   daß   sowohl  der   ge- 
meinsame als  auch  der  besondere  Wille  sich  äußere,  v,-ei. 
hier  Wille  sich  zu  V/illen  verhält.     Die  Übereinkunft,  di- 
sich  in  einem  Zeichen  manifestiert,  und  die  Leistung  liegen 
daher    bei    gebildeten    Völkern    auseinander,    während    si^ 
bei  rohen  zusammenfallen  können.     In  den  Wäldern  v^ 
Ceylon  gibt  es  ein  handeltreibendes  Volk,  das  sein  Eigen- 
tum hinlegt    und  ruhig  erwartet,  bis  andere  kommen,  das 
Ihrige   dagegenzusetzen:   hier   ist   die   stumme   Erklärung 
des  Willens  von  der  Leistung  nicht  verschieden. 

50.  Zusatz  zu  §  80.  (Verpfändung.)  Beim  Ver- 
trage wurde  der  Unterschied  gemacht,  daß  durch  die 
Übereinkunft  (Stipulation)  zwar  das  Eigentum  mein  wird, 
ich  aber  den  Besitz  nicht  habe,  und  diesen  durch  Leistung 
erst  erhalten  soll.  Bin  ich  nun  schon  von  Hause  aus 
Eigentümer  der  Sache,  so  ist  die  Absicht  der  Verpfän- 
dung, daß  ich  zu  gleicher  Zeit  auch  in  den  Besitz  des 
Wertes  des  Eigentums  komme,  und  somit  schon  in  der 
Übereinkunft  die  Leistung  gesichert  werde.  Eine  besondere 
Art  der  Verpfändung  ist  die  Bürgschaft,  bei  welcher  jemand 
sein  Versprechen,  seinen  Kredit  für  meine  Leistung  einsetzt. 
Hier  wird  durch  die  Person  bewirkt,  was  bei  der  Verpfän- 
dung nur  sachlich  geschieht. 

51.  Zusatz  zu  §  81.  (Vertrag  und  Unrecht.)  Im 
Vertrage  hatten  wir  das  Verhältnis  zweier  Willen,  als 
eines  gemeinsamen.  Dieser  identische  Wille  ist  aber  nur 
relativ  allgemeiner,  gesetzter  allgemeiner  Wille,  und  so- 
mit noch  im  Gegensatz  gegen  den  besonderen  Willen.  In 
dem  Vertrage,  in  der  Übereinkunft  liegt  allerdings  das 
Recht,  die  Leistung  zu  verlangen;  diese  ist  aber  wieder- 
um Sache  des  besonderen  Willens,  der  als  solcher  dem 
an  sich  seienden  Recht  zuwider  handeln  kann.  Hier  also 
kommt  die  Negation,  die  früher  schon  im  an  sich  seienden 
Willen   lag,   zum  Vorschein,   und  diese  Negation  ist  eben 


Zu  §  78—83.  307 

das  Unrecht.  Der  Gang  überhaupt  ist,  den  Willen  von 
seiner  Unmittelbarkeit  zu  reinigen,  und  so  aus  der  Ge- 
meinsamkeit desselben  die  Besonderheit  hervorzurufen,  die 
gegen  sie  auftritt.  Im  Vertrage  behalten  die  Überein- 
kommenden noch  ihren  besonderen  Willen;  der  Vertrag 
ist  also  aus  der  Stufe  der  Willkür  noch  nicht  heraus 
und  bleibt  somit  dem  Unrechte  preisgegeben. 

52.  Zusatz  zu  §  82.  (Recht  und  Unrecht.)  Das 
Recht  an  sich,  der  allgemeine  Wille,  als  wesentlich  be- 
stimmt durch  den  besonderen,  ist  in  Beziehung  auf  ein 
Unwesentliches.  Es  ist  das  Verhältnis  des  Wesens  zu  seiner 
Erscheinung.  Ist  die  Erscheinung  auch  dem  Wesen  ge- 
mäß, so  ist  sie  von  anderer  Seite  angesehen  demselben 
wieder  nicht  gemäß,  denn  die  Erscheinung  ist  die  Stufe 
der  Zufälligkeit,  das  Wesen  in  Beziehung  auf  Unwesent- 
liches. Im  Unrecht  aber  geht  die  Erscheinung  zum  Scheine 
fort.  Schein  ist  Dasein,  das  dem  Wesen  unangemessen  ist, 
das  leere  Abtrennen  und  Gesetztsein  des  Wesens,  so  daß 
an  beiden  der  Unterschied  als  Verschiedenheit  ist.  Der 
Schein  ist  daher  das  Unwahre,  welches  verschwindet,  in- 
dem es  für  sich  sein  will;  und  an  diesem  Verschwinden 
hat  das  Wesen  sich  als  Wesen,  d.  h.  als  Macht  des 
Scheins  gezeigt.  Das  Wesen  hat  die  Negation  seiner 
negiert  und  ist  so  das  Bekräftigte.  Das  Unrecht  ist  ein 
solcher  Schein,  und  durch  das  Verschwinden  desselben  er- 
hält das  Recht  die  Bestimmung  eines  Festen  und  Gel- 
tenden. Was  wir  eben  Wesen  nannten,  ist  das  Recht  an 
sich,  dem  gegenüber  der  besondere  Wille  als  unwahr  sich 
aufhebt.  Wenn  es  früher  nur  ein  unmittelbares  Sein  hatte, 
so  wird  es  jetzt  wirklich,  indem  es  aus  seiner  Negation 
zurückkehrt;  denn  Wirklichkeit  ist  das,  was  wirkt  und 
sich  in  seinem  Anderssein  erhält,  während  das  Unmittel- 
bare  noch   für  die  Negation  empfänglich  ist. 

53.  Zusatz  zu  §  83.  (Die  Arten  des  Unrechts.) 
Das  Unrecht  ist  also  der  Schein  des  Wesens,  der  sich  als 
selbständig  setzt.  Ist  der  Schein  nur  an  sich  und  nicht 
auch  für  sich,  d.  h.,  gilt  mir  das  Unrecht  für  Recht, 
so  ist  dasselbe  hier  unbefangen.  Der  Schein  ist  hier  für 
das  Recht,  nicht  aber  für  mich.  Das  zweite  Unrecht  ist 
der  Betrug.  Hier  ist  das  Unrecht  kein  Schein  für  das  Recht 
an  sich,  sondern  es  findet  so  statt,  daß  ich  dem  anderen 
einen  Schein  vormache.  Indem  ich  betrüge,  ist  für  mich 
das  Recht  ein  Schein.  Im  ersten  Falle  war  für  das  Recht 
das  Unrecht  ein  Schein.     Im  zweiten  ist  mir  selber,  als 

20* 


308  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

dem  Unrecht,  das  Recht  nur  ein  Schein.  Das  dritte  Unrecht 
ist  endlich  das  Verbrechen.  Dies  ist  an  sich  und  für  mich 
Unrecht:  ich  will  aber  hier  das  Unrecht  und  gebrauche  auch 
den  Schein  des  Rechts  nicht.  Der  andere,  gegen  den 
das  Verbrechen  geschieht,  soll  das  an  und  für  sich  seiende 
Unrecht  nicht  als  Recht  ansehen.  Der  Unterschied  zwischen 
Verbrechen  und  Betrug  ist,  daß  in  diesem  in  der  Form 
des  Tuns  noch  eine  Anerkennung  des  Rechts  liegt,  was 
bei  dem  Verbrechen  ebenfalls  fehlt. 

54.  Zusatz  zu  §  86.  (Der  Rechtsstreit.)  Was  an 
sich  Recht  ist,  hat  einen  bestimmten  Grund,  und  mein 
Unrecht,  das  ich  für  Recht  halte,  verteidige  ich  auch  aus 
irgendeinem  Grunde.  Es  ist  die  Natur  des  Endlichen  und 
Besonderen,  Zufälligkeiten  Raum  zu  geben;  Kollisionen 
müssen  also  hier  stattfinden,  denn  wir  sind  hier  auf  der 
Stufe  des  Endlichen.  Dies  erste  Unrecht  negiert  nur  den 
besonderen  Willen,  während  das  allgemeine  Recht  respek- 
tiert wird,  es  ist  also  das  leichteste  Unrecht  überhaupt. 
Wenn  ich  sage,  eine  Rose  sei  nicht  rot,  so  erkenne  ich 
doch  noch  an,  daß  sie  Farbe  habe;  ich  leugne  daher  die 
Gattung  nicht  und  negiere  nur  das  Besondere,  das  Rote. 
Ebenso  wird  hier  das  Recht  anerkannt,  jede  Person  will 
das  Rechte,  und  ihr  soll  nur  werden,  was  das  Rechte  ist; 
ihr  Unrecht  besteht  nur  darin,  daß  sie  das,  w^as  sie  will, 
für  das  Recht  hält. 

55.  Zusatz  zu  §  87.  (Der  Betrug.)  Der  besondere 
Wille  wird  in  dieser  zweiten  Stufe  des  Unrechts  respektiert, 
aber  das  allgemeine  Recht  nicht.  Im  Betrüge  wird  der 
besondere  Wille  nicht  verletzt,  indem  dem  Betrogenen 
aufgebürdet  wird,  daß  ihm  Recht  geschehe.  Das  ge- 
forderte Recht  ist  also  als  ein  subjektives  und  bloß  schei- 
nendes gesetzt,  was  den  Betrug  ausmacht. 

56.  Zusatz  zu  §  89.  (Betrug  und  Strafe.)  Auf 
das  bürgerliche  und  unbefangene  Unrecht  ist  keine  Strafe 
gesetzt,  denn  ich  habe  hier  nichts  gegen  das  Recht  ge- 
wollt. Beim  Betrüge  hingegen  treten  Strafen  ein,  weil 
es  sich  hier  um  das  Recht  handelt,  das  verletzt  ist. 

57.  Zusatz  zu  §  90.  (Das  Verbrechen.)  Das 
eigentliche  Unrecht  ist  das  Verbrechen,  wo  weder  das 
Recht  an  sich,  noch,  wie  es  mir  scheint,  respektiert  wird, 
wo  also  beide  Seiten,  die  objektive  und  subjektive,  ver- 
letzt sind. 

58.  Zusatz  zu  §  93.  (Das  Recht  der  Heroen.)  Im 
Staat  kann  es  keine  Heroen  mehr  geben:  diese  kommen 


Zu  §  8Ü— 97.  309 

nur  im  ungebildeten  Zustande  vor.  Der  Zweck  derselben 
ist  ein  rechtlicher,  notwendiger  und  staatlicher,  und  diesen 
führen  sie  als  ihre  Sache  aus.  Die  Heroen,  die  Staaten 
stifteten.  Ehe  und  Ackerbau  einführten,  haben  dieses  frei- 
lich nicht  als  anerkanntes  Recht  getan,  und  diese  Hand- 
lungen erscheinen  noch  als  ihr  besonderer  Wille;  aber 
als  das  höhere  Recht  der  Idee  gegen  die  Natürlichkeit 
ist  dieser  Zwang  der  Heroen  ein  rechtlicher;  denn  in  Güte 
läßt  sich  gegen  die  Gewalt  der  Natur  wenig  ausrichten. 

59.  Zusatz  zu  §  94.  (Recht  und  Moral.)  Hier  ist 
der  Unterschied  zwischen  dem  Rechtlichen  und  Mora- 
lischen hauptsächlich  zu  berücksichtigen.  Bei  dem  Mo- 
ralischen, d.  h.  bei  der  Reflexion  in  mich,  ist  auch 
eine  Zweiheit,  denn  das  Gute  ist  mir  Zweck,  und  nach 
dieser  Idee  soll  ich  mich  bestimmen.  Das  Dasein  des 
Guten  ist  mein  Entschluß,  und  ich  verwirkliche  dasselbe 
in  mir,  aber  dieses  Dasein  ist  ganz  innerlich,  und  es  kann 
daher  kein  Zwang  stattfinden.  Die  Staatsgesetze  können 
sich  also  auf  die  Gesinnung  nicht  erstrecken  wollen,  denn 
im  Moralischen  bin  ich  für  mich  selbst,  und  die  Gewalt  hat 
hier  keinen  Sinn. 

60.  Zusatz  zu  §  96.  (Das  Strafmaß.)  Wie  ein  jedes 
Verbrechen  zu  bestrafen  sei,  läßt  sich  durch  den  Gedanken 
nicht  angeben,  sondern  hierzu  sind  positive  Bestimmungen 
notwendig.  Durch  das  Fortschreiten  der  Bildung  werden 
indessen  die  Ansichten  über  die  Verbrechen  milder,  und 
man  bestraft  heutzutage  lange  nicht  mehr  so  hart,  als 
man  es  vor  hundert  Jahren  getan.  Nicht  gerade  die 
Verbrechen  oder  die  Strafen  sind  es,  die  anders  werden, 
aber  ihr  Verhältnis. 

61.  Zusatz  zu  §  97.  (Der  Sinn  der  Strafe.)  Durch 
ein  Verbrechen  wird  irgend  etwas  verändert,  und  die  Sache 
existiert  in  dieser  Veränderung;  aber  diese  Existenz  ist 
das  Gegenteil  ihrer  selbst,  und  insofern  in  sich  nichtig. 
Das  Nichtige  ist  dies,  das  Recht  als  Recht  aufgehoben  zu 
haben.  Das  Recht  nämlich  als  Absolutes  ist  unaufhebbar, 
also  ist  die  Äußerung  des  Verbrechens  an  sich  nichtig,  und 
diese  Nichtigkeit  ist  das  Wesen  der  Wirkung  des  Ver- 
brechens. Was  aber  nichtig  ist,  muß  sich  als  solches 
manifestieren,  d.  h.  sich  als  selbst  verletzbar  hinstellen. 
Die  Tat  des  Verbrechens  ist  nicht  ein  Erstes,  Positives, 
zu  welchem  die  Strafe  als  Negation  käme,  sondern  ein 
Negatives,  so  daß  die  Strafe  nur  Negation  der  Negation 
ist.     Das  wirkliche  Recht  ist  nun  Aufhebung  dieser  Ver- 


310  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

letzung,   das   eben  darin  seine  Gültigkeit  zeigt    und  sich 
als    ein    notwendiges   vermitteltes    Dasein    bewährt. 

62.  Zusatz  zu  §  99.  (Die  Feuerbachische  Straf- 
theorie.) Die  Feuerbachische^)  Straftheorie  begründet 
die  Strafe  auf  Androhung  und  meint,  wenn  jemand  trotz 
derselben  ein  Verbrechen  begehe,  so  müsse  die  Strafe 
erfolgen,  weil  sie  der  Verbrecher  früher  gekannt  habe. 
Wie  steht  es  aber  mit  der  Rechtlichkeit  der  Drohung? 
Dieselbe  setzt  den  Menschen  als  nicht  Freien  voraus,  und 
will  durch  die  Vorstellung  eines  Übels  zwingen.  Das 
Recht  und  die  Gerechtigkeit  müssen  aber  ihren  Sitz  in 
der  Freiheit  und  im  Willen  haben,  und  nicht  in  der  Un- 
freiheit, an  welche  sich  die  Drohung  wendet.  Es  ist  mit 
der  Begründung  der  Strafe  auf  diese  Weise,  als  wenn 
man  gegen  einen  Hund  den  Stock  erhebt,  und  der  Mensch 
wird  nicht  nach  seiner  Ehre  und  Freiheit,  sondern  wie 
ein  Hund  behandelt.  Aber  die  Drohung,  die  im  Grunde 
den  Menschen  empören  kann,  daß  er  seine  Freiheit  gegen 
dieselbe  beweist,  stellt  die  Gerechtigkeit  ganz  beiseite.  Der 
psychologische  Zwang  kann  sich  nur  auf  den  qualitativen 
und  quantitativen  Unterschied  des  Verbrechens  beziehen, 
nicht  auf  die  Natur  des  Verbrechens  selbst,  und  die  Ge- 
setzbücher, die  etwa  aus  dieser  Lehre  hervorgegangen 
sind,   haben  somit  des  eigentlichen  Fundaments   entbehrt, 

63.  Zusatz  zu  §  100.  (Die  Todesstrafe.)  Was 
Beccaria  verlangt,  daß  der  Mensch  nämlich  seine  Einwilli- 
gung zur  Bestrafung  geben  müsse,  ist  ganz  richtig,  aber 
der  Verbrecher  erteilt  sie  schon,  durch  seine  Tat.  Es  ist 
ebensov/ohl  die  Natur  des  Verbrechens  wie  der  eigene 
Wille  des  Verbrechers,  daß  die  von  ihm  ausgehende  Ver- 
letzung aufgehoben  werde.  Trotzdem  hat  diese  Bemühung 
Beccarias,  die  Todesstrafe  aufheben  zu  lassen,  vorteil- 
hafte Wirkungen  hervorgebracht.  Wenn  auch  weder 
Josef  IL,  noch  die  Franzosen,  die  gänzliche  Abschaffung 
derselben  jemals  haben  durchsetzen  können,  so  hat  man 
doch  einzusehen  angefangen,  was  todeswürdige  Verbrechen 
seien,  und  was  nicht.  Die  Todesstrafe  ist  dadurch  seltener 
geworden,  wie  diese  höchste  Spitze  der  Strafe  es  auch 
verdient. 

64.  Zusatz  zu  §  lOL  (Die  Strafe  als  Vergel- 
tung.)    Die  Wiedervergeltung  ist  der  innere  Zusammen- 

»)  Feuerbach,  Paul  Joh.  Anselm  Ritter  von,  1775—1833, 
seit  1817  erster  Präsident  des  Appellationsgerichtes  in  Bamberg. 


Zu  §  99—102.  311 

hang  und  die  Identität  zweier  Bestimmungen,  die  als  ver- 
schieden erscheinen  und  auch  eine  verschiedene  äußere 
Existenz  gegeneinander  haben.  Indem  dem  Verbrecher 
vergolten  wird,  hat  dies  das  Ansehen  einer  fremden  Be- 
stimmung, die  ihm  nicht  angehört;  aber  die  Strafe  ist 
doch  nur,  wie  wir  gesehen  haben,  Manifestation  des  Ver- 
brechens, d.  h.,  die  andere  Hälfte,  die  die  eine  notwendig 
voraussetzt.  Was  die  Wiedervergeltung  zunächst  gegen 
sich  hat,  ist,  daß  sie  als  etwas  Unmoralisches,  als  Rache 
erscheint,  und  daß  sie  so  für  ein  Persönliches  gelten 
kann.  Aber  nicht  das  Persönliche,  sondern  der  Begriff 
führt  die  Wiedervergeltung  selbst  aus.  Die  Rache  ist 
mein,  sagt  Gott  in  der  Bibel;  und  wenn  man  in  dem  Worte 
Wieder  Vergeltung  etwa  die  Vorstellung  eines  besonderen 
Beliebens  des  subjektiven  Willens  haben  wollte,  so  muß 
gesagt  werden,  daß  es  nur  die  Umkehrung  der  Gestalt 
selbst  des  Verbrechens  gegen  sich  bedeutet.  Die  Eume- 
niden  schlafen,  aber  das  Verbrechen  weckt  sie,  und  so  ist 
es  die  eigene  Tat,  die  sich  geltend  macht.  Wenn  nun 
bei  der  Vergeltung  nicht  auf  spezifische  Gleichheit  ge- 
gangen werden  kann,  so  ist  dies  doch  anders  beim  Morde, 
worauf  notwendig  die  Todesstrafe  steht.  Denn  da  das 
Leben  der  ganze  Umfang  des  Daseins  ist,  so  kann  die 
Strafe  nicht  in  einem  Werte,  den  es  dafür  nicht  gibt, 
sondern  wiederum  nur  in  der  Entziehung  des  Lebens  be- 
stehen. 

65.  Zusatz  zu  §  102.  (Rache  als  Strafform.)  In 
einem  Zustande  der  Gesellschaft,  wo  weder  Richter  noch 
Gesetze  sind,  hat  die  Strafe  immer  die  Form  der  Rache, 
und  diese  bleibt  insofern  mangelhaft,  als  sie  die  Hand- 
lung eines  subjektiven  Willens,  also  nicht  dem  Inhalte 
gemäß  ist.  Die  Personen  des  Gerichts  sind  zwar  auch 
Personen,  aber  ihr  Wille  ist  der  allgemeine  des  Gesetzes, 
und  sie  wollen  nichts  in  die  Strafe  hineinlegen,  was  nicht 
in  der  Natur  der  Sache  sich  vorfindet.  Dagegen  erscheint 
dem  Verletzten  das  Unrecht  nicht  in  seiner  quantitativen 
und  qualitativen  Begrenzung,  sondern  nur  als  Unrecht 
überhaupt,  und  in  der  Vergeltung  kann  er  sich  übernehmen, 
was  wieder  zu  neuem  Unrechte  führen  würde.  Bei  un- 
gebildeten Völkern  ist  die  Rache  eine  unsterbliche,  wie 
bei  den  Arabern,  wo  sie  nur  durch  höhere  Gewalt  oder 
Unmöglichkeit  der  Ausübung  unterdrückt  werden  kann; 
und  in  mehreren  heutigen  Gesetzgebungen  ist  noch  ein 
Rest  von  Rache  übriggeblieben,  indem  es  den  Individuen 


312  Zusätze  za  Hegels  Rechtsphilosophie. 

überlassen  bleibt,  ob  sie  eine  Verletzung  vor  Gericht  bringen 
wollen  oder  nicht. 

66.  Zusatz  zu  §  104.  (Übergang  zur  Moralität.i 
Zur  Wahrheit  gehört,  daß  der  Begriff  sei,  und  daß  dieses 
Dasein  demselben  entspreche.  Im  Recht  hat  der  Wille  sein 
Dasein  in  einem  Äußerlichen;  das  Weitere  ist  aber,  daß 
der  Wille  dasselbe  in  ihm  selbst,  in  einem  Innerlichen  habe: 
er  muß  für  sich  selbst,  Subjektivität  sein,  und  sich  sich  selbst 
gegenüber  haben.  Dies  Verhalten  zu  sich  ist  das  Affir- 
mative, aber  dies  kann  er  nur  durch  Aufhebung  seiner 
Unmittelbarkeit  erlangen.  Die  im  Verbrechen  aufgehobene 
Unmittelbarkeit  führt  so  durch  die  Strafe,  d.  h.,  durch 
die  Nichtigkeit  dieser  Nichtigkeit  zur  Affirmation  —  zur 
Moralität. 

67.  Zusatz  zu  §  106.  (Die  Moralität  als  für  sich 
seiende  Freiheit.)  Beim  strengen  Recht  kam  es  nicht 
darauf  an,  was  mein  Grundsatz  oder  meine  Absicht  v;ar. 
Diese  Frage  nach  der  Selbstbestimmung  und  Triebfeder 
des  Willens,  wie  nach  dem  Vorsatze,  tritt  hier  nun  beim 
Moralischen  ein.  Indem  der  Mensch  nach  seiner  Selbst- 
bestimmung beurteilt  sein  will,  ist  er  in  dieser  Beziehung 
frei,  wie  die  äußeren  Bestimmungen  sich  auch  verhalten 
mögen.  In  diese  Überzeugung  des  Menschen  in  sich  kann 
man  nicht  einbrechen;  ihr  kann  keine  Gewalt  geschehen, 
und  der  moralische  Wille  ist  daher  unzugänglich.  Der 
Wert  des  Menschen  wird  nach  seiner  inneren  Handlung 
geschätzt,  und  somit  ist  der  moralische  Standpunkt  die 
für  sich  seiende  Freiheit. 

68.  Zusatz  zu  §  107.  (Die  Subjektivität  des 
Willens.)  Diese  ganze  Bestimmung  der  Subjektivität  des 
Willens  ist  wieder  ein  Ganzes,  das  als  Subjektivität  auch 
Objektivität  haben  muß.  Am  Subjekt  kann  sich  erst  die 
Freiheit  realisieren,  denn  es  ist  das  wahrhafte  Material 
zu  dieser  Realisation;  aber  dieses  Dasein  des  Willens, 
welches  wir  Subjektivität  nannten,  ist  verschieden  von 
dem  an  und  für  sich  seienden  Willen.  Von  dieser  anderen 
Einseitigkeit  der  bloßen  Subjektivität  muß  sich  der  Wille 
nämlich  befreien,  um  an  und  für  sich  seiender  Wille  zu 
werden.  In  der  Moralität  ist  es  das  eigentümliche  Interesse 
des  Menschen,  das  in  Frage  kommt,  und  dies  ist  eben  der 
hohe  Vfert  desselben,  daß  dieser  sich  selbst  als  absolut 
weiß  und  sich  bestimmt.  Der  ungebildete  Mensch  läßt 
sich  von  der  Gewalt  der  Stärke  und  von  Naturbestimmt- 
heiten alles   auferlegen,   die  Kinder   haben   keinen   mora- 


Zu  §104-112.  313 

lischen  Willen,  sondern  lassen  sich  von  ihren  Eltern  be- 
stimmen; aber  der  gebildete,  innerlich  werdende  Mensch 
will,  daß  er  selbst  in  allem  sei,  was  er  tut. 

69.  Zusatz  zu  §  108.  (Das  Sollen.)  Das  Selbst- 
bestimmen ist  in  der  Moralität  als  die  reine  Unruhe  und 
Tätigkeit  zu  denken,  die  noch  zu  keinem  was  ist  kommen 
kann.  Erst  im  Sittlichen  ist  der  Wille  identisch  mit  dem 
Begriff  des  Willens  und  hat  nur  diesen  zu  seinem  Inhalte. 
Im  Moralischen  verhält  sich  der  Wille  noch  zu  dem,  was 
an  sich  ist:  es  ist  also  der  Standpunkt  der  Differenz,  und 
der  Prozeß  dieses  Standpunktes  ist  die  Identifikation  des 
subjektiven  Willens  mit  dem  Begriff  desselben.  Das  Sollen, 
welches  daher  noch  in  der  Moralität  ist,  ist  erst  im  Sitt- 
lichen erreicht,  und  zwar  ist  dieses  andere,  zu  dem  der 
subjektive  Wille  in  einem  Verhältnis  steht,  ein  Doppeltes, 
einmal  das  Substantielle  des  Begriffs,  und  dann  das  äußer- 
lich Daseiende.  Vv^enn  das  Gute  auch  im  subjektiven 
Willen  gesetzt  wäre,  so  wäre  es  damit  noch  nicht  aus- 
geführt. 

70.  Zusatz  zu  §  110.  (Die  Geltung  der  Ab- 
sicht.) Der  Inhalt  des  subjektiven  oder  moralischen 
Willens  enthält  eine  eigene  Bestimmung:  er  soll  näm- 
lich, wenn  er  auch  die  Form  der  Objektivität  erlangt 
hat,  dennoch  meine  Subjektivität  immerfort  enthalten, 
und  die  Tat  soll  nur  gelten,  insofern  sie  innerlich 
von  mir  bestimmt,  mein  Vorsatz,  meine  Absicht  war. 
Mehr  als  in  meinem  subjektiven  Willen  lag,  erkenne  ich 
nicht  in  der  Äußerung  als  das  Meinige  an,  und  ich  verlange 
in  derselben  mein  subjektives  Bewußtsein  wiederzusehen. 

71.  Zusatz  zu  §  112.  (Die  Allgemeingültigkeit 
der  Moralität.)  Beim  formellen  Rechte  war  gesagt 
worden,  daß  es  nur  Verbote  enthalte,  daß  die  streng 
rechtliche  Handlung  also  eine  nur  negative  Be- 
stimmung in  Rücksicht  des  Willens  anderer  habe.  Im 
Moralischen  dagegen  ist  die  Bestimmung  meines  Willens 
in  Beziehung  auf  den  Willen  anderer  positiv,  d.  h. 
der  subjektive  "Wille  hat  in  dem,  was  er  realisiert,  den 
an  sich  seienden  Willen  als  ein  Innerliches.  Es  ist  hier 
eine  Hervorbringung,  oder  eine  A^eränderung  des  Daseins 
vorhanden,  und  dieses  hat  eine  Beziehung  auf  den  Willen 
anderer.  Der  Begriff  der  Moralität  ist  das  innerliche  Ver- 
halten des  Willens  zu  sich  selbst.  Aber  hier  ist  nicht 
nur  ein  Wille,  sondern  die  Objektivierung  hat  zugleich 
die  Bestimmung  in  sich,   daß  der   einzelne  Wille  in  der- 


314  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

selben  sich  aufhebt  und  damit  also  eben,  indem  die  Be- 
stimmung der  Einseitigkeit  wegfällt,  zwei  Willen,  und  eine 
positive  Beziehung  derselben  aufeinander  gesetzt  sind.  Im 
Rechte  kommt  es  nicht  darauf  an,  ob  der  Wille  der 
anderen  etwas  möchte  in  Beziehung  auf  meinen  Willen. 
der  sich  Dasein  im  Eigentum  gibt.  Im  Moralischen  da- 
gegen handelt  es  sich  um  das  Wohl  auch'  anderer,  und 
diese  positive  Beziehung  kann  erst  hier  eintreten. 

72.  Zusatz  zu  §  114.  (Die  Momente  der  mora- 
lischen Handlung.)  Jede  Handlung  muß,  um  moralisch 
zu  sein,  zunächst  mit  meinem  Vorsatze  übereinstimmen; 
denn  das  Recht  des  moralischen  Willens  ist,  daß  im  Dasein 
desselben  nur  anerkannt  werde,  was  innerlich  als  Vorsatz 
bestand.  Der  Vorsatz  betrifft  nur  das  Formelle,  daß  der 
äußerliche  Wille  auch  als  Innerliches  in  mir  sei.  Dagegen 
wird  in  dem  zweiten  Momente  nach  der  Absicht  der  Hand- 
lung gefragt,  nach  dem  relativen  Werte  der  Handlung 
in  Beziehung  auf  mich:  das  dritte  Moment  ist  endlich 
nicht  bloß  der  relative,  sondern  der  allgemeine  Wert  der 
Handlung,  das  Gute.  Der  erste  Bruch  der  Handlung  ist 
der  des  Vorgesetzten  und  des  Daseienden  und  Vor- 
gebrachten, der  zweite  Bruch  ist  zwischen  dem,  was  äußer- 
lich als  allgemeiner  Wille  da  ist,  und  der  innerlichen 
besonderen  Bestimmung,  die  ich  ihm  gebe,  das  dritte  endlich 
ist,  daß  die  Absicht  auch  der  allgemeine  Inhalt  sei.  Das 
Gute  ist  die  Absicht,  erhoben  zu  dem  Begriffe  des  W'illens. 

73.  Zusatz  zu  §  115.  (Die  Zurechnung.)  Zugerech- 
net kann  mir  das  werden,  was  in  meinem  Vorsatz  gelegen 
hat,  und  beim  Verbrechen  kommt  es  vornehmlich  darauf 
an.  Aber  in  der  Schuld  liegt  nur  noch  die  ganz  äußer- 
liche Beurteilung,  ob  ich  etwas  getan  habe  oder  nicht, 
und  daß  ich  schuld  an  etwas  bin,  macht  noch  nicht,  daß 
mir  die  Sache  imputiert  werden  könne. 

74.  Zusatz  zu  §  117.  (Verantwortlichkeit.)  Der 
Wille  hat  ein  Dasein  vor  sich,  auf  welches  er  handelt; 
um  dies  aber  zu  können,  muß  er  eine  Vorstellung  des- 
selben haben,  und  wahrhafte  Schuld  ist  nur  in  mir,  inso- 
fern das  vorliegende  Dasein  in  meinem  Wissen  lag.  Der 
Wille,  weil  er  eine  solche  Voraussetzung  hat,  ist  endlich, 
oder  vielmehr,  weil  er  endlich  ist,  hat  er  eine  solche 
Voraussetzung.  Insofern  ich  vernünftig  denke  und  will, 
bin  ich  nicht  auf  diesem  Standpunkte  der  Endlichkeit, 
denn  der  Gegenstand,  auf  den  ich  handle,  ist  nicht  ein 
anderes  gegen  mich;    aber  die  Endlichkeit   hat  die  stete 


Zu  §114-121.  315 

Grenze  und  Beschränktheit  an  sich.  Ich  habe  ein  anderes 
gegenüber,  das  nur  ein  Zufälliges,  ein  bloß  äußerlich 
Notwendiges  ist,  und  das  mit  mir  zusammenfallen  oder 
davon  verschieden  sein  kann.  Ich  bin  aber  nur,  was  in 
Beziehung  auf  meine  Freiheit  ist,  und  die  Tat  ist  nur 
Schuld  meines  Willens,  insofern  ich  darum  weiß,  Ödipus, 
der  seinen  Vater  erschlagen,  ohne  es  zu  wissen,  ist  nicht 
als  Vatermörder  anzuklagen;  aber  in  den  alten  Gesetz- 
gebungen hat  man  auf  das  Subjektive,  auf  die  Zurechnung 
nicht  so  viel  Wert  gelegt,  als  heute.  Darum  entstanden 
bei  den  Alten  die  Asyle,  damit  der  der  Rache  Entfliehende 
geschützt  und  aufgenommen  werde. 

75.  Zusatz  zu  §  118.  (Vorsatz  und  Absicht.) 
Darin,  daß  ich  nur  anerkenne,  was  meine  Vorstellung  war, 
liegt  der  Übergang  zur  Absicht.  Nur  das  nämlich,  was 
ich  von  den  Umständen  wußte,  kann  mir  zugerechnet 
werden.  Aber  es  gibt  notwendige  Folgen,  die  sich  an 
jede  Handlung  knüpfen,  wenn  ich  auch  nur  ein  Einzelnes, 
Unmittelbares  hervorbringe,  und  die  insofern  das  All- 
gemeine sind,  das  es  in  sich  hat.  Die  Folgen,  die  ge- 
hemmt werden  könnten,  kann  ich  zwar  nicht  voraussehen, 
aber  ich  muß  die  allgemeine  Natur  der  einzelnen  Tat 
kennen.  Die  Sache  ist  hier  nicht  das  Einzelne,  sondern 
das  Ganze,  das  sich  nicht  auf  das  Bestimmte  der  be- 
sonderen Handlung  bezieht,  sondern  auf  die  allgemeine 
Natur  derselben.  Der  Übergang  vom  Vorsatze  zur  Absicht 
ist  nun,  daß  ich  nicht  bloß  meine  einzelne  Handlung, 
sondern  das  Allgemeine,  das  mit  ihr  zusammenhängt, 
wissen  soll.  So  auftretend  ist  das  Allgemeine  das  von 
mir  Gewollte,  meine  Absicht. 

76.  Zusatz  zu  §  119.  (Dolus  indirectus.)  Es 
ist  allerdings  der  Fall,  daß  bei  einer  Handlung  mehr  oder 
weniger  Umstände  zuschlagen  können:  es  kann  bei  einer 
Brandstiftung  das  Feuer  nicht  auskommen  oder  auf  der 
anderen  Seite  dasselbe  weiter  greifen,  als  der  Täter  es 
wollte.  Trotzdem  ist  hier  keine  Unterscheidung  von  Glück 
und  Unglück  zu  machen,  denn  der  Mensch  muß  sich 
handelnd  mit  der  Äußerlichkeit  abgeben.  Ein  altes  Sprich- 
wort sagt  mit  Recht:  der  Stein,  der  aus  der  Hand  ge- 
worfen wird,  ist  des  Teufels.  Indem  ich  handele,  setze 
ich  mich  selbst  dem  Unglück  aus;  dieses  hat  also  ein 
Recht  an  mich,  und  ist  ein  Dasein  meines  eigenen  Wollens. 

77.  Zusatz  zu  §  121.  (Der  Beweggrund.)  Ich  für 
mich,  in  mich  reflektiert,  bin  noch  ein  Besonderes  gegen 


316  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

die  Äußerlichkeit  meiner  Handlung.  Mein  Zweck  macht 
den  bestimmenden  Inhalt  derselben  aus.  Mord  und  Brand 
z.  B.  sind  als  Allgemeines  noch  nicht  der  positive  Inhalt 
meiner  als  des  Subjekts.  Hat  jemand  dergleichen  Ver- 
brechen begangen,  so  fragt  man,  warum  er  sie  verübt 
hat.  Es  ist  nicht  der  Mord  des  Mordes  wegen  geschehen, 
sondern  es  war  dabei  noch  ein  besonderer  positiver  Zweck. 
Würden  wir  aber  sagen,  der  Mord  geschah  aus  Mordlust, 
so  wäre  die  Lust  schon  der  positive  Inhalt  des  Subjekts 
als  solcher,  und  die  Tat  ist  alsdann  die  Befriedigung 
des  Wollens  desselben.  Der  Beweggrund  einer  Tat  ist 
somit  näher  das,  was  man  das  Moralische  nennt,  und 
dieses  hat  insofern  den  gedoppelten  Sinn  des  Allgemeinen 
im  Vorsatze  und  des  Besonderen  der  Absicht.  In  den 
neueren  Zeiten  ist  es  vornehmlich  eingetreten,  daß  man 
bei  den  Handlungen  immer  nach  den  Beweggründen  fragt, 
während  man  sonst  bloß  fragte:  Ist  dieser  Mann  recht- 
schaffen? tut  er,  was  seine  Pflicht  ist?  Man  will  jetzt 
auf  das  Herz  sehen  und  setzt  dabei  einen  Bruch  des 
Objektiven  der  Handlungen  und  des  Inneren,  des  Sub- 
jektiven der  Beweggründe,  voraus.  Allerdings  ist  die 
Bestimmung  des  Subjekts  zu  betrachten:  es  will  etwas, 
das  in  ihm  begründet  ist;  es  will  seine  Lust  befriedigen, 
seiner  Leidenschaft  Genüge  tun.  Aber  das  Gute  und 
Rechte  ist  auch  ein  solcher  nicht  bloß  natürlicher,  sondern 
durch  meine  Vernünftigkeit  gesetzter  Inhalt;  meine  Frei- 
heit zum  Inhalt  meines  Willenis  gemacht,  ist  eine  reine 
Bestimmung  meiner  Freiheit  selbst.  Der  höhere  mora- 
lische Standpunkt  ist  daher,  in  der  Handlung  die  Be- 
friedigung zu  finden,  und  nicht  bei  dem  Bruche  zwischen 
dem  Selbstbewußtsein  des  Menschen  und  der  Objektivität 
der  Tat  stehen  zu  bleiben,  welche  Auffassungsweise  jedoch, 
sowohl  in  der  Weltgeschichte  als  in  der  Geschichte  der 
Individuen  ihre  Epochen  hat. 

78.  Zusatz  zu  §  123.  (Materielle  Zwecke.)  In- 
sofern die  Bestimmungen  der  Glückseligkeit  vorgefunden 
sind,  sind  sie  keine  wahren  Bestimmungen  der  Freiheit, 
welche  erst  in  ihrem  Selbstzwecke  im  Guten  sich  wahr- 
haft ist.  Hier  können  wir  die  Frage  auf  werfen:  hat  der 
Mensch  ein  Recht,  sich  solche  unfreie  Zwecke  zu  setzen, 
die  allein  darauf  beruhen,  daß  das  Subjekt  ein  Lebendiges 
ist?  Daß  der  Mensch  ein  Lebendiges  ist,  ist  aber  nicht 
zufällig,  sondern  vernunftgemäß,  und  insofern  hat  er  ein 
P.echt,    seine   Bedürfnisse   zu    seinem    Zweck    zu   machen. 


Zu  §  123—127.  317 

Es  ist  nichts  Herabwürdigendes  darin,  daß  jemand  lebt, 
und  ihm  steht  keine  höhere  Geistigkeit  gegenüber,  in  der 
man  existieren  könnte.  Nur  das  Heraulheben  des  Vor- 
gefundenen zu  einem  aus  sich  Erschaffenen,  gibt  den 
höheren  Kreis  des  Guten,  welche  Unterschiedenheit  indessen 
keine  Unverträglichkeit  beider  Seiten  in  sich  schließt. 

79.  Zusatz  zu  §  124.  (Wollen  und  Vollbringen.) 
In  magnis  voluisse  sat  est  hat  den  richtigen  Sinn,  daß 
man  etwas  Großes  wollen  solle,  aber  man  muß  auch  das 
Große  ausführen  können:  sonst  ist  es  ein  nichtiges  Wollen. 
Die  Lorbeeren  des  bloßen  Wollens  sind  trockene  Blätter, 
die  niemals  gegrünt  haben. 

80.  Zusatz  zu  §  126.  (Das  Wohl  und  das  Recht.) 
Hierher  gehört  die  berühmte  Antwort,  die  dem  Libellisten, 
der  sich  mit  einem  il  faut  donc  que  je  vive  entschuldigte, 
gegeben  wurde:  je  n'en  vois  pas  la  necessite.  Das  Leben 
ist  nicht  notwendig  gegen  das  Höhere  der  Freiheit.  Wenn 
der  heilige  Krispinus  Leder  zu  Schuhen  für  die  Armen 
stiehlt,  so  ist  die  Handlung  moralisch  und  unrechtlich, 
und  somit  ungültig. 

81.  Zusatz  zu  §  127.  (Das  Notrecht.)  Das  Leben, 
als  Gesamtheit  der  Zwecke,  hat  ein  Eecht  gegen  das 
abstrakte  Recht,  Wenn  es  z.  B.  durch  Stehlen  eines 
Brotes  gefristet  werden  kann,  so  ist  dadurch  zwar  das 
Eigentum  eines  Menschen  verletzt,  aber  es  wäre  unrecht, 
diese  Handlung  als  gewöhnlichen  Diebstahl  zu  betrachten. 
Sollte  dem  am  Leben  gefährdeten  Menschen  nicht  gestattet 
sein,  so  zu  verfahren,  daß  er  sich  erhalte,  so  würde  er 
als  rechtlos  bestimmt  sein,  und  indem  ihm  das  Leben 
abgesprochen  würde,  wäre  seine  ganze  Freiheit  negiert. 
Zur  Sicherung  des  Lebens  gehört  freilich  ein  Mannig- 
faches, und  sehen  wir  auf  die  Zukunft,  so  müssen  wir  uns 
auf  diese  Einzelnheiten  einlassen.  Aber  notwendig  ist  es 
nur,  jetzt  zu  leben,  die  Zukunft  ist  nicht  absolut  tmd 
bleibt  der  Zufälligkeit  anheimgestellt.  Daher  kann  nur 
die  Not  der  unmittelbaren  Gegenwart  zu  einer  unrecht- 
lichen Handlung  berechtigen,  weil  in  ihrer  Unterlassung 
selbst  wieder  das  Begehen  eines,  und  zwar  des  höchsten 
Unrechts,  läge,  nämlich  die  totale  Negation  des  Daseins 
der  Freiheit;  —  das  beneficium  competentiae  hat  hier 
seine  Stelle,  indem  in  verwandtschaftlichen  Beziehungen 
oder  in  anderen  Verhältnissen  der  Nähe,  das  Recht  liegt, 
zu  verlangen,  daß  man  nicht  gänzlich  dem  Rechte  hin- 
geopfert werde. 


318  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

82.  Zusatz  zu  §  129.  (Die  Idee  als  das  Gute.) 
Jede  Stufe  ist  eigentlich  die  Idee,  aber  die  früheren  ent- 
halten sie  nur  in  abstrakterer  Form.  So  ist  z.  B.  Ich  als 
Persönlichkeit  auch  schon  die  Idee,  aber  in  abstraktester 
Gestalt.  Das  Gute  ist  daher  die  weiter  bestimmte 
Idee,  die  Einheit  des  Begriffs  des  Willens  und  des  be- 
sonderen Willens.  Es  ist  nicht  ein  abstrakt  Rechtliches, 
sondern  ein  Inhaltvolles,  dessen  Gehalt  sowohl  das  Recht 
als  das  Wohl  ausmacht, 

83.  Zusatz  zu  §  131.  (Die  Momente  der  Idee  des 
Guten,)  Das  Gute  ist  die  Wahrheit  des  besonderen  Willens, 
aber  der  Wille  ist  nur  das,  wozu  er  sich  setzt;  er  ist  nicht 
von  Hause  aus  gut,  sondern  kann,  was  er  ist,  nur  durch 
seine  Arbeit  werden.  Andererseits  ist  das  Gute  ohne  den 
subjektiven  Willen  selbst  nur  eine  Abstraktion  ohne 
Realität,  die  ihm  erst  durch  denselben  kommen  soll.  Die 
Entwicklung  des  Guten  enthält  demgemäß  die  drei  Stufen: 
1.  Daß  das  Gute  für  mich,  als  wollenden,  besonderer 
Wille  sei,  und  daß  ich  dasselbe  wisse,  2.  daß  man  sage, 
was  gut  sei,  und  die  besonderen  Bestimmungen  des  Guten 
entwickele,  3.  endlich  das  Bestimmen  des  Guten  für  sich, 
die  Besonderheit  des  Guten  als  unendliche,  für  sich  seiende 
Subjektivität.  Dieses  innerliche  Bestimmen  ist  das  Gewissen. 

84.  Zusatz  zu  §  133.  (Die  Absolutheit  der 
Pflicht.)  Das  Wesentliche  des  Willens  ist  mir  Pflicht: 
wenn  ich  nun  nichts  weiß,  als  daß  das  Gute  mir  Pflicht 
ist,  so  bleibe  ich  noch  beim  Abstrakten  derselben  stehen. 
Die  Pflicht  soll  ich  um  ihrer  selbst  willen  tun,  und  es 
ist  meine  eigene  Objektivität  im  wahrhaften  Sinne,  die  ich 
in  der  Pflicht  vollbringe;  indem  ich  sie  tue,  bin  ich  bei 
mir  selbst  und  frei.  Es  ist  das  Verdienst  und  der  hohe 
Standpunkt  der  Kantischen  Philosophie  im  Praktischen  ge- 
wesen, diese  Bedeutung  der  Pflicht  hervorgehoben  zu  haben. 

85.  Zusatz  zu  §  134.  (Die  Besonderung  der 
Pflichten.)  Es  ist  dies  dieselbige  Frage,  die  an  Jesus 
gerichtet  wurde,  als  man  von  ihm  wissen  wollte,  was 
getan  werden  solle,  das  ewige  Leben  zu  erlangen;  denn 
das  Allgemeine  des  Guten,  das  Abstrakte  ist  als  Abstraktes 
nicht  zu  vollbringen,  und  es  muß  dazu  noch  die  Bestim- 
mung der  Besonderheit  erhalten, 

86.  Zusatz  zu  §  135.  (Die  Unzulänglichkeit  des 
Kantischen  Imperativs.)  Wenn  wir  auch  oben  den 
Standpunkt  der  K  an  tischen  Philosophie  hervorhoben,  der, 
insofern  er  das  Gemäßsein  der  Pflicht  mit  der  Vernunft 


Zu  §  129—138.  ;}19 

aufstellt,  ein  erhabener  ist,  so  muß  doch  hier  der  Mangel 
aufgedeckt  werden,  daß  diesem  Standpunkte  alle  Gliede- 
rung fehlt.  Denn  der  Satz:  Betrachte,  ob  deine  Maxime 
könne  als  ein  allgemeiner  Grundsatz  aufgestellt  werden, 
wäre  sehr  gut,  wenn  wir  schon  bestimmte  Prinzipien  über 
das  hätten,  was  zu  tun  sei.  Indem  wir  nämlich  von  einem 
Prinzipe  verlangen,  es  solle  auch  Bestimmung  einer  all- 
gemeinen Gesetzgebung  sein  können,  so  setzt  eine  solche 
einen  Inhalt  schon  voraus,  und  wäre  dieser  da,  so  müßte 
die  Anwendung  leicht  werden.  Hier  aber  ist  der  Grund- 
satz selbst  noch  nicht  vorhanden,  und  das  Kriterium, 
daß  kein  Widerspruch  sein  solle,  erzeugt  nichts,  da,  wo 
nichts  ist,   auch  kein  Widerspruch  sein   kann. 

87.  Zusatz  zu  §  136.  (Die  Hoheit  des  Gewissens- 
standpunktes.) Man  kann  von  der  Pflicht  sehr  erhaben 
sprechen,  und  dieses  Reden  stellt  den  Menschen  höher 
und  macht  sein  Herz  weit;  aber  wenn  es  zu  keiner  Be- 
stimmung fortgeht,  wird  es  zuletzt  langweilig:  der  Geist 
fordert  eine  Besonderheit,  zu  der  er  berechtigt  ist.  Da- 
gegen ist  das  Gewissen  diese  tiefste  innerliche  Einsam- 
keit mit  sich,  wo  alles  Äußerliche,  und  alle  Beschränktheit 
verschwunden  ist,  diese  durchgängige  Zurückgezogenheit 
in  sich  selbst.  Der  Mensch  ist  als  Gewissen  von  den 
Zwecken  der  Besonderheit  nicht  mehr  gefesselt,  und  dieses 
ist  somit  ein  hoher  Standpunkt,  ein  Standpunkt  der  modernen 
Welt,  welche  erst  zu  diesem  Bewußtsein,  zu  diesem  Unter- 
gange in  sich  gekommen  ist.  Die  vorangegangenen  sinn- 
licheren Zeiten  haben  ein  Äußerliches  und  Gegebenes  vor 
sich,  sei  es  Religion  oder  Recht;  aber  das  Gewissen  weiß 
sich  selbst  als  das  Denken,  und  daß  dieses  mein  Denken 
das  allein  für  mich  Verpflichtende  ist. 

88.  Zusatz  zu  §  137.  (Die  Schranke  des  Ge- 
wissensstandpunktes.) Sprechen  wir  vom  Gewissen, 
so  kann  leicht  gedacht  werden,  daß  dasselbe  um  seiner 
Form  willen,  welche  das  abstrakt  Innerliche  ist,  schon 
an  und  für  sich  das  Wahrhafte  sei.  Aber  das  Gewissen 
als  Wahrhaftes  ist  diese  Bestimmung  seiner  selbst,  das 
zu  wollen,  was  an  und  für  sich  das  Gute  und  die  Pflicht 
ist.  Hier  aber  haben  wir  erst  mit  dem  abstrakt  Guten 
zu  tun,  und  das  Gewissen  ist  noch  ohne  diesen  objektiven 
Inhalt,  ist  nur  erst  die  unendliche  Gewißheit  seiner  selbst. 

89.  Zusatz  zu  §  138.  (Die  Subjektivität  als  Nega- 
tivität.)  Betrachten  wir  dieses  Verflüchtigen  näher,  und 
sehen  wir,   daß  in  diesen   einfachen   Begriff  alle  Bestim- 


320  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

mungen  aufgehen,  und  von  ihm  wieder  ausgehen  müssen, 
so  besteht  es  zunächst  darin,  daß  alles,  was  wir  als  Recht 
oder  als  Pflicht  anerkennen,  vom  Gedanken  als  ein  Nich- 
tiges, Beschränktes  und  durchaus  nicht  Absolutes  kann 
aufgewiesen  werden.  Dagegen  darf  die  Subjektivität,  wie 
sie  allen  Inhalt  in  sich  verflüchtigt,  auch  v/iederum  den- 
selben aus  sich  entwickeln.  Alles,  was  in  der  Sittlich- 
keit entsteht,  wird  durch  diese  Tätigkeit  des  Geistes  hervor- 
gebracht. Andererseits  ist  der  Mangel  dieses  Standpunkts, 
daß  er  ein  bloß  abstrakter  ist.  Wenn  ich  meine  Freiheit 
als  Substanz  in  mir  weiß,  so  bin  ich  tatlos  und  handele 
nicht.  Gehe  ich  aber  zu  Handlungen  fort,  suche  ich  nach 
Grundsätzen,  so  greife  ich  nach  Bestimmungen,  und  die 
Forderung  ist  alsdann,  daß  diese  aus  dem  Begriff  des 
freien  Willens  abgeleitet  seien.  Wenn  es  daher  recht  ist, 
das  Recht  und  die  Pflicht  in  die  Subjektivität  zu  ver- 
flüchtigen, so  ist  es  andererseits  unrecht,  wenn  diese  ab- 
strakte Grundlage  sich  nicht  wiederum  entwickelt.  Nur  in 
Zeiten,  wo  die  Wirklichkeit  eine  hohle  geist-  und  haltungs- 
lose Existenz  ist,  mag  es  dem  Individuum  gestattet  sein,  aus 
der  v/irklichen  in  die  innerliche  Lebendigkeit  zurück- 
zuf liehen.  Sokrates  stand  in  der  Zeit  des  Verderbens  der 
atheniensischen  Demokratie  auf;  er  verflüchtigte  das  Da- 
seiende, und  floh  in  sich  zurück,  um  dort  das  Rechte 
und  Gute  zu  suchen.  Auch  in  unserer  Zeit  findet  es 
mehr  oder  weniger  statt,  daß  die  Ehrfurcht  vor  dem  Be- 
stehenden nicht  mehr  vorhanden  ist,  und  daß  der  Mensch 
das  Geltende  als  seinen  Willen,  als  das  von  ihm  An- 
erkannte haben  will. 

90.  Zusatz  zu  §  139.  (Der  Ursprung  des  Bösen.) 
Die  abstrakte  Gewißheit,  die  sich  selbst  als  Grundlage 
von  allem  weiß,  hat  die  Möglichkeit  in  sich,  das  All- 
gemeine des  Begriffs  zu  wollen,  aber  auch  die,  einen 
besonderen  Inhalt  zum  Prinzipe  zu  machen,  und  zu  reali- 
sieren. Zum  Bösen,  welches  dieses  letztere  ist,  gehört 
somit  immer  die  Abstraktion  der  Gewißheit  seiner  selbst, 
und  nur  der  Mensch,  und  zwar  insofern  er  auch  böse  sein 
kann,  ist  gut.  Das  Gute  und  das  Böse  sind  untrennbar, 
und  ihre  Untrennbarkeit  liegt  darin,  daß  der  Begriff  sich 
gegenständlich  v/ird  und  als  Gegenstand  unmittelbar  die 
Bestimmung  des  Unterschieds  hat.  Der  böse  Wille  will 
ein  der  Allgemeinheit  des  Willens  Entgegengesetztes,  der 
gute  dagegen  verhält  sich  seinem  wahrhaften  Begriffe 
gemäß.  —  Die  Schwierigkeit  bei  der  Frage,  wie  der  Wille 


Zu  §  139.  321 

auch  könne  böse  sein,  kommt  gewöhnlich  daher,  daß  man 
sich  den  Willen  nur  in  positivem  Verhältnis  zu  sich  selbst 
denkt,  und  [sein  Wollen]  als  ein  Bestimmtes,  da.s  für  ihn 
ist,  als  das  Gute,  vorstellt. 

Aber  die  Frage  nach  dem  Ursprünge  des  Bösen 
hat  nun  den  näheren  Sinn:  wie  kommt  in  das  Posi- 
tive das  Negative  hinein?  Wird  bei  der  Erschaffung  der 
Welt  Gott  als  das  absolut  Positive  vorausgesetzt,  dann 
mag  man  sich  drehen,  wie  man  will,  das  Negative  ist 
in  diesem  Positiven  nicht  zu  erkennen;  denn  will  man  ein 
Zulassen  von  selten  Gottes  annehmen,  so  ist  solches  passives 
Verhältnis  ein  ungenügendes  und  nichtssagendes.  In  der 
mythologisch-religiösen  Vorstellung  wird  der  Ursprung  des 
Bösen  nicht  begriffen,  d.  h.  das  eine  wird  nicht  in  dem 
anderen  erkannt,  sondern  es  gibt  nur  eine  Vorstellung 
von  einem  Nacheinander  und  Nebeneinander,  so  daß  von 
außen  her  das  Negative  an  das  Positive  kommt.  Dies 
kann  aber  dem  Gedanken  nicht  genügen,  welcher  nach 
einem  Grunde  und  nach  einer  Notwendigkeit  verlangt 
und  im  Positiven  das  Negative  als  selbst  wurzelnd  auffassen 
will.  Die  Auflösung  nun,  wie  der  Begriff  dies  faßt,  ist 
im  Begriffe  schon  enthalten;  denn  der  Begriff,  oder  kon- 
kreter gesprochen,  die  Idee,  hat  wesentlich  das  an  sich, 
sich  zu  unterscheiden  und  sich  negativ  zu  setzen.  Bleibt 
man  bloß  beim  Positiven,  d.  h.  beim  rein  Guten  stehen, 
das  gut  in  seiner  Ursprünglichkeit  sein  soll,  so  ist  dies 
eine  leere  Bestimmung  des  Verstandes,  der  solch  Ab- 
straktes und  Einseitiges  festhält  und  dadurch,  daß  er  die 
Frage  stellt,  dieselbe  eben  zu  einer  schwierigen  erhebt. 
Von  dem  Standpunkte  aber  des  Begriffes  aus  wird  die 
Positivität  so  aufgefaßt,  daß  sie  Tätigkeit  und  Unter- 
scheidung ihrer  von  sich  selbst  ist.  Das  Böse  hat  also,  wie 
das  Gute  im  Willen  seinen  Ursprung,  und  der  Wille  ist 
in  seinem  Begriffe  sowohl  gut  als  böse.  Der  natürliche 
Wille  ist  an  sich  der  Widerspruch,  sich  von  sich  selbst 
zu  unterscheiden,  für  sich  und  innerlich  zu  sein. 

Wenn  man  nun  sagte,  das  Böse  enthält  die  nähere  Be- 
stimmung, daß  der  Mensch  böse  ist,  insofern  er  natürlicher 
Wille  ist,  so  würde  dies  der  gewöhnlichen  Vorstellung  ent- 
gegengesetzt sein,  welche  sich  gerade  den  natürlichen  Wil- 
len als  den  unschuldigen  und  guten  denkt.  Aber  der  natür- 
liche Wille  steht  dem  Inhalte  der  Freiheit  gegenüber, 
und  das  Kind,  der  ungebildete  Mensch,  die  diesen  ersteren 
haben,  sind  deswegen  einem  minderen  Grad  von  Zurech- 
ne gel,  Eechtsphilosophie.  21 


322  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

nungsfähigkeit  unterworfen.  Wenn  man  nun  vom  Menscher 
spricht,  so  meint  man  nicht  das  Kind,  sondern  den  selbst- 
bewußten Menschen;  wenn  man  vom  Guten  redet,  so  meint 
man  das  Wissen  desselben.  Nun  ist  freilich  das  Natür- 
liche an  sich  unbefangen,  weder  gut  noch  böse,  aber  das 
Natürliche,  bezogen  auf  den  Willen  als  Freiheit  und  als 
Wissen  derselben,  enthält  die  Bestimmung  des  Nichtfreien 
und  ist  daher  böse.  Insofern  der  Mensch  das  Natürliche 
will,  ist  dieses  nicht  mehr  das  bloß  Natürliche,  sondern 
das  Negative  gegen  das  Gute  als  den  Begriff  des  Willens. 
—  Wenn  man  nun  aber  sagen  wollte,  daß,  weil  das  Böse 
im  Begriffe  liegt  und  notwendig  ist,  der  Mensch  ohne 
Schuld  wäre,  wenn  er  es  ergriffe;  so  muß  erwidert  werden, 
daß  die  Entschließung  des  Menschen  eigenes  Tun,  das 
Tun  seiner  Freiheit  und  seiner  Schuld  ist.  Im  religiösen 
Mythos  wird  gesagt,  dadurch  sei  der  Mensch  gottähnlich, 
daß  er  die  Erkenntnis  vom  Guten  und  Bösen  habe;  und  die 
Gottähnlichkeit  ist  allerdings  vorhanden,  indem  die  Not- 
wendigkeit hier  keine  Naturnotwendigkeit,  sondern  die  Ent- 
schließung eben  die  Aufhebung  dieses  Gedoppelten,  des 
Guten  und  Bösen  ist.  Ich  habe,  da  das  Gute  wie  das  Böse 
mir  entgegensteht,  die  Wahl  zwischen  beiden,  kann  mich 
zu  beiden  entschließen  und  das  eine  wie  das  andere  in 
meine  Subjektivität  aufnehmen.  Es  ist  also  die  Natur 
des  Bösen,  daß  der  Mensch  es  wollen  kann,  aber  nicht 
notwendig  wollen  muß. 

91.  Zusatz  zu  §  140.  (Die  Sophistik  der  Mora- 
lität.)  Die  Vorstellung  kann  weiter  gehen,  und  sich 
den  bösen  Willen  in  den  Schein  des  Guten  verkehren. 
Wenn  sie  das  Böse  auch  seiner  Natur  nach  nicht  ver- 
ändern kann,  so  kann  sie  demselben  doch  den  Schein  ver- 
leihen, als  sei  es  das  Gute.  Denn  jede  Handlung  hat  ein 
Positives,  und  indem  sich  die  Bestimmung  des  Guten  gegen 
das  Böse  ebenfalls  auf  das  Positive  reduziert,  kann  ich 
die  Handlung  in  Beziehung  auf  meine  Absicht  als  gute 
behaupten.  Also  nicht  bloß  im  Bewußtsein,  sondern  auch 
von  der  positiven  Seite  steht  das  Böse  mit  dem  Guten  in 
Verbindung.  Gibt  das  Selbstbewußtsein  die  Handlung  nur 
für  andere  als  gut  aus,  so  ist  diese  Form  die  Heuchelei; 
vermag  es  aber  die  Tat  für  sich  selbst  als  gut  zu  behaupten, 
so  ist  dies  die  noch  höhere  Spitze  der  sich  als  das  Ab- 
solute wissenden  Subjektivität,  für  die  das  Gute  und  Böse, 
an  und  für  sich,  verschwunden  ist,  und  die  dafür  aus- 
geben kann,  was  sie  will  und  vermag.    Dies  ist  der  Stand- 


Zu  §  140.  323 

punkt  der  absoluten  Sophisterei,  die  sich  als  Gesetzgeberin 
aufvvirft  und  den  Unterschied  von  gut  und  böse  auf  ihre 
Willkür  bezieht.  Was  nun  die  Heuchelei  betrifft,  so  ge- 
hören z.  B.  vornehmlich  die  religiösen  Heuchler  (die  Tar- 
tüffes)  dahin,  die  sich  allen  Zeremonien  unterwerfen, 
auch  für  sich  fromm  sein  mögen,  nach  der  anderen  Seite 
aber  alles  tun,  was  sie  wollen.  Heutzutage  -spricht  man 
wenig  mehr  von  Heuchlern,  weil  einerseits  diese  Beschuldi- 
gung eine  zu  harte  scheint,  andererseits  aber  die  Heuchelei 
mehr  oder  weniger  in  ihrer  unmittelbaren  Gestalt  ver- 
schwunden ist.  Diese  bare  Lüge,  diese  Verdeckung  des 
Guten  ist  jetzt  zu  durchsichtig  geworden,  als  daß  man 
sie  nicht  durchschauen  sollte;  und  die  Trennung,  daß  man 
auf  der  einen  Seite  das  Gute,  auf  der  anderen  das  Böse 
tut,  ist  nicht  mehr  so  vorhanden,  seitdem  die  zunehmende 
Bildung  die  entgegengesetzten  Bestimmungen  schwankend 
gemacht  hat.  Die  feinere  Gestalt  dagegen,  die  die  Heu- 
chelei jetzt  angenommen  hat,  ist  die  des  Probabilismus, 
die  das  enthält,  daß  man  eine  Übertretung  als  etwas  Gutes 
für  das  eigene  Gewissen  vorstellig  zu  machen  sucht.  Sie 
kann  nur  eintreten,  wo  das  Moralische  und  Gute  durch 
eine  Autorität  bestimmt  ist,  so  daß  es  ebensoviel  Autori- 
täten als  Gründe  gibt,  das  Böse  als  Gutes  zu  behaupten. 
Kasuistische  Theologen,  besonders  Jesuiten,  haben  solche 
Gewissensfälle  bearbeitet  und  sie  ins  Unendliche  vermehrt. 
Indem  diese  Fälle  nun  zur  höchsten  Subtilität  ge- 
bracht werden,  entstehen  viele  Kollisionen,  und  die  Gegen- 
sätze des  Guten  und  Bösen  werden  so  schwankend,  daß 
sie  sich  in  Beziehung  auf  die  Einzelnheit  als  umschlagend 
beweisen.  Was  man  verlangt,  ist  nur  das  Probable, 
d.  h.  das  sich  annähernde  Gute,  das  mit  irgendeinem  Grunde, 
oder  irgendeiner  Autorität  belegt  werden  kann.  Dieser 
Standpunkt  hat  also  die  eigentümliche  Bestimmung,  daß 
er  nur  ein  Abstraktes  enthält  und  der  konkrete  Inhalt  als 
etwas  Unwesentliches  aufgestellt  wird,  der  vielmehr  der 
bloßen  Meinung  überlassen  bleibt.  So  kann  also  jemand 
ein  Verbrechen  begangen,  und  das  Gute  gewollt  haben; 
wenn  z.  B.  ein  Böser  gemordet  wird,  so  kann  für  die  po- 
sitive Seite  das  ausgegeben  werden,  daß  man  dem  Bösen 
habe  widerstehen  und  es  habe  vermindern  wollen.  Der 
weitere  Fortgang  vom  Probabilismus  ist  nun,  daß  es  nicht 
mehr  auf  die  Autorität  und  die  Behauptung  eines  anderen, 
sondern  auf  das  Subjekt  selbst  ankommt,  d.  h.  auf  seine 
Überzeugung,  und  daß  nur  etwas  durch  sie  gut  werden 

21* 


324  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

kann.  Das  Mangelhafte  ist  hier,  daß  es  bloß  auf  die  Über- 
zeugung sich  beziehen  soll,  und  daß  es  kein  an  und  für 
sich  seiendes  Recht  mehr  gibt,  für  welches  diese  Über- 
zeugung nur  die  Form  wäre.  Es  ist  allerdings  nicht  gleich- 
gültig, ob  ich  etwas  aus  Gewohnheit  und  Sitte,  oder  von 
der  Wahrheit  desselben  durchdrungen  tue,  aber  die  ob- 
iektive  Wahrheit  ist  von  meiner  Überzeugung  auch  ver- 
schieden; denn  diese  letztere  hat  den  Unterschied  von  gut 
und  böse  gar  nicht,  da  Überzeugung  stets  Überzeugung  ist, 
und  schlecht  nur  das  wäre,  von  dem  ich  nicht  überzeugt 
bin.  Indem  dieser  Standpunkt  nun  ein  höchster,  das  Guie 
und  Böse  auslöschender  ist,  wird  dabei  zugegeben,  dieses 
Höchste  sei  auch  der  Irrung  ausgesetzt,  und  insofern  wird 
es  von  seiner  Höhe  herab  wieder  zufällig  und  scheint  keine 
Achtung  zu  verdienen.  Diese  Form  nun  ist  die  Ironie, 
das  Bewußtsein,  daß  es  mit  solchem  Prinzip  der  Über- 
zeugung nicht  weit  her  sei,  und  daß  in  diesem  höchsten 
Kriterium  nur  Willkür  herrsche.  Dieser  Standpunkt  ist 
eigentlich  aus  der  Fichteschen  Philosophie  hervor- 
gegangen, die  das  Ich  als  das  Absolute  ausspricht,  d.  h. 
als  die  absolute  Gewißheit,  als  die  allgemeine  Ichheit,  die 
durch  die  weitere  Entwickelung  zur  Objektivität  fortgeht. 
Von  Fichte  ist  eigentlich  nicht  zu  sagen,  daß  er  im  Prak- 
tischen die  Willkür  des  Subjekts  zum  Prinzip  gemacht 
habe;  aber  späterhin  ist  im  Sinne  der  besonderen  Ichheit 
von  Friedrich  v.  Schlegel  dieses  Besondere  selbst  in 
betreff  des  Guten  und  Schönen  als  Gott  aufgestellt  worden, 
so  daß  das  objektiv  Gute  nur  ein  Gebilde  meiner  Über- 
zeugung sei,  nur  durch  mich  einen  Halt  bekomme,  und  daß 
ich  es  als  Herr  und  Meister  hervortreten  und  verschwinden 
lassen  kann.  Indem  ich  mich  zu  etwas  Objektivem  ver- 
halte, ist  es  zugleich  für  mich  untergegangen,  und  so 
schwebe  ich  über  einem  ungeheuren  Räume,  Gestalten 
hervorrufend  und  zerstörend.  Dieser  höchste  Standpunkt 
der  Subjektivität  kann  nur  in  einer  Zeit  hoher  Bildung 
entstehen,  wo  der  Ernst  des  Glaubens  zugrunde  gegangen 
ist,  und  [das  Bewußtsein]  nur  noch  in  der  Eitelkeit  aller 
Dinge  sein  Wesen  hat. 

92.  Zusatz  zu  §  141.  (Die  Einseitigkeit  von 
Recht  und  Moral.)  Beide  Prinzipien,  die  wir  bisher  be- 
trachtet haben,  das  abstrakte  Gute  sowohl,  wie  das  Ge- 
wissen, ermangeln  ihres  Entgegengesetzten;  das  abstrakte 
Gute  verflüchtigt  sich  zu  einem  vollkommen  Kraftlosen, 
in  das  ich  allen  Inhalt  bringen  kann,  und  die  Subjektivität 


J 


Zu  §  Ul— Uo.  325 

des  Geistes  wird  nicht  minder  gehaltlos,  indem  ihr  die  ob- 
jektive Bedeutung  abgeht.  Es  kann  daher  die  Sehnsucht 
nach  einer  Objektivität  entstehen,  in  welcher  der  Mensch 
sich  lieber  zum  Knechte  und  zur  vollendeten  Abhängigkeit 
erniedrigt,  um  nur  der  Qual  der  Leerheit  und  der  Negati- 
vität  zu  entgehen.  Wenn  neuerlich  manche  Protestanten 
zur  katholischen  Kirche  übergegangen  sind,  so  geschah 
es,  weil  sie  ihr  Inneres  gehaltlos  fanden  und  nach  einem 
Festen,  einem  Halt,  einer  Autorität  griffen,  wenn  es  auch 
eben  nicht  die  Festigkeit  des  Gedankens  war,  die  sie_  er- 
hielten. Die  Einheit  des  subjektiven  und  des  objektiven 
an  und  für  sich  seienden  Guten  ist  die  Sittlichkeit,  und 
in  ihr  ist  dem  Begriffe  nach  die  Versöhnung  geschehen. 
Denn,  wenn  die  Moralität  die  Form  des  Willens  überhaupt 
nach  der  Seite  der  Subjektivität  ist,  so  ist  die  Sittlichkeit 
nicht  bloß  die  subjektive  Form  und  die  Selbstbestimmung 
des  Willens,  sondern  das,  ihren  Begriff,  nämlich  die  Frei- 
heit, zum  Inhalte  zu  haben.  Das  Rechtliche  und  das  Mo- 
ralische kann  nicht  für  sich  existieren,  und  sie  müssen 
das  Sittliche  zum  Träger  und  zur  Grundlage  haben;  denn 
dem  Rechte  fehlt  das  Moment  der  Subjektivität,  das  die 
Moral  wiederum  für  sich  allein  hat,  und  so  haben  beide 
Momente  für  sich  keine  Wirklichkeit.  Nur  das  Unendliche, 
die  Idee,  ist  wirklich;  das  Recht  existiert  nur  als  Zweig 
eines  Ganzen,  als  sich  anrankende  Pflanze  eines  an  und 
für  sich  festen  Baumes. 

93.  Zusatz  zu  §  144.  (Die  substantielle  Sitt- 
lichkeit.) Im  Ganzen  der  Sittlichkeit  ist  sowohl  das  ob- 
jektive, als  das  subjektive  Moment  vorhanden;  beide  sind 
aber  nur  Formen  derselben.  Das  Gute  ist  hier  Substanz, 
d.  h.  Erfüllung  des  Objektiven  mit  der  Subjektivität.  Be- 
trachtet man  die  Sittlichkeit  von  dem  objektiven  Stand- 
punkt, so  kann  man  sagen,  der  sittliche  Mensch  sei  sich 
unbewußt.  In  diesem  Sinne  verkündet  Antigone,  niemand 
wisse,  woher  die  Gesetze  kommen;  sie  seien  ewig,  d.  h. 
sie  sind  die  an  und  für  sich  seiende,  aus  der  Natur  der 
Sache  fließende  Bestimmung.  Aber  nicht  minder  hat  dieses 
Substantielle  auch  ein  Bewußtsein,  obgleich  diesem  immer 
nur  die  Stellung  eines  Moments  zukommt. 

94.  Zusatz  zu  §  145.  (Die  sittliche  Substanz  und 
das  Individuum.)  Weil  die  sittlichen  Bestimmungen  den 
Begriff  der  Freiheit  ausmachen,  sind  sie  die  Substantialität 
oder  das  allgemeine  Wesen  der  Individuen,  welche  sich 
dazu   nur   als   ein   Accidentelles   verhalten.    Ob   das   Indi- 


326  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

viduum  sei,  gilt  der  objektiven  Sittlichkeit  gleich,  welche 
allein  das  Bleibende  und  die  Macht  ist,  durch  welche  das 
Leben  der  Individuen  regiert  wird.  Die  Sittlichkeit  ist 
daher  den  Völkern  als  die  ewige  Gerechtigkeit,  als  an 
und  für  sich  seiende  Götter  vorgestellt  worden,  gegen  die 
das  eitle  Treiben  der  Individuen  nur  ein  anwogendes  Spiel 
bleibt. 

95.  Zusatz  zu  §  149.  (Die  Pflicht  als  Fortschritt 
zur  Freiheit.)  Die  Pflicht  beschränkt  nur  die  Willkür 
der  Subjektivität  und  stößt  nur  gegen  das  abstrakte  Gute 
an,  welches  die  Subjektivität  festhält.  Wenn  die  Menschen 
sagen,  wir  wollen  frei  sein,  so  heißt  das  zunächst  nur, 
wir  wollen  abstrakt  frei  sein,  und  jede  Bestimmung  und 
Gliederung  im  Staate  gilt  für  eine  Beschränkung  dieser 
Freiheit.  Die  Pflicht  ist  insofern  nicht  Beschränkung  der 
Freiheit,  sondern  nur  der  Abstraktion  derselben,  d.  h. 
der  Unfreiheit;  sie  ist  das  Gelangen  zum  Wesen,  das  Ge- 
winnen der  affirmativen  Freiheit. 

96.  Zusatz  zu  §  150.  (Die  Tugend  als  individuelle 
Fertigkeit.)  Wenn  ein  Mensch  dieses  oder  jenes  Sitt- 
liche tut,  so  ist  er  nicht  gerade  tugendhaft,  aber  wohl  dann, 
wenn  diese  Weise  des  Benehmens  eine  Stetigkeit  seines 
Charakters  ist.  Die  Tugend  ist  mehr  die  sittliche  Virtuo- 
sität, und  wenn  man  heutzutage  nicht  so  viel  von  Tugend 
spricht  als  sonst,  so  hat  dies  seinen  Grund  darin,  daß  die 
Sittlichkeit  nicht  mehr  so  sehr  die  Form  eines  besonderen 
Individuums  ist.  Die  Franzosen  sind  hauptsächlich  dasjenige 
Volk,  das  am  meisten  von  Tugend  spricht,  weil  bei  ihnen  das 
Sittliche  am  Individuum  mehr  Sache  seiner  Eigentümlich- 
keit und  einer  natürlichen  Weise  des  Handelns  ist.  Die 
Deutschen  dagegen  sind  mehr  denkend,  und  bei  ihnen  ge- 
winnt derselbe   Inhalt  die  Form  der  Allgemeinheit. 

97.  Zusatz  zu  §  151.  (Sitte,  Erziehung,  Ge- 
wohnheit.) Wie  die  Natur  ihre  Gesetze  hat,  wie  das 
Tier,  die  Bäume,  die  Sonne  ihr  Gesetz  vollbringen,  so  ist 
die  Sitte  das  dem  Geist  der  Freiheit  Angehörende.  Was 
das  Recht  und  die  Moral  noch  nicht  sind,  das  ist  die  Sitte, 
nämlich  Geist.  Denn  im  Rechte  ist  die  Besonderheit  noch 
nicht  die  des  Begriffs,  sondern  nur  des  natürlichen  Willens. 
Ebenso  ist  auf  dem  Standpunkte  der  Moralität  das  Selbst- 
bewußtsein noch  nicht  geistiges  Bewußtsein.  Es  ist  dabei 
nur  um  den  Wert  des  Subjekts  in  sich  selbst  zu  tun,  d.  h. 
das  Subjekt,  was  sich  nach  dem  Guten  gegen  das  Böse  be- 
stimmt,  hat  noch  die  Form  der  Willkür.     Hier  hingegen 


I 


Zu  §  149—156.  327 

auf  dem  sittlichen  Standpunkt  ist  der  Wille  als  Wille  des 
Geistes  und  hat  einen  substantiellen  sich  entsprechenden 
Inhalt.  Die  Pädagogik  ist  die  Kunst,  die  Menschen  sitt- 
lich zu  machen:  sie  betrachtet  den  Menschen  als  natürlich 
und  zeigt  den  Weg  ihn  Wiederzugebären,  seine  erste  Natur 
zu  einer  zweiten  geistigen  umzuwandeln,  so  daß  dieses 
Geistige  in  ihm  zur  Gewohnheit  wird.  In  ihr  ver- 
schwindet der  Gegensatz  des  natürlichen  und  subjektiven 
Willens,  der  Kampf  des  Subjekts  ist  gebrochen,  und  in- 
sofern gehört  zum  Sittlichen  die  Gewohnheit,  wie  sie  auch 
zum  philosophischen  Denken  gehört,  da  dieses  erfordert, 
daß  der  Geist  gegen  willkürliche  Einfälle  gebildet  sei, 
und  diese  gebrochen  und  überwunden  seien,  damit  das  ver- 
nünftige Denken  freien  Weg  hat.  Der  Mensch  stirbt  auch 
aus  Gewohnheit,  d.  h.,  wenn  er  sich  ganz  im  Leben  ein- 
gewohnt hat,  geistig  und  physisch  stumpf  geworden  und 
der  Gegensatz  von  subjektivem  Bewußtsein  und  geistiger 
Tätigkeit  verschwunden  ist;  denn  tätig  ist  der  Mensch  nur, 
insofern  er  etwas  nicht  erreicht  hat  und  sich  in  Beziehung 
darauf  produzieren  und  geltend  machen  will.  Wenn  dies 
vollbracht  ist,  verschwindet  die  Tätigkeit  und  Lebendig- 
keit, und  die  Interesselosigkeit,  die  alsdann  eintritt,  ist 
geistiger  oder  physischer  Tod. 

98.  Zusatz  zu  §  153,  (Erziehungsexperiniente.) 
Die  pädagogischen  Versuche,  den  Menschen  dem  allge- 
meinen Leben  der  Gegenwart  zu  entziehen  und  auf  dem 
Lande  herauf  zubilden  (Rousseau  im  Emile),  sind  ver- 
geblich gewesen,  weil  es  nicht  gelingen  kann,  den  Menschen 
den  Gesetzen  der  Welt  zu  entfremden.  Wenn  auch 
die  Bildung  der  Jugend  in  Einsamkeit  geschehen  muß,  so 
darf  man  ja  nicht  glauben,  daß  der  Duft  der  Geisterwelt 
nicht  endlich  durch  diese  Einsamkeit  wehe,  und  daß  die 
Gewalt  des  Weltgeistes  zu  schwach  sei,  um  sich  dieser  ent- 
legenen Teile  zu  bemächtigen.  Darin,  daß  es  Bürger  eines 
guten  Staates  ist,  kommt  erst  das  Individuum  zu  seinem 
Recht. 

99.  Zusatz  zu  §  155.  (Freiheit  als  Einheit  von 
Recht  und  Pflicht.)  Der  Sklave  kann  keine  Pflichten 
haben,  und  nur  der  freie  Mensch  hat  solche.  Wären  auf 
einer  Seite  alle  Rechte,  auf  der  anderen  alle  Pflichten, 
so  würde  das  Ganze  sich  auflösen,  denn  nur  die  Identität 
ist  die  Grundlage,  die  wir  hier  festzuhalten  haben. 

100.  Zusatz  zu  §  156.  (Das  Sittliche  als  kon- 
krete Vr irklich ke it.)     Das  Sittliche  ist  nicht  abstrakt 


328  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

wie  das  Gute,  sondern  in  intensivem  Sinne  wirklich.  Der 
Geist  hat  Wirklichkeit,  und  die  Accidenzen  derselben  sind 
die  Individuen.  Beim  Sittlichen  sind  daher  immer  nur 
die  zwei  Gesichtspunkte  möglich,  daß  man  entweder  von 
der  Substantialität  ausgeht  oder  atomistisch  verfährt  und 
von  der  Einzelnheit  als  Grundlage  hinaufsteigt;  dieser 
letztere  Gesichtspunkt  ist  geistlos,  weil  er  nur  zu  einer 
Zusammensetzung  führt,  der  Geist  aber  nichts  Einzelnes 
ist,    sondern  Einheit  des   Einzelnen   und   Allgemeinen. 

101.  Zusatz  zu  §  158.  (Der  Begriff  der  Liebe.^ 
Liebe  heii3t  überhaupt  das  Bewußtsein  meiner  Einheit  mit 
einem  anderen,  so  daß  ich  für  micii  nicht  isoliert  bin, 
sondern  mein  Selbstbewußtsein  nur  als  Aufgebung  meines 
Fürsichseins  gewinne,  und  durch  das  Michwissen  als  der 
Einheit  meiner  mit  dem  anderen  und  des  anderen  mit 
mir.  Die  Liebe  ist  aber  Empfindung,  d.  h.  die  Sittlichkeit 
in  Form  des  Natürlichen;  im  Staate  ist  sie  nicht  mehr,  da 
ist  man  sich  der  Einheit  als  des  Gesetzes  bewußt,  da 
muß  der  Inhalt  vernünftig  sein,  und  ich  muß  ihn  wissen. 
Das  erste  Moment  in  der  Liebe  ist,  daß  ich  keine  selb- 
ständige Person  für  mich  sein  will,  und  daß,  wenn  ich 
dies  wäre,  ich  mich  mangelhaft  und  unvollständig  fühle. 
Das  zweite  Moment  ist,  daß  ich  mich  in  einer  anderen 
Person  gewinne,  daß  ich  in  ihr  gälte,  was  sie  wiederum 
in  mir  erreicht.  Die  Liebe  ist  daher  der  ungeheuerste 
Widerspruch,  den  der  Verstand  nicht  lösen  kann,  indem 
es  nichts  Härteres  gibt  als  diese  Punktualität  des  Selbst- 
bewußtseins, die  negiert  wird,  und  die  ich  doch  als  affir- 
mativ haben  soll.  Die  Liebe  ist  das  Hervorbringen  und 
die  Auflösung  des  Widerspruchs  zugleich;  als  die  Atif- 
lösung  ist  sie  die  sittliche  Einigkeit. 

102.  Zusatz  zu  §  159.  (Familie  und  Subjektivi- 
tät.) Das  Recht  der  Familie  besteht  eigentlich  darin,  daß 
ihre  Substantialität  Dasein  haben  soll:  es  ist  also  ein 
Eecht  gegen  die  Äußerlichkeit  und  gegen  das  Heraustreten 
aus  dieser  Einheit.  Dagegen  ist  aber  wieder  die  Liebe 
eine  Empfindung,  ein  Subjektives,  gegen  das  die  Einigkeit 
sich  nicht  geltend  machen  kann.  Wenn  also  die  Einig- 
keit gefordert  wird,  so  kann  sie  es  nur  in  Beziehung  auf 
solche  Dinge,  die  ihrer  Natur  nach  äußerlich  sind  und 
nicht  durch  die  Empfindung  bedingt  werden. 

103.  Zusatz  zu  §  161.  (Der  Begriff  der  Ehe.) 
Die  Ehe  ist  wesentlich  ein  sittliches  Verhältnis.  Früher 
ist,  besonders  in  den  meisten  Naturrechten,  dieselbe  nur 


Zu  §  158— 1Ü3.  329 

nach  der  physischen  Seite  hin  angesehen  worden,  nach 
demjenigen,  was  sie  von  Natur  ist.  Man  hat  sie  so  nur 
als  ein  Geschlechtsverhältnis  betrachtet,  und  jeder  Weg 
zu  den  übrigen  Bestimmungen  der  Ehe  blieb  verschlossen. 
Ebenso  roh  ist  es  aber,  die  Ehe  bloß  als  einen  bürgerlichen 
Kontrakt  zu  begreifen,  eine  Vorstellung,  die  auch  noch 
bei  Kant  vorkommt,  wo  denn  die  gegenseitige  Willkür 
über  die  Individuen  sich  verträgt  und  die  Ehe  zur  Form 
eines  gegenseitigen  vertragsmäßigen  Gebrauchs  herab- 
gewürdigt wird.  Die  dritte  ebenso  zu  verwerfende  Vor- 
stellung ist  die,  welche  die  Ehe  nur  in  die  Liebe  setzt; 
denn  die  Liebe,  welche  Empfindung  ist,  läßt  die  Zufällig- 
keit in  jeder  Rücksicht  zu,  eine  Gestalt,  welche  das  Sitt- 
liche nicht  haben  darf.  Die  Ehe  ist  daher  näher  so  zu 
bestimmen,  daß  sie  die  rechtlich  sittliche  Liebe  ist,  wo- 
durch das  Vergängliche,  Launenhafte  und  bloß  Subjektive 
derselben  aus  ihr  verschwindet. 

104.  Zusatz  zu  §  162.  (Ehe  und  Neigung.)  Bei 
Völkern,  wo  das  weibliche  Geschlecht  in  geringer  Achtung 
steht,  verfügen  die  Eltern  über  die  Ehe  nach  ihrer  Will- 
kür, ohne  die  Individuen  zu  fragen,  und  diese  lassen  es 
sich  gefallen,  da  die  Besonderheit  der  Empfindung  noch 
keine  Prätension  macht.  Dem  Mädchen  ist  es  nur  um 
einen  Mann,  diesem  um  eine  Frau  überhaupt  zu  tun.  In 
anderen  Zuständen  können  Rücksichten  des  Vermögens, 
der  Konnexion,  politische  Zwecke  das  Bestimmende  sein. 
Hier  können  große  Härten  vorfallen,  indem  die  Ehe  zum 
Mittel  für  andere  Zwecke  gemacht  wird.  In  den  modernen 
Zeiten  wird  dagegen  der  subjektive  Ausgangspunkt,  das 
Verliebtsein,  als  der  allein  wichtige  angesehen.  Man 
stellt  sich  hier  vor,  jeder  müsse  warten,  bis  seine  Stunde 
geschlagen  hat,  und  man  könne  nur  einem  bestimmten 
Individuum  seine  Liebe  schenken. 

105.  Zusatz  zu  §  163.  (Heiligkeit  der  Ehe.)  Die 
Ehe  unterscheidet  sich  dadurch  vom  Konkubinat,  daß  es 
bei  diesem  letzteren  hauptsächlich  auf  die  Befriedigung  des 
Naturtriebes  ankommt,  während  dieser  bei  der  Ehe  zu- 
rückgedrängt ist.  Deswegen  wird  bei  der  Ehe  ohne  Er- 
röten von  natürlichen  Ereignissen  gesprochen,  die  bei  un- 
ehelichen Verhältnissen  ein  Schamgefühl  hervorbrächten. 
Darum  ist  aber  auch  die  Ehe  an  sich  für  unauflöslich  zu 
achten;  denn  der  Zweck  der  Ehe  ist  der  sittliche,  der  so 
hoch  steht,  daß  alles  andere  dagegen  gewaltlos  und  ilim 
unterworfen  erscheint.     Die  Ehe  soll  nicht  durch  Leiden- 


330  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

Schaft  gestört  werden,  denn  diese  ist  ihr  untergeordnet. 
Aber  sie  ist  nur  an  sich  unauflöslich,  denn  wie  Christus 
sagt:  Nur  um  ihres  Herzens  Härtigkeit  ist  die  Scheidung 
zugestanden  1).  Weil  die  Ehe  das  Moment  der  Empfindung 
enthält,  ist  sie  nicht  absolut,  sondern  schwankend  und 
hat  die  Möglichkeit  der  Auflösung  in  sich.  Aber  die  Ge- 
setzgebungen müssen  diese  Möglichkeit  aufs  höchste  er- 
schweren und  das  Recht  der  Sittlichkeit  gegen  das  Be- 
lieben aufrechterhalten. 

106.  Zusatz  zu  §  164.  (Die  „freie"  Liebe.)  Daß 
die  Zeremonie  der  Schliei3ung  der  Ehe  überflüssig  und 
eine  Formalität  sei,  die  weggelassen  werden  könnte,  weil 
die  Liebe  das  Substantielle  ist  und  sogar  durch  die  Feier- 
lichkeit an  Wert  verliert,  ist  von  Friedrich  v.  Schlegel 
in  der  Lucinde,  und  von  einem  Nachtreter  desselben^)  in 
den  Briefen  eines  Ungenannten  (Lübeck  und  Leipzig  1800) 
aufgestellt  worden.  Die  sinnliche  Hingebung  wird  dort 
vorgestellt  als  gefordert  für  den  Beweis  der  Freiheit  und 
Innigkeit  der  Liebe,  eine  Argumentation,  die  Verführern 
nicht  fremd  ist.  Es  ist  über  das  Verhältnis  von  Mann 
und  Frau  zu  bemerken,  daß  das  Mädchen  in  der  sinnlichen 
Hingebung  ihre  Ehre  aufgibt,  was  bei  dem  Manne,  der  noch 
ein  anderes  Feld  seiner  sittlichen  Tätigkeit  als  die  Familie 
hat,  nicht  so  der  Fall  ist.  Die  Bestimmung  des  Mädchens 
besteht  wesentlich  nur  im  Verhältnis  der  Ehe;  die  Forderung 
ist  also,  daß  die  Liebe  die  Gestalt  der  Ehe  erhalte,  und 
daß  die  verschiedenen  Momente,  die  in  der  Liebe  sind,  ihr 
wahrhaft    vernünftiges    Verhältnis    zueinander    bekommen. 

107.  Zusatz  zu  §  166.  (Frauenbildung.)  Frauen 
können  wohl  gebildet  sein,  aber  für  die  höheren  Wissen- 
schaften, die  Philosophie  und  für  gewisse  Produktionen 
der  Kunst,  die  ein  Allgemeines  fordern,  sind  sie  nicht 
gemacht.  Frauen  können  Einfälle,  Geschmack,  Zierlich- 
keit haben,  aber  das  Ideale  haben  sie  nicht.  Der  Unter- 
schied zwischen  Mann  und  Frau  ist  der  des  Tieres  und 
der  Pflanze;  das  Tier  entspricht  mehr  dem  Charakter  des 
Mannes,  die  Pflanze  mehr  dem  der  Frau;  denn  sie  ist 
mehr  ruhiges  Entfalten,  das  die  unbestimmtere  Einig- 
keit der  Empfindung  zu  seinem  Prinzipe  erhält.  Stehen 
Frauen  an  der  Spitze  der  Regierung,  so  ist  der  Staat  in 
Gefahr;  denn  sie  handeln  nicht   nach  den  Anforderungen 

1)  Matth.  19,  8;  Mark.  10,  5. 
^)  Schleiermacher. 


Zu  §  164—173.  331 

der  Allgemeinheit,  sondern  nach  zufälliger  Neigung  und 
Meinung.  Die  Bildung  der  Frauen  geschieht,  man  weiß 
nicht  wie,  gleichsam  durch  die  Atmosphäre  der  Vorstel- 
lung, mehr  durch  das  Leben  als  durch  das  Erwerben  von 
Kenntnissen,  während  der  Mann  seine  Stellung  nur  durch 
die  Errungenschaft  des  Gedankens  und  durch  viele  tech- 
nische  Bemühungen   erlangt. 

108.  Zusatz  zu  §  168.  (Verwandtenehe.)  Zunächst 
ist  die  Ehe  zwischen  Blutsverwandten  schon  dem  Gefühle 
der  Scham  entgegengesetzt,  aber  dieses  Zurückschauern 
ist  im  Begriffe  der  Sache  gerechtfertigt.  Was  nämlich 
schon  vereinigt  ist,  kann  nicht  erst  durch  die  Ehe  ver- 
einigt werden.  Von  der  Seite  des  bloß  natürlichen  Ver- 
hältnisses ist  es  bekannt,  daß  die  Begattungen  unter  einer 
Familie  von  Tieren  schwächlichere  Früchte  erzeugen,  denn 
was  sich  vereinigen  soll,  muß  ein  vorher  Getrenntes 
sein;  die  Kraft  der  Zeugung  wie  des  Geistes  ist  desto 
größer,  je  größer  auch  die  Gegensätze  sind,  aus  denen 
sie  sich  wiederherstellt.  Die  Vertraulichkeit,  Bekannt- 
schaft, Gewohnheit  des  gemeinsamen  Tuns  soll  noch  nicht 
vor  der  Ehe  sein,  sie  soll  erst  in  derselben  gefunden 
werden;  und  dies  Finden  hat  um  so  höheren  Wert,  je  reicher 
es  ist,  und  je  mehr  Teile  es  hat. 

109.  Zusatz  zu  §  172.  (Sippe  und  Familie.)  In 
vielen  Gesetzgebungen  ist  der  weitere  Umfang  der 
Familie  festgehalten,  und  dieser  wird  als  das  wesent- 
liche Band  angesehen,  während  das  andere  einer  jeden 
speziellen  Familie  dagegen  geringer  erscheint.  So  ist 
im  älteren  römischen  Rechte  die  Frau  der  laxen  Ehe  in 
näherem  Verhältnis  zu  ihren  Verwandten  als  zu  ihren 
Kindern  und  zu  ihrem  Manne,  und  in  den  Zeiten  des 
Feudalrechts  machte  die  Erhaltung  des  splendor  familiae 
es  notwendig,  daß  nur  die  männlichen  Glieder  dazu  ge- 
rechnet wurden,  und  daß  das  Ganze  der  Familie  für  die 
Hauptsache  galt,  während  die  neugebildete  dagegen  ver- 
schwand. Trotzdem  ist  jede  neue  Familie  das  Wesent- 
lichere gegen  den  weiteren  Zusammenhang  der  Bluts- 
verwandtschaft, und  Ehegatten  und  Kinder  bilden  den 
eigentlichen  Kern,  im  Gegensatz  dessen,  was  man  im  ge- 
wissen Sinne  auch  Familie  nennt.  Das  Vermögensverhältnis 
der  Individuen  muß  daher  einen  wesentlicheren  Zusammen- 
hang mit  der  Ehe  als  mit  der  weiteren  Blutsverwandt- 
schaft haben. 

110.  Zusatz   zu    §   173.      (Elternliebe.)     Zwischen 


332  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

Mann  und  Frau  ist  das  Verhältnis  der  Liebe  noch  nicht 
objektiv;  denn  wenn  die  Empfindung  auch  die  substantielle 
Einheit  ist,  so  hat  diese  noch  keine  Gegenständlichkeit. 
Eine  solche  erlangen  die  Eltern  erst  in  ihren  Kindern,  in 
welchen  sie  das  Ganze  der  Vereinigung  vor  sich  haben. 
Die  Mutter  liebt  im  Kinde  den  Gatten,  dieser  darin  die 
Gattin;  beide  haben  in  ihm  ihre  Liebe  vor  sich.  Während 
im  Vermögen  die  Einheit  nur  in  einer  äußerlichen  Sache 
ist,  ist  sie  in  den  Kindern  in  einem  Geistigen,  in  dem 
die  Eltern  geliebt  werden,  und  das  sie  lieben. 

111.  Zusatz  zu  §  174.  (Kindererziehung.)  Was 
der  Mensch  sein  soll,  hat  er  nicht  aus  Instinkt,  sondern  er 
hat  es  sich  erst  zu  erwerben.  Darauf  begründet  sich 
das  Recht  des  Kindes,  erzogen  zu  werden.  Ebenso  ist 
.es  mit  den  Völkern  bei  väterlichen  Regierungen;  hier 
werden  die  Menschen  aus  Magazinen  ernährt  und  nicht 
als  Selbständige  und  Majorenne  angesehen.  Die  Dienste, 
die  von  den  Kindern  gefordert  werden  dürfen,  können 
daher  nur  den  Zweck  der  Erziehung  haben  und  sich  auf 
dieselbe  beziehen;  sie  müssen  nicht  für  sich  etwas  sein 
wollen,  denn  das  unsittlichste  Verhältnis  überhaupt  ist  das 
Sklavenverhältnis  der  Kinder.  Ein  Hauptmoment  der  Er- 
ziehung ist  die  Zucht,  welche  den  Sinn  hat,  den  Eigen- 
willen des  Kindes  zu  brechen,  damit  das  bloß  Sinnliche 
und  Natürliche  ausgereutet  werde.  Hier  muß  man  nicht 
meinen,  bloß  mit  Güte  auszukommen;  denn  gerade  der 
unmittelbare  Wille  handelt  nach  unmittelbaren  Einfällen 
und  Gelüsten,  nicht  nach  Gründen  und  Vorstellungen.  Legt 
man  den  Kindern  Gründe  vor,  so  überläßt  man  es  den- 
selben, ob  sie  diese  wollen  gelten  lassen,  und  stellt  daher 
alles  in  ihr  Belieben.  Daran,  daß  die  Eltern  das  All- 
gemeine und  Vv''esentliche  ausmachen,  schließt  sich  das 
Bedürfnis  des  Gehorsams  der  Kinder  an.  Wenn  das  Ge- 
fühl der  Unterordnung  bei  den  Kindern,  das  die  Sehn- 
sucht, groß  zu  werden,  hervorbringt,  nicht  genährt  wird, 
so  entsteht  vorlautes  Wesen  und  Naseweisheit. 

112.  Zusatz  zu  §  175.  (Die  Empfindung  des 
Kindes.)  Als  Kind  muß  der  Mensch  im  Kreise  der 
Liebe  und  des  Zutrauens  bei  den  Eltern  gewesen  sein,  und 
das  Vernünftige  muß  als  seine  eigenste  Subjektivität  in 
ihm  erscheinen.  Vorzüglich  ist  in  der  ersten  Zeit  die  Er- 
ziehung der  Mutter  wichtig,  denn  die  Sittlichkeit  muß  als 
Empfindung  in  das  Kind  gepflanzt  worden  sein.  Es  ist 
zu  bemerken,  daß  im  ganzen  die  Kinder  die  Eltern  weniger 


Zu  §  174-181.  333 

lieben,  als  die  Eltern  die  Kinder,  denn  sie  gehen  der 
Selbständigkeit  entgegen  und  erstarken,  haben  also  die 
Eltern  hinter  sich,  während  die  Eltern  in  ihnen  die  objek- 
tive Gegenständlichkeit  ihrer  Verbindung  besitzen. 

113.  Zusatz  zu  §  176.  (Ehescheidung.)  Weil  die 
Ehe  nur  auf  der  subjektiven  zufälligen  Empfindung  be- 
ruht, so  kann  sie  geschieden  werden.  Der  Staat  dagegen 
ist  der  Trennung  nicht  unterv/orfen,  denn  er  beruht  auf 
dem  Gesetz.  Die  Ehe  soll  allerdings  unauflöslich  sein, 
aber  es  bleibt  hier  auch  nur  beim  Sollen.  Indem  sie  aber 
etwas  Sittliches  ist,  kann  sie  nicht  durch  Willkür,  sondern 
nur  durch  eine  sittliche  Autorität  geschieden  werden,  sei 
diese  nun  die  Kirche  oder  das  Gericht.  Ist  eine  totale 
Entfremdung,  wie  z.  B.  durch  Ehebruch  geschehen,  dann 
muß  auch  die  religiöse  Autorität  die  Ehescheidung  er- 
lauben. 

114.  Zusatz  zu  §  180.  (Das  Testament.)  Bei  den 
Römern  konnte  in  früheren  Zeiten  der  Vater  seine  Kinder 
enterben,  wie  er  sie  auch  töten  konnte:  späterhin  war 
beides  nicht  mehr  gestattet.  Diese  Inkonsequenz  des 
Unsittlichen  und  der  Versittlichung  desselben  hat  man 
in  ein  System  zu  bringen  gesucht,  und  das  Festhalten 
daran  macht  das  Schv;ierige  und  Fehlerhafte  in  unserem 
Erbrechte  aus.  Testamente  können  allerdings  gestattet 
werden;  aber  der  Gesichtspunkt  hierbei  muß  sein,  daß 
dieses  Recht  der  Vvlllkür  mit  dem  Auseinanderfallen  und 
der  Entfernung  der  Familienglieder  entsteht  oder  größer 
wird,  und  daß  die  sogenannte  Familie  der  Freund- 
schaft, welche  das  Testament  hervorbringt,  nur  in  Er- 
mangelung der  näheren  Famüie  der  Ehe  und  der  Kinder 
eintreten  kann.  Mit  dem  Testamente  überhaupt  ist  etwas 
Widriges  und  Unangenehmes  verbunden,  denn  ich  erkläre 
in  demselben,  wer  die  seien,  denen  ich  geneigt  bin.  Die 
Zuneigung  ist  aber  willkürlich;  sie  kann  auf  diese  oder 
jene  Weise  erschlichen  werden,  an  diesen  oder  jenen  läp- 
pischen Grund  geknüpft  sein,  und  es  kann  gefordert  werden, 
daß  ein  Eingesetzter  sich  deshalb  den  größten  Niedrig- 
keiten unterwerfe.  In  England,  wo  überhaupt  viel  Ma- 
rotten einheimisch  sind,  werden  unendlich  viel  läppische 
Einfälle  an  Testamente  geknüpft. 

115.  Zusatz  zu  §  181.  (Die  Gesellschaft  als  die 
Sphäre  der  Besonderheit.)  Die  Allgemeinheit  hat  hier 
zum  Ausgangspunkt  die  Selbständigkeit  der  Besonderheit, 
und  die  Sittlichkeit  scheint  somit  auf  diesem  Standpunkte 


334  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

verloren,  denn  für  das  Bewußtsein  ist  eigentlich  die  Identi- 
tät der  Familie  das  Erste,  Göttliche  und  Pflichtgebietende, 
Jetzt  aber  tritt  das  Verhältnis  ein,  daß  das  Besondere 
das  erste  für  mich  Bestimmende  sein  soll,  und  somit  ist 
die  sittliche  Bestimmung  aufgehoben.  Aber  ich  bin  eigent- 
lich darüber  nur  im  Irrtum,  denn  indem  ich  das  Besondere 
festzuhalten  glaube,  bleibt  doch  das  Allgemeine  und  die 
Notwendigkeit  des  Zusammenhangs  das  Erste  und  Wesent- 
liche; ich  bin  also  überhaupt  auf  der  Stufe  des  Scheins, 
und  indem  meine  Besonderheit  mir  das  Bestimmende  bleibt, 
d.  h.  der  Zweck,  diene  ich  damit  der  Allgemeinheit,  welche 
eigentlich  die  letzte  Macht  über  mich  behält. 

116.  Zusatz  zu  §  182.  (Begriff  der  bürgerlichen 
Gesellschaft.)  Die  bürgerliche  Gesellschaft  ist  die 
Differenz,  welche  zwischen  die  Familie  und  den  Staat  tritt, 
wenn  auch  die  Ausbildung  derselben  später  als  die  des 
Staates  erfolgt;  denn  als  die  Differenz  setzt  sie  den  Staat 
voraus,  den  sie  als  Selbständiges  vor  sich  haben  muß,  um 
zu  bestehen.  Die  Schöpfung  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
gehört  übrigens  der  modernen  Welt  an,  welche  allen  Be- 
stimmungen der  Idee  erst  ihr  Recht  widerfahren  läßt. 
Wenn  der  Staat  vorgestellt  wird  als  eine  Einheit  ver- 
schiedener Personen,  als  eine  Einheit,  die  nur  Gemein- 
samkeit ist,  so  ist  damit  nur  die  Bestimmung  der  bürger- 
lichen Gesellschaft  gemeint.  Viele  der  neueren  Staats- 
rechtslehrer haben  es  zu  keiner  anderen  Ansicht  vom 
Staate  bringen  können.  In  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
ist  jeder  sich  Zweck,  alles  andere  ist  ihm  Nichts.  Aber 
ohne  Beziehung  auf  andere  kann  er  den  Umfang  seiner 
Zwecke  nicht  erreichen;  diese  anderen  sind  daher  Mittel 
zum  Zweck  des  Besonderen.  Aber  der  besondere  Zweck 
gibt  sich  durch  die  Beziehung  auf  andere  die  Form  der 
Allgemeinheit  und  befriedigt  sich,  indem  er  zugleich  das 
Wohl  des  anderen  mit  befriedigt.  Indem  die  Besonderheit 
an  die  Bedingung  der  Allgemeinheit  gebunden  ist,  ist  das 
Ganze  der  Boden  der  Vermittlung,  wo  alle  Einzelnheiten, 
alle  Anlagen,  alle  Zufälligkeiten  der  Geburt  und  des  Glücks 
sich  frei  machen,  wo  die  Wellen  aller  Leidenschaften  aus- 
strömen, die  nur  durch  die  hineinscheinende  Vernunft  re- 
giert werden.  Die  Besonderheit,  beschränkt  durch  die 
Allgemeinheit,  ist  allein  das  Maß,  wodurch  jede  Besonder- 
heit ihr  Wohl   befördert. 

117.  Zusatz  zu  §  184.  (Die  Untrennbarkeit  des 
Besonderen  und  Allgemeinen.)    Das  Sittliche  ist  hier 


Zu  §  182-185.  335 

in  seine  Extreme  verloren,  und  die  unmittelbare  Einheit  der 
Familie  ist  in  eine  Vielheit  zerfallen.  Die  Realität  ist  hier 
Äußerlichkeit,  Auflösung  des  Begriffs,  Selbständigkeit  der 
freigewordenen  daseienden  Momente.  Indem  in  der  bürger- 
lichen Gesellschaft  Besonderheit  und  Allgemeinheit  aus- 
einander gefallen  sind,  sind  sie  dennoch  beide  wechsel- 
seitig gebunden  und  bedingt.  Indem  das  eine  gerade  das 
dem  anderen  Entgegengesetzte  zu  tun  scheint  und  nur  sein 
zu  können  vermeint,  indem  es  sich  das  andere  vom  Leibe 
hält,  hat  jedes  das  andere  doch  zu  seiner  Bedingung.  So 
sehen  die  meisten  z.  B.  die  Bezahlung  von  Abgaben  für 
ein  Verletzen  ihrer  Besonderheit  an,  für  ein  ihnen  Feind- 
seliges, das  ihren  Zweck  verkümmert;  aber  so  wahr  dies 
scheint,  so  kann  doch  die  Besonderheit  des  Zwecks  nicht 
befriedigt  werden  ohne  das  Allgemeine,  und  ein  Land, 
worin  keine  Abgaben  bezahlt  werden,  dürfte  sich  auch 
nicht  durch  die  Erkräftigung  der  Besonderheit  auszeichnen. 
Ebenso  könnte  es  scheinen,  die  Allgemeinheit  verhielte 
sich  besser,  wenn  sie  die  Kräfte  der  Besonderheit  an 
sich  zieht,  wie  dies  z,  B.  im  platonischen  Staate  aus- 
geführt ist;  aber  auch  dieses  ist  wiederum  nur  ein  Schein, 
indem  beide  nur  durch-  und  füreinander  sind,  und  inein- 
ander umschlagen.  Meinen  Zweck  befördernd,  befördere 
ich  das  Allgemeine,  und  dieses  befördert  wiederum  meinen 
Zweck. 

118.  Zusatz  zu  §  185.  (Der  Staat  als  Moderator 
des  gesellschaftlichen  Notstandes.)  Die  Besonder- 
heit für  sich  ist  das  Ausschweifende  und  Maßlose,  und 
die  Formen  dieser  Ausschweifung  selbst  sind  maßlos.  Der 
Mensch  erweitert  durch  seine  A^orstellungen  und  Reflexionen 
seine  Begierden,  die  kein  beschlossener  Kreis,  wie  der 
Instinkt  des  Tieres  sind,  und  führt  sie  in  das  schlecht 
Unendliche.  Ebenso  ist  aber  auf  der  anderen  Seite  die 
Entbehrung  und  Not  ein  Maßloses,  und  die  Verworrenheit 
dieses  Zustandes  kann  zu  seiner  Harmonie  nur  durch  den 
ihn  bewältigenden  Staat  kommen.  Wenn  der  platonische 
Staat  die  Besonderheit  ausschließen  wollte,  so  ist  damit 
nicht  zu  helfen,  denn  solche  Hilfe  würde  dem  unendlichen 
Rechte  der  Idee  widersprechen,  die  Besonderheit  frei  zu 
lassen.  In  der  christlichen  Religion  ist  vornehmlich  das 
Recht  der  Subjektivität  aufgegangen,  wie  die  Unendlich- 
keit des  Für-Sich-Seins,  und  hierbei  muß  die  Ganzheit 
zugleich  die  Stärke  erhalten,  die  Besonderheit  in  Harmonie 
mit  der  sittlichen  Einheit  zu  setzen. 


336  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

119.  Zusatz  zu  §  187.  (Bildung  und  Unbildung.) 
Unter  gebildeten  Menschen  kann  man  zunächst  solche 
verstehen,  die  alles  machen  können,  was  andere  tun,  und 
die  ihre  Partikularität  nicht  herauskehren,  während  bei 
ungebildeten  Menschen  gerade  diese  sich  zeigt,  indem  das 
Benehmen  sich  nicht  nach  den  allgemeinen  Eigenschaften 
des  Gegenstandes  richtet.  Ebenso  kann  im  Verhältnis  zu 
anderen  Menschen  der  Ungebildete  sie  leicht  kränken, 
indem  er  sich  nur  gehen  läßt  und  keine  Reflexionen  für  die 
Empfindungen  der  anderen  hat.  Er  will  andere  nicht 
verletzen,  aber  sein  Betragen  ist  mit  seinem  Willen  nicht 
in  Einklang.  Bildung  also  ist  Glättung  der  Besonderheil, 
daß  sie  sich  nach  der  Natur  der  Sache  benimmt.  Die 
wahre  Originalität  verlangt,  als  die  Sache  hervorbringend, 
wahre  Bildung,  während  die  unwahre  Abgeschmacktheiten 
annimmt,  die  nur  Ungebildeten  einfallen. 

120.  Zusatz  zu  §  189.  (Die  Nationalökonomie.) 
Es  gibt  gewisse  allgemeine  Bedürfnisse,  wie  Essen,  Trinken, 
Kleidung  usw.,  und  es  hängt  durchaus  von  zufälligen  Um- 
ständen ab,  wie  diese  befriedigt  werden.  Der  Boden  ist 
hier  oder  dort  mehr  oder  weniger  fruchtbar,  die  Jahre 
sind  in  ihrer  Ergiebigkeit  verschieden,  der  eine  Mensch 
ist  fleißig,  der  andere  faul;  aber  dieses  Wimmeln  von 
Willkür  erzeugt  aus  sich  allgemeine  Bestimmungen,  und 
dieses  anscheinend  Zerstreute  und  Gedankenlose  wird  von 
einer  Notwendigkeit  gehalten,  die  von  selbst  eintritt. 
Dieses  Notwendige  hier  aufzufinden  ist  Gegenstand  der 
Staatsökonomie,  einer  Wissenschaft,  die  dem  Gedanken 
Ehre  macht,  weil  sie  zu  einer  Masse  von  Zufälligkeiten 
die  Gesetze  findet.  Es  ist  ein  interessantes  Schauspiel, 
wie  alle  Zusammenhänge  hier  rückwirkend  sind,  v;ie  die 
besonderen  Sphären  sich  gruppieren,  auf  andere  Einfluß 
haben  und  von  ihnen  ihre  Beförderung  oder  Hinderung 
erfahren.  Dies  Ineinandergehen,  an  das  man  zunächst 
nicht  glaubt,  weil  alles  der  Willkür  des  Einzelnen  anheim- 
gestellt scheint,  ist  vor  allem  bemerkenswert  und  hat  eine 
Ähnlichkeit  mit  dem  Planetensystem,  das  immer  dem  Auge 
nur  unregelmäßige  Bewegungen  zeigt,  aber  dessen  Ge- 
setze doch  erkannt  werden  können, 

121.  Zusatz  zu  §  190.  (Die  menschlichen  Be- 
dürfnisse.) Das  Tier  ist  ein  Partikulares,  es  hat  seinen 
Instinkt  und  die  abgegrenzten,  nicht  zu  übersteigenden 
Mittel  der  Befriedigung,  Es  gibt  Insekten,  die  an  eine 
bestimmte  Pflanze  gebunden  sind,  andere  Tiere,  die  einen 


Zu  §  187—195.  337 

weiteren  Kreis  haben,  in  verschiedenen  Klimaten  leben 
können,  aber  es  tritt  immer  ein  Beschränktes  gegen  den 
Kreis  ein,  welcher  für  den  Menschen  ist.  Das  Bedürfnis 
der  Wohnung  und  Kleidung,  die  Notwendigkeit,  die  Nah- 
rung nicht  mehr  roh  zu  lassen,  sondern  sie  sich  adäquat 
zu  machen  und  ihre  natürliche  Unmittelbarkeit  zu  zer- 
stören, macht,  daß  es  der  Mensch  nicht  so  bequem 
hat  wie  das  Tier,  und  es  als  Geist  auch  nicht  so 
bequem  haben  darf.  Der  Verstand,  der  die  Unterschiede 
auffai3t,  bringt  Vervielfältigung  in  diese  Bedürfnisse,  und 
indem  Geschmack  und  Nützlichkeit  Kriterien  der  Beur- 
teilung werden,  sind  auch  die  Bedürfnisse  selbst  davon 
ergriffen.  Es  ist  zulezt  nicht  mehr  der  Bedarf,  sondern 
die  Meinung,  die  befriedigt  werden  muß,  und  es  gehört 
eben  zur  Bildung,  das  Konkrete  in  seine  Besonderheiten 
zu  zerlegen.  In  der  Vervielfältigung  der  Bedürfnisse  liegt 
gerade  eine  Hemmung  der  Begierde,  denn  wenn  die 
i  Menschen  vieles  gebrauchen,  ist  der  Drang  nach  einem, 
dessen  sie  bedürftig  wären,  nicht  so  stark,  und  es  ist 
ein  Zeichen,  daß  die  Not  überhaupt  nicht  so  ge- 
i  waltig  ist. 

I  122,   Zusatz  zu  §  191.    (Der   Komfort.)   Das,    was 

i  die  Engländer  comfortable  nennen,  ist  etwas  durchaus 
t  Unerschöpfliches  und  ins  Unendliche  Fortgehendes,  denn 
1  jede  Bequemlichkeit  zeigt  wieder  ihre  Unbequemlichkeit, 
!  und  diese  Erfindungen  nehmen  kein  Ende.  Es  wird  ein 
l  Bedürfnis  daher,  nicht  sowohl  von  denen,  welche  es  auf 
ij  unmittelbare  Weise  haben,  als  vielmehr  durch  solche  her- 
I  vorgebracht,  welche  durch  sein  Entstehen  einen  Gewinn 
I  suchen. 

!;  123.    Zusatz  zu   §  192.      (Die    Konvenienz.)     Da- 

i  durch,  daß  ich  mich  nach  dem  anderen  richten  muß, 
i  kommt  hier  die  Form  der  Allgemeinheit  herein.  Ich  er- 
1  werbe  von  anderen  die  Mittel  der  Befriedigung  und  muß 
1  demnach  ihre  Meinung  annehmen.  Zugleich  aber  bin  ich 
l  genötigt,  Mittel  für  die  Befriedigung  anderer  hervorzu- 
i  bringen.  Das  eine  also  spielt  in  das  andere  und  hängt 
'  damit  zusammen;  alles  Partikulare  wird  insofern  ein  Gesell- 
'  schaftliches.  In  der  Art  der  Kleidung,  in  der  Zeit  des 
i  Essens  liegt  eine  gewisse  Konvenienz,  die  man  annehmen 
^  muß,  weil  es  in  diesen  Dingen  nicht  der  Mühe  wert  ist,  seine 
Einsicht  zeigen  zu  wollen,  sondern  es  am  klügsten  ist, 
darin  wie  andere  zu  verfahren. 

124,    Zusatz    zu    §   195,      (Die    Verachtung    des 

Hegel,  Eechtsphilosophie.  22 


338  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

Luxus.)  Diogenes  in  seiner  ganzen  zj-nischen  Gestalt 
ist  eigentlich  nur  ein  Produkt  des  atheniensischen  gesell- 
schaftlichen Lebens,  und  was  ihn  determinierte,  war  die 
Meinung,  gegen  welche  seine  Weise  überhaupt  agierte. 
Sie  ist  daher  nicht  unabhängig,  sondern  nur  durch  dieses 
Gesellschaftliche  entstanden,  und  selbst  ein  unartiges  Pro- 
dukt des  Luxus.  Wo  auf  der  einen  Seite  derselbe  sich 
auf  seiner  Höhe  befindet,  da  ist  auch  die  Not  und  Ver- 
worfenheit auf  der  anderen  Seite  ebensogroß,  und  der 
Zynismus  wird  dann  durch  den  Gegensatz  der  Verfeine- 
rung hervorgebracht. 

125.  Zusatz  zu  §  196.  (Notwendigkeit  der  Ar- 
beit.) Das  unmittelbare  Material,  das  nicht  verarbeitet 
zu  werden  braucht,  ist  nur  gering:  selbst  die  Luft  hat 
man  sich  zu  erwerben,  indem  man  sie  warm  zu  machen 
hat;  nur  etwa  das  Wasser  kann  man  so  trinken,  wie  man 
es  vorfindet.^)  Menschenschweiß  und  Menschenarbeit  er- 
Avirbt  dem  Menschen  die  Mittel   des  Bedürfnisses, 

126.  Zusatz  zu  §  197.  (Barbarei  und  praktische 
Bildung.)  Der  Barbar  ist  faul  und  unterscheidet  sich 
vom  Gebildeten  dadurch,  daß  er  in  der  Stumpfheit  vor 
sich  hin  brütet,  denn  die  praktische  Bildung  besteht  eben 
in  der  Gewohnheit  und  in  dem  Bedürfen  der  Beschäftigung. 
Der  Ungeschickte  bringt  immer  etwas  anderes  heraus, 
als  er  will,  weil  er  nicht  Herr  über  sein  eigenes  Tun 
ist,  während  der  Arbeiter  geschickt  genannt  werden  kann, 
der  die  Sache  hervorbringt,  wie  sie  sein  soll,  und  der 
keine  Sprödigkeit  in  seinem  subjektiven  Tun  gegen  den 
Zweck  findet. 

127.  Zusatz  zu  §  201.  (Notwendigkeit  der 
Stände.)  Die  Art  und  Weise  der  Teilnahme  am  allge- 
meinen Vermögen  ist  jeder  Besonderheit  der  Individuen 
überlassen,  aber  die  allgemeine  Verschiedenheit  der  Be- 
sonderung  der  bürgerlichen  Gesellschaft  ist  ein  Notwen- 
diges. Wenn  die  erste  Basis  des  Staates  die  Familie  ist, 
so  sind  die  Stände  die  zweite.  Diese  ist  um  dessentwillen 
so  wichtig,  weil  die  Privatpersonen,  obgleich  selbstsüchtig, 
die  Notwendigkeit  haben,  nach  anderen  sich  herauszu- 
wenden. Hier  ist  also  die  Wurzel,  durch  die  die  Selbst- 
sucht sich  an  das  Allgemeine,  an  den  Staat  knüpft,  dessen 
Sorge  es  sein  muß>  daß  dieser  Zusammenhang  ein  ge- 
diegener und  fester  sei. 

1)  Auch  das  läßt  die  moderne  Hygiene  nicht  mehr  gelten. 


Zu  §  196—209.  339 

128.  Zusatz  zu  §  203.  (Die  Landwirtschaft.)  In 
unserer  Zeit  wird  die  Ökonomie  auch  auf  reflektierende 
Weise  wie  eine  Fabrik  betrieben  und  nimmt  dann  einen 
ihrer  Natürlichkeit  widerstrebenden  Charakter  des  zweiten 
Standes  an.  Indessen  wird  dieser  erste  Stand  immer  mehr 
die  Weise  des  patriarchalischen  Lebens  und  die  substan- 
tielle Gesinnung  desselben  behalten.  Der  Mensch  nimmt 
hier  mit  unmittelbarer  Empfindung  das  Gegebene  und  Emp- 
fangene auf,  ist  Gott  dafür  dankbar  und  lebt  im  gläubigen 
Zutrauen,  daß  diese  Güte  fortdauern  werde.  Was  er  be- 
kommt, reicht  ihm  hin:  er  braucht  es  auf,  denn  es  kommt 
ihm  wieder.  Dies  ist  die  einfache,  nicht  auf  Erwerbung 
des  Reichtums  gerichtete  Gesinnung;  man  kann  sie  auch 
die  altadelige  nennen,  die,  was  da  ist,  verzehrt.  Bei 
diesem  Stande  tut  die  Natur  die  Hauptsache,  und  der  eigene 
Fleiß  ist  dagegen  das  Untergeordnete,  während  beim  zwei- 
ten Stande  gerade  der  Verstand  das  Wesentliche  Ist  und 
das  Naturprodukt  nur  als  Material  betrachtet  werden  kann. 
129.  Zusatz  zu  §  204.  (Gewerbe  und  Freiheits- 
sinn.) Das  Individuum  im  Stande  des  Gewerbes  ist  an 
sich  gewiesen,  und  dieses  Selbstgefühl  hängt  mit  der  For- 
derung eines  rechtlichen  Zustandes  aufs  engste  zusammen. 
Der  Sinn  für  Freiheit  und  Ordnung  ist  daher  hauptsächlich 
in  den  Städten  aufgegangen.  Der  erste  Stand  hat  dagegen 
wenig  selbst  zu  denken;  was  er  erwirbt,  ist  Gabe  eines 
Fremden,  der  Natur:  dies  Gefühl  der  Abhängigkeit  ist  bei 
ihm  ein  Erstes,  und  damit  verbindet  sich  leicht  auch  dies, 
von  Menschen  über  sich  das  ergehen  zu  lassen,  was  da 
kommen  mag.  Der  erste  Stand  ist  daher  mehr  zur  Unter- 
würfigkeit,  der  zweite  mehr  zur  Freiheit  geneigt. 

130.  Zusatz  zu  §  207.  (Stand  und  Geltung  des 
Einzelnen.)  Darunter,  daß  der  Mensch  etwas  sein 
müsse,  verstehen  wir,  daß  er  einem  bestimmten  Stande 
angehöre;  denn  dies  „etwas"  will  sagen,  daß  er  alsdann 
etwas  Substantielles  ist.  Ein  Mensch  ohne  Stand  ist  eine 
bloße  Privatperson  und  steht  nicht  in  wirklicher  Allge- 
meinheit. Von  der  anderen  Seite  kann  sich  der  Einzelne 
in  seiner  Besonderheit  für  das  Allgemeine  halten  und  ver- 
meinen, daß  wenn  er  in  einen  Stand  ginge,  er  sich  einem 
Niedrigeren  hingebe.  Dies  ist  die  falsche  Vorstellung, 
daß  wenn  etwas  ein  Dasein,  das  ihm  nötig  ist,  gewinnt, 
es  sich  dadurch  beschränke  und  aufgebe. 

131.  Zusatz  zu  §  209.  (Entstehung  der  beson- 
deren Gesetze.)    Einerseits  ist  es  durch  das  System  der 

22* 


340  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsplülosophie. 

Partikularität,  daß  das  Recht  äußerlich  not^vendig  wird 
als  Schutz  für  die  Besonderheit.  Wenn  es  auch  aus  dem 
Begriffe  kommt,  so  tritt  es  doch  nur  in  die  Existenz,  weil 
es  nützlich  für  die  Bedürfnisse  ist.  Damit  man  den  Ge- 
danken des  Rechts  habe,  muß  man  zum  Denken  gebildet 
sein  und  nicht  mehr  im  bloß  Sinnlichen  verweilen;  man 
muß  den  Gegenständen  die  Form  der  Allgemeinheit  an- 
passen und  sich  ebenso  im  Willen  nach  einem  Allgemeinen 
richten.  Erst  nachdem  die  Menschen  sich  vielfache  Be- 
dürfnisse erfunden  haben,  und  die  Erwerbung  derselben 
sich  in  der  Befriedigung  verschlingt,  vermögen  sich  Ge- 
setze zu  bilden. 

132.  Zusatz  zu  §  211.  (Gesetzesrecht  und  Ge- 
wohnheitsrecht.) Die  Sonne  wie  die  Planeten  haben  auch 
ihre  Gesetze,  aber  sie  wissen  sie  nicht;  Barbaren  werden 
durch  Triebe,  Sitten,  Gefühle  regiert,  aber  sie  haben  kein 
Bewußtsein  davon.  Dadurch,  daß  das  Recht  gesetzt  und 
gewußt  ist,  fällt  alles  Zufällige  der  Empfindung,  des  Mei- 
nens,  die  Form  der  Rache,  des  Mitleids,  der  Eigensucht 
fort,  und  so  erlangt  das  Recht  erst  seine  v/ahrhafte  Be- 
stimmtheit und  kommt  zu  seiner  Ehre.  Erst  durch  die 
Zucht  des  Auffassens  wird  es  der  Allgemeinheit  fähig.  Daß 
es  bei  der  Anwendung  der  Gesetze  Kollisionen  gibt,  wo 
der  Verstand  des  Richters  seinen  Platz  hat,  ist  durchaus 
notwendig,  weil  sonst  eben  die  Ausführung  etwas  durchaus 
Maschinenmäßiges  würde.  Wenn  man  darauf  gekommen 
ist,  die  Kollisionen  dadurch  abzuschaffen,  daß  man  vieles 
dem  Gutdünken  der  Richter  überlassen  will,  so  ist  ein 
solcher  Ausweg  weit  schlechter,  weil  auch  die  Kollision 
dem  Gedanken,  dem  denkenden  Bewußtsein  und  seiner 
Dialektik  angehört,  die  bloße  Entscheidung  durch  den 
Richter  aber  Willkür  wäre.  Man  führt  in  der  Regel  für 
das  Gewohnheitsrecht  an,  daß  es  lebendig  sei;  aber  diese 
Lebendigkeit,  d.  h.  die  Identität  der  Bestimmung  mit  dem 
Subjekte  macht  das  Wesen  der  Sache  noch  nicht  aus; 
das  Recht  muß  denkend  gewußt  werden,  es  muß  ein 
System  in  sich  selbst  sein,  und  nur  als  solches  kann  es 
bei  gebildeten  Nationen  gelten.  Wenn  man  in  der  neuesten 
Zeit  den  Völkern  den  Beruf  zur  Gesetzgebung  abgesprochen 
hat,  so  ist  dies  nicht  allein  ein  Schimpf,  sondern  ent- 
hält das  Abgeschmackte,  daß  bei  der  unendlichen  Menge 
vorhandener  Gesetze  nicht  einmal  den  Einzelnen  die  Ge- 
schicklichkeit zugetraut  wird,  dieselben  in  ein  konsequentes 
System  zu  bringen,  während  gerade  das  Systematisieren, 


Zu  §211—215.  341 

d.  h.  das  Erheben  ins  Allgemeine,  der  unendliche  Drang 
der  Zeit  ist.  Ebenso  hat  man  Sammlungen  von  Dezisionen, 
wie  sie  sich  im  Corpus  juris  vorfinden,  für  vorzüglicher 
wie  ein  im  allgemeinsten  Sinne  ausgearbeitetes  Gesetz- 
buch gehalten,  weil  in  solchen  Dezisionen  immer  noch 
eine  gewisse  Besonderheit  und  eine  geschichtliche  Er- 
innerung festgehalten  wird,  von  der  man  nicht  lassen  will. 
Wie  arg  solche  Sammlungen  sind,  zeigt  zur  Genüge  die 
Praxis  des  englischen  Rechts. 

133.  Zusatz  zu  §  213.  (Das  Gesetz  und  die  Inner- 
lichkeit des  Subjekts.)  An  den  höheren  Verhältnissen 
der  Ehe,  Liebe,  Religion,  des  Staats,  können  nur  die  Seiten 
Gegenstand  der  Gesetzgebung  werden,  die  ihrer  Natur 
nach  fähig  sind,  die  Äußerlichkeit  an  sich  zu  haben.  In- 
dessen macht  hierbei  die  Gesetzgebung  verschiedener  Völker 
einen  großen  Unterschied.  Bei  den  Chinesen  ist  es  z.  B. 
Staatsgesetz,  daß  der  Mann  seine  erste  Frau  mehr  lieben 
soll  als  die  anderen  Weiber,  die  er  hat.  Wird  er  überführt, 
das  Gegenteil  getan  zu  haben,  so  bestraft  man  ihn  mit 
Prügeln.  Ebenso  finden  sich  in  älteren  Gesetzgebungen 
viel  Vorschriften  über  Treue  und  Redlichkeit,  die  der 
Natur  des  Gesetzes  unangemessen  sind,  weil  sie  ganz  in 
das  Innerliche  fallen.  Nur  beim  Eide,  wo  die  Dinge  dem 
Gewissen  anheimgestellt  sind,  muß  Redlichkeit  und  Treue 
als  Substantielles  berücksichtigt  werden. 

134.  Zusatz  zu  §214.  (Die  ZufälligkeitimRecht.) 
Es  ist  wesentlich  eine  Seite  an  den  Gesetzen  und  der 
Rechtspflege,  die  eine  Zufälligkeit  enthält,  und  die  darin 
liegt,  daß  das  Gesetz  eine  allgemeine  Bestimmung  ist, 
die  auf  den  einzelnen  Fall  angewandt  werden  soll.  Wollte 
man  sich  gegen  diese  Zufälligkeit  erklären,  so  v/ürde  man 
eine  Abstraktion  aussprechen.  Das  Quantitative  einer  Strafe 
kann  z.  B.  keiner  Begriffsbestimmung  adäquat  gemacht 
werden,  und  was  auch  entschieden  wird,  ist  nach  dieser 
Seite  zu  immer  eine  Willkür.  Diese  Zufälligkeit  aber  ist 
selbst  notwendig,  und  wenn  man  daraus  etwa  gegen  ein 
Gesetzbuch  überhaupt  argumentiert,  daß  es  nicht  voll- 
kommen sei,  so  übersieht  man  eben  die  Seite,  woran  eine 
Vollendung  nicht  zu  erreichen  ist,  und  die  daher  genommen 
werden  muß,  wie  sie  liegt. 

135.  Zusatz  zu  §  215.  (Allgemeine  Rechtskennt- 
nis.) Der  Juristenstand,  der  die  besondere  Kenntnis  der 
Gesetze  hat,  hält  dies  oft  für  sein  Monopol,  und  wer  nicht 
vom  Metier  ist,  soll  nicht  mitsprechen.    So  haben  die  Phy- 


342  Zusätze  zu  Hegels  RechtsphiloBopliie. 

siker  Goethes  Farbenlehre  übelgenommen,  weil  er  nicht 
vom  Handwerk  war,  und  noch  dazu  ein  Dichter.  Aber  so 
wenig  jemand  Schuhmacher  zu  sein  braucht,  um  zu  wissen, 
ob  ihm  die  Schuhe  passen,  ebensowenig  braucht  er  über- 
haupt zum  Handwerk  zu  gehören,  um  über  Gegenstände, 
die  von  allgemeinem  Interesse  sind,  Kenntnis  zu  haben. 
Das  Recht  betrifft  die  Freiheit,  dies  Würdigste  und  Hei- 
ligste im  Menschen,  was  er  selbst,  insofern  es  für  ihn 
verbindlich  sein  soll,  kennen  muß. 

136.  Zusatz  zu  §  216.  (Vollständigkeit  und 
Möglichkeit  der  Vervollkommnung  des  Rechts.) 
Vollständigkeit  heißt  die  vollendete  Sammlung  alles  Ein- 
zelnen, was  in  eine  Sphäre  gehört,  und  in  diesem  Sinne 
kann  keine  Wissenschaft  und  Kenntnis  vollständig  sein. 
Wenn  man  nun  sagt,  die  Philosophie  oder  irgendeine 
Wissenschaft  sei  unvollständig,  so  liegt  die  Ansicht  nahe, 
daß  man  warten  müsse,  bis  sie  sich  ergänzt  habe,  denn 
das  Beste  könne  noch  fehlen.  Aber  auf  diese  Weise  wird 
nichts  vorwärts  gebracht,  weder  die  geschlossen  scheinende 
Geometrie,  in  der  dennoch  neue  Bestimmungen  hervor- 
treten, noch  die  Philosophie,  die  es  freilich  mit  der  all- 
gemeinen Idee  zu  tun  hat,  aber  dennoch  immer  weiter 
spezialisiert  werden  kann.  Das  allgemeine  Gesetz  waren 
sonst  immer  die  zehn  Gebote;  darum  nun,  weil  ein  Gesetz- 
buch nicht  vollständig  sein  kann,  das  Gesetz:  Du  sollst 
nicht  töten,  nicht  aufstellen,  erhellt  sogleich  als  eine  Ab- 
surdität. Jedes  Gesetzbuch  könnte  noch  besser  sein,  die 
müßige  Reflexion  darf  dies  behaupten;  denn  das  Herr- 
lichste, Höchste,  Schönste  kann  noch  herrlicher,  höher 
und  schöner  gedacht  werden.  Aber  ein  großer  alter  Baum 
verzweigt  sich  mehr  und  mehr,  ohne  deshalb  ein  neuer 
Baum  zu  werden;  töricht  wäre  es  jedoch,  keinen  Baum 
der  neuen  Zweige  wegen,  die  kommen  könnten,  pflanzen 
zu  wollen. 

137.  Zusatz  zu  §  217.  (Das  Prinzip  der  Forma- 
lität.) Das  Gesetz  ist  das  Recht,  als  das  gesetzt,  was 
es  an  sich  war.  Ich  besitze  etwas,  habe  ein  Eigentum,  das 
ich  als  herrenlos  ergriffen  habe:  dies  muß  nun  noch  als 
das  Meinige  anerkannt  und  gesetzt  werden.  In  der  Ge- 
sellschaft kommen  deswegen  in  Beziehung  auf  das  Eigen- 
tum Förmlichkeiten  vor;  man  setzt  Grenzsteine  zum 
Zeichen  für  das  Anerkenntnis  anderer,  man  legt  Hypo- 
thekenbücher, Verzeichnisse  des  Eigentums  an.  Das  meiste 
Eigentum  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft  beruht  auf  Ver- 


Zu  §  216—221.  343 

trag,  dessen  Förmlichkeiten  fest  und  bestimmt  sind.  Man 
kann  nun  gegen  solche  Förmlichkeiten  einen  Widerwillen 
haben  und  meinen,  sie  seien  nur  da,  um  der  Obrigkeit  Geld 
einzubringen;  man  kann  sie  sogar  als  etwas  Beleidigendes 
und  als  Zeichen  des  Mißtrauens  ansehen,  indem  der  Satz 
nicht  mehr  gelte:  ein  Mann  ein  Wort.  Aber  das  Wesent- 
liche der  Form  ist,  daß  das,  was  an  sich  Recht  ist,  auch 
als  solches  gesetzt  sei.  Mein  Wille  ist  ein  vernünftiger, 
er  gilt,  und  dies  Gelten  soll  von  dem  anderen  anerkannt 
sein.  Hier  muß  nun  meine  Subjektivität  und  die  des 
anderen  hinwegfallen,  und  der  Wille  muß  eine  Sicherheit, 
Festigkeit  und  Objektivität  erlangen,  welche  er  nur  durch 
die  Form  erhalten  kann. 

138.  Zusatz  zu  §  218.  (Das  Strafmaß.)  Der  Um- 
stand, daß  das  in  der  Gesellschaft  verübte  Verbrechen 
ein  größeres  erscheint  und  trotzdem  milder  bestraft  wird, 
scheint  sich  zu  widersprechen.  Wenn  es  aber  einerseits 
für  die  Gesellschaft  unmöglich  wäre,  das  Verbrechen  un- 
bestraft zu  lassen,  weil  es  alsdann  als  Recht  gesetzt  würde, 
so  ist  doch,  weil  die  Gesellschaft  ihrer  selbst  sicher  ist, 
das  Verbrechen  immer  nur  eine  Einzelnheit  gegen  sie, 
ein  Unfestes  und  Isoliertes.  Durch  die  Festigkeit  der  Ge- 
sellschaft selbst  erhält  das  Verbrechen  die  Stellung  eines 
bloß  Subjektiven,  das  nicht  so  aus  dem  besonnenen  Willen 
als  aus  natürlichen  Antrieben  entsprungen  scheint.  Durch 
diese  Ansicht  erhält  das  Verbrechen  eine  mildere  Stel- 
lung, und  die  Strafe  wird  deswegen  auch  milder.  Ist  die 
Gesellschsft  noch  an  sich  wankend,  dann  müssen  durch 
Strafen  Exempel  statuiert  werden,  denn  die  Strafe  ist 
selbst  ein  Exempel  gegen  das  Exempel  des  Verbrechens. 
In  der  Gesellschaft  aber,  die  in  sich  fest  ist,  ist  das  Ge- 
setztsein des  Verbrechens  so  schwach,  daß  hiernach  auch 
die  Aufhebung  dieses  Gesetztseins  zu  messen  sein  muß. 
Harte  Strafen  sind  also  an  und  für  sich  nichts  Ungerechtes» 
sondern  stehen  im  Verhältnis  mit  dem  Zustande  der  Zeit. 
Ein  Kriminal-Kodex  kann  nicht  für  alle  Zeiten  gelten,  und 
Verbrechen  sind  Scheinexistenzen,  die  eine  größere  oder 
geringere    Abweisung    nach   sich    ziehen    können. 

139.  Zusatz  zu  §  221.  (Der  Gerichtszwang.)  Weil 
jedes  Individuum  das  Recht  hat,  im  Gericht  zu  stehen,  muß 
es  auch  die  Gesetze  kennen,  denn  sonst  würde  ihm  diese 
Befugnis  nichts  helfen.  Aber  das  Individuum  hat  auch 
die  Pflicht,  sich  vor  Gericht  zu  stellen.  Im  Feudalzustande 
stellte  oft  der  Mächtige  sich  nicht,  forderte  das  Gericht 


344  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

heraus,  und  behandelte  es  als  ein  Unrecht  des  Gerichts, 
den  Mächtigen  vor  sich  zu  fordern.  Dies  sind  aber  Zu- 
stände, die  dem,  was  ein  Gericht  sein  soll,  widersprechen. 
In  der  neueren  Zeit  muß  der  Fürst  in  Privatsachen  die 
Gerichte  über  sich  erkennen,  und  gewöhnlich  gehen  in 
freien  Staaten  die  Prozesse  desselben  verloren. 

140.  Zusatz  zu  §  222.  (Der  Beweiszwang.)  Es 
mag  den  Menschen  empören,  daß  er  weiß  ein  Recht  zu 
haben,  das  als  ein  unerweisbares  ihm  abgesprochen  wird. 
Aber  das  Recht,  das  ich  habe,  muß  zugleich  ein  Gesetztes 
sein;  ich  muß  es  darstellen,  erweisen  können,  und  nur 
dadurch,  daß  das  Ansichseiende  auch  gesetzt  wird,  kann  es 
in   der    Gesellschaft  gelten. 

141.  Zusatz  zu  §  224.  (Öffentliche  Rechts- 
pflege.) Die  Öffentlichkeit  der  Rechtspflege  nimmt  der 
gerade  Menschensinn  für  das  Rechte  und  Richtige.  Ein 
großer  Grund  dagegen  war  ewig  die  Vornehmheit  der  Ge- 
richtsherren, die  sich  nicht  jedem  zeigen  wollen  und  sich 
als  Horte  des  Rechts  ansehen,  in  das  die  Laien  nicht  ein- 
dringen sollen.  Es  gehört  zum  Rechte  aber  namentlich 
das  Zutrauen,  das  die  Bürger  zu  demselben  haben,  und 
diese  Seite  ist  es,  welche  die  Öffentlichkeit  des  Recht- 
sprechens fordert.  Das  Recht  der  Öffentlichkeit  beruht 
darauf,  daß  der  Zweck  des  Gerichts  das  Recht  ist,  welches 
als  eine  Allgemeinheit  auch  vor  die  Allgemeinheit  ge- 
hört; dann  aber  auch  darauf,  daß  die  Bürger  die  Über- 
zeugung gewinnen,  daß  wirklich  Recht  gesprochen  wird. 

142.  Zusatz  zu  §  227.  (Das  Schwurgericht.)  Es 
ist  kein  Grund  vorhanden,  anzunehmen,  daß  der  juristische 
Richter  allein  den  Tatbestand  feststellen  solle,  da  dies 
die  Sache  jeder  allgemeinen  Bildung  ist  und  nicht  einer 
bloß  juristischen.  Die  Beurteilung  des  Tatbestandes  geht 
von  empirischen  Umständen  aus,  von  Zeugnissen  über  die 
Handlung  und  dergleichen  Anschauungen,  dann  aber  wieder 
von  Tatsachen,  aus  denen  man  auf  die  Handlung  schließen 
kann,  und  die  sie  wahrscheinlich  oder  unwahrscheinlich 
machen.  Es  soll  hier  eine  Gewißheit  erlangt  werden, 
keine  Wahrheit  im  höheren  Sinne,  welche  etwas  durchaus 
Ewiges  ist;  diese  Gewißheit  ist  hier  die  subjektive  Über- 
zeugung, das  Gewissen,  und  die  Frage  ist,  welche  Form 
soll  diese  Gewißheit  im  Gericht  erhalten.  Die  Forderung 
des  Eingeständnisses,  abseiten  des  Verbrechers,  welche 
sich  gewöhnlich  im  deutschen  Rechte  vorfindet,  hat  das 
Wahre,  daß  dem  Recht  des  subjektiven  Selbstbewußtseins 


Zu  §  222-234.  345 

dadurch  ein  Genüge  geschieht:  denn  das,  was  die  Richter 
sprechen,  muß  im  Bewußtsein  nicht  verschieden  sein,  und 
erst,  wenn  der  Verbrecher  eingestanden  hat,  ist  kein 
Fremdes  mehr  gegen  ihn  in  dem  Urteil.  Hier  tritt  nun 
aber  die  Schwierigkeit  ein,  daß  der  Verbrecher  leugnen 
kann  und  dadurch  das  Interesse  der  Gerechtigkeit  ge- 
fährdet wird.  Soll  nun  wieder  die  subjektive  Überzeugung 
des  Richters  gelten,  so  geschieht  abermals  eine  Härte, 
indem  der  Mensch  nicht  mehr  als  Freier  behandelt  wird. 
Die  Vermittelung  ist  nun,  daß  gefordert  wird,  der  Aus- 
spruch der  Schuld  oder  Unschuld  solle  aus  der  Seele  des 
Verbrechers  gegeben  sein,  —  das  Geschworenenge- 
richt. 

143.  Zusatz  zu  §  229.  (Notwendigkeit  der  Po- 
lizei und  Korporation.)  In  der  bürgerlichen  Gesell- 
schaft ist  die  Allgemeinheit  nur  Notwendigkeit,  im  Ver- 
hältnis der  Bedürfnisse  ist  nur  das  Recht  als  solches  das 
Feste.  Aber  dies  Recht,  ein  bloß  beschränkter  Kreis, 
bezieht  sich  nur  auf  die  Beschützung  dessen,  was  ich 
habe;  dem  Rechte  als  solchem  ist  das  Wohl  ein  Äußer- 
liches. Dieses  Wohl  ist  jedoch  in  dem  System  der  Be- 
dürfnisse eine  wesentliche  Bestimmung.  Das  Allgemeine 
also,  das  zunächst  nur  das  Recht  ist,  hat  sich  über  das 
ganze  Feld  der  Besonderheit  auszudehnen.  Die  Gerechtig- 
keit ist  ein  Großes  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft;  gute 
Gesetze  werden  den  Staat  blühen  lassen,  und  freies  Eigen- 
tum ist  eine  Grundbedingung  des  Glanzes  desselben.  Aber 
indem  ich  ganz  in  die  Besonderheit  verflochten  bin,  habe 
ich  ein  Recht  zu  fordern,  daß  in  diesem  Zusammenhang 
auch  mein  besonderes  Wohl  gefördert  werde;  es  soll  auf 
mein  Wohl,  auf  meine  Besonderheit  Rücksicht  genommen 
werden,  und  dies  geschieht  durch  die  Polizei  und  Kor- 
poration. 

144.  Zusatz  zu  §  234.  (Die  Lästigkeit  der  Po- 
lizei.) Es  sind  hier  keine  festen  Bestimmungen  zu  geben 
und  keine  absoluten  Grenzen  zu  ziehen.  Alles  ist  hier 
persönlich,  das  subjektive  Meinen  tritt  ein,  und  der  Geist 
der  Verfassung,  die  Gefahr  der  Zeit  haben  die  näheren 
Umstände  mitzuteilen.  In  Kriegszeiten  ist  z.  B.  manches 
sonst  Unschädliche  als  schädlich  anzusehen.  Durch  diese 
Seiten  der  Zufälligkeit  und  willkürlichen  Persönlichkeit  er- 
hält die  Polizei  etwas  Gehässiges.  Sie  kann  bei  sehr 
gebildeter  Reflexion  die  Richtung  nehmen,  alles  Mögliche 
in  ihr  Bereich   zu   ziehen;   denn  in  allem   läßt  sich  eine 


346  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

Beziehung  finden,  durch  die  etwas  schädlich  werden  könnte. 
Darin  kann  die  Polizei  sehr  pedantisch  zu  Werke  gehen 
und  das  gewöhnliche  Leben  der  Individuen  genieren.  Aber, 
welcher  Übelstand  dies  auch  ist,  eine  objektive  Grenz- 
linie kann  hier  nicht  gezogen  werden. 

145.  Zusatz  zu  §  236.  (Die  Aufgabe  der  polizei- 
lichen Fürsorge.)  Die  polizeiliche  Aufsicht  und  Vor- 
sorge hat  den  Zweck,  das  Individuum  mit  der  allgemeinen 
Möglichkeit  zu  vermitteln,  die  zur  Erreichung  der  indivi- 
duellen Zwecke  vorhanden  ist.  Sie  hat  für  Straßenbeleuch- 
tung, Brückenbau,  Taxation  der  täglichen  Bedürfnisse,  sowie 
für  die  Gesundheit  Sorge  zu  tragen.  Hier  sind  nun  zwei 
Hauptansichten  herrschend.  Die  eine  behauptet,  daß  der 
Polizei  die  Aufsicht  über  alles  gebühre,  die  andere,  daß 
die  Polizei  hier  nichts  zu  bestimmen  habe,  indem  jeder 
sich  nach  dem  Bedürfnis  des  anderen  richten  werde.  Der 
Einzelne  muß  freilich  ein  Recht  haben,  sich  auf  diese 
oder  jene  Weise  sein  Brot  zu  verdienen;  aber  auf  der 
anderen  Seite  hat  auch  das  Publikum  ein  Recht  zu  ver- 
langen, daß  das  Nötige  auf  gehörige  Weise  geleistet  werde. 
Beide  Seiten  sind  zu  befriedigen,  und  die  Gewerbefreiheit 
darf  nicht  von  der  Art  sein,  daß  das  allgemeine  Beste  in 
Gefahr  kommt. 

146.  Zusatz  zu  §  238.  (Die  Pflicht  der  Gesell- 
schaft.) Die  Familie  hat  allerdings  für  das  Brot  der 
Einzelnen  zu  sorgen,  aber  sie  ist  in  der  bürgerlichen 
Gesellschaft  ein  Untergeordnetes  und  legt  nur  den  Grund; 
sie  ist  nicht  mehr  von  so  umfassender  Wirksamkeit.  Die 
bürgerliche  Gesellschaft  ist  vielmehr  die  ungeheure  Macht, 
die  den  Menschen  an  sich  reißt,  von  ihm  fordert,  daß  er 
für  sie  arbeite,  und  daß  er  alles  durch  sie  sei  und  ver- 
mittelst ihrer  tue.  Soll  der  Mensch  so  ein  Glied  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  sein,  so  hat  er  ebenso  Rechte 
und  Ansprüche  an  sie,  wie  er  sie  in  der  Familie  hatte. 
Die  bürgerliche  Gesellschaft  muß  ihr  Mitglied  schützen, 
seine  Rechte  verteidigen,  sowie  der  Einzelne  den  Rechten 
der  bürgerlichen  Gesellschaft  verpflichtet  ist. 

147.  Zusatz  zu  §  239.  (Schulzwang,  Impfzwang 
u.  dgl.)  Die  Grenze  zwischen  den  Rechten  der  Eltern 
und  der  bürgerlichen  Gesellschaft  ist  hier  sehr  schwer 
zu  ziehen.  Die  Eltern  meinen  gewöhnlich  in  Betreff  auf 
Erziehung  volle  Freiheit  zu  haben  und  alles  machen  zu 
können,  was  sie  nur  mögen.     Bei  aller  Öffentlichkeit  der 


Zu  §  236—244.  347 

Erziehung  kommt  die  Hauptopposition  gewöhnlich  von  den 
Eltern  her,  und  sie  sind  es,  die  über  Lehrer  und  Anstalten 
schreien  und  reden,  weil  sich  ihr  Belieben  gegen  die- 
selben setzt.  Trotzdem  hat  die  Gesellschaft  ein  Recht, 
nach  ihren  geprüften  Ansichten  hierbei  zu  verfahren,  die 
Eltern  zu  zwingen,  ihre  Kinder  in  die  Schule  zu  schicken, 
ihnen  die  Pocken  impfen  zu  lassen  usw.  Die  Streitigkeiten, 
die  in  Frankreich  zwischen  der  Forderung  des  freien  Unter- 
richts, d.  h.  des  Beliebens  der  Eltern,  und  der  Aufsicht 
des  Staates  bestehen,  gehören  hierher. 

148.  Zusatz  zu  §  240.  (Entmündigung.)  In  Athen 
war  es  Gesetz,  daß  jeder  Bürger  darüber  Eechenschaft 
geben  mußte,  wovon  er  lebe;  jetzt  hat  man  die  Ansicht, 
daß  dies  niemanden  etwas  angehe.  Allerdings  ist  jedes 
Individuum  einerseits  für  sich,  andererseits  aber  ist  es 
auch  Mitglied  im  System  der  bürgerlichen  Gesellschaft; 
und  insofern  jeder  Mensch  von  ihr  das  Recht  hat  die  Sub- 
sistenz  zu  verlangen,  muß  sie  ihn  auch  gegen  sich  selbst 
schützen.  Es  ist  nicht  allein  das  Verhungern,  um  was 
es  zu  tun  ist,  sondern  der  weitere  Gesichtspunkt  ist,  daß 
kein  Pöbel  entstehen  soll.  Weil  die  bürgerliche  Gesell- 
schaft schuldig  ist  die  Individuen  zu  ernähren,  hat  sie 
auch  das  Recht  dieselben  anzuhalten,  für  ihre  Subsistenz 
zu  sorgen. 

149.  Zusatz  zu  §  244.  (Der  Anspruch  auf  Sub- 
sistenz.) Die  niedrigste  Weise  der  Subsistenz,  die  des 
Pöbels,  macht  sich  von  selbst:  dies  Minimum  ist  jedoch 
bei  verschiedenen  Völkern  sehr  verschieden.  In  England 
glaubt  auch  der  Ärmste  sein  Recht  zu  haben;  dies  ist 
etwas  anderes,  als  womit  in  anderen  Ländern  die  Armen 
zufrieden  sind.  Die  Armut  an  sich  macht  keinen  zum 
Pöbel;  dieser  wird  erst  bestimmt  durch  die  mit  der  Armut 
sich  verknüpfende  Gesinnung,  durch  die  innere  Empörung 
gegen  die  Reichen,  gegen  die  Gesellschaft,  die  Regie- 
rung usw.  Ferner  ist  damit  verbunden,  daß  der  Mensch, 
der  auf  die  Zufälligkeit  angewiesen  ist,  leichtsinnig  und 
arbeitsscheu  wird,  wie  z.  B.  die  Lazzaroni  in  Neapel. 
Somit  entsteht  im  Pöbel  das  Böse,  daß  er  die  Ehre  nicht 
hat,  seine  Subsistenz  durch  seine  Arbeit  zu  finden,  und 
doch,  seine  Subsistenz  zu  finden,  als  sein  Recht  anspricht. 
Gegen  die  Natur  kann  kein  Mensch  ein  Recht  behaupten; 
aber  im  Zustande  der  Gesellschaft  gewinnt  der  Mangel 
sogleich  die  Form  eines  Unrechts,  was  dieser  oder  jener 
Klasse  angetan  wird.    Die  wichtige  Frage,  wie  der  Armut 


348  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

abzuhelfen  sei,   ist  eine  vorzüglich   die  modernen  Gesell- 
schaften bewegende  und  quälende. 

150.  Zusatz    zu    §  248.      (Kolonialpolitik.)      Die 
bürgerliche    Gesellschaft    wird    dazu    getrieben,    Kolonien 
anzulegen.     Die  Zunahme  der  Bevölkerung  hat  schon  für 
sich  diese  Wirkung;  besonders  aber  entsteht  eine  Menge, 
die   die  Befriedigung   ihrer   Bedürfnisse   nicht  durch  ihre 
Arbeit  gewinnen  kann,  wenn  die  Produktion  das  Bedürfnis     - 
der  Konsumtion  übersteigt.   Sporadische  Kolonisation  findet     s 
besonders    in    Deutschland    statt.      Die    Kolonisten    ziehen    i 
nach  Amerika,  Rußland,  bleiben  ohne  Zusammenhang  mit    !i 
ihrem  Vaterlande  und  gewähren  so  diesem  keinen  Nutzen. 
Die  zweite  und  ganz  von  der  ersten  verschiedene  Koloni-   •' 
sation   ist   die   systematische.     Sie    wird   von   dem   Staate 
veranlaßt,  mit  dem  Bewußtsein  und  der  Regulierung  der 
gehörigen  Weise  der  Ausführung.     Diese  Art  der  Koloni- 
sation  ist   vielfältig    bei   den    Alten,    und    namentlich   bei   t 
den  Griechen  vorgekommen,  bei  denen  harte  Arbeit  nicht 
die   Sache    des    Bürgers    war,    dessen   Tätigkeit    vielmehr 
den  öffentlichen  Dingen  sich  zuwendete.     Wenn  nun  die 
Bevölkerung  so  anwuchs,   daß  Not   entstehen  konnte  für 
sie  zu  sorgen,  dann  wurde  die  Jugend  in  eine  neue  Gegend 
geschickt,   die   teils   besonders   gewählt,    teils   dem   Zufall 
des  Findens  überlassen  war.     In  den  neueren  Zeiten  hat 
man  den  Kolonien  nicht  solche  Rechte  wie  den  Bewohnern 
des  Mutterlandes  zugestanden,  und  es  sind  Kriege  und  end- 
lich Emanzipationen  aus  diesem  Zustande  hervorgegangen, 
wie  die  Geschichte  der  englischen  und  spanischen  Kolonien 
zeigt.     Die  Befreiung  der  Kolonien  erweist  sich  selbst  als 
der  größte  Vorteil  für  den  Mutterstaat,  so  wie  die  Frei- 
lassung   der    Sklaven    als    der    größte    Vorteil    für    den 
Herrn. 

151.  Zusatz  zu  §  255.  (Wert  der  Korporation.) 
Wenn  man  in  neueren  Zeiten  die  Korporationen  aufgehoben 
hat,  so  hat  dies  den  Sinn,  daß  der  Einzelne  für  sich 
sorgen  solle.  Kann  man  dieses  aber  auch  zugeben,  so 
wird  durch  die  Korporation  die  Verpflichtung  des  Ein- 
zelnen, seinen  Erwerb  zu  schaffen,  nicht  verändert.  In 
unseren  modernen  Staaten  haben  die  Bürger  nur  be- 
schränkten Anteil  an  den  allgemeinen  Geschäften  des 
Staates;  es  ist  aber  notwendig,  dem  sittlichen  Menschen 
außer  seinem  Privatzwecke  eine  allgemeine  Tätigkeit  zu 
gewähren.  Dieses  Allgemeine,  das  ihm  der  moderne  Staat 
nicht   immer   reicht,   findet  er  in  der  Korporation.     Wir 


Zu  §  248-258.  349 

sahen  früher,  daß  das  Individuum  für  sich  in  der  bürger- 
lichen Gesellschaft  sorgend,  auch  für  andere  handelt.  Aber 
diese  bewußtlose  Notwendigkeit  ist  nicht  ganug;  zu  einer 
gewußten  und  denkenden  Sittlichkeit  wird  sie  erst  in  der 
Korporation.  Freilich  muß  über  dieser  die  höhere  Auf- 
sicht des  Staates  sein,  weil  sie  sonst  verknöchern,  sich 
in  sich  verhausen  und  zu  einem  elenden  Zunftwesen  herab- 
sinken würde.  Aber  an  und  für  sich  ist  die  Korporation 
keine  geschlossene  Zunft,  sie  ist  vielmehr  die  Versittlichung 
des  einzeln  stehenden  Gewerbes  und  sein  Hinaufnehmen 
in  einen  Kreis,  in  dem  es  Stärke  und  Ehre  gewinnt. 

152.  Zusatz  zu  §  258.  (Die  Idee  des  Staates.) 
Der  Staat  an  und  für  sich  ist  das  sittliche  Ganze,  die  Ver- 
wirklichurg  der  Freiheit,  und  es  ist  absoluter  Zweck  der 
Vernunft,  daß  die  Freiheit  wirklich  sei.  Der  Staat  ist 
der  Geist,  der  in  der  Welt  steht  und  sich  in  derselben  mit 
Bewußtsein  realisiert,  während  er  sich  in  der  Natur 
nur  als  das  Andere  seiner,  als  schlafender  Geist  verwirk- 
licht. Nur  als  im  Bewußtsein  vorhanden,  sich  selbst  als 
existierender  Gegenstand  wissend,  ist  er  der  Staat.  Bei 
der  Freiheit  muß  man  nicht  von  der  Einzelnheit,  vom 
einzelnen  Selbstbewußtsein  ausgehen,  sondern  nur  vom 
Wesen  des  Selbstbewußtseins;  denn  der  Mensch  mag  es 
wissen  oder  nicht,  dies  Wesen  realisiert  sich  als  selb- 
ständige Gewalt,  in  der  die  einzelnen  Individuen  nur  Mo- 
mente sind.  Es  ist  der  Gang  Gottes  in  der  Welt,  daß  der 
Staat  ist;  sein  Grund  ist  die  Gewalt  der  sich  als  Wille 
verwirklichenden  Vernunft.  Bei  der  Idee  des  Staates  muß 
man  nicht  besondere  Staaten  vor  Augen  haben,  nicht  be- 
sondere Institutionen,  man  muß  vielmehr  die  Idee,  diesen 
wirklichen  Gott,  für  sich  betrachten.  Jeder  Staat,  man 
mag  ihn  auch  nach  den  Grundsätzen,  die  man  hat,  für 
schlecht  erklären,  man  mag  diese  oder  jene  Alangelhaftig- 
keit  daran  erkennen,  hat  immer,  wenn  er  namentlich  zu 
den  ausgebildeten  unserer  Zeit  gehört,  die  wesentlichen 
Momente  seiner  Existenz  in  sich.  Weil  es  aber  leichter  ist 
Mängel  aufzufinden,  als  das  Affirmative  zu  begreifen,  ver- 
fällt man  leicht  in  den  Fehler,  über  einzelne  Seiten  den 
inwendigen  Organismus  des  Staates  selbst  zu  vergessen. 
Der  Staat  ist  kein  Kunstwerk;  er  steht  in  der  Welt,  somit 
in  der  Sphäre  der  Willkür,  des  Zufalls  und  des  Irrtums, 
übles  Benehmen  kann  ihn  nach  vielen  Seiten  defigurieren. 
Aber  der  häßlichste  Mensch,  der  Verbrecher,  ein  Kranker 
und   Krüppel   ist   immer   noch   ein  lebender   Mensch;  daa 


350  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

Affirmative,   das   Leben,   besteht  trotz  des   Mangels,   und 
um  dieses  Affirmative  ist  es  hier  zu  tun. 

153.  Zusatz  zu  §  259.  (Die  einzelnen  Staaten  in 
ihrer  Selbständigkeit.)  Der  Staat  als  wirklich  ist 
wesentlich  individueller  Staat,  und  weiter  hinaus  noch  be- 
sonderer Staat.  Die  Individualität  ist  von  der  Besonder- 
heit zu  unterscheiden;  sie  ist  Moment  der  Idee  des  Staates 
selbst,  während  die  Besonderheit  der  Geschichte  angehört. 
Die  Staaten  als  solche  sind  unabhängig  voneinander,  und 
das  Verhältnis  kann  also  nur  ein  äußerliches  sein,  so 
daß  ein  drittes  Verbindendes  über  ihnen  sein  muß.  Dies 
Dritte  ist  nun  der  Geist,  der  sich  in  der  Weltgeschichte 
Wirklichkeit  gibt  und  den  absoluten  Richter  über  sie  aus- 
macht. Es  können  zwar  mehrere  Staaten  als  Bund  gleich- 
sam ein  Gericht  über  andere  bilden,  es  können  Staaten- 
verbindungen eintreten,  wie  z.  B.  die  heilige  Allianz;  aber 
diese  sind  immer  nur  relativ  und  beschränkt  wie  der  ewige 
Frieden.  Der  alleinige  absolute  Richter,  der  sich  immer 
und  gegen  das  Besondere  geltend  macht,  ist  der  an  und 
für  sich  seiende  Geist,  der  sich  als  das  Allgemeine  und 
als  die  wirkende  Gattung  in  der  Weltgeschichte  darstellt 

154.  Zusatz  zu  §  260.  (Der  moderne  Staat.)  Die 
Idee  des  Staates  in  neuerer  Zeit  hat  die  Eigentümlichkeit, 
daß  der  Staat  die  Verwirklichung  der  Freiheit  nicht  nach 
subjektivem  Belieben,  sondern  nach  dem  Begriffe  des 
Willens,  d.  h.  nach  seiner  Allgemeinheit  und  Göttlichkeit 
ist.  Die  unvollkommenen  Staaten  sind  die,  in  denen  die 
Idee  des  Staates  noch  eingehüllt  ist,  und  wo  die  besonderen 
Bestimmungen  derselben  nicht  zu  freier  Selbständigkeit 
gekommen  sind.  In  den  Staaten  des  klassischen  Altertums 
findet  sich  allerdings  schon  die  Allgemeinheit  vor,  aber 
die  Partikularität  war  noch  nicht  losgebunden  und  frei- 
gelassen, und  zur  Allgemeinheit,  d.  h.  zum  allgemeinen 
Zweck  des  Ganzen  zurückgeführt.  Das  Wesen  des  neuen 
Staates  ist,  daß  das  Allgemeine  verbunden  sei  mit  der 
vollen  Freiheit  der  Besonderheit  und  dem  Wohlergehen  der 
Individuen,  daß  also  das  Interesse  der  Familie  und  bürger- 
lichen Gesellschaft  sich  zum  Staate  zusammennehmen  muß, 
daß  aber  die  Allgemeinheit  des  Zweckes  nicht  ohne  das 
eigene  Wissen  und  Wollen  der  Besonderheit,  die  ihr  Recht 
behalten  muß,  fortschreiten  kann.  Das  Allgemeine  muß 
also  betätigt  sein,  aber  die  Subjektivität  auf  der  anderen 
Seite  ganz  und  lebendig  entwickelt  werden.  Nur  dadurch, 
•daß  beide  Momente  in  ihrer  Stärke  bestehen,  ist  der  Staat 


Zu  §  259—263.  351 

als    ein    gegliederter    und   wahrhaft   organisierter    anzu- 
sehen. 

155.  Zusatz  zu  §  261.  (Der  Staat  als  Verwirk- 
lichung der  subjektiven  Freiheit.)  Auf  die  Einheit 
der  Allgemeinheit  und  Besonderheit  im  Staate  kommt  alles 
an.  In  den  alten  Staaten  war  der  subjektive  Zweck  mit 
dem  Wollen  des  Staates  schlechthin  eins,  in  den  modernen 
Zeiten  dagegen  fordern  wir  eine  eigene  Ansicht,  ein  eigenes 
Wollen  und  Gewissen.  Die  Alten  hatten  keines  in  diesem 
Sinne;  das  Letzte  war  ihnen  der  Staatswille.  Während  in 
den  asiatischen  Despotien  das  Individuum  keine  Innerlich- 
keit und  keine  Berechtigung  in  sich  hat,  will  der  Mensch 
in  der  modernen  Welt  in  seinar  Innerlichkeit  geehrt  sein. 
Die  Verbindung  von  Pflicht  und  Recht  hat  die  gedoppelte 
Seite,  daß  das,  was  der  Staat  als  Pflicht  fordert,  auch 
das  Recht  der  Individualität  unmittelbar  sei,  indem  er 
eben  nichts  ist  als  Organisation  des  Begriffs  der  Frei- 
heit. Die  Bestimmungen  des  individuellen  Willens  sind 
durch  den  Staat  in  ein  objektives  Dasein  gebracht  und 
kommen  durch  ihn  erst  zu  ihrer  Wahrheit  und  Verwirk- 
lichung. Der  Staat  ist  die  alleinige  Bedingung  der  Er- 
reichung des  besonderen  Zwecks  und  Wohls. 

156.  Zusatz  zu  §  262.  (Freiheit  der  Berufs- 
wahl.) Im  platonischen  Staate  gilt  die  subjektive  Freiheit 
noch  nichts,  indem  die  Obrigkeit  noch  den  Individuen  die 
Geschäfte  zuweist.  In  vielen  orientalischen  Staaten  ge- 
schieht diese  Zuweisung  durch  die  Geburt.  Die  subjektive 
Freiheit,  die  berücksichtigt  werden  muß,  fordert  aber  freie 
Wahl  der  Individuen. 

157.  Zusatz  zu  §  263.  (Das  Verhältnis  des 
Staates  zur  Familie  und  zur  bürgerlichen  Gesell- 
schaft.) Der  Staat  als  Geist  unterscheidet  sich  in  die 
besonderen  Bestimmungen  seines  Begriffs,  seiner  Weise  zu 
sein.  Wollen  wir  hier  ein  Beispiel  aus  der  Natur  bei- 
bringen, so  ist  das  Nervensystem  das  eigentlich  empfin- 
dende System;  es  ist  das  abstrakte  Moment,  bei  sich  selbst 
zu  sein  und  die  Identität  seiner  selbst  darin  zu  haben.  Die 
Analyse  der  Empfindung  gibt  aber  nun  zwei  Seiten  an  und 
teilt  sich  so,  daß  die  Unterschiede  als  ganze  Systeme  er- 
scheinen. Das  erste  ist  das  abstrakte  Fühlen,  das  Beisich- 
behalten,  die  dumpfe  Bewegung  in  sich,  die  Reproduktion, 
das  innerliche  Sichnähren,  Produzieren  und  Verdauen.  Das 
zweite  Moment  ist,  daß  dies  Beisichselbstsein  das  Moment 
der  Differenz,   das  Nachaußengehen  sich  gegenüber  hat. 


352  Zusätze  zu  Hegels  PiecLtsphilosopliie. 

Dieses  ist  die  Irritabilität,  das  Nachaußengehen  der  Emp- 
findung. Diese  macht  ein  eigenes  System  aus,  und  es 
gibt  niedrige  Tierklassen,  die  nur  dieses  ausgebildet  haben, 
nicht  die  seelenvolle  Einheit  der  Empfindung  in  sich.  Ver- 
gleichen wir  diese  Naturbeziehungen  mit  denen  des  Greistes, 
so  ist  die  Familie  mit  der  Sensibilität,  die  bürgerliche  Ge- 
sellschaft mit  der  Irritabilität  zusammenzustellen.  Das 
Dritte  ist  nun  der  Staat,  das  Nervensystem  für  sich,  in 
sich  organisiert;  aber  es  ist  nur  lebendig,  insofern  beide 
Momente,  hier  die  Familie  und  bürgerliche  Gesellschaft, 
in  ihm  entwickelt  sind.  Die  Gesetze,  die  sie  regieren,  ßind 
die  Institutionen  des  in  sie  scheinenden  Vernünftigen.  Der 
Grund,  die  letzte  Wahrheit  dieser  Institutionen  ist  aber  der 
Geist,  der  ihr  allgemeiner  Zweck  und  gewußter  Gegen- 
stand ist.  Die  Familie  ist  zwar  auch  sittUch,  allein  der 
Zweck  ist  nicht  als  gewußter;  in  der  bürgerlichen  Ge- 
sellschaft dagegen  ist  die  Trennung  das  Bestimmende. 

158.  Zusatz  zu  §  265.  (Der  Zweck  des  Staates.) 
Schon  früher  ist  bemerkt  worden,  daß  die  Heiligkeit  der 
Ehe  und  die  Institutionen,  worin  die  bürgerliche  Gesell- 
schaft als  sittlich  erscheint,  die  Festigkeit  des  Ganzen 
ausmachen,  d.  h.  das  Allgemeine  sei  zugleich  die  Sache 
eines  jeden  als  Besonderen.  Worauf  es  ankommt,  ist,  daß 
sich  das  Gesetz  der  Vernunft  und  der  besonderen  Freiheit 
durchdringe  und  mein  besonderer  Zweck  identisch  mit  dem 
Allgemeinen  werde,  sonst  steht  der  Staat  in  der  Luft.  Das 
Selbstgefühl  der  Individuen  macht  seine  Wirklichkeit  aus, 
und  seine  Festigkeit  ist  die  Identität  jener  beiden  Seiten. 
Man  hat  oft  gesagt,  der  Zweck  des  Staates  sei  das  Glück 
der  Bürger;  dies  ist  allerdings  wahr:  ist  ihnen  nicht  wohl, 
ist  ihr  subjektiver  Zweck  nicht  befriedigt,  finden  sie  nicht, 
daß  die  Vermittelung  dieser  Befriedigung  der  Staat  als 
solcher  ist,  so  steht  derselbe  auf  schwachen  Füßen. 

159.  Zusatz  zu  §  267.  (Der  Staat  als  Institution.) 
Die  Einheit  der  sich  wollenden  und  wissenden  Freiheit 
ist  zunächst  als  Notwendigkeit.  Das  Substantielle  ist  nun 
hier  als  subjektive  Existenz  der  Individuen;  die  andere 
Weise  der  Notwendigkeit  ist  aber  der  Organismus,  d.  h. 
der  Geist  ist  ein  Prozeß  in  sich  selbst,  gliedert  sich  in  sich, 
setzt  Unterschiede  in  sich,  durch  die  er  seinen  Kreislauf 
macht. 

160.  Zusatz  zu  §  268.  (Staatsgesinnung.)  Un- 
gebildete Menschen  gefallen  sich  im  Räsonnieren  und  Tadeln; 
denn  Tadel  finden  ist  leicht,   schwer  aber  das  Gute  und 


Zu  §  265—270.  353 

die  innere  Notwendigkeit  desselben  zu  kennen.  Beginnende 
Bildung  fängt  immer  mit  dem  Tadel  an,  vollendete  aber 
sieht  in  jedem  das  Positive.  In  der  Religion  ist  ebenso 
bald  gesagt,  dies  oder  jenes  sei  Aberglauben,  aber  es  ist 
unendlich  schwerer  die  Wahrheit  davon  zu  begreifen.  Die 
erscheinende  politische  Gesinnung  ist  also  von  dem  zu 
unterscheiden,  was  die  Menschen  wahrhaft  wollen;  denn 
sie  wollen  eigentlich  innerlich  die  Sache,  aber  sie  halten 
sich  an  Einzelnheiten  und  gefallen  sich  in  der  Eitelkeit 
des  BesserverstehenwoUens.  Das  Zutrauen  haben  die 
Menschen,  daß  der  Staat  bestehen  müsse  und  in  ihm  nur 
das  besondere  Interesse  könne  zustande  kommen;  aber 
die  Gewohnheit  macht  das  unsichtbar,  worauf  unsere  ganze 
Existenz  beruht.  Geht  jemand  zur  Nachtzeit  sicher  auf 
der  Straße,  so  fällt  es  ihm  nicht  ein,  daß  dieses  anders 
sein  könne;  denn  diese  Gewohnheit  der  Sicherheit  ist  zur 
anderen  Natur  geworden,  und  man  denkt  nicht  gerade  nach, 
wie  dies  erst  die  Wirkung  besonderer  Institutionen  sei. 
Durch  die  Gewalt,  meint  die  Vorstellung  oft,  hänge  der 
Staat  zusammen;  aber  das  Haltende  ist  allein  das  Grund- 
gefühl der  Ordnung,  das  alle  haben. 

161.  Zusatz  zu  §  269.  (Der  Organismus  des 
Staates.)  Der  Staat  ist  Organismus,  d.  h.  Entwickelung 
der  Idee  zu  ihren  Unterschieden.  Diese  unterschiedenen 
Seiten  sind  so  die  verschiedenen  Gewalten  und  deren  Ge- 
schäfte und  Wirksamkeiten,  wodurch  das  Allgemeine  sich 
fortwährend  auf  notwendige  Weise  hervorbringt,  und  indem 
es  eben  in  seiner  Produktion  vorausgesetzt  ist,  sich  er- 
hält. Dieser  Organismus  ist  die  politische  Verfassung; 
sie  geht  ewig  aus  dem  Staate  hervor,  wie  er  sich  durch 
sie  erhält:  fallen  beide  auseinander,  machen  sich  die  unter- 
schiedenen Seiten  frei,  so  ist  die  Einheit  nicht  mehr  gesetzt, 
die  sie  hervorbringt.  Es  paßt  auf  sie  die  Fabel  vom  Magen 
und  den  übrigen  Gliedern.  Es  ist  die  Natur  des  Organis- 
mus, daß  wenn  nicht  alle  Teile  zur  Identität  übergehen, 
wenn  sich  einer  als  selbständig  setzt,  alle  zugrunde  gehen 
müssen.  Mit  Prädikaten,  Grundsätzen  usw.  kommt  man 
bei  der  Beurteilung  des  Staates  nicht  fort,  der  als  Organis- 
mus gefaßt  werden  muß,  ebensowenig  wie  durch  Prädikate 
die  Natur  Gottes  begriffen  wird,  dessen  Leben  ich  viel- 
mehr in  sich  selber  anschauen  muß. 

162.  Zusatz  zu  §  270.  (Staat  und  Religion.)  Der 
Staat  ist  wirklich,  und  seine  Wirklichkeit  besteht  darin, 
daß  das  Interesse  des  Ganzen  sich  in  die  besonderen  Zwecke 

Hegel,  Rechtsphilosophie.  23 


354  Zusätze  zu  Hegels  Reclitsphilosophie. 

realisiert.  Wirklichkeit  ist  immer  Einheit  der  Allgemein- 
heit und  Besonderheit,  das  Auseinandergelegtsein  der  All- 
gemeinheit in  die  Besonderheit,  die  als  eine  selbständige 
erscheint,  obgleich  sie  nur  im  Ganzen  getragen  und  ge- 
halten wird.  Insofern  diese  Einheit  nicht  vorhanden  ist, 
ist  etwas  nicht  wirklich,  wenn  auch  Existenz  ange- 
nommen werden  dürfte.  Ein  schlechter  Staat  ist  ein  solcher, 
der  bloß  existiert;  ein  kranker  Körper  existiert  auch,  aber 
er  hat  keine  wahrhafte  Realität.  Eine  Hand,  die  abgehauen 
ist,  sieht  auch  noch  aus  wie  eine  Hand,  und  existiert,  doch 
ohne  wirklich  zu  sein;  die  wahrhafte  Wirklichkeit  ist  Not- 
wendigkeit: was  wirklich  ist,  ist  in  sich  notwendig.  Die 
Notwendigkeit  besteht  darin,  daß  das  Ganze  in  die  Begriffs- 
unterschiede dirimiert  sei,  und  daß  dieses  Dirimierte  eine 
feste  und  aushaltende  Bestimmtheit  abgebe,  die  nicht  tot- 
fest ist,  sondern  in  der  Auflösung  sich  immer  erzeugt.  Zum 
vollendeten  Staat  gehört  wesentlich  das  Bewußtsein,  das 
Denken;  der  Staat  weiß  daher,  was  er  will,  und  weiß  es  als 
ein  Gedachtes.  Indem  das  Wissen  nun  im  Staate  seinen 
Sitz  hat,  hat  ihn  auch  die  Wissenschaft  hier,  und  nicht 
in  der  Kirche. 

Trotzdem  ist  in  neueren  Zeiten  viel  davon  gesprochen 
worden,  daß  der  Staat  aus  der  Religion  hervorzusteigen 
habe.  Der  Staat  ist  der  entwickelte  Geist  und  stellt 
seine  Momente  an  den  Tag  des  Bewußtseins  heraus;  dadurch, 
daß  das,  was  in  der  Idee  liegt,  heraus  in  die  Gegenständ- 
lichkeit tritt,  erscheint  der  Staat  als  ein  Endliches,  und 
so  zeigt  sich  derselbe  als  ein  Gebiet  der  Weltlichkeit,  wäh- 
rend die  Religion  sich  als  ein  Gebiet  der  Unendlichkeit  dar- 
stellt. Der  Staat  scheint  somit  das  Untergeordnete,  und  weil 
das  Endliche  nicht  für  sich  bestehen  kann,  so,  heißt  es, 
brauche  dasselbe  die  Basis  der  Kirche.  Als  Endliches  habe 
es  keine  Berechtigung,  und  erst  durch  die  Religion  werde 
es  heilig  und  dem  Unendlichen  angehörend.  Aber  diese 
Betrachtung  der  Sache  ist  nur  höchst  einseitig.  Der  Staat 
ist  allerdings  wesentlich  weltlich  und  endlich,  hat  besondere 
Zwecke  und  besondere  Gewalten,  aber  daß  der  Staat  welt- 
lich ist,  ist  nur  die  eine  Seite,  und  nur  der  geistlosen 
Wahrnehmung  ist  der  Staat  bloß  endlich.  Denn  der  Staat 
hat  eine  belebende  Seele,  und  dies  Beseelende  ist  die 
Subjektivität,  die  eben  Erschaffen  der  Unterschiede,  aber 
andererseits  das  Erhalten  in  der  Einheit  ist.  Im  religiösen 
Reiche  sind  auch  Unterschiede  und  Endlichkeiten.  Gott, 
heißt  es,   sei  dreieinig:  da  sind  also  drei  Bestimmungen, 


Zu  §  270.  355 

deren  Einheit  erst  der  Geist  ist.  Wenn  man  daher  die 
göttliche  Natur  konkret  faßt,  so  ist  dies  auch  nur  durch 
Unterschiede  der  Fall.  Im  göttlichen  Reiche  kommen  also 
Endlichkeiten  wie  im  Weltlichen  vor;  und  daß  der  welt- 
liche Geist,  d.  h.  der  Staat,  nur  ein  endlicher  sei,  ist  eine 
einseitige  Ansicht,  denn  die  Wirklichkeit  ist  nichts  Un- 
vernünftiges. Ein  schlechter  Staat  freilich  ist  nur  welt- 
lich und  endlich,  aber  der  vernünftige  Staat  ist  unendlich 
in  sich. 

Das  Zweite  ist,  daß  man  sagt,  der  Staat  habe  seine 
Rechtfertigung  in  der  Religion  zu  nehmen.  Die  Idee,  als 
in  der  Religion,  ist  Geist  im  Innern  des  Gemüts;  aber 
dieselbe  Idee  ist  es,  die  sich  in  dem  Staate  Weltlichkeit 
gibt,  und  sich  im  Wissen  und  Wollen  ein  Dasein  und 
eine  Wirklichkeit  verschafft.  Sagt  man  nun,  der  Staat 
müsse  auf  Religion  sich  gründen,  so  kann  dies  heißen, 
derselbe  solle  auf  Vernünftigkeit  beruhen  und  aus  ihr 
hervorgehen.  Aber  dieser  Satz  kann  auch  so  mißverstanden 
werden,  daß  die  Menschen,  deren  Geist  durch  eine  unfreie 
Religion  gebunden  ist,  dadurch  zum  Gehorsam  am  ge- 
schicktesten seien.  Die  christliche  Religion  aber  ist  die 
Religion  der  Freiheit.  Diese  kann  freilich  wieder  eine 
Wendung  bekommen,  daß  die  freie  zur  unfreien  verkehrt 
wird,  indem  sie  vom  Aberglauben  behaftet  ist.  Meint 
man  nun  dies,  daß  die  Individuen  Religion  haben  müssen, 
damit  ihr  gebundener  Geist  im  Staate  desto  mehr  unter- 
drückt werden  könne,  so  ist  dies  der  schlimme  Sinn  des 
Satzes;  meint  man,  daß  die  Menschen  Achtung  vor  dem 
Staat,  vor  diesem  Ganzen,  dessen  Zweige  sie  sind,  haben 
sollen,  so  geschieht  dies  freilich  am  besten  durch  die  phi- 
losophische Einsicht  in  das  Wesen  desselben;  aber  es  kann 
in  Ermangelung  dieser  auch  die  religiöse  Gesinnung  dahin 
führen.  So  kann  der  Staat  der  Religion  und  des  Glaubens 
bedürfen.  Wesentlich  aber  bleibt  der  Staat  von  der  Re- 
ligion dadurch  unterschieden,  daß  was  er  fordert  die  Ge- 
stalt einer  rechtlichen  Pflicht  hat,  und  daß  es  gleichgültig 
ist,  in  welcher  Gemütsweise  diese  geleistet  wird.  Das 
Feld  der  Religion  dagegen  ist  die  Innerlichkeit,  und  so  wie 
der  Staat,  wenn  er  auf  religiöse  Weise  forderte,  das  Recht 
der  Innerlichkeit  gefährden  würde,  so  artet  die  Kirche,  die 
wie  ein  Staat  handelt  und  Strafen  auferlegt,  in  eine  ty- 
rannische Religion  aus.  Ein  dritter  Unterschied,  der  hier- 
mit zusammenhängt,  ist,  daß  der  Inhalt  der  Religion  ein 
eingehüllter  ist  und  bleibt,  und  somit  Gemüt,  Empfindung 

23* 


356  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

und  Vorstellung  der  Boden  ist,  worauf  er  seinen  Platz 
hat.  Auf  diesem  Boden  hat  alles  die  Form  der  Subjektivität, 
der  Staat  hingegen  verwirklicht  sich  und  gibt  seinen  Be- 
stimmungen festes  Dasein,  Wenn  nun  die  Religiosität  im 
Staate  sich  geltend  machen  wollte,  wie  sie  gewohnt  ist 
auf  ihrem  Boden  zu  sein,  so  würde  sie  die  Organisation 
des  Staates  umwerfen,  denn  im  Staate  haben  die  Unter- 
schiede eine  Breite  des  Außereinander:  in  der  Religion 
dagegen  ist  immer  alles  auf  die  Totalität  bezogen.  Wollte 
nun  diese  Totalität  alle  Beziehungen  des  Staates  ergreifen, 
so  wäre  sie  Fanatismus;  sie  wollte  in  jedem  Besonderen 
das  Ganze  haben  und  könnte  es  nicht  anders  als  durch 
Zerstörung  des  Besonderen,  denn  der  Fanatismus  ist  nur 
das,  die  besonderen  Unterschiede  nicht  gewähren  zu  lassen. 
Wenn  man  sich  so  ausdrückt:  „den  Frommen  sei  kein 
Gesetz  gegeben",  so  ist  dies  weiter  nichts  als  der  Aus- 
spruch jenes  Fanatismus.  Denn  die  Frömmigkeit,  wo  sie 
an  die  Stelle  des  Staates  tritt,  kann  das  Bestimmte  nicht 
aushalten  und  zertrümmert  es.  Damit  hängt  ebenso  zu- 
sammen, wenn  die  Frömmigkeit  das  Gewissen,  die  Inner- 
lichkeit, entscheiden  läßt  und  nicht  von  Gründen  be- 
stimmt wird.  Diese  Innerlichkeit  entwickelt  sich  nicht 
zu  Gründen  und  gibt  sich  keine  Rechenschaft.  Soll  also 
die  Frömmigkeit  als  Wirklichkeit  des  Staates  gelten,  so 
sind  alle  Gesetze  über  den  Haufen  geworfen,  und  das  sub- 
jektive Gefühl  ist  das  gesetzgebende.  Dieses  Gefühl  kann 
bloße  Willkür  sein,  und  ob  dies  sei,  muß  lediglich  aus 
den  Handlungen  erkannt  werden;  aber  insofern  sie  Hand- 
lungen, Gebote  werden,  nehmen  sie  die  Gestalt  von  Ge- 
setzen an,  was  gerade  jenem  subjektiven  Gefühl  wider- 
spricht. Gott,  der  der  Gegenstand  dieses  Gefühls  ist,  könnte 
man  auch  zum  Bestimmenden  machen;  aber  Gott  ist  die 
allgemeine  Idee,  und  in  diesem  Gefühl  das  Unbestimmte, 
das  nicht  dahin  gereift  ist,  das  zu  bestimmen,  was  im 
Staate  als  entwickelt  da  ist.  Gerade  daß  im  Staate  alles 
fest  und  gesichert  ist,  ist  die  Schanze  gegen  die  Willkür 
und  die  positive  Meinung.  Die  Religion  als  solche  darf 
also  nicht  das  Regierende  sein. 

163.  Zusatz  zu  §  271.  (Zivil-  und  Militärgewalt.) 
Wie  die  Irritabilität  im  lebendigen  Organismus  selbst  nach 
einer  Seite  ein  Innerliches,  dem  Organism.us  als  solchem 
Angehörendes  ist,  so  ist  auch  hier  der  Bezug  nach  außen 
eine  Richtung  auf  die  Innerlichkeit,  Der  innerliche  Staat 
als  solcher  ist  die  Zivilgewalt,  die  Richtung  nach  außen 


Zu  §  270—272.  357 

die  Militärgewalt,  die  aber  im  Staate  eine  bestimmte  Seite 
in  ihm  selbst  ist.  Daß  nun  beide  Seiten  im  Gleichgewichte 
sich  befinden,  macht  eine  Hauptsache  in  der  Gesinnung  des 
Staates  aus.  Bisweilen  ist  die  Zivilgewalt  ganz  erloschen 
und  beruht  nur  auf  der  Militärgewalt,  wie  zur  Zeit  der 
römischen  Kaiser  und  der  Prätorianer,  bisweilen  ist,  wie 
in  modernen  Zeiten,  die  Militärgewalt  nur  aus  der  Zivil- 
gewalt hervorgehend,  wenn  alle  Bürger  waffenpflichtig 
sind. 

164.  Zusatz  zu  §  272.  (Die  Vernünftigkeit  des 
Staates.)  Im  Staate  muß  man  nichts  haben  wollen,  als 
was  ein  Ausdruck  der  Vernünftigkeit  ist.  Der  Staat  ist 
die  Welt,  die  der  Geist  sich  gemacht  hat;  er  hat  daher 
einen  bestimmten,  an  und  für  sich  seienden  Gang.  Wie  oft 
spricht  man  nicht  von  der  Weisheit  Gottes  in  der  Natur; 
man  muß  aber  ja  nicht  glauben,  daß  die  physische  Natur- 
welt ein  Höheres  sei  wie  die  Welt  des  Geistes.  Denn  so 
hoch  der  Geist  über  der  Natur  steht,  so  hoch  steht  der 
Staat  über  dem  physischen  Leben.  Man  muß  daher  den 
Staat  wie  ein  Irdisch-Göttliches  verehren  und  einsehen, 
daß,  wenn  es  schwer  ist,  die  Natur  zu  begreifen,  es  noch 
unendlich  herber  ist,  den  Staat  zu  fassen.  Es  ist  höchst 
wichtig,  daß  man  in  neueren  Zeiten  bestimmte  Anschau- 
ungen über  den  Staat  im  allgemeinen  gewonnen  hat,  und 
daß  man  sich  so  viel  mit  dem  Sprechen  und  Machen  von 
Verfassungen  beschäftigte.  Dai^it  ist  es  aber  noch  nicht 
abgemacht;  es  ist  nötig,  daß  man  zu  einer  vernünftigen 
Sache  auch  die  Vernunft  der  Anschauung  mitbringe,  daß 
man  wisse,  was  das  Wesentliche  sei,  und  daß  nicht  immer 
das  Auffallende  das  Wesentliche  ausmache.  Die  Gewalten 
des  Staates  müssen  so  allerdings  unterschieden  sein,  aber 
jede  muß  an  sich  selbst  ein  Ganzes  bilden  und  die  anderen 
Momente  in  sich  enthalten.  Wenn  man  von  der  unter- 
schiedenen Wirksamkeit  der  Gewalten  spricht,  muß  man 
nicht  in  den  ungeheuren  Irrtum  verfallen,  dies  so  anzu- 
nehmen, als  wenn  jede  Gewalt  für  sich  abstrakt  dastehen 
sollte,  da  die  Gewalten  vielmehr  nur  als  Momente  des  Be- 
griffs unterschieden  sein  sollen.  Bestehen  die  Unter- 
schiede dagegen  abstrakt  für  sich,  so  liegt  am  Tage,  daß 
zwei  Selbständigkeiten  keine  Einheit  ausmachen  können, 
wohl  aber  Kampf  hervorbringen  müssen,  wodurch  ent- 
weder das  Ganze  zerrüttet  wird,  oder  die  Einheit  durch 
Gewalt  sich  wiederherstellt.  So  hat  in  der  französischen 
Revolution  bald  die  gesetzgebende  Gewalt  die  sogenannte 


358  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

exekutive,  bald  die  exekutive  die  gesetzgebende  Gewalt 
verschlungen,  und  es  bleibt  abgeschmackt,  hier  etwa  die 
moralische  Forderung  der  Harmonie  zu  machen.  Denn 
wirft  man  die  Sache  aufs  Gemüt,  so  hat  man  freilich  sich 
alle  Mühe  erspart;  aber  wenn  das  sittliche  Gefühl  auch 
notwendig  ist,  so  hat  es  nicht  aus  sich  die  Gewalten  des 
Staates  zu  bestimmen.  Worauf  es  also  ankommt  ist,  daß 
indem  die  Bestimmungen  der  Gewalten  an  sich  das  Ganze 
sind,  sie  auch  alle  in  der  Existenz  den  ganzen  Begriff  aus- 
machen. Wenn  man  gewöhnlich  von  dreien  Gewalten,  der 
gesetzgebenden,  der  exekutiven  und  der  richterlichen  redet, 
so  entspricht  die  erste  der  Allgemeinheit,  die  zweite  der 
Besonderheit;  aber  die  richterliche  ist  nicht  das  Dritte 
des  Begriffs,  denn  ihre  Einzelnheit  liegt  außer  jenen 
Sphären. 

165.  Zusatz  zu  §  273.  (Einseitigkeit  der  Staats- 
formen.) Das  Prinzip  der  neueren  Welt  überhaupt  ist 
Freiheit  der  Subjektivität,  daß  alle  wesentliche  Seiten, 
die  in  der  geistigen  Totalität  vorhanden  sind,  zu  ihrem 
Rechte  kommend  sich  entwickeln.  Von  diesem  Standpunkte 
ausgehend,  kann  man  kaum  die  müßige  Frage  aufwerfen, 
welche  Form,  die  Monarchie  oder  die  Demokratie,  die 
bessere  sei.  Man  darf  nur  sagen,  die  Formen  aller  Staats- 
verfassungen sind  einseitige,  die  das  Prinzip  der  freien 
Subjektivität  nicht  in  sich  zu  ertragen  vermögen  und  einer 
ausgebildeten  Vernunft  nicht  zu  entsprechen  wissen. 

166.  Zusatz  zu  §  274.  (Geschichtliche  Bedingt- 
heit der  Verfassung.)  Der  Staat  muß  in  seiner  Ver- 
fassung alle  Verhältnisse  durchdringen.  Napoleon  hat 
z.  B.  den  Spaniern  eine  Verfassung  a  priori  geben  wollen, 
was  aber  schlecht  genug  ging.  Denn  eine  Verfassung  ist 
kein  bloß  Gemachtes;  sie  ist  die  Arbeit  von  Jahrhunderten, 
die  Idee  und  das  Bewußtsein  des  Vernünftigen,  inwieweit 
es  in  einem  Volk  entwickelt  ist.  Keine  Verfassung  wird 
daher  bloß  von  Subjekten  geschaffen.  Was  Napoleon  den 
Spaniern  gab,  war  vernünftiger,  als  was  sie  früher  hatten, 
und  doch  stießen  sie  es  zurück  als  ein  ihnen  Fremdes, 
da  sie  noch  nicht  bis  dahinauf  gebildet  waren.  Das  Volk 
muß  zu  seiner  Verfassung  das  Gefühl  seines  Rechts  und 
seines  Zustandes  haben;  sonst  kann  sie  zwar  äußerlich 
vorhanden  sein,  aber  sie  hat  keine  Bedeutung  und  keinen 
Wert.  Freilich  kann  oft  in  Einzelnen  sich  das  Bedürfnis 
und  die  Sehnsucht  nach  einer  besseren  Verfassung  vor- 
finden, aber  daß  die  ganze  Masse  von  einer  solchen  Vor- 


Zu  §  273-277.  359 

Stellung  durchdrungen  werde,  ist  etwas  ganz  anderes  und 
folgt  erst  später  nach.  Das  Prinzip  der  Moralität,  der 
Innerlichkeit  des  Sokrates  ist  in  seinen  Tagen  notwendig 
erzeugt  worden,  aber  dazu,  daß  es  zum  allgemeinen  Selbst- 
bewußtsein geworden  ist,  gehörte  Zeit. 

167.  Zusatz  zu  §  275.  (Begriff  der  fürstlichen 
Gewalt.)  Wir  fangen  mit  der  fürstlichen  Gewalt,  d.  h.  mit 
dem  Momente  der  Einzelnheit  an,  denn  diese  enthält  die 
drei  Momente  des  Staats  als  eine  Totalität  in  sich.  Ich 
ist  nämlich  zugleich  das  Einzelnste  und  das  Allgemeinste. 
In  der  Natur  ist  auch  zunächst  ein  Einzelnes;  aber  die 
Kealität,  die  Nicht-Idealität,  das  Außereinander  ist  nicht 
das  Beisichseiende,  sondern  die  verschiedenen  Einzeln- 
heiten bestehen  nebeneinander.  Im  Geiste  ist  dagegen 
alles  Verschiedene  nur  als  Ideelles  und  als  eine  Einheit, 
Der  Staat  ist  so  als  Geistiges  die  Auslegung  aller  seiner 
Momente,  aber  die  Einzelnheit  ist  zugleich  die  Seelen- 
haftigkeit  und  das  belebende  Prinzip,  die  Souveränetät, 
die  alle  Unterschiede  in  sich   enthält. 

168.  Zusatz  zu  §  276.  (Die  Idealität  der  Mo- 
mente des  staatlichen  Organismus.)  Mit  dieser  Ideali- 
tät der  Momente  ist  es  wie  mit  dem  Leben  im  organischen 
Körper,  es  ist  in  jedem  Punkte;  es  gibt  nur  ein  Leben 
in  allen  Punkten,  und  es  ist  kein  Widerstand  dagegen. 
Getrennt  davon  ist  jeder  Punkt  tot.  Dies  ist  auch  die 
Idealität  aller  einzelnen  Stände,  Gewalten  und  Korpora- 
tionen, so  sehr  sie  auch  den  Trieb  haben,  zu  bestehen  und 
für  sich  zu  sein.  Es  ist  damit  wie  mit  dem  Magen  im 
Organischen,  der  sich  auch  für  sich  setzt,  aber  zugleich 
aufgehoben  und  sakrifiziert  wird  und  in  das  Ganze  übergeht. 

169.  Zusatz  zu  §  277.  (Die  Berufung  in  Staats- 
ämter,) Die  Wirksamkeit  des  Staats  ist  an  Individuen 
geknüpft;  sie  sind  aber  nicht  durch  ihre  natürliche  Weise 
berechtigt,  die  Geschäfte  zu  besorgen,  sondern  nach  ihrer 
objektiven  Qualität.  Fähigkeit,  Geschicklichkeit,  Charakter 
gehört  zur  Besonderheit  des  Individuums,  es  muß  erzogen 
und  zu  einem  besonderen  Geschäfte  gebildet  sein.  Daher 
kann  ein  Amt  weder  verkauft  noch  vererbt  werden.  In 
Frankreich  waren  die  Parlamentsstellen  ehemals  verkäuf- 
lich, in  der  englischen  Armee  sind  es  die  Offizierstellen 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  noch  heute;  aber  dies  hing 
oder  hängt  noch  mit  der  mittelalterigen  Verfassung  ge- 
wisser Staaten  zusammen,  die  jetzt  allmählich  im  Ver- 
schwinden ist. 


3G0  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

170.  Zusatz  zu  §  279.  (Die  Person  des  Monar- 
chen.) Bei  der  Organisation  des  Staats,  d.  h.  liier  bei 
der  konstitutionellen  Monarchie,  mui3  man  nichts  vor  sich 
haben  als  die  Notwendigkeit  der  Idee  in  sich;  alle  anderen 
Gesichtspunkte  müssen  verschwinden.  Der  Staat  mui3  als 
ein  großes  architektonisches  Gebäude,  als  eine  Hiero- 
glyphe der  Vernunft,  die  sich  in  der  Wirklichkeit  dar- 
stellt, betrachtet  werden.  Alles,  was  sich  also  bloß  auf 
Nützlichkeit,  Äußerlichkeit  usw.  bezieht,  ist  von  der  philo- 
sophischen Behandlung  auszuschließen.  Daß  nun  der  Staat 
der  sich  selbst  bestimmende  und  vollkommen  souveräne 
Wille,  das  letzte  Sichentschließen,  ist,  begreift  die  Vor- 
stellung leicht.  Das  Schwerere  ist,  daß  dieses  „Ich 
will"  als  Person  gefaßt  werde.  Hiermit  soll  nicht  gesagt 
sein,  daß  der  Monarch  willkürlich  handeln  dürfe;  vielmehr 
ist  er  an  den  konkreten  Inhalt  der  Beratungen  gebunden, 
und  wenn  die  Konstitution  fest  ist,  so  hat  er  oft  nicht 
mehr  zu  tun,  als  seinen  Namen  zu  unterschreiben.  Aber 
dieser  Name  ist  wichtig;  es  ist  die  Spitze,  über  die  nicht 
hinausgegangen  werden  kann.  Man  könnte  sagen,  eine 
organische  Gliederung  sei  schon  in  der  schönen  Demokratie 
Athens  vorhanden;  aber  wir  sehen  sogleich,  daß  die 
Griechen  die  letzte  Entscheidung  aus  ganz  äußeren  Er- 
scheinungen genommen  haben,  aus  den  Orakeln,  den  Ein- 
geweiden der  Opfertiere,  aus  dem  Fluge  der  Vögel, 
und  daß  sie  sich  zur  Natur  als  zu  einer  Macht  verhalten 
haben,  die  da  verkündet  und  ausspricht,  was  den  Menschen 
gut  sei.  Das  Selbstbewußtsein  ist  in  dieser  Zeit  noch 
nicht  zu  der  Abstraktion  der  Subjektivität  gekommen,  noch 
nicht  dazu,  daß  über  das  zu  Entscheidende  ein  ,,Ich 
will"  vom  Menschen  selbst  ausgesprochen  werden  muß. 
Dieses  „Ich  will"  macht  den  großen  Unterschied  der  alten 
und  modernen  Welt  aus,  und  so  muß  es  in  dem  großen 
Gebäude  des  Staats  seine  eigentümliche  Existenz  haben. 
Leider  wird  aber  diese  Bestimmung  nur  als  äußere  und 
beliebige  angesehen. 

171.  Zusatz  zu  §  280.  (Die  Individualität  des 
Monarchen.)  Wenn  man  oft  gegen  den  Monarchen  be- 
hauptet, daß  es  durch  ihn  von  der  Zufälligkeit  abhänge, 
wie  es  im  Staate  zugehe,  da  der  Monarch  übel  gebildet 
sein  könne,  da  er  vielleicht  nicht  wert  sei,  an  der  Spitze 
desselben  zu  stehen,  und  daß  es  widersinnig  sei,  daß  ein 
solcher  Zustand  als  ein  vernünftiger  existieren  solle,  —  so 
ist  eben  die  Voraussetzung  hier  nichtig,  daß  es  auf  die 


Zu  §279-281.  361 

Besonderheit  des  Charakters  ankomme.  Es  ist  bei  einer 
vollendeten  Organisation  des  Staats  nur  um  die  Spitze 
formellen  Entscheidens  zu  tun^)  und  um  eine  natürliche 
Festigkeit  gegen  die  Leidenschaft.  Man  fordert  daher 
mit  Unrecht  objektive  Eigenschaften  an  dem  Monarchen; 
er  hat  nur  Ja  zu  sagen,  und  den  Punkt  auf  das  I  zu  setzen. 
Denn  die  Spitze  soll  so  sein,  daß  die  Besonderheit  des 
Charakters  nicht  das  Bedeutende  ist 2).  Diese  Bestimmung 
des  Monarchen  ist  vernünftig,  denn  sie  ist  dem  Begriffe 
gemäß;  weil  sie  aber  schwer  zu  fassen  ist,  geschieht  es 
oft,  daß  man  die  Vernünftigkeit  der  Monarchie  nicht  ein- 
sieht. Die  Monarchie  muß  fest  in  sich  selbst  sein,  und 
was  der  Monarch  noch  über  diese  letzte  Entscheidung 
hat,  ist  etwas,  das  der  Partikularität  anheimfällt,  auf  die 
es  nicht  ankommen  darf.  Es  kann  wohl  Zustände  geben, 
in  denen  diese  Partikularität  allein  auftritt,  aber  alsdann 
ist  der  Staat  noch  kein  völlig  ausgebildeter  oder  kein 
wohl  konstruierter.  In  einer  wohlgeordneten  Monarchie 
kommt  dem  Gesetz  allein  die  objektive  Seite  zu,  welchem 
der  Monarch  nur  das  subjektive  „Ich  will"  hinzu- 
zusetzen hat. 

172.  Zusatz  zu  §  281.  (Die  Idee  der  Monarchie.) 
Wenn  man  die  Idee  des  Monarchen  erfassen  will,  so  kann 
man  sich  nicht  damit  begnügen,  zu  sagen,  daß  Gott  die 
Könige  eingesetzt  habe;  denn  Gott  hat  alles,  auch  das 
Schlechteste  gemacht.  Auch  vom  Gesichtspunkte  des 
Nutzens  aus  kommt  man  nicht  weit,  und  es  lassen  sich 
immer  wieder  Nachteile  aufweisen.  Ebensovv^enig  hilft 
es,  wenn  man  den  Monarchen  als  positives  Recht  be- 
trachtet. Daß  ich  Eigentum  habe,  ist  notwendig;  aber 
dieser  besondere  Besitz  ist  zufällig,  und  so  erscheint  auch 
das  Recht,  daß  einer  an  der  Spilze  stehen  muß,  wenn  man 
es  als  abstrakt  und  positiv  betrachtet.  Aber  dieses  Recht 
ist  als  gefühltes  Bedürfnis  und  als  Bedürfnis  der  Sache  an 
und  für  sich  vorhanden.  Die  Monarchen  zeichnen  sich 
nicht  gerade  durch  körperliche  Kräfte  oder  durch  Geist 
aus,  und  doch  lassen  sich  Millionen  von  ihnen  beherrschen. 
Wenn  man  nun  sagt,  die  Menschen  ließen  sich  wider  ihre 
Interessen,   Zwecke,   Absichten   regieren,   so   ist   dies   un- 

')  In  dem  ersten  Druck  der  Zusätze  folgt  hier  sogleich: 
und  man  braucht  zu  einem  Monarchen  nur  einen  Menschen,  der 
„Ja"  sagt  und  den  Punkt  auf  das  I  setzt, 

2)  Ebenso  fehlen  die  folgenden  Sätze,  und  es  folgt  sogleich: 
Was  der  Monarch  noch  über  diese  letzte  Entscheidung  usw. 


362  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

gereimt,  denn  so  dumm  sind  die  Menschen  nicht;  es  ist 
ihr  Bedürfnis,  es  ist  die  innere  Macht  der  Idee,  die  sie 
selbst  gegen  ihr  anscheinendes  Bev/ußtsein  dazu  nötigt 
und  in  diesem  Verhältnis  erhält.  Wenn  so  der  Monarch 
als  Spitze  und  Teil  der  Verfassung  auftritt,  so  muß  man 
sagen,  daß  ein  erobertes  Volk  nicht  in  der  Verfassung 
identisch  mit  dem  Fürsten  ist.  Wenn  in  einer  im  Kriege 
eroberten  Provinz  ein  Aufstand  geschieht,  so  ist  dies  etwas 
anderes  als  eine  Empörung  in  einem  wohlorganisierten 
Staat.  Die  Eroberten  sind  nicht  im  Aufstande  gegen  ihren 
Fürsten,  sie  begehen  kein  Staatsverbrechen,  denn  sie  sind 
mit  dem  Herrn  nicht  im  Zusammenhang  der  Idee,  nicht 
in  der  inneren  Notwendigkeit  der  Verfassung;  es  ist  nur 
ein  Kontrakt,  kein  Staatsverband  vorhanden.  Je  ne  suis 
pas  votre  prince,  je  suis  votre  maitre,  erwiderte  Napoleon 
den  Erfurter  Abgeordneten. 

173.  Zusatz  zu  §  282.  (Gnade  und  Majestät.) 
Die  Begnadigung  ist  die  Erlassung  der  Strafe,  die  aber 
das  Recht  nicht  aufhebt.  Dieses  bleibt  vielmehr,  und 
der  Begnadigte  ist  nach  wie  vor  ein  Verbrecher;  die  Gnade 
spricht  nicht  aus,  daß  er  kein  Verbrechen  begangen  habe. 
Diese  Aufhebung  der  Strafe  kann  durch  die  Religion  vor 
sich  gehen,  denn  das  Geschehene  kann  vom  Geist  im 
Geist  ungeschehen  gemacht  werden.  Insofern  dieses  in 
der  Welt  vollbracht  wird,  hat  es  seinen  Ort  aber  nur  in 
der  Majestät  und  kann  nur  der  grundlosen  Entscheidung 
zukommen. 

174.  Zusatz  zu  §  290.  (Das  System  der  Be- 
hörden.) Der  hauptsächliche  Punkt,  worauf  es  bei  der 
Regierungsgewalt  ankommt,  ist  die  Teilung  der  Geschäfte: 
sie  hat  es  mit  dem  Übergang  vom  Allgemeinen  ins  Be- 
sondere und  Einzelne  zu  tun,  und  ihre  Geschäfte  sind  nach 
den  verschiedenen  Zweigen  zu  trennen.  Das  Schwere  ist 
aber,  daß  sie  nach  oben  und  unten  auch  wieder  zusammen- 
kommen. Denn  Polizeigewalt  und  richterliche  Gewalt  z.  B. 
laufen  zwar  auseinander,  aber  sie  treffen  in  irgendeinem 
Geschäft  doch  wieder  zusammen.  Die  Auskunft,  die  man 
hier  anwendet,  besteht  häufig  darin,  daß  man  Staats- 
kanzler, Premierminister,  Ministerkonseils  ernennt,  damit 
die  obere  Leitung  sich  vereinfache.  Aber  dadurch  kann 
auch  alles  wieder  von  oben  und  von  der  ministeriellen 
Gewalt  ausgehen,  und  die  Geschäfte,  wie  man  sich  aus- 
drückt, zentralisiert  sein.  Hiermit  ist  die  größte  Leichtig- 
keit, Schnelligkeit,  Wirksamkeit  für  das,  was  für  das  all- 


Zu  §  282-297.  3G3 

gemeine  Staatsinteresse  geschehen  soll,  verbunden.  Dieses 
Regiment  wurde  von  der  französischen  Revolution  einge- 
führt, von  Napoleon  ausgearbeitet,  und  besteht  heute  noch 
in  Frankreich.  Dagegen  entbehrt  Frankreich  der  Korpo- 
rationen und  Kommunen,  d.  h.  der  Kreise,  wo  die  besonderen 
und  allgemeinen  Interessen  zusammenkommen.  Im  Mittel- 
alter hatten  freilich  diese  Kreise  eine  zu  große  Selb- 
ständigkeit gewonnen,  waren  Staaten  im  Staate,  vmd  ge- 
rierten  sich  auf  harte  Weise  als  für  sich  bestehende  Körper- 
schaften; aber  wenn  dieses  auch  nicht  der  Fall  sein  muß, 
so  darf  man  doch  sagen,  daß  in  den  Gemeinden  die  eigent- 
liche Stärke  der  Staaten  liegt.  Hier  trifft  die  Regierung 
auf  berechtigte  Interessen,  die  von  ihr  respektiert  werden 
müssen,  und  insofern  die  Administration  solchen  Inter- 
essen nur  beförderlich  sein  kann,  sie  aber  auch  beauf- 
sichtigen muß,  findet  das  Individuum  den  Schutz  für  die 
Ausübung  seiner  Rechte,  und  so  knüpft  sich  sein  parti- 
kuläres Interesse  an  die  Erhaltung  des  Ganzen.  Man  hat 
seit  einiger  Zeit  immer  von  oben  her  organisiert  9,  und  dies 
Organisieren  ist  die  Hauptbemühung  gewesen,  aber  das 
Untere,  das  Massenhafte  des  Ganzen  ist  leicht  mehr  oder 
weniger  unorganisch  gelassen.  Und  doch  ist  es  höchst 
wichtig,  daß  es  organisch  werde,  denn  nur  so  ist  es  Macht, 
ist  es  Gewalt;  sonst  ist  es  nur  ein  Haufen,  eine  Menge  von 
zersplitterten  Atomen.  Die  berechtigte  Gewalt  ist  nur 
im  organischen  Zustande  der  besonderen  Sphären  vor- 
handen. 

175.  Zusatz  zu  §  297.  (Die  Bedeutung  des  Mittel- 
standes.) In  dem  Mittelstande,  zu  dem  die  Staatsbeamten 
gehören,  ist  das  Bewußtsein  des  Staates  und  die  hervor- 
stechendste Bildung.  Deswegen  macht  er  auch  die  Grund- 
säule desselben  in  Beziehung  auf  Rechtlichkeit  und  In- 
telligenz aus.  Der  Staat,  in  dem  kein  Mittelstand  vor- 
handen ist,  steht  deswegen  noch  auf  keiner  hohen  Stufe. 
So  z.  B.  Rußland,  das  eine  Masse  hat,  welche  leibeigen 
ist,  und  eine  andere,  welche  regiert.  Daß  dieser  Mittel- 
stand gebildet  werde,  ist  ein  Hauptinteresse  des  Staates, 
aber  dies  kann  nur  in  einer  Organisation,  wie  die  ist,  welche 
wir  gesehen  haben,  geschehen,  nämlich  durch  die  Be- 
rechtigung besonderer  Kreise,  die  relativ  unabhängig  sind, 


1)  wie  es  Hegel  in  Bayern  erlebt  hat  (Briefe  von  und  an 
Hegel,  I,  S.  130  u.  ö.  Vgl.  Kuno  Fischer,  Hegels  Leben,  Werke 
u.  Lehre,  2.  Aufl.,  S.  92). 


364  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosopliie. 

und  durch  eine  Beamtenwelt,  deren  Willkür  sich  an  solchen 
Berechtigten  bricht.  Das  Handeln  nach  allgemeinem  Rechte 
und  die  Gewohnheit  dieses  Handelns  ist  eine  Folge  des 
Gegensatzes,  den  die  für  sich  selbständigen  Kreise  bilden. 

176.  Zusatz  zu  §  298.  (Die  Entwickelung  der 
Verfassung.)  Die  Verfassung  muß  an  und  für  sich  der 
feste  geltende  Boden  sein,  auf  dem  die  gesetzgebende  Ge- 
walt steht,  und  sie  muß  deswegen  nicht  erst  gemacht 
werden.  Die  Verfassung  ist  also,  aber  ebenso  wesentlich 
wird  sie,  d.  h.,  sie  schreitet  in  der  Bildung  fort.  Dieses 
Fortschreiten  ist  eine  Veränderung,  die  unscheinbar  ist 
und  nicht  die  Form  der  Veränderung  hat.  Wenn  z.  B.  das 
Vermögen  der  Fürsten  und  ihrer  Familien  in  Deutschland 
zunächst  Privatgut  war,  dann  aber  ohne  Kampf  und  Wider- 
stand sich  in  Domänen,  d.  h.  in  Staatsvermögen  verwandelte, 
so  kam  dies  daher,  weil  die  Fürsten  das  Bedürfnis  der 
Ungeteiltheit  der  Güter  fühlten,  von  Land  und  Landständen 
die  Garantie  derselben  forderten  und  so  diese  mit  in  die 
Art  und  Weise  des  Bestehens  des  Vermögens  verwickelten, 
über  das  sie  nun  nicht  mehr  alleinige  l3isposition  hatten. 
Auf  ähnliche  Weise  war  früher  der  Kaiser  Richter  und 
zog  im  Reiche  Recht  sprechend  umher.  Durch  den  bloß 
scheinbaren  Fortgang  der  Bildung  ist  es  äußerlich  not- 
wendig geworden,  daß  der  Kaiser  mehr  und  mehr  anderen 
dies  Richteramt  überließ,  und  so  machte  sich  der  Über- 
gang der  richterlichen  Gewalt  von  der  Person  des  Fürsten 
auf  Kollegien.  So  ist  also  die  Fortbildung  eines  Zustandes 
eine  scheinbar  ruhige  und  unbemerkte.  Nach  langer  Zeit 
kommt  auf  diese  Weise  eine  Verfassung  zu  einem  ganz 
anderen  Zustande  als  vorher. 

177.  Zusatz  zu  §  299.  (Die  Leistungen  für  den 
Staat.)  Die  zweiten  Seiten  der  Verfassung  beziehen  sich 
auf  die  Rechte  und  Leistungen  der  Individuen.  Was  nun 
die  Leistungen  betrifft,  so  reduzieren  sie  sich  jetzt  fast 
alle  auf  Geld.  Die  Militärpflicht  ist  jetzt  fast  die  ein- 
zige persönliche  Leistung.  In  früheren  Zeiten  hat  man 
das  Konkrete  der  Individuen  weit  mehr  in  Anspruch  ge- 
nommen, und  man  rief  dieselben  nach  ihrer  Geschick- 
lichkeit zur  Arbeit  auf.  Bei  uns  kauft  der  Staat,  was  er 
braucht,  und  dies  kann  zunächst  als  abstrakt,  tot  und  ge- 
mütlos erscheinen,  und  es  kann  auch  aussehen,  als  wenn 
der  Staat  dadurch  heruntergesunken  wäre,  daß  er  sich  mit 
abstrakten  Leistungen  befriedigt.  Aber  es  liegt  in  dem 
Prinzipe   des   neueren   Staates,    daß  alles,    was   das   Indi- 


Zu  §  298—302.  365 

viduum  tut,  durch  seinen  Willen  vermittelt  sei.  Durch  Geld 
kann  aber  die  Gerechtigkeit  der  Gleichheit  weit  besser 
durchgeführt  werden.  Der  Talentvolle  würde  sonst  mehr 
besteuert  sein  als  der  Talentlose,  wenn  es  auf  die  kon- 
krete Fähigkeit  ankäme.  Nun  aber  wird  eben  dadurch 
Respekt  vor  der  subjektiven  Freiheit  an  den  Tag  gelegt, 
daß  man  jemanden  nur  an  dem  ergreift,  an  welchem  er 
ergriffen  werden  kann. 

178.  Zusatz  zu  §  SCO.  (Minister  und  Parlament.) 
Es  gehört  zu  den  falschen  Ansichten  vom  Staate,  wenn 
man  die  Regierungsmitglieder,  wie  etwa  die  konstituierende 
Versammlung  tat,  von  den  gesetzgebenden  Körpern  aus- 
schließen will.  In  England  müssen  die  Minister  Mitglieder 
des  Parlaments  sein,  und  dies  ist  insofern  richtig,  als  die 
Teilnehmer  an  der  Regierung  im  Zusammenhange  und  nicht 
im  Gegensatze  mit  der  gesetzgebenden  Gewalt  stehen  sollen. 
Die  Vorstellung  von  der  sogenannten  Unabhängigkeit  der 
Gewalten  hat  den  Grundirrtum  in  sich,  daß  die  unab- 
hängigen Gewalten  dennoch  einander  beschränken  sollen. 
Aber  durch  diese  Unabhängigkeit  v/ird  die  Einheit  des 
Staates  aufgehoben,  die  vor  allem  zu  verlangen  ist. 

179.  Zusatz  zu  §  301.  (Stellung  der  Regie- 
rung zu  den  Ständen.)  Die  Stellung  der  Regierung 
zu  den  Ständen  soll  keine  wesentlich  feindliche  sein,  und 
der  Glaube  an  die  Notwendigkeit  dieses  feindseligen  Ver- 
hältnisses ist  ein  trauriger  Irrtum.  Die  Regierung  ist  keine 
Partei,  der  eine  andere  gegenübersteht,  so  daß  beide  sich 

i  viel  abzugewinnen  und  abzuringen  hätten;  und  wenn  ein 
Staat  in  eine  solche  Lage  kommt,  so  ist  dies  ein  Unglück, 
kann  aber  nicht  als  Gesundheit  bezeichnet  werden.  Die 
Steuern,  die  die  Stände  bewilligen,  sind  ferner  nicht  wie 
ein  Geschenk  anzusehen,  das  dem  Staate  gegeben  wird, 
sondern  sie  werden  zum  Besten  der  Bewilligenden  selbst 
bewilligt.  Was  die  eigentliche  Bedeutung  der  Stände  aus- 
macht, ist,  daß  der  Staat  dadurch  in  das  subjektive  Be- 
wußtsein des  Volks  tritt,  und  daß  es  an  demselben  teil 
zu  haben  anfängt. 

180.  Zusatz  zu  §  802.  (Die  Bedeutung  der  Volks- 
vertretung.) Die  Verfassung  ist  wesentlich  ein  System 
der  Vermittelung.  In  despotischen  Staaten,  wo  es  nur 
Fürsten  und  Volk  gibt,  wirkt  das  letztere,  wenn  es  wirkt, 
bloß  als  zerstörende  Masse  gegen  die  Organisation.  Orga- 
nisch aber  eintretend  setzt  der  Haufen  seine  Interessen 
auf  recht-  und  ordnungsmäßige  Weise  durch.     Ist  dieses 


366  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie.    • 

Mittel  dagegen  nicht  vorlianden,  so  wird  das  sich  Aus- 
sprechen der  Masse  immer  ein  wildes  sein.  In  despo- 
tischen Staaten  schont  der  Despot  deswegen  das  Volk, 
und  seine  Wut  trifft  immer  nur  die  Umgebung.  Ebenso 
bezahlt  auch  das  Volk  in  demselben  nur  wenig  Abgaben, 
die  sich  in  einem  verfassungsmäßigen  Staate  durch  das 
eigene  Bewußtsein  des  Volkes  erheben.  In  keinem  Lande 
werden  so  viele  Abgaben    als  gerade  in  England  bezahlt. 

181.  Zusatz  zu  §  306.  (Das  Majorat.)  Dieser  Stand 
hat  ein  mehr  für  sich  bestehendes  Wollen.  Im  ganzen 
wird  der  Stand  der  Güterbesitzer  sich  in  den  gebildeten 
Teil  desselben  und  in  den  Bauernstand  unterscheiden. 
Indessen  beiden  Arten  steht  der  Stand  des  Gewerbes,  als 
der  vom  Bedürfnis  abhängige  und  darauf  hingewiesene, 
und  der  allgemeine  Stand,  als  vom  Staat  wesentlich  ab- 
hängig, gegenüber.  Die  Sicherheit  und  Festigkeit  dieses 
Standes  kann  noch  durch  die  Institution  des  Majorats 
vermehrt  werden,  welche  jedoch  nur  in  politischer  Rück- 
sicht wünschenswert  ist,  denn  es  ist  damit  ein  Opfer  für 
den  politischen  Zweck  verbunden,  daß  der  Erstgeborene 
unabhängig  leben  könne.  Die  Begründung  des  Majorats 
liegt  darin,  daß  der  Staat  nicht  auf  bloße  Möglichkeit 
der  Gesinnung,  sondern  auf  ein  Notwendiges  rechnen  soll. 
Nun  ist  die  Gesinnung  freilich  an  ein  Vermögen  nicht 
gebunden,  aber  der  relativ  notwendige  Zusammenhang  ist, 
daß  wer  ein  selbständiges  Vermögen  hat,  von  äußeren 
Umständen  nicht  beschränkt  ist  und  so  ungehemmt  auf- 
treten und  für  den  Staat  handeln  kann.  Wo  indessen 
politische  Institutionen  fehlen,  ist  die  Gründung  und  Be- 
günstigung von  Majoraten  nichts  als  eine  Fessel,  die  der 
Freiheit  des  Privatrechts  angelegt  ist,  zu  welcher  entweder 
der  politische  Sinn  hinzutreten  muß,  oder  die  ihrer  Auf- 
lösung entgegengeht. 

182.  Zusatz  zu  §  309.  (Der  Abgeordnete  und 
seine  Wähler.)  Führt  man  Repräsentation  ein,  so  liegt 
darin,  daß  die  Einwilligung  nicht  unmittelbar  durch  alle, 
sondern  durch  Bevollmächtigte  geschehen  soll,  denn  der 
Einzelne  konkurriert  nun  nicht  mehr  als  unendliche  Person. 
Repräsentation  gründet  sich  auf  Zutrauen,  Zutrauen  aber 
ist  etwas  anderes,  als  ob  ich  als  dieser  meine  Stimme  gebe. 
Die  Majorität  der  Stimmen  ist  ebenso  dem  Grundsatze 
zuwider,  daß  bei  dem,  was  mich  verpflichten  muß,  ich  als 
dieser  zugegen  sein  soll.  Man  hat  Zutrauen  zu  einem 
Menschen,   indem   man  seine  Einsicht  dafür  ansieht,   daß 


Zn  §  806—316.  3G7 

er  meine  Sache  als  seine  Sache,  nach  seinem  besten  Wissen 
und  Gewissen,  behandeln  wird.  Das  Prinzip  des  einzelnen 
subjektiven  Willens  fällt  also  fort;  denn  das  Zutrauen  geht 
auf  eine  Sache,  auf  die  Grundsätze  eines  Menschen,  seines 
Benehmens,  seines  Handelns,  auf  seinen  konkreten  Sinn 
überhaupt.  Es  ist  daher  darum  zu  tun,  daß  der,  welcher 
in  ein  ständisches  Element  eintritt,  einen  Charakter,  eine 
Einsicht  und  einen  Willen  habe,  der  seiner  Aufgabe  zu  all- 
gemeinen Angelegenheiten  zugezogen  zu  werden  entspricht. 
Es  kommt  nämlich  nicht  darauf  an,  daß  das  Individuum 
als  abstrakt  Einzelnes  zum  Sprechen  kommt,  sondern  daß 
seine  Interessen  sich  in  einer  Versammlung  geltend  machen, 
wo  über  das  Allgemeine  gehandelt  wird.  Daß  dieses  der 
Abgeordnete  vollbringe  und  befördere,  dazu  bedarf  es  für 
die  Wählenden  der  Garantie. 

183.  Zusatz  zu  §  315.  (Der  Wert  der  Öffentlich- 
keit.) Die  Öffentlichkeit  der  Ständeversammlungen  ist 
ein  großes,  die  Bürger  vorzüglich  bildendes  Schauspiel, 
und  das  Volk  lernt  daran  am  meisten  das  Wahrhafte  seiner 
Interessen  kennen.  Es  herrscht  in  der  Regel  die  Vor- 
stellung, daß  alle  schon  wissen,  was  dem  Staate  gut  sei, 
und  daß  es  in  der  Ständeversammlung  nur  zur  Sprache 
komme;  aber  in  der  Tat  findet  gerade  das  Gegenteil  statt: 
erst  hier  entwickeln  sich  Tugenden,  Talente,  Geschicklich- 
keiten, die  zu  Mustern  zu  dienen  haben.  Freilich  sind  solche 
Versammlungen  beschwerlich  für  die  Minister,  die  selbst 
mit  Witz  und  Beredsamkeit  angetan  sein  müssen,  um  den 
Angriffen  zu  begegnen,  die  hier  gegen  sie  gerichtet  werden; 
aber  dennoch  ist  die  Öffentlichkeit  das  größte  Bildungs- 
mittel für  die  Staatsinteressen  überhaupt.  In  einem  Volke, 
wo  diese  stattfindet,  zeigt  sich  eine  ganz  andere  Lebendig- 
keit in  Beziehung  auf  den  Staat  als  da,  wo  die  Stände- 
versammlung fehlt  oder  nicht  öffentlich  ist.  Erst  durch 
diese  Bekanntwerdung  eines  jeden  ihrer  Schritte  hängen  die 
Kammern  mit  dem  Weiteren  der  öffentlichen  Meinung 
zusammen,  und  es  zeigt  sich,  daß  es  ein  anderes  ist,  was 
sich  jemand  zu  Hause  bei  seiner  Frau  oder  seinen 
Freunden  einbildet,  und  wieder  ein  anderes,  was  in  einer 
großen  Versammlung  geschieht,  wo  eine  Gescheitheit  die 
andere  auffrißt. 

184.  Zusatz  zu  §  316.  (Wert  der  öffentlichen 
Meinung.)  Die  öffentliche  Meinung  ist  die  unorganische 
Weise,  wie  sich  das,  was  ein  Volk  will  und  meint,  zu  er- 
kennen gibt.     Was  sich  wirklich  im  Staate  geltend  macht, 


368  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

muß  sich  freilich  auf  organische  Weise  betätigen,  und 
dies  ist  in  der  Verfassung  der  Fall.  Aber  zu  allen  Zeiten 
war  die  öffentliche  Meinung  eine  große  Macht  und  ist 
es  besonders  in  unserer  Zeit,  wo  das  Prinzip  der  sub- 
jektiven Freiheit  diese  Wichtigkeit  und  Bedeutung  hat. 
Was  jetzt  gelten  soll,  gilt  nicht  mehr  durch  Gewalt,  wenig 
durch  Gewohnheit  und  Sitte,  wohl  aber  durch  Einsicht  und 
Gründe. 

185.  Zusatz  zu  §  317.  (Redefreiheit.)  Das  Prinzip 
der  modernen  Welt  fordert,  daß,  was  jeder  anerkennen 
soll,  sich  ihm  als  ein  Berechtigtes  zeige.  Außerdem  aber 
will  jeder  noch  mitgesprochen  und  geraten  haben.  Hat 
er  seine  Schuldigkeit,  d.  h.  sein  Wort  dazu  getan,  so  läßt 
er  sich  nach  dieser  Befriedigung  seiner  Subjektivität  gar 
vieles  gefallen.  In  Frankreich  hat  die  Freiheit  der  Rede 
immer  weit  weniger  gefährlich  als  das  Stummsein  ge- 
schienen, weil  das  letztere  fürchten  ließ,  man  werde  das, 
was  man  gegen  eine  Sache  habe,  bei  sich  behalten,  während 
das  Räsonnement  den  Ausgang  und  die  Befriedigung  nach 
einer  Seite  enthält,  wodurch  im  übrigen  die  Sache  leichter 
ihren  Gang  fortzugehen  vermag. 

186.  Zusatz  zu  §  318.  (Der  große  Mann  und  die 
öffentliche  Meinung.)  In  der  öffentlichen  Meinung  ist 
alles  Falsche  und  Wahre,  aber  das  Wahre  in  ihr  zu  finden 
ist  die  Sache  des  großen  Mannes.  Wer,  was  seine  Zeit 
will,  ausspricht,  ihr  sagt  und  vollbringt,  ist  der  große 
Mann  der  Zeit.  Er  tut,  was  das  Innere  und  Wesen  der  Zeit 
ist,  verwirklicht  sie;  und  wer  die  öffentliche  Meinung, 
wie  er  sie  hier  und  da  hört,  nicht  zu  verachten  versteht, 
wird  es  nie  zu  Großem  bringen. 

187.  Zusatz  zu  §  320.  (Die  Idealisierung  der 
Subjektivität  im  Staate.)  Wir  haben  die  Subjektivität 
schon  einmal  als  die  Spitze  des  Staates  im  Monarchen  be- 
trachtet. Die  andere  Seite  ist,  wie  sie  v/illkürlich  in  der 
öffentlichen  Meinung  als  der  äußersten  Erscheinung  sich 
zeigt.  Die  Subjektivität  des  Monarchen  ist  an  sich  ab- 
strakt, aber  sie  soll  ein  Konkretes  und  als  solches  die  Idea- 
lität sein,  die  sich  über  das  Ganze  ausgießt.  Der  Staat 
des  Friedens  ist  der,  wo  alle  Zweige  des  bürgerlichen 
Lebens  bestehen,  aber  dieses  Bestehen  neben  und  außer 
einander  aus  der  Idee  des  Ganzen  hervorgehend  haben. 
Dieses  Hervorgehen  muß  auch  als  die  Idealität  des  Ganzen 
zur  Erscheinung  kommen. 

188.  Zusatz  zu  §  324.     (Vom  ewigen  Frieden.) 


Zu  §  317—327.  369 

Im  Frieden  dehnt  sich  das  bürgerliche  Leben  mehr  aus, 
alle  Sphären  hausen  sich  ein,  und  es  ist  auf  die  Länge  ein 
Versumpfen  der  Menschen;  ihre  Partikularitäten  werden 
immer  fester  und  verknöchern.  Aber  zur  Gesundheit  ge- 
hört die  Einheit  des  Körpers,  und  wenn  die  Teile  in  sich 
hart  werden,  so  ist  der  Tod  da.  Ewiger  Friede  wird  häufig 
als  ein  Ideal  gefordert,  worauf  die  Menschheit  zugehen 
müsse.  Kant  hat  so  einen  Fürstenbund  vorgeschlagen, 
der  die  Streitigkeiten  der  Staaten  schlichten  sollte,  und 
die  heilige  Allianz  hatte  die  Absicht,  ungefähr  ein  solches 
Institut  zu  sein.  Allein  der  Staat  ist  Individuum,  und  in 
der  Individualität  ist  die  Negation  wesentlich  enthalten. 
Wenn  also  auch  eine  Anzahl  von  Staaten  sich  zu  einer 
Familie  macht,  so  muß  sich  dieser  Verein  als  Individua- 
lität einen  Gegensatz  kreieren  und  einen  Feind  erzeugen. 
Aus  den  Kriegen  gehen  die  Völker  nicht  allein  gestärkt 
hervor,  sondern  Nationen,  die  in  sich  unverträglich  sind,  ge- 
winnen durch  Kriege  nach  außen  Ruhe  im  Innern.  Aller- 
dings kommt  durch  den  Krieg  Unsicherheit  ins  Eigentum, 
aber  diese  reale  Unsicherheit  ist  nichts  als  die  Bewegung, 
die  notwendig  ist.  Man  hört  so  viel  auf  den  Kanzeln  von 
der  Unsicherheit,  Eitelkeit  und  Unstetigkeit  zeitlicher  Dinge 
sprechen;  aber  jeder  denkt  dabei,  so  gerührt  er  auch  ist, 
ich  werde  doch  das  Meinige  behalten.  Kommt  nun  aber 
diese  Unsicherheit  in  Form  von  Husaren  mit  blanken  Säbeln 
wirklich  zur  Sprache  und  ist  es  Ernst  damit,  dann  wendet 
sich  jene  gerührte  Erbaulichkeit,  die  alles  vorhersagte, 
dazu,  Flüche  über  die  Eroberer  auszusprechen.  Trotzdem 
aber  finden  Kriege,  wo  sie  in  der  Natur  der  Sache  liegen, 
statt;  die  Saaten  schießen  wieder  auf,  und  das  Gerede  ver- 
stummt vor  den  ernsten  Wiederholungen  der  Geschichte. 
189.  Zusatz  zu  §  327.  (Die  Tapferkeit.)  Der 
Militärstand  ist  der  Stand  der  Allgemeinheit,  dem  die 
Verteidigung  des  Staates  zukommt,  und  der  die  Pflicht 
hat,  die  Idealität  an  sich  selbst  zur  Existenz  zu  bringen, 
d.  h.  sich  aufzuopfern.  Die  Tapferkeit  ist  freilich  ver- 
schieden. Der  Mut  des  Tieres,  des  Räubers,  die  Tapfer- 
keit für  die  Ehre,  die  ritterliche  Tapferkeit  sind  noch 
nicht  die  wahren  Formen.  Die  wahre  Tapferkeit  gebil- 
deter Völker  ist  das  Bereitsein  zur  Aufopferung  im  Dienste 
des  Staates,  so  daß  das  Individuum  nur  eines  unter  vielen 
ausmacht.  Nicht  der  persönliche  Mut,  sondern  die  Ein- 
ordnung in  das  Allgemeine  ist  hier  das  Wichtige.  In 
Indien  siegten  fünfhundert  Mann  über  zwanzigtausend,  die 

Hegel,  Eechtsphilosophie.  24 


370  Zusätze  zu  Hegels  Rechtsphilosophie. 

nicht  feig  waren,  die  aber  nur  nicht  diese  Gesinnung 
hatten,  in  der  Vereinigung  mit  anderen  geschlossen  zu 
wirken. 

190.  Zusatz  zu  §  329.  (Der  Souverän.)  In  fast 
allen  europäischen  Ländern  ist  die  individuelle  Spitze  die 
fürstliche  Gewalt,  die  die  Verhältnisse  nach  außen  zu  be- 
sorgen hat.  Wo  ständische  Verfassungen  sind,  kann  die 
Frage  entstehen,  ob  nicht  Krieg  und  Frieden  von  den 
Ständen  geschlossen  werden  solle,  und  jedenfalls  werden 
sie  ihren  Einfluß,  besonders  in  Hinsicht  der  Geldmittel  be- 
halten. In  England  kann  z.  B.  kein  unpopulärer  Krieg  ge- 
führt werden.  Wenn  man  aber  meint,  Fürsten  und  Ka- 
binette seien  mehr  der  Leidenschaft  als  Kammern  unter- 
worfen, und  deswegen  in  die  Hände  der  letzteren  die  Ent- 
scheidung über  Krieg  und  Frieden  zu  spielen  sucht,  so 
muß  gesagt  werden,  daß  oft  ganze  Nationen  noch  mehr 
wie  ihre  Fürsten  enthusiasmiert  und  in  Leidenschaft  gesetzt 
werden  können.  In  England  hat  mehrmals  das  ganze  Volk 
auf  Krieg  gedrungen  und  gewissermaßen  die  Minister 
genötigt,  ihn  zu  führen.  Die  Popularität  von  Pitt  kam 
daher,  daß  er  das,  was  die  Nation  damals  wollte,  zu 
treffen  wußte.  Erst  späterhin  hat  hier  die  Abkühlung 
das  Bewußtsein  hervorgebracht,  daß  der  Krieg  unnütz 
und  unnötig  war  und  ohne  Berechnung  der  Mittel  ange- 
fangen worden.  Der  Staat  ist  überdies  nicht  nur  mit 
einem  anderen  im  Verhältnis,  sondern  mit  mehreren;  und 
die  Verwickelungen  der  Verhältnisse  werden  so  delikat, 
daß  sie  nur  von  der  Spitze  aus  behandelt  werden  können. 

191.  Zusatz  zu  §  330.  (Das  Völkerrecht.)  Staaten 
sind  keine  Privatpersonen,  sondern  vollkommen  selbständige 
Totalitäten  an  sich,  und  so  stellt  sich  ihr  Verhältnis  anders 
als  ein  bloß  moralisches  und  privatrechtliches.  Man  hat 
oft  die  Staaten  privatrechtlich  und  moralisch  haben 
wollen,  aber  bei  Privatpersonen  ist  die  Stellung  so,  daß 
sie  über  sich  ein  Gericht  haben,  das  das,  was  an  sich 
Recht  ist,  realisiert.  Nun  soll  ein  Staatsverhältnis  zwar 
auch  an  sich  rechtlich  sein,  aber  in  der  Weltlichkeit  soll 
das  Ansichseiende  auch  Gewalt  haben.  Da  nun  keine  Ge- 
walt vorhanden  ist,  welche  gegen  den  Staat  entscheidet, 
was  an  sich  Recht  ist,  und  die  diese  Entscheidung  verwirk- 
licht, so  muß  es  in  dieser  Beziehung  immer  beim  Sollen 
bleiben.  Das  Verhältnis  von  Staaten  ist  das  von  Selb- 
ständigkeiten, die  zwischen  sich  stipulieren,  aber  zugleich 
über  diesen  Stipulationen  stehen. 


Zu  §  329—339.  371 

192.  Zusatz  za  §  331.  (Die  .Stärke  der  Existenz.) 
Wenn  Napoleon  vor  dem  Frieden  von  Campoformio  sagte: 
„Die  französische  Republik  bedarf  keiner  Anerkennung, 
so  wenig  wie  die  Sonne  anerkannt  zu  werden  braucht," 
so  liegt  in  diesen  "Worten  weiter  nichts  als  eben  die  Stärke 
der  Existenz,  die  schon  die  Gewähr  der  Anerkennung  mit 
sich  führt,  ohne  daß  sie  ausgesprochen  wurde. 

193.  Zusatz  zu  §  338.  (^loderne  Kriegführung.) 
Die  neueren  Kriege  werden  daher  menschlich  geführt,  und 
die  Person  ist  nicht  in  Haß,  der  Person  gegenüber. 
Höchstens  treten  persönliche  Feindseligkeiten  bei  Vorposten 
ein,  aber  in  dem  Heere  als  Heer  ist  die  Feindschaft  etwas 
Unbestimmteis,  das  gegen  die  Pflicht,  die  jeder  an  dem 
anderen  achtet,  zurücktritt. 

194.  Zusatz  zu  §  339.  (Das  europäische  Völker- 
recht.) Die  europäischen  Nationen  bilden  eine  Familie 
nach  dem  allgemeinen  Prinzipe  ihrer  Gesetzgebung,  ihrer 
Sitten,  ihrer  Bildung,  und  so  modifiziert  sich  hiernach  das 
völkerrechtliche  Betragen  in  einem  Zustande,  wo  sonst  das 
gegenseitige  Zufügen  von  Übeln  das  Herrschende  ist.  Das 
Verhältnis  von  Staaten  zu  Staaten  ist  schwankend;  es  ist 
kein  Prätor  vorhanden,  der  da  schlichtet.  Der  höhere  Prätor 
ist  allein  der  allgemeine  an  und  für  sich  seiende  Geist,  der 
Weltgeist. 


24^ 


Zur  Feststellimg  des  Textes. 


Die  Ausgaben  von  Hegels  Rechtsphilosophie,  auf  Grund 
deren  der  vorliegende  Abdruck  hergestellt  worden  ist,  sind: 

a)  die  Originalausgabe  von  1821,  deren  genauere 
Titel  die  Titelblätter  unserer  Ausgabe  wieder- 
geben. Der  Umfang  beträgt  XXVI  u.  355  S.;  am 
Schlüsse  befindet  sich  ein  kurzes  Druckfehler- 
verzeichnis; 

b)  die  Ausgabe  von  Gans  in  den  gesammelten 
Werken.  Sie  liegt  in  zwei  Auflagen  von  1833  und 
1840  vor,  die  sich  indessen  nur  sehr  unbedeutend 
voneinander  unterscheiden.  In  unserer  Vorrede 
sind  die  allgemeinen  Gesichtspunkte  angegeben, 
nach  denen  in  unserer  Ausgabe  die  von  Gans  be- 
rücksichtigt  worden   ist; 

c)  ein  Abdruck  der  Ausgabe  von  Gans,  den  Herr 
Professor  G.  J.  P.  J.  Bolland  veranstaltet  hat 
(Leiden,  1902);  darin  finden  sich  neben  mancher- 
lei Vv^illkürlichkeiten  gelegentliche  Textverbesse- 
rungen, die  nur  leider  nicht  als  solche  kenntlich 
gemacht  sind. 

Bei  der  Herstellung  des  Textes  in  der  vorliegenden 
Ausgabe  hat  dem  Herausgeber  als  oberster  Grundsatz  ge- 
golten, daß  ein  m-öglichst  leicht  lesbarer  Text  zu 
bieten  sei.  Er  hat  deshalb  die  Verbesserungen  des  Textes, 
die  er  für  nötig  gehalten  hat,  auch  die  Konjekturen,  von 
denen  er  die  wenigen,  die  tiefer  in  die  überlieferte  Text- 
gestalt einschneiden,  keineswegs  für  unfehlbar  auszugeben 
gesonnen  ist,  in  den  Text  aufgenommen  und  die  ursprüng- 
lichen Lesarten  ebenso  wie  die  Abweichungen  des  Gans- 
schen  Textes  von  dem  der  Originalausgabe  in  das  hierunter 
folgende  Verzeichnis  verwiesen. 

Eine  gründliche  Durchsicht  des  Textes  war  unver- 
meidlich,   weil    gerade   die    Originalausgabe,    an   die   sich 


Zur  Feststellung  des  Textes.  373 

Gans,  von  manchen  unnützen  Glättungsversuchen  ab- 
gesehen, fast  überall  genau  gehalten  hat,  eine  große  Zahl 
von  Unmöglichkeiten  aufweist,  die  sich  nicht  durch  die 
Eigenart  der  Hegeischen  Schreibweise  erklären  lassen. 
Vielmehr  sind  sie  wohl  so  zu  erklären,  daß  Hegel  in  die 
Korrekturbogen  allerlei  Ergänzungen  und  Änderungen  ein- 
getragen hat,  die  entweder  schon  er  selbst  versäumt 
hat  mit  dem  ursprünglichen  Kontext  in  Einklang  zu  bringen 
oder  die  der  Drucker  nicht  richtig  einzufügen  gewußt 
hat.  Eine  zweite  Korrektur  aber  scheint  Hegel  nicht  ge- 
lesen zu  haben;  zu  seiner  Zeit  war  das  wohl  allgemein 
nicht  üblich.  Infolgedessen  sind  eine  ganze  Zahl  von  In- 
konzinnitäten  im  Satzbau  stehen  geblieben,  die  den  auf- 
merksamen Leser  empfindlich  stören,  ja  ärgern  müssen. 
Wo  es  möglich  war,  durch  bloße  Einfügung  einzelner  oder 
mehrerer  Worte  dem  Übelstande  abzuhelfen,  hat  der 
Herausgeber  natürlich  diesen  Ausweg  gewählt;  die  ein- 
geschobenen Worte  sind  durch  eckige  Klammern 
als  Zusätze  des  Herausgebers  gekennzeichnet.  Immerhin 
blieben  noch  manche  Stellen  übrig,  wo  ohne  Änderung 
des  Textes  nicht  zu  helfen  war;  über  sie  gibt  das  folgende 
Verzeichnis  genaueren  Bericht. 

Die  Interpunktion  so  beizubehalten,  wie  sie  in  der 
Originalausgabe  gestaltet  ist,  hat  der  Herausgeber  nicht 
über  sich  bringen  können.  Wo  etwa  durch  veränderte 
Interpunktion  auch  der  Sinn  geändert  werden  würde,  mußte 
natürlich  auch  eine  derartige  Änderung  in  dem  Verzeichnis 
der  Lesarten  vermerkt  werden.  Wo  es  sich  aber  im  wesent- 
lichen nur  um  Beseitigung  einer  Anzahl  von  überflüssigen 
und  um  Anbringung  einiger  nützlicher  Kommata  und  Ge- 
dankenstriche handelte,  hat  sich  der  Herausgeber  befugt 
geglaubt,  ebenso  wie  bei  der  Orthographie  einfach  die  heute 
gebräuchliche  Schreibweise  in  Anwendung  zu  bringen. 
Wenn  er  sich  damit  das  Mißfallen  einiger  allzu  strenger 
Hegel-Philologen  zuziehen  sollte,  so  muß  er  es  tragen.  Er 
hat  nicht  einen  diplomatisch  korrekten  Abdruck  der  Ori- 
ginalausgabe liefern  wollen,  wie  ihn  etwa  eine  Ausgabe  der 
Akademie  der  Wissenschaften  zu  bieten  haben  würde,  son- 
dern ihm  lag  daran,  zum  Lesen  und  Studieren  dieses 
Werkes  aufzumuntern.  Und  dazu  hat  er  möglichst  die  über- 
flüssigen Anstöße  aus  dem  Texte  zu  beseitigen  sich  für 
verpflichtet  gehalten. 

Bei  den  Gansschen  Zusätzen  war  der  Anlaß  zu  Ver- 
besserungen viel  seltener  gegeben;  die  Grundsätze,   nach 


374  Zur  Feststellung  des  Textes. 

denen  der  Herausgeber  verfahren  ist,  sind  dort  natürlich 
dieselben  gewesen  wie  bei  dem  Hegeischen  Originaltext. 

In  dem  folgenden  Lesartenverzeichnis  bedeutet  H  die 
Ausgabe  von  1821,  G  die  Ausgabe  von  Gans,  B  die  von 
Bolland,  E  die  unsrige. 

Natürlich  sind  Druckfehler  der  früheren  Ausgaben, 
die  als  solche  ohne  weiteres  kenntlich  sind,  in  das  Ver- 
zeichnis nicht  aufgenommen  worden. 


10  Z.  15  V.  0.  durch  Gedanken  H  —  durch  den  Gedanken  G. 

14  ,,      9  V.  0.  die  bevorstehenden — die  damals  bevorstehcndeG. 

16  ,,  8  V.  u.  wird,  ebensowenig  H  —  tvird,  begnügt,  eben- 
sowenig G. 

21  ,,    21  V.  u.  Rechts- Institution^  —  die Eechts- Institution G. 

23  ,,  16  V.  0.  icenigstens,  überflüssig  H  —  wenigstens  über- 
flüssig G. 

2B   „      5  V.  u.  diese  H  —  die  G. 

25  „  14  V.  u.  Unbedeutendheit  von  B  —  Unbedeutendheit, 
von  H,  G. 

27   „      1  V.  0.  filia  H  —  filia  patroni  G. 

33  ,,    14  V.  o.  als  ein  H  —  ein  G. 

34  ,,      7f.v.  o.  Neutrale,    aber   unendlich   Befruchtete    E    — 

Neutrale  aber  unendlich  befruchtete  H.  G. 
37   ,,    15  V.  u.  Geschlechterliebe  H  —  Geschlechtsliebe  G. 
44   ,,      4  V.  o.  absolute  H  —  Absolute  G. 

66  ,,      1  V.  u.  äußerliche  H  —  äußere  G. 

67  „    21  V.  0.  verlassen  aber  von  H  —  verlassen  von  G. 
67  „      5  V.  u.  darein  II  —  darin  G  (so  öfter). 

69  ,,  16  V.  o.  an  einen  anderen  E  —  von  einem  anderen  H,  G 
(offenbar  ein  Druckfehler  der  1.  Ausg.). 

83   ,,    13  V.  0.  gehören  H  —  angehören  G. 

85  ,,      4  V.  u.  Heroenrecht  E  —  Herrenrecht  H,  G. 

93  ,,      8  V.  u.  aufzuheben  E  —  aufgehoben  H,  G. 
111    ,,      1  V.  u.  Verbrechers  H  —   Verbrechens  G. 
117   ,,    20  V.  o.  jenem  H  —  jedem  G. 

128  ,,      3  V.  o.  Geringfügiges, iceniiü  —  Geringfügiges; wenn G. 
128   ,,      4  V.  o.  kann;  so  H  —  kann,  so  G. 
135   „      9  V.  0.  das  E  —  als  H,  G. 

141  „    10  V,  o.  den  E  —  die  H,  G. 

142  ,,    14  V.  o.  oben  H  —  oben  schon  G. 

142   ,,    20  V.  o.  zw  E  —  voti  H,  G  (G  ändert  das  nächste  ron 

in  zu  ab). 
166   „      5  V.  u.  allgemeineren  H  —  allgemeinen  G. 
170  „    11  V.  u.  ihre  E  —  seine  H,  G. 
173   ,,      7  V.  o.  ein  anderes  Qualitatives  E    —    eines  anderen 

Qualitativen  H,  G. 
175  „      2  V.  u.  fähig  G  —  fehlt  bei  H. 


Zur  Feststelluni;-  des  Textes. 


375 


176  , 

5  V. 

0. 

179  , 

,  20  V. 

0. 

179  , 

,  15  V. 

u 

181  . 

9  V. 

u. 

181  , 

5  V. 

u. 

185  , 

21  V. 

u. 

180  , 

19  V. 

u. 

189  , 

18  V. 

u. 

197  , 

18  V. 

u. 

218  , 

13  V. 

0. 

221  . 

lOff.v 

.0. 

221 


222 


16  V.  u. 


1    V.    11, 


229  , 

,  18  V. 

o. 

231  , 

,  19  V. 

0. 

239  , 

,   5  V. 

u. 

253  , 

9  V. 

u. 

266  , 

,  13  V. 

0. 

271  , 

.   3  V. 

u 

291  , 

22  V. 

0. 

297  , 

21  V. 

0, 

298  . 

1  V. 

0. 

300  , 

20  V. 

0. 

324  , 

16  V. 

u. 

326  , 

17  V. 

u. 

329  , 

10  V. 

u. 

335  , 

10  V. 

u. 

344  , 

9  V. 

u. 

351  , 

17  V. 

0. 

354  , 

3  V. 

0. 

355  , 

8  V. 

u. 

359  , 

4  V. 

o. 

364  . 

10  V. 

u. 

368  . 

19  V. 

u. 

stehen  F>  —  stehende  H,  (}. 
yeschchenden  H  —  geschehenen  G. 
nadi  E  —  auch  H  (Druckfehler)  —  auch  in  G. 
hervorfjelit,  —   die  E  —  felilt  bei  H,  G. 
führt,  —  hat  E  —  füJtrt,  hervorgeht,  hat  H,  G-. 
durch  das  öffentliche  Ausstellen  Waren  E    — 
das  öffentliche  Ausstellen  von   Waren  H,  Gr. 
aus  H  —  auch  (r. 
Korporationen  H  —  Korporation  U. 
das   Weissen  und  Wollen,  die  Subj.  d.  Fr.  E  — 
die  Subj.  d.  Fr.,  das  Wissen  und  Wollen  H,  G, 
den  E  —  der  den  H,  Gr. 
Dämme    auszuklügeln,    die    Einheit   als   eine 
Wirksamkeit  nur  gegenseitiger  Dämme  zu  be- 
greifen E    —    Dämme  auszuklügeln,    die  als 
eine    Wirksamkeit    7iur  gegenseitiger   Dämme 
bedürfen  H,  G. 

der  E  —  die  H,  G  (ebenso  in  den  folgenden 
Zeilen) 

ist  E  nach  dem  Fichteschen  Texte  —  fehlt 
bei  H,  G. 

Vorlauf  H  —   Verlauf  G. 
Vereinung  H  —   Vereinigung  Gr. 
denselben  H  —  demselben  G-. 
kein  E  —  keinen  H,  G. 
Gliedes  H  —  Glieder  G. 
eines  H  —  seines  G. 
nicht  mich  E  —  mich  nicht  G. 
den  B  —  der  G. 
diese  E  —  die  U. 
müßte  E  —  mu/3  G. 
bekomme  E  —  bekommt  G. 
das  Sittliche  am  Individuum 
dividuiim  G. 

dadurch  E  —  fehlt  bei  G. 
^^l  seiner  Harmonie  mir  E   - 
Harmonie  G. 

als  ein  uneric eisbares  ihm  E    —    ihm  als  ein 
unerweisbares  G-. 
eben  nichts  E  —  nichts  eben  G. 
als  E  —  fehlt  bei  G. 
diese  E  —  fehlt  bei  G. 
worden  E  —  fehlt  bei  G. 
fast  E  —  fast  nur  G. 

■will,  ausspricht  E  (nach  dem  Vorschlage  von 
Th.  Ziegler.  Kautstiidien  XIV,  S.  494)  —  «-17/ 
und  ausspricht  G. 


das  In- 


nur  zu  seiner 


Namenregister. 


Aristoteles  119f.,  137. 

Beccaria  89,  310. 

Cicero  23,  152. 

Creuzer  166. 

Diogenes  398. 

Dionysius,  der  Tyrann  174 

Drakon  87. 

Epikur  55. 

Feuerbach  310. 

Pichte    15,   30,   78,    197, 

300,  324. 
Friedrich  der  Große  242, 
Fries  8,  36. 
Cxoethe  9,  257. 
Haller,  Karl  L.  von,  177, 
Hugo,  Gustav,  Ritter  von, 

171. 

Jacobi,  Fr.  H.  126. 
Joseph  II.  310. 
Justinian  174. 

Klein,  Ernst  Ferdin.  88,  92. 
Kant  26  f.,  30.  36,  42,  47,  50,  51. 

75,  79,  113,  268,  318,  329,  369. 
Leibniz  26. 
Lucian   152. 


222  f., 
257. 


198£f. 
23  ff., 


Montesquieu  21,  26,  203,  223. 

Mose  223. 

Müllner,  Adolf,  130. 

Napoleon  I.  358,  362,  363,  371. 

Pascal  119. 

Phavorinus  23  f. 

Pitt  370. 

Plato  11,  13  f.,  44,  55,  128,  156, 

167,  244. 
Ricardo  159. 
Rousseau  42,  196  f.,  327. 
Savigny,  171. 
Say,  J.  B.,  159. 

Schlegel  Friedr.  V.  128f.,  324, 330. 
Schleiermacher  330. 
Sextus  Cäcilius  23  f. 
Smith,  Adam,  159. 
Sokrates  116,  128,  231.  320.  359. 
Solger  128  ff. 
Sophisten  11. 
Sophokles  145,  325. 
Spinoza  68. 
Stoiker  87. 
Stuhr,  P.  F.  276. 
Wolf  35. 


Sacliregisier 


A. 

Aberglauben  68,  353. 
Abgaben  siehe  Staatssteuern. 
Abgeordnetenhaus  s.  Gemeinen. 
Absicht  119f.,    121  ff.,  313,  315. 
Ackerbau  165  f.,  339. 
Allianz,  die  heilige  369. 
Arbeit  162  f.,  239,  338. 
Aristokratie  222  f. 
Armenpflege  189,  347. 
Armut  187  f. 
Asylrecht  315. 
Autorenrecht  70  ff. 

B. 

Barbarei  338. 
Beamte  238  ff.,  359. 
Bedürfnis  159—169,  336  ff. 
Befugnis  49  f.,  297. 
Begnadigung  234  f.,  362. 
Begriff  18,  32,  294. 
Beneficium  competentiae  317. 
Berufswahl  202,  351. 
Besitzergreifung  58  ff.,  299  ff. 
Betrug  83  f.,  308. 
Beweggrund  120,  314  f. 
Beweiszwaug  178,  344. 
Bewußtsein,  unmittelbares  20,  37. 
Bildung  und  Unbildung  38,  167  f , 
336,  352. 

—  theoretische  162  f. 

—  praktische  163,  338. 
Billigkeit  179. 


Blutsverwandtschaft  146,  331. 
Böse,  das  117  ff.,  320  f. 
Bürgschaft  306. 


€.') 


Contractus  78. 

D. 

Definition  19. 

Demokratie  222  f.,  358. 

Denken  6 ff.,  38  f.,  110,  170,  285  ff. 

Despotismus  227,  351,  366. 

Determinismus  36. 

Dialektik  44,  128. 

Dolus  indirectus  103,  315. 

E. 

Ehe  75,  140  ff.,  165  f.,  328  f. 

Ehepakten  147. 

Ehescheidung  149,   329  f. 

Eheschheßung  143  f.,  329. 

Ehre  192  f. 

Eid   181. 

Eigentum  62—74,  297  ff. 

Einsicht,  subjektive  110  ff. 

Emphyteusis  65. 

Entäußerung  67—74,  303  f. 

Entmündigung  187,  347. 

Erbrecht  150. 

Erbsünde  292. 

Erziehung  85,  148  f.,  186  f.,  327, 

332,  346  f. 
—  des  Menschengeschlechtes  272. 


•)  Siehe  auch  unter  K. 


378 


Sachregister. 


F. 

Familie  140—154,    y-28ff.,    UG, 

jjölf. 
Fanatisravis  210,  356. 
Farbenlehre  218. 
Feuergewehr  266. 
Fideikommiß  55,  153,  303. 
Formierung  61  f.,  301. 
Förmlichkeit  175  f.,  342  f. 
Frankreich  363,  368. 
Frau  145,  330  f. 
Freiheit  295  f.,  327. 

—  des  AVillens  27  ff.,  285  f.,  288f. 

—  subjektive  105,  202,  351. 
Frieden,  ewiger  268,  368  f. 


Garantien,  politische  247,  251. 

Gebrauch  63—67,  302. 

Geld  303. 

Gemeinen,  Haus  der  251. 

Gerichtszwang  178,  343  f. 

Geschworuengericht  182  f.,  344  f. 

Gesellschaft  154—195, 333  ff.,  340, 

351  f. 
Gesetzgebung  169  ff.,  339  f. 
Gesinde  304. 

Gewerbefreibeit  185,  346. 
Gewissen  109-132,  319. 
Gewohnheit  138,  327. 
Gewohnlieitsrecht  170  f.,  340  f. 
Gleichheit  57  f.,  164,  299. 
Glückseligkeit  38,  292,  316. 
Gnade  112,  362. 
Grundbesitzerstand  250. 
Gütersfemeinschaft  55. 


H. 

Handelsfreiheit  185. 
Handlung  98  f.,  314. 
Heroenrecht    85,    93,    103,    274, 

.305,  308  f. 
Herrenhaus  s.  Pairskammer. 
Heuchelei  118  ff.,  322  f. 
Historische     Rechtsbetrachtung 

22  ff. 


Idealismus  298. 

Idee  14,  18,  32,  284  f.,  294,  318. 

Imperativ,  kategorischer  318  f. 

Impfzwang  347. 

Inder  167  f.,  287,  369. 

Individuen,   weltgeschichtliche 

274,  368. 
Industrie  163,  188, 190, 336  f.,  339. 
Interesse  104  f.,  316. 
Ironie  128  ff.,  324. 
Israel,  Yolk  278. 

J. 

Jurisprudenz  s.  Rechtskunde. 

K. 

Katholizihmus  304,  325. 
Kind  290,  312,  321  f.,  332. 
Kirche  und  Staat  21 1  ff. 
Kirchentrennung  218  f. 
Kollision  83. 
Kolonisation  190  f.,  348. 
Komfort  160.  337. 
Konkubinat  329. 
Konsensualkontrakt  78  f. 
Konvenienz  161,  337. 
Körper  des  Menschen  56  f. 
Kosmopolitismus  169. 
Krieg  263  f.,  268  f.,  370.  371. 

Laesio  enormis  76. 
Landwirtschaft  s.  Ackerbau. 
Landrecht  174. 
Legitimität  233  f.,  361. 
Lbhngut  65,  66. 
Lehrfreiheit  214,  218. 
Leibeigenschaft  68. 
Liebe  Ulf,  153,  328  f. 
Luxus  162,  193,  337  f. 


Majestät  233,  362. 

Majestätsverbrechen 
Majorat  306,  366. 


235. 


1 


Sachregister. 


379 


Maschinenarbeit  163. 

Meinung,  öffentliche  256  ff.,  367  f. 

Methode,  philosophische  4  f.,  44. 

JMilitär  s.  Wehrstand. 

jVIilitärgewalt  356  f. 

INIilitärpflicht  264,  364,  369. 

Mittelstand  242  f.,  863. 

Monarch  228  ff.,  360  f.,  370. 

Monarchie  221  ff.,   236  f.,  358  ff. 

Monogamie  145. 

Moral  und  Politik  269  f. 

Moralismus  1 13  f. 

Moralität  168,  187,  312,  313. 

Nachdruck  72. 

Nationalökonomie  159  ff.,  336. 
Naturgesetze  283. 
Naturzustand  157,   161. 
Not  155  f.,  335. 
Notrecht  108,  317. 
Notstaat  155. 

o. 

Objektiv  293. 
Objektivität  41  f.,   97  f. 
Öffentlichkeit   179,   255  ff,   344, 

367  f. 
Ontologischer  Beweis  232. 
Orakel  231,  360. 

P. 

Pactum  78. 

Pädagogik  85,  327. 

Pairskammer  250. 

Parlament    s.   Ständevertretung, 

Volks  V  ertretung. 
Patriotismus  205  f.,  288,  352  f. 
Penaten  195. 

Perfektibilität  d.  Menschheit  272. 
Person  48  f.,  296  f. 
—  moralische  55. 
Pfand  81,  306. 
Pflicht    37,    112  ff.,    135,    203  f., 

318  ff.,  326. 
Philosophie  13  ff.,   285. 
Pietät  142,  145. 


Plagiat  72. 
Pöbel  188,  193,  347. 
Politik  und  Moral  269  f. 
Polizei  184-191,  345  ff. 
Positiv  20  ff. 
Preßfreiheit  258. 
Privateigentum  54  f.,  299. 
Privilegien  192. 
Probabilismus  120,  323  f. 
Produktion,  geistige  53,  69  f. 
Prozeßordnung  178  f. 
Psychologische  Historie  106. 

R. 

Rache  92  f.,  311. 

Realkontrakt  78  f. 

Recht,  Römisches  19,  22,  24  ff., 

26  f.,  60,  53,  148,  151  ff.,  331, 

333. 
—  und  Moral  309. 
Rechtsbegriffe  22. 
Rechtschaffenheit  136. 
Rechtsgebot  49  f. 
Rechtskunde  174  f.,  341  f. 
Rechtsstreit  83,  308. 
Redefreiheit  368. 
Reformation  s.  Kirchentrennung. 
Regierung  237—43,  362  f. 
Reichtum  188. 
Religion  207  ff.,  358  ff. 
Repubhk  230,  358. 
Revolution,  französische  29,  43, 

197,  288,  357,  363. 
Rußland  363. 

s. 

Sache  52  f.,  298. 
Schiedsgericht  179. 
Schuld  100,  314. 
Schulzwang  347. 
Schwurgericht  s.   Geschwomen- 

gericht. 
Seehandel  190. 
Selbstmord  73,  304  f. 
Selbstverwaltung  288  f.,  848,  363. 
Sicherheit,  öffentliche  87. 
Sitte  138,  326. 
Sittlichkeit  133—279,  325  ff. 


380 


Sachregister. 


Sklaverei  38,  62,  68,  203,  277, 
301,  302,  304. 

Sollen  313. 

Sophistik  11,  323. 

Souveränetät  226  f.,  s.  auch  „Mon- 
arch". 

Spekulative,  das  31,  40. 

Staat  195—202,  349  ff.,  357. 

—  der  moderne  202,  221  f., 
236  f.,  350. 

—  als  Organismus  206  f.,  853. 
Staatsgesinnung  s.  Patriotismus. 
vertrag  75,    89  f.,   197,   234, 

305. 

—  -wohl  227,  233. 

—  -steuern  243  f.,  364  f.,  366. 
zweck  205,  352. 

Stand  165  ff,  338  ff. 

Standesehre  192  f. 

Stände  Vertretung  245  ff.,  365  f. 

Stipulation  76  ff. 

Strafmaß  309,  343. 

Strafrecht  176  f. 

Straftheorie  88  ff.,  178,  308  ff. 

Subjekt  31. 

Subjektiv  293. 

Subjektivität 41  f., 97 f.,  312, 319 f., 

341. 
Subjektivismus  8  ff.,  38  f.,  107  f., 

115  f.,  118  ff.,  141,  322ff. 
Substanz,  die  sittliche  133  f.,  325  f. 

T. 

Talio  91. 

Tapferkeit  265  f. 

Teilung     der    Gewalten     206  f., 

220  f.,  357  f. 
Terrorismus  29,  43. 
Testament  150  f.,  333. 
Tier  56,  290,  298,  299. 
Todesstrafe  89  f.,  310. 
Trennung  s.  Teilung. 
Trieb  33  ff.,  36  ff.,  137,  290,  291  f. 
Tugend  136  ff.,  326. 


U. 

Überzeugung,   subjektive  124  fl. 
Unendlichkeit  293. 
Ungleichheit  57  f.,  299. 
Unrecht  82-94,  306  ff. 
Unveräußerlichkeit  68  f.,  304. 


Verantwortlichkeit  100  f.,  235f., 

314. 
Verbrechen  84—93,  308  ff. 
Verfassung    205,    206  f.,    224  f., 

237,  357  f.,  364  f. 
Verjährung  67,  303. 
Vermögen  146  ff.,  192  f. 
Vernunft  16,   357. 
Vertrag  74-82,  305  f. 
Volk,  gleich  „Regierte«  246,  249. 
Völkerrecht  268  ff.,  370,  371. 
Volksgeist  270  f.,  273,  275,  277. 
Volkssouveränetät  229  f. 
Volksvertretung  248  f.,  365  f. 

Wahl  254,  366. 
Wahlfveiheit  s.  Willkür. 
Wahlrecht  251,  254. 
Wahrheit  5. 
Wehrstand  264  f.,  369  f. 
Weltgeist  271,  275,  371. 
Wille  27  ff.,  285  f. 

—  der  natürliche  33  ff.,  288  ff. 

—  der  freie  38  ff.,  292  ff. 
Willkür  35  f.,  290. 
Wohl  s.  Glückseligkeit. 
Wohltätigkeit  187  f. 

Z. 

Zeichen  302,  306. 
Zivilgewalt  356. 
Zueignungsrecht  64. 
Zufälligkeit  173,  341. 
Zurechnung  Ulf.,  314. 
Zurechnungsfähigkeit  103f.,  Ulf 
Zwölftafelgesetz  22  f.,  26  f. 


77 


Druck  von  C.  Grxunbach  in  Leipzig^. 


University  of  British  Columbia  Library 

DUE  DATE 


APR    5J37J 

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FEB  2  4  IQ?.; 

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^ORM    310 


UNIVERSITY  OF  B.C.   LIBRARY 

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