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Full text of "Grundriss der englischen Metrik;"

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WIENER  BEITRAGE 

ZUR 

ENGLISCHEN  PHILOLOGIE 


UNTER  MITWIRKUNG 


D"-  K.  LDICK 

ORD.  PROF.  DER  ENGL.  PHILO- 
LOGIE AH  DER  UNIVERSITÄT 
IN  GRAZ 


D"-  R.  FISCHER 

ORD.  PROF.  DRR  KNUL.  PHILO- 
LOGIE AN  DER  UNIVERSITÄT 
IN  INNSBRUCK 

D"  L.  KELLNER 

AO.  PROFESSOR  DER  ENGL. 
PHILOLOGIE  AN  DER  UNI- 
VERSITÄT    IN      CZERNOWITZ 


D"-  A.  POGATSCHER 

ORD.  PROF.  DER  ENGL.  PHILO- 
LOGIE   AN    DER    DEUTSCHEN 
UNIVERSITÄT  IN  PRAG 


HERAUSGEGEBEN 


D^  J.  SCHIPPER 

ORD.  PROF.  DER  ENGL.  PHILOLOGIE  UND  WIRKL1CIIRH  MITGLIEDS  DER 
KAISERL.  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN  IN  WIEN 


XXVI.  BAND 


WIEN  UND  LEIPZIG 
WILHELM   BRAUMÜLLER 

K.  U.  K.  HOF-  U.ND  UNIVERSITÄTS-BUCHHÄNDLER 


SAMUEL  TAYLOR  COLERIDGE 

THE  ANCIENT  MARINER 


TND 


CHRISTABBL 

MIT  LITERARHISTORISCHER  EINLEITUNG  UND  KOMMENTAR 

HERAUSGEGEBEN  VON 

ALBERT  EICHLER 


WIEN  üXD  LEIPZIG 
WILHELM  BRAUMÜLLER 

K.  U.  K.  HOF-  UND  UMVEKSITATS-BUCHHÄNDLEB 
1907 


AUe  Rechte,  insbesondere  das  der  Übersetsong,  Torbehalten. 


K.  k.  UniTersitäts-Buchdruckerei  aStsrria*,  Gras. 


DEM  ANDENKEN 
MEINES  ÜNVERGESSLICHEN  TEUREN  VATERS. 


\5 


Vor^vort. 


Läterarhistorische  Betrachtung  der  beiden  in  den  fol- 
genden Blättern  herausgegebenen  Balladen,  der  ich  mich 
vor  einiger  Zeit  widmete,  legte  mir  den  Stoff  so  nahe,  daß 
mit  der  Zeit  das  Material  verschiedener  Art  anwuchs  und 
der  Plan  einer  handlichen  Sonderausgabe  dieser  charakte- 
ristischen Denkmäler  Coleridges  in  mir  reifte.  Selbstver- 
ständlich habe  ich  dem  verdienstvollen  Campbell  wie 
dem  geistreichen  Alois  Brandl  viel  zu  danken,  was  ich 
überall  gebührend  erwähnt  habe ;  ebensosehr  muß  ich  aber 
auch  betonen,  daß  in  diesen  beiden  großangelegten  Werken 
Einzelheiten  der  Korrektur  bedurftien,  die  ich  nach  bestem 
Wissen  anzubringen  nirgends  .unterließ.  Auch  im  Kom- 
mentar, der  hoffentlich  die  richtige  Ausdehnung  erhalten 
hat,  mußten  Vorgänger  benutzt  und  zitiert  werden:  hier 
ist  aus  praktischen  Gründen  Polemik  vermieden  worden. 
Auf  einzelnen  Anregungen  in  CampbeUs  Ausgabe  fußt 
mein  Lesarten-Kommentar,  den  ich  ebenso  wie  die 
metrische  Betrachtung  in  ihrer  Gänze  und  Detaillierung 
als  selbständig  ansprechen  zu  können  meine.  Bei  der  Er- 
klärung einzelner  Ausdrücke  ist  das  Oxforder  New  English 
Dictionary  zu  Bäte  gezogen  worden;  jedoch  sind  auch  eigene 
knappe  englische  Definitionen  gewagt  worden,  diemeist  von 
meinem  treuen  gelehrten  Freunde  Dr.  James  Morison 
(Oxford)  in  einem  fiüheren  Stadium  der  Arbeit  überprüft 
wurden.  Er  wies  mich  auch  auf  einige  Parallelen  und 
auf  Scotts  Benutzimg  von  Ausdrücken  aus  Coleridges 
Gedichten  hin  und  hatte  die  große  Liebenswürdigkeit, 
während  des  Druckes  die  Texte  des  Ancient  Mariner  noch- 


—  vm   — 

mals  zu  kollationieren:  für  alles  weiß  ich  ihm  herzlichsten 
Dank!  Nicht  minder  aufrichtig  verbunden  bin  ich  Herrn 
Privatdozenten  Dr.  E.  Brotan.ek  für  wesentliche  Erleich- 
terungen bei  der  Benutzung  der  Wiener  Hofbibliothek, 
Herrn  Dr.  E.  Dyboski  für  die  NachkoUationierung  der 
Christabel-Texte,  Herrn  Dr.  H.  Frisa  für  etliche  Exzerpte 
aus  hier  nicht  erreichbaren  Quellen  und  endlich  meinem 
sehr  verehrten  Herrn  Kollegen,  Herrn  Professor  Dr.  E. 
Dittes,  für  seine  aufopfernde  Mithilfe  bei  der  Korrektur 
des  Buches,  wobei  noch  manche  Unebenheit  geglättet  und 
manche  Anregung  fruchtbar  gemacht  wurde.  Auch  Verlag 
und  Druckerei  verdienen  die  dankbarste  Anerkennung  in 
Anbetracht  so  vieler  typographischer  Schwierigkeiten,  die 
ihr  unermüdliches  Entgegenkommen  stets  zu  lösen  wußte. 
Der  Plan  des  Buches  wollte  einem  doppelten  Zwecke 
dienen:  einen  kritischen  Text  zu  liefern,  der  bei  Seminar- 
übungen zu  Grunde  gelegt  werden  kann,  und  eine  auch  für 
Schulen  brauchbare  Ausgabe  herzustellen.  So  sind  auch 
kritischer  Apparat  und  Kommentar  so  gearbeitet,  daß  sie 
ziemlich  unabhängig  voneinander  benutzt  werden  können. 
Wenn  auch  das  Beiwerk  dieser  Ausgabe  da  und  dort 
Widerspruch  finden  mag,  dem  Leser  des  unvergänglichen 
Textes  selber  kann  ich  nur  mit  Ch.  Lamb  zurufen  (und 
dies  möge  auch  der  Segenswunsch  für  mein  Büchlein  sein) : 
*'/  counsel  thee,  shut  not  thy  heart,  nor  thy  library,  against 

8.  T.  er 

Wien,  im  Juli  1907. 

Der  Verfasser. 


Abkürzungen. 


Col.  =  Samuel  Taylor  Coleridge. 

Wo.  =  William  Wordsworth. 

Anc.  Mar.  =  The  Ändeni  Mariner. 

Ckrigt.  =  Christabel. 

Brandl  =s  Samuel  Taylor  Coleridge  und  die  englische  Romantik  von 
Alois  Brandl.  Berlin,  1886. 

Ca,  =  The  Poetical  Works  of  Samuel  Taylor  Coleridge.  Edited  with 
a  Biographical  Introduction  by  James  Dykes  Campbell. 
London,  1893. 

Notigbudi  =  S.  T.  Coleridges  Notizbuch  aus  den  Jahren  1795—1798, 
herausgegeben  von  A.  Brandl  (Archiv  f.  d.  Stud.  der 
neueren  Sprachen,  97.  Bd.). 

H.  =  Lyrical  Ballads.  By  William  Wordsworth  and  S.  T.  Coleridge. 
1798.  Edited  with  Certain  Poems  of  1798,  and  an  Intro- 
duction and  Notes  by  Thomas  Hutchinson.  London,  1898. 

G.  =  The  Ancient  Mariner  by  Samuel  Taylor  Coleridge.  Edited  with 
Introduction  and  Notes   by  Andrew  J.  George.   Boston 
(U.  S.  A.),  1897. 
Andere  Abkürzungen  siehe:  "Überlieferung." 
Der   meist   ganz    elementare   Kommentar   zum   Anc.   Mar.   von 

Dr.  M.  Benecke  in  seiner  "Coüectüm  of  Longer  Engliah  Poems''  (Vel- 

hagen  &  Klasings  "English  Authors"  62)  ist  mir  erst  nach  Abschluß  des 

Manuskriptes  bekannt  geworden:  ich  habe  ihm  nichts  zu  verdanken. 


Druckfehler  und  Berichtigungen. 

S.     1,  Z.    6  V.  o.  hatten       lies  hatte. 

?i     1>  r>    2(3  „    „   dem  „     den. 

„     1,  Anm.  Miß  „    Miss 

„     7,  Z.  14  „   u.  31th  „     3Pt. 

„  20,  „     7   „    o.  country       „    county. 

„  22,  „    16   „    „   reizbaren    „    aufreizenden 

.,  28,  „    18  „    „   keiner         „    keinen. 

„  29,  .,     5   „   u.  schönen     „    trauten. 


Überlieferung. 


Die  beiden  Balladen  Col.'s  sind  uns  in  mehreren  Fassungen 
erhalten. 

1.  A.  The  Rime  of  the  Ancyent  Marinere  I  In  Seven 
Parts  I  Argument  How  a  Ship  having  passed  the  Line  was  driveu 
by  Storms  to  the  cold  Country  towards  the  South  Pole;  and  how 
from  thence  she  made  her  course  to  the  Tropical  Latitude  of  the 
Great  Pacific  Ocean;  and  of  the  Strange  Things  that  befell;  and  in 
what  manner  the  Ancyent  Marinere  came  back  to  his  Own  Country.  — 
(Ohne   ßandnoten!)    In   den  Lyrical  Ballade,  Lofidon,  1798.   Anonym. 

B.  The  Rime  of  the  Ancient  Mariner,  |  A  Poet's  Reverie 
In  Seven  Parts  |  Argument  \  How  a  Ship  having  first  sailed  to  the 
Equator,  was  driven  by  Storms,  to  the  cold  Country  towards  the 
South  Pole;  how  the  Ancient  Mariner,  cruelly,  and  in  contempt  of 
the  laws  of  hospitality,  killed  a  Sea-bird;  and  how  he  was  followed 
by  many  stränge  Judgements;  and  in  what  manner  he  came  back  to 
his  own  Country.  —  In  der  2.  Auflage  der  Lyrical  Bcdlada,  1800.  [Mit 
einer  Note  von  Wordsworth  (s.  unten  S.  6,  u.)]. 

C.  =  B,  doch  ohne  das  Argument,  in  der  3.  Auflage  der  Lyrical 
Ballads,  1802,  Mit  unwesentlichen  Textänderungen. 

I>.  =  €.,  in  der  4.  Auflage  der  Lyrical  Ballads,  1805. 

S.  The  Rime  of  the  Ancient  Mariner  '  In  Seven  Parts  ; 
'Facüe  credo,  plures  esse . . .'.  T.  Burnet,  Archaol  Phil.  pag.  68.  —  in  den 
Sibylline  Leaves:  a  Collection  of  Poems.  |  By  S.  T.  Coleridge, 
Esq.  I  London  1817.  Hier  fehlt  das  Argument,  dafttr  sind  die  Prosa- 
randglossen abgedruckt  und  Textänderungen  vorgenommen. 

Alle  späteren  Abdrücke  sind  kritisch  wertlos. 

2.  A.  Christabel;  Kubla  Khan,  a  Vision;  the  Pains  of 
Sleep.  By  S.  T.  Coleridge,  Esq.  London:  Printed  for  John  Murray 
1816.  (Die  Second  und  Third  Edition  aus  demselben  Jahre  wörtlich 
gleichlautend.)  Preface:  *'The  first  part  of  the  following  poem  was  written. 
• . .  Since  the  latter  date,  my  poetic  potcers  hace  been,  tili  very  lately,  in  a 
State  of  suspended  animation.  But  as,  in  my  very  first  conception  of  the  tale, 
I  had  the  tchole  present  to  my  mind,  tcith  the  wholeness,  no  less  than  with 


—    XI     — 

ihe  liveliness  of  a  vision;  I  trust  ihat  I  shall  he  able,  to  embody  in  verse 
ihe  three  parts  yei  to  come,  in  the  course  of  ilie  present  year.  —  It  ia 
probable  ,,.pa8sion."  Vgl.  u.  S.  86. 

B.  Christabel.  In:  The  Poetical  Works  of  S.  T.  Coleridge, 
including  the  Dramas  of  Wallensteiu,  Remorse,  and  Zapolya.  In 
three  Volumes.  London.  W.  P i ck e r  i n g,  1828  (wörtlich  gleichlautender 
Abdruck  von  Christabel  mit  Interpunktionsänderungen  in  der  Ausgabe 
1829:  B')  'Preface"  ist  geändert:  "I trusi  I shall  y et  be  able  to  embody  in 
verse  the  three  parts  yet  to  come/'  (sonst  gleich).  —  Änderungen  im  Texte. 

C.  Christabel.  In:  The  Poetical  Works  of  S.  T.  Coleridge, 
London,  Pickering,  1834.  (Dann  oft  wiederholt)  'Preface*:  der  Absatz 
von  ''Since  the  latter  date ...  —  three  parts  yet  to  come/'  ist  ganz  fallen 
gelassen.  —  Spätere  Abdrücke  sind  kritisch  wertlos. 

Für  Christ,  kommen  femer  noch  drei  Handschriften  in 
Betracht: 

MS  I.  Geschenk  Col.'s  an  Miss  Stoddart,-die  spätere  Gattin 
Hazlitts. 

MS  II.  Eine  von  Col.  J.  Payne  Collier  geliehene  Hand- 
schrift. 1811. 

MS  III.  Geschenk  Col.'s  an  Wo.'s  Schwester,  Miss  Sarah 
Hutchinson. 

Über  das  nähere  Verhältnis  der  Drucke  und  Handschriften,  welch 
letztere  nur  in  wichtigen  Fällen  herangezogen  sind,  wird  in  den  Les- 
arten das  Nötige  beigebracht;  der  Zusammenstellung  liegen  zum  Teil 
Ca.'s  Bezeichnungen  zu  Grunde. 


Übersicht. 


Seite 

Vorwort VII 

Abkürzungen IX 

Druckfehler  und  Berichtigungen IX 

Überlieferung X 

Einleitung 1 

1.  The  Ancimt  Mariner:  /  ^atstehuBg  und  Aufnahme 1 


{ 


Metrum,  Sprache  und  Stil 8 

9    CK  '  tnh  l*  \  ^^^^^^"^g  ^^<1  Aufnahme 20 

\   Metrum,  Sprache  und  Stil 30 

Nachfolge  der  beiden  Balladen  in  der  Literatur 41 

{The  Eime  of  the  Ancyent  Marinere    ...  46 

The  Birne  of  the  Äncient  Mariner  ....  47 

Chrütabel 86 

^            ^         f  t  The  Ancient  Mariner 107 

Kommentar:        ^^  ^^^^^ ^.^3 


Einleitung, 

1.  The  Ancient  Mariner. 

Entstehung  und  Aufnahme. 

JbiS  war  am  13.  November  1797,  etwa  4  Monate  nach- 
dem sich  auf  Col.'s  Veranlassung  Wo.  mit  seiner  Schwester 
Dorothy  im  Lake-Distrikt  niedergelassen  hatten,  als  die  drei 
Freunde  gegen  Abend  von  Alfoxden  auszogen,  um  Linton 
und  das  "Tal  der  Steine"  zu  besichtigen.  Col.  erzählte  den 
Traum  eines  seiner  Bekannten  in  Stowey,  eines  Mr.  Cruik- 
shank,  der  darin  ein  Skelettschiff  mit  Bemannung  gesehen 
hatte.  Wie  so  häufig,  wandte  sich  das  Gespräch  der  zwei 
Dichterfreunde  ihren  dichterischen  Tendenzen  zu,  und  da 
einen  Teil  derselben  die  naturgemäße  Darstellung  übernatür- 
licher Ereignisse  und  ihrer  Auslösung  im  Gemüte  der  davon 
betroffenen  Personen  bildete,  griff  Col.,  dessen  Domäne 
gerade  diese  künstlerische  Richtung  war,  während  des 
Spazierganges  das  Thema  des  Geisterschiffes  auf  und  der 
Plan  zum  Anc.  Mar,  wurde  unter  Wo.'s  Beihilfe  entworfen. 
Letzterer  hatte  kürzlich  Shelvockes  Voyages  gelesen, 
worin  von  dem  am  Kap  Hom  so  häufigen  Albatrossen 
berichtet  wurde,  und  schlug  nun  vor,  den  alten  Matrosen 
einen  dieser  Vögel  töten  zu  lassen,  worauf  dessen  Schutz- 
geister daför  Rache  nehmen  sollten.  Auch  der  Gedanke, 
das  Schiff  von  den  toten  Matrosen  bedienen  und  weiter- 
führen zu  lassen,  stammt  von  Wo.  Endlich  steuerte  er  noch 
einige  Verse  bei  (s.  Komm,  zu  V.  13 — 16;  226—227);  aber  eine 
völlig  gemeinschaftliche  Ausarbeitung,  die  noch  am  selben 
Abend  angebahnt  wurde,  scheiterte  an  der  Verschiedenheit 
der  beiden  poetischen  Naturen   und   so  trat  Wo.  zurück.^) 


1)  Memoira  of  W.  Wordsworth,  London,  1851,  Vol.  J.  pp,  107,  108 
[Miß  Fenwick].  —  Note  in  Poems  of  S.  T.  Col,  1852  [Gespräch  Wo.'s 
mit-Rev.  Alex.  Dyce].  —  Vgl.  Biographia  Literaria,  Chap.  XIV. 

E i  c  h  1  e  r ,  The  Ancient  Mariaer  a.  Christ.  1 


Eioleittmg. 


Von  literarischen  Einflüssen  hat  Ca,  (p,  595 — 596)  den  des 
alten  Buches  ^^ Strange  and  danffcroHs  Voyage  of  Captain  Thomas 
James  in  his  intetided  Discovery  of  thc  North -West  Passage 
inio  ihe  South  Sea,  T^wdon,  1663''  nach  Würdigung  der  ent- 
sprechenden Literatiu'  als  nicht  unwahrscheinlich  bezeichnet. 
Auch  den  in  The  Gentlenian^s  Magazine,  Od,  1853  zuerst 
geltend  gemachten  Einfluß  von  ''The  Leiter  of  St.  PauUnns 
[Bishop  of  NolaJ  to  Macarim,  in  which  he  relaics  astoiimUng 
wonders  mnceming  ihe  shipwreck  of  an  old  man'  leugnet  er 
nicht  ganz ;  die  aus  der  zweiten  Hälfte  des  4.  Jahrhunderts 
stammende  Epistel  erzählt: 

^'Kiii  Kornschiff  war  in  der  Nähe  Sardiniens  vom  Sturme  der 
Mfi^te  beraubt  worden,  worauf"  die  Mannschal^  das  Wrack  verlieö^  bis 
auf  einen  Mano,  den  man  au  der  Punipe  vergessen  hatte.  Sechs  Tage 
long  litt  dieser  unter  seiner  Vereinsamungj  brach  kein  Brot  und 
wünschte  sich  bJoü  den  Tod.  Gottes  Wort  richtete  ihn  aber  wieder 
auf;  newew  Leben  erftUlte  ihn.  Auf  Gottes  Geh  ei  Ü  hißte  er  die  Se^el, 
und  siehe,  Engel  halfen  ihm  bei  seinem  Werke^  sichtbar  und  eifrig  ihm 
zur  Seite  stehend:  das  Schift*  segelte,  sobald  er  nur  die  Hand  ans 
Tau  legte.  Zuweilen  gewahrte  er  eine  Schar  Krieger,  welche  die  Arbeit 
verrichteteu,  23  Tage  lang  fuhr  er  so  dahin,  unter  Leitung  des  'Lotsen 
der  Welt';  nahe  dem  Lande  rief  er  Fischer  an,  die  in  zwei  Booten 
heranroderfceD^  aber  vor  dem  Schiffe  haltmachten,  da  sie  es  für  ein 
Krie^schiff  hielten.  Die  Hillciiife  des  alten  Mannes  bewogen  sie  endlich, 
von  ihrer  Angst  abzustehen  und  ihn  zu  retten.'' 

Ca.  schätzt  beide  Quellen  mit  Eecht  als  nicht  sehr 
bedeutsam  ein.  Gelehrte  Reisewerke  und  ähnliche  uxiS  Col. 
damals  gelesen  haben^  wie  das  Notizbuch  beweist,  wo  z.  B. 
Bl.  31  b  und  32  a  eine  ganze  Alligatorenbeschreibung  bieten. 

Für  das  Gespensterfahrzeug  hat  Brandl  (8.  209  fi  auf 
''Maclteth'*  hingewiesen,  wo  die  Hexe  den  verhaßten 
Matrosen  austrocknen,  mit  Schlaflosigkeit  quälen,  zur  Ver* 
zweiflung  treiben  und  seine  Barke  verschlagen  lassen  wUl, 
ohne  ihn  zu  töten.  Ebenso  überzeugend  vergleicht  er  das 
Versinken  des  Schifles  am  Schlüsse  mit  der  Hetzjagd  in 
Bürgers  *'Lenore'*,  wozu  er  noch  bemerkt,  daü  in  der 
englischen  Übertragung  dieses  Gedichtes  von  W.  Taylor, 
der  gespenstige   Ritt   bereits   aufs   Meer    ausgedehnt   ist.*) 


1)  Ändere  ßeminiaxenzea  CoL*s  an  Bürgers  Gedicht  linden  edch: 
The  DeHiimj  of  Naiiom  [1796],  II  ^90 ff,,  Kubla  Khan  [1T97]  U.  U—16, 
Lewti  11794|  IL  28-47;  Chrisiahtl  IL  79ff.  und  BaU.  of  Bark  Ladk, 
II  33 ff. 


1.  The  Ancient  Hariaer. 


3 


Schon  bei  Shelvocke  wird  ein  großer  Albatros,  der  als  Ur- 
saclie  des  schJecliten  Wetters  gilt,  erschossen  (daran  knüpfte 
Wo.'8  Schiildmotiv  an);  die  Fischer,  die  dem  Matrosen  an 
der  lukanischen  Küste  zu  Hilfe  gekommen  waren,  sind 
g<»näQ  der  spai-samen  Ökonomie  der  Ballade  durch  einen 
Lotsen  und  seinen  Knaben  ersetzt;  der  Einsiedler  ist  tlie 
in  der  Lit,  des  18.  Jahi'hunderts  übliche  Figxu*,  die  den 
Segen  und  die  Versöhnung  ausspricht  (Sternes  Pater 
Lorenzo  u.  a,).  Die  Geistermannschaft  kommt  nach  Brandl 
(S.  212)  möglicherweise  aus  einer  andern  Stelle  in  Shel- 
vockes  Voya^es  und  manche  Einzelheiten,  wie  der  Kom- 
mentar zeigt,  aus  anderen,  nicht  bekannten  Reisewerken 
(vgl.  Notufbuch). 

Diesen  fremden  Elementen  gesellen  sich  nun  die  groli- 
artig  stimmungsvollen,  lyrisch  gehaltenen  Beschreibiingeu 
zu:  Sie  sind  des  Dichters  echtes  Eigentum^  im  Vergleiche 
mit  ihnen  können  wir  bei  den  berührten  literarischen  Pa- 
rallelen höchstens  von  ** Anregung"  sprechen,  denn  hier  liegt 
das  Wesen  des  Anc,  Mar,  Aber  auch  hier  mußten  dem 
Dicht-er,  der  bis  dahin  das  Meer  noch  nicht  befahren  hatte 
Reisewerke  an  die  Hand  gehen ;  und  er  verarbeitete  das 
gelesene  Material  in  sich  mit  einer  Phantasie,  die  ihres- 
gleichen sucht.  Zu  erklären  ist  diese  Ausgestaltungskraft 
zum  Teil  wohl  durch  den  Opiumgenuß>  dem  Col.  seit  1796 
frönte-i)  Wenn  Brandl  (S,  192 — 193)  die  Entstehung  des  so 
farbenstrahlenden  Fragmentes  *'KuhJa  Khan*  auf  die  im 
Zustande  der  Opium  betä üb iing  vorgeat eilten  Bilder  zm'ück- 
leitei,  so  stehe  ich  nicht  an,  derartige  visionäre  Rückschläge 
der  Lektüre  von  Reisebeschreibimgen  auch  bei  der  Ent- 
stehung des  Anc,  Mar.  anzimehmen  und  ihi'e  produktive 
Fähigkeit  noch  viel  höher  als  die  der  früher  erwähnten  lite- 
rarischen Motive  anzuschlagen.  Noch  ein  Moment  fiir  die 
Annahme  der  visionären  Erscheinungen  des  Opiumessers 
ist  meines  Erachtens  der  Umstand.  daÜ  gerade  diese  Spuk- 
gestalten und  das  Milieu  bei  CoL  zum  öfteren  wieder- 
kehren, und  zwar  in  bunten  und  ungeheuerlichen  Varia- 
tionen. So  hatte  Col,  schon  in  ''The  DesHmj  of  Naticms" 
(43ßff.)    das    Lokale    im    Polarlande    spielen    lassen :    ein 


»)  Cor»  Brief  an  Poole  vom  5.  November  1?J6,  Ca.  p.  XXX. 

1* 


Einleitung. 


scliwimineiides  Eisfeld,  wo  der  Eisbär  in  Angst  und  Wut 
sein  Geheul  ertönen  läßt.  Auch  diese  Schilderung  hat  einen  ' 
literarischen  Keim:  Geschichte  Grönlands  von  Crantz  II,  1 
(Braudl,  S.  213),  aber  auch  hier  wieder  das  Belebende  und  . 
Phantastische  zugegeben  vom  Dichter!  Im  Ave.  Mar.  tntb^H 
nun  wieder  die  Eislandschaft  vor  des  Dichters  Augen,  diesmal ^^ 
mit  der  Musik  des  Treibeises  allein,  die  ein  furchtbares 
Leben  in  dem  leblosen  Elemente  bildet  und  die  Verein-  i 
samung  im  Nebel  und  Schnee  noch  mehr  fühlen  läÜt.  Brandl 
weist  auf  diese  und  die  folgenden,  bei  CoL  selbst  schon  vor-  | 
handenen  Motive  hin.  doch  ohne,  wie  ich  meine,  das  ent- 
sprechende Gewicht  auf  ihre  variierte  Wiederkehr  zu  , 
legen,  und  gerade  darin  liegt  das  Traumhafte  solcher  Bilder 
bei  üben-eizter  Sinnestätigkeit.  —  Auf  dieselbe  Stui'e  stellt 
man  wohl  mit  Recht  auch  die  weiteren  Parallelen  zu  '*Tk€ 
DesÜntj  of  Naiions" :  Windstille  auf  dem  Ozean ;  die  Monaden 
(selbsttätige  Geisterchen) ;  die  Schleim wesen,  die  im  Wasser 
auf-  und  absteigen;  ja  selbst  der  Riesenvogel  Vuoklio,  der 
mit  den  Geistern  zusammen  Mordtat-en  rächt  imd  beklagt, 
weisen  auf  diese  Ballade  hin.  Phantastisch  ausgearbeitet 
sind  auch  einzelne  literarische  Motive  der  Schilderung:  Die 
glänzenden  Flocken,  die  schon  Wo.  und  Bums  auf  dem 
Flusse  sehen,  werden  bei  ihm  zu  elbischen  Tiichtflocken,  die 
von  den  sich  aufbämnenden  Wasserscklangen  wegzucken 
(Brandl,  S.  214).  Von  idyllischen  Zügen  aus  Col.'s  bisheriger 
Dichtimg  fühi't  Brandl  an:  ^'das  Säuseln  des  Windes,  die 
Musik  der  Sphären,  der  Gesang  der  Lerche,  das  Plätschern 
des  Waldbaches"'.  Ich  füge  noch  hinzu:  die  beruhigende 
Wirkung  des  Mondlichtes  (siehe  Komm,  zu  477ff*  und  the 
hage  oak  tree  in  *'The  Maren'*  1  u.  21  fnv  ChrisL  33  etc.)  — 
Ob  Wo. 's  damals  noch  fi^agmen tarisches  Gedicht  ^'The 
Female  Vagranf\  das  erst  1798  ei^schienen  imd  dann  1842 
vervollständigt  imter  dem  Titel  ''Guilt  and  Sorrow"  ver- 
öffentlicht wurde,  dem  Dichter  schon  1796  bekannt  geworden 
ist,  wie  er  selbst  in  der  Biogr,  LiL  Gap.  IV,  erzählt,  ist  nicht 
sicher,  da  diese  Darstellung  seines  inneren  Entwicklung«* 
ganges  eben  wie  die  so  vieler  anderer  Dichter  '"Dichtung 
und  Wahrheit''  gemischt  enthält.  Stimmt  aber  dieses  Zitat, 
so  hätten  wir  hier  einen  späten  Ableger  von  Mrs.  Rad- 
cl  iffes  erstem  Schauderroman  "The  Sicilianc  Rontance*'  1790 


1.  The  Ancient  Mariner. 


$ 


* 


ad  des  Schweizer  Idyllendicbters  GeÜner  *^Tod  Abels": 
**Schloßruinen,  geheimnisvolles  Dunkel  —  schwere  Seufzer 
—  Entdeckung  eines  tief  nnglÜLklicheu  Weibes  und  eines 
ermordeten  Wanderers  — ■ ',  wie  Brandl  anmerkt,  von  Geßnera 
Dichtung:  *'Held  ein  nichloser  Mörder,  verfolgt  vom 
Schrecken  der  Elemente,  gestraft  mit  Sturm  und  Einsam- 
keit''. Im  Hochsommer  1797  begeisterten  diese  Gedanken, 
wenn,  wie  gesagt,  die  Stelle  der  Biogr,  LiL  auf  richtiger 
Erinnerung  beruht,  Col.  zu  dem  Entwürfe  seiner  "TFaw- 
derings  of  Cain":  als  ihm  aber  Wo.,  mit  dem  dieser  Plan 
gemeinsam  ausgeai*beitet  werden  sollte,  diealku  phantastische 
Welt,  in  welcher  dieses  Märchen  spielt,  vorhielt^  ernüchterte 
sich  Col.  und  Heß  es  unvollendet.  Doch  der  Hauptgedanke  vom 
Mörder  und  seiner  Verfo%ung  mag  dann  im  Dichter  wieder 
aufgestiegen  sein,  als  er  mit  seinem  Freunde  den  Plan  zum 
Ane.  Mar,  durchsprach.  —  Das  Motiv  von  dem  festbannen- 
den BHcke  des  alten  Matrosen  kann  nach  Brandl,  Ca., 
George  auf  Autobiographisches  zurückgehen  (vgl.  Komm,  zu 
V,  13 — 14),  Ferner  hat  Brandl  (S.  215)  Verknüplnng  dieses 
Motivs  mit  einem  literarischen  nachgewiesen:  Lewis,  der 
Verfasser  des  ''Mimk'\  hatte  in  seinen  Roman  eine  Ballade 
*'Alofuo  Ute  Brave  and  Fair  Imogen''  eingeschaltet,  die  ziemlich 
beliebt  war:  **Da  sieht  schön  Imogen  an  ihrem  Hochzeits- 
tage mitten  im  Tanze  plötzlich  einen  Ilitter  neben  sich,  den 
sie  nicht  los  wird,  der  sich  endlich  als  die  wandernde  Leiche 
les  früheren^  im  Kriege  gefallenen  Bräutigams  entpuppt, 

laher  stammt  es  wohl,  daß  sich  der  imheimUche  Matrose 
gerade  einem  Hochzeitsgaste  annestelt,  so  daß  ebenfalls  dieEnt- 
8et«ensgeschichte  mit  der  Tanzmusik  zusammenfällt/'  Lewis 
selbst  hat  dieses  Motiv  sicher  aus  der  Büi*gerschen  ''Lenore'* 
entlehnt,  da  er  nachweisbar  derartige  Spukgeschichten  aus 
der  deutschen  Literatur  hinübemahm.  Das  wäre  also  ein  in- 
direktes Nachwirken  der  Biirgersclien  Dichtung  auf  Col.  — 
Das  sind  wohl  die  Hauptstriche,  die  in  dem  dunklen 
Gemälde,  auf  das  wir  mit  süßem  Grauen  hinblicken,  deuthch 
zu  erkennen  sind ;  aber  die  Unzahl  feinster  Schattierungen 
Äusfiihrlich  zu  erläutern,  müssen  wir  uns  hier  versagen:  das 
wtii*de  sie  ertöten.  Mit  rein  verstandesmäßiger  und  morali- 
sierender Denkweise  darf  man  diese  Schöpfiing  reinster 
Einbildungskraft  nicht  erklären  wollen. 


(t 


Eiöleitung, 


In  diesen  Fehler  verfiel  jedoch  die  Kritik,  als  das 
Gredicht  mit  seinen  Geschwistern  ''The  NighHngak"  imd  zwei 
Episoden  aus  ''Oscrio**  ohne  Vatersnamen  im  Juli  1798  in 
den  hauptsächlich  von  Wo.  bestrittenen  ^'Lyrical  Ballads'^ 
erschien*  Für  den  Augenblick  bedeutete  die  ganze  epoche- 
machende Sammlung  imd  der  Anc,  Mar,  keinen  Erfolg,  ^) 
Über  den  letzteren  äußerte  sich  Griffith  (Monthly  EetnewJ 
Matf  1799):  **The  Rtme  of  the  A,  M,  is  the  sträng- 
est  starg  of  a  cock  and  bull  that  we  ever  saw  on  paper.,. 
it  seems  a  rkapsodg  of  unintelUgihle  ivildness  and  incoherence, 
,  . .  therc  are,  however,  in  it  poetical  touches  of  an  exquisitive 
kituL"  —  Etwas  besser  urteilt  der  Rezensent  im  British 
Oritic,  Od,,  1799  (Wrangham?):  "The  A,  M,  has  mang  ex- 
ceUeneies  and  mang  faults.  The  beginning  ftml  end  are  striking  i 
and  well-condticted^  hui  the  intermediate  part  is  too  long^  and ' 
Aas  in  so>me  places  a  kind  of  confusion  of  inniges  which  deprives 
it  of  all  effect  front  not  fmng  intdligible,''  —  The  Monthhj 
Magazine,  Dec,  17 98,  ist  ebenfalls  halb  absprechend  und 
The  Analgtimlt  Dec,  179S  spricht  von  *'the  exiravagance  of 
a  mad  Gennan  poet'\  Am  schlimmsten  jedoch  spielte  Southey 
(Critical  Review,  Od.,  1798)  dem  Dichter  mit,  dessen  Freund 
er  war:  "Mang  of  the  stansas  are  lahoriouslg  heautiful,  btä 
in  connection  thcg  are  absurd  or  uninteUigibic.  Dur  readers  mag 
exercise  their  ingenuitg  in  attenipiing  io  unriddle  whaf  follows 
[nämlich  V,  30i— 322]*  We  do  not  supeiefitlg  nnderstand  the 
storg  to  analgse  it,  It  is  a  Duich  aftcnfpi  at  German  sublinntg. 
Getiius  has  here  been  etnploged  in  producing  a  poetn  of  little 
merit/'  Wenn  auch  Lamb,  der  doch  damals  mehr  zu  Southeyi 
als  zu  dessen  Schwager  hielt,  diese  Auffassung  sehr  scharf 
zurückwies,  behielten  solche  Stimmen  z.  Z,  dennoch  Recht 
und  auch  Wo.  hielt  das  Gedicht  tlir  mißglückt  und  machte 
es  tlir  den  Mißerfolg  der  Lgr,  B,  allein  verantwortlich.  In 
der  zweiten  Auflage  druckte  er  es  in  modernisierter  Gestalt 
ab  und  gab  ihm  eine  höchst  gönnerhafte  ''Note'^  bei  (ab- 
gedruckt Ca.  p.  596),  Mit  einer  gewissen  Eitelkeit  plaudert 
er  aus,  daß  der  Wiederabdruck  nur  ihm  zu  verdanken  sei, 
obwohl  der  Verfasser  in  Änsehimg  des  Fiaskos  seines  Werkes 


*)  Der  materielle  Ertrag  (90  Guineas)  wurde  mit  zur  Bestreitung 
der  deutschen  Reise  Co!/!*^  Wo.'s  uud  dessen  Schwester  verwendet. 


L  The  Ancient  Maiiuer. 


dagegen  gewesen  sei,  Dann  tadelt  er,  daß  der  Anc.  Mar. 
keinen  deutlichen  Charakter  als  Berufematrose  oder  als 
Mensch  überhaupt  habe ;  ferner^  daß  er  nicht  handelt,  son- 
dern Werkzeug  und  Opfer  allein  ist;  drittens,  daß  Einheit 
und  innere  Konsequenz  der  Handlung  fehle;  endlich,  daß 
zu  viel  **Bildwerk"  (imagery)  darinnen  angehäuft  sei.  Lobend 
hebt  er  die  naturwahre  Leidenschaftlichkeit,  die  "einzelnen" 
fichöneu  Bilder  und  den  sprachlichen  und  metrischen  Aus- 
druck hervor.  Namentlich  die  Leidenschaftlichkeit  bürgt 
ihm  füi-  den  Wert  des  Gedichtes,  'Hvhich  is  not  oßen  possessed 
fcy  beiier  Pocfus", 

Ca.  weist  darauf  hin,  daß  sich  Lambs  Brief  an  Wo. 
(Ainger's  Letters,  I,  164)  auf  diese  "Note"  bezieht,  deren 
Torwürfe  Lamb  ebenso  wie  die  Southeys  zu  widerlegen 
sucht.  Wie  sehr  Lamb  Col.  verstanden  hat,  zeigt  auch  eine 
Nebenbemerkung  in  demselben  Briefe»  worin  er  den  neuen 
Untertitel  *'A  Poet^s  Eeverie'  tadelnd  zurückweistj  denn  durch 
diese  Bemerkung  wüi*de  ja  die  Naturwahrheit  der  ganzen 
Geschichte  so  verhöhnt,  w^ie  durch  Bottom  des  Webers 
Außenmg  ''Ich  bin  kein  wirklicher  Löwe*',  das  Zwischen- 
spiel in  **MH!mmm€nügbi*s  Dreani\  Col.  stimmte  dem  nun 
zu  und  tilgte  den  Untertitelj  der  nur  durch  ein  Vei-sehen 
auf  dem  zweiteu  Blatte  stehen  blieb. 

Vielfach  wurde  von  englisscher  Seite  der  Vorwiu-f  gegen 
das  Gedicht  erhoben,  es  fehle  ihm  die  **Moral"  und  die 
^'Wahrscheinlichkeit''.  Gegen  den  ersten  Anwiurf  hat  sich 
Col.  selbst  verteidigt  (Tabie  Talk,  May  HV\  1830),  Er  sieht 
das  ein,  was  man  in  der  deutschen  Kritik  stets  behauptet 
und  gefiihlt  hat:  der  Anc.  Mar,  hat  zu  viel  Moral  für  ein 
Werk  reinster  Phantasie  oder  wenigstens  zu  offen  gepredigte 
Moral  für  ein  Märchen,  (Hiezu  stimmt  auch  seine  Dar- 
stellung von  den  Kunstprinzipien,  die  er  im  Anc,  Mar,  an- 
wenden wollte,  in  Biogr,  LH,  Chap,  XJV,J  Dies  Spiel  der 
schönsten  Bilder  vor  des  Dichters  Augen,  in  modnlations- 
reichster  Sprache  und  musikalischen  Versen  geschildert,  hat 
unter  Wo. 's  Einflüssen  entschieden  gelitten.  Wäre  duixh 
diese.s  Moralisieren  eine  einheitliche,  deutliche  Handlung 
entstanden,  so  müßten  wir  diese  Beeinflussung  segnen;  in- 
dessen kann  man  einen  logischen  Zusammenhang,  eine 
aere  Motivierung  nicht  finden.    Warum  der  Matrose  den 


8  Emleittmg,  ! 

Albatros  ei'scliieüt,  erfahren  wir  überhaupt  nicht,  und  nun 
sollen  wir  bereitwillig  glauben,  daß  überirdische  Geister  ans 
Werk  gehen,  wegen  einer  von  einem  einzelnen  aus  uns  un- 
bekannten Gründen  begangenen  Tat  200  Menschen  zu  töten  ? 
Glauben  wir  das  nämlich  nicht^  so  müssen  wir  überhaupt  das 
Gedicht  als  Schauermär  lächelnd  beiseite  legen.  Und  darin 
liegt  der  Hauptmangel,  daß  eben  der  Dichter  durch  das  Mo- 
ralisieren zu  verlangen  scheint,  seinen  Aberglauben  auch  zu 
teilen.  —  Begeben  wir  uns  aber  auf  seinen  wirklichen  »Stand- 
pxmkt  imd  sind  wir  mit  ihm  romantisch,  so  werden  wir  nicht 
nur  das  äußerliche,  geradezu  blendende  Gewand  bevnrndem 
müssen f  sondern  auch  das  kerngesunde,  leidenschaft atmende» 
mit  höchstem  Naturalismus  darunter  gebildete  innerste 
Wesen  dieser  Schöpfimg  des  Dichters. 

Freilich  wird  uns  der  Schluß  des  Gedichtet  jäh  aus 
unserer  Romantik  herausreißen,  wenn  der  Alte  fronmi  er- 
zählt, daß  er  gern  mit  alt  und  jung  bete,  der  Hochzeits- 
gast aber,  da  ihm  jegliche  Hochzeitsstimmuug  vergangen 
istj  trüb  nach  Hause  geht,  um  andern  Tages  als  '^weiserer, 
aber  schwermütigerer'  Mensch  zu  erwachen.  Das  ist  ja  auch 
Naturalismus,  aber  von  anderer  Art  als  der  frühere,  der 
uns  die  Einsamkeit,  das  Meer,  die  Domänen  bis  ins  ein- 
zelne packend  geschildert  hat:  jetzt  stehen  wir  schwindelnd^ 
wie  der  Einsiedler,  auf  festem  Lande  und  blicken  uns  ver- 
^\Tlndert  um:  denn  wir  glauben  schrecklich  geträumt  zu 
haben,  bemerken  aber  mit  gemiscliten  Empfindungen,  daß 
wir  uns  unter  den  hausbackenen  Engländern  des  ''Age  of 
Wordsfvortir  befiuden.') 

Metrum,  Sprache  und  Stil. 

Die  Ballade  umfaßte  m*sprünglich  658  Verse  in  A.  ilie 
in  S.  das  wir  nun  unseren  Betrachtungen  zu  Grunde  legen, 
auf  625  vermindert  wurden.  Das  Versmaß  ist  das  in  den 
alten  Balladen  so  beliebte  Common  Metn%  der  jambische 
katalektische  Tetrameter  oder  Sept  enar.  In  diesem  Metrum 
hatte  CoL  schon   das   1797   begonnene  *'The  Thrve  Grav^'s" 


*)  Die  moihterliafte  Cbersetzuug  vou  Freiligrath  bat  den  Anc. 
Mm\  auch  bei  uns  sehr  populär  gemacht:  die  von  E.  Höfer  woi*  mir 
Dicht  xugftogUch. 


i.  Tbe  Ancient  Mariner. 


geschrieben,  dann  später  '*The  Devirs  Thoughis"  abgefaüt^ 
wo  die  Bänkelsängerstrophe,  wie  bis  dahin  von  Kunst- 
dichtem meist,  allerdings  zn  komischen  Wirkungen  ver- 
wendet ist.  Der  Vers  selbst  ist  mit  Hilfe  der  Takt- 
umstellung und  gelegentlicher  Verletzung  der  Prosa- 
beton ung  —  zweier  entgegengesetzter  Prinzipien  — 
ungemein  abwechslungsreich  gestaltet.  Aus  der  großen  Zahl 
wähle  ich  bloß  einige  Beispiele  aus  8: 

V.  12  Eßsöons  his  hanä  dropi  he,  (Prosaton  verletzt  in- 
folge 10,  wo  diese  Betonung  des  Pronomens  in  dieser  Phrase 
Regel  ist*) 

fV.    22  M4rrüy  did  tm  drop  (Tak turnst.) 
V.    90  Cäme  io  ihe  mariners*  hollo!  (Dass.) 
V*  251  Lütf  like  a  load  on  nifj  wcartf  eye  (Dass.) 
_      V,  518  Thaf  come  from  a  far  cotmirce,  (Prosaton  verletzt ) 
P  etc.  etc. 

Doppelte    Senkungen    im  Innern   des  Verses  und 
im    Auftakte    liegen    im    Charakter    des     akzentuierenden 
Metrums   und   werden    von   CoL   unbeschränkt    verwendet. 
VgLnur  S: 
V.    71  Änd  a  tjood  souih  wind  sprumj  up  hehind; 
V*    74,  90  Came  to  ihe  mariners*  hollo! 
V.  334  To  have  seen  ihose  dead  nwn  rise. 
V,  518  Thai  come  from  a  far  countrce. 
etc. 
l>ie  r>t rophenform  ist  verschieden,  laßt  sich  jedoch 
immer   auf  den   gebrochenen   Septenar   zurückliihren.    Die 
weitaus  häufigste  ist  das  echte  Common  Mdre  X4  aa  y4  ae, 
vertreten  in  105  Fällen.    Cot.  scheint  erst  im  Verlaufe  des 
Dichtens  zu  Ei-^^eiterungen  gegriffen  zu  haben:  während  in 
8  am  Beginne  bloß  die   ersten  11  Strophen  die  alte  Form 
aufweisen,  waren  es  ihrer  in  A  noch  23,  dann  erst  setzten 
andere  Typen   ein  und  auch  jetzt  finden  sich  noch  genug 
ziemlich    imifangreicher  (jfruppen    der  Vierzeiler.    Bau   imd 
Reimstellimg  der  özeiiigen  Stro])hen  zeigen  sie  als  organische 
Weiterbildung   der   erstgenannten    Form;    in  18  Fällen  X4 
Aa  b4  b4  an  (V.  162 ffi,  185 ff.,  248 ff.,  267 ff.,  272ff..  277ff., 
292ff.,   3iaff.,   322ff.,   345ff,   B58ff.,   393ft,   533ff.,   586ff. 
606  £),  dazu  noch   zwei  Strophen   mit  Binnenreim   in   der 
ersten  Zeile   (V*  167 ff.^  614 ff.);    in   einem  Falle  a4  ba  a* 


10 


Eiuleitimg, 


ai  hs  (V,  IBOfll),  alle  also  mit  Einschiib  einer  4hebigeii 
Zeile  nach  Z.  3.  Die  6zeüigen  sind  am  häufigsten  in  der 
FoiTii  X4  aa  yi  a«  z*  as»  also  mit  Verdreifachung;  des 
Septenars,  vertreten:  14  Fälle  (V.  91  ff.,  97 ff.,  143 ff.,  171  ff., 
257  ff..  282  ff,,  336  ff:,  367  ff.,  377  ff,,  383  ff^,  446  ff.,  527  ff., 
564  ftl,  591  ff.),  die  häufig  noch  durch  Binnenreim  variiert  wer- 
den; ein  Fall  a4a4a4bsX4  (=  2  ßij  ba  (V.  45ffl)>  also  mit 
Vorsetzung  eines  Reimpaai-es  vor  das  Common  Metre.  Ein 
abnormes  Schema  bietet  die  9  zeUige  Strophe  ( Y.  203  ffV)  a  4 
a4  ba  C4  C4  ha  d^  d4  ba,  Verdreifachung  des  Septenai^s 
mit  Vorschiebung  eines  4  heb»  Verses  vor  jedem  derselben. 

Diese  also  ziemlich  bunte  Reihe  von  Strophentormen  ist 
noch  diu'ch  Binnenreime  in  den  4  heb,  Versen,  die  ent- 
weder rein  oder  durch  bloße  Assonanz  reimen,  volltönender 
gemacht.  Vgl.  V.  7,  21,  31,  37,  49,  53,  55,  57,  59,  Gl,  63, 
69,  71,  73,  76,  77,  81,  87,  89,  93,  95,  97,  99,  101,  103,  105, 
109,  115,  127,  141,  153,  157,  162,  171,  197,  218,  232,  280, 
320,  354,  377,  381,  400,  418,  420,  426,  428,  432,  474,  480, 
488,  492,  496,  514,  527,  550,  558,  568,  591,  610,  612,  614, 
622.  Bei  solcher  Fülle  von  Gleichlauten  entsteht  ein  musi- 
kalisches Auf-  und  Abwogen,  das  bei  der  sonstigen  Freiheit 
des  Metrums   auch   den    feinsten  Wirkungen    dienen   kann. 

Die  Reinheit  des  Reimes  ist  wie  bei  allen  eng- 
lischen Dichtem  grundsätzlich  nicht  in  unserem  Sinne 
gewalirt.  Außer  den  erwähnten  Assonanzen  finden  sich  un- 
reine Reime  in  reicher  Zahl,  So  V,  45  :  46  :  47  profc :  blow  : 
Joe,  52  :  54  mid :  etnerald,  80  :  82  ihus :  Albatross,  109  Binnen- 
reim, ^peak  :  break,  159  :  16ü  stood :  hhod,  217  :  219  ffroan  :  cnic, 
294:295  given :  Heavea,  328:330  on:ffröati,  360:361  are: 
air,  489  :  491  rood :  stood,  509  :  511 :  513  tjood :  wood :  blmd, 
534  :  637  almtf :  young,  539  :  541  reply :  cheerily,  692  :  594  :  696 
there :  are :  prayer,  61 1 :  613  Gynest :  bcasL 

Im  Satze  (oder  wenigstens  im  Prosasatze)  tonlose 
Wörter  wie  me  (4  etc.),  he  (10,  12  etc.),  she  (34),  be  (108, 
124  etc.),  they  (254  etc.)  u.  a.  m.  werden  anstandslos  im 
Reime  gebraucht,  ebenso  die  der  alten  Orthographie  von  A 
entsprechenden  zerdehnten  Ableitungen  auf  -er  (V.  1,  20,  40 
etc.  Mariner,  184  gossameres  etc). 

Die  Qualität  der  Reime  ist  dem  alten  Typus  der 
Chevy-Chase'Straphe   gemäß    stumpf;    klingend   uui-   an 


1.  The  Aflcient  Mariner. 


11 


neuii  Stellen :    V.  72  :  74  irnd  88 :  90  follow :  hollo,  116:118 
motian  :  ocean,  294 :  295  (fiven  :  Heavmi,    384  :  386  :  388   oceau 
modofi :  motioti,   411:413    retteivhuf :  doinff,    427  :  429    hdated  : 
abaieäy  431  :  432  weathtr  :  ioffdher  und  435:437  ß Her  :  glitter. 

Rührende  oder  reiche  Heime  ergeben  sich  oft  durch 
die  Wiederholung  ganzer  Zeilen,  somit  entsprechen  sie  aller- 
dings nicht  dem  Gesetze,  daß  wenigstens  der  Sinn  völlig 
gleichlautender  Wolter  im  Keime  verschieden  sein  muU, 
bilden  aber  ein  wichtiges  Stilmittel  fs.  unten j.  Beispiele: 
Y.  10  :  12  he,  94  :  96  hhw,  100 :  102  mist,  144  :  146  eye,  174  : 
176  Sun,  286  :  287  unauare,  386  :  388  moiion  542  :  544  ship. 

Außer  der  an  Stelle  des  Reimes  oder  als  sonstiger 
Schmuck  auftretenden  Assonanz  kommt  auch  als  Verzierung 
die  Alliteration  vor,  die  natürlich  keineswegs  immer 
beabsichtigt  ist,  Unzweifelhatle  Fälle  gewollter  Alliteration 
sind  meines  Erachtens: 

36  thc  merrtj  min4treUff^  ^  And  it  would  icork  'rm  woe,  103—104 
The  fair  breezt  hUwj  the  whiie  foam  ßeii\  The  furrow  siream'd  off  free, 
lOti  Into  that  aiient  sea,  HO  The  siten^e  of  Ute  sea,  119  imd  121  Water, 
water,  er  et' ff  where,  122  Nor  miif  drap  to  drink^  127  in  reel  and  rout,  183 
Nine  fathmn  dcep  he  had  foUowed  tts,  168  to  work  its  weai,  171  und  173 
The  weitem  wace,  190  WWt  broad  and  buming  face,  190/191  Her  lipn 
wert  redj  her  lot^  were  free,  Her  hcks  teere  yellow  aa  gold,  203  We 
ligiened  and  looked,  226  long  and  lattk^  256  The  mamf  men^  246  A  wid^ed 
lehiAper  came,  218  /  closed  my  lids,  and  kept  than  cloae,  254  Nor  rot  nar 
reek  did  ihaj,  263  The  moving  Moon^  267  Her  heams  bcmocked  the  suttr^ 
main,  269  JBut  where  the  ships  huge  shadow  laif,  281  a  fiash  of  golden 
ßre,  205/296  She  sent  the  gcntle  slecp  from  Heavcn,  That  älid  into  my  isotd^ 
304  Sure  I  fmd  drunken  in  mij  dreams,  311 /Bl 2  But  tüith  its  sound  ii 
thöok  the  sailSf  That  were  ao  thin  and  sere,  874  Yet  nerer  a  hreese  did 
brtathe,  375  Slowhf  and  sinoothlyj  3*J5  my  Uvinff  lift\  423  Without  or  wave 
m  wind,  450  a  friyhtful  fiend^  482  shapes,  that  shadmcs  wei'c,  483  In 
crnruton  colaurs  came,  498  the  silefice  mnk,  529  see  ihose  sailSj  533  leaves 
that  lag,  543  nor  npake  nor  ^tirred,  566  Laughed  loud  and  Imig,  577  What 
manner  of  man^  t84  And  iiH  my  ghastly  tale  is  toldj  5D0  To  him  my  tale 
J  tcach,  613  bird  and  beast,  625  the  morrow  morn.  Eine  Liste,  die  je 
nach  Geschmack  dur<h  Aiit't"a.ssung  vod  nnvei-meidlichen  Alliterations- 
wörtem  als  beabsichti^teu  Htabeti  vermehi't  werden  kann. 

Die  Freiheit  des  lihythmus  zeigt  sich  in  einer  großen 
Zahl  von  Z  e  i  1  e  n  e  n  j  a  m  b  e  m  e  n  t  s :  V.  27/28  And  he  shonc 
hriffht,  and  on  the  riffht  /  Weat  doten  into  the  seci.  —  41/42 
A»id  now  the  Sform-blast  came,  and  he  /  Was  tyrannous 
aud  Strang.  —  86/86  Still  hid  in  mistt  and  on  ihe  left  j  Wetä 
iiauffii  into  the  sea.  —  137/138  Wc  could  not  speak,  no  more 


12 


ELnleitmig. 


than  if  j  We  had  bem  dwked  with  sooi,  —  143/144  There 
passed  a  wmrtf  time,  Each  ihroat  j  Was  parched,  and  glazed 
each  etfe.  —  234/23B  And  never  a  saint  iook  pitp  on  j  My  soul 
in  cufomj.  —  442/445  And  now  ihis  spdl  tcas  snapt:  once 
fnare  j  I  viewed  ihe  oeean  fjreen,  j  And  hoked  far  fortb,  yei 
Utile  saw  j  0/  whai  had  eise  been  seen.  —  558/559  And  all  was 
sHJlf  save  (hat  thc  kill  j  Was  telliwf  of  ihe  aoHnd,  —  610/611 
Farewellf  farewdl!  hut  this  I  teil  /  To  ihfe^  thou  Weddimh 
Guesif  —  55/56,  131/132,  139/140,  141/142,  147/14K,  151/152. 
185/186,  238/239,  246^247,  275.^276,  280/281,  282/283,  290/291, 
306/307,  322/323,  358/359,  367/368,  396/397,  450/451,  498/499, 
512/513,  554/555,  566/567,  597/598,  599/600,  620/621.  Hiebei 
ist  es  im  Grunde  gleichgültig,  ob  wir  die  Strophen  als  4-, 
5-  und  6  zeiligt  also  kurzzeiHg,  oder  als  Septenare  langzeilig 
auffassen ;  in  jedem  Falle  ist  der  Eeichtum  der  rhythmischen 
Varianten  deutlich  sichtbar,  nur  müßte  man  in  ersterem 
das  Zeilenenjambement  als  Verschiebung  der  sonst  regel- 
mäßigen Zäsiur  bezeichnen. 

Strophenenjambement  findet  nui*  an  zwei  Stellen 
statt :  V.  444/445  . . .  ffei  little  saw  /  Of  whai  had  eise  heen 
Seen  zu  V.  446  ff.  Like  one,  thai  on  a  lonesome  road  , .  „  durch 
den  Einsatz  des  Vergleiches  nicht  besonders  fühlbar,  imd 
532  Unless  perchanee  it  were  zu  533  Bnnvn  skeletons  of  leaves 
thai  lag .  , ,,  ziemlich  stark.  Einmal  wird  eine  Strophe 
geteilt,  also  auch  ein  Beispiel  einer  Art  von  Reim- 
brechung, die  sonst  bei  gekreuztem  Beime  nicht  leicht 
nachweisbar  ist;  in  diesem  Falle  (V.  422 ff. >  handelt  es  sich 
um  Aufteilung  je  zweier  Zeilen  auf  den  Dialog  der  beiden 
in  der  Vision  gehörten  Geisterstimmen. 

Wie  die  metrische  Fonn  der  alten  BaUade  entnommen 
war,  so  wußte  sich  der  Dichter  auch  in  der  Sprache 
dieser  Literaturgatt img  aufs  beste  anzuschmiegen.  Der  Aus- 
druck ist  vor  allem  archaisierend,  wie  der  Kommentar 
im  einzelnen  aufzuzeigen  haben  wird.  Brandl  weist  auf 
Chatterton,  einen  Liebling  Col/s  hin,  der  ja  das  Höchste 
an  altertümlicher  Färbung  in  seinen  Werken  geleistet  hatte, 
indem  er  altertümUche  Wörter,  epische  Formeln,  volks- 
tümliche kurze  Vergleiche  einfügte.  Die  lebendige  Frage, 
die  ja  dem  halbdramatischen  Charakter  der  Volksballaden 
entgegenkommt,  war  CoL  auch  durch  W.  Taylors  Tjefioren- 


« 


M 


1,  The  Äncient  Mariner. 


13 


Übersetzung  meder  nahegebracht  worden,  wie  Brandl 
bemerkt.  Er  schreibt  aber  CoK  als  neu  hinzngebrachte 
Stileigenfctimlichkeitenzu:  Bedeutsame  Voran- 
kündigungdes  Begri  f  f  e  8  (V.  1  It  is  an  ancietü  Mariner ), 
(V.  19/20,  B9/40  And  ihus  spake  on  the  ancietit  man,  j  The  bHght- 
etfed  Mariner)  und  ähnJithes,  wo  durch  Pronomen  oder  Hub- 
stantiv  die  Hervurhei>ung  zuerst  erfolgt,  dann  erst  das 
Begriffswort  selbst  kommt;  andere  Beispiele  sind  noch  zahl* 
reicher,  in  denen  der  substantivische  Begriff  zuerst  heraus- 
gehoben wirdj  meist  als  absoluter  Kasus,  worauf  er  mit 
einem  Personalpronomen  he,  she^  i7,  the*^  u.  dgL  wieder  auf- 
genommen wir<l,  wie  in  V.  37,  222,  297/299,  314/315,  360/361, 
004^^505 ;  die  8 1  o  ß  s  e  u  f z  e  r  (V.  178  Heavens  Molher  send 
US  grace!  V,  294  To  Mary  (^ueeti  the  Fraise  he  rßven!  V,  489 
hg  the  hölg  rood!  V.  506,538  Dear  Lord  [in  Heaven]:  V.  123, 
487  0  Christ,  V.  470  my  God!  V.  399  hy  htm  uho  died 
on  crosSt  als  Anrufungen  des  Himmels,  der  Heiligen  etc.; 
son^t  noch;  V.  164  Gramerey!  V.  139  M!  well  a-day!  V.  181 
Aias!  V,  464  Oh!  dream  of  jmj!  V.  627  bij  my  faithfj. 
Femer  erwähnt  Brandl  noch  die  scheinbar  p  1  e  o- 
n astischen  Attribute  und  die  teilnehmenden 
Zwischenäußerungen,  welche  die  Wirkung  auf  die 
Zuhörer  vergegenwärtigen  (V.  224  ff.,  345  [fear  ihee,  aneient 
Mariner!  Y.  79  God  save  thee^  aneient  Mariner  u.  anderes), 
die  Beteuerungen  (wofiir  ich  oben  unter  den  *'Stoß* 
Seufzern*'  schon  Beispiele  gebracht  habe)  und  als  hervor- 
ragendes Stilmittel  die  Sprunghaft igkeit  der  Dar- 
stellung, ^'welche  hinterdrein  zur  Erklämng  eine  Rand- 
glosse in  Prosa  nötig  machte' \  Das  sind  gewiß  alles  Eigen- 
tümlichkeiten, die  au  den  Stil  der  Vo  1  k s b all  a d e  erinnern, 
aber  wir  sehen  sie  hier  von  einem  der  feinsinnigsten  Kunst- 
dichter mit  Bewußtsein  und  Geschick  gehandhabt.  Dafür,  daß 
Coh  öich  dieser  Mittel  mit  Bewußt**ein  bediente,  ist  mir 
ein  Beweis,  daß  er  an  so  vielen  Stellen  die  Nachstellung 
des  Adjektivs  (besonders  zum  bequemeren  Reimen)  an- 
wendet, ebenso  einigemal  das  Objektspronomen  um- 
stellt^  was  uns  sehr  schlicht  und  volksmäßig  vorkommt, 
aber  bei  einem  Kunstdichter  gewiß  nicht  selbstverständlich 
ist:  hier  zeigt  sich  eben  wieder  der  glückliche  Griff  im 
Auffassen  der  alten  Siirach-  und  Fonnbehandlung  bei  CoL 


w 


Einleitung. 


(vgl  V.  10  quoth  he,  12  dropt  Ae.  26   came  Äe,  34,  7Ö,  198, 
229,  2B6,  314,  326,  349,  435,  443,  509,  514,  525,  589,  609). 

Mit  der  früher  erwähnten  metrischen  Erscheinung  des 
Binnenreimes  ist  sehr  häufig  eine  stilistische  ver- 
bunden: der  Gredankenreira  und  der  zweigliedrige 
Ausdruck;  dies  ist  entschieden  zum  Teil  Einfluß  der 
biblischen  Redeweise  und  trägt  sehr  zur  nachdrücklichen 
Hervorhebung  bei.  Vgl.  V.  8  long  grey  beard  and  ifUttering 
eif€^  7  The  guesis  are  met,  the  fcast  is  set,  75  mit  zwei 
parallelen  Formeln:  In  mist  or  cloud,  oh  fnasi  or  shroud, 
316  ebenso:  And  to  and  fro,  and  in  and  otii,  21,  45,  4G,  47/48, 
51,  61,  73,  89,  97,  116,^  127,  140,  143/144,  157,  16a  162, 
169,  199,  206,  213,  221,  250,  254,  312,  826,  331,  332,  335, 
358/360,  375,  412/413,  423,  424/425,  434/486,  488,  447,456, 
460/462,  466,  470/471.  476,  508,  543,  548,  550,  609,  612, 
614,  615,  624.  Die  Beispiele  teilen  sich  in  solche,  in  denen 
der  Parallelismus  vorherrscht,  und  solche,  die  anti- 
thetisch zu  fassen  sind.  Gesteigert  erscheint  diese  stilisti- 
sche Figur  in  dreigliedrigen  Ausdrücken*  Zum 
Beispiel  V.  2324  Below  the  kirk,  beJotv  the  kill,  j  Below  the 
iighi-hoHse  top,  103/104  The  fair  breese  hlew,  the  white  foam 
flpw,  I  The  furroiü  streani  d  off  free ;  49/50,  130,  156,  190/19  J, 
199/200,  240/242/244,  301/302,  318.320,  331,  363  865,  466/467, 
613.  In  diesem  Falle  ist  nicht  selten  das  dritte  Glied  anti- 
thetisch zu  den  ersten  beiden,  die  an  sich  koordiniert  sind. 

Das  Höchste  aber,  was  CoL  an  packender  und  span- 
nender Wirkung  seiner  Ballade  durch  den  Stil  erreichen 
konnte,  liegt  in  den  eindringlichen  Wiederholungen 
einzelner  Wörter  oder  ganzer  Sätze  u  n  d  P  h  r  a  s  e  n.  Die 
Beispiele  zeigen  da  die  höchste  Kunst  in  der  Änwendimg : 
bald  trägt  diese  Wiederaufnahme  in  ganz  stereotyper  Fonn 
dazu  bei,  die  romantische  Unbestimmtheit  etwas  zu  erhellen, 
bald  bergen  sich  in  den  kleinen  Unterschieden  der  wieder- 
holten Worte  überaus  feine  Schattierungen  der  Stimmung. 
Das  ist  der  Rest  des  alten  Volksballadenrefrains,  der  hier 
noch  eine  schöne  Nachblüte  erreicht  hat.  Zum  Beispiel: 
V.  23/24  Below  the  kirk,  behw  the  hill,  j  Below  the  light-kouse 
top:  emphatisch  wird  hier  der  Begriff  des  Scheidens  dui*ch 
das  dreimahge  "below''  betont.  —  V.  31  und  37  The  Wedding- 
Guest  here  beut  kis  breast^  getrennt  durch  die  Beschreibung 


I 


I 

■ 


1.  The  Ancient  Mariner. 


15 


I 


I 


des  HochzeitöÄUges,  drücken  die  beiden  Zeilen  die  ver- 
zweifelte Stimmnng  des  Gastes  ans,  die  zweite  natürlich 
noch  stärker  als  die  erste,  weil  das  Yevs  18  schon  gebrauchte 
He  cannot  choose  biU  hear  mm  38  unmittelbar  hinter  jeuer 
Zeile  folgt,  der  unwiderstehliche  Zwang  auf  die  innerlich 
abgeneigte  Disposition*  Die  Formel  19  f.  wird  39  f.  nach 
rein  epischem  Brauche  genau  aufgenommen,  —  V.  59  f.  The 
ice  was  here,  ihe  iee  was  thcrc,  j  The  ice  was  all  around: 
trotz  der  genauen  lokalen  Bestimmungen  wird  durch  das 
dreimalige  Nennen  des  **Eises''  dieses  gleichsam  noch  raehi% 
noch  allgegenwärtiger.  —  V.  68  /^  ate  the  food  it  ne'er  had 
mi,  die  Unwirtlichkeit  jener  Gegend  wird  durch  diese 
gänzlich  ungewohnte  Nahrung  des  Albatros  —  daher  die 
Wiederholung  des  Zeitwortes  —  angedeutet*  Die  Strophe 
25  if-  ist  83  ff.  mit  entsprechenden  Abändeningen  —  es  ist 
ja  die  Rückfahrt  —  wiederholt:  die  Einleitung  zu  Neuem 
mit  denselben  epischen  Mitteln  ausgedrückt.  Noch  stärker 
wirkt  die  Variation  der  Strophe  71  ff.  iu  87  ff»^  wo  mit  den* 
selben  Worten  durch  die  Negation  allein  der  Verlust 
beklagt  wird.  —  V.  94 f.  Thai  made  the  breche  io  hlow,  der 
harte  Vor\^n.irf  wird  mit  vorausgegangenem  Ftuchworte 
V.  96  nochmals  ausgesprochen,  ebenso  V.  100  und  102  Thai 
hrififf  »resp.  hrought)  the  fotj  and  mist.  Wie  fest  sitzt  dieser 
Gedanke  in  den  Seeleuten  und  speziell  in  der  Erinnerung 
de«  Anc.  Mar.!  Beide  Stropheu Schlüsse  93 ff.  und  99 ff*  sind 
überdies  durch  den  Gleichlaut  der  imgeraden  Zeüen  mit- 
einander verknüpft;  die  Idee,  daß  der  Albatros  auf  das 
Weiter  Einfluß  habe^  ist  beiden  gemeinsam,  nur  in  der 
ersten  im  günstigen,  in  der  zweiten  im  ungünstigen  Sinne.  — 
V*  107  Dottn  dropi  the  breeze,  the  sails  dropt  down^  chia- 
stische  Wiederholung  zimi  Ausdrucke  der  Kausalität  — 
V.  116  Dat/  a/tir  day,  day  after  day,  eine  endlose  Beihe  von 
Tagen!  —  V*  117  Äs  idle  as  a  painted  shij)  /  lipon  a  paintcd 
ocean,  der  Vergleich  mit  einem  Scheinbilde  durch  die 
Betonimg  des  *'painted"  recht  ausgeprägt.  —  V*  119  und 
121  Water,  water,  evcry  whetx.  wie  V.  115  das  Endlose  trefflich 
ausgedrückt.  —  V.  127  About,  about  (=  ^'unaufhörlich  rund- 
herum'*). —  V.  143  imd  145  f  There  passed)  a  wmry  ime,  und 
A  weary  time!  a  weary  timc!  Die  ganze  Strophe  erhält  da- 
durch einen  wahrhaft.  '*müden'^  Ausdruck.  —  V,  149  und  150 


16 


Einleitimg. 


Ai  ßrst  ü  se^med  a  Utile  speck,  /  And  ihm  U  smm^  a  mist : 

rein  emphatisch,  vielleicht  auch  aus  metrischen  Gründen.  — 
V.  151  It  möved  and  moved  (==  '^es  bewegte  sich  immer 
näher")*  —  Dann  V.  153  die  Wiederaufnahme  aller  in  der 
vorigen  Strophe  genannten  Begriffe ;  A  speck,  a  mist,  a  shape, 
I  wisi!  Hoch  pathetisch  mit  der  eindringlichen  Begriffs- 
wiederholung von  151  in  154  (it  ueared  and  urared),  —  V.  161 
And  cried,  A  sail  f  a  saü!  Natürliche  Verdopplung  im  leiden- 
öchaftlicheu  Ausrufe.  —  V.  157  Witli  throats  unslaked,  wiih 
biack  Ups  bakcd,  leitet  eine  Strophe  voller  Dumpflieit  ein, 
die  erst  beim  Änc*  Mar.  durchbrochen  wird :  die  Wiederkehi* 
derselben  Zeile  in  V.  162  bahnt,  die  Hoffiiiing  auch  der 
anderen  Yerzweifelten  an»  —  V.  171  The  westeni  wave  was  all 
aflame,  und  Y.  173/174  Alnwst  upon  tke  tvester^i  tvavc  I  Rested 
the  broad  hrujhi  Sun ;  nur  beim  Untergänge  der  Sonne  (oder 
beim  Aufgange)  war  das  folgende  Phänomen  möglich^  daher 
Betonung  des  westlichen  Horizontes.  —  V.  182  wie  IBl  und 
154.  —  V.  197  Fve  won,  Vve  u-on  wie  V.  161.  ^  Das  ent- 
setzliche stumme  Hinscheiden  der  Genossen  ist  mit  Wieder- 
holung von  Y.  213  Toü  quick  for  gman  or  sigh,  in  etwas 
veränderter  (jrtjstalt  ia  V.  217  (And  I  heard  nor  sit/h  nor 
f/roan)  aus  der  Seele  des  Anc.  Mar.  geschildert.  —  V.  224, 
22B,  228,  230,  345  7  fear  thee,  ancimt  Mariner!  und  ent- 
sprechende Yariationen  führen  uns  deutlich  und  eindringlich 
die  Hei*zensangst  des  Hochzeitsgastes  beim  Anhören  der 
Geschichte,  aber  noch  mehr  beim  Ansehen  des  Erzählers 
vor;  W,  Taylor's  Übersetzung  von  Biü'gers  '^Lenore"  lautet 
in  Strophe  39  --40 : 

Tramp,  tramp,  acroäs  the  lanä  they  sptede; 

Splash,  sptaah,  across  the  see: 

'^Hurrahl  the  dead  can  ride  apace; 

Doat  feare  to  ride  with  me? 

The  moon  is  hnght,  and  blue  the  night; 

Dost  quake  the  blast  to  htein? 

Dost  shudder,  mapdt  to  seeke  the  dead?" 

*No,  nOj  but  whai  of  them?* 

Ein  Nachklingen  dieser  Coleridge  bekannten  Zeilen 
wäre  da  nicht  ausgeschlossen.  —  Y.  226  und  229  Ihy  skinny 
hand:  der  eiserne  Griff  der  sehnigen,  wetterbraimen  Hand 
ist  dem  Hochzeitsgaste  besonders  gi^auenhaft.  —  Y.  232/233 
Alonc,  alone,  all,  all  ahne,  /  Ahne  on  a  wide  wide  seaJ    die 


L  The  Anoient  Mariner. 


17 


Anwendung  weniger  ganz  seb  licht  er,  aber  stets  wiederholter 
Worte  wirkt  bei  ihrer  metrischen  Mannigfaltigkeit  besser 
ab  manche  gesuchte  Ausmalung  der  trostlosen  Öde.  — 
V. 238  a  thousatid  thousand  slhmj  tlnvgs  bloß  zahlverstärkend; 
die  Sache  selbst  ist  unter  geänderten  Verhältnissen  aus 
V,  125  wederholt.  —  V.  240  /  lookcd  upon  (he  roUinff  sea, 
Y,  242  /  looked  upon  ihe  rottintj  deck,  V*  244  /  looked  io 
heavm,  wo  immer  er  hinblickt,  überall  Verzweiflung,  des- 
halb dami  V.  248:  /  chscd  nnj  Uds.  —  V-  250  For  ihe  ski^ 
and  ihe  sect,  and  ihe  sea  and  ihe  sky  die  eintönige  Umgebung 
wird  nicht  abwechslungsreicher,  welche  Reihe  man  auch  in 
ihrer  Betrachtung  einschlägt.  —  V.  255  The  look  with  which 
tfietf  Jöok^d  rm  nie  j  Had  never  passed  awüif.  der  Blick  ist 
tot,  sie  können  mm  nicht  mehr  blicken,  dennoch  bleibt  das 
Besultat  ihres  letzten  Blicken s  noch  immer.  —  V,  257,  260, 
261  curse,  dreimal  wird  vom  Fluche  gesprochen,  aber  jedes- 
mal gesteigert.  —  V.  272  Beyond  ihe  shadow  of  (he  ship  imd 
V.  277  WUhin  ihe  shadotv  of  ihe  ship  die  Farbeneffekte 
wechseln  je  nach  der  Beleuchtung,  natürlich  kann  sie  der 
Änc.  Mar.  nur  in  gewisser  Nähe  beobachten,  der  Schiffk- 
achauen gibt  dies  MaÜ  an.  —  V.  285  und  287  And  l  hlessed 
ihem  uttawart.  Als  eine  Tat-sache,  die  fiii'  die  Entwicklung 
der  Handliuig  so  bedeutsam  ist,  wird  sie  zweimal  genannt.  — 
V.  315  und  316  To  and  fro,  Bild  raschester  Bewegung.  — 
V.  320  one  blnck  cloud  und  V.  322  The  thick  hlack  cioud 
das  zimi  Mondschein  scharf  Kontrastierende  ist  zum  Zwecke 
der  Anknüpfung  des  Folgenden  nochmals  angeführt.  — 
V.  330  The  dead  men  gave  a  gman  ist  in  V,  331  They  groaned 
anknüpfimgsweise  wieder  aufgenommen.  —  V.  354  Aromid, 
aroundf  flew  eaeh  sweet  soundf  wie  V.  127,  —  V.  134  Frotn 
ihe  land  of  mist  and  snow:  mit  der  Erwähnung  des  Geistes 
in  V.  378  und  403  folgt  auch  wieder  dieselbe  Formel  für  sein 
ursprüngliches  Revier.  —  \\  386  und  388  WM  a  shori  uneasy 
nwtion  —  eine  ungewöhnliche  Art.  der  Änfangsbewegung 
eines  Schiffes,  daher  die  besondere  Betonimg.  —  V,  406  und 
407  The  other  was  a  sofier  voice,  j  As  sofi  as  honey-dew :  Wort- 
stammwiederholung, —  V.  406/409  The  man  haih  penancc 
dane,  /  And  penance  more  trili  do.  die  Buße  ist  das  Haupt- 
motiv des  (ranzen,  somit  verdient  sie  auch  die  Hervorhebung 
zweimaliger   wörtlicher  Anführung.  —  V,  410   Bui  ieU  me, 

S  lo  hl  er ,  Tho  Asciont  M  urin  er  u,  Chiitt,  2 


L 


18  Eiuleitimg. 

ieU  me!  gewöhnliche  Verdopplung  neugieriger  Frage.  — 
V,  420  See,  brather  see!  wie  V.  16L  —  V.  426  Fly,  broiher, 
ßy!  more  high,  mare  high!  wie  V.  IGl,  —  V.  428  For  slow  and 
slow  (=s  "immer  langsamer")*  —  V.  432  *Ticas  niglU,  calm  nigM, 
ihe  mooH  was  high,  Wiederhohmg  aus  metrischem  Grimde 
zur  Herstellung  der  Assonanz.  —  V.  433  The  dead  rneti  siood 
togeiher.  wird  zur  neuerlichen  Ausmalung  der  gi'äßlichen 
Gesellschaft  als  Anfangszeile  der  folgenden  Strophe,  Y.  434, 
aufgenommen :  AU  stood  taget  her  on  ihe  decL  —  V.  448  und 
449  And  haviug  once  tumed  round  walks  on,  j  And  turns  no 
more  his  head.  Die  ausfiihrliehei^  Sprache  des  Vergleiches 
würde  auch  in  anderer  poetischer  Umgebung  diese  Wieder- 
holung rechtfertigen.  —  V»  460  Steiftlg,  swißig  und  V.  462 
Sweetlg,  swteUg:  die  freudige  Erregung  des  Matrosen  malt 
sich  in  diesen  unwillkürlichen  Verdopplungen,  —  V*  488 
Each  corse  lag  flai,  lifeless  and  flai :  es  wird  betont,  daß  sie 
nicht  mehi'  dastanden  (vgl.  V.  433/434),  was  ja  den  Anc, 
Mar»  SU  entsetzt  hatte.  —  V.  492  Thts  seraph-band^  euch 
waved  his  hand:  ist  als  wunderbare  Erscheinung  auch  als 
Anfang  der  folgenden  Strophe,  V.  496^  wiederholt.  — 
V,  497/498  No  wice  did  titeg  impari  —  /  No  voice:  bui  oh! 
the  sitence  sank,...  einen  Fluch  aus  dem  Munde  dieser 
Engelsgestalten  zu  hören,  wäre  das  Schrecklichste  gewesen, 
daher  ist  das  Schweigen  zweimal  negativ  und  einmal  positiv 
genannt.  —  V,  500/501/506  /  heard  etc.  steht  als  das 
Vernehmen  menschlicher  Tone  im  grellsten  Gegensatze 
hiezu  und  verdient  deshalb  auch  mehrmalige  besondere 
Anführung.  —  V.  530  How  thin  ihey  are  and  sere!  greift 
V.  312  auf,  indem  mit  großer  Berechtigung  auch  dieses 
Zeichen  luierhörter  Mühsalen  wieder  in  derselben  Form  vom 
Dichter  erwähnt  wird.  —  V,  540  "Fush  an,  ptish  on!'*  wie 
V.  161-  —  V-  542  The  hoat  canu  closer  to  the  ship,  kehrt 
verstärkt  in  V.  B44  wieder:  The  hoat  tarne  dose  beneath  ihe 
ship*  —  V.  557  The  hoat  spun  round  and  round:  wie  V.  127.  — 
V.  674  0  shrieve  mCf  skrieve  mc,  holg  man!  wie  V.  161.  — 
V*  579  With  a  woful  agong,  ist  als  dauernder  Fluch  jenes 
Abenteuers,  der  ihn  auch  jetzt  wieder  gebannt  hat.  in 
V.  583  Thai  agmig  retums:  aufgegriffen,  —  V,  598  Alone  on 
a  Wide  wide  sea:  =  V.  233.  --  V.  GOl/602  0  sweettr  ihan  the 
marria4j€'feast,  /  *T  is  sweeter  far   io  me,  einfach  rhetorische 


1.  The  Ancient  Mariner.  19 

Wiederholung.  —  V.  603  To  walk  together  to  the  kirk  nur 
der  fromme  Kirchgang  zum  Gebete  zieht  den  Anc.  Mar. 
an,  nicht  Festlichkeiten,  daher  wiederholt  er  den  Ausdruck 
wörtlich  in  V.  605  und  erläutert  ihn.  —  V.  610  Farewell, 
farewdl!  wie  V.  161.  —  V.  612/614/616/617  He  prayeth  well, 
who  loveth  well  und  sonst  loveth  betont  die  Tierliebe  als 
höchste  Tugend  vielleicht  in  etwas  zu  hohem  Grade.  — 
Durch  Bürgers  Einfluß  mag  derjenige  der  englischen  Balladen 
in  dieser  Hinsicht  in  Col.  wachgerufen  worden  sein;  das 
Neubeleben  längst  vorübergegangener  Bilder  paßt  so  recht 
in  das  Übernatürliche  der  Erzählung  hinein.  Diese  "ab- 
sichtliche, gepreßte  Eintönigkeit",  wie  sie  Brandl  schon  für 
''Lewti"  nachgewiesen  hat  (S.  202),  muß  hier,  zur  Meister- 
schaft entwickelt,  bei  kunstgemäßem  Vortrage  den  Zuhörer 
in  den  magischen  Kreis  hineinziehen. 

Die  Technik  ist,  wie  schon  bemerkt,  sprunghaft: 
durch  die  glückliche  Einkleidung  des  Ganzen  in  einen 
großen  Monolog  werden  wir  in  medias  res  gefuhrt;  die 
zuhörende  Person  dabei  wahrt  den  dramatischen  Charakter 
der  Szene,  greift  aber  natürlich  nicht  in  die  Entwicklung 
ein.  Die  Einteilung  in  7  Abschnitte  ist  bis  zum  5.  mit  Bedacht 
an  Stellen  getroffen,  die  einen  abgerissenen,  spannenden 
Schluß  bilden;  der  Übergang  vom  5.  zum  6.  ist  dagegen 
sehr  leicht.  Der  6.  Teil  schließt  mit  der  Hoffiiung  auf  die 
Beichte  gut  ab,  während  im  7.  das  Rettungswerk  an  Leib 
und  Seele  des  Anc.  Mar.  beginnt. 


2* 


2.  ChristabeL 

Entstehvmg  und  Aufnahme. 

Üter  das  Werden  des  Märchens  sind  wir  nur  unsicher 
'"bezüglich  näherer  Umstände  luiterrichtet.  CoL  schreibt  in 
der  Preface  zur  ersten  Ausgabe:  " The ßrst  jHirt  of  the  joUowing 
poeni  was  writim  in  tJie  year  one  thousand  seven  hundred  and 
fiinety-sei^mf  ai  Stöt4^et/,  in  the  country  of  Sanier  sei.  The  secand 
pari,  aßcr  nitf  retum  from  Germany,  in  Ote  year  one  thousand 
elght  hundred,  ai  Kcswick,  Cumberland.*'  Arn  18.  Februar  1798 
gab  er  dem  Verleger  Cottle  Nachiicht  von  der  Fertigstelhmg 
einer  340  Verse  iimfassenden  Ballade,  was  Brandl  auf  Christ, 
bezieht  ( natürlich  Part  I  -\-  Conclusion  in  Pt.  L  =  331  Verse). 
Das  Werk  soUte  in  einem  zweiten  Bande  der  Lyr,  BalL  er- 
scheinen^  aber  Wo.  mußte  dem  Drucker  nach  einem  Versuche, 
CoL  zur  Beendigung  des  Gedichtes  zu  bewegen,  am  10.  Ok- 
tober 1800  endgültig  mitteilen^  daß  Christ,  nicht  mitgedruckt 
werde ^).  (Ausführliche  Korrespondenz  Ca.  pp.  601 — ^602.) 
Merkwürdigerweise  besitzen  wir  aber  vom  9.  Oktober,  also 
einen  Tag  vor  dem  Datum  des  letzten  Briefes  Wo.^s  an  die 
Druckerei,  eine  Nachricht  Col.'s  (abgedr.  in  Fragmentary 
Remarks  of  Sir  ffmry  Davy,  p.  S2),  wo  er  berichtet,  Christ 
sei  auf  1300  Verse  angewachsen.  Er  spricht  davon,  daß 
Wo.  aus  verschiedenen  Gründen  Christ,  nicht  in  den  Lyr* 
Ball,  erscheioeo  lassen  wolle,  daß  aber  geplant  sei,  Christ. 
und  Wo. 's  Gedicht  *'The  Pedlar"  gesondert  in  einem  Bande 
zu  veröffentlichen.  —  Fünf  Tage  später  schreibt  Col.  an 
Poole,  daß  ihn  die  Vollendung  von  Christ,  fiir  den  zweiten 
Band  der  Lyr.  Bali,  sein-  beschäftigt  habe,  das  Werk  sei 
auf  1400  Verse  angeschwollen,  —  Am  1.  November  1800 
schreibt  er  dann  an  Josiah  Wedgwood  (Cottle,  Rem.,  439), 
daß  er  unmittelbar  nach  seiner  Ankunft  im  Seedistrikte  die 
Geschichte  von  Christ,,  for  den  zweiten  Band  der  Lyr.  BalL 


*)  Vgl.  Miss  Wo.,  Grasmere  Journah,  Od,  €,  1800:  ''Detemiined  not 
io  pnni  Christ,  icith  L,  B.' 


Einleitung.   2.  ChristAbel. 


21 


^V    SU   beenden   unternommen   habe !    Er   habe    versucht,   geiu 
I  Versprechen  (!)  zu   halten,   aber  die   mißmutige  Stimmung, 

^H  die  der  "verfluchte  Wallenstein"  in  ihm  zurückgelassen* 
^^f  scheine  ihn  mit  Unfruchtbarkeit  geschlagen  zu  haben.  Alle 
landschaftlichen  Reize  hätten  ihn  nicht  zur  Produktion 
begeistern  können,  bis  er  eines  Tages  bei  einem  Geistlichen 
zu  Tische  geladen  wurde  und  so  gewaltig  zechte,  daß  er 
Not  hatte,  *'io  halance  mtjsdf  on  the  hitlier  edge  of  sobrkty'*. 
Und  siehe  da,  am  andern  Tage  konnte  er  wieder  dichten! 
Das  Werk  wurde  gefordert  und  erreichte  nach  Wo.'s  Meinung 
einen  solchen  Umfang  und  so  große  dichterische  Kraft,  daß 
dieser  davon  Abstand  genommen  habe,  es  in  dem  zweiten 
Bande  der  Xyr.  BalL  |denn  der  ist  doch  wohl  gemeint]  zu 
drucken,  weil  es  zu  umfangreich  und  andererseits  zu  ver- 
schieden im  Charakter  von  den  anderen  eigenen  Ge- 
dichten sei, 

Nicht  genug  also,  daß  Col.  das  Gedicht  bis  zu  1400  Versen 
gebracht  haben  will,  dichtet  er  noch  weiter  daran!  Jetzt 
Tunfaßt  dagegen  der  gedruckte  Text  bloß  677  Verse  und 
auch  keine  Handschrift  bietet  mehr.  Hier  müssen  Vermutungen 
aushelfen.  Wii*  dürfen  annehmen  (s.  u,  S.  28/29),  daß  Col. 
sich  über  die  Anlage  des  Werkes  vollkommen  klai-  war;  sollte 
er  sich  da  nicht  einen  Entwurf  in  rasch  skizzierten  Versen 
gemacht  haben  (denn  nur  ein  schrit\lich  aulgezeichnetes 
Oedicht  kann  man  nach  Versen  zählen  i,  den  er  aber  aus 
irgend  welchen  Gründen  für  unpassend  hielt  und  selbst  den 
Freunden  gegenüber  unterdrückte?  Wo.*s  nüchternes  Wesen 
hatte  ihn  schon  von  der  Vollendung  se\u&v  *'Wanderuigs  of 
Cain'  zurückgehalten,  eine  leise  Verstimmung  mußte  zwischen 
den  beiden  seit  der  ersten  Ausgabe  der  Lyr,  BalL  über  diesen 
Punkt  heri-schen,  die  auf  Seite  Wo/s  diesmal  durch  das 
ewige  Hinausziehen  Col/s  noch  genährt  wui*de.  Da  kann 
man  unter  den  gegebenen  Umständen  doch  wohl  nur  diese 
eine  Hypothese  aufstellen,  daß  nämlich  Coh  nur  Fertiges 
und  nach  eigenstem  Ermessen  Gutes  liefern  wollte  und  ohne 
Vorwissen  des  Freundes,  nach  Vernichtung  der  oben  an- 
gedeuteten Versuche  /das  wären  also  die  1300  oder  HOOVerse), 
heimlich  noch  foitzuarbeiten  suchte,  ohne  fi^eilich  sem  Ziel 
zu  erreichen.  Anders  ist  über  diese  Schwierigkeiten  kaum 
hinwegzukommen. 


Einleitimg. 


Den  Plan,  die  Ballade  zu  beenden,  gab  CoL  nicht  auf, 
obwohl  ihn  »ein  jetzt  in  höchster  Blüte  stehender  Opiimi- 
gennß  an  poetischer  Ausarbeitung  jeder  Art  fast  ganz 
hinderte.  Jänner  1801  schreibt  er  an  Cottle,  er  hoffe 
Christ  bald  zu  beenden,  wenn  er  nur  erst  eine  pflichtmäßige 
Arbeit,  die  ungenannt  bleibt,  beendet  habe  ;  März  desselben 
Jahres,  voll  froher  Hoflfiiung  abermals:  es  soll  nächstens 
fertig  sein  und  mit  zwei  Abhandlungen  über  das  **Uber- 
natürliche"  und  über  **Metrik''  sofort  gedruckt  werden. 
Er  sahnt  sich  danach»  e^  gedruckt  zu  sehen.  (Man  kann 
sich  eines  tiefen  Mitleids  mit  dem  kranken  Manne  nicht 
erwehi'en,  wenn  man  diese  Sehnsucht  sieht,  etwas  zu  leisten, 
und  bedenkt,  daU  sein  körperliches  Leiden,  der  Rheuma- 
tismus, ihn  zu  dem  unseligen  Opium  als  Betäubungsmittel 
greifen  Heß,  das  ihn  jetzt  so  unfähig  zu  dichterischem 
Schaffen  machte,  da  die  reizbare  Wirkung  während  des 
Traumes  nun  einer  allgemeinen  Erschlaffimg  gewichen  war.) 
Das  bereits  Abgeschlossene  jedoch  trug  der  Dichter  mit 
seinem  großartigen  Pathos  den  Freunden  bereitwillig 
vorJ)  Damals  düi*fte  auch  Stoddard  nach  Ca/s  Annahme 
eine  Abschiift  von  der  Ballade  erhalten  haben,  die  er  dann 
Walter  Scott  vortrug,  1801  hofft.  Col.  in  Briefen  an  Poole 
und  Davy,  zxir  Bezahlung  von  Schulden  ChHsL  in  Druck 
legen  zu  können*  Am  1.  Mai  1808  schreibt  dann  wieder 
Davy  an  Poole,  daß  CoL,  als  er  von  einem  Besuche  bei 
Jos.  Wedgwood  in  Gxmville  über  London  nach  Hause  zurück- 
kehrte, in  der  Hauptstadt  das  unvollendete  Gedicht  wieder 
vorgelesen  habe,  wie  er  (DavyJ  es  schon  gehört  habe,  mit 
der  traurigen  Anmerkung:  '*fns  will  is  probabfy  less  ihan  cver 
aimmmsurcUe  wHh  his  ahUity*'.  fBrandl  vermutet,  daß  Scott 
damals  erst  das  Märchen  kennen  gelernt  habe,  es  düi*lte 
aber  bei  Ca/s  Annalime  verbleiben,  daß  Scott  durch  Stoddard 
schon  irüher  damit  bekannt  wurde.)  Mss,  des  Gedichtet 
zii'kulierten  allenthalben  unter  den  bekannten  Literaten. 
Jeffi'ey,  Herausgeber  der  EtUnburgh  Retnew,  besuchte  Col. 
im  Sommer  1810  und    der  Dichter  las   ihm   das  Fragment 


^)   Oftwnere  Jaumalg,   Aufi,   31,    1800:   "CoL   reading   a   part  of 

Chris C  —  Ihid,  Od.  4 :  ''Extremehj  deltghUd  with  second  Part  of  Chris t" 
—  ibid.  Oct.  5;  "Col,  read.  Christ,  a  second  time;  ice  had  increading 
phaaure:'  —  rbid,  OcLH2:  "CoL  reading  Christ' 


vor.  Im  Jahre  1811,  als  Col.  seinen  ersten  Vorlesungs- 
zyklus in  London  abhielt,  hörten  Rogers  und  B;yTon  diese 
epochemachenden  Vorträge;  um  diese  Zeit  hörte  Byron 
auch  Christ,  vom  Dichter  rezitiert»  Infolge  seiner  Empfehlung 
übe ni ahm  MiUTay  mm  auch  den  Druck  von  *^ Christ,,  Kuhht 
Khfw  and  The  Pains  of  Sleep'\  1816»  drei  Fragmente,  eine 
charakteristische  Publikation  für  den  fragmentarischen 
Dichter  I  In  der  Einleitung  verspricht  Col  zuversichtlich, 
noch  drei  Teile  im  Laufe  dieses  Jahres  zu  veröffentlichen. 
Er  gibt  in  dieser  Preface  sonst  noch  die  Daten  des  Ent- 
stehens der  Ballade  an,  beklagt,  daß  er  seit  1800  nicht  mehr 
dichterisch  schaffen  könne,  was  sich  allerdings  in  letzterer 
Zeit  wieder  gebessert  habe.  Er  gibt  sich  gar  keiner  großen 
Hoönimgen  bezüglich  der  Auinahm©  des  Gedichtes  hin,  das 
damals  (1800)  wohl  viel  mehr  gewirkt  hätte,  aber  das  sei 
nur  seine  eigene  Schuld.  Dann  verwahrt,  er  sich  ernstUch 
gegen  den  Vonvurf  des  Plagiats,  wie  ihn  gewisse  Kritiker 
gam  zu  erheben  pflegen;  gesteht  aber  bereitwillig  Be- 
einflussung in  Ton  und  Geist  der  Dichtung  zxi.  Er  schlieft 
mit  einer  Charakteristik  seines  Metnuns  (s.  den  betreffenden 
Abschnitt).  In  der  Gesamtausgabe  von  1828  ändeite  CoL 
in  dieser  Preface  das  gegebene  Versprechen  ab:  *'/  imst 
I  shall  tftt  be  ahle  to  tmhodfj  in  verse  the  three  parts  yet  to 
com(*y    1834  strichen  die  Freunde  diesen  Passus  ganz. 

Um  den  Aufbau  des  Märchenfragmentes  voll  zu  würdigen, 
ist  es  zunächst  nötig,  die  uns  nach  eigenen  Mitteilungen  des 
Dichters  in  Gillmans  ''Life  of  Coi:\  pp.  HOl — ^^/.7  auf- 
bewahrte Prosafortsetzung  kennen  zu  lernen  {wiederabgedr. 
Ca.  p.  604): 

**Der  Barde  eilt»  seinem  Auftrage  gemÄß,  mit  seinem  Pagen  über 
die  B^ge;  eine  tmgeUeuere  Überschwemmung,  wie  sie  häufig  in  diesen 
Strichen  vorkomtneu  »ollen,  hat  das  Schloß  des  angeblichen  Vaters 
Oeraldinens  vollkommen  von  der  Erde  weggefegt,  weshalb  der  Barde 
nrnznlcehren  beschlielit.  Geraldine,  die  mit  allen  Ereignissen  bekannt 
iät,  wie  die  Hexen  in  Maxiheih,  verschwindet.  Daim  aber  tancht  sie 
wieder  aul*  und  schürt  in  Sir  Leoline  durch  Zaiiberküns^te  Groll  und 
Eifersucht  (wie  wir  ja  schon  einen  Ausbruch  dieser  Leidenschaften 
1m!j  ihm  Ijeobachten  konnteu).  AI»  aber  nun  der  Barde  wu^klich  anlangt. 
Uiuli  Geraldine  verschwindeu,  jedoch  der  Diimon,  der  diese  Gestalt 
angenommen  hat,  wechselt  nun  sein  Kleid;  er  erscheint  als  der  ab- 
wesend gedachte  Liebhaber  Christabels.  Diese  fühlt  sich  in  der 
G606ilSGhaft    des   sonst   so   geliebten   MonneH  jetzt   merkwürdig   be- 


EinleituDg. 


klommen.  Ihre  ktihle  Haltung  ist  ihrem  Vater  sehr  peiDlichi  da  er 
natürlich  ebensowenig  wie  seine  Tochter  von  der  dämonischen  Um- 
wandlung etwas  ahnt.  Christabel  gibt  dann  endlich  den  Drohungen 
ihres  V^aters  nach  und  willigt  ein,  mit  dem  verhauten  Bewerber  vor 
den  Altar  zu  treten.  Im  Aitgenblicke  der  Trauung  jedoch  erscheint 
der  wirkliche  Bräutigam,  der  durch  Vorweisen  des  Verlob iingsrtnges 
als  echt  erkannt  wird>  Der  Dämon  entzieht  sich  nun  dieser  Entdeckung 
und  Niederlage  durch  schleunige  Flucht.  Wie  im  ersten  Teile  erwähnt 
worden  ist,  tönt  nun  die  Burgglocke,  die  Stimme  der  verstorbenen 
Mutter  wird  vernommen  und  die  Ehe  whd  in  richtiger  Weise  geschlossen- 
Eine  Autkläi'xing  zwischen  Vat-er  und  Tochter  und  nattlrlich  vollkommene 
Versöhnung  beschließt  dann  das  Ganze/' 

Dieser  Entwurf  liir  zw^ei  (niclit  drei)  weitere  Teile  fügt 
sich  völlig  passend  an  den  erhaltenen  Torso  an,  so  daß  bei 
der  Betrachtimg  der  Leitmotive  Greplantes  und  Vorhandenes 
zusammengefaßt  werden  kann. 

Die  literarische  Hanptquelle  ist  Speiisers  **Faery  Queen", 
ChrisL  ist  das  Abbild  der  üna,  der  Bepräsentantin  des 
wahren  Glaubens,  der  Paradieses-Erbin.  Der  Red  Cross  Knighi 
läßt  sie,  vom  bösen  Geiste  verführt,  im  Walde  schlafend 
allein  und  nun  sucht  sie  kummei'vollen  Herzens  ihren 
Geliebten,  Geraldinv,  das  dämonische  Wesen,  entspricht 
genau  der  Dmssa  Speusers,  die  unter  dem  falschen  Namen 
tHdessa  als  einzige  Tochter  eines  mächtigen  Kitters  an  den 
GelieT>ten  der  Üna  herantritt  und  seine  Liebe  zu  gewinnen 
sucht.  Sie  ist  bei  Spenser  die  Repräsentantin  des  katholischen 
Unglaubens,  äußerlich  schön,  aber  unten  eine  scheußliche 
Mißbildung  (I,  240:  I  channst  to  see  her  in  her  proper  hew  j 
Ä  ßUhj  foul  old  woman  did  I  view  u.  ä.).  Auch  sie  tritt  im 
Walde  aufj  heiTÜch  gekleidet  und  reich  mit  Edelsteinen  und 
anderem  Schmucke  geziert,.  Es  ist  die  Gestalt  der  in  allen 
mittelalterlichen  Literaturen  bekannten  *"Pi'Oteus-Elfin'y)  das 
vom  oder  oben  prangende,  aber  hinten  oder  unten  scheußlich 
mißgebildete  Weib.  Der  Kampf  zwischen  dieser  Teufelin  tind 
der  wehrlosen  Unsehidd  ist  —  allerdings  ohne  Allegorie  — 
(nach  Brandl)  das  Hauptthema  des  Märchens;  die  kleine 
Verschiebung  in  Christ,,  daß  der  Vater  zunächst  das  Streit- 
objekt der  beiden  bildet,  schreibt  Brandl  dem  EinHusse 
der  Hallade  '*The  Marriage  oj  Sir  Gawayn"  (Percy^  Mel,  III J 
zu,   wo  auch   eine  Unholdin   im  Walde   die  Heldin 


. 


1)  Vgh  E.  Schmidt,  Goüthe-Jb.,  HI,  120 f. 


2.  ClmstabeK 


2& 


und  dann  deren  alten  Vater  zum  Geliebten  zu  gewinnen 
sucht.  In  der  Fortsetzung  des  Märchens  hätte  Col.  dann 
das  urspningliche  Motiv  wieder  aufgenommen  (wie  Archi- 
mago  bei  Spenser  m  der  Gestalt  des  Geliebten  die  Heldin 
peinigt,  hätte  dann  ja  auch  hier  der  Dämon  als  Christ/s 
Bräutigam  auftreten  sollen).  Ein  christliches  Märt.jrermotiv 
aus  Chrashaw,  ''Hijmn  ia  Si,  Theresa*',  soll  Anstoß  zur  Idee 
des  ganzen  Gedichtes  gegeben  haben;  doch  vgl.  hiezu  Ca. 
p.  606  b,  und  hier  zu  V,  332. 

Die  Natnrschilderung  zu  Beginn,  welche  uns  in  romanti- 
sche Stimmung  versetzt:  Mitternacht  —  Eulenkrächzen  — 
Krähen  des  erwachenden  Hahnes  —  Heulen  des  Hundes  — 
halbdunkle  Nacht  mit  tmbem  Mondschein  imd  der  erwachende 
Lenz  ~  stammen  nach  Brandl  aus  Wo/s  ^'Descripiive  Skeiches'^ 
Ich  möchte  aber  auf  die  nicht  allzu  gi'oße  Ahnliclikeit  von 
V.  186 — 195  dieses  Gedichtes  weniger  Gewicht  legen  als  auf 
andere  literarische  Vorbilder.  Die  schauerliche  Turmszen«^ 
von  Schillers  '*Iiäubern*'  mag  nachgewirkt  haben,  deren 
Lokale  ja  auch  zu  dem  hier  geschilderten  stimmt J)  —  Das 
folgende  Motiv  ist,  wie  erwähnt^  in  genauester  Entsprechung 
aus  **Faert/  Queen'\  L,  3^  3 — 5  herübergenornmen,  nur  dali 
Geraldine,  wie  die  Heldin  der  von  Brandl  angezogenen 
Skizzen  Wo/s,  sich  schon  müde  imd  verlassen  im  Walde 
aufiiält^  nicht  erst  wie  die  Duessa  iSpensers  in  pomphafter 
Begleitung  ankommt.  Zum  Eingang  vergleicht  Brandl  auch 
noch  '*Midsufntncnufjht's  Ih'cum*\  wobei  er  jedenfalls  die 
SchhiiJverse :  *'Nor  the  Inmgry  lion  roars  etc.''  im  Auge  hat. 
Diese  Übereinstinnnimg  ist  auch  ziemlich  klar;  nur  ver-- 
stehe  ich  nicht,  was  Brandl  meiut^  wenn  er  sagt:  *'CoL 
ließ  das  eine  Tier  den  Mond  anbellen,  das  an- 
dere an  ein  Leichentuch  denken.''  Es  ist  doch 
hier  nur  von  einem  einzigen  Hund  die  Hede,  der  der  Turm- 
uhr nachbellt,  und  dafür  wird  als  Grund  angegeben:  "einige 
sagen»  er  sieht  der  Dame  Leichentuch'*.  Es  folgt,  sodann 
die  Auflindung  Geraldtnens,  die  im  schönsten  Schmucke 
und    Unschuld  weißen    Kleide    auftritt,    bescheiden    flehend 


i)  YgL  Col.'s  Anni.  zum  Sonette  **To  the  Author  of  the  Robber»" 
fPoeim,  1796),  wo  er  den  schauerlichen  Eindruck  »childert,  den  dieses 
Drama  bei  der  erst-en  Lektüre  in  yeiiier  Studentenzeit  tum  Mitternacht I) 
ihn  machte. 


EinleitnDg. 


(F,  Q,,  7,  5,  2t)  und  ihre  Geschichte  erzählend :  die  fingierte 
Entfiihmngsgesehichte  mit  dem  rasenden  Ritt  durch  den 
nächtlichen  Wald  und  der  Ohnmacht  am  Schlüsse  erinnert 
ganz  augenfällig  au  Lenorens  Todesritt.  Die  Begegnung 
mit  dem  Leichenzuge  in  Bürgers  Ciedicht  ist,  wie  Brandl 
annimmt,  durch  den  Zug  **and  Ofwe  we  crossed  ihc  shade  of 
night*"  ersetzt;  mir  scheint  jedoch  eine  andere  Parallele  ein- 
leuchtender, nämlich  aus  Col.'s  erster  Ballade  '^Tke  Rav€fi^> 
Da  heißt  es  V.  42  [''Bitjht  tjlad  was  (he  Raven,  and  off  he 
tvmt  ßeetj  Attd  Death  riding  harne  m  a  elöud  he  dkl  meet'\ 
Ich  meine,  the  shade  of  night  ist  doch  leichter  mit  einem 
Todesengel  als  mit  einem  Leichenzuge  zu  verwechseln.  — 
Für  die  Szene  des  Eintretens  und  Wand  eins  im  Schlosse 
sind  aus  inneren  und  äußeren  Ähnlichkeiten  Einflüsse  durch 
Mrs,  Radcliffes  ''Itomancs  of  the  Forest"  (mit  Brandl)  anzu- 
nehmen: die  äußere  Lage,  die  Beschreibung  des  Tores; 
dann  die  Bewohner :  ein  mümscher  Alter  und  ein  schönes, 
.sanftes  Töchterlein,  das  früh  die  teure  Mutter  verloren  hat* 
—  Auf  altem  Aberglauben  beruht  der  Zug,  daß  die  Teu- 
felin sich  über  die  Schwelle  tragen  läßt:  übei*schritte  sie 
diese,  so  wäre  ihre  Krall  nicht  mächtig;  auch  ein  Motiv 
des  Aberglaubens  ist  es,  wenn  Geraldine  den  Namen  der 
heiligen  Jungfrau  nicht  aussprechen  kann:  die  Geister  der 
Hölle  scheuen  sich,  die  göttlichen  Wesen  auch  nur  zu 
nennen !  Auf  der  bereits  einmal  zitierten  Ballade  von  Lewis 
"'Alonzo  the  Bmve  and  Fair  Iwof/efi"  soll  das  Aufflackeni 
der  Kaminflamme  und  das  Anschlagen  des  Hundes  beim 
Vorübergehen  der  Hexe  beruhen;  die  Züge  können  wohl 
auch  direkt  aus  volkstümlicher  Überliefenmg  stammen.  — 
Das  leise  Äutlreten  im  Schlosse  wird  sehr  glücklich  motiviei-t 
durch  die  Kränklichkeit  des  Barons:  dieser  Zug  findet  sich 
m  Mrs.  BadcUtfes  '*The  Mpsleries  of  Udolpho"  (1794)  und 
ist  sicherlich  daraus  von  Col.  entlehnt.  Er  gibt  ihm  auch 
eine  weitere  Motivierung  an  die  Hand:  niimUch  die  der 
Entdeckung  der  schändlichen  Gestalt  Geraldinens,  Sie  muß, 
da  alles  Geräusch  vermieden  wird,  in  dieser  ersten  Nacht 
bei  Christ,  schlafen  und  beim  Auskleiden  erfolgt  dann  diese 
Entdeckung  (bei  Spenser  durch  ein  Bad).  Auch  die  Er- 
regung der  Spannung,  worin  der  entsetzliche  Anblick 
eigentlich   bestanden   hat,  ist   in  dem  erwähnten  Eadcliffe- 


; 


2.  Christabel. 


27 


■ 


Werke  mit  großer  Wirkung  angewendet :  die  Heldin 
findet  da  in  einem  entlegenen  Zimmer  ein  verhülltes 
Gemälde:  als  sie  den  Schleier  lüftet  sinkt  sie  in  Ohnmacht; 
erst  gegen  Ende  hören  wir^  dail  es  das  Wachsbild  einer 
haibverianlten  Leiche  war  (Brandl).  Sicher  hat  CoL  hier 
abgelernt;  im  Fragmente  erftihren  wir  ja  nichts  über  die 
Art  des  Anblickes^  er  soll  uns  erst  am  Schlüsse  verraten 
werden  (vgl.  aber  Lesarten,  248 iE).  —  Im  Augenblicke,  wo 
Geraldine  ihren  Zauber  raunt  und  Christabel  (a,  Concluslon) 
in  eine  Art  StaiTkrampf  verfällt,  bricht  der  erste  Teil  mit 
gut  berechneter  Pointe  ab.  Der  ''Schluß--  läßt  die  Motive 
noch  einmal  kur^  erklingen.  ~  Zu  dieser  kurzen  Dai'- 
stellung,  die  sich  im  wesentÜchen  an  Brandls  vorzüghehe 
Analyse  anschließt,  trage  ich  noch  einen  von  ihm  nicht 
enn'ähnten  Zug  nach.  Als  die  tote  Mutter  als  Schutzgeist 
in  der  Kemenate  erscheint,  erblickt  ihn  nur  Geraldine.  Da 
muß  entweder  an  eine  höhere  ünterscheidun^sgabe  des 
Geisterwesens  oder  an  lit.  Einfluß  der  Hamletszene  gedacht 
werden,  wo  auch  Hamlet  allein  den  Geist  des  Vaters,  den 
er  im  Gespräch  mit  der  Mutter  unabsichtlich  zitiert  hat, 
erschaut j  oder  an  Bau^^uos  Geist  beim  Festmahle.  Letztere 
Ani'egung  ist  bei  den  maDnigfachen  Anklängen  an  Macbeth 
sehr  naheliegend. 

Der  zweite  Teil  weist  starke  Stilunterschiede  vom 
ersten  aiii*.  Das  Scliloß  liegt  jetzt  ganz  bestimmt  lokalisiert: 
im  Seedistrikte  (vgl.  Komm,  zu  344  n,  a.).  CoL  war  aus 
dem  Märchenhaften  etwas  hemusgetreten.  Doch  sind  noch 
etliche  magische  Züge  hinzugekommen:  die  ßezauberung 
des  Vaters  durch  Geraldinens  berückende  Augen,  die 
Christabel  als  Schlangenaugen  erscheinen.  Ähnliche  Augen 
schildert  CoL  in  Kuhla  Khan  (V.  49)  bei  dem  Propheten, 
und  zwingend,  allerdings  nicht  zu  bösem  Werke,  ist  ja 
auch  des  **alten  Matrosen''  Blick.  Ein  retaniierendes  Moment 
in  der  Erzählung,  schwächer  in  der  Wirkung,  ist  die 
Wiederholung  des  im  ersten  Teile  bereite  ausgeführten 
Gedankens :  Christabel  in  den  Krallen  einer  heuchlerischen 
Hexe,  wie  wir  ihn  jetzt  als  Traum  des  plötzlich  unvermutet 
auftretenden  Barden  hören,  —  an  sich  allerdings  ein  schönes 
Bild.  Die  schönen  Verse  auf  die  Freundschaft  beruhen  wohl 
ÄTif  dem  gestörten  Verhältnis  CoL's  zu  Southey.  Allgemein 


Emleitnug. 

menschliche  Töne  werden  angeschlageu,  philosophiache 
Abhandlungen  drängen  sich  in  der  Coucludiou  to  Pari  Ute 
Secofid  ein :  die  Märchenstiiomiing  schwindet  schon  stellen- 
weise, und  mit  Brand!  dürfen  wir  wold  sagen,  "es  ist  ein 
Glück,  daß  Christ,  ein  Fragment  geblieben'^  denn  die 
Fortsetzung  wäre  wohl  noch  mehr  ins  Philosophisch- 
nücht'eme  hineingeraten.  Vielleicht  hätte  es  damit  ja  zur 
Zeit  des  Erscheinens  einen  großen  Erfolg  erzielt,  denn  die 
Kritik  tat  sehr  ^'aufgekläit'^  als  181G  das  von  denen,  die 
es  vorgelesen  gehört  hatten,  so  hoch  gepriesene  Märchen 
endlich  erschien.  Die  Monthly  Ret^ietc  und  Edinhargk  Bevieic 
(Th.  Moore!)  machten  es  in  den  schärfsten  Ausdi"ücken 
herunter  und  die  Quarierly  JRemew  weigerte  sich  zuerst 
überhaupt,  es  zu  besprechen.  Die  Bewunderung  Lambs  und 
anderer  Freunde  konnte  Col.  für  diese  Gehässigkeiten  und 
die  kühle  Haltung  Scotts  nicht  entschädigen  (vgl.  Brandl, 
S.  385  ff).  Für  den  Augenblick  bedeutete  die  schlechte 
Aufiiahme  auch  einen  materieEen  Mißerfolg  für  Col.,  indem 
Mmray,  obwohl  die  Ballade  noch  im  selben  Jahre  ein 
zweites  Mal  aufgelegt  werden  konnte,  sich  von  Col,  zurück* 
zog,  und  dieser  hätte  gerade  jetzt  notwendig  einen  Ver- 
leger für  seine  philosophischen  Schriften  gebraucht. 

Immer  wieder  versuchte  CoL  übrigens,  Christ,  zu  beenden; 
noch  Jänner  1821,  als  schon  eijie  Fortsetzung  von  anderer 
Hand  1819  in  Blackwood' s  Magazine  erschienen  war,  schreibt  H 
er  an  Allsop:  *'I  trould  fainfinish  Christahel.*'  Im  Gegensatze  " 
zu  des  Dichters  eigener  Prosafortsetzung,  wie  sie  uns  Gill- 
man  überb'efert,  äußerte  sich  Wo.  gegenüber  dem  Neffen 
Justii:e  Coleridge  im  Jahre  1836,  daß  Col.  überhaupt  keinen 
bestimmten  Plan  vor  Augen  gehabt  habe,  wenn  er  selber 
auch  davon  gesprochen  habe;  denn  das  sei  bei  ihm  ge- 
wöhnlich so  gewesen :  es  fuhr  ihm  ein  Gedanke  zur  Aus- 
führung eines  Werkes  durch  den  Sinn,  und  zwar  mit  solcher 
Lebhaftigkeit  imd  doch  auch  mit  Nachhaltigkeit,  daß  er 
dann  glaubte,  es  sei  wirklich  schon  ausgeführt,  wm  in  der 
Tat  vielleicht  erst  den  Keim  zu  einer  Arbeit  in  sich  barg. — 
Wo»  tut  seinem  kranken  Freunde  hier  entschieden  unrecht; 
hätte  auch  er  selbst  uns  nicht  wiederholt,  noch  im  Table 
Talk  1833,  versichert,  daß  er  einen  klaren  Gang  der  Er- 
zählung vor  Augen  hatte  und  nur  aus  Mangel  dichterischer 


2.  ChristabeL 


S» 


SoWHWBfreucie  die  Atisarbeitung  unterließ,   so    kann  doch 
Gillmans  Bericht  nicht  aus  der  Luft  gegriffen  sein. 

Abschließend  kami  mau  über  die  Ballade  ebenso  wie 
über  den  Afic.  3far.  nur  dann  urteilen,  wenn  man  sich 
nüchterner  Verständlichkeit  begibt:  denn  sonst  kann  man 
das  mitteraächtliche  Beten  des  einsamen  schönen  Burg- 
frauleins  im  Walde  nicht  begi*eifen;  das  Auftauchen  des 
Barden  erscheint  dann  ganz  unmotiviert;  nicht  zu  reden 
von  den  vielen  Einzelzügen,  in  denen  die  Unwahrscheinlich- 
keit  im  gewöhnlichen  Sinne  auf  der  Hand  Hegt.  Wir  müssen 
uns   hier   eben   unmittelbar   auf  den   Boden   des   Märchens 

len»  das  uns  hier,  glückhcherweise  nicht  mit  langw^eiliger 
aral  verbrämt,  in  eigenster  Gestalt  entgegentritt.  Bunt 
und  huschend  ziehen  die  luftigen,  bald  rührend  schönen, 
bald  traurig-schreckenden  Bilder  vor  unserem  Auge  vorüber: 
die  Handlung  besteht  überhaupt  nur  aus  ganz  locker  an- 
einandergereihten Szenen,  die  den  Kampf  zwischen  Gleißnerei 
und  Reinheit  aufs  beste  illustrieren;  selbst  im  zweiten  Teile 
ist  die  Verfiihrimgsszene  mit  größter  psyc;hologischer  Kunst 
und  Axifbietiing  aller  märchenhaften  Elemente  ausgearbeitet, 
ein  bewundernsw^ertes  Werk,  denn,  wie  schon  der  Rezensent 
der  Quarierly  Remew,  No.  Cm,  p.  29  bemerkt:  "TAe  thing 
aiiempted  in  Chnstahel  is  ihe  most  dlfficulf  of  exectition  in  ihe 
^  whoU  ficld  0/  romanee  —  witcherij  fnj  datflifjht  —  and  ihe  sncc^ss 
'  eompleie."  Das  Dämonische  zieht  eben,  wenn  es  der  Dichter 
versteht,  uns  in  seinen  Kreis  mitten  hineinzustellen,  immer 
an ;  und  in  höchster  Naivität,  dem  Kennzeichen  des  wahren 
Genies,  ist  es  Col.  gelungen,  ims  hier  mit  Zauberfäden  zu 

stricken,  die  wie  die  Hexe  Geraldine  mit  i}u*en  schönen 

Jen  uns  süß  fesseln  und  die  sich,  wäre  dieses  Werk  wie 
der  Anc,  Mar.  in  einem  Gusse  fertiggestellt  worden,  am 
Schlosse  in  schöner  Entwicklung  zu  lustigen  Sommerfäden 
autgelöst  hätten,  die  in  einem  leichten  Nebel  von  den 
schönen  Gestalten  wegflatternd  uns  endlich  den  reinen 
iblick    der    schönen    Christabel     in    verdientem    Glücke 

tattet  hätten  —  mit  dem  alten  Märchenende:  "Und 
wenn  sie  nicht  gestorben  ist,  so  lebt  sie  heute  noch,  so 
glücklich  wie  an  dem  Tage,  wo  das  geschah.'* 


ELnleitung. 


Hetrum»  Sprache  und  Stil, 

Das  Fragment  ist  in  i>77  Versen  1816  erschienen;  die 
drei  Mss.  enthalten  jedoch  nur  655  Vei^e,  da  hier  The  Cou- 
clusion  to  PL  the  See,  fehlt,  die,  wie  Ca,  vermutet  und  ich 
auch  fitir  sehr  wahrscheinlich  halte  (vgl,  Lesarten  zu  656  ff.}^ 
m'spninglich  nicht  zw  dem  Gedichte  gehörte. 

Das  Ve  rsm  aß  ist  eine  Mischung  des  freier  gebauten  vier- 
taktigen  altenglischen  Verses  und  des  vierhebigen  jambisch- 
anapästischen  Langverses  der  neuenglischen  Dichter,  ein 
Metrum,  in  welchem  CoL  auch  **Fire,  Faminc  and  Slanghtcr' 
1797  und  noch  li'üher  1794  "ifi^^h"  geschrieben  hatte.  Schon 
aus  diesem  Ginmde  ist  es  unrichtig,  wenn  CoL  in  der  Preface  zur 
Ausgabe  von  1816  behauptete,  daß  das  unregelmäßige  Metnmi 
'*i$  founded  (m  a  new  principlt:  vaimhj,  tkat  of  eotiniing  in 
eaeh  line  ihe  accenis,  not  tke  spUables"*  Brandl  (S.  222)  und 
Schipper  (Metrik^  IT,  24ö  ftV)  weisen  hier  den  Einfluß  der 
lyrischen  Pai-tieu  in  Shaksperes  und  Miltons  Stücken  nach. 
Schipper  gibt  am  angegebenen  Ort,e  eine  ausführliche  Dfiu:- 
Stellung  des  Metrums  in  diesem  Gedichte,  der  ich  mich  im 
folgenden  grundsätzlich  anschließe. 

Im  Gegensatze  zum  Änc^  Mar,  hat  Col.  hier  die  Strophen- 
form aufgegeben  und  freie  Abschnitte  verwendet.  Das 
Prinzip  des  Baues  der  einzelnen  Verse  hat  er  in  der 
Prefaee  klar  ausgesprochen;  nach  der  oben  zitierten  Stelle 
fiihi't  er  fort:  **Though  the  lauer  [sc.  S3"llables]  nmy  vary 
from  seven  to  (wehe,  yei  in  each  line  the  accents  mll  be  found 
to  be  only  four,  Nevertheless  this  occasional  Variation  in  number 
of  syllables  i$  not  introduced  wanionJy^  or  for  the  mere  ends 
of  convetiimce,  but  in  cortTSj^Ofidence  unth  some  transition,  in 
the  nature  of  the  imagery  or  passimiJ"  So  finden  wir  denn 
bald  regelmäßige  vier  taktige  Jamben,  im  ganzen  (mit 
Einschluß  von  21  durch  Verschleifung  u,  ä.  nicht  ganz 
sicheren  Fällen)  462  Verse,  also  noch  immer  die  weit  über- 
wiegende Mehrheit;  bald  vierheb  ige  Verse,  im  ganzen 
(mit  3  wieder  etwas  schwankenden  Fällen)  93  Verse.  Der 
Zahl  nach  folgen  dann  38  vi  er  taktige  Verse  ohne 
Auftakt,  33  viertaktige  mit  Takt  um  Stellung  im 
ersten  Fuße,  14  vierhebige  ohne  Auftakt,  je  5  drei- 
taktige,  zweitaktige  und  zweihebige  und  1  vier- 


I 
I 
I 


2.  Chrlstabel 


Sl 


t  a  k  t  i  g  e  r  Vers  o  h  n  e  S  e  n  k  u  n  g.  In  den  Absätzen  herrscht 
im  allgemeinen  der  gepaarte  Beim,  obwohl  \4ele  Aus- 
nahmen davon  gemacht  werden.  Oft  sind  die  Absätze  in 
kunstvoll  verschlungenen,  also  sehr  klangvollen  Reimen 
abgefaßt;  derselbe  Reim  kehrt  oft  drei-  und  viermal 
wieder,  Avas  die  Bindung  noch  inniger  gestaltet  (dreifacher 
Reim:  V.  1/2/4.  —  119/121/122.  —  149/152/153.  —  179/181/ 
183.  —  210/212/213.  —  228/230/232.  —  273/276/278.  —  374/ 
377/378.  —  401/402/404,  —  423/425/426.  —  464/465/467.  — 
41I3/490/496.  —  584/586/588.  --  Vierfacher  Reim: 
V.  37/39/41/42.  —  83/84/87/88.  —  227/231/233/234,  ~ 
340/341/342/345.  —  613/Ö14/517/B18.  —  621/622/624/627: 
ja  sogar  ein  sechsfacher  Reim:  V.  505/506/508/509/ 
511/512).  Als  Weiterbildung  des  Reimpaares  finden  sich  mehi'- 
fach  Dreireime  (V,  20 E,  66 ff.,  166 ff.,  257 ff.,  260 ff.,  340 ff., 
472 ff-,  498 ff.,  525  ff.,  590 ff.,  629 ff.)  und  Vierreime  (V.  62 ff., 
366  ff-  547  ff.),  am  Beginne  und  Schlüsse  von  Absätzen  und 
an  besonders  bedeutsamen  Stellen  (vgl.  vornehmlich  die 
zwei  aufeinanderfolgenden  Dreireime  in  V.  257—262).  — 
Verse  ohne  Endreim  zähle  ich  im  ganzen  12,  doch  sind 
davon  7  mit  Binnenreim  versehen  (V.  171,  277,  317, 
339,  528,  561,  670),  der  anch  dreimal  neben  dem  Endreim 
(V.  202,  583,  664)  vorkommt.  Ein  paarmal  sind  die  geraden 
Hebungen  durch  Assonanz  gebunden  (also  auch  eine  Art 
Binnenreim)  iV.  12,  31,  221,  423,  469,  495,  567,  691,  622). 
Der  Charakter  der  Heime  ist  im  allgemeinen  ebenfalls  rein, 
die  unreinen  sind  größtenteils  ''aUowabk"  (V.  18 ;  19,  60 :  61 ! 
94:96:97!  98:100!  135:136  =  143:144,  175:176,202:203, 
271 :  274,  272 :  275 !  314: 315 !  327 :  328,  491 :  492,  493:495 :  496, 
519:521!  547:548:549:550!  697:698,  666:667!),  Was 
oben  (S.  10  u.)  für  den  Anc.  Mar,  über  die  unbetonten 
Pronomina  und  Ableitungssilben  im  Reime  gesagt 
wnrde,  gilt  in  geringerem  Maße  auch  von  Christ.,  mit  Ein- 
t^chränkung  auf  den  ersten  Teil  (V.  36,  67,  102,  204.  210, 
236  etc.  she.  —  V-  89,  194,  196  etc.  tm,  —  V.  217  you.  — 
V-  233  /.  —  V.  74,  142  weariness.  —  V.  108  chimlry.  — 
V.  178  turioHsly.  —  V.  238  hvdiness.  —  etc.). 

Klingende  Reime  sind  nur  an  15  sicheren  und  3  un- 
sicheren Stellen  anzutreffen  (V.  [10:11],  156:167,  tli>2:193J, 
269 :  270,  271 :  274,  272  :  275,  302  :  304,  354 :  365,  356  :  357, 


Einleitung, 


417:419,  420:421,  422:424,  477:478,  620:522,  [555:6661,] 
626:628,  606:667,  670:672).   Hiezu  wären  noch  die  weib-j 

Hellen,    aber    imgereimteii    Endungen     shadoics  :  niüonl(ffht\ 
(V. 282 :  284)  zu  zählen.  Hier  wie  im  Anc,  Mar,  werden  durch! 
Wiederholung  ganzer  Sätze  rührende  Keime  (bei  Gleich- 
heit des  Sinnes)  gebildet  (V.  14:15  darh,  506:609  mmmtomm 
urraif,  629 :  630  she   dicd),  aber   auch   ohne   solche  Wieder- 1 
hohing   der  Phrase   finden    sie  sich  (V.  39 :  41  he,  194 :  196 
wie,  303  :  305  thine,  342 :  345  htdl,  367  :  368  Chrisiabel), 

Assonanz   (nicht   als   Binnenreim)   ist    vereinzelt   als^ 
Schmuck  gebraucht  (V.  638,  640,  641,  676).  Überaus  häufig.^ 
dagegen  findet  sich  die  Alliteration;    unzweifelhaft  be- 
absichtigt erscheinen  mir  folgende  Beispiele: 

V,  11  Ever  anä  mje,  by  shim  and  ahower,  21  'T  is  a  monih  hefori^l 
ihe  monih  of  Mai/,  23,  38,  47,  :3<>1  The  lortl^  lady^  51  Hanging  so  lighi, } 
and  hanging  so  high,  52  On   (he   toimiost   ttüig,  00  Thal  shadowtf  in  Üte\ 
moonhght  ithme^  f»0  Marxf  mother,  75  SirHch  forth  thtj  hand  and  hav€  noi 
fear!  H2  Me,  evan   m^,  a  inaid  forhm.  SB  with  force  and  frighi,  Ö5  ^1 
weary  woman,  110  to  guide  and  gnard^  117  as  9Üeni  as  tJie  cell,  119  not\ 
wdl  awaketitd,  130  fcitli  might  and   tnain,  131  a   weary   weight,  135,  143 
free  from  fear,  136,  144  crosned  the  coutt^  13Ü  Virgin  all  divine,  1-18  maan 
did  make^  IB)  Never  tili  noie,  159  a  fii  of  flame^  168  They  Heal  iheir  wag 
from  gtair  to  stair^  1G9  Now  in  glimmeTj  and  now  in   (jloom,  178  carved 
90  euriondg,  179  stränge  and  sweti^  183  U  fmiened  to  an  tmgeVs  fett,  ^ 
184  dead  and  dim,  1^3  Mg  mother  made,  2C>5  Pt:ak  and  pine!  220  I9i2^*f 
flower  mine,  223,  22t>,  384  The  h/tg  ladg,  238  And  lag  difwn  in  her  loveli- 
nes3.   239  weal  and  tcoe,   245  Beneath  ihe  lamp  ihe  ladg  howcd,  255  not 
spcaks  nor  stirSf  258  with  ^ick  asuag,  270  seal   of  mg  sorrow^  278  shieläd 
her  and  shelter  her^  279  ttighi  to  see^  2HH  hliss  or  hale,  2ÖÖ  Her  face,  ohl 
caU  ii  fair  not  pale,  3<X)  Secmn  to  slumber  still  and  mild,  314  sad  andi 
itoftf  31ti  Large  tears  that  leace  the  lanhes,   317  aeems  io  amikf  337  J/onyl 
a  nwm,  341  Five  and  forty,  3i5,  484  Bracy  the  bard,  352  ropes  of  rock^  j 
353  ginful  sejiiom%  379  m  it  gcemed,  dSß  (oo  lirely  leave,  393  The  lovelg 
maid  and  the  ladg  talif  395/396  And  pacing  mi  ihrough  page  and  groom,  j 
Enier  the  Barons  presence-room,  420   ilic  hollow  heart,  421  Theg  siood 
alooff  the  scarii  remainingf  425  Shall   whollg  da   awag,  I  wteft,  432  His 
noble  heart  swelled  high  with  rage;  436  That  theg,  rrho  thu8,  441  that  there 
and  then,  451  TI7ucA  ff  Am  ske  viewed,  a  vinon  feil,  454  She  shmtik  and 
iihuddered,  456  such  ^sights  to  see?  4»>6  While  in  the  lad^f^s  arms  she  lag, 
478  A9  tf  fhc  fcared  nhe  had  offended,  510  thcir  panHng  palfrey^,  516 
a  summrr's  sun,  539  nothing  near,  561  iaintly  Bong,  564  Thus  Bracy  «omI.^ 
Uie  BaroHf  the  while^  570  TFi^i  arms  more  strong  than  harp  or  song,  590f 
SlumhUng  on  Öie  umtcady  ground^  598  She  notfiing  sees  —  no  Hght  but 
one!  610  Fiäl  btrfore  her  faiher'i  view,  —  614  Pa^ised  a  while,  and  inlg 
prayed:  615  Then  faUing  at  the   Baron'»  feei,  620  0*er-ma9tered  by  ihe 


2,  Christabel 


^ 


mifhly  sptü,  621  io  wan  and  mld,  63Ü/aB2  Prayed  Ütai  the  habe,.,  Might 
ie  her  dear  lord's . . .  pride!  Thai  praycr  her  deadl^  pangn  begwikd, 
$^/643  Dishonour'd  thm  in  kis  old  age;  Uislionour'd  by  his  only  child, 
852  '*/  bade  thet  henceT  The  hard  obeifed;  65t»  A  Utile  child,  a  limber 
e\f,  GOl  As  ßh  a  father*s  qies,  668  To  mutier  and  mock,  676  Comes 
ieiahm  Booe. 

Zeilenenjambements  sind  sehr  beliebt,  wie  im 
AncMar.  (52  FäUe,  V,  7/8,  66/67,  106/107,  250/251,  372/373, 
440/441,  532/533,  600/601/602  u.  s.  w.).  Zwei  Beispiele  von 
überaus  starker  Uiiterbrecliung  des  Sinnes  innerhalb 
eines  Verses  finden  sich  (V,  469,  482);  Reimbrechung 
in  einem  starken  Beispiele  (V.  310/311). 

Es  ist  einleuchtend,  daß  dieses  Versmaß  noch  viel  mehi' 
als  das  immerhin  durch  die  strophische  Gliederung  gebun- 
dene des  Anc,  Mar,  im  stände  ist,  sich  den  feinsten  Wen- 
dungen der  Handlung  in  lebendigster  Art  anzupassen;  jeder 
Ton  kann  hier  in  einfachen  Worten  ausgedrückt  werden, 
aber  mit  einer  Bedeutsamkeit,  wie  sie  CoL  bis  zu  dieser 
Zeit  in  seinen  pathetischen  Sonetten  und  anderen  Strophen 
nicht  erreicht  hatte.  Um  den  Teattkommentar  nicht  allzu 
»ehr  zu  belasten,  gebe  ich  hier  einen  kiu-zen  Kommentar 
der  Veränderungen  im  Versmaße  gemäß  CoL*s  eigenen  oben 
(S-  30)  zitierten  Änßerimgen, 

Part  the  FirsL  t.  Die  durch  das  Glocke Dschiagtm  und  die  Tier- 
-stlinmen  belebte  Handluni;  setzt  mit  den  lebhafteren  vierheb.  Verden 
1,  2  ein^  dann  folgt  der  lautuacliakmende,  lau^  hinhalleude  Vers  3, 
in  dem  jede  Silbe  eine  Hebung  ausmacht,  worauf  Vers  1  mit  ruhigem 
Tiertakt  und  Vers  5  mit  Dreitakt  (entsprechend  dem  drowsily)  ab- 
schließt. —  2,  Zwei  viertaktige  Verse,  der  zweite  ohne  Auftakt,  er- 
zählen nun  weiter  (0,  7),  abgelöst,  .sobald  der  Inhalt  bewegter  wird, 
von  einem  vierheb.  (8),  dem  jedoch  ein  auftaktloser  Viertakter  folgt, 
um  daÄ  sichere  Eintreifen  der  Antwort  zu  markieren  (D) ;  die  Glocken- 
sehlä^e  werden  in  munteren  vier  Hebungen  berichtet  (10)»  dann  folgen 
wieder,  entsprechend  dem  gespenstisch- ernsten  Inhalt,  drei  schwerere 
Zeilen  (11^ — 13).  —  3«  Die  ruhige  Naturschilder ung  in  vier  Viertaktern 
(14 — ^IT)  wii*d  durch  die  Erwähnung  des  Vollmondes  belebt  (18  vierheb,), 
doch  blickt  er  stumpfer  als  sonst  drein  (daher  19  viertakt.).  Diese 
trübe  Stimmung  mit  Wiederholung  früherer  Motive  im  selben  Rhyth- 
mus angesclüagen  (2Ö  viertakt*),  erhält  nun  in  21  und  22  (vierheb*  mit 
aufhüpfendem  Beginne)  Erklärung  und  damit  neue  Zutaten.  —  4.  Die 
stille,  friedeatmende  Christabel  wird  in  gemes^^enen  Viertaktern  (23 — 28) 
eingeführt.:  ihr  auffallender  Schritt  wird  durch  edle  Liebesleidenschaft 
in  rascheren  Rhythmen  (2^^  3*))  vorstäadlich  gemacht.  —  5*  Die  stets 
durch  Sanftmut  abgetönte  Unruhe  sucht  nun  Frieden  im  Gebete 
(31 — 35  Viertakter),  dessen  stumme  Vemchtuug  den  Gang  de«  Verse» 


£icblor,  Th«  Anciont  Mariner  a.  Chmt. 


3 


34 


Einleitung. 


noch  verlangsamt  (aiiflaktloser  Viertukter  36),  —  6.  Trotz  der  Störung 
Oberwiegt  anfangs  noch  Chr/s  Ruhe  (B7 — ^}  Viertakter);  die  andere 
Seite  der  Eiche  verbirgt  dos  Gespenstische^  dort  liegt  die  Unruhe 
41,  42  Vierheber).  Das  Schweben  des  Tones  im  letzten  Vei-se  malt 
die  ungeheuerliche  Eiche  ganz  vortreÄ'lich.  — -  7#  Noch  sucht  sich  das 
Mädchen  zu  beruhigen  {4S — 48  Viertakter),  das  zitternde  BJatt  wird 
in  entsprechenden  Vierhebem  (49"5!})  geschildert.  —  8*  Cianz  Be- 
wegung, seihst  der  Viertakter  au  Ani'ang  ist  durch  die  schwebende 
Betonung  um^uihig ;  der  letzte  Zweitakter  erweckt  die  größte  Spannung 
(53 — 57).  —  U.  Zunächst  erblickt  sie  nichts  gar  so  Verwunderliches: 
eine  Dame  (58^  viertakt.)^  allerdings  in  gespenstischer  Kleidung  (59, 
HO  vierheb.),  die  damit  alles  in  ihren  Bann  zieht  (61 — 68  viertakt 
schwer,  besonders  68).  —  10»  Zwei  Zeilen  bloÖ;  sie  geben  das  Er- 
staunen Chr/s  durch  den  schweren  Bhythmus  der  ersten  Zeile  (69 
vieilakt.  ohne  Auftakt)  und  ihi*e  Fassung  (70  viertakt.)  gut  wieder.  — 

11.  Geraldine  weiß  durch  gektlnstelte  Schwache  Vertrauen  zu  er- 
wecken (Viertakter  71,  73 — 76,  78),  nur  zweimal,  bevor  sie  spricht^ 
hriclit  das  flackernde  Wesen  im  Rhythmus  durch  (Vierheber  72,  77).  — 

12.  Die  Heuchlerin  bringt  ihren  Lügenbericht  in  eintaoken,  schlichten 
Worten  vor  (durchweg  Viertakter,  ab  und  zu  mit  Taktunistellung 
und  Weglassung  des  Auftaktes  79 — HB).  —  13.  Schlicht  imd  mhig 
ist  Clmst.'g  Antwort  (104—111  Viertakter).  —  14.  Ebenso  die  Ein- 
ladung (112 — 122).  —  15.  Die  ruhige  Erzählung  in  Viertaktern  1 128 — 126, 
129 — VM)  nur  durch  die  Erinnerung  an  die  kriegerische  Erscheinung 
belebt  (127,  128  Vierheber).  —  Itt.  Freudige  Sicherheit  (136—138 
viertakt.),  durch  den  Ausdruck  des  Dankes  munterer  (139  Takt- 
umstellung im  Viertakter^  l¥)  Vierheber).  Geheuchelte  Schwäche  und 
Wiederholung  der  frtlheien  Stimmung  (111 — 144  Viertakter).  —  17-  Das 
merkwürdige  Gebaren  des  Hundes  leitet  ein  Vierheber  (145)  ein,  dann 
aber  werden  die  Zeilen  wie  unterm  Banne  Oer,^s  wieder  langsamer 
im  Gange  (146 — 149  Viertakter),  einmal  unterbricht  die  Zurückweisung 
aiif  sein  sonstiges  stille®  Verhalten  vor  Christ,  mit  Taktumstellung 
(15<j)  den  regelmäßigen  Hhythmus  (151 — 153).  —  18»  Wieder  Ruhe 
(154^—159  viertakt.)  im  Anfang,  dann  Beginn  des  gespenstischen  Wesens 
(ItjO  vierheb.),  absonderliche  schwere  Finsternis  (161  viertakt.),  neuer- 
licher unheimlicher  Eindruck  (162,  163  vierheb.  flackernd),  Chnst.*s 
zarte  Mahnung  wieder  gemessen  (164,  165  Viertakter),  —  19.  Die 
sorgsame  Gau  gart  ist  in  den  regelmäßigen  Viertaktern  \Nded  ergegeben 
(166 — 168,  17<> — 174),  nur  die  unsichere  Beleuchtung  im  Vierheber 
(169).  —  20.  Der  Mond  ist  aus  den  Wolken  herausge treten  (lebhafter 
Vierheber  175),  doch  Halbdunkel  herrscht  in  der  Kammer  i;176 — 179 
\dertakt.),  die  seltsame  Erfindung  des  Schnitzwerkes  ist  wieder  spruug* 
weise  berichtet  (1B<>  auftaktloser  Vierheber),  worauf  die  Schilderung 
regekecht  fortfähi-t  (181—183  viertakt.).  —  21.  und  22.  entwickeln  die 
Handlung  ungestört,  weiter  (184 — 193  viertakt.)  —  23.  Christabels  weh- 
mütige Antwort  (194  —  197  viertakt.)  wird  bei  der  Anspielung  auf  die 
ScMoßsage  et^^as  unrastig  (198  \derheb.),  lenkt  aber  bald  wieder  ins 
Stille  zurück  (iy9^2<J3  \Hertakt.).  Die  Stoßseufzer  sind  durch  scharfe 
Zäsur  markiert  (202).  —  24.  Noch  ist  der  Höhepunkt  nicht  erreicht 


•2.  Christabe). 


33 


I 


herrscht  noch  der  regelmäßige  Viertakt  trotz  spukhaften  Trei- 
bens vor  <t2r4,  2()T,  2<)8,  210^  212),  aber  TaktTimatolluDgeD  bei  den  Aus- 
rufen r2t.»5,  211»  215)  vmd  Vierheber  i2*J*>,  2r>t))  unterbrechen  den 
fijleiehui&ßigen  FluÜ.  —  25.  Christ's  MitJeidsregung  ist  im  Vierhebor 
i214)  illustriert;  ihr  Benxhigen  im  Viertakter  |2I5— 21Ö).  —  26.  Der 
belebende  Trank  wird  im  lebhafteren  Rk^-thmus  berührt  (22<»  vierheb.), 
die  weitere  Handlung  noch  immer  in  ruhigerem  Tone  gehalten 
r221^ — ^224  viertakt.);  ei*st  die  Betonung  des  Fremdartigen  in  Ger,*s 
Erscheinung  verflüssigt  den  Gang  wieder  (225  Vierheber).  —  27*  Die 
«»chelnbar  gütigen  und  gleichgültigen  Woi*te  Geraldinens  im  alten 
Tempo  (22tj — 234  viertakt,  u  —  28.  und  29*  ftlhren  die  Handlung,  in 
der  Christ,  die  Haupti'olle  spielt,  gleichmäßig  fort  (235 — 243  viertfit. ), 
bis  das  Interesse  plötzlich  auf  Ger.  gelenkt  wii-d  (244  vierheb.)»  — 
W*  Zunächst  zeigt  sich  noch  nichts  Abäouderliches  (245 — 25*»  viertakt,), 
dann  fällt  die  letzte  HdUe  (251  Taktumstellung)  und  der  furchtbare 
Anblick  bietet  sich  dar  (252  vierheb.);  zwei  Viertakter  mit  scharfen 
Zäsuren  (253,  254)  schließen  gleichsam  stockend  ab.  —  81.  t^er. 
rührt  sich  nicht  (viertakt.  255),  ihre  Blicke  und  ihr  Atmen  künden 
Außergewöhnliches  an  (Taktmnstelking  256,  257),  dann  aber  tut  sie, 
als  ob  alles  in  Ordnung  wäre  (viertiüct.  258— 263 1;  nun  kündet  der 
Zweitakter  (264)  das  Unheil  an,  das  Ger.,  noch  immer  Ruhe  heuchelnd 
^265  viertakt  j,  endlich  ausspricht  (Zweitakter  266):  äußerst  bewegte  Vier- 
heher  (267 — 270)  bezeichnen  die  herv^orb  rech  ende  Hexerei,  die  eigent- 
liche Beschwörung  geht  in  fünf  zweihebigen Zeilen  abgebrochener Itede- 
weise  vor  sich  (271 — 275)  und  springende  Vierheber  (276—278)  schließen 
den  Spuk  und  den  ganzen  Teil  wirkungsvoll  ab.  —  Couch  B2»  Rück- 
kehr zur  früheren  friedlichen  Situation  (viertakt,  279— 2öl\  Wieder- 
holung der  schaurigen  Beleuchtung  in  neuen  Hhythmen  {T)reitakter 
282—285)  und  abermalige  Ruhe  (viertakt.  286 — ^291),  noch  schwerer 
durch  Auftaktlosigkeit  (287 ^  291),  —  EH.  Die  trügerische  Ruhe  des 
Schlafes  läßt  das  Metrum  schwanken :  reine  Viertakter  (292, 293, 298, 299) 
wechseln  mit  mu-egelmaßigen  (294,  295,  300,  301)  imd  mit  Vierhebern, 
die  das  höchste  Entsetzen  ausdrücken  (296,  *J97).  —  94.  Die  Schrecken 
der  Mittemachtstunde  werden  in  gemessenen,  aber  durch  scharfe 
Zfisiuren  zerschnittenen  Viertaktern  (802—307)  beschrieben;  das  Er- 
wachen der  gleichsam  mitgebannten  Vögel  verflüssigt  das  Versmal5 
sofort  (308  Vierheber)  und  lautnachahmende»  lang  hinhaUende  Vier- 
takter schhoßen  ab  (309,  810).  —  So.  Die  Rtickkelir  zur  milden  Christ, 
ijst  natürlich  wieder  im  gleichmäßigen  Viertakt  beschrieben  (311),  ihre 
Erlösung  mit  bezeichnender  Taktumstellung  (312)  begonnen  imd  eben- 
m&ßig,  wenn  auch  noch  mit  zwei  Taktumstellungen  (315,  316)  und 
«ner  schwebenden  Betonung  (314)  fortgesetzt  (313,  317,  318).  —  86.  Der 
schöne  Vergleich  und  Christ/s  Vertrauen  sind,  eingeschlossen  von 
Jtwei  durch  Ausrufe  gerechtfertigten  TaktiimsteUungen  (319»  tl*M  |,  mit 
zwei  solchen  Fragen  (327,  828),  in  regulären  Viertaktern  (320--32<.i, 
S29,  330)  abgefaßt.  —  Pmi  the  StcomL  87.  Das  Rückgreifen  auf  den 
Tod  der  Mutter  Christ.^s  ist  durch  ein  Schwanken  zwischen  Vier- 
taktern (332,  334,  mi)  und  Vievhebem  (333,  335,  a37)  charakterisiert.  — 
88*  Die  Erschütterung  zittert  noch  in  der  ersten  ZeOe  (338  vierheb,) 

8* 


96  ^^^^^V  Eiu)  ei  tutig. 

nach;  daDn  setzt  ein  abgezirktes  Maß  ein  (330—344  Viertakter),  einiual 
sogar  nachdracklich  schwerfällig  (341  auftaktlos).  —  89.  Die  neue 
Person  wird  mit  lebhaftem  Rhythmus  eingeführt  (345  vierheb.),  die 
Episode,  die  Bracj  berichtet^  jedoch  im  Hauptmaße  vorgetragen 
(346— 5&8>,  nur  das  NachäÖen  wieder  tiotter  erzählt  i359  Vierheber).  — 
40.  Die  Hexe  tut  am  Morgen  nichts  dergleichen  (360 — 366  Vier- 
takter), ja  sie  weckt  sogar  Christ,  auf  (munterer  Vierheber  367 j  und 
fragt  sie  anscheinend  unbefangen  (Taktumstellung  im  Viertakter  368^ 
dann  Viertakter  369),  —  41.  Die  sichere  Erscheinung  Ger.'s  verfehlt 
ihre  Wirkung  auf  die  edle  Christ,  nicht  (ruhige  ViertÄkter  370 — 380 , 
sie  macht  fetch  Von^^üife  (Vierheber  381),  um  dann  in  ihre  Demut 
und  Mattigkeit  zurückzukehren  (382—386  Viertakter).  —  42*  Ihr  rasches 
Aulstehen  ist  im  Verse  ausgedrückt  (387  Vierheber\  die  gefaßte 
Stimmung  ihi*er  weiteren  Handlungen  ebenfalls  (388 — 39:2  Viertakter).  — 
48.  Das  Zusammengehen  der  ungleichen  Frauen  markiert  ein  Vier- 
hebei^  393),  üixen  gleichen  Schritt  zwei  Viertakter  (394, 395),  den  Eintritt 
in  des  Barons  Geraach  Taktumstellung  mit  Viertakter  (396).  —  44.  Der 
Empfang  geschieht  mit  ruhiger  Würde  (397 — 402  Viertakter)*  — 
4S*  Doch  diese  Ruhe  (403—405  Viertakter)  wird  bald  gestört  (40t> 
TaktumsteDung  im  Viertakter,  407  Vierheber).  —  46.  Die  verschie- 
denen Elemeute  der  Reminiszenz  sind  durch  wechselndes  Metrum 
trefflich  ausgedrückt:  die  alte  Freundschaft  (408  viertakt),  die  Ver- 
hetzung (4ti9^ — 111  vierheb.),  der  allgemeine  Satz  (meder  Viertakter 
412^ — 415),  Ausbruch  der  Uehässigkeit  (schwerer  auftaktloser  Viertakter 
416),  notwendige  Konsequenz  und  Trauer  darüber  (Viertakter  417^ — 426). 

—  47*  Die  Versunkenheit  ist  im  gewöhnlichen  MaÜe  chontkterisiert 
(427,  428),  das  Aufblitzen  der  leibhaftigen  Erinnerung  im  lebhafteren 
Vierheber  (429)  und  der  wehmütige  Eindruck  wieder  im  Viertakter 
(430).  —  48*  Die  edle  Aufwallung  setzt  mit  bewegtem  Vierheber  ein 
(431 1,  das  Versprechen  stellt  ein  Gemisch  von  Würde  (Viertakter  432, 
431  d39^  441,  442,  444)  und  Zorn  über  die  vermeintlichen  Frevler 
(Vierheber  438,  444J,  443,  445,  44<J)  dar.  —  49.  Die  scheinbare  Zu* 
iriedeuheit  (Mertakter  M7 — 452)  kontrastiert  zu  Chri^t.^s  qualvoller 
Vision  (Vierheber  453,  454  und  scharf  geschnittene  Viertakter  455^  456 1, 

—  51).  Mit  schweiüüssigen  Versen,  wie  eine  Beschwönmgsformel, 
schildert  der  Dicht^er  die  neuerliche  Schreckensvorstellung  (Viertakter 
457,  458),  rascher  die  unwillktlrliche  Atembewegung  Christ.'s  (vierheb. 
45i»,  welche  V^erwirrung  beim  Vater  hervorruft  (Viertakter  400,  462, 
Vierheber  461\  —  ol.  52.  Doch  für  jetat  kommt  alles  wieder  ins  Geleise 
(Viertakter  4(33 — 481),  der  Wechsel  der  Rede  bringt  eineu  Viertakter 
mit  Taktmnstelluüg  und  starker  Zäsur  vor  dem  letzten  Takte  (482), 
dann  wieder  dem  ruhigen  Vorschlag  entsprechend  regelrechte  Vier- 
takter (483,  485^^490,  492)  mit  zwei  Vierhebern  an  lebendigeren  Stellen 
(484,  491).  —  5t <  Das  Übersetzen  des  Flusses  gibt  erneuten  Ansporn 
(Vierheber  493)  zur  Weiterv^eriblgimg  der  Rebe  (494 — 497  Viertakter, 
die   ersten   beiden   stark    zäsui'iert).  —   54«   Die    fröhliche   Botschaft 

tbesclileunigt  das  Metnmi  (498 — 5<i4  \'ierh6ber),  das  bei  der  kriege- 
rischen Ausritstimg  wieder  gemessener  wird  (Viertakter  5<Jo — 500),  bis 
auf  die  Erwähnung  des  schnellen  Rittes  (Vierheber  610);  die  Reue 
, 


■2.  ChriätitWl 


37 


I 


imd  die  alte  Liebe  ergeben  wieder  schwankendes  Metrum  (Yiertakter 
511—513,  515,  517;  mit  Taktnm Stellung  516;  Vierheber  oli,  518).  — 
9^  Geraldinens  gut  gespielten  Dank  in  ruhiger  Fonn  berichten  Vier- 
takter (519,  52<j),  Bracys  stammelnde  Stimme  ahmt  Vierheber  <  521)  nach, 
dann  geht  es  wieder  ebenmäßig  dahin,  da  des  Barden  Traum  und  Angst 
immerhin  abgeklärte  Stimmung  atmen  (regelmäßige  Viertakter  522 — 52*J, 
531 — 534,  537 — 5ci9),  nur  Höhepunkte  sind  auch  metrisch  gehoben  t53U 
TakttimsteUung :  Grund  seines  Einspruches;  535  hochbewegter  auftakt- 
loser Viertakter ;  53*5  und  54f J  Vierheber:  die  schwer  zu  erkennende  grüne 
Schlange).  —  60*  Ebenmaß^  solange  nichts  entdeckt  ist  {541 — 540)^  die 
Ümschnürung  durch  Auftaktlosigkeit  markiert  (55Ü'),  der  Grund  für  die 
lange  Verborgenheit  des  Reptils  durch  Taktumstellung  (551,  552),  die 
Gleichmäßigkeit  seiner  Bewegung  im  gewöhnlichen  Viertakter  (553),  sein 
Anschwellen  durch  Taktumstellung  (554\  dann  durch  Abnahme  der  Auf- 
regung bloÖ  Viertakter  (555,  557^ — 563),  nur  das  echonachahmende  Hallen 
ein  Vierheber  |55^K  —  57.  Wechsel  der  Person  bedingt  lebhafteres 
Metrum  (564  Vierheber),  zumal  nun  der  raschere  Baron  zum  Worte 
kommt.  Seine  durch  das  Alter  gesetzte  ßede  (Viertakter  565,  öÜB,  5(>8» 
oli\  571)  wird  durch  Geraldinens  Eindruck  auf  ihn  künstlich  belebt 
(Tierheber  567,  569);  sein  Kuli  deutet  noch  auf  günstige  Entwicklung 
des  Ganzen  (Viertakter  572);  Geraldino  heuchelt  weiter  (Viertakter 
578),  sogar  Schambaftigkeit  (anftaktloser  Viertfikter  574),  doch  ver- 
gißt sie  höfische  Sitte  (courieB^)  dabei  nicht  iVierheber  575),  gleich- 
gültiger ist  ihr  Abwenden  (Viertakter  676);  ihre  Hexerei  wird  ein- 
geleitet durch  rhythmische  ümweclislung  (auftaktloser  Viei*takter  577), 
dann  folgen  entsprechend  ihren  Bewegungen  ruhigere  (578,  ÖBO,  581) 
und  lebendigere  (579,  582)  Verse.  —  68.  Den  starren  Schlangenhlick 
schildert  ein  schwerer  Viertakter  (583),  die  Wandlung  in  Ger/s  Augen 
drei  Vierheber  (564 — 586),  das  Folgende  kommt  mit  unabänderHcher 
Gewißheit  (Viertakter  587 — 589),  das  Taumeln  und  Schaudern  malen 
fidJende  und  hüpfende  Ehythmen  ioiJO,  591);  die  kühle  Frechheit  der 
Hexe  ist  in  gewöhnlichen  Viertaktern  i592,  59B,  595)  berichtet,  nur 
der  Gipfel  derselben  in  auftaktlosem  Vierheber  (594)  uud  V^iertakter 
<596).  —  SU,  Christ,  ist  dem  Zanber  willenlos  verfallen  (Viertakter 
597 — *>*J5,  6<»7 — 60Ü,  611,  612),  sogar  %'erräterisch  muß  sie  dreinbhckeu 
(Vierheber  öTJß),  obwolil  sie  vor  ihrem  Vater  steht  (auftaktloser  Vier- 
takter 610).  ^-  60*  Der  Bann  ist  vorbei  (Viertakter  613),  aber  noch 
kann  sie  sich  nicht  ganz  fassen  (schwerer  aufbaktloser  Viertaktor  614), 
dann  tut  sie  ihrer  Tugend  gemÄÜ  das  Richtige  (Viertakter  61 5j  und 
beschwört  ihn  dringend  (Vierheber  Oiti);  ganx  konsequeut  folgt  imn 
alles  (daher  ruhige  Viertakter  Ij17 — 62<J),  —  öl.  Kind  und  Mutter 
sollten  besänftigend  auf  den  ungerechteu  Zorn  einwirken  <  Viertakter 
♦121—829,  631,  632,  <i:34),  das  Gebet  ist  noch  nachdrücklich  betont  i>j3Ö 
Taktumstellung)  und  wu'kiingsvolle  Ausrufe  unterstützen  die  ganze 
Erwägung  (633,  635  Zweitakter).  —  62.  Doch  der  Baron  bleibt  hart 
•Viertakter  636— €4<\  642—644,  646—655),  seine  fiemüt^bewegung 
reflektiert  sich  in  Bewegungen  (Vierheber  6-il),  die  Kränkung  der 
Freundestochter  macht  ihn  wliteud  (Vierheber  645).  —  Concl,  61L  Die 
allgemeine  Überlegung  bewegt  sich  meist  in  regelrechten  Viertaktern 


Emleitimg, 

(65Ö,  65B— 661,  6433—665,  670 -6Ta,  675—677)»  geschilderte  Bewegung 
ändert  den  Eh3rthiiius  (aiiflAktlos  657),  den  Überfloß  kennzeiclmet  eiö 
Vierheber  (66*2),  den  Stachel  des  Neuen  ebenso  (666,  668,  66Ö)  und  ein 
auftaktloser  Viertakter  (667);  der  Ausnii*  beschleunigt  das  Tempo 
gleichfalls  (Vierheber  674).  — 

Die  Sprache  ist  wolillantend  und  sclimiegsain,  trotz 
der  vielen  Archaismei!,  die  kier  noch  viel  mehr  innere 
Berechtigimg  besitzen  als  im  Anc.  Mar,,  da  sie  sich  in  das 
ganze  mittelalterliche  Kostüm  organisch  einfügen.  Die  Aus- 
rufe, mit  denen  der  Dichter  seine  eigenen  Worte  unterbricht, 
die  Fragen  und  Formeln  sind  in  dramatischer  Weise  an- 
gebracht, noch  kunstvoller  als  im  Anc.  Mar,  Heraus- 
stellung des  betonten  Substantivums  und  Wieder- 
aufnahme durch  ein  Pronomen  (V.  4/5,  23/25,  216/ 
217)  ist  hier  allerdings  seltener,  dafnr  aber  sind  die  An- 
rufungen häufiger:  V,  69  Mary  mother,  save  me  now!  — 
139  Fraise  we  the  Virgin  all  divine  —  141,  207,  216,  408, 
697  Alas!  (alas)  —  19G,  292,  465  (Ah)  tvoe  is  me!  —  202 
0  mother  dear!  —  205  Peak  and  pine!  —  382  Now  heaveft 
hft  praised  i/  all  he  well!  —  483  Nay!  Nntj  hy  my  soul!  als 
Äußerungen  der  Personen;  53  Hush^  beaiing  hcart  of 
Christabel!  —  54^  582  Jesu,  Maria,  shield  her  well!  —  254 
0  shield  her!  shield  sweet  Christabel!  —  264  M  well-a-day!  — 
296  0  sorroir  and  shamc!  —  626  0,  hy  the  panys  of  her  dear 
mother  —  als  eingestreute  Bemerkungen  des  Dichters,  der 
innigen  Anteil  am  Schicksal  der  Personen  nimmt  (ein  echt 
volksmät^iger,  glücklich  nachgeakinter  Zug!).  Kühn  spricht 
hier  der  Dichter  s  e  1  Ij  s  t  mit,  in  Formeln,  die  unsere 
Spannung  noch  höher  sclirauben  als  das  ohnehin  schon  gut 
inszenierte  Müieu.  Alle  schon  in  der  ersten  Ballade  an- 
gewandten Stil  mittel  vereinigen  sich  hier  zu  noch  höherer 
Wirkung:  Umstellung  des  Pronomens  (V,  36,  204. 
236),  Nachsetzung  des  Adj  ektives  (V.  6,  58^  71  [zwei- 
mal!], 78,  82,  83,  139,  145,  146,  147,  162,  195,  316,  324, 
326,  364,  393,  464,  471,  485,  486,  496,  528,  529,  595,  612), 
doppelgliedrige  Ausdrücke  (V.  10,  11,  14,  15,  62/63, 
110.  135  =  143,  156,  159,  169,  179,  184,  186,  239,  255,  261, 
270,  288,  289,  290,  296,  300,  302,  314,  319,  329,  338,  352. 
360,  395,  434,  435,  441,  443,  454,  457/458,  463,  485,  488. 
603,  520,  561,  567.  570,  594,  621,  623  =  631,  636,  638,  640, 
641,  656,  657,  662,  ßijS,   670,   672,   674,   675,   676),   drei- 


2.  Cliristftt>el. 


39 


gliedrige  Ausdrücke  (V.  31/32,  43/44,  410/411,  624), 
sind  wohlberechnet  imd  abgestuft  verwertet.  Von  den 
Wiederholungen  gilt  das  beim  Jj*c,  Jlfan  Oesagte  (vgl. 
Y.  2/4.  —  14/16/20/43.  -  16/20.  —  35/42/281/297/373/540. 
—  45/48.  —  51.  —  67/58.  —  61/62.  —  74/142.  —  71  72: 
77/78.  —  75/102/104.  —  81/82.  —  84/86/94/510.  —  110/ 
503.  —  123/136.  —  129/134.  —  129/189.  —  135/143.  — 
136  =  144.  —  145/147/149/153.  —  149=153.  —  154/165/ 
158/170.  —  166.  —  170/172/173.  —  178/179.  —  267/463/ 
463.  —  74/131/142/190.  —  191/192/220.  —  205/211/213.  — 
211/305.  —  212/327.  —  252/267/457/458.  —  269.  —  293/ 
294/295.  —  302.  —  309/310.  —  315/316.  —  317/319.  — 
322.  —  332/334/336.  —  333/342/345/356.  —  359/361.  — 
374.  —  387.  —  394/396.  —  416/513.  —  418/617,  —  451/ 
453/464.  —  467/458.  —  459/591.  —  474/620.  —  485/499.  ~ 
486/528.  —  552/553.  —  554.  —  561/570.  —  683/584/ 
585.  —  618.  —  623/631.  —  625/629/630.  —  626/632.  — 
636/675.  —  638/640/676.  —  642/643.  —  666/670).  Die 
Wiederkehr  derselben  Worte  macht  hier,  ohne  je  eintönig 
zu  werden,  den  Eindruck  des  Magischen,  BeschwÖrixngs- 
miißigen;  der  Dichter  kann  sich  von  dem  einmal  ge- 
zeichneten Bilde  nicht  so  rasch  wieder  losmachen  irntl 
zieht  anch  den  Leser  in  diesen  Bannkreis,  Bran^ll  (S,  222) 
vergleicht  die^e  Sprache  mit  einem  Eunenstil,  ^'der  bei  der 
größten  SchlichiheU  der  einjselnm  Worte  doch  die  ungewöhnlich stm 
Dinge  erwartcfi  lößf\ 

So  ist  anch  die  Komposition  des  (ranzen  locker  und 
nicht  nach  logischen  Gesetzen  aufgebaut.  Nicht  ethische, 
tiondern  traumhafte  GeMim  sind  es,  nach  welchen  sich  die  Vor- 
stellungen verknüpfen'  (Brandlj  221)*  '*Nichl  bloß  die  Grenz- 
linie der  poetischen  Gatiungen,  welche  die  Klassizisien  möglichst 
strenge  festgehalten,  u^crden  in  der  liomantik  durchbrochen, 
sondern  die  Poesie  verschwimnd  auch  mit  dmi  Schwesterkünsten, 
mit  der  Malerei  und  Musik**  (ibid.  222/223),  Die  Darstellimgs- 
weise  ist  fast  l^Tisch,  von  festem  (.i-efüge  ist  wenigstens  im 
ersten  Teile  bei  den  Einzelheiten  kaum  etwas  zu  verspüren. 
Märchenhafte  Bilder  treten  vor  unser  Auge,  fesseln  äussere 
Sinne  mit  imwiderstehlichem  Zauber.  Es  ist  keine  Erzählung, 
sondern  Schilderung:  die  schwüle  Lenznacht  mit  ihrem 
unruhigen   Tierleben  gegen   die  reine   Maid,   die  sich  mit 


Einleitung. 


innerem  Bangen  der  Unholdin  ergibt ;  dann  das  alte  Schlofl 
mit  seinem  Burgtor  und  der  öden  Halle  gegen  das  Ein- 
dringen des  bösen  Geistes  unter  dem  Schutze  der  Haus- 
tochter; und  endlieh  das  halbdunkle  Schlafgemach  gegen 
die  schreckliche  Entdeckungsazene  zwischen  den  beiden 
Frauengestalten;  so  kontrastiert  der  Dichter  das  Milieu  und 
Handlung  in  schöner  Abfolge,  spannt  unsere  Aufinerksamkeit 
aufs  höchste  und  läßt  uns  jeden  Augenblick  das  Äußerste 
alinen*  Brandl  (ß,  222)  vergleicht  diese  drei  Bilder  "dm 
Tonstücken,  auf  deren  erstes  und  drittes  eine  Coda  (^=  Th^ 
Conclusion  to  Pari  the  First)  nochmals  zurUchgreift^  um  das 
GanM  mit  eitler  Klage  iiber  das  unhcimfich  traurige  Erfcachetk 
am  Morgm  ausklingen  jm  lassen".  Aber  gerade  hierin  zeigt 
sich  der  ganz  imepische  Charakter  unseres  Fragmentes,  daß 
da  ein  neues  Bild  r  die  Umschlingung  des  reinen  Kindes 
durch  die  mißgestaltete  Hexe,  mit  schon  bekannten  Farben 
gezeichnet  wird.  Bedeutend  klarer  ist  der  Gang  der  Handlung 
im  zweiten  Teile  vorgezeichnet.  Zwar  bringt  uns  auch  hier 
die  gespenstische  Einleitung,  mit  der  das  Echo  des  Friih- 
geläutes  vom  Barden  erklärt  wird,  in  die  richtige  '*  Stimmung", 
ohne  daß  dies  Motiv  weiter  fiir  die  Ereignisse  besonder 
ausgebeutet  Avurde,  außer  daß  Geraldine  durch  das  Geläut 
und  das  Echo  erwacht,  aber  dann  folgt  die  Szene,  in  der 
das  holde  Kind  geträumt  zn  haben  glaubt,  ihren  schweren 
Verdacht  auf  die  Schlaf  kam  eradin  als  Sünde  bereut  und 
dem  Vater  endlich  die  fremde  Dame  vorfiihrt.  Und  nun 
kommt  in  strafferem  Aufbau  die  psychologisch  unendlich 
fein  motivierte  Verführungsszene  (die  alte  Freundschaft  mit 
Geraldinens  angeblichem  Vater  bildet  den  dankbaren  An- 
knüpfungspunkt), durch  die  allerdings  wiederum  wie  Wetter- 
leuchten der  Zauber  der  vergangenen  Nacht  durchblitzt 
und  schreckhafte  Bilder  zeigt,  die  nur  auf  theatralischen 
Effekt  berechnet  sind,  ohne  die  Handlung  zn  fSMem.  Die 
Erzählung  des  Traumes  von  der  Schlange  und  der  Taube 
ist,  wie  schon  erwähnt,  eine  unnütze  Wiederholung  des 
anfangs  angeschlagenen  Leitmotives,  die  uns,  zn  breit  als 
Episode  ausgeführt,  schon  deshalb  stört,  weil  sich  außer 
dem  Barden  niemand  darum  bekümmert,  da  Geraldinens 
Augen  bereits  zu  spielen  begonnen  haben.  (CoL,  der  nach 
längerer  Zeit  an  die  Fortsetzung  gegangen  war,  hat  meines 


I 


2.  ChnstftbeL 


41 


Erachteus  hier  ganz  deutlich  sich  selber  wieder  durch  diese 
Rekapittilation  in  die  richtige  Stimmung  gebracht,  um  den 
au  und  für  sich  schönen  Gedanken  vom  *'SchlangenbUcke'^ 
im  folgenden  daran  anknüpfen  zu  können.)  Der  Zauber 
des  dämonischen  Blickes  ist  dann  mit  alter  Farbenpracht 
ausgeführt  und  veranlaßt  sehr  glucklich  den  Zwist  zwischen 
Vater  und  Tochter.  In  lyrischen  Betrachtungen  verweilt 
der  Dichter  auf  diesem  Motiv,  um  mit  einem  wirkungsvollen, 
spannenden  '^Abgang"  ganz  dramatisch  zu  schließen,  Be- 
isügUch  der  "Conclmwn  io  Part  ihe  Second"  s.  LA.,  V,  666. 


Nachfolge  der  beiden  Balladen  in  der  Literatur, 

Wie  sehr  CoL  um  die  Wende  des  Jahrhunderts  in  dem 
durch  unsere  beiden  Balladen  gekennzeichneten  Stoffkreise 
zu  Hause  war,  zeigen  zwei  gleichzeitige  Gedichte  "T/ie  Tltree 
Graves,  A  Fragmmt  ofaSexton's  Tale"  (1797—1809)  und  ''The 
BaUad  ofthe  Bark  LmUe''  samt  Einleitung  *'Love'  (1798—1799), 
Im  ersten  Gredichte  treten  Personen  aus  dem  bäuerUchen 
Kreise  aul*  und  die  Handlung  geht  auf  wahre  Geschehnisse 
zurück :  eine  Hexe  von  Mutter  ist  in  rasender  Leidenschaft 
zum  Bräutigam  ihrer  Tochter  erfüllt;  doch  er  stößt  sie 
zurück  und  heiratet  das  Mädchen;  ein  entsetzlicher  Fluch 
ist  der  Mutter  Mitgift ;  auch  eine  treue  Freundin  des  jungen 
Ehepaares  wird  um  ihrer  Treue  willen  von  dem  Unweibe 
verflucht.  Als  sich  eben  die  Wirkungen  des  Fluches  zu 
zeigen  beginnen,  bricht  das  Gedicht  ab.  Der  Erzähler  ist 
der  Dorft^tengräber.  Metrum  und  volkstiimlicher  Stil  ge* 
mahnen  zuweilen  an  Anc,  Mar.,  die  Verfluchung  und  das 
Lokal  ( Alfoxden  und  Ötowey)  an  Chrisiabel  Das  zweite  Gedicht, 
gleichfalls  ein  Torso,  handelt  in  einer  persönlich  belebten 
Einleitung  von  einem  treuen,  aber  lange  verschmähten  Ritter» 
tlem  auf  seinen  rastlosen  Wanderungen,  zu  denen  ihn  sein 
Wahnsinn  treibt,  oft  ein  Teufel  in  Engelsgestalt  erschien. 
Wie  in  einem  Traume  errettet  er  dann  seine  Geliebte  aus 
jKäuberhand  und  stirbt  wahnsinnig  in  ihren  Armen,  die 
|jet>zt  erst  seine  Liebe  erkennt  und  erwidert:  "es  ist 
I  dasselbe  Schicksal,  welches  Christabel  uml  ihrem  BräuHga^^ 
bevorstand,  wenn  es  der  Hexe  gelungen  wäre,  sie  zu  verblenden*' 
(Brandl,  S,  229).    Die  Haupterzählung   blieb   unvollendet; 


Einleitung. 

Züge   darin   erinnern   an  Bürgers  **L€Hor€^';  märchenhaftes  | 
Dunkel  heiTscht  vor. 

Diese  unseren  beiden  Balladen  verwandten  und  zum  Teil 
von  ihnen  angeregten  eigenen  Dichtungen  sind  aber  eben 
nicht  hoch  anzuschlagen,  denn  sie  reichen  an  Wert  nicht 
an  sie  heran.  Bedeutender  sind  die  Anregungen,  die  fiir  die 
Werke  anderer,  größerer  Dichter  aus  diesen  zwei  Gedichten 
hervorsprossen.  Der  Anc,  Mar,  wirkte  als  Ganzes  noch 
weniger ;  einzelne  Teile,  wie  zum  Beispiel  die  Stelle,  wo  das 
Schiff  faulend  im  faulenden  Meere  liegt  und  von  elfischem  ■ 
Licht  umkreist  wird,  sind  nachgeahmt  worden.  Sir  Walter 
Scotts  **Lord  qf  the  Isks'\  I,  21  geht  (nach  Scotts  eigener 
Anm.)  auf  Anc.  Mar.,  272—276  zurück: 

"Äwaked  hefare  ihe  rushinff  prow, 
The  mimie  ßres  of  ocean  ghw, 
Those  lightmng^  of  ihe  %üare; 
Wild  Mpttrkles  crtit  the  brokeji  iideg, 
And,  flashing  round,  the  vesseVs  ddeß 
WitJi  elpinh  lusire  lavt, 
While,  fax  behind,  their  Uvid  Ught 
To  the  dark  hülawi  of  ihe  night 
A  gloomg  gplendour  gave,*^ 


aÜA«    ^B 


BjTon  dürfle  in  '^Darhic^s"  die  Schilderung  des  Rückfalles 
ins  Chaos  unter  dem  Eindrucke  dieser  Stelle  von  Col.  ge- 
dichtet haben    (faulendes  Meer,   verschmachtende  Schiffer)  U 
(Brandl,  S.  214/215).  ■ 

Christ  hat  entschieden  den  größten  Eindruck  auf 
Scott  gemacht;  in  der  Einleitung  zur  Ausgabe  seiner 
Gedichte  1830  gesteht  er  ihn  auch  hochherzig  ein;  er  er- 
kennt hier  an,  daß  CoL  zuerst  das  unregelmäßige  VersmaU 
fiir  ernste  Stücke  eingefiihrt  habe  (ein  Irrtum,  der  ja  von 
Col.  selber  herrührt),  und  gibt  zu,  in  seiner  Nachahmung 
eich  des  höchst  charakteristischen  Maßes  bedient  zu 
haben.  —  In  ''The  Laij  of  the  Last  MmstreV\  J,  hat  er 
Zeile  3  und  5  den  Versen  54  und  127  nachgebildet; 
daß  Scotts  Gedicht  schon  1805  erschien,  ist  keiu  Gegenbeweis, 
da  wir  schon  wissen,  daß  er  Christ,  vorlesen  gehört  hatte,  — 
Noch  1818  setzte  Scott  (wie  sonst  oft)  ein  paar  Verse  von 
Christ,  aus  dem  Gedächtnisse  als  Motto  vor  das  9,  Kapitel  des 
*^Black  DwarT'  (s.  LA.  V.  81).  —  Das  sind  Einzelheiten; 


I 


2.  Christabel. 


43 


seheu  wir  uns  aber  Scotts  Beimerzählungen  in  ihrer  Gesamt- 
heit an.  so  erkennen  wir  sofort,  daß  diese  unbeschränkte  Form, 
etwas  gemildert y  dieses  Metrum,  dieser  Stil  und  diese  Kom- 
position bis  zu  kleinen  Zügen  herab  ein  Gepräge  tragen, 
das  ja  zum  Teil  von  Scotts  bisheriger  Bildung  herrtihrt, 
aber  ganz  bestimmt  auch  von  der  Bekannt schaft  mit  Col/s 
Dichtung  angeregt  ist.  Ein  schlagendes  Beispiel  hiefür  ist 
Scotts  Romanze  *'The  Bridal  of  Triermame*\  1813  anonym 
erschienen,  die  (außer  dem  gleichen  Namen}  auf  den  ersten 
Blick  80  an  CoL^s  ganze  Manier  erinnert,  daß  schon 
Jitaeku'ood^s  Magazine,  April  IS  17  kösthch  behauptete,  das 
Gedicht  gebe  sich  zwar  als  Nachahmung  Scotts,  sei  aber 
doch  mehr  Nachahmung  CoL's  (im  besten  Sinne),  besonders 
die  äußere  Form  erinneite  den  Rezensenten  sehr  stark  an 
Christ ;  er  vergleicht  zu  diesem  Zwecke  ausdrückhch  Br. 
cfTr.  I,  2,  8—10;  I,  3,  1—4;  I,  4,  6—11;  I,  5,  10—12  und 
18 — 20;  L  28— 3L  Überdies  haben  wir  auch  in  diesem 
Gedichte  eine  nächtliche  Frauenei^cheinung  und  das  Ver- 
hältnis: alter  Vater  und  junge  Tochter  —  wie  in  Christ,; 
auch  ein  dräuender  Blick  wird  erwähnt  und  der  Baron 
Roland  de  Vaux  of  Triermain  (s.  Änm.  zu  V,  407)  hat  eine 
Schar  Minstrels  an  seinem  Hofe. 

Doch  auch  Byron  steht  imter  Col/s  Zeichen.  1813 
erschien  sein  ^'Giaour\  der  wie  Scotts  Romanzen  ganz  im 
Tone  der  Col.'schen  Dichtung  gehalten  ist.  181B  veröffent- 
lichte er  '*T//e  Siege  of  CorinUr  imd  schrieb  zu  V.  476  in 
einer  Anmerkung:  "/  must  here  acknowlcdge  a  dose,  ihoutjU 
nnintentiona},  resenihlance  in  thesc  twelve  lines  to  a  passctge  in 
an  unpuhlishvd  poem  of  Mr.  Cohridge^  called  *Chrisiabel\  It 
ums  Hut  tili  after  thesc  lines  teere  wriiten  (hat  I  heard  that 
mld  and  singularly  original  and  beautiful  poem  recited:  and 
ihe  MS^  of  that  production  I  neuer  saiv  tili  very  recimtly^  hy 
the  iindne^s  of  Mr,  Col,  himself  who,  I  hopc,  is  convinced, 
that  I  have  not  heeti  a  wilful  pluqiarist,  The  original  idea  un- 
douhtedly  pertains  to  Mr.  Coleridge,  rvhose  poeut  has  been  cottt- 
posed  (d/ove  fourtcen  years.  Let  me  conchide  by  a  hopc  that  he 
mll  not  longer  delay  the  publieation  of  a  produetion,  of  which 
I  mn  only  add  my  mite  of  approbation  to  the  applause  of  far 
more  conipetetit  judges/'  Demgegenüber  steht  aber  ein  Zeugnis 
bei    Medwiu,    Conversations    (f  Lord   Byrons   London    1824, 


Einleittuig. 


p.  212  t;  ''Some  ciffht  or  tm  lines  of 'OmstobeV  found  ihem- 
9elvts  in  *The  Sie^e  of  Corinih*,  I  hardljf  Imaw  hawJ* 

Wie  vereinigen  sich  diese  beiden  Aussprüche?  Brand] 
und  Schipper  sind  der  festen  Ansieht,  daß  in  dem  ersten 
Zeugnisse  ein  Gedächtnisfehler  Byrous  vorliegt,  er  also  das 
Gedicht  doch  schon  vor  seinem  eigenen  Werke  kennen 
gelernt  hat ;  Kölbing  in  seiner  Ausgabe,  p.  XXXV  und  103, 
bestreitet  dies,  da  die  Ähnlichkeit  der  beiden  iu  Frage 
kommenden  Stellen  zu  allgemein  sei^  abgesehen  davon,  daß 
man  den  **Dichter  nicht  Lügen  strafen  dürfe'*.  Zum  Tat- 
sächlichen ist  zu  bemerken,  daß  in  beiden  Stelleu  (Siege 
474—481  und  CkrisL  37 — ^52)  der  Ausdruck  ihe  wind  moamih 
vorkommt,  der  doch  nicht  selbstverständlich  imd  un- 
vermeidlich ist,  von  sonstigen  Ähnlichkeiten  zu  schweigen. 
In  Byrons  Anmerkung  fällt  auf,  daß  er  hofft,  CoK  werde 
ihn  nicht  einen  •'absichtlichen  Entlehner"  nennen;  heißt 
das  nicht:  **EntleJint  hab'  ich  zwar,  aber  ich  kann  nichts 
dafiir'^SP  Das  frühere  Abstreiten  kann  auch  ich  nur  als 
YergeBlichkeit  deuten*  Medwin  gegenüber  ist  er  übrigens  fl 
schon  recht  vorsichtig:  "/  imrdly  know  haui'\  und  da  identi-  ^ 
fizioit  er  seine  Verse  doch  direkt  mit  denen  Col/s.  Wenn 
nun  auch  Kölbings  Ansicht  in  vollem  Umfange  nicht  zu 
Recht  besteht^  so  ist  sein  Hinweis  auf  Southeys  **TlmlnJ)a 
the  De8(roper'\  V,  20,  IflF.  nicht  zu  verachten:  er  nimmt 
diese  in  der  Tat  verwandte  Stelle  als  Quelle  für  Christ*^ 
Sie^e  und  iciy  of  L,  Minsir.  in  Anspruch*  Ist  nun  Col.  _ 
davon  beeinflußt,  so  läßt  sich  die  Übertragung  auf  Byron  ^ 
leicht  erklären;  an  eine  direkte  Herübemahme  kann  ich 
nicht  glauben.  Warum  übersah  Kölbing  übrigens  die  bei 
ihm  p.  Xni  zitiei*te  Stelle  aus  Moores  Anmerkimgen  und 
wozu  wies  er  auf  die  Almlichkeit  von  Siege  of  Cor,  199  f, 
imd  Christ,  16  f,  hin,  wenn  er  an  keine  Beeinflussung  durch 
CoL  glaubte? 

Noch  fUr  einen  bedeutenden  Dichter  ist  Christ,  als 
Anregung  wichtig:  für  J,  Keats*  Schon  Brandl  weist 
auf  Stimmung  und  Manier  des  Gredichtes  ^*The  Eve  of 
SL  Agnes"  (1819)  hin  (S.  227),  die  gan£  im  Stile  Col/s  gehalten 
smd.  Und  wirklich  finden  sich  auch  hier  die  Ausnutzung 
den  Tolksaberglaubens  zur  Motivierung  der  Handlimg,  das 
Waaen  der  Handlung   selbst^  nämlich   das  geringe  drama- 


2.  Christahel 


46 


tische  Element,  die  dürftige  Erzähliiiig,  die  Schlafzimmer- 
szenerie  und  dann  vor  allem  andern  die  herrlichen  lebenden 
Bilder,  hier  noch  abgeschlossener  durch  die  künstlerische 
Strophenform,  prangend  in  glühenden,  aber  nicht  grellen 
Farben,  Da  ist  der  Meister  noch  gemeistert  worden.  — 
hidirekt  hat  der  Stoff  durch  das  Medium  von  CoK's  **Dark 
Ladic'  auf  Keats^  *'La  Belle  Dame  sans  Mercy'  (1819)  Ein- 
fluß genommen :  Waldeinsamkeit,  die  Hexe  und  der  hebende 
Ritter,  die  Umarmung  und  der  gemeinsame  Schlaf  gemahnen 
an  CoL's  Art.  —  Vielleicht  hat  wie  bei  Walter  Scott  auch 
bei  Keats  eine  Versstelle  so  gewaltigen  Eindruck  hinter- 
lassen, daß  er  sie»  wohl  unbewußt,  nachgeahmt  iiat.  Ich 
meine  das  im  Jahre  1818  erschienene  Gedicht  ^'Huslt,  Imsh!'* 
Man  vergleiche  nur  die  Verse: 

"Hush,  hush!  Tread  softly!  hush,  hu^h,  my  dear! 
AU  th€  hou8€  iit  asUepj  but  wf  know  very  well 
Thai  the  jeahus,  the  jeakma  old  hald-puU  may  hear, 
Tho'  ffou  'pf  padded  hia  mghl-cajy  —  O  »toeti  Isabel  f' 

mit  ChrisL  164  ff.,  wo  auch  das  leise  Schleichen  zu  nächt- 
licher Weile,  um  den  Alten  (hier  wohl  den  Gatten!)  nicht 
zu  wecken,  geschildert  ist.  Auch  der  ähnliche  Name  scheint 
mir  auf  Verwandtschaft  hinzudeuten,  wenn  auch  die  weitere 
Handlung  sich  ganz  anders  entwickelt* 

Solche  einzelne  Stellen  sind   an  und  fiir  sich  wichtig, 

aber  sie  verschwinden  gegen   die  nicht   in  Parallelstellen, 

sondern  durch  das  Gefiihl  nachweisbaren  Übereinstimmungen 

im  ganzen  Aufbau  und  Aussehen  eines  Kimstwerkes,  wie  sie 

I  sich  im  Dichterzirkel  um  das  Jahr  1820  häufig  genug  finden. 

Und    das    erhöht   Col.'s    Bedeutung,    daß    durch   seine 

ien   ein  Walter  Scott,  ein  Lord  Byron   zur  roman- 

1^3 sehen  Erzählung  angeregt  worden  sind.   Die  einzelnen, 

^rein  "interessanten"  Züge  der  beiden  besprochenen  BaUaden, 

|die  noch  bei   Scott  und   Byron   anfangs    durchschimmern 

[(so  die  Manier^   das  Verbrechen  des  ''edlen  Schurken"  gar 

nicht  ['*Lara*\  '^Manfred"]  oder  erst  am  Ende  p*Marmim'J 

zu  enthüllen),  verblassen  dann  allmählich,  das  Phantasiefieber 

wird  beruhigt  und  in  den  späteren  Schopftmgen  der  beiden 

größten  Erzähler  der  englischen  Romantik  finden  wii*  dann 

einen  geklärten  und  herzerfi*euenden  Abschluß  dieser  ganzen 

Bichtung. 


Text  und  Lesarten. 


The  Rlme  of  the  Ancyent  Marinere 

IN  SEVEN  PARTS. 

Argument. 

How  R  Ship  haviug  passed  the  Line  was  driven  by  Storms  to 
tbo  cold  Country  towards  the  South  Pole;  and  how  firom  thence  she 
jnade  her  course  to  the  tropieal  Latitnde  of  the  Great  Pacific  Ocean; 
Rud  of  the  Strange  thiogs  that  befeil ;  and  in  what  manncr  the  Ancyent 
Marinere  came  back  to  bis  own  Country. 


Tt  \s  au  ancyent  Marinere, 

Aud  he  »toppeth  one  of  three: 
*^By  thy  long  grey  beard  and  thy  gUttering  eye 

"Now  wherefore  stoppest  ine? 

**Tli6  Bridegroom's  doors  are  open'd  wide 

"And  I  am  next  of  kin; 
*The  Guest«  are  niet,  the  FeaÄt  is  fet,  — 

*'May'*>t  hear  the  merry  din. 

But  still  he  holds  the  wedding-giiest  — 

There  was  a  Ship,  quoth  he  — 
'^NaVi  if  thouVst  got  a  laiighsome  tale, 

"Marinerei  come  with  me/* 

He  holds  him  with  bis  sklnny  band, 

Quoth  he^  tiiere  was  a  Ship  — 
"Now  get  thee  hence,  thou  grey-beard  Loon! 

"Or  niy  StaiOT  shall  mako  thee  skip. 

Links  ist  der  Text  von  A,  rechts  der  von  S  mit  einigen  kleinen» 
meist  orthographischen  Änderungen  gedrtickt.  Rein  InterpimgLStische*<i 
blieb  unberücksichtigt.  —  Titel  und  1»  in  A  itfortfttfrtf,  archaisierende 
Ortliographie,  durch  die  Messung  ^^ '-  gerechtfertigt;  alle  diese 
f'ormen  in  S  zu  Maniier  umgestaltet;  ebenso  Änofent  zu  andctü.  Vgl. 
A  112],  2(),  44,  72,  77,  88,  21G,  m%  [363,  374],  m,  G51  mit  8  16,  20, 
40,  74,  79,  90,  224,  337,  345,  429,  618.  Dagegen  hat  517.  S  uns  Reim- 
grOndon  tue  Form  von  550.  A.  beibehalten.  —  3,  A  die  unntltze  Wieder- 


Text  und  Lesarten. 


The  Birne  of  fhe  Ancient  Marlner 

IN  SEVEN  PAKTS. 

Facile  credo,  plnres  esse  Natoras  invisibiles  quam  visibiles  in 
reniin  nniversitate.  Sed  homm  omninm  familiam  qnis  nobis  enarrabit, 
et  gradus  et  cognationes  et  discrimina  et  singalorum  munera?  Quid 
agunt?  qu8B  loca  habitant?  Hamm  rerum  notitiam  semper  ambivit 
Ingenium  humanum,  nunquam  attigit.  Juvat,  interea,  non  diffiteor, 
qoandoque  in  animo,  tanquam  in  Tabula,  majoris  et  melioris  mundi 
imaginem  contemplari :  ne  mens  assuefacta  hodiemee  vitee  minutiis  se 
contrahat  nimis,  &  tota  subsidat  in  pusillas  cogitationes.  Sed  veritati 
interea  invigilandum  est,  modusque  servandus,  ut  certa  ab  incertis, 
diem  a  nocte,  distinguamus.  —  T.  Burnet:  Ärchaol.  PJiU.  p.  68. 

Part  I. 


mMUOi  thiM  GttlUiüi 
biddm  to  •  w«4dk«- 


It  is  an  ancient  Mariner, 

And  he  stoppeth  one  of  three.  »•'*^"  •••w.ddtar 

^'By  thy  long  grey  beard  and  glittering  eye, 

"Now  wherefore  stopp 'st  thou  me? 

"The  Bridegroom's  doors  are  opened  wide, 
"And  I  am  next  of  kin ; 
"The  guests  are  met,  the  feast  is  set: 
"May'st  hear  the  merry  din." 


He  holds  him  with  his  skinny  band, 
10    "There  was  a  ship,"  quoth  he. 

"Hold  off!  unhand  me,  grey-beard  loon!'' 
Eftsoons  his  band  dropt  he. 

holung  des  Possessivs  und  starke  Senkungsbelastung  in  S  getilgt.  — 
4.  A.  Die  altertümlich  lange  Form  ist  in  S  aufgegeben  und  die 
frei  gewordene  Senkungssilbe  zur  besseren  sjnitaktischen  Fügung  ver- 
wertet. —  5.  A  open'd  in  S  opened:  solche  rein  äußerliche  Änderungen 
bleiben  fttrder  unerwähnt.  —  9—16.  A  entsprechen  9—12.  S.  Das  Motiv, 
daß  der  Hochzeitsgast  glaubt,  der  Anc.  Mar.  wolle  ihm  eine  lustige 
Geschichte  erzählen,  ist  als  der  Erscheinung  des  Alten  widersprechend 
glücklich  fallen  gelassen.  Zu  16.  A  zieht  H.  an:  K.  Lear,  F.  3,  ^78 f: 


■r.^     lüI |tr*i 


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'^»^«  ii^>    —  r.  1  1«^  -  >:=  r::  «ic  -  .^ifnÄer:;  <>M&$o  ä  und  4i.  A 

/v«.*  y.  i:  •  fc.^i.*:  5:=::^    —   4^— *?.  A  £::r:i  41— Ä.I.  S  «»trt.  die 

y>*r>M.  '^j^jfz.:  f^  i^iÄ'i-rii.Lier  G-e'wiiir  4;i:  Kos5«in  des  bisher  strikt 


The  Ancient  Mariner.  49 

He  holds  him  with  his  glittering  eye  —  l^ii^!!^!^!^,^ 

The  Wedding-Guest  stood  still,  of  tu.  om  Mm^t^m^ 

15    And  listens  Hke  a  three  years'  child:  ""^  b«»  u*  tai*. 
The  Mariner  hath  his  will. 

The  wedding-gaest  sat  on  a  stone: 
He  cannot  choose  but  hear; 
And  thus  spake  on  that  ancient  man, 
20    The  bright-eyed  mariner. 

"The  ship  was  cheer'd,  the  harbour  clear'd, 

Merrily  did  we  drop 

Below  the  kirk.  below  the  hill, 

Below  the  lighthouse  top. 

25    The  Sim  came  up  upon  the  left,  S^'.TSTSwmI^ 

Out  of  the  sea  came  he!  w»niwith«foo4wtod 

And  he  shone  bright,  and  on  the  right  *itr«Mii^tk«u^ 
Went  down  into  the  sea. 

Higher  and  higher  every  day, 
30    Till  over  the  mast  at  noon  — ' 

The  Wedding-Guest  here  beat  his  breast, 
For  he  heard  the  loud  bassoon. 

The  bride  hath  paced  into  the  hall,  '^l^ül^'SS 

Ked  as  a  rose  Ls  she:  Bm»ic;b«ttb«»«üi« 

coatfntMth  hl*  !•!•. 

35    Nodding  their  heads  before  her  goes 
The  merry  minstrelsy. 

The  Wedding-Guest  he  beat  his  breast, 
Yet  he  cannot  choose  but  hear; 
And  thus  spake  on  that  ancient  man, 
40    The  bright-eyed  Mariner. 

"And  now  the  Storm-blast  came,  and  he  SmliwüttÜ^tJ 

Was  tyrannous  and  strong:  ?»>•• 

He  Struck  with  his  o'ertaking  wings, 
And  chased  us  south  along. 

45    With  sloping  masts  and  dipping  prow, 

As  who  pursued  with  yell  and  blow 

6till  treads  the  shadow  of  his  foc. 

And  forward  bends  his  head, 

The  ship  drove  fast,  loud  roared  the  blast, 
60    And  southward  aye  we  fled. 

eingehaltenen  alten  Metrums  (s.  o.  S.  9,  u.).  B  bedeutet  einen  schüch- 
ternen Übergang  zu  S,  der  noch  im  alten  Prinzipe,  aber  nicht  so 
sprunghaft  gehalten  ist:  But  now  the  Norihwind  came  tnore  ßerce,  /  TJiere 
came  a  Tempest  strong!  /  And  Southward  still  for  days  and  weeks  /  Like 
(hqff  we  drove  dlong.  Die  zur  besseren  Verbindung  nun  in  B  folgende 
Zeile  Änd  now  there  came  both  Mist  and  Snow,  behielt  Col.  glücklich 
£  i  o  h  1  e  r ,  The  Ancient  Marin  er  u.  Chriit.  4 


The  Ancjent  Marinere. 

Listen,  Stranger!  Mist  and  Snow, 

And  it  grew  wond'roas  caold: 
And  Ice  mast-blgh  came  floating  by 

As  green  as  Emerauld« 

And  thro'  the  drifts  th©  üiowy  clifts 

Did  send  a  di^^mal  sheen; 
Ne  äbapes  of  men  ne  bea^ts  we  ken  —  55 

Tbe  Ice  was  all  between, 

The  loe  was  here,  the  Ice  was  there, 

The  Ice  was  all  around: 
It  crack'd  and  growrd^  and  roar'd  and  howl'd  ^ 

Like  noi^es  of  a  swoimd.  60 

At  length  did  cross  an  Albatross, 

Thorough  the  Fog  it  came; 
And  an  it  were  a  Chni^tian  Soul, 

We  haiVd  it  in  God^s  name. 

The  Marineres  gare  it  biscuit-worms,  66 

And  round  and  round  it  flew: 
The  Ice  did  split  with  a  Thunder-fit; 

The  Helmsman  steer*d  us  thro\ 

And  a  good  south  wind  sprung  up  behiod| 

Tbe  Albatross  did  foilowj  TO 

And  every  day  for  food  or  play 

Came  to  the  Marinere *s  hollo! 

In  mist  or  cloud  on  mast  or  shroud 

It  perch'd  for  vespers  nine^ 
"^YhEes  all  the  night  thro*  fog  smoke-white  15 

Glimmernd  the  white  moon-shine. 

*'God  save  theej  auoyent  Marinere! 

**From  the  fiends  that  plague  thee  thus  — 
"^Miy  look'st  thou  so?'*  —  with  my  cross  bow 

I  shot  the  Albatross.  80 


bei.  Das  ai'chaisierende  cauld  in  50.  A  ist  schon  in  B  durch  cold  ersetzt, 
ebenso  dann  52.  A  Emeratild  durch  emerald.  —  55.  A  fie.. . ne  als  allzu 
archaistisch  durch  fior . .  .  nor  in  S  ersetzt,  —  GO.  A  von  einem  Bezen- 
8enten  (wahrscheinlich  Wrangham)  als  Unsinn  getadelt  f British  Critic, 
fJct  1799),  daher  von  Col.  in  B  und  den  folgenden  Drucken  geändert: 
A  wild  and  ceaseUss  sound,  aber  mit  leichter  Änderung  in  B  wieder 
hergestellt,  H.  verteidigt  diese  ursprüngliche  Lesart:  "Bui  ihere  ii 
nathm§  amiss  with  'noises  of  /'m'  1817 J  a  stotmnd/  Swound  ihe  reviewcr 
ought  to  liave  known  as  an  obsolete  forvt  of  swoon,  for  it  occun  m 
many  Elizaheihan  and  later  writers  —  Drayton,  Lyly,  Beaumont  and 
Fletcher,  Middkton,  Bishop  HaU  cfrc.  Col  iook  ii  —  ahnt)  with  l  wist 


The  Ancient  Mariner.  51 

And  now  there  came  both  mist  and  snow, 
And  it  grew  wondrous  cold: 
And  ice,  mast-high,  came  floating  by, 
As  green  as  emerald. 

ob    And  through  the  drifts  the  snowy  clifte  SliSnÜ?^ 

Did  send  a  dismal  sheen:  »o  uti.»  »taf  w.«  to 

Nor  shapes  of  men  nor  beasts  we  ken  — 
The  ice  was  all  between. 

The  ice  was  here,  the  ice  was  there, 
^    The  ice  was  all  aroiind: 

It  cracked  and  growled,  and  roared  and  howled, 
Like  noises  in  a  swound! 

At  length  did  cross  an  Albatross:  2SJ  üTaK^SS 

Thorough  the  fog  it  came;  ^I^f^^StL* 

65    As  if  it  had  been  a  Christian  sonl,  rM«tT*d  wim  «iMt 

We  haüed  it  in  God's  name.  jo.«,^uut,. 

It  ate  the  food  it  ne'er  had  eat, 
And  round  and  round  it  flew. 
The  ice  did  split  with  a  thunder-fit; 
70    The  helmsman  steered  us  through! 

And  a  good  south  wind  sprung  up  behind;  p^ril.'.*?i,5*i?^ 

The  Albatross  did  follow,  o-e»,  «»d  f«iiow.th 

And  every  day,  for  food  or  play,  ^nhwm^üav^^toit 

Came  to  the  mariners'  hello!  *"      «»f»«* 

75    In  mist  or  cloud,  on  mast  or  shroud, 
It  perch'd  for  vespers  nine; 
Whiles  all  the  night,  through  fog-smoke  white, 
Glimmered  the  white  Moon-shine.' 

"God  save  thee,  ancient  Mariner!  ^1,1^*4 SST 

80    From  the  fiends,  that  plague  thee  thus!  —  th.pk»-wrdoffoo4 

Why  look'st  thou  so?"  —  With  my  cross-bow 
I  shot  the  Albatross! 

(I'Wia,  I144),phere  (feere  1180),  sterte  (1195),  eldritch  (eld- 
ridge,  l  234),  and  beforne  (biforne,  l  373)  —  fro^n  Percy'a 
'restoretJ^  ballad  of  Sir  C auline,  which  also  aerved  htm  as  a  metrical 
model  for  (he  Ancyent  Marinere.  In  Sir  C auline,  swound  rhymes 
wi^  g round,  and  in  Drayton's  Baron* s  Wars  U.  40,  with  drownd, 
so  ihat  Col.  is  right  in  coupling  it  here  with  around.  The  final  *d^  is  a 
natural  otUgrotcth  due  to  accentual  stress,  as  in  bound,  rightly  boun 
'ready  to  go',  and  round,  rightly  roun,  'to  whisper*,  Cf.  the  vulgär 
gownd  and  drownded/'  —  63.  A  And  an  it  were  durch  die 
modernere  und  zeitlich  genauere  Fügung  as  if  it  had  been  in  65.  8 
ersetzt;  metrisch  etwas  plumper.  —  65.  A  als  allzu  trivialer  Zug  durch 

4* 


68 


The  Ancyent  Marinere* 


n 

The  Sun  came  up  npon  the  right, 

Out  of  the  Sea  came  he; 
And  broad  as  a  weft  upou  the  left 

Went  down  into  the  Sea. 

And  the  good  south  wind  still  blew  Ijehiud, 

Hut  no  sweet  Bird  did  ibllow 
Ne  auy  day  for  food  or  play 

Came  to  the  Marinere^s  hollo! 

And  I  had  done  an  hellish  thing 

And  it  would  work  'em  woe: 
For  all  av©rr*a,  I  had  kOFd  the  Bird 

That  raade  the  Breeze  to  blow. 


8& 


00 


Ne  dim  ne  red,  llke  God's  own  head^ 

The  glorious  Sun  uprist: 
Tben  all  averr'd,  I  had  kilPd  the  Bird  95 

That  brought  the  fog  and  mist, 
*T\ras  right^  said  they,  such  birds  to  slay 

Tbat  bring  the  fog  and  niist. 

The  breezes  blew,  the  white  tbam  flew, 

The  innow  follow^d  free:  100 

We  were  the  flrst  that  ever  hurst 

Into  that  (Klient  Sea. 

Down  dropt  the  breeze,  the  Saib  dropt  dovNn^ 

Twas  sad  as  sad  could  be 
And  we  did  speak  only  to  break  1(J5 

The  süence  of  the  Sea. 

das  Unbestimmtere  in  S  ersetzt,  —  74.  S  Ca  liest:  marineres,  was  mit 
Rücksicht  auf  m.  S  ein  Df.  sein  dürfte,  —  8L  A  TJit  Stm  came  up 
in  8  The  Sun  iiow  rase*  Der  üblichere  Ausdruck  für  den  Soanen- 
aulgang  ist,  vielleicht  auch  der  Alliteration  zuliebe,  eingeführt.  — 
89.  A  And  broad  as  a  wrft  in  B  ff.  durch  Still  hid  in  misi  ersetzt^  dem 
Bezensenten  (s.  zn  00,  A)  zu  Gefallen.  H.  gibt  hiezu  in  zwei  au&- 
ftlhrlichen  Anmerkungen  die  Wort  geschieh  te  von  weft,  das  er  zn  wa0\ 
wat>e  (M.  E.  tcauen,  A.  S.  waßun)  stellt^  wobei  er  Vermengung  mit 
icai/j  isl.  veif  annimmt,  welch  letzteres  "irgend  etwas  Flatterndes" 
bedeutet.  ^A  wefi,  waft  or  wheft  (»ee  Admiral  Smtfüis  SaÜor^s  Word 
BoaJcJf  w  a  fla^,  ffaOiered  in  and  tied  acroM  with  a  cord  near  the  Jiead 
(or  pafi  nexi  Ute  staß),  the  rc^t  of  the  bunting  being  allowcd  to  fly  free.* 
H.  zieht  Merdi,  of  Venice,  V,  1,  11  an,  kein  sehr  gutes  Beispiel,  und 


i 


The  Ancient  Mariner.  53 

Part  n. 

The  Sun  now  rose  upon  the  right: 
Out  of  the  sea  came  he, 
85    Still  hid  in  mist,  and  on  the  left 
Went  down  into  the  sea. 

And  the  good  south  wind  still  blew  behind, 
But  no  sweet  bird  did  follow, 
Nor  any  day  for  food  or  play 
90    Came  to  the  mariners'  hollo! 

And  I  had  done  a  hellish  thing,  "i^STSr«?«?' 

And  it  would  werk  'em  woe:  ^'^TS/'^iTiS?* 

For  all  averred,  I  had  killed  the  bird 
That  made  the  breeze  to  blow. 
95    Ah  wretch!  Said  they,  the  bird  to  slay, 
That  made  the  breeze  to  blow! 


Nor  dim  nor  red,  like  God's  own  head,  .i^^^^'^^'i^ 

The  glorious  Sun  uprist:  ™L.T«i^«  *"::! 

Then  all  averred,  I  had  killed  the  bird  compuc«.inth«erim«. 
IOJ    That  brought  the  fog  and  mist. 

'Twas  right,  said  they,  such  birds  to  slay, 
That  bring  the  fog  and  mist. 

The  fair  breeze  blew,  the  white  foam  flew,  Si;Jr^.*2ir«t^ 

The  furrow  stream'd  off  free;  i*«/^^.;:; 

105    We  were  the  first  that  ever  burst  tiiiu»««cb«tk.ui»«. 


Into  that  silent  sea. 

Down  dropt  the  breeze,  the  sails  dropt  down, 
'Twas  sad  as  sad  could  be; 
And  we  did  speak  only  to  break 
110    The  silence  of  the  sea ! 

Scott,  The  Abbat,  eh.  XXIX:  'There  have  already  been  made  two  wefts 
from  the  ujarder's  turret  to  intimate  that  those  in  the  casile  are  impatient 
for  your  retum,'  Treffend  ist  H.'s  Charakteristik  unseres  Verses:  'Col. 
compares  the  stmset  Streaming  from  ihe  central  orb  upon  the  xoatera, 
like  a  reaplendent  cloth  of  gold,  to  the  bunting  apreading  out  upon  the 
breeze  from  ihe  Oed  centre.'  Femer  gibt  er  Bedeutungsschattierungen 
von  weft  aus  Spenser  (F.  Q.,  III.  X.  86,  V.  UI.  27),  Ben  Jenson 
(E,  Man  out  of  his  H.),  Shelley  (To  the  Queen  of  my  Heart,  12)  und 
Browning  (SordeUo,  Bk.  11;  Two  in  the  Campagna).  —  92.  A  Um  den 
Vorwurf  noch  schwerer  zu  machen,  wird  er  in  S  durch  95/96.  em- 
phatisch in  direkter  Bede  wiederholt.  —  98.  A  siehe  L.-A.  zu  55.  A. 
like  Ood's  own  head  war  in  B  ff.  dem  nörgelnden  Rezensenten 
(s.  60.  A  L.-A.)  zuliebe  in  like  an  AngeVs  head  geändert  worden.  Dieses 


Tb«  thlp  hkth  b««a 
tnddraly  b«calm«4. 


64 


The  Ancyent  Marinere. 


All  in  a  bot  and  copper  sky 

The  bloody  suo  at  noon^ 
Eight  up  above  tiie  ma^st  did  staud, 

No  bigger  iban  the  moon. 

Day  after  day,  day  after  day^ 
We  stuck,  ne  breath  ne  motion, 

As  idle  as  a  painted  Ship 
Upon  a  paiuted  Ocean. 

Water,  water,  every  where 
And  all  the  boards  did  sbrink; 

Water,  water,  every  wbere^ 
Ne  any  drop  to  drink* 

The  very  deeps  did  rot:  O  Chrift! 

That  ever  tiiis  should  be! 
Yea,  ölimy  thin^s  did  crawl  witb  legs 

Upon  the  sUmy  Sea. 

Aböut,  about,  in  reel  and  rout 
The  Death-fires  danc'd  at  night; 

The  water,  like  a  witch'H  oils, 
Burnt  greeii  and  blue  and  white. 

And  8ome  in  dreams  assured  were 
Of  the  Spirit  that  plagiied  us  so: 

Nine  fathoin  deep  he  had  follow'd  ns 
From  the  Land  of  Mist  and  Snow. 

And  every  tougue  tbro'  utter  dronth 

Was  wither*d  at  the  root; 
We  could  not  speak  no  more  tlian  if 

We  had  been  choked  with  soot. 

Ah  wel-a-day!  wbat  evil  looks 
Had  1  from  old  and  3^oung; 

Instead  of  the  Gross  the  Albatrosfi 
About  my  neck  was  bung. 


iio 


115. 


ISO 


1^ 


Zngestäudnii*  an  puritanische  Denkart  nahm  Col.  aber  in  8  wieder 
zurück.  —  110,  A  in  104. 8  wie  oben,  aber  1828  die  Lesart  von 
Äff,  wieder  hergestellt.  In  8  bemerkte  CoL  selber  hiezu:  'In  the 
fomier  edüion  tlie  line  weis  —  "The  furrow  foUow^d  frfe'*;  bul  I 
had  not  been  long  on  board  a  Mp  before  I  perceived  Hunt  this  toas  the 
image  as  seen  by  a  spectator  from  the  shore,  or  from  another  vessel.  From 
the  ship  itself  the  Wake  appearg  like  a  brook  flowing  off  from  the  stern.* 
Da  die  Anteilnahme  Col.^s  an  den  Korrekturen  der  späteren  Aus- 
gaben recht  gering  ist,  habe  ich  entgegen  Ca  die  auf  Cinind  einer 


I 


The  Ancient  Mariner.  56 

All  in  a  bot  and  copper  sky, 
The  bloody  Sun,  at  noon, 
Right  up  above  the  mast  did  stand^ 
No  bigger  tban  the  Moon. 

115    Day  after  day,  day  after  day, 

We  stuck,  nor  breath  nor  motion, 
As  idle  as  a  painted  ship 
üpon  a  painted  ocean. 

Water,  water,  every  where,  be^^li  S'^^ttS^L 

120    And  all  the  boards  did  shrink; 
Water,  water,  every  where, 
Nor  any  drop  to  diink. 

The  very  deep  did  rot:  0  Christ! 
That  ever  this  should  be! 
125    Yea,  slimy  things  did  crawl  with  legs 
Upon  the  slimy  sea. 

About,  about,  in  reel  and  rout 
The  death-fires  danced  at  night; 
The  water,  like  a  witch's  oils, 
130    Bumt  green,  and  blue  and  white. 

And  some  in  dreams  assured  were  i.i^'oil/ttl'to! 

Of  the  spirit  that  plaenied  us  so  ^•'"*  »»»«»»»»"«•  »• 

Nine  fathom  deep  he  had  followed  us  p^t««  miü«  aer 

From  the  land  oi  mist  and  snow.  wbomth«iMrMdj«w. 


135    And  every  tongue,  through  utter  drought,  pJir"*^***2rt«. 

Was  wither'd  at  the  root ;  »«lud.  Tbn^  •*•  rmrr 

We  could  not  speak,  no  more  than  if  '""u*I^'dini»t«  or  " 

We  had  been  choked  with  soot.  •'•""or  I^^JT  "" 

Ah!  well-a-day!  what  evil  looks  Th«iiüp«»to«,inth*ir 

140    Had  I  firom  old  and  young !  J^"  «£^5*3^  ZSSi 

Instead  of  the  cross,  the  Albatross  '""^«2«?;:^"* 

About  my  neck  was  hung.  :^r'!LtS,inii^ 

his  r««k. 

schärferen  dichterischen  Beobachtung  eingeführte  Lesart  in  den  Text 
eingesetzt.  —  112, 118.  A  s.  L.-A.  zu  55.  A.  —  139,  140.  A.  Ein  etwas 
flberstürzter  Übergang  zu  der  Erscheinung  des  GeisterschiiFes ;  dafür 
143 — 148.  S,  welche  die  lange  Leidenszeit  der  Seeleute  schildern  und 
so  das  Auf  bauchen  des  Fahrzeuges  als  Bettung  betrachten  lassen.  Um 
so  gräfilicher  wirkt  dann  die  Enttäuschung.  Nun  ist  auch  der  Zustand 
der  Elenden  durch  Wiederholung  des  Motivs  von  14S.  S  in  162.  S  ein- 
dringlich vorgefahrt.  B  bildet  hier  das  Mittelglied,  noch  ohne  so 
starke  emphatische  Wiederholung:  So  past  a  weary  Urne;  each  ihroat  / 


The  Ancyent  Marinere. 
Ul 


I  SAW  a  something  in  the  Sky 

No  bigger  than  m^'  fist; 
At  first  it  seem*d  a  little  3peck 

Aiid  theii  it  seem^d  a  mist: 
It  mov'd  and  mov'd^  ajid  took  at  last 

A  certain  shap6,  I  wist. 

A  speck,  a  mist^  a  .sliape,  I  wist! 

And  still  it  ner*d  and  ner'd: 
And,  an  it  dodg'd  a  water-sprite, 

It  plung'd  and  tack^d  and  veer'd. 

With  tbroat  unslack'd,  with  black  Ups  bak*d 

Ne  cotild  we  laugb^  ne  wail: 
Then  while  tkro*  drouth  all  diimb  they  stood 
I  bit  my  ann  and  suck*d  tbe  blood 

And  cry'dj  A  sail!  a  saill 

With  throat  iinslack'd,  with  black  lips  bak*d 

Agape  tliey  heai^'d  nie  call; 
Oramercy!  they  for  joy  did  grin 
And  all  at  ouce  their  breath  drew  in 

As  they  were  drinking  alL 

She  doth  not  tack  irom  side  to  side  — 

Hither  to  work  us  weal 
Withouten  wind,  withouteii  tide 

She  steddies  with  upright  keel. 

The  westem  wave  was  all  a  ilame, 

The  day  was  well  nigh  done! 
Almo?it  opon  the  westera  wave 

Bested  the  broad  bright  Sun; 
When  that  stränge  shape  drove  suddenly 

Betwixt  US  and  the  Sun. 


Was  pardid  and  gloj^d  eadk  eye,  /  Wherif  looking  weslward,  l  beheld  / 
Ä  SQnteihing  in  the  shf.  ~  147.  A  an  it  (S  And  m  tfit)  a,  zu  63.  A  (liier  indes 
mit  Beibehaltung  der  Zeit),  —  15^>,  A  außer  der  Abschafifuug  des  arch. 
ne  ,  ^  ,ne  in  S  Bessenmg  der  allzu  gekünstelteu  Werteste llung.  —  151.  A 
völlig  zu  159.  S  geimdert.  Der  jetzt  parataktische  Satz  ist  besser  zum 
vorhergehenden  gezogen;  der  Anc.  Mar.  bezieht  sich  ganz  richtig 
jetzt  selber  mit  in  die  Schar  der  Vei'schmachtenden ;  durch  das  Ver- 
schwinden der  Unterordnung  ist  eiu  Versfuß  frei  geworden :  ihn  tltUJt 
nun  das  noch  einmal  die  Schrecken  des  Augenblicks  zusamm entlassende 


The  Ancient  Mariner.  67 

Part  m. 

There  passed  a  weary  time.  Each  throat 
Was  parched,  and  glazed  each  eye. 
145    A  weary  time!  a  weary  time! 
How  glazed  each  weary  eye, 

When  looking  westward,  I  beheld  St^w'^rlJ^SI 

A  something  in  the  sky.  «lemwit  »st  oo. 

At  first  it  seem'd  a  little  speck, 
150    And  then  it  seem'd  a  mist; 

It  moved,  and  moved,  and  took  at  last 
A  certain  shape,  I  wist. 

A  speck,  a  mist,  a  shape,  I  wist! 
And  still  it  near'd  and  near'd: 
155    As  if  it  dodged  a  water-sprite, 
It  plonged  and  tack'd  and  veer^d. 

With  throats  unslaked,  with  black  lips  baked,  i*i2;S;^rCf; 

We  could  nor  laugh  nor  wail;  riup«iid«t«d«.rT««. 

^  '  loa  h«  fr««th  hl» 

Through  utter  drought  all  dumb  we  stood!  •p.^hftomthekood« 


of  thlnt. 


160    I  bit  my  arm,  I  sucked  the  blood, 
And  cried,  A  sail!  a  sail! 

With  throats  unslaked,  with  black  lips  baked, 
Agape  they  heard  me  call: 

Gramercy!  they  for  joy  did  grin,  Aa^horjoy. 

165    And  all  at  once  their  breath  drew  in, 
As  they  were  drinking  all. 

See!  see!  (I  cried)  she  tacks  no  more!  /o^'iiT^.'r^^i'i 

Hither  to  work  us  weal,  -  wlSI-r:^:*^^;» 

Without  a  breeze,  without  a  tide, 
170    She  steadies  with  upright  keel! 

The  westem  wave  was  all  a-flame. 
The  day  was  well  nigh  done! 
Almost  upon  the  westem  wave 
Bested  the  broad  bright  Sun; 
175    When  that  stränge  shape  drove  suddenly 
Betwixt  US  and  the  Sun. 

utter  aus.  —  152.  A  and  sucked  the  blood,  160.  S  /  sucked  {he  blood: 
wirksamere  Wiederholung  des  Pronomens.  —  154.  A  ihroat,  161.  8 
throats,  die  dem  modernen  Englisch  entsprechende  Pluralbezeichnung.  — 
159— 160.  A  durch  167— 168.  S  ersetzt.  Das  geisterhafte  Nahen  des 
Schiffes  wird  jetzt  mit  größerer  Wahrscheinlichkeit  vom  Anc.  Mar. 
erst  bemerkt,  als  es  schon  in  erkennbare  Weite  kommt ;  sein  Erstaunen 
ist  nun  klarer  ausgedrückt.  —  161.  A  =  169.  S.  Das  von  H,  auf 
Chaucer,  Leg,  of  Dido,  l,  46  (His  fere  and  he,  withouten  any  gyde) 
zarQckgefOhrt«  withouten  ist  modernisiert,  die  schwere  Assonanz  wind- 


1» 


he  Anc^^ent  Marinere. 


And  strait  the  Stm  was  fieck'd  with  bars 
(Heaven's  mother  send  us  grace) 

As  if  thro'  a  dungeon  grate  he  peer*d 
With  broad  and  buming  face, 

Alas!  (thoiight  I,  and  my  heart  beat  loiad) 
How  fast  äbe  neres  and  neres! 

Are  those  her  Sails  that  glance  iii  the  Smi 
Like  restless  gossainere«  ? 

Are  those  her  naked  ribs,  which  fleck'd 
The  sun  that  did  behind  them  peer? 

And  are  those  two  all,  all  the  crew, 
That  womau  aud  her  fleshless  Pheere? 

Hig  boues  were  black  i^^th  many  a  crack. 

All  black  and  bare,  I  ween; 
Jet-black  and  bare,  save  where  with  rust 
Of  moudly  damps  and  chainel  crust 

TheyVe  pateh'd  with  ptii-ple  and  green. 

Her  lips  are  red,  her  looks  are  free, 

Her  locks  are  yellow  as  gold: 
Her  skin  is  as  white  as  leproßy, 
And  she  is  far  liker  Death  than  he; 

Her  flesh  makes  the  still  air  cold. 

Tbe  naked  Htilk  alongside  came 
And  the  Twain  were  playing  dice; 

'*The  Game  is  done!  IVe  won,  IVe  wonl" 
Quoth  she,  and  whisüed  thrice. 


1751 


mai 


185 


19D. 


ist  nun  durch  hree£e*tiäe  ensetzt.  —  176.  A.  H,  zur  Stelle ;  *The 
SpelUng  gossamere  in  Draiftmi'n  Nymphidia,  XVIL  Chaucer  write^ 
gossomer  mrrecihf*  —  177— 185,  A  ent^spricht  dem  stark  gekürzten 
Abschnitte  185—189.  S,  Eine  bds.  Verbesserung  Col/s  in  einem 
Exemplare  von  A  las;  Are  those  her  ribs  which  fleck' d  iJie  sun  j  Like 
Lars  of  a  dungeon  grate?  /  Are  those  two  all,  all  of  the  crtw,  /  Thai 
fi^oman  and  her  maieP  Eine  andere  (beide  nach  Ca):  This  ship  it  ttas 
aplmikleits  UUngj  /  Ä  bare  Anatomy!  j  A  plankless  Spectre^  and  it  mov*d  f 
Like  a  Öeing  of  the  Seal  j  The  woman  and  a  flcfthUs»  m^n  /  T herein 
Bäte  merrilt/.  Diese  zweite  Korrektur  war  eine  unnütze  Ansspinntmg 
der  Schiftsbesckreibung  mit  dem  sonderbaren  Zuge  des  ^^maril^^';  der 
grausige  Eindruck,  der  jetzt  allein  gegeben  Lst,  wu-kt  entschieden 
stärker.  Dagegen  gibt  die  erste  Korrektur  einen  schönen  Übergang 
zu  B,  indem  das  in  A  erst  angedeutete  Motiv  von  dem  gitterartigen 
Eindrucke  der  Scbiffsrippen  mit  der  durchblickenden  Sonne  durch- 
geführt wird:  B  Are  ihese  her  Mib^,  thro'  tchich  th^  Sun  j  IHd  peer,  as 
thro*  a  grate?  /  And  are  tliese  itco  all,  all  her  trete ^  /  That  Woman, 
attd  Iier  Mate!  Das  letzte  AVoil  mag  des  Keimes  wegen  den  aus 
17 L  A  (=  179.  8)  wiederholten  Vergleich  mit  grate  nahegelegt  haben. 


The  Ancient  Mariner« 


69 


And  straight  the  Sun  was  Becked  with  bat«, 
(Heaven*s  Mother  send  us  grace!) 
As  if  through  a  dimgeon-grate  he  peered 
l&O    With  broad  and  bnrning  face. 

Alasi  (thought  I,  and  my  heart  beat  loud) 
How  fast  she  nears  and  nearsl 
Are  thoae  her  saiLs  that  glance  in  the  Sun, 
Like  restless  gossameres? 


II  mmmA  k\m  tifll  Um 


160 


190 


195 


Are  those  her  ribs  through  which  the  Sun, 
Did  peer,  as  through  a  grate? 
And  is  that  Woman  all  her  crew? 
Is  Üiat  a  Death?  and  are  there  two? 
Is  Death  that  womau's  mate? 


Her  Ups  were  red,  her  looks  were  free, 
Her  locks  were  yellow  as  gold: 
Her  skin  was  as  white  as  leprosy, 
The  Night-mare  Life-in-Death  was  she, 
Who  thickä  niau^s  blood  with  cold. 

The  naked  hulk  alongsiide  came, 
And  the  twain  were  casting  dice; 
^'The  game  is  donel  Pve  woni  Tve  won!" 
Quoth  she,  and  whistles  thrice. 


ik»  (tb*  UU«]-}irliui«Ui 


sobald  das  allzu  arch.  pheere  (vgl.  zu  60.  A)  gefallen  war.  Für  die 
hrlichere  Schildenmg  des  männlichen  Dmih^  der  für  die 
beschichte  weniger  von  Belang  ist^  trat  nun  in  S  das  grausige 
Spiel  mit  dem  Woi-te  Death  und  dem  späteren  (193.)  Life-iti^Death. 
—  *Col  feit  that  these  kideous  incidents  of  (he  grave  onlif  detn'acteä 
from  the  ßner  Horror  o/  Üie  voluptuous  beatdij  of  his  tühite  devü,  the 
Nighi-mare  Ldfe-in-DeathJ  (Dowden,)  —  *Cot  rf^'ecteä  from  hia  irork 
the  horrors,  wMe  retaining  the  ierrors,  of  death,'  (Swiuburaej  H  macht 
^damtif  ftuiinerksam,  daB  177—180.  A  die  einzige  Strophe  sei^  die  ganz 
ider  all©  Begel  aus  4  je  vierheb,  Zeilen  besteht^  ein  Versehen,  das 
Schon  die  hds,  Korrektm*en  und  B  berichtigten,  —  186  ff.  A  in  190  ffl  8 
were,  was.  Das  lebendigere  Präsens  der  aul*geregten  Besciu-eibung  ist 
t&nn  durch  das  durch  den  Zusammenhang  gegebene  Präteritum 
etzt  —  189—190.  A.  Erst  193.  8  fahrte  hier  den  Namen  Life-in^ 
\  imd  die  Bezeichnung  Night- mair  [sie  l]  ein,  die  einen  richtigen  Vor» 
schmack  vom  Schicksale  des  Anc»  Mar.  geben.  Die  doch  zu  weit 
hergeholte  Wij-kung  ihres  Erscheinens  auf  die  Luft  wLid  nun  faßlicher 
ttuf  den  Menschen  bezogen;  Who  thickä  man's  blood  with  cold,  — 
192.  A  in  196.  S  sinnlicherer  Ausdruck.  —  194,  A  zum  Tempuswechsel 


60 


The  Ancyent  Marinere. 


A  gust  of  wind  sterte  np  beliind 

And  whistled  thro'  hia  bones; 
Thro'  the  ho) es  o£  his  eves  and  the  hole  of  his  moath 

Half-whistles  and  hall-groons. 


195 


With  never  a  whisper  in  the  Sea 
Ofi'  darte  the  SpectTe-lTiip; 


300 


While  clombe  above  the  Eastem  bar 
The  homed  Aloon,  with  one  bright  Star 
Almoöt  atween  the  tips, 

One  after  one  by  the  horued  Moon 

(Listen,  O  Stranger!  to  me) 
Eaoh  tnm'd  his  face  with  a  ghastly  pang 

And  cnrä'd  me  with  bis  ee. 

Fonr  times  Mty  living  men, 

With  never  a  sigh  or  groaa, 
With  heavy  thump,  a  lifeless  Ininp 

They  dropp'd  down  one  by  one. 

Their  louls  did  irom  their  bodies  fly,  — 

They  fled  to  bÜBS  or  woej 
And  every  goni  it  pass*d  me  by, 

Like  the  whiz  of  my  Cross-bow. 


90& 


210 


215 


whisiUs,  der  nun  erklärlich  erscheint,  siehe  Komm,  zu  19&  S.  -^ 
195—203.  k  ist  199— 21L  S  erweitert.  Die  ersten  4  Zeilen  Toa  4 
schildern  abermals  grauenhafte  Vorgänge  an  dem  männlichen  Gespensti 
die  wie  oben  (177—185.  A)  als  überflüssig  fallen  gelassen  wurden. 
Dagegen  ist  die  Abfahrt  des  Geisterschifies  und  die  ihr  immittelbar 
folgende  Stimmung  in  weit  subjektiverer  und  ausHilhrlicherer  Weise 
gemalt»  199,  200,  A  sind  nun  in  201—202.8  zu  suchen;  hörte  man 
früher  nichts  beim  Verschwinden  des  Fahrzeuges,  so  ist  jetzt  ein 
geisterhaftes,  weithin  hörbares  Flüstern  zu  vernehmen  —  ein  grauen- 
erweckender übernatürlicher  Ton;  das  frühere  Präsens  off  darts  ist 
nun  als  Abschluß  dieses  Abschnitte-s  in  ein  Präteiitum  off  shot  ver- 
wandelt (anderes  Verbum^  wohl  um  eine  nicht  angebrachte  Assonanz 
mit  dem  durch  den  neuen  Reim  geschalienen  apectre-bark  zu  ver* 
meiden).  Der  Abend  bricht  nun  erat  nach  dem  Verwehen  des  Spukes 
ein,  daher  Wechsel  der  Konjunktion  in  201.  A  i:2<J9, 8);  der 
war  früher  aimoat  atween  the  Ups,  ein  Bild^  das  in  seiner  Unbestimmt- 


I 
I 


pukea  M 
Stern  ■ 
inmt-  ^1 


The  Ancient  Mariner.  61 


The  Sun's  rim  dips;  the  stars  rush  out:  ^''Jü^'STt^ 

200    At  one  stride  comes  the  dark; 

With  far-heard  whisper,  o'er  the  sea, 
Off  shot  the  spectre-bark. 

We  listen'd  and  looked  sideways  up!  ^»  "-  J^JJ  •'  *• 

Fear  at  my  heart,  as  at  a  cup, 
205    My  life-blood  seemed  to  sip! 

The  Stars  were  dim,  and  thick  the  night, 

The  steersman's  face  by  his  lamp  gleam'd  white; 

From  the  sails  the  dew  did  drip  — 

Till  clombe  above  the  eastem  bar 
210    The  homed  Moon,  with  one  bright  star 

Within  the  nether  tip. 

One  after  one,  by  the  star-dogged  Moon,  on««ft«*n«»w. 

Too  quick  for  groan  or  sigh, 
Each  tum'd  his  face  with  a  ghastly  pang 
215    And  curs'd  me  with  his  eye. 

Four  times  fifty  living  men,  "'* JtoJTdllL^ 

(And  I  heard  nor  sigh  nor  groan) 
With  heavy  thump,  a  lifeless  lump, 
They  dropped  down  one  by  one. 

220    The  souls  did  from  their  bodies  fly,  —  bX'Üi^i^- 

They  fled  to  bliss  or  woe !  *»»•  ««•«»  umMUmw. 

And  every  soul,  it  passed  me  by, 
Like  the  whizz  of  my  cross-bow! 

heit  entschieden  dem  späteren,  genau  ausgesprochenen  und  daher 
unmöglichen  toithin  the  nether  tip  vorzuziehen  gewesen  wäre.  Die  Bein- 
heit  des  Reimes,  die  nun  in  S  hergestellt  ist,  scheint  dies  unglück- 
selige Motiv  (vgl.  Komm,  zu  210.  S)  noch  übler  gestaltet  zu  haben.  — 
204—207.  A.  Das  unverfängliche  the  homed  Moon  ist  nun  212.  S  im 
Sinne  des  eben  Bemerkten  zu  dem  siar-dogged  Moon  gewendet,  dem 
Schifferaberglauben  auch  im  Worte  gemäß ;  der  205.  A  übel  angebrachte 
Zuruf  des  Anc.  Mar.  an  den  ohnedies  gewiß  recht  aufmerksamen 
Hochzeitsgast  ist  durch  das  wirkungsvolle  Motiv  des  Vergleiches  der 
Schnelligkeit  in  218.  S  ersetzt,  wodurch  absichtliche  Wiederholung 
desselben  in  217.  S  entsteht.  Anstoß  zur  Änderung  mag  das  dia- 
lektische ee  207.  A  (für  eye,)  gegeben  haben.  Vgl.  Komm.  —  209.  A  ist  in 
217.  8  als  lebendige  Einfügung  wirksamer.  —  225.  A  in  283.  S  nun  un- 
bestimmter gelassen.  —  226.  A.  Vielleicht  gab  Col.  auch  hier  in 
284.  S  der  Meinung  des  puritanischen  Bezensenten  nach,  der  98.  A 
beanständet  hatte.  —  215.  A  =  228.  S :  von  hier  ab  verliert  sich  die  äu^r- 


62  The  Ancyent  Marinere. 

IV 

*'I  fear  thee,  ancyent  Marinere! 

•'I  fear  thy  skinny  hand; 
*^And  thon  art  long  and  leuik  and  brown 

"As  is  the  ribb'd  Sea-sand. 

"I  fear  thee  and  thy  glittering  eye  220 

"And  thy  skinny  hand  so  brown  — 
Fear  not,  fear  not,  thou  wedding  guest! 

This  body  dropt  not  down. 

Alone,  alone,  all  all  alone 

Alone  on  the  wide  wide  Sea;  225 

And  Christ  would  take  no  pity  on 

My  soul  in  agony. 

The  many  men  so  beautiful, 

And  they  all  dead  did  lie! 
And  a  million  million  flimy  things  230 

Liv'd  on  —  and  so  did  I. 

I  look'd  upon  the  rotting  Sea, 

And  drew  my  eyes  away; 
I  look'd  upon  the  eldritch  deck, 

And  there  the  dead  men  lay.  235 

I  look'd  to  Heaven,  and  try'd  to  pray; 

But  or  ever  a  prayer  had  gusht, 
A  wicked  whisper  came  and  made 

My  heart  as  dry  as  dust. 

I  clos'd  my  lids  and  kept  them  close,  240 

Till  the  balls  like  pulses  beat; 
For  the  sky  and  the  sea,  and  the  sea  and  the  sky 
Lay  like  a  load  on  my  weary  eye. 

And  the  dead  were  at  my  feet. 

The  cold  sweat  melted  from  their  limbs,  245 

Ne  rot,  ne  reek  did  they; 
The  look  with  which  they  look'd  on  me, 

Had  never  pass'd  away. 

An  orphan's  curse  would  drag  to  Hell 

A  spirit  from  on  high:  250 

But  0!  more  horrible  than  that 

Is  the  curse  in  a  dead  man's  eye! 
Seven  days,  seven  nights  I  saw  that  curse. 

And  yet  I  could  not  die. 

liehe  Kennzeichnung  des  Monologes  durch  '*.  —  246.  A  s.  zu  55.  A.  — 


The  Ancient  Mariner.  63 

Part  IV. 

"I  fear  thee,  ancient  Mariner!  t^t^i.Bpi.,ti, 

225    I  fear  thy  skinny  hand!  uiuDffioumi 

And  thou  art  long,  and  lank,  and  brown, 
As  is  the  ribbed  sea-sand. 

I  fear  thee  and  thy  glittering  eye, 
And  thy  skinny  hand,  so  brown."  — 
290    "Fear  not,  fear  not,  thou  Wedding- Guest !  »■*  ^  •«*"*  >«- 


of 

This  body  dropt  not  down.  w.  boduj  m •,  »»d 


hl«   bonfbl«   p«iiMM«. 

Alone,  alone,  all,  all  alone, 
Alone  on  a  wide  wide  sea! 
And  never  a  saint  took  pity  on 
285    My  soul  in  agony. 

The  many  men,  so  beautiful!  "\^^^Z^ 

And  they  all  dead  did  lie: 

And  a  thousand  thousand  slimy  things 

Liv'd  on;  and  so  did  I. 

240    I  look'd  upon  the  rotting  sea,  ^rtoSr*iÜl.*l^*Ir 

And  drew  my  eyes  away;  many  u«  d««d. 

I  look'd  upon  the  rotting  deck. 
And  there  the  dead  men  lay. 

I  look'd  to  heaven,  and  tried  to  pray; 
245    But  or  ever  a  prayer  had  gusht, 
A  wicked  whisper  came,  and  made 
My  heart  as  diy  as  dust. 

I  closed  my  lids,  and  kept  them  close. 
And  the  balls  like  pulses  beat; 
250    For  the  sky  and  the  sea,  and  the  sea  and  the  sky 
Lay  like  a  load  on  my  weary  eye, 
And  the  dead  were  at  my  feet. 

The  cold  sweat  melted  from  their  limbs,  S'^t'STiT^Sl 

Nor  rot  nor  reek  did  they:  d««dm«. 

255    The  look  with  which  they  look'd  on  me 
Had  never  pass'd  away. 

An  orphan's  curse  would  drag  to  hell 
A  spirit  from  on  high; 
But  oh!  more  horrible  than  that 
260    Is  the  curse  in  a  dead  man's  eye! 

Seven  days,  seven  nights,  I  saw  that  curse. 
And  yet  I  could  not  die. 


64  The  Ancyent  Marinere. 

The  moving  Moon  went  up  the  sky  256 

And  no  where  did  abide: 
SofÜy  she  was  going  up 

And  a  star  or  two  befide  — 

Her  beams  bemock'd  the  sultry  main 

Like  moming  frosts  yspread;  260 

But  where  the  ship's  huge  shadow  lay, 
The  charmed  water  bumt  alway 
A  still  and  awful  red. 

Beyond  the  shadow  of  the  ship 

I  watch'd  the  water-snakes :  265 

They  mov'd  in  tracks  of  shining  white; 
And  when  they  rear'd,  the  elfish  light 

Fell  off  in  hoary  flakes. 

Within  the  shadow  of  the  ship 

I  watch'd  their  rieh  attire:  270 

Blue,  glossy  green,  and  velvet  black 
They  coil'd  and  swam:  and  every  track 

Was  a  flash  of  golden  fire. 

0  happy  living  things!  no  tongue 

Their  beauty  might  declare:  275 

A  spring  of  love  gusht  from  my  heai't, 

And  1  bless'd  them  unawarel 
Sure  my  kind  saint  took  pity  on  me, 

And  I  bless'd  them  imaware. 

The  self-same  moment  I  could  pray;  280 

And  from  my  neck  so  free 
The  Albatross  feil  oif,  and  sank 

Like  lead  into  the  sea. 


V 

0  sleep,  it  is  a  gentle  thing 

Belov'd  from  pole  to  pole!  285 

To  Mary-queen  the  praise  be  yeven 
She  sent  the  gentle  sleep  from  heaven 

That  slid  into  my  soul. 

The  silly  buckets  on  the  deck 
That  had  so  long  remain'd,  290 

1  dreamt  that  they  were  fill'd  with  dew 
And  when  I  awoke  it  rain'd. 

260.  A    in    268.  S    geändert.    Das    Bild    des    Reifes    ist    nun    deut- 
licher gezeichnet,  da  die  altertümliche  Form  yspread  (H.  weist  auf 


The  Ancient  Mariner. 


65 


The  moving  Moon  went  up  the  sky, 
And  no  where  did  abide: 
265    Softly  she  was  going  up, 

And  a  star  or  two  beside  — 

Her  beams  bemock'd  the  sultry  main, 
Like  April  hoar-frost  spread; 
But  where  the  ship's  huge  shadow  lay, 
270    The  charmed  water  bumt  alway 
A  still  and  awful  red. 

Beyond  the  shadow  of  the  ship, 
I  watch'd  the  water-snakes: 
They  moved  in  tracks  of  shining  white, 
275    And  when  they  reared,  the  elfish  light 
Fell  off  in  hoary  flakes. 

Within  the  shadow  of  the  ship 
I  watch'd  their  rieh  attire: 
Blue,  glossy  green,  and  velvet  black, 
280    They  coüed  and  swam;  and  every  track 
Was  a  flash  of  golden  fire. 

O  happy  living  things!  no  tongue 
Their  beauty  niight  declare: 
A  spring  of  love  gnsht  from  my  heart, 
286    And  I  blessed  them  unaware: 

Sure  my  kind  saint  took  pity  on  me, 
And  I  blessed  them  unaware. 


In  hu  lonaliaMi  «nd 
dxednsM  b«  7««m»th 
towMda  Um  Joanayiag 
Moon,  »ad  tlt«  »tM« 
tbat  attn  Mjount  7«t 
•tül  nov«  OBWwd;  mud 
CTcry  wbcn  UM  bla« 
■kjr  b»longa  to  tltrai, 
■nd  U  thvir  •wolntMl 
rMt,  aad  tbelr  aatlT« 
coantry  a 
natoral  I 
Xhf  « 
e«d.  •■  lorda  th»t  an 
certaialjr  aap<cfd,aBd 
7«t  tkara  ia  a  allent  Jojr 
at  tiMir  arrtvaL 


By  Um  Uglit  of  tk« 

Mooa  h«  Mboldath 

Ood'a  eraataraa  of  tho 

fToat  ealm. 


Thtlr  boantjr  and 
tboir  kapplaofl«. 


290 


The  seifsame  moment  I  could  pray; 
And  from  my  neck  so  free 
The  Albatross  feil  off,  and  sank 
Like  lead  into  the  sea. 


Tht  tpM  bnriM  to 

brMk. 


295 


Part  V. 

Oh  sleep!  it  is  a  gentle  thing, 
Belov'd  from  pole  to  pole! 
To  Mary  Queen  the  praise  be  given! 
She  sent  the  gentle  sleep  from  Heaven, 
That  slid  into  my  soul. 


The  silly  buckets  on  the  deck, 
That  had  so  long  remained, 
I  dreamt  that  they  were  filled  with  dew; 
800    And  when  I  awoke,  it  rained. 


Br  rraeo  of  tho  boly 

Motbor,  tiio  aaeloat 

Marinar  U  rafrasbod 

wltb  rala. 


Chaucer,  Beve's  Tale,  220;  Prioresse's  Tale,  2  hin)  durch  die  moderne 
verdrängt  wurde  und  so  der  Rhythmus  geändert  werden  mußte.  — 

£  i  o  h  1  e  r  y  The  Ancient  Marinor  a.  Christ.  5 


66  The  Ancyent  Marinere. 

My  Ups  were  wet,  my  throat  was  cold, 

My  garments  all  were  dank; 
Sure  I  had  drunken  in  my  dreams  295 

And  still  my  body  drank. 

I  mov'd  and  could  not  feel  my  limbs, 

I  was  so  light,  almost 
I  thought  that  I  had  died  in  sleep, 

And  was  a  blessed  Ghost.  300 

The  roaring  wind!  it  roar'd  far  ofif, 

It  did  not  come  anear; 
But  with  its  soimd  it  shook  the  sails 

That  were  so  thin  and  sere. 

The  Upper  air  bursts  into  life,  805 

And  a  hundred  fire-flags  sheen 
To  and  fro  they  are  hurried  about; 
And  to  and  fro,  and  in  and  out 

The  Stars  dance  on  between. 

The  Coming  wind  doth  roar  more  loud;  310 

The  sails  do  sigh,  liko  sedge: 
The  rain  pours  down  from  one  black  cloud 

And  the  Moon  is  at  its  edge. 

Hark!  hark!  the  thick  black  cloud  is  cleft, 

And  the  Moon  is  at  its  side:  315 

Like  waters  shot  from  some  high  crag, 

The  lightning  falls  with  never  a  jag 
A  river  steep  and  wide. 

The  strong  wind  reach'd  the  ship:  it  roar'd 

And  dropp'd  down,  like  a  stone!  320 

Beneath  the  lightning  and  the  moon 
The  dead  meu  gave  a  groan. 

They  groan'd,  they  stirr'd,  they  all  uprose, 

Ne  spake,  ne  mov'd  their  eyes: 
It  had  been  stränge,  even  in  a  dream  325 

To  have  seeu  those  dead  meu  rise. 

286.  A  in  294.  S  zu  given  modernisiert;  zu  ycven  bemerkt  H,:  The 
Knighte's  Tale  allenthalben.  —  301.  A.  Die  stoßweise  Fügung  von  A 
ist  in  309.  S  dem  nun  wieder  ruhigeren  Gange  der  Erzählung  ange- 
glichen und  syntaktisch  eingegliedert.  —  305  ff.  A,  dafUr  in  313 ff.  S 
überall  das  gleichmäßige  Erzähluugstempus.  —  309.  A  in  317. 8 
wiederum  das  Präteritum ;  die  bleiche  Fai-be  der  Sterne  zwischen  dem 
gespeusti.schen  Feuerwerke  ist  nun  eigens  hervorgehoben.  —  310  ff.  A 
in  318  ff.  S  Präterita  wie  bei  305  ff.  A  (s.  d.).  —  314.  A  Das  nicht 
ganz  auf  die  optische  Beobachtung  des  Blitzes,  wiewohl  auf  die 
akustische,  passende  und  allzu  lebhafte  Hark!  hark!  verschwindet  in 


H«  bMntb  toandt  aad 
■•«th  atTmof«  tifbto 


The  Ancient  Mariner.  67 

My  Ups  were  wet,  my  throat  was  cold, 
My  garments  all  were  dank; 
Sure  I  had  drunken  in  my  dreams, 
And  still  my  body  drank. 

305    I  moved,  and  could  not  feel  my  limbs: 
I  was  so  light  —  almost 
I  thonght  that  I  had  died  in  sleep, 
And  was  a  blessed  ghost. 

And  soon  I  heard  a  roaring  wind : 

310    It  did  not  come  anear ;  *»•*  commouom  in 

But  with  its  sound  it  shook  the  sails,  * '  '»«t. 
That  were  so  thin  and  sere. 

The  Upper  air  burst  into  life! 
And  a  hundred  fire-flags  sheen, 
315    To  and  fro  they  were  hurried  about! 
And  to  and  fro,  and  in  and  out, 
The  wan  Stars  danced  between. 

And  the  coming  wind  did  roar  more  loud, 
And  the  sails  did  sigh  like  sedge; 
320    And  the  rain  poured  down  from  one  black  cloud; 
The  Moon  was  at  its  edge. 

The  thick  black  cloud  was  cleft,  and  still 
The  Moon  was  at  its  side: 
Like  waters  shot  from  some  high  crag, 
325    The  lightning  feil  with  never  a  jag, 
A  river  steep  and  wide. 

The  loud  wind  never  reached  the  ship,  ^hlp^t^VU^' 

Yet  now  the  ship  moved  on !  in»pir»d,  «ad  ü>«  «bip 

Beneath  the  hghtning  and  the  Moon 
330    The  dead  men  gave  a  groan. 

They  groan'd,  they  stirr'd,  they  all  uprose, 
Nor  spake,  nor  moved  their  eyes; 
It  had  been  stränge,  even  in  a  dream, 
To  have  seen  thosc  dead  men  rise. 


322.8;  dadurch  erfolgt  Präzisienmg  des  folgenden  Gedankens.  Prä- 
terita  wie  305ff.  A.  —  319-320.  A  in  327—328.  S  gerade  das  Gegenteil 
und  mit  gutem  Grunde:  die  Bewegung  des  Schiffes  ist  übernatürlich 
(327—328.  A);  behielt  S  (335—336.)  diesen  Zug  bei,  so  mußte  auch  dieser 
Widerspruch  getilgt  werden.  Auch  das  Herabfallen  (!)  des  Windes 
in  A  erschien  unklar  und  war  nicht  weiter  ausgebeutet:  die  ganze 
Vorstellung  war  äußerst  gesucht  und  undeutlich ;  ob  Col.  das  Wunder 
der  Ausgießung  des  Heiligen  Geistes  (wie  in  314  S)  dabei  vorschwebte 
(Dr.  D  i  1 1  e  s ;  vgl.  TÄe  Acta,  :i,  2),  scheint  fraglich.  —  324.  A  s.  zu  55.  A.  — 

5* 


inoTca  on ; 


The  Ancyent  Marinere. 

The  helmsman  steerd,  the  ship  mov'd  on; 

Yet  never  a  breeze  up-blew; 
The  Marineres  all  'gan  work  the  ropes, 

Where  they  were  wont  to  do:  390 

They  rais'd  their  limbs  like  lifeless  tools  — 

We  were  a  ghastly  crew. 

The  body  of  my  brother's  son 

Stood  by  me  knee  to  knee: 
The  body  and  I  pull'd  at  one  rope,  335 

But  he  Said  nought  to  me  — 
And  I  quak'd  to  think  of  my  own  voice 

How  fidghtful  it  would  be! 


The  day-light  dawn'd  —  they  dropp'd  their  arms, 
And  cluster'd  round  the  mast:  840 

Sweet  Sounds  rose  slowly  thro'  their  mouths 
And  from  their  bodies  pass'd. 

Around,  aroimd,  flew  each  sweet  sound, 

Then  darted  to  the  sun: 
Slowly  the  sounds  oame  back  agaiu  345 

Now  mix'd,  now  one  by  one. 

Sometimes  a  dropping  from  the  sky 

I  heard  the  Lavrock  sing; 
Sometimes  all  little  birds  that  are 
How  they  seem'd  to  üll  the  sea  and  air  360 

With  their  sweet  jargoning, 

And  now  'twas  like  all  instruments, 

Now  like  a  lonely  flute; 
And  now  it  is  an  augel's  song 

That  makes  the  heavens  be  mute.  356 

It  ceas'd:  yet  still  the  sails  made  on 

A  pleasant  noise  tili  noon, 
A  noise  like  of  a  hidden  brook 

In  the  leafy  month  of  June, 
That  to  the  fleeping  woods  all  night  360 

Singeth  a  quiet  tune. 

337—338.  A.  Der  Zug  des  Schreckens  vor  dem  Klange  der  eigenen  Stinmie 
erschien,  da  der  Anc.  Mar.  sie  ja  jetzt  doch  nicht  ertönen  ließ,  C  ol.  wohl 
allzu  raffiniert ;  er  fiel  schon  in  B.  Dadurch  war  wieder  eine  regelmäßige 
vierzeilige  Strophe  hergestellt  worden.  Dafür  schob  der  Dichter  nun 
die  schöne  Erklärung  der  Geisterschiffer  mit  der  hier  wohl  gerecht- 


The  Ancient  Mariner.  69 

336    The  hehnsman  steered,  the  ship  moved  on; 

Yet  never  a  breeze  up  blew; 

The  mariners  all  'gan  work  the  ropes, 

Where  they  were  wont  to  do; 

They  raised  their  limbs  like  lifeless  tools  — 
340    We  were  a  ghastly  crew. 

The  body  of  my  brother's  son 
Stood  by  me,  knee  to  knee: 
The  body  and  I  pulled  at  one  rope 
Bnt  he  said  nought  to  me.' 

345    "I  fear  thee,  ancient  Mariner!"  ^"J r,'-.Vl^r^" 

Be  calm,  thou  Wedding-Guest!  '*.!:T"*.'*'i^" 

1  11/11.  •  mWdU  air,  kat  by  « 

TTwas  not  those  souls  that  fled  in  pain,  w..Mdtn>opof 

Which  to  their  corses  came  again,  dowiibyüi«inToeMs<» 

But  a  troop  of  spirite  blest:  *"  **"•  «"'^  "*"*• 

360    For  when  it  dawned  —  they  dropped  their  arms, 
And  clnstered  round  the  mast; 
Sweet  Sounds  rose  slowly  through  their  mouths, 
And  from  their  bodies  passed. 

Around,  around,  flew  each  sweet  sound, 
365    Then  darted  to  the  Sun; 

Slowly  the  sounds  came  back  again, 
Now  mixed,  now  one  by  one. 

Sometimes  a-dropping  from  the  sky 
I  heard  the  sky-lark  sing; 
360    Sometimes  all  little  birds  that  are, 

How  they  seemed  to  fill  the  sea  and  air 
With  their  sweet  jargoning ! 

And  now  'twas  like  all  instruments, 
Now  like  a  lonely  flute; 
365    And  now  it  is  an  angel's  song, 
That  makes  the  heavens  be  mute. 

It  ceased;  yet  still  the  sails  made  on 
A  pleasant  noise  tili  noon, 
A  noise  like  of  a  hidden  brook 
370    In  the  leafy  month  of  June, 

That  to  the  sleeping  woods  all  night 
Singeth  a  quiet  tune. 

fertigten  Unterbrechung  seitens  des  Hochzeitsgastes  in  345—349.  S 
ein.  —  339.  A  ist  dcum  sinngemäß  in  350.  S  S3mtaktisch  angereiht.  — 
848.  A  das  Chaucerische  archaistische  Lavrock  ist  nun  in  359.  S  in 
das  der  poetischen  Sprache  und  Vorstellung  so  geläufige  sky-lark  um- 


70  The  Ancyent  Marinere. 

Listen^  O  listen,  thou  Wedding-guest! 

"Marinere!  thou  hast  thy  will: 
"For  that,  which  comes  out  of  thine  eye,  doth  make 

"My  body  and  soul  to  be  still."  365 

Never  sadder  tale  was  told 

To  a  man  of  woman  bom: 
Sadder  and  wiser  thou  wedding-guest ! 

Thou  1t  rise  to  morrow  morn. 

Never  sadder  tale  was  heard  370 

By  a  man  of  woman  bom: 
The  Marineres  all  retum'd  to  work 

As  silent  as  befome. 

The  Marineres  all  'gan  pull  the  ropes, 

But  look  at  me  they  n'old:  375 

Though  I,  I  am  as  thin  as  air  — 

They  cannot  me  behold. 

Till  noon  we  silently  sail'd  on 

Yet  never  a  breeze  did  breathe: 
Slowly  and  smoothly  went  the  ship  380 

Mov'd  onward  from  beneath. 

Under  the  kcel  nine  fathom  deep 

From  the  land  of  mist  and  snow 
The  spirit  slid:  and  it  was  He 

That  made  the  Ship  to  go.  385 

The  sails  at  noon  left  off  their  tune 

And  the  Ship  stood  still  also. 

The  sun  right  up  above  the  mast 

Had  fix'd  her  to  the  ocean: 
But  in  a  minute  she  'gan  stir  390 

With  a  Short  uneasy  motion  — 
Backwards  and  forwards  half  her  length 

With  a  Short  uneasy  motion. 

Then,  like  a  pawing  horse  let  go, 

She  made  a  sudden  bound:  395 

It  flung  the  blood  into  my  head, 

And  I  feil  into  a  swound. 

How  long  in  that  same  fit  I  lay, 

I  have  not  to  declare; 
But  ere  my  living  life  retum'd,  400 

gestaltet.  Vgl.  zu  358.  S.  —  862—365.  A.  Die  hier  an  ruhiger  gewordener 
Stelle  nicht  gerade  wahrscheinliche  Unterbrechung  ist  nun,  wie  erwähnt^ 
in  345—349.  8  früher  und  passender  eingestellt.  Schon  in  B  war  diese  und 
die  folgenden  drei  Strophen  von  A  getilgt  worden,  wohl  teils  wegen  der 


The  Ancient  Mariner.  71 


Till  noon  we  quietly  sailed  on, 
Yet  never  a  breeze  did  breathe: 
875    Slowly  and  smoothly  went  the  ship, 
Moved  onward  from  beneath. 

ünder  the  keel  nine  fathom  deep,  '^•J'Srr.'Ä 

From  the  land  of  mist  and  snow,  «•"*••  •»  »>»•  »"p  •• 
The  spirit  slid:  and  it  was  he  ob«iuae«  to  th« 

380    That  made  the  ship  to  go.  ^^^^^^^^^ 
The  sails  at  noon  lefb  off  their  tune, 
And  the  ship  stood  still  also. 

The  Sun,  right  up  above  the  mast, 
Had  fixed  her  to  the  ocean: 
385    But  in  a  minute  she  'gan  stir, 
With  a  Short  uneasy  motion  — 
Backwards  and  forwards  half  her  length 
With  a  Short  uneasy  motion. 

Then  like  a  pawing  horse  let  go, 
390    She  made  a  sudden  bound: 

It  fiung  the  blood  into  my  head, 
And  I  feil  down  in  a  swound. 

How  long  in  that  same  fit  I  lay,  li::'i:LlT^ 

1  have  not  to  declare:  inTuibuiBii«biu»tiof 

89o    But  ere  my  livmg  life  retumed,  inhuwrong;«nitwo 


«rst  und  allein  am  Schlüsse  richtig  angebrachten,  hier  störenden  Re- 
flexionen, teils  wegen  des  ganz  phantastischen  Zuges  von  375—378.  A. 
n'old  in  376.  A  ist  Cliaucerisch  (H.  führt  es  auf  KnighU*8  Tale,  166  zurück, 
aber  auch  Prol,  550  ist  es  belegt).  Zu  hefome  in  373.  A  vgl.  zu  60.  A  (H.),  — 


72  The  Ancyent  Marinere. 

I  beard  and  in  my  soul  discem'd 
Two  voices  in  the  air, 

"Is  it  he?  quoth  one,  "Is  this  the  man? 

"By  him  who  died  on  cross, 
"With  his  cruel  bow  he  lay'd  lull  low  405 

"The  harmless  Albatross. 

"The  spirit  who  'bideth  by  himself 

"In  the  land  of  mist  and  snow, 
"He  lov'd  the  bird  that  lov'd  the  man 

"Wo  shot  him  with  his  bow.  410 

The  other  was  a  softer  voice, 

As  soft  as  honey-dew: 
Quoth  he  the  man  hath  penance  done, 

And  penance  more  will  do. 

VI. 
First  Voioe. 
"But  teil  me,  teil  me!  speak  again,  415 

"Thy  soft  response  renewing  — 
"What  makes  that  ship  drive  on  so  fast? 
"What  is  the  Ocean  doing? 

Socond  Volce. 
"Still  as  a  Slave  before  his  Lord, 

"The  Ocean  hath  no  blaft:  420 

"His  great  bright  eye  most  silently 

"Up  to  the  moon  is  cast  — 

"If  he  may  know  which  way  to  go, 

"For  fhe  guides  him  smooth  or  gnm. 
"See,  brother,  see!  how  graciously  425 

"She  looketh  down  on  him. 

Firat  Voice. 
"But  why  drives  on  that  ship  so  fast 
"Withouten  wave  or  wind? 

Second  Voioo. 
"The  air  is  cut  away  before, 

"And  closes  from  behind.  480 

"Fly,  brother,  fly!  more  high,  more  high, 

"Or  we  fhall  be  belated: 
"For  slow  and  slow  that  ship  will  go, 

"When  the  Marinere's  trance  is  abated." 

I  woke,  and  we  were  sailing  on  435 

As  in  a  gentle  weather: 
'Twas  night,  calm  night,  the  moon  was  high: 

The  dead  men  stood  together. 


The  Ancient  Mariner.  73 

I  heard,  and  in  my  soul  discemed  ^•'ISr.'ttSMP^UI 

Two  Voices  in  the  air.  loa«  «li  b««»y  f« 


"Is  it  he  ?"  quoth  one,  "In  this  the  man  ?  tk«  Pour  8piri^  wbo 

By  him  who  died  on  cross,  r-r..*  .o.a.w«4. 

400    With  his  cruel  bow  he  laid  füll  low 
The  harmless  Albatross. 

The  spirit  who  bideth  by  himself 
In  the  land  of  mist  and  snow, 
He  loved  the  bird  that  loved  the  man 
405    "Who  shot  him  with  his  bow." 

The  other  was  a  softer  voice, 

As  soft  as  honey-dew: 

Qaoth  he,  ^^The  man  hath  penance  doue, 

And  penance  more  will  do." 

Part  VI. 
First  Voico. 

410    ^^But  teil  me,  teil  me!  speak  again, 
Thy  soft  response  renewing  — 
What  makes  that  ship  drive  on  so  fast? 
What  is  the  Ocean  doing?" 

Second  Voice. 
"Still  as  a  slave  before  his  lord, 
415    The  Ocean  hath  no  blast; 

His  great  bright  eye  most  silently 
Up  to  the  Moon  is  cast  — 

If  he  may  know  which  way  to  go : 
For  she  guides  him  smooth  or  grim. 
420    See,  brother,  see!  how  graciously 
She  looketh  down  on  him." 

First  Voice. 
"But  why  drives  on  that  ship  so  fast,  Jit^«toTii^^o; 

Without  or  wave  or  wind?"  th« m.««iic pow« 

CAOMth  tk«  vmmI  to 

«Irivc  northtrard  Ikitor 

Socond  Voice.  tbkn  huamn  Ur«  coaM 

"The  air  is  cut  away  before,  "*"*' 

425    And  closes  irom  behind. 

Fly,  brother,  Hy!  more  high,  more  higlil 
Or  we  shall  be  belatcd: 
For  slow  and  slow  that  ship  will  go, 
When  the  Mariner's  trance  is  abated." 


490    I  woke,  and  we  were  sailing  on  motten ut^uÜSd^.th* 

rlMr  mwktt  «ad 

■  p«B«aM  b«fflM 


As  in  a  gentle  weather:  "•^-'  •"•»'•^  •■* 


'Twas  night,  calm  night,  the  moon  was  high : 
The  dead  men  stood  together. 


74  The  Ancyent  Marinere. 

All  stood  together  on  the  deck, 

For  a  charnel-dungeon  fitter:  440 

All  fix'd  on  me  their  stony  eyes 

That  in  the  moon  did  glitter. 

The  pang,  the  curse,  with  which  they  died, 

Had  never  pass'd  away: 
I  could  not  draw  my  een  from  theirs  445 

Ne  tum  them  up  to  pray. 

And  in  its  time  the  spell  was  snapt, 

And  I  could  move  my  een: 
I  look'd  far-forth,  but  Üttle  saw 

Of  what  might  eise  be  seen.  450 

Like  one,  that  on  a  lonely  road 

Doth  walk  in  fear  and  dread, 
And  having  once  turn'd  round,  walks  on 

And  tums  no  more  his  head: 
Because  he  knows,  a  frightful  fiend  455 

Doth  close  behind  him  trcad. 

But  soon  there  breath'd  a  wind  on  me, 

Ne  sound  ne  motion  made: 
Its  path  was  not  upon  the  sea 

In  ripple  or  in  shade.  460 

It  rais'd  my  hair,  it  fann'd  my  cheek, 

Like  a  meadow-galo  of  spring  — 
It  mingled  ftrangely  with  my  fears, 

Yet  it  feit  like  a  welcoming. 

Swiftly,  swiftly  flew  the  ship,  465 

Yet  she  sail'd  softly  too: 
Sweetly,  sweetly  blew  the  breeze  — 

On  me  alone  it  blew. 

0  dream  of  joy!  is  this  indeed 

The  light-house  top  I  see?  470 

Is  this  the  Hill?  Is  this  the  Kirk? 

Is  this  mine  own  countröe? 


445.  A  een  modernisiert  zu  eyes  440.  S,  vgl.  zu  204.  A.  —  446.  A  moderni- 
siert wie  55.  A.  —  447—450.  A  in  442—440.  S.  Die  erste  Zeile  war  in  der 
älteren  Fassung  präziser,  auch  die  zweite  paßte  besser ;  aber  die  dem 
Dichter  wohl  allzu  dialektische  Form  een  scheint  den  Ausschlag  gegeben 
zu  haben.  Die  dritte  Zeile  zeigt  nur  belanglose  Form  Wörter -Änderungen; 
dagegen  gewann  die  vierte  entschieden  in  S  durch  den  Vergleich  mit 
tatsächlich  früher  Geschehenem,  während  A  nur  von  Möglichkeiten 


The  Ancient  Mariner.  76 

All  stood  together  on  the  deck, 
435    For  a  chamel-dniigeon  fitter: 

All  fixed  on  me  their  stony  eyes, 
That  in  the  Moon  did  glitter. 

The  pang,  the  cnrse,  with  which  they  died, 
Had  never  passed  away: 
440    I  could  not  draw  my  eyes  firom  theirs, 
Nor  tum  them  up  to  pray. 

And  now  this  spell  was  snapt:  once  more  ^*  ^ISJuS/"**'' 

I  viewed  the  ocean  green, 
And  looked  far  forth,  yet  little  saw 
445    Of  what  had  eise  been  seen  — 

Like  one,  that  on  a  lonesome  road 
Doth  walk  in  fear  and  dread, 
And  having  once  tomed  round  walks  on, 
And  tums  no  more  his  head; 
450    Because  he  knows,  a  frightful  fiend 
Doth  close  behind  him  tread. 

But  soon  there  breathed  a  wind  on  me, 
Nor  sound  nor  motion  made: 
Its  path  was  not  upon  the  sea, 
455    In  ripple  or  in  shade. 

It  raised  my  hair,  it  fanned  my  cheek 
Like  a  meadow-gale  of  spring  — 
It  mingled  strangely  with  my  fears, 
Yet  it  feit  like  a  welcoming. 

460    Swiftly,  swiftly  flew  the  ship, 
Yet  she  sailed  softly  too: 
Sweetly,  sweetly  blew  the  breeze  -- 
On  me  aJone  it  blew. 

Oh !  dream  of  joy !  is  this  indeed 
466    The  light-house  top  I  see?  M.H^tiS;iS*w. 

Is  this  the  hill?  is  this  the  kirk?  «ttT.«M«iry. 

Is  this  mine  own  countree? 


sprach.  —  451.  A  lonely  in  446.  8  lonesome;  die  Senkung  ist  nun  mehr 
beschwert:  der  Dichter  scheint  auf  dem  Verlassensein  mit  Nachdruck 
verweilen  zu  wollen.  ~  448.  A  s.  zu  55.  A.  —  469.  A  drückt,  wie 
überhaupt  die  Interpunktion  in  A  sehr  sparsam  ist,  die  Emphase 
schwächer  als  464.  S  aus.  —  481-502.  A  fehlen  B  und  8.  Die  störende 
Doppelsetztmg  des  Motives  von  507 — 522.  A  ist  nun  durch  Weg- 
iassung  des  entschieden  gröberen  Teiles  dieser  Schilderung  beseitigt. 


76  The  Ancyent  Marinere. 

We  drifted  o'er  the  Harbour-bar, 

And  I  with  sobs  did  pray  — 
'^O  let  me  be  awake,  my  God!  475 

"Or  let  me  sleep  alway!" 

The  harbour-bay  was  clear  as  glass, 

So  smoothly  it  was  strewn! 
And  on  the  bay  the  moon  light  lay, 

And  the  shadow  of  the  moon.  480 

The  moonlight  bay  was  white  all  o'er, 

Till  rising  from  the  same, 
Füll  many  shapes,  that  shadows  were, 

Like  as  of  torches  came. 

A  little  distance  from  the  prow  485 

Those  dark-red  shadows  were; 
But  soon  I  saw  that  my  own  flesh 

Was  red  as  in  a  glare. 

I  tur'nd  my  head  in  fear  and  dread, 

And  by  the  holy  rood,  490 

The  bodies  had  advanc'd,  and  now 

Before  the  maft  they  stood. 

They  lifted  up  £heir  ftiff  right  arms, 

They  held  them  l'trait  and  tight; 
And  each  right-arm  biimt  like  a  torch,  495 

A  torch  that*s  bome  upright. 
Their  stony  eye-balls  glitter'd  on 

In  the  red  and  smoky  light. 

I  pray'd  and  tum'd  my  head  away 

Forth  looking  as  before.  500 

There  was  no  breeze  upon  the  bay, 

No  wave  against  the  shore. 

The  rock  fhone  bright,  the  kirk  no  less 

That  Stands  above  the  rock: 
The  moonlight  steep'd  in  silentness  505 

The  steady  weathercock. 

And  the  bay  was  white  with  silent  light, 

Till  rising  from  the  same 
Füll  many  shapes,  that  shadows  were, 

In  crimson  colours  came.  510 

A  little  distance  from  the  prow 

Those  crimson  shadows  were: 
I  turn'd  my  eyes  upon  the  deck  -- 

0  Chrift!  what  saw  I  there? 

475.  S  schließt  sich  auch  trotz  des   Striches  ganz  organisch  an.  <— 


The  Ancient  Mariner.  77 


We  drifted  o'er  the  harbour-bar, 
And  I  with  sobs  did  pray  — 
470    0  let  me  be  awake,  my  Godl 
Or  let  me  sleep  alway. 

The  harbonr-bay  was  clear  as  glass, 
So  smoothly  it  was  strewn! 
And  on  the  bay  the  moonlight  lay, 
475    And  the  shadow  of  the  moon. 


The  rock  shone  bright,  the  kirk  no  less, 
That  Stands  above  the  rock: 
The  moonlight  steeped  in  silentness 
The  steady  weathercock. 

480    And  the  bay  was  white  with  silent  light  ..arV»Ä;;d'£Sl.. 

Till  rising  from  the  same, 
Füll  many  shapes,  that  shadows  were, 
In  crimson  colours  came. 

A  little  distance  from  the  prow  \tnT™"oMi^?' 

485    Those  crimson  shadows  were: 

I  tumed  my  eyes  upon  the  deck  — 
Oh,  Christ!  what  saw  I  there! 


78  The  Ancyent  Marinere. 

Each  corse  lay  flat,  lifelefs  and  flat;  515 

And  by  the  Holy  rood 
A  man  all  light,  a  seraph-maD, 

On  every  corse  there  stood. 

This  seraph-band,  each  wav'd  bis  band: 

It  was  a  beavenly  sigbt:  520 

Tbey  stood  as  Signals  to  tbe  land, 

Eacb  one  a  lovely  ligbt: 

Tbis  serapb-band,  eacb  wav'd  bis  band, 

No  voice  did  tbey  impart  — 
No  voice;  but  0!  tbe  süence  sank,  525 

Like  music  on  my  beart. 

Eftsones  I  beard  tbe  dasb  of  oars, 

I  beard  tbe  pilot's  cbeer: 
My  bead  was  tum'd  perforce  away 

And  I  saw  a  boat  appear.  580 

Tben  vanisb'd  all  tbe  lovely  ligbts; 

Tbe  bodies  rose  anew: 
Witb  silent  pace,  eacb  to  bis  place^ 

Game  back  tbe  gbastly  crew. 
Tbe  wind,  tbat  sbade  nor  motion  made,  585 

On  me  alone  it  blew. 

Tbe  pilot,  and  tbe  pilot's  boy 

I  beard  tbem  Coming  fast: 
Dear  Lord  in  Heaven!  it  was  a  joy, 

Tbe  dead  men  could  not  blast.  540 

I  saw  a  tbird  —  I  beard  bis  voice: 

It  is  tbe  Hermit  good! 
He  fiugetb  loud  bis  godly  hymns 

Tbat  be  makes  in  tbe  wood. 
He*ll  sbrieve  my  soul,  be'll  wasb  away  545 

Tbe  Albatrosses  blood. 

yii 

Tbis  Hermit  good  lives  in  tbat  wood 

Whicb  slopes  down  to  tbe  Sea. 
How  loudly  bis  sweet  voice  bo  reai*s! 
He  loves  to  talk  witb  Marineres  550 

Tbat  come  from  a  far  Contröe. 

527.  A.  In  500.  S  ist  das  Cbaucerische  efisoties  (H,  ziebt  Leg,  of 
Phüomela,  95  an)  fallen  gelassen,  dafür  ein  logischer  Anschluß  in  der 
Form  hergestellt.  Vgl.  aber  auch  12.  S.  —  531. — 536.  A  fiel  schon  in 
B  als  eine  nun,  wo  der  Anc.  Mar.  alle  Aufmerksamkeit  auf  das 
Lotsenboot  richtet,  störende  und  zwecklose  Ablenkung.  Eine  nicht 
sehr  verbürgte  Nachricht  (des  Ed.  von   1877  —  1880)  weiß   von  einer 


The  Ancient  Mariner.  79 


£ach  corse  lay  flat,  lifeless  and  flat, 
And,  by  the  holy  rood! 
490    A  man  all  light,  a  seraph-man, 
On  every  corse  there  stood. 

This  seraph-band,  each  waved  bis  band: 
It  was  a  beavenly  sigbt! 
Tbey  stood  as  signals  to  tbe  land, 
495    £acb  one  a  lovely  ligbt: 

Tbis  serapb-band,  eacb  waved  bis  band, 
No  voice  did  tbey  impart  — 
No  voice;  but  ob!  tbe  silence  sank 
Like  music  on  my  beart. 

500    But  soon  I  beard  tbe  dasb  of  oars, 
I  beard  tbe  Pilot's  cbeer; 
My  head  was  tumed  perforce  away, 
And  I  saw  a  boat  appear. 


Tbe  Pilot  and  tbe  Pilot's  boy, 
505    I  beard  tbem  coming  fast: 

Dear  Lord  in  Heaven !  it  was  a  joy 
Tbe  dead  men  could  not  blast. 

I  saw  a  tbird  —  I  beard  bis  voice: 
It  is  tbe  Hermit  good! 
510    He  singe tb  loud  bis  godly  hyinns 
Tbat  be  makes  in  tbe  wood. 
He'U  sbrieve  my  soul,  be'U  wasb  away 
Tbe  Albatrosses  blood. 

Part  yil. 
Tbis  Hermit  good  lives  in  tbat  wood  Th.n.naUof  a, 

515    Wbicb  slopes  down  to  tbe  sea. 

How  loudly  bis  sweet  voice  be  rears! 
He  loves  to  talk  witb  marineres 
Tbat  come  from  a  far  couutree. 

bds.  Korrektur  Col.'s  in  einem  Exemplare  zu  reden:  Tlien  vamsh'd 
all  Ute  lovely  lighis,  /  The  sjnrits  of  the  air,  /  No  souU  of  mortal  mefi 
toere  they,  /  But  spirits  hright  and  fair.  Hier  wäre  die  Wiederholung 
durcb  die  ausdrückliebe  Erklärung:,  daß  es  sieb  nicbt  um  Seelen  Ver- 
storbener bandelt,  sondern  um  Luftgeister,  eher  gerechtfertigt  gewesen. 
—    550.  A  s.  zu   1.  A.    —   571.  A  in  538.  S   Ivaih^  in  Übereinstimmung 


80  The  Ancyent  Marinere. 

He  kneels  at  mom  and  noon  and  eve  — 

He  hath  a  cushion  plump: 
It  is  the  moss,  that  whoUy  hides 

The  rotted  old  Oak-stump.  555 

The  Skiff-hoat  ne'rd:  I  heard  them  talk. 

"Why,  this  is  stränge,  I  trow! 
"Where  are  those  lights  so  many  and  fair 

"That  Signal  made  but  now? 

"Strange,  by  my  faith!  the  Hermit  said  —  560 

"And  they  answer'd  not  our  cheer. 
"The  planks  lock  warp'd,  and  see  those  saus 

"How  thin  they  are  and  sere! 
"I  never  saw  aught  like  to  them 

"Unless  perchance  it  were  565 

"The  skeletons  of  leaves  that  lag 

"My  forest  brook  along: 
"WTien  the  Ivy-tod  is  heavy  with  snow. 
"And  the  Owlet  whoops  to  the  wolf  below 

"That  eats  the  she-wolf's  young.  570 

"Dear  Lordl  it  has  a  fiendish  look  — 

(The  Pilot  made  reply) 
"I  am  a-fear'd.  —  "Push  on,  push  on!" 

Said  the  Hermit  cheerily. 

The  Boat  came  closer  to  the  Ship,  575 

But  I  ne  spake  ue  stirr*d! 
The  Boat  came  close  beneath  the  Ship, 

And  strait  a  sound  was  heard! 

Under  the  water  it  rumbled  ou, 

Still  louder  and  more  dread:  580 

It  reach'd  the  Ship,  it  split  the  bay; 

The  Ship  went  down  like  lead. 

Stunn'd  by  that  loud  and  dreadful  sound, 

Which  sky  and  oceau  smote: 
Like  one  that  hath  been  seven  days  drown'd  585 

My  body  lay  afioat: 
But,  swift  as  dreams,  myself  I  Ibund 

Within  the  Pilot's  boat. 

Upon  the  whirl,  where  sank  the  Ship, 

The  boat  spun  round  and  round:  590 

And  all  was  still,  save  that  the  hill 

Was  telling  of  the  sound. 

mit  den  sonstigen  Stellen,  wo  das  Hilfsverb  erscheint.  —  576.  A  s. 


The  Ancient  Alariner.  81 

He  kneels  at  mom,  and  noon^  and  eve  — 
620    He  hath  a  cushion  plmnp: 

It  is  the  moss  that  wholly  hides 
The  rotted  old  oak-stump. 

The  Skiff-boat  neared:  I  heard  them  talk, 
"\Vhy,  this  is  stränge,  I  tarow! 
525    Where  are  those  lights  so  many  and  fair, 
That  Signal  made  but  now?" 

^•Strange,  by  my  faith!"  the  Hennit  said  —  '^"wIlh'iIinAli.'***' 

"And  they  answered  not  our  cheer! 
The  planks  looked  warped!  and  see  those  sails, 
530    How  thin  they  are  and  sere! 
I  never  saw  aught  like  to  them, 
ünless  perchance  it  were 

Brown  skeletons  of  leaves  that  lag 
My  forest-brook  along; 
535    AVhen  the  ivy-tod  is  heavy  with  snow. 

And  the  owlet  whoops  to  the  wolf  below, 
That  eats  the  she-wolf's  young." 

"Dear  Lord!  it  hath  a  fiendish  look  — 
(The  Pilot  made  reply) 
540    I  am  a-feared"  —  "Push  on,  push  on!" 
Said  the  Hermit  cheerily. 

The  boat  came  closer  to  the  ship. 
But  I  nor  spake  nor  stirred; 
The  boat  came  closo  bencath  the  ship, 
545    And  straight  a  sound  was  heard. 

Under  the  water  it  rumbled  on,  ^* 'äi:Sl'*'"*^ 

Still  louder  and  more  dread: 

It  reached  the  ship,  it  split  the  bay; 

The  ship  went  do\\Ti  like  lead. 

550    Stunned  by  that  loud  and  di-eadful  sound,  ^«TS^il'L^ÄI 

Which  sky  and  ocean  smote,  '^*- 

Like  one  that  hath  been  seven  days  drowned 

My  body  lay  atioat; 

But  Swift  as  dreams,  myself  I  found 
555     Within  the  Pilot's  boat. 

üpon  the  whirl,  where  sank  the  ship. 
The  boat  spun  round  and  round; 
And  all  was  still,  save  that  the  hill 
Was  telling  of  the  sound. 


Eiohler,  Tho  Anciont  Muriner  u.  Christ. 


82  The  Ancyent  Marinere. 

I  mov'd  my  lips:  the  Pilot  shriek'd 

And  feil  down  in  a  fit. 
The  Holy  Herrn it  rais'd  his  eyes  595 

And  pray'd  where  he  did  sit. 

I  took  the  oars:  the  Pilot's  boy, 

Who  now  doth  crazy  go, 
Laugh'd  loud  and  long,  and  all  the  while 

His  eyes  went  to  and  fro,  600 

"Ha!  ha!"  quoth  he  —    ^full  plaiu  I  see, 

"The  devü  knows  how  to  row." 

And  now  all  in  mine  owu  Countr^e 

I  stood  on  the  firm  land! 
The  Hermit  stepp'd  forth  from  the  boat,  605 

And  scarcely  he  could  stand. 

"0  shrieve  me,  shrieve  me,  holy  Man! 

The  Hermit  cross'd  his  brow  — 
"Say  quick,"  quoth  he,  "I  bid  thee  say 

"ÄVhat  manner  man  art  thou?  610 

Forth with  this  frame  of  mine  was  wrench'd 

With  a  woeful  agony, 
Which  forc'd  me  to  begin  my  tale 

And  then  it  lefb  me  free. 

Since  then  at  an  uncertain  hour,  615 

Now  oftimes  and  now  fewer, 
That  anguish  comes  and  makes  me  teil 

My  ghastly  aventure. 

I  pass,  like  night,  from  land  to  land; 

I  have  Strange  power  of  speech;  620 

The  momeut  that  his  face  I  see 
I  know  the  man  that  must  hear  me; 

To  him  my  tale  I  teach. 

What  loud  uproar  bursts  from  that  door! 

The  Wedding-guests  are  there:  625 

But  in  the  Garden-bower  the  Bride 

And  Bride-maids  siugiug  are: 
And  hark  the  little  Vesper-bell 

WTiich  biddoth  me  to  pra3'er. 

zu  55.  A.  —  610.  A  in  577.  S  manner  of  man;  die  allzu  populäre  Kürze 
dos  Ausdruckes  ist  nun  im  Munde  des  Eremiten  gemildert.  — 
016— G18.  A  schon  in  B  wie  in  S  geändert.  [B  hat  als  Df.  agencyj: 
Anstoß  mag  das  herzlich  schlecht  reimende  aventure  gegeben  hab^n. 
[H.  führt  das  Wort  auf  Chaucer,  Leg.  of  Dido,  30  zurtlck:  'But  of  his 
aventures  in  the  see . . !  imd  bemerkt  hiezu:  **A  rare  sense  in  Chaucer: 


The  Ancient  Mariner.  88 

560    I  moved  my  Ups  —  the  Pilot  shrieked 
And  feil  down  in  a  fit; 
The  holy  Hermit  raised  his  eyes, 
And  prayed  where  he  did  sit. 

I  took  the  oars:  the  Pilot's  boy, 
565    Who  now  doth  crazy  go, 

Laughed  loud  and  long^  and  all  the  while 
His  eyes  went  to  and  fro. 
"Ha!  ha!"  quoth  he,  **full  piain  I  see, 
The  Devil  knows  how  to  row." 

570    And  now,  all  in  my  own  countree, 
I  stood  on  the  firm  land! 
The  Hermit  stepped  forth  from  the  boat. 
And  scarcely  he  could  stand. 


"O  shrieve  me,  shrieve  me,  holy  man!"  ^iS*^tüIS2r 

575    The  Hermit  crossed  his  brow.  *»|«  H««it  «o  ah*^ 

hlm ;  MM  tnM  pwiamw 

"Say  quick,"  quoth  he,  "I  bid  thee  say  —  of  w«  faiu  o»  w«. 

What  manner  of  man  art  thou?" 

Forthwith  this  frame  of  mine  was  wrench'd 
With  a  woful  agony, 
580    Which  forced  me  to  begin  my  tale; 
And  then  it  left  me  free. 

Since  then,  at  an  uncertain  hour,  thXhir.'Sl^ 

That  aerony  retums:  ur«  «n  »gwy  oon- 

And  tili  my  ghastly  tale  is  told,  from  und  to  im«. 
585    This  heart  within  me  bums. 

I  pass,  like  night,  from  land  to  land; 
I  have  sti'ange  power  of  speech; 
That  moment  that  his  face  I  see, 
I  know  the  man  that  must  hear  me: 
590    To  him  my  tale  I  teach. 

What  loud  uproar  bursts  from  that  door! 
The  wedding-guests  are  there: 
But  in  the  garden-bower  the  bride 
And  bride-maids  singing  are: 
595    And  hark  the  little  vesper  bell, 
Which  biddeth  me  to  prayer! 


ef,  Ascham:  'Adventurea  now-a-days  mean  experiences  in  traveV/* 
Warum  er  nicht  auch  Prol.,  794  —  795  anzieht :  'And  hom-toard  lie  shcUl 
teilen  othere  two  j  Of  aventures  that  whylom  han  hifalW,  sehe  ich  nicht 
ein.]  Die  zwei  letzten  Zeilen  der  Strophe  drücken  in  der  jüngeren 
Fassung  den  unwiderstehlichen  Zwfiuig  viel  klarer  aus. 

6* 


84  The  Ancyent  Marinere. 

0  Wedding-guest !  this  soul  hath  been  630 

Alone  on  a  wide  wide  sea: 
So  lonely  'twas,  that  God  himself 

Scarce  seemed  there  to  be. 

0  sweeter  than  the  Marriage-feast, 

'Tis  sweeter  far  to  me  635 

To  walk  together  to  the  Kirk 

With  a  goodly  Company. 

To  walk  together  to  the  Kirk 

And  all  together  pray, 
While  each  to  hLs  great  father  bends,  640 

Old  men,  and  babes,  and  loving  friends, 

And  Youths,  and  Maidens  gay. 

Farewell,  farewell!  but  this  I  teil 

To  thee,  thou  wedding-guest! 
He  prayetji  well  who  loveth  well  645 

Both  man  and  bird  and  beast. 

He  prayeth  best  who  loveth  best, 

All  things  both  great  and  small: 
For  the  dear  God,  who  loveth  us. 

He  made  and  loveth  all.  650 

The  Marinere,  whose  eye  is  bright, 

Whose  beard  with  age  is  hoar, 
Is  gone;  and  now  the  wedding-guest 

Tum'd  from  the  bridegroom's  door. 

He  went,  like  one  that  hath  been  stunn'd  655 

And  is  of  sense  forlom: 
A  sadder  and  a  wiser  man 

He  rose  the  morrow  morn. 


The  Ancient  Mariner.  85 

0  Wedding-Guest !  this  soul  hath  been 
Alone  on  a  wide  wide  sea: 
So  lonely  'twas.  that  God  himself 
GfJÖ    Scarce  seemed  there  to  be. 

O  sweeter  than  the  mamage-feast, 
Tis  sweeter  far  to  me, 
To  walk  together  to  the  kirk 
AVith  a  goodly  Company!  — 

&JÖ    To  walk  together  to  tho  kirk, 
And  all  together  pray, 
While  each  to  his  great  Father  bends, 
Old  men,  and  babes,  and  loving  friends 
And  youths  and  maidens  gay! 

610    Farewell,  farewell!  but  this  I  teil  tfn.^.^'i^^ 

To  thee,  thou  Weddmg-Guest !  «v.r««to»ntwny. 
He  prayeth  well,  who  loveth  well  ^»^ 

Both  man  and  bird  and  beast. 

He  prayeth  best,  who  loveth  best 
(315    All  things  both  great  and  small; 
For  the  deai*  God  who  loveth  us, 
He  made  and  loveth  all. 

The  Mariner,  whose  eye  is  bright, 
Whose  beard  with  age  is  hoar, 
♦j2<»    Ts  gone:  and  now  the  AVedding-G liest 
Tumed  from  the  bridegroom's  door. 

He  went  like  one  that  hath  been  stunned. 
And  is  of  sense  forlorn: 
A  sadder  and  a  wiser  man, 
625     He  rose  the  morrow  morn. 


Text  und  Lesarten. 


Christabel 

Pret'ace. 

*The  first  part  of  the  following  poem  was  written  in  the  year 
one  thousaud  seven  hundred  and  ninety-seven,  at  Stowey,  in  the 
county  of  Somerset.  The  second  part,  after  my  retnm  from  Germany, 
in  the  year  one  thousand  eight  hundred,  at  Keswick,  Cumherland.  It 
is  probable,  that  if  the  poem  had  been  finished  at  either  of  the  former 
periods,  or  if  even  the  first  and  second  part  had  been  published  in  the 
year  1800,  the  impression  of  its  originality  would  have  been  much  greater 
than  I  dare  at  present  expect.  But  for  this,  I  have  only  my  own  indolence 
to  blame.  The  dates  are  mentioned  for  the  exclusive  purpose  of  pre- 
cluding  charges  of  plagiarism  or  servile  imitation  from  myself.  For 
there  is  amongst  us  a  set  of  critics,  who  seem  to  hold,  that  every 
possible  thought  and  image  is  traditional;  who  have  no  notion  that 
there  are  such  things  as  fountains  in  the  world,  small  as  well  as 
great;  and  who  would  therefore  charitably  derive  every  rill  they 
behold  flowing,  from  a  Perforation  made  in  some  other  man's  tank. 
I  am  confident,  however,  that  as  far  as  the  present  poem  is  concemed, 
the  celebrated  poets  whose  writings  I  might  be  suspected  of  having 
imitated,  either  in  particular  passages,  or  in  the  tone  and  the  spirit 
of  the  whole,  would  be  among  the  first  to  vindicate  me  fi:om  the 
Charge,  and  who,  on  any  strikiiig  coincidence,  would  pemiit  me  to 
address  them  in  this  doggorel  versiou  of  two  monkish  Latin  hexa- 
meters:  — 

''Tis  mine  and  it  is  likewise  youi*s; 
But  an  if  this  will  not  do, 
Let  it  be  mine,  good  triend!  for  I 
Am  the  poorer  of  the  two. 

*I  have  only  to  add,  that  the  metre  of  the  Christabel  is  not, 
properly  speaking,  irregulär,  though  it  may  seem  so  from  its  being 
tbuuded  on  a  new  principle:  uamcly,  that  of  countiug  in  each  line 
the  accents,  not  the  syllables.  Tliough  the  latter  may  vary  from  seven 
to  twelve,  yet  in  each  line  the  acceuts  will  be  found  to  be  only  four. 
Nevertheless  this  occasional  Variation  in  number  of  syllables  is  not 
introduced  wantonly,  or  for  the  mere  ends  of  convenience,  but  in 
correspondence  with  some  transitiou,  in  the  nature  of  the  imagery  or 
passion.' 


Christabel.  87 

Part  the  First. 

'Tis  the  middle  of  night  by  the  Castle  clock, 
And  the  owls  have  awakened  the  crowing  cock; 

Tu  —  whit !  Tu  —  whoo ! 

And  hark,  again!  the  crowing  cock, 
5    How  drowsily  it  crew. 

Sir  Leoline,  the  Baron  rieh. 
Hath  a  toothless  mastiff,  which 
From  her  kennel  beneath  the  rock 
Maketh  answer  to  the  clock, 
10    Four  for  the  quarters,  and  twelve  for  the  hour; 
Ever  and  aye,  by  shine  and  shower, 
Sixteen  short  howls,  not  over  loud; 
Some  say,  she  sees  my  lady's  shroud. 

Is  the  night  chilly  and  dark? 
15    The  night  is  chilly,  but  not  dark. 

The  thin  gray  cloud  is  spread  on  high, 

It  Covers  but  not  hides  the  sky. 

The  moon  is  behind,  and  at  the  füll; 

And  yet  she  looks  both  small  and  dull. 
"20    The  night  is  chill,  the  cloud  is  gray: 

'Tis  a  raonth  before  the  month  of  May, 

And  the  Spring  comes  slowly  up  this  way. 

The  lovely  lady,  ChristÄbel, 

Whom  her  father  loves  so  well, 

25     What  makes  her  in  the  wood  so  late, 

A  furlong  from  the  Castle  gate? 

She  had  dreams  all  yestoruight 

Zur  'Freface  vgl.  Überlieferung  und  oben  SS.  20—22,  30; 
nach  C  a  (pag.  4G())  stammt  C  o  l.'s  Aufzeichnung  der  Verse  *xn  the  lame 
and  limping  metre  of  a  barbarous  Laiin  poet  —'  vom  1.  November  1801. 
Das  Original  lautet  auf  dem  Zettel:  'Est  meum  et  est  tuum,  amice!  et 
8%  amborum  nequit  esse,  /  Sit  meum,  amice,  j)recor:  quia  certe  sum  magi' 
(sie !)  pauper.*  C  o  l.'s  Übersetzung  (ibid.)  lautete  ursprünglich  noch  hol- 
periger: Zeile  2  if  statt  an  */,  Zeile  3  because  that  I  statt  good  friend! 
for  L  —  Der  abgedruckte  Text  ist  nach  B'  (1829).  Eein  ortho- 
graphische und  äußerliche  Interpunktionsänderungen  bleiben  unberück- 
sichtigt: z.  B.  A  awaken'd  BB'  awakened  u.  ä.  —  7.  A  mastiff  bitdi 
BB'  mastiff,  which  —  das  infolge  des  vulgären  Nebensinnes  **Dime, 
Metze"  verdächtige  Intch  "Hündin"  ist  fttr  die  Bedeutung  nicht  erfor- 
derlich, da  mastiff  und  her  deutlich  genug  das  Geschlecht  bezeichnen; 
ein  bequemes  Beimwort  fand  sich  im  Eelativum,  wodurch  die  Kon- 
struktion gemodelt  wurde,  aber  auch  metrisch  ein  Enjambement  ent- 
stand, was  bei  Beimversen  stets  einen  Vorteil  bedeutet.  Vgl.  jedoch  149 
und  153.  —  9.  A  She  makes  BB'  Makeih  Durch  das  Eelativum  which  war 


88 


Christabel. 


Of  her  own  betrothed  knight ; 
And  she  in  the  midnight  wood  will  pray 
30    For  the  weal  of  her  lover  that's  fai*  awiiv» 


She  stole  along,  ahe  notkiug  »poke, 
The  siglis  she  heaved  were  soft  aod  low. 
And  nanght  was  greea  upon  the  oak^ 
Bvit  mosa  and  rarest  misletoe: 
She  kneels  heneatli  the  huge  oak  tree, 
And  in  silence  prayeth  she. 


^5 


4H 


45 


dO 


The  lady  sprang  up  suddenly, 
The  lovely  lady,  Christahel! 
It  moaned  as  neai%  as  near  can  be. 
But  what  it  is  she  cannot  teil.  — 
On  the  other  side  it  seeius  to  be^ 
Of  the  huge^  broad-bre^sted,  old  oak  tree. 

The  night  is  chill ;  the  forest  bare ; 
Is  it  the  wind  that  moaneth  hleak? 
There  is  uot  wind  eiiough  in  the  air 
To  move  away  the  ringlet  curl 
From  the  lovely  lady*s  <  heek  — 
There  is  not  wind  euough  to  twirl 
The  one  red  leaf,  the  last  of  its  clan, 
That  dances  as  often  as  dance  it  can, 
Hanging  so  light,  and  hanging  so  high, 
On  the  topmost  twig  that  looks  np  at  the  skj' 

Hush,  beating  heart  of  ChristAbel! 
Jesu^  Mai'ia,  shield  her  well  I 


die  an  sich  unnötige  Wiederholung  des  Subjektes  gänzlich  überflüssig] 
geworden.  Die  Silbenzaiil  wurde  durch  die  ai-chaisierende  Form  wieder* 
Atisgefdllt.  —  11.  A  moonshtne  or  shower  BB'  by  shüie  or  shower  AWzu  große 
Beschwerung  der  Zeile   durrh  Silhen   ist  vermieden,  Alliteration  her* 
gestellt ;  wobei  der  Sinn  durch  die  Bedeutung  shine  =  "schön  Wetter"  i 
anders  geworden  ist.  —  Nach  28  in  €  Dreams  that  made  her  moan  and 
leap  f  As  OH  her  bcd  ßhe  lay  m  Meep ;  das  sonst  besser  ven^^ertete  Motiv  ] 
des  unruhigen  Schlafens  wäre  hier  schon  vorweggenommen ;  daher  zu 
%'emachlässigen.   —   32.  A  HS  I  &  III   The  breezes  they  were  still  also) 
MS  II  The  breeies   thefj  were  whvipeiing  low  BB*  The  sighs  she  heaved  \ 
were  soft  and  low.    Das   ursprünglich   eingemengte  Natnrmoment   ist'l 
fallen  gelassen  und  erst  später  nachdrücklicher  ei*Tv^ähnt  (44 ff.).    Hier] 
erwies  es  sich  schon  durch  das  schwache  Beim  wort  aUto  als  ein  Füllsel  J 
das  die  nun  schön  durchgeführte  Beschreibung  Christabels  nicht  mehr  1 
unterbricht.  Verunglückt  spricht  MS  11,  das  zuerst  da^  bedeutender«! 
Be  im  wort  ^ti?  bringt,  von  einem  „leisen  Wehen^j  was  zu  41-46  nicht' 
stimmt.  37.  A  leaps  up  Bß'  sprang  up:  Änderung  in  der  Zeit  und  im 
Worte  vielleicht  wegen  der  Kakophonie  leaps  up  resp.  leaped  up.  —  j 


Christabel.  89 


55    She  folded  her  arms  beneath  her  cloak, 
And  stole  to  the  other  side  of  the  oak. 
What  sees  she  there? 

There  she  sees  a  damsel  bright, 

Drest  in  a  silken  robe  of  white, 
60    That  shadowy  in  the  moonlight  shone: 

The  neck  that  made  that  white  robe  wan, 

Her  stately  neck,  and  arms  were  bare; 

Her  blue-veined  feet  unsandaPd  were, 

And  wildly  glittered  here  and  there 
65    The  gems  entangled  in  her  hair. 

I  guess,  ^twas  frightfal  there  to  see 

A  lady  so  richly  clad  as  she  — 

Beautiful  exceedingly ! 

Mary  mother,  save  me  now! 
70    (Said  Christabel,)  And  who  art  thou? 

The  lady  stränge  made  answer  meet. 
And  her  voice  was  faint  and  sweet:  — 
Have  pity  on  my  sore  distress, 
I  scarce  cau  speak  Ibr  weariness: 
75    Stretch  forth  thy  band,  and  have  no  fear! 
Said  Christabel,  How  camest  thou  hereV 
And  the  lady,  whose  voice  was  faint  and  sweet, 
Did  thus  pursue  her  answer  meet:  — 

60-65.  Dafür  hatte  A  HS  I  &  III  Her  neck,  her  feet,  her  arms  toere 
bare,  /  And  the  jewels  disordered  [MS  I  &  III :  tumbledj  in  her  hair.  Ur- 
sprOnglich  also  eine  weit  kürzere  Fassung:  nun  ist  die  äußerliche 
Schönheit  alles  dessen,  was  man  an  der  gekleideten  Geraldine  sieht, 
mehr  hervorgehoben.  Ca.  bezweifelt,  daß  die  Lesart  der  MSS,  wie 
Collier  von  Col.  selber  erfahren  haben  will,  eine  falsche  Schreibung 
ftlr  tangled  sei,  weil  ein  solches  Verschreiben  zweimal  unwahr- 
scheinlich sei.  Wie  käme  aber  sonst  statt  des  disordered  vofi  A  das  en- 
tangled von  B  herein?  74.  AB  weariness.  B'  weariness:  der  gedankliche 
Zusammenhang  "fürchte  dich  also  nicht  vor  einer  so  unschädlichen 
Person"  ist  durch  den  Doppelpunkt  klarer  gestellt.  —  80.  A  Geraldine. 
BB'  Geraldine:  wieder  näherer  Zusammenhang  mit  dem  folgenden.  — 
81.  ABB'  MS  II  Five  warriors  MS  I  &  III  Five  ruffians.  Das  edlere 
Wort  der  ersten  gedruckten  Lesart  wurde  beibehalten.  Hiezu  Ca. 
(pag.  605):  *^The  version  of  Christabel  recited  to  Scott  hy  Stoddart 
[1801]  was  douhtless  MS  I.  Scott  prefixed  the  following  lines  as  Motto  to 
chap.  XI.  of  The  Black  Bwarf  (1818):  —  *Three  ruffians  seized  me 
yester  mom,  /  Alas!  a  maiden  most  forlorn:  /  They  choked  my  cries  with 
wicked  might,  /  And  bound  me  on  a  palfrey  white:  /  As  sure  as  Heaven 
shaü  pity  me,  I  I  cannot  teil  what  men  they  be.  /   ChristabeUe,'   —  A 


■istahel. 

My  sire  is  of  a  noble  line, 
80    And  my  name  is  Geraldme: 

Five  wairiors  seisced  me  yestermom, 

Me,  even  me,  a  maid  forlom: 

They  choked  my  cries  with  force  and  fright, 

And  ded  me  on  a  palfrey  white. 
85    Th©  palirey  was  as  fleet  as  wind^ 

And  they  rodo  furionjäly  behind. 

They  spuired  amain,  their  steeds  were  white: 

And  oDce  we  crossed  the  sbade  of  night. 

As  sure  as  Heaven  fehall  rescue  me, 
90    I  have  no  thoaght  what  men  they  be; 

Nor  do  I  know  how  long  it  is 

(For  I  have  lain  entranced  I  wib) 

Sine©  one,  the  tallest  of  the  five^ 

Took  me  from  the  palfrey*s  back, 
95    A  weary  woman^  scarce  alive. 

Sorae  muttered  words  bis  comrades  spoke; 

He  placed  me  nnderneath  this  oak; 

He  swore  they  woiild  retiim  with  haste; 

WhJtber  they  went  I  cannot  teJl  — 
100    I  thought  I  beard»  some  minute*  past, 

8oundi9  as  of  a  cai>tle  belL 

Stretch  forth  thy  band  (thus  ended  she)^ 

Aud  help  a  wi*etched  maid  to  üee. 

Then  Cbristabel  stretched  forth  h»:*r  band 
105    And  comforted  fair  Oeraldiue: 

remarkahle  rffort  of  memory,  no  doubt;  bui  it  ü  odd  tliat  Scott  ttlmuld 
not  have  prefened  to  quäle  from  ike  printed  CHriitabelt  published  huo 
pears  btfore"  Sir  Walters  pliäüomenale.s  Gedäcbtnia  (vgl  z.  B.  auch 
The  Works  ö/  the  Jtt.  Hon.J.  //,  Frere,  Metnoir,  1874,  pag.  235 f,  wo 
er  als  ein  vom  Schlage  Gerührter  mehr  als  20  Zeilen  aus  einer  vor 
23  Jahren  erschienenen  Cid-Übersetzung  aufwendig  voiiiügt)  machte 
ihn  eben  zuweilen  allzu  vertrauensselig  und  überdies  ließ  ihn  die  raseh^J 
Art  seLuer  ScbriftKtellerei  nicht  ei*st  lauge  nach  Büchern  zu  Zitaten 
Buchen*  Obiges  kommt  mit  Weglasi^ung  der  letzten  beiden  Zeileoti 
ebenfalls  frei  als  Motto  T/i«  Bdroihtd,*  XXIV  vor.  Ebenso  frei  atitiert  < 
Sc.  ütid.  Conclimon  die  Verse  302—304  aus  Christ,  und  'The  Pirate/ 
XIX.  t?,  586^590  des  Anc.  Mar.,  *St.  Rmuin'»  Well,*  VI  v.  5861587 
des  Anc.  Mar,,  'TIm  Pirat^/  HI,  v.  289  von  Christ,  und  'The  Highland 
Widoui,*  L  39—42  von  Chfist*  Dagegen  genau  Christ.  €6-68  in  *Th€  ^ 
Manastenj/  XI.  und  Christ.  123—144  in  *7'h«  Abbot,'  Note  IL  vgl.  Komiii,H 
zu  54.  —  88.  Ftlr  das  allgemeine  And  once  we  crossed  hat  MS  HI . . . 
twice  we  crossed . . .  Das  Wiederholen  der  Erscheinung  ist,  da  sie  nur 
erzählt  wird,  überHüftsig,  daher  auch  nicht  akzeptiert.  —  92.  X  in  ßl» 
Rest  entranced,  da  ßts  '^JCrämpfe**  bedeutet  uud  auch  etwas  mehr 
Umgangsaprache   angehört^  wurde  mit  dem   edlereu  Wort  auch 


te 

enfl 
eoH 


ri^ta^lH 


Christabel.  91 

0  well,  bright  dame!  may  you  coinmand 
The  Service  of  Sir  Leoline; 
And  gladly  our  stout  chivalry 
Will  he  send  forth  and  Mends  withal 
HO    To  guide  and  guard  you  safe  and  free 
Home  to  your  noble  father's  hall. 

She  rose:  and  forth  with  Steps  they  passed 

That  strove  to  be,  and  were  not,  fast. 

Her  gracious  stars  the  lady  blest, 
115    And  thus  spake  on  sweet  Christabel: 

All  our  household  are  at  rest, 

The  hall  as  silent  as  the  cell; 

Sir  Leoline  is  weak  in  health, 

And  may  not  well  awakened  be, 
120    But  we  will  move  as  if  in  stealth, 

And  I  beseech  your  courtesy, 

This  night,  to  share  your  couch  with  me. 

They  crossed  the  moat,  and  Christabel 

Took  the  key  that  fitted  well; 
125    A  little  door  she  opened  straight. 

All  in  the  middle  of  the  gate; 

The  gate  that  was  ironed  within  and  without, 

AVTiere  an  army  in  battle  array  had  marched  out. 

The  lady  sank,  belike  through  pain, 
19(J    And  Christabel  with  might  and  main 

Lifted  her  up,  a  weary  weight, 

Over  the  threshold  of  the  gate: 

Then  the  lady  rose  again, 

And  moved,  as  she  were  not  in  pain. 

135        So  free  from  danger,  free  from  fear, 

They  crossed  the  court:  right  glad  they  were. 

neue  Begriff  der  "Bewußtlosigkeit"  eingeführt.  —  106—122.  in  A  MS  I 
&  III:  Saying,  that  ehe  should  cotnmand  /  The  Service  of  Sir  Leoline;  / 
Änd  straight  he  convoy'd,  free  from  Uirally  /  Back  to  her  noble  fatlier^s 
hall.  I  —  Soup  she  rose^ and  forth  tliey  passed,  /  With  hurrying  stq)s,  yet 
notkingfiui;  /  He9'  lucky  stars  tht  lady  blest,  j  And  Christabel  she  sweetly 
Said  —  /  All  our  household  are  at  rest,  /  Eadi  one  sleeping  in  his  bed;  / 
Sir  Leoline  is  weak  in  health,  j  And  may  fiot  well  awaketi*d  he;  /  So  to 
my  room  we^ll  creep  in  stealth,  /  And  you  to-night  must  sleep  with  nie. 
MS  II  stimmt  damit;  nur  lauten  die  vier  Verse:  Her  lucky  stars  etc. 
hier:  Her  smiling  stars  the  lady  hlest;  j  And  thus  bespake  sweet  Christabel:  / 
All  our  household  is  at  rest,  /  The  hall  is  silent  as  a  cell.  Gebessert  ist 
hier  in  B  die  direkte  Rede  für  die  schleppende  indirekte;  der  Gegen- 
satz zwischen  ihrer  Hast  und  dem  kleinen  Schritt  ist  nun  deutlicher 
ausgedrückt.  Der  Ausdruck  lucky  paßt  nicht  lür  die  Teufelin,  deshalb 
ändert  schon  HS  II  smilingy  was    dann   in  B  in   das  nächstliegende 


ChristÄbeL 

And  Cliristabel  devoutly  cried 
To  the  Lady  by  her  side, 
Fraise  we  the  Virg^  all  divine 
140    Wbo  hath  rescued  thee  from  thy  distress ! 
Alas^  alas!  said  rreraldine. 
I  cautiot  speiik  for  wearinegs. 
So  iree  from  danger,  free  from  f©ar, 
They  croseed  the  ooiirt:  right  glad  they  were. 

145        Outside  her  kennel,  the  raastiff  old 

Lay  fast  a-^leep,  iii  moonshine  cold. 

The  mastifl'  old  did  not  awake. 

Yet  she  an  angry  moan  did  make! 

And  what  cau  ail  the  mastiff  bitch? 
15«3    Never  tili  now  she  uttered  yell 

Beneath  the  eye  of  Chi-istabeL 

Perhaps  it  is  the  owlet's  scritch: 

For  what  can  aü  the  mastiÖ'  bitch? 

They  passed  the  hall^  that  eehoes  still, 

155     Paiss  as  lightly  as  you  will  l 

The  brandü  were  flat,  the  brands  were  dyingi 
Amid  their  owu  white  ashes  lying; 
But  when  the  lady  pas^ed»  thei*e  caine 
A  tongne  of  light,  a  fit  of  flame; 

16^J    And  Christabel  saw  the  lady 's  eye, 
And  nothiug  ebe  saw  she  thereby, 
Save  the  boss  of  tlie  shield  of  Sir  Leoline  t^ll, 
Wliich  hung  in  a  murky  old  niche  in  the  walK 
O  softly  tread,  said  ChristabeL 

165     My  father  seldom  sleepeth  well. 

Sweet  Chri&tabel  her  feet  doth  bare^ 
And,  jealous  of  the  listening  air, 


gffWl&m  gewandelt  wurde.  Die  erste  Lesart  And  Chrtstahel  she  sweeüf] 
Said  —  ist  nicht  sehr  klar  nnd  gewandt,  bei  der  zweiten  fehlt  das  j 
Objekt,  und  so  ist  anch  hier  B  zu  bevorzugen,  wo  die  früher  ab- j 
gebrochene  Eede  regelrecht  aufgenommen  wird.  Die  Zerdehnung  des] 
Gedankens  durch  coc^  one  MeejAng  in  his  bed  i&t  einem  ueuen  Zugej 
schon  in  MS  II  gei^ichen,  den  wohl  der  Reim  mit  veranlaßt  hat.  Der  I 
Schlußpassus  endlich  ist  aus  der  Form  des  kategorischen  Behauptnngs*] 
Satzes  in  ein  höfiiches  Ersuchen  gewandelt.  Das  bespake  in  HS  II  ist] 
als  allzu  archaistisch  wieder  fallen  gelassen  worden.  —  113.  B  fihovadi 
(sie!)  to  be  B'  strove  to  be.  Sinnloser  Df.  ~  114.  B  STARS  B'  stars,  \ 
eine  sonst  nicht  ausgenutzte  Andeutung  auf  den  Sternaberglaubea] 
wurde  dadurch  hervorgehoben  und  deshalb  im  Neudruck  wieder  aufsl 
richtige  Maß  eingeschränkt.  —  1B3.  A  niich  HiW  niche^  die  modernere 
Schreibimg.  —  16G— 168.  ist  in  A  und  MS  III  kürzer:  Swfet  Christabel 
her  feet  ehe  btires  /  And  the^  are  creeping  up  the  siairs.    Die  etwas  n 


Christakel.  93 

They  steal  their  way  from  stair  to  stair, 
Now  in  glimmer,  and  now  in  gloom, 
170    And  now  they  pass  the  Baron's  room, 
As  still  as  death,  with  stifled  breath! 
And  now  have  reached  her  Chamber  door; 
And  now  doth  Geraldine  press  down 
The  rushes  of  the  Chamber  floor. 

175        The  moon  shines  dim  in  the  open  air, 

And  not  a  moonbeam  enters  here. 

But  they  without  its  light  can  see 

The  Chamber  carved  so  curiously^ 

Carved  with  figures  stränge  and  sweet, 
180    All  made  out  of  the  carver's  brain, 

For  a  lady*s  Chamber  meet: 

The  lamp  with  twofold  silver  chain 

Is  fastened  to  an  angel's  feet. 

The  silver  lamp  bums  dead  and  dim; 
185    But  Christabel  the  lamp  will  trim. 

She  trimmed  the  lamp,  and  made  it  bright, 
And  left  it  swinging  to  and  fro^ 
While  Geraldine,  in  wretched  plight, 
Sank  down  upon  the  floor  below. 

190        0  weary  lady.  Geraldine, 

I  pray  you,  drink  this  cordial  wine! 
It  is  a  wine  of  virtuous  powers; 
My  mother  made  it  of  wild  flowers. 

And  will  your  mother  pity  me, 
195    Who  am  a  maiden  most  forlom? 

beholfene  erste  Zeile  wurde  in  Bfl'.  diu-ch  das  umschreibende  do^i 
gebessert;  dadurch  mußte  auch  das  Eeimwort  staira  geändert  werden; 
glücklich  wurde  fttr  das  niedrige  creep  das  die  Heimlichkeit  ohne  beson- 
ders herabsetzenden  Nebensinn  ausdrückende  steal  iheir  way  gesetzt,  dafdr 
ein  sehr  schöner  Nebengedanke  in  dem  Verse  andjealous  of  the  listening 
air  eingefügt,  wodurch  auch  Dreireim  entstand.  (167.  lobt  Ca.  beson- 
ders). —  171.  AB  dealh  toith  B'  death,  with  Der  Beistrich  war  zur  Ab- 
grenzung dringend  nötig.  —  173.  A  And  now  with  eager  feet  press  down 
BB'  wie  oben.  Das,  worauf  es  ankommt,  daß  nämlich  die  Hexe  in 
Christabels  Kemenate  tritt,  ist  nun  deutlich  ausgesprochen.  Natürlich 
mußte  nun  174.  statt  A  her  Chamber  floor  BB'  einfach  the  cthamher  floor 
bieten.  —  190—193.  ABB' ff.  Dafür  MS  I:  0  weary  lady,  Geraldine,  /  I 
pray  you,  drink  this  spicy  wine.  /  Kay,  drink  it  up ;  I  pray  you,  do :  / 
Believe  me,  it  will  comfort  you;  /  und  MS  III  die  ersten  zwei  Zeilen 
wie  MS  I,  dann:  It  is  a  wine  of  virtuous  powers,  /  My  mother  made 
it  of  wHd  flowers  —  /  Nay,  drink  it  up;  I  pray  you,  do!  /  Believe 
me,  ii  will  comfort  you!   MS   II  hatte   denselben   Text  wie  A  etc. 


94 


Cbfistabel. 


Christabel  answered  —  Woe  is  me! 
She  djed  the  hour  that  I  was  hörn. 
I  have  lieard  the  grey-haired  iViar  teil 
How  on  her  death-bed  she  did  sa\% 
2U0  That  she  should  heai-  the  castle-bell 
Sinke  twelve  tipon  m^'  wedding-day. 

0  mother  dearf  that  tbon  wert  here! 

1  wotild,  Said  Geraldine^  she  were 

But  soon  ^ith  altered  voice^  said  she  — 
2<»5    'Off^  waDderiög  mother!  Peak  aud  pine 
1  have  power  to  bid  tbee  Uee/ 
Alas!  what  aib  poor  Geraldine? 
Why  Stares  sbe  with  uBsettled  eye? 
Call  she  the  bodiless  dead  espy? 
210    And  why  with  hoUow  voice  cries  sbe, 
*Off,  woman^  off!  this  hour  is  mine  — 
Tbougb  thou  her  guardian  spirit  be^ 
Off,  woman,  off!  *tis  given  to  ine/ 

Then  Cbristabel  knelt  by  the  lady's  side, 
215    And  raised  to  heaven  her  eyea  so  blue  — 
Alas!  Haid  she^  thia  ghastly  ride  — 
Dear  lady!  it  hath  wildered  yon! 
The  lady  wiped  her  moist  cold  brow. 
And  faiiitly  said,  ''tis  over  no%v!* 

2*20        Again  the  wild-flower  wiiie  she  drank; 
Her  fair  large  eyes  *gan  glitter  bright, 
And  from  the  tioor  whereou  she  p»ankj 
The  lofty  lady  stood  uprigbt: 


und   191.    statt    cordial    wie    die    MSS    spicy.    Ca.   nennt    cordial    ftlrl 
Mpi^j  '*un  t0ifortunat€  chatige'* ;  ich  sehe  nicht  ein,  warum?   ChristAbel 
hßJt    Ger.    in     ibrer    Gutmütigkeit     doch     für    erscböpffe,    sie    will 
ihr    ein    stärkendes    Mittel    reichen^    einen    Kräuterwein,    der    als 
solcher  eigentlich  nicht  mehr  **gewür7t"  sein  kann;   die  ursprOnglich' 
in  M8  III   hinzugefügte  Erklärung  Ü  is  a  tcine . . ,  flowen  machte  di 
s/jtci/  dann  eben  ttberflO.ssig.  Oder  lag  Ca.  die  andere  Bedeutung  voni 
cordial  ''ireundlich,  her^Jich,  warm"   im   Ohr?    Jedenfalls   hätten   wir 
dann  in  MS  III  eine  Übergangsfonn   vor  uns;    die  beiden  erwähnten 
Zeilen  sind  gute  Zugabe,  sie  bezeichnen  die  liebenswürdige  Anpreisung 
der  Cbristabel  und   führen  den  Namen  ^^Mntter"  ein,  so  daß   die  An- 
knüpfung des  Gespräches  motiviert  ist.  Wieder  zeigt  M8  III  hier  ©in 
Zwischeustadinm,  in   dein  es   die  zwei  schon  in  ÄS  I  bin  zugefügten 
AufmunterungHsätze  zu  den  zwei  neuen  mit  binzuuimmt.  Das  scbieo 
dem  Dichter  doch   des  Guten   zu   viel   und  so  strick  er  diese  beide0 
Älteren.   —   219.  ABU* ff.  Vw  orer  now!  MS  I  k  III  Tm   better  naw\ 
was    Ca.   sehr   tadelt,   offenbar    wegen    des   allzu   kolloquialen    Aus- 
druckes. —  223,  AB'  upri^ht:   B  upright;   die  Wirkung  ist  durch  den 


I 


Christabel.  95 


She  was  most  beautifol  to  see, 
225    Like  a  lady  of  a  far  countr^e. 

And  thus  the  lofty  lady  spake  — 
*A11  they,  who  live  in  the  upper  sky, 
Do  love  you,  holy  Christabel! 
And  you  love  them,  and  for  their  sake 
280    And  for  the  good  which  me  befell, 
Even  I  in  my  degree  will  try, 
Fair  maiden,  to  requite  you  well. 
But  now  unrobe  yourself ;  for  I 
Must  pray,  ere  yet  in  bed  I  lie.' 

2S5        Quoth  Christabel,  So  let  it  be! 
And  as  the  lady  bade,  did  she. 
Her  gentle  limbs  did  she  undress, 
And  lay  down  in  her  loveliness. 

But  through  her  brain  of  weal  and  woe, 
240    So  many  thoughts  moved  to  and  fro, 
That  vain  it  were  her  lids  to  close 
So  half-way  from  the  bed  she  rose, 
And  on  her  elbow  did  recline 
To  look  at  the  lady  Geraldine. 

215        Beneath  the  lamp  the  lady  bowed, 
And  slowly  rolled  her  eyes  around; 
Then  drawing  in  her  breath  aloud, 
Like  one  that  shuddered,  she  unbound 
The  cincture  from  beneath  her  breast: 


Doppelpunkt  besser  mit  der  Ursache  verknüpft;  daher  Wieder- 
herstellung desselben.  243—268.  in  A:  She  unbound  /  TJie  cincture  from 
beneeUh  her  breast:  /  Her  Silken  robe,  and  inner  ve&t,  j  Dropt  to  her  feet, 
and  füll  in  view,  /  Behold!  her  bosom  and  half  her  side  —  JA  sight  to 
(tream  of,  not  to  teil!  /  And  she  is  to  sleep  by  Christabel.  —  She  took 
two  paees,  and  a  stride,  /  And  lay  down  by  the  maiden* s  side,  /  Z.  252  ff. 
in  HS  II :  Behold  her  bosom  and  half  her  side  /  Are  lean  and  old  and  foul  of 
hme  I  And  she  is  to  sleep  by  Christabel!  —  She  took  two  paccs,  and  a 
stride,  I  And  lay  down  by  ihe  Maiden' s  side.  /  Ah  wel-a-day!  /  And  wiih 
»ad  voice  and  doleful  look  /  These  words  did  say:  /  In  the  Touch  of  my 
Bosom  ihere  worketh  a  spell  /  Which  is  lord  of  thy  utterance,  Christabel!  j 
Thou  knowest  to-night,  and  wüt  know  to-morrow,  /  The  mark  of  my 
duMme,  the  seal  of  my  sorrow  /  etc.  wie  in  BB';  dann  entsprechend 
Z.  277  tf . :  And  did' st  bring  her  home  with  thee  with  Love  and  with  Charity  / 
To  shield  her  and  shelter  her  from  the  damp  air.  Dazu  noch  in  der 
Bezension  in  The  Examiner,  1816,  2.  Juni  eine  angeblich  einem  MS 


100 


ChristabeL 


Alas!  they  bad  been  friends  in  jouth: 

Büt  vvhispering  tongnes  can  poison  truth; 
410    And  constaucy  lives  in  realms  above; 

And  lue  is  tboiiiy;  and  youtb  i«  vam; 

Aiid  to  be  wToth  with  one  we  love 

Doth  wark  like  madness  in  tbe  brain. 

And  thus  it  chanced,  a^s  I  divine^ 
415    With  Roland  and  Sir  LeoHne. 

Each  spake  words  of  bigh  dbdain 

And  in.siilt  to  bis  heart's  best  brother: 

Tbey  parted  —  ne'er  to  meet  again! 

But  never  eitber  foiind  anotber 
421'    To  li'ee  tbe  bollow  beart  from  painiug  — 

They  8tood  aloof^  tb©  scars  remaiuing^ 

Like  clifls  wbicb  bad  been  rent  asnnder: 

A  di'eary  sea  now  tiow.s  between. 

Biit  neitber  beat,  nor  frost,  nor  thnnder, 
425    Sball  whoUj"  do  away^  I  ween, 

Tbe  marks  of  tbat  whicb  once  hatb  been. 

Sir  Leoline,  a  moment^s  space^ 
Stood  gaxing  on  tbe  damsers  face: 
And  tbe  yontbfal  Lord  of  Trj^ermaine 
490    Came  back  upon  bis  beart  again. 

O  llten  the  Baron  forgot  bis  age^ 

His  noble  beart  swelled  bigb  with  rage; 

He  swore  by  tbe  wounda  in  Jesu's  sid© 

He  would  proclaim  it  far  and  wide^ 
4Bb    With  tmmp  and  solemn  heraldry, 

Tbat  they,  who  thns  bad  wronged  the  dame 

Were  base  as  spotted  infainy! 

^And  if  tbey  dai'e  deny  tbe  saiue, 

My  beraid  ^bail  appoint  a  week^ 
440     And  let  tbe  recreant  traitorüi  seek 

My  toumey  court  —  tbat  there  and  tben 

I  may  dislodge  tbeir  reptile  souls 

From  tbe  bodies  and  forms  of  men!* 

He  spake:  bis  eye  in  ligbtning  rolls! 
445    For  tbe  lad%^  was  rvitblessly  seized;  and  be  kenned 

In  the  beautiful  ladv  tbe  child  of  bis  friend ! 


450 


And  now  tbe  tears  were  on  bis  face, 
And  fondly  in  bis  ai-nis  he  took 
Fair  Geraldine,  who  met  tbe  embrace, 
Pi'ölonging  it  with  joyous  look. 
Wbicb  when  she  viewed,  a  vision  feil 
Upon  tbe  soul  of  Cbristabel, 


Christabel.  101 

The  Vision  of  fear,  the  touch  and  pain! 
She  shronk  and  shuddered,  and  saw  again  — 
4ö5    (Ah,  woe  is  me!  Was  it  for  thee, 

Tbou  gentle  maid!  such  sights  to  see?) 

Again  she  saw  that  bosom  old, 
Again  she  feit  that  bosom  cold, 
And  drew  in  her  breath  with  a  hissing  sound: 
460    Whereat  the  Knight  tumed  wildly  round, 
And  nothing  saw,  but  bis  own  sweet  maid 
With  eyes  upraised,  as  one  that  prayed. 

The  touch,  the  sight,  had  passed  away 

And  in  its  stead  that  vision  blest, 
466    Which  comforted  her  after-rest, 

While  in  the  lady's  arms  she  lay, 

Had  put  a  rapture  in  her  breast. 

And  on  her  Ups  and  o'er  her  eyes 

Spread  smiles  like  light! 

With  new  surprise, 
470    *What  ails  then  my  beloved  child?' 

The  Baron  said  —  His  daughter  mild 

Made  answer,  *A11  will  yet  be  well!' 

I  ween,  she  had  no  power  to  teil 

Aught  eise:  so  mighty  was  the  spell. 

475        Yet  he,  who  saw  this  Geraldine, 

Had  deemed  her  sure  a  thing  divine. 

Such  sorrow  with  such  grace  she  blended, 

As  if  sbe  feared  ske  had  ofiended 

Sweet  Christabel,  that  gentle  maid! 
480    And  with  such  lowly  tones  she  prayed 

She  might  be  sent  without  delay 

Home  to  her  father's  mansion. 

*Nay! 

Nay,  by  my  soul!*  said  Leoline. 

*Ho!  Bracy,  the  bard,  the  charge  be  thine! 
485    Go  thou,  with  music  sweet  and  loud. 

And  take  two  steeds  with  trappings  proud, 

And  take  the  youth  whom  thou  lov'st  best 

To  bear  thy  harp,  and  leam  thy  song, 

And  clothe  you  both  in  solemn  vest, 
490    And  over  the  mountains  haste  along, 

Lest  wandering  folk,  that  are  abroad, 

Detain  you  on  the  valley  road. 

Deutlicher  Abschnitt  ist  nun  mit  Recht  markiert.  —  453.  Äff.  wie 
oben;  MS  I  &  III  The  vision  foul  of  fear  and  pain.  Glücklich  ist  nun 
das  körperliche  Unbehagen  der  Umarmung  durch  den  Unhold  aus- 
gedrückt worden.  —  468.  Äff.  wie  oben;  M8  I  The  pang  the  sight  was 


102 


Ckristabel 


^And  when.be  hau  crossed  the  Irthing  tioodf 
My  merry  bard!  he  hast^s,  he  hast«« 
495    Up  Knorren  Moor,  throngh  Halegarth  Wood, 
And  reaches  soon  that  Castle  good 
TVliich  Stands  and  threatens  ScotJand*s  wastes. 

*Bard  Bracy!  bard  Bracy!  yotir  horses  are  fleet. 

Ye  must  ride  up  the  hall,  vout  music  so  sweet, 
500    More  loud  than  your  horses'  echoing  feet! 

And  lond  and  loud  to  Lord  Roland  call, 

Thy  daughter  is  safe  in  Langdale  hall! 

Thy  beautiful  datighter  i&  safe  aod  free  — 

Sir  Leoline  greets  thee  thns  tlu-ough  me. 
505    He  bids  thee  come  without  delay 

With  all  thy  numerous  array; 

And  take  thy  lovely  datighter  home: 

And  he  will  meet  thee  on  the  way 

With  all  bis  numerous  array 
51U     Wliitc  with  their  paoting  palfreys'  foam: 

And  by  nüne  honour!  I  will  say, 

That  I  repent  me  of  the  daj* 

When  I  5>pake  words  of  fierce  disdain 

Tu  Roland  de  "^'aux  of  Tryermainel  — 
515    —  For  hince  that  evil  hour  hath  tlown, 

Many  a  summer^i»  sun  hath  shone; 

Yet  ne*er  foimd  I  a  friend  again 

Like  Holand  de  Vaux  of  Tryermame.' 

The  lady  feil,  and  clasped  bis  kuee$. 

520    Her  face  upraised,  her  eyes  o^erflowing; 
Aod  Bracy  replied,  with  faltering  voice, 
His  gracious  hail  on  all  bestowing; 
*Thy  words»  thou  sire  of  Christabel, 
Ai*e  sweeter  than  ni}*  harp  can  teil; 

525    Yet  might  I  galn  a  boon  of  thee^ 
This  day  my  joumey  sboiild  not  be. 
So  Strange  a  dream  hath  come  to  me  j 
That  I  had  vowed  with  music  loud 
To  clear  yon  wood  from  thing  imblest^ 

590    Wamed  by  a  vision  in  my  rest! 
For  in  my  sleep  I  saw  that  dove, 
That  gentle  bird,  whom  thou  dost  love, 
And  cairst  by  thy  own  daughter's  name  — 


paft  awny^  MS  III  The  pang^  the  sigUt  had  pas^'d  aicay,  —  die  Diskre- 
panzen der  MSS  erklaren  sich  aus  raschem^  Abschreiben;  jsö*»^,  der 
Schmerz  selber,  ist  nun  wie  in  453.  durch  die  Bchmerzursache  tou€h 
ersetzt.  —  47G.  AB  äivine,  B'  diiine  477 E.  waren  dadurch  als  Grund 
fnr  die  Bezeichnung  divine  charakterisiert.  Nim  besteht  dieae  an  sich 


ChriBtabel.  103 


Sir  Leoline!  I  saw  the  same, 
585    Fluttering,  and  nttering  fearful  moan, 

Among  t^e  green  berbs  in  tke  forest  alone. 

Whicb  when  I  saw  and  when  I  beard, 

I  wonder'd  wbat  migbt  all  the  bird; 

For  nothing  near  it  ooold  I  aee, 
540    Save  the  grass  and  green  herbs  undemeath  tbe  old  tree. 

'And  in  my  dream,  methought,  I  went 

To  search  out  wbat  might  there  be  found; 

And  wbat  tbe  sweet  bird's  trouble  meant, 

Tbat  thos  lay  fluttering  on  tbe  ground. 
545    I  went  and  peered,  and  could  descry 

No  cause  for  her  distressful  cry; 

£ut  yet  for  her  dear  lady^s  sake 

I  stooped,  metbougbt,  tbe  dove  to  take, 

When  lo!  I  saw  a  bright  green  snake 
550    Coiled  around  its  wings  and  neck. 

Green  as  tbe  berbs  on  whicb  it  coucbed, 

Close  by  tbe  dove's  its  head  it  crouched; 

And  with  the  dove  it  beaves  and  stirs, 

Swelling  its  neck  as  she  swelled  hers! 
555    I  woke;  it  was  tbe  midnight  hour, 

The  clock  was  echoing  in  the  tower; 

But  though  my  slumber  was  gone  by, 

This  dream  it  would  not  pass  away  — 

It  seems  to  live  upon  my  eye! 
560    And  thence  I  vowed  this  self-same  day 

With  music  strong  and  saintly  song 

To  wander  througb  the  forest  bare, 

Lest  aught  unholy  loiter  there/ 

Thus  Bracy  said:  the  Baron,  the  while, 
565    Half-listening  heard  him  with  a  smile; 

Then  tumed  to  Lady  Geraldine, 

His  eyes  made  up  of  wonder  and  love ; 

And  Said  in  conrtly  accents  fine, 

*Sweet  maid,  Lord  Rolandes  beauteous  dove, 
570    With  arms  more  strong  than  harp  or  song. 

Thy  sire  and  I  will  cnish  the  snake  I' 

He  kissed  her  forehead  as  he  spake. 

And  Geraldine,  in  maiden  wise 

Casting  down  her  large  bright  eyes, 
675     With  blushing  cheek  and  courtesy  fine 

She  tumed  her  from  Sir  Leoline; 

Softly  gathering  up  her  train, 

Tbat  o'er  her  right  arm  feil  again; 

And  folded  her  arms  across  her  ehest, 
680    And  coucbed  her  head  upon  her  breast. 


104 


ChristabeL 


Aüd  looked  ask&uce  at  Christabel 

Jesu,  Maria^  shield  her  well! 

A  snake*3  sm&U  eye  blinks  dull  and  ehj, 

Aod  the  lady's  eyes  they  ahrunk  in  her  head, 
&65    Each  shnmk  up  to  a  serpent's  eye, 

And  with  somewhat  of  malice,  and  more  of  dread. 

At  Cbiistabel  sbe  look'd  askance!  — 

One  moment  —  and  tbe  sigbt  was  fledl 

But  Christabel  in  dizzy  trance 
59<)    Stumbling  on  the  unsteady  ground 

Sbuddered  aloud,  with  a  hissing  sound; 

And  Geraldine  again  tumed  round, 

And  like  a  thing,  that  sought  relief, 

Füll  of  wonder  and  füll  of  grief, 
595     She  roUed  her  large  bright  eyes  divine 

Wildly  on  Sir  Leoline* 

The  maid,  alas!  her  thonghts  &re  gone, 

She  nothing  sees  —  no  sight  but  one! 

The  maid,  devoid  of  guüe  and  sin, 
WJ    1  know  not  how,  in  fearful  wise^ 

So  deeply  had  she  drunken  in 

That  look,  those  shrunken  serpent  eyes, 

That  aD  her  features  were  resigned 

To  this  sole  iin»ig6  in  her  mind: 
605    And  pafisively  did  imitate 

That  look  of  dull  and  treacherous  hate! 

And  thns  she  stood,  in  dizzy  trance, 

Still  picturing  that  look  askance 

With  Ibrced  unconscious  sympathy 
610    Füll  before  her  father's  \aew  — 

As  far  as  such  a  look  could  be 

In  eyes  so  innocent  and  blue! 

And  when  the  trance  was  o*er,  the  oiaid 

Paused  awhile,  and  inly  prayed: 
615     Then  falling  at  the  Bai'ou's  feet, 

*By  my  mother^s  soul  do  I  entreat 

That  thou  this  woman  send  awayl' 

She  Said:  and  more  she  could  not  say; 

For  what  she  knew  öhe  could  not  teil, 
62Ö    O'er-mastered  by  the  mighty  spell. 


zu  Recht,  —  596.  AB'  wie  oben ;  B  She  nothing  itees  —  no  sight  but 
one!  Biä.  Sinnloser  Df.  —  613.  A  But  whcn  the  trance  was  o'er^  BW 
wie  oben.    Der  unterschied  ist  im  Balladenstile  wirklich  ru  gering- 


Christabel.  105 

Why  is  thy  cheek  so  wan  and  wild, 

Sir  Leoline?  Thy  only  child 

Lies  at  thy  feet,  thy  joy,  thy  pride, 

So  fair,  so  innocent,  so  mild; 
625    The  same,  for  whom  thy  lady  died! 

0,  by  the  pangs  of  her  dear  mother 

Think  thon  no  evil  of  thy  child! 

For  her,  and  thee,  and  for  no  other, 

She  prayed  the  moment  ere  she  died : 
630    Prayed  that  the  habe  for  whom  she  died, 

Might  prove  her  dear  lord's  joy  and  pride ! 

That  prayer  her  deadly  pangs  beguiled, 
Sir  Leoline! 

And  wouldst  thou  wrong  thy  only  child, 
635  Her  child  and  thine? 

Within  the  Baron's  heart  and  brain 

If  thoughts,  like  these,  had  any  share, 

They  only  swelled  his  rage  and  pain. 

And  did  bat  work  confusion  there. 
640    His  heart  was  clefb  with  pain  and  rage, 

His  cheeks  they  qnivered,  his  eyes  were  wild. 

Dishonour'd  thus  in  his  old  age: 

Dishonour'd  by  his  only  child, 

And  all  his  hospitality 
646    To  the  insulted  daughter  of  his  friend 

By  more  than  woman's  jealousy 

Brought  thus  to  a  disgraceful  end  — 

He  rolled  his  eye  with  stern  regard 

üpon  the  gentle  minstrel  bard, 
650    And  said  in  tones  abrupt,  austere  — 

*Why,  Bracy!  dost  thou  loiter  here? 

I  bade  thee  hencel*  The  bard  obeyed; 

And  tuming  from  his  own  sweet  maid, 

The  aged  knight,  Sir  Leoline, 
655    Led  forth  the  lady  Geraldiue! 

The  Conclusion 
to  Part  the  Second. 

A  little  child,  a  limbcr  elf 
Siuging,  dancing  to  itself, 
A  fairy  thing  with  red  round  cheeks, 
That  always  finds,  and  uever  seeks, 
660    Makes  such  a  vision  to  the  sight 

fOgig,  um  besondere  Absicht  dahinter  zu  vermuten.  —  647.  A  disgracful 
Df.  —  656  if.  fehlen  in  allen  drei  MSS.  Ca.  schließt  daraus  \md  aus 
dem  Umstände,  daß  sie  schon  im  Mai  1801  in  einem  Briefe  an  Southey 


106  Christabel. 

As  fills  a  father's  eyes  with  light; 

And  pleasures  flow  in  so  thick  and  fast 

Upon  his  heart,  that  he  at  last 

Must  needs  express  his  love's  excess 
665    With  words  of  unmeant  bittemess, 

Perhaps  'tis  pretty  to  force  together 

Thoughts  so  all  nnlike  each  other; 

To  mutter  and  mock  a  broken  charm, 

To  dally  with  wrong  that  does  no  härm. 
670    Perhaps  'tis  tender  too  and  pretty 

At  each  wild  word  to  feel  within 

A  sweet  recoil  of  love  and  pity. 

And  what,  if  in  a  world  of  sin 

(0  sorrow  and  shame  should  this  be  true!) 
675    Such  giddiness  of  heart  and  brain 

Comes  seldom  save  from  rage  and  paiu, 

So  talks  as  it's  most  used  to  do. 

geschickt  wurden,  daß  die  Conclusion  to  Part  the  Second  nicht  ur- 
spranglich  fClr  Christ,  gedichtet  sei.  Dafür  möchte  ich  auch  ins  Feld 
führen,  daß  keine  einzige  klare  Anspielung  auf  das  Gedicht  selber 
darinnen  zu  finden  ist  (vgl.  dagegen  Conclusion  to  Part  the  First). 


Kommentar. 


1.  The  Ancient  Mariner. 

Kur  der  rechts  gedruckte  Text  8  ist  berücksichtigt. 

1.  Mariner  ist  ein  gewählterer  Ausdruck  als  sailor; 
ancieni  im  Sinne  von  old  heute  archaistisch. 

2.  stoppeth  archaistische  Form,  zur  YoUmessung  wie 
auch  sonst  verwertet. 

3.  Zu  dieser  Formel  bemerkt  Brandl :  ^'D  e  r  Matrose 
schwört  bei  seinem  grauen  Bart,  als  ob  er  ein 
Türke  wäre'*,  und  findet  das  sehr  seltsam.  Einstens  einmal 
schwört  nun  der  Matrose  gar  nicht  in  dieser  Formel ^  sie 
ist  ja  vom  Hochzeitsgaste  gesprochen,  und  zweitens  ist  es 
nicht  unbedingt  aufgemacht,  daß  dies  das  Schwören  der 
Mohammedaner  bei  ihrem  Barte  sei.  Möglich  wäre  es  ja» 
daß  die  vielen  Orient aliischen  Mäi^hen,  die  CoL  erwiesener- 
maßen gelesen  hat»  hier  einen  Niederschlag  gegeben  haben, 
aber  es  ist  doch  der  lang\\^al!ende  Bart  des  germanischen 
Mannes  Ehrensclimuck  von  jeher  gewesen»  Ich  erinnere  an 
Kaiser  Ottos  Schwur  *'sam  mir  der  hart"  zu  einer  Zeit,  wo 
die  Tiii'ken  (resp.  Araberj  in  Europa  weder  literarisch  noch 
politisch  eine  Bolle  spielten.  Zudem  spricht  die  parallele 
Stellung  zu  ''ffUttering  eye'*  fiir  die  nächstliegende  Auffassung, 
den  Ausdruck  long  beard  ebenso  als  äußeres,  sinnliches  Merk- 
mal des  verÄ^üdert  aussehenden  Matrosen  zu  nehmen.  Ygh 
unten  zu  13.  und  im  Texte  619. 

5»  neii  of  kin  =^  next  in  blood. 

8-  (lin  [ag$,  dyn,  dyne^  dünne,  me,  dine»  din]  lauter 
Lärm^  besondei*s  fortgesetzt  verwirrter  und  widerhallender 
Schall,  der  das  Ohi'  beleidigt. 

10.  quoth  he  tjrpische  Nachstellung  des  Pron.  gerade 
in  dieser,  dem  Balladenstil  angehörenden  Formel.  Vgl.  198. 
393.  408,  568.  576. 

12,  eßsQons  [ags,  eftsöna]  ursprünglich  "wiederum"; 
dann  ^'später,  bald  darauf,  sofort'',  letzteres  besonders  ar- 
chaistisch (etwa  in  Thomson.  Cmile  of  IndoL,  L  29,)* 


Kommentar. 


13.  Viele  Belege  schildern  die  unwiderstehliche  Wir- 
kung von  Col.'s  Blick  und  Konversation  (so  Menwirs  of 
Wordswortht  L  99,  Carlyle  u<  a.);  wenn  diese  Verse  von  ^ 
Wo.  herrühren  (vgl.  zu  15 — 16.),  so  erschiene  mir  dieser^ 
sonst  an  Eitelkeit  grenzende  autobiographische  Zug  an- 
nehmbar. Doch  würde  auch  die  unmittelbare  Vorstellung 
des  von  entsetzlichem  Schicksale  unheimlich  glänzenden 
Auges  des  Anc.  Mar.  genügen,  16 — 16.  Die  zwei  Zeilen 
stammen   von  Wo,;   vielleicht  auch  13 — 14  (Ca.  pag.  594). 

16*  hath  archaisierende  Form  der  Balladen-  und  Bibel- ■ 
Sprüche   wie    33.    406,    etc.    und    Christ.   7.    140.   217.    etc. 
Vgl.  Lesart  zu  B71.  A. 

22.  iö  drop,  meist  Schiffersprache  =  to  leave  in  the 
rear,  gewöhnlich  to  drop  astem. 

23.  kirk  nordengl.  Dialekt,  ebenso  466.  475.  603.  605. 
25 — 28.  Die   vielen   einsilbigen  Wörter  dieser  Strophe 

malen  die  Gleichförmigkeit  des  ermüdenden  Vorganges; 
die  Zeilen  sind  langsam  und  schwer  zu  lesen. 

32.  bassoon  Fagott.  'During  Col.'s  residence  in  Stoweg 
his  friend  Poole  refortned  (he  church  chotr,  and  (ulded  a  hassoon 
iö  its  resotirces,  3trs.  Sandford  (T.  Poole  and  his/riends,  L  247) 
happihj  suggests,  that  this  ^'tvas  tke  very  original  and  proto* 
Ufpe  of  the  'lowl  hassoon'  whose  sound  moved  Dm  wedding  guesi 
to  heat  his  hrmsf\*  (Ca,,  Note,]  Höchst  wahrscheinlich. 

36.  merrg  leicht  archaist.,  =  heiter  machend,  etwa  wie 
in  *a  merry  jest',  *merry-making'.  —  minstrelsy  ^  Sänger- 
chor, vgl.  Milton,  P.  L.,  VI,  IflS,  *'the  minsirelsy  of  Heavm'\ 

41.  storm-blast  pleonastische  Zusammensetzg.  '^Sturmes* 
wehen".  In  der  Bandglosse  hat  Ca.  liir  das  draum  von  8 
drivett  eingesetzt,  indem  er  einen  bei  kleiner  Schrift  nahe- 
liegenden Lesefehler  des  Setzers  annimmt  und  sich  mit 
Recht  auf  48.  A  stützt  (vgl.  Lesart). 

42.  igrannom  in  dieser  Bedeutung  veraltet,  etwa  = 
boisteroui?, 

51 — 70.  Athenaeum^  Mar<3%  15*\  1890  fuhrt  zahlreiche 
glaubwürdige  Parallelen  aus  Captain  James's  ''North-west 
Passagef'  an ;  einige  davon  sind :  'It  proved  very  thicke  foule 
weaiher,  and  the  next  dmj,  hy  two  o  Chcke  in  the  moming,  tve 
found  ourselves  ineompassed  about  with  Ice'  (Ed.  of  1633,  pag.  6} ; 
*  We  had  Ice  not  farre  off  about  us,  and  some  pieces  as  high 


I 


1.  The  Äucient  Mariner. 


109 


^ 


OB  Oitr  Top-mdst-head'  ( pag,  7) ;  *. . .  ffreat  pieces  of  Ice . .  •  imee 

0$  high  as  onr  Top-musi-hemW  (pag.  14),  wozu  besonders 
V.  53  zu  vgl.  'We  heard  . . ,  ihe  riUi  against  a  batike  of  Ice 
ihat  lay  an  ihe  Skoare,  It  made  a  hoUow  and  hideous  noyse, 
Uke  an  over-fall  of  water,  which  meide  tis  reason  amongst  our 
zeJres  concerfiitig  it,  for  we  were  not  üble  to  see  about  W5,  ii 
leing  darke  night  and  foggit    (pag,  8)  &c, 

54.  Das  Büd  ist  entschieden  nicht  volkstümlich  im 
Munde  eines  Matrosen,  Capt,  James  sagt :  'some  of  the  sharpe 
blue  Corners  [of  the  gi-eat  pieces  of  ice]  did  reach  quUe  undcr 
US*  (pag.  6).  Der  Rezensent  in  Äthm.y  March  15,  1890  macht 
auf  diesen  Unterschied  aufmerksam,  doch  ohne  ihn  näher 
zu  besprechen. 

65,  drifi  nicht  im  Seemannssiuue  =  treibende  Strö- 
mungj  sondern  ^^  shower  of  snow.  Vgl.  Pope,  Odyss.,  VIII. 
128:  *Drifls  of  risitvg  dost  involve  the  skyJ  —  clift  wohl  Neben- 
form zu  diff  Klippe,  wegen  des  Binnenreimes  gewählt :  aller- 
dings läge  auch  cieft  [me.  clift,  oijft]  Spalte^  Hüft  nahe; 
dach  sind  ja  nicht  bloß  die  Ritzen  der  Eisberge  und  Riffe 
schneeweiß,  sondeni  das  Ganze. 

56.  sheen  dichterisch  s=  Glanz,  Schimmer;  vgl  zu  314. 

57.  hen  Das  Präs.  zwischen  zwei  Präteriten  ist  auf- 
fällig, wie  der  dichterische  Ausdruck  überhaupt  nicht  selbst- 
vei-ständlich  ist.  Jedenfalls  war  der  Biimem'eim  auf  men  Ver- 
anlassimg zu  der  lockeren  Satzfugung. 

61.  Die  kräftige  Tonmalerei  verglichen  mit  der  nüch- 
ternen Schilderung  bei  James  (s.  zu  51 — 70.)  erinnert  stark 
an  unsem  Bürger, 

62.  siroimd,  häufiger  swoon,  wie  V.  392.  s.  Lesart^  zu 
60.  Ap  Der  Vergleich  ist  wieder  nicht  naiv- volkstümlich, 
wohl  aber  mag  er  einem  Opiumesser  geläufig  sein,  der  in 
seinen  visionären  Zuständen  solches  miterlebt  hat. 

63.  did  cross  ^=  came  by,  iutrans.  Das  Motiv  ist  von 
Wo-  angeregt,  vgl,  Einl.  S.  1. 

67.  eat,  seltenes  p.  p.,  aus  rhj'thmischen  Gründen 
endungslos,  thefood  it  neer  had  eai  heißt  das  Futter,  da  an- 
genommen wird,  daß  der  Alb.  noch  nie  Menschen  sah 
(vgl.  105). 

69.  thunder-Jit,  gewöhnlich  clap  of  thunder,  rumbUng 
of  th. 


110 


Kommentar. 


71.  sprfiHfi  up  tpt.  gew.  sprang),  SchiflFerspr.,  zuweilen 
auch  blo0  spring  =  der  Wind  kommt  auf. 

75.  shroud  wie  das  isländisclie  scrQ<t  ^=^  Wanten,  d.  h. 
die  starken  Taue,  welche  Masten  und  Stangen  seitlich  an 
dem  Schiffsrande  befestigen  und  durch  Leinen  treppenartig 
miteinander  verbunden  sind, 

76.  Vesper,  dichterisch  =  Abend,  vgl.  aber  595.,  wo 
es  der  gewöhnliche  kirchliche  Ausdruck  ist. 

77.  fofj'Snioke  =  Höhenrauch.  Vgl.  Scott,  Mannion, 
IL  XIV.  Introduct'mu 

79 — 82.  ö.  fiihrt  als  Vorläufer  der  hier  zum  ersten 
Male  im  Änc,  Mar,  angedeuteten  Moral  die  des  Jugend- 
gedichtes 'The  Raten'  an,  wo  ein  Rabe,  dem  sein  Nest  und 
seine  Jungen  durch  das  Fällen  eines  Baumes  geraubt  wird, 
mit  großer  Befriedigung  den  Untergang  des  aus  den  Balken 
der  Eiche  gezimmerten  Schiffes  mit  ansieht.  Das  Ganze  ist 
als  Schaueimäre  gedacht. 

81.  cross'-bow  Armbrust,  wie  23.,  nur  mit  der  den 
englischen  Zusammensetzungen  eigentümlichen  schwebenden 
Betonung  (erste  hoch,  zweite  stark»  zu  lesen, 

92*  ivork  *em  woe,  me.  Wendung  für  modenies  *'to  do 
härm"  vgl.  Chaucer,  Knightes  T.  1700:  ''and  tcrought  his 
felawe  wo*'  Bums,  'Jahn  Barleyconi',  38:  *To  work  htm  farther 
woe\  Col.  verwendet  es  archaist.  in  'Lines  in  the  Manner  of 
Spetiscr,'  27 :  'work  thee  wQe\ 

93.  averred  bezieht  sich  natürlich  nur  auf  die  Annahme, 
daß  der  Vogel  die  Ursache  des  Windes  gewesen  sei;  das 
Töten  selber  ist  ja  ganz  klar  erwiesen. 

97—98.  Vgl.  Lesart  zu  93.  A,  ''The  snnrise  at  sm  is 
Uke  the  solcpun  apposition  of  one  of  the  chief  actors  in  the 
dranui  of  crime,  and  agony,  aud  expiation,  and  in  the  new 
sense  of  wofider  xmth  tvhich  we  witness  that  oldest  speciacle  of 
the  hcftrens  we  can  well  believe  in  othcr  miracles**'  (Dowden.) 
Immer  ist  es  die  Vermensehlichnng  der  Natur,  die  uns  in 
solche  Zauberkreise  zwingt.  —  nprist  archaist.  pt.,  Chaucer, 
Leg,  of  Dido  u.  s,  f.  lals  Subst,  Knightes  T,;  danach  Shelley» 
BcvoU  of  Islam,  II L  21:  Hhe  uprcsf  of  the  third  sun'j. 

101.  *twas  volkstümliche  Apokope  wie  108.  347.  363. 
432.  599. 


1.  The  Ancient  Mariner. 


111 


104.  sieh  Lesart  zu  100,  A;  ein  uiunittelbai-er  und  zwar 
berichtigter  Naturanschaunng  entnommener  Zug. 

109^  110,  Wo.  scheint  diese  Zeilen  in  'Solitartf  lleapef's' 
(1Ö33),  15 f  10  im  Ohre  gehabt  zu  haben :  'BreaMug  ihe  silefice 
af  ihe  seas  /  Ämong  ihe  farthest  Hehri<ks*  (H.) 

125—120.  Sclion  ^  ^The  Desiimj  of  Natiom'  (1796), 
278 — 281,  hat  CoL  solches  Faulen  mit  ähnlichen  Worten 
geschildert  ''As  whai  Urne  aßer  long  and  pcstful  calms,  /  Wiih 
sHmtj  sh<^€S  and  miscrcated  Hfe  f  Poisomng  ihe  vasi  Padßc, 
ihe  fresh  hreeMe  /  Waicetis  ihe  inerchani-suil  nprising/'  (Brandl, 
S.  214,  danach  Ä) 

127 — 130.  Cr,  zieht  hier  zwei  Stellen  als  rhythmische 
und  sonstige  Vorbilder  an:  Middleton,  The  Witch:  'Black 
spirits  and  white;  j  Red  spiriis  and  ffmif;  j  Mingle,  muigle, 
fningle,  /  You  ihai  mingle  mag,  keine  sehr  überzeugende 
Parallele;  besser  ist  jedenfalls  Macbeth,  L  1:  *'Fair  isfoul  and 
foui  i$  fair  /  Rover  throitgk  ihe  fog  mid  jUthg  air"  Vgl.  Ein- 
leitung S.  2  u.  3.  —  reel  schottisch,  ursprünglich  eine  Art  des 
gälisehen  Tanzes,  roui  Getöse,  Tumult,  Vein^iming.  —  death- 
ßres  gewöhnlich  =^  Erscheinung,  die  über  einem  Leichnam 
gesehen  wird,  s.  auch  CoL,  ^Ode  on  ihe  Ikpartmg  Year  (1796), 
5S — oü.  *^Mighi  armies  of  ihe  dead,  /  Dance  like  deaih-ßres 
round  her  iomh'' ;  hier  wohl  eine  Art  Elmsfeuer,  das  den  Tod 
vorherverkünden  soll. 

131.  assured  Vollmessung,  wie  sonst  häufig,  aber  nicht 
konsef|nent. 

133-  lie  Jmd  wohl  wie  in  Konversation  mit  Synizese 
zu  lesen,  da  die  ganze  Strophe  voll  schweren  Rhythmus  ist. 

136.  ai  ihe  rooi  =  at  its  root,  vollständig  sinnlich  zu 
fassen, 

139.  wdl  a-dag  [ags,  wä-lä-wä  ^  wehe,  oh  wehe!] 
Volksetymologische  Bildung. 

141/142.  Es  scheint  diese  Art  von  Prangerstehen  ganz 
auf  freier  dichterischer  Erfindung  zu  beruhen;  ähnliche 
Volksbräuche  sind  mir  nicht  bekannt, 

149—156.  Zum  ^^Skelettschiff"  vgl.  Einleitung  S.  2, 
**Der  Einfall  mußte  in  CoL  eine  Fülle  verwandter  Anschau* 
nngen  aufrufen.  Er  hatte  wohl  selbst  oft,  wenn  er  abends 
am  Strande  nördlich  von  Stowey  hernmspazierte,  auf  der 
hohen  See  ein  Boot  auftauchen  sehen,  ungefähr  wie  er  es 


Kommentar« 


im  Gedicht  beschreibt:    zuerst   ein  kleiner  Fleck  zwischeul 
sich  und  der  sinkenden  Sonne,  ein  dunkles  Wölkchen,  dann 
eine    seltsame  Schattengestalt,  Mast  und  Baa   schwarz  wie^ 
Eisengitter,  und  der   abgelegene  Charakter  der  Ktiste  hal^B 
noch  das  Gespenstische  des  Eindruckes  erhöhen/^  (Brandl, 
S,  209.) 

152  und  153.    /  mst:  ''CoL  seefus  so  misiake  the  cJiaracier 
of  the  contmoti  pariide  iwis,  tjtcis  'ceriainltj    (A,  S.  getvis, 
adj.  'ceriain)   whkh,  often  ajtpcarim/  in  MSS  as  I-wis   was.^ 
erroneously  re/erred  to  a  ßctitious  verb  tri«,  unknaum  to  A, 
CoL  ceriainly  believcd  in  ^ich  a  verh,  for  in  Alice  du  CJoi 
[?  1826]    *yow    ms'    [L  77]    occurs,    I-wis    is  found    in    Sil 
C auline,'  (H.)  Obiges  Prät.  und  das  später  auch  für  eine 
Ballade  erftmdene  Präs,  2,  pers,  machen  diese  Annahme  zutj 
Gewißheit,  —  154,  to  near  bes.  der  Schiilerspr,  eigentilmlicl 
vgL  182.  523,  —   155.   dodge  Das   erst  seit  dem  16.  Jahr-^ 
hundert  fSkalcs.  bloß  Ant.  tf^  Cko..  IIL  9,  ß^)  belegte  Wort 
charakterisiert  in  seiner  schwer  mit  einem  Worte  zu  über- 
setzenden Bedeutimg :  '*sich  hin-  und  herbewegen,  rand  um 
oder  hinter   ein   Hindernis,   ima   einem   Verfolger    zu    ent- 
gehen" —  trefflich  die  scheinbare  Unsicherheit   des  Fahr- 
zeuges, das  aber  unfehlbar  seinem  Ziele  zustrebt. 

166.    tack  and  veer  Schifferspr.  "lavieren  xmd  wenden"*' 

157.  with  hiack  Ups  baked,  VgL  Ihn  Juan,  IL  S(i,  1: 
And  their  baked  Ups,  uith  many  a  blmdy  crack/ 

160.    Grausiger,    aber   auch   lebendigster  NaturaKsmus.- 

164.  Col,  bemerkt  zu  der  SteUe  (Table  Talk,  May  31 '^f 
1S30):  *Itöok  the  thought  of  *'grimnttg  for  jog"  front  mg  companiofi*g 
[Berdmare  of  Jesus  Coli.,  Cambridge]  remark  to  mi\  whm  im' 
had  climbed  to  the  top  of  PlinHmmvn,  and  were  nearly  dead 
tcith   thirst.    We  coidd  not  speak  from  the  cmistrictionf  tili 
found  a  Utile  puddle  under  a  stone.    He   said  to  me:    "Ibi 
grinned  like  an  idiot  /*'  He  had  done  the  sameJ  —  Also  wiede^ 
ein    autobiographischer    Zug.   —     Oramercy    ist    ein    Wor 
Spensers,  dann  bei  W-  Scott  häufig. 

166.  «5  =  as  if . . ,,  nicht  selten.  Vgl.  Col.  Wallmsiein, 
I.    F.:  'He  looks  as  he  had  seeft  a  ghost/ 

168.  to  work  us  weal  vgl,  92.  und  die  allit.  Formel  leeal 
and  wo€.  Noch  hält  der  Anc.  Mar.  das  Fahi'zeug  für  heil- 
bringend. 


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'irW 
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defl 


1.  The  Ancient  Marioer, 


113 


179.  pecTj  wie  186.  =  to  peep,  look  tlu'ough.  Miltou 
^priclit  vom  '*peering  daij\ 

184.  Gössameres.  ^Thc  old  Ugmd  $ays  these  are  ihe  re- 
jmanis  of  ihe  Virfjin  Martf's  wiffdwtf  sheei,  tvhkh  feil  from  her 
^meti  she  was  franshiicd'.  (G,)  Das  fadenartig  Versoh webende 
der  Geistei'segel  ist  trefflich  damit  vei'glichen.  *0m/  of  thefetv 
imfi^es  in  this  poetn  horrowed  from  the  Neiher  Stotvey  Surround- 
in^s:  cf.  l  3$  [=  32.  8].  ''The  surface  of  the  [Quantock] 
heath  restless  and  gVdtering  wlth  the  wavinfjs  of  the  Spider 
threads  . . .  milcs  of  i/rass,  Ught  and  glittering,  and  (he  insects 
passing/'  (D orothyWordsworth 's  Jbur^mZ,  Febr.  8,  1798 J*  (R,) 

185 — 189.  siehe  Lesarten  zn  177 — 185.  A. 

18S — 189.  Wie  hier  ein  Wettwiirfeln  zwischen  zwei 
Geister wesen  auf  dem  Ozean  stattfindet,  so  hat  CoL  in  dem 
späteren  allegorischen  Gedichte  *Time,  Real  and  Imaginart/ 
(?  1815)  den  Wettlanf  zweier  Geister,  Bnider  und  Schwester, 
aber  mit  unbestimmtem  Ausgange  geschildert.  —  mate,  all- 
gemein =  Genosse  (nicht  =  Gatte), 

190—192.  H.  vergleicht  hiezu  Chancer,  'Üom.  of  the 
Bostj  539 ff.  wo  Ydehiesse,  welche  die  Tür  hütet,  wie  folgt 
beschrieben  wird :  'Hir  heer  was  as  gelotve  of  hewe  /  As  any 
basin  seoured  vewe,  /  Hir  ßesh  as  tendre  as  is  a  chihe  /  Wiih 
betite  hrowes  smothe  and  sUke;  j  And  htj  mesure  large  were  j 
The  opening  of  hir  y^n  ehre,  j  Hir  nose  of  good  proporcioun,  / 
ffir  y6n  grege  as  a  faueoun,  j  Wiih  sivete  hreeth  and  wel 
savoured.  /  Kir  face  whyt  and  wel  coloured,  . . .  Die  mittel- 
alterliche Schilderung  der  Straßendime  hat  Col.  für  sein 
Gespenst  autgegriffen  und  hier,  wie  dann  in  Christ,,  die 
trügerisch  blendende  AuÜenseite  der  inneren  Fäulnis  zu- 
gesellt, die  so  noch  viel  abscheulicher  wirkt, 

193.  TJfo'in-^Drath,  Vgl.  Lesart  zu  177— 185.  A.  Der 
Ausdinick  bedeutet  ''Leben  inmitten  des  Todes'\  vgl.  Col-'s 
Grabschrift,  die  er  1833  verfaßte:  "0  liß  one  thought  m 
prager  for  S.  T  C,  /  That  he  who  mang  a  gear  tcith  toil  of 
breath  /  Finds  dcath  in  life,  mag  here  ßnd  life  in  death!" 
Nach  Dowden  plagten  CoL  im  Alter  die  Vorstellungen  dieser 
Nachtmar  oft  genug.  Name  und  Vorstellung  sind  auch  bei 
Tennyson  zu  finden,  vgl.  SL  Simeon  Siyliles,  62 f:  Enoch 
Aräm,  661:  Lucretias,  154:  The  Princess,  Tears,  idle  Tears, 

Eioklor»  The  Ancknt  Mdrifier  u.  Chrüt,  8 


114 


Kommentar. 


20,  Auch  EUiott.  Presioti  Mills  5,  2  zitiert  den  Ausdruck 
CoL's.  f 

195.  hidk,  [(tijs,  hulc]  Schiff,  me,  meist  =^  Transport- 
sohiff,  ein  Begriff^  der  auch  in  der  archaist.  Verwendung  im 
ne.  weiterlebt  =  groües,  schwer  lenkbares  Fahrzeug.  Hat 
mit  hüll  nichts  zu  tun.  —  along-side  Schifferspr.  =  Bord 
an  Bord. 

196.  iwain,  wie  deutsches  ''zween"  nur  noch  dichterisch. 
197—198.  6?.  vgl.  hiezu  Macbeth,  L  8,  S2ß\,  aber  weder 

rhythmisch  noch  stofflich  ist  dies  zu  rechtfertigen,  wenn 
auch  andere  Stellen  allgemein  durch  die  Stimmung  der 
Hexenszenen  beeinflußt  sind.  —  Der  Tempus  Wechsel  hi  198. 
leitet  zu  einer  lebendigeren  Schilderung  de^  Anbruches  der 
Nacht  über. 

199  f.  dip  ungevv^Öhnlich,  aber  der  Situation  augepaßt, 
für  das  übliche  sei,  sink,  —  rush  out  ein  kühner,  aber  äuüerst 
bezeichnender  Ausdruck  für  die  Schnelligkeit.  Die  beiden 
Zeilen  geben  ein  von  den  Begebenheiten  völlig  losgelöstes 
Naturbild  eigener  Art. 

202.  spedre-bark  =  gewöhnlich  phantom-ship. 

*207.  sieersman  ist  in  der  Seemannsspr.  der  Mann,  der 
wirklich  das  Steuer  handhabt,  also  =  '^Hudergänger'\ 
während  "Steuermann'-  oft  durch  pilot  bezeichnet  wird. 

208.  drip  Das  ags.  dryppan  me,  dryjjpe»  drippe  ist  aus- 
gestorben und  das  ne^  g^ht  ani*  das  seit  dem  15.  Jahr* 
hundert  aus  Dänemark  eingewanderte  drj^  ppe  zuiiick  =  to 
fall  in  drops. 

209.  clombc,  arch,  pt.  &  p.  p.,  gew.  climbed,  vgl.  Wo., 
Waggoner,  I,  102;  Scott,  Rokcbij,  II L  5,  Hier  =^  *to  motmt 
slowly  upwards\  (N.  E.  D.) 

210^ — 211.  (he  honied  Moon.  '*Sailors  sag  (hat  a  star  dog- 
ging  ike  moon  forcbodes  eril;**  (HJ  das  Dranhängen  eines 
Sternes  am  Monde  mag  wohl  gesehen  werden,  "6r<<  no  sailor 
ever  $aw  a  star  hetweett  the  nether  tip  of  a  honxed  moon\  w4e 
Ca.  richtig  bemerkt..  Über  das  unbedingt,  phantastische 
Motiv  siehe  Lesart  zu  195— 203.  A. 

212.  star-ihggcd  moon.  Neubildung.  Diese  Vorstellong 
ist  unanstößig:  ein  dem  Monde  wie  ein  Hund  dem  Herrn 
auf  dem  Fuße  folgender  Steru. 


I 


1.  The  Ancient  Mariner, 


115 


222.  Eine  echt  volkstümliche  Vorstellung  bei  diesem 
ganz  ans  der  Situation  gegriffenen  Vergleiche. 

226^227.  stammen  von  Wo.  (Col/s  Anra,  in  S:  'For 
ihe  last  itco  lines  of  tkis  sianm,  I  am  indehted  io  Mr,  Wo, 
li  itus  on  a  delujhtful  walk  fmm  Ncther  Stowey  to  Duhertoti^ 
wUh  hint  and  his  srister^  in  ihe  autumn  of  1797,  that  ihis  poeni 
was  plannedy  and  in  pari  composed/).  —  rihhed  sm-sand  ist 
der  durch  das  Zurückweichen  der  Flut  gerippte  und  ge- 
ftirchte  Sand  der  Küste. 

232—235.  Zu  den  Schrecken  der  völligen  Einsam- 
keit vergleicht  G.  nicht  unpassend  die  Schlafwandlerszene 
aus  Macbeth  (V,  L)  und  Tennysun^  'The  Palaee  of  Art/ 
st,  72,,  sowie  folgende  Stelle:  'Hailitt,  alluding  to  the  first 
Hme  he  heard  CoL  preach,  in  1798,  says:  '^Whm  I  got  there, 
the  Organ  was  plaijing  the  100***  Psalm,  and  when  it  was  done 
Mr.  CoL  rose  t(:  gave  oul  his  text  \\nd  he  went  up  into  the 
mountain  to  präg  HIMSELF  ALONE,'  As  he  gave  out  the 
text  his  voice  'rose  lilce  a  slrvam  of  rieh  distiUed  perfumes,' 
and  when  he  canie  to  the  last  two  words^  ivhieh  he  pronounced 
Imid,  dcep,  and  distinct^  it  seetned  to  me,  who  was  then  young, 
OS  if  the  Sounds  had  echoed  from  the  bottom  of  the  human 
heart,  and  as  if  that  prager  fuight  have  Jloated  in  solemn  silence 
throngh  ihe  imiverse:''  (Ca.  pag.  XXXIX,) 

244  ff.  Die  Versuche  zu  beten  sind  ebenso  vergeblich 
wie  die  des  schurkischen  Königs  in  Hamlet^  IIL  3  (G.)  — 
or  et^er  ''bevor^\  Der  erste  Bestandteil  ist  die  unbetonte  Form 
2U  ere.  Altertümlich  oder  schottisch. 

248 — 256.  Auch  diese  Schreckgestalten  kehren  ähnlich 
in  Tennyson,  'The  Palaee  of  Art,'  st,  59,  60,  wieder. 

257.  from  on  high  Die  zwei  letzteren  Wort©  in  der 
Predigersprache  =  heaven, 

263.  the  tmvmg  Moon  wird  erst  durch  die  Kandglosse 
'journeying'  erklärt;  sonst  könnte  auch  **veränderuiig8reich*' 
oder  ''Wechsel voll*'  der  Sinn  sein- 

267.  benwck,  selten  =  mock  at  (Sh.,  Coriolan,  I,  1,  301 
und  Tempest,  IIL  o\  63K 

268.  April  hoar-frost  solche  dreigHedrige  Zusammen- 
setzungen sind  im  Englischen  fast  nur  der  Dichterspi-ache 
gestattet. 

8* 


116 


Kommentar. 


269.  shadow  hier  wie  272,  und  277*  in  der  eigentlichen 
Bedeutung  t=  Schatten,  wogegen  es  482.  und  485.  =  Ge- 
spenst, Geist  ist. 

270.  alwatf,  selten  oder  poetisch,  offs.  ealne  we^,  später 
gewann  die  Gen.  Form  in  dieser  adverbialen  Bedeutung 
den  Von-ang  (always)^  den  alway  nur  als  Archaismus  streitig 
macht, 

274 — 280.  "Über  dergleichen  Smnp^etier  scheint  er 
sogar  mit  Vorbedacht  zoologische  Werke  nachgeschlagen 
zu  haben ;  denn  das  Notijsbuch  enthält  aus  dieser  Zeit  lange 
Paragraphe  über  den  Alligator,  über  die  Boa,  über  Kroko- 
dile in  vorsündflutlichen  Lagunen."  (Brandl,  pag.  214.)  Wenn 
auch  der  ,,Yorbedacht'^  vielleicht  nicht  stimmt,  ist  doch 
diese  Quelle  unabweisbar, 

278.  aUire  =  *array,  dress/  deutsch  am  besten  wohl 
"Aufisug", 

284  ff  Die  Tierbemitleidung  ist  eines  der  typischen 
Motive  der  englischen  Literatur  des  ausgehenden  18.  Jahr- 
hunderts: ThomsoUj  Goldsmith,  Stenie,  Cowper  und  Bums 
gehören  zu  ihren  Vertretern  in  teils  sentimentaler,  teils 
naiver  Form,  Bei  Col.  finden  wir  zunächst  die  *Oil€  to  a 
ifoiing  asB\  die  uns  diese  Richtung  verköi'pert,  dann  nicht 
selten,  wie  auch  bei  Burns,  Übertragung  auf  die  beseelte 
Pflanze.  Allzu  individuaHstisch,  oft  nicht  mehr  weit  vom 
Lächerlichen  entfernt,  haben  Soutbey,  Lamb  und  Words- 
worth  diese  Auffassung  vertreten,  (VgL  Brandl,  pag*  98ffi) 

297.  sillif  archaist.  t=  weak,  frail.  Spenser:  *  After  long 
stürme  with  which  mtj  silhj  hark  was  iossed/ 

B02.  dank  feucht,  *with  the  connotation  that  this  is 
an  injurious  or  disagreeable  quality'.  (N.  E.  D.)  Oft  von 
der  nassen  Straße  gebraucht. 

303.  drunkai  arch.  =  dnuik,  sonst  nur  als  Adj,  übHch, 

310,  anear  =  near,  dichterisches  Adv*,  ziemlich  selten; 
vgl.  Scott,  *Laij  öf  the  Last  Minstrel'  V.  31 :  'Now  seems  it 
far,  and  notv  anear.* 

312»  Äere,  gew*  sear  =  trocken,  dürr,  verwittert,  welk. 

314.  sheai  als  Adj*  ganz  veraltet  =  glänzend^  schön. 
VgL  Chaucer,  Leg.  G.  W.,  49:  'Whan  hü  up-riscth  hy  the 
monve  shene* :  ProLf  115:  'A  Chrisiofre  mi  kis  brest  qf  silver 
shenef  Knigldes  T.,  210:  'Emdye  the  $hme\  —  ßre-ßags,  wie 


1.  The  Ancient  Mariner. 


117 


^ 


127.  decUk-ßres  das  abergläubisch  ausgedeutete  Elmsfeuer 
f*a  meteoric  flame^  N.  E.  D.). 

317,  between  entspricht  der  in  den  Grammatiken  ge- 
wöhnlichen Regel  nichtj  wonach  between  seiner  Grund- 
bedeutung nach  bei  zwei,  among  bei  mehreren  Dingen 
angewendet  wird,  Schon  Dr,  Johnson,  Dictionary  (1755) 
bemerkt  hiezu:  'This  accuract/  is  not  always  preserved\ 

325.  jag  ^  Zacke,  Zickzack,  Der  Blitz  fällt  also  strom- 
weise ;  die  zu  Grunde  liegende  Vorstellung  sind  offenbar  die 
'*Flächenblitze" ;  bei  sehi*  nahen  Entladungen  bemerk fc  man 
jedoch  überhaupt  selten  eine  Linie,  sondern  ist  von  der 
lichtfiille  geblendet* 

33G.  btow  up  =  "mit  erneuter  Ki*aft  frisch  zu  wehen 
anfangen";  die  durch  den  Keim  geforderte  Umstellung  ist 
in  der  Prosa  ungebräuchlich. 

337.  'gan.  Das  Simplex  zu  begin,  im  tue,  als  AuxiMar 
ungemein  häufig,  wird  in  der  archaisierenden  Di chtersprache, 
als  wäre  es  Apokope,  ^gin,  'gan  geschrieben. 

B38.  wont  =  "gewohnt".  Vgl  Chancer,  Leg.  G.  \V., 
2S53:  *As  hit  of  tmnten  haih  he  woned  yore\ 

339.  raise  ^'heben,  ziehen,  aufwinden,  fKohlen)  fördern", 
also  sehr  passend  tiir  die  hier  geschilderte  mechanische 
Tätigkeit. 

347.  Das  Lnperf,  ist  hier  in  plusquamperfektischer  Be- 
jd^ntung  zu  fassen, 

348.  corse,  archaisierende  Rechtschreibung,  historisch 
begründet,  das  p  ist  erst  wieder  durch  gelehrten  Einfluß 
eingefügt  worden.  Vgl  Byron,  'Cain*  HL  1:  *I  must  waich 
mg  htisband*s  corse/  (Ebenso  Anc,  Mar,,  4S8,  491.) 

358.  a-dropping.  Der  südliche  Dialekt  und  die  Vulgär- 
sprache hat  das  alt«  a  =  on  noch  bewahrt,  das  die  Dichter- 
sprache nur  selten  mehr  verwendet.  Die  ganze  Stelle  ist 
nach  ff,  von  Chancers  Rom.  of  Rose,  A,  662 ff.  angeregt, 
wo  der  Garten  von  Sir  Mirthe  folgendermaBen  beschrieben 
wird:  'Ther  mighte  meti  svv  mang flokkes  /  0/ turtles  and  [of] 
lavetokkes ...  /  And  thrustles,  ierins  and  mavys  /  That  songen 
for  to  wynne  htm  prgs;  /  And  eck  tu  sormaunt  in  kir  song  / 
These  other  briddes  hem  among .  .  »  /  Thcg  songc  htr  song  as 
faire  and  wel  j  As  angels  doon  espiriiuel . . ,  /  Luycs  of  lom^ 
ful  wel  satiming  /  They  songm  in  hir  jargoning.*  Der  letzter© 


118 


KommeDtar. 


in  diesem  Sinne  (=  Geschwätz,  Gezwitscher)  höchst  seltene 
Ausdruck  in  Verbindung  mit  dem  348.  A.  (q,  v.)  ursprünglich 
gebrauchten  Lavrock  machen  diese  Anregung  mehr  als  wahr- 
scheinlich. 

366.  heaüefiSf  pL  gemäß  dem  biblischen  Sprachgebrauche; 
nebenbei  könnte  Col.  wohl  hier  auch  an  die  Sphärenmusik 
der  verschiedenen  Himmel  gedacht  haben, 

367-  made  on,  ein  seltener  Ausdruck  fiir  **weiter  be- 
treiben". 

369 — 372.  'Änofher  of  (he  rare  images  in  ihis  poem  derived 
from  ihe  Nether  Stoweij  eiivironme^it .  , .  The  'kiddm  hrook'  is 
the  seifsame  chatterer  of  The  Three  Grates,  nigh  to  which 
stöod  ihe  hme  arhour  of  'drcling  hol  lies  tvoodhine-clad'  in  which 
young  Edward  dreamed  hi$  fafeful  dream.  It  is  the  hrook 
ihat  runs  down  from  the  comb  in  ivhich  Stands  the  village  of 
Holford  throiigh  the  grounds  of  Alfoxdcj}  —  the  same  of  whid^ 
Col.  sitigs  in  The  Nightingale  and  The  Lime-Tree 
Bower,  and  which  is  descrihed  hg  Wordsworth  in  ihe  Fenwick 
Note  to  Lines  written  in  Early  Spring/  (H.) 

389»  wie  ein  (vor  Ungeduld)  scharrendes  Eoß,  das  man 
plötzlich  losläßt. 

398 — 3U4.  Zum  Wortlaut  und  zur  Situation  vergleicht 
H»  N.  Col.:  Byron,  Don  Juan,  IL  111,  1—Z 

395.  living  Kfe  Das  Wortspiel  bezeichnet  das  "eigent- 
liche, wache  Leben'\ 

402,  bideth  =^  wohnt,  ganz  veraltetes  Simplex  des  gew. 
abide  (bei  Miltoii  nocli  zuweilen). 

414-417.  Humphrey  Ward,  Engl  Poets,  1880,  L  650, 
weist  auf 'OsonV,  K  30^  hin:  *0h  tcomanf  I liave  slood  silent 
like  a  slave  before  ihec" ;  ebenso  auf  Sir  John  Davies,  'Orchcstra 
or  a  Poem  on  Daucing,'  st.  19 :  'For  lo  ihe  sea  ihat  flects  ahoui 
ihe  landt  j  And  like  a  girdle  clips  her  solid  waisit  j  Music 
and  measure  both  doih  understand:  /  For  his  greai  chrystal 
eye  is  alwags  cast  /  Up  to  the  moon^  and  on  her  fixed  fast** 
422 — 429.  Ca.  führt  hiezu  eine  von  James  übersehene 
Stelle  aus  der  *iStratige  S  dangerous  Voyage*  an,  die  besonders 
auch  fiii'  die  spätere  Marginalglosse  anregend  gewesen  sein 
dürfte :  '/  give  no  credit , , .  io  the  vidouSt  and  abtisive  wits 
of  later  Poriingales  and  Spaniards:  who  never  speake  of  any 


< 


1.  The  Äncient  Mariner. 


119 


* 


äifßcuUies:  as  shoalde  water ,  Ice,  nor  sight  of  land:  hui  as  if 
ikey  had  heen  hnmght  käme  in  a  drvame  or  engine/  (pag.  1Ü7,) 

424—425.  Diese  etwas  1113'stische  Antwort  soll  eine 
übermenscliliche  C^reschwindigkeit  ausdrücken :  in  der  tranm- 
haHen  Vorstellung  ist  das  Subjekt  des  Beseitigens  der  Luft 
vor  dem  Scliiffe  nicht  näher  bezeichnet. 

429.  tränet  '^Bewußtlosigkeit''  (mediz.  term.  techn,),  hier 
mit  einem  deutlichen  Traumleben  verbimden;  gleichbedeu- 
tend mit  mvoimd  (92.  392) ;  in  Christ,  wird  der  Begriff  noch 
durch  diiB^  verstärkt  (589,  607). 

436.  eharfiel-dungeon  **Leichenkerker",  gewöhnlichere 
Zusammensetzungen  sind  charnel-house,  chamel-chapel. 
Obige  Bildung  1768  in  Beattie,  Minstr.,  L  32  belegt. 

446 — 451.  Die  im  Vergleich  trefflich  ausgedrückte 
beängstigende  Stimmung,  welche  allen  Seelenten,  die  je 
einsame  Begionen  aulgesucht  haben,  wohlbekannt  ist 
(St.  Brooke),  vergleicht  ff.  mit  der  ganz  ähnlichen  in  Christ.; 
jedenfalls  kommen  die  Eingangsverse  des  letzteren  Gedichtes 
sowie  31^ — 52  hiefür  iu  Betracht. 

457.  nwadow-gaU,  gale  bedeutet  in  der  Seemannssprache 
einen  ganz  tüchtigen  Wind^  in  der  Poesie  aber  wird  es  wie 
breeze  allgemein  als  Gattungsname^  ja  sogar  im  Sinne 
unseres  "Zephir"'  gebraucht.  Mit  der  sonst  unbelegten  Zu- 
sammensetzimg fällt  also  der  Anc,  Mar.  eigentlich  aus  der 
Rolle. 

467.  570-  cöuntree.  Ein  konsequent  beibehaltener  Über- 
rest der  arch,  Oithographie  von  A.  (wie  V.  518.  570)  wegen 
der  altei-tümlichen  Betonung.  Die  Balladensprache  betont 
fast  nie  anders;  Byron,  'Siege  of  Corinth/  So,  vielleicht  in 
Erinnerung  an  unser  Gedicht:  ^Änd some  arc  in  afar  countrie,' 
Vgl.  auch  Christ,  225. 

468.  harbonr-bar  der  aus  Steinen  und  Erde  durch 
Schwemmung  aufgeführte  Wall,  der  die  Hafenbucht  von  der 
offenen  See  trennt;  er  bildet  die  natürliche  Grenze  des 
ruhigen  Hafens  und  spielt  als  solche  in  Tennysons  'Crossing 
the  Bar^  eine  wichtige  Rolle.  Vgl.  auch  Tennysons  TAe 
Sailor  Bog/  2:  'He  rose  at  dawn  and  ßred  wiih  höpe,  /  Sk4)t 
a*€r  the  seething  karbour-har.' 

477  ff.  Die  schon  420/421  angedeutete  beruhigende  Wir* 
ktmg  des  Mond^^cheines,  die  hier  zinn  Landschaftsbilde  und 


120 


KommentiLr. 


zum  Aiisklingen  der  Öespenstergeschichte  prächtig  verwertet 

isty  scheint  durch  ein  persönliches  Erlebnis  bei  Col.  betont 
worden  zu  sein.  Schon  Ca.  nimmt,  vor  BrandL  folgende 
Stelle  des  NotUbucfi^s  (BL  32 a)  Br  'The  Nightifu^ate\  91  ff, 
in  Anspruch :  'Hartley  feil  down  and  hurt  himsdf  —  /  caught 
him  up  crtjintj  and  screaming  —  and  ran  out  of  room  with  htm.  — 
The  Moon  caught  his  eye  —  he  ceased  crytng  inimedialdy  — 
and  his  eyes  and  the  tears  in  them,  how  ihey  gliticred  in  ihe 
Möonlightr  Die  Situation  des  angezogenen  Gedichtes  stimmt 
in  der  Tat  auch  ziemlich  genau  zu  der  Stelle ;  doch  meine 
ich,  daß  das  Motiv  bei  CoL  tiefer  Wiu'zehi  schlugt  zumal 
er  fi'üher  (Sonnti  t<i  the  autumnal  Moonj  den  Mond  anders 
dargestellt  hatte.  Und  so  möchte  ich  jene  Anregung  auch 
auf  unser  Gedicht  ausdehnen. 

479.  stmdy  heißt  der  Wetterhahn  nur  im  besonderen 
Falle,  weil  eben  kein  Wind  geht;  kein  stehendes  Beiwort. 

483.  füll  many  arch,  Verstärkung  besonders  in  dieser 
Verbindung  üblich;  vgl.  Gray,  'Elegy  de./  53:  Füll  many  a 
gern  of  purest  rag  serene,* 

488 ff.  Diese  Art,  das  Schilf  zu  lenken,  stammt,  so 
sonderbar  es  bei  einem  so  phantastischen  Motive  klinge^ 
mag,  von  Wo. 

492—493.  und   496—497.    Leichte   volkstiimliche   A 
wechslimg  von  each  und  they. 

497.  Ein  gewählter  Ausdruck,  etwa  ^  **keinen  Laut  ver- 
nehmen lassen-',  wohl  zu  pathetischer  Hervorhebung. 

507.  tö  blast  =^  ,,mit  Zauber  schlagen''. 

&08 — 509.  Das  Bild  tritt  so  klar  vor  die  Augen  des 
Anc,  Mar.,  daß  er  noch  einmal  alles  miterlebt,  und  deshalb 
geht  seine  Erzählung  wieder  ins  Präs.  über. 

516.  io  rear  one's  voice  **die  Stimme  (zum  Himmel)  empor- 
heben^', häufiger  'to  raise  one-s  voice,'  bibl.  =  *lift  up.' 

521/522,  'The  fourih  (f  last  image  iakm  from  the  Nether 
Stöwey  vicinage.  Old  stunips  of  oak,  macerated  ihrough  damp 
and  carpeted  with  moss,  abound  in  tJie  wooded  comhs  of 
Quantock:  (H.) 

523.  skiff-hoat  pleonastische  Zusammensetzung  **kleines 
Segelboot' \ 

524.  /  irow  "traun!  ha!",  veraltete  Beteuermigsformel. 


« 


I 


I 


1.  The  Ancieut  Mariner.  121 

629.  icarped  "geworfen"  ist  das  Holz  infolge  der  sen- 
genden Tropenhitze. 

633.  to  l(ig,  meist  *lag  behind  oder  after'  "sich  Zeit 
lassen",  hier  **langsam  dahintreiben".  Die  liebevolle  Aus- 
malung des  schönen  Bildes  ist  beachtenswert. 

634.  forest-brook,  sonst  unbelegte  Zusammensetzung. 

635.  ivy-tod  archaist.  =  ivy-bush  or  clump  (G,).  Diese 
Zusammensetzung  gehört  der  Volkssprache  an  (etymolog.  = 
"Zotte",    nach   England    aus   Skandinavien    eingewandert). 

636.  *The  owlet  in  the  ivy-tod  is  pröbdbly  borrowed  from 
the  Passage  in  Beaumont  and  Fletchers  Bonduca,  misquoted 
thtis  hy  Lamb  in  a  letter  to  Col  (June  14,  1796):  ''Then  did 
I  see  tliese  valiant  men  of  Britain  /  Like  hoding  owls  creep 
into  tods  of  ivy,  /  And  hoot  their  fears  to  one  another  nightly'*/ 
(H,)  Da  aber  die  Eulen  hier  keine  Angst  zeigen  und  auch 
nicht  aus  dem  Efeugestrüpp  (das  übrigens  gar  nicht  so 
hoch  sein  muß,  daß  sie  den  Wolf  unten  anheulen  können), 
herausschreien,  erscheint  die  Parallele  nicht  gerade  sehr 
felsenfest.  Warum  sollte  Col.  hier  nicht  unmittelbar  nach 
der  Natur  gemalt  haben,  wie  in  Christ,  3C6 — 310?  —  Die 
Tonmalerei  der  dumpfen  Vokale  ist  sehr  wirksam. 

640.  afeared,  prov.  oder  arch.  =  "voller  Furcht" ;  Chaucer, 
Leg.  G.W.,  53:  'so  sore  hit  is  afered  of  the  nighf ;  2321:  'Yet 
hit  is  afered  and  awhaped'*;  Prol.  628,  etc. ;  bei  Shaksp.  mehr 
als  dreißigmal  belegt,  stirbt  nach  1700  fast  aus,  durch 
*afraid'  in  der  Lit.-  Spr.  abgelöst.  Außer  der  volkstümlichen 
Verwendung  taucht  es  seit  W.  Morris  auch  künstlich  belebt 
in  der  Lit.- Spr.  wieder  auf.  (N.  E.  D.) 

641.  cheerily  =  "ermutigend,  heiter".  Vgl.  Scott,  Lady 
of  the  Lake,  IV.  25:  'Hunters  live  so  cheerily, 

669.  telling  "Zeugnis  gebend"  durch  das  Echo. 

660 — 669.  Der  entsetzliche  Eindruck  des  Anc.  Mar.  auf 
die  ersten  Menschen,  die  er  wieder  begegnet,  ist  gerecht- 
fertigt durch  die  Todesqualen,  die  er  ausgestanden  hat;  nun 
genügt  sein  bloßer  Anblick,  Grauen  einzuflößen. 

678.  frame  =  human  body ;  arch.  oder  erhabener  Stil, 
oft  "this  mortal  frame".  —  wrencheä  =^  convulsed,  "er- 
schüttert". 

686  ff.  vgl.  Lesart  zu  Christ.  81. 


122  Kommentar. 

693.  garden-bower  "Gartenlaube",  sonst  unbelegt;  viel- 
leicht verblaßte  Erinnerung  an  das  Deutsche? 

608.  loving  friends  "(einander)  zugetane  Freunde" ;  das 
Englische  braucht  hier,  wie  im  Brie&tile,  *your  loving  son', 
kein  reziprokes  Akkusativobjekt.  —  habe,  dichterisch  und 
namentlich  bibl.  =^  Kind;  häufiger  ist  das  nach  Art  der 
Kindersprache  gebildete  Diminutiv  baby. 

623.  forlom  of  setise  "seiner  Sinne  beraubt",  arch.  Aus- 
druck. Vgl.  Spenser,  'Shepherd's  CaL,'  Apr.  4:  'or  art  thou  of 
ihy  loved  lasse  forlome?*  Milton,  P.  L.,  X  921:  'Forlom  of 
thee  I  Whither  shall  I  betake  me.., ?' 

623 — 624.  Als  knapper  Ausdruck  der  Wirkung  der 
Geschichte  auf  den  Zuhörer  und  wohl  auch  teilweise  auf 
den  Leser  ist  dieser  Satz  zum  Zitate  geworden. 


2.  ChriMaM. 


123 


2.   Chrlstabel. 

1 — 5.  Zum  Eingang  vgl,  die  Turmszene  aus  Schillers 
**Eäuber'\  femer  **Lines  crmposed  in  a  Concert-Room*'  (Braudl, 
S.  264/265)  und  endlich  den  naturschildemden  Eingang  von 
''Frost  at  Midniffht'\ 

3.  Der  Tei^  ist  natürlich  vierhebig  zu  lesen,  so  daÜ 
die  langhinhallenden  Eulenrute  nachgeahmt  werden.  Der- 
selbe Ruf  schon  in  **ParUamentary  OseiUatörs"  (1794),  31  u. 
36  Tu—whoo! 

7 — 8.  which  I  FrojH  her  kennel  Die  Geschlechtsbezeich- 
nung durch  her  hindert  nicht  die  Setzung  des  Relativunw 
which, 

9.  maketli  arch.  Vollmessung  wie  sonst. 

13*  mtf  ladi/'s  shroud  Das  Leichentuch  der  Mutter  Chri- 
st^bels,  die  ja  als  Gespenst  wandelt,  vgl.  204  ff.  Brandls 
MiiJverstandnis  der  Stelle  habe  ich  schon  S.  25  oben  be- 
spruchen* 

16 — 20.  Ca*  vergleicht  Wo.^s  Älfoxdm  Journal^  Jan,  31, 
1798:  'Sei  forward  to  Stowet/  at  half-past  five.  Whefi  we  hfl 
home  ihe  moon  immenstii/  targe,  ihe  sky  scaUered  over  with 
chuds.  These  $oan  dased  in,  cmtracting  ihe  dimensions  of  ihe 
moon  mthout  mneealing  her/  Das  Erlebnis  mag  alte  Erin- 
nerungen aufgefrischt  haben,  denn  schon  im  *'Sonnel  to  ihe 
autumnal  Moon"  heiüt  es:  **/  watch  ihy  gliding,  white  witA 
waiery  lighi  /  Thy  weak  eye  glimmers  throiigh  a  fleccy  veil*% 
wieder  Schilderung  des  bewölkten  Himmelg.  Auch  NoUjg- 
buch,  BL  31a  zieht  Ca.  au:  'Behind  the  thin  j  Gray  doud 
Ümt  cftver'd  but  not  hid  the  shj  /  The  round  füll  moon  look*d 
small.' 

21.  mmith  hefore  the  month  of  May^  geheinMiisvolIe  Um- 
schreibung, welche  die  Alliteration  begünstigt. 

23.  the  lövely  lady  Christabel  wird  stets  als  holdes  Kind 
bezeichnet.  Vgh  denselben  Ausdruck  38.  47.  304.  dann  24. 
lotrcs,  228.  love  you,  229.  lovc  them,  238*  hveliness,  277.  löt% 
279.  hvely  sighi,  393.  hvdy  maid,  470,  belaved  dnld,  ein  ab- 
sichtliches Festhalten  au  Wort  und  Begriff! 


124 


Kommentar. 


I 


25,  what  makes  her  zu  ergänzen:  (taj  he;  sonst  würde 
maji  vielleicht  *wliat  makes  she'  erwarten.  Vgl.  etwa  auch 
veraltetes :  'to  make  a  person  away  or  to  make  a  p.  hence.* 

32.  siehe  L,-A.  —  33.  35.  281.  297.  373.  540.  siehe  zu  42, 

34.  misletae,  eine  vielleicht  durch  die  stimmhafte  Aus- 
sprache herbeigetuhrte  Schreibung  von  mistleioe;  allerdings 
kommt  auch  misselbird,  misseltoe  dx,  vor. 

42.  the  hiige,  braad-hreasUd^  old  oak  iree,   Häufting   von 
Attributen.    Parallelen   bei   CoL  ''The   Maveti'   1.  <('  21   Hhe 
huffe  oak-tre€%  41,  Hhe  (all  oak  tret ;  Notizbuch,  BL  6  b.,  'Broad- 
breast ed  Röck\  wozu  Ca.  vergleicht:  *'The  Destiny  of  Nations'', 
335    'Its    high,    o'er'hanfjing,    white,    broad-breasted    diffs,    / 
Glass'd  on  the  subject  ocean' ;  dann  A^o^7>Z»wr/i,  BL  30  b,,  'BromU  ■ 
breasted   Pollarti\    —    Die   freien   Zusammensetzungen    sind 
CoL's  eigenstes  Werk,  nicht  etwa  KinfluÜ  der  deutsch  en^i 
Sprache^  denn  schon  in  seinen  Sonetten   finden  wir  sie:^! 
VIL    7    'thougIit-hewiMered\   /X   5   'terror-pale,  A.   6   'hope-^^ 
bom\  XI.  2  'wildh/'Varioiis',  XI.  7  (&  To  the  Nightingah,  L), 
Hom  lom\  XL  12   *bosom-probing\   Sonnet   to  the  Äuiumnal 
Moon^  1  'variouS'Vested\  2  *wildhj-working\  13  'sorrow-clouded', 
t&c,  —  Später  merzte  er  solche  Bildungen  aus  oder  wendete 
wenigstens  keine  neuen  derartigen  an. 

44.  moaneth  Vollmessung,  archaistische  Form,  wie  sonst. 

46.  ringlet  Haarlocke,  ringlet  curl  also  pleonastische  Zu- 
sammensetzung. 

49 — 52.  Ca.  vergleicht  dazu:  Dor.  Wo.,  Journal  (Life 
L  141),  March  7,  17 9ö:  'William  and  I  drank  iea  at  Cole- 
ridge*s.  Ä  eloudg  skff,  Ohserved  nothing  partieularly  interesting  — 
the  distani  prospect  ohscured*  One  only  leaf  npon  the  top  of  a 
tree  —  the  soIc  remaining  leaf  —  dunced  round  and  round  like 
a  ruy  bloum  hg  the  wind/  Also  bestimmt  Autobiographisches, 
denn,  daß  die  drei  gleichgestimmten  Dichterseelen  sich 
solche  Beobachtungen  mitteilten,  ist  klar.  Auffällig  ist  nur, 
daß  dies  eine  rote  Blatt  den  ganzen  Winter  (bis  in  den 
April)  überdauert  hat. 

54.  Ca,  zu  582  [warum  nicht  zu  54?] :  **When  The  Lag  of 
the  Last  Minstrel  appeared,  Southey  uTote  to  Wynn,  March  5, 
1805  (Life  d'  Corr,,  II,  316):  'The  beginning  of  the  storg  is 
ioo  like  CoVs  Chrisiohell,  whidi  he  [Scott]  had  secfi:  the 
very  line  *'Jemi  Maria^  shield  her  well!"  is  caught  froni  it ,  .  , 


I 
I 


2.  Christabel.  126 

/  do  not  think  [he  copied  anything]  designedly,  but  the  echo 
was  in  his  ear,  not  for  emulation,  but  propter  amorem, 
This  only  refers  to  the  heginning.' "  Ein  einwandfreier  Beweis 
fiir  die  große  Gewalt  der  Melodie  von  Col.'s  Gedicht;  zu 
Scotts  Gedächtnis  vgl.  L.-A.  81. 

58—66.  s.  L.-A. 

60.  shadotvy  **schattengleich,  gespenstisch' ^  bezieht  sich 
weniger  auf  die  Farbe  als  das  wan  in  61.  (und  621.),  das 
mehr  das  "bleiche,  trübe"  ausdrückt,  das  durch  den  Kon- 
trast der  lebensvollen  (rötlich-weißen)  Hautfarbe  an  dem 
(bläulich-weißen)  Seidenstoffe  hervortritt. 

63.  unsandaVd  paßt  besser  als  das  gewöhnliche  *bare- 
footed'  in  das  Kostüm  der  Szene.  —  blue-veined  als  Zeichen 
feiner  Haut;  vgl.  etwa  Ant.  and  Gleop.  IL  V.  29. 

66.  s.  Anc,  Mar.  101  und  L.-A.  zu  Christ.  81. 

68.  Mit  deutlicher  Anspielung  von  Byron,  JDon  Juan^ 
VI.  36,  3  zitiert. 

69.  Mary  mother  ist  ebensowenig  wie  Anc.  Mar,  294: 
'Mary  Queen'  ein  Hinweis  auf  römisch-katholisches  Milieu, 
da  die  englische  Staatskirche  die  Marienverehrung  zwar 
nicht  nach  katholischem  Muster  betreibt,  aber  dieselben 
Ausdrücke  wie  die  römische  Kirche  gebraucht. 

71.  meet  wie  78.  181.  arch.,  besonders  bibl.  (Deutero- 
noniium  III.  18,  Matth.  III.  8,  Lukas  XV.  23  und  sehr 
häufig  im  Commm  Prayer  Book)  =  suitable,  proper  (ags. 
3emet.) 

81.  s.  L.-A.  —  yestermorn  poet.  Bildung. 

82.  forlorn  "elend,  verlassen".  Denselben  Ausdruck: 
a  maid  forlorn  gebraucht  Spenser  F.  Qu.  I.  3,  43  von  Una ; 
da  liegt  doch  wohl  Entlehnung  vor. 

88.  s.  L.-A. 

92.  I  wis,  auch  I  wisse,  poet.  archaist.  Altes  adj.  3ewiss, 
iwis,  ywisse  mißverstanden  zerlegt  und  zur  1.  sg.  praes. 
gemacht,  dann  also  =  "ich  denke"  &c.  wie  in  294.  — 
entranced  als  adj.  selten  =  "in  Ohnmacht",  sonst  gew. 
=  "verzückt";  vgl.  Shaksp.,  Pericl,  IIL  IL  94  und  hier 
zu  Anc.  Mar.  42  fK 

106—122.  s.  L.-A. 

116.  wie  166.  264.  368.  stehender  Begriff;  vgl.  zu  23. 

123-144.  s.  L.-A.  81. 


126 


Kommentar. 


4 


129*  bdikc,  selten  ;=  *perliaps,  likely^  und  tihtd.,  archaifltS^' 
vgL  Rkhardson,  Pamela  1.238;  Wo-,  Peter  Lamh:  ** Things 
that  I  know  not  of  hellke  to  thee  are  dear,**  Ebenso  hier  375, 

IBii.  rufht  ijlad  etwa«  altertümlicbi  wie  144.  und  ''The 
Bavefi/'  4L 

139,  Praise  we  Konjunktiv. 

166—168,  s,  L.-A. 

174.  mshes,  Binsen  wurden  im  Mittelalter  zum  Bestrenen 
der  Dielen  oder  des  Estrichs  verwendet ;  möglich,  daß  auch 
ein  lokales  Erlebnis  CoL  hier  angeregt  hat.  Der  Schutz- 
heilige von  Grasmere  ist  St-  Oswald  und  an  seinem  Tage 
(6,  August)  bringen  die  Kinder  Binsen  in  die  Kirche;  dieser 
Brauch  heißt  ''mdi-bearing'*, 

188.  in  wrdched  plight  ^*in  kläglichem  Zustande". 

190—193.  8.  L.-A.  192.  üiW«öMÄ^*heilkräftig''  (arch.)  bei 
Spenser  häufig;  also  synonym  zu  cordial  in  191. 

199.  kow  =^  that,  jetzt  dial.  oder  kolloq.  Vgl.  Dickens, 
Christmas  Carol,  IIL  *Bob  CraickU  told  them  hme  hc  had  a 
sittmtion  for  3Iast€r  Peier,' 

205.  Peak  and  pine,  aus  Macbeth,  /.,  5,  23:  **ShaH  he 
dwhidle,  peak  and  pine*\  —  Peak  =  *grow  sharp-featured^ 
thin'  (Clark  &  Wright),  pine  =  *become  feebl©'* 

212.  guardian   spirit,  wie  327.  **Sehutzengel*' ;    das 
spenst  ist  also  segnend   und   schirmend»    VgL  Shaftesbury, 
CharacL  L  16b:  *W€  bave  each  of  us  a  dmnan  geim^^  cmgei^ 
or  guardian-spirit,*  (1711,  N,  E,  D.) 

217.  wildered,  selten  =  bewildered,  von  dem  es  ge- 
formt ist, 

219.  s.  L.-A. 

220.  wild'ßower  mne  wieder  eine  kühne  Zusammen- 
setzung, sonst  nicht  belegt. 

223,  loftg  ludg  ^*erhabene  Dame"  wie  226.  und  384, 

225*  8.  zu  Anc,  Mar,   467\ 

227*  Upper  skg  =  **hoch  oben  im  Himmel'',  nicht  *'im 
oberen  Himmel'^,  vielleicht  ist  an  die  unmittelbar  über  den 
Wolken  liegenden  Himmelsregionen  gedacht, 

231.  in   my   degree  =  *according    to   my   condition   or  ^ä 
ability/  (veraltet.)  ^^ 

239,  weal  and  woe,  alte  allit.  Formel ;  vgl.  Leg,  of  Good 
Wotneti,  689,  1234. 


I 


2.  Christabel 


127 


242.  half-tmy  ''bis  zur  halben  Höhe',  wie  257. 

248  ff.  8.  L.-A. 

266.  strirken  ^=^  *unfler  the  power  and  consequence  of 
a  stroke/  mehr  als  unser  '^betroffen"* 

268.  (%BBa\j  vom  altfranz.  assai,  lat.  exagium  ;  im  16,  Jahr- 
hundert verkürzt  zu  say,  dann  als  essay  neu  eingeüüirt. 
Die  alte  Form  nur  noch  archaist.  Vgh  Cbaucerj  Leg.  of  G* 
W.,  9,  28,  1594;  Macbeth,  IV.  3,  US, 

264.  weUa-daif!  s.  z.  Anc,  Mar.  139, 

265.  daleful  —  *full  of  dole,  pain.  grief'  wie  358.  An 
unserer  Stelle  könnte  man  allerdings  auch  an  die  seltene^ 
vom  lat.  dolus  abgeleitete  Bedeutung  *wicked,  malicious' 
denken  oder  an  eine  unbewußt  gemischte  Vorstellung 
CoL's  von  Kummer  und  Bosheit,  wozu  256.  und  260/261, 
stimmten.  Vgl.  zur  Auffassung  686  und  zum  Wort;  ^Love\ 
21:  *I  played  a  soft  and  doleful  air  und  ibid.  71,  *dokful  taU\ 
Greraldine  leidet  jedenfalls,  wie  viele  Zauberwesen,  mit  imter 
dem  ihr  verliehenen  Zauber.  (Vgl.  Miltons  Satan,  /.,  56: 
'round  he  ihrotvs  his  hakful  etjes\) 

271.  ta  war^  hier  in   seltener  Bedeutimg  "to   struggle, 
Lj|(kftnd  11p  against*'. 

288.  bale  arch*  =  *evü,-  Miss  or  iah  alte  Alliterations- 
formel,  schon  um  1325  belegt  (Early  Engl,  AlL  Poefns,  A.^ 
873:  'Mg  bigsse,  mg  bale  je  /«in  beeti  bope/  Sprichwörtlich 
noch  in:  ^What  bale  is  hext,  boai  is  nexf). 

289.  und  302—304.  g.  L.-A.  81, 

306.  falm  schott.  **Berg8ee" ;  im  Lake  District  sehr 
häufig  (auch  in  der  Form  tarn)  und  geradezu  =^  "Meer- 
auge''. Vgl.  'Note'  in  aioniing  Post,  1802,  zu  Col.'s  'Dejee- 
iion* :  TairUf  a  small  lake,  generalig,  if  not  alwags,  a^yplied 
tu  the  lakes  up  in  the  mountains,  and  which  are  the  fceders 
of  those  in  the  vaUics/  —  rill  *'Bächlein*^ ;  hg  in  alter  lokaler 
Bedeutung» 

309  und  310,  twwhoof  hier  bloß  mit  Starkton  auf  der 
zweiten  Silbe,  nicht  wie  in  3, 

310.  feil  A.  N.  fiall  (verwandt  mit  deutsch  Fel-s), 
**Hügel",  aber  auch,  wie  kier,  *a  icild,  elevated  streich  of 
waste  or  pastnre  land'  (N.  E.  D.).  Das  Wort  ist  außer  schotL 
und   nordengl.  selten;  meist   in   Zusammensetzungen   ^feU- 


Kommentar. 


bloonij,  fell-thrush  &c/  und    in   Eigennamen  {^=^  Berg)^  b 
sonders  im  Lake-District :  *Barfeir  &c. 

317.  318.  Ca.  verweist  aul*  'The  Nightifigak',  101— 103 f, 
vgl.  aber  auch  Änc.  Mar,,  47 7 ff, 

320.  hermitess  KJansnerin,  das  Wort   ist  nicht  gerade 
häufig   belegt,  so  Mottetix,  Rabelais  (1708)  IV,  Ol,   'Spiri^ 
tual  Actresses,  Kind  Hermitesses,  Womm    (hat  have  a  pi 
deal  of  Religiofu'  —  Der  Vergleich  ist  ganz  romantisc 

321,  heauteous  =  'distingiiished  bj  beauty,  exceedingn 
fair  in  appearance  or  elegant  in  form',  ebenso  569.  ein 
Wort^  das  fast  ausschließlich  der  Literatur  und  besonderii 
der  Dichtersprache  angehört.  Vgl,  Shaksp.,  Tarn,  of  thc  Shrme, 
L  IL  80,;  Milton,  P,  L,  IV.  6U7.;  Wo.,  Sonneis  I,  30,  — 
wildemess  **Ekstase,  Verzückung"  zu   wilder;   vgl.  zu  217. 

325.  tingle  *^juckenj  kribbeln,  stechen,  prickeln*' ;  urspr, 
*^kliDgen"  (das  Ohr  **klingt''K  *'8ausen".  —  Sehr  natura- 
listischer Zug. 

332.  maiin-hell  die  Glocke  bei  der  Frülunesse.  Ca.  zitiert 
zu  der  ganzen  Stelle  Allsop,  Convtrsaiions  wiih  Coleridge 
(1836),  L  195.  (1864,  p,  104),  der  nach  einem  langen  Zitat 
aus  Crashaws  ITfpnn  to  St.  Theresa,  das  CoL  als  des  Dichters 
schönste  Verse  gepriesen  hat,  folgende  Äußerung  Col.'s 
bringt:  'These  verses  teere  ever  presmt  to  mg  minä  whilst 
umtifig  the  second  pari  of  Chrisfabel;  if,  iadeed,  by  some  subth 
process  of  the  mind  iheg  did  not  suggest  the  ßrst  thoaght  of 
iht  wfiüle  poem.  Das  Zitat,  das  als  Anregung  nur  für  me- 
trische Anklänge  mid  geringfügige  Andeutungen  in  Christ. 's 
Wesen  gelten  kann,  beginnt  mit:  'Sincc  'tis  not  to  be  had 
at  home^  /  She  Hl  travcl  to  a  MaHgrdmne,  /  No  homc  for  her, 
cmfesses  she,  /  Bt$t  where  she  mag  a  Martyr  be;*  und  geht 
bis ;  ^Farewel  House,  and  Farewel  Home  —  /  She  *s  for  the 
Moors  and  MartgrdomeJ 

333.  hnell  bes.  vom  Geläut  der  Totenglocke  gesagt, 
336.  sag.   Wie  das  Wort  jedesmal,  gleichsam   als  Ge* 

dankenreim  in  den  nicht  mitsammen  reimenden  Zeilen,  in 
verschiedenen  Formen  wiederkehrt!  Wirksam  ist  auch  die 
Alliteration  der  übrigen  Reiinworter :   death,  dead,  dag, 

342^-345.  Wieder  innigste  Verknüpfung  des  Abschnittes 
mit  dem  vorigen  durch  Wiederaufiialune  desselben  Wortes ; 


I 


2.  Christabel. 


Ifi9 


hier  zur  äußerlichen  Motivienmg  der  ErzähluBg  des  Barden, 
die  (vgL  oben  S.  40)  innerlich  ohne  Halt  und  Bedeutung  ist. 

344.  Diese  und  die  folgenden  Lokale  leimte  CoL  auf 
der  im  Herbste  1799  mit  William  und  Jolin  Wo.  unter- 
nommenen Tour  durch  den  Lake  District  kennen.  Brafha 
Head  auf  den  mir  zugänglichen  Karten  unauffindbar:  ^-iel- 
leicht  meinte  CoL  die  Nordspitze  des  Windermere,  woselbst 
der  Fluß  Brathay  einmündet.  Das  entspräche  auch  der 
heutigen  Bezeichnung  ''Waterhead'^  ftii*  diesen  Teil  des  Sees. 
Head  kommt  in  Flurnamen  als  ^*FIußurspning,  oberes  Ende 
von  Seen  &c.,  Vorgebirge j  HügelgipfeF*  vor.  Am  ehesten 
wäre  man  versucht,  an  eine  Ortschaft  zu  denken  (vgl*  z.  B. 
Hawkshead^  norwestlich  von  Esfchwaite  Water), 

345.  hanl.  Die  idealisierte  Bardenfigur  hat  Macpherson 
in  die  englische  Literatur  eingeführt.  Col.  läßt  sie  schon 
in  der  "Monody  on  ihe  Deaih  qf  Chatterton"^  26,  36.  und  in 
**Line8  cottiposed  in  a  Conceri-Bimn*'  (1799)»  14 ff,  auftreten.  — 
Brctcp  auch  bei  W.  Scott  als  Familienname  verwendet. 

348.  /  weeti  aroh.  ** wähnen,  glauben,  sich  einbilden^', 
350/351.  Lantjdale  Pike:  welchen  der  beiden  Kogel,  die 
unter  dem  Namen  Langdale  Pikes  zusammengefaßt  werden,  Col. 
hier  meint,  bleibt  unentschieden.  Heute  bezeichnet  man  den 
westlichen  mit  Pike  qf  Siickle  (2323  feet),  den  östlichen  mit 
Harrison  Siickle  (2401  feet).  —  Unter  Wiich*s  Lair  seheint 
CoL  den  sonst  Hdm  Crag  genannten,  nordwestlich  von 
Grrasmere  gelegenen»  1299  feet  hohen,  sehr  zerklüfteten 
Gipfel  zu  verstehen:  ''The  siniftdarly-shapcd  kill  calleti  Helm 
Crag  is  conspicHoushj  visible  from  Grasmere.  It$  apex  exhibtts 
80  irregulär  an  outline  as  io  have  given  rise  io  nuntberless 
wkipHsical  comparisons,  Gray  compares  it  to  a  giganiic  buitding 
demolished,  and  the  siones  which  composed  it  fiung  across  in  wild 
confusimi.  Äud  Wordswarth  speaks  qf  —  *That  ancietU  Wo/nan 
seated  mi  Helm  Crag!  It  is  usually  called  ihe  Lion  and  the 
Lamb,"  (Black's  Shilling  Guide  io  (he  EttgUsh  Lakes,  ISfW, 
p,  48, j  Zu  dieser  Annahme  berechtigt  der  Zusammenhang 
der  üben  zitierten  Stelle  von  Wo.  (To  Joanna,  52 — €5),  wo 
es  sich  ebenfalls  um  Echoerscheinungen  handelt  und  der 
Dichter  fortfährt:  **iras  rvadg  with  her  caveni/*  —  Dmujeon 
Ohpll  Hs  a  Waterfall  formed  by  a  siream  which  runs  down  a 
fissure  in  the  mountain's  side,  The  natural  fmiures  of  the  place 

Elohler,  The  Aact<?tit  Mariner  u.  ChrUt.  ^ 


130 


Kommentar. 


jusiify  the  name.*  (Guide,  wie  oben,  p,  S9j  Der  Staubbach 
fiihrt  von  den  LangtMc  Pilces  südöstlich  ins  Oreat  LangdaU 
und  ist  auch  in  Wo*'s  ''The  Idle  Shepherd-Boy"  verherrlicht. 
Gill  oder  Ghyll  (nordengh  und  schottisch)  bedeutet  **waldige 
Felsschlucht  mit  Gießbach *\ 

356,  death-twte.  Zusammensetzung  nicht  belegt,  =  kutU 
in  342. 

358,  s.  z,  265. 

359*  Borrowdale  landschaftlich  reizendes,  von  Süden 
nach  Norden  verlaufendes  Gebirgstal  in  Cumberland,  dessen 
Wasserlaufsich  in  Dertvent  Water  ergießt.  Westlich  begrenzen 
es  die  Ed-Crags  (2143  feet),  östlich  Brund  Fell  (1363  feet). 
Seine  Luftlinie  von  Wuidermere  beträgt  etwa  16  britische 
Meilen,  von  den  in  350— 351.  genannten  Örtlichkeiten  etwa  6. 

369.  /  trust.  Diese  Einschiebsel  der  volksmäßigen  Rede, 
hier  meist  in  arch.  Wendungen,  schon  im  Anc,  Mar,  152. 
und  B24.;  in  Christ,  noch  66.  348.  425.  473. 

407,  Lord  Roland  de  Vat4X  of  Trier muitu  *Triemmin  wcls 
ö  ßf'f  of  ti^  Barony  of  Gilslund,  in  Cumberland;  aßer  the 
deafh  of  Gilmore,  Lord  of  Tryennaine  and  Torcros$ocl%  Hubert 
Vaux  gave  Tryermainc  and  Torerossaek  io  his  seeond  san, 
Itanulph  Vaux .  . .  and  (heg  u?€re  named  Bolands  suceessively, 
that  were  lords  thereof  until  the  reif/n  of  Edward  IV.*  Bum's 
AntiquUies  ff  Wesimoreland  and  Ciindterland  JI^  jh  482,  Das 
aus  den  Trümmern  des  alten  Römerwalles  erbaute  Schloß 
Ttiermain  lag  etwa  500  feet  hoch,  2  britische  Meilen  west- 
südwestlich  von  Gilslancl,  nördlich  vom  Irthing,  Die  Sage 
hat  dann  aber  einen  Felsen  im  Vale  of  St.  John^  etwas 
östlich  von  der  Nordspitze  des  Thirlmere^  dessen  'resemblanee 
to  a  fairy  fortress  is  certainly  very  striking'  (Black*B  Guide 
wie  oben  p.  61.)  als  'Castle  Bock  of  TViermain*  bezeichnet 
und  dieses  nur  visionäre  Schloß,  das  fast  30  Meilen  südlicher 
als  CoL's  Lokale  liegt,  ist  auch  das  Lokale  von  Scotts 
''Bridal  of  Triemiain^',  Auf  diese  Verschiedenheit  haben 
meines  Wissens  die  Skott-Kommentatoren  nicht  hingewiesen: 
somit  bleibt  nun  auch  die  Anregung  durch  Christ,  etwas 
zweifelhaft,  obwohl  der  Bitter  de  Vaux  in  *The  Talisman' 
VI  ff*,  ausdrücklich  als  Lord  of  Gilsland  bezeichnet  ist 

406 — 425,  Hiezu  Ca. :  These  lines,  perhaps  because  they 
bring  us  out  ofthe  surrounding  fairyland,  are  the  mostfamous  in 


^ 


2.  Christabel. 


131 


* 


Christ;  enen  Uie  Edinburgh  reviewer  could see  theywereßne: 
'*We  defy  amj  man  to  potni  out  a  passage  ofpoeiical  merii  in 
anp  of  the  three pieces  which  it  [the  Christ  pamphht  of  181ß] 
coniains  except.perhaps^  ihefoUowing  linestnp.  32,  [IL  108—413J, 
and  even  ihese  are  noi  venj  hnlHant;  nor  is  ihe  Uading  thought 
originaV  —  There  had  heen  alienuüon  hetween  Cot  and  TJu 
Poole  in  conneciion  nith  'The  Friend\  and  no  communicatioft 
aßer  1810,  until  in  Januartj  ISIS  Poole  seni  hls  congratulutiofis 
OH  the  sticcess  of  11  e morse.  CoL  repUed:  *Dcar  Pookf  Love 
Bo  deep  and  so  domesticaied  with  the  whole  heing  as  nnne  was 
to  1J0U,  ean  never  eease  to  be,  To  quote  the  best  and  sweetest 
lines  I  ever  wroie*  —  and  he  quotes  ihe  tvkoh'  passage,  ihen 
unpublished,  with  hui  two  or  three  unimportant  variatiotis  from 
Uie  text  of  1828— 1829,  Two  worth  noting  occiir  in  the  closing 
lines:  —  'But  neither  frost  nor  heat,  nor  ihtmder,  j  Can 
whollg  da  awag»  1  ween,  j  The  marks  of  that  ffhtch  once  hath 
hee:n*  Charles  Lloyd  puhlLshed  some  affediotutte  verses  about  Co  L 
and  Latnb  in  his  *Destdiory  Tßwughis  on  London  (1820). 
Lamb  wrote  to  CoL,  June  20,  1820,  fAinge/s  Letter 8,  IL 
S2):  *'/  admire  some  of  Lloyd's  lines  on  you,  and  I  adniire 
your  postponing  rcading  them.  He  is  a  saÜ  tfttler ;  hui  this  is 
under  the  rose.  Twenty  years  ago  he  estranged  mie  friend  from 
me  quite , , .  He  almost  alietiaied  yon  also  from  me^  or  nie  from 
yoi4f  I  donH  know  whieh.  But  that  breach  is  closed,  The 
^dreary  sea'  is  filkd  up , ,.  I  snspeet  he  saps  Manning's  faith 
in  me . . .  Still  I  like  his  writing  verses  about  you"  Hierauf 
folgt  noch  die  Mitteilung^  daß  H.  H  o  i  n  e  diesen  Abschnitt 
übersetzt  hat :  Schmidt -Weißenfels,  Über  Heinr,  Heine,  1857, 
S,  177  (und  zwar  mit  dem  Untertitel  ''LehewohV').  Kölbing 
(Siege  of  Coriuth^  S.  105 J  vergleicht  die  stark  anklingende 
Stelle  in  Byron's  Childe  ffarold,  III,  94,  Iff.  Wenn  auch  die 
Situation  dort  eine  andere  ist  (es  handelt  sich  bei  B.  nicht 
um  Freunde^  sondern  um  ein  getrenntes  Liebespaar),  so  ist 
der  Einfluß  dieser  Verse,  die  in  der  Tat  zn  den  schönsten 
der  Dichtung  gehören,  doch  sehr  wahrscheinhch. 

42L  scar,  selten  =  ** Wunde";  vgl.  Prologue  zu  *Every 
Man  in  his  Hnmour\  IL  *And  in  the  tyring-house  bring  wounds 
to  scars/ 

435.  trump  veraltet  =  **trumpet'V,  fast  nur  bibl.:  *trump 
of  doom,  last  trump/  heraldry  heiÜt  gew,  **Heraldik'\  hier 


133 


Kommentar. 


aber  ''Heroldsrufe*',  VgL  Milton,  Circumcision,  10.  ^He  who 
wiih  all  Heavefi's  heraldry  whilcre  j  Entered  the  world.* 

441,  toumep'COurif  Zusammensetzung  nicht  belegt:  ''Tur- 
nierplatz.*' 

453,  und  463.  s.  L.-A. 

46Ö-  afier-rest  gute  Neubildung:  *'die  Ruhe  des  späteren 
Schlafes'\\311ff.) 

470.  Vgl.  zu  23. 

493.  Irthing  flood  ^=^  Irtbing  River,  ein  Nebenfluß  des 
sich  durch  Westmoreland  und  Cumberland  windenden  Eden; 
hier  ist  die  Gegend  von  Güsland  gemeint.  Vgl.  zu  407. 

494.  merrtj  hard,  vgl.  zu  Anc,  Mar,  36, 

495.  Die  beiden  Ortlichkeiteu  sind  auf  den  heutigen 
Karten  nicht  zu  finden;  vielleicht  ist  der  Wald  abgeholzt 
und  das  Moor  trocken  gelegt  worden  und  mit  ihnen  auch 
der  Name  versch wunden.  Jedenfalls  lagen  sie  z^dschen  der 
Burg  Triermain  und  dem  Irthingtale.  Vgl.  zu  407. 

512.  /  repent  me^  selten  mit  pron.  reflex.  (vgl.  Measure 
far  J/.,  //.  ///.  35,J 

562.  Close  by  the  d^ve's  its  head  it  crouched.  Das  sonst 
intransitive  Verb,  ist  hier  transitiv  ^  **flach  niederdrückeUj 
ducken'*  gebraucht. 

568.  accents  poet.  ^  **markante  Worte,  Rede,  Sprache*^ 
vgl  King  John,  V,  VL  95 :  Sir  W.  Jones,  Ode  of  Petrarch, 
6(1;  Byron,  Manfred,  11 L  IV,  312:  *in  ihy  gasping  ihroat  the 
accetits  raiile,   (Vielleicht   auch   Julius  Caesar^  IIL  I,  113.) 

576.  her  =^  herseif, 

581.  dann  587,  608.  askance  **scheel  anblickend,  miß- 
trauisch  oder  tückisch  blickend.^^  Etj^mologie  dunkel  (Ital 
Scansare  =  aus  dem  Wege  gehen  ?  oder  schiancio  =  Abhang. 
a  sdiiancio  =  schräg).  Vgl.  Spenser,  SAep,  Cat,  March  31; 
Milton,  Farad.  Lost,  IV,  504:  *The  Devil,, .  mth  jeahm  ker 
malign  /  Eged  fhetn  askance/ 

682.  s.  54. 

583.  586,  snake's  eye  und  serpenfs  eye.  Bereits  Brandl 
weist  auf  Notizbuch,  18a  hin:  •  .  ,  *her  eyes  sparkled,  a$  if 
ihey  had  heen  cut  out  of  a  diamond  quarry  in  some  Oolconda 
of  Faeryland  —  and  cast  such  meaning  glances  as  tvould  have 
inirißed  the  Fiint  in  a  murderer's  Blunderbuss/  —  Vielleicht 


j 


2.  Christabel.  133  ,j 

hat  aber  auch  die  Beschreibung  der  Alligatoren  (ibid.  31b  \\ 

und  32a)  mitgewirkt,  wo  es  heißt:  'eyes  sntall  and  suuk\  —  ;■ 

Byron,  Don  Juan,  V.  90,  5:  ^With  shrinking  serpent  optics  on  ' 
him  stared'  mag  darauf  zurückgehen.  Ob  dem  in  688     612. 

dargestellten    Falle     von    Suggestion    medizinische    Beob-  ',' 
aohtutigeii    zu   Grunde    liegen,   muß   dahingestellt   bleiben. 

649.  minstrel  bard  unbelegte  tautologische  Zusammen-  " 
Setzung. 

666  iE  s.  L.-A.  'I 


WIENER  BEITRÄGE 


ZUB 


ENGLISCHEN  PHILOLOGIE 


UNTER  MITWIRKUNG 


Dr.  K.  LUICK 

ORD.  FROP.DKR  ENGL.  PHILO- 
LOGIE  AM  DER  UNIVERSITÄT 
IN  GRAZ 


Dr.  R.  FISCHER 

ORD.  PROF.  DER  ENGL.  PHILO- 
LOGIE AN  DER  UNIVERSITÄT 
IN  INNSBRUCK 

Dr.  L.  KELLNER 

AO.  PROFESSOR  DER  ENGL. 
PHILOLOGIE  AN  DER  UNI- 
VERSITÄT    IN      CZERNOWITZ 


Dr.  a.  pogatsgher 

ORD.  PROF.  DER  ENGL.  PHILO- 
LOGIE   AN    DER    DEUTSCHEN 
UNIVERSITÄT  IN  PRAG 


HERAUSGEGEBEN 


Dk.  J.  SCHIPPER 

ORD.  PROF.  DER  ENGL.  PHILOLOGIE  UND  WIRKLICHEM  MITGLIEDE  DER 
KAISERL.  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN  IN  WIEN 


XXVII.  BAND 


WIEN  UND  LEIPZIG 
^V1LHELM   BRAUMÜLLER 

K.   l!.  K.  HOF-  UND  UNIVERSITÄTS-BUCHHÄNDLER 

19(.)8 


DEUTSCHE 

KULTÜRVERHÄLTNTSSE 

IN  DER 

AUFFASSUNG  W.  M.  THACKERAYS 

Von 

Dk.  HEINRICH  FRISA 

(WIEN) 


WIEN  UND  LEIPZIG 
WILHELM    BRAUMÜLLER 

K.  IT.  K.  HOF-  TNI)  i:NIVKK8lTAT8Hi;<:ilHAMDLkK 
1908 


Allo  Rochte,  inibotondoro  das  der  ÜbersoteuDg:»  Torbehalten. 


K.  k.  Uni versitäts-Buchd ruckerei  .Styria*,  Gras. 


Dr.  AUGUST  CRU^A^ELL 

Dr.  CARL  SIEGEL 
Dn.   RUDOLF  GIRTLER 

in  Freundschaft  und  Verehrung 


Der  Verfasser. 


Vorwort. 


bjs  hieße  Eulen  nach  Athen  tragen,  wollte  man  der 
vorliegenden  Arbeit  eine  Würdigung  des  großen  Satirikers 
und  Sittenschilderers  vorausschicken.  Thackerays  Platz 
in  der  Geschichte  der  Weltliteratur  ist  bestimmt  für  alle 
Zeiten.  Und  nicht  erst  sein  Verständnis  zu  fördern,  ihm 
gebührende  Anerkennung  zu  schaffen,  dient  das  vorliegende 
Buch,  das  vielmehr,  ein  Beitrag  zur  vergleichenden  Literatur- 
und  Kulturgeschichte,  Thackeray  in  seinem  Verhältnis  zur 
deutschen  Kultur  und  als  Vermittler  deutschen  Geisteslebens 
betrachten  will. 

Für  die  freundliche  Förderung,  die  mir  fiir  meine  Arbeit 
zu  teil  wurde,  bin  ich  an  erster  Stelle  meinen  hochverehrten 
Lehrern  Hofrat  Dr.  J.  Schipper  und  Dr.  J.  Brotanek 
zum  größten  Danke  verpflichtet,  vor  allem  aber  dem  treuen 
Berater  und  Freunde  aller  Wiener  Anglisten,  die  England 
besuchen,  Dr.  James  Morison,  Oxford,  dessen  freund- 
liche Leitung  und  Einführung  während  meines  Oxforder 
Aufenthaltes  mir  nicht  nur  bei  vorliegender  Arbeit  wieder- 
holt vorwärts  half,  sondern  dessen  wertvolle  Winke  mir  auch 
in  anderer  Hinsicht  für  meine  Studien  Richtung  gaben. 
Zu  großem  Danke  bin  ich  femer  auch  verpflichtet  Mr.  A. 
Cowley,  Fellow,  Magd.  Coli.,  Oxon.,  der  als  Bibliothekar 
der  Bodleianischen  Bibliothek  mir  in  liebenswürdigster  Weise 
entgegenkam,  und  nicht  zuletzt,  wenn  auch  an  letzter  Stelle, 
meinem  lieben  Freunde  Dr.  Albert  Eichler,  von  dem 
mir  die  Anregung  zu  vorliegender  Arbeit  kam. 


Literatur. 


The  Collccied  Works  of  W.  M.  Thackeraij.  In  ticenty-six  volunics. 

London,  SnUth,  Eider  dt  Co.,    1869—1886.    Daraus  die  Zitate 

(Stand.  Ed.)}) 
The  Biographical  Edition  of  W.  M.  Thackeray*s  complete  Works. 

Each  volume  includes  a  memotr  in  the  form  of  an  introduction 

hy  Mrs.  Bichmond  Bitchie,   In  thirteen  volumes.  London, 

Smith,  Eider  <£•  Co.,  1898-1899. 
Sultan    Stork    and   other   stories    and    sketches    hy    W.  M. 

Thackeray  (1829—1844)  Note  first  collected  to  which  is  added: 
The  Bibliography  of  Thackeray  [by  Bich.  Heime  ShepherdJ.  Be- 

vised  and  considerably  enlarged.  (Früher  selbständig.  London. 

1881.)  London,  George  Bedway,  1887. 
Stray  Papers  hy  W.  M.  Thackeray.    Ed.  mth  an  Introd.  and  Notes. 

By  Lewis  Melville.  London,  Hutchinson  d'  Co.,  1901. 
M.  H.  Spielmann,   The  hitherto   unidentified  contrihutions  of  W.  M. 

Thackeray   to  ''Funch'\     With  a  complete   and   authoritative 

Bibliography  from  1843—1848.  Ijondon  and  New- York,  Harper  dt 

Brothers,  1899. 
Charles  Plu mp Ire  Johnson,  The  Early  Writings  of  W.  M.  Thackeray, 

London,  1888,  ursprüngl.  in  The  Athenäum,  1887;  I,  II:  Notes 

and  Queries  for  a  Bibliography  of  W.  M.  Thackeray. 
Critical  Papers  in  Literatur  by  W.  M.  Thackeray.  London,  Mac- 

millan  dt  Co.,  1904. 
Early  and  Late  Papers.   Hitherto  uncollected.  By  W.  M.  Thackeray. 

Boston,  1867. 
A  Collection  of  Letters  of  W.  M.  Thackeray  1847—1855,   With  an 

Introd.  of  Mrs.  Jane  Octavia  Brookfield,   London,   Smitli, 

Eider  dt  Co.,  1887  (Brookfield  Letters). 
Thackeray*s  Letters  io  an  American  Family.   With  an  Introd. 

by  Lucy  W.  Baxter.  London,  Smith,  Eider  i^  Co.,  1904. 
The  unpublishcd  Letters  of  Thackeray.    The  Athefiteum,  1887; 

I,  II.    London. 
Brief  an  Lew  es  (London,  April  28,  1855)    in  The  Life  of  Goethe  by 

G,  H.  Laves.  2.  Aufl.  Leipzig,  l?r>4.  Bd.  II,  p.  324-327. 

Melville,  Lewcs,  Tlie  Life  of  William  M.  Thackeray.  2  vols.  London,  1899. 
Darin  The  Bibliography  of  W.  M.  Thackeray  1829-1899. 

1)  Einsolausgabon  eruchcinon  nur  im  Text  genannt. 


IX 

Hennan  Mertvale  and  Frank  T.  Mar eials,  The  Life  of  W.  M, 
Tliockeray.  I^ndon,  1891. 

A  Trollope,  Thackeray,  in  Engl.  Men  of  Leiters.  London,  1895. 

Taylor  Theodor,  Thackeray  ihe  Hunwurist  and  Man  of  iMters. 
London,  18()4. 

Thackeray ana.  Notes  and  anecdotes.  lUustr.  by  nearly  600  Sketches  by 
K':  M.  Thackeray.  London,  1875. 

Thackeray  in  Weimar,  With  unpublished  Dramngs  by  Thackeray. 
(Deutsch  von  Walter  Yulpius.)  Translated  by  Herbert 
Schurz.  The  Century,  New  York  and  Jjondon,  vol.  4,  III;  New 
Series,  XXI  Nov.  1896  to  Äprü  1897,  p.  920—928. 

H.  Conrad,  AV.  M.  Thackeray,  ein  Pessimist  als  Dichter.  Berlin,  1887. 

Anne  Thackeray  Ritchie,   Cliapters  from  some  Mevioirs  (Tauchnitz). 

The  History  of  ''Punch"  by  M.  H.  Spielmann.  Cassel  d'  Co.,  Limited, 
London,  Paris  and  Melbonme,  1695. 

W.  M.  Thackeray's  Entwicklung  zum  Schriftsteller.  In- 
auguraldissertation von  Emil  Schau b.  Basel,  1901. 

Der  Einfluß  der  deutschen  Literatur  auf  W.  M.  Thackeray. 
Von  E.  M.Werner,  Progr.  der  k.  k.  Staats-Bealschule  in 
Teplitz-Schönau  für  das  Schuljahr  1906  1907. 

Fraser*s  Magazine  for  town  and  country.  18Ö2  ff. 
''Punch''.  1843  ff'. 

Dr.  Ed.  Vehse,  Geschieht«  der  deutschen  Höfe  seit  der  Eefonnation. 

48  Bände.  Hamburg,  Hoff'mann  &  Campe,  1852—1868. 
77«.  B.  Maeaulay,  Essay  ofi  Frederick  the  Great  (Tauchnitz). 
77t.  Campbell,  Frederick  Üie  Great,  his  Court  and  his  Time^  ed.  with  an 

Introd.  hy  Thomas  Campbell,  Esg.  Ixmdon,  1842. 
TU.  Carlyle,  The  History  of  Fredenck  the  Great.  London,  1888. 
R.  Koser,  Friedrich  der  Große.  Stuttgart,  1903. 
W.  Wiegan d,  Friedrich  der  Große   im  Urteil   der  Nachwelt.    StraÜ- 

burg,  1888. 


Inhalt. 


Seite 

Vorwort VII 

Literatur VIII 

Thackerays  Aufenthalt  in  Deutschland  1890/31 1 

Thackerays  Verhältnis  zur  deutschen  Literatur D 

Thackerays  Verhältnis  zur  deutschen  Tonkunst B<.) 

Thackeray  und  die  bildende  Kunst  der  Deutschen 33 

Deutsche  Geschichte 34 

Friedrich  der  Große 4(5 

Am  Rhein 59 

Pumpernickel  und  Kalbsbraten 66 

Varia 73 

Schlußwort 78 


Thackerays  Aufenthalt  in  Deutschland 
18301831. 

Als  der  kaum  zwanzig  ährige  Thackeray  1830  nach 
dem  Kontinent  kam^  war  von  literarischen  Absichten  seiner- 
seits kaum  die  Rede;  erst  in  Dentschland  tauchen  gelegent- 
lich Pläne  auf.  Eine  andere  Kunst  hielt  ihn  damals  gefangen, 
Zeichner,  Maler  wollte  er  werden.  Und  zumeist  waren  es 
Karikaturen,  die  er  flüchtig  hinwarf,  in  die  Weimarer 
Albums  zeichnete:  Der  Satiriker  w^ar  bereits  erwacht,  aber 
er  war  erst  Satiriker  mit  dem  Zeichenstift. 

Daneben  beschäftigen  ihn  gelegentlich  —  er  ist  bereits 
in  Deutschland  —  literarische  Pläne,  die  freilich  nie  zur 
Ausftihning  gelangt  sind:  Eine  Schill  er  Übersetzung,  über 
die,  wie  über  einen  gleichen  Plan  bezüglich  Kömers,  noch 
später  zu  sprechen  Gelegenheit  sein  wird,  und  ein  Skizzen- 
buch  über  die  „weniger  bekannten  Gegenden 
Deutschlands",  das  er  bei  dem  Plane  einer  Fußtom* 
durch  den  Harz  imd  die  sächsische  Schweiz  erwähnt: 

"TA^  peopie  of  Gemiaiuf  are  not  knotim  in  England,  and 
Ü*€  more  I  kam  of  them,  ihe  rnore  intercsiing  tht-y  appeur  io 
me  —  customes  and  cosiumes,  and  National  songs,  stoneSf  rf'c, 
fvith  which  the  country  abounds,  and  tvhich  I  should  he  glad 
io  knoic,  and  (he  British  Puhlic  also,  I  think/'^) 

Die  geplante  zusammenhängende  Schilderung  deutscher 
Sitten  und  Zustände  in  einem  „Deutschen  Skizzen- 
buch^,  wie  er  uns  ein  *'/mA-"  und  ein  ** Paris  Sketch- Book*' 
gegeben  hat,  ist  uns  Thackeray  freilich  schuldig  geblieben, 

tAber  die  Eindrücke  jener  Reise  waren  mächtig  genug,  um 
1)  Briefstelle  zitiert  bei  Merivak,  a.  a.  O.  p.  84.  Thackeray«  Brief- 
wechsel ist  mit  Ausnahme  der  Brookfi^ld-Letiers  und  der  "IjetUra  to 
an  American  F(xmütf"  unveröffentlicht.  Die  wenigen  firagmentarischeti 
Zitate  in  den  Einleitungen  der  " Biographical  Eä,''  oder  bei  Merivak  u,  a. 
bieten  nur  schwachen  Ersatz. 
Frif«ii.  Deutsche  KulturverlillUiiisfie.  1 


—     2     — 


in  späteren  Werken  ziun  Durchbruch  zu  kommen.  Ihnen 
verdanken  wir  vor  allem  die  köstlichen  Schilderungen  von 
^ Ptitnpemiekel'*  imd  ^^ Kalbsbraten'^  in  den  "FUseboodh  Paper s** 
lind  in  **Fawt7y  Fair*\ 

Thackeray  wendet  sich  zunächst  an  den  Rhein  und  be- 
grünt seine  Tour  wne  alle  reisenden  Engländer  mit  Godes- 
berg,  damals  ein  armseliges  Nest  mit  zwei  Wirtshäusern 
und  einem  verfallenen  Turme,  Hier  bleibt  er  einen  vollen 
Monat,  ver\'ollatändigt  sein  Deutsch,  das  er  unter  Leitung 
eines  Herrn  Troppeneger  daheim  gelernt  hat^  macht 
wohl  Ausflüge  rheinaufwärt^  und  treibt  sich  namenthch 
auch  in  dem  nahen  Bonn  herum,  wo  er  auch  mit  studenti- 
schen Kreisen  in  Berührimg  kommt;  seine  Briefe  berichten 
von  Mensuren,  die  er  mitangesehen,  auch  eine  Zeichnung 
einer  solchen  legt  er  bei.') 

Der  Rhein  übt  eine  tiefe  Wirkung  auf  den  jungen 
Thackeray  aus,  die  Eindrücke  seiner  Rheinreisen  hat  er  nicht 
einmal  beschrieben.  Von  Koblenz  schreibt  er  heim  von  den 
NatnrschÖnheiten  des  Rheins  als  "almosi  equal  io  the  Thames'* 
und  die  Leute,  die  er  sieht,  bieten  ihm  gute  Modelle  fiir 
seine  zeichnerischen  Studien.^) 

Besser  unterrichtet  als  über  den  ersten  Teil  der  Reise 
sind  wir  über  den  weiteren  Aufenthalt  Thackerays  in  Deutsch- 
land, über  seinen  Aufenthalt  in  Weimar,  Sein  Brief  an  Lewes 
gibt  tms  genauere  Aufschlüsse  über  jene  Tage,  namentlich 
über  die  Zusammenkunft  mit  Goethe. 

Die  Ankunft  Thackerays  in  Weimar  dürfte  Ende  Augiist 
oder  Anfang  September  1830  fallen»  Von  Gotha  kommend 
fand  er  hier  einen  Studienfreund  vor,  W,  C,  Lettson,  wie  er 
selbst  Trinitif'Man  in  Cambridge,  dermalen  dem  englischen 
Gesandten  in  Weimar  attackiert,  imd  genoß  mit  diesem  und 
einem  andern  jungen  Engländer,  Dr.  Norman  McLeod,  ge- 
nauere  Einführung  iu  die  deutsche  Sprache  und  Literatur 
bei  Dr.  W e  i  ß  e  n b  o  r n»*) 


>)  Bio^r,  Ed,,  vol.  I,  p.  XX  reproduziert  die  Zeichnung;  dieselbe 
auch  in  '*Thachraitana*\ 

*)  Biofff.  EeLf  vol.  I,  p.  XVUI  Brief  an  seine  Matter  vom 
8L  Juli  1890.  Dem  Briefe  liegt  eine  Zeichnung  des  "Castled  Crag  of 
DrachcnfM-   bei. 

8)  Vgl.  Boundaboui  Fapers,  De  ßnibus,  XXn,  p.  225. 


—     3     — 


Die  Gasttreundsehaft  des  GroÜberzogs  und  der  (TroU- 
herzogin')  fiihrte  eine  ganze  l^^char  junger  Engländer  nach 
Weimar,  "the  friendJp  Utile  Saxon  eapital'*,  und  auch  Tha- 
ckeray  war  bald  heimisch  in  dem  Kreise^  der  sich  am  Hofe 
yersammelte ;  zu  den  Hofdiners^  Bällen  und  Gesellschaften 
bei  Hofe  erhielten  die  jungen  Leute  immer  Einladungen, 
die  ihnen  der  Hofmarscball  von  Spiegel,  dessen  zwei 
reizende  Töchter  nicht  zuletzt  einen  Anziehungspunkt 
bildeten,  verschaffen  mußte. 

Zweimal  wöchentlich  waren  kleinere  GeseUschaften,  Tee 
und  für  die  älteren  Herrschaften  Karten ;  man  begann  nm 
sieben  Uhr,  um  halb  zehn  war  Schluß ;  nm  diese  Zeit  ging 
man  in  Weimar  zu  Bett,  Wer  von  den  jungen  Engländera 
ein  Recht  dazu  hatte,  erschien  in  Uniform  und  so  schreibt 
auch  Thackeray  heim  um  eine  **coni€ity  in  Sir  John  Knmcwmff^ 
tf€Ofnanry'\  um  bei  Hofe  in  ^^yeommiry  dress'*  statt  wie  bisher 
in  "hlack  bre€ches'\  *'a  black  coat,  hlack  waisicoat,  tf^  eocJced  hat, 
hoking  someihing  like  a  cross  between  a  fooiman  and  a  Me* 
thodisi  parsön\^)  erscheinen  zu  können. 

Der  Ton  bei  Hofe  war  ^^exceedingly  frimdhf,  mmpie,  and 
polished'\^}  Die  Großherzogin  tauschte  Bücher  mit  den  jungen 
Leuten,  die  sie  gern  ins  Gespräch  zog,  über  ihr©  literari- 
schen Absichten  und  Anschauungen  ausfragte. 

Einen  Sammelpunkt  tiir  die  Gesellschaft  bildete  natür- 
lich auch  das  Theater,  das  Thackeray  sehr  häiifig  besucht 
zu  haben  scheint,  Goethe  war  zwar  längst  von  der  Leitung 
zurückgetreten,  aber  die  alten  Traditionen  wirkten  fort,  und 
wenn  auch  nicht  mehr  die  hervorragenden  Kräfte  der  Glanz- 
zeit tätig  waren,  so  war  doch  die  Leitung  eine  musterhafte 
und  die  Schauspieler  selbst  '*men  of  letters  and  gmtletnetr\^) 
die  in  freundlichem  Verkehr  mit  dem  Adel  standen,  über- 
dies gaben  die  hervorragendsten  Schauspieler  aus  allen 
Gtogenden  Deutschlands  Gastrollen: 

4)  Karl  Friedrich,  vermählt  mit  der  russiacheti  Großfürstin 
Marie, 

^)  Biogr,  Ed.,  voL  1,  p.  XIX. 

'')  So  im  Briefe  an  Letres  (1855):  etwas  anders  denkt  der  junge 
Thackeray:  *'and  Uiouffh  (he  Court  ü  ahmrdUj  ceremoniomf  l  ihink  Ü 
tüill  n*hh  off  a  littk  of  tlw  rmt  whidi  school  and  colleffe  have  given  me*' 
(Brief  vom  29.  Sept.  1830),  Bio^r,  Ed.,  vo].  I,  p.  XVÜl, 

*)  Brief  an  Leioe«, 

1* 


J 


"In  ihat  winter  I  remefnber  we  had  Ludwig  Demwü  m 
IShylock,   Hamlet,   FaUtaff  and  the  Bohbers;^)  and  the  heauiiful 

{Schröder  in  Fidelio'^J) 

In  Begleitung  eines  Weimarer  Schauspielers  kam  Tha- 
ckeray  nach  Erfurt  zu  einer  Raube  rauf  fülirung^  "a  plap 
tvhich  is  a  Utile  ioo  patriöiic  and  free  Jor  mir  Court  Theaire^^) 
machte  unter  der  Führung  desselben  einen  Blick  hinter  die 
Kulissen  und  wurde  bei  dieser  Gelegenheit  auch  Devrient, 
'Hhe  Kean  of  Gcrtnany'  vorgestellt. 

**fli>  grecd  characier  is  Frans  Moor  in  the  'Robhers'  and 
I  ihink  I  never  saw  ani/ihing  so  ierrihle.  There  is  a  prai/  which 
Fram  makes  white  his  Castle  is  being  attacked,  which  has  the 
inost  aw/ul  effect  which  can  well  be  fancied:  '/  am  no  common 
murderer,  mein  Herr  Gott\"*)  —  Dem  Briefe  liegt  eine  Zeich- 
nung, Franz  De\rrient  in  dieser  Szene  darstellend,  bei.**) 

Auch  die  Oper  in  "Weimar  war  nicht  schlecht.  Das 
Orchester  stand  unter  der  ausgezeichneten  Leitung  Hum- 
raels,  wenn  auch  die  Sänger  nicht  die  allerersten  waren. 
Thackeray  sah  „Medea*^,  **Barber  of  Sevilla",  „II 
flauto  magico"  und,  wie  erwähnt,  „Fidelio**, 

Auch  außerhalb  des  Hofes  fand  der  junge  Engländer 
freundlichste  Aufiiahme  und  war  bald  mit  der  ganzen 
(lesellschaft  der  kleinen  Stadt  bekannt.  Man  traf  sich  fast 
täglich,  die  Damen  vom  Hofe  hatten  ihren  „Abend"  und 
Thackeray  meint,  er  hätte  sicher  das  beste  Deutsch  er- 
lernen können,  wenn  nicht  die  jimgen  Damen  alle  so  gut 
englisch  gesprochen  hätten,'*)  oder,  wie  er  andei-swo')  be- 
merkt, wenn  nicht  so  viel  französisch  gesprochen  worden  wäre. 

Seine  geseUschaftUche  Stellung  ftihrte  ihn  auch  in  das 
Haus  öoethes.  Dieser  lebte  zwar  zurückgezogen  in  seinen 
Privatgemächem,  zu  denen  nur  privilegierte  Personen  Zu- 
tritt hatten.  Aber  an  dem  Teetische  der  Schwiegertochter 
Goethes,  0 1 1  i  Ü  e,  war  Thackeray  ein  gern  gesehener  Gast, 
eingeführt    durch   seinen  Freund   Letfson,    Den  Engländern 

*)  Die  Räuber  mit  Devrient  als  Franz   sah  Thackeray  allerdings 
in  Erfurt,  nicht  in  Weimar;   vgL  die  folgende  Stelle. 
*)  Brief  an  Lcwes. 

8)  Biogr.  £d.,  voL  I,  p.  XXI  (Brief  an  seine  MutterV 
*l  Bi^gr,  Ed,,  vol.  I,  p.  XXI  f,  (Brief,  Jan.  38.,  1881). 
6)  Eeprod.  Biogr,  Ed.,  vol.  I,  p.  XXII. 
«)  Brief  an  Lcwes.  —  ^)  Merivak,  a.  a.  O.  p.  80. 


—    5    — 


standen  damals  alle  Türen  in  Weimar  offeu^  besonders  aber 
hier,  nannte  sich  doch  Ottilie  von  Groethe  "the  British  consul 
ai  Weimar*\^)  Sie  nahm  anch  Thackc^ray  sofort  unter  ihre 
Obhut  und  sein  Zeichen-  und  Karikiertalent  machte  ihn 
bald  zum  Liebling  des  Kreises.  Den  Kindern  zulieb  zeichnete 
er,  wie  es  die  Laune  ihm  eingab,  Karikaturen,  deren  einige 
sogar  in  Goethes  Hände  gelangten.*)  Er  karikierte  sich 
selbst,  wie  Frau  von  Gustedt,  die  als  Jenny  von  Pappen- 
heim eine  Freundin  Ottiliens  war,  in  ihren  Memoiren  be- 
richtet und  in  Weimarer  Albums  mögen  wohl  auch  sonst 
noch  manche  Karikaturen  von  seiner  Hand  zu  finden  sein.^) 
Sechs  solcher  Zeichnungen  sind  mit  der  bereits  erwähnten 
Übersetzung  des  Aufsatzes  von  Vulpius  von  Herbert 
Schurz  in  **The  Centuri/"  (vol.  LIU)  reproduziert..*) 

**To  his  Britanmc  j  Majesiy's  j  Consul  in  Weimur  j  These 
drawings  j  of  his  Briiannic  Mqjesiy's  j  Subjecis  /  are  dedicattd  / 
%  /  An  IndividuaL  j  Thackeray.*' 

So  lautet  die  Widmung,  die  unter  einer  Karikatur  des 
britischen  Wappens  steht;  an  wen  sie  gerichtet,  ist  ganz 
klar,  Ottilie  von  Goethe,  von  deren  Hand  aucli  der  Name 
Thackerays  unter  dieser  scherzhaften  Widmung  stammt. 
Näher  auf  die  nicht  besonders  hoch  anzuschlagenden  Zeich- 
nungen einzugehen,  hat  keinen  Wert,  Wichtiger  ist  eine 
andere  Zeichnung  Thackerays  aus  jenen  Tagen,  eine  Skizze 
von  Goethe,  die  er  aus  dem  Kopfe  zu  zeichnen  versuchte. 
Diese  Skizze  diente  als  Modell  ftir  Daniel  MacHse's  (pseud. 
Alfred  Croquis)  Porträt  Goethes,  das  1832  in  Fräsers 
Magazine  erschien,  von  Carlt/Ie  damals  besonders  gerüliiict, 
ein  urteil,  das  dieser  später  stark  reduzierte.*) 

^H  1)  Schurz -Vulpius,  Thackeraij  in  Weimar,  The  Centurtf,  voL  LUI, 

^■^  ')  Vgl.  Goethes   Tagebücher   1829- 18»),  8.  Oktober  1830, 

I  W,.A.,  m,  12. 

I  ■)  Biogr,  Ed.  gleichwie  Thackerayana   bringt   eiue  ganze  Anzahl 

I  Zeichntijigen  aus  der  Weimarer  Zeit,  in  Brieten  heimgeschickt,   wie 

■  die  bereits  erwähnten^  alle  jedoch  von  fast  gar  keiner  Bedeutung. 

I  *)  Thackeraii  in  Weimar,  /  With  unpublished  Brawinys  by  lliaekeruy, 

I  (Prinied  by  permission  of  Smith,  Elder  ^  Co.} 

I  ^)  VgL  CarltjU's  MtscrUanies,  voU  III,  p.  93.  —  Vgl.  auch  Franz 

I  Zarnke,  Zu  den  Goethe-Bildnissen,  AUgem. Zeitung,  Nr.  263,  266  if., 

^t^  und  Goethe-Jahrbuch,  VII,  p.  397,    Zamke  sieht  in  Madiges  Bild  nur 


Die  ünterhaltmig  lun  Teetisch  ÜttiUens  war  recht  an- 
regend;  man  las  Französisch,  Englisch,  Deutsch;  Musik 
fehlte  natürlich  nicht*  Auch  eine  Manuskriptzeitschrift  ging 
aus  diesem  Kreise  hervor,  das  „C  h  a  o  s'^,  zu  der  Goethe 
selbst  einige  mit  einem  Stern  gezeichnete  Gedichte  bei- 
steuerte.  ^)  Zwei  Beiträge  in  dieser  Zeitschrift  rühren  sicher 
von  Thackeray  her,  zum  mindesten  sind  sie  beide  in  der- 
selben Handschrift  geschrieben,  wie  die  bereits  erwähnte 
Widmung  der  Karikaturen.  Der  erste,  ohne  Titel  und  Autor- 
namen, scheint  ein  Originalbeitrag  zu  sein,  ein  Trinklied  ;  der 
zweite,  eine  Übersetzung  aus  dem  Deutschen,  wie  überhaupt 
Übersetzungen  in  großer  Zahl  vertreten  waren^  ist  gezeichnet 
^Rosa'^  mit  der  Überschrift  ''Translated  frotn  Faust";  es  ist 
das  Lied  Mephistos  vom  Floh  des  Königs  in  der  Szene  in 
Auerbachs  Keller, 

Und  endlich  sollte  Thackeray  den  Gewaltigen  auch 
persönhch  kennen  lernen,  Hören  wir  ihn  selbst;^) 

**0/  course  I  rememher  very  well  the  periurbation  of  spirit 
imth  tvhick,  as  a  kui  of  nineteet},  I  reeeivcd  ihe  long  expected 
intimation  thai  the  Hetr  Geheimrath  would  see  nie  on  such  a 
mormmj.  Tbis  noittble  aiidience  took  place  in  a  liiih  antechamber 
of  his  privat  upartments  covered  all  round  tvith  antupic  casts 
and  bas-reliefs.  He  was  habited  in  a  lofig  grmj  or  droh  rcdingot 
with  a  white  neckcloth  and  a  red  ribbon  in  his  buitonhole.  He 
kept  his  hands  behind  hts  back  just  oä  in  Rauch's  Statuette, 
His  comphxion  was  very  bright,  clear  and  rostj.  His  eyes  extra- 
ordinär ily  darkt^)  piercing  and  brilliant,  I  feit  qmte  afraid 
before  them,  .  .  .  I  fancied  Goethe  must  have  been  still  more 
handsome  as  an  old  man,  than  evefi  in  the  days  of  his  youth, 
His  roiee  was  very  rieh  and  sweet.  He  ask^d  me  questions 
aboat  mysel/]  which  I  answered  as  best  I  couhL  I  recollecl  I 
was  at  first  astonished  and  then  somewhat  relieved^  what  I 
found  he  spoke  French  with  not  a  good  accmt'* 

Das  Datimi   dieser  Zusammenkunft  gibt  Thackeray  in 

eine  mitSlungene  Kopie  nach  Stiel  er,  ^'Thaekerayana*'  bringt  nebst 
anderen  Skizzen  Tbackerays  auch  diese  strittige  Zeichnung,  p.  lOö; 
ebenso  BioQr.  Ed. 

1)  Vgl  W.-A.,  UI,  13,  Agenda,  p,  268,  271  ü\  —  «)  Brief  an  Lewes. 

h  Dazn  bemerkt  Lewes:  *^This  must  have  been  ihe  effect  of  the 
Position  in  which  Jie  sat  with  retard  to  the  light  Goe1he*B  eye»  were  dark 
brotvn,  but  not  very  darkJ* 


i 


^     7     — 


dem  Briefe  nicht  an,  er  setzt  die  Begegnung  nur  m  das 
Jahr  183L  Dagegen  lautet  ein  Brief  an  seine  Mutter  vom 
20.  Oktober  1830:  ''I  saw  for  Üie  first  iime  old  Goethe  to-day; 
he  trcis  verif  kind  and  receivcd  me  in  rather  a  morc  distingue 
manvvr  ihan  he  hus  uscd  the  other  Englishmm  here;  ihe  old 
man  gives  accasimmlly  a  iea-party,  to  which  the  English  and 
8ome  special  famurites  in  the  town  are  inviied;  he  sent  me  a 
sumnwns  this  moming  to  come  to  kirn  at  12*  I  sai  with  him  for 
half  an  haur,  and  imk  my  ieave  ou  ihe  arriiml  of  .  .  ."*) 

Merivale  ist  nun  geneigt,  auf  Grund  dieser  beiden 
Briefe  ein  melirmaliges  persönliches  Zusammentreffen  Tha- 
ckera^^s  mit  Goethe  anzunelimen.-)  Dem  widerspricht  aber 
die  ausdrückliche  Erklärung  Thackerays  im  Brief  an  Lewes, 
er  habe  Goethe  nur  dreimal  gesehen:  1.  Im  Garten  seines 
Hauses  auf  dem  Frauenplan  spazierend:  2.  an  einem  sen- 
gen Tage  mit  seiner  kleinen  Enkelin  auf  dem  Wege  zu 
inem  Wagen;  8.  bei  der  besprochenen  Zusammenkunft. 
Was  die  Tatsachen  betrifft,  steht  der  Brief  vom  20.  Okto- 
ber 1830  zum  mindesten  in  keinem  Widerspruche  mit  dem 
an  Lewes.  Es  liegt  also  nahe,  eher  einen  Iirtum  im  Brief 
an  Lewes  zumal  bei  der  ungenauen  Zeitbestimmung,  als 
ein  mehrmaliges  persönliches  Zusammentreffen  und  als 
Datum  den  20,  Oktober  1830  anzunehmen,  Goethes  Tage- 
bücher verzeichnen  Thackerays  Namen  nicht. 

Dem  mächtigen  Einflüsse  Goethes  und  überhaupt  des 
Geistes  der  eben  erst  abgelaufenen  Blüte-Epoche,  deren 
letzter  Repräsentant  Goethe  war^  gal)  sich  Thackeray  ganz 
hin.  Namentlich  Schiller  hatte  es  ihm  angetan,  der  ihm 
schon  in  Bonn  —  vielleicht  noch  früher  daheim  —  näher 
gekommen  war.  In  Bonn  ersteht  er  Schillers  Werke  in  acht- 
zehn Bänden.  Noch  näher  kam  er  seinem  Lieblinge  natüi*- 
lieh  in  Weimar  selbst.  Hier  kommt  er  in  den  Besitz  eines 
Antogramraes  und  des  Degens  Schillers.  Er  bedauert  nur, 
eu  spät  gekommen  zu  sein: 

**It  vm$l  have  bem  a  fitte  sufht  twmitj  genrs  ngo,  this 
Httle  Court  with  Goethe  and  Schilhr  and  Wieland  and  the  old 
Grand  Duke  and  Duchess  to  ornament  i//'*) 

>)  ''The  Aihenaeum'\  1887,  Jan.  15,,  p.  96f. 
*)  Merioale,  a.  n«  O,  p,  80. 
3)  Merivale,  a,  a,  0.  p.  83. 


8    — 


Und  noch  ein  anderer  Eindruck  kommt  hinzu,  der  viel- 
leicht nicht  von  minderer  Wichtigkeit  ist:  ein  Kapitel  aus 
dem  Liebegleben  Thackerays,  wenn  nicht  das  ei'ste.  M  ^o 
rloch  eines  der  ersten  hat  sieh  in  Weimar  abgesj^ielt.  Diesen 
Eiinneiiingen  verdanken  wir  einen  Teil  der  Fitzhoodh  Con~ 
fe^sions,  neben  ein  paar  Briefstellen  die  Hauptr|iielle  für 
diese  Erlebnisse,  bei  der  starken  Selbstironie  und  Selbst- 
verspottung freilich  eine  recht  trübe  Quelle.  Ob  Thackeray  — 
ganz  abgesehen  von  seiner  unglücklichen  Liebe  zu  der  Ge- 
mahlin des  Prinzen  Karl  von  Preußen,  einer  Prinzessin  von 
Weimar,  die  er  mit  recht  pathetischen  Worten  schmückt,  von 
einer  Leidenschaft  schreibend,  die  er  überwinden  müsse,  daÖ 
sie  ihn  nicht  zu  einem  vorzeitigen  Ende  bringe,  um  im 
selben  Briefe  von  recht  unterhalt  liehen  Personen,  ''Miss  A." 
und  "Miss  B,*\  den  ^^evening-belles"  zu  aprecheu')  —  eine 
tief  gehende  Neigung  gefaßt  hat,  ist  schwer  festzustellen. 
Es  dürfte  aber  doch  nicht  viel  mehr  als  ein  oder  vielleicht 
ein  paar  vorübergehende  Anfälle  gewesen  sein,  die  er  frei- 
lich damals  noch  recht  tragisch  nahm.  Wenigstens  die  Briefe 
an  seine  Mutter  lassen  liie  und  da  etwas  derartiges  ver- 
muten. Beginnt  er  doch  eine  ^'rapturous  ode  &n  the  innumerahle 
heauiies  and  perfeciions  of  a  ceriain  Mademoiselle  de  ♦ .  /',  bei 
der  er  freilich  dui*ch  einen  Offizier  der  Garde*  Erbe  von 
Zehntausend  im  Jahr  und  glücklicher  Besitzer  von  ''seiwral 
ivaistcoüfs  of  the  mosi  magnificent  paitem*\  gar  bald  aus- 
gestochen wurde.  Voll  Pathos  schließt  er  seinen  Brief:  "27ie 
ßame  has  gone  out  and  uow  I  scareely  know,  what  has  beconie 
of  the  cindersr^)  Und  ein  anderes  Mal  schreibt  er  ein  paar 
SchDIersche  Verse  heim,  seinen  Seelenzustand  zu  schildern : 

**Thü  World  is  empty, 
Thia  heart  is  dead, 
lis  hapes  and  iis  a»hes 
For  ever  are  fled"^) 


*)  Abgesehen  von  Erlebnissen  daheim,  ist  sicher  auch  "Mim 
Löwe-*  in  den  Fitiboodle-Papers  nicht  ohne  stÄrken  autobiographist^hen 
Einschlag  und  wohl  mit  ziemlicher  Bestimmtheit  auf  eiii  uns  ü-eilich 
nicht  weiter  bekanntes  Bonner  Erlebnis  xurüekzuführen. 

^)  ßiogr.  Ed.,  vol  I,  p.  XXII. 

8)  Ebenda  p,  XXII  t\ 

*)  Merivale^  p.  82.  Die  betreffende  Stelle  ist  aus  Theklas  Lied 
entnommen.  Piccoloniiui^  III^  7. 


9    — 


Freilich,  der  Name  der  Dame  oder  der  Damen,  wenn 
wir  Fitzboodle  glauben,  ist  uns  nicht  bekannt*  Selbst 
Thackera^'^s  Tochter  Mrs.  RHchie,  die  uns  eine  Wieder- 
begegnung schildert,  nennt  nur  den  Vornamen:  Amalia 
von  X,  vereheUchte  Frau  von  7i^) 

Die  Erinnerung  an  Weimar  ist  für  Thackeray  in  den 
späteren  Jahren  außerordentlich  fruchtbar*  In  ^Pumper- 
nickel" und  in  ^Kalbsbraten^  hat  er  seiner  lieben,  kleinen 
sächsischen  Stadt  ein  Denkmal  gesetzt.  Und  wenn  auch 
dabei  der  Satiriker,  der  Spötter  Thackeray,  der  freilich 
sich  selbst  am  wenigsten  schont,  die  Oberhand  hat,  so  ist 
es  nicht  so  böse  gemeint.  Wie  heb  ihm  diese  Erinnerungen 
immer  waren,  zeigt  der  Schluß  des  Briefes  an  Lewes; 

"  Wiih  a  five  and  iweniy  years'  expericncc  since  those  happij 
daifs  of  which  I  wrüe^  and  an  acqtminiance  wiih  an  immeftse 
variettj  of  human  kind^  I  think  I  have  never  seen  a  society 
fnore  simple,  charituble,  courieous  yeniletnunlike  than  tlmi  of 
the  dear  Utile  Sm-on  city,  where  the  good  Schiller  and  the 
yreat  Goethe  lived  atid  Ue  huried'\ 

In  späteren  Jahren  ist  Thackeray  wiederholt  in  Deutsch- 
land gewesen;  aber  wenn  auch  diese  ''trips''  ihm  vieliache 
Anregungen  gaben,  so  zu  den  *'Kickleburys  on  the  Rhine"  ti.  a., 
so  stehen  sie  doch  an  Nacliwirkung  dem  ersten  Aufenthalte 
weit  nach, 

Thackerays  Verhältnis  zur  deutsclien 
Literatur. 

Schon  in  den  einleitenden  Zeilen  war  Gelegenheit,  Tha- 
ckerays Plan  einer  SchiUerübersetzung  zu  erwähnen  imd 
die  EmleituBg  selbst  mußte  der  Beschreibung  von  Thackerays 
Zusammentreffen  mit  Goethe  weiteren  Raum  gewähren.  Das 
Verhältnis  Thackerays  zu  diesen  beiden  größten  deutschen 
Dichtem  ist  nun  das  nächste  Thema  des  vorliegenden 
Abschnittes. 

Von  vornherein  ist  festzustellen:  Schiller  steht  Thackeray 
sympathisch  näher  und  erscheint  ihm  darum  auch  anfangs 
als  der  größere  Dichter.  Die  Gründe  Hegen  in  der  persön- 


Öhd^Un  jYom  some  Memoir«.  Tanchnitz,  p,  132  1S. 


m 


^—     10     — 

.liehen  tmd  auch  wohl  in  der  nationalen  Eigenart  Thackerays. 
Die  freie  Lebensauffassung  des  Lebenskiinstlerö  Goethe  — 
*'a  looseliver**  nennt  ihn  Merivale^  war  ihm  unverständ- 
lich. Schillers  Lebenswandel  aber  war  einwandfrei^  seine 
'^reUgiofi  and  morals  were  unexceptionahle*',^)  selbst  für  den 
j?ittenstren^sten  Engländer^  und  etwas  national -englisches 
Muckertum  mag  —  wenn  auch  unbewußt  —  auch  bei 
Thackeray  mitgespielt  haben. 

Aus  dieser  dem  Menschen &oethe  geltenden  Beurteilung*) 
darf  man  aber  nicht  auf  ein  schiefes  Urteil  über  den  Dichter 
Goethe  schlieilen*  Thackeray  ist  stets  mit  der  größten  Be- 
wunderung an  Goethe  herangetreten,  er  nennt  ihn  in  einem 
Atem  mit  Shakespeare:  "a  genieel  Goethe  or  Shakspeare,  a 
fashionable  worM^spirii" .^)  —  Und  als  er  Pendennis  seinen 
ersten  Roman  '*  Walter  Lorraine*  schreiben  läßt,  nennt  er 
als  Lieblingsautoren  und  Vorbilder  seines  Helden  Byron 
und  Goethe,   dessen  Einfluß  namentlich  deutlich  erscheint: 

**Th€  Byronic  despair,  the  Wertherian  despondmiaj,  the 
mochitKj  hitierfiess  of  Mephistophehs  of  Faust,  were  all  re- 
produccd  and  developed  in  the  character  of  ihe  hero;  for 
our  tjöuth  had  just  heen  learning  the  Gennan  himjuaye,  and 
imitafed  as  ahmst  all  clever  lads  do  his  favourite  poets  and 
ffriters/'*) 

Ganz  entsprechend  findet  sich  hier  die  Annahme  der 
Beeinflussung  durch  WeHhen^)  Pen  befindet  sich  eben  in 
seiner  Weriherperiode,  die  jeder^  der  nicht  geradezu  fisch- 
blütig istj  durchziunachen  hat.  Nm  aus  dieser  Stimmung 
heraus  ist  der  Werther  zu  verstehen  und  zu  beurteilen. 

Man  vergleiche  damit  eine  Äußerung  kaum  zwei  Jahre 


1)  Leslie  Stephen,  The  Life  of  W.  M.  Thackeratj^  Biogr  Ed,, 
Xlll,p.688 — 717  [abgedruckt  aus  dem. Uictionartf  of  Natiotml Biography] , 

^)  Vgl-  iu  den  Letters  to  an  American  Family  [London  1904]  die 
Bemerkung  über  Goethe  und  Ulrike  von  Levetzow:  *^ Goethe ,  the 
old  rogue  tcho  at  75  had  a  deep  peission  for  a  girl  and  was  severehf 
wounded  —  tfie  tßrl  was  sent  back  to  school*'  (Brief  vom  15.  Dez*  1855)  — 
a.  a,  0.  p.  127. 

3)  XVn,  228.  -  *)  IT,  24. 

*)  Daß  der  Werfcher  Thackerays  Interesse  immer  wieder  in  An- 
spruch nahnij  xeigt  eine  Episode^  die  uns  Fielde  encälilt:  Thackeray 
zeichnet  in  Amerika  vor  einer  Torlesong  eine  Illustration  zum  Werther 
{\lT  eine  Dame*  James  Fields,  Yeaterda^  with  AuÜtors,  p.  23. 


1 


p 


früher !  Becky  Sharp  findet  in  Weimar  in  der  besten  Gesell- 
schaft Aufnahme ;  daran,  daß  sie  eine  geschiedene  Frau  ist, 
nimmt  niemand  Anstoß;  wie  kann  es  auch  anders  sein  in 
einem  Lande,  "where  ^Werther*  ist  still  read^  und  the  'Wahl- 
vertvandschafien'    of  Goethe    is    considered    an   edtfijing  moral 

In  Deutschland  noch  immer  gelesen,  in  England  ist 
es  aus  mit  der  Herrschaft  des  Buches,  das  noch  1816  über 
alle  anderen  Werke  Goethes  gestellt  wurde.  ^)  Der  Thackeray 
des  "Vanity  Fair",  der  Thackeray  von  184S,  stellt  sich 
wieder  auf  den  einseitigen  moralischen  Standpunkt,  der 
dem  „Werther '^  einst  in  England  so  viel  Schwierigkeiten 
machte,  sich  durchzusetzen. 

Thackeray  steht  mit  seinem  MißtMlen  an  den  Romanen 
Goethes,  denn  nicht  nur  der  „Werther",  sondern  viel  mehr 
noch  die  „Wahl verwand  Schäften^  erscheinen  in  der 
zitierten  Stelle  genannt,  nicht  ganz  allein;  seine  Meinung 
ist  im  Gegenteile  die  geltende  Meinung  in  England,  der 
sich  sogar  Leute  wie  Wordsworth  nicht  zu  entziehen 
vermochten.®) 

Trotzdem  finden  wir  außer  der  zitierten  Stelle  nirgends 
mehr  eine  so  scharfe  Aburteilung;  und  wo  er  sich  gegen 
den  „Worther"  —  denn  dieser  bildet  fast  ausschlieÜlich 
die  Zielscheibe  seiner  Satire  —  richtet,  ist  es  nicht  der 
Goethesche  Roman,  gegen  den  er  zu  Felde  zieht,  nicht  die 
moralische  oder  unmoralische  Qualität  des  Buches,  sondern 
nur  die  überspannte  Sentimentalität  des  Buches,  die  „Ver- 
stiegenheit'^,  die  er  im  „Werther"  sieht,  mit  allen  ihren 
Folgen  in  Literatur  und  Leben,  kurz  der  Werther-Rummel 
und  nicht  der  Werther. 

So  liest  der  Straßburger  Scharfrichter  unter  Tränen 
den  „Werther";  *'it  was  all  the  rage  in  ihosc  days,  and  my 
frimd  wcbB  only  folhwing  the  fashion."^)  Nur  so  ist  auch  das 


1)  II,  358, 

^)  Ygl  Brau  dl,  Die  Aufbalime  von  Goethes  Jugend  werken^  in 
Englaud.  öoetiie-Jahi'buchT  III,  p,  73. 

^)  ^gl-  Werner,  Der  EinHali  der  deutschen  Literatur  aui 
W.  M.  Thackeray,  Programm  der  k.  k,  Staatä-Heakchule  in  Teplitz- 
Schönau  für  1906/07,  p.  8. 

♦)  Xl\\  The  Story  of  Mmy  Anctl 


keineswegs   bösartig  gemeinte   satirische  Gedicht   **Sorrow8 
of  Werther**  zu  fassen»^) 

Etwas  bagatellisierend  setzt  das  Gedieht  ein:  *' Werther 
had  a  lovefor  Charlotte" ;  die  nicht  mehr  ganz  neue  Phrase  von 
der  „Unaussprechlichkeit'^  der  Liebe  gibt  den  Grad  seiner 
Neigung  an.  Der  nächste  Vers  schlägt  ganz  ins  Banale  um; 
**WouH  you  hww  how  first  he  mei  her?**  Die  Antwort,  gibt 
eine  Szene  aus  dem  -Werther":  sie  schnitt  Bittterbrote. 
Die  zweite  Strophe  konstatiert  ganz  knapp  das  Verhältnis 
zwischen  Lotte  und  Werther:  Lofct^  ist  verheiratet  und 
Werther  ist  ein  moralischer  Mann,  der  —  wieder  mit  recht 
banaler  Übertreibimg  —  nicht  um  alle  Schätze  Indiens  sie 

1)  XXI,  78.  VgL  über  Werther  bei  Thackeray  Werner,  a.  a.  O. 
p-  B  ff.  —  Weruer  bringt  eiue  recht  wertv^olle  Parodie  über  Werther ,  die 
zur  Zeit  Thackera>T*  iiiTauxhall  gesuDgen  wurde.  Das  Lied  findet  sich 
Lu:  Vauxkall  Sangsters,  fortninff  pari  of  Evans* s  Cheap  and  Uniform 
Vocal  Hepository,  Embracmg  all  the  populär  Englüh,  Irüh  and  Scotdi 
Softffs,  sung  at  various  pletces  of  public  amusemmt^  CoUektion  IV,  Id, 
London  T,  Evans,  Long  Laue  West  Smithfield  1831"  und  führt  den 
Titel:  "OA/  Poor  Mr.  Weriher.  A  burlesque  comic  song^  written  fty 
Mr.  Kinney  and  sung  hy  Mr^  Dowton*\  Ich  lasse  es  hier  folgen : 


^WoetVil  was  the  reign 
Ot"  a  famous  flirter, 
That  iinhappy  swain, 
Gentle  Mr.  Werter: 
Fiercely  love  inj^pirM 
Till  it  almost  chok'd  him; 
For  wheii  Cupid  fir'd 
Mijss  Charlotte  smok^d  him. 
Lack  —  a  —  day,  Heighof 
Oh!  poor  Mr.  Werter. 

Said  she,  discreet  and  prirn  — 
Spare  my  Situation, 
Lest  you're  sued  fbr  Criine  — 
In  that  CoQ versa tion. 
Dainages  are  clear: 
Largely  should  they  lay'em: 
Much  it  would,  I  fear, 
•Puzzle  you  to  pay'em. 
Lack  —  a  —  day  etc. 


Daager  he  defied, 

Swore  he'd  ne'er  desert  her; 

Bluahing  ghe  replied  — 

Oh I  fie  -^  Mr.  Werter! 

Says  he  —  you  'U  tum  my  head, 

Teil  me  what  can  save  itV 

Dearest  youth  sbe  Said  — 

Go  to  batli  and  skave  it. 

Lack  —  a  —  day  etc. 

Tben  without  movB  luss, 
He  to  drive  his  pains  out^ 
With  a  blunderbussj 
Goes  and  blows  his  bndns  out: 
Soou  his  case  they  prove, 
Future  shanie  to  curtain, 
SLnce  he  died  for  love, 
Lunacy  for  certain  — 
Lack  —  a  —  dav  etc.** 


Thackeray,  zur  Zeit  ein  eifriger  Besucher  TonVaiixhall,  hat  die 
Parodie  sicher  gekannt  und  ist  auch  von  ihr  nicht  unbeeinflußt.  Näherea 
siehe  Werner,  a.  a,  O.  p.  10. 


—     13    — 

je  verletzen  möchte.  Dann  die  Katastrophe,  ganz  la-aß,  mii^ 
die  Tatsachen.  Weither  senfzt  und  häi-mt  sich,  seine  Leiden- 
schaft siedet  und  kocht,  schlieÜhch  schießt  er  sich  sehi 
törichtes  Hirn  aus  und  hat  für  alle  Zeiten  Buh.  Der  Schluß- 
satz ist  zynisch,  die  folgende,  letzte  Strophe  ist  es  nicht 
minder:  Charlotte  sieht  den  Kadaver  des  armen  Teufels  und 

„Like  a  weB  conducted  person 
Went  ou  cutting  bread  and  butter.^ 

Thackeray  setzt  dem  Werther  hier  recht  scharf  zu,  er 
'faßt  ihn,  wo  er  ihm  einen  Angriffspunkt  bietet,  bei  seinem 
sentimentalen  Heroismus,  er  läßt  Lotte  kaltherzig  erscheinen» 
ihre  Hausmütterlichkeifc  ist  bei  ihm  stark  spießbürgerlich 
geworden:  trotzdem  ist  diese,  wenn  scharfe,  so  doch  auch 
gut  gelungene  Satire^)  viel  leichter  zu  verdauen  als  da?* 
ganz  unberechtigte  Urteil  in  **Vanity  Fair'\ 

TJber  den  ^Faosf^  berichtet  zunächst  eine  BriefsteUe 
aus  der  ^Weimarer  Zeit" :  *'I  have  read  'Faust'  with  which, 
of  course,  I  am  delighted,  bot  not  to  that  degree  I  expected'^*) 
Worin  ihn  „Faust**  enttäuscht  hat,  berichtet  er  nicht.  Jeden- 
falls ist  die  Enttäuschung  dem  damals  vorherrschenden  Ein- 
fluß Schillers  zuzuschreiben  —  vielleicht  waren  es  auch 
einige  moralische  Bedenken,  von  denen  Thackeray  öfters 
heimgesucht  gewesen  zu  sein  scheint.  Eine  Stelle  des  '^Pcpi- 
dmnis*'  könnte  vielleicht  darauf  schließen  lassen:  Pen  will 
keine  *'Faust  and  Margaret  business''  aus  seinem  Verhältnis 
zu  Fanni  machen-^)  Die  übrigen  Stellen  über  ,^Fau3t**,  meist 
nur  Erwähnungen  einzelner  Personen,  Mephistos,  ^des 
Geistes,  der  stets  verneint '^^  Margaretens  u.  s.  f.  sind  ziemlich 
belanglos/J  Zu  seinen  Liebüngsgedichten  hingegen  scheint 
die  ^Zueignung"  zu  gehören,  aus  der  er  wiederholt 
Zitate  bringt  oder  doch  auf  sie  anspielt*): 

„ —  die  Bilder  froher  Tage 
und  manche  Hebe  Schatten  steigen  auf.^ 
V)  Leslie  Stephan,  TheWriHngs  ofThackcfaffySt&u^Ed.XXIV, 
bemerkt  dazu  p.  826:  "That  is  not  iJhe  parody  of  areverent  dinciple;  fmt 
Wertherism  was  of  caurst  dmd  years  htfort  Üiia  and  rtpresmied  a  lang 
past  mood  of  iU  great  ori^nator.  Peoplc  were  begkmmg  to  see  the  ridiculous 
mde  of  Wa-therigm  and  Byronism*' 

^)  Nov.  17,  1880.  The  Athenaeom,  Jan,  15,  1887.  -  »)  IV,  114 
^)  Vgl  Werner,  a.  a.  O.  p.  11  f.  -  »)  XXH,  225. 


± 


Diese  Verse  setzt  er  an  den  Schluß  der  kurzen  Notiz, 
die  er  in  den  "MisceUanies'*  der  ^'Shablnj  Gmieel  Start/'  folgen 
läßt*),  und  das  Vorwort  zu  den  ''MisceUanies''  1857  be* 
schließen  gleichfalls  Verse  aus  der  Zueignung: 


und : 


^Ihr  uaht  Euch  wieder,  ächwankende  Gestalten, 
Die  firüli  sich  eiust  dem  trüben  Blick  gezeigt," 

„Mein  Biisen  fühlt  sich  jugendlich  erschüttert, 
Vom  Zauberhauch,  der  Euren  Zug  imiwittert." 


Was  sich  sonst  von  Goethes  Werken  genatmt  findet, 
ist  wenig  und  ohne  Belang:  ^Egmonf*,  dessen  Verhältnis 
zu  Klärchen  gestreift  wird, ^)  f^D er  Gott  und  die  Baja- 
dere^, die  LieblingsbaOade  Pens; ^)  ein  anderes  Mal  ein  Zitat, 
an  den  Kopf  eines  Kapitels  im  '^Philip'*  gesetzt:  ^Drura 
ist's   so  wohl   mir  in   der  Welt**    aus   Goethes  ^Vanitas! 

V  an  i  tat  lim  vanitas!"  („Ich  hab*  mein  Räch  auf  nichts 
gestellt.*^) 

Wichtiger  ist   nur  noch   eine  Notiz  über  den  „Goetz 

V  o  n  B  e  r  1  i  c h  i  ng e  n''.  Thaekeray  spricht  vom  Einfluü 
Walter  Scotts:  *'hQW  astonishingly  Sir  Walter  Scott  has 
infiumced  tke  world"  und  setzt  in  einer  Fußnote  hinzu:  "Or 
n^re  properl fj  Goethe.  *Goetz  von  BerUchingm'  tcas  the  father 
of  the  Scottish  romances,  and  Scott  remaüied  consiani  to  that 
modef  white  thegreater  artisi  iried  a  thotisand  others/'*)  Goethes 
„Goetz**  erscheint  hier  ganz  richtig  als  der  Vater  des  Ritter- 
und historischen  Romanes  überhaupt. 

Aber  es  bleibt  nicht  allein  bei  gelegenÜichen  Äußerungen 
über  Goethe,  Thaekeray  erfährt  auch  direkte  Beeinflussung. 
Ob  freilich  in  der  Vorrede  zu  ''VanUij  Fair'*  **Befor€  the 
curtain'*  eine  bewußte  Nachahmung  dea  „Vorspiel  auf 
dem  Theater'*  zu  sehen  ist,  wie  Werner*)  will,  erscheint 
mir  trotz  einzelner  Ähnlichkeiten  doch  etwas  fraglich.  Auch 
die  Behauptung  einer  Verwendung  des  F  a  u  s  t  m  o  t  i  v  s  ins 
Humoristische  übersetzt  in  **The  Painter's  Bargain'  im  *' Parts 
Sketch-Book"  ist  wohl  etwas  gewagt.  Die  Geschichte,  die  der 
arme  Teufel  von  Maler  im  Traum  erlebt,  ist  nichts  anderes, 
als  einer  jener  Schwanke,  in  denen  sich  ein  Notleidender  dem 
Teufel  verschreibt  und    ihn  schließlich   doch  noch  betrügt. 

^X,  Advertisement.  —  ^)  IV,  95.  —  «)  VI,  249.  —  *)  XXV,  248. 
6)  A.  a-  0.  p.  12, 


—     15     — 

Auch  die  Übereinstimmuiig  mit  „Faust"  beim  Erscheinen  des 
Teufels  in  Gestalt  einer  Katze  bei  Thackeray  entsprechend 
Goethes  Putlel  beruht  auf  einem  Irrtum  Werners.*) 

Der  Einfluü  des  „Wert  h  er^  auf  das  allerdings  nur  mit 
wenigen  Bemerkungen  charakterisierte  Buch  Vens^*  Leavesfrom 
the  Life-book  of  Walter  Lorraine*'  ist  bereits  erwähnt  worden. 

Unverkennbar  hingegen  und  von  Werner^)  überzeugen- 
der als  die  früher  behaupteten  Beeinflussungen  nachgewiesen 
ist  der  Einüuß  von  ^W  i  1  h  e  1  m  Meisters  L  e  h  r  j  a h  r  e"^ 
auf  den  *'Pendennis*\  den  Roman  Thackerays.  der  die  meisten 
autobiographischen  Elemente  enthält.  Daß  Thackeray 
^Wilhelm  Meister"  kannte  —  möglicherweise  aus  Carlyles 
(Jbei-setzung  (1824)  —  zeigen  einzelne  Elrwähnungen,  so 
Mignons'^)  u.  s.  f.  Die  Übereinstimmungen  sind  ziemlich 
offenkundig:  Efnihf Fotheringay  —  Marianne,  hier  wie  doit 
heimliche  Besuche,  vom  Vater,  hier  der  alten  Barbara 
begünstigt.  Freilich  mag  im  Pendennis  -vielleicht  auch  ein 
eigenes  Erlebnis  zu  Grunde  liegen,  aber  die  Almlichkeit  mit 
Goethes  Marianne  ist  ziemlich  auffäUig.  Nach  dem  Bruche 
des  Verhältnisses  begibt  sich  Wilhelm  auf  eine  größere  Ge- 
schäftsreise, Pen  auf  die  Univei-sität.  Auch  Philine  — 
Blanche  zeigen  Übereinstimmungen  im  Charakter^  gefall- 
süchtige Oberfläehlichkeit,  und  schließHch  beendet  Pen  seine 
„Lehrjahre^  in  der  Ehe  mit  iawra,  wie  Wilhelm  Meister  durch 
die  Ehe  mit  Natalie  den  Weg  zum  werktätigen  Leben 
findet-  Ganz  richtig  hebt  Werner  schließlich  den  dem 
„Wilhelm  Meister"  nachgebildeten  Leitgedanken  des  Pen- 
dennis heraus:  ^Wie  der  begeisterte  Wilhelm,  so  muß  auch  der 
Jugendliebe  Pendennis  allmählich  ein  Ideal  nach  dem  andern 
sinken  sehen,  bis  ihm  die  Ahnung  dämmert,  daß  er  falschen 
Idealen  huldigte  und  bis  er  sich  auf  Grund  dieser  Erkenntnis 
dem  Leben  wiedergibt.'^  Viel  zu  weitgehend  hingegen  er- 
scheint mir  wieder  die  Annahme  einer,  wenn  auch  unbewußten 
Beeinflussmig  durch  ^Tasso",  Pendennis-Warrlnffton  und 
ihr  Verhältnis  beeinflußt  durch  Tasso- Antonio,^) 


*)  Werner,  p,  13  f.,  mißversteht  scheinbar  die  Stelle:  Der  kleine 
Teufel  ('Hiitle  im}/*)^  der  aus  dem  Daumenloch  der  Palette  heraus- 
sprin^,  ist  zuerst  nui'  **little  higger  tttan  a  tadpole",  wird  dann  *^an  big 
ae  a  mousc;  then  he  arrivcd  at  the  ftiie  of  a  cat", 

«)  A.  a.  O.  p,  14  f.  —  3)  XXn,  290,  —  *)  Werner,  a.  a.  0,  p,  15. 


16 


Sympathischer  als  Goethe  ist  Schiller  Thackeray 
immer  gewesen ;  das  zeigen  auch  die  Endzeilen  seines  Briefes 
an  Lewes:  *Hhe  great  Goethe  and  tke  good  Schiller'',  Namenthch 
aber  der  junge  Thackeray  steht  ganz  in  Schilk^rs  Bann. 
Eine  Schillerühersetzung  ist  sein  erster  literarischer  Plan* 
Ob  er  Schiller  —  und  auch  Goethe  —  schon  daheim  kennen 
gelernt  hat,  ist  nicht  sicher  festzustellen ;  vielleicht  hat  ihm 
der  Deutsch -Unterricht,  den  er  ja  in  London  genoß,  die 
Kenntnis  vermittek,  vielleicht  hat  er  schon  daheim,  wie 
sein  Pendennis  "sentimental  ballads  of  Schiller  and  Goethe'' 
in  englische  Verse  umgegossen.  ^)  Sichere  Nachrichten  haben 
wir  erst  aus  Deutschland.  In  Bonn  ersteht  er  eine  achtzehn- 
bändige  Sehillerausgabe  und  in  einem  Briefe  aus  Weimar 
tritt  er  endlich  mit  seinem  Plane  hervor;^) 

"/  have  heett  reading  Shakespeare  in  German:^)  if  I  cotdd 
euer  do  the  same  for  ScÄiHer  in  English,   I  should   he  proud 

af  havmg  eonferred  a  benefii   on  mij  cauntrg, I  do 

believe  kirn  to  he,  aßer  Shakespeare,  'The  Poet'/' 

Ein  anderes  Mal  schreibt  er  die  bereits  zitierten  Schiller- 
scheu  Verse  heim:*) 

**Thig  World  is  empty, 
This  heart  **  dead^ 
lis  hopes  and  its  (uhes 
For  ever  are  fled." 

'*Äs  Schiller  sags  or  rather  is  said  in  an  admirahle  trans- 
lation  of  timt  great  poet  hy  a  rising  young  man  of  the  name 
of  Thackeray:*^) 

Es  ist  bei  dem  Plane  geblieben.  Wie  weit  Thackeray 
mit  seinen  Arbeiten  gekommen  ist  —  denn,  daß  mehr  als 
die  zitierten  Verse,  zum  mindesten  das  ganze  Lied  Theklas 
übersetzt  war,  ist  nach  dem  Briefe  mit  Sicherheit  anzunehmen 
—  ist  nicht  mehr  festzustellen. 

Dem  jungen  Thackeray  erscheint  Schiller  nach  Shakes- 
peare als  "The  Poet",  er  ist  größer  als  Goethe,  In  dieser 
Ansicht  wurde  er  noch  bestärkt  dui'ch  die  in  Weimar  geltende 

J)IH,a42.^»)Merivale,  a.a.O.  p,8L -»)JedeiifaÜÄ  Schlegel- 
Tieck,  — *)Herivale,  a.  a.  O.  p, 82.  —  ^)  Wallenstein,  Piccolo- 
mini  ni,  7  (Theklas  Lied): 

„Das  Herz  ist  gestorbee,  die  Welt  ist  leer 

Und  weiter  gibt  aie  dem  Wunsche  mchts  mehr^^ 


Anschauung,  die  Schiller  gleichfalls  über  Goethe  hob,  der 
den  Felller  hatte,  noch  nicht  tot  zu  sein  (Schiller- 
Shakespear  e ).  Aber  man  vergleiche  eine  spätere  Stelle  aus 
den  vierziger  Jahren:  *'a  genteel  Goethe  or  Shakespeare,  a 
fash ionahle  world-spirit"  (G  o  e  t  h  e  -  S  h  a  k  e  s  p  e  a  r  e).  Das  Bild 
hat  sich  etwas  verschoben.  Der  umfassendere  Goethe  wii*d 
mit  Shakespeare  genannt.  So  unbedingt  scheint  also  Schiller 
nicht  mehr  an  erster  Stelle  zu  stehen. 


Erwähnenswert  ist  eine  Bemerkung  Thackerays  über 
die  „Eäuber*'  in  einem  Brief  aus  Weimar :  Er  begibt  sich 
nach  Erfurt,  um  die  ,,Käuber*'  zu  sehen,  ''aplay  —  which  is  a 
littU  too  pairioiic  and  free  for  our  Court  Theatre'*,  Derselbe 
Jrief  bringt  auch  einige  Einzelheiten  der  Aufführung, 
über  Devrient  als  Moor.^) 

Zu  seinen  Lieblingsdxamen  gehört  vor  allem  der  „Wallen- 
stein"', in  dessen  Lektüre  er  sich  immer  wieder  versenkte»^) 
Mit  Vorliebe  zitiert,  er  aus  Theklas  Lied:  ''Wir  auch  havv 
tasted  das  irdische  Glück :  we  also  have  geliebt  und  —  und  so 
weiter.   WarUe  your  death-song,  sweet  Theklaf'^) 

In  ausführhcher Weise  ist  nur  von  ^Wilhelm  Teil" 
die  Rede*)  mit  Herv^orhebung  der  Freiheitstendenz^  freilich  — 
si  parva  ücet  componere  magnis:  Colmiel  Newcome  soll 
der  Teil  sein,  der  Newcome  von  seinem  Geßler  —  Banies 
Netveome  bei  der  Neuwahl  befreien  soll,  das  ist  die  Idee 
der  Unzxiiriedenen  in  den  '*King*s  Arms".  Die  Geßlerhüte 
alias  Bedientenhüte  Barnes  Newcomes  müssen  fort.  Und  so 
verschwören  sie  sich  *^like  those  three  gentlenwn  in  tke  plags 
and  pictures  of  WiiUam  TeJI^  trho  cotispire  under  the  moon, 
calling  upon  liberty  and  resohing  to  eleci  Teil  a$  iheir  especial 
Champion  —  like  Amofd,  Mekhthaf,  and  Wem^*\ 

So  wie  Thackeray  die  Stelle  anführt,  ist  sie  zum 
mindesten  nach  Schillers  Teil  —  Thackeray  spricht  freilich 
von  "plugs**  —  sachlich  unrichtig,  wenn  auch  die  angeführten 
Personennamen   zunächst    auf  Schiller    weisen:    L  Arnold 


'i  Bioffr.  Ed,  vol.  I,  p.  XXI  f. 

31  Tgl.  Werner^  a.  a,  O,  p.  7. 


h  YEH,  306,  desgleichen  an  vieleu  anderen  Stellen  II,  36ii;  X\' 
248  u.  a. 

*)  VI,  BIS  f. 
Fr  ISA,  Denucbe  EultnrverhlfcHnbse^  2 


—    18 


von  Melchthal  ist  eine  Person.  2.  Die  angedeutete  »Sssene 
ist  Wilhelm  Teil,  I,  4;  in  Walther  Fürsts  Wohnung  treten 
dieser,  Werner,  Stauffacher  und  Arnold  zum  Bunde  gegen 
die  Bedrücker  zusammen;  ^'under  the  mmn'*  bedeutet  wohl 
nur  eine  Verwechslung  mit  der  Rütliszene.  3.  Bei  Schiller 
wird  Teil  nie  zum  Helden  und  Fiüu*er  gewählt» 

Ob  nun  diese  Fehler  einer  schwächeren  Erinnerung 
Thackerays  zuzuschreiben  sind  oder  ob  er  —  was  freilich 
weniger  wahrscheinlich  ist  — ein  anderes  Telldrama  vor  Augen 
hat,  mag  dahingestellt  bleiben.  Auch  sonst  finden  sich  ge- 
legentlich Anspielungen  auf  Teil ;  der  GeÜlerhut  und  die 
Apteischuliszene  * )  etc. 

Schillers  „Glocke**  scheint  die  ''Notes  ofa  week's  holklnif' 
in  den  '^Uoundahout  Papers*'  beeinflnüt  zu  haben:  **The  hells 
go  on  ringing.  Quot  vivos  vocant,  mortuos  plangunt,  fulgura 
frangunt;  so  on  to  the  past  and  tuture  tenses,  and  for  how 
many  nights,  days  and  yeai*s!"  und  im  Sinne  der  Bilder 
der  ^Glocke^  fährt  Thackeray  fort,  Ireiüch  nicht  wie  Schiller 
die  Bedeutung  der  ,, Glocke'*  fiir  die  Momente  des  mensch- 
lichen Lebens  hervorhebend,  sondern  mit  ihrer  Hilfe  histo- 
rische Ereignisse  entwickelnd,-) 

Sonstige  Erwähnungen  Schillers  finden  sich  wohl  noch 
ab  und  zu,  sind  aber  ziemlich  belanglos. 

Es  muß  wundernehmen,  daß,  während  der  junge 
Thackeray  ganz  im  Banne  Schülers  steht,  in  reiferen  Jahren 
das  Interesse  für  Goethe  immer  stäi'ker  wu'd,  ja  scblieÜUch 
das  an  Schiller  geradezu  zurücktreten  läßt.  Aber  weder 
Goethe  noch  Schiller,  deren  Einfluß,  soweit  man  von  einem 
solchen  sprechen  kann^  sich  erst  in  den  reiferen  Werken 
zeigt,  vermochten  Thackerays  Finihzeit  eine  Richtung  zu 
geben.  Die  Zeit  seiner  Jugend,  der  beginnenden  schiift- 
stellerischen  Laufbahn  steht  im  Zeichen  eines  andern 
Namens:  E.  T.  A,  Hoffmann.^) 

Thackerays  Anfänge  sind  verbunden  mit  einer  Zeit- 
schrift, an  der  sein  Stiefvater  und  auch  er  finanziell  beteiligt 
waren,  dem  "Natiatial  Standard  and  Journal  of  Ltteraiure, 
Science,  Music,  Theairical,  and  thefine  Arts'\  1833,  später  ''Na- 
tional Standard  mid  Likrary  Represeniative'\  1834.  In  ersterem 

iyXXÜ,  140. 

«)  Vgl  Werner,  R.a.0.p,a—  «0  VgL  Weruer,  b.  a.  0.  p.  16  tr 


erschien  unter  Datum  vom  30»  November  und  7.  Dezember  18BH 
unter  clem  Titel  **The  history  of  KrakaUik''  eine  Übersetzung 
von  E.  T.  A,  Hoftmanns  „Märchen  von  der  harten  Nuß^ 
in  „Nußknacker  und  Mausekönig*^  aus  den  ^Sera- 
pionsbrüdern".*)  Unter  Hoffinanns  Einfluß  steht  ferner 
eine  kurze  Erzählung  ''A  Tale  af  Wonder*\  in  derselben 
Zeitschrift  erschienen,'*)  nach  Schaub  auf  einen  franzüsi- 
scben  Stoff*  zurückgehend/^)  Viel  mehr  aber  zeigen  den 
Einfluß  Hoffinanns  die  Vorliebe  für  das  Phantastische,  das 
geheimnisvolle  Schauerliche,  grillenhaft  Ungesunde  neben 
einzelnen  kleineren  Jugend  werken,  wie  etwa  der  "Catherine** 
einzelne  Geschichten  des  *' Paris  Sketch  Book'\  ao  *'The 
Devil's  Wäger'**),  das  ganz  den  krausen  Humor  Hoffinanns 
mit  einem  Einsehlage  ins  Unheimliche  zeigt  oder  die  nach 
Werner  unter  dem  Einfluß  des  Märchens  „Klein  Zaches'* 
stehende  Geschichte  *'Liitle  PoinsiineV\^)  Wenier  geht 
jedoch  etwas  zu  weit;  er  befindet  sich  in  einem  völligen 
Irrtum,  wenn  er  behauptet,  Poinsinet  werde  wie  Klein 
Zaches,  dessen  Mißgestalt  allerdings  auch  Thackerays 
Held  besitzt,  eine  Schönheit  angezaubert.  Klein  Zaches 
erscheint  durch  die  Gabe  der  guten  Fee  allen  Leuten  voll 
Schönheit  und  guter  Eigenschaften.  Bei  Thackeray  hingegen 
ist  es  ein  be\vußtes  Spiel,  das  mit  dem  mißgestalteten  Zwerg 
getrieben  wird  und  auch  die  Aufklanmg  des  Magiers  über 
seine  angebüche  Herkunft  ist  nur  solch  ein  Aufsitzer;  es 
ist  auch  zum  Schluß  nur  von  der  Ei'kenntnis,  zu  der  Poinsinet 
kommt,  die  Rede:  von  einer  Entzauberung  kann  ebenso- 
wenig wie  von  einer  Verzauberung  gesprochen  werden. 
"Liitle Poinsinet''  ist  nur  ein  Seitenstück^  vielleicht  mit  leichtem 
parodistischem  Einklang  zu  „Klein  Zaches",  dessen  phan- 
tastischer Zug  ihm  ganz  fehlt. 

Ganz  richtig  konstatiert  hingegen  Werner  die  überein- 

1)  StTtty  PaperBj  p,  Öl — 61,    bringen  diese  sonst  nicht  wieder  ab- 
edruckten Erzählungen.  Über  die  Übersetzung  vgl.  Werner,  p,  HO. 
?'gl  femer  yotea  and   Qun^es  /or  a  Bibliographif  of  W.  M,  Tlmckermj. 
tks  Athm^Mium  1887,  Jan,  15. 

^  Wieder  abgedruckt  in  Älray  Papers, 

3)  E.  Schaub,   W.  M.  Thackeray«    Entwicklung    zum    Schrifl- 
steiler.  Inauguraldiss.  Basel  1901,  p.  53. 

*)  UrsprüngUeh  im  NaUomU  Simdard,  Kl,  24.  Äug,  1838. 
»)  A.  a.  0.  p.  17  m 

2* 


—    20 


stimmende  Yorliebe  Hoffinanns  wie  Thackerays  für  die 
Schilderung  des  Spielers,  bei  beiden  auf  eigenen  Erleb- 
nissen fußend.^) 

Unter  Einfluß  Hoflftnanns  registriert  Schaub*),  ohne 
Platen  zu  nennen^  auch  die  im  ''National  Standard'*, 
4.  Jänner  1834,  erschienene  Prosaaullösung  —  eine  Spezialität 
Thackerays  in  dieser  Zeit  —  der  Platenachen  Romanze 
,,König  Odo^^:  *'Kin(f  Odo's  Wedding*' ^)  Wie  Werner*) 
nachweist,  benutzte  Thackeray  die  zweite  Fassung  dieser 
1819  entstandenen  Romanze  in  der  Ausgabe  der  „Gedichte 
von  August  Graf  von  Platen-Hallermunde" 
(Leipzig  1B28),  Thackeray  ist  bemüht,  der  Handlung  einen 
geschichtlichen  Hintergrund  zu  gehen,  und  motiviei-t  viel 
ausfülu'licher  als  die  knappe,  rasch  vorwärt^s  drängende 
poetische  Fassung;  er  gibt  der  Handhmg  in  ausführlicher 
Einleitung  die  Vorgeschichte^  die  bei  Platen,  der  uns  in 
medias  res  führt,  fehlt,  und  schiebt  überdies  ein  eigenes 
Stück,  den  Chorgesang  der  Nonnen,  ein.^) 

Was  Thackeray  bewogen  hat  Platens  Gedicht  in  Prosa 
wiederangeben,  wodurch  namentlich  bei  indirekter  Wieder- 
gabe der  Reden  viel  verloren  gehen  mußte,  ist  ebenso 
imklar  wie  in  einem  späteren  Fall,  bei  der  Prosawieder- 
gabe von  Uhlands  „Des  Sängers  Fluch",  ^'National 
Standard',  Fehnmrtj  1,  iSSi^)  Mit  U bland  dürfte  Thackemy 
vielleicht  schon  in  Deutschland  bekannt  geworden  sein; 
sicherlich  aber  ist  George  Moirs  Besprechung  von  Uhlands 
Gedichten  in  der  ''Edinbtmjh  Rmiet€*\  183JSf  auf  Thackerays 
Kenntnis  nicht  ohne  Einfluß  geblieben.'^)  Schon  vor  Thackeray 
hatten  Uhlands  Balladen  in  England  Übersetzer  gefunden, 
so  bringt  Moir  im  x\nschlnß  an  seinen  Artikel  einige  der- 
selben.   Von    „Des   Sängers   Fluch"    existierte,    soviel    mir 


^J  Hoflmaünim  ^^Spielerglück^',  ^Elixiere  des  Teufels*^  u.a., 
Thackeray  in  **The  Memoirs  of  Barry  Lf/ndoHf  E^q.**,  in  **TheI{avemwing", 
in  **Vamty  Fair"',  in  den  '*KickUbury$  on  ihe  Bhim"  u.a. 

«)  a.  a-  0.  p.  64. 

^  Wiederabgedruckt  "Stray  Paper$'\  p.  68, 

^)  Werner,  p.  81  f, 

^)  Näheres  Werner,  p.  SI£. 

<)  Wiederabgedruckt  Siray  Papers,  p.  60. 

^)  Siehe  Werner,  a,  a.  0.  p.  82. 


—    21     — 


liekannt  ist,  keine  Übersetzxiiig  vor  Thackerays  Prosa- 
Übertragung,  *) 

Uhland  nimmt  Thackerays  Interesse  auch  in  der  Folge- 
zeit wiederholt  in  Anspruch.    Davon   zeugen    die  gelegent- 
rlichen  Zitate,  so  der  Vergleich  Boxalls  und  Turtiers  in  den 
►  Worten  Uhlands»  dem  Vergleich^  den  dieser  für  das  Königs- 
paar in  ^Des  Sängers  Fluch"  gebraucht:*) 

,^Der  Turner  furchtbar  prächtig  wie  bhit'fftr  Xordlichischeinj 
Der  ßoj'aU  süß  und  mihh^  als  blickte  VoUmond  drein." 

which  signißes  in  English,  that 

**Ä8  beams  the  moon  so  gentle  near  the  buh,  that  blood^red  Iturntr, 

So  »hineth    William  Boxall  btf  Joseph  Mallord  Turna\*^ 

Ein  anderes  Mal  zitiert  er  die  ersten  zwei  Strophen 
von  ^Schäfers  Sonntagslied"  im  deutschen  Original- 
text anläßlich  der  Besprechung  von  Edivin  Lfimlseer^s  Bild 
**A  Skefiherd  Prat/hig  at  a  Gross  in  the  Fields,*'^) 

Ganz  klar  ist  auch  der  von  Werner  nachgewiesene 
Einfluß  von  ühlands  „Schwäbische  Kunde"  auf  eines 
der  "Tremenduus  adventures  af  Major  GahagmC\  Der  Major, 
beim  Fouragieren  von  seiner  Truppe  getrennt,  besteht  mit 
dem  Führer  einer  feindlichen  Schaar,  die  ihn  überfällt,  ein 
ganz  ähnliches  Abenteuer,  wie  Uhlands  schwäbischer  Bitter: 
*'Mif  sword  caught  the  fqnke  exadhj  on  fht  point,  split  il  sheer 
in  ttWy  cut  crashing  through    the  steel  cap  and  hood^  and  was 

mtltf  stopped  by  a  rtdnß^  which  he  wore  in  his  hack-plate. 

His  heady  cui  clean  in  (wo  between  the  egebrows  and  nosiriU^ 
even  between  the  two  frtmt  tevth,  feil  one  slde  on  euch  shoiddefi 
and  he  galloped  on  iiU  his  horse  was  stopped  hg  mg  meu  .  .  . 
the  remaining  ruffians  ßed  on  seeing  tkcir  Ivader's  /ate,*'\) 

1865  bringt  Thackeray  in  ''MisceUanies'*  *'Four  German 
Ditiies'\  In  völligem  Ii*rtAim  aber  befindet  sich  Werner,  der 
den  ersten  Druck  dieser  Übersetzungen  in  den  '*Miscellmüe.^ 
annimmt»  Dieselben  erschienen  unter  demselben  Titel  bereite 
1838  in  Fräsers   Mag.  XVII,    p,  677—579.    Damit  erhalten 

^)  Über  dieselbe  siehe  Werner,  a,  a.  O.  p.  32  f. 
^  Ä  pktorial  Uhapsodtj.  XXV,  p.  168.  —  ^)  XXV,  259, 
*)  XV,  '277  f.  —  Vgl.  Werner,  p.  20,   —    Gaoz  äliiiHch  heiüt  e^ 
vom  Grafen  von  Cleve;  "he  had  cut  an  elepliant-driver  in  iwo  piecen,  and 
$plit  asunder  the  nkull  of  Üie  elephant,  which  he  ivde/'  XV,  262. 


Thackerays  ÜbertragxiBgeii  einen  höheren  Wert,  da  sie  an 
den  ersten  in  England  gehören.  Von  den  von  Werner')  an- 
geführten, Thackeray  voransgehenden  Übersetzungen  ist  also 
für  *'The  Chaplet'\  „Der  Kranz**  nur  die  erstgenannte  in 
'*T/ie  Foratjn  Review''  April  1837,*)  für  ''The  King  on  the 
Töwer*\  nDer  König  auf  dem  Turme^  nur  die  George 
Moirs  in  dem  bereits  erwähnten  Änfsatz  der  Edinburgh 
Ecview,^)  deren  Benützung  durch  Thackeray  Werner  klar 
nachweistj^j  als  tatsäclilich  fi"üher  anzusetzen. 

In  den  *'FoHr  German  Ditiies"  erscheinen  neben  ühland 
Charaisso  und  Foiique.  Chamissos  „Tragische  Gre- 
schichte",  ".4  iragic  s(org^\  vor  Thackeray  nicht  übersetzt  — 
Werner  führt  C.  T.  Brooks  1863  an  —  weicht  im  Versmaß 
und  auch  inhaltlich  leicht  vom  Original  ab,®)  Frei  vom 
Versmaü  des  Originals  hält  sich  Thackeray  auch  in  der 
Übeitragung  von  Fonqaes  „Die  Greisin",  "Ib  a  verg  old 
wontan'\  bis  auf  Thackeray  nnübersetzt  und  von  allen  seinen 
Übersetzungen  wohl  am  besten  gelungen,*)  — 

Sowohl  Chamisso  als  auch  Fouque  verdanken  ihre  große 
Beliebtheit  in  England  aber  nicht  so  sehr  ihren  poetischen 
Arbeiten  als  viehnehr  zw^ei  kleineren  Prosaarbeiten:  „Peter 
S  c h  1  e  m  i  h  1^'  und  ,,U  n  d  i  n  e'^  beide  zur  Zeit  bereits  mehr- 
fach übersetzt  und  infolge  ihrer  Beliebtheit  bis  auf  den 
heutigen  Tag,  namentlich  das  letztere  wiederholt  neuerdings 
übertragen. n  (leorge  Cruikshank  hatte  den  Schlemihl 
illustriert  und  in  seinem  Essay  über  Cruikshank  kommt 
dexm  Thackeray  auch  auf  diese  Mischung  von  *'ihe  awful 
and  the  rkliculous'*  zu  sprechen:  namentlich  die  Zeichnung 
zu  der  Szene,  in  welcher  der  graue  Mann  Schlemihls  Schatten 
erwirbt  und  einsteckt,  bespricht  Thackeray  näher,®)  Auch 
,,ündine'*,  eine  der  reizendsten  Blüten  der  Romantik ,  er- 
wähnt Thackeray   gelegentlich;*^)   ja   in   seinen   schwersten 


»)  A,  a.  0.  p.8Sff.  —  ^  Werner,  ii,a.O,  p.SSf.  —  »)  Werner, 

p^ B4,  _  4)  Okt.  1832,  vol  5B,  p.  46  f.  —  ^)  Siehe  Werner,  p.  35. 

•*)  Vgl  Werner,  p.  35  f,  —  Der  Vollständigkeit  halber  sei  hier 
auch  des  Plane«  einer  Körner- Übersetzung  gedacht^  der  sich  in 
einem  Briefe  ans  Weimar  iiudet.    Vgl.  Biogr.  Ed.,  1,  p,  XXIL 

^}  Über  La  Motte  Fonqu^ö  Verbreitung  in  England  siehe 
Werner,  p.  96. 

»J  XVIII,  875.  —  ^'\  IV,  353:  XXV,  246  (Machfies  Bildl. 


—    23     — 


Tagen  illustriert  er  das  Exemplar  seines  Freundes  Edivard 
Fitzgetald   mit   an   die  vierzehn    kolorierten  Zeichniuigen.  *) 

Gelegentliche  &wöhnung  findet  auch  Jean  Paul, 
von  dem  er  ein  Zitat  bringt:  "The  past  and  the/uturef  says 
Jean  Paul,  are  wriUen  in  every  cöunienance"^)  und  in  ganz 
ähnlicher  Weise  auch  Heine  im  '*Paris  Skeich-Book*':  '^Dieti 
est  uuirV'y  says  another  teriter  of  ihe  same  class,  and  of  great 
(jenius  föO.  —  '*Dieu  es(  nwrt'%  writes  Mr.  Heine,  speaking  of 
ihe  Christian  God:  and  he  adds^  in  a  daring ßgure  of  speech, — 
**N^  mtendeZ'Voiis  pas  sonner  la  clochette?  on  porie  les  sacre- 
ments  t}  un  Dieti  qui  se  meurf*. 

Schon  in  seine  Jugendzeit  zinrück  reicht  wohl  seine  Be- 
kanntschaft mit  K  o  t  z  e  b  u  e,  dessen  Rührstücke  um  1800  die 
engliäohe  Bühne  eroberten  und  wohl  auch  noch  in  den  zwan- 
ziger Jalaren,  sowie  er  es  uns  im  Pendennis  erzählt,  auf  den 
Provinzbühnen  gespielt  wurden.  Das  Stück,  das  Thackeray 
anführt,  ist  „M enschenhaü  und  Reue^,in  der  englischen 
Übersetzung  von  Benjamin  Thompson  '*The  Strangcr'\  nach 
dem  ,, Unbekannten**  des  Pei^onenregisters  benannt, ^j 

Die  Handlung  des  Kotzebueschen  Stückes  ist  bekannt : 
Eulalia  von  Meinau  hat  sich  während  einer  längeren  Reii?e 
ihres  Gatten  verführen  lassen.  Bald  kommt  die  Reue,  Die 
Gefallene  hält  sich  ilirer  Familie  für  unwürdig  und  verläßt 

Auch  der  Mann  geht  in  die  Einsamkeit.  Beide  über- 
bieten sich,  einander  unbekannt,  in  Werken  der  Wohl- 
tätigkeit, bis  sie  ein  Zufall  zusammenführt.  Die  Lösung 
wird  in  einer groÜen  Rührszene  durch  dieKinder  herbeigeführt. 

Und  nun  Thackerays  Urteil: 

''Those  ivho  know  tke  plap  of  the  'Stranger\  are  awarc 
(hat  the  retnarks  made  by  the  variotis  characters  are  not  valuable 
11»  thentselve.%  eitherfor  their  sound  sensfi.  their  novelty  of  Observa- 
tion, or  their  poetic  fancy. 

Nobody  ever  talked  so.  If  we  meet  idiots  in  Hfe,  as  will 
happen,    ii  is  a  great  mercy  (hat  they  da  not  use  such  absurdly 

>)  Letter»  of  Edward  FiUgerald,    London  1894,  2  voLs.,  voL  I,  2^*. 

^B  ^)  SlteHdan  hat,  da  er  kein  Wort  deutsch  y erstand,    nach  dieser 

I  Übf»i'*etzung  das  Stück   für  die  Bühne  bearbeitet  und  1798  im  Drury 

I  Lane  Titeater  zur  Aufführung  gebracht.  Vgl  A.  Eichler^  J.  R.  Frere, 

I  Wiener  Beiträge  zur  engl.  Phil.  XX,  p,  28  und  E.  Margraf,  EinfliiÜ 

^^  d.  deutschen  LjL  auf  d,  engl  am  Ende  des  18.  Jahrb.,  Diss.,  Leipzig  19UL 


fine  words,  i  Peter)  The  Stranger' 8  talk  is  shmm  like  tbe  baak 
he  reads  ,  .  *  ■ —  but  in  the  midst  of  the  balderdash.  there 
runs  ihat  reality  of  love,  chUdrm,  and  forgiveness  of  wrong, 
which  will  hc  lisiened  io  wherever  Ü  is  preachedf  and  sets  all 
ihe  World  stfutpathising/'^) 

Thackeiay  erkennt  ganz  genau  die  Schwächen  des 
Stückes»  die  Mache,  die  Verlogenheit  und  Unwahrheit  der 
Charaktere,  die  nur  Theaterfiguren  aber  nicht  Menschen 
sind;  aber  Thackeray  erklärt  sieh  auch  die  Wirkung  des 
Stückes:  Kotzebue  arbeitet  mit  echt  menschlichen  Begangen, 
der  Mutterhebe,  echter  Reue  und  Vergebung,  die  immer 
Sympathien  abringen  müssen» 

Im  weiteren  Verlaufe  der  Besprechung  geht  Thackeray 
nur  noch  auf  die  Rolle  der  Madame  Müller  —  Mrs.  Haller 
der  Übersetzung  —  näher  ein,  hauptsächUch  mit  Hinblick 
auf  die  Trägerin  der  Rolle* ^)  Später  kommt  er  noch  auf 
das  Schicksal  Kotzebues,  seine  Ermordung  durch  Sand  zu 
sprechen.^) 

Auch  ein  zweites  Stück  Kotzebues  *^Pigarro*\  d.  i,  „Die 
Spanier  in  Peru  oder  Rollas  Tod*',  gleichfalls  von 
Thompson  179iJ  übersetzt,  ist  kurz  besprochen,  ""j 

Das  bereits  erwähnte  Essay  über  Cruikshank  gibt 
Thackeray'  Grelegenheit,  auch  der  „K  i  ii  d  e  r-  und  Haus* 
m  ä  r  c  h  e  n* *  der  G  e  b  r  ü  d  e r  G  r  i  m  m  Erwähnung  zu  tun,  2U 
denen  Cniikshank  gleichfalls  die  Illustrationen  lieferte  und^) 
im  Hinblick  auf  dieThackeray  nun  einzelne  Märchen  namentlich 
anführt..  Besonders  des  Märchens  vom  Rumpelstiezchen  und 
der  dazu  gehörigen   Zeichnung  gedenkt   er   ausführlicher. 

Eine  Beeinflussung  Thackerays  durch  Grimm,  das 
„Aschenputtel**- Motiv,  namentlich  in  "A  shabhy  gmted 


1)  m,  4L  -  ^)  111,  41  £  —  8)  ni,  56. 

*)  m^  !40.  —  Die  übrigen  Erwähnungen  Kotzebues  sind  belanglos; 
höchstens  die  autobiographisch  zu  nehmende  Notiz,  XVII,  20L  sei 
angeführt:  Fitzboodle  liest  in  Weimar  während  seiner  selbst  auf- 
erlegten Krankenhaft  sämtliche  Werke  Kotzebues. 

^)  ** Populär  Startes,  trandated  from  the  Kinder-  und  Hausmärchen 
callected  Inf  M,  M,  Grimm  .  .  illustrated  by  George  Cruik^ankj  Puhlishcd 
btf  C.  Baldwin^  Newgate  Street,  London  1824"  in  2  Bänden  und  selbständig 
davon  eine  verkürzte  Ausgabe;  **Fairy  Talei,  from  the  German  of 
X  L.  Grimm  .  .  -  with  ülHstrationä  by  CfMikshank,  London  1827^.  — 
Vgl  Werner,  a,  a.  0.  p,  22. 


^^     25     — 

wo  sich  allerdingB  Anklänge  finden^  sucht  Werner 
nachzuweisend; 

Nicht  unerwähnt  darf  gerade  an  dieser  Stelle  auch 
eine  Bemerkung  über  Tieck  bleiben,  die  Thackeraj"  an- 
läßlich der  Besprechung  des  bereits  erwähnten  Bildes  ans 
.,Undine''  von  Maclise  macht: 

**W€  must  have  ihefmryTaks  illustrated  bt/  ihis  gmiihman** 
(d.  i.  Maclise)  *7ff  is  the  only  person,  except  Tieck  of  Dresden, 
who  kttows  antfthing  aftout  Ihetn,** 

Einen  außerordentlich  wertvollen  Äuftchluß  erhalten 
wir  aus  einer  Karikatur  aus  Thaekeraya  Schulzeit  im 
Charterhouse,  einer  Zeichnung  auf  dem  Titelblatt  von 
CA.  lioUins  **Äncient  }iisiory'\  das  in  der  Schule  zu  jener 
Zeit  benutzt  wurde ;  Clio,  ein  altes  Weib  mit  H-egenschirm, 
Trompete  und  Korb,  stützt  sich  auf  einen  Stoß  Bücher, 
Virgil,  Rollin,  Don  Quixote,  Orlando  Furioso,  Tasso,  Homer 
und  zu  Unterst  AI  ü  n  c  h  h  a  u  s  e  n.  Dieser  gehörte  also  zu 
seiner  Jugendlektüre  und  übte  im  Verein  mit  dem  gleich- 
falls angeführten  Don  Quixote  einen  ziemlich  großen 
Einfluß  auf  die  Jugendarbeiten  Thackerays  aus,  deren  burleske 
Elemente  namentlich  diesen  beiden  Büchern  anzurechnen 
sind.^) 

Münchhausens  Greschichten^  auf  deutschem  Boden  er- 
zeugt, wm'den  von  Rudolf  Erich  Raspe*  Bibliothekar  in  Kassel, 
der  sich  lange  Zeit  in  England  aufhielt,  in  englischer  Sprache 
herausgegeben  1786,^)  im  selben  Jahre  anonym  von  Büiger 
übersetzt  und  erweiteit^)  und  erlangten  seitdem  namentUch 
in  England  in  mannigfachen  Überarbeitungen  eine  große 
Beliebtheit. 

Der  Einfluß  des  Buches  zeigt  sich  am  deutlichsten  in 
'*The  tretitendous  c^ventures  of  Major  Gahagan'\  einem  Münch- 
hausen  ins  Englische  übertragen,  der  mit  seinen  zahlreichen, 
in  verschiedenen  Diensten.  namentUch  aber  in  Indien  voll- 
brachten Abenteuern  und  den  Belegen,  die  er  für  die.sel1>pn 

^)  A.  a,  O,  p.  23tl 

^)  Vgl  Weriior,  a.  a.  0.  p.24ft: 

^1  Bmvn  Munchfiüit^en*»  narrative  of  hü  marvellmis  travelit  and 
vximptMi^m  in  RusaiiM,  bt/  K,  E.  Kaspe,  Oxford  1786, 

*)  Wunderbare  Reisen  au  Wasser  und  zu  Lande^  Feld;5tlge  luid 
lustigt»  Ab*JD teuer  des  F reihe rro  von  MüncUhausen. 


—    26    — 

in  seinen  Erzählungen  vorweist,  sich  ganz  an  das  Vor- 
bild anschließt.^)  Auch  sonst  finden  sich  Anklänge,  so  in 
*'A  Legend  of  the  Rhine*\  wo  das  wild  dahinstürmende  Pferd 
des  getöteten  Gottfried  unter  anderen  Hindernissen  auch 
eine  Postkutsche  nimmt,*)  wie  Mtinchhausen  mit  seinem 
Eoti  durch  eine  Postkutsche  setzt  oder  in  den  ganz  im 
Miinchhausenstil  erzäldten  Abenteuern  des  Grafen  vonCleve.*) 

Ein  bisher  noch  nicht  konstatiei-t er  Einfluß  auf  Thackeray 
ist  der  Hau  f  f  s,  der  freilich  nur  ein  einziges  Mal  zu  sehen 
ist,  im  '*SuUan  Stark'\*)  dessen  Grundlage,  aUerdings  für 
Thackeray s  satirische  Absichten  geändert,  Hauffs  Märchen 
vom  y^KuUf  Storch''  ist. 

Auch  als  Kritiker  eines  deutschen  Buches  erscheint 
Thackeray  einmal  in  Fraser^ts  Mag,  February  1S44:  ''The 
Bun/omasler  of  Berlin,  from  the  Gertfian  &f  Willihald  Alexis'*: 
der  Name  des  Übersetzers  erscheint  nur  mit  den  Initialien 
W.  A.  G-*)  —  Thackeray,  der  dem  Buche  **true  Gertnan 
industry  and  no  sthuII  sharc  of  kumour'*  zuspricht,  findet 
darin  ein  sehr  genaues  Bild  deutschen  Lebens  im  IB.  Jahr- 
hundert, das  kennen  gelernt  zu  haben  den  Leser  freut, 
wenn  er  auch  am  Seh  hisse  des  schweren,  besonders  für 
Engländer  schweren  Buches  angelangt,  dasselbe  mit  einem 
Seufzer  der  Erleichterung  weglegt. 

Auch  das  deutsche  Volkslied,  Kirchen-,  Soldaten-, 
Studenten-Lied  ist  Thackeray  nicht  unbekannt:  Luthers 
^,Ein  fester  Burg  ist  unser  Gott*'  (sie!),®)  „Prinz 
Eugen,  der  edle  Ritter*',')  femer  ein  ganz  originelles 
altes  Soldatenlied:  ^0  Gretchen,  mein  Täubchen,  mein 
Herzenstrompet,  Mein  Kanon,  mein  Heerpauk  und  meine 
Musket",®)  Das  deutsche  StudentenJied  kommt  an  anderer 
Stelle  zur  Besprechung. 


Nicht  unbei-ührt   darf  an  dieser   Stelle   das  Verhältnis 

Thackeray s  zu  B  u  1  w  er  bleiben.  Die  Gründe  für  die  Gegner- 


*)  Geiiftueres  siehe  Werner,  a.  a.  O.  p. 25, 

-«)  XV,  222.  —  «)  XV,  252, 

*)  Sultan  Stork  and  other  siari^. 

»)  A  Box  of  Novck.  ^  Stand.  Ed„  XXV,  p.  69. 


♦^)  XIX,  m  u,  a. 


—    f]     TV 


XIX,  a».  -  «)  XIX,  80, 


•obaift  gegen  Bulwer  ohaxakterisiert  Leslie  Stephen :  *)  Biilwer 
erscheint  namentlich  dem  jungen  Thackeray  "as  auoiher 
avatar  of  the  greai  spirit  oj  hmnbuy,  For  not  onbj  dkl  i he  netr 
writer  talk  aboui  the  Tnte  and  the  Beauitful  in  capiial  letterSt 
or,  in  other  wordSy  iry  to  ettUven  British  dulness  hy  a  liberal 
inßision  of  Oernian  mysticism  and  sentimentalisvi,  hut  he  applied 
ihis  sham  philosophy  to  point  very  immoral  doctrines  in  such 
books  iMS  'Ernest  3Ialtravers*  and  'Eugene  Äram\**  Thackeray, 
der  sowohl  Scotts  Eomantik  als  auch  den  "Bifronism*'  für 
abgetan  ansieht,  sieht  anch  in  ''Bulwerism'*  nur  "a  new 
phase  of  aß'eciation  imported  from  Gct^many  by  u  conceited 
dandi/\ 

Am  schär&ten  zeigt  sich  diese  Gegnerschaft  in  der 
Kritik  von  Bulwers  ''Ernst  3laUraver$'\^)  Es  sind  die  Ein- 
flüsse der  deutschen  Romantik  und  Raligionsphilosophie, 
gegen  die  sich  Thackeray  wendet.  Ernst  Maltravers,  ein 
exzentrischer  Jüngling,  gerade  von  der  Universität  heim- 
gekehrt und  erfüllt  mit  den  Ideen  seiner  Zeit,  entflieht 
mit  einem  jungen  Mädchen.  Thackeray  zergliedert  nmi 
dieses  Verhältnis;  ^*ffe  is  a  yoxmg  man  of  f/etierous  dis- 
pQSiiiofis;  lie  i$  an  exedleni  Christian  atid  instructs  the 
Ignorant  Alice  in  the  anful  tniths  of  his  religimi:  vwreover, 
he  is  deep  in  poetry,  philosophtj^  and  the  German  metaphysicsJ* 
Ernst  Maltravers  steht  also  ganz  deutlich,  wenn  auch  keine 
Namen  genannt  sind,  unter  dem  Einflüsse  der  Romantik, 
Schleiermacher,  Schlegel,  Sohelling  u.  s.  f. ;  und 
Thackeray  zieht  nun  die  Schlußfolgerung  f  üi*  das  Verhältnis 
Ernsts  zu  Alice,  wie  es  sich  seiner  Anschauung  nach  — 
natürlich  nach  Hulwer  —  unter  solchen  philosophischen 
Ideen  und  Moralanschauimgen  nur  entwickeln  kann :  *'Hotc 
should  such  a  Christian  instruct  an  innocent  and  heautiful  chitd, 
his  pupil?  What  should  such  on  philosopher  do?  Why,  seduce 
her,  to  he  sureT 

Die  AngriflFe  Thackerays  gegen  die  moralischen  An- 
schauungen der  Schleiennacher,  Schlegel  etc.,  natürlich 
indirekt  über  Bnlwer  und  daher  nicht   klar   und  gerecht 

1)  The   Wriiinffä  of  Thackeray  Staiid.  Ed.,  XXIV.,  p.  335  ff. 

>)  Frager*»  May.,  XVH,  1B38,  p.  79—1(6.  On  a  Baich  of  novels  for 
Christmas  1837,  wiederabgedmckt  in  Criiical  Faper»  in  Liierature  by 
W,  M.  Thaekeran,  London.  1904. 


'—    28    — 


sdieidend  und  wohl  auch  nicht  ganz  bewußt,  sind  trotzdem 
90  deutlich,  <laß  sie  nicht  übersehen  werden  können. 

Deutlicher  spricht  er  sich  über  deutsche  Philosophie, 
über  Kant^  an  anderer  Stelle  aus,  gelegentlich  einer  Re^ndew 
von  CarhjU's  "French  Revolution''  ^):  " —  ihe  iniiiated  in  meta- 
physics,  the  sages  tcho  harn  passed  ike  vcil  of  Kantian  phtlosophy, 
and  discövered  thal  the  'critique  of  pure  reason*  is  really  that 
which  ü  purporis  to  be  and  not  the  critique  of  pure  nonsettse, 
OS  ii  seenis  to  worldly  mai :  to  those  the  presettt  book  has  chartns 
unhwwfi  to  US."  —  Von  hoher  Aufiassung  und  Erfassung 
der  Kantschen  Philosophie  zeugt  die  Stelle  nicht,  die  im 
Gegenteil  Leslie  St ej^hens  Vrieil-)  über  Thackerays  Erfassung 
deutschen  Geisteslebens  völlig  bekräftigt..  Stephen  behauptet, 
daß  Thackeray  nicht  allzuviel  aus  Deutschland  heimgebracht 
habe^  ging  er  doch  als  neunzehnjähriger  Jüngling  hin  und 
'^was  probahly  not  prepared  in  any  way  to  catch  the  conta^ftoH  of 
German  thought.  At  Cambridge  there  was  not  evett  that  kind 
of  intelkctual  fermmtation  which  was  making  Oxford  the  cetHre 
of  a  greai  rcligious  movement,  Sonie  young  men,  knoiai  to 
Thackeray  then  or  in  tatet  life^  such  as  Maurice  and  Sterling, 
would  have  gone  to  Germnny  as  eager  pilgrims  anxious  to  know 
what  answers  could  be  draum  from  the  oracles  of  phihsophy  to 
the  questiofis  which  were  perplexing  timr  mmds,  But  that  was 
not  Thackeray's  tefnper^\ 

Dies  gilt  ganz  sicher  von  Thackerays  Kenntnis  der 
deutschen  Philosophie*  Und  betrachtet  man  Thackerays 
Kenntnis  der  deutschen  Literatur,  so  kann  man  sie  doch 
nur  als  eine  oberflächliche  bezeichnen.  Einen  tiefgehenden 
Einfluß  hat  er  von  der  deutschen  Literatur  nicht  erfahren; 
von  der  gelegentlichen  Beeinflussung  in  einem  oder  dem 
andern  seiner  Erstlinge  muß  man  wohl  absehen.  Der 
Thackeray  des  "Vanity  Fair\  des  ''Pendetmis",  "Esmond'\ 
der  f.Virginians'*  ist  stockenglisch;  und  wäre  er  es  nichts 
wir  wären  wohl  um  manche  Perle  echtenglischen  Humors 
ärmer. 

Thackeray  hat  seine  Kenntnis  der  deutschen  Literatur 
in  einem  Brief  an  Macvie  Napier's  Bevollmächtigten  T.  Lmig^ 

*)  The  TimeUf  3.  Aug.  1887^  wiederabgedruckt  in  Siätan  Stark  d'  oihtr 
iiories,  Critical  Papet-H  in  Literature  sowie  Biogr.  Ed. 

-)  Leslie  Stephen,  Tfic  Wnlingit  of  Thackeray,  Stand.  Ed.,  XXIV,  p.326. 


'—     29 


man,    der  Thackeray    eine  Eiiiladimg  zur  Mitarbeit  an  der 
Edinburgh  Review  sandte,  selbst  charakterisiert:^) 

''Reform- Club,  Simciay  6,  April  [184:5]. 

My  Dear  Sir, 

I  hardly  kfiow  whai  subject  io  point  out  as  stuted  to  my 
capaeity  —  Upht  matter.^  connected  tvith  art,  humourous  reviews, 
critiques  qf  noveh  —  French  subJectSj  menioirs,  poeiry,  hisiory 
from  Louis  XV.  dmvnwards  and  qf  an  mrlier  period  —  that  of 
Frossart  and  Monsirelet  —  Gernian  lighi  Uteraiure  and  poetry, 
thottgh  öf  ihis  I  know  but  Utile  heyond  wJmt  I  leamed  tu  a 
year's  residence  in  the  cauntry  14  years  ago**^) 


*)  Der  Briet j  der  sich  in  den  MacHt-Napier-Fapers  im  Britischen 
Museum  befindet,  ist  abgedruckt  in  der  Einleitung  zu  den  Critical 
Paper»  in  Literaturen 

2)  Es  erübrigt  mir  nur  noch  eine  Notiz:  Bio^r.  Ed.,  voL  IT* 
p.  XXVIII,  findet  sieh  unter  Datum  vom  30.  Juli  1H40  folgendem 
Zitat  aus  einem  Briefe  Thackeray«:  *'/  have  read  Ranke's  'Histortj  of 
the  Popes'  (in  the  way  of  bueine»»)*  U  is  a  yreai  hook^  and  matf  he 
f€ad  tcith  proßt  hy  some  permm  who  wonder  how  oiher  persans  can  talk 
ahout  the  'beautiful  Roman  Catholic  Church\  in  'who9e  boaom  repose  so 
mantf  mtnU  afid  sagend  Saint^i  und  sages  do  skep  there  and  tcenjwherc 
nnder  God's  sitnshine,  I  hopt'* 

Im  Augusthet^  von  Fräser'»  Mag,,  1840  (vol,  XXII,  p.  127— 145 ^ 
tindet  sich  nun  pine  Heview  der  Übersetzung  von  Rankes  Geschiehte 
der  Päpste  von  Sarah  Attstin  {The  Ecclesiastical  tf-  Poliiical  Historu 
of  the  Popes  of  Btmie  diiring  the  Sirteenth  and  SevetUeenth  Centuries.  Bij 
Leopold  Ranke.  Translated  from  ihc  German  by  Sarah  -lw5iiii,  3  vols,. 
London  IMOJ,  die  man  auf  den  ersten  Bhck  mit  Rtlcksicht  aut 
Tbackerays  **in  the  wog  of  btmness**  wohl  dießetii  zuzuschreiben  sioli 
verleitet  fühlen  könnte,  die  abei*  gerade  ihres  orthodoxen,  zelotiach- 
protestan tischen  Charakters  wegen  —  der  Eeviewer  sucht  die  Ereig- 
nisse, die  Reaktion  zu  Gunsten  des  Papsttums  im  16,  und  17.  Jahr- 
hundert aus  biblischen  Weissagungen  zu  erklären:  DanteL  cap.  2,  Bl. 
die  Weissagung  von  den  vier  Reichen,  cap,  7,  seine  Vision  der  vitt 
Tiere  und  St.  Johannis  Offenbarung,  cap.  IT,  Die  große  Hure  Babylon 
auf  dem  Tiere  mit  sieben  Häuptern  und  zehn  Hömem  —  zu  Thackeray- 
gerade  in  der  betreffenden  Notiz  klar  ausgesprocheneu  Meinung  im 
diametralen  Gegensatz  steht.  Auch  die  Artikel  der  übrigen  Zeitschriften 
über  Rankes  Buch  können  für  Thackeray  nicht  in  Anspruch  genommen 
werden,  zumal  da  sie  alle  gezeichnet  sind,  und  Thackerays  Plan  einer 
Review,  der  aus  oben  zitierten  Zeilen  klar  hervorgebt,  dürfte  Absicht 
geblieben  sein. 


—     30     — 


Thackerays  Verhältnis  zur  deutschen 
Tonkunst, 

Einen  ziemlich  groüeii  Raum  gewährt  Thackeray  in 
seinen  Werken  auch  der  deutschen  Musik.  Abgesehen  von 
Händel/)  den  die  Engländer  ja  für  sich  in  Anspruch 
nehmen^  und  auch  von  Haydn»^)  der  in  England  früher 
Anerkennung  fand  als  in  seiner  eigenen  Heimat,  hat 
Thackeray  von  fast  allen  bedeutenderen  deutschen  Kom- 
ponisten Kenntnis :  Mozart,  Weber,  Beethoven, 
Meyerbeer,  Mendelssohn,  Liszt* 

Er  gibt  geradezu  Analysen  der  Eindrücke,  die  einzelne 
Stellen  und  Partien  auf  seine  Helden  machen.  Man  lese 
die  Stelle  in  den  Newcomes  über  den  ^Don  Juan**,  "/Ae 
sweetesi  of  all  music"!^)  Freilich,  Ethel  spielt,  Clive  hört 
zu!  Das  ganze  alte,  romantische  Land  taucht  vor  seinen 
Augen  auf  unter  dem  Einfluß  dieser  Musik.  An  einer  andern 
Stelle  spricht  Thackeray  von  der  ''aw/ul  music  ofDonJimn 
hefare  the  statuc  mters''*)  (II,  Anfeug,  21.  Auftritt),  bevor 
die  Grabstatue  des  Komturs  erscheint,  der  Einladung  seines 
Mörders  zu  folgen.  „Don  Juan**,  der  sein  Lieblingsstück 
von  Mozart  zu  sein  scheint,  namenthch  der  weichen 
schmeichelnden  Musik  wegen,  die  das  Entzücken  Emmy 
Üsborns  bildete,^)  erscheint  am  häufigsten  zitiert.  Daneben 
erwähnt  er  die  „Zauberflöte'^*)  oder  ^Figaros  Hoch- 
zeit**^) oder  spricht  von  Mozart  als  Komponisten  religiöser 
Lieder,*')  Übrigens  versteht  er  die  unter  italienischem  Ein- 
fluß stehende  Musik  Mozarts  gan^  gut,  wenn  er  ihn  in 
einem  Atem  mit  Cimarosa  nennt.**) 

Aucli  Weber  findet  sich  häufig  angefühil,  dessen 
.»Freischütz*^  Thackeray  vor  allem  zu  lieben  scheint. 
Er  hebt  einzelne  Lieder  imd  Chöre  aus  demselben  hervor: 
„D  a  8  T  r  i  n  k  1  i  e  d*'  *")  ( ,,Hier  im  irdischen  Jammertal",  I,  6), . 
den  "Bridesniaid*s  Chorus*'^^)  („Wir  winden  Dir  den  Jungfern* 
kranz*\  DI,?),  den  „Jägerchor**,  'Hhe Hunimnm' s  GAoms'*") 
(„Was  gleicht  wohl  auf  Erden  dem  Jägervergnügen**,  HI,  9> 


1)  V,67;  V,  136 u.a. 
^  11,172.  —  '^)n,207.  - 
XXY,  317.  —  a»  n^  149,  _ 
»«)  XV,  233. 


—  s)  V,  136;  IX,  259 u.a.  —  »)  V,  136.  —  j 
«)  II,  172;  XVn,  207  u,  a.  -  ^  XX,  224|/ 
ö)  n,  297.  -  10)  in,  165.  -  ")  XT,  23a  — 


—    31    — 


Eine  weitere  Erwähnung  des  T,FreischütK**,')  die  sich  aul 
den  Text,  die  Handlung  bezieht,  findet  später  ihi*e  Würdigimg. 
Außerdem  ei'^^ähnt  Thackeray  noch  Webers  ^,Oberou'%'*) 
•femer  '*thai  imder  love':^ong  ofWeh€r*ft'\  „Einsam  bin  ich  nicht 
alleine*^  •)  aus  der  P r e c i o s a,  Text  von  Pius  Alexander 
Wolf/) 

Ein  klar  aiisgesprochenes  Urteil,  eine  ausgesprochene 
Wertsühätzung^  die  wir  bei  den  beiden  besprochenen  Musikern 
nur  aus  den  mehr  oder  weniger  häufigen  Zitaten  ersehließen 
können,  finden  wir  über  Beethoven,  Mit  feinem  Blicke 
setzt  Thackeray  den  gewaltigen  Beethoven,  der  einsam 
in  seiner  mächtigen  Höhe  dasteht^  neben  den  grandiosen 
Michel  Angel o; 

'*!/  Mr.  Clive  is  not  a  Michael  Angelo  or  a  Beethoven , 
if  his  ffernus  is  fioi  gloomy^  solitary,  gigantiCy  shining  alone, 
Uke  a  Ughthouse,  a  sionn  round  cthout  A*m,  and  breakers  dashing 
at  his  feet  —'  *) 

Wir  besitzen  recht  wenig  Urteile  dieser  Art! 

Über  eine  ,,Fidelio**-AufiHihrung,  die  er  mit  Frau 
Sehr oe der- Devrient  in  der  Titelrolle  in  Weimar  ge- 
sehen, berichtet  er  im  Briefe  an  Lewes,  Die  Auffühnmgt 
die  er  seine  Beisegesellschafl:-  in  ^'Vanity  Fair''  in  Weimar 
mitmachen  läßt,  ist  die  Aulfiihnmg  jenes  Abends  im 
Jahre  1831: 

"and  Madame  Schroeder-Devrietit,  then  in  the  bloom  of  her 
heauig  and  genitis,  perfomted  tke  pari  of  the  f^eroine  in  th* 
wonderful  opera  of  'Fidelio'  .  .  *  ihe  astonishing  Chorus  oj 
Prhmers,  over  which  ihe  delight/ul  voice  of  ihe  aciresB  rase 
and  soared  in  ihe  ntosi  ravishing  harmong.*'^) 

Die  Schroeder  ist  für  ihn  unti-ennbar  verbunden  mit 
der  Figui'  Fidehos.') 

Gleich  im  Anschluß  an  die  „FideUo**-Au£fühning**  in 
**Vanity  Fair"  en^'ähnt  Thackeray  eine  andere  Komposition 
Beethovens,  „Die  Schlacht  bei  Yittoria^^**)  Gemeimt  ist 
die  auf  den  Sieg  W^eUingtous  bei  Vifctoria  1813  komponierte 

l)  XY,  -233.  -  «)  V,  136  und  XX,  270.  ~  3)  II,  359. 

*)  Gelegentlich  erschemt  auch  Webers  englischer  AufenthüJt 
in  einer  Reklamanekdote  t^r  einen  englischen  Musiker  ausgenutzt 
XX   207  ft. 

'  &)  VI,  6.  -  «)  n,  300.  -  7)  Vgl  auch  XXV,  388.  —  »)  H,  300. 


—    82    — 

Symphonie^  gewöhnlich  „Schlachtensymphonie**  über- 
schrieben (op,  91),  die  Thackeray  als  Engländer  natürlich 
bekannt  sein  mui3te.  Ganz  charakteristisch  für  ihn  aber  ist 
eine  andere  Stelle,  an  der  er  von  der  gleichen  Komposition 
spricht.  Wieder  bringt  er  die  bildende  Kunst  in  eine  Pai'allele 
mit  der  Tonkunst,  wie  an  der  Stelle,  da  er  Beethoven  neben 
Michel  Ängelo  setzt.  Diesmal  ist  es  William  Turner  und  den 
Eindruck,  den  die  '^Fighting  Temeraire'*  ausübt,  vergleicht  er 
dem  tiefen  Eindruck,  den  er  gelegentlich  einer  Autf  ühnmg 
der  "BüHle  o/Vitioria"  in  Weimar  empfangen  hat,  als  **amidst 
a  stonn  of  (jlorious  mus^ie,  ihe  air  of  *God  save  ihe  Kuuf\  was 
iniroduced** :    begeisternd    hier  der   Ton,    dort    die   Farbe.') 

Atich  andere  deutsche  Musiker  erscheinen,  freilich  nur 
kurz  erwähnt:  Meyerbeer  mit  seinem  ,,Robert  der 
TeufeP%-)  Mendelssohn,  nur  mit  Namen  genannt,*) 
so  auch  sogar  Liszt,  freilich  "Liä/j'' geschrieben  ;*)  daneben 
auch  die  Pianisten  und  Komponisten  Kalk  brenn  er  fFriedr. 
WiUi.)«^)  und  Henri  Herz.«) 

Allzuhoch  darf  man  Thackeray 9  musikalisches  Ver- 
ständnis nach  solchen  gelegentlichen  Äußerungen  wohl  nicht 
anschlagen,  wenn  auch  das  Feingefühl  des  Künstlers  ihn 
gelegentlich  ein  schönes  Bild  finden  läßt  für  sein  Urteil. 
Seine  Kenntnisse  sind  wohl  im  allgemeinen  die  eines  ge- 
bildeten Engländers  seiner  Zeit,  dem  das  reiche  Musikleben 
Londons  —  man  lese  nur  die  Artikel  in  Fräset-' $  Mag,  aus 
den  vierziger  Jahren  über  die  deutsche  Oper  und  deutsche 
Gastspiele  in  London')  —  genügend  Gelegenheit  zu  mu^ika- 
lischer  Bildung  bot.**) 


»)  XXV,  la?,  die  Stelle  stammt  aus  1839  (Froitr'»  Mag.,  A  ucand 
hiter  on  the  fine  Arts)  iüt  ako  firüher  gesclmeben  aÜB  die  Zusammeu- 
-stelltuig  Beethoven- Michel  Angelo. 

»)  m,  207.  a)  VI,  73.  -  *)  XVII,  204,  Aiifang  der  viei'ziger 
Jahre  hatte  sich  Liözt  durch  seine  KmiÄtreisen  bereits  durchgesetst; 
die  FUzb(mdk-Pap€fs^  die  ihn  nennen,  fallen  1842/184S. 

»)  XVU,  204.  -  «)  XX,  222, 

^)  Frastr's  Mag.,  1841,  MambUng  Retnarks  wük  reference  to  ih€ 
Genttan  opera.  1842.  The  German  opera,  <tc. 

*l  Thackeray  selbst  scheint  in  London  ein  üeLßiger  Opernbesucher 
gewesen  zu  sein.  Seine  Briefe  au  Mra,  Brookßeld  berlohten  öfters  von 


Opernbesnchen;    Mey erbeers    ^Hu^notten" 
i  j).  140).  [Brmkfield  LetUrsJ 


(p,  60),    „Don  Giovanni^ 


B3     — 


Thackeray  und  die  bildende  Kunst  der 
Deutschen, 

Die  bildende  Kunst  der  Deutschen  kommt  bei  Thackeray 
sehr  schlecht  weg.  Während  er  Kaphael,  Michel  Angelo. 
Kubens,  Van  D^^ke  wiederholt  zitiert,  den  französischen 
und  englischen  Kunstausstellungen  seiner  Zeit  ganze  Artikel 
widmet,  bleibt  es  bei  der  deutschen  Malerei  ^  denn  mir 
dieser  Teil  der  bildenden  Kunst  erscheint  überhaupt  er- 
wähnt —  nur  bei  gelegentlichen  Äußerungen. 

Thackeray  erscheint  als  Gegner  der  Schule  Dürers 
und  C  ran  ach  8,')  er  setzt  der  ^.christlichen*'  oder 
„katholischen*^  Kunst  der  0  v  e  r  b  e  c  k  und  Cornelius, 
^Hke  nambt/-pamby  mystical  Germun  schoül,  which  isfor  carry  mg 
tiS  b(tck  tö  Cranach  and  Dürer,  and  which  is  niuking  progress 
hete"^j  (sc.  in  Paris),  hart  zu.  Nichts  scheint  ihm  leichter 
als  diese  Kunstrichtung ;  Helle  Farben  auf  goklenem  Orunde, 
Kostüm  des  beginnenden  15,  Jahrhunderts,  die  Apostel  im 
Meßgewand,  die  Jungfrau  gekleidet  wie  eines  Bürgermeisters 
Weib  von  Cranach,  den  Kopf  zur  Seite  geneigt,  die  Augen 
geschlossen,  ein  möghchst  einfältiges  Lächeln  und  dazu 
einen  Heiligenschein  nach  genauem  Wagenradmuster.  Und 
Thackeray  findet  diese  Kunst  auch  in  England,  durch  ^ner 
Jahrhunderte  überliefert,  in  den  Karten- Königen  und 
-Königinnen  *'.  .  *  the  cosiumes  and  atiitiides  are  precisehj 
simüar  ta  tlwse  which  figure  in  the  catholicities  of  the  school 
üf  Overbeck  and  Comelius/'^) 

An  einer  andern  Stelle  erscheint  Overbeck  als  "/Äe 
mystical  and  tender-hearied*',*) 

Besser  ergeht  es  der  Düsseldorfer  Schule:  ''sanie 
wen  from  Düsseldorf  have  smt  very  fine  scietittßc  faithfui 
piciures,  ihat  are  a  utile  heavy,  but  still  you  see  thai  they  are 


1)  XIV,  Fans  Sketch  Book,  On  the  French  St^iool  of  Painting. 

«)  Auch  XXV,  "May  GofnboU;  or  Tiimarsh  in  the  Picture  Galleriet**, 
iipmcht  er  von  "U^e  n^w  German  dandy-pietüticiü  schoor  und  erwähnt 
Overbeck,  p.  238, 

»)  XIV.  On  the  Frmch  School  of  PainHng, 

*}  Om  8ome  tllmtr.  Children*»  Book*,  Fraser's  Mag.,  XXXUI  (1846) 
[dieser  Aufsatz  ist  niemals  wiederabgedruckt],  p.  496. 

FrisA^  Deutsche  Kult»rverhiiltj}is.^e.  B 


—    34     - 


poriraüs  dratmi  respecifully  from  ihe  grmi,  beautiful,  various, 
divine  fate  of  Nature.'*^) 

Namen  deutsclier  Künstler  erscheinen  ziemlich  selten: 
Angelika  Kaufmann;*)  Retzsch")  (Moritz,  Dresden) 
mit  seinen  Radieningen  zum  ,, Faust"  (2(>  Blätter,  1812, 
durch  Nachstiche  auch  in  England  und  Frankreich  ziemlich 
bekannt);  oder  sonst  gelegentlich  der  Londoner  Ausstellungen, 
wie  Wehnert^)  etc.  Grelegentlich  eines  Aufsatzes  über  Illu- 
strationen zu  Kinderbüchern  nennt  er  die  deutschen  Zeichner 
"a  kindly  and  good  natured  rctce^  wiih  the  organ  of  philo- 
pragenitivetiess  sirongly  devehped".  ^) 

Verglichen  mit  seinen  ÄnÜerungen  über  deutsche  Musik 
oder  gar  deutsche  Literatur  müssen  diese  wenigen  Be- 
merkungen gerade  auf  dem  Gebiet,  das  Thackeray  für  sein 
eigenstes  hielt,  ziemlich  unbedeutend  erscheinen. 


I 


Deutsche  GescMclite. 

In  der  deutschen  Greschichte  ist  Thackeray  im  aUgemeinen 
ganz  gut  zu  Hause.  Altertum  und  Mittelalter  sind 
mit  wenig  Belegen  vertreten:  Hermann^)  —  die  Gelegenheit 
zu  einem  Seitenhieb  auf  den  Teutonismns  der  dreißiger 
Jahre  des  19,  Jahrhunderts  macht  ihm  die  Erwähnung  des 
Cheruskerftirsten  möglich.  —  Das  Mittelalter  erscheint  mit 
einer  Erwähnung  der  FehmeJ) 

Viel  mehr  Besprechung  findet  hingegen  die  Neuzeit, 
Aus  der  allerersten  Zeit  nennt  Thackeray  Georg  von  Frunds- 
berg,  Herrn  zu  Mindelheim  (*  1473,  f  1528),  *'a  colonel  of 
fooifolk  in  the  Imperial  Service  at  Fama'\^)  dessen  „Leben" 
eines  der  Lieblingsbücher  Heniy  Esmonds  ist.  Was  fiir  ein 
Buch  gemeint  ist,  ob  überhaupt  an  ein  vorhandenes  Buch 
gedacht  ist,  dem  dann  der  Enkel  Esmonds  den  Stoff  zu 
seinem  Drama  entnimmt,  eine  Geschichte  aus  den  Kämpfen 
der  Beformation,  der  Bilder-  und  Klösterstürmer/')  ist  un- 
möglich festzustellen-  Es  existiert  tatsächhch  eine  Biographie 
Frundsbergs  von  Adam  Reißner  „Historia  Georgen 

1)  XXV,  p.  226.  —  «)  XXII,  208.  —  «)  XXV,  24Ö.  -  ^)  XXV,  257. 
^)  Oneäome  ülustr,  CMdren*s  Books.  Fräser* g  Ma ff.,  XX^TTT^  p.  496. 

«)  xvn,  18a.  ^  7)  n,  98.  —  b)  ix,  iös.  —  i»,  ix,  153 1 


I 


—     35 


und  Kaspern  von  F  r  u  n  d  s  b  e  r  g* '  ( Frankfurt  1 568). 
Daß  Thackeray  dieses  alte  Buch  gekannt  haben  sollte,  ist 
schwer  anzunehmen  und  so  ist  wohl  das  Buch  wie  Warring- 
tons Stoff  Thackerays  eigene  Schöpfung. 

Auch  der  Dreißigjährige  Krieg  findet  in  einzelnen  seiner 
hervorstehenden  Persönlichkeiten  gelegentUch  Erwähnung: 
Gustav  Adolf,*)  Wallenstein,  Butler-)  etc. 

Im  Vordergrund  seines  Interesses  aber  steht  das  Zeit- 
alter des  „Sonnenkönigs^'  und  dessen  EiniiuÖ  auf  Deutsch- 
land. Ludwigs  XIT.  Eroberungszüge,  die  die  Kheinlande, 
namentlich  die  Pfklz  verwüsteten,  meint  er  wohl  mit  den 
''camjmigns  of  the  Ehine  and  tke  Palatuiale'^^)  Die  Nach- 
ahmung Ludwigs  XiV.  an  den  deutschen  Höfen,  die 
Großmannssucht  aller  der  kleineren  und  größeren  deutschen 
Fürsten,  die  glänzenden  Hofhaltungen,  die  Pi'acht hauten 
nach  dem  Muster  von  Versailles,  die  Herrenhausen,  Wilhelms- 
höhe, Ludwigslust  u.  s.  C,  die  Biesensummen  verschlangen, 
die  aufzubringen  ganze  Eegimenter  verkauft,  wurden,  die 
Maitressen  Wirtschaft,  die  nicht  zuletzt  an  all  dem  schuld 
war^  hat  Thackeray  wiederholt  gegeißelt.'*)  Die  Höfe  des 
18,  Jahi'huncierts  sind  ein  Sammelpunkt  aller  Sorten  von 
Abenteurern  mämiliohen  und  weiblichen  Geschlechteg/j  der 
Meiflenbach,*^)  der  Königsmarck^)  und  wie  sie  alle  hießen. 
So  zieht  auch  Ban-y  L^iidon  von  einem  Hofe  zum  andeni. 
von  einer  SpielhöMe  zur  andeni ;  denn  an  den  Holen  jener 
Zeit  war  das  Spielen  ganz  gewöhnlich.  Er  kommt,  nachdem 
er  aus  Berlin  entwichen  ist,  nach  Dresden,  wo  es  ihm  an 
dem  flotten  Hofe  König  Augusts  ganz  gut  gefallt.^)  Aber 
weder  Dresden  noch  auch  Wien,  von  dem  Barrys  Onkel 
schwärmt,**)  können  sich  messen  mit  den  Höfen  der  Kirehen- 
fürsten  am  Khein,  zu  Trier  und  Köln.***)  Überhaupt  die 
süddeutschen  Höfe! 

Barry  Lyndon  gibt  uns  eine  ansführhche  Schilderung 
eines  solchen  Hofes  :>*)  Es  ist  das  Herzogtum  von  X  .  .  . 
Der  Herzog  residiert  nicht  in  seiner  Hauptstadt  S  .  .  ., 
sondern    er    hat   sich    einige   Meilen   von    derselben    einen 

-  *)XXILI,  8--10. - 


8» 


38 


fcy  her  hushand  föT  adulU^y;  Frederic  William,  bom  in  17 3 4^ 
m.  in  1780  the  Priucess  Carolina  of  Brunswick- Wolf enbuttel, 
whö  died  the  27^^  Sq)tember  1788.  For  the  rest  of  thc  stortf  see 
V Empire  ou  dix  ans  sousNapolem,  par  un  ChambeUan:^)  Paris, 
AJlardin  1836,  vol  /,  22ff\^) 

Zum  mindesten  ist  mit  dieser  Notiz  Klarheit  über  die 
Quelle  geschaffen,  aus  der  Thackeray  schöpft,  wenn  die- 
selbe auch  den  historischen  Tatsachen  widerspricht*  Die 
Geschichte  kennt  wohl  die  Namen:  Friedrich  L  (Wilhelm 
Karl),  König  von  Württemberg,  geb.  1764,  vermählt  seit  1780 
mit  der  Prinzessin  Auguste  Karoline  von  Braunschweig- 
Wolienbüttel,  welche  1787  starb.  Von  einem  Ehebruch  und 
Moni  weiß  die  Geschichte  nichts.^)  Thackeray  ist  also  hier 
einer  französischen  Skandalchronik  aufgesessen.  Wie  weit 
die  Berichte  des  französischen  Buches  gehen  und  wie  weit 
sie  von  Thackeray  benutzt  sind,  kann  ich  leider  nicht  fest- 
stellen, da  mir  das  Buch  nicht  zugänglich  war. 

Nicht  übersehen  darf  aber  jedenfalls  die  Ähnlichkeit 
dieser  Geschichte  mit  der  Tragödie  der  Prinzessin  von 
Ahlden  werden^  der  Gattin  des  ersten  Georg.*)  Die  all- 
gemeinen Züge  stiimnen  überein:  Die  leichtlebige  Prinzessin, 
die  Tochter  der  Französin  d'Olbreuse,  der  verschlossene, 
ernste  Gatte,  den  das  Wesen  seiner  Frau  wiederholt  zn 
WntanfäHen  bringt,  der  Geliebte  der  Prinzessin,  GrafKönigs- 
marck,  ein  Schwede  —  dort  ein  Franzose  —  an  dem  sie 
mit  leidenschaftlicher  Liebe  hängt;  das  Verhältnis  wird 
verraten,  der  Geliebte  wird  beiseite  geschaflfl,  die  Prinzessin 
interniert.  Freilich  bis  zur  Hinrichtung  kommt  es  nicht 
und  auch  die  Begleitumstände  bei  der  Entdeckung  stimmen 


^)  Der  Verfasser  dieses  Buches,  das  ich  leider  nicht  auftreiben 
kotiiit«,  ist  La  Mo  the  Houdaucourt,   später  La  Mo  the  Langon. 

3)  Biogy.  Ed.,  vol,  IV,  p.  XXXrV\ 

^)  Und  nicht  nur  in  Bezug  auf  den  angeführteii  Friedrich  I.;  ein 
derartiger  Fall  ist  der  Geschichte  Württembergs  überhaupt  iremd. 

*\  Vgl  Thackerays  eigene  Schilderung  in  den  „Fo«r  Georg€s'% 
XXm,  1H^21;  vgl.  auch  Frank  T,  Marzials  in  der  Einleitung 
meiner  Ausgabe  des  BaiTV  Lyndon;  daselbst  auch  über  die  Quellen 
und  Vorbilder  zu  Barry  Lyndon;  ebenso  Walter  Jerrold  in  der 
Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  (The  Prose  Works  of  \V  M.  Th.).  — 
Thackeray  notiert  übrigens  selbst  die  Ähnlichkeit  der  beiden  Flille 
XIX,  mL 


—    89    — 

nicht,  Thackeray  erzählt  nichts  von  dem  Emgreifen  der 
Maitresse  des  alten  Herzogs  imd  die  Geschichte  der  Prin- 
zessin von  Ahlden  weiß  nichts  von  einem  Smaragd  tind 
dem  Haß  eines  Pohzeiministers. 

Es  muß  festgehalten  werden:  Thackeray  wollte  in  seinem 
kultur-histoiischen  BrOman  '*The  Luch  of  Barnj  Lyndon'  auch 
ein  Schulbeispiel  für  die  Hofwirtschaft  jener  Zeit  geben.  Wie 
er  zeithch  kombiniert  —  Friedrich  den  Großen  und  den  Er- 
bauer von  Ludwigsburg,  Herzog  Eberhard  Ludwig  (f  1733i  — 
überträgt  er  —  wenn  auch  die  Grundlage  in  jenem  französi- 
schen Buche  zu  suchen  ist  —  auch  Züge  der  Katastrophe 
in  Celle  auf  die  Tragödie  in  Ludwigslust. 

Einer  eingehenden  Betrachtung  würdigt  Thackeray  in 
den  Vorlesungen  über  die  '*Füur  Georges"  natürlich  auch 
die  Vorfahren  des  englischen  Königshauses,  Es  ist  nun  von 
hohem  Interesse,  auf  diese  Partien  näher  einzugehen,  nicht 
so  sehr  wegen  des  Inhaltes  dieser  Schilderungen,  die  sich 
fast  durchweg  engstens  an  deutsche  Quellen  anschließen, 
als  \nelmehr  gerade  dieser  Quellen  wegen.  So  eingehende 
Studien,  wie  sie  Thackeray  eben  dem  **Esmmid"  hatte  an- 
gedeihen  lassen  und  wie  sie  George  Hodder,  der  Thackeraj^ 
bei  den  Schreibarbeiten  füi'  die  ,,  Georges''  im  britischen 
Museum  hilfreiche  Hand  leistete,  auch  f  üi-  diese  Vorlesungen 
behauptet,  \i  mögen  wohl  den  eigentlich  englischen  Kapiteln 
über  Georg  11.,  III.,  IV*  zu  gut  gekommen  sein,  viel  weniger 
dem  erwähnten  ersten,  in  dem  sich  Thackeray  ziemhch 
skrupellos  an  seine  Quelle  anschließt. 

Die  erste  und  wichtigste  Quelle  für  diese  Partien  ist 
Vehse,^  den  Thackeray  selbst  an  einer  Stelle  zitiert.^) 
Die  erst^  Erwähnung  der  ''Georges*'  fällt  Sommer  1852, 
während  der  deutschen  Heise:  *'/  had  a  notion  of  lectures 
oti  ihe  Four  Georges  and  going  io  Hannover,  to  look  at  the 
place  whefiee  the  race  came"*)  Damals  war  Vehsas  Buch  — 

ii)  Memoirs   of  my   time   by   George    Hodder,    London    1870^ 
cap.  XI,  ist  Thackeray  gewidmet. 
^)  Dr.  E.  Vehae,  Geschichte   der  deutöchen  Höfe  seit  der  Ee- 
fbrmatioH,  48  Bände.  Hamburg,  Hoffmann  &  Comp.  1852-1858,  ( Geseh, 
der  Höfe   des  Hauses  Braun.schweig    m   Deuts<.eblaüd   imd   England,) 
8)  xxm,  p.  7, 
*)  Bio^j\  Ed,,  X,  p.  1. 


—     40    — 


die  Partien  über  das  Haus  Braunschweig  erschienen  1853  — 
noch  nicht  veröffentlicht :  1853  aber  schon  erschien  in  Fräsers 
Magcmne  eine  Rezension  über  den  bereits  erschienenen  Teil 
„Geschichte  des  preußischen  Hofes  nnd  Adels 
nnd  der  preußischen  Diplomatie**, >)  der  noch  im 
selben  Jahre  eine  weitere  der  eben  erschienenen  „Ges^chichte 
der  Höfe  des  Hauses  Braunschweig  in  Deutsch- 
land und  England"  folgte.^)  Durch  diese  beiden  Aitikel 
dürfte  Thackeray  auf  Vehse  aufinerksam  geworden  sein^ 
wenn  nicht  sogar  der  zweite  Artikel  von  ihm  selbst  henührt.") 
und  nun  zur  Darstellung  Thackerays,  der  ich  hier 
unter  genauer  Berücksichtigung  der  Quellen  folge:  Thackeray 
beginnt  mit  dem  Sohne  Ernst  des  Bekenners,  Wilhelm 
*VAe  Pious*\  der  in  späteren  Jahren  der  Blindheit  und  dem 
Wahnsinne  verfiel;*)  bespricht  dann  das  Schicksal  der 
Söhne,  die  das  Los  entscheiden  ließen,  wer  heiraten  sollte, 
das  Geschlecht  fortzupflanzen;^)  läßt  dann  eine  genaue 
Beschreibung  des  Hofes  zu  Celle  folgen,  ein  Zitat  aus  Vehse:*) 
dann  Georgs,  des  glücklichen  Losgewinners,  Abenteuer  im 
Dreißigjährigen  Krieg  bald  aulMer  Seite  der  Kaiserlichen,  bald 
bei  den  Protestanten;^)  bedauert  die  Lockerung  der  Sitten 
unter  den  Söhnen  Georgs,  von  denen  der  zweite  das  Leben 
in  dem  damals  in  Mode  stehenden  Venedig  voU  auskostete 
nnd  schließlich  die  Französin  Eleanor  d'Olbreuse  heim- 
führte;®) übergeht  rasch  die  Teilungen  unter  den  Söhnen 
Georgs  und  die  Wiedervereinigung  der  Gebiete  in  der  Hand 

1)  vol.  XLVm,  p.  51)  ft,  —  2)  Ebenda  p.  445  ff", 

•^)  Thackerays  Verbindiing  mit  Fräser' s  Mag,  und  Übereiüstim- 
mungen^  nickt  nur  sachlicbe,  die  ja  bei  der  gleichen  Materie  nicht 
wundemebraen  düii^en,  sondern  sogar  wörtÜcbe  mit  einzelnen  Partien 
der  in  der  Biogr^  Ed,^  Xlllp  p.  64  ff.,  mitgeteilten  "Nott-Books** 
Thftckerays  zu  den  "G€or^€B*\  eine  wörtliche  ÜbersetzuDg  aus  Vehse, 
*'Th€  Köntff9fnarck^\  bringen  die  Annahme  der  Autorachafl  Thackeray» 
nahe, 

*)  XXIU,  p.  6^  nach  Vehse  XVIII,  p,  6t\;  auch  der  Vergleich  mit 
Georg  lU.t  der  gleichfaUs  blind  und  wahnsinnig  endete,  ist  Vehse  ent- 
Dommen,  —  Die  weiteren  Zitate  sind,  wo  nicht  anders  vermerkt^  für 
Bd,  XXm,  Stand.  Ed,  der  Werke  Thackerays^  beziehungsweise 
Bd.  XVIH  bei  Vehsc  zu  verstehen. 

**)  p.  6  u.  7,  nach  Vehse  p.  8  u.  9. 

*)  p.  T,  Absatz  2,  nach  Vehse  p.  9  u.  10, 

T)  p.  7,  nach  Vehse  p.  13—16.  —  »J  p-  7f.,  iiaeh  VebRe  p.  *27— 30. 


4 


4 

I 

4 


L 


41 


de«  Sohnes  des  jüngsten  der  vier  Brüder:*)  -streift  dann 
die  Konvertierung  des  di*itten  Sohnes  jenes  Georg  zum 
Katholizismus,^*)  um  sich  hierauf  in  einem  längeren  Exkurs 
über  die  Nachahmung  Ludwigs  XIV,  an  deutschen  Höfen, 
seinem  Lieblingsthema^  zu  ergehen;^)  notiert  dann  die  H*^irat 
des  ersten  Kurfüj^sten  von  Haimover  mit  Sophia,  der  Tochter 
des  Winterkönigs,  eine  Heirat,  die  dem  Hause  Haimover 
die  Anspiüche  auf  England  brachte,*)  und  geht  nach  einer 
kurzen  Anekdote,  welche  recht  hübsch  die  Anschauungen 
über  die  Konfession  der  weiblichen  Glieder  deutscher  Fürsten- 
häuser*) zeigt,  zu  einer  kurzen  Charakteristik  Ernst  Augusts 
über,  "a  memj  princCj  fond  of  dinner  and  the  hoiile*\  der  eine 
große  Vorhebe  für  Italien  hegt  und,  seine  glänzenden  Feste 
zu  bestreiten,  zu  dem  beliebten  Mittel  des  Truppenverkaufes 
greift,  trotzdem  aber  nicht  imökonomisch  und  nicht  ohne 
politischen  Weitbhek  ist;'^)  gedenkt  ferner  der  Einführung 
der  Primogenitur  durch  Ernst  August,  nicht  sehr  mit  Ein- 
verständnis seiner  Söhne, ^j  und  bringt  einen  Brief  der  Kur- 
fürstin, der  sich  mit  dem  Schicksal  ihres  zweiten  Sohnes 
beschäftigt;'^)  bespricht  dann  das  Schicksal  der  Kinder  Ernst 
Augusts,**)  spricht  weiter  von  dem  Briefwechsel  der  Herzogin 
von  Orleans,* ^)  Elisabeth  Charlotte,  dem  er  wohl  die  Episode 
von  der  Geburt  Georgs  L  entnimmt'^)  und  bringt  ihre 
Charakteristik  ihres  Vetters  Georg,  ''odiously  hardj  cold^ 
and  s^ilmt*'/^)  an  die  er  eigene  Bemerkungen  knüpt\:  er- 
wähnt  dann   Greorgs  1,   Teilnahme   an   den   Kriegen   seiner 

1)  p.  8,  nach  Yehse  p.  19  fl. 

«)  p.  8,  nach  Vehse  p.  32—34, 

8)  p.  B— 10. 

^)  p.  lOf  bei  Vehse,  dem  nur  die  TAtSBohe  entnommen  ist,  p.  52. 

"►)  p.  10  f, ;  Quelle  mir  imbekannt. 

«)  p,  11,  nach  Yehse,  p.  53—60  und  107  ff.  —  Truppenverkauf 
geiüelt  Thackeray  auch  sonst:  XIX,  72 f;  IX,  382,  408.  410. 

')  p.  12,  nach  Yehse  107. 

*)  p,  12,  etitnoumien  Vehse  p.  107,  Der  Brief  ist  au  Herzog  Rudolf 
August  von  Wolt'eubllttel  gerichtet;  bei  Thackeray  fehlt  ein  Passus 
in  der  Mitte, 

^  p.  12,  nach  Yehse  p.  107—115. 

^  p.  12*  bei  Yehfie  wiederholt  angeführt. 

**)  Bei  Vehse  nicht  erzählt. 

*S)  p,  12,  Vehse  teilt  p.  70  den  betretenden  Brief  vom  16.  März  1702 
mit,  aus  dem  oben  zitierte  Worte  wörtlich  üb  ertragen  sind. 


42    — 

Zeit  in  kaiserlichen  Diensten  als  Ki^onprinz,^)  seine  Vorliebe 
füj*  Hannover/)  seine  Kühlheit,  als  er  sein  Erbe,  die  Ki'one 
von  England,  übernimmt,  ''reasmuibly  ihuhtful  whelher  he 
should  not  hü  turtied  out  some  day;  loohing  upon  himself  anly  as 
a  lodf/er,  and  tnaking  the  tnost  of  kis  hrief  tenure  of  St,  Jmnes's 
and  Hampton  Gaurf*:^)  und  berichtet  kurz  von  den  Plün- 
derungen seitens  der  Deutschen  im  Gefolge  des  Königs;*) 
findet  aber  doch  einen  Vorteil  in  dem  deutschen  Protestanten, 
der  England  sich  selbst  regieren  läßt,  gegenüber  den  katho- 
lischen Stuarts.*)  Nach  kurzem  Hinweis  aui  seinen  eigenen 
Besuch  in  Herrenhausen  1852*)  und  Ei'wähnung  des  Todes 
der  Kurfürstin  Sophie  geht  Thackeray  zu  einer  freien 
Schilderimg  Herrenhausens  zur  Zeit  Ernst  Augusts  und 
der  beiden  ersten  George  über,^)  er  ist  wieder  bei  seinem 
Lieblingsthema,  '^ Louis  XIV*  and  Charles  II,  searce  disiingnish- 
ed  themselves  more  ai  Versailles  or  St,  James's  than  these 
Gennan  Sidians  in  their  little  ciiy  on  the  banks  of  the  Leifie'*: 
er  führt  sodann  einen  Brief  Mary  Wortleys  über  Greorgs  I. 
''painted  sera(;Uo"f  sowie  über  den  späteren  Greorg  II,  an;*) 
eine  Anführung  des  Rang-  und  Hofreglements  und  des 
Hofetats  unter  Ernst  August  folgt  sodann,*)  begleitet  von 
einigen  satirischen  Ausschmückungen.  In  längerer  Aus- 
führung wendet  sich  Thackeray  hierauf  der  Maitressen- 
wirtschaft an  den  Höfen  der  Zeit  zu  und  führt  einzelne 
dieser  weibhchen  Abenteurer  an,  die  Meißenbachs,  Aurora 
von  Königsmarck  u,  a.,  ^^)  um  sich  schlieölich  der  Geschichte 
der  Königsmarcks  zuzuwenden. 

^)  p.  12,  ausfahrlicher  nach  Vehae  p*  159  in  einem  Kote  Book 
[Bhgr,  Ed,,  XIII,  p.  BT]. 

^)  P.  12. 

8)  p.  13f  Vehse  bringt»  p,  9C>7,  eine  Depesche  des  französischen 
Gesandten  an  den  König  von  Frankreich,  1721,  in  der  sich  oben  zitierte 
Charakteristik  Bndet, 

*)  p.  13,  bei  Yehse  ausführlich  p.  *210u.  21L 

*)  p.  13. 

^  p.  13. 

7)  p.  13  f. 

8)  Lady  Mary  Wortley  Montagu;  eine  Ausgabe  ihrer  Werke 
erschien  London  1803^  The  LeiterB  and  other  worki  of  Lady  Mary  Wortley 
Montngu,  6.  Bde. 

»)  p.  15,  nach  Vehse  p.  115—123. 
»«1  p.  16. 


1 


Mrs.  Bitchie  veröffentlicht  in  der  Einleitung  zum 
XTTT.  Bande  der  Biogr.  Ed*  mehrere  Note-Books,  hauptsächlich 
zu  den  Georßes^  deren  eines  sich  mit  den  Königsmarcks  he* 
schäftigt.^)  In  die  Georges  selbst  ist  nur  ein  knapper  Aus* 
zug  dieser  ausführlichen  und  wohl  ursprünglich  ganz  für 
die  Georges  bestimmten  Abschnitte  aufgenommen,  die  übrigens 
die  BenutzLing  Vehses  vollkommen  beweisen,  wenn  noch  ein 
Beweis  nötig  wäre.  Sie  sind  eine  wörtliche  Übersetzung, 
die  nur  ab  und  zu  Unwesentliches  foiiläßt.  In  den  Four 
Gearges  selbst  erscheint  die  Geschichte  der  KÖnigsmarcks 
bedeutend  gekürzt  aus  dem  Note-Book. ^) 

Mit  Philipp  von  Königsmarck  ist  Thackeray  bei  der 
Geschichte  der  unglücklichen  Prinzessin  von  Ahlden 
angelangt.  Nach  einer  Kritik  des  Buches  von  Doran,^) 
in  welcher  Thackeray  die  Prinzessin  gegen  die  scharfe  Ver- 
urteilung seitens  des  Autors  zu  entschuldigen  und  verstehen 
sucht, ^j  und  nach  Erwähnung  des  von  Palmblad  nach 
den  in  der  Upsalaer  Universitätsbibliothek  befindlichen 
Briefen  herausgegebenen  Briefwechsels  zwischen  Sophie 
Dorothea  und  Königsmarck,^)  geht  er  zur  Schüdenmg  des 
Verhältnisses  der  beiden  und  der  Katastrophe  über,  wobei 
er  sich  ziemlich  genau  an  Vehse  anschließt:  KÖnigsmarcks 
Verhältnis  zur  Gräfin  Platen  und  zur  Prinzessin,  die  ihn 
leidenschaftlich  hebt  und  überallhin  mit  ihren  Briefen  ver- 
folgt; ihr  Plan  zu  fliehen;  ihre  Bitte  an  die  Elteni,  ihr 
Zuflucht  zu  gewähren:  ihre  Vorbereitung  zur  Flucht;  Königs- 


1)  Biogr.  Ed.,  Xni,  p.  LXIV— LXVII  =  Vehse  p.  72— 8tJ.  \2h&B^ 
Käme  ireilich  ist  nicht  geoannt. 

^)  p.  17. 

»)  Ltt)€»  of  ihe  Queens  of  England  of  the  Home  of  Hannover  bj 
Dr,  Dorau,  London  1853,  2  vols,:  voL  I,  p.  1—200.  Sophia  Dorothea  — 
Dorau  fußt  gleichfalls  großenteils  auf  Vehse.  —  Thackeray  unbekannt 
war  eine  1743  erschienene  Apologie  der  Prinzessin:  Menioirs  of  the 
Lote  and  State-Intrigues  of  the  Court  of  H  —,  From  the  Matriage  of  the 

Primeeu  of  Z  .  ,  .  .,  io  ihe  Cro^teol  Dettih  of  CoutU  K ki  A  Home- 

Truth  --  Written  origmalfy  in  High-Gervian  —  By  the  Vdebrated 
Couniess  of  K--k,  Sister  to  ihe  VnfortunaU  Nobleman.  London  Printed 
for  J.  H.  near  Ludgate  Hill  1743. 

^)  „Briefwechsel  des  Orafen  Königiömarck  und  der  Prinzessin 
Sophia  Dorothea  von  Celle",  Leipzig  1847.  Thackeray  wohl  nur  aus 
Vehi^e,  p,  82  11%  bekannt. 


m 


—     44     — 

marcks  unvorsichtige  Außeningeii  in  Dresden,  die  Eifersucht 
der  P!aten;*}  —  und  nun,  bevor  er  zum  Schluß  eilt,  noch 
einen  letzten  Blick  auf  die  Akteure  des  Trauerspieles,*)  eine 
kurze  Abschweifung  über  die  Schuldfrage  und  ein  histori- 
scher Exkurs  über  Eheimingen  in  Fürstenhäusern:'')  und 
endlich  die  Katastrophe:  Georgs  I,  Stelhing,  die  letzte  Unter- 
redung der  Prinzessin  mit  dem  Geliebten,  das  Eingreifen  der 
Platen  und  Königsmarcks  Ermordung ;  und  die  schließliche 
Intemiennig  der  Prinzessin  in  Ahlden.**) 

Die  folgenden  Partien  schildern  den  Anfall  Englands  an 
das  Haus  Hannover,  Georgs!,  Begierungsantriti  und  Einzug  in 
London,  seine  Hofwirtsuhaft  in  London  mit  seinem  deutschen 
Gefolge,  seinen  deutschen  Maitressen,  der  Kielmannsegg, 
der  i.  e.  ,,Maypole**  „Kletterstange**,  und  der  Schulenburg, 
dem  ^,Elephanten**  *'^)  u.  s.  f.  und  sind  von  da  ab  tur  die 
vorliegende  Arbeit  ohne  Interesse,  ebensowenig  wie  die  Hof- 
haltungen und  Geschichte  der  übrigen  George  in  London. 

Erwähnt  sei  an  dieser  SteUe  nur  noch  eine  von  Thackeray 
für  die  Londoner  Sittengchilderung  zur  Zeit  Georgs  L 
benutzte  Quelle,  die  Memoiren  des  Barons  Po  Unit z, 
der  nicht  nur  in  Georg  /.,  sondern  auch  in  einem  der  von 
JIrs.  Ritchie  veröffentlichten  Note  Books  als  Quelle  angegeben 
erscheint.*^) 

Die  letzten  Abschnitte  von  Oeorg  /,,  seine  Erki^ankung 
und  seinTod  in  Deutschland*  sind  wieder  nachVehse  gehalten. 
Daß  Vehse')  auch  in  Georg  IL  und  auch  den  andern  Georges 
gelegentlich  benutzt  ist,  sei  hier  nur  erwähnt. 


Was  die  übrige  deutsche  Geschichte  betrifil,  erscheint 
sie  nur  mit   gelegentlichen    Erwähnungen   vertreten:    Die 


*)  p.  18,  nach  Vehse  p.  89—98. 

8)  p.  18  f 

«1  p,  19. 

*)  p.  19—21,  nach  Vehse  p.  94— 101,—  Das  Datum  der  KatastTophe 
ist  L  JuH  1694 

•)  p,  22^  Yebee  auch  hier  noch  stark  benntait, 

ß)  p.  27.^"  Biogr.  Ed.,  XILL,  p.  LX^TII  f.,  LXXI, 

^  Die  Übereinstimmungen  mit  Vehse  in  George  /,  beschränken 
sich  nicht  nur  aul'  die  entsprechend  notierten  sachlichen  Cberein- 
Stimmungen,  sondern  es  zeigen  sich  wiederholt  direkt  wörtliche  Ent- 
ilehüungen. 


—    45    - 


Kriege  gegen  Napoleon,  die  Lützower,  "the  Black  Jägers'\  *) 

die  Schlachten  von  Leipzig^)  und  Waterloo  und  der  Kongreß 
zu  Wien,*)  wobei  freilich  den  Deutschen  nicht  die  gebührende 
Stellung  wird/)  wenn  auch  von  Blücher  als  ''ihecdehrated  Prus- 
sian  GeneraV  die  Rede  ist.^ )  Was  für  einer  Anschauung  er  übri- 
gens über  Blücher  ist,  zeigt  die  Anekdote  in  den  Four  Georges: 
Der  alte  Haudegen  blickt  vom  Turme  der  St,-Pauls-Kirche  auf 
London,  ein  tiefer  Seufzer  entfährt-  ihm :  **  Was  für  Phrndtr  /"*) 
Auch  eine  besondere  staatliehe  Eiiirichtung  in  Deutsch* 
land,  die  Freien  Städte,  erwähnt  Thackeray:  Bremen  J)  Ham- 
burg^) und  Fraukfui*t  am  Main,  **thefr€e  ciiy  of  Judensiadr .^) 

Austriaca:  Im  Anschluß  an  die  Behandlung  der 
deutschen  Geschichte  in  der  Auffassung  Thackeray s  sei  hier 
ein  Kapitel  erledigt,  das  eigentlich  in  den  Zusammenhang 
der  deutschen  Geschichte  gehört,  bei  näherem  Zusehen  aber 
doch  einer  besonderen  Znsammenfassung  wert  erscheint. 
Es  ist  ein  Abschn  itt  üb  er  österreichisch  e  V  e  r  h  ä  1 1- 
nidse,  soweit  sie  sich  bei  Thackeray  erwähnt  finden. 

Zunächst  sind  es  natürlich  die  Türkenkriege,  die  wir 
genannt  finden;  die  Belagerung  Wiens  und  der  Entsatz 
durch  die  Verbündeten,  Sobieski/'^)  dann  Prinz  Eugen,  der 
nicht  nur  als  Feldherr,  sondern  auch  mit  seinen  Sammlungen 
im  Beivedere  genannt  wirdJ*)  Wien  erscheint  als  recht 
lebenslustige  Stadt,  wenn  auch  von  anderen  übertroffen.") 
Erwähnt  wird  auch  Maria  Theresia,  Josef  II. ;  im  Sieben- 
jährigen Krieg  auf  österreichischer  Seite  der  Pandui'en- 
führer  Trenck;***)  übrigens  erwähnt  Thackeray  auch  den 
Östen'eichischen  Erbfolgekrieg.  ^*)  —  Den  Spielberg  nennt 
er  als  Gefängnis  für  politische  Verbrecher,  namentlich  liir 
unbequeme  Preßleute.**)  —  Und  dann  sind  wir  wieder  in 
der  Zeit  der  Franzosenkriege:  Austerhtz,^*)  Marengo,*'^)  der 
Hof  zu  Schönbrumi,^*^)  Kaiser  Franz**)  und  dann  sogar 
die   Volkshymne/**)    "God   preserve   (he  Emperor'',    '*Hmven 

i^y^  400.  ^  8)  I,  118  u.  295,  ^  «)  I,  297.  -  *)  I,  841.  -  ^)  \\  141. 
«)  XXIH,  ]».  28,  wohl  zu  verstehen :  wa«  wäre  da  nicht  alles  zu 

u): 


plündern ! 

')  XIX,  62.  -  8)  XTn,  211.  ^  »)  n.  296, 

10)  V,  «54;  n,  306.  -  ii)  V,  64.  ~  ^^)  XIX,  108,  126.  -  »«)  XIX,  108.- 
«*)  XIX,  129.  -  16)  y ,  16a—  1«)  IX,  299;  XX,  210.  -  "J  XXI,  13.  -  ^)  VI, 
1»)  XX.  213.  —  »)  XX,  210,  218> 


48     — 


waren  die  natürlichen  Sprecher  und  Verbreiter  dieser  Meinung 
lind  dui'ch  Jahrzehnte  und  Jahrzehnte  bis  in  Thackerays 
Zeiten  erhielt  sieh  die  Ansicht:  Friedrich  II.  ist  ein  heim- 
tückischer Räuber  und  mutwilliger  Friedensstörer.  Dann 
kam  der  Siebenjährige  Krieg,  England  war  im  Bunde  mit 
Friedrich  und  jetzt  modifizierte  man  diese  Ansicht  etwas, 
man  änderte  sie  nicht  gerade,  man  tilgte  nur  hinzu:  Friedrich 
ist  einer  der  größten  Feldherren,  Das  w^aren  die  Ansichten 
über  den  Könige  was  sein  öffentliches  Wirken  betraf.  Für 
sein  Privatleben  aber  stand  es  noch  schlechter;  die  Quellen, 
die  in  England  galten,  waren  alles  eher  als  lauter:  Voltaires 
„Vie  Privee  du  Roi  de  Prusse"  —  "a  scandalous  libeP' 
nennt  es  Carlyle  —  und  zum  Teil  wohl  auch  die  Memoiren 
der  Markgrafin  von  Bayreuth,  So  stand  es  um  Friedrich 
in  England  zu  seinen  Lebzeiten  und  diese  Meinungen  haben 
sich  bis  in  die  Mitte  des  19,  Jahrhunderts,  bis  auf  Carlyle 
erhalten,  der  ihrer  noch  gedenkt.^) 

Es  ist  nötig,    hier  auf  die  Au£fassung  Macaul ays  kurz 

[«inzugeheu,    da  sie  für  die  englische  Auffassung   in  jener 

^*2eit*)   und    auch    fiir   Thackeray   maßgebend    war    und   in 

manchen  englischen  Kreisen  heute  noch  gilt,  man  lese  nor 

das   Urteil    Leckys    in    seiner    Geschichte    Englands    im 

18.  Jahrhundert.*) 

Schon  Friedrichs  Vater  erscheint  bei  Macaulay  ziemlich 
schwarz:    "a  prmce  teho  must  be  aUowed   ic   have  pos$tss§d 

*)  Carlyle,  a,  a  O.  I,  p  10 fF 

*)ZimiVergLsei  hier  ein  Artikel  in  Frasert  Mag.,  XX1I1,1841— - 
also  vor  Alaoanlay  —  **Tablemix  of  the  mo$i  tmmfnt  soläters  of  th«  eigk' 
ieenih  Centwy  —  JFV^dmdt  II,'*  angefülirt,  Friedrichs  Charakter  erscheint 
folgen dermußeii  geschildert:  ^'great  as  a  hing  amd  litile  oi  a  man  — 
mhiajfs  admir^  tu  hi^  public^  netter  betaved  in  ki$  prwate  ckaracter :  — 
m  jmti,  gemrom,  9nd  UUxmam  prince,  -^  a  tarn,  mmneiow,  ümd  eoid- 
kemied  mdwidwü:  kuamom  hg  leMpanmenl^  iewipemU  m  prmeHet;  — 
a  m^jM  ^iemfeam,  tmd  t^€cimg  tki  kanime$9  of  tke  cgmc;  peoc^fuOg 
äi0!pa9€d  and  cnUiimImg  Übe  mrU  t^f  peaee,  gH  ^otrciHng  Ae  arU  of  %oar 
im  Cldr  din$i  form ;  —  a  wum  of  ietter§^  igmoramt  of  tikt  bemmUes  mmd 
dmdaimmg  t^  Umgumge  of  hk  tommttg;  —  wuLgnißeemi  mmd  aimm^  Übe 
Imädfr  of  palme€$t  tkmirm,  IAnne$,  mtd  tmuetmu  and  dging  Uieraüg 
mOHHU  a  uM§  MH  m  «IM  Jle  wmid  ht  hnned:  --  and  1a»tig,  ihe  moa 
Uümf  md  mmu^  ioMiir  4/  Mit  $m€,  —  and  akmom  dmHlmlk  ^  Übe 
im-'*  ßrm  ^MiSlif^  pmtmmk  oommge/' 

*»  Ä  lEKiüry  ^  Bnglamd  m  Übe  /^  ttmimrg.  Br  TT.  E.  H.  Leckj, 


—    49 


same  talents  for  administration,  but  whose  character  ums  dis* 
ßgured  btj  odious  vices^  and  whose  eccentridÜes  were  such,  a$ 
had  nevcr  before  hem  seeti  out  of  a  madhome,'*  ^) 

Eine  Manie  für  lange  Kerls,  die  ihn  viel  Geld  kosteten, 
auf  der  einen,  schmutziger  Geiz  auf  der  andern  Seite, 
nicht  nur  im  eigenen  Haushalt,  sondern  auch  in  Bezug  auf 
die  Kepräsentanz  im  Auslande  seinen  Gesandten  gegenüber; 
dabei  von  unnatürlicher  Härte  gegen  die  eigenen  Kinder: 
so  schildert  Maeaulay  den  König  und  das  war  auch  die 
Meinung  der  Zeit,  die  aus  den  Memoiren  der  Markgräfin 
von  Bayreuth,  Friedrich  Wilhelms  Tochter,  schöpfte,  einem 
Buche,  das  allzulange  unverdiente  Ehren  genossen  hat  und 
dessen  Geschichtsfälschimgen  und  clirekte  Verleumdungen 
erst  die  neuesten  Forschungen  aulgedeckt  haben.  Wenn 
die  eigene  Tochter  diese  Autfassung  in  die  Welt  getragen 
hat,  dann  ist  es  nicht  zu  wundem,  daß  die  ÖffentHchkeit 
sie  angenommen  hat.  Von  einem  andei-n  Vorwurf  aber  ist 
Maeaulay  nicht  freizusprechen;  Voltaires  schamloses  Libell 
hätte  er  niemals  zur  Quelle  für  seine  Darstellung  des  häus- 
lichen Lebens  Friedrichs  machen  dürfen. 

Macaulays  Urteil  über  Friedrich  II.  steht  seinem  Urteil 
über  Friedrichs  Vater  nicht  nach: 

**a  tyrant  of  ejclraordinartf  milüary  and  jmlitical  ialents^ 
4)f  industnj  fnore  extraordinart/  still,  wUhout  fear,  without 
faith,  and  withmd  meraj'*-)  —  "By  thc  public,  the  King 
tras  considered  as  a  poUtician  destituie  alike  of  nwrality  and 
dccency,  insatiably  rapaciatis  and  shamelessly  false;  nor  was 
the  public  much  in  the  mrong.  He  was  ai  the  same  Hme  alUmed 
io  be  a  man  of  patis,  a  rising  general,  a  shrewd  negotiaior 
and  administraior'* *) 

Nur  in  einem  Punkte  erkennt  Maeaulay  den  groÜen 
Friedrich  an:  ^'and  it  waii  only  m  adver sity,  in  adver sity  which 
seetned  without  hope  or  resource^  in  admrsity  which  would  havc 
cverichelmcd  wm  men  celebrated  for  strengtk  of  mind  thai  his 
real  greainess  could  be  shomh"*) 

Selbst  das  Feldhermtalent  Friedrichs  erkennt  Maeaulay 

»)  A,  a.  O*  (ed.  Tauclmitzt  p.  a. 
8)  A.  a.  O.  p.  14. 

*»)  A,  a,  n,  p,30, 
*)  Ebenda. 
Friiin,  Deut^icbü  KmltDnrorli&ltiiisae.  4 


—    50    — 


mclifc  unbedingt  an*)  tmd  wird  erst  bei  der  allerdings 
glänzenden  Scliüdening  des  Siebenjährigen  Krieges,  mit 
der  das  Buch  schlieijt,  etwas  wärmer. 

Wie  ganz  andere  sieht  das  Urteil  Carlyles  aus: 

"fle  left  the  tvorld  all  bankrupi  we  may  say ;  faUm  in 
hottomless  ahysses  of  destructian ;  he  still  in  a  payinff  cofidition, 
cmd  with  fooHng  capable  io  carry  his  affairs  .  .  ,  This  also  is 
ane  of  the  peculiarities  of  Friedrich,  that  he  is  hitherio  the  last 
of  ihe  kings;  that  he  ushers-in  the  French  Revolution  and 
eloses  an  Epoch  of   World-History/'^) 

Aber  Carlyles  Buch  erschien  erst  gegen  Ende  der 
Lebenszeit  Thackerays  und  ist  daher  für  die  Auffassung 
desselben  —  es  kommt  ja  hauptsächlich  der  1844  erschienene 
y,Barry  Lyndon"  in  Betracht  —  ohne  Einfluß.  ''The 
ImcV*  —  oder  wie  später  ''The  Memoirs*'  —  '*of  Barry  Lyndon^ 
Esq"  erschien  zur  Zeit,  als  eben  durch  die  Publikationen 
Campbells  und  Macaulays  die  Aufmerksamkeit  wieder  auf 
Friedrich  gelenkt  war  und  beide  Autoren,  namentlich  der 
letztere,  sind  nicht  ohne  Einfluß   auf  Thackeray  geblieben. 

Man  vergleiche  nur  Thackerays  Urteil  über  Friedriclis 
Vater,  allerdings  in  einem  späteren  Werke^  in  den  "Fotir 
ßeoryes' ;  er  gibt  dabei  ausdrücklich  die  Memoiren  der 
Markgräfin  von  Bayreuth  als  Quelle  an,  die  ja  auch 
Macaulay  benutzte:*)  *^ Frederick  the  Grcai's  father  knock^d 
dotim  his  sous,  dauphters,  ofßcers  of  state;  he  kidnapped  big 
men  all  of  Enrope  over  to  make  grenadiers  of;  his  fvasts,  his 
parades,  his  winc-parties,  his  tobacco-parties  are  all  describedAj 
Jonathan  Wild  ihe  Great  in  language,  pleasures^  and  behaviour^ 
is  scarcely  nwre  delicaie  ihan  this  Gennan  sovereign,"^)  Das 
Urteil  erinnert  stark  an  Macaulays  Anschauung^  den  Thacke- 
ray übrigens,  wenn  auch  nicht  ausdrücldich  für  das  vor- 
liegende  Thema,  doch  unbedingt  als  Autorität  anerkennt,**) 
Man    stelle    daneben    aber    Carlyles   Beurteilung,    der  das 

*)  Man  vergL  den  tiereits  erwähnten  Artikel  in  Fraser*s  Mag.  XXIII, 
der  Friedrich  II.  als  Taktiker  hinter  Gustav  Adolf,  Karl  XII.  und  dea 
Marschall  von  Sachsen  «» teilt. 

«)  A.  a.  0.  vol,  I,  p.  5, 

^)  Freilich  wirken  hier  wohl  auch  schon  Dr.  Vehses  Hof- 
geschichten mit  ein. 

*)  sc.  im  Bnche  der  Markgräfin  von  Bayreuth. 

6)  XXIII,  36.  -  «)  III,  38Ü. 


• 


Treiben  Friedrich  Wilhelms  auch  gekannt  und  verstanden 
hat,  trotz  Wilhelminens  Buch : 

"Wilder  son  of  naiure  seldom  came  into  the  ariificial 
World;  into  a  royal  throne  never  probably.  A  wild  man^  wholly 
in  eamesi,  veritable  as  the  old  rorks,  —  and  wiih  a  ierrible 
volcanic  ßre  in  him  too*  He  would  harn  beefi  stränge  amjwhere; 
huA  amoftg  the  dapper  Itoyal  getdlemen  of  the  Eighiemth 
Century,  what  was  to  be  done  with  such  an  Orson  of  a  Kimj  ?  — 
Clap  him  in  Bedlam,  and  bring  out  the  ballot-boxes  instead? 
The  modern  gmieratioti  too  still  takes  its  impression  of  htm 
froni  these  rumours,  —  still  more  now  from  Wilhdmina*s  Book^ 
which  paints  the  ouiside  savagerg  of  the  rmjal  man  in  a  most 
striking  manner:  and  leaves  the  inside  vaeant;  nndiscovered 
by  Wtlhelmina  or  the  rumours/'^) 

Und  einige  Seiten  weiter  spricht  Carlyle  das  tiefsinnig- 
schöne  Wort  von  dem  „stummen  Poeten'^: 

"We  are  tenipied  to  call  Friedrich  Wilhelm  a  man  of 
genius  —  genius  fated  and  promotcd  to  work  in  National  Hus- 
bandry  not  umting  Verses  or  three-volume  Novels.  A  sileni 
gmim/'*) 

Und  nun  zu  Friedrich  selbst! 

Die  bereits  besprochene  Auffassung  Friedrichs  in  Eng- 
land, an  der  auch  Macaulay  festhält,  findet  sich  ebenso  bei 
Thackeray:  Friedrich  ist  ein  großer  Feldherr,  der  Lehr- 
meister der  Kriegskunst,  das  bleibt  unbestritten^);  sonst 
aber  findet  auch  Thackeray  nicht  viel  Gutes  an  ihm.  Es 
muß  allerdings  Wunder  nehmen,  wie  Friedrich  von  seinen 
Zeitgenossen  und  namentlich  auch  in  England  als  Vor- 
kämpfer des  Protestantismus  verheniicht  werden  konnte, 
Friedrich  der  Freigeist  imd  Vertreter  religiöser  Toleranz 
als  ** Protestant  hero".*)  Barry  Lyndon  läßt  da  seine  Lands- 
leute einen  Blick  hinter  die  Kulissen  tun :  Daheim  in  Irland, 
bei  den  Protestanten  natüi'lich  nur,  wird  jeder  Sieg  Fried- 
richs als  Triumph  der  protestantischen  Sache  gefeiert,^) 
Friedrichs  Geburtstag  wird  festlich  begangen*,)  er  selbst 
fast  wie  ein  Heiliger  verehrt.')  In  Friedrichs  Diensten  aber 

*)  A.  8.  0. 1,  p.  287.  —  S)  A.  a.  0.  I,  p,  21*1. 
^  V,2Bf;  IX,  260,  194;  XIX,  an  zahireichen  Stellen  u.  a. 
«)  XIX,  21,  m  u.  a.  —  »)  XIX,  60.  —  »J  Ebenda  —  T)  Ebenda;  vgl. 
Mftcanlay  a.  a   O.  p.  81. 

4* 


macht  Barry  ganz  andere  Erfahrungen;  der  ^'Proiesitjmi 
hero**  fuhrt  Krieg  mit  den  protestantischen  Schweden  und 
Sachsen^  ^)  eine  ganze  Menge  Papisten  kämpft  in  seiner 
Armee  fiir  die  Sache  des  Protestantismus.-)  Auch  an  anderer 
Stelle,  in  den  **Four  Georpes'*,  gibt  Thackeray  seiner  Ver- 
wunderung Ausdruck,  daß  man  Friedrich,  der  eigentlich 
gar  keine  Religion  habe,  in  England  solange  als  den  Ver- 
fechter des  Protestantismus  bezeichnen  konnte,  denselben 
Friedrich,  der  seiner  eigenen  Verwandten,  Karoline  von 
Änspach»  zum  übertritt  zum  Katholizismus  riet,  als  sich 
der  katholische  Erzherzog  Karl  von  Osterreich,  der  spätere 
Karl  Vn.,  um  sie  bewarb,^)  Das  urteil,  das  Thackeray 
seinen  Helden  gegenüber  dieser  zeitweiligen,  unter  dem 
Eindruck  von  Friedrichs  Siegen  stehenden  Verherrlichung 
über  den  „Vorkämpfer  des  Protestantismus^  fällen  läßt,  ist 
keineswegs  milde:  *\  .  ,  we  are  al  the  prescfit  momejit  admiring 
Ute  ^Great  Freder ick\  as  we  call  htm,  and  his  pküosophy,  and 
his  liberaliii/t  and  his  milOart/  gmtuSt  I,  fcho  have  served  htm, 
and  been  as  it  were  behind  the  scenes  of  which  that  great 
spectack  i$  composed  can  onlt/  look  tU  it  wüh  horror^'^)  Und 
ein  anderes  Mal  nennt  er  den  Philosophen  von  Sanssouci*) 
geradezu  **^Ac  godless  dd  Frederick  of  Pnissia'\^)  ähnlich 
wie  er  in  den  *'Four  Georges"  auf  Friedrichs  Freidenker- 
tum  hinweist.^) 

Das  Privatleben  Friedrichs  kommt  außer  den  kurzen 
Streiflichtern  über  die  religiöse  Stellung  Friedrichs  fest 
gar  nicht  zur  Sprache.  Nur  der  Hof  wird  erwähnt:  ''the 
siem  €ouri'\^)  der  die  Vergnügungssucht  der  übrigen  Höfe 
nicht   kennte    **the   wreiched   Barrack-court   of  Berlin  \^)  wie 


>)XIX,  60.  -  «)  Ebendo.  -  »)  XXIU,  m, 

*)  XIX,  64  -  »)  XIX,  lit;  vgl  XIX,  &5.  -  «)  XIX,  60. 

^)  XXHI«  39.  —  Ganz  im  Gregensatz  zur  herrschendeo  Meinii 
Buchte  Campbell  in  seinein  Boche  —  dessen  Herausgeber  er  freilich 
utir  sein  will  —  Friedrich  gegen  den  Vorwurf  des  Atheismus  in  Schutz 
zu  nehmen,  vol.  IV,  127,  i^ie  er  auch  in  der  von  ihm  selbst  herrühren- 
den Einleitung,  vol.  I,  p.  IX,  Friedrichs  Sache  mit  der  protestan- 
tischen Sache  i'ür  verquickt  erklärt,  "liis  vickmes  were  in  no  hjhuU  degree 
connected  wük  tlie  safeig  af  prote$tanti^n*%  da  nach  »einer  Meinung  mit 
dem  Sieg  des  katholischen  Österreich  ein  starkes  Zurdckdrängen  des 
PiH>te6tantismus  auf  dem  Kontinente  hätte  erfolgen  müssen« 

8)  XIX,  97.  —  »)  XIX,  126. 


die    Hauptstadt   selbst   **the   miserable   capiial  in   ihe   greai 

Sandy  deserf'J) 

Anch  als  Feldherm  zeigt  uns  Thackeray  Friedrich 
eigentlich  nicht.  Nur  gelegentlich  erwähnt  er  Schlachten 
Tind  Kriegsvorgänge:  Lissa^)  —  gewöhnlich  Schlacht  bei 
Leuthen  genannt,  1757 ;  Lissa  war  nur  der  Schlußpiinkt 
der  Kämpfe  des  Tages  — ;  Hochkirchen, ^)  1758;  doch 
scheint  er  merkwürdigerweise  hier  einen  Sieg  der  Preußen 
anzunehmen  — ;  Kubnersdorf^)  —  1759,  er  schreibt  KühnerS' 
darf  — ;  er  spricht  auch  von  der  Brandschatzung  Berlins 
durch  die  Österreicher*)  —  es  ist  der  Handstreich  Hadiks 
mit  seinen  Kroaten  am  16,  und  17,  Oktober  1757  gemeint  — 
und  streift  anch  die  Operationen  auf  dem  westlichen  Kriegs- 
schauplatz, wo  die  englischen  Verbündeten  Friedrichs  und 
Prinz  Ferdinand  von  Braunschweig*)  kämpften*  Von  den 
übrigen  Führern  der  preußischen  Armee  erwähnt  er  den 
Öeneral  Bülow^)  und  von  der  Gegenseite  den  Panduren- 
fiihrer  Trenck.*} 

Das  Gewicht  der  Schilderungen  im  ^Barry  Lyfidon'' 
ruht,  soweit  sie  sich  auf  preußische  Verhältnisse  und  den 
großen  König  bexieh»?n,  auf  den  Armeeverhältnissen,  Darin 
liegt  auch  ihr  Hauptwert.. 

Ein  glänzendes  Bild  ist  es  gerade  nicht,  das  Barry  von 
den  Verhältnissen  in  der  preußischen  Armee  entwirft.  Die 
strenge  Disciplin,  notwendig  bei  der  Zusammensetzung  der 
Armee  nicht  nur  aus  Landeskind em,  sondern  auch  aus  zahl- 
reichen Frenaden,  wie  Campbell  zugibt, **)  behagte  Barry  ganz 
und  gar  nicht  und  auch  Thackeray  scheint  die  Notwendig- 
keit nicht  ganz  einzusehen;  aber  in  der  Schilderung  der 
Auswüchse  dieser  Strenge  geht  er  entschieden  zu  weit: 
''The  iife  tlie  private  sokUers  led  was  a  frightful  one  to  antj 
but  men  of  iron  courage  and  emjurance.  There  was  a  corporal 
to  every  ihree  wtfiw,  marching  bekind  them,  and  piiilesshj  using 
the  cane:  so  much  so  that  it  used  to  be  said  in  action  iherc 
was  a  front   rank  of  privates  and  a  second  rank  of  sergeanis 


1)  XIX,  lOäj  vgl.  XIX,  96:  vgl.  Macaulay,  p.  43, 
»)  XIX,  fiO.  -   »)  XIX,  188.  ^  *)  XIX,  265.  —  »)  IX,  260.  - 
fi)  XIX,  62.  -  ')  XIX,  95 
»I  XIX,  1Ö3. 
»)  A.  a.  0.  IV^  p.  44  «: 


A 


—    B4    — 

to  drive  them  o«/'*)  Noch  deutlicher  spricht  er  sich  über  den 
Qabraiich  des  Stockes  an  anderer  Stelle  aus:  **Th€  punish- 
mmt  wus  inccssanL  Every  ofßcer  had  the  liberiy  io  infiici  i(, 
and  in  peace  H  was  more  cruel  ihan  in  war.  .  .  .  /  kam 
Seen  tiw  bravest  mm  of  the  antiy  cnj  Ulce  children  ai  a  cui  of 
ihe  mne;  I  have  seen  a  liUle  ensigtt  of  ßfietn  mll  out  a  man 
of  fißy  front  the  ranks,  a  man  who  had  been  in  a  hundred 
battles,  and  he  has  stood  presmiting  arms,  and  sobbing  and 
hoiifliug  Uke  a  baby,  while  the  young  wretcit  lashed  him  ovet 
ihe  amts  and  ihighs  with  the  stick,"  ^) 

Man  vergleiche  damit  das  Urteil  eines  Franzosen»  das 
Kos  er  zitiert*):  man  irre^  wenn  man  glaube,  daß  der 
preußische  Soldat  beständig  unter  dem  Stocke  lebe;  die 
Streiche  würden  stets  nur  auf  Befehl,  nicht  willkürlich  oder 
im  Affekt  verabreicht.  —  Übrigens  herrschte  der  Stock 
auch  anderswo.  Daß  aber  die  preußischen  Truppen,  mochten 
auch  noch  so  viele  angeworbene  und  gepreßte  Ausländer 
mit  darunter  sein,  in  die  Schlacht  geprügelt  werden  mußten, 
ist  doch  ein  wenig  stark  aufgetragen.*) 

Aber  es  kommt  noch  besser.  Bairy  erzählt  von  grauen- 
haften Unmenschlichkeiten,  zu  denen  sich  die  Soldaten  in 
Verzweiflung  über  ihre  unerträgliche  Lage  hinreißen  Heßen. 
Sie  töteten  Kinder,  um  diesen,  bei  ihrer  Unschuld,  den 
Himmel  zu  sichern  und  sich  dann  selbst  als  schuldig  zu 
stellen  und  so  der  harten  Lage  ein  Ende  zu  machen.*) 
Die  Kenntnis  solcher  VorJfiUle  entnahm  Thackeray  Camp- 
bellsBuch,**)  Sie  erinnern  stark  an  die  Praxis,  die  von  den 
Spaniern  in  Peni  berichtet  wurde,  eben  getaufte  Heiden- 
kinder ins  Himmelreich  zu  befördern,  und  sind  übrigens  dem 
'^ babblenietit  of  Iging  Anecdates^  false  Criticism,  hungry  Fretich 
Memoirs'\  von  dem  Carlyle  spricht,^)  zuzurechnen,  ('brigens 
schwächt  Thackeray  selbst  diese  krassen  Schilderungen 
gleich  darauf  ab  :  **  The  tndh  is  however  ti^ai  ihere  was  among 
our  tuen  (i.  e.  den  Preußen)  a  much  higher  tone  of  socieiy  ihan 
among  the  clumstj   louis  in  the  English  artny,   and  our  Service 


1)  XIX,  93.  —  8)  XIX,  SH.  -  »)  A  a.  O.  I,  639,  und  dazu  An- 
merkoBg  p.  642. 

*)  Thackeray  fand  diese  Behauptung  in  dem  bereits  zitierten 
Artikel  in  Fräser' s  Mag,  XII L 

ft)  XIX,  93  f.  -  •)  A.  a.  0.  IV,  44f.  —  T)  A.  a.  0.  I,  11. 


—    65     — 


was  generally  as  strict  ihat  we  had  Utile  time  for  dohig  mis* 
Chief:'') 

Natürlicherweise  ist  Barry  Lyndon  auch  mit  der  Ver- 
köstigiing  nicht  zufrieden  "t}^  abominable  raiimis  of  small- 
beer  and  sauerkrauf*^)  —  das  Sauerkraut  verzeihen  uns 
die  Engländer  doch  nie')  — ;  ebensowenig  gefallt  ihm  die 
Verordnung»  die  dem  gemeinen  Soldaten  das  Heiraten  nui' 
mit  direkter  Erlaubnis  des  Königs  gestattet  und  ihm  die 
reiche  Witwe  unerreichbar  macht.*) 

Die  große  Strenge  der  Strafen  schreibt  Barry  zum  Teil 
der  Entfernung  der  bürgerlichen  Elemente  aus  dem  Offiziers- 
korps nach  dem  Kriege  zu.  Ob  clabei  mit  der  Bniskheit 
vorgegangen  wurde,  wie  Bany  erzählt,  daü  der  König  ver- 
diente Offiziere  vor  die  Front  rief:  **He  is  not  noble,  lef 
htm  Qo'*^)  ist  gerade  nicht  anzunehmen.*)  Sonst  aber  stimmt 
Barry's  Angabe;  nach  Beendigung  des  Krieges  wiii'den  die 
nichtadeligen  Elemente  aus  dem  Offizierskoi-ps  entfernt, 
die  anrüchigen  Subjekte  —  in  Kriegszeiten  waren  natürlich 
auch  viele  Abenteurer,  namentlich  in  die  Freibataillone  ge- 
langt —  wurden  entlassen^  wer  einwandfrei  und  brauchbar 
war,  wurde  bei  einem  Gamisonsregiment   untergebracht,^) 

Was  die  Zusammensetzung  der  Armee  betrifft,  gibt 
Thackeray  ein  im  allgemeinen  ganz  richtiges  Bild:  ein 
fester  Stock  von  Offizieren  und  Unteroffizieren,  durchwegs 
Preußen,  sonst  aber  neben  Landeskindem  Geworbene  und 
zum  Teil  auch  Gepreßte  aus  aller  Herren  Ländern,*)  Die 
Ergänzung  der  preußischen  Armee  erfolgte  zum  Teil  durch 
das  ^Kanton-System"*  aus  Landeskindeni,  zum  Teil,  da 
dieses  nicht  ausreichte,  durch  Werbimg*  Mit  Werbe-  und 
Eskortepässen  gingen  die  Werbeofi&ziere,  für  die  das  Werbe- 


1)  XIX,  95. 

2)  XIX,  iia  —  8)  Vgl  vn,  sei;  xx,  laö. 

*)  XIX,   lü2f. 

^)  XIX,  94. 

ö)  Bei  CampbeU  fand  Thackeray  folgende  Anekdote:  Als  der 
König  bei  einer  Musterung  einen  nichtadeligen  Offizier  fand,  erklärte 
er  dem  Kommandeur,  er  müsse  ihn  los  werden.  Als  dieser  jedoch 
die  Verdienste  des  Offiziers  hervorhob,  erklärte  der  König»  dann  gäbe 
es  nur  einen  Ausweg :  den  betreffenden  Offizier  zu  adeln.  IV,  23  ff. 

')  Vgl.  Kos  er,  a.  a.  O,  II,  5051 

*»)  XiX,  98:  vgl.  Koser,  a.  a.  O.  I,  533. 


=-     56 


geschäft  eine  recht  eiBtrÜgUche  Sache  war,^)  mit  ihrer  Be- 
gleitung ins  Ausland.  Hinterlistige  Täuschungen  und  Ge- 
walttaten waren  zwar  strengstens  verboten,  aber  es  blieb 
auch  da  beim  Alten  und  der  König  konnte  nicht  überall 
sein.')  Diesen  Auswüchsen  hat  Thackeray  in  seinen  Schilde- 
rungen einen  weiten  Platz  gewährt^  sein  Barry  fällt  ja 
in  die  Hände  preußischer  Werber.  Der  preußische  Offizier 
hat  den  englischen  Deserteur  erkannt,  lockt  ihn  in  ein 
Wirtshaus  und  läßt  ihm  die  Wahl,  Handgeld  zu  nehmea 
oder  als  Deserteur  ausgeliefert  zu  werden;  die  Bajonett© 
der  Werbe-Eskortö  unterstützen  das  Angebot  nachdrücklich 
und  so  wird  Barry  preußischer  Soldat,  seine  Barschaft  wird 
Beute  der  Werber.  **)  Derartige  Fälle,  daß  Deserteure  neues 
Handgeld  nahmen  oder  gepreßt  wurden,  waren  freilich  nicht 
selten**)  Der  Fall  Barrys  ist  übrigens  nicht  der  einzige 
Fall  einer  Pressung,  den  Thackeray  anfiihrt:  Abgesehen 
von  dem  von  Barry  gelegentlich  erzählten  Fall  des  '^Morgan 
Frussia'*,^)  wird  noch  der  Fall  des  Kandidaten  erwähnt,*) 
der  vor  seiner  Probepredigt  durch  die  List  eines  Juden,  der, 
sich  konvertieren  zu  lassen,  Neigung  zeigt,  in  dasselbe  Wirts- 
haus wie  Barry  gelockt  wird,  wo  man  ihn  für  einen  Deserteur 
und  gefangen  erklärt,  und  ihm  trotz  seiner  Proteste  und  Hin- 
weise auf  seinen  geistlichen  Stand  seine  Papiere  abnimmt;') 
oder  die  Geschichte  des  französischen  Offiziers,  der  in  voller 
Uniform  aufgegriffen  wird,  freüich  bei  einer  etwas  heiklen 
Oesclüchte,  *Ht  was  a  hve^-affair  wÜh  a  Hessian  lady  tchich  caused 
kirn  to  be  unattended"  ;^)  oder  des  Mr,  Fakenham,  in  dessen 
Kleidern  Barry  desertiert  und  der  seine  Pressung  auch 
Barry  verdankt;**)  und  schließlich  der  letzte  unglückliche 
Werbeversuch  des  Offiziers,  der  auch  Barry  aufgegriffen 
hat  —  etwas  stark  aufgetragen  — :  Galgmsiein  wird  von 
einem  französischen  Posten  auf  der  Brücke  zwischen  Kehl 
und  Straßburg  aufgegriffen,  als  er  diesen  zum  Verlassen 
des  Postens  und  zur  Annahme  preußischen  Handgeldes  ver- 


»)  Vgl.  XIX,  77,  —  2)  Vgl.  Koser,  a.  a.  0, 1,  538. 
8)  XIX,  72 ft:  —  ^)  Vgl.  Koser,  a,  a,  0. 1,  539,  -•  6)  XIX,  73 f. 
•i)  Der  wiederholt  zitierte   Artikel  in   Frmer'»  Maff.  XXJIT  ^b 
Thackeray  das  Vorbild  für  diesen  Fall  in  einer  Notiz  unter  dem  fcJ trieb* 
* »  XIX,  81  ff. 
»)  XIX,  87,  —  »)  XIX,  92  t; 


N 


leiten  will,  tmd  wird  dann,  da  Friedrich  ihn  verleugnet,  als 
Spion  gehängt  J) 

Daß  bei  den  Werbungen  Vergewaltigungen  und  Über- 
griffe vorkamen,  wird  niemand  leugnen*  Geschichten,  wie 
die  des  Kandidaten  der  Grottesgelahrtheit,  kamen  vor,  man 
nehme  nur  die  Geschichte  des  Kandidaten  Neubauer, 
die  dieser  selbst  erzählt,^)  oder  seines  Leidensgenossen 
Bräcker,  der  gleichfalls  eine  Beschreibung  seiner  Dienstr- 
zeit hinterlassen  hat,^)  Aber  das  war  doch  nur  der  kleinste 
Bruchteil ;  der  Hauptteil  der  Geworbenen  waren  Leute,  die 
nichts  zu  verlieren  hatten  und  die  es  daheim  nicht  duldete/) 
Thackeray  freilich  sieht  nur  die  Auswüchse;  daher  sein 
schroffes  Urteil: 

**The  great  and  ühtstrious  Frederick  had  scores  of  ihose  white 
slave-dealers  all  round  ihe  frontiirs  0/  his  kingdom  dehauching 
iroaps  or  kidnapping  peasants  and  hesitating  ai  no  crime  to 
suppig  ihose  hrilliani  regimmts  of  his  wiih  food  for  powder,**^) 

Und  doch  wai'  Friedrich  nicht  der  einzige,  der  dieses 
notwendige  Übel  eben  anwenden  mullte. 

Die  Folgen  eines  derartigen  Preßsystems,  wie  es 
Thackeray  schildert,  sind  natürlich  massenhafte  Deser- 
tionen. Er  gibt  uns  selbst  mehrere  Beispieler  Von  den  600 
Franzosen,  die  im  Bülowschen  Regiment  beim  Ausmarsche 
standen,  waren  nach  der  Rückkehr  sechs  vorhanden,  die 
übrigen  tot  oder  desertierb,'*)  **The  deserting  to  and  fro  was 
pradigioiis,'"')  Hieher  gehört  auch  die  Geschichte  von  "ir? 
Blondin"  und  seiner  Verschwörung  in  Neiße,*)  deren  historische 
Grundlage  schwerlich  festzustellen  ist.**) 

iiXIX,  77  ff. 

^)  Curictilum  vitae  mil,  Dom,  Noubaner,  herausg.  von  H.  Weber 
(Neue  Christoterpe  1892);  vgL  Kos  er,  I^  539. 

3)  Der  arme  Mann  iu  Tockenburg,  herausg.  von  E.  Bölow  (1852): 
vgl  Kos  er,  I,  539. 

*)  Vgl.  Koser,  a,  a.  0.  I,  ^39.   -  »)  XIX,  77.  -  •)  XIX.  93.  — 

T)  Ebenda;  vgl.  Campbeil  IV,  46.  —  «)  XIX,  8»  ff. 

•)  Als  Vorbild  wäre  wohl  an  Trenck  zu  denken^  dessen  G^' 
Hchichte  SiU!^  CumpbeU,  II,  ^363  ff.,  Thackeray  bekannt  sein  maßte:  Sein 
Ausbruchsversuch  in  Glatz  mit  Hilfe  eines  Offiziers  und  dos  Wacht- 
postens (p.  6ti)  oder  seine  Verschwörung  mit  den  österreichischen 
Kriegsgefangenen  in  Magdeburg  (p.  3öD).  Vielleicht  auch  benutzte  er 
das  bei  Campbell,  U^  1%,  mitgeteilte  Komplott  der  rus.sischen  Gefan- 
genen in  Kttstnn. 


-     58    — 


Thackeray  setzt  die  große  Zahl  der  Desertionen  anf 
Konto  der  widerrechtlichen  Pressungen  und  der  eisernen 
Disziplin ;  es  gab  aber  auch  eine  Menge  Leute,  die  aus  dem 
Handgeld-Nehmen  ein  Geschäft  machten ;  heute  hier  deser- 
tierten, um  morgen  dort  neuerdings  Werbegeld  zu  nehmen 
11.  8.  £^  unstäte  Bursche,  die  es  eben  nirgend  lange  aus- 
hielten. *) 

Das  Desertieren  war  übrigens  nicht  gar  so  leicht.  Die 
Regimenter  wechselten  selten  die  Garnisonen,  so  daß  man 
jeden  kannte;*)  die  Überwaclinng  der  Fremden  in  der 
Aröiee  war  sehr  streng;  ihre  Briefe  erreichten  selten  ibre 
Bestimmung  oder  wurden  doch  vorher  gelesen,  damit  nicht 
unnützer  Lärm  entstünde;^)  die  Preise,  die  auf  Deserteure 
gesetzt  waren/)  mußten  natürlich  die  Habsucht  der  Land- 
bewohner erwecken  und  so  freche  Desertionen  wie  die 
Barrys  glückten  natürlich  nicht  immer. 

Das  ist  das  Bild,  das  Thackeray  von  dem  preußischen 
Soldatenwesen  entwirft.  Daneben  wirft  er  nur  noch  einen 
kurzen  Blick  auf  das  Polizeiwegen» 

Das  Spitzelwesen  tritt  in  den  Vordergrund  der  Schilde- 
rung. Jeder  Fremde  wird  in  Berlin  bewacht  und  als  Spion 
beargwöhnt:  ^The  King  %$  so  jealous  that  he  will  see  a  spp 
in  evefy  persmi  who  comes  ts  kis  miserable  capital,"^)  — 
'^The  great  Frederick  never  recewed  a  gnesi  mihout  taking  this 
höspitable  precauiiofis*\^)  daß  er  ihn  nämlich  von  seinen 
Spionen  überwachen  ließ;  so  fällt  Barry  die  Überwachung 
seines  eigenen  Oheims  zu')  und  er  läßt  sich  dann  auf  die 
auch  heute  noch  praktizierte  Weise  als  mißliebiger  Aus- 
länder in  der  Maske  seines  Oheims  über  die  Grenze  biingen.^) 
Natürlich  findet  Thackeray  das  Spitzelwesen  auch  in  der 
äußeren  Politik **)  —  geheime  politische  Agenten  nennt  man 

i)Vgl,  Koser,  I,  530. 

«)  XIX,  88. 

*^  XIX,  116;   vgl,  dazu  tmd  dem  vorhergehenden  Koser^  I,  540, 

*)  XIX,  115, 

^)  XIX,  108.  —  «)  XIX,  103. 

' )  XIX,  103  m 

«)  XIX,  115. 

*♦)  XIX,  188»  —  Über  das  Polizei wesen  berichtet  übrigeDS  Campbell 
geradezu  das  Gegenteil:  der  König  hätte  sich  geweigert,  eine  Geheim- 
polizei und  Spionagensystem  ©inzufiöhren.  A.  a*  0*  IV,  124. 


• 


59 


80  etwas  heute  — ,  ebenso  wie  er  anch  erzählt,  daß  der 
König  das  Spiel  an  den  einzelnen  Gesandtschaften  unter- 
stütze, um  dann  aus  den  finanziellen  Verlegenheiten  der 
Herren  seine  Vorteile  zu  ziehen.  \)  —  Daß  der  König  übri- 
gens schnell  damit  fertig  war,  Leute  nach  Spandau  zu 
schicken,  ist  nicht  nur  bei  Thackeray,  sondern  auch  überall 
anderswo  als  unausrottbare  Ansicht  zu  finden.^) 

Erwähnt  sei  hier  auch  noch  die  kurze  Notiz,  die 
Thackemy  über  den  Sturz  des  GroÜkauzlers  Fürst  und 
dreier  Kammergerichtsräte  infolge  des  Prozesses  des  Wasser- 
müllers Arnold  contra  Grafen  Schmettau  macht, ^) 

Thackeray  ist  oft  kleinlich  in  seinem  Urteil  über  Fried- 
rich den  Großen,  er  sieht  fast  nur  die  Schatten,  aber  die 
Auffassung,  die  bei  dem  Historiker  Macaulay  nie  entschuld- 
bar ist,  muß  man  Thackeray  verzeihen.  Er  trat  eben  mit 
all  den  *'EngUsh  Prepossesskms'\  von  denen  Carlyle  spricht, 
an  Friedrich  heran-  So  genaue  historische  Studien,  wie  sie 
später  den  Esmond  auszeichnen,  hat  Thackeraj''  zum  BaiTy 
Lyndon  nicht  gemacht. 

Und  er  hatte  noch  keinen  Carlyle  vor  sich. 


Am  Khein. 

Die  persönlichen  Erinnerungen  und  Erfahrungen  spielen 
in  Thackerays  Werken  immer  wieder  herein*  Namentlich 
zwei  Erinnerungen  seiner  Jugendzeit:  DerHhein  und  Weimar. 
Wie  er  selbst  den  Rhein  bereist,  so  reisen  alle  seine  Per- 
sonen Rhein-aufv\^ärts,  die  Kickleburys,  Dobbin  und  Miss 
Osborn,  Pendennis,  Ethel  und  Clive  Newcome,  Und  Fitz- 
Boodle-Thackeray  erzählt  seine  Erlebnisse  in  Pumpernickel- 
Weimar. 

Thackerays  geographische  Kenntnisse  der  Rheinland  e 
zu  kontrollieren,  ist  nicht  Aufgabe  des  vorhegenden  Themas : 
trotzdem  ist  es  nicht  uninteressant,  seine  Lokal-Schüderun- 
gen  einer  ktirzen  Betrachtung  zu  unterziehen. 


1)  XIX,  111  i\  ^   si)  XIX,  ilti  n.  HB, 

^)  XIX,  98.  —  Notiert  sei  auch  Bach  die  Erwähnung  der  Schwester 
Friedrichs,  Wilhelmine,  Markgräfin  von  Bayreuth,  die  Thackeray  mit 
Friedrichs  eigenen  Worten  '^sexu  femina,  vir  ingeftio*'  charakterisiert. 
Yf  54  f;  siehe  auch  XIX^  119  u.  a. 


—     60    — 


Die  köstHchen  Erinnerungen  der  Jugendzeit  sind  stark 
und  mächtig  geblieben  und  tauchen  in  all  ihrer  Farben- 
pracht wieder  auf,  den  Gang  der  Handlung  wiederholt 
unterbrechend: 

*'Pleasant  Rhine  gardms!  Fair  scenes  of  peace  and  sun-- 
shine  —  noble  purph  mountains,  whose  crests  are  reflecied  in 
the  mugtiißcmt  siream  —  who  hos  ever  seen  you,  that  iias  not 
a  grateftd  memory  of  ihose  scenes  of  friendhj  repose  and 
beauty?  « ,  •  ^1^  this  time  of  Stimmer  evening,  the  cotvs  are  troop- 
ing  down  from  ihe  hills,  hwing  and  mth  their  bells  tinkling,  to 
the  oM  iown,  mth  its  old  tnoais,  and  gates,  and  spires,  and 
chesi-nui  trees,  tcith  long  blue  shadows,  stretching  ovcr  ihe  gross  ; 
ihe  sky  and  the  rimr  behw  flame  in  crimson  and  gold:  €md 
ihe  moon  is  already  out  looking  pale  towards  the  sunset  The 
sun  sinks  Iwhind  the  great  castle-cre^ted  mountains,  the  night 
falls  suddenlyt  the  river  grotcs  darker  and  darker,  lights  quiver 
in  it  from  the  Windows  in  the  old  ramparts,  and  twinkle  peace^ 
fully  in  the  mllages  under  tJun  hills  on  the  opposile  shore,*'^) 

An  alle  die  Orte,  die  er  selbst  besucht,  fiihrt  er  die 
Personen  seiner  Eomane ;  nach  Köln,  Bonn,  wo  Grelegen- 
heit  ii*t,  die  deutschen  Studenten  und  ihre  Sitten  kennen 
zu  lernen,-)  nach  Godesberg  und  hinauf  zur  Ruine,  an  deren 
Zugängen  statt  der  Raubritter  jetzt  Schwärme  von  Bettlern 
den  zu  FuÜ  oder  auf  Eseln  hinaufpilgemden  Touristen 
wegelagemd  entgegentreten;^)  und  weiter  ins  Sieben- 
gebirge,^)  auf  den  Draehenfels,  der  Chve  sogar  einige  Verse 
*^of  a  not  very  superior  style*'  abzwingt,*^)  und  in  das  an 
seinem  Fuß  gelegene  Königswanter  und  auf  die  Insel  Nonnen- 
werth;*^)  nach  Koblenz  und  der  Feste  Ehrenbreitstein,  die 
Mr.  MilUken  mit  unglücklichem  Erfolge  —  er  wäre  fast 
verhaftet  worden  —  zu  skizzieren  sucht  ;^)  nach  Mainz  und 
mit  einem  kleinen  Abstecher  nach  Frankfurt  a.  M.,  *-the 
Free  City  of  Judenstadt'*  ;^)  und  weiter  nach  StraBburg, 
**that  odious  btiggy''  Straß  bürg.") 

Thackeray  fiihrt  uns  auch  in  die  rheinischen  Bäder: 
Ems,  Wiesbaden,  Homburg,   Baden-Baden.     Das  Leben   in 

1)11,  290  f.-  2)  XXV,  B2*>. 
»)  V,  301 ;  siehe  auch  XXV,  B21. 
<)  V,  a»2.  —  »)  V,  .401.  —  ^)  II,  2m. 
7 1  XIU,  132.  —  8)  11,  2^0.  —  »)  V,  434. 


—    tjl    — 


Baden,  in  dem  er  selbst  1853  längere  Zeit  weilte,  hat  er 
in  den  Newcomes  (The  congress  of  Baden)  geschildert- 
Viel  ausführlicher  aber  schildert  er  das  Leben  in  Hom- 
burg in  den  "Kiekleburys  on  the  Bhine'\ 

In  der  Schilderung  des  Badelebens  daselbst,  der  Spiel- 
höhlen, die  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahi^hunderts  dort 
ständig  waren,  trifft  er  sich  mit  einem  andern,  ihm  con- 
genialen  Geist,  mit  dem  Holländer  Dekker,  der  in  seinen 
Mühonenstiidien  das  Leben  in  den  Spielhöhlen  Wiesbadens 
zeichnet. 

Rougetnoirbourg :  Schwarz  und  Rot,  nach  dem  beheb- 
testen Spiel  Ramie  et  Noir^  nennt  Thackeray  den  Ort,  der 
das  Ziel  der  H^ise  der  Kickleburys  ist.  Mit  diesem  Namen 
meint  er  Homburg,  das  namentlich  auch  von  der  englischen 
Gesellschaft  um  die  Mitte  des  XIX*  Jahrhunderts  besucht 
wurde. ^)  Die  ganze  Beschreibung  Rougeinoirböurgs  stimmt 
auf  Homburg  (seit  1834  Taunuabad) :  der  groÜe  weiße  Turm,*) 
das  Wahrzeichen  von  Homburg,  weithin  sichtbar,  Überreste 
der  Burg  einer  längst  verschwundenen  D^Tiastie,  derer  von 
Epstein,  das  Schloß  der  Landgrafen  mit  seinem  Garten  und 
der  Erinnerung  an  die  englische  Prinzessin,  die  hieher 
verheiratet  worden  war^)  —  es  war  Elisabeth,  die  Tochter 
Georgs  HI*  — ,  daneben  die  Paläste  Lenoirs»  das  prächtige 
Kurhaus  von  Homburg  mit  seinen  großartigen  Parkanlagen, 
lassen  deutlich  Homburg  erkennen.*)  Vielleicht  noch  mehr: 
der  Name  Lenoir  ist  fiir  den  Typus  des  Bankhalters  wohl 
dem  Spiel  Kouge  et  Noir  entnommen ;  aber  es  mögen  auch 
bestimmte  Persönlichkeiten  hinter  den  beiden  Lenoirs 
stecken,  vielleicht  die  Brüder  Bianc,  die  in  den  Vierziger- 
Jahren  die  Bank  hielten  und  denen  Homburg  sehr  viel 
verdankt,  namentlich  auch  das  Theater;  das  W^ortspiel 
Blanc-Noir  liegt  nicht  allzufem. 

Es  liegt  nicht  im  Plane  der  vorliegenden  Arbeit,  auf 
das  Leben  in  diesen  internationalen  Kurorten,  in  denen 
das  Bechertrinken  ^)    die   geringste    und   die  Vergnügimgen 


*)  Vgl  H.  VüeUlfy,  Glances  Back  ihraugh  Sevmip  Years,  2  vol*, 
London  1893.  Darin  U,  p.  23 — 40,  Schilderung  Homburgs  und  seines 
Lebens  (1858). 

»)xni;ii7. 

»)xni,  Uli:  -  *)  XII,  147.  -  *)  xm,  isl 


—    62    — 


—  Kurmusik,*)  Eoug^  etNoir  und  Roulette*)  —  die  gröfite 
KoUe  spielen.  Es  würde  auch  zu  weit  abseits  führen,  auf 
den  Wettkampf  der  beiden  Banken  einzugehen.®)  Und  wie 
es  in  Homburg  zugeht,  geht  es  auch  in  Ems^  Wiesbaden*) 
und  in  Baden-Baden  zu,  das  namentlich  gerühmt  wird;  der 
Großherzog  ist  außerordentlich  gastfrei  gegen  die  Eng- 
länder.^) Wer  freilich  krank  ist  oder  weniger  Geld  hat,  geht 
nicht  in  diese  fashionablen  Bäder,  der  begnügt  sich  mit 
einem  der  kleineren  Badeorte,  wo  man  mit  300  £  im  Jahr 
sehr  gut  leben  kann,*) 

Bot  schon  das  Badeleben  mit  seiner  binaten  Gesell- 
schaft Thackeray  einen  geeigneten  Zielpunkt  für  seine  bittere 
Satire,  so  fand  er  auch  am  Bhein  selbst  etwas,  was  seinen 
Spott  herausforderte:  die  Romantik,  die  sich  über  den 
Rhein  und  seine  Ufer  spannt,  die  Romantik  all  der  zer- 
fallenen Schlösser  mit  ihren  Sagen,  die  von  rauhen  Kriegs- 
taten und  süßem  Liebeswerben  erzählen,  die  Bheinromantik, 
der  auch  er,  als  er  19  Jahre  alt  war,  auf  seiner  ersten 
Rheinreise  ganz  verfallen  war.  Damals  mag  er  auch  die 
Sagen  kennen  gelernt  haben,  die  er  dann  verwertete,  als 
er  in  seiner  ** Legend  of  the  lihine*'  gegen  die  Ritterromane 
zu  Felde  zog,  die  sich  seit  Horace  Walpoles  ''Coi^ilt  of  Ot- 
rantu'  in  England  eingebürgert  hatten.  Eine  eingehende 
Untersuchung  der  Satire  gegen  die  englischen  Ritterromane» 
von  denen  Scotts  ''Ivanhoe'  im  Vordergrund  steht,  gehört 
nicht  zum  Thema  der  Arbeit. 

Aber  Thackeray  hat  auch  die  deutsche  Ritterromantik 
hergenommen;  in  das  „alte  romantische  Land  "^  der  Deutsehen, 
an  den  Rhine,  verlegt  er  den  Schauplatz  und  zwei  Rhein- 
Sagen  wählt  er  zum  Zielpunkt  seiner  Satire:  „Otto  der 
Schütz**')  und  das  ^Eräulein  von  Wind  eck**,  beide 
ihm  vielleicht  auch  aus  Simrooks  „Rhein-Sagen^  be- 
kannt. 

>)Xni,  144, 

«)XII1,  las  ff;  vgl  auch  H,  293. 

^)  XIII,  139  ff.  ^  * )  II,  293. 

*)  IV,  114.  -  ^)  IV,  m. 

'')  Nach  W  ern  er,  p.  11  (Fußnote),  ist  „The  Legend  of  theBhine", 
soweit  darin  die  Sage  von  „Otto  dem  Schützen"  benutzt  ist,  ^eine 
Wiedergabe  von  Alexander  Dumas'  Prosaerzählung:  jOthon  l'archer* 
(wieder   erschienen   IB92^  Paris,   Calman   L^vy,    zusammen   mit   ,Les 


k 


Die  Sage  von  ^Otto  dem  Schützen^ 
an,  Otto^  der  Sohn  des  Landgrafen  von  Hessen,  ist  als 
jüngerer  Sohn  dem  Kloster  bestimmt.  Er  entflieht  aber  mid 
tritt,  nachdem  er  bei  einem  Wettschießen  seine  Meister- 
schaft über  alle  anderen  bewährt  hat^  als  Schütz  in  den  Dienst 
des  Herzogs  von  Cleve,  dessen  Tochter  es  ihm  auf  den 
ersten  Blick  angetan  hat.  Nur  ihr  zu  Liebe  opfert  er  auch 
seine  langen  Haare,  den  Schmuck  des  Freien.  Sein  Name 
ist  nur  Otto  der  Schütz.  Es  entspinnt  sich  ein  zartes  Ver- 
hältnis zwischen  ihm  und  der  Prinzessin.  Als  er  aber  Herrn 
Homberg,  einen  Ritter  seines  Vaters,  nach  Cleve  kommen 
sieht,  glaubt  er  sich  verfolgt  und  flieht,  wird  aber  wieder 
eingebracht  und  —  sein  Verhältnis  zur  Prinzessin  ist  bereits 
verraten  — ,  da  sem  älterer  Bruder  tot  und  er,  der  Erbe, 
das  Kloster  nicht  mehr  zu  tiirchten  hat,  mit  der  Tochter 
des  Herzogs  von  Cleve  vermählt. 

Und  nun  Thackerays  Bmrleske;  Otto,  hier  der  Sohn 
des  Markgrafen  von  Godesberg,  flieht  aus  Furcht  vor  dem 
Kloster,  in  das  er  freilich  aus  anderen  Gründen,  als  in  der 
Sage,  gesteckt  werden  soll.  Nach  mehreren  Abenteuern  ge- 
langt er  mit  einer  iSchar  Schützen  an  den  Hof  AdoUs  von 
Cleve,  bewährt  —  ganz  wie  Locksley  im  „Ivanhoe"  —  hier 
beim  WettschieÜen  seine  Meisterschaft  und  tritt  —  die 
Prinzessin  hat  es  ihm  angetan  —  in  den  Dienst  des  Her- 
zogs* Sein  Name  ist  Oth  the  Archer,  Die  Aufmerksamkeit, 
die  die  Prinzessin  ihm  schenkt,  erregt  die  Eifersucht  ilires 
Bewerbers,  Botvski,  und  auf  sein  Betreiben  fällt  Ottos  wal- 
lender Hauptschmuck.  Nur  der  Gedanke  an  die  Prinzessin 
läßt  ihn  diese  Schmach  ertragen ;  und  seine  Standhaftigkeit 
wird  belohnt:  unbemerkt  sieht  er,  wie  die  Prinzessin  seine 
abgeschnittenen  Locken  küßt. 

Eowski  von  Donnerblitz  macht  seinen  Antrag  und  wird 
abgewiesen*    Er   schickt   seine    Herausforderung,    mit  dem 

fr^res  Corses*X  wo  Dumas  ganz  selbständig  von  den  deutschen  Be- 
arbeitnngen  (Kinkel,  Otto  der  Schütz,  a.  a.  m.)  den  alten  Sagenstofi 
der  Rheinlande  wiedergibt.  Es  sei  nochmak  darauf  hingewiesen,  daß 
Thackeray  auf  die  französische  und  nicht  auf  eine  deutsche  Quelle 
zurückging,  was  sich  leicht  an  \'ielen  Beispielen  nachweiBen  ließe, 
z.  B.  die  romantischen  Beigaben^  die  eingeflochtenen  Erzähliiogen 
u,  s.  w,  bei  Dumas  und  Thackeray,  die  in  den  deutschen  Wieder- 
^H     gaben  fehlen/* 


I 


Prinzen  oder  dessen  Kämpen  will  er  zum  Zweikampf  an- 
treten. Rowskis  Truppen  erscheinen.  Der  Herzog  aber  ist 
alt  geworden  und  ein  Kämpfer^  der  dem  harrenden  Rowski 
entgegenträte,  findet  sich  nicht*  Otto,  anf  den  die  Prinzessin 
gehoffl,  ist  verschwunden*  Endlich,  der  Herzog  will  sich 
schweren  Herzens  schon  selbst  in  den  Kampf  wagen,  end- 
lich beim  dritten  Trompetennif  —  wie  im  ^.Ivanhoe**  beim 
Gottesgericht  —  erscheint  ein  Ritter,  der  den  Feind  über- 
windet, darauf  aber  versch^vindet ;  niemand  hat  ihn  gekannt. 
Der  Herzog  verspricht  dem  Retter,  wenn  er  sich  melde, 
die  Hand  seiner  Tochter.  —  Nach  dem  Siege  erhält  der 
Herzog  Besuch,  der  Graf  von  Honibourg  kommt.  Auch  Otto 
hat  sich  wieder  eingefunden,  er  soll  gepeitscht  %verden,  die 
Bitten  der  Prinzessin  aber,  die  ihm  ihre  ganze  Verachtung 
zeigt,  verhüten  die  Strafe,  Hombourg  erkennt  Otto  und 
erklärt  ihm  seine  veränderte  Lage^  das  Kloster  braucht 
Otto  nicht  zu  furchten.  Die  beiden  entfernen  sich.  Am 
nächsten  Tage  erscheint  der  unbekannte  Ritter,  begleitet 
von  zwei  gleichfalls  Gewappneten,  und  fordert  Einlösung 
des  Versprechens.  Seine  beiden  Gefährten,  sein  Vater  imd 
Hombourg,  zeugen  für  seine  edle  Abstammung  und  so  wird 
er  mit  der  Prinzessin  vermählt. 

Die  Übereinstimmungen  und  Veränderungen  liegen  klar 
zu  Tage.  Die  letzteren  erklären  sich  wohl  zum  Teil  ans 
dem  Zusammenhange  —  die  Satire  richtet  sich  nicht  allein 
gegen  unsere  Sage  — ,  zum  Teil  auch  aus  der  satirischen 
Behandlung  des'  Stoffes,  Auf  die  Form  der  Satire  ein* 
zugehen,  ohne  den  ganzen  Inhalt  des  Stückes  in  den  Kreis 
der  Betrachtung  zu  ziehen,  wäre  natürlich  immöglich.  Es 
mögen  daher  hier  nur  einige  Einzelheiten  hervorgehoben 
werden.  Wie  die  Ritterromane  hie  und  da  durch  gelehrte 
Anmerkungen  größeres  Gewicht  zu  erlangen  suchten,  bringt 
auch  Thackeray  —  mitten  im  Text  —  einen  solchen  Beleg, 
es  handelt  sich  um  das  Recht  der  langen  Haare :  die  Namen 
seiner  Quellen  sind  natürlich  möglichst  unwahrscheinlich 
und  burlesk  gewählt.^)  Die  Liebesgeschichte  wird  möglichst 
weich -sentimental,  aber  doch  ernst  erzählt,  ebenso  ist  es 
mit  den  Rittertaten,  die  nur  hie  imd  da  stark  übei-trieben 


J)  XV,  247. 


werden.  Davon  stechen  dann  ganz  merkwürdig  die  plötzlich 
mitten  in  der  Handlung  auftauchenden  ganz  köstlichen 
Anachronismen  ab:  unter  den  Klängen  von  Variationen 
nach  dem  Freischütz- Jägercbor  reitet  Otto  in  den 
Kampf.  Überhaupt  der  „Freischütz"  erscheint  des  öfteren: 
der  Meisterschuß  Ottos  auf  dem  Marsche*)  läüt  die  Ver- 
mutung auftauchen,  daß  er  im  Bunde  mit  dem  Freischützen 
sei;  der  8chuü  erinnert  auch  etwas  an  den  Ädlerschuß  im 
^Freischütz*^,  wenn  auch  Locksleys  Schuß  im  Walde  zur  Be- 
schaffung der  Feder  für  den  Abt  sicher  mit  Pate  bei  dieser 
Szene  gestanden  ist.  Ganz  kösthch  wirkt  auch  zum  SchluU 
die  Ausschreibung  im  "^Jounioi  de  Francfort*'  und  der  "^AU- 
ffmmneft  Zeitung*' J) 

Neben  der  Sage  von  7, Otto  dem  Schützen"  benutzt 
Thackeray  noch  eine  andere  Sage,  die  Sage  vom  „Burg- 
fräulein von  Windeck",^)  die  in  Chamissos  Be- 
arbeitung in  Simrocks  „Ehein-Sagen"  aufgenommen 
ist.  Daher,  oder  \^eUeicht  von  seiner  Rheini*eisei  mag  die 
Sage  Thackeray  bekannt  geworden  sein. 

Ein  Jäger  (oder  Ritter)  trifft  auf  der  Ruine  von  Wind  eck 
ein  Fräidein.  das  den  Ermüdeten  mit  einem  Becher  köst- 
Hchen  Weines  labt»  Seither  ist  er  in  Liebe  zu  ihr  entbrannt 
und  es  zieht  ihn  immer  wieder  zu  der  Burg,  ohne  daß  er 
sie  wiedersieht,  bis  daß  man  ihn  eines  Tages  mit  einem  Ring 
am  Finger,  den  er  vordem  nicht  besessen,  tot  auffindet. 
Er  hat  das  Burgfräulein  von  Windeck  gesehen  imd  ihr  Kuß 
hat  ihm  das  Leben  geraubt. 

Die  schöne  Qeisterbraut,  die  in  der  Sage  keineswegs 
in  hartem  Licht  erscheint,  ist  bei  Thackeray  zur  teuflischen 
Verführerin  geworden,  die  freilich  auch  der  komischen  Züge 
nicht  entbehrt*  Sie  erscheint  einem  Gefährten  Ottos,  der 
während  des  Nachtlagers  zu  Windeck  die  Wache  hält,  und 
fordert  ihn  zum  Mitgehen  auf.  Und  nun  wird  aus  dem  ein- 
fachen Becher  Wein  ein  ganzes  Gelage,  das  von  unsicht- 
baren Geisterhänden  auf  Wunsch  des  hungrigen  Schützen 
herbeigetragen  wird.  Thackeray  legt  den  Nachdruck  auf  das 
Mittel,  mit  dem  sie  das  Opfer  zu  gewinnen  sucht;  er  soll 
sich   ihi*  vermählen.    Aus   der   Andeutung   der   Sage,    dem 

A)XV,  233.  -  «)  XV,  269, 
«)  XV,  235  ff. 


Ringej  ist  liier  eine  Tatsache  geworden  und  ein  ganzes  Heer 
von  Geistern  folgt  nnter  den  Klängen  des  „Chors  der 
Brautjungfern^  aus  dem  „Freischütz'^  im  Hochzeits- 
zuge bis  zur  Kapelle,  wo  es  Otto  gelingt,  den  ganzen  Spuk 

zu  bannen. 

Das  sind  die  beiden  deutschen  Stoffe,  die  Thackeray 
lur  seine  Burleske  benutzt  hat;  es  sind  Repräsentanten 
zweier  Grattungen,  die  freilich  oft  gemeinsam  erscheinen, 
der  Kittergeschichte  und  der  Gespenstergeschichte, 


Pumpernickel)  und  Kalbsbraten, 

Aus  dem  deutschen  Kleinstaat  und  der  deutschen  Kleinstadt, 

In  Weimar,  von  wo  Thackeray  soviele  große  imd  schöne 
Erinnerungen  mitnahm,  hat  er  aber  auch  den  deutschen 
Kleinstaat  genau  kennen  gelernt.  Die  Zeiten  der  Größe 
Weimars  waren  vorbei,  nm^loethe  lebte  noch  zurückgezogen, 
Karl  August  war  tot  und  Weimar  war  wieder  nur  ein  kleine-s 
Nest,  das  freilich  an  großen  Erinnerungen  zehrte. 

In  den  Füz-Boodh  Papers  und  später  in  Vaniiy  fair 
hat  uns  Thackeray  ein  Bild  vom  deutschen  Kleinstaat  ge- 
zeichnet. 

Es  sind  ganz  kleine  Staaten,  Miniatur-Fürstentümer, 
dieses  Pumpernickel  und  Kalbsbraimi- Pumpernickel,  aber  über- 
sehen lassen  sie  sich  nicht,  und  wenn  sie  auch  nicht  nach 
außen  Großmacht  spielen  können,  so  richten  sie  es  sich 
wenigstens  daheim  recht  gi'oßartig  ein,  wie  sie  es  bei  den 
w^irklichen  Großen  gesehen  haben,  nur  daß  dem  kleinen  Kerl 
die  große  Jacke  etwas  putzig  steht. 

Der  Staatshaushalt  funktioniert  tadellos.  Man  hat  »o 
etwas  Ahnliches  wie  eine  Konstitution,  d.  h.  eine  Art  von 
'^maderate  despotism'\  gemildert  durch  eine  Kammer,  ''that 
mighi  he  or  not  be  elected^*  und  die  nur  den  einen  Fehler 
hat,  fast  nie  ein  Lebenszeichen  zu  geben.  So  wenigstens 
ist  es  in  Pumpernickel)  und  ähnlich  auch  in  Kalbsbraten, 
das    eine    Eepräsentantenkammer    besitzt,    "^tchich    however 

^)  Der  Name  Pumpernickel  ist  £.  T.  A.Ho£fmaDns  ,,Klein  Zaches"* 
entnommen;  vgl.  Werner^  p.  Id. 
«)  n,  808. 


Hothinff  can  induce  to  sW\^)  Aber  eine  Verfassimg  ist  da, 
wenn  auch  mir  auf  dem  Papier.^) 

Natürlieh  hat  Pumpernickel  auch  einen  gan^ssen  Stab 
von  Ministern,  einen  Premier,  einen  ^ffome  Minister**  und 
einen  Minister  '^of  foreign  Aßairs'',  wie  Kalbsbraten  seinen 
"^Hvjh  ÜhaneeUor^  wenn  sein  Einkommen  auch  nur  30(j  £ 
beträgt,  mit  denen  er  übrigens  noch  einen  genügend  großen 
Aufwand  betreiben  kann,^)  *^  homc  and  foreign  minist  er s^  residmts 
front  neighbouring  courts,  law  presidetits,  town  Councils,  elV, 
all  ihe  adjuncts  of  a  big  or  liitk  goverfimetU'\*) 

Das  sind  die  Würdenträger,  die  den  durchJauchtigsten 
Fürsten,  *^His  TraTisparencg  ihe  Duke"^)  —  die  Übersetzung 
des  deutschen  Durchlaucht  ist  nicht  übel  —  oder  *'if.  & 
H,  ihe  Ditke"  zur  Seite  stehen. 

In  Pumpernickel  tührt  zur  Zeit  —  als  die  (Jesellschaft 
Dubbin-Sedle^^  sich  daselbst  aufhält  —  AnrcUus  Victor,  der 
XVn,  seines  Kamens,  sein  mildes  Regiment;  mit  der  Herr- 
schaft erbte  er  auch  den  Namen  vom  Vater,  das  ist  so 
Sitte  an  den  deutschen  Höfen^  und  übrigens  klingt  Aurelius 
Victor  XVH»  nicht  schlechter  als  Ludwig  XH^. 

Der  Herzog  ist  recht  leutselig;  wenn  er  sich  zeigt, 
nickt  er  jedermann  freundlich  zu;*)  er  hat  auch  künstlerische 
Neigungen,  er  komponiert  und  seine  Opern  hätten  fast  das 
Theater  ruiniert,  freilich  war  hauptsächlich  der  KapeU- 
meisier  schuld ;  seither  werden  seine  Opern  nur  im  Privat- 
zirkel aufgeführt,    ebenso  wie  die  Komödien  seiner  FrauJ) 

In  den  vereinigten  Reichen  Kalbsbraten-Pumpemickel 
legiert  Philibert  Sigisfnund  Fmanurl  Maria :  **the  Magnificmt" 
•"«ennt  ihn  das  Volk  in  Hinblick  auf  die  Erbauung  des  all- 
bekannten Brunnens  auf  dem  Marktplatz  von  Kalbsbraten.^) 
Der  Gothasche  Älmanach  gibt  eine  genaue  Beschreibung 
des  Staates  und  des  Hauses  dieses  Fürsten.  Seine  Mutter 
Emtlia    Kunegunda    Thomasina     Clmrleria    Emanuela    Luisa 

1)  XVn,  185. 

^)  Weimar  hatte  1BI6  eine  konstttationells  Verfassung  erhalten. 
8)  XVn,  202  f. 
*)  XVU,  186. 

ft)n,  302;  vgl   II,  297:  "Ihe  TrcmapamU  famiip" ;  U,  802:  "ihe 
Transparent  earriogm*'. 
•)  IT,  B02. 
7)  n,  308,  —  8)  XVII,  184. 


-    68    - 


Georgina,  Prinzessin  von  ^  Saxe*Pnmp€rfnckeV\  brachte  ihrem 
Vetter,  dem  Vater  des  regierenden  Herzogs,  ein  Anrecht 
auf  Saxe-Pumpernickel,  welches  denn  auch  unter  ihrem 
Sohne  mit  Kalbsbraten  vereinigt  wurde,') 

Der  fürstliche  Hofstaat  ist  recht  groß  angelegt.  Der 
Herzog  hat  seine  Kammer hen'en,  seinen  Privatsekretär,*) 
seinen  Stallmeister^  die  Herzogin  ihre  Beschließerin,  ihre 
Hofdamen,  ^just  like  amj  oiher  and  more  potetit  potetHaies",^) 
Dann  ist  natürlich  auch  ein  Hofmarschall  da*)  und  eine 
ganze  Menge  von  **ofßcers  qf  household'';  selbstverständlich 
auch  ein  " Bodij-Phijsieian",  Dr,  Glauber, ^) 

Die  Herzogin -Witwe  von  Pumpernickel  hat  natürlich 
ihren  eigenen  Hofstaat,  ihre  alten  Hofdamen,  ihren  eigenen 
Hof-Kavalier.'^) 

Und  ganz  so  wie  in  Pumpernickel  ist  es  auch  in  Kalbs- 
braten :  der  Herzog  hat  seinen  Hofoiarschall,  seine  Kanmier- 
herren,    die  Herzogin  ihre  Ehrendamen    imd  Hofifräulein,  ^) 

Ein  "  Oherhofarchikci  and  Kunst-  u.  Bauinspecior"^)  hat 
in  Pumpernickel  die  Oberaufsicht  über  die  Bautätigkeit; 
sein  Werk  —  sein  Name  ist  Lormzo  von  Speck  —  ist  der 
großherzogliche  Palast,  sind  die  Schild erhäuschen  vor  dem* 
selben^)  sowie  der  berühmte  Brunnen  mit  seinen  etwas  un- 
klaren allegorischen  Figuren  und  Gruppen.*^) 

Auch  Kalbsbraten  hat  seine  Prachtbauten :  einen  großen 
neuen  Palast,  von  Victor  Aurelius  XIV,  begönnet],  Mon- 
plaisir  —  Monblaisir  nennen  ihn  die  biederen  Sachsen  — , 
und  nur  aus  Geldmangel  unvollendet;  er  ist  ganz  nach 
dem  Muster  von  Versailles  angelegt:  Haine^  Terrassen, 
Wasserwerke/*)  die  bei  den  großen  Festlichkeiten  spielen, 
bei  denen  auch  die  ganze  Flucht  der  Zimmer  des  Schlosses 


1)  Ebeuda;  die  Sitte  der  Tautaanienliäufung  ist  namentlich  in 
katholisoh&u  Kreisen  Deutschlands  ganz  gewöhnlich;  ebenso  sind 
weibliche  Kamen  bei  Männern  an  zweiter  oder  späterer  Stelle^  dem 
Französischen  nachgeahmt,  nicht  selten. 

*)  n,  309.  —  »)  II,  306.  -  *)  Ebenda.  -  *)  U,  305.  —  «)  H,  902. 

7)  XYH.  105.  Der  Spott  tlber  den  großartig  angelegten  Hof  ist 
nicht  unberechtigt.  Der  Hof  war  der  glÄnxendste  unter  den  kleinen 
Höfen  Deutschlands,  namentlich  zur  Zeit,  als  Thackeray  dort  war, 
tmter  Karl  Friedrich ;  vgl.  Vehse,  ß.  a.  0.  28.  Bd.,  p.  330 f. 

«)  XVIl,  1&5,  mil  -  »)  XTII,  185.  -  'ö;  XVII,  184 f. 

»)  n,  306 1\ 


4 

i 

j 

4 


-     69     — 


dem  Publikum  geöffiiet  ist.  Besonders  hervorgehoben  er- 
scheint ein  von  Aurelius  Victor  XV,  erbauter  Pavillon  mit 
mythologischen  Wandgemälden  (Baeohus  und  Ariadne),  der 
nach  des  Erbauers  Tode  von  dessen  sittenstrengen  Witwe 
Barbara  wieder  geschlossen  wurde.  *)  Natürlich  gibt  es  auch 
JögdachJösser,  Sommerresidenzen:  Grogwitz *•)  in  Pumper- 
nickel^ Siegmundslnst  in  Kalbsbraten.®) 

Man  darf  bei  diesen  Schilderungen  nicht  gerade  allein 
und  vorzugsweise  an  Weimar  denken,  die  Satire  ist  hier 
ganz  allgemein  gegen  die  Nachahmung  von  Versailles  an 
den  deutsehen  Höfen  gerichtet  und  bei  Thackeray  fast 
typisch.  Man  vergleiche  nur  die  Schilderungen  des  Hofes 
sm  X  im  ^ Barry  Lt/ndott'  oder  auch  einzelne  Abschnitte 
in  den  "^Fmir  Georges'\ 

Natürlich  hat  jeder  der  beiden  Staaten  auch  eine  Armee. 
Die  von  Pumpernickel  hat  sich  erst  im  letzten  Feldzng 
bewährt.  Jetzt  ireilich  in  Friedenszeiten  hat  sie  eine  weniger 
rauhe  Beschäftigung,  Die  Kapelle  spielt  morgens  am  Aurelius- 
platz,  abends  geben  die  Lerute  Statisten  im  Theater  ab* 
Außer  dem  Musikkorps  gibt  es  zahlreiche  Offiziere  '^and 
I  believe,  a  few  men\  die  hauptsäcldich  den  Wachdienst 
versehen ;  drei  oder  vier  versehen  in  Husarentmiform  Palast-- 
dienst;  zu  Pferde  hat  sie  noch  niemand  gesehen^  aber  es 
ist  ja  auch  Friedenszeit  *^and  whither  ihe  dmice  should  fhe 
hussars  ride?*'^) 

Kalbsbraten-Pumpeniickel  entsendet  drei  imd  einen 
halben  Mann  zum  Deutschen  Bunde,  kommandiert  von  1  Ge- 
neral (ExcelltmctfK  "^  Major-Generalen,  64  Offizieren  niederen 
Grades,  alle  Edelleute  und  Ritter  des  herzoglichen  Ordens 
und  fast  alle  groüherzogliche  Kämmerer,  Dazu  gehört  auch 
eine  Musikbande  von  80  Spielleuten.  Bei  Waterloo  hat  die 
Armee  sich  mit  Ruhm  bedeckt,  nur  drei  Mann  kehrten 
zurück,  der  Eest  wurde  in  Stücke  geschlagen/'^) 

Auch  mit  Orden  sind  diese  Staaten  sehr  wohl  versehen; 
die  verschiedensten  Tierax'ten  und  Heiligen  sind  vertreten 
und  anläßlich  der  Hochzeit  des  Erbprinzen  von  Pumper- 
nickel geht  ein  ganz  tüchtiger  Ordenregen  nieder.*) 

»)  n,  307.  -  2)  Ebenda. 
»)  X\ai,  iRL    -  *  i  II,  308, 
»)XVII,  186.  -  ß)  II.  3(>Z 


—    70    — 

Die  äußere  Politik  spielt  eine  große  Holle.  Die  Groß- 
staat€iii  sind  durch  Botschaften  vertreten*)  und  namentlich 
England  und  Frankreich  ringen  in  Pumpernickel  lun  den 
Einfluß.  Jeder  der  beiden  Rivalen  hat  seine  Partei  bei  Hofe, 
Karikaturen  fliegen  hin  und  her.  Depeschen  gehen  nach 
London  und  Paris;  schliei31ich  gelingt  es  der  englischen 
Politik  durch  Vermählung  des  Erbprinzen  mit  der  von  eng- 
lischer Seite  vorgeschlagenen  Prinzessin  von  Schlippenschloppm 
einen  völligen  Sieg  zu  erringen.*)  —  Auch  Pumpernickel- 
Kalbsbraten  hat  seine  äußeren  Verbindungen,  Es  steht  in 
Handelsverbindung  mit  Hambiu-g,  das  bei  Abschluß  der- 
selben dem  Herzog  ein  Faß  Austern  zum  Geschenk  macht,*) 
Der  klugen  Politik,  die  zur  Vereinigung  von  Pumpernickel 
und  Kalbsbraten  führte,  ist  bereits  gedacht  worden. 


Das  gesellschaftliehe  Leben  ist  sehr  rege*  Da 
ist  einmal  das  Theater  in  Pumpernickel;  streng  geschieden 
sitzen  Adel  und  Bürger;*)  man  hört  gute  Musik,  Mozart^ 
Beethoven,  Cimarosa,  die  bede\itendsten  Kräfte  geben  Gast- 
rollen. Auch  das  Theater  von  Kalbsbraten  ist  nicht  schlecht, 
Goethe^  Schiller,  die  beste  Musik  wird  gepflegt;*)  natürlich 
fehlt  auch  das  Ballett  nicht/) 

Im  Mittelpunkt  der  gesellschaftlichen  Veranstaltungen 
stehen  vor  allem  die  Hoffeste :  Ein  Ball  bei  Hufe  sieht  bis 
400  Personen  versammelt,  die  Pompentfaltung  ist  außer- 
ordentlich:^) dann  einfachere  Diners  imd  Gesellschaften. 
Die  Fremden  sind  freundlich  aufgenommen,  wenn  sie  durch 
das  Ministerium  des  Äußeren  und  das  Hotmarschallamt 
passiert  sind,®)  namentlich  die  Engländer  sind  gern  gesehen 
am  Hofe  zu  Pumpernickel.'*) 

Alljährhch  wiederkehrende  Feste   sind   die  Feiern  der 


>)  I,  87;  II,  a(>>,  m^\  III,  88  f  u.  a. 
^  U,  309  ff. 
'*)XYII,  21 L 

*}  Die  Scheidung  bestand  noch  1848;  vgl.  Vehse,  a,  a.  0,  28, 
p.  331. 

^)  XVU,  206. 

•)xvn,  191, 

7^1,  306;  X\T[,  l^t: 


•*)n,  303  t;  xvn, 

")  U,  308,  306. 


190, 


I 


I 


Geburtstage  des  Fürstenpaares:*)  die  Wasserwerke  von 
Moiiplaisir  spielen,  der  großherzogliche  Palast  ist  geöffnet^ 
im  Theater  ist  freier  Eintritt;  auch  sonst  ist  fiir  Belusti- 
gungen aller  Art  gesorgt.*) 

Auch  eine  besouders  große  Feier,  die  Festlichkeiten 
anläßlich  der  Vermählung  des  Erbprinzen  von  Pumpernickel, 
tuhrt  uns  Thackeray  vor :  Feuerwerk,  mit  Wein  und  Bier 
rinnende  Fontänen,  allerlei  Volksbelustigungen  („Baum- 
kraxeln" etc.)  und  filr  die  feineren  Kreise  ausgesuchtere 
V*ergnügungen :  Trente-et-quarante  und  Roulette.^) 

Größere  Diners  sind  in  Kalbsbraten  eine  Seltenheit, 
dagegen  sind  einfache  Teegesellsehaften  an  der  Tages- 
ordnung.*) Daneben  gibt  es  auch  kleinere  Abendgesell- 
schaften, Tanz  fiir  die  Jungen,  Whist,  Ecarte  fih*  die  Alten. 
Zur  Winterszeit  unternimmt  man  auch  Schlittenpartien  nach 
benachbarten  Ortschaften,  wo  eine  kleine  Tanzunterhaltimg 
stattfindet;  auch  das  „Schlittenrecht"  vergißt  Thackeray 
nicht  zu  erwähnen,'^) 

Die  „G-esellschaft"  imifaßt  natürlich  nur  die  Adelakreise, 
aus  denen  uns  Thackeray  einige  ganz  gelungene  T^^pen 
vorführt  unter  Antührung  der  ganzen  Familienverhältnisae 
und  Stammbäume :  Die  Stadtberiihmtheit,  den  großen 
Architekten  Lormizo  voit  Speck,  der  sogar  in  Italien  studiert 
hat  und  jedem  Fremden  das  Bild  des  von  ihm  erbauten 
Brunnens  auf  einem  Pfeifenkopf  dediziert,^)  oder  der  Kanzler 
O&ho  Siffistmmd  Freifherr  von  Schlipjyenschlopp,  der  sich  eines 
uralten  Adels  rühmen  kann,  ebenso  wie  seine  Frau,  eine 
geborene  von  Kartoffelstadt,') 


1)  Eine  EinfÖhnuig  der  Gattin  Karl  Friedrichs,  der  rassischen 
Großfürstin  Maria;  v^l.  Velise,  a.  a.  O.  28,  Bd.,  p.  321  f.;  U,  mi. 

2)  Die  Erwähnung  des  Ziidranges  der  Landbevölkerung  gibt 
Thackeray  Gelegenbeit  auch  die  Volkstracht  kurz  zu  streiten:  "peoph 
in  red  petticoats  and  velvet  head-dresses,  or  with  three-comered  hats  and 
pipea  in  their  mouÜis'\  U,  307. 

»)  H,  311  f.  —  Der  SchiHening  dttrtit©  wohl  die  Vermählnng  des 
Erbprinzen  Karl  Friedrich  mit  der  Großt\lrstin  Maria  Modell  gestanden 
haben  (1H03),  wenn  sie  anch  im  allgemeinen  trei  ist. 

*J  XVII,  -209. 

»)  xvn,  -jod. 

•)  XVII,  187. 

^)  XVIL  ^1-2  f ;  vgl  n,  311  u*  a. 


—     72     — 

Die  Gewohiilieiten  sind^  bei  aller  Würde  und  Äbschlieliuug 
I  gegenüber  den  gewöhnlichen  Sterblichen,  doch  nur  die  einer 
Kleinstadt.  Jeder  kennt  seinen  lieben  Nächsten  genau,  kennt 
seine  ganzen  Toilettenangelegenheiten,  weiß  die  Medizin,  die 
ihm  der  Arzt  verschrieben,  sowie  den  ganzen  Verlauf'  der 
Krankheit  zu  beschreiben,*)  Natürlich,  kleine  Hof-  und 
StÄdtekandä leben  werden  liebenswürdig  kolportiert,  daß  der 
Herzog  einmal  eine  kleine  Geschichte  mit  einer  Kunst* 
reiterin  hatte,-)  daß  der  Erbprinz  eine  Liaison  unter- 
halte^) u*  s.  t 

Auch  ästhetische  Zirkel  gibt  es  in  Kalbsbraten,  unter 
denen  der  OUilia  von  Schlippenschlopps  mit  seiner  Zeit- 
schrift der  yfKartoffclkranz**  ^)  wohl  der  hervorragendste  ist. 
Ottilia  ist  kein  unbetleutendes  Wesen,  das  nur,  wie  in  der 
guten  alten  Zeit,  Pudding  machen  tind  dergleichen  gelernt 
hat:  sie  hat  in  der  Straßburger  Pension  ^an  eftcydopmiic 
leaming''  genossen,  Sprachen,  Malen,  Singen,  hat  sich  in 
allen  Wissenschaften  umgesehen,  kurz,  ein  Blaustrumpf 
bester  Güte,  der  aber  trotz  der  höheren  Sphären,  in  denen 
sich  sein  Geist  bewegt-,  doch  recht  materialistischer  Begimgen 
fähig  ist,  namentlich  wenn  es  sich  um  so  seltene  Lecker- 
bissen handelt,  wie  Axistem, 


In  den  Schilderungen  von  PmnpemickeP)  und  Kalbs- 
braten ist  außerordentlich  viel  Autobiographisches,  das  heraus- 
zusuchen nicht  Aalgabe  der  vorliegenden  Arbeit  ist.  Die 
Schilderungen  sind  aber  jedenfalls  auch  von  kultuiiiistori- 
schem  Literesse.    Sie  reihen   sich  an  die  Schilderungen  im 

1)  XYU,  201. 

3)  XVn,  197. 

*)  XVJI,  2<J3ff.  Daß  derartige  literarisch-ästhetische  Zirkel  in 
Weimar  existierten,  ist  unzweifelhaft.  Man  vergleiche  nur  —  aattlr* 
lieh  in  gehörigem  Äbetond  —  den  Zirkel  der  Schwiegertochter  Goethes 
und  feeine  Zeitschrift,  das  „ Chaos ". 

h  Gleichfalls  in  Pumpernickel  zur  Zeit  des  Breißigjährigeii 
Krieges  spielt:  *'Men'8  Wi/es  No.  IV:  IV  —  's  Wifi'\  seit  der  Ver- 
Öifentlichung  erst  wieder  in  Strai/  Papers,  Sil  ff,  gedruckt.  —  Eben- 
falls deutsche  Kleinstadtverhältnisee  streift,  ^*Ä  stränge  man  just 
dUcovereä  in  Germany''  (Stand.  Ed.  vol.  XXVI),  ein  Schildbürger- 
sttlckchen  —  ein  bezechter  englischer  Student  wird  fttp^  einen  Halb- 
barbaren  gehalten  —  das  der  Vollständigkeit  halber  hier  angeführt  sei. 


4 


^ Barry  Lynd4m*\  beziebimgsweise  gehen  ümi&  irorauB.  Diese 
Idemen  Diiodezfiirsten  mit  ihrer  Großmannssucht,  mit  dem 
'  Glauben  an  ihr  Gottesgnadentum  —  Karl  Friedlich  von 
Weimar  hatte  etwas  derartiges  an  aich  — ,  immer  bemüht, 
es  Ludwig  XIV.  nachzutun,  kleine  „Sonnenkönige"  zu 
spielen^  diese  Herren,  die  ihre  halbe  Million  Untertanen 
aussogen,  wo  sie  nur  konnten,  faßt  Thackeray  diesmal  von 

■  der  heiteren  Seite  auf  und  geht  ihnen  nicht  so  scharf  zu 
Leibe  wie  später  im  "^Batry  Li/fidon*'  oder  den  **Four 
Georges". 

Es  ist  nicht  Weimar  allein,  das  er  im  Auge  hat^  wenn 
auch  Weimarer  Verhältnisse  in  erster  Linie  in  Betracht 
kommen ;  es  ist  auch  nicht  das  Weimar  Karl  Augusts,  das 
Weimar  Goethes,  Schillers;  es  ist  das  Weimar  Karl  Fried- 
richs,  ein  Kleinstaat  und  eine  Kleinstadt  wie  andere. 


» 


I 


Varia. 

Deutsche  Universitäten  und  Studenten:  Auf 
seiner  Rheinreise  hatte  Thackeray  Gelegenheit,  in  Bonn  die 
Verhältnisse  an  einer  deutschen  Universität  und  in  deutschen 
Studentenkreisen  kennen  zu  lernen;  ebenso  vielleicht  auch 
während  des  Weimarer  Aufenthaltes  in  dem  benachbarten 
Jena.  Unter  den  Karikaturen  der  Weimarer  Zeit  finden 
wir  die  Skizze  einer  Mensur  und  eines  Studenten  jener 
Tage**)  Was  Thackeray  selbst  in  Bonn  gesehen,  läßt  er 
auch  seinen  Clive  sehen,  Kommers,  Mensiu*.-)  Die  Kickle- 
burys  haben  Gelegenheit  auf  der  Rheinfahrt  Bonner  Stu- 
denten in  ihrer  malerischen  Tracht  zu  sehen,  die  National- 
farben auf  den  Kappen,  langes  blondes  Haar,  tüchtig 
zerschmiüte  Gesichter  und  —  schmutzige  Hände.*)  Die 
ünreinlichkeit  Ist  übrigens  ein  Vorwurf,  den  Thackeray  den 
deutschen  Studenten  jener  Zeit  nicht  so  ganz  mit  Unrecht 
macht.  Auch  die  beiden  Studenten,  die  nach  Pumpernickel 
von  der  benachbarten  Universität  (mit  dem  bezeichnenden 
Jf  amen  Schoppenhausen;  gekommen  sind,  sind  keine  Muster 


*)  Thadcerayana,  1^)2  ii. 
2J  V,  3CIL 

3)  xin,  20. 


HJ4. 


von  Reinlichkeit-*)  Die  lange  Pfeife  mit  dem  Wappen  &t 
dem  Pfeifenkopf  verläßt  sie  nie,  Ihr  Gespräch  dreht  sich 
um  die  ihnen  nächstliegenden  Dinge:  Fuchs,  Burschi  Phi- 
lister, Kneipe,  Mensur,  dann  auch  Becky,  über  deren  Stimme 
der  eine  die  charakteristische  burschikose  Bemerkung  macht : 
'*Saufefi  und  Siti^en  go  not  togeiher^J)  Auch  sonst  erwähnt 
Thaokeray  die  Leipziger  Burschen*)  oder  Heidelberger 
Studenten.^)  Diesen  nicht  gerade  allzusehr  anziehenden 
Typen  setzt  er  auch  einen  Musterstudenten  gegenüber, 
Lorenzö  von  Tische  an  der  berühmten  Universität  von  Kräh- 
winkel, der  wirklich  studiert,  Kollegia  besucht  imd  nichts 
zu  tun  hat  mit  dem  Kneipenleben,  ein  Muster  nicht  nur 
für  Krähwinkel,  sondern  auch  fiii*  Bonn,  Jena,  Halle,  für 
Salamanca  und  Bologna  und  was  noch  alles.  ^) 

Das  deutsche  StudentenUed  ist  Thackeray  nicht  fremd* 
In  ""The  Adventure^  of  Philij/'  bringt  er  eine  freie  Nach- 
dichtung von  Karl  Mi  c hl  er s  altem  Lied  „Wein,  Weib, 
Gesang",  *" Luther",^)  später  in  die  Balladen  als  "Dr.  LuÜter's 
Spnn**  übernommen*  Unberechtigterweise  wurde  in  die 
Balladen  aufgenommen  die  von  Charles  Lever  herrührende 
Übersetzimg  von  C.  G.  L.  Macks  «Der 
herrlich 


von    C.  G.  L.  Macks    »Der   Papst   lebt 
in  der  Welt**,    als   ''Commanders  of  the  faith* 

fuV*  in  jjRebecca  und  Rowena'^  eingeschaltet.^) 

Ein  recht  nettes,  wenn  auch  stark  karikiertes  Bild 
gibt  uns  Thackeray  von  der  Laufbahn  eines  Theologen  des 
18.  Jahrhunderts.*)  Der  recht  mitteilsame  Kandidat  erzählt 
Barry  sein  Leben:  mit  16  Jahren  beherrschte  er  Latein, 
Griechisch,  daneben  Französisch,  Englisch,  Arabisch;  ein 
Legat  von  100  Reiehstalem  ermöglicht  ihm,  die  Universität 
zu  beziehen,  wo  er  sich  auch  mit  Lektionen  foilhilft;  eine 
These  über  die  Quadratur  des  Zirkels,  eine  Disputation 
im  Arabischen  gegen  Professor  StnimpflF,  die  südlichen 
europäischen   Sprachen,    Sanskrit,    die   nordischen   Idiome, 

>)n,  33Ö. 

2)  n,  346.  

»)  II,  345. 

^)  XIX,  12a 

»)  Straif  Paj>ent,  183  ft'. 
«)  X,  im,  215. 
n  Xin,  178. 
8)  XIX,  86  f. 


4 


-     75     — 


I 


Russisch  kennzeichneii  die  Studienbalm  dieses  Polyhistor, 
der  bedauert,  eine  (xelegenheit,  Chinesisch  zu  lernen^  ver- 
säumt zu  haben.  Geldmangel  zwingt  ihn  dann,  sein  Studium 
bis  zu  einem  günstigeren  Zeitpunkt  aufzugeben;  da  bietet 
sich  ihm  Gelegenheit  eine  Pfanne  zn  erhalten,  er  hält  seine 
Probepredigt,  aber  das  Schicksal  will  es  anders,  er  wird 
gepreßt  J) 

Auch  den  deutschen  Adel  bespricht  Thaekeray 
gelegentlich.  Abgesehen  von  den  satirischen  Schilderungen 
in  Pumpernickel  und  Kalbsbraten,  mit  den  oft  recht  cha- 
rakteristischen Namen,  und  auch  an  anderen  Stellen,  ist  es 
namentlich  der  verarmte  aber  immer  noch  hochstolze  Adel, 
den  er  hernimmt,  der  Count  de  Reineck  und  Mademoiselle 
de  Reineck  in  ihren  "faded  silk  gomi$'\  die  sie  während  der 
Saison  in  der  Residenz  ruiniert  hat,  aber  aus  Ökonomie 
immer  noch  trägt,  mit  ihrer  Gesellschafterin,  mit  der  sie 
vor  der  Welt  recht  freundlich  umgeht,  die  aber  höchst 
selten  ihren  Lohn  erhält,*)  oder  die  abenteuernden  jüngeren 
Söhne  im  17*  und  18,  Jahrhundert,  der  älteste  erhält  die 
Güter,  die  jüngeren  werden  Priester  oder  Soldaten.^ 

DaÜ  Thaekeray  auch  die  deutsche  Industrie  nicht 
übersieht j  daß  er  die  Dresdener  Porzellanfabrikation,  ^Dresden 
China",  „Dresden  shepherds  and  sheperdesses^,  die  ja  in 
England  sehr  behebt  waren, ^)  „Berlin  gloves'*'*)  etc.  erwähnt, 
ist  bei  der  Verbreitung  dieser  Ailikel  in  England  eigentlich 
ganz  natürhch. 

Auf  religiöae  Verhältnisse  kommt  Thaekeray, 
außer  in  den  bereits  erwähnten  Bemerkungen  über  die 
religiösen  Anschauungen  in  deutscheu  Fürstenhausern  und 
über  den  Religion.swechael,  wie  ihn  einzelne  Fürsten  zur 
Zeit  des  Dreißigjährigen  Krieges  trieben/)  auch  noch  im 
"Denis  DuvaV*  zu  sprechen.  Hier  handelt  es  sich  speziell  um 
die  religiösen  Verhältnisse  im  Elsaß,  an  der  französisch- 
deutschen Grenze,  um  den  Gegensatz  zwischen  ^'ihe  German 


1)  XIX  f. 

«)xni,  12. 

9)  Siehe  den  Grafeü  Oalgenstem  in  der  Catherine, 
^)  X,  179  u.  a. 
»)in,  381;  IV  u.  a. 
«)  Strmj  Papers,  37Ö. 


^     76 


Chureh"  C'the  Refonned  Church  of  ihc  Augsburger  Coftfession'*) 
und  'Hhe  Freneh  Church",  der  die  Protestanten  aus  Frank- 
reich vertrieb  iiiid  sie  in  Winchelsea  eine  neue  Kolonie 
gründen  ließ,  und  der  auch  jetzt  Unheil  im  Hause  des 
Hen-n  van  Zabem  (Savemej  stiftet:  die  Frau  von  Zabem 
wird  katholisch,  der  Erzbischof  von  Straßburg  hat  dabei 
die  Hand  im  Spiele. 

Überhaupt  der  Elsaß  und  seine  Zustände  ei'scheinen 
im  "^ Denis  DuvaV  öfter  gestreift,  *JÄc  Alsatiani  jargmi  oj 
Frenrh  and  German'*  bringen  die  auswandernden  Protestanten 
auch  nach  England  hember  und  er  ^ird  wiederholt  in  Bei- 
spielen vorgeftihrt.  Auch  die  Besitznahme  des  linksseitigen 
Rheingebietes  durch  Frankreich  wird  im  '^Denis  Duvar'  er- 
wähnt. 

Das  deutsche  Wirtshaus  und  Hotel  findet  in 
Thackeray  auch  seiuen  Schild erer.  In  "  Vanity  fair^'  gibt  er 
uns  ein©  ganz  hübsche  Schilderung  einer  Wirtsstube  zweiten 
Ranges,  ""a  Gtnnan  inn  in  fair  titne" :  immer  voll  Rauch 
und  Biergeruch,  an  schmutzigen  Tischen,  mit  Speiseresten 
und  vergossenem  Bier^  Tii'oler  Handschuhhändler,  Lein- 
wandhändler aus  den  unteren  Donauländem,  Studenten, 
Kartenspieler,  Dominospieler  u.  s.  f.  *}  Natürlich  mit  dem 
englischen  Komfort  in  den  deutschen  Hotels  scheint  es 
schlecht  zu  stehen,*)  namentlich  in  Straßburg  ''that  odious 
huggy  Strasbourg''.^)  Ganz  köstliche  Skizzen  gibt  er  von  den 
deutschen  Kellnern,  den  ''skepless  German  tvaiters'':^)  *\  , ,  Herr 
OberkeUneTy  who  swaggers  as  becomes  the  Oberkellner  of  a  house 
frequented  bg  ambassadors:  who  contradirts  us  io  our  faces, 
and  whose  oten  countenance  is  omammted  wiih  yesivrdaijs  heard, 
of  whieh,  or  of  ang  pari  of  his  clothing,  the  graceful  youth 
does  not  appear  to  have  divested  himself  ^nce  last  we  hft  kirn. 
We  recogtiize,  soniewhat  dingy  and  faded,  the  elahorate  shirt- 
front  whieh  appeared  ai  yesterday*s  banquet.  Fareicell,  Herr 
Oberkellner!  May  we  never  see  your  handsome  countenance, 
washed  or  unwashed,  shaveti  or  unshorn,  againr^) 


1)  n,  344. 
«)  XIII.  156. 
«)  V,  434. 
*)  V,  399. 
5)  XUI,  129, 


—    77    — 

Es  wären  nun  nur  noch  einzelne  nebensächliche  Kleinig- 
keiten zu  notieren:  die  Vorliebe  der  deutschen  Mädchen  fiir 
das  Walzertanzen,  ^)  das  Tabakrauchen,  das  in  Deutschlemd 
viel  früher  eingebürgert  war  als  in  Englsaid,*)  die  deutschen 
Weinmarken  und  dergleichen  mehr. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  auf  die  Namen  bei  Thackeray,  so- 
weit deutsche  Verhältnisse  in  Betracht  kommen,  hingewiesen. 
Die  Personennamen  sind  entweder  recht  charakteristisch 
nach  der  Beschäftigung  gewählt  oder  aber,  und  das  ist  der 
gewöhnliche  Fall,  sie  sind  ganz  willkürlich  gewägt,  nach 
deutschen  Speisen  „Speck",  „Eyer**  u.  dgl.  Ebenso  geht 
es  mit  den  Länder-  und  Lokalnamen  „Pumpernickel", 
„Kalbsbraten",  daneben  aber  auch  „Krähwinkel",  eine  Be- 
zeichnung der  deutschen  Satire. 


ScMußwort. 

Thackeray  ist  kein  Bahnbrecher  für  deutsche  Kultur 
in  England  gewesen,  wie  Wordsworth  und  Coleridge  imd 
später  namentlich  Carlyle.  Er  bringt  nichts  Großes,  Neues ; 
seine  Übersetzungspläne  bleiben  unausgefiihrt,  die  wenigen 
Übertragungen  deutscher  Balladen  fallen  in  die  erste  Zeit 
seiner  literarischen  Tätigkeit  und  sind  wohl  nicht  allzuhoch 
anzuschlagen.  Von  einem  Einfluß  der  deutschen  Literatur 
vollends  kann  kaum  gesprochen  werden.  Thackeray  ist  groß 
geworden  in  der  Schule  der  Swifl,  Smollett,  Sterne  und 
namentlich  Fieldings. 

Über  deutsche  Musik  weiß  er  seinen  Landsleuten  nichts 
Neues  zu  sagen  und  die  bildende  Kunst  der  Deutschen 
berührt  er,  der  doch  den  Kunstkritikern  öfters  ins  Hand- 
werk pfuscht,  kaum  gelegentlich.  Seine  Betrachtung  deutscher 
Geschichte,  namentlich  Friedrichs  des  Großen,  steckt  ganz 
in  den  Vorurteilen  seiner  Zeit.  Wo  er  zeitgenössische  Zu- 
stände schildert,  bilden  dieselben  immer  nur  den  Hinter- 
grund für  seine  persönlichen  Erlebnisse. 

1)  XVII,  191. 

-2)  XVII,  164  f,  181;  XIX,  221;  XIU,  146. 


—    78    — 

Neue  Wege  hat  er  nicht  betreten,  neue  Blicke  nicht 
eröfihet.  Trotzdem  darf  man  ihn  nicht  unterschätzen.  Er 
gehört  jedenfalls  zu  denen,  die  neben  Carlyle  für  die  Ver- 
breitung und  das  Verständnis  deutschen  Geistes  und  deutscher 
Zustände  wirkten,  wenn  er  auch  keine  zusammenhängende 
Arbeit  in  dieser  Richtung  gebracht  hat. 


WIENER  BEITRÄGE 

ZÜB 

ENGLISCHEN  PHILOLOGIE 


UNTER  MITWIRKUNG 


Dr.  K.  LÜICK 

OBD.  FBOF.  DER  KNOL.  PHILO- 

LOOIS  AN  DER  UKIYERSITÄT 

nf  GRAZ 


Dr.  R.  FISCHER 

ORD.  PROF.  DER  ENGL.  PHILO- 
LOGIE AM  DER  UmYERSITÄT 
IN  IHM8BRUCK 

Dr.  L.  KELLIER 

AO.  PROFESSOR  DER  ENGL. 
PHILOLOGIE  AN  DER  UNI- 
VERSITÄT    IN      CZERNOWITZ 


Dr.  i.  POGiTSCHER 

ORD.  PROF.  DER  EHOI..  PHIL(>> 

LOOIE    AN    DER   DBUTBGBa 

UNIVERSITÄT  »  PRAO 


HERAUSGEGEBEN 


Db.  J.  SCHIPPER 

ORD.  PROF.  DER  ENGL.  PHILOLOGIE  UND  WIRKLICHEM  MnOLIKDR  DER 
KAISERL.  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN  IN  WIEN 


XXVIII.  BAND 


WIEN  UND  LEIPZIG 
WILHELM   BRAUMÜLLER 

K.  U.  K.  HUF-  UND  UNIVEBSITATS-BUCHHInDLER 

1908 


ANDREW  MÄRYELLS 


POETISCHE  AVERKE 


VON 

ROBERT  POSCHER,  Dr  phil. 

(WIEN) 


WIEN  UND  LEIPZIG 
WILHELM   BRAUMÜLLER 

K.  ü.  K.  HOF.  UMD  UKIVSBSlTlTB-BUOHHlMiyLIB 
1908 


Alle  Rechte,  intbetoadere  das  der  Übersetzung,  vorbehalten . 


K.  k.  Universitäts-Buehdruokorei  aStyria"  in  Graz. 


Vorwort 


Uie86  Arbeit  verdankt  itire  Entstehung  dem  Zufalle, 
daiJ  mir  eines  Tages  im  englischen  Seminar  unserer  Uni- 
versität ein  Buch  in  die  Hände  kam,  das  der  Vorstand  des 
genarmten  Inatitutes,  Herr  Hofrat  Prof,  Dr.  J.  Schipper, 
damals  gerade  fiir  dasselbe  angekauft  hatte,  eine  billige 
Ausgabe  von  **3IarvelVs  Poems  and  Saiires'\  London^  Ward, 
Lock  &  Co.  (o.  J.)  Ich  nahm  das  Buch  mit  nach  Hause 
und  weil  manches  darin  mir  gefiel,  so  gedachte  ich,  einen 
kleinen  Aufsatz  für  die  Zwecke  des  Seminars  darüber  zu 
schreiben.  Da  ich  aber  während  meiner  Beschäftigung 
fand,  daß  Marvell  von  den  Literarhistorikern  bisher  über 
Gebühr  vernachlässigt  worden  ist,  so  erweiterte  sich  mein 
Plan,  und  ich  habe  mich  nunmehr  bemüht,  mein  Thema 
möglichst  erschöpfend  zu  behandeln. 

Es  ist  natürlich,  daÜ  ich  den  nicht  selbständigen  Teil 
der  Arbeit,  das  heißt  das  Biographische,  möglichst  ein- 
geschränkt habe,  wie  ja  auch  der  Titel  kein  y,Leben"  des 
Dichters  verspricht.  Auf  die  biographischen  Angaben  aber 
ganz  zu  verzichten,  war  dennoch  ausgeschlossen,  da  für 
Marvell  vielleicht  mehr  als  für  manchen  andern  Dichter 
der  Satz  gilt,  daß  sein  Dichten  ohne  Kenntnis  seines 
Lebensganges  nicht  verständlich  ist.  Und  imi  den  Zu- 
sammenhang seiner  Dichtung  mit  seinen  Lebensumständen 
noch  deufchcher  zu  machen,  habe  ich  den  hoflfentlich  nicht 
tadehiswerten  Versuch  gemacht,  die  notwendigen  biogra- 
phischen Angaben  nic-ht  fortlaufend  von  der  Geburt  bis 
zum  Tode,  sondern  eingeteilt  stets  vor  den  entsprechenden 
einzelnen  Perioden  seines  Schaffens  zu  geben,  wie  diese 
sich  meines  Erachtens  leicht  von  selbst  abgrenzen. 


—    VI    — 

Diese  Arbeit  war  so  ziemlich  in  der  vorliegenden 
Gestalt  bereits  im  Jahre  1906  fertig;  gelegentlich  eines 
Ferienaufenthaltes  in  Oxford  im  darauffolgenden  Jahre 
ergaben  sich  noch  einige  kleine  HinzuAigungen,  da  mir 
dort  mehrere  in  den  Periodical  Indices  der  Bodleiana  ver- 
zeichnete Kritiken  zugänglich  wurden. 

Mein  verehrter  Lehrer,  Herr  Hofrat  Professor  Dr.  J. 
Schipper,  hat  die  Veröffentlichung  durch  memchen  Bat- 
schlag gefordert,   wofiir  ihm  aufrichtiger  Dank  gesagt  sei. 

"Wien,  im  Juli  1908. 

Dr.  R.  Poscher. 


Literatur. 


Folgende  Werke  sind  dieser  Arbeit  zu  Grunde  gelegt  worden: 

**Th€  Complete  Works  in  Verse  and  Prose  of  Andrew  Marveü",  ed.  with 
Memorial  IntroducHon  and  Notes  hy  the  Rev.  Dr,  Alex,  B,  Gro- 
sart,  in  4  vols.,  London  1872,  —  Vol.  I:  Verse. 

Diese  Ausgabe,  die  einzige  vollständige,  nur  in  156  Exemplaren 
*'for  private  ciraUation''  gedruckt,  konnte  natürlich  trotz  ihrer  Vorzüge 
Marvell  nicht  in  weiteren  Kreisen  bekannt  machen.  Das  strebt  erst 
die  in  jüngster  Zeit  erschienene  Ausgabe  von 

O.  A.  Aitken  an:  "Poems"  und  "Satires",  London  1892,  Lawrence  dt 
Buller;  zweite  billigere  Ausgabe  in  "TJie  Muses*  Library", 
RouÜedge  &  Sons,  1901, 
Die  im  Vorwort  erwähnte  Ausgabe,  die  als  Nr.  22  in  der  Samm- 
lung "The  World's  Library  of  Standard  Books"  erschien,   enthält  ein 
^'Memoir",  dessen  Verfasser  nicht  genannt  ist,  mit  manchen  unrichtigen 
Angaben,   femer   sinnstörende   Druckfehler   und  einige  überflüssige 
Anmerkungen.    Eine  Anfrage  an  die  Verlagsbuchhandlung  ergab  die 
sonderbare  Antwort,  sie  habe  "no  means  of  ascertaining",  wann  und 
durch  wen  die  Ausgabe  besorgt  wurde.    Sie  dürfte   ein  englischer 
Nachdruck  der  amerikanischen  Ausgabe  von  1881  sein;    da  ihre  An- 
merkungen mit  den  wiederholt  von  Grosart  zitierten  der  Ausgabe  von 
1726  übereinstimmen,  war  jedenfalls  diese,  direkt  oder  indirekt,  die 
Grundlage. 

Die  neueste,  etwas  zu  umfangreiche  Biographie 
^* Andrew  Marvell"  by  Augustine  Birrell  (in  "English  Men  of  Letters",) 

London  1905,  Macmülan  &  Co,, 
habe  ich  erst  während  meines  Aufenthaltes  in  England  kennen  ge- 
lernt und  benutzt,  wo  angegeben.  Während  Birrell  (S.  7)  die  Aus- 
gabe Grosarts  mit  R^cht  "invaluahle"  ueimt,  hat  sie  E.K.Chambers 
in  einer  Kritik  im  42.  Bande  der  "Academy",  p.  230,  sehr  schroff  "badJy" 
gescholten  und  außerdem  dem  neueren  Herausgeber  Aitken  zum  Vor- 
wurf gemacht,  daß  er  eine  Würdigung  Marvells  unterlassen  habe. 

Sehr  gut  ist  der  Artikel  über  A.  Marvell  im 
"Dictiofiary  of  National  Biography",  vol.  36, 

wo  auch  die  älteren  Ausgaben  der  Werke  Marvells  aufgezählt  sind, 
auf  die  zurückzugehen  heute  nicht  notwendig  ist,  ebensowenig  wie 


—  vm   — 


auf  die  älteren,  nun  entwerteten  Biographien,  da  Ghrosart  sie  nicht 
nnr  benutzt,  sondern  auch  verbessert  hat,  indem  er  auf  die  dokumen- 
tarischen Quellen  zurückgeht:  aufgezählt  sind  dieselben  bei  Gr  o  sart, 
vol,  I,  p,  XV ff.,  und  bei  Aitken,  ''Foenis",  p.  LXVIU  ff. 

Die  Kenntnis  der  meisten  minderbedeutenden,  zum  Vergleiche 
herangezogenen  zeitgenössischen  Dichter  vermittelte  das  bekannte 
Sammelwerk 

''The  FoeU  of  Great-Britain",  Edinburgh  1796, 

Die  Grundlage  für  Anordnung  und  Behandlung  des  Stoffes  im 
metrischen  Teile  bildete 

J.  Schippers  „EngliscJie  Metrik'',  Bonn  1881— 1S88, 

Die  Titel  von  Werken  und  Zeitschriflen,  die  nur  ein-  oder 
zweimal  zitiert  werden,  sind  in  die  Fußnoten  verwiesen. 


Inhaltsübersicht. 


Seite 

Vorwort V 

Literatur VII 

I.  Analytischer  Teil. 

Biographie:  Eltern,  Schule,  Jugend,  Universitätszeit  ....  1 

Erste  dichterische  Äußerungen 1 

Heise  nach  dem  Kontinent 1 

Vorschule  (1637— 1660) 2 

„nP02  KAPPOAON  TON  BA2IAEA'' 2 

„Ad  Augustum  Caesarem" 3 

„Lanceloto  Jos.  de  Maniban^^ 3 

"Flecknoe",  erste  Satire 4 

Bezug  auf  Dryden  und  Wemicke 4 

Inhalt  und  Ton 6 

Metrische  Eigentümlichkeiten 7 

Rückkehr  nach  England 7 

Politische  Lage  daselbst 7 

Gelegenheitsgedichte  aus  dieser  Zeit B 

"üpon  the  Death  of  Lord  Hastin^s" 8 

Mischung  antiker  und  christlicher  Ideen 9 

"To  Rieh.  Lovelace" 9 

Bedeutung  beider  Gedichte  für  Marvells  polit.  Beurteilung  lO 

"Tom  May's  Death" l4 

Abschluß  der  Polemik  gegen  den  angeblichen  „Royalismus^^  16 

Stilles  Landleben  des  Dichters  im  Hause  Fairfax 19 

L  Periode  (1650— 1662) 19 

Allgemeine  Züge  derselben , 19 

Gruppierung  der  Gedichte 20 

Zusammenhang  zwischen  lateinischen  u.  englischen  Dichtungen  20 

„Epigramma  in  duos  montes" 20 

"Upon  the  Hill  and  Grove  at  Billborow" 21 

"Apnleton-House" 22 

Typisches  Renaissancegedicht  mit  Gartenszenen  und  drasti- 
schen Vergleichen 23 

"Hortus"  —  "The  Garden" 2<7 

,.Ros"  —  "Drop  of  Dew" 28 

Aus  Senecas  "Thyest" 29 

"Nymph,  Complaining  the  Death  of  her  Fawn" 29 

Liebeslieder 31 

I.  Mower  Songs 31 

"Dämon  the  Mower" 31 


—    X    — 

"The  Mower  against  Gardens*^ 8*2 

"The  Mower  to  the  Glow -Worms" 88 

"The  Mower's  Song" 88 

"Ametas  and  Thestylis" 83 

IE.  Pastorale  (Schäfer-)Gedichte 3i 

Allgemeines,  Theorie 86 

"Clorinda  and  Dämon" 86 

Allegorische  Deutong 36 

"Dialogue  between  Thyrsis  and  Dorinda" 87 

"Daphnis  and  Chloe" 87 

"Yonng  Love" 88 

"The  Gallery" 89 

"The  Pictore  of  Uttle  T.  C." 89 

Emblematische  Poesie 89 

"To  his  Coy  Mistress" 40 

Bester  Ausdruck  des  Carpe  diem! 41 

"The  Match" 41 

Auf  Mary  Fairt'ax  zu  beziehen? 42 

"The  Unfortunate  Lover" 43 

Verschiedene  Deutungen 44 

"Mourning" 44 

in.  Beflektierende  Gedichte 46 

"Definition  of  Love" 46 

Pessimismus 46 

"Eyes  and  Tears" 47 

"The  Coronet" 48 

Muster  Donnes? 49 

Geistliche  Gedichte          50 

"Dialogue  between  Soul  and  Body" 60 

"Dialogue  between  Soul  and  Pleasure" 60 

Formelles 51 

"Music's  Empire" 69 

Auf  Lord  Fairfax  bezüglich 52 

"The  fair  Singer" 68 

"Doctori  Wittie'»  —  "To  Dr.  Witty" 68 

Bezug  auf  Mary  Fairfax 64 

Fortsetzung  der  Biographie: 

Bekanntschaft  mit  Milton  und  Cromwell 64 

Beamter  der  Bepublik 66 

M.  P.  für  Hüll 65 

Politische  Verhältnisse    . 66 

Periode  (1652-1660) 56 

Cromweliian  Poems: 56 

"Horatian  Ode" 67 

Berühmtheit  derselben 68 

^•Bermudas" 58 

"Doctori  Ingelo" 60 

"Auf  Cromwells  Bild" 61 

Früher  Milton  zup:eschriebeu 61 

"Auf  Oliver  St.  John" 62 

"The  first  Anniversarv  under  tlie   Lord  Protector"      ....  68 

Detailmalerei 64 

Stilistische  Eigenheiten 65 

"The  Character  of  Holland" 68 

Kontroverse  Hazlitt  —  Leigh  Hunt 70 


—    XI    — 

Seite 

"Admiral  Blake's  Victory»' 71 

"Two  Songs"    erstes 72 

Zweites  Mochzeitsgedicht 74 

"Death  of  the  Lord  Protector" 76 

M.,  der  Dichter  Cromwells 78 

m.  Periode  (1660-1678) 79 

Politische  Zustände  unter  Karl  11 79 

Schluß  der  Biographie 80 

Parlamentstätigkeit,  Freund  Miltons 80 

Prosawerke 81 

Verssatiren 81 

AUpemeines 82 

"Last  Instructions  to  a  Painter" 83 

"Advice  to  a  Painter" 87 

"Farther  Instructions" 88 

Abfassungszeit 89 

"Clarendon*s  House  Warming" 90 

"üpon  his  House" 91 

"Upon  his  Grandchildren" 92 

"The  Loyal  Scot" 92 

"Blood's  Stealing  the  Crown" 94 

"Bludius  et  Corona" 94 

"Britannia  and  Raleigh" 96 

Zitierung  Spensers 96 

"A  Historical  Poem" 97 

"On  the  Lord  Mayor  and  Aldermen" 98 

"Nostradamus'  Prophecy" 99 

"On  the  Statue  in  Stocks-Market" 100 

"On  the  Statue  at  Charing  Cross" 101 

"Dialogue  between  two  Horses" 103 

Abfassungszeit 106 

Urteile  über  die  Satiren 106 

''In  Eunuchum  Poetam" 107 

"On  Paradise  Lost" 108 

"An  Epitaph" 109 

„Scaevola  Scoto-Britannus" 109 

Pseudo-Marvellische  Gedichte 110 

II.  Systematischer  Teil. 

1.  Literarhistorische  Stellang 111 

Büd  der  Zeit 112 

Klassifikation  der  Gedichte 113 

Einfluß  Horazens 114 

Einflub  anderer  klassischer  Dichter 116 

Tot^ngespräche 116 

Stellung  zu  modernen  Dichtem 116 

Stellung  zu  Spenser 116 

Stellung  zu  Ben  Jonson 116 

Stellung  zu  Flecknoe,  Cleveland  etc 117 

Stellung  zu  Dryden 117 

Stellung  zu  Milton 118 

Stellung  zu  Davenant,  Chaucer,  Waller,  Denham 120 

Stellung  zu  Donne-Cowley 120 

Marvells  Vielseitigkeit 123 


-  xn  — 

8«lte 

Wirklichkeit  in  der  Dichtung 12S 

Gelegenheitsdichtong  und  Satiren 128 

Einige  Urteile 124 

2.  Ton  und  Stilmittel 126 

Pastorales,  Conoetti,  Bilder 127 

Lange  Perioden 129 

Skurrile  Vergleiche 190 

Inkonsequenzen 190 

Einzelne  Stilmittel 181 

Sprichwörtliches 132 

Figur  der  ^Verschränkung" 182 

Mittel  der  Satire,  spezielle 188 

I.  Hyperbel 138 

II.  VSTortspiel 184 

Einkleidungen 186 

8.  Sprache  und  Grammatik 186 

Altertümliches 186 

Freiheiten 187 

Absolute  Partizipialkonstruktion 187 

Füllwörter 188 

Fremdsprachliche  Einflüsse 198 

4.  Metrik 139 

A.  Silbenmessung  imd  Wortbetonung 189 

B.  Reim 142 

Reimfrage  im  17.  Jahrhundert 148 

C.  Versarten 144 

Septenar 144 

Fünfbaktiger  Jambus 144 

Viertaktiger  Jambus 147 

Andere  jambische  Maße 149 

Viertaktige  Trochäen 150 

Jambisch-anapästische  Verse 160 

D.  Strophenbau 162 

Unstrophische  Gedichte 162 

Geleitartige  Strophen 152 

Refrain 158 

Gleichmetrische 168 

Ungleichmetrische 164 

Zweiteilige  gleichgliedrige 165 

Zweiteilige  ungleichglieonge 156 

Dreiteilige 155 

Ungleichmetrische  und  ungleichrhythmische 166 

Italienische  Nachbildungen 167 


I.  Analytischer  Teil. 

Andrew  Marvell  wurde  am  31.  März  1621  zu  Winestead 
in  Holdemess,  Yorkshire,  geboren.  Als  sein  Vater  eine  Stelle 
als  Pfarrer  und  Lehrer  zu  Hüll  erhielt,  übersiedelte  auch 
die  Famüie  dorthin.  Der  kleine  Andrew  erhielt  den  ersten 
Unterricht  von  seinem  Vater,  einem  edlen,  freisinnigen, 
immer  tätigen  Manne,  und  kam  1633  als  si/s(ir  ins  Trinity 
College  zu  Cambridge.  Bekehrungseifiige  Jesuiten,  denen 
er,  wie  Chillingsworth,  Crashaw  u.  a.,  in  die  Hände  fiel, 
brachten  ihn  von  der  Universität  weg  nach  London.  Aber 
der  alte  Marvell  erfuhr  davon,  machte  ihn  in  einem  Buch- 
händlerladen ausfindig  und  brachte  ihn  wieder  an  die  Uni- 
versität zurück,  wo  Andrew  seine  Studien  bis  1640  mit 
Eifer  fortsetzte.  Aus  dieser  Zeit,  einer  denkwürdigen  Zeit 
der  englischen  Geschichte,  stammen  die  ersten  dichterischen 
Äußerungen  Marvells,  Beiträge  zur  "Musa  Cantabrigiensis" 
vom  Jahre  1637,  ein  griechisches  und  ein  lateinisches  Ge- 
dicht an  den  König  Karl  L^)  1638  wurde  Marvell  "JB.  A^ 
Zwei  Jahre  später  verlor  er  seinen  guten  Vater  auf  tragische 
Weise.  Dieser  ertrank,  ein  Opfer  seiner  Ritterlichkeit,  im 
Humber.  Leigh  Hunt  hat  dieses  Ereignis  in  seinen  Essay 
^'On  Stichs"  eingeflochten.  ^)  —  Der  junge  Andrew  gehörte 
der  Universität  bis  zum  Jahre  1641  8m;  im  September 
dieses  Jahres  wurde  Dominus  Marvell  mit  einigen  anderen 
von  der  Universität  verwiesen,  wahrscheinlich  einer  jugend- 
lichen Torheit  wegen.  Sein  weiterer  Bildungsgang  war 
derselbe  wie  der  eines  jeden  „Kavaliers"  im  17.  Jahr- 
hundert, nicht  nur  in  England,  sondern  bekanntermaßen 
noch  mehr  und  länger  in  Deutschland  —  bis  auf  Lessing: 
nach  der  Universitätszeit  kommt  die  Bildungsreise,  "fe 
grand  tour" ;  wer  Geld  hatte,  machte  sie  auf  eigene  Kosten, 
wer  keines   hatte,   als   Reisebegleiter  eines    Glücklicheren. 

»)  Grosart,  voll,  p,  397 ff.  —  Aitken,  Poems,  185f, 
2)  "A  Tcdefor  a  Chimney  Corner, .  /',  ed.  Edw.  Ollier,  L.1887,  p.l65. 
Poscher,  Marvells  poetische  Werke.  1 


So  ging  auch  Marvell  auf  ReiseUj  von  1642  bis  1646,  nach 
Frankreich^  HoUand,  der  Schweiz,  Spanien,  Italien*  Wir 
finden  Anspielungen  auf  diese  Keise  in  manchen  seiner 
Gedichte;  in  "Appleion'ffou$c'\  in  "The  GaUeryl",  in  ''The 
ßrsi  Anniversarff  of  the  Oovtmment  ander  His  Hlghuess  the 
Lord  Protedö/*  und  anderen,  also  in  Gedichten,  die  — 
wie  sich  zeigen  wird  —  zu  ganz  verscliiedenen  Zeiten 
entstanden  sind.  Einige  Gedichte  aber  sind  durchaus  Pro- 
dukte dieser  Reise,  und  zwar  das  lateinische  Gedicht  auf 
Dr.  Lancelot  Maniban  und  die  Satire  '*FleclmQe*\  Dagegen 
kann  das  Gedicht  *'27*e  Charfxcter  of  Holland'*,  wie  aus  dem 
Inhalt  hervorgeht,  erst  auf  einer  späteren  Reise  entstanden 
sein,  wenn  wir  überhaupt  annehmen  wollen,  daß  es  an  Ort 
und  Stelle  geschrieben  ist. 

Diese  bisher  erwähnten  Erstlingsgedichte  Mar- 
vells  aus  der  Universitäts-  und  Reisezeit,  zusammen  mit 
einigen  Gelegenheitsgedichten  nach  der  Rückkehr,  von  der 
noch  zu  sprechen  sein  wird,  bezeichnen  wir  füglich  als 

Torschiile 
des  Dichters,  die  demnach  von 

1637—1649/50 

reicht.  Wie  fast  jeder  Dichter  des  17.  Jahrhunderts  bat 
auch  Marvell  mit  Gedichten  in  lateinischer  Sprache 
begonnen  und  ist  später  zu  Gedichten  in  der  Muttersprache 
übergegangen.  Das  wird  besonders  deutlich,  wenn  wir 
sehen,  daß  unter  seinen  frühesten  englischen  Gedichten 
Übersetzungen  von  eigenen  Gedichten  in  lateinischer 
Sprache  sind. 

Marvell  trat  mit  seinen  ErstUngsprodukten  sofort 
vor  die  OÖentlichkeit,  denn  die  beiden  erwähnten  Ge- 
dichte aus  der  Üniversitätszeit  erschienen  in  der  "Musa 
Cantabrigimsis**  vom  Jahre  1637.  Das  griechische  Gedicht 
^nPO:^  KAPWÄON  TON  BäIIäEA-  ist  ein  kurzes  Ge- 
dicht in  Distichen,  in  dem  er  mit  der  ominösen  Zahl  „fünf*' 
spielt;  die  fünf  Kinder  des  Königs  würden  einst  der  Nach* 
weit  von  ihm,  dem  Könige,  wie  ein  lebender  „Pentateuch** 
Zeugnis  geben.  Kein  besonders  poetischer  Gedanke  also, 
sondern  ein  gezwungener  Vergleich,  der  in  jener  Zeit,  im 


4 


4 


3    — 


• 


17.  Jahrhundert,  gar  nicht  originell  ist:  das  allegorische 
Ausdeuten  der  Zahlen  —  3,  5,  7,  12  —  sehr  oft  das 
Hineindeuten  bei  Dingen,  die  damit  nichts  zu  tun  haben, 
ist  ja  häutig  zu  finden.  Auch  bei  Marvell  selbst  wird  uns 
diese  Spielerei  nochmals  begegnen. 

Das  zweite  Gedicht  au  den  König  ist  eine  lateinische 
,, Parodie*^  auf  Horazens  „Ad  Augustum  Caesarem*',  beginnend 
mit  den  Worten:  „Jam  satis  pestis  .  . ."  Zwar  in  sehr  er- 
gebenem Tone,  aber  zugleich  in  dringender  Weise  erfleht 
er  Abhilfe  gegen  das  Unglück  des  Volkes  vom  Herrscher, 
Hier  meldet  sich  schon  der  zukiinltige  Politiker,  der  Demo* 
krat,  der  Vertreter  des  Volkes. 

Das  nächste  Gedicht  in  der  chronologischen  Reihen- 
folge, wahrscheinlich  um  1644  auf  der  Reise  in  Paris  ent- 
standen, ist  wieder  ein  lateinisches  Gedicht,  das  schon  die 
humoristische  Ader  unseres  Dichters  zeigt:  „Cmdanit  qui 
legendo  seripiuram,  descripsit  fornmm,  sapientiam  sortemqm 
mUhoris,  Jliustrissimo  viro  IhnUno  Lanceloto  Josephe  de 
Manihan^  grammatomanti^ .  Es  ist  offenbar  unter  dem  frischen 
Eindruck  des  Erlebnisses  geschrieben,  das  eben  ein  solches 
ist,  daÜ  man  entweder  gleich  oder  gar  nicht  darüber  lacht. 
Marvell  scherzt  hier  über  die  graphologischen  Experimente 
des  gelehrten  Abb4,  der  ihm  aus  seinen  Schriftzügen 
Vergangen lieit,  Gegenwart  und  Zukunft  oflfenbarte.  Wir 
£nden  in  diesem  Gedichte  bereits  in  mehrfacher  Hinsicht 
Keime  angedeutet,  die  später  weiter  ausgebildet  werden; 
erstens  seine  humoristisch  -  satirische  Ader,  hier  noch  in 
leichter,  scherzender  Weise,  und  zweitens,  was  bei  einem 
Gedicht  in  lateinischer  Sprache  freilich  doppelt  nahege- 
legen ist,  die  Verwendung  klassischer  Gelehrsamkeit, 
die  wir  überall  bei  Marvell  —  aber  nicht  bei  Marvell 
allein  —  finden.  Man  war  ja  im  17*  Jahrhundert  kein 
Dichter,  wenn  man  kein  gelehrter  Dichter  war.  Aber  auch 
kulturhistorisch  ist  dieses  Gedicht  äußerst  interessant,  da 
wir  hier  eines  der  ältesten  Zeugnisse  über  die  Kunst  der 
Graphologie  vor  uns  haben,  die  ja  im  17.  Jahrhundert 
ihren  Ausgangspunkt  hat.  Auffällig  ist,  daß  Marvell  so 
„aufgeklärt"  über  diese  Bestrebungen  spottet,  —  die  ja 
heute  schon  wissenschaftlichen  Charakter  haben  * — ,  nach- 
dem er  an    zahlreichen  Stellen   seiner    übrigen    Gedichte 

1* 


—    4    — 

ganz  vom  Olauben  an  den  EinfluJ]  der  Oestime,  an  As 
logie  und  ähnliches,  eingenommen  ist 

In  dem  satirischen  Gedicht  '^Flecknoe,  an  English 
ai  Borne*'  haben  wir  das  erste  englische  Oedicl 
Marvells  yor  uns,  wenn  wir  nicht  annehmen  wollen,  dl 
auch  hier  ursprünglich  ein  jetzt  verlorenes  lateinisches 
Grunde  lag.  Wenn  auch  nicht  die  SchluiJverse  deutlich 
aussprächen,  daß  der  Dichter  noch  zu  Born  weilte,  als  er 
das  Gedicht  schrieb,  so  würden  wir  es  doch  aus  formeUen_ 
Gründen  unbedingt  als  einen  seiner  ersten  Versuche 
kennen,  an  der  unbeholfenen  Art,  wie  er  Metrum  und  Ve 
behandelt.  Leigh  Hunt,  der  das  Gedicht  in  seiner  Sehr 
**  Wit  and  Hutnour''  *)  erwähnt,  sagt,  daB  es  in  demselt 
Geiste  der  Übertreibting  geschrieben  sei  wie  Marvell 
"Charcieier  of  Holland"  und  auch  dieselbe  Rauheit  di 
Versifikation  zeige.  So  weit  kann  man  mit  ihm  gehe« 
aber  nicht  mehr,  wenn  er  die  Vermutung  ausspricht,  dies 
Rauheit  sei  beabsichtigt,  um  das  heroische  Versmaß  den 
satirischen  MaJJen  des  Horaz  näher  zu  bringen.  An 
manchen  SteUen  scheinen  ja  Taktumstellung  und  Enjambe* 
ment  als  KuDstmittel  angewendet  zu  sein;  aber  diese  Fälle 
sind  gewLÜ  meist  unbewußt,  dem  natürlichen  SprachgeftiM 
folgend,  entstanden  und  sie  werden  weitaus  von  den  FälleB 
übertroffen,  wo  die  Unregelmäßigkeiten  störend  wirken, 
also  gewiß  unbeabsichtigt  sind. 

Der  Held  des  Gedichtes  ist  Richard  Plecknoe,*) 
irischer  Geistlicher  und  Poet,  mit  dem  Marv^ell  in 
zusammenkam*  Er  war  ein  römisch-katholischer  Prieste^ 
legte  aber  seine  Würde  nach  der  Restauration  nieder.  Er 
war  bedeutend  älter  als  Haryell,  starb  jedoch  im  selben 
Jahre  wie  dieser.  Durch  seine  Werke  —  meist  geistlicl 
Gedichte  —  hat  er  sich  nicht  bekanntgemacht  Sein  Nai 
wurde  vielmehr  durch  literarische  Satire  berühmt,  da 
Marvells  Spott^  der  den  Anlaß  zu  dieser  Bedeutungsfixier 
gab.  Dryden  war  es,  der,  den  Gedanken  Marvells  at 
greifend,  seine  Satire  gegen  den  Dichter  Shadwell  **J 
Flecknoe'*   betitelte,   also    Sohn   des  Flecknoe   (1682);    ok 

*)  London  1882,  S.  221. 

^)  Vgl«   die   Anmerkung  bei  BirreU,  p.  BO,  und  "ZHcHonar^ 


xioM 


die  Voraussetzung  und  Kenntnis  der  Satire  Marvells,  durch 

die  der  Name  Flecknoe  eben  gleichbedeutend  mit  ^Poetaster** 
wurde^  hätte  also  Drydens  Satire  keinen  Sinn,  Die  Fiktion 
Drydens  ist  dann  die,  daß  Flecknoe  den  Thron  der  Dumm- 

Pheit  an  seinen  Nachfolger  Shadwell  abtritt,  der  Dryden 
dadurch  geärgert  hatte,  daß  er  ihm  Inferiorität  vorwarf 
und  außerdem  sein  begünstigter  Rivale  um  die  Stelle 
des  poet  laureate  war.  Dadurch,  daß  der  deutsche  Dichter 
Wernicke  {1661—1726)  in  seiner  gegen  den  Hamburger 
Opemdichter  Postel  gerichteten  Satire  ^3ans  Sact^s'*  wieder 
Drydens  Satire  aufgreift,  hat  Marvell  indirekt  sogar  auf 
die  deutsche  Literatur  eingewirkt. 

Der  Inhalt  des  satirischen  Gedichtes  von  MarveU 
ist  ein  rein  persönlicher,  biographischer-  Der  Dichter  er* 
zählt  in  der  ersten  Person.  Er  sucht  den  geistlichen  Dichter- 
ling in  seiner  Dachkammer  zu  Rom  au£  Die  Türe  der- 
selben besaß  die  lobenswerte  Eigenschaft,  wenn  man  sie 
öfiiiete,  gleich  die  halbe  Kammer  auszutäfeln,  dank  der 
Kleinheit  der  letzteren.  Flecknoe  begrüßt  den  Besucher  mit 
schwungvollen  Versen  ohne  Ende;  müde  geworden,  geht 
er  zur  Laute  über.  Und  so  wie  von  zwei,  auf  denselben 
Grund  ton  gestimmten  Instrumenten,  wenn  das  eine  berührt 
wird,  das  andere  alsbald,  „von  der  Luft  und  von  geheimen 
Sympathien**  bewegt,  mittönt,  so  brummte  des  Sängers 
hungriger  Magen  als  Echo  mit,  als  er  mit  seinen  gich- 
tischen Fingern  über  die  Laute  kratzte.  Der  gntmütige 
Besucher  verstand  die  zarte  Anspielung  und  lud  ihn  zu 
einem  Mahle  zu  sich.  Da  aber  der  poetische  Priester  so 
mager  war,  daß  er  stets  befürchten  mußte,  seine  kostbare 
Seele  könnte  aus  der  durchsichtigen  Hülle  unversehens 
entschlüpfen,  umwickelte  erst  dieses  ^Bas-relief  von  einem 
Menschen^,  wie  stets  beim  Ausgehen,  seinen  sogenannten 
Leib  mit  Papier,  und  zwar  mit  dem  Papier,  auf  dem  seine 
Verse  geschrieben  waren.  Dann  gingen  sie,  der  Besucher 
voraus,  —  weil  aus  der  kleinen  Kammer  der  zuletzt  Ein- 
getretene immer  zuerst  hinaus  mußte.  Auf  der  Stiege  be- 
gegneten sie  einem  Fremden,  der  zu  Flecknoe  hinauf  wollte. 
Da  die  Stiege  zu  schmal  war,  jemand  vorüber  zu  lassen, 
gingen  sie  schließlich  alle  zusammen  hinunter  und  begaben 
sich   in  Marvells  Wohnung,   dort  ein   Mahl   einzunehmen. 


ii 


6    — 


Solange  Flecknoe  den  Mund  voll  batte,  war  alles  gut. 
Sobald  er  aber  fertig  war,  zog  er  schon  seine  Mannskripte 
hervor,  mit  denen  er  ausgestopft  war,  bis  auf  einen  Bogen, 
den  er  unbedingt  als  Hemd  brauchte.  Marvell  vergleicht 
ihn  mit  dem  sagenhaften  Pelikan,  der  sich  das  eigene  Herz 
aus  der  Brust  reilit  Dann  mußte  der  unglückliche  Marvell 
es  über  sich  ergehen  lassen,  die  elenden  Gedichte  von  dem 
zweiten  Gast  elend  deklamieren  zu  hören,  —  so  elend,  daß 
es  auch  dem  schlechten  Verfasser  zu  arg  war  imd  er  den 
Vorleser  beschimpfte,  worauf  er  forteilte,  uni|  den  Zwischen* 
fall  poetisch  ausnutzend,  seinen  Zorn  schnell  in  Verse  zu 
bringen.  Erleichtert  atmete  Marvell  auf,  als  er  die  Besacher 
los  war;  von  einem  Maler  aber  ließ  er  die  Szene  auf  die 
Leinwand  briogen,  um  das  Bild  in  der  Peterskirche  als 
Votivtafel  aufzuhäugen.  Aus  diesem  Schluß 

''— ^  " and  go  now^ 

To  hang  it  in  Saint  Peter'9  for  a  vow," 
sehen  wir  also,  daß  Marvell  noch  in  Rom  war,  als  er  das 
Gedicht  schrieb*  Auch  der  Ausdruck  '*w^  youthful  hrea$t'^) 
deutet  auf  die  Jugend  des  Verfassers, 

In  Zeile  100  fallt  ein  Seitenhieb  auf  die  katholisch© 
Trinitätslehre.  Eine  unästhetische,  gemeine  Stelle  (Z,  135) 
zeigt,  daß  Mai'vell  iu  Paris  auch  die  Nachtseiten  dieser 
Stadt  studiert  hatte.  Seine  klassische  Bildung  bringt  er 
hier,  wie  überall,  an,  indem  er  von  Melchisedech,  Antiochia, 
von  Phalaris  etc.  spricht. 

Marvell  arbeitet  in  diesem  Gedicht  mit  dem  Haupt- 
mitiel  der  Persiflage,  der  komischen  Übertreibung, 
die  seiue  Stärke  ist,  wie  auch  ''The  Ckarade?'  of  Hollund" 
zeigt,  und  mit  absichtlichen  Mißverständnissen,  also  Wort- 
spielen, worauf  im  Kapitel  „Ton  und  Stilmittel '^  zurück- 
zukommen sein  wird. 

Geschrieben  ist  die  Satire  in  fünftaktigen,  paarweise 
gereimten  Jamben^  im  heroic  coupht;  von  den  metrischen 
Schwächen  des  Gedichtes  wurde  bereits  andeutungsweise 
gesprochen,  auch  ist  der  Metrik  ein  eigenes  Kapitel  ge- 
widmet Nichtsdestoweniger  scheint  es  nicht  unpassend, 
von  diesem  ersten  englischen  Gedichte  Marvells  gleich 
hier  noch  einiges  darüber  zu  sagen: 

~        iTVera  25. 


4 


—     7     — 

Von  der  Taktumstellung,  die  zur  Vermeidung  der 
Monotonie  nötig  ist,  macht  er  nur  mäßigen  Gebrauch; 
mehr  Gebrauch  macht  er  vom  Enjambement  (zirka  SO^o), 
danmter  oft  sehr  harte  Fälle,  was  freilich  unter  Umständen 
zur  Komik  beitragen  kann; 

*' OS  if  I  were  \\  possessed";    (Vv.  21/22), 

" to  do\\  wiih  truth";    (Vv.  164/165), 

" I  was  'I  deligMed";    (Vv.  97/98). 

Oft  ist  Enjambement  der  einen  Zeile  verbunden  mit 
Taktumstellung  zu  Beginn  der  zweiten  Zeile: 

"—  —  —    tumed  my  buming   ear 
Totcards  ihe  verse "    (Vv.  81/82) 

oder  Vv.  41/42 

" wiih  his  gouty  fingers  cratols 

Over  the  lute ". 

Mit  Ausnahme  des  Falles 

" my  new  made  friend 

Did,  OS  he  threatened, "    (Vv.  113/114), 

WO  es  sich  um  einen  eingeschobenen  Satz  handelt,  der 
durch  die  vorhergehende  Taktumstellung  wirksamer  ge- 
macht wird,  wirken  die  Freiheiten  meist  unschön,  weil 
die  Sprache  sehr  abgehackt  klingt.  Die  leichteren,  erlaubteu 
Freiheiten,  wie  Vollmessung  der  schwachbetonten  End- 
silbe, Verschleiftmgen  etc.  brauchen  hier  nicht  besprochen 
werden. 

Nachdem  dieses  Gedicht  noch  auf  der  Beise  ge- 
schrieben ist,  haben  wir  während  mehrerer  Jahre  nach 
seiner  Bückkehr  in  die  Heimat  (1646)  keine  dichterischen 
Denkmale  von  Marvell,  so  wie  wir  auch  bezüglich  seiner 
Lebensumstände  während  der  ersten  Jahre  nach  der  Beise 
nichts  Bestimmtes  wissen.  Er  hatte  in  der  Fremde  bessere 
Zustände  gesehen,  als  die  waren,  die  er  nun  in  England 
sehen  muBte:  die  „blutige  Bevolution**,  die  Flucht  und 
Gefangennahme  Karls  I.,  seine  Bünrichtung,  den  Bürger- 
krieg, den  endlichen  Sieg  des  Parlamentes  und  CromweUs. 

Erst  aus  dieser  Zeit,  aus  dem  Jahre  1649,  haben  wir 
wieder  dichterische  Nachrichten  von  Andrew  Maxvell.  Es 
ist  möglich,  sogar  wahrscheinlich,  daß  er  die  dazwischen- 
liegenden Jahre  nicht  stumm  geblieben  ist,  aber  es  ist  uns 


nichts  erhalten,  —  was  wir  freilich  kaum  zu  bedauern 
haben,  denn  gewiß  waren  es  nur  ein  paar  nichtesag^mle 
Gelegenheitsgedichte. 

^Gelegenheitsgedichte^  sind  auch  die  beiden 
aus  dem  Jahre  1649  erhaltenen  Gedichte  Marvells,*)  die  im 
folgenden  besprochen  werden. 

Das  erste  ist  ein  Trauergedicht  **Up<m  the  ßeath  af 
the  Lord  Hmtings'*,  eines  jungen,  zwanzigjährigen  Adeligen« 
der  am  24.  Juni  1649  starb.  Der  Sitte  oder  Unsitte  der 
Zeit  gemäß  wurde  sein  Tod  von  einer  ganzen  Beihe  von 
Dichtem  und  Dichterlingen  besungen^  in  einer  ganzen 
Sammlung  von  Gedichten,  die  unter  dem  Titel  '*Lachr^mae 
Mitsarufn"  vereinigt  wurden;  darunter  waren  auch  Herrick» 
Denham  und  Dryden,  dessen  erstes  Gedieht  überhaupt 
seine  hier  enthaltene  „Träne"  für  Lord  Hastings  war.  Da- 
zumal wurde  die  Gelegenheitsdichtung  —  naturlich  nicht 
die  im  hohen  Goetheschen  Sinne  —  schwunghaft  betrieben; 
es  konnte  niemand  zur  Welt  kommen,  heiraten  oder 
sterben,  ohne  gebührend  besungen  zu  werden,  meist  von 
Leuten,  die  den  „Helden"  gar  nicht  kannten  und  nur  auf 
Bestellung  oder  in  der  Erwartung  einer  Vergütimg  dichteten: 
ein  je  nach  ihrer  Bedeutung  für  sie  mehr  oder  minder 
einträgliches  Geschäft,  das  auch  in  Deutschland,  sogar 
von  dem  Begründer  der  deutschen  Benaissancepoesie,  der 
theoretisch  dagegen  Stellung  nahm,  von  Opitz,  betrieben 
wurde.  Man  erschrickt  förmlich,  wenn  man  Sammlungen, 
wie  die  ''Poeis  of  Gr€ai-Britain'\  durchblättert,  vor  der  Un- 
masse dieser  ungenießbaren  Gelegenheitsgedichte* 

Ob  Marvell  den  Verstorbenen  gekannt  hat,  geht  ans 
dem  Gedichte  nicht  hervor,  obwolil  er  Vertrautheit  mit 
den  Familienverhältnissen  desselben  zeigt;  denn  diesd 
konnten  ihm  ja  von  den  Bestellern  mitgeteilt  worden  sein, 
wie  es  sehr  oft  der  Fall  war.  Der  poetische  Wert  ist  ein 
geringer.  Er  führt  aus:  Hastings  mußte  sterben,  weil  er  zu 
gut  und  zu  vorgeschritten  war  für  diese  Welt,  So  wie  in 
Athen  ein  Mann  durch  den  Ostrazismus  verbannt  wurde, 
wenn  er  seine  Mitbürger  zu  überragen  drohte,  so  ist  es  auch 
mit  Hastings  im  Erdenstaate  geschehen;  weil  er  alle  zu  über- 

1)  Oeämckt  hei  GTostLTt,vülI,p,  148, 152 ff.  —  Aitken,  Paem^f 
p.  101,  104.  ' 


4 


*l 


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flügeln  drohte,  wurde  er  durch  Ostrazismua  in  den  Himmel 
verbannt.  Alle  Götter  freuen  sich  dort  seiner  Ankunft,  nur 
zwei  nicht:  HymeUj  der  zum  Zeichen  des  Schmerzes  seine 
safrangelben  Grewander  zerreißt  und  Äskulap,  der  sich  fttr 
sich  und  den  Arzt  schämt,  der  jenen  nicht  retten  konnte, 
um  so  mehr  als  dieser  Arzt,  Mayern,  der  Vater  der  Braut 
des  jungen  Mannes  war*  Aber  leider,  „die  Kunst  ist  lang, 
das  Leben  aber  kurz'',  —  eine  wörtliche  Übersetzung  des 
lateinischen  „ars  hmja,  vita  brevis  est^. 

Also  ein  Gedicht^  das  wie  alle  dieser  Art  von  rüh- 
menden Vergleichen  lebt  Auf  die  Verlobte  des  Verstorbenen, 
die  "virgin  midotv\  spielt  auch  Dryden  in  seinem  Ge- 
dicht^) an.  Lobenswert  ist  bei  Marvell  auiier  der  Er- 
findungsgabe wenigstens  die  konsequente  Durchführung 
der  ungewöhnlichen  Vergleiche.  Eine  Eigeutümlichkeit 
fallt  uns  hier  zum  ersten  Mal  auf,  die  wir  noch  oft  bei 
Marvell  finden  können,  die  auch  lur  das  17.  Jahrhimdert 
charakteristisch  ist:  die  Vermischung  von  antiker  Mytho* 
logie  mit  christlichen  Vorstellungen:  in  demselben  Himmel, 
in  dem  Hymen  und  Äskulap  auftreten,  halten  Engel  ihre 
Turniere  ab  und  ein  ewiges  Buch  liegt  dort  auf;  —  eine 
speziell  christliche  Vorstellung. 

Das  zweite  der  erwähnten  Gelegenheitsgedichte  ist  der 
Gedichtsammlung  „Lucasta''  (1649)  des  Richard  Love- 
lace-)  vorangestellt.  Der  Lihalt  dieses  **2b  his  ffonoured 
Frietid  J/r,  Richard  Loveluce'*  betitelten  Gedichtes  ist  für  die 
folgende  Betrachtung  wichtig. 

Marvell  erscheint  hier  als  ^laudator  temporis  aoti**. 
Er  klagt  über  die  Verderbtheit  der  jetzigen  Zeit  und  be- 
dauert, daß  die  Bargerkriege  die  Bürgerkrone  verunziert 
hätten.  Der  habe  jetzt  den  meisten  Ruhm,  der  gegen 
fremden  seinen  eigenen  anmaßend  ausspiele.  Auf  jeder 
Geistesblume  sitze  die  Raupe  der  Schlechtigkeit.  Die  Luft 
sei  voll  von  Insekten:  Wortpickem,  Papierratten,  Bücher- 
skorpionen, verderbten  Geistes  ungestalten  Söhnen.  Die  bar- 
bierten Zensoren  werfen  auf  jede  Zeile  ein  reformierendes 
Auge.  Wenn  einer  schuldlos  sei,  werde  er,  eben  weil 
schuldlos,  angeklagt.  Auch  Lovelace's  y^Lucasta^  werde  an- 

^)Ghb€  Edition,  p.  335. 

«   "JHctionafy  of  Naiional  BioQraphy",  t?ol.  XXXTV,  p,  168 ff. 


—     10     — 


gefeindet  werden*  Der  eine,  der  sie  liest,  werde  vielleicht 
behaupten,  es  seien  Parlamentsprivilegien  dadurch  verleUt 
worden;  ein  anderer  werde  das  Buch  verbieten,  weil  Kent 
durch  den  Autor  seine  erste  Petition  schickte  u,  s,  w», 
Dennoch  könne  Lovelace  sicher  sein,  denn  die  schöne: 
Frauen  werden  ihm  einmütig  zu  Hilfe  kommen,  wenn  sie 
hören,  daß  ihr  Lovelace,  der  so  wild  gegen  Feinde  und  so 
«art  gegen  schöne  Frauen  sein  kann,  in  Gefahr  sei.  Einer 
der  Frauen^    die   im   Eifer   auch   ihn,    Marvell.    für   einen 


bereit^  ■ 

a  ll    i  Vi  tu  ~ 

"i 


Gegner   hält,   ruft   dieser   zu:    „Nein,  auch   ich  bin 
für  ihn  2U  sterben!  Aber  Lovelace  steht  so  hoch,  daß  ihm 
der  Haß    der  Feinde  nicht  schadet   und  er  auch  der  Hilfe 
seiner  Freunde  nicht  bedarf" 

An  sich  ist  dieses  Gedicht  ebenso  unbedeutend  wie 
die  meisten  dieser  niedrigen  Gattung.  Für  uns  ist  diese»1 
Gedicht  sowie  das  vorhergehende  Leichengedicht  aber 
deshalb  wichtig,  weil  Grosart  sie  heranzieht,  um  "/1/if, 
Strang  rotjalism^*  des  folgenden  Gedichtes  auf  den  Tod  des 
Thomas  May,  sowie  einiger  Strophen  in  der  "Horaiian  Ode*  1 
MarvelJs  zu  erklären  imd  darzutun^  daß  unser  Dichter,  der] 
doch  in  seinen  Satiren  später  einen  so  heftigen  Ton  gegen] 
das  Königtum  anschlägt,  wenigstens  um  diese  Zeit  noc 
ein  getreuer  Royalist  war,  ^) 

Diese  Behauptung  ist  vollkommen  unbegründet.  Es 
soll  daher  im  folgenden  versucht  werden,  zu  beweisen,  daß 
erstens  die  zwei  letztbesprochenen  Gedichte  ohne  jede  Be- 
weiskraft pro  oder  kontra,  wirklich  nichtssagend  sind  und 
dann  zweitens,  daß  das  Gedicht  auf  Tom  May  nicht  im 
mindesten  einen  ^'strong  royalisni''  zum  Ausdruck  bringt,  der 
bei  Marvell  überhaupt  nicht  zu  finden  ist  und  also  in  den 
zwei  ersteren  Gedichten  auch  nicht  quasi  im  Keim  ent* 
halten  sein  kann. 

Nehmen  wir  das  erste  Gedicht,  ^auf  den  Tod  des  Lord 
Hastings"^,  Selbst  wenn  man  „cum  studio **  an  die  Lektüre 
geht,  darin  etwas  finden  zu  wollen,  wird  es  nicht  gelingen. 
Sind  es  vielleicht  die  Zeilen  19  bis  26,  die  „verdächtig" 
sind  ?  Das  ist  ein  ganz  harmloses  poetisches  Bild,  das 
Marvell  zu  seinem  lobevollen  Gedicht  eben  gerade  braue 


^)  Groaart,  vol.  I,  p,  XLI  u.  ö. 


—   11   — 

konnte,  in  Ermanglung   eines   besseren   oder  schlechteren, 
ohne  jede  weitere  Bedeutung: 

"But  'tis  a  maxim  of  that  State,  (hat  turne, 
Lest  he  become  like  them^  taste  more  than  one; 
Therefore  ihe  democratic  stars  did  rise, 
And  all  that  worth  from  hence  did  ostracize.'* 

Der  Ausdruck  ''that  State"  kann  kaum  auf  England 
allein  bezogen  werden,  sondern  ist  hier  wohl  gleichbedeutend 
mit  **the  world",  der  Erdenstaat;  es  wäre  auch  unpoetisch, 
ihn  so  eng  zu  fassen.  Er  tut  einen  allgemein  gültigen  Aus- 
spruch :  es  ist  immer  so,  wenn  einer  auf  der  Welt  zu  hoch 
strebt,   macht  er  sich  mißliebig,  weil  der  Neid  erwacht.^) 

Wollte  man  den  Ausdruck  wirklich  konkret  fassen, 
so  wäxe  noch  einzuwenden,  daß  der  junge  Lord  sich  ja 
mit  der  Politik  gar  nicht  beschäftigt  hatte,  von  ihr  nichts 
zu  leiden  hatte,  also  er  mit  ihr  oder  besser  diese  mit 
ihm  auch  nicht  in  Zusammenhang  gebracht  werden  kann. 
Demnach  ist  "all  that  worth"  nicht  allgemein  und  in  politi- 
schem Sinne  zu  fassen,  sondern  bestimmt  und  gleich- 
bedeutend mit  „Hastings".  Das  ''did  rise"  macht  dabei 
keine  Schwierigkeiten;  abgesehen  davon,  daß  ja  der  Tod, 
das  Hinweggenommenwerden  Hastings',  etwas  Vergangenes 
ist  (.  .  .  did  .  .  J,  während  der  Neid,  die  Maxime  der  Welt, 
immer  besteht  (.  .  .  'tis  .  .  »),  kommen  ähnliche  Gegenüber- 
stellungen von  Präsens  und  Präteritum  wie  hier  "His"  und 
"did"  ohne  kontrastierende  Absicht  bei  Marvell  öfters 
vor; 2)  also  ist  diese  nur  scheiübare,  berechtigte  Auffälligkeit 
für  den  Sinn  in  unserer  Auffassung  keineswegs  hinderlich. 

Ziehen  wir  femer  die  geschichtlichen  Tatsachen  heran, 
so  sehen  wir,  daß  es  nicht  angeht  zu  sagen,  daß  sich  da- 
mals in  England  ein  Zug  geltend  machte,  der  dem  Ostra- 
zismus  gleichkäme.  Karl  I.  war  hingerichtet,  aber  nicht 
verbannt  worden;   der  große  Fairfax  war  Lord;  Cromwell, 

*)  Wie  richtig  meine  Vermutung  war,  bewies  mir  ein  glück- 
licher Zufall  nach  Vollendung  dieser  Arbeit:  Bei  der  Lektüre  Heines, 
der  Marvell  sicher  nicht  kannte,  fand  ich  in  dessen  „Einleitung  zur 
Prachtausgahe  des  ,Do7i  Quichotte^''  ganz  denselben  Gedanken,  ja 
sogar  das  Wort  „Ostrazismus"  wieder.  —  (Abschnitt  13:  „Die  Ge- 
sellschaft ist  eine  Republik  .  .  ."  etc.)  Möglicherweise  liegt  in  beiden 
Fällen  ein  klassischer  Autor  als  gemeinsame  Quelle  zu  Grunde. 

-)  Vgl.  S.  187  dieser  Arbeit. 


12 


der  Mann  au«  dein  Volke,  war  doch  Lord-Protektor  tmd 
man  bot  ihm  die  Königskrone  an;  immer  zeigte  sich  also 
noch  eine  aristokratische  Tendenz.  Demokratie  im  strengen 
Sinne  ist  al^o  ebensowenig  vorhanden  gewesen  als  Ostra- 
sdsmus. 

Und  nach  all  dem  Detail:  Betrachten  wir  das  Gedioht 
als  Ganzes  in  seiner  Gattimg.  Es  ist  ein  Gelegenheits- 
gedicht, ob  ein  bezahltes  oder  nnbezaUtes,  es  finden  sich 
nicht  die  mindesten  herzlichen  Töne  darin,  nur  schwtdstiges, 
unnatürliches  Lob.  Ja,  auch  herzliche  Töne  hätten  für 
diese  Frage  mid  jene  Tage  nichts  zu  bedeuten,  wenn  wir 
uns  S5um  Beispiel  an  das  weltberühmte  „Ännchen  vofi  Tharau' 
erinnern,  jenes  innige,  ergreifende  Lied  himmelhochjauch- 
zender Liebe,  das  so  sehr  Volkslied  geworden  ist,  daß 
viele  den  Namen  Simon  Dachs,  des  Dichters,  gar  nicht 
kennen  — ,  das  doch  nur  ein  Gelegenheitsgedicht  für  die 
Hochzeit  eines  Bekannten  war,  das  freilich  ein  echter 
Dichter  schrieb.  Solche  Gelegenheitsgedichte,  wo  der 
Mantel  immer  nach  dem  Winde  gedreht  wird,  dürfen  uns 
nie  zu  weitgehenden  Schlüssen  verleiten.  So  ist  unser  Schluß, 
daß  auch  aus  diesem  Gedichte  kein  Schluß  gezogen 
werden  kann. 

Ahnliches  gilt  von  dem  Gedichte  an  Lovelace,  das 
gewiß  persönliche,  konkrete  Anspielungen  auf  englische 
Verhältnisse  enthält.  Aber  auch  hier  zieht  Grosart  ohne 
Not  weitgehende  Schlüsse.  Marvell  klagt  zwar  über  die 
Bürgerkriege,  aber  er  sagt  doch  nicht,  daß  gerade  die 
Demokraten  oder  Republikaner  daran  schuld  seien.  Er 
klagt  über  die  „barbierten  Zensoren",  offenbar  Geistliche, 
und  über  ihre  Rigorosität,  die  noch  die  der  Presbyterianer 
übertreffe.  Das  ist  die  uralte  Zensurklage,  die  noch  heute 
nicht  verstummt  ist. 

Ferner:  beide  Gedichte  wurden  gedruckt.  Und 
Marvell  durfte  doch  nicht  so  schreiben,  daß  ihn  die  Zen* 
soren,  über  die  er  ohnehin  klagt,  de  facto  inhibieren  konnten. 
Die  Gedichte  freUich,  in  denen  er  kräftig  über  die  Re- 
gierung loszieht,  worden  damals  nicht  gedruckt, 

Marvell  war  Fanatiker  nur  für  Wahrheit  und  Recht, 
wo  immer  er  sie  fand.  Er,  der  offen  genug  war,  die  Fehler 
des   Freundes   ebensowenig  zu   übersehen,    wie   die 


L3    — 


Seiten  des  Feindes,  wäre  auch  freimütig  genug  gewesen, 
daJ3  er  das  Königtum  offen  mid  direkt  verteidigt  hätte, 
wenn  das  seine  Überzeugung  gewesen  ware. 

Ich  wage  zu  hoflfen,  daß  meine  Widerlegung  der 
Ansicht  Grosarta  Beweiskraft  genug  besitzt,  um  sogar  noch 
eine  Stelle  herbeiziehen  zu  können,  die  Grosart  sonder- 
barerweise entgangen  sein  maß»  welche  scheinbar  sehr  gut 
für  seinen  Zweck  gepaüt  hätte,  jene  Stelle  im  ''Diahgue 
between  the  two  horses'*^)  nämhch,  wo  es  von  dem  hinge- 
richteten König  Karl  heißt: 

*' —  at  last  on  the  $caffolä  hc  was  left  in  the  lurdt, 
By  knavts,  mho  cried  up  themselves  for  the  churdi;  — ''. 

Auch  nur  ein  scheinbarer  Beweis  für  einen  Roya- 

lismns,  in  Wirklichkeit  nichts  anderes  als  die  nmbefangene 
Äußerung  eines  vorurteilsfreien  Mannes,  dessen  Gerechtig- 
keitssinn es  empörte,   zu   denken,   wie  Karl  L  von   denen, 
für  die  er  sich  in  die  Bresche  gestellt  hatte,  von 
"arcftftühojjs  and  bishop»,  ard^äeacons  amd  detms" 

dann  im  Stiche  gelassen  wurde ;  Marvell  spricht  hier  nicht 
für  Karl,  sondern  gegen  die  Geistlichkeit 

Passend  gegenüberstellen  kann  man  dieser  Offen- 
herzigkeit eine  andere  Stelle  aus  demselben  Gedicht,  wo  er 
von  Crom  well  sagt  (Vv.  156/157) : 

"/  fredtf  dcdare  it,  I  am  for  old  Koll; 

Tfwugh  his  ffovernment  did  a  ttffant  re$emble" 

Also   eine  bewunderungswürdige  Freimütigkeit  nach 
allen  Seiten,  die  uns  Marvell  liebgewinnen  läßt,  ftir  den 
man  seine  eigenen  Verse')  zum  Motto  wählen  kannte: 
*'Truth*s  OS  hold  a»  a  Uon;  I  am  not  afraid!** 

All  diese  Ausführungen  waren  notwendig,  aber  sie 
wären  nicht  notwendig  gewesen,  hätte  nicht  Grosart  als 
königstrener  Engländer,  offenbar  in  dem  psychologisch  be- 
greifbaren Bestreben,  Marv^ell,  der  ihm  als  Dichter  Heb 
war,  auch  als  Politiker  in  den  Schein  eines,  wenigstens 
eine  Zeit  lang,  ^ braven^  Bürgers  zu  setzen,  in  sein  Leben 
und  seine  Beurteilung  einen  Widerspruch  hineingebracht, 
der  ursprüngUch  nicht  darin  war. 

1)  Grosart,  voll,  p.361ff.,  VerslSTf.  —  Aitken,  SaUrts, p,109. 
^  "Dialogue  beiw.  the  2  Hor8es'\  V.  124 


—     14     — 


Nun  können  wir  uns  ktirzer  fassen  bei  der  Besprechung 
des  letzten  Gedichtes  dieser  ^Vorschule'',  das  Qrosart  also 
gänzlich  als  einen  AusfluÜ  des  Royalismus  ansieht  Es  ist 
die  Satire  **Tam  Map's  Death'^  zu  deren  Verständnis  es 
nötig  ist,  einige  Worte  über  ihren  Helden  zu  sagen.  Thomas 
May*)  war  der  Sohn  eines  Adeligen  in  Susaex,  1696 geboren; 
er  studierte  am  Sidney  College  zu  Cambridge,  wo  er  seinen 
"jB.  A,*'  machte.  Er  betätigte  sich  als  lyrischer  und  drama- 
tischer Dichter,  lieferte  eine  Übersetzung  des  Lucan  und 
schrieb  eine  ,,History  of  the  Long  Parliameni  of  EnglancT^ 
dessen  Sekretär  er  am  Ende  war.  Er  war  zuerst  ein  eifriger 
Anhänger  des  Königs  und  der  Hofpartei;  als  aber  seine 
Hoffnung,  der  Nachfolger  Ben  Jonsons  als  Hofdichter 
zu  werden,  getäuscht  wurde  und  diese  Würde  auf  Sir 
William  Davenant  überging,  fiel  er  ab  und  wurde  ein 
erbitterter  Feind  des  Königs.  Daher  die  Zusammenstellung 
dieser  drei  Personen  und  der  Vorwurf  des  Renegatentums 
in  Marvells  Satire,  dem  May  auch  als  Trinker  und  schlechter 
Poet  verhaBt  war.  May  starb  am  13.  November  1660  und 
aus  Anlaß  seines  Todes  schrieb  Marvell  seine  Satire. 

Die  Einkleidung  dieses  in  l^eroic  coupkis  geschrie- 
benen Gedichtes  ist  die  eines  Totengespräches,  jene 
aus  der  klassischen  Poesie  stamm eüde,  im  Mittelalter  und 
noch  im  17.  Jahrhundert  bei  allen  Völkern  sehr  beliebte 
Form,  die  wir  auch  bei  Marvell  nochmals  finden  (in  ''Tlie 
Loyal  Scoi*y 

Der  Inhalt  nun  ist:  Tom  May,  der  so  unversehens 
ins  Jenseits  gelangt  war,  als  ob  man  ihn  trunken  dorthin 
transportiert  hätte,  schaute  beim  Betreten  des  El3^siums 
suchend  herum  nach  den  ihm  sonst  als  Wegweiser  dienenden 
Wirtshauaschildern,  Endlich  glaubt  er  einen  guten  Bekannten, 
einen  dicken  Wirt,  zu  sehen  und  geht  auf  ihn  zu.  Es  war 
aber  Ben  Jonson,  der  im  Kreis  der  alten  Poeten,  unter 
Lorbeer  sitzend,  von  Helden  und  alten  Geschichten  sang 
und  von  dem  doppelköpfigen  Geier,  der  Brutus  und  Cassius 
frißt,  die  Volksbetrüger.  Sobald  er  aber  May  herankommen 
flieht,  ändert  er  seinen  Sang  und  parodiert  den  Anfang 
%ns  Mays  Lucan-Übersetznng  *^Pfiarsatm\   Inzwischen  war 


4 


4 


A)  LHcttonari/  of  NaL  Biogr,,  vol  XXXVTI,  p.  UM, 


15 


^ 
^ 


Tom  May  „zu  sich  selbst  und  äu  ihnen  gekommen'^  —  sehr 
gut!  —  und  wollte  im  Kreise  Platz  nehmen.  Ben  aber, 
empört  ob  der  Anmaßung^  erhob  sich  und  trieb  mit  seiner 
Lorbeerrute,  der  selbst  Virgil  und  Horaz  gehorchen^  den 
Eindringling  scheltend  hinweg*  Er  nennt  ihn  einen  schlechten 
Poeten  und  einen  schlechten  öeschichtsschreiber,  er  wirft 
ihm  ftuch  seine  Käuflichkeit  vor  Er  tadelt,  daß  May  die 
alte  römische  Republik  als  Muster  für  England  hingestellt 
habe^  obwohl  für  Rom  tmd  England  nicht  dasselbe  Maß 
passe;  denn  nicht  Unwissenheit  verführe  ihn,  sondern  be- 
wußte Bosheit.  Weil  ein  Würdigerer  als  er,  Davenant^ 
den  Lorbeer  trage,  darum  sein  Zorn,  in  den  er  die  anderen 
mit  hinein  verwickeln  wolle.  Nicht  solche  Parteinahme  sei 
die  Aufgabe  der  Dichtung,  sondern  wenn  Gewalt  freie 
Richter  einschüchtert  und  feige  Priester,  dann  sei  es  Zeit 
für  den  Poeten,  blank  zu  ziehen  und  als  Einzelner  für  die 
aufgegebene  Sache  der  Tugend  zu  kämpfen.  Und  wenn  das 
Bad  des  Reiches  zmückwii*belt  und  die  verrenkte  Achse  der 
Welt  kracht,  dann  singe  er  von  altem  Recht  und  besseren 
Zeiten,  suche  das  bedrückte  Gute  tmd  klage  erfolgreiches 
Verbrechen  an.  May  aber  habe  als  erster  den  fleckenlosen 
Stand  des  Dichter«  beschmutzt,  sieh  losgelöst  von  der 
heiligen  Kunst,  um  sich  aus  einem  Zeitungsschreiber  zum 
Spartakus  zu  machen.  Das  gerechte  Schicksal  habe  ihn 
jedoch  dahingerafft,  bevor  er  den  Tod  des  großen  Karl 
berichten  konnte;  und  —  was  seinen  niedrigen  Geist  noch 
tiefer  kränkte  —  er  mußte  Davenant,  seinen  Rivalen^  lebend 
zurücklassen.  Zwar  habe  man  May,  als  den  Sekretär  des 
Parlamentes,  mit  allem  Pomp  zu  Westminster  begraben; 
hier  aber  könne  er  keine  Ruhe  finden,  da  der  große  Spenser 
dort  liegt  und  der  verehrte  Chaucer,  dei'en  Staub  sich 
gegen  ihn  erheben  werde.  Und  auch  hier  im  Elysium  dürfe 
sein  Geist  nicht  länger  weilen;  er  weist  ihn  fort  in  den  Hades, 
wo  Cerberus  und  Megära  nach  ihm  schnappen  werden. 

Das  ist  der  Inhalt  des  Gedichtes,  den  Grosart  als 
"Blronff  roi/alism**  bezeichnet.  Die  springenden  Punkte  sind: 

1*  daß  Marvell  Brutus  und  Caaeius  VolksbetrUger  nennt, 

2.  daß  er  sagt,  das  Muster  der  römischen  Republik 
passe  nicht  für  England, 

3.  daß  er  den  König  Karl  I.  "great  Clmrles*'  nennt, 


4.  daB  er  einen  Antiroyalisten  wie  Maj'  überhaupt  und 
noch  dazu  durch  den  Mund  des  höfischen  Ben  Jonson  augreifk. 

Nehmen  wir  die  Punkte  einzeln  her: 

Ad  1>  Brutus  und  Cassius,  wenn  man  sie  überhaupt 
in  einem  Atem  nennen  darf  bei  ihrer  notorischen  Ungleich- 
heit, sind  insofern  vielleicht  betrogene  Volksbetrüger,  als 
sie  das  Volk  zu  einer  Tat  hinrissen,  die  den  erhofllen  und 
versprochenen  Erfolg  nicht  hatte;  sie  stürzten  das  Volk 
in  den  Bürgerkrieg  und  konnten  den  endlichen  Imperia- 
lismus doch  nicht  aufhalten.  Diese  Auffassung  von  der  — 
milde  gesprochen  —  Unzweckmäßigkeit  des  Beginnens  der 
beiden  ist  mit  einer  republikanischen  oder  antiroyalistischen 
oder  demokratischen  Gesinnung  um  so  eher  vereinbar,  als 
das  Volk  es  war,  das  dadurch  zu  Schaden  kam,  und  nicht 
die  Autokratie;  solche  „heroische  Verbrecher",  wie  sie 
Schiller  nennt,  spielen  immer  ein  gefährliches  Spiel: 
gelingt  der  Wurf,  so  sind  sie  Volksbeglücker,  mißlingt  er, 
sind  sie  Volksbetrüger.  Und  wer  kann  verbürgen,  daiJ  der 
scharfe  Ausdruck  „Volksbetrüger"  nicht  durch  den  Keim 
veranlaüt  worden  ist? 

Ad  2.  Ohne  Erörterungen  des  Verfassungsrechtes:  daß 
England  nicht  nach  dem  Muster  der  römischen  Republik 
eingerichtet  werden  kann,  ist  eine  erlaubte  Privatansicht 
Marvells,  die  wohl  viele  teilten  und  teüen  und  deren 
Richtigkeit  bis  heute  durch  Tatsachen  wenigstens  noch  nicht 
widerlegt  wurde.  DaU  aber  Marvell  gegen  Republiken 
überhaupt  war,  ist  mit  seinen  Worten  doch  nicht  ge- 
sagt, denn  zum  Beispiel  den  vereinigten  Generalstaaten  der 
Niederlande  und  der  venezianischen  Republik  zollt  er  an 
anderen  Orten  Anerkennung  genug. 

Ad  3,  *'Gr€ar  Charles  ist  einfach*)  ein  stehendes  Bei- 
wort ohne  prägnante  Bedeutung,  hier  aber  außerdem  in 
Gegensatz  zu  ^'little  mind*'  in  der  nächsten  Zeile  gesetzt; 
noch  in  einer  viel  späteren  Zeit,  wo  über  Marvells  Anti- 
royalismus  kein  Zweifel  mehr  bestehen  kann,  spricht  er, 
wieder  ohne  Prägnanz  in  das  Wort  zu  legen,  von  "(Äe 
'roffaV  race  of  Stuarts".^} 

*)  Trotzdem  auch  Aitken,  Poents^  p,  XXV^  Wichtigkeit  in  den 
Ausdruck  legt. 

'^)  '*A  historical  poem*\  Y,  55.  Er  bezeichnet  hier  bloß  den  Stand 
damit,  keine  Erhabenheit. 


^^ 


—     17     — 


Äd  4.  Um  diesen  Punkt  zu  erklären^  ist  es  nötige  sich 
das  Bild  Marvells  vor  Augen  zu  halten,  das  fi'eilicli  hier 
nicht  vollständig  entwickelt  werden  kann:  ihm,  dem  hooh- 
gesinnten  Manu,  den  ein  Karl  IL  nieht  bestechen  konnte, 
obwohl  er  es  versuchte,  der  nie  mit  den  Wölfen  heulte, 
konnte  ein  Mensch  wie  May,  ein  Renegat,  nicht  sympathisch 
sein,  auch  wenn  es  zufällig  seine  Partei  war,  zu  der  jener 
übergegangen  war.  May  wollte  um  seiner  persönlichen 
Sache  willen,  daß 

*'<iU  Oh  World  he  sei  on  fiame"  (V.  59). 
Marvell  wollte  Recht  und  Ordnung  für  alle.  Er  war  gewiß 
nicht  als  blutroter  Republikaner  zur  Welt  gekommen;  allein 
schon  in  den  Universitätsgedichten,  die  noch  Grosart  *' loyal" 
nennt,  spricht  er  von  —  imd  bittet  um  —  Reformierung 
der  Zustände.  Wo  man  alles  fiir  gut  findet,  bedarf  es  keiner 
Abhilfe,  Auch  sein  Freund  Mil ton  ist  von  einem  anfangs 
milden  zu  einem  immer  radikaleren  Standpunkt  vorge- 
schritten. Ein  Royaliat  war  Marvell  also  nie.  Und  er  hatte 
nach  der  Restauration  noch  so  schön  Gelegenheit  gehabt, 
einer  zu  werden ;  die  Anekdote  von  seiner  Refiisierung 
einer  durch  den  Lord- Schatzmeister  Danby  persönlich  über- 
brachten carie-blanche  des  Königs  wird  in  allen  Biographien 
erzählt. 

Daß  die  Verdammung  Mays  gerade  Ben  Jonson 
in  den  Mund  gelegt  wird,  scheint  den  tatsächlichen  Um- 
ständen ganz  zu  widersprechen.  Aber  bei  näherer  Be- 
trachtong  stellt  sich  dieser  Umstand  als  ein  beabsichtigtes 
Mittel  zur  Verstärkung  der  Wirkung  dar:  Ben  Jonson  und 
Tom  May  waren  sehr  gute  Freunde;  Jonson  nennt  ihn 
einmal  einen  '^inUrpreter  *twixt  gods  and  men"  und  schrieb 
ein  Begleitgedicht  für  Mays  Lucan- Übersetzung  (1627) 
und  zu  der  zweiten  Ausgabe  der  Fortsetzung  des  Lucanus, 
die  May  unter  dem  Titel  *'Suppianen(um  Lucani  auihore 
Tho*  Mayy  AngU*'  verölientlichte,  schrieb  Ben  Jonson 
**Difjnissimo  Viro  Thomae  Mayo  —  amico  suo  summe  hmio- 
rando"  ein  Vorwort,  *)  Umgekehrt  schrieb  May  Lobgedichte 
auf  Ben  Jonson:  *'An  Ekgif  upmi  Benjamin  Jonsofi*\  den 
^Künig    der   englischen  Poesie",    wie   er  ihn  nennt*)    Als 

1)  Ben  Jonson»  PoHical  Workt,  ed,  Ounmngham,  PolIU^  p.S9i. 
V  A,  a,  0,  p.  60i, 
Pose  her,  MAivellB  poet.  Werke.  S 


Ben  Jenson  starb,  war  May  noch  fester  Boyalist;  erst  als 
seine  Hoffnung,  Bens  Nachfolger  zu  werden,  scheiterte, 
wurde  er  Renegat, 

Daher  klingt  es  viel  stärker,  wenn  es  sein  einstiger 
Freund  im  Leben  ist,  der  von  dem  Überläufer  nichts  wissen 
will  und  über  ihn  das  Urteil  spricht.  Zugleich  aber  ist  es 
wieder  ein  Beweis  für  Marvells  Vorurteilslosigkeit,  wenn 
er  den  Haupbvertreter  der  elisabethinischen  Hofdichtimg 
so  hoch  stellt  und  ihm  zugleich  seine  eigene  Theorie  und 
seine  hohe  Auffassung  von  der  Dichtkunst  in  den  Mund  legt. 

Da  Birrell  und  teilweise  auch  Aitken  den  Ausspruch 
Grosarts  von  Marvells  RoyaUsmua  nachsprechen,  so  soll 
kurz  an  einigen  Punkten  auch  die  Haltlosigkeit  ihrer 
Argumentation  gezeigt  werden. 

Wenn  Mar v eil  wirklich  ein  so  getreuer  Hoyalist  ge- 
wesen wäre,  wie  seine  Kritiker  heute  leicht  sein  können 
und  wie  auch  er  es  heute  wohl  wäre,  dann  hätte  ihn  doch 
Thomas  Baker,  der  ihm  der  Zeit  nach  viel  näher  stand 
als  wir  heutzutage,  nicht  ^the  bitter  Republican'^  genannt, 
wie  Birrell  selber  zitiert  (p.  24),  Auch  hätte  der  royaUstisohe 
Dryden  kaum  Marvells  Namen  in  tadelndem  Sinne  als 
identisch  mit  Pamphletist  gebraucht  (ebd.)*  Und  Birrell 
selber  hilft  öich  über  die  doch  auch  ihm  nicht  sehr  loyal 
and  ropal  vorkommenden  Satiren  ndt  einem  gefährlichen 
Saltomortale  hinweg:  **There  are  some  keated  ej^pressions  m 
Ihe  satires,  which  prohahly  gavc  nse  to  the  belief  that  M,  was 
a  Bej/ublican"  (ebd,  und  ähnlich  p.  219).  Und  warum  hat 
der  royalistisehe  Kektor  der  St.-Giles-Kirohe  nicht  erlaubt, 
ihm  ein  Grabdenkmal  aufzustellen?^)  Und  warum  nennt 
sein  Gegner  Parker  ihn  mit  Verachtung  "/Ae  servani  of 
Cromwell  and  ihe  frimd  of  Miltoti'?*)  —  Nun  dürften  der 
Beweise  genug  sein. 

Rätselhaft  erscheinen  im  ersten  Augenblick  die 
Zeilen  75  und  76: 

^*Yet  wtt$t  thüu  taken  hence  with  equal  fate, 
Before  thou  couldst  ijrcat  CHarUs^s  death  rclaie*^; 

nachdem    doch  Karl  I.    Anfang  1649    hingerichtet    wurde, 
[»während  May  erst  Ende  1660  starb.  Die  Erklärung  ist,  daß 

Vi  Aitkeü,  Poems,  p,  XLVIU, 
')  A 1 1  k  e  n,  Poems,  p.  LIT. 


—    19    - 

May  in  seiner  ^'History  of  the  Long  ParliamenV\  soweit  sie 
erschienen  ist,  nicht  bis  zum  Jahre  1649  kam,  da  ihm  das 
"equalfate"^  das  heißt  der  Tod,  sein  Werk  nicht  vollenden  ließ. 

Damit  ist  die  Betrachtimg  der  dichterischen  Vorschule 
Marvells  beendet,  in  "Üer  seine  Art  noch  nicht  ausgeprägt, 
sondern  in  manchen  Keimen  erst  angedeutet  ist.  Der  Gattung 
nach  sind  es  lauter  Gelegenheits*gedichte,  nämlich 
Gedichte,  die  aus  oder  zu  einem  bestimmten  äußeren  An- 
laß geschrieben  wurden,  nur  interessant  für  des  Dichters 
Weiterentwicklung  und  Charakter,  poetisch  aber  wenig 
wertvoll.  Da  die  meisten  davon  aber  gedruckt  wurden, 
sind  es  mehr  als  dichterische  Exerzizien,  wie  man  es  von 
einer  Vorschule  leicht  annehmen  könnte. 

Fahren  wir  nun  fort  in  der  Betrachtung  von  Marvells 
äußerer  imd  innerer  Entwicklung. 

Wir  stehen  also  beim  Jahre  1660.  In  dieses  Jahr 
fällt  ein  für  Marvells  ganzes  Leben  wichtiges  Ereignis:  er 
kam  als  Sprachlehrer  der  zwölfjährigen  Mary  in  das  Haus 
des  ersten  Generals  Lord  Fairfax^)  —  der  sich  damals 
auf  seine  Besitzung  Nun- Appleton -House  in  Yorkshire 
zurückgezogen  hatte  —  und  damit  in  Berührung  mit  den 
Häuptern  des  Commonwealth.  Die  hier  verlebte  kurze 
Zeit  war  offenbar  die  glücklichste  seines  Lebens.  Bio- 
graphisch ist  für  diese  drei  Jahre  des  Landaufenthaltes 
unseres  Dichters  nur  wenig  zu  sagen ;  es  waren  stille  Jahre 
mit  wenig  äußeren  Erlebnissen,  aber  ganz  der  Dichtung 
geweiht.  Die  Liebe  zog  ein  in  sein  Herz;  hier  lernte  er 
"to  read  in  Natureis  mystic  book".  *)  Ganz  dem  entsprechend 
sind  die  Gedichte  dieser  seiner,  von 

1660—1652 

reichenden 

Ersten  Periode.*) 

(Eenaissance-Gedichte.) 

Es  sind  meist  lyrische  Gedichte,  Renaissance- 
Dichtung  nach  der  Mode  der  Zeit;   die  von  dem  dortigen 

1)  Nebenbei  bemerkt,  wohl  aach  ein  gewichtiges  Zeugnis  für 
den  Irrtum  Grosarts:  Ein  Fairfax,  der  Führer  des  Parlaments- 
heeres, hätte  sich  wohl  keinen  „Boyalisten^  ins  Haus  genommen. 

«)  "Appleton^Hause'*  V.  684. 

^  Hier  ein  Wort  über  meine  Gruppierung  der  Gedichte  im 

2* 


—    20    — 

Lokale   angeregten    atmen   Glück  und  Zuftiedenheit, 
alle  haben  die  Liebe  zur  Natur  gemeiDsam;   ihr  Lilialt  h 
im  großen  und  ganzen  durch  die  zwei  Worte  des  Dichters 
gegeben,    der  die  ganze  Eenaissance- Dichtung  und  Marvell 
mehr  als  zeitgenössische  Dichter  beeinäuüt  hat:  Horazens  h 
f,Beaii4S    ille    qui  procul   negotüs"    und    das    ^Carpe  thtm!''  | 
Gedichte,    welche    diesen    Grundsätzen    zu    widersprechen 
scheinen,  sind  bloß  Verirrungen  der  Modelaune, 

Die  Reihenfolge  der  einzelnen  Gedichte  inner- 
halb dieser  drei  Jahre  festzustellen^  ist  nicht  möglich;  wir 
können  aber  dem  Inhalt  und  der  Form  nach  immer  mehrere 
in  Gruppen  zusammenfassen,  die  wohl  in  der  folgenden 
Weise  anzuordnen  sind. 

Voran,  aber  keineswegs  dem  dichterischen  Werte 
nach,  stellen  wir  zwei^  respektive  drei,  landschaftliche 
oder  naturbeschreibende  Gedichte,  Lobgedichte 
auf  Lord  Fair  fax,  die  an  das  Lokale  von  Nun-Appleton 
in  Yorkshire  anknüpfen. 

Wir  sehen  wieder  das  allmähliche  Fortschreiten  Mar- 
vells  von  der  lateinischen  zur  englischen  Dichtung,  denn 
das  erste  und  das  zweite  dieser  Gedichte  sind  inhaltlich 
eigentlich  verwandt,  wenn  auch  nicht  gleich,  das  eine  in 
englischer  Sprache  ist  nur  eine  Erweiterung  des  andern 
in  lateinischer  Sprache ;  einige  Zeilen  kommen  direkt  einer  fl 
Übersetzung  gleich.  Das  lateinische  Vorlagegedicht  führt 
den  Titel:  „Epigramma  in  duos  motUes,  Amosclivium  et  Bil- 
bormm**  —  Farfacio,  wobei  das  Wort  ^^Epigranmia^'  in  dem 
weiteren  Sinne  des  17,  Jahrhunderts  gefaßt  ist.  Der  Dichter 
kontrastiert  den  Charakter  der  beiden  genannten  Berge; 
der  eine  wild  und  steil,  der  andere  grün  und  sanft  ansteigend ; 
die  Natur  jedoch  vereinigt  beide  unter  einem  Herrn,  dem 


I 


Vergleich  zu  anderen:  Die  Ausgabe  Aitkens  spricht  von  '^PoemM" 
und  ^'Saures**;  das  ist^  streng  genommen,  zu  verwerten,  weil  die 
(Vers-)Satiren  auch  Gedichte  sind,  während  dies©  Einteilung  leicht 
die  entgegengesetzte  Meinung  hervorrufen  konnte.  —  Grosart  hin- 
gegen teilt  in  so  viele  Gruppen  —  sieben  — ,  daB  die  Grenzen  sich 
wieder  verwischen  und  man  Gedichte  der  einen  Gruppe  ebensogut 
in  eine  andere  einreihen  konnte.  —  Ich  habe  die  Gedichte  dagegen 
gattungsweise,  chronologisch  in  die  sich  von  selbst  ergeben- 
den charakteristischen  Abschnitte  oder  Periode»  seines  Lebens  ein- 
gereiht. 


—     21 


» 


^ 


to 


großen  Lord  Fairfax,  zu  dessen  Besitz  sie  gehören.  Er 
beschreibt  dann  die  Fernsicht  und  schließt  mit  einer 
galanten  Anspielung  auf  Maria  Fairfax.  Für  heutige  Be- 
griffe ist  es  allerdings  sonderbar^  daß  der  neunun  dz  wanzig- 
jährige  Lehrer  seine  zwölQährige  Schülerin  besingt,  —  was 
eigentlich  noch  mehr  von  den  folgenden  (jredichten  gilt, 
weil  speziell  in  diesem  Gedichte  die  Erwähnung  nur  flüchtig 
ist;  in  jener  Zeit  jedoch  ist  das  nichts  Ungewöhnliches; 
dieses  Gedicht  unterscheidet  sich  von  der  eigentlichen 
Gelegenheitadichtung  ja  nur  durch  den  fehlenden  materiellen 
Zweck.  Überdies  kann  man  hier  in  diesen  Fällen  noch  die 
Fraueuverehning  gelten  lassen,  während  ja  Marvell  in  einem 
andern  Falle  zum  Beispiel  einen  zwanzigjährigen  jungen 
Adeligen  besungen  hat,  der  nicht  einmal  den  a  priori- An- 
spruch der  holden  Weiblichkeit  aufzuweisen  hat. 

Die  englische  Erweiterung  dieses  Gedichtes  heiÜt 
^"Upon  the  Hill  and  Grove  ai  Billborow'\  Nachdem  in  diesem 
sowie  im  folgenden,  in  viertaktigen  jambischen  Reimpaaren 
geschriebenen  Gedichte  der  Zurückziehung  des  Lord  Fair- 
fax vom  Militärdienste  gedacht  wird,  die  im  Jahre  1650 
erfolgte,  weil  er  nicht  gegen  Schottland  kämpfen  wollte, 
sind  diese  Gedichte  wahrscheinlich  in  der  zweiten  Hälfte 
16B0  oder  Anfang  1661  entstanden,  Marvell  rühmt  wieder 
die  sanfte  Schönheit  des  Hügels  von  Bülborow  mit  seinem 
bauragekrönten  Gipfel,  wo  man  die  Waffen  des  großen 
Meisters  Fairfax  rasseln  hört.  Eine  linde  Brise  flüstert  mit 
den  Bäumen  und  sie  sprechen  von  den  Taten  des  Helden, 
die  Famas  Wangen  schwellen  machten,  dem  früher  andere 
Haine  und  Berge  gefielen,  nämlich  Haine  von  Lanzen  and 
Berge  von  Leichen.  „Wahr  sprecht  ihr**,  ruft  ihnen  der 
Dichter  zu,  ^aber  genug!  Er  flieht  ja  sein  Lob,  gerade 
deshalb  zieht  er  sich  von  den  Prunkfesten  in  euren  Schatten 
zurück;  er  liebt  die  Höhe  nicht,  wenn  sie  nicht  zagleich 
Zuriickgezogenheit  bietet.** 

Das  Gedicht  hat  den  Vorzug  einer  nicht  übermäßigen 
Länge  vor  dem  nächsten  voraus.  Wir  dürfen  wohl  annehmeUj 
daß  es  wirkliche  Bewunderung  ist,  die  aus  ihm  spricht;  Mar- 
vell hatte  ja  Gelegenheit,  mit  dem  ^großen^  Fairfax  täglich  zu 
verkehren.  Man  merkt,  daß  das  Gedicht  überarbeitet  und 
gefeilt  ist;  er  macht  vielleicht  sogar  den  onomatopoetischen 


Versuch,   die   wuchtige  Unregelmäßigkeit  der  Berge  durcli 
den  Vers  auszudrücken: 

"  Which  dö,  with  yöur  höok-ihf^uldertd  height, 
The  earih  deform, ^  — "     (Vir.  11/12). 

Sogar  in  diesem  Gedichte,  das  doch  so  wenig  Anlaß 
bietet,  flihrt  er  Pairfax*  Gattin  als  ,, Nymphe^  Vere  ein, 
also  im  Benaisäancekostam.  Bemerkenswert  ist  seine  gewiß 
ernst  gemeinte  Behauptung  von  den  Bäumen: 


j 


**—  ihey,  'tw  crtdibUf  have  sense^ 

Aß  we,  of  love  and  rtver^nce/'    (Vv.  49/50) 


d 


I 


also  eine  Art  Naturglaube,  den  wir^  f&r  Marvell  charakte- 
ristisch, wiederholt  finden  werden* 

Von  einer  ermüdenden  Länge,  die  nur  durch  wenige 
schöne  Stellen,  die  wie  Oasen  erfrischen,  unterbrochen  wird, 
ist  das  letzte  Fairfax  gewidmete  Gedicht:  ''Appleton-Home'\mm 
dessen  Beginn  an  Ben  Jonsons  "Petishtirsf'  erinnert, ^fl 
Wie  alle  diese  landschaftlichen  Gedichte  jener  Zeit  —  auch 
im  Deutschen  bei  Opitz  —  haben  wir  hier  Verbindung 
von  Lokal  Schilderung  mit  Lobpreisung  eines  edlen 
Geschlechtes  verbunden,  dessen  Geschichte  ab  ovo  bis  auf 
den  momentanen  Träger  des  Namens  gegeben  wird,  der . 
natürlich  immer  der  Beste  und  Größte  ist.  Der  Gedanken- 
gang dieses  Gedichtes  bewegt  sich  ununterbrochen  in 
Parallelen,  respektive  Antithesen.  Der  Inhalt  dieser  acht^dy 
hundert  Zeilen  kann  nur  andeutungsweise  gegeben  werden.  ^M 
Er  beginnt  mit  dem  alten  horrorvacui:  kein  Geschöpf  liebt 
den  leeren  Raum,  alle  Tiere  haben  der  Größe  entsprechende 
Wohnungen,  nur  der  Mensch  braucht  lebend  mehr  Platz 
als  tot  und  baut  sich  riesige  Paläste*  Hier  in  Appleton- 
House  ist  es  anders:  ein  kleines  Haus,  das  große  Menschen 
bewohnen,  Fairlax  und  Vere.  Rundum  ist  es  von  einer 
reichen  Natur,  von  Gärten,  Wiesen,  Feldern,  Wäldern  um- 
geben. Und  nun  die  sonderbare  Anknüpfung:  „Während 
wir  mit  langsamen  Blicken  diese  (Umgebung)  betrachten 
und  bei  jedem  Schritte  stehen  bleiben,  können  wir  bequem 
den  Gang  der  Schicksale  dieses  Hauses  erzählen.^  Das 
geschieht  auch  sehr  ausführlich.  Zuerst  war  es  ein  Kloster, 
in  dessen  Nahe  eine  blühende  Jungfrau  wohnte^  eine  reiche 
Erbin,  auf  deren  Schätze  die  Äbtissin  lüstern  war.  Li  einer 


-    23    — 


I 


hundertdreißig  Zeilen  langen  Rede  schildert  diese  ihr  die 
Freuden  und  Vorteile  des  Kliosterlebens,  derentwegen  sie 
ihren  irdischen  Bräutigam,  den  jungen  William  Fairfax 
aufgeben  soU.  Halb  mit  List,  halb  mit  Gewalt  hält  sie  das 
Mädchen  dann  im  Kloster  zurück.  Der  junge  verlassene 
Held  gibt  seinem  Groll  in  einem  zwei  Dutzend  Zeilen  langen 
Monolog  Ausdruck,  in  dem  er  natürlich  auf  die  Nonnen, 
diese  ^'hjpocrite  ivitches'\  nicht  viel  Schmeichelhaftes  sagt. 
Er  verschafft  sich  einen  behördlichen  Freilassungsbefehl 
für  seine  Braut  und  als  derselbe  im  Kloster  keine  Wirkung 
tut,  greift  er  zur  Gewalt  und  stürmt  das  Gebäude.  Hier 
bricht  der  Satiriker  in  Marvell  durch,  es  beginnt  eine  fast 
Chaucerische  humorvolle  Schilderung:  einige  Nonnen 
halten  dem  Eindringling  ihre  hölzernen  Heiligen  entgegen^ 
die  anderen  suchen  ihn  wie  einen  höllischen  Geist  mit  dem 
Weihwasserwedel  zu  verscheuchenj  aber  trotzdem  dringt 
der  liebende,  zornige  Jüngling  zu  seinem  Bräutchen  vor: 
nicht  einmal  die  zur  Schau  gestellten  Reliquien  halten  ihn 
auf,  an  denen  nichts  echt  war  als  die  Juwelen.  Zur  Strafe 
für  den  Widerstand  gegen  den  behördlichen  Befehl  ^\nirde 
das  Kloster  aufgehoben  und  das  Haus  dem  nun  mit  seiner 
Braut  vereinigten  WilUam  Fairfax  zugesprochen.  Deren 
Sohn  aber  ist  der  „groÜe"  Lord  Paifax,  der  weltberühmte 
Held,  der  sich  nach  seinen  kriegerischen  Erfolgen  wieder 
hieher  zurückzog  und  aus  militärischer  Liebhaberei  rundum 
fünf  Gärten  in  Form  eines  Forts  anlegte. 

Nun  folgt  eine  für  Marvell  charakteristische  ausfuhr- 
liche Beschreibung  einer  Garten szene,  die  neben  allerlei 
Sonderbarkeiten  wirklich  poetische  Schönheiten  enthalt  und 
deshalb  ausführlicher  wiedergegeben  werden  soll: 

Wenn  im  Osten  der  Morgenstrahl  die  Farben  des  Tages 
auehäugt,  summt  die  Biene  durch  die  Alleen  und  schlägt 
Reveiile.  Dann  schlagen  all  die  Blumen  ihre  schläfrigen 
Lider  auf  und  entfalten  ihre  seidenen  Wappenbanner  und 
füUen  sich  mit  neuen  Ladungen  von  Duft.  Und  wenn  ihr 
Herr  vorübergeht  oder  ihre  Herrin  —  Fairfax'  Gattin  — , 
dann  geben  sie  duftende  Salven  ab.  Wie  zur  Parade  sind 
die  Blumen  in  ihren  besten  Farben  aufgestellt,  in  schöner 
Ordnung,  Tulpen,  Nelken,  Hosen  in  Reih  und  Glied.  Wenn 
aber  der  wachsame  Posten  am  Himmel  um  den  Pol  herum- 


geht,  falten  sie  ilire  Blätter  an  den  Stamm,  wie  die  Fahnen 

an  den  Schaft  gerollt  werden.  Und  die  Bienen  schlafen 
als  Schildwachen  unter  Waffen,  in  Blomenkelchen  einge- 
schlossen. 

Nach  einer  zeitgemäUen  Reflexion  des  Dichters,  dafi 
das  schöne  England  jetzt  leider  andere  Heere  sieht  als 
Blumenarmeen,  wird  die  Naturbetrachtung  fortgesetzt  und 
er  beschreibt  den  Ausblick,  den  er  von  den  anderen  Seiten 
des  Walles  genießt,  die  ungeheuren  Wiesen,  in  deren 
lau  gern  Grase  die  Menschen  sich  wie  unter  Wasser  fort- 
bewegen. Die  Szenen  wechseln  öfters  als  im  Theater. 
Denn  es  kommen  die  Schnitter  und  ziehen  diurch  die 
Wiesenflut  wie  die  Juden  durchs  rote  Meer,  Er  vergleicht 
die  Mäher  auch  mit  Soldaten,  das  Gemähte  sind  die 
Toten  und 

**the  women  (hat  icith  forks  it  fling 

Da  reprcscnt  the  pillaging*-;  — 

eine  sehr  unbeholfen  klingende  Stelle,  die  aber  natürlich 
ganz  ernst  zu  nehmen  ist.  Und  dann  tanzen  die  ^ Sieger'^ 
noch  auf  dem  „Schlachtfelde"  und  der  gesunde  Schweiß 
der  Mäher  duftet  wie  Alexanders  Schweiß  (!)  und  wenn 
Bie  sich  am  Ende  des  Tanzes  küasen,  so  ist  das  frische 
Heu  auch  nicht  süßer  als  ihr  Kufl(!!)  —  eine  starke  Ge- 
schmacklosigkeit. Aber  MarveJl  vergleicht  eben  mn  jeden 
Preis.  Auch  das  ist  ziemlich  skurril,  wenn  die  Heuhaufen 
mit  den  Pyramiden  von  Memphis  oder  mit  römischen 
tumulis  verglichen  werden.  Die  gemähte  Fläche  schildert 
er  als  so  glatt  wie  den  Boden  der  Arena  zu  Madrid  vor 
Beginn  des  Stierkampfes  —  eine  Erinnerung  an  Spanien« 
Nach  mehreren  ähnlichen  Vergleichen  wendet  er  sich 
dem  Walde  zu,  der  so  dicht  zu  sein  scheint,  als  ob  die 
Nacht  darin  verschlossen  wäre;  im  Inneren  aber  zeigen  sich 
Gänge  von  korinthischen  Säulen,  die  Nachtigall  singt  und 
die  höchsten  Eichen  neigen  sich  herab,  um  ihrem  Liede  zu 
lauschen.  Er  schildert  sein  glückliches  Leben  unter  den 
Bäumen  und  Tieren  des  Waldes»  der  ihm  als  ein  wunder- 
bares Mosaik  erscheint  „Dreimal  glücklich,**  ruft  er  aus, 
„wer  gelernt  hat,  in  der  Natur  geheimnisvollem  Buche  zu 
lesen,'*  Nachdem  er  auf  schwellendem  Moose  ausgeruht 
hat>   geht   er  durch    die   WaldstraUe,    wo    die  Bäume   wie 


4 


—    26    — 

eine  Leibwache   vor  ihrem  Herrn  zu  jeder  Seite   zurück- 
zutreten scheinen. 

Dann  gibt  er  sich  dem  Vergnügen  des  Angelns  hin, 
verbirgt  aber  rasch  seine  Geräte,  als  Maria  daherkommt, 
weil  er  sich  schämen  würde,  von  ihr  bei  einer  so  nichtigen 
Beschäftigung  gesehen  zu  werden.  Sie  ist  jetzt  der  Gegen- 
stand seines  Gesanges.  Alle  Dinge  scheinen  sie  zu  be- 
grüßen, selbst  die  Sonne  scheint  sorgsamer  hinabzusteigen 
und  weil  sie  sich  schämt,  daß  Maria  sie  zu  Bette  gehen 
sieht,  verbirgt  sie  ihr  Haupt  in  glühenden  Wolken.  Die 
Dämmerung  bricht  herein,  alle  Wesen  hat  eine  Andacht 
ergriffen,  schweigend  schauen  die  Menschen  den  saphir- 
beflügelten Nebel.  Die  Urheberin  all  dieser  Schönheit  aber 
ist  eben  Maria,  denn  alle  Dinge  streben  ihr  zu  gefallen 
und  ihre  Schönheit  zu  erreichen;  aber  nichts  ist  so  rein, 
so  stolz,  so  süß,  so  schön  wie  sie;  nicht  Flüsse,  Wälder, 
Wiesen,  Gärten.  Selbst  die  elysischen  Gefilde  müssen 
zurückstehen  hinter  einer  Gegend,  die  Maria  verschönt. 

Das  ungefähr  ist  der  Faden  dieser  umfangreichen 
Dichtung.  "Appleton-Hotise"  gehört  zur  Gattung  der  natur- 
beschreibenden Gedichte  wie  die  zwei  vorhergehenden. 
Marvell  hat  hier  allerdings  soviel  als  möglich  die  Be- 
schreibung durch  Erzählung  von  Vorgängen  umgangen: 
im  ganzen  aber  ist  es  doch  ;,malende  Poesie",  was 
äußerlich  schon  dadurch  deutlich  wird,  daß  er  öfters  von 
*'scenes",  das  heißt  Tableaux,  spricht,  die  wie  in  einem 
Panorama  aufeinanderfolgen.  Er  geht  quasi  durch  die  Be- 
sitzung des  Lord  Fairfax  hindurch  und  macht  Moment- 
aufnahmen, zu  denen  er  einen  verbindenden  Text  schreibt. 
Dieser  Text  besteht  aus  Vergleichen  und  Bildern,  zu  denen 
er  die  ganze  Welt  plündert;  Rom,  Griechenland,  Ägypten, 
Spanien  —  der  Nil,  das  rote  Meer  —  die  Juden  und  das 
englische  Parlament  —  die  Pyramiden  und  die  tumuli  — 
Noah,  Lilly,  Davenant  —  Geschichte,  Geographie,  Astro- 
logie, Mathematik,  Zoologie  —  alles  muß  herhalten,  ihm 
Stoff  für  seine  Gleichnisse  zu  liefern.  Es  ist  mehr  Gelehr- 
samkeit oder  Bildung  als  Poesie  in  diesem  Gedichte; 
freilich  weiß  man  dann  die  wenigen  hochpoetischen  Stellen 
um  so  höher  zu  schätzen.  Diese  sind  lauter  Naturbilder :  die 
wunderschöne  Schilderung  des  Morgenanbruches  (Vv.289/300): 


-     26    — 

"When  in  (he  east  the  moming  ray 
Hangs  out  the  colours  of  the  day, 


Then  flotcers  their  drowsy  eyelids  raise, 
Their  silken  ensigns  each  displays"  u.  s.  w. 

Die  Schilderung   des  Waldeszaubers  ist  ebenso  schön  wie 
die  Schilderung  des  Sonnenuntergangs  (Vv.  GölffO- 
'T/t^  sun 

Seema  to  dcscend  tcith  greater  care 
And,  lest  sfte  (Mary)  see  htm  go  to  htd, 
In  hluMng  clouds  conceals  his  head." 

Staunen  muß  man  über  manche  Ausdrücke,  die  uns  ganz 
modern  anmuten,  wie  der  Vergleich  mit  Seide  oder  **(he 
sapphire-tvinged  misf*  (V.  680).  Interessant  fiir  uns  Deutsche 
ist  auch  die  Stelle  (V.  619/620): 

•' —  Uke  a  guard  ofi  either  side 
The  trees  before  their  Lord  dicide" 

die  uns  unwillkürlich  an  die  wunderbare  Komposition 
Abts  „Waldandacht"  erinnert.^) 

Es  tut  einem  förmlich  leid,  den  Mann,  der  solch 
poetischen  Ausdrucks  fähig  ist,  gleich  darauf  wieder  gans 
im  Fahrwasser  seiner  Zeit  zu  sehen  und  Vergleiche  zu 
finden,  die  besser  in  ein  Scheffelsches  feucht-wissenschaft- 
liches Lied  passen  würden,  wie  den  erwähnten,  wo  die 
Süßigkeit  eines  Kusses  mit  nichts  anderem  als  mit  —  Heu 
verglichen  wird.  Es  wäre  femer  ein  Rätsel,  das  selbst  ein 
Ödipus  kaum  lösen  könnte,  wenn  man  fragen  wollte :  „Was 
sind  ,die  mit  Wind  geladenen  Kanonen  der  Liehe*"?  Antwort 
nach  Marvell:  „Die  Seufzer''  (Z.  716). 

Wir  lachen  heute  über  derartiges,  aber  freilich  im 
17.  Jahrhundert  galt  das  als  fein  imd  geistreich ;  das  war 
der  ungünstige  Einfluß  der  Italiener  und  ihrer  cancetti,  der 
Marinismus.  Und  der  ist  eben  nicht  MarveU  vorzuwerfeüi 
sondern  auf  das  Konto  der  Mode  jener  Zeit  zu  setzen. 

\>         f.DauD  gehet  leise,  nach  seiner  Weise. 
Der  liobe  Herrgott  durch  den  Wald. 


Die  Bäume  denken:  Nun  laßt  uns  senken 
Vorm  lieben  Herrgott  das  Gezweig/ 


—    27     — 

Wie  in  dem  griechischen  Gedicht  an  den  König, 
finden  wir  auch  in  diesem  Gedichte  die  Spielerei  mit  der 
Zahl  fünf,  und  zwar  ist  hier  der  Ausgangspunkt  von  den 
fiinf  Sinnen  ganz  deutlich. 

Eine  Stelle  (V.  456),  an  der  Davenant  erwähnt 
wird,  ist  ohne  Kommentar  nicht  zu  enträtseln;  Grosart 
hat  sie  zuerst  (I,  49)  falsch  gedeutet  und  erst  durch  die 
Angaben  eines  Dr.  Brinsley  Nicholson  (vgl.  Grosart, 
vol.  II,  p,  XLIII)  richtig  erklären  können,  als  wirklich  auf 
William  Davenant  bezüglich,  mit  Anspielung  auf  eine  in 
dessen  Werken  vorkommende  Stelle. 

Inhaltlich  mit  den  besprochenen  Gedichten  am  nächsten 
verwandt  sind  zwei  Paare  von  Gedichten,  die  auch  an 
einen  Garten  anknüpfen  und  ungefähr  um  dieselbe  Zeit, 
nämlich  1650/51  entstanden  sein  werden. 

Es  sind  lateinische  Gedichte  Marvells  und  dessen 
eigene,  sehr  freie  Übersetzung,  respektive  Bearbeitung. 
Des  ersten  Paares :  „Hortiis"  —  in  lateinischen  Hexametern 
—  und  "The  Garden*'  —  in  neun  achtzeiligen  Strophen  aus 
viertaktigen,  paarweise  reimenden  jambischen  Verszeilen 
geschrieben  —  gemeinsamer  Inhalt  ist  das  Lob  der  „ahna 
quies"  ("fair  Quiet")  und  ihrer  Zwillingsschwester  „sim- 
plicitas'^  ("Innocence"),  die  der  Dichter  hier  zu  Nun- Appleton 
gefunden,  nachdem  er  sie  in  der  Gesellschaft  der  Menschen 
umsonst  gesucht  hat,  zwei  Himmelsblumen,  die  eben  selbst 
wieder  nur  unter  Blumen,  also  in  der  freien  Natur  ge- 
deihen. Der  Inhalt  in  beiden  Gedichten  ist  derselbe,  nur 
sind  die  Zeilen  nicht  immer  in  derselben  Reihenfolge  tiber- 
setzt; auch  fehlen  im  lateinischen  Gedicht  die  Zeilen, 
welche  den  bemerkenswerten  Ausspruch  enthalten:  „Zwei 
Paradiese  sind's  in  einem,  im  Paradies  allein  zu  leben^ 
(V.  63/64).  Viele  Menschen  mühen  sich  ab,  die  Palme,  den 
Lorbeer,  die  Eiche  zu  erringen«  Ein  einzelnes  Beis  krönt 
höchstens  ihre  Arbeit,  während  alle  Blumen  und  Bäume 
sich  vereinen,  die  Kränze  der  Erholung  zu  flechten.  Diese 
weitgehende  Vorliebe  Marvells  fUr  die  Einsamkeit  ist  ein 
Charakteristikum  dieser  Periode  und  dadurch  erklärbar, 
daß  er  jetzt,  nach  den  aufregenden  häßlichen  Vorgängen 
in  der  Stadt  bei  den  „geschäftigen  Menschen^  die  sim- 
plicitas  und   die  alma  quies  um  so  wohltuender  empfand 


—    28     ^ 


und  sich  glücklich  fohlte  im  Zusammensein  mit  der  un- 
verdorbenen Natur,  ''far  off  the  public  $tage*\  wie  er  sich 
in  einem  gleichzeitigen  Gedichtchen  ausdrückt  Den  Schluß 
des  Gedichtes  '*The  Gardm'\  ''verses,  —  —  —  ßdl  of  a 
witty  delicacy'',  zitiert  Leigh  Hunt  in  dem  Essay  "Old 
Bencher's  of  the  Inner  Temple'\^)  und  er  gibt  Marvell  den 
Beinamen  'Hhe  garden-loving  pocV*,^) 

Die  englische  Übersetzung  von  „RffS*',  betitelt  **Ä 
Ihop  ofl)ew*\  hat  eine  so  eigenartige,  künstliche  meti^iache 
Form,^)  daß  wir  wohl  eine  spätere  Entstehungszeit  des 
englischen  Gedichtes  annehmen  müssen.  Der  Inhalt  ist  eine 
Parallele  zwischen  dem  Tautropfen  und  der  menschlichen 
Seele:  Aus  dem  Busen  des  Morgens  vergossen,  fließt  der 
lichte  Tau  in  die  blühenden  Rosen;  aber  unbekümmert 
um  seine  neue,  schöne  Wohnung  —  da  er  noch  der  lichten 
Begion  gedenkt^  wo  er  geboren  worden  —  schließt  er  sich 
in  sich  selbst  ein  und  faßt  in  der  Ausdehnung  seiner  kleinen 
Kugel  sein  heimatliches  Element  ein.  Er  schätzt  die 
purpurne  Blume  gering  und  berührt  sie  kaum,  wo  er  auf- 
liegt; sondern  zu  den  Himmeln  emporblickend,  glänzt  er 
als  seine  eigene  Träne,  weil  er  so  lange  von  seiner  Sphäre 
getrennt  ist.  Rastlos  rollt  er  und  unsicher,  zitternd,  daß 
er  nicht  unrein  werde;  bis  die  warme  Sonne  sich  seiner 
Qual  erbarmt  und,  ihn  verdunstend,  ihn  wieder  zu  den 
Himmeln  zurückhaucht.  —  Ebenso  verachtet  die  Seele, 
dieser  Tropfen  in  der  Menschenblume,  in  Erinnerung  ihrer 
früheren  Höhe  die  süßen  Blätter  des  irdischen  Lebens,  sie 
dreht  sich  wie  der  Tautropfen  immer  weg,  die  Welt  rings- 
um ausschließend,  hier  auf  Erden  verachtend,  dort  im 
Himmel  liebend;  leicht  und  gern  geht  sie  von  hinnen; 
indem  sie  sich  unten  nur  immer  auf  einem  Punkte  bewegt, 
strebt  sie  doch  immer  hinauf.  —  So  destillierte  auch  der 
heilige  Tau,  das  Manna;  weiß  und  rund,  kalt,  gefroren  hier 
auf  Erden;  aber  sich  auflösend,  eilt  er  in  die  Glorie  der 
allmächtigen  Sonne« 

Der  Vergleich  ist  von  großer  Zartheit  und  Innigkeit. 
Im  ersten  Teile  legt  er  in    die  Gestalt   des  winzigen  Tau* 

»)  Campkie  Works,  London  1892;  p.  7Ji. 

«)  Ebendort,  p.  13L 

«)  Vgl  S.  157  dieser  Arbeit. 


—    29    — 


^ 


1 


tröpfchenSi  das  ilim  in  seiner  Kugelf orm  als  die  voll- 
kommenste Gestalt  erscheint,  eine  ganze  Welt  mensch- 
licher Empfindungen,  Und  die  Parallele  mit  der  menseh- 
lichen  Seele,  diesem  flüchtigen  und  doch  nie  vergehenden 
Tautropfen  der  Menschenblume,  ist  keineswegs  gezwungen, 
sondern  leicht  und  ansprechend  ausgemalt.  Den  Schluß 
aber  möchte  man  gern  vermissen;  er  bildet  nur  einen  Ab- 
fall und  ist  zu  trocken  gelehrt  nach  dem  früheren  zarten 
Bilde. 

Einsamkeit  und  Ruhe  ist  anch  der  Tenor  eines  kurzen 
Gedichtes,  der  Übersetzung  einer  Chorstrophe  From  Seneca's 
'* Tltffestes**,  Akt  II,  in  viertaktigen  trochaischen  Versen  in 
der  Reimstellung  a  a  a  h  b  r  c  d  e  d  efff,  durchaus  stumpf 
und  ohne  Enjambement,  was  sonst  bei  diesem  Metrum 
selten  ist;^)  doch  kommt  hier  die  Kürze  in  Betracht  Mar- 
vell  spricht  den  Wunsch  aus,  unabhängig  von  Hofgunst, 
fern  von  der  Biilme  der  Öffentlichkeit  als  stiller  Mann 
seine  Tage  zu  verbringen  und  dereinst  klaglos  zu  sterben, 

Cowley*)  hat  dieselbe  Chorstrophe  etwas  ausfuhr- 
licher in  vier-  und  fünft  aktigen,  paarweise  reimenden 
jambischen  Versen  übersetzt;  von  gegenseitiger  Beein- 
flussung kann  aber  keine  Rede  sein. 

Eines  der  schönsten  Gedichte  Marvells,  eines  der 
wenigen,  die  bekannter  geworden  sind,  ist  betitelt  '*Th€ 
Nt^mph,  Complainint)  the  Deaili  qf  her  Fat€n*\  Es  hat  einen 
so  lebendigen  Ton,  daÜ  man  wohl  auf  den  Gedanken 
kommen  könnte,  es  sei  kein  abstraktes  Phantasiegedicht; 
allein  es  auf  Marv"  Fairfax  zu  beziehen  wie  Grosart,  scheint 
doch  aus  dem  Grunde  unpassend,  weil  das  dreizehnjährige 
Mädchen  —  wenn  schon  besungen  —  doch  nicht  gut  die 
Rolle  der  verlassenen  Geliebten  übernehmen  kann.  Es  ist 
ein  unstrophisches  Gedicht  aus  paarweise  reimenden  vier- 
taktigen Jamben  in  Monologform,  Es  enthält  die  rührende 
Klage  eines  Mädchens,  dem  übermütige  Jäger  sein  weites, 
zahmes  Rehkalb  angeschossen  haben,  ihre  einzige  Freude, 
das  ihr  treuer  war  als  der  Geliebte  Sylvio,  der  es  ihr  ge- 
geben, bevor  er  sie  verließ.  Sie  erzählt,  wie  sie  es  auf- 
gezogen und   mit  ihm  gespielt  hat.   Die  Beschreibung  der 

1)  X  Schipper,  Engl  Metrik,  11,393. 
ä)  PodU  of  Greai  Briiain,  ml  V,  p.  430, 


—     30     — 


Weiße  des  Tieres,  die  Schilderang  des  Eosengartens  tmd 
andere  Details^  die  hier  nicht  gegeben  werden  können,  sind 
hochpoetisck  Das  Rehlein  stirbt  dann  und  das  trostlose 
Mädchen  vei-spiicht  ihm,  bald  nachzufolgen  ins  Elysiam. 
Dieses  Gedicht  gehört  entschieden  zu  denjenigen 
Marvells,  von  denen  Hazlitt*)  sagt,  sie  seien  '*miisieal  as 
in  Apollo* s  lute*\  und  Leigh  Hunt:')  "sfveel  and  fuU  öf 
over-ßowinf}  fanetf*\  Es  ist  nicht  zu  bestreiten,  daß  das 
Gedicht  ein  lebhaftes,  dramatisches  Element  besitzt  und 
wunderbar  den  traurigen  naiven  Ton  des  klagenden  Mädchens 
trifft,  daü  der  Dichter  hier  von  jeder  Übertreibung  und 
Lächerlichkeit  sich  fernhält.  Der  Gedanke,  daß  ein  ver- 
lassenes Mädchen  sich  mit  einem  zahmen  Reh  tröstet, 
findet  sich  auch  bei  Browne  in  dessen  ** Pastorais",  I,  4, 
Wir  sehr  dem  Dichter  immer  und  überall  der  Gelehrte  in 
den  Nacken  schlägt,  können  wir  daraus  ermessen,  daß 
er  selbst  in  diesem  sonst  so  natürlichen,  naiven  Gedicht 
—  zwar  nicht  in  allzu  aufdringlicher  Weise  wie  in  **Appl^ 
ion-HoHse"  —  der  jungen  Nymphe  gelehrte  Kenntnisse 
in  den  Mund  legt:  sie  spricht  von  den  Heliaden,  den 
Schwestern  des  Phaethon,  die  aus  Schmerz  über  den  Ver- 
lust des  Bruders  so  sehr  weinten,  daß  sie,  in  zitternde 
Pappeln  verwandelt,  noch  heute  Bemsteintränen  weinen; 
sie  spielt  ferner  auf  die  versteinerte  Niobe  an,  spricht  von 
Diana,  vom  Elysium  etc.  Eine  merkwürdige  Selbstironi© 
spricht  aus  den  Worten: 

"Bwf  StfUm  sfOfm  had  nu;  beffuiled; 

This  (-th©  fawn)  tfared  tarne,  UfkÜe  He  grew  wild^ 

And  quüc  regardless  of  my  mnari 

Left  me  his  fawfij  hut  took  his  hcart.*' 

Marvell  muß  ein  großer  Tierfreund  gewesen  sein,  sonst 
hätte  er  nicht  das  Kebkalb  mit  so  viel  Liebe  beschrieben 
und  gesagt  (V,  16): 

'^Even  bta^U  mwt  he  with  jmHce  ilam," 
Das  beweisen  auch  zahlreiche  andere  Stellen^  an  denen  er 
den    Tieren    eine    höhere    Fähigkeit    zuspricht,     eine    Art 
Tierseele, 


4 


1 

4 


*)  "Lrciure«  on  the  EnffUnh  poets  and  the  Engl  eomic  wriUr^\  | 
London  1899,  l  //,  p.  109,  $9 ff. 

^)  "  Wü  and  Himour'\  London  1882,  p,  214  f. 


-   äi    - 

Zum  Schlüsse  ser  noch  eine  wegen  ihrer  wörtlichen 
Übereinstimmung  mit  einem  großen  deutschen  Dichter, 
mit  Qrillparzer,  interessante  Stelle  erwähnt.  Bei  diesem 
sagt  Berta  in  der  „Ahnfran^  (I,)^  als  sie  ihrem  Vater  von 
der  Rettung  durch  Jaromir  erzählt: 

„Und,  mein  Vater,  für  das  Alles, 
Was  er  erst  für  mich  getan, 
Könnt'  ich  wen'ger  als  ihn  lieben?" 

Und  bei  Marvell  heißt  es  Z.  44  f: 

" could  I  lese, 

Than  love  ü  ? " 

Eine  sonderbare,  unabhängige  Übereinstimmung,  die  auch 
auf  keine  gemeinsame  klassische  Quelle  zurückgehen  kann. 
Haben  wir  bis  jetzt  einzelne,  größere  Gedichte  Mar- 
vells  betrachtet,  so  wenden  wir  uns  jetzt  der  Menge 
kleinerer  Gedichte  zu,  die  in  dieser  Periode  ent- 
standen. Die  Mehrzahl  davon  sind  Liebeslieder.  Wir 
wollen  sie  folgendermaßen  gruppieren: 

1.  Mower  Songs, 

ländlich-idyllische  Dichtungen  geringen  Umfanges,  deren 
Personen  in  der  Maske  von  Mähern  auftreten.  Was  für 
alle  diese  Lieder  gilt,  ist,  daß  sie  eine  ziemlich  glatte 
Metrik  aufweisen,  daß  sie  durchgefeilt  sind. 

(1,)  "Dämon  ihe  Mower"  ist  ein  Gedicht  von  elf  acht- 
zeiligen  Strophen  aus  paarweise  reimenden  viertaktigen 
Jamben.  Der  Mäher  Dämon  besingt  seine  unglückliche 
Liebe  zu  Juliana.  Die  Sonne  brennt  wie  ihre  Augen,  seine 
Sorge  ist  schneidend  wie  seine  Sichel,  seine  Holfnungen 
sind  verwelkt  wie  das  Gras.  In  diesem  Tone  geht  es  fort; 
er  bringt  also  alles  in  Bezug  auf  sich,  auf  seinen  Stand. 
Seine  Tränen  sintj  die  einzige  Feuchtigkeit,  ihr  Herz  ist 
das  einzig  Kalte  l3ei  dieser  Hitze.  Nichts  kann  Juli  an  a 
rühren,  sie  erhört  ihn  nicht  im  geringsten,  obwohl  er  be- 
kannt und  berühmt  ist  auf  allen  Wiesen,  die  er  gemäht 
hat.  Wie  glücklich  hätte  er  leben  können,  hätte  nicht  Amor 
Disteln  in  sein  Leben  gesät!  Als  er  sich  in  seiner  Acht- 
losigkeit selber  niedermäht  und  zu  Boden  fällt,  tröstet  er 
sich  selbst,  denn  diese  Wunden  der  Sichel  sind  gering 
gegenüber  jenen,   die   unglückliche   Liebe   schlägt;   leicht 


—    3Ö    - 


^liMlt  man  Fleischwuiiden  durch  Auflegen  von  KrauternJ 
aber  die  Wunden,  die  Jalianas  Augen  schlagen^  heilt  nur 
der  Schnitter  Tod.  _ 

Das   Gedicht  ist  also   ein  Bollenlied,  ganz   a  la^ 
müde  des  17.  Jahrhunderts,  bei  dem  man  der  theoretischen 
Vorschrift  nach  merken  muß,  dai3  hinter  dieser  EoUe  eine 
Person  von   größerer  Bildung  steht.   Dieser  Vorschrift  ge- 
nügt Marvell   auch,   denn  ein  Naturkind  würde  nie  auf  so 
krasse  Vergleiche   verfallen  wie   sein  Mäher.  Schnitter»    -- 
lieder  waren  nach  den  Schäferliedern  eine  der  beliebtesten  mä 
Formen  der  Zeit,  für  beide  gilt  dieselbe  Vorschrift.*)  Spe- 
ziell diesem  Gedichte  ist  ein  übertrieben  pathetischer  Ton 
eigen*  Unfreiwillig  humoristisch  aber  wirkt  Strophe  6,  wo 
der  Held  sich  selbst  so  vorstellt: 

''/  am  (fie  mower  JJamon,  hwtifn 

Through  all  (he  meadown  1  ktwe  momC* 

Wem  klingen  da  nicht  die  Verse  im  Ohr: 

**Sutn  piu8  Äenecus,  —  —   —  — 

—  —  —  —  fama  ^*pfr  acüiera  nott4s*\ 

(Virg.  Aeneis^  /,  378137 

eine  SteUe,  die  im  Original  schon  sonderbar  genug  klingt, 
zumal  der  Leser  ja  weiü,  daß  es  des  Äneas  eigene  Mutter 
ist,  der  er  sich  so  unbescheiden  vorstellt. 

(JI^.J  "The  Mower  a^ainsi  Gardens"  ist  in  paarweise  ge- 
reimten^ abwechselnd  fünf-  und  viertaktigen  jambischen 
Versen  geschrieben,  vielleicht  ein  versuchter  Ersatz  des 
antiken  Distichons,  bei  dem  auch  immer  zwei  angleiche 
Zeilen  dem  Baue  und  Sinne  nach  zusammengehören.  Der 
Mäher  beklagt  hier,  daß  die  Menschen  Blumen  in  Gärten 
ziehen,  statt  mit  der  freien  Natur  zufrieden  zu  sein,  und 
daß  sie  dabei  mit  ihrer  Gärtnerkunst  willkürlich  Blumen- 
bastarde ziehen.  Nachdem  Marvell  in  "Appleion-Housef'  ge- 
rade Gartenszenen  mit  solcher  Vorliebe  schüdert  —  auch 
in  "The  NpnpV*  und  "TAc  Garden"  —  ist  dieses  garten« 
feindliche  Gedicht  eigentlich  eine  Inkonsequenz;  doch  wendet 
er  sich  wohl  nur  gegen  die  Auswüchse  der  französisch* 
holländischen  Gartenkunst,  die  damals,  wie  die  fremde  Mode 
überhaupt,  in  England  eindrang,  wie  sie  im  Barockstil,  in 
dem  Gesclmörkelten  der  Gärten  von  Versailles  und  Fontaine- 


i)  VgL  S,  841  dieser  Arbeit. 


-     33     — 

bleau  ihren  Ausdruck  fand,  während  die  mehr  wilden  eng- 
lischen Parks  aus  der  Mode  kamen.  Unser  Schiller  hat 
ja  noch  über  englische  imd  französische  Gartenkunst  ge- 
schrieben und  dabei  der  ersteren  den  Vorzug  gegeben, 
sieht  jedoch  eine  Verbindung  beider,  nach  seinem  gewöhn- 
lichen Vorgang,  für  das  Ideal  an. 

Mehr  liedartig,  aus  vier  vierzeiligen  Strophen  aus 
paarweise  gereimten  viertaktigen  Jamben  bestehend,  ist 
(3.)  ^'The  Mower  to  the  Glow-  Worms":  Diese  lebenden  Lampen, 
bei  deren  Schein  die  Nachtigall  spät  singt,  die  keine  üble 
Vorbedeutung,  sondern  nur  den  Zweck  haben,  wandernden 
Mähern  den  Weg  zu  beleuchten,  fär  ihn  leuchten  sie  ver- 
gebens, denn  seit  er  Juliana  liebt,  ist  sein  Sinn  so  aus 
der  Ordnung  gebracht,  daß  er  sich  nie  zurechtfinden  wird. 

Noch  mehr  gefeiert  wird  die  böse  Juliana  in 
(4,)  ''The  Mower's  Song",  einem  öedicht  aus  fünf  sechs- 
zeiligen  Strophen  in  viertaktigen  Jamben;  das  einzige 
Gedicht  Marvells,  in  dem  der  Refrain  durchgeführt 
ist,  und  zwar  ist  dabei  die  letzte  Zeile  zu  sechs  Jamben 
erweitert.  Der  Inhalt  ist  strophenweise:  1.  Sein  Sinn 
war  einst  so  heiter  wie  all  diese  Wiesen,  seine  Hoffnungen 
waren  grün  wie  das  Gras,  —  bis  Juliana  kam  —  und  nun 
seinen  Gedanken  und  ihm  tut,  was  er  dem  Grase  tut. 
2.  Aber  die  Wiesen  erblühen  nach  dem  Mähen  wieder  um 
so  firischer  und  grüner,  er  dagegen  siecht  in  Sorgen  dahin, 
seit  Juliana  kam  und  . . .  etc.  (Refrain).  3.  Die  Wiesen  feiern 
lustige  Maispiele,  während  er  im  Gegenteil  niedergetreten 
daliegt,  seit  Juliana  kam  und  .  .  .  etc.  4.  Was  aber  die 
Blumen  nicht  aus  Mitleid  mit  ihm  tun,  will  er  an  ihnen 
aus  Hache  tun  und  Blumen  und  Gras  und  er  sollen 
gemeinsam  zu  Grunde  gehen,  denn  Juliana  kam  und 
sie  .  .  .  etc.  B.  So  sollen  die  Wiesen,  die  fiiiher  Gefährten 
seines  frischen,  heiteren  Sinnes  waren,  jetzt  auch  das 
Wappenschild  werden,  mit  dem  er  sein  Grab  schmückt; 
denn  Juliana  kam,  und  sie  tat  ihm,  was  er  dem  Grase  tat. 

Dem  Inhalte  nach  gehört  zu  den  Mäherliedem  auch 
(5.)  ''Ämetas  and  Thestylis  Mdking  Ray-Ropes".  Es  ist  ein 
witziger  Dialog  zwischen  den  zwei  genannten  Personen 
während  der  Arbeit.  Gut  getroffen  ist  der  neckische  Ton 
der  beiden,  die  sich  am  Ende  dennoch  „kriegen^ ;  besonders 

Po 8 eher,  Marvells  poet.  Werke.  8 


-     34     — 


das  Mädchen  ist  herzig  mit  seiner  Schnippischkeit.  Der 
Keiz  des  Qanzen  liegt  in  der  Kürze  und  Prägnanz  des 
Dialogs,  die  in  Prosa  nicht  gut  wiederzugeben  sind.  Den 
Namen  Thestylis^  der  sich  auch  in  Miltona  ''UAUetfro"^ 
findet,  verwendet  Marvell  auch  in  ''Appleion^nott$t\  nach 
Virgils  Ecl,  II,  10  (Grosart). 

Wir  sehen  also,  daß  in  allen  diesen  Mäherliedern 
eine  Juliana  eine  Rolle  spielt  und  daß  alle  atrophisch 
sind,  mit  Ausnahme  von  Nr.  2.  Vielleicht  sind  diese  Liebes- 
lieder nicht  bloß  Modedi chtung^  sondern  beziehen  sich  auf 
eine  Dame  aus  Marvells  Bekanntschaft^  nachdem  der  Name 
Juliana  kein  allgemein  gebräuchlicher  Modename  ist  wie 
die  anderen ;  einen  sicheren  Anhaltspunkt  bietet  seine 
Biographie  jedoch  nicht.  Die  glatte  Versifikation,  die  der 
Dichter  all  diesen  Liedern  zu  teil  werden  ließ,  obwohl  er 
sie  nicht  veröffentlichte,  beweist,  daß  er  offenbar  selbst 
daran  Gefallen  fand.  —  Nach  Grosart*)  scheinen  die 
Mäherlieder  Marvells  auf  William  Allingham's  ''Mowcr- 
Satigs'*  nicht  ohne  Einfluß  gewesen  zu  sein. 

Ähnlichen  Charakter  hat  die  zweite  Gruppe, 

2.  Pastorale  Gedichte. 

Die  Schäferdichtung  war  die  beliebtaste  Mode- 
gattung des  17.  Jahrhunderts  und  Marvell  hat  sich  ihr 
nicht  entzogen.  Es  ist  dieselbe  Richtung,  die  in  D  entsteh - 
land  durch  die  ^Pegnitzschäfer^  vertreten  ist.  Interessant 
ist  die  auf  diese  Gattung  bezügliche  Äußerung  Draytons 
in  seiner  Vorrede  zu  den  **Pastop*als'*'^):  Er  versteht  unter 
'*Pa$torals**  Dialoge  oder  andere  Reden  in  Versen,  welche 
Hirten  und  ähnlichen  Personen  in  den  Mund  gelegt  sindj 
diese  Pastorais  sind,  *'as  all  öihn*  fop'ms  of  poesie**  von  den 
Griechen  und  aus  zweiter  Hand  von  den  Lateinern  über- 
nommen worden,  (Diese  Einräumung  einer  wichtigeren 
Rolle  für  die  griechische  Poesie  scheint  demnach  in 
England  früher  durchgedrungen  zu  sein  als  in  Deutschland.) 
Der  Gegenstand  und  die  Sprache  sollen  einfach  sein. 
Trotzdem  können  die  höchsten  Dinge  der  Welt  darin  be- 
rührt werden.  Derjenige  aber,  welcher  fast  nichts  Pastorales 

»)  Vof,  J,  p.  LXIX. 

s)  FoeUf  of  Greüi^BHiain,  UI,  568. 


—    35    — 

in  seinen  "PastoraW  hat  —  und  das  sagt  er  von  sich 
selbst  —  handelt  oflFener,  wenn  er  '*detracto  velamine"  von 
den  höchsten  Dingen  spricht.  Der  erste  Bang  gebührt  den 
griechischen  Pastoralen  von  Theokrit,  dann  Virgils 
BukoUken;  in  dem  Gesang  der  Engel  an  die  Hirten  bei 
der  Geburt  des  Herrn  sei  die  pastorale  Poesie  geheiligt 
worden.  Das  Hauptgesetz  der  Pastorale  wie  das  jeder  Poesie 
ist  ''decorum'\  Spenser  hätte  genug  getan  für  die  Un- 
sterblichkeit seines  Namens,  schlieJ3t  er,  wenn  er  uns  nichts 
hinterlassen  hätte  als  den  "Shepherd's  Calendar".  —  Also 
lauter  sehr  laxe,  ungenaue  Definitionen  und  Gesetze,  die 
den  größten  Spielraum  lassen. 

Den  Ausgangspunkt  in  England  bilden  bekannter- 
maßen Sidney  und  Spenser,  die  wieder  unter  italieni- 
schem Einfluß  stehen.  Dann  schrieb  fast  jeder  Dichter 
Pastorais,  und  zwar  bemerkt  man,  daß  dieselben  immer 
kürzer  werden,  das  heißt  vielmehr,  Sidney,  Spenser  und 
andere  schrieben  umfangreiche  Werke,  oft  in  vielen  Büchern, 
in  Schäfereinkleidung,  Schäferromane  in  Versen ;  diese  Ein- 
kleidung wurde  dann  so  beliebt,  daß  sie  überall  durchdrang, 
so  daß  man  jetzt  jedes  kleine  lyrische  Gedicht  in  diese 
Einkleidung  brachte.  Vor  Marvell  schrieben  solche  kleinere 
pastorale  Gedichte:  Cowley,  Waller,  Denham,  Donne, 
Drayton,  Suckling,  Lovelace,  Browne  und  viele 
andere.  Im  allgemeinen  ist  der  Wert  dieser  Gedichte  kein 
großer;  ein  sehr  scharfes  Urteil  fällt  Bleibtreu  in  seiner 
Literaturgeschichte.^)  Auch  bei  Marvell  sehen  wir,  daß 
diese  a  la  mode  -  Dichtung,  die  nicht  vom  Herzen  kommt, 
auch  nicht  zu  Herzen  geht  und  nur  dort  Interesse  hat, 
wo  sie  sich  an  den  Verstand  wendet,  das  heißt,  wo  sie 
philosophisch- allegorisch  ist.  Der  poetische  Wert  muß  dabei 
freilich  zurücktreten.  Ausnahmen  kommen  natürlich  vor 
und  bei  Marvell  relativ  mehr  als  bei  anderen. 

Am  meisten  der  Definition  Draytons  entsprechend, 
nämlich  in  Dialogform,  sind  die  nächstfolgenden  Ge- 
dichte dieser  Art. 

In  ^'Clorinda  and  Dämon'*  erscheint  das  Mädchen  als 
die  Werbende   und   der  Schäfer  ist   der  Spröde.   Sie   will 


1)  Bd.  /,  132 ff. 

3* 


—     36     — 


ihn  zu  einem  Schäferstündchen  verlocken  durch  Schilderung 
von  einsamen  Quellen,  Grotten,  blumigen  Wiesen  etc.  Er 
aber  achtet  nicht  darauf  und  entschuldigt  seine  Unauf- 
merksamkeit dadurch,  daß  er  ihr  erzählt,  daB  er  Pan  be- 
gegnet sei,  der  zu  ihm  Worte  sprach,  die  seinen  Schäfer- 
verstand übersteigen;  am  Schlüsse  vereinigen  eich  beide 
zu  einem  Loblied  auf  Pan,  von  dem  die  Wiesen  singen, 
die  Höhlen  tönen  und  die  Quellen  murmeln. 

Warum  Goldwin  Smith  in  seiner  Bemerkung  über 
Marvell  inWards  ''English  Poeis''^)  gerade  dieses  Gedicht 
als  das  beste  dieser  Art  nennt,  ist  nicht  recht  einzusehen. 
Es  steht  gewiß  hinter  '*Daphm$  and  Chlo€"  zurück*  Daß 
der  Schäfer  hier  als  der  Spröde  erscheint  und  das  Mädchen 
als  die  Drängende^  ist  ein  in  der  internationalen  Schäfer- 
dichtung nicht  ungewöhnliches  Motiv,  das  schon  zu  einer 
Zeit  vorkommt,  wo  dieselbe  noch  nicht  Modedichtung  war, 
nämlich  in  *'Robin  and  Mahpi\  einem  alten  schottischen 
Hirtengedichte  von  Robert  Henryson  und  sich  noch 
bei  Goethe  findet 

Zeile  4  ist  das  Wort  'Uo  hlazon**  in  der  Ursprünge 
liehen  Bedeutung  gebraucht,  nämlich  ,,$chüd^ni'\  das  heißt 
auf  einem  Schilde  sichtbar  darstelleUj  daher  die  Wiese  das 
Wappenschild  Floras.  Das  Lob  Pans  geht  bei  Marvell 
wahrscheinlich  auf  S  p  e  n  s  e  r  zurück,  den  er  so  hoch  ver^ 
ehrte,  der  Pau  in  seinem  '^Shepherd*s  Calendur**  als  Gott 
der  Schäfer  besingt.  Es  scheint  mir  aber  bei  dem  ent- 
sagenden Charakter  des  Gedichtes  nicht  ausgeschlossen, 
daß  unter  ^Pan"  Christus  zu  verstehen  sei,  der  dem 
Schäfer  höher  steht  als  irdische  Lust  und  Sinnlichkeit. 
Deutlich  miteinander  identifiziert  sind  Fan  als  Gott  der 
Schäfer  und  Christus  zum  ersten  Male  bei  Milton  (Strophe  8 
der  *'Mymn  an  the  Nativity"): 

"- — ihe  mighty  }*an 

Was  kindlif  come  to  Uve  with  them  l/elaw/' 

Auch  Dryden  nennt  Christus  in  *\Umd  and  Panther" 
*'hle$S€d  Pan*'  (c.I,  ik284)  und  ''mighiy  Pan*  (c.  II,  v.711). 
In  einem  der  berühmtesten  religiösen  Gedichte  des  17,  Jahr- 
hunderts, das  in  alle  Sprachen  übersetzt  wurde,  in  Fr,  Spees 
,,Trutsnachtigall'*  erscheint  Christus  als  „Schäfer  Daphnis**. 

»)  LmdoH  1880,  vol.  II,  p.  383, 


i 


I 


—     37     — 

Es  sprechen  also  eine  Reihe  von  Parallelen  fär  die  Richtig-» 
keit  dieser  Deutung. 

Geschrieben  ist  das  Gedicht  in  viertaktigen,  pasurweise 
gereimten  jambischen  Verszeilen,  die  wiederholt  gebrochen 
werden,  da  der  Schluß  der  Reden  der  Personen  oft  in  die 
Versmitte  fallt  und  so  häufige  Cäsuren  entstehen ;  die  Folge 
ist  eine  dramatische  Bewegtheit. 

Das  zweite  Gedicht  in  Dialogform  ist  "Ä  Dialogiie 
between  Thyrsis  and  Borinda*\  ebenfaDs  voller  concetti; 
Thyrsis  schildert  der  Dorinda  auf  ihr  Verlangen  das  Ely- 
sium,  wie  er  es  sich  vorstellt,  so  anziehend,  daß  sie  bereit 
ist,  sofort  mit  ihm  zu  sterben;  er  ist  einverstanden  und 
sie  gehen  zusammen  wilden  Mohn  pflücken,  den  sie  in 
Wein  trinken  wollen,  um  sanft  zu  entschlummern.  —  Zu 
rühmen  ist,  daß  Msurvell  wenigstens  den  übertrieben  naiven 
Ton,  den  er  einmal  angeschlagen,  beibehält  und  sich  auch 
keiner  Anachronismen  schuldig  macht. 

Einen  etwas  scherzhaften  Ton  zeigt  "Daphnis  and 
Chloe'\  ein  Gedicht  von  siebenundzwanzig  Strophen  von 
je  vier  umschlossen  reimenden,  viertaktigen  trochäischen 
Verszeilen.  Der  Inhalt  ist  folgender:  Der  Schäfer  Daphnis 
muß  von  Chloe  scheiden,  die  er  lange  vergeblich  umworben 
hat.  Bei  der  Trennungsnachricht  legt  sie  die  Sprödigkeit 
plötzlich  ab.  Er,  sonst  so  erfahren  im  Umgang  mit  Weiber- 
herzen, wußte  das  eine  nicht,  daß  es,  um  ein  Fort  einzu- 
nehmen, am  besten  sei,  die  Belagerung  scheinbar  außsu- 
heben  —  eine  Taktik,  die  schon  Carew^)  empfiehlt.  Daphnis 
zeigt  also  unverhohlen  seinen  Schmerz  und  verpaßt  dar- 
über die  günstige  Gelegenheit.  Er  wiD  auch  der  Trennung 
nicht  verdanken,  was  seine  Gegenwart  ihm  nicht  gewinnen 
konnte.  Er  schwört  aber,  sich  an  Amor  zu  rächen,  und 
reißt  sich  los.  Von  nun  an  gibt  er  sich  nicht  mehr  mit 
spröden  Jungfrauen  ab,  sondern  fiihrt  ein  loses  Leben  mit 
minder  spröden  Schäferinnen,  eine  Nacht  bei  dieser,  die 
andere  bei  jener  verbringend. 

Wenn   man  das  Gedicht  zum  ersten  Male  liest,   liest 

»)  Carew  in  "Poets  of  QreaUBHtain''  (III,  678): 

" only  they 

Conquer  Love  that  run  atoay." 


—    38    — 


fnan  ea  mit  Gefallen  bis  Strophe  24;  man  hofft,  da]} 
Daphnis  ChJoe  durch  seine  Worte  mürbe  macht,  und  er- 
wartet eine  heitere  Zähmung  der  Widerspenstigen;  ea 
wäre  gewiß  hier  nicht  das  Banalste,  wenn  sie  sich  am 
Schlüsse  ^kriegen**  würden;  aber  als  Dichter  des  17.  Jahr- 
hunderts konnte  sich  Marvell  jetzt  nicht  die  Gelegenheit 
entgehen  lassen,  einen  „witzigen"  spitzfindigen  Schluß 
anzubringen,  der  uds  allerdings  nicht  gefallen  kann;  nicht 
der  ^Frivolität^  wegen,  die  einen  prüden  englischen  Kritiker 
veranlassen  könnte^  über  das  Gedicht  den  Stab  «u  brechen, 
sondern  mehr  ans  ästhetischen  als  moralischen  Gründen. 
Jeder  unbefangene  Leser  muß  nach  der  ersten  Lektüre 
bedauern,  daB  das  so  hübsch  angefangene  Bildchen  auf 
diese  Art  „verpatzt**  wird. 

In  den  folgenden  Gedichten  ist  die  Schäfereinkleidung 
nicht  so  streng  durchgeführt,  aber  aus  gewissen  Einzel- 
heiten gehören  sie  doch  auch  zur  p astoralen  Gruppe. 

'*Young  Love**  ist  an  ein  junges  Mädchen  gerichtet, 
mehr  Kind  noch  als  Jungfrau,  So  wie  Königreiche,  um 
fremde  Ansprüche  an  die  Krone  von  vornherein  nichtig 
zu  machen,  ihren  König  in  der  Wiege  krönen,  so  krönt 
der  Dichter  sie  schon  jetzt  mit  seiner  Liebe,  um  allen 
Rivalen  zuvorzukommen.  —  Dieses  schöne  Bild  ist  leider 
nicht  verdientermaüen  schön  ausgedrückt,  vor  allem  ist  das 
Gedicht  zu  lang  für  diese  Parallele  mit  seinen  acht  vier- 
zeiligen  Strophen  aus  kreuzweise  gereimten,  vi  er  taktig- 
trochäischen  Versen.  Ein  noch  heute  existierendes  Sprich- 
wort findet  sich  in  Strophe  6: 

"0/  this  need  we'U  viriue  make." 

Grosart  vennutet,  daß  dieses  Gedicht  auf  Mary  Fair- 
f  ax,  Marvells  junge  Schülerin,  geht.  Das  Alter  derselben, 
13  oder  14  Jahre,  würde  ja  für  die  Situation  stimmen. 
Sonderbar   uiülSte    uns   ein    solches  Verhältnis   gewiB    an- 

. muten,  der  Ton  dieses  Gedichtes  ist  teilweise  gar  nicht 
platonisch.  In  "Äppktofi-Honse"  besingt  er  freilich  auch 
[arj*    FairfaXj    aber    in    konventionell -überschwenglichen 

^Versen.  Hat  Marveil  Marj^  wirklich  geliebt,  so  haben  wir 
ein  ähnliches,  auch  unsicheres  Beispiel  in  der  Literatur 
an  dem  Earl  von  Surrey,  der  die  im  Kindesalter  stehende 


—    39 


l 


Geraldin©,  Tochter  des  Earl  of  Kildar,  in  berühmten 
Sonetten  besang. 

Weniger  Natur  und  leider  auch  weniger  Kunst  als 
Künstelei  finden  wir  in  **TAe  Galhry'\  einem  Geclicht  von 
sieben  aclitzeiligen  Strophen  aus  viertaktigen,  paarweise 
reimenden  jambischen  Versen,  Der  Dichter  ladet  seine  Ge- 
liebte zur  Besichtigung  der  Galerie  ein,  die  er  in  seinem 
Herzen  eingerichtet  hat.  Auf  einem  Bilde  ist  sie  als  un- 
menschliche Mörderin  gemalt^  die  gegen  Männerherzen 
gi'ausame  Marterwerkzeuge  verwendet,  wie  schwarze  Augen^ 
rote  Lippen,  gekrauste  Haare.  Anf  der  gegenüberhegenden 
Seite  ist  sie  als  Aurora  in  der  Morgendämmerung  gemalt. 
Auf  dera  nächsten  Bilde  prophezeit  sie  sich  selbst  aus  den 
^-^inge weiden  des  Geliebten,  wie  lange  sie  noch  schön  bleiben 
Iterde,  und  dann  wirft  sie  dieselben  dem  Geier  zum  Fraß 
von  (!)  So  erscheint  sie  noch  auf  vielen  Bildern.  Ihm  aber 
gefällt  am  besten  das  Bild^  wo  sie  in  der  Stellung  gemalt 
ist,  in  der  er  sie  zuerst  sah,  das  darum  auch  gleich  am 
Eingang  in  die  Galerie  hängt;  hier  ist  sie  im  Schäfer- 
kostüm, mit  offenem  Haare^  beschäftigt  Blumen  zu  pflücken, 
um  damit  ihr  Haupt  zu  krönen  und  ihren  Busen  zu  füllen» 

Ganz  mechanisch  also,  an  der  Hand  einer  Bilder- 
erklärung wird  die  Geliebte  in  verschiedenen  Masken 
vorgeführt,  eine  übrigens  im  17.  Jahrhundert  nicht  unge- 
wöhnliche Methode,  wo  man,  wie  später  in  der  romanti- 
schen Schule,  eine  Vereinigung  der  Künste  pflegte,  die  die 
sogenannte  ^e n  b  1  e  m  a  t  i  s  c  h  e  P  g  e  s ie"  mit  sich  brachte. 
Auch  Marveil  hat  noch  ein  zweites  „Bildergedicht**,  das 
wir  deshalb  gleich  hier  anschließen,  ein  Gedicht,  das  nur 
der  Text  zu  einem  hier  wirklich  vorhandenen  Werke  der 
bildenden  Kunst  ist,  das  ihm  zu  einigen  Reflexionen  An- 
laß gibt: 

''Ttie  Fkiure  of  Little  T.  C.  in  a  Prospect  of  Flower^' 
iBt  auch  metrisch  interessant,  weil  es  von  der  Schablone 
abweicht:  es  sind  fünf  Strophen  zu  je  acht  Zeilen,  von 
denen  die  ersten  sechs  regelmäßige  viertaktig-j ambische 
Verse  sind,  während  die  vorletzte  Zeile  nur  zweitaktig  ist, 
die  letzte  jedoch  fünf  Takte  hat,  also  f  ^  ** '' ^^  ^'^^). 

Der  Dichter  schildert  zuerst  die  Anmut  des  mit  Blumen 
apielenden   Kindes   und    überlegt   dann,  welche  Rolle  das 


—     40     — 


jetzt  noch  so  uuschiildigQ  Mädchen  einst  in  der  Welt 
spielen  werde,  sobald  es  zu  seiner  vollen  Schönheit  er- 
wachsen sein  werde.  —  Einzelne  Stellen  des  Gedichtes 
sind  ganz  hübsch,  das  Lob  örosarts  '*a  lovely  poefH*'  gut 
aber  doch  nur  im  Sinne  des  17.  Jahrhunderts. 

Wie  bereits  einmal  bemerkt,  wo  sich  Marvell  dem 
Zwange  der  Mode  —  dort  der  Gelegenheitsdichtung,  hier 
der  Schäferdichtung  —  entzieht,  wird  er  viel  anziehen- 
der. So  in  dem  Gedichte  ''To  hi$  Coy  Mistre^'*.  Et?  ist 
ein  an  seine  Geliebte  gerichteter  Monolog:  Er  würde 
sich  aus  ihrer  Sprödigkeit  nichts  machen,  wenn  nur  Kaum 
und  Zeit  den  Menschen  in  größerem  Maße  zugemessen 
wären.  Dann  könnte  sie  am  Gangesufer  Kubine  suchen, 
während  er  am  Ufer  des  Hmnber  weilte;  dann  könnte  sie 
sich  ihm  verweigern  bis  zur  Bekehrung  der  Juden.  Hundert 
Jahre  wollte  er  verwenden,  ihre  Augen  zu  besingen,  zwei- 
hundert Jahre,  jede  Brust  zu  be wundem,  und  dreißigtausend 
für  das  Übrige.  Und  erst  im  letzten  Weltalter  \^airde  er 
zu  ihrem  Herzen  vorschreiten.  Denn  sie  verdient  es  eo, 
und  er  würde  es  billiger  gar  nicht  tun.  —  Aber  leider 
höre  er  den  geflügelten  Wagen  der  Zeit  schon  hinter 
seinem  Rücken  daherbrausen ;  ihre  bewunderte  Schönbeit 
werde  nicht  bleiben  und  sein  Lied  nicht  in  ihre  Gruft 
dringen.  Und  sie,  die  sich  so  lange  ihre  jungfräuliche  Un- 
berührtheit bewahrt  habe,  müsse  sich  ganz  den  Würmern 
überlassen.  Die  flammende  Glut  werde  zu  Asche;  sie 
würden  beide  im  Grabe  liegen  und  das  Grab  sei  zwar  ein 
schöner,  stiller  Ort,  aber  kein  Ort  zum  Küssen.  „D'nim  laß 
uns  die  Zeit  genießen,  solange  der  Morgentau  der  Schön- 
heit auf  deinem  Antlitz  liegt,  solange  die  Seele  noch  vom 
Lebensfeuer  glüht  und  lieber  die  Zeit  gleichsam  in  unseren 
Freuden  verschlingen,  als  daü  die  Zeit  uns  mit  ihren  lang- 
sam kauenden  Backen  verschlingt." 

Dieses  Gedicht  aus  paarweise  reimenden  viertaktigen 
Jamben  ist  eiu  wahres  Schmuckkästchen  voll  schöner,  an- 
ziehender Bilder,  eines  der  besten  Gedichte  Andrew 
Marvells.  Die  räumliche  Ausdehnung  ist  durch  die  Ent- 
fernung von  Ganges  und  Humber  charakterisiert ;  das  Bild 
der  Geliebten  am  Ganges  erinnert  an  Heines  ^Fluren  des 
Ganges^,  der  also  schon  Marvell  als  ein  Ort  erschien,  würdig 


4 


4 


—    41     — 

der  Gegenwart  der  Geliebten.  Anziehend  und  treffend  sind 
Bilder  wie  'Hime's  unnged  charioV\  "deserts  of  vast  etemity", 
'*the  yoiUhful  hue  sits  on  thy  skin  like  mamingdew",  'Hhe  iron 
gates  of  life"  etc.  Das  Ganze  ist  die  Ausführung  des  "Carpe 
diemr  —  ''let  us  sport  us,  white  we  may!"  —  „Pflücket  die 
Böse,  eh'  sie  verblüht/'';  ein  Gedanke,  der  freilich  nicht  neu 
ist,  der  aber  nie  veraltet  und  bei  dem  es  eben  auf  die  in- 
dividuelle Ausfiihrung  ankommt.  Der  Ton  des  Marvellschen 
Gedichtes  ist  ein  schalkhaft  humoristischer,  wie  wir  ihn 
selten  bei  dem  ernsten  Dichter  finden;  wir  sehen  also, 
daß  er  aller  Töne  fähig  war.  Es  ist,  wie  Grosart 
bemerkt,  ein  Ausfluß  jener  echten  genußfreudigen  £e- 
naissancestimmung,  die  selbst  das  Grab  noch  als  einen 
'^fine  and  private  place'*  betrachtet.  Wie  aus  dem  Gedichte 
femer  hervorgeht,  muß  Marvell  auf  die  Juden  nicht  gut 
zu  sprechen  gewesen  sein,  denn  hier  sieht  er  in  ihnen  die 
verstocktesten  NichtChristen:  "tili  the  conversion  of  the  Jews" 
hat  wohl  den  Sinn  von  "ad  calendas  graecas". 

Drayton  und  Donne  haben  gleichfalls  Gedichte 
*'To  his  coy  love"  geschrieben,  die  Marvell  aber  nichts  ge- 
boten haben.  Draytons')  Gedicht  ist  viel  sinnlicher  gehalten, 
reicht  aber  nicht  entfernt  an  das  Marvells  heran.  Auch 
ein  Vergleich  mit  Milton  drängt  sich  auf:  Das  Bild  von 
der  alles  verschlingenden  Zeit  kann  durch  Miltons  Gedicht 
"On  Time"  ("to  be  written  on  a  clock-case")  nahegelegt  sein, 
aber  Marvell  gibt  uns  mit  wenigen  Worten  eine  weitaus 
sinnlichere,  lebendigere  Vorstellung  als  Milton  mit  vielen 
Strophen. 

Interessant  in  der  Form  und  auch  geistreich  im  In- 
halt ist  "The  Match",  die  Durchführung  einer  Parallele  und 
einer  Antithese,  die  bis  ins  19.  Jahrhundert  beliebte  (im 
Deutschen  meines  Erinnems  zuletzt  bei  Körner  wieder- 
holt vorkommende)  Gegenüberstellung  „Das  bin  ich"  — 
„Das  bist  du".  Dabei  gibt  es  eine  zweifache  Methode:  es 
korrespondieren  entweder  zwei  aufeinanderfolgende  Strophen 
miteinander,  also  abwechselnd  eine  masculine  und  eine  femi- 
nine —  wenn  man  so  sagen  darf  — ;  oder  es  wird  zuerst 
die  eine  Person  in  einer  Reihe  von  verschiedenen  charakte- 

1)  Poets  of  Great'Bntain,  UI,  585. 


42     — 


risierenden  Strophen  abgetan,  dann  kommt  die  Point©,  die 
erste  Kulmination ;  dann  folgt  die  zweite  Serie  von  Strophen 
auf  die  zweite  Person  und  die  korrespondierende  Pointe, 
Diese  zweite  Art  wendet  Marveü  hier  an,  und  zwar  korre- 
spondieren die  Strophen  1  und  5,  2  und  6,  3  und  7,  4  und 
(8-|-9);  Strophe  10  ist  dann  für  beide  gemeinsam. 

Das  Gedicht  gebort  freilich  nur  dem  Namen  Celia 
und  der  tändelnden  Manier  tiach  zu  den  ^schäferlichen** 
Dichtungen,  unterscheidet  sich  aber  von  den  streng  pasto- 
ral en  so  angenehm,  daß  es  auf  diesen  Namen  leicht  ver- 
zichten kann.  Der  Inhalt  des  in  vierzeiligen  Strophen  aus 
abwechselnd  vier-  und  drei  taktigen,  kreuzweise  gereimten, 
daher  septenarischen  Eindruck  machenden  Versen  abge- 
faßten Gedieh tchens  ist  kurz  der  folgende:  Die  Natnr. 
—  als  Frau  aufgefaJit,  also,  wie  im  17.  Jahrhundert  fast 
selbstverständlich,  personifiziert  —  hatte  längst  einen  Schatz 
von  Kostbarkeiten  angesammelt,  um  einst  gegen  schlechta 
Tage  gesichert  zu  sein:  die  glänzendsten  Farben,  kost** 
barsten  Essenzen  und  feinsten  Wolilgerüche  hatte  sie  auf- 
gestapelt und  sorgsamst  verschlossen ;  aber  die  Gleichheit 
zog  das  zusammen,  was  sie  abgesondert  gelegt  hatte  imd 
aus  dieser  Verbindung  ging  eine  vollkommene  Schönheit 
hervor  —   „und  das  war  Celia**. 

Die  Liebe  —  gleichfalls  als  Personifikation  —  hatte 
seit  langem  Vorräte  an  Feuerungsmaterial  angesammelt,^ 
damit  sie  —  im  Englischen  passender  „er"  ^  Amor  = 
"Love"  —  als  Greis  nicht  frieren  müsse;  hinter  starken 
Riegeln  lagen  Schwefel,  Naphta  etc,  streng  gesondert.  Aber 
durch  die  Nachbarschaft  angezogen,  vereinigten  sich  all 
diese  StoiFe  durch  magnetische  Kraft  und  aus  all  dem 
Feuerzeug  ging  ein  heijies,  loderndes  Feuer  hervor  — 
„und,  Celia,  das  bin  ich!" 

So  sind  sie  beide  allein  die  Glücklichen  und  Beichen, 
während  die  ganze  andere  Welt  natürlich  arm  ist,  indem 
sie  den  ganzen  Vorrat  der  Natur  und  der  Liebe  in  sich 
tragen. 

Es  scheint,  daß  wir  dieses  Gedicht  auf  Mary  Fair* 
fax  beziehen  müssen.  Die  Begründung  meiner  Annahme 
ist  die:  Die  Heldin  dieses  Gedichtes  heißt  Celia,  In  dem 
späteren  Gedicht  „an  seinen  Freund  Dr.  Witty^  stellt 


—    43    — 

Marvell  als  Muster  for  die  Übersetzer  eine  Caelia  hin, 
die  zwar  jetzt  die  Sprachen  Frankreichs  and  Italiens  lerne, 
aber  in  diesen  fremden  Sprachen  doch  nnr  echt  englische 
unverdorbene  Gedanken  ausspreche.  Darüber,  daß  diese 
Caelia  niemand  anderer  ist  sAs  Mary  Fairfax,  die  unser 
Dichter  eben  in  den  "tongues  of  Fratice  and  Italy"  unter- 
richtete, kann  kein  Zweifel  bestehen.  Die  Heldin  von  '*The 
Match"  heißt  auch  C  e  1  i  a.  Da  somit  Namensgleichheit  vor- 
liegt, können  wir  wohl  mit  Sicherheit  schließen,  daß  auch 
^^ The  Match"  sich  auf  Mary  bezieht,  die  Marvell  ja  wieder- 
holt besang  und  möglicherweise  auch  liebte,  wie  Grosart 
bei  ^'Young  Love"  vermutet,  der  aber  nicht  auf  den  eben 
dargelegten  Zusammenhang  gekommen  ist,  der  seine  Ver- 
mutung ja  bekräftigen  würde.  Wenn  Celia  auch  ein  beliebter 
Benaissancename  ist,  der  sich  zum  Beispiel  auch  in  Ben 
Jonsons  Nachahmungen  des  Catull  findet,  so  wird  doch 
Marvell  nicht  zufallig  für  verschiedene  Personen  denselben 
Namen  benutzen,  wenn  diese  nicht  miteinander  identisch 
sind.  Von  einer  Leidenschaft  Marvells  für  Maria  wird  man 
nichtsdestoweniger  doch  nicht  sprechen  dürfen,  weil  man 
auf  diese  poetischen  Freundschaftsäußerungen  im  17.  Jahr- 
hundert sehr  wenig  geben  kann;  echt  ist  nur  der  H8J3. 

Lassen  wir  auf  dieses  glückliche  Paar  zwei  unglücklich 
Liebende  folgen,  einen  Mann  und  eine  Frau. 

"jThe  Unfortunate  Lover"  ist  nicht  nur  weniger  anziehend 
als  das  vorige  Gedicht,  es  ist  direkt  unerquicklich.  Auch 
formell  ist  es  nicht  bedeutend,  es  sind  achtzeilige  Strophen 
von  viertaktig -jambischen  Reimpaaren.  Es  bietet  eine 
Häufung  von  krassen,  gesuchten  Vergleichen  und  Bildern, 
die  alles  in  der  Schäferpoesie  Erlaubte  und  MögUche  über- 
schreiten, eine  versifizierte  Abgeschmacktheit. 

Er  gibt  die  Biographie  dieses  „unglücklichen  Lieb- 
habers*^. Schon  sein  Eintritt  in  die  Welt  ist  sonderbar 
genug.  Bei  einem  Schiffbruch  wurde  seine  Mutter,  als  sie 
ihn  noch  unterm  Herzen  trug,  von  den  Wellen  auf  einen 
Felsen  geworfen,  so  heftig,  daß  ihr  Leib  zersplitterte  und 
er,  the  lover,  dabei  ins  Leben  gesetzt  oder  geworfen  wurde. 
So  führte  die  Natur  zur  Feier  seiner  Geburt  die  „Maske" 
der  kämpfenden  Elemente  auf;  Seeraben  umkrächzten  das 
Wrack  und  nahmen  den  verwaisten  Ausgeworfenen  in  ihre 


—    44    — 


Obhut.  Sie  nährten  ihn  mitHoflFnung  und  Luft;  und  während 
der  eine  Babe  ihn  fütterte^  hackte  ihm  der  andere  am 
Herzen.  So  lebt  er  und  schwindet  zu  gleicher  Zeit  dahin, 
ein  Amphibiura  von  Leben  und  Tod.  Und  wenn  der  Himmel 
ein  blutiges  Schauspiel  sehen  will,  müssen  er  und  das 
Schicksal  auf  scharfe  WaflFen  miteinander  kämpfen.  Er 
kämpft  zwischen  Flammen  und  Wogen,  ein  zweiter  Ajax. 
Mit  der  einen  Hand  kämpft  er  gegen  den  Donner,  mit  der 
andern  sucht  er  den  Felsen  zu  fassen,  von  dem  ihn  die 
Woge  immer  wieder  zurückreiOt. 

Diese  flüchtige  Inhaltsangabe  zeigt  schon,  aber  noch 
nicht    genug,    welch    unertreuliche    Verwirrung    von    Vor* 
Stallungen  uns  zugemutet  wirr].   Der  Held  ist  zugleich  ein  1 
Prometheus  (Z.  35),  ein  Ajax  (Z.  48),    ein  Odysseus  (Z.  53) 
und  noch  verschiedenes  andere.  Örosart  meint ^):  **'17i€  iiw- 
foriunate   hver*  seems  a  versification  of  some  of  the  incidents] 
in  a   tah  of  romance,'*    Das  könnte   nur  solch  ein    Bitter- 
und  Schauerroman  gewesen  sein,  wie  sie  im  '*Z)o»  Quichotte" 
ein    verdientes  Autodafe    erleiden.    Vielleicht    aber   ist  es 
erlaubt   anzunehmen    —  und   man    greift  förmlich  gern  zu 
diesem    Ausweg,     um  Marvell    von    diesem    Gedichte    zu 
„retten",  —  dali  es  nicht  ernst  gemeint  ist,  sondern  satirisch 
oder  parodistisch*  Besonders  die  Strophe  2  ist  es,  die  diesen 
Gedanken  eindringlich  nahelegt;  denn  das  ernst  zu  nehmen, 
ist  zu   viel    verlangt.    Auch  die  fünfte  Strophe  ist  ähnlich 
bänkelsängerisch;    wenn    ein  Dichter  sagt:    *'They  fed  himi 
up   uyith   höpes'\    so   ist   das  poetisch  noch  ernst;    wenn  er - 
aber  sagt:    ''They  fed  him  up  iriih  hrqws  and  air'\   so  will 
er   durch   diese   —   hoffentlich   —  absichtliche  Zusammen- 
stellung offenbar  lächerlich  wirken ;   will  er  es  nicht,  dann 
um   so   schlimmer   für  ihn.    Die   letzte  Strophe,    wo    alles 
heraldisch  ausgelegt  wird,  ist  auch  verwirrend ;  diese  ist  es 
off'enbar,  die  Grosart  zu  seiner  Vermutung  geführt  hat  C*he  \ 
in  s(ortf  onhj  rules  .  .  /'>* 

Nicht  viel  ertreulicher  ist  *''Mounung'\  in  dem  eine 
Liebende  vorgeführt  wird,  der  der  Geliebte  gestorben  ist 
Geistreich  ist  das  Gedicht  nicht  oder  es  ist  es  auf  die  Art  des 
17,  Jahrhunderts,  die  uns  heut©  als  das  Gegenteil  vorkommt. 


»)  Vol  T,  IS5. 


—    46     — 

Es  beginnt  mit  der  überflüssigen  Frage,  was  die  Tränen 
bedeuten,  die  seit  kurzem  aus  Chloras  Augen  fallen;  eine 
Frage,  die  der  Dichter  sogleich  selber  beantwortet:  sie 
befeuchtet  den  Boden,  wo  einst  ihr  toter  Strephon  lag. 
Manche  Leute,  sagt  er,  schließen,  daß  die  Freude  jetzt 
wieder  ihrer  so  Herr  geworden  sei,  indem  sie  alles  Traurige 
in  Form  von  Tränen  aus  den  Augen  entfernt  und  die 
wässerige  Gabe  nicht  dem  Begräbnis  des  alten,  sondern 
der  Einführung  eines  neuen  Geliebten  gelte.  Er  aber,  der 
Dichter,  behalte  sein  Urteil  still  bei  sich,  bestreite  aber 
nicht,  was  die  anderen  glauben;  doch  ist  er  überzeugt,  daß, 
so  oft  Frauen  weinen,  sie  aus  Kummer  weinen. 

Ein  sehr  banaler  Schluß,  wenn  man  nicht  schon  das 
ganze  Gedicht  banal  nennt.  Er  zeigt,  wie  verschieden 
der  Wert  von  Marvells  dichterischen  Erzeugnissen  ist,  daß 
er,  der  sonst  fast  zu  viele  Gedanken  in  wenige  Zeilen 
hineinpreßt,  hier  ganz  gedankenlos  und  platt  ist.  Man  ver- 
zeihe, aber  das  ist  direkter  Unsinn:  Er  sagt: 

1.  er  behalte  sein  Urteil  für  sich, 

2.  er  bestreite  nicht,  was  die  andern  glauben, 

3.  er  sei  sicher,  so  oft  Frauen  weinen,  sind  sie  be- 
kümmert. Eines  widerspricht  doch  dem  anderen;  denn 

1.  er  behält  sein  Urteil  eben  nicht  für  sich, 

2.  er  bestreitet  doch  was  die  Menschen  sagen,  und 

3.  ist  es  ganz  und  gar  nicht  sicher,  daß  die  Frauen 
wirklich  nur  weinen,  wenn  sie  Kummer  haben.  —  Und 
eigentlich  ist  nicht  nur  die  Eingangsfrage,  sondern  das 
ganze  Gedicht  überflüssig,  denn  er  weiß  ja  und  sagt  ja, 
warum  Chlora  weint,  nämlich  um  ihren  Strephon. 

Das  sind  die  zwei  unglücklichsten  Gedichte,  die  Mar- 
vell  geschrieben  hat. 

Schon  diese  Gedichte  enthielten  viel  Reflexion,  hatten 
aber  doch  eine  schwache  Handlung  oder  die  charakteristische 
schäferliche  Einkleidung.  Die  durchaus  reflektierenden 
Gedichte  fassen  wir  in  der  nächsten  Gruppe  zusammen. 

3.  Reflektierende  Gedichte. 

Auch  in  diesen  geht  Marvell  ganz  in  den  Spuren  der 
Zeit,  überall  ein  Nachahmer  und  nur  in  den  Cromwell- 


46     — 


Dichtungen  und  in  den  Satiren  vermöge  ihres  ehrlichem 
Pathos  und  ihrer  Impetuosität  selbständig  und  führend. 
Diese  Reflexionsgedichte  sind  Philosophie  oder  Mystik  in 
Versen,  theoretisch-abstrakt,  dem  Gelehrten  naheliegend, 
nüchtern  und  kiihl.  Den  meisten  ist  überdies  ein  pessi* 
mistischer  Zug  eigen,  so  *^Eyes  and  Ttars"  oder  "Definitwn 

**Deßniiion  of  Love'*  besteht  aus  acht  vierzeiligen 
Strophen  aus  viertaktigen,  kreuzweise  gereimten  jambischen 
Versen.  Schon  der  Titel  ist  bezeichnend:  er  definiert 
die  Liebe  ganz  theoretisch  gelehrt.  Seine  Definition  hat  den 
Fehler,  daß  sie  nur  für  ihn  paÜt  und  nicht  allgemein  genug 
ist,  —  sehr  begreiflich,  denn  bisher  hat  eben  noch  nie- 
mand die  Liebe  richtig  definiert.  Seine»  des  Dichters  oder 
Helden,  Liebe  wurde  von  „Verzweiflung"  aus  der  „Un- 
möglichkeit^ gezeugt  Da  das  Schicksal  stets  mit  neidischem 
Auge  auf  eine  vollkommene  Liebe  herabsieht,  hat  es  diese 
zwei  Liebenden  auf  entgegengesetzte  Pole  gestellt,  so  dafi 
sie  nie  zusammenkommen  können.  Schiefe  Linien  und  schiefe 
Liebe  können  sich  treffen,  aber  ihre  Liebe  ist  so  genau 
parallel,  daß  sie  sich  nie  treffen  können.  Und  so  definiert 
er  seine  Liebe  als  die  Konjunktion(- Verbindung)  der  Geister 
und  Opposition(-6egeüüberstellung)  der  Sterne  —  also  mit 
astronomischen  Ausdrücken.  Eine  viel  einfachere,  bessere 
Definition  der  Liebe  hat  Drayton  gegeben:*) 
"What  U  hve,  but  the  desirt 
Of  that  thiriff  Üiat  ftinry  wisheUi^'* 

Marvells  Pessimismus  in  der  Liebe  ist  wie  eine  Vor- 
ahnung  Heines,  Freilich,  welch  ein  Unterschied  zwischea 
den  beiden!  Die  Gegenüberstellimg  der  Liebenden  auf  den 
zwei  Polen  ist  nichts  anderes  als  der  Heineache  stereotype 
Gegensatz  in  Form  und  Sprache  des  17.  Jahrhunderts,  das 
gleich  die  Pole  in  Bewegung  setzt: 

,^EiD  Fichtenbaum  steht  ains&m        Er  träumt  von  einer  Palme, 
Im  Norden  auf  kahler  Höh\  Die  fem  im  Morgenl&nd 

Ihn  schläfert;  mit  weiüer  Decke      Einsam  und  «schweigend  trauert 
Umhüllen  ihn  Eis  und  Schnee,  Auf  brennender  Felseawand," 

Ist  das  nicht  derselbe  Gegensatz  ?  Aber  wie  viel  mehr 
liegt   in   den  wenig  Worten  !•  Wenn  vielleicht  Heine  hier 

1)  Poetö  0/  Great-Britain,  lU,  600. 


—    47    — 

ebensowenig  ernst  empfunden  hat,  so  hat  er  es  doch  ver- 
standen, Empfindung  in  die  Verse  zu  legen.  Das  versteht 
Marvell  nur  in  den  seltensten  Fällen,  die  auch  gebührend 
betont  werden.  Heine  war  eben  —  vom  Menschen  Heine 
reden  wir  nicht  —  ein  bedeutender  Dichter;  Marvell  war 
ein  viel  edlerer  Mensch,  aber  ein  geringerer  Dichter.  Daß 
er  der  Empfindung  unfähig  war,  soll  nicht  behauptet  werden; 
sie  kommt  aber  nur  an  wenigen  Stellen  zum  Ausdruck,  wo 
er,  den  Zwang  der  Mode  abstreifend,  natürlich  ist.  Es  ist 
dem  verfehlten  Geschmack  der  Zeit  ins  Schuldbuch  zu 
schreiben,  daß  hier  von  Natur  nichts  zu  finden  ist. 

Den  pessimistischen  Zug  finden  wir  auch  in  "Eyes 
and  Tears*'.  Dieses  Gedicht  läßt  sich  in  vierzehn  vierzeilige 
oder  sieben  achtzollige  Strophen  zerlegen,  die  aus  viertaktig- 
jambischen  Reimpaaren  bestehen.  Den  Inhalt  bildet  ein 
überschwengliches  Lob  der  Tränen.  Die  Natur  habe  es  weise 
eingerichtet,  daß  wir  mit  denselben  Augen  sehen  und  weinen, 
so  daß  die  Augen,  wenn  sie  ein  Ding  als  nichtig  erkannt 
haben,  gleich  bereit  sind,  es  zu  b,eweinen.  Alles  auf  der 
Welt,  selbst  das  Lachen,  werde  zu  Tränen;  die  Tautropfen 
sind  die  Tränen  der  Blumen.  Glücklich  diejenigen,  die 
weinen  können  und  ihre  Augen  im  eigenen  Wasser  baden, 
um  sie  rein  zu  halten.  Nicht  geschwellte  Segel,  nicht  der 
keuschen  Frau  schwangerer  Schoß,  noch  die  finchtbare 
Cynthia  selbst  ist  so  schön,  wie  zwei  vom  Weinen  ge- 
schwollene Augen,  behauptet  er  im  übertriebenen  Stil  des 
17.  Jahrhunderts. 

Die  Vorliebe  für  Tränen  ebenso  wie  für  Blumen  ist 
ein  Charakteristikum  für  Marvell;  zwar  hat  auch  Carew 
ein  Lob  der  Tränen,^)  aber  diese  werden  dort  dem  Lachen 
gegenübergestellt,  ohne  daß  entschieden  wird,  was  von 
beiden  das  Gesicht  der  Geliebten  mehr  verschönt.  Das 
meistgebrauchte  Substantiv  bei  Marvell  ist  wohl  "flo  wer", 
dann  dürfte  "tear"  kommen.  Einige  Stellen  in  diesem  Ge- 
dichte erinnern  an  den  ''Drop  of  Dew"  und  an  die  *'Nymph'\ 
wo  auch  selir  viel  von  Tränen  die  Rede  ist;  die  Nymphe 
weint,  das  Rehkalb  weint,  die  Bäume  weinen,  der  Himmel 
weint,  sogar  der  Stein  weint.  Wenn  er  also  in  "Eyes  and 
tears"  behauptet,  daß  die  menschlichen  Augen  den  Vorzug 

1)  Foets  of  Great'BHtain,  III,  676. 


—     48     — 


y   WO   ebenfalls   nichtmenschliche   Geschöpfe 

einen    Beweis    ans    seiner 

zu  müssen,  indem  er  erzählt^ 


haben,    allein    weinen  zn   können,   so  widerspricht  er  sich 

selbst.  Groaart^j  fuhrt  eine  Stelle  aus  Shaksperes  **As 

you  like.  iC   an 

weinen,   und    glaubt    aui^erdem 

eigenen  Erfahrung   anführen 

er  habe  einst  einen  kleinen  Terrier  beim  Tode  seines  Herrn 

bitterhch  weinen  und  gleich  darauf  sterben  gesehen.  Viel* 

leicht   könnte   gar   auch    der  Hund    der  ''Dame  Siris"  hier 

erwähnt  werden-  Daß  Mai-vell  au  mehreren  Stellen  in  vollem 

Ernste    den  Tieren   menschliche  Empfindungen   zuschreibt, 

wurde  schon  früher  erwähnt 

Daß  Marvells  lateinische  Dichtung  auch  um  diese 
Zeit  nicht  ganz  aufhörte,  beweist  der  Umstand^  daß  er 
einige  Zeilen  dieses  Gedichtes  auch  lateinisch  ausgeföhrt' 
hat»^  Grosart  druckt  auch^)  einige  Stellen  aus  kritischen 
Urteilen  ab,  welche  zeigen,  daJ  diesem  Gedichte  von 
mehreren  Seiten  hohes  Lob  zu  teil  wurde,  das  dasselbe 
unserer  Ansicht  nach  kaum  verdient. 

Von  den  noch  übrigen  Gedichten  dieser  Periode  und 
dieser  Gruppe  sind  die  drei  folgenden 

geistliche  Dichtungen. 

Sie  zeigen  mystische  Einflüsse,  wie  das  verwandte  Ge- 
dicht ''.4  Dr(^  of  Detc*\ 

*'Th€  CormieV  zeigt  zugleich  Anklänge  an  die  Schäfer- 
dichtung, die  ja  im  17.  Jahrhundert  sogar  in  die  geistlich- 
religiöse Dichtung  eindrang,  wo  ihr  durch  die  Vorstellung 
vom  guten  Hirten  schon  vorgearbeitet  war;  auch  das 
'*Paradise  Lost*'  enthält  ja  pastorale  Elemente.  Alles  ist  in 
diesem  Gedichte  Marvells  in  mystisch- allegorischer  Be- 
deutung: Die  Domen,  mit  denen  der  Mensch  Christus 
immer  von  neuem  krönt,  sind  die  Sünden ;  die  Kosen,  aus 
denen  der  Mensch  Kränze  flicht,  sind  die  vergängliche 
irdische  Lust,  die  Schlange,  die  nur  Christus  überwinden 
kann,  ist  wohl  das  Böse  im  allgemeinen.  Eigenartig  ist  die 
metrische  Komposition  des  Gedichtes.  Es  hat  jambisch- 
ungleichmetrischen    Rhythmus    und    ist    unstrophisch    ge- 

1)  Vol.  l  p.  9t 

ä)  Abgedruckt  bei  Grosart,  Ij  91. 

«)  Grosart,  I,  p,  LXVl 


—    49    — 


schrieben;    doch   kann   man    folgende  BesUrndtdile  unter- 
scheiden:   drei  Quartette,   die   nur  durch  die  Reimstellung 
(umschließend),  nicht  auch  durch  die  Taktzahl  aymmetrisch 
sind;    dann   vier  Zeilen   in  gekreuzter  Stellung   und    dann 
lein  ftir  sich  getrennt  regelmaÜiger  Schluß,  nämlich  zwei  zu 
'Anfang   und  zu  Ende  von  einem  Reimpaare  umschlossene 
Terzette.    Wir   sehen  hier  also  eine  komplizierte  metrische 
l Struktur  wie  im  '*l}r&p  of  Dew*\  welche  zwei  Oedichte  die 
rkünstlichsten    Marvells    überhaupt    sind,     wohl    unter 
italienischem  EinÜuB,  der  sich   ansonsten  weniger  in  den 
Formen  als  in  dem  marinesken  Stile  bemerkbar  macht. 

Der  Titel  und  der  Hauptgedanke  dieses  Gedichtes 
gehen  wahrscheinlich  auf  eines  von  Donne  zurück,  das 
schon  durch  die  italienische  Überschrift  seinerseits  wieder 
auf  irgend  eine  italienische  Vorlage  hinweist,  nämlich  „La 
Corona^.  Nur  in  zwei  Fällen,  hier  und  bei  der  Be- 
schreibung von  „Holland^,  kann  man  Marvell  ein  bestimmtes 
Gedicht  eines  andern  Dichters  direkt  an  die  Seite  stellen. 
Man  kann  daher  Marvell  nicht  den  Schüler  eines  be- 
stimmten Dichters  nennen,  er  hat  nur  die  allgemeinen  Züge 
der  Zeit.  Da  Grosart  in  seinen  Anmerkungen  öfters  so 
nebenbei  von  einer  „Reminiszenz^  an  Donne  spricht  —  ge- 
rade bei  diesem  Gedichte  aber  nicht  — ,  so  könnte  man 
leicht  diesen  für  Marvells  Lehrmeister  halten.  Um  diese 
irrige  Ansicht  nicht  aufkommen  zu  lassen  und  zugleich  ad 
,  oculos  zu  demonstrieren,  daß  Marvells  Metrik,  wenn  auch 
Illicht  immer  glänzend,  doch  die  Donnes  noch  oft  übertriflft, 
so  sei  dessen  Gedicht  als  dasjenige,  das  noch  den  gröliten 
Einfluß  auf  Marvell  hatte,  —  absolut  ist  auch  dieser  nicht 
groÜ,  —  in  seiner  Gänze  hiehergesetzt: 

Zi9  Corona* 

Dngn  at  my  hands  this  crown  of  prayer  and  ptaUe, 
Weao'd  in  mij  lone  dtVQut  melandioly, 
Thou  ichich  of  good  liaste,  yea,  art  tre<imtriff 
All  dmtigtng  unchang*dj  Ancient  of  days; 
But  do  notf  with  a  vile  crown  of  fraü  hojf», 
JUward  mg  Muse's  white  sinceritg, 
Hut  what  thg  thomg  vrown  gain^d  that  givc  me, 
A  crown  of  ghrg,  which  does  flower  always : 
77ie  ends  crown  our  worh*,  hut  ikou  crow*nst  aur  ends, 
For  at  our  ends  bet/ttt»  onr  etidlcsn  rest; 
Foicbor,  Marvollfi  {loet.  Werke.  4 


■^-    BO    -^ 


Tlie  fini  hmt  miä  now  tealously  passest, 
With  a  sWtm§  mjher  thirst  mit  »oul  attends, 
'Tis  time  Üuit  heart  and  voke  be  Ufted  high, 
Sakdliön  io  aii  that  wtU  i»  nigh. 

Jedermann  wird  zngeben  müssen:  viel  verdankt  ihm 
MarveJl  nicht. 

Die  folgenden  zwei  religiösen  Gedichte  sind  in  Dialog- 
form abgefaßt: 

".4  Diahgm  between  the  Sotd  and  Body"  ist  ein  Wechsel- 
gespräch zwiBchen  Seele  tmd  Leib,  wie  es  schon  im  Alt- 
englischen  vorkommt,  aus  vier  Strophen,  von  denen  die 
drei  ersten  je  zehnzeilig  sind  und  die  letzte  vierzehnzetlig 
ist,  alle  aber  aus  viertaktig-j ambischen  Reimpaaren  be- 
stehend. —  Die  Seele  beklagt  ihre  Gefangenschaft  im 
mensohlichen  Körper,  der  so  vielen  Krankheiten  und 
Schwächen  unter worlen  ist.  Der  Leib  antwortet  mit  einer 
Gegenklage  über  die  Tyrannei  der  Seele,  die  ihn  nur  leben 
laut,  um  ihn  bald  sterben  zu  lassen.  Nach  längerem  Streit 
hat  der  Körper  das  Schlußwort  mit  dem  Vorwurfe  der 
Obermacht  der  Seele,  die  ihm  mehr  Leiden  aufdränge  als 
er  ihr:  falsche  Hofinungen,  Furcht,  imglückliche  Liebe,  Haß, 
alle  Leidenschaften  gehen  ja  von  ihr  aus.  Am  Schlüsse 
der  unvermeidliche  Vergleich,  und  zwar  hier  von  einer  bei 
Marvell  öfters  herangezogenen  Kunst,  der  Architektur,  ge- 
nommen; auch  am  Beginn  von  ^^Appleton-Honse"  und  an 
mehreren  Orten  spricht  er  von  den  Architekten ;  an  dieser 
Stelle   ist  sogar  das  Reimwort  dasselbe  wie  dort,   nämlich 

Der  '^Diahgue  hetween  the  Besolved  Soul  and  Created 
Pleasure'  ist  ein  Wortgefecht,  in  dem  die  Seele  den  Sieg 
davonträgt.  Die  Struktur  des  Gedichtes  ist  die  folgende: 
Den  Beginn  bildet  ein  Aufgesang  von  zehn  paarweise 
reimenden,  viertaktigen  jambischen  Verszeüen,  Dann  setzt 
der  eigentüche  Dialog  ein.  ^'Pleasure"  beginnt  mit  sechs 
Zeilen  in  vier  taktigem  trochäischen  Rhythmus  in  der 
Stellung  a  h  a  b  €  c,  die  auch  zeigen,  wie  der  trochäische 
Rhythmus  aus  dem  jambischen  durch  konsequente  Fort- 
lassung des  Auftaktes  entstanden  ist,  zumal  nicht  nur  die 
Zeilen  der  Seele  jambisch  gehalten  sind,  sondern  in  der 
zweiten  Hälfte    des  Gedichtes  auch  Verse  vorkommen, 


4 


^ 


jambischer  und  trocliäischer  Rhythmus  wechseln.  All  das 
ist  kein  Zufall,  sondern  man  erkennt  darin  die  bewiiJJte 
künstlerische  Absicht,  durch  das  verschiedene  VersmaÜ  die 
verschiedenen  Personen  oder  Personifikationen  voneinander 
zu  unterscheiden,  zu  charakterisieren,  dasselbe  Bestreben, 
das  sich  im  Drama  oft  durch  Anwendung  des  Dialektes 
geltend  macht.  Hier  spricht  die  weichere  Seele  in  Jamben, 
einem  Versmaß,  das  mit  Auftakt  beginnt,  während  das 
lebhaftere,  energischere  ''Fleasure*  in  einem  abrupteren  Vers* 
maß  ohne  Auftakt  spricht  Wir  können  in  dem  Gedichte 
deutlich  einen  Abschnitt  oder  Einschnitt  bemerken,  gekenn- 
zeichnet durch  den  eingeschalteten  Chorus  (V.  46 — 50), 
*'Pkasur€*  sind  immer  vier  Zeilen  in  den  Mund  gelegt,  der 
**Sour'  nur  zwei  Zeilen,  was  auch  in  berechneter  Weise 
der  Natur  der  Sache  entspricht,  denn  die  Verführung  braucht 
mehr  Worte  als  die  Zurück weisimg;  nur  die  erste,  einleitende 
Strophe  des  Dialogs  ist,  wie  erwähnt,  sechszeilig.  Anderer- 
seits ist  die  letzte  Strophe  des  ersten  Teiles  —  ''Soul'  — 
ausnahmsweise  vierzeilig;  innerhalb  dieser  zwei  von  der 
Begel  abweichenden  Strophen  herrscht  Symmetrie :  "Pleasure'' 
hat  stets  vier  Zeilen,  paarweise  gereimt,  aus  viertaktigen 
Trochäen,  *'iSa?*Z"  zwei  Zeilen,  paarweise  gereimt,  aus  vier- 
taktigen Jamben.  Dann  kommt  der  Chorus,  sechs  jambische 
Zeilen  ^^^  ^^  ^,  Nach  diesem  Wendepunkt  herrscht  wieder 
volle  S^Tnmetrie,  nicht  mit  dem  ersten  Teile,  sondern 
innerhalb  des  zweiten:  "P/<fa.*fMre"  hat  immer  wieder  vier 
Zeilen,  aber  in  zweifacher  Weise  verändert  gegenüber 
denen  des  ersten  Teiles,  nämlich  abwechselnd  eine  viertaktig- 
trochäische  und  eine  drei  taktig-jambische  Zeile  J  ^^  "  ^,  so 
daß  also  eigentlich  zwei  durch  Reim  aufgelöste  siebentaktige 
Langzeilen  dahinter  stecken.  Den  Schluß  bildet  ein  Chorus 
von  vier  gekreuzt  reimenden,  viertaktigen  jambischen  Zeilen. 
Der  Inhalt  ist  ein  schon  im  Altenglischen  und  bis 
auf  die  Neuzeit  behandelter  Stoff,  der  Widerstreit  zwischen 
der  entschlossenen  Seele  und  dem  irdischen  Vergnügen, 
daa  versuchend  an  jene  herantritt.  '* Pleasttre*'  sucht  ''SouV 
durch  Schmeicheleien  und  Versprechungen  liir  seine  Freuden 
zu  gewinnen,  **S(mr  aber  schlagt  dieselben  aus,  worauf  der 
Chor  seinen  Beifall  ausspricht.  Auch  gegen  erneute  Ver- 
lockungen   bleibt  **Söur'   standhaft    und  der  Chorus  ver- 

4» 


spricht  ihr  dafor^  für  den  Yerzioht  auf  irdiBche  Eitelkeit, 
die  ewige  himmlische  Seligkeit 

Wir  fiuden  hier  unter  anderem  wieder  den  meta- 
physischen Glauben  an  eine  Seele  der  Blumen;  femer  ist 
das  hohe  Lob  der  Musik  bemerkenswert  in  der  Antwort 
der  Seele,  —  natürlich  als  Meinung  des  Dichters  ausga» 
sprechen  — ,  daß,  wenn  irgend  etwas  sie  zurückhalten  könnte, 
es  nur  die  Musik  sei. 

Dieses  Lob  der  Musik  bietet  einen  passenden  Über- 
gang zu  „Mtmc's  Empire'%  einem  Gedicht  in  l^eraic  Couplets. 
Wenn  Mar \  eil  hier  die  Orgel  als  eine  Stadt  darstellt^  in 
der  die  Familien  der  Töne  wohnen,  wenn  Jung&au  Diskant 
den  Manu  BaB  heiratet,  so  entspricht  das  ganz  der  ver- 
bildlichenden, versinnlichenden  Ausdrucksweise,  die  wir 
auch  sonst  bei  Marveü  finden.  Deren  Nachkommenschaft., 
die  Laute,  die  Viole,  das  Kornett,  büdete  wieder  Kolonien ; 
die  einen  benutzten  den  Wind,  die  anderen  Saiten,  um  den 
Triumph  des  Menschen  zu  singen.  Die  Vereinigung  aller, 
die  Musik,  ist  das  Mosaik  der  Lüfte.  Der  Schluß  ist  eine 
persönliche  Anspielung,  die  nicht  ganz  sichergestellt  ist: 
Die  Musik  selbst  aber,  heißt  es,  buidigt  wieder  einem 
gütigeren  Herrscher,  der,  wenn  er  auch  die  Musik  seines 
eigenen  Ruhmes  flieht,  doch  mit  der  Musik  die  Hallelujahs 
der  Himmel  verstärkt*  Zuerst  vermutete  ich,  daß  MarveU 
hier  auf  einen  Komponisten  geistlicher  Richtung  anspiele, 
der  die  Musik  zu  Ehren  des  Himmels  wie  ein  gütiger 
Eroberer  leitet  und  beherrscht;  das  **gentler''  könnte  auch 
den  Gedanken  nahelegen,  daß  eine  Dame  gemeint  sei,  eine 
Musikerin.  Gegenwärtig  aber  scheint  es  mir  am  wahrschein- 
lichsten, daß  sich  diese  Stelle  auf  Lord  Fair  fax  bezieht, 
der  ja  während  seiner  Zurückgezogenheit  Kunst,  Literatur, 
Poesie  und  Musik  pflegte,  Ausschlaggebend  erscheint  die 
vorletzte  Zeile: 

"  Wha,  thouffh  he  ßies  the  mimc  of  hu  praiM", 

welche  ganz  mit  der  Charakteristik  Fairfaxs  in  dem  früheren 
Gedichte  *'üpon  Ihe  HiU  and  Grove  at  Billhorow"  über- 
einstimmt : 

**That  courage  its  own  ptams  flies", 

also  ein  auffälliger  Umstand,  der  Beachtung  verdient. 


—     63     — 


» 


» 


M  i  1 1 0  n  3  Gedicht  '*At  a  solmun  Music**  hat  auf  Mar- 
vell  keinen  Einfluß  geübt» 

Indirekt  wird  die  Macht  der  Musik  oder  eigentlich  des 
Qesanges  auch  in  einem  Liebesgedicht  gepriesen,    betitelt: 

''Tlie  Fair  Singer'\  einem  Gedicht  aus  drei  Strophen 
zu  je  sechs  tiinflaktig-j ambischen  Versen  in  der  Stellung 
ah  ah  €  e.  Es  tuhrt  den  Gedanken  aus,  daß  die  schone 
Sängerin  über  doppelte  "Waffen  verfüge,  das  heißt  durch 
ihre  Schönheit  das  Auge  und  durch  ihren  Gesang  das  Ohr 
des  Bewunderers  fesselt.  Natürlich  geht  dieses  Gelegenheits- 
gedicht auf  eine  Dame  von  Marvells  Bekanntschaft,  mög- 
licherweise auf  Mary  Fairfax,  die  er  ja  wiederholt  besang; 
wahrsoheinlich  aber  geht  es  auf  Franziska,  eine  Tochter 
Cromwells;  das  kann  man  vielleicht  daraus  schließen, 
daß  er  im  Gedicht  ^auf  den  Tod  des  Lord-Protektors" 
von  Franziska  spricht,  die  ihren  Vater  durch  ihren 
Gesang  stets  erheitert  habe ;  in  diesem  Falle  wäre  das  Ge- 
dicht wohl  etwas  später  entstanden. 

Das  waren  die  Gedichte,  welche  dieser  Periode  den 
Hauptcharakter  verleihen. 

Zum  Schlüsse  müssen  aber  noch  zwei  Gedichte  Er- 
wähnung finden,  die  chronologisch  schon  in  die  Nähe  von 
''HortHs*\  ''The  Garden''  etc*  gehört  hätten,  indem  sie  bis 
längstens  1661  geschrieben  sind,  während  die  besprochenen 
Mäher-  und  Schätergedichte  bis  1653  reichen ;  doch  sollte 
deren  Zusammenhang  nicht  unterbrochen  werden.  Es  sind 
Empfehlungsgedichte  für  die  Übersetzung  von  Primroses*) 
^Errores  Vulgv'  durch  seinen  Bekannten  Dr.  Robert  Witty, 
die  im  Jahre  1651  erschien;  das  eine  Gedicht»  in  lateinischen 
Distichen  abgefaßt,  bUeb  ungedruckt,  während  das  enghsche 
in  der  Ausgabe  der  ''Populär  Errors"  1651  erschien.  Das 
lateinische  Gedicht  „Dignissimo  siw  amico  Doctori  Wiitie,  de 
iranskUione  vulgi  errorum  D.  Primrofni*\  in  dem  er  eingangs 
die  Federpest,  die  Schreibwnt  der  Zeit  bespricht,  ist  durch 
nichts  weiter  bemerkenswert  als  durch  eine  interessante 
Äußerung  über  den  Tabak,  der  gegen  Ende  des  16.  Jahr- 
hunderts durch  englische  Kolonisten  aus  Virginia  nach 
England  eingeführt  worden  war*  Dr,  Wittys  Buch  erhält 
ein  dick  aufgetragenes  Lob. 


)  Vgl  Bktionmy  of  NaUtmal  Biagraphy,  voL  XLVI^  p.  38^, 


64    — 


Das  englische  Gredicht  za  demselben  Anlasse  **Ib 
his  Worthif  Friend  Dr.  Witty,  tqmi  hts  Translation  of  tke 
'Populär  Errors'"  1651,  ist  in  paarweise  gereimten  fünf- 
taktigen  Jamben  geschrieben.  Hier  gibt  Marvell  eine  voU- 
ständige  und  richtige  Theorie  der  Übersetzungs- 
kunst, Ein  Übersetzer,  der  zu  frei  übersetzt,  macht  sich 
zum  Autor  eines  Buches,  aber  er  ist  ein  schlechter  Über- 
setzer* Wer  bei  einer  Übersetzung  verschönem  zu  sollen 
glaubt,  wird  ein  Fälscher.  Und  nun  stellt  er  den  Über- 
setzern ein  Muster  vor:  Caelia,  deren  Englisch  reicher 
flielit  als  der  Tagus  —  eine  Reminiszenz  an  die  Jugend- 
reise — j  lernt  jetzt  die  Sprachen  Frankreichs  und  Italiens; 
doch  sie  ist  noch  immer  Caelia;  ihre  eingeborene  Schön- 
heit ist  nicht  italienisiert,  ihr  keuscher  Sinn  nicht  fran- 
zösisiert  worden;  wenn  sie  auch  andere  Sprachen  spricht, 
ihre  Gedanken  sind  doch  echt  englisch.  Von  ihr  sollten  die 
Übersetzer  lernen.  Dr.  Witty  aber  habe  die  Bedingungen 
der  Übersetznngskunst  eo  genau  erfüllt,  daß  man  weder 
etwas  wegnehmen  noch  etwas  hinzufügen  könne. 

Das  Mädchen  Caeliaj  das  er  einführt,  ist  niemand 
anderer  als  seine  Schülerin  Mary  Fair  fax,  die  er  ja  in 
den  **tongu€s  of  France  and  Italy"  unterrichtete;  —  ein 
Bezug,  der  sich  bei  Grosart  niclit  angedeutet  findet,  den 
wir  aber  bereits  einmal  zu  einer  Identifizierung  heran- 
gezogen haben.*) 

Damit  sind  wir  beim  Jahre  1652  angelangt,  zu  dessen 
Beginn  Marvell  das  freundliche  Haus  zu  Appleton,  seine 
geistvolle,  schöne  Schülerin  und  die  reizende  Umgebung 
veriieü.  Durch  Fairfax  war  Marvell  mit  dem  Latin  Secretary 
of  the  State,  John  Milton,  bekannt  geworden.  Dieser 
empfahl  nun  Marvell  in  einem  Briefe  vom  21.  Februar 
1652*)  an  den  Präsidenten  des  Staatsrates  Bradshaw,  dies- 
mal ohne  Erfolg,  Vielleicht  geschah  es  auch  auf  Miltons 
Empfehlung,  daÜ  Marvell  nun  der  Erzieher  von  William 
Dutton,  Cromwells  Neffen,  wurde,  mit  dem  er  zu  Eton 
im  Hause  eines  John  Oxenbridge^)  wohnte,  eines  re- 
publikanisch gesinnten  Geistlichen,  der  der  politischen  Ver- 

1)  "The  Matc7i'\   sieh  S.  43  dieser  Arbeit 

^  Abgedruckt  bei  Grosart,  vol^I,  p,  XXXVlI. 

«)  Über  ilin  vgl.  Grosart,  vol.II,  p,3,  5. 


» 


^ 


k 


hältnisse  halber  eine  Zeit  seinea  Lebens  auf  den  Bermudas- 
inseln  zugebracbt  hatte.  Auf  seine  Schilderungen  und  Schick- 
sale geht  Marvells  sehönes  Gedit^ht  „Bermudas"  zurück. 
Da  eine  genaue  Biographie  zu  geben  nicht  unsere  Aufgabe 
ist,  genügt  es,  bezüglich  des  brieflichen  Verkehrs  Marvella 
mit  Milton  und  Crom%v©ll  auf  Grosart  (Band  I,  S.  XXXIX, 
XL)  zu  verweisen. 

In  einem  Briefe  an  Milton  vergleicht  er  dessen 
^Defensio  secunda"  als  ein  Monument  von  Miltons  gelehrten 
Siegen  mit  der  Trajanssaule  ;  ein  Vergleich,  der  offenbar 
durch  Erinnerung  an  seinen  Aufenthalt  in  Rom  veranlaßt 
wurde  und  der  uns  zugleich  zeigt,  wie  Marvell  mit  seiner 
Dichtung  doch  auch  in  der  Wirklichkeit  steht,  das 
heiüt,  seine  poetischen  Vergleiche  auch  ans  der  Anschauung, 
aus  dem  Leben  holt,  was  ihn  später  besonders  zum  politisch- 
satirischen  Dichter  befähigt.  1657  wurde  Marvell  endlich 
Miltons  Stütze  als  Assistant  Laiin  Secretary,  Im  nächsten 
Jahre  starb  Cromwell  und  Marvell  widmete  ihm  die  würdige 
^Horazische  Ode**,  das  einzige  aus  diesem  Anlasse  ent- 
standene Gedicht,  das  Aulrichtigkeit  und  persönhehe  Zu- 
neigung atmete 

Überhaupt  ist  Marvell  recht  eigentlich  der  Dichter 
Cromwells  und  des  Protektorats;  dabei  ist  von  Bedeutung, 
daii  er  Cromwell  persönlich  nahestand,  schon  vermöge 
seiner  amtlichen  Stellung  ;  er  würdigt  vollauf  seine  Ver- 
dienste,  ist  aber  andererseits  der  einzige  Panegyriker,  der 
such  seine  Schwächen  nicht  übersieht  Im  selben  Jahre 
wurde  Marvell  noch  infolge  seiner  Verbindungen  von  der 
Stadt  Hüll  zu  ihrem  Vertreter  im  Parlament  gewählt;  er 
saß  also  noch  im  Parlament  Richard  Cromwells* 

Und  dann,  bald^  kam  der  Zusammenbruch  der  Republik 
und  die  Re  staurat i  on  des  Königtums,  die  bei  so  vielen 
einen  Umschwung  herbeiführte  und  auch  bei  Marvell,  aber 
nicht  als  Mensch,  sondern  nur  als  Dichter:  er  wird  Satiriker, 
wie  wir  sehen  werden.  Vorläufig  sind  wir  wieder  mit  der  Restau- 
ration bei  einem  großen,  natürlichen  Einschnitt  angelangt. 

Vielleicht  ist  es  gut,  da  die  Gedichte  dieser  zweiten 
Periode  Marvells,  wie  wir  sehen  werden,  politische  sind, 
schlagwortartig  die  politischen  Ereignisse  jener  Zeit  zu 
skizzieren : 


':^  66    — 

Kach  der  Hinrichtung  des  Königs  und  der  Einrichtung 
Commonwealth  begab  sich  Cromwell  nach  Irland 
imd  warf  mit  größter  Raschheit  und  Härte  den  Aufstand 
der  Royalisten  zu  Gunsten  des  Prinzen  von  Wales  nieder, 
eilte  dann  nach  Schottland,  wo  Karl  11.  als  König  anerkannt 
worden  war  und  schlug  die  Schotten  bei  Dunbar  (1651). 
Durch  die  Navigationsakte  (Oktober  1661)  war  die  junge 
Republik  in  Krieg  mit  den  dadurch  geschädigten  Nieder- 
landen verwickelt  worden,  in  dem  der  englische  Admiral 
Blake  über  van  Tromp  und  de  Ruyter  1662  und  1663 
glänzende  Siege  erfocht.  Inzwischen  war  Cromwell  nach 
London  zurückgekehrt,  das  widerspenstige  Parlament  wurde 
mit  Gewalt  auseinandergesprengt  (1653)  und  am  16, Dezem- 
ber 1653  übernahm  Cromwell  als  Lord-Protektor  die  oberste. , 
Regierung.  1664  wurde  mit  Holland  ein  günstiger  Friedl 
geschlossen;  im  folgenden  Kriege  mit  Spanien  eroberte' 
Blake  Jamaika  und  eine  Silberflotte  der  Spanier;  und 
Diinkirchen  kam  an  England.  Die  ihm  angebotene  Königs- 
krone lehnte  Cromwell  ab,  erhielt  aber  dag  Recht,  seine 
Nachfolger  zu  bestimmen.  Nach  fortwährenden  Schwierig-« 
keiten  löste  Cromwell  auch  das  neue  Parlament  auf;  am 
3.  September  1658  starb  er;  sein  Sohn  Richard  folgte  ihm* 
Dieser  schien  anfangs  in  seiner  Macht  gefestigt,  war  aber 
zu  schwach,  sie  aufrecht  zu  erhalten ;  so  bereitete  sich  un- 
gehindert die  Auflösung  vor,  von  Royalisten  und  Katholiken 
geschürt,  und  schon  im  Mai  1660  hielt  Karl  II.  seineu 
Einzug  als  König. 

Die  Gedichte  Marvells,  welche  diese  Epoche  ausfüllen, 
stehen  alle  in  Bezug  zu  dem  gröÜten  Manne  derselben, 
Cromwell;  wir  nennen  daher,  diesmal  in  Übereinstimmunj 
mit  Grosart,  diese  Gedichte  der 


Zweiten  Periode 
(1652—166«) 

Cromwellian    Poems, 

Voranzustellen  ist  ein  Gedicht,  das  inhaltlich  unbedingt 
hieher   gehört,    der  Abfassungszeit  nach    aber   bereits   de 
firüheren,     allerdings    kurzen    Periode    hätte    vorangestellt' 
werden  müssen,  da  es  1650  bereits  geschrieben  wurde.  Es 


—     57     — 


I 


steht  ftlao,  obwohl  politischen  Inhaltes,  nicht  in  Wider- 
spruch mit  Marvells  Charakter  und  Neigungen  1650  —  1662, 
die  wir  mit  den  Schlag  werten  *'für  off  ihe  public  stagü*\ 
'*alma  quies'\  ''soUiudv"  bezeichnet  haben.  Denn  es  entstand 
ziemlich  gleichzeitig  mit  Gedichten  wie  das  fiir  ^Lovelace^ 
und  das  aul'  TjTom  May",  wo  er  ja  an  den  Tagesfragen 
noch  lebhaften  Anteil  nahm.  Zugleich  aber  beweist  dieses 
zeitliche  Zusammenfallen  der  genannten  Gedichte  mit  diesem, 
daß  der  dortige  angebliche  Koyalismus  tatsächHch  nicht  vor- 
handen sein  kann,  denn  dieses  bisher  noch  nicht  genannte 
Gedicht,  eines  der  besten  Marvells,  ist  die  erhabene 

*'Horatian  Ode  upon  CromweU's  Return  frmn  Irekwd'\  Ihr 
Inhalt  ist  groß  und  erhaben  wie  der  Ausdruck.  Dieses 
Gedicht^)  hat  in  jeder  Hinsicht  hohe  Bedeutung.  Es  ist 
Marvells  Auseinandersetzung  mit  den  herrschenden  und 
unterlegenen  Gewalten,  eine  klare  Rechnung.  Er  sieht 
Cromwells  Auftreten  als  die  Fügung  des  Schicksals  an, 
er  betont  (und  in  späteren  Gedichten  immer  wieder),  daß 
Cromwell  lu^prünglicb  gar  nicht  für  das  Kriegshandwerk 
bestimmt  und  geschaffen  war,  daß  er  ein  friedlichea  Privat- 
leben führte,  bis  ihn  das  Schicksal  herausriß,  aber  dann  so 
unbeirrt  und  sicher,  wie  mechanisch,  als  Werkzeug  einer 
höheren  Macht  sein  Werk  begann  und  zu  Ende  führte. 
Gleich  einem  reinigenden  Blitze  sei  er  vom  Himmel  gesandt 
worden,  das  Werk  der  Zeit  zu  zerstören,  das  hei Üt,  das  alte 
Königtum  in  neue  Formen  zu  gießen.  Wo  größere  Geister 
kommen,  muß  eben  das  Kleinere  Raum  machen.  Er  rühmt 
Cromwells  persönliche  Tugenden,  seinen  Mut  und  seine 
Klugheit.  Zugleich  aber  findet  er  überraschend  anerkennende 
Worte  für  den  hingerichteten  König  Karl  I.,  der  sich  auf 
dem  Schafott  in  besserem  Lichte  zeigte  als  wähi'end  seiner 
Regierungszeit  und  dessen  gemessene,  chevalereske  Haltung 
er  rühmt;  aber  behaupten  zu  wollen,  daß  eigentlich  Karl  I, 
der  Held  dieser  Ode  an  C r o m w e  1 1  (!)  sei,  wie  Birrell 
(p,  64)  tut,  ist  doch  viel  zu  weit  gegangen.  Der  blutige 
Anfang  sei  aber  kein  schlechtes  Zeichen  für  die  Republik 
gewesen.  Noch  sei  kein  ganzes  Jahr  verflossen  und  schon 
sind  die  Iren  bezwungen.  Wenn  Marvell  aber  die  Hoffnung 

ij  Birrell  {p.64)  gibt  die  Oesohiohte  der  OberUefenmg  diesea 
Geliebtes. 


—    58    — 


ausspricht,  Crom  well  werde  jederzeit  wie  ein  abgerichteter 
Falke,  der  seine  Pflicht  getan,  auf  den  ersten  Ruf'  wieder 
zurückkehren,  so  hat  er  sich  getäuscht  und  eigentlich  seinem 
eigenen  SchlulJappell  widersprochen ;  dieser  wurde  zur  Tat- 
sache: Cromwell  schritt  fort  auf  dem  einmal  betretenen 
Wege,  denn^  wie  Marvell  sagt: 

"The  mme  arU  Uiot  did  f^ain 

A  poiceff  mtist  il  maintain.'^ 

Ein  günstiger  Zufall  iiihrte  mich  darauf,  daß  diese 
Worte  nicht  originell,  sondern  ein  Zitat  aus  Sallust 
„De  coniuratione  CatiUnae"^  2,  4,  sind.^) 

Marvell  nennt  sein  Oedicht  *'A  Horatian  Ode"  und 
bezeichnet  damit  die  hohe  Meinung,  die  er  selbst  davon 
hatte  und  mit  Recht,  denn  "owc  of  the  hast  hwum  bui  atnong 
tiie  gründest  tchich  the  English  language  possesses''  nennt 
Erzbischof  Trench  von  Dublin*)  das  Gedicht  Und  Gold- 
win  Smith^)  sagt  von  dieser  „Ode'^:  ''Better  than  anyihwg 
ehe  in  our  language  this  poem  gives  an  idea  of  a  grand 
Horatian  measure^  as  well  as  of  the  diction  and  spirii  of  an 
Horatian  OdeJ'  Das  Gedicht  verdient  diese  Lobsprüche. 
Es  liegt  eine  Wucht  und  Grölie  in  Ausdruck,  Form  und 
Inhalt,  bei  gleichzeitiger  Einfachheit:  abwechselnd  immer 
ein  viertaktiges  und  ein  dreitaktiges  jambisches  Beimpaar. 
Die  wenigen  Enjambements  und  Taktumstellungen,  die  er 
sich  erlaubtj  sind  äußerst  geschickt  angebracht  und  dienen 
zur  Belebung  und  zur  Hervorhebung  markanter  Stellen. 
Störende  Freiheiten  begegnen   uns  hier  kein  einziges  Mal 

Wie  erwähnt,  entstand  dieses  Gedicht  noch  vor  Mar vells 
weltfremder  Periode,  Nach  dieser  bildet,  inhaltlich  und  der 
Zeit  nach,  eine  Brücke  zu  den  rein  politischen  Cromwell- 
Dichtungen  das  halb  idyllische,  halb  politische,  vielgerühmte 
Schifferlied  „Bermudas'^,  wohl  um  1653  entstanden  und 
durch  die  Erzählungen  und  das  Geschick  des  genannten 
John  Oxenbridge  veranlaßt,  ünsti^ophisch,  in  paarweis 
gereimten  viertaktigen  Jamben,  zwischen  einem  Eingang 
und  einem  Ahgesang  von  je  vier  Zeilen,  wird  das  eigent* 

1)  Vgi  R  Heines  ^Framösüche  Zustäfide",  1.  Brief ,  6,  Ahmii, 

^  Tgl.  ßrosart,  voL  I,  p,  LXVU;  eben  dort  auch  eine  Äußemng 
aus  PowelVs  "Ämong  my  books"  f London  1870], 
ß)  Ward's  "English  Fatts",  U,  383. 


4 


liehe  Lied,  das  die  Schiffer,  die  emigrierten  Engländer, 
angeblich  Bingen,  in  direkter  Bede  gegeben,  Sie  singen  das 
Lob  des  Höchsten,  der  sie  zu  dieser  zwar  kleineren,  aber 
glücklicheren  Insel,  als  es  ihre  heimatliche  ist,  geführt  hat, 
wo  ewiger  Frlihling  herrscht  und  wo  sie  sicher  sind  vor 
Stürmen  sowohl  als  auch  vor  Prälatenwut. 

In  diesem  kleinen,  aber  schönen  Gedicht  finden  wir 
Anklänge  an  einzelne  Stellen  des  naturbeschreibenden  Ge- 
dichtes ** Appleion' Hause' \  Eine  neue  Note  bei  Marvell  ist 
jetzt  der  Groll  gegen  die  Prälaten,  den  wohl  Oxenbridges 
Erzählungen  in  ihm  schürten^  und  der  sich  später  in  den 
Satiren  immer  wieder  äuUert:  wie  Marvell  hier  von  '*prelaies 
rage''  spricht,  so  redet  er  in  ''Blood's  Stealing  ihe  Croum*' 
von  '*prtlafe's  crueUt/';  er  räumt  also  den  Prälaten  einen  ge- 
wissen Vorzug  in  diesen  Untugenden  ein.  Der  Bezug  auf  die 
Protestanten  Verfolgungen  unter  Karl  I.  macht  dieses  Gedicht 
zugleich  zu  einem  politischen-  Vergleiche  sind  auch  hier 
zahlreich,  aber  sie  sind  nicht  störend^  sondern  anziehend 
und  wirksam,  obwohl  er  die  Insel  fast  als  ein  zweites 
Schlaraffenland  schildert.  Die  Stelle 

**He  hajujs  in  lihaäfH  the  oranffe  brighi, 
Like  (foldtfit  lamps  in  a  green  nighi*' 

klingt  wie  eine  Vorahnuug  des  Goethe  sehen 

„Kennst  du  das  Land,  wo  die  Zitronen  blähn, 
Im  dunklen  Laub  die  Goldorangen  glükn?^ 

und  es  kann  für  Marvell  nur  ehrenvoll  sein,  derart  den- 
selben Gedanken  wie  unser  großer  Dichter,  mit  denselben 
Worten  fast,  ausgedrückt  zuhaben;^)  auffällig,  daß  beide, 
in  allem  sonst  so  verschieden,  an  einem  Dinge  dasselbe 
charakteristisch  finden,  was  an  und  fm-  sich  nicht  unmittel- 
bar naheliegt.  Gewiß  ist  der  Umstand  in  Rechnung  zu 
ziehen,  daß  ja  beide  in  Italien  gewesen  sind. 

Aus  dem  Jahre  1G54  stammen  mehrere  lateinische 
Gedichte  Marvells,  die  auf  CromwelJs  auswärtige  Politik 
Bezug  haben,    1654  schickte  Cromwell  eine  Gesandtschaft 

1«  Die  wiederholte  Heranziehung  deutscher  Dichter  und  Ver- 
hältnisse bedart*  wohl  kainn  einer  Eechtfertigung,  wenn  solch  ein 
Vergleich  sich  von  selbst  aufdrängt;  —  Goethe,  Heine,  Leseing  etc. 
können  ebetisogut  zum  Vergleich  für  englische  Dichter  dienen  wie 
umgekehrt  Shakspere,  Chaucer,  Byron  etc.  für  deutsche. 


L 


—     60     - 


nach    Schweden,    um    die   Königin    Christine,    die    „Ama* 

2one  des  Nordens^,  für  seine  Pläne  zn  gemeinschaftlichem 
Vorgehen  zu  gewinnen.  Der  eine  der  Bevollmächtigten, 
Dr.  In  gel  o/)  war  ein  Bekannter  des  Dichters  und  an 
ihn  ist  sein  folgendes  lateinisches  Gedicht  gerichtet.  Doch 
fiihrt  der  Titel,  die  Adresse,  eigentlich  irre,  denn  nicht  mn 
eine  Beglückwünschung  oder  Lobpreisung  Ingelos  handelt 
es  sich^  wie  man  daraus  schließen  könnte,  sondern  um  eine 
derart  geschickt  maskierte  Verherrlichung  Christ  inen  s. 
Nur  der  Eingang  des  von  Grosart  ins  Englische  über- 
tragenen Gedichtes  „Dociori  In(}do,  cum  Domino  Whitloekr^) 
ad  lieginam  Sneeiae  delegato  a  Protectore,  residniH,  epistola'*^ 
wendet  sich  direkt  an  Ingelo  und  spricht  dabei  von  dem 
Lande,  in  das  jener  jetzt  gehe.  Damit  ist  der  Übergang 
auf  Ohristina,  die  Beherrscherin,  schon  geboten.  Nun  preist 
Marvell  sie,  die  Jungfrau,  die  über  Männer  herrscht,  hinter 
der  selbst  Englands  Stobs,  Elisabeth,  zurückstehen  müßte. 
Er  hat  ihr  Bild  gesehen,  das  an  ihren  großen  Vater  Gustav 
Adolf  erinnert.  Dann  rühmt  er  ihre  wissenschaftlichen  Be- 
strebungen, \vorauf  er  zu  den  politischen  Verbältnissen 
übergebt.  Er  hofft  auf  baldigen  Abschlnli  des  Vertrages, 
der  für  beide  Teile  von  Nutzen  sein  werde.  —  Sonderbar 
ist  diis  Detail,  daß  Marvell  ausdrücklich  Christinas  wohl- 
geordnetes  Haar  rühmt,  durch  das  sie  schon  zeigen  wolle, 
daß  sie  stets  an  Regeln  und  Gesetze  sich  binde,  während 
die  Geschichte  uns  ausdriicklich  überliefert,  daß  diese  viel 
umstrittene,  jedenfalls  originelle  Frau  ein  üppiges  Locken- 
haar besaß,  auf  das  sie  keinerlei  Sorgfalt  verwendete;  so 
daß  Marvella  Schilderung  nach  dem  Gemälde  —  falls  diese 
Einkleidung  überhaupt  nicht  bloß  Fiktion  ist  —  der  Wahr- 
heit vielleicht  ebenso  wie  dieses  direkt  widerspricht.  Daß 
das  Lob  sehr  dick  aufgetragen  ist,  ersieht  man  schon  aus 
der  sehr  kurzen  Inhaltsangabe ;  es  ist  das  eben  wieder  der 
in  derartigen  Gedichten  im  17.  Jahrhundert  gebräuchliche, 
übertreibende  Stil.  Auf  den  ersten  Blick  scheint  es  sonder- 
bar, daß  Marvell,  der  ja  damals  (1664)  noch  nicht  in  Öffent- 
licher Stellung  war,  Ereignisse  besingt,  die  in  den  Kreis 
der  engeren  Politik  gehören.  Aber  Marvell  verkehrte  ja  in 

V  Dtctimary  of  Nat  Biogr,,  val.  XXVm,  p,  4S^, 

V  Didionrny  of  Nat.  Biogr,,  vol.  LXL  p.  110  ff. 


p 


—    61     ~ 

Kreisen,  die  die  führenden  genannt  werden  müssen,  mit 
Fair  fax,  Milton,  Bradshaw^  Cromwell;  er  konnte 
also  schon  der  Personen,  wenn  nicht  der  Sache  wegen 
Interesse  daran  haben.  Und  wann  auch  Dr*  Ingelo  im  Ge- 
dicht selbst  nur  eine  nebensächliche  Rolle  spielt^  so  gehörte 
er  doch  wahrscheinhch  zum  Freundeskreise  Marvells,  zu 
dem  wohl  auch  der  im  Gedicht  genannte  Roger  zn  zählen 
sein  wird. 

Die  erwähnte  Gesandtschaft  hatte  der  Königin  Christine 
auch  ein  Bild  CromweUs  zu  überreichen-  Gleichsam  als 
Aufschrift  fiir  dasselbe  schrieb  Marvell folgendes  „Epigramm": 

„Haec  est  quae  toties  inimicos  umbra  fugavit^ 
At  sub  quÄ  cives  otia  leota  tarunt.^ 

Die  eben  erwähnten  Umstände  persönlicher  Natur  im 
Verein  mit  diesem  Epigramm  sind  bestätigende  Beweise 
fiir  die  Autorschaft  Marvells  betreffs  eines  Gedichtes 
von  vier  lateinischen  Distichen,  das  unter  dem  Titel  „Ad 
Christinam  Suecorum  Ileginam  Nomtm  Cromwelli'^  die  Ehre 
hatte,  von  früheren  Herausgebern  Miltons  diesem  zuge- 
schrieben zu  werden^)  und  das  in  den  Ausgaben  Marvells 
unter  dem  identischen  Titel  ^In  Eandtm  [i  e,  Efßt^iem 
CromwelU]  lieginae  Sueciae  Ttansmissam^  dem  obigen  Epi- 
gramm iblgt.  Das  Argument^  mit  dem  es  Milton  zugeschrieben 
werden  konnte,  ist^  daß  es  ja  Miltons  Aufgabe  als  Laiin 
Secretarg  war,  solche  offizielle  Gedichte  zu  verfassen.  Aber 
Milton  hat  das  Gedicht  nie  für  sich  in  Anspruch  genommen. 
Vielleicht  hat  er  Marvell^  mit  dem  er  ja  schriftlich  und 
mündlich  verkehrte  und  der  ihm  als  Verehrer  Cromwells 
bekannt  war,  mit  der  Abfassung  dieser  Kleinigkeit  beauf- 
tragt, falls  nicht  Marvell  aus  eigenem  Antrieb  diese  Zeilen 
ihm  zur  Verfügung  stellte.  Die  Autorschaft  Marvells  ist 
durch  den  umstand  erwiesen,  daü  dieses  Gedicht  in  der 
Folio-Ausgabe  vom  Jahre  1681  gedruckt  erscheint,  die  von 
des  Dichters  Witwe^)  *'HHder  his  own  hand-writing''  veran- 
staltet wurde   und  deren  Authentizität  Grosart  in  allen 


1)  Z,  B.  in  ''PoeU  of  Öreat-Britain*\  voi  V,  jh  199;  um  dieses 
längere  Gedicht  bandelt  es  sich,  nicht  um  die  vorher  erwähnten  zwei 
Zeilen,  wie  BirreU,  p.  68,  tUIschlich  meint. 

2)  Die  freilich  von  manchen  Biographen  als  eine  Fiktion  er- 
klärt wird*  YglGrosart  (pro)  und  D  irr  eil,  p.222f,  (kontra). 


-     62     ^ 

Punkten  nachgewiesen  hat,*}  Auch  gehören  diese  lateinischen 
Gedichte  organisch  zusammen.  DaJ3  wir  dann  eigentlich 
zwei  Gedichte  Marvells  auf  Cromwells  Bild  haben,  ist  auch 
nur  scheinbar  auffällig:  das  kurze  Epigramm  ist  einfach 
eine  Bilderiii schritt  ohne  Beziehung  auf  die  schwedische 
Gesandtschaft ;  das  zweite  Gedicht  dagegen  wurde  erst  aus 
Anlaß  der  Übersendung  des  Bildes  an  Christina  geschrieben. 
Auch  der  hervorragende  Herausgeber  und  Biograph  MiltonSf 
Professor  Masson,  gibt  in  seinem  grolien  Werke*) 
Autorschaft  Marvells  zu. 

Dieses  Gedicht  ist  Cromwell  selbst  in  den  Mund 
legt,  als  ob  er  oder  das  BUd  selbst  zur  Empfängerin  sprechen 
würde:  „Siehe^  Christina,  Du  leuchtender  Stern  des  Poles, 
welche  Furchen  der  harte  Helm  meiner  Stirn  eingedrückt 
hat !  Wenn  auch  alt,  gehe  ich  dennoch  gewappnet.  Und 
während  ich  den  Willen  eines  großen  Volkes  vertrete, 
neigt  sich  Dir  in  Verehrung  mein  Haupt." 

Indirekt  mit  Cromwell  in  Verbindung  steht  das  chrono- 
logisch nächste  Gedicht  '*/n  Legaimiefn  Donüni  OUveri 
St.  John\^)  der  1654  in  die  Vereinigten  Staaten  der  Nieder- 
lande geschickt  wurde,  um  den  ersten  Seekrieg  zwischen 
England  und  Holland,  der  durch  die  Navigationsakte  ent- 
standen war,  durch  einen  Vertrag  zu  beendigen.  Da  die 
Engländer  siegreich  gewesen  waren,  so  konnte  er  wie  ein 
zweiter  Quintua  Fabius  Maximus  „Krieg  oder  Frieden!** 
wählen  lassen  und  es  gelang  ihm  auch,  den  für  England 
gtinstigen  ^acte  van  seclusie**  abzuschlieBen.  Großen  Dingen 
sind  oft  bedeutsame  Namen  gegeben,  sagt  Marvell.  So  auch 
ihm,  der  gesandt  ist,  den  Holländern  frischen  Krieg  oder 
neue  Verträge  zu  bringen,  der  die  Schlüssel  zum  Janastempel 
in  den  Händen  hält.  Er  braucht  kein  Pergament  und  keine 
doppelzüngigen  Worte ;  sein  Name  ist  eine  Botschaft,  die 
alles  sagt:  Oliver  oder  St.  John!,  Krieg  oder  Frieden  können 
die  Holländer  wählen. 

Aus  dem  Jahre  1654  stammt  auch  ein  umfangreiches 


1)  Grosart^  Bd.I,  p.lV,  46  u,  ö, 

2)  "Poetical   Work^  of  John  M^ton'*,  1874,  vol,  U,  p.  343  ff. ; 
Ohbe  Edition,  1899,  p.  459. 

'^)  Dktionar^  of  National  Biogi\,  voLL.,  p,  151  ff.,  164. 


—     63     - 

Gedicht  von  vierhundert  viertaktig -jambischen  Zeilen, 
t^roie  eoupkts,  daa  1655  anonym  veröffentlicht  wurde,  das 
einzige  politische  Gedicht  Marvells,  das  vor  der  Restauration 
gedruckt  wurde;  der  Grund,  weshalb  ihm  dieselbe  später 
nicht  so  schadete,  wie  zum  Beispiel  Miltou,  Es  ist  be- 
titelt: **The  ßrst  Anniversanj  of  the  Government  ander  His 
Hif/hness  the  Lord  Protector/'  Es  setzt  mit  einem  stimmungs- 
vollen Bilde  ein.  Wie  ein  ins  Wasser  geworfener  Stein 
darin  versinkt,  niu*  ein  flüchtiges  Kräuseln  hervorrufend, 
so  verschwindet  der  einzelne  Mensch  im  Meer  der  Zeit, 
deren  Kreise  sich  über  ihm  schließen  und  glätten.  Nun 
kontrastiert  der  Dichter :  C  r  o  m  w  e  1 1  allein  durchläuft  mit 
Kraft  Bonnengleich  die  Jahre  und  vollbringt  in  einem  Jahre 
Taten  von  Zeitaltern,  während  Monarchen  immer  nur  Pläne 
machen,  die  sie  dann  ihren  Nachfolgern  als  Erbe  hinter- 
lassen* Das  ist  eine  echt  Marvellische  Stelle,  der  den  Satiriker 
nie  ganz  verleugnen  kann.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  den 
folgenden  Zeilen  des  Gedichtes,  in  denen  die  törichte  An* 
m&ßung  der  Könige  und  ihre  Ungerechtigkeit  drastisch 
gegeißelt  wird.  Mit  ihnen  kontrastiert  er  wieder  Cromwell : 
Wie  Amphion  durch  seine  Leier  die  rauhesten  Steine  ge- 
fügt und  so  das  siebentorige  Theben  erbaut  hat,  geradeso 
kam  Ordnung  in  das  Staatswesen,  als  Cromwell  das  Re- 
gierungsinstrmnent  stimmte.  Und  obwohl  Steine  noch  leichter 
zu  beherrschen  sind  als  der  Sinn  der  Menschen,  Cromwetl 
fügten  sich  doch  alle.  In  dieser  Art  geht  es  weiter,  stets 
Vergleich  und  Kontrast.  Die  Lenker  der  Staatsschiffe,  die 
Fürsten,  sehen  aoF  Cromwell  wie  die  Schiffer  auf  die  Ge- 
stirne, Wie  glücklich  könnten  alle  ihre  Pläne  durchführen, 
wenn  sie  seinem  Vorbild  folgen  möchten.  Aber  leider  liegen 
sie  alle  noch  im  Banne  Roms.  Der  Dichter  droht  dann  den 
schlechten  Fürsten,  wenn  das  Schicksal  es  ihm  vergönne, 
sie  einst  aufzurütteln  aus  ihrer  königlichen  Faulheit;  vor- 
läufig will  er  bescheiden  hinter  dem  glorreichen  Cromwell 
stehen,  in  dem  höchste  Macht  und  höchste  Güte  zusammen- 
treffen. Unvermittelt  kommt  Marvell  dann  auf  einen  Un- 
glücksfall Cromwells  zu  sprechen,  der^  als  er  einst  selbst 
lenken  wollte,  von  den  Pferden  aus  dem  Wagen  geschleudert 
wurde,  ohne  sich  jedoch  zu  verletzen;  diese  Schilderung 
der   scheuenden  Pferde   erinnert  lebhaft   an   eine  ähnliche 


—     64     — 

Episode  in  der  „Uias".  Ebenso  unvermittelt  betont  er  dann 
wieder,  wie  in  der  ^Horatian  Ode*^,  daß  es  fllr  Cromwell 
keine  Freude  war,  sein  ihm  @o  teures  Privatleben  aufgeben 
zu  müssen,  um  den  Wagen  des  eigensinnigen  Volkes  zu 
lenken.  Was  er  aber  seit  damals  getan,  dazu  drängte  ihn 
eine  höhere  Macht*  Zuerst  war  er  der  Herrschaft  abgeneigt. 
Als  aber  er,  der  so  mächtig  geworden  war  wie  Gideon, 
der  jüdische  Kriegsheld,  sah,  wie  andere  zerstörten,  was 
er  geleistet,  oder  Nutzen  zogen  aus  dem,  was  ihm  zukam, 
da  gebot  er  den  Schmarotzern  Halt!  Um  ein  Bild  fiir 
Cromwells  tatkräftiges  Eingreifen  zu  finden,  zieht  Marvell 
eine  Erinnerung  an  seine  große  Reise  heran:  Einst  auf 
hoher  See,  als  Stürme  tosten,  der  Kurs  verloren  war  und 
Meteore  flogen,  als  Steuermann  und  Passagiere  verzweifelten, 
da  faßte  ein  fi-ischer  Bursche  das  Steuer  und  mit  sicherer 
Hand,  um  die  anderen  unbeküimnert,  rettete  er  sich  selbst 
samt  den  übrigen.  Nach  diesem  Vergleich  aus  der  Nautik 
folgt  ein  anderer  aus  der  Landwirtschaft:  Nur  für  andere 
pflanzte  Cromwell  den  Weinstock  der  Freiheit,  nicht  selbst 
trunken  von  ihrem  Weine.  Der  Dichter  verflucht  dann  jene 
Gottlosen,  die  frohlockt  hätten,  wenn  Cromwell  ein  Unglück 
zugestoßen  wäre,  und  freut  sich  um  so  mehr,  daß  für  Cromwell 
jetzt  jede  Gefahr  vorüber  ist  und  er  mächtiger  dasteht  als 
je.  Um  die  Freude  auszudrücken,  die  er  und  alle  Guten 
über  den  glücklichen  Umschwung  in  Cromwells  Geschick 
empfanden,  folgt  nun  ein  schön  ausgeführtes  Bild  in 
Detailmalerei,  das  die  folgende  Übertragung  ins  Deuteche 
wiederzugeben  versucht: 

^^Als  einst  der  erste  Mensch  zum  ersten  Mal 

Aufsteigen  sah  die  Sann'  aus  tauigem  Tal, 

Da  folgten  seine  Augen  mit  hiuauf 

Und  wieder  abwärts  ihrem  stolzen  Lauf 

Und  als  sie  seinem  BHck  entschwaiid|  o  weh! 

Glaubt  er  ertrunken  sie  im  tiefen  See, 

Und  rings  die  Welt  bedeckte  schwarre  Nacht, 

Und  bleiche  Sterne  halten  Totenwacht. 

Nachtvögel  nur,  der  Rabe  und  die  Eul*, 

Erheben  mit  Gekrächai  sich  und  Geheui  — 

Des  Menfiohen  Augen  halten  weinend  Wacht, 

Nicht  wi^end,  daß  zum  Schlaf  bestimmt  die  Nacht 

Dnd  immer  kehrt  noch  gegen  Westen  sich 

Sein  Bück,  wo  ihm  ihr  hehrer  Glanz  erblich. 


^ 


I 


^ 


,DurfV  icti  mir  einmal  schauen  dich,  o  sag*? 
Ist  denn  ein  Tag  nicht  länger  als  ein  Tag?*  — 
—  Da  blickt  nach  Osten  plötzlich  er  zurück  — 
Und  trifft  der  Sonne  lächelnd  heitren  Blick." 

Mag  es  meiner  Übersetzung  auch  nur  unvollkommen 
gelungen  sein,  die  Schönheiten  des  Originals  wiederzugeben, 
ao  kann  sie  doch  andeuten^  welche  Perlen  man  in  Marvells 
längeren  Gedichten,  wo  man  sie  gar  nicht  vermuten  würde, 
eingestreut  findet;  Stellen,  aus  denen  mancher  moderne 
Dichter  ein  separates  Gedicht  gemacht  haben  würde.  Man 
sieht,  wie  gedankenreich  Marvells  Dichtung  ist;  denn  ein 
nicht  gewöhnlicher  —  mein«es  Erinnerus  nirgend  sonst 
behandelter  — ,  aber  höchst  poetischer  Gedanke  ist  es : 
Welche  Gefühle  müßte  ein  Mensch  Sahen  oder  kann  der 
erste  Mensch  gehabt  haben  —  wenn  wir  auf  diese  Vor- 
stellung eingehen  — ,  wenn  er  das  strahlende  Auge  des 
Tages  verschwinden  sieht  und  noch  nicht  weiß,  daJi  es  am 
nächsten  Morgen  wiederkehrt? 

Wir  haben  eigentlich  mitten  in  einem  Vergleiche  ab- 
gebrochen: So  freudig  überraschend,  wie  dem  Menschen 
die  Sonne  wiederkehrte,  tauchte  Cromwell,  dem  düstere 
Kacht  zu  drohen  schien,  wieder  auf,  so  daß  die  anderen 
Fürsten  erschreckt  emporfahren.  Indem  nim  Marvell  einem 
derselben  seine  Verwunderung  über  die  unerwarteten 
Leistungen  der  englischen  N'ation  und  seine  Furcht  aus- 
sprechen läßt,  daß  dieselbe  noch  alle  Reiche  trlbutär  machen 
werde,  wenn  der  schreckliche  Cromwell  noch  länger  ihr 
Führer  bleibe,  legt  der  Dichter  sehr  geschickt  einem  Gegner 
Cromwells  Worte  der  höchsten,  wenn  auch  un\riUigen 
Anerkennung  in  den  Mund,  um  nicht  selbst  als  Schmeicliler 
zu  erscheinen  und  dabei  doppelt  zu  wirken,  indem  er  daran 
ebenso  geschickt  den  SclJuß  knüpft:  Mehr  als  Cromwells 
Feinde  sagen,    kann  er  zu  seinem  Lobe  auch  nicht  sagen. 

Wie  in  allen  größeren  Gedichten  Marvells  wechseln 
hier  Lobgedicht,  Satire,  Sentenzen  und  rein  lyrische  Stellen 
miteinander  ak  In  den  Vergleichen  tritt  die  gelehrte 
klassische  Bildung  des  Autors  wie  immer  zu  Tage;  einen 
sehr  ausgedehnten  Gebrauch  macht  er  speziell  in  diesem 
Gedichte  von  biblischen  Anspielungen,  er  zitiert  die 
Genesis,  das  Buch  der  Richter,  das  Buch  der  Könige»    Er 

P OBC her,  Marvells  poet.  Werke.  5 


—     Ge- 


flieht Ausfälle  auf  die  im  17.  Jahrhundert  so  vielfach  in 
England,  Italien  und  Deutschland  ~  hier  von  Qrimmels- 
hausen,  Chr.  Weiss©  u,  a,  —  mit  Becht  angefeindete  ^ Ratio 
Status*',  die  raison  d*Eiat  ein,  die  so  viel  Unheil  anrichtete 
und  den  Deckmantel  für  jede  Willkür  bildete ;  femer  Aus- 
fälle auf  die  religiösen  Fanatiker  und  Sektierer.  Es  finden 
sich  auch  Stellen,  die  direkt  anarchistisch  klingen,  so  wenn 
er  gegen  Rom  wettert,  das  er  (V.  113)  mit  demselben  groben 
Schimpfnamen  belegt  wie  Byron.Vi  Hieher  gehört  auch 
die  Stelle,  die  uns  Aufschluß  gibt  über  seine  Pläne,  die 
uns  zeigt,  daß  er  weitausgreifende,  groJäe  Absichten  hatte, 
die  freilich  nicht  ganz  in  Erfüllung  gingen,  wenn  er  den 
Fürsten  zuruft :  (Vv.  119  ff.) 

**If  graciou8  Hemtn  to  my  life  give  length, 
Lcisure  to  timef  and  to  my  wetikncss  strcfigth, 
Theti  shall  I  once  with  gravcr  acce^its  »hake 
Tour  regai  sloth  and  your  long  slionbers  wake.'* 

MarveU  hat  die  Änderung  freilich  nicht  erlebt,  ab«r 
man  kann  mit  Recht  annehmen,  wie  Leigh  Hunt  tut,*) 
dafi  er  durch  seine  politischen  Satiren  keinen  unbeträcht- 
lichen Anteil  hatte  an  der  Vertreibung  der  Stuarts.  Er 
spricht  also  hier  dieselbe  hohe  Meinung  von  der  Aufgabe 
der  Dichter  aus  wie  ähnlich  in  *^Tom  May's  Deaih-':  (Vv.  65/66) 

"Then  is  the  poefe  Urne,  *tis  Ihen  he  draws, 
Änd  smgle,  fights  forsaken  Virtue's  cause,'* 

Auch  in  '*I%e  Loyal  Scot*'  äußert  er  sich  auf  ähnliche 
Weise;  er  weist  der  Poesie  somit  einen  Zweck,  eine 
patriotisch-politische  Aufgabe  zu.  Die  Zeilen 
131 — 148  sind  eine  förmliche  Utopie.  Als  einsichtsvoller 
Mann  spricht  er  aber  auch  ganz  offen  von  *'our  brutish 
fury"  (V.  177). 

Den  hohen  Ton  der  „Horazischen  Ode"  hat  er  in 
diesem  Gedicht  nicht  erreicht,  vielleicht  auch  nicht  ange- 
strebt;  sein  Lob  ist  für  den  heutigen  Geschmack  oft  doch 
zu  übertrieben.  Wie  aber  in*  der  „Horazischen  Ode*^  schon 
und  öfters,  betont  er  auch  in  diesem  Gedichte  ausdrücklich, 
daß   Cromwell   ursprunghch    nicht  für  Krieg  und    Politik 

i)  '*The  Beformcd  Tramform€d'\  JT.  Teil,  3,  Siene,  V,  26 f. 
«)  "  Wit  and  Humour'\  p.  214 ff,  (Londmt  18d*JJ 


67     — 


geschaffen  war,  daß  er  als  ein  Werkzeug  in  der  Hand  einer 
höheren  Macht  handelte  und  auf  dem  einmal  betretenen 
Wege  fortschreiten  mußte,  wollte  er  sich  nicht  um  alle 
Früchte  seines  Wirkens  gebracht  sehen.  Die  Stelle 


P 


"So  have  I  see»  cU  sea 


^'*      (V.  265) 


ihm 


wo  unter  den  ^'corposanim**  das  Sankt  Elmsfeuer  gemeint 
ist  (wie  Groaart  dazu  bemerkt),  zeigt,  besonders  durch  das 
scharfe  „Ich*^,  daß  der  Dichter  nicht,  wie  es  ein  Epiker 
sollte  — und  ein  kleines  Epos  ist  es  ja  — ,  über  der  Er- 
zählung stehfcj  sondern  daß  er  mit  seiner  Person  hervor- 
und  mitten  in  die  Ereignisse  tritt  und  für  sich  und  von 
sich  spricht. 

Jene  Stelle,  die  teilweise  in  deutscher  Übertragung 
gegeben  wurde^  bildet  den  ersten  Teil  eines  Vergleiches, 
und  es  verdient  Erwähnung^   daß  die  beiden  verbindenden 

„So  wie    —  — —  — ,    8  0 ^    durch   nicht 

weniger  als  achtzehn  volle  Verszeilen  getrennt  sind  —  was 
deutlich  die  Ausführlichkeit  seiner  Vergleiche  illustriert  — , 
wenn  auch  speziell  dieser  Fall  einer  der  stärksten  ist;  be- 
zeichnenderweise ist  das  keine  gelehrte  Stelle,  sondern  ein 
Vergleich  aus  der  Natnr ;  und  man  kann  sie  zu  jenen  zählen, 
die  Hazlitt^)  ''musical  as  in  Apollo' s  lute"  nennt. 

Ein  Satz,  der  ganz  modern  Englisch  anmutet,  obwohl 
schon    bei   Bacon^)  vorgearbeitet   ist,    lautet: 

*^The  ocean  is  the  fountain  of  command; 

But  that  mice  took,  we  [L  e.  othera]  captives  are  on  land;"^) 

ein  Grundsatz^  den  die  Engländer  rücksichtslos  durchzu- 
führen stets  bereit  sind. 

Der  Vera  ist  in  diesem  Gedichte  sehr  gut  behandelt: 
Taktumstellung  und  Enjambement  sind  meist  beabsichtigt 
oder  zumindest  nicht  störend,  Verschleifungen  kommen  in 
'  dem  ganzen  Jangen  Gedicht  nur  in  verscliwindender  Zahl  von 

I  Umgekehrt  dagegen  verwendet  er  zur  Ausfüllung  oft 

iden  Infinitiv  mit  /o,  wo  derselbe  grammatisch  nicht  stehen 
müßte. 


1. 


1)  Sieh  S.  80,  Ai}m 
^)  Birrell,  p,  Gö, 
^)  '*Fir8t  Anniver^ary  » 


(Vv.  369/370) 


5* 


68 


Bezüglich  einiger  rein  sachlich-historischer  Bemerkun- 
gen sei  auf  Grosarts  Noten  verwiesen. 

Chronologisch  das  nächste  Gedicht  ist  eine  Satire  in 
heroic  couphts,  die  durch  das  darin  enthaltene  Lob  auf  die 
Republik  und  Crom  well  mit  den  eigentlichen  ''Cromwdlian 
Poenis'*  in  Zusammenhang  steht:  **Thv  Charader  of  Hollan^^ 
nach  Grosarts  Berechnung*)  zwischen  2.  Juni  und  31.  Juli 
1653  oder  5.  April  1654  geschrieben.  Es  ist  eine  Verspottung 
Hollands  mittels  krasser  Übertreibung  Zuerst  macht  sich 
der  Dichter  über  die  Kleinheit  und  die  geologische  Be- 
schafl'eoheit  dieses  Landes  lustig,  das  eigentlich  den  Namen 
^Land**  gar  nicht  verdiene;  es  sei  ja  nur  der  Auswurf  des 
Meeres,  die  Anschwemmung  britischen  Sandes.  Obwohl  die 
Holländer  die  gröBte  Mühe  darauf  verwenden,  ihr  biJ3chen 
festes  Land  gegen  das  Meer  zu  sichern,  so  zeigt  dieses 
ihnen  doch  oft  genug,  daß  es  wirklich  ein  „rttare  liberum'^ 
sei,  aber  in  anderem  Sinne  als  jene  meinen,  das  heiBt^  indem 
es  nach  Beheben  das  Land  überschwemmt.  Die  Fische  sitzen 
dort  oft  zu  Tische,  aber  nicht  als  Speise,  sondern  als  Gäste. 
Sodann  verspottet  Marvell  ihre  Verwaltung:  Wer  mit  der 
Schaufel  am  besten  umgehen  kann,  wird  Deiohgraf;  einer 
bekleidet  oft  mehrere  Amter,  denn  diese  Halbmenschen, 
halb  trocken,  halb  naB,  vertragen  auch  weder  volle  Freiheit 
noch  volle  Knechtschaft.  Nun  nimmt  der  Dichter  ihre 
Beligion  vor;  es  sei  kein  Wunder,  meint  er,  daß  so  viele 
Holländer  sich  bekehrten,  da  ja  so  viele  Apostel  Fischer 
waren  wie  sie ;  überdies  tauft  sie  das  Meer  immer  wieder. 
Er  stichelt  auch  auf  die  Sektenbildung  in  den  Niederlanden, 
aus  denen  ja  auch  der  im  früheren  Gedichte  mit  Verachtung 
genannte  Thomas  Müntzer  stammt*  Amsterdam  sei  eine 
schlechte  „Gewissensbank",  wo  jede  GlaubensmÜDze  Annahme 
findet.  Die  Plumpheit  der  Holländer  gibt  ihm  zu  dem 
Wortwitz  Anlaß,  daß  sie  zwar  einst  einen  unter  sich  hatten, 
der  „Cwilis^  hieß,  aber  nie  einen,  der  „höflich^  war.  Er 
nennt  die  Holländer  undankbar.  Den  Engländern,  denen 
sie  alles  verdanken,  haben  sie  die  Verträge  gebrochen  und 
&llen  jetzt  über  die  junge  Kepublik  her.  Aber  sie  empfingen 


>)  Vol.  l,  p.  2äl; 
1673  oder  1674. 


nicht  wie  Aitken,   ''Saiires**,  p*lM,   angibt, 


—    69     - 


ihren  Lohn,  daß  die  See  vor  Lachen  schäumte.  Die  englische 
Bepublik  ebbt  nur,  um  gleich  darauf  höher  zu  fluten.  Und 
der  junge  Herkules  —  England  —  wird  die  eiebenköpfige 
niederländische  Hydra  erwürgen.  Der  neue  Staat,  dieser 
Liebling  der  Götter,  schließt  Marvell,  habe  nichts  zu  furchten, 
solange  Dean,  Monk  und  Blake,  die  drei  Admirale,  die 
drei  Spitzen  des  „Dreizacks  des  Neptun*'  sind  und  Cromwell, 
der  Jupiter,  den  Pluto  der  Holle  unschädlich  macht. 

Diese  Inhaltsangabe,  die  infolge  der  Gedrängtheit  nicht 
beanspruchen  kann^  genau  genannt  zu  werden,  leidet  noch 
unter  dem  Umstände,  daß  e^  unmöglich  ist,  jene  Stellen 
treffend  wiederzugeben^  deren  Sinn  in  einem  Wortspiel 
liegt,  einem  Kunstmittel,  das  in  keinem  andern  Gedichte 
80  viel  gebraucht  wird  wie  hier.  Es  sei  hier  nur  auf 
Seite  134  f.  dieser  Arbeit  verwiesen,  wo  die  Wortspiele  im 
Zusammenhang  erörtert  werden.  Diese  Wortspiele  von 
dem  ''Cfiaracter  of  Holland*'  finden  sich  aber  nur  im  ersten 
Teile  des  Gedichtes,  der  bis  Zeile  100  reicht  und  die 
eigenthche  Satire  bildet;  denn  von  dieser  Stelle  an  ist  es 
keine  Satire  mehr,  sondern  ein  ernstes  Gedicht  zum  Lob 
der  Republik  und  ihrer  Helden,  Cromwell,  Monk^  Dean 
und  Blake,  für  die  er  sich  eine  ganze  Mythologie  zurecht- 
legt, wobei  dann  Englands  Feinde  in  Pluto  allegorisiert 
werden,  DaÜ  bei  der  starken  Übertreibung  viele  Unrichtig- 
keiten vorkommen,  ist  selbstverständlich. 

Dieses  Gedicht  Marvella  ist  möglicherweise  nicht 
originell^  denn  eine  "Description  of  Hollami"  findet  sich  in 
Butlers  "Itemains'\  Es  ist  nicht  sicherzustellen,  welches 
Gedicht  das  früher  entstandene  ist,  noch  auch,  ob  der  eine 
Dichter  das  Werk  des  andern  kannte.  Die  Verspottung 
der  gedemütigten  Holländer  war  damals  ja  allgemein. 
Vielleicht  darf  man  schließen,  daÜ  Butlers  Gedicht  das 
frühere  war,  weil  es  bedeutend  kürzer  ist,  so  daß  Marvells 
Gedicht  —  aber  nur  der  erste  Teil  —  eine  Erweitening 
wäre.  Der  zweite  Teil  ist  gewiß  selbständig.  Gemeinsam 
ist  den  Gedichten  Butlers  und  Marvells  nicht  nur  der  In- 
halt, die  Verspottung  Hollands,  sondern  auch  das  Mittel 
der  Verspottung  ist  bei  beiden  Dichtern  dasselbe,  nämlich 
beabsichtigte  Übertreibung. 

Dieses  Gedicht  Marvells  hat  einen  Streitpunkt  zwischen 


—     70 


Hazlitt*)  und  Leigh  Hunt^)  gebildet,  in  ihrer  Theorie 
über  das  Komische,  wozu  sie  es  beide  als  Beispiel 
verwerten,  Leigh  Hunt  sagt,  die  besten  zwei  Stücke 
komischer  Übertreibung,  die  er  kenne,  seien,  vom  "Hudu 
hras"  abgesehen,  Butlers  '*Description  of  Holland**  und 
Marvells  Gedicht.  Er  zieht  Mar\^ells  Satire  vor  ^ —  über- 
haupt sagt  er  von  unserem  Dichter  gegenüber  Butler  '*Ac 
exceUed  htm  in  poetry"  — ,  da  sie  sich  durch  größere  Ver- 
schiedenheit der  Kontraste  auszeichne.  Er  sagt,  wir  können 
dicBe  Verse  nie  ohne  Lachen  lesen.  *^The  jest  of  this  effusim^ 
lies  in  the  intmtional  and  excessive  f^aggeration*^  also  eine 
Übertreibung  wie  in  *'Flecknoe*\  für  welche  Satire  er  auch 
das  höchste  Lob  hat. 

Im  Gegensatz  zu  ihm  steht  Hazlitt:  Seine  Meinung 
von  Marvell  als  Lyriker  ist  keine  geringe,  er  lobt  die 
Eleganz  und  Zartheit  in  den  beschreibenden  Stücken 
(sweei  as  in  ApoUo's  lutcj,  was  aber  die  Satiren  betreflTe^ 
BD  sei  Marvell  dem  „affektierten  und  gekünstelten**  Stile 
der  Zeit  zugetan  gewesen,  den  der  Kritiker  überhaupt 
tadelt.  Als  Beweis  dafür  nennt  er  ''Fkcknöe*\  Die  Satire 
auf  die  Holländer  sei  ein  Beispiel  für  die  gezwungene, 
weithergeholte  Methode  der  Behandlung  des  Gegenstandes ; 
und  dieselbe  Stelle,  die  Leigh  Hunt  aus  Bewunderung 
des  Witzes  gesperrt  druckt,  druckt  auch  Hazlitt  ab,  um 
die  Lächerlichkeit  zu  demonstrieren: 

'^The  fish  oft'times  ihe  burghers  (Usposseasedf 
And  saif  twt  as  a  meat^  but  as  a  guest"  eto. 

Wie  so  oft  auf  der  Welt  hat  wohl  keiner  ganz  nnrecht. 
Bewundernswert  ist  ja  die  fast  unerschöpfliche  Leichtig- 
keit, mit  der  Marvell  Gegensatz  auf  Gegensatz  und  Über- 
treibung auf  Übertreibung  häuft  Aber,  obwohl  wirklich 
komische  Stellen  sich  finden,  Übertreibung  verträgt  man 
nur  bis  zu  einer  gewissen  Grenze;  und  der  Fehler,  in  den 
Marvell  verfallt,  ist,  daß  ihm  die  Kürze  fehlt.  Ich  bedaure, 
nicht  mehr  unter  dem  frischen  Eindruck  der  ersten  Lekttire 


i)  Hazlitt,  ''Lectures  on  the  English  Foets  .  .  .'\  1899,  S,  69ff. 
(II.  T,:  The  Englüh  Comic  Wi-iters). 

*)  ''Ä  Tale  for  a  Clümnetj  Corner  and  other  Eiaayif''  %  Leigh 
Sunt,  Londofi  1887 ^  S. 54 f,  —Leigh  Hunt/*  Wii  afid  Humour**,  London 
288:9,  S.  33 ff.,  218. 


—    71 


za  stehen;  doch  glaube  ich  auch  in  diesem  Falle  in  das 
übertriebene  Lob  Leigh  HuntSj  bei  aller  Zuneigung  für 
Marvell,  nicht  einstimmen  zu  können. 

Das  folgende  Gedicht  ist  wieder  ein  Ruhmesblatt  für 
die  Republik j  respektive  für  den  bereits  im  vorigen  Ge- 
dichte genannten  Seehelden  Admiral  Blake:  ''Chi  the  Victory 
obiained  by  Ädmiral  Blake  omr  the  Spaniards^  in  the  Bay  of 
Santa  Cruz  in  the  Island  of  Teneriffe,  1657'\  Diese  Schlacht 
fand  am  20.  April  statt;  die  Nachricht  davon  kam  früher 
nach  England  als  Blake  selbst,  der  noch  auf  der  Heim- 
reise erkrankte  und  bald  starb  (Grosart).  Der  Dichter  setzt 
nicht  mit  der  Schilderung  der  Schlacht  ein,  sondern  mit 
der  Abfahrt  der  spanischen  Silberflotte  von  Amerika  nach 
Europa,  die  mit  groBer  Vorsicht  meist  bei  Nacht  fuhr,  um 
nicht  abgefangen  zu  werden.  Auf  den  kanarischen  Inseln, 
eren  Reichtum  Marvell  ähnlich  schildert  wie  in  „Ber- 
mudas*', machten  die  Spanier  halt.  Nun  folgt  eine  sehr 
patriotische,  aber  sehr  naive  Begründung:  Weil  das  die 
besten  Inseln  sind,  verdienen  sie  auch  die  besten  Herren 
zu  haben  —  das  sind  natürlich  die  Engländer !  Wie  Marvel! 
früher  den  Holländern  vorgeworfen  hatte,  so  wirft  er  nun 
den  Spaniern  vor,  wie  unrecht  sie  taten,  den  Frieden  mit 
England  zu  brechen.  Die  vor  Santa  Cruz  vor  Anker 
gegangenen  und  gelandeten  Spanier  be wundem  die  stolze 
Höhe  des  Pik  von  Teneriffa;  in  ihrer  Brust  jedoch,  sagt 
der  Dichter,  trugen  sie  einen  noch  höheren  Stolz,  In  dem 
Gedichte  aber  steht  der  englisohe  Stolz  leider  dem  spanischen 
nicht  nach.  Die  Spanier  zogen,  als  sie  von  der  Annäherung 
der  englischen  Flotte  erfuhren,  die  SchiflFe  zur  Versohanzung 
ans  Land  und  erwarteten  getrost  die  Ankunft  Blakes.  Nach 
einer  ermunternden  Rede  an  seine  Leute  begann  dieser  die 
Schlacht  Schiffe  sanken,  andere  flogen  in  die  Luft;  am 
Ende  war  die  spanische  Silberflotte  zerstört;  so  errang 
Blake  selbst  auf  unfruchtbarem  Meere  Lorbeer  für  sich 
und  England,  Am  Schlüsse  bricht  eine  menschlichere, 
mildere  Ansicht  bei  Marvell  durch;  er  wünscht^  daß  alle 
Schätze  der  Welt  in  ein  so  tiefes  Grab  versenkt  würden 
wie  dieses  Silber,  denn  dadurch  würde  die  Ursache  vielen 
Streites  aus  der  Welt  geschafft  sein  und  das  Land  würde 
dem  Meere  seinen  Frieden  verdanken. 


—    72    — 


Diese  heraic  Cjouphis  machen  keinen  er&eulichen  Ein- 
drucki  weil  der  Patriotismus  in  ihnen  zum  Chauvinia- 
mus  gesteigert  ist.  Marvell  wurde  gewiß  nicht  mit  der- 
selben Gemütsruhe  und  Bonhomie  seine  Schlußfolgerung 
gezogen  haben,  wenn  die  versenkte  Silberflotte  zutallig 
eine  englische  gewesen  wäre ;  ein  seltsam  e  i  n  s  e  i  t  i  g-phil- 
antbropischer  Standpunkt  also. 

Wir  sehen  in  diesem  Gedichte  wieder  die  Vermischung 
der  Gattungen  und  den  Standpunkt  des  „«</  piciura  sit 
poesis''  oder  der  Poesie  als  „redende  Malerei" ,  mithin  die 
Verwechslung  von  Sukzession  und  Koexistenz  —  nach 
Lessing  — ^  wenn  er  von  seiner  dichterischen  Tätigkeit 
sagt^  er  ^male  eine  Szene**,  das  heißt  ein  Bild.  Die  grauen- 
volle  Schilderung  des  Kampfes  entspricht  der  Vorliebe  des 
17.  Jahrhunderts,  das  ja  auch  in  den  sogenannten  Er- 
bauungabüehem  und  in  Beisebeschreibungen  Schilderungen 
von  Greueln  und  Martern  häufte. 

Die  Vorstellung  der  Schlullzeilen,  wo  Fama  sich  auf- 
macht und  an  allen  Orten  die  Siegesnachricht  mit  ihrer 
Trompete  verkündet,  ist  eine  Variante  der  alten  Virgil- 
schen  Vorstellung, 

Marvell  stellte  seme  Muse  auch  in  den  Dienst  zur 
Feier  von  Familienereignissen  im  Hause  des  Lord  Pro- 
tektors. So  schrieb  er  zur  Vermählung  von  Cromwells 
Tochter  Mary  mit  Lord  Fauconberg  im  November 
1657^)  zwei  ''Songs  on  fhc  Lord  Fauronherg  and  ike  Lady 
Marp  Oromweir  in  Schäfereinkleidung.  Im  ersten  ''S(mg'\  in 
viertaktigen  jambischen  Versen,  sind  der  Bräutigam  als 
Schäfer  EnHymion  und  die  keusche  Luna»Cynthia,  um  die 
er  wirbt,  die  Personen.  Aus  den  einleitenden  Zeilen  des 
Chores  erfahren  wir,  daß  jetzt»  wo  alles  schläft,  selbst  Astro- 
logen und  Wölfe  (1),  der  Schäfer  Endymion  allein  auf  dem 
Hügel  länger  wacht  als  der  Mond.  Er  fleht  Cynthia,  die 
Hüterin  der  Sterne,  um  Erhönmg  seiner  Liebessehnsucht 
an*  Sie  aber  gibt  ihm  zur  Antwort,  sie  habe  genug  mit 
ihren  Schafen  zu  tun  —  eine  ähnliche  Antwort  wie  in  dem 
alten  schottischen  Gedicht  von  '^Mohin  and  Makgn\  Nach 
wiederholten  Bitten  und  ebenso  vielen  Abweisungen  spricht 


1)  Grasart,  /,  142. 


^     73    — 


• 


ihm  der  Chor,  der  offenbar  mit  seinem  guten  Engel  oder 
der  Hoffnung  identisch  ist,  Mut  und  Trost  zu:  auch  Au- 
chises  sei  nur  ein  Schäfer  gewesen  und  doch  habe  ihn 
Lunas  jüngere  Schwester  im  Schatten  des  Ida  erhört  So 
ermutigt^  versucht  Endymion  Latmos'  Gipfel  zu  erklimmen; 
doch  unfähig,  ihn  zu  erreichen,  fleht  er  sie  nochmals  an, 
sich  doch  zu  ihm  herabzulassen.  Ihre  Abwehr  ist  schon 
minder  schroff  und  plötzlich  hören  wir,  daß  sie  inzwischen 
wirklich  schon  herabgestiegen  ist,  denn  sie  sagt:  „Dietäe 
Höhle  ist  dunkel."  Er  aber  freut  sich,  denn  da  kann  sie 
niemand  sehen^  imd  wenn  Cynthla  drinnen  strahlt,  ist  die 
Hoble  ja  sein  Himmel.  Der  Chorus  stimmt  den  Jubel- 
gesang an :  „Heil  dir,  Endymion !  Denn  du  hast  CjTithias 
Gunst  gewonnen  und  Jupiter  selbst  billigt  eure  Liebe; 
denn  wer  ehrlich  und  tapfer  und  weise  ist,  ist  auch  den 
Göttern  lieb.^ 

Dieses  Gedicht  ist  keines  der  unerfreulichen,  aber  eS 
ist  in  einem  Tone  geschrieben,  der  uns  heute  fast  zweifeln 
laßt,  ob  wir  lachen  dürfen  oder  nicht;  an  einigen  Stellen 
fühlt  man  sich  trotz  alles  Dekorums  dazu  versucht ;  warum 
auch  nicht,  nachdem  wir  es  ja  mit  einem  Hochzeits- 
gedicht zu  tun  haben.  Einen  etwas  scherzhaften  Ton  durfte 
sieh  also  Marvell  selbst  diesen  hohen  Personen  gegenüber 
erlauben.  Einige  Wendungen,  die  lächerlich  wirken  könnten, 
sind  aber  gewiß,  in  der  damaligen  Zeit,  ernst  gemeint. 
Beachtenswert  ist^  daß  dieses  Hochzeitsgedicht  sich  von 
zeitgenössischen,  ähnlichen  Gedichten  sehr  dadurch  unter- 
scheidet,   daß  alles  Frivole  und  Derbsiniiliche    darin  fehlt. 

Die  Vermutung  in  Grosarts  Anmerkung,  daß  die 
Stelle  von  den  Sternen,  den  mächtigen  Kivalen,  sich  auf 
Karl  (H)  bezieht,  der  aus  politischen  Gründen  Cromwells 
Tochter  heiraten  wollte,  ist  wohl  abzuweisen,  denn  Karl 
wollte  nicht  Mary,  sondern  die  älteste  Tochter  heiraten 
und  übrigens  bedarf  die  Stelle  von  den  Sternen  in  ihrem 
Zusammenhang  keine  fernliegende  Auslegung. 

Endymion  sind  stets  vier,  Cynthia  zwei  Zeilen  in  den 

iMund  gelegt,  mit  einmaliger  Ausnahme,  Diese  Verszeilen 
des  Dialogs  sind  alle  regelmäßige  viertaktige  Jamben.  Der 
Chorus    tritt   dreimal   in  Aktion   tmd  jede    dieser    drei 


—   ll 


mäBigsten:  sechs  Zeilen,  vierbaktig-jambisch  und  paarweise 
reimend.  Di©  zweite  Chorstrophe  in  der  Mitte  des  Ge* 
dichtes  besteht  gleichfalls  aus  sechs  Zeilen  dieser  Art,  die 
fünfte  Zeile  aber  ist  dreitaktig  und  die  sechste  ist  fiinf- 
taktig;  diese  reimen  weiblich.  Die  letzte  Chorstrophe  be- 
steht ans  acht  Zeilen  nach  dem  Schema  2433^44^^  ^^^ 
also  am  unregelmäßigsten, 

'*T}ie  Secöfid  Song'*  hat  ebenfalls  Schäfereinkleidung; 
die  Personen  sind  zwei  Schäfer,  Hobbinol  und  Thomahn, 
und  die  Schäferin  Phillis.  Diese  will  zur  Vermählung  der 
Tochter  Menalcas  (=  Cromwells)  mit  dem  Sohne  des  nörd- 
lichen Schäfers  (Lord  Fauconberg)  Blumen  winden,  aber 
Thomalin  sagt  ihr,  daÜ  keine  von  den  vorhandenen  Blumen 
fär  die  Braut  schön  genug  sei.  Auch  der  grüne  Zweig,  den 
sie  dann  nehmen  will,  sei  überflüssig,  weil  in  Menalcas 
Halle  Lorbeer  genug  wachse,  den  dieser  selber  pflanzte  — 
ein  Lob  auf  Cromwell,  Dann  naht  die  Braut  selbst;  der 
eine  Schäfer  vergleicht  sie  mit  neugewaschenen  Schafen. 
Auch  an  den  Bräutigam  legt  er  seinen  Schäfermaßstab  an. 
Sie  begrüBen  das  Paar  dann  mit  einem  Chorgesang,  in 
dem  sie  der  Freude  Ausdruck  geben,  dall  jetzt  auch  andere 
heiraten  können,  denn  vor  Marina  und  vor  Dämon  durfte 
kein  anderes  Paar  es  wagen. 

Dieses  Lied  ist  für  den  Hochzeitstag  selbst  bestimmt, 
während  das  erste  offenbar  der  Verlobung  galt.  In  beiden 
haben  wir  also  Schäfereinkleidung,  in  beiden  einen  Chor. 
Der  Unterschied  dabeiist  der,  daß  im  ersten  Liede  das 
liebende  Paar  selbst  redend  auftritt,  während  im  zweiten 
nur  von  ihm  gesprochen  wird.  Im  ersten  Liede  ist  der 
Chorus  unsichtbar  und  unbestimmt  gelassen,  im  zweiten 
ist  er  sichtbar  und  besteht  aus  den  Personen  des  Liedes. 
Gemeinsam  ist  beiden  "Songs*'  —  nicht  als  Hauptsache, 
sondern  in  zweiter  Linie  —  das  Lob  Cromwells,  den  er 
im  ersten  Liede  unter  Jupiter,  im  zweiten  unter  dem 
Schäfer  Menalcas  versteht.  Die  Schäfemamen  hat  der 
Dichter  offenbar  Spensers  ''Shepherd's  Calendar"  entlelmt. 
In  diesem  zweiten  ''Song'*  ist  die  Einteilung  formell  die, 
daß  die  Männer  immer  je  vier  Zeilen  sprechen,  während 
das  Mädchen  zwei  Zeilen  spricht.  Abweichend  vom  ersten 
^*8üfig''  haben  wir  hier   viertaktige  trochäische  Reimpaare. 


* 


i 


—     75 


Di©  Chorstrophe  allein  ist  jambisch^  achtzehn-,  respektive 
zwanzigzeilig,  die  ersten  zwei  Zeilen  kehren  nämlich  am 
Schlüsse  (Z.  19  u.  20)  als  Refrain  wieder.  M 

Den  Abschluß  der  Reihe  der  ''Cromweliian  Poetus" 
bildet  ein  umfangi*eiches  Gedieht  von  324  paarweise  ge- 
reimtenj  fünft  aktig-jambischen  Zeilen:  ^*Ä  Poein  upon  the 
Deaih  of  His  Late  Highness  ihe  Lord  Froietior"  (f  3.  Sep- 
tember 1668).  Der  Inhalt  ist  nur  scheinbar  ein  wirres 
Durcheinander,  in  Wirklichkeit  geht  Marvell  ganz  geordnet 
vor.  Zuerst  spricht  er  von  der  Vorsehung,  die  stets  für 
Cromwell  sorgte;  diese  wollte  ihm  einen  Tod  geben,  der 
sein  herrliches  Leben  nicht  entstellte.  Nach  einem  Ver- 
gleich aus  dem  Theater  folgt  die  uns  schon  bekannte  Be- 
tonung, daii  Cromwells  Natur  keine  kriegerische  war;  er 
war  nur  das  Werkzeug  des  erzürnten  Himmels.  Aber  sein 
Herz  war  sanft  imd  milde.  Drum  sollte  auch  sein  Ende  so 


sem* 


^ Liebe"    und  „  Kummer'^    wurden   also  mit   der  Aus- 


führung des  Urteils  betraut.  Jetzt  kommt  die  Vorgeschichte 
seiner  Krankheit,  eine  psychologische  Motivierung.  Eine 
schleichende  Krankheit  ergrifif  Elisa,  seine  Lieblingstochter, 
und  da  litt  er  jeden  Schmerz  mit.  und  als  die  Nome 
endlich  ihren  Lebensfaden  abschnitt,  war  auch  Gromwells 
Schicksal  entschieden  und  er^  der  sich  selbst  so  oft  un- 
sterblich gezeigt  hatte,  starb  aus  Mitleid  für  jemand 
andern;  so  wie  der  Weinstock,  der  lange  fruchtbar  stand, 
wenn  zulallig  ein  Ast  von  ihm  geschnitten  wird,  auch 
selber  welkt  und  stirbt.  Neben  echtem  Pathos  finden  wir 
nun  auch  unnatürliche  Spitzfindigkeiten,  die  uns  kalt 
lassen,  so  gut  sie  auch  gemeint  sein  mögen ;  so  die 
folgende  Steile,  wo  die  Sterne,  nachdem  die  Todes art 
entschieden  ist,  die  Todesstunde  für  Gromweil  festseitzen 
sollen^  wobei  sie  sich  für  den  3.  September  entscheiden, 
den  Gedächtnistag  der  glorreichen  Schlachten  von  Dunbar 
und  Worcester,  damit,  wenn  er  an  diesem  Tage  sterbe, 
seine  Feinde,  die  sein  Tod  erfreuen  würde,  dennoch  des 
Tages  mit  Schmerzen  gedenken  müssen,  während  seine 
Freunde  in  der  Erinnerung  an  diese  Ruhmestaten  zugleich 
einen  Trost  finden.'*) 

*)  Sieh  S,  153  diej^er  Arbeit. 

«)  Nocb  Byron  CVhilde  HaroMs  Pügrimage',  IV,  86)  stellt  die 


76     -. 


Dann  bespricht  der  Dichter  Cromwells  Bedeutung 
für  England  und  die  Welt  Er  war  der  erste,  der  Waffen 
in  die  Hand  der  Religion  gab,  er  lehrte  die  Soldaten^  den 
inneren  Panzer  des  Glaubens  zu  tragen  und  Gott  und 
sonst  nichts  zu  fürchten.*)  Keinem  gehorchte  der 
Himmel  je  so,  seit  Gideon  die  Sonne  zum  Stehen  brachte. 
Wie  er  seine  eigenen  Kinder  liebte,  so  liebte  er  auch  als 
Kinder  des  Höchsten  alle  Menschen,  Alles,  was  er  tat,  tat 
er  für  sie. 

Nun  wird  Marvell  ganz  persönlich.  Er  klagt,  daß 
er  ihn  nicht  mehr  sehen  werde;  wenn  Crom  well  aus  der 
Tür  trat  mit  seiner  ehrfurchtgebietenden  Gestalt,  schien 
es,  als  trete  Mars  durch  das  Tor  des  Janustempels ;  doch 
wurde  der  Eindruck  stets  durch  eine  freundliche  Miene 
gemildert.  Jetzt  aber  ist  seine  Stimme  verstummt,  die  klug 
dem  Arm  oft  Arbeit  ersparte.  0  welche  Nichtigkeit  der 
menschlichen  Dinge!  klagt  er.  Und  doch  lebte  solch  un- 
vergängliche Größe  in  seinem  vergänglichen  Körper.  Nun 
kommt  ein  konsequent  durchgeführter  Vergleich.  Er  glich 
der  Eiche,  die  ihre  Äste  gegen  Himmel  streckt  und  ihre 
Wurzeln  durch  die  Erde;  und  wenn  Jupiter  den  Blitz  aus- 
schleudert und  auch  seinen  eigenen  Baum  nicht  verschont 
und  lim  fällt  und  nun  der  Eiese  ausgestreckt  daliegt  am 
Boden,  da  sehen  wir  erst  seine  volle  Größe,  die  wir, 
solange  er  stand,  nicht  richtig  abschätzen  konnten*  So 
fallen  auch  mit  Cromwell  seine  Schatten,  und  reiner  und 
größer  steht  er  da,  da  er  tot  ist.  Noch  in  fernen  Zeiten 
wird  man  sein  Lob  singen  und  sich  an  seinem  Namen  be- 
geistern. Am  Schlüsse  des  Gedichtes  verwendet  der  Dichter 
andeutungsweise  das  beliebte  Motiv  des  Zusammentreffens 
des.Helden  mit  den  Heroen  der  Vorzeit  in  der  Unter- 
welt, ein  Motiv,  das  sich  in  ausgeprägterer  Weise,  in  der 
Form  eines  wirkliehen  Gespräches,  bei  MarveU  noch  zwei- 
mal (in  "Tmn  Mm/s  Deatli*  und  in  ''The  Loyal  Scot")  .findet. 


Bedeutung  dieses  Tages,  des  3.  Septembers,  für  Cromwell  susaimmeizi, 
indetn  er  sagt,  daß  dieser  Tag,  der  ihm  alles  gab,  auch  wieder 
alles  nahm. 

*)  Kann  als  eine  noch  frühere  Vorahnung  des  Bismarck- 
sohen  geiltigelten  Satzes  als  die  bisher  als  älteste  bekannte  lo 
Haoines  „Ätfiatie"  hervorgehoben  werden. 


-     77     - 


Das  Ende  bildet  ein  Blick  in  die  Zukunft:  wie  auf  das  Ge* 
witter  der  Regenbogen  folgt,  ho  folgt  Richard  auf  Oliver, 
der  Sohn  dem  Vater,  der  Friede  auf  den  Krieg,  wie  ein 
befruchte nder^  milder  Regenschauer  auf  die  strafende  Sint- 
flut; eine  Hofinung  Marvells,  die  aber  bekanntermaßen 
nicht  in  Erfüllung  ging. 

Der  ganz  persönliche  Charakter  dieses  Gedichtes 
bringt  es  mit  sich,  daß  wir  von  einer  eigentlichen  Ein- 
kleidung nicht  sprechen  können;  der  Dichter  erzählt  ein- 
fach, er  tritt  als  Historiograph  oder  Biograph  auf,  aber 
nicht  des  ganzen  Lebens,  sondern  nur  alles  dessen,  woraus 
er  Cromwells  Tod  ableitet.  Er  führt  eine  mythologisch- 
allegorische Maschinerie  ein,  "ZiOve'\  "Griefe  ,,Prcviden€€'\ 
'*Fat€'\  *'Nature*'  und  ''DeatW*  stellt  er  als  Wesen  hin,  er 
personifiziert  sie.  Daß  er  so  oft  Vergleiche  mit  dem 
Theater  zieht,  ist  auffällig,  da  Marvell  niemals  Drama- 
tiker war  und  auch  die  Bühnen  damals  geschlossen  waren. 
Die  Länge  des  Gredichtes  gibt  ihm  wie  im  *'First  Anni- 
versary  ,  .  .*'  und  allen  umfangreichen  Gedichten  Gelegen- 
heit, seine  Kunst  im  Bau  langer,  verwickelter,  aber  dennoch 
klarer  Perioden  zu  zeigen.  Konstruktionen  von  3,  4, 
ö  Sätzen  im  Ausmaße  von  10  bis  20  Verszeilen  sind  keine 
Seltenheit.  Um  eine  Vorstellung  von  Cromwells  Wert  zu 
geben^  vergleicht  er  ihn,  aber  nicht  mit  einem  Vorbilde, 
sondern  gleich  mit  einer  ganzen  Reihe:  mit  König 
Arthur  wegen  seiner  Tapferkeit,  mit  Edward  dem  Be- 
kenner  wegen  seiner  Frömmigkeit,  mit  Gideon  wegen 
seines  Einflusses  im  Himmel  und  auf  Erden,  mit  Mars, 
David,  Moses,  Josua,  Jupiter;  aus  der  ganzen  Welt- 
geschichte und  aus  der  Mythologie  —  ohne  deren  Kenntnis 
ein  Verstehen  MarveUs  ebenso  ausgeschlossen  wäre  wie 
bei  der  ganzen  Renaissancedichtung  —  greift  er  seine  Ver- 
gleichsgegenstände  heraus,  in  buntem  Durcheinander,  nur 
um  seinem  Lobe  größeren  Nachdruck  zu  verleihen.  Einen 
Anklang  an  volkstümliche  Poesie  und  einen  Kunstgriff 
derselben  finden  wir  in  den  Zeilen  281—285: 
**As  long  as  ricerji  to  tlie  sea  sball  tun, 
Äs  long  as  Ci/nthia  shall  relieve  ihe  sun, 
While  stags  shall  fly  unto  Oit  foresis  tfiick, 
White  she^  delighi  tlie  grasag  down»  to  pick, 
A»  long  asfuture  tiute  sitcceeds  Üie  poät  * . .,'' 


—     78     — 


also  in  der  Anhäufung  von  Sätzen,  die  mit  „so  latig*^  be- 
ginnen, zum  Ausdruck  der  Unendlichkeit;  wie  im  Volks- 
lied auf  eine  solche  Aufzählung  als  Schluß  meist  folgt: 
—  „so  lang  werd'  ich  dich  lieben**  —  ist  hier  natürlich 
die  Pointe:    so   lang  wird   Cromwells  Andenken   dauern.^) 

'*/ saw  him  deadr  beginnt  er  seine  eigentliche  Klage; 
80  wie  er  früher  in  diesem  Gedichte  sagt:  "-Sa  have  Zsem 
a  vine  .  .  /*  (und  im  '*First  Atinivef^sary":  '*So  have  /  s^en 
ai  sea  .  .  /');  das  Hervortreten  des  „Ich"  also.  Er  schildert 
ja  seinen  persönlichen  Eindruck  von  dem  Toten,  den 
er  ja  so  oft  persönlich  gesehen.  Aus  jeder  Kleinigkeit  ent- 
nehmen wir,  daß  es  kein  Fernstehender  war,  der  Cromwell 
hier  besang,  sondern  ein  Verehrer  und  Freund,  der  seinen 
persönlichen  Umgang  genoÜ;  so,  wenn  er  den  Eindruck 
beschreibt,  wenn  Cromwell  morgens  aus  seinem  Zimmer 
unter  die  Harrenden  trat;  wenn  er  die  einzelnen  Mitglieder 
seiner  Familie  kennt,  die  häuslichen  Freuden  Cromwells 
schildert  und  auch  das  Leiden  seiner  Lieblingstochter  Elisa. 
Um  so  anerkennenswerter  bei  diesem  hohen  Lobe  ist  Mar- 
vells  Unparteilichkeit,  mit  der  er  zugibt,  daß  Crom- 
well auch  seine  Schattenseiten  hatte  —  ein  schönes  Gegen- 
stück zu  der  Unparteilichkeit  gegenüber  einem  Feinde  in 
der  „Horazischen  Ode". 

Solcherart  und  wenn  wir  alle  seine  ''Cromwellian  Paems^* 
überblicken^  ist  Marvell  der  eigentliche  Dichter 
Cromwells,  trotz  Waller,  Dryden  etc.  Diese  haben 
Cromwell  auch  besungen,  aber  weil  Nützlichkeitsgründe 
gerade  dafür  sprachen;  in  formvollendeten  Gredichten  hat 
Dryden  fast  in  einem  Atem  den  Tod  Cromwells  beklagt 
und  die  Rückkehr  Karls  IL  besungen.  Das  hätte  Marvell 
nie  über  sich  gebracht.  Wo  er  lobt  oder  tadelt,  da  kommt 
es  ihm  aus  dem  Herzen.  Als  Dichter  Cromwells*^)  hätte 
Andrew  Marvell  wohl  in  den  Literaturgeschichten  Er- 
wähnung   verdient.     Von    Wallers    Gedicht    '^Upon    ihe 


1)  Ygl.  die  interessante  paxodistische  Wendung  dieser  Stelle^ 
der  Beteuerung  der  unendUclien  Dauer«  bei  Pope  im  Sohlnßpassu^ 
des  dritten  canto  seines  "Eape  of  ihe  Lock'\  und  ernst  iin  vierten 
Pmioral  "Wint€r*\  zehnte  Zeile  vom  ÖchinJä,  der  hier  entweder  auf 
Marvell  selbst  oder  eine  mit  ihm  gemeinsame  Quelle  (?)  zurückgeht. 

^}  Birrell  nennt  ihn  (3,  71)  den  LawrcaU  des  Protektorats. 


; 


4 


-    79    — 


^^death  of  ihe  Lord  Prot€ctor*\    in   dem    derselbe   gleich  Mar- 
vell  von  dem  Sturm  bei  Cromwells  Tod  allegorischen  Ge- 
^■brauoh   machte   rühmt  Bleibtren,*)   der  mit   seinem  Lob 
^PgewiU  sparsam  ist,  den  hohen  ernsten  Ton;  und  nicht  mit 
Unrecht,   Aber   mit  noch   mehr  Recht  verdiente  Marvells 
Gedicht  Erwähnung  und  Lob;   vor   allem  aber   die   groß- 
artige   **Horatian    Ode'\    die    von    allen    englischen    Be- 
urteüem  gerühmt  wird*")  Es  ist  wirklich  nicht  einzusehen^ 
warum  der  Name  Marvells  weniger  bekannt  und  genannt 
werden  sollte  als  der  eines  D  e  n  h  a  m  oder  Waller. 
^^  Nun   treten    wir  in  die  Betrachtung    der   dem  Leben 

^"  und  der  Dichtung  nach  letzten  Periode  Andrew  Marvells 
ein,  die  von  der  Restauration  bis  an  sein  Ende 
reioht, 

^m  Dritte  Periode, 

H  (1660—1678.) 

^m  Es  wird  sich  auch  hier  empfehlen,  kurz  den  Q^ng  der 

historischen   Ereignisse   während   dieser  Zeit  sich   ins  Ge- 
dächtnis zu  rufen. 

Fast  genau  ein  Jahr  nach  Richard  Cromwells  Ab- 
dankung hielt  der  zurückgerufene  Karl  IL  seinen  Einzug  in 
London,  Gleich  am  Beginn  seiner  Regierung  zeigte  sich 
sein  Charakter,  indem  die  feierlich  versprochene  Amnestie 
nicht  gehalten  wurde;  die  hochkirchlichen  Artikel  wurden 
mit  Zwangsmaßregeln  durchgesetzt;  andererseits  fanden 
seine  katholisierendeu  Tendenzen  Ausdruck  durch  seine 
Vermählung  mit  einer  portugiesischen  Prinzessin.  Da  er 
fortwährend  Geld  brauchte^  wurden  die  Parlamentsmitglieder 
bestochen.  Im  übrigen  waren  ihm  seine  Maitressen  wichtiger 
als  alle  Staatsangelegenheiten;  dasselbe  gilt  von  seinem 
Bruder.  Auch  bloß  um  Geld  zu  erhalten,  gab  er  sein  Heer 
zum  Kriege  gegen  Holland  her^  den  Ludwig  XIV.  unglück- 
lich ftihrte.  Die  allgemeine  Unzufriedenheit  wuchs.  Da  man 
die  katholischen  Neigungen  des  Königs  kannte,  so  galten 
seine  Freunde,  die  Katholiken  und  der  Papst,  als  Anstifter 
alles   Unheils,   das   das  Volk  traf,   zum  Beispiel   auch   des 

»)  Gench.  il  engl  Lit,  /,  134/. 

3)  Vgl.  i4uch  Äitken,  "Poems'\  p,LXV,;  ferner  A.  Chr.  B e Q- 
fion,  *'EMa*fs*\  London  1896,  p,  84  f. 


m 


—    82     - 


ins  öffentliche  Leben,  in  die  Politik  eintritt,  hört  seine 
Dichtung  auf  ^  wenn  wir  unter  Dichtung  Lyrik  verstehen. 
Eigentlich  ^Dichter'^  wollte  ja  Marvell  nicht  sein:  er  hat 
seine  Produkte  der  Phantasie  bei  Lebzeiten  im  Polt  ver- 
schlossen gehalten.  Jetzt,  in  der  dritten  Periode»  bringt  er 
seine  politischen  Gefiihle  in  Verse,  seine  Anschauungen, 
Spott  und  Klagen ;  jedes  bedeutende  politische  Ereignis 
sowie  die  unterlaufenden  Privat-Intriguen  erwähnt  er  in 
seinen  Satiren,  oft  in  buntem  Durcheinander.  Sein  spotten- 
der Tadel  und  Unwille  richtet  sich  stets  gegen  das  wirk* 
lieh  Verkehrte  und  Schlechte,  wenn  auch  vielleicht  in  der 
Hitze  der  Parteigefechte  mancher  Gegner  zu  oft  vorge* 
nommen  wird.  Ausgezeichnet  ist  die  Charakterschilderung 
mit  einzelnen^  wenigen  Strichen:  dabei  entfaltet  er  einen 
glänzenden,  freilich  meist  bitteren  Humor.  Gewii3  ist  anzu- 
nehmen, daß  er  vieles  schrieb,  respektive  hinwarf,  was 
nicht  auf  uns  gekommen  ist.  Dieser  Flüchtigkeit  der 
Abfassung  entspricht  oft  die  schlechte  metrische  Form,  die 
rüde  Behandlung  des  heroic  coupht,  in  dem  die  meisten 
Satiren  veriai3t  sind. 

Nach  dem  Gedichte  „auf  den  Tod  des  Lord  Pro- 
tectors"  im  Jahre  1658  haben  wir  eine  Lücke  von  mehreren 
Jahren  in  Mar^^ells  poetischer  Tätigkeit;  auch  seine  Kor- 
respondenz fehlt  während  dieser  Zeit  So  wenig  diese  wohl 
ganz  unterbrochen  blieb,  so  wenig  wird  seine  Dichtung 
ganz  ausgeschaltet  gewesen  sein;  aber  erhalten  ist  uns 
nichts.  Eine  Erklärung  bilden  seine  teils  privaten,  teils 
offiziellen  großen  Reisen ,  die  in  jene  Zeit  fallen*  Die  Kor- 
respondenz beginnt  dann  Ende  166Ü|  während  die  Dichtung 
erst  1667  wieder  einsetzt,  also  nach  einer  Paus©  von  fast 
einem  Jahrzehnt. 

Das  Milieu  seiner  Satiren,  denn  das  sind  jetzt  seine 
Dichtimgen,  ist  das  der  führenden  Kreise  in  der  Zeit 
raffinierter  Schlechtigkeit,  in  der  sich  der  englische  Hof 
nur  mit  dem  zu  Paris  vergleichen  konnte ;  kurz  gesagt,  die 
Zeit  der  Restauration,  die  nur  eine  Übergangszeit  war  zur 
"ghrious  rebeiiion*\  jene  Zeit,  die  jedem  lebhaft  genug  vor 
Augen  steht,  wenn  er  den  Namen  Karl  IL  hört,  von  dem 
Thackeray   sagt,   er  war   ein  Schuft,   aber   kein  Snob.^) 

*)  Snahsbuch,  2.  Kap, 


4 
4 


4 


—    83 


L 


Andrew  Marvell  ist  ein  englischer  Juvenal  im  kleinen; 
ohne  etwas  zu  verschönern^  sagt  er  alles  direkt  heraus, 
nennt  die  Laster  bei  ihrem  wahren  Namen,  daher  er  oft 
Ausdrücke  gebraucht,  die  nicht  salonfähig  sind.  Den  Inhalt 
dieser  Satiren  zu  geben,  ist  eine  undankbare  Sache,  denn 
ohne  den  Witz,  der  nur  im  Original  richtig  wirkt,  ver- 
lieren sie  viel  von  ihrem  Keize,  ja,  sinken  oft  für  den 
heutigen  Leser,  der  nicht  vorher  mit  den  geschichtlichen 
Werken  oder  Memoiren  jener  Zeit  sich  vertraut  gemacht 
hat,  zu  einer  bloJ^en  Aufzählung  von  Namen  herab,  die 
freilich  fÜi*  die  Zeitgenossen  ihren  bestimmten^  wirksamen 
Begriffsinhalt  hatten. 

Das  erste,  aus  dem  Jahre  1667  erhaltene  Gedicht, 
von  ungeheurer  Länge,  eine  Verschronik  mit  satirischer 
Tendenz,  ist  betitelt:  ''The  last  Instructions  to  a  Painter 
about  the  Dutch  Wars,  1667/'  Die  Einkleidung  ist,  wie 
der  Titel  andeutet,  die,  daß  er  angeblich  einem  Maler  in 
den  Pinsel  diktiert,  was  er  malen  soll,  wobei  sich  natürlich 
Gelegenheit  ergibt,  über  alles  mögliche  zu  sprechen.^) 
Diese  Form  ist  nicht  originell,  was  Marvell  im  Titel  C'Lasi  ) 
und  in  den  Anfangszeiten  zugibt: 


^*Äfi€T  iwo  HitifxgSf  tww  our  Lady  ^'toif, 
To  end  Her  picturf,  daes  Hie  third  iime  waiV 


*^Dame  Staat''  hat  also  dem  Maler  schon  zweimal 
gesessen  und  jetzt  kommt  die  dritte  Sitzung.  Unter  den 
ersten  zwei  „Sitzungen"  meint  er  die  gleich  angelegten, 
aber  in  royalistischem  Sinne  gehaltenen  Gedichte  gleichen 
Titels  von  Waller^)  imd  Denham®).  Eine  genaue  Inhalts- 
angabe des  dreiteiligen,  rund  1200  Verse  umfassenden  Ge- 
dichtes würde  zu  weit  führen  und  hätte  keinen  besonderen 
Wert.  Zur  Erklärung  der  Bezüge,  die  heute  ohnehin  keine 


^)  Diese  Voratissetzung  gebort  demnach  in  die  Rubrik  „Ver- 
mischung der  KuQätgattungen^ :  Wenn  er  ,, Szene  auf  Szene^^  an 
uns  %*orüberziehen  läßt  ("^ ÄppleiofuHouse'') ,  so  ist  das  Vormisohuiig 
der  Dichtungtjgüttuugen:  Epik  und  Drama.  Das  Drama  bringt  er 
noch  ifi  die  Gedicbte  in  der  "Horatian  Ode^  und  dem  Gedicht  auf 
Cromwells  Tod.  Er  spricht  selbst  von  der  Vennischtmg  der  Kunst- 
gattungen :  '■poeiic  pkture,  paintcd  poetry''.  C^Instructwns  ,  .  /%  V.  8Ö6,) 

2)  BicUmary  of  Nat  Biogr,,  toi  LIX,  p.  1^3ff. 

»}  Ebenda  vol.  XIV,  p.  346 f. 


—    84    — 


vollständige  mehr  ist,  sei  auf  Gros arts  Noten ^)  verwiesen. 
Ich  begnüge  mich,  im  folgenden  die  technischen  Mittel 
seiner  Satire  aufzuzeigen  und  die  Vergleiche  zu  geben^  auf 
denen  der  Witz  beruht. 

Am  Eingang  setzt  er  von  dem  Maler  voraas,  da£  er 
ohne  Farben  malen  könne,  so  wie  England  ohne  Schiffe 
Seekriege  führen  muiJ ;  ein  Hieb  auf  die  Vernachlässigung 
der  Marine,  Den  Namen  des  Henry  Jermin  of  St.  Albans, 
eines  Glücksritters  und  Weiberjägers,  benutzt  er  zu  einem 
Wortspiel;  er  sieht  in  ihm  gleich  zwei  Heilige  vereint, 
St  German  und  St.  Alban.  Die  Herzogin  von  York,  ge- 
borene Nan  Hyde,  preist  er  als  die  größte  Erfinderin,  die 
von  der  Royal  Society  diplomiert  zu  werden  verdient;  sie 
habe  es  verstanden,  die  so  oft  gesuchte  Maschine  zu  er- 
finden, mit  der  man  ein  Mädchen,  nachdem  es  geboren 
hat,  wieder  zur  Jungfrau  machen  kann;  auch  bringe  sie 
es  zu  Stande,  königliche  Erben  in  weniger  Monaten  zu 
produzieren,  als  gewöhnliche  Mütter  sonst  aushalten  müssen; 
ein  direkter  Vorwurf  der  Kindeaunterschiebung,  Er  er- 
wähnt ihre  chemisch en  Studien,  denen  sie  es  verdankt, 
lästige  Eivalinnen  mittels  einer  harmlosen  Schokolade  ins 
Jenseits  befördern  zu  können.  Dann  spottet  er  in  sehr 
derben  Auadrücken  über  Lady  Castlemain,  eine  abgeblühte 
Dame^  die  sich  in  ihren  Groora  verliebte  und  sich  seinet- 
wegen frisch  aufpuderte.  In  längerer  Ausführung  wendet 
er  sich  nach  dieser  gesellschaftlichen  Satire  dem  Paria* 
ment  zu,  das  er  mit  leichtsinnigen  Spielern  vergleicht, 
die  um  das  Wohl  des  Volkes  würfeln.  Die  ^'Eüceise^',  die 
zur  Bestechung  nötig  sei,  nennt  er  ein  Ungeheuer  mit 
tausend  Köpfen,  das  alles  verschlingt.  Humorvoll  ist  die 
Zusammenstellung  : 

"Thick  was  tht;  moni»if^{=  Nebel);  and  the  FTouse  f=  Parl&meDti  /r«* 

thinr     (V,  285.) 

Die  Beden  im  Parlament  schildert  er  als  einen 
Kampf;  auf  der  einen  Seite  stehe  eine  einige  Partei,  die 
Korruption,  während  die  anderen  Parteien  zersplittert  sind. 
Den  Poeten  Edmund  Waller  läßt  er  als  frumpct-gmeral 
auftreten.  Marvells  Kenntnis  der  italienischen  Dichter  zeigt 


i)  Vol  l  p.  288 ff. 


—    85    — 

ein  Zitat  aus  "Orlando  (furioso)^  famous  in  rotnanc€^\  Wie 
seJir  der  Dichter  als  Parlamentsmitglied  die  eharakte- 
riatisehen  Gewohnheiten  der  einzelnen  kannte  und  aufs 
Korn  nehmen  konnte,  zeigt  der  Passus,  wo  einer  der 
Tapferen,  ermüdet,  om  sich  zu  erholen,  weggeht  '^to  breathe 
a  while  tobac'\  Die  Rettung  vor  dem  Überfall  der  Steuer- 
vorlagen briugt  an  diesem  Tage  "a  gross  of  Engltsh  geniry*\ 
der  er  hohes  Lob  widmet.  Auf  ihrer  Fahne  ist  der  heil. 
Dunstao  abgebildet,  wie  er  den  Teufel  in  die  Nase  zwickt. 
Ergötzlich  ist  die  Sentenz: 

'■  What  frosts  to  fruiU,  what  arsaiic  to  the  rate, 

What  to  fmr  Denham  mortui  dmcalate}) 

What  an  account  io  Carter H,  thai  and  mort 

A  parliament  ü  to  (Jie  Omncellor,"    (Vv.  841—344.) 

Geradezu  haarsträubend  aber  sind  Dinge,  deren  Wahr- 
heit leider  historisch  verbürgt  ißt: 

"Now  Moräaimt  may  witkin  Äw  castle-tower 

Imprison  parents   and  their  child  defloiver.''    (Vv,  349/860,) 

Man  muß  nur  staunen,  daß  Marvell  nicht  mehr  dar- 
über sagt,  aber  "nerves  were  tough  in  those  dags'%  wie 
Birrell  (p.  95)  bei  einer  andern  Gelegenheit  meint. 

Clarendon,  den  Lord  Chancellor  —  den  Verfasser  der 
*'Hisiory  of  the  Rebetlion'*  — ^  dem  er  später  eine  eigene 
Satire  widmet  und  der  der  Gegenstand  seines  besonderen 
Hasses  war,  vergleicht  er  ironisch  mit  dem  allmächtigen 
Jupiter,  wie  er  im  Palast©  thront,  eifrig  um  den  Frieden 
besorgt,  damit  —  sein  Geld  in  Sicherheit  sei,  so  die 
höchsten  Angelegenheiten  des  Staates  seinen  Privatinter- 
essen unterordnend.  Mitten  hinein  fällt  eine  Äußerung  über 
die  Aufgabe  der  Dichtung,  übereinstimmend  mit  seinen 
anderweitig  ausgesprochenen  Grundsätzen:  durch  Bloß- 
stellen und  Lächerlichmachen  des  Lasters  will  er  bessern ; 
also  die  Horazische  Nützlichkeits-  oder  Zweckbetonnng 
in  der  Dichtxing.  Dann  spottet  er  über  die  englische  Flotte: 
im  ersten  Jahre  des  Konfliktes  zeigte  man  sie  bloß,  im 
zweiten  wurde  sie  geteilt  und  im  dritten  war  sie  überhaupt 
nicht  mehr  vorhanden.  Ahnlich  charakterisiert  er  das  Ver^ 
halten  des  Lord-Kanzlers  im  Augenblicke  der  Gefahr  durch 


1)  Anspielung  auf  die  erwühnte  Vergiftung  8.  84. 


—    86 


Holland:  zuerst  gibt  er  Beföhle,  dann  widerruft  er  sie  und 
zuletzt  gibt  er  überhaupt  keine.  Marvell  benutzt  also 
wiederholt  das  Moment  der  komischen  Aufeinanderfolge, 
die  Klimax.  Oder:  er  sagt  etwas  atis  und  macht  dann 
solche  Einschränkungen,  daJi  die  erste  Aussage  aufgehoben 
und  nichtig  ist.  Zum  Beispiel:  dem  Führer,  der  gegen 
die  Holländer  ziehen  soll,  sagt  man,  es  stehe  alles  zu 
seiner  Verfügung;  nur  sind  die  SchiflFe  ungetakelt,  die 
Forts  unbemannt,  das  Geld  ausgegeben,  Monsieur  Lewis 
(Ludwig  XrV.  von  Frankreich)  will  trotz  Versprechungen 
und  Verwandtschaft  nichts  von  Hilfeleistung  wissen,  dafür 
schickt  er  ein  gefühlvolles  Teilnahmsschreiben  mit  Zitaten 
aus  Seneca.  Nun  bekrittelt  er  den  unglücklichen  Krieg 
gegen  die  Holländer.  Man  schickte  den  berühmten  Monk 
gegen  sie,  aber  erst  als  De  Buyter  schon  in  die  englischen 
Gewässer  eingedrungen  war.  Hier  finden  wir  wieder  das 
persönliche  Hervortreten  des  Dichters  mit  den  wohl- 
bekannten AVorten  "So  have  I  seen  .  .  /*  Dann  setzt  eine 
Schlachtschilderung  ein:  Sprag  eilt  beim  Herannahen  der 
Holländer  von  Sheniess  nach  Chatham,  er  in  der  Front, 
die  Mannschaft  ihm  nach :  was  gewöhnlich  als  Zeichen  des 
Mutes  gilt,  wenn  es  gegen  den  Feind  geht,  ist  natürlich 
hier,  auf  der  Flucht,  eine  LächerUchkeit  Er  kontrastiert 
sodann '  die  Zeiten  an  dem  Aussehen  der  Schiffe.  Den 
Namen  des  Kapitäns  Daniel  benutzt  er  wieder  zu  einem 
Wortspiel:  als  dieser  sich  an  Bord  der  Übermacht  gegen- 
über sah,  hielt  er  sich  für  Daniel  in  der  Löwengrube; 
nur  war  er  weniger  kühn  und  zog  es  vor  zu  entfliehen. 
Auch  den  Namen  des  Schiffes  **Lo//a?  Londmt'*  benutzt  er 
zu  einem  Wortspiel,  indem  er  sagt,  daÜ  „London"  jetzt 
zum  dritten  Male  brannte:  —  früher  nämlich  die  Stadt 
London  1666  und  noch  früher,  1665,  ein  Schiff  „London'^. 
Bei  der  Schilderung  dieser  unglücklichen  Schlacht  von 
Chatham  (12:  Juni  1667)  vergeht  dem  Dichter  der  Humor 
und  die  ganze  Bitterkeit  bricht  durch.  Dann  aber  verhöhnt 
er  die  Sucht,  für  da^  Unglück  einen  Sündenbock  zu  finden; 
er  stellt  ironisch  eine  Reihe  von  Fragen,  wer  an  dem  und 
dem  Unglück  schuld  sei,  und  immer  ist  die  Antwort  im 
Reim  *^Petr,  so  daÜ  wir  durch  sechzehn  Zeilen  hindurch 
diesen  Reim   haben.    Er  gibt   ironisch  recht:    gewiJJ,  hat 


i 


4 


■^    8T    — 


I 


I 


der  Erbauer  Pett  die  Schiffe  überhaupt  nicht  gebaut,  so 
hätten  sie  nicht  verlorengehen  können.  Dann  beschreibt  er 
den  Wiederzusammentritt  des  vertagten  Parlamentes,  neue 
Känke  von  Seite  Hjde- Ciarendons  und  des  Speakers 
Turner,  des  Koches,  wie  er  ihn  nennt,  der  es  wohl  ver- 
stand, jede  „Sauce"  für  Whitehalls,  das  heiJit  des  Königs 
Verdauung  herzurichten.  Auf  Turner  geht  auch  eine  etwas 
derbe  Stelle: 

''His  patimt  püi  ke  eauld  hold  langer  (hau 

An  urinal,  afui  nt  like  anff  henJ'    (Vv*  831/832.) 

Zum  Schlüsse  läßt  er  von  dem  fiktiven  Maler  den 
König  malen,  in  einer  Vision,  ein  nacktes  AVeib  vor  ihm, 
mit  oflenem  Munde,  gefesselten  Händen  und  einer  Binde 
vor  den  Äugen,  aus  denen  Tränen  flieiJen.  Während  der 
König  nachdenkt,  ob  es  England  oder  der  Friede  war, 
erscheint  schon  eine  neue  Vision,  der  Geist  seiner  Vor- 
fahren Heinrichs  IV.  von  Frankreich  und  Karls  L  Der  erste 
zeigt  ihm  seine  Wunde  in  der  Brust  und  Karl  zeigt  ihm 
den  roten  Streifen  um  den  Hals  und  spricht  leise  Worte 
2U  ihm.  Infolgedessen  beschließt  er  am  Morgen  Clarendons 
Absetzung.  Am  Schlüsse  spielt  Marvell  auf  Karls  IL  Kunst- 
liebhaberei an,  der  ja  selber  malte  und  dichtete. 

An  diese  Satire,  das  heißt  an  diesen  ersten  Teil  der- 
selben, der  ernst  und  hoffnungsvoll  endet,  schließt  sich 
eine  Bitte  "7b  the  King'':  Wenn  man  die  Sonne  mit  dem 
Fernrohr  betrachtet,  so  sehe  man^  daß  sie  Flecken  auf- 
weist, die  sie  nie  verlassen,  die  ihre  Krankheit  sind.  So 
möge  auch  der  König  die  Muse  nicht  tadeln^  die  ihm  die 
Flecken  zeigte,  die  sein  Licht  entstellen,  jene  Leute  näm- 
lich, die  Königreich  und  König  trennen  wollen,  indem  sie  \ 
sich  zwischen  Volk  und  Herrscher  stellen. 

Der  *'Second  Part'*  der  *'Imtructi4)tis'\  bei  Grosart 
unter  dem  Subtitel  ^' Advice  to  a  Pmnter*%  wendet  sich 
gegen  den  Herzog  von  York,  späteren  James  II.,  und 
seinen  papistischen  Kreis;  dessen  Überzeugung  sei,  ein 
Prinz  von  Geblüt  dürfe  alles  tun: 

**And  I  do  Batf  ii,  therefare  f«V  ihe  ImV*    (Y,  36 ) 

Marvell  bedauert  die  zweite  Gattin  desselben,  die  un- 
glückliche   gold lockige   Maria   Beatrix   d^Este,    die   in   ein 


—    88    — 


fremdes  Land  keim,  schwacher  Hoflhungen  wegen,  einst 
Königin  zu  werden,  die  aber,  gleich  ihrer  Vorgängerin 
von  der  ansteckenden  Krankheit  ihres  ansBchweifenden 
Mannes  infiziert,  jung  starb.  Als  Ratgeber  all  dieser 
Schlechtigkeit  betrachtet  er  den  demütigen  Heuchler 
Clifford.  Auf  einen  andern  Ratgeber,  Lord  Bellasis, 
mÜDzt  der  Dichter  das  herbe  Wortspiel  (Vv.  83 — 86) : 
"The  hera  once  got  hanwur  Inj  Im  mcord : 
He  got  hie  weaith  by  breakmg  of  Hü  word, 
And  nmo  his  daugkUr  he  hath  got  tütth  child,** 

Am  Schlüsse  spricht  sich  dennoch  Vertrauen  und 
Hoffnung  auf  Besserung  aus-  Klügere  als  die  Genannten 
hätten  schon  versucht,  England  zu  ruinieren  und  es  hat 
es  ausgehalten.  Um  so  eher  werde  es  den  Bestrebungen 
solcher  Toren  entgehen. 

Wieder  schließt  sich  daran  eine  Anrede  **2b  ihe  King**, 
den  er  bittet,  Mitleid  zu  haben  mit  dem  Throne,  der 
nicht  durch  ihn,  sondern  durch  andere  erschüttert  werde. 
Er  mahnt  ihn,  sich  zu  hüten,  daß  er  nicht  Krone  und 
Leben  zugleich  durch  einen  falschen  Bruder  (James)  und 
einen  falschen  Freund  (Talbot)  verliere.  Eine  ziemlich 
deutliche  Sprache. 

Im  '*Tkird  Part*'  oder  ^'Fariher  Instructions'*  endlich 
will  er  Rom  und  London  auf  einem  Gemälde  haben,  um 
Gericht  zu  halten  über  die  zwei  ausgearteten  Herrscher; 
Karl  I.  und  Aurelius  klagen  über  ihre  entarteten  Nach- 
folger, Karl  IL  und  den  neuen  Papst,  die  Lieber  zu  ihren 
Maitressen  als  zu  ihren  Regierungsgesehäften  gehen.  Er 
verspottet  den  Staatsrat,  wo  bei  vollen  Bechern  über  das 
Soliicksal  einer  armseligen  Nase  entschieden  wird  —  eine 
Anspielung  auf  die  Grausamkeit  gegen  Sir  John  Coventry, 
die  öfters  wiederkehrt.  Zum  Schlüsse  läßt  er  die  Olympia 
malen,  Karls  neueste  Maitresse  Neil  Gwynne,  die  Schau- 
spielerin, im  Kreise  ihrer  Anhänger.  Dieser  Teil  schließt 
bezeichnenderweise  nicht  mehr  **To  the  King'\ 

Wir  haben  sicher  anzunehmen,  daß  ein  solch  um- 
fangreiches Gedicht  nicht  in  einem  Atem  geschrieben 
wurde,  auch  nicht  einmal  der  erste  Teil.  Daß  der  zweite 
und  dritte  Teil  spätere  Anhängsel  sind,  ist  evident.  Am 
80.  August  1667  wurde  Clarendon,  der  in  Ungnade  gefallen 


p 

4 


—    89    - 


» 


^ 


war,  abgesetzt.  Der  gröüte  Teil  von  Parti  ist  offenbar 
vor  diesem  30,  August  geschrieben,  weil  Clarendon 
noch  als  in  voller  Macht  sitzend  und  mit  solchem  Haß 
geschildert  wird,  wie  man  ihn  dem  gefallenen  Gegner 
nicht  mehr  entgagenbringt.  Mit  den  Zeilen  der  Vision  des 
Königs  ( Vv.  877/878) 

*'The  wonärons  night  the  penswe  king  revohes, 
And  rising  straighi,  on  Hitd^r's  disgrace  rcmhfs/* 

sind  wir  beim  30*  August  angelangt  und  die  hoffnungs- 
volle Stimmung  des  Dichters  am  Schlüsse  entspringt  der 
Voraussetzung,  daß  von  nun  an  mit  der  Entfenmng 
Ciarendons  und  dessen  üblen  Einflusses  auf  den  König 
wieder  bessere  Zeiten  für  England  kommen  würden. 
Zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Teile  miiß  ein  größerer 
Zwischenraum  liegen^  in  dem  Clifford  sich  zu  einer  äiiu- 
lichen  Stellung  hinautjgearbeitet  hatte  wie  vordem  Claren- 
don. Auch  ist  in  diesem  zweiten  und  dritten  Teile  von 
Holland  nicht  mehr  die  Bede.  Der  zweite  Teil  scheint  im 
Jahre  1669  geschrieben  zu  sein,  denn  in  diesem  Jahr©  war 
es^  wo  die  katholischen  Element©  unter  der  Führung  des 
Herzogs  von  York  die  Oberhand  gewannen.  Grosart  ver- 
sucht keine  Zeitbestimmung  durchzuführen,  weist  aber  in 
einer  Anmerkung^)  darauf  hin,  daß  der  Name  Danby^  der 
im  Gedichte  vorkommt,  falsch  sein  muÜ;  denn  der  Titel 
eines  Earl  of  Lktnhif  wurde  erst  1674  verliehen  and  so 
spät  ist  das  Gedicht  sicher  nicht  entstanden,  denn  da 
lebte  der  geschilderte  Clifford  gar  nicht  mehr.  Auch 
andere  Gründe  können  angeführt  werden :  Für  1674  paßt 
die  ganze  Konstellation  nicht  mehr;  1674  war  ein  neuer 
Krieg  mit  Holland^  den  Marvell  gewiü  nicht  unerwähnt 
gelassen  hätte.  Ferner  würde  sich  dann  ergeben,  daß  der 
sogenannte  dritte  Teil  vor  dem  zweiten  geschrieben  wäre. 
Aus  allen  Gründen  können  wir  also  für  Part  II  das  Jahr 
166!^  ansetzen,  —  Part  HI  ist  frühestens  Ende  1670  ab- 
gefaßt,-) das  ergibt  sich  aus  den  Anspielungen  auf  Frank- 
reich    und    aul*    **(h('  phfjer*\    Neil   Gwynne,  jene   Schau- 

»)  Bä.  l,  319, 

-)  Aitken  vertauscht  die  Stellung  des  hier  sogenannten  zweiten 
und  dritten  Teiles  und  nimmt  für  seinen  zweiten  Teil  C'Forther  Instr/') 
l&il^  für  den  dritten  C'Advice")  1678  als  Entstehungeaseit  an. 


00 


Spielerin,  die  dem  König  in  Dr^'dens  Stücken  so  gefallen 
hatte,  daß  er  sie  zu  seiner  Maitresse  machte. 

So  sind  diese  ''Instmciions  to  a  Painter'  ein  ausführ- 
liches Zeitgemälde,  von  nicht  engbegrenztem  Lokal,  in  dem 
er  mit  beizender  Ironie  und  schlagendem  Witz  alle  mög- 
lichen Personen  und  Ereignisse,  Parlamentösitzungen  und 
Schlachten,  Betrügereien  und  Liebeleien,  List  und  Ge- 
walt etc.  etc.  vorfuhrt. 

Mitten  in  den  langen  Zeitraum  hinein,  während 
welchem  diese  vielen  Hunderte  Verse  geschrieben  wurden, 
fallen  auch  noch  andere  selbständige  Satiren.  Claren- 
don, den  Marvell  schon  in  den  *' Instructions*'  so  arg  her- 
nimmt, ist  der  Gegenstand  derselben;  es  ist  begreiflich, 
daß  Marvell  seinen  politischen  Gegner  nicht  mit  zu  hellen 
Farben  zeichnet. 

'*  Ciareudon* s  HoHse-Wünnin(f\  in  viel  lebendigerem 
Tone  und  anziehenderer  Form  geschrieben»  besteht  aus 
achtundzwanzig  Strophen  zu  je  vier  Zeilen  von  viertaküg- 
jambisch-anapästischem  Rhythmus  in  gekreuzter  Reim- 
stellong.  Die  Äbfassungazeit  dieser  Satire  läÜt  sich  ziemlich 
genau  feststellen:  Sie  setzt  Clarendon  noch  auf  dem 
Gipfel  seiner  Macht  voraus  und  erwähnt  andererseits  das 
„grolie  Feuer**  von  London  schon;  der  Tag  dieses  Ereig- 
nisses, der  2,  September  166B,  ist  der  temiitms  a  quo  und 
die  Absetzung  Clarendons  am  30-  August  1667  der  tertninus 
ad  qtienu 

Marvell  bezichtigt  Clarendon  in  diesem  Gedichte 
direkt  verbrecherischer  Handlungen.  Clarendon  hatte  sich 
ein  prächtiges  Palais  erbaut^  Clarendon-House,  und  zwar 
nach  Marvells  Vorwurf  auf  öffentliche  Kosten.  Gleich  ein- 
leitend und  durch  den  selbstverständlichen  Ton,  in  dem 
das  gesagt  wird,  um  so  krasser  wirkend,  nennt  er  ihn  die 
Ursache  des  Krieges,  der  Pest  imd  des  Feuers,  den  Be- 
trüger von  England  und  Flandern.  Er  läßt  Clarendon  die 
Mittel  und  Wege  bedenken,  sein  Haus  möglichst  billig  zu 
bauen.  Strophe  4  ist  zu  frivol,  um  wiedergegeben  zu 
werden.  Um  ganz  klassische  Beispiele  nachzuahmen,  er- 
bettelte er  sieh  vor  allem,  wie  Dido,  ein  Stück  Land,  das 
seinen  Namen  trug  —  ein  Wortspiel  mit  seinem  eigent- 
lichen Namen  Hyäe  —  hide  —  Haut,  Er  hatte  seinem  könig- 


4 

^ 
4 


—     91     — 


» 


^ 
^ 


liehen  Herrn  so  manches  Luftschloß  gebaut,  er  selber 
wollte  aber  in  einem  solideren  Gebäude  wohnen.  Geld 
nahm  er,  wo  er  es  nnr  kriegen  konnte;  ja^  der  Teil  der 
Geistlichen  entging  nur  mit  Not  seinen  Händen;  —  zu- 
gleich ein  scharfer  komischer  Seitenhieb  auf  die  Geist- 
lichkeit wie  bei  Goetlie  und  Heine.  Der  folgende  Anwurf, 
daß  Clarendon  Steine  von  St.  Paul's  gestohlen  habe,  ist 
der  ungerechteste,  denn  Clarendon  bezahlte  die  zur  Re- 
paratur von  St,  PauTs  Caihedral  bestimmten  Steine,  die  er 
für  sich  benutzte  (Grosart),  Er  trieb  Steuern  ein  und  schwur, 
seine  Patente  nicht  zurückzunehmen  ''no,  would  the  wholc 
parUameni  kißs  hini  behhur,  Da  er  auÜerdem  den  königlichen 
Steuereinnehmer  zum  Freund  hatte,  so  war  der  Palast 
bald  fertig,  von  einer  Kuppel  gekrönt,  damit  er  angesichts 
der  niedergebrannten  Stadt  sich  seines  Besitzes  um  so 
mehr  freuen  könne.  Der  Dichter  findet  die  Lage  des  Ge- 
bäudes sehr  praktisch^  weil  Clarendon  durch  Hijde  Park 
hindurch  leicht  nach  Tißhurn  kommen  könne  und  auch  der 
Stall  nahe  ist,  damit  er  nicht  weiter  habe  als  ein  Ochse, 
wenn  er  einst  seiner  Verbrechen  wegen  gleich  einem 
solchen  öffentlich  am  St,  James'  fair  geröstet  würde. 

Auch  in  diesem  Gedichte  arbeitet  Marvell  viel  mit 
Vergleichen;  aber  hier  sind  sie  nicht  unwillkommen, 
der  gan^e  Witz  liegt  in  einem  gelungenen  Vergleiche, 
Wieder  legt  er  sich  keine  Schranken  auf:  Vergleiche  aus 
der  Zoologie  —  Eisvogel^  Salamander,  Ochsen  —  aus  der 
Geschichte  —  Rhodope,  Amphion,  Dido,  Pharao  —  kommen 
nebeneinander  vor.  Einzelne  Stellen  sind  wohl  absichtlich 
übertrieben  und  ungerecht,  manche  auch  ziemhch  derb, 
aber  das  Ganze  wirkt  erheiternd. 

Marvell  war  freundlich  genug,  für  das  neue  Hans 
auch  eine  Inschrift  zu  verfassen:  *' lipon  His  noi(se'\  die 
der  glückliche  Besitzer  wohl  weder  bestellt  hat  noch  an- 
bringen Heß ;  in  derselben  wird  es  als  die  Gruft  bezeichnet, 
die  von  den  holländischen  Geldern  für  seinen  Vaterlands- 
verrat erbaut  worden  sei,  in  der  die  Gebeine  des  betro- 
genen Paulus,  Bestechungen,  Schandgelder  etc.  liegen. 
Formell  ist  das  kurze  Gedicht  sehr  schwach;  es  ist  eben 
gar  nicht  ausgearbeitet;  es  sind  ud gleichtaktige  jambische 
z^euen      ^      ^  ^  ^      ^  g. 


n  — 


Auch  ein  Epigramm  ^^Upon  ffisf-Clarendon^s)  Grand- 
children'*  sclmeb  Marvell,  das  zum  ersten  Male  bei  Grosart 
abgedruckt  ist:  Ciarendons  Enkel  sind  die  Kinder  seiner 
Tochter  Anne  Hyde,  Gemahlin  des  Herzogs  Jakob  von 
York;  ein  Sohn  war  gestorben,  der  andere  dem  Tode  nahe 
und  Marvell  sieht  darin  ein  gerechtes  Opfer  tiir  Lady 
Denhams  Geist,  die  von  der  eifersüchtigen  Herzogin,  eben 
Nan  Hyde,  mit  Schokolade  vergiftet  worden  sein  soll. 

Um  dieselbe  Zeit  (1667)  entstanden  ist  auch  ein  Ge- 
dicht, das  wir  eine  pathetische  Satire  nennen  können, 
die  auch  zu  dem  holländischen  Kriege  lq  Bezug  steht^ 
betitelt  '*The  Loyal  Scot"  und  geschrieben  in  keroic  couplets. 
Es  hat  eine  literarische  Anknüpfimg.  Cpt,  Douglas,  der 
Held  des  Gedichtes,  war  bei  Chatham  auf  seinem  Schiffe 
von  den  Holländern  verbrannt  worden  (12*  Juni  1667).  Sein 
Geist  gelangt  in  die  Unterwelt  und  dort  wollen  ihn  die 
alten  Heroen  würdig  begniUen.  Zu  diesem  Zwecke  be- 
auftragen sie  den  Geist  des  Dichters  G I  e  v  e  1  an  d  ^)  (1630  bis 
1669),  der  ein  lateinisch-englisches  Gedicht  ^^Rebellis  Scotas** 
geschrieben  hatte,  in  welchem  er  die  schottische  Nation 
satirisierte,  gleichsam  zur  Strafe  und  BuJ3e  dafür,  den  neu--* 
angekommenen  Helden,  der  ja  ein  Schotte  war,  in  Versen 
zu  begrüBen*  Diesem,  also  einem  bekehrten  Gegner,  ist 
das  Lob  Douglas^  in  den  Mund  gelegt.  Er  beginnt  mit 
der  Preisung  von  Douglas'  Schönheit,  Jugend  und  Kühn- 
heit tmd  schildert  nun  seinen  Heldentod,  „Und  dieser 
Held  war  ein  Schotte!  —  Darum  keine  Feindschaft  mehr 
zwischen  England  und  den  Schotten!  Warum  auch?  Hat 
die  Natur  die  beiden  Länder  so  getrennt?  Soll  ein  da- 
zwischenfließender  Flui]  alles  so  scharf  trennen,  daß  Feind- 
schaft nötig  ist?  Wohnt  an  einem  Ufer  die  Tugend  und 
am  andern  das  Laster?  Nein,  nicht  die  Natur  macht  eine 
Grenze,  die  Geistlichkeit  ist  es,  die  sie  für  gut  findet. 
Alle  Litaneien  sind  darum  falsch,  weil  die  Stelle  fehlt  r 
,Und  erlöse  uns  vom  Zorn  des  Bischofs*.  Wenn  auch  König- 
reiche sich  vereinen,  die  Chnrch  stellt  sich  immer  in  Oppo- 
sition zur  KirkJ)  Sie  hetzen  alle  auf,  um  alle  zu  beherrschen. 

1}  "Dietionanj  of  Nat  Biogr/',  vol.  XI,  p,  51, 
2)  Auch  bei  Drummond  findet  sich   ein  Epigramm   über  die 
Feindseligkeit  von  dmrch  und  kirk  (Poets  of  Great  BrUain,  vol.  IV,  p.  689), 


I 

I 
I 
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—     93 


I 


I 


Was  das  Meer  vereint  —  England  und  Schottland  — ,  das 
trennt  ein  Bischof.  Eä  gibt  doch  nur  zwei  Nationen  anf  der 
Welt,  die  Guten  und  die  Bösen,  und  diese  sind  überall 
vermischt.  Drum  soll  ein  König,  ein  Glaube,  eine  Sprache, 
«ine  Insel  sein;"  Am  Schlüsse  entschuldigt  sich  CJeveland- 
Marvell  wegen  seiner  langen  Ansprache  und  bittet  Douglas, 
ihm  seine  früliere  Satire  zu  vergessen.  Dieser  erwidert, 
daß  er  wegen  seiner  Aufrichtigkeit  sein  Freund  sein  wolle 
und  warnt  ihn  nur,  daU  er,  seine  Verwandlung  fortsetzend, 
nicht  noch  gar  ein  eifernder  schottischer  Presbyter  werde. 
Dieses  Lobgedicht,  in  dem  zugleich  Marvells  satirische 
Ader  zum  Ausdruck  kommt,  benutzt  wie  '^Tom  May's 
DeaW  das  tu'alte  Lukianische  Motiv  der  Toten- 
gespräche, der  Gespräche  in  der  Unterwelt.  Zugleich 
haben  wir  hier  einen  krassen  Fall  von  Vermischung 
antiker  und  christlicher  religiöser  Vorstellungen,  denn 
Cpt.  Douglas  sehnt  sich  beim  Brande  des  SchiflFes  in  den 
Himmel  hinauf  und  dann  kommt  er  doch  in  die  elysischen 
Gefilde  hinunter.  Grosart  bemerkt,  daJJ  aus  dem  abrupten 
Eingang  des  Gedichtes  (Zeile  15:  ''Not  so  brave  Douglas. .  /*)^) 
hervorgehe,  daJi  es  urspiünglich  nicht  selbständig  geplant 
war,  sondern  einen  Teil  der  *' Instructions**  bildete.  Ich 
wüJJte  aber  nicht,  an  welcher  Stelle  der  ''Instructions" 
man  dieses  Gedicht  und  diese  Anknüpfung  "(Not  so  .  ,  .'*) 
passend  einschieben  könnte.  Deshalb  glaube  ich  eine  bessere 
Erklärung  vorschlagen  zu  können:  Ich  halte  die  Worte 
*'Not  so  brave  Douglas  .  .  ."  einfach  für  eine  direkte  An- 
knüpfung an,  respektive  Widerrufung  von  Clevelands 
Satire  "Eebeüis  Scotus'\  die  mit  den  Versen  endigt: 

^*A  Scotj  whcn  from  the  ^allows-tree  goi  laase 
Dropä  inio  StyXj  and  iums  a  Solana  goose," 

Daraui'  paßt  ganz  gut  aus  dem  Munde  des  zur  Buße 
verhaltenen  Dichters  Cleveland  das  revo zierende 

''Not  8o  brave  Douglas ,  .  /' 

Das  wiU  ja  offenbar  auch  Zeüe  14  sagen. 

In  der  Mitte  des  Gedichtes  vergessen  wir  ganz,   daß 


1)  Aitken,  "Pom«",  p.  USß,  druckt  "As  so. 
Sinn  ergibt. 


was  keinen 


94 


wir  es  mit  einem  gewissen  Douglas  zu  ton  haben,  wir 
hören  nur  eine  ganz  allgemeine  Apologie  für  die  Einheit 
von  England  und  Schottland  sowie  eine  Verwünschung 
der  alles  trennenden  Kirche.  Die  schonen  Gedanken,  die 
Marvell  hier  ausspricht,  goldene  Worte,  hat  er  selbst  nicht 
immer  befolgt;  erinnern  wir  uns  seiner  Satire  gegen 
Holland  und  des  Hasses  gegen  die  Spanier,  Aber  jet^t 
wuUte  er^  daß  die  Engländer,  so  wie  die  anderen  Völker, 
selbst  schuld  waren  an  ihrem  jeweiligen  Erfolg  oder  Miß- 
erfolg. Man  wird  es  nicht  als  Indifferentismus  ansehen, 
sondern  als  abgeklärten  Standpunkt  über  den  niedrigen 
Parteiungen,  wenn  er  sagt: 

*'The  World  in  all  doth  hui  iwo  natums  bear: 

The  good,  ihe  baä  —  and  (hwe  miaed  cvcjywftere.** 

Die  folgenden  zwei  Gedichte  gehen  auf  ein  Ereignis 
des  Jahres  1671  zurück  Ein  gewisser  Colonel  Bio  od  ver- 
suchte die  englische  Königskrone  aus  dem  Tower  zu 
stehlen,  um  mit  diesem  Pfand  in  den  Händen  seinen  ver- 
meintlich oder  wirklich  zu  Recht  bestehenden  Forderungen 
rückständiger  Zahlungen  aus  dem  Staatsschatz  größeren 
Nachdruck  zu  verleihen.  In  der  Verkleidung  eines  Geist- 
lichen wäre  ihm  der  Streich  auch  gelungen,  wenn  er  nicht 
im  letzten  Momente  abgestanden  wäre,  weil  er  den  ent- 
gegentretenden AVächter  nicht  töten  wollte.*)  Diesem  Vor- 
fall widmet  MarveU  zwei  Gedichte,  ein  engUsohes  und  ein 
lateinisches  von  je  acht  Zeilen,  "üpofh  Blood's  Stealing  the 
Crown^*  in  heroic  Couplets  und  „Bbidius  et  Coröna'\  mit 
ziemlich  übereinstimmendem  Inhalt.  Die  Tat  selbst  bietet 
ihm  nur  den  Hintergrund  zur  Satire  gegen  den  Klerus, 
Die  Pointe  ist  die,  daß  Bloods  Streich  gewiß  geglückt 
wäre,  hätte  er  mit  dem  Prieaterrock  auch  die  Priester- 
grausamkeit angenommen.  Eine  solche  Kleinigkeit  nähert 
sich  natürlich  einem  Epigramm,  mit  welchem  Titel  man 
im  17.  Jahrhundert  auch  noch  längere  Gedichte  bezeichnete; 
hier  ist  das  Wort  schon  wegen  des  "üpon**  zu  ergänzen» 
Auch  ist  eine  Zweiteilung  vorhanden,  wie  sie  nach 
L  es  sing  das  Charakteristikum  für  das  Epigramm  ist. 


I 

I 


J)  Grosart,  pol  I,  p,  383/, 


—    96    — 


I 


Zwischen  1670^)  imd  16743),  nach  Grosart«)  im 
Jahre  167B  geschriebeu,  ist  die  pathetische  Satire  ''Britannia 
and  Iialei(jh'\  gleichfalls  in  htroic  coupleiH,  aber  mit  sechs 
'Hriplets"  an  verschiedenen  Stellen.  Die  Einkleidung  ist,  wie 
der  Titel  bereits  vermuten  läßfc^  ein  Dialog,  zwischen  der 
personifizierten  Britannia  und  dem  groüen  Raleigh,  der  sich 
aber  sehr  einem  Mo  n o  1  o g  nähert^  indem  Raleigh  im  ganzen 
nur  zwölf  Zeilen  spricht.  Ein  dramatisches  Element  ist 
schon  im  Eingang  nicht  zu  verkennen:  eine  Person  tritt 
hilferufend  auf,  der  Angerufene  erscheint  und  fragt  nach 
dem  Grunde,  und  das  bietet  den  AnlaÜ  zur  Erzählung.  Dem 
Tone  nach  Ist  dieses  Gedicht  eines  der  stärksten^  heftigsten ; 
^ie  Angriffe  gegen  den  König,  der  aber  teilweise  noch 
immer  als  der  Irregeführte  hingestellt  wird^  gegen  die 
GeistUchkeit,  den  Thronfolger,  die  Minister  und  Katgeber, 
wie  Lauderdale,  sind  so  vehement,  daß  es  ganz  selbstver- 
ständlich ist,  daß  so  etwas  nicht  gedruckt  werden  konnte. 
Die  entflohene  Britannia  erzählt  dem  erscheinenden  Raleigh 
von  der  Maitressenwirtschaft  am  Hofe,  von  der  Ungerechtig- 
keit Karls,  den  sie  umsonst  durch  Erinnern  an  die  schot- 
tischen Revolutionen  auf  gute  Wege  zu  bringen  gesucht 
habe.  Marvell  droht  also  direkt  mit  Revolution  und  stellt 
eine  Hinrichtung  auch  dieses  Königs  als  nichts  Unmögliches 
hin,  Auch  seinen  Holt  gegen  die  Franzosen,  die  den  Hof 
korrumpierten,  verbirgt  er  nicht.  Bemerkenswert  ist  die  Ein- 
führung von  '[famed  Spenser\  der  auf  Britannias  Veran- 
lasstuig  in  *'lofiy  notes*  Titdor's  blessed  rate  besingt  und  Karl 
die  groUe  Elisabeth  zum  Vorbild  hinstellt.  Wie  Grosart 
meint,  handelt  es  sich  hier  nicht  um  den  großen  Spenser 
in  persona,  sondern  es  soll  eine  Anspielung  auf  eine  Satire 
jener  Tage  sein,  in  welcher  Spenser  oder  sein  Geist  redend 
eingeführt  worden  war.  Diese  Form  ist  nichts  Ungewöhn- 
liches ;  auch  Marvell  fuhrt  den  Geist  eines  Dichters  redend 
ein  —  in  *^Thfi  Lmjal  Scof  und  '*Ttfm  3lay*s  Deatli\  Da  uns 
aber  nicht  der  mindeste  Anhaltspunkt  über  die  Existenz 
einer   solchen   j^Spensersatire"    vorliegt  und  Grosart  seine 

1)  Grosart,  voL  i,  p.  334^  Anm. 

^  Weil  der  dariu  erwähcte  Osbome  nur  bis  1674  diesen  Titel 

von  diesem  Jahre  an  nber  Eari  of  Daoby  hieß. 
«)  Grosart^  voL  IV,  p.  435, 


—    96    — 


Vermutung  durch  nichts  stützen  kann,  dürfen  wir  wohl  an- 
nehmen, daÜ  Marvell  hier  den  grolien  Spenaer  selbst 
einfuhren  will,  ohne  den  Umweg  einer  solchen  zeitgenössischen 
Satire.  Die  zeitliche  Entfernung  bildet  für  den  Dichter  kein 
Hindernis;  auch  ^E^aleigh^  ist  der  Geiet  eines  längst  Ver- 
storbenen, eine  dichteiische  Lizenz.  Für  diese  Ansicht  spricht 
auch  das  Epitheton  ,,f(tmed'*  Spettser,  das  man  eher  dem 
wirklichen  Spenser  zulegen  wird,  als  einer  dichterischen 
Nachbildung.  Spenser  hat  ja  tatsächlich  in  der  vierten  Ekloge 
seines  **Sh^herd*s  Calendar*'  das  Lob  der  Tudors,  das  heißt 
Elisabeths  gesungen.  Ein  Bild,  dem  Größe  nicht  abzuleugnen 
ist,  ist  jenes,  in  dem  Königin  Elisabeths  Regierung  und  ihr 
Ende  mit  '*«  glorioiiB  setiing  sun'  verglichen  wird,  der  die 
Blicke  des  Volkes  von  fem  nachfolgen.  Britannia  hält  dem 
König  auch  "trtith's  mirror*'  vor;  aber  eine  Dame  in  fran- 
zösischem Kostüm  kommt  dazwischen  und  hält  dem  schon 
halbgewonnenen  König  nun  Ludwig  XFV^.  zum  Muster  vor, 
mit  seiner  Ränkepolitik.  Grosart*)  sieht  in  derselben  eine 
Personifikation  Frankreichs  in  Gestalt  von  Karls  Schwester, 
der  Herzogin  Henriette  von  Orleans;  doch  brauchen  wir 
kaum  soweit  suchen;  die  Dame  dürfte  eher  eine,  in  jener 
Zeit  in  allen  Literaturen,  auch  in  der  deutschen  satirischen, 
vorkommende  Personifikation  des  Macchiavellismus 
überhaupt  sein,  dessen  Grundsätze  diese  Dame  in  lehr- 
hafter Weise  vorträgt,  die  freilich  am  besten  von  Lud* 
wig  XIV.  und  Mazarin  befolgt  worden  sind,  Auch  in  dem 
nicht  von  Marvell  herrührenden,  ihm  fälschlich  zugeachrie- 
benen  Gedicht  **Oceana  and  Britannia"  kommt  ein  Hieb  auf 
Nicolo  (=  Nicolo  Macchiavelli)  vor.  An  Virgil  erinnern 
uns  die  Zeilen  100  ff: 

**Three  spotkss  virgins  to  your  bed  l'U  bring"  etc.,  mit 
denen  die  Verführerin  Karl,  wie  Minerva  den  Äolus,  für 
sich  gewinnen  will.  Der  Hauptangriff  richtet  sich  eigentlich 
gegen  den  Duke  of  York,  den  Schwiegersohn  Clarendona, 
und  Lauderdale,  Wie  bei  den  Gedichten  liir  Lovelace, 
Hastings  etc.  schon  hervorgehoben  wurde,  atmet  dieses 
Gedicht  förmlich  Revolution,  Umsturz  und  Republikanismus^ 
als  dessen  Muster  ihm  ^Hhe  serene  Veneiian  State"  erscheint, 


4 


»)  VoL  I,  p,  334. 


97    - 


wohin  sich  Britannia  begeben  will,  um  neue  weise  Lekren 

enipfangeu.    Es  ist  denn  doch  zu  willkürlich  gehandelt, 

Jie    eine  Zeile  (140)   aus   diesem  Gedichte  herauszuheben 

"  'Tis  godlihe  good  io  8<we  a  falling  hing** 

und^   alles  andere  vergessend   oder  nicht  achten  wollend, 
das    als    einen  Beweis    fiir  Marvells    royalistische    Ge- 
sinnung anzusehen,    wie  Grosart  es  tut.  —  Am  Schlüsse 
^des  Gedichtes  findet  sich  ein  Gedanke  ausgesprochen,   der 
Gedichten  des  17.  Jahrhunderts  öfters  durchklingt,  näm- 
*lich    eine  Aufforderung   zum  Zuge   gegen  die  Türken  und 
den    Halbmond;    für   einen  Engländer  ist   dieser  Gedanke 
aber  weniger  naheliegend  als  für  die  deutschen  politischen 
^■Dichter  jener  Tage. 

B  Um    die  Wende    der  Jahre  1673/74,   vielleicht   direkt 

als   Neu  Jahrsgedicht  gemeint,    entstand   "A  Historical 

kToenr\    Der  Dichter  vergleicht  in    diesem   in  funftaktigen 
jambischen  Reimpaaren  abgefaiJten  Gedichte  König  Karl 
^      mit  dem  Sohne  Kishs,  des  Juden,  der  in  Verbannung  lebte, 
bis  das  Volk  ihn  heimberief  und,  was  mehr  ist,  ihm  zugleich 
Geld  schickte.    Marvell  führt  wieder  eine  sehr  aufreizende 
Sprache»    Als  Karl   ins  Land    kam,    nahm  er  gleich  einem 
Untertanen  sein  Weib  weg  und  machte  sie  zur  königlichen 
Ifaitresse.  Sein  besserer  Bruder  starb,  dafür  blieb  der  böse 
James    am  Leben,    der   die   schwangere  Konkubine  eines 
andern  heiratete,   Nan  Hyde.   Seuchen   und  Krieg   suchten 
die  Lisel  heim.   Die  Holländer  flohen  aber  sofort  vor  dem 
schwarzen  Tod  und  vor  dem  beulenentstellten  Gesicht  des 
Herzoge.    Er    macht   ihm   direkt  den  Vorwurf,    London  in 
Flammen    gesteckt    zu    haben.    Unter  den  Tudors  blühte 
England;    jetzt  ist  ein  Weiberknecht  König,   dem  die  Be- 
I      stochenen  ihre  eigenen  Weiber  imd  Töchter  darbringen  wie 
^Keinem  Moloch.    In  ebenso  heftiger  Weise  wendet  sich  der 
^■Dichter  nun  den  Priestern  zu.  '^Priests  were  the  firsi  dduäers 
^gof  mankind'*;   sie   sind   stolzer   als  Luzifer  und  reden  dabei 
der  Welt  ein,  daß  sie  es  sind,  die  gehorchen.  Dann  greift 
er  die  Ratgeber  des  Königs  an;    Lauderdale,   Osbom  und 
James  mit  seinen  Römlingen  tyrannisieren  den  König  und 
das  Land ;  den  Letztgenannten,  James,  beschuldigt  er  sogar 
direkt    des    beabsichtigten  Königs-   und  Brudermordes   auf 

Poseber,  M&nells  |)öot.  Werke.  7 


römidche  Einflüsterung  Ein.  Unrl  er  schlieÖt  mit  der  ver- 
zweiflungsvollen Frage:  Wenn  einer  als  Kronprätendent 
schon  solches  UngUick  anrichten  kann,  was  ist  zu  erwarten, 
wenn  er  selbst  König  sein  wird? 

Diese  Aufzählung  aller  Schandtaten  von  der  Heim- 
berufiing  Karls  an  erinnert  an  die  Pseudo-Marvellischen 
'*I{opal  R€Söltäions\^)  Da  Oöbome  Mitte  1674  Eariof  Danby 
wurde,  ist  das  Gedicht  vor  dieser  Zeit  geschrieben ;  anderer- 
seits starb  Hyde  1673;  nachdem  sein  Tod  erwähnt  wird^ 
können  wir  das  Gedicht,  wie  anfangs  geschehen,  nm  die 
Wende  1673/74  ansetjsen*  Um  diese  Zeit  war  auch  der  Haß 
gegen  die  Katholiken,  Schotten  und  Irlander  besonders 
heftig.  Marvells  Hai3  wäre  bei  dem  sonst  so  konzilianten 
Manne  fast  unbegreiflich,  wenn  wir  nicht  bedächten,  daß 
die  Worte  ^Katholik",  ^ Protestant **,  ^Schotte**  und  ^Ire** 
in  jener  Zeit  viel  mehr  sagten  als  heute.  Marvell  ist  auch 
nicht  immer  so  friedlich  gestimmt  und  leidenschaftalos  wie 
in  ''The  Loyal  Seoi";  er  gibt  hier  die  Vermutung,  daß  die 
Katholiken  im  Einverständnis  mit  James  und  Clarendon 
London  in  Flammen  gesetzt  hätten  (*'Greal  Firt*),  nicht 
nur  hier  übrigens,  sondern  auch  euadem  Ortes,  als  sichere 
Tatsache. 

Gelungenen  Humor  und  Witz  atmet  in  Ton  und  Inhalt 
die  ''Bailad  an  the  Lord-Mayor,  and  ihe  Court  of  Aklerwen, 
pre^eiäing  ihe  King  and  ihe  Duke  of  York,  each  with  a  Capy 
of  his  Freedonif  Anno  Dorn,  1674'\  bestehend  aus  achtzehn 
Strophen  von  anapästisohem  Rhythmus  nach  dem  Schema; 
{^  %X^  %  V}'  J^®^  historische  Anlaß  ist  im  Titel  genannt 
Der  Dichter  verspottet  zuerst  die  Spießbürger,  die  zwar 
kein  Geld  haben  um  Brot  zu  kaufen  und  ihre  vom  Feuer 
zerstörten  Häuser  wieder  aufzubauen,  wohl  aber  fiir  solche 
Speichelleckereien.  Er  wendet  sich  gegen  den  unwürdigen 
König,  der  so  viele  Schulden  und  Bastarde  habe,  für  die 
London  aufkommen  müsse.  Mit  fast  unbegreiflicher  Nach- 
sicht meint  er  schließlich,  bis  der  König  der  Torheiten 
müde  gew^orden,  würde  es  vielleicht  besser  werden.  Dann 
stellt  er  eine  Reihe  satirischer,  höhnischer  Fragen,  was 
wohl  die  Schachtel  enthalte,  die  dem  Herzog  James  gebraq 


1)  Sieh  Anm,  S.  110  dieser  Arbeit. 


—    99    — 


I 


werde.  Pillen  fär  seine  Krankheiten?  Das  wäre  zu  spät. 
Möglicherweise  sei  darin  Hostie  imd  Monstranze,  das  passe 
für  ihn.  Er  begünstige  eine  französische  Regierung  und 
habe  ein  itahenisches  Weib  und  eine  italienische  (römische) 
Religion.  Er  meint  endlich,  den  Londonern  werde  nicht  zu 
helfen  sein,  bis  sie  ein  zweites  Mal  abbrennen. 

Wie  ersichtlich^  handelt  es  sich  hier  nicht  nur  um 
politische,  sondern  sehr  stark  um  persönliche  Satire.  Der 
Hanptreiz  liegt  in  dem  lebhaften  höhnischen  Ton,  den  das 
Metrum  ermöglicht. 

Den  Bezügen  zufolge  stammt  aus  dem  Jahre  1676*) 
das  Gedicht  ^'Nostnuiamus'  Prophecy",  in  heroic  Couplets  ge- 
schrieben« Hier  ist  die  Einkleidung  die,  daJJ  dem  alten, 
sagenhaften  Nostradaraus  Prophezeiungen  in  den  Mund  ge- 
legt werden  fiir  die  Zeit  Karls  II;  ein  dankbares,  oft  als 
Mittel  der  politischen  Satire  gebrauchtes  Motiv,  so  noch 
bei  Beranger,  dem  gi'öBten  politischeo  Chansonnier,  und 
seinem  Übersetzer  Chamisso,  Die  Prophezeiungen  werden 
hier  wie  „ein  Blatt  von  Nostradamus'  eigener  Hand"  gegeben. 
Ohne  jede  Einleitung  beginnt  der  Seher  seine  Rede,  deren 
feierliches  Pathos  durch  Alliteration  am  Anfang  gehoben 
werden  soll: 


h 


*'For  faults  and  follies  London' i  doom  «Äo/I  fix, 
Ami  she  must  ^ink  in  flames  in  sixty-si.c, 
Fire-balls  shaU  fhj  .  ,  r 


^ 


Er  prophezeit  also  das  ^ große  Feuer '^^  das  damals 
den  Papisten  und  Irländem  in  die  Schuhe  geschoben  wurde. 

Die  Stadt  werde  sich  zwar  schöner  als  früher  wieder 
erheben,  bis  zum  Himmel,  wo  die  Rache  wohnt.  Wenn  ihre 
Richter  sie  verraten,  wenn  ihre  Priester  sie  betrügen  werden, 
wenn  Schauspielerinnen  (die  Maitressen  des  Königs,  Neil 
6w>Tine,  Moll  Davis  etc*)  die  Rolle  von  Königinnen  spielen 
werden ;  wenn  —  nun  folgen  einige  schauderhafte  Verse 
über  die  Unzucht  am  Hofe,  besser  Verse  über  die  schauder- 
hafte Unzucht   am  Hofe  — ;    wenn,    geht   es   dann  weiter, 


1)  Nach  Orosart,  t>ohI^  p.340;  der  Ckronologie  nach  gehörte 
dieses  Gedicht  also  bedeutend  später  eingereilit,  doch  schien  es  un- 
vorteilhaft, den  stofTUcheD  Zusammenhaog  der  folgenden  Gedichte 
zu  unterbrechen. 

T 


100 


die  Banken  ausgeraubt  werden^  kein  Wort,  kein  Eid  güt^ 
wenn  den  Königsstubl  ein  schwatzender  Betrüger  einnehmen 
wird,  den  die  Männer  verlachen  und  die  Weiber  be- 
herrschen ;  wenn  einer  Minister  wird,  der  nur  mit  der  Zunge 
umgehen  kann,  und  einer  —  Lauderdale  —  das  Haupt  der 
Hierarchie,  der  früher  schottischer  Dissenter  war;  und  wenn 
ein  schurkischer  Schatzmeister  in  einem  Jahre  sich  reich 
und  das  Volk  arm  machen  wird ;  und  wenn  ein  englischer 
PrinÄ  —  James,  Duke  of  York  —  die  Engländer  verachteD 
und  Franzosen  ehren  wird;  wenn  die  Magna  Charta  nicht 
mehr  gelten  wird;  —  dann  werden  die  Engländer  einen 
größeren  Tyrannen  kennen  lernen^  als  die  Geschichte  je 
aufzuweisen  hatte,  ihre  Weiber  werden  seiner  Lust  preis- 
gegeben sein  und  ihr  ßeichtom  seiner  Verschwendung  und 
wie  die  Danaiden  werden  sie  sich  seinetwegen  mühen,  um- 
sonst, denn  er  wird  nie  genug  haben.  Holland  und  Venedig 
werden  sie  dann  um  ihre  Freiheit  beneiden;  diese  preist 
Marvell  ja  auch  bi  ''Briiannia  and  Baleigh*\  Und  er  schließt: 
Zu  spät  aber  werden  die  Frösche  einsehen,  was  sie  sich 
selbst  erbeten  haben,  und  werden  Jupiter  wieder  bitten, 
sie  zu  befreien;  —  also  mit  einer  Anspielung  auf  die  be- 
kannte Äsopische  Fabel. 

Wir  haben  also  die  alte,  ewige  Klage  über  Karl, 
James  etc,,  nur  in  neuer  Form,  der  Form  der  Prophe- 
zeiung —  natürlich  von  Dingen,  die  bereits  Tatsache  sind. 

Wieder  eine  andere  Form  der  Satire  wendet  Marvell 
in  den  nächsten  drei  Gedichten  an,  nämUch  die  Satire  mittels 
eines  Bildwerkes,  einer  Statue.  Die  ersten  zwei  druckt 
Grosart  nach  der  Ausgabe  von  1776  ab,  die  wieder  auf 
Manuskripte  Marvells  zurückgeht,  also  authentisch  isL 

Das  ''Foem  on  the  Statue  in  Stocks-Market*'  besteht  aus 
fünfzehn  vi  erzeiligen,  jambiseh-anapäatischen  Strophen,  mit 
einer  geringen  Anzahl  von  weiblichen  Eeimpaaren,  die 
offenbar  nur  zufällig  sind;  die  übrigen  sind  stumpfe  Reim- 
paare. 

Der  Inhalt  ist  folgender:  Als  Sir  Robert  Viner  aus 
unredlich  gewonnenem  Gelde  in  Stocks-Market  ein  Reiter- 
standbild des  Königs  Karl  11.  aufführen  ließ,  hielten  das 
einige  für  eine  edle  Handlung,  Nach  Marvells  Meinung 
war  es  vielmehr  eine  Bosheit,  am  Gebui1:stage  des  Königs 


I 


-    101    — 


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p 


p 


ein  Ding  zu  enthüllen,  das  mehr  einem  Affen  als  einem 
König  ähnlich  sei,  so  daJ3  die  Marktweiber  nebenan  sich 
Instig  machen,  die  auf  ihren  Körben  viel  graziöser  reiten* 
Aber,  meint  er^  ein  Marktplatz,  wo  stets  gefeilscht  und 
gebandelt  wird,  sei  sehr  passend  für  den  König,  der  auch 
immer  schacherte  und  auch  selbst  verkauft  wurde  von  seinen 
Untertanen,  Diese  Statue  sei  schmachvoller  als  alle  hollän- 
dischen Karikaturen,  die  aus  Anlaß  des  Krieges  erschienen. 
Nicht  80  sehr  den  Künstler  als  vielmehr  den  Stifter,  Sir 
Viner,  hält  Marvell  Tiir  den  Schuldigen,  da  dieser  seinen 
Lehensherru  so  zum  Hanswurst  mache.  Oder  wollte  er  mit 
den  bedeckenden  Tüchern  quasi  den  Mantel  der  christlichen 
Nächstenliebe  über  seine  Fehler  breiten?  Sir  Robert  ver- 
sichert zwar,  daiJ  der  Bildhauer  bereits  an  der  Verbesserung 
arbeite*  Aber  der  Dichter  meint,  das  sei  umsonst,  denn 
den  König  könne  kein  MeiJJel  mehr  ändern.  Versuchen 
möge  man  es  immerhin,  deon  trotz  allem  sei  er  noch  immer 
besser  als  sein  bigotter  Bruder,  der  Duke  of  York. 

Nachdem  die  verspottete  Statue  am  Geburtstage  des 
Königs,  also  am  29.  Mai,  enthüllt  wurde,  wie  es  in  dem 
Gedichte  hervorgehoben  wird,  und  da  femer  am  Ende  vom 
Dezember  und  dem  kommenden  Frühjahr  die  Bede  ist,  so 
geht  hervor,  daß  dasselbe  im  Herbst  1672')  (eventuell  1673) 
geschrieben  ist.  Die  Satire  liegt  in  den  abwechselnden 
Bezügen  auf  das  Bild  und  auf  den  wirklichen  König;  so 
wenn  er  zum  Beispiel  sagt,  der  Bildhauer  ist  daran,  den 
König  (in  eftigie)  auszubessern  und  dann  bemerkt,  so  ein 
König  (Karl  IL  in  persona)  sei  nicht  mehr  zu  ändern ; 
gegenüber  dem  späteren  '*DiuUgue  betweeti  thc  iwo  horses*' 
ist  die  Satire  hier  noch  ziemlich  milde  und  nur  indirekt 
gegen  den  König  gerichtet. 

Dasselbe  ist  der  Fall  in  ''The  Statue  ai  Charing- 
Crosse'*,  in  demselben  Versmaß,  aber  in  gekreuzten  Reimen 
geschrieben.  Diese  Statue  ist  die  Karls  I.,  die  der 
Dichter  zum  Gegen  stände  nimmt,  bevor  sie  enthüllt 
wurde.  Er  knüpft  zwar  an  die  Statue  an,  aber  nicht 
gegen   den   hingerichteten  König  Karl  L   wendet   er  eeine 


■  *)  Vgl.  Aitken,    „Satires**,   p,  166,   Hinweis  auf  Bericht 

London  Gajtetle  für  30,  Mai  1672. 


der 


—    102    — 


Satire,  in  edler  Befolgung  des  *^De  moriuis  nil  nisi  bmie*^ 
sondern  gegen  den  Errichter  Lord  Osbome-Danby  und 
nebenbei  gegen  Karl  IL  und  den  Hof.  Er  vergleicht  ihn 
mit  den  Personen  der  italienischen  Stegreifkomödie,  mit 
Skaramuz  und  Policinell,  dem  Prahlhans  und  der  lustigen 
Person,  bo  mit  einem  Worte  seinen  Charakter  zeichnend. 
An  die  Umgebung  anknüpfend  fragt  der  Dichter  sich, 
warum  Charing-Cross  sohon  so  lange  mit  Brettern  ver- 
schlagen, abgesperrt  sei,  und  stellt  Vermutungen  an,  was 
hinter  den  Planken  gebaut  werde.  Eine  Bühne  kann  es 
wohl  kaum  werden,  denn  fiir  den  König,  der  so  gern 
Skaramuz  oder  Pohcinell  spielt,  sei  Whitehall  ein  schöneres 
Theater,  Für  eine  Uhr  passe  der  Platz  deshalb  nicht^  weü 
es  dem  Hofe  gewiü  unangenehm  wäre,  einen  Maßstab  der 
so  schlecht  angewendeten  Zeit  in  solcher  Nähe  zu  haben. 
Endlich  errät  der  Dichter  das  Richtige:  die  Figur  des  toten 
Königs  soll  hier  zu  Pferde  zu  sehen  sein.  Glaubt  vielleicht 
Schatzmeister  Danby,  dali  die  Untertanen,  denen  die 
Zahlungen  eingestellt  wurden,  durch  den  Anblick  eines 
Königs  entschädigt  werden  V  Er  wollte  sich  wohl  nur  nicht 
von  seinem  Schwager  beschämen  lassen,  der  zu  Stocks- 
Market  eine  Statue  aufstellen  lieB,  drum  läßt  er  hier  am 
Fleischmarkt  auch  eine  errichten,  vielleicht  um  auf  die 
Schlachtbank  der  Parlamentarier  anzuspielen.  Daß  die 
Vollendung  so  lange  dauert,  scheint  Marvell  begreiflich 
bei  einem  Manne,  der  bereits  zweimal  das  Parlament  ver- 
tagte; er  vertagt  eben  jetzt  auch  den  König.  Dann  schildert 
Marvell  au  einem  drastischen  Beispiel  die  Machinationen 
der  Geldbeschafiung  und  Stimmenwerbung  durch  Bestechung 
der  Abgeordneten.  Am  Schlüsse  gibt  er  den  Rat,  man  möge 
bei  der  Aufstellung  darauf  achten^  daß  die  Statue  das  Gesicht 
nicht  dem  Palaste  von  Whitehall  zuwende ;  denn  wenn 
auch  von  Erz,  würde  es  sie  doch  kränken,  einen  so  miß- 
ratenen Sohn  stets  im  Auge  zu  haben* 

Der  Witz  besteht  also  wieder  darin,  daß  von  der  Statue 
Dinge  ausgesagt  werden,  die  nur  von  lebenden  Menschen 
gesagt  werden  können.  Dieses  Gedicht  ist  natürlich  später 
entstanden  als  das  frühere,  da  die  Statue  zu  Stocks-Market 
in  Strophe  8  dieses  letzten  Gedichtes  als  schon  vorhanden 
erwähnt  wird,    aber  auch  nicht  viel  später,  da  1676  schon 


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103 


» 


I 


I 


beide  Statuen  fertig  standen  und  im  Gedichte  die  zweite 
ak  nicht  vollendet  vorgeführt  wird,^) 

Das  dritte  und  letzte  Gedicht,  das  an  Statuen  anknüpft, 
'ist  der  äußerst  interessante  ''Dkihgue  hrtwetn  iwo  Horses'\ 
vohl  die  beste  Satire  Marvells  überhaupt.  Sie  zerfällt 
eigentlich  in  drei  Teile:  1.  *'Th€  IntroducUön'* ;  2.  **The 
Dialoyutr ;  3,  **Couclusion'\ 

'*Thc  Infröduetion'  gibt  uns  eine  Rechtfertigung  dieser 
köstlichen  Einkleidung»  zwei  Pferde  über  ihre  Herren  sich 
unterreden  zu  lassen*  Das  Sprechen  der  Tiere  nimmt 
offenbar  von  der  Tiersage  seinen  Ausgang,  wo  diese  zu- 
gelegte Fähigkeit  schon  mancbmal  zu  satirischen  Seiten- 
bieben  benutzt  wird,  aber  noch  nicht  die  Haupt^che  ist, 
Bedende  Tiere,  aber  in  allegorischer  Bedeutung^  finden 
wir  ja  in  '*Hind  and  Panther',  in  ..Fuchs  und  LamnC\  **Etd€ 
und  I^achtigaW*  etc.  und  noch  früher.  Mir  ist  aber  kein 
Fall  erinnerlich^  wo  zwei  Pferde  auftreten  würden,  sei 
es  in  der  cDglischen  oder  einer  andern  Literatur,  Dagegen 
hat  Cervantes  ein  „Zwiegespräch  der  beiden  Hunde" 
geschrieben,  ebenso  Burns  in  späterer  Zeit  Dun  bar 
fahrt  sich  selber  einmal  als  alten  Grauschimmel  ein,^ 
Marvell  nun  erzählt:  In  profanen  sowohl  als  in  heiligen 
Berichten  lesen  wir  von  Tieren,  die  artikulierte  Worte 
auegesprochen  haben;  Elstern  und  Papageien  können  reden, 
auch  Statuen  und  Bilder  haben  schon  gesprochen.  Er  zitiert 
Li^dus  imd  die  Geschichte  des  Phalaris  von  Äkragas,  Friar 
Bacons  sprechenden  Kopf  und  den  Esel  des  Propheten 
Balaam.  Zu  Rom  und  Delphi  gaben  Steine  und  Watfen 
Antwort.  Heutzutage  noch  haben  die  frommen  Katholiken 
Heiligtümer,  welche  sprechen.  Warum  sollen  also  nicht 
die  Unterredungen  zweier  lebloser  Pferde  Glauben  finden? 
Dann  nennt  er  die  Pferde,  die  er  meint,  nämlich  die  der 
Statuen  von  Wool-Church  und  Charing- Gross,  die, 
wie  in  den  früheren  Gedichten  erwähnt  wurde,  von  Lord 
Danby  und  Sir  Robert  Viner  enichtet  werden.  Er  begründet 
die  Unterredung:  Als  die  beiden  Fürsten,  des  langen  Sitzens 

»)  YkL  Brief  Marvells  vom  24.  Juli  1675 :  " äoe»  not  yei  ne 

ihe  ligUr 

-')  William  Dufihar.  Sein  Leben  unditeine  Gedickte,  Von  J.Sehipp  er. 
1884.  S.  2^. 


104 


müde,  sich  nachts  herabbegaben  und  inkognito  fortstahlen, 
fanden  sich  die  zwei  Rosse,  der  eherne  Hengst  und  die 
weüJmarmorne  Stute,  nach  gegenseitigen  Komphmenten  za 
folgendem 

*'Dialogue*  zusammen.  Es  beginnt  nun  eine  Art  sen^attok. 
Die  Pferde  sprechen  alternierend,  eines  über  Karl  L  und 
eines  über  Karl  11.  Von  dem  letzteren  heißt  es,  dali  er 
sich  ''Defender  of  the  Faith"  titulieren  läßt  und  doch  gar 
keinen  Glauben  hat»  Die  Pferde  raisonnieren  über  des  Königs 
Schulden,  die  herabgekommene  Flotte,  die  Undankbarkeit 
der  Stuarts,  die  Maitressen  des  Königs,  die  Feilheit  des 
Parlamentes.  Sie  charakterisieren  ihre  Reiter  dadurch,  daß 
sie  sich .  gegenseitig  erzählen^  wohin  dieselben  jetzt  ge- 
gangen sind :  der  eine  ging,  Bischof  Land  zu  besuchen, 
der  andere,  einen  Schreiber  zum  Hahnrei  xu  machen,  Karl  L 
war  ein  verzweifelter  Fechter  für  Mitra  und  Stola:  aber 
auf  dem  Schafott  wurde  er  von  den  feigen  Schurken,  für 
die  er  kämpfte,  im  Stiche  gelassen.  Karl  U.  hingegen  fechte 
nur  für  seine  Vettebi.  War  Karl  I.  ein  blindwütiger  Löwe, 
90  ist  Karl  II*  ein  geiler  Bock;  beide  sind  schlecht  genug. 
Aber  Nero  sei  doch  dem  Sardanapal  vorzuziehen.  De  Witt 
und  Cromwell  waren  wackere  Männer,  obwohl  sie  Feinde 
waren;  das  eine  Pferd  sagt  (Vv.  156^168): 

**I  ftedy  declare  it^  I  am  for  old  Noll. 

Though  his  govemmetU  äiä  a  ttfranl  reatmble. 

He  made  England  greal  and  fm  enemies  tremble,** 

Das  ist  wieder  eine  hochwichtige  Stelle,  sie  zeigt 
Marvell  im  besten  Lichte,  beweist  seine  Unbefangenheit 
und  Vorurteilslosigkeit  und  reiht  sich  würdig  der 
Stelle  über  Karl  I.  in  der  ''Horaiian  Ode''  an.  —  Dann 
sprechen  die  zwei  Pferde  über  ihre  Erwartungen  oder  viel* 
mehr  Befürchtungen  von  Seite  James\  Duke  of  York> 
wenn  er  einst  zur  Herrschaft  kommen  würde.  Ihr  Resum^ 
ist:  T,Nie  werden  die  Dinge  besser  werden,  bevor  nicht 
die  Herrschaft  der  Stuarts  zu  Ende  sein  wird***  Damit 
schließt  prägnant  das  Gedicht,  das  heißt  der  Dialog.  An- 
gehängt ist  noch  die 

'*Conchision*\  in  der  der  Dichter  selbst  das  Wort 
ergreift:  Wenn  zu  Rom  die  Tiere  sprachen,  bedeutete  das 
schreckliche  Ereignisse.    Das  werde  auch   für  England  der 


I 


—     lOB    — 


I 


Fall  sein.  Dann  folgt  eine  äuJierst  gelungene^  aber  sehr 
laszive  Stelle  über  das  Benehmen  der  beiden  Pferde.  Der 
Scblui}  hat  ©in  reines  Augenblicksgepräge,  er  bezieht  sich 
auf  ein  Edikt  Karls  II.,  das  die  Schließung  der  Kaflee- 
häuser,  als  Orte  politischer  Diskussion,  anordnete  und  fordert 
die  Aufhebung  desselben, 

Aus  diesem  Schlüsse  hatOrosart  die  Abfasaungs- 
zeit  des  Gedichtes  genau  festgestellt:  Das  Edikt  wurde 
am  29.  November  1676  erlassen  und  am  8.  Jänner  167B 
bereits  zurückgezogen.  Daher  muß  das  Gedicht  zwischen 
diesen  zwei  naheliegenden  Punkten  abgefaßt  sein.  Diese 
Zeitbestimmung  ist  gewiß  richtig,  nur  hat  die  scharfe 
Grenze  nach  rückwärts  (29.  November)  nicht  für  das  ganze 
Gedicht,  sondern  bloß  für  die  *'Conclusion'  Geltung,  Es 
springt  in  die  Augen,  daß  ''Diahgue**  und  '^Conclusion"  m 
einem  sehr  lockeren  Zusammenhang  stehen;  ja,  nach  dem 
so  prägnanten  Schlüsse  des  Dialogs  ''Wfien  ihe  reign  of 
the  Une  of  ihe  Stuarts  is  c^ded''  wird  die  Wirkung  durch 
die  "Conchmon"  nur  geschwächt*  Wir  können  daher  mit 
Sicherheit  annehm en^  daß  der  Dialog,  ohne  die  **Con* 
chisian'^  zuerst  als  selbständiges  Gedicht  verfaßt  ist, 
an  das  aus  Anlaß  des  provokanten  Kaffeehaus -Ediktes 
später,  freilich  nicht  viel  später,  noch  die  *'Concliisi(m" 
ohne  jeden  inneren  Zusammenhang  angehängt  wurde. 

Das  Gedicht  trägt  in  der  Überlieferung  der  verschie- 
denen Drucke  hinter  dem  Titel  die  Jahreszahl  ^1674**, 
die  auch  Grosart  abdruckt.  In  der  Anmerkung  erklärt  er 
auf  Grund  seiner  erwähnten  Berechnung  diese  Angabe  des 
alten  Druckes  für  unrichtig,  AUerdings  habe  ich  auch  bei 
einem  Gedichte  eines  andern  Dichters  jener  Zeit,  das  mit 
dieser  Statuenfrage  zusammenhängt,  das  Datum  ^1674" 
nach  dem  Titel  angegeben  gefunden;  es  ist  Wallers 
Epigramm  ''On  (he  Statue  of  Kintj  Cfmrles  L  ai  Charing 
Cross,  in  the  year  UJ7  4'\^)  Erklärlich  ist  diese  zweimalige 
unrichtige  Angabe  nicht ;  dennoch  müssen  wir  uns  für  die 
Berechnung  Grosarta  entscheiden;  es  ergibt  sich  also: 
1.  Abfassungszeit  des  Gedichtes  auf  die  „Statue  zu  Stocks- 
Market*^i  Herbst  1672  (8. 101  dieser  Arbeit) ;  2.  Abfassung«- 
Mit    des    Gedichtes    auf  die    -Statue    zu    Charing* Gross"; 


')  FoeU  of  Great-Britain,  pol  V,  p,  49$. 


A 


106    — 


zweite  Hälfte  1676  (S.  103,  Anm,  i,  dieser  Arbeit);  3.  Ab- 
fassungszeit  des  „Dialogs  der  zwei  Pferde** :  Ende  1675, 
und  zwar  speziell  die  **Conclusion"  sswischen  29-  Novem- 
ber 167B  und  8,  Jänner  167ti  (vorige  Seite). 

Über  die  Bedeutung  dieses  interessanten  Gedichte« 
für  die  politische  Beurteilung  Marvells  wurde  schon  ge* 
legenblich  der  AViderlegung  des  „ Royalismus'^  auf  Seite  13 
gesprochen*  In  der  Einleitung  kommt  des  Dichters  allge- 
meine Bildung  und  Belesenheit  zum  Ausdruck;  er  kennt 
die  abergläubischen  Gebräuche  bei  den  Griechen,  Körnern, 
Juden,  Christen  und  verfolgt  sie  durch  die  ganze  Welt- 
gescliichte  bis  herauf  in  seine  eigene  Zeit;  er  kennt  Livius 
so  gut  wie  die  mittelalterlichen  katholischen  Mirakeln.  In 
erster  Linie  richtet  sich  seine  Satire  hier  gegen  Karl  IL 
und  dessen  Bruder  James.  Die  Sehnsucht  nach  den  Tudors 
spricht  sich  in  keinem  Gedichte  so  heftig  aus  wie  hier; 
während  die  feilen  zeitgenössischen  Dichter,  wenn  sie  auch 
nicht  blind  waren  für  den  Unterschied,  von  den  Tudors 
schwiegen  und  die  Stuarts  priesen.  In  der  "Conclusion" 
sehen  wir,  daß  auch  Marvell  nicht  frei  ist  von  den  Derb- 
heiten seiner  Zeit;  eine  Tatsache,  die  ihn  natürlich  flir 
den  heutigen  Engländer  a  priori  ungenießbar  macht; 
während  wir,  ohne  Lob  dafür  zu  finden,  bedenken,  daß 
auch  ein  Goethe,  derselbe  Goethe,  der  hohe  Oden  und 
Hymnen  und  duftigste  Lyrik  schrieb,  verschiedene  nicht 
,, salonfähige'*  Stellen  im  y,Faust**  und  etwas  Ahnliches  wie 
Marvell  in  Nn  4  der  **Politika*'  und  den  „Beruf  des 
Storches"  schrieb  —  um  nur  einiges  zu  nennen. 

Formell  besteht  das  Gedicht  aus  vierzeiligen  Strophen, 
aus  viertaktig- jambisch  -  anapästischen  Beimpaaren,  mit 
männlichen  und  weiblichen  Reimen,  worüber  mehr  im  Ab- 
schnitt „Metrik"  gesagt  wird. 

Die  Satiren  Marvells  wurden  nun  im  Zusammenhang 
betrachtet.  Wir  haben  gesehen,  daß  Marvell  wirklich,  wie 
Grosart  sagt,*)  den  Sarkasmus  des  Aristophanes,  den 
Stachel  des  Juvenal  und  den  beißenden  Witz  des  Tereuz 
vereinigt 

So  uneingeschränktes  Lob  wird  den  Satiren  unseres 
Dichters  freilich  nicht  von    allen   englischen  Kritikern  «u 

»)  Vol.  1,  p,  xxri. 


—     107     — 


teil.  So  sagt  Benson^)  von  ihnen,  sie  seien  *'öf  ihe  coarsesit 
h%nd*\  obwohl  er  auch  zugibt,  daß  sie  schöne  Stellen  ent- 
halten. Chambers  sagt  in  seiner  Besprechung  von 
Aitkens  Ausgabe  in  der  *'Acadenty'\^)  dali  sie  kein  Gegen- 
stand sind,  bei  dem  man  gern  verweilt,  während  Aitken 
(p,  LVm)  sehr  gut  von  Marvell  spricht,  Birrell  tadelt 
die  inhaltliche  und  formelle  Rauheit  wiederholt,  doch 
findet  auch  er  „großes  Vergnügen"")  an  Marvells  Satiren, 
E.  Gosse*)  hält  den  Dichter  für  einen  Schüler  Cievelands 
in  der  Satire  und  Henry  Rogers^)  spricht  ihnen  politische 
Bedeutung  zn.  Mary  Russell  Mitford **)  erinnert  an  das 
Lob  Swifts,  der  Marvell  auch  nachahmte.  Gegen  den  Vor- 
wurf der  Gemeinheit  oder  Bösartigkeit  nimmt  G.  Dawson^) 
den  Dichter  in  Schutz;  er  sagt  ganz  richtig,  Satiren  sind 
nur  dann  verdammenswert,  wenn  sie  gegen  Gutes  ge- 
richtet sind;  Marvell  aber  wendet  sich  gegen  das  wirklich 
Schlechte.  Auch  dürfen  wir  Marvell ^  den  Dichter  des 
17.  Jahrhunderts,  nicht  nach  den  Anstandsregeln  des 
20.  Sftkulums  richten,  die  er  nicht  kannte» 

Es  sind  nun  noch  einige  kleinere,  nicht  satirische  Ge- 
dichte zu  erwähnen,  die,  wenn  auch  in  dieser  Periode  ent- 
standen, doch  das  durch  den  Titel  „Satiren'^  bezeichnete 
Gepräge  derselben  nicht  zu  ändern  vermögen. 

Die  beiden  folgenden  Gedichte  beziehen  sich  auf  zeit- 
genössische Dichter,  Das  erste  ist  ein  wenig  bedeutendes 
Gedicht  ,Jn  Eunuthum  Poetam'\  die  Person  ist  uns  nicht 
bekannt.  Marvell  tröstet  den  Ungenannten,  er  brauche 
sich  nicht  unfruchtbar  zu  nennen,  wenn  er  auch  nicht  An- 
teil habe  an  den  Freuden  und  Leiden  der  Ehe;  er  um- 
arme und  befmchte  dafür  die  neun  Musen  imd  seine  Verse 
seien  die  Kinder  dieser  Vereinigung. 

Das  andere  Gedicht  ist  Marvells  bekanntestes, 
wenn  auch  nicht  bestes;  es  sind  die  in  der  Ausgabe  von 
1674  zum   ersten  Male   Miltona   groiSem  Epos   vorange* 

')  ''Esmtfs",  London  2896,  p.  87, 

^)    Vol  42,  p,  23Qff. 

3)  p.  230 f. 

<)  ''Fnmi   Shakspere  to  Pope'\   Camhtidge  1885,  p.  192,  211— 22L 

»)  "Essai^Sj  Crüical  and  UioyraphimV\  Lofidon  187 4,  vol.  1, 

<>)  **Iiecolkctiom  of  a  IMerary  Life",  London  ltiö2,  voL  IJl,  p.  250ff. 

1)  "Biographical  Jjeciure»*\  Lonäofi  1886,  p.  89. 


108 


druckten  Vers©  '^On  Paradise  Lost'\  eine  der  wenigen  zeit- 
genöasischen  Würdigungen  dieses  Werkes.  Das  Gedicht 
ist  zu  bekannt  aus  den  Aasgaben  Miltons,  als  da£  sein 
Inhalt  hier  wiedergegeben  werden  müßte.  Seinen  Wert  er- 
hält dieses  Empfehlungsgedicht  durch  den  Umstand,  daß 
Marvell  hier  in  einer  Zeit  zu  MÜton  steht,  in  der  niemand 
von  ihm  weder  politisch  noch  poetisch  wissen  wollte. 
Andererseits  wäre  dieses  Empfeblungsgedicht  heute  so  ver- 
gessen wie  alle  seinesgleichen,  wenn  es  eben  nicht  das 
"Faradise  Lost'*  wäre,  das  empfohlen  wird.  Interessant  ist 
es  wegen  Marvells  theoretischer  Stellungnahme  fiir  Miltons 
reimlosen  Vers:  charakteristisch  genug  ist,  daß  dieses 
Lob  der  Beimlosigkeit  in  gereimten  Versen, 
fünftaktigen  jambischen  Reimpaaren ,  gesungen  wird,  von 
einem  Dichter,  der  in  seiner  Praxis  nie  einen  reimlosen 
Vers  schrieb»  So  stehen  sich  Theorie  und  Praxis  diametral 
gegenüber.  Er  gibt  ja  selbst  zu:  '"/,  transported  by  the 
mode  .  .  /\  Rühmenswert  ist  die  Bescheidenheit,  mit  der 
sich  Marvell  selbst  nicht  zu  den  Dichtem  rechnet,  zu  den 
wü'klich  großen  nämlich,  durch  die  Unterscheidung 
"Th€  potts  tag  (htm,  we  far  fasHion  wcar*\ 

Eine  poetische  Leistung  ist  das  Gedicht  ja  auch 
wirklich  nicht  und  Benson  spricht  direkt  von  "awJcward 
and  utjlt/  linc8'\^) 

An  die  Schlußverse  von  Marvells  Empfehlungsgedicht 
anknüpfend^  sagt  Masson  in  seiner  Ausgabe  Miltons^ ^ 
mau  sehe  daraus,  wie  der  Reim  f[ir  den  Dichter  wirklich 
nur  ein  Zwang  sei,  indem  Marvell  genötigt  ist,  auf  '*offend'* 
einen  Reim  zu  suchen  und  deshalb  statt  eines  besser 
passenden  Wortes  *'eommend''  nehmen  muß;  daraus  ersehe 
man  die  Superiorität  des  reimlosen  Verses  Miltons.  — 
Etwas  Wahres  ist  gewiß  daran,  nämlich  an  der  ersten 
Hälfte  der  Behauptung;  ansonsten  reizt  sie  zum  Wider- 
spruch; denn  es  wurde  schon  von  vielen  beobachtet,  daß 
trotz  der  Reimlosigkeit  auch  Milton  oft  des  Metrums 
wegen  sich  zu  überflüssigen  Verbreiterungen  und  Wieder- 
holungen hat  verleiten  lassen.  Vers,  ob  mit  oder  ohne 
Reim,  ist  eben  nicht  Prosa. 

^)  Emȧ  fty  K  Cbr,  B  ensoD,  London  18B6,  p.  85, 
«)  Massons  Milton^  Bd.  III,  S.  110, 


■ 


^-     109     — 


I 


I 


I 


Bas  Gedicht  Mai-vells  enthält  scharfe  Ausfälle  auf 
D  r  y  d  e  n,  den  er  als  Toum-Baißcs  verspottet  Dryden  hatte 
nämUch,  angeblich  nach  eingeholter  Erlaubnis,  Miltons 
**Paradise  Losf  dramatisch  in  Szenen  zerlegt  als  '^Tiie 
State  of  Innocettce*'  (1674),  ein  Drama,  daa  allerdings  nicht 
aufgeführt  wurde,  Grosart  versucht  noch  eine  andere 
Deutung  des  ''Tonm-Bcujes**,  worauf  bei  Besprechung  der 
Stellung  Marvells  zu  anderen  Dichtem  zurückzukommen 
sein  wird. 

Als  vorletztes  Gedicht  ist  eine  Grabschrift  zu  er- 
wähnen, in  viertaktigen  jambischen  Reimpaaren  ge- 
schrieben, deren  Datum  und  Person  wir  nicht  ermitteln 
können,  Sie  ist  für  eine  Dame  verfaßt  und  atmet  schein- 
bar wirkliches  GefühL  **Än  Epitaph  upon  ..."  ist  die  Be- 
zeichnung in  den  Ausgaben,  In  Wirklichkeit  haben  wir 
uns  die  Sache  so  vorzustellen,  daß  auf  dem  Grabstein  oben 
der  Name  der  Verstorbenen  steht  und  dann  unmittelbar 
das  Gedicht;  denn  dieses  beginnt:  **Enmi(jh;  and  leave  (he 
rest  io  Farne",  das  heißt  also:  es  genügt,  den  Namen  zu 
nennen;  ihr  Name  ist  Lob  genug.  Zu  sagen,  daß  sie  in 
einem  so  lockeren  Zeitalter  als  reine  Jungfrau  lebte  und 
in  der  Zeit,  wo  das  Laster  ein  Ruhm  war,  sich  ihrer 
Tagend  nicht  schämte  —  das  alles  ist  wahr,  aber  be- 
deutungsvoller ist,  daß  sie  tot  ist! 

Ahnlich,  wie  wir  schon  öfters  gefunden  haben,  daß 
Marvell  das  Lob  maskiert,  geschieht  es  auch  hier,  indem 
er  sagt,  es  sei  gar  nicht  nötig,  das  und  das  zu  sagen,  und 
es  dabei  doch  sagt« 

Einige  lateinische  Epitaphien,  die  wahrecheinliah  von 
Marvell  herrühren,  aber  nicht  sicher,  sind  ganz  in  der  her- 
kömmlichen Art  der  Durchsohnittsgrabechriften  der  Zeit, 
bestellte  Gelegenheitsware,  die  nicht  zur  Dichtung  ge- 
rechnet werden  kann.  Grosart  druckt  sie  auch  gar  nicht 
ab,  dagegen  finden  sie  sich  in  der  anonymen  Ausgabe, 
wahrscheinlich  nach  der  von  mir  nicht  benutzten  Ausgabe 
von  1776,  sowie  in  den  ''MisceUaneous  Poems*'  by  A,  Mar- 
vell, London  1681,  die  ich  in  Oxford  einsah. 

Dem  Datum  nach  das  letzte  oder  letzterhaltene  Ge- 
dicht Marvells  ist  ein  lateinisch-satirisches,  betitelt  „Scae^ 
vola  ScoiO'Britannu8*\  das  Grosart  ins  Englische  übertragen 


110 


hat.  Die  VeranlassuBg  war  der  miBluDgene  Mordanschlag 
einea  schottischen  Fanatikers  auf  den  verhaßten  Erzbischof 
Sharp  im  Jahre  1668.  Der  Täter,  James  Mitchell,  wurde 
eingekerkert,  entfloh,  wurde  wieder  festgenommen  und 
nach  langer  Haft  1678  zur  Tortur  gebracht,  die  er  mit 
großer  Festigkeit  ertrug,  weshalb  ihn  Marvell  hier  ab 
zweiten  Scävola  feiert.  So  wie  der  römische  Scävola  den 
Tyrannen  Porsena  schreckte,  so  schreckte  der  schottische 
Scävola  den  Tyrannen  Shai-p;  auch  er  habe  Dreihundert 
hinter  sich,  die  ausfuhren  werden,  was  ihm  nicht  gelang, 
wenn  der  Tyrann  nicht  nachgibt. 

Aus  den  Daten  der  Ereignisse  geht  hervor,  daB  das 
Gedieht  in  der  ersten  Hälfte  des  Jänners  1678,  also  im 
Todesjahre  Marvells,  geschrieben  ist. 

Fälschlieh  sind  in  den  Ausgaben  Marvells  seit  der 
Thompsons  mehrere  Gedichte  aufgenommen,  die  nicht  von 
Marvell  herrühren  können.  Von  dreien  —  **Hod(fe^s  Vision 
from  ihe  MoHument'\  **Oceana  and  Britannia*,  ''Ro^al  Eeso- 
lutians''  —  weist  Grosart^}  unwiderleglich  nach,  daß  de, 
zufolge  enthaltener  Bezüge  auf  Ereignisse  nach  Marvells 
Tode,  sicher  nicht  von  diesem  herrühren  können;  während 
einige  andere  zwar  Satiren  auf  Ereignisse  früherer  Zeit 
Bind,  deren  Autorschaft  aber  Marvell  wohl  nur  deshalb 
zugeschrieben  wurde,  weil  er  an  anderen  Stellen  dieselben 
Ereignisse  satirisiert.  Nachdem  es  aber  in  jener  Zeit 
anonyme  Satiren  in  großer  Anzahl  gibt,  sind  wir  nicht 
berechtigt,  diese  ohne  weiteren  Anhaltspunkt  Marvell  zu- 
zusprechen. Manchmal  tut  es  einem  wirklich  leid,  so  be- 
sonders bei  der  köstlichen  Satire  ''Royal  Mesohitions",^)  die 
ganz  in  modemer  „Serenissimus^*  Manier  gehalten  ist. 
Natürlich  müssen  wir  von  einer  Besprechung  dieser  Ge* 
dichte  abstehen. 

Damit  ist  die  Betrachtung  von  Marvells  sämtlichen 
poetischen  Werken  beendet, 

^  ^}  Voil,  p.  LVni—LXIV. 

^)  Gedruckt  bei  Grosart,  vol.  I,  p,  431,  und  hei  Aitken, 
*'Satires'\  p,  21ß. 


I 


IL  Systematischer  Teil. 

Im  bisherigen  ersten  Teile  der  Arbeit  wiird©  verancht, 
Marvell  durch  Einzelheiten  verständlich  zu  machen  und 
nahezubringen.  Im  zweiten  Teile  soll  versucht  werden,  das 
Gefnndene  in  ein  System  zu  bringen,  die  Fäden  aufzuzeigen^ 
mittels  deren  er  mit  seinem  Jahrhundert  zusammenhängt 
und  worin   er   sich  von  seinen  Zeitgenossen  unterscheidet. 


Literarhistorische  Sti^Ilung:. 

Andrew  Marvell  war  ein  Dichter  zu  einer  Zeit,  die 
der  Dichtung  nicht  günstig  war,  obwohl  eine  beträchtliche 
Anzahl  von  Dichtenden  in  ihr  lebte,  der  Zeit  der  Bevo* 
lution  imd  der  Restauration,  Es  war  die  Zeit^  wo 
politische  and  religiöse  Gegensätze  dem  Bürger  die  Waffen 
in  die  Hand  drückten,  wo  der  starre  Puritanismus  eich  zum 
Vertreter  des  Geistes  Gottes  machte  und  jeden,  in  dem  der 
„Geisf*  nicht  war,  als  Feind  betrachtete,  dem  er  sich  als 
harter  Gegner  in  der  Tat  zeigte ;  der  ein  morsches  König- 
tum niederwarf,  dessen  vielleicht  nicht  schuldigstes  Opfer 
König  Karl  I,  w^ar;  die  Zeit,  in  der  aus  dem  einfachen 
Landmann  Cromwell  das  Haupt  der  englischen  Republik 
wurde,  das  fremde  Völker  fürchteten»  aber  auch  ein  Haupt, 
das  die  untergebenen  Glieder  mit  Willkür  beherrschte;  die 
Zeit,  wek'her  dann  nach  dem  in  Heuchelei  und  Frömmelei 
ausgearteten,  bald  verfallenen  Puritanismus  die  Reaktion 
der  Zügellosigkeit,  Unzucht  und  Frivolität,  auch  des  Witzes 
zwar,  folgte,  die  der  zurückgerufene  Karl  IL  als  fran- 
zösische Mode  mit  nach  England  brachte,  der  nur  zurrechten 
Zeit  starb,  um  vielleicht  dem  Schicksal  seines  Vaters  zu 
entgehen,  durch  das  er  sich  nicht  warnen  ließ,  bei  dem  das 
sprichwörtliche  „Chtrchez  la  femme'*  die  Setzung  in  den 
Plural  verlangt,  da  zahlreiche  Maitressen  den  König  be- 
herrschten, die  wieder  von  Nebenakteuren  gelenkt  wurden : 
ein  Puppentheater,  bei  dem  dem  Volke  die  Tränen  in  die 


—    112    - 


Augen  kamen;  dazu  Krieg,  Feuer,  Pest;  die  richtige  Vor- 
bereitung, mit  einem  Wort,  zur  zweiten,  unblutigen  "ghriaus 
rebclUon',  die  bald  darauf  über  seinen  Nachfolger  Jakob 
hereinbrach,  der  schon  als  Duke  of  York  genug  getan 
hatte,  um  sein  Schicksal  zu  verdienen. 

Das  war  die  politische  und  reli  giöse  Signatur 
der  Zeit,  ein  aufreibender  Kampf  im  Inneren,  zu  dem  noch 
Kämpfe  im  Ausland  hinzukamen. 

Die  soziale  Konstellation  war  dem  entsprechend:  Auch 
in  der  Gesellschaft  zuerst  die  Herrschaft  des  ehrUchen, 
aber  plumpen  Paritanismus,  dessen  zweites  Wort  immer 
Gott  war;  dann  die  Herrschaft  der  „Kavaliere",  bei  denen 
stets  eine  geistreiche  Phrase  und  eine  Zote  abwechseku  ^* 
Die  Extreme  folgen  einander. 

Und  nun  zum  literarischen  Ausdruck  der  Zeit: 

Der  bekannteste  dichterische  Name  jener  Periode  ist 
der  Miltons.  Aber  wir  können  ihn  nicht  zum  Maßstab 
der  Zeit  und  zum  Maßstab  fär  Marvell  machen.  Denn,  wenn 
wir  den  Namen  John  Milton  hören,  so  denken  wir  unwill- 
kürlich  an  den  Dichter  des  '*Paradis€  Losi'%  den  englischen 
Klopstoek,  —  und  Marvell  war  kein  religiöser  Dichter.  Er 
hat  etwas  mit  dem  jungen  Dry  den  gemeinsam,  aberDryden 
ist  vor  allem  Dramatiker.  So  müssen  wir  Marvell,  da  es 
eich  hier  nur  um  Lyrik  handelt,  an  der  Menge  der  ge* 
ringeren  Dichter  neben  und  nach  Milton  messen,  den 
^Kavalieren'*,  wie  sie  Bleib  treu  im  ersten  Bande  seiner 
bekannten  Literaturgeschichte  nennt,  —  Hervorbringer 
einer  Menge  von  fingierten  Liebesliedem  in  der  pastoralen 
Mode  und  einer  erdrückenden  Masse  von  Gelegenheits- 
dichtungen. Diese  sind,  vom  Theater  abgesehen,  der  lite- 
rarische Ausdruck  der  Zeit.  Wir  können,  wohlgemerkt, 
Marvell  an  ihnen  messen;  wir  können  ihn  aber  nicht 
unter  sie  zählen.  Er  war  weder  ihr  Freand  —  in  politischer 
Beziehung;    noch   ihr  Schüler  —  in  poetischer  Beziehung. 

Wenn  wir  die  Zeit  als  eine  endlose  Wellenlinie  an* 
sehen,  indem  jedes  Prinzip  nach  Erreichung  der  Kulmination 
verflacht  und  dem  nächsten,  heranreifenden,  Platz  macht 
und  so  fort,  so  können  wir  sagen,  daJ3  Marvell  zugleich 
auf  zwei  Wellenbergen  steht;  das  heißt,  einerseits  ist  er 
noch  Puritaner,   wenn  auch  nicht   im    finstersten  Sinne 


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I 
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4 


—     113     — 


rtes,  in  seinem  ehrlichen»  geraden,  rechthchen  Sinne; 
and  andererseits,  mit  Bezug  auf  die  formelle  Seite,  ist 
er^  wenigstens  eme  Zeitlang,  ein  Kind  der  jüngsten  Zeit, 
ein  Dichter  der  tändelnden,  schäferlichen  Mode  und  ein 
B  Satiriker.  Eine  seltsame  Kombination,  von  der  mir  kein 
*  zweites  Beispiel  bekannt  ist  —  von  Miltons  ''Minor  Poems'' 
aus  dem  angetührteu  Grunde  abgesehen. 

■  Zahlen  spreclien.  Wir  haben  von  Marvell 

25  Liebesgedichte    und    ßeflexionsgedichte,    darunter 
13  in  Schäfer-  oder  idyllischer  Einkleidung, 

110  Gedichte    an   bestimmte   Personen,    darunter  2   in 
Schäfereinkleidung, 
3  commendatory  poems, 
2  literarische  Satiren  und 
15  politische  Satiren.^) 
Die   Hauptmasse   also   Mode- (Seh äfer-)Dichtung    und 
Gelegenheitsgedichte,    ergo    ein    Kind    der    Zeit,    ein    Re- 
naissancedichter,   ä    la    Drayton,     Carew,    Suekling, 
■  Browne,  Pletcher^  Crashaw,  Donne,  Cowley,  Waller,  Denhanx, 
in  welcher  Reihe  ja  auch,  freilich  nur  sozusagen  im  ^Neben- 
fach^j  Ben  Jonson  schon,  dann  Milton  und  Drydon  mittaten. 
H  Aber  Marvell  ist  nicht  der  Schüler  eines  dieser;    er 

™  steht  nicht  unter  deren  Einfluß,  sondern  unter  demselben 
£in£uÜ,  unter  dem  diese  schon  standen,  nämhch  dem  Ein- 
flüsse der  internationalen,  in  erster  Linie  der  italienischen 
ßenaissancedichtuDg,  die  wieder  von  der  antiken  Richtung 
abhängig  ist ;  die  Kichtung  des  sogenannten  Marinismus 
also,  die  in  Deutschland  durch  den  „Schwulöf^  der  zweiten 
Schlesier  vertreten  ist,  deren  Hauptkennzeichen  a)  die 
pastorale  Einkleidung,  ft^  das  Kunstmittel  der  cimcetti  Bind; 
eine  Fortsetzung  des  Euphuismus,  der  eigentlich  nicht  viel 

•  älter  ist  und  schon  alles  im  Keime  enthält. 
Von  bleibendem  Wert  ist  freilich  diese  Renaissance- 
dichtung nicht  gewesen,  diese  Liebeslieder  stehen  trotz  des 
aufgebotenen  riesigen  Apparates  unendlich  weit  hinter  den 
schlichten,  ergreitenden  der  mittelenglischen  Zeit  zurück; 
aber  so  wegwerfend  dürfen  wir  sie  doch  nicht  behandeln, 


*)  Die  drei  Teile  der  "InsirucHons  to  a  painter^'  nur  als  e  i  n  Ge- 
dicht gezählt ;  die  lateinisohen  Gedichte  sind  nicht  miteinbezogen. 
Po  seil  er.  MttrvoJls  poel.  Werke,  g 


^     114     — 


wie  es  Bleib  treu  tut;  die  guten  Leute  können  ja  nichts 
dafür,  daß  sie  in  einer  Zeit  lebten,  wo  die  Mode  ihnen  so 
diktierte;  und  der  Mode  entgegentreten  konnten  sie  nicht. 
Auch  Milton,  neben  Crom  well  der  starkgeietigste  Mann  der 
Zeitj  hat  das  nioht  vermocht ;  erat  im  Alter,  von  der  Welt 
abgeschlossen,  hat  er  es  versucht  Die  Renaissancemode 
war  eben  allmächtig,  nicht  nur  in  der  Literatur,  auch  in 
der  Architektur  der  Häuser  von  außen,  in  den  geschnörkelten 
Möbeln  innen,  in  den  Gartenanlagen,  in  der  Tracht  der 
Leute,  überall  finden  wir  sie.  Was  Marvell  speziell  an- 
belangt, so  ist  er,  der  nirgends  die  Extreme  liebt,  auch 
hier  kein  Extremer;  dem  war  seine  klare,  nüchterne  Natur 
entgegen;  er  macht  die  Mode  gezwungen  mit;  so  ist  er 
auch  in  den  concetti,  dem  Unding,  das  auch  er  nicht  ab- 
streifen kann,  doch  viel  mäßiger  als  zum  Beispiel  Cowley, 
Donne  und  andere. 

In  erster  Linie  haben  wir  bei  Marvell  den  Einfluß 
Horazens.  Der  Grundgedanke  seiner  ländlichen  Gedichte 
ißt  das  bekannte  „Beatus  ilU  qui  procttl  neßotiis  .  .  .**  (in 
'' Appleton- ffome'\  ''HortHs'\  ''The  Gardm*\  '*Rös'*  und  vielen 
anderen).  Demselben  Gedanken  folgend,  übersetzt  er  auch, 
gleich  Cowley,  die  Chorstrophe  „Stet  quiamque  volet .  .  .* 
aus  Senecas  '*ThtfesV\  Ohne  gegenseitige  Abhängigkeit 
geht  dieser  Gedanke  auch  durch  ähnlicbe  Dichtungen  seiner 
ungefähren  Zeitgenossen  Donne,  Ben  Jonson,  Mitten 
(„II  Penseroso^J,  Cowley,  Waller,  Denham  C*Cooper's  Hiir: 
" . ,  ,  Happiness  of  sweet  retired  cantenf')  und  erreicht  in 
Pope  einen  Höhepunkt. 

Ein  anderer,  unendlich  oft  variierter  Gedanke  ist  das 
Horazische  „ Carpe  diem ! ",  am  schönsten  ausgedrückt  in 
dem  launigen,  schalkhaften  Gedichte  '*To  his  coy  mi$tres^\ 
—  auch  wieder  bei  den  genannten  Dichtern  zu  finden,  be- 
sonders bei  Waller. 

Das    ^Ars   hngUy    vita    brevis''   nach  Hippokrates    und 
Horaz   fanden   wir   sogar   wörtlich   in   der  Schlußzeile   des 
Gedichtes  ^jauf  den  Tod  des  Lord  Hastings": 
"Art  indeed  is  long^  hui  Lift  is  short," 

Das  lateinische  Gedicht  „Ad  Regetn  Carolum*'  nennt 
sich  selbst  eine  ^Parodia^  auf  Horazens  „Ad  Atu/ttstum 
Caesar em** i ^Carnu,  I,  2.  ^ 


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i 


—     115    — 


I 


Auch  in  den  Episteln  ahmt  er  Horaz  nach,  zum 
Beispiel  „Episiola  Doctori  Ingelo . .  ,^  und  „Dodori  Wittie'^, 
Also  Horaz  auf  allen  Linien ;  halb  auf  dessen  Rechnung, 
halb  auf  die  des  Landaufenthaltes  zu  Nun-Appleton  zu 
setzen  ist  der  ''out  of  door^-Charakter  seiner  Poesie^  den 
viele  Engländer  hervorheben,'^) 

Dann  finden  wir  auch  den  Einfliii3  Virgils:  Wie  in 
der  „Aneide"  Minerva  dem  Aolus  eine  reine  Jungfrau  ver- 
spricht, um  ihn  für  ihre  Plane  zu  gewimien,  so  verspricht 
die  Personifikation  des  Macchiavellismus  dem  König  Karl 
**thr€e  spotless  mrgins'\  Auch  die  Figur  der  Fama^  die  ihre 
Backen  schwellt,  malt  er  nach  Virgil. 

An  Homer  erinnert  die  Stelle  im  ''Fir.^i  Anniversary*\ 
wo  das  Benehmen  der  den  Führer  abschleudernden  Rosse 
geschildert  wird. 

Einflüsse  Catulls  sind  zwar  nicht  so  mit  den  Händen 
zu  greifen,  finden  sich  aber  in  MarveUa  Liebeslyrik  wie 
in  der  ganzen  Renaissance,  besonders  bei  Ben  Jonson. 

Marvell  kennt  Asop  (im  *^Dialogue  beiween  two  horses*^ 
und  hat  oflTenbar  von  ihm  den  Tierglauben  übernommen. 
Auch  Seneca  kennt  er,  denn  er  übersetzt  aus  ihm.  Auf 
antiken  Einfluß  geht  auch  die  wichtige  Form  der  Toten- 
ge spräche  zurück,  die  ihm  besonders  zur  Satire  dient. 
(*'Tom  Mays  Dmtii\  ''Tiie  Loyal  Seot";  q.  v.)  Marvell  pflegt 
nur  die  ältere,  echtere  Art  dieser  Gespräche,  nämlich  zwischen 
wirkhch  Verstorbenen  in  der  Unterwelt;  nicht  aber  auch 
die  Wanderungen  Lebender  in  die  Unterwelt.  S  a  1 1  n  s  t 
zitiert  er  in  der  *'fforatian  Ode'', 

Nach  den  Alten  haben  auf  Marvell  als  Mittelsmänner 
die  modernen  Nachahmer  derselben,  besonders  die  Italiener 
und  seine  eigenen  Landsleute,  eingewirkt  (8 pensers 
*^Shepher(Vs  Calendar'*,  Sidney  etc.),  von  denen  er,  gleich 
anderen,  die  Schäfemamen  Hubbinol,  Dämon,  Thjrsia, 
Clorinda  etc.  übernimmt.  Er  befolgt  die  von  diesen  theo- 
retisch geäuiierten  und  praktisch  betätigten  Vorschriften,*) 
Ein  Unterschied  zwischen  Spenser  und  Marvell  bei  diesen 
Schäferdichtungen    ist,    abgesehen    von   der  sonstigen  ße- 

i)  Gosse,    "From    Sfmlspere  to  Pope*,    Cambr.   1885,    /?.  219 f; 
ferner  ''Academtf,  vol  51,  p,  478:  ebd.  ml.  42,  p.U3Öf. 
*)  Vgl.  Seite  84  f.  dieser  Arbeit. 


—     116     — 


deutiiDg^  daß  Spenser  seine  Schäferdichtung  zu  praktischen 
Zwecken  benutzt  hat,  nämlich  um  sich  Gönner  zu  erwerben, 
um  die  Leute  anzusingen  oder  ihnen  für  etwas  zu  danken, 
während  Marvell  für  sich  dichtet,  wenn  vielleicht  auch 
mancher  Schäfemame  Personen  seiner  Bekanntschaft  ver- 
birgt, wie  zum  Beispiel  ausnahmsweise  in  den  y,Two  SongB*^ 
für  die  Hochzeit  von  Cromwells  Tochter;  Mary  Fairtax 
fuhrt  er  als  Nymphe  ein. 

Bloß  antiken  Einfluß  zeigt  Marvell  in  den  Satiren; 
dieser  ist  aber  bei  einem  gelehrten  Dichter  natürlich;  die 
Satiren  sind  es  also^  wo  Marvell  am  selbständigsten  ist, 

Betrachten  wir  Marvells  Stellung  zu  den  Dichtern, 
welcher  er  in  seinen  Dichtixngen  besonders  gedenkt,  so 
haben  wir  vor  allem  Spenser  und  Ben  Jonson,  Thomas 
May  und  Richard  Flecknoe,  Dryden,  Lovelace  und  Milton 
zu  nennen. 

Von  seiner  Bewunderung  fiir  Spenser  warde  bereits 
gesprochen ;  er  gibt  ihm  das  Beiwort  "fame(V\  Inwiefern 
er  nur  sein  Schüler  zu  nennen  ist,  wurde  eben  gesagt, 
Spenser  ist  aber  Hofdichter  ^  Marvell  steht  dem  Hofe 
feindlich  gegenüber,  freilich  einem  anders  beschaffenen. 
Marvell  ist  auch  dem  Schäferkostüm  nicht  so  unwiderruf- 
lich verfallen  wie  Spenser;  dieser  sagt  alles  im  Schäfer- 
kostüm ;  während  Marvell  dort,  wo  der  große  Ernst  durch- 
bricht^ immer  die  Maske  abwirl't,  als  ob  das  wahre  Gefühl 
die  glatte  Decke  sprengen  würde* 

Ben  Jonson  führt  unser  Dichter  in  ''Tom  Mays 
Death"  redend  ein;  er  legt  ihm  scharfe  Worte  in  den  Mundf 
mit  denen  der  Renegat  May  aus  der  Versammlung  der 
Poeten  in  der  Unterwelt  hinausgewiesen  wird.  Er  läßt  vor 
seiner  Rute  Virgii  und  Horaz  erzittern.  Ben  Jonson  spricht 
die  hohe  Meinung  von  der  Aufgabe  und  der  Pflicht  der 
Dichtkunst  aus,  eine  utilitaristische  Meinung,  die  eigene 
Meinimg  Marvells,  die  uns  bereits  bekannt  ist.  Da  er  Ben 
Jonson  also  zum  Organ  seiner  Meinung  macht,  hatte  er 
oflenbar  eine  hohe  Achtung  vor  ihm,  obwohl  Ben  Jonson 
der  Gresinnung  nach  nicht  auf  Marvells  Seite  stand ;  fireilich 
waren  fiüher  die  Gegensätze  nicht  so  schroff  gewesen  und 
Marvell  war  stets  hochdenkend  genug,  auch  anderen  ihr 
Recht  widerfahren  zu  lassen.  Dem  widerspricht  nicht,  daß 


4 
4 


—     117     — 


er  zu  Beginn  dieses  Gedichtes  über  Jonsons  gutes  Aus- 
sehen scherzt,  indem  er  ihn  mit  einem  Wirte  verwechselt 
werden  laut,  —  ein  harmloser  Scherz  des  Satirikers^  dessen 
Spitze  mehr  gegen  den  betrunkenen  May  gerichtet  ist  als 
gegen  Ben.  Daß  Jonson  ihn  auch  direkt  beeinflußte,  liegt 
als  bei  dem  Nachahmer  Catulls,  dem  Übersetzer  des  „Beatus 
Ula  . .  .'*  (''Happy  is  he  thai  front  all  business  clear  .  . ."),  nahe 
genug.  Man  stelle  nur  das  Marvelliache  '*Lct  us  .^port  us 
while  we  mat/*  C'To  his  cotj  Misiress'\)  neben  das  JonsoDsche 
'^Come^  mtf  Celia,  let  us  proüe^ 
While  wt  maij^  the  Sports  of  love^"^) 

Was  Marvell  in  demselben  Gedichte  von  May  meint 
und  denkt,  ist  in  der  Inhaltsangabe  ausführlich  genug  dar- 
gelegt und  begründet  worden.  Dasselbe  gilt  bezüglich 
Flecknoes,  der  den  Gegenstand  seiner  ersten  literarischen 
Satire  bildete. 

Cleveland,  den  er  in  der  Satire  "77ie  Lot^al  Scot'' 
auftreten  läßt  und  den  er  dadurch  ehrt,  daß  er  ihm  seine 
eigene  Ansicht  aussprechen  läßt,  dürfte  er,  als  einen  der 
wenigen  ehrlichen  politischen  Gegner,  hochgeschätzt  haben. 

Lovelacö,  dessen  Name  ohne  Ursache  etwas  be- 
kannter ist  als  der  Marvells,  nennt  dieser  seinen  teuren 
Freund  und  schätzt  ihn  in  seinem  Widmungs-  und  Geleit- 
gedicht, der  herkömmUchen  Art  nach,  höher  als  er  ihn 
wohl  in  AVirklichkeit  stellte. 

Dagegen  ist  seine  Stellung  gegenüber  Dryden  eine 
entschieden  feindselige.  Der  Angreifer  scheint  Mar^'-ell  ge- 
wesen zu  sein,  wenigstens  ist  kein  früherer  Angriff  seitens 
Dryden  bekannt.  Das  Gedicht  Marvells  auf  Miltons  '*Para^ 
dise  LqsV  ist  voll  temperamentvoller  Ausfälle  auf  Dryden, 
wegen  dessen  Dramatisierung  dieses  Epos  (1674);  offenbar 
verleitete  unsern  Dichter  die  große  Verehrung  fiir  Milton 
dazu*  Die  Ausdrücke  "soiw?  le^s  skilful  hamr  und  ''vo  room 
is  here  for  writers  hß,  hiU  to  detect  ihtir  ignoraner  or  theff' 
gehen  alle  auf  Dryden  und  seinen  ''State  of  Innocmc€'\ 
der  kurz  vorher  erschienen  war.  Er  ist  es  auch  offenbar,  den 
Marvell  hier  unter   dem  Namen  ''Town-Batjes''  versteht; 

^^While  ihe  Towit- Bai/es  wriies  all  the  while  and  s^iells, 
And  iike  a  pack-horse  Urea  wüHout  His  bells,'' 

i)  Ed,  Ciifmingham,  III,  ^66. 


r_    118    _ 


während  Grosart  in  der  Anmerkung  zu  seiner  Ausgabe 
Dryden  gar  nicht  erwähnt,  sondern  meint,  "Tofmi-Bayes** 
sei  entweder  die  anglizierte  Form  von  „Bavius^  oder  es 
bedeute  Monday,  "the  Ciiy-poet'\  wie  ihn  Ben  Jenson 
nennt,  also  Town-Bayes  =  Town-Laureate.  Da  ein©  andere 
etymologische  Erklärung  nicht  existiert,  und  auch  mir 
nicht  gelungen  ist,  hat  diese  letztere  von  Qrosart  etwas 
für  sich.  Andererseits  aber  liegt  es  doch  näher,  auch  diesen 
Angriff  auf  Dryden  zu  beziehen^  da  es  nicht  wahrscheinlich 
ist,  daJJ  Marvell  in  dem  einen  Gedicht  gleich  zwei  Männer 
angriff,  von  denen  der  eine  in  gar  keiner  Beziehung  zu 
MUtons  ''Paradise  Losf  stand*  Dryden  rächte  sich  für 
Marvells  Ausfälle,  indem  er  im  Vorwort  zur  „Religio  Laici' 
Martin  Marprelat  mit  ihm  vergleicht,  *'the  Marveü  0/ 
thüse  timeSt  ike  ßrst  presbyierian  scrihbler  who  sanctified  libels 
and  scurnlity  to  thc  use  of  the  good  old  cause" J)  Daß  Dryden 
es  andererseits  nicht  verschmähte,  an  Marvells  **Flecktto^' 
anzuknüpfen  mit  seinem  ''Mac  Fleckrwe",  wurde  bereits*) 
hervorgehoben.  Auf  wessen  Seite  das  bessere  Recht  war, 
ist  ziemlich  klar.  Dryden  konnte  Marvell  auch  politisch 
nicht  angenehm  sein;  denn  derselbe  Dryden,  der  Crom- 
wells  Tod  in  Versen  beweinte,  als  dessen  Sohn  Richard  in 
der  Regierung  festzusitzen  schien,  besang  kaum  achtzehn 
Monate  später,  als  die  Restauration  gefolgt  war,  mit  Waller 
und  anderen  die  Rückkehr  Karls  IL;  ja,  er  verglich  eine 
seiner  Dirnen  mit  —  Cato!  Das  konnte  ein  Marvell  nicht 
verzeihen, 

Marvells  Stellung  zu  seinem  jetzt  berühmtesten  Zeit- 
genossen, Milton,  der  aber  damals  gar  nicht  berühmt 
und  nur  von  wenigen  anerkannt  war,  geht  zur  Genüge 
aus  seinem  begeisterten  Eintreten  für  dessen  '*Paradis€  Last'* 
hervor,  wenn  auch,  wie  immer,  ein  Teil  der  Begeisterung 
auf  das  Konto  der  herkömmlichen  Art  der  conimmdatory 
Verses  gesetzt  werden  muü.  Die  persönliche  Bekanntachaft 
der  beiden  Männer  datierte  seit  ungefähr  1662,  wie  aus 
Miltons  Empfehlungsbrief  hervorgeht;  offenbar  ist  Lord 
Fairlax  der  Vermittler  gewesen ;  imd  Milton  wieder  empfahl 
Marvell  an  Bradshaw  und  OromweU,  wodurch  er  ja  später 

')  Dn/dm's  Poetical  Worts,  cd,  Cunningham,  vol.  lH,  p.  190. 
2)  Sieh  S.  4  u,  5  dieser  Arbeit. 


Ü 


Ü 


—     119    — 

ßein  Amtskollege  wurde.  Und  es  zeigt  wieder  Marvells 
ehrenhafte,  herzgewinneude  Persönlichkeit,  daß  er 
Milton  nicht  vergaß,  als  er  ihn  nicht  mehr  brauchen  konnte, 
sondern  dieser  seiner  bedurfte,  und  daß  er  mannhaft  für 
ihn  gegen  den  minder  edlen  Parker  auftrat  und  auch  im 
Parlament  den  Vielgehaßten  in  Schutz  nahm.  Der  Milton- 
Biograph  Mark  Pattison^)  bedauert  nur,  daß  Marvell 
statt  seines  schwachen  Lobgedichtes  keinerlei  Aufzeich- 
nungen über  seinen  Verkehr  mit  Milton  hinterlassen  hat; 
bemerkenswert  ist  eine  Äußerung  Marvells  über  Milton  im 
^^Rehtarsal  Transprosed*' J) 

Ein  direkter  literarischer  Einfluß  Miltons  auf 
Marvell  ist  nicht  vorhanden.  Gemeinsame  Züge  finden  sich 
freilich,  so  der  Glaube  an  die  Macht  der  Sterne,*)  die  Ver- 
gleiche aus  der  Bibel  mit  den  alten  jüdischen  Helden,  mit 
Samson  —  an  "Samsmt  Agonistes"  denkt  Marvell  offenbar  bei 
der  Erwähnung  Samsons  am  Schlüsse  seines  EmpfehJungs- 
gedichtes  für  Milton  — ,  mit  dem  Ungeheuer  Le\aathan  etc., 
was  aber  nicht  auffallend  ist  Daß  Marvell  für  die  Heim- 
losigkeit  Miltons  theoretisch  eintritt,  sie  aber  selbst  nicht 
pflegt,  wurde  schon  erwähnt  Marvell  und  Milton  sehen  die 
"Welt  mit  ganz  verschiedenen  Augen  an:  Beide  sind  unzu- 
frieden, empört  über  die  herrschenden  Zustände.  Milton 
besitzt  Pathos,  Marvell  Satire.  Milton  zieht  sich  endlich 
geärgert  von  der  Außenwelt  zurück  und  versenkt  sich  in 
die  Zeit  des  Paradieses.  Marvell  wird  immer  heftiger  in 
seinem  erbitterten  Kampfe,  dessentwegen  er  auch  die 
eigentliche  Dichtung  aufgab,  während  Milton  geradezu 
zur  Dichtung  gedrängt  wurde,  abgesehen  von  den  anderen 
Umständen,  die  dabei  mitwirkten. 

Im    Gedichte    „Auf  Tom   Mays   Tod"   nennt  Marvell 


1)  ''Mütmi'  (Mii^lush  Mai  of  LettersJ,  p.  131  f. 

2)  Grosart,  vol  III,  p,  498-^00;  ebd.  p.  35  m.  494  über 
Butlers  "Hudthras'\ 

^)  Die  Astrologie  stand  damals  in  gebildeten  Kreisen  io  hohem 
Ansehen.  William  Lilty,  der  größte  Astrologe  der  Zeit,  sagte  in 
jährlichen  Aljuanachen  die  politischen  Ereignisse  vorher  j  er  wurde 
auch  zu  Rate  gezogen,  a!s  Karl  I.  aus  Carisbrook-Castle  fliehen 
wollte.  Butler  verspottet  ihn  im  ''Hudibrm**  als  öidrophel.  Vgl 
*'Mudibras'\  II,  HI 


120 


femer  Davenant  gegenüber  May  mit  Auszeichntmg  **one 
ttmn  thee  more  wortht^";  tmd  Chane  er  erhält  ebendort  das 
Beiwort  *^reverend":  —  übrigens  ein  ständiges  Beiwort  für 
Chaucer  auch  bei  anderen  Dichtem,  z,  B.  Dimbar. 

Ein  conimendaiory  poem  für  Dn  Witty  zeigt  die  stereo- 
type Übertreibung  bei  der  Würdigung  von  dessen  Über- 
setzungskunst 

An  Waller  und  Denham,  Dichter  der  Gegenpartei, 
haltlose  Gesellen,  knüpft  Marvell  insofern  an,  als  er  den 
Gedanken  ihrer  '* Instructions  to  a  painter*^  die  für  Karl 
Partei  nehmen^  aufgreift  und  ^nach  zwei  Sitzungen'^  Lady 
State  einer  dritten,  längeren  unterzieht,  und  so  seine  viel 
umfangreicheren  ''Instructions",  äußerst  aggressiv  gegen  den 
König  und  die  Regierung,  schrieb.  Auch  erwähnt  er  beide 
Dichter  in  diesem  Gedichte  selbst,  den  einen  als  Parlaments- 
mitglied, den  andern  in  sehr  verächtlicher  Weise.*)  Mit 
Waller  hat  er  noch  mehrere  Themen  gemein.  Waller  schrieb 
*'0f  a  war  wiih  Spain  and  ßiiht  ai  sea"  in  heroic  couphts; 
Marvell  ''Chi  the  Victorij  of  Blake  over  ihe  Spaniards  .  .  .**  In 
anderem  Zusammeohang  wurde  schon  erwähnt,  daß  Waller 
ebenso  wie  Manuell  ein  '*Pöem  upon  the  death  of  the  Lord 
Proteetür'  schrieb  und  beide  darin  von  dem  Sttirm  bei 
Cromwells  Tode  allegorischen  Gebrauch  machen,  ohne  daß 
ein  weiterer  Zusammenhang  erkennbar  wäre. 

Da  Grosart,  der  treffliche  Herausgeber,  in  seinen 
Anmerkungen  öfters  so  nebenbei  von  „Reminiszenzen'*  an 
Donne,  Cowley  etc.  spricht  und  auch  der  Artikel  im  "Dic- 
tionartj  of  National  Biographij'  Marvell  zur  „Schule** 
Donnes  und  Cowleys  rechnet  (eine  solche  gibt  es  gar  nicht, 
das  ist  eben  ^Renaissance- Lyrik^),  so  muß  entschieden  be- 
tont werden,  daß  Marvell  von  Donne  und  Cowley 
absolut  unabhängig  ist;  von  einem  bestimmten  Ein- 
flüsse kann  nicht  gesprochen  werden,  wohl  aber  von  Ein- 
Aussen  (Plural !),  und  zwar  sind  das  die  allgemeinen  Einflüsse 
der  Zeit,  der  Mode,  der  Tradition.  Eine  ^Schule  Donne- 
Cowley'^  existiert  noch  weniger  als  die  sogenannte  ^zweite 
schlesische  Schule'^*  Diese  „Schule"  ist  eben  die  pastorale 
Richtung,   der  jeder  Zeitgenosse   angehörte,   vielleicht  mit 


1)  ?v.  164,  2m. 


-    121     - 


alleiruger  Ausnahme  Butlers.  Unter  ^Schule**  versteht  man 
doch  immer  etwas  Abgesondertes,  Partielles  und  gerade 
nicht  das  Allgemeine »  Universelle. 

GewiU,  wir  erinnern  uns  sogleich  an  Marvells  ''ün- 
fortunatr  Lover'\  der  ''Definition  qf  Love'\  ^'Mourning**  und 
ähnlicher  Unnatürlichkeiten,  wenn  H  a  z  1  i  1 1  *)  sagt: 
^'Donne's  Muse  suffers  continual  pangs  and  ihroes;  his  thoaghis 
are  ddivered  hg  ike  Caesarcan  sedion'*:  sowie  wenn  er  be- 
merkt, daß  Donne  Gelehrsamkeit  filr  Poesie  hielt»  Aber 
das  ist  kein  Charakteristikum  für  Donne  oder  Marvell 
speziell,  sondern  allen  Zeitgenossen  gemein;  man  gehe 
nur  die  betreffenden  Bände  der  *'Po€is  of  Great  Brituin'* 
flüchtig  durch  und  man  wird  staunen,  überall  dasselbe  zu 
finden. 

Und  gehen  wir  zu  den  Einzelheiten:  Auch  Donne 
besingt  einen  Öarten,  besingt  Bilder;  auch  er  höhnt  die 
Schismatiker  zu  Amsterdam,  auch  er  verehrt  Spenser: 
lauter  Allgemeinheiten,  die  nichts  beweisen.  Das  größte 
ist  noch,  daß  auch  bei  Donne  sich  das  Bild  vom  Auf- 
fangen der  Tränen  in  einer  kristallenen  Phiole  findet 
Das  einzige  Gedicht  Donnes,  das  wahrscheinlich  wirklich 
auf  Marvell  eingewirkt  hat,  ist  Donnes  ,,La  Corona*',  ent- 
sprechend dann  Marvells  *'The  Coronet",  Ein  Blick  auf 
Seite  49,  wo  das  Muster  vollständig  abgeschrieben  wurde, 
genügt,  um  zu  bestätigen,  daß  auch  dieses  ihm  außer  der 
allgemeinen  Idee  und  dem  Titel,  der  nicht  einmal  Dounes 
Eigentum  ist,  sehr  wenig  geboten  hat. 

Es  wäre  verfehlt  zu  schließen,  Marvell  könne  der 
Üler  Donnes   deshalb   gewesen   sein,   weil  Donne   nach 

Ausspruche  Ben  Jonsons  ein  großer  Dichter  war, 
während  Marvell  es  nicht  war.  Donne  war  gar  kein  großer 
Dichter,  Ben  Jonson  nennt  ihn  freilich  anläßlich  der  üb- 
lichen gegenseitigen  Komplimeutierung  einmal  ''the  ddight 
of  Phoi'bus  and  each  3hise";  darauf  ist  aber  ebensowenig 
zu  geben,  als  wenn  Marvell  einen  Lovelace  oder  Witty 
bis  in  den  Himmel  erhebt.  Und  Marvell  ist  Donne  gegen- 
über nicht  zu  verachten;  Hazlitt  nennt  ihn  eines  besseren 


JC>lg€ 


B  >)  "The  Englinh  Cotmc  Writ^ra**  (wie  9.  aO,   Arno.  1^   dieser  Ar- 

beit), p.64. 


122 


Zeitalters  würdig  und  findet  manohe  seiner  Verae  ^süß 
wie  auf  Apollos  Laute**.*) 

Und  so  wie  Marvell  in  der  pastoral en  Dichtung 
von  Donne  unabhängig  ist,  ist  er  es  auch,  ja  noch  mehr, 
wenn  möglich,  in  der  Satire.  Donne  schrieb  auch  Satiren, 
aber  lauter  allgemeine  Satiren,  Satiren  auf  schlechte  Poeten, 
auf  den  Aberglauben,  über  die  Heuchelei  etc«,  während 
Marvells  Satire  eine  direkt  persönliche  Satire,  meist 
mit  Namensnennung  der  Person  ist.  Andererseits  ist  Donne 
bedeutend  vielseitiger  in  der  Metrik,  er  hat  längere  und 
kürzere  Verse,  mehr  sangbar,  liedartig  verbunden.  Marvell 
hat  das  nicht  nachgeahmt.  Überhaupt  müüte  man  ihn  einen 
sehr  schlechten,  unfolgsamen  ,,Schuler"  nennen,  denn  Donnes 
Lyrik  ist,  obwohl  dieser  ein  Geistlicher  war,  viel  sinnlicher 
und  nackter,  besonders  in  den  Hoclizeitsgedichten,  wo  in 
sehr  deutlicher  Weise  von  den  Freuden  der  Brautnacht 
gesprochen  wird.   Derartiges  finden  wir  bei  Marvell   nicht 

Und  Cowley  gleicht  Marvell  nur  in  der  Ehrlichkeit ; 
Cowley  war  nämlich  Royalist,  und  zwar  einer  der  wenigen 
ehrlichen.  Er  hatte  den  Mut,  Cromwell  bei  dessen  Leb- 
zeiten zu  tadeln.  Dichterisch  hat  Cowley  Marvell  gar  nicht 
beeinfiuJJt.  Er  hat  weder  seine  sogenannten  Pindaric  Ödes 
nachgeahmt,  noch  solche  Verstiegenheiten  wie  Cowleys 
*'0f  Plauts",  ein  Herbarium  in  Versen,  auch  so  trocken 
'wäe  ein  solches.  Von  Cowleys  '^Mistress'\  einer  Sammlung 
von  Liebesgedichten,  die  das  einzige  in  Betracht  Kommende 
wäre,  sagt  sein  Biograph  in  den  "Poets  of  &rc€U  Britmn*\^ 
daß  *'suhiJeiy  and  far-feAched  conceit  usurp  (he  senfimefiis  of 
passion  and  nature*;  sowie  das  auch  von  Marvell  gilt,  gilt 
es  von  dieser  ganzen  „Schule". 

Marvells  eigentliche  dichterische  Tätigkeit  ist  auf 
wenige  Jahre  beschränkt.  Von  den  Vorübungen  der 
Universitätszeit  abgesehen,  haben  wir  seine  lyrische,  Be- 
naissanceperiode  auf  die  Jahre  1650 — 1652/53  beschränkt 
gesehen,  allerdings  seine  fruchtbarste  Zeit,  Seine  politischen 
Gedichte  und  Satiren  bilden  keine  geschlossene  Keihe, 
sondern  sind  gelegentlich  geschrieben,  einzeln  über  viele 
Jahre  verstreut,  am  dichtesten  gegen  sein  Lebensende  zu, 

«)  Sieh  S.  90,  Aiun*  1»  dieser  Arbeit 
2)  Val  \\  p.  204, 


4 
4 


4 


—     128    — 


Um  so  auffallender  ist  bei  der  nicht  groiien  Zahl  seiner 
Gedichte  seine  Vielseitigkeit.  Derselbe  Marvell^  der 
in  der  zweiten  Hälfte  seines  Lebens  so  wuchtige  Satiren 
gegen  seine  politischen  Gegner  schleudert,  schreibt  in  der 
ersten  Zeit  zarte  Hirtengedichte  und  findet  so  innige  Tone 
wie  in  *'Ä  Drop  of  Dew*\  so  galante  wie  in  **Daphnis  and 
Chloe^\  so  gutmütig* humoristische  wie  in  seiner  *'Ct>;/ 
3Iistress'\  Seine  Prosasohriften,  von  groJdem  Um- 
fange, berechtigen  ihn  zu  dem  Titel  eines  ausgezeichneten 
Prosaisten. 

k  Seine   umfassende  Bildung,    die   sich  überall  zeigt, 

könnte  uns  in  Erstaunen  setzen,  wenn  wir  nicht  bedächten, 
daß  dieselbe  etwas  Notwendiges  bei  jedem  Dichter  des 
17*  Jahrhunderts  ist.  Zwar  noch  von  manchem  Aberglauben 
befangen,   nähern   sich    diese   Leute,   auf  ihre   Weise    und 

Kür  ihre  Zeit,  einem  Konversationslexikon  oder  dem 
toetJieschen  allumfassenden  Ideal,  dem  Hen-kal-patL  Dabei 
iebt  Marvell,  ein  Politiker,  noch  viel  mehr  im  Leben 
und  in  der  Wirklichkeit  als  andere.  Über  seine  Lite- 
raturkenntnis wurde  gesprochen,  als  die  fremden  Ein- 
flüsse erörtert  wurden.  Er  kennt  aber  nicht  nur  die  klassische 
Literatur,  auch  die  zeitgenössischen  fremden  Literaturen^ 
die  italienische  Stegreifkomödie;  mit  ihrem  Skara- 
muz  und  PoHcinell  vergleicht  er  ja  Karl  IL;  er  spricht 
auch  von  ''Orlamlo,  famous  in  romance'  (''Instructions  to  a 
painter",  275)  und  von  ''thefahulous  huut  of  Che  vy- Chase'* 
C'Layal  Scot",  70). 

Das  17.  Jahrhundert  ist  das  Jahrhundert  der  Ge- 
le genheitsdichtung;  aber  wenn  die  übrigen  Dichter 
diesem  Meere  Ströme  zutllhi^en,  so  ist  Marvells  Beitrag 
nur  ein  bescheidenes  Bächlein,  solange  das  Wort  Gelegen- 

theitsdichtung  im  engereu  Sinne  genommen  wird.  Im  weiteren 
Sinne  ist  freilich  eigentlich  Marvells  ganzes  Dichten  Ge- 
legenheitsdichtung. Zur  erstereu  Gattung  zählen  seine 
Geleitverse  —  für  Lovelace,  Witty,  Milton;  seine  Leichen- 
gedichte —  für  Cromwell,  Hastings,  seine  Hochzeits- 
gedichte. Zur  zweiten  Art  gehört  alles  übrige,  die  Crom- 
ttjellian  Poems j  die  keine  leeren  Lobhudeleien  sind,  manche 
seiner  lyrischen  Gedichte,  alle  Satiren.  Ein  negativer  Be- 
weis   dafür   ist   auch   der  Umstand,    daß   wir   bei  ihm  nie 


—     124 


allgemeine  Satire,  Satire  aut  die  Mode  oder  die  im 
16.  und  17.  Jahrhundert  so  beliebte  ^»Satire  auf  aUe  Stände*^ 
finden,  sondern  immer  direkte  persönliche  Satire^  die 
freilich  eher  dem  Nichtverstanden-  und  Vergessenwerden 
anheimfällt.  Ein  Zag,  der  durch  seine  ganze  Dichtung^ 
durch  jede  Periode  hindurchgeht^  ist,  daß  die  Satire,  wenn 
auch  nur  in  kleinen  Seitenhieben,  sich  überall,  ja  sogar 
in  Liebesgediehten  findet.  ^| 

Charakteristisch  fiir  Marvell  ist  die  Mischung  von  ^m 
modern  -wissenschaftlichen     Vorstellungen     und     Über- 
bleibseln  des  Aberglaubens.   Er  pflegt  die   mittelalter* 
liehe  Spielerei    mit  der  Zahl  „fünf"^  (in  dem  griechischen 
Gedicht,   in   ^^Apphton-Houae**);   er  glaubt  an    den  Einfluß 
der  Gestirne  wie  Milton,  an  eine  Seele  der  Tiere  ("Nympli\ 
''Hill  and  Grove  at  Bilborow\  "First  Anniversar (^"J,  an  Vor-  j 
herkündigungen    C'Death    oj    ihe  Lord  Protector"),    er   hatj 
noch   den    „Horror   vacui**    der   Alten   ('*Nature   haieih 
etnpimess\   in   der   '^Horaiian    Ode*\    ''Appleton- Hause'' );   erj 
zieht   aber   die  Mathematik  zu  Vergleichen  heran,    spricht 
vom  Femrohr,  vom  Mikroskop,   spottet  über  Graphologie,  j 
ja  wir  finden  eine  ganz  moderne  Ansicht,  die  in  Deutsch- 
land Herder  zuerst  aussprach,  nämlich  die  Betonung  des 
Einflusses  des  Milieu,  des  Klimas,  der  Umgebung  auf 
den  Menschen;   so    sagt   er,   daß   die  Mode  es  sei,   welche 
die  Dichter  beherrsche,  und  ein  anderes  Mal  heißt  es: 

**Our  wits  have  drawn  th'infection  of  our  ttmcs**  C*Lovelace*^), 

Noch  ein  Wort  über  seine  Stellung  als  Satirike r. 
Leigh  Hunt*)  sagt:  ''Andrew  Marvell  —  —  is  ihought\ 
io  have  had  wo  mean  hand  in  putiimj  an  end  io  ihe  dtßiasiy 
of  ihe  Stuarts,  His  wit  kelped  io  retider  them  ridiculous,  and  , 
his  iniegrity  added  weight  to  the  siing/*  Von  Butler,  dem 
bedeutendsten  Satiriker  der  Gegenpartei,  unterscheidet  sich 
Marvell  wesentlich  im  Leben  und  in  den  Werken :  Der 
erstere  verbrachte  sein  ganzes  Leben  in  banger  Hoffnung 
auf  die  Gunst  des  Hofes  ;  zugleich  geschmeichelt  und  ent- 
täuscht, sah  er  keine  seiner  Hoffnungen  sich  erfüllen* 
Marvell,  keine  "mercetiarg  pen'*  wie  May,  wies  die  ihm 
angetragene    Hofgunst,    die    Bestechung    durch    Lord 

^)  **  Wit  anä  Humonr\  p.  J^Uff, 


—     125    — 


d 


Danby  zurück  und  blieb  sein  Leben  lang  frei  und  unab- 
hängig, Butler  schrieb,  der  Hauptsache  nach,  nur  ein  großes 
komisches  Epos,  während  Marvell  —  in  Versen  —  kein 
einziges  großes,  aber  viele  kleinere  satirische  Gedichte 
schrieb.  Mar\'ells  Berühmtheit  bei  den  unmittelbaren  Nach- 
kommen bestand  auch  nur  in  seinen  Satiren,  das  zeigt  der 
Umstand,  daÜ  viele  Satiren  in  den  **Pömi8  of  State  Äffairs" 
ihm  zugeschrieben  wurden,  die  nicht  von  ihm  herrühren, 
wie  Grosart  zeigt.  Seine  Ironie  erinnert  Leigh  Hunt*) 
mitunter  an  Swift,  der  ihn  ja  bewimderte,^) 

Es  ist  nirgends  meine  Absiebt  gewesen,  Marveil 
größer  zu  machen  als  er  ist,  aber  unter  den  „Dichtem 
geringerer  Bedeutung  neben  Milton^  kann  ihm  vielleicht 
auch  ein  Platz  in  Körtings  .^G^rundriß**  werden,  wenn 
schon  um  nichts  andern  willen  als  seiner  **Ni/mph'\  '^Ber- 
mudas'*, "Horaiian  Ode*\  des  **Dialogms  oftwo  horses"  wegen. 
Cowley  zum  Beispie!  ist  als  Dichter  um  nichts  be- 
deutender als  Marvell  und  doch  ist  sein  Name  so  bekannt, 
weil  er  durch  das  ''rumhUng  measure  of  his  CkieSy  whidi  was 
calh'd  Pindaric*'  die  englische  Poesie  für  ein  halbes  Jahr- 
hundert zum  Nachteil  des  Geschmacks  und  der  Natürlich- 
keit beeinfluß te,  wie  sein  Biograph  in  den  **Poets  of  Great 
Britain'\  vol  F,  sagt  Macdonald,  der  Herausgeber  von 
''Englands  Äntqjhon''  (AlacmUlan  &  Co.)  sagt  p.  247 :  ein 
paar  halbe  Dutzend  seiner  Gedichte  sind  mehr  wert  als 
alle  Verse  Cowleys,  Die  Äußerungen  von  Hazlitt,  Leigh 
Hunt,  Swift  über  Marvell  wurden  bereits  mehrfach 
zitiert.  Grosart  stellt  an  den  Schluß  seiner  biographischen 
Skizze  einige  Zeilen  aus  einem  Sonett  Words worth's, 
der  Marvell  unter  die  großen  MäDner  rechnet: 

*'Hanih  ihat  penn'd,  and  ton^iues  that  uUered 
Wisdmn,  beUer  nmt^," 

Das  spezielle  Lob  Leigh  Hunts  ist  gewiß  über- 
trieben, immerhin  ist  es  ein  Zeichen,  daß  Marvell  nicht 
ganz  zu  vergessen  ist,  daß  er  dort  in  Gesellschaft  von 
Chaucer,  Butler,  Jonson,  Swift,  Goldsmith  etc.  als  Vertreter 
des  englischen  Witzes  und  Humors  erscheint.  Mark 

>)  "  Wit  and  Rumour'\  p,  34,  218. 

^)  Die  Zuäammeust«llui2g  der  Urteile  über  seine  Satiren  aut 
S.  107  hatte  auch  ebensowohl  an  diese  Stelle  gepaßt. 


—    126    — 


Pattiso n*)  nennt  ihn  einen  kongenialen  Geist  Miltons, 
"ineorf^*ptiblc  amid  povertif,  unbowed  Inj  de/eat".  Gewiß  muß 
Andrew  Marvell  jedem^  der  «ich  mit  ihm  beschäftigt,  teuer 
sein,  wenn  auch  mehr  als  Mensch  denn  als  Dichter*  AUzn- 
bekannt  ist  Marvell  auch  den  wenigen  nicht,  die  sich  über 
ihn  äuÜem*  80  spricht  Hazlitt  von  einem  Gedicht 
den  Tod  des  Königs  Karl  I.,  in  dem  Marvell  diesem,  ob 
politischer  Gegner,  Gerechtigkeit  widerfahren  läßt,  und 
hinzu,  daß  er  das  Gedicht  selbst  nicht  kenne,  sondern 
davon  sprechen  hörte.  Ein  Gedicht  Marvells  auf  Karls  Tod 
gibt  es  nun  nicht,  wohl  aber  stimmen  diese  Aassagen  auf 
einige  Strophen  der  ^Horazischen  Ode^,  die  er  gewiß 
meiut.^) 


d 


Ton  und  Stilmittel. 

Hier  könnte  man  trennen:  Lyrische  Gedichte 
flud  Satiren.  Es  ist  klar,  daß  der  Ton  in  beiden  verschied eu 
Äin  muß.  Der  Hauptunterschied  ist:  die  IjTischen 
Gedichte,  mit  Ausnahmen  natürlich,  sind  nnnatürlich 
schwulstig,  voll  *'auri'ate  tcf^nis*\  in  den  Satiren  aber  herrscht 
die  Sprache  des  Lebens,  uatiirlich  und  öisch.  Manches^ 
was  den  Ton  der  Eenaissancelyrik  anbelangt,  mußte  bereits 
im  Laufe  des  vorigen  Kapitels  erwähnt  werden,  sollte  nicht 
um  der  Systematik  willen  das  Verständnis  seines  Wesens 
leiden,  Grosart  sagt  von  Marvells  Renaissancegedichten, ■) 
es  sei  darin  Frische  und  Zartheit,  Reinheit,  Phantasie, 
Melodie,  passender  Symbolismus  und  zugleich  realistische 
Treue,  Einfachheit  und  zugleich  Tiefe,  Land-  und  Blumen- 
duft, Sonnenschein  auf  Tau  und  Rosen.  Zum  Glück  ist  das 
nicht  ganz  aus  der  Luft  gegriffen,  allein  für  alle  Gedichte 
gilt  es  doch  nicht;  es  ist  auch  vieles,  was  Grosart  als 
kennzeichnend  hervorhebt,  kein  besonderes  Verdienst  Mar- 
vells, sondern  der  Stempel  des  Jahrhunderts;  sowie  wir 
umgekehrt  Marvell  manches  nicht  zum  Busen  anrechnen 
dürfen;  manche  lächerlich  scheinende  Übertriebenheiten 
sind  eben  Marinismus,    Mode,  wie  wir  sie  auch  bei  Milton 

1)  „Milton"  in  "Englüh  Mm  of  Lettern",  p,131f. 
^)  Zusammenstellung  einiger  lobender  Urteile  auch  in  HarUey 
Coleridgea  ''Life  of  Ä.  MatvelV,  Hüll  1835,  p,32ff,  und  p.  51  f. 
8)   Voll,  p. XXXVI. 


—     127     — 


^tind  Opitz  finden.  Marvell  hat  auch  das  SüJiliche  wnd  die 
stark  versinulichenden  Ausdrücke  der  Schäferdichtung  und 
spricht  viel  von  Weihrauch,  Blumen,  Bernstein,  Purpur, 
B  Kristall  und  Seide»  Die  Reflexionspoesie,  jener  Teil  der 
Renaissancelyrik,  wo  ohne  pastorale  oder  ländliche  Ein- 
kleidung Gedanken  und  Reflexionen,  oft  mit  ermüdender 
Breite,  ausgesponnen  werden,  ist  auch  nicht  speziell  Mar- 
vellisch;  „UAlhgro^  und  ^11  Penscroso*^  von  Mi  1  ton  ge- 
hören hieher,  wir  finden  sie  dann  bei  der  ganzen  Reihe  der 
früher  genannten  Dichter  dieser  Periode,  ihre  Ausläufer 
findet  sie  bei  Pope,  Auswüchse  dieser  an  sich  nicht  be- 
sonders „poetischen^  Poesie  sind  es,  wenn  die  Brüder 
Fl  et  oh  er  den  menschhchen  Körper  als  „Purpurinsel**  dar- 
stellen oder  Cowley  uns  ein  „Herbarium*^  in  Versen  gibt 
Wir  haben  eben  im  17.  Jahrhundert  statt  Gefühl  Sentenzen 
und  Reflexion.  Dr.  Johnson  nennt  die  ganze  Gattimg  auch 
metaphysischePoesie,  ein  Titel,  der  viel  zu  viel  sagt. 
Am  unglücklichsten  zeigt  sich  diese  Art  bei  Marvell  in  der 

■  *'Definiiion  of  lA>ve*\  *'The  Unfortunate  Lover",  ''Etfes  and 
Tears'*;  am  vorteilhaftesten  dagegen  in  der  *iC«>//  Misiress*\ 
die  man  hieherreehnen  muß,  die  sich  sehr  angenehm  von 
der  sonstigen  Art  dieser  Gedichte,  nicht  nur  bei  Marvell, 
abhebt.  Gewöhnlich  läuft  alles  darauf  hinaus,  einen  spitz- 
findigen Wortwitz  j  eine  Nachahmung  der  italienischen 
jfConcetii*',     anzubringen.     Daraus     geht    hervor,     daß    die 

W  Schwäche  oder  Stärke  in  den  Vergleichen  liegt. 

f  Die  Bilder  zu  seinen  massenhaften  Vergleichen,  die 

in  keinem  Gedichte  und  in  keiner  Satire  fehlen,  nimmt 
Marvell  überall  her.  Ihr  AVert  ist  ein  sehr  verschiedener, 
die  einen  sind  flach,  banal,  trivial;  die  anderen  wieder  sind 
wahre  Perlen,  überraschend  imd  dabei  doch  natiirlich,  an- 
mutig und  lebendig.  Die  schönen  sind  sein  Verdienst,  die 
schlechten  aber  nicht  sein  persönlicher  Fehler,  sondern  die 
Folge  des  Geschmackes  der  Zeit.  Betrachten  wir  nur  einige 
seiner  Quellen:  Marvell  nimmt  seine  Vergleichsobjekte 
zum  Beispiel  ans  Büchern:  aus  der  Bibel  —  Saul,  David, 
Simson,  die  jüdischen  Helden  und  Köm'ge ;  auch  daa  Manna, 

I      der  Turm  zu  Babel,  das  Rote  Meer;  aus  den  Klassikern  — 

■  Dido,  Rhodope;  er  benutzt  auch  die  ganze  antike  Mytho- 
H  logie.  Er  nimmt  die  Vergleiche  aber  auch  aus  dem  Leben: 


12B    — 


aus  der  Architektur  — ,  er  vergleicht  den  Staat  mit  einem 
Gebäude*)  oder  den  Wald  mit  einem  Gebäude;^)  die  Orgel 
vergleicht  er  mit  einer  Stadt;*'')  oder  aus  der  Nautik:  in 
*yE^e3  and  Tears''  und  im  ''Characier  of  Holland";  auch  der 
Vergleich  vom  Staatsschiff  kommt  vor;*)  er  nimmt  Bilder 
aus  der  Herald  ik^)  und  aus  der  Astron  omie;*)  zu  den 
Vergleichen  aus  der  Malerei,*)  der  bildenden  Kunst,  ge- 
hört auch  der  Vergleich  mit  Mosaik:  er  vergleicht  den  Wald 
mit  einem  Mosaik^)  und  die  Musik  nennt  er  ein  Mosaik 
der  Luft;^  andererseits  ein  Vergleich  aus  der  Musik: 
Cromwell  stimmt  das  Regieningsinstrument;*)  zu  den  Ver- 
gleichen aus  dem  Militär  lebend  gehört  auch  der  lächer- 
liche von  den  mit  Wind  geladenen  Kanonen  der  Liebe,  den 
Seufzern.  Am  schönsten  sind  die  aus  der  Natur  ge- 
nommenen Bilder;  das  ist  seine  Spezialität,  hier  malt  er 
entzückende  Qenrebildchen.  Besonders  die  Gartenszenen 
sind  hier  zu  erwähn en,  von  denen  wir  in  ^^Äppleton- Honst' 
welche  finden;  das  Erwachen  des  Tages  vergleicht  er  hier 
mit  dem  Reveilleschlagen  in  den  Garnisonen,  die  Blumen 
sind  die  TrQppen>  die  Biene  der  Trommler,  die  Blumen 
halten  Parade  ab;  dieses  konsequente  Festhalten  von 
militärischen  Vergleichen  ist  hier  keineswegs  sinnlos  oder 
zufällig,  sondern  sehr  wohl  beabsichtigt  und  auch  passend, 
weil  Lord  Fair  fax,  dem  ja  das  Gedicht  gewidmet  ist, 
durch  und  durch  MHitär  wan  Freilich  sinlct  er  bei  solchen 
Schilderungen  manchmal  zu  einer  bloBen  Aufzählung 
(enumeratio)  herab ^  wie  in  '* Apphton  -  House'^  an  einigen 
Stellen.  Sehr  häufig  zieht  Marvell  die  Blumen  zum  Ver- 
gleiche heran;  damit  hangt  zusammen,  daii  auch  vom  Tau 
oft  die  Rede  ist.  In  der  zarten,  vergleichenden  Natur- 
schüderung  erinnert  Marvell  an  den  Deutschen  Brockes, 
doch  ist  er  frei  von  dessen  Tendenz,  Marvell  vergleicht 
stets  Gegenstände  der  Natur  mit  solchen  der  Kunst,  zum 
Beispiel  den  Waid  mit  einem  Mosaik,  die  Wiese  mit  einem 
Tuche  etc.;  aber  nie  umgekehrt.  Ermüdend  wird  er  dort, 
wo  er  ein  Ding  mit  einer  ganzen  Serie  von  Vergleichen 

M  "AppUton-House",  "First  Anniversary'',  "Tom  Mav*s  JJmth.''  — 
«)  "Appkton-IIotisc/'  —  3j  *fMusic*s  Empire:'  —  ^)  *'First  Annivet- 
mrtf."  ^  5)  ''Unfoiiunate  lMver'\  —  «)  ''Definition  o/ Love/*  —  ')  ''Tke 
OaÜer^/' 


—     129    — 


belegt,  zmn  Beispiel,  wenn  er  in  "The  Nymph,  Vomplaining 
ike  Dmih  qf  her  Faum*'  bescLreibt,  wie  das  Rehkalb  weint; 

*^Se€  how  ii  meeps!  ihe  Uars  do  come 
Sad,  slototy,  drüppin^  Uke  a  gum;  ...  1 
So  fceep«  the  ufounded  baham;  m    ...  2 
The  holif  frankincenae  doth  flow;     ...  3 
The  brotherkas  MeUadeä  ...  4 

Meli  in  Buch  amber  UarB  ag  thtH** 

Also  gleich  vier  Vergleichsgegenstände  für  eine  Sache! 
Und  das  ist  nicht  die  ärgste  Stelle.  Oft  ist  das  eine  Glied 
eines  Vergleiches  so  weit  ansgesponnen  (10 — 20  Verse), 
dai3  man  Mühe  hat,  den  Wendepunkt  der  Periode  zu  finden ; 
so  zum  Beispiel  in  der  ins  Deutsche  übertragenen  Stelle 
aus  **The  first  Anniversar^*',  wo  zwischen  dem  einleitenden 
^So  wie"  und  dem  schließenden  ^. , ,  so  ♦  *  ♦"  nicht  weniger 
als  achtzehn  Zeilen  stehen.  Aber  gerade  solche  Stellen, 
die  im  Zusammenhange  des  Gedichtes  eigentlich  störend 
wirken,  sind,  als  selbständiges  Ganzes  herausgehoben,  oft 
die  «chönsten  Perlen  seiner  dichterischen  Kunst. 

Auch  um  die  Dauer^  die  Länge  auszudrücken,  benutzt 
Marvell  die  Häufung  von  Bestimmungen.  Um  zu  sagen, 
Cromwells  Name  werde  ewig  dauern,  sagt  er: 


"Am  long  OS  rivers  ta  the  sea  shall  run. 
Ah  hng  as  Cgnthia  shall  relieve  the  «i«. 
White  gi€tgs  ahaü  fly  tmto  0ie  foreata  thid\ 
Whtle  sheep  deUght  the  gras9nf  downs  to  pick^ 
Äs  lottg  as  future  Urne  aucceeds  the  past  — 
Alwags  th*j  honour,  praüe  a»ul  name  ahall  last" 


Besonders  die  politischen  Gedichte  sind  es,  die  ilim 
Gelegenheit  geben,  so  imgeheuer  lange  Perioden  zu 
bauen.  Im  *'First  Anniversary"  beginnt  zum  Beispiel  der 
erste  Teil  einer  Periode  mit  Zeile  16;  jetzt  zählt  er  alle 
Fehler  und  Untugenden  der  Könige  auf  und  erst  Zeile  45 
ist  die  Peripetie :  **  While  CramweU  .  .  /'  und  nun  folgen 
natürUch  lauter  rühmenswerte  Eigenschaften,  Unmittelbar 
darauf,  in  demselben  Gedichte,  vergleicht  er  Cromwell  mit 
Amphion ;  der  Vergleich  beginnt  *'So  tvhett  Amphiofi  .  .  /* 
Zeile  49,  und  erst  Zeile  67  wendet  er  sich  zu  Cromwell: 
**Such  was ,  .  /'  Äußerst  auffällig  ist  es,  wenn  Prädikat 
und   Objekt    so  weit  getrennt  sind    wie   im    *' First  Anni- 

Fo seh e r»  Murvvlis  poet.  Werke»  1) 


130 


versari/\  Zeile  266:  '*So  have  I  sem  at  sea*  when  .  ,  /*  jetzt 
ein  ELoschub  von  sieben  Zeilen,  dann  erst  das  Objekt 
**.  .  .  some  histy  niate  .  .  /'  Bei  seinen  Grleichnissen  verliert 
er  aber  nie  den  Faden,  er  führt  ^^ie  konsequent  durch: 
Oliver  Cromwell  vergleicht  er  mit  dem  reinigenden  Ge- 
witter, das  über  das  Königtum  niederging;  und  der  milde 
Richard,  sein  Sohn,  der  ihm  folgte  ist  der  versöhnende 
Regenbogen  darauf.  Oder:  Cromwell  war  im  Leben  wie 
eine  Elche,  so  fest  und  unerschütterlich  und  so  groß,  daB 
man  untenstehend  die  richtige  Höhe  gar  nicht  ermessen 
konnte;  so  wie  man  erst  bei  der  gefällten  Eiche  die  Hohe 
80  recht  ermessen  und  würdigen  kann,  so  auch  sind  bei 
Cromwells  Tode  seine  Schatten  mit  ihm  gefallen  und  wir 
erkennen  ilin  erst  richtig.  Manche  Bilder  Marvells  sind 
nicht  neu,  so,  wenn  die  Ernte  mit  einer  Schlacht  verglichen 
oder  wenn  der  Tod  ein  Schnitter  genannt  wird.  Leider 
dürfen  wir  hier  auch  die  lächerlichen  Vergleiche  nicht 
vergessen;  einer  der  stärksten  ist  wohl  der  zwischen  dem 
Schweiße  der  Schnitter  xmd  dem  wohlriechenden  Schweifle 
Alexanders  deßGroüen;  nicht  minder  kopfschüttelnd  hören 
wir  auch  in  ''AppletonSouse'  die  Süüigkeit  eines  Kusses 
mit  —  Heu  verglichen.  Daß  ihn  die  Heuhaufen  an  ägyptische 
Pyramiden  erinnern,  ist  noch  ganz  gelinde.  Man  glaubt 
eine  Parodie  auf  hypermoderne  Art  zu  hören,  wenn  die 
weite  Ebene  mit  einem  vom  Fabrikanten  Lily  zum  Trocknen 
ausgespannten  Tuche  verglichen  wird.  Tief  durchdacht 
dagegen  ist  es,  wenn  er  die  Freiheit  mit  dem  langsam 
wachsenden  Weinstock  vergleicht,  dessen  Frucht  auch 
trunken  machen  kann.  Eine  Inkonsequenz,  eine  Katachrese, 
f  finden  wir  in  " Applet on'ffmisc\  wenn  er  England  mit  einem 
Paradies  vergleicht,  das  mit  einem  ^wässerigen**,  statt  mit 
einem  feurigen  Schwerte  „umgeben"  ist,  worunter  er  daks 
Meer  versteht. 

Eine  Inkonsequenz  des  Stiles,  die  allerdings  mit  den 
Vergleichen  nichts  zu  tun  hat,  ist  femer  die  an  vorkommenden 
Stellen  bereits  angedeutete  skrupellose  Vermischung  von 
antiker  Mythologie  und  christlichen  Vorstellungen, 
die  wir  unter  anderen  auch  bei  Milton  finden;  sie  kommt 
schon  in  ''The  Kin(/\s  Quair*  vor,  charakteristisch  aber  erst 
im  17.  Jahrhundert*  Wir  fanden  sie  im  Leichengedicbte  fär 


I 


-     131     — 

Hastings,  in  ''Tke  Nymph"  und  im  "Loyal  Scot".  Wenn  wir 
dort  zum  Beispiel  Hymen  unter  den  Engeln  finden,  so  ist 
das  eine  ümkebrung  des  modernen  K 1  i  n  g  e  r  sehen  ,,  Christus 
im  Olymp**. 

Wenden  wir  uns  wieder  zu  Marvells  Stilmitteln; 
die  wichtigsten  sind  folgende:  Ausrufe  sind,  dem  abge- 
schliffenen Charakter  der  Schäferdichtungen  entsprechend, 
in  denselben  nur  selten,  meist  solche  der  unglücklichen 
Liebe:  „Äh  mef  Ah  mef^  oder  "OA  my  fearsT  In  den  Ge- 
dichten politischen  Inhaltes  kommen  sie  häufig  vor,  und 
zwar  meistens  gehäuft ;  so  im  Gedicht  auf  Cromwells  Tod : 

''0  human  glory  vainl  0  death!  0  toingsl 

0  worihlesa  world!  0  transiiory  ihingar     (Vv.  255/266) 

oder  "0  shamef  0  sinT  Apostrophe  kommt  gleichfalls 
meist  in  den  State  Poems  vor,  in  den  Gedichten  an  Crom- 
well,  Blake,  Douglas  und  in  den  Satiren:  "Fond  menT 
("Victory  of  Blake")  oder  "FondboyT  ("Loyal  Scot");  ''Foul 
architectr  ("Toni  May's  Death");  er  spricht  Cromwell  an: 
" —  thou,  the  war's  andfortune's  son",  in  der  "Horatian  Ode"; 
er  spricht  auch  die  Muse  an :  "Say,  Muse  . .  /'  ("Instructions") 
und  den  Pegasus  ("Loyal  Scot").  Asyndeton  ist  häufig 
in  den  „Instructions'': 

^'Of  birth,  State ^  wit,  strength,  courage/*    (266) 
"Confiision,  folly,  treachery,  fear,  neglect";  (610) 
"Sinners,  govemors,  fanners,  hankers,  patefitees" 

C*Clarendon*s  House  -  Warming") 

oder  eine  Häufung  von  lauter  Eigennamen: 

''Languard,  Sherness,  (rravesend,  and  üpnor?  Pett."^) 
"Jermain,  Fitz- Gerald,  Loftus,  Porter,  Scot."^) 

Die  häufigste  Figur  ist  die  Antithese,  sowohl  ein- 
fache als  doppelte,  strenge  durchgeführt: 

*'/  liked  his  project,  the  success  did  fear**  ^ 
"Make  himself  faty  his  king  and  people  bare"  ^) 
" —  less  usefull  where  he  rtwst  desired, 
Far  what  he  least  affected  was  admired."  ♦) 
"ßut  those  (=  rights)  da  hold  or  break, 
As  tnen  are  sträng  or  weakj*^) 

Einige  Gedichte  sind  durchaus  nur  die  Durchfährung 
und  Ausführung   einer   Antithese,    respektive   Parallele; 

1)  "Instructions/'  —  ^)  "On  Paradise  Lost/'  —  ^)  „Nostradatnus' 
Prophecy/'  —   -*)  ''DeaUi  of  the  Lord  Protector,"  —  ^)  "HoraUan  Ode/' 

9* 


132 


BO  ''Tlie  Match'\  *'A  Drop  of  Dmc*\  teilweise  auch  ^^AmeUis 
and  Thestylis,  making  Hay'ropes'\  Die  beiden  ersten  sind 
zugleich  Allegorien.  Die  Ellipse  ist  selten: 

"Seeinff  how  Uitk  (we  are),  ißt  cottfesa  how  greaf'^}  (he  was). 

'* Common  heauties  siay  {iiXi)  fifieeti"^)  —  zu  ergänzen;  before 
they  can  be  laved.  Die  H5^perbel  ist,  und  zwar  die  ko- 
mische Hyperbel,  ein  Hauptmittel  seiner  Satire,  Ohne 
Satire,  aber  humoristisch,  findet  sie  sich  in  seiner  "Coy 
Mistress\  Offenbar  unter  dem  nachhaltigen  Einflüsse  des 
Studiums  der  hebräischen  und  klassischen  Poesie  steht  der 
reiche  Gebrauch  der  Personifikation,  Auch  hier  beruhen 
ganze  Gedichte  darauf:  ''Ä  Dialogue  heiween  the  SoiU  and 
Body*',  "A  Dialogue  betwem  the  Besolved  Soul  and  Oreated 
Pkasure'*.  Fast  alle  abstrakten  Begrifie  werden  personifiziert: 
Love,  Deathf  Time,  Fama,  Fate,  Hope  eto*  sind  handelnde 
Personen,  Britannia  tritt  hilfeflehend  auf,  die  macchiaveUische 
Politik  wird  als  Dame  eingefiihrt.  Pars  pro  toto  steht 
einige  Male:  ^'loaden  sails*'^)  statt  loadeii  ships^  denn  Segel 
können  ja  nicht  beladen  sein;  statt  head  sagt  er  ''temples". 
Stich  omythie  kommt  in  *' Clor  in  da  and  Danton"  vor,  und 
zwar  gewöhnliche,  das  heil3t,  Rede  und  Gegenrede  bestehen 
aus  je  einer  Zeile;  aber  auch  gebrochene  Zeilen,  und  hier 
wieder  einmal  gebrochene  und  zweimal  gebrochene,  gibt  es* 
Etwas  Ahnliches  wie  Stichomji;hie  finden  wir  im  ''Dialogue 
between  two  Horses'\  wo  Rede  und  Gegenrede  auch  Schlag 
auf  Schlag  folgt,  aber  stets  zwei  Zeilen  zusammengehören* 
Sprichwörtliche  Wendungen  finden  sich  auch  einige 
Male: 

''Th£  trial  neUher  coaU  nor  Ues,"  (^'^pJeton-J9btw^',  196.^ 

"Of  this  fieed  wc*ü  virtue  make."  C'^f'^^^ff  Looe/') 

*^AXways  he  commands  that  payi/'  C* Instructions/*) 

''.  .  .  OÄ  poor  (ts  church  rata"  (**IHalogue  between  iwo  Horses/') 

Eine  nur  einmal  vorkommende,  überhaupt  sehr  seltene 
Figur,  die  mir  im  Englischen  jener  Periode  nur  noch  bei 
Drummond  aufgefallen  ist,  ist  die  sogenannte  Figur  der 
yjVerschränkung**,  die  aus  dem  Indischen  stammt.*)  Bei 

'  n  "Deaih  of  the  Lord  Proiecior:' 
s)  '*Toung  Love." 
«)  "Eyes  and  Tears.'' 
*)  Vgl.   Bolte    iu   Herrigs    „Ai'chiv    für    das    Studium 


I 


H 


—     133    — 

Drummond  ist  dieselbe  aasgebildeter  als  bei  unserem 
Dichter: 

12  8  12  3 

"JPor  sireams,  juice,  hcUm  ihey  are,  which  guench,  küla,  charms, 

12  8  1  2  3 

0/  god,  deaih,  heü,  the  wraih,  ihe  life,  the  harms." 

Bei  Marvell  werden  die  Glieder  verworfen  und  die 
Verschränkung  ist  nur  zweifach,  dafür  aber  vierteilig: 

12  3  4 

"She  yei  mare  pure,  stoeet,  straight  and  fair, 

4  3  2  1 

Than  gardenSj  woods,  meads^  rivers  are;"^) 

abo  eine  symmetrische  Umkehrung  der  Glieder.  Eventuell 
könnte  man  auch  folgende  Stelle  aus  dem  „Dialog  der  zwei 
Pferde"  hieherrechnen  (Z.  103): 

12  12 

''  .  .  .  Wkich  augments  and  securea  his  oum  profit  and  peace." 

Anklänge  an  das  Volkslied  —  etwas  Seltenes  in  jener 
Zeit  —  sind  es  vielleicht,  wenn  die  Dauer,  die  Länge 
durch  eine  Aufzählung  ausgedrückt  wird  im  Gedicht  auf 
den  Tod  Cromwells;  femer  das  Motiv,  daß  das  Bild  der 
Geliebten  im  Herzen  aufgehängt  ist,^)  und  die  Spielerei 
mit  dem  „Das  bin  ich  —  das  bist  Du".^)  Das  Wort- 
spiel ist  wieder  ein  Hauptmittel  der  Satire  und  wird  als 
solches  separat  besprochen ;  ohne  Satire  kommt  das  Wort- 
spiel mit  Namen  vor:  so  mit  dem  Namen  Christina,  bei 
dem  auf  Christus  angespielt  wird,  und  bei  Zerlegung  des 
Namens  Oliver  St.  John. 

Zusammenhängend  erörtern  wir  nun  Marvells  Mittel 
der  Satire.  Wir  können  insgesamt  vier  derselben  imter- 
scheiden. 

I.  Komische  Übertreibung  (Hyperbel):  Zer- 
streut findet  sich  dieselbe  überall,  einige  Gedichte  aber 
leben  ganz  davon;    vor  allem  *'Flecknoe,   an  English  Priest 


neueren  Sprachen",  Bd.  112,  S.  265;  daselbst  zwei  andere  Zitate  aus 
Drummond,  obiges  aber  nicht;  dieses  findet  sich  in  **Foet8  of  Great 
Britain",  vol.  V,  p,  661.  In  späterer  Zeit  wendet  Sterne  öfters  ähn- 
liche kunstreiche  Stellungen  an  {"Tristram  Shandy^',  Kap.  88,  86  und 
öfter). 

1)  "Appleton-Hotise'\  V.  695/96. 

2)  '^The  (iallery" 

3)  "The  Match." 


—     134     — 


at  Rome\  in  zweiter  Linie  "The  Characier  of  Rolland".  In 
Flecknoe  vergleicht  er  das  kleine  Zimmer  mit  einem  Sarge; 
wenn  man  die  Tür  öffnet,  bedeckt  sie  die  halbe  Wand 
wie  eine  Tapete ;  der  Priester  ist  so  mager,  daÜ  das  Licht 
durch  ihn  hindurch  kann,  weshalb  er  sich  in  Papier  wickelt. 
Holland  nennt  er  den  unverdauten  Auswurf  der  See,  die 
Anspülung  britischen  Sandes  etc.,  also  krasseste  Über- 
treibung. 

n.  Wortspiel,  in  erster  Linie  in  *' Holland"^  in 
zweiter  in  ^^Flecknoe"  und  in  den  politischen  Satiren. 

1,  Doppelsinn:  Er  spricht  zum  Beispiel  vom  ,,mare 
Ubertitn''  (freies  Meer)  mit  dem  zweifachen  Sinn  aj  frei 
für  die  Schiffahrt,  wie  die  Holländer  es  meinen,  und 
b)  das  Meer  kann  Holland  überschwemmen,  wie  es  will. 
Die  zweifache  Bedeutung  von  to  gd  liegt  folgendem  Wort- 
spiel zu  Grunde;*) 

*'The  hero  once  got  honour  by  his  sword: 
Hc  got  his  iceaith  hy  brtHiking  of  his  word; 
And  now  füs  daugkier  ht  ha»  got  with  child/' 

Höchst  erheiternd  wirkt  in  ''Tarn  Mat/s  Deaih" 
"—  —  Mag  to  htm  seif  and  them  was  cöm^\ 
also  er  war   zu   sich   selbst  und  zu  ihnen  gekommen;   das 
heifit,  er  war  nämlich  berauscht  gewesen. 

Mit  etwas  weniger  Recht  setien  wir  die  zwei  folgen- 
den Beispiele  in  diese  Rubrik: 

" Uiey 

Marne  strove  (=  striTen)  to  isle  ihis  monarch  from  thia  ialtß)  (=  England), 

wobei  das  erste  io  i$le  ^^  isolate  ist;  und  aus  dem  **IHalogue 

hetweeti  two  Horses'\ 

"For  giring  no  mare  ihe  rogues  are  prorogued/^ 

2.  Direktes  Mißverständnis,  Auffassen  des  un- 
passenden Sinnes:  Auf  der  Stiege  von  Flecknoes  Haus 
treffen  sich  zwei,  der  eine  will  hinaui',  der  andere  hinunter; 
infolge  der  Enge  der  Stiege  können  sie  nicht  aneinander 
vorüber.  Erzürnt  —  keiner  will  nachgeben  —  ruft  der  eine : 
"1  tmll  make  the  way  hereT  und  meint:  Ich  werde  mir  schon 
Platz  machen  und  dich  hinunterwerfen ;  der  Bedrohte  aber 

*)  "Imtructwns'r  jj,  Vv,  SaSö. 

«)  Ebd.  V.  20  von  "To  the  King"  nach  Pari  L 


I 
I 


135 


faßt  die  Worte  anders  auf,  nämlich :  „Ich  werde  dir  gleich 
Platz  machen'^  und  bedankt  sich  noch  schönstens:  "S*r, 
yau'U  do  me  a  great  favour\ 

3,  Daö  Spielen  mit  dem  Namen  von  Personen : 
Unter  den  HoÜäudern  war  einst  einer,  der  Civilis  hieß, 
aber  nie  einer,  der  so  (i,  e,  höflich)  war.  Die  „Hol! anders** 
nennt  er  Half-andcrs,  Halbraänner,  indem  er  den  Namen 
zerlegt  und  eine  Hälfte  griechisch  anffaÜt.  Den  Namen  des 
Fisches  Poor-John  wendet  er  auf  den  Evangelisten 
Johannes  an.  Der  böse  Jermjn  Earl  of  St  AI  bans 
braucht  nichts  vom  Könige  zu  fürchten,  weil  dieser  sich 
hütet^  gleich  zwei  Heilige  zu  beleidigen:  St.  German  und 
St.  Albau,  Bei  Hyde,  Earl  of  Clarendon,  stichelt  er  auf 
hide^  die  Haut. 

Daü  sind  die  prägnantesten  Fälle  des  Wortspiels, 
Über  zwei  andere,  nur  einmal  vorkommende  Arten  der 
Satire  sieh  S.  86. 

Marvell  stellt  seine  Gedichte  gewöhnlich  nicht  ein- 
fach hin  wie  ein  Bild  ohne  Rahmen,  sondern  er  gibt  eine 
Einkleidung.  Wir  finden  unter  anderem  die  Ein- 
kleidung eines  Spazierganges  in  ''Hill  and  Groue  ai  Bü- 
hörQw'\  *'Api>leton-House" :  einer  Bildererkläruug,  also  en- 
blematische  Poesie,  in  **The  GaUen/\  **Ins{riHiions  to  a 
painter";  nicht  selbständig  auch  die  Form  einer  Vision  im 
ersten  Teil  der  '*InstrHcimis'\  Die  Form  eines  Monologs  ist, 
außer  den  ^Ich^-Gedichten,  vertreten  durch  ,,Tbe  Nijmph'\ 
*^ Bermudas',  ''Dämon  the  Möwer\  Als  Anrede  an  eine 
zweite  Person  ist   der  Monolog   in  '*Young  Love'\    **Tq  his 

»Cot/  Misiress'*  gedacht. 
Neun  Gedichte  sind  in  der  Form  eines  Zwiegespräches, 
eines  Dialogs,  abgefaßt,  darunter  zwei  Satiren.  Der  Dialog 
in  den  Schäfergedichten  steht  ganz  innerhalb  der  Grenzen 
dieser  Gattung,  das  heiij^  es  sind  subtile,  spitzfindige  Reden, 
concetii  In  ''Chrinda  and  Dämon''  nähert  sich  der  Dialog 
der  Stichomythie,  in  '*Britannia  and  Ralvigh''  nähert  er 
«ich  einem  Monolog.  Eine  besondere  Abart  des  Dialogs 
ist  das  Zwiegespräch  von  Tieren  im  "Dialogufi  beiween 
iwö  Horses",  ferner  die  wichtige  Art  der  Gespräche  in  der 
■  Unterwelt,  Totengespräche  also.  Hieher  kann  man 
K  femer   den    '*Dialogue   beiween  the  Soul  and  the  Body"    und 


—     138     — 

BloB  des  Metrums  wegen  als  Füllwort,  grammatiaoh 
unberechtigt^  gebraucht  Marvell  oft  does  oder  do  ohne 
Emphase:  ''does  f ante**  (statt  fames  von  to  fame):  oder 
''who  — triumphantlti  do  live"  statt  who  live^ 

Einige  seltene  Wörter  hat  Grosart  in  Anmerkungen 
erklärt.  Zu  einem  derselben  ist  jedoch  noch  etwas  za  be- 
merken; es  ist  dies  das  Wort  *'ihe  holt-felster"  in] 
*'Äppleton'nouse'\  V.  638.  Grosart  setzt  /eistet*  gleich  mit 
selter,  das  er  von  to  seil,  sohl  ableitet,  hoH-fcisicr  oder  -sdter  * 
ist  also  einer,  der  das  Holz  verkauft,  ein  Forstmann.  Die 
im  Vorwort  erwähnte  anonyme  Ausgabe  druckt  hoUs-elster^ 
wobei  wohl  an  die  Elster  gedacht  wurde,  die  bekannte 
Yogelgattung.  Das  aber  ist  absolut  unmöglich  und  ialsch, 
denn  dann  hieße  es  im  Zusammenhang,  daß  ein  Vogel 
einen  andern  Vogel  vertritt;  der  Sinn  soll  jedoch  sein, 
daß  ein  Vogel  (the  hewel)  den  Dienst  eines  Menschen  ver- 
sieht oder  nachahmt,  eben  des  holt-felsters.  Murrays 
*'Nete  English  T)ictionary*\  voL  V,  p,  346,  col  2,  erklärt 
''holt -ff Ister,  i.  e,  holt-f eller,  a  woödcutter' ;  das  entspräche  dem 
Sinne;  es  wird  hier  auch  die  Stelle  aus  Marvells  Gedicht 
unter  den  Belegen  zitiert. 

Bei  Marvell,  dem  aprachenkmidigen  Manne,  können 
uns  fremde  Einflüsse  auf  die  Sprache  nicht  ver- 
wundem; es  sind  französische,  italienische,  lateinische,  also 
romanische  Einflüsse,  die  uns  auffallen.  Hieher  geboren 
Wörter  wie  basso-reUevo  und  soiana  (*'Flecknöc'\  63,  74j, 
s&raglio  und  virtuoso  (*'Britanma  and  BaleigK\  119),  devote 
('\ippleton'House*\  152),  corposaints  C*First  Änniver$ar^\ 
270J,  incognito  ("Diahgue  betwemi  iwo  Hörsc$'\  32j,  Spani- 
scher Abstammung  ist  der  Ausdi*uck  to  beat  tht  dian  ] 
( "AppletoH'House'^  292),  die  Reveille  schlagen,  vom  spani- 
schen dia,  lateinisch  dieSf  dimi,  Akkus,  dimia.^)  Lateinische 
Formeln  sind  infecta  re  (*'lHstructiotis'\  460),  templum  pacis 
C'Upofi  Clarendon* s  House**)^  mediator  (**Fkcknop*\  155 h 
mare  liberum  (**Character  of  Holland'*,  26);  mit  lateinischer 
Endung  steht  amphtbii  f*'Äppleton'HoHS€*\  774).  Bonne  mine 
(ebd.  660)  und  dykgrave  f'Character  of  Holland*",  49)  sind 
französische,  respektive  holländische  Ausdrücke,  desgleichen 


>)  Grosart,  lol  1,  p.  45. 


—     139    — 

brandwine  statt  hrandy  (ebd.  115).  Eigenartigen  Gebrauch 
macht  Marvell  vom  Worte  **orient"  oder  "oriental",  in  der 
Bedeutung  licht,  hell,  bunt;  so  orientest  colours  ('*The 
Match",  5),  the  Orient  dew  C^Brop  of  Dew''),  auch  in  Prosa 
(Birr eil,  |).  111,  Z.  18)]  in  anderer  Bedeutung  in  ** Appleton- 
House'\  Z.  109.  Auch  Milton  spricht  von  Orient  colours. 
Bemerkenswert  ist  endlich  die  Klopstockische,  episch- 
dialektische Art  der  Anwendung  des  Komparativs 
in  superlativischer  Bedeutung:  our  brighter  robes 
(''Appleton-House**,  120);  thy  death  more  noble  (**The  Loyal 
Scot",  157);  the  rougher  stones  ("First  Änniver$ary'\  51)  und 
in  der  ''Horatian  Ode" : 

" —  with  Äw  keener  eye 

The  axe*8  edge  did  try" 

Nun  wenden  wir  uns  zum  letzten  Kapitel  dieser  Ab- 
handlung. 

Metrik. 

(J.  Schippers  „Englische  Metrik"",  I.  Teil,  Bonn  1882, 
n.  Teil  in  zwei  Bänden,  Bonn  1888/89,  auf  welchem  Werk 
die  Behandlung  und  Einteilung  dieses  Abschnittes  beruht, 
ist  im  folgenden  stets  nur  kurz  als  „Metrik'"  zitiert.) 

A.  Silbenmessung  und  Wortbetonung. 

Hier  zeigt  sich  ein  Schwanken  zwischen  mittelenglischen 
und  neuenglischen  Prinzipien,  zwischen  germanischer  und 
romanischer  Aussprache;  je  nach  den  metrischen  Bedürf- 
nissen tritt  Verschleifung  oder  Vollmessung  der  Flexions- 
und Ableitungssilben  ein,  eine  große  Erleichterung  für  den 
Dichter.  Eine  ganz  allgemeine  Regel  dafür  läßt  sich  nicht 
aufstellen.  Die  eigentlichen,  lyrischen  Gedichte  sind  ge- 
ringerer Willkür  unterworfen,  während  der  ''long  verse",  das 
heroic  cou2)let,  oft  sehr  gewaltsam  auf  fünf  Hebungen  ge- 
bracht wird. 

Einige  Beispiele  der  Betonung  romanischer  Endsilben 
auf  französische  Art  sind:  cönquerör,^)  cönfessour,^)  nec^ssit^,^) 


1)  ''Music's  Empire."  —  2)  ''Death  of  the  Lord  Protector*\  178.  — 
3)  ''Character  of  Holland'',  37. 


—     140    — 


l5«»j?/)  härmmi^,^)  informäiiön,^)  mtmciän^)  bei  Substantiven; 
bei  Adjektiven:  impiolis,^)  cörmptible,*)  väliänty^)  sphi^riedl^*) 
pässaljU^}) 

Desgleichen  bei  germanischer  Endsilbe;  ireasurir,'^ 
exdmmingS}  perfecting^?)  präctising ;*)  iänish6$;^^)  gräss- 
hoppärs,^^^)  märhi^rs,^^'^)  philösoph&}^y) 

Vollmessiing  und  Verschleifung  der  schwachen  Silben 
kommt  sogar  an  einem  und  demselben  Worte  vor: 

"And  thfye  want  nöthing  h^avän  edn  qffÖr^'^ai) 
"Just  h^v'n  thee,  like  Tir^as,  iö  regMÄe . .  .f'^ 

ja,  in  ein  und  derselben  Zeile  kommt  es  mit  verschiedener 
Betonung  vor  in  ''Bntannia  and  Raleigh'*  (66): 

*^Thu8  heaven's  desitjfis  'fiainsi  hdavhi  ^Öu  shaU  tum,'* 

Meist  aber  ist  heaven  einsilbig;  so  noch  im  "JDea^A  of 
ihe  Lord  Frutedor**  (160),  **0w  Paradise  Lost"  (5);  als  ein- 
silbige Senkung  kommt  heav'n  in  ''The  Loyal  Scot"  (30)  vor; 
Beispiele  für  Zweisilbigkeit  des  Wortes  sind  noch  im  '*Foem 
upm  the  Death  of  the  Lord  Proiector*\  V,  166,  184.  Vollge- 
messen wird  delug^s  (im  Reim  aui*  seas)  im  eisten  der  Tico 
Stmgs  (21),  confederaciesV)  Einsilbig  ist  show'ra}^'^)  Viel 
schlechter  klingt  die  schwache  Endung  in  der  Hebung: 
cr^dibU,^^^^)  öracUs}^^)  miracUs,^^^)  spectaclc}^  PeöpW^\)  wird  ein- 
mal zweisilbig  genommen.  Die  schwache  Betonung  der 
Flexionssilbe  -ed  ist  in  der  Senkung  nicht  auffällig:  gai- 
nH,^^)  deserved,*)  whigtdi^}  und  kommt  unzähhge  Male  vor. 
Stets  einsilbig  ist  flowers,^^)  showers, ^^^)  power, ^'^) 

Die  Eigennamen  werden  sehr  willkürlich  behandelt: 
Äera/fe,!^  Mekhisedek,''')  Helmdesr^)  nMi/h's,^'}  Elf/siüm'^) 
und  El^sium,^)  the  CönfessouK^^) 

1)  «i^air  Singer"',  2-^.  —  «)  '*Fieckm^\  19, ;».  —  »)  "On  PtmiäiAe 
Lö»i*\  24.  —  *)  ''Charader  of  HoUand'\  134.  —  »)  ''Flecknoe'\  Uö.  - 
^)''Appkion-I{ome";  a)52;  ^i)  500.  —  "^  ** Kostradamus'  Prophecy*\  35,  — 
»)  ''The  Gallert";  a)  11;  [i)  24.  —  »•)  'Music'«  Empire',  15.  —  ^J  'Victüflf 
of  Blake",  23,  —  ^^)  ''AppUton-Hou^e";  ^)371;  ^)  381 ;  i)5et;  ^)  4$; 
i)  74 ;  t)  im.  —  1«)  "Blake";  a)  41t  ?)  29130;  i)  31.  —  ^^  "O»  Paradtit 
Lo9t^\43.  —  ^  '*ünfortunate  Lover",  42.  —  ^)  ^'Character  of  Holland'^ 
102.  —  W)  *'Dea(h  of  ike  Lord  Pro(e€tor*\  a)  19,  ^)  12t  —  '«)  "Etfe»  and 
Tears",  19;  a)  23,  —  ")  ^'Beßmtiofi  of  Love*\  16,  —  ^)  ''Charncier  of 
Holland'^  138.  —  »»)  "Fkcknoe",  3.  —  ^)  *'The  Nymph'\  99,  —  «)  '^Applr- 
i&t^Home'\  401.  —  ^)  ''Thffrm  and  Dorinda*\  19;  a)  30.  —  ^  ''Death 
of  the  Lord  ProUctar",  178, 


'en        I 

I 


—    141     — 

Kontraktion  von  will  und  shall  kann  zwar,  muß  aber 
nicht  stattfinden;  zum  Beispiel: 

''sh^ü  ere  long  conf^s"'^) .  .  . 
"öf  ^is  n€(fd  we'ü  virtue  mäke^*^) 

oder  ril  bring  ;^)  dagegen  '*yet  w6  will  mdke  .  .  ."*) 

Betonung  des  Artikels,  ein  Fehler,  der  durch  schwe- 
bende Betonung  ausgeglichen  wird,  ist  sehr  häufig,  zum 
Beispiel : 

'*T?ien  Musick,  the  mosaic  of  the  ear";  ("Music's  Empire",  17) 
"X  liked  his  project,  the  sticcess  did  feaar"^) 

ebenso  in  "TAe  Death  of  the  Lord  Protector",  V.  160,  ''The 
Character  of  Holland",  V.  111,  "Britannia  and  Raleigh", 
V.  108,  etc.  Das  Gegenteil,  ebenso  häufig,  ist  die  Elision 
beim  Artikel,  respektive  Verschleifung  desselben:  th'alU 
s6eing  «wn/«)  th'öcean's  slow  allüvion,^^)  tK Apostl6s,^^)  tVEng- 
lish,'^)  auch  "Flecknoe",  Vv.  13,  36,  64;  "Britannia  and 
Baleigh",  Vv.  83,  84;  ''Nostradamus'  Prophecy",  Vv.  34,  37; 
vor  Spiritus  asper  in  '^Äppleton-House",  V.  B38;  dagegen  ohne 
Bücksicht  auf  den  Hiatus :  to  adore  in  demselben  Gedichte, 
V.3B. 

Apokope  ist  seltener: 

"Then  might  y'ha'daüy  his  aff^ction  spy*d,"«) 

oder  in  ''Britannia  and  Baleigh",  V.  146,  eventuell  der  er- 
wähnte Fall  ''Appleton-House",  V.  B38. 

Sjmkope  kommt  oft  vor:  fun'rcds,^)  tim'rous,^^)  with'r- 
ing,^?)  entsprechend  der  moderneren  Aussprache;  femer 
in  "Flecknoe",  48,  ''Instructions  to  a  Painter",  Vv.  4,  14B, 
811  etc.,  etc. 

Aphärese  ist  nicht  minder  häufig:  'scaped,^^)  durch 
Kontraktion  des  it:  'tis,  'twas,^^)  femer  in  "Character  of 
Holland",  12,  26;  "Instructions  to  a  Painter",  62,  244,  816; 
"Britannia  and  Ealeigh",  88,  132;  "Second  Song"  der  "Two 
Songs",  V.  11. 

Synärese   ist   besonders   bei  ever,   never  gebräuchlich, 

1)  ''Viciory  of  Blake"',  45;  a)  137.  —  2)  ''Young  Love",  19.  — 
3)  "Bntannia  and  Raleigh",  100.  —  ^)  "Coy  Mistresa",  46.  —  »)  "On 
Paradüe  Losr,  12.  —  ß)  ''Character  of  Holland";  a)5;  ß)  58.  —  ^)  "Nostra- 
damus'  Propliecxj",  37.  —  »)  "Beath  of  the  Lord  ProUctor",  43.  — 
9)  ''Death  of  the  Lord  Proteciar",  108;  a)  180;  ß)  55.  —  lo)  "Victory  of 
Blake",  72.  —  i^j  "Characiw  of  Holland",  60. 


142 


die  dann  einailbig  sowohl  als  Hebung  als  auch  als  Senkung 
stehen;  ferner  or  aus  over;^)  direkt  eine  Ausnahme  ist 
e^'cr,  zweisilbig  gebraucht,  in  **The  Pidure  of  Litile  T,  C  . . ." 
///,  5;  Ins  aus  in  hi$  findet  sich  in  *'FJ€ckvae*%  V.  70, 
*'Britannia  and  Jlalelg}i%  36;  ^'Lasi  Instructimis'\  98;  prä- 
gnant ist  wheres'&e  (wkere-so-evcrj  in  *'ÄppIetofi'Hou$e'  (673) 
und  in  *'Th€  Gardm**  (28).  Ähnliche  Fälle  zeigen  "£ri- 
iannia  atid  Rahigk'\  Y\  138;  Vidonj  of  Blake'\  45;  ''In- 
structions to  a  Painter\  164,  '*Our*  ist  sowohl  einsilbig  als 
zweisilbig;  Beispiele  dafür  sind  "Appleion'Hötise'^  Vv.  100, 
107;  ''üpm  the  Hill  and  Groue  at  Bilborow*\  Yv*  70,  71. 


B.  Reim. 


4 

i 


Hieher  gerechnet  wird  auch  die  Alliteration;  dieselbe 
steht  regellos  in  tonmalerischer  Absicht  zur  Verstärkung 
der  Feierlichkeit  am  Beginn  von  *'Nosiradamm  Prophecy*'; 
andere  Fälle  sind  kürzer:  **m  the  eradle  Aroum  their  hing**^ 
und  Vers  16  des  ^'Historical  Poem*\  Hell  and  heaveii\  *'boli$ 
and  hones*  im  ''Diahgue  hetwecn  the  Soul  and  Body''  sind 
naheliegende  Verbindungen,  In  den  lyrischen  Gedichten, 
wo  man  sie  am  ehesten  als  Schmuck  vermuten  würde, 
findet  sich  kein  weiterer  Fall  von  Alliteration.  Die  folgenden 
Beispiele  sind  sämtlich  aus  Satiren: 

'^Th*aU'8€€inQ  8un  never  gazed  on  sw!h  a  sighV';^ 
'^Mofe  wished  far,  and  §Hore  welcome  ü  than  sletp";^) 

"Of  wind*»  and  water' 9  ragt  they  fearful  bc*';^^) 
"From  Gambo  gold,  and  from  the  Ganges  gemsJ'  *) 

Diese  Fälle  und  die  in  Part  I,  896,  und  Pari  II, 
dürften  sämtliche  sein. 

Assonanz  kommt  nur  einmal  vor:  '^hy  hook  and  by 
crook*\^) 

Der  Reim  ist  gewöhnlich  bei  Marvell  stumpf  oder 
männlich;  klingender  Beim  kommt  in  den  jambischen^ 
lyrischen  Gedichten  nur  einmal  in  zweifelhafter  Weise  vor, 
nämlich  im  ersten  der  '*Two  Sonys',  33J34;  ebenso  zufällig 
ist  derjenige  in  den  "Instructions'^  749J750,  7671768,  beide 
sind  nicht  sichere  Fälle ;  unzweifelhaft  klingender  Beim  ist 

')  '*M<mmm(y\  o.  —  «)  ''Toung  Love",  27,  —  ^  ''(M  the  Victory  qf  ■ 
Biake'%  137;  t>)  18;  ß)  15.  —  ^)'*Lak  Imtruciiom  io  a  PainWr'\671.  — 
*)  ''Ülarendon's  Home  -Warming",  60. 


n 


—     143    — 

jedoch  ganz  am  Schlüsse  des  dritten  Teiles  dieses  Gedichtes: 
"püy  —  city*\  Nicht  selten  jedoch  ist  klingender  Reim  in 
den  jambisch- anapästischen  Gedichten,  wo  davon  die  Bede 
sein  wird. 

Gleitender  Reim  kommt  nicht  vor.  Reicher  oder 
rührender  Reim  findet  sich  in  den  ** Instructions'',  8131814, 
im  Gedicht  auf  ''The  Death  of  the  Lord  Protector",  2061207, 
"On  the  Lord  Mayor  and  Aldermen",  XIII,  1/2.  Gleicher 
Reim,  eigentlich  ein  Fehler,  findet  sich  im  letztgenannten 
Gedichte  XVIII,  3/6,  Gebrochener  Reim  kommt  öfters  vor: 
im  ''Dialogue  betiveen  the  two  Horses'\  Vv.  21/22,  27/28,  65/66, 
76/76;  ''On  the  Lord  Mayor  .  .  /',  5/^.  Doppelreim  fand  ich 
nicht.  Erweiterten  Reim  können  wir  in  dem  Gedichte  ''On 
the  Statue  at  Stocks  Market"  annehmen:  "and  tom  —  and 
born";  *'a  thing  —  a  king"  (Vv.  11/12,  47/48). 

ünakzentuierter  Reim  und  Binnenreim  ist  vermieden. 
Unrein  ist  der  Reim  in  ''Äppleton-House",  9/10. 

Durchgereimt  ist  die  satirische  Stelle  in  den  "Jw- 
structions",  V.  721 — 736,  also  ein  längerer  Abschnitt,  der 
durchaus  auf  ''Pett"  reimt. 

Marvell  hat  kein  einziges  reimloses  Gedicht 
geschrieben,  trotz  seiner  theoretischen  Stellungnahme  für 
die  Reimlosigkeit  in  dem  Gedichte  ''On  Paradise  Lost".  Die 
Frage,  hie  Reim,  hie  Reimlosigkeit,  tauchte  im  17.  Jahr- 
hundert auf  und  spann  sich  bis  in  die  moderne  Zeit  fort. 
Schon  1611  schrieb  Samuel  Daniel  eine  „Verteidigung 
des  Reimes'^,  in  welcher  er  bewies,  'Hhat  rhyme  is  thefittest 
hannony  of  words". 

Im  Gegensatze  dazu  setzte  Milton  seinem  ** Paradise 
Lost"  eine  kritische  Erörterung  der  metrischen  Frage  voraus, 
in  der  er  seinen  Vers  ''heroic  verse  without  rhyme"  nennt, 
dem  Homers  und  Virgils  gleich ;  der  Reim  sei  die  Erfindung 
eines  barbarischen  Zeitalters,  ein  Hindernis  für  die  wahre 
Poesie,  ''of  no  true  musical  delight";  dieses  letztere  stimmt 
bei  den  meisten  seiner  Zeitgenossen.  Aber  es  ist  bezeichnend, 
daß  Milton  es  überhaupt  für  nötig  fand,  seinen  Versuch 
der  Reimlosigkeit  erst  zu  rechtfertigen;  ja,  in  seinen  kleinen 
Gedichten  hat  Milton  selbst  stets  den  Reim  verwendet. 
Dazu  paßt  geradezu  die  Inkonsequenz  Marvells  in  seinen 
empfehlenden  Begleitversen  "On  Paradise  Lost",  die  schon 


—    144    — 

betont  wurde.')  Bemerken  mui3  man  dazu  aber,  daß  es  so* 
nach  von  MarvelU  Seite  eine  Ungerechtigkeit  war^  Dryden 
seine  ^Reimerei'*  vorzuwerfen. 

C.  Vers  arten. 

Der  Septenar  kommt  in  seiner  langzeiligen  Form 
bei  Marvell  nicht  vor,  dagegen  durch  Reim  zu  zwei  vier- 
und  dreitaktigen  Kurzzeilen  aufgelöst  in  ''The  Match**,  ganz 
regehnäßig,  dem  üblichen  Gebrauche  gemäß  nur  stumpf, 
gekreuzt  reimend.  Enjambement  von  einer  Periode  zur 
andern  kommt  dabei  nicht  vor. 

Der  Alexandriner  ist  nicht  vertreten. 

Die  meist  angewendete  Versart,  der  Länge  der  Gedichte 
nach^  ist  der  f  ü n  f  t a k  t  i g  e  j  a  m  b  i  s  c h  e  V  e  r  s,  fortJaufend 
und  stumpf  als  ''heroic  coupleV\  Nur  einmal  findet  er  sich 
in  anderer  Reimstelhing  bei  strophischer  Gliederung  in 
einem  lyrischen  Gedichte  **I%e  Fair  Singer^\  drei  Strophen 
zu  je  sechs  Zeilen  in  der  Reimstellung  a  b  a  b  c  c^  sehr 
regelmäßig  gebaut;  nur  einmal  kommt  dabei  Verschleiiung 
des  Artikels  vor  vokalisch  anlautendem  Substantiv  vor 
(Wadvdntage)  und  einmal  VoHmessung  des  -ed  der  Fleiions- 
silbe  (fjaitiMj:  das  einzige  Enjambement  (11/12)  ist  zum 
Ausdruck  der  Lebhaftigkeit  sehr  gut  angebrachtw  Takt^ 
Umstellung  kommt  in  diesem  Ij^rischen  Gedichte  nur  zwei- 
mal vor;  die  Betonung  vidor^,  hdrmony  kajin  nicht  als 
Fehler  gelten.  Über  die  Cäsur  läßt  sich  bei  einem  so  kurzen 
Gedichte  keine  Regel  aufstellen. 

Nun  das  erzählende  herok  coupkt;  der  Artikel  im 
"DicHonarp  of  Natiofial  Biography"  (vol,  XXX VI)  sagt! 
*^His  (MarvelVs)  Unes  are  hasiy  and  rough  Acir«,  and  in  em- 
ploifing  the  heroic  couplet,  Marvell  is  ncver  completely  master 
of  hi$  insirtmimt.'*  Dazu  ist  zu  bemerken,  daß  ein  Teil  der 
in  dieser  Art  abgefaßten  Gedichte  Jugendarbeit  unseres 
Dichters  ist,  während  die  Mehrzahl  —  die  Satiren  —  nur 
flüchtig  hingeworfen  sind^  ohne  jede  Feile,  da  sie  auch 
nicht  zur  Veröffentlichung  bestimmt  waren.  Das  ist  sicher: 
So   schlechte  Yerse   wie   sein   Zeitgenosse  Donne')  baut 


>)  Sieh  Seite  106. 


145 


Marvell  nicht»  Bei  der  ungleichmäBigen  Behandlung  sieht 
man  noch  deutlich,  welche  Gedichte  ausgefeilt  und  welche 
nur  skizziert  wurden.  Zu  den  ersteren,  glatteren  gehören  die 
Widmungs-  oder  Gelegenheitsgedichte  für  Hastings^  Love- 
lace  —  in  dieaem  wird  Presb^ienj,  also  nach  griechischer 
Art,  betont  — ,  das  Gedicht  an  Dr,  WiUy^  *'0n  Paradise 
Losf\  "Musics  Empire'*  etc,  in  denen  häufiger,  passender 
Gebrauch  von  Tafcturastellungen,  seltener  des  Enjambe- 
menis  gemacht  wird.  Die  stumpfen  Cäsuren  sind  in  der 
Überzahl,  epische  kommen  nicht  vor.  An  einigen  Stellen 
der  Gedichte  in  htroic  coupJets  stehen  auch  Triplets  (a  a  a) 
statt  der  Reimpaare,  zum  Beispiel  in  **Adincc  io  a  Painter" 
(IL  Part  der  "Instmciions''}  Yv.  25^27,  30—32;  **Britanma 
and  Ilaleigir,  Vv.  30—41,  56—58. 

Öfters,  besonders  bei  dieser  Art  von  nichtlyrischen 
Gedichten,  ist  schwer  zu  entscheiden,  ob  man  Takt- 
umstellungen oder  bloß  Tonhöhe  zu  Eingang  eines  Verses 
anzunehmen  habe.  Fehlender  Auftakt  kommt  nicht  vor. 
Stumpfe  Cäsur  ist  viermal  so  häufig  als  lyrische,  meist 
nach  dem  zweiten  Fuße.  Wenn  wir  zwei  gleich  lange  Ge- 
dichte vergleichen,  zum  Beispiel  ''Oh  thv  Vidorij  obiained 
6y  Blake"  und  "The  Loyal  Scot'\  so  finden  wir  ein  Ver- 
hältnis der  Ungleichheit;  das  letztgenannte  Gedicht  ist 
reicher  an  Taktunistellimgen  und  Cäsuren,  auch  weist  es 
eine  größere  Anzahl  romanisch  betonter  Wörter  auf; 
andererseits  ist  das  Enjambement  hier  verhältnismäßig 
selten.  Wir  finden  also  keine  feste  Regel,  keinen  be- 
stimmten Maßstab.  Einige  sehr  vom  Schema  abweichende 
Zeilen  finden  wir  in  beiden  Gedichten;  so  entspricht  Z,  166 
in  **The  Viciory  of  Blake  ,  ,  J'  an  Unregelmäßigkeit  der 
Z.  135  des  *'Lm/al  Scot*\  Z.  75/76  des  ersteren  Gedichtes 
(admire  :  higher)  und  Z,  77/78  (givm  :  heatmt)  ^ind  nicht  als 
weiblicher  Reim,  sondern  einsilbig,  stumpf  zu  fassen.  In 
Z.  49  steht  das  Substantiv  in  der  Senkung,  respektive  in 
schwebender  Betonung,  was  hier  nicht  fehlerhaft,  sondern 
eine  Hervorhebung  des  prägnanten  Adjektivs  ist:  *^Your 
worih  io  all  ihesc  isles  a  jüsi  right  brhtgs/*  Wie  immer,  ist 
der  Artikel  je  nach  Bedarf  zu  verschleifen  oder  steht  in 
der  Hebung,  ebenso  ist  ein  Wort  einsilbig  oder  zweisilbig; 
zum   Beispiel   das  schon   erwähnte  Wort  heaven   (** Blake* s 

Poseber,  Maryclb  poet.  Werke.  lÜ 


—     146    — 


Victortr,  41  —  "Loffal  ScoV\  30),  Wir  bemerken  also 
deutlich,  daß  der  Versbau  MarveUs  in  den  gröüeren 
epischen  Gedichten  \\e\  unregelmaÜiger  ist  als 
in  den  rein  lyrischen,  was  uns  aber  nicht  berechtigt» 
zu  sagen,  daß  Marvell  dieses  Versmaß  nicht  handhaben 
kann. 

'*TAe  First  Anniversary  .  ,  /\  fast  400  Zeilen  lang,  hat 
22%  Taktumstellungen,  aber  einen  sehr  geringen  Prozent- 
satz Enjambements;  die  Cäsuren  sind  nicht  stark  aus- 
geprägt und  nicht  fest.  Das  Füllwort  do,  does  (da  leiid, 
does  dratv  etc.)  kommt  der  Taktierung  wegen  mehrmals 
vor.  Ebenfalls  des  Metrums  wegen  gebraucht  der  Dichter 
die  altertümliche  Form  thou  ixercisedst  (V,  231);  gezwungen 
ist  die  Betonung  cönqfienki  (Z*  32)^  wo  also  die  Flexions- 
endung sogar  in  der  Hebung  steht.  Ähnlich  verhält  es 
sich  im  allgemeinen  mit  dem  kürzeren  "Poem  upon  the 
Death  0/  the  Lord  Protect o/\  in  dem  Z.  207/208  {served :  de- 
served)  als  stumpf  anzunehmen  ist,  was  bei  Marvell  immer* 
hin  Erwälinung  verdient;  schwebende  Betonung,  Taktum- 
Stellung  im  Inneren  des  Verses  kommt  auch  einige  Male 
vor  (Vv.  40,  156,  160,  248  f,  268  etc.).  Ziemlich  regebnäßig 
ist  **Tam  May*s  Death* \  Eine  doppelte  Senkung  im  Inneren, 
die  durch  Verschleifung  nicht  zu  beseitigen  ist,  zeigt 
V,  44  des  ''Historical  Pöern'*: 

"  With  n^nham*s  find  Cctrntfitßc's  Inf^cM  plöL" 

V.  96  hat  doppelte  Senkung  im  vorletzten  Fuß. 

Betrefis  des  Gedichtes  ^'Fkchnoe"  wurden  bereits  an- 
läßlich der  Besprechung  S.  6.  7  einige  metrische  Freiheiten 
erwähnt,  auch^  daß  Leigh  Hunt  die  Rauheit  der  Versi- 
fikation  als  eine  beabsichtigte  Nacbalmiung  der  satirischen 
Versmaße  des  Horaz  erklärt  So  groß  auch  ansonsten 
der  Einfluß  dieses  Lateiners  auf  Marvell  ist,  scheint  diese 
Annahme  doch  verfehlt  und  unbegründet  zu  sein,  um  so 
mehr,  als  ich  in  Schippers  ,,Metrit'  keine  Andeutung 
ähnlicher  Versuche  von  derartigen  Nachbildungen  sati- 
rischer Versmaße  bei  den  Zeitgenossen  gefimden  habe, 
von  denen  Leigh  Hunt  wie  von  allgemein  Bekanntem 
spricht,^)  Daß  ''Fiecknoe"  prozentuell  die  meisten  Enjambe- 

»)  *'Wit  and  Humoitr'',  221. 


-     147     — 


ments  und  Cäsuren  aufweist,  bewirkt  schoD  der  lebhafte, 
dramatische  Ton  der  ErzähluBg.  Der  Umstand,  daJ3  En- 
jambement und  darauffolgende  Taktumstellung  sehr  oft 
miteinander  verbunden  sind^  ferner  fehlende  Senkungen, 
ach  webende  Betonung,  bewirken,  daß  der  Rhythmus  ziem- 
lich verloren  geht  und  das  Ganze  sich  der  Prosa 
nähert.  Ahnliehe  Eigentümlichkeiten  zeigt  '*The  Cha- 
racter  of  Holland'';  fehlerhaft  sind  Verse  wie  Z.  33,  wo  der 
in  der  Hebung  stehende  Artikel  auch  durch  schwebende 
Betonung  nicht  ausgeglichen  werden  kann.  Verunglückte 
Verse  sind  zum  Beispiel: 

'And  silenL  Nothmg  now  dint^r  stdifed"  f'^Fltcknoe'*,  57), 

WO  man  eigentlich  nur  vier  Hebungen  hat,  wenn  man  un- 
gezwungen liest;  ähnlich  sind  folgende  Fälle: 

'*llis  önlfj^imp6saibhi  is  tö  be  rieh'* 
oder  anders  gelesen; 

'*Hü  ötdtj  imposMible^ü  to  be  rieh";  ("Fkckno€^\  ßß) 

'*And  hdw  (%mpö89ibÜ!)  he  tndtU  yet  wirö"  C'Fltchioe*\  14^) 

'*A  teäter  Berad^s,  büiter  Colöss'*  ("Charaeter  of  Hollafid'*,  94). 

So  barbarisch  muß  man  manche  Verse  behandeln, 
will  man  nicht  auf  die  fünf  Hebungen  verzichten,  .aller- 
dings sind  das  die  ärgsten  Fälle,  denen  gegenüber  die 
*' Insirudions" ,  die  natürlich  bei  ihrer  riesigen  Länge  alle 
möglichen  erwähnten  Freiheiten  aufweisen,  noch  ziem- 
lich regelmäßig  genannt  werden  müssen,  bei  üren  rund 
250  Taktumstellungen  zu  Versbeginn,  zwei  Dutzend  im 
Versinneren,  respektive  schwebende  Betonungen,  und  dem 
seltenen  Vorkommen  des  Enjambements,  das  sie  etwas  ab- 
gehackt klingen  läßt. 

Der  viertaktig -jambische  Vers  ist  das  ge- 
bräuchlichste Versmaß  der  rein  lyrischen  Gedichte,  daher 
fast  immer  in  strophischer  Verw^endung  zu  treffen;  neun- 
zehn Gedichte  sind  in  demselben  abgefaßt.  Dieses  Vers- 
maß ist  mit  größerer  Feinheit  behandelt  und  auch  künst- 
licher variiert*  Er  versucht  sogar  manchmal  Tonmalerei, 
Die  Taktumstellung  ist  meist  eine  rhetorisch-emphatische: 

'^Flt}  fiom  Ümr  vkes,  ,  /*  ('*Apphton-HonJie*'  221) 
*'FhJ  from  th€ir  hün  ,  .  /'  ('*Appkton-Hoitse'*  223) 

'^Viifiacience,  (hat "  ("Appkion-House*'  355) 

"Cöme  mie  infant "  C^Young  Love"). 

10* 


—     148    — 


In  den  Gedichten  der  ersten  Zeit  ist  das  Enjambe- 
ment oft  störend  statt  verbindend.  Wenn  eine  Cäsar  auf- 
tritt, erscheint  sie  meist  als  stumpfe  Cäsar  nach  dem 
zweiten  FnÜe;  möglich  ist  sie  aber  an  allen  anderen 
Stellen,  Lyrische  Cäsnr  kommt  im  dritten  Fuße  vor 
('*3Iourmng\  15,  21).  Epische  Cäsm*  meidet  Marvell;  nur 
''Tltp  Nymph*\  V.  4,  kann  eventuell  mit  epischer  Cäsar  ge- 
lesen werden: 

"Who  kiUed  thee,  \\  Thim  n^^  diä$t  alive .  . .", 
während  bei  der  Betonung; 

"irfto  kOkd  tm,  II  Th^  ne'er  diä$i  alim . . .% 

also  bei  lyrischer  Cäsur,  das  ^Hhou**  wirksam  hervorge- 
hoben und  mit  dem  Vorhergehenden  kontrastiert  wird. 
Ein  schlechter  Vers  in  diesem  Versmaß  ist: 

"TTäö  here  hos  the  haltfelsier's  care"  C*^ppkt&n-HQU8e'\  53$), 

mit  fehlender  Eingangasenkung  und  doppelter  Senkung 
im  letzten  Fiil3e,  wodurcli  der  jambische  Rhythmus  ganz 
verloren  geht. 

Das  Enjambement  ist  natürlich  in  den  erzählenden 
Gedichten  zahlreicher  als  in  den  lyrischen ;  sehr  reich 
daran  ist  "TAr  Nt/mph  .  ,  .",  das  auch  die  meisten  Cäsuren 
aufweist.  Die  Reims tellung  ist  meist  eine  paarige,  in 
zweiter  Linie  gekreuzte;  in  einigen  Gedichten  findet  sich 
eine  künstlichere  Anordnung,  Die  Abwechslung  wird  nicht 
durch  den  verschiedenen  Versausgaug  hervorgerufen  — 
derselbe  ist  gewöhnlich  stumpf  — ,  sondern  bloÜ  durch 
den  Stropheubau.  Klingender  Reim  kaxm  nur  in  der 
mittleren  Chorstrophe  des  ersten  der  ''Twi)  Songs**  even- 
tuell angenommen  werden.  Reimhrechung  habe  ich  nur  im 
Dialog  angetroffen,  an  die  beiden  Sprechenden  verteilt. 
Doppelte  Senkung  im  Inneren  des  Verses  ist  äußerst  selten 
anzunehmen,  da  dieselbe  durch  Silbenverschleifung  be- 
hoben wird*  Fehlende  Eingangssenkung  findet  sich  nur  zu 
Beginn  von  ''The  Pidure  of  Liitle  T.  C  .  .  /'  allein.  Fehlen 
der  Eingangssenkung  u  n  d  doppelte  Senkung  im  Inneren 
finden  wir  in  '*The  Hill  aml  Grove  at  Bilborow",  Vv,  14,61; 
und  in  Z.  13  des  ,,Epitaph  upon  ,  .  •".  Unschön  klingt 
der  folgende  Vers  wegen  des  ähnlichen  Klanges  neben- 
einanderstehender Silben:  (**HiU  and  Grove  ai  Bilborow'*, 26) 


» 


f 


—     149    — 

"And  in  unmcied  (fttalnesa  Htunda'*. 

Doppelte  Taktumstellung,  zu  Beginn  der  Zeile  und 
nacli  der  Cäsur,  zeigt  '^ The  Hill  and  Grove  at  Bilhorow'\  V.  42: 

"Fear  of  the  master^  and  respect 
Of  ihe  greai  mßnpK  did  ii  protect;*' 

femer  ''The  Garden  %  V.  48  **Äppleton'House'\  309,  S90, 
Dieses  umfangreichste  Gedicht  dieser  Gruppe  hat  14 7o  Takt- 
umsteUungen.  Die  Folge  der  in  diesem  Gedicht  geringeren 
Freiheiten  ist  eine  gewisse  Einförmigkeit;  es  ist  auch  ein 
Jugendwerk,  Die  lyrischen  Cäsaren  sind  speziell  in  diesem 
Gedicht  nicht  selten  (Vv,  305,  462,  492  etc,).  Doppelte  Ein- 
gangssenkung  tmd  fehlende  Senkung  im  Inneren  zeigt 
V,595: 

''While  the  wind^  \\  cöoUnff  thrc^tgh  the  btkgha  .  ,  /' 

Spezi eU  von  diesem  langen  Gedichte  abgesehen,  helfen 
Marvells  sonstige,  oft  groBe  Freiheiten  doch  den  Reiz 
dieses  Metrums   zu  erhuhen^   der  ihm   überhaupt  eigen  ist 

In  abwechselnd  fünf-  und  viertaktigen  jam- 
bischen, paarweise  reimenden  Verszeilen  abgefaßt  ist 
''Tlie  Mower  against  Gardens'\  fortlaufend  geschrieben,  doch 
gehören  immer  zwei  und  zwei  Verse  zusammen.  Vielleicht 
ist  das  Versmaß  dieses  Gedichtes  von  Marvell  als  ein  Ersatz 
des  klassischen  elegischen  Versmaßes  beabsichtigt,  dessen 
strengerer  Form  entsprechend  sich  der  Dichter  auch  keine 
Freiheiten  gestattet,  von  einigen  Taktumstellnngen  abge- 
sehen, streng  taktierend.  Wie  beim  Distichon  Hexameter 
und  Pentameter  zusammengehören,  so  würden  hier  immer 
ein  Fünftakter  und  ein  Viertakter  zusammengehören. 

In  vier-  und  dreitaktigen  jambischen  Versen 
geschrieben  ist  allein  die  einzig  dastehende  **Horatian  Ode\ 
in  freier  Nachahmung  des  Ho razi sehen  OdenmalSes;  es 
reimen  abwechselnd  immer  zwei  aufeinanderfolgende  vier- 
taktige  und  zwei  aufeinanderfolgende  dreitaktige  Verse, 
also  ^\^\i  die  mit  klassischer  Strenge  gebaut  sind;  auf- 
fallend ist  nur  against  (Z*  37),  das  durch  schwebende  Be- 
tonung des  Verses  gemildert  wird* 

In  meist  viertaktigen,  ein  paarmal  dreitaktigen,  teUs 
stumpf,   teils  kUngend   endigenden  jambischen  Versen  ist 

10»* 


—    150    — 


das  kurze,  unbedeutende  Gedicht  "Upon  Clarendon* $  Rouse" 
geschrieben. 

In  jambisch-ungleiohtaktigen  Versen  ist  nur 
ein  Gedicht  geschrieben,  *'The  CormicV\  das  auch  in  strophi- 
scher Beziehung  (q.  v.)  vereinzelt  dasteht  Es  sind  drei-, 
vier-  und  fünftaktige  Jamben  gemischt  Kunstvoll  ist  die 
Vermischung  von  nnglei ch taktigen  und  ungleichmetri- 
scben  Versen  in  **A  Drop  of  Deu?'\  drei-,  vier-  und  fünf- 
taktige jambische  Verse  und  ein  Einschub  von  sechs 
trochäischen  Versen,  Die  kunstvolle  Architektur  dieses  Ge- 
dichtes ist  ebenfalls  im  „Strophenbau**  erörtert. 

Der  viertaktige  trochäische  Vers  ist  stets 
strophisch  verwendet,  nur  ötumpf  reimend,  aber  in  jeder 
Eeimstellung.  Das  Enjambement  spielt  auffalligerweise 
hier  bei  Marvell  nicht  die  große  Rolle,  die  es  sonst  bei 
diesem  Verse  spielt  („Metrik^ ^  11,  393),  DaJJ  die  Cäsur  keine 
Holle  spielt,  ist  natürlicher.  Die  Chorstrophe  des  zweiten  der 
^^Two  Smigs'*  ist  jambisch,  während  das  übrige  Gedicht  voll- 
kommen schematisch  trochäisch  ist  Diese  Vermischung 
von  jambischen  tmd  trochäischen  Versen  ist  konsequent 
durchgeführt  in  dem  ^'Dialogue  beiween  ihe  Besolved  Soul  and 
Created  Pl€asure*\  wo  Soul  in  viertaktigen  Jamben,  Pleasure 
in  viertaktigen  Trochäen  spricht,  welche  stets  paarig  reimen; 
im  zweiten  Teile  des  Gedichtes  ist  die  Vermischung  noch 
inniger,  indem  in  den  Eeden  einer  Person  viertaktige 
trochäische  und  dreitaktige  jambische  Verse  (oder  trochäische 
Verse  mit  Auftakt)  gemischt  sind,  die  gekreuzt  reimen.  Im 
^'Diahgue  bettvem  Thyrsis  and  Dortnda"  sind  regellos  drei-, 
vier-  und  fünftaktige  jambische  (33)  und  trochäische  Verse 
(15)  gemischt,  so  daß  nur  die  paarweisen  Reime  den  prosa- 
ähnlichen Eindruck  mindern. 

J a m b i 3 c h-a napästisohe  Verse  verwendet  Marvell 
ausschließlich  zur  Satire.  Hier  erreicht  er  die  größte  Mannig- 
faltigkeit; er  verwendet  stumpfe  und  klingende  Verse  in 
paar  weiser  und  gekreuzter  Reimstellung.  Bei  den  gekreuzten 
viertaktigen  Verszeilen  tritt  die  ursprüngliche  Entstehung 
dieses  Metrums  aus  dem  achttaktigen  Vers  durch  einge- 
schobenen Reim  deutlich  hervor  ( „Mcirik'^^  11,  400,  410), 
Der  bewegte  Ton  ist  dem  satirischen  Zwecke  äußerst  an- 
gemessen und  die  ungezwungene  Beweghchkeit  der  Cäsur 


—     161     — 


trägt  dazu  mit  bei.  Durch  eine  fiehlende  Senkung  wird  der 
dritte  Fuß  öfters  jambisch  (in  ^'Clareixdmts  House-Wanning" 
ist  das  sechzehnnial  der  Fall  und  zweimal  im  zweiten  Fuße); 
auch  kann  der  erste,  gewöhnlich  jambische  Fuß  anapäatisch 
sein.  Der  zusammenhängende  achtt  aktige  anapästische 
Rhythmus  ist  hergestellt,  wenn 

I,  a\  stumpf  endigt  und  a,  (oder  h)  anapästisch  beginnt, 
zum  Beispiel  19/20:^) 

"Those  idoU  ne^er  9poke,  but  are  miracles  döne 
B^  a  di^üj  a  priest,  a  friar  or  a  nun"; 

desgleichen  *'Clarmdon^s  Eouse -Wanmng'\  ^/4,  ISjli  etc. 
n,  a\    klingend   endigt  und  a^  (b)  jambisch  beginnt: 

^/lO:         "PhcUarin  fiad  a  bull,  which,  09  graw  emthora  t^U  y^, 
Wöulä  roar  like  a  devil  with  a  man  in  fm  bdly**; 

ebenso  25J26;  ''Clarendon  s  House- War ming*\  17118,  19120  etc. 
und  andererseits  ist  der  anapästische  Rhythmus  unter- 
brochen, wenn  entweder 

in,  a\  klingend  endigt  und  a^  (h)  mit  einem  Anapäst 
beginnt,  so  7j8: 

"Livy  teils  a  stränge  stoTif,  can  hctrdly  he  f^lSwed, 
Thut  a  säcrißced  ox,  tohen  Ms  ffuts  toere  out,  beUowed^': 

desgleichen  ISjU,  21122,  23124,  27128  etc.  oder  wenn 

IV.  üi   stumpf  endigt  und  a^  (b)  jambisch  beginnt: 

1/2:  "TFe  read,  in  profane  and  (in)  sacred  rec^ds, 

Uf  hiaxtSf  which  have  uttered  artictdate  tcords*' ; 

femer  so  in  5/4,  5j6,  11112,  15\lß,  17118,  29(30,  Sl\32, 
33134  etc. 

Insgesamt,  bei  Betrachtung  aller  hiehergehörigen  Ge- 
dichte C'Dialoffue  beiwem  two  Horses'\  '' Clarendon' s  House- 
Warming*\  "Poew  on  the  Statue  at  Stocks- Market*'  und  '*0n 
ihe  Statue  at  Charing  Crosse'')  kommt  der  Fall  I  74mal,  der 
Fall  n  29mal,  der  Fall  III  22mal  und  der  Fall  IV  Somal 
vor,  ergo  103mal  zusammenhängender,  107mal  unter- 
brochener anapästiecher  Rhythmus ;  also  ziemliches  Gleich- 
gewicht 

In  anapästischem  Rhythmus  ist  auch  die  Ballade 
**0»  the  Lord  Mayor  and  Court  of  Aldernien  .  .  ,"  geschiiebenj 

*)  Alle  Beispiele,  wenn  nicht  anders  angegeben,  aus  '*IHalogue 
btiiutHn  ihe  two  H&rses*\ 


i 

d 


—     152    — 


und  zwar  in  Zeilen  zu  zwei  und  drei  Takten;  rein  ist  der 
anapästische  Rhythmus  nur  in  wenigen  Strophen  durch- 
geliihrt  (VI,  YH,  X— XII),  häufig  ist  der  zweite  Takt  der 
Zeile  ein  Jambus.  Die  dritte  (oder  sechste)  Zeile  ist  stets 
klingend  endigend  und  man  kann  sonach  dieses  Versmaß 
als  aus  dem  siebentaktigen  jambisch*anapästischen  Vers 
entstanden  auffassen;  das  ist  besser  in  der  Form  zu  ersehen, 
in  der  Grosart  dieses  Gedicht  abdruckt,  zum  Beispiel 
Strophe  12: 

"Hi»  words  nar  Im  oa^  mnnoi  hmd  htm  to  troih, 
Ana  he  '^alues  Wit  credit  or  hi€t*r$f  .  ,  /' 

während  die  Ausgabe  von  Aitken  den  Baim  auch  fiirs 
Auge  deutlicher  macht: 

'*J5fw  tcoftfe  nor  hia  oath 

Cannot  bind  him  <o  trotk 

And  he  value»  fwt  credit  or  Äwriary/* 

Das  leitet  uns  schon  hinüber  zum  Strophenbau. 

D,  Strophenbau. 

Ünstrophiflch,  nämlich  in  fortlaufenden  Keim- 
paaren  geschrieben,  sind  vi erimdz wanzig  Gedichte  Mar- 
vells,  die  meist  nur  in  mehrere  ungleich  lange  Sinnes- 
abschnitte zerfallen.  In  viertaktigen  Jamben  dieser  Art 
sind  geschrieben:  ''üpon  the  Hill  and  Grove  at  Bilhorow'\ 
**AppleioH'House*\  also  landschaftlich-beschreibende  Gedichte, 
ferner  ''The  lit/mph,  Complaining  the  Death  of  Her  Faum" 
und  ''CoijMistress'';  das  kurze  ^*Epi(aph  upon  .  .  /'.  Das  kleine 
Gedicht  '^Upon  His  fClarefidons)  House'^  enthält  auch  drei- 
taktige  Jamben,  ^*Clormda  and  Danton"  ist  eigentlich  weder 
fortlaufend  noch  strophisch  geschrieben,  sondern  zerfSJlt  in 
längere  und  kürzere  Redeabschnitte  des  „Dialogs".  In  fort- 
laufenden fiinftaktigen  jambischen  Reimpaaren,  also  in 
heroic  Couplets,  sind  siebzehn  Gedichte  geschrieben.*) 

Qeleitartige  Strophen. 

Eine  inhaltlich  geleitartige  Eingangs-  und  SchluÜ- 
strophe  („Metrik*',  II,  794),  respektive  Auf-  und  Abgesang 
zeigt  das  monologische  '*Benmuias'\  Desgleichen  haben  wir 

^)  Wobei  alle  Teile  der  "InairucHons^*  zusammen  als  ein  Gedicht 
zählen. 


—     153    — 

in  "Clorinda  and  Dämon"  eine  vierzeiüge,  auch  äußerlich 
als  '*  Chorus"  kenntlich  gemachte  Schlußstrophe.  Eine  auch 
formell  unterschiedene  Eingangs-  und  Schlußstrophe  zeigt 
der  erste  der  "Two  Songs",  zu  Beginn  einen  sechszeiligen 
'* Chorus"  und  einen  achtzeiligen  am  Schlüsse;  der  zweite, 
**Second  Song",  hat  eine  nur  formell  getrennte  Schlußstrophe. 
Der  *'Dialogue  between  the  Besolved  Soul  and  Created  Pleasure" 
weist  eine  zehnzeilige  Eingangsstrophe  als  Anrede  auf, 
ist  durch  einen  achtzeiligen,  formell  abweichenden  ** Chorus" 
in  zwei  Teile  geteilt  und  wird  durch  einen  vierzeiligen 
*' Chorus"  geschlossen.  Ein  formell  nicht  abweichendes,  aber 
durch  die  Aufschrift  "To  the  King"  gekennzeichnetes 
**Envoy"  haben  Part  I  und  Part  II  der  '* Instructions";  femer 
hat  der  ^'Dialogue  between  two  Horses"  eine  *'Introduction" 
und  eine  ''Conclusion".  Rechnet  man  auch  den 

Reftain 

als  Strophenform,  so  kommt  das  Gedicht  *'The  Mower's  Song" 
in  Betracht,  das  einen  leicht  variierten  Refrain  von  zwei 
ungleichen  Zeilen  hat,  dreimal 

"WJien  Juliana  came  cmd  she, 

What  I  do  to  Ihe  gross,  does  to  my  thoughts  and  me"; 

und  zweimal  '*For  Juliana  came.  .  ."  Femer  wiederholen 
sich  am  Ende  der  Chorstrophe  des  ^'Second  Song"  die  zu 
Beginn  derselben  stehenden  Verse: 

*^Joy  to  that  happy  pair, 

Whose  hopes  united  banish  out  despairJ* 

Gleichmetrische  Strophen. 
Zweiteilige,  gleichgliedrige  —  verdoppelte  —  unteilbare. 

Aus  vierzeiligen  Strophen  von  viertaktig-j  ambischen 
Versen  in  paarweiser  Stellung  (^ "  *  5)  bestehen  nur  "JBer- 
mudas"  und  teilweise  der  erste  der  *'Two  Songs";  in  ge- 
kreuzter Stellung  (^^^5)  ''TheMower  te  the  Glow -Worms", 
'^Definition  of  Love",  ''Mouming". 

Verdoppelte  Strophen  nach  der  ersten  Art,  achtzeilig, 
finden  wir  in  "TAe  Garden",  *'Damon  the  Mower",  *'Eyes  and 
Tears'\  ''The  Gallery",  ''The  Unfortunate  Lover",  also  häufiger 
verwendet  als  die  einfachen  Strophenarten.  Eine  Erweiterung 


—     154    — 

dieser  Versart  zu  einer  zehnzeiligen  Strophe  sind  die  ersten 
drei  Strophen  des  ^*Diahgue  between  ihe  Soul  and  Body**, 

Vierzeilige  Strophen,  im  Dialog  manchmal  zweizeiligj 
paarweise  reimender  viertaktiger,  trochäischer  Verszeilen 
finden  wir  im  ^'Secotid  Sotig*  (exlusive  Chorstrophe),  gekreuzt 
reimend  in  *'Ametas  and  Thesfi/li$'\  sowie  '*Toung  Love*\ 
mnschlieüend  in  ''Daphnis  and  Chloä";  hier  haben  wir  also 
die  größte  Variation, 

Vierzeilige  Strophen  von  funftaktigen  jambischen 
Reimpaaren  ("  ^*  ^  5),  welclie  hier  das  einzige  Mal  strophisch 
verwendet  sind,  zeigt  **Mimc's  Empire".  In  sechszeiligen, 
eigentlich  nicht  teilbaren  Strophen  aus  funftaktigen  jambi- 
schen Versen  in  der  Stellung  a  b  a  b  c  c  ist  *'Thi'  Fair  Sififfer'* 
geschrieben. 

Während  alle  bisher  erwähnten  Strophenarten  durch- 
aus stumpfen  Ausgang  der  Verszeilen  zeigen,  findet  man  in 
der  nächst  erwähnten  stumpfe  und  klingende  Versausgänge 
in  willkürlicher  Mischung;  es  sind  Strophen  aus  vier 
jambisch-anapästischen,  viertaktigen  Versen,  und  zwar  ent- 
weder in  paarweiser  Reimstellung  wie  im  '^Diulogue  bei  wem 
the  twö  Horses'*  und  im  *'Poem  on  the  Statue  in  Siock$- 
Market"  oder  in  gekreuzter  Reimstellung  in  ** Ciarendons 
ffouse-Warmitig"  und  in  '*Tke  Statue  at  Charing  Crosse**, 

Gleicbmetrisch  ist  ferner  das  von  Marvell  überseute 
zweite  Chorlied  aus  Senecas  **Thyesf\  das  man  in  zwei 
siebenzeilige  Strophen  zerlegen  kann  —  obwohl  es  un- 
strophisch gednickt  erscheint  — ,  von  viertaktig- trochäischem 
Rhythmus  mit  der  Reimstellung  aaabbcc-\-ded  e  f  f  f^ 

wobei  also   keine  Kongruenz  der  Strophen  vorhanden  ist. 


Ungleichmetrische  Strophen. 
ZweiteÜlg-glelohgliedrige. 

In  vierzeiligen  Strophen  von  abwechselnd  vier-  und 
drei  taktigen  jambischen,  gekreuzt  reimenden  Versen,  also 
nach  der  Formel  (4  3  ^  J)  ist  ''The  Match"  geschrieben, 
einreihbar  unter  §  292^  ,,M€trlt\  II;  also  aus  einem  durch 
Mittelreim  aufgelösten  septenarischen  Reimpaare  ent* 
standen. 


-     166     — 

Eine  überhaupt  seltene  Strophenart,  flir  die  sich  nicht 
einmal  in  „Metrik**  II  ein  Beispiel  findet  (vgl.  jedoch  §  244), 
die  aber  unter  §  299  des  genannten  Werkes  einzureihen  wäre, 
zeigt  **The  Mower  dgainst  Gardens",  das  zwar  bei  Grosart  in 
äußerlich  unstrophischer  Form  gedruckt  ist:  es  sind  vier- 
zeilige  Strophen  von  paarweise  gereimten  jambischen  Versen, 
abwechselnd  fünf-  und  viertaktig  (5454) ;  eine  Hypothese 
über  die  Bedeutung  dieser  Strophe  wurde  S.  32  dieser 
Arbeit  ausgesprochen. 

Zu  den  zweiteilig-gleichgliedrigen  ungleichmetrischen 
Strophen  gehört  auch  die  jambisch-anapästische  Strophen- 
art der  Ballade  **0n  the  Lord  Mayor  and  Court  of  Aldermen", 
bestehend  aus  18  Strophen  nach  der  Formel  ^  2  T  ^  2  3' 
(sieh  auch  S.  151  f.),  eine  interessante  Abart  der  Schweifreim- 
strophe, die  auch  bei  Denham  vorkommt  (,, Metrik"  II, 
§  287 y  S,  515);  der  Ton  ist  anziehend  und  frisch  wie  in 
einer  echten  Bänkelsängerballade. 

Zweiteilige  ungleichgliedrige! 

Die  einfachste  und  zugleich  strengst  gebaute  ist  das 
Versmaß  der  "Horatian  Ode",  vierzeilige  Strophen  aus  ab- 
wechselnd vier-  und  dreitaktigen  jambischen  Reimpaaren 
("4^3)?  ^^®  ™®^  vielleicht  als  eine  durch  Umstellung  der 
geteilten  Verse  von  zwei  Septenaren  entstandene  Variante 
dieses  genannten  Metrums  auffassen  imd  unter  §  322  der 
„Metrik**,  S,  559,  einreihen  kann. 

Dann  gehört  hieher  die  achtzeilige  Strophe  des  Ab- 
gesangs  im  **Second  Song",  paarweise  reimende,  ungleich- 
metrische Jamben  ^  4  s  ö'^^I  t  ^^^ren  zweite  Hälfte  der 
Strophenart  des  §323  der  „Metrik**  entspricht;  femer  die 
mittlere  „Chor^^strophe  des  *'Dialogne  between  Resolved  Soul 
and  Created  Pleasure"  (sieh  S.  1B6). 

Dreiteilige. 

Dreiteilig  ist  die  Strophenart  des  '*Mower*s  Song", 
nämlich  zwei  jambisch-viertaktige  Reimpaare  «  «  ^  ^  ver- 
bunden mit  einer  als  Refrain  stets  wiederkehrenden 
canda   eines  jambisch-ungleichmetrischen  Reimpaares,   also 


-     156    — 


);    diesö   Strophenart  steht   am  nächsten   einer 


/a  a  b  b  CC 

vonDryden  verwendeten  (*  **  ^  ^J^)  (,,M€trik'*IlS.64i). 
Ungleichmetrisch  dreiteilig  ist  auch  die  Chorstrophe  im 
ersten  der  "Two  Songs'*  «  «  ^  ^  ^  ^^  Büeher  wollen  wir  auch 
die  schwer  zn  schematisierende  Strophenart  des  '^Piciurt'  of 
Utile  T,  C.  .  ,  /'  setzen ;  im  ganzen  achtzeilig,  besteht  sie  aus 
sechs  nicht  immer  teilbaren,  viertaktig-jambisohen  Zeilen 
in  der  Stellung  ab  a  c  cb,  denen  eine  cauda  ^  ^  folgt. 


Ungleichmetrlsch  und  ungleichrhythmisch 

ist  **Thyr$is  and  Dorinda\  nur  dem  Sinne  nach  in  Eede- 
abschnitte  geteilt,  die  an  die  zwei  Sprechenden  verteilt 
sind,  von  verschiedener  Zeilenzahl :  in  dem  meist  viertaktig- 
jambischen  Gedichte  sind  eben  gelegentlich,  wahrscheinlich 
unbeabsichtigt,  weil  regellos,  (16)  trochäische  und  drei- 
taktige  und  fünf  taktige  Verse  eingestreut. 

Im  "Diahjgue  beiween  fhe  Resolved  Sotd  and  Created 
Pk(isure'  finden  wir  eine  mannigfache  Mischung  von  un- 
gleichmetrischen und  ungleichrhylihmischen  Versen,  aber  zum 
Unterschied  vom  frühergenannten  Gedichte  nicht  regellos. 
Nach  der  zehnzeiligen  paarreimigen  jambischen  Eingangs- 
strophe beginnt  Pleasure  das  Gespräch  mit  einer  sechs- 
zeiligen  Strophe  in  viertaktigen  Trochäen  in  der  Stellung 
a  b  ü  h  c  €,  worauf  Soul  mit  einem  viertaktig-jambischen 
Reimpaar  antwortet  und  Pleasure  wieder  mit  einer  vier- 
zeiligen  trochäischen  Strophe  repliziert;  nach  mehrmaligem 
Wechsel  in  dieser  Art  schlieft  Sotil  mit  vier  Zeilen;  dann 
gibt  der  "Choms*'  seine  Meinung  ab  in  einer  zweiteiligen 
ungleichgliedrigen  ungleichmetrischen  Strophe  <*  ^  ö  a*c€. 
Diese  eingeschobene  Chorstrophe  bildet  einen  Wendepunkt; 
nun  beginnt,  formell  nur,  ein  zweiter  Teil,  in  dem  Pleasure 
jetzt  in  Strophen  nach  der  Formel  f  ^  J  ^  spricht,  wobei 
a  trochäisch,  ß  jambisch  ist  Den  Scbluil  bildet  ein  Chor 
in  jambischen  Versen  «  ^  "  J. 

In  den  folgenden  zwei  letzten  Fällen  kann  man 
eigentlich  von  strophischer  Gliederung,  die  nämlich  auch 
akustisch   zur  Geltung   käme,  nicht  mehr  sprechen;    doch 


—     167     - 

finden  wir  hier  eine  feindurchdachte,  komplizierte  formelle 
Gliederung  färs  Auge. 

"The    Coranef*    ist   jambisch    ungleichmetrisch,    man 
kann  es  folgendermafien  zerlegen: 

abba»cddc*effe'ghgh'ii'klm*klm*nn; 

5        854545545  4  5 

das  heißt  in  Worten :  drei  Quartette,  jedes  in  umschließen- 
der Brcimstellung,  aber  von  verschiedener  Yerslänge,  ein 
Quartett  gekreuzter  viertaktiger  Zeilen  und  zwei,  von  je 
einem  Brcimpaare  zu  Anfang  und  zu  Ende  eingeschlossene 
Terzette  fünftaktiger  Jamben. 

Noch  künstlicher  ist  die  Architektur  von  **A  Drop  of 
I)euf*y  nämlich: 

abc»abc»ffe»gg»hh*  -f 
8   4   8      4   48      8  4   8      2  6       .^-4 

ix  ±1. 

i  i  •kk*ltnlin*nn*  (o  n  (o  n  •  q>  q>  •  r  $  r  8  •  t  t  •  u  u; 

4  6      iTö      6       j      4         "|6 4       TT  j      4  6     "^T 

wobei  wieder  die  griechischen  Buchstaben  Trochäen  be- 
zeichnen. In  der  zweiten  Hälfte  herrscht  also  in  der 
graphischen  Darstellung  eine  künstliche  symmetrische  Form. 
Als  Schwäche  muß  man  es  bezeichnen,  daß  die  Sinnes- 
abschnitte keineswegs  diesem  metrischen  Schema  ent- 
sprechen, was  der  Grund  daftLr  ist,  daß  dasselbe  fiir  das 
Ohr  nicht  zur  Geltung  kommt.  Gewiß  sind  diese  zwei 
kompliziert  gebauten  Gedichte  Nachahmungen  italienischer 
Kunstformen,  aber  auch  die  einzigen  bei  Marvell;  die 
übrigen  metrischen  Kunststücke  der  Benaissancedichter 
macht  Marvell  nicht  mit,  offenbar  aus  Unvermögen;  ein 
formgewandter  Dichter  ist  er  ja  nicht.  Marvell  gehört 
auch  zu  denjenigen  Dichtem  der  Zeit  Miltons,  die  kein 
einziges  Sonett  geschrieben  haben  (f^Metrik**  II,  866). 


[ 


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1 


Veröffentlicliangen  des  Deutschen  Instituts 
fOr  Außenpolitische  Forschung 

Herausgegeben  von  Professor  Dr.  Friedrich  Berber 


Band  VII 

DEUTSCHLAND-ENGLAND 
1933-1939 

Die  Dokumente 
des  deutschen  Friedenswillens 


1943 


ESSENER    VE R L AG S AN S T ALT 


DEUTSCHLAND-ENGLAND 
1933-1939 

Die  Dokumente 
des  deutschen  Friedenswillens 

Herausgegeben  von 

Professor  Dr,  Friedrich  Berber 

4.  Auflage 

12.— 19.  Tausend 


1943 


ESSENER    VERLAGSANSTALT 


Die  ÄchTift  wini  in  der  NS.«Bibüo^iiphie  geführt. 

Berlin,  den  "20.  9«  1941 
Der  VoniUende  der  Parieiamtlichen  Prorungakommiision 
tum  SchuUe  dei  NS.-SehriUtums 


Die  Wiedergabe  der  Reden  de»  FOhrers 

erfolgt  mit  Genehmigung  des  ZentralverUiges  der  NSDAP. 

Pran2Eher  Nachf.,  G.ra*b,H., 

München- B  er  hn 


Alk  Bcchtc  vorbehalten 

Copyright  1940  by  Essener  Verlagsangtalt  G,  m.  b.  FL,  Esaen 

Säte  und  Druck:  Nationai-Zeitung,  Verlag  und  Druckerei,  G.nub.ll.«  Ftsen 

Printcd  in  Germany.  Verla gsnummer  l^ 


\m 


INHALT 


Vorbemerkung 

7 

Einleitung  . 

9 

1933  .. . 

13 

1934  . 

31 

1935  . 

4& 

1936  . 

83 

1937  . 

109 

1938  . 

129 

1939 

171 

Vorbemerkung 


Der  vorliegende  Band  bringt  einhundertsechs  Dokumentenstücke 
in  deutscher  Sprache.  Naturgemäß  war  es  nicht  möglich,  sämtliche 
Dokumente  im  vollen  Text  zu  bringen.  Es  wäre  dadurch  nicht  nur  der 
Umfang  des  Bandes  unverhältnismäßig  angewachsen,  sondern  auch 
die  mit  ihm  verfolgte  eigentliche  Absicht  —  lediglich  die  deutsch- 
englischen  Beziehungen  im  politischen  Gesamtzusammenhang  der 
Jahre  1933 — 1939  darzustellen  —  vereitelt  worden.  Infolgedessen  sind 
im  wesentlichen  nur  diejenigen  Fälle  der  Dokumente  veröffentlicht 
worden,  die  mehr  oder  weniger  unmittelbar  das  deutsch-englische  Ver- 
hältnis betreffen.  Wo  der  zum  Abdruck  gebrachte  Auszug  den  Zu- 
sammenhang nicht  deutlich  genug  erkennen  ließ,  ist  versucht  worden, 
im  Zwischentext  ergänzend  das  Notwendige  zu  sagen.  Die  einzelnen 
Dokumente  tragen  laufende  Nummern,  die  am  Seitenrand  verzeichnet 
sind. 

Die  im  Urtext  fremdsprachigen  Dokumente  sind  in  deutscher 
Übersetzung  gebracht  worden,  und  zwar  ist,  soweit  bereits  eine  getreue 
Übersetzung  vorlag,  diese  übernommen,  andernfalls  eine  eigene  Über- 
setzung vorgenommen  worden.  Die  Dokumente  sind  nach  Möglichkeit 
amtlichen  Quellen  entnommen ;  nur  soweit  solche  nicht  vorlagen,  sind 
andere,  nach  Möglichkeit  primäre  Quellen  benutzt. 

Bei  fremdsprachigen  Dokumenten  bedeutet  „E'*  oder  „F",  daß 
an  dem  angegebenen  Fundort  das  betreffende  Dokument  in  englischer 
oder  französischer  Sprache  vorliegt.  Durch  „D"  wird  die  deutsche 
Übersetzung  nachgewiesen. 

Bisher  unveröffentlicht  waren  die  nachfolgend  aufgeführten  Do- 
kumente: 3,  8,  10,  13,  39,  41,  45,  49,  54,  55,  56,  61,  78.  Zahlreiche 
Dokumente  werden  zum  ersten  Male  in  deutscher  Sprache  veröffent- 
Ucht. 


Einleitung 


Als  im  Herbst  1918  das  im  Felde  unbesiegte  deutsche  Volk  sich 
zu  Friedensverhandlungen  bereit  erklärte»  hatten  die  Alliierten  und 
insbesondere  ihr  wichtigster  und  aktivster  Teil,  GroDbritannien,  die 
Neuordnung  Europas  nach  ihren  eigenen  Grundsätzen,  Kriegszielen 
und  Deklarationen  frei  in  der  Hand.  Insbesondere  Deutschland  gegen- 
über hatten  sie  nunmehr,  nach  dem  Sturz  der  kaiserlichen  Regierung 
und  nach  der  Errichtung  eines  demokratischen  Systems,  die  Möglich- 
keit, ihre  in  Millionen  von  Flugblättern  vertretene  Propaganda these^ 
ihr  Kampf  gelte  nicht  dem  deutschen  Volke,  sondern  nur  der  deutschen 
Führung,  in  die  Wirklichkeit  umzusetzen  und  Deutschland  als  in  jeder 
Hinsicht  gleichberechtigten  Partner  in  die  neue  europäische  Staaten* 
gemeinschaft  aufzunehmen.  Daß  nichts  dergleichen  geschah,  dali  viel- 
mehr das  deutsche  Volk  in  schmählicher  Weise  hintergangen  und  seiner 
primitivsten  Lebensrechte  beraubt  wurde,  ist  die  allseitig  anerkannte* 
eindeutige  Ursache  all  der  Leiden  und  Verwirnmgen,  die  den  euro- 
päischen Kontinent  in  den  letzten  zwanzig  Jahren  heimsuchten  und 
die  schließlich  zu  einer  erneuten  Entfachung  des  erst  so  kurze  Jahre 
gelöschten  Kriegsbrandes  führten.  Damit  ist  aber  zugleich  die  ein- 
deutige Schuld  derjenigen,  die  für  dieses  Versagen  und  für  diesen 
Verrat  verantwortlich  waren,  festgestellt. 

Es  wird  für  kommende  Generationen,  die  die  Ereignisse  der  letzten 
zwanzig  Jahre  aus  historischem  Abstand  betrachten  werden,  immer 
ein  verwunderliches  Rätsel  sein,  wie  sich  die  Friedensmacher  von  1919 
denn  eigentlich  die  weitere  Regelung  des  von  ihnen  geschaffenen  Zu- 
siandes  vorstellten.  Denn  über  seine  Unzulänglichkeit,  ja  Unmöglich- 
keit waren  sich  eigentlich  alle  einig.  Aber  sie  legten  trage  die  Hand  in 
den  Schoß  und  warteten  auf  die  heilende  Kraft  der  Zeit,  auf  eine  Ent- 
wicklung, die  diesen  ungesunden  Zustand  zur  Normalität  zurückführen 
würde,  auf  ein  Wunder. 

Und  dieses  Wunder,  das  herbeizuführen  diese  Schuldigen  nichts, 
das  zu  verhindern  sie  alles  taten,  ereignete  sich.  Die  in  den  Feind- 
ländem  längst  als  Reaktion  auf  ihre  unsinnigen  Maßnahmen  gefürch- 
tete innere  Entwicklung  Deutschlands  trat  ein:  der  Nationalsozialis- 
mus ergriff  in  Deutschland  die  Maclit.  Zugleich  aber  —  und  darin  lag 
das  W^under  —  stellte  diese  zur  Macht  gekommene  Regierung  ein  aus- 
gesprochenes Friedensprogramm,  ein  Programm  der  friedlichen  Revi- 
sion, des  peaceful  change  auf,  statt,  was  nicht  verwunderlich,  sondern 
natürlich  gewesen  wäre,  eines  Programms  des  Hasses,  der  Gewalt,  der 


1 — nr 


10 


DeutschTand  -  Enj^Iand 


Revanche.  Das  war  die  zweite  große  Chance  der  „Sieger**  des  Welt- 
krieges seit  1919:  in  enger  Zusammenarbeit  mit  dem  nationalen,  aber 
friedliebenden  Deutschland  für  die  Beseitigung  der  gröbsten  Sinnlosig* 
keilen  und  Härten  des  Versa Uler  Systems,  für  die  Wiederaufrichtung 
einer  europäischen  Ordnung  zu  wirken,  sich  den  eigenen  Völkern  gegen- 
über für  die  Notwendigkeit  der  Maßnahmen  auf  die  veränderte  Macht- 
lage wie  auf  die  hoffnungslos  gewordene  internationale  Wirtschaftslage 
zu  berufen  und  die  Gerechtigkeit  der  elementaren  deutschen  Forde- 
rungen durch  die  eigene  Teilnahme  anzuerkennen,  Italien  ist  unter  der 
Führung  seines  genialen  Staatschefs  MussoHni  diesen  Weg  gegangen. 
Kngland,  das  diesem  Weg  friedlicher  Revisionen  allein  volle  Wirksam- 
keit verleihen  konnte,  hat  sich  ihm  versagt.  Und  dabei  war  es  gerade 
die  Freundschaft  mit  Engtand,  auf  die  das  ganze  auOenpolitiscbe 
Programm  des  Führers  hinzielte. 

Adolf  Hitler  ergriff  die  Macht  in  Deutschland  mit  dem  festen  und 
eindeutigen  außenpolitischen  Programm,  das  er  bereits  1924  in  seinem 
Kampfbuche  niedergelegt  hatte:  wenn  irgend  möglich  ein  Bündnis 
mit  Italien  und  mit  England  zu  erreichen.  Dadurch  war  nach  seiner 
Überzeugung  sowohl  den  deutschen  Interessen  wie  dem  Weltfrieden 
am  besten  gedient.  Sechs  Jahre  lang  hat  er  dieses  Ziel  durch  immer 
erneute  Vorschläge  und  Angebote  zu  verwirklichen  gesucht  und  Frie- 
denspolitik getrieben.  Daß  sie  endlich  gescheitert  ist,  ist  einzig  und 
allein  Englands  Schuld.  England  hat  alle  die  Jahre  hindurch  eine 
wahre  Verständigung  zwischen  den  beiden  Völkern  abgelehnt  und 
hintertrieben,  England  hat  die  immer  wiederholten  deutschen  Vor- 
schlage für  einen  dauernden  Frieden  als  zu  radikal  und  als  zu  kühn 
empfunden^  während  doch  die  völlig  verfahrene  europäische  Situation 
nur  mit  radikalen  und  kühnen  Maßnahmen  gerettet  werden  konnte. 
Es  hat  in  hochmütiger  Verblendung  auf  die  deutschen  Vorschläge 
nur  mit  halber  Aufmerksamkeit  und  mit  halbem  Herzen  hingehört, 
wälirend  doch  ein  Zusammenkommen  der  beiden  so  verschiedenen 
Partner  nur  bei  konzentriertester  Aufmerksamkeit  auf  die  gemein- 
same Aufgabe  möglich  gewesen  wäre.  Es  hat  jede  ihm  dargebotene 
Möglichkeit  viel  zu  langsam  begriffen  und  immer  zu  spät  ergriffen, 
statt  blitzschnell  bei  dieser  einzigartigen  Chance,  aus  dem  selbst- 
verschuldeten Wirrwarr  ohne  einen  neuen  Krieg  herauszukommen» 
zuzugreifen.  Es  hat  den  Sonderbotschafter  des  Führers,  Hibbentrop, 
mit  Unverständnis  empfangen,  statt  in  der  Entsendung  des  engsten 
außenpolitischen  Vertrauten  des  Führers  die  eminente  Geste  der 
Freundschaft  zu  sehen.  Seine  Presse  hat  die  von  englischen  Vorstel- 
lungen vielfach  abweichenden  inneren  deutschen  Verhältnisse  mit 
feindseligem  Hohn  und  mit  giftiger  Kritik  überschüttet,  statt  alles  zu 
tun,  um  die  beiden  Völker,  von  deren  gegenseitigem  Verstehen  die 
Zukunft  des  Kontinents  abhing,  in  Freundschaft  einander  näher- 
«ubringen.  England  hat  sich,  statt  die  lebendige  Kraft  des  deutschen 
Volkes  anzuerkennen  und  sich  mit  ihr  zu  verbinden,  auf  die  antiquierte 
und  schemenhafte  Lehre  vom  Gleichgewicht  der  Mächte  zurückgezogen, 
die  ihm  die  sti&ndige  Intervention  auf  dem  Kontinent  gegen  jede  er- 


Einleitung  1 1 


starkende  Macht  gebot.  Es  hat  schließlich  im  Verfolg  dieser  Doktrin 
sich  dem  unter  seiner  genialen  Fuhrung  zusehends  erstarkenden 
Deutschland  in  den  Weg  gestellt,  wo  immer  es  konnte,  hat  auf  seine 
berüchtigte  Tradition  der  Einkreisung  zurückgegriffen,  hat  überall 
den  Widerständen  gegen  Deutschland  den  Rücken  gesteift  und  damit 
schließlich  jenen  Brand  heraufgeführt,  den  gerade  England  im  Inter- 
esse seiner  so  leicht  verletzlichen  Herrschaft  überall  in  der  Welt  unter 
allen  Umständen  hätte  vermeiden  sollen. 

Die  einzelnen  Etappen  dieses  verhängnisvollen  Weges  seit  1933 
sind  in  der  nachfolgenden  Sammlung  dokumentarisch  nachgewiesen. 
Dabei  kommen  in  wissenschaftlicher  Objektivität  beide  Seiten  gleich- 
mäßig zu  Wort.  Das  englische  Versagen,  die  englische  Schuld  tritt 
damit  nur  um  so  deutlicher  in  Erscheinung.  Die  britische  Linie  stellt 
sich  dabei  trotz  allen  Schwankens  im  einzelnen  als  eine  durchaus  gerad- 
linige heraus:  Deutschland  sollte  nicht  stark  werden,  Deutschland 
sollte  schwach  bleiben,  Deutschland  sollte  in  den  Fesseln  von  Ver- 
sailles bleiben.  Angesichts  dieser  dokumentarisch  nachgewiesenen  Linie 
erscheint  das  heute  mit  immer  größerer  Offenheit  verkündete  englische 
Kriegsziel,  Deutschland  zu  Versailles  zurückzuführen,  ja  ihm  noch  weit 
über  Versailles  hinausgehende  Fesseln  anzulegen,  als  Konsequenz  der 
allzu  häufig  durch  tönende  Phrasen  getarnten  wahren  britischen  außen- 
politischen Linie.  Das  deutsche  Volk  wird  dafür  sorgen,  daß  dieses 
britische  Programm  diesmal  nicht  in  Erfüllung  geht. 

Berber 


1]  Das  Jahr  1933  15 


Bereits  die  erste  Begegnung  des  Führers  mit  der  britischen  Politik 
fährte  zu  Erfahrungen^  wie  sie  Deutschland  seit  1933  immer  wieder  machen 
mußte.  Die  erste  Auseinandersetzung  des  nationalsozialistischen  Deutsch- 
land mit  Großbritannien  knüpfte  sich  an  die  Abrüstungsfrage,  bei  der  die 
Außenpolitik  des  Führers  nach  Lage  der  Umstände  Anfang  1933  ein- 
setzen mußte.  Durch  die  von  Großbritannien,  Frankreich,  Italien  und 
Deutschland  abgegebene  Erklärung  vom  11,  Dezember  1932  war  Deutsch- 
land grundsätzlich  die  Gleichberechtigung  „in  einem  System,  das  allen 
Nationen  Sicherheit  bieteV,  zugestanden  worden.  Statt  dieses  feierliche 
Versprechen  einzuhalten,  suchten  die  Westmächie  nach  der  Machtergrei- 
fung die  grundsätzlich  zugestandene  Gleichberechtigung  durch  endlose 
Diskussionen  in  Genf  zu  zerreden  und  gegenstandslos  zu  machen.  Am 
16.  März  1933  endlich  legte  der  britische  Ministerpräsident  MacDonald 
einen  neuen  Abrüstungsplan  vor.  Die  Stärke  der  Heeres-,  Flotten-  und 
Luftstreitkräfte,  die  Dauer  der  Dienstzeit  der  Landstreitkräfte  wurden 
festgelegt  und  eine  qualitative  Abrüstung  erwogen.  Die  Bestimmungen 
des  Abschnitts  V  des  Versailler  Vertrages  sollten  durch  diese  Bestim- 
mungen ersetzt  werden.  Der  MacDonald- Plan  bedeutete  zwar  eine  be- 
schränkte Rüstungsangleichung,  stellte  aber  nicht  im  entferntesten  die 
Deutschland  bereits  zugesicherte  Rüstungsgleichheit  mit  den  hochgerüsteten 
Westmächten  her,  die  sich  bislang  stets  ihrem  Abrüstungsversprechen 
entzogen  hatten.  Er  genügte  auch  keinesfalls  den  Erfordernissen  der  deut- 
schen Sicherheit;  wurde  doch  Deutschland  z.  B.  kein  einziges  Flugzeug 
zugestanden.  Obwohl  also  der  MacDonald- Plan  für  Deutschland  alles 
andere  als  befriedigend  war  und  weit  hinter  den  bereits  gegebenen  Ver- 
sprechungen zurückblieb,  hat  sich  der  Führer  gleich  in  seiner  ersten 
programmatischen  Reichstagsrede,  die  er  als  Kanzler  hielt,  positiv  zu 
dieser  englischen  Anregung  geäußert.  Der  Wille  zur  deutsch-englischen 
Zusammenarbeit  steht  also  am  Anfang  der  nationalsozialistischen  Außen- 
politik. 


Aus  der  Reichstagsrede  des  Führers  vom  23.  März  1933 

Das  deutsche  Volk  will  mit  der  Welt  in  Frieden  leben.  Die  Regie- 
rung wird  aber  gerade  deshalb  mit  allen  Mitteln  für  die  endgültige 
Beseitigung  einer  Scheidung  der  Völker  der  Erde  in  zwei  Kategorien 
eintreten.  Die  Begriffe  von  Siegemationen  und  von  Besiegten  können 


^»r^ 


16 


r»eut«''hfflnd  *  Kn)?fnnfl 


nicht  ais  eine  dauernde  Basis  freundschaftlicher  Beziehungen  der 
Völker  untereinander  gelten.  Die  ewige  Offenhaltung  dieser  Wunde 
führt  den  einen  zum  Mißtrauen,  den  anderen  zum  HaO  und  damit 
zu  einer  allgemeinen  Unsicherheit. 

Die  nationale  Regierung  ist  bereit,  jedem  Volke  die  Hand  zu  einer 
aufrichtigen  Verständigung  zu  reichen,  das  gewillt  ist,  die  traurige  Ver- 
gangenheit endlich  einmal  grundsätzlich  abzuschlieOen,  Die  Not  der 
Welt  kann  nur  vergehen,  wenn  innerhalb  der  Völker  und  unterein- 
ander durch  stabile  Verhältnisse  wieder  Vertrauen  geschaffen  wird. 
Denn  folgende  Voraussetzungen  sieht  die  nationale  Regierung  für  die 
Behebung  der  allgemeinen  Wirtschaftskatastrophe  als  notwendig  an: 
erstens  eine  unbedingte  Autorität  der  politischen  Führung  im  Innern 
zur  Herstellung  des  Vertrauens  in  die  Stabilität  der  Verhältnisse; 
zweitens  eine  Sicherstellung  des  Friedens  durch  die  wirklich  großen 
Nationen  auf  lange  Sicht  zur  Wiederherstellung  des  Vertrauens  der 
Völker  untereinander;  drittens  den  endlichen  Sieg  der  Grundsätze  der 
Vernunft  in  der  Organisation  und  Fuhrung  der  Wirtschaft  sowie  eine 
allgemeine  und  internationale  Entlastung  von  Reparationen  und  un- 
möglichen Schuld-  und  Zinsverpflichtungen. 

Leider  stehen  wir  vor  der  Tatsache,  daß  die  Genfer  Konferenz 
trotz  langer  Verhandlungen  bisher  kein  praktisches  Ergebnis  erzii 
hat.  Die  Entscheidung  über  die  Herbeiführung  wirklicher  Abrüstun 
maßnahmen  ist  immer  wieder  durch  das  Aufwerfen  technischer  Einzel 
fragen  und  das  Hereinziehen  von  Problemen,  die  mit  Abrüstung  nichts 
zu  tun  haben,  verzögert  worden.  Dieses  Verfahren  ist  untauglich.  Der 
rechtswidrige  Zustand  einer  einseitigen  Abrüstung  und  der  daraus 
resultierenden  nationalen  Unsicherheit  Deutschlands  kann  nicht  länger 
dauern.  Als  ein  Zeichen  des  Gefühls  der  Verantwortung  und  des  guten 
Willens  erkennen  wir  es  an,  daß  die  britische  Regierung  in  ihren  letzten 
Vorschlägen  in  Genf  den  Versuch  gemacht  hat,  die  Konferenz  endlich 
zu  schnellen  Entscheidungen  zu  bringen.  Die  Reichsregierung  wird 
jede  Bemühung  unterstützen,  die  daraufgerichtet  ist^  einer  allgemeinen 
Abrüstung  wirksam  zu  dienen  und  dabei  den  schon  längst  fälligen 
Anspruch  Deutschlands  auf  Gleichberechtigung  sicherzustellen. 

Allein  seit  vierzehn  Jahren  sind  wir  abgerüstet,  und  seit  vierzehn 
Monaten  warten  wir  auf  ein  Ergebnis  der  Abrüstungsverhandlungen. 

Umfassender  noch  ist  der  Plan  des  Chefs  der  italienischen  Regie- 
rung, der  großzügig  und  weitblickend  versucht,  der  gesamteuropäischen 
Politik  eine  ruhige  und  folgerichtige  Entwicklung  zu  sichern.  Wir 
messen  diesem  Plan  die  ernsteste  Bedeutung  bei.  Wir  sind  bereit,  auf 
dieser  Grundlage  in  voller  Aufrichtigkeit  mitzuarbeiten  an  dem  Ver- 
such, die  vier  Mächte  Deutschland,  Italien,  England  und  PVankreich 
zu  einer  friedlichen  politischen  Zusammenarbeit  zusammenzuschließen, 
die  mutig  und  entschlossen  an  die  Aufgaben  herangelit,  von  denen  das 
Schicksal  Europas  abhängt. 

Aus  diesem  Anlaß  empfinden  wir  besonders  dankbar  die  ver- 
ständnisvolle Herzlichkeit,  mit  der  die  nationale  Erhebung  Deutsch- 
lands in  Italien  begrüßt  worden  ist.  Wir  wünschen  und  hoffen,  daß 


^^    M 


n 


Dfis  Jahr  1933 


17 


Gleichheit  der  geistigen  Ideale  die  Grundlage  für  eine  stetige  Vertie- 
fung der  freundschafthchen  Beziehungen  zmschen  den  beiden  Ländern 
sein  wird. 

Ebenso  legt  die  Reichsregierung,  die  im  Christentum  die  uner- 
schütterlichen Fundamente  des  sittlichen  und  nioralisrhen  Lebens 
unseres  Volkes  sieht,  den  größten  Wert  darauf,  die  freundschaftlichen 
Beziehungen  zum  Heiligen  Stuhle  weiter  zu  pflegen  und  auszugestalten. 

Gegenüber  unserem  Brudervolk  in  Österreich  empfinden  wir  alle 
das  Gefühl  der  innersten  Anteilnahme  an  seinen  Sorgen  und  Nöten. 
Die  Reichsregierung  ist  sich  in  ihrem  Handeln  der  Verbundenheit  des 
Schicksals  aller  deutschen  Stämme  bewußt. 

Die  Einstellung  zu  den  übrigen  einzelnen  fremden  Mächten  ergibt 
sich  aus  dem  bereits  Erwähnten.  Aber  auch  da,  wo  die  gegenwärtigen 
Beziehungen  heute  noch  mit  Schwierigkeiten  belastet  sind,  wollen  wir 
uns  ehrlich  bemühen,  einen  Ausgleich  zu  finden.  Allerdings  kann  die 
Grundlage  einer  Verständigung  niemals  die  Aufrechterhaltung  der 
Unterscheidung  in  Sieger  und  Besiegte  sein. 

Wir  sind  denn  auch  der  Überzeugung,  daß  ein  solcher  Ausgleich 
in  unserem  Verhältnis  zu  Frankreich  möglich  ist,  wenn  die  Regierungen 
die  sie  betreffenden  Probleme  beiderseits  wirklich  weitschauend  in 
Angriff  nehmen. 

Gegenüber  der  Sowjetunion  ist  die  Reichsregierung  gewillt,  freund- 
schaftliche,  für  beide  Teile  nutzbringende  Beziehungen  zu  pflegen. 
Gerade  die  Regierung  der  nationalen  Revolution  sieht  sich  zu  einer 
solchen  positiven  Politik  gegenüber  Sowjetrußland  in  der  Lage.  Der 
Kampf  gegen  den  Kommunismus  in  Deutschland  ist  unsere  innere 
Angelegenheit,  in  den  wir  Einmischungen  von  außen  niemals  dulden 
werden. 

Die  stadtspolitischen  Beziehungen  zu  anderen  Mächten,  mit  denen 
uns  gemeinsame  Interessen  verbinden,  werden  davon  nicht  berührt. 

Das  Verhältnis  zu  den  übrigen  Ländern  verdient  auch  in  der  Zu- 
kunft unsere  ernsteste  Aufmerksamkeit,  insbesondere  zu  den  großen 
überseeischen  Staaten,  mit  denen  Deutschland  seit  langem  durch 
Freundschaft  und  wichtigste  wirtschaftliche  Interessen  verbunden  ist. 

Das  Schicksal  der  Deutschen  außerhalb  der  Grenzen  des  Reiches, 
die  als  besondere  Volksgruppen  innerhalb  fremder  Völker  um  die 
Wahrung  ihrer  Sprache,  Kultur,  Sitte  und  Religion  kämpfen,  wird 
uns  stets  bewegen,  mit  allen  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  für  die  den 
deutschen  Minderheiten  garantierten  internationalen  Rechte  einzu- 
treten. 

(Verhandlungen  des  Beichdiagcs,  Bd.  457,  S.  30f.) 


Dieses  Zeichen  des  Gefühls  der  Veraniwortung  und  des  guten  Willens 
Deutschlands  war  über  die  Sache  hinaus  ein  deuUicher  Wink  an  die  eng- 
lische Adresse,  Er  begegnete  hier  zunächst  keiner  Bereitschaft  zur  Ver- 
ständigung mit  dem  neuen  Deutschland.  Die  Machtübernahme  durch  den 
Nationalsozialismus  hatte  in  England  Panik,  Feindseligkeit y  Kreuzzugs- 
Blimmung   und  die  Geneigtheit  ausgelöst,   sich  schulmeisterlich   in  die 

DtutacMand-England  2  ' 


18  Deutschland  -  England  [2 

inneren  deuischen  Verhältnisse  einzumischen.  Dadurch  ist  die  erste  Etappe 
charakterisiert. 

Widersinnige  Putschgerüchie  und  Gerede  von  Kriegsgefahr  veran- 
laßten  bereits  am  2.  März  1933  die  erste  der  nun  in  langer  Reihe  folgenden 
Deutschland-Debatten  im  Unterhaus.  Der  deutschen  Botschaft  in  London 
gingen  Hunderte  von  Protestresolutionen  gegen  angebliche  Vorkommnisse 
in  Deutschland  zu.  Jüdische  Firmen  in  England  drohten  mit  dem  Boykott 
deutscher  Waren.  Die  Presse  tat  das  ihre  zur  Förderung  dieser  feindseligen 
Stimmung.  Fast  alle  englischen  Korrespondenten  in  Deutschland  waren 
ohne  jedes  Verständnis  für  den  Umbruch.  Sie  hatten  vor  1933  nur  mit 
der  Linken  verkehrt.  Neue  unvoreingenommene  Männer  wären  erforderlich 
gewesen.  Am  30.  März  1933  beschäftigten  sich  Unter-  und  Oberhaus  zum 
erstenmal  in  anklägerischem  Tone  mit  der  Lage  der  Juden  in  Deutsch- 
land. Hier  haben  diese  Debatten  über  interne  deutsche  Angelegenheiten 
natürlicherweise  ernstliche  Verstimmungen  ausgelöst.  In  einer  leidenschaft- 
lichen antideutschen  Aussprache  im  Unterhaus  am  13.  April,  gegen  die 
deutscherseits  amtlich  Beschwerde  erhoben  wurde,  hielt  Winston  Churchill 
eine  Rede,  in  der  er  die  Gerechtigkeit  des  Versailler.  Vertrages  verleidigle. 
Er  erklärte  sich  gegen  die  deutsche  Gleichberechtigung  in  der  Rüstung  und 
malte  das  Schreckgespenst  eines  nahen  Krieges  an  die  Wand.  Auch  der 
Premierminister  MacDonald  sprach  sich  am  16.  Mai  unfreundlich  gegen 
Deutschland  aus. 

Der  Fährer  ließ  sich  durch  diese  Verdächtigungen  nicht  irre  machen. 
Er  ging  zielbewußt  seinen  Weg,  Deutschland  die  Gleichberechtigung  zu 
gewinnen,  weiter.  In  seiner  Reichstagsrede  vom  17.  Mai  brachte  er 
die  Kriegsgerüchte  zum  Schweigen  und  gab  einen  unmißverständlichen 
Beweis  seines  Friedenswillens.  Er  legte  die  Berechtigung  der  deutschen 
Forderungen  dar,  bekannte  sich  erneut  zum  Gedanken  der  Abrüstung  auf 
der  Grundlage  des  MacDonald-Plans  und  zeigte  Wege  zu  ihrer  praktischen 
Verwirklichung. 


2.  Aas  der  Reichstagsrede  des  Führers  vom  17.  Mai  1933 

Deutschland  wäre  auch  ohne  weiteres  bereit,  seine  gesamte  militä- 
rische Einrichtung  überhaupt  aufzulösen  und  den  kleinen  Rest  der  ihm 
verbliebenen  Waffen  zu  zerstören,  wenn  die  anliegenden  Nationen 
ebenso  restlos  das  gleiche  tun.  Wenn  aber  die  anderen  Staaten  nicht 
gewillt  sind,  die  im  Friedensvertrag  von  Versailles  auch  sie  verpflich- 
tende Abrüstung  durchzuführen,  dann  muß  Deutschland  zumindest 
auf  der  Forderung  seiner  Gleichberechtigung  bestehen. 

Die  deutsche  Regierung  sieht  in  dem  englischen  Plan  eine  mögliche 
Grundlage  für  die  Lösung  dieser  Frage.  Sie  muß  aber  verlangen,  daß 
ihr  nicht  die  Zerstörung  einer  vorhandenen  Wehreinrichtung  auf* 
gezwungen  wird  ohne  die  Zubilligung  einer  zumindest  qualitativen 
Gleichberechtigung.  Sie  muß  weiter  fordern,  daß  eine  Umwandlung 
der  heutigen  von  Deutschland  nicht  gewünschten,  sondern  uns  einst 
vom  Auslande  auferlegten  Heereseinrichtung  Zug  um  Zug  erfolgt,  im 


2] Das  Jahr  1933 19 

Maße  der  tatsächlichen  Abrüstung  der  anderen  Staaten.  Dabei  erklärt 
sich  Deutschland  im  wesentlichen  damit  einverstanden,  eine  Über- 
gangsperiode von  fünf  Jahren  für  die  HersteHung  seiner  nationalen 
Sicherheit  anzunehmen,  in  der  Erwartung,  daß  nach  dieser  Zeit 
die  wirkliche  Gleichstellung  Deutschlands  mit  den  anderen  Staaten 
erfolgt. 

Deutschland  ist  femer  ohne  weiteres  bereit,  auf  die  Zuteilung  von 
Angriffswaffen  dann  überhaupt  Verzicht  zu  leisten,  wenn  innerhalb 
eines  bestimmten  Zeitraumes  die  Rüstungsnationen  ihrerseits  diese 
Angriffswaffen  ebenfalls  vernichten  und  durch  eine  internationale 
Konvention  die  weitere  Anwendung  verboten  wird. 

Deutschland  hat  nur  den  einzigen  Wunsch,  seine  Unabhängigkeit 
bewahren  und  seine  Grenzen  schützen  zu  können.  Nach  dem  Ausspruch 
des  französischen  Kriegsministers  im  Februar  1932  werden  die  zum 
großen  Teil  farbigen  Überseestreitkräfte  sofort  in  Frankreich  selbst 
verwendet.  Er  rechnet  sie  deshalb  ausdrücklich  zu  den  Heimatstreit- 
kräften. Es  entspricht  daher  nur  der  Gerechtigkeit,  diese  Streitkräfte 
bei  der  Lösung  dieser  Frage  zu  berücksichtigen.  Es  widerspricht  der 
Gerechtigkeit,  militärisch  völlig  ausgebildete  Reservisten  während  ihres 
Urlaubs  nicht  in  Anrechnung  zu  bringen,  aber  Polizeikräfte,  die  nur 
für  Polizeizwecke  bewaffnet  und  ausgebildet  sind,  für  Deutschland  der 
Heeresstärke  zuzuzählen.  Gänzlich  aber  unmöglich  ist  es,  Verbände, 
die  allein  politischen  oder  volkserzieherischen  oder  sportlichen  Zwecken 
dienen,  überhaupt  keine  militärische  Ausbildung  genießen  und  keine 
militärische  Ausrüstung  besitzen,  in  Deutschland  auf  die  Heeresstärke 
anzurechnen,  in  anderen  Ländern  aber  überhaupt  nicht  zu  sehen! 

Demgegenüber  würde  sich  Deutschland  jederzeit  bereit  erklären, 
im  Falle  einer  gegenseitigen  internationalen  Kontrolle  der  Rüstungen 
bei  gleicher  Bereitwilligkeit  der  anderen  Staaten  die  angeführten  Ver- 
bände dieser  Kontrolle  mit  zu  unterstellen,  um  ihren  vollständig  un- 
militärischen Charakter  eindeutig  vor  aller  Welt  zu  beweisen.  Dabei 
wird  die  deutsche  Regierung  kein  Waffenverbot  als  zu  einschneidend 
ablehnen,  wenn  es  auf  alle  Mächte  Anwendung  findet.  Soweit  indes 
Waffen  anderen  Mächten  gestattet  bleiben,  können  die  Waffen  der 
Verteidigung  Deutschland  allein  nicht  für  alle  Zukunft  verboten  wer- 
den. Wir  sind  dabei  bereit,  von  dieser  unserer  Gleichberechtigung  nur 
in  einem  durch  Verhandlungen  festzustellenden  Umfange  Gebrauch 
zu  machen. 

Alle  diese  Forderungen  beinhalten  nicht  eine  Aufrüstung,  sondern 
ausschließlich  nur  ein  Verlangen  nach  Abrüstung  der  anderen  Staaten. 

Ich  begrüße  dabei  noch  einmal  namens  der  deutschen  Regierung 
den  weitausschauenden  und  richtigen  Plan  des  italienischen  Staats- 
chefs, durch  einen  besonderen  Pakt  ein  engeres  Vertrauens-  und  Ar- 
beitsverhältnis der  vier  europäischen  Großmächte:  England,  Frank- 
reich, Italien  und  Deutschland,  herzustellen.  Der  Auffassung  Musso- 
linis, daß  damit  die  Brücke  zu  einer  leichteren  dauernden  Verständigung 
ffeschlagen  werden  könnte,  stimmt  die  deutsche  Regierung  aus  innerster 
Überzeugung  zu.  Sie  wird  das  äußerste  Entgegenkommen  zeigen,  so- 


20  Deutschland  -  England  [2 

fern  auch  die  anderen  Nationen  zu  einer  wirklichen  Überwindung  etwa 
entgegenstehender  Schwierigkeiten  geneigt  sind. 

Der  Vorschlag  des  amerikanischen  Präsidenten  Roosevelt,  von 
dem  ich  heute  nacht  Kenntnis  erhielt,  verpflichtet  desgleichen  die 
deutsche  Regierung  zu  warmem  Danke.  Sie  ist  bereit,  dieser  Methode 
zur  Behebung  der  internationalen  Krise  zuzustimmen,  denn  auch  sie 
ist  der  Auffassung,  daß  ohne  die  Lösung  der  Abrüstungsfrage  auf  die 
Dauer  kein  wirtschaftlicher  Wiederaufbau  denkbar  ist.  Sie  ist  bereit, 
sich  an  diesem  Werk  der  Inordnungbringung  der  politischen  und  wirt- 
schaftlichen Verhältnisse  der  Welt  uneigennützig  zu  beteiligen.  Sie  ist, 
wie  ich  schon  eingangs  betonte,  ebenso  überzeugt,  daß  es  heute  nur 
eine  große  Aufgabe  geben  kann,  den  Frieden  der  Welt  zu  sichern. 

Sie  erkennt  auch  ohne  weiteres  an  die  Richtigkeit  der  für  die 
heutigen  Rüstungen  unter  anderem  verantwortlichen  Gründe.  Allein 
ich  fühle  mich  doch  verpflichtet,  festzustellen,  daß  der  Grund  für  die 
heutigen  Rüstungen  Frankreichs  oder  Polens  unter  keinen  Umständen 
die  Furcht  dieser  Nationen  vor  einer  deutschen  Invasion  sein  kann; 
denn  diese  Furcht  hätte  ihre  Berechtigung  ja  nur  im  Vorhandensein 
jener  modernen  Angriffswaffen  auf  der  anderen  Seite,  die  erheblich 
stärker  sind  als  die  Mittel  der  modernen  Verteidigung.  Gerade  diese 
modernen  Angriffswaffen  aber  besitzt  ja  Deutschland  überhaupt  nicht 
—  weder  schwere  Artillerie  noch  Tanks,  noch  Bombenflugzeuge,  noch 
Giftgase!  Die  einzige  Nation,  die  mit  Recht  unter  der  Furcht  vor  einer 
Invasion  leiden  könnte,  ist  die  deutsche,  der  man  nicht  nur  die  An- 
griffswaffen verbot,  sondern  sogar  das  Recht  auf  Verteidigungs- 
waffen beschnitt,  ja  selbst  die  Anlage  von  Grenzbefestigungen  unter- 
sagte. 

Deutschland  ist  nun  jederzeit  bereit,  auf  Angriffswaffen  zu  ver- 
zichten, wenn  auch  die  übrige  Welt  ihrer  entsagt.  Deutschland  ist 
bereit,  jedem  feierlichen  Nichtangriffspakt  beizutreten ;  denn  Deutsch- 
land denkt  nicht  an  einen  Angriff,  sondern  an  seine  Sicherheit! 

Deutschland  würde  in  der  Verwirklichung  des  großherzigen  Vor- 
schlages des  amerikanischen  Präsidenten,  die  mächtigen  Vereinigten 
Staaten  als  Friedensgaranten  in  Europa  einzuschieben,  eine  große  Be- 
ruhigung für  alle  die  erblicken,  die  sich  aufrichtig  zum  Frieden  be- 
kennen. 

Wir  haben  aber  keinen  sehnlicheren  Wunsch  als  den,  beizutragen, 
daß  die  Wunden  des  Krieges  und  des  Versailler  Vertrages  endgültig 
geheilt  werden,  und  Deutschland  will  dabei  keinen  anderen  Weg  gehen 
als  den,  der  durch  die  Verträge  selbst  als  berechtigt  anerkannt  wird. 
Die  deutsche  Regierung  wünscht,  sich  über  alle  schwierigen  Fragen 
politischer  und  wirtschaftlicher  Natur  mit  den  anderen  Nationen  fried- 
lich und  vertraglich  auseinanderzusetzen.  Sie  weiß,  daß  jeder  militä- 
rische Akt  in  Europa  auch  im  Falle  seines  vollständigen  Gelingens, 
gemessen  an  seinen  Opfern,  in  keinem  Verhältnis  steht  zum  möglichen 
endgültigen  Gewinn. 

Die  deutsche  Regierung  und  das  deutsche  Volk  werden  sich  aber 
unter  keinen  Umständen  zu  irgendeiner  Unterschrift  nötigen  lassen. 


-^m 


Das  Jahr  1933 


21 


die  eine  Verewigung  der  Disqualifizierung  Deutschlands  bedeuten 
würde. 

Der  Versuch,  dabei  durch  Drohungen  auf  Regierung  und  Volk 
einzuwirken,  wird  keinen  Eindruck  zu  machen  vermögen. 

Es  ist  denkbar,  daß  man  Deutschland  gegen  jedes  Recht  und 
gegen  jede  Moral  vergewaltigt;  aber  es  ist  undenkbar  und  ausge- 
schlossen, daß  ein  solcher  Akt  von  uns  selbst  durch  eine  Unterschrift 
Rechtsgültigkeit  erhalten  könnte. 

( Verhandlungen  des  Beichstags,  Bd.  457,  S.  52f.) 

Die  Hede  vom  27.  Mal  J933  hat  die  inier  nationale  Lage  erheblich 
tnhpannl.  Der  Hauplausschuß  der  Abrüstungskonferenz,  die  bereits  sech- 
zehn Monate  tagte,  nahm  seine  zeilweilig  unterbrochenen  Beratungen 
wieder  auf.  Aber  nur  langsam  und  schleppend  wurde  die  erste  Lesung 
des  englischen  Planes  beendet.  Die  Sicherheitsfrage  (europäische  Gewalt- 
verzichlserklärung  und  europäischer  Hilfeleistungspnki)  schob  sich  wieder 
dazvnschen.  In  den  Unterausschüssen  führte  der  Widerstand  Frankreichs 
und  seiner  Verbündeten  zu  langwierigen  und  scharfen  Auseinander- 
Setzungen,  Englands  Hallung  war  zwiespältig.  Seine  Vertreter  haben  sich 
ohne  Nachdruck  für  den  Plan  ihres  Premiers  eingesetzt.  Es  beginnt  bereits 
die  Linie,  die  dann  zu  seiner  Preisgabe  durch  die  englische  Regierang 
führen  sollte.  Stall  sofort  die  zweite  entscheidende  Lesung  folgen  zu 
lassen^  hat  sich  der  Hauplausschuß  am  29.  Juni  bis  zum  16,  Okiober 
vertagt,  angeblich  um  die  festgefahrene  Konferenz  durch  direkte  Ver- 
handlungen zwischen  den  Begierungen  wieder  flottzumachen.  Der  deutsche 
Vertreter  hatte  sich  der  Vertagung  verständlicherweise  widersetzt.  Der 
französische  Vertreter  hatte  sich  bereits  für  die  Durchführung  der  zu 
beschließenden  Abrüstungsmaßnahmen  eine  ^.notwendige  Probezeit'  vor- 
behalten.  Davon  war  im  MacDonald-Plan  nichts  enthalten  gewesen, 
Frankreich  wollte  ihn  zu  seinen  Gunsten  umgestalten,  wollte  Deutschland 
erneut  einer  diskriminierenden  Sonderkontrolle  unterwerfen  und  dadurch 
Deutschlands  Gleichberechtigung  hintertreiben.  Die  Verhandlungspause 
gab  Frankreich  den  Spielraum  dazu.  Ebenso  halle  Frankreich  damals  den 
üon  Mussolini  vorgeschlagenen  Vierer pakl  entwertet,  England  hat  das 
alles  schließlich  hingenommen  und  mitgemachi. 

Die  allgemeine  Stimmung  des  Mißtrauens  und  der  Feindseligkeil 
hatte  sich  in  England  seil  Beginn  des  Jahres  kaum  gewandelt,  ja  war  eher 
noch  gewachsen.  Am  26,  Mai  halle  der  Außenminister  Simon  wieder 
mit  Hinblick  auf  das  Reich  von  der  Krankheit  der  Mächlebeziehungen 
orakelt.  Die  Lage  in  Europa  müsse  sich  bessern^  Zusammenarbeit  an  die 
Stelle  des  Argwohns  treten.  Am  5.  Juli  verbreitete  er  sich  im  Unter- 
haus über  die  deutsche  Innenpolitik,  Deutscherseits  wurde  dazu  amtlich 
durch  W,T,B,  energisch  Stellung  genommen.  England  glaubte  sich  be- 
rechtigt, hiergegen  durch  seinen  Geschäftsträger  in  Berlin  offiziell  Prolet 
zu  erheben.  Im  Auswärtigen  Amt  wurde  dieser  aber  als  unbegründet  ah- 
gelehnl.  Der  Vorfall  ist  symptomatisch  für  die  damaligen  Beziehungen, 


22 


Deutschland  <  England 


13 


AufzeichDUDg  des  Leiters  der  England- Abteilung  im  Auswärtigen 
Amt,  Ministerialdirektor  Dieckhoff,  vom  10>  Juli  1933 


Der  engliBche  Geschäftsträger  suchte  mich  heute  auf  und  teilte 
mit,  er  sei  von  Sir  John  Simon  beauftragt,  dem  Herrn  Reichsmioister 

eine  Mitteilung  zu  überbringen,  deren  Wortlaut  er  mir  vorlas. 

Ich  habe  Mr.  Newton  geantwortet,  daß  ich  selbstverständlich  die 
message  von  Sir  John  Simon  dem  Herrn  Reichsminister  unterbreiten 
würde,  ich  glaubte,  ihm  aber  schon  jetzt  die  Antwort  des  Herrn 
Reichsministers  mitteilen  zu  können,  da  der  Herr  Reichsminister, 
dem  die  bevorstehende  Beschwerde  bereits  am  Freitag  von  unserer 
Botschaft  in  London  angekündigt  worden  sei,  mich  noch  vor  seiner 
Abreise  mit  Weisung  versehen  habe.  Unser  Standpunkt  sei  folgender: 
So  sehr  wir  verstünden,  daß  bei  einer  Debatte  über  den  auswärtigen 
Etat  im  Unterhaus  auch  deutsche  Fragen  diskutiert  würden,  so  nähmen 
wir  doch  an  der  Art  und  Weise,  wie  dies  in  der  Sitzung  vom  5*  Juli 
durch  die  meisten  Abgeordneten  geschehen  sei,  Anstoß  und  erblickten 
hierin  eine  Einmischung  in  innerdeutsche  Angelegenheiten.  Sir  John 
Simon  habe  sich  in  seiner  die  Debatte  zusammenfassenden  Rede 
(deren  wörtliche  Vorlesung  ich  Herrn  Newton  nicht  ersparte)  mit  dem 
Inhalt  der  Reden  der  Abgeordneten  identifiziert,  und  wir  müßten 
daher  auch  in  seiner  Rede  eine  Einmischung  in  unsere  internen  Dinge 
erblicken.  Trotzdem  hätten  wir  in  dem  Bestreben,  die  durch  die  immer 
wieder,  übrigens  ganz  einseitig  aus  England  nach  Deutschland  herüber« 
klingenden  unfreundlichen  Töne  verschlechterten  deutsch-englischen 
Beziehungen  nicht  noch  mehr  verschlechtern  zu  lassen,  die  deutsche 
Presse  gebeten,  in  ihren  Kommentaren  zur  Debatte  und  zur  Rede  von 
Sir  John  Simon  möglichst  zurückhaltend  zu  sein.  So  sei  die  Anmerkung 
des  W.T.B.  entstanden,  die,  wie  Mr.  Newton  sicher  zugeben  werde, 
in  durchaus  ruhigem  Tone  abgefaßt  sei  und  nichts  enthalte  was  ,,in- 
flammatory**  wirken  könnte. 

Was  den  Passus  über  die  lialb  verhungerten  Menschen  anlange, , 
80  sei  in  dem  Kommentar  des  WT.B,  nicht  behauptet^  daß  Sir  John 
Simon  diese  Bemerkung  getan  habe;  Sir  John  Simon  habe  aber,  als 
Herr  Lansbury  die  Anfrage  wegen  der  hungernden  Frauen  und  Kinder 
in  Deutschland  (vgl.  S.  349  des  Hansard)  an  ihn  richtete  und  im  späteren 
Verlauf  der  Debatte  in  einer  zweiten  Ansprache  von  den  \äelen  Menschen 
sprach,  die  in  Deutschland  halb  verhungert  leben  (vgl.  S.  453  des 
Hansard),  die  Anfrage  nicht  abgelehnt,  sondern  habe  sich  durch  die 
Wendung  ,,I  appreciate  the  importance  of  the  Suggestion'*  gewisser- 
maßen mit  ihr  indcntifiziert. 

Das  von  beiden  Seiten  in  freundschaftlichem  Ton  geführte  Ge- 
spräch endete  damit,  daß  ich  Mr.  Newton  sagte,  hier  würde  es  —  wie 
schon  mehrfach  besprochen  —  sehr  begrüßt  werden,  wenn  nicht  nur 
die  Parlamentsdebatten,  sondern  auch  die  sich  immer  wiederholenden 
Protestversammlungen,  die  vielen  kritischen  Reden  und  Zeitungs- 
artikel über  die  inneren  deutschen  Dinge  in  England  allroähhch  auf- 


3] Das  Jahr  1933 23 

hörten  und  wenn  die  englische  Öffentlichkeit  sich  diesen  Fragen  gegen- 
über dieselbe  Reserve  auferlegen  würde,  die  sie  z.  B.  bei  den  Vorgängen 
in  den  Vereinigten  Staaten,  auch  wenn  sie'  ihnen  innerlich  noch  so 
kritisch  gegenübersteht,  zu  beobachten  pflege.  Gerade  die  englische 
öffentliche  Meinung  verstehe  es,  in  solchen  Fragen  eine  bemerkens- 
werte Disziplin  zu  üben,  wenn  sie  nur  wolle. 

Zum  Schluß  sagte  ich  Herrn  Newton,  daß  von  uns  aus  über  seine 
Demarche  nichts  veröffentlicht  werden  würde.  Sollte  sich  aber  die 
Presse  oder  das  Unterhaus  mit  diesem  Protestschritt  beschäftigen, 
so  würden  wir  gezwungen  sein,  zu  erklären,  daß  wir  den  Protest  als 
unbegründet  abgelehnt  hätten. 

(Aus  den  Akten  des  Auswärtigen  Amtes.)  Dieckhoff 

Nach  der  Vertagung  der  Abräslungskonferenz  trat  deren  Präsidium 
zum  erstenmal  am  9.  Oktober  wieder  zusammen.  Inzwischen  hauen  sich 
die  beiden  Westmächte  auf  eine  neue  Verhandlungsgrundlage  geeinigt, 
die  einer  Sabotage  des  MacDonald- Plans  gleichkam.  Während  des  Som- 
mers war  von  Paris  und  London  gegen  das  nationalsozialistische  Deutsch- 
land ein  heftiger  Pressefeldzug  geführt  worden.  Die  These  von  dem  Unruhe- 
stifter und  Friedensstörer  Deutschland  gab  den  Westmächten  den  Vor- 
wand, jede  unmittelbare  Abrüstungsmaßnahme  zu  verweigern.  Durch  vier- 
jährige Rüstungskontrolle,  die  formell  als  „allgemein''  bezeichnet  wurde, 
praktisch  jedoch  als  einseitige  Kontrolle  Deutschlands  verstanden  war, 
sollte  das  nötige  Vertrauen  hergestellt  und  erst  nach  dieser  Bewährungsfrist 
mit  der  tatsächlichen  Abrüstung  der  hochgerüsteten  Staaten  begonnen 
werden.  Das  war  für  Deutschland  unannehmbar.  Der  Reichsminister  des 
Auswärtigen,  Freiherr  von  Neurath,  brachte  in  einer  Rede  vom  15.  und  in 
einem  Interview  vom  21.  September  1933  den  deutschen  Standpunkt  klar 
zum  Ausdruck.  Auf  der  Völkerbundversammlung,  die  am  25.  September 
begann,  äußerte  sich  die  wachsende  Deutschfeindlichkeit.  Am  6.  Oktober 
notifizierte  die  Reichsregierung  der  englischen  und  italienischen  Regierung 
noch  einmal,  daß  sie  am  MacDonald-Plan  festhalte  und  bereit  sei,  die 
Reichswehr  in  ein  kurzdienendes  200  000-Mann-Heer  umzuwandeln 
Aber  England  hatte  seine  Schwenkung  zum  französischen  Standpunkt 
bereits  vollzogen.  Am  14.  Oktober  ersetzte  der  englische  Außenminister 
Simon  den  alten  Plan  durch  einen  eigenen  neuen.  Wieder  verwies  er  auf 
die  „gegenwärtige  ungeklärte  Lage  Europas''  und  auf  „das  neuerdings  so 
heftig  erschütterte  Vertrauen" .  Außerdem  eignete  ersieh  den  französischen 
Vorschlag  an.  Deutschland  wurde  die  Gleichberechtigung  verweigert.  Es 
sollte  einer  neuen  demütigenden  Kontrolle  unterworfen  und  die  Abrüstung 
sollte  um  vier  Jahre  vertagt  werden.  England  trifft  somit  die  historische 
Schuld,  die  Abrüstung  zunichte  gemacht  zu  haben.  Durch  Englands 
Schachzug  wurde  den  Verhandlungen  zwischen  dem  abgerüsteten  Deutsch- 
land und  seinen  hochgerüsteten  Weltkriegsgegnern  jede  tragfähige  Grund- 
lage entzogen.  Mochte  die  britische  Regierung  dann  auch  noch  mehrere 
Monate  lang  sich  den  Anschein  geben,  als  sei  ihr  ehrlich  an  Ab- 
rüstungsverhandlungen gelegen,  so  hatte  sie  durch  diese  Preisgabe  des 
MacDonald-Planes  offen  dokumentiert,  daß  sie  im  Grunde  eine  Ab- 


24  Deutschland  -  England  [4 

räsiung  nicht  wollte.  Daraufhin  schied  Deutschland  aus  der  Abrüstungs- 
konferenz aus  und  kundigte  seine  Mitgliedschaft  beim  Völkerbund,  Die 
Reichsregierung  wandle  sich  mit  einem  Aufruf  an  das  deutsche  Volk  und 
legte  ihm  die  Gründe  dar. 


^'  Aafruf  der  Reichsregierung  vom  14.  Oktober  1933 

zum  Austritt  Deutschlands  aus  dem  Völkerbund 

Die  Deutsche  Reichsregierung  und  das  deutsche  Volk  sind  sich 
einig  in  dem  Willen,  eine  Politik  des  Friedens,  der  Versöhnung  und 
Verständigung  zu  betreiben  als  Grundlage  aller  Entschlüsse  und  jeden 
Handelns. 

Die  Deutsche  Reichsregierung  und  das  deutsche  Volk  lehnen  daher 
die  Gewalt  als  ein  untaugliches  Mittel  zur  Behebung  bestehender  Diffe- 
renzen innerhalb  der  europäischen  Staatengemeinschaft  ab. 

Die  Deutsche  Reichsregierung  und  das  deutsche  Volk  erneuern 
das  Bekenntnis,  jeder  tatsächlichen  Abrüstung  der  Welt  freudig  zu- 
zustimmen mit  der  Versicherung  der  Bereitwilligkeit,  auch  das  letzte 
deutsche  Maschinengewehr  zu  zerstören  und  den  letzten  Mann  aus 
dem  Heere  zu  entlassen,  insofern  sich  die  anderen  Völker  zum  gleichen 
entschließen. 

Die  Deutsche  Reichsregierung  und  das  deutsche  Volk  verbinden 
sich  in  dem  aufrichtigen  Wunsch,  mit  den  anderen  Nationen  einschließ- 
lich aller  unserer  früheren  Gegner  im  Sinne  der  Überwindung  der 
Kriegspsychose  und  zur  endlichen  Wiederherstellung  eines  aufrich- 
tigen Verhältnisses  untereinander  alle  vorliegenden  Fragen  leiden- 
schaftslos auf  dem  Wege  von  Verhandlungen  prüfen  und  lösen  zu 
wollen. 

Die  Deutsche  Reichsregierung  und  das  deutsche  Volk  erklären 
sich  daher  auch  jederzeit  bereit,  durch  den  Abschluß  kontinentaler 
Nichtangriffspakte  auf  längste  Sicht  den  Frieden  Europas  sicher- 
zustellen, seiner  wirtschaftlichen  Wohlfahrt  zu  dienen  und  am  all- 
gemeinen kulturellen  Neuaufbau  teilzunehmen. 

Die  Deutsche  Reichsregierung  und  das  deutsche  Volk  sind  erfüllt 
von  der  gleichen  Ehrauffassung,  daß  die  Zubilligung  der  Gleichberech- 
tigung Deutschlands  die  unumgängliche  moralische  und  sachliche  Vor- 
aussetzung für  jede  Teilnahme  unseres  Volkes  und  seiner  Regierung 
an  internationalen  Einrichtungen  und  Verträgen  ist. 

Die  Deutsche  Reichsregierung  und  das  deutsche  Volk  sind  daher 
eins  in  dem  Beschlüsse,  die  Abrüstungskonferenz  zu  verlassen  und  aus 
dem  Völkerbund  auszuscheiden,  bis  diese  wirkliche  Gleichberechtigung 
unserem  Volke  nicht  mehr  vorenthalten  wird. 

Die  Deutsche  Reichsregicrung  und  das  deutsche  Volk  sind  ent- 
schlossen, lieber  jede  Not,  jede  Verfolgung  und  jegliche  Drangsal  auf 
sich  zu  nehmen,  als  künftighin  Verträge  zu  unterzeichnen,  die  für  jeden 
Ehrenmann  und  für  jedes  ehrliebende  Volk  unannehmbar  sein  müssen. 


S] 


Das  Jahr  1933 


25 


in  ihren  Folgen  aber  nur  zu  einer  Verewigung  der  Not  und  des  Elends 
des  Versailler  Vertragszuslandes  und  damit  zum  Zusammenbruch  der 
zivilisierten  Staatengemeinschaft  führen  würden.  Die  Deutsche  Reichs- 
regierung und  das  deutsche  Volk  haben  nicht  den  Willen,  an  irgend- 
einem Rüstungswettlauf  anderer  Nationen  teilzunehmen;  sie  fordern 
nur  jenes  Maß  an  Sicherheit,  das  der  Nation  die  Ruhe  und  Freiheit 
der  friedlichen  Arbeit  garantiert.  Die  Deutsche  Reichsregierung  und 
das  deutsche  Volk  sind  gewillt,  diese  berechtigten  Forderungen  der 
deutschen  Nation  auf  dem  Wege  von  Verhandlungen  und  durch  Ver- 
träge sicherzustellen. 

(WTB,  vom  14.  Oktober  1933.) 

Der  deulsche  Schrili  vom  14.  Oktober  1933  rief  in  der  inier nalionalen 
Presse  einen  Siurm  der  Entrüslung  hervor:  Dealschland,  nicht,  wie  e^ 
in  Wahrheit  der  Fall  war^  England,  habe  die  Abrüstungskonferenz^  jadie 
ganze  Abrüstung  sabotiert,  um  ungehindert  auf  rüsten  zu  können  und  um 
sich  zu  einem  neuen  Kriege  vorzubereiten.  Dem  sind  der  Führer  selbst 
und  rieichsaußenminisler  von  Neuraih  noch  mehrfach  im  Wahlkampf 
zur  Volksabstimmung  und  Beichslagswahl  vom  November  1933  entgegen- 
getreten: Deutschland  kämpfe  nicht  um  Eroberungen ^  sondern  um  sein 
Lebensrecht,  um  Sicherheit  und  Gleichberechtigung, 

Wie  stellte  sich  England  zur  neuen  Lage?  Außenminister  Simon 
erläuterte  am  17.  Oktober  in  einer  Rundfunkansprache  und  am  7,  No- 
vember während  der  außenpolitischen  Debatte  des  Unterhauses  den 
Standpunkt  der  Regierung.  Er  zeigte  dabei  ein  gewisses  formelles  Ent- 
gegenkommen und  eine  Distanzierung  von  Frankreich.  yyWUr  Engländer 
verstehen  Deutschlands  Gefühle  gut,''  Dennoch  blieb  Deutschland  für 
England  der  einzige  Schuldige. 


Aus  der  Unterhausrede  des  britischen  Außenministers  Sir  John  Simon 
vom  7.  November  1933 

Warum  verstimmten  Deutschland  diese  Vorgänge?  Wir  müssen 
uns  in  die  deutschen  Gefühle  hineindenken,  was  immer  sie  auch  getan 
haben.  Wir  müssen  begreifen,  warum  Deutschland  diese  Erbitterung 
zur  Schau  getragen  hat.  Dieser  ganze  Zeitaufwand,  der  zu  keinem  Er- 
gebnis führte,  war  nicht  nur  schmerzlich,  sondern  er  muBte  auch 
Deutschland  immer  ungeduldiger  machen.  Wir  alle  besitzen  genügend 
gesunden  Menschenverstand  und  Einsicht  dafür,  daß  man  sich  nicht 
darüber  zu  wundern  braucht .  .  . 


Heute  handelt  es  sich  nur  noch  um  die  politische  Frag^,  wir 
Deutschlands  Forderung  nach  Gleichberechtigung  und  Frankreichs 
Wunsch  nach  Sicherheit  miteinander  in  Einklang  gebracht  werden 
können.  Dies  ist  ein  schwieriges  Problem.  Auf  der  einen  Seite  steht 
die  Erinnerung  an  eine  frühere  Invasion  und  die  daraus  entstandene 


26  Deutschland  -  England  [6 

Furcht,  auf  der  anderen  Seite  die  Erinnerung  an  die  Niederlage  und 
die  Erbitterung  über  die  dadurch  erlittene  Demütigung.  Keines  dieser 
beiden  Gefühle  kann  unnatürlich  genannt  werden.  Deshalb  ist  die 
Politik  Großbritanniens  darauf  gerichtet  gewesen,  keines  der  beiden 
Argumente  zu  leugnen  oder  zu  verkleinern,  sondern  sich  um  eine 
Versöhnung  zwischen  ihnen  zu  bemühen  . . . 

So  bedauerlich  auch  Deutschlands  jüngster  Schritt  ist  und  so 
ungerechtfertigt  er  auch  erscheint,  ist  dies  doch  kein  Grund  dafür, 
die  Tür,  die  Deutschland  ins  Schloß  geworfen  hat,  als  abgeriegelt  und 
versperrt  zu  betrachten. 

Großbritannien  wird  jede  vorhandene  Möglichkeit  benützen,  um 
mit  Deutschland  ebenso  wie  mit  den  anderen  Mächten  in  Fühlung  zu 
bleiben. 

(E:  Parliamentary  Oebates.  House  of  Gommons.  Bd.  2Sl,  Sp.  46 f.,  58,  62f. — 
D:  Der  Völkerbund,  Nr.  83/84,  S.  9f.) 

Die  Reichsiagswahl  vom  12.  November  1933  erbrachte  ein  ein- 
mütiges Bekenntnis  des  deutschen  Volkes  zur  Außenpolitik  der  Reichs- 
regierung.  Bereits  Ende  Oktober  hatte  Adolf  Hitler  neue  diplomatische 
Verhandlungen  zur  Durchsetzung  des  deutschen  Standpunktes  in  der 
Rüstungsfrage  begonnen.  Bei  ihm  lag  die  Initialive.  Er  wollte  kein  ufer- 
loses Wettrüsten^  sondern  durch  Verhandlungen  eine  maßvolle  Begrenzung, 
Wieder  wandte  er  sich  mit  seinem  Angebot  zunächst  an  England  und 
Italien.  Bei  England  konnte  angenommen  werden y  daß  es  zwischen 
Deutschland  und  Frankreich  vermitteln  würde.  Die  Besprechungen  dienten 
der  Erklärung  der  deutschen  Forderungen  und  Ziele.  Sie  wurden  zusam- 
mengefaßt in  der  Denkschrift  der  Reichsregierung  vom  18.  Dezember. 
Nach  der  Jahreswende  gingen  die  Rüstungsbesprechungen  weiter. 


Denkschrift  der  Reichsregierung  vom  18.  Dezember  1933  über  die 
Rüstungs-  und  Gleidibereditignngsfrage 

I 

Die  Deutsche  Regienmg  vermag  angesichts  der  Haltung,  die  die 
hochgerüsteten  Staaten,  insbesondere  Frankreich,  in  den  Genfer  Ab- 
rüstungsverhandlungen eingenommen  haben,  leider  nicht  den  Glauben 
zu  teilen,  daß  im  gegenwärtigen  Zeitpunkt  mit  einer  ernsthaften 
Durchführung  der  allgemeinen  Abrüstung  gerechnet  werden  kann. 
Sie  ist  überzeugt,  daß  die  Wiederaufnahme  von  neuen  Bemühungen 
in  dieser  Richtung  ebenso  ergebnislos  bleiben  würde,  wie  die  seit- 
herigen jahrelangen  Verhandlungen.  Sollte  diese  Befürchtung  nicht 
zutreffen,  so  würde  dies  niemand  mehr  begrüßen  als  die  Deutsche 
Regierung. 

Ohne  die  vielen  Gründe  im  einzelnen  zu  untersuchen,  die  für  die 
Auffassung  der  Deutschen  Regierung  sprechen,  wird  man  an  zwei 
wesentlichen  Tatsachen  nicht  vorbeigehen  können: 


6] Das  Jahr  1933 27 

1.  Eine  Herabsetzung  der  Rüstungen  der  anderen  europäischen 
Staaten  ist  praktisch  nur  denkbar,  wenn  sie  von  allen  Nationen 
der  ganzen  Welt  übernommen  wird.  An  die  Möglichkeit  einer 
solchen  allgemeinen  internationalen  Abrüstung  glaubt  aber 
heute  niemand  mehr. 

2.  Die  Ereignisse  der  letzten  Monate  lassen  die  Wahrscheinlichkeit, 
in  einigen  Ländern  eine  selbst  von  den  Regierungen  ernstlich 
beabsichtigte  Abrüstung  den  Parlamenten  dieser  Staaten  mit 
Erfolg  zur  Ratifikation  vorlegen  zu  können,  mehr  als  zweifelhaft 
erscheinen. 

Aus  diesem  Grunde  glaubtt  die  Deutsche  Regierung  nicht  mehr 
länger  einer  Illusion  nachhängen  zu  können,  die  geeignet  ist,  die  Be- 
ziehungen der  Völker  untereinander  eher  noch  mehr  zu  verwirren  als 
zu  verbessern.  Sie  glaubt  daher  unter  Berücksichtigung  der  konkreten 
WirkKchkeit  folgendes  feststellen  zu  müssen: 

a)  Deutschland  hat  als  einziger  Staat  die  im  Friedensvertrag  von 
Versailles  festgelegte  Abrüstungsverpflichtung  tatsächlich  durch- 
geführt. 

b)  Die  hochgerüsteten  Staaten  gedenken  nicht  abzurüsten  oder 
fühlen  sich  hierzu  nicht  in  der  Lage. 

c)  Deutschland  hat  ein  Recht,  auf  irgendeine  Weise  seine  Gleich- 
berechtigung auch  in  bezug  auf  seine  Sicherheit  zu  erlangen. 

Von  diesen  Feststellungen  ging  die  Deutsche  Regierung  aus,  als 
sie  ihren  letzten  Vorschlag  zur  Regelung  des  Problems  machte.  Der 
Hinweis  darauf,  daß  Frankreich  in  Genf  einem  präzisen  Abrüstungs- 
programm zugestimmt  habe,  ändert  an  diesen  Feststellungen  nichts. 
Denn  das  Programm,  an  das  hierbei  offenbar  gedacht  ist,  enthielt 
Bedingungen,  die  Deutschland  unmöglich  annehmen  konnte,  und  die 
die  Deutsche  Regierung  deshalb  gezwungen  haben,  die  Genfer  Ab- 
rüstungskonferenz zu  verlassen. 

Falls  entgegen  der  Überzeugung  der  Deutschen  Regierung  die 
anderen  Nationen  trotzdem  zu  einer  vollständigen  Abrüstung  sich 
entschließen  sollten,  so  gibt  die  Deutsche  Regierung  von  vornherein 
ihre  Bereitwilligkeit  kund,  einer  solchen  Konvention  beizutreten  und 
ebenfalls  abzurüsten,  wenn  nötig  bis  zur  letzten  Kanone  und  bis  zum 
letzten  Maschinengewehr. 

Sollte  insbesondere  Frankreich  bereit  sein,  nach  einem  präzisen 
Abrüstungsprogramm  abzurüsten,  so  bittet  die  Deutsche  Regierung 
um  zahlenmäßige  Angabe  der  Abrüstungsmaßnahmen,  die  Frankreich 
vornehmen  will  (Personal,  Material,  Dauer  der  Durchführung  und 
Zeitpunkt  des  Beginns,  zahlenmäßige  Kontrolle  der  Durchführung). 

Die  Deutsche  Regierung  vermag  nicht  einzusehen,  wie  die  An- 
passung der  deutschen  Rüstungen  an  die  deutschen  Sicherheitsbedürf- 
nisse und  ihre  teilweise  Angleichung  an  den  Rüstungsstand  der  Nach- 
barstaaten zu  einer  allgemeinen  Rüstungsvermehrung  und  zum  Beginn 
eines  Wettrüstens  führen  sollte.  Die  deutschen  Vorschläge  beziehen 
sich  ausschließlich  auf  defensive  Rüstungen.  Sie  sind  so  gemäßigt, 


28  Deutschland  -  England  [6 

daß  die  Überlegenheit  der  französischen  Rüstungen  weiter  bestehen 
bleibt.  Sie  schließen  im  übrigen  deshalb  jedes  Wettrüsten  aus,  weil 
danach  die  hochgerüsteten  Staaten  verpflichtet  werden  sollen,  ihre 
Rüstungen  nicht  weiter  zu  erhöhen. 

Der  Vorschlag  der  Deutschen  Regierung  geht  dahin: 

1.  Deutschland  erhält  die  volle  Gleichberechtigung. 

2.  Die  hochgerüsteten  Staaten  verpflichten  sich  untereinander, 
eine  weitere  Erhöhung  ihres  derzeitigen  Rüstungsstandes  nicht 
mehr  vorzunehmen. 

3.  Deutschland  tritt  dieser  Konvention  bei  mit  der  Verpflichtung, 
aus  freiem  Willen  von  der  ihm  gegebenen  Gleichberechtigung 
nur  einen  so  maßvollen  tatsächUchen  Gebrauch  zu  machen,  daß 
darin  keine  offensive  Gefährdung  irgendeiner  anderen  euro- 
päischen Macht  zu  sehen  ist. 

4.  Alle  Staaten  anerkennen  gewisse  Verpflichtungen  einer  humanen 
Kriegsführung  bzw.  einer  Vermeidung  gewisser  Kriegs waffen  in 
ihrer  Anwendung  gegen  die  zivile  Bevölkerung. 

5.  Alle  Staaten  übernehmen  eine  gleichmäßige  allgemeine  Kon- 
trolle, die  die  Einhaltung  dieser  Verpflichtungen  prüfen  und 
gewährleisten  soll. 

6.  Die  europäischen  Nationen  garantieren  sich  die  unbedingte  Auf- 
rechterhaltung des  Friedens  durch  den  Abschluß  von  Nichtan- 
griffspakten, die  nach  Ablauf  von  10  Jahren  erneuert  werden 
sollen. 

II 

Nach  Vorausschickung  dieser  grundsätzlichen  Ausführungen  will 
die  Deutsche  Regierung  zu  einzelnen  Fragen  des  Herrn  Französischen 
Botschafters  folgendes  bemerken: 

1.  Die  Zahl  von  300  000  Mann  entspricht  der  Heeresstarke,  die 
Deutschland  angesichts  der  Länge  seiner  Landesgrenzen  und 
angesichts  der  Heeresstärke  seiner  Nachbarn  benötigt. 

2.  Die  Umwandlung  der  Reichswehr  in  ein  300  000-Mann-Heer  mit 
kurzer  Dienstzeit  wird  naturgemäß  mehrere  Jahre  in  Anspruch 
nehmen.  Für  die  Dauer  der  Umwandlungsperiode  ist  auch  die 
finanzielle  Seite  von  maßgebender  Bedeutung. 

3.  Die  Zahl  der  Defensivwaffen,  die  Deutschland  beansprucht, 
müßte  der  Normalbewaffnung  einer  modernen  Verteidigungs- 
armee entsprechen. 

4.  Das  Tempo  der  Durchführung  der  Bewaffnung  müßte  Hand  in 
Hand  mit  dem  Tempo  der  unter  Ziffer  2  behandelten  Umwand- 
lung der  Reichswehr  gehen. 

5.  Die  Deutsche  Regienmg  ist  bereit,  einer  internationalen,  perio- 
disch und  automatisch  funktionierenden  allgemeinen  und  glei- 
chen Kontrolle  zuzustimmen. 

6.  Zu  welchem  Zeitpunkt  diese  Kontrolle  einzusetzen  hätte,  ist 
eine  Einzelfrage,  die  erst  entschieden  werden  kann,  wenn  eine 
Einigung  über  die  Grundfragen  erzielt  ist. 


7.  Art  und  Charakter  der  SA.  und  SS,  werden  von  der  Umwand* 
lung  der   Reichswehr  in   ein  300  000-Mann-Heer   mit  kurzer 

Dienstzeil  nicht  berührt. 

Die  SA.  und  SS.  sind  keine  militärischen  Organisationen  und 
werden  dies  auch  in  Zukunft  nicht  sein.  Sie  sind  ein  unzertrennlicher 
Bestandteil  des  politischen  Systems  der  nationalsoziaHstischen  Revo- 
lution und  damit  des  nationalsozialistischen  Staates.  Sie  umfassen 
rund  2^  Milhonen  Männer  vom  18.  Lebensjahr  bis  in  das  höchste  Alter 
hinein.  Ihre  einzige  Aufgabe  ist,  durch  diese  Organisation  der  politi- 
schen Massen  unseres  Volkes  eine  Wiederkehr  der  kommunistischen 
Gefahr  für  immer  zu  verhindern.  Ob  von  diesem  System  einmal  weg- 
gegangen werden  kann  oder  wird,  hängt  ab  von  dem  Bleiben  oder  der 
Beseitigung  dieser  bolschewistisch-kommunistischen  Gefahr.  Mit  mili- 
tärischen Dingen  haben  diese  dem  früheren  marxistischen  Reichs- 
banner und  dem  kommunistischen  Rotfrontbund  gegenüberstehenden 
nationalsozialistischen  Organisationen  überhaupt  nichts  zu  tun.  Der 
Versuch,  die  SA.  und  die  SS.  mit  dem  Reichsheer  in  eine  militärische 
Verbindung  zu  bringen,  sie  als  militärische  Ersatzformation  anzu- 
sprechen, geht  von  jenen  pohtischen  Kreisen  aus,  die  in  der  Beseiti- 
gung dieser  Schutzeinrichtung  des  nationalsoziaHstischen  Staates  die 
Möglichkeit  einer  neuen  Zersetzung  des  Deutschen  Volkes  und  damit 
eine  neue  Förderung  kommunistischer  Bestrebungen  erblicken. 

Um  die  Eigenart  der  SA.  und  SS.  als  politische  Organisationen 
einer  allgemeinen  geistigen  und  körperlichen  Immunisierung  gegen- 
über den  Gefahren  einer  kommunistischen  Zersetzung  zu  belegen,  lehnt 
es  die  Deutsche  Regierung  nicht  ab,  bei  den  Kontrollen  über  die  Durch- 
führung der  Konvention  den  Nachweis  für  die  genaue  Einhaltung  dieser 
Erklärungen  zu  erbringen, 

8,  Die  Deutsche  Regierung  ist  bereit,  dem  Gedanken  einer  Fest- 
legung  allgemeiner  Bestimmungen  über  politische  Verbände 

und  vor-  oder  nachmihtärische  Organisationen  in  den  einzelnen 
Ländern  näherzutreten. 

9.  Die  Beantwortung  der  Frage  der  Kontrolle  dieser  Organisa- 
tionen in  den  verschiedenen  Ländern  ergibt  sich  aus  dem,  was 
am  SchluB  von  Ziffer  7  hinsichtlich  der  SA.  und  SS.  ausge- 
führt ist, 

10.  Der  Inhalt  der  Nichtangriffspakte,  zu  deren  AbschluO  die 
Deutsche  Regierung  mit  allen  Deutschland  umgebenden 
Staaten  bereit  ist,  ergibt  sich  aus  der  Praxis  der  Nachkriegs- 
zeit. 

11.0b  und  inwieweit  dabei  im  Verhältnis  zwischen  Deutschland 
und  Frankreich  der  im  Jahre  1925  abgeschlossene  Locamo- 
Rheinpakt  zu  besonderen  Überlegungen  Anlaß  gibt,  ist  eine 
juristisch-technische  Frage,  die  der  späteren  Einzelverhand- 
lung vorbehalten  bleiben  kann. 

r2.  Die  Deutsche  Regierung  ist  jederzeit  bereit,  die  zwischen 
Deutschland  und  Frankreich  auftauchenden  Streitfragen  auf 
den  hierfür  am  besten  geeigneten  Wegen  gütlich  zu  bereinigen. 


30  Deutschland  -  England  [6 

III 

Der  Gedanke  einer  abstimmungslosen  Rückgliederung  des  Saar- 
gebietes wurde  lediglich  zu  dem  Zwecke  zur  Erwägung  gestellt,  um, 
wenn  möglich,  die  mit  der  Abstimmung  unvermeidlich  verbundene 
Erhitzung  der  öffentlichen  Meinung  in  Deutschland  und  Frankreich 
zu  umgehen  und  der  Bevölkerung  des  Saargebietes  die  Erschütterungen 
durch  einen  Wahlkampf  zu  ersparen,  dessen  Ausgang  nicht  zweifelhaft 
sein  kann.  Wenn  die  Französische  Regierung  den  Standpunkt  ein- 
nimmt, einer  abstimmungslosen  Rückgliederung  nicht  zustimmen  zu 
können,  so  betrachtet  die  Deutsche  Regierung  diese  Frage  damit  als 
erledigt. 

IV 

Nachdem  die  Deutsche  Regierung  nunmehr  wiederholt  ihre  Auf- 
fassung über  die  Regelung  der  Abrüstungsfrage  in  aller  Offenheit  dar- 
gelegt hat,  kann  sie  sich  von  einer  Fortführung  der  Besprechungen 
nur  dann  einen  Erfolg  versprechen,  wenn  jetzt  auch  die  anderen  Re- 
gierungen sich  unzweideutig  darüber  äußern,  welche  Stellung  sie  zu 
dem  Standpunkt  der  Deutschen  Regierung  einnehmen  und  wie  sie 
sich  ihrerseits  die  Behandlung  des  Problems  in  seinen  konkreten 
Einzelheiten  denken. 

(Schwendemann:  Abrüstung  und  Sicherheit.  Bd.  II,  S.  518ff.) 


1934 


>  Sr  "-^ 


Uvi>  AuUi    L'J31 


33 


Da  sich  eine  allgemeine  A brüst itnQ  als  Illusion  erwiesen  halle,  mußte 
die  Verwirklichung  der  deutsehen  Gleichberechlignng  auf  anderem  Wege, 
und  zwar  auf  dem  der  Angleiehnng  des  deulschen  BüsUingsniveaus  an 
das  der  Umwelt,  gesucht  werden.  Deutschland  forderte  eine  Defensivarmee 
Don  300  000  Mann  mit  kurzer  Dienstzeit,  Die  Ileichsregierung  erhal  hierzu 
die  Stellungnahme  der  anderen  Regierungen,  Die  britische  antwortete  nach 
der  französischen  und  vor  der  italieni sehen  mit  einem  Memorandum  vom 
29,  Januar  1934.  Sie  kam  im  Unterschied  zn  der  französischen  Antwort 
den  deutschen  Hüstungsforderungen  ein  gutes  Stück  entgegen.  Sie  akzep- 
tierte sie  außer  denen  zur  Luftrüstung;  diese  mitten  Deutschland  noch 
zwei  Jahre  vorenthalten  bleiben;  außerdem  sollle  es  nach  Genf  zurück- 
kehren. 


Aus  der  Denkschrift  der  britlsdien  Regierung  zur  Rüstungs*  und 
Gleidiliereditigungsfrage  vom  29.  Januar  1934 


7. 


8.  Die  Regierung  Seiner  Majestät  ist  der  Ansicht,  daß  eine  inter- 
nationale Einigung  bezüglich  der  Rüstungen  nur  erreicht  werden  kann, 
indem  man  hinsichtlich  der  drei  Hauptfragen  (a)  Sicherheit,  (b)  Gleich- 
berechtigung, (c)  Abrüstung  eine  befriedigende  Regelung  trifft.  Sämt- 
liche drei  Themen  sind  in  dem  Konventionsentwurf  behandelt  worden, 
und  der  Zweck  des  vorliegenden  Schriftstücks  besteht  darin,  darzu- 
legen, wie  unter  den  gegenwärtigen  Umständen  und  im  Lichte  der 
Forderungen  und  Vorschläge,  die  von  verschiedenen  Seiten  vorgebracht 
worden  sind,  der  Inhalt  des  Konventionsentwurfs  zum  Zweck  einer 
allgemeinen  Verständigung  in  gewissen  Einzelpunkten  abgeändert  oder 
erweitert  werden  könnte*  Die  Regierung  Seiner  Majestät  hat  die  von 
den  Regierungen  Frankreichs,  Italiens,  Deutschlands  und  anderer 
Länder  im  Laufe  des  kürzhchen  Meinungsaustausches  vorgebrachten 
Auffassungen  sorgfältig  geprüft.  Vor  fast  einem  ,Iahre  hat  es  die  Rc- 
gierung  Seiner  Majestät  übernommen,  dem  Hauptausschuß  der  Ab- 
rüstungskonferenz den  vollständigen  Text  eines  Vertragsentwurfes 
vorzulegen.  Die  jetzt  vorgeschlagenen  leichten  Abänderungen  des 
Textes  dieses  Konventionsentwurfs  sind  diejenigen,  welche  auf  Grund 
späterer  Mitteilungen  und  Überlegungen  am  besten  geeignet  erscheinery^^TI^ 


konkrete  Ergebnisse  herbeizuführen 

9.  Sicherheit.  Teil  I  des  Konventionsentwurfs  handelte  von 

OeutBchiiiod- England  3 


poai 


34  Deutschland  -  England  [7 

Sicherheit.  Auf  Grund  einer  Neufassung,  die  am  24.  Mai  1933  einmütig 
gebilligt  wurde,  besteht  er  nunmehr  aus  vier  Artikeln,  von  denen  drei 
vorsehen,  daß  im  Falle  einer  Verletzung  oder  einer  drohenden  Ver- 
letzung des  Kellogg-Paktes  eine  sofortige  Beratung  zwischen  den 
Signatarmächten  der  Konvention  verlangt  werden  kann  und  stattfinden 
soll  zu  dem  Zweck,  den  Frieden  zu  wahren,  gute  Dienste  für  die  Wieder- 
herstellung des  Friedens  zur  Anwendung  zu  bringen  und  für  den  Fall, 
daß  es  sich  als  unmöglich  herausstellen  sollte,  den  Frieden  auf  diese 
Weise  wiederherzustellen,  die  Streitpartei  oder  die  Parteien  zu  be- 
stimmen, die  die  Verantwortung  trifft.  In  der  jetzigen  Fassung  werden 
diese  Bestimmungen  also  lediglich  durch  eine  Verletzung  oder  eine 
drohende  Verletzung  des  Kellogg-Paktes  zur  Anwendung  gebracht. 
Die  Regierung  Seiner  Majestät  hält  diese  Bestimmungen  für  äußerst 
wichtig.  Die  Verbindung  zwischen  dem  Sicherheitsgefühl  und  dem 
Frieden  der  Welt  ist  jedoch  so  vital,  daß  die  Regierung  Seiner  Majestät 
zu  diesen  Artikeln  noch  weitere  hinzufügen  möchte.  Ihrer  Ansicht 
nach  ist  es  wichtig,  den  Grundsatz  der  Beratung  im  Falle  der  Ver- 
letzung oder  drohenden  Verletzung  des  Kellogg-Paktes  auf  den  Fall 
der  Verletzung  oder  drohenden  Verletzung  der  Abrüstungskonvention 
selbst  auszudehnen  .  .  . 

Ein  weiterer  Beitrag  zur  Sache  des  Friedens  und  der  Sicherheit 
durch  Minderung  jeglicher  Spannung  oder  Unruhe,  welche  zwischen 
Deutschland  und  den  es  umgebenden  Staaten  besteht,  wird  durch  die 
Bereitwilligkeit  des  deutschen  Reichskanzlers  zum  Abschluß  von  Nicht- 
angriffspakten mit  allen  Nachbarn  Deutschlands  geliefert.  Derartige 
Pakte  dürften  keinesfalls  die  bestehenden  Verpflichtungen  zur  Auf- 
rechterhaltung des  Friedens  auf  Grund  von  Verträgen  wie  der  Völker- 
bundssatzung, dem  Kellogg- Pakt  und  den  Locarno- Verträgen 
schwächen,  sondern  müssen  im  Gegenteil  diese  Verpflichtungen 
ausdrücklich  wieder  bestätigen;  die  Regierung  Seiner  Majestät  kann 
keinen  Zweifel  darüber  hegen,  daß,  wenn  solche  Pakte  ausdrücklich 
in  Verbindung  mit  der  Konvention  eingegangen  würden  (für  welche 
die  Regierung  Seiner  Majestät  aus  den  weiter  unten  aufgeführten 
Gründen  ebenso  wie  für  die  Pakte  zunächst  einen  Zeitraum  von  zehn 
Jahren  für  angebracht  hält),  dürfte  ihr  praktischer  Wert  für  die 
Schaffung  eines  Sicherheitsgefühls  nicht  bestritten  werden. 

Die  Regierung  Seiner  Majestät  ist  der  Ansicht,  daß  die  hier  bei 
dem  Punkt  „Sicherheit**  zusammengestellten  Anregungen  insgesamt 
ein  Ganzes  ausmachen,  das  allgemeine  Annahme  verdient.  Sie  glaubt 
erwarten  zu  dürfen,  daß  diese  Regeln  und  Verpflichtungen,  wenn  sie 
feierlich  übernommen  wären,  nicht  leichthin  verletzt  werden  würden 
und  daß  jeder  Verletzung  am  zweckmäßigsten  und  wirksamsten  be- 
gegnet würde,  wenn  die  Regierungen  und  Staaten  zusammenberufen 
würden,  um  Frieden  und  Einigkeit  zwischen  den  Völkern  gegenüber 
dem  Friedensstörer  und  Vertragsverletzer  zu  wahren. 

10.  Gleichberechtigung.  Die  Fünf-Mächte-Erklärung  vom 
11.  Dezember  1932  hat  im  Zusammenhang  mit  der  Abrüstungsfrage 
den  Grundsatz  der  „Gleichberechtigung  in  einem  System  der  Sicherheit 


7] Das  Jahr  1934 35 

für  alle  Nationen''  aufgestellt  und  erklärt,  daß  dieser  Grundsatz  in 
einem  Abrüstungsabkommen  Verwirklichung  finden  soll,  das  eine 
wesentliche  Herabsetzung  und  Begrenzung  der  Rüstungen  herbeiführt. 
Von  dieser  Erklärung  ist  die  Regierung  Seiner  Majestät  niemals  zurück- 
getreten, und  sie  bestätigt  jetzt  aufs  neue,  daß  sie  an  ihr  uneingeschränkt 
festhält.  Im  vorigen  Abschnitt  dieses  Memorandums  ist  versucht  wor- 
den, die  wesentlichen  Faktoren  der  Sicherheit  zu  bestimmen,  ohne 
die  die  notwendigen  Bedingungen  für  ein  angemessenes  Abrüstungs- 
abkonmien  nicht  erfüllt  sein  würden.  Aber  die  Regierung  Seiner  Maje- 
stät zögert  nicht  zu  erklären,  daß  der  Grundsatz  der  Gleichberechtigung 
in  der  Rüstungsfrage  nicht  weniger  wesentlich  ist  als  der  Grundsatz 
der  Sicherheit  —  beide  müssen  praktisch  zur  Anwendung  gelangen, 
wenn  eine  internationale  Verständigung  über  die  Rüstungen  erreicht 
werden  soll.  Die  nachstehenden  Vorschläge  sind  ebenso  wie  der  Kon- 
ventionsentwurf selbst  in  diesem  Geiste  gehalten  und  stellen  eine 
praktische  Erfüllung  dieses  Grundsatzes  dar. 

11.  Abrüstung.  Die  Regierung  Seiner  Majestät  entnimmt  mit 
Freude  aus  den  Erklärungen  des  Herrn  Hitler,  daß  Deutschland  dar- 
auf verzichtet,  den  Besitz  von  „Angriffswaffen**  zu  beanspruchen,  und 
sich  auf  eine  normale  „Verteidigungsbewaffnung**  beschränkt,  wie  sie 
für  die  Armee  benötigt  wird,  die  in  dem  Abkommen  für  Deutschland 
vorgesehen  würde.  Überdies  macht  der  deutsche  Kanzler  diesen  Vor- 
schlag in  der  Annahme,  daß  die  schwergerüsteten  Staaten  nicht  bereit 
sind,  auf  Grund  des  Abkommens  irgendeinen  Teil  ihrer  jetzt  bestehen- 
den Waffen  aufzugeben.  Wie  bereits  in  Ziffer  7  dieses  Memorandums 
gesagt,  ist  die  Regierung  Seiner  Majestät  keineswegs  bereit,  sich  diese 
letzte  Annahme  zu  eigen  zu  machen;  sie  muß  darauf  bestehen,  daß 
nur  eine  Vereinbarung,  die  sowohl  eine  Herabsetzung  wie  eine  Be- 
schränkung der  Rüstungen  enthält,  den  Namen  einer  Abrüstungs- 
konvention verdient.  Außerdem  besteht  noch  ein  weiterer  Grund, 
weshalb  die  Regierung  Seiner  Majestät  die  Tatsache  besonders  hervor- 
hebt, daß  die  Erklärung  des  deutschen  Kanzlers,  auf  Angriffswaffen 
zu  verzichten  und  nur  das  zu  beanspruchen,  was  zur  normalen  Ver- 
teidigung notwendig  ist,  sich  auf  die  Annahme  gründet,  daß  die  hoch- 
gerüsteten Mächte  nicht  bereit  sind,  ihre  eigenen  Rüstungen  irgendwie 
zu  vermindern.  Wenn  nämlich  diese  Annahme  sich  als  unzutreffend 
erweist,  so  wird  der  Umfang  dessen,  was  Deutschland  benötigt,  sich 
notwendigerweise  verringern.  Ein  positiver  Beitrag  der  hochgerüsteten 
Mächte  zur  Abrüstung  wird  also  dazu  helfen,  das  Niveau  allgemein 
herabzusetzen,  und  müßte  also  nach  dem  Ermessen  der  Regierung 
Seiner  Majestät  die  Forderungen  verringern,  die  Deutschland  andern- 
falls vielleicht  zu  stellen  geneigt  wäre. 

12.  Die  nachstehenden  Abänderungsvorschläge  zu  dem  Abkom- 
mensentwurf gehen  von  der  Annahme  aus,  daß  die  Vereinbarung  auf 
zehn  Jahre  abgeschlossen  wird.  Sie  sind  verfaßt  worden,  nachdem 
Anregungen  und  kritische  Äußerungen  von  allen  anderen  Seiten  aufs 
vollständigste  und  sorgfältigste  geprüft  worden  waren,  und  stellen 
nach  Ansicht  der  Regierung  Seiner  Majestät  eine  Lösung  dar,  auf 

8* 


36  Deutschland  -  England  [8 

die    man    sich    unter    den    obwaltenden   Umständen    gut    einigen 
könnte. . . 

20.  . . .  Die  ernsten  Folgen,  die  ein  Mißerfolg  der  Abrüstungs- 
konferenz nach  sich  ziehen  würde,  stehen  jedermann  klar  vor  Augen 
und  bedürfen  keiner  weiteren  Hervorhebung.  Die  Politik  der  Regierung 
Seiner  Majestät  auf  internationalem  Gebiet  ist  vor  allem  anderen  dar- 
auf gerichtet,  mit  allen  Kräften  dahin  zu  wirken,  daß  durch  eine  all- 
gemeine Verständigung  diese  Folgen  vermieden  werden.  Wenn  die 
Verständigung  erreicht  und  die  Rückkehr  Deutschlands  liach  Genf 
und  in  den  Völkerbund  erzielt  wird  (und  dies  sollte  eine  wesentliche 
Bedingung  der  Einigung  sein),  so  würde  die  Unterzeichnung  des  Ab- 
kommens eine  neue  Perspektive  internationaler  Zusammenarbeit  er- 
öffnen und  einen  neuen  Grund  für  die  internationale  Ordnung  legen. 

(E:  Cmd  4512. — D:  Schwendemann:  Abrüstung  und  Sicherheit.  Bd.  II, 
S.  543 ff.) 

Frankreich  lehnte  die  deutschen  Rüstungsforderungen  ab,  Italien 
vertrat  den  deutschen  Standpunkt,  —  Verhandlungen  der  vier  europäischen 
Mächte  kamen  wieder  in  Gang,  In  der  zweiten  Februarhälfte  1934  be- 
suchte der  englische  Lordsiegelbewahrer  und  Unterstaatssekretär  im  Aus- 
wärtigen Amty  Eden,  Paris,  Berlin,  Rom,  um  Erkundungen  über  die 
Beurteilung  des  englischen  Memorandums  durch  die  drei  anderen  Mächte 
einzuholen.  In  Berlin  wurde  Eden  vom  Führer  empfangen,  und  es  fanden 
mit  allen  maßgebenden  Persönlichkeiten  Besprechungen  statt,  Sie  nahmen 
einen  befriedigenden  Verlauf  und  gaben  Klarheit  über  die  friedlichen 
Absichten  und  die  Verständigungsbereitschaft  der  Reichsregierung,  In 
einem  in  Prag  aufgefundenen  Bericht  vom  15.  März  äußerte  sich  der 
Gesandte  der  Tschechoslowakischen  Republik,  Jan  Masarijk,  über 
Edens  Rechenschaftsbericht  und  ein  Gespräch,  das  er  mit  dem  Lordsiegel- 
bewahrer nach  seiner  Reise  gehabt  hatte. 

Aus  dem  Bericht  des  tschechoslowakischen  Gesandten  in  London 
vom  15.  März  1934 

Die  Rede  wurde  in  der  Presse  im  ganzen  günstig  aufgenommen, 
an  einigen  Stellen  wird  auf  ihre  zu  große  Vorsichtigkeit  verwiesen. 
Tatsache  ist,  daß  Eden  den  Ereignissen  nicht  vorgreifen  wollte,  in 
Erwartung  einer  endgültigen  Antwort  aus  Paris.  Die  Antwort  Winston 
Churchills  machte  im  Parlament  keinen  kräftigen  Eindruck;  es  ist 
nämlich  allgemein  bekannt,  daß  Winston  eine  Phase  der  alarmierenden 
Psychologie  durchmacht  und  ständig  auf  die  nahe  Möglichkeit  eines 
Krieges  und  die  Notwendigkeit  der  Rüstungen  verweist. 

Ich  habe  heute  mit  Eden  gefrühstückt,  der  in  seinen  Äußerungen 
ebenso  vorsichtig  wie  im  Parlament  war.  Eine  Verzeichnung  verdient, 
daß  mir  Eden  sagte,  er  habe  mit  Hitler  eine  fünfstündige  Unterredung 
gehabt,  und  daß  Hitler  auf  ihn  einen  sehr  guten  Eindruck  gemacht 
hat.  Er  hält  Hitler  für  einen  ehrlichen  Fanatiker,  der  den  Krieg  nicht 
will.  Mein  persönlicher  Eindruck  ist,  daß  Eden  die  Beförderung  zum 


9]  Das  Jahr  1934  37 

Lordsiegelbewahrer  und  die  gleich  darauf  folgende  Reise  durch  Europa 
ein  wenig  in  den  Kopf  gestiegen.  Eden  ist  verhältnismäßig  sehr  jung, 
und  das  Leben  hat  ihn  recht  verwöhnt.  Ich  habe  schon  von  mehreren 
Eden  freundlich  gesinnten  Seiten  Befürchtungen  gehört,  daß  das  über- 
große Selbstbewußtsein  seiner  Karriere  schaden  könnte,  die  so  außer- 
gewöhnlich versprechend  begonnen  hat. 

(Aus  den  Akten  des  tschechoslowakischen  AuOenministeriums.) 

Am  13,  März  1934  hat  die  Reichsregierung  die  Situation  noch  einmal 
zusammenfassend  gekennzeichnet.  Selbst  in  England  entstand  der  Ein- 
druck: Deutschland  ist  verständigungsbereit,  Frankreich  lehnt  ab.  Ein 
Rüstungsstand  wie  der  im  Versailler  Vertrag  festgelegte  kam  für  Deutsch- 
land auf  keinen  Fall  mehr  in  Betracht.  Davon  gingen  alle  neueren  Vor- 
schläge aus,  auch  die  französischen,  Deutschland  forderte  jetzt  für  sich 
nur  das  Minimum  dessen,  was  es  zu  seiner  Sicherheit  und  Verteidigungs- 
möglichkeit brauchte.  Es  verzichtete  von  vornherein  auf  alle  Angriffswaffen 
und  wollte  jede  noch  so  weitgehende  Rüstungsbeschränkung  annehmen, 
wenn  dies  auch  die  anderen  Mächte  taten.  Das  Einverständnis  der  deut- 
schen, englischen  und  italienischen  Regierung  stand  fest.  Frankreich 
schloß  sich  nicht  an.  Es  wollte  weder  selbst  abrüsten  noch  Deutschland 
Gleichberechtigung  bewilligen.  Stur  hielt  es  am  Versailler  Vertrag  und 
am  Völkerbund  als  dessen  Hüter  fest.  Deutschland  sollte  in  diesen  Völker- 
bund und  in  dessen  Abrüstungskonferenz  zurückkehren.  England  bemühte 
sich  um  die  Fortsetzung  der  Verhandlungen  und  war  sogar  bereit,  eine 
Durchführungsgarantie  zu  übernehmen,  die  es  aber  nicht  im  Sinne  einer 
Garantie  des  Status  quo  und  einer  Verstärkung  der  Verpflichtungen  aus 
Artikel  16  der  VB. -Satzung  verstanden  wissen  wollte.  Es  suchte  Frank- 
reich zunächst  auf  das  englische  Memorandum  vom  29.  Januar  fest- 
zulegen, abgeändert  entsprechend  den  von  Adolf  Hitler  Eden  gemachten 
Vorschlägen.  Der  deutsche  Standpunkt  ist  am  16.  April  in  den  „Er- 
läuterungen'' nochmals  konkretisiert  worden. 


Erläuterungen  der  Reichsregierung  vom  16.  April  1934  zur  Frage 
der  Verwirklichung  der  Gleichberechtigung 

Die  Deutsche  Regierung  ist  bereit,  das  Memorandum  des  Ver- 
einigten Königreichs  vom  29.  Januar  1934  als  Grundlage  für  eine 
Konvention  anzunehmen,  jedoch  unter  dem  Vorbehalt  gewisser  wich- 
tiger Änderungen.  Die  Deutsche  Regierung  hält  es  für  unmöglich,  zwei 
Jahre  lang  auf  anjgemessene  Mittel  zur  Verteidigung  in  der  Luft  zu 
warten.  Sie  wünscht,  vom  Beginn  der  Konvention  an  eine  Verteidi- 
gungsluftflotte von  Flugzeugen  mit  kurzer  Reichweite,  zu  der  keine 
Bombenflugzeuge  gehören  würden,  zu  besitzen.  Die  zahlenmäßige 
Stärke  dieser  Luftflotte  würde  30  Prozent  der  zusammengerechneten 
Militärluftstreitkräfte  der  Nachbarn  Deutschlands  oder  50  Prozent 
der  MiUtärluftflotte  Frankreichs  (d.  h.  derjenigen,  die  es  in  Frankreich 
selbst  und  in  seinen  nordafrikanischen  Gebieten  besitzt)  —  je  nach- 


38 


Deutschtand  •  England 


[9 


dem,  welche  Zahl  die  geriogere  ist^  nicht  überschreiten.  Diese  Forde- 
rung erhebt  die  Deutsche  Regierung  ohne  Präjudiz  für  das  Ergebnis 
der  in  dem  Memorandum  des  Vereinigten  Königreichs  vorgeschlagenen 
Untersuchung  über  die  Luftfrage,  die,  wie  vorgeschlagen,  stattfiaden 
würde,  und  die  wenigstens  die  Bombenflugzeuge  abschaffen  sollte. 
Deutschland  verlangt  während  der  ersten  fünf  Jahre  einer  zehn  Jahre 
laufenden  Konvention  keine  hierüber  hinausgehende  Zahl  von  Mihtär- 
flugzeugen;  aber  nach  diesen  fünf  Jahren  verlangt  es,  daß  die  nötigen 
Herabsetzungen  und  Erhöhungen  vorgenommen  werden,  so  daß  es 
am  Ende  der  zehn  Jahre  dauernden  Konvention  volle  zahlenmäßige 
Gleichheit  mit  den  Hauptluftmächten  erhalten  würde.  Die  Deutsche 
Regierung  wäre  bereit,  auf  der  Grundlage  der  Gegenseitigkeit  der 
Festlegung  der  von  dem  Reichskanzler  am  21.  Februar  Herrn  Eden 
angegebenen  weiteren  Vorschriften  zwecks  Sicherstellung  des  nicht- 
militärischen  Charakters  der  SA.  und  der  SS,  zuzustimmen,  wobei  dieser 
Charakter  durch  ein  System  der  Kontrolle  überwacht  werden  würde. 
Diese  Vorschriften  würden  besagen*  daß  die  SA.  und  SS.  1,  keine  Waffen 
besitzen,  2.  keine  Ausbildung  mit  Waffen  erhalten,  3.  nicht  in  militä- 
rischen Lagern  zusammengezogen  oder  ausgebildet  werden,  4,  weder 
direkt  noch  indirekt  durch  Offiziere  der  regulären  Armee  ausgebildet 
werden,  5.  keine  Felddienstübungen  vornehmen  oder  daran  teil* 
nehmen  dürfen.  Die  Deutsche  Regierung  ist  ferner  bereit,  zuzustimmen, 
daß  die  Rüstuogsherabsetzungen  der  anderen  Mächte  bis  zum  Ende 
des  fünften  Jahres  der  Konvention  hinausgeschoben  werden,  so  daß 
die  in  dem  Memorandum  des  Vereinigten  Königreichs  vorgesehenen 
Abrüstungsmaßnabmen  erst  während  der  zweiten  fünf  Jahre  der 
Konvention  durchgeführt  würden.  Alle  anderen  in  dem  Memorandum 
des  Vereinigten  Königreichs  gemachten  Vorschläge,  soweit  sie  von 
diesen  Änderungen  nicht  berührt  sind,  wie  z.  B.  bezüglich  der  Kon- 
trolle, werden  von  der  Deutschen  Regierung  angenommen.  Die  Deutsche 
Regierung  erkennt  auch  weiterhin  die  Locarnoverträge  an,  Sie  steht 
auf  dem  Standpunkt,  daß  die  Rückkehr  Deutsehlands  in  den  Völker- 
bund erst  nach  Lösung  der  Frage  der  .Abrüstung  und  vor  allem  ihrer 
Gleichberechtigung  erörtert  werden  kann. 

(Seh  wende  mann:  AbrüBlung  und  Sieherheil.  Bd.  II,  S.  ^06  f.) 

Zwischen  Deukchland  und  Halten  sowie  in  gewisser  Hinsicht  auch 

mit  England  war  über  die  Bäslungsfrage  Einmütigkeil  erzielt.  Frankreich 
aber  brach  durch  seine  Antwort nole  an  England  vom  17.  Aprit  1934  alte 
Verhandlungen  über  Büslungsbegrenzungen  brüsk  ab.  Es  griff  Deutsch- 
land mil  schweren  Beschuldigungen  an,  von  denen  es  sicher  sein  konnte y 
daß  sie  in  England  mit  Zustimmung  aufgenommen  werden  würden:  Die 
kurz  vorher  erfolgte  Veröffentlichung  des  deutschen  Wehretals  beweise^ 
daß  Deulschtand  ohne  Rücksicht  auf  die  noch  schwebenden  Verhandlungen 
in  großem  Stile  aufrüste.  Das  könne  Frankreich  nicht  zulassen.  Adolf 
Hitler  war^  wie  Reichsaußenmini sler  von  Neuralh  am  27.  April  vor 
Presseuertrelern  noch  einmal  ausdrücklich  unlerslrich,  zn  weitgehendem 
Entgegenkommen ^  zur  Verständigung  und  zum  baldigen  Abschluß  einer 


10]  Das  Jahr  1934  39 

Konvention  bereit  gewesen.  Er  konnte  aber  die  Sicherheit  und  das  Schicksal 
seines  Landes  nicht  vom  Gutdünken  und  Ermessen  anderer  Länder  ab- 
hängig machen.  Nach  jenem  ,^ein**  hatte  er  die  Handlungsfreiheit 
zurückgewonnen . 

In  diesen  Tagen  schwerwiegender  Entscheidungen  hatte  der  deutsche 
Botschafter  in  London  eine  interessante  Unterredung  mit  König  Georg  V., 
über  die  er  am  25.  April  telegraphisch  berichtete. 


Telegramm  des  deutschen  Botschafters  in  London,  von  Hoesdi,  an  10. 
das  Auswärtige  Amt  vom  25.  April  1934 

Ich  war  gestern  und. . .  (fehlt  ein  Wort)  bei  König  und  Königin 
in  Windsor  zum  Wohnbesuch  eingeladen.  Neben  Hofstaat  und  mir 
waren  nur  noch  der  soeben  von  einer  Weltreise  zurückgekehrte  Prinz 
Georg  und  der  neuernannte  britische  Botschafter  für  Brüssel,  Sir 
Esmond  Ovey,  nebst  Gemahlin  anwesend. 

Nach  gestrigem  Abendessen  zog  König  Georg  mich  in  ein  langes 
politisches  Gespräch.  König,  der  sich  über  schwebende  Probleme  gut 
unterrichtet  zeigte,  gab  zunächst  eine  kurze  Schilderung  der  deutsch- 
englischen Beziehungen  in  der  Nachkriegszeit.  Er  ausführte,  wie  sich 
englische  Stimmung  gegenüber  Deutschland  nach  Kriegsende  schnell 
verbessert  und  schließHch  einen  beträchtlichen  Grad  freundschaft- 
lichen Verständnisses  erreicht  habe,  bis  dann  nach  der  Umwälzung 
in  Deutschland  mit  überraschender  Schnelligkeit  ein  Umschwung  ein- 
getreten sei.  Diesen  Umschwung  zurückführte  Monarch  in  erster  Linie 
auf  Behandlung  Judenproblems  und  auf  von  ihm  selbst  als  übertrieben 
bezeichnete  Nachrichten  über  Konzentrationslager.  Ich  gab  zu  beiden 
Punkten  die  entsprechende  Aufklärung  und  gewann  dabei  Eindruck, 
daß  König  Judenfrage  nicht  mehr  ganz  so  schroff  beurteilt,  wie  dies 
z.  B.  in  seiner  Unterhaltung  mit  Herrn  v.  Neurath  im  Juni  v.  J.  zum 
Ausdruck  gekommen  war,  und  daß  er  auch  dem  deutschen- Vorgehen 
gegen  Kommunismus  gewisses  Verständnis  entgegenbringt. 

Monarch  zuwandte  sich  dann  Abrüstungsproblem  und  ausdrückte 
lebhaftes  Bedauern,  daß  die  in  Wehrhaushalt  erkennbar  gewordene 
vorzeitige  deutsche  Aufrüstung  Lösung  Abrüstungsfrage  so  überaus 
erschwert  habe,  indem  er  meinte,  Einigung  hätte  erzielt  werden  können, 
wenn  Deutschland  Aufrüstung  bis  nach  Abschluß  Konvention  hinaus- 
geschoben hätte.  Dabei  betonte  er,  daß  er  Deutschland  keineswegs 
andere  Absichten  als  die  Schaffung  einer  Defensivrüstung  unter- 
schieben wolle  und  auch  durchaus  anerkenne,  daß  Deutschland  sich 
noch  bis  vor  kurzem  an  Vertragsbestimmungen  gehalten  habe.  Im 
Anschluß  daran  fragte  er  mehrfach,  ob  denn  Deutschland  seine  De- 
ferilivaufrüstung  aus  reinen  Prestigegründen  oder  zum  Zweck  der 
Verteidigung  gegen  mögliche  Angriffe  wünsche,  indem  er  betonte, 
daß  ihm  der  letztere  Beweggrund  unbegreiflich  erscheinen  würde,  da 
ja   Deutschland  von  niemand  bedroht  werde.   Ich  ausführte  dem- 


40  Deutschland  -  England  [10 

gegenüber,  daß  großes  Land  im  Herzen  Europas  nicht  ewig  ungerüstet 
bleiben  könne,  wenn  die  übrigen  Staaten  ihre  Abrüstungsverpflich- 
tungen nicht  erfüllen,  und  daß  die  weitere  Aufrechterhaltung  einer 
Rechtsungleichheit  fünfzehn  Jahre  nach  Kriegsende  ein  Unding  sei. 
Ferner  verwies  ich  auf  die  unerträgliche  Situation  des  ungerüstcten 
Deutschlands  mit  seiner  tragischen  Grenzziehung  im  Osten  inmitten 
der  höchstgerüsteten  Staaten  Europas.  König  Georg  stand  niclit  an, 
das  Diktat  von  Versailles  abfälhg  zu  kritisieren,  wobei  er  den  Krieg 
an  sich  als  einen  menschlichen  Irrwahn  verantwortlich  für  solche 
bedauernswerte  Folgen  machte. 

Anschließend  hieran  sprach  Monarch  über  Gefahren  der  künftigen 
Entwicklung.  Er  ausführte,  Deutschland  habe  ja  mehrfach  Versiche- 
rungen abgegeben,  daß  es  kein  Wettrüsten  zur  See  mit  England  be- 
absichtige. Auch  deckten  sich  ja  deutsche  und  englisclie  Bestrebungen 
in  bezug  auf  völlige  Abschaffung  der  U-Boot-Waffe.  Trotzdem  ver- 
bleibe für  England  mit  seiner  überaus  verwundbaren  Hauptstadt  die 
Sorge  auf  dem  Luftgebict.  Vor  allem  aber  in  Frankreich  errege  deut- 
sches Streben  nach  Defensivaufrüstung  eine  wahre  Panik,  und  diese 
französische  Furcht  vor  der  deutschen  Gefahr  sei  das  eigentliche 
Hindernis  für  den  Abschluß  einer  Abrüstungskonvention.  Komme  es 
zu  keiner  Konvention,  so  werde  man  unfehlbar  in  eine  Periode  des 
erneuten  Wettrüstens  hineingeraten  und  damit  zu  Zuständen  gelangen, 
die  denen  der  Vorkriegszeit  ähnelten  und  die  mithin  die  Gefahr  eines 
Krieges  in  sich  tragen  würden.  Er  selbst  sei  von  Wahnsinnigkeit 
eines  Krieges  in  seinem  tiefsten  Innern  überzeugt  und  habe  sich  zur 
Richtlinie  gemacht,  daß,  solange  er  lebe,  England  in  keinen  Krieg  mehr 
verwickelt  werden  sollte.  Dementsprechend  werde  er  alles  tun,  um 
kriegerische  Möglichkeiten  auszuschließen  in  der  festen  Überzeugung, 
daß  ein  neuer  Krieg  den  Untergang  für  alle  bedeuten  würde.  Je  länger 
man  aber  mit  einer  Lösung  zögere,  desto  gefährlicher  werde  Lage 
werden,  da  die  heranwachsende  jüngere  Generation  die  Schrecken  des 
Krieges  nicht  kenne  und  seine  Nutzlosigkeit  wohl  nicht  so  verstehe, 
wie  die  Generation  der  Kriegsteilnehmer.  Es  laste  daher  auf  den 
Staatsmännern  die  verantwortungsschwere  Pflicht,  die  Völker,  die 
selbst  sicherlich  nicht  den  Krieg  wünschten,  auf  die  Bahn  einer  wechsel- 
seitigen Verständigung  zu  führen. 

Ich  entgegnete,  Begründung  französischer  Haltung  mit  Furcht 
genüge  nicht;  es  käme  dazu,  wie  zum  Beispiel  das  jüngste  Buch  Tar- 
dieus  zeige,  der  Wunsch  Frankreichs,  seine  Position  als  Sieger  zu 
wahren  und  seine  Abneigung,  mit  Deutschland  auf  gleichem  Fuße 
zu  paktieren.  Deutsche  Regierung  und  insbesondere  Reichskanzler 
persönlich  hätten  alles  Denkbare  getan,  um  Verständigung  mit  Frank- 
reich herbeizuführen,  wie  wiederholter  Verzicht  auf  Elsaß-Lothringen 
und  Vereinbarung  mit  Polen  er\^'iesen.  In  Abrüstungsfrage  seien  wir 
mit  Italien  völlig  und  mit  England  nahezu  einig,  und  nur  der  obstfnate 
Widerstand  Frankreichs  verhindere  immer  wieder  das  Zustande- 
kommen einer  Konvention.  Auch  jetzt  bleibe  Deutschlands  Wunsch 
nach  Verständigung  mit  Frankreich  nach  wie  vor  bestehen,  und  es 


U] Das  Jahr  1934 41 

sei  reine  Verbohrtheit,  wenn  Frankreich  in  die  immer  wieder  aus- 
gestreckte Hand  nicht  einschlage.  Ich  anschloß  hieran  Hinweis  auf 
die  verschiedenen  Kundgebungen  Reichskanzlers,  in  denen  Friedens- 
wille so  überzeugend  zum  Ausdruck  gekommen  sei,  und  betonte,  daß 
deutsche  Politik  allein  darauf  hinausgehe,  in  Frieden  und  Gleich- 
berechtigung das  neue  Deutschland  aufzubauen. 

König  ableugnete  nicht  Hartnäckigkeit  französischer  Regierung, 
verwies  aber  dabei  auf  überaus  unbequeme  Einstellung  französischer 
öffentlicher  Meinung,  die  von  Hetzern  wie  Pertinax  irregeleitet  werde. 
Er  sprach  auch  von  der  schwierigen  innerfranzösischen  Situation  und 
schien  Lage  in  Frankreich  als  recht  unsicher  und  sorgenvoll  anzusehen. 
Zu  meinem  Erstaunen  bezeichnete  er  General  Weygand  als  ein  Element 
der  Vernunft  und  bemerkte,  Weygand  habe  sich  neuerdings  in  Richtung 
auf  Verständigung  orientiert.  Er  kenne  Weygand  gut  und  erwarte  im 
Sommer  seinen  Besuch  in  England.  Friedenspolitik  des  Reichskanzlers 
anerkannte  König  unumwunden  und  sprach  mit  Achtung  von  deut- 
schem Regierungsoberhaupt,  wobei  er  allerdings  beanstandete,  daß 
andere  deutsche  Stellen  gelegentlich  in  Reden  Absichten  und  Auf- 
fassungen kundgäben,  die  mit  Friedenspolitik  Kanzlers  nicht  in  Ein- 
klang zu  bringen  seien. 

König  abschloß  Unterredung  mit  einem  erneuten  Appell  an 
Deutschland  zu  verständnisvoller  Mitarbeit  zum  Abschluß  einer  Ab- 
rüstungskonvention, die  unter  allen  Umständen  zustandegebracht 
werden  müsse.  Ich  gewann  in  Unterredung  Eindruck,  daß  König 
Deutschland  gegenüber  verständnisvoll  und  rechtlich  eingestellt  ist, 
daß  aber  die  Sorgen  um  die  aus  dem  Abrüstungsproblem  sich  mög- 
licherweise ergebenden  Zukunftsgefahren  bei  ihm  augenblicklich  alles 
andere  überschatten. 

(Aus  den  Akten  des  Auswärligen  Amtes.)  Hoescll 

Milien  zwischen  den  Abrüslungsverhandlungen  ereignele  sich  ein 
charaklerislisches  Zwischenspiel:  Die  brilische  Regierung  erhob  Einspruch 
gegen  das  von  Deutschland  cuis  zwingenden  wirlschafllichen  Gründen  er- 
klärle  Transfer-Moralorium  hinsichllich  des  Diensles  der  Dawes-  und 
Young-Anleihe:  England  besland  auf  den  in  Versailles  erpreßten,  später 
sicherheitshalber  , .kommerzialisierten''  Tributen, 


Note  der  britischen  Regierung  vom  26.  April  1934  11. 

Der  Botschafter  Seiner  Majestät  empfiehlt  sich  dem  Reichs- 
minister des  Auswärtigen  und  gibt  sich  die  Ehre,  im  Auftrag  des 
Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Seiner  Majestät  festzustellen,  daß 
die  Regierung  Seiner  Majestät  schwere  Bedenken  gegen  jeden  Vor- 
schlag der  Anw^endung  eines  Transfer-Moratoriums  auf  die  Dawes- 
oder  Young-Anleihe  erheben  würde.  Diese  Anleihen  wurden  im  Ein- 
verständnis der  beteiligten  Regierungen  aufgelegt  und  werden  gegen- 
wärtig gemäß  den  auf  der  Londoner  Konferenz  von  1924  und  den 


42 


DeutBchland  -  England 


[12 


Konferenzen  im  Haa^  und  in  Paris  1930  getroffenen  Vereinbarungen 
verwaltet.  Die  Regierung  Seiner  Majestät  vertritt  mit  Nachdruck  die 
Auffassung,  daß  in  der  gegenwärtigen  Behandlung  dieser  Anleihen 
keinerlei  Änderung  eintreten  sollte.  Sir  Eric  Phipps  ist  beauftragt, 
hinzuzufügen,  daß  —  sollte  ein  Moratorium  auf  die  Reichsanleihen 
Anwendung  finden  —  hierdurch  offensichtlich  der  Wiederherstellung 
des  deutschen  Kredits  auf  weite  Sicht  größte  Schwierigkeiten  bereitet 
würde.  Die  Regierung  Seiner  Majestät  hegt  die  ernsthafte  Hoffnung, 
daß  kein  derartiger  Vorschlag  der  deutschen  verantwortlichen  Stellen 
auf  der  kommenden  Konferenz  vorgelegt  oder  angenommen  werden  wird. 
(Aus  den  Akten  des  Auswärtigen  Amtes.) 

Auch  nach  der  französischen  Note  vom  17,  April  1934  tat  man  in 
England  so,  als  gehe  das  Eingen  um  die  Abrüslung  weiter.  Englische 
Kirchenfährer  riefen  zur  Abrüsiung  auf.  Sie  sahen  darin  ,,die  moralische 
VerpfliiMiing  gegenüber  Deulschland'\  Nach  wie  vor  sollte  die  Abrüstung 
Grundlage  einer  allgemeinen  Verständigung  sein.  Die  eigentliche  Aktion 
aber  lag  an  ganz  anderer  Stelle,  Immer  latder  wurden  nämlich  neben 
diesen  Stimmen  andere,  die  nach  einer  eigenen  Aufrüstung^  insbesondere 
nach  einer  ausreichenden  Luflrüstung  üerlangten.  Die  britischen  Lufi- 
streilkrafle  seien  völlig  ungenügend  für  den  Heimatschutz,  hieß  es  in  der 
Unterhaussitzung  vom  8.  März,  Derselbe  Büldwin,  der  am  23,  April  zugabf 
daß  Deutschlands  Wunsch  nach  Verstärkung  seiner  Luflflolie  berechtigt 
sei,  forderte,  daß  England  sich  stärker  machen  müsse.  Denn  wenn  es 
Sanktionen  im  Rahmen  des  Völkerbundes  durchführen  wolle,  müsse  es 
für  den  Krieg  bereit  sein.  Sanktionen  sind  Krieg,  Am  19.  Juli  hat 
Batdwin  als  Lordpräsident  des  Haies  das  Programm  der  englischen 
Luftrüstung  bekanntgegeben.  Am  30.  Juli  fand  darüber  die  Aussprache 
im  Unterhaus  slalL  Dabei  sprach  Baldwin  das  Wort^  Großbritanniens 
Grenze  liege  am  Rhein, 


^2*  Au8  der  Unterhausrede  des  Lordiirisidenten  dee  Rates, 

Stanley  Baldwin^  vom  30.  Juli  1934 

Wir  sind  hierzulande  allzu  sehr  geneigt  anzunehmen»  daß  alle 
Völker  von  den  gleichen  Idealen  beseelt  sind  wie  wir.  Das  trifft  gegen- 
wärtig nicht  zu.  Es  sind  in  der  Welt  Anzeichen  für  eine  Art  der  Macht- 
ausübung vorhanden,  die  einen  Geist  atmet,  der  im  Falle  seines  Er- 
starkens  das  Ende  alles  dessen  bedeuten  würde,  was  wir  in  unserem 
Lande  hochhalten  und  was  in  unserem  Sinne  das  Leben  lebenswert  macht. 

Lassen  Sie  uns  niemals  folgendes  übersehen:  Seit  die  Luft  eine 
Rolle  spielt,  gibt  es  die  alten  Grenzen  nicht  mehr.  Wenn  Sie  an  die 
Verteidigung  Englands  denken,  dann  denken  Sic  nicht  mehr  länger 
an  die  Kalkfelsen  von  Dover,  Sie  denken  an  den  Rhein.  Dort  liegt 
unsere  Grenze. 

(E:  Parllamenlary  Debates,   Hause  of  Commons.  Bd.  292,  Sp.  233fl.  —  D: 
Freund,  Weltgeschichte  der  Gegenwart  in  Dokumenten,  Bd.  J,  S.  362f.) 


iq Das  Jahr  1334 ^ 

Englands  Rückkehr  in  den  Machtkampf  der  Weli^  die  mit  der  noch 
lange  umkämpften  Aufrüstung  einsetde,  halte  üon  Anbeginn  eine  deutsch- 
feindliche Spitze.  Die  Propaganda  stellte  die  deutsche  Rüstung,  die 
detdsche  Luftflotte  als  den  Gegner  hin,  der  England  zu  solchen  Lasten 
neigte.  Seit  Mitte  des  Jahres  1934  trat  in  England  ein  Umschlag  zu 
offener  Feindschaft  gegen  Deutschland  und  eine  offene  Abkehr  von  der 
Abrüstungspolitik  ein.  England  ließ  hinfort  der  französischen  Politik 
in  dieser  Frage  freien  Lauf.  Der  Locarno-Pakt  war  daher  schon  im  Juli 
1934  entwertet  und  gegenstandslos  gemacht.  Durch  Englands  Vermittlung 
und  mit  seiner  Empfehlung  wurde  am  12.  Juli  in  Berlin  der  fran- 
zösische Vorschlag  des  Ostpaktes  überreicht,  der  nach  den  Absichten  seiner 
Urheber  ein  verkapptes  französisch-russisches  Bündnis  gegen  Deutsch- 
land enthielt.  Die  Aufrüstungspropaganda  wurde  lebhafter. 


1935 


13]  Das  Jahr  1935  47 


Trotz  der  im  Laufe  des  Jahres  1934  eingeirelenen  Wendung  zu  einer 
noch  beionier  deutschfeindlichen  Stimmung  hatte  sich  in  England  aus 
einflußreichen  Persönlichkeiten  ein  kleiner  Kreis,  der  die  Herbeiführung 
besserer  deutsch-englischer  Beziehungen  anstrebte,  gebildet.  Der  bekannteste 
Vertreter  dieser  Gruppe,  der  inzwischen  verstorbene,  gewissenLabour-Kreisen 
nahestehende  Lord  Allen  of  Hurtwood,  weilte  im  Januar  1935  zu  Besuch 
in  Deutschland  und  wurde  am  25.  Januar  vom  Fährer  empfangen. 
Außerdem  wurden  Frontkämpferbesuclie  ins  Auge  gefaßt.  Am  11.  Juni 
beglückwünschte  der  Prince  of  Wales  die  British  Legion,  den  eng- 
lischen Frontkämpferverband,  zu  ihrem  Entschluß,  eine  Delegation  nach 
DeutscMand  zu  entsenden. 


Aufzeidinung  über  die  Unterredung  13. 

zwischen  dem  Führer  und  Lord  Allen  of  Hurtwood 
am  25.  Januar  1935 

Lord  Allen  eröffnete  das  Gespräch,  indem  er  sich  für  den  ihm 
gewährten  Empfang  wärmstens  bedankte.  Er  wies  darauf  hin,  daß  er 
keinen  offiziellen  Besuch  in  Berlin  abstatte  und  auch  nicht  im  amt- 
lichen Auftrag  der  englischen  Regierung  handele.  Er  habe  aber  den 
Auftrag  vom  englischen  Ministerpräsidenten  MacDonald  erhalten,  eine 
Botschaft  des  guten  Willens  zu  überbringen.  Zwar  bestünden  in  der 
englischen  öffentlichen  Meinung  noch  Zweifel  über  manche  Ereignisse 
in  Deutschland.  Es  sei  aber  ein  starker  Wechsel  der  Meinungen  zu- 
gunsten Deutschlands  festzustellen.  Das  Bedauern  über  die  in  den 
letzten  zwanzig  Jahren  begangenen  politischen  Fehler  nehme  zu  und 
damit  der  Wunsch,  sich  über  die  noch  bestehenden  Mißverständnisse 
zu  einigen.  Die  europäische  politische  Lage  errege  insofern  große  Be- 
sorgnis in  England,  als  man  mit  dem  offensichtlichen  Bestreben  anderer 
Mächte,  eine  neuerliche  Einkreisung  Deutschlands  vorzunehmen,  nicht 
einverstanden  sei.  Um  diese  Entwicklung  aufzuhalten,  sei  eine  Ver- 
ständigung zwischen  England  und  Deutschland,  die  später  in  einer 
allgemeinen  Rüstungsvereinbarung  ihren  Niederschlag  fände,  von  be- 
sonderer Wichtigkeit. 

Der  Führer  und  Reichskanzler  dankte  Lord  Allen  für  seinen 
Besuch;  angesichts  des  Umstandes,  daß  aus  der  englischen  Presse  ein 
Bild  über  die  wahren  Verhältnisse  in  Deutschland  nicht  zu  gewinnen 


48  Deutschland  -  England  [  1 3 

sei,  bezeichnete  er  als  besonders  erfreulich,  wenn  bedeutende  Eng- 
lönder  sich  selber  von  der  ruhigen  Lage  in  Deutschland  überzeugen. 
Diese  innere  Ruhe  sei  eine  Voraussetzung  für  Deutschlands  Wieder- 
aufbau. Deutschland  brauche  für  vierzig  bis  fünfzig  Jahre  ungetrübten 
Frieden;  denn  der  Krieg  reiße  mehr  ein,  als  was  zehn  Jahre  Frieden 
aufbauen.  Die  jetzige  Generation  habe  nicht  die  Aufgabe,  einen  neuen 
Krieg  vorzubereiten,  sondern  die  Folgen  des  Weltkrieges  zu  liquidieren. 

Das  deutsche  Regime  sei  auch,  ohne  sich  um  äußere  politische 
Erfolge  bemühen  zu  müssen,  von  großer  innerer  Stärke.  Wenn  Deutsch- 
land an  der  Erhaltung  des  Friedens  ebenso  interessiert  sei  wie  die 
anderen  Mächte,  so  sei  klar,  daß  zur  Erreichung  dieses  Zieles  Deutsch- 
land Anspruch  auf  vollkommene  Gleichberechtigung  und  Sicherheit 
seiner  Grenzen  habe.  Zur  Förderung  des  Friedensgedankens  in  der 
Welt  habe  er  im  Laufe  des  letzten  Jahres  zwei  wichtige  Erklärungen 
abgegeben:  Durch  die  Vereinbarung  mit  Polen  sei  eine  allgemeine 
Beruhigung  in  Europa  eingetreten.  Das  gleiche  müsse  man  erwarten, 
nachdem  er  der  französischen  Regierung  nach  der  Saarabstimmung 
wiederholt  zu  verstehen  gegeben  habe,  daß  Deutschland  keine  territo- 
rialen Forderungen  irgendwelcher  Art  mehr  an  Frankreich  zu  richten 
habe.  Damit  seien  alle  Voraussetzungen  geschaffen,  die  die  Gewähr 
für  eine  friedliche  Entwicklung  in  sich  schlössen.  Die  eben  erwähnten 
Erklärungen  seien  in  voller  Öffentlichkeit  abgegeben  worden.  Deutsch- 
land habe  damit  selbst  vor  aller  Welt  die  Gründe  zerstört,  die  in  einem 
Teil  der  öffentlichen  Meinung  der  Welt  als  Grundlage  der  deutschen 
Rcvanchelust  betrachtet  worden  seien.  Dieser  deutsche  Beitrag  zur 
europäischen  Befriedung  sei  im  Verhältnis  zu  dem,  was  andere  Nationen 
nach  anderen  Kriegen  geleistet  hätten,  größer  und  bedeutungsvoller. 

Deutschland  hat  niemals  die  im  Vertrag  von  Versailles  zum  Aus- 
druck kommende  Auffassung  einer  eigentümlichen  politischen  Moral 
angenommen.  Zwar  hat  sich  Deutschland  mit  dem  durch  den  Vertrag 
geschaffenen  tatsächlichen  Zustand  abfinden  müssen.  Es  lehnt  aber 
nach  wie  vor  die  Bestimmungen  des  Vertrages  ab,  die  durch  die  Diskri- 
minierung und  ungleiche  Behandlung  Deutschlands  bis  jetxt  nur 
eine  Quelle  der  Beunruhigung  gewesen  sind.  Das  deutsche  Volk  habe 
Jahr  für  Jahr  auf  eine  Einkehr  zu  einer  besseren  Einsicht  gewartet. 
Statt  dessen  seien  bei  fast  allen  unseren  Nachbarn  größere  Rüstungen 
festzustellen.  Besonders  zwei  Ereignisse  erfüllten  uns  mit  Sorge.  ?.u- 
nächst  die  Tatsache,  daß  unsere  Vorschläge  auf  dem  Gebiet  der  Ab- 
rüstung abgelehnt  worden  seien,  und  dann  die  Tatsache,  daß  die  labilen 
politischen  Verhältnisse  in  Frankreich  einen  häufigen  Wechsel  von 
Regierungen  zur  Folge  hätten,  die  ihre  innere  Schwäche  durch  außen- 
politische Erfolge  auszugleichen  suchten.  Der  Völkerbund  habe  Deutsch- 
land das  Gefühl  der  Sicherheit  nicht  gegeben.  Deutschland  könne  aber 
nicht  darauf  warten.  Dies  solle  nicht  bedeuten,  daß  Deutschland  jede 
Zusammenarbeit  mit  anderen  Nationen  ablehne.  Dagegen  sehe  Deutsch- 
land in  dem  heutigen  System,  Kollektivpakte  zu  schließen,  über 
deren  Tragweite  sich  einzelne  Teilnehmer  gar  nicht  im  klaren  sein 
könnten,  eine  große  Gefahr  für  den  Frieden  Europas. 


13] Das  Jahr  1935 49 

Der  Führer  und  Reichskanzler  erläuterte  diesen  Gedanken  an 
dem  Beispiel  des  Ausbruchs  der  Feindseligkeiten  zwischen  Rußland 
und  Polen. 

Deutschland  sei  jederzeit  bereit,  eine  Rustungsvereinbarung  mit 
England  abzuschließen.  Auf  maritimem  Gebiet  habe  Deutschland 
keinerlei  Ehrgeiz,  mit  England  in  Wettbewerb  zu  treten.  Es  sei  daher 
bereit,  sich  in  einer  derartigen  Vereinbarung  auf  etwa  35  Prozent  der 
englischen  Flottenrüstung  zu  beschränken.  Selbstverständlich  verlange 
Deutschland  die  Gleichberechtigung  in  der  Luft,  sei  aber  jederzeit  zu 
einem  Abkommen  mit  England  über  die  Parität  der  Luftrüstung  im 
Verhältnis  zur  stärksten  kontinentalen  Luftmacht  bereit.  Die  deutsche 
Rüstung  zu  Lande  würde  für  England  niemals  eine  Bedrohung  sein. 

Das  bisherige  Verfahren,  um  zu  einer  Rüstungsvereinbarung  zu 
gelangen,  sei  völlig  hoffnungs-  und  aussichtslos.  Es  handele  sich  jetzt 
darum,  einen  Kristallisationspunkt  zu  finden,  von  dem  eine  neue 
Initiative  ausgehen  könne.  Diese  sähe  er  in  einer  Rüstungsvereinbarung, 
die  zunächst  zwischen  England  und  Deutschland  geschlossen  würde. 

Lord  Allen  bemerkte  zu  diesen  Äußerungen,  die  der  Führer  und 
Reichskanzler  selbst  nicht  als  Vorschläge,  sondern  als  politische  Ge- 
danken bezeichnete,  daß  England  zweifellos  nicht  davon  abgehen 
könne,  sich  mit  den  anderen  Nationen  zu  beraten,  bevor  es  eine  der- 
artige Rüstungsvereinbarung  mit  Deutschland  abschließe. 

Der  Führer  und  Reichskanzler  erwiderte,  daß  eine  solche  Kon- 
sultation wenig  Erfolg  haben  würde,  da  die  anderen  Nationen  eben 
nicht  bereit  seien,  von  ihrem  Rüstungsstand  abzugehen. 

Auf  die  Frage  Lord  Aliens,  ob  die  deutsch-englische  Rüstungs- 
vereinbarung etwa  auch  die  Verpflichtung  zu  gegenseitiger  Hilfe- 
leistung einschließen  könnte,  erwiderte  der  Führer  und  Reichskanzler, 
daß  dies  keinesfalls  in  Frage  käme.  Die  Vereinbarung  solle  lediglich 
die  Begrenzung  der  Bewaffnung  zum  Ziele  haben.  Ihr  Zweck  sei,  einen 
allgemeinen  Wettlauf  in  der  europäischen  Aufrüstung  zu  verhindern. 
Die  Folge  eines  solchen  Abkommens  würde  voraussichtlich  zunächst 
sein,  daß  Italien  sich  der  Vereinbarung  anschließe.  In  dieser  Lage 
würde  auch  Frankreich  schließlich  nichts  anderes  übrigbleiben,  als 
sich  zu  fügen. 

Lord  Allen  betonte  noch  einmal  den  Wunsch  zur  Verständigung 
mit  Deutschland.  Gleichzeitig  habe  aber  die  englische  Regierung  ein 
großes  Interesse  an  regelmäßiger  Zusammenarbeit  mit  anderen  Na- 
tionen. Der  Reichskanzler  habe  in  der  letzten  Zeit  wiederholt  den  An- 
spruch auf  Gleichberechtigung  öffentlich  formuliert.  Er,  Lord  Allen, 
glaube,  daß  die  englische  öffentliche  Meinung  und  damit  gleichzeitig 
die  englische  Regierung  vorteilhaft  darauf  reagieren  würden,  wenn  der 
Reichskanzler  bei  einer  sich  bietenden  Gelegenheit  eine  Erklärung 
abgebe,  in  der  er  sich  sowohl  zur  Zusammenarbeit  mit  Europa  bereit 
erkläre  als  auch  seine  Stellungnahme  dazu  präzisieren  würde,  wie 
Deutschland  sich  verhalten  werde,  wenn  ihm  die  Gleichberechtigung 
gewährt  worden  sei. 

Der  Führer  und  Reichskanzler  entgegnete  hierauf,  daß  es  für  ihn 

Deutschland-England  4 


W  Deutschland  -  Engbind  [13 

nicht  leicht  sei,  eine  solche  Erklärung  abzugeben,  da  Deutschland  seit 
Dezember  1932  schlechte  Erfahrungen  gemacht  habe.  Die  französische 
Presse  fange  schon  jetzt  an,  Bedingungen  an  die  Gewährung  der 
Gleichberechtigung  zu  knüpfen.  Auf  derartige  Bedingungen  werde 
sich  Deutschland  niemals  einlassen.  Teil  V  des  Vertrages  von  Versailles 
müsse  ein  für  allemal  gelöscht  werden.  Deutschland  würde  aber  niemals 
zustimmen,  daß  an  die  Stelle  dieses  Abschnitts  des  Friedensvertrags 
ein  neues  Statut  träte,  durch  das  Deutschland  neue  Bedingungen  auf- 
erlegt würden.  Was  Deutschland  freiwillig  unterschreibe,  werde  es 
auch  stets  halten.  Sobald  er  darüber  Gewißheit  habe,  daß  ein  derartiges 
neues  Statut  nicht  beabsichtigt  sei,  werde  er  auch  zu  der  von  Lord 
Allen  als  erwünscht  bezeichneten  Erklänmg  bereit  sein. 
(AuH  rlon  Akten  den  Aimwfirtigen  Amtes.) 

An  der  Jahreswende  1934I3S  ließ  sich  Englands  Poliiik  Deuiscidand 
gegenüber  etwa  dahin  charakterisieren:  England  erstrebte  Deutschlands 
Einordnung  in  ein  festes  System,  das  Deutschland  der  Möglichkeit  unlielh- 
samen  selbständigen  Vorgehens  berauben  sollte.  Es  sollte  durch  Beitritt 
zu  entsprevlienden  Pakten  und  Abmachungen  einen  Beweis  seines  Friedens- 
willens  geben.  Der  Ostpakt,  die  lUickkehr  in  den  Völkerbund  und  auch  die 
Abrüstungs frage  wurden  in  diesem  Zusammenhang  wieder  erörtert.  Die 
letztere  hatte  Baldwin  durch  eine  Bede  im  Unterhaus  vom  28,  Noveml^er 
1934  neuerdings  angeregt.  Er  nannte  zwar  die  deutschen  Büstungen  die 
wichtigste  Quelle  der  Beunruhigung;  sie  seien  aber  nun  einmal  eine  Tal- 
sache, und  es  sei  notwendig,  Ktarlieit  über  Deutschlands  Absichten  und 
Pläne  zu  erhalten,  Xu  diesem  Zn^cke  müßten  die  Verhandtungen  zwischen 
den  Mächten  wietler  aufgenommen  werden. 

Man  konnte  also  auch  in  Engtand  nicht  länger  umhin,  den  deutschen 
Standpunkt  anzuerkennen :  Abschnitt  V  des  Versailler  Vertrags  war  M^ 
eine  neue  Begelung  unter  Wahrung  der  iHillcn  Gleichbcrechligung  Deutsch- 
lands mußte  an  seine  Stelle  treten. 

Im  Januar  1935  kamen  englisch-französische  Besprechungen  wieder 
in  Gang  und  führten  zu  der  Londoner  Erklärung  vom  3,  Februar  1935, 
Eine  allgemeine  Begelung  der  Büstungsfrage  wurde  ins  Auge  gefaßt.  Aber 
gemäß  der  französischen  These  wurde  auch  der  .X^rganisalion  der  Sicher- 
heit gedacht  und  dabei  an  den  Ostpakt  erinnert,  Deutschland  soltle  ferner 
in  den  Völkerbund  zurückkehren.  Endlich  wurde  ron  der  Möglichkeit 
eines  Lufipaktes  ztvischen  Deutschland,  England,  Frankreich,  Belgien 
und  Italien,  den  fünf  Locarno- Partnern,  gesprochen.  Auch  diesmal  kam 
der  Führer  den  andern  entgegen.  Im  Interesse  des  Friedens  iiH>Ute  Deutsch- 
land gemeinsam  mit  den  Slächten  prüfen,  wie  sich  die  irefahr  eines  Weä- 
rüstens  vermeiden  ließe.  Es  hieß  in  der  deutschen  Anttrort  vom  14,  Februar 
793S,  daß  „wwr  der  in  der  britisch-französischen  \'erlautbarung  zum 
Ausdruck  kommende  (reist  freier  }  ereinharung  avischen  souveränen 
Staaten  zu  dauerhaften  internationalen  Begelungen  auf  dem  Gehide  der 
Rüstungen  führen  kann**.  Deutschland  slimmle  auch  einem  Lufipaki  zu. 
Die  Atmosphäre  schien  sich  zu  reinigen.  Am  7.?.  Januar  79S5  haue  die 
Saarabstimmung  jenen  eindeutigen  deutschen  Sieg  gebracht,  vor  dem  sich 


14] 


Das  Jahr  1935 


51 


auch  die  französische  Regierung  loyal  heugte.  Nunmehr  waren  nach  dem 
Worte  des  Führers  alle  ierriiorialen  Streitfragen  zwischen  Deutschland 
und  Frankreich  erledigt. 

Dennoch  nahmen  die  schon  in  Gang  gekommenen  Abrüslangsüerhand- 
langen  eine  ungünstige  Wendung,  Die  englische  Regierung,  die  sie  an- 
geregt halte,  hat  sie  auch  sabotiert.  Die  neue  Rüslungs vorläge ,  die  sie  am 
2L  März  1936  im  Parlament  einbrachte,  wurde  mit  einem  Weißbuch  be- 
gründet, in  dem  Deutschland  der  Bedrohung  des  Weltfriedens  und  des 
Bruchs  des  Versailler  Vertrages  bezichtigt  wurde.  Unter  Bezug  auf  eine 
in  Deutschtand  vor  sich  gehende  Aufrüstung  wurden  eigene  Rästungs- 
Verstärkungen  und  ein  Umbau  atler  englischen  Streitkräfte  zu  Wasser,  Land 
und  in  der  Luft  angekündigt,  Engtand  hatte  eine  vollzogene  Tatsache  ge- 
schaffen^ ehe  es  noch  zu  irgendwelchen  Verhandlungen  hatte  kommen  können. 


Aus  dem  britiBchen  Rüstungs-Weißbudi  vom  1*  März  1935 


Teil  III 

8.  Die  Lage  war  Mitte  vorigen  Sommers  wie  folgt: 

(1)  Die  Abrüstungskonferenz  war  dem  Wesen  nach  zum  Stillstand 
gekommen.  Es  war  offensichtlich,  daß  weitere  Verbandlungen  durch 
die  Tatsache  gehemmt  werden  würden,  daß  Deutschland  nicht  nur 
entgegen  den  Bestimmungen  des  Teils  V  des  Versailler  Vertrages  offen 
in  großem  Maßslab  aufrüstete,  sondern  auch  seinen  Austritt  aus  dem 
Völkerbund  und  der  Abrüstungskonferenz  erklärt  hatte.  Auch  Japan 
hatte  seinen  Austritt  aus  dem  Völkerbund  erklärt.  Alle  größeren 
Mächte,  außer  dem  Vereinigten  Königreich,  vermehrten  ihre  Rüstungen. 

(2)  Ins  einzelne  gehende,  sorgfältige  Untersuchungen  wurden 
über  die  ernsten  Mängel  unserer  Verteidigungsstreitkräfte  und  -mittel 
angestellt.  Es  wurde  festgestellt,  daß  Land  und  Empire  sich  nicht  mehr 
in  einem  angemessenen  Verteidigungszustande  befänden»  wenn  nicht 
ein  Programm  in  Angriff  genommen  würde,  das  sie  neu  ordnete  und 
modernisierte.  Sollte  daher  trotz  aller  unserer  Bemühungen,  Frieden 
zu  halten,  ein  gegen  uns  gerichteter  Angriff  stattfinden,  so  würden 
wir  nicht  in  der  Lage  sein»  unsere  Seeverkehrswege,  die  Ernährung 
unserer  Bevölkerung  oder  die  Verteidigung  unserer  wichtigsten  Städte 
und  ihrer  Einwohner  gegen  Luftangriffe  zu  sichern.  Überdies  liegt 
der  große  Wert  des  Vertrages  von  Locarno  für  unser  Land  in  seiner 
abschreckenden  Wirkung  auf  etwaige  Angreifer,  Diese  wird  aber  wesenl- 
lieh  abgeschwächt  durch  die  von  allen  Signataren  geteilte  Erkenntnis, 
daß,  falls  unsere  Verpflichtung  klar  ist,  unsere  Mitwirkung  doch  nur 
wenig  entscheidende  Wirkung  haben  kann.  Die  gleiche  Erwägung 
würde  natürlich  auch  auf  jedes  andere  System  gemeinsamer  Sicherheit 
anzuwenden  sein,  dem  wir  angehören  würden. 

9.  Unter  obigen  Umständen  war  sich  die  Regierung  Seiner  Majestät 
bewußt,  daß  sie  ihrer  Verantwortung  nicht  gerecht  werden  würde, 
wenn  sie,  bei  uneingeschränkter  Fortführung  ihrer  Bemühungen  um 


54  Deutschland  -  England  [15 

Folgendes  waren  die  von  dieser  Kommission  bestätigten  Arbeiten 
der  Zerstörung  der  deutschen  Wehrkraft  und  ihrer  Mittel: 

A.  Heer 

59  897  Geschütze  und  Rohre 
130  558  Maschinengewehre 
31  470  Minenwerfer  und  Rohre 
6  007  000  Gewehre  und  Karabiner 
243  937MG.-Läufe 
28  001  Lafetten 
4  390  MW.-Lafetten 
38  750  000  Geschosse 
16  550  000  Hand-  und  Gewehrgranaten 
60  400  000  scharfe  Zünder 
491  000  000  Handwaffenmunition 
335  000  t  Geschoßhülsen 
23  515  t  Kartusch-  und  Patronenhülsen 
37  600  t  Pulver 
79  500  Munitionsleeren 
212  000  Femsprecher 
1  072  Flammenwerfer 
31  Panzerzüge 
59  Tanks 
1  762  Beob.-Wagen 
8  982  drahtlose  Stationen    . 

1  240  Feldbäckereien 
2 199  Pontons 

981,7  t  Ausrüstungsstücke  für  Soldaten  und 
8  230  350  Satz  Ausrüstungsstücke  für  Soldaten 

7  300  Pistolen  und  Revolver 
180  MG.-Schlitten 

21  fahrbare  Werkstätten 
12  Flakgeschützwagen 
11  Protzen 
64  000  Stahlhelme 
174  000  Gasmasken 

2  500  Maschinen  der  ehem.  Kriegsindustrie 

8  000  Gewehrläufe. 

B.  Luft 

15  714  Jagd-  und  Bombenflugzeuge 
27  757  Flugzeugmotoren. 

C.  Marine 

Zerstörtes^  abgewracktes,  versenktes  oder  ausgeliefertes  Kriegs- 
■ehiffmaterial  der  Marine: 

26  Großkampfschiffe 
4  Küstenpanzer 


15] Das  Jahr  1935 ^ 

4  Panzerkreuzer 
19  Kleine  Kreuzer 
21  Schul-  und  Spezialschiffe 
83  Torpedoboote 
315  U-Boote. 

Bemerkungen  zu  A  und  B 

Femer  unterlagen  der  Zerstörungspflicht:  Fahrzeuge  aller  Art, 
Gaskampf-  und  zum  Teil  Gasschutzmittel,  Treib-  und  Sprengmittel, 
Scheinwerfer,  Visiereinrichtungen,  Entfernungs-  und  Schallmeßgeräte, 
optische  Geräte  aller  Art,  Pferdegeschirr,  Schmalspurgerät,  Feld- 
druckereien, Feldküchen,  Werkstätten,  Hieb-  und  Stichwaffen,  Stahl- 
helme, Munitionstransportmaterial,  Normal-  und  Spezialmaschinen 
der  Kriegsindustrie  sowie  Einspannvorrichtungen,  Zeichnungen  dazu, 
Flugzeug-  und  Luftschiffhalien  usw. 

Nach  dieser  geschichtlich  beispiellosen  Erfüllung  eines  Vertrages 
hatte  das  deutsche  Volk  ein  Anrecht,  die  Einlösung  der  eingegangenen 
Verpflichtungen  auch  von  der  anderen  Seite  zu  erwarten. 

Denn: 

1.  Deutschland  hatte  abgerüstet. 

2.  Im  Friedensvertrag  war  ausdrücklich  gefordert  worden,  daß 
Deutschland  abgerüstet  werden  müsse,  um  damit  die  Voraus- 
setzung für  eine  allgemeine  Abrüstung  zu  schaffen,  d.  h.  es  war 
damit  behauptet,  daß  nur  in  Deutschlands  Rüstung  allein  die 
Begründung  für  die  Rüstung  der  anderen  Länder  läge. 

3.  Das  deutsche  Volk  war  sowohl  in  seinen  Regierungen  als  auch 
in  seinen  Parteien  damals  von  einer  Gesinnung  erfüllt,  die  den 
pazifistisch-demokratischen  Idealen  des  Völkerbundes  und  seiner 
Gründer  restlos  entsprach.  Während  aber  Deutschland  als  die 
eine  Seite  der  Vertragschließenden  seine  Verpflichtungen  er- 
füllt hatte,  unterblieb  die  Einlösung  der  Verpflichtung  der 
zweiten  Vertragsseite.  Das  heißt:  Die  Hohen  Vertragschließen- 
den der  ehemaligen  Siegerstaaten  haben  sich  einseitig  von  den 
Verpflichtungen  des  Versailler  Vertrages  gelöst! 

Allein  nicht  genügend,  daß  jede  Abrüstung  in  einem  irgendwie 
mit  der  deutschen  Waffenzerstörung  vergleichbaren  Maße  unterblieb, 
nein:  es  trat  nicht  einmal  ein  Stillstand  der  Rüstungen  ein,  ja  im 
Gegenteil,  es  wurde  endlich  die  Aufrüstung  einer  ganzen  Reihe  von 
Staaten  offensichtlich.  Was  im  Kriege  an  neuen  Zerstörungsmaschinen 
erfunden  wurde,  erhielt  nunmehr  im  Frieden  in  methodisch-wissen- 
schaftlicher Arbeit  die  letzte  Vollendung.  Auf  dem  Gebiet  der  Schaffung 
mächtiger  Landpanzer  sowohl  als  neuer  Kampf-  und  Bomben- 
maschinen fanden  ununterbrochene  und  schreckliche  Verbesserungen 
statt.  Neue  Riesengeschütze  wurden  konstruiert,  neue  Spreng-,  Brand- 
und  Gasbomben  entwickelt. 

Die  Welt  aber  hallte  seitdem  wider  von  Kriegsgeschrei,  als  ob 
niemals  ein  Weltkrieg  gewesen  und  ein  Versailler  Vertrag  geschlossen 
worden  wäre. 


56  DeuUchland  -  England  [15 

Inmitten  dieser  hochgerüsteten  und  sich  immer  mehr  der  modern- 
sten motorisierten  Kräfte  bedienenden  Kriegsstaaten  war  Deutschland 
ein  machtmäßig  leerer  Raum,  jeder  Drohung  und  jeder  Bedrohung 
Jedes  einzelnen  wehrlos  ausgeliefert.  Das  deutsche  Volk  erinnert  sich 
des  Unglücks  und  Leides  von  fünfzehn  Jahren  wirtschaftlicher  Ver- 
elendung, politischer  und  moralischer  Demütigung. 

Es  war  daher  verständlich,  wenn  Deutschland  laut  auf  die  Ein- 
lösung des  Versprechens  auf  Abrüstung  der  anderen  Staaten  zu  drängen 
begann.  Denn  dieses  ist  klar: 

Einen  hundertjährigen  Frieden  würde  die  Welt  nicht  nur  ertragen, 
sondern  er  müßte  ihr  von  unermeßlichem  Segen  sein.  Eine  hundert- 
jährige Zerreißung  in  Sieger  und  Besiegte  aber  erträgt  sie  nicht. 

Die  Empfindung  über  die  moralische  Berechtigung  und  Notwen- 
digkeit einer  internationalen  Abrüstung  war  aber  nicht  nur  in  Deutsch- 
land, sondern  auch  innerhalb  vieler  anderer  Völker  lebendig.  Aus  dem 
Drängen  dieser  Kräfte  entstanden  die  Versuche,  auf  dem  Wege  von 
Konferenzen  eine  Rüstungsverminderung  und  damit  eine  internatio- 
nale allgemeine  Angleichung  auf  niederem  Niveau  in  die  Wege  leiten 
zu  wollen. 

So  entstanden  die  ersten  Vorschläge  internationaler  Rüstungs- 
abkommen, von  denen  wir  als  bedeutungsvollen  den  Plan  MacDonalds 
in  Erinnerung  haben. 

Deutschland  war  bereit,  diesen  Plan  anzunehmen  und  zur  Grund- 
lage von  abzuschließenden  Vereinbarungen  zu  machen. 

Er  scheiterte  an  der  Ablehnung  durch  andere  Staaten  und  wurde 
endlich  preisgegeben.  Da  unter  solchen  Umständen  die  dem  deutschen 
Volke  und  Reiche  in  der  Dezember-Erklärung  1932  feierlich  zugesicherte 
Gleichberechtigung  keine  Verwirklichung  fand,  sah  sich  die  neue 
Deutsche  Reichsregierung  als  Wahrerinder  Ehre  und  der  Lehens- 
rechte des  deutschen  Volkes  außerstande,  noch  weiterhin  an  solchen 
Konferenzen  teilzunehmen  oder  dem  Völkerbund  anzugehören. 

Allein  auch  nach  dem  Verlassen  Genfs  war  die  Deutsche  Regierung 
dennoch  bereit,  nicht  nur  Vorschläge  anderer  Staaten  zu  überprüfen, 
sondern  auch  eigene  praktische  Vorschläge  zu  machen.  Sie  übernahm 
dabei  die  von  den  anderen  Staaten  selbst  geprägte  Auffassung,  daß 
die  Schaffung  kurzdienender  Armeen  für  die  Zwecke  des  Angriffs 
ungeeignet  und  damit  für  die  friedliche  Verteidigung  anzuempfehlen  sei. 

Sie  war  daher  bereit,  die  langdienende  Reichswehr  nach  dem 
Wunsche  der  anderen  Staaten  in  eine  kurzdienende  Armee  zu  verwan- 
deln. Ihre  Vorschläge  vom  Winter  1933/34  waren  praktische  und 
durchführbare.  Ihre  Ablehnung  sowohl  als  die  endgültige  Ablehnung 
der  ähnlich  gedachten  italienischen  und  englischen  Entwürfe  ließen 
aber  darauf  schließen,  daß  die  Geneigtheit  zu  einer  nachträglichen 
sinngemäßen  Erfüllung  der  Versailler  Abrüstungsbestimmungen  auf 
der  anderen  Seite  der  Vertragspartner  nicht  mehr  bestand. 

Unter  diesen  Umständen  sah  sich  die  Deutsche  Regierung  ver- 
anlaßt, von  sich  aus  jene  notwendigen  Maßnahmen  zu  treffen,  die  eine 
Beendigung  des  ebenso  unwürdigen  wie  letzten  Endes  bedrohlichen 


16] Das  Jahr  1935 57 

Zustandes  der  ohnmfichtigen  Wehrlosigkeit  eines  großen  Volkes  und 
Reiches  gewährleisten  konnten. 

Sie  ging  dabei  von  denselben  Erwägungen  aus,  denen  Minister 
Baldwin  in  seiner  letzten  Rede  so  wahren  Ausdruck  verlieh: 

„Ein  Land,  das  nicht  gewillt  ist,  die  notwendigen  Vorsichtsmaß- 
nahmen zu  seiner  eigenen  Verteidigung  zu  ergreifen,  wird  niemals 
Macht  in  dieser  Welt  haben,  weder  moralische  noch  materielle  Macht." 

Die  Regierung  des  heutigen  Deutschen  Reiches  aber  wünscht  nur 
eine  einzige  moralische  und  materielle  Macht;  es  ist  die  Macht,  für 
das  Reich  und  damit  wohl  auch  für  ganz  Europa  den  Frieden  wahren 
zu  können ! 

Sie  hat  daher  auch  weiterhin  getan,  was  in  ihren  Kräften  stand 
und  zur  Förderung  des  Friedens  dienen  konnte: 

1.  Sie  hat  all  ihren  Nachbarstaaten  schon  vor  langer  Frist  den 
Abschluß  von  Nichtangriffspakten  angetragen. 

2.  Sie  hat  mit  ihrem  östlichen  Nachbarstaat  eine  vertragliche  Rege- 
lung gesucht  und  gefunden,  die  dank  des  großen  entgegenkommenden 
Verständnisses,  wie  sie  hofft,  für  immer  die  bedrohliche  Atmosphäre, 
die  sie  bei  ihrer  Machtübernahme  vorfand,  entgiftet  hat  und  zu  einer 
dauernden  Verständigung  und  Freundschaft  der  beiden  Völker  führen 
wird. 

3.  Sie  hat  endlich  Frankreich  die  feierliche  Versicherung  gegeben, 
daß  Deutschland  nach  der  erfolgten  Regelung  der  Saarfrage  nunmehr 
keine  territorialen  Forderungen  mehr  an  Frankreich  stellen  oder  er- 
heben wird.  Sie  glaubt  damit,  in  einer  geschichtlich  seltenen  Form  die 
Voraussetzung  für  die  Beendigung  eines  jahrhundertelangen  Streites 
zwischen  zwei  großen  Nationen  durch  ein  schweres  politisches  und 
sachliches  Opfer  geschaffen  zu  haben. 

Die  Deutsche  Regierung  muß  aber  zu  ihrem  Bedauern  ersehen, 
daß  seit  Monaten  eine  sich  fortgesetzt  steigernde  Aufrüstung  der 
übrigen  Welt  stattfindet.  Sie  sieht  in  der  Schaffung  einer  sowjet- 
russischen Armee  von  101  Divisionen,  d.  h.  960  000  Mann  zugegebener 
Friedenspräsenzstärke,  ein  Element,  das  bei  der  Abfassung  des  Ver- 
sailler  Vertrages  nicht  geahnt  werden  konnte. 

Sie  sieht  in  der  Forcierung  ähnlicher  Maßnahmen  in  anderen 
Staaten  weitere  Beweise  der  Ablehnung  der  seinerzeit  proklamierten 
Abrüstungsidee.  Es  liegt  der  Deutschen  Regierung  fern,  gegen  irgend- 
einen Staat  einen  Vorwurf  erheben  zu  wollen.  Allein,  sie  muß  heute 
feststellen,  daß  durch  die  nunmehr  beschlossene  Einführung  der 
zweijährigen  Dienstzeit  in  Frankreich  die  gedanklichen  Grundlagen 
der  Schaffung  kurzdienender  Verteidigungsarmeen  zugunsten  einer 
langdienenden  Organisation  aufgegeben  worden  sind. 

Dies  war  aber  mit  ein  Argument  für  die  seinerzeit  von  Deutsch- 
land geforderte  Preisgabe  seiner  Reichswehr! 

Die  Deutsche  Regierung  empfindet  es  unter  diesen  Umständen  als 
eine  Unmöglichkeit,  die  für  die  Sicherheit  des  Reiches  notwendigen 
Maßnahmen  noch  länger  auszusetzen  oder  gar  vor  der  Kenntnis  der 
Mitwell  zu  verbergen. 


58 


DeuUchlaDd  •  En^rland 


U6 


Wenn  sie  daher  dem  in  der  Rede  des  englischen  Ministers  Baldwin 
am  28.  Noveraber  1934  ausgesprochenen  Wunsch  nach  einer  Auf- 
hellung der  deutschen  Absichten  nunmehr  entspricht,  dann  geschieht  es: 

1.  um  dem  deutschen  Volk  die  Überzeugung  und  den  anderen 
Staaten  die  Kenntnis  zu  geben,  daB  die  Wahrung  der  Ehre  und  Sicher- 
heit des  Deutschen  Reiches  von  jetzt  ab  wieder  der  eigenen  Kraft  der 
Deutschen  Nation  anvertraut  wird; 

2*  aber,  um  durch  die  Fixierung  des  Umfanges  der  deutschen 
Maßnahmen  jene  Behauptungen  zu  entkräften,  die  dem  deutschen 
Volke  das  Streben  nach  einer  militärischen  Hegemoniestellung  in 
Europa  unterschieben  wollen. 

Was  die  Deutsche  Regierung  als  Wahrerin  der  Ehre  und  der 
Interessen  der  Deutschen  Nation  wünscht,  ist,  das  AusmaO  jener  Macht- 
mittel sicherzustellen,  die  nicht  nur  für  die  Erhaltung  der  Integritsit 
des  Deutschen  Reiches»  sondern  auch  für  die  internationale  Respek- 
tierung und  Bewertung  Deutschlands  als  eines  Mitgaranten  des  allge- 
meinen Friedens  erforderlich  sind. 

Denn  in  dieser  Stunde  erneuert  die  Deutsche  Regierung  vor  dem 
deutschen  Volk  und  vor  der  ganzen  Welt  die  Versicherung  ihrer  Ent- 
schlossenheit, über  die  Wahrung  der  deutschen  Ehre  und  der  Freiheit 
des  Reiches  nie  hinausgehen  und  insbesondere  in  der  nationalen  deut-. 
sehen  Aufrüstung  kein  Instrument  kriegerischen  Angriffs,  vielmehr* 
ausschließlich  der  Verteidigung  und  damit  der  Erhaltung  des  Friedens 
bilden  zu  w^ollen. 

Die  Deutsche  Reichsregierung  drückt  dabei  die  zuversichtliche 
Hoffnung  aus,  daß  es  dem  damit  wieder  zu  seiner  Ehre  zurückfindenden 
deutschen  Volke  in  unabhängiger  gleicher  Berechtigung  vergönnt  sein 
möge,  seinen  Beitrag  zu  leisten  zur  Befriedung  der  Welt  in  einer 
freien  und  offenen  Zusammenarbeit  mit  den  anderen  Nationen  und 
ihren  Regierungen. 

{Raichsgesetiblatt,  1935,  Teil  1.  Nr.  28.) 

Mit  ruhiger  Entschlossenheii  hat  der  Führer  das  deutsche  Votk  durch 
die  internationale  Krise  gesteuert,  die  der  deutsche  Schritt  vom  16,  März 
1936  zur  Foige  hatte.  Die  Mächte  erhoben  Einspruch,  jedoch  kam  es  nicht 
zu  einem  gemeinsamen  Schritt,  Auch  hier  ging  England  wieder  voran, 

1 6.     Protestnote  der  britischen  Regierung  vom  18.  März  1935  gegen  die 

Einführung  der  Wehrpflicht 


1.  Ich  beehre  mich,  Ihnen  im  Auftrage  des  Königlichen  Staats- 
sekretärs für  Auswärtige  Angelegenheiten  mitzuteilen,  daß  sich  die 
Königliche  Regierung  in  dem  Vereinigten  Königreich  genötigt  sieht, 
der  Deutschen  Regierung  ihren  Protest  gegen  die  von  ihr  am  16.  März 
verkündete  Entscheidung  zu  übermitteln,  die  allgemeine  Wehrpflicht 
einzuführen  und  den  Friedensrahmen  des  deutschen  Heeres  auf  36  Divi- 
sionen zu  erhöhen.  Nach  der  Bekanntgabe  über  eine  deutsche  Luft- 


1^ Das  Jahr  1935 59 

macht  ist  eine  solche  Erklärung  ein  weiteres  Beispiel  für  eine  einseitige 
Aktion,  die,  ganz  abgesehen  von  der  grundsätzlichen  Seite  der  Frage, 
geeignet  ist,  die  Unruhe  in  Europa  in  ernster  Weise  zu  erhöhen.  Der 
Vorschlag  einer  englisch-deutschen  Zusammenkunft,  die  in  einer  Woche 
stattfinden  sollte,  ergab  sich  aus  dem  Inhalt  der  englisch-französischen 
Mitteilung  vom  3.  Februar  und  der  deutschen  Antwort  vom  14.  Februar, 
die  durch  weitere  Besprechungen  zwischen  der  Königlichen  Regierung 
und  der  Deutschen  Regierung  ergänzt  worden  sind.  Die  Königliche 
Regierung  hält  es  für  notwendig,  auf  den  Inhalt  dieses  Dokumentes 
besonders  hinzuweisen. 

2.  Die  Londoner  Mitteilung  vom  3.  Februar  stellte  einerseits  fest, 
daß  vertraglich  begrenzte  Rüstungen  nicht  durch  einseitige  Aktion  ab- 
geändert werden  können,  erklärte  aber  andererseits,  daß  die  Britische 
und  die  Französische  Regierung  zu  einer  allgemeinen  Regelung  geneigt 
seien,  über  die  zwischen  Deutschland  und  den  anderen  dächten  frei 
verhandelt  werden  solle.  Diese  allgemeine  Regelung  sollte  über  die 
Organisation  der  Sicherheit  in  Europa  nach  den  in  der  Mitteilung  an- 
gegebenen Richtlinien  Bestimmungen  treffen  und  gleichzeitig  Rüstungs- 
vereinbarungen festlegen,  die  für  Deutschland  die  einschlägigen  Be- 
stimmungen des  Teiles  V  des  Versailler  Vertrages  ersetzen  sollten. 
Die  Mitteilung  führte  weiter  aus,  es  sei  als  Teil  der  ins  Auge  gefaßten 
allgemeinen  Regelung  anzusehen,  daß  Deutschland  seine  aktive  Mit- 
gliedschaft im  Völkerbund  wieder  aufnehme,  und  skizzierte  schließlich 
den  Inhalt  eines  Luftpaktes  zwischen  den  Locarnomächten,  der  als 
Abschreckungsmittel  gegen  Angriffe  wirken  und  Sicherheit  vor  plötz- 
lichen Luftüber fällen  gewährleisten  sollte. 

3.  Die  Antwort  der  Deutschen  Regierung  zehn  Tage  später  be- 
grüßte den  Geist  freundschaftlichen  Vertrauens,  den  die  englisch- 
französische Mitteilung  zum  Ausdruck  brachte,  und  stellte  in  Aussicht, 
daß  die  Deutsche  Regierung  die  in  dem  ersten  Teil  der  Londoner  Mit- 
teilung enthaltenen  Fragen  einer  eingehenden  Prüfung  unterziehen 
werde,  femer  die  Zustimmung,  daß  der  in  der  Mitteilung  zum  Ausdruck 
gebrachte  Geist  freier  Verhandlungen  zwischen  souveränen  Staaten 
allein  zu  dauerhaften  internationalen  Regelungen  auf  dem  Gebiet  der 
Rüstungen  führen  könne.  Im  besonderen  begrüßte  sie  den  Vorschlag 
über  einen  Luftpakt.  Die  deutsche  Antwort  endete  mit  der  Erklärung, 
daß  die  Deutsche  Regierung  es  vor  Eingehen  auf  die  vorgeschlagenen 
Verhandlungen  für  erwünscht  halte,  in  besonderen  Besprechungen  mit 
den  in  Frage  kommenden  Regierungen  eine  Anzahl  von  grundsätz- 
lichen Vorfragen  zu  klären.  Zu  diesem  Zweck  lud  sie  die  Königliche 
Regierung  ein,  mit  der  Deutschen  Regierung  in  einen  unmittelbaren 
Gedankenaustausch  einzutreten. 

4.  Da  die  Königliche  Regierung  sich  vergewissem  wollte,  daß  hin- 
sichtlich des  Umfanges  und  des  Zweckes  der  vorgeschlagenen  englisch- 
deutschen Unterhaltung  kein  Mißverständnis  bestehe,  richtete  sie 
am  2L  Februar  an  die  Deutsche  Regiemng  eine  weitere  Anfrage,  auf 
die  diese  am  folgenden  Tage  antwortete.  Das  Ergebnis  war  eine  end- 
gültige Übereinstimmung  zwischen  den  beiden  Regierungen,  daß  der 


60  Deutschland  -  England  [16 

Zweck  der  beabsichtigten  Zusammenkunft  sein  sollte,  die  Unterhaltung 
über  alle  in  der  englisch-französischen  Mitteilung  behandelten  Fragen 
ein  Stück  weiter  zu  führen.  Auf  dieser  Basis  hat  sich  die  Königliche 
Regierung  darauf  vorbereitet,  den  von  der  Deutschen  Regierung  vor- 
geschlagenen Besuch  in  Berlin  auszuführen. 

5.  Was  ins  Auge  gefaßt  war,  waren  also  „eine  allgemeine,  frei 
zwischen  Deutschland  und  den  anderen  Mächten  zu  treffende  Rege- 
lung" und  „Vereinbarungen  über  Rüstungen,  die  für  Deutschland  die 
Bestimmungen  im  Teil  V  des  Versailler  Vertrages  ersetzen  sollten". 
Dies  ist  stets  das  Ziel  der  Politik  der  Königlichen  Regierung  gewesen, 
und  auf  die  Erreichung  dieses  Zieles  hat  sie  alle  Bemühungen  in  Genf 
und  sonstwo  gerichtet.  Aber  das  Zustandekommen  einer  umfassenden 
Einigung,  die  auf  Grund  allgemeiner  Übereinstimmung  an  die  Stelle 
der  Vertragsbestimmungen  treten  soll,  kann  nicht  erleichtert  werden, 
wenn  man  jetzt  als  eine  bereits  getroffene  Entscheidung  Heeres- 
personalstärken  bekannt  gibt,  die  alle  seither  in  Vorschlag  gebrachten 
erheblich  überschreiten  —  überdies  Stärken,  die,  falls  sie  unverändert 
aufrechterhalten  werden,  die  Einigung  mit  anderen  ebenfalls  stark  be- 
teiligten Mächten  schwieriger,  wenn  nicht  unmöglich  machen  müssen. 

6.  Die  Königliche  Regierung  wünscht  keineswegs,  die  durch  den 
vorbereiteten  Besuch  etwa  geschaffene  Gelegenheit,  ein  Einver- 
nehmen zu  fördern,  ungenutzt  vorübergehen  zu  lassen.  Aber  unter  den 
neugeschaffenen  Umständen  hält  sie  es  vor  der  Ausführung  dieses 
Besuches  für  nötig,  die  Deutsche  Regierung  auf  die  obigen  Gesichts- 
punkte aufmerksam  zu  machen.  Sie  wünscht,  darüber  Gewißheit  zu 
haben,  daß  der  Deutschen  Regierung  das  Zustandekommen  des  Be- 
suches mit  dem  Umfang  und  Ziel  der  Unterhaltung,  wie  früher  verab- 
redet, so  wie  es  oben  im  Abs.  4  ausgeführt  ist,  noch  erwünscht  ist. 

(E:  Cmd.  4848.  —  D:  Berber,  Locarno.  S.  99ff.) 

Die  britische  Anfrage,  ob  die  Reichsregierung  zu  weiteren  Verhand- 
lungen bereit  sei,  wurde  bejahi.  Der  Außenminister  Sir  John  Simon  hat 
sich  auch  in  der  Unterhausdebatle  vom  21.  März  1935  mit  einer  Ver- 
wahrung begnügt.  Die  kriegsgefährliche  Verschärfung  der  Lage  erfolgte 
durch  den  Schritt  der  französischen  Regierung,  die  am  20.  März  1935  den 
Völkerbund  anrief,  um  hier  die  Anklage  gegen  den  „Vertragsbrüchigen'' 
zu  erheben  und  ihn  aburteilen  zu  lassen.  Aber  auf  der  Pariser  Bespre- 
chung der  drei  Westmächte  vom  23.  März  1935,  auf  der  für  den  11.  April 
1935  die  Konferenz  in  Stresa  beschlossen  wurde,  beharrte  die  englische 
Regierung  auf  ihrem  Entschluß,  erst  die  Informationsreise  der  beiden 
englischen  Minister  nach  Berlin,  die  schon  vor  dem  16.  März  1935  ver- 
abredet war,  durchzuführen,  ehe  ein  weiterer  Schritt  erfolgte. 

Am  25.  und  26.  März  1935  waren  der  englische  Außenminister  Sir 
John  Simon  und  der  Lordsiegelbewahrer  Eden  in  Berlin,  während  der 
Pressesturm  noch  mit  unverminderter  Stärke  weitertobte.  In  Gegenwart 
des  Führers  fanden  die  Besprechungen  statt.  Nach  dem  am  26.  März  1936 
ausgegebenen  Kommuniqui  fanden  sie  in  „offenster  und  freundschaft- 
lichster Form**  statt  und  fährten  zu  einer  „vollständigen  Klarstellung  der 


17] Dag  Jahr  1935 61 

beiderseitigen  Auffcusungen'*.  Die  Gesamtheit  der  europäischen  Probleme: 
Abrüstung,  Luftpaki,  allgemeiner  Konsullalivpaki,  wurden  besprochen. 
Die  Reichsregierung  halle  bereits  in  ihrem  Kommuniqui  vom  10,  Sep- 
tember 1934  den  Beitritt  zum  Ostpakt  aus  naheliegenden  Gründen  ab- 
gelehnt. Dabei  blieb  es.  Sie  war  aber  zu  jeder  Art  internaiionaler  Zu- 
sammenarbeit bereit,  die  den  Frieden  Europas  sichern  und  festigen 
könnte.  Darum  sprach  sie  sich  auch  positiv  für  den  ins  Auge  gefaßten 
Luftpakt  aus.  Sir  John  Simon  konstatierte  in  seiner  Erklärung  vor  dem 
Unterhause  vom  28.  März  1935,  daß  die  Besprechungen  „beträchtliche 
Meinungsverschiedenheilen  zwischen  den  beiden  Regierungen**  ergeben 
kälten.  In  seiner  Unterhausrede  vom  9.  April  1935  berichtete  er  über  die 
Absichten  der  deutschen  Politik  der  Freiheil,  Ehre  und  Gleichberechtigung, 
in  der  vom  10.  April  1935  über  die  Ansichten  der  europäischen  Regie- 
rungen, die  Eden  inzwischen  in  Moskau,  Warschau  und  Prag  festge- 
sUllt  halte. 


Aus  der  Unterhausrede  des  britisdien  AuBenministers  Sir  John  Simon    17. 
vom  9.  April  1935  über  das  Ergebnis  seiner  Berliner  Besprediungen 

Hinsichtlich  des  sogenannten  Ostpaktes,  der  zuerst  von  dem 
verstorbenen  Außenminister  Barthou  im  vergangenen  Sommer  angeregt 
wurde,  hat  Reichskanzler  Hitler  klar  zum  Ausdruck  gebracht,  daß 
Deutschland  nicht  gewillt  ist,  einen  Ostpakt  zu  unterzeichnen,  der 
Deutschland  zu  gegenseitiger  Unterstützung  verpflichten  würde.  Ins- 
besondere ist  Deutschland  nicht  bereit,  einen  Pakt  zu  gegenseitiger 
Unterstützung  mit  Rußland  einzugehen.  Andererseits  wurde  erklärt, 
daß  Deutschland  einen  Nichtangriffspakt  zwischen  den  in  Osteuropa 
interessierten  Machten,  der  eine  Konsultation  für  den  Fall  eines 
drohenden  Angriffs  vorsieht,  begünstigen  würde.  Hitler  ist  unter  den 
gegenwärtigen  Umständen  nicht  bereit,  die  Einbeziehung  Litauens  in 
irgendeinen  Nichtangriffspakt  in  Aussicht  zu  nehmen.  Die  Deutschen 
schlugen  ferner  vor,  daß,  falls  trotz  dieses  Nichtangriffs-  und  Konsul- 
tativpaktes Feindseligkeiten  zwischen  zwei  vertragschließenden  Mäch- 
ten ausbrechen  würden,  die  anderen  vertragschließenden  Mächte  sich 
verpflichten  sollten,  den  Angreifer  in  keiner  Weise  zu  unterstützen.  In 
einem  anderen  Zusammenhang  verwies  Hitler  allerdings  auf  die  Schwie- 
rigkeit, den  Angreifer  zu  bestimmen.  Über  seine  Ansicht  für  den  Fall 
befragt,  daß  irgendwelche  Unterzeichner  eines  solchen  Nichtangriffs- 
paktes untereinander  ein  Abkommen  über  gegenseitige  Unterstützung 
abschließen,  erklärte  der  Reichskanzler,  daß  er  diesen  Gedanken  für 
gefährlich  und  anfechtbar  halte,  da  er  nach  seiner  Meinung  darauf 
hinauslaufe,  Sonderinteressen  einer  Gruppe  im  Rahmen  des  weiteren 
Systems  zu  schaffen  .  .  . 

Was  den  Gedanken  eines  mitteleuropäischen  Paktes  angeht,  der 
auf  der  französisch-italienischen  Zusammenkunft  in  Rom  näher  be- 
sprochen worden  ist,  hörten  wir  in  Berlin,  daß  die  deutsche  Regierung 
den  Gedanken  eines  solchen  Abkommens  nicht  grundsätzlich  ablehnt, 


62 


Deutschland  -  England 


[17 


aber  seine  Notwendigkeit  nicht  einsieht  und  eine  große  Schwierigkeit 
in  der  Bestimmung  des  Begriffs  „Nichteinmischung**  in  bezug  auf 
Österreich  erblickt.  Hitler  gab  jedoch  zu  verstehen,  daß  für  den  Fall, 
daß  die  anderen  Regierungen  einen  mitteleuropäischen  Pakt  abzu- 
schließen wünschten  und  sich  auf  einen  Wortlaut  einigen  könnten,  die 
deutsche  Regierung  diesen  in  Erwägung  ziehen  würde  .  .  . 

Hinsichtlich  der  Landrüstungen  stellte  Reichskanzler  Hitler  fest, 
daß  Deutschland  36  Divisionen  benötige,  die  eine  Höchstzahl  von 
550  000  Soldaten  aller  Waffengattungen  einschließlich  einer  DivisioE 
SS  und  militarisierter  Polizeitruppen  darstellten.  Er  versicherte,  daß 
es  in  Deutschland  keine  halbmilitärischen  Verbände  gäbe.  Deutsch- 
land, so  erklärte  er,  beanspruche,  über  alle  Waffen  typen  zu  verfügen, 
die  andere  Länder  besitzen,  und  sei  nicht  bereit,  auf  den  Bau  gewisser 
Typen  zu  verziehten,  solange  andere  Länder  sie  ebenfalls  besitzen. 
Falls  andere  Länder  gewisse  Typen  aufgeben,  so  würde  Deutschland 
das  gleiche  tun.  Hinsichtlich  der  Seerüstungen  beanspruche  Deutsch- 
land unter  gewissen  Vorbehalten  35%  der  britischen  Tonnage  und  in 
der  Luft  Gleichheit  mit  England  und  Frankreich,  vorausgesetzt,  daß 
sich  die  sowjetrussischen  Luftstreitkräfte  nicht  derart  entwickelten, 
daß  eine  Überprüfung  dieses  Verhältnisses  notwendig  werde.  Wenn 
irgendein  allgemeines  Abkommen  über  die  Begrenzung  der  Rüstungen 
erreicht  werden  könnte,  wäre  Deutschland  bereit,  ein  System  dauernder 
und  automatischer  Überwachung  anzunehmen  und  ins  Werk  zu  setzen 
unter  der  Voraussetzung,  daß  eine  solche  Überwachung  in  gleicher 
Weise  für  alle  Mächte  Anwendung  findet.  Hitler  erklärte,  daß  die 
deutsche  Regierung  dem  in  der  Londoner  Vereinbarung  enthaltenen , 
Vorschlag  eines  Luftpaktes  zwischen  den  Locarnoraächten  günstig  " 
gegenüberstehe. 

In  der  Frage  des  Völkerbundes  berief  sich  Hitler  auf  seine  im  Mai 
1933  abgegebene  Versicherung,  daß  Deutschland  im  Völkerbund  nicht 
weiter  mitarbeiten  würde,  falls  es  weiter  als  das  behandelt  würde,  was 
er  als  Land  minderen  Rechts  bezeichnete,  und  er  machte  beispiels- 
weise geltend,  daß  sich  Deutschland  in  einer  untergeordneten  Stellung 
befinde,  wenn  es  keine  Kolonien  besitzt. 

(E:  Paräamenlary  Debatcs,  House  of  Commons.  Bd.  300»  Sp,  984 ff,  —  D;^ 
Hamburger  Monatshefte  für  Auswärtige  Politik,  Mai  1935,  S.  8 f.) 


Auf  die  Konferenz  nach  Stresa,  die  am  IL  April  1935  begann, 
gingen  die  Mächte  keineswegs  ah  eine  geschlossene  Fronl  mit  einheit- 
lichem Willen.  Am  14.  April  kam  ihre  Schlußresolulion  heraus. 
Wiederum  wurden  der  Osipakl,  die  österreichische  Frage,  der  Luftpakt 
für  Westeuropa^  die  Ahrüstung,  Locarno,  aber  auch  so  revisionislische 
Fragen  wie  der  Abrüstungssland  Ungarns^  Österreichs  und  der  Türkei 
erörtert.  Die  Siresamächie  bekundeten  ihre  völlige  Einigkeil,  ,,stcA  mit 
allen  geeigneten  M titeln  jeder  einseiligen  Aufkündigung  von  Verträgen 
zu  widersetzen''.  Eingehend  hat  man  sich  daneben  mit  den  Fragen  einer 
Friedenssicherung  in  Osteuropa  beschäftigt.  Hier  war  seit  Monaten  die 
französische  Außenpolitik  sehr  aküv.  Im  September  1934  war  die  Sowjet- 


18] Das  Jahr  1935 63 

Union  in  den  Völkerbund  geholif  am  5.  Dezember  1934  das  französisch- 
russische  Protokoll^  der  Vorläufer  des  Pakles  vom  2.  Mai  1935,  unler- 
xeichnei  worden.  Die  französisch-russische  Entente  sollte  das  Ruckgrat 
des  künftigen  Ostpaktes  bilden,  zugleich  aber  sollte  sie  auch  die  Achse  der 
europäischen  Paktpolitik  werden.  In  deren  Netze  suchte  man  Deutschland 
zu  verstricken.  Simon  teilte  in  Slresa  die  Auffassung  des  Führers  zum 
Ostpakt  mit.  Die  deutsche  Reichsregierung  präzisierte  ihren  Standpunkt 
noch  einmal  in  einem  Kommunique  vom  15.  April  1935.  Sie  nahm  grund- 
sätzlich zum  ganzen  Paktsystem  Stellung  und  sprach  sich  für  bilaterale 
Pakie,  wie  den  mit  Polen  vom  26.  Januar  1934,  und  gegen  automalische 
militärische  Beistandsverpflichtungen  aus.  Die  Unterstützungspakte 
waren  nach  deutscher  Ansicht  mehr  ein  Element  der  Friedensstörung  als 
ein  solches  der  Friedenssicherung,  die  Unteilbarkeit  des  Friedens  mehr 
die  Unteilbarkeit  eines  ausbrechenden  Krieges. 


Aus  den  Besdilüssen  der  Konferenz  von  Stresa  vom  14.  April  1935      18. 

2.  Die  Auskünfte,  die  sie  erhalten  haben,  haben  sie  in  der  Absicht 
bestärkt,  daß  die  Verhandlungen  hinsichtlich  der  Entwicklung  fort- 
gesetzt werden  sollen,  welche  bezüglich  der  Sicherheit  in  Osteuropa 
erstrebt  wird. 

3.  Die  Vertreter  der  drei  Regierungen  prüften  von  neuem  die 
österreichische  Lage;  sie  bestätigten  die  englisch-französisch-italieni- 
schen Erklärungen  vom  17.  Februar  und  27.  September  1934,  durch 
die  die  drei  Regierungen  anerkannten,  daß  die  Notwendigkeit,  die  Un- 
abhängigkeit und  Unversehrtheit  Österreichs  aufrechtzuerhalten,  auch 
weiterhin  ihre  gemeinsame  Politik  bestimmen  werde.  Hinsichtlich  des 
französisch-italienischen  Protokolls  vom  7.  Januar  1935  und  der  eng- 
lisch-französischen Vereinbarung  vom  3.  Februar  1935,  in  welchen 
die  Absicht  bekräftigt  wurde,  sich  gemeinsam  über  die  Maßnahmen 
zu  beraten,  die  im  Falle  der  Bedrohung  der  Unversehrtheit  und  Un- 
abhängigkeit Österreichs  ergriffen  werden  müssen,  kamen  sie  überein 
zu  empfehlen,  daß  Vertreter  aller  im  römischen  Protokoll  genannten 
Regierungen  zu  einem  möglichst  frühen  Zeitpunkt  zusammenkommen 
sollen,  um  die  mitteleuropäische  Vereinbarung  abzuschließen. 

4.  Hinsichtlich  des  vorgeschlagenen  Luftpaktes  für  Westeuropa 
bestätigten  die  Vertreter  der  drei  Regierungen  die  Grundsätze  und  das 
einzuschlagende  Verfahren,  wie  sie  in  der  Vereinbarung  vom  3.  Fe- 
bruar vorgesehen  sind,  und  sie  kamen  überein,  das  Studium  dieser 
Frage  wirksam  fortzusetzen  mit  der  Absicht,  einen  Pakt  zwischen  den 
fünf  in  der  Londoner  Vereinbarung  genannten  Mächten  sowie  alle 
zweiseitigen  Abkommen  abzuschließen,  die  ihn  begleiten  können. 

5.  Indem  sie  sich  dem  Problem  der  Rüstungen  zuwandten,  haben 
die  Vertreter  der  drei  Mächte  daran  erinnert,  daß  die  Londoner  Ver- 
einbarung ein  Abkommen  vorsah,  das  frei  mit  Deutschland  verhandelt 
werden  sollte,  um  an  die  Stelle  der  entsprechenden  Bestimmungen  von 
Teil  V  des  Versailler  Vertrages  zu  treten,  und  sie  haben  das  kürzliche 


64  DeuUchland  -  England  [19 

Vorgehen  der  deutschen  Regierung  und  den  Bericht  Sir  John  Simon's 
über  seine  Unterredungen  mit  dem  deutschen  Reichskanzler  über  diese 
Frage  sorgfältig  und  besorgt  erörtert. 

Es  wurde  mit  Bedauern  festgestellt,  daß  die  Methode  der  ein- 
seitigen Aufkündigung,  die  von  der  deutschen  Regierung  in  einem 
Augenblick  angewandt  wurde,  als  Schritte  eingeleitet  waren,  um  ein  in 
freier  Weise  verhandeltes  Abkommen  über  die  Rüstungsfrage  zu  er- 
reichen, das  öffentliche  Vertrauen  in  die  Sicherheit  einer  friedlichen 
Ordnung  untergraben  hat.  Darüber  hinaus  hat  das  groOe  Ausmaß  der 
verkündeten  deutschen  Wiederaufrüstung,  deren  Programm  bereits 
mitten  in  der  Ausführung  begriffen  ist,  die  zahlenmäßigen  Schätzungen 
entwertet,  auf  die  sich  die  Anstrengungen  für  eine  Abrüstung  bisher 
begründeten,  und  die  Hoffnungen  erschüttert,  von  denen  jene  An- 
strengungen inspiriert  waren  .  . . 

Schlußerklärung 

Die  drei  Mächte,  deren  politisches  Ziel  die  kollektive  Aufrecht- 
erhaltung des  Friedens  im  Rahmen  des  Völkerbundes  ist,  sind  völlig 
einig  in  dem  Bestreben,  sich  mit  allen  geeigneten  Mitteln  jeder  einsei- 
tigen Aufkündigung  von  Verträgen  zu  widersetzen,  die  den  europäischen 
Frieden  gefährden  könnte,  und  werden  zu  diesem  Zweck  in  enger  und 
freundschaftlicher  Zusammenarbeit  vorgehen. 

(E:  Cmd  4880.  —  D:  Hamburger  Monatshefte  für  Auswärtige  Politik,  Mai 
1935,  S.  9f.) 

Am  15.  April  1935  begann  der  ^,Prozeß  gegen  die  Geschichte**  in 
Genf.  Die  Resolution  des  Völkerbundrates  vom  17.  April  1935  sprach 
eine  Verurteilung  Deutschlands  aus^  das  durch  sein  eigenmächtiges 
Handeln  den  Versailler  Vertrag  gebrochen  habe  und  die  Sicherheit 
Europas  bedrohe.  Die  deutsche  Regierung  hat  gegen  diesen  Versuch 
einer  erneuten  Diskriminierung  protestiert.  Aber  sie  begnügte  sich  nicht 
hiermit. 

Die  Zeichen  der  Zeit  deuteten  überall  auf  Sturm.  Die  Wolken  des 
Abessinischen  Krieges  standen  drohend  am  Horizont.  Der  kommende 
französisch-russische  Pakt  verschob  alle  Machtverhältnisse.  Deutschlands 
Wehrmacht  als  Mittel  der  europäischen  Friedenssicherung  war  notwendiger 
denn  je  zuvor.  Nur  durch  einen  Abbau  und  Beseitigung  der  Versailler 
Nachkriegsordnung  war  in  der  Mitte  Europas  überhaupt  der  Friede  auf 
die  Dauer  zu  erhalten.  In  dieser  Situation  entwickelte  der  Führer  sein 
großes  Friedensprogramm  vom  21.  Mai  1935.  Daran  knüpfte  die  oft 
schwer  entwirrbare  diplomatische  Aktion  der  folgenden  Monate  mannig- 
fach an. 

19.  Aus  der  Reidistagsrede  des  Führers  vom  21.  Mai  1935 

Wenn  das  heutige  Deutschland  für  den  Frieden  eintritt,  dann 
tritt  es  für  ihn  ein  weder  aus  Schwäche  noch  aus  Feigheit.  Es  tritt  für 
den  Frieden  ein  aus  einer  anderen  Vorstellung,  die  der  National- 
sozialismus von  Volk  und  Staat  besitzt.  Denn  dieser  sieht  in  der  macht- 


19] Das  Jahr  1935 65 

mäßig  erzwungenen  Einschmelzung  eines  Volkes  in  ein  anderes, 
wesensfremdes,  nicht  nur  kein  erstrebenswertes  politisches  Ziel,  son- 
dern als  Ergebnis  eine  Gefährdung  der  inneren  Einheit  und  damit  der 
Stärke  eines  Volkes  auf  lange  Zeit  gerechnet.  Seine  Lehre  lehnt  daher 
den  Gedanken  einer  nationalen  Assimilation  dogmatisch  ab.  Damit 
ist  auch  der  bürgerliche  Glaube  einer  möglichen  „Germanisation" 
hinfällig.  Es  ist  daher  weder  unser  Wunsch  noch  unsere  Absicht, 
fremden  Volksteilen  das  Volkstum,  die  Sprache  oder  die  Kultur  weg- 
zunehmen, um  ihnen  dafür  eine  fremde  deutsche  aufzuzwingen.  Wir 
geben  keine  Anweisung  für  die  Verdeutschung  nichtdeutsclier  Namen 
aus,  im  Gegenteil:  wir  wünschen  dies  nicht.  Unsere  volkliche  Lehre 
sieht  daher  in  jedem  Krieg  zur  Unterjochung  und  Beherrschung  eines 
fremden  Volkes  einen  Vorgang,  der  früher  oder  später  den  Sieger  inner- 
lich verändert  und  schwächt  und  damit  im  Erfolge  zum  Besiegten 
macht. 

Wir  glauben  aber  auch  gar  nicht  daran,  daß  in  Europa  die  durch 
und  durch  national  erhärteten  Völker  im  Zeitalter  des  Nationalitäten- 
prinzips überhaupt  noch  national  enteignet  werden  könnten!  Die 
letzten  150  Jahre  bieten  hier  belehrende  und  warnende  Beispiele  mehr 
als  genug.  Die  europäischen  Nationalstaaten  werden  bei  keinem 
kommenden  Krieg  —  abgesehen  von  vorübergehenden  Schwächungen 
ihrer  Gegner  —  mehr  erreichen  können  als  geringfügige  und  im  Ver- 
hältnis zu  den  dargebrachten  Opfern  gar  nicht  ins  Gewicht  fallende 
volkliche  Grenzkorrekturen. 

Der  permanente  Kriegszustand,  der  aber  durch  solche  Absichten 
zwischen  den  einzelnen  Völkern  aufgerichtet  wird,  mag  verschiedenen 
politischen  und  wirtschaftlichen  Interessenten  vielleicht  als  nützlich 
erscheinen,  für  die  Völker  bringt  er  nur  Lasten  und  Unglück.  Das  Blut, 
das  auf  dem  europäischen  Kontinent  seit  300  Jahren  vergossen  wurde, 
steht  außer  jedem  Verhältnis  zu  dem  volklichen  Resultat  der  Ereig- 
nisse. Frankreich  ist  am  Ende  Frankreich  geblieben,  Deutschland 
Deutschland,  Polen  Polen,  Italien  Italien  usw.  Was  dynastischer 
Egoismus,  politische  Leidenschaft  und  patriotische  Verblendung  an 
scheinbaren  tiefgreifenden  staatspolitischen  Veränderungen  unter 
Strömen  von  Blut  erreicht  haben,  hat  in  nationaler  Beziehung  stets 
nur  die  Oberfläche  der  Völker  geritzt,  ihre  grundsätzliche  Markierung 
aber  wesentlich  kaum  mehr  verschoben.  Hätten  diese  Staaten  nur 
einen  Bruchteil  ihrer  Opfer  für  klügere  Zwecke  angesetzt,  so  wäre  der 
Erfolg  sicher  größer  und  dauerhafter  gewesen. 

Wenn  ich  als  Nationalsozialist  in  allem  Freimut  diese  Auffassung 
vertrete,  dann  bewegt  mich  dabei  noch  folgende  Erkenntnis:  Jeder 
Krieg  verzehrt  zunächst  die  Auslese  der  Besten.  Da  es  in  Europa  aber 
einen  leeren  Raum  nicht  mehr  gibt,  wird  jeder  Sieg  —  ohne  an  der 
grundsätzlichen  europäischen  Not  etwas  zu  ändern  —  höchstens  eine 
ziffernmäßige  Vermehrung  der  Einwohner  eines  Staates  mit  sich 
bringen  können.  Wenn  aber  den  Völkern  daran  soviel  liegt,  dann  können 
sie  dies,  statt  mit  Tränen,  auf  eine  einfachere  und  vor  allem  natür- 
lichere Weise  erreichen.  Eine  gesunde  Sozialpolitik  kann  bei  einer 

Deutschland-England  5 


€6 


Deutschland  -  England 


[19 


Steigerung  der  Geburtenfreudigkeit  einer  Nation  in  wenigen  Jahren 
mehr  Kinder  des  eigenen  Volkes  schenken^  als  durch  einen  ICrieg  an 
fremden  Menschen  erobert  und  damit  unterworfen  werden  könnten. 

Nein!  Das  nationalsozialistische  Deutschland  will  den  Frieden 
aus  tief  innersten  weltanschaulichen  Überzeu^ngen.  Es  will  ihn  weiter 
aus  der  einfachen  primitiven  Erkenntnis,  daß  kein  Krieg  geeignet  sein 
w^ürde,  das  Wesen  unserer  allgemeinen  europäischen  Not  zu  belieben, 
wohl  aber  diese  zu  vermehren.  Das  heutige  Deutschland  lebt  in  einer 
gewaltigen  Arbeit  der  Wiedergutmachung  seiner  inneren  Schäden. 
Keines  unserer  Projekte  sachlicher  Natur  wird  vor  10  bis  2€  Jahren 
vollendet  sein.  Keine  der  gestellten  Aufgaben  ideeller  Art  kann  vor 
50  oder  vielleicht  auch  100  Jahren  ihre  Erfüllung  finden.  Ich  habe  einst 
die  nationalsozialistische  Revolution  durch  die  Schaffung  der  Bew^egung 
begonnen  und  seitdem  als  Aktion  geführt.  Ich  weiO,  wir  alle  werden 
nur  den  allerersten  Beginn  dieser  groOen  umwälzenden  Entwicklung 
erleben.  Was  könnte  ich  anders  wünschen  als  Ruhe  und  Frieden? 
Wenn  man  aber  sagt,  daß  dies  nur  der  Wunsch  der  Führung  sei,  so 
muß  ich  darauf  folgende  Antwort  geben:  Wenn  nur  die  Führer  und 
Regierenden  den  Frieden  wollen,  die  Völker  selbst  haben  sich  noch  nie 
den  Krieg  gew^ünscht !  ,  .  . 

Als  im  Jahre  1919  der  Friede  von  Versailles  dem  deutschen  Volk 
diktiert  wurde,  war  der  kollektiven  Zusammenarbeit  der  Völker  damit 
zunächst  das  Todesurteil  gesprochen  worden.  Denn  an  Stelle  der  Gleich- 
heit aller  trat  die  Klassifikation  in  Sieger  und  Besiegte.  An  Stelle  des 
gleichen  Rechts  die  Unterscheidung  in  Berechtigte  und  Hechtlose. 
An  die  Stelle  der  Versöhnung  aller  die  Bestrafung  der  Unterlegenen, 
An  die  Stelle  der  internationalen  Abrüstung  die  Abrüstung  der  Be* 
siegten.  An  die  Stelle  der  Sicherheit  aller  trat  die  Sicherheit  der  Sieger, 

Dennoch  w^urde  noch  im  Friedensdiktat  von  Versailles  ausdrück- 
lich festgestellt,  daß  die  Abrüstung  Deutschlands  nur  vorausgehen 
soll  zur  Ermöglichung  der  Abrüstung  der  anderen.  Und  nun  ist  an 
diesem  einen  Beispiel  festzustellen,  wie  sehr  die  Idee  der  kollektiven 
Zusammenarbeit  gerade  von  denen  verletzt  wurde,  die  heute  ihre 
lautesten  Fürsprecher  sind.  . . 

Wenn  ich  von  diesen  allgemeinen  Betrachtungen  nun  übergehe  zu 
einer  präzisen  Fixierung  der  vorliegenden  aktuellen  Probleme,  so 
komme  ich  zu  folgender  Stellungnahme  der  deutschen  Reichsregierung. 

1.  Die  deutsche  Reichsregierung  lehnt  die  am  17.  März  erfolgte 
Genfer  Entschließung  ab.  Nicht  Deutschland  hat  den  Vertrag  von 
Versailles  einseitig  gebrochen^  sondern  das  Diktat  von  Versailles  wurde 
in  den  bekannten  Punkten  einseitig  verletzt  und  damit  außer  Kraft 
gesetzt  durch  die  Mächte,  die  sich  nicht  entschließen  konnten,  der  von 
Deutschland  verlangten  Abrüstung  die  vertraglich  vorgesehene  eigene 
folgen  zu  lassen.  Die  durch  diesen  Beschluß  in  Genf  Deutschland  zu- 
gefügte neue  Diskriminierung  macht  es  der  deutschen  Reichsregierung 
unmöglich,  in  diese  Institution  zurückzukehren,  ehe  nicht  die  Voraus- 
setzungen für  eine  wirkliche  gleiche  Rechtslage  aller  Teilnehmer  ge- 
schaffen ist*  Zu  dem  Zweck  erachtet  es  die  deutsche  Reichsregierung 


19] 


Das  Jahr  1935 


67 


als  notwendig,  zwischen  dem  Vertrag  von  Versailles,  der  aufgebaut  ist 
auf  der  Unterscheidung  der  Nationen  in  Sieger  und  Besiegte,  und  dem 
Völkerbund,  der  aufgebaut  sein  muß  auf  der  Gleichbewertung  und 
Gleichberechtigung  all  seiner  Mitglieder,  eine  klare  Trennung  herbei- 
zuführen. 

Diese  Gleichberechtigung  muß  eine  praktische  sein  und  sich  au! 
alle  Funktionen  und  alle  Besitzrechte  im  internationalen  Leben  er- 
strecken. 

2.  Die  deutsche  Reichsregierung  hat  infolge  der  Nichterfüllung  der 
Abrüstungsverpflichtungen  durch  die  anderen  Staaten  sich  ihrerseits 
losgesagt  von  den  Artikeln,  die  infolge  der  nunmehr  einseitigen  ver- 
tragswidrigen Belastung  Deutschlands  eine  Diskriminierung  der  deut- 
schen Nation  für  unbegrenzte  Zeit  darstellen,  Sie  erklärt  aber  hiermit 
feierlichst,  daß  sich  diese  ihre  Maßnahmen  ausschließlich  auf  die  mora- 
lisch und  sachlich  das  deutsche  VoSk  diskriminierenden  und  bekannt- 
gegebenen Punkte  beziehen.  Die  deutsche  Regierung  wird  daher  die 
sonstigen,  das  Zusammenleben  der  Nationen  betreffenden  Artikel  ein- 
schließlich der  territorialen  Bestimmungen  unbedingt  respektieren  und 
die  im  Wandel  der  Zeiten  unvermeidlichen  Revisionen  nur  auf  dem 
Wege  einer  friedlichen  Verständigung  durchführen. 

3.  Die  deutsche  Reicbsregierung  hat  die  Absicht,  keinen  Vertrag 
zu  unterzeichnen^  der  ihr  unerfüllbar  erscheint,  sie  wird  aber  jeden  frei- 
willig unterzeichneten  Vertrags  auch  w^enn  seine  Abfassung  vor  ihrem 
Regierungs-  und  Machtantritt  stattfand,  peinlich  einhalten.  Sie  wird 
insbesondere  daher  alle  au3  dem  Locarnopakt  sich  ergebenden  Ver- 
pflichtungen so  lange  halten  und  erfüllen,  als  die  anderen  Vertrags- 
partner auch  ihrerseits  bereit  sind,  zu  diesem  Pakte  zu  stehen.  Die 
deutsche  Reichsregierung  sieht  in  der  Respektierung  der  entmilitari- 
sierten Zone  einen  für  einen  souveränen  Staat  unerhört  schweren 
Beitrag  zur  Beruhigung  Europas.  Sie  glaubt  aber  darauf  hinweisen 
zu  müssen,  daß  die  fortgesetzten  Truppenvermehrungen  auf  der  an- 
deren Seite  keineswegs  als  eine  Ergänzung  dieser  Bestrebungen  anzu- 
sehen sind. 

4.  Die  deutsche  Reichsregierung  ist  jederzeit  bereit,  sich  an  einem 
System  kollektiver  Zusammenarbeit  zur  Sicherung  des  europäischen 
Friedens  zu  beteiligen,  hält  es  aber  dann  für  notwendig»  dem  Gesetz 
der  ewigen  Weiterentwicklung  durch  die  Offenhaltung  vertraglicher 
Revisionen  entgegenzukommen.  Sie  sieht  in  der  Ermöglichung  einer 
geregelten  Vertragsentwicklung  ein  Element  der  Friedenssicherung, 
in  dem  Ahdrosseln  jeder  notwendigen  Wandlung  eine  Aufstauung  von 
Stoffen  für  spätere  Explosionen. 

5.  Die  deutsche  Reichsregierung  ist  der  Auffassung,  daß  der  Neu- 
aufbau einer  europäischen  Zusammenarbeit  sich  nicht  in  den  Formen 
einseitig  aufoktroyierter  Bedingungen  vollziehen  kann.  Sie  glaubt,  daß 
es  richtig  ist,  sich  angesichts  der  nicht  immer  gleichgelagerten  Inter- 
essen stets  mit  einem  Minimum  zu  begnügen^  statt  diese  Zusammen- 
arbeit infolge  eines  unerfüllbaren  Maximums  an  Forderungen  scheitern 
zu  lassen,  Sie  ist  weiter  der  Überzeugung,  daß  sich  diese  Verständi- 


68  Deutschland  -  England  [19 

gung  mit  einem  großen  Ziel  im  Auge  nur  schrittweise  vollziehen 
kann. 

6.  Die  deutsche  Reichsregierung  ist  grundsätzlich  bereit,  Nicht- 
angriffspakte mit  ihren  einzelnen  Nachbarstaaten  abzuschlieOen  und 
diese  durch  alle  Bestimmungen  zu  ergänzen,  die  auf  eine  Isolierung 
der  Kriegführenden  und  eine  Lokalisierung  des  Kriegsherdes  ab- 
zielen. Sie  ist  insbesondere  bereit  zur  Übernahme  aller  Verpflichtungen, 
die  sich  daraus  für  die  Lieferung  von  Materialien  und  Waffen  im  Frie- 
den oder  Krieg  ergeben  mögen  und  von  allen  Partnern  übernommen 
und  respektiert  werden. 

7.  Die  deutsche  Reichsregierung  ist  bereit,  zur  Ergänzung  des 
Locarnopaktes  einem  Luftabkommen  zuzustimmen  und  in  seine  Er- 
örterung einzutreten. 

8.  Die  deutsche  Reichsregierung  hat  das  Ausmaß  des  Aufbaues 
der  neuen  deutschen  Wehrmacht  bekanntgegeben.  Sie  wird  davon 
unter  keinen  Umständen  abgehen.  Sie  sieht  weder  zu  Lande  noch  zur 
Luft  noch  zur  See  in  der  Erfüllung  ihres  Programms  irgendeine  Be- 
drohung einer  anderen  Nation.  Sie  ist  aber  jederzeit  bereit,  in  ihrer 
Waffenrüstung  jene  Begrenzung  vorzunehmen,  die  von  den  anderen 
Staaten  ebenfalls  übernommen  würde.  Die  deutsche  Reichsregierung 
hat  von  sich  aus  bereits  bestimmte  Begrenzungen  ihrer  Absichten 
mitgeteilt.  Sie  hat  damit  am  besten  ihren  guten  Willen  gekennzeichnet, 
ein  unbegrenztes  Wettrüsten  zu  vermeiden.  Ihre  Begrenzung  der  deut- 
schen Luftrüstung  auf  den  Stand  einer  Parität  mit  den  einzelnen  an- 
deren westlichen  großen  Nationen  ermöglicht  jederzeit  die  Fixierung 
einer  oberen  Zahl,  die  dann  miteinzuhalten  sich  Deutschland  bindend 
verpflichten  wird. 

Die  Begrenzung  der  deutschen  Marine  liegt  mit  35%  der  englischen 
mit  noch  15%  unter  dem  Gesamttonnagement  der  französischen 
Flotte.  Da  in  den  verschiedenen  Pressekommentaren  die  Meinung  be- 
sprochen wurde,  daß  diese  Forderung  nur  ein  Beginn  sei  und  sich  ins- 
besondere mit  dem  Besitz  von  Kolonien  erhöhen  würde,  erklärt  die 
deutsche  Reichsregierung  bindend:  Diese  Forderung  ist  für  Deutsch- 
land eine  endgültige  und  bleibende. 

Deutschland  hat  weder  die  Absicht  noch  die  Notwendigkeit  oder 
das  Vermögen,  in  irgendeine  neue  Flottenrivalität  einzutreten.  Die 
deutsche  Reichsregierung  erkennt  von  sich  aus  die  überragende  Lebens- 
wichtigkeit und  damit  die  Berechtigung  eines  dominierenden  Schutzes 
des  britischen  Weltreiches  zur  See  an,  genau  so  wie  wir  umgekehrt 
entschlossen  sind,  alles  Notwendige  zum  Schutze  unserer  eigenen  kon- 
tinentalen Existenz  und  Freiheit  zu  veranlassen.  Die  deutsche  Re- 
gierung hat  die  aufrichtige  Absicht,  alles  zu  tun,  um  zum  britischen 
Volk  und  Staat  ein  Verhältnis  zu  finden  und  zu  erhalten,  das  eine  Wie- 
derholung des  bisher  einzigen  Kampfes  zwischen  beiden  Nationen  für 
immer  verhindern  wird. 

9.  Die  deutsche  Reichsregierung  ist  bereit,  sich  an  allen  Bestre- 
bungen aktiv  zu  beteiligen,  die  zu  praktischen  Begrenzungen  uferloser 
Rüstungen  führen  können.  Sie  sieht  den  einzig  möglichen  Weg  hierzu 


19] 


Dos  Jahr  1935 


69 


in  einer  Rückkehr  zu  den  Gedankengängen  der  einstigen  Genfer  Kon- 
vention des  Roten  Kreuzes.  Sie  glaubt  zunächst  nur  an  die  Möglich- 
keit einer  schrittweisen  Abschaffung  und  Verfemung  von  Kampf* 
mitteln  und  Kampfmethoden,  die  ihrem  innersten  Wesen  nach  im 
Widerspruch  stehen  zur  bereits  geltenden  Genfer  Konvention  des 
Roten  Kreuzes, 

Sie  glaubt  dabei,  daß»  ebenso  wie  die  Anwendung  von  Dumdum- 
geschossen einst  verboten  und  im  großen  und  ganzen  damit  auch 
praktisch  verhindert  wurde,  auch  die  Anwendung  anderer  bestimmter 
Waffen  zu  verbieten  und  damit  auch  praktisch  zu  verhindern  ist.  Sie 
versteht  darunter  alle  jene  Kampfwaffen,  die  in  erster  Linie  weniger 
den  kämpfenden  Soldaten  als  vielmehr  den  am  Kampfe  selbst  un- 
beteiligten Frauen  und  Kindern  Tod  und  Vernichtung  bringen. 

Die  deutsche  Reichsregierung  hült  den  Gedanken,  Flugzeuge  ab* 
zuschaffen,  aber  das  Bombardement  offenzulassen,  für  irrig  und  un- 
wirksam. Sie  hält  es  aber  für  möglich,  die  Anwendung  bestimmter 
Waffen  international  als  völkerrechtswidrig  zu  verbannen  und  die 
Nationen,  die  sich  solcher  Waffen  dennoch  bedienen  wollen,  als  außer- 
halb der  Menschheit  und  ihrer  Rechte  und  Gesetze  stehend  zu  verfemen. 

Sie  glaubt  auch  hier,  daß  ein  schrittweises  Vorgehen  am  ehesten 
zum  Erfolg  führen  kann.  Also:  Verbot  des  Abwerfens  von  Gas-, 
Brand-  und  Sprengbomben  außerhalb  einer  wirklichen  Kampfzone, 
Diese  Beschränkung  kann  bis  zur  vollständigen  internationalen  Ver- 
femung des  Bombenabwurfes  überhaupt  fortgesetzt  werden.  Solange 
aber  der  Bombenabwurf  als  solcher  freisteht,  ist  jede  Begrenzung  der 
Zahl  der  Bombenflugzeuge  angesichts  der  Möglichkeit  des  schnellen 
Ersatzes  fragwürdig. 

Wird  der  Bombenabwurf  aber  als  solcher  als  völkerrechtswidrige 
Barbarei  gebrandmarkt,  so  wird  der  Bau  von  Bombenflugzeugen  da- 
mit bald  als  überflüssig  und  zwecklos  von  selbst  sein  Ende  finden. 
Wenn  es  einst  gelang,  durch  die  Genfer  Rote-Kreuz-Konvention  die 
an  sich  mögliche  Tötung  des  wehrlos  gewordenen  Verwundeten  oder 
Gefangenen  allmählich  zu  verhindern,  dann  muß  es  genau  so  möglich  sein, 
durch  eine  analoge  Konvention  den  Bonibenkrieg  gegen  die  ebenfalls 
wehrlose  Zivilbevölkerung  zu  verbieten  und  endlich  überhaupt  zur 
Einstellung  zu  bringen, 

Deutschland  sieht  in  einer  solchen  grundsätzlichen  Anfassaug 
dieses  Problems  eine  größere  Beruhigung  und  Sicherheit  der  Völker 
als  in  allen  Beistandspakten  und  Militärkonventionen. 

10,  Die  deutsche  Reichsregierung  ist  bereit,  jeder  Beschränkung 
zuzustimmen,  die  zu  einer  Beseitigung  der  gerade  für  den  Angriff 
besonders  geeigneten  schwersten  Waffen  führt.  Diese  Waffen  umfassen 
erstens  schwerste  Artillerie  und  zweitens  schwerste  Tanks,  Angesichts 
der  ungeheuren  Befestigungen  der  französischen  Grenze  würde  eine 
solche  internationale  Beseitigung  der  schwersten  Angriffswaffen  Frank- 
reich automatisch  den  Besitz  einer  geradezu  hundertp^^^zentigen 
Sicherheit  geben. 
I         11.  Deutschtand  erklärt  sich  bereit,  jeder  Begrenzung  d       laliber- 


70 


Deutschland  *  England 


[19 


stärken  der  Artillerie,  der  Schlachtschiffe,  Kreuzer  und  Torpedoboote 
zuzustimmen.  Desgleichen  ist  die  deutsche  Reichsregierung  bereit, 
jede  internationale  Begrenzung  der  Schiffsgrößen  zu  akzeptieren.  Und 
endlich  ist  die  deutsche  Reichsregierung  bereit,  der  Begrenzung  des 
TonneDgehalles  der  U-Boote  oder  auch  ihrer  vollkommenen  Beseiti- 
gung für  den  Fall  einer  internationalen  gleichen  Regelung  zuzu- 
stimmen. 

Darüber  hinaus  aber  gibt  sie  abermals  die  Versicherung  ab,  daß 
sie  sich  überhaupt  jeder  internationalen  und  im  gleichen  Zeitraum  wirk- 
ßam  werdenden  Waifenbegrenzung  oder  Waffenbeseitigung  an- 
schließt. 

12.  Die  deutsche  Reichsregierung  ist  der  Auffassung,  daß  alle 
Versuche,  durch  internationale  oder  mehrstaatliche  Vereinbarungen 
eine  wirksame  Milderung  gewisser  Spannungen  zwischen  einzelnen 
Staaten  zu  erreichen,  vergebliche  sein  müssen,  solange  nicht  durch 
geeignete  Maßnahmen  einer  Vergiftung  der  öffentlichen  Meinung  der 
Völker  durch  unverantwortliche  Elemente  in  Wort  und  Schrift,  Film 
und  Theater  erfolgreich  vorgebeugt  wird. 

13.  Die  deutsche  Reichsregierung  ist  jederzeit  bereit,  einer  inter- 
nationalen Vereinbarung  zuzustimmen,  die  in  einer  wirksamen  Weise 
alle  Versuche  einer  Einmischung  von  außen  in  andere  Staaten  unter- 
bindet und  unmöglich  macht.  Sie  muß  jedoch  verlangen,  daß  eine 
solche  Regelung  international  wirksam  wird  und  allen  Staaten  zugute 
kommt*  Da  die  Gefahr  besteht^  daß  in  Ländern  mit  Regierungen,  die 
nicht  vom  allgemeinen  Vertrauen  ihres  Volkes  getragen  sind,  innere 
Erhebungen  von  interessierter  Seite  nur  zu  leicht  auf  äußere  Einmi- 
schung zurückgeführt  werden  können,  erscheint  es  notwendig,  den  Be- 
griff ,, Einmischung'*  einer  genauen  internationalen  Definition  zu  unter- 
ziehen. 


(Verhandlungen  des  Reichstags.  Bd.  458,  S.  42,  43,  53/55.; 


Schon  einen  Monat  nach  der  Rede  des  Führers  wurde  Pankl  8  seines 
Friedens programmes  durch  das  deutsch-englische  FloUenabkommen  vom 
18,  Juni  1935  erfüllt,  Deutschland  erkannle  die  Lebenswichligkeit  der 
britischen  Flotte  als  dominierenden  Schutzes  des  britischen  Weltreiches 
an  und  erbrachte  gleichzeitig  einen  Beweis  schöpferischer  Politik,  die  nur 
auf  der  Achtung  der  t/eiderseitigen  Lebensinieressen  aufgebaut  sein 
konnte.  Dieser  praktische  Erfolg  auf  dem  Gebiete  der  Büstungsbeschrän- 
kung  war  erzielt  durch  eine  offene  Aussprache  and  Verständigung  zu 
zweien.  Deutschtand  konnte  nichl  auf  seine  Sicherheit  zur  See  ver ziehten, 
aber  es  wollte  die  Floltenrivatität  vermeiden,  die  vor  dem  Weltkriege 
1914J18  den  deutsch-englischen  Gegensalz  aufs  äußerste  verschärft  und 
unheilbar  gemacht  hatte.  Darum  sollte  künftig  die  deutsche  Flotte  in  einem 
festen  zahlenmäßigen  Verhältnis  zur  englischen  gehalten  werden.  Das 
deutsch-englische  FloUenabkommen  war  eine  Tat,  die  Deutschlands  und 
des  Führers  Wunsch  nach  freundschafllichen  Beziehungen  mil  England 
§0  eindeutig  und  offenkundig  wie  nur  irgendmöglich  dokumentierte. 


I 


20] 


Das  Jahr  1935 


71 


DeutsdL-eogliBdies  Flotten  abkommen  vom  18*  Juni  1935 

1.  Schreiben  de^  Staatssekretärs  für  Auswärtige  Angelegen- 
heiten Sir  Samuel  Hoare  an  den  Außerordentlichen  und 
Bevollmächtigten  Botschafter  von  Ribbentrop 


20. 


Foreign  Office,  den  18,  Juni  1936. 


Euere  Exzellenz  1 


L  Während  der  letzten  Tage  haben  die  Vertreter  der  Regierung 

des  Deutschen  Reiches  und  der  Regierung  Sr*  Majestät  im  Vereinigten 
Königreich  Besprechungen  abgehalten,  deren  Hauptzweck  darin  be- 
stand, den  Boden  für  eine  allgemeine  Konferenz  zur  Begrenzung  der 
Seerüstungen  vorzubereiten.  Ich  freue  mich,  Euerer  Exzellenz  nunmehr 
die  formelle  Annahme  des  Vorschlages  der  Regierung  des  Deutschen 
Reiches,  der  in  diesen  Besprechungen  zur  Erörterung  gestanden  hat, 
durch  die  Regierung  Sr.  Majestät  im  Vereinigten  Königreich  mitzu- 
teilen»  wonach  die  zukünftige  Stirke  der  deutschen  Flotte  gegenüber 
der  Gesamtflottenstärke  der  Mitglieder  des  Britischen  Common- 
wealth im  Verhältnis  von  35  zu  100  stehen  solJ,  Die  Regierung  Sr. 
Majestät  im  Vereinigten  Königreich  sieht  diesen  Vorschlag  als  einen 
außerordentlich  wichtigen  Beitrag  zur  zukünftigen  Seerüstungs- 
beschränkung an.  Weiterhin  glaubt  sie,  daO  die  Einigung,  zu  der  sie 
nunmehr  mit  der  Regierung  des  Deutschen  Reiches  gelangt  ist  und  die 
Bie  als  eine  vom  heutigen  Tage  ab  gültige  dauernde  und  endgültige 
Einigung  zwischen  den  beiden  Regierungen  ansieht,  den  Abschluß 
eines  zukünftigen  allgemeinen  Abkommens  über  eine  Seerüstungs- 
begrenzung zwischen  allen  Seemächlcn  der  Welt  erleichtern  wird, 

2,  Die  Regierung  Sr,  Majestät  im  Vereinigten  Königreich  stimmt 
weiterhin  den  Erklärungen  zu,  die  von  den  deutschen  Vertretern  im 
Laufe  der  kürzlich  in  London  abgehaltenen  Besprechungen  bezüglich 
der  Anwendungsmethoden  dieses  Grundsatzes  abgegeben  wurden. 

Diese  Erklärungen  können  folgendermaßen  zusammengefaßt 
werden: 

a)  Das  StÖrkeverhälLnis  35  zu  100  soll  ein  ständiges  Verhältnis 
sein,  d.  h,  die  Gesamtlonnage  der  deutschen  Flolte  soll  nie  einen  Pro- 
zentsatz von  35  der  Gesamttonnage  der  vertraglich  festgelegten  See- 
streitkräfte der  Mitglieder  des  Britischen  Commonwealth  oder  —  falls 
in  Zukunft  keine  vertraglichen  Begrenzungen  der  Tonnage  bestehen 
sollten  —  einen  Prozentsatz  von  35  der  tatsächlichen  Gesamttonnage 
der  Mitglieder  des  Britischen  Commonwealth  überschreiten* 

b)  Falls  ein  zukünftiger  allgemeiner  Vertrag  über  Seerüstungs- 
begrenzung die  Methode  der  Begrenzung  durch  vereinbarte  Stärke- 
verhältnisse zwischen  den  Flotten  der  verschiedenen  Mächte  nicht  ent- 
halten sollte,  wird  die  Regierung  des  Deutschen  Reiches  nicht  auf  der 
Einfügung  des  in  dem  vorhergehenden  Unterabsatz  erwähnten  Stärke- 
verhältnisses in  einen  solchen  zukünftigen  allgemeinen  Vertrag  be- 
stehen, vorausgesetzt,  daß  die  für  die  zukünftige  Begrenzung  der  See- 


72  Deutschland  -  England  [20 

rüstungcn  darin  etwa  angenommene  Methode  derart  ist,  daO  sie 
Deutschland  volle  Garantien  gibt,  daO  dieses  Stärkeverhältnis  aufrecht- 
erhalten werden  kann. 

c)  Das  Deutsche  Reich  wird  unter  allen  Umständen  zu  dem  Stärke- 
verhältnis von  35  zu  100  stehen,  d.  h.  dieses  Stärkeverhältnis  wird  von 
den  Baumaßnahmen  anderer  Länder  nicht  beeinflußt.  Sollte  das  all- 
gemeine Gleichgewicht  der  Seerüstung,  wie  es  in  der  Vergangenheit 
normalerweise  aufrechterhalten  wurde,  durch  irgendwelche  anormalen 
und  außerordentlichen  Baumaßnahmen  anderer  Mächte  heftig  ge- 
stört werden,  so  behält  sich  die  Regierung  des  Deutschen  Reiches  das 
Recht  vor,  die  Regierung  Sr.  Majestät  im  Vereinigten  Königreich  auf- 
zufordern, die  auf  diese  Weise  entstandene  neue  Lage  zu  prüfen. 

d)  Die  Regierung  des  Deutschen  Reiches  begünstigtauf  dem  Gebiete 
der  Seerüstungsbegrenzung  dasjenige  System,  das  die  Kriegsschiffe 
in  Kategorien  einteilt,  wobei  die  Höchsttonnage  und  das  Höchst- 
kaliber der  Geschütze  für  die  Schiffe  jeder  Kategorie  festgesetzt  wird, 
und  das  die  jedem  Lande  zustehende  Tonnage  nach  Schiffskate- 
gorien zuteilt.  Folglich  ist  die  Regierung  des  Deutschen  Reiches  bereit, 
grundsätzlich  und  unter  Vorbehalt  des  nachstehenden  Absatzes  das 
35prozentige  Stärkeverhältnis  auf  die  Tonnage  in  jeder  beizubehalten- 
den Schiffskategorie  anzuwenden  und  jede  Abweichung  von  diesem 
Stärkeverhältnis  in  einer  oder  mehreren  Kategorien  von  den  hierüber 
in  einem  zukünftigen  allgemeinen  Vertrag  über  Seerüstungsbeschrän- 
kung etwa  getroffenen  Vereinbarungen  abhängig  zu  machen.  Derartige 
Vereinbarungen  würden  auf  dem  Grundsatz  beruhen,  daß  jede  Er- 
höhung in  einer  Kategorie  durch  eine  entsprechende  Herabsetzung  in 
anderen  Kategorien  auszugleichen  wäre.  Falls  kein  allgemeiner  Vertrag 
über  Seerüstungsbegrenzung  abgeschlossen  wird  oder  falls  der  zu- 
künftige allgemeine  Vertrag  keine  Bestimmung  über  Kategorienbe- 
schränkung enthalten  sollte,  wird  die  Art  und  das  Ausmaß  des  Rechtes 
der  Regierung  des  Deutschen  Reiches,  das  35prozentige  Stärke- 
verhältnis in  einer  oder  mehreren  Kategorien  abzuändern,  durch  Ver- 
einbarung zwischen  der  Regierung  des  Deutschen  Reiches  und  der  Re- 
gierung Sr.  Majestät  im  Vereinigten  Königreich  im  Hinblick  auf  die 
dann  bestehende  Flottenlage  geregelt. 

e)  Falls  und  solange  andere  bedeutende  Seemächte  eine  einzige 
Kategorie  für  Kreuzer  und  Zerstörer  behalten,  hat  das  Deutsche 
Reich  das  Recht  auf  eine  Kategorie  für  diese  beiden  Schiffsklassen, 
obgleich  es  für  diese  beiden  Klassen  zwei  Kategorien  vorziehen  würde. 

f)  Hinsichtlich  der  Unterseeboote  hat  das  Deutsche  Reich  jedoch 
das  Recht,  eine  der  gesamten  Unterseeboottonnage  der  Mitglieder  des 
Britischen  Commonwealth  gleiche  Unterseeboottonnage  zu  besitzen, 
ohne  jedoch  das  Stärkeverhältnis  35  zu  100  hinsichtlich  der  Gesamt- 
lonnage  zu  überschreiten.  Die  Regierung  des  Deutschen  Reiches  ver- 
pflichtet sich  indessen,  außer  den  im  folgenden  Satz  angegebenen  Um- 
ständen mit  ihrer  Unterseeboottonnage  über  45  v.  H.  der  Gesamt- 
Unterseeboottonnage  der  Mitglieder  des  Britischen  Commonwealth 
nicht  hinauszugehen.  Sollte  eine  Lage  entstehen,  die  es  nach  Ansicht 


"^ *  ^ 


20] 


Das  Jahr  1935 


73 


der  Regierung  des  Deutschen  Reiches  notwendig  macht,  von  ihrem 
Anspruch  auf  einen  über  die  vorgenannten  45%  hinausgehenden  Pro- 
zentsatz Gebrauch  zu  machen,  so  behalt  sich  die  Regierung  des  Deut- 
schen Reiches  dag  Recht  vor,  der  Regierung  Sr.  Majestät  im  Ver- 
einigten Königreich  davon  Mitteilung  zu  machen,  und  sie  ist  damit 
einverstanden»  die  Angelegenheit  zum  Gegenstand  freundschaftlicher 
Erörterungen  zu  machen»  bevor  sie  dieses  Recht  ausübt, 

g)  Da  es  höchst  unwahrscheinlich  ist,  daß  die  Berechnung  des 
35prozentigen  Stärkeverhältnisses  in  jeder  Schiffskategorie  Tonnage- 
zahlen ergibt,  die  genau  teilbar  sind  durch  die  zulässige  Tonnage  für 
Schiffe  dieser  Kategorie,  kann  es  sich  als  notwendig  herausstellen,  daß 
AnglcichuDgen  vorgenommen  werden  müssen,  damit  das  Deutsche 
Reich  nicht  daran  verhindert  wird,  seine  Tonnage  voll  auszunutzen. 
Es  ist  daher  abgemacht  worden,  daO  die  Regierung  de^  Deutschen 
Reiches  und  die  Regierung  Sr.  Majestät  im  Vereinigten  Königreich 
vereinbaren  werden,  w^elche  Angleich ungen  zu  diesem  Zweck  erforder- 
lich sind.  Es  besteht  Einigkeit  darüber,  daß  dieses  Verfahren  nicht  zu 
erheblichen  oder  dauernden  Abweichungen  von  dem  Verhältnis  von 
35  zu  100  hinsichtlich  der  Gesamtflottenstärken  führen  soIK 

3.  Hinsichtlich  Unterabschnitt  c  der  obigen  Erklärungen  habe 
ich  die  Ehre,  Ihnen  mitzuteilen,  daß  die  Regierung  Sr.  Majestät  im 
Vereinigten  Königreich  von  dem  Vorbehalt  Kenntnis  genommen  hat 
und  das  darin  erwähnte  Recht  anerkennt,  wobei  Einverständnis 
darüber  besteht,  daß  das  Stärkeverhältnis  von  35  zu  100,  falb  zwischen 
den  beiden  Regierungen  nichts  Gegenteiliges  vereinbart  wird,  auf- 
rechterhatten bleibt, 

4*  Ich  habe  die  Ehre,  Euere  Exzellenz  um  eine  Mitteilung  darüber 
zu  bitten,  daß  die  Deutsche  Regierung  anerkennt,  daß  der  Vorschlag 
der  Deutschen  Regierung  in  den  vorstehenden  Absätzen  dieser  Note 
richtig  wiedergegeben  ist. 

Ich  habe  die  Ehre  zu  sein  usw. 

Samuel  Hoare 


IL  Schreiben   des  Außerordentlichen  und   Bevollmächtig- 
ten  Botschafters   von   Ribbentrop    an    den   Staatssekretär 
für  Auswärtige  Angelegenheiten   Sir  Samuel   Hoare 


Euere  Exzellenz! 


London,  18.  Juni  1935. 


Ich  beehre  mich.  Euerer  Exzellenz  den  Empfang  des  Schreibens 
vom  heutigen  Tage  zu  bestätigen,  in  dem  Sie  die  Freundlichkeit  hatten, 
mir  im  Namen  der  Regierung  Sr.  Majestät  im  Vereinigten  Königreich 
folgendes  mitzuteilen: 

(Es  folgt  die  wörtliche  Wiedergabe  der  Abschnitte  1  bis  3  aus  dem 
Schreiben  des  Staatssekretärs  Sir  Samuel  Hoare.) 

Ich  beehre  mich.  Euerer  Exzellenz  zu  bestätigen,  daß  der  Vor- 
»chlag  der  Regierung  des  Deutschen  Reiches  in  dem  vorstehenden 


74 


DeuUchland  *  England 


[20 


Schreiben  richtig  wiedergegeben  ist  und  nehme  davon  Kenntnis,  daß 
die  Regierung  Sr.  Majestät  im  Vereinigten  Königreich  diesen  Vor- 
schlag annimmt. 

Die  Regierung  des  Deutschen  Reiches  ist  auch  ihrerseits  der  An- 
sicht, daß  die  Einigung,  zu  der  sie  nunmehr  mit  der  Regierung  Sr.  Ma- 
jestät im  Vereinigten  Königreich  gelangt  und  die  sie  als  eine  vom  heu- 
tigen Tage  ab  gültige  Einigung  zwischen  den  beiden  Regierungen  an- 
sieht, den  Abschluß  eines  allgemeinen  Abkommens  über  diese  zwischen 
allen  Seemächten  der  Welt  erleichtern  wird, 

Ich  habe  die  Ehre,  zu  sein  usw. 

Joachim  von  Ribbentrop 

■  Außerordentlicher  und    Bevollmächtigter 

^  Botschafter  des  Deutschen  Reiches 

(E:  Cmd.  4930,  —  D:  Völkerbund  und  Völkerrecht,  1935/36,  S.  269ff.) 

I  Außer  dem  Fhiienabkommen  war  die  Heichsregierung  seit  längerem 

auch  zu  einer  Verständigung  über  die  Luflrüsiung  bereit  gewesen.  Naiur- 
gemaß  machle  sie  aber  ihre  Zustimmung  zum  Luftpakl  von  der  An- 
erkennung der  deuischen  Luftmackl  abhängig^  und  zwar  in  der  Pariiät 
mit  den  Luftflotten  der  einzelnen  Weslmächie.  Bezeichnenderweise  verlor 
die  französische  Regierung  ihr  Interesse  am  Luflpaki,  als  die  deutsche 
ihre  Zustimmung  erteilte.  Sie  verlangte  bilaterale  Abkommen  innerhalb 
des  Luftpakies^  schob  wieder  den  Osipakt  in  den  Vordergrund  und  ver- 
langte Deutschlands  Zustimmung  hierzu,  Ja^  die  Verwirklichung  des 
Luftpükles  sottle  nur  gleicfizeitig  mit  den  Verhandlungen  über  den  Ost- 
pakt und  die  anderen  Punkte  des  Londone  r Kommuniques  vom  3.  Februar 
1935  erfolgen.  Luflpakt  und  östpakl  bildeten  fortan  ein  unheilvottes 
Junktim.  Gerade  solcher  Verkoppelung  von  mehreren  schwierigen  Fragen 
hatte  der  Führer  in  seiner  Bede  vom  21.  Mai  1935  ah  höchst  unpraklisch 
widerraten.  Im  übrigen  hatte  er  immer  wieder  Beistandspakte  militä- 
rischen Charakters  abgelehnt.  Er  hatte  an  Stelle  dessen  Nichtangriffs- 
pakte mit  den  einzelnen  Nachbarstaaten  Deutschlands  angeboten.  Er 
befand  sich,  was  hervorgehoben  zu  werden  verdient ^  mit  dieser  Einstel- 
lung zu  den  Ostpaktfragen  in  Übereinstimmung  mit  der  polnischen  Re- 
gierung, 

Über  alle  diese  Fragen  wurden  seit  Mai  1935  monatelange  diplo- 
matische Verhandlungen  geführt.  Seit  Juni  1935  war  die  Außenpolitik 
der  englischen  Regierung  wegen  ihrer  Haltung  im  Abessinienkonflikt 
und  wegen  des  sowohl  im  eigenen  Lande  wie  besonders  in  Frankreich 
heftig  angegriffenen  Flollenabkommens  mit  Deutschland  in  großer  Be" 
drängnis.  Die  englisch-französischen  Beziehungen  waren  damals  so 
stark  getrübt  und  auf  französischer  Stile  von  Mißtrauen  so  durchsetzt, 
wie  sie  es  wohl  seil  1931  nicht  mehr  gewesen  waren.  In  erster  Linie  war 
hieran  das  Floltenabkommen  schuld.  Um  die  französische  Verstimmung 
auszugleichen^  machte  sich  die  britische  Regierung  wider  ihr  besseres 
Wissen  den  französischen  Standpunkt  zum  Luflpakt  und  Ostpaki  zu 
eigen.  Am  11.  Juli  1935  hielt  der  damalige  Außenminister  Sir  Samuel 


21] 


Das  Jahr  1935 


75 


Hoare  im  Unterhaus  eine  sehr  kühle  Bede,  in  der  er  an  den  Führer 
appellierle,  durch  seine  Zustimmung  zum  Osipaki  die  atlgemeine  Regelung 
der  europäischen  Fragen  zu  fördern.  Er  machte  sieh  die  These  von  der 
f^Unieilbarkeil  des  europäischen  Friedens"  zu  eigen  und  konstruierte  ein 
englisches  Interesse  an  dem  Ostpakt.  Dies  konnte  angesichts  der  Sowjet- 
pakle  in  Deutschland  nicht  mehr  verfangen.  Daß  aber  in  England  der 
Wind  wieder  umgescfitagen  war^  zeigte  sich  auch  darin,  daß  wieder ,  wie 
kurz  nach  der  Machtübernahme^  innerdeutsche  Angelegenheiten  gegen 
Deutschland  ausgebeutet  wurden  und  eine  neue  Hetzweite  über  das  Land 
ging. 

Aus  der  Unterbausrede  des  britischeii  AußeiuDiniBtere  21. 

Sir  Samuel  Hoare  vom  11*  Juli  1935 

Uns  liegt  an  einem  Luftpakt,  der  eine  Beschränkung  der  LufU 
flotte  einschließt.  Schon  vor  zehn  Jahren,  lange  bevor  die  Lnftraacht 
ßo  furchtbar  wurde  in  ihrer  Schnelligkeit,  ihrer  Wirksamkeit  und  zer- 
störenden Gewalt,  wie  sie  es  jetzt  ist,  erschien  mir  die  Gefahr  eines 
Knockoutschlages  so  groß,  daß  nur  das  Abschreckungsmittel  einer 
nahezu  überwältigenden  Luftflotte  die  Welt  vor  einer  großen  Kata- 
atrophe  bewahren  könnte.  Ich  glaube,  diese  Ansicht  wird  von  der  großen 
Mehrheit  der  ehrenwerten  Mitglieder  geteilt.  Wir  alle  wünschen  einen 
Luftpakt.  Wir  alle  wünschen  Beschränkungen  der  Luftflotte.  Es  mag 
sich  dann  die  Frage  erheben :  Warum  kann  nicht  unverzüglich  ein  Luft- 
pakt abgeschlossen  werden,  wenn  wir  doch  alle  den  Luftpakt  und 
eine  Beschränkung  der  Luftmacht  wünschen? 

Ich  glaube,  wenn  ich  die  Frage  einem  Komitee  des  Hauses  vor- 
gelegt habe,  wird  man  sehen,  daß  das  Problem  nicht  ganz  so  einfach 
ist,  wie  es  auf  den  ersten  Blick  erscheinen  mag.  Die  grundlegende  Be- 
dingung für  einen  Luftpakt  ist,  daß  alle  fünf  Mächte  ihm  zustimmen 
müssen.  Es  ist  nicht  immer  leicht,  fünf  Mächte  zu  einer  Übereinstim- 
mung über  irgend  etwas  zu  bringen,  sei  es  auch  nur  über  die  Verhand- 
lungsbasis, 

Im  Falle  des  Luftpaktes  ist  der  Sachverhalt  der  — -  es  führt  zu 
nichts,  Tatsachen  zu  übersehen  — ,  daß  einige  der  Regierungen,  unter 
ihnen  die  französische,  die  Ansicht  vertreten,  daß  der  Frieden  ein 
unteilbares  Ganzes  ist  und  daß  man  nicht  zu  einem  Zeitpunkt  ein 
Teilproblem  behandeln  kann,  sondern  daß  alle  Teilprobleme  zusammen 
behandelt  werden  müssen.  Wir  wollen  dieser  Ansicht  einmal  Rechnung 
tragen;  erlauben  Sie  mir,  sie  zu  analysieren,  damit  wir  sehen,  wie  weit 
sie  durch  die  augenblickliche  Situation  gerechtfertigt  ist,  wie  weit  es 
eine  Tatsache  ist,  daß  der  Frieden  eins  und  unteilbar  ist,  und  ob  es  un- 
möglich ist,  sich  mit  einem  Teilproblem  zu  beschäftigen,  bevor  man 
sich  mit  dem  Gesamtproblem  beschäftigt  .  .  . 

Lassen  Sie  mich  die  Behauptung»  daß  der  Frieden  ein  einziges 
Ganzes  ist,  dadurch  illustrieren,  daß  ich  versuche,  eine  Frage  zu  beant- 
worten. Es  ist  die  Frage:  Was  hat  Großbritannien  mit  einem  Ostpakt 
zu  tun?  Das  heißt  mit  einem  Nichtangriffspakt  in  Osteuropa.  Lassen 


m 


76  Deutschland  -  England  [21 

Sie  mich  dem  Hause  erklären,  was  ich  für  Großbritanniens  Interesse 
an  einem  Ostpakt  halte,  und  desgleichen,  was  ich  für  das  Interesse 
Großbritanniens  an  einem  Nichtangriffspakt  in  Zentraleuropa  halte. 
Es  kann  sich  nicht  um  weitere  Verpflichtungen  handeln.  Der  Aus- 
schluß weiterer  Verpflichtungen  auf  unserer  Seite,  worauf  in  der  Ver- 
gangenheit häufig  angespielt  worden  ist,  schließt  aber  nicht  unser 
Interesse  an  einer  Regelung  der  Fragen  aus. 

Es  gibt  viele  Regierungen  in  Europa  —  ich  brauche  sie  nicht  zu 
nennen  — ,  die  das  Zentrum  und  den  Osten  Europas  für  Gefahren- 
zonen halten.  Einige  gehen  soweit  zu  glauben,  daß  eine  Übereinkunft 
im  Westen,  beispielsweise  über  den  Luftpakt,  losgelöst  von  einer 
Regelung  der  übrigen  Friedensfragen,  die  Gefahr  im  Osten  noch  größer 
machen  würde,  als  sie  jetzt  ist.  Ich  kann  zwar  diese  Befürchtungen  nicht 
ganz  teilen,  stimme  aber  insofern  bei,  als  ein  Kriegsausbruch  im  Zen- 
trum oder  im  Osten  Europas,  nach  unserer  Erfahrung  zu  urteilen, 
wahrscheinlich  zu  einem  allgemeinen  Konflikt  führen  würde  und  daß 
es  darum  wesentlich  ist,  sich  unverzüglich  mit  allen  möglichen  Ge- 
fahrenzonen zu  befassen.  Das  ist  der  Grund,  weswegen  der  britischen 
Regierung  so  sehr  daran  gelegen  ist,  einen  Ost-  und  Donau-Nichtan- 
griffspakt sobald  wie  möglich  abgeschlossen  zu  sehen. 

Es  gab  eine  Zeit,  in  der  der  deutsche  Reichskanzler  einem  Ostpakt 
ablehnend  gegenüberstand.  Die  Vorschläge  waren  in  einer  Form  ge- 
macht worden,  die  er  nicht  akzeptieren  konnte.  All  das  hat  sich  jedoch 
jetzt  geändert.  Der  deutsche  Kanzler  willigte  bei  der  Stresakonferenz 
ein,  daß  kein  Einwand  erhoben  werden  würde  gegen  den  Abschluß 
von  Beistandspakten  durch  andere,  vorausgesetzt,  daß  von  Deutsch- 
land nichts  weiter  erwartet  wurde  als  Nichtangriffsverträge,  Konsul- 
tativabkommen und  die  Beistandsverweigerung  gegenüber  dem  An- 
greifer. Der  deutsche  Kanzler  erklärte  weiterhin  in  seiner  letzten  Rede : 
Die  deutsche  Reichsregierung  ist  grundsätzlich  bereit,  Nicht- 
angriffspakte mit  ihren  einzelnen  Nachbarstaaten  abzuschließen  und 
diese  durch  alle  Bestimmungen  zu  ergänzen,  die  auf  eine  Isolierung  der 
Kriegführenden  und  eine  Lokalisierung  des  Kriegsherdes  abzielen. 

Die  französische  Regierung  hat  die  deutsche  Regierung  davon  be- 
nachrichtigt, daß  sie  die  deutschen  Vorschläge  als  Verhandlungs- 
grundlage annimmt.  Ich  glaube,  der  Donaupakt  kann  auf  ähnliche 
Weise  erreicht  werden.  Es  besteht  daher  nach  der  Ansicht  der  Regie- 
rung Sr.  Majestät  keinerlei  Grund  mehr,  daß  der  Abschluß  eines  Ost- 
paktes nicht  schnelle  Fortschritte  machen  sollte.  Die  Regierung  Sr. 
Majestät  hat  der  deutschen  Regierung  ihre  Ansicht  über  diese  Fragen 
ausführlich  dargelegt. 

Es  steht  nun  in  der  Macht  des  deutschen  Kanzlers,  einen  wirk- 
lichen Beitrag  für  die  Sache  des  Friedens  zu  liefern,  einen  Beitrag,  der 
eine  Ursache  der  Beunruhigung  bei  vielen  Regierungen,  nicht  nur  in 
Mittel-  und  Osteuropa,  sondern  auch  in  Westeuropa,  beseitigen  wird. 
Ich  möchte  wagen,  ihn  dringend  zu  bitten,  diesen  Beitrag  zu  geben. 
Ich  glaube  in  der  Tat,  er  würde  seiner  eigenen  Sache  dienen,  wenn  er 
diesen  Beitrag  lieferte.  Er  selbst  sprach  in  seiner  Rede  vom  21.  Mai 


22] 


Das  Jahr  1935 


77 


sehr  freimütig»  und  ich  weiß,  er  wird  nicht  verstimmt  sein,  wenn  ich 
ebenso  freimütig  spreche.  Wir  hier  —  und  in  der  Tat  die  weite  Welt  — 
sind  nicht  nur  durch  Deutschlands  Aufrüstungsprogramm,  sondern 
aych  durch  gewisse  andere  Phänomene  des  neuen  Deutschland  beun- 
ruhigt worden.  Nichtsdestoweniger  haben  wir  den  Kanzler  bei  seinem 
Wort  genommen  und  haben  erst  in  den  letzten  Wochen  einen  prak- 
tischen Beweis  dafür  gegeben,  indem  wir  das  Flottenabkomraen  mit 
ihm  abschlössen* 

(E:  Parliamentary  Debntes,  Houstj  of  Commons,  Bd.  304,  Sp,  5J3ff,  —  D: 
Weltgeschichte  der  Gegenwart,  Bd.  3»  S.  30yrf.) 

Am  22.  Juli  1936  ieille  dm  britische  Hegierang  der  Iratizösiscken  ihre 
Bereilschafi  zum  Abschluß  bilateraler  Abkommen  innerhalb  des  Luft- 
paktes  mit,  Sie  war  also  auch  in  diesem  Punkte  der  französischen  Forde- 
rung entgegengekommen,  Sie  machte  aber  die  Voraussetzung,  daß  diese 
Abkommen  nur  das  Zustandekommen  eines  allgemeinen  Lufipakles  tpe- 
fördern  und  nur  mit  ihm  wirksam  werden  sollten.  In  einem  Gespräch 
mit  dem  deutschen  Botschafter  von  Hoesch  vom  23.  Juli  1935  entwickelte 
Hoare  noch  einmal  den  Standpunkt  seiner  Bede  vom  IL  Juli:  keine 
Forischriile  in  der  Verhandlung  des  Luftpaktes  ohne  Fortscliritle  in  der 
Verhandlung  des  Ostpakies*  Eine  Weisung  im  Sinne  dieses  Junktimg 
erhielt  der  englische  Geschäftslräger  in  Berlin  am  L  August  1935,  Am 
gleichen  Tage  vertrat  Hoare  diese  Forderung  abermals  vor  dem  Unter- 
haus. Das  Junktim  wurde  die  These,  mit  der  England  im  Verein  mit 
Frankreich  den  Luflpakl  endgültig  sabolierle. 


Instruktion  des  Außenministers  Sir  Samuel  Hoare  an  den  britisdien  '«^S. 
Geschäftsträger  in  Berlin,  Newton,  vom  23.  Juli  1935 


Auf  meine  Bitte  hat  mich  der  Deutsche  Botschafter  heute  nach- 
mittag aufgesucht.  Im  Unterhaus  wurde  bereits  angefragt,  ob  der 
Reichskanzler  irgendwie  auf  meinen  Apell  an  ihn  in  der  Außenministe- 
riumsdebatte  vom  11.  Juli  geantwortet  habe;  auch  verlautete  in  Berlin 
gerüchtweise^  daß  die  Deutsche  Regierung  selbst  erwäge^  sich  darüber 
zu  beklagen,  daß  ich  für  die  deutsche  Lage  nicht  genügend  Verständnis 
aufgebracht  hätte.  Unter  diesen  Umständen  schien  es  für  mich  am 
besten,  die  strittigen  Fragen  sofort  mit  dem  Botschafter  zu  besprechen. 

2.  Zunächst  sagte  ich,  daß  ich  sehr  stark  auf  eine  Antwort  auf 
meine  Bitte,  der  Kanzler  möchte  den  Abschluß  eines  Ostpaktes  er- 
leichtern, gehofft  hatte.  Der  Botschafter  wies  auf  den  Abschluß  des 
französisch-russischen  Bündnisses  hin,  auf  die  Nutzlosigkeit  des  Faktes» 
sowie  auf  die  Tatsache,  daß  ein  Abschluß  des  Paktes  das  französisch- 
nisöische  Bündnis  wieder  gutmachen  würde.  Ich  erwiderte,  daß  ich 
als  praktischer  Mann  in  jedem  Fall  zu  dem  Schluß  gekommen  sei,  daß 
der  von  der  britischen,  wie  auch  von  der  Deutschen  Regierung  ge- 
wünschte Luftpakt  unerreichbar  bleibt,    wenn  nicht  gleichzeitig  ein 


78 


Deutschland  •  England 


m 


Fortschritt  in  der  Angelegenheit  des  Ostpaktes  zu  verzeichnen  ist. 
War  der  Ostpakt  so  zwecklos,  wie  es  die  Deutschen  hinstcüen,  warum 
sollten  sie  dann  zugeben,  daO  er  einera  von  ihnen  in  Wirklichkeit  ge- 
wünschten Luftabkommen  im  Wege  steht?  Der  Botschafter  erklärte 
daran fhin^  daß  neben  den  deutschen  Einwendungen  auch  noch  von 
Polen  Einwendungen  erhoben  würden  und  daß  diese  in  den  kürzlich 
stattgefundenen  Unterredungen  zwischen  Herrn  Beck  und  dem  Reichs- 
kanzler in  Berlin  zur  Sprache  gekommen  seien. 

3.  Ich  bestand  weiterhin  auf  dem  Ostpakt/Warum,  fragte  der  Bot- 
schafter, bestand  ich  so  sehr  darauf?  Warum  hatte  ich  es  in  meiner 
Rede  unterlassen,  viele  der  anderen  in  der  Reichskanzlerrede  an  wich- 
tiger Stelle  vorgebrachten  Fragen  zu  behandeln?  Hierbei  überreichte 
er  mir  ein  Exemplar  der  Reichskanzlerrede  und  las  mir  auch  eine  ganze 
Reihe  Absätze  daraus  vor.  Ich  sagte  ihm,  daß  meine  Rede  keineswegs 
als  Antwort  auf  die  Reichskanzlerrede  gedacht  war.  Die  Antwort 
darauf  ist  bereits  in  der  unmittelbar  darauffolgenden  Rede  des  Herrn 
Baldwin  erfolgt.  Meine  Rede  befaßte  sich  nur  mit  einem,  und  zwar 
nur  mit  dem  einen  Gegenstand,  nämlich  die  Dinge  wieder  in  Gang  zu 
bringen,  die  stillzustehen  schienen,  und  um  auf  einem  Gebiet,  das 
durch  unüberwindliche  Schwierigkeiten  völlig  blockiert  zu  werden 
drohte»  wieder  Bewegungsfreiheit  zu  bekommen.  Gewiß  wolle  der 
Reichskanzler  ebensoviel  Bewegung  wie  ich.  Tatsächlich  schien  mir 
der  Wunsch  nach  Bewegung  der  eigentliche  Inhalt  seiner  Rede  zu 
sein.  Wolle  er  denn  nicht  verstehen,  daß,  wenn  es  im  Luftpakt  Bewe* 
gung  gfbt,  es  auch  auf  den  anderen  Gebieten,  und  insbesondere  auf 
dem  des  Ostpaktes  Bewegung  geben  muß? 

4.  Der  Botschafter  versprach  mir,  alle  meine  Ausführungen  im 
einzelnen  sofort  nach  Berlin  weiterzuleiten.  Vor  seinem  Weggang 
machte  er  nochmals  dieselbe  Feststellung  wie  zu  Beginn  unserer 
Unterredung,  nämlich  daß  die  Deutsche  Regierung  die  Tür  vor  dem 
Ostpakt  nicht  zugeschlagen  habe,  und  daß,  wenn  auch  für  den  Ab- 
schluß ernsthafte  Schwierigkeiten  beständen,  doch  keine  gegenteilige 
Entscheidung  getroffen  sei. 

Samuel  Hoare 
(E:  Cmd.  5143.  Nr.  34.  ^  O:  Eigeoe  OberseUung.) 


23,      Aus  der  Instruktion  des  AuBenministers  Sir  Samuel  Hoare  an  den 
britischen  Geschäftsträger  in  Berlin,  Newton,  vom  1.  August  1935 


Ich  bat  den  Deutschen  Botschafter,  heute  morgen  bei  mir  vorzu- 
sprechen zwecks  Rücksprache  über  die  Lage  des  Luftpaktes.  Ich 
wiederholte  zunächst,  was  ich  schon  oft  vorher  über  die  Notwendigkeit 
gesagt  habe,  die  Verhandlungen  über  den  Ostpakt  in  Angriff  zu  neh- 
men, wenn  wir  überhaupt  eine  Aussicht  haben  sollen,  diesen  Luftpakt 
in  die  Wege  zu  leiten.  Der  Botschafter  wiederholte  einige  frühere  Fest- 
stellungen über  den  Ostpakt,  Er  fügte  jedoch  hinzu,  daß  er  mir  er- 


25] Das  Jahr  1935 79 

freulicherweise  eine  mündliche  Nachricht  seiner  Regierung  über  die 
Stellung  der  Locamomächte  unter  dem  französisch-russischen  Vertrag 
übermitteln  könne  . .  . 

(E:  Cmd.  5143.  Nr.  36.  —  D:  Eigene  Obersetzung.} 

Ao8  der  Unterhaasrede  des  britischen  Außenministers  Sir  Samuel     24. 
Hoare  vom  1.  August  1935 

Bezüglich  der  Frage  eines  Ostpaktes  werden  sich  die  Herren  noch 
der  gestern  von  mir  erteilten  Antwort  entsinnen.  Ich  wiederhole  sie 
nochmals.  Ich  betrachte  den  Abschluß  eines  Ostpaktes  als  eines  der 
wichtigsten  Momente  auf  dem  Gebiet  der  europäischen  Entwicklung. 
Mir  ist  es  durchaus  klar,  daß,  wenn  wir  auf  dem  Gebiet  des  Ostpaktes 
nicht  weiterkommen,  es  sehr  schwierig  sein  wird,  einen  befriedigenden 
Fortschritt  mit  dem  Luftpakt  und  einigen  anderen  Maßnahmen  zur 
Befriedung  und  Versöhnung  Europas  zu  verzeichnen.  Sie,  meine 
Herren,  dürfen  versichert  sein,  daß  ich  diesen  Standpunkt  der  Deut- 
schen Regierung,  wie  auch  anderen  europäischen  Regierungen  gegen- 
über weiterhin  geltend  machen  werde.  Ich  selbst  sehe  keinen  Grund, 
warum,  so  wie  die  Dinge  augenblicklich  liegen,  ein  Ostpakt  nicht  ab- 
geschlossen werden  sollte,  auch  bin  ich  sicher,  daß,  wenn  es  zum  Ab- 
schluß eines  Ostpaktes  kommt,  dieser  als  eine  Versöhnungsmaßnahme 
in  Mittel-  und  Osteuropa  angesehen  und  eine  große  Hilfe  für  den  Ab- 
schluß eines  Luftpaktes  darstellen  wird,  weil  er  nicht  nur  von  uns 
selbst,  sondern  auch  von  der  Deutschen  Regierung  gewünscht  wird. 

(E:  Parliamentary  Debates.  House  of  Gommons.  Bd.  304,  Sp.  2962f.  —  D: 
Eigene  Obersetzung.) 

Am  S.  August  1935  erhob  die  englische  Regierung  in  einem  Memo- 
randum  an  die  Reichsregierung  dringliche  Vorslellungen,  die  auf  den  Ab- 
schluß eines  kollektiven  Nichtangriffspaktes  hinzielten. 


Aus  dem  Memorandum  der  britischen  Regierung  vom  5.  August  1935  25. 

Wenn  die  Deutsche  Regierung  es  unterlaßt,  so  zu  handeln  und 
fortfährt,  sich  in  dieser  Sache  auf  das  zu  beschränken,  was  in  der  Rede 
des  Kanzlers  vom  21.  Mai  gesagt  wurde,  indem  sie  außerdem  die  Rede- 
wendung „Nachbarstaaten**  eng  auslegt  als  Staaten,  welche  an 
Deutschland  angrenzen,  dann  scheint  nicht  zu  erwarten,  daß  ein  Fort- 
schritt gemacht  werden  kann.  Es  gäbe  gewiß  keine  Hoffnung,  daß  die 
französische  Regienmg  befriedigt  sein  wird,  und  das  Ergebnis  wird  so 
sein,  wie  es  Herrn  von  Ribbentrop  und  dem  deutschen  Botschafter  in 
London  dargelegt  wurde,  daß  die  Aussichten  auf  den  Luftpakt,  dem 
Seiner  Majestät  Regierung  und,  wie  sie  bis  jetzt  verstanden  hatten, 
auch  die  deutsche  Regierung  solch  große  Bedeutung  beimessen,  wohl 
eitel  sein  möchten.  Seiner  Majestät  Regierung  hofft  daher  ernstlich, 


M Deutachland  -  England [» 

daß  die  deutsche  Regierung  einwilligen  wird,  in  einen  kollektiven 
Sicherheitspakt  auf  Nicht-Angriff  nicht  nur  Litauen  (das  Partner 
einer  Lösung  der  Memelfrage  ist),  Polen  und  Tschechoslowakei,  sondern 
auch  Lettland,  Estland  und  Rußland  einzuschließen  . . . 

Seiner  Majestät  Regierung  wünscht  daher  die  besondere  Auf- 
merksamkeit des  Kanzlers  auf  diese  Bemerkungen  zu  lenken  im  Hin- 
blick auf  den  Nachdruck,  welchen  er  in  seiner  Rede  im  Reichstag  am 
21.  Mai  auf  die  Bedeutung  einer  friedlichen  Regelung  in  Europa  legte. 
In  seiner  Rede  erklärte  der  Kanzler,  daß  die  Deutsche  Regierung  zu 
jeder  Zeit  bereit  wäre,  an  einem  System  kollektiver  Zusammenarbeit 
zur  Sicherung  des  Friedens  in  Europa  teilzunehmen.  Er  bezog  sich 
nicht  nur  auf  das  große  Ziel,  welches  die  Deutsche  Regierung  im  Auge 
hatte,  sondern  gab  seiner  Meinung  Ausdruck,  daß  solch  ein  Ziel  nur 
Schritt  für  Schritt  erreicht  werden  könnte.  Diese  Ansicht  entspricht 
genau  der  von  Seiner  Majestät  Regierung,  und  der  Staatssekretär  des 
Auswärtigen  wiederholte  sie  im  Unterhaus  am  1.  August.  Unter  diesen 
Umständen  vertraut  Seiner  Majestät  Regierung  ernstlich  darauf,  daß 
sich  der  Kanzler  als  ersten  Schritt  zur  Erfüllung  des  großen  Zieles  der 
Befriedung  Europas,  worauf  er  sich  in  seiner  Rede  bezog,  zu  einem 
kollektiven  Nicht-Angriffspakt  mit  den  6  Oststaaten  auf  der  Linie  des 
deutschen  Entwurfs,  der  Sir  John  Simon  in  Berlin  mitgeteilt  wurde, 
bereitfinden  wird. 

Seiner  Majestät  Regierung  wird  dankbar  sein,  wenn  ihre  An- 
sichten in  baldige  und  günstige  Betrachtung  gezogen  werden  können 
und  hofft  sehr,  daß  des  Kanzlers  Antwort  einen  schnellen  Fortschritt 
in  naher  Zukunft  in  einer  Angelegenheit,  der  sie  soviel  Bedeutung  bei- 
mißt, erlauben  wird. 

(E:  Cmd.  5143.  Nr.  37.  —  D:  Eigene  Übersetzung.) 

Seit  dem  Sommer  1935  wurden  die  Verhandlungen  über  Lufipaki, 
Oslpakl,  Locarno  und  Kollekiivpaki  durch  den  Ahessinischen  Krieg,  der 
am  3,  Oktober  1935  ausbrach,  und  den  neuen  Vorstoß  der  Komintern  in 
den  Hintergrund  gedrängt.  Die  britische  Regierung  hat  auf  diplomati- 
schem Wege  noch  mehrmals  an  die  Beantwortung  ihres  Memorandums 
vom  5,  August  1935  erinnert,  Freiherr  von  Neurath  teilte  am  23,  Oktober 
1935  dem  englischen  Botschafter  in  Berlin  mit,  daß  eine  Antwort  unter 
den  obwaltenden  Umständen  nicht  opportun  sei.  Anfang  Dezember  1935 
regte  Sir  E.  Phipps  an,  die  Verhandlungen  über  einen  Luftpakl  wieder 
zu  eröffnen.  Hoare  beurteilte  die  Aussichten  skeptisch.  Er  wollte  auf 
keinen  Fall  die  bekannten  französischen  Wünsche  ignorieren.  Immerhin 
gab  er  dem  Botschafter  in  Berlin  am  5.  Dezember  1935  die  Weisung, 
beim  Führer  festzustellen,  „welche  konkrete  Bedeutung  er  Verhandlungen 
auf  der  Basis  der  Rede  vom  21.  Mai  1935  beimesse*'.  Zu  diesem  Zweck 
erörterte  er  nochmals  die  dreizehn  Punkte  des  deutschen  Friedenspro- 
gramms. 

Es  ist  bezeichnend,  mit  welch  unerhörter  Oberflächlichkeil  dabei  ein 
so  enbcheidend  wichtiger  Vorschlag  wie  der  des  Verbots  des  Bombenab- 
wurfs außerhalb  von  Kampfzonen  von  britischer  Seite  abgetan  wurde. 


Das  Jahr  1935 


81 


Nicht  zuMzl  war  es  auch  diese  Ünfähigkeii  der  Engländer^  große  und 
auf  den  ersten  Blick  undurchführbar  scheinende  Vorschlage  aufzugreifen 
Und  ni  verwirklichen,  welche  die  deutsch-englischen  Verhandlungen  in 
allen  Fragen  immer  wieder  zum  Scheitern  verurteilten. 


Aus  dem  Telegramm  des  Außenministers  Sir  Samuel  Hoare 

an  den  britisdien  Botschafter  in  Berlin,  Sir  Eric  Pliipps, 

vom  5.  Dezember  1935 


26. 


6.  Zur  Orientierung  von  Ew.  Exzellenz  darf  ich  hier  erklären,  dnQ 
einii*«  bei  diesen  Punkten  aufgeworfene  Fragen,  namentlich  bei  Punkt 
l,  2,  3-  4  und  5  der  Führerrede  vom  21.  Mai  1935,  überhaupt  keine 
Verl'  -fragen  sind,  sondern  grundsätzliche  Meinungsäußerungen 


der   i 


n  Regierung.  Andere  von  diesen  Punkten  (namentlich 


die  Teile  von  Punkt  8  betr.  Land-  und  Seestreitkräfte  und  Punkt  11 
betr,  Seerüstung)  behandeln  entweder  eine  Frage  (Landstreitkräfte), 
die  jetxi  sowohl  von  Deutschland  ab  auch  von  Frankreich  als  im  Augen- 
blirk  unlösbar  bezeichnet  wird^  oder  Seefragen,  die  bereits  im  Flotten- 
abkommen  vom  letzten  Juni  beliandelt  oder  bei  der  Flottenkonferenz 
zu  behandeln  sind.  Punkt  9  behandelt  die  Abschaffung  von  gewissen 
Waffen  und  Kriegführungsmethoden,  insbesondere  das  Verbot  des 
Bombenabwurfs  außerhalb  der  Kampfzone;  ich  glaube,  daß  der  Reichs- 
imzler,  ebensowenig  wie  auch  wir,  der  Ansicht  ist,  duQ  dieses  Ergebnis, 
»s  von  der  Zustimmung  vieler  Mächte  abhängt,  in  der  allernächsten 
Zukunft  erreicht  werden  dürfte. 

7.   Die  in  den  dreizehn  Punkten,  die  in  nicht  allzuferner  Zeit 
Gegenstand  einer  Aussprache  sein  dürften,  enthaltenen  Fragen  sind: — 

1.  Der  Hinweis  in  Punkt  6  auf  die  Dereitwilligkeit  der  Deutschen 
Regierung  zum  Abschluß  von  zweiseitigen  Nichtangriffspakten 
mit  Nachbarstaaten; 

2.  Der  Hinweis  in  Punkt  7  und  8  auf  den  Luftpaki  und  Beschrän- 
kung der  Luftstreitkräfte; 

3*  Der  Hinweis  in  Punkt  10  auf  die  Beschränkung  von  schweren 

Waffen;  und 
4,  Der  Hinweis  in  Punkt  12  und  13  auf  das  Nichteingreifen  in 

Österreich. 
{El  Cmd.  &143.  Nr.  45.  —  D:  Eigene  Cber»etzui)g,) 


D^Uelüand^Englaiid  6 


1936 


■PlüMM 


r^^^^ -me^ 


t7] 


Das  Jahr  1036 


85 


Ilätte  der  damalige  britische  Premierminister  Baldwin  nicht  das  an- 
maßende und  überhebliehe  Wort  von  der  englischen  Grenze  am  Rhein 
gepragl\)^  so  wäre  das  Interesse  Englands  an  dem  wichtigsten  Ereignis 
des  Jahres  1936,  an  der  \V tederherslellung  der  deutschen  Wehrhoheit  im 
Hheinland,  völlig  unversiändlich.  Jenes  Wori  erleichtert  das  Verständnis 
der  britischen  Politik^  wenn  auch  nicht  das  Verständnis  ihrer  Berech- 
tigung. 

Am  7.  März  19S6  waren  die  deutschen  Truppen  in  das  nach  dem 
Locarno- Vertrag  und  nach  Art.  42 ff.  des  Versailler  Vertrages  entmiU- 
larisierle  Fiheinland  einmarschierL  Am  Mittag  desselben  Tages  gab  der 
Fährer  in  einer  Reichstagsrede  die  politischen  und  rechtlichen  Gründe  an, 
die  Deulschland  diesen  Schritt  erlaubten.  Er  besiätigle  auch  bei  dieser 
Gelegenheil  seinen  beständigen  Wunsch  und  sein  aufrichtiges  Bemühen 
um  eine  allgemeine  Verständigung  mit  England  und  Frankreich. 


Aus  der  Keidistagsrede  des  Führers  vom  7.  März  1936 


27. 


ich  habe  mich  in  den  letzten  drei  Jahren  bemüht,  langsam,  aber 
stetig  die  Voraussetzungen  für  eine  deutsch-französische  Versiündigung 
zu  schaffen.  Ich  habe  dabei  nie  einen  Zweifel  darüber  gelassen^  daß  zu 
den  Voraussetzungen  dieser  Verständigung  die  absolute  Gleichberech- 
tigung und  damit  die  gleiche  Rechts  Wertung  des  deutschen  Volkes 
und  Staates  gehört.  Ich  habe  aber  be\Mißt  in  dieser  Verständigung 
nicht  nur  ein  Problem  gesehen,  das  auf  den  Wegen  von  Pakten  gelöst 
wird,  sondern  ein  Problem,  das  zunächst  den  beiden  Völkern  psycho- 
logisch nahegebracht  werden  muß,  da  es  nicht  nur  Verstandes-,  sondern 
auch  gefühlsmäßig  vorbereitet  werden  soll.  Ich  habe  daher  auch  oft 
den  Vorw^irf  bekommen,  daß  meine  Freundschaftsangebote  keine 
konkreten  Vorschläge  enthalten  hätten.  Dies  ist  nicht  richtig.  Was 
konkret  zur  Entspannung  der  deutsch-französischen  Beziehungen 
überhaupt  vorgeschlagen  werden  konnte,  habe  ich  auch  mutig  konkret 
vorgeschlagen. 

Ich  habe  einst  nicht  gezögert,  mich  dem  konkreten  Vorschlag 
einer  Rüstungsbegrenzung  von  200  000  Mann  anzuschließen.  Ich  habe 
mich,  als  dieser  Vorschlag  dann  von  den  verantwortlichen  Verfassern 


^  g,  oben  S.  42. 


86  Deutschland  -  England  f 

selbst  preisgegeben  wurde,  mit  einem  ganz  konkreten  neuen  Vorschlag 
ao  das  französische  Volk  und  an  die  europäischen  Regierungen  ge- 
wandt. Auch  der  300  OOO-Mann-Vorschlag  erfuhr  Ablehnung. 

Ich  habe  eine  ganze  Reihe  weiterer  konkreter  Vorschläge  zur  Ent- 
giftung der  öffentlichen  Meinungen  in  den  einzelnen  Staaten  und  zur 
Reinigung  der  Kriegführung  und  damit  letzten  Endes  zu  einer  wenn 
auch  langsamen,  so  aber  sicheren  Abrüstung  gebracht.  Es  ist  ein  ein- 
ziger dieser  deutschen  Vorschläge  wirklich  berücksichtigt  worden. 
Der  realistische  Sinn  einer  englischen  Regierung  hat  meinen  Vor- 
schlag der  Herstellung  einer  dauernden  Relation  zwischen  der  deut- 
schen und  englischen  Flotte,  die  ebenso  den  Bedürfnissen  der  deut- 
schen Sicherheit  entspricht,  wie  umgekehrt  Bedacht  nimmt  auf  die 
enormen  überseeischen  Interessen  eines  großen  Weltreiches,  ange- 
nommen, und  ich  darf  wohl  darauf  hinweisen,  daO  bis  heute  noch  dieses 
Abkommen  der  praktisch  einzig  existierende  wirkliche  verständnisvolle 
und  daher  gelungene  Versuch  einer  Rüstungsbegrenzung  geblieben  ist. 
Die  Reichsregierung  ist,  wie  Sie  wissen,  bereit,  diesen  Vertrag  durch 
eine  weitere  qualitative  Abmachung  mit  England  zu  ergänzen. 

Ich  habe  den  sehr  konkreten  Grundsatz  ausgesprochen,  daß  die 
Sammel Programme  einer  internationalen  Paktomanie  ebenso  w^enig 
Aussicht  auf  Verwirklichung  besitzen  wie  die  Generalvorschläge  einer 
unter  solchen  Umständen  von  vornherein  schon  als  undurchführbar 
erwiesenen  Weltabrüstung.  Ich  habe  demgegenüber  betont,  daß  nur 
schrittweise  an  diese  Fragen  herangetreten  werden  kann,  und  zwar 
nach  der  Richtung  des  vermutlich  geringsten  Widerstandes  hin.  Ich 
habe  aus  dieser  Überzeugung  heraus  den  konkreten  Vorschlag  auch 
für  einen  Luftpakt  entwickelt,  unter  der  Zugrundelegung  gleicher 
Stärken  für  Frankreich,  England  und  Deutschland.  Das  Ergebnis 
war  zunächst  eine  Mißachtung  dieses  Vorschlages  und  dann  die 
Hereinführung  eines  neuen,  in  seinem  militärischen  Ausmaß  unbe- 
rechenbaren osteuropäisch-asiatischen  Faktors  in  das  europäische 
Gleichgewichtsfeld . 

Ich  habe  mich  jahrelang  also  mit  konkreten  Vorschlägen  abge- 
geben, altein  ich  stehe  nicht  an  zu  erklären,  daß  mir  mindest  ebenso 
wichtig  wie  die  sogenannten  konkreten  Vorschläge  die  psychologische 
Vorbereitung  für  die  Verständigung  erschienen  ist,  und  ich  habe  auf 
dem  Gebiete  mehr  getan,  als  ein  aufrichtiger  fremder  Staatsmann 
jemals  überhaupt  auch  nur  erhoffen  durfte. 

Ich  habe  die  Frage  der  ewigen  europäischen  Grenzrevisionen  aus 
der  Atmosphäre  der  öffentlichen  Diskussion  in  Deutschland  genommen. 
Man  steht  leider  nur  zu  oft  auf  dem  Standpunkt  —  und  dies  gilt  be- 
sonders für  ausländische  Staatsmänner  — ,  daß  dieser  Einstellung  und 
ihren  Handlungen  keine  besondere  Bedeutung  zukommt.  Ich  darf 
darauf  hinweisen,  daß  es  mir  genau  so  möglich  gewesen  wäre,  als 
Deutscher  die  Wiederherstellung  der  Grenzen  vom  Jahre  1914  mo- 
ralisch als  mein  Programm  aufzustellen  und  pubhzistisch  und  orato- 
risch  zu  vertreten,  so  wie  das  etwa  französische  Minister  und  Volks- 
fübrer  nach  dem  Jahre  1871  getan  haben. 


[2™ 


27] Das  Jahr  1936 87 

Meine  Herren  Kritiker  sollen  mir  auch  auf  diesem  Gebiet  nicht 
jede  Fähigkeit  absprechen.  Es  ist  viel  schwerer  für  einen  Nationa- 
listen, einem  Volk  zur  Verständigung  zuzureden,  als  das  Um- 
gekehrte zu  tun.  Und  es  würde  für  mich  wahrscheinlich  leichter  ge- 
wesen sein,  die  Instinkte  nach  einer  Revanche  aufzupeitschen,  als  das 
Gefühl  für  die  Notwendigkeit  einer  europäischen  Verständigung  zu 
erwecken  und  dauernd  zu  vertiefen.  —  Und  dieses  habe  ich  getan! 
Ich  habe  die  deutsche  öffentliche  Meinung  von  Angriffen  solcher  Art 
gegen  unsere  Nachbarvölker  befreit. 

Ich  habe  aus  der  deutschen  Presse  jeden  Haß  gegen  das  französi- 
sche Volk  entfernt.  Ich  bemühte  mich,  in  unsere  Jugend  das  Verständ- 
nis für  das  Ideal  einer  solchen  Verständigung  hineinzubringen,  und 
zwar  sicher  nicht  erfolglos.  Als  vor  wenigen  Wochen  die  französischen 
Gäste  in  das  Olympische  Stadion  in  Garmisch-Partenkirchen  einzogen, 
da  hatten  sie  vielleicht  Gelegenheit  festzustellen,  ob  und  inwieweit 
mir  eine  solche  innere  Umstellung  des  deutschen  Volkes  gelungen  ist. 

Diese  innere  Bereitwilligkeit  aber,  eine  solche  Verständigung  zu 
suchen  und  zu  finden,  ist  wichtiger  als  ausgeklügelte  Versuche  von 
Staatsmännern,  die  Welt  in  ein  Netz  juristisch  und  sachlich  undurch- 
sichtiger Pakte  zu  verspinnen. 

Dieses  Bestreben  von  mir  war  aber  doppelt  so  schwer,  weil  ich 
in  derselben  Zeit  Deutschland  aus  der  Verstrickung  eines  Vertrages 
lösen  mußte,  der  ihm  seine  Gleichberechtigung  raubte,  an  dessen  Auf- 
rechterhaltung aber  —  ob  mit  Recht  oder  Unrecht  ist  nebensächlich  — 
das  französische  Volk  geglaubt  hat  interessiert  sein  zu  müssen. 

Ich  habe  dabei  gerade  als  deutscher  Nationalist  für  das  deutsche 
Volk  noch  ein  weiteres  besonders  schweres  Opfer  bringen  müssen.  Es 
ist  bisher,  wenigstens  in  der  neueren  Zeit,  noch  nie  versucht  worden, 
nach  einem  Krieg  dem  Verlierer  souveräne  Hoheitsrechte  über  große 
und  alte  Teile  seines  Reiches  einfach  abzusprechen.  Ich  habe  nur  im 
Interesse  dieser  Verständigung  dieses  schwerste  Opfer,  das  man  uns 
politisch  und  moralisch  aufbürden  konnte,  getragen  und  wollte  es 
weiter  tragen,  nur  weil  ich  glaubte,  einen  Vertrag  aufrechterhalten 
zu  sollen,  der  vielleicht  mithelfen  konnte,  die  politische  Atmosphäre 
zwischen  Frankreich  und  Deutschland  und  England  und  Deutschland 
zu  entgiften  und  das  Gefühl  einer  Sicherheit  auf  allen  Seiten  zu  ver- 
breiten. 

Ja,  darüber  hinaus  habe  ich  oft  und  auch  hier  in  diesem  Hause  die 
Auffassung  vertreten,  daß  wir  nicht  nur  bereit  sind,  diesen  schwersten 
Beitrag  für  die  europäische  Friedenssicherung  zu  tragen,  solange  auch 
die  anderen  Partner  ihre  Verpflichtungen  erfüllen,  sondern  daß  wir 
in  diesem  Vertrage  überhaupt  den  einzig  möglichen,  weil  konkreten 
Versuch  einer  europäischen  Sicherung  erblicken  wollen. 

Ihnen,  meine  Abgeordneten,  ist  der  Inhalt  und  der  Sinn  dieses 
Vertrages  bekannt.  Er  sollte  zwischen  Belgien  und  Frankreich  einer- 
seits und  Deutschland  andererseits  für  alle  Zukunft  die  Anwendung 
von  Gewalt  verhindern.  Durch  die  schon  vorher  abgeschlossenen 
Bündnisverträge  Frankreichs  ergab  sich  leider  die  erste,  wenn  auch 


88  Deutschland  -  England  [28 

den  Sinn  dieses  Rheinpaktes  noch  nicht  aufhebende  Belastung. 
Deutschland  leistete  zu  diesem  Pakt  den  schwersten  Beitrag,  denn 
während  Frankreich  seine  Grenze  in  Erz,  Beton  und  Waffen  armierte 
und  mit  zahlreichen  Garnisonen  versah,  wurde  uns  die  fortdauernde 
Aufrechterhaltung  einer  vollkommenen  Wehrlosigkeit  im  Westen 
aufgebürdet.  Dennoch  haben  wir  auch  dies  erfüllt  in  der  Hoffnung, 
durch  einen  solchen,  für  eine  Großmacht  so  schweren  Beitrag  dem 
europäischen  Frieden  zu  dienen  und  der  Verständigung  der  Völker 
zu  nützen. 

(Verhandlungen  des  Reichstags,  Bd.  458,  S.  6*Jff.) 

Es  war  bezeichnend^  daß  die  durch  Außenminister  Eden  vor  dem 
Unterhaus  bekanntgegebene  Stellungnahme  der  britischen  Regierung 
weder  auf  die  tieferen  Rechtsgründe  des  deutschen  Vorgehens,  noch  auf 
die  Wiederholung  des  deutschen  Verständigungswunsches  einging^  sondern 
sich  auf  den  formalistischen  Einwand  beschränkte,  Deutschland  habe 
durch  die  einseitige  Auflösung  des  Locarno-Vertrages  die  internationale 
Lage  erschwert. 

28.       Aus  der  Unterhausrede  des  britisdien  Außenministers  Eden  vom 
9.  März  1936  zur  Wiederbesetzung  des  Rheinlandes 

Nach  dem  Empfang  dieser  Mitteilung  durch  den  deutschen  Bot- 
schafter erklärte  ich  Sr.  Exzellenz,  daß  er  irgendwelche  ins  einzelne 
gehende  Bemerkungen  über  ein  Dokument  von  dieser  Bedeutung 
nicht  von  mir  erwarten  könne,  ehe  ich  nicht  Gelegenheit  gehabt 
hätte,  es  durchzuarbeiten  und  mich  mit  meinen  Kollegen  über  die 
dadurch  geschaffene  Situation  zu  besprechen. 

Gleichzeitig  sagte  ich  Sr.  Exzellenz,  daß  ich  eine  Bemerkung  aller- 
dings sofort  machen  müsse.  Ich  sprach  mein  tiefes  Bedauern  aus  über 
die  Mitteilung,  die  mir  der  Botschafter  über  die  Aktion  der  deutschen 
Regierung  hinsichtlich  der  entmilitarisierten  Zone  gemacht  hatte. 
Der  deutsche  Botschafter  werde  würdigen  können,  daß  dies  auf  die 
einseitige  Aufhebung  eines  freiwillig  eingegangenen  und  freiwillig 
unterzeichneten  Vertrages  hinauslaufe. 

Ich  hatte  eine  deutliche  Erinnerung  an  die  Erklärung,  die  mir  der 

Reichskanzler  bei  unserem  ersten  Zusammentreffen  in  Berlin  über  den 

Locamovertrag  machte.  Er  machte  eine  klare  Unterscheidung  zwi- 

len  diesem  Vertrag  und  dem  Vertrag  von  Versailles  und  betonte, 

Deutschland  den  Locamovertrag  freiwillig  unterzeichnet  hätte. 

Ich  sagte  dem  Botschafter,  daß  mir  die  Auffassung  der  deutschen 

ierung  hinsichtlich  der  Auswirkungen  des  französisch-sowjctrussi- 

jen  Paktes  auf  den  Locamovertrag  bekannt  sei.  Diese  Auffassung 

*de  jedoch  von  den  übrigen  Signatarmächten  des  Vertrages  nicht 

ilt,  und  wenn  die  deutsche  Regierung  trotz  der  Ansicht  der  übrigen 

atarmächte  ihre  Schlußfolgerungen  noch  aufrechterhalte,  dann 

i  ein  geeignetes  Schiedsverfahren  zu  ihrer  Verfügung. 


Das  Jahr  1936  80 


Ich  fürchtete,  daß  die  unvermeidliche  Wirkung  der  einseitigen 
Aufhebung  dieses  Vertrages  auf  die  Regierung  Sr.  Majestät  und  auf 
die  öffentliche  Meinung  in  Großbritannien  bedauerlich  sein  würde. 

Was  nun  den  letzten  Teil  der  Mitteilung  des  Botschafters  betrifft, 
80  erklärte  ich,  daß  die  Regierung  Sr.  Majestät  diesen  genau  prüfen 
müsse,  aber  daß  die  Erklärung  über  die  deutsche  Haltung  gegenüber 
dem  Völkerbund  zweifellos  außerordentlich  bedeutungsvoll  sei.  Der 
Botschafter  unterrichtete  mich  daraufhin,  daß  die  Entscheidung  der 
deutschen  Regierung  hinsichtlich  des  Völkerbundes  weitgehend  ihrem 
Wunsch  zuzuschreiben  sei,  den  häufig  von  dem  Premierminister  und 
mir  geäußerten  Ansichten  entgegenzukommen,  in  denen  wir  nach- 
drücklich betonten,  daß  die  Politik  der  Regierung  Sr.  Majestät  sich 
auf  den  Völkerbund  und  die  kollektive  Sicherheit  gründet. 

Deutschland,  sagte  er,  sei  bereit,  sich  dieser  Politik  anzuschließen, 
und  knüpfe  keine  Bedingungen  an  seine  Rückkehr  in  den  Völkerbund. 

Wenn  die  deutsche  Regierung  erwarte,  daß  die  Völkerbunds- 
satzung im  geeigneten  Zeitpunkt  aus  dem  Versailler  Vertrag  gelöst 
und  die  Frage  der  kolonialen  Gleichberechtigung  geregelt  würde,  seien 
dies  keine  Bedingungen,  sondern  Verhandlungsgegenstände  nach  voll- 
zogener Rückkehr  Deutschlands  in  den  Völkerbund. 

Ich  beabsichtige  nicht  die  Bedeutung  der  deutschen  Mitteilung, 
über  die  ich  dem  Hause  berichtet  habe,  zu  unterstreichen.  Gleich- 
lautende Memoranden  sind  den  übrigen  Signatarmächten  des  Locarno- 
vertrages,  nämlich  Frankreich,  Italien  und  Belgien,  übermittelt 
worden. 

Bevor  ich  jedoch  zu  Bemerkungen  allgemeiner  Art  übergehe, 
möchte  ich  das  Haus  über  die  Schritte  unterrichten,  die  in  der  un- 
mittelbaren Zukunft  getan  werden  müssen. 

Die  französische  und  die  belgische  Regierung  haben  mit  vollem 
Wissen  und  im  Einverständnis  mit  der  Regierung  Sr.  Majestät  be- 
antragt, daß  der  Völkerbundsrat  sobald  als  möglich  einberufen  werden 
soll,  um  die  Sachlage  zu  prüfen.  Ich  muß  dabei  betonen,  daß  der 
Völkerbundsrat  das  für  diesen  Zweck  zuständige  Organ  ist. 

Der  Rat  wird,  wie  verlautet,  am  nächsten  Freitag  zusammen- 
treten, und  vor  dieser  Tagung  kann  natürlich  keine  Entscheidung 
getroffen  werden.  Aber  morgen  wird  in  Paris  ein  Meinungsaustausch 
stattfinden  zwischen  den  Vertretern  der  vier  Locarnomächte  ohne 
Deutschland,  der  übermorgen  in  Genf  fortgesetzt  werden  wird.  Die 
Regierung  Sr.  Majestät  wird  bei  diesen  Besprechungen  durch  den 
Lordsiegelbewahrer  Lord  Halifax  und  mich  vertreten  sein. 

Ich  habe  dem  Haus  nun  einen  Bericht  über  die  jüngsten  Ereig- 
nisse gegeben,  mit  einigen  Anmerkungen  dazu.  Ich  habe  dem  Haus 
außerdem  die  Einzelheiten  des  in  der  nächsten  Zukunft  einzuschlagen- 
den Verfahrens,  soweit  sie  mir  bekannt  sind,  mitgeteilt. 

Aber  die  ehrenwerten  Mitglieder  werden  zweifellos  schon  jetzt 
einige  Andeutungen  erwarten  über  die  Gedanken  und  Absichten, 
mit  denen  die  Vertreter  der  Regierung  Sr.  Majestät  in  Genf  an  ein 
Problem  herangehen  müssen,  dessen  Entwicklung  bis  jetzt  noch  in 


00 


Deutachland  *  England 


[29 


einigen  wichtigen  Punkten  undurchsichtig  ist.  Das  ist  sicherlich 
wünschenswert,  denn  niemand  kann  die  Bedeutung  der  stabilisieren- 
den  Kraft  einer  klarsichtigen  und  einigen  britischen  Meinung  auf  die 
europäischen  Angelegenheiten  in  diesem  kritischen  Zeitpunkt  übersehen. 
Wir  wollen  uns  nicht  täuschen,  der  Kurs,  den  die  deutsche  Re- 
gierung eingeschlagen  hat,  indem  sie  einseitig  Verpflichtungen  aufhob, 
die  sie  freiwillig  eingegangen  ist,  und  indem  sie  gleichzeitig  so  handelt, 
als  ob  diese  Verpflichtungen  nicht  beständen,  kompliziert  und  er- 
schwert die  internationale  Lage. 

(E:  Parliomentary  Debates.  Hause  of  Commons.  Bd.  309,  Sp.  181411..  —  D: 
Weltgeschichte  der  Gegenwart,  Bd.  3.  S.  3641.) 

Verhandlungen  über  gewisse  Einschränkungen  der  Bemilifarisierung 
des  Bheinlandes,  zu  denen  Deubchland  bereil  war^  scheiierlen  daran^ 
daß  von  englischer  Seite  Forderungen  gestellt  wurden^  die  nach  wie  vor 
eine  schwere  und  durch  nichts  begründete  einseilige  Bescfiränkung  der 
deutschen  Hoheitsrechle  bedeutet  hallen.  Es  kam  daher  —  ähnlich  wie 
ein  Jahr  vorher  in  der  Frage  der  deutschen  Wehrfreiheil  —  zu  einer  er- 
neulen  Diskriminierung  Deutschlands  durch  den  in  London  lagenden 
Völkerbundsrat. 


'^'  Amtliche  Verlautbarung  über  die  Mitteilung  des  britischen 

ÄuBenministers  Eden  an  den  deulsdien  Botschafter  in  London 
vom  11.  März  1936 


Es  wurde  bekanntgegeben,  daß  Herr  Eden  nach  der  außerordent- 
lichen Sitzung  des  Kabinetts  am  Mittwochabend  den  deutschen  Bot- 
schafter Herrn  von  Hoesch  sah  und  ihm  sagte»  daß  man  die  ernste  Be- 
urteilung der  gegenwärtigen  Situation  durch  die  britische  Regierung 
schwerlich  übertreiben  könne,  Herr  Eden  teilte  dem  Botschafter  mit, 
daß  am  folgenden  Tag  eine  zweite  Sitzung  der  Locarnomüchte  statt- 
finden würde  und  daß  sich  die  britische  Regierung  daher  berechtigt 
fühlte,  Herrn  Hitler  zu  bitten,  sobald  als  möglich  einen  spontanen 
Beitrag  zu  einer  Regelung  zu  liefern, 

Herr  Eden  gab  dann  den  Umfang  des  zu  leistenden  spontanen 
Beitrags  an.  Er  schlug  vor,  die  deutsche  Regierung  möge,  um  die  Auf- 
richtigkeit  ihrer  Wünsche  darzutun, 

L  alle  Truppen  bis  auf  eine  symbolische  Zahl  aus  der  Rheinland- 
zone zurückziehen; 

2.  die  Zahl  nicht  vermehren; 

3.  es  übernehmen,  die  Zone  nicht  zu  befestigen,  wenigstens  nicht 
während  des  Zeitraumes,  der  nötig  sei,  um  die  Pakte  zu  ver- 
handeln und  die  internationale  Situation  einzurenken. 

'«'r  (Herr  Eden)  sei  sicher,  daß,  wenn  die  deutsche  Regierung  eine 
^ntane  Geste  machen  würde,  dies  ein  wertvoller  Beitrag  zur 
lung  der  internationalen  Situation  sein  würde, 
e  Times  vom  13.  März  1936.  —  D:  Eigene  Übersetzung.) 


32]  Das  Jahr  1936  91 

Amtliche  Verlautbamng  über  die  Mitteilung  des  deutsdien  30. 

Botsdiafters  in  London  vom  12.  März  1936  an  Außenminister  Eden 

Eine  Diskussion  über  dauernde  oder  vorübergehende  Beschrän- 
kungen unserer  Souveränität  in  der  Rheinlandzone  kann  für  uns  nicht 
in  Betracht  kommen. 

Um  der  französischen  Regierung  ein  Eingehen  auf  die  deutschen 
Vorschläge  zu  erleichtern,  will  der  Führer  und  Reichskanzler  aber 
seine  von  Anfang  an  bekundete  Absicht,  die  Wiederherstellung  der 
Souveränität  im  Rheinland  zunächst  nur  symbolisch  in  Erscheinung 
treten  zu  lassen,  in  folgender  Weise  präzisieren: 

Die  Stärke  der  im  Rheinland  friedensmäßig  in  Garnisonen  sta- 
tionierten Truppen  wird  vorerst  nicht  erhöht  werden. 

Es  besteht  bis  auf  weiteres  nicht  die  Absicht,  diese  Truppen  näher 
an  die  französische  oder  belgische  Grenze  heranzuführen. 

Das  vorstehend  gekennzeichnete  Maß  der  militärischen  Wieder- 
besetzung des  Rheinlandes  gilt  für  die  Dauer  der  schwebenden  Ver- 
handlungen. Dies  setzt  allerdings  eine  gleiche  Einstellung  auch  auf 
französischer  und  belgischer  Seite  voraus. 
(DNB.  vom  13.  Mftrz  1936.) 

Resolution  des  Völkerbundrates  vom  19.  März  1936  31 . 

Der  Völkerbundrat  stellt  auf  Ersuchen  Belgiens  und  Frank- 
reichs vom  8.  März  1936  fest,  daß  die  Deutsche  Regierung  gegen  Artikel 
43  des  Versailler  Vertrages  verstoßen  hat,  indem  sie  am  7.  März  1936 
militärische  Streitkräfte  in  die  durch  die  Artikel  42ff.  des  besagten 
Vertrages  und  durch  den  Locarnopakt  demilitarisierte  Zone  einrücken 
und  dort  Fuß  fassen  ließ,  und  fordert  den  Generalsekretär  in  Anwen- 
dung von  Artikel  4  Abs.  2  des  Locarnopaktes  auf,  den  Signatar- 
mächten dieses  Paktes  von  dieser  Feststellung  Mitteilung  zu  machen. 

(F:  S.  d.  N.  Journal  Officiel,  April  1936,  S.  340.  —  D:  Berber:  Locarno- 
S.  287 f.) 

Wenn  auch  die  britische  Regierung  in  dieser  ihre  Lebensinteressen 
überhaupt  nicht  berührenden  Frage  nicht  bereit  war,  einem  Sanktionsvor- 
schlag  zuzustimmen^  so  gingen  die  von  ihr  an  Deutschland  gestellten  Zu- 
mutungen doch  so  weit,  daß  Außenminister  Eden  sich  genötigt  sah,  auch 
in  der  englischen  Öffentlichkeit  lautgewordene  Bedenken  zu  beschwichtigen. 

Aus  der  Unterhausrede  des  britisdien  Außenministers  Eden  32. 

vom  26.  März  1936 

Es  ist  kein  Geheimnis,  welche  Haltung  die  französische  und  die 
belgische  Regierung  einnahmen.  Sie  erklärten,  daß  es  ihnen  nicht 
möglich  wäre,  mit  Deutschland  zu  verhandeln,  bevor  irgendeine 
Aktion  in  die  Wege  geleitet  sei,  die  zeigte,  daß  die  Gültigkeit  inter- 
nationaler Verträge  aufrechterhalten  bliebe.  Als  wir  fragten,  welche 


92  Deutschland  -  England  [32 

Vorschläge  sie  in  dieser  Richtung  machten,  sagte  uns  die  französische 
Regierung,  daß  es  ihrer  Ansicht  nach  notwendig  sei,  daß  Deutschland 
seine  Truppen  aus  der  Zone  zurückziehen  solle,  in  die  es  entgegen  den 
Verpflichtungen  eines  von  ihm  unterzeichneten  Vertrages  einmar- 
schiert war.  Als  wir  fragten,  wie  diese  Forderung  durchgesetzt  werden 
sollte,  wenn  Deutschland  sich  weigern  würde,  wurde  uns  geantwortet: 
Wenn  die  Zurückziehung  auf  keine  andere  Weise  erreicht  werden 
könnte,  dann  sollte  sie  durch  einen  steigenden  Druck,  beginnend  mit 
finanziellen  und  wirtschaftlichen  Sanktionen,  durchgesetzt  werden. 
Wir  teilten  diesen  Standpunkt  nicht.  Wir  verkannten  wieder  die 
Schwere  des  begangenen  Vertragsbruches  noch  die  Folgen  für  Europa, 
aber  wir  hielten  es  für  unsere  gebieterische  Pflicht  zu  versuchen,  durch 
Verhandlungen  das  Vertrauen  wiederherzustellen.  Dies  war  unser  Ziel 
von  der  ersten  Stunde  an  in  diesen  kritischen  vierzehn  Tagen ;  wir  haben 
durchweg  versucht,  wiederaufzubauen.  Aber  —  wir  müssen  dieser  Tat- 
sache insAuge  sehen — es  ist  unmöglich  wiederaufzubauen,  wenn  nicht  die 
Grundlagen  gut  und  wahrhaftig  gelegt  werden  können,  und  die  Grund- 
lagen können  dann  nicht  gut  und  w^ahrhaftig  gelegt  werden,  wenn 
einige  Beteiligte  glauben,  daß  das  Gebäude  schließlich  doch  nur  das 
Schicksal  seiner  Vorgänger  teilen  wird.  Es  ist  unsere  Aufgabe  gewesen, 
eine  Atmosphäre  des  Vertrauens  zu  schaffen,  in  der  diese  Verhand- 
lungen stattfinden  konnten.  Dies  waren  allgemein  die  Gesichtspunkte 
beim  Beginn. 

Wir  dachten,  der  Lordsiegelbewahrer  und  ich,  daß  es  bei  der  Be- 
schaffenheit der  gegenwärtigen  Phase  internationaler  Beziehungen  klug 
wäre  zu  versuchen,  unsere  Kollegen  dahin  zu  bringen,  daß  der  Schau- 
platz der  Verhandlungen  von  Paris  nach  London  verlegt  würde.  Sie 
willigten  ein,  und  das  Ergebnis  war,  daß  die  Tagungen  des  Rates  und 
der  Locarnomächte  in  London  stattfanden.  Es  waren  viele  Tage  an- 
gespannter und  sogar  kritischer  Verhandlungen.  Der  schwierige  Kern- 
punkt unseres  Problems  blieb  immer:  Wie  sollte  das  internationale 
Recht  verteidigt  werden?  Wie  sollten  wir  —  woran  uns  selber  am 
meisten  lag  —  diese  schwierige  vorläufige  Periode  überbrücken,  bis 
die  Verhandlungen  beginnen  konnten?  Das  Weißbuch  enthält  drei 
Vorschläge  für  diesen  Zweck.  Es  fordert  Deutschland  auf,  dreierlei  zu 
tun:  den  Streit  über  das  Verhältnis  vom  französisch-sowjetrussischen 
Pakt  zum  Locarnopakt  vor  den  Haager  Gerichtshof  zu  bringen;  eine 
Befestigung  der  entmilitarisierten  Zone  zu  unterlassen  und  einer  inter- 
nationalen Truppe  für  die  vorläufige  Periode  zuzustimmen. 

Ich  möchte  jeden  in  diesem  Hause,  der  diese  Forderung  für  zu 
weitgehend  hält,  bitten,  sich  an  unseren  Ausgangspunkt  in  Paris  zu 
erinnern,  an  die  Forderung,  die  damals  erhoben  wurde,  und  die  ganz 
folgerichtig  und  berechtigt  auf  Grund  des  Wortlautes  des  Vertrages 
selbst  erhoben  werden  konnte.  Ich  muß  klarstellen,  daß  diese  Vor- 
schläge stets  Vorschläge  gewesen  sind.  Sie  sind  kein  Ultimatum, 
noch  weniger  ein  „Diktat".  Wenn  bei  der  internationalen  Truppe  die 
Schwierigkeit  läge,  und  wenn  die  deutsche  Regierung  einige  andere 
positive  Vorschläge  statt  dessen  machen  könnte,  dann  würde  die  Re- 


331  I^as  ^^^^  193G  ^3 

gierung  Sr.  Majestät  völlig  bereit  sein,  an  die  übrigen  beteiligten 
Mächte  heranzutreten  und  zu  versuchen,  ihre  Zustimmung  dazu  zu 
erhalten;  aber  man  muß  zugeben,  daß  ohne  einen  positiven  Beitrag 
von  deutscher  Seite  die  Aufgabe  derer,  deren  einziges  Ziel  und  ein- 
ziger Ehrgeiz  die  Ermöglichung  dieser  Verhandlungen  ist,  fast  un- 
möglich ist. 

(E:  Parliamentary  Debates.  House  of  Commons.  Bd.  310,  Sp.  1443  ff.  —  D: 
Weltgeschichte  der  Gegenwart,  Bd.  3,  S.  419 f.) 

Der  Führer  hal  sich  durch  das  Verhalten  der  britischen  Regierung 
in  der  Bheinlandfrage  —  das  im  übrigen  in  einem  bemerkenswerten 
Gegensatz  zur  öffentlichen  Meinung  in  England  stand  —  nicht  entmutigen 
lassen,  seine  konstruktiven  Pläne  für  die  Neuordnung  Europas  in  einem 
großzügigen  Friedensplan  niederzulegen^  der  den  Westmächten  am 
31.  März  1936  in  Form  eines  Memorandums  übergeben  wurde, 

Memorandum  der  Reidbsregierung  vom  31.  März  1936  33. 

(Deutsdier  Friedensplan) 

Mit  aufrichtiger.  Zustimmung  hat  die  Deutsche  Regierung  von 
dem  Botschafter  v.  Ribbentrop  erfahren,  daß  es  der  Wunsch  der 
Britischen  Regierung  und  des  britischen  Volkes  ist,  baldmöglichst  mit 
den  praktischen  Arbeiten  für  eine  wahre  Befriedung  Europas  zu  be- 
ginnen. Dieser  Wunsch  deckt  sich  mit  den  innersten  Absichten  und 
Hoffnungen  des  deutschen  Volkes  und  seiner  Führung.  Es  erfüllt 
daher  die  Deutsche  Regierung  mit  um  so  größerem  Bedauern,  daß  sie 
nicht  in  der  Lage  ist,  in  dem  ihr  am  20.  März  übergebenen  Entwurf 
der  Vertreter  der  Locarnomächte  eine  taugliche  und  fruchtbare  Grund- 
lage für  die  Einleitung  und  Durchführung  einer  solchen  wahrhaften 
Friedensarbeit  erkennen  zu  können. 

Es  fehlt  diesem  Entwurf  in  den  Augen  des  deutschen  Volkes  und 
in  den  Augen  seiner  Regierung  jener  Geist  des  Verständnisses  für  die 
Gesetze  der  Ehre  und  Gleichberechtigung,  die  im  Leben  der  Völker 
zu  allen  Zeiten  die  erste  Voraussetzung  für  die  Abmachung  freier  und 
damit  geheiligter  Verträge  bilden. 

(2)  1 ,  Die  Deutsche  Regierung  glaubt  es  dem  heiligen  Ernst  der  in 
Frage  stehenden  Aufgabe  schuldig  zu  sein,  sich  in  der  Feststellung  der 
negativen  Seite  des  ihr  übergebenen  Memorandums  auf  das  Allernot- 
wendigste  zu  beschränken.  Sie  will  aber  dafür  versuchen,  durch  eine 
Erweiterung  und  Klärung  ihrer  am  7.  März  ausgesprochenen  Vor- 
schläge von  ihrer  Seite  aus  den  Beginn  einer  konkreten  Arbeit  der 
europäischen  Friedenssicherung  zu  erleichtern. 

(3)  Zum  Verständnis  ihrer  «Ablehnung  der  einzelnen  diskriminieren- 
den Punkte  sowie  zur  Begründung  ihrer  konstruktiven  Vorschläge  muß 
die  Deutsche  Regierung  folgendes  grundsätzlich  erklären: 

Die  eingeklammerten  Zahlen  stammen  aus  der  englischen  Obersetzung  des 
deutschen  Memorandums  und  sind  in  den  Text  hier  oben  eingeschaltet  worden, 
weil  der  britische  Fragebogen  (u.  S.  101  ff.)  auf  die  Zahlen  mehrfach  Bezug  nimmt. 


94 


Deutschland  *  England 


13^ 


(4)  Die  Deutsche  Regierung  hat  soeben  vom  deutschen  Volk  unter 
anderem  ein  feierliches  Genera Imandat  erhalten  zur  Vertretung  des 
Reiches  und  der  deutschen  Nation  nach  zwei  Richtungen: 

1.  Das  deutsche  Volk  ist  entschlossen,  unter  allen  Umständen  seine 
Freiheit^  seine  Selbständigkeit  und  damit  seine  Gleichberechtigung 
EU  wahren.  Es  sieht  in  der  Vertretung  dieser  natürlichen  internatio- 
nalen Grundsätze  des  staatlichen  Lebens  ein  Gebot  der  nationalen 
Ehre  und  eine  Voraussetzung  für  jede  praktische  Zusammenarbeit  der 
Völker,  von  der  es  unter  keinen  Umständen  mehr  abgehen  wird, 

2.  Das  deutsche  Volk  wünscht  aus  aufrichtigstem  Herzen  mit 
allen  seinen  Kräften  mitzuhelfen  am  großen  Werk  einer  atigemeinen 
Versöhnung  und  Verständigung  der  europäischen  Nationen  zura 
Zweck  der  Sicherung  des  für  diesen  Kontinent,  seine  Kultur  und  seine 
Wohlfahrt  so  notwendigen  Friedens. 

(5)  Dies  sind  die  Wünsche  des  deutschen  Volkes  und  damit  die 
Verpflichtung  der  Deutschen  Regierung. 

(6)  Die  Deutsche  Regierung  möchte  weiter  in  Anlehnung  an  ihre  in 
der  vorläufigen  Note  vom  24,  März  1936  schon  mitgeteilte  grundsätz- 
liche Einstellung  noch  folgendes  bemerken: 

A.  Deutschland  hat  im  Jahre  1918  den  Waffenstillstand  abge- 
schlossen auf  Grund  der  14  Punkte  Wilsons,  Diese  sahen  keinerlei  Ein- 
schränkung der  deutschen  Souveränität  im  Rheinland  vor.  Im  Gegen- 
teil: Der  hauptsächlichste  Grundgedanke  dieser  Punkte  war»  durch 
eine  neue  Völkerordnung  einen  besseren  und  dauerhaften  Frieden  auf- 
zubauen. Er  sollte  im  weitesten  Umfange  dem  Selbstbestinimungs- 
recht  gerecht  werden,  und  zwar  ohne  Rücksicht  auf  Sieger  oder  Be- 
siegte ! 

B.  Der  Königlich  Britische  Außenminister  hat  in  seiner  Rede  vom 
26.  März  über  die  entmilitarisierte  Zone  mitgeteiUi  daO  diese  letzten 
Endes  nur  als  Ablösung  für  eine  eigentlich  von  Frankreich  im  Jahre 
1918  angestrebte  Lostrennung  des  Rheinlandes  errichtet  wurde.  Aus 
dieser  Feststellung  ergibt  sich,  daß  die  entmilitarisierte  Zone  selbst 
nur  als  Folge  der  vorausgegangenen  Verletzung  einer  auch  die  Alliierten 
bindenden  Verpflichtung  entstanden  ist, 

C.  Die  Demilitarisierungsbestimmungen  des  Versaiüer  Vertrages 
basierten  demnach  selbst  auf  der  Verletzung  einer  Deutschland  ge- 
gebenen Zusicherung  und  besaßen  als  einziges  rechtliches  Argument 
nur  die  Gewalt.  Sie  sind  vom  Versailler  Vertrag  in  den  Locarnopakt 
übernommen  worden  nach  einer  neuerlichen  Rechtsverletzung,  näm- 
lich der  Besetzung  des  Ruhrgebietes,  die  selbst  von  englischen  Kron- 
juristen  als  Rechtsbruch  bezeichnet  worden  ist, 

D.  Der  sogenannte  ,, freiwillige  Verzicht**  auf  die  Souveränität 
Deutschlands  in  diesen  westlichen  Provinzen  des  Reiches  ist  mithin 
eine  Folge  des  Versailler  Diktats  und  einer  Kette  von  sich  hier  an- 
schließenden schwersten  Bedrückungen  des  deutschen  Volkes,  wobei 
insbesondere  hingewiesen  werden  muß  auf  die  furchtbare  Not-  und 
Zwangslage  des  Reiches  infolge  der  Rheinlandbesetzung. 

I        (7)  Wenn  daher  von  Seiten  der  Britischen  Regierung  heute  erklärt 


33]  Da6  Jahr  1936  95 

wird,  daß  man  wohl  von  einem  Diktat  von  Versailles  gesprochen  habe, 
aber  doch  niemals  von  einem  Diktat  von  Locarno,  so  muß  die  Deutsche 
'  Regierung  mit  der  Gegenfrage  antworten : 

„Gab  es  oder  kann  es  überhaupt  in  der  Welt  ein  großes  Volk 
geben,  das  freiwillig  und  ohne  äußersten  Zwang  einseitig  auf  seine 
Hoheitsrechte,  und  zwar  in  diesem  Fall  auf  das  primitivste  Recht 
der  Verteidigung  seiner  eigenen  Grenze  verzichtet  hat  oder  verzichten 
würde?** 

(8)  Trotzdem  aber  hat  das  deutsche  Volk  diesen  Zustand  17  Jahre 
lang  ertragen  und  noch  am  21.  Mai  1935  erklärte  der  Deutsche  Reichs- 
kanzler, daß  „die  Deutsche  Reichsregierung  in  der  entmilitarisierten 
Zone  einen  für  einen  souveränen  Staat  unerhört  schweren  Beitrag  zur 
Beruhigung  Europas  sieht*',  und  daß  die  Reichsregierung  „alle  aus 
dem  Locarnovertrag  sich  ergebenden  Verpflichtungen  so  lange  halten 
wird,  als  auch  die  anderen  Vertragspartner  bereit  sind,  zu  diesem 
Pakt  zu  stehen**. 

(9)  Die  Deutsche  Reichsregierung  hat  bereits  in  ihrer  vorläufigen 
Note  vom  24.  März  1936  darauf  hingewiesen,  daß  der  von  Frankreich 
mit  Sowjetrußland  abgeschlossene  militärische  Vertrag  dem  Locarno- 
pakt sowohl  die  rechtliche  als  aber  besonders  die  politische  Grund- 
lage und  damit  die  Voraussetzung  seiner  Existenz  entzogen  hat.  Es 
erübrigt  sich,  hierauf  noch  einmal  näher  einzugehen.  Denn: 

Es  ist  kein  Zweifel,  daß  die  Tendenz,  Europa  mit  Militärbünd- 
nissen zu  durchziehen,  überhaupt  dem  Geist  und  Sinn  der  Aufrichtung 
einer  wirklichen  Völkergemeinschaft  widerspricht.  Es  wächst  die 
große  Gefahr,  daß  aus  dieser  allgemeinen  Verstrickung  in  militärische 
Allianzen  ein  Zustand  entsteht,  der  jenem  gleicht,  dem  die  Welt  den 
Ausbruch  ihres  furchtbarsten  und  sinnlosesten  Krieges  mit  in  erster 
Linie  zu  verdanken  hatte. 

(10)  Es  liegt  nun  nicht  im  Vermögen  einer  einzelnen  Regierung,  eine 
solche  von  bestimmten  Großmächten  eingeleitete  Entwicklung  zu 
verhindern,  allein  es  gehört  zum  pflichtgemäßen  Auftrag  jeder  Re- 
gierung, innerhalb  der  Grenzen  des  eigenen  Hoheitsgebietes  Vorsorge 
vor  jenen  Überraschungen  zu  treffen,  die  sich  aus  einer  solchen  un- 
durchsichtigen europäischen  Militär-  und  Kabinettspolitik  ergeben 
können, 

(11)  Die  Deutsche  Regierung  hat  daher  nach  der  vorliegenden  Ent- 
wicklung, die  eine  Aufhebung  der  juristischen  und  politischen  Grund- 
lagen und  Voraussetzungen  des  Locarnopaktes  bedeutet,  sich  auch 
ihrerseits  als  an  diesen  Pakt  nicht  mehr  gebunden  erklärt  und  die 
Souveränität  des  Reiches  über  das  gesamte  Reichsgebiet  wiederher- 
gestellt. 

(12)  Die  Deutsche  Regierung  ist  nicht  in  der  Lage,  ihren  zur  Sicher- 
heit des  Reiches  unternommenen,  nur  deutsches  Reichsgebiet  betreffen- 
den und  niemand  bedrohenden  Schritt  der  Würdigung  eines  Gremiums 
zu  unterstellen,  das  selbst  im  günstigsten  Fall  nur  die  rechtliche  Seite, 
aber  unter  gar  keinen  Umständen  die  politische  zu  beurteilen  in  der 
Lage  ist.  Dies  gilt  um  so  mehr,  als  der  Völkerbundrat  bereits  eine  Ent- 


96  Deutschland  -  England  [33 

Scheidung  getroffen  hat,  die  die  rechtliche  Beurteilung  der  Frage  prä- 
judiziert. 

(13)  Die  Deutsche  Regierung  ist  weiter  der  Überzeugung,  daß  ein 
solches  Urteil  nicht  nur  keinen  positiven  Beitrag  liefern  könnte  für 
eine  wirkliche  konstruktive  Lösung  der  Frage  der  europäischen  Sicher- 
heit, sondern  ausschließlich  geeignet  ist,  eine  solche  Lösung  zu  er- 
schweren, wenn  nicht  gar  zu  verhindern. 

(14)  Im  übrigen:  Entweder  man  glaubt  an  die  Möglichkeit  einer 
allgemeinen  europSischen  Friedenssicherung,  dann  kann  ein  solcher 
beabsichtigterEingriffindie  Hoheitsrechte  eines  Staates  nurerschwerend 
wirken,  oder  man  glaubt  an  eine  solche  mögliche  Friedenssicherung 
nicht,  dann  käme  einem  solchen  Entscheid  höchstens  nachträglich  eine 
feststellende  juristische  Bedeutung  zu. 

(15)  Die  Deutsche  Regierung  kann  daher  in  diesem  Punkte  sowie 
in  jenen  weiteren  dieses  Entwurfes  der  Vertreter  der  Locarnomächte, 
die  sich  nur  als  einseitig  belastend  für  Deutschland  erweisen,  nicht  nur 
keinen  nützlichen  Beitrag  für  eine  wirklich  großzügige  und  konstruk- 
tive Lösung  der  Frage  der  europäischen  Sicherheit  erblicken,  sondern 
höchstens  Elemente  der  Diskriminierung  eines  großen  Volkes  und 
damit  einer  Infragestellung  jeder  dauerhaften  Friedensgestaltung. 

(IG)  Entsprechend  dem  ihr  vom  deutschen  Volke  erteilten  Auftrag 
muß  daher  die  Deutsche  Regierung  alle  Deutschland  einseitig  belasten- 
den und  damit  diskriminierenden  Vorschläge  dieses  Entwurfes  ablehnen. 

(17)  Deutschland  hat,  wie  schon  aus  seinem  Angebot  hervorgeht, 
nicht  die  Absicht,  jemals  Belgien  oder  Frankreich  anzugreifen. Es  ist 
bekannt,  daß  bei  der  gigantischen  Rüstung  Frankreichs  und  den 
enormen  Festungswerken  an  der  französischen  Ostgrenze  ein  solcher 
Angriff  aber  auch  rein  militärisch  sinnlos  wäre. 

(18)  Aus  diesen  Gründen  ist  der  Deutschen  Regierung  auch  der 
Wunsch  der  Französischen  Regierung  nach  sofortigen  Generalstabsver- 
handlungen unverständlich.  Die  Deutsche  Regierung  würde  darin  nur  ein 
ernstes  Präjudiz  sehen,  wenn  vor  dem  Abschluß  der  neuen  Sicherheits- 
pakte solche  Generalstabsabmachungen  zustande  kämen.  Sie  ist  der 
Auffassung,  daß  solche  Abmachungen  in  jedem  Falle  erst  die  Folge 
der  politischen  Beistandsverpflichtungen  der  fünf  Locarnomächte 
sein,  und  dann  nur  auf  streng  reziproker  Grundlage  stattfinden 
könnten ! 

(19)  Die  Deutsche  Regierung  ist  weiter  der  Auffassung,  daß  der 
Komplex  der  vorliegenden  Probleme  zur  leichteren  Lösung  nach  den  Ge- 
sichtspunkten der  beabsichtigten  Ziele  zweckmäßig  gegliedert  werden 
müßte.  Sie  muß  dann  aber  folgende  grundsätzliche  Fragen  stellen: 

Welches  soll  das  Ziel  der  Bemühungen  der  europäischen  Diplo- 
matie sein? 

A.  Soll  dieses  Ziel  sein,  die  sich  als  für  jede  dauernde  Friedens- 
sicherung als  ungeeignet  erwiesene  Zweiteilung  der  europäischen  Völker 
in  Mehr-  oder  Wenigerberechtigte,  in  Ehren-  oder  Unehrenhafte,  in 
Freie  oder  Unfreie  unter  irgendwelchen  neuen  Formen  oder  Modi- 
fizierungen beizubehalten  oder  fortzuführen  ? 


33] Das  Jahr  1936 97 

Soll  es  weiter  die  Absicht  der  europäischen  diplomatischen  Be- 
strebungen sein,  aus  einem  solchen  Willen  heraus  auf  dem  Wege  ein- 
facher majorisierender  Beschlüsse  Feststellungen  über  Vergangenes 
zu  treffen,  Urteile  aufzurichten,  um  damit  die  scheinbar  juristisch 
noch  fehlenden  Begründungen  für  die  Fortführung  dieses  früheren  Zu- 
standes  zu  finden?  Oder  soll 

B.  das  Bemühen  der  europäischen  Regierungen  daraufhin  ge- 
richtet sein,  unter  allen  Umständen  zu  einer  wirklich  konstruktiven 
Ordnung  des  Verhältnisses  der  europäischen  Nationen  untereinander 
und  damit  zu  einer  dauerhaften  Friedensgestaltung  und  -Sicherung 
zu  kommen  ? 

(20)  Die  Deutsche  Regierung  ist  es  ihrem  Volke  schuldig,  hier  ein- 
deutig zu  erklären,  daß  sie  nur  an  diesem  zweiten,  in  ihren  Augen 
allein  aufbauenden  Versuche  teilnehmen  wird,  und  dies  dann  aller- 
dings aus  tiefinnerster  Überzeugung  und  mit  dem  vollen  Gewicht  des 
aufrichtigen  und  sehnsüchtigen  Willens  der  hinter  ihr  stehenden  Na- 
tion. 

(21)  Die  Deutsche  Regierung  glaubt,  daß  dann  die  vor  den  euro- 
päischen Staatsmännern  liegende  Gesamtaufgabe  in  drei  Abschnitte 
gegliedert  werden  müßte : 

a)  In  die  Zeit  einer  allmählich  sich  beruhigenden  Atmosphäre 
zur  Klärung  der  Prozedur  für  die  einzuleitenden  Verhandlungen 

b)  In  den  Abschnitt  der  eigentlichen  Verhandlungen  zur  Sicher- 
stellung des  europäischen  Friedens. 

c)  In  eine  spätere  Periode  der  Behandlung  jener  wünschens- 
werten Ergänzungen  des  europäischen  Friedenswerkes,  die 
weder  in  Inhalt  noch  in  Umfang  von  vornherein  genau  fest- 
gelegt oder  begrenzt  werden  können  oder  sollten  (Abrüstungs- 
und Wirtschaftsfragen  usw.). 

(22)  Zu  diesem  Zweck  schlägt  die  Deutsche  Regierung  nun  folgen- 
den Friedensplan  vor: 

1 .  Um  den  kommenden  Abmachungen  für  die  Sicherung  des  euro- 
päischen Friedens  den  Charakter  heiliger  Verträge  zu  verleihen, 
nehmen  an  ihnen  die  in  Frage  kommenden  Nationen  nur  als  voll- 
kommen gleichberechtigte  und  gleichgeachtete  Glieder  teil.  Der 
einzige  Zwang  für  die  Unterzeichnung  dieser  Verträge  kann  nur  in 
der  sichtbaren  von  allen  erkannten  Zweckmäßigkeit  dieser  Abmachun- 
gen für  den  europäischen  Frieden  und  damit  für  das  soziale  Glück  und 
das  wirtschaftliche  Wohlergehen  der  Völker  liegen. 

2.  Um  die  Zeit  der  Unsicherheit  im  Interesse  des  wirtschaftlichen 
Lebens  der  europäischen  Völker  möglichst  abzukürzen,  schlägt  die 
Deutsche  Regierung  vor,  den  ersten  Abschnitt  bis  zur  Unterzeichnung 
der  Nichtangriffspakte  und  damit  der  garantierten  europäischen 
Friedenssicherung  auf  vier  Monate  zu  begrenzen. 

3.  Die  Deutsche  Regierung  versichert  unter  der  Voraussetzung 
eines  sinngemäßen  gleichen  Verhaltens  der  Belgischen  und  Französi- 
schen Regierung,  für  diesen  Zeitraum  keinerlei  Verstärkung  der  im 
Rheinland  befindlichen  Truppen  vorzunehmen. 

Deutschland-England  7 


Deutschland  -  England  [33 


4.  Die  Deutsche  Regierung  versichert,  daß  sie  die  im  Rheinland 
befindlichen  Truppen  während  dieses  Zeitraumes  nicht  näher  an  die 
belgische  und  französische  Grenze  heranführen  wird. 

5.  Die  Deutsche  Regierung  schlägt  zur  Garantierung  dieser  beider- 
seitigen Versicherungen  die  Bildung  einer  Kommission  vor,  die  sich 
aus  Vertretern  der  Garantiemächte  England  und  Italien  und  einer 
desinteressierten  neutralen  dritten  Macht  zusammensetzt. 

6.  Deutschland,  Belgien  und  Frankreich  sind  berechtigt,  je  einen 
Vertreter  in  diese  Kommission  zu  entsenden.  Deutschland,  Belgien 
und  Frankreich  besitzen  das  Recht,  dann,  wenn  sie  glauben,  aus  be- 
stimmten Vorgängen  auf  eine  Veränderung  der  militärischen  Ver- 
hältnisse innerhalb  dieses  Zeitraumes  von  vier  Monaten  hinweisen  zu 
können,  ihre  Wahrnehmungen  der  Garantiekommission  mitzuteilen. 

7.  Deutschland,  Belgien  und  Frankreich  erklären  sich  bereit,  in 
einem  solchen  Fall  zu  gestatten,  daß  diese  Kommission  durch  die  eng- 
lischen und  italienischen  Militärattaches  notwendige  Feststellungen 
treffen  läßt  und  hierüber  den  beteiligten  Mächten  berichtet. 

8.  Deutschland,  Belgien  und  Frankreich  versichern,  daß  sie  die 
sich  daraus  ergebenden  Beanstandungen  im  vollen  Umfange  berück- 
sichtigen werden. 

9.  Im  übrigen  ist  die  Deutsche  Regierung  bereit,  auf  der  Basis 
voller  Gegenseitigkeit  mit  ihren  beiden  westlichen  Nachbarn  jeder 
militärischen  Beschränkung  an  der  deutschen  Westgrenze  zuzu- 
stimmen. 

10.  Deutschland,  Belgien  und  Frankreich  und  die  beiden  Garantie- 
mächte kommen  überein,  daß  sie,  sofort  oder  spätestens  nach  Ab- 
schluß der  französischen  Wahlen,  unter  Führung  der  Britischen  Re- 
gierung in  Beratungen  eintreten  über  den  Abschluß  eines  25jährigen 
Nichtangriffs-  bzw.  Sicherheitspaktes  zwischen  Frankreich  und  Belgien 
einerseits  und  Deutschland  andererseits. 

11.  Deutschland  ist  einverstanden,  daß  in  diesem  Sicherheitsab- 
kommen England  und  Italien  wieder  als  Garantiemächte  unter- 
zeichnen. 

12.  Sollten  sich  aus  diesen  Sicherheitsabmachungen  besondere 
militärische  Beistandsverpflichtungen  ergeben,  so  erklärt  sich  Deutsch- 
land bereit,  auch  seinerseits  solche  Verpflichtungen  auf  sich  zu  nehmen. 

13.  Die  Deutsche  Regierung  wiederholt  hiermit  den  Vorschlag 
für  den  Abschluß  eines  Luftpaktes  als  Ergänzung  und  Verstärkung 
dieser  Sicherheitsabmachungen. 

14.  Die  Deutsche  Regierung  wiederholt,  daß  sie  bereit  ist,  falls 
die  Niederlande  es  wünschen,  auch  diesen  Staat  in  dieses  westeuro- 
päische Sicherheitsabkommen  einzubeziehcn. 

15.  Um  dem  Werk  dieser  aus  freiem  Willen  erfolgenden  Friedens- 
sicherung zwischen  Deutschland  einerseits  und  Frankreich  anderer- 
seits den  Charakter  eines  versöhnenden  Abschlusses  einer  jahrhunderte- 
langen Entzweiung  zu  geben,  verpflichten  sich  Deutschland  und 
Frankreich,  darauf  hinzuwirken,  daß  in  der  Erziehung  der  Jugend 
der  beiden  Nationen  sowohl  als  in  öffentlichen  Publikationen  alles 


33]  Das  Jahr  1936  99 

vermieden  wird,  was  als  Herabsetzung,  Verächtlichmachung  oder  un- 
passende Einmischung  in  die  inneren  Angelegenheiten  der  anderen 
Seite  geeignet  sein  könnte,  die  Einstellung  der  beiden  Völker  gegenein- 
ander zu  vergiften.  Sie  kommen  überein,  eiije  gemeinsame  Kommission 
am  Sitze  des  Völkerbundes  in  Genf  zu  bilden,  die  beauftragt  sein  soll, 
einlaufende  Beschwerden  den  beiden  Regierungen  zur  Kenntnisnahme 
und  Überprüfung  vorzulegen. 

16.  Deutschland  und  Frankreich  verpflichten  sich,  im  Verfolg 
der  Absicht,  dieser  Abmachung  den  Charakter  eines  heiligen  Vertrages 
zu  geben,  die  Ratifizierung  durch  eine  Abstimmung  von  den  beiden 
Völkern  selbst  vornehmen  zu  lassen. 

17.  Deutschland  erklärt  sich  bereit,  seinerseits  in  Verbindung  zu 
treten  mit  den  Staaten  an  seiner  Südost-  und  Nordostgrenze,  um  diese 
zum  Abschluß  der  angebotenen  Nichtangriffspakte  unmittelbar  ein- 
zuladen. 

18.  Deutschland  erklärt  sich  bereit,  sofort  oder  nach  Abschluß 
dieser  Verträge  wieder  in  den  Völkerbund  einzutreten.  Die  Deutsche 
Regierung  wiederholt  dabei  ihre  Erwartung,  daß  im  Laufe  einer  an- 
gemessenen Zeit  auf  dem  Wege  freundschaftlicher  Verhandlungen  die 
Frage  der  kolonialen  Gleichberechtigung  sowie  die  Frage  der  Trennung 
des  Völkerbundstatutes  von  seiner  Versailler  Grundlage  geklärt  wird. 

19.  Deutschland  schlägt  vor,  ein  internationales  Schiedsgericht  zu 
bilden,  das  für  die  Einhaltung  dieses  Vertragswerkes  zuständig  sein 
soll  und  dessen  Entscheidungen  für  alle  bindend  sind. 

(23)  Nach  dem  Abschluß  eines  solchen  großen  Werkes  der  europäi- 
schen Friedenssicherung  hält  es  die  Deutsche  Reichsregierung  für 
dringend  notwendig,  Versuche  zu  unternehmen,  einem  uferlosen  Wett- 
rüsten durch  praktische  Maßnahmen  Einhalt  zu  gebieten.  Sie  würde 
darin  nicht  nur  eine  Erleichterung  der  finanziellen  und  wirtschaft- 
lichen Lage  der  Völker  sehen,  sondern  vor  allem  eine  psychologische 
Entspannung. 

(24)  Die  Deutsche  Reichsregierung  verspricht  sich  aber  nichts  von 
dem  Versuch  universaler  Regelungen,  der  von  vornherein  zum  Scheitern 
verurteilt  sein  würde  und  daher  nur  von  denen  vorgeschlagen  werden 
kann,  die  am  Zustandekommen  eines  praktischen  Ergebnisses  nicht 
interessiert  sind.  Sie  glaubt,  daß  demgegenüber  die  Verhandlungen 
und  Ergebnisse  auf  dem  Gebiet  der  Beschränkung  maritimer  Rüstun- 
gen belehrend  und  anregend  wirken  können. 

(25)  Die  Deutsche  Reichsregierung  schlägt  daher  die  spätere 
Einberufung  von  Konferenzen  mit  jeweils  nur  einer,  aber  klar  um- 
rissenen  Aufgabe  vor. 

(26)  Sie  sieht  es  als  die  zunächst  wichtigste  Aufgabe  an,  den  Luft- 
krieg in  die  moralische  und  menschliche  Atmosphäre  der  seinerzeit  durch 
die  Genfer  Konvention  dem  Nichtkriegsteilnehmer  oder  dem  Verwun- 
deten zugebilligten  Schonung  zu  bringen.  So  wie  die  Tötung  wehrloser 
Verwundeter  oder  Gefangener  oder  die  Verwendung  von  Dumdum- 
geschossen  oder   die    Führung   des   warnungslosen  U-Boot-Krieges 


100  Deutschland  -  England  [33 

durch  internationale  Konventionen  geregelt  bzw.  verboten  worden 
sind,  muß  es  einer  zivilisierten  Menschheit  gelingen,  auch  auf  den 
Crebieten  neuer  Waffenanwendung  die  Möglichkeit  einer  sinnlosen 
Entartung  zu  unterbinden,  ohne  dem  Zweck  der  Kriegführung  zu 
widersprechen. 

(27)  Die  Deutsche  Regierung  schlägt  daher  für  diese  Konferenzen 
zunächst  als  praktische  Aufgaben  vor: 

1.  Verbot  des  Abwurfes  von  Gas-,  Gift-  und  Brandbomben. 

2.  Verbot  des  Abwurfes  von  Bomben  jeglicher  Art  auf  offene 
Ortschaften,  die  sich  außerhalb  der  Reichweite  der  mittleren  schweren 
Artillerie  der  kämpfenden  Fronten  befinden. 

3.  Verbot  der  Beschießung  von  Ortschaften  mit  weittragenden 
Kanonen  außerhalb  einer  Gefechtszone  von  20  km. 

4.  Abschaffung  und  Verbot  des  Baues  von  Tanks  schwerster  Art. 

5.  Abschaffung  und  Verbot  schwerster  Artillerie. 

(28)  Sowie  sich  aus  solchen  Besprechungen  und  Abmachungen  die 
Möglichkeiten  der  weiteren  Begrenzung  der  Rüstungen  ergeben,  sind 
diese  wahrzunehmen. 

(29)  Die  Deutsche  Regierung  erklärt  sich  schon  jetzt  bereit,  jeder 
solchen  Regelung,  soweit  sie  international  gültig  wird,  beizutreten. 

(30)  Die  Deutsche  Reichsregierung  glaubt,  daß,  wenn  auch  nur  ein 
erster  Schritt  auf  dem  Wege  zur  Abrüstung  gemacht  ist,  dies  von 
außerordentlicher  Trag^^^eite  für  die  Einstellung  der  Völker  zueinander 
sein  wird,  und  damit  auch  für  die  Wiederkehr  jenes  Vertrauens, 
das  die  Voraussetzung  für  die  Entwicklung  von  Handel  und  Wohl- 
stand bildet. 

(31)  Um  dem  allgemeinen  Wunsche  nach  einer  Wiederherstellung 
günstiger  wirtschaftlicher  Verhältnisse  zu  entsprechen,  ist  sie  daher 
bereit,  im  Sinne  der  gemachten  Vorschläge  sofort  nach  Abschluß  des 
politischen  Vertragswerkes  mit  den  in  Frage  kommenden  Ländern  in 
einen  Gedankenaustausch  über  wirtschaftliche  Fragen  einzutreten  und 
alles  in  ihrer  Macht  stehende  zur  Verbesserung  der  Wirtschaftslage 
in  Europa  sowie  der  von  dieser  nicht  zu  trennenden  Weltwirtschaft  im 
allgemeinen  beizutragen. 

(32)  Die  Deutsche  Reichsregierung  glaubt,  mit  dem  oben  nieder- 
gelegten Friedensplan  ihren  Beitrag  geleistet  zu  haben  zum  Aufbau 
eines  neuen  Europas  auf  der  Basis  der  gegenseitigen  Achtung  und  des 
Vertrauens  zwischen  souveränen  Staaten.  Manche  Gelegenheiten  zu 
dieser  Befriedung  Europas,  zu  der  Deutschland  in  den  letzten  Jahren 
so  oft  die  Hand  bot,  sind  versäumt  worden.  Möge  dieser  Versuch  einer 
europäischen  Verständigung  endlich  gelingen. 

(33)  Die  Deutsche  Reichsregierung  glaubt  zuversichtlich,  durch  die 
Vorlegung  des  obigen  Friedensplanes  den  Weg  hierzu  nunmehr  frei- 
gemacht zu  haben. 

(DNB.  vom  1.  April  1936.) 

Die  englische  Aniworl  auf  dieses  weiigespannie  Programm  einer 
europäischen  Neuordnung  war  —  ein  ,yFragebogen'\  und  zwar  ein  Frage- 


*1 


Das  Jahr  1936 


101 


bogen,  der  nicht  eiwa  sachliche  Auskünfte  verlangte,  sondern  durch  die 
anmaßend-ironische  Form  seiner  Formulierung  offensichtlich  darauf 
abzielte,  den  Gedanken  an  eine  sachliche  Erörterung  der  deutschen  Vor^ 
schlage  im  Keime  zu  ersticken.  Nur  so  ist  es  verständlich,  daß  die  britische 
Regierung  es  für  richtig  hielt,  ihren  Fragebogen  mit  dem  Bedauern  ein- 
zuleiten^  daß  die  deutsche  Regierung  nicht  in  der  Lage  gewesen  sei,  einen 
^^greifbareren  Beilrag  zur  Wiederherstellung  des  Vertrauens  zu  leisten, 
das  eine  so  wesentliche  Vorbedingung  für  die  umfassenden  Verhandlungen 
ist,  die  sie  beide  ins  Äuge  gefaßt  haben^\  und  daß  sie  anfragen  zu  müssen 
glaubte,  „ob  sich  das  Deutsche  Reich  nunmehr  in  der  Lage  sieht,  ,wirk' 
liehe  Verträge*  abzuschließen''. 


Instruktion  der  liritischen  Regierung  an  ihren  Botschafter  in  Berlin    34. 
vom  6.  Mai  1936  (Britischer  Fragebogen) 

Herr  Botschafter  1  Euerer  Exzellenz  dürfte  bekannt  sein,  daß  die 
Regierung  Seiner  Majestät  im  Vereinigten  Königreiche  seit  einiger 
Zeit  die  Denkschriften  über  die  Wiederbesetzung  der  entmilitarisierten 
Zone  und  die  Friedensvorschläge  der  Deutschen  Regierung  sorgfältigst 
erwogen  hat,  die  mir  von  dem  verstorbenen  Herrn  von  Hoesch  am 
7»  März  1936  und  von  Herrn  von  Ribbentrop  am  24.  März  und  am 
1.  April  193G  übermittelt  worden  sind, 

2.  Eine  solche  Erwägung  war  natürlich  unerläßlich  angesichts 
der  Bedeutung,  die  Seiner  Majestät  Regierung,  wie  Eurer  Exizellenz 
bekannt  ist^  der  Aufrichtung  eines  wahren  und  dauernden  Friedens 
in  Europa  beimißt,  der  sich  auf  die  Anerkennung  der  Gleichberechti- 
gung und  Unabhängigkeit  eines  jeden  Staates,  wie  auch  darauf  gründet, 
daß  jeder  Staat  die  von  ihm  eingegangenen  Verpflichtungen  beachtet. 
Es  ist  der  Wunsch  der  Regierung  Seiner  Majestät^  jegliche  in  ihrer 
Macht  liegende  Anstrengung  zu  machen,  um  an  der  Förderung  de» 
Zieles  mitzuarbeiten»  das  die  Deutsche  Regierung  in  der  Denkschrift 
vom  31.  März  als  ,,das  große  Werk  der  Sicherung  des  europäischen 
Friedens"  bezeichnet.  In  Verfolgung  dieses  Zieles  und  um  den  Weg  zu 
ergebnisreichen  Verhandlungen  frei  zu  machen,  richte  ich  diese  Weisung 
an  Sie  mit  der  Bitte,  eine  Rücksprache  mit  dem  Herrn  Reichskanzler 
herbeizuführen.  Ihren  Ausführungen  wollen  Sie  eine  Erklärung  in 
diesem  Sinne  vorausschicken. 

3.  Eine  Reihe  der  Vorschläge  der  Deutschen  Regierung  behandelt, 
wie  Eure  Exzellenz  wissen,  vorläufige  Maßnahmen  in  der  entmilitari- 
sierten Zone^  die  bis  zur  Beendigung  des  ersten  Abschnittes  der  all» 
gemeinen  Verhandlungen  für  den  europäischen  Frieden  in  Kraft 
bleiben  sollen,  die  die  Deutsche  Regierung  vorgeschlagen  hat.  In 
dieser  Weisung  beabsichtige  ich  nicht,  auf  diese  vorläufigen  Maß- 
nahmen einzugehen,  wenn  Eure  Exzellenz  ja  auch  darüber  im  Bilde 
sind,  daß  Seiner  Majestät  Regierung  bedauert,  daß  die  Deutsche 
Regierung  nicht  imstande  gewesen  ist,  einen  greifbareren  Beitrag  zur 


102 


Deutschland  -  England 


[3 


Wiederherstellung  des  Vertrauens  zu  leisten,  das  eine  so  wesentliche 
VorbediDgung  für  die  umfassenden  Verhandlungen  ist,  die  sie  beide 
ins  Auge  gefaßt  haben. 

4.  Im  Laufe  meiner  Besprechung  mit  Herrn  von  Ribbeotrop  am 
2,  April  habe  ich  Seiner  Exzellenz  mitgeteilt»  daß  Seiner  Majestät 
Regierung  die  in  der  deutschen  Denkschrift  vom  3L  März  (die  mir 
am  L  April  übermittelt  worden  war)  im  Hinblick  auf  die  Zukunft 
gemachten  Vorschläge  für  sehr  wichtig  und  einer  ernsthaften  Prüfung 
würdig  erachtet.  Diese  Prüfung  ist  nun  bereits  weit  vorgeschritten; 
aber  Seiner  Majestät  Regierung  stößt  bei  ihrer  Fortsetzung  auf  Schwie- 
rigkeiten, solange  sie  nicht  mit  der  Deutschen  Regierung  (wie  bereits 
in  dem  Genfer  Kommunique  vom  10.  April  angedeutet  worden  ist) 
eine  Reihe  von  Punkten  der  drei  Denkschriften  eingehender  erörtern 
kann,  vor  allem  der  Denkschriften  vom  24,  und  3L  März.  Seiner 
Majestät  Regierung  ist  davon  überzeugt,  daß  die  Deutsche  Regierung 
ihre  Ansicht  teilt,  daß  die  gröOtmögliche  Klarheit  erwünscht  ist,  ehe 
allgemeine  Verhandlungen  beginnen  können,  damit  nicht  später  etwa 
Mißverständnisse  das  vertrauensvolle  Zusammenarbeiten  der  euro- 
päischen Mächte  beeinträchtigen.  Denn  es  ist  die  aufrichtigste  Hoff- 
nung Seiner  Majestät  Regierung,  daß  das  vertrauensvolle  Zusammen- 
wirken durch  die  vorgeschlagenen  Verhandlungen  gefördert  werden 
möge,  und  sie  ist  davon  überzeugt,  daß  die  Deutsche  Regierung  diese 
Hoffnung  teilt. 

5,  In  den  deutschen  Denkschriften  vom  24,  und  3L  März  kommt 
eine  Reihe  von  Stellen  vor,  die  Seiner  Majestät  Regierung  in  einem 
gewissen  Zweifel  darüber  lassen,  wie  sich  die  Deutsche  Regierung  die 
Grundlage  denkt,  auf  der  die  zukünftige  Regelung  fußen  soll. 

6*  Der  erste  Punkt,  dessen  Klarstellung  wünschenswert  ist,  ist  die 
Frage,  ob  sich  das  Deutsche  Reich  nunmehr  in  der  Lage  sieht,  „wirk- 
liche Verträge'*  abzuschließen. 

In  Abschnitt  \,  Absatz  2  der  Denkschrift  der  Deutschen  Regierung 
vom  24,  März  193^5  sind  Stellen  enthalten,  die  offenbar  andeuten,  daß 
die  Deutsche  Regierung  der  Ansicht  ist,  durch  ihr  Vorgehen  im  Rhein- 
land diese  Lage  geschaffen  zu  haben.  Andererseits  sind  in  Abschnitt  2 
der  Denkschrift  vom  24,  März  Stellen  enthalten,  die  anders  ausgelegt 
werden  könnten,  was  die  Regierung  Seiner  Majcstüt  von  sich  aus  aber 
nicht  tun  möchte.  Es  ist  selbstverständlich  klar,  daß  Verhandlungen 
über  einen  Vertrag  zwecklos  wären,  wenn  eine  der  Parteien  spater  die 
Freiheit  für  sich  in  Anspruch  nähme,  die  von  ihr  eingegangene  Ver- 
pflichtung mit  der  Begründung  zu  verleugnen,  sie  sei  damals  nicht  in 
der  Lage  gewesen,  einen  bindenden  Vertrag  abzuschließen*  Die  Regie- 
rung Seiner  Majestät  wird  eine  klare  Stellungnahme  der  Deutschen 
Regierung  begrüßen,  die  jede  Ungewißheit  über  diesen  Punkt  aus- 
räumt. 

7.  Wenn  die  in  Abschnitt  6  der  Denkschrift  der  Deutschen  Regie- 
rung vom  3L  März  angeführte  Folgerung  allgemein  gelten  soll,  so 
könnte  dies  zu  Zweifeln  darüber  Anlaß  geben,  wie  die  Deutsche  Re- 
gierung über  das  weitere  Inkraftbleibeo  der  übrigen  noch  gültigen 


341 


Das  Jahr  1936 


loa 


Bestimmungeo  des  Vertrages  von  Versailles  und  schließlich  aoch  aller 
Vereinbarungen  denkt,  von  denen  gesagt  werden  könnte,  daß  sie  auf 
die  Bestimmungen  des  Vertrages  von  Versailles  zurückgehen.  Die 
Regierung  Seiner  Majestät  möchte  über  die  in  dem  erwähnten  Ab- 
schnitt enthaltene  historische  Auslegung  der  Ereignisse  nicht  streiten 
und  will  deshalb  ihre  eigenen  Ansichten  hier  nicht  aussprechen.  Sie 
muß  aher  natürlich  klar  zum  Ausdruck  bringen,  daß  es  ihr  nicht 
möglich  ist,  den  von  der  Deutschen  Regierung  in  dem  erwähnten  Ab- 
schnitt ausgesprochenen  Ansichten  zuzustimmen. 

8.  Abschnitt  4  der  Denkschrift  vom  31.  März  bietet  einen  weiteren 
Anlaß  zu  Zweifeln.  Es  heißt  in  diesem  Abschnitt,  ,»die  Deutsche  Re- 
gierung habe  vom  deutschen  Volk  ein  feierliches  Generalmandat  er- 
halten zur  Vertretung  des  Reiches  und  der  deutschen  Nation**  zur 
Durchführung  einer  Politik,  die  unter  allen  Umständen  ,, seine  Freiheit, 
seine  Selbständigkeit  und  damit  seine  Gleichberechtigung**  wahrt. 
Anscheinend  wird  zwischen  Reich  und  deutschem  Volk  ein  Unter- 
schied gemacht.  Die  Frage  ist  in  Wirklichkeit  die,  ob  Deutschland  der 
Ansicht  ist,  daß  nunmehr  ein  Abschnitt  erreicht  ist,  an  dem  es  erklären 
kann,  daß  es  die  bestehende  gebietsmäßige  und  politische  Ordnung 
Europas  anerkennt  und  zu  achten  beabsichtigt,  soweit  diese  nicht 
später  im  Wege  freier  Verhandlung  und  Übereinkunft  abgeändert 
werden  sollte. 

9.  Ich  gehe  nunmehr  zu  anderen  Dingen  über.  Die  Denkschrift 
vom  31.  März  erwähnt  in  Abschnitt  22,  Ziffer  13  ,,den  Abschluß  eines 
Luftpaktes  als  Ergänzung  und  Verstärkung  dieser  (westeuropäischen) 
Sicherheitsabmachungen*'.  Im  F*rühjahr  1935  glaubte  man,  die 
Deutsche  Regierung  vertrete  die  Ansicht,  daß  die  Verhandlungen  über 
einen  Luftpakt  nicht  durch  den  Versuch  erschwert  werden  sollten, 
gleichzeitig  ein  Abkommen  zur  Begrenzung  der  Luftstreitkräfte  ab- 
zuschließen. Seitdem  scheint  sich  eine  etwas  widerspruchsvolle  Lage  er- 
geben zu  haben.  In  der  Reichstagssitzung  vom  21.  Mai  1935  erwähnte 
Herr  Hitler  die  Möglichkeit  eines  Abkommens  zur  Begrenzung  der 
Luftwaffe  auf  der  Grundlage  einer  Parität  der  Großmächte  im  Westen, 
unter  der  Voraussetzung,  wie  wir  annahmen,  daß  die  Entwicklung  der 
Luftwaffe  Sowjetrußlands  keine  Änderung  nötig  machen  wird. 

Die  Rede  des  Herrn  Reichskanzlers  vom  21.  Mai  1935  wurde  nach 
der  Unterzeichnung  des  französisch-sowjetrussischen  Vertrages  ge- 
halten, und  doch  teilte  er  Eurer  Exzellenz  im  Dezember  1935  mit, 
daß  dieser  Vertrag  eine  Begrenzung  der  Luftwaffe  unmöglich  gemacht 
habe.  Eine  Entscheidung,  die  dahin  ginge,  eine  regionale  Begrenzung 
der  Luftstreitkräfte  nicht  gleichzeitig  mit  dem  Abschluß  eines  Luft- 
paktes im  Westen  zu  versuchen,  würde  von  Seiner  Majestät  Regierung 
sehr  bedauert  werden.  Die  in  Abschnitt  2  der  deutschen  Denkschrift 
enthaltene  Erklärung,  daß  die  Ergebnisse  des  unlängst  auf  dem  engeren 
Gebiete  der  Seerüatung  abgeschlossenen  Vertrages  die  Deutsche  Re- 
gierung beeindruckt  haben,  ermutigt  Seiner  Majestät  Regierung  zu 
der  Hoffnung,  daß  die  Deutsche  Regierung  ihr  in  diesem  Punkte 
beipflichten  wird. 


104  Deutschland  -  England  [34 

10.  Seiner  Majestät  Regierung  begrüßt  es,  daß  die  Deutsche  Re- 
gierung in  der  Denkschrift  vom  31 .  März,  Abschnitt  22,  Ziffern  10  und  14 
den  Abschluß  von  Nichtangriffspakten  zwischen  Deutschland  einer- 
seits und  Frankreich,  Belgien  und  möglicherweise  Holland  andererseits 
vorschlägt.  Seiner  Majestät  Regierung  nimmt  Kenntnis  davon,  daß 
die  Deutsche  Regierung  damit  einverstanden  ist,  daß  diese  Pakte  von 
Garantieverträgen  begleitet  werden.  Die  genaue  Fassung  dieser  Ver- 
träge muß  den  Verhandlungen  über  die  Einzelheiten  vorbehalten  bleiben. 
Seiner  Majestät  Regierung  nimmt  auch  Kenntnis  von  dem  in 
Abschnitt  22,  Ziffer  17  gemachten  Vorschlage  von  Nichtangriffsver- 
trägen zwischen  Deutschland  und  den  an  der  deutschen  Südost-  und 
Nordostgrenze  gelegenen  Staaten.  Seiner  Majestät  Regierung  erlaubt 
sich,  an  die  allgemeine  Grundlinie  für  solche  Verträge  zu  erinnern,  wie 
sie  von  Freiherrn  von  Neurath  am  26.  März  1935  in  Berlin  Sir  John 
Simon  dargelegt  worden  ist.  Sie  würde  es  begrüßen  zu  erfahren,  ob  nach 
Ansicht  der  Deutschen  Regierung  die  erwähnten  Pakte  sich  im  all- 
gemeinen an  diese  Grundlinie  halten  sollen,  und  ob  sie  damit  ein- 
verstanden ist,  daß  diese  Pakte  ebenfalls  durch  Abmachungen  über 
gegenseitige  Unterstützung  garantiert  werden  können. 

Die  Erklärung,  die  die  Deutsche  Regierung  hinsichtlich  der  Bereit- 
schaft Deutschlands  zum  Wiedereintritt  in  den  Völkerbund  abzugeben 
in  der  Lage  war,  ermöglicht  der  Regierung  Seiner  Majestät  die  An- 
nahme, daß  die  Frage  der  Übereinstimmung  der  vorgeschlagenen  Nicht- 
angriffspakte mit  den  Verpflichtungen  als  Völkerbundmitglieder 
keinen  Anlaß  zu  Schwierigkeiten  bieten  wird,  und  daß  die  Durch- 
führung dieser  Verträge  sich  im  Rahmen  der  Völkerbundsatzun^ 
vollziehen  wird. 

Noch  zwei  weitere  Punkte  erfordern  Aufmerksamkeit.  Der  erste 
betrifft  die  Bedeutung  der  Worte  „Staaten  an  Deutschlands  Südost- 
und  Nordostgrenze**.  Die  Regierung  Seiner  Majestät  kann  sich  dem 
Eindruck  nicht  verschließen,  daß  die  allgemeine  Regelung  sehr  erheb- 
lich erleichtert  werden  würde,  wenn  es  der  Deutschen  Regierung  mög- 
lich wäre,  diese  Worte  so  auszulegen,  daß  sie  neben  den  unmittelbar 
an  Deutschland  angrenzenden  Staaten  mindestens  auch  die  Sowjet- 
union, Lettland  und  Estland  einschließen.  Seiner  Majestät  Regierung 
gestattet  sich,  in  diesem  Zusammenhang  daran  zu  erinnern,  daß  die 
Deutsche  Regierung  sich  in  ihrer  Denkschrift  vom  26.  März  1935  bereit 
erklärt  hat,  mit  den  „an  den  osteuropäischen  Fragen  interessierten 
Mächten**  Nichtangriffspakte  zu  schließen. 

Der  zweite  Punkt  betrifft  Nichteinmischung  in  die  Angelegen- 
heiten anderer  Staaten  im  Gegensatz  zu  Nichtangriff.  Seiner  Majestät 
Regierung  erinnert  sich  mit  Befriedigung  der  Erklärung  des  Herrn 
Reichskanzlers  im  Reichstag  am  21.  Mai  1935,  daß  die  Deutsche 
Regierung  „jederzeit  bereit  sei,  einer  internationalen  Vereinbarung 
zuzustimmen,  die  in  einer  wirksamen  Weise  alle  Versuche  einer  Ein- 
mischung von  außen  in  andere  Staaten  unterbindet  und  unmöglich 
macht**. 

11.  In  Abschnitt  22,  Ziffer[19  „schlägt  Deutschland  vor,  ein  inter- 


34] Das  Jahr  1936 105 

nationales  Schiedsgericht  zu  bilden,  das  für  die  Einhaltung  dieses 
Vertragswerkes  zuständig  sein  soll".  Vermutlich  sind  hiermit  die  in 
Abschnitt  22,  Ziffern  9,  10,  11,  12,  13,  14  und  17  erwähnten  Verein- 
barungen gemeint.  Es  wäre  wünschenswert  zu  erfahren,  welches  ganz 
allgemein  die  Aufgaben  und  die  Zusammensetzung  des  vorgeschlagenen 
Schiedsgerichtes  sein  sollen,  und  in  welcher  Beziehung  seine  Aufgaben 
zu  denen  des  Völkerbundrates  und  des  Ständigen  Internationalen  Ge- 
richtshofes stehen  sollen. 

Angesichts  der  Ankündigung  von  Deutschlands  Bereitschaft  zur 
Rückkehr  in  den  Völkerbund  wird  die  Deutsche  Regierung  gewiß 
bereit  sein  anzugeben,  wie  ihre  künftige  Einstellung  gegenüber  dem 
Ständigen  Internationalen  Gerichtshof  sein  wird  (besonders  in  bezug 
auf  die  Fakultativklausel)  und  gegenüber  den  verschiedenen  Bestim- 
mungen über  Schiedsgerichtsbarkeit,  Schlichtungsverfahren  oder  ge- 
richtliche Regelung,  die  in  Verträgen  enthalten  sind,  an  denen  Deutsch- 
land beteiligt  ist. 

12.  Ich  bitte  Eure  Exzellenz,  wenn  Sie  mit  dem  Herrn  Reichs- 
kanzler sprechen,  die  in  dieser  Weisung  aufgeworfenen  Fragen  mit  ihm 
zu  erörtern  und  ihm  einen  Abdruck  davon  zu  übergeben.  Euer  Exzellenz 
wollen  dabei  bemerken,  daß  diese  Ausführungen  nicht  erschöpfend 
sind.  Es  liegen  noch  andere  Fragen  vor,  die  zu  einem  späteren  Zeit- 
punkt zur  Sprache  gebracht  werden  müssen ;  und  bevor  Deutschlands 
Rückkehr  in  den  Völkerbund  zur  Erörterung  kommt,  wird  die  Deutsche 
Regierung  es  gewiß  auch  für  wünschenswert  halten,  die  Worte  „Tren- 
nung des  Völkerbundstatutes  von  seiner  Versailler  Grundlage"  in  Ab- 
schnitt 22,  Ziffer  18  näher  zu  erläutern.  Für  den  Augenblick  hält  Seiner 
Majestät  Regierung  es  für  besser,  nur  die  Punkte  zu  behandeln,  die 
unbedingt  geklärt  werden  müssen,  bevor  die  allgemeinen  Verhand- 
lungen eröffnet  werden,  die  sie,  wie  oben  dargelegt  worden  ist,  aufrich- 
tig zu  fördern  wünscht. 

(E:  Cmd.  5175.  Nr.  3.  —  D:  DNB.  vom  8.  Mai  1936.) 

Die  Reichsregierung  hal  es  selbsiversländlich  nicht  für  nötig  befunden^ 
Fragen  zu  beantworten,  die  zum  Teil  nur  als  eine  bewußte  Herausforderung 
verstanden  werden  konnten,  zum  weiteren  Teil  in  den  Reden  des  Führers 
bereits  mehrfach  in  bündigster  Form  beantwortet  worden  waren.  Infolge- 
dessen kamen  die  W est paktver handlangen  mit  der  Übergabe  des  britischen 
Fragebogens  zunächst  ins  Stocken, 

Noch  einmal  kam  es  im  Jahre  1936  zu  einer  deutsch-englischen  Aus- 
einandersetzung über  Bestimmungen  des  Versailler  Diktates.  Durch  eine 
an  die  in  den  internationalen  Stromkommissionen  für  Rhein,  Donau, 
Elbe  und  Oder  vertretenen  Regierungen  gerichtete  Note  vom  14.  November 
1936  erklärte  die  Reichsregierung,  daß  sie  die  im  Versailler  Vertrag  ent- 
haltenen Bestimmungen  über  die  auf  deutschem  Gebiet  befindlichen  Wasser- 
straßen und  die  auf  diesen  Bestimmungen  beruhenden  internationalen 
Stromakte  nicht  mehr  als  für  sich  verbindlich  anerkenne.  Sie  führte  in 
ihrer  Note  aus,  daß  in  Versailles  im  Widerspruch  mit  dem  Grundgedanken 
der  Freiheit  der  Schiffahrt  auf  allen  Wasserstraßen  und  der  gleichen 


106 Dwitachland  >  England ^35 

Behandlung  aller  im  Frieden  lebenden  Staaten  auf  diesen  Wasserstraßen 
einseitig  zum  Naekteü  DeaisckUmds  ein  künstliches  und  den  praktischen 
Bedürfnissen  der  Schiffahrt  zuwider  laufendes  Sgstem  geschaffen  worden 
nei,  das  Deutschland  eine  dauernde  internationale  Cherwaehung  seiner 
Wasstersiraßen  aufzuzwingen  suchte,  indem  es  die  deutschen  Hoheits- 
rechte  mehr  oder  weniger  auf  internationale  Kommissionen  unter  weit- 
gehender Mitwirkung  ton  Niehtufersiaaien  Hbertrug.  Sie  betonte,  daß 
Deutschland  sich  auf  das  emsihaftesie  bemüht  habe,  diese  unerträgliche 
Begelung  durch  anderweitige  Vereird>arungen  zu  beseitigen.  Die  deutschen 
Bevollmächtigten  in  den  Kommissionen  hätten  in  langwierigen  Verhand- 
lungen eersucht,  spätestens  bis  zum  L  Januar  1937  einen  Zustand  her- 
zustellen, der  mit  dem  deutschen  Standpunkt  oerträglich  gewesen  wäre. 
Ein  Erfolg  sei  diesen  Bemühungen  versagt  geblieben^  weil  die  anderen 
beteiligten  Mächte  sich  nicht  hätten  entschließen  können^  ein  System  auf- 
zugeben, das  in  seinen  Grundlagen  mit  den  deutschen  Hoheilsrechten 
unvereinbar  sei. 

Die  britische  Ardwort  auf  diesen  deutschen  Schritt  entsprach  wiederum 
ganz  der  auch  in  der  Frage  der  Wiederbesetzung  des  Rheinlandes  ange- 
wandten Taktik:  Man  konnte  die  innere  Berechtigung  des  deutschen 
Vorgehens  nicht  leugnen,  glaubte  sich  aber  über  die  dabei  angewandten 
Methoden  beschweren  zu  müssen.  Diese  für  die  britische  Polilik  bezeich- 
nende Gnindhallung  hat  viel  dazu  beigetragen,  daß  auch  bei  der  Liquidie- 
rung derjenigen  Fragen  des  Versaiüer  Vertrags,  in  denen  englische  In- 
teressen nicht  oder  kaum  berührt  wurden,  eine  freundschaftliche  Begelung 
mit  England  nicht  möglich  war. 

35.  Unterhaaterklimiig  des  britisdien  AoBeimimuten  Eden 

▼om  16.  NoTember  1936 

Am  14.  November  ging  eine  Note  von  der  deutschen  Botschaft 
ein,  in  der  erklärt  wurde,  daß  die  deutsche  Regierung  sich  nicht  länger 
gebunden  erachte  an  diejenigen  Artikel  des  Versailler  Vertrages,  die 
sich  auf  die  Intemationalisierung  der  Flüsse  und  die  Verwaltung  des 
Nordostseekanals  beziehen,  noch  an  irgendwelche  internationalen  Ab- 
kommen, die  daraus  abgeleitet  sind.  Die  Note  rechtfertigt  diesen  Schritt 
damit,  daß  die  fraglichen  Artikel  Deutschland  aufgezwungen  und  nicht 
frei  verhandelt  worden  seien.  Die  Note  schließt  aber  mit  der  Fest- 
stellung, daß  in  Zukunft  die  Fahrzeuge  aller  Staaten,  die  mit  Deutsch- 
land in  Frieden  leben,  auf  deutschen  Wasserstraßen  unter  der  Voraus- 
setzung der  Gegenseitigkeit  die  gleiche  Behandlung  erfahren  werden 
wie  die  deutschen;  die  deutschen  Strombehörden  würden  bereit  sein 
zur  Erörterung  und  zum  Abschluß  eines  Abkommens  mit  den  ent- 
sprechenden Behörden  der  anderen  Uferstaaten  über  Angelegenheiten 
von  allgemeinem  Interesse.  Die  deutsche  Regierung  führt  auch  Klage 
darüber,  daß  ihre  Vertreter  seit  dem  Kriege  noch  nicht  wieder  zu  der 
Europäischen  Donau-Kommission,  die  die  Hündung  dieses  Flusses  kon- 
trolliert, zugelassen  worden  seien. 


35] Das  Jahr  1936 107 

Folgende  Stromkommissionen  werden  von  dieser  Erklärung  be- 
rührt: die  Internationale  Donau-Kommission,  die  Zentralkommission 
für  den  Rhein,  die  Internationale  Kommission  für  die  Elbe  und  die 
Internationale  Kommission  für  die  Oder.  Die  Regierungen  Seiner 
Majestät  und  Frankreichs  sind  ebenso  wie  die  Uferstaaten  in  allen 
diesen  Kommissionen  vertreten,  und  Italien  in  allen  außer  in  der  Oder- 
Kommission. 

Die  deutsche  Regierung  hat  seit  der  Unterzeichnung  des  Vertrages 
von  Versailles  bei  vielen  Gelegenheiten  zum  Ausdruck  gebracht,  daß 
sie  in  zahlreicher  Hinsicht  mit  der  durch  die  Friedensverträge  ein- 
gesetzten internationalen  Stromverwaltung  unzufrieden  sei;  aber  am 
21.  Mai  1935  erklärte  der  deutsche  Reichskanzler  öffentlich  in  bezug  auf 
die  verbleibenden  Artikel  des  Vertrages,  einschließlich  derjenigen,  die 
sich  auf  die  internationalen  Flüsse  und  den  Nordostseekanal  beziehen: 
„Die  deutsche  Regierung  wird  die  im  Wandel  der  Zeiten  unvermeid- 
lichen Revisionen  nur  auf  dem  Wege  einer  friedlichen  Verständigung 
durchführen.**  Diese  Erklärung  wurde  dem  britischen  Botschafter  in 
Berlin  am  31.  Mai  1935  bestätigt. 

Seit  vielen  Jahren  haben  langwierige  Verhandlungen  stattgefun- 
den, die  zum  Ziele  hatten,  die  deutschen  Wünsche  mit  den  Interessen 
der  anderen  in  Betracht  kommenden  Mächte  auszusöhnen.  Die  Ver- 
handlungen führten  zu  beachtenswerten  Erfolgen,  z.  B.  wurde  im 
letzten  Mai  ein  Abkommen  von  allen  in  Betracht  kommenden  Mächten, 
einschließlich  Deutschlands,  aufgesetzt,  das  die  Schiffahrt  auf  dem 
Rhein  regulierte;  die  Niederlande,  die  noch  gewisse  Bedenken  rein 
technischer  Art  hatten,  schlössen  sich  aus.  Das  Abkommen  würde 
trotz  des  Fernbleibens  der  Niederlande  am  1.  Januar  in  Kraft  getreten 
sein,  vermöge  des  modus  vivendi,  den  Deutschland  jetzt  gekündigt 
hat.  Weiterhin  führten  direkte  Verhandlungen  zwischen  der  deutschen 
und  der  tschechoslowakischen  Regierung  kürzlich  zu  einem  Abkommen 
über  die  Elbe,  das,  wie  man  gehofft  hatte,  in  aller  Kürze  in  Kraft 
treten  sollte. 

Unter  diesen  Umständen  bedauert  die  Regierung  Seiner  Majestät, 
daß  die  Deutsche  Regierung  zu  einem  Zeitpunkt,  in  dem  Verhand- 
lungen stattfanden,  und  trotz  ihrer  im  letzten  Jahre  gegebenen  Ver- 
sicherungen wiederum  den  Wog  der  Verhandlungen  verlassen  hat  zu- 
gunsten einer  einseitigen  Aktion.  Dieses  Bedauern  entspricht  nicht 
der  Furcht,  daß  irgendwelche  britischen  Handelsinteressen  durch  den 
Schritt  der  deutschen  Regierung  gefährdet  worden  sind,  sondern  wird 
veranlaßt  durch  die  Tatsache,  daß  derartige  Handlungen  die  Hand- 
habung der  internationalen  Beziehungen  schwieriger  gestalten  müssen. 

(E:  Parliamentary  Debates.  House  of  Commons.  Bd.  317,  Sp.  1334 f.  —  D: 
Berber,  Versailles,  S.  1480  ff.) 

AU  ein  weiterer,  häufig  nicht  genügend  l>eachteter  deutscher  Beitrag 
zur  Flottenverständigung  erfotgte  im  November  1936  der  Beitritt  Deutsch- 
lands zum  Londoner  U -Boot-Protokoll  vom  6.  November  1936.  Es  ist 
ganz  offensichtlich,  daß  dieses  Protokoll,  das  eine  weitgehende  Einschrän- 


108  Deutschland  -  England  [36 

kung  der  U-Boot-Kriegführung  zur  Folge  haben  mußle,  eine  Vereinbarung 
darsteUUj  die  am  weiieslen  den  Interessen  Englands  —  des  geschworenen 
Feindes  der  U-Boot-Waffe  —  entgegenkam.  Wie  nicht  anders  zu  erwarten 
war^  ist  dieser  wichtige  deutsche  Beitrag  zum  Werk  der  Flottenverstän- 
digung mit  England  jedoch  kaum  jemals  in  einem  seiner  Bedeutung  ent- 
sprechenden Maße  gewürdigt  worden, 

36.    Note  der  Reichsregiening  vom  23.  November  1936  über  den  Beitritt 
Deutschlands  zum  U-Boot-ProtokoII 

In  einer  Mitteilung  vom  9.  d.  M.  hat  der  Königlich  Britische  Bot- 
schafter in  Berlin  dem  Reichsminister  des  Auswärtigen  Abschrift  eines 
am  6.  November  1936  in  London  unterzeichneten  Protokolls  über  die 
Regeln  der  Unterseebootkriegführung  gemäß  Teil  IV  des  Londoner 
Vertrages  vom  22.  April  1930  übersandt  und  dabei  namens  seiner 
Regierung  der  Hoffnung  Ausdruck  verliehen,  die  Deutsche  Regierung 
werde  den  genannten  Regeln  beitreten.  Diese  Regeln  lauten: 

„1.  Bei  ihrem  Vorgehen  gegen  Handelsschiffe  müssen  Untersee- 
boote sich  nach  den  Bestimmungen  des  Völkerrechts  richten,  welchen 
Überwasserschiffe  unterworfen  sind. 

2.  Insbesondere  darf,  mit  Ausnahme  des  Falles  der  fortgesetzten 
Weigerung  zu  stoppen,  nachdem  die  ordnungsmäßige  Aufforderung 
hierzu  ergangen  ist,  oder  des  tatsächlichen  Widerstandes  gegen  Be- 
sichtigung oder  Untersuchung,  ein  Kriegsschiff,  ob  Uberwasserschiff 
oder  Unterseeboot,  ein  Handelsschiff  nicht  versenken  oder  zur  See- 
fahrt untauglich  machen,  ohne  vorher  die  Passagiere,  die  Bemannung 
und  die  Schiffspapiere  an  einen  sicheren  Ort  gebracht  zu  haben.  Für 
diesen  Zweck  werden  die  Boote  des  Schiffes  nicht  als  ein  sicherer  Ort 
angesehen,  es  sei  denn,  daß  die  Sicherheit  der  Passagiere  und  der  Be- 
mannung bei  den  herrschenden  See-  und  Wetterverhältnissen  durch 
die  Nähe  von  Land  oder  durch  die  Anwesenheit  eines  anderen  Schiffes, 
welches  in  der  Lage  ist,  sie  an  Bord  zu  nehmen,  gewährleistet  ist.*' 

Die  Deutsche  Regierung  hat  anläßlich  der  deutsch-englischen 
Flottenverhandlungen  in  der  Zusammenfassung  den  Besprechungen 
zwischen  den  deutschen  und  englischen  Flottensachverständigen  am 
23.  Juni  1935  ihre  Bereitwilligkeit  erklärt,  den  Bestimmungen  über 
den  Unterseebootkrieg  des  Teiles  IV  des  Londoner  Seerüstungsver- 
trages beizutreten. 

Demgemäß  beehre  ich  mich,  im  Auftrage  meiner  Regierung  zu 
erklären,  daß  die  Deutsche  Regierung  den  oben  wiedergegebenen 
Regeln  beitritt  und  diese  als  vom  heutigen  Tag  ab  für  sie  verbindlich 
annimmt. 

von  Ribbentrop 
(DNB.  vom  23.  November  1936.) 


1937 


37]  Das  Jahr  1937  111 


Das  Jahr  1937  begann  mil  einer  im  Hinblick  auf  die  deutsch-eng- 
lischen Beziehungen  höchst  charakteristischen  grundsätzlichen  Ausein- 
andersetzung zwischen  dem  Außenminister  Eden  und  dem  Führer,  deren 
im  folgenden  wiedergegebene  wichtigste  Partien  keines  weiteren  Kom- 
mentars bedürfen.  Besondere  Beachtung  verdient  ein  Telegramm  des 
deutschen  Geschäftsträgers  in  London ,  das  deutlich  den  Kurs  der  von  der 
britischen  Regierung  gesteuerten  planmäßig  feindseligen  Pressepolitik 
erkennen  läßt, 

SdiluB  der  Unterhausrede  des  britischen  Außenministers  Eden  vom     37. 

19.  Januar  1937 

Ich  möchte  nun  einige  Worte  über  die  allgemeine  internationale 
Lage  sagen.  Ich  bitte  dringend  um  die  Aufmerksamkeit  des  Hauses, 
weil  das,  was  ich  zu  sagen  habe,  vielleicht  von  größerer  Bedeutung  ist, 
als  was  gewöhnlich  von  einem  Staatssekretär  des  Äußeren  im  Verlauf 
einer  Debatte  gesagt  wird.  Ich  werde  morgen  nach  Genf  abreisen,  um 
einer  der  drei  ordentlichen  Ratstagungen  beizuwohnen.  Wir  werden 
dort  einer  geradezu  erschreckenden  Tagesordnung  gegenüberstehen, 
die  allen  Kritikern  zum  Trotz  an  sich  schon  die  wichtige  Rolle  zum 
Ausdruck  bringt,  die  der  Völkerbund  in  internationalen  Angelegen- 
heiten spielt.  Unsere  Aufgabe  wird  es  sein  zu  versuchen,  diese  Rolle 
zu  unterstreichen  und  zu  erweitern.  Aber  ehe  ich  zu  jener  Tagung 
abreise,  möchte  ich  gewisse  Bemerkungen  an  das  Haus  richten.  In 
Reden,  die  ich  kürzlich  vor  dem  Unterhause  und  im  Lande  gehalten 
habe,  habe  ich  versucht,  die  Ziele  unserer  gegenwärtigen  Außenpolitik 
und  die  Mittel,  durch  welche  jene  Ziele  erreicht  werden  könnten,  zu 
umreißen.  Ich  werde  nicht  versuchen,  jene  Reden  zu  wiederholen, 
aber  in  der  ersten  Rede,  die  ich  im  neuen  Jahr  gehalten  habe,  sind 
gewisse  Faktoren,  mit  denen  wir  uns  auseinanderzusetzen  haben.  Die 
Regierung  Seiner  Majestät  ist  augenblicklich  damit  beschäftigt,  die 
Wiederaufrüstung  ihrer  drei  Waffengattungen  durchzuführen.  Obwohl 
wir  der  Überzeugung  sind,  daß  dies  ein  unumgängliches  Mittel  für  die 
Erreichung  unseres  Zieles  ist,  so  ist  es  nicht  unser  Ziel  selbst.  Dies 
bleibt,  wie  ich  früher  festgestellt  habe,  durch  Verhandlungen  zu  einer 
europäischen  Ordnung  zu  gelangen  und  die  Autorität  des  Völkerbundes 
zu  stärken.  Wir  sind  bereit,  an  dem  gemeinsamen  Werk  der  politischen 


1 12  Deutschland  -  England  [37 

Befriedung  und  wirtschaftlichen  Zusammenarbeit  mitzuwirken.  Wenn 
dies  Werk  von  Erfolg  gekrönt  sein  soll,  bedarf  es  der  Mitarbeit  aller, 
und  wenn  dieses  erreicht  wird,  kann  es  bei  niemandem  in  diesem  Hause 
oder  sonstwo  einen  Zweifel  darüber  geben,  daß  wir  ein  besseres,  ge- 
sünderes und  gedeihlicheres  Europa  in  einer  Welt  des  Friedens  schaffen 
können. 

Wie  kann  das  geschehen?  Die  Welt  muß  nicht  nur  ihre  Rüstungs- 
ausgaben verringern,  weil  diese  ihren  Lebensstandard  schon  herab- 
setzen, sondern  sie  muß  die  Möglichkeiten  wirtschaftlicher  Zusammen- 
arbeit lernen,  so  daß  der  Lebensstandard  gehoben  werden  kann.  Lassen 
Sie  uns  nie  vergessen,  daß  unser  Ziel  in  diesem  Lande  das  Wohlergehen 
aller  sein  muß ;  damit  meine  ich  sowohl  die  Hebung  des  Lebensstandards 
in  den  Ländern,  in  denen  er  heute  niedrig  ist,  und  seine  Besserung  dort, 
wo  er  heute  verhältnismäßig  hoch  ist.  Wir  sind  bereit,  dabei  mitzu- 
helfen, daß  erhöhte  wirtschaftliche  Möglichkeiten  geschaffen  werden; 
dies  sollte  jedoch  nach  unserer  Ansicht  unter  einer  Bedingung  geschehen. 
Wirtschaftliche  Zusammenarbeit  und  politische  Befriedung  müssen 
Hand  in  IJand  gehen.  Wenn  wirtschaftlicher  und  finanzieller  Auf- 
schwung nur  zu  erhöhten  Rüstungen  und  politischen  Störungen  führt, 
wird  der  Sache  des  Friedens  eher  geschadet  als  genützt.  Andererseits 
wird  eine  neue  und  freiere  wirtschaftliche  und  finanzielle  Zusammen- 
arbeit, die  sich  auf  feste  und  gut  angelegte  politische  Verpflichtungen 
gründet,  eine  mächtige  Hilfe  für  die  Herstellung  einer  einheitlichen 
Zielsetzung  in  Europa  sein.  Letztes  und  höchstes  Ziel  allen  ehrlichen 
politischen  Strebens  in  jedwedem  Lande  muß  die  Hebung  des  Lebens- 
standards sein.  Wir  sind  heute  durch  die  Wissenschaft  gut  genug  dar- 
über unterrichtet,  daß  das  geschehen  kann,  wenn  es  in  einer  Atmosphäre 
des  Friedens  und  gegenseitigen  Vertrauens  unternommen  wird.  Indem 
wir  uns  dieser  Aufgabe  zuwenden,  erkennen  wir  gewisse  Dinge  nicht 
an.  Wir  erkennen  nicht  an,  daß  Europa  vor  der  Alternative  einer  Dikta- 
tur der  Rechten  oder  Linken  steht.  Wir  erkennen  nicht  an  —  und  lassen 
Sic  mich  das  ganz  klar  herausstellen  — ,  daß  die  Demokratien  der  Nähr- 
boden für  den  Kommunismus  sind.  Wir  sehen  sie  eher  als  sein  Gegen- 
mittel an.  Wir  finden  uns  nicht  damit  ab,  Europa  fieberhaft  rüsten  zu 
sehen  unter  den  widerstreitenden  Zeichen  rivalisierender  Ideologien. 
Es  gibt  einen  besseren  Weg.  Wir  kennen  ihn,  und  wir  wünschen  ihn 
zu  beschreiten. 

Und  so  muß  ich  diesen  Überblick  mit  einigen  Worten  über  Deutsch- 
land abschließen.  Die  Zukunft  Deutschlands  und  die  Rolle,  die  es  in 
Europa  spielen  wird,  ist  heute  die  Hauptfrage  für  ganz  Europa.  Diese 
große  Nation  von  65  000  000  Menschen  im  Herzen  unseres  Kontinents 
hat  die  Rasse  und  den  Nationalismus  zu  einem  Glaubensbekenntnis 
erhoben,  das  mit  derselben  Inbrunst  ausgeübt  wird,  mit  der  es  verkündet 
wird.  Die  ganze  Welt  fragt  sich  gegenwärtig,  wohin  diese  Lehren 
Deutschland  führen  sollen,  wohin  sie  uns  alle  führen.  Werden  sie  ihm 
die  Stellung  einer  Großmacht  in  der  Mitte  Europas  zurückgeben,  die 
die  Achtung  der  anderen  großen  und  kleinen  Mächte  genießt  und  die 
mannigfachen  Gaben  ihrer  Bevölkerung  dazu  benutzt,  Vertrauen  und 


37] Das  Jahr  1937 113 

Wohlergehen  wiederherzustellen  in  einer  Welt,  die  Kämpfe  und  Gegen- 
sätze herzlich  satt  hat  und  die  Rückkehr  zu  den  normalen  Bedingungen 
für  Arbeit  und  Gemeinschaft  leidenschaftlich  herbeisehnt?  Oder  werden 
sie  Deutschland  zu  einer  Verschärfung  der  internationalen  Gegensätz- 
lichkeiten und  zu  einer  Politik  noch  größerer  wirtschaftlicher  Isolierung 
führen?  Europa  fragt  sich  heute  ernstlich,  welches  die  Antworten  auf 
diese  Fragen  sind :  denn  Europa  kann  sich  nicht  weiterhin  einer  immer 
unsicherer  werdenden  Zukunft  entgegentreiben  lassen.  Es  kann  sich 
nicht  zwischen  akuten  nationalen  Rivalitäten  und  in  starkem  Gegen- 
satz stehenden  Ideologien  zerreißen  lassen,  und  es  kann  nicht  hoffen, 
am  Leben  zu  bleiben,  ohne  Wunden  davonzutragen,  die  während  einer 
Generation  nicht  verheilen.  Es  steht  in  Deutschlands  Macht,  eine  Wahl 
zu  beeinflussen,  die  nicht  nur  sein  eigenes,  sondern  auch  das  Schicksal 
Europas  entscheiden  wird.  Wenn  es  die  volle  und  gleiche  Zusammen- 
arbeit mit  anderen  Nationen  wählt,  dann  gibt  es  niemanden  in  diesem 
Lande,  der  nicht  von  ganzem  Herzen  dazu  beitragen  wird,  Mißver- 
ständnisse zu  beseitigen  und  den  Weg  zu  Frieden  und  Wohlergehen 
zu  ebnen. 

Aber  es  ist  müßig,  sich  einzubilden,  daß  wir  die  Übel,  an  denen 
wir  leiden,  durch  reine  Linderungsmittel  beheben  könnten;  auch  keine 
lokalen  Heilmittel  werden  genügen.  Es  darf  keine  Vorbehalte  oder 
Ausflüchte  seitens  irgendeiner  Nation  —  welche  Ideologie  und  welche 
Regierungsform  sie  auch  bevorzugt  —  in  ihrer  Zusammenarbeit  mit 
anderen  und  im  Verzicht  auf  jede  Art  von  Einmischung  in  die  Ange- 
legenheiten anderer  geben.  Wir  können  die  Welt  nicht  durch  Pakte 
oder  Verträge  heilen.  Wir  können  sie  auch  nicht  durch  politische 
Glaubensbekenntnisse,  welcherart  sie  auch  immer  sein  mögen,  heilen. 
Wir  können  sie  nicht  durch  Reden  heilen,  mögen  sie  noch  so  himmel- 
anstrebend und  friedvoll  sein.  Es  muß  ein  unmißverständlicher  Wille 
zur  Zusammenarbeit  da  sein.  Dieser  Wille  wird  auf  sehr  bestimmte  Art 
zum  Ausdruck  kommen  —  durch  Ablehnung  der  Lehre  nationaler  Ex- 
klusivität und  Anerkennung  jedes  europäischen  Staates  als  potentiellen 
Partners  eines  allgemeinen  Abkommens,  durch  Herabsetzung  der 
Rüstungen  auf  ein  Maß,  das  für  die  notwendigen  Bedürfnisse  der  Ver- 
teidigung ausreicht  und  nicht  darüber  hinaus,  und  durch  Annahme 
solcher  internationaler  Einrichtungen  zur  Beilegung  von  Konflikten, 
die  den  Völkerbund  zu  einem  Segen  für  alle  und  zu  niemandes  Knecht 
machen. 

Diese  Dinge  müssen  jetzt  zu  Anfang  des  neuen  Jahres  klar  fest- 
gestellt werden.  Wir  selbst  haben  keinen  größeren  Wunsch  als  den  der 
vollen  Zusammenarbeit  mit  anderen;  und  dabei  machen  wir  keine 
Ausnahmen.  Wo  immer  dieser  gleiche  Wunsch  sich  kundtut,  werden 
wir  ganz  darauf  eingehen,  und  wir  werden  für  das  größtmögliche  Zu- 
sammenhalten in  dem  Glauben  arbeiten,  daß  es  von  der  großen  Mehr- 
heit des  Volkes  jeder  Nation  im  Grunde  des  Herzens  leidenschaftlich 
gewünscht  wird. 

(E:  Parliamcntary  Debates.  Bd.  310,  Sp.  93 ff.  —  D:  Monatshefte  für  Aus- 
wörtige  Politik,  1937,  S.  66 ff.) 

Deutschland-England  8 


114  Deutschland  -  England  [38 

38.  Aus  der  Reidistagsrede  des  Führers  vom  30.  Januar  1937 

Ich  möchte  an  dieser  Stelle  meinen  wirklichen  Dank  aussprechen 
für  die  Möglichkeit  einer  Antwort,  die  mir  geboten  wurde  durch  die 
so  freimütigen  wie  bemerkenswerten  Ausführungen  des  Herrn  eng- 
lischen Außenministers. 

Ich  habe  diese  Ausführungen,  wie  ich  glaube,  genau  und  richtig 
gelesen.  Ich  will  mich  natürlich  nicht  in  Details  verlieren,  sondern  ich 
möchte  versuchen,  die  großen  Gesichtspunkte  der  Rede  Mister  Edens  her- 
auszugreifen, um  meinerseits  sie  entweder  zu  klären  oder  zu  beantworten. 

Ich  will  dabei  zuerst  versuchen,  einen  wie  es  mir  scheint,  sehr  be- 
dauerlichen Irrtum  richtigzustellen.  Nämlich  den  Irrtum,  daß  Deutsch- 
land irgendeine  Absicht  habe,  sich  zu  isolieren,  an  den  Geschehnissen 
der  übrigen  Welt  teilnahmslos  vorbeizugehen  oder  daß  es  etwa  keine 
Rücksicht  auf  allgemeine  Notwendigkeiten  nehmen  wolle. 

Worin  soll  die  Auffassung,  Deutschland  treibe  eine  Isolierungs- 
politik, ihre  Begründung  finden? 

Soll  diese  Annahme  der  Isolierung  Deutschlands  gefolgert  werden 
aus  vermeintlichen  deutschen  Absichten,  dann  möchte  ich  dazu  folgen- 
des bemerken : 

Ich  glaube  überhaupt  nicht,  daß  jemals  ein  Staat  die  Absicht 
haben  könne,  sich  bewußt  an  den  Vorgängen  der  übrigen  Welt  als 
politisch  desinteressiert  zu  erklären.  Besonders  dann  nicht,  wenn  diese 
Welt  so  klein  ist  wie  das  heutige  Europa.  Ich  glaube,  daß,  wenn  wirk- 
lich ein  Staat  zu  einer  solchen  Haltung  Zuflucht  nehmen  muß,  er  es 
dann  höchstens  unter  dem  Zwang  eines  ihm  selbst  aufoktroyierten 
fremden  Willens  tun  wird. 

Ich  möchte  Herrn  Minister  Eden  hier  zunächst  versichern,  daß 
wir  Deutsche  nicht  im  geringsten  isoliert  sein  wollen  und  uns  auch  gar 
nicht  als  isoliert  fühlen.  Deutschland  hat  in  den  letzten  Jahren  eine 
ganze  Anzahl  politischer  Beziehungen  aufgenommen,  wieder  ange- 
knüpft, verbessert  und  mit  einer  Reihe  von  Staaten  ein  —  ich  darf 
wohl  sagen  —  enges  freundschaftliches  Verhältnis  hergestellt.  Unsere 
Beziehungen  in  Europa  sind  von  uns  aus  gesehen  zu  den  meisten 
Staaten  normale,  zu  einer  ganzen  Anzahl  von  Staaten  sehr  freund- 
schaftliche. Ich  stelle  hier  an  die  Spitze  die  ausgezeichneten  Bezie- 
hungen, die  uns  vor  allem  mit  jenen  Staaten  verbinden,  die  aus  ähn- 
lichen Leiden  wie  wir  zu  ähnlichen  Folgerungen  gekommen  sind . . . 

Allein  auch  wirtschaftlich  gibt  es  nicht  den  geringsten  Anhalts- 
punkt dafür,  zu  behaupten,  daß  Deutschland  sich  der  internationalen 
Zusammenarbeit  etwa  entzöge.  Es  ist  ja  doch  wohl  umgekehrt.  Wenn 
ich  so  die  Reden  mancher  Staatsmänner  in  den  letzten  Monaten  über- 
sehe, dann  kann  nur  zu  leicht  aus  ihnen  der  Eindruck  entstehen,  als 
ob  etwa  eine  ganze  Welt  darauf  warte,  Deutschland  mit  wirtschaft- 
lichen Gefälligkeiten  zu  überschwemmen  und  nur  wir  verstockte 
Isolierungspolitiker  an  diesen  Genüssen  nicht  teilnehmen  wollen. 

Ich  möchte  zur  Richtigstellung  dessen  ein  paar  ganz  nüchterne 
Tatsachen  anführen: 


6] 


Bas  Jahr  1937 


115 


Erstens:  Seit  Jahr  ynd  Tag  müht  sich  das  deutsche  Volk  ab,  mit 
seinen  Nachbarn  bessere  Handelsverträge  und  damit  einen  regeren 
Güteraustausch  zu  erreichen-  Und  diese  Bemühungen  waren  auch  nicht 
vergeblich»  denn  tatsächlich  ist  der  deutsche  Außenhandel  seit  dem 
Jahre  1932  sowohl  dem  Volumen  als  auch  dem  Werte  nach  nicht 
kleiner,  sondern  gröCer  geworden.  Dies  widerlegt  am  schärfsten  die 
Meinung,  daß  Deutschland  eine  wirbchaftliche  Isolierungspolitik  be- 
triebe. 

Zweitens:  Ich  glaube  aber  nicht,  daß  es  eine  wirtschaftliche  Zu- 
sammenarbeit der  Völker  auf  einer  anderen  Ebene,  und  ZAvar  von 
Dauer  geben  kann  als  auf  der  eines  gegenseitigen  Waren-  und  Güter* 
austausches.  Kredit manipulationcn  können  vietleicht  für  den  Augen* 
blick  ihre  Wirkung  ausüben,  auf  die  Dauer  aber  werden  die  wirtschaft- 
lichen internationalen  Beziehungen  immer  bedingt  sein  durch  den 
Umfang  des  gegenseitigen  Warenaustausches,  Und  hier  ist  es  ja  nun 
nicht  so,  daß  die  andere  Welt  etwa  mit  ungeheuren  Aufträgen  oder 
Perspektiven  einer  Steigerung  des  wirtschaftlichen  Austauschverkehra 
aufzuwarten  in  der  Lage  wäre,  dann,  wenn  ich  weiß  nicht  was  für 
Voraussetzungen  sonst  erfüllt  sein  würden. 

Man  soll  doch  die  Dinge  wirklich  nicht  noch  mehr  komplizieren, 
als  sie  es  an  sich  schon  sind.  Die  Weltwirtschaft  krankt  nicht  daran, 
daß  Deutschland  sich  etwa  an  ihr  nicht  beteiligen  will,  sondern  sie 
krankt  daran,  daß  in  die  einzelnen  Produktionen  der  Völker  sowohl 
als  auch  in  deren  Beziehungen  zueinander  eine  Unordnung  gekommen 
ist.  Beides  hat  nicht  Deutschland  verschuldet.  Am  wenigsten  das 
heutige  nationalsozialistische  Deutschland.  Denn  als  wir  zur  Macht 
kamen,  war  die  Weltwirtschaftskrise  wohl  noch  schlimmer  als  heute. 

Ich  befürchte  allerdings^  den  Worten  Mister  Edens  entnehmen 
zu  müssen,  daß  er  als  ein  Element  der  Ablehnung  internationaler  Be- 
ziehungen von  Seiten  Deutschlands  die  Durchführung  des  neuen  Vier- 
jahresplanes ansieht. 

Ich  möchte  daher  darüber  keinen  Zweifel  aufkommen  lassen,  daß 
der  Entschluß,  diesen  Plan  durchzuführen,  keine  Änderung  zuläßt. 
Die  Gründe,  die  uns  zu  diesem  Entschluß  veranlaßten,  w^aren  zwin- 
gende. Und  ich  habe  in  der  letzten  Zeit  nichts  entdecken  können,  was 
uns  irgendwie  von  der  Durchführung  dieses  Entschlusses  hätte  ab- 
zubringen vermögen. 

Ich  nehme  nur  ein  praktisches  Beispiel: 

Die  Durchführung  des  Vierjahresplanes  wird  durch  die  synthe- 
tische Erzeugung  von  Benzin  und  Gummi  allein  eine  jährliche  Mehr- 
förderung  von  20 — 30  Millionen  Tonnen  Kohle  in  unserem  Lande 
sicherstellen.  Das  heißt  aber  die  Beschäftigung  von  vielen  Zehntausen- 
den von  Kohlenbergarbeitern  für  die  ganze  Zukunft  ihres  Lebens.  Ich 
muß  mir  wirklich  die  Frage  erlauben:  Welcher  Staatsmann  würde  in 
der  Lage  sein,  mir  im  Falle  der  Nichtdurchführung  des  deutschen 
Vierjahresplanes  die  Abnahme  von  20  oder  30  Millionen  Tonnen  Kohle 
durch  irgendeinen  anderen  Wirtschaftslaktor  außerhalb  des  Reiches 
zu  garantieren?  Und  darum  handelt  es  sich. 


116  Deutschland  -  England  [38 

Ich  will  Arbeit  und  Brot  für  mein  Volk.  Und  zwar  nicht  vorüber- 
gehend durch  die  Gewährung  meinetwegen  von  Krediten,  sondern 
durch  einen  soliden,  dauernden  Produktionsprozeß,  den  ich  entweder 
in  Austausch  bringen  kann  mit  Gütern  der  anderen  Welt  oder  in  Aus- 
tausch bringen  muß  mit  eigenen  Gütern,  im  Kreislauf  unserer  eigenen 
Wirtschaft. 

Wenn  Deutschland  durch  irgendeine  Manipulation  diese  20  oder 
30  Millionen  Tonnen  Kohle  in  der  Zukunft  auf  den  Weltmarkt  werfen 
wollte,  so  würde  dies  doch  nur  dazu  führen,  daß  andere  Länder  ihre 
bisherige  Kohlenausfuhr  vermutlich  senken  müßten.  Ich  weiß  nicht, 
ob  ein  englischer  Staatsmann  z.  B.  ernstlich  eine  solche  Möglichkeit 
für  sein  Volk  ins  Auge  fassen  könnte.  Dies  aber  ist  das  Entscheidende. 

Denn  Deutschland  hat  eine  ungeheure  Zahl  von  Menschen,  die 
nicht  nur  arbeiten,  sondern  auch  essen  wollen.  Auch  der  übrige  Lebens- 
standard unseres  Volkes  ist  ein  hoher.  Ich  kann  die  Zukunft  der  deut- 
schen Nation  nicht  aufbauen  auf  den  Versicherungen  eines  auslän- 
dischen Staatsmannes  über  irgendeine  internationale  Hilfe,  sondern 
ich  kann  sie  nur  aufbauen  auf  den  realen  Grundlagen  einer  laufenden 
Produktion,  die  ich  entweder  im  Innern  oder  nach  außen  absetzen 
muß!  Und  hier  unterscheide  ich  mich  vielleicht  in  meinem  Mißtrauen 
von  den  optimistischen  Ausführungen  des  englischen  Außenministers., . 

Sollte  aber  —  ich  muß  auch  dies  untersuchen  —  die  Ursache  für 
die  Meinung,  Deutschland  treibe  Isolierungspolitik,  etwa  unser  Aus- 
tritt aus  dem  Völkerbund  sein,  dann  möchte  ich  doch  darauf  hinweisen, 
daß  die  Genfer  Li^a  niemals  ein  wirklicher  Bund  aller  Völker  war, 
daß  eine  Anzahl  großer  Nationen  ihr  entweder  überhaupt  nicht  ange- 
hörten oder  schon  vor  uns  den  Austritt  vollzogen  hatten,  ohne  daß 
deshalb  jemand  behaupten  wird,  diese  betrieben  eine  Isolierungspolitik. 

Ich  glaube  also,  daß  Mister  Eden  in  diesem  Punkt  die  deutschen 
Absichten  und  unsere  Auffassungen  sicherlich  verkennt.  Denn  nichts 
liegt  uns  femer  als,  sei  es  politisch  oder  wirtschaftlich,  die  Beziehungen 
zur  anderen  Welt  abzubrechen  oder  auch  nur  zu  vermindern.  Im  Gegen- 
teil, das  Umgekehrte  ist  richtiger. 

Ich  habe  es  so  oft  versucht,  zur  Verständigung  in  Europa  einen 
Beitrag  zu  leisten,  und  habe  besonders. oft  dem  englischen  Volke  und 
seiner  Regierung  versichert,  wie  sehr  wir  eine  aufrichtige  und  herzliche 
Zusammenarbeit  mit  ihnen  wünschen.  Und  zwar  wir  alle,  das  ganze 
deutsche  Volk  und  nicht  zuletzt  ich  selbst! 

Ich  gebe  aber  zu,  daß  in  einem  Punkt  eine  tatsächliche  und,  wie 
mir  scheint,  unüberbrückbare  Verschiedenheit  zwischen  den  Auffas- 
sungen des  englischen  Außenministers  und  unseren  besteht. 

Mister  Eden  betont,  daß  die  britische  Regierung  unter  keinen 
Umständen  wünsche,  Europa  in  zwei  Hälften  zerrissen  zu  sehen. 

Ich  glaube,  diesen  Wunsch  hatte  wenigstens  früher  in  Europa 
anscheinend  niemand.  Heute  ist  dieser  Wunsch  nur  eine  Illusion. 
Denn  tatsächlich  ist  die  Zerreißung  in  zwei  Hälften  nicht  nur  Europas, 
sondern  der  Welt  eine  vollzogene  Tatsache. 

Es  ist  bedauerlich,  daß  die  britische  Regierung  nicht  schon  früher 


40] Das  Jahr  1937 117 

ihre  heutige  Auffassung  vertreten  hat,  daß  eine  Zerreißung  Europas 
unter  allen  Umständen  vermieden  werden  müsse,  denn  dann  wäre  es 
nie  zum  Versailler  Vertrag  gekommen.  Dieser  Vertrag  hat  tatsächlich 
die  erste  Zerreißung  Europas  eingeleitet:  nämlich  die  Aufteilung  der 
Nationen  in  Sieger  und  Besiegte  und  damit  Rechtlose. 
(Verhandlungen  des  Reichstags,  Bd.  459,  S.  11  ff.) 

Telegramm  des  deutsdien  Gesdiäftsträgers  in  London  39. 

an  das  Auswärtige  Amt  vom  1.  Februar  1937 

Während  Londoner  Sonntagspresse  unter  spontanem  Eindruck 
der  Führerrede  in  Überschriften  fast  durchweg  positive  Momente  der 
Rede  stark  hervorhob,  folgt  heutige  Londoner  Presse,  mit  Ausnahme 
durchaus  positiv  eingestellter  Daily  Mail,  den  gestern  vom  Foreign 
Office  ausgegebenen  Losungen,  die  sie  zum  Teil  durch  eigene  Zutaten 
ergänzt.  Wegen  der  vom  Außenministerium  ausgegebenen  Richtlinien 
verweise  ich  auf  die  nur  zur  Information  gegebene  DNB.-Meldung  vom 
1.  Februar  morgens.  Ergebnis  ist,  daß  beutige  Presse  fast  durchweg 
der  Meinung  Ausdruck  gibt,  daß  Führerrede  keine  Förderung  in  gegen- 
wärtiger politischer  Lage  bedeute  und  daß  positive  Momente  bagatel- 
lisiert und  den  meisten  Punkten  eine  abträgliche  Deutung  gegeben 
wird.  Erklärungen  über  Reichsbahn  und  Reichsbank  und  über  Kriegs- 
schuldfrage finden  so  gut  wie  keine  Beachtung. 

Woermann 

(Aus  den  Akten  des  Auswärtigen  Amtes.) 

Die  in  den  Ausführungen  des  britischen  Außenministers  zutage 
getretenen  Äußerungen  des  Mißtrauens  und  der  Verdächtigung  gegen 
Deutschland  sollten  auch  für  dm  Jahr  1937  bestimmend  bleiben.  Von 
deutscher  Seite  wurden  immer  wieder  Vorstöße  in  Richtung  einer  grund- 
sätzlicheny  auf  dem  Flottenabkommen  und  einem  Westpakt  aufzubauenden 
Verständigung  unternommen,  bei  der  in  irgendeiner  Weise  auch  die 
Kolonialfrage  hätte  geregelt  werden  müssen. 

Aus  der  Rede  des  Botsdiaf ters  von  Ribbentrop  in  Leipzig  40. 

vom  1.  März  1937 

Die  Einteilung  der  Welt  nach  dem  Kriege  in  Sieger  und  Besiegte 
brachte  auch  ihre  Einteilung  in  die  Nationen  der  „Habenden''  und  der 
„Habenichtse",  wie  ein  britischer  Staatsmann  dies  im  vorigen  Jahre 
ausdrückte.  Es  ist  nun  ein  durchaus  natürlicher  und  verständlicher 
Vorgang,  wenn  die  Nationen,  die  nichts  haben,  den  Allesbesitzenden 
mit  Unzufriedenheit  und  die  Besitzenden  den  Nichtbesitzenden  mit 
Mißtrauen  gegenüberstehen.  Diese  Unzufriedenheit  -und  dieses  Miß- 
trauen können  ober  wiederum  nur  dadurch  beseitigt  werden,  daß  die 
besitzenden  Nationen  zu  einem  Arrangement  mit  den  Besitzlosen 


118 


Deutschland  -  England 


[40 


kommen,  das,  wenn  es  auch  diese  nicht  zu  den  Reichen  dieser  Erde 
macht,  so  doch  ihnen  einen  gewissen  Ausgleicli  bietet. 

Versailles  hat  Deutschland,  einen  der  einst  wohlhabendsten 
Staaten  der  Erde^  in  die  Front  der  Besitzlosen  gedrängt.  Man  hat 
Deutschland  seinerzeit  un vernünftigerweise  seine  gesamten  mobili- 
sierten Werte  genommen  und  so  eine  Ungleichheit  des  Besitzstandes 
auf  allen  Gebieten  geschaffen»  die  letzten  Endes  niemals  von  Dauer  sein 
kann,  und  die  heute  für  ein  gut  Teil  der  Unruhe  in  der  Welt  verant- 
wörtlich  zu  machen  ist. 

Es  liegt  aber  im  Interesse  aller  Staaten,  diese  Unruhe  in  der  Welt 
«u  beseitigen  und  daher  einen  Ausgleich  zwischen  den  besitzenden  und 
den  besitzlosen  Nationen  zu  finden* 

W*as  die  Lösung  der  Kolonialfrage  angeht,  so  hat  der  Führer  in 
seiner  Rede  vom  30.  Januar  erklärt,  daß  ,,die  Forderung  nach  Kolo- 
nien in  unserem  so  dicht  besiedelten  Lande  sich  als  eine  selbstverständ- 
liche immer  wieder  erheben  wird**,  und  hat  gleichzeitig  die  Gründe, 
die  für  die  Zurückhaltung  der  ehemaligen  deutschen  Kolonien  von  dem 
Auslande  vorgebracht  werden,  schlagend  widerlegt.  Wenn  man  heute 
die  Mantelnote  des  Versailler  Vertrages  nachliest  uod  feststellt,  wie 
dort  die  Verwandlung  der  deutschen  Kolonien  in  Mandatsgebiete 
wörtlich  begründet  wird  mit  ,,den  Raubzügen  auf  den  Welthandel, 
die  Deutschland  von  seinen  Kolonien  aus  betrieben  hat",  und  mit  der 
Unfähigkeit,  Kolonien  zu  verwalten,  so  wird  uns  heute  so  recht  klar, 
unter  welch  krankhafter  Haßpsychose  und  mit  welch  fadenscheinigen 
Gründen  der  deuUche  Kolonialbesitz  liquidiert  wurde.  Ich  glaube,  daß 
jeder  Vernünftigdenkende  heute  diese  Argumentierung  der  damaligen 
Zeit  kaum  mehr  für  möglich  hallen  wird  und  ferner  glaube  ich,  daß 
auch  jeder  Unvernünftige  kaum  behaupten  wird,  daß  diese  seltsame 
Begründung  des  Präsidenten  Wilson,  daß  „eine  freie,  weitherzige  und 
unbedingt  unparteiische  Schlichtung  aller  kolonialen  Ansprüche  ge- 
funden werden  müsse*\  zu  verein  boren  ist.  Ausschließlich  vertrauend 
auf  die  Wilsonschen  Zusagen  hat  aber  das  deutsche  Volk  seinerzeit 
die  Waffen  niedergelegt. 

Deutschland  beansprucht  grundsätzlich  das  Recht  auf  Kolonial- 
besitz, wie  dies  auch  jeder  anderen,  selbst  der  kleinsten  Nation  der  Welt, 
zusteht,  und  muß  jegliche  Argumentation,  die  ihm  dieses  Recht  streitig 
machen  will,  in  aller  Form  zurückweisen. 

Im  übrigen:  England,  Japan,  Frankreich,  Italien,  Holland,  Bel- 
gien, Spanien,  Portugal,  alle  diese  Länder  haben  Kolonien  und  zum 
Teil  Kolonialreiche,  die  meist  um  ein  Gewaltiges  größer  sind  als  die 
Motterländer.  Deutschland  mit  seiner  auf  engstem  Räume  zusammen- 
gedrängten großen  Bevölkerung  braucht  Kolonien  mehr  als  irgend 
jemand.  Ausgerechnet  Deutschland  aber  soll  keine  Kolonien  besitzen? 

Ebenso  abwegig  aber  wie  die  Gründe,  mit  denen  Deutschland  die 
Kolonien  weggenommen  wurden,  ist  auch  die  Begründung,  die  man 
dann  und  wann  iti  der  ausländischen  Presse  liest,  wonach  Deutschland 
eine  imperialistische  Kolonialpolitik  treiben  und  seine  Kolonien  zu 
strategischen  Stützpunkten  ausbauen  würde.  Abgesehen  davon,  daß 


I 


41] Das  Jahr  1937 119 

militärisch  gesehen  an  sich  jede  Kolonie  für  Deutschland  von  vorn- 
herein eine  verlorene  Position  bedeutet,  ist  wohl  der  zwischen  Deutsch- 
land und  England  abgeschlossene  Flottenvertrag  der  schlagendste 
Beweis  gegen  solche  Behauptungen.  Ich  darf  im  übrigen  in  diesem 
Zusammenhang  an  die  seinerzeitige  Erklärung  des  Führers  erinnern, 
daß  mit  dem  Besitz  von  Kolonien  sich  keine  Erhöhung  der  deutschen 
Flottenforderung  ergeben  würde. 
(DNB.  vom  2.  Mftrz  1937.) 


Aus  dem  Beridit  des  Botschafters  von  Ribbentrop  41. 

vom  14.  Februar  1937  über  seine  Ansspradie  mit  dem  stellvertretenden 
AuBenminister  Lord  Halifax 

Ich  habe  Halifax  zum  Schluß  unserer  Aussprache  nochmals  mit 
allem  Ernst  vorgestellt,  daß  meiner  Auffassung  nach  die  Gestaltung 
des  deutsch-englischen  Verhältnisses  bestimmend  für  die  zukünftige 
gesamte  Weltentwicklung  sei.  Mr.  Baldwin  habe  mir  ja  einmal  erklärt, 
Deutschland  und  England  seien  die  beiden  stärksten  und  männlichsten 
Nationen  der  Welt;  wir  dürften  nie  wieder  kämpfen,  denn  ein  noch- 
maliger Kampf  zwischen  uns  würde  ein  Kampf  bis  zum  bitteren  Ende 
sein.  Dies  sei  durchaus  auch  die  Auffassung  des  Führers  und  Reichs- 
kanzlers. Mir  schiene  daher  die  Frage  der  Beziehungen  dieser  beiden 
großen  Völker  zueinander  von  so  überragender  Bedeutung  zu  sein, 
daß  bei  klarer  Erkenntnis  der  Dinge  alle  anderen  Probleme  dagegen 
verblassen  müßten.  Die  diplomatische  Sicherheit  zwischen  unseren 
beiden  Ländern  könnte  meiner  Auffassung  nach  letzten  Endes  nur 
durch  zwei  Dinge,  nämlich  durch  die  klare  Festlegung  der  gegenseitigen 
vitalen  Interessen  zur  See  und  zu  Lande  garantiert  werden.  Die  erste 
Frage  sei  durch  das  Flottenabkommen  gelöst,  die  zweite  Frage  könnte 
durch  einen  Garantievertrag  für  die  low  countries  und  vielleicht 
darauffolgende  weitere  westliche  Friedenssicherungen  geregelt  werden. 
Damit  seien  die  nach  menschlichem  Ermessen  zwischen  unseren 
Ländern  überhaupt  möglichen  Sicherungen  getroffen.  Durch  Schaffung 
dieser  Garantien  fiele  aber  jeder  wirkliche  Kriegsgrund  zwischen 
England  und  Deutschland  fort.  Hüten  müßten  sich  die  beiden  Völker 
aber,  je  wieder  in  einen  Krieg  hineingezogen  zu  werden,  in  dem  sie 
sich  für  Interessen,  die  sie  nicht  vital  berühren,  als  Feinde  gegenüber- 
stehen würden.  Deutschlands  Politik  liege  klar  in  dieser  Richtung, 
während  ich  in  England  immer  noch  starke  Kräfte  sähe,  die  sich  zu 
einer  solchen  Erkenntnis  in  keiner  Weise  durchgerungen  hätten.  Einmal 
werde,  früher  oder  später,  auch  England  sich  entscheiden  müssen. 
Einen  Mittelweg  werde  es  meines  Erachtens  nicht  geben,  und  ich  hoffte 
nur,  daß  die  sprichwörtliche  Nüchternheit  britischer  Staatsmänner 
nicht  zu  lange  zögern  möchte,  den  den  wahren  britischen  Interessen 
entsprechenden  Entscheid  zu  treffen.  Halifax  schienen  diese  Gedanken- 
gänge stark  zu  interessieren,  und  er  sagte  mir  zum  Schluß,  daß  er 


122  Deutschland  -  England  [44 

Davon  aber  kann  man  in  London  überzeugt  sein:  die  Erfah- 
rungen, die  wir  dieses  Mal  gemacht  haben,  sind  für  uns  eine  Belehrung, 
die  wir  niemals  mehr  vergessen  werden  I 

Wir  werden  von  jetzt  ab  in  solchen  Fällen  doch  lieber  die  Frei- 
heit, die  Unabhängigkeit,  die  Ehre  und  die  Sicherheit  der  Nation  in 
unsere  eigenen  Hände  nehmen  und  uns  selbst  beschützen!  Und  Gott 
sei  Dank,  wir  sind  heute  auch  stark  genug,  um  uns  selbst  schützen  zu 
können! 

Wir  haben  aus  diesem  Vorgang  Konsequenzen  gezogen,  die  für  die 
ganze  Zukunft  wirksam  seia  werden.  Redensarten  in  Parlamenten  oder 
von  Staatsmännern  werden  uns  in  Zukunft  nicht  mehr  einnebeln 
können.  Wir  haben  einen  Angriff  erlebt,  seine  Behandlung  gesehen 
und  sind  dadurch  geheilt  für  immer.  Ich  hatte  getan,  was  man  pflicht- 
gemäß tun  mußte.  Es  wurde  versucht,  und  heute  kann  niemand  mehr 
in  der  Welt  erklären,  daß  wir  böswilligerweise  irgendwie  voreingenom- 
men seien  gegen  kollektive  Abmachungen. 

Nein!  Hätte  sich  diese  kollektive  Abmachung  vom  12.  Juni  be- 
währt, hätte  man  es  sich  vielleicht  überlegen  können,  ob  man  nicht 
doch  noch  weiter  geht.  Nachdem  sich  aber  selbst  diese  kleinste  Ab- 
machung in  der  Praxis  als  undurchführbar  erwies,  soll  das  für  uns 
nun  eine  Warnung  sein,  eine  ähnliche  Enttäuschung  eines  Tages  nicht 
vielleicht  in  einem  schlimmeren  Fall  noch  einmal  zu  erleben. 

Jede  Katze  kann  sich  einmal  die  Pfoten  verbrennen  und  jeder 
Mensch  einmal  Fehler  machen,  aber  nur  Narren  tun  das  gleiche  zwei- 
mal! Weder  ich  noch  die  deutsche  Nation  haben  nun  Lust,  sich  ein 
zweites  Mal  in  eine  solche  Gefahr  zu  begeben. 
(DNB.  vom  28.  Juni  1937.) 

Gleichwohl  dachte  die  Reichsregierung  nicht  daran,  die  gleichzeitig 
laufenden  Flottenverhandlungen  zu  unterbrechen.  Es  kam  vielmehr  am 
19.  Juli  1937  in  London  zur  Unterzeichnung  eines  weitereny  qualitativen 
Flottenabkommens,  das  eine  wertvolle  und  für  das  englische  System  der 
Flottenverträge  außerordentlich  wichtige  Ergänzung  der  deutsch-eng- 
lischen Flottenverständigung  bildete.  Selbst  Außenminister  Eden  konnte 
nicht  umhin,  ,,den  staatsmännischen  GeisV*  der  deutschen  Außenpolitik 
in  diesem  Punkte  anzuerkennen. 

44.  Aus  der  Unterhausrede  des  britisdien  Außenministers  Eden 

vom  19.  Juli  1937 

Da  ich  die  heute  bestehenden  Schwierigkeiten  in  der  Zusammen- 
arbeit der  Staaten  kenne,  möchte  ich  der  vferdiensUichen  und  staats- 
männischen Haltung  der  deutschen  und  der  sowjetrussischen  Regie- 
rung —  es  ist  reizvoll,  sie  beide  in  einem  Atemzug  nennen  zu  können  — 
Anerkennung  zollen,  die  durch  den  Abschluß  von  Flottenabkommen 
mit  England  vor  einigen  Tagen  freiwillig  dem  System  der  qualitativen 
Begrenzung  und  des  Austausches  von  Informationen,  das  im  Londoner 


45] Das  Jahr  1937 123 

Flottenvertrag  festgelegt  worden  ist,  beigetreten  sind.  Ich  möchte 
mich  über  dieses  Thema,  das  noch  morgen  vom  Marineminister  be- 
handelt wird,  nicht  weiter  auslassen,  aber  ich  finde,  daß  ihre  Bereit- 
willigkeit, auf  dem  Gebiet  der  Seerüstungsbeschränkung  mit  uns  zu- 
sammenzuarbeiten, ein  sicherer  Beweis  dafür  ist,  daß  es  bei  beider- 
seitigem gutem  Willen  und  gegenseitigem  Verstehen  nicht  unmöglich 
ist,  auch  die  schwierigsten  Probleme  zu  lösen. 

(E:  Parliamentary  Debates.  House  of  Commons.  Bd.  326,  Sp.  1817.  —  D: 
MonaUhefte  für  Auswärtige  Politik,  1937,  S.  523.) 

Trotz  dieses  abermaligen  bedeutenden  Entgegenkommens  der  deut- 
schen Politik  in  der  Flottenfrage  dauerte  die  antideutsche  Pressehetze  in 
England  an, 

Telegramm  des  deutsdien  Gesdiäftsträgers  in  London  45. 

an  das  Auswärtige  Amt  vom  11.  August  1937 

Wie  aus  DNB.-Berichten  dort  bekannt,  ist  in  letzten  Tagen  hier 
in  Linkspresse  förmliche  Kampagne  gegen  in  England  lebende  Deutsche 
und  besonders  Parteiangehörige  entfacht  worden.  Habe  dies  zum  An- 
laß genommen,  um  im  Foreign  Office  bei  Deutschlandreferenten 
Strang  in  ernster  Weise  auf  Gefahr  einer  derartigen  Kampagne  hinzu- 
weisen. Habe  dabei  insbesondere  News  Chronicle  vom  9.  August, 
Manchester  Guardian  und  Evening  Standard  vom  10.  August  und 
Daily  Herald  vom  11.  August  erwähnt,  der  direkt  gegen  Parteior- 
ganisation in  England  hetzt.  Habe  angeführt,  daß  Beispiel  Schweiz 
zeige,  wohin  derartige  Hetzkampagne  führen  könnte,  worauf  Strang 
von  sich  aus  Namen  Gustloff  nannte.  Habe  dabei  besonders  Hetze 
Daily  Herald  gegen  Parteiorganisation  hervorgehoben  und  erwähnt, 
daß  nach  Daily  Herald  auch  Foreign  Office  mit  Prüfung  Angelegenheit 
befaßt  sei.  Da  in  Daily  Herald  auch  entstellender  Bericht  über  an- 
gebliche Parteiveranstaltung  gegeben  wird,  wo  Landesgruppenleiter 
Bene  anwesend  war,  womit  offenbar  Feier  vom  1.  Mai  gemeint  ist, 
habe  ich  ausgeführt,  daß  auf  dieser  Versammlung  ja  englische  Polizei 
anwesend  gewesen  sei,  die  sicher  darüber  berichtet  habe.  Mir  sei  vor 
allem  in  Erinnerung,  daß  Bene  alle  in  England  lebenden  Deutschen  er- 
mahnt habe,  sich  der  Pflichten  bewußt  zu  sein,  die  sie  gegenüber  Eng- 
land als  Gastland  hätten.  Ich  wisse,  daß  auch  gegenwärtiger  Landes- 
gruppenleiter in  gleichem  Sinne  arbeite.  Um  so  törichter  sei  es,  wenn 
Parteimitglieder  in  England  verdächtigt  würden.  Artikel  legten  Ver- 
mutung nahe,  daß  derartige  Mitteilungen  vom  Home  Office  oder 
Scotland  Yard  ausgingen,  was  völlig  unverständlich  sein  würde. 

Strang  nahm  meine  Ausführungen  verständnisvoll  auf,  wußte 
aber  nicht  recht,  wie  er  darauf  reagieren  sollte.  Er  wiederholte  bekannte 
These  von  Freiheit  englischer  Presse,  worauf  ich  ihn  erneut  darauf 
hinwies,  daß  bei  gutem  Willen  Einflußmöglichkeit  bestände.  Er  ver- 
sicherte, daß  Foreign  Office  an  Kampagne  in  keiner  Weise  beteiligt 


124         Deutschland  -  England  [45 

sei,  er  glaube  auch  nicht,  daß  dies  auf  andere  britische  amtliche  Stellen 
zutreffen  könne.  Ich  insistierte  darauf,  daß  etwas  geschehen  müsse, 
worauf  er  zusagte,  die  Angelegenheit  zunächst  mit  Sir  Robert  Van- 
sittart  zu  besprechen  und  mir  nach  einigen  Tagen  weitere  Antwort 
zu  geben. 

AnschUeßend  erwähnte  ich,  daß  mir  Vansittart  von  60  deutschen 
Jouraalisten  in  England  gesprochen  habe  und  daß  in  Presse  Zahlen 
von  80  und  über  100  genannt  würden.  Wie  ich  festgestellt  habe,  seien 
auf  deutscher  Journalistenliste  ledigUch  32  Personen  verzeichnet.  Ich 
könne  mir  denken,  daß  die  hohe  Zahl  zum  Teil  dadurch  zu  erklären 
sei,  daß  Emigranten  hier  noch  mit  JournaHstenausweisen  tätig  seien 
und  daß  vielleicht  auch  einige  Gelegenheitsjournalisten  miteinge- 
schlossen seien.  Die  dauernde  Erwähnung  der  hohen  Zahl  der  Jour- 
nalisten erfolgt  aber  offenbar  zum  Zweck,  durchbHcken  zu  lassen, 
daß  es  sich  hier  nicht  wirklich  um  Journalisten  handele.  Wir  seien 
selbst  an  der  Reinhaltung  des  Journalistenberufes  interessiert.  Wenn 
die  britischen  Behörden  Beschwerden  hätten,  sollten  sie  diese  doch 
offen  mit  uns  besprechen  und  nicht  auch  in  dieser  Hinsicht  derartige 
Kampagne  starten. 

Woermann 

(Aus  den  Akten  des  Auswärtigen  Amtes.) 

Den  zweiten  Versuch  eines  unmiltelbaren  deulsch-englischen  Kon- 
takies  in  diesem  Jahre  bildete  der  Besuch  des  damaligen  Lordpräsidenten 
(späteren  Außenministers)  Lord  Halifax  in  Berlin  vom  17,  bis  21,  No- 
vember 1937, 

Indessen  war  auch  dieser  zweite  Versuch  von  so  vielen  merkwürdigen 
Begleitumständen  umgeben,  daß  die  mit  ihm  verfolgten  Absichten  in 
einem  höchst  zweideutigen  Lichte  erscheinen  müssen.  Noch  bevor  Lord 
Halifax  in  Deutschland  überhaupt  eingetroffen  war,  mußte  sich  die 
Nationalsozialistische  Parteikorrespondenz  bereits  am  14.  November 
energisch  gegen  tendenziöse  Kombinationen  verwahren,  die  im  Zusammen- 
hang mit  der  bevorstehenden  Reise  in  der  englischen  und  französischen 
Presse  angestellt  worden  waren.  In  gleicher  Weise  mußte  sie  nach  dem 
Abschluß  des  Besuches  am  24,  November  gegen  falsche  Tendenzmel- 
dungen protestieren,  die  sich  über  angeblich  von  deutscher  Seite  in  den 
Besprechungen  mit  Lord  Halifax  gestellte  Forderungen  ausließen,  Lord 
Halifax  selbst  äußerte  sich  zuerst  am  2,  Dezember  1937  anläßlich  des 
zweiten  Jahrestages  der  „Anglo-German  Fellowship*^  in  London  über 
seinen  Berliner  Besuch.  Es  war  sehr  bezeichnend,  daß  er  sich  in  seinen 
Äußerungen  darauf  beschränkte,  von  der  Berliner  Jagdaussiellung  zu 
sprechen,  die  er  auf  Einladung  von  Generalfeldmarschall  Göring  besich- 
tigt hatte.  Die  offizielle  Erklärung  Chamberlains  über  die  Berliner  Be- 
sprechungen schob  die  Frage  der  deutsch-englischen  Beziehungen  auf 
jenes  lote  Geleise,  das  die  britische  Regierung  schon  in  der  Frage  des 
Westpaktes  benutzt  hatte,  um  eine  wirkliche  Einigung  zu  verhindern:  sie 
gipfelte  wiederum  in  der  utopischen  Forderung  einer  „Gesamtregelung'', 


46] Das  Jahr  1937  125 

Verlautbanmg  der  NS.-Parteikorrespondenz  vom  24.  November  1937  46. 
über  den  Besudi  des  Lordpräsidenten  Halifax  in  Berlin 

Erst  vor  kurzem  sahen  wir  uns  genötigt,  mit  deutlichen  Worten 
Pressemanövern  entgegenzutreten,  die  noch  vor  dem  Besuche  des  Lord- 
präsidenten Halifax  versuchten,  mit  dreisten  Unterstellungen  die  inter- 
nationale Atmosphäre  zu  vergiften.  Man  hätte  annehmen  sollen,  daß 
diese  überall  verstandene  klare  Antwort  auf  derartige  für  die  Besse- 
rung der  internationalen  Beziehungen  denkbar  „ungeeignete  Methoden** 
genügt  hätte,  um  den  verantwortungslosen  Elementen  in  der  aus- 
ländischen Presse  die  Lust  zu  nehmen,  ihre  ebenso  lächerlichen  wie 
gefährlichen  Machenschaften  fortzusetzen. 

Diese  Hoffnung  war  trügerisch!  Nach  dem  Besuche  des  Lord- 
präsidenten HaHfax  wurde  die  Lügenflut  eines  Teiles  der  ausländischen 
Presse  schlimmer  denn  zuvor.  Angebliche  ,, Forderungen**,  „Wünsche** 
und  Behauptungen  über  mehr  oder  weniger  „poHtische  Erpressungen** 
des  Führers  sind  nach  wie  vor  in  den  Spalten  dieser  Blätter  Themen 
des  Tages.  So  liefert  uns  neuerdings  der  „Manchester  Guardian**  ein 
Musterstück  lügenhafter  Berichterstattung. 

Der  diplomatische  Korrespondent  dieses  Blattes  berichtet,  daß 
deutscherseits  in  den  Besprechungen  mit  Lord  Halifax  „Forderungen** 
gestellt  worden  seien,  die  sich  in  folgenden  Punkten  zusammenfassen 
ließen : 

1 .  Deutschland  sei  bereit,  dem  Völkerbund  unter  einer  Reihe  von 
Bedingungen,  die  sich  auf  bestimmte  Punkte  des  Versailler 
Vertrages  und  die  Anerkennung  der  italienischen  Oberhoheit 
über  Abessinien  beziehen,  wieder  beizutreten. 

2.  England  werde  von  Deutschland  aufgefordert,  einer  Reorgani- 
sation des  tschechischen  Staates  nach  dem  Muster  des  Schwei- 
zer Bundessystems  zuzustimmen,  wobei  das  Sudetenland  den 
Charakter  eines  Schweizer  Kantons  erhalten  solle. 

3.  England  werde  aufgefordert,  sich  zu  verpfHchten,  der  öster- 
reichischen Regierung  keinerlei  diplomatischen,  politischen 
oder  militärischen  Beistand  zu  geben. 

4.  Deutschland  verpflichte  sich,  die  Kolonialfrage  für  eine  Periode 
von  sechs  Jahren  nicht  aufzugreifen,  und  verspreche,  später 
keinerlei  Flotten-  oder  Militärbasen  in  seinen  früheren  Kolonien 
einzurichten. 

5.  Deutschland  verpflichte  sich,  den  Frieden  in  Spanien  wieder- 
herzustellen, sobald  die  britische  Regierung  die  Regierung 
in  Salamanca  de  jure  anerkannt  habe  usw. 

Wir  wissen  nicht,  aus  welcher  trüben  Quelle  diese  „Informationen** 
stammen,  aber  wir  wissen,  daß  sie  von  Anfang  bis  zu  Ende  lügenhafte 
Erfindungen  sind ! 

Der  englische  Ministerpräsident  Chamberlain  sah  sich  veranlaßt, 
auf  diesbezügliche  Anfragen  heute  im  Unterhaus  alle  diese  Spekula- 
tionen nicht  nur  als  unverantworUich,  sondern  auch  als  höchst  un- 
richtig zu  bezeichnen.  Wir  möchten  sie  als  freche  und  unverschämte 


126 


Deutschtand  -  Eni^land 


[47 


politische  Verleumdungen,  ihre  Verbreiter  als  internationale  Bruni^en- 
vergifter  brandmarken! 

Mit  solchen  publizistischen  Gangstermethoden  kann  Dian  dem 
nationalsoziahstischen  Deutschland  nicht  mehr  kommen! 

Wie  oft  sollen  wir  es  sagen:  Es  ist  bei  uns  nicht  üblich,  dera 
Minister  eines  befreundeten  Landes,  der  nach  Deutschbnd  kommt 
zwecks  „Förderung  des  Wunsches  zur  Schaffung  eines  engeren  gegen- 
seitigen Verstehens",  Forderungen  zu  stellen  und  ihm  die  Pistole  auf 
die  Brust  zu  setzen!  Aüe  Kombinationen  in  dieser  Richtung  tragen 
also  schon  von  vornherein  den  Stempel  der  Lüge  auf  der  Stirn! 

Wenn  der  diplomatische  Korrespondent  des  Manchester  Guardian 
dann  seinem  lügnerischen  Elaborat  die  Krone  aufsetzt,  indem  er  seine 
Regierung  auffordert,  diese  uns  so  dreist  unterschobenen  „Vorschläge**, 
die  das  ,, größere  Deutschland  im  Embryo**  enthielten,  als  unannehm- 
bar zurückzuweisen,  weil  ihre  Annahme  eine  ,,Krise der  englisch-franzö- 
sischen Beziehungen  stören"  würde  usw.,  dann  wissen  wir,  was  man 
mit  diesen  fortgesetzten  Unterstellungen  Deutschland  gegenüber  be- 
zwecken möchte, 

Wir  werden  auch  in  Zukunft  diesen  politischen  Gangstermethoden 
mit  der  ihnen  gebührenden  Deutlichkeit  entgegentreten  und  den  publi- 
zistischen Strauchrittern  die  Maske  vom  Gesicht  reiOen.  Denn  wir  sind 
mehr  denn  je  überzeugt,  daG»  solange  diesen  internationalen  Brunnen- 
vergiftern, die  jede  Fühlungnahme  zu  lügenhafter  Hetze  benützen, 
nicht  das  Handwerk  gelegt  ist,  alle  poHtischen  Besuche  und  Bespre- 
chungen zwecklos  sind  und  nur  zu  einer  Verwirrung  der  internatio* 
nalen  Lage  beitragen  können. 
(DNB.  vom  25.  November  1937.) 

47.  Aus  der  Anspradie  des  Lordpräsidenten  Halifax  anläBlidi  der 

zweiten  Jahrestaguag  der  Anglo-German  Fellowship  in  London 
am  2.  Dezember  1937 


In  seiner  Aussprache  sagte  Lord  Halifax,  er  habe  in  der  ver- 
gangenen Woche  das  Vergnügen  gehabt,  Berlin  zu  besuchen,  um  — 
wie  er  erinnern  möchte  —  die  große  Jagdausstellung  zu  besichtigen* 
Da  dies  der  ursprüngliche  Zweck  seines  Besuches  gewesen  sei,  würden 
seine  Hörer  nicht  überrascht  sein^  daß  er  der  Ausstellung  den  größten 
Teil  der  ihm  zustehenden  Drei-Minuten-Sprechzeit  widmen  würde. 
Die  Ausstellung  sei  ohne  Zweifel  die  größte  Jagdausstellung,  die  die 
Welt  je  gesehen  habe.  Alle  Besucher  der  Ausstellung  würden  ihm  bei- 
pflichten, wenn  er  sagte,  daß  sie  einen  Markstein  für  die  Leistungen 
der  Menschen  aller  Länder  auf  dem  Gebiete  des  Sports,  der  sportlichen 
Kunst  und,  wie  er  hinzufügen  möchte,  der  Ausstellungskunst  bilde. 
Er  sei  dankbar  dafür,  daß  er  hier  Gelegenheit  habe,  seine  warme  An- 
erkennung für  den  höflichen,  offenen  und  freundlichen  Empfang  aus- 
zusprechen, der  ihm  von  allen  Seiten,  den  höchsten  wie  den  niedrigsten, 
bereitet  worden  sei*  Er  glaube  allen  Ernstes,  daß  die  Beziehungen  der 


48] Das  Jahr  1937 127 

einzelnen  Menschen  auf  sie  gemeinsam  interessierenden  Gebieten, 
wie  etwa  Sport,  von  großer  Bedeutung  für  die  Beziehungen  der  Na- 
tionen untereinander  seien.  Er  zögere  nicht,  zu  sagen,  daß  das  Ver- 
ständnis zwischen  den  Völkern,  zu  deren  Förderung  die  Anglo-German 
Fellowship  gegründet  sei,  zweifellos  die  größte  Notwendigkeit  für  die 
heutige  Welt  sei.  Seiner  Ansicht  nach  könne  keine  Gesellschaft  einen 
größeren  Dienst  leisten  als  den,  daß  sie  zum  gegenseitigen  Vertrauen 
und  Verstehen  der  Nationen  untereinander  beitrage. 

(E:  The  Times  vom  3.  Dezember  1937.  —  D:  Monatshefte  für  Auswärtige 
PoliUk,  1938,  S.  34.) 

Aus  der  Unterhausrede  des  britischen  Premierministers  48. 

Chamberlain  vom  21.  Dezember  1937 

Der  Abgeordnete  Attlee  hat  die  verschiedenen  kürzlich  statt- 
gefundenen internationalen  Besprechungen  erwähnt;  ich  möchte 
darauf  zurückkommen  und  mit  dem  Besuch  des  Herrn  Lordpräsi- 
denten des  Staatsrats  in  Deutschland  beginnen.  Ich  habe  dem  Hause 
schon  mitgeteilt,  daß  die  Besprechungen  zwischen  dem  Lordpräsi- 
denten und  dem  Reichskanzler  und  verschiedenen  bekannten  Deut- 
schen vertraulichen  Charakter  trugen,  und  sicherlich  wünscht  kein 
Abgeordneter,  daß  ich  irgend  etwas  sage,  was  als  Bruch  der  Voraus- 
setzung angesehen  werden  könnte,  auf  Grund  deren  die  Besprechungen 
stattfanden.  Aber  ich  darf  vielleicht  eine  oder  zwei  allgemeine  Bemer- 
kungen machen,  die  das  über  dieses  Thema  schon  Gesagte  ergänzen. 

Seiner  Majestät  Regierung  hat  niemals  erwartet  oder  beabsich- 
tigt, daß  diese  Besprechungen  sofort  Ergebnisse  zeigen  sollten.  Es 
waren  Besprechungen  und  keine  Verhandlungen;  und  deshalb  wurden 
in  ihrem  Verlauf  keine  Vorschläge  gemacht,  keine  Verpflichtungen 
eingegangen  und  keine  Abmachungen  getroffen.  Das  von  uns  erstrebte 
und  erreichte  Ziel  war,  einen  persönlichen  Kontakt  zwischen  einem  Mit- 
glied Seiner  Majestät  Regierung  und  dem  Reichskanzler  herzustellen 
und,  wenn  möglich,  auf  beiden  Seiten  zu  einem  klareren  Verständnis 
für  die  Politik  und  die  Haltung  beider  Regierungen  zu  gelangen.  Ich 
glaube  sagen  zu  können,  daß  wir  jetzt  eine  ziemlich  genaue  Vorstellung 
von  den  Problemen  besitzen,  die  nach  Ansicht  der  deutschen  Regierung 
gelöst  werden  müssen,  wenn  wir  in  den  europäischen  Angelegenheiten 
den  von  allen  gewünschten  Zustand  erreichen  wollen,  in  welchem  die 
Nationen  einander  mit  dem  Wunsch  nach  Zusammenarbeit,  anstatt 
mit  Mißtrauen  und  Groll,  gegenüberstehen. 

Wenn  wir  zu  einem  solchen  Zustand  gelangen  sollen,  so  kann  das 
natürlich  nicht  durch  eine  Abmachung  zwischen  einzelnen  Ländern 
erreicht  werden.  Eine  solche  könnte  nur  als  erster  Schritt  zu  einem  all- 
gemeinen Bemühen  angesehen  werden,  um  zu  dem  zu  kommen,  was 
manchmal  eine  allgemeine  Regelung  genannt  worden  ist,  nämlich 
dazu,  daß  berechtigten  Beschwerden  abgeholfen,  Mißtrauen  beseitigt 
und  Vertrauen  wiederhergestellt  wird.  Dazu  ist  natürlich  erforderlich, 


-^     m    -w- 


491 


Das  Jahr  1938 


13t 


Im  Anschluß  an  den  Besuch  von  Lord  Halifax  fand  am  26.  Januaf 
1938  eine  Unterredung  zwischen  dem  Beichsaußenminister  von  Neuraih 
and  dem  britischen  Botschafter  in  Berlin,  Sir  Nevile  Henderson,  statt, 
die  ein  klares  Licht  auf  die  englische  Hallung  in  jenen  Verhandlangen 
wirft.  Mit  aller  Deutlichkeit  trat  hcnmr,  daß  man  auf  englisctier  Seite  das 
Wort  Verständigung  ausgiebig  brauchle,  zu  irgendeinem  sachlichen  Ent- 
gegenkommen aber  nicM  bereit,  sondern  offenbar  bewußt  entschlossen  war, 
durch  eine  solche  Uatlung  die  Verhandlungen  zum  Scheitern  zu  bringen 


Aufzeichnung  des  Reidisaußeniiiinifiters  FreUierrn  von  Neurath  vom 

26.  Januar  193B  über  seine  Unterredung  mit  dem  briliscfaen 

Botsdiafter  Henderson 


49 


Der  englische  Botschafler  stichle  mich  heute  ouf  und  ieille  mir 
mit,  er  sei  von  seiner  Regierung  nach  London  berufen  zu  einer  Aus- 
sprache über  die  von  seilen  Englands  auf  Grund  der  Halifax-Unter- 
redung zu  machenden  Schritte.  Henderson  wiederholte  die  schon 
öfter  gemachten  Bemerkungen,  daß  die  englische  Regierung,  insbe- 
sondere der  Premierminister,  fest  entschlossen  sei,  Deutschland  in  der 
Kolonialfrage  entgegenzukommen.  Er  habe  natürlich  große  Schwierig- 
keiten, denn  es  gäbe  viele  Leute  in  England«  die  nichts  hergeben  woll- 
ten. Es  würde  die  Arbeit  des  Premierministers  sehr  erleichtern»  wenn 
er  bei  den  Verhandlungen  schon  irgendwelche  Gegenleistungen  von 
deutscher  Seite  in  Aussicht  stellen  könnte. 

Ich  sagte  dem  Botschafter,  er  habe  doch  schon  wiederholt  und 
auch  aus  dem  Munde  des  Führers  gehört,  daß  unser  Anspruch  auf 
Rückgabe  der  Kolonien  kein  Handelsobjekt  sei.  Der  Botschafter  fuhr 
fort  zu  fragen,  ob  wir  denn  wenigstens  bereit  seien,  in  irgendeine 
Diskussion  über  Rüstungen  und  Bombenabwürfe  usw.  einzutreten. 
Ich  sagte  ihm  darauf,  die  Frage  des  Bombenabwurfs  könne  gegebenen- 
falls unabhängig  davon  einmal  erörtert  werden,  jedenfalls  aber  nicht 
im  Zusammenhang  mit  der  Kolonial  frage.  Als  Henderson  dann  auch 
wieder  die  Rückkehr  Deutschlands  in  den  Völkerbund  erwähnte  und 
eine  Zusicherung  haben  wollte,  daß  wir  eventuell  die  Frage  des  Wieder- 
eintritts in  einen  reformierten  Völkerbund  diskutieren  würden,  er- 
klärte ich  ihm,  ich  wünschte  diese  Frage  überhaupt  nicht  zu  disku- 


132 Deutschland  -  England [49 

tieren.  Über  unsere  Stellung  zum  Völkerbund  hätte  ich  mich  klar  genug 
ausgedrückt.  Im  übrigen  ersähe  ich  aus  den  jetzigen  Verhandlungen  in 
Genf,  daß  England  nicht  einmal  mehr  den  Mut  aufbringe,  die  Dis- 
kussion über  die  Reform  des  Völkerbundes  fortzusetzen. 

Sodann  frug  Henderson  noch  nach  unseren  Plänen  gegenüber  der 
Tschechoslowakei  und  gegenüber  Osterreich.  Ich  sagte  ihm,  er  wisse 
aus  verschiedenen  Konversationen  mit  mir,  welche  Beschwerden  wir 
gegen  die  Tschechoslowakei  hätten.  Wenn  diese  von  tschechischer 
Seite  behoben  wären,  so  würde  sich  auch  das  Verhältnis  zur  Tschecho- 
slowakei von  selbst  normalisieren.  Was  Osterreich  anbelange,  so  könnte 
ich  ihm  nur  —  und  zwar  mit  der  Bitte  um  Wiederholung  in  London  — 
erklären,  daß  wir  uns  in  die  Regelung  der  Beziehungen  zu  Osterreich 
auch  von  England  nicht  hineinreden  lassen  würden.  Diese  Regelung 
sei  eine  ausschließlich  deutsch-österreichische  Frage,  und  wir  würden 
jede  Einmischung  ablehnen. 

Als  der  Botschafter  noch  frug,  ob  ich  nicht  glaubte,  daß  der  Führer 
ihm  irgendeine  Zusicherung  für  die  von  Deutschland  einzunehmende 
Haltung  im  Falle  eines  Entgegenkommens  in  der  Kolonialfrage  geben 
könne,  sagte  ich  ihm,  ich  sei  überzeugt,  daß  der  Führer  ihm  auch  nicht 
mehr  sagen  würde,  als  ich  getan  hätte.  Mit  Zusicherungen  von  deut- 
scher Seite  hätten  wir  bisher  noch  nicht  das  mindeste  erreicht.  Wir 
würden  abwarten,  bis  wir  von  der  anderen  Seite  konkrete  Angebote 
hätten.  Dann  könne  man  sich  darüber  unterhalten,  ob  und  welcher 
Beitrag  von  unserer  Seite  geleistet  werden  könne. 

Henderson  reist  morgen  abend  nach  London  ab  und  glaubt  etwa 
in  der  zweiten  Hälfte  der  nächsten  Woche  nach  Berlin  zurückzu- 
kommen. 

Freiherr  v.  Neurath 
(Aus  den  Akten  des  Auswärtigen  Amtes.) 

Nachdem  sich  die  englische  Presse  am  Ausgang  des  Jahres  1937  mit 
Rücksicht  auf  den  Besuch  von  Lord  Halifax  und  auf  den  Verlauf  der 
deutsch-englischen  Besprechungen  eine  gewisse  Zurückhaltung  auferlegt 
hatte,  schlug  dieser  Zustand  am  Anfang  des  Jahres  1938  wieder  völlig  in 
sein  Gegenteil  um.  Die  Maßnahmen  des  Führers  vom  4.  Februar  1938, 
die  zu  einem  Umbau  der  Wehrmachtsführung,  zur  Bildung  eines  Geheimen 
Kabinettsrates  und  zur  Übernahme  des  Außenministeriums  durch  den 
bisherigen  Botschafter  von  Ribbentrop  führten,  lösten  in  England  eine 
wüste  und  hemmungslose  Pressehetze  aus.  Der  Führer  sah  sich  infolge- 
dessen genötigt,  in  seiner  Reichstagsrede  vom  20.  Februar  1938  das 
deutsch-englische  Problem  unter  dem  Gesichtspunkt  dieser  ständigen 
Vergiftung  der  Atmosphäre  durch  eine  planmäßige  und  ständige  Presse- 
agitation zu  erörtern. 


51] Das  Jahr  1938 133 

Aus  der  Reidistagsrede  des  Führers  und  Reiiliskaiizlers  50. 

vom  20.  Februar  1938 

Deutschland  hat  auch  mit  England  keinerlei  Streitigkeiten,  es 
seien  denn  unsere  kolonialen  Wünsche.  Es  fehlt  jedoch  jeder  Anhalts- 
punkt für  einen  auch  nur  irgendwie  denkbaren  möglichen  Konflikt. 
Das  einzige,  was  das  Zusammenleben  dieser  Staaten  vergiftet  und 
damit  belastet,  ist  eine  geradezu  unerträgliche  Pressehetze,  die  in 
diesen  Ländern  unter  dem  Motto  „Freiheit  der  persönlichen  Meinungs- 
äußerung" getrieben  wird. 

Ich  habe  kein  Verständnis  dafür,  aus  dem  Munde  ausländischer 
Staatsmänner  und  Diplomaten  immer  wieder  zu  vernehmen,  daß  in 
diesen  Ländern  keine  gesetzliche  Möglichkeiten  bestünden,  der  Lüge 
und  der  Verleumdung  ein  Ende  zu  bereiten.  Denn  es  handelt  sich  hier 
nicht  um  Privatangelegenheiten,  sondern  um  Probleme  des  Zusammen- 
lebens von  Völkern  und  von  Staaten.  Und  wir  sind  nicht  in  der  Lage, 
diese  Vorgänge  auf  die  Dauer  auf  die  leichte  Schulter  zu  nehmen.  Wir 
können  auch  nicht  vor  den  Folgen  dieser  Hetze  die  Augen  verschließen. 
Denn  es  könnte  sonst  nur  zu  leicht  sein,  daß  in  gewissen  Ländern  durch 
niederträchtige  dauernde  internationale  Lügenfabrikation  ein  so  starker 
Haß  gegen  unser  Land  entwickelt  wird,  daß  dort  allmählich  eine  offene 
feindselige  Stimmung  gegen  uns  entsteht,  der  vom  deutschen  Volk 
dann  nicht  mit  der  notwendigen  Widerstandskraft  begegnet  werden 
könnte,  weil  ihm  selbst  durch  die  Art  unserer  Pressepolitik  jede  Feind- 
seligkeit gegenüber  diesen  Völkern  fehlt.  Und  dies  ist  eine  Gefahr,  und 
zwar  eine  Gefahr  für  den  Frieden.  Ich  bin  deshalb  auch  nicht  mehr 
gewillt,  die  zügellose  Methode  einer  fortgesetzten  Begeiferung  und  Be- 
schimpfung unseres  Landes  und  unseres  Volkes  unwidersprochen  hin- 
zunehmen. Wir  werden  von  jetzt  ab  antworten,  und  zwar  mit  national- 
sozialistischer Gründlichkeit  antworten. 

(Verhandlungen  des  Reichstages,  Bd.  459,  S.  39) 

Indessen  ließ  man  es  auf  englischer  Seile  mil  dieser  Einmischung  in 
innersle  deutsche  Angelegenheiten  nicht  genug  sein  und  fühlte  sich  be- 
müßigt^ den  Anschluß  Österreichs  an  das  Deutsche  Reich  zum  Anlaß 
einer  offiziellen  diplomatischen  Einmischung  zu  machen. 


Note  des  Präsidenten  des  Geheimen  Staatsrates  Freiherrn  von  Neura th    51 . 
vom  12.  März  1938  an  den  britischen  Botschafter  in  Berlin 

Herr  Botschafter! 

Mit  Schreiben  vom  11.  März  haben  Euer  Exzellenz  mitgeteilt, 
der  Königlich-Britischen  Regierung  sei  die  Nachricht  zugegangen, 
daß  in  Wien  ein  deutsches  Ultimatum  gestellt  worden  sei,  in  dem  der 
Rücktritt  des  Bundeskanzlers,  seine  Ersetzung  durch  den  Minister  des 
Innern,  die  Bildung  eines  neuen  Kabinetts  mit  einer  Zweidrittelmehr- 


*»^^ 


134 


Deuischland  -  England 


[5! 


heit  von  DaiionalsoziaHstischen  Mitgliedern  und  die  Wiederzuhissung 
der  ösierreichischen  Legion  gefordert  worden  sei.  Für  den  Fall,  daß 
diese  Nachrichten  zuträfen,  bat  die  Königlich-Britische  Regierung 
gegen  einen  derartigen  auf  Gewalt  gestützten  Zwang  protestiert,  der 
auf  einen  unabhängigen  Staat  ausgeübt  worden  sei,  um  eine  mit 
seiner  nationalen  Unabhängigkeit  unvereinbare  Lage  zu  schaffen, 

Namens  der  deutsehen  Regierung  muü  ich  demgegenüber  darauf 
hinweisen,  daO  der  Königlich-Britischen  Regierung  nicht  da»  Recht 
zusteht,  die  Rolle  eines  Beschützers  der  Unabhängigkeit  Österreichs 
für  sich  in  Anspruch  zu  nehmen.  Die  Deutsche  Regierung  hat  die 
Königlich-Britische  Regierung  im  Laufe  der  diplomatischen  Unter- 
haltungen über  die  Österreichische  Frage  niemals  darüber  im  Zweifel 
gelassen,  daß  die  Gestaltung  der  Beziehungen  zwischen  dem  Reich 
und  Österreich  lediglich  als  eine  dritte  Mächte  nicht  berührende  innere 
Angelegenheit  des  deutschen  Volkes  angesehen  werden  kann. 

Es  erübrigt  sich,  die  historischen  und  politischen  Gründe  dieses 
Standpunktes  noch  einmal  darzulegen. 

Aus  diesem  Grunde  muß  die  Deutsche  Regierung  den  von  der 
Königlich-Britischen  Regierung,  wenn  auch  nur  bedingt,  eingelegten 
Protest  von  vornherein  als  unzulässig  zurückweisen. 

Gleichwohl  will  die  Deutsche  Regierung  gegenüber  der  in  Ihrem 
Schreiben  erwähnten  Nachricht,  daß  die  Reichsregierung  in  Wien 
ultimative  Forderungen  gestellt  habe,  nicht  unterlassen,  zur  Steuer 
der  Wahrheit  hinsichtlich  der  Vorgänge  der  letzten  Tage  folgendes 
festzustellen: 

Vor  wenigen  Wochen  hatte  der  Deutsche  Reichskanzler  in  Er- 
kenntnis der  Gefahren,  die  sich  aus  der  unerträglich  gewordenen  Lage 
in  Österreich  ergaben,  eine  Aussprache  mit  dem  damaligen  öster- 
reichischen Bundeskanzler  herbeigeführt.  Das  Ziel  war,  noch  einmal 
den  Versuch  zu  machen,  jenen  Gefahren  durch  die  Verabredung  der  ] 
Maßnahmen  zu  begegnen,  die  eine  den  Interessen  der  beiden  Länder 
wie  den  Interessen  des  gesamten  deutschen  Volkes  dienende  ruhige 
und  friedliche  Entwicklung  sicherstellen  konnte.  Die  Vereinbarung 
von  Berchtesgaden  hätte,  wenn  sie  auf  österreichischer  Seite  im  Geiste 
der  Aussprache  vom  12.  Februar  loyal  durchgeführt  worden  wäre, 
eine  solche  Entwicklung  latsächlich  gewährleistet. 

Statt  dessen  hat  der  frühere  österreichische  Bundeskanzler  am 
Abend  des  9.  März  überraschend  den  eigenmächtig  von  ihm  gefaßten 
Beschluß  bekanntgegeben,  mit  einer  Frist  von  wenigen  Tagen  eine 
Abstimmung  zu  veranstalten,  die  nach  den  obwaltenden  Uniständeo, 
inabesondere  nach  den  für  die  Durchführung  der  Abstimmung  geplan- 
ten Einzelheiten,  allein  den  Sinn  haben  konnte  und  sollte,  die  über- 
wiegende Mehrheit  der  Bevölkerung  Österreichs  politisch  zu  verge- 
waltigen. Dieses  mit  der  Vereinbarung  von  Berchtesgaden  in  flagrantem 
Widerspruche  stehende  Vorgehen  hat,  wie  vorauszusehen,  zu  einer 
äußersten  Zuspitzung  der  inneren  Lage  in  Österreich  geführt.  Es  %var 
nur  natürlich,  daß  die  an  dem  Abstimmungsbeschluß  nicht  betei- 
ligten Mitglieder  der  damaligen  österreichischen  Regierung  dagegen 


51J Das  Jahr  1938 135 

schärfsten  Einspruch  erhoben.  Infolgedessen  ist  es  in  Wien  zu  einer 
Kabinettskrise  gekommen,  die  im  Laufe  des  1.  März  zum  Rücktritt 
des  früheren  Bundeskanzlers  und  zur  Bildung  einer  neuen  Regierung 
geführt  hat.  Daß  vom  Reich  aus  auf  diese  Entwicklung  ein  gewalt- 
samer Zwang  ausgeübt  worden  wäre,  ist  unwahr.  Insbesondere  ist  die 
von  dem  früheren  Bundeskanzler  nachträ^ich  verbreitete  Behauptung 
völlig  aus  der  Luft  gegriffen,  die  Deutsche  Regierung  habe  dem  Bundes- 
präsidenten ein  befristetes  Ultimatum  gestellt,  nach  dem  dieser  einen 
ihm  vorgeschlagenen  Kandidaten  zum  Bundeskanzler  ernennen  und 
die  Regierung  nach  den  Vorschlägen  der  Deutschen  Regierung  zu 
bilden  hätte,  widrigenfalls  der  Einmarsch  deutscher  Truppen  in  Oster- 
reich in  Aussicht  genommen  werde.  In  Wahrheit  ist  die  Frage  der 
Entsendung  militärischer  und  polizeilicher  Kräfte  aus  dem  Reich  erst 
dadurch  aufgeworfen  worden,  daß  die  neugebildete  österreichische 
Regierung  in  einem  in  der  Presse  bereits  veröffentlichten  Telegramm 
die  dringende  Bitte  an  die  Reichsregierung  gerichtet  hat,  zur  Wieder- 
herstellung von  Ruhe  und  Ordnung  und  zur  Verhinderung  von  Blut- 
vergießen baldmöglichst  deutsche  Truppen  zu  entsenden.  Angesichts 
der  unmittelbar  drohenden  Gefahr  eines  blutigen  Bürgerkrieges  in 
Österreich  hat  sich  die  Reichsregierung  entschlossen,  diesem  an  sie 
gerichteten  Appell  Folge  zu  geben. 

Bei  diesem  Sachverhalt  ist  es  völlig  ausgeschlossen,  daß  das  Ver- 
halten der  Deutschen  Regierung,  wie  in  Ihrem  Schreiben  behauptet 
wird,  zu  unübersehbaren  Rückwirkungen  führen  könnte.  Das  Gesamt- 
bild der  politischen  Lage  ist  in  der  Proklamation  gekennzeichnet,  die 
der  Deutsche  Reichskanzler  heute  mittag  an  das  deutsche  Volk  ge- 
richtet hat.  Gefährliche  Rückwirkungen  könnten  in  dieser  Lage  nur 
dann  eintreten,  wenn  etwa  von  dritter  Seite  versucht  würde,  im  Gegen- 
satz zu  den  friedlichen  Absichten  und  legitimen  Zielen  der  Reichs- 
regierung auf  die  Gestaltung  der  Verhältnisse  in  Osterreich  einen  Ein- 
fluß zu  nehmen,  der  mit  dem  Selbstbestimmungsrecht  des  deutschen 
Volkes  unvereinbar  wäre. 

Freiherr  v.  Neurath 
(Aus  den  Akten  des  Auswärtigen  Amtes.) 

Chamberlain  und  Halifax  gaben  am  14,  und  16.  März  1938  in  beiden 
Häusern  des  Parlaments  zwar  zu,  daß  der  durch  den  Vertrag  von  St,  Ger- 
main  geschaffene  Zustand  nicht  für  alle  Zeiten  hätte  aufrechterhalten 
werden  können.  Auch  erkannte  Großbritannien  formell  den  Anschluß 
durch  Umwandlung  der  Wiener  Gesandtschaft  in  ein  Generalkonsulat  an. 
Gleichwohl  kamen  immer  wieder  deutliche  Zeichen  des  Unwillens  mit  dem 
Lauf  der  Dinge  zum  Ausdruck.  Noch  in  seiner  Rede  in  Birmingham  am 
8.  April  1938  glaubte  Chamberlain  eine  Billigung  der  österreichischen 
Entwicklung  mit  kritischen  Bemerkungen  über  die  bei  der  Wiederein- 
gliederung Österreichs  zur  Anwendung  gekommenen  ^.Methoden**  ein- 
schränken zu  müssen. 


1 36  Deutschland  -  England  [52 

52.  Aus  der  Rede  des  britisdien  Premiermiiiisters  Chamberlain 

vom  8.  April  1938  in  Birmingham 

Unsere  Politik  beruht  auf  zwei  Erkenntnissen.  Die  erste  ist:  Wenn 
man  sich  einen  dauernden  Frieden  sichern  will,  so  muß  man  die 
Kriegsursachen  ausfindig  machen  und  beseitigen.  Dies  kann  nicht 
dadurch  geschehen,  daß  man  die  Hände  in  den  Schoß  legt  und  darauf 
wartet,  daß  etwas  geschieht.  Man  muß  sich  andauernd  darum  be- 
mühen. Man  muß  sich  die  Schwierigkeiten  und  die  Gefahrenquellen, 
die  Gründe  für  jede  vermutliche  oder  mögliche  Störung  des  Friedens 
klarmachen  und,  wenn  man  dies  alles  ausfindig  gemacht  hat,  sich 
bemühen,  ein  Heilmittel  zu  finden. 

Die  zweite  Erkenntnis  ist:  In  einer  bewaffneten  Welt  muß  man 
selbst  bewaffnet  sein.  Ein  Land  muß  darauf  bedacht  sein,  seine  Vor- 
bereitungen oder  seine  Verteidigungs-  und  Angriffswaffen  so  zu  orga- 
nisieren und  aufzubauen,  daß  niemand  in  Versuchung  gerät,  einen  An- 
griff zu  wagen,  sondern,  daß  im  Gegenteil  alle  mit  Achtung  auf  seine 
Stimme  hören,  wenn  diese  für  den  Frieden  spricht.  Dies  also  sind  die 
beiden  Säulen  unserer  Außenpolitik:  Frieden  zu  suchen  auf  dem  Wege 
freundschaftlicher  Unterhaltung  und  Verhandlung  und  die  Wehrmacht 
auf  einer  Basis  zu  erhalten,  die  unserer  Verantwortung  und  der  Rolle,  die 
wir  bei  derAufrechterhaltung  desFriedens  zu  spielen  wünschen, entspricht. 

Man  könnte  mich  fragen:  Und  wo  bleibt  hierbei  der  Völkerbund? 
Warum  rufen  Sie  nicht  die  kollektive  Sicherheit  zu  Hilfe?  Müssen  wir 
zugeben,  daß  die  herrlichen  Ideale,  die  uns  erfüllten,  als  der  Völkerbund 
gegründet  wurde,  preisgegeben  werden?  Wir  haben  den  Völkerbund 
niemals  lächerlich  gemacht.  Wir  lassen  uns  durch  niemanden  davon 
abhalten,  diesen  großen  und  herrlichen  Idealen  treu  zu  bleiben.  Wir 
wünschen  noch  immer,  jede  mögliche  Gelegenheit  zu  ergreifen,  den 
Völkerbund  neu  zu  bauen  und  zu  stärken  und  ihn  wiederherzustellen, 
damit  er  einst  nochmals  ein  wirkungsvolles  Instrument  zur  Erhaltung 
des  Friedens  werden  möge. 

Aber  heute  müssen  wir  den  Tatsachen  ins  Auge  sehen,  heute, 
nachdem  einige  der  mächtigsten  Staaten  der  Welt  sich  daraus  ent- 
fernt haben,  müssen  wir  uns  zunächst  einmal  über  etwas  klarwerden, 
ehe  wir  dem  Völkerbund  die  hervorragende  Aufgabe  der  Wahrung 
des  Friedens  aufzuerlegen  versuchen.  Kollektive  Sicherheit  kann  nur 
erzielt  werden  durch  die  Bereitwilligkeit  und  Fähigkeit  der  Mitglied- 
Staaten  zu  einer  Gemeinschaftsaktion,  die  wirkungsvoll  genug  ist,  jeden 
Angriff  aufzuhalten.  Ist  der  Völkerbund  tatsächlich  in  der  Lage,  dies 
zu  tun? 

Vor  einiger  Zeit  richtete  ich  an  die  Opposition  in  diesem  Hause 
eine  Frage  —  und  ich  bitte  sie  sich  zu  erinnern,  daß  dies  vor  den  letzten 
Ereignissen  in  Osterreich  war.  Ich  fragte  sie,  ob  man  mir  einen  einzigen 
kleinen  Staat  in  Europa  nennen  könne,  der,  wenn  er  heute  von  einem 
mächtigen  Nachbarn  bedroht  wäre,  sich  allein  auf  den  Völkerbund 
verlassen  könne,  um  kollektive  Sicherheit  zu  erhalten.  Ich  erhielt 
keine  Antwort  auf  diese  Frage,  ich  konnte  keine  erhalten,  denn  man 


53] Das  Jahr  1938 137 

wußte  genau,  daß  die  einzig  aufrichtige  Antwort  wäre,  daß  es  keinen 
solchen  Staat  gäbe,  weil  es  keine  kollektive  Sicherheit  gibt.  Das  ist 
kein  Hangel  an  Loyalität.  Wahrhafter  Mangel  an  Loyalität  zur  Liga  ist 
es,  vorzugeben,  daß  diese  heute  Aufgaben  erfüllen  könne,  die  offen- 
sichtlich außerhalb  ihres  Machtbereichs  liegen.  Dieser  Art  von  Treue- 
bruch wollen  wir  uns  nicht  schuldig  machen. 

Aber  lassen  Sie  uns  auch  nicht  den  Gedanken  an  einen  größeren 
und  besseren  Völkerbund  der  Zukunft  aufgeben.  Lassen  Sie  uns  viel- 
mehr versuchen,  eine  neue  Atmosphäre  des  Verständnisses  in  der  Welt 
zu  schaffen,  denn  das  ist  die  grundlegende  Vorbedingung  für  einen 
Völkerbund,  der  funktioniert.  Ich  erwähnte  eben  die  Ereignisse,  die 
sich  vor  genau  einem  Monat  zugetragen  haben  und  die  durch  die  Ein- 
gliederung Österreichs  in  das  Deutsche  Reich  ihren  Abschluß  fanden. 
Ich  ^aube  nicht,  daß  die  Bevölkerung  dieses  Landes  den  Wunsch 
haben  könnte,  hemmend  einzugreifen,  wenn  zwei  Staaten  sich  zu 
vereinigen  wünschen.  Aber  in  diesem  besonderen  Fall  der  Vereinigung 
wurden  •  Methoden  angewandt,  die  der  Regierung  Seiner  Majestät 
außerordentlich  mißfielen  und  die  die  öffentliche  Meinung  schwer 
schockiert  haben. 

(E:  Neville  Ghamberlain,  The  Struggle  for  Pencc  London  (1939),  S.  167  ff. 
—  D:  Eigene  Obersetzung.) 

Von  deutscher  Seite  hat  man  sich  —  trotz  der  energischen  Zurück- 
weisung unberechtigter  Proteste  —  bemüht^  die  englischen  Interessen  bei 
der  Liquidierung  des  österreichischen  Staates  besonders  zu  berücksichtigen. 
Obwohl  Deutschland  grundsätzlich  die  Rechtsnachfolge  in  die  österreichi- 
schen Staatsschulden  ablehnte  —  und  mit  guten  völkerrechtlichen  Gründen 
ablehnen  konnte  — ,  traf  es  mit  England  besondere  Vereinbarungen,  Die 
Verhandlungen  wurden  von  dem  Wirtschaftsberater  der  britischen  Regie- 
rung, Sir  Frederick  Leith-Ross,  am  23.  Mai  1938  in  Berlin  aufgenommen 
und  führten  zu  einer  vollkommenen  Einigung  und  Unterzeichnung  meh- 
rerer Abkommen  am  1.  Juli  1938. 


Aus  der  Unterhauserklärung  des  britisdien  Schatzkanzlers  53. 

Sir  John  Simon  vom  1.  Juli  1938 

Es  freut  mich,  sagen  zu  können,  daß  die  Delegationen  Englands 
und  Deutschlands,  die  über  eine  Revision  des  englisch-deutschen 
Zahlungsabkommens  unter  Berücksichtigung  der  Eingliederung  Öster- 
reichs in  das  Deutsche  Reich  verhandelt  haben,  heute  zu  einem  Er- 
gebnis gelangt  sind.  Die  Grundlage  dieser  Regelung,  unter  dem  Vor- 
behalt gesetzlicher  Verbindlichkeit,  ist,  daß  die  deutsche  Regierung 
der  Regierung  des  Vereinigten  Königreiches  alle  Beträge  zurückzahlt, 
welche  von  dieser  als  Garantie  für  die  österreichischen  Garantie- 
Anleihen  bezahlt  worden  sind  und  zugleich  den  gesamten  Anleihedienst 
für  die  Obligationen,  die  am  1.  Juli  1938  in  britischen  Händen  waren, 
sicherstellt. 


138 


^^^ 


Deutschland  -  England 


153 


Die  Regelung  bestätigt  außerdem  die  Grundsätze  eines  Abkom- 
mens, das  zwischen  den  deutschen  Vertretern  und  dem  Komitee  der 
Glaubiger  deutscher  langfristiger  Anleihen,  betreffend  die  zukünftigej 
Handhabung    anderer    deutscher    und    österreichischer    langfristiger i 
Schulden,  getroffen  wurde.  Auf  Grund  dieser  Regelung  ist  der  Dienst 
der  nachstehenden  deutschen  und  österreichischen  Anleihen  wie  folgt: 

Für  die  Da wes- Anleihe  und  die  österreichische  siebenprozentige 
Anleihe  von  1930:  je  5  vom  Hundert  Zinsen  und  2  vom  Hundert  kumu- 
lativer Tilgungsfonds, 

Für  die  Young-Anleihe  und  die  Saarbrücken-Anleihe:  4%  vomj 
Hundert  Zinsen  und  1  vom  Hundert  kumulativer  Tilgungsfonds,  be-^ 
ginnend  nach  zwei  Jahren* 

Der  Dienst  der  vierprozentigen  Reichs-Tilgungs* Obligationen  so- 
wie der  österreichischen  Kreditanstalt^Obligationen  wird  für  britische 
Eigentümer  voll  aufrechterhalten. 

Bezüglich  der  übrigen  mittleren  und  langfristigen  Schulden 
Deutschlands  und  Österreichs  wird  eine  zeitweilige  Regelung  getroffen, 
wodurch  während  der  nächsten  beiden  Jahre  Coupons,  Dividenden 
usw.  in  bar  zu  50  vom  Hundert  ihres  Nennwertes  mit  höchstens  vier- 
prozentiger  Verzinsung  gezahlt  werden. 

(E:  Parüamenlary  Debates.  Home  of  Commons.  Bd.  337,  Sp.  2364 f.  —  O: 
Eig&ne  Übersetzung.) 

'  Es  isl  vor  allem  die  anmaßende  Einmigchung  Großbritanniens  in  die 

Neuordnung  der  durch  die  Pariser  Vororherlrage  desorganisierien  miUeU 
europäischen  Verhällnisse  gewesen j  die  das  deulsch-englische  Verhällnis 
im  Jahre  193S  belaslet  hat,  —  Stärker  noch  als  in  der  öslerre ichischen 
Frage  (rat  dies  in  der  hchechoslowakischen  Krise  zutage,  die  im  Mai  1938 
ihren  erslen  Höhepunkt  erreichle.  Die  tschechische  Mobilmachung  vom 
2h  122,  Mai  1938  war  ein  Ereignis^  das  sich  ohne  englische  Ansliftang 
und  Beifiilfe  überhaupt  niemals  halte  ereignen  können.  Deulschland  halte 
damals  allen  Anlaßt  auch  die  geringste  Beunruhigung  zu  vermeiden, 
Konrad  Henlein  halle  noch  am  13,  Mai  in  London  nicht  nur  dem  diplo- 
matischen Ilauplberaler  der  Regierung^  Sir  Robert  Vansittarl,  sondern 
auch  führenden  OpposiUonspolilikerh  wie  Winsion  Churchill  und  Sir 
Archibald  Sinclair  einen  Besuch  abgestattet,  um  sie  über  die  Lage  im 
Sadelenland  zu  informieren.  Die  lange  ausgesetzten  Gemeindewahlen  in 
der  Tschechoslowakei  standen  vor  der  Tür,  und  die  Sudelendeutschen 
hatten  das  größte  Interesse  daran,  daß  sie  nicht  unter  dem  Druck  des 
militärischen  Ausnahmezustandes  staltfanden.  Ein  Bericht  des  bekannten 
französischen  Journalisten  Jules  Sauerwein  über  ein  Telephongespräch 
des  britischen  Geheimdienstes  mit  Prag  am  20.  Mai  hat  später  darüber 
Aufschluß  gegeben,  wo  die  Quelle  der  gefährlichen  Alarmnachricht  über 
angebliche  deutsche  Truppenkonzenlrationen  an  der  tschechischen  Grenze 
tu  suchen  war. 

Rückblickend  kann  es  nicht  wundernehmen,  daß  die  während  des 
ganzen  Sommers  1938  geleisteten  „guten  Dienste^'  der  britischen  Regierung 
zur  Sicherung  eines  erträglichen  Aulonomiestatus  für  die  Sudetendeutschen 


56] Das  Jahr  1938 139 

einen  so  geringen  Erfolg  hauen.  Die  damalige  Prager  Regierung  wußte 
nur  zu  guij  wieweit  sie  die  Ermahnungen  der  Londoner  Regierung  ernst- 
zunehmen  hatte  und  wieweit  nicht.  Es  ist  in  diesem  Zusammenhang  von 
Interesse,  das  persönliche  Urteil  des  tschechoslowakischen  Gesandten  in 
London,  Jan  Masaryk,  über  den  Leiter  der  englischen  Politik  zu  kennen. 

Aus  dem  Beridit  des  tsdiechoslowakisdieii  Gesandten  in  London        54. 
Jan  Masaryk  vom  24.  Februar  1938 

Neville  Ghamberlain  ist  ein  vorsichtiger,  erfahrener,  aber  hundert- 
prozentig parteiischer  Politiker.  Das  Schicksal  der  Konservativen 
Partei  ist  ihm  sakrosankt,  und  damit  die  Partei  keinen  Schaden  erleide, 
ist  er  bereit,  ein  und  manchmal  auch  beide  Augen  vor  einem  nicht 
gerade  sehr  ehrlichen  Vorgehen  zu  schließen.  Ich  will  nicht  sagen, 
Neville  ist  unehrlich.  Im  Gegenteil,  seine  Überzeugung,  er  handle  gut, 
ist  geradezu  rührend  ehrlich.  Er  wuchs  in  der  Birminghamer  Munizipal- 
politik auf,  wo  er  ein  ausgezeichneter  Bürgermeister  war.  Und  seine 
politischen  ,, kleinen  Betrügereien**  sind  eher  von  munizipaler  als  von 
Staats-  und  Reichsgröße.  Ghamberlain  ging  spät  in  die  Politik.  Minister- 
präsident wurde  er  mit  68  Jahren,  auf  den  Kampfplatz  der  Außen- 
politik trat  er  erst  beinahe  70j ährig  mit  der  Überzeugung  von  der 
Heiligkeit  seiner  Sendung,  aber  weder  mit  technischer  noch  mit  fak- 
tischer Schulung  ausgerüstet. 

(Aus  den  Akten  des  tschechoslowakischen  AuOenministeriums.) 

Aus  dem  Beridit  des  tsdiechoslowakischen  Gesandten  in  London       55. 
Jan  Masaryk  vom  26.  September  1938 

Ghamberlain  ist  aufrichtig  überrascht,  daß  wir  eine  Zurückziehung 
des  Militärs  aus  den  Befestigungen  nicht  beabsichtigen.  Ich  betonte, 
daß  gestern  die  Befestigungen  auf  englischen  und  französischen  Rat 
besetzt  wurden  und  daß  wir  sie  heute  nicht  wieder  räumen  können. 
Das  wollte  er  nicht  begreifen.  Es  ist  ein  Unglück,  daß  dieser  dumme, 
uninformierte,  kleine  Mensch  englischer  Premier  ist,  und  ich  bin  über- 
zeugt davon,  daß  er  es  nicht  mehr  lange  sein  wird. 

(Aus  den  Akten  des  tsdiechoslowakischen  AuOenministeriums.) 

Ebenso  isl  es  von  Interesse,  das  Wachsen  der  Kriegsstimmung  in 
England  in  dieser  Zeil  zu  beobachten. 

Aas  dem  Beridit  des  deutsdien  Botsdiafters  in  London  von  Dirksen    56. 

vom  5.  Juli  1938 

In  meinen  Berichten  über  die  Woclienendkrise  und  die  Zeit  danach 
habe  ich  verschiedene  Male  darauf  hingewiesen,  daß  die  englische 


140  Deutschland  -  England  [5G 

Öffentlichkeit  sich  mit  dem  Gedanken  eines  bevorstehenden  Krieges 
vertraut  gemacht  hat.  Ich  habe  insbesondere  in  meinen  Berichten 
über  die  Verstärkung  der  englischen  Luftaufrüstung  und  über  die  in 
Aussicht  genommene  Einführung  der  allgemeinen  Wehrpflicht  zu 
Beginn  eines  Krieges  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  die  englische 
Regierung  Kritik  von  Seiten  der  Öffentlichkeit  nur  in  der  Hinsicht 
erfahren  hat,  daß  die  getroffenen  Maßnahmen  nicht  weit  genug  gingen. 
Wenn  man  weiß,  wie  groß  die  Abneigung  des  einzelnen  Engländers 
gegen  alles  ist,  was  mit  der  allgemeinen  Wehrpflicht  zusammenhängt, 
kann  man  erst  ermessen,  welches  Ausmaß  die  Sorgenpsychose  erreicht 
haben  muß,  um  die  Opposition  gegen  diese  einschneidende  Maßnahme 
völlig  verstummen  zu  lassen. 

Wie  tief  sich  diese  Stimmung  in  Bewußtsein  und  Unterbewußtsein 
des  englischen  Volkes  festgesetzt  hat,  möchte  ich  durch  einige  Beobach- 
tungen erläutern,  die  auf  wirtschaftlichem  Gebiet  gemacht  worden  sind : 

Die  Vertreter  großer  deutscher  Firmen  haben  mich  darauf  auf- 
merksam gemacht,  daß  in  den  letzten  Wochen  die  Auftragserteilung 
für  deutsche  Fabrikate  in  auffälliger  Weise  zurückgegangen  sei.  Die 
Beobachtungen  der  hiesigen  Vertretung  von  Siemens- Schuckert  wäh- 
rend der  letzten  Monate  haben  gezeigt,  daß  ein  merklicher  Rückgang 
der  Aufträge  nach  Deutschland  (etwa  25  v.  H.  geringer  als  normal) 
eingetreten  ist,  der  seine  Begründung  nur  teilweise  in  wirtschaftlichen 
Vorgängen  findet,  für  den  vielmehr  politische  und  stimmungsmäßige 
Momente  weitgehend  verantwortlich  sind.  Von  den  Interessenten,  die 
ihre  Bestellungen  nicht  nach  Deutschland  vergeben  wollen,  werden 
diese  Gründe  mehr  oder  weniger  offen  angegeben.  Dabei  ergibt  sich 
folgendes: 

Aufträge  werden  nicht  mehr  nach  Deutschland  vergeben: 

a)  aus  Furcht  vor  einem  baldigen  Kriege,  dessen  Ausbruch  die 
Lieferung  verhindern  würde; 

b)  aus  Besorgnis,  daß  innerdeutsche  Maßnahmen  die  Lieferanten 
an  der  Lieferung  hindern  könnten; 

c)  aus  einer  Abneigung  gegen  die  deutschen  Exportmethoden  (Aus- 
fuhrförderung), die  man  als  „unfair**  ansieht,  weil  sie  die  eng- 
lische Ware  auf  dem  Binnen-,  aber  auch  auf  dem  Auslands- 
markt bedrängt. 

Als  Begründung  für  die  weitverbreitete  Furcht  vor  dem  baldigen 
Ausbruch  eines  Krieges  (gegen  Deutschland)  führt  man  hier  das  Ver- 
hältnis Deutschlands  zur  Tschechoslowakei  an.  Man  begegnet  häufig 
der  Ansicht,  daß  das  sudetendeutsche  Problem  nur  mit  Gewalt  gelöst 
werden  würde.  Zu  dieser  Auffassung  trägt  die  Tatsache  bei,  daß  Reden 
maßgebender  deutscher  Persönlichkeiten  häufig  nur  unvollständig  und 
entstellt  in  der  britischen  Presse  wiedergegeben  werden.  Es  kommt 
hinzu,  daß  durch  Regierung  und  andere  amtliche  britische  Stellen 
vor  Kriegsgefahr  gewarnt  worden  ist,  allerdings  zu  dem  Zweck, 
den  englischen  Bürger  aus  seiner  Lethargie  zu  wecken  und  ihn  zur 
Beteiligung  an  den  freiwilligen  Schutzverbänden  (Luftschutz,  Frauen- 
hilfsdienst usw.)  aufzurütteln.  Diese  Verbände  müssen  angesichts  des 


56] Das  Jahr  1938 141 

Fehlens  einer  allgemeinen  Dienstpflicht  in  Friedenszeiten  ausschließ- 
lich durch  freiwillige  Beteiligung  gebildet  werden.  Der  Engländer 
beteiligt  sich  erfahrungsgemäß  an  solchen  Einrichtungen  erst  dann 
freiwillig,  wenn  das  Vaterland  in  Gefahr  ist.  Es  mag  daher  für  die 
Durchführung  der  Aufrüstung  und  des  Luftschutzes  nötig  sein,  eine 
solche  Gefahr  an  die  Wand  zu  malen. 

Die  Besorgnis,  daß  innerdeutsche  Maßnahmen  die  Lieferung  ver- 
hindern könnten,  ergibt  sich  aus  der  Tatsache,  daß  Lieferungssperren, 
wie  sie  z.  B.  gegen  die  jüdische  Loewy  Engineering  Co.,  London,  von 
den  maßgebenden  deutschen  Stellen  verhängt  worden  sind,  zur 
Stockung  der  Ausführung  von  Aufträgen  geführt  haben.  Der  Boykott 
•der  Loewy  Engineering  durch  Anweisung  an  deutsche  Industrieunter- 
nehmen ist  in  weiten  Kreisen  bekannt.  Die  für  die  englische  Mentalität 
unverständliche  Tatsache,  daß  solche  Maßnahmen  getroffen  werden 
können,  erweckt  Mißtrauen  und  führt  zu  Zurückhaltung  bei  Bestel- 
lungen nach  Deutschland. 

Die  in  den  letzten  Monaten  besonders  intensiv  gewesene  — 
und  noch  andauernde  —  Propaganda  gegen  die  deutschen  Export- 
förderungsmethoden wird  nicht  nur  von  der  „Buy  British"-Bewegung 
in  England  geschickt  ausgenutzt,  sondern  die  Industrie,  z.  B.  die  Auto- 
industrie, benutzt  diese  Propaganda,  um  Deutschland  auch  für  den 
Rückgang  des  englischen  Ausfuhrgeschäftes  und  für  andere  Vorgänge, 
z.  B.  für  Arbeiterentlassungen  in  englischen  Autofabriken,  verantwort- 
lich zu  machen.  Dabei  wird  letzthin  auch  auf  die  angebliche  steigende 
Ausfuhr  „subsidierter"  deutscher  Waren  nach  den  Empire-Ländern 
verwiesen,  wodurch  die  englische  Industrie  „schwer"  geschädigt  würde. 
Dies  Argument  ist  zugkraftig,  weil  der  Engländer  —  obwohl  er  es  nicht 
gern  zugibt  — ,  instinktiv  fühlt,  daß  sein  Einfluß  in  den  Dominien 
nicht  mehr  sehr  stark  ist.  Für  die  deutsche  Gegenpropaganda  ist  es 
besonders  schwierig,  mit  Vemunftgründen  gegen  diese  gefühlsmäßigen 
Reaktionen  anzugehen. 

In  diesem  Zusammenhang  verdient  auch  die  englische  Propaganda 
gegen  das  wirtschaftliche  Vordringen  Deutschlands  auf  dem  Balkan 
und  im  Nahen  Orient  Erwähnung.  Im  Zusammenhang  mit  dem  eng- 
lisch-türkischen Kreditabkommen  ist  weiten  Kreisen  klargeworden, 
daß  diese  Abkommen  eine  Spitze  gegen  den  deutschen  Handel  haben. 
So  verlautet  z.  B.  hier,  daß  Deutschland  türkisches  „Chromerz**  in 
Zukunft  nur  noch  über  die  Anglo-Turkish  Commodities  Ltd.,  d.  h. 
nur  mit  englischer  Genehmigung  wird  beziehen  können.  (Hierüber  soll 
in  Berlin  ein  Bericht  unserer  Botschaft  in  Ankara  vorliegen,  der  hier 
noch  nicht  bekannt  ist.) 

Bisher  bestellte  das  britische  War-Office  Pharmazeutica  für  die 
Armee  in  großem  Umfange  in  Deutschland.  Wie  ich  von  der  Vertretung 
der  I.  G.  Farbenindustrie  höre,  werden  diese  Bestellungen  mehr  und 
mehr  nach  den  USA.  verlegt,  obwohl  hier  sehr  wohl  bekannt  ist,  daß 
diese  Erzeugnisse  qualitativ  schlechter  sind.  Diese  Verlegung  der 
Bezüge  wird  begründet  mit  der  Möglichkeit,  daß  ein  ausbrechender 
Krieg  weitere  Bezüge  aus  Deutschland  immöglich  machen  würde. 


H2 


Deutschland  -  i^ngland 


Das  deutsche  Reipeverkehrsbüro  sowie  die  Firma  Th.  Cook  haben 
mitgeteilt,  daO  seit  Pfingsten  der  englische  Reiseverkehr  nach  Deutsch- 
land um  60  V.  H.,  stellenweise  um  75  v.  H.  zurückgegangen  sei.  Ins- 
besondere besuchen  viele  Engländer  Österreich  nicht  mehr,  weil  sie 
befürchten,  im  Falle  eines  ausbrechenden  Krieges  von  der  Heimat 
abgeschnitten  zu  sein. 

Die  großen  englischen  Reisebüros  bestellten  bis  vor  kurzem  häufig 
bei  der  deutschen  Reichsbahn  Sonderzüge  für  die  von  ihnen  veran- 
stalteten Wochenendfahrten.  Bei  einer  Ausschreibung  an  die  interes- 
sierten Büros  in  den  letzten  Tagen  ergab  sich,  daß  die  Mindestbetei- 
Hgung  (300  Personen)  auch  nicht  entfernt  erreicht  wurde.  Es  meldeten 
sich  auf  allen  Büros  zusammen  14  Teilnehmer, 

F^in  Mitglied  meiner  Behörde,  das  vor  kurzem  hierher  versetzt 
worden  ist  und  eine  Wohnung  sucht,  hat  mir  gemeldet,  daO  in  zwei 
Fällen  aussichtsreiche  Verhandlungen  über  Miete  eines  Hauses  ab- 
gebrochen worden  seien,  als  die  Hauseigentümer  (Inhaber  der  lease) 
erfuhren,  daß  der  Mieter  Deutscher  ist-  Der  Leiter  einer  Immobilien- 
Maklerfirma  hat  die  Frau  dieses  Botschaftsmitgliedes  offen  gefragt: 
,,Was  tun  Sie  denn  mit  dem  Haus,  wenn  ein  Krieg  ausbricht?** 
(Aus  den  Aictcn  de&  Auswärtigen  Amtes,) 

Am  26.  Juli  1938  kündiffle  Chamberlain  in  seiner  ü nterhausrede 
die  Entsendung  oon  Lord  Baneiman  nach  Prag  als  ^, unabhängigen  Be- 
obachter und  Vermitiler''  an.  Er  beschloß  diese  Hede  mit  optimistischen 
Ausführungen  über  die  Möglichkeit  einer  deutsch-englischen  Verständi- 
gung nach  einer  friedlichen  Regelung  der  tschechoslowakischen  Frage, 
wobei  er  zwar  die  deutschen  Vorleistungen  für  diese  Verständigung  an- 
erkannte, sich  über  einen  englischen  Beitrag  dazu  aber  wiederum  aus- 
schwieg. 


57.  Aus  der  Unterhausrede  des  briliedien  Premierminislers  Chamberlain 

vom  26.  Juli  1938 


Weim  wir  nur  für  diese  tschechoslowakisctie  Frage  eine  friedliche 
Lösung  finden  können,  so  \Ä.iirdc  ich  persönlich  glauben,  daü  der  Weg 
für  neue  Bemühungen  um  eine  allgemeine  Befriedung  frei  ist,  eine 
Befriedung,  die  nicht  erreicht  werden  kann,  bevor  wir  nicht  die  Ge- 
wiOheit  haben,  daß  kein  größerer  Fall  von  Meinungsverschiedenheiten 
oder  Streitigkeiten  unerledigt  geblieben  ist.  Wir  haben  bereits  fak- 
tisch bewiesen,  daß  zwischen  einem  demokratischen  und  einem  tota- 
litären Staat  ein  vollständiges  Abkommen  möglich  ist,  und  ich  kann 
persönlich  keinen  Grund  sehen,  warum  dieser  Versuch  nicht  wiederholt 
werden  soll.  Als  Herr  Hitler  einen  Flottenvertrag  anbot,  nach  dem  die 
deutsche  Flotte  auf  ein  gegenseitig  vereinbartes  Niveau  beschränkt 
werden  sollte,  das  sich  in  einem  fest  bestimmten  Verhältnis  zur  Größe* 
zur  britischen  Flotte  hält,  machte  er  eine  bemerkenswerte  Geste  von 


58] 


Das  Jahr  1938 


143 


außerordentlich  praktischer  Bedeutung  für  den  Frieden «  und  es  scheint 
mir,  daO  die  Bedeutung  dieser  Geste  als  einer  auf  diese  allgemeine 
Befriedung  abzielenden  Handlung  nicht  immer  voll  anerkannt  worden 
ist.  Dieser  Vertrag  besteht  nun  als  ein  Beweis  dafür,  daß  es  zwischen 
Deutschland  und  uns  möglich  ist,  in  einer  für  uns  beide  lebenswichtigen 
Angelegenheit  zu  einer  Verständigung  zu  gelangen.  Und  weil  wir  uns 
bereits  über  diesen  Punkt  verständigt  haben,  sollten  wir  es  nach  meiner 
^sicht  nicht  für  unmöglich  halten,  unsere  Bemühungen  um  eine 
Verständigung  fortzusetzen,  Bemühungen,  die,  wenn  sie  erfolgreich 
wären,  in  so  hohem  MaOe  dazu  beitragen  würden,  das  Vertrauen 
wiederherzustellen. 

(E:  Parliameatary  Debates.  House  o(  Coramons.  Bd,  338,  Sp.  296^»'  — 
D:  Monütshefie  für  Auswürüge  Politik«  1938,  S.  856 f.] 

Während  die  Mission  Lord  Runcimans  ohne  jedes  praküsche  Er- 
gebnis blieb,  spilzien  sich  die  Verhäilnisse  im  Sudetengebiet  immer  mehr 
zü.  Auf  dem  Nürnberger  Parteitag  nahm  der  Füfirer  in  grundsätztichen 
Ausführungen  zu  dem  sudetendeulschen  Problem  Siettung.  Auch  in  dieser 
Bede  wurde  wiederum  deutlich^  wie  er  jedes  einzctne  Problem  Mittel- 
europas  stets  im  Zusammenhang  mit  einer  neuen  europaischen  Friedens* 
Ordnung  sah,  die  sich  nach  seiner  Meinung  auf  der  Versldndigung  mit 
den  Westmüchten  und  insbesondere  mit  England  aufbauen  mußte. 


Aus  der  Schlußrede  des  Führers  auf  dem  ersten  Reichsparteitag; 
Großdeutsdilands  in  Nürnberg  vom  12.  September  1938 


58. 


Der  nationalsozialistische  Staat  hat  um  des  europäischen  Friedens 
willeo  sehr  schwere  Opfer  auf  sich  genommen^  und  zwar  sehr  schwere 
natioiiale  Opfer.  Er  hat  jeden  sogenannten  lievanchegedanken  nicht 
nur  nicht  gepflegt,  sondern  im  Gegenteil  aus  dem  gesamten  öffentlichen 
und  privaten  Leben  verbaunL 

Im  Laufe  des  17.  Jahrhunderts  hat  Frankreich  das  Elsaß  und 
Lothringen  dem  alten  Deutschen  Reich  mitten  im  tiefsten  Frieden 
langsam  genommen,  1870/1871  hat  Deutschland  nach  einem  schweren 
Krieg,  der  ihm  aufgezwungen  war,  diese  Gebiete  zurückgefordert  und 
erhalten.  Nach  dem  groüen  Weltkrieg  gingen  sie  w^ieder  verloren. 

Für  uns  Deutsche  bedeutete  das  StraDburger  Münster  sehr  viel. 
Wenn  wir  trotzdem  hier  einen  endgültigen  Strich  gezogen  haben,  dann 
geschah  es,  um  dem  europäischen  Frieden  für  die  Zukunft  einen  Dienst 
zu  erweisen.  Es  konnte  uns  niemand  zwingen,  solche  Revisionsansprüche 
freiwilüg  aufzugeben,  wenn  wir  sie  nicht  aufgeben  wollten! 

Wir  haben  sie  aufgegeben,  weil  es  unser  Wille  war,  den  ewigen 
Streit  mit  Frankreich  einmal  für  immer  zu  beenden. 

Auch  an  anderen  Grenzen  hat  das  Reich  dieselben  entschlossenen 
Maßnahmen  verfügt  und  die  gleiche  Haltung  eingenommen.  Der  Na- 
tionalsozialismus ist  hier  wirklich  von  höchstem  Verantwortungs- 
bewußtsein getragen  vorgegangen. 


144  Deutschland  -  England  [58 

Wir  haben  die  schwersten  Opfer  an  Verzichten  freiwillig  auf  uns 
genommen,  um  Europa  für  die  Zukunft  den  Frieden  zu  erhalten  imd 
vor  allem  der  Völkerversöhnung  von  uns  aus  den  Weg  zu  ebnen. 

Wir  haben  dabei  mehr  als  loyal  gehandelt.  Weder  in  der  Presse 
noch  im  Film  oder  auf  der  Bühne  ist  eine  diesem  Entschluß  entgegen- 
stehende Propaganda  gemacht  worden.  Nicht  einmal  in  der  Literatur 
wurde  eine  Ausnahme  geduldet. 

Ich  habe  aus  diesem  selben  Geiste  heraus  Angebote  gemacht  zur 
Lösung  europäischer  Spannungen,  die  einer  Ablehnung  verfielen  aus 
Gründen,  die  uns  heute  noch  unverständlich  sind.  Wir  haben  selbst 
unsere  Macht  auf  einem  wichtigen  Gebiete  freiwillig  begrenzt,  in  der 
Hoffnung,  mit  dem  in  Frage  kommenden  Staat  niemals  mehr  die 
Waffen  kreuzen  zu  müssen. 

Dies  ist  nicht  geschehen,  weil  wir  etwa  nicht  mehr  als  35  v.  H. 
Schiffe  würden  bauen  können,  sondern  es  geschah,  um  einen  Beitrag 
zur  endgültigen  Entspannung  und  Befriedung  der  europäischen  Lage 
zu  geben. 

Da  in  Polen  ein  großer  Patriot  und  Staatsmann  bereit  war,  mit 
Deutschland  einen  Akkord  zu  schließen,  sind  wir  sofort  darauf  ein- 
gegangen und  haben  eine  Abmachung  getätigt,  die  für  den  europäischen 
Frieden  mehr  bedeutet  als  alle  Redereien  im  Genfer  Völkerbunds- 
tempel zusammengenommen. 

Deutschland  hat  nach  vielen  Seiten  hin  vollständig  befriedigte 
Grenzen  und  es  ist  entschlossen,  und  es  hat  dies  versichert,  diese 
Grenzen  nunmehr  als  unabänderlich  und  endgültig  hinzunehmen  und 
anzunehmen,  um  damit  Europa  das  Gefühl  der  Sicherheit  und  des 
Friedens  zu  geben.  Diese  Selbstbegrenzung  und  Selbstbeschränkung 
ist  aber  anscheinend  von  vielen  nur  als  eine  Schwäche  Deutschlands 
ausgelegt  worden. 

Ich  möchte  deshalb  heute  diesen  Irrtum  hier  richtigstellen: 

Ich  glaube,  es  kann  dem  europäischen  Frieden  nicht  nützen,  wenn 
darüber  ein  Zweifel  besteht,  daß  das  Deutsche  Reich  nicht  gewillt  ist, 
deshalb  nun  überhaupt  sein  Desinteressement  an  allen  europäischen 
Fragen  auszusprechen,  und  insonderheit,  daß  Deutschland  nicht  bereit 
ist,  dem  Leid  und  Leben  einer  Summe  von  3^  Millionen  Volksgenossen 
gegenüber  gleichgültig  zu  sein  und  an  ihrem  Unglück  keinen  Anteil 
mehr  zu  nehmen. 

Wir  verstehen  es,  wenn  England  oder  Frankreich  ihre  Interessen 
in  einer  ganzen  Welt  vertreten.  Ich  möchte  aber  hier  den  Staats- 
männern in  Paris  und  London  versichern,  daß  es  auch  deutsche  In- 
teressen gibt,  die  wir  entschlossen  sind  wahrzunehmen,  und  zwar  unter 
allen  Umständen. 

Ich  möchte  sie  dabei  erinnern  an  eine  Reichstagsrede  vom  Jahre 
1933,  in  der  ich  zum  ersten  Male  vor  der  Welt  feststellte,  daß  es 
nationale  Fragen  geben  kann,  in  denen  unser  Weg  klar  vorgezeichnet 
ist,  daß  ich  dann  jede  Not  und  jede  Gefahr  und  jede  Drangsal  lieber 
auf  mich  nehmen  werde,  als  von  der  Erfüllung  solcher  Notwendigkeiten 
abzustehen. 


61] Das  Jahr  1938 145 

Kein  europäischer  Staat  hat  für  den  Frieden  mehr  getan  als 
Deutschland!  Keiner  hat  größere  Opfer  gebracht! 
(DNB.  vom  13.  September  1938.) 

Alle  Reden  und  Schrifhlücke,  die  im  Verlaufe  der  Seplember-Krise 
gewechselt  wurden^  sind  neben  der  sudelendeulschen  Frage  immer  wieder 
von  der  größeren  deulsch-englischen  Frage  beslimml. 

Mitteilung  des  britisdien  Premierministers  Chamberlain  an  den        59. 
Führer  und  Reidiskanzler  vom  14.  September  1938 

Im  Hinblick  auf  die  zunehmende  kritische  Lage  schlage  ich  vor, 
sofort  zu  Ihnen  herüberzukommen,  um  zu  versuchen,  eine  friedUche 
Lösung  zu  finden.  Ich  schlage  vor,  auf  dem  Luftwege  zu  kommen  und 
bin  morgen  zur  Abreise  bereit. 

Teilen  Sie  mir  bitte  den  frühesten  Zeitpunkt  mit,  zu  dem  Sie  mich 
empfangen  können,  und  geben  Sie  mir  den  Ort  der  Zusammenkunft 
an.  Ich  wäre  für  eine  sehr  baldige  Antwort  dankbar. 

Neville  Chamberlain. 
(DNB.  vom  14.  September  1938.) 


Amtliche  dentsdie  Verlantbarnng  vom  15.  September  1938  60. 

Berchtesgaden,  15.  September.  Der  Führer  und  Reichskanzler 
hatte  am  Donnerstag  auf  dem  Obersalzberg  mit  dem  britischen 
Premierminister  eine  Besprechung,  in  deren  Verlauf  ein  umfassender 
und  offener  Meinungsaustausch  über  die  gegenwärtige  Lage  stattfand. 

Der  britische  Premierminister  fährt  am  Freitag  nach  England 
zurück,  um  sich  mit  dem  britischen  Kabinett  zu  beraten.  In  einigen 
Tagen  findet  eine  neue  Besprechung  statt. 
(DNB.  vom  16.  September  1938.) 


Aufzeichnung  über  die  Unterredung  des  Führers  mit  dem  britisdien    61. 
Premierminister  Chamberlain  auf  dem  Obersalzberg 
vom  15.  September  1938 

Der  Führer  sagte:  „Grundsätzlich  könne  er  erklären,  daß  er 
seit  seiner  Jugend  den  Gedanken  einer  deutsch-engiischen  Zusammen- 
arbeit gehabt  habe.  Der  Krieg  sei  für  ihn  eine  schwere,  innere,  seelische 
Erschütterung  gewesen.  Er  habe  aber  nach  1918  stets  den  Gedanken 
an  die  deutsch-englische  Freundschaft  vor  Augen  gehabt.  Der  Grund, 
weshalb  er  derartig  für  diese  Freundschaft  eingetreten  sei,  liege  darin, 
daß  er  seit  seinem  19.  Lebensjahr  gewisse  Rasseideale  in  sich  selbst 
entwickelt  habe,  die  ihn  dazu  veranlaßt  hätten,  sofort  nach  dem  Ende 

Deutfchland-Eiurland  10 


1« 


Dduischland  -  England 


[62 


des  Krieges  grtiDd^izIich  die  Annäherung  beider  Völker  wieder  als 
eins  seiner  Ziele  ins  Auge  zu  fassen.  Er  müsse  zugeben,  daß  in  den 
letzten  Jahren  dieser  idealistische  Glaube  an  die  deutsch-englische 
Rassengemeinschaft  sehr  schwere  Schläge  erlitten  habe.  Er  würde  sich 
jedoch  glücklich  schätzen,  wenn  es  in  letzter  Stunde  geliitge^  die  ge- 
samte politische  Entwicklung  trotz  allem  wieder  in  den  Rahmen  der 
Gedankengänge  zurückzuführen,  die  er  seit  anderthalb  Jahrzehnten 
immer  wieder  in  seinen  Reden  und  Schriften  verfochten  habe.** 
(Aus  deD  Akten  des  Auswärtigen  Amtes.) 


Erklärung  des  britischen  PremierminiBters  Chamberlain  oadi  seiner 
Wiederankunft  in  London  vom  16.  September  1938 

Ich  bin  schneller  wieder  zurückgekehrt,  als  ich  angenommen  hatte. 
Ich  hätte  die  Reise  genießen  können,  wenn  ich  nicht  zu  beschäftigt 
gewesen  wäre. 

Gestern  nachmittag  habe  ich  eine  lange  Unterredung  mit  Herrn 
Hitler  gehabt.  Es  war  eine  offene,  aber  freundschaftliche  Aussprache, 
und  ich  bin  darüber  zufrieden,  daß  jeder  von  uns  jetzt  voll  versteht, 
was  der  andere  meint. 

Sie  werden  natürlich  nicht  von  mir  erwarten,  daß  ich  mich  Jetzt 
über  das  Ergebnis  dieser  Unterredung  äußere.  Alles,  was  ich  jetzt  zu 
tun  habe,  ist,  mit  meinen  Kollegen  Rücksprache  zu  nehmen,  und  ich 
gebe  den  Rat,  nicht  voreilig  einen  unautorisierten  Bericht  dessen,  was 
sich  in  der  Unterredung  abgespielt  hat,  als  wahr  hinzunehmen. 

Ich  werde  heute  abend  mit  meinen  Kollegen  und  anderen,  beson- 
ders mit  Lord  Ruociman,  die  Unterredung  erörtern. 

Später,  vielleicht  in  einigen  wenigen  Tagen,  werde  ich  eine  weitere 

Aussprache  mit  Herrn  Hitler  haben.  Dieses  Mal  aber,  so  hat  er  mir 

gesagt,  beabsichtigt  er,   mir  auf  halbem  Wege  entgegenzukommen. 

Herr  Hitler  wünscht,  einem  alten  Mann  eine  so  lange  Reise  zu  ersparen. 

(DNB.  vom  17.  Sftptember  193d.) 

Die  zweite  Begegnung  zwischen  dem  Fährer  und  Chamberlain,  die 
am  22,12S.  September  in  Godesberg  slaitfand,  war  wiederum  durch  Begteit- 
umstände  gekennzeichnet,  die  für  die  Geschichte  der  deutsch-englischen 
Beziehungen  nur  allzu  bezeichnend  sind.  Während  nämlich  die  Bespre- 
chungen in  Godesberg  noch  im  Gange  waren  —  sie  endeten  bekannilich 
am  24.  um  L30  Uhr  nachts,  ohne  bereits  eine  Entscheidung  nach  der  einen 
oder  anderen  Seile  zu  bringen  —  wurde  in  Prag  am  23,  September  um 
20  Uhr  der  Mobilmachungsbeschluß  gefaßt  und  um  22,20  Uhr  über  den 
Prager  Sender  bekanntgegeben.  Man  hat  später  aus  englischer  Quelle  er- 
fahren, daß  die  tschechische  Regierung  vorher  in  London  angefragt  hatte. 
Im  Foreign  Office  habe  man  daraufhin,  so  berichtete  die  ,, Times**,  die 
Meinung  gefaßt,  daß  England  dem  tschechischen  Drängen  auf  Mobil- 
machung nicht  weiter  widerstehen  könne,  wenn  man  nicht  die  moralische 
Verantwortung  dafür  auf  sich  nehmen  wolle,  daß  man  dann  den  Tschechen 


63] 


Da»  Jahr  1938 


147 


bewaffnete  Hilfe  gewähren  müsse,  wenn  es  zu  einem  deutschen  Einmarsch 
käme.  Das  heißt:  England  konnte  weder  einen  Rat  für  noch  gegen  die 
Mob itis  ieru ng  erle ilen . 

Aber  die  englische  Regierung  habe  hinzugefügt,  die  Mobilisierung 
gehe  aliein  auf  tschechische  Verantwortung,  sie  habe  ferner  eine  Warnung 
00 r  den  ernsten  Konsequenzen  hinzugefügt.  Dieser  Meinungsaustausch 
der  Tschechen  mit  dem  Foreign  Office  und  der  Schritt  des  englischen 
Gesandten  in  Prag  haben  demnach  ohne  Wissen  Chamberlains  stall- 
gefunden.  Außerdem  habe  weder  das  Foreign  Office  noch  die  Prager 
Regierung  zu  diesem  Zeitpunkt  Kenntnis  davon  gehabt ^  was  zwischen 
Chambertüin  und  dem  Führer  tmr  sich  ging. 

Die  Bestimmungen  der  Vorschläge  Hitlers  seien  im  Foreign  Office 
noch  nicht  bekannt  gewesen^  als  dort  die  Nachricht  üon  dem  endgültigen 
Beschluß  der  Tschechen  eingetroffen  sei,  mobil  zu  machen, 

„Es  ist  daher  eoidenV',  so  schließt  die  ,,Times'^  ihre  sorgfältigen 
Untersuchungen,  daß  diese  Entscheidung  nicht  nur  ohne  das  Anraten 
und  die  Zustimmung,  sondern  auch  sogar  oime  Wissen  der  engtischen 
Regierung  getroffen  wurde,*' 

Die  merkwürdige  Haltung  des  Foreign  Office,  das  hier  hinter  dem 
Rücl\-en  des  Regierungschefs  in  unverantwortlicher  Weise  eine  selbständige 
Politik  machte  und  mit  seiner  zweideutigen  Erklärung  den  Weg  für  die 
tschechische  Mobilmachung  und  damit  für  die  letzte  VerscJiärfung  der 
Krise  freigab,  konnte  nicht  dazu  angetan  sein,  das  deutsche  Vertrauen 
in  die  Absichten  und  Methoden  der  britischen  Politik  zu  erhöhen.  Es 
zeigte  sich  auch  hier  wieder,  daß  die  britische  Politik  einen  doppelten 
Boden  tialte.  Hinter  Chamberlain  und  seinen  Friedens  Proklamationen 
stand  jederzeit  aktionsbereit,  auf  die  erste  Gelegenheit  wartend,  jene  unuer- 
aöhnliche  Gruppe  von  Kriegspolitikern,  die  den  Konflikt  nicht  schneit 
genug  auf  die  Spitze  getrieben  sehen  konnte.  Trotz  dieser  abermaligen, 
zu  höchstem  Mißtrauen  Ijerechtigenden  Erfahrungen  nutzte  der  Fütirer 
auch  die  letzte  Möglichkeit  einer  friedlichen  Lösung  der  sudetendeutschen 
Frage.  Nachdem  er  im  Augenblick  der  höchsten  Spannung,  in  der  Sport- 
palast'Rede  vom  26,  September,  noch  einmal  auf  die  prinzipiellen  Vor- 
ausseizungen  der  deutsch-englischen  Zusammenarbeit  hingewiesen  hatte^ 
brachte  die  Münchener  Konferenz  in  der  Tat  ein  Ergebnis,  das  über  die 
Lösung  der  aktuellen  Krise  hinauszuweisen  schien:  die  deutsch-englische 
Friedenserklärung  vom  SO,  September, 


Ana  der  Rede  des  Führers  Lm  Berliner  Sportpalast 
vom  26.  September  1938 


63, 


Ich  habe  in  dieser  Zeit  nun  versucht,  auch  mit  den  anderen  Nationen 
allmähhch  gute  und  dauerhafte  Verhültnisse  herbeizuführen. 

Wir  haben  GaraniieD  gegeben  für  die  Staaten  im  Westen  und  allen 
unseren  Anrainern  die  Unversehrtheit  ihres  Gebietes  von  Deutschland 
aus  zugesichert.  Das  ist  keine  Phrase.  Es  ist  das  unser  heiliger  Wille. 
Wir  haben  gar  kein  Interesse  daran,  den  Frieden  zu  brechen. 


148  DcoUefatand  -  Eociaad  ;m 

Di««  deutschen  ADsr^bot*  «tieCen  auoh  auf  wauhiecdeä  Verstand- 
Dia.  Allzndhüch  lös«n  sich  imm«*r  mehr  Völker  von  jener  vahnsinnigen 
Genfer  VerLiendane.  die  —  i-rh  rr.«j.:Lte  sag^n  —  nicht  zu  einer  kollek- 
tiven Friedensverpflichtune.  sondern  zu  einer  kollektiven  Krieg5\'er- 
pflichtung  ^Tirde.  Sie  lösen  «izh  davon  und  binnen,  die  Probleme 
nüchtern  zu  sehen.  ?ie  sind  verständiz^j  res  bereit  und  frxe*Jen2wiUig. 

Ich  bin  weitergegangen  und  habe  England  die  Hand  geboten! 
Ich  habe  freiwillig  darauf  verzichtet.  j'^maU  wie«i»rr  in  eine  Flotten- 
konkurrenz  einzutreten,  um  dem  Bntiä«:hen  Reich  das  Gefühl  der 
Sicheriie«t  zu  g^ben.  Ich  habe  das  ni>;ht  etwa  getan,  weil  ich  nicht 
mehr  würde  bauen  können,  darüber  soll  man  sich  keiner  Täuschung 
hingeben«  sondern  aussrhlieOli>:h  aus  dem  Grund,  um  zwischen  den 
beiden  Völkern  einen  dauerhaften  Frieden  zu  sichern. 

Freilich,  eines  ist  huf'r  Voraussetzung:  Es  geht  nicht  an,  daß  der 
eine  Teil  sagt:  ..Ich  will  mit  dir  nie  wieder  Krieg  führen,  und  zu  diesem 
Zweck  biete  ich  dir  eine  freiwillige  Begrenzung  meiner  Waffen  auf 
35  V.  H.  an"  —  der  andere  Teil  aber  erklärt:  „Wenn  es  mir  paOt, 
werde  ich  von  Zeit  zu  Zeit  schon  wieder  Krieg  führen."  Das  geht  nicht! 

Ein  solches  Abkonunen  ist  nur  dann  moralisch  berechtigt,  wenn 
beide  Völker  sich  in  die  Hand  versprechen,  niemals  wieder  miteinander 
Krieg  führen  zu  wollen.  Deutschland  hat  diesen  Willen!  Wir  alle  wollen 
hoffen.  daO  im  englischen  Volk  diejenigen  die  Überhand  bekommen, 
die  des  gleichen  Willens  sind! 
(DNB.  vom  27.  September  1938.* 

64.    Deutsch-englisdie  Erklirang  von  München  vom  30.  September  1938 

Wir  haben  heute  eine  weitere  Besprechung  gehabt  und  sind  uns 
in  der  Erkenntnis  einig.  daC  die  Frage  der  deutsch-englis<*hen  Bezie- 
hungen von  allererster  Bedeutung  für  beide  Länder  und  für  Europa  ist. 

Wir  sehen  das  gestern  abend  unterzeichnete  Abkommen  und  das 
deutsch-englische  Flottenabkommen  als  symbolisch  für  den  Wunsch 
unserer  beiden  Völker  an.  niemals  wieder  gegeneinander  Krieg  zu 
führen. 

Wir  sind  entschlossen,  auch  andere  Fragen,  die  unsere  beiden 
Länder  angehen,  nach  der  Methode  der  Konsultation  zu  behandeln 
und  uns  weiter  zu  bemühen,  etwaige  Ursachen  von  Meinungsverschie- 
denheiten aus  dem  Wege  zu  räumen,  um  auf  diese  Weise  zur  Sicherung 
des  Friedens  Europas  beizutragen. 

30.  September  1938  Adolf  Hitler       Neville  Chamberlain 

:DNB.  vom  30.  September  1938.' 

Was  nach  München  kam,  zeigte  indessen  nur  allzu  schnell^  auM 
welchen  Motiven  das  Einlenken  Chamberlains  geboren  war:  daß  es  einzig 
und  allein  das  Bewußtsein  war,  die  Aufrüstung  noch  nicht  collendd  zu 
haben,  das  ihn  abhielt,  andere  Worte  zu  finden.  Der  damalige  Häsiungz^ 
agent  der  britischen  Regierung,  Lord  Winlerton,  prägte  dafür  die  cAoroIr- 


65] Dag  Jahr  1938 149 

Urisiische  Formulierung^  man  dürfe  von  den  britischen  Staatsmännern 
nicht  verlangen,  daß  sie  mit  einer  auf  dem  Rücken  festgebundenen  Hand 
verhandelten.  Die  Reden  und  Äußerungen  der  britischen  Staatsmänner 
nach  München  zeigen,  daß  mit  diesem  Bilde  der  Geist  der  Münchener 
Vereinbarungen  treffend  beschrieben  war. 

Aus  der  Unterhausrede  des  britischen  Premierministers  Cha^berlain    g5. 
vom  3.  Oktober  1938 

Ich  glaube,  es  gibt  viele,  die  mit  mir  der  Ansicht  sind,  daß  eine 
solche  von  dem  deutschen  Reichskanzler  und  mir  unterzeichnete  Er- 
klärung etwas  mehr  ist  als  nur  eine  fromme  Meinungsäußerung.  In 
unseren  Beziehungen  zu  anderen  Ländern  hängt  alles  davon  ab,  daß 
auf  beiden  Seiten  Aufrichtigkeit  und  guter  Wille  vorhanden  sind.  Ich 
glaube,  daß  hier  Aufrichtigkeit  und  guter  Wille  auf  beiden  Seiten  vor- 
handen sind.  Das  ist  der  Grund,  warum  die  Bedeutung  dieser  Erklärung 
für  mich  weit  über  ihren  tatsächlichen  Wortlaut  hinausgeht.  Wenn  es 
eine  Lehre  gibt,  die  wir  aus  den  Ereignissen  dieser  letzten  Wochen  ziehen 
können,  so  ist  es  die,  daß  ein  dauernder  Friede  nicht  dadurch  erreicht 
werden  kann,  daß  wir  stillsitzen  und  auf  ihn  warten.  Um  ihn  zu  er- 
langen, bedarf  es  aktiver  und  positiver  Bemühungen.  Ich  werde  zweifel- 
los viele  Kritiker  haben,  die  sagen,  daß  ich  mich  eines  leichtfertigen 
Optimismus  schuldig  mache  und  daß  ich  besser  täte,  kein  einziges 
Wort  zu  glauben,  das  von  den  Regierenden  anderer  großer  europäischer 
Staaten  geäußert  wird.  Ich  bin  zu  sehr  Realist,  um  zu  glauben,  daß 
wir  unser  Paradies  in  einem  Tag  erringen.  Wir  haben  nur  den  Grund- 
stein des  Friedens  gelegt.  Mit  dem  Oberbau  ist  noch  nicht  einmal 
begonnen  worden. 

Wir  sind  in  diesem  Land  bereits  während  eines  langen  Zeitraums 
mit  einem  großen  Wiederaufrüstungsprogramm  beschäftigt,  das  in 
Tempo  und  Umfang  ständig  zunimmt.  Niemand  soll  glauben,  daß  wir 
es  uns  infolge  der  Unterzeichnung  des  Münchener  Abkommens  zwischen 
den  vier  Mächten  leisten  können,  unsere  Anstrengungen  im  Hinblick 
auf  dieses  Programm  in  dem  gegenwärtigen  Zeitpunkt  zu  verringern. 
Die  Abrüstung  kann  seitens  dieses  Landes  nie  wieder  eine  einseitige 
sein.  Wir  haben  das  einmal  versucht  und  haben  uns  dabei  fast  ins 
Unglück  gestürzt.  Wenn  die  Abrüstung  kommen  soll,  so  muß  sie  schritt- 
weise kommen,  so  muß  sie  durch  Übereinkommen  und  die  aktive  Mit- 
arbeit anderer  Länder  kommen.  Und  bis  wir  dieser  Mitarbeit  sicher 
sind,  bis  wir  uns  über  die  tatsächlich  zu  unternehmenden  Schritte 
geeinigt  haben,  müssen  wir  auf  unserer  Hut  bleiben. . . 

Und  während  wir  erneut  entschlossen  sein  müssen,  die  Lücken 
in  unseren  Rüstungen  und  in  unseren  Verteidigungsmaßnahmen  zu 
schHeßen,  um  zu  unserer  Verteidigung  bereit  zu  sein  und  unserer 
Diplomatie  Wirksamkeit  zu  verleihen  —  ich  bin  Realist  — ,  so  sage 
ich  nichtsdestoweniger  mit  dem  gleichen  Sinn  für  Realitäten,  daß  ich 
in  der  Tat  neue  Gelegenheiten  zur  Inangriffnahme  dieser  vor  uns 


liegenden  Abrüstungsfrage  sehe,  und  ich  glaube,  daß  sie  heute  zum 
mindesten  ebenso  aussichtsreich  sind,  wie  sie  es  jemals  zu  irgendeiner 
früheren  Zeit  waren. 

(E:   Parliamentary  Debates.  Hous«  of  Commons.  Bd.  359,  Sp.   49 f.   — 
MonaUhefte  für  Auswärtige  Politik,  1938»  S.  i091  f.) 

Die  freundschafilkhe  Atmosphäre  von  München  war  durch  diese 
Rüsiungsrede  Chamberlains  rasch  wieder  verflogen.  Eine  entsprechende 
deutsche  Antwort  konnte  nicht  ausbleiben:  der  Führer  gab  sie  in  seiner 
Saarbrückener  Bede  vom  9,  Oktober. 


Rede  des  Führers  in  Saarbrücken  vom  9.  Oktober  1938 


Am  Beginn  dieses  20.  Jahres  nach  unserem  Zusammenbruch  habe 
ich  den  Entschluß  gefaßt,  die  zehn  Millionen  Deutschen,  die  noch  außer- 
halb unserer  Grenzen  standen»  zurückzuführen  in  das  Reich.  Ich  war 
mir  dabei  vollkommen  bewußt,  daß  diese  Rückkehr  nur  durch  unsere 
eigene  Kraft  erzwungen  werden  konnte. 

Die  andere  Welt  hat  es  weder  gesehen  noch  sehen  wollen,  daß  hier 
im  Gegensatz  zum  sogenannten  Seibstbestimmungsrecht  der  Völker 
zehn  Millionen  Menschen  vom  Deutschen  Reich  getrennt  und  wegen 
ihres  Deutschtums  unterdrückt  wurden.  Und  sie  hat  es  weder  ver- 
standen noch  verstehen  wollen,  daß  diese  Menschen  nur  eine  einzige 
große  Sehnsucht  hatten:  zurück  zum  Reich! 

Diese  internationalen  Weltbürger,  die  zwar  Mitleid  mit  jedem 
Verbrecher  haben,  der  in  Deutschland  zur  Rechenschaft  gezogen  wird, 
waren  taub  gegen  das  Leid  von  zehn  Millionen  Deutschen!  Auch  heute 
noch  ist  diese  Welt  erfüllt  vom  Geist  von  Versailles.  Man  sage  uns 
nichl^  daß  sie  sich  davon  gelöst  hat.  Nein:  Deutschland  hat  sich  von 
ihm  gelöst! 

Es  mußte  ein  harter  Entschluß  getroffen  werden.  Es  hat  auch  bei 
uns  Schwächlinge  gegeben,  die  das  vielleicht  nicht  verstanden  hatten. 
Allein  es  ist  selbstverständlich,  daß  es  zu  allen  Zeiten  die  Ehre  \^irk- 
licher  Staatsmänner  war,  eine  solche  Verantwortung  zu  übernehmen. 

Eine  Reihe  von  Voraussetzungen  war  notwendig,  um  diese  Lösung 
herbeizuführen: 

Erstens:  Die  innere  Geschlossenheit  der  Nation,  Ich  war  bei 
meinem  Entschluß  davon  überzeugt,  daß  ich  der  Führer  eines  mann- 
haften Volkes  bin.  Ich  weiß,  was  vielleicht  viele  in  der  übrigen  Welt 
und  einzelne  auch  in  Deutschland  noch  nicht  zu  wissen  scheinen,  daß 
das  Volk  des  Jahres  1938  nicht  das  Volk  von  1918  ist. 

Niemand  kann  die  gewaltige  Erziehungsarbeit  übersehen,  die 
unsere  Weltanschauung  geleistet  hat.  Heute  ist  eine  Volksgemeinschaft 
entstanden  von  einer  Kraft  und  einer  Stärke,  wie  Deutschland  sie 
noch  nie  gekannt  hat.  Dies  war  die  erste  Voraussetzung  zum  Gelingen 
eines  solchen  Kampfes. 

Die  zweite  war  die  nationale  Rüstung,  für  die  ich  mich  nun  seit 


6e) 


Das  Jahr  J938 


151 


bald  sechs  Jahren  fanatisch  e''nge&etzt  habe.  Ich  bin  der  Meinung, 
daß  es  billiger  ist»  sich  vor  den  Ereignissen  zu  rüsten,  als  ungerüstet 
den  Ereignissen  zu  erliegen  ynd  dann  Tribute  zu  bezahlen. 

Die  dritte  Voraussetzung  war  die  Sicherung  des  Reiches.  Ihr  seid 
ja  selbst  hier  Zeugen  einer  gewaltigen  Arbeit,  die  sich  in  eurer  nächsten 
Nahe  vollzieht.  Ich  brauche  euch  darüber  nichts  im  einzelnen  zu  sagen. 
Nur  eine  Überzeugung  spreche  ich  aus,  daß  es  keiner  Macht  der  Welt 
gelingen  wird,  jemals  diese  Mauer  zu  durchstoßen. 

Und  viertens:  Wir  haben  auch  außenpolitische  Freunde  gewonnen. 
Jene  Achse,  über  die  man  in  anderen  Ländern  manchmal  glaubte 
spotten  zu  können,  hat  sich  in  den  letzten  zweieinhalb  Jahren  nicht 
nur  als  dauerhaft  ervviesen,  sondern  gezeigt,  daß  sie  auch  io  schlimmsten 
Stunden  Bestand  hat. 

Wir  sind  glücklich,  daß  dieses  Werk  des  Jahres  1938,  die  Wieder- 
eingliederung von  zehn  Millionen  Deutschen  und  von  rund  110  000 
Ouadratkilometcrn  Land  in  das  Reich  ohne  Blutvergießen  vollzogen 
werden  konnte  trotz  der  Hoffnungen  so  vieler  internationaler  Hetzer 
und  Profitmacher. 

Wenn  ich  die  Mitarbeit  der  anderen  Welt  an  dieser  Friedenslösung 
erwähne,  dann  muß  ich  zuerst  immer  wieder  von  dem  einzigen  wahren 
Freund  sprechen,  den  wir  heute  besitzen:  Benito  Mussolini.  Wir  alle 
wiasen,  was  wir  diesem  Mann  zu  verdanken  haben. 

Ich  möchte  auch  der  beiden  anderen  Staatsmänner  gedenken, 
die  sich  mühten,  einen  Weg  zum  Frieden  zu  finden  und  die  mit  uns 
jenes  Abkommen  geschlossen  haben,  das  vielen  Millionen  Deutschen 
ihr  Recht  und  der  Welt  den  Frieden  gesichert  hat. 

Allein,  gerade  die  Erfahrungen  dieser  letzten  acht  Monate  können 
und  müssen  uns  nur  bestärken  in  dem  Entschluß,  vorsichtig  zu  sein 
und  nichts  von  dem  zu  versäumen,  was  zum  Schutze  des  Reiches  getan 
werden  muß. 

Die  Staatsmänner,  die  uns  gegenüberstehen,  wollen  —  das  müssen 
wir  ihnen  glauben  — den  Frieden,  Allein,  sie  regieren  in  Ländern,  deren 
innere  Konstruktion  es  möglich  macht,  daß  sie  jederzeit  abgelöst 
werden  können,  um  anderen  Platz  zu  machen,  die  den  Frieden  nicht 
so  sehr  im  Auge  haben.  Und  diese  anderen  sind  da. 

Es  braucht  nur  in  England  statt  Chamberlain  Herr  Duff  Cooper 
oder  Herr  Eden  oder  Herr  Churchill  zur  Macht  zu  kommen,  so  wissen 
wir  genau,  daß  es  das  Ziel  dieser  Männer  wäre,  sofort  einen  neuen 
Weltkrieg  zu  beginnen.  Sie  machen  gar  kein  Hehl,  sie  sprechen  das 
offen  aus. 

Wir  wissen  weiter,  daß  nach  wie  vor  drohend  im  Hintergrunde 
jener  jüdisch-internationale  Feind  lauert,  der  im  Bolschewismus  seine 
staatliche  Fundierung  und  Ausprägung  erfahren  hat.  Und  wir  kennen 
ferner  die  Macht  einer  gewissen  internationalen  Presse,  die  nur  von 
Lügen  und  Verleumdung  lebt. 

Das  verpflichtet  uns,  wachsam  und  auf  des  Reiches  Schutz  be- 
dacht zu  sein!  Jederzeit  zum  Frieden  gewillt,  in  jeder  Stunde  aber 
auch  zur  Abwehr  bereit ! 


152  Deutschland  -  England  [66 

Ich  habe  mich  deshalb  entschlossen,  den  Ausbau  unserer  Befesti- 
gungen im  Westen,  so  wie  ich  sie  in  meiner  Nürnberger  Rede  ankün- 
digte, mit  erhöhter  Energie  fortzusetzen.  Ich  werde  nunmehr  auch 
die  beiden  großen  Gebiete,  die  bisher  vor  unseren  Befestigungen  lagen, 
das  Aachener  und  das  Saarbrücker  Gebiet,  in  diese  Befestigungen 
einbeziehen. 

Im  übrigen  aber  bin  ich  glücklich,  nunmehr  schon  in  den  nächsten 
Tagen  jene  Maßnahmen  aufheben  zu  können,  die  wir  in  den  kritischen 
Monaten  und  Wochen  durchführen  mußten.  Ich  freue  mich,  daß  dann 
alle  die  Hunderttausende  unserer  Männer  wieder  nach  Hause  gehen 
und  unsere  Reservisten  wieder  entlassen  werden  können,  und  ich 
danke  ihnen  für  die  Art,  in  der  sie  ihren  Dienst  erfüllten  und  ihre 
Pflicht  taten. 

Insbesondere  danke  ich  den  Hunderttausenden  deutscher  Arbeiter, 
Ingenieure  usw.,  von  denen  heute  zehntausend  in  eurer  Mitte  stehen, 
die  hier  an  unseren  Befestigungen  gearbeitet  haben. 

Ihr  habt  mitgeholfen,  meine  Kameraden,  Deutschland  den  Frieden 
zu  sichern ! 

Mein  besonderer  Dank  aber  gilt  dem  ganzen  deutschen  Volk,  das 
sich  so  mannhaft  benommen  hat. 

Als  starker  Staat  sind  wir  jederzeit  zu  einer  Verständigungspolitik 
mit  unseren  Nachbarn  bereit.  Wir  haben  keine  Forderungen  an  sie. 
Wir  wollen  nichts  als  den  Frieden.  Nur  eines  wünschen  wir,  und  das 
gilt  besonders  für  unsere  Beziehungen  zu  England :  Es  würde  gut  sein, 
wenn  man  in  Großbritannien  allmählich  gewisse  Allüren  der  Versailler 
Epoche  ablegen  würde.  Gouvernantenhafte  Bevormundung  vertragen 
wir  nicht  mehr! 

Erkundigungen  britischer  Politiker  über  das  Schicksal  von  Deut- 
schen oder  von  Reichsangehörigen  innerhalb  der  Grenzen  des  Reiches 
sind  nicht  am  Platze.  Wir  kümmern  uns  auch  nicht  um  ähnliche  Dinge 
in  England.  Die  übrige  Welt  hätte  manches  Mal  Grund  genug,  sich 
eher  um  ihre  eigenen  nationalen  Vorgänge  zu  bekümmern  oder  z.  B. 
um  die  Vorgänge  in  Palästina. 

Wir  jedenfalls  überlassen  das  denen,  die  sich  vom  lieben  Gott 
berufen  fühlen,  diese  Probleme  zu  lösen,  und  beobachten  nur  staunend, 
wie  schnei]  sie  mit  ihren  Lösungen  fertig  werden. 

Wir  möchten  all  diesen  Herren  den  Rat  geben,  sich  mit  ihren 
eigenen  Problemen  zu  beschäftigen  und  uns  in  Ruhe  zu  lassen!  Auch 
das  gehört  zur  Sicherung  des  Weltfriedens. 

Wir  selbst  haben  große  Aufgaben  vor  uns.  Gewaltige  kulturelle 
und  wirtschaftliche  Probleme  müssen  gelöst  werden.  Kein  Volk  kann 
mehr  den  Frieden  brauchen  als  wir,  aber  kein  Volk  weiß  auch  besser 
als  wir,  was  es  heißt,  schwach  und  der  Gnade  oder  Ungnade  anderer 
ausgeliefert  zu  sein. 

(DNB.  vom  10.  Oktober  1938.) 

Am  10.  Okiober  kündigte  der  britische  Kriegsminister  Hore-Belisha 
eine  durchgreifende  Reorganisation  der  Territoriatarmee  an.  Am  16,  Ok- 


67] Dag  Jaht  1938 153 

iober  hielt  Winsion  Churchill  über  den  Rundfunk  eine  Heizrede  nach 
Amerika,  Auf  demGauparteilag  in  Weimar  wurde  ihm  am  6.  November 
vom  Führer  die  Antwort  erteilt. 


Randfankrede  Winston  Chtirdiills  nadi  Amerika  67. 

Yom  16.  Oktober  1938 

(Am  Abend  des  16.  Oktober  1938  von  New  York  aus  über  das  Sender- 
netz der  National  Broadcasting  Company  verbreitet.) 

Ich  benutze  mit  Genugtuung  die  Gelegenheit,  zum  Volke  der  Ver- 
einigten Staaten  sprechen  zu  dürfen.  Ich  weiß  nicht,  wie  lange  solche 
Möglichkeiten  noch  bestehen  werden.  Die  Sender,  über  die  man  noch 
unzensiert  seinen  Gedanken  Ausdruck  geben  kann,  sind  im  Begriff, 
ihren  Betrieb  einzustellen.  Die  Lichter  gehen  aus.  Noch  aber  haben 
diejenigen,  für  die  das  parlamentarische  Regierungssystem  etwas  be- 
deutet, Gelegenheit,  sich  miteinander  zu  beraten. 

Lassen  Sie  mich  denn  in  allem  Ernst  sprechen.  Das  amerikanische 
Volk  hat  sich,  wie  ich  glaube,  ein  richtiges  Urteil  über  das  Verhängnis 
gebildet,  von  dem  Europa  befallen  worden  ist.  Es  versteht  vielleicht 
klarer,  als  die  französische  und  britische  Öffentlichkeit  es  bisher  ver- 
mocht hat,  die  weitreichenden  Folgen  der  Abschaffung  und  des  Unter- 
gangs der  Tschechoslowakischen  Republik. 

Ich  bin,  wie  schon  vor  einigen  Monaten  zum  Ausdruck  gebracht, 
der  Meinung,  daß,  wenn  Großbritannien,  Frankreich  und  Rußland  im 
April,  Mai  oder  Juni  gemeinsam  erklärt  hätten,  daß  sie  gegen  Nazi- 
deutschland gemeinsam  vorgehen  würden,  falls  Herr  Hitler  einen  nicht 
herausgeforderten  Angriff  gegen  diesen  kleinen  Staat  unternehmen 
sollte,  und  wenn  sie  Polen,  Jugoslawien  und  Rumänien  gegenüber 
erklärt  hätten,  was  sie  zur  rechten  Zeit  zu  tun  gedächten,  und  wenn 
sie  diese  Staaten  aufgefordert  hätten,  der  Vereinigung  der  den  Frieden 
verteidigenden  Mächte  beizutreten,  in  diesem  Falle  der  deutsche 
Diktator  sich  einem  derart  eindrucksvollen  Aufgebot  gegenüber  gesehen 
haben  würde,  daß  er  von  seinen  Absichten  Abstand  genommen  haben 
würde. 

Das  würde  auch  allen  friedliebenden  und  gemäßigten  Kräften  in 
Deutschland  Gelegenheit  geboten  haben,  gemeinsam  mit  den  Führern 
des  deutschen  Heeres  eine  große  Anstrengung  zur  Wiederherstellung 
zivilisierter  Zustände  zu  machen. 

Wenn  die  mit  einem  Kriege  verbundenen  Risiken,  die  Frankreich 
und  Britannien  im  letzten  Augenblick  liefen,  zur  rechten  Zeit  kühn 
ins  Auge  gefaßt  und  wenn  eindeutige  Erklärungen  abgegeben  worden 
und  aufrichtig  gemeint  gewesen  wären,  wie  andersartig  würden  sich 
dann  heute  die  Aussichten  darstellen! 

Alle  diese  auf  die  Vergangenheit  bezüglichen  Betrachtungen  sind 
aber  zwecklos.  Es  hat  keinen  Sinn,  unter  Freunden  über  die  Ver- 
gangenheit scharfe  Worte  zu  gebrauchen  und  sich  gegenseitig  für  das 


154 


DeuUcbland  -  England 


fß7j 


Vorwürfe  zu  machen,  was  nicht  zu  ändern  ist.  Die  Zukunft,  nicht  aber 
die  Vergangenheit,  gebietet  unsere  frühzeitige  und  besorgte  Betrach* 
tung.  Wir  müssen  uns  klar  darüber  sein,  daO  die  parlamentarischen 
Demokratien  und  die  liberalen,  nach  Frieden  strebenden  Kräfte  überall 
eine  Niederlage  erlitten  haben,  die  sie  moralisch  und  physisch  zu  sehr 
geschwächt  hat,  um  den  Gefahren,  die  ungeheuer  groB  geworden  sind, 
zu  begegnen. 

Aber  die  Sache  der  Freiheit  hat  eine  ihr  innewohnende  Fähigkeit 
und  Kraft,  sich  wieder  zu  erholen,  die  es  ihr  ermöglicht,  aus  dem 
Unglück  neue  Hoffnung  und  neue  Stärke  zu  schöpfen.  Wenn  es  jemals 
eine  Zeit  gab,  da  Männer  und  Frauen,  die  die  Ideale  der  Begründer 
der  britischen  und  amerikanischen  Verfassungen  hegten  und  pflegten, 
ernsten  Rat  miteinander  pflegen  sollten,  so  ist  diese  Zeit  jetzt  gekommen. 

Die  ganze  Welt  sehnt  sich  nach  Frieden  und  Sicherheit.  Es  ist 

ihr  Herzenswunsch.  Haben  wir  diesen  Frieden  und  diese  Sicherheit 

erlangt?  Das  ist  die  Frage,  die  wir  stellen.  Haben  wir  diesen  Frieden 

und  diese  Sicherheit  durch  die  Hinopferung  der  Tschechoslowakischen 

.Republik  erreicht? 

Diese  Republik  war  das  Musterbeispiel  eines  demokratischen 
Staates  in  Mitteleuropa^  ein  Land,  in  dem  die  Minderheiten  besser  als 
in  irgendeinem  anderen  Lande  behandelt  wurden.  Dieses  Land  hat 
man  im  Stich  gelassen  und  vernichtet,  und  es  wird  jetzt  aufgesogen. 

Die  Frage,  die  für  eine  große  Anzahl  einfacher  Leute  von  Interesse 
ist,  geht  dahin,  ob  diese  Vernichtung  der  Tschechoslowakischen  Repu- 
blik sich  für  die  Welt  als  ein  Segen  oder  als  ein  Fluch  erweisen  wird. 

Wir  müssen  alle  hoffen,  daO  sich  diese  Vernichtung  zum  Segen 
auswirken  wird.  Wir  müssen  alle  hoffen,  daß  alle  Menschen,  nachdem 
wir  unsere  Blicke  eine  Zeitlang  von  den  Kräften  der  Unterjocht 
und  der  Liquidation  abgewendet  haben  werden,  freier  atmen  können," 
daO  es  uns  möglich  sein  wird,  wenn  der  auf  uns  lastende  Druck  beseitigt 
sein  wird,  zu  uns  selbst  zu  sagen:  „Nun,  die  Angelegenheit  ist  jedenfalls^ 
erledigt;  nun  wollen  wir  unser  regelmäßiges  tägliches  Leben  wüederl 
aufnehmen!" 

Sind  diese  Hoffnungen  aber  wohlbegründet?  Oder  linden  wir  uns 
lediglich,  so  gut  wir  können,  mit  dem  ab,  was  zum  Einhalt  zu  bringen 
wir  nicht  den  Mut  und  die  Kraft  haben?  Das  ist  die  Frage,  die  die  eng- 
hsch-sprechenden  Menschen  in  allen  unsern  Ländern  sich  heute  vor- 
legen  müssen;  sie  müssen  sich  heute  fragen;  ,,Ist  dies  das  Ende 
oder  steht  noch  weiteres  zu  erwarten?"  Und  daraus  ergibt  sich  noch 
eine  weitere  Frage:  „Kann  der  Friede,  der  gute  Wille  und  das  Vertrauen 
auf  einem  Unrecht  aufgebaut  werden,  hinter  dem  die  Gewalt  steht?** 
Man  kann  diese  Frage  in  umfassender  Weise  wie  folgt  formuHeren: 
T,Hat  die  Menschheit  damit,  daß  sie  sich  der  organisierten  und  berech- 
nenden Gewalttätigkeit  unterwarf,  jemals  irgendeinen  Vorteil  oder 
irgendeinen  Fortschritt  erzielt?**  Das  ist  die  Frage,  in  umfassender 
Form  gestellt. 

Wenn  wir  auf  die  lange  Geschichte  der  Völker  zurückblicken,  so 
müssen  wir,  ganz  im  Gegenteil,  erkennen,  daß  sich  ihr  Ruhm  auf  den 


67] 


Daa  Jahr  1938 


155 


Geist  des  Widerstandes  gegenüber  der  Tyrannei  and  der  Ungerechtig- 
keit gründete,  ganz  besonders,  wenn  diese  Laster  sich  auf  überlegene 
Gewalt  zu  stützen  schienen. 

Seit  dem  Anbruch  des  christlichen  Zeitalters  hat  sich  bei  dejl 
westlichen  Völkern  allmählich  eine  gewisse  Lebensauffassung  gebildet, 
und  gewisse  Normen  in  bezug  auf  Lebens-  und  Regierungsform  haben 
Wertschätzung  erlangt.  Nach  vielem  Elend  und  nach  lang  andauernder 
Verwirrung  stieg  der  Begriff  von  dem  Recht  des  Einzelnen  zum  hellen 
Tageslicht  empor;  sein  Recht,  in  bezug  auf  die  Regierung  seines  Landes 
befragt  zu  werden,  sein  Recht,  an  der  Regierung  seines  Landes  Kritik 
zu  üben  und  in  Opposition  zu  ihr  zu  treten»  sein  Recht,  die  Gesetze 
seines  Landes  sogar  gegen  den  Staat  selbst  anzurufen.  Unabhängige 
Gerichtshöfe  w^urden  geschaffen^  den  Gesetzen  Geltung  verschafft; 
und  damit  wurde  selbstverständlich  innerhalb  der  ganzen  englisch- 
sprechenden  Welt  sowie  in  Frankreich  auf  Grund  der  unerbittlichen 
Lehren  der  Revolution  erreicht,  was  Kipling  mit  ,,die  Möglichkeit, 
ohne  einen  anderen  Menschen  dafür  um  Erlaubnis  bitten  zu  müssen, 
unter  dem  Schutz  des  Gesetzes  zu  leben*'  bezeichnete. 

Nun  erscheint  es  mir  aber,  und  ich  glaube,  auch  zahlreichen  unter 
Ihnen,  daß  alles  dies  den  Menschen  das  Leben  wertvoll  macht  und  dem 
Staat  Ehre  und  Wohlergehen  einbringt. 

Wir  stehen  aber  noch  einer  anderen  Tatsache  gegenüber.  Es 
handelt  sich  nicht  um  etwas  Neues.  Es  springt  uns  aus  den  finsteren 
Zeiten  des  Mittelalters  an  —  Rassenverfolgung,  religiöse  Unduldsam- 
keit, Unterdrückung  der  Redefreiheit,  der  Begriff,  der  den  Bürger 
lediglich  zu  einem  seelenlosen  Bestandteil  des  Staates  macht. 

Dazu  hat  sich  der  Kriegskult  gesellt.  Schon  zu  Anfang  ihrer  Schul- 
zeit wird  in  den  Kindern  die  Freude  an  der  Eroberung,  die  Lust  zum 
Angriff  und  an  dem  sich  daraus  ergebenden  Nutzen  geweckt.  Durch 
schwere  Entbehrungen  ist  ein  mächtiges  Staatswesen  in  eine  kriege- 
rische Gemütsverfassung  versetzt  worden.  Es  wird  in  diesem  Zustand, 
den  es  ebensowenig  schätzt  wie  wir,  durch  eine  mehrere  MiUionen 
starke  Parteiorganisation  gehalten,  die  aus  der  Aufrechterhaltung  de« 
Regimes  jeden  nur  möglichen  Nutzen  zieht. 

Genau  so  wenig  wie  die  Kommunisten  dulden  die  Nazis  irgend- 
eine andere  Meinung  als  die  ihrige.  Genau  so  wie  die  Kommunisten 
leben  sie  vom  Haß.  Genau  so  wie  die  Kommunisten  sind  sie  gezwungen, 
von  Zeit  zu  Zeit  und,  beachten  Sie  das  wohl,  in  immer  kürzeren  Zwi- 
schenräumen, ein  neues  Opfer  zu  finden.  Bei  all  seinem  Stolz  ist  der 
Diktator  in  den  Fängen  seines  Parteiregiraes.  Er  kann  wohl  vorwärts- 
marschieren,,  aber  nicht  zurückgehen.  Er  muO  seine  Hunde  an  Blut 
gewöhnen  und  ihnen  Kurzweil  bereiten,  wenn  er  nicht  von  ihnen  zer- 
rissen werden  wall.  So  stark  er  auch  nach  außen  hin  erscheinen  mag, 
so  schwach  ist  er  im  Innersten. 

Es  ist  schon  richtig,  was  B\Ton  bereits  vor  hundert  Jahren  schrieb: 
„Dieser  heidnische  militärische  Geist  mit  seiner  messinggepanzerten 
Brust  und  seinen  tönernen  Füßen.** 

Niemand  sollte  indessen  die  Stärke  und  Leistungsfähigkeit  eines 


156 Deutschland  ■  England [67 

totalitären  Staates  unterschätzen,  in  dem  die  Bevölkerung  eines  ganzen 
Landes  —  liebenswerte,  gutherzige  und  friedliebende  Menschen  — 
durch  eine  kommunistische  oder  Nazi- Gewaltherrschaft,  die,  obgleich 
sie  verschiedene  Namen  haben,  ein  und  dasselbe  sind,  mit  einem 
Würgegriff  an  der  Kehle  gehalten  und  an  den  Haaren  herumgeschleift 
wird.  In  einem  solchen  Staate  können  die  Gewalthaber  vorübergehend 
für  kriegerische  Zwecke  und  für  Vorherrschaft  nach  außen  hin  eine 
Gewalt  ausüben,  der  gegenüber  sich  die  parlamentarischen  Gemein- 
schaften zugestandenermaßen  in  einem  schweren  praktischen  Nachteil 
befinden.  Darüber  müssen  wir  uns  klar  sein. 

Zu  alledem  kommt  aber  nun  noch  diese  wundervolle  aus  der  Luft 
wirkende  Kraft,  die  in  unserem  Jahrhundert  entdeckt  wurde,  deren 
sich  aber  die  Menschheit  bisher  leider  als  unwürdig  erwiesen  hat. 

Diese  Gefahr  aus  der  Luft,  die  sich  vermißt,  die  Frauen  und 
Kinder,  die  Zivilbevölkerung,  alle  bescheidenen  Menschen  in  den  be- 
nachbarten Ländern  zu  quälen  und  zu  terrorisieren  —  diese  Verbin- 
dung, bitte  beachten  Sie  es  wohl,  von  mittelalterlicher  Leidenschaft, 
von  Waffen,  wie  sie  die  moderne  Wissenschaft  hervorgebracht  hat, 
und  von  der  erpresserischen  Gewalt  des  Bombardierens  — ,  diese  Ver- 
bindung ist  die  ungeheuerlichste  Herausforderung  des  Friedens,  der 
Ordnung  und  des  fruchtbaren  Fortschritts,  die  seit  dem  Einfall  der 
Mongolen  im  13.  Jahrhundert  jemals  in  der  Welt  aufgetaucht  ist. 

Die  alles  überschattende  Frage,  zu  der  ich  mit  diesen  wenigen 
Worten,  diesen  einleitenden  Bemerkungen  gelange  —  die  alles  über- 
schattende Frage  ist,  ob  die  Welt,  wie  wir  sie  gekannt  haben,  die  große, 
hoffnungsvolle  Welt  vor  dem  Kriege,  die  Welt,  die  dem  gemeinen 
Mann  immer  größeren  Raum  zur  Freude  bietet,  die  Welt  mit  ihrer 
Ehre,  ihren  Überlieferungen  und  mit  ihren  sich  immer  mehr  ent- 
wickelnden Wissenschaften  —  ob  diese  Welt  dieser  Gefahr  damit 
begegnen  soll,  daß  sie  sich  ihr  unterwirft  oder  ihr  Widerstand  leistet  — 
das  ist  die  Frage,  um  die  es  geht.  Wir  wollen  nun  einmal  überlegen, 
ob  uns  die  Mittel  zum  Widerstand  heute  noch  zur  Verfügung  stehen. 

Der  Ruhm  Frankreichs,  des  tapferen  Frankreichs,  ist  verblaßt. 
Trotz  seines  tapferen,  tüchtigen  Heeres  ist  sein  Einfluß  tief  herab- 
gemindert worden.  Niemand  hat  das  Recht,  zu  behaupten,  daß  Bri- 
tannien, wenn  es  auch  schwere  Fehler  begangen  hat,  sein  Wort  gebrochen 
habe.  Nein,  wenn  es  zu  spät  war,  hat  es  sich  stet^  besser  als  sein  Wort 
erwiesen.  Nichtsdestoweniger  aber  beugt  sich  Europa  in  diesem  Augen- 
blick gedemütigt  und  bestürzt  vor  den  triumphierenden  Ansprüchen 
diktatorischer  Gewalt.  Sie  können  das  nach  vielen  Richtungen  hin  be- 
obachten. 

Auf  der  spanischen  Halbinsel  ist  ein  reinspanischer  Streit  durch 
die  Einmischung  —  oder  soll  ich,  um  die  landläufige  Redensart  zu 
gebrauchen,  sagen,  durch  die  Nichteinmischung?  —  durch  die  Nicht- 
einmischung von  Diktatoren  ist  der  spanische  Streit  durch  diese  Ein- 
mischung in  den  Bereich  eines  Weltkrieges  gerückt  worden.  Aber  nicht 
nur  in  Europa  herrschen  diese  Unterdrückungen.  Durch  eine  militä- 
rische Clique  in  Japan  ist  China  in  Stücke  gerissen  worden.  Das  arme. 


^7] Das  Jahr  1938 157 

gequälte  chinesische  Volk  setzt  dem  Feinde  eine  tapfere  und  hart- 
nAckige  Verteidigung  entgegen.  Gott  helfe  ihm! 

Das  alte  Kaiserreich  von  Äthiopien  ist  überrannt  worden.  Die 
Äthiopier  waren  gelehrt  worden,  glaubig  zur  Heiligkeit  der  öffentlichen 
Gesetze  aufzuschauen.  Man  hinderte  sie  sogar  daran,  Waffen  einzu- 
kaufen, solange  es  noch  Zeit  war.  Man  verwies  sie  an  das  Tribunal 
zahlreicher  Nationen,  die  sich  in  majestätischer  Einigkeit  versammelt 
hatten.  Alles  aber  war  vergebens.  Sie  wurden  betrogen,  und  nunmehr 
gewinnen  sie  ihr  Lebensrecht  damit  zurück,  daß  sie  von  Grund  auf 
wieder  anfangen  müssen  —  ein  Kampf  um  die  primitivsten  Lebens- 
rechte. 

Selbst  in  Südamerika  beginnt  das  im  Schutze  der  Monroe-Doktrin 
blühende  Naziregime  die  Struktur  der  brasilianischen  Gesellschaft  zu 
untergraben.  Das  ist  das  Bild,  das  sich  uns  bietet. 

Zu  Ihnen,  der  Bevölkerung  der  Vereinigten  Staaten,  die  weit 
entfernt  und  in  glücklichster  Weise  von  den  Gewässern  des  Atlan- 
tischen und  des  Pazifischen  Ozeans  umspült  geschützt  liegt,^  habe 
ich  nunmehr  Gelegenheit  zu  sprechen.  —  Sie  sind  die  Zuschauer,  und, 
ich  darf  hinzufügen,  die  immer  mehr  in  die  Angelegenheiten  dieser 
Tragödien  und  Verbrechen  verwickelten  Zuschauer.  Wir  brauchen 
keinen  Zweifel  darüber  zu  hegen,  auf  welcher  Seite  die  amerikanischen 
Interessen  und  Sympathien  zu  finden  sind;  gestatten  Sie  mir  aber, 
da  ich  die  Gelegenheit  dazu  habe,  die  folgende  Frage  an  Sie  zu  richten : 
„Wollen  Sie  warten,  bis  die  britische  Freiheit  und  Unabhängigkeit 
unterdrückt  worden  sind,  und  wollen  Sie  erst  dann  für  die  Sache  ein- 
treten, wenn  sie  zu  drei  Vierteln  erledigt  ist?  Und  wollen  Sie  sich  dieser 
Sache,  wie  Sie  es  zu  tun  haben  werden,  dann  annehmen,  wenn  sie  aus- 
Bchließhch  zu  der  Ihrigen  geworden  ist?"  Ich  habe  in  den  Vereinigten 
Staaten  sagen  hören,  daß  das  amerikanische  Volk  mit  der  ganzen  An- 
gelegenheit nichts  zu  tun  haben  wolle,  weil  England  und  Frankreich 
es  unterlassen  hätten,  ihre  Pflicht  zu  tun.  Das  ist  vielleicht  die  Auf- 
fassung zahlreicher  Menschen,  die  aber  keinen  Sinn  hat.  Wenn  die 
Dinge  um  vieles  schlimmer  geworden  sind,  so  haben  wir  um  so  mehr 
Veranlassung,  den  Versuch  zu  machen,  ihnen  zu  begegnen.  Denn 
schließlich  stellen  diese  Länder  die  übriggebliebenen  Kräfte  der  Zivili- 
sation dar.  Sie  sind  überwältigend,  und  wenn  sie  nur  zu  einem  einzigen 
Begriff,  zu  einem  einzigen  gemeinsamen  Begriff  von  Recht  und  Pflicht 
vereinigt  würden,  so  könnte  es  keinen  Krieg  geben. 

Im  Gegenteil,  das  deutsche  Volk,  das  so  fleißig,  treu  und  tapfer  ist, 
dem  es  aber  leider  an  dem  richtigen  Geist  für  bürgerliche  Unabhängig- 
keit mangelt,  dieses  deutsche  Volk  wird,  wenn  es  erst  einmal  von  dem 
gegenwärtigen  Alpdruck  befreit  sein  wird,  seinen  ehrenvollen  Platz 
in  der  Vorhut  der  menschlichen  Gesellschaft  einnehmen. 

Alexander  der  Große  erklärte,  die  Bevölkerung  Asiens  sei  er- 
schlagen worden,  weil  sie  nicht  gelernt  habe,  das  Wort  „Nein**  aus- 
zusprechen. Wir  dürfen  das  nicht  zur  Grabschrift  für  die  englisch- 
sprechenden Völker,  für  die  parlamentarische  Demokratie,  für  Frank- 
reich oder  für  die  zahlreichen  überlebenden  liberalen  Staaten  Europas 


-*l.  #-' 


158 


DeuUchtand  -  England 


[67 


werden  lassen!  Das  ist,  in  einem  einzigen  Wort  ausgedruckt,  der  Ent- 
ßchluO  der  Kräfte  der  Freiheit  und  des  Fortsehritts,  der  Duldung 
und  des  guten  Willens  —  das  ist  der  Entschluß,  den  Sie  fassen  sollten. 
Das  liegt  nicht  im  Machtbereich  einer  einzelnen  Nation,  einerlei  wie 
stark  sie  auch  bewaffnet  sein  möge,  noch  viel  weniger  liegt  es  im  Macht- 
bereich einer  kleinen  Gruppe  von  Männern,  gewalttätigen,  unbarm- 
herzigen Männern,  die  immer  noch  ihre  Blicke  nach  rückwärU  gerichtet 
haben  —  es  liegt  nicht  in  ihrem  Machtbereich,  den  Versuch  zu  machen, 
den  Fortschritt  des  menschlichen  Geschickes  in  Fesseln  zu  sehlagen. 

Überwältigende  Kräfte  der  Welt  stehen  auf  unserer  Seite.  Es 
bedarf  nur  ihrer  Vereinigung,  um  ihnen  Gehorsam  zu  verschaffen. 
Frankreich  muß  den  Anfang  machen,  ebenso  Britannien  und  Amerika. 
Wenn  wir  uns  durch  ein  ernsthaftes  Verlangen  nach  Frieden  in  eine  ' 
nachteilige  Lage  gebracht  haben,  so  müssen  wir  das  durch  verdoppelte 
Anstrengung  und,  wenn  nötig,  durch  Stnndhaftigkeit  im  Leiden  wieder- 
gutmachen. 

Wir  werden  zweifellos  aufrüsten.  Britannien  wird,  indem  es  jahr- 
hundertelange Gewohnheiten  über  Bord  wirft,  für  seine  Bürger  die 
nationale  Dienstpflicht  einführen.  Das  britische  Volk  wird  erhobenen 
Hauptes  dastehen  und  allem  entgegensehen,  was  immer  auch  kommen 
mag.  Aber,  liebe  Freunde,  diese  ,,Instrumentalitäten**,  wie  Präsident 
Wilson  sich  ausdrückte,  sind  an  und  für  sich  nicht  genügend.  Wir 
müssen  sie  noch  durch  die  Kraft  der  Ideale  ergänzen. 

Es  gibt  Leute,  zahlreiche  Leute,  die  erklären,  daß  wir  uns  nicht 
in  einen  rein  theoretischen  Gegensatz  zwischen  Nazitum  und  Demo- 
kratie hineinziehen  lassen  sollten;  aber  der  Gegensatz  besteht  bereits. 
Er  bestimmt  unser  Leben.  Es  ist  gerade  diese  Verbindung  geistiger 
und  moralischer  Ideen,  die  den  freien  Ländern  einen  großen  Teil  ihrer 
Stärke  gibt.  Man  kann  diese  Diktatoren  beobachten,  wie  sie,  umgeben 
von  ihren  Soldaten  und  den  Gummiknüppeln  ihrer  Polizei,  auf  ihren 
Postamenten  stehen.  Von  allen  Seiten  werden  sie  von  sie  umgebenden 
Massen,  Flugzeugen,  Befestigungs werken  und  ähnlichen  Dingen  be- 
schützt, Sie  rühmen  und  brüsten  sich  vor  der  Welt.  Ihre  Herzen  aber 
sind  voll  unaussprechlicher  Furcht,  Sie  fürchten  sich  vor  Worten  und 
Gedanken,  vor  im  Auslände  gesprochenen  Worten,  vor  Hoffnungen, 
die  im  Innern  ihres  Landes  laut  werden  und  die  um  so  machtvoller 
sind,  weil  sie  verboten  sind.  0  Schrecken!  Ein  Gedanke,  so  groß  wie 
eine  kleine,  eine  kleine,  winzige  Maus,  taucht  auf,  und  selbst  die  mäch- 
tigsten Potentaten  werden  von  Panik  ergriffen, 

Sie  machen  krampfhafte  Anstrengungen,  um  Gedanken  und  Äuße- 
rungen zu  unterbinden,  Sie  fürchten  sich  vor  der  Tätigkeit  des  mensch- 
lichen Geistes.  Flugzeuge  können  sie  zwar  in  großen  Mengen  herstellen, 
wie  aber  wollen  sie  das  natürliche  Drängen  der  menschlichen  Natur 
ersticken,  die  nach  all  diesen  Jahrhunderten  der  Heimsuchung  und  des 
Fortschritts  zur  Rüstkammer  machtvollen  und  unzerstörbaren  Wissens 
geworden  ist? 

Diktatur,  die  götzenhafte  Anbetung  eines  Mannes,  gegen  die  die 
britische  und  die  amerikanische  Verfassung  umfangreiche  Vorsorge 


68] 


Das  Jahr  1938 


159 


getroffen  haben  —  eine  Diktatur  kann  nicht  einen  Teil  solcher  Verfas- 
sungen bilden  —  ein  Geseüschaftszustand,  bei  dem  die  Menschen  ihren 
Gedanken  keinen  Ausdruck  verleihen  dürfen,  bei  dem  Kinder  ihre 
Eltern  bei  der  Polizei  denunzieren,  bei  dem  ein  Geschäftsmann  oder 
kleiner  Ladenbesitzer  seinen  Konkurrenten  dcimit  zugrunde  richtet, 
daß  er  unwahre  Gerüchte  über  dessen  private  Meinung  in  Umlauf 
setzt  —  ein  solcher  Gesellachaftszustand  kann  nicht  lange  andauern ^ 
wenn  er  stetig  in  Berührung  mit  der  gesunden  Außenwelt  gebracht  wird. 

Das  Leben  des  zivilisierten  Fortschritts,  das  ständig  im  Fluß  ist, 
und  die  damit  verbundene  Zusammenarbeit^  dieses  Leben  mit  seiner 
Erhabenheit  und  seinen  Freuden,  ist,  wie  die  Geschichte  beweist,  oft 
ausgelöscht  worden.  Ich  glaube  aber,  daß  wir  jetzt  endlich  der  Barbarei 
den  Bang  so  weit  abgelaufen  haben,  um  sie  überwachen  und  ver- 
meiden zu  können.  Notwendig  ist  lediglich^  daD  wir  uns  darüber  klar 
sind,  was  im  Gange  ist  und  daß  wir  rechtzeitig  unsere  Entschlüsse 
fassen.  Selbstverständlich  werden  wir  das  schließlich  einmal  tun,  und 
wir  werden  es  zweifellos  tun.  Um  wieviel  härter  sind  aber  unsere  Be- 
mühungen aus  Anlaß  eines  jeden  Tages,  den  wir  dabei  versäumen. 

Das  ist  es,  was  ich  Ihnen  bei  dieser  Gelegenheit  zu  sagen  habe. 
Und  nun  lassen  Sie  mich  fragen,  ob  dies  eine  Aufforderung  zum  Kriege 
ist?  Kann  irgend  jemand  behaupten,  daß  das  Treffen  von  Vorberei- 
tungen zum  Widerstand  gegen  einen  Angriff  gleichbedeutend  mit  der 
Entfesselung  eines  Krieges  ist?  Das  ist  tatsächlich  ein  ganz  trauriges 
KapiteL  Ich  erkläre,  daß  solche  Vorbereitungen  die  einzige  Friedens- 
garantie, die  beste  und  sicherste  Aussicht,  auf  den  Frieden  sind  — 
die  schnelle  organisierte  Zusammenfassung  von  Kräften,  um  nicht 
nur  einem  militärischen,  sondern  auch  einem  moralischen  Angriff  zu 
begegnen ;  das  entschlossene  und  nüchterne  AuXsichnehmen  von  Pflichten 
durch  die  englischsprechenden  Völker  und  durch  alle  großen  und 
kleinen  Staaten  —  von  denen  es  viele  gibt  — ,  die  Seite  an  Seite  mit 
ihnen  zu  marschieren  wünschen. 

Ihre  treue  und  innige  bewaffnete  und  wirksame  Kameradschaft 
würde  fast  über  Nacht  den  Weg  des  Fortschritts  frei  machen  und 
unser  aller  Leben  von  der  Furcht  befreien,  die  für  Hunderte  von 
Millionen  Menschen  bereits  Gottes  Sonnenlicht  verdunkelt. 

(E:  Tbe  New  York  Times  voai  17,  Oktober  1938.  —  Dr  Eigene  Obersetzung,) 


Aus  der  Rede  des  Führers  auf  dem  Gauparteitag  in  Weimar 
vom  6.  November  193B 


68. 


Man  kann  vielleicht  von  einem  Wunder  sprechen,  wenn  man  sich 
diese  Entwicklung  vor  Augen  hält.  All  die  alten  Parteigenossen,  die 
diesen  gewaltigen  Aufstieg  miterlebten,  können  nur  mit  Rührung 
zurückdenken  an  diese  Zeiten  und  an  das,  was  sich  seitdem  Großes 
ereignete.  Was  uns  aber  jetzt  zurückblickend  fast  wie  ein  Wunder 
erscheint,  ist  nichts  anderes  als  der  Lohn  für  eine  unermeßliche  und 
unermüdliche  Arbeit! 


160  Deutschland  -  England  [68 

Denn  das  können  wir  Nationalsozialisten  wohl  vor  der  deutschen 
Geschichte  behaupten:  Noch  niemals  ist  inbrünstiger,  mit  mehr  Arbeit 
und  auch  mit  mehr  Opfern  um  das  deutsche  Volk  gerungen  worden 
als  in  dieser  Zeit  des  Kampfes  unserer  Bewegung  um  den  deutschen 
Menschen!  Nunmehr  haben  wir  dafür  von  der  Vorsehung  den  Lohn 
bekommen,  genau  so  wie  einst  das  Deutschland  des  Jahres  1918  seinen 
Lohn  erhielt! 

Damals  wurde  es  jener  Segnungen  teilhaftig,  die  wir  unter  dem 
Sammelbegriff  .Demokratie'  verstehen!  Das  Deutschland  von  damals 
hat  sich  angeklammert  an  die  Hoffnungen,  die  vielleicht  am  stärksten 
jener  Amerikaner  aussprach,  der  uns  einen  Frieden  zusicherte,  in  dem 
es  weder  Besiegte  noch  Sieger  geben  sollte.  Nachdem  das  deutsche  Volk 
im  Glauben  an  diese  Theorien  die  Waffen  niedergelegt  hatte,  wurde 
es  belehrt,  daß  Demokratie  in  der  Praxis  etwas  anderes  ist  als  in  der 
Theorie. 

Wenn  heute  manchmal  Parlamentarier  oder  Politiker  in  fremden 
Ländern  zu  behaupten  wagen,  Deutschland  hätte  seine  Verträge  nicht 
gehalten,  dann  können  wir  diesen  Männern  nur  zur  Antwort  geben: 
Der  größte  Vertragsbruch  aller  Zeiten  ist  am  deutschen  Volk  verübt 
worden!  Alles,  was  man  Deutschland  in  jenen  14  Punkten  zugesichert 
hatte  und  auf  Grund  deren  dann  die  deutschen  Waffen  niedergelegt 
wurden,  ist  nachher  gebrochen  worden. 

1932  stand  nun  Deutschland  vor  dem  endgültigen  Zusammen- 
bruch. Das  Deutsche  Reich  und  Volk,  sie  schienen  verloren.  Dann 
aber  kam  die  deutsche  Wiederauferstehung! 

Sie  begann  mit  einer  Umwandlung  des  Glaubens.  Während  alle 
deutschen  Parteien  vor  uns  an  Kräfte  und  Ideale  glaubten,  die  außer- 
halb des  Reiches  und  unseres  Volkes  lagen,  haben  wir  Nationalsozia- 
listen unentwegt  den  Glauben  an  unser  eigenes  Volk  gefördert,  aus- 
gehend von  der  ewig  gültigen  Parole,  daß  Gott  nur  denen  hilft,  die 
bereit  und  entschlossen  sind,  sich  selbst  zu  helfen.  Wir  haben  an  die 
Stelle  all  jener  internationalen  Faktoren  —  Demokratie,  Völker- 
gewissen,  Weltgewissen,  Völkerbund  usw.  —  einen  einzigen  Faktor 
gestellt:  unser  eigenes  Volk! 

Dieses  Volk  aber  mußte  damit  von  seiner  Zersplitterung  und 
Zerrissenheit  befreit  werden.  So  entstand  die  nationalsozialistische 
Partei  mit  dem  Befehl  und  der  Aufgabe,  dieses  Sammelsurium  poli- 
tischer Verbände  zu  beseitigen  und  an  ihre  Stelle  eine  einzige  Macht 
zu  setzen:  die  Macht  einer  Bewegung!  Die  NSDAP,  wurde  damit  zur 
Trägerin  der  deutschen  Volksgemeinschaft. 

Wir  alle  waren  uns  darüber  im  klaren,  daß  eine  wahre  Volksgemein- 
schaft nicht  von  heute  auf  morgen,  nicht  durch  Theorien  oder  Propa- 
ganda erzielt  wird,  sondern  daß  viele  Jahrzehnte  hindurch,  ja  vielleicht 
immer  und  für  alle  Zeiten  der  einzelne  Mensch  für  diese  Volksgemein- 
schaft erzogen  werden  muß.  Diese  Erziehungsarbeit  haben  wir  seit 
der  Gründung  der  Partei  und  besonders  seit  der  Übernahme  der  Macht 
durchgeführt. 

Aber  nichts  ist  vollkommen  auf  dieser  Welt,  und  kein  Erfolg  kann 


68] Das  Jahr  1938 161 

als  endgültig  befriedigend  empfunden  werden.  Daher  wollen  wir  auch 
heute  nicht  etwa  behaupten,  das  Erreichte  sei  schon  das  gewollte 
Ideal  an  sich.  Uns  schwebt  ein  Ideal  vor,  und  ihm  entsprechend  er- 
ziehen wir  die  deutschen  Menschen,  Generation  um  Generation. 

So  wird  der  Nationalsozialismus  immer  mehr  von  einem  politischen 
Bekenntnis  zu  einer  wirklichen  Volkserziehung  werden! 

Als  weitere  Aufgabe  war  der  Bewegung  die  Gestaltung  einer  neuen 
Führungsauslese  und  die  Heranbildung  einer  neuen  Führungsschicht 
gestellt.  Nur  ein  Blinder  kann  heute  noch  bestreiten,  daß  die  politische 
Führung  der  deutschen  Nation  jetzt  innen  und  außen  anders  ist  als 
etwa  vor  fünf,  zehn  oder  zwanzig  Jahren. 

Die  Regenschirmtypen  unserer  bürgerlichen  früheren  Parteienwelt 
sind  ausgelöscht  und  kehren  niemals  wieder! 

Ich  kann  den  wenigen,  die  vielleicht  doch  mit  einer  Träne  im  Auge 
darauf  zurückblicken  sollten,  nur  eines  versichern:  Diese  Bewegung 
hat  ihre  heutige  Führung  aus  einem  harten  Kampf  heraus  erhalten, 
die  Führung  der  Zukunft  aber,  die  wir  heute  großziehen,  schaut  noch 
ganz  anders  aus!  Das  wird  ein  Korps  härtester  Entschlossenheit  und 
rücksichtslosester  Tatkraft  sein,  so  daß  man  sich  in  30,  40  oder  50 
Jahren  gar  nicht  mehr  wird  vorstellen  können,  daß  es  einmal  anders 
gewesen  war.  Die  Partei  ist  der  Garant  dieser  Führung  unseres  Volkes! 
Das  Dritte  aber,  das  wir  uns  schufen,  ist  die  neue  Wehrmacht.  Ich  habe 
vom  ersten  Tage  an  einen  Grundsatz  aufgestellt:  Der  Deutsche  ist  ent- 
weder der  erste  Soldat  der  Welt  oder  er  ist  überhaupt  keiner!  Keine 
Soldaten  können  wir  nicht  sein  und  wollen  wir  nicht  sein.  Daher  werden 
wir  nur  die  ersten  sein! 

Als  friedliebender  Mann  habe  ich  mich  bemüht,  dem  deutschen 
Volke  jene  Wehr  und  Waffen  nunmehr  zu  schaffen,  die  auch  andere 
zum  Frieden  zu  überzeugen  geeignet  sind. 

Es  gibt  nun  allerdings  Leute,  die  den  Igel  beschimpfen,  weil  er 
Stacheln  hat.  Sie  brauchen  freilich  diesem  Tier  nur  seine  Ruhe  zu 
lassen!  Es  hat  noch  kein  Igel  angegriffen,  es  sei  denn,  er  wurde  selbst 
bedroht.  Das  möchten  auch  wir  uns  vornehmen!  Man  soll  uns  nicht 
zu  nahe  treten.  Wir  wünschen  nichts  anderes  als  unsere  Ruhe,  unsere 
Arbeitsmöglichkeit  und  das  Lebensrecht  für  unser  Volk,  das  gleiche 
Recht,  das  auch  die  anderen  für  sich  in  Anspruch  nehmen. 

Das  müßten  gerade  die  demokratischen  Staaten  begreifen  und 
verstehen,  denn  sie  reden  ja  dauernd  von  Gleichberechtigung!  Wenn 
sie  von  den  Rechten  der  kleinen  Völker  sprechen,  wie  können  sie  dann 
empört  sein,  wenn  auch  ein  großes  Volk  das  gleiche  Recht  beansprucht! 
Der  Sicherung  und  der  Garantierung  dieses  Rechtsanspruches  dient 
unsere  nationalsozialistische  Wehrmacht! 

In  diesem  Sinne  habe  ich  auch  außenpolitisch  eine  Umstellung 
vorgenommen  und  mich  jenen  Staaten  genähert,  die  ähnlich  wie  wir 
gezwungen  waren,  sich  für  ihr  Recht  einzusetzen. 

Wenn  ich  heute  die  Ergebnisse  dieses  unseres  Handelns  überprüfe, 
dann  kann  ich  sagen:  Urteilt  alle  selbst,  ob  wir  nicht  wirklich  Unge- 
heures mit  diesen  Prinzipien  erreicht  haben! 

DeuUebland-England  11 


162  Deutsehland  -  England  [68 

Wir  wollen  aber  gerade  deshalb  nie  vergessen,  was  uns  diese  Erfolge 
möglich  gemacht  hat.  Wenn  heute  gewisse  ausländische  Zeitungen 
schreiben:  „Das  hättet  ihr  doch  alles  auf  dem  Verhandlungswege  er- 
reichen können!"  —  so  wissen  wir  sehr  wohl,  daß  ja  das  Deutschland 
vor  uns  nichts  anderes  getan  hat,  als  andauernd  zu  verhandeln.  Fünf- 
zehn Jahre  lang  haben  sie  nur  verhandelt  und  haben  dabei  alles  ver- 
loren. Ich  bin  ebenfalls  bereit  zu  verhandeln,  aber  ich  lasse  keine 
Zweifel  darüber: 

Das  deutsche  Recht  lasse  ich  weder  auf  dem  Verhandlungswege 
noch  auf  irgendeinem  anderen  für  Deutschland  kürzen! 

Vergiß  nie,  deutsches  Volk,  wem  du  deine  Erfolge  verdankst! 
Welcher  Bewegung,  welchen  Gedanken  und  welchen  Prinzipien!  — 
Und  zweitens:  Sei  inmier  vorsichtig,  sei  stets  auf  der  Hut! 

Es  ist  sehr  schön,  von  internationalem  Frieden  und  internationaler 
Abrüstung  zu  reden,  allein,  ich  bin  gegenüber  einer  Abrüstung  der 
Waffen  mißtrauisch,  solange  man  nicht  einmal  den  Geist  abrüstet! 

Es  hat  sich  in  der  Welt  die  seltsame  Gepflogenheit  herausgebildet, 
die  Völker  in  sogenannte  autoritäre,  das  heißt  disziplinierte  Staaten 
und  in  demokratische  Staaten  einzuteilen.  In  den  autoritären,  das 
heißt  in  den  disziplinierten  Staaten  ist  es  selbstverständlich,  daß  man 
fremde  Völker  nicht  verleumdet,  nicht  über  sie  lügt  und  nicht  zum 
Kriege  hetzt!  Aber  die  demokratischen  Staaten  sind  eben  „demokra- 
tisch", das  heißt,  dort  darf  dies  alles  geschehen! 

In  den  autoritären  Ländern  ist  eine  Kriegshetze  natürlich  unstatt- 
haft, denn  ihre  Regierungen  sind  ja  verpflichtet,  dafür  zu  sorgen,  daß 
es  keine  Kriegshetze  gibt.  In  den  Demokratien  aber  haben  die  Regie- 
rungen nur  eine  Pflicht:  die  Demokratie  aufrechtzuerhalten,  das  heißt 
die  Freiheit,  wenn  notwendig  auch  zum  Kriege  hetzen  zu  dürfen! 

Ich  habe  kürzlich  drei  dieser  internationalen  Kriegshetzer  bei 
Namen  genannt.  Sie  haben  sich  getroffen  gefühlt,  aber  nicht  etwa  nach 
der  grundsätzlichen  Seite  hin,  nein,  nur  deshalb,  weil  ich  es  wagte,  sie 
beim  Namen  zu  nennen.  Herr  Churchill  hat  offen  erklärt,  er  sei  der 
Meinung,  daß  man  das  heutige  Regime  in  Deutschland  beseitigen  müsse 
unter  Zuhilfenahme  innerer  deutscher  Kräfte,  die  ihm  dankbar  dafür 
zur  Verfügung  stehen  würden. 

Wenn  Herr  Churchill  weniger  mit  Emigrantenkreisen,  das  heißt 
mit  ausgehaltenen,  vom  Ausland  bezahlten  Landesverrätern,  ver- 
kehren würde,  sondern  mit  Deutschen,  dann  würde  er  den  ganzen 
Wahnsinn  und  die  Dummheit  seines  Geredes  einsehen.  Ich  kann 
diesem  Herrn,  der  auf  dem  Monde  zu  leben  scheint,  nur  eines  ver- 
sichern :  Eine  solche  Kraft,  die  sich  gegen  das  heutige  Regime  wenden 
könnte,  gibt  es  in  Deutschland  nicht!  In  Deutschland  gibt  es  nur  eine 
Kraft,  die  Kraft  der  deutschen  Nation,  in  Führung  und  Gefolgschaft, 
in  Wehr  und  in  Waffen. 

Ich  will  diesem  Herrn  gar  nicht  bestreiten,  daß  wir  natürlich  kein 
Recht  haben,  etwa  zu  verlangen,  daß  die  anderen  Völker  ihre  Ver- 
fassungen ändern.  Ich  habe  aber  als  Führer  der  Deutschen  die  Pflicht, 
diese  Verfassung  und  die  Möglichkeiten,  die  sich  aus  ihr  ergeben,  zu 


"^^ 


Bl 


Das  Jahr  1938 


163 


berücksichtigen.  Wenn  vor  einigen  Tagen  der  Stellvertreter  des  eng- 
lischen Oppositionsführers  im  Unterhaus  erklärte,  er  mache  kein  Hehl 
daraus,  daO  er  es  begrüDen  würde,  wenn  Deutschland  und  Italien  ver- 
nichtet würden,  dann  kann  ich  natürlich  nicht  verhindern,  daß  dieser 
Mann  vielleicht  auf  Grund  der  demokratischen  Spielregehi  mit  seiner 
Partei  Lat^sächlich  in  ein  oder  zwei  Jahren  zur  Regierung  kommt. 

Aber  das  kann  ich  ihm  versichern:  ich  werde  verhindern,  daß  er 
Deutschland  vernichtet!  Und  genau  so  wie  ich  überzeugt  bin,  daß 
das  deutsche  Volk  dafür  sorgen  wird^  daC  die  Pläne  dieser  Herren  in 
bezug  auf  Deutschland  nie  gelingen,  genau  so  wird  auch  das  faschi- 
stische Itaüen,  das  weiß  ich,  für  sich  sorgen! 

Ich  glaube,  daß  für  uns  alle  diese  internationalen  Hoffnungen  nur 
eine  Lehre  sein  können^  fest  zusammenzustehen  und  fest  zu  unseren 
Freunden  zu  rücken.  Je  mehr  wir  in  Deutschland  selbst  eine  einzige 
Gemeinschaft  bilden,  um  so  geringer  werden  die  Aussichten  dieser 
Kriegshetzer  sein,  und  je  enger  wir  uns  besonders  mit  dem  Staat 
zusammenschließen,  der  sich  in  gleicher  Lage  befindet  wie  wir,  mit 
ItaUen,  um  so  mehr  wird  ihnen  die  Lust  vergehen,  mit  uns  anzubinden! 

Wenn  wir  das  Jahr  1938  heute  noch  einmal  im  Geiste  an  uns 
vorüberziehen  lassen,  dann  kann  es  uns  nur  mit  tiefstem  Stolz  und  mit 
größter  Freude  erfüllen.  Deutschland  ist  größer  geworden  auf  dem 
natürlichsten  und  auf  dem  moralisch  unanfechtbarsten  Wege,  den  es 
gibt!  Millionen  von  Volksgenossen,  deren  einzige  Sehnsucht  und  ein- 
ziges Ziel  es  war,  zu  Deutschland  zurückkehren  zu  können,  sind  nun 
in  unsere  Gemeinschaft  eingerückt!  Sic  werden  das  Reich  nunmehr 
mit  tragen  helfen  und  ihm  als  treue  Glieder  dienen,  weil  sie  selbst  am 
besten  erkennen  konnten,  was  es  heißt,  abgesprengt  und  verlassen  zu 
sein.  Dieses  Jahr  ist  aber  für  uns  auch  ein  Jahr  großer  Verpflichtungen : 

Wir  müssen  aus  ihm  die  Erkenntnis  und  den  Entschluß  gewinnen, 
den  erfolgreichen  Weg  niemals  mehr  zu  verlassen!  Wenn  die  andere 
Welt  von  Abrüstung  spricht,  dann  sind  auch  wir  dazu  bereit,  aber 
unter  einer  Bedingung:  daß  erst  die  Kriegshetze  abgerüstet  wird!  So- 
lange die  anderen  aber  von  Abrüstungen  nur  reden,  die  Kriegshetze 
aber  infam  weitertreiben,nehmen  wir  an,  daß  sie  uns  nur  unsere  Waffen 
stehlen  wollen,  um  uns  noch  einmal  das  Schicksal  von  1918/19  zu  be- 
reiten. 

Da  aber  kann  ich  den  Herren  Churchill  und  Genossen  nur  eines 
sagen:  Das  gibt  es  nur  einmal,  und  das  kehrt  nicht  wieder! 

Ich  habe  meinen  Weg  begonnen  mit  einem  unbändigen  Glauben 
an  das  deutsche  Volk.  Was  anders  hätte  uns  denn  damals  vor  der  Ver- 
zweiflung zurückhalten  können?  Ich  glaubte  an  das  deutsche  Volk, 
an  seine  inneren  Werte  und  damit  auch  an  seine  Zukunft. 

Heute  ist  dieser  Glaube  wunderbar  gerechtfertigt.  Er  hat  in  diesem 
letzten  Jahr  nur  noch  eine  weitere  Stärkung  erfahren.  Wie  hat  sich 
unser  Volk  in  diesen  fünf,  sechs  Jahren  bewährt!  Wie  ist  nicht  alles 
das  in  Erfüllung  gegangen,  was  ich  Jahr  um  Jahr  prophezeite,  und  was 
wir  alle  endlich  erwarteten. 

Wie  hat  sich  nicht  in  diesen  letzten  Wochen  und  Monaten  unser 

u* 


164  Deutflchland  -  England  [69 

Volk  80  ganz  wunderbar  benommen.  Sie  können  es  mir  glauben,  meine 
Volksgenossen,  ich  bin  ja  so  stolz  und  glücklich,  daß  ich  euer  Führer 
sein  darf. 

Gerade  in  diesen  letzten  Wochen  hat  unser  deutsches  Volk  ein 
ebenso  herrliches  Bild  harter  Entschlossenheit  gezeigt,  wie  ich  es  in 
seinen  schwersten  Belastungszeiten  im  Kriege  kennengelernt  habe: 
keine  Nervosität,  keine  Hast,  keine  Unsicherheit,  keine  Verzweiflungs- 
stimmung, sondern  Zuversicht  und  treueste  Gefolgschaft.  Jeder  ein- 
zelne Mann  und  jede  einzelne  Frau  hat  es  gewußt,  daß  das  Schicksal 
vielleicht  auch  den  letzten  Einsatz  von  uns  hätte  fordern  können. 

Dieser  Geschlossenheit  und  dieser  Ruhe  ist  es  zu  verdanken,  wenn 
dieser  letzte  Einsatz  uns  erspart  blieb!  Das  Schicksal  hat  uns  nicht 
in  die  Schranken  gefordert,  weil  es  uns  stark  wußte!  Das  wollen  wir 
als  Lehre  mitnehmen  für  alle  Zukunft! 

Dann  kann  unsere  m  geliebten  Deutschland  nichts  zustoßen,  jetzt 
nicht  und  nicht  in  alle  Ewigkeit. 

Deutschland!  Sieg  Heil! 
(DNB.  vom  7.  November  1938.) 

Die  Empfindungen,  die  sich  in  Deulschland  angesichls  dieser  merk- 
würdigen Entwicklung  der  Münchener  Versöhnungspolilik  in  England 
bilden  mußten,  wurden  am  7.  November  durch  Reichsaußenminister 
von  Ribbenirop  zum  Ausdruck  gebracht.  Angesichts  der  späteren  Ereig- 
nisse, die  zum  Kriegsausbruch  führten,  ist  besonders  hervorzuheben,  daß 
der  Reichsaußenminister  bewußt  die  ganze  Verantwortung  für  die  neue 
Heiz-  und  Rüstungswelle  der  Opposition  zuschob  und  geflissentlich  über 
den  Anteil  der  führenden  Männer  der  Regierung  daran  hinwegsah.  Deut- 
lich wird  an  dieser  Haltung  erkenntlich,  daß  der  Reichsaußenminister 
immer  noch  sorgfältig  vermied,  die  Brücken  zu  einem  besseren  deutsch- 
englischen Verhältnis  hinter  sich  abzubrechen, 

69.      Aus  der  Rede  des  ReidtsauBenmuiisters  von  Ribbentrop  vor  dem 
Verein  der  Aosländisdien  Presse  in  Berlin  vom  7.  November  1938 

Die  Stellung  des  Dritten  Reiches  als  Weltmacht  ist  heute  endgültig 
begründet.  Dies  bedeutet  aber  nicht,  daß  Deutschland  nicht  den 
Wunsch  nach  einem  Ausgleich  zwischen  den.  Interessen  der  verschie- 
denen Mächte  teilt. 

In  diesem  Zusammenhang  darf  hier  daran  erinnert  werden,  daß 
der  Führer  es  war,  der  die  Mächte  mit  dem  Ziel,  einen  friedlichen  Aus- 
weg aus  der  Krise  zu  finden,  im  September  nach  München  einlud.  In 
diesem  Sinne  hat  der  Führer  auch  mit  dem  englischen  Premierminister 
auf  dessen  Wunsch  am  Tage  seiner  Abreise  die  bekannte  deutsch-eng- 
lische Friedenserklärung  abgegeben. 

Um  so  erstaunter  waren  wir,  daß  die  erste  Antwort  auf  den  Geist 
von  München  in  der  Parole  bestand:  Der  Friede  ist  gerettet,  deshalb 
Aufrüstung  bis  zum  äußersten.  Dieses  neue  Aufrüstungsfieber  in  einigen 


70] Das  Jahr  1938 166 

Staaten  wird  gleichzeitig  begleitet  von  einer  erneuten  Hetze  der  unver- 
besserlichen Kriegstreiber. 

In  diesem  Zusammenhange  müssen  wir  leider  feststellen,  daß  diese 
Kriegshetzer,  in  der  Besorgnis,  man  könne  z.  B.  Deutschland  seine 
bekannte  und  unverrückbare  Rechtsforderung  auf  Rückgabe  der  ehe- 
maligen deutschen  Kolonien  erfüllen,  in  der  afrikanischen  Presse  eine  er- 
staunliche Propaganda  gegen  Deutschland  und  alles  Deutsche  betreiben. 

Ministerpräsident  Chamberlain  und  Außenminister  Lord  Halifax 
haben  in  weiser  Einsicht  allen  diesen  englischen  Kriegshetzern  und 
ihrer  die  Völker  auseinandertreibenden  Tätigkeit  eine  klare  Abfuhr 
erteilt.  Ebenso  haben  Frankreichs  Ministerpräsident  Daladier  und  sein 
Außenminister  Bonnet  in  den  letzten  Wochen  Reden  gehalten,  die  in 
Deutschland  einen  sympathischen  Widerhall  gefunden  haben. 

Es  ist  zu  erwarten,  daß  sich  im  weiteren  Verfolg  des  in  München 
mit  England  beschrittenen  Weges  in  Zukunft  neue  Möglichkeiten  des 
besseren  Verständnisses  auch  zwischen  Deutschland  und  Frankreich 
ergeben  werden  und  entsprechend  gestaltet  werden  können.  In  diesem 
Sinne  ist  der  Wunsch  des  französischen  Außenministers  nach  einer 
aufrichtigen  Zusammenarbeit  zwischen  Deutschland  und  Frankreich 
bei  uns  begrüßt  worden.  Der  soeben  bestätigte  Ausgleich  Italiens  mit 
England  liegt  auf  der  gleichen  Linie. 

Diese  Haltung  der  verantwortlichen  Staatsmänner  in  London  und 
Paris  läßt  die  Hoffnung  zu,  daß  letzten  Endes  doch  die  Vernunft  über 
die  Kriegshetzer  in  den  westlichen  Demokratien  die  Oberhand  gewinnen 
mag.  Der  Führer  hat  in  seiner  großen  Rede  in  Weimar  das  Treiben  dieser 
Kriegshetzer  mit  unerbittlicher  Schärfe  und  Logik  gebrandmarkt. 
Diesem  Treiben  gegenüber  steht  das  deutsche  Volk  einig  und  ge- 
schlossen hinter  seinem  Führer,  stark  und  wachsam,  immer  bereit 
zum  Frieden,  aber  ohne  Sorge  vor  dem  Krieg,  und  immer  entschlossen, 
die  Lebensrechte  der  Nation  gegen  jedermann  zu  wahren. 
(DNB.  vom  8.  Novem))er  1938.) 

Gerade  in  diesen  Monaten  zeigte  sich  jedoch  in  zahlreichen  Reden 
üeranlworllicher  britischer  Staatsmänner  und  Politiker^  wie  tief  die  Feind- 
schaft gegen  Deutschland  in  allen  führenden  Kreisen  des  englischen  öffent- 
lichen Lebens  verankert  war.  Die  Rede  des  Ministers  für  Überseehandel 
Hudson  vom  30.  November  1938  ließ  eine  der  tiefsten  Wurzeln  des  eng- 
lischen Kriegswillens  hervortreten:  den  Haß  gegen  den  durch  seinen 
größeren  Fleiß  und  seine  bessere  Leistung  auf  allen  Weltmärkten  trotz 
aller  Boykotthetze  immer  noch  erfolgreichen  deutschen  Konkurrenten. 

Aus  der  Unterhausrede  des  britischen  Ministers  für  Überseehandel   70. 
Hudson  vom  30.  November  1938 

Schließlich  kommen  wir  zu  dem  Kapitel  Deutschland.  Ein  ehren- 
wertes Mitglied  des  Hauses  hat  gefragt,  warum  wir  es  wie  die  Ver- 
einigten Staaten  von  Amerika  nicht  abgelehnt  haben,  die  Meistbegün- 


166 


DeuischlRnd  -  England 


[7a' 


stigungsklausel  auf  Deutschland  auszudehnen.  Meine  Antwort  darauf 
lautet,  daß  die  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  sich  geweigert  haben, 
die  MeistbegünstiguDgsklausel  auf  Deutschland  anzuwenden,  weil 
dieses  die  amerikanischen  Waren  in  Deutschland  nachteilig  behandelte 
Deutschland  läßt  britischen  Waren  in  Deutschland  keine  nachteilige' 
Behandlung  zuteil  werden.  Wir  haben  uns  darüber  zu  beklagen,  daß 
Deutschland  durch  seine  Methoden  den  Handel  in  der  ganzen  Welt 
zerstört.  Es  liegt  also  kein  Grund  vor,  die  Meistbegünsiigungsklausel 
fallenzulassen,  was  davon  abhängt,  wie  unsere  Waren  in  Deutschland  be- 
handelt werden.  In  Frage  st  cht  das  viel  umfassendere  Problem.wie  man  der 
neuen  Form  der  deutschen  Konkurrenz  in  der  ganzenWelt  entgegentritt ... 

Soweit  wir  feststellen  können  —  denn  es  ist  schwierig,  sich  wirk- 
lich genaue  Auskunft  darüber  zu  beschaffen^  wie  die  Dinge  eigent- 
lich in  Deutsehland  vor  sich  gehen  - — ,  besteht  die  Grundlage  für  die 
wirtschaftliche  Stellung  Deutschlands  darin,  daß  es  den  Erzeugern  von 
WareninZentral-undSüdosteuropa  bei  weitem  mehr  bezahlt.alsderWelt 
marktpreis  beträgt.  Es  ist  klar,  daß  Deutschland  dies  auf  Kosten  seines^ 
eigenen  Volkes  tut.  Wie  es  sein  eigenes  Volk  behandelt,  ist  Sache  der 
Deutschen  Regierung.  Wir  werden  aber  auch  davon  berührt.  . . 

Ich  versuche  Ihnen  klarzumachen,  daß  Deutschland  durch  solche 
Methoden  in  den  Ländern  dieses  Teiles  von  Europa  eine  Erdrosselungs- 
Stellung  erlangt,  und  zwar  eine  solche  unwirtschaftlicher  Art,  die  auf 
Kosten  seines  eigenen  Volkes  geht,  weil  nämlich  solche  Methoden  ein« 
Steigerung  der  Lebenshaltungskosten  des  eigenen  Volkes  und  tat 
sächlich  die  Ausfuhr  von  Waren  zu  einem  geringeren  Preis  als  der 
Selbstkostenpreis  bedeuten*  Verschiedene  ehrenwerte  Mitglieder  fragten, 
was  da  die  Lösung  sei  ? .  . . 

Wir  haben  alle  möglichen  Verfahren,  die  wir  ergreifen  könnten, 
geprüft.  Der  einzige  Weg,  den  wir  sehen,  ist  der,  daß  wir  unsere  Indu- 
strien so  organisieren,  daß  sie  in  die  Lage  versetzt  werden,  als  eine  ge- 
schlossene Einheit  den  entsprechenden  deutschen  Industrien  entgegen- 
zutreten und  ihnen  zu  sagen:  ,,Wenn  ihr  nicht  bereit  seid,  mit  euren' 
jetzigen  Methoden  ein  Ende  zu  machen  und  ein  Abkommen  zu  treffen, 
wonach  ihr  euch  verpflichtet,  eure  Waren  zu  Preisen  zu  verkaufen, 
die  einen  vernünftigen  Gewinn  gewährleisten,  dann  werden  wir  euch 
bekämpfen  und  euch  mit  euren  eigenen  Mitteln  schlagen.**  Unser 
Land  ist,  was  die  finanzielle  Seite  anlangt»  unendlich  viel  stärker  als, 
ich  möchte  sagen,  irgendein  anderes  Land  in  der  Welt,  aber  auf  alle 
Fälle  stärker  als  Deutschland  und  deswegen  genießen  wir  große  Vor- 
teile, die,  wie  ich  glaube,  dazu  führen  werden,  daß  wir  den  Kampf 
gewinnen.  Hierfür  ist  aber  notwendige  Voraussetzung,  daß  unsere 
eigenen   Industrien  organisiert  werden. 

(B:  Parliamentary  Debotes.  House  of  Common».  Bd.  342,  Sp.  502ff.  —  D: 
Dokumente  zur  Vorgeschichte  de^  Krieges,  Nr«  229.) 


Es  kann  nichi  wundernehmen^  daß  im  Verlauf  dieser  Auseinander- 
setzungen nach  München  die  brilische  Begierung  ihre  schon  früher  hmifig 
genug  bekandde   Weigerung,   den  deutschen   Hechisansprächen   in   der 


711 


Das  Jahr  1938 


167 


Koloniallrage  enigegenzukommen,  auch  jetzt  wieder  in  aller  Form  be- 
kräftigte,  wobei  sie  sich  wieder  hinler  dem  bekannten  fadenscheinigen 
Vorwand  verschanzte^  daß  ihre  Pflichten  als  Mandatarmacht  keine  all- 
einige Verfügung  über  die  Deutschland  geraubten  Kolonien  erlaube. 

Aufi  der  Uoterh ausrede  des  britischeii  Kolonialministerfl  Malcolm    71. 
MacDoDald  vom  7.  Dezember  1938 


Ich  glaube  nicht,  daß  es  heute  auch  nur  irgendeine  Gruppe  in 
diesem  Lande  gibt,  die  geneigt  ist,  irgendeinem  anderen  Land  die 
Sorge  für  irgendeins  der  Territorien  oder  Völker  zu  übertragen,  für 
deren  Regierung  wir  als  Kolonial-  oder  Mandatsmacht  verantwortlich 
sind.  Diese  Auffassung  hat  heute  nachmiLtag  in  jedem  Teil  des  Hauses 
Ausdruck  gefunden;  es  ist  eine  Auffassung,  die  von  Seiner  Majestät 
Regierung  geteilt  wird.  Wir  erörtern  diese  Frage  nicht;  wir  ziehen  sie 
nicht  in  Erwägung;  sie  ist  gegenwärtig  kein  Gegenstand  der  prak- 
tischen Politik. 

Faüs  wir  jemals  in  eine  Erörterung  dieser  Frage  treten  sollten, 
dürfen  gewisse  Dinge  nicht  vergessen  werden.  Vor  allem  ist  dies  Land 
nicht  das  einzige  beteiligte  Land.  Großbritannien  ist  nicht  das  einzige 
Land,  das  nach  dem  Kriege  zusätzliche  territoriale  Verantwortlich- 
keiten übernahm.  Andere  Länder  würden  gleichfalls  einbezogen  wer- 
den, und  die  Frage  müßte  von  allen  beteiligten  Ländern  zusammen  unter- 
sucht werden.  Es  gibt  jedoch  noch  eine  weitere  Erwägung  von  größter 
Tragweite,  auf  die  der  .\nlrag  und  beide  Amendements  Bezug  nehmen. 
DieVöIker,dieam  unmittelbarsten  und  vitalsten  von  irgendeinem  solchen 
Vorschlag  betroffen  würden,  sind  die  Völker,  die  in  den  Mandatsgebieten 
selbst  leben.  Wir  können  sie  nicht  als  bloße  Waren  oder  Vieh  betrachten, 
über  die  man  summarisch  verfügt;  wir  haben  Verantwortlichkeiten  und 
Verpflichtungen  gegenüber  diesen  Völkern.  Wir  müssen  ihren  eigenen 
W^ünschen  Beachtung  schenken;  wir  müssen  die  Wünsche  der  verschie- 
denen Bevölkerungsgruppen  in  diesen  Gebieten  in  Erwägung  ziehen. 

Soweit  britische  Mandatsgebiete  betroffen  sind,  kommen  nicht 
nur  die  großen  einheimischen  Eingeborenenbevölkerungen  in  Betracht; 
in  gewissen  Gegenden  gibt  es  auch  europäische  Siedler,  die  ihr  ganzes 
Vermögen  in  diesen  Ländern  angelegt  haben  und  an  ihrer  Entwicklung 
in  den  letzten  zwanzig  Jahren  stark  beteiligt  waren.  In  gewissen  Gegen- 
den gibt  es  bedeutende  indische  Gemeinden.  Wir  müssen  das  Recht 
dieser  Völker,  sich  zu  dieser  Frage  zu  äußern,  die  so  wichtig  für  sie  ist, 
berücksichtigen,  und  wir  müssen  ihren  Ansichten  volles  Gewicht  und 
volle  Bedeutung  beimessen.  Es  wäre  unmöglich,  irgendeine  Änderung 
des  Status  irgendeines  dieser  Gebiete  zu  erwägen,  ohne  die  spontanen 
Ansichten  der  Einwohner  voll  zu  berücksichtigen.  Außerdem  haben 
diese  Völker  gewisse  Vertragsrechte.  Diese  Völker  haben  gewisse  mate- 
rielle Interessen  in  diesen  Gebieten*  Diese  Rechte  und  Interessen 
müssen  voll  gewahrt  und  gesichert  werden. 

Ich  möchte  aber  außerdem  auch  noch  folgendes  wiederholen.  Das 


1939 


75]  Das  Jahr  1939 173 


Das  Jahr  1939  begann  wiederum  mil  unerfreulichen  diplomaiischen 
Auseinandersetzungen  über  empörende  Entgleisungen  der  britischen  Presse. 

Bericht  des  deotschen  Botschafters  in  London  75. 

vom  5.  Januar  1939 

Ich  habe  den  angeordneten  Schritt  erst  heute  ausgeführt,  um  den 
bisher  auf  Weihnacbtsurlaub  abwesenden  Lord  Halifax  persönlich 
sprechen  zu  können.  Ich  habe  schärfste  Verwahrung  gegen  die  in  dem 
Aufsatz  von  Welis  im  „News  Chronicle"  ausgesprochenen  schweren 
Beleidigungen  des  Führers  und  leitender  Staatsmänner  Deutschlands 
eingelegt  und  darauf  hingewiesen,  daß  die  Botschaft  in  den  letzten 
Monaten  leider  in  immer  größerem  Umfange  derartige  Beschwerden 
wegen  Verunglimpfungen  des  Führers  hätte  vorbringen  müssen;  ich 
führte  Lord  Halifax  diese  Beschwerden  und  ihren  Anlaß  vor  Augen, 
indem  ich  die  einzelnen  Fälle  zitierte.  Die  schwerste  Beschimpfung 
aber  enthalte  der  Neujahrsaufsatz  von  Wells  im  „News  Chronicle", 
der  weniger  von  der  Absicht  einer  Kritik  auszugehen  schiene,  die 
Beleidigungen  nicht  scheue,  als  lediglich  zu  dem  Zweck  geschrieben 
schiene,  eine  Häufung  von  schweren  Kränkungen  auf  den  Führer  und 
Reichskanzler  und  auf  dessen  nächste  Mitarbeiter  auszusprechen. 

Es  sei  mir  bekannt,  daß  die  Englische  Regierung  die  Möglichkeiten 
einer  unmittelbaren  Einflußnahme  auf  die  Presse  als  nicht  gegeben 
ablehne  und  daß  sie  auch  auf  den  Mangel  an  gesetzlichen  Handhaben 
hinweise.  Ich  hätte  auch  gesehen,  daß  die  beiden  Aufsätze  von  Wells 
nicht  einmal  vor  einer  herabsetzenden  Kritik  des  englischen  Königs- 
paares haltmachten  und  daß  sie  Chamberlain  schwer  beleidigten. 

Diese  Tatsachen  aber  könnten  nichts  an  der  Feststellung  ändern, 
daß  die  zahlreichen  Schmähungen  des  deutschen  Staatsoberhauptes 
und  die  Unmöglichkeit  einer  entsprechenden  Genugtuung  das  deutsche 
Volksempfinden  schwer  verletzten  und  nachteilige  Folgen  auf  die 
englisch-deutschen  Beziehungen  haben  müßten.  Ich  wollte  daher  erneut 
die  Frage  zur  Erörterung  stellen,  ob  nicht  wenigstens  für  die  Zukunft 
in  irgendeiner  Form  Abhilfe  geschaffen  werden  könnte. 

Lord  Halifax  erwiderte,  daß  er  nicht  anstehe,  den  genannten 
Artikel,  der  ihm  bekannt  sei,  als  die  empörendste  Schmähung  des 
Führers  zu  kennzeichnen,  die  er  bisher  in  der  Presse  gelesen  habe.  Er 


1 74  Deutsch land  -  England 


woUe  mir  daher  auch  sein  uneingeschränktes  Bedauern  über  diese 
Beleidigung  des  Führers  aussprechen  und  bäte  mich»  dieses  Bedauern 
der  Deutschen  Regierung  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Es  sei  höchst 
bedauerlich,  daß  in  den  letzten  Monaten  wieder  zahlreiche  Entglei* 
gungen  zu  verzeichnen  gewesen  seien ;  eine  Erklärung,  wenn  auch  keine 
Entschuldigung  dafür,  sei  in  der  Tatsache  zu  suchen,  daß  derartig 
Schniähariikel,  wie  z.  B,  auch  der  vorliegende,  vorwiegend  aus  inner 
politischen  Gründen  geschrieben  seien,  um  die  Englische  Regierung 
zu  treffen.  Auch  die  aUgemeinpolitische  gereizte  Stimmung,  die  jetzt 
vorherrsche,  sei  in  Betracht  zu  ziehen. 

Ich  erwiderte  Lord  Halifax,  daß  der  bisherige  Zustand  nicht 
fortdauern  könne.  Ich  müsse  ernstlich  ersuchen,  auf  irgendeine  Weis 
eine   Besserung   herbeizuführen,    uro    unerfreuliche   politische   Folge- 
ningen zu  vermeiden. 

Lord  Halifax  stellte  in  Aussicht,  daß  er  sein  möglichstes  im  Rahmen 
der  ihm  zur  Verfügung  stehenden  Einflußmöglichkeiten  tun  wolle,  um 
in  Zukunft  solche  Beschimpfungen  des  Führers  zu  unterbinden* 

Dirksen 
(Dokumente  zur  Vorgt*schichte  des  Kriegen,  Nr.  233.) 

-4  m  7^.  Januar  1939  machle  die  Reichsregierung  der  britischen 
Begierung  die  MiUeilung,  daß  Deutschland  seine  U-Boot-Tonnage  bis 
zur  Parität  mit  der  der  Milglieder  des  britischen  Reiches  ausbauen  sowie 
die  Bestückung  der  beiden  im  Bau  befindüchen  10  OÖO-t-Kreuzer  ändern 
und  damit  ro«  der  Gteitktausel  Gebrauch  machen  werde.  Diese  Mitteilung 
hiell  sich  vollkommen  im  Rahmen  der  Deutschland  durch  die  Flutten- 
vertrage  gewährten  Rechte.  Die  Reichstagsrede  des  Führers  vom  30.  Januar 
1939  enthielt  wiederum  —  wie  in  fast  allen  Jahren  —  in  ausdrücklichen 
Worten  den  Wunsch,  zu  freundschafilichen  Beziehungen  mit  England 
zu  gelangen, 

76.  Aus  der  Reidistagsrede  des  Führers  vom  30.  Januar  1939 

Deut^rhfand  hat  gegen  England  und  Frankreich  keine  territorialen 
Forderungen  außer  der  nach  Wiedergabe  unserer  Kolonien.  So  sehr 
eine  Lösung  dieser  Frage  zur  Beruhigung  der  Welt  beitragen  würde, 
so  wenig  handelt  es  sich  dabei  um  Probleme,  die  allein  eine  kriegerische 
Auseinandersetzung  bedingen  körmten. 

Wenn  überhaupt  heute  in  Europa  Spannungen  bestehen,  so  ist 
dies  in  erster  Linie  dem  unverantwortlichen  Treiben  einer  gewissen- 
losen Presse  zuzuschreiben,  die  kaum  einen  Tag  vergehen  läßt,  ohne 
durch  ebenso  dumme  wie  verlogene  Alarmnachrichten  die  Menschheit 
in  Unruhe  zu  versetzen. 

Was  sich  hier  verschiedene  Organe  an  Weltbrunnen  Vergiftung  er- 
lauben» kann  nur  als  kriminelles  Verbrechen  gewertet  werden.  In  letzter 
Zeit  wird  versucht,  auch  den  Rundfunk  in  den  Dienst  dieser  inter- 
nationalen Hetze  zu  stellen. 


761 


Das  Jahr  1939 


175 


Ich  möchte  hier  eine  Warnung  aussprechen:  Wenn  die  Rundfunk- 
sendungen aus  gewissen  Ländern  nach  Deutschland  nicht  aufhören, 
werden  wir  sie  demnächst  beantworten. 

Hoffentlich  kommen  dann  nicht  die  Staatsmänner  in  kurzer  Zeit 
mit  dem  dringenden  Wunsch^  zum  normalen  Zustand  wieder  zurück- 
zukehren. Denn  ich  glaube  nach  wie  vor,  daß  unsere  Aufklärung  wirk- 
samer sein  wird  als  die  Lügenkampagne  dieser  jüdischen  Völker- 
verhetzer. 

Auch  die  Ankündigung  amerikanischer  Filmgesellschaften,  anti- 
nazistische, das  heißt  antideutsche  Filme  zu  drehen,  kann  uns  höchstens 
bewegen,  in  unserer  deutschen  Produktion  in  Zukunft  antisemitische 
Filme  herstellen  zu  lassen.  Auch  hier  soll  man  sich  nicht  über  die  Wir- 
kung täuschen.  Es  wird  sehr  viele  Staaten  und  Völker  geben,  die  für 
eine  so  zusätzliche  Belehrung  auf  einem  so  wichtigen  Gebiet  großes 
Verständnis  besitzen  werden! 

Wir  glauben,  daß,  wenn  es  gelänge,  der  jüdisch-intcjnationalen 
Presse-  und  Propagandahetze  Einhalt  zu  gebieten,  die  Verständigung 
unter  den  Völkern  sehr  schnell  hergestellt  sein  würde. 

Nur  diese  Elemente  hoffen  unentwegt  auf  einen  Krieg,  Ich  abei 
glaube  an  einen  langen  Frieden! 

Denn  welche  Interessengegensätze  bestehen  z,  B.  zwischen  Eng- 
land und  Deutschland  ?  Ich  habe  mehr  als  oft  genug  erklärt,  daß  es  keinen 
.  Deutschen  und  vor  allem  keinen  Nationalsozialisten  gibt,  der  auch 
nur  in  Gedanken  die  Absicht  besäße,  dem  englischen  Weltreich  Schwie- 
rigkeiten bereiten  zu  wollen. 

Und  wir  vernehmen  auch  aus  England  Stimmen  vernünftig  und 
ruhig  denkender  Menschen,  die  die  gleiche  Einstellung  Deutschland 
I  gegenüber  zum  Ausdruck  bringen.  Es  würde  ein  Glück  sein  für  die 
►  ganze  Welt,  wenn  die  beiden  Völker  zu  einer  vertrauensvollen  Zu- 
sammenarbeit gelangen  könnten. 

(Verhandlungeo  des  Reichstags,  Bd,  460,  S.  19.) 

Am  S,  Februar  gab  der  briiische  Außenrninhler  Lord  Halifax  dem 
Wunsche  nach  einer  Vertiefung  der  Handelsbeziehungen  zum  Deutschen 
Reich  Ausdruck,  Der  Handehminisler  OUver  Stanley  gab  am  7.  Februar 
im  Unterhaus  Mitteilung  von  Verhandlungen  zwischen  deutschen  und 
englischen  Industriegruppen.  Am  18,  Februar  weilte  Reichsorganisations- 
teiter  Dr.  Ley  anläßlich  der  Arbeitstagung  des  .^internationalen  Beraiungs- 
ausschusses*'  und  des  internationalen  Zeniralverbandes  ^.Freude  und 
Arbeit*  in  London  und  wurde  von  Premierminister  Chamberlain  emp- 
fangen. 

Zwischen  den  Vertretern  der  deutschen  und  englischen  Kohlenindustrie 
wurden  am  21.  Februar  die  Verhandlungen  mit  positivem  Ergebnis  ab- 
geschlossen. Am  gleichen  Tage  äußerte  sich  Premierminister  Chamberlain 
im  Unterhaus  über  die  Aussichten  einer  Friedenskonferenz  und  fand  dabei 
bemerkenswerte  Worte  über  das  in  Engtand  herrschende  übertriebene 
Mißtrauen  und  die  Leichtgläubigkeit  im  Hinblick  auf  die  Angriffs- 
absichlen  anderer. 


176  Deutschland  -  England  [78 

77.  Aos  der  Unterhanserklänuig  des  britischen  Premierministers 

Chamberlain  vom  21.  Febmar  1939 

Der  Premierminister:  Wenn  ich  glauben  könnte,  daß  eine  solche 
Friedenskonferenz  gegenwärtig  ein  positives  Ergebnis  zeitigen  könnte, 
würde  ich  nicht  zögern,  sie  einzuberufen.  Aber  eine  gescheiterte  Kon- 
ferenz wäre  schlechter  als  gar  keine.  Ich  glaube,  wir  müssen,  bevor 
wir  mit  dem  Erfolg  einer  solchen  Konferenz  rechnen  können,  sicher 
sein,  daß  die  Teilnehmer  einen  guten  Willen  und  die  Entschlossenheit 
mitbringen,  zu  dem  gewünschten  Ergebnis  zu  kommen.  Ich  glaube 
nicht,  daß  bisher  genügend  Vertrauen  geherrscht  hat,  um  die  Kon- 
ferenz schon  heute  als  einen  praktischen  Vorschlag  erscheinen  zu  lassen. 

Mr.  Maxton:  Der  Premierminister  sagte,  daß  sich  die  Einberufung 
einer  Konferenz  nicht  lohnt,  wenn  unter  den  Teilnehmern  nicht  ein 
Geist  des  guten  Willens  herrsche.  Aber  waren  diese  Vorbedingungen 
denn  gegeben,  als  der  Premierminister  nach  Berchtesgaden,  Godesberg 
und  München  fuhr? 

Der  Premierminister:  Ja,  ich  glaube,  daß  die  Teilnehmer  der  Kon- 
ferenz von  München  mit  der  Absicht  dorthin  gingen,  die  Konferenz 
zu  einem  Erfolg  zu  führen.  Doch  das  war  ein  Einzelfall.  Wenn  ich  genau 
so  vertrauensvoll  in  bezug  auf  den  befriedigenden  Abschluß  einer  Ab- 
rüstungskonferenz sein  könnte,  würde  ich  der  erste  sein,  der  sie  befür- 
wortet. Aber  ich  glaube,  wir  müssen,  bevor  die  Zeit  für  eine  solche 
Konferenz  gekommen  ist,  in  bezug  auf  das  Vertrauen  noch  etwas 
größere  Fortschritte  machen. 

Vielleicht  würde  es  gar  nicht  so  schlecht  sein,  wenn  wir  selbst 
etwas  mehr  Vertrauen  zeigen  und  nicht  jede  Nachricht  glauben  würden, 
die  uns  über  die  Angriffsabsichten  anderer  erreicht.  Ich  bin  nicht  sicher, 
ob  die  ehrenwerten  Mitglieder  sich  darüber  klar  sind,  wie  diese  Haltung 
des  Mißtrauens  anderswo  ihre  Parallele  findet. 

(E:  Parliamentary  Debates.  House  of  Gommons.  Bd.  344,  Sp.  233 f.   —   D: 
Monatshefte  für  AuswfirUge  PoUUk,  1939.  S.  283.) 

Alle  diese  bescheidenen  Ansähe  einer  deutsch-englischen  Zusammen- 
arbeii^  die  sich  trotz  der  Rästungsdebatten  der  letzten  Monate  angelnihni 
hatten,  fanden  jedoch  mit  den  Ereignissen  des  März  1939  radikal  ein  Ende. 
Ein  Mitglied  der  tschechischen  Gesandtschaft  in  London  hatte  noch  am 
12.  März  1939  über  die  Politik  Chamberlains  Worte  gefunden,  die  im 
Hinblick  auf  die  folgenden  Ereignisse  und  auf  die  Reaktion  Englands 
auf  die  Eingliederung  des  Protektorats  besondere  Beachtung  verdienen, 

78.  Aos  dem  Bericht  des  tschechisclien  Vertrauensmannes  in  London, 

Prof.  F.  Dvornik,  vom  12.  März  1939 

Wir  haben  schon  früher  auf  die  Taktik  Chamberlains  aufmerksam 
gemacht,  Hitler  ständig  irgendwelche  Knüppel  unter  die  Füße  zu 
werfen,  über  welche  er  auf  seinem  Wege  zu  seinen  Zielen  stolpern  würde. 


79]  I^as  Jahr  1939  177 

ihn  nervös  zu  machen  und  ihn  abzurackern  durch  unaufhörliche 
Schwierigkeiten  und  Komplikationen.  Nur  daß  sich  dieses  Interesse 
Englands  und  Chamberlains  —  leider  —  nicht  völlig  mit  dem  unsern 
deckt.  Es  ist  nämlich  möglich,  daß  Hitler  den  Knüppel,  über  welchen 
er  stolperte,  im  Zorn  völlig  zerhackte,  so  daß  niemals  mehr  jemand 
mit  ihm  ein  solches  Spiel  aufführen  könnte. 

Die  Engländer  würden  keinen  Fuß  rühren,  daß  dieser  Knüppel, 
der  eine  Weile  in  der  englischen  Politik  eine  untergeordnete  Rolle 
gespielt  hat,  aus  Hitlers  Händen  gerissen  und  vor  dem  Zerhacken 
bewahrt  würde.  Ich  denke,  daß  der  Sinn  dieses  „Gleichnisses"'  klar 
ist  und  keiner  langen  Erläuterung  bedarf. 

(Aus  den  Akten  des  Iscliechoslowakischen  AuOenministeriums.) 

Die  letzte  Phase  der  deutsch-englischen  Beziehungen  steht  im  Zeichen 
der  völlig  unvernünftigen  und  unbegründeten  Reaktion  Englands  auf  die 
deutschen  Schritte,  die  zur  Errichtung  des  Protektorats  Böhmen  und 
Mähren  führten.  Auf  dem  Hintergrunde  einer  hemmungslosen  Agitation 
und  einer  wilden  und  verantwortungslosen  Aufpeitschung  der  öffentlichen 
Meinung  in  England  ließ  sich  die  britische  Regierung  zu  jenem  verhäng- 
nisvollen Schritte  hinreißen,  der  dann  den  Ablauf  der  Ereignisse  zwangs- 
läufig bis  zum  bitteren  Ende  vorherbestimmte:  zu  der  Erteilung  eines 
Beistandsversprechens,  das  von  der  polnischen  Regierung  als  eine  Blanko- 
vollmacht aufgefaßt  werden  mußte  und  aufgefaßt  wurde, 

Beridit  des  deotsdien  Botsdiafters  in  London  79. 

vom  18.  März  1939 

Bei  meinem  heutigen  Protest  gegen  Beschimpfung  des  Führers 
durch  den  Abgeordneten  Duff  Cooper  habe  ich  Lord  Halifax  gegen- 
über folgendes  ausgeführt: 

Ich  hätte  wiederholt  über  schwere  Verunglimpfungen  des  Führers 
Klage  führen  müssen;  diese  Beleidigungen  seien  in  der  Presse  aus- 
gesprochen gewesen,  und  man  habe  mir  daraufhin  geantwortet,  daß 
die  Britische  Regierung  diese  Ausfälle  zwar  bedauert  und  in  Aussicht 
gestellt  habe,  ihren  Einfluß  auf  die  Presse  geltend  machen  zu  wollen; 
da  dieser  Einfluß  aber  beschränkt  sei  und  die  gesetzlichen  Handhaben 
zum  Vorgehen  gegen  die  Presseorgane  fehlten,  sei  eine  wirksame  Ab- 
stellung nicht  möglich.  Ich  wolle  daher  auf  verschiedene  schwere 
Beleidigungen  des  Führers,  die  in  den  letzten  Tagen  in  der  Presse 
wiedergegeben  seien,  nur  hinweisen. 

Bei  Duff  Cooper  aber  liege  dieser  Fall  anders.  Hier  habe  ein  eng- 
lischer Abgeordneter  in  einer  Sitzung  des  Unterhauses  den  Führer 
in  gemeinster  Weise  beschimpft,  ohne  daß  der  Speaker  eingeschritten 
sei  und  ohne  daß  ein  Mitglied  der  Regierung  diese  Sprache  zurück- 
gewiesen hätte.  Es  sei  mir  bekannt,  daß  das  Unterhaus  keine  Geschäfts- 
ordnung wie  andere  Parlamente  habe,  sondern  nach  Gewohnheitsrecht 
geleitet  werde.  Ich  müsse  aber  darauf  hinweisen,  daß  laut  einer  Zei- 

Deutschland-England  12 


TT 


178 


Deutsehland  •  Enivland 


[80 


tungsnotiz  das  bekannte  staatsrechtliche  Werk  von  Erskine  May 
als  üblich  bezeichne,  daß  abfällige  Bemerkungen  über  fremde  Staats- 
oberhäupter nicht  ausgesprochen  werden  sollten, 

Lord  Halifax  erwiderte  hierauf,  was  den  Abgeordneten  Gooper 
angehe,  so  sei  dieser  vom  Führer  ebenfalls  angegriffen  und  als  Kriegs- 
treiber bezeichnet  worden.  Es  sei  daher  wohl  verständlich,  daß  eine 
Reaktion  seitens  des  Angegriffenen  erfolge.  Für  die  Mitglieder  der 
Regierung  sei  es  nach  den  geltenden  Gepflogenheiten  nicht  möglich 
gewesen,  einzugreifen  und  derartige  Angriffe  zurückzuweisen;  der 
Speaker  sei  autonom  in  seinen  Befugnissen  und  könne  keine  Weisungen 
hinsichtlich  seiner  Geschäftsführung  erhalten. 

kh  fragte  hierauf  Halifax,  ob  die  Britische  Regierung  jetzt  auf 
dem  Standpunkt  stehe,  daß  fremde  Staatsoberhäupter  gewissermaßen 
vogelfrei  seien. 

Der  Außenminister  erwiderte,  das  habe  er  damit  nicht  sagen 
wollen. 

Ich  wies  Lord  Halifax  darauf  hin,  daß  eine  Gleichstellung  des 
Führers  mit  Du  ff  Cooper  wegen  ihrer  durchaus  verschiedenen  Stellungen 
nicht  möglich  sei.  Außerdem  habe  der  Führer  Du  ff  Cooper  niemals 
beschimpft,  sondern  ihm  nur  den  zutreffenden  Vorwurf  gemacht,  daß 
die  von  Cooper  befolgte  Politik  zum  Kriege  führen  müsse.  Da  Cooper 
das  Kabinett  mit  der  Begründung  verlassen  habe,  daß  er  die  friedens- 
erhaltende Politik  Chamberlains  nicht  mitmachen  könne,  so  hätten 
die  Angriffe  des  Führers  nur  eine  Darstellung  eines  vorhandenen  Tat- 
bestandes enthalten. 

Ich  gab  meinem  Befremden  darüber  Ausdruck,  daß  Lord  Halifax 
nicht  in  der  Lage  sei,  mir  eine  befriedigende  Erklärung  abzugeben; 
gerade  England  könne  sich  über  unsere  Haltung  gegenüber  der  Herein- 
ziehung des  Staatsoberhauptes  in  die  Tagespresse  nicht  beklagen.  Dies 
ergebe  sich  aus  der  Diskretton  unserer  Presse  während  der  Abdankung 
des  früheren  Königs.  Nicht  einmal  die  leitenden  Staatsmänner  der 
jetzigen  oder  einer  vorherigen  Regierung  seien  von  amtlichen  Persön- 
lichkeiten angegriffen  oder  gar  beschimpft  worden. 

Lord  Halifax  mußte  dies  zugeben.  Er  erklärte,  daß  er  dem  Premier- 
minister Bericht  erstatten  werde. 

Ich  erwiderte,  daß  ich  meiner  Regierung  ebenfalls  einen  Bericht 
über  den  Verlauf  der  Unterredung  erstatten  würde. 

von  Dirksen 
(Dokumente  zur  Vorgeschichte  des  Krieges,  Nr.  247.) 


80. 


Rede  des  britischen  Premierministers  Cbamberlain 
in  Birmingham  vom  17.  M'irz  1939 


Eines  ist  gewiß.  Die  Öffentliche  Meinung  der  Welt  hat  einen 
stärkeren  Schock  erfahren,  als  ihr  bis  jetzt,  selbst  durch  das  gegen- 
wärtige Regime  in  Deutschland,  jemals  zugefügt  worden  ist.  Welches 
die  endgültigen  Auswirkungen  dieser  tiefgehenden  Beunruhigung  auf 


Das  Jahr  1939 


!79 


die  Gemüter  der  Menschen  sein  werden,  ist  noch  nicht  abzusehen; 
eines  aber  ist  sicher,  daß  nämlich  diese  Beunruhigung  weitreichende 
Folgen  für  die  Zukunft  haben  wird.  Am  vergangenen  Mittwoch  fand 
darüber  eine  Debatte  im  Unterhause  statt,  und  zwar  an  dem  gleichen 
Tage,  an  dem  die  deutschen  Truppen  in  die  Tschechoslowakei  ein- 
marschierten, und  wir  alle,  ganz  besonders  aber  die  Regierung,  waren 
im  Nachteil,  weil  die  uns  zur  Verfügung  stehenden  Nachrichten  nur 
teilweiser  und  zum  erheblichen  Teil  nichtamtlicher  Art  waren.  Wir 
hatten  keine  Zeit,  diese  Nachrichten  zu  prüfen,  noch  viel  weniger 
aber,  uns  darüber  eine  wohlerwogene  Meinung  zu  bilden.  Daraus  ergab 
sich  zwangsläufig,  daB  ich,  im  Namen  der  Regierung  sprechend,  ange- 
sichts der  Verantwortung,  die  mit  dieser  Stellung  verbunden  ist,  mich 
gezwungen  sah,  mich  auf  eine  stark  zurückhaltende  und  vorsichtige 
Darlegung  dessen  zu  beschränken,  über  das  ich  seinerzeit,  wie  ich 
glaubte,  nur  geringe  Erläuterungen  abgeben  konnte;  und  vielleicht 
war  es  auch  ganz  natürlich,  daß  diese  etwas  kühle  und  sachliche  Er- 
klärung Grund  zu  einem  Mißverständnis  gab,  und  daß  einige  Leute 
glaubten,  daß  meine  Kollegen  und  ich,  weil  ich  ruhig  sprach  und 
meinen  Gefühlen  nur  beschränkten  Ausdruck  gab,  uns  von  der  An- 
gelegenheit nicht  stark  beeindruckt  fühlen.  Ich  hoffe,  diesen  Irrtum 
heute  abend  berichtigen  zu  können. 

Zunächst  möchte  ich  aber  etwas  zu  dem  Argument  sagen,  das  sich 
aus  diesen  Ereignissen  heraus  entwickelt  hat,  in  dieser  Debatte  benutzt 
wurde  und  seither  in  verschiedenen  Organen  der  Presse  erschienen  ist. 
Es  ist  behauptet  worden,  daß  diese  Besetzung  der  Tschechoslowakei 
die  unmittelbare  Folge  des  Besuches  gewesen  sei,  den  ich  im  ver- 
gangenen Herbst  Deutschland  abstattete,  und  daß,  da  die  Ergebnisse 
dieser  Ereignisse  in  der  Zerreißung  der  in  München  erreichten  Ver- 
ständigung bestanden  hätten,  damit  bewiesen  sei,  daß  die  ganzen 
Umstände,  unter  denen  diese  Besuche  erfolgt  seien,  irrig  gewesen  seien. 
Es  wird  behauptet,  daß,  weil  es  sich  um  eine  persönliche  Politik  des 
Premierministers  gehandelt  habe,  ihn  die  Schuld  an  dem  Schinksal 
der  Tschechoslowakei  treffen  müsse.  Das  ist  eine  gänzlich  unvertret- 
bare Schlußfolgerung.  Die  Tatsachen,  wie  sie  sich  heute  darstellen, 
können  an  dem  Zustand  der  Tatsachen,  wie  er  im  vergangenen  Sep- 
tember bestand,  nichts  ändern.  Wenn  ich  damals  recht  hatte,  so  habe 
ich  heute  auch  noch  recht.  Dann  gibt  es  einige  Leute,  die  erklären: 
„Wir  waren  der  Ansicht,  daß  Sie  im  September  unrecht  hatten,  und 
nunmehr  ist  festgestellt,  daß  wir  recht  hatten." 

Lassen  Sie  mich  das  einmal  überprüfen.  Als  ich  mich  entschloß, 
mich  nach  Deutschland  zu  begeben,  erwartete  ich  niemals,  der  Kritik 
zu  entgehen.  Ich  ging  bestimmt  nicht  nach  Deutschland,  um  Popula* 
rität  zu  erhaschen.  Ich  begab  mich  in  erster  Linie  und  vornehmlich 
aus  dem  Grunde  nach  Deutschland,  weil  mir  dieser  Schritt,  angesichts 
der  fast  verzweifelten  Lage,  als  die  einzige  Möglichkeit  erschien,  einen 
europäischen  Krieg  zu  vermeiden.  Und  ich  darf  Sie  daran  erinnern, 
daß  sich,  als  zum  ersten  Male  angekündigt  wurde,  daß  ich  im  Begriff 
stünde,  abzureisen,  nicht  eine  einzige  Stimme  der  Kritik  erhob.  Alle 


180  Deutschland  -  England  [80 

zollten  diesem  Bestreben  Beifall.  Erst  später,  als  es  sich  herausstellte, 
daß  die  Ergebnisse  der  endgültigen  Verstöndigung  hinter  den  Er- 
wartungen einiger  Leute,  die  die  Tatsachen  nicht  voll  würdigten, 
zurückblieben,  erst  dann  begannen  die  Angriffe,  und  selbst  dann  war 
es  nicht  der  Besuch,  sondern  waren  es  die  Verständigungsbedingungen, 
die  gemißbilligt  wurden. 

Nun,  ich  habe  niemals  bestritten,  daß  die  Bedingungen,  die  ich 
in  München  zu  erreichen  in  der  Lage  war,  nicht  denjenigen  entsprachen, 
die  mir  selbst  willkommen  gewesen  sein  würden.  Aber  ich  hatte  mich, 
wie  ich  damals  erklärte,  mit  keinem  neuen  Problem  zu  befassen.  Es 
handelte  sich  um  etwas,  was  seit  dem  Frieden  von  Versailles  immer 
bestanden  hatte,  um  ein  Problem,  das  schon  längst  hätte  gelöst  werden 
müssen,  wenn  nur  die  Staatsmänner  der  letzten  zwanzig  Jahre  eine 
großzügigere  und  aufgeklärtere  Auffassung  von  ihrer  Pflicht  gehabt 
hätten.  Dieses  Problem  hatte  sich  wie  eine  lange  vernachlässigte 
Krankheit  entwickelt,  und  ein  operativer  Eingriff  erwies  sich  als  not- 
wendig, um  das  Leben  des  Patienten  zu  retten. 

Jedenfalls  wurde  der  erste  und  unmittelbarste  Zweck  meines 
Besuches  erreicht.  Der  Frieden  Europas  war  gerettet;  und  wenn  diese 
Besuche  nicht  stattgefunden  hätten,  so  würden  heute  Hunderttausende 
von  Familien  um  die  Blüte  der  besten  jungen  Männer  Europas  trauern. 
Ich  möchte  noch  einmal  meinen  tiefempfundenen  Dank  allen  jenen 
Berichterstattern  abstatten,  die  aus  allen  Teilen  der  Welt  an  mich 
geschrieben  haben,  um  ihrer  Dankbarkeit  und  ihrer  Anerkennung  für 
das,  was  ich  damals  tat  und  was  ich  seither  versucht  habe  zu  tun, 
Ausdruck  zu  geben. 

Ich  habe  wirklich  keinen  Grund,  für  meine  im  vergangenen  Herbst 
Deutschland  abgestatteten  Besuche  Entschuldigungen  vorzubringen. 
Denn  welche  Wahl  hatten  wir?  Nichts  von  dem,  was  wir  hätten  unter- 
nehmen können,  nichts  von  dem,  was  Frankreich  oder  Rußland  hätten 
unternehmen  können,  wäre  dazu  angetan  gewesen,  die  Tschechoslowakei 
vor  einem  Einmarsch  und  vor  der  Vernichtung  zu  bewahren.  Selbst 
wenn  wir  später  zum  Kriege  geschritten  wären,  um  Deutschland  für 
sein  Vorgehen  zu  strafen,  und  wenn  wir  nach  den  furchtbaren  Ver- 
lusten, die  allen  Teilnehmern  an  einem  Kriege  zugefügt  worden  wären, 
schließlich  siegreich  geblieben  wären,  würde  es  uns  niemals  möglich 
gewesen  sein,  die  Tschechoslowakei  in  derselben  Form  wiederaufzu- 
richten, die  sie  durch  den  Frieden  von  Versailles  gefunden  hatte. 

Mit  meiner  Reise  nach  München  verband  ich  aber  noch  einen 
weiteren  Zweck,  und  zwar  die  Förderung  der  Politik,  die  ich  von  dem 
Augenblick  an,  da  ich  meinen  jetzigen  Posten  übernahm,  verfolgt 
habe,  eine  Politik,  die  zuweilen  als  die  Politik  der  europäischen  Be- 
ruhigung bezeichnet  wird,  obgleich  ich  selbst  nicht  der  Ansicht  bin, 
daß  es  sich  dabei  um  eine  sehr  glückliche  Bezeichnung  oder  um  eine 
solche  handelt,  die  den  Zweck  dieser  Politik  genau  umschreibt.  Wenn 
diese  Politik  erfolgreich  sein  sollte,  so  war  es  von  wesentlicher  Bedeu- 
tung, daß  keine  Macht  den  Versuch  unternehmen  sollte,  die  allgemeine 
Vorherrschaft  in  Europa  zu  erlangen,  sondern  daß  jede  einzelne  Macht 


80] Das  Jahr  1939 181 

damit  zufrieden  sein  sollte,  vernunftmäßige  Möglichkeiten  zur  Ent>vick- 
lung  ihrer  eigenen  Hilfsquellen  zu  erlangen,  sich  ihren  eigenen  Anteil 
am  internationalen  Handel  zu  sichern  und  die  Lebensbedingungen 
ihres  eigenen  Volkes  zu  verbessern.  Ich  glaubte,  obgleich  das  vielleicht 
ein  Aufeinanderprallen  der  Interessen  verschiedener  Staaten  bedeuten 
konnte,  daß  es  trotzdem  durch  die  Übung  gegenseitigen  guten  Willens 
und  auf  Grund  eines  Verständnisses  für  den  Umfang  der  Wünsche 
anderer  möglich  sein  sollte,  alle  Meinungsverschiedenheiten  durch 
Erörterung  und  ohne  einen  bewaffneten  Konflikt  zu  lösen.  Indem  ich 
mich  nach  München  begab,  hoffte  ich,  durch  persönliche  Fühlung- 
nahme festzustellen,  welche  Gedanken  Herrn  Hitler  bewegten  und  ob 
eine  Wahrscheinlichkeit  dafür  bestehe,  daß  er  bereit  sein  werde,  bei 
einem  Programm  dieser  Art  mit  uns  zusammenzuarbeiten.  Nun,  die 
Atmosphäre,  in  der  unsere  Erörterungen  stattfanden,  war  keine  sehr 
günstige,  weil  wir  uns  inmitten  einer  akuten  Krise  befanden.  In  den 
Pausen  zwischen  mehreren  offiziellen  Besprechungen  hatte  ich  aber 
trotzdem  gewisse  Gelegenheiten,  mich  mit  ihm  zu  unterhalten  und 
seine  Ansichten  zu  erfahren,  und  ich  glaubte,  daß  die  Ergebnisse  nicht 
gänzlich  unbefriedigend  seien. 

Nach  Rückkehr  von  meinem  zweiten  Besuch  berichtete  ich  dem 
Unterhause  über  meine  meinerseits  mit  Herrn  Hitler  stattgehabte  Be- 
sprechung, von  der  ich  erklärte,  daß  Hitler,  mit  tiefem  Ernst  sprechend, 
wiederholt  habe,  was  er  bereits  in  Berchtesgaden  erklärt  hatte,  daß 
es  sich  nämlich  um  die  letzte  seiner  territorialen  Bestrebungen  in  Eu- 
ropa handle  und  daß  er  nicht  den  Wunsch  habe,  in  das  Reich  Völker, 
die  einer  anderen  Rasse  als  der  deutschen  angehörten,  einzuverleiben. 
Herr  Hitler  selbst  bestätigte  diesen  Bericht  über  die  Besprechung  in 
der  Rede,  die  er  im  Sportpalast  in  Berlin  hielt,  indem  er  erklärte 
„  .  .  .  dies  ist  der  letzte  territoriale  Anspruch,  den  ich  in  Europa  zu 
stellen  habe."  Und  ein  wenig  später  erklärte  er  in  der  gleichen  Rede: 
„  .  .  .  Ich  habe  Herrji  Chamberlain  versichert,  und  ich  betone  das 
hiermit,  daß  es  für  Deutschland  nach  Lösung  dieses  Problems  keine 
weiteren  territorialen  Probleme  in  Europa  gibt.**  Und  er  fügte  hinzu: 
„Ich  werde  an  dem  tschechischen  Staate  kein  weiteres  Interesse  habenund 
dafür  kannichgarantieren.WirwollennichtnochmehrTschechenhaben.** 

Und  dann  findet  sich  auch  im  Münchener  Abkommen  selbst,  das 
die  Unterschrift  des  Herrn  Hitler  trägt,  die  folgende  Bestimmung: 
„Die  endgültige  Grenzfestsetzung  wird  durch  eine  internationale 
Kommission  erfolgen**  —  die  endgültige  Festsetzung.  Und  schließlich 
brachten  wir  in  der  Erklärung,  die  er  und  ich  gemeinsam  in  München 
unterzeichneten,  zum  Ausdruck,  daß  jede  weitere  Frage,  die  unsere 
beiden  Länder  betreffen  würde,  nach  dem  Konsultationsverfahren 
behandelt  werden  solle. 

Nun,  angesichts  dieser  wiederholten,  mir  freiwillig  gegebenen  Ver- 
sicherungen hielt  ich  mich  für  berechtigt,  darauf  meine  Hoffnung  zu 
stützen,  daß  es,  wenn  erst  einmal  diese  tschechoslowakische  Frage  ge- 
regelt sein  würde,  wie  es  in  München  den  Anschein  hatte,  möglich 
sein  würde,  die  Politik  der  Beruhigung,  die  ich  beschrieben  habe, 


182 


Deutschland  -  England 


[80 


weiter  fortzuführen.  Dennoch  aber  war  ich  zur  gleichen  Zeit  nicht 
bereit»  in  meiner  Vorsicht  nachzulassen,  bis  ich  davon  überzeugt  seinj 
würde,  daD  diese  Politik  eingeleitet  worden  »ei  und  daß  auch  andere! 
sich  diese  Politik  zu  eigen  gemacht  hätten,  und  deshalb  wurde  nach 
München  unser  Verteidigungsprogramm  tatsächlich  beschleunigt  und 
genügend  erweitert,  um  gewisse  Schwächen  zu  beseitigen,  die  während 
der  Krise  zutage  getreten  waren.  Ich  bin  überzeugt,  daß  die  große 
Mehrheit  des  britischen  Volkes  nach  München  meine  Hoffnung  teilte 
und  den  tiefen  Wunsch  hegte,  daß  diese  Politik  weitergeführt  werden 
möge.  Heute  aber  teile  ich  Ihre  Enttäuschung,  Ihren  Unwillen  darüber, 
daß  diese  Hoffnungen  so  mutwillig  zerstört  worden  sind. 

Wie  ist  es  möglich,  die  Ereignisse  dieser  Woche  mit  den  Versiche- 
rungen, die  ich  Ihnen  vorgelesen  habe,  in  Einklang  zu  bringen?  Als 
einer  der  Signatare  des  Münchener  Abkommens  hatte  ich  zweifellos, 
wenn  Herr  Hitler  glaubte,  daß  dieses  Abkommen  aufgehoben  werden 
sollte,  Anspruch  auf  die  Konsultation,  die  in  der  Münchener  Erklärung  | 
vorgesehen  ist.  Statt  dessen  hat  er  das  Gesetz  in  seine  eigene  Hand 
genommen.  Noch  vor  dem  Empfang  des  tschechischen  Präsidenten, 
der  sich  Forderungen  gegenübersah,  denen  zu  widerstehen  er  keine 
Macht  besaßt  waren  die  deutschen  Truppen  schon  auf  dem  Marsch 
und  innerhalb  weniger  Stunden  in  der  tschechischen  Hauptstadt, 

Auf  der  gestern  in  Prag  zur  Verlesung  gekommenen  Proklamation 
sind  Böhmen  und  Mähren  in  das  Deutsche  Reich  eingegliedert  worden. 
Die  nichtdeutschen  Einwohner,  zu  denen  selbstverständlich  auch  die 
Tschechen  zählen,  werden  dem  deutschen  Protektor  im  deutschen 
Protektorat  unterstellt.  Sie  unterliegen  den  politischen,  militärischen 
und  wirtschaftlichen  Notwendigkeiten  des  Reiches.  Sie  werden  als 
sich  sei bßtre gierende  Staaten  bezeichnet,  dem  Reich  unterstehen  aber 
ihre  Außenpolitik,  ihre  Zollverwaltung  und  die  Verwaltung  der  in- 
direkten Steuern,  ihre  Bankreserven  und  die  Ausrüstung  der  ent* 
waffneten  tschechischen  Streitkräfte.  Am  bedenklichsten  ist  es  viel- 
leicht, daß  wir  von  dem  Auftreten  der  Gestapo,  der  geheimen  Polizei, 
hören,  verbunden  mit  den  üblichen  Gerüchten  über  Müssenverhaf- 
tungen  prominenter  Persönlichkeiten,  die  Folgen  einsehließen,  mit 
denen  wir  alle  vertraut  sind. 

Jeder  Mann  und  jede  Frau  in  unserem  Lande,  die  sich  des  Schick- 
sals der  Juden  und  der  politischen  Gefangenen  in  Österreich  ent- 
sinnen, müssen  heute  von  Kummer  und  Sorge  erfüllt  sein.  Wessen 
Herz  ißt  wohl  nicht  voll  Mitgefühls  für  das  stolze  und  tapfere  Volk, 
das  so  plötzlich  ein  Opfer  dieses  Einmarsches  wurde,  dessen  Freiheiten 
beschränkt  sind  und  dessen  nationale  Unabhängigkeit  der  Vergangen- 
heit angehört.  Was  ist  aus  der  Erklärung  ,, keine  weiteren  territorialen 
Bestrebungen**,  was  aus  der  Versicherung  ,,wir  wollen  keine  Tschechen 
im  Reich  haben*'  geworden?  Welche  Achtung  ist  dem  Grundsatz  der 
Selbstbestimmung  zuteil  geworden,  über  den  sich  Herr  Hitler  so 
leidenschaftlich  mit  mir  in  Berchtesgaden  stritt,  als  er  die  Abtrennung 
des  Sudetenlandes  von  der  Tschechoslowakei  und  seine  Einverleibung 
in  das  Deutsche  Reich  forderte? 


Das  Jahr  1930 


183 


Jetzt  erklärt  man  uns»  daö  diese  Gebietsergreifiini;  infolge  von 
Unruhen  in  der  Tschechoslowakei  erforderlich  wurde.  Man  erzählt 
uns»  daO  die  Verkündung  dieses  neuen  deutschen  Protektorats  gegen 
den  Willen  seiner  Einwohner  durch  Unruhen  unvermeidlich  gemacht 
worden  sei,  die  den  Frieden  und  die  Sicherheit  seines  mächtigen  Nach- 
barn bedroht  hätten.  Wenn  es  zu  Unruhen  gekommen  ist,  wurden  sie 
dann  nicht  von  außen  her  geschürt?  Und  kann  irgend  jemand  außer- 
halb Deutschlands  ernsthaft  der  .\nsicht  sein,  daß  solche  Unruhen  eine 
Gefahr  für  jenes  große  Land  hätten  bedeuten  können  und  daß  sie  eine 
Berechtigung  für  das^  was  sich  ereignet  hat,  abgeben?  Wird  da  in 
unsern  Köpfen  nicht  unvermeidlich  die  Frage  aufgeworfen,  welcher 
Verlaß  auf  irgendwelche  andern  Versicherungen  aus  der  gleichen 
Quelle  ist,  wenn  es  so  leicht  ist,  gute  Gründe  zur  Außerachtlassung 
von  Versicherungen  zu  finden,  die  so  feierlich  und  so  oft  gegeben 
wurden  ? 

Es  gibt  noch  eine  Reihe  weiterer  F*ragen,  die  unvermeidlich  in 
unsern  und  in  den  Gedanken  anderer,  vielleicht  sogar  in  Deutschland 
selbst,  auftauchen,  Deutschland  hat  unter  seinem  gegenwärtigen  Re- 
gime der  Welt  eine  Reihe  unangenehmer  Überraschungen  bereitet. 
Das  Rheinland,  der  österreichische  Anschluß,  die  Abtrennung  des 
Sudetenlandes  —  all  diese  Vorkommnisse  haben  die  öffentliche  Mei- 
nung der  ganzen  Welt  verletzt  und  beleidigt.  Welche  und  wie  viele 
Anstände  wir  aber  auch  an  den  in  jedem  dieser  Fälle  angewendeten 
Methoden  hätten  nehmen  können,  jedenfalls  ließ  sich  auf  Grund  der 
Rassenzugehörigkeit  oder  gerechter  Ansprüche,  denen  zu  lange  Wider- 
stand geleistet  worden  war,  etwas  zugunsten  der  Notwendigkeit  einer 
Änderung  der  bestehenden  Lage  sagen. 

Die  Ereignisse  aber,  die  im  Laufe  dieser  Woche  unter  völliger 
Mißachtung  der  durch  die  deutsche  Regierung  selbst  niedergelegten 
Grundsätze  Platz  gegriffen  haben,  scheinen  mir  in  eine  andere  Klasse 
zu  fallen  und  müssen  uns  alle  veranlassen,  uns  die  Frage  vorzulegen: 
,,Ist  dies  das  Ende  eines  alten  Abenteuers  oder  der  Anfang  eines 
neuen?** 

,,Ist  es  der  letzte  Angriff  auf  einen  kleinen  Staat  oder  werden  ihm 
weitere  folgen?  Ist  dies  tatsächlich  ein  Schritt  in  der  Richtung  eines 
Versuchs  zur  Weltherrschaft  durch  Gewalt?** 

Das  sind  schwerwiegende  und  ernste  Fragen.  Ich  werde  diese 
Fragen  heute  abend  nicht  beantworten.  Ich  bin  aber  überzeugt,  daß 
sie  eine  tiefernste  und  gewissenhafte  Erwägung  nicht  nur  durch 
Deutschlands  Nachbarn,  sondern  auch  durch  andere  Mächte,  viel- 
leicht sogar  solche  jenseits  der  Grenzen  Kuropas,  notwendig  machen 
werden.  Schon  jetzt  liegen  Anzeichen  dafür  vor,  daß  dieser  Prozeß 
eingesetzt  hat,  und  es  ist  offensichtlich,  daß  er  nunmehr  voraus- 
sichtlich einen  schnelleren  Verlauf  nehmen  wird. 

Wir  selbst  werden  uns  selbstverständlich  zunächst  an  unsere 
Partner  in  der  britischen  Gemeinschaft  der  Nationen  und  an  Frank- 
reich wenden,  mit  denen  wir  so  eng  verbunden  sind;  und  ich  bezweifle 
nicht,  daß  auch  andere,  die  wissen,  daß  wir  nicht  uninteressiert  an 


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•«in  H«i/ii.  IimI«!    .iiIi  Im    liitiM:-.-<ii  /.ijj.'iiii •!«  fi  «iii«--»  solrhiTi  Anspruchs« 

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I  ml  jii  'I' 1  i«ii  *iii(.'«  :-ii  lih-  ili  I  l.'liMii  i|ii  (if^riiji  htc,  die  alle 
li  •■•  II  l'iiiiiii  II  ii.iliiiiii  I.-  iiiij.'j.iiiliJM  II,  iliili  ijM.^  ciiH'  solchf^  Ileraus- 
liiiili  11111(1  mli  «I  •  I  nli  II  r<iillli  If  II  Itiliji'  Hilf  h  vi'i-priirlit.<!L,  ZU  erklären. 
•  liih  iili).li  II  II  h  II  im  lil  iliiiiiiil  Mii  Im  ii'ilit  hm,  tifisrr  I..'iim1  durch  iicue, 
Uli  hl  liliii  liiiiM  In  il  In  III  N  1 1  |illii  li!  iiii^mii  /ii  vi'rpriif'h(<>n,  die  sich 
iiiilii  hl  tltiif:iiii}ii  II  iHL-wiiliiii  Kniiiiliii,  tili*  ji-t/.l  iiit-hl  vorauszusehen 
••liiil  l>i  tu  (.likllini  ImIimii  iMfniiif.'fii  wi'iilni  koiuilr,  ids  anzunehmen, 
ihiii  iiM'i  i  \  nil,  ^\,  ti  I  -1  iiiii  |\ii, ,.  Im  niif  Mimlii.si>  unii  grausame  An- 
hil.f.iiiliiil  hall,  ihiiiil  \iil  Mtii  Ml  iiinii  SilliNllM'\\nl.UsiMn  einCfebüBt 
h.ihi  Hill  III«  hl  .ilh:i  III  .iiiiui  Iviiill  Slrlirihh*  .'u  hm.  uni  eine  solche 
lli  i.iii  il.Mih  iiiiir.  :ii»lllf  "II-  uniaji  rili«i;.'eii,  /unu'k/uweisen.  h'ür 
»II»  1  I  ilii.iiMii.  liiith  1.  h  wir  II  h  uhn.iui.'l  hm.  iiirhl  nur  die  Inler- 
•1*11  uu..  .In  \  xMs'  .  (1 -luimiiiiii;  uiul  ila>  \eilraueu  meiner  Landü- 
hui.      •.•u«L  ii\  uiiiU    I«  h  .Uli  h  \\w  /uihuumm;;  ile.H  i:au;en  britischen 


81] Das  Jahr  1939 185 

Imperiums  und  aller  anderen  Staaten  finden,  die  wohl  den  Frieden, 
die  Freiheit  aber  noch  mehr  zu  schätzen  wissen. 

(E:  The  Times  vom  18.  Mflrz  1939.  —  D:  Eigene  Übersetzung.) 


Ao8  der  Rede  des  britischen  Außenministers  Lord  Halifax  81 . 

im  Oberhaus  vom  20.  März  1939 

Ich  möchte  gern  einiges  über  die  Gründe  sagen,  mit  denen  die 
deutsche  Regierung  die  von  ihr  ergriffenen  Maßnahmen  zu  recht- 
fertigen sucht.  Die  direkte  Ursache  der  gegenwärtigen  Krise  in  Mittel- 
europa hatte  in  der  Slowakei  ihren  Ursprung,  und  es  wird  geltend  ge- 
macht, daß  die  deutsche  Regierung  bei  Erhalt  der  Bitte  um  Unter- 
stützung des  zurückgetretenen  slowakischen  Ministerpräsidenten  zum 
Eingreifen  berechtigt  war.  In  der  Slowakei  hat  es  immer  eine  Partei 
gegeben,  die  für  eine  Autonomie  eintrat.  Diese  Autonomie  ist  nach 
München  tatsächUch  zustande  gekommen,  und  zwar  durch  Überein- 
kommen zwischen  den  verschiedenen  slowakischen  Parteien  und  der 
Zentralregierung  in  Prag. 

Die  radikalen  Elemente  in  der  Slowakei  waren  jedoch  mit  diesen 
Abmachungen  nicht  zufrieden,  aber  nach  allen  mir  zur  Verfügung 
stehenden  Unterlagen  kann  ich  mir  nicht  vorstellen,  daß  der  plötzliche 
Entschluß  gewisser  slowakischer  Führer,  sich  von  Prag  zu  lösen,  dem 
die  Bitte  um  Schutz  an  das  Deutsche  Reich  sofort  auf  dem  Fuße  folgte, 
unabhängig  von  äußeren  Einflüssen  gefaßt  wurde.  Es  heißt,  das  deut- 
sche Eingreifen  in  der  Tschechoslowakei  sei  durch  die  Unterdrückung 
der  deutschen  Minderheiten  durch  die  Tschechen  gerechtfertigt  ge- 
wesen. Jedoch,  und  auch  das  ist  Tatsache,  setzte  die  deutsche 
Presse  erst  kurz  vor  Hitlers  Ultimatum  an  den  tschechischen  Präsi- 
denten mit  ihrer  Kampagne  vom  letzten  Sommer  über  die  an- 
geblichen tschechischen  Brutalitäten  gegen  deutsche  Staatsangehörige 
wieder  ein. 

Im  Augenblick  scheint  die  Lage  der  deutschen  Minderheit  mit 
ihren  ungefähr  250  000  Seelen  seit  dem  Münchener  Abkommen  so  zu 
sein,  daß  man  sie  als  Ausnahme- Vorzugsstellung  bezeichnen  könnte. 
Trotz  des  gemäß  Art.  7  des  Abkommens  eingeräumten  Optionsrechtes 
wurden  die  Angehörigen  der  deutschen  Minderheit  angehalten,  in  der 
Tschechoslowakei  zu  bleiben,  um  nützliche  Zentren  der  deutschen 
Tätigkeit  und  Propaganda  zu  bilden,  auch  wurden  der  deutschen 
Minderheit  von  ihrem  Führer  diesbezügliche  Weisungen  erteilt.  Auf 
Grund  des  deutsch-tschechoslowakischen  Abkommens  über  den  gegen- 
seitigen Schutz  der  Minderheiten  erhielt  die  deutsche  Regierung  die 
gesetzliche  Berechtigung,  sich  unmittelbar  für  die  Belange  ihrer 
Minderheiten  in  der  Tschechoslowakei  einzusetzen;  auch  erhielt  die 
Minderheit  sofort  das  Recht,  selbständige  Organisationen  ins  Leben 
zu  rufen;  im  Anschluß  daran  gab  die  tschechoslowakische  Regierung 
ihr  Einverständnis  dazu,  daß  die  NSDAP,  in  der  Tschechoslowakei  in 


f  ^ 


186 


Deutschland  -  England 


l'Hl 


vollem  Umfange  das  Recht  zur  Fortsetzung  ihrer  Tätigkeit  in  Böhmen 
und  Mühren  erhielt. 

Die  Schlußfolo^erung,  deÜ  weitaus  die  Mehrzahl  der  Zwißchen- 
fölle  vor  der  deutschen  Invasion  mit  Vorbedacht  provoziert  und  daQ 
ihre  Wirkung  stark  übertrieben  wurde,  ist  schwerlich  von  der  Hand  zu 
weisen.  Hier  ist  meines  Erarhtens  ganz  unparteiisch  hinzuzufügen^! 
daß  die  tscheehoslo wakischen  Behörden  angewiesen  wurden,  sich 
gegenüber  diesen  Provokationen  die  größte  Zurückhaltung  aufzuer- 
legen, wie  es  auch  tatsächlich  geschah.  Ich  glaube,  es  ist  nicht  not- 
wendig,  über  die  Behauptung,  der  tschechoslowakische  Präsident  habe 
der  Unterjochung  seines  Volkes  tatsächlich  zugestimmt,  viel  Worte 
2ü  verlieren.  In  Anbetracht  der  Umstände,  unter  denen  er  nach  Berlin 
kam^  sowie  der  bereits  erfolgten  Besetzung  tschechischen  Gebietes 
glaube  ich,  daU  jeder  einsichtige  Mensch  zu  dem  Schluß  kommen  muß, 
daß  es  sich  hier  kaum  um  Verhandlungen  handelte,  und  daß  es  viel 
wahrscheinlicher  ist,  daß  die  tschechischen  Vertreter  einem  Ultimatum 
gegcnübergestellL  wurden,  unter  Androhung  von  Gew^alt,  und  daß  siej 
klein  beigaben,  um  ihr  Volk  vor  dem  Schrecken  einer  raschen  undl 
vemichtenden  BeschieOung  aus  der  Luft  zu  bewahren. 

Schließlich  heißt  es,  Deutschland  sei  ii^endwie  durch  die  Tschecho- 
slowakei gefährdet  gewesen.  Doch  dürfte  die  deutsche  Regierung  selbst^ 
sicherlich  kaum  envartet  haben,  daß  diese  Behauptung  von  irgend- 
einer Seite  ernsthaft  aufgenommen  würde.  In  der  Tat,  wenn  ich  meine 
eigene  Ansicht  über  diese  vers*^hiedcnen  Untersuchungen  zusammen- 
fassen darf,  so  möchte  ich  nur  wünschen,  daß  an  Stelle  der  veröffent- 
lichten Mitteilungen  und  Erklärungen,  die  wenig  überzeugend  wirken, 
die  überlegene  Stärke  Deutschlands  offen  als  die  entscheidende  Instanz 
anerkannt  worden  wäre,  die  sie  in  der  Tat  gewesen  ist. 

Unter  diesen  Umständen  hielt  es  die  britische  Regierung  für  an- 
gezeigt, unverzüghch  bestimmte  Maßnahmen  zu  ergreifen.  Sie  brach 
den  Berliner  Besuch  des  Ilöndelsministcrs  und  des  Sekretärs  der  Ab- 
teilung für  Überseehandel  sofort  ab,  von  dem  man  erhofft  hatte,  daß 
er  der  Regierung  ein  unmittelbares  Eingreifen  in  jene  inoffizielle,  gerade 
damals  erfolgende  Fühlungnahme  der  Industrievertreter  ermöglichen 
würde.  Wir  waren  der  Ansicht  —  und  sind  es  auch  noch  —  daß  unter 
den  inzwischen  eingetretenen  Umständen  jede  Weiterverfolgung  un- 
serer Bemühungen  in  dieser  Richtung  ganz  offenbar  undenkbar  war 
und  daß  dieses  und  manche  anderen  Dinge  auf  unbestimmte  Zeit  ver- 
schoben werden  mußten  und  es  auch  noch  bleiben  müssen.  Die  britische 
Regierung  hat  den  britischen  Botschafter  in  Berlin  zur  Berichterstat- 
tung zurückgerufen;  er  ist  gestern  hier  eingetroffen. 

AuOi^r  diesen  beiden  Schritten  haben  vvir  bei  dar  deutschen  Re- 
gierung formell  Protest  erhoben,  indem  wir  ihr  mitteilten,  daß  wir 
nicht  umhin  konnten,  die  Ereignisse  der  letzten  paar  Tage  als  einen 
klaren  Bruch  des  Münchener  Abkommens  und  eine  Verleugnung  des 
Geistes  anzusehen,  in  dem  die  Unterhändler  sich  damals  selbst  zur 
Zusammenarbeit  für  eine  friedliche  Regelung  verpflichtet  hatten.  Auch 
nahmen  wir  Veranlassung,  gegen  die  durch  die  deutschen  Militärmaß- 


81] Das  Jahr  1939 187 

nahmen  in  der  Tschechoslowakei  erfolgten  Änderungen  zu  protestieren, 
und  haben  zum  Ausdruck  gebracht,  daß  unserer  Ansicht  nach  diese 
Änderungen  jeder  rechtlichen  Grundlage  entbehrten. 

Ich  glaube  daher,  daß  wir  den  Anspruch  erheben  dürfen,  die 
deutsche  Regierung  über  die  Haltung  der  britischen  Regierung  nicht 
im  unklaren  gelassen  zu  haben  und,  wenn  ich  mich  auch  über  die 
Wirkung  von  Protesten  keinen  übertriebenen  Hoffnungen  hingebe,  so 
glaube  ich  doch,  daß  Sie,  meine  Herren,  es  durchaus  für  richtig  halten, 
daß  solche  Proteste  zu  Protokoll  genommen  werden. 

Von  Zeit  zu  Zeit  habe  ich  die  Verfechter  des  deutschen  Stand- 
punktes bemüht  gesehen,  die  Handlungsweise  ihrer  Regierung  durch 
Heranziehung  der  Geschichte  des  britischen  Imperiums  zu  rechtfertigen. 
Es  ist  wohl  nicht  erforderlich,  Sie  daran  zu  erinnern,  daß  der  Grund- 
satz, nach  dem  das  britische  Imperium  geführt  wird,  Erziehung  zur 
Selbstverwaltung  ist.  Wo  in  der  Welt  wir  auch  immer  waren,  überall 
haben  wir  eine  Spur  der  Freiheit  und  Selbstverwaltung  hinterlassen, 
und  unsere  geschichtliche  Vergangenheit  hat  nichts  gemein  mit  der 
Unterdrückung  von  Freiheit  und  Unabhängigkeit  von  Menschen,  die 
durch  ihre  politische  Entwicklung  bereits  in  den  Genuß  der  Vorzüge 
eines  Eigenlebens  gelangt  waren. 

Auch  wurde  der  Einwand  erhoben,  daß  die  Ereignisse  in  der 
Tschechoslowakei  uns  weder  interessieren  noch  etwas  angehen.  Ganz 
richtig,  wir  haben  stets  anerkannt,  daß,  wenn  aus  keinem  anderen, 
so  doch  aus  geographischen  Gründen  Deutschland  von  einigen  Ge- 
sichtspunkten aus  in  der  Tschechoslowakei  oder  in  Südosteuropa  mehr 
interessiert  sein  muß  als  wir  selbst.  Es  war  das  naturgegebene  Feld 
für  die  Ausdehnung  des  deutschen  Handels. 

Aber  abgesehen  davon,  daß  Änderungen  in  irgendeinem  Teil  von 
Europa  nachhaltige  Wirkungen  an  anderer  Stelle  zeitigen,  so  ist  die 
Lage  doch  eine  völlig  andere,  wenn  wir  vor  die  Tatsache  der  willkür- 
lichen Beseitigung  eines  unabhängigen,  souveränen  Staates  durch 
Waffengewalt  und  unter  Verletzung  dessen,  was  ich  als  die  elementarsten 
Grundregeln  internationalen  Verhaltens  betrachte,  gestellt  werden. 
Es  ist  durchaus  verständlich,  daß  im  Lichte  dieser  Ereignisse  der 
Regierung  gesagt  wird,  daß  die  Münchener  Politik  ein  tragischer  Fehler 
war.  Ich  kann  natürlich  nicht  beanspruchen,  Lord  Snell  Vorschriften 
über  den  Ausdruck  einer  aufrichtig  von  ihm  vertretenen  Ansicht  zu 
machen,  wohl  aber  glaube  ich,  eine  einzelne  ihm  entfahrene  Bemer- 
kung richtigstellen  zu  können.  Er  bezeichnete  die  vom  Premierminister 
betriebene  Politik  als  eine  persönliche  Politik.  Falls  der  ehrenwerte 
Lord  damit  sagen  will,  daß  das  eine  Politik  war,  für  die  der  Premier- 
minister sein  Letztes  an  Energie,  Einbildungs-  und  Entschlußkraft 
hergegeben  hat,  so  gehe  ich  mit  ihm  durchaus  einig  —  sollte  er  aber 
unterstellen,  daß  es  eine  Politik  ohne  vollständige  Zusammenarbeit 
mit  mir,  als  Außenminister,  sowie  mit  jedem  einzelnen  Regierungs- 
mitglied war,  so  müßte  ich  mir  die  Freiheit  nehmen,  seinen  Ausfüh- 
rungen auf  das  schärfste  zu  widersprechen. 

Bei  Annahme  des  vom  Oberhaus  wie  auch  von  anderer  Seite  gebillig- 


188  Deutschland  -  England  [81 

ten  Münchener  Abkommens  hatte  die  Regierung  Sr.  Majestät  zwei  von- 
einander ganz  verschiedene  Ziele  im  Auge.  Der  erste  Zweclc  bestand 
darin,  zu  der  unter  den  durch  die  Zeit  bedingten,  äußerst  schwierigen 
Umständen  bestmöglichen  Lösung  eines  Problems  zu  gelangen,  das 
tatsächlich  ein  solches  war  und  dessen  Lösung  dringend  geboten  war, 
wenn  der  Frieden  Europas  gewahrt  bleiben  sollte.  Und  hierzu  möchte  ich 
sagen  —  was  ich  bereite  an  dieser  Stelle  gesagt  habe  — :  ich  hege  nicht 
den  mindesten  Zweifel,  daß  die  Regierung  nach  allen  ihr  zur  Verfügung 
stehenden  Informationen  zu  dem  von  ihr  eingeschlagenen  Kurs  berech- 
tigt war. 

Der  zweite  Zweck  von  München  war  die  Schaffung  einer  größeren 
europäischen  Sicherheit  auf  der  Grundlage  von  freiwillig  angenom- 
menen Beratungcn'als  dem  Mittel,  durch  das  alle  künftigen  Schwierig- 
keiten beigelegt  werden  könnten.  Dieser  auf  lange  Sicht  gefaßte  Plan 
wurde,  wie  wir  alle  feststellen  mußten,  durch  die  Ereignisse  in  unheil- 
voller Weise  Lügen  gestraft.  Man  wirft  uns  vor,  wir  hätten  den  von 
Hitler  abgegebenen  Versicherungen,  er  würde  nach  München  keine 
territorialen  Ansprüche  mehr  hegen  und  keine  Eingliederung  von 
nichtdeutschen  Elementen  ins  Reich  mehr  wünschen,  allzu  schnell 
Glauben  geschenkt. 

Das  ehrenwerte  Oberhausmitglied  (Lord  Snell)  sprach  von  einem 
mehr  als  einfältigen  Premierminister.  Ich  darf  Ihnen,  meine  Herren, 
die  Versicherung  abgeben,  daß  weder  der  Premierminister,  noch  ich 
selbst,  noch  irgendein  Regierungsmitglicd  zu  irgendeinem  Zeitpunkt 
es  verabsäumt  haben,  sich  des  Unterschiedes  zwischen  Glauben  und 
Hoffen  in  aller  Schärfe  bewußt  zu  bleiben.  Es  war  bestimmt  berechtigt 
und  richtig,  Hoffnungen  zu  hegen;  doch  haben  wir  stets  —  und  ich 
möchte  es  jedem  von  Ihnen,  meine  Herren,  anheimstellen,  das  Gegenteil 
zu  beweisen  —  in  voller  Erkenntnis  dessen  gehandelt,  daß  Hoffnungen 
lediglich  mit  der  Zeit  zu  wirklichen  Überzeugungen  werden  können. 

Es  ist  zweifellos  der  Fall,  daß  vorhergegangene  Zusicherungen 
gebrochen  worden  sind,  welche  Rechtfertigung  Hitler  vom  Standpunkt 
seiner  Mission  auch  immer  vorbringen  mag,  die  er  darin  sieht,  ehemals 
deutsches  Gebiet  und  vorwiegend  deutschen  Raum  in  das  Deutsche 
Reich  einzugliedern.  Für  die  Maßnahmen  Hitlers  bis  nach  München 
kann  immerhin  geltend  gemacht  werden,  daß  er  seinen  eigenen  Grund- 
sätzen treu  geblieben  ist,  das  heißt  dem  Zusammenschluß  der  Deutschen 
im  und  Ausschluß  der  Nichtdeutschen  aus  dem  Reich.  Diese  Grund- 
sätze hat  er  jetzt  umgestoßen.  Mit  der  Stellung  von  8  000  000  Tschechen 
unter  deutsche  Herrschaft  ist  er  seiner  eigenen  Lebensanschauung  be- 
stimmt untreu  geworden.  Die  Welt  wird  nicht  vergessen,  daß  im 
September  vorigen  Jahres  Hitler  an  den  Grundsatz  des  Selbstbestim- 
mungsrechtes für  2  000  000  Sudetendeutsche  appellierte.  Das  ist  ein 
Grundsatz,  auf  dem  das  britische  Reich  selbst  aufgebaut  wurde  und 
dem  wir  infolgedessen  bei  der  Behandlung  von  Hitlers  Forderungen 
Rechnung  zu  tragen  uns  verpflichtet  fühlten.  Dieser  Grundsatz  ist 
nun  in  krasser  Form  durch  eine  Reihe  von  Maßnahmen  Lügen  gestraft 
worden,  die  gerade  das  Recht  verleugnen,  auf  dem  die  deutsche  Haltung 


81] Das  Jahr  1939 189 

vor  sechs  Monaten  fußte.  Welches  auch  immer  die  Wahrheit  über  die 
Behandlung  der  250  000  Deutschen  sein  mag,  ich  kann  unmöglich 
glauben,  daß  das  nur  durch  die  Unterwerfung  von  8  000  000  Tschechen 
wiedergutgemacht  werden  kann. 

Welche  Schlußfolgerung  sollen  wir  nun  aus  dieser  Eroberung  der 
Tschechoslowakei  ziehen?  Sollen  wir  annehmen,  daß  die  deutsche 
Politik  damit  in  eine  neue  Phase  eingetreten  ist?  Wird  sich  die  deutsche 
Politik  weiterhin  auf  die  Festigung  der  vorwiegend  von  einer  deutsch- 
stämmigen Bevölkerung  bewohnten  Gebiete  beschränken?  Oder  wird 
«ich  die  deutsche  Politik  nunmehr  auch  auf  die  Beherrschung  von 
nichtdeutschen  Völkern  richten  ?  Das  sind  sehr  schwerwiegende  Fragen, 
die  heute  in  allen  Teilen  der  Welt  aufgeworfen  werden. 

Das  deutsche  Vorgehen  in  der  Tschechoslowakei  ist  nach  neuen 
Methoden  erfolgt.  Die  Welt  hat  in  der  letzten  Zeit  mehr  als  eine  neue 
Wendung  auf  dem  Gebiet  der  Technik  des  internationalen  Umgangs 
erlebt  —  Krieg  ohne  Kriegserklärung,  Ausübung  eines  Druckes  unter 
Androhung  sofortiger  Grewaltmaßnahmen,  Eingreifen  bei  internen 
Schwierigkeiten  anderer  Staaten ;  Länder  sehen  sich  vor  die  Tatsache  der 
Förderung  des  Separatismus  gestellt,  und  zwar  nicht  etwa  im  Interesse 
der  Separatisten  oder  Minderheiten,  sondern  im  imperialen  Interesse 
Deutschlands.  Die  schlechte  Behandlung  der  deutschen  Minderheiten 
in  anderen  Ländern,  auf  die  man  sich  beruft  und  die  in  manchen  oder 
auch  in  vielen  Fällen  wirklich  aus  natürlichen  Gründen  entspringen 
mag,  die  aber  auch  Gegenstand  und  Ergebnis  einer  Provokation  von 
außen  her  sein  kann,  wird  als  Vorwand  zum  Eingreifen  benutzt. 

Diese  Methoden  sind  einfach  und  mit  zunehmender  Erfahrung 
ganz  unverkennbar.  Haben  wir  irgendwelche  Sicherheiten,  daß  sie 
nicht  auch  anderweitig  Anwendung  finden?  Jedes  Deutschland  be- 
nachbarte Land  lebt  jetzt  in  der  Ungewißheit,  was  der  nächste  Tag 
bringen  wird,  und  jedes  Land,  das  auf  seine  nationale  Identität  und 
Souveränität  Wert  legt,  fühlt  sich  von  einer  inneren,  von  außen  her 
geschürten  Gefahr  bedroht.  Während  der  letzten  Tage  ging  das  Ge- 
rücht um,  die  deutsche  Regierung  habe  bei  ihren  Wirtschaftsverhand- 
lungen mit  der  rumänischen  Regierung  eine  scharfe  Haltung  ange- 
nommen. Ich  kann  erfreulicherweise  mitteilen,  daß  ein  Bericht,  in 
dem  sogar  von  einem  Ultimatum  die  Rede  war,  von  der  rumänischen 
Regierung  selbst  dementiert  worden  ist;  aber  selbst  wenn  Rumänien 
heute  nicht  bedroht  ist,  bzw.  wenn  bis  heute  diese  Bedrohung  noch 
keine  konkrete  Form  angenommen  hat,  und  sich  in  diesem  Sinne  auch 
nicht  auszuwirken  braucht,  so  ist  es  doch  nicht  überraschend,  wenn 
die  Bukarester  Regierung  —  ebenso  wie  andere  Regierungen  —  den 
Ereignissen  der  letzten  Tage  mit  den  größten  Besorgnissen  gegen- 
übersteht. . . 

Ich  möchte  noch  folgendes  sagen:  Seit  Jahren  hat  das  britische 
Volk  stets  den  Wunsch  gehegt,  mit  dem  deutschen  Volk  in  gutem 
Einvernehmen  zu  leben.  In  unserem  Volk  ist  kein  nationales  Empfinden 
so  stark  ausgeprägt  wie  die  Neigung,  nach  einem  Kampf  dem  Gegner 
die  Hand  zu  reichen  und  die  Angelegenheit  beizulegen. 


190  DeuUchland  -  Knptan<l  [H2 

Unser  Volk  war  nicht  so  rückständig,  um  nicht  einige  ändcrungsbe- 

dürftige  Fehler  imWrsailler  Vertrag  einzugestehen,  aber  jedesmal,  wenn 
sich  im  Lauf  der  letztenJahredieMöglichkeit  einer  besseren  Verständigung 
EU  bieten  schien,  hatdie  deutsche  Regierungetwas  unternommen,  das  ein 
Weiterkommen  unmöglich  machte;  ganz  besonders  war  das  in  den 
letzten  Monaten  der  Fall.  Sehr  bald  nach  München  wurden  von  der 
deutschen  Regierung  Maßnahmen  ergriffen,  die  der  Weltmeinung  einen 
heftigen  Stoß  versetzten.  Vor  kurzem  noch  durfte  man  hoffen  ^  w^enn 
auch  viele  Wolken  am  und  hinter  dem  Horizont  aufzogen  — ,  daO  wir 
einer  engeren  wirtschaftlichen  Zusammenarbeit  entgegensehen  könnten ; 
und  es  bestand  sogar  Hoffnung,  daß  sich  diese  wirtschaftliche  Zusam- 
menarbeit noch  weiter  ausgestalten  würde,  als  wir  bei  den  von  mir 
bereits  erwähnten  Besuchen  beschlossen  hatten.  Diese  ganze  Initiative 
Würde  durch  die  Maßnahmen  der  deutschen  Regierung  in  der  letzten 
Woche  wieder  zunichte  gemacht,  und  es  ist  schwer,  sich  vorzustellen, 
wann  sie  wiederaufgenommen  werden  kann... 

Es  ist  noch  nicht  möglich,  die  Folgen  der  deutschen  Maßnahmen 
völlig  abzusehen.  Die  Geschichte  kennt  manche  Versuche,  Europa  eine 
Herrschaft  aufzuzwingen.  Aber  alle  diese  Versuche  haben  früher  oder 
später  denen,  die  sie  unternommen  haben,  Unheil  gebracht.  Noch  nie 
hat  es  sich  auf  die  Dauer  als  möglich  erwiesen,  den  Geist  der  freien 
Völker  auszurotten.  Wenn  man  der  Geschichte  glauben  darf,  wird  das 
deutsche  Volk  die  in  seinem  Namen  gegen  das  tschechoslowakische 
Volk  ergriffenen  Maßnahmen  noch  bedauern. 

Vor  zwanzig  Jahren  gelangte  das  tschechoslowakische  Volk  mit 
Hilfe  und  Förderung  des  größten  Teiles  der  Welt  wieder  in  den  Besitz 
seiner  PVeiheiten,  Jetzt  wurden  sie  ihm  mit  Gewalt  wieder  entrissen- 
Im  Lauf  seiner  langen  Geschichte  wird  es  nicht  das  erstemal  sein,  daß 
dieses  zähe,  tapfere  und  arbeitsame  Volk  seine  Unabhängigkeit  ver- 
loren hat.  Aber  es  hat  niemals  das  verloren,  was  die  Grundlage  für 
Unabhängigkeit  ist:  die  Freiheitsliebc. 

Inzwischen  wird  die  Welt,  genau  wie  sie  nach  dem  letzten  Krieg 
dem  Aufstieg  der  tschechischen  Nation  zusah,  heute  ihre  Bemühungen 
verfolgen,  sich  ihr  kulturelles  Eigenleben  und,  was  noch  wichtiger  ist, 
ihre  geistige  Freiheit  unter  dem  letzten  und  grausamsten  Schlag, 
dessen  Opfer  sie  geworden  ist,  zu  erhalten. 

(E:  Partiamentary  Debates.  House  of  Lords.  Bd.  112,  Sp*  310  ff  —  T»; 
Eigene  Tbersetiung.) 

Unterhauserklärung  des  britischen  Premierministers 
Chamberlain  vom  31.  März  1939 

*    diesen  Morgen  erklärte,  besitzt  die  britische  Regierung 

*i  Bestätigung  für  die  Gerüchte  irgeudeines  geplanten 

m.  Es  darf  daher  nicht  angenommen  werden,  daß  die 

lerüchte  für  wahr  hält.  Ich  freue  mich,  diese  Gelegen- 

um  erneut  die  allgemeine  Politik  der  Regierung  zu 


83] Das  Jahr  1939 191 

erklären:  Die  britische  Regierung  hat  sich  ständig  für  Berichtigungen 
eingesetzt,  und  zwar  auf  dem  Wege  freier  Verhandlungen  zwischen 
den  betroffenen  Parteien,  für  jede  Streitigkeit,  die  sich  zwischen  ihnen 
ergeben  mag.  Sie  hält  dies  für  den  natürlichen  und  angemessenen  Weg 
dort,  wo  Streitigkeiten  vorhanden  sind.  Ihrer  Ansicht  nach  sollte  es 
keine  Frage  geben,  die  nicht  durch  friedliche  Mittel  zu  lösen  wäre, 
und  sie  würde  daher  keinerlei  Rechtfertigung  dafür  finden,  daß  Gewalt 
oder  Drohung  mit  Gewalt  an  die  Stelle  der  Methoden  der  Verhandlung 
gesetzt  werde. 

Wie  dem  Hause  bekannt  ist,  finden  zur  Zeit  gewisse  Konsulta- 
tionen mit  anderen  Regierungen  statt.  Um  die  Haltung  der  britischen 
Regierung  in  der  Zwischenzeit  völlig  klarzustellen,  bevor  diese  Kon- 
sultationen abgeschlossen  sind,  fühle  ich  mich  veranlaßt,  dem  Hause 
mitzuteilen,  daß  während  dieser  Zeitdauer  für  den  Fall  irgendeiner 
Aktion,  die  klarerweise  die  polnische  Unabhängigkeit  bedroht  und  die 
die  polnische  Regierung  daher  für  so  lebenswichtig  ansieht,  daß  sie 
ihr  mit  ihren  nationalen  Streitkräften  Widerstand  leistet,  die  britische 
Regierung  sich  verpflichtet  fühlen  würde,  der  polnischen  Regierung 
alle  in  ihrer  Macht  stehende  Hilfe  sofort  zu  gewähren. 

Sie  hat  der  polnischen  Regierung  eine  derartige  Zusicherung  ge- 
geben. 

Ich  kann  hinzufügen,  daß  die  französische  Regierung  mich  autori- 
siert hat,  darzulegen,  daß  sie  die  gleiche  Haltung  in  dieser  Frage  ein- 
nimmt wie  die  britische  Regierung. 

(E:  Parliamentary  Debates.  House  of  Commons.  Bd.  345,  Sp.  2421.  —  D: 
Monatshefte  für  Ausw&rtige  Politik,  1939,  S.  456f.) 

Die  Hemmungslosigkeiiy  mit  der  sich  auch  die  oeranlworllichen 
Männer  der  Londoner  Regierung  einer  känsilich  aufgepeitschten  und 
gänzlich  unberechtigten  Kriegspsychose  hingaben,  wird  am  besten  durch 
den  peinlichen  Zwischenfall  gekennzeichnet,  den  der  damalige  Erste  Lord 
der  Admiralität,  Earl  Stanhope,  am  4.  April  1939  durch  unbegreiflich 
unbedachisame  Äußerungen  verursachte. 


Bericht  des  deatschen  Geschäftsträgers  in  London  83. 

vom  6.  April  1939 

Anläßlich  einer  Filmvorführung  an  Bord  des  britischen  Flugzeug- 
mutterschiffes „Ark  Royal**  am  Abend  des  4.  April  d.  J.  sagte  der 
Erste  Lord  der  Admiralität,  Earl  Stanhope,  auf  eine  Reihe  leerer  Sitze 
hinweisend:  „Kurz  bevor  ich  die  Admiralität  verließ,  war  es  nötig. 
Befehle  zu  geben,  die  Luftabwehrgeschütze  der  Kriegsmarine  zu  be- 
mannen, und  dies  erklärt  die  leeren  Sitze.**  Späterhin  erklärte  Lord 
Stanhope  einem  Berichterstatter,  daß  die  Flotte  alle  Vorkehrungen 
treffe  und  stets  bereit  sei. 

Auf  Veranlassung  der  Admiralität  wurde  eine  sogenannte  „D**- 


192  Deutschland  -  England  [83 

Notiz  ausgegeben,  die  besagte,  daß  es  nicht  im  internationalen  Interesse 
wäre,  wenn  die  Rede  Lord  Stanhopes  veröffentlicht  würde.  Die  Rede 
Lord  Stanhopes  wurde  dann  nur  von  einem  Teil  der  Morgenpresse 
in  sensationeller  Aufmachung  gebracht.  „Times"  und  „Daily  Tele- 
graph** enthielten  sich  jeder  Bezugnahme. 

Die  Bemerkungen  des  Ersten  Lords  der  Admiralität  haben  sowohl 
im  Unterhaus  als  auch  in  den  Redaktionen  starkes  Aufsehen  hervor- 
gerufen. Lord  Stanhope  soll  angeblich  dem  Premierminister  seinen 
Rücktritt  angeboten  haben,  der  jedoch  nicht  angenommen  worden  sei. 

In  der  Unterhaussitzung  vom  5.  d.  M.  fragte  daraufhin  der  Stell- 
vertretende Führer  der  Opposition,  Abgeordneter  Greenwood,  den 
Premierminister,  ob  er  eine  Erklärung  zu  dem  offiziellen  Ersuchen  der 
Regierung  abgeben  könne,  die  Presse  möge  die  von  Lord  Stanhope 
in  seiner  Rede  erwähnten  Anweisungen  der  Admiralität  nicht  ver- 
öffentlichen. 

Der  Premierminister  wies  darauf  hin,  daß  die  Rede  anläßlich  einer 
Zusammenkunft  wegen  der  Organisation  von  Filmvorführungen  auf 
Kriegsschiffen  gehalten  worden  sei.  Lord  Stanhope  habe  unvorbereitet 
(unpremeditated)  gesprochen.  Er  habe  darauf  hingewiesen,  daß  die 
Teilnehmer  an  der  Veranstaltung  nicht  vollzählig  wären,  da  eine  Reihe 
von  ihnen  an  Bord  ihrer  eigenen  Schiffe  zurückgehalten  worden  seien. 
Sie  lägen  in  Bereitschaft,  die  Geschütze  zu  bemannen,  was  in  Span- 
nungszeiten eine  Normalmaßnahmc  sei.  Die  Admiralität  habe  keine 
anderen  Befehle  ausgegeben,  als  daß  diese  Übung  auch  selbst  bei  einer 
so  besonderen  Gelegenheit  nicht  geändert  werden  solle. 

Der  Premierminister  fügte  hinzu,  daß  er  die  Presse  haben  bitten 
lassen,  die  Rede  des  Ersten  Lords  der  Admiralität  nicht  zu  veröffent- 
lichen oder,  wenn  es  geschehe,  ihr  keine  besondere  Bedeutung  zuzu- 
schreiben. Seine  Bemühungen,  dem  Publikum  eine  unnütze  Aufregung 
zu  ersparen,  seien  erfolglos  gewesen.  Doch  habe  der  Vorfall  die  stete 
Bereitschaft  der  Flotte  bewiesen.  Lord  Stanhope  habe  ihm  gegenüber 
sein  Bedauern  zum  Ausdruck  gebracht,  daß  seine  Worte,  die  sicherlich 
nicht  glücklich  gewählt  worden  wären,  so  stark  kommentiert  worden 
seien.  Er,  der  Premierminister,  glaube  nicht,  daß  ein  Vorfall  dieser  Art 
die  Eignung  Lord  Stanhopes  als  Leiter  der  Admiralität  berühre. 

Mit  dieser  Erklärung  hat  der  Zwischenfall  zunächst  seine  Erle- 
digung gefunden. 

Die  Verordnung  der  Admiralität  läßt  sich  nur  mit  der  Unmenge 
der  hier  kürzlich  kursierenden  Gerüchte  und  Sensationsmeldungen  und 
der  hierdurch  ausgelösten  Übernervosität  erklären.  Erstaunlich  ist 
jedoch,  daß  solche  Bemerkungen  aus  dem  Munde  des  Ersten  Lords 
der  Admiralität  fallen  können,  fraglos  eine  „Gaffe**  erster  Güte.  Es 
ist  nicht  zum  erstenmal,  daß  Stanhope  durch  Unbedachtsamkeit  eine 
unbequeme  Sensation  heraufbeschwört. 

Die  Linkspresse  hat  den  Zwischenfall  aufgegriffen,  vor  allem,  um 
gegen  die  Institution  der  sogenannten  ,^D**-Notizen  vorzugehen.  Nach 
vorherrschender  Auffassung  kann  ein  Schriftleiter,  der  eine  solche 
„D**-Notiz  unbeachtet  läßt,  unter  Umständen  nach  dem  „Official 


«41 


Das  Jahr  1939 


193 


Secrets  Act"  belangt  werden.  Nachdeni  nunmehr  die  Admiralität  eine 
eigene  Rede  ilires  Chefs»  die  dieser  selber  freigegeben  hatte»  unter- 
drückt hat,  wird  in  der  Presse  gefordert,  daß  „D'^-Notizen  nicht  mehr 
als  offizielle  Verbote  angesehen  werden  sollen. 

Im  Auftrag 
von  Selzam 
(Dokumente  zur  Vorgeschichte  dee  Kriegt*«,  Nr  '2490 

In  zwei  großen  Reden  antwortete  der  Fährer  auf  den  engtischen 
Siimmungsumschwung,  Diese  Beden  sind  ein  deidticher  Beweis  der  Tat- 
sache^ daß  er  auch  jetzt  die  Hoffnung  auf  eine  endgültige  deutsch-englische 
Verständigung  noch  nicht  aufgegeben  hatte.  Obgleich  Deutschland  durch 
die  politische  Haliung  Englands  seit  den  März-Ereignissen  genötigt  war, 
das  deutsch-engtisi'he  Fhfte nabkommen  zu  liündigen,  weit  seine  Voraus- 
setzung —  daß  nämlich  Deulschlonfi  und  England  nie  wieder  Krieg  mit- 
einander führen  würden  —  erschüttert  war,  fand  er  gleichwohl  Worte, 
die  von  einem  tiefen  Verständnis  der  britischen  Lebensnotwendigkeiten 
zeugten  und  die  noch  immer  versuchten,  den  historischen  Liistungen  des 
britischen  Imperiums  und  der  Richtung  der  britischen  Potitik  einen 
positiven  Sinn  abzugewinnen. 


Aus  der  Rede  des  Führers  vom  1.  April  1939  in  Wilhelmshaven       84, 


Wir  wissen  heute  aus  den  Akten  der  Geschiclite,  wie  die  damalige 
EinkreisungspoUtik  pjanmäüig  von  England  aus  betrieben  worden  war. 
Wir  wissen  aus  zahlreichen  Feststellungen  und  Publikationen,  daß  man 
in  diesem  Lande  die  Auffassung  vertrat,  es  sei  notwendig,  Deutschland 
militärisch  niederzuwerfen»  weil  seine  Vernichtung  jedem  britischen 
Bürger  ein  höheres  Ausmaß  von  Lebensgütern  sichern  w^ürde.  Gewiß, 
Deutschland  hat  damals  Fehler  begangen.  Sein  schwerster  Fehler  war, 
diese  Einkreisung  zu  sehen  und  sieh  ihrer  nicht  beizeilen  zu  erwehren. 
Die  einzige  Schuld,  die  wir  diesem  damaligen  Regime  vorwerfen 
können,  ist  die,  daß  es  von  dem  teuflischen  Plan  eines  Überfalls  auf 
das  Reich  volle  Kenntnis  hatte  und  doch  nicht  die  Entschlußkraft 
aufbrachte,  diesen  Überfall  beizeiten  abzuwehren,  sondern  diese  Ein* 
kreisung  bis  zum  Anbruch  der  Katastrophe  ausreifen  Heß.  Die  Folge 
war  der  Weltkrieg!,., 

Wenn  heute  ein  englischer  Staatsmann  meint,  man  könne  und 
müsse  alle  Probleme  durch  freimütige  Verhandlungen  und  Bespre- 
chungen lösen,  dann  möchte  ich  diesem  Staatsmann  nur  sagen:  ,,Dazu 
war  vor  unserer  Zeit  fünfzehn  Jahre  lang  Gelegenheit!"  Wenn  die  Welt 
heute  sagt,  daß  man  die  Völker  teilen  müsse  in  tugendhafte  Nationen 
und  in  solche,  die  nicht  tugendhaft  sind  —  und  zu  den  tugendhaften 
Nationen  gehören  in  erster  Linie  die  Engländer  und  die  Franzosen 
und  zu  den  nicht  tugendhaften  gehören  die  Deutschen  und  Italiener — , 
dann  können  wir  nur  antworten:  „Die  Beurteilung,  ob  ein  Volk  tugend- 

t)«ut<;chTAnd-Efigland  13 


Jf4 


Deutschlünd  -  England 


[Ö5 


haft  oder  nicht  tugendhaft  ist,  die  kann  doch  wohl  ein  Irdischer  kaum 
aussprechen,  das  müßte  man  dem  lieben  Gott  überlassen!**  Vielleicht 
wird  mir  nun  dieser  selbe  britische  Staatsmann  eDtgegoen:  „Gott  hat 
das  Urteil  schon  gesprochen,  denn  er  hat  den  tugendhaften  Niitionen 
ein  Viertel  der  Erde  geschenkt  und  den  nicht  tugendhaften  alles 
geoooimen!"  Darauf  sei  die  Frage  gestattet:  ,,Mit  welchen  Mitteln 
haben  die  tugendhaften  Nationen  sich  dieses  Viertel  der  Erde  er- 
worben?** und  man  muü  antworten:  ,,Es  sind  keine  tugendhaften 
Methoden  gewesen!*'  Dreihundert  Jahre  lang  hat  dieses  England  nur 
als  untugendhafte  Nation  gehandelt,  um  jetzt  im  Alter  von  Tugend 
zu  reden!  So  konnte  es  passieren,  daß  in  dieser  britischen  tugeodlosen 
Zeit  46  Millionen  Engländer  fast  ein  Viertel  der  Erde  unterworfen 
haben,  während  80  Milltonen  Deutsche  infolge  ihrer  Tugendsamkeit 
zu  140  auf  einem  Quadratkiiouieter  leben  müssen.  Ja,  vor  zwanzig 
Jahren,  da  war  die  Frage  der  Tugend  für  die  britischen  Staatsmänner 
immer  noch  nicht  ganz  geklärt,  insofern  es  sich  um  Eigentumsbegriffe 
handelte.  Damals  hielt  man  es  mil  rler  Tugend  noch  für  vereinbarlich, 
einem  anderen  Volk,  das  seine  Kolonien  nur  durch  Verträge  odf  r  durch 
Kauf  erworben  hatte,  sie  einfach  wegzunehmen,  weil  man  die  Macht 
hatte.  .  .  Wenn  heute  ein  britischer  Staatsmann  fordert,  daß  jedes 
Problem,  das  inmitten  der  deutschen  Lebensinieressen  liegt,  erst  mit 
England  besprochen  werden  müßte,  dann  könnte  ich  genau  so  gut  ver- 
langen, daß  jedes  britische  Problem  erst  mit  uns  zu  besprechen  sei. 

Gewiß,  diese  Engländer  mögen  mir  zur  Antwort  geben:  ,,In  Palä- 
stina haben  die  Deutschen  nichts  zu  suchen  1**  —  Wir  wollen  auch  gar 
nichts  in  Palästina  suctien.  Allein,  sowenig  wir  Deutschen  in  PaJästina 
etwas  zu  suchen  haben,  so  wenig  hat  England  in  unserem  deutschen 
Lebensrauni  etwas  zu  suchen I  .  .  . 

Ich  habe  einst  ein  Abkommen  mit  England  abgeschlossen,  das 
Flottenabkommen.  Es  basiert  auf  dem  heißen  Wunsch,  den  wir  alle 
besitzen,  nie  in  einen  Krieg  gegen  England  ziehen  zu  müssen.  Dieser 
Wunsch  kann  aber  nur  ein  beiderseitiger  sein.  Wenn  in  England  dieser 
Wunsch  nicht  mehr  besteht»  dann  ist  die  praktische  Voraussetzung 
für  dieses  Abkommen  damit  beseitigt.  Deutschland  würde  auch  das 
ganz  gelassen  hinnehmen!  Wir  sind  deshalb  so  selbstsicher,  weil  wir 
stark  sind,  und  wir  sind  so  stark,  weil  wir  so  geschlossen  sind  und  weil 
wir  außerdem  sehend  sind! 
(DNB.  vom   I.  Aprii  iy39.) 


8&. 


Aus  der  Reicfastagsrede  de»  Führers  vom  28.  April  1939 


Die  Münchener  Lösung  konnte  unter  keinen  Umständen  als  eine 
endgültige  gelten;  denn  sie  hat  ja  selbst  zugegeben,  daß  weitere  Pro- 
bleme noch  der  Lösung  bedürften  und  gelöst  werden  sollten*  Daß  sich 
nun  die  Betroffenen  —  und  dies  ist  entscheidend  —  nicht  an  die  vier 
Mächte  gewandt  haben,  sondern  nur  an  Italien  und  Deutschland, 
kann  wirklich  nicht  uns  vorgeworfen  werden.  Ebensowenig  auch,  daß 


mi 


Daa  Jahr  1939 


195 


der  Staat  endlich  als  solcher  von  selbst  zerfallen  war  und  damit  eine 

Tschccho-Slowakei  nicht  mehr  existierte.  Daß  aber,  nachdem  das 
ethnographische  Prinzip  schon  längst  außer  Kraft  gesetzt  worden  i^ar, 
nunmehr  auch  Deutschland  seine  immerhin  tausendjährigen  Interessen^ 
die  nicht  nur  politischer,  sondern  auch  wirtschaftlicher  Art  sind^  in 
seine  Obhut  nahm,  ist  wohl  selbstverständlich. 

Ob  die  Lösung,  die  Deutschland  gefunden  hat,  richtig  oder  nicht 
richtig  ist,  wird  die  Zukunft  erweisen.  Sicher  aber  ist  das  eine,  daß  die 
Lösung  nicht  einer  englischen  Kontrolle  oder  englischen  Kritik  unter- 
steht* Denn  die  Länder  Böhmen  und  Mähren  haben  als  letztes  Rest- 
gebiet der  ehemaligen  Tschecho-Slowakei  mit  der  Münchener  Ab- 
machung überhaupt  nichts  mehr  zu  tun.  Sowenig,  als  etwa  englische 
Maßnahmen,  sagen  wir  in  Irland,  mögen  sie  richtig  oder  falsch  sein, 
einer  deutschen  Konirolle  oder  Kritik  unterstellt  sind,  so  wenig  ist 
dies  bei  diesen  alten  deutschen  Kurfürstentümern  der  Fall. 

Wie  man  aber  die  in  München  zwischen  Herrn  Chamberlain 
und  mir  persönlich  getätigte  Abmachung  auf  diesen  Fall  beziehen 
kann,  ist  nnir  gänzlich  unverständlich;  denn  dieser  Fall  der  Tschecho- 
slowakei war  ja  in  dem  Münchener  Protokoll  der  vier  Mächte  geregelt 
worden,  soweit  er  eben  damals  geregelt  werden  konnte*  Darüber  hinaus 
war  nur  vorgesehen,  daß,  wenn  die  Beteiligten  nicht  zu  einer  Einigung 
kommen  würden,  sie  sich  an  die  vier  Mächte  würden  wenden  können.  Und 
diese  wollten  dann  nach  drei  Monaten  zu  einer  weiteren  Beratung 
zusammentreten,  ^ 

Nun  haben  aber  diese  Beteiligten  sich  überhaupt  nicht  mehr  an 
die  vier  Mächte  gewandt,  sondern  nur  an  Deutschland  und  Italien, 
Wie  sehr  diese  dazu  doch  letzten  Endes  berechtigt  waren,  geht  darauö 
hervor,  daß  weder  England  noch  Frankreich  dagegen  Einspruch  er- 
hoben haben,  sondern  den  von  DeuLschland  und  Italien  gefällten 
Schiedsspruch  ohne  weiteres  auch  selbst  akzeptierten. 

Nein,  die  Abmachung»  die  zwischen  Herrn  Chamberlain  und  mir 
getroffen  wurde,  hat  sich  nicht  auf  dieses  Problem  bezogen,  sondern 
ausschlieOlich  auf  Fragen,  die  das  Zusammenleben  Englands  und 
Deutschlands  betreffen.  Das  geht  auch  eindeutig  hervor  aus  der  Fest- 
stellung, daß  solche  Fragen  im  Sinne  des  Münchener  Abkommens  und 
des  deutsch-englischen  Flottenvertrages  in  Zukunft  also  freundschaft- 
lich behandelt  werden  sollten,  und  zwar  auf  dem  Wege  der  Konsui- 
tierung. 

Wenn  sich  aber  dieses  Abkommen  auf  jede  künftige  deutsche  Be- 
tätigung politischer  Art  bezogen  haben  würde,  dann  dürfte  auch  Eng- 
land keinen  Schritt  mehr  unternehmen,  sei  es  zum  Beispiel  in  Palästina 
oder  woanders,  ohne  sich  mit  Deutschland  erst  zu  konsultieren.  Es  ist 
selbstverständlich,  daß  wir  dies  nicht  erwarten;  ebenso  aber  lehnen 
wir  jede  ähnliche  Erwartung,  die  an  uns  gestellt  wird,  ab. 

Wenn  nun  Herr  Chamberlain  daraus  folgert,  daß  diese  Münchener 
Abmachung  damit  hinfällig  sei,  weil  sie  von  uns  gebrochen  worden 
wäre,  so  nehme  ich  nunmehr  diese  Auffassung  zur  Kenntnis  und  ziehe 
daraus  die  Konsequenzen. 

in* 


196  Deutschland  -  England  [85 

Ich  habe  während  meiner  ganzen  politischen  Tätigkeit  immer  den 
Gedanken  der  Herstellung  einer  engen  deutsch-englischen  Freundschaft 
und  Zusammenarbeit  vertreten.  Ich  fand  in  meiner  Bewegung  unge- 
zählte gleichgesinnte  Menschen.  Vielleicht  schlössen  sie  sich  mir  auch 
wegen  dieser  meiner  Einstellung  an.  Dieser  Wunsch  nach  einer  deutsch- 
englischen Freundschaft  und  Zusammenarbeit  deckt  sich  nicht  nur 
mit  meinen  Gefühlen,  die  sich  aus  der  Herkunft  unserer  beiden  Völker 
ergeben,  sondern  auch  mit  meiner  Einsicht  in  die  im  Interesse  der 
ganzen  Menschheit  liegende  Wichtigkeit  der  Existenz  des  britischen 
Weltreiches. 

Ich  habe  niemals  einen  Zweifel  darüber  gelassen,  daO  ich  im  Be- 
stände dieses  Reiches  einen  unschätzbaren  Wertfaktor  für  die  ganze 
menschliche  Kultur  und  Wirtschaft  sehe. 

Wie  immer  auch  Großbritannien  seine  kolonialen  Gebiete  erworben 
hat  —  ich  weiß,  es  geschah  dies  alles  durch  Gewalt  und  sehr  oft  durch 
brutalste  Gewalt  — ,  so  bin  ich  mir  doch  darüber  im  klaren,  daß  kein 
anderes  Reich  auf  anderem  Wege  bisher  entstanden  ist,  und  daß  letzten 
Endes  vor  der  Weltgeschichte  weniger  die  Methode  als  der  Erfolg 
gewertet  wird,  und  zwar  nicht  im  Sinne  des  Erfolges  der  Methode  son- 
dern des  allgemeinen  Nutzens,  der  aus  einer  solchen  Methode  entsteht. 

Das  angelsächsische  Volk  hat  nun  ohne  Zweifel  eine  unermeß- 
liche kolonisatorische  Arbeit  auf  dieser  Welt  vollbracht.  Dieser  Arbeit 
gehört  meine  aufrichtige  Bewunderung.  Der  Gedanke  an  eine  Zer- 
störung dieser  Arbeit  erschien  und  erscheint,  mir  von  einem  höheren 
menschlichen  Standpunkt  aus  nur  als  ein  Ausfluß  menschlichen  Hero- 
stratentums.  Allein  dieser  mein  aufrichtiger  Respekt  vor  dieser  Leistung 
bedeutet  nicht  einen  Verzicht  auf  die  Sicherung  des  Lebens  meines 
eigenen  Volkes. 

Ich  halte  es  für  unmöglich,  eine  dauernde  Freundschaft  zwischen 
dem  deutschen  und  dem  angelsächsischen  Volk  herzustellen,  wenn  nicht 
auch  auf  der  anderen  Seite  die  Erkenntnis  vorhanden  ist,  daß  es  nicht 
nur  britische,  sondern  auch  deutsche  Interessen  gibt,  daß  nicht  nur 
die  Erhaltung  des  britischen  Weltreiches  für  die  britischen  Männer 
Lebensinhalt  und  Lebenszweck  ist,  sondern  für  die  deutschen  Männer 
die  Freiheit  und  Erhaltung  des  Deutschen  Reiches! 

Eine  wirkliche  dauernde  Freundschaft  zwischen  diesen  beiden 
Nationen  ist  nur  denkbar  unter  der  Voraussetzung  der  gegenseitigen 
Respektierung.  Das  englische  Volk  beherrscht  ein  großes  Weltreich. 
Es  hat  dieses  Weltreich  gebildet  in  einer  Zeit  der  Erschlaffung  des 
deutschen  Volkes.  Vordem  war  Deutschland  ein  großes  Weltreich. 
Es  beherrschte  einst  das  Abendland.  In  blutigen  Kämpfen  und  religiösen 
Streitigkeiten  sowie  aus  den  Gründen  einer  inneren  staatlichen  Auf- 
splitterung ist  dieses  Reich  an  Macht  und  Größe  gefallen  und  endlich 
in  tiefen  Schlaf  versunken. 

Allein  als  dieses  alte  Reich  sein  Ende  zu  nehmen  schien,  da  wuchs 
bereits  der  Keim  zu  seiner  Wiedergeburt.  Aus  Brandenburg  und 
Preußen  entstand  ein  neues  Deutschland,  das  Zweite  Reich,  und 
aus  ihm  wurde  nunmehr  endlich  das  deutsche  Volksreich.  Es  möchten 


nun  alle  Engländer  begreifen,  daß  vnr  nicht  ira  geringsten  das  Gefühl 
einer  Inferiorität  den  Briten  gegenüber  besitzen.  Dazu  ist  unsere  ge- 
schichtliche Vergangenheit  zu  gewaltig! 

England  hat  der  Welt  viele  große  Männer  geschenkt,  Deutschland 
nicht  weniger.  Der  schwere  Kampf  um  die  Lebensbehauptung  unseres 
Volkes  hat  im  Laufe  von  drei  Jahrhunderten  nur  in  der  Verteidigung 
des  Reiches  von  uns  ßlutopfer  gefordert,  die  weit  darüber  hinaus- 
gingen, was  andere  Völker  für  ihre  Existenz  zu  bringen  hatten.  Wenn 
Deutschland  als  ewig  angegriffener  Staat  dabei  trotzdem  seinen  Besitz- 
Btand  nicht  zu  wahren  vermochte,  sondern  viele  Provinzen  opfern 
mußte,  dann  nur  infolge  seiner  staatlichen  Fehlentwicklung  und  der 
daraus  bedingten  Ohnmacht! 

Dieser  Zustand  ist  nun  überwunden.  Wir  haben  daher  als  Deutsche 
nicht  im  geringsten  die  Empfindung,  dem  britischen  Volk  etwa  unter- 
legen zu  sein.  Die  Achtung  vor  uns  selbst  ist  genau  so  groß  wie  die  eines 
Engländers  vor  England.  Die  Geschichte  unseres  Volkes  hat  in  ihrer 
nunmehr  fast  zweitausendjährigcn  Dauer  Anlässe  und  Taten  genug, 
um  uns  mit  einem  aufrichtigen  Stolz  zu  erfüllen. 

Wenn  nun  England  für  diese  unsere  Einstellung  kein  Verständnis 
aufbringt^  sondern  in  Deutschland  glaubt  vielleicht  einen  Vasallen- 
staat erblicken  zu  können,  dann  ist  allerdings  unsere  Liebe  und  unsere 
Freundschaft  an  England  umsonst  dargeboten  worden.  Wir  werden 
deshalb  nicht  verzweifeln  oder  verzagen,  sondern  wir  werden  dann 
—  gestützt  auf  das  Bewußtsein  unserer  eigenen  Kraft  und  auf  die  Ivraft 
unserer  Freunde  —  die  Wege  finden,  die  unsere  Unabhängigkeit  solcher- 
stellen  und  unserer  Würde  keinen  Abbruch  tun. 

Ich  habe  die  Erklärung  des  britischen  Premierministers  ver- 
nomn»en,  nach  der  er  meint,  in  Versicherungen  Deutschlands  kein 
Vertrauen  setzen  zu  können.  Ich  halte  unter  diesen  Umständen  es 
für  selbstverständlich,  daß  wur  weder  ihm  noch  dem  englischen  Volk 
weiterhin  eine  Lage  zumuten  wollen,  die  nur  unter  Vertrauen  denk- 
bar ist. 

Als  Deutschland  nationalsozialistisch  wurde  und  damit  seine 
Wiederauferstehung  einleitete,  habe  ich  im  Verfolg  meiner  unent- 
wegten Freundschaftspolitik  England  gegenüber  von  mir  aus  selbst 
den  Vorschlag  einer  freiwilligen  Begrenzung  der  deutschen  Seerüstung 
gemacht. 

Diese  Begrenzung  setzte  allerdings  eines  voraus,  nämlich  den 
Willen  und  die  Überzeugung,  daß  zwischen  England  und  Deutschland 
niemals  mehr  ein  Krieg  möglich  sein  würde.  Diesen  Willen  und  die 
Überzeugung  besitze  ich  auch  heute  noch. 

Ich  muß  aber  nunmehr  feststellen,  daß  die  Politik  Englands 
inoffiziell  und  offiziell  keinen  Zweifel  darüber  läßt,  daß  man  in  London 
diese  Überzeugung  nicht  mehr  teilt,  sondern  im  Gegenteil  der  Meinung 
ist,  daß,  ganz  gleich,  in  welchen  Konflikt  Deutschland  einmal  verwickelt 
werden  würde,  Großbritannien  stets  gegen  Deutschland  Stellung 
nehmen  müßte.  Man  sieht  also  dort  den  Krieg  gegen  Deutschland 
als  etwas  Selbstverständliches  an. 


198  Deutschland  -  England  f86 

Ich  bedaure  dies  tief;  denn  die  einzige  Forderung,  die  ich  an  Eng- 
land stellte  und  immer  stellen  werde,  ist  die  nach  Rückgabe  unserer 
Kolonien.  Ich  ließ  aber  keine  Unklarheit  darüber,  daß  dies  niemals 
der  Grund  für  eine  kriegerische  Auseinandersetzung  sein  würde.  Ich 
war  immer  des  Glaubens,  daß  England,  für  das  diese  Kolonien  keinen 
Wert  haben,  einmal  Verst&ndnis  für  die  deutsche  Lage  aufbringen 
würde  und  die  deutsche  Freundschaft  dann  höher  bewerten  müßte 
als  Objekte,  die  keinerlei  realen  Nutzen  für  England  abwerfen,  während 
sie  für  Deutschland  lebenswichtig  sind. 

Ich  habe  aber,  davon  abgesehen,  nie  eine  Forderung  gestellt,  die 
irgendwie  britisches  Interesse  berührt  haben  würde,  oder  die  dem  Welt- 
reich hätte  gefährlich  werden  können  und  mithin  für  England  irgend- 
einen Schaden  bedeutet  haben  könnte.  Ich  habe  mich  immer  nur  im 
Rahmen  jener  Forderungen  bewegt,  die  auf  das  engste  mit  dem  deut- 
schen Lebensraum  und  damit  dem  ewigen  Besitz  der  deutschen  Nation 
zusammenhängen. 

Wenn  nun  England  heute  in  der  Publizistik  und  offiziell  die  Auf- 
fassung vertritt,  daß  man  gegen  Deutschland  unter  allen  Umständen 
auftreten  müßte,  und  dies  durch  die  uns  bekannte  Politik  der  Ein- 
kreisung bestätigt,  dann  ist  damit  die  Voraussetzung  für  den  Flotten- 
vertrag beseitigt.  Ich  habe  mich  daher  entschlossen,  dies  der  britischen 
Regierung  mit  dem  heutigen  Tage  mitzuteilen. 

Es  handelt  sich  dabei  für  uns  nicht  um  eine  materielle  Angelegen- 
heit —  denn  ich  hoffe  noch  immer,  daß  wir  ein  Wettrüsten  mit  England 
•  vermeiden  können  — ,  sondern  um  einen  Akt  der  Selbstachtung.  Sollte 
die  Britische  Regierung  aber  Wert  darauf  legen,  mit  Deutschland  über 
dieses  Problem  noch  einmal  in  Verhandlungen  einzutreten,  dann  würde 
sich  niemand  glücklicher  schätzen  als  ich,  um  vielleicht  doch  noch  zu 
einer  klaren  und  eindeutigen  Verständigung  kommen  zu  können. 
(Verhandlungen  des  Reichstags,  Bd.  460,  S.  30 ff.) 

86.        Memorandum  der  Reichsregierung  an  die  britische  Regierung 
vom  28.  April  1939  über  die  Kündigung  des  deutsch-englischen 
Flottenabkommens 

Als  die  Deutsche  Regierung  im  Jahre  1935  der  Königlich  Bri- 
tischen Regierung  das  Angebot  machte,  durch  einen  Vertrag  die  Stärke 
der  deutschen  Flotte  in  ein  bestimmtes  Verhältnis  zu  der  Stärke  der 
Seestreitkräfte  des  Britischen  Reiches  zu  bringen,  tat  sie  dies  auf  Grund 
der  festen  Überzeugung,  daß  für  alle  Zeiten  die  Wiederkehr  eines  kriege- 
rischen Konfliktes  zwischen  Deutschland  und  Großbritannien  aus- 
geschlossen sei. 

Indem  sie  durch  das  Angebot  des  Verhältnisses  100:35  frei- 
willig den  Vorrang  der  britischen  Seeinteressen  anerkannte,  glaubte 
hne  mit  diesem  in  der  Geschichte  der  Großmächte  wohl  einzig  da- 
stehenden Entschlüsse  einen  Schritt  zu  tun,  der  dazu  führen  würde, 
für  alle  Zukunft  ein  freundschaftliches  Verhältnis  zwischen  den  beiden 


86J Das  Jahr  1939 199 

Nationen  zu  begründen.  Selbstverständlich  setzte  dieser  Schritt 
der  Deutschen  Regierung  voraus,  daß  die  Königlich-Britische  Re- 
gierung auch  ihrerseits  zu  einer  politischen  Haltung  entschlossen  sei, 
die  eine  freundschaftliche  Gestaltung  der  deutsch-englischen  Bezie- 
hungen sicherstellte. 

Auf  dieser  Grundlage  und  unter  diesen  Voraussetzungen  ist  das 
deutsch-englische  Flottenabkommen  vom  18.  Juni  1935  zustande 
gekommen.  Das  ist  von  beiden  Seiten  beim  Abschluß  des  Abkommens 
tibereinstimmend  zum  Ausdruck  gebracht  worden.  Ebenso  haben 
noch  im  vorigen  Herbst,  nach  der  Konferenz  von  München,  der  Deut- 
sche Reichskanzler  und  der  Britische  Ministerpräsident  in  der  von 
ihnen  unterzeichneten  Erklärung  feierlich  bestätigt,  daß  sie  das  Ab- 
kommen als  symbolisch  für  den  Wunsch  beider  Völker  ansähen,  nie- 
mals wieder  Krieg  gegeneinander  zu  führen. 

Die  Deutsche  Regierung  hat  an  diesem  Wunsche  stets  festgehalten 
und  ist  auch  heute  noch  von  ihm  erfüllt.  Sie  ist  sich  bewußt,  in  ihrer 
Politik  dementsprechend  gehandelt  und  in  keinem  Falle  in  die  Sphäre 
englischer  Interessen  eingegriffen  oder  diese  Interessen  sonstwie  be- 
einträchtigt zu  haben.  Dagegen  muß  sie  zu  ihrem  Bedauern  feststellen, 
daß  sich  die  Königlich-Britische  Regierung  neuerdings  von  der  Linie 
einer  entsprechenden  Politik  gegenüber  Deutschland  immer  weiter 
entfernt. 

Wie  die  von  ihr  in  den  letzten  Wochen  bekanntgegebenen  poli- 
tischen Entschließungen  und  ebenso  die  von  ihr  veranlaßte  deutsch- 
feindliche Haltung  der  englischen  Presse  deutlich  zeigen,  ist  für  sie 
jetzt  die  Auffassung  maßgebend,  daß  England,  gleichviel  in  welchem 
Teil  Europas  Deutschland  in  kriegerische  Konflikte  verwickelt  werden 
könnte,  stets  gegen  Deutschland  Stellung  nehmen  müsse,  und  zwar 
auch  dann,  wenn  englische  Interessen  durch  einen  solchen  Konflikt 
überhaupt  nicht  berührt  werden. 

Die  Königlich-Britische  Regierung  sieht  mithin  einen  Krieg  Eng- 
lands gegen  Deutschland  nicht  mehr  als  eine  Unmöglichkeit,  sondern 
im  Gegenteil  als  ein  Hauptproblem  der  englischen  Außenpolitik  an. 

Mit  dieser  Einkreisungspolitik  hat  die  Königlich-Britische  Re- 
gierung einseitig  dem  Flottenabkommen  vom  18.  Juni  1935  die  Grund- 
lage entzogen  und  dadurch  dieses  Abkommen  sowie  die  zu  seiner  Er- 
gänzung vereinbarte  „Erklärung"  vom  17.  Juli  1937  außer  Kraft 
gesetzt. 

Das  gleiche  gilt  auch  für  den  Teil  III  des  deutsch-englischen 
Flottenabkommens  vom  17.  Juli  1937,  in  dem  die  Verpflichtung  zu 
einem  zweiseitigen  deutsch-englischen  Nachrichtenaustausch  fest- 
gelegt worden  ist.  Die  Durchführung  dieser  Verpflichtung  setzt  natur- 
gemäß voraus,  daß  zwischen  beiden  Partnern  ein  offenes  Vertrauens- 
verhältnis besteht.  Da  die  Deutsche  Regierung  ein  solches  Verhältnis 
zu  ihrem  Bedauern  nicht  mehr  als  gegeben  ansehen  kann,  muß  sie 
auch  die  Bestimmungen  des  erwähnten  Teiles  III  als  hinfällig  ge- 
worden bezeichnen. 

Von  diesen  der  Deutschen  Regierung  gegen  ihren  Willen  auf- 


200  Deutschland  -  England  [87 

gezwungenen  Feststellungen  bleiben  die  qualitativen  Bestimmungen 
des  deutsch-englischen  Abkommens  vom  17.  Juli  1937  unberührt. 
Die  Deutsche  Regierung  wird  diese  Bestimmungen  auch  in  Zukunft 
beachten  und  so  ihren  Teil  dazu  beitragen,  daß  ein  allgemeiner  un- 
beschränkter Wettlauf  in  den  Seerüstungen  der  Nationen  vermieden  wird. 

Darüber  hinaus  wird  die  Deutsche  Regierung,  falls  die  Königlich- 
Britische  Regierung  Wert  darauf  legt,  mit  Deutschland  über  die  hier 
in  Betracht  kommenden  Probleme  erneut  in  Verhandlungen  einzutreten, 
dazu  gern  bereit  sein.  Sie  würde  es  begrüßen,  wenn  es  sich  dann  als 
möglich  erwiese,  auf  sicherer  Grundlage  zu  einer  klaren  und  eindeutigen 
Verständigung  zu  gelangen. 

(Dokumente  zur  Vorgeschichte  des  Krieges,  Nr.  294.) 

87 .    Aus  dem  Memorandum  der  britischen  Regierung  an  die  Reichsregierung 
vom  23.  Juni  1939  zur  Kündigung  des  Flottenabkommens 

1.  In  ihrem  Memorandum  vom  28.  April  d.  J.  erklärt  die  Deutsche 
Regierung,  daß  sie,  als  sie  im  Jahre  1935  das  Angebot  machte,  sich 
auf  einen  Prozentsatz  der  britischen  Flottenstreitkräfte  zu  beschränken, 
dies  getan  habe  „auf  Grund  der  festen  Überzeugung,  daß  die  Wieder- 
kehr eines  kriegerischen  Konflikts  zwischen  Deutschland  und  Groß- 
britannien für  alle  Zeiten  ausgeschlossen  sei**. 

2.  Die  Deutsche  Regierung  rechtfertigt  ihre  Handlungsweise  — 
nämlich  die  Lösung  des  Englisch-Deutschen  Flottenabkommens  von 
1935,  der  Ergänzenden  Erklärung  von  1937  und  des  Teiles  III  des 
Flottenabkommens  von  1937  —  damit,  daß  das  Verhalten  der  Regie- 
rung Seiner  Majestät  im  Vereinigten  Königreich  zeige,  daß  diese  Re- 
gierung jetzt  der  Ansicht  sei,  daß,  ganz  gleich  in  welchem  Teil  Europas 
Deutschland  in  einen  kriegerischen  Konflikt  verwickelt  werden 
würde,  Großbritannien  stets  gegen  Deutschland  Stellung  nehmen 
müßte,  selbst  in  Fällen,  wo  englische  Interessen  durch  einen  solchen 
Konflikt  nicht  berührt  wären. 

3.  Die  Frage,  ob  die  Haltung  der  Regierung  Seiner  Majestät  über- 
haupt in  irgendeinem  Fall  eine  Rechtfertigung  dafür  sein  kann,  daß 
die  Deutsche  Regierung  diese  Verträge  löst,  ohne  daß  mindestens 
vorher  eine  Konsultation  zwischen  den  beiden  Regierungen  statt- 
gefunden hätte,  wird  weiter  unten  behandelt.  Es  trifft  nicht  zu,  daß, 
ganz  gleich  in  welchem  Teil  Europas  Deutschland  in  einen  kriegerischen 
Konflikt  verwickelt  werden  würde,  Großbritannien  stets  gegen  Deutsch- 
land Stellung  nehmen  müßte.  Großbritannien  könnte  nur  dann  gegen 
Deutschland  Stellung  nehmen,  wenn  Deutschland  eine  Angriffshand- 
lung (act  of  agression)  gegen  ein  anderes  Land  begehen  sollte;  und  die 
politischen  Entscheidungen,  auf  die  die  Deutsche  Regierung  in  ihrem 
Memorandum  offenbar  Bezug  nimmt,  und  die  Garantien  Großbd- 
tanniens  an  gewisse  Länder  zum  Gegenstande  haben,  könnten  sich 
nur  dann  auswirken,  wenn  die  betreffenden  Länder  von  Deutschland 
angegriffen  werden  sollten. 


Das  Jahr  1939 


201 


4.  Dil"  Deutsche  Regierung  nimmt  in  ihrem  Memorandum  das 
Recht  in  Anspruch,  die  britische  Politik  als  eine  Politik  der  Einkrei- 
sung zu  bezeichnen.  Diese  Bezeichnung  ist  ohne  jede  Berechtigung 
und  offenbart  ein  Mißverslehen  und  eine  Mißdeutung  der  britischen 
Absichten,  die  richtiggestellt  werden  müssen* 

5.  Die  Handlungsweise,  mit  der  die  Deutsche  Regierung  kürzlich 
gewisse  Gebiete  dem  Reiche  einverleibte,  hat,  gleichviel  was  nach 
Ansicht  der  Deutschen  Regierung  die  Rechtfertigungsgründe  dafür 
gewesen  sein  mögen,  zweifellos  vielerorts  zu  einer  stark  zunehmenden 
Beängstigung  geführt.  Die  Schritte,  die  die  Regierung  des  Vereinigten 
Königreichs  daraufbin  getan  hat,  haben  keinen  anderen  Zweck  als 
den,  zur  Beseitigung  dieser  Angst  beizutragen,  und  zwar  dadurch,  daß 
sie  kleineren  Nationen  dazu  verhÜft,  sich  im  Genuß  ihrer  Unabhängig- 
keit sicher  zu  fühlen,  wozu  sie  das  gleiche  Recht  haben  wie  Groß- 
britannien oder  Deutschland  selbst.  Die  Bindungen,  die  Großbritan- 
nien in  dieser  Absicht  kürzlich  eingegangen  ist,  sind  begrenzt,  und  sie 
können,  wie  bereits  oben  gesagt,  nur  dann  wirksam  werden,  wenn  die 
betreffenden  Länder  Opfer  eijies  Angriffs  würden. 

6.  Ebenso  hat  die  Regierung  Seiner  Majestät  auch  weder  die  Ab- 
sicht noch  den  Wunnch,  der  Entw'icklung  des  deutschen  Handels 
Schranken  zu  ziehen.  Im  Gegenteil,  auf  Grund  des  Englisch*Deutschen 
Zahlungsabkommens  ist  Deutschland  ein  erheblicher  Betrag  von  freien 
Devisen  zum  Erwerb  von  Rohstoffen  zur  Verfügung  gestellt  worden 
Dieses  Abkommen  ist  für  Deutschland  so  günstig  wie  nur  irgendeins, 
was  je  abgeschlossen  worden  ist,  und  Seiner  Majestät  Regierung 
würde  gern  weitere  Erörterungen  über  Maßnahmen  zur  Besserung  der 
wirtschaftlichen  Lage  Deutschlands  in  Aussicht  nehmen,  wenn  nur 
die  wesentliche  Vorbedingung  sichergestellt  werden  könnte,  nämlich 
die  Herstellung  gegenseitigen  Vertrauens  und  guten  Willens,  die  die 
notwendige  Voraussetzung  für  ruhige,  vorurteilslose  Verhandlungen  ist. 

7.  Der  ständige  Wunsch  der  Regierung  Seiner  Majestät  war  und 
ist  keineswegs  die  Betreibung  eines  Krieges  mit  Deutschland,  sondern 
die  Herstellung  englisch-deutscher  Beziehungen  auf  der  Grundlage 
gegenseitiger  Anerkennung  der  Notw^endigkeiten  beider  Länder  bei 
gleichzeitiger  gebührender  Rücksicht  auf  die  Rechte  anderer  Na- 
tionen. 

8.  Während  aber  Seiner  Majestät  Regierung  aus  diesen  Gründen 
nicht  zugeben  kann,  daß  in  ihrer  Politik  oder  Haltung  irgendeine 
Änderung  eingetreten  wäre,  die  den  kürzlichen  Schritt  der  Deutschen 
Regierung  rechtfertigte,  muß  sie  hinzufügen,  daß  ihrer  Ansicht  nach 
der  Hauptzweck  des  Englisch- Deutschen  Flottenabkommens  darin 
bestand,  in  die  Lage  zur  See  eine  gewisse  Stabilität  zu  bringen  und  ein 
unnötiges  Wettrüsten  zu  vermeiden. 

9.  Aus  diesem  Grunde  sahen  die  Abkommen  keine  einseitige  Kündi- 
gung auf  Betreiben  nur  einer  der  Parteien  vor,  sondern  nahmen  eine 
Lösung  oder  Abänderung  nur  durch  gegenseitige  Konsultation  in 
Aussicht  —  und  Seiner  Majestät  Regierung  bedauert,  daß  die  Deutsche 
Regierung  sich  nicht  in  der  Lage  gesehen  hat,  dieses  Verfahren  auch 


im  vorliegenden  Fall  einzuschlagen.  Denn  in  dem  Abkommen  von 
1935  war  ausdrücklich  gesagt»  daß  es  ein  dauerndes  sein  sollte,  und 
Seiner  Majestät  Regierung  möchte  die  Aufmerksamkeit  der  Deut- 
schen Regierung  auf  den  Wortlaut  des  Notenwechsels  vom  18.  Juni 
1935  hinlenken»  der  das  Englisch-Deutsche  Flottenabkommen  von 
jenem  Jahre  enthält  und  aus  dem  sowohl  der  Charakter  des  Abkom- 
mens wie  die  Umstände,  die  für  seine  Abänderung  in  Aussicht  genom- 
men waren,  völlig  klar  hervorgehen. 

23.  Im  letzten  Absatz  ihres  Memorandums  erklärt  die  Deutsche 
Regierung^  daß  sie  bereit  ist,  in  Verhandlungen  über  zukünftige 
Fragen  einzutreten»  wenn  Seiner  Majestät  Regierung  es  wünscht.  Wie 
oben  gesagt,  ergibt  sich  aus  der  deutschen  Handlungsweise  der  letzten 
Zeit  eine  Lage,  die  in  mancher  Hinsicht  ungewiß  ist,  und  ein  Meinungs- 
austausch würde  dazu  beitragen,  sie  zu  klären... 

24.  Wenn  jedoch  die  Deutsche  Regierung  an  Verhandlungen  über 
ein  anderes  Abkommen  denkt,  das  an  die  Stelle  der  jetzt  von  ihr  ge- 
lösten Vereinbarungen  treten  soll,  so  würde  Seiner  Majestät  Regierung 
gern  Angaben  über  den  Umfang  und  Zweck  haben,  den  die  Deutsche 
Regierung  für  ein  solches  Abkommen  angemessen  finden  w^ürde» 

25.  Insbesondere  wünscht  Seiner  Majestät  Regierung  zu  wissen, 
erstens,  wann  nach  deutscher  Ansicht  die  Erörterungen  für  den  Ab- 
schluß eines  solchen  Abkommens  stattfinden  sollten.  Zweitens  wünscht 
Seiner  Majestät  Regierung  zu  wissen,  was  die  Deutsche  Regierung 
vorschlagen  würde,  um  sicherzystellen,  daß  etwaige  Schritte  im  Sinne 
einer  Kündigung  oder  Änderung  des  neuen  Abkommens  während 
seiner  Gültigkeitsdauer  die  Zustimmung  beider  Parteien  hätten, 

(E:  Cnul.  6106.  No.  24.  —  D:  DNB.  vom  29.  Juni  1939.) 

Die  briUsche  Regierung  ließ  sich  indessen  durch  die  Warnung  und 

das  gleichzeilifje  Enigegenkommen  des  Führers  in  der  Weilerverfolgung 
ihrer  EinkretsungspolHik  nicht  beirren.  Die  üeraniworilichen  Leüer  der 
britischen  Außenpolitik,  insbesondere  der  Außenminister  Lord  Halifax^ 
beslritten  nicht,  daß  England  eine  Mächtegruppierung  zu  organisieren 
suche ^  dit^  dazu  dienen  sollte,  einen  machlmäßigen  Druck  auf  Deuhchtand 
auszuüben.  Dem  Vorwurf  der  EinkreisungspotHik  wußte  er  nur  mit  dem 
sinnlosen  und  nickissagenden  Argumeni  zu  begegnen,  daß  Deutschland 
an  dieser  Einkreisung  selbst  schuld  sei, 

88.        Instruktion  des  britischen  Außenministers  Lord  Halifax  an  den 
Botschafter  Sir  Nevile  Henderson  vom  16.  Juni  1939 


Der  deutsche  Botschafter  sprach  heute  morgen  im  Auswärtigen 
Amt  vor,  um  ein  technisches  Abkommen  ohne  groOe  Bedeutung 
zwischen  den  beiden  Regierungen  zu  unterzeichnen,  und  ich  hatte  da- 
nacli  mit  ihm  eine  Unterredung  von  wenigen  Augenhl  icke  n.  Diese 
folgte  zum  Teil  der  gewohnten  Linie,  indem  er  seinerseits  die  Wirkung 
darlegle,   die  in    Deutschland   durch   die   Einkreisung   hervorgerufen 


89] Das  Jahr  1939 203 

werde.  Der  Botschafter  äußerte  die  Ansicht,  daß  ebenso  wie  der  alte 
Ausdruck  „The  Fleet  in  being"  einen  Druck,  auch  ein  offenes  Vor- 
gehen, andeutete,  jetzt  die  von  uns  organisierte  Umgruppierung  der 
Mächte  tatsächlich  dazu  bestimmt  sei,  einen  Zwang  auf  Deutschland 
auszuüben,  und  dies  sei  es,  was  man  verüble.  Seine  Exzellenz  sagte 
und  machte  späterhin  in  unserm  Gespräch  die  gleiche  Bemerkung, 
daß  viel  von  dem  gegenwärtigen  Empfinden  auf  die  ganze  Erörterung 
über  unsere  Anti-Aggressions- Verhandlungen  mit  Rußland  zurück- 
zuführen sei.  Seines  Erachtens  würde  es  die  Lage  erleichtem,  wenn  die 
Verhandlungen  einmal  so  oder  so  erledigt  wären.  Ich  dachte,  diese 
Bemerkung  sei  vielleicht  nicht  ohne  Bedeutung. 

2.  Ich  erwiderte,  wenn  jemand  Deutschland  einkreise,  so  tue  es 
das  selber  durch  die  Politik,  die  es  beharrlich  verfolge.  Wie  immer 
man  über  die  jetzt  von  unserm  Land  betriebene  Politik  denken  möge, 
es  erscheine  uns  ganz  klar,  daß  der  deutsche  Kanzler  das  Porzellan 
in  Europa  zerbrochen  habe,  und  daß  nur  er  es  auch  wieder  zusammen- 
flicken könne.  Wir  hätten  uns  unserseits  wiederholt  bemüht,  den  Weg 
für  eine  Entspannung  und  eine  Besserung  der  Beziehungen  zu  öffnen, 
dies  habe  aber  bisher  von  Herrn  Hitler  keinerlei  Erwiderung  aus- 
gelöst. 

3.  Ich  sagte  Herrn  von  Dirksen,  ich  hoffte,  er  werde  es  mich  wissen 
lassen,  wenn  er  mir  irgendwann  einmal  etwas,  das  er  für  wichtig  halte, 
mitzuteilen  wünsche,  und  er  drückte  in  Erwiderung  hierauf  einen  ähn- 
lichen Wunsch  aus,  ich  möchte  nicht  zögern,  ihn  jederzeit  herzubitten. 

Halifax 
(E:  Cmd.  6106.  No.  23.  —  D:  Eigene  Obersetzung.) 


Aus  dem  Vortrag  des  britisdien  Außenministers  Lord  Halifax  89. 

vom  29.  Juni  1939  vor  dem  Royal  Institute  of  International 
Affairs  im  Chatham  House 

Unser  erster  Entschluß  ist,  der  Aggression  Einhalt  zu  gebieten. 
Ich  brauche  nicht  die  Aggressionshandlungen  wieder  aufzuzählen,  die 
stattgefunden  haben,  oder  die  Wirkung,  die  sie  auf  das  allgemeine 
Vertrauen  ausübten,  das  Nationen  in  Worte  und  feierliche  Versprechen 
zu  setzen  vermögen.  Aus  diesem  Grund,  und  aus  diesem  Grund  allein, 
haben  wir  uns  mit  anderen  Nationen  vereinigt,  um  einer  gemeinsamen 
Gefahr  zu  begegnen.  Wir  alle  kennen  diese  Vereinbarungen,  und  die 
Welt  weiß,  daß  sie  keinen  anderen  Zweck  haben  als  Verteidigung.  Sie 
bedeuten  das,  was  sie  ausdrücken  —  nichts  mehr  und  nichts  weniger. 
Aber  man  hat  sie  gebrandmarkt,  als  zielten  sie  auf  die  Isolierung  — 
oder,  wie  man  es  nennt,  die  Einkreisung  —  Deutschlands  und  Italiens 
hin,  und  als  seien  sie  darauf  berechnet,  zu  verhindern,  daß  sie  sich  den 
für  ihre  nationale  Existenz  notwendigen  Lebensraum  schaffen.  Ich 
werde  mich  mit  diesen  Anschuldigungen  heute  abend  befassen,  und 
ich  gedenke  es  mit  vollendetem  Freimut  zu  tun. 


204  DeuUchland  -  England  \Bi^ 

Man  sagt  uns,  unsere  Beweggründe  seien,  Deutschland  in  einem 
Ring  feindseliger  Staaten  zu  isolieren,  seine  natürlichen  Ausmündungen 
zu  verstopfen,  die  ganze  Existenz  einer  großen  Nation  einzuengen 
und  zu  erdrosseln.  Wie  verhält  es  sich  damit?  Die  Tatsachen  sind 
sehr  einfach,  und  jeder  kennt  sie.  Deutschland  isoliert  sich  selbst  und 
tut  es  höchst  erfolgreich  und  vollständig.  Es  isoliert  sich  von  andern 
Ländern  wirtschaftlich  durch  seine  Politik  der  Autarkie,  politisch 
durch  eine  Politik,  die  andern  Nationen  dauernd  Sorge  bereitet,  und 
kulturell  durch  seine  Rassenpolitik.  Wenn  man  sich  vorsätzlich  durch 
eigene  Handlungen  von  andern  isoliert,  so  kann  man  niemand  als 
sich  selbst  die  Schuld  daran  beimessen,  und  solange  diese  Isolierung 
weitergeht,  müssen  sich  die  unausbleiblichen  Folgen  verstärken  und  deut- 
licher abzeichnen.  Das  letzte,  was  wir  wünschen,  ist,  den  einzelnen 
Deutschen,  Mann  oder  Frau  oder  Kind,  Entbehrungen  leiden  zu  sehen; 
doch  wenn  dies  geschieht,  liegt  die  Schuld  daran  nicht  bei  uns,  und  es 
hängt  von  Deutschland,  und  bloß  von  Deutschland,  ab,  ob  dieser 
Prozeß  der  Isolierung  weitergeht  oder  nicht,  denn  er  läßt  sich  jeden 
Tag  durch  eine  Politik  der  Zusammenarbeit  beenden.  Es  ist  angebracht, 
dies  klar  auszusprechen,  damit  hier  oder  anderwärts  kein  Mißverständ- 
nis bestehe. 

Ich  komme  jetzt  zum  Lebensraum.  Dies  Wort  .  .  .  bedarf  einer 
fairen  und  sorgfältigen  Prüfung.  Natürlich  sieht  sich  jede  entwickelte 
Gemeinschaft  dem  vitalen  Problem  des  Lebensraums  gegenüber. 
Das  Problem  wird  indes  nicht  einfach  dadurch  gelöst,  daß  man  mehr 
Gebiet  erwirbt.  Ja,  das  wird  das  Problem  vielleicht  nur  verschärfen. 
Es  kann  bloß  dadurch  gelöst  werden,  daß  man  die  heimischen  Ange- 
legenheiten eines  Landes  weise  ordnet  und  die  Beziehungen  zu  andern 
Ländern  draußen  anpaßt  und  verbessert.  Nationen  breiten  dadurch 
ihren  Reichtum  aus  und  heben  den  Lebensstandard  ihres  Volks,  daß 
sie  das  Vertrauen  ihrer  Nachbarn  gewinnen  und  damit  den  Waren- 
verkehr unter  sich  erleichtern.  Das  genaue  Gegenteil  ist  die  wahr- 
scheinliche Folge,  wenn  eine  Nation  die  unabhängige  Existenz  ihrer 
kleineren  schwachen  Nachbarn  unterdrückt.  Und  falls  Lebensraum 
in  diesem  Sinn  angewendet  werden  soll,  verwerfen  wir  ihn  und  müssen 
uns  seiner  Anwendung  widersetzen.  Es  ist  bemerkenswert,  daß  dieser 
Anspruch  auf  Lebensraum  in  einem  Augenblick  vorgebracht  wird,  da 
Deutschland  ein  Einwanderungsland  geworden  ist,  das  Arbeiter  in 
großer  Zahl  aus  der  Tschecho-SIowakei,  aus  Holland  und  Italien  ein- 
führt, um  den  Bedürfnissen  seiner  Industrie  und  Landwirtschaft  zu 
genügen.  Wie  kann  Deutschland  da  geltend  machen,  daß  es  über- 
völkert sei?  Belgien  und  Holland  und  in  geringerem  Grad  unsere 
eigenen  Inseln  haben  bereits  bewiesen,  daß  eine  sogenannte  Über- 
völkerung durch  produktive  Arbeit  verhütet  werden  kann.  Die  weiten 
Räume  und  natürlichen  Hilfsquellen  des  Britischen  Reichs  und  der 
Vereinigten  Staaten  von  Amerika  vermochten  sie  nicht  vor  weitver- 
breiteter Not  während  des  großen  Niedergangs  von  1929 — 1932  zu 
bewahren.  Die  Welt  ist  wirtschaftlich  viel  zu  eng  verflochten,  als  daß 
ein  Land  hoffen  könnte,  auf  Kosten  seiner  Nachbarn  zu  profitieren, 


W] 


Das  Jahr  1939 


205 


und  weniger  als  jedes  andre  Land  kann  Deutschland  hoffen,  seine 
wirtschaftlichen  Probfeme  in  Isolierung  zu  lösen.  Wir  können  ohne 
Zweifel  gegenwärtig  nicht  den  Tag  voraussehen,  an  dem  der  Handel 
iiberall  frei  sein  wird.  Aber  es  i?t»  bei  gegebener  Gelegenheit,  möglich, 
Abmachungen  zu  treffen,  die  den  Bereich  der  Freiheit  stark  erweitern 
würden.  Durch  Zu^animenarbeit  —  und  wir  für  unser  Teil  sind  bereit, 
zusammenzuarbeiten  —  gibt  es  reichlich  Spielraum,  um  auf  alle 
Nationen  die  Gelegenheit  umfassenderen  wirtschaftlichen  Lebens  aus- 
zudehnen mit  allem,  was  in  dem  Ausdruck  », Lebensraum**  inbegriffen 
liegt, 

(E:  Cmd,  610t>.  No»  25.  —  D:  Eij^ene  Übersetzung.) 

Jn  Weilerverfolgung  ihrer  Einkrelsungspolilik  suchte  die  britische 
fiegierung  in  den  folgenden  Monaten  der  sich  immer  mehr  zuspitzenden 
Krise  den  Polen  den  Rücken  zu  stärken,  wo  sie  nur  Gelegenheit  hotte. 
Sie  identifizierte  sieh  mit  den  polnischen  Übergriffen  und  Heß  sich 
wider  besseres  Wissen  sogar  zu  einer  V erteidigung  der  unhaltbaren  Lage 
Danzigs  nach  dem  Versailler  Diktat  herbei. 


Unterhauserklärung  des  brttisciien  Premierministers  Chamberlain     90. 
über  Danzig  vom  10.  Juli  1939 

tch  habe  schon  früher  festgestellt,  daß  die  Regierung  Seiner 
Majestät  mit  der  polnischen  und  der  französischen  Regierung  hin- 
sichtlich der  Danziger  Frage  in  enger  F'ühlungnahme  steht.  Ich  habe 
den  Informationen,  die  dem  Haus  bereits  über  die  dortige  Lage  gegeben 
worden  sind,  gegenwärtig  nichts  hinzuzufügen*  Aber  es  ist  vielleicht 
von  Nutzen^  wenn  ich  die  einzelnen  Teile  dieser  Frage,  so  wie  sie  sich 
der  Regierung  Seiner  Majestät  darstellen,  noch  einmal  bespreche. 

Volksmäßig  ist  Danzig  fast  völlig  eine  deutsche  Stadt;  aber  der 
Wohlstand  seiner  Bewohner  hängt  in  sehr  hohem  Maße  vom  polnischen 
Handel  ab.  Die  Weichsel  ist  der  einzige  Wasserweg,  der  Polen  mit  der 
Ostsee  verbindet,  und  der  Hafen  an  seiner  Mündung  hat  natürlich  für 
Polen  eine  lebenswichtige  strategische  und  wirtschaftliche  Bedeutung. 
Eine  andere  Macht,  die  sich  in  Danzig  festsetzt,  könnte»  wenn  sie 
wollte,  Polens  Zugang  zur  See  sperren  und  auf  diese  Weise  einen  wirt- 
schaftlichen und  militärischen  Druck  auf  Pulen  ausüben.  Die  für  die 
Ausarbeitung  des  heutigen  Status  der  Freien  Stadt  VerantworUichen 
waren  sich  dieser  Tatsache  durchaus  bewußt  und  taten  ihr  Bestes,  um 
entsprechende  Vorkehrungen  zu  treffen.  Überdies  kann  von  einer  Be- 
drückung der  deutschen  Bevölkerung  Danzigs  keine  Rede  sein.  Die 
Verwaltung  der  Freien  Stadt  liegt,  im  Gegenteil  in  deutschen  Händen, 
und  die  einzigen  ihr  auferlegten  Beschräukungen  sind  nicht  so  geartet, 
daß  sie  die  Freiheit  ihrer  Bürger  beschneiden.  Obwohl  die  heutige  Re- 
gelung einer  Verbesserung  zugänglich  sein  mag,  kann  sie  doch  an  sich 
nicht  als  ungerecht  oder  unlogisch  angeschen  werden.  Die  Aufrecht- 
erhaltung des  Status  quo  ist  in  der  Tat  vom  Deutschen  Reichskanzler 


1^  m 


206 


Deutschland "  England 


[90 


selbst  bis  1944  durch  den  zehnjährigeo  Vertrag,  den  er  mit  MarschaU 
Pitsudski  abgeschlossen  hat,  garantiert  worden. 

Bis  zum  letzten  März  schien  Deutschland  der  Ansicht  zu  sein,  dal), 
obschon  die  Stellung  Danzigs  letztlich  vielleicht  einmal  revidiert  wer- 
den müsse,  diese  Frage  weder  dringend  sei  noch  geeigneti  um  zu  einem 
ernsthaften  Kontlikt  zu  führen.  Aber  als  dann  die  deutsche  Regierung 
im  März  ein  Angebot  in  Form  gewisser  Wünsche  machte,  das  von  einer 
Pressekampagne  begleitet  wurde,  erkannte  die  polnische  Regierung, 
daß  sie  sich  unter  Umständen  schon  sehr  schnell  einer  einseitigen  Lö- 
sung gegen  üb  ersehen  könnte,  der  sie  sich  mit  allen  Machtmitteln  zu 
widersetzen  haben  würde,  Sie  hatte  die  Ereignisse  in  Österreich,  iaj 
der  Tschechoslowakei  und  im  Memelland  vor  Augen.  Demzofolge« 
lehnte  sie  es  ab,  den  deutschen  Standpunkt  anzunehmen  und  machte 
ihrersi.'its  A^'orschläge  für  eine  mögliche  Lösung  der  Probleme,  an  denen 
Deutschland  interessiert  war.  Am  23.  März  ordnete  Polen  gewisse  De- 
fensivmaßnahmen an,  und  am  26.  März  schickte  es  seine  Antwort  nach] 
Berlin.  Ich  bitte  das  Haus,  sich  diese  Daten  sorgfältig  zu  merken,^ 
Es  ist  in  Deutschland  freimütig  erklärt  worden,  daß  es  die  britische 
Garantie  war,  die  die  polnische  Regierung  dazu  ermutigt  hat,  die 
oben  beschriebene  Aktion  zu  iinternehmen.  Es  muß  aber  festgestellt 
werden,  daß  unsere  Garantie  erst  am  31.  März  gegeben  wurde:  am 
26.  März  war  darüber  der  polnischen  Regierung  gegenüber  noclr  nicht 
einmal  Erwähnung  getan  worden. 

Kürzliche   Vorfälle   in   Danzig   haben   unvermeidlieherweise   Be- 
fürchtungen aufkommf*n  lassen,  daß  beabsichtigt  wird,  den  künftigen 
Status  der  Freien  Stadt  durch  einseitiges  Vorgehen,  das  durch  heim- 
liche Methoden  organisiert  würde,  zu  regeln  und  so  Polen  und  die 
anderen  Mächte  vor  ein  fait  accompli  zu  stellen*  unter  diesen  Um- 
ständen würde,  gibt  man  zu  verstehen,  jede  Maßnahme,  die  Polen  zur 
WiederhersteHung   der   Sachlage   ergreift,    als   eine    von    ihm    unter- 
nommene Angijiffshandlung  hingestellt  werden,  und  wenn  seine  Aktioa, 
durch  andere  Mächte  unterstützt  würde,  dann  würden  diese  ihrerseit 
bezichtigt   werden»   Polen   bei   der   Gewaltanwendung  zu  helfen   und  ' 
Vorschub  zu  leisten. 

Wenn  sich  die  Ereignisse  in  der  Tat  so  abspielen  sollte»,  wie  es 
diese  Hypothese  vorsieht,  werden  sich  die  ehrenwerten  Herren  auf 
Grund  dessen,  was  ich  früher  sagte,  darüber  kiar  sein,  daß  der  Fall 
nicht  als  rein  lokale  Angelegenheit  angesehen  werden  kann,  die  mir 
die  Rechte  und  Freiheiten  der  Danziger  betrifft,  die,  nebenbei  gesagt, 
in  keiner  Weise  bedroht  sind;  sie  würde  vielmehr  sofort  ernstere,  die 
nationale  Existenz  und  Unabhängigkeit  Polens  berührende  Fragen  auf- 
werfen.  Wir  haben  garantiert,  Polen  für  den  Fall  einer  klaren  Bedro- 
hung seiner  Unabhängigkeit  beizustehen,  die  ihm  einen  Widerstand 
mit  seinen  nationalen  Streitkräften  lebenswichtig  erscheinen  ließe, 
und  wir  sind  fest  entschlossen,  dieses  Versprechen  zur  Ausführung  zu 
bringen. 

Ich  habe  bereits  gesagt,  daß  die  heutige  Regelung  weder  grund- 
sätzlich  ungerecht  noch  unlogisch  ist;  sie   mag  Verbesserungen   zu- 


90]  Das  Jahr  1939  207 

gänglich  sein.  Über  die  möglichen  Verbesserungen  könnte  man  viel- 
leicht in  einer  klareren  Atmosphäre  verhandeln.  Oberst  Beck  hat  denn 
auch  selbst  in  seiner  Rede  vom  5.  Mai  gesagt,  daß  alle  Besprechungen 
möglich  seien,  wenn  die  deutsche  Regierung  sich  an  zwei  Bedingungen 
halte,  nämlich  an  friedliche  Absichten  und  Methoden  des  Vorgehens. 
Der  Deutsche  Reichskanzler  hat  in  seiner  Reichstagsrede  vom  28.  April 
gesagt,  daß,  wenn  die  polnische  Regierung  zu  einer  neuen  vertrag- 
lichen Regelung  der  Beziehungen  zu  Deutschland  kommen  wolle,  er 
dies  nur  begrüßen  würde.  Er  fügte  hinzu,  daß  eine  solche  Regelung 
dann  auf  einer  ganz  klaren  und  beide  Teile  gleichmäßig  bindenden 
Verpflichtung  beruhen  müßte. 

Die  Regierung  Seiner  Majestät  ist  sich  darüber  klar,  daß  die 
jüngsten  Ereignisse  in  der  Freien  Stadt  das  Vertrauen  gestört  und  es 
für  den  Augenblick  schwer  gemacht  haben,  eine  Atmosphäre  zu  fin- 
den, in  der  vernünftige  Ratschläge  die  Oberhand  gewinnen  können. 
Angesichts  dieser  Lage  ist  die  polnische  Regierung  ruhig  geblieben, 
und  die  Regierung  Seiner  Majestät  hofft,  daß  die  Freie  Stadt  mit 
ihren  alten  Überlieferungen  wieder  einmal,  wie  schon  früher  in  ihrer 
Geschichte,  beweisen  wird,  daß  verschiedene  Nationalitäten  zusammen- 
arbeiten können,  wenn  ihre  wirklichen  Interessen  zusammenfallen. 
Inzwischen  verlasse  ich  mich  darauf,  daß  alle  Beteiligten  ihre  Ent- 
schlossenheit erklären  und  zeigen  werden,  keinerlei  Zwischenfälle  im 
Zusammenhang  mit  Danzig  einen  derartigen  Charakter  annehmen  zu 
lassen,  daß  eine  Bedrohung  des  Friedens  von  Europa  daraus  er- 
wachsen könnte.     - 

(E:  Parliamentary  Debates.  House  of  Commons.  Bd.  349,  Sp.  1791  ff.)  —  D: 
MonaUbefte  für  Auswärtige  Politik,  1939.  S.  818 ff.) 

Nachdem  die  deutsch-polnischen  Beziehungen  durch  den  Noten- 
wechsel zwischen  Warschau  und  Danzig  einerseits  und  Berlin  und  War- 
schau andererseits  in  der  Zeit  vom  S.  bis  10,  August  1939  (vgl.  Deutsches 
Weißbuch:  ^^Urkunden  zur  letzten  Phase  der  deutsch- polnischen  Krise*', 
Nr.  1 — 5)  zunehmend  gespannter  geworden  waren,  war  der  britische 
Botschafter  in  Berlin,  Sir  Nevite  Henderson,  am  18.  August  zu  der 
Überzeugung  gekommen,  daß  man  die  Dinge  nicht  mehr  treiben  lassen 
könne.  In  dem  Telegramm  an  den  britischen  Außenminister  wiederholte 
er  daher  seine  schon  bei  früherer  Gelegenheit  vorgebrachte  Anregung,  daß 
der  Premierninister  ein  persönliches  Schreiben  an  den  Führer  richten 
und  durch  einen  besonderen  Boten  übermitteln  solle  (vgl.  britisches  Weiß- 
buch: Germany  No.  1  [1939J  Final  Report  by  the  Right  Honourable 
Sir  Nevite  Henderson  G.G.  M.  G  on  the  circumstances  leading  to  the  Ter- 
mination  of  his  Mission  to  Berlin,  September  20,  1939,  Cmd.  6115. 
Nr.  23). 

Infolge  dieser  Anregung  kam  es  zu  dem  Briefwechsel  zwischen  Cham- 
berlain  und  dem  Führer  vom  22.123.  August  1939,  in  dem  der  Führer 
wiederum  die  jahrelangen  vergeblichen  deutschen  Bemühungen  um  die 
englische  Freundschaft  betonte. 


2()8  Deutschland  -  England  [91 

91 .  Sdixeiben  des  britisdien  Premierministen  an  den  Führer 

vom  22.  August  1939 

Kuos  Exzellenz! 

Euer  Exzellenz  werden  bereits  von  gewissen  Maßnahmen  Kennt- 
nin  erhalten  haben,  die  von  Seiner  Majestät  Regierung  getroffen 
und  heute  abend  in  der  Presse  und  im  Rundfunk  bekanntgegeben 
wurden. 

Diese  Maßnahmen  sind  nach  Ansicht  Seiner  Majestät  Regierung 
notwendig  geworden  durch  Truppenbewegungen,  über  die  aus  Deutsch- 
land berichtet  worden  ist  und  durch  die  Tatsache,  daß  anscheinend 
die  Ankündigung  eines  deutsch-sowjetischen  Abkommens  in  gewissen 
Kreisen  in  Berlin  als  Anzeichen  dafür  aufgefaßt  wird,  daß  eine  Inter- 
vention seitens  Großbritanniens  zugunsten  Polens  nicht  mehr  eine 
I^ventualität  darstellt,  mit  der  zu  rechnen  notwendig  ist.  Kein  größerer 
Fehler  könnte  begangen  werden.  Welcherart  auch  immer  das  deutsch- 
sowjetische Abkommen  sein  wird,  so  kann  es  nicht  Großbritanniens 
Verpflichtung  gegenüber  Polen  ändern,  wie  Seiner  Majestät  Regierung 
wiederholt  öffentlich  und  klar  dargelegt  hat  und  diese  entschlossen 
ist,  zu  erfüllen.  Es  ist  behauptet  worden,  daß,  wenn  Seiner  Majestät 
Regierung  ihren  Standpunkt  im  Jahre  1914  klarer  dargelegt  hätte, 
jene  große  Katastrophe  vermieden  worden  wäre.  Unabhängig  davon, 
ob  dieser  Behauptung  Bedeutung  beizulegen  ist  oder  nicht,  ist  Seiner 
Majestät  Regierung  entschlossen,  dafür  zu  sorgen,  daß  im  vorliegenden 
Falle  kein  solch  tragisches  Mißverständnis  entsteht. 

Nötigenfalls  ist  Seiner  Majestät  Regierung  entschlossen  und 
bereit,  alle  ihr  zur  Verfügung  stehenden  Kräfte  unverzüglich  einzu- 
setzen, und  es  ist  unmöglich,  das  Ende  einmal  begonnener  Feindselig- 
keiten abzusehen.  Es  würde  eine  gefährliche  Täuschung  sein  zu 
glauben,  daß  ein  einmal  begonnener  Krieg  frühzeitig  enden  würde, 
selbst  wenn  ein  Erfolg  auf  einer  der  verschiedenen  Fronten,  an  denen 
er  gi»führt  werden  wird,  erzielt  worden  sein  sollte. 

Nachdem  unser  Standpunkt  auf  diese  Weise  vollkommen  klar 
dar«rt*legt  ist,  möchte  ich  Euer  Exzellenz  wiederholt  meine  Über- 
zeugung dahingehend  zum  Ausdruck  bringen,  daß  Krieg  zwischen 
unseren  beiden  Völkern  die  größte  Katastrophe  darstellen  würde,  die 
überhaupt  eintreten  könnte,  loh  bin  überzeugt,  daß  weder  unser  Volk 
noch  das  Ihrige  einen  Krieg  wünscht,  und  ich  kann  nicht  ersehen, 
daß  die  zwischen  Deutschland  und  Polen  schwebenden  Fragen  irgend 
etwas  enthalten,  das  nicht  ohne  Gewalt  gelöst  werden  könnte  und 
sollte,  wenn  nur  ein  Zustand  des  Vertrauens  wiederhergestellt  werden 
könnte,  der  es  ermöglichen  würde,  Verhandlungen  zu  einer  besseren 
als  der  heute  In^stehenden  Atmosphäre  zu  führen. 

Wir  sind  immer  bereit  gewesen  und  werden  es  auch  stets  sein,  zu 
der  Schaffung  von  Bedingungen  beizutragen,  in  denen  solche  Ver- 
handlungen stattfinden  könnten,  und  in  denen  es  möglich  sein  \^-ürde. 
^hzeitig  jene  größeren,  zukünftige  internationale  Beziehungen  be- 


92] Daa  Jahr  1939 ^ 

rührenden   Probleme  zu   erörtern,  einschließlich  die  uns  und  Euer 
Exzellenz  interessierenden  Angelegenheiten. 

In  dem  heute  bestehenden  Spannungszustande  nehmen  jedoch  die 
Schwierigkeiten  zu,  die  friedlichen  Verhandlungen  im  Wege  stehen, 
und  je  länger  diese  Spannung  aufrechterhalten  wird,  desto  schwerer 
wird  sich  die  Vernunft  durchzusetzen  vermögen.  Diese  Schwierigkeiten 
könnten  jedoch  gemildert,  wenn  nicht  beseitigt  werden,  wenn  über 
einen  anfänglichen  Zeitraum  auf  beiden  Seiten  —  und  überhaupt  auf 
allen  Seiten  —  eine  Pause  eingehalten  werden  könnte,  in  der  Presse- 
polemik und  jedwede  Aufreizung  einzustellen  sei. 

Wenn  eine  solche  Pause  herbeigeführt  werden  könnte,  dann  dürfte 
Grund  zu  der  Hoffnung  bestehen,  daß,  nach  Ablauf  dieses  Zeitraumes, 
in  dem  Schritte  unternommen  werden  könnten,  um  die  von  beiden 
Seiten  erhobenen  Beschwerden  bezüglich  der  Behandlung  von  Minder- 
heiten zu  untersuchen  und  in  Angriff  zu  nehmen,  geeignete  Bedin- 
gungen geschaffen  sein  würden  für  die  Aufnahme  von  direkten  Ver- 
handlungen zwischen  Deutschland  und  Polen  über  die  zwischen  ihnen 
bestehenden  Fragen  (unter  Mitwirkung  eines  neutralen  Vermittlers, 
sollten  beide  Parteien  dies  für  zweckmäßig  erachten). 

Ich  fühle  mich  jedoch  verpflichtet  zu  sagen,  daß  nur  eine  geringe 
Hoffnung  bestehen  würde,  solche  Verhandlungen  zu  einem  erfolg- 
reichen Abschluß  zu  bringen,  wenn  es  nicht  von  Anfang  an  feststünde, 
daß  ein  zu  erreichendes  Abkommen  bei  seinem  Abschluß  von  anderen 
Mächten  garantiert  werden  würde.  Seiner  Majestät  Regierung  würde 
bereit  sein,  wenn  der  Wunsch  dazu  ausgesprochen  werden  sollte,  zu 
der  wirksamen  Durchführung  solcher  Garantien  nach  ihrem  Vermögen 
beizutragen. 

In  diesem  Augenblick  gestehe  ich,  daß  ich  keinen  anderen  Weg 
sehe,  eine  Katastrophe  zu  vermeiden,  die  Europa  in  den  Krieg  führen 
wird. 

Im  Hinblick  auf  die  schweren  Folgen  für  die  Menschheit,  die  aus 
einer  Handlung  ihrer  Herrscher  entstehen  können,  vertraue  ich  darauf, 
daß  Euer  Exzellenz  mit  tiefster  Überlegung  die  Ihnen  von  mir  dar- 
gelegten Gesichtspunkte  abwägen  werden. 

Neville  Chamberlain 

(E:  Cmd.  6106.  No.  56.  —  D:  Dokumente  zur  Vorgeschichte  des  Krieges, 

Nr.  454.) 

Antwortschreiben  des  Führers  an  den  britisdien  Premierminister      92. 
vom  23.  August  1939 

Euer  Exzellenz! 

Der  Königlich-Britische  Botschafter  hat  mir  soeben  ein  Schreiben 
überreicht,  in  dem  Eure  Exzellenz  namens  der  Britischen  Regierung 
auf  eine  Reihe  von  Punkten  hinweisen,  die  Ihrer  Auffassung  nach 
von  größter  Wichtigkeit  seien. 

Ich  darf  dieses  Ihr  Schreiben  wie  folgt  beantworten: 

Deutschland-England  14 


210  Deutschland  -  England  [92 

1.  Deutschland  hat  niemals  Konflikte  mit  England  gesucht  und 
sich  nie  in  englische  Interessen  eingemischt.  Es  hat  sich  im  Gegenteil 
—  wenn  auch  leider  vergebens  —  jahrelang  bemüht,  die  englische 
Freundschaft  zu  erwerben.  Es  hat  aus  diesem  Grunde  freiwillige  Be- 
grenzungen seiner  eigenen  Interessen  in  einem  großen  Gebiet  Europas  vor- 
genommen, die  ansonst  nationalpolitisch  nur  sehr  schwer  tragbar  wären. 

2.  Das  Deutsche  Reich  besitzt  aber  —  wie  jeder  andere  Staat  — 
bestimmte  Interessen,  auf  die  Verzicht  zu  leisten  unmöglich  ist.  Sie 
liegen  nicht  außerhalb  des  Rahmens  der  durch  die  frühere  deutsche 
Geschichte  gegebenen  und  durch  wirtschaftliche  Lebensvoraussetzungen 
bedingten  Notwendigkeiten.  Einige  dieser  Fragen  besaßen  und  besitzen 
zugleich  eine  nationalpolitisch  und  psychologisch  für  jede  Deutsche 
Regierung  zwingende  Bedeutung. 

Zu  ihnen  gehören  die  deutsche  Stadt  Danzig  und  das  damit  im 
Zusammenhang  stehende  Problem  des  Korridors.  Zahlreiche  Staats- 
männer, Geschichtsforscher  und  Literaten,  auch  in  England,  waren  sich 
wenigstens  noch  vor  wenigen  Jahren  dessen  bewußt.  Hinzufügen  möchte 
ich  noch,  daß  alle  diese  Gebiete,  die  in  der  vorher  erwähnten  deutschen 
Interessensphäre  liegen,  und  insbesondere  die  seit  achtzehn  Monaten 
zum  Reich  zurückgekehrten  Länder  ihre  kulturelle  Erschließung  nicht 
durch  Engländer,  sondern  ausschließlich  durch  Deutsche  erhalten 
haben,  und  zwar  zum  Teil  schon  in  und  seit  einer  Zeit,  die  über  tausend 
Jahre  zurückliegt. 

3.  Deutschland  war  bereit,  die  Frage  Danzig  und  die  des  Korridors 
durch  einen  wahrhaft  einmalig  großzügigen  Vorschlag  auf  dem  Wege 
von  Verhandlungen  zu  lösen.  Die  von  England  ausgestreuten  Behaup- 
tungen über  eine  deutsche  Mobilmachung  gegenüber  Polen,  die  Be- 
hauptung von  Aggressionsbestrebungen  gegenüber  Rumänien,  Ungarn 
usw.  sowie  die  später  abgegebenen  sogenannten  Garantieerklärungen 
hatten  die  Geneigtheit  der  Polen  zu  Verhandlungen  auf  einer  solchen 
auch  für  Deutschland  tragbaren  Basis  beseitigt. 

4.  Die  von  England  Polen  gegebene  Generalzusicherung,  ihm  unter 
allen  Umständen  beizustehen,  ganz  gleich,  aus  welchen  Ursachen  ein 
Konflikt  entstehen  könnte,  konnte  in  diesem  Lande  nur  als  eine  Er- 
munterung aufgefaßt  werden,  nunmehr  —  gedeckt  durch  einen  solchen 
Freibrief  —  eine  Welle  furchtbaren  Terrors  gegen  die  1%  Millionen 
zählende  deutsche  Bevölkerung,  die  in  Polen  lebt,  anlaufen  zu  lassen. 
Die  Greuel,  die  seitdem  dort  stattfinden,  sind  für  die  Betroffenen 
entsetzlich,  für  das  dabei  zusehen  sollende  Deutsche  Reich  unerträg- 
lich. Der  Freien  Stadt  Danzig  gegenüber  hat  Polen  zahlreiche  Rechts- 
verletzungen begangen,  Forderungen  ultimativen  Charakters  geschickt 
und  mit  der  wirtschaftlichen  Abdrosselung  begonnen. 

5.  Die  Deutsche  Reichsregierung  hat  der  Polnischen  Regierung 
nun  vor  kurzem  mitteilen  lassen,  daß  sie  nicht  gewillt  ist,  diese  Ent- 
wicklung stillschweigend  hinzunehmen,  daß  sie  nicht  dulden  wird, 
daß  weitere  ultimative  Noten  an  Danzig  gerichtet  werden,  daß  sie 
nicht  dulden  wird,  daß  man  die  Verfolgungen  des  deutschen  Elementes 
fortsetzt,  daß  sie  ebenso  nicht  dulden  wird,  durch  wirtschaftliche  Maß- 


21 


Das  Jahr  1939 


211 


nahmen  die  Freie  Stadt  Danzig  umzubringen,  das  heißt,  durch  eine 
Art  von  Zollblockade  derDanziger  Bevölkerung  die  Lebensgrundlagen  zu 
vernichten,  und  daß  sie  auch  nicht  dulden  wird,  daß  sich  sonstige 
weitere  Provokationsakte  gegen  das  Reich  ereignen.  Unabhängig  davon 
müssen  und  werden  die  Fragen  des  Korridors  und  von  Danzig  ihre 
Lösung  finden. 

6.  Sie  teilen  mir,  Exzellenz,  im  Namen  der  Britischen  Regierung 
mit,  daß  Sie  in  jedem  solchen  Fall  des  Einschreitens  Deutschlands 
gezwungen  sein  werden ,  Polen  Beistand  zu  leisten.  Ich  nehme  diese 
Ihre  Erklärung  zur  Kenntnis  und  versichere  Ihnen,  daß  sie  keine 
Änderung  in  die  Entschlossenheit  der  Reichsregierung  bringen  kann, 
die  Interessen  des  Reiches  in  dem  in  Punkt  5  mitgeteilten  Sinn  wahr- 
zunehmen. Ihre  Versicherung,  daß  Sie  in  einem  solchen  Fall  an  einen 
langen  Krieg  glauben,  teile  ich  ebenfalls.  Deutschland  ist  —  wenn  es 
von  England  angegriffen  wird  —  darauf  vorbereitet  und  dazu  ent- 
schlossen, Icli  habe  schon  öfter  als  einmal  vor  dem  Deutschen  Volk 
und  der  Welt  erklärt,  daß  es  über  den  Willen  des  neuen  Deutschen 
Reiches  keinen  Zweifel  geben  könne,  lieber  jede  Not  und  jedes  Unglück 
und  auf  jede  Zeit  auf  sich  zu  nehmen,  als  seine  nationalen  Interessen 
oder  gar  seine  Ehre  preiszugeben. 

7.  Die  Deutsche  Reichsregierung  hat  Kenntnis  davon  bekommen» 
daß  die  Britische  Regierung  beabsichtigt,  Mobilmachungsmaßnahraen 
durchzuführen,  deren  eindeutiger  Charakter  als  nur  gegen  Deutschland 
gerichtet,  nach  den  eigenen  Erklärungen  in  Ihrem  Schreiben  an  mich, 
Herr  Ministerpräsident,  feststeht.  Dies  soll  auch  für  Frankreich  zu* 
treffen.  Da  Deutschland  niemals  die  Absicht  hatte,  sei  es  gegen  Eng- 
land oder  gegen  Frankreich,  militärische  Maßnahmen  außer  solchen 
defensiver  Natur  zu  treffen,  und  —  wie  schon  betont  —  nie  beabsich- 
tigte und  auch  für  die  Zukunft  nicht  beabsichtigt,  England  oder 
Frankreich  anzugreifen,  kann  es  sich  in  dieser  Ankündigung,  wie  Sie 
sie,  Herr  Ministerpräsident,  in  Ihrem  Schreiben  mir  bestätigen,  nur 
um  einen  in  Aussicht  genommenen  Akt  der  Bedrohung  des  Reiches 
handeln.  Ich  teile  daher  Euer  Exzellenz  mit,  daß  ich  im  Falle  des  Ein- 
treffens dieser  militärischen  Ankündigungen  die  sofortige  Mobil- 
machung der  deutschen  Wehrmacht  anordnen  werde. 

8.  Die  Frage  der  Behandlung  der  europäischen  Probleme  im  fried- 
lichen Sinn  kann  nicht  von  Deutschland  entschieden  werden,  sondern 
in  erster  Linie  von  Jenen,  die  sich  seit  dem  Verbrechen  des  Versailler 
Diktates  jeder  friedlichen  Revision  beharrlich  und  konsequent  wider- 
setzt haben.  Erst  nach  der  Änderung  der  Gesinnung  der  dafür  verant- 
wortlichen Mächte  kann  auch  eine  Änderung  des  Verhäimisses  zwischen 
England  und  Deutschland  in  einem  positiven  Sinne  eintreten.  Ich  habe 
zeit  meines  Lebens  für  eine  deutsch-englische  Freundschaft  gekämpft, 
bin  aber  durch  das  Verhalten  der  britischen  Diplomatie  —  wenigstens 
bisher  —  von  der  Zwecklosigkeit  eines  solchen  Versuches  überzeugt 
worden.  Wenn  sich  dies  in  der  Zukunft  ändern  würde»  könnte  niemand 
glücklicher  sein  als  ich.  Adolf  Hitler 

(Dokumente  zur  Vorgeschichte  des  Kriegea,  Nr.  456*) 

14» 


212  Deutschland  -  England  [94 

Sir  Nevile  Henderson  hai  in  einem  Telegramm  vom  23.  Augusl  an 
Lord  Halifax  hesläligl,  daß  auch  in  seinen  persönlichen  Unterhallungen 
mit  dem  Fährer,  die  sich  an  diesen  Briefwechsel  anschlössen,  der  gleiche 
Gesichtspunkl  immer  wieder  nachdrücklich  in  den  Vordergrund  gerückt 
wurde. 

93.    Aus  dem  Telegramm  des  Botsdiafters  Sir  Nevile  Henderson  an  den 
britischen  Außenminister  Lord  Halifax  vom  24.  August  1939 
über  seine  Unterredung  mit  dem  Führer 

Er  sprach  mehrere  Male  von  seinen  wiederholten  Freundschafts- 
angeboten an  England  und  deren  unveränderlicher  und  verächtlicher 
Abweisung.  Ich  verwies  auf  vorjährige  Bemühungen  des  Minister- 
präsidenten und  seinen  Wunsch  nach  Zusammenarbeit  mit  Deutsch- 
land. Er  sagte,  er  habe  damals  an  Herrn  Chamberlains  guten  Willen 
geglaubt,  er  tue  das  aber,  namentlich  seit  Einkreisungsbemühungen 
der  letzten  paar  Monate,  nicht  mehr.  Ich  legte  das  Fälschliche  dieser 
Ansicht  dar,  doch  seine  Antwort  lautete,  er  sei  jetzt  endgültig  von  der 
Richtigkeit  der  ihm  früher  von  andern  vorgehaltenen  Ansichten  über- 
zeugt, daß  England  und  Deutschland  sich  nie  einigen  könnten. 

(E:  Cmd.  6106.  No.  &8.  —  D:  Eigene  Übersetzung.) 

An  dem  Tage,  an  dem  der  britische  Premierminister  den  Antwort- 
brief  des  Fährers  in  seinen  Händen  hielt,  das  heißt  am  24.  August  1939, 
gab  er  im  Unterhaus  eine  Erklärung  ab,  in  der  er  die  Durchfährung  um- 
fassender militärischer  Maßnahmen  bekanntgab.  Die  Rede,  die  sich  im 
übrigen  mit  dem  inzwischen  bekannt  gewordenen  deutsch-russischen  Nicht- 
angriffspakt beschäftigte,  enthielt  nur  die  Versicherung,  daß  das  an  Polen 
gegebene  Beistandsversprechen  unabhängig  von  den  Verhandlungen  in 
Moskau  erteilt  worden  sei  und  infolgedessen  von  dem  Zusammenbruch 
dieser  Verhandlungen  und  der  deutsch-russischen  Annäherung  nicht  be- 
rührt werden  könne. 

Trotz  dieser  wenig  ermutigenden  Rede  ließ  der  Führer  am  25.  August 
1939  den  britischen  Botschafter  Sir  Nevile  Henderson  nochmals  zu  sich 
kommen,  um  ihm  ein  letztes,  weitreichendes  Freundschaftsangebot  mit- 
zuteilen. 


94.       Erklärung  des  Führers  gegenüber  dem  britischen  Botschafter  vom 
25.  August  1939,  mittags  13.30  Uhr 

Öer  Führer  erklärte  einleitend,  daß  der  Britische  Botschafter  am 
Schluß  der  letzten  Unterredung  der  Hoffnung  Ausdruck  gegeben  habe, 
daß  doch  noch  eine  Verständigung  zwischen  Deutschland  und  England 
möglich  sein  wird.  Er,  der  Führer,  habe  sich  daraufhin  die  Dinge  noch 
einmal  durch  den  Kopf  gehen  lassen  und  wolle  heute  England  gegen- 
über einen  Schritt  unternehmen,^  der  genau  so  entscheidend  sei  wie  der 


94]  Das  Jahr  1939  213 

Schritt  Rußland  gegenüber,  der  zu  der  kürzlichen  Vereinbarung  ge- 
führt habe. 

Auch  die  gestrige  Unterhaussitzung  bzw.  die  Reden  Ghamberlains 
und  Lord  Halifax'  hätten  den  Führer  veranlaßt,  noch  einmal  mit  dem 
Britischen  Botschafter  zu  sprechen.  Die  Behauptung,  daß  Deutsch- 
land die  Welt  erobern  wolle,  ist  lächerlich.  Das  Britische  Imperium 
umfaßt  40  000  000  qkm,  Rußland  19  000  000  qkm,  Amerika  9  500  000 
qkm,  während  Deutschland  noch  nicht  600  000  qkm  umfaßt.  Wer 
also  die  Welt  erobern  will,  ist  klar. 

Der  Führer  teilte  dem  Britischen  Botschafter  folgendes  mit: 

1 .  Die  polnischen  Akte  der  Provokation  sind  unerträglich  gewor- 
den, gleich,  wer  verantwortlich  ist.  Wenn  die  Polnische  Regie- 
rung die  Verantwortung  bestreitet,  so  beweist  dies  nur,  daß  sie 
selbst  keinen  Einfluß  mehr  auf  ihre  militärischen  Unterorgane 
besitze.  In  der  letzten  Nacht  seien  wieder  einundzwanzig  neue 
Grenzzwischenfälle  erfolgt,  auf  deutscher  Seite  habe  man  größte 
Disziplin  gewahrt.  Alle  Zwischenfälle  seien  von  der  polnischen 
Seite  hervorgerufen  worden.  Außerdem  wurden  Verkehrsflug- 
zeuge beschossen.  Wenn  die  Polnische  Regierung  erkläre,  nicht 
verantwortlich  dafür  zu  sein,  so  beweise  dies,  daß  es  ihr  nicht 
mehr  möglich  sei,  ihre  eigenen  Leute  im  Zaume  zu  halten. 

2.  Deutschland  sei  unter  allen  Umständen  entschlossen,  diese 
mazedonischen  Zustände  an  seiner  Ostgrenze  zu  beseitigen,  und 
zwar  nicht  nur  im  Interesse  von  Ruhe  und  Ordnung,  sondern 
auch  im  Interesse  lies  europäischen  Friedens. 

3.  I>as  Problem  Danzig  und  Korridor  müsse  gelöst  werden.  Der 
Britische  Ministerpräsident  habe  eine  Rede  gehalten,  die  nicht 
im  geringsten  geeignet  sei,  einen  Wandel  in  der  deutschen  Ein- 
stellung herbeizuführen.  Aus  dieser  Rede  könne  höchstens  ein 
blutiger  und  unübersehbarer  Krieg  zwischen  Deutschland  und 
England  entstehen.  Ein  solcher  Krieg  würde  blutiger  sein  als 
der  von  1914  bis  1918.  Im  Unterschied  zu  dem  letzten  Krieg 
würde  Deutschland  keinen  Zweifrontenkrieg  mehr  zu  führen 
haben.  Das  Abkommen  mit  Rußland  sei  bedingungslos  und 
bedeute  eine  Wende  in  der  Außenpolitik  des  Reiches  auf  längste 
Zeit.  Rußland  und  Deutschland  würden  unter  keinen  Umständen 
mehr  die  Waffen  gegeneinander  ergreifen.  Davon  abgesehen 
würden  die  mit  Rußland  getroffenen  Abmachungen  auch  wirt- 
schaftlich für  eine  längste  Kriegsperiode  sichern. 

Dem  Führer  habe  immer  an  der  deutsch-englischen  Verständigung 
gelegen.  Ein  Krieg  zwischen  England  und  Deutschland  könne  im 
günstigsten  Fall  Deutschland  einen  Gewinn  bringen,  England  aber 
überhaupt  nicht. 

Der  Führer  erklärt,  daß  das  deutsch-polnische  Problem  gelöst 
werden  müsse  und  gelöst  werden  würde.  Er  ist  aber  bereit  und  ent- 
schlossen, nach  der  Lösung  des  Problems  noch  einmal  an  England 
mit  einem  umfassenden  großen  Angebot  heranzutreten.  Er  ist  ein 
Mann  großer  Entschlüsse  und  wird  auch  jn  diesem  Fall  zu  einer  großen 


214 Deutschland  -  England [M 

Handlung  fähig  sein.  Er  bejaht  das  Britische  Imperium  und  ist  bereit, 
sich  für  dessen  Bestand  persönlich  zu  verpflichten  und  die  Kraft  des 
Deutschen  Reiches  dafür  einzusetzen,  wenn 

1.  seine  kolonialen  Forderungen,  die  begrenzt  sind  und  auf  fried- 
lichem Wege  ausgehandelt  werden  können,  Erfüllung  finden, 
wobei  er  hier  zu  einer  weitesten  Terminbestimmung  bereit  ist, 

2.  seine  Verpflichtungen  Italien  gegenüber  nicht  tangiert  werden, 
d.  h.  mit  anderen  Worten:  Er  fordert  von  England  nicht  die 
Preisgabe  seiner  französischen  Verpflichtungen  und  könnte  sich 
seinerseits  auch  nicht  von  den  italienischen  Verpflichtungen 
entfernen. 

3.  Er  wünscht  ebenso  den  unverrückbaren  Entschluß  Deutsch- 
lands zu  betonen,  nie  mehr  mit  Rußland  in  einen  Konflikt  ein- 
zutreten. 

Der  Führer  ist  bereit,  dann  mit  England  Abmachungen  zu  treffen, 
die,  wie  schon  betont,  nicht  nur  die  Existenz  des  Britischen  Weltreichs 
unter  allen  Umständen  deutscherseits  garantieren  würden,  sondern 
auch,  wenn  es  nötig  wäre,  dem  Britischen  Reich  die  deutsche  Hilfe 
sicherten,  ganz  gleich,  wo  immer  eine  derartige  Hilfe  erforderlich  sein 
sollte.  Der  Führer  würde  dann  auch  bereit  sein,  eine  vernünftige 
Begrenzung  der  Rüstungen  zu  akzeptieren,  die  der  neuen  politischen 
Lage  entsprächen  und  wirtschaftlich  tragbar  wären.  Endlich  ver- 
sichert der  Führer  erneut,  daß  er  an  den  westlichen  Problemen  nicht 
interessiert  sei  und  daß  eine  Grenzkorrektur  im  Westen  außerhalb 
jeder  Erwägung  stehe;  der  mit  Milliarden  Kosten  errichtete  Westwall 
sei  die  endgültige  Reichsgrenze  nach  Westen. 

Wenn  die  Britische  Regierung  diese  Gedanken  erwägen  würde, 
so  könnte  sich  daraus  ein  Segen  für  Deutschland  und  auch  für  das 
Britische  Weltreich  ergeben.  Wenn  sie  diese  Gedanken  ablehnt,  wird 
es  Krieg  geben.  Auf  keinen  Fall  würde  Großbritannien  aus  diesem 
Krieg  stärker  hervorgehen;  schon  der  letzte  Krieg  habe  dies  bewiesen. 

Der  Führer  wiederholt,  daß  er  ein  Mann  großer  und  ihn  selbst 
verpflichtender  Entschlüsse  sei  und  daß  dies  sein  letzter  Vorschlag 
wäre.  Er  werde  sofort  nach  Lösung  der  deutsch-polnischen  Frage  mit 
einem  Angebot  an  die  Britische  Regierung  herantreten. 
(Dokumente  zur  Vorgeschichte  des  Krieges,  Nr.  457.) 

In  einem  Telegramm  vom  25,  August  1939  hat  Sir  Neoiie  Henderson 
über  seine  Unterredung  mit  dem  Führer  an  den  britischen  Außenminister 
berichtet.  Der  Bericht  schließt  mit  den  Sätzen: 

,, Nachdem  ich  fortgegangen  war,  sandte  Herr  von  Ribbentrop 
Dr.  Schmidt  zur  Botschaft  mit  dem  Text  der  wörtlichen  Erklärung  und 
weiterhin  mit  einer  Mitteilung  von  ihm  selbst,  die  dahin  ging,  daß  Herr 
Hitler  immer  und  auch  jetzt  noch  ein  Abkommen  mit  England  gewünscht 
habe  und  daß  er  mich  bitte,  Seiner  Majestät  Regierung  zu  veranlassen, 
daß  sie  das  Angebot  sehr  ernst  nähme.**  [Cmd.  6106.  No.  69.) 

Am  Abend  des  gleichen  Tages,  an  dem  der  Führer  dem  britischen 


Das  Jahr  1939  215 


Bolschafter  diases  weilreichende  Angebot  gemacht  hatte,  wurde  in  London 
der  briliscb'polnisvhe  Beistandspakt  unterzeichnet. 

Es  ist  später  von  Lnlerstaatssekretär  Butler  im  Unterhaus  festgestellt 
worden,  daß  sich  dieses  Abkommen  eifxzig  und  allein  gegen  Deutschland 
richtete.  Die  wahren  Motive  der  britischen  Politik  konnten  nicht  deutlicher 
gekennzeichnet  werden,  als  es  damit  geschah:  Nicht  die  Unabhängigkeit 
und  das  Sthicksal  Polens  waren  es,  die  England  bestimmten,  sondern 
lediglich  das  Btstreben,  der  Revision  der  deutschen  Ostgrenzen  und  einer 
davon  belürchielen  deutschen  Machtsieigerung  entgegenzutreten. 

UDterhauserklärung  des  britischen  Unterstaatssekretäre  Butler       95. 
I  vom  19.  Oktober  1939 

p  Auf  die  Anfrage  Mr.  Harveys  antwortend,  der  den  Premierminister 
gefragt  halte^  ob  der  in  dem  am  25.  August  d,  J.  zwischen  dem  Ver- 
einigten Königreich  und  Polen  geschlossenen  Abkommen  enthaltene 
Hinweis  auf  einen  Angriff  durch  eine  europäische  Macht  auch  für  den 
Fall  eines  Angriffs  durch  andere  Mächte  als  Deutschfand,  einschließ- 
lich Rußlands,  Geltung  haben  solle,  erklärte  Mr.  Butler,  UntersLaats- 
sckrctär  für  Auswärtige  Angelegenheiten:  ,,Nein,  mein  Herr.  Während 
der  Verliandlungen,  die  zur  Unterzeichnung  des  Abkommens  führten^ 
herrschte  zwischen  der  Polniscfien  Regierung  und  der  Regierung  Seiner 
Majestät  Einverslöndnis  darüber,  daß  das  Abkommen  lediglich  für 
den  luvll  eines  Arjgiiffs  durch  Deutschland  Geltung  haben  solle,  und 
die  Polnische  Regierung  beslaligt,  daß  dem  so  ist.** 

(li:  Tlie  Times  vom  2i>.  Oktober  U*31K  ^  D:  EJ|feiie  fJbersetÄung.) 

'  Nachdem  im  Grunde  die  praktischen  Möglichkeiten ^  zu  einer  raschen 

deutsch-englischen  Verständigung  zu  kommen,  durch  den  formellen  Ab- 
schluß des  britisch-polnischen  Beistandspaktes  und  die  darin  beschlossene 
Besläligang  der  an  Polen  gegebenen  Blanko-V ollmacht  vereiteil  waren^ 
ging  die  britische  Antwortnote  vom  28.  August  J 939  gleichwohl  noch  einmal 
auf  dieses  Angebot  ein.  Indessen  ließ  ihre  Formulierung  deutlich  erkennen^ 
daß  man  es  in  London  nur  auf  eine  dilatorische  Behandlung  dieser  ernsten 
und  schicksalsschweren  Frage  angelegt  hatte  und  infolgedessen  einer 
genauen  Slelluminahme  auszuweichen   trachtete. 

Memorandum  der  Britischen  Regierung  vom  28.  August  1939,         96. 
dem  Führer  vom  britisdien  Botsdiafter  abends  22.30  Uhr  übergebet] 

Seiner   Majestät   Regierung  hat   die   ihr  vom    Herrn    Deutschen 
Reichskanzler  durch  den  Britischen  Botschafter  in  Berlin  übermittelte 
I  Botschaft  empfangen  und  hat  dieselbe  mit  der  ihr  gebührenden  Sorg- 
'  falt  geprüft. 

L  Seiner  Majestät  Regierung  hat  den  vom  Herrn  Reichskanzler 
zum  Ausdruck  gebrachten  Wunsch,  daß  Freundschaft  die  Grundlage 


216  Deutschland  -  Enfrland  [96 

der  Beziehungen  zwischen  Deutschland  und  dem  Britischen  Imperium 
bilden  möge,  zur  Kenntnis  genommen,  und  sie  teilt  diesen  Wunsch 
voll  und  ganz.  Auch  sie  glaubt,  wie  der  Herr  Reichskanzler,  daß,  wenn 
eine  vollständige  und  dauernde  Verständigung  zwischen  diesen  zwei 
Nationen  hergestellt  werden  könnte,  es  beiden  Völkern  unermeßlichen 
Segen  bringen  würde. 

2.  Die  Botschaft  des  Herrn  Reichskanzlers  behandelt  zwei  Gruppen 
von  Fragen  —  diejenigen,  die  gegenwärtig  Gegenstand  von  Differenzen 
zwischen  Deutschland  und  Polen  sind,  und  diejenigen,  die  die  end- 
gültigen Beziehungen  zwischen  Deutschland  und  Großbritannien  be- 
rühren. Im  Zusammenhang  mit  diesen  zuletzt  genannten  Fragen  ersieht 
Seiner  Majestät  Regierung,  daß  der  Herr  Reichskanzler  gewisse  Vor- 
schläge angedeutet  hat,  die  er  unter  einer  Bedingung  der  Britischen 
Regierung  zur  Herbeiführung  einer  allgemeinen  Verständigung  zu 
unterbreiten  bereit  sein  würde.  Diese  Vorschläge  sind  naturgemäß  in 
sehr  allgemeiner  Form  gehalten  und  würden  eine  genauere  Definierung 
erfordern,  aber  Seiner  Majestät  Regierung  ist  voll  und  ganz  bereit, 
sie  mit  einigen  Zusätzen  als  Gegenstand  von  Unterhaltungen  anzu- 
nehmen, und  sie  würde  bereit  sein,  wenn  die  Streitfragen  zwischen 
Deutschland  und  Polen  auf  friedlichem  Wege  beigelegt  werden,  sobald 
wie  möglich  diesbezügliche  Besprechungen  einzuleiten  mit  dem  auf- 
richtigen Wunsche,  zu  einer  Verständigung  zu  gelangen. 

3.  Die  Bedingung,  die  der  Herr  Reichskanzler  festlegt,  ist,  daß 
eine  Lösung  der  zwischen  Deutschland  und  Polen  bestehenden  Diffe- 
renzen vorangehen  muß.  In  dieser  Beziehung  ist  Seiner  Majestät  Re- 
gierung vollkommen  gleicher  Ansicht.  Alles  hängt  jedoch  ab  von  der 
Art  der  Lösung  und  von  der  Methode,  die  zur  Erzielung  derselben  an- 
gewandt wird.  Zu  diesen  Punkten,  deren  Wichtigkeit  dem  Herrn 
Reichskanzler  gegenwärtig  sein  wird,  ist  in  seiner  Botschaft  nichts 
gesagt,  und  Seiner  Majestät  Regierung  fühlt  sich  gezwungen,  darauf 
hinzuweisen,  daß  eine  Verständigung  bezüglich  dieser  beiden  Punkte 
für  die  Erzielung  eines  weiteren  Fortschrittes  unbedingt  notwendig  ist. 
Die  Deutsche  Regierung  wird  sich  dessen  bewußt  sein,  daß  Seiner 
Majestät  Regierung  gegenüber  Polen  Verpflichtungen  hat,  die  sie 
binden  und  die  einzulösen  sie  beabsichtigt.  Sie  könnte  nichi-wegen 
irgendeines  Großbritannien  angebotenen  Vorteils  einer  Lösung  zu- 
stimmen, die  die  Unabhängigkeit  eines  Staates  gefährden  würde,  dem 
sie  ihre  Garantie  gegeben  hat. 

4.  Nach  Ansicht  Seiner  Majestät  Regierung  könnte  und  sollte  eine 
vernünftige  Lösung  der  Differenzen  zwischen  Deutschland  imd  Polen 
auf  dem  Wege  der  Vereinbarung  zwischen  den  beiden  Nationen  erzielt 
werden  auf  einer  Grundlage,  die  die  Sicherstellung  der  wesentlichen 
Interessen  Polens  einbeziehen  würde,  und  Seiner  Majestät  Regierung 
erinnert  sich,  daß  der  Herr  Reichskanzler  in  seiner  Rede  am  28.  April 
die  Wichtigkeit  dieser  Interessen  für  Polen  anerkannt  hat. 

Wie  jedoch  der  britische  Premierminister  in  seinem  Schreiben 
vom  22.  August  an  den  Herrn  Reichskanzler  zum  Ausdruck  brachte, 
ist  es  nach  Ansicht  Seiner  Majestät  Regierung  unerläßlich  für  den 


96]  Das  Jahr  1939 217 

Erfolg  der  Besprechungen,  die  der  Vereinbarung  vorangehen  würden, 
daß  es  im  voraus  feststünde,  daß  ein  zu  erzielendes  Abkommen  von 
anderen  Mächten  garantiert  werden  würde.  Seiner  Majestät  Regierung 
würde  bereit  sein,  wenn  der  Wunsch  dazu  ausgesprochen  werden  sollte, 
zu  der  wirksamen  Durchführung  einer  solchen  Garantie  beizutragen. 

Nach  Ansicht  Seiner  Majestät  Regierung  folgt  hieraus,  daß  als 
nächster  Schritt  direkte  Verhandlungen  zwischen  der  Deutschen  und 
Polnischen  Regierung  eingeleitet  werden  sollten  auf  einer  Grundlage, 
die  die  oben  erwähnten  Grundsätze  einschließen  würde,  nämlich  die 
Sicherstellung  der  unentbehrlichen  Interessen  Polens  und  die  Sichet- 
stellung  des  Abkommens  durch  eine  internationale  Garantie.  Seiner 
Majestät  Regierung  hat  bereits  eine  definitive  Zusicherung  von  der 
Polnischen  Regierung  erhalten,  daß  diese  bereit  ist,  auf  dieser  Grund- 
lage in  Besprechungen  einzutreten,  und  Seiner  Majestät  Regierung 
hofft,  daß  die  Deutsche  Regierung  ihrerseits  ebenfalls  bereit  sein 
würde,  einem  solchen  Verfahren  zuzustimmen. 

Wenn,  wie  Seiner  Majestät  Regierung  hofft,  solche  Besprechungen 
zu  einer  Vereinbarung  führen  würden,  so  wäre  der  Weg  offen  für  Be- 
sprechungen über  jene  breitere  und  umfassendere  Verständigung 
zwischen  Großbritannien  und  Deutschland,  die  beide  Nationen  er- 
streben. 

5.  Seiner  Majestät  Regierung  stimmt  mit  dem  Herrn  Reichskanzler 
darin  überein,  daß  eine  der  hauptsächlichsten  Gefahren  in  der  zwischen 
Deutschland  und  Polen  bestehenden  Lage  in  Berichten  über  die  Be- 
handlung der  Minderheiten  ihren  Ursprung  hat.  Der  gegenwärtige 
Spannungszustand,  zusammen  mit  den  ihn  begleitenden  Grenz- 
zwischenfällen, Berichten  über  Mißhandlungen  und  der  aufreizenden 
Propaganda  ist  eine  ständige  Gefahr  für  den  Frieden.  Es  ist  offensicht- 
lich eine  Frage  äußerster  Dringlichkeit,  daß  alle  Zwischenfälle  dieser 
Art  unverzüglich  und  mit  fester  Hand  unterdrückt  werden,  und  daß 
die  Verbreitung  unbestätigter  Gerüchte  verhindert  wird,  um  eine  Frist 
zu  erlangen,  in  der  ohne  Provokation  auf  beiden  Seiten  eine  eingehende 
Prüfung  der  Möglichkeiten  einer  Lösung  unternommen  werden  könnte. 
Seiner  Majestät  Regierung  ist  überzeugt,  daß  beide  beteiligten  Regie- 
rungen sich  dieser  Erwägung  völlig  bewußt  sind. 

6.  Seiner  Majestät  Regierung  hat  ihre  eigene  Haltung  gegenüber 
den  besonderen  zwischen  Deutschland  und  Polen  strittigen  Angelegen- 
heiten erschöpfend  zum  Ausdruck  gebracht.  Sie  vertraut  darauf,  daß 
der  Herr  Reichskanzler  nicht  glauben  wird,  daß  Seiner  Majestät  Re- 
gierung, weil  sie  ihre  Verpflichtung  gegenüber  Polen  genau  nimmt, 
aus  diesem  Grunde  nicht  bestrebt  ist,  ihren  ganzen  Einfluß  für  das 
Zustandekommen  einer  sowohl  Deutschland  wie  Polen  befriedigenden 
Lösung  einzusetzen. 

Daß  eine  solche  Lösung  erzielt  werden  sollte,  erscheint  Seiner 
Majestät  Regierung  als  unbedingt  notwendig,  nicht  nur  aus  Gründen, 
die  in  unmittelbarem  Zusammenhang  mit  der  Lösung  selbst  entstehen, 
sondern  auch  wegen  der  umfassenderen  Erwägungen,  von  denen  der 
Herr  Reichskanzler  mit  solcher  Überzeugung  gesprochen  hat. 


218  Deutschland  -  England  [96 

7.  Es  ist  unnötig,  in  der  vorliegenden  Antwort  die  Vorteile  einer 
friedlichen  Lösung  hervorzuheben  gegenüber  einem  Entschluß,  die  in 
Frage  kommenden  Probleme  mit  Waffengewalt  zu  lösen.  Die  Folgen 
eines  Entschlusses,  Gewalt  zu  gebrauchen,  sind  in  dem  Schreiben  des 
Premierministers  vom  22.  August  an  den  Herrn  Reichskanzler  klar 
dargelegt  worden,  und  Seiner  Majestät  Regierung  zweifelt  nicht 
daran,  daß  diese  Folgen  vom  Herrn  Reichskanzler  genau  so  klar  er- 
kannt werden  wie  von  Seiner  Majestät  Regierung  selbst. 

Andererseits  glaubt  Seiner  Majestät  Regierung,  indem  sie  mit 
Interesse  den  in  der  Botschaft  des  Herrn  Reichskanzlers  enthaltenen 
Hinweis  auf  eine  Begrenzung  der  Rüstungen  zur  Kenntnis  nimmt, 
daß,  wenn  eine  friedliche  Lösung  erreicht  werden  kann,  die  Unter- 
stützung der  Welt  zuversichtlich  vorausgesetzt  werden  könnte  für 
praktische  Maßnahmen,  die  es  ermöglichen  würden,  den  Übergang  von 
einer  Vorbereitung  zum  Kriege  auf  eine  normale  Tätigkeit  friedlichen 
Handels  sicher  und  reibungslos  durchzuführen. 

8.  Eine  gerechte  Lösung  dieser  zwischen  Deutschland  und  Polen 
bestehenden  Fragen  kann  den  Weg  zum  Weltfrieden  öffnen.  Das 
Ausbleiben  einer  solchen  Lösung  würde  die  Hoffnung  auf  eine  bessere 
Verständigung  zwischen  Deutschland  und  Großbritannien  zerschlagen, 
würde  die  beiden  Nationen  in  Konflikt  bringen  und  könnte  sehr  wohl 
die  gesamte  Welt  in  den  Krieg  stürzen.  Ein  solches  Ergebnis  wäre  eine 
Katastrophe  ohne  Beispiel  in  der  Geschichte. 

(E;  Cmd.  6106.  No.  74.  —  D:  Dokumente  zur  Vorgeschichte  des  Krieges, 
Nr.  463.) 

Über  die  offenkundig  hinhaltende  Taktik  der  britischen  Regierung 
hinwegsehend,  leitete  der  Führer  seine  Antwortnote  vom  29.  August  1939 
mit  den  Sätzen  ein: 

,,Der  KgL  Britische  Botschafter  in  Berlin  hat  der  Kgl.  Britischen 
Regierung  Anregungen  übermittelt,  die  ich  vorschlagen  zu  müssen  glaubte, 
um 

1.  dem  Willen  der  Reichsregierung  nach  einer  aufrichtigen  deutsch- 
englischen  Verständigung,  Zusammenarbeit  und  Freundschaft 
noch  einmal  Ausdruck  zu  geben, 

2,  keinen  Zweifel  darüber  aufkommen  zu  lassen,  daß  eine  solche 
Verständigung  nicht  erkauft  werden  könnte  mit  dem  Verzicht  auf 
lebenswichtige  deutsche  Interessen  oder  gar  einer  Preisgabe  von 
Forderungen,  die  ebenso  im  allgemeinen  menschlichen  Rechl  wie 
in  der  nationalen  Würde  und  Ehre  unseres  Volkes  begründet 
sind. 

Mit  Befriedigung  hat  die  Deutsche  Regierung  aus  den  Antwort- 
schreiben der  Kgl,  Britischen  Regierung  und  den  mündlichen  Er- 
läuterungen des  Kgl.  Britischen  Botschafters  entnommen,  daß  die 
KgL  Britische  Regierung  auch  ihrerseits  bereit  ist,  das  deutsch-englische 
Verhältnis  zu  bessern,  es  im  Sinne  der  deutschen  Anregungen  zu  ent- 
wickeln und  auszubauen.'*  (Dokumente  zur  Vorgeschichte  des  Krieges, 
Nr.  464) 


■il- 


..  -^^^ 


Das.  Jahr  11*39 


219 


Diese  EinieHurtg  ließ  klar  erkennen,  daß  der  Führer  bestrebt  war^ 
alle  Empfmdiichkeilen  beheiiezuseizen  und  nur  auf  diejenigen  Punkte 
der  englischen  Note  einzugehen,  die  die  friedliche  Entwicklung  der  Lage 
positiü  zu  fördern  geeignet  waren.  Trotz  aller  Zweifel  in  die  polnische  Ver~ 
handtiingsbereilschafl  beschränkte  sich  die  Note  daher  darauf,  das  in  dem 
britischen  Memorandum  enthaltene  Vermitllungsangebot  anzunehmen 
und  das  Eintffrständnis  der  deutschen  Regierung  zu  erklären,  daß  ein 
mit  allen  Vollmachten  versehener  polnischer  Vertreier  bis  zum  30.  Augusl 
19S9  die  Verhandlungen  in  Berlin  übernähme,  Sir  Nevile  H ender son 
hat  auch  zu  dieser  Unterredung,  welche  die  Rückgabe  der  deutschen  Ant- 
wortnote begleitete,  einen  aufschlußreichen  Kommentar  gegeben.  In  seinem 
Telegramm  an  Lord  Ifalilax  vom  29,  August  1939  bestätigte  er,  daß  der 
Führer  wiederholt  hatte,  er  wünsche  die  britische  Freundschaft  mehr  ah 
irgend  etwas  auf  der  Welt,  Aber  er  könne  nicht  Deutschlands  Lebern- 
inleressen  dafür  opfern,  ,,Es  sei  ein  unerirägticher  Vorschlag^  wenn  Seiner 
Majestät  Regierung  über  einen  solchen  Gegenstand  einen  Handel  ab- 
schließen  wolle'\  (Cmd,  ßlÖß,  No,  SO,) 

Das  Schicksal  der  angeblichen  britischen^  ,,Vermiitlungsaktion**  ist 
bekannt:  in  ihrem  Memorandum  vom  30,  August  1939  ließ  die  britische 
Regierung  durchblicken,  daß  sie  zu  einer  tatsächlichen  Vermittlung  in 
Wirklichkeit  gar  nicht  gemilll  gewesen  war;  sie  bescfiränkte  sich  darauf ^ 
die  Reichsregierung  nunmehr  auf  den  „unmittelbaren  Meinungsaustausch'* 
mit  der  polnischen  Regierung  zu  verweisen.  Es  war  damit  klar,  daß  die 
ganzen  letzten  Ereignisse  auf  seilen  der  britischen  Regierung  überhaupt 
nur  noch  Einzelheiten  eines  taklisctten  Spiels  gewesen  waren,  das  darauf 
abgezielt  halte,  Zeit  zu  gewinnen  und  das  zu  diesem  Zweck  mit  Hilfe 
einer  bewußt  ungenauen  Ausdrucksweise  den  Anschein  erweckt  hatte^ 
als  wenn  die  briltsche  Regierung  zu  einer  wirklichen  Vermittlung  zwischen 
Deutschland  und  Polen  bereit  und  imstande  gewesen  sei.  Die  Dokumente 
des  hriiischen  Blaabuches  selbst  haben  erwiesen,  in  welchem  Maße  hier  von 
britischer  Seile  ein  falsches  Spiel  getrieben  worden  ist.  Während  der  ganze 
,,Vermilltungsüorschlag''  auf  der  in  dem  britischen  Memorandum  vom 
28.  August  zum  Ausdruck  gebrachten  Behauptung  beruht  halle,  man  habe 
in  London  bereits  eine  ,,definitive  Zusicherung*^  von  der  polnischen 
Regierung  über  ihre  Verhandlungsbereitschaft  erhallen,  geht  aus  dem 
britischen  Blaubuch  hervor,  daß  davon  überhaupt  nicht  die  Rede  sein 
konnte. 

Noch  in  einem  Telegramm  vom  30.  August  1939  berichlel  nämlich 
der  britische  Botschafter  in  Warschau,  Sir  Howard  Kennard,  an  Lord 
Halifax,  er  sei  sicher,  „daß  es  unmöglich  sein  würde,  die  polnische  R 
gierung  dazu  zu  veranlassen,  Herrn  Beck  oder  irgendeinen  anderen 
Vertreter  sofort  nach  Berlin  zu  entsenden,  um  eine  Vermittlung  auf  der 
von  Herrn  Hitler  vorgeschlagenen  Grundtage  zu  erörtern*',  (Cmd.  6106. 
No,  84,) 

Die  Aufdeckung  des  britischen  Falschspiets  durch  die  Note  vom 
30.  August  1939  bedeutete  naturgemäß  das  Ende  der  deutschen  Ver- 
tländigungsbemühungen,  Zwar  ließ  der  Führer  auch  jetzt  noch  keine 
Möglichkeit  ungenutzt,  die  eine  friedliche   Regelung  hätte  herbeifuhren 


97. 


220  Deutschland  -  England  [98 

können.  Indessen  war  allen  diesen  Friedensbemühungen  das  Rückgrat 
gebrochen,  das  bei  der  gegenwärtigen  politischen  Verfassung  Europas 
naturnolwendig  in  einer  deutsch-englischen  Verständigung  liegen  muß. 
Die  englische  Intransigenz  hatle  den  Ausbruch  des  Konflikts  un- 
vermeidlich gemacht.  Vom  1.  September  ab  mußte  sich  Deutschland  mit 
Waffengewalt  der  polnischen  Übergriffe  erwehren.  In  seiner  Reichstags- 
rede  am  1,  September  1930  setzte  der  Führer  die  Gründe  des  deutschen 
Vorgehens  auseinander.  Auch  in  dieser  Rede  wird  noch  einmal  erkennllich^ 
welche  Möglichkeiten  einer  friedlichen  Entwicklung  durch  die  vorgehenden 
Ereignisse  vernichtet  worden  waren. 


Aus  der  Reidistagsrede  des  Führers  vom  1.  September  1939 

Wenn  nun  Staatsmänner  im  Westen  erklären,  daß  dies  ihre  In- 
teressen berühre,  so  kann  ich  eine  solche  Erklärung  nur  bedauern;  sie 
kann  mich  aber  nicht  eine  Sekunde  in  der  Erfüllung  meiner  Pflicht 
wankend  machen.  Ich  habe  es  feierlich  versichert  und  wiederhole  es, 
daß  wir  von  diesen  Weststaaten  nichts  fordern  und  nie  etwas  fordern 
werden.  Ich  habe  versichert,  daß  die  Grenze  zwischen  Frankreich 
und  Deutschland  eine  endgültige  ist.  Ich  habe  England  immer  wieder 
eine  Freundschaft  und,  wenn  notwendig,  das  engste  Zusammengehen 
angeboten.  Aber  Liebe  kann  nicht  nur  von  einer  Seite  geboten  werden, 
sie  muß  von  der  anderen  ihre  Erwiderung  finden.  Deutschland  hat 
keine  Interessen  im  Westen.  Unser  Westwall  ist  zugleich  für  alle  Zeiten 
die  Grenze  des  Reiches.  Wir  haben  auch  keinerlei  Ziel  für  die  Zukunft, 
und  diese  Einstellung  des  Reiches  wird  sich  nicht  mehr  ändern. 

(Verhandlungen  des  Reichstages,  Bd.  460,  S.  46f.) 

Die  britische  Regierung  steuerte  nunmehr  zielbewußt  auf  die  Aus- 
breitung und  Verallgemeinerung  des  deulsch-polnischen  Konfliktes  zu, 
Ihre  ultimativen  Noten  vom  i.,  3.  September  und  die  planmäßige  Vereite- 
lung des  italienischen  Vermiülungsvorschlages  und  die  Kriegserklärung 
vom  3,  September  bezeichnen  die  letzten  Etappen  ihres  auf  den  Ausbruch 
des  allgemeinen  Krieges  angelegten  diplomatischen  Spiels, 


Note  der  britisdien  Regierung  vom  1.  September  1939,  dem  Reidis- 
außenminister  von  Botsdiafter  Henderson  um  21  Uhr  übergeben 

Euer  Exzellenz ! 

Im  Auftrage  des  Ministers  Seiner  Majestät  für  Auswärtige  An- 
gelegenheiten beehre  ich  mich,  folgende  Mitteilung  zu  machen. 

In  den  frühen  Morgenstunden  des  heutigen  Tages  hat  der  Deutsche 
Reichskanzler  einen  Aufruf  an  die  Deutsche  Wehrmacht  erlassen,  aus 
dem  klar  hervorging,  daß  er  im  Begriff  war,  Polen  anzugreifen. 

Aus  Nachrichten,  die  zur  Kenntnis  der  Regierung  Seiner  Majestä  t 


100] Daa  Jahr  1939 221 

im  Vereinigten  Königreich  und  der  Französischen  Regierung  gelangt 
sind,  geht  hervor,  daß  deutsche  Truppen  die  polnische  Grenze  über- 
schritten haben  und  daß  Angriffe  auf  polnische  Städte  im  Gange  sind. 

Unter  diesen  Umständen  sind  die  Regierungen  des  Vereinigten 
Königreichs  und  Frankreichs  der  Auffassung,  daß  die  Deutsche  Re- 
gierung durch  diese  ihre  Handlung  die  Voraussetzung  geschaffen  hat 
(nämlich  einen  agressiven  Gewaltakt  gegenüber  Polen,  der  dessen 
Unabhängigkeit  bedroht),  welche  seitens  der  Regierungen  des  Ver- 
einigten Königreichs  und  Frankreichs  die  Erfüllung  ihrer  Verpflich- 
tungen, Polen  Beistand  zu  leisten,  erheischen. 

Ich  bin  daher  beauftragt.  Euer  Exzellenz  mitzuteilen,  daß  die 
Regierung  Seiner  Majestät  im  Vereinigten  Königreich  ohne  Zögern 
ihre  Verpflichtungen  gegenüber  Polen  erfüllen  wird,  wenn  nicht  die 
Deutsche  Regierung  bereit  ist,  der  Regierung  des  Vereinigten  König- 
reichs befriedigende  Zusicherungen  dahingehend  abzugeben,  daß  die 
Deutsche  Regierung  jegliche  Angriffshandlung  gegen  Polen  eingestellt 
hat  und  bereit  ist,  ihre  Truppen  unverzüglich  aus  polnischem  Gebiet 
zurückzuziehen. 

Nevile  Henderson 

(E:  Cmd.  6106.  No.  105.  —  D:  Dokumente  zur  Vorgeschichte  des  Krieges, 

Nr.  472.) 


Notiz  des  italienisdien  Botsdiafters  Attolico,  99. 

dem  Auswärtigen  Amt  am  2.  September  1939  vormittags  übergeben 

Zur  Information  läßt  Italien  wissen,  natürlich  jede  Entscheidung 
dem  Führer  überlassend,  daß  es  noch  die  Möglichkeit  hätte,  von 
Prankreich,  England  und  Polen  eine  Konferenz  auf  folgenden  Grund- 
lagen annehmen  zu  lassen: 

1.  Waffenstillstand,  der  die  Armeen  läßt,  wo  sie  jetzt  sind; 

2.  Einberufung  der  Konferenz  in  zwei  bis  drei  Tagen; 

3.  Lösung  des  polnisch-deutschen  Streits,  welche,  wie  die  Sachen 
heute  liegen,  sicher  günstig  für  Deutschland  sein  würde. ^ 

Für  den  Gedanken,  der  ursprünglich  vom  Duce  ausgegangen  ist, 
setzt  sich  heute  besonders  Frankreich  ein. 

(Dokumente  zur  Vorgeschichte  des  Krieges,  Nr.  474.) 


Mitteilung  der  Havas-Agentur  vom  2.  September  1939  100. 

Die  Französische  Regierung  ist  gestern  ebenso  wie  mehrere  andere 
Regierungen  mit  einem  italienischen  Vorschlag  zur  Regelung  der 
europäischen  Schwierigkeiten  befaßt  worden.  Nach  Beratung  über 
diesen  Vorschlag  hat  die  Französische  Regierung  eine  positive  Ant- 
wort gegeben. 

(Dokumente  zur  Vorgeschichte  des  Krieges,  Nr.  475.) 


222  Deutschland  -  England  [102 

101.  Aue  der  Unterhausrede  dee  britischen  Premierministers  Chamberlain 

vom  2.  September  1939  nadimittags^ 

Auf  die  mahnende  Botschaft,  die  gestern  abend  Deutschland 
übermittelt  wurde,  ist  bisher  noch  keine  Antwort  eingelaufen. 

Es  ist  möglich,  daß  diese  Verzögerung  auf  von  der  italienischen 
Regierung  gemachte  Vorschläge  zurückzuführen  ist,  wonach  eine  Ein- 
stellung der  Feindseligkeiten  erfolgen  und  unverzüglich  eine  Konferenz 
zwischen  Großbritannien,  Frankreich,  Polen,  Deutschland  und  Italien 
einberufen  werden  sollte. 

Der  Britischen  Regierung  ist  es  aber  nicht  möglich,  an  einer  Kon- 
ferenz teilzunehmen  zu  einer  Zeit,  da  Polen  einer  Invasion  ausgesetzt 
ist,  polnische  Städte  mit  Bomben  belegt  werden  und  Danzig  durch 
Gewalt  Gegenstand  einer  einseitigen  Lösung  geworden  ist. 

(E:  Cmd.  6106.  No.  116.  —  D:  Dokumente  zur  Vorgeschichte  des  Krieges, 

Nr.  476.) 

102.  Note  der  britiedien  Regierung  vom  3.  September  1939,  von  Botschafter 

Henderson  vormittags  9  Uhr  im  Auswärtigen  Amt  übergeben 

Euer  Exzellenz! 

In  der  Mitteilung,  welche  ich  die  Ehre  hatte,  Ihnen  am  1.  Sep- 
tember zu  machen,  unterrichtete  ich  Sie  auf  Weisung  des  Staats- 
sekretärs für  Auswärtige  Angelegenheiten  Seiner  Majestät,  daß  die 
Regierung  Seiner  Majestät  im  Vereinigten  Königreich  ohne  Zögern 
ihre  Verpflichtungen  gegenüber  Polen  erfüllen  werde,  wenn  nicht  die 
Deutsche  Regierung  bereit  sei,  der  Regierung  Seiner  Majestät  jm 
Vereinigten  Königreich  befriedigende  Zusicherungen  dahingehend  ab- 
zugeben, daß  die  Deutsche  Regierung  jegliche  Angriffshandlung  gegen 
Polen  eingestellt  habe  und  bereit  sei,  ihre  Truppen  unverzüglich  aus 
polnischem  Gebiet  zurückzuziehen. 

Obwohl  diese  Mitteilung  vor  mehr  als  24  Stunden  erfolgte,  ist 
keine  Antwort  eingegangen,  hingegen  wurden  die  deutschen  Angriffe 
auf  Polen  fortgesetzt  und  verstärkt.  Ich  habe  demgemäß  die  Ehre, 
Sie  davon  zu  unterrichten,  daß,  falls  nicht  bis  II  Uhr  vormittags 
britischer  Sommerzeit  am  heutigen  Tage,  dem  3.  September,  eine  be- 
friedigende Zusicherung  im  oben  erwähnten  Sinne  von  der  Deutschen 
Regierung  erteilt  wird  und  bei  Seiner  Majestät  Regierung  in  London 
eintrifft,  ein  Kriegszustand  zwischen  den  beiden  Ländern  von  dieser 
Stunde  an  bestehen  wird. 

Nevile  Henderson 
(E:  Cmd.  6106.  No.  118.  —  D:  Dokumente  zur  Vorgeschichte  des  Krieges, 
Nr.  477.) 


^  Eine  gleichlautende  Erklärung  wurde  kur/e  Zeit  später  vom  Außenminister 
Lord  Halifax  im  Oberhaus  abgegeben. 


!04] 


Daö  Jahr  1939 


223 


1 


Nate  des  britiacfaen  AuBenministers  Lord  Halifax  103. 

an  den  Deutschen  Gesdiäftsträger  in  London  vom  3.  September  1939« 
vormittags  ILIS  Uhr  übergeben 

Herr  Geschäftsträger ! 

Am  L  September  onterrifhtete  der  Botschafter  Seiner  Majestät 
in  Berlin  auf  meine  Weisung  hin  die  dortige  Regierung  davon»  daO  die 
Regierung  Seiner  Majestät  im  Vereinigten  Königreich  ohne  Zögern  ihre 
Verpflichtung  gegenüber  Polen  erfüllen  werde,  wenn  nicht  die  Deutsche 
Regierung  bereit  sei,  der  Regierung  Seiner  Majestät  im  Vereinigten 
Königreich  befriedigende  Zusicherungen  dahingend  abzugeben,  daO 
die  Deutsche  Regierung  jegliche  Angriffshandlung  gegen  Polen  ein- 
gestellt habe  und  bereit  sei,  ihre  Truppen  unverzüglich  aus  polnischem 
Gebiet  zurückzuziehen» 

Um  9  Uhr  vormittags  am  heutigen  Tage  unterrichtete  der  Bot- 
schafter Seiner  Majestät  in  Berlin  auf  meine  Weisung  hin  die  Deutsche 
Regierung  dahingehend,  dtiß,  falls  nicht  bis  1 1  Uhr  vormittags  britische 
Sommerzeit  am  heutigen  Tage,  dem  3.  September,  eine  befriedigende 
Zusicherung  im  obengenannten  Sinne  von  der  Deutschen  Regierung 
erteilt  wird  und  bei  Seiner  Majestät  Regierung  in  London  eintrifft, 
ein  Kriegszustand  zwischen  den  beiden  Ländern  von  dieser  Stunde 
an  bestehen  wird. 

Da  keine  solche  Zusicherungen  eingingen,  habe  ich  die  Ehre,  Sie 
davon  zu  unterrichten,  daO  ein  Kriegszustand  zwischen  den  beiden 
Ländern  von  11  Uhr  vormittags  am  heutigen  Tage,  dem  3»  September, 
an  gerechnet,  besteht, 

Halifax 

(D:  Dokumente  zur  Vorgvschiriitr  iir-^  Krif^i>,  :\r*  478,)* 


Memorandum   der   Reichsregierung   vom    3.    September   1939^ 

dem  britischen  Botsdiafter  vom  Reichsaußenminister  vormittags 

11.30  Uhr  ausgehändigt' 

Die  Deutsche  Reichsregierung  hat  das  Ultimatum  der  Britischen 
Regierung  vom  3.  September  1939  erhalten.  Sie  beehrt  sich,  darauf 
folgendes  zu  erwidern : 

L  Die  Deutsche  Reirhsrcgierung  und  das  deutsche  Volk  lehnen  c» 
ab,  von  der  Britischen  Regierung  ultimative  Forderungen  entgegen- 
zunehmen, anzunelimen  oder  gar  zu  erfüllen, 

2.  Seit  vielen  Monaten  herrscht  an  unserer  Ostgrenze  der  tatsäch* 

*  Bez^Hchnendcrweise  fehlt  diese  Note  im  britischen  Blfiiibu^h  Ctml  6106, 
Die  rein  propagandistische  Anlage  f\"w»i}r  englischen  VtTAffenlliel»iiiig  zeigt  sich 
auch  daran  wieder:  man  hielt  es  cffenhor  für  khlger,  di*i  Tatsache  zu  versrhlciern, 
dnß  England  diesen  Krieg  erklürt  l^tat. 

•  Eine  Abschrift  dieses  ^lemorandiims  wurde  dem  FranxOsischi^u  Bot&ctuifier 
vom  ReichsauOenminlsler  am  3*  Soplenibt»r  1939,  mittag  12,20  Uhr,  übergeb<?n. 


104. 


224  Deutschland  ■  England [104 

liehe  Zustand  des  Krieges.  Nachdem  der  Versailler  Vertrag  Deutsch- 
land" erst  zerrissen  hat,  wurde  allen  deutschen  Regierungen  seitdem 
jede  friedliche  Regelung  verweigert.  Auch  die  nationalsozialistische 
Regierung  hat  nach  dem  Jahre  1933  immer  wieder  versucht,  auf  dem 
Wege  friedlicher  Aushandlungen  die  schlimmsten  Vergewaltigungen 
und  Rechtshrüche  dieses  Vertrages  zu  beseitigen.  Es  ist  mit  in  erster 
Linie  die  Britische  Regierung  gewesen,  die  durch  ihr  intransigentes 
Verhalten  jede  praktische  Revision  vereitelte.  Ohne  das  Dazwischen- 
treten der  Britischen  Regierung  wäre  —  dessen  sind  sich  die  Deutsche 
Reichsregierung  und  das  deutsche  Volk  bewußt  —  zwischen  Deutsch- 
land und  Polen  sicher  eine  vernünftige  und  beiden  Seiten  gerecht 
werdende  Lösung  gefunden  worden.  Denn  Deutschland  hatte  nicht  die 
Absicht  oder  die  Forderung  gestellt,  Polen  zu  vernichten.  Das  Reich 
forderte  nur  die  Revision  jener  Artikel  des  Versailler  Vertrages,  die 
von  einsichtsvollen  Staatsmännern  aller  Völker  schon  zur  Zeit  der  Ab- 
fassung dieses  Diktates  für  eine  große  Nation  sowohl  als  für  die  ge- 
samten politischen  und  wirtschaftlichen  Interessen  Osteuropas  auf 
die  Dauer  als  untragbar  und  damit  unmöglich  bezeichnet  worden 
waren.  Auch  britische  Staatsmänner  erklärten  die  damals  Deutschland 
aufgezwungene  Lösung  im  Osten  als  den  Keim  späterer  Kriege.  Diese 
Gefahr  zu  beseitigen,  war  der  Wunsch  aller  deutschen  Reichsregierun- 
gen und  besonders  die  Absicht  der  neuen  nationalsozialistischen  Volks- 
regierung. Diese  friedliche  Revision  verhindert  zu  haben,  ist  die  Schuld 
der  britischen  Kabinettspolitik. 

3.  Die  Britische  Regierung  hat  —  ein  einmaliger  Vorgang  in  der 
Geschichte  —  dem  polnischen  Staat  eine  Generalvollmacht  erteilt 
für  alle  Handlungen  gegen  Deutschland,  die  dieser  Staat  etwa  vorzu- 
nehmen beabsichtigen  würde.  Die  Britische  Regierung  sicherte  der 
Polnischen  Regierung  unter  allen  Umständen  für  den  Fall,  daß  sich 
Deutschland  gegen  irgendeine  Provokation  oder  einen  Angriff  zur 
Wehr  setzen  würde,  ihre  militärische  Unterstützung  zu.  Daraufhin 
hat  der  polnische  Terror  gegen  die  in  den  einst  von  Deutschland  weg- 
gerissenen Gebieten  lebenden  Deutschen  sofort  unerträgliche  Formen 
angenommen.  Die  Freie  Stadt  Danzig  wurde  gegen  alle  gesetzlichen 
Bestimmungen  rechtswidrig  behandelt,  er^t  wirtschaftlich  und  zoll- 
politisch mit  der  Vernichtung  bedroht  und  endlich  militärisch  zerniert 
und  verkehrstechnisch  abgedrosselt.  Alle  diese  der  Britischen  Regie- 
rung genau  bekannten  Verstöße  gegen  das  Gesetz  des  Danziger  Status 
wurden  gebilligt  und  durch  die  ausgestellte  Blankovollmacht  an  Polen 
gedeckt.  Die  Deutsche  Regierung  hat,  ergriffen  von  dem  Leid  der  von 
Polen  gequälten  und  unmenschlich  mißhandelten  deutschen  Bevölke- 
rung, dennoch  fünf  Monate  lang  geduldig  zugesehen,  ohne  auch  nur 
einmal  gegen  Polen  eine  ähnlich  aggressive  Handlung  zu  betätigen. 

Sie  hat  nur  Polen  gewarnt,  daß  diese  Vorgänge  auf  die  Dauer 
unerträglich  sein  würden  und  daß  sie  entschlossen  sei,  für  den  Fall, 
daß  dieser  Bevölkerung  sonst  keine  Hilfe  würde,  zur  Selbsthilfe  zu 
schreiten.  Alle  diese  Vorgänge  waren  der  Britischen  Regierung  auf  das 
genaueste  bekannt.  Es  wäre  ihr  ein  leichtes  gewesen,  ihren  großen  Ein- 


104] 


Das  Jfthr  1939 


225 


lluD  in  Warschau  aufzubieten,  um  die  dortigen  Machthaber  zu  er- 
mahDen,  Gerechtigkeit  und  Menschlichkeit  walten  zu  lassen  und  die 
bestehenden  Verpflichtungen  einzuhalten.  Die  Britische  Regierung  hat 
dies  nicht  getan.  Sie  hat  im  Gegenteil  unter  steter  Betonung  ihrer 
Pflicht,  Polen  unter  allen  Umständen  beizustehen,  die  Polnische  Re- 
,  gierung  geradezu  ermuntert,  in  ihrem  verbrecherischen,  den  Frieden 
Kuropas  gefährdenden  Verhalten  fortzufahren.  Die  Britische  Re- 
gierung hat  aus  diesem  Geiste  heraus  den  den  Frieden  Buropas  immer 
noch  reLLen  könnenden  Vorschlag  Mussolinis  zurückgewiesen,  obwohl 
die  Deutsche  Reichsregierung  ihre  Bereitwilligkeit  erklärt  hatte,  darauf 
einzugehen.  Die  Britische  Regierung  trägt  daher  die  Verantwortung 
für  all  das  Unglück  und  das  Leid,  das  jetzt  über  viele  Völker  gekommen 
ist  und  kommen  wird. 

4.  Nachdem  alle  Versuche,  eine  friedliche  Lösung  zu  finden  und 
abzuschließen,  durch  die  Intransigenz  der  von  England  gedeckten 
Polnischen  Regierung  unmöglich  gemacht  worden  waren,  nachdem  die 
schon  seit  Monaten  bestehenden  bürgerkriegsähnlichen  Zustände  an 
der  Ostgrenze  des  Reichs,  ohne  daß  die  Britische  Regierung  etwas 
dagegen  einzuwenden  hätte,  sich  allmählich  zu  offenen  Angriffen  auf 
das  Reichsgebiet  verstärkten,  hat  sich  die  Deutsche  Reichsregierung 
entschlossen,  dieser  fortdauernden  und  für  eine  Großmacht  unerträg- 
lichen Bedrohung  des  erst  äußeren  und  dann  endlich  auch  inneren 
Friedens  des  deutschen  Volkes  ein  Ende  zu  bereiten  mit  jenen  Mitteln, 
die,  nachdem  die  Regierungen  der  Demokratien  alle  anderen  Revi- 
sionsmöglichkeiten praktisch  sabotiert  hatten,  allein  noch  übrig- 
bleiben, um  die  Ruhe,  die  Sicherheit  und  die  Ehre  des  Deutschen 
Reiches  zu  verteidigen,  Sie  hat  auf  die  letzten,  das  Reichsgebiet 
bedrohenden  Angriffe  der  Polen  mit  gleichen  Maßnahmen  geant- 
wortet. Die  Deutsche  Reichsregierung  ist  nicht  gewillt,  infolge  irgend- 
welcher britischer  Absichten  oder  Verpflichtungen  im  Osten  Zustände 
zu  dulden,  die  jenen  gleichen,  wie  wir  sie  in  dem  unter  britischem 
Protektorat  stehenden  Palästina  vorfinden.  Das  deutsche  Volk  aber 
ist  vor  allem  nicht  gewillt,  sich  von  Polen  mißhandeln  zu  lassen. 

5.  Die  Deutsche  Reichsregierung  lehnt  daher  die  Versuche,  durch 
,  eine  ultimative  Forderung  Deutschland  zu  zwingen,  seine  zum  Schutze 

des  Reiches  angetretene  Wehrmacht  wieder  zurückzurufen  und  damit 
die  alte  Unruhe  und  das  alte  Unrecht  erneut  hinzunehmen,  ab.  Die 
Drohung,  Deutschland  ansonsten  im  Kriege  zu  bekämpfen,  ent- 
spricht der  seit  Jahren  proklamierten  Absicht  zahlreicher  britischer 
Politiker.  Die  Deutsche  Reichsregierung  und  das  deutsche  Volk  haben 
dem  englischen  Volk  unzählige  Male  versichert,  wie  sehr  sie  eine  Ver- 
ständigung, ja  eine  engste  Freundschaft  mit  ihm  wünschen.  Wenn  die 
Britische  Regierung  diese  Angebote  bisher  immer  ablehnte  und  nunmehr 
mit  einer  offenen  Kriegsdrohung  beantwortet,  ist  dies  nicht  Schuld 
des  deutschen  Volkes  und  seiner  Regierung,  sondern  ausschließlich 
Schuld  des  britischen  Kabinetts  bzw.  jener  Männer,  die  seit  Jahren  die 
Vernichtung  und  Ausrottung  des  deutschen  Volkes  predigen.  Da» 
deutsche  Volk  und  seine  Regierung  haben  nicht  wie  Großbritannien  die 

DeuUchland- England  15 


226  Deutschland  -  Enirland  f  101» 

Absicht,  die  Welt  zu  beherrschen,  aber  sie  sind  entschlossen,  ihre 
eigene  Freiheit,  ihre  Unabhängigkeit  und  vor  allem  ihr  Leben  zu  ver- 
teidigen. Die  im  Auftrag  der  Britischen  Regierung  von  Herrn  King 
Hall  uns  mitgeteilte  Absicht,  das  deutsche  Volk  noch  mehr  zu  vernichten 
als  durch  den  Versa  iller  Vertrag,  nehmen  wir  zur  Kenntnis  und  werden 
daher  jede  Angriffshandlung  Englands  mit  den  gleichen  Waffen  und 
in  der  gleichen  Form  beantworten. 

(Dokumente  zur  Vorgeschichte  des  Krieges,  Nr.  479.) 

Nach  dem  erfolgreichen  Abschluß  des  polnischen  Feldzuges  unlernahm 
der  Führer  in  seiner  Beichslagsrede  vom  6,  Oktober  1939  einen  letzten 
Schrill  zum  Frieden  und  zur  Verständigung.  Das  Schicksal  dieses  Schrittes  ist 
bekannt:  England  stieß  die  ausgestreckte  deutsche  Friedenshand  zurück. 


105.  Aus  der  Reidistagsrede  des  Führers  vom  6.  Oktober  1939 

Nicht  geringer  waren  meine  Bemühungen  für  eine  deutsch-eng- 
lische Verständigung,  ja,  darüber  hinaus  für  eine  deutsch-englische 
Freundschaft.  Niemals  und  an  keiner  Stelle  bin  ich  wirklich  den  briti- 
schen Interessen  entgegengetreten.  Leider  mußte  ich  mich  nur  zu  oft 
britischer  Eingriffe  deutschen  Interessen  gegenüber  erwehren,  aueh 
dort,  wo  sie  England  nicht  im  geringsten  berührten.  Ich  habe  es  gerade- 
zu als  ein  Ziel  meines  Lebens  empfunden,  die  beiden  Völker  nicht  nur 
Verstandes-,  sondern  auch  gefühlsmäßig  einander  näherzubringen. 
Das  deutsche  Volk  ist  mir  auf  diesem  Wege  willig  gefolgt.  Wenn  mein 
Bestreben  mißlang,  dann  nur,  weil  eine  mich  persönlich  geradezu  er- 
schütternde Feindseligkeit  bei  einem  Teil  britischer  Staatsmänner 
und  Journalisten  vorhanden  war,  die  kein  Hehl  daraus  machten,  daß 
es  ihr  einziges  Ziel  wäre,  aus  Gründen,  die  uns  unerklärlich  sind,  gegen 
Deutschland  bei  der  ersten  sich  bietenden  Gelegenheit  wieder  den 
Kampf  zu  eröffnen.  Je  weniger  sachliche  Gründe  diese  Männer  für  ihr 
Beginnen  besitzen,  um  so  mehr  versuchen  sie,  mit  leeren  Phrasen  und 
Behauptungen  eine  Motivierung  ihres  Handelns  vorzutäuschen.  Ich 
glaube  aber  auch  heute  noch,  daß  es  eine  wirkliche  Befriedung  in 
Europa  und  in  der  Welt  nur  geben  kann,  wenn  sich  Deutschland  und 
England  verständigen.  Ich  bin  aus  dieser  Überzeugung  heraus  sehr 
oft  den  Weg  zu  einer  Verständigung  gegangen.  Wenn  dies  am  Ende 
doch  nicht  zum  gewünschten  Ergebnis  führte,  dann  war  es  wirklich 
nicht  meine  Schuld. 

(Verhandlungen  des  Reichstags,  Bd.  460,  S.  59.) 

Beichsaußenminister  von  Ribbenlrop  hat  in  seiner  Rede  in  Danzig 
am  24.  Oktober  1939  das  historische  Fazit  der  deutschen  Friedens-  und 
Verständigungspolitik  gezogen.  Seine  Feststellungen  bilden  das  Schlußwort 
zu  einer  Epoche  von  nahezu  7  Jahren,  in  der  die  in  ihrer  Tragweite  un- 
absehbare Möglichkeit  zu  einem  Neubau  Europas  und  einer  fruchtbaren 
wellpolitischen  Entwickelung  auf  der  Grundlage  des  freundschaftlichen 
deutsch-englischen    Zusammenwirkens    bestanden    hatte.    Diese    well- 


106] 


Das  Jahr  1939 


227 


geschicfüliche  Chance  isi  nunmehr  verpaßt.  Die  europäische  Neuordnung 
wird  sich  auch  so  unausweichlich  vfÄUithen:  wenn  nicht  mit  Engtand, 
dann  ohne  England  oder  —  gegen  England, 

AuB  der  Danziger  Rede  des  ReicUsaaßeiimmisters  von  Ribbeatrop 
vom  24.  Oktober  1939 

Die  Verständigung  mit  England  war  immer  das  Fundament  der 

AuOenpolitik  des  Führers.  Als  außenpolitischer  Mitarbeiter  des  Führers 
kann  ich  es  vor  der  WeltöffenUichkeit  bekunden,  daß  seit  dem  30.  Ja- 
nuar 1933  der  Führer  nichts,  aber  auch  gar  nichts  unversucht  gelassen 
hat,  um  diese  Verständigung  mit  England  herbeizuführen.  Unzählige 
Reden,  Handlungen,  Taten  des  Führers,  unzählige  Reisen  von  mir  in 
seinem  Auftrag  nach  England  dienten  ausschlic^ßlich  diesem  Zweck. 
Dabei  handelt  es  sich  nicht  etwa  um  vage  Ideen,  sondern  um  ganz  kon- 
krete Vorschläge,  die  ich  wiederholt  dem  englischen  Premierminister, 
AuGenminister  oder  sonstigen  maÜgebenden  Persönlichkeiten  des 
politischen  Lebens  im  Auftrage  des  Führers  unterbreitete.  Diese  An- 
gebote irmfaDten  im  wesentlichen  folgende  Punkte: 

1.  Ein  deutsch-englisches  Flottenabkommen  auf  der  Basis  35  :  100. 

2.  Die  ewige  ünantastbarkeit  der  zwischen  Deutschland  und  Eng- 
land liegenden  Länder  Holland,  Belgien  und  Frankreich. 

3.  Respektierung  der  britischen  Interessen  in  der  Welt  durch 
Deutschland  und  Respektierung  der  deutschen  Interessen  in 
Osteuropa  durch  England. 

4.  Ein  Schutz-  und  Trutzbündnis  zwischen  den  beiden  Ländern, 
wobei  Deutschland  auf  englische  Waffenhilfe  verzichtete,  seiner- 
seits aber  bereit  war,  sowohl  seine  Flotte  als  auch  eine  be- 
stimmte Zahl  von  Divisionen  jederzeit  England  zur  Sicherung 
seines  Imperiums  zur  Verfügung  zu  stellen. 

England  hat  dies  abgelehnt  und  dem  Führer  bei  jeder  Gelegenheit 
sowohl  durch  den  Mund  verantwortlicher  britischer  Minister,  Politiker, 
Parlamentarier  als  auch  durch  die  Presse  zu  verstehen  gegeben,  da0 
England  auf  die  Freundschaft  Deutschlands  keinerlei  Wert  legt. 

Trotzdem  hat  der  Führer  seine  Bemühungen,  die  ebenso  seiner 
gefühlsmäßigen  Einstellung  als  auch  seiner  völkischen  Einsicht  cnt- 
sprangen,  mit  einer  beispiellosen  Zähigkeit  und  Hartnäckigkeit  fort- 
gesetzt. Und  erst  nachdem  er  wieder  und  wieder  bis  an  die  Grenze  des 
Menschenmöghchen  gegangen  war,  mußte  er  erkennen,  daß  man  in 
England  nicht  wolle.  Der  Führer  hat  dann  allerdings  auch  die  Kon- 
sequenz aus  dieser  englischen  Haltung  gezogen  und  nunmehr  in  nüch- 
terner Erkenntnis  der  realen  politischen  Gegebenheiten  die  deutsche 
Außenpolitik  aufgebaut.  Die  Länder,  deren  Interessen  denen  Deutsch- 
lands solidarisch  waren,  waren  hierbei  für  Deutschland  vor  allem 
von  Bedeutung.  Eine  .\nnäherung  an  diese  wurde  gesucht  und  ihre 
Freundschaft  gefunden. . . 

Meine  Volksgenossen I  Nunmehr  zu  den  Gegnern  und  zu  Englands 
Kriegsschuld ! 


i&" 


Zunächst  Frankreich:  Ich  glaube,  daß  heute  in  der  gesamten  Welt- 
ölfentlichkeit  nicht  der  geringste  Zweifel  darüber  besteht,  daß  das 
französische  Volk  diesen  Krieg  nicht  gewollt  hat,  daß  das  französische 
Volk  lieber  heute  als  morgen  Frieden  haben  möchte  und  daß  ihm  dieser 
Krieg  mit  einer  Verschlagenheit,  einem  Zynismus  und  einer  Brutali- 
tät sondergleichen  von  England  und  seinen  Handlangem  in  Paris  und 
in  der  französischen  Regierung  aufgezwungen  wurde, 

England:  Ich  habe  Ihnen  bereits  vorhin  einen  kurzen  Überblick 
über  die  englische  Politik  gegen  Deutschland  seit  dem  30.  Januar  1933 
gegeben  und  will  Ihnen  nunmehr  heute  abend  den  unwiderlegbaren 
Beweis  erbringen,  daß  dieser  Krieg  gegen  Deutschland  von  der  jetzigen 
englischen  Regierung  seit  Jahren  heimlich  und  planmäßig  vorbereitet 
wurde. 

Die  Münchener  Konferenz  ist  im  vorigen  Jahr  von  einem  Teil  der 
Welt  als  das  große  Friedenswerk  des  derzeitigen  englischen  Premier- 
ministers Chamberlain  gerühmt  worden.  Nichts  ist  falscher  als  das. 
Vergegenwärtigen  wir  uns  nochmals  die  Lage,  die  zu  München  führte. 
Die  britische  Regierung  hatte  der  damaligen  tschechoslowakischen 
Regierung  ihre  Unterstützung  gegen  Deutschland  in  Aussicht  gestellt 
und  damit  aus  diesem  Problem,  das  ohne  das  Einmischen  von  Eng- 
land über  Nacht  gelöst  worden  wäre,  überhaupt  erst  eine  europäische 
Krise  gemacht.  Wenn  daher  Herr  Chamberlain  später  in  München 
seine  Hand  zu  einer  halbwegs  vernünftigen  Lösung  dieses  Problems, 
und  zwar  im  allerletzten  Augenblick  bot,  so  hat  er  damit  nichts  anderes 
getan,  als  seinen  eigenen  Fehler,  durch  den  er  die  Krise  erst  schuf  und 
durch  den  er  Europa  an  den  Rand  des  Krieges  gebracht  hatte,  zum  Teil 
wiedergutzumachen.Warumabertat  er  das?  Die  Antwort  gabunsdieerste 
Rede,  die  Herr  Chamberlain  nach  seiner  Rückkehr  nach  Londen  hielt, 
und  in  der  er  in  der  einen  Hand  den  Ölzweig  des  Friedens  heimbrachte, 
in  der  anderen  aber  dem  englischen  Volk  ein  gigantisches  Aufrüstungs- 
programm präsentierte.  Das  heißt  also,  Herr  Chamberlain,  der  gehofft 
hatte,  Deutschland  mit  Kriegsdrohungen  von  seinen  berechtigten 
Forderungen  zur  Befreiung  seiner  Sudetendeutschen  abzubringen,  hat 
die  Drohung  lediglich  deshalb  nicht  ausgeführt,  weil  England  rüstungs- 
mäßig  nicht  fertig  war.  Chamberlain  war  also  nicht  nach  München j 
gekommen,  um  den  Krieg  zu  verhindern,  sondern  um  den  von  der! 
britischen  Regierung  beschlossenen  Krieg  nur  zu  verschieben. 

Daß  nun  in  England  bereits  seit  Jahren  eine  systematische  Hetze 
in  der  Öffentlichkeit  gegen  alles  Deutsche  getrieben  wurde,  daß  man 
Vorbereitungen  für  einen  kommenden  Krieg  nach  jeder  Richtung  hin 
traf  —  ich  erinnere  nur  an  die  von  Herrn  Chamberlain  kürzlich  zu- 
gegebene, bereits  vor  zwei  Jahren  erfolgte  Organisation  eines  Blockade- 
ministeriums —  ist  bekannt.  Im  Winter  1938/39  aber  steigerte  sich  die 
Hetze  in  geradezu  ungeheuerlicher  Weise.  Das  englische  Volk,  das  im 
Grunde  in  Freundschaft  mit  dem  deutschen  Volk  leben  möchte,  wurde 
jetzt  ganz  offen  mit  allen  Mitteln  der  Propaganda  von  den  englischen 
Kriegshetzern,  und  zwar  unter  Förderung  durch  die  englische  Re- 
gierung, in  eine  Haß-  und  Panikstimmung  gegen  Deutschland  gebracht* 


106] 


Das  Jahr  1939 


229 


Ich  könnte  Ihnen  unzählige  Beispiele  für  diesen  systematischen  Pro- 
pagandafeldzug geben. 

Soweit  die  Propaganda!  Das  Ziel  der  englischen  Regierung  muBte 
es  aber  nun  sein,  Großbritannien  auch  politisch  und  diplomatisch  in 
einen  unüberbrückbaren  Gegensatz  zu  Deutschland  zu  bringen,  der  es 
ihm  je  nach  Lage  der  Dinge  ermöglichen  sollte,  den  Krieg  gegen 
Deutschland  zu  dem  ihr  am  günstigsten  erscheinenden  Zeitpunkt  zu 
entfesseln.  Dies  muüte  wiederum  in  einer  solchen  Weise  geschehen»  daß 
es  für  die  kriegshetzerische  britische  Regierung  vor  ihrem  eigenen  Volk 
ein  Zurück  nicht  mehr  geben  konnte,  das  heißt  also,  es  mußte  ein 
Vorwand  gefunden  werden,  der  es  der  britischen  Regierung  gestattete, 
lern  englischen  Volk  gegenüber  den  Kriegsgrund  so  zwingend  er- 
sbeinen  zu  lassen,  daß  jeder  Engländer  ein  Zurückweichen  als  mit 
^deni  Ansehen  seiner  Nation  unvereinbar  ansehen  sollte.  Diesen  Zu* 
stand  suchte  Herr  Chambcrlain  herbeizuführen  mit  der  Garantie  an 
Polen.  Daß  diese  Garantie  nur  ein  Vorwand  war,  ergibt  sich  weiter 
eindeutig  aus  der  soeben  im  britischen  Parlament  abgegebenen  offi* 
ziellen  Erklärung  der  britischen  Regierung,  daß  die  Garantie  sich 
ausschließlich  gegen  Deutschland  richten  sollte.  Nicht  die  Unversehrt- 
heit des  polnischen  Staates  war  für  England  interessant,  sondern  aus- 
schließlich die  Waffenhilfe  gegen  Deutschland. 

Mit  dieser  Garantie,  mit  der  sich  England  zu  sofortigem,  und  zwar 
unbeschränktem  Beistand  Polen  gegenüber  verpflichtete,  hat  Engtand 
das  jahrhundertealte  Fundament  seiner  kontinentalen  Politik  ver- 
lassen. Während  noch  im  Jahre  1936  sogar  der  bekannte  Deutschen- 
feind Sir  Austen  Chamberlain  erklärte,  England  werde  keinen  Finger 
rühren  wegen  des  polnischen  Korridors,  England  habe  kein  Interesse 
am  Korridor»  hat  nunmehr  sein  Bruder  ausgerechnet  für  dieses  aller- 
schwerste  Unrecht,  das  Versailles  Deutschland  angetan  hat,  die  eng- 
lische Waffenhilfe  verpfändet.  Diese  Politik,  die  zunächst  wahnsinnig 
erscheint,  ist  nur  zu  verstehen  als  ein  Ausdruck  des  konsequenten 
Willens  Großbritanniens,  sich  unter  allen  Umständen,  und  zwar  in 
nicht  2u  ferner  Zeit,  einen  Vorwand  zu  einem  Losschlagen  gegen 
Deutschland  zu  verschaffen.  Die  Folgen  dieser  von  England  klar  be- 
rechneten Politik  stellten  sich  programmäßig  ein,  und  Sie,  meine  Dan- 
ziger  Volksgenossen,  haben  sie  am  eigenen  Leibe  ja  zur  Genüge  zu 
spüren  bekommen.  Die  Polen  verfielen  in  einen  Taumel  des  Größen- 
wahnsinns. Wiederum  zeigten  sich  nun  die  wahren  Absichten  der 
englischen  Politik.  Anstatt  Polen,  was  für  die  englische  Regierung  ein 
leichtes  gewesen  wäre»  zu  dem  immer  noch  möglichen  Ausgleich  zu 
raten,  wissen  wir  heute,  daß  England  nicht  etwa  Polen  zur  Ruhe  er- 
mahnte, sondern  zu  aggressiven  Handlungen  geradezu  aufgestachelt  hat. 

Ein  weiterer  Beweis  für  den  absoluten  Kriegswillen  der  britischen 
Regierung  gegen  Deutschland  sind  die  Vorgänge  in  den  letzten  Tagen 
unmillelbar  vor  Ausbruch  des  Krieges.  Der  italienische  Botschafter 
in  Berlin  überbrachte  am  2.  September  eine  Botschaft  von  Mussolini, 
wonach  Italien  noch  die  Möglichkeit  zu  einer  friedlichen  Beilegung  des 
polnischen  Konfliktes  habe.  Die  Havas-Agentur  vom  gleichen  Tage 


230  Deutschland  -  England  [10& 

veröffentlichte  die  Zustimmung  der  französischen  Regierung  zu  diesem 
italienischen  Friedensplan.  Während  auch  Deutschland  zustimmte, 
wurde  derselbe  noch  am  Nachmittag  durch  eine  Erklärung  des  eng- 
lischen Außenministers  Lord  Halifax  abgelehnt.  Daß  der  englische 
Premierminister,  Herr  Chamberlain,  die  Stirn  hat,  diese  Sabotierung 
des  Mussolini-Plans  Deutschland  zuzuschieben,  ist  ein  erschütternder 
Beweis  seines  schlechten  Gewissens. 

Ihr  wahres  Gesicht  und  ihren  Vernichtungswillen  gegenüber  dem 
deutschen  Volk  aber  hat  die  englische  Regierung  gezeigt,  als  sie  das 
großzügige  Friedensangebot,  das  der  Führer  am  6.  Oktober  vor  dem 
Reichstag  an  England  machte,  ablehnte  und  durch  ihren  Sprecher, 
den  britischen  Premierminister  Chamberlain,  mit  Beschimpfungen 
beantworten  ließ,  die  im  gesamten  deutschen  Volk  hellste  Empörung 
ausgelöst  haben. 

Jeder  vernünftige  Mensch  muß  sich  nun  fragen :  Was  ist  eigentlich 
der  wahre  Grund  dieser  gewissenlosen,  ja  an  Wahnsinn  grenzenden 
englischen  Außenpolitik? 

Englische  Kriegshetzer  behaupten,  Deutschland  strebe  nach  der 
Weltherrschaft.  Diese  Behauptung  ist  schon  an  sich  verlogen  und  dumm, 
denn  jeder  Gymnasiast  weiß  heute,  daß  es  so  etwas  wie  eine  Welt- 
herrschaft nicht  mehr  gibt  und  wohl  auch  in  Zukunft  niemals  mehr 
geben  wird,  aus  einem  englischen  Munde  aber  ist  diese  Behauptung 
eine  Unverschämtheit.  Denn :  während  46  Millionen  Engländer  40  Mil- 
lionen Quadratkilometer  besitzen,  das  heißt  über  ein  Viertel  der 
gesamten  Erdoberfläche  verfügen,  verfügt  Deutschland  für  seine 
80  Millionen  nur  über  eine  Fläche  von  zirka  (500000  Quadratkilometer. 
Während  England  611  Dominien,  Kolonien,  Protektorate,  Reservate 
und  sonstige  Schutzstaaten  sein  eigen  nennt,  hat  Deutschland  heute 
keinerlei  Kolonialbesitz.  Wenn  ich  die  von  England  in  der  Welt  be- 
herrschten Völker  Namen  für  Namen  Ihnen  vorlesen  wollte,  so  würde 
diese  heutige  Kundgebung  zumindest  um  eine  Stunde  verlängert 
werden  müssen.  So  z.  B.  stehen  in  Indien  neben  290  Millionen  in  den 
verschiedenen  Provinzen  von  Britisch- Indien  wohnenden  Indern  noch 
562  indische  Fürstentümer  unter  britischer  Herrschaft.  Es  gibt  kein 
Gebiet  der  Erde,  wo  nicht  die  britische  Flagge  gegen  den  Willen  der 
betroffenen  Völker  weht,  wo  nicht  Gewalttat,  Raub  und  Lüge  die  Wege 
des  britischen  Imperialismus  kennzeichnen.  Unermeßliche  Reichtümer 
hat  Großbritannien  so  im  Verlauf  der  Jahrhunderte  aufgestapelt. 
Der  Vorwurf  des  Strebens  nach  Weltherrschaft  trifft  daher  ausschließ- 
lich England,  Deutschland  gegenüber  ist  er  —  noch  dazu  aus  eng- 
lischem Munde  —  unverschämt  oder  besser  noch  einfach  lächerlich. 

Der  Führer  hat  wiederholt  die  sehr  begrenzten  Ziele  der  deutschen 
Außenpolitik  klar  und  eindeutig  umschrieben.  Sie  heißen  in  einem 
Satz  zusammengefaßt:  Sicherstellung  des  Lebens  und  der  Zukunft 
des  deutschen  Volkes  in  seinem  natürlichen  Lebensraum,  der  dem 
deutschen  Volksgenossen  einen  angemessenen  Lebensstandard  sichert 
und  seine  kulturelle  Entwicklung  ermöglicht.  Während  die  britische 
Regierung  für  die  kapitalistischen  Interessen  und  den  Luxus   einer 


"ioei 


Das  Jahr  193!> 


231 


Oberschicht  kämpft,  die  großen  Massen  der  englischen  Arbeiter  aber 
tagtäglich  um  ihre  Existenz  und  soziale  Verbesserungen  ringen,  iBt 
das  Ziel  der  nationalsozialistischen  deutschen  Führung  die  Sicherung 
des  täglichen  Brotes  jedes  einzelnen  seiner  80  Millionen  Volksgenossen. 
Gerade  diesem  primitivsten  Lebensrecht  eines  Volkes  aber  stellt  sich 
England  entgegen. 

Was  ist  nun  das  Resultat  von  sechseinhalb  Jahren  deutscher 
Außenpolitik? 

Der  Prozeß  der  Konsolidierung  des  Deutschen  Reiches  in  Europa 
ist  abgeschlossen.  Das  Unrecht  von  Versailles  ist  beseitigt,  Deutsch- 
land hat  durch  die  Neuregelung  im  Osten  Siedlungsraum  für  Gene- 
rationen und  ist  zurzeit  bemüht,  all  die  deutschen  Splittergruppen  in 
Europa,  die  umgesiedelt  werden  können,  in  diesem  Raum  zu  vereinigen. 
Es  schafft  damit  endgültige,  klare  völkische  Zustände  und  Grenzen 
und  beseitigt  durch  diese  großzügigen  Umsiedtungsaktionen  die  Mög- 
lichkeit zukünftiger  Konflikte.  Die  Grenzen  des  Reiches  im  Norden, 
Osten^  Süden  und  Westen  sind  nunmehr  endgültige.  Deutschland  hat, 
wie  der  Führer  auch  in  seiner  letzten  Reichstagsrede  wieder  erklärte, 
an  Frankreich  und  England  mit  Ausnahme  der  Rückgabe  des  ehe* 
mal  igen  deutschen  Kolonialbesitzes,  das  heißt  also  der  selbstver- 
ständlichen kolonialen  Betätigung,  wie  sie  einer  Großmacht  zusteht, 
keine  Forderungen.  Der  Unsinn  von  Versailles  ist  beseitigt,  und  in 
Europa  sind  stabile  Verhältnisse  geschaffen.  Dies  ist  das  ausschließ- 
liche Verdienst  des  Führers.  '  ^ 

Ausgerechnet  aber  mit  Verwirklichung  dieses  Zustandes,  mit  dem 
alle  Voraussetzungen  für  einen  europäischen  Dauerfrieden  gegeben  sind, 
hält  die  englische  Regierung  nunmehr  den  Zeitpunkt  für  gekommen, 
um  zwischen  dem  englischen  und  dem  deutschen  Volk  einen  Krieg  auf 
Leben  und  Tod  zu  entfachen.  Die  britische  Regierung  spielt  damit  ein 
gefährliches  Spiel  mit  dem  Schicksal  ihres  Imperiums.  Wenn  die  bri- 
tische Regierung  diese  Politik,  die  man  sowohl  im  Interesse  des  eng- 
lischen Volkes  als  auch  der  Menschheit  an  sich  schlechthin  als  ver- 
brecherisch bezeichnen  muß,  fortsetzt,  so  wird  sie  eines  Tages  als 
Totengräber  des  britischen  Imperiums  in  die  Geschichte  eingehen. 
Daß  diese  Entwicklung  weder  im  Interesse  des  britischen  noch  des 
deutschen  Volkes  liegt,  das  ist  für  diese  kleine  Clique  von  gewissen- 
losen Hasardeuren  oder  engstirnigen  Doktrinären,  die  in  einem  Dilet-- 
tantismus  ohnegleichen  ihr  Volk  in  den  Abgrund  führen,  anscheinend 
belanglos.  Als  Anfang  September  der  englische  Botschafter  das  letzte- 
raal bei  mir  war,  habe  ich  ihn  mit  den  Worten  verabschiedet,  es  werde 
eines  Tages  von  den  Chronisten  der  W^eltgeschichte  als  eine  historische 
Groteske  registriert  werden,  daß  England,  ohne  die  geringsten  Inter- 
essengegensätze mit  Deutschland  zu  haben,  ausgerechnet  dem  Mann 
den  Krieg  erklärt  hat,  der  die  Verständigung  mit  England  zu  einem 
politischen   Glaubensbekenntnis  erhoben  hatte. 

Aber  Herr  Chamberlain  hat  es  nicht  anders  gewollt.  Au»  stjner 
letzten  Rede  vor  dem  englischen  Parlament,  in  der  er  in  einem  Gemisch 
von  Naivität,  britischer  Überheblichkeit  und  Schulmeisterei  da»  An* 


*Ä-. 


232 


Deutschland  -  Eni^land 


[106 


gebot  des  Führers  ablehnte,  möchte  ich  zur  Charakterisierung  der 
ganzen  Unwahrhaftigkeit,  Heuchelei  und  des  Dilettantismus  der 
jetzigen  britischen  Machthaber  nur  einen  einzigen  Punkt  herausgreifen, 
das  ist  die  Behauptung,  Deutschland  und  sein  Führer  hätten  ihr  Wort 
gebrochen,  und  es  sei  daher  nicht  mehr  möglich,  einem  Wort  Deutsch- 
lands zu  vertrauen. 

Solche  Äußerungen  haben  wir  in  der  letzten  Zeit  wiederholt  aus 
dem  Munde  englischer  Schwätzer  hören  müssen.  Diese  Schwätzer 
»ind  unfähig,  irgendeine  nützliche  Arbeit  für  die  menschJiche  Gemein- 
schaft zu  leisten.  Um  so  krampfhafter  sind  sie  daher  bemüht,  aus  ihrer 
Froschperspektive  völkerbewegende  Ereignisse  und  Begebenheiten  zu 
kritisieren,  deren  inneres  Gesetz  und  äußere  Gestaltung  sie  in  ihren 
Spatzengehirnen  überhaupt  nicht  zu  fassen  vermögen. 

Etwas  anderes  ist  es  allerdings,  wenn  der  Leiter  des  britischen  Im- 
periums selbst  mit  dreister  Stirn  eine  solche  Behauptung  aufstellt,  die 
nicht  nur  jeglicher  Grundlage  entbehrt,  sondern  an  die  er  zweifellos 
selbst  nicht  glaubt.  Im  Zusammenhang  mit  den  Taten  des  Führers 
zur  Konsolidierung  der  europäischen  Verhältnisse  gerade  in  dem  Munde 
eines  britischen  Ministers  den  Vorwurf  des  Wortbruches  zu  hören,  ist 
nicht  nur  der  Gipfel  der  Heuchelei,  sondern  viel  mehr  als  das,  nämlich 
eine  bodenlose  Dummheit,  Daß  die  einmalige  historische  Persönlichkeit 
des  Führers  über  solche  lächerlichen  Angriffe  eines  britischen  Parla- 
mentariers erhaben  ist,  ist  selbstverständlich.  Ich  kann  hier  nur  die 
Worte  des  Führers  aus  seiner  letzten  Reichstagsrede  wiederholen,  daß 
das  Urteil  über  ihn  in  der  Geschichte  Gott  sei  Dank  einst  nicht  von 
erbärmlichen  Skribenten  geschrieben  wird,  sondern  durch  sein  Lebens- 
werk selbst.  Aber  hinter  diesem  britischen  Vorwurf  eines  angeblichen 
Wortbruches  unseres  Führers  steckt  \^4ederum  eine  typisch  britische 
Niedertracht  und  Berechnung.  Man  will  gewissermaßen  durch  eine 
Diffamierung  des  Führers  durch  das  hochehrenwerte  britische  Parla- 
ment das  brave  und  anständige  deutsche  Volk  entfreraden.  Da  haben 
aber  nun  die  englischen  Herren  Parlamentarier  wiederum  einen  kapi* 
talen  Fehler  gemacht.  Denn:  das  deutsche  Volk  ist  heute  Adolf  Hitler,^ 
und  Adolf  Hitler  ist  das  deutsche  Volk,  Der  Vorwurf  des  Wortbruches 
des  Herrn  Charaberlain  trifft  daher  jeden  einzelnen  dieser  80  Millionen 
Deutscher.  Ihr  Danziger  gehört  auch  zu  diesen  SO  Millionen  Deutscher, 
und  ich  frage  euch:  Fühlt  ihr  euch  wortbrüchig?  Nein!  Dann  möchte 
ich  mich  heute  abend  zu  eurem  Sprecher,  wie  auch  zum  Sprecher  der 
ganzen  80  Millionen  Deutscher  machen  und  Herrn  Chamberlain  er- 
klären: Dieses  deutsche  Volk  hat  jeden  Schritt  und  jede  Tat  des 
Führers  zur  Befreiung  aus  den  Fesseln  des  Versailler  Vertrages  nicht 
nur  gutgeheißen,  sondern  begeistert  begrüßt  und  verbittet  sich  ein 
für  allemal  eine  solche  englische  Unverschämtheit.  Wir  bestreiten 
darüber  hinaus  Großbritannien  als  dem  Urheber  allen  Unglücks  von 
Versailles  überhaupt  das  Recht,  über  irgendeine  Handlung  Deutsch- 
lands und  der  deutschen  Regierung  in  den  letzten  Jahren  zu  , .urteilen'*. 

Wenn  aber  von  Wortbruch  gesprochen  wird,  so  glaube  ich  hier 
als   die  einmütige   Auffassung   des   deutschen   Volkes-  feststellen   zu 


106] 


Dus  Jahr  1939 


233 


können,  daß  der  größte  Wortbruch  aller  Zeiten  beim  Waffenstillstand 
im  Jahre  1918  dem  deutschen  Volk  gegenüber  verübt  wurde!  England 
war  der  Anstifter  dieses  Wortbruches,  das  haben  maßgebendste  Eng- 
länder selbst  zugeben  müssen*  Daß  aber  darüber  hinaus  ein  englischer 
Staatsmann  nicht  das  Recht  hat,  ja,  wenn  er  klug  genug  wäre,  sich 
schwer  hüten  würde,  überhaupt  den  Ausdruck  ,, Wortbruch**  in  den 
Mund  zu  nehmen,  dafür  will  ich  Ihnen  jetzt  nur  einige  wenige  Beispiele 
aus  der  jüngsten  Geschichte  des  britischen  Imperiums  zitieren, 

L  Beispiel:  Im  Londoner  Vertrag  von  1915  hat  England  den 
Italienern  für  den  Fall,  daß  England  und  Frankreich  nach  Kriegsende 
ihren  Besitz  in  der  Türkei,  in  Asien  oder  in  Afrika  erweitern  sollten^ 
entsprechende  Kompensationen  in  Vorderasien  und  Afrika  zugesagt» 
Was  aber  tat  Großbritannien?  England  hat  sein  Wort  Italien  gegen- 
über auf  das  schmählichste  gebrochen  und  es  mit  einigen  Dorn- 
gebüschen  im  Wüstengebiet  von  Jubaland  nachträglich  abzufinden 
versucht.  Erst  die  Genialität  des  Duce  —  und  auch  dies  wieder  im 
schärfsten  Kampf  gegen  England  —  hat  es  dann  fertiggebrachti  im 
Jahre  1936  aus  eigener  Kraft  diese  Kompensationen  für  Italien  zu 
schaffen.  Dies  ist  ein  eklatanter  Wortbruch  Großbritanniens! 

2.  Beispiel:  Im  Jahre  1915  sicherte  die  britische  Regierung  durch 
den  Mund  des  britischen  Oberkommissars  in  Ägypten  den  Arabern 
die  Schaffung  eines  alle  arabischen  Gebiete  umfassenden  arabischen 
Staates  einschließlich  Palästina  zu.  Was  aber  hat  Großbritannien  ge- 
tan? Der  unabhängige  arabische  Staat  wurde  nicht  gegründet,  und  der 
bekannte  englische  Oberst  Lawrence,  der  die  Araber  während  des 
Krieges  für  England  gewann  und  ihnen  im  Auftrage  der  englischen 
Regierung  sein  Wort  verpfändet  hatte,  quittierte  wegen  dieses  Treu- 
und  Wortbruchs  seiner  eigenen  Regierung  seinen  Dienst*  In  diesem 
Falle  war  der  Betrug  der  englischen  Regierung  aber  noch  ein  doppelter, 
denn:  trotz  des  den  Arabern  gegebenen  Versprechens  wurde  noch 
während  des  Krieges  durch  die  Balfour-Deklaration  das  arabische 
Palästina  den  Juden  zugesagt.  Mit  diesem  Versprechen  an  die  Juden 
beabsichtigte  England,  einflußreiche  Juden  für  den  Eintritt  Amerikas 
in  den  Krieg  gegen  Deutschland  zu  gewinnen.  Dies  war  ein  doppelter 
Wortbnich  der  britischen  Regierung! 

3.  Beispiel:  Während  des  Weltkrieges  hat  die  britische  Regierung 
am  20.  August  191 7  den  Indern  volle  Selbstverwaltung  und  den  Statu» 
der  anderen  britischen  Dominien  zugesichert.  Was  tat  Großbritannien? 
Auch  dieses  Wort  wurde  schmählich  gebrochen,  und  Indien  ist  heute, 
20  Jahre  nach  dem  Kriege,  unter  einem  dünnen  Mantel  nichtssagender 
Scheinkonzessionen  nichts  anderes,  als  was  es  immer  war,  nämlich 
eine  britische  Kolonie,  Dies  war  ein  weiterer  englischer  Wortbruch  I 

Vor  einigen  Tagen  hat  nun  England,  wie  wir  in  der  Presse  lesen, 
Indien  erneut  dasVersprechen  der  Selbstverwaltung  gemacht.  Wir  können 
getrost  den  Bruch  auch  dieses  Wortes  bereits  im  voraus  registrieren. 

4.  Beispiel :  Das  britische  Reich  ist  in  Amerika  während  des  Welt- 
krieges freiwillig  ungeheure  Schulden  für  Kriegslieferungen  eingegangen 
mit  ganz  klaren  und  präzisen  Rückzahlungsversprechungen.  Was  tat 


234 Peutochland-  England     [106 

Großbritannien?  England  hat  diesen  Schuldenvertrag  einfach  ge- 
brochen und  nicht  bezahlt.  Es  denkt  auch  in  Zukunft  nicht  daran, 
diesen  Betrag  von  10  Milliarden  jemals  zu  bezahlen,  aber  bereits  jetzt 
ruft  es  schon  wieder  in  Amerika  nach  Krediten  und  Unterstützung, 
und  zwar  wiederum  zur  Lieferung  von  Kriegsmaterial  gegen  Deutsch- 
land. Gewissenlose  Elemente  möchten  wie  im  Weltkriege  auch  heute 
wieder  an  solchen  Krediten  ihr  Blutgeld  verdienen.  Interessant  wird 
es  aber  sein,  ob  das  amerikanische  Volk,  das  die  englische  Kriegsschuld 
von  damals  auf  sich  nehmen  mußte,  auch  heute  wieder  gewillt  ist, 
zugunsten  einiger  Parasiten  neue  und  völlig  sinnlose  Opfer  auf  sich 
zu  nehmen  und  seinen  Lebensstandard  einzuschränken. 

5.  Beispiel:  Am  30.  September  1938  schloß  Herr  Chamberlain  in 
München  auf  sein  eigenes  Drängen  mit  dem  Führer  eine  Vereinbarung 
ab,  in  der  der  Wunsch  der  beiden  Führer  ausgedrückt  ist,  niemals 
wieder  Krieg  gegeneinander  zu  führen.  Was  aber  tat  Herr  Chamber- 
lain? Herr  Chamberlain  hat  dieses  Abkommen  gebrochen.  Denn:  er 
duldete  in  London  bereits  wenige  Tage  nach  Abschluß  dieser  Verein- 
barung die  wüsteste  Kriegshetze  gegen  Deutschland,  er  predigte  die 
Aufrüstung  mit  allen  Mitteln,  beteiligte  sich  selbst  an  der  Hetze  und 
erklärte  unter  Bruch  des  Münchener  Abkommens  am  3.  September  1939 
Deutschland  den  Krieg. 

Diese  Beispiele  britischer  Wortbrüche  stammen  aus  der  letzten 
Zeit.  In  Wahrheit  stehen  an  jeder  Etappe  des  Aufbaues  des  britischen 
Imperiums  in  den  letzten  Jahrhunderten  unzählige  Wortbrüche.  Es 
ist  nicht  umsonst,  daß  der  Volksmund,  und  zwar  gleichermaßen  in 
der  ganzen  Welt  das  Wort  geprägt  hat  „perfides  Albion!"  Schon  vor 
bald  zweihundert  Jahren  hat  Friedrich  der  Große,  als  er  im  Sieben- 
jährigen Kriege  von  den  Engländern  treulos  verlassen  wurde,  folgendes 
gesagt:  „Einem  Verbündeten  die  Treue  brechen,  Komplotte  schmieden, 
wie  sie  keiner  seiner  Feinde  ersinnen  könnte,  mit  Eifer  auf  seinen 
Untergang  hinarbeiten,  ihn  verraten  und  verkaufen,  ihn  sozusagen 
meucheln,  solche  Freveltaten,  so  schwarze  und  verwerfliche  Hand- 
lungen —  das  ist  England!** 

Folgenschwerer  aber  als  diese  Beschuldigung  des  deutschen  Volkes, 
die  aus  dem  Munde  eines  britischen  Ministers  kindisch  wirkt,  ist  die 
politische  Bedeutung  der  Chambcrlainrede.  Jedes  Wort,  das  Herr 
Chamberlain  vor  dem  englischen  Parlament  am  12.  Oktober  gesagt 
hat,  beweist,  daß  zwischen  der  großzügigen  und  säkularen  Einstellung 
des  Führers  und  dem  materialistischen  Starrsinn  des  Herrn  Chamberlain 
eben  ein  Abgrund  klafft.  Herr  Chamberlain  spricht  zwar  auch  vom 
Frieden,  aber  dieser  Friede  heißt:  „Zurück  zu  Versailles  und  Vernich- 
tung des  Nationalsozialismus!**  Dieser  Friede  würde  heißen:  Verewi- 
gung von  Zwietracht,  Unfrieden  und  Unordnung  in  Europa  und  Vernich- 
tung des  deutschen  Volkes.  Aber  da  mag  Herr  Chamberlain  sich  noch  so 
viel  Mühe  geben :  Diese  Zeiten  kommen  niemals  wieder,  und  die  Idee,  ein 
80-Millionen-Volk  vernichten  zu  wollen,  ist  würdig  eines  Don  Quixote. 

Das  historische  Friedensangebot  des  Führers  vor  dem  Reichstag 
aber  hat  Herr  Chamberlain  nicht  nur  nicht  verstanden,  sondern  er  hat