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WIENER BEITRAGE
ZUR
ENGLISCHEN PHILOLOGIE
UNTER MITWIRKUNG
D"- K. LDICK
ORD. PROF. DER ENGL. PHILO-
LOGIE AH DER UNIVERSITÄT
IN GRAZ
D"- R. FISCHER
ORD. PROF. DRR KNUL. PHILO-
LOGIE AN DER UNIVERSITÄT
IN INNSBRUCK
D" L. KELLNER
AO. PROFESSOR DER ENGL.
PHILOLOGIE AN DER UNI-
VERSITÄT IN CZERNOWITZ
D"- A. POGATSCHER
ORD. PROF. DER ENGL. PHILO-
LOGIE AN DER DEUTSCHEN
UNIVERSITÄT IN PRAG
HERAUSGEGEBEN
D^ J. SCHIPPER
ORD. PROF. DER ENGL. PHILOLOGIE UND WIRKL1CIIRH MITGLIEDS DER
KAISERL. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN IN WIEN
XXVI. BAND
WIEN UND LEIPZIG
WILHELM BRAUMÜLLER
K. U. K. HOF- U.ND UNIVERSITÄTS-BUCHHÄNDLER
SAMUEL TAYLOR COLERIDGE
THE ANCIENT MARINER
TND
CHRISTABBL
MIT LITERARHISTORISCHER EINLEITUNG UND KOMMENTAR
HERAUSGEGEBEN VON
ALBERT EICHLER
WIEN üXD LEIPZIG
WILHELM BRAUMÜLLER
K. U. K. HOF- UND UMVEKSITATS-BUCHHÄNDLEB
1907
AUe Rechte, insbesondere das der Übersetsong, Torbehalten.
K. k. UniTersitäts-Buchdruckerei aStsrria*, Gras.
DEM ANDENKEN
MEINES ÜNVERGESSLICHEN TEUREN VATERS.
\5
Vor^vort.
Läterarhistorische Betrachtung der beiden in den fol-
genden Blättern herausgegebenen Balladen, der ich mich
vor einiger Zeit widmete, legte mir den Stoff so nahe, daß
mit der Zeit das Material verschiedener Art anwuchs und
der Plan einer handlichen Sonderausgabe dieser charakte-
ristischen Denkmäler Coleridges in mir reifte. Selbstver-
ständlich habe ich dem verdienstvollen Campbell wie
dem geistreichen Alois Brandl viel zu danken, was ich
überall gebührend erwähnt habe ; ebensosehr muß ich aber
auch betonen, daß in diesen beiden großangelegten Werken
Einzelheiten der Korrektur bedurftien, die ich nach bestem
Wissen anzubringen nirgends .unterließ. Auch im Kom-
mentar, der hoffentlich die richtige Ausdehnung erhalten
hat, mußten Vorgänger benutzt und zitiert werden: hier
ist aus praktischen Gründen Polemik vermieden worden.
Auf einzelnen Anregungen in CampbeUs Ausgabe fußt
mein Lesarten-Kommentar, den ich ebenso wie die
metrische Betrachtung in ihrer Gänze und Detaillierung
als selbständig ansprechen zu können meine. Bei der Er-
klärung einzelner Ausdrücke ist das Oxforder New English
Dictionary zu Bäte gezogen worden; jedoch sind auch eigene
knappe englische Definitionen gewagt worden, diemeist von
meinem treuen gelehrten Freunde Dr. James Morison
(Oxford) in einem fiüheren Stadium der Arbeit überprüft
wurden. Er wies mich auch auf einige Parallelen und
auf Scotts Benutzimg von Ausdrücken aus Coleridges
Gedichten hin und hatte die große Liebenswürdigkeit,
während des Druckes die Texte des Ancient Mariner noch-
— vm —
mals zu kollationieren: für alles weiß ich ihm herzlichsten
Dank! Nicht minder aufrichtig verbunden bin ich Herrn
Privatdozenten Dr. E. Brotan.ek für wesentliche Erleich-
terungen bei der Benutzung der Wiener Hofbibliothek,
Herrn Dr. E. Dyboski für die NachkoUationierung der
Christabel-Texte, Herrn Dr. H. Frisa für etliche Exzerpte
aus hier nicht erreichbaren Quellen und endlich meinem
sehr verehrten Herrn Kollegen, Herrn Professor Dr. E.
Dittes, für seine aufopfernde Mithilfe bei der Korrektur
des Buches, wobei noch manche Unebenheit geglättet und
manche Anregung fruchtbar gemacht wurde. Auch Verlag
und Druckerei verdienen die dankbarste Anerkennung in
Anbetracht so vieler typographischer Schwierigkeiten, die
ihr unermüdliches Entgegenkommen stets zu lösen wußte.
Der Plan des Buches wollte einem doppelten Zwecke
dienen: einen kritischen Text zu liefern, der bei Seminar-
übungen zu Grunde gelegt werden kann, und eine auch für
Schulen brauchbare Ausgabe herzustellen. So sind auch
kritischer Apparat und Kommentar so gearbeitet, daß sie
ziemlich unabhängig voneinander benutzt werden können.
Wenn auch das Beiwerk dieser Ausgabe da und dort
Widerspruch finden mag, dem Leser des unvergänglichen
Textes selber kann ich nur mit Ch. Lamb zurufen (und
dies möge auch der Segenswunsch für mein Büchlein sein) :
*'/ counsel thee, shut not thy heart, nor thy library, against
8. T. er
Wien, im Juli 1907.
Der Verfasser.
Abkürzungen.
Col. = Samuel Taylor Coleridge.
Wo. = William Wordsworth.
Anc. Mar. = The Ändeni Mariner.
Ckrigt. = Christabel.
Brandl =s Samuel Taylor Coleridge und die englische Romantik von
Alois Brandl. Berlin, 1886.
Ca, = The Poetical Works of Samuel Taylor Coleridge. Edited with
a Biographical Introduction by James Dykes Campbell.
London, 1893.
Notigbudi = S. T. Coleridges Notizbuch aus den Jahren 1795—1798,
herausgegeben von A. Brandl (Archiv f. d. Stud. der
neueren Sprachen, 97. Bd.).
H. = Lyrical Ballads. By William Wordsworth and S. T. Coleridge.
1798. Edited with Certain Poems of 1798, and an Intro-
duction and Notes by Thomas Hutchinson. London, 1898.
G. = The Ancient Mariner by Samuel Taylor Coleridge. Edited with
Introduction and Notes by Andrew J. George. Boston
(U. S. A.), 1897.
Andere Abkürzungen siehe: "Überlieferung."
Der meist ganz elementare Kommentar zum Anc. Mar. von
Dr. M. Benecke in seiner "Coüectüm of Longer Engliah Poems'' (Vel-
hagen & Klasings "English Authors" 62) ist mir erst nach Abschluß des
Manuskriptes bekannt geworden: ich habe ihm nichts zu verdanken.
Druckfehler und Berichtigungen.
S. 1, Z. 6 V. o. hatten lies hatte.
?i 1> r> 2(3 „ „ dem „ den.
„ 1, Anm. Miß „ Miss
„ 7, Z. 14 „ u. 31th „ 3Pt.
„ 20, „ 7 „ o. country „ county.
„ 22, „ 16 „ „ reizbaren „ aufreizenden
., 28, „ 18 „ „ keiner „ keinen.
„ 29, ., 5 „ u. schönen „ trauten.
Überlieferung.
Die beiden Balladen Col.'s sind uns in mehreren Fassungen
erhalten.
1. A. The Rime of the Ancyent Marinere I In Seven
Parts I Argument How a Ship having passed the Line was driveu
by Storms to the cold Country towards the South Pole; and how
from thence she made her course to the Tropical Latitude of the
Great Pacific Ocean; and of the Strange Things that befell; and in
what manner the Ancyent Marinere came back to his Own Country. —
(Ohne ßandnoten!) In den Lyrical Ballade, Lofidon, 1798. Anonym.
B. The Rime of the Ancient Mariner, | A Poet's Reverie
In Seven Parts | Argument \ How a Ship having first sailed to the
Equator, was driven by Storms, to the cold Country towards the
South Pole; how the Ancient Mariner, cruelly, and in contempt of
the laws of hospitality, killed a Sea-bird; and how he was followed
by many stränge Judgements; and in what manner he came back to
his own Country. — In der 2. Auflage der Lyrical Bcdlada, 1800. [Mit
einer Note von Wordsworth (s. unten S. 6, u.)].
C. = B, doch ohne das Argument, in der 3. Auflage der Lyrical
Ballads, 1802, Mit unwesentlichen Textänderungen.
I>. = €., in der 4. Auflage der Lyrical Ballads, 1805.
S. The Rime of the Ancient Mariner ' In Seven Parts ;
'Facüe credo, plures esse . . .'. T. Burnet, Archaol Phil. pag. 68. — in den
Sibylline Leaves: a Collection of Poems. | By S. T. Coleridge,
Esq. I London 1817. Hier fehlt das Argument, dafttr sind die Prosa-
randglossen abgedruckt und Textänderungen vorgenommen.
Alle späteren Abdrücke sind kritisch wertlos.
2. A. Christabel; Kubla Khan, a Vision; the Pains of
Sleep. By S. T. Coleridge, Esq. London: Printed for John Murray
1816. (Die Second und Third Edition aus demselben Jahre wörtlich
gleichlautend.) Preface: *'The first part of the following poem was written.
• . . Since the latter date, my poetic potcers hace been, tili very lately, in a
State of suspended animation. But as, in my very first conception of the tale,
I had the tchole present to my mind, tcith the wholeness, no less than with
— XI —
ihe liveliness of a vision; I trust ihat I shall he able, to embody in verse
ihe three parts yei to come, in the course of ilie present year. — It ia
probable ,,.pa8sion." Vgl. u. S. 86.
B. Christabel. In: The Poetical Works of S. T. Coleridge,
including the Dramas of Wallensteiu, Remorse, and Zapolya. In
three Volumes. London. W. P i ck e r i n g, 1828 (wörtlich gleichlautender
Abdruck von Christabel mit Interpunktionsänderungen in der Ausgabe
1829: B') 'Preface" ist geändert: "I trusi I shall y et be able to embody in
verse the three parts yet to come/' (sonst gleich). — Änderungen im Texte.
C. Christabel. In: The Poetical Works of S. T. Coleridge,
London, Pickering, 1834. (Dann oft wiederholt) 'Preface*: der Absatz
von ''Since the latter date ... — three parts yet to come/' ist ganz fallen
gelassen. — Spätere Abdrücke sind kritisch wertlos.
Für Christ, kommen femer noch drei Handschriften in
Betracht:
MS I. Geschenk Col.'s an Miss Stoddart,-die spätere Gattin
Hazlitts.
MS II. Eine von Col. J. Payne Collier geliehene Hand-
schrift. 1811.
MS III. Geschenk Col.'s an Wo.'s Schwester, Miss Sarah
Hutchinson.
Über das nähere Verhältnis der Drucke und Handschriften, welch
letztere nur in wichtigen Fällen herangezogen sind, wird in den Les-
arten das Nötige beigebracht; der Zusammenstellung liegen zum Teil
Ca.'s Bezeichnungen zu Grunde.
Übersicht.
Seite
Vorwort VII
Abkürzungen IX
Druckfehler und Berichtigungen IX
Überlieferung X
Einleitung 1
1. The Ancimt Mariner: / ^atstehuBg und Aufnahme 1
{
Metrum, Sprache und Stil 8
9 CK ' tnh l* \ ^^^^^^"^g ^^<1 Aufnahme 20
\ Metrum, Sprache und Stil 30
Nachfolge der beiden Balladen in der Literatur 41
{The Eime of the Ancyent Marinere ... 46
The Birne of the Äncient Mariner .... 47
Chrütabel 86
^ ^ f t The Ancient Mariner 107
Kommentar: ^^ ^^^^^ ^.^3
Einleitung,
1. The Ancient Mariner.
Entstehung und Aufnahme.
JbiS war am 13. November 1797, etwa 4 Monate nach-
dem sich auf Col.'s Veranlassung Wo. mit seiner Schwester
Dorothy im Lake-Distrikt niedergelassen hatten, als die drei
Freunde gegen Abend von Alfoxden auszogen, um Linton
und das "Tal der Steine" zu besichtigen. Col. erzählte den
Traum eines seiner Bekannten in Stowey, eines Mr. Cruik-
shank, der darin ein Skelettschiff mit Bemannung gesehen
hatte. Wie so häufig, wandte sich das Gespräch der zwei
Dichterfreunde ihren dichterischen Tendenzen zu, und da
einen Teil derselben die naturgemäße Darstellung übernatür-
licher Ereignisse und ihrer Auslösung im Gemüte der davon
betroffenen Personen bildete, griff Col., dessen Domäne
gerade diese künstlerische Richtung war, während des
Spazierganges das Thema des Geisterschiffes auf und der
Plan zum Anc. Mar, wurde unter Wo.'s Beihilfe entworfen.
Letzterer hatte kürzlich Shelvockes Voyages gelesen,
worin von dem am Kap Hom so häufigen Albatrossen
berichtet wurde, und schlug nun vor, den alten Matrosen
einen dieser Vögel töten zu lassen, worauf dessen Schutz-
geister daför Rache nehmen sollten. Auch der Gedanke,
das Schiff von den toten Matrosen bedienen und weiter-
führen zu lassen, stammt von Wo. Endlich steuerte er noch
einige Verse bei (s. Komm, zu V. 13 — 16; 226—227); aber eine
völlig gemeinschaftliche Ausarbeitung, die noch am selben
Abend angebahnt wurde, scheiterte an der Verschiedenheit
der beiden poetischen Naturen und so trat Wo. zurück.^)
1) Memoira of W. Wordsworth, London, 1851, Vol. J. pp, 107, 108
[Miß Fenwick]. — Note in Poems of S. T. Col, 1852 [Gespräch Wo.'s
mit-Rev. Alex. Dyce]. — Vgl. Biographia Literaria, Chap. XIV.
E i c h 1 e r , The Ancient Mariaer a. Christ. 1
Eioleittmg.
Von literarischen Einflüssen hat Ca, (p, 595 — 596) den des
alten Buches ^^ Strange and danffcroHs Voyage of Captain Thomas
James in his intetided Discovery of thc North -West Passage
inio ihe South Sea, T^wdon, 1663'' nach Würdigung der ent-
sprechenden Literatiu' als nicht unwahrscheinlich bezeichnet.
Auch den in The Gentlenian^s Magazine, Od, 1853 zuerst
geltend gemachten Einfluß von ''The Leiter of St. PauUnns
[Bishop of NolaJ to Macarim, in which he relaics astoiimUng
wonders mnceming ihe shipwreck of an old man' leugnet er
nicht ganz ; die aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts
stammende Epistel erzählt:
^'Kiii Kornschiff war in der Nähe Sardiniens vom Sturme der
Mfi^te beraubt worden, worauf" die Mannschal^ das Wrack verlieö^ bis
auf einen Mano, den man au der Punipe vergessen hatte. Sechs Tage
long litt dieser unter seiner Vereinsamungj brach kein Brot und
wünschte sich bJoü den Tod. Gottes Wort richtete ihn aber wieder
auf; newew Leben erftUlte ihn. Auf Gottes Geh ei Ü hißte er die Se^el,
und siehe, Engel halfen ihm bei seinem Werke^ sichtbar und eifrig ihm
zur Seite stehend: das Schift* segelte, sobald er nur die Hand ans
Tau legte. Zuweilen gewahrte er eine Schar Krieger, welche die Arbeit
verrichteteu, 23 Tage lang fuhr er so dahin, unter Leitung des 'Lotsen
der Welt'; nahe dem Lande rief er Fischer an, die in zwei Booten
heranroderfceD^ aber vor dem Schiffe haltmachten, da sie es für ein
Krie^schiff hielten. Die Hillciiife des alten Mannes bewogen sie endlich,
von ihrer Angst abzustehen und ihn zu retten.''
Ca. schätzt beide Quellen mit Eecht als nicht sehr
bedeutsam ein. Gelehrte Reisewerke und ähnliche uxiS Col.
damals gelesen haben^ wie das Notizbuch beweist, wo z. B.
Bl. 31 b und 32 a eine ganze Alligatorenbeschreibung bieten.
Für das Gespensterfahrzeug hat Brandl (8. 209 fi auf
''Maclteth'* hingewiesen, wo die Hexe den verhaßten
Matrosen austrocknen, mit Schlaflosigkeit quälen, zur Ver*
zweiflung treiben und seine Barke verschlagen lassen wUl,
ohne ihn zu töten. Ebenso überzeugend vergleicht er das
Versinken des Schifles am Schlüsse mit der Hetzjagd in
Bürgers *'Lenore'*, wozu er noch bemerkt, daü in der
englischen Übertragung dieses Gedichtes von W. Taylor,
der gespenstige Ritt bereits aufs Meer ausgedehnt ist.*)
1) Ändere ßeminiaxenzea CoL*s an Bürgers Gedicht linden edch:
The DeHiimj of Naiiom [1796], II ^90 ff,, Kubla Khan [1T97] U. U—16,
Lewti 11794| IL 28-47; Chrisiahtl IL 79ff. und BaU. of Bark Ladk,
II 33 ff.
1. The Ancient Hariaer.
3
Schon bei Shelvocke wird ein großer Albatros, der als Ur-
saclie des schJecliten Wetters gilt, erschossen (daran knüpfte
Wo.'8 Schiildmotiv an); die Fischer, die dem Matrosen an
der lukanischen Küste zu Hilfe gekommen waren, sind
g<»näQ der spai-samen Ökonomie der Ballade durch einen
Lotsen und seinen Knaben ersetzt; der Einsiedler ist tlie
in der Lit, des 18. Jahi'hunderts übliche Figxu*, die den
Segen und die Versöhnung ausspricht (Sternes Pater
Lorenzo u. a,). Die Geistermannschaft kommt nach Brandl
(S. 212) möglicherweise aus einer andern Stelle in Shel-
vockes Voya^es und manche Einzelheiten, wie der Kom-
mentar zeigt, aus anderen, nicht bekannten Reisewerken
(vgl. Notufbuch).
Diesen fremden Elementen gesellen sich nun die groli-
artig stimmungsvollen, lyrisch gehaltenen Beschreibiingeu
zu: Sie sind des Dichters echtes Eigentum^ im Vergleiche
mit ihnen können wir bei den berührten literarischen Pa-
rallelen höchstens von ** Anregung" sprechen, denn hier liegt
das Wesen des Anc, Mar, Aber auch hier mußten dem
Dicht-er, der bis dahin das Meer noch nicht befahren hatte
Reisewerke an die Hand gehen ; und er verarbeitete das
gelesene Material in sich mit einer Phantasie, die ihres-
gleichen sucht. Zu erklären ist diese Ausgestaltungskraft
zum Teil wohl durch den Opiumgenuß> dem Col. seit 1796
frönte-i) Wenn Brandl (S, 192 — 193) die Entstehung des so
farbenstrahlenden Fragmentes *'KuhJa Khan* auf die im
Zustande der Opium betä üb iing vorgeat eilten Bilder zm'ück-
leitei, so stehe ich nicht an, derartige visionäre Rückschläge
der Lektüre von Reisebeschreibimgen auch bei der Ent-
stehung des Anc, Mar. anzimehmen und ihi'e produktive
Fähigkeit noch viel höher als die der früher erwähnten lite-
rarischen Motive anzuschlagen. Noch ein Moment fiir die
Annahme der visionären Erscheinungen des Opiumessers
ist meines Erachtens der Umstand. daÜ gerade diese Spuk-
gestalten und das Milieu bei CoL zum öfteren wieder-
kehren, und zwar in bunten und ungeheuerlichen Varia-
tionen. So hatte Col, schon in ''The DesHmj of Naticms"
(43ßff.) das Lokale im Polarlande spielen lassen : ein
») Cor» Brief an Poole vom 5. November 1?J6, Ca. p. XXX.
1*
Einleitung.
scliwimineiides Eisfeld, wo der Eisbär in Angst und Wut
sein Geheul ertönen läßt. Auch diese Schilderung hat einen '
literarischen Keim: Geschichte Grönlands von Crantz II, 1
(Braudl, S. 213), aber auch hier wieder das Belebende und .
Phantastische zugegeben vom Dichter! Im Ave. Mar. tntb^H
nun wieder die Eislandschaft vor des Dichters Augen, diesmal ^^
mit der Musik des Treibeises allein, die ein furchtbares
Leben in dem leblosen Elemente bildet und die Verein- i
samung im Nebel und Schnee noch mehr fühlen läÜt. Brandl
weist auf diese und die folgenden, bei CoL selbst schon vor- |
handenen Motive hin. doch ohne, wie ich meine, das ent-
sprechende Gewicht auf ihre variierte Wiederkehr zu ,
legen, und gerade darin liegt das Traumhafte solcher Bilder
bei üben-eizter Sinnestätigkeit. — Auf dieselbe Stui'e stellt
man wohl mit Recht auch die weiteren Parallelen zu '*Tk€
DesÜntj of Naiions" : Windstille auf dem Ozean ; die Monaden
(selbsttätige Geisterchen) ; die Schleim wesen, die im Wasser
auf- und absteigen; ja selbst der Riesenvogel Vuoklio, der
mit den Geistern zusammen Mordtat-en rächt imd beklagt,
weisen auf diese Ballade hin. Phantastisch ausgearbeitet
sind auch einzelne literarische Motive der Schilderung: Die
glänzenden Flocken, die schon Wo. und Bums auf dem
Flusse sehen, werden bei ihm zu elbischen Tiichtflocken, die
von den sich aufbämnenden Wasserscklangen wegzucken
(Brandl, S. 214). Von idyllischen Zügen aus Col.'s bisheriger
Dichtimg fühi't Brandl an: ^'das Säuseln des Windes, die
Musik der Sphären, der Gesang der Lerche, das Plätschern
des Waldbaches"'. Ich füge noch hinzu: die beruhigende
Wirkung des Mondlichtes (siehe Komm, zu 477ff* und the
hage oak tree in *'The Maren'* 1 u. 21 fnv ChrisL 33 etc.) —
Ob Wo. 's damals noch fi^agmen tarisches Gedicht ^'The
Female Vagranf\ das erst 1798 ei^schienen imd dann 1842
vervollständigt imter dem Titel ''Guilt and Sorrow" ver-
öffentlicht wurde, dem Dichter schon 1796 bekannt geworden
ist, wie er selbst in der Biogr, LiL Gap. IV, erzählt, ist nicht
sicher, da diese Darstellung seines inneren Entwicklung«*
ganges eben wie die so vieler anderer Dichter '"Dichtung
und Wahrheit'' gemischt enthält. Stimmt aber dieses Zitat,
so hätten wir hier einen späten Ableger von Mrs. Rad-
cl iffes erstem Schauderroman "The Sicilianc Rontance*' 1790
1. The Ancient Mariner.
$
*
ad des Schweizer Idyllendicbters GeÜner *^Tod Abels":
**Schloßruinen, geheimnisvolles Dunkel — schwere Seufzer
— Entdeckung eines tief nnglÜLklicheu Weibes und eines
ermordeten Wanderers — ■ ', wie Brandl anmerkt, von Geßnera
Dichtung: *'Held ein nichloser Mörder, verfolgt vom
Schrecken der Elemente, gestraft mit Sturm und Einsam-
keit''. Im Hochsommer 1797 begeisterten diese Gedanken,
wenn, wie gesagt, die Stelle der Biogr, LiL auf richtiger
Erinnerung beruht, Col. zu dem Entwürfe seiner "TFaw-
derings of Cain": als ihm aber Wo., mit dem dieser Plan
gemeinsam ausgeai*beitet werden sollte, diealku phantastische
Welt, in welcher dieses Märchen spielt, vorhielt^ ernüchterte
sich Col. und Heß es unvollendet. Doch der Hauptgedanke vom
Mörder und seiner Verfo%ung mag dann im Dichter wieder
aufgestiegen sein, als er mit seinem Freunde den Plan zum
Ane. Mar, durchsprach. — Das Motiv von dem festbannen-
den BHcke des alten Matrosen kann nach Brandl, Ca.,
George auf Autobiographisches zurückgehen (vgl. Komm, zu
V, 13 — 14), Ferner hat Brandl (S. 215) Verknüplnng dieses
Motivs mit einem literarischen nachgewiesen: Lewis, der
Verfasser des ''Mimk'\ hatte in seinen Roman eine Ballade
*'Alofuo Ute Brave and Fair Imogen'' eingeschaltet, die ziemlich
beliebt war: **Da sieht schön Imogen an ihrem Hochzeits-
tage mitten im Tanze plötzlich einen Ilitter neben sich, den
sie nicht los wird, der sich endlich als die wandernde Leiche
les früheren^ im Kriege gefallenen Bräutigams entpuppt,
laher stammt es wohl, daß sich der imheimUche Matrose
gerade einem Hochzeitsgaste annestelt, so daß ebenfalls dieEnt-
8et«ensgeschichte mit der Tanzmusik zusammenfällt/' Lewis
selbst hat dieses Motiv sicher aus der Büi*gerschen ''Lenore'*
entlehnt, da er nachweisbar derartige Spukgeschichten aus
der deutschen Literatur hinübemahm. Das wäre also ein in-
direktes Nachwirken der Biirgersclien Dichtung auf Col. —
Das sind wohl die Hauptstriche, die in dem dunklen
Gemälde, auf das wir mit süßem Grauen hinblicken, deuthch
zu erkennen sind ; aber die Unzahl feinster Schattierungen
Äusfiihrlich zu erläutern, müssen wir uns hier versagen: das
wtii*de sie ertöten. Mit rein verstandesmäßiger und morali-
sierender Denkweise darf man diese Schöpfiing reinster
Einbildungskraft nicht erklären wollen.
(t
Eiöleitung,
In diesen Fehler verfiel jedoch die Kritik, als das
Gredicht mit seinen Geschwistern ''The NighHngak" imd zwei
Episoden aus ''Oscrio** ohne Vatersnamen im Juli 1798 in
den hauptsächlich von Wo. bestrittenen ^'Lyrical Ballads'^
erschien* Für den Augenblick bedeutete die ganze epoche-
machende Sammlung imd der Anc, Mar, keinen Erfolg, ^)
Über den letzteren äußerte sich Griffith (Monthly EetnewJ
Matf 1799): **The Rtme of the A, M, is the sträng-
est starg of a cock and bull that we ever saw on paper.,.
it seems a rkapsodg of unintelUgihle ivildness and incoherence,
, . . therc are, however, in it poetical touches of an exquisitive
kituL" — Etwas besser urteilt der Rezensent im British
Oritic, Od,, 1799 (Wrangham?): "The A, M, has mang ex-
ceUeneies and mang faults. The beginning ftml end are striking i
and well-condticted^ hui the intermediate part is too long^ and '
Aas in so>me places a kind of confusion of inniges which deprives
it of all effect front not fmng intdligible,'' — The Monthhj
Magazine, Dec, 17 98, ist ebenfalls halb absprechend und
The Analgtimlt Dec, 179S spricht von *'the exiravagance of
a mad Gennan poet'\ Am schlimmsten jedoch spielte Southey
(Critical Review, Od., 1798) dem Dichter mit, dessen Freund
er war: "Mang of the stansas are lahoriouslg heautiful, btä
in connection thcg are absurd or uninteUigibic. Dur readers mag
exercise their ingenuitg in attenipiing io unriddle whaf follows
[nämlich V, 30i— 322]* We do not supeiefitlg nnderstand the
storg to analgse it, It is a Duich aftcnfpi at German sublinntg.
Getiius has here been etnploged in producing a poetn of little
merit/' Wenn auch Lamb, der doch damals mehr zu Southeyi
als zu dessen Schwager hielt, diese Auffassung sehr scharf
zurückwies, behielten solche Stimmen z. Z, dennoch Recht
und auch Wo. hielt das Gedicht tlir mißglückt und machte
es tlir den Mißerfolg der Lgr, B, allein verantwortlich. In
der zweiten Auflage druckte er es in modernisierter Gestalt
ab und gab ihm eine höchst gönnerhafte ''Note'^ bei (ab-
gedruckt Ca. p. 596), Mit einer gewissen Eitelkeit plaudert
er aus, daß der Wiederabdruck nur ihm zu verdanken sei,
obwohl der Verfasser in Änsehimg des Fiaskos seines Werkes
*) Der materielle Ertrag (90 Guineas) wurde mit zur Bestreitung
der deutschen Reise Co!/!*^ Wo.'s uud dessen Schwester verwendet.
L The Ancient Maiiuer.
dagegen gewesen sei, Dann tadelt er, daß der Anc. Mar.
keinen deutlichen Charakter als Berufematrose oder als
Mensch überhaupt habe ; ferner^ daß er nicht handelt, son-
dern Werkzeug und Opfer allein ist; drittens, daß Einheit
und innere Konsequenz der Handlung fehle; endlich, daß
zu viel **Bildwerk" (imagery) darinnen angehäuft sei. Lobend
hebt er die naturwahre Leidenschaftlichkeit, die "einzelnen"
fichöneu Bilder und den sprachlichen und metrischen Aus-
druck hervor. Namentlich die Leidenschaftlichkeit bürgt
ihm füi- den Wert des Gedichtes, 'Hvhich is not oßen possessed
fcy beiier Pocfus",
Ca. weist darauf hin, daß sich Lambs Brief an Wo.
(Ainger's Letters, I, 164) auf diese "Note" bezieht, deren
Torwürfe Lamb ebenso wie die Southeys zu widerlegen
sucht. Wie sehr Lamb Col. verstanden hat, zeigt auch eine
Nebenbemerkung in demselben Briefe» worin er den neuen
Untertitel *'A Poet^s Eeverie' tadelnd zurückweistj denn durch
diese Bemerkung wüi*de ja die Naturwahrheit der ganzen
Geschichte so verhöhnt, w^ie durch Bottom des Webers
Außenmg ''Ich bin kein wirklicher Löwe*', das Zwischen-
spiel in **MH!mmm€nügbi*s Dreani\ Col. stimmte dem nun
zu und tilgte den Untertitelj der nur durch ein Vei-sehen
auf dem zweiteu Blatte stehen blieb.
Vielfach wurde von englisscher Seite der Vorwiu-f gegen
das Gedicht erhoben, es fehle ihm die **Moral" und die
^'Wahrscheinlichkeit''. Gegen den ersten Anwiurf hat sich
Col. selbst verteidigt (Tabie Talk, May HV\ 1830), Er sieht
das ein, was man in der deutschen Kritik stets behauptet
und gefiihlt hat: der Anc. Mar, hat zu viel Moral für ein
Werk reinster Phantasie oder wenigstens zu offen gepredigte
Moral für ein Märchen, (Hiezu stimmt auch seine Dar-
stellung von den Kunstprinzipien, die er im Anc, Mar, an-
wenden wollte, in Biogr, LH, Chap, XJV,J Dies Spiel der
schönsten Bilder vor des Dichters Augen, in modnlations-
reichster Sprache und musikalischen Versen geschildert, hat
unter Wo. 's Einflüssen entschieden gelitten. Wäre duixh
diese.s Moralisieren eine einheitliche, deutliche Handlung
entstanden, so müßten wir diese Beeinflussung segnen; in-
dessen kann man einen logischen Zusammenhang, eine
aere Motivierung nicht finden. Warum der Matrose den
8 Emleittmg, !
Albatros ei'scliieüt, erfahren wir überhaupt nicht, und nun
sollen wir bereitwillig glauben, daß überirdische Geister ans
Werk gehen, wegen einer von einem einzelnen aus uns un-
bekannten Gründen begangenen Tat 200 Menschen zu töten ?
Glauben wir das nämlich nicht^ so müssen wir überhaupt das
Gedicht als Schauermär lächelnd beiseite legen. Und darin
liegt der Hauptmangel, daß eben der Dichter durch das Mo-
ralisieren zu verlangen scheint, seinen Aberglauben auch zu
teilen. — Begeben wir uns aber auf seinen wirklichen »Stand-
pxmkt imd sind wir mit ihm romantisch, so werden wir nicht
nur das äußerliche, geradezu blendende Gewand bevnrndem
müssen f sondern auch das kerngesunde, leidenschaft atmende»
mit höchstem Naturalismus darunter gebildete innerste
Wesen dieser Schöpfimg des Dichters.
Freilich wird uns der Schluß des Gedichtet jäh aus
unserer Romantik herausreißen, wenn der Alte fronmi er-
zählt, daß er gern mit alt und jung bete, der Hochzeits-
gast aber, da ihm jegliche Hochzeitsstimmuug vergangen
istj trüb nach Hause geht, um andern Tages als '^weiserer,
aber schwermütigerer' Mensch zu erwachen. Das ist ja auch
Naturalismus, aber von anderer Art als der frühere, der
uns die Einsamkeit, das Meer, die Domänen bis ins ein-
zelne packend geschildert hat: jetzt stehen wir schwindelnd^
wie der Einsiedler, auf festem Lande und blicken uns ver-
^\Tlndert um: denn wir glauben schrecklich geträumt zu
haben, bemerken aber mit gemiscliten Empfindungen, daß
wir uns unter den hausbackenen Engländern des ''Age of
Wordsfvortir befiuden.')
Metrum, Sprache und Stil.
Die Ballade umfaßte m*sprünglich 658 Verse in A. ilie
in S. das wir nun unseren Betrachtungen zu Grunde legen,
auf 625 vermindert wurden. Das Versmaß ist das in den
alten Balladen so beliebte Common Metn% der jambische
katalektische Tetrameter oder Sept enar. In diesem Metrum
hatte CoL schon das 1797 begonnene *'The Thrve Grav^'s"
*) Die moihterliafte Cbersetzuug vou Freiligrath bat den Anc.
Mm\ auch bei uns sehr populär gemacht: die von E. Höfer woi* mir
Dicht xugftogUch.
i. Tbe Ancient Mariner.
geschrieben, dann später '*The Devirs Thoughis" abgefaüt^
wo die Bänkelsängerstrophe, wie bis dahin von Kunst-
dichtem meist, allerdings zn komischen Wirkungen ver-
wendet ist. Der Vers selbst ist mit Hilfe der Takt-
umstellung und gelegentlicher Verletzung der Prosa-
beton ung — zweier entgegengesetzter Prinzipien —
ungemein abwechslungsreich gestaltet. Aus der großen Zahl
wähle ich bloß einige Beispiele aus 8:
V. 12 Eßsöons his hanä dropi he, (Prosaton verletzt in-
folge 10, wo diese Betonung des Pronomens in dieser Phrase
Regel ist*)
fV. 22 M4rrüy did tm drop (Tak turnst.)
V. 90 Cäme io ihe mariners* hollo! (Dass.)
V* 251 Lütf like a load on nifj wcartf eye (Dass.)
_ V, 518 Thaf come from a far cotmirce, (Prosaton verletzt )
P etc. etc.
Doppelte Senkungen im Innern des Verses und
im Auftakte liegen im Charakter des akzentuierenden
Metrums und werden von CoL unbeschränkt verwendet.
VgLnur S:
V. 71 Änd a tjood souih wind sprumj up hehind;
V* 74, 90 Came to ihe mariners* hollo!
V. 334 To have seen ihose dead nwn rise.
V, 518 Thai come from a far countrce.
etc.
l>ie r>t rophenform ist verschieden, laßt sich jedoch
immer auf den gebrochenen Septenar zurückliihren. Die
weitaus häufigste ist das echte Common Mdre X4 aa y4 ae,
vertreten in 105 Fällen. Cot. scheint erst im Verlaufe des
Dichtens zu Ei-^^eiterungen gegriffen zu haben: während in
8 am Beginne bloß die ersten 11 Strophen die alte Form
aufweisen, waren es ihrer in A noch 23, dann erst setzten
andere Typen ein und auch jetzt finden sich noch genug
ziemlich imifangreicher (jfruppen der Vierzeiler. Bau imd
Reimstellimg der özeiiigen Stro])hen zeigen sie als organische
Weiterbildung der erstgenannten Form; in 18 Fällen X4
Aa b4 b4 an (V. 162 ffi, 185 ff., 248 ff., 267 ff., 272ff.. 277ff.,
292ff., 3iaff., 322ff., 345ff, B58ff., 393ft, 533ff., 586ff.
606 £), dazu noch zwei Strophen mit Binnenreim in der
ersten Zeile (V* 167 ff.^ 614 ff.); in einem Falle a4 ba a*
10
Eiuleitimg,
ai hs (V, IBOfll), alle also mit Einschiib einer 4hebigeii
Zeile nach Z. 3. Die 6zeüigen sind am häufigsten in der
FoiTii X4 aa yi a« z* as» also mit Verdreifachung; des
Septenars, vertreten: 14 Fälle (V. 91 ff., 97 ff., 143 ff., 171 ff.,
257 ff.. 282 ff,, 336 ff:, 367 ff., 377 ff,, 383 ff^, 446 ff., 527 ff.,
564 ftl, 591 ff.), die häufig noch durch Binnenreim variiert wer-
den; ein Fall a4a4a4bsX4 (= 2 ßij ba (V. 45ffl)> also mit
Vorsetzung eines Reimpaai-es vor das Common Metre. Ein
abnormes Schema bietet die 9 zeUige Strophe ( Y. 203 ffV) a 4
a4 ba C4 C4 ha d^ d4 ba, Verdreifachung des Septenai^s
mit Vorschiebung eines 4 heb» Verses vor jedem derselben.
Diese also ziemlich bunte Reihe von Strophentormen ist
noch diu'ch Binnenreime in den 4 heb, Versen, die ent-
weder rein oder durch bloße Assonanz reimen, volltönender
gemacht. Vgl. V. 7, 21, 31, 37, 49, 53, 55, 57, 59, Gl, 63,
69, 71, 73, 76, 77, 81, 87, 89, 93, 95, 97, 99, 101, 103, 105,
109, 115, 127, 141, 153, 157, 162, 171, 197, 218, 232, 280,
320, 354, 377, 381, 400, 418, 420, 426, 428, 432, 474, 480,
488, 492, 496, 514, 527, 550, 558, 568, 591, 610, 612, 614,
622. Bei solcher Fülle von Gleichlauten entsteht ein musi-
kalisches Auf- und Abwogen, das bei der sonstigen Freiheit
des Metrums auch den feinsten Wirkungen dienen kann.
Die Reinheit des Reimes ist wie bei allen eng-
lischen Dichtem grundsätzlich nicht in unserem Sinne
gewalirt. Außer den erwähnten Assonanzen finden sich un-
reine Reime in reicher Zahl, So V, 45 : 46 : 47 profc : blow :
Joe, 52 : 54 mid : etnerald, 80 : 82 ihus : Albatross, 109 Binnen-
reim, ^peak : break, 159 : 16ü stood : hhod, 217 : 219 ffroan : cnic,
294:295 given : Heavea, 328:330 on:ffröati, 360:361 are:
air, 489 : 491 rood : stood, 509 : 511 : 513 tjood : wood : blmd,
534 : 637 almtf : young, 539 : 541 reply : cheerily, 692 : 594 : 696
there : are : prayer, 61 1 : 613 Gynest : bcasL
Im Satze (oder wenigstens im Prosasatze) tonlose
Wörter wie me (4 etc.), he (10, 12 etc.), she (34), be (108,
124 etc.), they (254 etc.) u. a. m. werden anstandslos im
Reime gebraucht, ebenso die der alten Orthographie von A
entsprechenden zerdehnten Ableitungen auf -er (V. 1, 20, 40
etc. Mariner, 184 gossameres etc).
Die Qualität der Reime ist dem alten Typus der
Chevy-Chase'Straphe gemäß stumpf; klingend uui- an
1. The Aflcient Mariner.
11
neuii Stellen : V. 72 : 74 irnd 88 : 90 follow : hollo, 116:118
motian : ocean, 294 : 295 (fiven : Heavmi, 384 : 386 : 388 oceau
modofi : motioti, 411:413 retteivhuf : doinff, 427 : 429 hdated :
abaieäy 431 : 432 weathtr : ioffdher und 435:437 ß Her : glitter.
Rührende oder reiche Heime ergeben sich oft durch
die Wiederholung ganzer Zeilen, somit entsprechen sie aller-
dings nicht dem Gesetze, daß wenigstens der Sinn völlig
gleichlautender Wolter im Keime verschieden sein muU,
bilden aber ein wichtiges Stilmittel fs. unten j. Beispiele:
Y. 10 : 12 he, 94 : 96 hhw, 100 : 102 mist, 144 : 146 eye, 174 :
176 Sun, 286 : 287 unauare, 386 : 388 moiion 542 : 544 ship.
Außer der an Stelle des Reimes oder als sonstiger
Schmuck auftretenden Assonanz kommt auch als Verzierung
die Alliteration vor, die natürlich keineswegs immer
beabsichtigt ist, Unzweifelhatle Fälle gewollter Alliteration
sind meines Erachtens:
36 thc merrtj min4treUff^ ^ And it would icork 'rm woe, 103—104
The fair breezt hUwj the whiie foam ßeii\ The furrow siream'd off free,
lOti Into that aiient sea, HO The siten^e of Ute sea, 119 imd 121 Water,
water, er et' ff where, 122 Nor miif drap to drink^ 127 in reel and rout, 183
Nine fathmn dcep he had foUowed tts, 168 to work its weai, 171 und 173
The weitem wace, 190 WWt broad and buming face, 190/191 Her lipn
wert redj her lot^ were free, Her hcks teere yellow aa gold, 203 We
ligiened and looked, 226 long and lattk^ 256 The mamf men^ 246 A wid^ed
lehiAper came, 218 / closed my lids, and kept than cloae, 254 Nor rot nar
reek did ihaj, 263 The moving Moon^ 267 Her heams bcmocked the suttr^
main, 269 JBut where the ships huge shadow laif, 281 a fiash of golden
ßre, 205/296 She sent the gcntle slecp from Heavcn, That älid into my isotd^
304 Sure I fmd drunken in mij dreams, 311 /Bl 2 But tüith its sound ii
thöok the sailSf That were ao thin and sere, 874 Yet nerer a hreese did
brtathe, 375 Slowhf and sinoothlyj 3*J5 my Uvinff lift\ 423 Without or wave
m wind, 450 a friyhtful fiend^ 482 shapes, that shadmcs wei'c, 483 In
crnruton colaurs came, 498 the silefice mnk, 529 see ihose sailSj 533 leaves
that lag, 543 nor npake nor ^tirred, 566 Laughed loud and Imig, 577 What
manner of man^ t84 And iiH my ghastly tale is toldj 5D0 To him my tale
J tcach, 613 bird and beast, 625 the morrow morn. Eine Liste, die je
nach Geschmack dur<h Aiit't"a.ssung vod nnvei-meidlichen Alliterations-
wörtem als beabsichti^teu Htabeti vermehi't werden kann.
Die Freiheit des lihythmus zeigt sich in einer großen
Zahl von Z e i 1 e n e n j a m b e m e n t s : V. 27/28 And he shonc
hriffht, and on the riffht / Weat doten into the seci. — 41/42
A»id now the Sform-blast came, and he / Was tyrannous
aud Strang. — 86/86 Still hid in mistt and on ihe left j Wetä
iiauffii into the sea. — 137/138 Wc could not speak, no more
12
ELnleitmig.
than if j We had bem dwked with sooi, — 143/144 There
passed a wmrtf time, Each ihroat j Was parched, and glazed
each etfe. — 234/23B And never a saint iook pitp on j My soul
in cufomj. — 442/445 And now ihis spdl tcas snapt: once
fnare j I viewed ihe oeean fjreen, j And hoked far fortb, yei
Utile saw j 0/ whai had eise been seen. — 558/559 And all was
sHJlf save (hat thc kill j Was telliwf of ihe aoHnd, — 610/611
Farewellf farewdl! hut this I teil / To ihfe^ thou Weddimh
Guesif — 55/56, 131/132, 139/140, 141/142, 147/14K, 151/152.
185/186, 238/239, 246^247, 275.^276, 280/281, 282/283, 290/291,
306/307, 322/323, 358/359, 367/368, 396/397, 450/451, 498/499,
512/513, 554/555, 566/567, 597/598, 599/600, 620/621. Hiebei
ist es im Grunde gleichgültig, ob wir die Strophen als 4-,
5- und 6 zeiligt also kurzzeiHg, oder als Septenare langzeilig
auffassen ; in jedem Falle ist der Eeichtum der rhythmischen
Varianten deutlich sichtbar, nur müßte man in ersterem
das Zeilenenjambement als Verschiebung der sonst regel-
mäßigen Zäsiur bezeichnen.
Strophenenjambement findet nui* an zwei Stellen
statt : V. 444/445 . . . ffei little saw / Of whai had eise heen
Seen zu V. 446 ff. Like one, thai on a lonesome road , . „ durch
den Einsatz des Vergleiches nicht besonders fühlbar, imd
532 Unless perchanee it were zu 533 Bnnvn skeletons of leaves
thai lag . , ,, ziemlich stark. Einmal wird eine Strophe
geteilt, also auch ein Beispiel einer Art von Reim-
brechung, die sonst bei gekreuztem Beime nicht leicht
nachweisbar ist; in diesem Falle (V. 422 ff. > handelt es sich
um Aufteilung je zweier Zeilen auf den Dialog der beiden
in der Vision gehörten Geisterstimmen.
Wie die metrische Fonn der alten BaUade entnommen
war, so wußte sich der Dichter auch in der Sprache
dieser Literaturgatt img aufs beste anzuschmiegen. Der Aus-
druck ist vor allem archaisierend, wie der Kommentar
im einzelnen aufzuzeigen haben wird. Brandl weist auf
Chatterton, einen Liebling Col/s hin, der ja das Höchste
an altertümlicher Färbung in seinen Werken geleistet hatte,
indem er altertümUche Wörter, epische Formeln, volks-
tümliche kurze Vergleiche einfügte. Die lebendige Frage,
die ja dem halbdramatischen Charakter der Volksballaden
entgegenkommt, war CoL auch durch W. Taylors Tjefioren-
«
M
1, The Äncient Mariner.
13
Übersetzung meder nahegebracht worden, wie Brandl
bemerkt. Er schreibt aber CoK als neu hinzngebrachte
Stileigenfctimlichkeitenzu: Bedeutsame Voran-
kündigungdes Begri f f e 8 (V. 1 It is an ancietü Mariner ),
(V. 19/20, B9/40 And ihus spake on the ancietit man, j The bHght-
etfed Mariner) und ähnJithes, wo durch Pronomen oder Hub-
stantiv die Hervurhei>ung zuerst erfolgt, dann erst das
Begriffswort selbst kommt; andere Beispiele sind noch zahl*
reicher, in denen der substantivische Begriff zuerst heraus-
gehoben wirdj meist als absoluter Kasus, worauf er mit
einem Personalpronomen he, she^ i7, the*^ u. dgL wieder auf-
genommen wir<l, wie in V. 37, 222, 297/299, 314/315, 360/361,
004^^505 ; die 8 1 o ß s e u f z e r (V. 178 Heavens Molher send
US grace! V, 294 To Mary (^ueeti the Fraise he rßven! V, 489
hg the hölg rood! V. 506,538 Dear Lord [in Heaven]: V. 123,
487 0 Christ, V. 470 my God! V. 399 hy htm uho died
on crosSt als Anrufungen des Himmels, der Heiligen etc.;
son^t noch; V. 164 Gramerey! V. 139 M! well a-day! V. 181
Aias! V, 464 Oh! dream of jmj! V. 627 bij my faithfj.
Femer erwähnt Brandl noch die scheinbar p 1 e o-
n astischen Attribute und die teilnehmenden
Zwischenäußerungen, welche die Wirkung auf die
Zuhörer vergegenwärtigen (V. 224 ff., 345 [fear ihee, aneient
Mariner! Y. 79 God save thee^ aneient Mariner u. anderes),
die Beteuerungen (wofiir ich oben unter den *'Stoß*
Seufzern*' schon Beispiele gebracht habe) und als hervor-
ragendes Stilmittel die Sprunghaft igkeit der Dar-
stellung, ^'welche hinterdrein zur Erklämng eine Rand-
glosse in Prosa nötig machte' \ Das sind gewiß alles Eigen-
tümlichkeiten, die au den Stil der Vo 1 k s b all a d e erinnern,
aber wir sehen sie hier von einem der feinsinnigsten Kunst-
dichter mit Bewußtsein und Geschick gehandhabt. Dafür, daß
Coh öich dieser Mittel mit Bewußt**ein bediente, ist mir
ein Beweis, daß er an so vielen Stellen die Nachstellung
des Adjektivs (besonders zum bequemeren Reimen) an-
wendet, ebenso einigemal das Objektspronomen um-
stellt^ was uns sehr schlicht und volksmäßig vorkommt,
aber bei einem Kunstdichter gewiß nicht selbstverständlich
ist: hier zeigt sich eben wieder der glückliche Griff im
Auffassen der alten Siirach- und Fonnbehandlung bei CoL
w
Einleitung.
(vgl V. 10 quoth he, 12 dropt Ae. 26 came Äe, 34, 7Ö, 198,
229, 2B6, 314, 326, 349, 435, 443, 509, 514, 525, 589, 609).
Mit der früher erwähnten metrischen Erscheinung des
Binnenreimes ist sehr häufig eine stilistische ver-
bunden: der Gredankenreira und der zweigliedrige
Ausdruck; dies ist entschieden zum Teil Einfluß der
biblischen Redeweise und trägt sehr zur nachdrücklichen
Hervorhebung bei. Vgl. V. 8 long grey beard and ifUttering
eif€^ 7 The guesis are met, the fcast is set, 75 mit zwei
parallelen Formeln: In mist or cloud, oh fnasi or shroud,
316 ebenso: And to and fro, and in and otii, 21, 45, 4G, 47/48,
51, 61, 73, 89, 97, 116,^ 127, 140, 143/144, 157, 16a 162,
169, 199, 206, 213, 221, 250, 254, 312, 826, 331, 332, 335,
358/360, 375, 412/413, 423, 424/425, 434/486, 488, 447,456,
460/462, 466, 470/471. 476, 508, 543, 548, 550, 609, 612,
614, 615, 624. Die Beispiele teilen sich in solche, in denen
der Parallelismus vorherrscht, und solche, die anti-
thetisch zu fassen sind. Gesteigert erscheint diese stilisti-
sche Figur in dreigliedrigen Ausdrücken* Zum
Beispiel V. 2324 Below the kirk, beJotv the kill, j Below the
iighi-hoHse top, 103/104 The fair breese hlew, the white foam
flpw, I The furroiü streani d off free ; 49/50, 130, 156, 190/19 J,
199/200, 240/242/244, 301/302, 318.320, 331, 363 865, 466/467,
613. In diesem Falle ist nicht selten das dritte Glied anti-
thetisch zu den ersten beiden, die an sich koordiniert sind.
Das Höchste aber, was CoL an packender und span-
nender Wirkung seiner Ballade durch den Stil erreichen
konnte, liegt in den eindringlichen Wiederholungen
einzelner Wörter oder ganzer Sätze u n d P h r a s e n. Die
Beispiele zeigen da die höchste Kunst in der Änwendimg :
bald trägt diese Wiederaufnahme in ganz stereotyper Fonn
dazu bei, die romantische Unbestimmtheit etwas zu erhellen,
bald bergen sich in den kleinen Unterschieden der wieder-
holten Worte überaus feine Schattierungen der Stimmung.
Das ist der Rest des alten Volksballadenrefrains, der hier
noch eine schöne Nachblüte erreicht hat. Zum Beispiel:
V. 23/24 Below the kirk, behw the hill, j Below the light-kouse
top: emphatisch wird hier der Begriff des Scheidens dui*ch
das dreimahge "below'' betont. — V. 31 und 37 The Wedding-
Guest here beut kis breast^ getrennt durch die Beschreibung
I
I
■
1. The Ancient Mariner.
15
I
I
des HochzeitöÄUges, drücken die beiden Zeilen die ver-
zweifelte Stimmnng des Gastes ans, die zweite natürlich
noch stärker als die erste, weil das Yevs 18 schon gebrauchte
He cannot choose biU hear mm 38 unmittelbar hinter jeuer
Zeile folgt, der unwiderstehliche Zwang auf die innerlich
abgeneigte Disposition* Die Formel 19 f. wird 39 f. nach
rein epischem Brauche genau aufgenommen, — V. 59 f. The
ice was here, ihe iee was thcrc, j The ice was all around:
trotz der genauen lokalen Bestimmungen wird durch das
dreimalige Nennen des **Eises'' dieses gleichsam noch raehi%
noch allgegenwärtiger. — V. 68 /^ ate the food it ne'er had
mi, die Unwirtlichkeit jener Gegend wird durch diese
gänzlich ungewohnte Nahrung des Albatros — daher die
Wiederholung des Zeitwortes — angedeutet* Die Strophe
25 if- ist 83 ff. mit entsprechenden Abändeningen — es ist
ja die Rückfahrt — wiederholt: die Einleitung zu Neuem
mit denselben epischen Mitteln ausgedrückt. Noch stärker
wirkt die Variation der Strophe 71 ff. iu 87 ff»^ wo mit den*
selben Worten durch die Negation allein der Verlust
beklagt wird. — V. 94 f. Thai made the breche io hlow, der
harte Vor\^n.irf wird mit vorausgegangenem Ftuchworte
V. 96 nochmals ausgesprochen, ebenso V. 100 und 102 Thai
hrififf »resp. hrought) the fotj and mist. Wie fest sitzt dieser
Gedanke in den Seeleuten und speziell in der Erinnerung
de« Anc. Mar.! Beide Stropheu Schlüsse 93 ff. und 99 ff* sind
überdies durch den Gleichlaut der imgeraden Zeüen mit-
einander verknüpft; die Idee, daß der Albatros auf das
Weiter Einfluß habe^ ist beiden gemeinsam, nur in der
ersten im günstigen, in der zweiten im ungünstigen Sinne. —
V* 107 Dottn dropi the breeze, the sails dropt down^ chia-
stische Wiederholung zimi Ausdrucke der Kausalität —
V. 116 Dat/ a/tir day, day after day, eine endlose Beihe von
Tagen! — V* 117 Äs idle as a painted shij) / lipon a paintcd
ocean, der Vergleich mit einem Scheinbilde durch die
Betonimg des *'painted" recht ausgeprägt. — V* 119 und
121 Water, water, evcry whetx. wie V. 115 das Endlose trefflich
ausgedrückt. — V. 127 About, about (= ^'unaufhörlich rund-
herum'*). — V. 143 imd 145 f There passed) a wmry ime, und
A weary time! a weary timc! Die ganze Strophe erhält da-
durch einen wahrhaft. '*müden'^ Ausdruck. — V, 149 und 150
16
Einleitimg.
Ai ßrst ü se^med a Utile speck, / And ihm U smm^ a mist :
rein emphatisch, vielleicht auch aus metrischen Gründen. —
V. 151 It möved and moved (== '^es bewegte sich immer
näher")* — Dann V. 153 die Wiederaufnahme aller in der
vorigen Strophe genannten Begriffe ; A speck, a mist, a shape,
I wisi! Hoch pathetisch mit der eindringlichen Begriffs-
wiederholung von 151 in 154 (it ueared and urared), — V. 161
And cried, A sail f a saü! Natürliche Verdopplung im leiden-
öchaftlicheu Ausrufe. — V. 157 Witli throats unslaked, wiih
biack Ups bakcd, leitet eine Strophe voller Dumpflieit ein,
die erst beim Änc* Mar. durchbrochen wird : die Wiederkehi*
derselben Zeile in V. 162 bahnt, die Hoffiiiing auch der
anderen Yerzweifelten an» — V. 171 The westeni wave was all
aflame, und Y. 173/174 Alnwst upon tke tvester^i tvavc I Rested
the broad hrujhi Sun ; nur beim Untergänge der Sonne (oder
beim Aufgange) war das folgende Phänomen möglich^ daher
Betonung des westlichen Horizontes. — V. 182 wie IBl und
154. — V. 197 Fve won, Vve u-on wie V. 161. ^ Das ent-
setzliche stumme Hinscheiden der Genossen ist mit Wieder-
holung von Y. 213 Toü quick for gman or sigh, in etwas
veränderter (jrtjstalt ia V. 217 (And I heard nor sit/h nor
f/roan) aus der Seele des Anc. Mar. geschildert. — V. 224,
22B, 228, 230, 345 7 fear thee, ancimt Mariner! und ent-
sprechende Yariationen führen uns deutlich und eindringlich
die Hei*zensangst des Hochzeitsgastes beim Anhören der
Geschichte, aber noch mehr beim Ansehen des Erzählers
vor; W, Taylor's Übersetzung von Biü'gers '^Lenore" lautet
in Strophe 39 --40 :
Tramp, tramp, acroäs the lanä they sptede;
Splash, sptaah, across the see:
'^Hurrahl the dead can ride apace;
Doat feare to ride with me?
The moon is hnght, and blue the night;
Dost quake the blast to htein?
Dost shudder, mapdt to seeke the dead?"
*No, nOj but whai of them?*
Ein Nachklingen dieser Coleridge bekannten Zeilen
wäre da nicht ausgeschlossen. — Y. 226 und 229 Ihy skinny
hand: der eiserne Griff der sehnigen, wetterbraimen Hand
ist dem Hochzeitsgaste besonders gi^auenhaft. — Y. 232/233
Alonc, alone, all, all ahne, / Ahne on a wide wide seaJ die
L The Anoient Mariner.
17
Anwendung weniger ganz seb licht er, aber stets wiederholter
Worte wirkt bei ihrer metrischen Mannigfaltigkeit besser
ab manche gesuchte Ausmalung der trostlosen Öde. —
V. 238 a thousatid thousand slhmj tlnvgs bloß zahlverstärkend;
die Sache selbst ist unter geänderten Verhältnissen aus
V, 125 wederholt. — V. 240 / lookcd upon (he roUinff sea,
Y, 242 / looked upon ihe rottintj deck, V* 244 / looked io
heavm, wo immer er hinblickt, überall Verzweiflung, des-
halb dami V. 248: / chscd nnj Uds. — V- 250 For ihe ski^
and ihe sect, and ihe sea and ihe sky die eintönige Umgebung
wird nicht abwechslungsreicher, welche Reihe man auch in
ihrer Betrachtung einschlägt. — V. 255 The look with which
tfietf Jöok^d rm nie j Had never passed awüif. der Blick ist
tot, sie können mm nicht mehr blicken, dennoch bleibt das
Besultat ihres letzten Blicken s noch immer. — V, 257, 260,
261 curse, dreimal wird vom Fluche gesprochen, aber jedes-
mal gesteigert. — V. 272 Beyond ihe shadow of (he ship imd
V. 277 WUhin ihe shadotv of ihe ship die Farbeneffekte
wechseln je nach der Beleuchtung, natürlich kann sie der
Änc. Mar. nur in gewisser Nähe beobachten, der Schiffk-
achauen gibt dies MaÜ an. — V. 285 und 287 And l hlessed
ihem uttawart. Als eine Tat-sache, die fiii' die Entwicklung
der Handliuig so bedeutsam ist, wird sie zweimal genannt. —
V. 315 und 316 To and fro, Bild raschester Bewegung. —
V. 320 one blnck cloud und V. 322 The thick hlack cioud
das zimi Mondschein scharf Kontrastierende ist zum Zwecke
der Anknüpfung des Folgenden nochmals angeführt. —
V. 330 The dead men gave a gman ist in V, 331 They groaned
anknüpfimgsweise wieder aufgenommen. — V. 354 Aromid,
aroundf flew eaeh sweet soundf wie V. 127, — V. 134 Frotn
ihe land of mist and snow: mit der Erwähnung des Geistes
in V. 378 und 403 folgt auch wieder dieselbe Formel für sein
ursprüngliches Revier. — \\ 386 und 388 WM a shori uneasy
nwtion — eine ungewöhnliche Art. der Änfangsbewegung
eines Schiffes, daher die besondere Betonimg. — V, 406 und
407 The other was a sofier voice, j As sofi as honey-dew : Wort-
stammwiederholung, — V. 406/409 The man haih penancc
dane, / And penance more trili do. die Buße ist das Haupt-
motiv des (ranzen, somit verdient sie auch die Hervorhebung
zweimaliger wörtlicher Anführung. — V, 410 Bui ieU me,
S lo hl er , Tho Asciont M urin er u, Chiitt, 2
L
18 Eiuleitimg.
ieU me! gewöhnliche Verdopplung neugieriger Frage. —
V, 420 See, brather see! wie V. 16L — V. 426 Fly, broiher,
ßy! more high, mare high! wie V. IGl, — V. 428 For slow and
slow (=s "immer langsamer")* — V. 432 *Ticas niglU, calm nigM,
ihe mooH was high, Wiederhohmg aus metrischem Grimde
zur Herstellung der Assonanz. — V. 433 The dead rneti siood
togeiher. wird zur neuerlichen Ausmalung der gi'äßlichen
Gesellschaft als Anfangszeile der folgenden Strophe, Y. 434,
aufgenommen : AU stood taget her on ihe decL — V. 448 und
449 And haviug once tumed round walks on, j And turns no
more his head. Die ausfiihrliehei^ Sprache des Vergleiches
würde auch in anderer poetischer Umgebung diese Wieder-
holung rechtfertigen. — V» 460 Steiftlg, swißig und V. 462
Sweetlg, swteUg: die freudige Erregung des Matrosen malt
sich in diesen unwillkürlichen Verdopplungen, — V* 488
Each corse lag flai, lifeless and flai : es wird betont, daß sie
nicht mehi' dastanden (vgl. V. 433/434), was ja den Anc,
Mar» SU entsetzt hatte. — V. 492 Thts seraph-band^ euch
waved his hand: ist als wunderbare Erscheinung auch als
Anfang der folgenden Strophe, V. 496^ wiederholt. —
V, 497/498 No wice did titeg impari — / No voice: bui oh!
the sitence sank,... einen Fluch aus dem Munde dieser
Engelsgestalten zu hören, wäre das Schrecklichste gewesen,
daher ist das Schweigen zweimal negativ und einmal positiv
genannt. — V, 500/501/506 / heard etc. steht als das
Vernehmen menschlicher Tone im grellsten Gegensatze
hiezu und verdient deshalb auch mehrmalige besondere
Anführung. — V. 530 How thin ihey are and sere! greift
V. 312 auf, indem mit großer Berechtigung auch dieses
Zeichen luierhörter Mühsalen wieder in derselben Form vom
Dichter erwähnt wird. — V, 540 "Fush an, ptish on!'* wie
V. 161- — V- 542 The hoat canu closer to the ship, kehrt
verstärkt in V. B44 wieder: The hoat tarne dose beneath ihe
ship* — V. 557 The hoat spun round and round: wie V. 127. —
V. 674 0 shrieve mCf skrieve mc, holg man! wie V. 161. —
V* 579 With a woful agong, ist als dauernder Fluch jenes
Abenteuers, der ihn auch jetzt wieder gebannt hat. in
V. 583 Thai agmig retums: aufgegriffen, — V, 598 Alone on
a Wide wide sea: = V. 233. -- V. GOl/602 0 sweettr ihan the
marria4j€'feast, / *T is sweeter far io me, einfach rhetorische
1. The Ancient Mariner. 19
Wiederholung. — V. 603 To walk together to the kirk nur
der fromme Kirchgang zum Gebete zieht den Anc. Mar.
an, nicht Festlichkeiten, daher wiederholt er den Ausdruck
wörtlich in V. 605 und erläutert ihn. — V. 610 Farewell,
farewdl! wie V. 161. — V. 612/614/616/617 He prayeth well,
who loveth well und sonst loveth betont die Tierliebe als
höchste Tugend vielleicht in etwas zu hohem Grade. —
Durch Bürgers Einfluß mag derjenige der englischen Balladen
in dieser Hinsicht in Col. wachgerufen worden sein; das
Neubeleben längst vorübergegangener Bilder paßt so recht
in das Übernatürliche der Erzählung hinein. Diese "ab-
sichtliche, gepreßte Eintönigkeit", wie sie Brandl schon für
''Lewti" nachgewiesen hat (S. 202), muß hier, zur Meister-
schaft entwickelt, bei kunstgemäßem Vortrage den Zuhörer
in den magischen Kreis hineinziehen.
Die Technik ist, wie schon bemerkt, sprunghaft:
durch die glückliche Einkleidung des Ganzen in einen
großen Monolog werden wir in medias res gefuhrt; die
zuhörende Person dabei wahrt den dramatischen Charakter
der Szene, greift aber natürlich nicht in die Entwicklung
ein. Die Einteilung in 7 Abschnitte ist bis zum 5. mit Bedacht
an Stellen getroffen, die einen abgerissenen, spannenden
Schluß bilden; der Übergang vom 5. zum 6. ist dagegen
sehr leicht. Der 6. Teil schließt mit der Hoffiiung auf die
Beichte gut ab, während im 7. das Rettungswerk an Leib
und Seele des Anc. Mar. beginnt.
2*
2. ChristabeL
Entstehvmg und Aufnahme.
Üter das Werden des Märchens sind wir nur unsicher
'"bezüglich näherer Umstände luiterrichtet. CoL schreibt in
der Preface zur ersten Ausgabe: " The ßrst jHirt of the joUowing
poeni was writim in tJie year one thousand seven hundred and
fiinety-sei^mf ai Stöt4^et/, in the country of Sanier sei. The secand
pari, aßcr nitf retum from Germany, in Ote year one thousand
elght hundred, ai Kcswick, Cumberland.*' Arn 18. Februar 1798
gab er dem Verleger Cottle Nachiicht von der Fertigstelhmg
einer 340 Verse iimfassenden Ballade, was Brandl auf Christ,
bezieht ( natürlich Part I -\- Conclusion in Pt. L = 331 Verse).
Das Werk soUte in einem zweiten Bande der Lyr, BalL er-
scheinen^ aber Wo. mußte dem Drucker nach einem Versuche,
CoL zur Beendigung des Gedichtes zu bewegen, am 10. Ok-
tober 1800 endgültig mitteilen^ daß Christ, nicht mitgedruckt
werde ^). (Ausführliche Korrespondenz Ca. pp. 601 — ^602.)
Merkwürdigerweise besitzen wir aber vom 9. Oktober, also
einen Tag vor dem Datum des letzten Briefes Wo.^s an die
Druckerei, eine Nachricht Col.'s (abgedr. in Fragmentary
Remarks of Sir ffmry Davy, p. S2), wo er berichtet, Christ
sei auf 1300 Verse angewachsen. Er spricht davon, daß
Wo. aus verschiedenen Gründen Christ, nicht in den Lyr*
Ball, erscheioeo lassen wolle, daß aber geplant sei, Christ.
und Wo. 's Gedicht *'The Pedlar" gesondert in einem Bande
zu veröffentlichen. — Fünf Tage später schreibt Col. an
Poole, daß ihn die Vollendung von Christ, fiir den zweiten
Band der Lyr. Bali, sein- beschäftigt habe, das Werk sei
auf 1400 Verse angeschwollen, — Am 1. November 1800
schreibt er dann an Josiah Wedgwood (Cottle, Rem., 439),
daß er unmittelbar nach seiner Ankunft im Seedistrikte die
Geschichte von Christ,, for den zweiten Band der Lyr. BalL
*) Vgl. Miss Wo., Grasmere Journah, Od, €, 1800: ''Detemiined not
io pnni Christ, icith L, B.'
Einleitung. 2. ChristAbel.
21
^V SU beenden unternommen habe ! Er habe versucht, geiu
I Versprechen (!) zu halten, aber die mißmutige Stimmung,
^H die der "verfluchte Wallenstein" in ihm zurückgelassen*
^^f scheine ihn mit Unfruchtbarkeit geschlagen zu haben. Alle
landschaftlichen Reize hätten ihn nicht zur Produktion
begeistern können, bis er eines Tages bei einem Geistlichen
zu Tische geladen wurde und so gewaltig zechte, daß er
Not hatte, *'io halance mtjsdf on the hitlier edge of sobrkty'*.
Und siehe da, am andern Tage konnte er wieder dichten!
Das Werk wurde gefordert und erreichte nach Wo.'s Meinung
einen solchen Umfang und so große dichterische Kraft, daß
dieser davon Abstand genommen habe, es in dem zweiten
Bande der Xyr. BalL |denn der ist doch wohl gemeint] zu
drucken, weil es zu umfangreich und andererseits zu ver-
schieden im Charakter von den anderen eigenen Ge-
dichten sei,
Nicht genug also, daß Col. das Gedicht bis zu 1400 Versen
gebracht haben will, dichtet er noch weiter daran! Jetzt
Tunfaßt dagegen der gedruckte Text bloß 677 Verse und
auch keine Handschrift bietet mehr. Hier müssen Vermutungen
aushelfen. Wii* dürfen annehmen (s. u, S. 28/29), daß Col.
sich über die Anlage des Werkes vollkommen klai- war; sollte
er sich da nicht einen Entwurf in rasch skizzierten Versen
gemacht haben (denn nur ein schrit\lich aulgezeichnetes
Oedicht kann man nach Versen zählen i, den er aber aus
irgend welchen Gründen für unpassend hielt und selbst den
Freunden gegenüber unterdrückte? Wo.*s nüchternes Wesen
hatte ihn schon von der Vollendung se\u&v *'Wanderuigs of
Cain' zurückgehalten, eine leise Verstimmung mußte zwischen
den beiden seit der ersten Ausgabe der Lyr, BalL über diesen
Punkt heri-schen, die auf Seite Wo/s diesmal durch das
ewige Hinausziehen Col/s noch genährt wui*de. Da kann
man unter den gegebenen Umständen doch wohl nur diese
eine Hypothese aufstellen, daß nämlich Coh nur Fertiges
und nach eigenstem Ermessen Gutes liefern wollte und ohne
Vorwissen des Freundes, nach Vernichtung der oben an-
gedeuteten Versuche /das wären also die 1300 oder HOOVerse),
heimlich noch foitzuarbeiten suchte, ohne fi^eilich sem Ziel
zu erreichen. Anders ist über diese Schwierigkeiten kaum
hinwegzukommen.
Einleitimg.
Den Plan, die Ballade zu beenden, gab CoL nicht auf,
obwohl ihn »ein jetzt in höchster Blüte stehender Opiimi-
gennß an poetischer Ausarbeitung jeder Art fast ganz
hinderte. Jänner 1801 schreibt er an Cottle, er hoffe
Christ bald zu beenden, wenn er nur erst eine pflichtmäßige
Arbeit, die ungenannt bleibt, beendet habe ; März desselben
Jahres, voll froher Hoflfiiung abermals: es soll nächstens
fertig sein und mit zwei Abhandlungen über das **Uber-
natürliche" und über **Metrik'' sofort gedruckt werden.
Er sahnt sich danach» e^ gedruckt zu sehen. (Man kann
sich eines tiefen Mitleids mit dem kranken Manne nicht
erwehi'en, wenn man diese Sehnsucht sieht, etwas zu leisten,
und bedenkt, daU sein körperliches Leiden, der Rheuma-
tismus, ihn zu dem unseligen Opium als Betäubungsmittel
greifen Heß, das ihn jetzt so unfähig zu dichterischem
Schaffen machte, da die reizbare Wirkung während des
Traumes nun einer allgemeinen Erschlaffimg gewichen war.)
Das bereits Abgeschlossene jedoch trug der Dichter mit
seinem großartigen Pathos den Freunden bereitwillig
vorJ) Damals düi*fte auch Stoddard nach Ca/s Annahme
eine Abschiift von der Ballade erhalten haben, die er dann
Walter Scott vortrug, 1801 hofft. Col. in Briefen an Poole
und Davy, zxir Bezahlung von Schulden ChHsL in Druck
legen zu können* Am 1. Mai 1808 schreibt dann wieder
Davy an Poole, daß CoL, als er von einem Besuche bei
Jos. Wedgwood in Gxmville über London nach Hause zurück-
kehrte, in der Hauptstadt das unvollendete Gedicht wieder
vorgelesen habe, wie er (DavyJ es schon gehört habe, mit
der traurigen Anmerkung: '*fns will is probabfy less ihan cver
aimmmsurcUe wHh his ahUity*'. fBrandl vermutet, daß Scott
damals erst das Märchen kennen gelernt habe, es düi*lte
aber bei Ca/s Annalime verbleiben, daß Scott durch Stoddard
schon irüher damit bekannt wurde.) Mss, des Gedichtet
zii'kulierten allenthalben unter den bekannten Literaten.
Jeffi'ey, Herausgeber der EtUnburgh Retnew, besuchte Col.
im Sommer 1810 und der Dichter las ihm das Fragment
^) Oftwnere Jaumalg, Aufi, 31, 1800: "CoL reading a part of
Chris C — Ihid, Od. 4 : ''Extremehj deltghUd with second Part of Chris t"
— ibid. Oct. 5; "Col, read. Christ, a second time; ice had increading
phaaure:' — rbid, OcLH2: "CoL reading Christ'
vor. Im Jahre 1811, als Col. seinen ersten Vorlesungs-
zyklus in London abhielt, hörten Rogers und B;yTon diese
epochemachenden Vorträge; um diese Zeit hörte Byron
auch Christ, vom Dichter rezitiert» Infolge seiner Empfehlung
übe ni ahm MiUTay mm auch den Druck von *^ Christ,, Kuhht
Khfw and The Pains of Sleep'\ 1816» drei Fragmente, eine
charakteristische Publikation für den fragmentarischen
Dichter I In der Einleitung verspricht Col zuversichtlich,
noch drei Teile im Laufe dieses Jahres zu veröffentlichen.
Er gibt in dieser Preface sonst noch die Daten des Ent-
stehens der Ballade an, beklagt, daß er seit 1800 nicht mehr
dichterisch schaffen könne, was sich allerdings in letzterer
Zeit wieder gebessert habe. Er gibt sich gar keiner großen
Hoönimgen bezüglich der Auinahm© des Gedichtes hin, das
damals (1800) wohl viel mehr gewirkt hätte, aber das sei
nur seine eigene Schuld. Dann verwahrt, er sich ernstUch
gegen den Vonvurf des Plagiats, wie ihn gewisse Kritiker
gam zu erheben pflegen; gesteht aber bereitwillig Be-
einflussung in Ton und Geist der Dichtung zxi. Er schlieft
mit einer Charakteristik seines Metnuns (s. den betreffenden
Abschnitt). In der Gesamtausgabe von 1828 ändeite CoL
in dieser Preface das gegebene Versprechen ab: *'/ imst
I shall tftt be ahle to tmhodfj in verse the three parts yet to
com(*y 1834 strichen die Freunde diesen Passus ganz.
Um den Aufbau des Märchenfragmentes voll zu würdigen,
ist es zunächst nötig, die uns nach eigenen Mitteilungen des
Dichters in Gillmans ''Life of Coi:\ pp. HOl — ^^/.7 auf-
bewahrte Prosafortsetzung kennen zu lernen {wiederabgedr.
Ca. p. 604):
**Der Barde eilt» seinem Auftrage gemÄß, mit seinem Pagen über
die B^ge; eine tmgeUeuere Überschwemmung, wie sie häufig in diesen
Strichen vorkomtneu »ollen, hat das Schloß des angeblichen Vaters
Oeraldinens vollkommen von der Erde weggefegt, weshalb der Barde
nrnznlcehren beschlielit. Geraldine, die mit allen Ereignissen bekannt
iät, wie die Hexen in Maxiheih, verschwindet. Daim aber tancht sie
wieder aul* und schürt in Sir Leoline durch Zaiiberküns^te Groll und
Eifersucht (wie wir ja schon einen Ausbruch dieser Leidenschaften
1m!j ihm Ijeobachten konnteu). AI» aber nun der Barde wu^klich anlangt.
Uiuli Geraldine verschwindeu, jedoch der Diimon, der diese Gestalt
angenommen hat, wechselt nun sein Kleid; er erscheint als der ab-
wesend gedachte Liebhaber Christabels. Diese fühlt sich in der
G606ilSGhaft des sonst so geliebten MonneH jetzt merkwürdig be-
EinleituDg.
klommen. Ihre ktihle Haltung ist ihrem Vater sehr peiDlichi da er
natürlich ebensowenig wie seine Tochter von der dämonischen Um-
wandlung etwas ahnt. Christabel gibt dann endlich den Drohungen
ihres V^aters nach und willigt ein, mit dem verhauten Bewerber vor
den Altar zu treten. Im Aitgenblicke der Trauung jedoch erscheint
der wirkliche Bräutigam, der durch Vorweisen des Verlob iingsrtnges
als echt erkannt wird> Der Dämon entzieht sich nun dieser Entdeckung
und Niederlage durch schleunige Flucht. Wie im ersten Teile erwähnt
worden ist, tönt nun die Burgglocke, die Stimme der verstorbenen
Mutter wird vernommen und die Ehe whd in richtiger Weise geschlossen-
Eine Autkläi'xing zwischen Vat-er und Tochter und nattlrlich vollkommene
Versöhnung beschließt dann das Ganze/'
Dieser Entwurf liir zw^ei (niclit drei) weitere Teile fügt
sich völlig passend an den erhaltenen Torso an, so daß bei
der Betrachtimg der Leitmotive Greplantes und Vorhandenes
zusammengefaßt werden kann.
Die literarische Hanptquelle ist Speiisers **Faery Queen",
ChrisL ist das Abbild der üna, der Bepräsentantin des
wahren Glaubens, der Paradieses-Erbin. Der Red Cross Knighi
läßt sie, vom bösen Geiste verführt, im Walde schlafend
allein und nun sucht sie kummei'vollen Herzens ihren
Geliebten, Geraldinv, das dämonische Wesen, entspricht
genau der Dmssa Speusers, die unter dem falschen Namen
tHdessa als einzige Tochter eines mächtigen Kitters an den
GelieT>ten der Üna herantritt und seine Liebe zu gewinnen
sucht. Sie ist bei Spenser die Repräsentantin des katholischen
Unglaubens, äußerlich schön, aber unten eine scheußliche
Mißbildung (I, 240: I channst to see her in her proper hew j
Ä ßUhj foul old woman did I view u. ä.). Auch sie tritt im
Walde aufj heiTÜch gekleidet und reich mit Edelsteinen und
anderem Schmucke geziert,. Es ist die Gestalt der in allen
mittelalterlichen Literaturen bekannten *"Pi'Oteus-Elfin'y) das
vom oder oben prangende, aber hinten oder unten scheußlich
mißgebildete Weib. Der Kampf zwischen dieser Teufelin tind
der wehrlosen Unsehidd ist — allerdings ohne Allegorie —
(nach Brandl) das Hauptthema des Märchens; die kleine
Verschiebung in Christ,, daß der Vater zunächst das Streit-
objekt der beiden bildet, schreibt Brandl dem EinHusse
der Hallade '*The Marriage oj Sir Gawayn" (Percy^ Mel, III J
zu, wo auch eine Unholdin im Walde die Heldin
.
1) Vgh E. Schmidt, Goüthe-Jb., HI, 120 f.
2. ClmstabeK
2&
und dann deren alten Vater zum Geliebten zu gewinnen
sucht. In der Fortsetzung des Märchens hätte Col. dann
das urspningliche Motiv wieder aufgenommen (wie Archi-
mago bei Spenser m der Gestalt des Geliebten die Heldin
peinigt, hätte dann ja auch hier der Dämon als Christ/s
Bräutigam auftreten sollen). Ein christliches Märt.jrermotiv
aus Chrashaw, ''Hijmn ia Si, Theresa*', soll Anstoß zur Idee
des ganzen Gedichtes gegeben haben; doch vgl. hiezu Ca.
p. 606 b, und hier zu V, 332.
Die Natnrschilderung zu Beginn, welche uns in romanti-
sche Stimmung versetzt: Mitternacht — Eulenkrächzen —
Krähen des erwachenden Hahnes — Heulen des Hundes —
halbdunkle Nacht mit tmbem Mondschein imd der erwachende
Lenz ~ stammen nach Brandl aus Wo/s ^'Descripiive Skeiches'^
Ich möchte aber auf die nicht allzu gi'oße Ahnliclikeit von
V. 186 — 195 dieses Gedichtes weniger Gewicht legen als auf
andere literarische Vorbilder. Die schauerliche Turmszen«^
von Schillers '*Iiäubern*' mag nachgewirkt haben, deren
Lokale ja auch zu dem hier geschilderten stimmt J) — Das
folgende Motiv ist, wie erwähnt^ in genauester Entsprechung
aus **Faert/ Queen'\ L, 3^ 3 — 5 herübergenornmen, nur dali
Geraldine, wie die Heldin der von Brandl angezogenen
Skizzen Wo/s, sich schon müde imd verlassen im Walde
aufiiält^ nicht erst wie die Duessa iSpensers in pomphafter
Begleitung ankommt. Zum Eingang vergleicht Brandl auch
noch '*Midsufntncnufjht's Ih'cum*\ wobei er jedenfalls die
SchhiiJverse : *'Nor the Inmgry lion roars etc.'' im Auge hat.
Diese Übereinstinnnimg ist auch ziemlich klar; nur ver--
stehe ich nicht, was Brandl meiut^ wenn er sagt: *'CoL
ließ das eine Tier den Mond anbellen, das an-
dere an ein Leichentuch denken.'' Es ist doch
hier nur von einem einzigen Hund die Hede, der der Turm-
uhr nachbellt, und dafür wird als Grund angegeben: "einige
sagen» er sieht der Dame Leichentuch'*. Es folgt, sodann
die Auflindung Geraldtnens, die im schönsten Schmucke
und Unschuld weißen Kleide auftritt, bescheiden flehend
i) YgL Col.'s Anni. zum Sonette **To the Author of the Robber»"
fPoeim, 1796), wo er den schauerlichen Eindruck »childert, den dieses
Drama bei der erst-en Lektüre in yeiiier Studentenzeit tum Mitternacht I)
ihn machte.
EinleitnDg.
(F, Q,, 7, 5, 2t) und ihre Geschichte erzählend : die fingierte
Entfiihmngsgesehichte mit dem rasenden Ritt durch den
nächtlichen Wald und der Ohnmacht am Schlüsse erinnert
ganz augenfällig au Lenorens Todesritt. Die Begegnung
mit dem Leichenzuge in Bürgers Ciedicht ist, wie Brandl
annimmt, durch den Zug **and Ofwe we crossed ihc shade of
night*" ersetzt; mir scheint jedoch eine andere Parallele ein-
leuchtender, nämlich aus Col.'s erster Ballade '^Tke Rav€fi^>
Da heißt es V. 42 [''Bitjht tjlad was (he Raven, and off he
tvmt ßeetj Attd Death riding harne m a elöud he dkl meet'\
Ich meine, the shade of night ist doch leichter mit einem
Todesengel als mit einem Leichenzuge zu verwechseln. —
Für die Szene des Eintretens und Wand eins im Schlosse
sind aus inneren und äußeren Ähnlichkeiten Einflüsse durch
Mrs, Radcliffes ''Itomancs of the Forest" (mit Brandl) anzu-
nehmen: die äußere Lage, die Beschreibung des Tores;
dann die Bewohner : ein mümscher Alter und ein schönes,
.sanftes Töchterlein, das früh die teure Mutter verloren hat*
— Auf altem Aberglauben beruht der Zug, daß die Teu-
felin sich über die Schwelle tragen läßt: übei*schritte sie
diese, so wäre ihre Krall nicht mächtig; auch ein Motiv
des Aberglaubens ist es, wenn Geraldine den Namen der
heiligen Jungfrau nicht aussprechen kann: die Geister der
Hölle scheuen sich, die göttlichen Wesen auch nur zu
nennen ! Auf der bereits einmal zitierten Ballade von Lewis
"'Alonzo the Bmve and Fair Iwof/efi" soll das Aufflackeni
der Kaminflamme und das Anschlagen des Hundes beim
Vorübergehen der Hexe beruhen; die Züge können wohl
auch direkt aus volkstümlicher Überliefenmg stammen. —
Das leise Äutlreten im Schlosse wird sehr glücklich motiviei-t
durch die Kränklichkeit des Barons: dieser Zug findet sich
m Mrs. BadcUtfes '*The Mpsleries of Udolpho" (1794) und
ist sicherlich daraus von Col. entlehnt. Er gibt ihm auch
eine weitere Motivierung an die Hand: niimUch die der
Entdeckung der schändlichen Gestalt Geraldinens, Sie muß,
da alles Geräusch vermieden wird, in dieser ersten Nacht
bei Christ, schlafen und beim Auskleiden erfolgt dann diese
Entdeckung (bei Spenser durch ein Bad). Auch die Er-
regung der Spannung, worin der entsetzliche Anblick
eigentlich bestanden hat, ist in dem erwähnten Eadcliffe-
;
2. Christabel.
27
■
Werke mit großer Wirkung angewendet : die Heldin
findet da in einem entlegenen Zimmer ein verhülltes
Gemälde: als sie den Schleier lüftet sinkt sie in Ohnmacht;
erst gegen Ende hören wir^ dail es das Wachsbild einer
haibverianlten Leiche war (Brandl). Sicher hat CoL hier
abgelernt; im Fragmente erftihren wir ja nichts über die
Art des Anblickes^ er soll uns erst am Schlüsse verraten
werden (vgl. aber Lesarten, 248 iE). — Im Augenblicke, wo
Geraldine ihren Zauber raunt und Christabel (a, Concluslon)
in eine Art StaiTkrampf verfällt, bricht der erste Teil mit
gut berechneter Pointe ab. Der ''Schluß-- läßt die Motive
noch einmal kur^ erklingen. ~ Zu dieser kurzen Dai'-
stellung, die sich im wesentÜchen an Brandls vorzüghehe
Analyse anschließt, trage ich noch einen von ihm nicht
enn'ähnten Zug nach. Als die tote Mutter als Schutzgeist
in der Kemenate erscheint, erblickt ihn nur Geraldine. Da
muß entweder an eine höhere ünterscheidun^sgabe des
Geisterwesens oder an lit. Einfluß der Hamletszene gedacht
werden, wo auch Hamlet allein den Geist des Vaters, den
er im Gespräch mit der Mutter unabsichtlich zitiert hat,
erschaut j oder an Bau^^uos Geist beim Festmahle. Letztere
Ani'egung ist bei den maDnigfachen Anklängen an Macbeth
sehr naheliegend.
Der zweite Teil weist starke Stilunterschiede vom
ersten aiii*. Das Scliloß liegt jetzt ganz bestimmt lokalisiert:
im Seedistrikte (vgl. Komm, zu 344 n, a.). CoL war aus
dem Märchenhaften etwas hemusgetreten. Doch sind noch
etliche magische Züge hinzugekommen: die ßezauberung
des Vaters durch Geraldinens berückende Augen, die
Christabel als Schlangenaugen erscheinen. Ähnliche Augen
schildert CoL in Kuhla Khan (V. 49) bei dem Propheten,
und zwingend, allerdings nicht zu bösem Werke, ist ja
auch des **alten Matrosen'' Blick. Ein retaniierendes Moment
in der Erzählung, schwächer in der Wirkung, ist die
Wiederholung des im ersten Teile bereite ausgeführten
Gedankens : Christabel in den Krallen einer heuchlerischen
Hexe, wie wir ihn jetzt als Traum des plötzlich unvermutet
auftretenden Barden hören, — an sich allerdings ein schönes
Bild. Die schönen Verse auf die Freundschaft beruhen wohl
ÄTif dem gestörten Verhältnis CoL's zu Southey. Allgemein
Emleitnug.
menschliche Töne werden angeschlageu, philosophiache
Abhandlungen drängen sich in der Coucludiou to Pari Ute
Secofid ein : die Märchenstiiomiing schwindet schon stellen-
weise, und mit Brand! dürfen wir wold sagen, "es ist ein
Glück, daß Christ, ein Fragment geblieben'^ denn die
Fortsetzung wäre wohl noch mehr ins Philosophisch-
nücht'eme hineingeraten. Vielleicht hätte es damit ja zur
Zeit des Erscheinens einen großen Erfolg erzielt, denn die
Kritik tat sehr ^'aufgekläit'^ als 181G das von denen, die
es vorgelesen gehört hatten, so hoch gepriesene Märchen
endlich erschien. Die Monthly Ret^ietc und Edinhargk Bevieic
(Th. Moore!) machten es in den schärfsten Ausdi"ücken
herunter und die Quarierly JRemew weigerte sich zuerst
überhaupt, es zu besprechen. Die Bewunderung Lambs und
anderer Freunde konnte Col. für diese Gehässigkeiten und
die kühle Haltung Scotts nicht entschädigen (vgl. Brandl,
S. 385 ff). Für den Augenblick bedeutete die schlechte
Aufiiahme auch einen materieEen Mißerfolg für Col., indem
Mmray, obwohl die Ballade noch im selben Jahre ein
zweites Mal aufgelegt werden konnte, sich von Col, zurück*
zog, und dieser hätte gerade jetzt notwendig einen Ver-
leger für seine philosophischen Schriften gebraucht.
Immer wieder versuchte CoL übrigens, Christ, zu beenden;
noch Jänner 1821, als schon eijie Fortsetzung von anderer
Hand 1819 in Blackwood' s Magazine erschienen war, schreibt H
er an Allsop: *'I trould fainfinish Christahel.*' Im Gegensatze "
zu des Dichters eigener Prosafortsetzung, wie sie uns Gill-
man überb'efert, äußerte sich Wo. gegenüber dem Neffen
Justii:e Coleridge im Jahre 1836, daß Col. überhaupt keinen
bestimmten Plan vor Augen gehabt habe, wenn er selber
auch davon gesprochen habe; denn das sei bei ihm ge-
wöhnlich so gewesen : es fuhr ihm ein Gedanke zur Aus-
führung eines Werkes durch den Sinn, und zwar mit solcher
Lebhaftigkeit imd doch auch mit Nachhaltigkeit, daß er
dann glaubte, es sei wirklich schon ausgeführt, wm in der
Tat vielleicht erst den Keim zu einer Arbeit in sich barg. —
Wo» tut seinem kranken Freunde hier entschieden unrecht;
hätte auch er selbst uns nicht wiederholt, noch im Table
Talk 1833, versichert, daß er einen klaren Gang der Er-
zählung vor Augen hatte und nur aus Mangel dichterischer
2. ChristabeL
S»
SoWHWBfreucie die Atisarbeitung unterließ, so kann doch
Gillmans Bericht nicht aus der Luft gegriffen sein.
Abschließend kami mau über die Ballade ebenso wie
über den Afic. 3far. nur dann urteilen, wenn man sich
nüchterner Verständlichkeit begibt: denn sonst kann man
das mitteraächtliche Beten des einsamen schönen Burg-
frauleins im Walde nicht begi*eifen; das Auftauchen des
Barden erscheint dann ganz unmotiviert; nicht zu reden
von den vielen Einzelzügen, in denen die Unwahrscheinlich-
keit im gewöhnlichen Sinne auf der Hand Hegt. Wir müssen
uns hier eben unmittelbar auf den Boden des Märchens
len» das uns hier, glückhcherweise nicht mit langw^eiliger
aral verbrämt, in eigenster Gestalt entgegentritt. Bunt
und huschend ziehen die luftigen, bald rührend schönen,
bald traurig-schreckenden Bilder vor unserem Auge vorüber:
die Handlung besteht überhaupt nur aus ganz locker an-
einandergereihten Szenen, die den Kampf zwischen Gleißnerei
und Reinheit aufs beste illustrieren; selbst im zweiten Teile
ist die Verfiihrimgsszene mit größter psyc;hologischer Kunst
und Axifbietiing aller märchenhaften Elemente ausgearbeitet,
ein bewundernsw^ertes Werk, denn, wie schon der Rezensent
der Quarierly Remew, No. Cm, p. 29 bemerkt: "TAe thing
aiiempted in Chnstahel is ihe most dlfficulf of exectition in ihe
^ whoU ficld 0/ romanee — witcherij fnj datflifjht — and ihe sncc^ss
' eompleie." Das Dämonische zieht eben, wenn es der Dichter
versteht, uns in seinen Kreis mitten hineinzustellen, immer
an ; und in höchster Naivität, dem Kennzeichen des wahren
Genies, ist es Col. gelungen, ims hier mit Zauberfäden zu
stricken, die wie die Hexe Geraldine mit i}u*en schönen
Jen uns süß fesseln und die sich, wäre dieses Werk wie
der Anc, Mar. in einem Gusse fertiggestellt worden, am
Schlosse in schöner Entwicklung zu lustigen Sommerfäden
autgelöst hätten, die in einem leichten Nebel von den
schönen Gestalten wegflatternd uns endlich den reinen
iblick der schönen Christabel in verdientem Glücke
tattet hätten — mit dem alten Märchenende: "Und
wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie heute noch, so
glücklich wie an dem Tage, wo das geschah.'*
ELnleitung.
Hetrum» Sprache und Stil,
Das Fragment ist in i>77 Versen 1816 erschienen; die
drei Mss. enthalten jedoch nur 655 Vei^e, da hier The Cou-
clusion to PL the See, fehlt, die, wie Ca, vermutet und ich
auch fitir sehr wahrscheinlich halte (vgl, Lesarten zu 656 ff.}^
m'spninglich nicht zw dem Gedichte gehörte.
Das Ve rsm aß ist eine Mischung des freier gebauten vier-
taktigen altenglischen Verses und des vierhebigen jambisch-
anapästischen Langverses der neuenglischen Dichter, ein
Metrum, in welchem CoL auch **Fire, Faminc and Slanghtcr'
1797 und noch li'üher 1794 "ifi^^h" geschrieben hatte. Schon
aus diesem Ginmde ist es unrichtig, wenn CoL in der Preface zur
Ausgabe von 1816 behauptete, daß das unregelmäßige Metnmi
'*i$ founded (m a new principlt: vaimhj, tkat of eotiniing in
eaeh line ihe accenis, not tke spUables"* Brandl (S. 222) und
Schipper (Metrik^ IT, 24ö ftV) weisen hier den Einfluß der
lyrischen Pai-tieu in Shaksperes und Miltons Stücken nach.
Schipper gibt am angegebenen Ort,e eine ausführliche Dfiu:-
Stellung des Metrums in diesem Gedichte, der ich mich im
folgenden grundsätzlich anschließe.
Im Gegensatze zum Änc^ Mar, hat Col. hier die Strophen-
form aufgegeben und freie Abschnitte verwendet. Das
Prinzip des Baues der einzelnen Verse hat er in der
Prefaee klar ausgesprochen; nach der oben zitierten Stelle
fiihi't er fort: **Though the lauer [sc. S3"llables] nmy vary
from seven to (wehe, yei in each line the accents mll be found
to be only four, Nevertheless this occasional Variation in number
of syllables i$ not introduced wanionJy^ or for the mere ends
of convetiimce, but in cortTSj^Ofidence unth some transition, in
the nature of the imagery or passimiJ" So finden wir denn
bald regelmäßige vier taktige Jamben, im ganzen (mit
Einschluß von 21 durch Verschleifung u, ä. nicht ganz
sicheren Fällen) 462 Verse, also noch immer die weit über-
wiegende Mehrheit; bald vierheb ige Verse, im ganzen
(mit 3 wieder etwas schwankenden Fällen) 93 Verse. Der
Zahl nach folgen dann 38 vi er taktige Verse ohne
Auftakt, 33 viertaktige mit Takt um Stellung im
ersten Fuße, 14 vierhebige ohne Auftakt, je 5 drei-
taktige, zweitaktige und zweihebige und 1 vier-
I
I
I
2. Chrlstabel
Sl
t a k t i g e r Vers o h n e S e n k u n g. In den Absätzen herrscht
im allgemeinen der gepaarte Beim, obwohl \4ele Aus-
nahmen davon gemacht werden. Oft sind die Absätze in
kunstvoll verschlungenen, also sehr klangvollen Reimen
abgefaßt; derselbe Reim kehrt oft drei- und viermal
wieder, Avas die Bindung noch inniger gestaltet (dreifacher
Reim: V. 1/2/4. — 119/121/122. — 149/152/153. — 179/181/
183. — 210/212/213. — 228/230/232. — 273/276/278. — 374/
377/378. — 401/402/404, — 423/425/426. — 464/465/467. —
41I3/490/496. — 584/586/588. -- Vierfacher Reim:
V. 37/39/41/42. — 83/84/87/88. — 227/231/233/234, ~
340/341/342/345. — 613/Ö14/517/B18. — 621/622/624/627:
ja sogar ein sechsfacher Reim: V. 505/506/508/509/
511/512). Als Weiterbildung des Reimpaares finden sich mehi'-
fach Dreireime (V, 20 E, 66 ff., 166 ff., 257 ff., 260 ff., 340 ff.,
472 ff-, 498 ff., 525 ff., 590 ff., 629 ff.) und Vierreime (V. 62 ff.,
366 ff- 547 ff.), am Beginne und Schlüsse von Absätzen und
an besonders bedeutsamen Stellen (vgl. vornehmlich die
zwei aufeinanderfolgenden Dreireime in V. 257—262). —
Verse ohne Endreim zähle ich im ganzen 12, doch sind
davon 7 mit Binnenreim versehen (V. 171, 277, 317,
339, 528, 561, 670), der anch dreimal neben dem Endreim
(V. 202, 583, 664) vorkommt. Ein paarmal sind die geraden
Hebungen durch Assonanz gebunden (also auch eine Art
Binnenreim) iV. 12, 31, 221, 423, 469, 495, 567, 691, 622).
Der Charakter der Heime ist im allgemeinen ebenfalls rein,
die unreinen sind größtenteils ''aUowabk" (V. 18 ; 19, 60 : 61 !
94:96:97! 98:100! 135:136 = 143:144, 175:176,202:203,
271 : 274, 272 : 275 ! 314: 315 ! 327 : 328, 491 : 492, 493:495 : 496,
519:521! 547:548:549:550! 697:698, 666:667!), Was
oben (S. 10 u.) für den Anc. Mar, über die unbetonten
Pronomina und Ableitungssilben im Reime gesagt
wnrde, gilt in geringerem Maße auch von Christ., mit Ein-
t^chränkung auf den ersten Teil (V. 36, 67, 102, 204. 210,
236 etc. she. — V- 89, 194, 196 etc. tm, — V. 217 you. —
V- 233 /. — V. 74, 142 weariness. — V. 108 chimlry. —
V. 178 turioHsly. — V. 238 hvdiness. — etc.).
Klingende Reime sind nur an 15 sicheren und 3 un-
sicheren Stellen anzutreffen (V. [10:11], 156:167, tli>2:193J,
269 : 270, 271 : 274, 272 : 275, 302 : 304, 354 : 365, 356 : 357,
Einleitung,
417:419, 420:421, 422:424, 477:478, 620:522, [555:6661,]
626:628, 606:667, 670:672). Hiezu wären noch die weib-j
Hellen, aber imgereimteii Endungen shadoics : niüonl(ffht\
(V. 282 : 284) zu zählen. Hier wie im Anc, Mar, werden durch!
Wiederholung ganzer Sätze rührende Keime (bei Gleich-
heit des Sinnes) gebildet (V. 14:15 darh, 506:609 mmmtomm
urraif, 629 : 630 she dicd), aber auch ohne solche Wieder- 1
hohing der Phrase finden sie sich (V. 39 : 41 he, 194 : 196
wie, 303 : 305 thine, 342 : 345 htdl, 367 : 368 Chrisiabel),
Assonanz (nicht als Binnenreim) ist vereinzelt als^
Schmuck gebraucht (V. 638, 640, 641, 676). Überaus häufig.^
dagegen findet sich die Alliteration; unzweifelhaft be-
absichtigt erscheinen mir folgende Beispiele:
V, 11 Ever anä mje, by shim and ahower, 21 'T is a monih hefori^l
ihe monih of Mai/, 23, 38, 47, :3<>1 The lortl^ lady^ 51 Hanging so lighi, }
and hanging so high, 52 On (he toimiost ttüig, 00 Thal shadowtf in Üte\
moonhght ithme^ f»0 Marxf mother, 75 SirHch forth thtj hand and hav€ noi
fear! H2 Me, evan m^, a inaid forhm. SB with force and frighi, Ö5 ^1
weary woman, 110 to guide and gnard^ 117 as 9Üeni as tJie cell, 119 not\
wdl awaketitd, 130 fcitli might and tnain, 131 a weary weight, 135, 143
free from fear, 136, 144 crosned the coutt^ 13Ü Virgin all divine, 1-18 maan
did make^ IB) Never tili noie, 159 a fii of flame^ 168 They Heal iheir wag
from gtair to stair^ 1G9 Now in glimmeTj and now in (jloom, 178 carved
90 euriondg, 179 stränge and sweti^ 183 U fmiened to an tmgeVs fett, ^
184 dead and dim, 1^3 Mg mother made, 2C>5 Pt:ak and pine! 220 I9i2^*f
flower mine, 223, 22t>, 384 The h/tg ladg, 238 And lag difwn in her loveli-
nes3. 239 weal and tcoe, 245 Beneath ihe lamp ihe ladg howcd, 255 not
spcaks nor stirSf 258 with ^ick asuag, 270 seal of mg sorrow^ 278 shieläd
her and shelter her^ 279 ttighi to see^ 2HH hliss or hale, 2ÖÖ Her face, ohl
caU ii fair not pale, 3<X) Secmn to slumber still and mild, 314 sad andi
itoftf 31ti Large tears that leace the lanhes, 317 aeems io amikf 337 J/onyl
a nwm, 341 Five and forty, 3i5, 484 Bracy the bard, 352 ropes of rock^ j
353 ginful sejiiom% 379 m it gcemed, dSß (oo lirely leave, 393 The lovelg
maid and the ladg talif 395/396 And pacing mi ihrough page and groom, j
Enier the Barons presence-room, 420 ilic hollow heart, 421 Theg siood
alooff the scarii remainingf 425 Shall whollg da awag, I wteft, 432 His
noble heart swelled high with rage; 436 That theg, rrho thu8, 441 that there
and then, 451 TI7ucA ff Am ske viewed, a vinon feil, 454 She shmtik and
iihuddered, 456 such ^sights to see? 4»>6 While in the lad^f^s arms she lag,
478 A9 tf fhc fcared nhe had offended, 510 thcir panHng palfrey^, 516
a summrr's sun, 539 nothing near, 561 iaintly Bong, 564 Thus Bracy «omI.^
Uie BaroHf the while^ 570 TFi^i arms more strong than harp or song, 590f
SlumhUng on Öie umtcady ground^ 598 She notfiing sees — no Hght but
one! 610 Fiäl btrfore her faiher'i view, — 614 Pa^ised a while, and inlg
prayed: 615 Then faUing at the Baron'» feei, 620 0*er-ma9tered by ihe
2, Christabel
^
mifhly sptü, 621 io wan and mld, 63Ü/aB2 Prayed Ütai the habe,., Might
ie her dear lord's . . . pride! Thai praycr her deadl^ pangn begwikd,
$^/643 Dishonour'd thm in kis old age; Uislionour'd by his only child,
852 '*/ bade thet henceT The hard obeifed; 65t» A Utile child, a limber
e\f, GOl As ßh a father*s qies, 668 To mutier and mock, 676 Comes
ieiahm Booe.
Zeilenenjambements sind sehr beliebt, wie im
AncMar. (52 FäUe, V, 7/8, 66/67, 106/107, 250/251, 372/373,
440/441, 532/533, 600/601/602 u. s. w.). Zwei Beispiele von
überaus starker Uiiterbrecliung des Sinnes innerhalb
eines Verses finden sich (V, 469, 482); Reimbrechung
in einem starken Beispiele (V. 310/311).
Es ist einleuchtend, daß dieses Versmaß noch viel mehi'
als das immerhin durch die strophische Gliederung gebun-
dene des Anc, Mar, im stände ist, sich den feinsten Wen-
dungen der Handlung in lebendigster Art anzupassen; jeder
Ton kann hier in einfachen Worten ausgedrückt werden,
aber mit einer Bedeutsamkeit, wie sie CoL bis zu dieser
Zeit in seinen pathetischen Sonetten und anderen Strophen
nicht erreicht hatte. Um den Teattkommentar nicht allzu
»ehr zu belasten, gebe ich hier einen kiu-zen Kommentar
der Veränderungen im Versmaße gemäß CoL*s eigenen oben
(S- 30) zitierten Änßerimgen,
Part the FirsL t. Die durch das Glocke Dschiagtm und die Tier-
-stlinmen belebte Handluni; setzt mit den lebhafteren vierheb. Verden
1, 2 ein^ dann folgt der lautuacliakmende, lau^ hinhalleude Vers 3,
in dem jede Silbe eine Hebung ausmacht, worauf Vers 1 mit ruhigem
Tiertakt und Vers 5 mit Dreitakt (entsprechend dem drowsily) ab-
schließt. — 2, Zwei viertaktige Verse, der zweite ohne Auftakt, er-
zählen nun weiter (0, 7), abgelöst, .sobald der Inhalt bewegter wird,
von einem vierheb. (8), dem jedoch ein auftaktloser Viertakter folgt,
um daÄ sichere Eintreifen der Antwort zu markieren (D) ; die Glocken-
sehlä^e werden in munteren vier Hebungen berichtet (10)» dann folgen
wieder, entsprechend dem gespenstisch- ernsten Inhalt, drei schwerere
Zeilen (11^ — 13). — 3« Die ruhige Naturschilder ung in vier Viertaktern
(14 — ^IT) wii*d durch die Erwähnung des Vollmondes belebt (18 vierheb,),
doch blickt er stumpfer als sonst drein (daher 19 viertakt.). Diese
trübe Stimmung mit Wiederholung früherer Motive im selben Rhyth-
mus angesclüagen (2Ö viertakt*), erhält nun in 21 und 22 (vierheb* mit
aufhüpfendem Beginne) Erklärung und damit neue Zutaten. — 4. Die
stille, friedeatmende Christabel wird in gemes^^enen Viertaktern (23 — 28)
eingeführt.: ihr auffallender Schritt wird durch edle Liebesleidenschaft
in rascheren Rhythmen (2^^ 3*)) vorstäadlich gemacht. — 5* Die stets
durch Sanftmut abgetönte Unruhe sucht nun Frieden im Gebete
(31 — 35 Viertakter), dessen stumme Vemchtuug den Gang de« Verse»
£icblor, Th« Anciont Mariner a. Chmt.
3
34
Einleitung.
noch verlangsamt (aiiflaktloser Viertukter 36), — 6. Trotz der Störung
Oberwiegt anfangs noch Chr/s Ruhe (B7 — ^} Viertakter); die andere
Seite der Eiche verbirgt dos Gespenstische^ dort liegt die Unruhe
41, 42 Vierheber). Das Schweben des Tones im letzten Vei-se malt
die ungeheuerliche Eiche ganz vortreÄ'lich. — - 7# Noch sucht sich das
Mädchen zu beruhigen {4S — 48 Viertakter), das zitternde BJatt wird
in entsprechenden Vierhebem (49"5!}) geschildert. — 8* Cianz Be-
wegung, seihst der Viertakter au Ani'ang ist durch die schwebende
Betonung um^uihig ; der letzte Zweitakter erweckt die größte Spannung
(53 — 57). — U. Zunächst erblickt sie nichts gar so Verwunderliches:
eine Dame (58^ viertakt.)^ allerdings in gespenstischer Kleidung (59,
HO vierheb.), die damit alles in ihren Bann zieht (61 — 68 viertakt
schwer, besonders 68). — 10» Zwei Zeilen bloÖ; sie geben das Er-
staunen Chr/s durch den schweren Bhythmus der ersten Zeile (69
vieilakt. ohne Auftakt) und ihi*e Fassung (70 viertakt.) gut wieder. —
11. Geraldine weiß durch gektlnstelte Schwache Vertrauen zu er-
wecken (Viertakter 71, 73 — 76, 78), nur zweimal, bevor sie spricht^
hriclit das flackernde Wesen im Rhythmus durch (Vierheber 72, 77). —
12. Die Heuchlerin bringt ihren Lügenbericht in eintaoken, schlichten
Worten vor (durchweg Viertakter, ab und zu mit Taktunistellung
und Weglassung des Auftaktes 79 — HB). — 13. Schlicht imd mhig
ist Clmst.'g Antwort (104—111 Viertakter). — 14. Ebenso die Ein-
ladung (112 — 122). — 15. Die ruhige Erzählung in Viertaktern 1 128 — 126,
129 — VM) nur durch die Erinnerung an die kriegerische Erscheinung
belebt (127, 128 Vierheber). — Itt. Freudige Sicherheit (136—138
viertakt.), durch den Ausdruck des Dankes munterer (139 Takt-
umstellung im Viertakter^ l¥) Vierheber). Geheuchelte Schwäche und
Wiederholung der frtlheien Stimmung (111 — 144 Viertakter). — 17- Das
merkwürdige Gebaren des Hundes leitet ein Vierheber (145) ein, dann
aber werden die Zeilen wie unterm Banne Oer,^s wieder langsamer
im Gange (146 — 149 Viertakter), einmal unterbricht die Zurückweisung
aiif sein sonstiges stille® Verhalten vor Christ, mit Taktumstellung
(15<j) den regelmäßigen Hhythmus (151 — 153). — 18» Wieder Ruhe
(154^—159 viertakt.) im Anfang, dann Beginn des gespenstischen Wesens
(ItjO vierheb.), absonderliche schwere Finsternis (161 viertakt.), neuer-
licher unheimlicher Eindruck (162, 163 vierheb. flackernd), Chnst.*s
zarte Mahnung wieder gemessen (164, 165 Viertakter), — 19. Die
sorgsame Gau gart ist in den regelmäßigen Viertaktern \Nded ergegeben
(166 — 168, 17<> — 174), nur die unsichere Beleuchtung im Vierheber
(169). — 20. Der Mond ist aus den Wolken herausge treten (lebhafter
Vierheber 175), doch Halbdunkel herrscht in der Kammer i;176 — 179
\dertakt.), die seltsame Erfindung des Schnitzwerkes ist wieder spruug*
weise berichtet (1B<> auftaktloser Vierheber), worauf die Schilderung
regekecht fortfähi-t (181—183 viertakt.). — 21. und 22. entwickeln die
Handlung ungestört, weiter (184 — 193 viertakt.) — 23. Christabels weh-
mütige Antwort (194 — 197 viertakt.) wird bei der Anspielung auf die
ScMoßsage et^^as unrastig (198 \derheb.), lenkt aber bald wieder ins
Stille zurück (iy9^2<J3 \Hertakt.). Die Stoßseufzer sind durch scharfe
Zäsur markiert (202). — 24. Noch ist der Höhepunkt nicht erreicht
•2. Christabe).
33
I
herrscht noch der regelmäßige Viertakt trotz spukhaften Trei-
bens vor <t2r4, 2()T, 2<)8, 210^ 212), aber TaktTimatolluDgeD bei den Aus-
rufen r2t.»5, 211» 215) vmd Vierheber i2*J*>, 2r>t)) unterbrechen den
fijleiehui&ßigen FluÜ. — 25. Christ's MitJeidsregung ist im Vierhebor
i214) illustriert; ihr Benxhigen im Viertakter |2I5— 21Ö). — 26. Der
belebende Trank wird im lebhafteren Rk^-thmus berührt (22<» vierheb.),
die weitere Handlung noch immer in ruhigerem Tone gehalten
r221^ — ^224 viertakt.); ei*st die Betonung des Fremdartigen in Ger,*s
Erscheinung verflüssigt den Gang wieder (225 Vierheber). — 27* Die
«»chelnbar gütigen und gleichgültigen Woi*te Geraldinens im alten
Tempo (22tj — 234 viertakt, u — 28. und 29* ftlhren die Handlung, in
der Christ, die Haupti'olle spielt, gleichmäßig fort (235 — 243 viertfit. ),
bis das Interesse plötzlich auf Ger. gelenkt wii-d (244 vierheb.)» —
W* Zunächst zeigt sich noch nichts Abäouderliches (245 — 25*» viertakt,),
dann fällt die letzte HdUe (251 Taktumstellung) und der furchtbare
Anblick bietet sich dar (252 vierheb.); zwei Viertakter mit scharfen
Zäsuren (253, 254) schließen gleichsam stockend ab. — 81. t^er.
rührt sich nicht (viertakt. 255), ihre Blicke und ihr Atmen künden
Außergewöhnliches an (Taktmnstelking 256, 257), dann aber tut sie,
als ob alles in Ordnung wäre (viertiüct. 258— 263 1; nun kündet der
Zweitakter (264) das Unheil an, das Ger., noch immer Ruhe heuchelnd
^265 viertakt j, endlich ausspricht (Zweitakter 266): äußerst bewegte Vier-
heher (267 — 270) bezeichnen die herv^orb rech ende Hexerei, die eigent-
liche Beschwörung geht in fünf zweihebigen Zeilen abgebrochener Itede-
weise vor sich (271 — 275) und springende Vierheber (276—278) schließen
den Spuk und den ganzen Teil wirkungsvoll ab. — Couch B2» Rück-
kehr zur früheren friedlichen Situation (viertakt, 279— 2öl\ Wieder-
holung der schaurigen Beleuchtung in neuen Hhythmen {T)reitakter
282—285) und abermalige Ruhe (viertakt. 286 — ^291), noch schwerer
durch Auftaktlosigkeit (287 ^ 291), — EH. Die trügerische Ruhe des
Schlafes läßt das Metrum schwanken : reine Viertakter (292, 293, 298, 299)
wechseln mit mu-egelmaßigen (294, 295, 300, 301) imd mit Vierhebern,
die das höchste Entsetzen ausdrücken (296, *J97). — 94. Die Schrecken
der Mittemachtstunde werden in gemessenen, aber durch scharfe
Zfisiuren zerschnittenen Viertaktern (802—307) beschrieben; das Er-
wachen der gleichsam mitgebannten Vögel verflüssigt das Versmal5
sofort (308 Vierheber) und lautnachahmende» lang hinhaUende Vier-
takter schhoßen ab (309, 810). — So. Die Rtickkelir zur milden Christ,
ijst natürlich wieder im gleichmäßigen Viertakt beschrieben (311), ihre
Erlösung mit bezeichnender Taktumstellung (312) begonnen imd eben-
m&ßig, wenn auch noch mit zwei Taktumstellungen (315, 316) und
«ner schwebenden Betonung (314) fortgesetzt (313, 317, 318). — 86. Der
schöne Vergleich und Christ/s Vertrauen sind, eingeschlossen von
Jtwei durch Ausrufe gerechtfertigten TaktiimsteUungen (319» tl*M |, mit
zwei solchen Fragen (327, 828), in regulären Viertaktern (320--32<.i,
S29, 330) abgefaßt. — Pmi the StcomL 87. Das Rückgreifen auf den
Tod der Mutter Christ.^s ist durch ein Schwanken zwischen Vier-
taktern (332, 334, mi) und Vievhebem (333, 335, a37) charakterisiert. —
88* Die Erschütterung zittert noch in der ersten ZeOe (338 vierheb,)
8*
96 ^^^^^V Eiu) ei tutig.
nach; daDn setzt ein abgezirktes Maß ein (330—344 Viertakter), einiual
sogar nachdracklich schwerfällig (341 auftaktlos). — 89. Die neue
Person wird mit lebhaftem Rhythmus eingeführt (345 vierheb.), die
Episode, die Bracj berichtet^ jedoch im Hauptmaße vorgetragen
(346— 5&8>, nur das NachäÖen wieder tiotter erzählt i359 Vierheber). —
40. Die Hexe tut am Morgen nichts dergleichen (360 — 366 Vier-
takter), ja sie weckt sogar Christ, auf (munterer Vierheber 367 j und
fragt sie anscheinend unbefangen (Taktumstellung im Viertakter 368^
dann Viertakter 369), — 41. Die sichere Erscheinung Ger.'s verfehlt
ihre Wirkung auf die edle Christ, nicht (ruhige ViertÄkter 370 — 380 ,
sie macht fetch Von^^üife (Vierheber 381), um dann in ihre Demut
und Mattigkeit zurückzukehren (382—386 Viertakter). — 42* Ihr rasches
Aulstehen ist im Verse ausgedrückt (387 Vierheber\ die gefaßte
Stimmung ihi*er weiteren Handlungen ebenfalls (388 — 39:2 Viertakter). —
48. Das Zusammengehen der ungleichen Frauen markiert ein Vier-
hebei^ 393), üixen gleichen Schritt zwei Viertakter (394, 395), den Eintritt
in des Barons Geraach Taktumstellung mit Viertakter (396). — 44. Der
Empfang geschieht mit ruhiger Würde (397 — 402 Viertakter)* —
4S* Doch diese Ruhe (403—405 Viertakter) wird bald gestört (40t>
TaktumsteDung im Viertakter, 407 Vierheber). — 46. Die verschie-
denen Elemeute der Reminiszenz sind durch wechselndes Metrum
trefflich ausgedrückt: die alte Freundschaft (408 viertakt), die Ver-
hetzung (4ti9^ — 111 vierheb.), der allgemeine Satz (meder Viertakter
412^ — 415), Ausbruch der Uehässigkeit (schwerer auftaktloser Viertakter
416), notwendige Konsequenz und Trauer darüber (Viertakter 417^ — 426).
— 47* Die Versunkenheit ist im gewöhnlichen MaÜe chontkterisiert
(427, 428), das Aufblitzen der leibhaftigen Erinnerung im lebhafteren
Vierheber (429) und der wehmütige Eindruck wieder im Viertakter
(430). — 48* Die edle Aufwallung setzt mit bewegtem Vierheber ein
(431 1, das Versprechen stellt ein Gemisch von Würde (Viertakter 432,
431 d39^ 441, 442, 444) und Zorn über die vermeintlichen Frevler
(Vierheber 438, 444J, 443, 445, 44<J) dar. — 49. Die scheinbare Zu*
iriedeuheit (Mertakter M7 — 452) kontrastiert zu Chri^t.^s qualvoller
Vision (Vierheber 453, 454 und scharf geschnittene Viertakter 455^ 456 1,
— 51). Mit schweiüüssigen Versen, wie eine Beschwönmgsformel,
schildert der Dicht^er die neuerliche Schreckensvorstellung (Viertakter
457, 458), rascher die unwillktlrliche Atembewegung Christ.'s (vierheb.
45i», welche V^erwirrung beim Vater hervorruft (Viertakter 400, 462,
Vierheber 461\ — ol. 52. Doch für jetat kommt alles wieder ins Geleise
(Viertakter 4(33 — 481), der Wechsel der Rede bringt eineu Viertakter
mit Taktmnstelluüg und starker Zäsur vor dem letzten Takte (482),
dann wieder dem ruhigen Vorschlag entsprechend regelrechte Vier-
takter (483, 485^^490, 492) mit zwei Vierhebern an lebendigeren Stellen
(484, 491). — 5t < Das Übersetzen des Flusses gibt erneuten Ansporn
(Vierheber 493) zur Weiterv^eriblgimg der Rebe (494 — 497 Viertakter,
die ersten beiden stark zäsui'iert). — 54« Die fröhliche Botschaft
tbesclileunigt das Metnmi (498 — 5<i4 \'ierh6ber), das bei der kriege-
rischen Ausritstimg wieder gemessener wird (Viertakter 5<Jo — 500), bis
auf die Erwähnung des schnellen Rittes (Vierheber 610); die Reue
,
■2. ChriätitWl
37
I
imd die alte Liebe ergeben wieder schwankendes Metrum (Yiertakter
511—513, 515, 517; mit Taktnm Stellung 516; Vierheber oli, 518). —
9^ Geraldinens gut gespielten Dank in ruhiger Fonn berichten Vier-
takter (519, 52<j), Bracys stammelnde Stimme ahmt Vierheber < 521) nach,
dann geht es wieder ebenmäßig dahin, da des Barden Traum und Angst
immerhin abgeklärte Stimmung atmen (regelmäßige Viertakter 522 — 52*J,
531 — 534, 537 — 5ci9), nur Höhepunkte sind auch metrisch gehoben t53U
TakttimsteUung : Grund seines Einspruches; 535 hochbewegter auftakt-
loser Viertakter ; 53*5 und 54f J Vierheber: die schwer zu erkennende grüne
Schlange). — 60* Ebenmaß^ solange nichts entdeckt ist {541 — 540)^ die
Ümschnürung durch Auftaktlosigkeit markiert (55Ü'), der Grund für die
lange Verborgenheit des Reptils durch Taktumstellung (551, 552), die
Gleichmäßigkeit seiner Bewegung im gewöhnlichen Viertakter (553), sein
Anschwellen durch Taktumstellung (554\ dann durch Abnahme der Auf-
regung bloÖ Viertakter (555, 557^ — 563), nur das echonachahmende Hallen
ein Vierheber |55^K — 57. Wechsel der Person bedingt lebhafteres
Metrum (564 Vierheber), zumal nun der raschere Baron zum Worte
kommt. Seine durch das Alter gesetzte ßede (Viertakter 565, öÜB, 5(>8»
oli\ 571) wird durch Geraldinens Eindruck auf ihn künstlich belebt
(Tierheber 567, 569); sein Kuli deutet noch auf günstige Entwicklung
des Ganzen (Viertakter 572); Geraldino heuchelt weiter (Viertakter
578), sogar Schambaftigkeit (anftaktloser Viertfikter 574), doch ver-
gißt sie höfische Sitte (courieB^) dabei nicht iVierheber 575), gleich-
gültiger ist ihr Abwenden (Viertakter 676); ihre Hexerei wird ein-
geleitet durch rhythmische ümweclislung (auftaktloser Viei*takter 577),
dann folgen entsprechend ihren Bewegungen ruhigere (578, ÖBO, 581)
und lebendigere (579, 582) Verse. — 68. Den starren Schlangenhlick
schildert ein schwerer Viertakter (583), die Wandlung in Ger/s Augen
drei Vierheber (564 — 586), das Folgende kommt mit unabänderHcher
Gewißheit (Viertakter 587 — 589), das Taumeln und Schaudern malen
fidJende und hüpfende Ehythmen ioiJO, 591); die kühle Frechheit der
Hexe ist in gewöhnlichen Viertaktern i592, 59B, 595) berichtet, nur
der Gipfel derselben in auftaktlosem Vierheber (594) uud V^iertakter
<596). — SU, Christ, ist dem Zanber willenlos verfallen (Viertakter
597 — *>*J5, 6<»7 — 60Ü, 611, 612), sogar %'erräterisch muß sie dreinbhckeu
(Vierheber öTJß), obwolil sie vor ihrem Vater steht (auftaktloser Vier-
takter 610). ^- 60* Der Bann ist vorbei (Viertakter 613), aber noch
kann sie sich nicht ganz fassen (schwerer aufbaktloser Viertaktor 614),
dann tut sie ihrer Tugend gemÄÜ das Richtige (Viertakter 61 5j und
beschwört ihn dringend (Vierheber Oiti); ganx konsequeut folgt imn
alles (daher ruhige Viertakter Ij17 — 62<J), — öl. Kind und Mutter
sollten besänftigend auf den ungerechteu Zorn einwirken < Viertakter
♦121—829, 631, 632, <i:34), das Gebet ist noch nachdrücklich betont i>j3Ö
Taktumstellung) und wu'kiingsvolle Ausrufe unterstützen die ganze
Erwägung (633, 635 Zweitakter). — 62. Doch der Baron bleibt hart
•Viertakter 636— €4<\ 642—644, 646—655), seine fiemüt^bewegung
reflektiert sich in Bewegungen (Vierheber 6-il), die Kränkung der
Freundestochter macht ihn wliteud (Vierheber 645). — Concl, 61L Die
allgemeine Überlegung bewegt sich meist in regelrechten Viertaktern
Emleitimg,
(65Ö, 65B— 661, 6433—665, 670 -6Ta, 675—677)» geschilderte Bewegung
ändert den Eh3rthiiius (aiiflAktlos 657), den Überfloß kennzeiclmet eiö
Vierheber (66*2), den Stachel des Neuen ebenso (666, 668, 66Ö) und ein
auftaktloser Viertakter (667); der Ausnii* beschleunigt das Tempo
gleichfalls (Vierheber 674). —
Die Sprache ist wolillantend und sclimiegsain, trotz
der vielen Archaismei!, die kier noch viel mehr innere
Berechtigimg besitzen als im Anc. Mar,, da sie sich in das
ganze mittelalterliche Kostüm organisch einfügen. Die Aus-
rufe, mit denen der Dichter seine eigenen Worte unterbricht,
die Fragen und Formeln sind in dramatischer Weise an-
gebracht, noch kunstvoller als im Anc. Mar, Heraus-
stellung des betonten Substantivums und Wieder-
aufnahme durch ein Pronomen (V. 4/5, 23/25, 216/
217) ist hier allerdings seltener, dafnr aber sind die An-
rufungen häufiger: V, 69 Mary mother, save me now! —
139 Fraise we the Virgin all divine — 141, 207, 216, 408,
697 Alas! (alas) — 19G, 292, 465 (Ah) tvoe is me! — 202
0 mother dear! — 205 Peak and pine! — 382 Now heaveft
hft praised i/ all he well! — 483 Nay! Nntj hy my soul! als
Äußerungen der Personen; 53 Hush^ beaiing hcart of
Christabel! — 54^ 582 Jesu, Maria, shield her well! — 254
0 shield her! shield sweet Christabel! — 264 M well-a-day! —
296 0 sorroir and shamc! — 626 0, hy the panys of her dear
mother — als eingestreute Bemerkungen des Dichters, der
innigen Anteil am Schicksal der Personen nimmt (ein echt
volksmät^iger, glücklich nachgeakinter Zug!). Kühn spricht
hier der Dichter s e 1 Ij s t mit, in Formeln, die unsere
Spannung noch höher sclirauben als das ohnehin schon gut
inszenierte Müieu. Alle schon in der ersten Ballade an-
gewandten Stil mittel vereinigen sich hier zu noch höherer
Wirkung: Umstellung des Pronomens (V, 36, 204.
236), Nachsetzung des Adj ektives (V. 6, 58^ 71 [zwei-
mal!], 78, 82, 83, 139, 145, 146, 147, 162, 195, 316, 324,
326, 364, 393, 464, 471, 485, 486, 496, 528, 529, 595, 612),
doppelgliedrige Ausdrücke (V. 10, 11, 14, 15, 62/63,
110. 135 = 143, 156, 159, 169, 179, 184, 186, 239, 255, 261,
270, 288, 289, 290, 296, 300, 302, 314, 319, 329, 338, 352.
360, 395, 434, 435, 441, 443, 454, 457/458, 463, 485, 488.
603, 520, 561, 567. 570, 594, 621, 623 = 631, 636, 638, 640,
641, 656, 657, 662, ßijS, 670, 672, 674, 675, 676), drei-
2. Cliristftt>el.
39
gliedrige Ausdrücke (V. 31/32, 43/44, 410/411, 624),
sind wohlberechnet imd abgestuft verwertet. Von den
Wiederholungen gilt das beim Jj*c, Jlfan Oesagte (vgl.
Y. 2/4. — 14/16/20/43. - 16/20. — 35/42/281/297/373/540.
— 45/48. — 51. — 67/58. — 61/62. — 74/142. — 71 72:
77/78. — 75/102/104. — 81/82. — 84/86/94/510. — 110/
503. — 123/136. — 129/134. — 129/189. — 135/143. —
136 = 144. — 145/147/149/153. — 149=153. — 154/165/
158/170. — 166. — 170/172/173. — 178/179. — 267/463/
463. — 74/131/142/190. — 191/192/220. — 205/211/213. —
211/305. — 212/327. — 252/267/457/458. — 269. — 293/
294/295. — 302. — 309/310. — 315/316. — 317/319. —
322. — 332/334/336. — 333/342/345/356. — 359/361. —
374. — 387. — 394/396. — 416/513. — 418/617, — 451/
453/464. — 467/458. — 459/591. — 474/620. — 485/499. ~
486/528. — 552/553. — 554. — 561/570. — 683/584/
585. — 618. — 623/631. — 625/629/630. — 626/632. —
636/675. — 638/640/676. — 642/643. — 666/670). Die
Wiederkehr derselben Worte macht hier, ohne je eintönig
zu werden, den Eindruck des Magischen, BeschwÖrixngs-
miißigen; der Dichter kann sich von dem einmal ge-
zeichneten Bilde nicht so rasch wieder losmachen irntl
zieht anch den Leser in diesen Bannkreis, Bran^ll (S, 222)
vergleicht die^e Sprache mit einem Eunenstil, ^'der bei der
größten SchlichiheU der einjselnm Worte doch die ungewöhnlich stm
Dinge erwartcfi lößf\
So ist anch die Komposition des (ranzen locker und
nicht nach logischen Gesetzen aufgebaut. Nicht ethische,
tiondern traumhafte GeMim sind es, nach welchen sich die Vor-
stellungen verknüpfen' (Brandlj 221)* '*Nichl bloß die Grenz-
linie der poetischen Gatiungen, welche die Klassizisien möglichst
strenge festgehalten, u^crden in der liomantik durchbrochen,
sondern die Poesie verschwimnd auch mit dmi Schwesterkünsten,
mit der Malerei und Musik** (ibid. 222/223), Die Darstellimgs-
weise ist fast l^Tisch, von festem (.i-efüge ist wenigstens im
ersten Teile bei den Einzelheiten kaum etwas zu verspüren.
Märchenhafte Bilder treten vor unser Auge, fesseln äussere
Sinne mit imwiderstehlichem Zauber. Es ist keine Erzählung,
sondern Schilderung: die schwüle Lenznacht mit ihrem
unruhigen Tierleben gegen die reine Maid, die sich mit
Einleitung.
innerem Bangen der Unholdin ergibt ; dann das alte Schlofl
mit seinem Burgtor und der öden Halle gegen das Ein-
dringen des bösen Geistes unter dem Schutze der Haus-
tochter; und endlieh das halbdunkle Schlafgemach gegen
die schreckliche Entdeckungsazene zwischen den beiden
Frauengestalten; so kontrastiert der Dichter das Milieu und
Handlung in schöner Abfolge, spannt unsere Aufinerksamkeit
aufs höchste und läßt uns jeden Augenblick das Äußerste
alinen* Brandl (ß, 222) vergleicht diese drei Bilder "dm
Tonstücken, auf deren erstes und drittes eine Coda (^= Th^
Conclusion to Pari the First) nochmals zurUchgreift^ um das
GanM mit eitler Klage iiber das unhcimfich traurige Erfcachetk
am Morgm ausklingen jm lassen". Aber gerade hierin zeigt
sich der ganz imepische Charakter unseres Fragmentes, daß
da ein neues Bild r die Umschlingung des reinen Kindes
durch die mißgestaltete Hexe, mit schon bekannten Farben
gezeichnet wird. Bedeutend klarer ist der Gang der Handlung
im zweiten Teile vorgezeichnet. Zwar bringt uns auch hier
die gespenstische Einleitung, mit der das Echo des Friih-
geläutes vom Barden erklärt wird, in die richtige '* Stimmung",
ohne daß dies Motiv weiter fiir die Ereignisse besonder
ausgebeutet Avurde, außer daß Geraldine durch das Geläut
und das Echo erwacht, aber dann folgt die Szene, in der
das holde Kind geträumt zn haben glaubt, ihren schweren
Verdacht auf die Schlaf kam eradin als Sünde bereut und
dem Vater endlich die fremde Dame vorfiihrt. Und nun
kommt in strafferem Aufbau die psychologisch unendlich
fein motivierte Verführungsszene (die alte Freundschaft mit
Geraldinens angeblichem Vater bildet den dankbaren An-
knüpfungspunkt), durch die allerdings wiederum wie Wetter-
leuchten der Zauber der vergangenen Nacht durchblitzt
und schreckhafte Bilder zeigt, die nur auf theatralischen
Effekt berechnet sind, ohne die Handlung zn fSMem. Die
Erzählung des Traumes von der Schlange und der Taube
ist, wie schon erwähnt, eine unnütze Wiederholung des
anfangs angeschlagenen Leitmotives, die uns, zn breit als
Episode ausgeführt, schon deshalb stört, weil sich außer
dem Barden niemand darum bekümmert, da Geraldinens
Augen bereits zu spielen begonnen haben. (CoL, der nach
längerer Zeit an die Fortsetzung gegangen war, hat meines
I
2. ChnstftbeL
41
Erachteus hier ganz deutlich sich selber wieder durch diese
Rekapittilation in die richtige Stimmung gebracht, um den
au und für sich schönen Gedanken vom *'SchlangenbUcke'^
im folgenden daran anknüpfen zu können.) Der Zauber
des dämonischen Blickes ist dann mit alter Farbenpracht
ausgeführt und veranlaßt sehr glucklich den Zwist zwischen
Vater und Tochter. In lyrischen Betrachtungen verweilt
der Dichter auf diesem Motiv, um mit einem wirkungsvollen,
spannenden '^Abgang" ganz dramatisch zu schließen, Be-
isügUch der "Conclmwn io Part ihe Second" s. LA., V, 666.
Nachfolge der beiden Balladen in der Literatur,
Wie sehr CoL um die Wende des Jahrhunderts in dem
durch unsere beiden Balladen gekennzeichneten Stoffkreise
zu Hause war, zeigen zwei gleichzeitige Gedichte "T/ie Tltree
Graves, A Fragmmt ofaSexton's Tale" (1797—1809) und ''The
BaUad ofthe Bark LmUe'' samt Einleitung *'Love' (1798—1799),
Im ersten Gredichte treten Personen aus dem bäuerUchen
Kreise aul* und die Handlung geht auf wahre Geschehnisse
zurück : eine Hexe von Mutter ist in rasender Leidenschaft
zum Bräutigam ihrer Tochter erfüllt; doch er stößt sie
zurück und heiratet das Mädchen; ein entsetzlicher Fluch
ist der Mutter Mitgift ; auch eine treue Freundin des jungen
Ehepaares wird um ihrer Treue willen von dem Unweibe
verflucht. Als sich eben die Wirkungen des Fluches zu
zeigen beginnen, bricht das Gedicht ab. Der Erzähler ist
der Dorft^tengräber. Metrum und volkstiimlicher Stil ge*
mahnen zuweilen an Anc, Mar., die Verfluchung und das
Lokal ( Alfoxden und Ötowey) an Chrisiabel Das zweite Gedicht,
gleichfalls ein Torso, handelt in einer persönlich belebten
Einleitung von einem treuen, aber lange verschmähten Ritter»
tlem auf seinen rastlosen Wanderungen, zu denen ihn sein
Wahnsinn treibt, oft ein Teufel in Engelsgestalt erschien.
Wie in einem Traume errettet er dann seine Geliebte aus
jKäuberhand und stirbt wahnsinnig in ihren Armen, die
|jet>zt erst seine Liebe erkennt und erwidert: "es ist
I dasselbe Schicksal, welches Christabel uml ihrem BräuHga^^
bevorstand, wenn es der Hexe gelungen wäre, sie zu verblenden*'
(Brandl, S, 229). Die Haupterzählung blieb unvollendet;
Einleitung.
Züge darin erinnern an Bürgers **L€Hor€^'; märchenhaftes |
Dunkel heiTscht vor.
Diese unseren beiden Balladen verwandten und zum Teil
von ihnen angeregten eigenen Dichtungen sind aber eben
nicht hoch anzuschlagen, denn sie reichen an Wert nicht
an sie heran. Bedeutender sind die Anregungen, die fiir die
Werke anderer, größerer Dichter aus diesen zwei Gedichten
hervorsprossen. Der Anc, Mar, wirkte als Ganzes noch
weniger ; einzelne Teile, wie zum Beispiel die Stelle, wo das
Schiff faulend im faulenden Meere liegt und von elfischem ■
Licht umkreist wird, sind nachgeahmt worden. Sir Walter
Scotts **Lord qf the Isks'\ I, 21 geht (nach Scotts eigener
Anm.) auf Anc. Mar., 272—276 zurück:
"Äwaked hefare ihe rushinff prow,
The mimie ßres of ocean ghw,
Those lightmng^ of ihe %üare;
Wild Mpttrkles crtit the brokeji iideg,
And, flashing round, the vesseVs ddeß
WitJi elpinh lusire lavt,
While, fax behind, their Uvid Ught
To the dark hülawi of ihe night
A gloomg gplendour gave,*^
aÜA« ^B
BjTon dürfle in '^Darhic^s" die Schilderung des Rückfalles
ins Chaos unter dem Eindrucke dieser Stelle von Col. ge-
dichtet haben (faulendes Meer, verschmachtende Schiffer) U
(Brandl, S. 214/215). ■
Christ hat entschieden den größten Eindruck auf
Scott gemacht; in der Einleitung zur Ausgabe seiner
Gedichte 1830 gesteht er ihn auch hochherzig ein; er er-
kennt hier an, daß CoL zuerst das unregelmäßige VersmaU
fiir ernste Stücke eingefiihrt habe (ein Irrtum, der ja von
Col. selber herrührt), und gibt zu, in seiner Nachahmung
eich des höchst charakteristischen Maßes bedient zu
haben. — In ''The Laij of the Last MmstreV\ J, hat er
Zeile 3 und 5 den Versen 54 und 127 nachgebildet;
daß Scotts Gedicht schon 1805 erschien, ist keiu Gegenbeweis,
da wir schon wissen, daß er Christ, vorlesen gehört hatte, —
Noch 1818 setzte Scott (wie sonst oft) ein paar Verse von
Christ, aus dem Gedächtnisse als Motto vor das 9, Kapitel des
*^Black DwarT' (s. LA. V. 81). — Das sind Einzelheiten;
I
2. Christabel.
43
seheu wir uns aber Scotts Beimerzählungen in ihrer Gesamt-
heit an. so erkennen wir sofort, daß diese unbeschränkte Form,
etwas gemildert y dieses Metrum, dieser Stil und diese Kom-
position bis zu kleinen Zügen herab ein Gepräge tragen,
das ja zum Teil von Scotts bisheriger Bildung herrtihrt,
aber ganz bestimmt auch von der Bekannt schaft mit Col/s
Dichtung angeregt ist. Ein schlagendes Beispiel hiefür ist
Scotts Romanze *'The Bridal of Triermame*\ 1813 anonym
erschienen, die (außer dem gleichen Namen} auf den ersten
Blick 80 an CoL^s ganze Manier erinnert, daß schon
Jitaeku'ood^s Magazine, April IS 17 kösthch behauptete, das
Gedicht gebe sich zwar als Nachahmung Scotts, sei aber
doch mehr Nachahmung CoL's (im besten Sinne), besonders
die äußere Form erinneite den Rezensenten sehr stark an
Christ ; er vergleicht zu diesem Zwecke ausdrückhch Br.
cfTr. I, 2, 8—10; I, 3, 1—4; I, 4, 6—11; I, 5, 10—12 und
18 — 20; L 28— 3L Überdies haben wir auch in diesem
Gedichte eine nächtliche Frauenei^cheinung und das Ver-
hältnis: alter Vater und junge Tochter — wie in Christ,;
auch ein dräuender Blick wird erwähnt und der Baron
Roland de Vaux of Triermain (s. Änm. zu V, 407) hat eine
Schar Minstrels an seinem Hofe.
Doch auch Byron steht imter Col/s Zeichen. 1813
erschien sein ^'Giaour\ der wie Scotts Romanzen ganz im
Tone der Col.'schen Dichtung gehalten ist. 181B veröffent-
lichte er '*T//e Siege of CorinUr imd schrieb zu V. 476 in
einer Anmerkung: "/ must here acknowlcdge a dose, ihoutjU
nnintentiona}, resenihlance in thesc twelve lines to a passctge in
an unpuhlishvd poem of Mr. Cohridge^ called *Chrisiabel\ It
ums Hut tili after thesc lines teere wriiten (hat I heard that
mld and singularly original and beautiful poem recited: and
ihe MS^ of that production I neuer saiv tili very recimtly^ hy
the iindne^s of Mr, Col, himself who, I hopc, is convinced,
that I have not heeti a wilful pluqiarist, The original idea un-
douhtedly pertains to Mr. Coleridge, rvhose poeut has been cottt-
posed (d/ove fourtcen years. Let me conchide by a hopc that he
mll not longer delay the publieation of a produetion, of which
I mn only add my mite of approbation to the applause of far
more conipetetit judges/' Demgegenüber steht aber ein Zeugnis
bei Medwiu, Conversations (f Lord Byrons London 1824,
Einleittuig.
p. 212 t; ''Some ciffht or tm lines of 'OmstobeV found ihem-
9elvts in *The Sie^e of Corinih*, I hardljf Imaw hawJ*
Wie vereinigen sich diese beiden Aussprüche? Brand]
und Schipper sind der festen Ansieht, daß in dem ersten
Zeugnisse ein Gedächtnisfehler Byrous vorliegt, er also das
Gedicht doch schon vor seinem eigenen Werke kennen
gelernt hat ; Kölbing in seiner Ausgabe, p. XXXV und 103,
bestreitet dies, da die Ähnlichkeit der beiden iu Frage
kommenden Stellen zu allgemein sei^ abgesehen davon, daß
man den **Dichter nicht Lügen strafen dürfe'*. Zum Tat-
sächlichen ist zu bemerken, daß in beiden Stelleu (Siege
474—481 und CkrisL 37 — ^52) der Ausdruck ihe wind moamih
vorkommt, der doch nicht selbstverständlich imd un-
vermeidlich ist, von sonstigen Ähnlichkeiten zu schweigen.
In Byrons Anmerkung fällt auf, daß er hofft, CoK werde
ihn nicht einen •'absichtlichen Entlehner" nennen; heißt
das nicht: **EntleJint hab' ich zwar, aber ich kann nichts
dafiir'^SP Das frühere Abstreiten kann auch ich nur als
YergeBlichkeit deuten* Medwin gegenüber ist er übrigens fl
schon recht vorsichtig: "/ imrdly know haui'\ und da identi- ^
fizioit er seine Verse doch direkt mit denen Col/s. Wenn
nun auch Kölbings Ansicht in vollem Umfange nicht zu
Recht besteht^ so ist sein Hinweis auf Southeys **TlmlnJ)a
the De8(roper'\ V, 20, IflF. nicht zu verachten: er nimmt
diese in der Tat verwandte Stelle als Quelle für Christ*^
Sie^e und iciy of L, Minsir. in Anspruch* Ist nun Col. _
davon beeinflußt, so läßt sich die Übertragung auf Byron ^
leicht erklären; an eine direkte Herübemahme kann ich
nicht glauben. Warum übersah Kölbing übrigens die bei
ihm p. Xni zitiei*te Stelle aus Moores Anmerkimgen und
wozu wies er auf die Almlichkeit von Siege of Cor, 199 f,
imd Christ, 16 f, hin, wenn er an keine Beeinflussung durch
CoL glaubte?
Noch fUr einen bedeutenden Dichter ist Christ, als
Anregung wichtig: für J, Keats* Schon Brandl weist
auf Stimmung und Manier des Gredichtes ^*The Eve of
SL Agnes" (1819) hin (S. 227), die gan£ im Stile Col/s gehalten
smd. Und wirklich finden sich auch hier die Ausnutzung
den Tolksaberglaubens zur Motivierung der Handlimg, das
Waaen der Handlung selbst^ nämlich das geringe drama-
2. Christahel
46
tische Element, die dürftige Erzähliiiig, die Schlafzimmer-
szenerie und dann vor allem andern die herrlichen lebenden
Bilder, hier noch abgeschlossener durch die künstlerische
Strophenform, prangend in glühenden, aber nicht grellen
Farben, Da ist der Meister noch gemeistert worden. —
hidirekt hat der Stoff durch das Medium von CoK's **Dark
Ladic' auf Keats^ *'La Belle Dame sans Mercy' (1819) Ein-
fluß genommen : Waldeinsamkeit, die Hexe und der hebende
Ritter, die Umarmung und der gemeinsame Schlaf gemahnen
an CoL's Art. — Vielleicht hat wie bei Walter Scott auch
bei Keats eine Versstelle so gewaltigen Eindruck hinter-
lassen, daß er sie» wohl unbewußt, nachgeahmt iiat. Ich
meine das im Jahre 1818 erschienene Gedicht ^'Huslt, Imsh!'*
Man vergleiche nur die Verse:
"Hush, hush! Tread softly! hush, hu^h, my dear!
AU th€ hou8€ iit asUepj but wf know very well
Thai the jeahus, the jeakma old hald-puU may hear,
Tho' ffou 'pf padded hia mghl-cajy — O »toeti Isabel f'
mit ChrisL 164 ff., wo auch das leise Schleichen zu nächt-
licher Weile, um den Alten (hier wohl den Gatten!) nicht
zu wecken, geschildert ist. Auch der ähnliche Name scheint
mir auf Verwandtschaft hinzudeuten, wenn auch die weitere
Handlung sich ganz anders entwickelt*
Solche einzelne Stellen sind an und fiir sich wichtig,
aber sie verschwinden gegen die nicht in Parallelstellen,
sondern durch das Gefiihl nachweisbaren Übereinstimmungen
im ganzen Aufbau und Aussehen eines Kimstwerkes, wie sie
I sich im Dichterzirkel um das Jahr 1820 häufig genug finden.
Und das erhöht Col.'s Bedeutung, daß durch seine
ien ein Walter Scott, ein Lord Byron zur roman-
1^3 sehen Erzählung angeregt worden sind. Die einzelnen,
^rein "interessanten" Züge der beiden besprochenen BaUaden,
|die noch bei Scott und Byron anfangs durchschimmern
[(so die Manier^ das Verbrechen des ''edlen Schurken" gar
nicht ['*Lara*\ '^Manfred"] oder erst am Ende p*Marmim'J
zu enthüllen), verblassen dann allmählich, das Phantasiefieber
wird beruhigt und in den späteren Schopftmgen der beiden
größten Erzähler der englischen Romantik finden wii* dann
einen geklärten und herzerfi*euenden Abschluß dieser ganzen
Bichtung.
Text und Lesarten.
The Rlme of the Ancyent Marinere
IN SEVEN PARTS.
Argument.
How R Ship haviug passed the Line was driven by Storms to
tbo cold Country towards the South Pole; and how firom thence she
jnade her course to the tropieal Latitnde of the Great Pacific Ocean;
Rud of the Strange thiogs that befeil ; and in what manncr the Ancyent
Marinere came back to bis own Country.
Tt \s au ancyent Marinere,
Aud he »toppeth one of three:
*^By thy long grey beard and thy gUttering eye
"Now wherefore stoppest ine?
**Tli6 Bridegroom's doors are open'd wide
"And I am next of kin;
*The Guest« are niet, the FeaÄt is fet, —
*'May'*>t hear the merry din.
But still he holds the wedding-giiest —
There was a Ship, quoth he —
'^NaVi if thouVst got a laiighsome tale,
"Marinerei come with me/*
He holds him with bis sklnny band,
Quoth he^ tiiere was a Ship —
"Now get thee hence, thou grey-beard Loon!
"Or niy StaiOT shall mako thee skip.
Links ist der Text von A, rechts der von S mit einigen kleinen»
meist orthographischen Änderungen gedrtickt. Rein InterpimgLStische*<i
blieb unberücksichtigt. — Titel und 1» in A itfortfttfrtf, archaisierende
Ortliographie, durch die Messung ^^ '- gerechtfertigt; alle diese
f'ormen in S zu Maniier umgestaltet; ebenso Änofent zu andctü. Vgl.
A 112], 2(), 44, 72, 77, 88, 21G, m% [363, 374], m, G51 mit 8 16, 20,
40, 74, 79, 90, 224, 337, 345, 429, 618. Dagegen hat 517. S uns Reim-
grOndon tue Form von 550. A. beibehalten. — 3, A die unntltze Wieder-
Text und Lesarten.
The Birne of fhe Ancient Marlner
IN SEVEN PAKTS.
Facile credo, plnres esse Natoras invisibiles quam visibiles in
reniin nniversitate. Sed homm omninm familiam qnis nobis enarrabit,
et gradus et cognationes et discrimina et singalorum munera? Quid
agunt? qu8B loca habitant? Hamm rerum notitiam semper ambivit
Ingenium humanum, nunquam attigit. Juvat, interea, non diffiteor,
qoandoque in animo, tanquam in Tabula, majoris et melioris mundi
imaginem contemplari : ne mens assuefacta hodiemee vitee minutiis se
contrahat nimis, & tota subsidat in pusillas cogitationes. Sed veritati
interea invigilandum est, modusque servandus, ut certa ab incertis,
diem a nocte, distinguamus. — T. Burnet: Ärchaol. PJiU. p. 68.
Part I.
mMUOi thiM GttlUiüi
biddm to • w«4dk«-
It is an ancient Mariner,
And he stoppeth one of three. »•'*^" •••w.ddtar
^'By thy long grey beard and glittering eye,
"Now wherefore stopp 'st thou me?
"The Bridegroom's doors are opened wide,
"And I am next of kin ;
"The guests are met, the feast is set:
"May'st hear the merry din."
He holds him with his skinny band,
10 "There was a ship," quoth he.
"Hold off! unhand me, grey-beard loon!''
Eftsoons his band dropt he.
holung des Possessivs und starke Senkungsbelastung in S getilgt. —
4. A. Die altertümlich lange Form ist in S aufgegeben und die
frei gewordene Senkungssilbe zur besseren sjnitaktischen Fügung ver-
wertet. — 5. A open'd in S opened: solche rein äußerliche Änderungen
bleiben fttrder unerwähnt. — 9—16. A entsprechen 9—12. S. Das Motiv,
daß der Hochzeitsgast glaubt, der Anc. Mar. wolle ihm eine lustige
Geschichte erzählen, ist als der Erscheinung des Alten widersprechend
glücklich fallen gelassen. Zu 16. A zieht H. an: K. Lear, F. 3, ^78 f:
■r.^ lüI |tr*i
»
^
«L»
::^L IUI:.- r^ ■**£:? ."'l ILjaT iUj ."'-tll-.': "^"a^,
/ s'.«^ ««■. Ä? Äff* '■f^^' *• Z''^*^'* '*****/ *fli^«m 2 '
'^»^« ii^> — r. 1 1«^ - >:= r:: «ic - .^ifnÄer:; <>M&$o ä und 4i. A
/v«.* y. i: • fc.^i.*: 5:=::^ — 4^— *?. A £::r:i 41— Ä.I. S «»trt. die
y>*r>M. '^j^jfz.: f^ i^iÄ'i-rii.Lier G-e'wiiir 4;i: Kos5«in des bisher strikt
The Ancient Mariner. 49
He holds him with his glittering eye — l^ii^!!^!^!^,^
The Wedding-Guest stood still, of tu. om Mm^t^m^
15 And listens Hke a three years' child: ""^ b«» u* tai*.
The Mariner hath his will.
The wedding-gaest sat on a stone:
He cannot choose but hear;
And thus spake on that ancient man,
20 The bright-eyed mariner.
"The ship was cheer'd, the harbour clear'd,
Merrily did we drop
Below the kirk. below the hill,
Below the lighthouse top.
25 The Sim came up upon the left, S^'.TSTSwmI^
Out of the sea came he! w»niwith«foo4wtod
And he shone bright, and on the right *itr«Mii^tk«u^
Went down into the sea.
Higher and higher every day,
30 Till over the mast at noon — '
The Wedding-Guest here beat his breast,
For he heard the loud bassoon.
The bride hath paced into the hall, '^l^ül^'SS
Ked as a rose Ls she: Bm»ic;b«ttb«»«üi«
coatfntMth hl* !•!•.
35 Nodding their heads before her goes
The merry minstrelsy.
The Wedding-Guest he beat his breast,
Yet he cannot choose but hear;
And thus spake on that ancient man,
40 The bright-eyed Mariner.
"And now the Storm-blast came, and he SmliwüttÜ^tJ
Was tyrannous and strong: ?»>••
He Struck with his o'ertaking wings,
And chased us south along.
45 With sloping masts and dipping prow,
As who pursued with yell and blow
6till treads the shadow of his foc.
And forward bends his head,
The ship drove fast, loud roared the blast,
60 And southward aye we fled.
eingehaltenen alten Metrums (s. o. S. 9, u.). B bedeutet einen schüch-
ternen Übergang zu S, der noch im alten Prinzipe, aber nicht so
sprunghaft gehalten ist: But now the Norihwind came tnore ßerce, / TJiere
came a Tempest strong! / And Southward still for days and weeks / Like
(hqff we drove dlong. Die zur besseren Verbindung nun in B folgende
Zeile Änd now there came both Mist and Snow, behielt Col. glücklich
£ i o h 1 e r , The Ancient Marin er u. Chriit. 4
The Ancjent Marinere.
Listen, Stranger! Mist and Snow,
And it grew wond'roas caold:
And Ice mast-blgh came floating by
As green as Emerauld«
And thro' the drifts th© üiowy clifts
Did send a di^^mal sheen;
Ne äbapes of men ne bea^ts we ken — 55
Tbe Ice was all between,
The loe was here, the Ice was there,
The Ice was all around:
It crack'd and growrd^ and roar'd and howl'd ^
Like noi^es of a swoimd. 60
At length did cross an Albatross,
Thorough the Fog it came;
And an it were a Chni^tian Soul,
We haiVd it in God^s name.
The Marineres gare it biscuit-worms, 66
And round and round it flew:
The Ice did split with a Thunder-fit;
The Helmsman steer*d us thro\
And a good south wind sprung up behiod|
Tbe Albatross did foilowj TO
And every day for food or play
Came to the Marinere *s hollo!
In mist or cloud on mast or shroud
It perch'd for vespers nine^
"^YhEes all the night thro* fog smoke-white 15
Glimmernd the white moon-shine.
*'God save theej auoyent Marinere!
**From the fiends that plague thee thus —
"^Miy look'st thou so?'* — with my cross bow
I shot the Albatross. 80
bei. Das ai'chaisierende cauld in 50. A ist schon in B durch cold ersetzt,
ebenso dann 52. A Emeratild durch emerald. — 55. A fie.. . ne als allzu
archaistisch durch fior . . . nor in S ersetzt, — GO. A von einem Bezen-
8enten (wahrscheinlich Wrangham) als Unsinn getadelt f British Critic,
fJct 1799), daher von Col. in B und den folgenden Drucken geändert:
A wild and ceaseUss sound, aber mit leichter Änderung in B wieder
hergestellt, H. verteidigt diese ursprüngliche Lesart: "Bui ihere ii
nathm§ amiss with 'noises of /'m' 1817 J a stotmnd/ Swound ihe reviewcr
ought to liave known as an obsolete forvt of swoon, for it occun m
many Elizaheihan and later writers — Drayton, Lyly, Beaumont and
Fletcher, Middkton, Bishop HaU cfrc. Col iook ii — ahnt) with l wist
The Ancient Mariner. 51
And now there came both mist and snow,
And it grew wondrous cold:
And ice, mast-high, came floating by,
As green as emerald.
ob And through the drifts the snowy clifte SliSnÜ?^
Did send a dismal sheen: »o uti.» »taf w.« to
Nor shapes of men nor beasts we ken —
The ice was all between.
The ice was here, the ice was there,
^ The ice was all aroiind:
It cracked and growled, and roared and howled,
Like noises in a swound!
At length did cross an Albatross: 2SJ üTaK^SS
Thorough the fog it came; ^I^f^^StL*
65 As if it had been a Christian sonl, rM«tT*d wim «iMt
We haüed it in God's name. jo.«,^uut,.
It ate the food it ne'er had eat,
And round and round it flew.
The ice did split with a thunder-fit;
70 The helmsman steered us through!
And a good south wind sprung up behind; p^ril.'.*?i,5*i?^
The Albatross did follow, o-e», «»d f«iiow.th
And every day, for food or play, ^nhwm^üav^^toit
Came to the mariners' hello! *" «»f»«*
75 In mist or cloud, on mast or shroud,
It perch'd for vespers nine;
Whiles all the night, through fog-smoke white,
Glimmered the white Moon-shine.'
"God save thee, ancient Mariner! ^1,1^*4 SST
80 From the fiends, that plague thee thus! — th.pk»-wrdoffoo4
Why look'st thou so?" — With my cross-bow
I shot the Albatross!
(I'Wia, I144),phere (feere 1180), sterte (1195), eldritch (eld-
ridge, l 234), and beforne (biforne, l 373) — fro^n Percy'a
'restoretJ^ ballad of Sir C auline, which also aerved htm as a metrical
model for (he Ancyent Marinere. In Sir C auline, swound rhymes
wi^ g round, and in Drayton's Baron* s Wars U. 40, with drownd,
so ihat Col. is right in coupling it here with around. The final *d^ is a
natural otUgrotcth due to accentual stress, as in bound, rightly boun
'ready to go', and round, rightly roun, 'to whisper*, Cf. the vulgär
gownd and drownded/' — 63. A And an it were durch die
modernere und zeitlich genauere Fügung as if it had been in 65. 8
ersetzt; metrisch etwas plumper. — 65. A als allzu trivialer Zug durch
4*
68
The Ancyent Marinere*
n
The Sun came up npon the right,
Out of the Sea came he;
And broad as a weft upou the left
Went down into the Sea.
And the good south wind still blew Ijehiud,
Hut no sweet Bird did ibllow
Ne auy day for food or play
Came to the Marinere^s hollo!
And I had done an hellish thing
And it would work 'em woe:
For all av©rr*a, I had kOFd the Bird
That raade the Breeze to blow.
8&
00
Ne dim ne red, llke God's own head^
The glorious Sun uprist:
Tben all averr'd, I had kilPd the Bird 95
That brought the fog and mist,
*T\ras right^ said they, such birds to slay
Tbat bring the fog and niist.
The breezes blew, the white tbam flew,
The innow follow^d free: 100
We were the flrst that ever hurst
Into that (Klient Sea.
Down dropt the breeze, the Saib dropt dovNn^
Twas sad as sad could be
And we did speak only to break 1(J5
The süence of the Sea.
das Unbestimmtere in S ersetzt, — 74. S Ca liest: marineres, was mit
Rücksicht auf m. S ein Df. sein dürfte, — 8L A TJit Stm came up
in 8 The Sun iiow rase* Der üblichere Ausdruck für den Soanen-
aulgang ist, vielleicht auch der Alliteration zuliebe, eingeführt. —
89. A And broad as a wrft in B ff. durch Still hid in misi ersetzt^ dem
Bezensenten (s. zn 00, A) zu Gefallen. H. gibt hiezu in zwei au&-
ftlhrlichen Anmerkungen die Wort geschieh te von weft, das er zn wa0\
wat>e (M. E. tcauen, A. S. waßun) stellt^ wobei er Vermengung mit
icai/j isl. veif annimmt, welch letzteres "irgend etwas Flatterndes"
bedeutet. ^A wefi, waft or wheft (»ee Admiral Smtfüis SaÜor^s Word
BoaJcJf w a fla^, ffaOiered in and tied acroM with a cord near the Jiead
(or pafi nexi Ute staß), the rc^t of the bunting being allowcd to fly free.*
H. zieht Merdi, of Venice, V, 1, 11 an, kein sehr gutes Beispiel, und
i
The Ancient Mariner. 53
Part n.
The Sun now rose upon the right:
Out of the sea came he,
85 Still hid in mist, and on the left
Went down into the sea.
And the good south wind still blew behind,
But no sweet bird did follow,
Nor any day for food or play
90 Came to the mariners' hollo!
And I had done a hellish thing, "i^STSr«?«?'
And it would werk 'em woe: ^'^TS/'^iTiS?*
For all averred, I had killed the bird
That made the breeze to blow.
95 Ah wretch! Said they, the bird to slay,
That made the breeze to blow!
Nor dim nor red, like God's own head, .i^^^^'^^'i^
The glorious Sun uprist: ™L.T«i^« *"::!
Then all averred, I had killed the bird compuc«.inth«erim«.
IOJ That brought the fog and mist.
'Twas right, said they, such birds to slay,
That bring the fog and mist.
The fair breeze blew, the white foam flew, Si;Jr^.*2ir«t^
The furrow stream'd off free; i*«/^^.;:;
105 We were the first that ever burst tiiiu»««cb«tk.ui»«.
Into that silent sea.
Down dropt the breeze, the sails dropt down,
'Twas sad as sad could be;
And we did speak only to break
110 The silence of the sea !
Scott, The Abbat, eh. XXIX: 'There have already been made two wefts
from the ujarder's turret to intimate that those in the casile are impatient
for your retum,' Treffend ist H.'s Charakteristik unseres Verses: 'Col.
compares the stmset Streaming from ihe central orb upon the xoatera,
like a reaplendent cloth of gold, to the bunting apreading out upon the
breeze from ihe Oed centre.' Femer gibt er Bedeutungsschattierungen
von weft aus Spenser (F. Q., III. X. 86, V. UI. 27), Ben Jenson
(E, Man out of his H.), Shelley (To the Queen of my Heart, 12) und
Browning (SordeUo, Bk. 11; Two in the Campagna). — 92. A Um den
Vorwurf noch schwerer zu machen, wird er in S durch 95/96. em-
phatisch in direkter Bede wiederholt. — 98. A siehe L.-A. zu 55. A.
like Ood's own head war in B ff. dem nörgelnden Rezensenten
(s. 60. A L.-A.) zuliebe in like an AngeVs head geändert worden. Dieses
Tb« thlp hkth b««a
tnddraly b«calm«4.
64
The Ancyent Marinere.
All in a bot and copper sky
The bloody suo at noon^
Eight up above tiie ma^st did staud,
No bigger iban the moon.
Day after day, day after day^
We stuck, ne breath ne motion,
As idle as a painted Ship
Upon a paiuted Ocean.
Water, water, every where
And all the boards did sbrink;
Water, water, every wbere^
Ne any drop to drink*
The very deeps did rot: O Chrift!
That ever tiiis should be!
Yea, ölimy thin^s did crawl witb legs
Upon the sUmy Sea.
Aböut, about, in reel and rout
The Death-fires danc'd at night;
The water, like a witch'H oils,
Burnt greeii and blue and white.
And 8ome in dreams assured were
Of the Spirit that plagiied us so:
Nine fathoin deep he had follow'd ns
From the Land of Mist and Snow.
And every tougue tbro' utter dronth
Was wither*d at the root;
We could not speak no more tlian if
We had been choked with soot.
Ah wel-a-day! wbat evil looks
Had 1 from old and 3^oung;
Instead of the Gross the Albatrosfi
About my neck was bung.
iio
115.
ISO
1^
Zngestäudnii* an puritanische Denkart nahm Col. aber in 8 wieder
zurück. — 110, A in 104. 8 wie oben, aber 1828 die Lesart von
Äff, wieder hergestellt. In 8 bemerkte CoL selber hiezu: 'In the
fomier edüion tlie line weis — "The furrow foUow^d frfe'*; bul I
had not been long on board a Mp before I perceived Hunt this toas the
image as seen by a spectator from the shore, or from another vessel. From
the ship itself the Wake appearg like a brook flowing off from the stern.*
Da die Anteilnahme Col.^s an den Korrekturen der späteren Aus-
gaben recht gering ist, habe ich entgegen Ca die auf Cinind einer
I
The Ancient Mariner. 56
All in a bot and copper sky,
The bloody Sun, at noon,
Right up above the mast did stand^
No bigger tban the Moon.
115 Day after day, day after day,
We stuck, nor breath nor motion,
As idle as a painted ship
üpon a painted ocean.
Water, water, every where, be^^li S'^^ttS^L
120 And all the boards did shrink;
Water, water, every where,
Nor any drop to diink.
The very deep did rot: 0 Christ!
That ever this should be!
125 Yea, slimy things did crawl with legs
Upon the slimy sea.
About, about, in reel and rout
The death-fires danced at night;
The water, like a witch's oils,
130 Bumt green, and blue and white.
And some in dreams assured were i.i^'oil/ttl'to!
Of the spirit that plaenied us so ^•'"* »»»«»»»»"«• »•
Nine fathom deep he had followed us p^t«« miü« aer
From the land oi mist and snow. wbomth«iMrMdj«w.
135 And every tongue, through utter drought, pJir"*^***2rt«.
Was wither'd at the root ; »«lud. Tbn^ •*• rmrr
We could not speak, no more than if '""u*I^'dini»t« or "
We had been choked with soot. •'•""or I^^JT ""
Ah! well-a-day! what evil looks Th«iiüp«»to«,inth*ir
140 Had I firom old and young ! J^" «£^5*3^ ZSSi
Instead of the cross, the Albatross '""^«2«?;:^"*
About my neck was hung. :^r'!LtS,inii^
his r««k.
schärferen dichterischen Beobachtung eingeführte Lesart in den Text
eingesetzt. — 112, 118. A s. L.-A. zu 55. A. — 139, 140. A. Ein etwas
flberstürzter Übergang zu der Erscheinung des GeisterschiiFes ; dafür
143 — 148. S, welche die lange Leidenszeit der Seeleute schildern und
so das Auf bauchen des Fahrzeuges als Bettung betrachten lassen. Um
so gräfilicher wirkt dann die Enttäuschung. Nun ist auch der Zustand
der Elenden durch Wiederholung des Motivs von 14S. S in 162. S ein-
dringlich vorgefahrt. B bildet hier das Mittelglied, noch ohne so
starke emphatische Wiederholung: So past a weary Urne; each ihroat /
The Ancyent Marinere.
Ul
I SAW a something in the Sky
No bigger than m^' fist;
At first it seem*d a little 3peck
Aiid theii it seem^d a mist:
It mov'd and mov'd^ ajid took at last
A certain shap6, I wist.
A speck, a mist^ a .sliape, I wist!
And still it ner*d and ner'd:
And, an it dodg'd a water-sprite,
It plung'd and tack^d and veer'd.
With tbroat unslack'd, with black Ups bak*d
Ne cotild we laugb^ ne wail:
Then while tkro* drouth all diimb they stood
I bit my ann and suck*d tbe blood
And cry'dj A sail! a saill
With throat iinslack'd, with black lips bak*d
Agape tliey heai^'d nie call;
Oramercy! they for joy did grin
And all at ouce their breath drew in
As they were drinking alL
She doth not tack irom side to side —
Hither to work us weal
Withouten wind, withouteii tide
She steddies with upright keel.
The westem wave was all a ilame,
The day was well nigh done!
Almo?it opon the westera wave
Bested the broad bright Sun;
When that stränge shape drove suddenly
Betwixt US and the Sun.
Was pardid and gloj^d eadk eye, / Wherif looking weslward, l beheld /
Ä SQnteihing in the shf. ~ 147. A an it (S And m tfit) a, zu 63. A (liier indes
mit Beibehaltung der Zeit), — 15^>, A außer der Abschafifuug des arch.
ne , ^ ,ne in S Bessenmg der allzu gekünstelteu Werteste llung. — 151. A
völlig zu 159. S geimdert. Der jetzt parataktische Satz ist besser zum
vorhergehenden gezogen; der Anc. Mar. bezieht sich ganz richtig
jetzt selber mit in die Schar der Vei'schmachtenden ; durch das Ver-
schwinden der Unterordnung ist eiu Versfuß frei geworden : ihn tltUJt
nun das noch einmal die Schrecken des Augenblicks zusamm entlassende
The Ancient Mariner. 67
Part m.
There passed a weary time. Each throat
Was parched, and glazed each eye.
145 A weary time! a weary time!
How glazed each weary eye,
When looking westward, I beheld St^w'^rlJ^SI
A something in the sky. «lemwit »st oo.
At first it seem'd a little speck,
150 And then it seem'd a mist;
It moved, and moved, and took at last
A certain shape, I wist.
A speck, a mist, a shape, I wist!
And still it near'd and near'd:
155 As if it dodged a water-sprite,
It plonged and tack'd and veer^d.
With throats unslaked, with black lips baked, i*i2;S;^rCf;
We could nor laugh nor wail; riup«iid«t«d«.rT««.
^ ' loa h« fr««th hl»
Through utter drought all dumb we stood! •p.^hftomthekood«
of thlnt.
160 I bit my arm, I sucked the blood,
And cried, A sail! a sail!
With throats unslaked, with black lips baked,
Agape they heard me call:
Gramercy! they for joy did grin, Aa^horjoy.
165 And all at once their breath drew in,
As they were drinking all.
See! see! (I cried) she tacks no more! /o^'iiT^.'r^^i'i
Hither to work us weal, - wlSI-r:^:*^^;»
Without a breeze, without a tide,
170 She steadies with upright keel!
The westem wave was all a-flame.
The day was well nigh done!
Almost upon the westem wave
Bested the broad bright Sun;
175 When that stränge shape drove suddenly
Betwixt US and the Sun.
utter aus. — 152. A and sucked the blood, 160. S / sucked {he blood:
wirksamere Wiederholung des Pronomens. — 154. A ihroat, 161. 8
throats, die dem modernen Englisch entsprechende Pluralbezeichnung. —
159— 160. A durch 167— 168. S ersetzt. Das geisterhafte Nahen des
Schiffes wird jetzt mit größerer Wahrscheinlichkeit vom Anc. Mar.
erst bemerkt, als es schon in erkennbare Weite kommt ; sein Erstaunen
ist nun klarer ausgedrückt. — 161. A = 169. S. Das von H, auf
Chaucer, Leg, of Dido, l, 46 (His fere and he, withouten any gyde)
zarQckgefOhrt« withouten ist modernisiert, die schwere Assonanz wind-
1»
he Anc^^ent Marinere.
And strait the Stm was fieck'd with bars
(Heaven's mother send us grace)
As if thro' a dungeon grate he peer*d
With broad and buming face,
Alas! (thoiight I, and my heart beat loiad)
How fast äbe neres and neres!
Are those her Sails that glance iii the Smi
Like restless gossainere« ?
Are those her naked ribs, which fleck'd
The sun that did behind them peer?
And are those two all, all the crew,
That womau aud her fleshless Pheere?
Hig boues were black i^^th many a crack.
All black and bare, I ween;
Jet-black and bare, save where with rust
Of moudly damps and chainel crust
TheyVe pateh'd with ptii-ple and green.
Her lips are red, her looks are free,
Her locks are yellow as gold:
Her skin is as white as leproßy,
And she is far liker Death than he;
Her flesh makes the still air cold.
Tbe naked Htilk alongside came
And the Twain were playing dice;
'*The Game is done! IVe won, IVe wonl"
Quoth she, and whisüed thrice.
1751
mai
185
19D.
ist nun durch hree£e*tiäe ensetzt. — 176. A. H, zur Stelle ; *The
SpelUng gossamere in Draiftmi'n Nymphidia, XVIL Chaucer write^
gossomer mrrecihf* — 177— 185, A ent^spricht dem stark gekürzten
Abschnitte 185—189. S, Eine bds. Verbesserung Col/s in einem
Exemplare von A las; Are those her ribs which fleck' d iJie sun j Like
Lars of a dungeon grate? / Are those two all, all of the crtw, / Thai
fi^oman and her maieP Eine andere (beide nach Ca): This ship it ttas
aplmikleits UUngj / Ä bare Anatomy! j A plankless Spectre^ and it mov*d f
Like a Öeing of the Seal j The woman and a flcfthUs» m^n / T herein
Bäte merrilt/. Diese zweite Korrektur war eine unnütze Ansspinntmg
der Schiftsbesckreibung mit dem sonderbaren Zuge des ^^maril^^'; der
grausige Eindruck, der jetzt allein gegeben Lst, wu-kt entschieden
stärker. Dagegen gibt die erste Korrektur einen schönen Übergang
zu B, indem das in A erst angedeutete Motiv von dem gitterartigen
Eindrucke der Scbiffsrippen mit der durchblickenden Sonne durch-
geführt wird: B Are ihese her Mib^, thro' tchich th^ Sun j IHd peer, as
thro* a grate? / And are tliese itco all, all her trete ^ / That Woman,
attd Iier Mate! Das letzte AVoil mag des Keimes wegen den aus
17 L A (= 179. 8) wiederholten Vergleich mit grate nahegelegt haben.
The Ancient Mariner«
69
And straight the Sun was Becked with bat«,
(Heaven*s Mother send us grace!)
As if through a dimgeon-grate he peered
l&O With broad and bnrning face.
Alasi (thought I, and my heart beat loud)
How fast she nears and nearsl
Are thoae her saiLs that glance in the Sun,
Like restless gossameres?
II mmmA k\m tifll Um
160
190
195
Are those her ribs through which the Sun,
Did peer, as through a grate?
And is that Woman all her crew?
Is Üiat a Death? and are there two?
Is Death that womau's mate?
Her Ups were red, her looks were free,
Her locks were yellow as gold:
Her skin was as white as leprosy,
The Night-mare Life-in-Death was she,
Who thickä niau^s blood with cold.
The naked hulk alongsiide came,
And the twain were casting dice;
^'The game is donel Pve woni Tve won!"
Quoth she, and whistles thrice.
ik» (tb* UU«]-}irliui«Ui
sobald das allzu arch. pheere (vgl. zu 60. A) gefallen war. Für die
hrlichere Schildenmg des männlichen Dmih^ der für die
beschichte weniger von Belang ist^ trat nun in S das grausige
Spiel mit dem Woi-te Death und dem späteren (193.) Life-iti^Death.
— *Col feit that these kideous incidents of (he grave onlif detn'acteä
from the ßner Horror o/ Üie voluptuous beatdij of his tühite devü, the
Nighi-mare Ldfe-in-DeathJ (Dowden,) — *Cot rf^'ecteä from hia irork
the horrors, wMe retaining the ierrors, of death,' (Swiuburaej H macht
^damtif ftuiinerksam, daB 177—180. A die einzige Strophe sei^ die ganz
ider all© Begel aus 4 je vierheb, Zeilen besteht^ ein Versehen, das
Schon die hds, Korrektm*en und B berichtigten, — 186 ff. A in 190 ffl 8
were, was. Das lebendigere Präsens der aul*geregten Besciu-eibung ist
t&nn durch das durch den Zusammenhang gegebene Präteritum
etzt — 189—190. A. Erst 193. 8 fahrte hier den Namen Life-in^
\ imd die Bezeichnung Night- mair [sie l] ein, die einen richtigen Vor»
schmack vom Schicksale des Anc» Mar. geben. Die doch zu weit
hergeholte Wij-kung ihres Erscheinens auf die Luft wLid nun faßlicher
ttuf den Menschen bezogen; Who thickä man's blood with cold, —
192. A in 196. S sinnlicherer Ausdruck. — 194, A zum Tempuswechsel
60
The Ancyent Marinere.
A gust of wind sterte np beliind
And whistled thro' hia bones;
Thro' the ho) es o£ his eves and the hole of his moath
Half-whistles and hall-groons.
195
With never a whisper in the Sea
Ofi' darte the SpectTe-lTiip;
300
While clombe above the Eastem bar
The homed Aloon, with one bright Star
Almoöt atween the tips,
One after one by the horued Moon
(Listen, O Stranger! to me)
Eaoh tnm'd his face with a ghastly pang
And cnrä'd me with bis ee.
Fonr times Mty living men,
With never a sigh or groaa,
With heavy thump, a lifeless Ininp
They dropp'd down one by one.
Their louls did irom their bodies fly, —
They fled to bÜBS or woej
And every goni it pass*d me by,
Like the whiz of my Cross-bow.
90&
210
215
whisiUs, der nun erklärlich erscheint, siehe Komm, zu 19& S. -^
195—203. k ist 199— 21L S erweitert. Die ersten 4 Zeilen Toa 4
schildern abermals grauenhafte Vorgänge an dem männlichen Gespensti
die wie oben (177—185. A) als überflüssig fallen gelassen wurden.
Dagegen ist die Abfahrt des Geisterschifies und die ihr immittelbar
folgende Stimmung in weit subjektiverer und ausHilhrlicherer Weise
gemalt» 199, 200, A sind nun in 201—202.8 zu suchen; hörte man
früher nichts beim Verschwinden des Fahrzeuges, so ist jetzt ein
geisterhaftes, weithin hörbares Flüstern zu vernehmen — ein grauen-
erweckender übernatürlicher Ton; das frühere Präsens off darts ist
nun als Abschluß dieses Abschnitte-s in ein Präteiitum off shot ver-
wandelt (anderes Verbum^ wohl um eine nicht angebrachte Assonanz
mit dem durch den neuen Reim geschalienen apectre-bark zu ver*
meiden). Der Abend bricht nun erat nach dem Verwehen des Spukes
ein, daher Wechsel der Konjunktion in 201. A i:2<J9, 8); der
war früher aimoat atween the Ups, ein Bild^ das in seiner Unbestimmt-
I
I
pukea M
Stern ■
inmt- ^1
The Ancient Mariner. 61
The Sun's rim dips; the stars rush out: ^''Jü^'STt^
200 At one stride comes the dark;
With far-heard whisper, o'er the sea,
Off shot the spectre-bark.
We listen'd and looked sideways up! ^» "- J^JJ •' *•
Fear at my heart, as at a cup,
205 My life-blood seemed to sip!
The Stars were dim, and thick the night,
The steersman's face by his lamp gleam'd white;
From the sails the dew did drip —
Till clombe above the eastem bar
210 The homed Moon, with one bright star
Within the nether tip.
One after one, by the star-dogged Moon, on««ft«*n«»w.
Too quick for groan or sigh,
Each tum'd his face with a ghastly pang
215 And curs'd me with his eye.
Four times fifty living men, "'* JtoJTdllL^
(And I heard nor sigh nor groan)
With heavy thump, a lifeless lump,
They dropped down one by one.
220 The souls did from their bodies fly, — bX'Üi^i^-
They fled to bliss or woe ! *»»• ««•«» umMUmw.
And every soul, it passed me by,
Like the whizz of my cross-bow!
heit entschieden dem späteren, genau ausgesprochenen und daher
unmöglichen toithin the nether tip vorzuziehen gewesen wäre. Die Bein-
heit des Reimes, die nun in S hergestellt ist, scheint dies unglück-
selige Motiv (vgl. Komm, zu 210. S) noch übler gestaltet zu haben. —
204—207. A. Das unverfängliche the homed Moon ist nun 212. S im
Sinne des eben Bemerkten zu dem siar-dogged Moon gewendet, dem
Schifferaberglauben auch im Worte gemäß ; der 205. A übel angebrachte
Zuruf des Anc. Mar. an den ohnedies gewiß recht aufmerksamen
Hochzeitsgast ist durch das wirkungsvolle Motiv des Vergleiches der
Schnelligkeit in 218. S ersetzt, wodurch absichtliche Wiederholung
desselben in 217. S entsteht. Anstoß zur Änderung mag das dia-
lektische ee 207. A (für eye,) gegeben haben. Vgl. Komm. — 209. A ist in
217. 8 als lebendige Einfügung wirksamer. — 225. A in 283. S nun un-
bestimmter gelassen. — 226. A. Vielleicht gab Col. auch hier in
284. S der Meinung des puritanischen Bezensenten nach, der 98. A
beanständet hatte. — 215. A = 228. S : von hier ab verliert sich die äu^r-
62 The Ancyent Marinere.
IV
*'I fear thee, ancyent Marinere!
•'I fear thy skinny hand;
*^And thon art long and leuik and brown
"As is the ribb'd Sea-sand.
"I fear thee and thy glittering eye 220
"And thy skinny hand so brown —
Fear not, fear not, thou wedding guest!
This body dropt not down.
Alone, alone, all all alone
Alone on the wide wide Sea; 225
And Christ would take no pity on
My soul in agony.
The many men so beautiful,
And they all dead did lie!
And a million million flimy things 230
Liv'd on — and so did I.
I look'd upon the rotting Sea,
And drew my eyes away;
I look'd upon the eldritch deck,
And there the dead men lay. 235
I look'd to Heaven, and try'd to pray;
But or ever a prayer had gusht,
A wicked whisper came and made
My heart as dry as dust.
I clos'd my lids and kept them close, 240
Till the balls like pulses beat;
For the sky and the sea, and the sea and the sky
Lay like a load on my weary eye.
And the dead were at my feet.
The cold sweat melted from their limbs, 245
Ne rot, ne reek did they;
The look with which they look'd on me,
Had never pass'd away.
An orphan's curse would drag to Hell
A spirit from on high: 250
But 0! more horrible than that
Is the curse in a dead man's eye!
Seven days, seven nights I saw that curse.
And yet I could not die.
liehe Kennzeichnung des Monologes durch '*. — 246. A s. zu 55. A. —
The Ancient Mariner. 63
Part IV.
"I fear thee, ancient Mariner! t^t^i.Bpi.,ti,
225 I fear thy skinny hand! uiuDffioumi
And thou art long, and lank, and brown,
As is the ribbed sea-sand.
I fear thee and thy glittering eye,
And thy skinny hand, so brown." —
290 "Fear not, fear not, thou Wedding- Guest ! »■* ^ •«*"* >«-
of
This body dropt not down. w. boduj m •, »»d
hl« bonfbl« p«iiMM«.
Alone, alone, all, all alone,
Alone on a wide wide sea!
And never a saint took pity on
285 My soul in agony.
The many men, so beautiful! "\^^^Z^
And they all dead did lie:
And a thousand thousand slimy things
Liv'd on; and so did I.
240 I look'd upon the rotting sea, ^rtoSr*iÜl.*l^*Ir
And drew my eyes away; many u« d««d.
I look'd upon the rotting deck.
And there the dead men lay.
I look'd to heaven, and tried to pray;
245 But or ever a prayer had gusht,
A wicked whisper came, and made
My heart as diy as dust.
I closed my lids, and kept them close.
And the balls like pulses beat;
250 For the sky and the sea, and the sea and the sky
Lay like a load on my weary eye,
And the dead were at my feet.
The cold sweat melted from their limbs, S'^t'STiT^Sl
Nor rot nor reek did they: d««dm«.
255 The look with which they look'd on me
Had never pass'd away.
An orphan's curse would drag to hell
A spirit from on high;
But oh! more horrible than that
260 Is the curse in a dead man's eye!
Seven days, seven nights, I saw that curse.
And yet I could not die.
64 The Ancyent Marinere.
The moving Moon went up the sky 256
And no where did abide:
SofÜy she was going up
And a star or two befide —
Her beams bemock'd the sultry main
Like moming frosts yspread; 260
But where the ship's huge shadow lay,
The charmed water bumt alway
A still and awful red.
Beyond the shadow of the ship
I watch'd the water-snakes : 265
They mov'd in tracks of shining white;
And when they rear'd, the elfish light
Fell off in hoary flakes.
Within the shadow of the ship
I watch'd their rieh attire: 270
Blue, glossy green, and velvet black
They coil'd and swam: and every track
Was a flash of golden fire.
0 happy living things! no tongue
Their beauty might declare: 275
A spring of love gusht from my heai't,
And 1 bless'd them unawarel
Sure my kind saint took pity on me,
And I bless'd them imaware.
The self-same moment I could pray; 280
And from my neck so free
The Albatross feil oif, and sank
Like lead into the sea.
V
0 sleep, it is a gentle thing
Belov'd from pole to pole! 285
To Mary-queen the praise be yeven
She sent the gentle sleep from heaven
That slid into my soul.
The silly buckets on the deck
That had so long remain'd, 290
1 dreamt that they were fill'd with dew
And when I awoke it rain'd.
260. A in 268. S geändert. Das Bild des Reifes ist nun deut-
licher gezeichnet, da die altertümliche Form yspread (H. weist auf
The Ancient Mariner.
65
The moving Moon went up the sky,
And no where did abide:
265 Softly she was going up,
And a star or two beside —
Her beams bemock'd the sultry main,
Like April hoar-frost spread;
But where the ship's huge shadow lay,
270 The charmed water bumt alway
A still and awful red.
Beyond the shadow of the ship,
I watch'd the water-snakes:
They moved in tracks of shining white,
275 And when they reared, the elfish light
Fell off in hoary flakes.
Within the shadow of the ship
I watch'd their rieh attire:
Blue, glossy green, and velvet black,
280 They coüed and swam; and every track
Was a flash of golden fire.
O happy living things! no tongue
Their beauty niight declare:
A spring of love gnsht from my heart,
286 And I blessed them unaware:
Sure my kind saint took pity on me,
And I blessed them unaware.
In hu lonaliaMi «nd
dxednsM b« 7««m»th
towMda Um Joanayiag
Moon, »ad tlt« »tM«
tbat attn Mjount 7«t
•tül nov« OBWwd; mud
CTcry wbcn UM bla«
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e«d. •■ lorda th»t an
certaialjr aap<cfd,aBd
7«t tkara ia a allent Jojr
at tiMir arrtvaL
By Um Uglit of tk«
Mooa h« Mboldath
Ood'a eraataraa of tho
fToat ealm.
Thtlr boantjr and
tboir kapplaofl«.
290
The seifsame moment I could pray;
And from my neck so free
The Albatross feil off, and sank
Like lead into the sea.
Tht tpM bnriM to
brMk.
295
Part V.
Oh sleep! it is a gentle thing,
Belov'd from pole to pole!
To Mary Queen the praise be given!
She sent the gentle sleep from Heaven,
That slid into my soul.
The silly buckets on the deck,
That had so long remained,
I dreamt that they were filled with dew;
800 And when I awoke, it rained.
Br rraeo of tho boly
Motbor, tiio aaeloat
Marinar U rafrasbod
wltb rala.
Chaucer, Beve's Tale, 220; Prioresse's Tale, 2 hin) durch die moderne
verdrängt wurde und so der Rhythmus geändert werden mußte. —
£ i o h 1 e r y The Ancient Marinor a. Christ. 5
66 The Ancyent Marinere.
My Ups were wet, my throat was cold,
My garments all were dank;
Sure I had drunken in my dreams 295
And still my body drank.
I mov'd and could not feel my limbs,
I was so light, almost
I thought that I had died in sleep,
And was a blessed Ghost. 300
The roaring wind! it roar'd far ofif,
It did not come anear;
But with its soimd it shook the sails
That were so thin and sere.
The Upper air bursts into life, 805
And a hundred fire-flags sheen
To and fro they are hurried about;
And to and fro, and in and out
The Stars dance on between.
The Coming wind doth roar more loud; 310
The sails do sigh, liko sedge:
The rain pours down from one black cloud
And the Moon is at its edge.
Hark! hark! the thick black cloud is cleft,
And the Moon is at its side: 315
Like waters shot from some high crag,
The lightning falls with never a jag
A river steep and wide.
The strong wind reach'd the ship: it roar'd
And dropp'd down, like a stone! 320
Beneath the lightning and the moon
The dead meu gave a groan.
They groan'd, they stirr'd, they all uprose,
Ne spake, ne mov'd their eyes:
It had been stränge, even in a dream 325
To have seeu those dead meu rise.
286. A in 294. S zu given modernisiert; zu ycven bemerkt H,: The
Knighte's Tale allenthalben. — 301. A. Die stoßweise Fügung von A
ist in 309. S dem nun wieder ruhigeren Gange der Erzählung ange-
glichen und syntaktisch eingegliedert. — 305 ff. A, dafUr in 313 ff. S
überall das gleichmäßige Erzähluugstempus. — 309. A in 317. 8
wiederum das Präteritum ; die bleiche Fai-be der Sterne zwischen dem
gespeusti.schen Feuerwerke ist nun eigens hervorgehoben. — 310 ff. A
in 318 ff. S Präterita wie bei 305 ff. A (s. d.). — 314. A Das nicht
ganz auf die optische Beobachtung des Blitzes, wiewohl auf die
akustische, passende und allzu lebhafte Hark! hark! verschwindet in
H« bMntb toandt aad
■•«th atTmof« tifbto
The Ancient Mariner. 67
My Ups were wet, my throat was cold,
My garments all were dank;
Sure I had drunken in my dreams,
And still my body drank.
305 I moved, and could not feel my limbs:
I was so light — almost
I thonght that I had died in sleep,
And was a blessed ghost.
And soon I heard a roaring wind :
310 It did not come anear ; *»•* commouom in
But with its sound it shook the sails, * ' '»«t.
That were so thin and sere.
The Upper air burst into life!
And a hundred fire-flags sheen,
315 To and fro they were hurried about!
And to and fro, and in and out,
The wan Stars danced between.
And the coming wind did roar more loud,
And the sails did sigh like sedge;
320 And the rain poured down from one black cloud;
The Moon was at its edge.
The thick black cloud was cleft, and still
The Moon was at its side:
Like waters shot from some high crag,
325 The lightning feil with never a jag,
A river steep and wide.
The loud wind never reached the ship, ^hlp^t^VU^'
Yet now the ship moved on ! in»pir»d, «ad ü>« «bip
Beneath the hghtning and the Moon
330 The dead men gave a groan.
They groan'd, they stirr'd, they all uprose,
Nor spake, nor moved their eyes;
It had been stränge, even in a dream,
To have seen thosc dead men rise.
322.8; dadurch erfolgt Präzisienmg des folgenden Gedankens. Prä-
terita wie 305ff. A. — 319-320. A in 327—328. S gerade das Gegenteil
und mit gutem Grunde: die Bewegung des Schiffes ist übernatürlich
(327—328. A); behielt S (335—336.) diesen Zug bei, so mußte auch dieser
Widerspruch getilgt werden. Auch das Herabfallen (!) des Windes
in A erschien unklar und war nicht weiter ausgebeutet: die ganze
Vorstellung war äußerst gesucht und undeutlich ; ob Col. das Wunder
der Ausgießung des Heiligen Geistes (wie in 314 S) dabei vorschwebte
(Dr. D i 1 1 e s ; vgl. TÄe Acta, :i, 2), scheint fraglich. — 324. A s. zu 55. A. —
5*
inoTca on ;
The Ancyent Marinere.
The helmsman steerd, the ship mov'd on;
Yet never a breeze up-blew;
The Marineres all 'gan work the ropes,
Where they were wont to do: 390
They rais'd their limbs like lifeless tools —
We were a ghastly crew.
The body of my brother's son
Stood by me knee to knee:
The body and I pull'd at one rope, 335
But he Said nought to me —
And I quak'd to think of my own voice
How fidghtful it would be!
The day-light dawn'd — they dropp'd their arms,
And cluster'd round the mast: 840
Sweet Sounds rose slowly thro' their mouths
And from their bodies pass'd.
Around, aroimd, flew each sweet sound,
Then darted to the sun:
Slowly the sounds oame back agaiu 345
Now mix'd, now one by one.
Sometimes a dropping from the sky
I heard the Lavrock sing;
Sometimes all little birds that are
How they seem'd to üll the sea and air 360
With their sweet jargoning,
And now 'twas like all instruments,
Now like a lonely flute;
And now it is an augel's song
That makes the heavens be mute. 356
It ceas'd: yet still the sails made on
A pleasant noise tili noon,
A noise like of a hidden brook
In the leafy month of June,
That to the fleeping woods all night 360
Singeth a quiet tune.
337—338. A. Der Zug des Schreckens vor dem Klange der eigenen Stinmie
erschien, da der Anc. Mar. sie ja jetzt doch nicht ertönen ließ, C ol. wohl
allzu raffiniert ; er fiel schon in B. Dadurch war wieder eine regelmäßige
vierzeilige Strophe hergestellt worden. Dafür schob der Dichter nun
die schöne Erklärung der Geisterschiffer mit der hier wohl gerecht-
The Ancient Mariner. 69
336 The hehnsman steered, the ship moved on;
Yet never a breeze up blew;
The mariners all 'gan work the ropes,
Where they were wont to do;
They raised their limbs like lifeless tools —
340 We were a ghastly crew.
The body of my brother's son
Stood by me, knee to knee:
The body and I pulled at one rope
Bnt he said nought to me.'
345 "I fear thee, ancient Mariner!" ^"J r,'-.Vl^r^"
Be calm, thou Wedding-Guest! '*.!:T"*.'*'i^"
1 11/11. • mWdU air, kat by «
TTwas not those souls that fled in pain, w..Mdtn>opof
Which to their corses came again, dowiibyüi«inToeMs<»
But a troop of spirite blest: *" **"• «"'^ "*"*•
360 For when it dawned — they dropped their arms,
And clnstered round the mast;
Sweet Sounds rose slowly through their mouths,
And from their bodies passed.
Around, around, flew each sweet sound,
365 Then darted to the Sun;
Slowly the sounds came back again,
Now mixed, now one by one.
Sometimes a-dropping from the sky
I heard the sky-lark sing;
360 Sometimes all little birds that are,
How they seemed to fill the sea and air
With their sweet jargoning !
And now 'twas like all instruments,
Now like a lonely flute;
365 And now it is an angel's song,
That makes the heavens be mute.
It ceased; yet still the sails made on
A pleasant noise tili noon,
A noise like of a hidden brook
370 In the leafy month of June,
That to the sleeping woods all night
Singeth a quiet tune.
fertigten Unterbrechung seitens des Hochzeitsgastes in 345—349. S
ein. — 339. A ist dcum sinngemäß in 350. S S3mtaktisch angereiht. —
848. A das Chaucerische archaistische Lavrock ist nun in 359. S in
das der poetischen Sprache und Vorstellung so geläufige sky-lark um-
70 The Ancyent Marinere.
Listen^ O listen, thou Wedding-guest!
"Marinere! thou hast thy will:
"For that, which comes out of thine eye, doth make
"My body and soul to be still." 365
Never sadder tale was told
To a man of woman bom:
Sadder and wiser thou wedding-guest !
Thou 1t rise to morrow morn.
Never sadder tale was heard 370
By a man of woman bom:
The Marineres all retum'd to work
As silent as befome.
The Marineres all 'gan pull the ropes,
But look at me they n'old: 375
Though I, I am as thin as air —
They cannot me behold.
Till noon we silently sail'd on
Yet never a breeze did breathe:
Slowly and smoothly went the ship 380
Mov'd onward from beneath.
Under the kcel nine fathom deep
From the land of mist and snow
The spirit slid: and it was He
That made the Ship to go. 385
The sails at noon left off their tune
And the Ship stood still also.
The sun right up above the mast
Had fix'd her to the ocean:
But in a minute she 'gan stir 390
With a Short uneasy motion —
Backwards and forwards half her length
With a Short uneasy motion.
Then, like a pawing horse let go,
She made a sudden bound: 395
It flung the blood into my head,
And I feil into a swound.
How long in that same fit I lay,
I have not to declare;
But ere my living life retum'd, 400
gestaltet. Vgl. zu 358. S. — 862—365. A. Die hier an ruhiger gewordener
Stelle nicht gerade wahrscheinliche Unterbrechung ist nun, wie erwähnt^
in 345—349. 8 früher und passender eingestellt. Schon in B war diese und
die folgenden drei Strophen von A getilgt worden, wohl teils wegen der
The Ancient Mariner. 71
Till noon we quietly sailed on,
Yet never a breeze did breathe:
875 Slowly and smoothly went the ship,
Moved onward from beneath.
ünder the keel nine fathom deep, '^•J'Srr.'Ä
From the land of mist and snow, «•"*•• •» »>»• »"p ••
The spirit slid: and it was he ob«iuae« to th«
380 That made the ship to go. ^^^^^^^^^
The sails at noon lefb off their tune,
And the ship stood still also.
The Sun, right up above the mast,
Had fixed her to the ocean:
385 But in a minute she 'gan stir,
With a Short uneasy motion —
Backwards and forwards half her length
With a Short uneasy motion.
Then like a pawing horse let go,
390 She made a sudden bound:
It fiung the blood into my head,
And I feil down in a swound.
How long in that same fit I lay, li::'i:LlT^
1 have not to declare: inTuibuiBii«biu»tiof
89o But ere my livmg life retumed, inhuwrong;«nitwo
«rst und allein am Schlüsse richtig angebrachten, hier störenden Re-
flexionen, teils wegen des ganz phantastischen Zuges von 375—378. A.
n'old in 376. A ist Cliaucerisch (H. führt es auf KnighU*8 Tale, 166 zurück,
aber auch Prol, 550 ist es belegt). Zu hefome in 373. A vgl. zu 60. A (H.), —
72 The Ancyent Marinere.
I beard and in my soul discem'd
Two voices in the air,
"Is it he? quoth one, "Is this the man?
"By him who died on cross,
"With his cruel bow he lay'd lull low 405
"The harmless Albatross.
"The spirit who 'bideth by himself
"In the land of mist and snow,
"He lov'd the bird that lov'd the man
"Wo shot him with his bow. 410
The other was a softer voice,
As soft as honey-dew:
Quoth he the man hath penance done,
And penance more will do.
VI.
First Voioe.
"But teil me, teil me! speak again, 415
"Thy soft response renewing —
"What makes that ship drive on so fast?
"What is the Ocean doing?
Socond Volce.
"Still as a Slave before his Lord,
"The Ocean hath no blaft: 420
"His great bright eye most silently
"Up to the moon is cast —
"If he may know which way to go,
"For fhe guides him smooth or gnm.
"See, brother, see! how graciously 425
"She looketh down on him.
Firat Voice.
"But why drives on that ship so fast
"Withouten wave or wind?
Second Voioo.
"The air is cut away before,
"And closes from behind. 480
"Fly, brother, fly! more high, more high,
"Or we fhall be belated:
"For slow and slow that ship will go,
"When the Marinere's trance is abated."
I woke, and we were sailing on 435
As in a gentle weather:
'Twas night, calm night, the moon was high:
The dead men stood together.
The Ancient Mariner. 73
I heard, and in my soul discemed ^•'ISr.'ttSMP^UI
Two Voices in the air. loa« «li b««»y f«
"Is it he ?" quoth one, "In this the man ? tk« Pour 8piri^ wbo
By him who died on cross, r-r..* .o.a.w«4.
400 With his cruel bow he laid füll low
The harmless Albatross.
The spirit who bideth by himself
In the land of mist and snow,
He loved the bird that loved the man
405 "Who shot him with his bow."
The other was a softer voice,
As soft as honey-dew:
Qaoth he, ^^The man hath penance doue,
And penance more will do."
Part VI.
First Voico.
410 ^^But teil me, teil me! speak again,
Thy soft response renewing —
What makes that ship drive on so fast?
What is the Ocean doing?"
Second Voice.
"Still as a slave before his lord,
415 The Ocean hath no blast;
His great bright eye most silently
Up to the Moon is cast —
If he may know which way to go :
For she guides him smooth or grim.
420 See, brother, see! how graciously
She looketh down on him."
First Voice.
"But why drives on that ship so fast, Jit^«toTii^^o;
Without or wave or wind?" th« m.««iic pow«
CAOMth tk« vmmI to
«Irivc northtrard Ikitor
Socond Voice. tbkn huamn Ur« coaM
"The air is cut away before, "*"*'
425 And closes irom behind.
Fly, brother, Hy! more high, more higlil
Or we shall be belatcd:
For slow and slow that ship will go,
When the Mariner's trance is abated."
490 I woke, and we were sailing on motten ut^uÜSd^.th*
rlMr mwktt «ad
■ p«B«aM b«fflM
As in a gentle weather: "•^-' •"•»'•^ •■*
'Twas night, calm night, the moon was high :
The dead men stood together.
74 The Ancyent Marinere.
All stood together on the deck,
For a charnel-dungeon fitter: 440
All fix'd on me their stony eyes
That in the moon did glitter.
The pang, the curse, with which they died,
Had never pass'd away:
I could not draw my een from theirs 445
Ne tum them up to pray.
And in its time the spell was snapt,
And I could move my een:
I look'd far-forth, but Üttle saw
Of what might eise be seen. 450
Like one, that on a lonely road
Doth walk in fear and dread,
And having once turn'd round, walks on
And tums no more his head:
Because he knows, a frightful fiend 455
Doth close behind him trcad.
But soon there breath'd a wind on me,
Ne sound ne motion made:
Its path was not upon the sea
In ripple or in shade. 460
It rais'd my hair, it fann'd my cheek,
Like a meadow-galo of spring —
It mingled ftrangely with my fears,
Yet it feit like a welcoming.
Swiftly, swiftly flew the ship, 465
Yet she sail'd softly too:
Sweetly, sweetly blew the breeze —
On me alone it blew.
0 dream of joy! is this indeed
The light-house top I see? 470
Is this the Hill? Is this the Kirk?
Is this mine own countröe?
445. A een modernisiert zu eyes 440. S, vgl. zu 204. A. — 446. A moderni-
siert wie 55. A. — 447—450. A in 442—440. S. Die erste Zeile war in der
älteren Fassung präziser, auch die zweite paßte besser ; aber die dem
Dichter wohl allzu dialektische Form een scheint den Ausschlag gegeben
zu haben. Die dritte Zeile zeigt nur belanglose Form Wörter -Änderungen;
dagegen gewann die vierte entschieden in S durch den Vergleich mit
tatsächlich früher Geschehenem, während A nur von Möglichkeiten
The Ancient Mariner. 76
All stood together on the deck,
435 For a chamel-dniigeon fitter:
All fixed on me their stony eyes,
That in the Moon did glitter.
The pang, the cnrse, with which they died,
Had never passed away:
440 I could not draw my eyes firom theirs,
Nor tum them up to pray.
And now this spell was snapt: once more ^* ^ISJuS/"**''
I viewed the ocean green,
And looked far forth, yet little saw
445 Of what had eise been seen —
Like one, that on a lonesome road
Doth walk in fear and dread,
And having once tomed round walks on,
And tums no more his head;
450 Because he knows, a frightful fiend
Doth close behind him tread.
But soon there breathed a wind on me,
Nor sound nor motion made:
Its path was not upon the sea,
455 In ripple or in shade.
It raised my hair, it fanned my cheek
Like a meadow-gale of spring —
It mingled strangely with my fears,
Yet it feit like a welcoming.
460 Swiftly, swiftly flew the ship,
Yet she sailed softly too:
Sweetly, sweetly blew the breeze --
On me aJone it blew.
Oh ! dream of joy ! is this indeed
466 The light-house top I see? M.H^tiS;iS*w.
Is this the hill? is this the kirk? «ttT.«M«iry.
Is this mine own countree?
sprach. — 451. A lonely in 446. 8 lonesome; die Senkung ist nun mehr
beschwert: der Dichter scheint auf dem Verlassensein mit Nachdruck
verweilen zu wollen. ~ 448. A s. zu 55. A. — 469. A drückt, wie
überhaupt die Interpunktion in A sehr sparsam ist, die Emphase
schwächer als 464. S aus. — 481-502. A fehlen B und 8. Die störende
Doppelsetztmg des Motives von 507 — 522. A ist nun durch Weg-
iassung des entschieden gröberen Teiles dieser Schilderung beseitigt.
76 The Ancyent Marinere.
We drifted o'er the Harbour-bar,
And I with sobs did pray —
'^O let me be awake, my God! 475
"Or let me sleep alway!"
The harbour-bay was clear as glass,
So smoothly it was strewn!
And on the bay the moon light lay,
And the shadow of the moon. 480
The moonlight bay was white all o'er,
Till rising from the same,
Füll many shapes, that shadows were,
Like as of torches came.
A little distance from the prow 485
Those dark-red shadows were;
But soon I saw that my own flesh
Was red as in a glare.
I tur'nd my head in fear and dread,
And by the holy rood, 490
The bodies had advanc'd, and now
Before the maft they stood.
They lifted up £heir ftiff right arms,
They held them l'trait and tight;
And each right-arm biimt like a torch, 495
A torch that*s bome upright.
Their stony eye-balls glitter'd on
In the red and smoky light.
I pray'd and tum'd my head away
Forth looking as before. 500
There was no breeze upon the bay,
No wave against the shore.
The rock fhone bright, the kirk no less
That Stands above the rock:
The moonlight steep'd in silentness 505
The steady weathercock.
And the bay was white with silent light,
Till rising from the same
Füll many shapes, that shadows were,
In crimson colours came. 510
A little distance from the prow
Those crimson shadows were:
I turn'd my eyes upon the deck --
0 Chrift! what saw I there?
475. S schließt sich auch trotz des Striches ganz organisch an. <—
The Ancient Mariner. 77
We drifted o'er the harbour-bar,
And I with sobs did pray —
470 0 let me be awake, my Godl
Or let me sleep alway.
The harbonr-bay was clear as glass,
So smoothly it was strewn!
And on the bay the moonlight lay,
475 And the shadow of the moon.
The rock shone bright, the kirk no less,
That Stands above the rock:
The moonlight steeped in silentness
The steady weathercock.
480 And the bay was white with silent light ..arV»Ä;;d'£Sl..
Till rising from the same,
Füll many shapes, that shadows were,
In crimson colours came.
A little distance from the prow \tnT™"oMi^?'
485 Those crimson shadows were:
I tumed my eyes upon the deck —
Oh, Christ! what saw I there!
78 The Ancyent Marinere.
Each corse lay flat, lifelefs and flat; 515
And by the Holy rood
A man all light, a seraph-maD,
On every corse there stood.
This seraph-band, each wav'd bis band:
It was a beavenly sigbt: 520
Tbey stood as Signals to tbe land,
Eacb one a lovely ligbt:
Tbis serapb-band, eacb wav'd bis band,
No voice did tbey impart —
No voice; but 0! tbe süence sank, 525
Like music on my beart.
Eftsones I beard tbe dasb of oars,
I beard tbe pilot's cbeer:
My bead was tum'd perforce away
And I saw a boat appear. 580
Tben vanisb'd all tbe lovely ligbts;
Tbe bodies rose anew:
Witb silent pace, eacb to bis place^
Game back tbe gbastly crew.
Tbe wind, tbat sbade nor motion made, 585
On me alone it blew.
Tbe pilot, and tbe pilot's boy
I beard tbem Coming fast:
Dear Lord in Heaven! it was a joy,
Tbe dead men could not blast. 540
I saw a tbird — I beard bis voice:
It is tbe Hermit good!
He fiugetb loud bis godly hymns
Tbat be makes in tbe wood.
He*ll sbrieve my soul, be'll wasb away 545
Tbe Albatrosses blood.
yii
Tbis Hermit good lives in tbat wood
Whicb slopes down to tbe Sea.
How loudly bis sweet voice bo reai*s!
He loves to talk witb Marineres 550
Tbat come from a far Contröe.
527. A. In 500. S ist das Cbaucerische efisoties (H, ziebt Leg, of
Phüomela, 95 an) fallen gelassen, dafür ein logischer Anschluß in der
Form hergestellt. Vgl. aber auch 12. S. — 531. — 536. A fiel schon in
B als eine nun, wo der Anc. Mar. alle Aufmerksamkeit auf das
Lotsenboot richtet, störende und zwecklose Ablenkung. Eine nicht
sehr verbürgte Nachricht (des Ed. von 1877 — 1880) weiß von einer
The Ancient Mariner. 79
£ach corse lay flat, lifeless and flat,
And, by the holy rood!
490 A man all light, a seraph-man,
On every corse there stood.
This seraph-band, each waved bis band:
It was a beavenly sigbt!
Tbey stood as signals to tbe land,
495 £acb one a lovely ligbt:
Tbis serapb-band, eacb waved bis band,
No voice did tbey impart —
No voice; but ob! tbe silence sank
Like music on my beart.
500 But soon I beard tbe dasb of oars,
I beard tbe Pilot's cbeer;
My head was tumed perforce away,
And I saw a boat appear.
Tbe Pilot and tbe Pilot's boy,
505 I beard tbem coming fast:
Dear Lord in Heaven ! it was a joy
Tbe dead men could not blast.
I saw a tbird — I beard bis voice:
It is tbe Hermit good!
510 He singe tb loud bis godly hyinns
Tbat be makes in tbe wood.
He'U sbrieve my soul, be'U wasb away
Tbe Albatrosses blood.
Part yil.
Tbis Hermit good lives in tbat wood Th.n.naUof a,
515 Wbicb slopes down to tbe sea.
How loudly bis sweet voice be rears!
He loves to talk witb marineres
Tbat come from a far couutree.
bds. Korrektur Col.'s in einem Exemplare zu reden: Tlien vamsh'd
all Ute lovely lighis, / The sjnrits of the air, / No souU of mortal mefi
toere they, / But spirits hright and fair. Hier wäre die Wiederholung
durcb die ausdrückliebe Erklärung:, daß es sieb nicbt um Seelen Ver-
storbener bandelt, sondern um Luftgeister, eher gerechtfertigt gewesen.
— 550. A s. zu 1. A. — 571. A in 538. S Ivaih^ in Übereinstimmung
80 The Ancyent Marinere.
He kneels at mom and noon and eve —
He hath a cushion plump:
It is the moss, that whoUy hides
The rotted old Oak-stump. 555
The Skiff-hoat ne'rd: I heard them talk.
"Why, this is stränge, I trow!
"Where are those lights so many and fair
"That Signal made but now?
"Strange, by my faith! the Hermit said — 560
"And they answer'd not our cheer.
"The planks lock warp'd, and see those saus
"How thin they are and sere!
"I never saw aught like to them
"Unless perchance it were 565
"The skeletons of leaves that lag
"My forest brook along:
"WTien the Ivy-tod is heavy with snow.
"And the Owlet whoops to the wolf below
"That eats the she-wolf's young. 570
"Dear Lordl it has a fiendish look —
(The Pilot made reply)
"I am a-fear'd. — "Push on, push on!"
Said the Hermit cheerily.
The Boat came closer to the Ship, 575
But I ne spake ue stirr*d!
The Boat came close beneath the Ship,
And strait a sound was heard!
Under the water it rumbled ou,
Still louder and more dread: 580
It reach'd the Ship, it split the bay;
The Ship went down like lead.
Stunn'd by that loud and dreadful sound,
Which sky and oceau smote:
Like one that hath been seven days drown'd 585
My body lay afioat:
But, swift as dreams, myself I Ibund
Within the Pilot's boat.
Upon the whirl, where sank the Ship,
The boat spun round and round: 590
And all was still, save that the hill
Was telling of the sound.
mit den sonstigen Stellen, wo das Hilfsverb erscheint. — 576. A s.
The Ancient Alariner. 81
He kneels at mom, and noon^ and eve —
620 He hath a cushion plmnp:
It is the moss that wholly hides
The rotted old oak-stump.
The Skiff-boat neared: I heard them talk,
"\Vhy, this is stränge, I tarow!
525 Where are those lights so many and fair,
That Signal made but now?"
^•Strange, by my faith!" the Hennit said — '^"wIlh'iIinAli.'***'
"And they answered not our cheer!
The planks looked warped! and see those sails,
530 How thin they are and sere!
I never saw aught like to them,
ünless perchance it were
Brown skeletons of leaves that lag
My forest-brook along;
535 AVhen the ivy-tod is heavy with snow.
And the owlet whoops to the wolf below,
That eats the she-wolf's young."
"Dear Lord! it hath a fiendish look —
(The Pilot made reply)
540 I am a-feared" — "Push on, push on!"
Said the Hermit cheerily.
The boat came closer to the ship.
But I nor spake nor stirred;
The boat came closo bencath the ship,
545 And straight a sound was heard.
Under the water it rumbled on, ^* 'äi:Sl'*'"*^
Still louder and more dread:
It reached the ship, it split the bay;
The ship went do\\Ti like lead.
550 Stunned by that loud and di-eadful sound, ^«TS^il'L^ÄI
Which sky and ocean smote, '^*-
Like one that hath been seven days drowned
My body lay atioat;
But Swift as dreams, myself I found
555 Within the Pilot's boat.
üpon the whirl, where sank the ship.
The boat spun round and round;
And all was still, save that the hill
Was telling of the sound.
Eiohler, Tho Anciont Muriner u. Christ.
82 The Ancyent Marinere.
I mov'd my lips: the Pilot shriek'd
And feil down in a fit.
The Holy Herrn it rais'd his eyes 595
And pray'd where he did sit.
I took the oars: the Pilot's boy,
Who now doth crazy go,
Laugh'd loud and long, and all the while
His eyes went to and fro, 600
"Ha! ha!" quoth he — ^full plaiu I see,
"The devü knows how to row."
And now all in mine owu Countr^e
I stood on the firm land!
The Hermit stepp'd forth from the boat, 605
And scarcely he could stand.
"0 shrieve me, shrieve me, holy Man!
The Hermit cross'd his brow —
"Say quick," quoth he, "I bid thee say
"ÄVhat manner man art thou? 610
Forth with this frame of mine was wrench'd
With a woeful agony,
Which forc'd me to begin my tale
And then it lefb me free.
Since then at an uncertain hour, 615
Now oftimes and now fewer,
That anguish comes and makes me teil
My ghastly aventure.
I pass, like night, from land to land;
I have Strange power of speech; 620
The momeut that his face I see
I know the man that must hear me;
To him my tale I teach.
What loud uproar bursts from that door!
The Wedding-guests are there: 625
But in the Garden-bower the Bride
And Bride-maids siugiug are:
And hark the little Vesper-bell
WTiich biddoth me to pra3'er.
zu 55. A. — 610. A in 577. S manner of man; die allzu populäre Kürze
dos Ausdruckes ist nun im Munde des Eremiten gemildert. —
016— G18. A schon in B wie in S geändert. [B hat als Df. agencyj:
Anstoß mag das herzlich schlecht reimende aventure gegeben hab^n.
[H. führt das Wort auf Chaucer, Leg. of Dido, 30 zurtlck: 'But of his
aventures in the see . . ! imd bemerkt hiezu: **A rare sense in Chaucer:
The Ancient Mariner. 88
560 I moved my Ups — the Pilot shrieked
And feil down in a fit;
The holy Hermit raised his eyes,
And prayed where he did sit.
I took the oars: the Pilot's boy,
565 Who now doth crazy go,
Laughed loud and long^ and all the while
His eyes went to and fro.
"Ha! ha!" quoth he, **full piain I see,
The Devil knows how to row."
570 And now, all in my own countree,
I stood on the firm land!
The Hermit stepped forth from the boat.
And scarcely he could stand.
"O shrieve me, shrieve me, holy man!" ^iS*^tüIS2r
575 The Hermit crossed his brow. *»|« H««it «o ah*^
hlm ; MM tnM pwiamw
"Say quick," quoth he, "I bid thee say — of w« faiu o» w«.
What manner of man art thou?"
Forthwith this frame of mine was wrench'd
With a woful agony,
580 Which forced me to begin my tale;
And then it left me free.
Since then, at an uncertain hour, thXhir.'Sl^
That aerony retums: ur« «n »gwy oon-
And tili my ghastly tale is told, from und to im«.
585 This heart within me bums.
I pass, like night, from land to land;
I have sti'ange power of speech;
That moment that his face I see,
I know the man that must hear me:
590 To him my tale I teach.
What loud uproar bursts from that door!
The wedding-guests are there:
But in the garden-bower the bride
And bride-maids singing are:
595 And hark the little vesper bell,
Which biddeth me to prayer!
ef, Ascham: 'Adventurea now-a-days mean experiences in traveV/*
Warum er nicht auch Prol., 794 — 795 anzieht : 'And hom-toard lie shcUl
teilen othere two j Of aventures that whylom han hifalW, sehe ich nicht
ein.] Die zwei letzten Zeilen der Strophe drücken in der jüngeren
Fassung den unwiderstehlichen Zwfiuig viel klarer aus.
6*
84 The Ancyent Marinere.
0 Wedding-guest ! this soul hath been 630
Alone on a wide wide sea:
So lonely 'twas, that God himself
Scarce seemed there to be.
0 sweeter than the Marriage-feast,
'Tis sweeter far to me 635
To walk together to the Kirk
With a goodly Company.
To walk together to the Kirk
And all together pray,
While each to hLs great father bends, 640
Old men, and babes, and loving friends,
And Youths, and Maidens gay.
Farewell, farewell! but this I teil
To thee, thou wedding-guest!
He prayetji well who loveth well 645
Both man and bird and beast.
He prayeth best who loveth best,
All things both great and small:
For the dear God, who loveth us.
He made and loveth all. 650
The Marinere, whose eye is bright,
Whose beard with age is hoar,
Is gone; and now the wedding-guest
Tum'd from the bridegroom's door.
He went, like one that hath been stunn'd 655
And is of sense forlom:
A sadder and a wiser man
He rose the morrow morn.
The Ancient Mariner. 85
0 Wedding-Guest ! this soul hath been
Alone on a wide wide sea:
So lonely 'twas. that God himself
GfJÖ Scarce seemed there to be.
O sweeter than the mamage-feast,
Tis sweeter far to me,
To walk together to the kirk
AVith a goodly Company! —
&JÖ To walk together to tho kirk,
And all together pray,
While each to his great Father bends,
Old men, and babes, and loving friends
And youths and maidens gay!
610 Farewell, farewell! but this I teil tfn.^.^'i^^
To thee, thou Weddmg-Guest ! «v.r««to»ntwny.
He prayeth well, who loveth well ^»^
Both man and bird and beast.
He prayeth best, who loveth best
(315 All things both great and small;
For the deai* God who loveth us,
He made and loveth all.
The Mariner, whose eye is bright,
Whose beard with age is hoar,
♦j2<» Ts gone: and now the AVedding-G liest
Tumed from the bridegroom's door.
He went like one that hath been stunned.
And is of sense forlorn:
A sadder and a wiser man,
625 He rose the morrow morn.
Text und Lesarten.
Christabel
Pret'ace.
*The first part of the following poem was written in the year
one thousaud seven hundred and ninety-seven, at Stowey, in the
county of Somerset. The second part, after my retnm from Germany,
in the year one thousand eight hundred, at Keswick, Cumherland. It
is probable, that if the poem had been finished at either of the former
periods, or if even the first and second part had been published in the
year 1800, the impression of its originality would have been much greater
than I dare at present expect. But for this, I have only my own indolence
to blame. The dates are mentioned for the exclusive purpose of pre-
cluding charges of plagiarism or servile imitation from myself. For
there is amongst us a set of critics, who seem to hold, that every
possible thought and image is traditional; who have no notion that
there are such things as fountains in the world, small as well as
great; and who would therefore charitably derive every rill they
behold flowing, from a Perforation made in some other man's tank.
I am confident, however, that as far as the present poem is concemed,
the celebrated poets whose writings I might be suspected of having
imitated, either in particular passages, or in the tone and the spirit
of the whole, would be among the first to vindicate me fi:om the
Charge, and who, on any strikiiig coincidence, would pemiit me to
address them in this doggorel versiou of two monkish Latin hexa-
meters: —
''Tis mine and it is likewise youi*s;
But an if this will not do,
Let it be mine, good triend! for I
Am the poorer of the two.
*I have only to add, that the metre of the Christabel is not,
properly speaking, irregulär, though it may seem so from its being
tbuuded on a new principle: uamcly, that of countiug in each line
the accents, not the syllables. Tliough the latter may vary from seven
to twelve, yet in each line the acceuts will be found to be only four.
Nevertheless this occasional Variation in number of syllables is not
introduced wantonly, or for the mere ends of convenience, but in
correspondence with some transitiou, in the nature of the imagery or
passion.'
Christabel. 87
Part the First.
'Tis the middle of night by the Castle clock,
And the owls have awakened the crowing cock;
Tu — whit ! Tu — whoo !
And hark, again! the crowing cock,
5 How drowsily it crew.
Sir Leoline, the Baron rieh.
Hath a toothless mastiff, which
From her kennel beneath the rock
Maketh answer to the clock,
10 Four for the quarters, and twelve for the hour;
Ever and aye, by shine and shower,
Sixteen short howls, not over loud;
Some say, she sees my lady's shroud.
Is the night chilly and dark?
15 The night is chilly, but not dark.
The thin gray cloud is spread on high,
It Covers but not hides the sky.
The moon is behind, and at the füll;
And yet she looks both small and dull.
"20 The night is chill, the cloud is gray:
'Tis a raonth before the month of May,
And the Spring comes slowly up this way.
The lovely lady, ChristÄbel,
Whom her father loves so well,
25 What makes her in the wood so late,
A furlong from the Castle gate?
She had dreams all yestoruight
Zur 'Freface vgl. Überlieferung und oben SS. 20—22, 30;
nach C a (pag. 4G()) stammt C o l.'s Aufzeichnung der Verse *xn the lame
and limping metre of a barbarous Laiin poet —' vom 1. November 1801.
Das Original lautet auf dem Zettel: 'Est meum et est tuum, amice! et
8% amborum nequit esse, / Sit meum, amice, j)recor: quia certe sum magi'
(sie !) pauper.* C o l.'s Übersetzung (ibid.) lautete ursprünglich noch hol-
periger: Zeile 2 if statt an */, Zeile 3 because that I statt good friend!
for L — Der abgedruckte Text ist nach B' (1829). Eein ortho-
graphische und äußerliche Interpunktionsänderungen bleiben unberück-
sichtigt: z. B. A awaken'd BB' awakened u. ä. — 7. A mastiff bitdi
BB' mastiff, which — das infolge des vulgären Nebensinnes **Dime,
Metze" verdächtige Intch "Hündin" ist fttr die Bedeutung nicht erfor-
derlich, da mastiff und her deutlich genug das Geschlecht bezeichnen;
ein bequemes Beimwort fand sich im Eelativum, wodurch die Kon-
struktion gemodelt wurde, aber auch metrisch ein Enjambement ent-
stand, was bei Beimversen stets einen Vorteil bedeutet. Vgl. jedoch 149
und 153. — 9. A She makes BB' Makeih Durch das Eelativum which war
88
Christabel.
Of her own betrothed knight ;
And she in the midnight wood will pray
30 For the weal of her lover that's fai* awiiv»
She stole along, ahe notkiug »poke,
The siglis she heaved were soft aod low.
And nanght was greea upon the oak^
Bvit mosa and rarest misletoe:
She kneels heneatli the huge oak tree,
And in silence prayeth she.
^5
4H
45
dO
The lady sprang up suddenly,
The lovely lady, Christahel!
It moaned as neai% as near can be.
But what it is she cannot teil. —
On the other side it seeius to be^
Of the huge^ broad-bre^sted, old oak tree.
The night is chill ; the forest bare ;
Is it the wind that moaneth hleak?
There is uot wind eiiough in the air
To move away the ringlet curl
From the lovely lady*s < heek —
There is not wind euough to twirl
The one red leaf, the last of its clan,
That dances as often as dance it can,
Hanging so light, and hanging so high,
On the topmost twig that looks np at the skj'
Hush, beating heart of ChristAbel!
Jesu^ Mai'ia, shield her well I
die an sich unnötige Wiederholung des Subjektes gänzlich überflüssig]
geworden. Die Silbenzaiil wurde durch die ai-chaisierende Form wieder*
Atisgefdllt. — 11. A moonshtne or shower BB' by shüie or shower AWzu große
Beschwerung der Zeile durrh Silhen ist vermieden, Alliteration her*
gestellt ; wobei der Sinn durch die Bedeutung shine = "schön Wetter" i
anders geworden ist. — Nach 28 in € Dreams that made her moan and
leap f As OH her bcd ßhe lay m Meep ; das sonst besser ven^^ertete Motiv ]
des unruhigen Schlafens wäre hier schon vorweggenommen ; daher zu
%'emachlässigen. — 32. A HS I & III The breezes they were still also)
MS II The breeies thefj were whvipeiing low BB* The sighs she heaved \
were soft and low. Das ursprünglich eingemengte Natnrmoment ist'l
fallen gelassen und erst später nachdrücklicher ei*Tv^ähnt (44 ff.). Hier]
erwies es sich schon durch das schwache Beim wort aUto als ein Füllsel J
das die nun schön durchgeführte Beschreibung Christabels nicht mehr 1
unterbricht. Verunglückt spricht MS 11, das zuerst da^ bedeutender«!
Be im wort ^ti? bringt, von einem „leisen Wehen^j was zu 41-46 nicht'
stimmt. 37. A leaps up Bß' sprang up: Änderung in der Zeit und im
Worte vielleicht wegen der Kakophonie leaps up resp. leaped up. — j
Christabel. 89
55 She folded her arms beneath her cloak,
And stole to the other side of the oak.
What sees she there?
There she sees a damsel bright,
Drest in a silken robe of white,
60 That shadowy in the moonlight shone:
The neck that made that white robe wan,
Her stately neck, and arms were bare;
Her blue-veined feet unsandaPd were,
And wildly glittered here and there
65 The gems entangled in her hair.
I guess, ^twas frightfal there to see
A lady so richly clad as she —
Beautiful exceedingly !
Mary mother, save me now!
70 (Said Christabel,) And who art thou?
The lady stränge made answer meet.
And her voice was faint and sweet: —
Have pity on my sore distress,
I scarce cau speak Ibr weariness:
75 Stretch forth thy band, and have no fear!
Said Christabel, How camest thou hereV
And the lady, whose voice was faint and sweet,
Did thus pursue her answer meet: —
60-65. Dafür hatte A HS I & III Her neck, her feet, her arms toere
bare, / And the jewels disordered [MS I & III : tumbledj in her hair. Ur-
sprOnglich also eine weit kürzere Fassung: nun ist die äußerliche
Schönheit alles dessen, was man an der gekleideten Geraldine sieht,
mehr hervorgehoben. Ca. bezweifelt, daß die Lesart der MSS, wie
Collier von Col. selber erfahren haben will, eine falsche Schreibung
ftlr tangled sei, weil ein solches Verschreiben zweimal unwahr-
scheinlich sei. Wie käme aber sonst statt des disordered vofi A das en-
tangled von B herein? 74. AB weariness. B' weariness: der gedankliche
Zusammenhang "fürchte dich also nicht vor einer so unschädlichen
Person" ist durch den Doppelpunkt klarer gestellt. — 80. A Geraldine.
BB' Geraldine: wieder näherer Zusammenhang mit dem folgenden. —
81. ABB' MS II Five warriors MS I & III Five ruffians. Das edlere
Wort der ersten gedruckten Lesart wurde beibehalten. Hiezu Ca.
(pag. 605): *^The version of Christabel recited to Scott hy Stoddart
[1801] was douhtless MS I. Scott prefixed the following lines as Motto to
chap. XI. of The Black Bwarf (1818): — *Three ruffians seized me
yester mom, / Alas! a maiden most forlorn: / They choked my cries with
wicked might, / And bound me on a palfrey white: / As sure as Heaven
shaü pity me, I I cannot teil what men they be. / ChristabeUe,' — A
■istahel.
My sire is of a noble line,
80 And my name is Geraldme:
Five wairiors seisced me yestermom,
Me, even me, a maid forlom:
They choked my cries with force and fright,
And ded me on a palfrey white.
85 Th© palirey was as fleet as wind^
And they rodo furionjäly behind.
They spuired amain, their steeds were white:
And oDce we crossed the sbade of night.
As sure as Heaven fehall rescue me,
90 I have no thoaght what men they be;
Nor do I know how long it is
(For I have lain entranced I wib)
Sine© one, the tallest of the five^
Took me from the palfrey*s back,
95 A weary woman^ scarce alive.
Sorae muttered words bis comrades spoke;
He placed me nnderneath this oak;
He swore they woiild retiim with haste;
WhJtber they went I cannot teJl —
100 I thought I beard» some minute* past,
8oundi9 as of a cai>tle belL
Stretch forth thy band (thus ended she)^
Aud help a wi*etched maid to üee.
Then Cbristabel stretched forth h»:*r band
105 And comforted fair Oeraldiue:
remarkahle rffort of memory, no doubt; bui it ü odd tliat Scott ttlmuld
not have prefened to quäle from ike printed CHriitabelt published huo
pears btfore" Sir Walters pliäüomenale.s Gedäcbtnia (vgl z. B. auch
The Works ö/ the Jtt. Hon.J. //, Frere, Metnoir, 1874, pag. 235 f, wo
er als ein vom Schlage Gerührter mehr als 20 Zeilen aus einer vor
23 Jahren erschienenen Cid-Übersetzung aufwendig voiiiügt) machte
ihn eben zuweilen allzu vertrauensselig und überdies ließ ihn die raseh^J
Art seLuer ScbriftKtellerei nicht ei*st lauge nach Büchern zu Zitaten
Buchen* Obiges kommt mit Weglasi^ung der letzten beiden Zeileoti
ebenfalls frei als Motto T/i« Bdroihtd,* XXIV vor. Ebenso frei atitiert <
Sc. ütid. Conclimon die Verse 302—304 aus Christ, und 'The Pirate/
XIX. t?, 586^590 des Anc. Mar., *St. Rmuin'» Well,* VI v. 5861587
des Anc. Mar,, 'TIm Pirat^/ HI, v. 289 von Christ, und 'The Highland
Widoui,* L 39—42 von Chfist* Dagegen genau Christ. €6-68 in *Th€ ^
Manastenj/ XI. und Christ. 123—144 in *7'h« Abbot,' Note IL vgl. Komiii,H
zu 54. — 88. Ftlr das allgemeine And once we crossed hat MS HI . . .
twice we crossed . . . Das Wiederholen der Erscheinung ist, da sie nur
erzählt wird, überHüftsig, daher auch nicht akzeptiert. — 92. X in ßl»
Rest entranced, da ßts '^JCrämpfe** bedeutet uud auch etwas mehr
Umgangsaprache angehört^ wurde mit dem edlereu Wort auch
te
enfl
eoH
ri^ta^lH
Christabel. 91
0 well, bright dame! may you coinmand
The Service of Sir Leoline;
And gladly our stout chivalry
Will he send forth and Mends withal
HO To guide and guard you safe and free
Home to your noble father's hall.
She rose: and forth with Steps they passed
That strove to be, and were not, fast.
Her gracious stars the lady blest,
115 And thus spake on sweet Christabel:
All our household are at rest,
The hall as silent as the cell;
Sir Leoline is weak in health,
And may not well awakened be,
120 But we will move as if in stealth,
And I beseech your courtesy,
This night, to share your couch with me.
They crossed the moat, and Christabel
Took the key that fitted well;
125 A little door she opened straight.
All in the middle of the gate;
The gate that was ironed within and without,
AVTiere an army in battle array had marched out.
The lady sank, belike through pain,
19(J And Christabel with might and main
Lifted her up, a weary weight,
Over the threshold of the gate:
Then the lady rose again,
And moved, as she were not in pain.
135 So free from danger, free from fear,
They crossed the court: right glad they were.
neue Begriff der "Bewußtlosigkeit" eingeführt. — 106—122. in A MS I
& III: Saying, that ehe should cotnmand / The Service of Sir Leoline; /
Änd straight he convoy'd, free from Uirally / Back to her noble fatlier^s
hall. I — Soup she rose^ and forth tliey passed, / With hurrying stq)s, yet
notkingfiui; / He9' lucky stars tht lady blest, j And Christabel she sweetly
Said — / All our household are at rest, / Eadi one sleeping in his bed; /
Sir Leoline is weak in health, j And may fiot well awaketi*d he; / So to
my room we^ll creep in stealth, / And you to-night must sleep with nie.
MS II stimmt damit; nur lauten die vier Verse: Her lucky stars etc.
hier: Her smiling stars the lady hlest; j And thus bespake sweet Christabel: /
All our household is at rest, / The hall is silent as a cell. Gebessert ist
hier in B die direkte Rede für die schleppende indirekte; der Gegen-
satz zwischen ihrer Hast und dem kleinen Schritt ist nun deutlicher
ausgedrückt. Der Ausdruck lucky paßt nicht lür die Teufelin, deshalb
ändert schon HS II smilingy was dann in B in das nächstliegende
ChristÄbeL
And Cliristabel devoutly cried
To the Lady by her side,
Fraise we the Virg^ all divine
140 Wbo hath rescued thee from thy distress !
Alas^ alas! said rreraldine.
I cautiot speiik for wearinegs.
So iree from danger, free from f©ar,
They croseed the ooiirt: right glad they were.
145 Outside her kennel, the raastiff old
Lay fast a-^leep, iii moonshine cold.
The mastifl' old did not awake.
Yet she an angry moan did make!
And what cau ail the mastiff bitch?
15«3 Never tili now she uttered yell
Beneath the eye of Chi-istabeL
Perhaps it is the owlet's scritch:
For what can aü the mastiÖ' bitch?
They passed the hall^ that eehoes still,
155 Paiss as lightly as you will l
The brandü were flat, the brands were dyingi
Amid their owu white ashes lying;
But when the lady pas^ed» thei*e caine
A tongne of light, a fit of flame;
16^J And Christabel saw the lady 's eye,
And nothiug ebe saw she thereby,
Save the boss of tlie shield of Sir Leoline t^ll,
Wliich hung in a murky old niche in the walK
O softly tread, said ChristabeL
165 My father seldom sleepeth well.
Sweet Chri&tabel her feet doth bare^
And, jealous of the listening air,
gffWl&m gewandelt wurde. Die erste Lesart And Chrtstahel she sweeüf]
Said — ist nicht sehr klar nnd gewandt, bei der zweiten fehlt das j
Objekt, und so ist anch hier B zu bevorzugen, wo die früher ab- j
gebrochene Eede regelrecht aufgenommen wird. Die Zerdehnung des]
Gedankens durch coc^ one MeejAng in his bed i&t einem ueuen Zugej
schon in MS II gei^ichen, den wohl der Reim mit veranlaßt hat. Der I
Schlußpassus endlich ist aus der Form des kategorischen Behauptnngs*]
Satzes in ein höfiiches Ersuchen gewandelt. Das bespake in HS II ist]
als allzu archaistisch wieder fallen gelassen worden. — 113. B fihovadi
(sie!) to be B' strove to be. Sinnloser Df. ~ 114. B STARS B' stars, \
eine sonst nicht ausgenutzte Andeutung auf den Sternaberglaubea]
wurde dadurch hervorgehoben und deshalb im Neudruck wieder aufsl
richtige Maß eingeschränkt. — 1B3. A niich HiW niche^ die modernere
Schreibimg. — 16G— 168. ist in A und MS III kürzer: Swfet Christabel
her feet ehe btires / And the^ are creeping up the siairs. Die etwas n
Christakel. 93
They steal their way from stair to stair,
Now in glimmer, and now in gloom,
170 And now they pass the Baron's room,
As still as death, with stifled breath!
And now have reached her Chamber door;
And now doth Geraldine press down
The rushes of the Chamber floor.
175 The moon shines dim in the open air,
And not a moonbeam enters here.
But they without its light can see
The Chamber carved so curiously^
Carved with figures stränge and sweet,
180 All made out of the carver's brain,
For a lady*s Chamber meet:
The lamp with twofold silver chain
Is fastened to an angel's feet.
The silver lamp bums dead and dim;
185 But Christabel the lamp will trim.
She trimmed the lamp, and made it bright,
And left it swinging to and fro^
While Geraldine, in wretched plight,
Sank down upon the floor below.
190 0 weary lady. Geraldine,
I pray you, drink this cordial wine!
It is a wine of virtuous powers;
My mother made it of wild flowers.
And will your mother pity me,
195 Who am a maiden most forlom?
beholfene erste Zeile wurde in Bfl'. diu-ch das umschreibende do^i
gebessert; dadurch mußte auch das Eeimwort staira geändert werden;
glücklich wurde fttr das niedrige creep das die Heimlichkeit ohne beson-
ders herabsetzenden Nebensinn ausdrückende steal iheir way gesetzt, dafdr
ein sehr schöner Nebengedanke in dem Verse andjealous of the listening
air eingefügt, wodurch auch Dreireim entstand. (167. lobt Ca. beson-
ders). — 171. AB dealh toith B' death, with Der Beistrich war zur Ab-
grenzung dringend nötig. — 173. A And now with eager feet press down
BB' wie oben. Das, worauf es ankommt, daß nämlich die Hexe in
Christabels Kemenate tritt, ist nun deutlich ausgesprochen. Natürlich
mußte nun 174. statt A her Chamber floor BB' einfach the cthamher floor
bieten. — 190—193. ABB' ff. Dafür MS I: 0 weary lady, Geraldine, / I
pray you, drink this spicy wine. / Kay, drink it up ; I pray you, do : /
Believe me, it will comfort you; / und MS III die ersten zwei Zeilen
wie MS I, dann: It is a wine of virtuous powers, / My mother made
it of wHd flowers — / Nay, drink it up; I pray you, do! / Believe
me, ii will comfort you! MS II hatte denselben Text wie A etc.
94
Cbfistabel.
Christabel answered — Woe is me!
She djed the hour that I was hörn.
I have lieard the grey-haired iViar teil
How on her death-bed she did sa\%
2U0 That she should heai- the castle-bell
Sinke twelve tipon m^' wedding-day.
0 mother dearf that tbon wert here!
1 wotild, Said Geraldine^ she were
But soon ^ith altered voice^ said she —
2<»5 'Off^ waDderiög mother! Peak aud pine
1 have power to bid tbee Uee/
Alas! what aib poor Geraldine?
Why Stares sbe with uBsettled eye?
Call she the bodiless dead espy?
210 And why with hoUow voice cries sbe,
*Off, woman^ off! this hour is mine —
Tbougb thou her guardian spirit be^
Off, woman, off! *tis given to ine/
Then Cbristabel knelt by the lady's side,
215 And raised to heaven her eyea so blue —
Alas! Haid she^ thia ghastly ride —
Dear lady! it hath wildered yon!
The lady wiped her moist cold brow.
And faiiitly said, ''tis over no%v!*
2*20 Again the wild-flower wiiie she drank;
Her fair large eyes *gan glitter bright,
And from the tioor whereou she p»ankj
The lofty lady stood uprigbt:
und 191. statt cordial wie die MSS spicy. Ca. nennt cordial ftlrl
Mpi^j '*un t0ifortunat€ chatige'* ; ich sehe nicht ein, warum? ChristAbel
hßJt Ger. in ibrer Gutmütigkeit doch für erscböpffe, sie will
ihr ein stärkendes Mittel reichen^ einen Kräuterwein, der als
solcher eigentlich nicht mehr **gewür7t" sein kann; die ursprOnglich'
in M8 III hinzugefügte Erklärung Ü is a tcine . . , flowen machte di
s/jtci/ dann eben ttberflO.ssig. Oder lag Ca. die andere Bedeutung voni
cordial ''ireundlich, her^Jich, warm" im Ohr? Jedenfalls hätten wir
dann in MS III eine Übergangsfonn vor uns; die beiden erwähnten
Zeilen sind gute Zugabe, sie bezeichnen die liebenswürdige Anpreisung
der Cbristabel und führen den Namen ^^Mntter" ein, so daß die An-
knüpfung des Gespräches motiviert ist. Wieder zeigt M8 III hier ©in
Zwischeustadinm, in dein es die zwei schon in ÄS I bin zugefügten
AufmunterungHsätze zu den zwei neuen mit binzuuimmt. Das scbieo
dem Dichter doch des Guten zu viel und so strick er diese beide0
Älteren. — 219. ABU* ff. Vw orer now! MS I k III Tm better naw\
was Ca. sehr tadelt, offenbar wegen des allzu kolloquialen Aus-
druckes. — 223, AB' upri^ht: B upright; die Wirkung ist durch den
I
Christabel. 95
She was most beautifol to see,
225 Like a lady of a far countr^e.
And thus the lofty lady spake —
*A11 they, who live in the upper sky,
Do love you, holy Christabel!
And you love them, and for their sake
280 And for the good which me befell,
Even I in my degree will try,
Fair maiden, to requite you well.
But now unrobe yourself ; for I
Must pray, ere yet in bed I lie.'
2S5 Quoth Christabel, So let it be!
And as the lady bade, did she.
Her gentle limbs did she undress,
And lay down in her loveliness.
But through her brain of weal and woe,
240 So many thoughts moved to and fro,
That vain it were her lids to close
So half-way from the bed she rose,
And on her elbow did recline
To look at the lady Geraldine.
215 Beneath the lamp the lady bowed,
And slowly rolled her eyes around;
Then drawing in her breath aloud,
Like one that shuddered, she unbound
The cincture from beneath her breast:
Doppelpunkt besser mit der Ursache verknüpft; daher Wieder-
herstellung desselben. 243—268. in A: She unbound / TJie cincture from
beneeUh her breast: / Her Silken robe, and inner ve&t, j Dropt to her feet,
and füll in view, / Behold! her bosom and half her side — JA sight to
(tream of, not to teil! / And she is to sleep by Christabel. — She took
two paees, and a stride, / And lay down by the maiden* s side, / Z. 252 ff.
in HS II : Behold her bosom and half her side / Are lean and old and foul of
hme I And she is to sleep by Christabel! — She took two paccs, and a
stride, I And lay down by ihe Maiden' s side. / Ah wel-a-day! / And wiih
»ad voice and doleful look / These words did say: / In the Touch of my
Bosom ihere worketh a spell / Which is lord of thy utterance, Christabel! j
Thou knowest to-night, and wüt know to-morrow, / The mark of my
duMme, the seal of my sorrow / etc. wie in BB'; dann entsprechend
Z. 277 tf . : And did' st bring her home with thee with Love and with Charity /
To shield her and shelter her from the damp air. Dazu noch in der
Bezension in The Examiner, 1816, 2. Juni eine angeblich einem MS
100
ChristabeL
Alas! they bad been friends in jouth:
Büt vvhispering tongnes can poison truth;
410 And constaucy lives in realms above;
And lue is tboiiiy; and youtb i« vam;
Aiid to be wToth with one we love
Doth wark like madness in tbe brain.
And thus it chanced, a^s I divine^
415 With Roland and Sir LeoHne.
Each spake words of bigh dbdain
And in.siilt to bis heart's best brother:
Tbey parted — ne'er to meet again!
But never eitber foiind anotber
421' To li'ee tbe bollow beart from painiug —
They 8tood aloof^ tb© scars remaiuing^
Like clifls wbicb bad been rent asnnder:
A di'eary sea now tiow.s between.
Biit neitber beat, nor frost, nor thnnder,
425 Sball whoUj" do away^ I ween,
Tbe marks of tbat whicb once hatb been.
Sir Leoline, a moment^s space^
Stood gaxing on tbe damsers face:
And tbe yontbfal Lord of Trj^ermaine
490 Came back upon bis beart again.
O llten the Baron forgot bis age^
His noble beart swelled bigb with rage;
He swore by tbe wounda in Jesu's sid©
He would proclaim it far and wide^
4Bb With tmmp and solemn heraldry,
Tbat they, who thns bad wronged the dame
Were base as spotted infainy!
^And if tbey dai'e deny tbe saiue,
My beraid ^bail appoint a week^
440 And let tbe recreant traitorüi seek
My toumey court — tbat there and tben
I may dislodge tbeir reptile souls
From tbe bodies and forms of men!*
He spake: bis eye in ligbtning rolls!
445 For tbe lad%^ was rvitblessly seized; and be kenned
In the beautiful ladv tbe child of bis friend !
450
And now tbe tears were on bis face,
And fondly in bis ai-nis he took
Fair Geraldine, who met tbe embrace,
Pi'ölonging it with joyous look.
Wbicb when she viewed, a vision feil
Upon tbe soul of Cbristabel,
Christabel. 101
The Vision of fear, the touch and pain!
She shronk and shuddered, and saw again —
4ö5 (Ah, woe is me! Was it for thee,
Tbou gentle maid! such sights to see?)
Again she saw that bosom old,
Again she feit that bosom cold,
And drew in her breath with a hissing sound:
460 Whereat the Knight tumed wildly round,
And nothing saw, but bis own sweet maid
With eyes upraised, as one that prayed.
The touch, the sight, had passed away
And in its stead that vision blest,
466 Which comforted her after-rest,
While in the lady's arms she lay,
Had put a rapture in her breast.
And on her Ups and o'er her eyes
Spread smiles like light!
With new surprise,
470 *What ails then my beloved child?'
The Baron said — His daughter mild
Made answer, *A11 will yet be well!'
I ween, she had no power to teil
Aught eise: so mighty was the spell.
475 Yet he, who saw this Geraldine,
Had deemed her sure a thing divine.
Such sorrow with such grace she blended,
As if sbe feared ske had ofiended
Sweet Christabel, that gentle maid!
480 And with such lowly tones she prayed
She might be sent without delay
Home to her father's mansion.
*Nay!
Nay, by my soul!* said Leoline.
*Ho! Bracy, the bard, the charge be thine!
485 Go thou, with music sweet and loud.
And take two steeds with trappings proud,
And take the youth whom thou lov'st best
To bear thy harp, and leam thy song,
And clothe you both in solemn vest,
490 And over the mountains haste along,
Lest wandering folk, that are abroad,
Detain you on the valley road.
Deutlicher Abschnitt ist nun mit Recht markiert. — 453. Äff. wie
oben; MS I & III The vision foul of fear and pain. Glücklich ist nun
das körperliche Unbehagen der Umarmung durch den Unhold aus-
gedrückt worden. — 468. Äff. wie oben; M8 I The pang the sight was
102
Ckristabel
^And when.be hau crossed the Irthing tioodf
My merry bard! he hast^s, he hast««
495 Up Knorren Moor, throngh Halegarth Wood,
And reaches soon that Castle good
TVliich Stands and threatens ScotJand*s wastes.
*Bard Bracy! bard Bracy! yotir horses are fleet.
Ye must ride up the hall, vout music so sweet,
500 More loud than your horses' echoing feet!
And lond and loud to Lord Roland call,
Thy daughter is safe in Langdale hall!
Thy beautiful datighter i& safe aod free —
Sir Leoline greets thee thns tlu-ough me.
505 He bids thee come without delay
With all thy numerous array;
And take thy lovely datighter home:
And he will meet thee on the way
With all bis numerous array
51U Wliitc with their paoting palfreys' foam:
And by nüne honour! I will say,
That I repent me of the daj*
When I 5>pake words of fierce disdain
Tu Roland de "^'aux of Tryermainel —
515 — For hince that evil hour hath tlown,
Many a summer^i» sun hath shone;
Yet ne*er foimd I a friend again
Like Holand de Vaux of Tryermame.'
The lady feil, and clasped bis kuee$.
520 Her face upraised, her eyes o^erflowing;
Aod Bracy replied, with faltering voice,
His gracious hail on all bestowing;
*Thy words» thou sire of Christabel,
Ai*e sweeter than ni}* harp can teil;
525 Yet might I galn a boon of thee^
This day my joumey sboiild not be.
So Strange a dream hath come to me j
That I had vowed with music loud
To clear yon wood from thing imblest^
590 Wamed by a vision in my rest!
For in my sleep I saw that dove,
That gentle bird, whom thou dost love,
And cairst by thy own daughter's name —
paft awny^ MS III The pang^ the sigUt had pas^'d aicay, — die Diskre-
panzen der MSS erklaren sich aus raschem^ Abschreiben; jsö*»^, der
Schmerz selber, ist nun wie in 453. durch die Bchmerzursache tou€h
ersetzt. — 47G. AB äivine, B' diiine 477 E. waren dadurch als Grund
fnr die Bezeichnung divine charakterisiert. Nim besteht dieae an sich
ChriBtabel. 103
Sir Leoline! I saw the same,
585 Fluttering, and nttering fearful moan,
Among t^e green berbs in tke forest alone.
Whicb when I saw and when I beard,
I wonder'd wbat migbt all the bird;
For nothing near it ooold I aee,
540 Save the grass and green herbs undemeath tbe old tree.
'And in my dream, methought, I went
To search out wbat might there be found;
And wbat tbe sweet bird's trouble meant,
Tbat thos lay fluttering on tbe ground.
545 I went and peered, and could descry
No cause for her distressful cry;
£ut yet for her dear lady^s sake
I stooped, metbougbt, tbe dove to take,
When lo! I saw a bright green snake
550 Coiled around its wings and neck.
Green as tbe berbs on whicb it coucbed,
Close by tbe dove's its head it crouched;
And with the dove it beaves and stirs,
Swelling its neck as she swelled hers!
555 I woke; it was tbe midnight hour,
The clock was echoing in the tower;
But though my slumber was gone by,
This dream it would not pass away —
It seems to live upon my eye!
560 And thence I vowed this self-same day
With music strong and saintly song
To wander througb the forest bare,
Lest aught unholy loiter there/
Thus Bracy said: the Baron, the while,
565 Half-listening heard him with a smile;
Then tumed to Lady Geraldine,
His eyes made up of wonder and love ;
And Said in conrtly accents fine,
*Sweet maid, Lord Rolandes beauteous dove,
570 With arms more strong than harp or song.
Thy sire and I will cnish the snake I'
He kissed her forehead as he spake.
And Geraldine, in maiden wise
Casting down her large bright eyes,
675 With blushing cheek and courtesy fine
She tumed her from Sir Leoline;
Softly gathering up her train,
Tbat o'er her right arm feil again;
And folded her arms across her ehest,
680 And coucbed her head upon her breast.
104
ChristabeL
Aüd looked ask&uce at Christabel
Jesu, Maria^ shield her well!
A snake*3 sm&U eye blinks dull and ehj,
Aod the lady's eyes they ahrunk in her head,
&65 Each shnmk up to a serpent's eye,
And with somewhat of malice, and more of dread.
At Cbiistabel sbe look'd askance! —
One moment — and tbe sigbt was fledl
But Christabel in dizzy trance
59<) Stumbling on the unsteady ground
Sbuddered aloud, with a hissing sound;
And Geraldine again tumed round,
And like a thing, that sought relief,
Füll of wonder and füll of grief,
595 She roUed her large bright eyes divine
Wildly on Sir Leoline*
The maid, alas! her thonghts &re gone,
She nothing sees — no sight but one!
The maid, devoid of guüe and sin,
WJ 1 know not how, in fearful wise^
So deeply had she drunken in
That look, those shrunken serpent eyes,
That aD her features were resigned
To this sole iin»ig6 in her mind:
605 And pafisively did imitate
That look of dull and treacherous hate!
And thns she stood, in dizzy trance,
Still picturing that look askance
With Ibrced unconscious sympathy
610 Füll before her father's \aew —
As far as such a look could be
In eyes so innocent and blue!
And when the trance was o*er, the oiaid
Paused awhile, and inly prayed:
615 Then falling at the Bai'ou's feet,
*By my mother^s soul do I entreat
That thou this woman send awayl'
She Said: and more she could not say;
For what she knew öhe could not teil,
62Ö O'er-mastered by the mighty spell.
zu Recht, — 596. AB' wie oben ; B She nothing itees — no sight but
one! Biä. Sinnloser Df. — 613. A But whcn the trance was o'er^ BW
wie oben. Der unterschied ist im Balladenstile wirklich ru gering-
Christabel. 105
Why is thy cheek so wan and wild,
Sir Leoline? Thy only child
Lies at thy feet, thy joy, thy pride,
So fair, so innocent, so mild;
625 The same, for whom thy lady died!
0, by the pangs of her dear mother
Think thon no evil of thy child!
For her, and thee, and for no other,
She prayed the moment ere she died :
630 Prayed that the habe for whom she died,
Might prove her dear lord's joy and pride !
That prayer her deadly pangs beguiled,
Sir Leoline!
And wouldst thou wrong thy only child,
635 Her child and thine?
Within the Baron's heart and brain
If thoughts, like these, had any share,
They only swelled his rage and pain.
And did bat work confusion there.
640 His heart was clefb with pain and rage,
His cheeks they qnivered, his eyes were wild.
Dishonour'd thus in his old age:
Dishonour'd by his only child,
And all his hospitality
646 To the insulted daughter of his friend
By more than woman's jealousy
Brought thus to a disgraceful end —
He rolled his eye with stern regard
üpon the gentle minstrel bard,
650 And said in tones abrupt, austere —
*Why, Bracy! dost thou loiter here?
I bade thee hencel* The bard obeyed;
And tuming from his own sweet maid,
The aged knight, Sir Leoline,
655 Led forth the lady Geraldiue!
The Conclusion
to Part the Second.
A little child, a limbcr elf
Siuging, dancing to itself,
A fairy thing with red round cheeks,
That always finds, and uever seeks,
660 Makes such a vision to the sight
fOgig, um besondere Absicht dahinter zu vermuten. — 647. A disgracful
Df. — 656 if. fehlen in allen drei MSS. Ca. schließt daraus \md aus
dem Umstände, daß sie schon im Mai 1801 in einem Briefe an Southey
106 Christabel.
As fills a father's eyes with light;
And pleasures flow in so thick and fast
Upon his heart, that he at last
Must needs express his love's excess
665 With words of unmeant bittemess,
Perhaps 'tis pretty to force together
Thoughts so all nnlike each other;
To mutter and mock a broken charm,
To dally with wrong that does no härm.
670 Perhaps 'tis tender too and pretty
At each wild word to feel within
A sweet recoil of love and pity.
And what, if in a world of sin
(0 sorrow and shame should this be true!)
675 Such giddiness of heart and brain
Comes seldom save from rage and paiu,
So talks as it's most used to do.
geschickt wurden, daß die Conclusion to Part the Second nicht ur-
spranglich fClr Christ, gedichtet sei. Dafür möchte ich auch ins Feld
führen, daß keine einzige klare Anspielung auf das Gedicht selber
darinnen zu finden ist (vgl. dagegen Conclusion to Part the First).
Kommentar.
1. The Ancient Mariner.
Kur der rechts gedruckte Text 8 ist berücksichtigt.
1. Mariner ist ein gewählterer Ausdruck als sailor;
ancieni im Sinne von old heute archaistisch.
2. stoppeth archaistische Form, zur YoUmessung wie
auch sonst verwertet.
3. Zu dieser Formel bemerkt Brandl : ^'D e r Matrose
schwört bei seinem grauen Bart, als ob er ein
Türke wäre'*, und findet das sehr seltsam. Einstens einmal
schwört nun der Matrose gar nicht in dieser Formel ^ sie
ist ja vom Hochzeitsgaste gesprochen, und zweitens ist es
nicht unbedingt aufgemacht, daß dies das Schwören der
Mohammedaner bei ihrem Barte sei. Möglich wäre es ja»
daß die vielen Orient aliischen Mäi^hen, die CoL erwiesener-
maßen gelesen hat» hier einen Niederschlag gegeben haben,
aber es ist doch der lang\\^al!ende Bart des germanischen
Mannes Ehrensclimuck von jeher gewesen» Ich erinnere an
Kaiser Ottos Schwur *'sam mir der hart" zu einer Zeit, wo
die Tiii'ken (resp. Araberj in Europa weder literarisch noch
politisch eine Bolle spielten. Zudem spricht die parallele
Stellung zu ''ffUttering eye'* fiir die nächstliegende Auffassung,
den Ausdruck long beard ebenso als äußeres, sinnliches Merk-
mal des verÄ^üdert aussehenden Matrosen zu nehmen. Ygh
unten zu 13. und im Texte 619.
5» neii of kin =^ next in blood.
8- (lin [ag$, dyn, dyne^ dünne, me, dine» din] lauter
Lärm^ besondei*s fortgesetzt verwirrter und widerhallender
Schall, der das Ohi' beleidigt.
10. quoth he tjrpische Nachstellung des Pron. gerade
in dieser, dem Balladenstil angehörenden Formel. Vgl. 198.
393. 408, 568. 576.
12, eßsQons [ags, eftsöna] ursprünglich "wiederum";
dann ^'später, bald darauf, sofort'', letzteres besonders ar-
chaistisch (etwa in Thomson. Cmile of IndoL, L 29,)*
Kommentar.
13. Viele Belege schildern die unwiderstehliche Wir-
kung von Col.'s Blick und Konversation (so Menwirs of
Wordswortht L 99, Carlyle u< a.); wenn diese Verse von ^
Wo. herrühren (vgl. zu 15 — 16.), so erschiene mir dieser^
sonst an Eitelkeit grenzende autobiographische Zug an-
nehmbar. Doch würde auch die unmittelbare Vorstellung
des von entsetzlichem Schicksale unheimlich glänzenden
Auges des Anc. Mar. genügen, 16 — 16. Die zwei Zeilen
stammen von Wo,; vielleicht auch 13 — 14 (Ca. pag. 594).
16* hath archaisierende Form der Balladen- und Bibel- ■
Sprüche wie 33. 406, etc. und Christ. 7. 140. 217. etc.
Vgl. Lesart zu B71. A.
22. iö drop, meist Schiffersprache = to leave in the
rear, gewöhnlich to drop astem.
23. kirk nordengl. Dialekt, ebenso 466. 475. 603. 605.
25 — 28. Die vielen einsilbigen Wörter dieser Strophe
malen die Gleichförmigkeit des ermüdenden Vorganges;
die Zeilen sind langsam und schwer zu lesen.
32. bassoon Fagott. 'During Col.'s residence in Stoweg
his friend Poole refortned (he church chotr, and (ulded a hassoon
iö its resotirces, 3trs. Sandford (T. Poole and his/riends, L 247)
happihj suggests, that this ^'tvas tke very original and proto*
Ufpe of the 'lowl hassoon' whose sound moved Dm wedding guesi
to heat his hrmsf\* (Ca,, Note,] Höchst wahrscheinlich.
36. merrg leicht archaist., = heiter machend, etwa wie
in *a merry jest', *merry-making'. — minstrelsy ^ Sänger-
chor, vgl. Milton, P. L., VI, IflS, *'the minsirelsy of Heavm'\
41. storm-blast pleonastische Zusammensetzg. '^Sturmes*
wehen". In der Bandglosse hat Ca. liir das draum von 8
drivett eingesetzt, indem er einen bei kleiner Schrift nahe-
liegenden Lesefehler des Setzers annimmt und sich mit
Recht auf 48. A stützt (vgl. Lesart).
42. igrannom in dieser Bedeutung veraltet, etwa =
boisteroui?,
51 — 70. Athenaeum^ Mar<3% 15*\ 1890 fuhrt zahlreiche
glaubwürdige Parallelen aus Captain James's ''North-west
Passagef' an ; einige davon sind : 'It proved very thicke foule
weaiher, and the next dmj, hy two o Chcke in the moming, tve
found ourselves ineompassed about with Ice' (Ed. of 1633, pag. 6} ;
* We had Ice not farre off about us, and some pieces as high
I
1. The Äucient Mariner.
109
^
OB Oitr Top-mdst-head' ( pag, 7) ; *. . . ffreat pieces of Ice . . • imee
0$ high as onr Top-musi-hemW (pag. 14), wozu besonders
V. 53 zu vgl. 'We heard . . , ihe riUi against a batike of Ice
ihat lay an ihe Skoare, It made a hoUow and hideous noyse,
Uke an over-fall of water, which meide tis reason amongst our
zeJres concerfiitig it, for we were not üble to see about W5, ii
leing darke night and foggit (pag, 8) &c,
54. Das Büd ist entschieden nicht volkstümlich im
Munde eines Matrosen, Capt, James sagt : 'some of the sharpe
blue Corners [of the gi-eat pieces of ice] did reach quUe undcr
US* (pag. 6). Der Rezensent in Äthm.y March 15, 1890 macht
auf diesen Unterschied aufmerksam, doch ohne ihn näher
zu besprechen.
65, drifi nicht im Seemannssiuue = treibende Strö-
mungj sondern ^^ shower of snow. Vgl. Pope, Odyss., VIII.
128: *Drifls of risitvg dost involve the skyJ — clift wohl Neben-
form zu diff Klippe, wegen des Binnenreimes gewählt : aller-
dings läge auch cieft [me. clift, oijft] Spalte^ Hüft nahe;
dach sind ja nicht bloß die Ritzen der Eisberge und Riffe
schneeweiß, sondeni das Ganze.
56. sheen dichterisch s= Glanz, Schimmer; vgl zu 314.
57. hen Das Präs. zwischen zwei Präteriten ist auf-
fällig, wie der dichterische Ausdruck überhaupt nicht selbst-
vei-ständlich ist. Jedenfalls war der Biimem'eim auf men Ver-
anlassimg zu der lockeren Satzfugung.
61. Die kräftige Tonmalerei verglichen mit der nüch-
ternen Schilderung bei James (s. zu 51 — 70.) erinnert stark
an unsem Bürger,
62. siroimd, häufiger swoon, wie V. 392. s. Lesart^ zu
60. Ap Der Vergleich ist wieder nicht naiv- volkstümlich,
wohl aber mag er einem Opiumesser geläufig sein, der in
seinen visionären Zuständen solches miterlebt hat.
63. did cross ^= came by, iutrans. Das Motiv ist von
Wo- angeregt, vgl, Einl. S. 1.
67. eat, seltenes p. p., aus rhj'thmischen Gründen
endungslos, thefood it neer had eai heißt das Futter, da an-
genommen wird, daß der Alb. noch nie Menschen sah
(vgl. 105).
69. thunder-Jit, gewöhnlich clap of thunder, rumbUng
of th.
110
Kommentar.
71. sprfiHfi up tpt. gew. sprang), SchiflFerspr., zuweilen
auch blo0 spring = der Wind kommt auf.
75. shroud wie das isländisclie scrQ<t ^=^ Wanten, d. h.
die starken Taue, welche Masten und Stangen seitlich an
dem Schiffsrande befestigen und durch Leinen treppenartig
miteinander verbunden sind,
76. Vesper, dichterisch = Abend, vgl. aber 595., wo
es der gewöhnliche kirchliche Ausdruck ist.
77. fofj'Snioke = Höhenrauch. Vgl. Scott, Mannion,
IL XIV. Introduct'mu
79 — 82. ö. fiihrt als Vorläufer der hier zum ersten
Male im Änc, Mar, angedeuteten Moral die des Jugend-
gedichtes 'The Raten' an, wo ein Rabe, dem sein Nest und
seine Jungen durch das Fällen eines Baumes geraubt wird,
mit großer Befriedigung den Untergang des aus den Balken
der Eiche gezimmerten Schiffes mit ansieht. Das Ganze ist
als Schaueimäre gedacht.
81. cross'-bow Armbrust, wie 23., nur mit der den
englischen Zusammensetzungen eigentümlichen schwebenden
Betonung (erste hoch, zweite stark» zu lesen,
92* ivork *em woe, me. Wendung für modenies *'to do
härm" vgl. Chaucer, Knightes T. 1700: ''and tcrought his
felawe wo*' Bums, 'Jahn Barleyconi', 38: *To work htm farther
woe\ Col. verwendet es archaist. in 'Lines in the Manner of
Spetiscr,' 27 : 'work thee wQe\
93. averred bezieht sich natürlich nur auf die Annahme,
daß der Vogel die Ursache des Windes gewesen sei; das
Töten selber ist ja ganz klar erwiesen.
97—98. Vgl. Lesart zu 93. A, ''The snnrise at sm is
Uke the solcpun apposition of one of the chief actors in the
dranui of crime, and agony, aud expiation, and in the new
sense of wofider xmth tvhich we witness that oldest speciacle of
the hcftrens we can well believe in othcr miracles**' (Dowden.)
Immer ist es die Vermensehlichnng der Natur, die uns in
solche Zauberkreise zwingt. — nprist archaist. pt., Chaucer,
Leg, of Dido u. s, f. lals Subst, Knightes T,; danach Shelley»
BcvoU of Islam, II L 21: Hhe uprcsf of the third sun'j.
101. *twas volkstümliche Apokope wie 108. 347. 363.
432. 599.
1. The Ancient Mariner.
111
104. sieh Lesart zu 100, A; ein uiunittelbai-er und zwar
berichtigter Naturanschaunng entnommener Zug.
109^ 110, Wo. scheint diese Zeilen in 'Solitartf lleapef's'
(1Ö33), 15 f 10 im Ohre gehabt zu haben : 'BreaMug ihe silefice
af ihe seas / Ämong ihe farthest Hehri<ks* (H.)
125—120. Sclion ^ ^The Desiimj of Natiom' (1796),
278 — 281, hat CoL solches Faulen mit ähnlichen Worten
geschildert ''As whai Urne aßer long and pcstful calms, / Wiih
sHmtj sh<^€S and miscrcated Hfe f Poisomng ihe vasi Padßc,
ihe fresh hreeMe / Waicetis ihe inerchani-suil nprising/' (Brandl,
S. 214, danach Ä)
127 — 130. Cr, zieht hier zwei Stellen als rhythmische
und sonstige Vorbilder an: Middleton, The Witch: 'Black
spirits and white; j Red spiriis and ffmif; j Mingle, muigle,
fningle, / You ihai mingle mag, keine sehr überzeugende
Parallele; besser ist jedenfalls Macbeth, L 1: *'Fair isfoul and
foui i$ fair / Rover throitgk ihe fog mid jUthg air" Vgl. Ein-
leitung S. 2 u. 3. — reel schottisch, ursprünglich eine Art des
gälisehen Tanzes, roui Getöse, Tumult, Vein^iming. — death-
ßres gewöhnlich =^ Erscheinung, die über einem Leichnam
gesehen wird, s. auch CoL, ^Ode on ihe Ikpartmg Year (1796),
5S — oü. *^Mighi armies of ihe dead, / Dance like deaih-ßres
round her iomh'' ; hier wohl eine Art Elmsfeuer, das den Tod
vorherverkünden soll.
131. assured Vollmessung, wie sonst häufig, aber nicht
konsef|nent.
133- lie Jmd wohl wie in Konversation mit Synizese
zu lesen, da die ganze Strophe voll schweren Rhythmus ist.
136. ai ihe rooi = at its root, vollständig sinnlich zu
fassen,
139. wdl a-dag [ags, wä-lä-wä ^ wehe, oh wehe!]
Volksetymologische Bildung.
141/142. Es scheint diese Art von Prangerstehen ganz
auf freier dichterischer Erfindung zu beruhen; ähnliche
Volksbräuche sind mir nicht bekannt,
149—156. Zum ^^Skelettschiff" vgl. Einleitung S. 2,
**Der Einfall mußte in CoL eine Fülle verwandter Anschau*
nngen aufrufen. Er hatte wohl selbst oft, wenn er abends
am Strande nördlich von Stowey hernmspazierte, auf der
hohen See ein Boot auftauchen sehen, ungefähr wie er es
Kommentar«
im Gedicht beschreibt: zuerst ein kleiner Fleck zwischeul
sich und der sinkenden Sonne, ein dunkles Wölkchen, dann
eine seltsame Schattengestalt, Mast und Baa schwarz wie^
Eisengitter, und der abgelegene Charakter der Ktiste hal^B
noch das Gespenstische des Eindruckes erhöhen/^ (Brandl,
S, 209.)
152 und 153. / mst: ''CoL seefus so misiake the cJiaracier
of the contmoti pariide iwis, tjtcis 'ceriainltj (A, S. getvis,
adj. 'ceriain) whkh, often ajtpcarim/ in MSS as I-wis was.^
erroneously re/erred to a ßctitious verb tri«, unknaum to A,
CoL ceriainly believcd in ^ich a verh, for in Alice du CJoi
[? 1826] *yow ms' [L 77] occurs, I-wis is found in Sil
C auline,' (H.) Obiges Prät. und das später auch für eine
Ballade erftmdene Präs, 2, pers, machen diese Annahme zutj
Gewißheit, — 154, to near bes. der Schiilerspr, eigentilmlicl
vgL 182. 523, — 155. dodge Das erst seit dem 16. Jahr-^
hundert fSkalcs. bloß Ant. tf^ Cko.. IIL 9, ß^) belegte Wort
charakterisiert in seiner schwer mit einem Worte zu über-
setzenden Bedeutimg : '*sich hin- und herbewegen, rand um
oder hinter ein Hindernis, ima einem Verfolger zu ent-
gehen" — trefflich die scheinbare Unsicherheit des Fahr-
zeuges, das aber unfehlbar seinem Ziele zustrebt.
166. tack and veer Schifferspr. "lavieren xmd wenden"*'
157. with hiack Ups baked, VgL Ihn Juan, IL S(i, 1:
And their baked Ups, uith many a blmdy crack/
160. Grausiger, aber auch lebendigster NaturaKsmus.-
164. Col, bemerkt zu der SteUe (Table Talk, May 31 '^f
1S30): *Itöok the thought of *'grimnttg for jog" front mg companiofi*g
[Berdmare of Jesus Coli., Cambridge] remark to mi\ whm im'
had climbed to the top of PlinHmmvn, and were nearly dead
tcith thirst. We coidd not speak from the cmistrictionf tili
found a Utile puddle under a stone. He said to me: "Ibi
grinned like an idiot /*' He had done the sameJ — Also wiede^
ein autobiographischer Zug. — Oramercy ist ein Wor
Spensers, dann bei W- Scott häufig.
166. «5 = as if . . ,, nicht selten. Vgl. Col. Wallmsiein,
I. F.: 'He looks as he had seeft a ghost/
168. to work us weal vgl, 92. und die allit. Formel leeal
and wo€. Noch hält der Anc. Mar. das Fahi'zeug für heil-
bringend.
m
'irW
ine
^d
defl
1. The Ancient Marioer,
113
179. pecTj wie 186. = to peep, look tlu'ough. Miltou
^priclit vom '*peering daij\
184. Gössameres. ^Thc old Ugmd $ays these are ihe re-
jmanis of ihe Virfjin Martf's wiffdwtf sheei, tvhkh feil from her
^meti she was franshiicd'. (G,) Das fadenartig Versoh webende
der Geistei'segel ist trefflich damit vei'glichen. *0m/ of thefetv
imfi^es in this poetn horrowed from the Neiher Stotvey Surround-
in^s: cf. l 3$ [= 32. 8]. ''The surface of the [Quantock]
heath restless and gVdtering wlth the wavinfjs of the Spider
threads . . . milcs of i/rass, Ught and glittering, and (he insects
passing/' (D orothyWordsworth 's Jbur^mZ, Febr. 8, 1798 J* (R,)
185 — 189. siehe Lesarten zn 177 — 185. A.
18S — 189. Wie hier ein Wettwiirfeln zwischen zwei
Geister wesen auf dem Ozean stattfindet, so hat CoL in dem
späteren allegorischen Gedichte *Time, Real and Imaginart/
(? 1815) den Wettlanf zweier Geister, Bnider und Schwester,
aber mit unbestimmtem Ausgange geschildert. — mate, all-
gemein = Genosse (nicht = Gatte),
190—192. H. vergleicht hiezu Chancer, 'Üom. of the
Bostj 539 ff. wo Ydehiesse, welche die Tür hütet, wie folgt
beschrieben wird : 'Hir heer was as gelotve of hewe / As any
basin seoured vewe, / Hir ßesh as tendre as is a chihe / Wiih
betite hrowes smothe and sUke; j And htj mesure large were j
The opening of hir y^n ehre, j Hir nose of good proporcioun, /
ffir y6n grege as a faueoun, j Wiih sivete hreeth and wel
savoured. / Kir face whyt and wel coloured, . . . Die mittel-
alterliche Schilderung der Straßendime hat Col. für sein
Gespenst autgegriffen und hier, wie dann in Christ,, die
trügerisch blendende AuÜenseite der inneren Fäulnis zu-
gesellt, die so noch viel abscheulicher wirkt,
193. TJfo'in-^Drath, Vgl. Lesart zu 177— 185. A. Der
Ausdinick bedeutet ''Leben inmitten des Todes'\ vgl. Col-'s
Grabschrift, die er 1833 verfaßte: "0 liß one thought m
prager for S. T C, / That he who mang a gear tcith toil of
breath / Finds dcath in life, mag here ßnd life in death!"
Nach Dowden plagten CoL im Alter die Vorstellungen dieser
Nachtmar oft genug. Name und Vorstellung sind auch bei
Tennyson zu finden, vgl. SL Simeon Siyliles, 62 f: Enoch
Aräm, 661: Lucretias, 154: The Princess, Tears, idle Tears,
Eioklor» The Ancknt Mdrifier u. Chrüt, 8
114
Kommentar.
20, Auch EUiott. Presioti Mills 5, 2 zitiert den Ausdruck
CoL's. f
195. hidk, [(tijs, hulc] Schiff, me, meist =^ Transport-
sohiff, ein Begriff^ der auch in der archaist. Verwendung im
ne. weiterlebt = groües, schwer lenkbares Fahrzeug. Hat
mit hüll nichts zu tun. — along-side Schifferspr. = Bord
an Bord.
196. iwain, wie deutsches ''zween" nur noch dichterisch.
197—198. 6?. vgl. hiezu Macbeth, L 8, S2ß\, aber weder
rhythmisch noch stofflich ist dies zu rechtfertigen, wenn
auch andere Stellen allgemein durch die Stimmung der
Hexenszenen beeinflußt sind. — Der Tempus Wechsel hi 198.
leitet zu einer lebendigeren Schilderung de^ Anbruches der
Nacht über.
199 f. dip ungevv^Öhnlich, aber der Situation augepaßt,
für das übliche sei, sink, — rush out ein kühner, aber äuüerst
bezeichnender Ausdruck für die Schnelligkeit. Die beiden
Zeilen geben ein von den Begebenheiten völlig losgelöstes
Naturbild eigener Art.
202. spedre-bark = gewöhnlich phantom-ship.
*207. sieersman ist in der Seemannsspr. der Mann, der
wirklich das Steuer handhabt, also = '^Hudergänger'\
während "Steuermann'- oft durch pilot bezeichnet wird.
208. drip Das ags. dryppan me, dryjjpe» drippe ist aus-
gestorben und das ne^ g^ht ani* das seit dem 15. Jahr*
hundert aus Dänemark eingewanderte drj^ ppe zuiiick = to
fall in drops.
209. clombc, arch, pt. & p. p., gew. climbed, vgl. Wo.,
Waggoner, I, 102; Scott, Rokcbij, II L 5, Hier =^ *to motmt
slowly upwards\ (N. E. D.)
210^ — 211. (he honied Moon. '*Sailors sag (hat a star dog-
ging ike moon forcbodes eril;** (HJ das Dranhängen eines
Sternes am Monde mag wohl gesehen werden, "6r<< no sailor
ever $aw a star hetweett the nether tip of a honxed moon\ w4e
Ca. richtig bemerkt.. Über das unbedingt, phantastische
Motiv siehe Lesart zu 195— 203. A.
212. star-ihggcd moon. Neubildung. Diese Vorstellong
ist unanstößig: ein dem Monde wie ein Hund dem Herrn
auf dem Fuße folgender Steru.
I
1. The Ancient Mariner,
115
222. Eine echt volkstümliche Vorstellung bei diesem
ganz ans der Situation gegriffenen Vergleiche.
226^227. stammen von Wo. (Col/s Anra, in S: 'For
ihe last itco lines of tkis sianm, I am indehted io Mr, Wo,
li itus on a delujhtful walk fmm Ncther Stowey to Duhertoti^
wUh hint and his srister^ in ihe autumn of 1797, that ihis poeni
was plannedy and in pari composed/). — rihhed sm-sand ist
der durch das Zurückweichen der Flut gerippte und ge-
ftirchte Sand der Küste.
232—235. Zu den Schrecken der völligen Einsam-
keit vergleicht G. nicht unpassend die Schlafwandlerszene
aus Macbeth (V, L) und Tennysun^ 'The Palaee of Art/
st, 72,, sowie folgende Stelle: 'Hailitt, alluding to the first
Hme he heard CoL preach, in 1798, says: '^Whm I got there,
the Organ was plaijing the 100*** Psalm, and when it was done
Mr. CoL rose t(: gave oul his text \\nd he went up into the
mountain to präg HIMSELF ALONE,' As he gave out the
text his voice 'rose lilce a slrvam of rieh distiUed perfumes,'
and when he canie to the last two words^ ivhieh he pronounced
Imid, dcep, and distinct^ it seetned to me, who was then young,
OS if the Sounds had echoed from the bottom of the human
heart, and as if that prager fuight have Jloated in solemn silence
throngh ihe imiverse:'' (Ca. pag. XXXIX,)
244 ff. Die Versuche zu beten sind ebenso vergeblich
wie die des schurkischen Königs in Hamlet^ IIL 3 (G.) —
or et^er ''bevor^\ Der erste Bestandteil ist die unbetonte Form
2U ere. Altertümlich oder schottisch.
248 — 256. Auch diese Schreckgestalten kehren ähnlich
in Tennyson, 'The Palaee of Art,' st, 59, 60, wieder.
257. from on high Die zwei letzteren Wort© in der
Predigersprache = heaven,
263. the tmvmg Moon wird erst durch die Kandglosse
'journeying' erklärt; sonst könnte auch **veränderuiig8reich*'
oder ''Wechsel voll*' der Sinn sein-
267. benwck, selten = mock at (Sh., Coriolan, I, 1, 301
und Tempest, IIL o\ 63K
268. April hoar-frost solche dreigHedrige Zusammen-
setzungen sind im Englischen fast nur der Dichterspi-ache
gestattet.
8*
116
Kommentar.
269. shadow hier wie 272, und 277* in der eigentlichen
Bedeutung t= Schatten, wogegen es 482. und 485. = Ge-
spenst, Geist ist.
270. alwatf, selten oder poetisch, offs. ealne we^, später
gewann die Gen. Form in dieser adverbialen Bedeutung
den Von-ang (always)^ den alway nur als Archaismus streitig
macht,
274 — 280. "Über dergleichen Smnp^etier scheint er
sogar mit Vorbedacht zoologische Werke nachgeschlagen
zu haben ; denn das Notijsbuch enthält aus dieser Zeit lange
Paragraphe über den Alligator, über die Boa, über Kroko-
dile in vorsündflutlichen Lagunen." (Brandl, pag. 214.) Wenn
auch der ,,Yorbedacht'^ vielleicht nicht stimmt, ist doch
diese Quelle unabweisbar,
278. aUire = *array, dress/ deutsch am besten wohl
"Aufisug",
284 ff Die Tierbemitleidung ist eines der typischen
Motive der englischen Literatur des ausgehenden 18. Jahr-
hunderts: ThomsoUj Goldsmith, Stenie, Cowper und Bums
gehören zu ihren Vertretern in teils sentimentaler, teils
naiver Form, Bei Col. finden wir zunächst die *Oil€ to a
ifoiing asB\ die uns diese Richtung verköi'pert, dann nicht
selten, wie auch bei Burns, Übertragung auf die beseelte
Pflanze. Allzu individuaHstisch, oft nicht mehr weit vom
Lächerlichen entfernt, haben Soutbey, Lamb und Words-
worth diese Auffassung vertreten, (VgL Brandl, pag* 98ffi)
297. sillif archaist. t= weak, frail. Spenser: * After long
stürme with which mtj silhj hark was iossed/
B02. dank feucht, *with the connotation that this is
an injurious or disagreeable quality'. (N. E. D.) Oft von
der nassen Straße gebraucht.
303. drunkai arch. = dnuik, sonst nur als Adj, übHch,
310, anear = near, dichterisches Adv*, ziemlich selten;
vgl. Scott, *Laij öf the Last Minstrel' V. 31 : 'Now seems it
far, and notv anear.*
312» Äere, gew* sear = trocken, dürr, verwittert, welk.
314. sheai als Adj* ganz veraltet = glänzend^ schön.
VgL Chaucer, Leg. G. W., 49: 'Whan hü up-riscth hy the
monve shene* : ProLf 115: 'A Chrisiofre mi kis brest qf silver
shenef Knigldes T., 210: 'Emdye the $hme\ — ßre-ßags, wie
1. The Ancient Mariner.
117
^
127. decUk-ßres das abergläubisch ausgedeutete Elmsfeuer
f*a meteoric flame^ N. E. D.).
317, between entspricht der in den Grammatiken ge-
wöhnlichen Regel nichtj wonach between seiner Grund-
bedeutung nach bei zwei, among bei mehreren Dingen
angewendet wird, Schon Dr, Johnson, Dictionary (1755)
bemerkt hiezu: 'This accuract/ is not always preserved\
325. jag ^ Zacke, Zickzack, Der Blitz fällt also strom-
weise ; die zu Grunde liegende Vorstellung sind offenbar die
'*Flächenblitze" ; bei sehi* nahen Entladungen bemerk fc man
jedoch überhaupt selten eine Linie, sondern ist von der
lichtfiille geblendet*
33G. btow up = "mit erneuter Ki*aft frisch zu wehen
anfangen"; die durch den Keim geforderte Umstellung ist
in der Prosa ungebräuchlich.
337. 'gan. Das Simplex zu begin, im tue, als AuxiMar
ungemein häufig, wird in der archaisierenden Di chtersprache,
als wäre es Apokope, ^gin, 'gan geschrieben.
B38. wont = "gewohnt". Vgl Chancer, Leg. G. \V.,
2S53: *As hit of tmnten haih he woned yore\
339. raise ^'heben, ziehen, aufwinden, fKohlen) fördern",
also sehr passend tiir die hier geschilderte mechanische
Tätigkeit.
347. Das Lnperf, ist hier in plusquamperfektischer Be-
jd^ntung zu fassen,
348. corse, archaisierende Rechtschreibung, historisch
begründet, das p ist erst wieder durch gelehrten Einfluß
eingefügt worden. Vgl Byron, 'Cain* HL 1: *I must waich
mg htisband*s corse/ (Ebenso Anc, Mar,, 4S8, 491.)
358. a-dropping. Der südliche Dialekt und die Vulgär-
sprache hat das alt« a = on noch bewahrt, das die Dichter-
sprache nur selten mehr verwendet. Die ganze Stelle ist
nach ff, von Chancers Rom. of Rose, A, 662 ff. angeregt,
wo der Garten von Sir Mirthe folgendermaBen beschrieben
wird: 'Ther mighte meti svv mang flokkes / 0/ turtles and [of]
lavetokkes ... / And thrustles, ierins and mavys / That songen
for to wynne htm prgs; / And eck tu sormaunt in kir song /
These other briddes hem among . . » / Thcg songc htr song as
faire and wel j As angels doon espiriiuel . . , / Luycs of lom^
ful wel satiming / They songm in hir jargoning.* Der letzter©
118
KommeDtar.
in diesem Sinne (= Geschwätz, Gezwitscher) höchst seltene
Ausdruck in Verbindung mit dem 348. A. (q, v.) ursprünglich
gebrauchten Lavrock machen diese Anregung mehr als wahr-
scheinlich.
366. heaüefiSf pL gemäß dem biblischen Sprachgebrauche;
nebenbei könnte Col. wohl hier auch an die Sphärenmusik
der verschiedenen Himmel gedacht haben,
367- made on, ein seltener Ausdruck fiir **weiter be-
treiben".
369 — 372. 'Änofher of (he rare images in ihis poem derived
from ihe Nether Stoweij eiivironme^it . , . The 'kiddm hrook' is
the seifsame chatterer of The Three Grates, nigh to which
stöod ihe hme arhour of 'drcling hol lies tvoodhine-clad' in which
young Edward dreamed hi$ fafeful dream. It is the hrook
ihat runs down from the comb in ivhich Stands the village of
Holford throiigh the grounds of Alfoxdcj} — the same of whid^
Col. sitigs in The Nightingale and The Lime-Tree
Bower, and which is descrihed hg Wordsworth in ihe Fenwick
Note to Lines written in Early Spring/ (H.)
389» wie ein (vor Ungeduld) scharrendes Eoß, das man
plötzlich losläßt.
398 — 3U4. Zum Wortlaut und zur Situation vergleicht
H» N. Col.: Byron, Don Juan, IL 111, 1—Z
395. living Kfe Das Wortspiel bezeichnet das "eigent-
liche, wache Leben'\
402, bideth =^ wohnt, ganz veraltetes Simplex des gew.
abide (bei Miltoii nocli zuweilen).
414-417. Humphrey Ward, Engl Poets, 1880, L 650,
weist auf 'OsonV, K 30^ hin: *0h tcomanf I liave slood silent
like a slave before ihec" ; ebenso auf Sir John Davies, 'Orchcstra
or a Poem on Daucing,' st. 19 : 'For lo ihe sea ihat flects ahoui
ihe landt j And like a girdle clips her solid waisit j Music
and measure both doih understand: / For his greai chrystal
eye is alwags cast / Up to the moon^ and on her fixed fast**
422 — 429. Ca. führt hiezu eine von James übersehene
Stelle aus der *iStratige S dangerous Voyage* an, die besonders
auch fiii' die spätere Marginalglosse anregend gewesen sein
dürfte : '/ give no credit , , . io the vidouSt and abtisive wits
of later Poriingales and Spaniards: who never speake of any
<
1. The Äncient Mariner.
119
*
äifßcuUies: as shoalde water , Ice, nor sight of land: hui as if
ikey had heen hnmght käme in a drvame or engine/ (pag. 1Ü7,)
424—425. Diese etwas 1113'stische Antwort soll eine
übermenscliliche C^reschwindigkeit ausdrücken : in der tranm-
haHen Vorstellung ist das Subjekt des Beseitigens der Luft
vor dem Scliiffe nicht näher bezeichnet.
429. tränet '^Bewußtlosigkeit'' (mediz. term. techn,), hier
mit einem deutlichen Traumleben verbimden; gleichbedeu-
tend mit mvoimd (92. 392) ; in Christ, wird der Begriff noch
durch diiB^ verstärkt (589, 607).
436. eharfiel-dungeon **Leichenkerker", gewöhnlichere
Zusammensetzungen sind charnel-house, chamel-chapel.
Obige Bildung 1768 in Beattie, Minstr., L 32 belegt.
446 — 451. Die im Vergleich trefflich ausgedrückte
beängstigende Stimmung, welche allen Seelenten, die je
einsame Begionen aulgesucht haben, wohlbekannt ist
(St. Brooke), vergleicht ff. mit der ganz ähnlichen in Christ.;
jedenfalls kommen die Eingangsverse des letzteren Gedichtes
sowie 31^ — 52 hiefür iu Betracht.
457. nwadow-gaU, gale bedeutet in der Seemannssprache
einen ganz tüchtigen Wind^ in der Poesie aber wird es wie
breeze allgemein als Gattungsname^ ja sogar im Sinne
unseres "Zephir"' gebraucht. Mit der sonst unbelegten Zu-
sammensetzimg fällt also der Anc, Mar. eigentlich aus der
Rolle.
467. 570- cöuntree. Ein konsequent beibehaltener Über-
rest der arch, Oithographie von A. (wie V. 518. 570) wegen
der altei-tümlichen Betonung. Die Balladensprache betont
fast nie anders; Byron, 'Siege of Corinth/ So, vielleicht in
Erinnerung an unser Gedicht: ^Änd some arc in afar countrie,'
Vgl. auch Christ, 225.
468. harbonr-bar der aus Steinen und Erde durch
Schwemmung aufgeführte Wall, der die Hafenbucht von der
offenen See trennt; er bildet die natürliche Grenze des
ruhigen Hafens und spielt als solche in Tennysons 'Crossing
the Bar^ eine wichtige Rolle. Vgl. auch Tennysons TAe
Sailor Bog/ 2: 'He rose at dawn and ßred wiih höpe, / Sk4)t
a*€r the seething karbour-har.'
477 ff. Die schon 420/421 angedeutete beruhigende Wir*
ktmg des Mond^^cheines, die hier zinn Landschaftsbilde und
120
KommentiLr.
zum Aiisklingen der Öespenstergeschichte prächtig verwertet
isty scheint durch ein persönliches Erlebnis bei Col. betont
worden zu sein. Schon Ca. nimmt, vor BrandL folgende
Stelle des NotUbucfi^s (BL 32 a) Br 'The Nightifu^ate\ 91 ff,
in Anspruch : 'Hartley feil down and hurt himsdf — / caught
him up crtjintj and screaming — and ran out of room with htm. —
The Moon caught his eye — he ceased crytng inimedialdy —
and his eyes and the tears in them, how ihey gliticred in ihe
Möonlightr Die Situation des angezogenen Gedichtes stimmt
in der Tat auch ziemlich genau zu der Stelle ; doch meine
ich, daß das Motiv bei CoL tiefer Wiu'zehi schlugt zumal
er fi'üher (Sonnti t<i the autumnal Moonj den Mond anders
dargestellt hatte. Und so möchte ich jene Anregung auch
auf unser Gedicht ausdehnen.
479. stmdy heißt der Wetterhahn nur im besonderen
Falle, weil eben kein Wind geht; kein stehendes Beiwort.
483. füll many arch, Verstärkung besonders in dieser
Verbindung üblich; vgl. Gray, 'Elegy de./ 53: Füll many a
gern of purest rag serene,*
488 ff. Diese Art, das Schilf zu lenken, stammt, so
sonderbar es bei einem so phantastischen Motive klinge^
mag, von Wo.
492—493. und 496—497. Leichte volkstiimliche A
wechslimg von each und they.
497. Ein gewählter Ausdruck, etwa ^ **keinen Laut ver-
nehmen lassen-', wohl zu pathetischer Hervorhebung.
507. tö blast =^ ,,mit Zauber schlagen''.
&08 — 509. Das Bild tritt so klar vor die Augen des
Anc, Mar., daß er noch einmal alles miterlebt, und deshalb
geht seine Erzählung wieder ins Präs. über.
516. io rear one's voice **die Stimme (zum Himmel) empor-
heben^', häufiger 'to raise one-s voice,' bibl. = *lift up.'
521/522, 'The fourih (f last image iakm from the Nether
Stöwey vicinage. Old stunips of oak, macerated ihrough damp
and carpeted with moss, abound in tJie wooded comhs of
Quantock: (H.)
523. skiff-hoat pleonastische Zusammensetzung **kleines
Segelboot' \
524. / irow "traun! ha!", veraltete Beteuermigsformel.
«
I
I
1. The Ancieut Mariner. 121
629. icarped "geworfen" ist das Holz infolge der sen-
genden Tropenhitze.
633. to l(ig, meist *lag behind oder after' "sich Zeit
lassen", hier **langsam dahintreiben". Die liebevolle Aus-
malung des schönen Bildes ist beachtenswert.
634. forest-brook, sonst unbelegte Zusammensetzung.
635. ivy-tod archaist. = ivy-bush or clump (G,). Diese
Zusammensetzung gehört der Volkssprache an (etymolog. =
"Zotte", nach England aus Skandinavien eingewandert).
636. *The owlet in the ivy-tod is pröbdbly borrowed from
the Passage in Beaumont and Fletchers Bonduca, misquoted
thtis hy Lamb in a letter to Col (June 14, 1796): ''Then did
I see tliese valiant men of Britain / Like hoding owls creep
into tods of ivy, / And hoot their fears to one another nightly'*/
(H,) Da aber die Eulen hier keine Angst zeigen und auch
nicht aus dem Efeugestrüpp (das übrigens gar nicht so
hoch sein muß, daß sie den Wolf unten anheulen können),
herausschreien, erscheint die Parallele nicht gerade sehr
felsenfest. Warum sollte Col. hier nicht unmittelbar nach
der Natur gemalt haben, wie in Christ, 3C6 — 310? — Die
Tonmalerei der dumpfen Vokale ist sehr wirksam.
640. afeared, prov. oder arch. = "voller Furcht" ; Chaucer,
Leg. G.W., 53: 'so sore hit is afered of the nighf ; 2321: 'Yet
hit is afered and awhaped'*; Prol. 628, etc. ; bei Shaksp. mehr
als dreißigmal belegt, stirbt nach 1700 fast aus, durch
*afraid' in der Lit.- Spr. abgelöst. Außer der volkstümlichen
Verwendung taucht es seit W. Morris auch künstlich belebt
in der Lit.- Spr. wieder auf. (N. E. D.)
641. cheerily = "ermutigend, heiter". Vgl. Scott, Lady
of the Lake, IV. 25: 'Hunters live so cheerily,
669. telling "Zeugnis gebend" durch das Echo.
660 — 669. Der entsetzliche Eindruck des Anc. Mar. auf
die ersten Menschen, die er wieder begegnet, ist gerecht-
fertigt durch die Todesqualen, die er ausgestanden hat; nun
genügt sein bloßer Anblick, Grauen einzuflößen.
678. frame = human body ; arch. oder erhabener Stil,
oft "this mortal frame". — wrencheä =^ convulsed, "er-
schüttert".
686 ff. vgl. Lesart zu Christ. 81.
122 Kommentar.
693. garden-bower "Gartenlaube", sonst unbelegt; viel-
leicht verblaßte Erinnerung an das Deutsche?
608. loving friends "(einander) zugetane Freunde" ; das
Englische braucht hier, wie im Brie&tile, *your loving son',
kein reziprokes Akkusativobjekt. — habe, dichterisch und
namentlich bibl. =^ Kind; häufiger ist das nach Art der
Kindersprache gebildete Diminutiv baby.
623. forlom of setise "seiner Sinne beraubt", arch. Aus-
druck. Vgl. Spenser, 'Shepherd's CaL,' Apr. 4: 'or art thou of
ihy loved lasse forlome?* Milton, P. L., X 921: 'Forlom of
thee I Whither shall I betake me.., ?'
623 — 624. Als knapper Ausdruck der Wirkung der
Geschichte auf den Zuhörer und wohl auch teilweise auf
den Leser ist dieser Satz zum Zitate geworden.
2. ChriMaM.
123
2. Chrlstabel.
1 — 5. Zum Eingang vgl, die Turmszene aus Schillers
**Eäuber'\ femer **Lines crmposed in a Concert-Room*' (Braudl,
S. 264/265) und endlich den naturschildemden Eingang von
''Frost at Midniffht'\
3. Der Tei^ ist natürlich vierhebig zu lesen, so daÜ
die langhinhallenden Eulenrute nachgeahmt werden. Der-
selbe Ruf schon in **ParUamentary OseiUatörs" (1794), 31 u.
36 Tu—whoo!
7 — 8. which I FrojH her kennel Die Geschlechtsbezeich-
nung durch her hindert nicht die Setzung des Relativunw
which,
9. maketli arch. Vollmessung wie sonst.
13* mtf ladi/'s shroud Das Leichentuch der Mutter Chri-
st^bels, die ja als Gespenst wandelt, vgl. 204 ff. Brandls
MiiJverstandnis der Stelle habe ich schon S. 25 oben be-
spruchen*
16 — 20. Ca* vergleicht Wo.^s Älfoxdm Journal^ Jan, 31,
1798: 'Sei forward to Stowet/ at half-past five. Whefi we hfl
home ihe moon immenstii/ targe, ihe sky scaUered over with
chuds. These $oan dased in, cmtracting ihe dimensions of ihe
moon mthout mneealing her/ Das Erlebnis mag alte Erin-
nerungen aufgefrischt haben, denn schon im *'Sonnel to ihe
autumnal Moon" heiüt es: **/ watch ihy gliding, white witA
waiery lighi / Thy weak eye glimmers throiigh a fleccy veil*%
wieder Schilderung des bewölkten Himmelg. Auch NoUjg-
buch, BL 31a zieht Ca. au: 'Behind the thin j Gray doud
Ümt cftver'd but not hid the shj / The round füll moon look*d
small.'
21. mmith hefore the month of May^ geheinMiisvolIe Um-
schreibung, welche die Alliteration begünstigt.
23. the lövely lady Christabel wird stets als holdes Kind
bezeichnet. Vgh denselben Ausdruck 38. 47. 304. dann 24.
lotrcs, 228. love you, 229. lovc them, 238* hveliness, 277. löt%
279. hvely sighi, 393. hvdy maid, 470, belaved dnld, ein ab-
sichtliches Festhalten au Wort und Begriff!
124
Kommentar.
I
25, what makes her zu ergänzen: (taj he; sonst würde
maji vielleicht *wliat makes she' erwarten. Vgl. etwa auch
veraltetes : 'to make a person away or to make a p. hence.*
32. siehe L,-A. — 33. 35. 281. 297. 373. 540. siehe zu 42,
34. misletae, eine vielleicht durch die stimmhafte Aus-
sprache herbeigetuhrte Schreibung von mistleioe; allerdings
kommt auch misselbird, misseltoe dx, vor.
42. the hiige, braad-hreasUd^ old oak iree, Häufting von
Attributen. Parallelen bei CoL ''The Maveti' 1. <(' 21 Hhe
huffe oak-tre€% 41, Hhe (all oak tret ; Notizbuch, BL 6 b., 'Broad-
breast ed Röck\ wozu Ca. vergleicht: *'The Destiny of Nations'',
335 'Its high, o'er'hanfjing, white, broad-breasted diffs, /
Glass'd on the subject ocean' ; dann A^o^7>Z»wr/i, BL 30 b,, 'BromU ■
breasted Pollarti\ — Die freien Zusammensetzungen sind
CoL's eigenstes Werk, nicht etwa KinfluÜ der deutsch en^i
Sprache^ denn schon in seinen Sonetten finden wir sie:^!
VIL 7 'thougIit-hewiMered\ /X 5 'terror-pale, A. 6 'hope-^^
bom\ XI. 2 'wildh/'Varioiis', XI. 7 (& To the Nightingah, L),
Hom lom\ XL 12 *bosom-probing\ Sonnet to the Äuiumnal
Moon^ 1 'variouS'Vested\ 2 *wildhj-working\ 13 'sorrow-clouded',
t&c, — Später merzte er solche Bildungen aus oder wendete
wenigstens keine neuen derartigen an.
44. moaneth Vollmessung, archaistische Form, wie sonst.
46. ringlet Haarlocke, ringlet curl also pleonastische Zu-
sammensetzung.
49 — 52. Ca. vergleicht dazu: Dor. Wo., Journal (Life
L 141), March 7, 17 9ö: 'William and I drank iea at Cole-
ridge*s. Ä eloudg skff, Ohserved nothing partieularly interesting —
the distani prospect ohscured* One only leaf npon the top of a
tree — the soIc remaining leaf — dunced round and round like
a ruy bloum hg the wind/ Also bestimmt Autobiographisches,
denn, daß die drei gleichgestimmten Dichterseelen sich
solche Beobachtungen mitteilten, ist klar. Auffällig ist nur,
daß dies eine rote Blatt den ganzen Winter (bis in den
April) überdauert hat.
54. Ca, zu 582 [warum nicht zu 54?] : **When The Lag of
the Last Minstrel appeared, Southey uTote to Wynn, March 5,
1805 (Life d' Corr,, II, 316): 'The beginning of the storg is
ioo like CoVs Chrisiohell, whidi he [Scott] had secfi: the
very line *'Jemi Maria^ shield her well!" is caught froni it , . ,
I
I
2. Christabel. 126
/ do not think [he copied anything] designedly, but the echo
was in his ear, not for emulation, but propter amorem,
This only refers to the heginning.' " Ein einwandfreier Beweis
fiir die große Gewalt der Melodie von Col.'s Gedicht; zu
Scotts Gedächtnis vgl. L.-A. 81.
58—66. s. L.-A.
60. shadotvy **schattengleich, gespenstisch' ^ bezieht sich
weniger auf die Farbe als das wan in 61. (und 621.), das
mehr das "bleiche, trübe" ausdrückt, das durch den Kon-
trast der lebensvollen (rötlich-weißen) Hautfarbe an dem
(bläulich-weißen) Seidenstoffe hervortritt.
63. unsandaVd paßt besser als das gewöhnliche *bare-
footed' in das Kostüm der Szene. — blue-veined als Zeichen
feiner Haut; vgl. etwa Ant. and Gleop. IL V. 29.
66. s. Anc, Mar. 101 und L.-A. zu Christ. 81.
68. Mit deutlicher Anspielung von Byron, JDon Juan^
VI. 36, 3 zitiert.
69. Mary mother ist ebensowenig wie Anc. Mar, 294:
'Mary Queen' ein Hinweis auf römisch-katholisches Milieu,
da die englische Staatskirche die Marienverehrung zwar
nicht nach katholischem Muster betreibt, aber dieselben
Ausdrücke wie die römische Kirche gebraucht.
71. meet wie 78. 181. arch., besonders bibl. (Deutero-
noniium III. 18, Matth. III. 8, Lukas XV. 23 und sehr
häufig im Commm Prayer Book) = suitable, proper (ags.
3emet.)
81. s. L.-A. — yestermorn poet. Bildung.
82. forlorn "elend, verlassen". Denselben Ausdruck:
a maid forlorn gebraucht Spenser F. Qu. I. 3, 43 von Una ;
da liegt doch wohl Entlehnung vor.
88. s. L.-A.
92. I wis, auch I wisse, poet. archaist. Altes adj. 3ewiss,
iwis, ywisse mißverstanden zerlegt und zur 1. sg. praes.
gemacht, dann also = "ich denke" &c. wie in 294. —
entranced als adj. selten = "in Ohnmacht", sonst gew.
= "verzückt"; vgl. Shaksp., Pericl, IIL IL 94 und hier
zu Anc. Mar. 42 fK
106—122. s. L.-A.
116. wie 166. 264. 368. stehender Begriff; vgl. zu 23.
123-144. s. L.-A. 81.
126
Kommentar.
4
129* bdikc, selten ;= *perliaps, likely^ und tihtd., archaifltS^'
vgL Rkhardson, Pamela 1.238; Wo-, Peter Lamh: ** Things
that I know not of hellke to thee are dear,** Ebenso hier 375,
IBii. rufht ijlad etwa« altertümlicbi wie 144. und ''The
Bavefi/' 4L
139, Praise we Konjunktiv.
166—168, s, L.-A.
174. mshes, Binsen wurden im Mittelalter zum Bestrenen
der Dielen oder des Estrichs verwendet ; möglich, daß auch
ein lokales Erlebnis CoL hier angeregt hat. Der Schutz-
heilige von Grasmere ist St- Oswald und an seinem Tage
(6, August) bringen die Kinder Binsen in die Kirche; dieser
Brauch heißt ''mdi-bearing'*,
188. in wrdched plight ^*in kläglichem Zustande".
190—193. 8. L.-A. 192. üiW«öMÄ^*heilkräftig'' (arch.) bei
Spenser häufig; also synonym zu cordial in 191.
199. kow =^ that, jetzt dial. oder kolloq. Vgl. Dickens,
Christmas Carol, IIL *Bob CraickU told them hme hc had a
sittmtion for 3Iast€r Peier,'
205. Peak and pine, aus Macbeth, /., 5, 23: **ShaH he
dwhidle, peak and pine*\ — Peak = *grow sharp-featured^
thin' (Clark & Wright), pine = *become feebl©'*
212. guardian spirit, wie 327. **Sehutzengel*' ; das
spenst ist also segnend und schirmend» VgL Shaftesbury,
CharacL L 16b: *W€ bave each of us a dmnan geim^^ cmgei^
or guardian-spirit,* (1711, N, E, D.)
217. wildered, selten = bewildered, von dem es ge-
formt ist,
219. s. L.-A.
220. wild'ßower mne wieder eine kühne Zusammen-
setzung, sonst nicht belegt.
223, loftg ludg ^*erhabene Dame" wie 226. und 384,
225* 8. zu Anc, Mar, 467\
227* Upper skg = **hoch oben im Himmel'', nicht *'im
oberen Himmel'^, vielleicht ist an die unmittelbar über den
Wolken liegenden Himmelsregionen gedacht,
231. in my degree = *according to my condition or ^ä
ability/ (veraltet.) ^^
239, weal and woe, alte allit. Formel ; vgl. Leg, of Good
Wotneti, 689, 1234.
I
2. Christabel
127
242. half-tmy ''bis zur halben Höhe', wie 257.
248 ff. 8. L.-A.
266. strirken ^=^ *unfler the power and consequence of
a stroke/ mehr als unser '^betroffen"*
268. (%BBa\j vom altfranz. assai, lat. exagium ; im 16, Jahr-
hundert verkürzt zu say, dann als essay neu eingeüüirt.
Die alte Form nur noch archaist. Vgh Cbaucerj Leg. of G*
W., 9, 28, 1594; Macbeth, IV. 3, US,
264. weUa-daif! s. z. Anc, Mar. 139,
265. daleful — *full of dole, pain. grief' wie 358. An
unserer Stelle könnte man allerdings auch an die seltene^
vom lat. dolus abgeleitete Bedeutung *wicked, malicious'
denken oder an eine unbewußt gemischte Vorstellung
CoL's von Kummer und Bosheit, wozu 256. und 260/261,
stimmten. Vgl. zur Auffassung 686 und zum Wort; ^Love\
21: *I played a soft and doleful air und ibid. 71, *dokful taU\
Greraldine leidet jedenfalls, wie viele Zauberwesen, mit imter
dem ihr verliehenen Zauber. (Vgl. Miltons Satan, /., 56:
'round he ihrotvs his hakful etjes\)
271. ta war^ hier in seltener Bedeutimg "to struggle,
Lj|(kftnd 11p against*'.
288. bale arch* = *evü,- Miss or iah alte Alliterations-
formel, schon um 1325 belegt (Early Engl, AlL Poefns, A.^
873: 'Mg bigsse, mg bale je /«in beeti bope/ Sprichwörtlich
noch in: ^What bale is hext, boai is nexf).
289. und 302—304. g. L.-A. 81,
306. falm schott. **Berg8ee" ; im Lake District sehr
häufig (auch in der Form tarn) und geradezu =^ "Meer-
auge''. Vgl. 'Note' in aioniing Post, 1802, zu Col.'s 'Dejee-
iion* : TairUf a small lake, generalig, if not alwags, a^yplied
tu the lakes up in the mountains, and which are the fceders
of those in the vaUics/ — rill *'Bächlein*^ ; hg in alter lokaler
Bedeutung»
309 und 310, twwhoof hier bloß mit Starkton auf der
zweiten Silbe, nicht wie in 3,
310. feil A. N. fiall (verwandt mit deutsch Fel-s),
**Hügel", aber auch, wie kier, *a icild, elevated streich of
waste or pastnre land' (N. E. D.). Das Wort ist außer schotL
und nordengl. selten; meist in Zusammensetzungen ^feU-
Kommentar.
bloonij, fell-thrush &c/ und in Eigennamen {^=^ Berg)^ b
sonders im Lake-District : *Barfeir &c.
317. 318. Ca. verweist aul* 'The Nightifigak', 101— 103 f,
vgl. aber auch Änc. Mar,, 47 7 ff,
320. hermitess KJansnerin, das Wort ist nicht gerade
häufig belegt, so Mottetix, Rabelais (1708) IV, Ol, 'Spiri^
tual Actresses, Kind Hermitesses, Womm (hat have a pi
deal of Religiofu' — Der Vergleich ist ganz romantisc
321, heauteous = 'distingiiished bj beauty, exceedingn
fair in appearance or elegant in form', ebenso 569. ein
Wort^ das fast ausschließlich der Literatur und besonderii
der Dichtersprache angehört. Vgl, Shaksp., Tarn, of thc Shrme,
L IL 80,; Milton, P, L, IV. 6U7.; Wo., Sonneis I, 30, —
wildemess **Ekstase, Verzückung" zu wilder; vgl. zu 217.
325. tingle *^juckenj kribbeln, stechen, prickeln*' ; urspr,
*^kliDgen" (das Ohr **klingt''K *'8ausen". — Sehr natura-
listischer Zug.
332. maiin-hell die Glocke bei der Frülunesse. Ca. zitiert
zu der ganzen Stelle Allsop, Convtrsaiions wiih Coleridge
(1836), L 195. (1864, p, 104), der nach einem langen Zitat
aus Crashaws ITfpnn to St. Theresa, das CoL als des Dichters
schönste Verse gepriesen hat, folgende Äußerung Col.'s
bringt: 'These verses teere ever presmt to mg minä whilst
umtifig the second pari of Chrisfabel; if, iadeed, by some subth
process of the mind iheg did not suggest the ßrst thoaght of
iht wfiüle poem. Das Zitat, das als Anregung nur für me-
trische Anklänge mid geringfügige Andeutungen in Christ. 's
Wesen gelten kann, beginnt mit: 'Sincc 'tis not to be had
at home^ / She Hl travcl to a MaHgrdmne, / No homc for her,
cmfesses she, / Bt$t where she mag a Martyr be;* und geht
bis ; ^Farewel House, and Farewel Home — / She *s for the
Moors and MartgrdomeJ
333. hnell bes. vom Geläut der Totenglocke gesagt,
336. sag. Wie das Wort jedesmal, gleichsam als Ge*
dankenreim in den nicht mitsammen reimenden Zeilen, in
verschiedenen Formen wiederkehrt! Wirksam ist auch die
Alliteration der übrigen Reiinworter : death, dead, dag,
342^-345. Wieder innigste Verknüpfung des Abschnittes
mit dem vorigen durch Wiederaufiialune desselben Wortes ;
I
2. Christabel.
Ifi9
hier zur äußerlichen Motivienmg der ErzähluBg des Barden,
die (vgL oben S. 40) innerlich ohne Halt und Bedeutung ist.
344. Diese und die folgenden Lokale leimte CoL auf
der im Herbste 1799 mit William und Jolin Wo. unter-
nommenen Tour durch den Lake District kennen. Brafha
Head auf den mir zugänglichen Karten unauffindbar: ^-iel-
leicht meinte CoL die Nordspitze des Windermere, woselbst
der Fluß Brathay einmündet. Das entspräche auch der
heutigen Bezeichnung ''Waterhead'^ ftii* diesen Teil des Sees.
Head kommt in Flurnamen als ^*FIußurspning, oberes Ende
von Seen &c., Vorgebirge j HügelgipfeF* vor. Am ehesten
wäre man versucht, an eine Ortschaft zu denken (vgl* z. B.
Hawkshead^ norwestlich von Esfchwaite Water),
345. hanl. Die idealisierte Bardenfigur hat Macpherson
in die englische Literatur eingeführt. Col. läßt sie schon
in der "Monody on ihe Deaih qf Chatterton"^ 26, 36. und in
**Line8 cottiposed in a Conceri-Bimn*' (1799)» 14 ff, auftreten. —
Brctcp auch bei W. Scott als Familienname verwendet.
348. / weeti aroh. ** wähnen, glauben, sich einbilden^',
350/351. Lantjdale Pike: welchen der beiden Kogel, die
unter dem Namen Langdale Pikes zusammengefaßt werden, Col.
hier meint, bleibt unentschieden. Heute bezeichnet man den
westlichen mit Pike qf Siickle (2323 feet), den östlichen mit
Harrison Siickle (2401 feet). — Unter Wiich*s Lair seheint
CoL den sonst Hdm Crag genannten, nordwestlich von
Grrasmere gelegenen» 1299 feet hohen, sehr zerklüfteten
Gipfel zu verstehen: ''The siniftdarly-shapcd kill calleti Helm
Crag is conspicHoushj visible from Grasmere. It$ apex exhibtts
80 irregulär an outline as io have given rise io nuntberless
wkipHsical comparisons, Gray compares it to a giganiic buitding
demolished, and the siones which composed it fiung across in wild
confusimi. Äud Wordswarth speaks qf — *That ancietU Wo/nan
seated mi Helm Crag! It is usually called ihe Lion and the
Lamb," (Black's Shilling Guide io (he EttgUsh Lakes, ISfW,
p, 48, j Zu dieser Annahme berechtigt der Zusammenhang
der üben zitierten Stelle von Wo. (To Joanna, 52 — €5), wo
es sich ebenfalls um Echoerscheinungen handelt und der
Dichter fortfährt: **iras rvadg with her caveni/* — Dmujeon
Ohpll Hs a Waterfall formed by a siream which runs down a
fissure in the mountain's side, The natural fmiures of the place
Elohler, The Aact<?tit Mariner u. ChrUt. ^
130
Kommentar.
jusiify the name.* (Guide, wie oben, p, S9j Der Staubbach
fiihrt von den LangtMc Pilces südöstlich ins Oreat LangdaU
und ist auch in Wo*'s ''The Idle Shepherd-Boy" verherrlicht.
Gill oder Ghyll (nordengh und schottisch) bedeutet **waldige
Felsschlucht mit Gießbach *\
356, death-twte. Zusammensetzung nicht belegt, = kutU
in 342.
358, s. z, 265.
359* Borrowdale landschaftlich reizendes, von Süden
nach Norden verlaufendes Gebirgstal in Cumberland, dessen
Wasserlaufsich in Dertvent Water ergießt. Westlich begrenzen
es die Ed-Crags (2143 feet), östlich Brund Fell (1363 feet).
Seine Luftlinie von Wuidermere beträgt etwa 16 britische
Meilen, von den in 350— 351. genannten Örtlichkeiten etwa 6.
369. / trust. Diese Einschiebsel der volksmäßigen Rede,
hier meist in arch. Wendungen, schon im Anc, Mar, 152.
und B24.; in Christ, noch 66. 348. 425. 473.
407, Lord Roland de Vat4X of Trier muitu *Triemmin wcls
ö ßf'f of ti^ Barony of Gilslund, in Cumberland; aßer the
deafh of Gilmore, Lord of Tryennaine and Torcros$ocl% Hubert
Vaux gave Tryermainc and Torerossaek io his seeond san,
Itanulph Vaux . . . and (heg u?€re named Bolands suceessively,
that were lords thereof until the reif/n of Edward IV.* Bum's
AntiquUies ff Wesimoreland and Ciindterland JI^ jh 482, Das
aus den Trümmern des alten Römerwalles erbaute Schloß
Ttiermain lag etwa 500 feet hoch, 2 britische Meilen west-
südwestlich von Gilslancl, nördlich vom Irthing, Die Sage
hat dann aber einen Felsen im Vale of St. John^ etwas
östlich von der Nordspitze des Thirlmere^ dessen 'resemblanee
to a fairy fortress is certainly very striking' (Black*B Guide
wie oben p. 61.) als 'Castle Bock of TViermain* bezeichnet
und dieses nur visionäre Schloß, das fast 30 Meilen südlicher
als CoL's Lokale liegt, ist auch das Lokale von Scotts
''Bridal of Triemiain^', Auf diese Verschiedenheit haben
meines Wissens die Skott-Kommentatoren nicht hingewiesen:
somit bleibt nun auch die Anregung durch Christ, etwas
zweifelhaft, obwohl der Bitter de Vaux in *The Talisman'
VI ff*, ausdrücklich als Lord of Gilsland bezeichnet ist
406 — 425, Hiezu Ca. : These lines, perhaps because they
bring us out ofthe surrounding fairyland, are the mostfamous in
^
2. Christabel.
131
*
Christ; enen Uie Edinburgh reviewer could see theywereßne:
'*We defy amj man to potni out a passage ofpoeiical merii in
anp of the three pieces which it [the Christ pamphht of 181ß]
coniains except.perhaps^ ihefoUowing linestnp. 32, [IL 108—413J,
and even ihese are noi venj hnlHant; nor is ihe Uading thought
originaV — There had heen alienuüon hetween Cot and TJu
Poole in conneciion nith 'The Friend\ and no communicatioft
aßer 1810, until in Januartj ISIS Poole seni hls congratulutiofis
OH the sticcess of 11 e morse. CoL repUed: *Dcar Pookf Love
Bo deep and so domesticaied with the whole heing as nnne was
to 1J0U, ean never eease to be, To quote the best and sweetest
lines I ever wroie* — and he quotes ihe tvkoh' passage, ihen
unpublished, with hui two or three unimportant variatiotis from
Uie text of 1828— 1829, Two worth noting occiir in the closing
lines: — 'But neither frost nor heat, nor ihtmder, j Can
whollg da awag» 1 ween, j The marks of that ffhtch once hath
hee:n* Charles Lloyd puhlLshed some affediotutte verses about Co L
and Latnb in his *Destdiory Tßwughis on London (1820).
Lamb wrote to CoL, June 20, 1820, fAinge/s Letter 8, IL
S2): *'/ admire some of Lloyd's lines on you, and I adniire
your postponing rcading them. He is a saÜ tfttler ; hui this is
under the rose. Twenty years ago he estranged mie friend from
me quite , , . He almost alietiaied yon also from me^ or nie from
yoi4f I donH know whieh. But that breach is closed, The
^dreary sea' is filkd up , ,. I snspeet he saps Manning's faith
in me . . . Still I like his writing verses about you" Hierauf
folgt noch die Mitteilung^ daß H. H o i n e diesen Abschnitt
übersetzt hat : Schmidt -Weißenfels, Über Heinr, Heine, 1857,
S, 177 (und zwar mit dem Untertitel ''LehewohV'). Kölbing
(Siege of Coriuth^ S. 105 J vergleicht die stark anklingende
Stelle in Byron's Childe ffarold, III, 94, Iff. Wenn auch die
Situation dort eine andere ist (es handelt sich bei B. nicht
um Freunde^ sondern um ein getrenntes Liebespaar), so ist
der Einfluß dieser Verse, die in der Tat zn den schönsten
der Dichtung gehören, doch sehr wahrscheinhch.
42L scar, selten = ** Wunde"; vgl. Prologue zu *Every
Man in his Hnmour\ IL *And in the tyring-house bring wounds
to scars/
435. trump veraltet = **trumpet'V, fast nur bibl.: *trump
of doom, last trump/ heraldry heiÜt gew, **Heraldik'\ hier
133
Kommentar.
aber ''Heroldsrufe*', VgL Milton, Circumcision, 10. ^He who
wiih all Heavefi's heraldry whilcre j Entered the world.*
441, toumep'COurif Zusammensetzung nicht belegt: ''Tur-
nierplatz.*'
453, und 463. s. L.-A.
46Ö- afier-rest gute Neubildung: *'die Ruhe des späteren
Schlafes'\\311ff.)
470. Vgl. zu 23.
493. Irthing flood ^=^ Irtbing River, ein Nebenfluß des
sich durch Westmoreland und Cumberland windenden Eden;
hier ist die Gegend von Güsland gemeint. Vgl. zu 407.
494. merrtj hard, vgl. zu Anc, Mar, 36,
495. Die beiden Ortlichkeiteu sind auf den heutigen
Karten nicht zu finden; vielleicht ist der Wald abgeholzt
und das Moor trocken gelegt worden und mit ihnen auch
der Name versch wunden. Jedenfalls lagen sie z^dschen der
Burg Triermain und dem Irthingtale. Vgl. zu 407.
512. / repent me^ selten mit pron. reflex. (vgl. Measure
far J/., //. ///. 35,J
562. Close by the d^ve's its head it crouched. Das sonst
intransitive Verb, ist hier transitiv ^ **flach niederdrückeUj
ducken'* gebraucht.
568. accents poet. ^ **markante Worte, Rede, Sprache*^
vgl King John, V, VL 95 : Sir W. Jones, Ode of Petrarch,
6(1; Byron, Manfred, 11 L IV, 312: *in ihy gasping ihroat the
accetits raiile, (Vielleicht auch Julius Caesar^ IIL I, 113.)
576. her =^ herseif,
581. dann 587, 608. askance **scheel anblickend, miß-
trauisch oder tückisch blickend.^^ Etj^mologie dunkel (Ital
Scansare = aus dem Wege gehen ? oder schiancio = Abhang.
a sdiiancio = schräg). Vgl. Spenser, SAep, Cat, March 31;
Milton, Farad. Lost, IV, 504: *The Devil,, . mth jeahm ker
malign / Eged fhetn askance/
682. s. 54.
583. 586, snake's eye und serpenfs eye. Bereits Brandl
weist auf Notizbuch, 18a hin: • . , *her eyes sparkled, a$ if
ihey had heen cut out of a diamond quarry in some Oolconda
of Faeryland — and cast such meaning glances as tvould have
inirißed the Fiint in a murderer's Blunderbuss/ — Vielleicht
j
2. Christabel. 133 ,j
hat aber auch die Beschreibung der Alligatoren (ibid. 31b \\
und 32a) mitgewirkt, wo es heißt: 'eyes sntall and suuk\ — ;■
Byron, Don Juan, V. 90, 5: ^With shrinking serpent optics on '
him stared' mag darauf zurückgehen. Ob dem in 688 612.
dargestellten Falle von Suggestion medizinische Beob- ','
aohtutigeii zu Grunde liegen, muß dahingestellt bleiben.
649. minstrel bard unbelegte tautologische Zusammen- "
Setzung.
666 iE s. L.-A. 'I
WIENER BEITRÄGE
ZUB
ENGLISCHEN PHILOLOGIE
UNTER MITWIRKUNG
Dr. K. LUICK
ORD. FROP.DKR ENGL. PHILO-
LOGIE AM DER UNIVERSITÄT
IN GRAZ
Dr. R. FISCHER
ORD. PROF. DER ENGL. PHILO-
LOGIE AN DER UNIVERSITÄT
IN INNSBRUCK
Dr. L. KELLNER
AO. PROFESSOR DER ENGL.
PHILOLOGIE AN DER UNI-
VERSITÄT IN CZERNOWITZ
Dr. a. pogatsgher
ORD. PROF. DER ENGL. PHILO-
LOGIE AN DER DEUTSCHEN
UNIVERSITÄT IN PRAG
HERAUSGEGEBEN
Dk. J. SCHIPPER
ORD. PROF. DER ENGL. PHILOLOGIE UND WIRKLICHEM MITGLIEDE DER
KAISERL. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN IN WIEN
XXVII. BAND
WIEN UND LEIPZIG
^V1LHELM BRAUMÜLLER
K. l!. K. HOF- UND UNIVERSITÄTS-BUCHHÄNDLER
19(.)8
DEUTSCHE
KULTÜRVERHÄLTNTSSE
IN DER
AUFFASSUNG W. M. THACKERAYS
Von
Dk. HEINRICH FRISA
(WIEN)
WIEN UND LEIPZIG
WILHELM BRAUMÜLLER
K. IT. K. HOF- TNI) i:NIVKK8lTAT8Hi;<:ilHAMDLkK
1908
Allo Rochte, inibotondoro das der ÜbersoteuDg:» Torbehalten.
K. k. Uni versitäts-Buchd ruckerei .Styria*, Gras.
Dr. AUGUST CRU^A^ELL
Dr. CARL SIEGEL
Dn. RUDOLF GIRTLER
in Freundschaft und Verehrung
Der Verfasser.
Vorwort.
bjs hieße Eulen nach Athen tragen, wollte man der
vorliegenden Arbeit eine Würdigung des großen Satirikers
und Sittenschilderers vorausschicken. Thackerays Platz
in der Geschichte der Weltliteratur ist bestimmt für alle
Zeiten. Und nicht erst sein Verständnis zu fördern, ihm
gebührende Anerkennung zu schaffen, dient das vorliegende
Buch, das vielmehr, ein Beitrag zur vergleichenden Literatur-
und Kulturgeschichte, Thackeray in seinem Verhältnis zur
deutschen Kultur und als Vermittler deutschen Geisteslebens
betrachten will.
Für die freundliche Förderung, die mir fiir meine Arbeit
zu teil wurde, bin ich an erster Stelle meinen hochverehrten
Lehrern Hofrat Dr. J. Schipper und Dr. J. Brotanek
zum größten Danke verpflichtet, vor allem aber dem treuen
Berater und Freunde aller Wiener Anglisten, die England
besuchen, Dr. James Morison, Oxford, dessen freund-
liche Leitung und Einführung während meines Oxforder
Aufenthaltes mir nicht nur bei vorliegender Arbeit wieder-
holt vorwärts half, sondern dessen wertvolle Winke mir auch
in anderer Hinsicht für meine Studien Richtung gaben.
Zu großem Danke bin ich femer auch verpflichtet Mr. A.
Cowley, Fellow, Magd. Coli., Oxon., der als Bibliothekar
der Bodleianischen Bibliothek mir in liebenswürdigster Weise
entgegenkam, und nicht zuletzt, wenn auch an letzter Stelle,
meinem lieben Freunde Dr. Albert Eichler, von dem
mir die Anregung zu vorliegender Arbeit kam.
Literatur.
The Collccied Works of W. M. Thackeraij. In ticenty-six volunics.
London, SnUth, Eider dt Co., 1869—1886. Daraus die Zitate
(Stand. Ed.)})
The Biographical Edition of W. M. Thackeray*s complete Works.
Each volume includes a memotr in the form of an introduction
hy Mrs. Bichmond Bitchie, In thirteen volumes. London,
Smith, Eider <£• Co., 1898-1899.
Sultan Stork and other stories and sketches hy W. M.
Thackeray (1829—1844) Note first collected to which is added:
The Bibliography of Thackeray [by Bich. Heime ShepherdJ. Be-
vised and considerably enlarged. (Früher selbständig. London.
1881.) London, George Bedway, 1887.
Stray Papers hy W. M. Thackeray. Ed. mth an Introd. and Notes.
By Lewis Melville. London, Hutchinson d' Co., 1901.
M. H. Spielmann, The hitherto unidentified contrihutions of W. M.
Thackeray to ''Funch'\ With a complete and authoritative
Bibliography from 1843—1848. Ijondon and New- York, Harper dt
Brothers, 1899.
Charles Plu mp Ire Johnson, The Early Writings of W. M. Thackeray,
London, 1888, ursprüngl. in The Athenäum, 1887; I, II: Notes
and Queries for a Bibliography of W. M. Thackeray.
Critical Papers in Literatur by W. M. Thackeray. London, Mac-
millan dt Co., 1904.
Early and Late Papers. Hitherto uncollected. By W. M. Thackeray.
Boston, 1867.
A Collection of Letters of W. M. Thackeray 1847—1855, With an
Introd. of Mrs. Jane Octavia Brookfield, London, Smitli,
Eider dt Co., 1887 (Brookfield Letters).
Thackeray*s Letters io an American Family. With an Introd.
by Lucy W. Baxter. London, Smith, Eider i^ Co., 1904.
The unpublishcd Letters of Thackeray. The Athefiteum, 1887;
I, II. London.
Brief an Lew es (London, April 28, 1855) in The Life of Goethe by
G, H. Laves. 2. Aufl. Leipzig, l?r>4. Bd. II, p. 324-327.
Melville, Lewcs, Tlie Life of William M. Thackeray. 2 vols. London, 1899.
Darin The Bibliography of W. M. Thackeray 1829-1899.
1) Einsolausgabon eruchcinon nur im Text genannt.
IX
Hennan Mertvale and Frank T. Mar eials, The Life of W. M,
Tliockeray. I^ndon, 1891.
A Trollope, Thackeray, in Engl. Men of Leiters. London, 1895.
Taylor Theodor, Thackeray ihe Hunwurist and Man of iMters.
London, 18()4.
Thackeray ana. Notes and anecdotes. lUustr. by nearly 600 Sketches by
K': M. Thackeray. London, 1875.
Thackeray in Weimar, With unpublished Dramngs by Thackeray.
(Deutsch von Walter Yulpius.) Translated by Herbert
Schurz. The Century, New York and Jjondon, vol. 4, III; New
Series, XXI Nov. 1896 to Äprü 1897, p. 920—928.
H. Conrad, AV. M. Thackeray, ein Pessimist als Dichter. Berlin, 1887.
Anne Thackeray Ritchie, Cliapters from some Mevioirs (Tauchnitz).
The History of ''Punch" by M. H. Spielmann. Cassel d' Co., Limited,
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R. Koser, Friedrich der Große. Stuttgart, 1903.
W. Wiegan d, Friedrich der Große im Urteil der Nachwelt. StraÜ-
burg, 1888.
Inhalt.
Seite
Vorwort VII
Literatur VIII
Thackerays Aufenthalt in Deutschland 1890/31 1
Thackerays Verhältnis zur deutschen Literatur D
Thackerays Verhältnis zur deutschen Tonkunst B<.)
Thackeray und die bildende Kunst der Deutschen 33
Deutsche Geschichte 34
Friedrich der Große 4(5
Am Rhein 59
Pumpernickel und Kalbsbraten 66
Varia 73
Schlußwort 78
Thackerays Aufenthalt in Deutschland
18301831.
Als der kaum zwanzig ährige Thackeray 1830 nach
dem Kontinent kam^ war von literarischen Absichten seiner-
seits kaum die Rede; erst in Dentschland tauchen gelegent-
lich Pläne auf. Eine andere Kunst hielt ihn damals gefangen,
Zeichner, Maler wollte er werden. Und zumeist waren es
Karikaturen, die er flüchtig hinwarf, in die Weimarer
Albums zeichnete: Der Satiriker w^ar bereits erwacht, aber
er war erst Satiriker mit dem Zeichenstift.
Daneben beschäftigen ihn gelegentlich — er ist bereits
in Deutschland — literarische Pläne, die freilich nie zur
Ausftihning gelangt sind: Eine Schill er Übersetzung, über
die, wie über einen gleichen Plan bezüglich Kömers, noch
später zu sprechen Gelegenheit sein wird, und ein Skizzen-
buch über die „weniger bekannten Gegenden
Deutschlands", das er bei dem Plane einer Fußtom*
durch den Harz imd die sächsische Schweiz erwähnt:
"TA^ peopie of Gemiaiuf are not knotim in England, and
Ü*€ more I kam of them, ihe rnore intercsiing tht-y appeur io
me — customes and cosiumes, and National songs, stoneSf rf'c,
fvith which the country abounds, and tvhich I should he glad
io knoic, and (he British Puhlic also, I think/'^)
Die geplante zusammenhängende Schilderung deutscher
Sitten und Zustände in einem „Deutschen Skizzen-
buch^, wie er uns ein *'/mA-" und ein ** Paris Sketch- Book*'
gegeben hat, ist uns Thackeray freilich schuldig geblieben,
tAber die Eindrücke jener Reise waren mächtig genug, um
1) Briefstelle zitiert bei Merivak, a. a. O. p. 84. Thackeray« Brief-
wechsel ist mit Ausnahme der Brookfi^ld-Letiers und der "IjetUra to
an American F(xmütf" unveröffentlicht. Die wenigen firagmentarischeti
Zitate in den Einleitungen der " Biographical Eä,'' oder bei Merivak u, a.
bieten nur schwachen Ersatz.
Frif«ii. Deutsche KulturverlillUiiisfie. 1
— 2 —
in späteren Werken ziun Durchbruch zu kommen. Ihnen
verdanken wir vor allem die köstlichen Schilderungen von
^ Ptitnpemiekel'* imd ^^ Kalbsbraten'^ in den "FUseboodh Paper s**
lind in **Fawt7y Fair*\
Thackeray wendet sich zunächst an den Rhein und be-
grünt seine Tour wne alle reisenden Engländer mit Godes-
berg, damals ein armseliges Nest mit zwei Wirtshäusern
und einem verfallenen Turme, Hier bleibt er einen vollen
Monat, ver\'ollatändigt sein Deutsch, das er unter Leitung
eines Herrn Troppeneger daheim gelernt hat^ macht
wohl Ausflüge rheinaufwärt^ und treibt sich namenthch
auch in dem nahen Bonn herum, wo er auch mit studenti-
schen Kreisen in Berührimg kommt; seine Briefe berichten
von Mensuren, die er mitangesehen, auch eine Zeichnung
einer solchen legt er bei.')
Der Rhein übt eine tiefe Wirkung auf den jungen
Thackeray aus, die Eindrücke seiner Rheinreisen hat er nicht
einmal beschrieben. Von Koblenz schreibt er heim von den
NatnrschÖnheiten des Rheins als "almosi equal io the Thames'*
und die Leute, die er sieht, bieten ihm gute Modelle fiir
seine zeichnerischen Studien.^)
Besser unterrichtet als über den ersten Teil der Reise
sind wir über den weiteren Aufenthalt Thackerays in Deutsch-
land, über seinen Aufenthalt in Weimar, Sein Brief an Lewes
gibt tms genauere Aufschlüsse über jene Tage, namentlich
über die Zusammenkunft mit Goethe.
Die Ankunft Thackerays in Weimar dürfte Ende Augiist
oder Anfang September 1830 fallen» Von Gotha kommend
fand er hier einen Studienfreund vor, W, C, Lettson, wie er
selbst Trinitif'Man in Cambridge, dermalen dem englischen
Gesandten in Weimar attackiert, imd genoß mit diesem und
einem andern jungen Engländer, Dr. Norman McLeod, ge-
nauere Einführung iu die deutsche Sprache und Literatur
bei Dr. W e i ß e n b o r n»*)
>) Bio^r, Ed,, vol. I, p. XX reproduziert die Zeichnung; dieselbe
auch in '*Thachraitana*\
*) Biofff. EeLf vol. I, p. XVUI Brief an seine Matter vom
8L Juli 1890. Dem Briefe liegt eine Zeichnung des "Castled Crag of
DrachcnfM- bei.
8) Vgl. Boundaboui Fapers, De ßnibus, XXn, p. 225.
— 3 —
Die Gasttreundsehaft des GroÜberzogs und der (TroU-
herzogin') fiihrte eine ganze l^^char junger Engländer nach
Weimar, "the friendJp Utile Saxon eapital'*, und auch Tha-
ckeray war bald heimisch in dem Kreise^ der sich am Hofe
yersammelte ; zu den Hofdiners^ Bällen und Gesellschaften
bei Hofe erhielten die jungen Leute immer Einladungen,
die ihnen der Hofmarscball von Spiegel, dessen zwei
reizende Töchter nicht zuletzt einen Anziehungspunkt
bildeten, verschaffen mußte.
Zweimal wöchentlich waren kleinere GeseUschaften, Tee
und für die älteren Herrschaften Karten ; man begann nm
sieben Uhr, um halb zehn war Schluß ; nm diese Zeit ging
man in Weimar zu Bett, Wer von den jungen Engländera
ein Recht dazu hatte, erschien in Uniform und so schreibt
auch Thackeray heim um eine **coni€ity in Sir John Knmcwmff^
tf€Ofnanry'\ um bei Hofe in ^^yeommiry dress'* statt wie bisher
in "hlack bre€ches'\ *'a black coat, hlack waisicoat, tf^ eocJced hat,
hoking someihing like a cross between a fooiman and a Me*
thodisi parsön\^) erscheinen zu können.
Der Ton bei Hofe war ^^exceedingly frimdhf, mmpie, and
polished'\^} Die Großherzogin tauschte Bücher mit den jungen
Leuten, die sie gern ins Gespräch zog, über ihr© literari-
schen Absichten und Anschauungen ausfragte.
Einen Sammelpunkt tiir die Gesellschaft bildete natür-
lich auch das Theater, das Thackeray sehr häiifig besucht
zu haben scheint, Goethe war zwar längst von der Leitung
zurückgetreten, aber die alten Traditionen wirkten fort, und
wenn auch nicht mehr die hervorragenden Kräfte der Glanz-
zeit tätig waren, so war doch die Leitung eine musterhafte
und die Schauspieler selbst '*men of letters and gmtletnetr\^)
die in freundlichem Verkehr mit dem Adel standen, über-
dies gaben die hervorragendsten Schauspieler aus allen
Gtogenden Deutschlands Gastrollen:
4) Karl Friedrich, vermählt mit der russiacheti Großfürstin
Marie,
^) Biogr, Ed., voL 1, p. XIX.
'') So im Briefe an Letres (1855): etwas anders denkt der junge
Thackeray: *'and Uiouffh (he Court ü ahmrdUj ceremoniomf l ihink Ü
tüill n*hh off a littk of tlw rmt whidi school and colleffe have given me*'
(Brief vom 29. Sept. 1830), Bio^r, Ed., vo]. I, p. XVÜl,
*) Brief an Leioe«,
1*
J
"In ihat winter I remefnber we had Ludwig Demwü m
IShylock, Hamlet, FaUtaff and the Bohbers;^) and the heauiiful
{Schröder in Fidelio'^J)
In Begleitung eines Weimarer Schauspielers kam Tha-
ckeray nach Erfurt zu einer Raube rauf fülirung^ "a plap
tvhich is a Utile ioo patriöiic and free Jor mir Court Theaire^^)
machte unter der Führung desselben einen Blick hinter die
Kulissen und wurde bei dieser Gelegenheit auch Devrient,
'Hhe Kean of Gcrtnany' vorgestellt.
**fli> grecd characier is Frans Moor in the 'Robhers' and
I ihink I never saw ani/ihing so ierrihle. There is a prai/ which
Fram makes white his Castle is being attacked, which has the
inost aw/ul effect which can well be fancied: '/ am no common
murderer, mein Herr Gott\"*) — Dem Briefe liegt eine Zeich-
nung, Franz De\rrient in dieser Szene darstellend, bei.**)
Auch die Oper in "Weimar war nicht schlecht. Das
Orchester stand unter der ausgezeichneten Leitung Hum-
raels, wenn auch die Sänger nicht die allerersten waren.
Thackeray sah „Medea*^, **Barber of Sevilla", „II
flauto magico" und, wie erwähnt, „Fidelio**,
Auch außerhalb des Hofes fand der junge Engländer
freundlichste Aufiiahme und war bald mit der ganzen
(lesellschaft der kleinen Stadt bekannt. Man traf sich fast
täglich, die Damen vom Hofe hatten ihren „Abend" und
Thackeray meint, er hätte sicher das beste Deutsch er-
lernen können, wenn nicht die jimgen Damen alle so gut
englisch gesprochen hätten,'*) oder, wie er andei-swo') be-
merkt, wenn nicht so viel französisch gesprochen worden wäre.
Seine geseUschaftUche Stellung ftihrte ihn auch in das
Haus öoethes. Dieser lebte zwar zurückgezogen in seinen
Privatgemächem, zu denen nur privilegierte Personen Zu-
tritt hatten. Aber an dem Teetische der Schwiegertochter
Goethes, 0 1 1 i Ü e, war Thackeray ein gern gesehener Gast,
eingeführt durch seinen Freund Letfson, Den Engländern
*) Die Räuber mit Devrient als Franz sah Thackeray allerdings
in Erfurt, nicht in Weimar; vgL die folgende Stelle.
*) Brief an Lcwes.
8) Biogr. £d., voL I, p. XXI (Brief an seine MutterV
*l Bi^gr, Ed,, vol. I, p. XXI f, (Brief, Jan. 38., 1881).
6) Eeprod. Biogr, Ed., vol. I, p. XXII.
«) Brief an Lcwes. — ^) Merivak, a. a. O. p. 80.
— 5 —
standen damals alle Türen in Weimar offeu^ besonders aber
hier, nannte sich doch Ottilie von Groethe "the British consul
ai Weimar*\^) Sie nahm anch Thackc^ray sofort unter ihre
Obhut und sein Zeichen- und Karikiertalent machte ihn
bald zum Liebling des Kreises. Den Kindern zulieb zeichnete
er, wie es die Laune ihm eingab, Karikaturen, deren einige
sogar in Goethes Hände gelangten.*) Er karikierte sich
selbst, wie Frau von Gustedt, die als Jenny von Pappen-
heim eine Freundin Ottiliens war, in ihren Memoiren be-
richtet und in Weimarer Albums mögen wohl auch sonst
noch manche Karikaturen von seiner Hand zu finden sein.^)
Sechs solcher Zeichnungen sind mit der bereits erwähnten
Übersetzung des Aufsatzes von Vulpius von Herbert
Schurz in **The Centuri/" (vol. LIU) reproduziert..*)
**To his Britanmc j Majesiy's j Consul in Weimur j These
drawings j of his Briiannic Mqjesiy's j Subjecis / are dedicattd /
% / An IndividuaL j Thackeray.*'
So lautet die Widmung, die unter einer Karikatur des
britischen Wappens steht; an wen sie gerichtet, ist ganz
klar, Ottilie von Goethe, von deren Hand aucli der Name
Thackerays unter dieser scherzhaften Widmung stammt.
Näher auf die nicht besonders hoch anzuschlagenden Zeich-
nungen einzugehen, hat keinen Wert, Wichtiger ist eine
andere Zeichnung Thackerays aus jenen Tagen, eine Skizze
von Goethe, die er aus dem Kopfe zu zeichnen versuchte.
Diese Skizze diente als Modell ftir Daniel MacHse's (pseud.
Alfred Croquis) Porträt Goethes, das 1832 in Fräsers
Magazine erschien, von Carlt/Ie damals besonders gerüliiict,
ein urteil, das dieser später stark reduzierte.*)
^H 1) Schurz -Vulpius, Thackeraij in Weimar, The Centurtf, voL LUI,
^■^ ') Vgl. Goethes Tagebücher 1829- 18»), 8. Oktober 1830,
I W,.A., m, 12.
I ■) Biogr, Ed. gleichwie Thackerayana bringt eiue ganze Anzahl
I Zeichntijigen aus der Weimarer Zeit, in Brieten heimgeschickt, wie
■ die bereits erwähnten^ alle jedoch von fast gar keiner Bedeutung.
I *) Thackeraii in Weimar, / With unpublished Brawinys by lliaekeruy,
I (Prinied by permission of Smith, Elder ^ Co.}
I ^) VgL CarltjU's MtscrUanies, voU III, p. 93. — Vgl. auch Franz
I Zarnke, Zu den Goethe-Bildnissen, AUgem. Zeitung, Nr. 263, 266 if.,
^t^ und Goethe-Jahrbuch, VII, p. 397, Zamke sieht in Madiges Bild nur
Die ünterhaltmig lun Teetisch ÜttiUens war recht an-
regend; man las Französisch, Englisch, Deutsch; Musik
fehlte natürlich nicht* Auch eine Manuskriptzeitschrift ging
aus diesem Kreise hervor, das „C h a o s'^, zu der Goethe
selbst einige mit einem Stern gezeichnete Gedichte bei-
steuerte. ^) Zwei Beiträge in dieser Zeitschrift rühren sicher
von Thackeray her, zum mindesten sind sie beide in der-
selben Handschrift geschrieben, wie die bereits erwähnte
Widmung der Karikaturen. Der erste, ohne Titel und Autor-
namen, scheint ein Originalbeitrag zu sein, ein Trinklied ; der
zweite, eine Übersetzung aus dem Deutschen, wie überhaupt
Übersetzungen in großer Zahl vertreten waren^ ist gezeichnet
^Rosa'^ mit der Überschrift ''Translated frotn Faust"; es ist
das Lied Mephistos vom Floh des Königs in der Szene in
Auerbachs Keller,
Und endlich sollte Thackeray den Gewaltigen auch
persönhch kennen lernen, Hören wir ihn selbst;^)
**0/ course I rememher very well the periurbation of spirit
imth tvhick, as a kui of nineteet}, I reeeivcd ihe long expected
intimation thai the Hetr Geheimrath would see nie on such a
mormmj. Tbis noittble aiidience took place in a liiih antechamber
of his privat upartments covered all round tvith antupic casts
and bas-reliefs. He was habited in a lofig grmj or droh rcdingot
with a white neckcloth and a red ribbon in his buitonhole. He
kept his hands behind hts back just oä in Rauch's Statuette,
His comphxion was very bright, clear and rostj. His eyes extra-
ordinär ily darkt^) piercing and brilliant, I feit qmte afraid
before them, . . . I fancied Goethe must have been still more
handsome as an old man, than evefi in the days of his youth,
His roiee was very rieh and sweet. He ask^d me questions
aboat mysel/] which I answered as best I couhL I recollecl I
was at first astonished and then somewhat relieved^ what I
found he spoke French with not a good accmt'*
Das Datimi dieser Zusammenkunft gibt Thackeray in
eine mitSlungene Kopie nach Stiel er, ^'Thaekerayana*' bringt nebst
anderen Skizzen Tbackerays auch diese strittige Zeichnung, p. lOö;
ebenso BioQr. Ed.
1) Vgl W.-A., UI, 13, Agenda, p, 268, 271 ü\ — «) Brief an Lewes.
h Dazn bemerkt Lewes: *^This must have been ihe effect of the
Position in which Jie sat with retard to the light Goe1he*B eye» were dark
brotvn, but not very darkJ*
i
^ 7 —
dem Briefe nicht an, er setzt die Begegnung nur m das
Jahr 183L Dagegen lautet ein Brief an seine Mutter vom
20. Oktober 1830: ''I saw for Üie first iime old Goethe to-day;
he trcis verif kind and receivcd me in rather a morc distingue
manvvr ihan he hus uscd the other Englishmm here; ihe old
man gives accasimmlly a iea-party, to which the English and
8ome special famurites in the town are inviied; he sent me a
sumnwns this moming to come to kirn at 12* I sai with him for
half an haur, and imk my ieave ou ihe arriiml of . . ."*)
Merivale ist nun geneigt, auf Grund dieser beiden
Briefe ein melirmaliges persönliches Zusammentreffen Tha-
ckera^^s mit Goethe anzunelimen.-) Dem widerspricht aber
die ausdrückliche Erklärung Thackerays im Brief an Lewes,
er habe Goethe nur dreimal gesehen: 1. Im Garten seines
Hauses auf dem Frauenplan spazierend: 2. an einem sen-
gen Tage mit seiner kleinen Enkelin auf dem Wege zu
inem Wagen; 8. bei der besprochenen Zusammenkunft.
Was die Tatsachen betrifft, steht der Brief vom 20. Okto-
ber 1830 zum mindesten in keinem Widerspruche mit dem
an Lewes. Es liegt also nahe, eher einen Iirtum im Brief
an Lewes zumal bei der ungenauen Zeitbestimmung, als
ein mehrmaliges persönliches Zusammentreffen und als
Datum den 20, Oktober 1830 anzunehmen, Goethes Tage-
bücher verzeichnen Thackerays Namen nicht.
Dem mächtigen Einflüsse Goethes und überhaupt des
Geistes der eben erst abgelaufenen Blüte-Epoche, deren
letzter Repräsentant Goethe war^ gal) sich Thackeray ganz
hin. Namentlich Schiller hatte es ihm angetan, der ihm
schon in Bonn — vielleicht noch früher daheim — näher
gekommen war. In Bonn ersteht er Schillers Werke in acht-
zehn Bänden. Noch näher kam er seinem Lieblinge natüi*-
lieh in Weimar selbst. Hier kommt er in den Besitz eines
Antogramraes und des Degens Schillers. Er bedauert nur,
eu spät gekommen zu sein:
**It vm$l have bem a fitte sufht twmitj genrs ngo, this
Httle Court with Goethe and Schilhr and Wieland and the old
Grand Duke and Duchess to ornament i//'*)
>) ''The Aihenaeum'\ 1887, Jan. 15,, p. 96f.
*) Merioale, a. n« O, p, 80.
3) Merivale, a, a, 0. p. 83.
8 —
Und noch ein anderer Eindruck kommt hinzu, der viel-
leicht nicht von minderer Wichtigkeit ist: ein Kapitel aus
dem Liebegleben Thackerays, wenn nicht das ei'ste. M ^o
rloch eines der ersten hat sieh in Weimar abgesj^ielt. Diesen
Eiinneiiingen verdanken wir einen Teil der Fitzhoodh Con~
fe^sions, neben ein paar Briefstellen die Hauptr|iielle für
diese Erlebnisse, bei der starken Selbstironie und Selbst-
verspottung freilich eine recht trübe Quelle. Ob Thackeray —
ganz abgesehen von seiner unglücklichen Liebe zu der Ge-
mahlin des Prinzen Karl von Preußen, einer Prinzessin von
Weimar, die er mit recht pathetischen Worten schmückt, von
einer Leidenschaft schreibend, die er überwinden müsse, daÖ
sie ihn nicht zu einem vorzeitigen Ende bringe, um im
selben Briefe von recht unterhalt liehen Personen, ''Miss A."
und "Miss B,*\ den ^^evening-belles" zu aprecheu') — eine
tief gehende Neigung gefaßt hat, ist schwer festzustellen.
Es dürfte aber doch nicht viel mehr als ein oder vielleicht
ein paar vorübergehende Anfälle gewesen sein, die er frei-
lich damals noch recht tragisch nahm. Wenigstens die Briefe
an seine Mutter lassen liie und da etwas derartiges ver-
muten. Beginnt er doch eine ^'rapturous ode &n the innumerahle
heauiies and perfeciions of a ceriain Mademoiselle de ♦ . /', bei
der er freilich dui*ch einen Offizier der Garde* Erbe von
Zehntausend im Jahr und glücklicher Besitzer von ''seiwral
ivaistcoüfs of the mosi magnificent paitem*\ gar bald aus-
gestochen wurde. Voll Pathos schließt er seinen Brief: "27ie
ßame has gone out and uow I scareely know, what has beconie
of the cindersr^) Und ein anderes Mal schreibt er ein paar
SchDIersche Verse heim, seinen Seelenzustand zu schildern :
**Thü World is empty,
Thia heart is dead,
lis hapes and iis a»hes
For ever are fled"^)
*) Abgesehen von Erlebnissen daheim, ist sicher auch "Mim
Löwe-* in den Fitiboodle-Papers nicht ohne stÄrken autobiographist^hen
Einschlag und wohl mit ziemlicher Bestimmtheit auf eiii uns ü-eilich
nicht weiter bekanntes Bonner Erlebnis xurüekzuführen.
^) ßiogr. Ed., vol I, p. XXII.
8) Ebenda p, XXII t\
*) Merivale^ p. 82. Die betreffende Stelle ist aus Theklas Lied
entnommen. Piccoloniiui^ III^ 7.
9 —
Freilich, der Name der Dame oder der Damen, wenn
wir Fitzboodle glauben, ist uns nicht bekannt* Selbst
Thackera^'^s Tochter Mrs. RHchie, die uns eine Wieder-
begegnung schildert, nennt nur den Vornamen: Amalia
von X, vereheUchte Frau von 7i^)
Die Erinnerung an Weimar ist für Thackeray in den
späteren Jahren außerordentlich fruchtbar* In ^Pumper-
nickel" und in ^Kalbsbraten^ hat er seiner lieben, kleinen
sächsischen Stadt ein Denkmal gesetzt. Und wenn auch
dabei der Satiriker, der Spötter Thackeray, der freilich
sich selbst am wenigsten schont, die Oberhand hat, so ist
es nicht so böse gemeint. Wie heb ihm diese Erinnerungen
immer waren, zeigt der Schluß des Briefes an Lewes;
" Wiih a five and iweniy years' expericncc since those happij
daifs of which I wrüe^ and an acqtminiance wiih an immeftse
variettj of human kind^ I think I have never seen a society
fnore simple, charituble, courieous yeniletnunlike than tlmi of
the dear Utile Sm-on city, where the good Schiller and the
yreat Goethe lived atid Ue huried'\
In späteren Jahren ist Thackeray wiederholt in Deutsch-
land gewesen; aber wenn auch diese ''trips'' ihm vieliache
Anregungen gaben, so zu den *'Kickleburys on the Rhine" ti. a.,
so stehen sie doch an Nacliwirkung dem ersten Aufenthalte
weit nach,
Thackerays Verhältnis zur deutsclien
Literatur.
Schon in den einleitenden Zeilen war Gelegenheit, Tha-
ckerays Plan einer SchiUerübersetzung zu erwähnen imd
die EmleituBg selbst mußte der Beschreibung von Thackerays
Zusammentreffen mit Goethe weiteren Raum gewähren. Das
Verhältnis Thackerays zu diesen beiden größten deutschen
Dichtem ist nun das nächste Thema des vorliegenden
Abschnittes.
Von vornherein ist festzustellen: Schiller steht Thackeray
sympathisch näher und erscheint ihm darum auch anfangs
als der größere Dichter. Die Gründe Hegen in der persön-
Öhd^Un jYom some Memoir«. Tanchnitz, p, 132 1S.
m
^— 10 —
.liehen tmd auch wohl in der nationalen Eigenart Thackerays.
Die freie Lebensauffassung des Lebenskiinstlerö Goethe —
*'a looseliver** nennt ihn Merivale^ war ihm unverständ-
lich. Schillers Lebenswandel aber war einwandfrei^ seine
'^reUgiofi and morals were unexceptionahle*',^) selbst für den
j?ittenstren^sten Engländer^ und etwas national -englisches
Muckertum mag — wenn auch unbewußt — auch bei
Thackeray mitgespielt haben.
Aus dieser dem Menschen &oethe geltenden Beurteilung*)
darf man aber nicht auf ein schiefes Urteil über den Dichter
Goethe schlieilen* Thackeray ist stets mit der größten Be-
wunderung an Goethe herangetreten, er nennt ihn in einem
Atem mit Shakespeare: "a genieel Goethe or Shakspeare, a
fashionable worM^spirii" .^) — Und als er Pendennis seinen
ersten Roman '* Walter Lorraine* schreiben läßt, nennt er
als Lieblingsautoren und Vorbilder seines Helden Byron
und Goethe, dessen Einfluß namentlich deutlich erscheint:
**Th€ Byronic despair, the Wertherian despondmiaj, the
mochitKj hitierfiess of Mephistophehs of Faust, were all re-
produccd and developed in the character of ihe hero; for
our tjöuth had just heen learning the Gennan himjuaye, and
imitafed as ahmst all clever lads do his favourite poets and
ffriters/'*)
Ganz entsprechend findet sich hier die Annahme der
Beeinflussung durch WeHhen^) Pen befindet sich eben in
seiner Weriherperiode, die jeder^ der nicht geradezu fisch-
blütig istj durchziunachen hat. Nm aus dieser Stimmung
heraus ist der Werther zu verstehen und zu beurteilen.
Man vergleiche damit eine Äußerung kaum zwei Jahre
1) Leslie Stephen, The Life of W. M. Thackeratj^ Biogr Ed,,
Xlll,p.688 — 717 [abgedruckt aus dem. Uictionartf of Natiotml Biography] ,
^) Vgl- iu den Letters to an American Family [London 1904] die
Bemerkung über Goethe und Ulrike von Levetzow: *^ Goethe , the
old rogue tcho at 75 had a deep peission for a girl and was severehf
wounded — tfie tßrl was sent back to school*' (Brief vom 15. Dez* 1855) —
a. a, 0. p. 127.
3) XVn, 228. - *) IT, 24.
*) Daß der Werfcher Thackerays Interesse immer wieder in An-
spruch nahnij xeigt eine Episode^ die uns Fielde encälilt: Thackeray
zeichnet in Amerika vor einer Torlesong eine Illustration zum Werther
{\lT eine Dame* James Fields, Yeaterda^ with AuÜtors, p. 23.
1
p
früher ! Becky Sharp findet in Weimar in der besten Gesell-
schaft Aufnahme ; daran, daß sie eine geschiedene Frau ist,
nimmt niemand Anstoß; wie kann es auch anders sein in
einem Lande, "where ^Werther* ist still read^ und the 'Wahl-
vertvandschafien' of Goethe is considered an edtfijing moral
In Deutschland noch immer gelesen, in England ist
es aus mit der Herrschaft des Buches, das noch 1816 über
alle anderen Werke Goethes gestellt wurde. ^) Der Thackeray
des "Vanity Fair", der Thackeray von 184S, stellt sich
wieder auf den einseitigen moralischen Standpunkt, der
dem „Werther '^ einst in England so viel Schwierigkeiten
machte, sich durchzusetzen.
Thackeray steht mit seinem MißtMlen an den Romanen
Goethes, denn nicht nur der „Werther", sondern viel mehr
noch die „Wahl verwand Schäften^ erscheinen in der
zitierten Stelle genannt, nicht ganz allein; seine Meinung
ist im Gegenteile die geltende Meinung in England, der
sich sogar Leute wie Wordsworth nicht zu entziehen
vermochten.®)
Trotzdem finden wir außer der zitierten Stelle nirgends
mehr eine so scharfe Aburteilung; und wo er sich gegen
den „Worther" — denn dieser bildet fast ausschlieÜlich
die Zielscheibe seiner Satire — richtet, ist es nicht der
Goethesche Roman, gegen den er zu Felde zieht, nicht die
moralische oder unmoralische Qualität des Buches, sondern
nur die überspannte Sentimentalität des Buches, die „Ver-
stiegenheit'^, die er im „Werther" sieht, mit allen ihren
Folgen in Literatur und Leben, kurz der Werther-Rummel
und nicht der Werther.
So liest der Straßburger Scharfrichter unter Tränen
den „Werther"; *'it was all the rage in ihosc days, and my
frimd wcbB only folhwing the fashion."^) Nur so ist auch das
1) II, 358,
^) Ygl Brau dl, Die Aufbalime von Goethes Jugend werken^ in
Englaud. öoetiie-Jahi'buchT III, p, 73.
^) ^gl- Werner, Der EinHali der deutschen Literatur aui
W. M. Thackeray, Programm der k. k, Staatä-Heakchule in Teplitz-
Schönau für 1906/07, p. 8.
♦) Xl\\ The Story of Mmy Anctl
keineswegs bösartig gemeinte satirische Gedicht **Sorrow8
of Werther** zu fassen»^)
Etwas bagatellisierend setzt das Gedieht ein: *' Werther
had a lovefor Charlotte" ; die nicht mehr ganz neue Phrase von
der „Unaussprechlichkeit'^ der Liebe gibt den Grad seiner
Neigung an. Der nächste Vers schlägt ganz ins Banale um;
**WouH you hww how first he mei her?** Die Antwort, gibt
eine Szene aus dem -Werther": sie schnitt Bittterbrote.
Die zweite Strophe konstatiert ganz knapp das Verhältnis
zwischen Lotte und Werther: Lofct^ ist verheiratet und
Werther ist ein moralischer Mann, der — wieder mit recht
banaler Übertreibimg — nicht um alle Schätze Indiens sie
1) XXI, 78. VgL über Werther bei Thackeray Werner, a. a. O.
p- B ff. — Weruer bringt eiue recht wertv^olle Parodie über Werther , die
zur Zeit Thackera>T* iiiTauxhall gesuDgen wurde. Das Lied findet sich
Lu: Vauxkall Sangsters, fortninff pari of Evans* s Cheap and Uniform
Vocal Hepository, Embracmg all the populär Englüh, Irüh and Scotdi
Softffs, sung at various pletces of public amusemmt^ CoUektion IV, Id,
London T, Evans, Long Laue West Smithfield 1831" und führt den
Titel: "OA/ Poor Mr. Weriher. A burlesque comic song^ written fty
Mr. Kinney and sung hy Mr^ Dowton*\ Ich lasse es hier folgen :
^WoetVil was the reign
Ot" a famous flirter,
That iinhappy swain,
Gentle Mr. Werter:
Fiercely love inj^pirM
Till it almost chok'd him;
For wheii Cupid fir'd
Mijss Charlotte smok^d him.
Lack — a — day, Heighof
Oh! poor Mr. Werter.
Said she, discreet and prirn —
Spare my Situation,
Lest you're sued fbr Criine —
In that CoQ versa tion.
Dainages are clear:
Largely should they lay'em:
Much it would, I fear,
•Puzzle you to pay'em.
Lack — a — day etc.
Daager he defied,
Swore he'd ne'er desert her;
Bluahing ghe replied —
Oh I fie -^ Mr. Werter!
Says he — you 'U tum my head,
Teil me what can save itV
Dearest youth sbe Said —
Go to batli and skave it.
Lack — a — day etc.
Tben without movB luss,
He to drive his pains out^
With a blunderbussj
Goes and blows his bndns out:
Soou his case they prove,
Future shanie to curtain,
SLnce he died for love,
Lunacy for certain —
Lack — a — dav etc.**
Thackeray, zur Zeit ein eifriger Besucher TonVaiixhall, hat die
Parodie sicher gekannt und ist auch von ihr nicht unbeeinflußt. Näherea
siehe Werner, a. a, O. p. 10.
— 13 —
je verletzen möchte. Dann die Katastrophe, ganz la-aß, mii^
die Tatsachen. Weither senfzt und häi-mt sich, seine Leiden-
schaft siedet und kocht, schlieÜhch schießt er sich sehi
törichtes Hirn aus und hat für alle Zeiten Buh. Der Schluß-
satz ist zynisch, die folgende, letzte Strophe ist es nicht
minder: Charlotte sieht den Kadaver des armen Teufels und
„Like a weB conducted person
Went ou cutting bread and butter.^
Thackeray setzt dem Werther hier recht scharf zu, er
'faßt ihn, wo er ihm einen Angriffspunkt bietet, bei seinem
sentimentalen Heroismus, er läßt Lotte kaltherzig erscheinen»
ihre Hausmütterlichkeifc ist bei ihm stark spießbürgerlich
geworden: trotzdem ist diese, wenn scharfe, so doch auch
gut gelungene Satire^) viel leichter zu verdauen als da?*
ganz unberechtigte Urteil in **Vanity Fair'\
TJber den ^Faosf^ berichtet zunächst eine BriefsteUe
aus der ^Weimarer Zeit" : *'I have read 'Faust' with which,
of course, I am delighted, bot not to that degree I expected'^*)
Worin ihn „Faust** enttäuscht hat, berichtet er nicht. Jeden-
falls ist die Enttäuschung dem damals vorherrschenden Ein-
fluß Schillers zuzuschreiben — vielleicht waren es auch
einige moralische Bedenken, von denen Thackeray öfters
heimgesucht gewesen zu sein scheint. Eine Stelle des '^Pcpi-
dmnis*' könnte vielleicht darauf schließen lassen: Pen will
keine *'Faust and Margaret business'' aus seinem Verhältnis
zu Fanni machen-^) Die übrigen Stellen über ,^Fau3t**, meist
nur Erwähnungen einzelner Personen, Mephistos, ^des
Geistes, der stets verneint '^^ Margaretens u. s. f. sind ziemlich
belanglos/J Zu seinen Liebüngsgedichten hingegen scheint
die ^Zueignung" zu gehören, aus der er wiederholt
Zitate bringt oder doch auf sie anspielt*):
„ — die Bilder froher Tage
und manche Hebe Schatten steigen auf.^
V) Leslie Stephan, TheWriHngs ofThackcfaffySt&u^Ed.XXIV,
bemerkt dazu p. 826: "That is not iJhe parody of areverent dinciple; fmt
Wertherism was of caurst dmd years htfort Üiia and rtpresmied a lang
past mood of iU great ori^nator. Peoplc were begkmmg to see the ridiculous
mde of Wa-therigm and Byronism*'
^) Nov. 17, 1880. The Athenaeom, Jan, 15, 1887. - ») IV, 114
^) Vgl Werner, a. a. O. p. 11 f. - ») XXH, 225.
±
Diese Verse setzt er an den Schluß der kurzen Notiz,
die er in den "MisceUanies'* der ^'Shablnj Gmieel Start/' folgen
läßt*), und das Vorwort zu den ''MisceUanies'' 1857 be*
schließen gleichfalls Verse aus der Zueignung:
und :
^Ihr uaht Euch wieder, ächwankende Gestalten,
Die firüli sich eiust dem trüben Blick gezeigt,"
„Mein Biisen fühlt sich jugendlich erschüttert,
Vom Zauberhauch, der Euren Zug imiwittert."
Was sich sonst von Goethes Werken genatmt findet,
ist wenig und ohne Belang: ^Egmonf*, dessen Verhältnis
zu Klärchen gestreift wird, ^) f^D er Gott und die Baja-
dere^, die LieblingsbaOade Pens; ^) ein anderes Mal ein Zitat,
an den Kopf eines Kapitels im '^Philip'* gesetzt: ^Drura
ist's so wohl mir in der Welt** aus Goethes ^Vanitas!
V an i tat lim vanitas!" („Ich hab* mein Räch auf nichts
gestellt.*^)
Wichtiger ist nur noch eine Notiz über den „Goetz
V o n B e r 1 i c h i ng e n''. Thaekeray spricht vom Einfluü
Walter Scotts: *'hQW astonishingly Sir Walter Scott has
infiumced tke world" und setzt in einer Fußnote hinzu: "Or
n^re properl fj Goethe. *Goetz von BerUchingm' tcas the father
of the Scottish romances, and Scott remaüied consiani to that
modef white thegreater artisi iried a thotisand others/'*) Goethes
„Goetz** erscheint hier ganz richtig als der Vater des Ritter-
und historischen Romanes überhaupt.
Aber es bleibt nicht allein bei gelegenÜichen Äußerungen
über Goethe, Thaekeray erfährt auch direkte Beeinflussung.
Ob freilich in der Vorrede zu ''VanUij Fair'* **Befor€ the
curtain'* eine bewußte Nachahmung dea „Vorspiel auf
dem Theater'* zu sehen ist, wie Werner*) will, erscheint
mir trotz einzelner Ähnlichkeiten doch etwas fraglich. Auch
die Behauptung einer Verwendung des F a u s t m o t i v s ins
Humoristische übersetzt in **The Painter's Bargain' im *' Parts
Sketch-Book" ist wohl etwas gewagt. Die Geschichte, die der
arme Teufel von Maler im Traum erlebt, ist nichts anderes,
als einer jener Schwanke, in denen sich ein Notleidender dem
Teufel verschreibt und ihn schließlich doch noch betrügt.
^X, Advertisement. — ^) IV, 95. — «) VI, 249. — *) XXV, 248.
6) A. a- 0. p. 12,
— 15 —
Auch die Übereinstimmuiig mit „Faust" beim Erscheinen des
Teufels in Gestalt einer Katze bei Thackeray entsprechend
Goethes Putlel beruht auf einem Irrtum Werners.*)
Der Einfluü des „Wert h er^ auf das allerdings nur mit
wenigen Bemerkungen charakterisierte Buch Vens^* Leavesfrom
the Life-book of Walter Lorraine*' ist bereits erwähnt worden.
Unverkennbar hingegen und von Werner^) überzeugen-
der als die früher behaupteten Beeinflussungen nachgewiesen
ist der Einüuß von ^W i 1 h e 1 m Meisters L e h r j a h r e"^
auf den *'Pendennis*\ den Roman Thackerays. der die meisten
autobiographischen Elemente enthält. Daß Thackeray
^Wilhelm Meister" kannte — möglicherweise aus Carlyles
(Jbei-setzung (1824) — zeigen einzelne Elrwähnungen, so
Mignons'^) u. s. f. Die Übereinstimmungen sind ziemlich
offenkundig: Efnihf Fotheringay — Marianne, hier wie doit
heimliche Besuche, vom Vater, hier der alten Barbara
begünstigt. Freilich mag im Pendennis -vielleicht auch ein
eigenes Erlebnis zu Grunde liegen, aber die Almlichkeit mit
Goethes Marianne ist ziemlich auffäUig. Nach dem Bruche
des Verhältnisses begibt sich Wilhelm auf eine größere Ge-
schäftsreise, Pen auf die Univei-sität. Auch Philine —
Blanche zeigen Übereinstimmungen im Charakter^ gefall-
süchtige Oberfläehlichkeit, und schließHch beendet Pen seine
„Lehrjahre^ in der Ehe mit iawra, wie Wilhelm Meister durch
die Ehe mit Natalie den Weg zum werktätigen Leben
findet- Ganz richtig hebt Werner schließlich den dem
„Wilhelm Meister" nachgebildeten Leitgedanken des Pen-
dennis heraus: ^Wie der begeisterte Wilhelm, so muß auch der
Jugendliebe Pendennis allmählich ein Ideal nach dem andern
sinken sehen, bis ihm die Ahnung dämmert, daß er falschen
Idealen huldigte und bis er sich auf Grund dieser Erkenntnis
dem Leben wiedergibt.'^ Viel zu weitgehend hingegen er-
scheint mir wieder die Annahme einer, wenn auch unbewußten
Beeinflussmig durch ^Tasso", Pendennis-Warrlnffton und
ihr Verhältnis beeinflußt durch Tasso- Antonio,^)
*) Werner, p, 13 f., mißversteht scheinbar die Stelle: Der kleine
Teufel ('Hiitle im}/*)^ der aus dem Daumenloch der Palette heraus-
sprin^, ist zuerst nui' **little higger tttan a tadpole", wird dann *^an big
ae a mousc; then he arrivcd at the ftiie of a cat",
«) A. a. O. p, 14 f. — 3) XXn, 290, — *) Werner, a. a. 0, p, 15.
16
Sympathischer als Goethe ist Schiller Thackeray
immer gewesen ; das zeigen auch die Endzeilen seines Briefes
an Lewes: *Hhe great Goethe and tke good Schiller'', Namenthch
aber der junge Thackeray steht ganz in Schilk^rs Bann.
Eine Schillerühersetzung ist sein erster literarischer Plan*
Ob er Schiller — und auch Goethe — schon daheim kennen
gelernt hat, ist nicht sicher festzustellen ; vielleicht hat ihm
der Deutsch -Unterricht, den er ja in London genoß, die
Kenntnis vermittek, vielleicht hat er schon daheim, wie
sein Pendennis "sentimental ballads of Schiller and Goethe''
in englische Verse umgegossen. ^) Sichere Nachrichten haben
wir erst aus Deutschland. In Bonn ersteht er eine achtzehn-
bändige Sehillerausgabe und in einem Briefe aus Weimar
tritt er endlich mit seinem Plane hervor;^)
"/ have heett reading Shakespeare in German:^) if I cotdd
euer do the same for ScÄiHer in English, I should he proud
af havmg eonferred a benefii on mij cauntrg, I do
believe kirn to he, aßer Shakespeare, 'The Poet'/'
Ein anderes Mal schreibt er die bereits zitierten Schiller-
scheu Verse heim:*)
**Thig World is empty,
This heart ** dead^
lis hopes and its (uhes
For ever are fled."
'*Äs Schiller sags or rather is said in an admirahle trans-
lation of timt great poet hy a rising young man of the name
of Thackeray:*^)
Es ist bei dem Plane geblieben. Wie weit Thackeray
mit seinen Arbeiten gekommen ist — denn, daß mehr als
die zitierten Verse, zum mindesten das ganze Lied Theklas
übersetzt war, ist nach dem Briefe mit Sicherheit anzunehmen
— ist nicht mehr festzustellen.
Dem jungen Thackeray erscheint Schiller nach Shakes-
peare als "The Poet", er ist größer als Goethe, In dieser
Ansicht wurde er noch bestärkt dui'ch die in Weimar geltende
J)IH,a42.^»)Merivale, a.a.O. p,8L -»)JedeiifaÜÄ Schlegel-
Tieck, — *)Herivale, a. a. O. p, 82. — ^) Wallenstein, Piccolo-
mini ni, 7 (Theklas Lied):
„Das Herz ist gestorbee, die Welt ist leer
Und weiter gibt aie dem Wunsche mchts mehr^^
Anschauung, die Schiller gleichfalls über Goethe hob, der
den Felller hatte, noch nicht tot zu sein (Schiller-
Shakespear e ). Aber man vergleiche eine spätere Stelle aus
den vierziger Jahren: *'a genteel Goethe or Shakespeare, a
fash ionahle world-spirit" (G o e t h e - S h a k e s p e a r e). Das Bild
hat sich etwas verschoben. Der umfassendere Goethe wii*d
mit Shakespeare genannt. So unbedingt scheint also Schiller
nicht mehr an erster Stelle zu stehen.
Erwähnenswert ist eine Bemerkung Thackerays über
die „Eäuber*' in einem Brief aus Weimar : Er begibt sich
nach Erfurt, um die ,,Käuber*' zu sehen, ''aplay — which is a
littU too pairioiic and free for our Court Theatre'*, Derselbe
Jrief bringt auch einige Einzelheiten der Aufführung,
über Devrient als Moor.^)
Zu seinen Lieblingsdxamen gehört vor allem der „Wallen-
stein"', in dessen Lektüre er sich immer wieder versenkte»^)
Mit Vorliebe zitiert, er aus Theklas Lied: ''Wir auch havv
tasted das irdische Glück : we also have geliebt und — und so
weiter. WarUe your death-song, sweet Theklaf'^)
In ausführhcher Weise ist nur von ^Wilhelm Teil"
die Rede*) mit Herv^orhebung der Freiheitstendenz^ freilich —
si parva ücet componere magnis: Colmiel Newcome soll
der Teil sein, der Newcome von seinem Geßler — Banies
Netveome bei der Neuwahl befreien soll, das ist die Idee
der Unzxiiriedenen in den '*King*s Arms". Die Geßlerhüte
alias Bedientenhüte Barnes Newcomes müssen fort. Und so
verschwören sie sich *^like those three gentlenwn in tke plags
and pictures of WiiUam TeJI^ trho cotispire under the moon,
calling upon liberty and resohing to eleci Teil a$ iheir especial
Champion — like Amofd, Mekhthaf, and Wem^*\
So wie Thackeray die Stelle anführt, ist sie zum
mindesten nach Schillers Teil — Thackeray spricht freilich
von "plugs** — sachlich unrichtig, wenn auch die angeführten
Personennamen zunächst auf Schiller weisen: L Arnold
'i Bioffr. Ed, vol. I, p. XXI f.
31 Tgl. Werner^ a. a, O, p. 7.
h YEH, 306, desgleichen an vieleu anderen Stellen II, 36ii; X\'
248 u. a.
*) VI, BIS f.
Fr ISA, Denucbe EultnrverhlfcHnbse^ 2
— 18
von Melchthal ist eine Person. 2. Die angedeutete »Sssene
ist Wilhelm Teil, I, 4; in Walther Fürsts Wohnung treten
dieser, Werner, Stauffacher und Arnold zum Bunde gegen
die Bedrücker zusammen; ^'under the mmn'* bedeutet wohl
nur eine Verwechslung mit der Rütliszene. 3. Bei Schiller
wird Teil nie zum Helden und Fiüu*er gewählt»
Ob nun diese Fehler einer schwächeren Erinnerung
Thackerays zuzuschreiben sind oder ob er — was freilich
weniger wahrscheinlich ist — ein anderes Telldrama vor Augen
hat, mag dahingestellt bleiben. Auch sonst finden sich ge-
legentlich Anspielungen auf Teil ; der GeÜlerhut und die
Apteischuliszene * ) etc.
Schillers „Glocke** scheint die ''Notes ofa week's holklnif'
in den '^Uoundahout Papers*' beeinflnüt zu haben: **The hells
go on ringing. Quot vivos vocant, mortuos plangunt, fulgura
frangunt; so on to the past and tuture tenses, and for how
many nights, days and yeai*s!" und im Sinne der Bilder
der ^Glocke^ fährt Thackeray fort, Ireiüch nicht wie Schiller
die Bedeutung der ,, Glocke'* fiir die Momente des mensch-
lichen Lebens hervorhebend, sondern mit ihrer Hilfe histo-
rische Ereignisse entwickelnd,-)
Sonstige Erwähnungen Schillers finden sich wohl noch
ab und zu, sind aber ziemlich belanglos.
Es muß wundernehmen, daß, während der junge
Thackeray ganz im Banne Schülers steht, in reiferen Jahren
das Interesse für Goethe immer stäi'ker wu'd, ja scblieÜUch
das an Schiller geradezu zurücktreten läßt. Aber weder
Goethe noch Schiller, deren Einfluß, soweit man von einem
solchen sprechen kann^ sich erst in den reiferen Werken
zeigt, vermochten Thackerays Finihzeit eine Richtung zu
geben. Die Zeit seiner Jugend, der beginnenden schiift-
stellerischen Laufbahn steht im Zeichen eines andern
Namens: E. T. A, Hoffmann.^)
Thackerays Anfänge sind verbunden mit einer Zeit-
schrift, an der sein Stiefvater und auch er finanziell beteiligt
waren, dem "Natiatial Standard and Journal of Ltteraiure,
Science, Music, Theairical, and thefine Arts'\ 1833, später ''Na-
tional Standard mid Likrary Represeniative'\ 1834. In ersterem
iyXXÜ, 140.
«) Vgl Werner, R.a.0.p,a— «0 VgL Weruer, b. a. 0. p. 16 tr
erschien unter Datum vom 30» November und 7. Dezember 18BH
unter clem Titel **The history of KrakaUik'' eine Übersetzung
von E. T. A, Hoftmanns „Märchen von der harten Nuß^
in „Nußknacker und Mausekönig*^ aus den ^Sera-
pionsbrüdern".*) Unter Hoffinanns Einfluß steht ferner
eine kurze Erzählung ''A Tale af Wonder*\ in derselben
Zeitschrift erschienen,'*) nach Schaub auf einen franzüsi-
scben Stoff* zurückgehend/^) Viel mehr aber zeigen den
Einfluß Hoffinanns die Vorliebe für das Phantastische, das
geheimnisvolle Schauerliche, grillenhaft Ungesunde neben
einzelnen kleineren Jugend werken, wie etwa der "Catherine**
einzelne Geschichten des *' Paris Sketch Book'\ ao *'The
Devil's Wäger'**), das ganz den krausen Humor Hoffinanns
mit einem Einsehlage ins Unheimliche zeigt oder die nach
Werner unter dem Einfluß des Märchens „Klein Zaches'*
stehende Geschichte *'Liitle PoinsiineV\^) Wenier geht
jedoch etwas zu weit; er befindet sich in einem völligen
Irrtum, wenn er behauptet, Poinsinet werde wie Klein
Zaches, dessen Mißgestalt allerdings auch Thackerays
Held besitzt, eine Schönheit angezaubert. Klein Zaches
erscheint durch die Gabe der guten Fee allen Leuten voll
Schönheit und guter Eigenschaften. Bei Thackeray hingegen
ist es ein be\vußtes Spiel, das mit dem mißgestalteten Zwerg
getrieben wird und auch die Aufklanmg des Magiers über
seine angebüche Herkunft ist nur solch ein Aufsitzer; es
ist auch zum Schluß nur von der Ei'kenntnis, zu der Poinsinet
kommt, die Rede: von einer Entzauberung kann ebenso-
wenig wie von einer Verzauberung gesprochen werden.
"Liitle Poinsinet'' ist nur ein Seitenstück^ vielleicht mit leichtem
parodistischem Einklang zu „Klein Zaches", dessen phan-
tastischer Zug ihm ganz fehlt.
Ganz richtig konstatiert hingegen Werner die überein-
1) StTtty PaperBj p, Öl — 61, bringen diese sonst nicht wieder ab-
edruckten Erzählungen. Über die Übersetzung vgl. Werner, p, HO.
?'gl femer yotea and Qun^es /or a Bibliographif of W. M, Tlmckermj.
tks Athm^Mium 1887, Jan, 15.
^ Wieder abgedruckt in Älray Papers,
3) E. Schaub, W. M. Thackeray« Entwicklung zum Schrifl-
steiler. Inauguraldiss. Basel 1901, p. 53.
*) UrsprüngUeh im NaUomU Simdard, Kl, 24. Äug, 1838.
») A. a. 0. p. 17 m
2*
— 20
stimmende Yorliebe Hoffinanns wie Thackerays für die
Schilderung des Spielers, bei beiden auf eigenen Erleb-
nissen fußend.^)
Unter Einfluß Hoflftnanns registriert Schaub*), ohne
Platen zu nennen^ auch die im ''National Standard'*,
4. Jänner 1834, erschienene Prosaaullösung — eine Spezialität
Thackerays in dieser Zeit — der Platenachen Romanze
,,König Odo^^: *'Kin(f Odo's Wedding*' ^) Wie Werner*)
nachweist, benutzte Thackeray die zweite Fassung dieser
1819 entstandenen Romanze in der Ausgabe der „Gedichte
von August Graf von Platen-Hallermunde"
(Leipzig 1B28), Thackeray ist bemüht, der Handlung einen
geschichtlichen Hintergrund zu gehen, und motiviei-t viel
ausfülu'licher als die knappe, rasch vorwärt^s drängende
poetische Fassung; er gibt der Handhmg in ausführlicher
Einleitung die Vorgeschichte^ die bei Platen, der uns in
medias res führt, fehlt, und schiebt überdies ein eigenes
Stück, den Chorgesang der Nonnen, ein.^)
Was Thackeray bewogen hat Platens Gedicht in Prosa
wiederangeben, wodurch namentlich bei indirekter Wieder-
gabe der Reden viel verloren gehen mußte, ist ebenso
imklar wie in einem späteren Fall, bei der Prosawieder-
gabe von Uhlands „Des Sängers Fluch", ^'National
Standard', Fehnmrtj 1, iSSi^) Mit U bland dürfte Thackemy
vielleicht schon in Deutschland bekannt geworden sein;
sicherlich aber ist George Moirs Besprechung von Uhlands
Gedichten in der ''Edinbtmjh Rmiet€*\ 183JSf auf Thackerays
Kenntnis nicht ohne Einfluß geblieben.'^) Schon vor Thackeray
hatten Uhlands Balladen in England Übersetzer gefunden,
so bringt Moir im x\nschlnß an seinen Artikel einige der-
selben. Von „Des Sängers Fluch" existierte, soviel mir
^J Hoflmaünim ^^Spielerglück^', ^Elixiere des Teufels*^ u.a.,
Thackeray in **The Memoirs of Barry Lf/ndoHf E^q.**, in **TheI{avemwing",
in **Vamty Fair"', in den '*KickUbury$ on ihe Bhim" u.a.
«) a. a- 0. p. 64.
^ Wiederabgedruckt "Stray Paper$'\ p. 68,
^) Werner, p. 81 f,
^) Näheres Werner, p. SI£.
<) Wiederabgedruckt Siray Papers, p. 60.
^) Siehe Werner, a, a. 0. p. 82.
— 21 —
liekannt ist, keine Übersetzxiiig vor Thackerays Prosa-
Übertragung, *)
Uhland nimmt Thackerays Interesse auch in der Folge-
zeit wiederholt in Anspruch. Davon zeugen die gelegent-
rlichen Zitate, so der Vergleich Boxalls und Turtiers in den
► Worten Uhlands» dem Vergleich^ den dieser für das Königs-
paar in ^Des Sängers Fluch" gebraucht:*)
,^Der Turner furchtbar prächtig wie bhit'fftr Xordlichischeinj
Der ßoj'aU süß und mihh^ als blickte VoUmond drein."
which signißes in English, that
**Ä8 beams the moon so gentle near the buh, that blood^red Iturntr,
So »hineth William Boxall btf Joseph Mallord Turna\*^
Ein anderes Mal zitiert er die ersten zwei Strophen
von ^Schäfers Sonntagslied" im deutschen Original-
text anläßlich der Besprechung von Edivin Lfimlseer^s Bild
**A Skefiherd Prat/hig at a Gross in the Fields,*'^)
Ganz klar ist auch der von Werner nachgewiesene
Einfluß von ühlands „Schwäbische Kunde" auf eines
der "Tremenduus adventures af Major GahagmC\ Der Major,
beim Fouragieren von seiner Truppe getrennt, besteht mit
dem Führer einer feindlichen Schaar, die ihn überfällt, ein
ganz ähnliches Abenteuer, wie Uhlands schwäbischer Bitter:
*'Mif sword caught the fqnke exadhj on fht point, split il sheer
in ttWy cut crashing through the steel cap and hood^ and was
mtltf stopped by a rtdnß^ which he wore in his hack-plate.
His heady cui clean in (wo between the egebrows and nosiriU^
even between the two frtmt tevth, feil one slde on euch shoiddefi
and he galloped on iiU his horse was stopped hg mg meu . . .
the remaining ruffians ßed on seeing tkcir Ivader's /ate,*'\)
1865 bringt Thackeray in ''MisceUanies'* *'Four German
Ditiies'\ In völligem Ii*rtAim aber befindet sich Werner, der
den ersten Druck dieser Übersetzungen in den '*Miscellmüe.^
annimmt» Dieselben erschienen unter demselben Titel bereite
1838 in Fräsers Mag. XVII, p, 677—579. Damit erhalten
^) Über dieselbe siehe Werner, a, a. O. p. 32 f.
^ Ä pktorial Uhapsodtj. XXV, p. 168. — ^) XXV, 259,
*) XV, '277 f. — Vgl. Werner, p. 20, — Gaoz äliiiHch heiüt e^
vom Grafen von Cleve; "he had cut an elepliant-driver in iwo piecen, and
$plit asunder the nkull of Üie elephant, which he ivde/' XV, 262.
Thackerays ÜbertragxiBgeii einen höheren Wert, da sie an
den ersten in England gehören. Von den von Werner') an-
geführten, Thackeray voransgehenden Übersetzungen ist also
für *'The Chaplet'\ „Der Kranz** nur die erstgenannte in
'*T/ie Foratjn Review'' April 1837,*) für ''The King on the
Töwer*\ nDer König auf dem Turme^ nur die George
Moirs in dem bereits erwähnten Änfsatz der Edinburgh
Ecview,^) deren Benützung durch Thackeray Werner klar
nachweistj^j als tatsäclilich fi"üher anzusetzen.
In den *'FoHr German Ditiies" erscheinen neben ühland
Charaisso und Foiique. Chamissos „Tragische Gre-
schichte", ".4 iragic s(org^\ vor Thackeray nicht übersetzt —
Werner führt C. T. Brooks 1863 an — weicht im Versmaß
und auch inhaltlich leicht vom Original ab,®) Frei vom
Versmaü des Originals hält sich Thackeray auch in der
Übeitragung von Fonqaes „Die Greisin", "Ib a verg old
wontan'\ bis auf Thackeray nnübersetzt und von allen seinen
Übersetzungen wohl am besten gelungen,*) —
Sowohl Chamisso als auch Fouque verdanken ihre große
Beliebtheit in England aber nicht so sehr ihren poetischen
Arbeiten als viehnehr zw^ei kleineren Prosaarbeiten: „Peter
S c h 1 e m i h 1^' und ,,U n d i n e'^ beide zur Zeit bereits mehr-
fach übersetzt und infolge ihrer Beliebtheit bis auf den
heutigen Tag, namentlich das letztere wiederholt neuerdings
übertragen. n (leorge Cruikshank hatte den Schlemihl
illustriert und in seinem Essay über Cruikshank kommt
dexm Thackeray auch auf diese Mischung von *'ihe awful
and the rkliculous'* zu sprechen: namentlich die Zeichnung
zu der Szene, in welcher der graue Mann Schlemihls Schatten
erwirbt und einsteckt, bespricht Thackeray näher,®) Auch
,,ündine'*, eine der reizendsten Blüten der Romantik , er-
wähnt Thackeray gelegentlich;*^) ja in seinen schwersten
») A, a. 0. p.8Sff. — ^ Werner, ii,a.O, p.SSf. — ») Werner,
p^ B4, _ 4) Okt. 1832, vol 5B, p. 46 f. — ^) Siehe Werner, p. 35.
•*) Vgl Werner, p. 35 f, — Der Vollständigkeit halber sei hier
auch des Plane« einer Körner- Übersetzung gedacht^ der sich in
einem Briefe ans Weimar iiudet. Vgl. Biogr. Ed., 1, p, XXIL
^} Über La Motte Fonqu^ö Verbreitung in England siehe
Werner, p. 96.
»J XVIII, 875. — ^'\ IV, 353: XXV, 246 (Machfies Bildl.
— 23 —
Tagen illustriert er das Exemplar seines Freundes Edivard
Fitzgetald mit an die vierzehn kolorierten Zeichniuigen. *)
Gelegentliche &wöhnung findet auch Jean Paul,
von dem er ein Zitat bringt: "The past and the/uturef says
Jean Paul, are wriUen in every cöunienance"^) und in ganz
ähnlicher Weise auch Heine im '*Paris Skeich-Book*': '^Dieti
est uuirV'y says another teriter of ihe same class, and of great
(jenius föO. — '*Dieu es( nwrt'% writes Mr. Heine, speaking of
ihe Christian God: and he adds^ in a daring ßgure of speech, —
**N^ mtendeZ'Voiis pas sonner la clochette? on porie les sacre-
ments t} un Dieti qui se meurf*.
Schon in seine Jugendzeit zinrück reicht wohl seine Be-
kanntschaft mit K o t z e b u e, dessen Rührstücke um 1800 die
engliäohe Bühne eroberten und wohl auch noch in den zwan-
ziger Jalaren, sowie er es uns im Pendennis erzählt, auf den
Provinzbühnen gespielt wurden. Das Stück, das Thackeray
anführt, ist „M enschenhaü und Reue^,in der englischen
Übersetzung von Benjamin Thompson '*The Strangcr'\ nach
dem ,, Unbekannten** des Pei^onenregisters benannt, ^j
Die Handlung des Kotzebueschen Stückes ist bekannt :
Eulalia von Meinau hat sich während einer längeren Reii?e
ihres Gatten verführen lassen. Bald kommt die Reue, Die
Gefallene hält sich ilirer Familie für unwürdig und verläßt
Auch der Mann geht in die Einsamkeit. Beide über-
bieten sich, einander unbekannt, in Werken der Wohl-
tätigkeit, bis sie ein Zufall zusammenführt. Die Lösung
wird in einer groÜen Rührszene durch dieKinder herbeigeführt.
Und nun Thackerays Urteil:
''Those ivho know tke plap of the 'Stranger\ are awarc
(hat the retnarks made by the variotis characters are not valuable
11» thentselve.% eitherfor their sound sensfi. their novelty of Observa-
tion, or their poetic fancy.
Nobody ever talked so. If we meet idiots in Hfe, as will
happen, ii is a great mercy (hat they da not use such absurdly
>) Letter» of Edward FiUgerald, London 1894, 2 voLs., voL I, 2^*.
^B ^) SlteHdan hat, da er kein Wort deutsch y erstand, nach dieser
I Übf»i'*etzung das Stück für die Bühne bearbeitet und 1798 im Drury
I Lane Titeater zur Aufführung gebracht. Vgl A. Eichler^ J. R. Frere,
I Wiener Beiträge zur engl. Phil. XX, p, 28 und E. Margraf, EinfliiÜ
^^ d. deutschen LjL auf d, engl am Ende des 18. Jahrb., Diss., Leipzig 19UL
fine words, i Peter) The Stranger' 8 talk is shmm like tbe baak
he reads , . * ■ — but in the midst of the balderdash. there
runs ihat reality of love, chUdrm, and forgiveness of wrong,
which will hc lisiened io wherever Ü is preachedf and sets all
ihe World stfutpathising/'^)
Thackeiay erkennt ganz genau die Schwächen des
Stückes» die Mache, die Verlogenheit und Unwahrheit der
Charaktere, die nur Theaterfiguren aber nicht Menschen
sind; aber Thackeray erklärt sieh auch die Wirkung des
Stückes: Kotzebue arbeitet mit echt menschlichen Begangen,
der Mutterhebe, echter Reue und Vergebung, die immer
Sympathien abringen müssen»
Im weiteren Verlaufe der Besprechung geht Thackeray
nur noch auf die Rolle der Madame Müller — Mrs. Haller
der Übersetzung — näher ein, hauptsächUch mit Hinblick
auf die Trägerin der Rolle* ^) Später kommt er noch auf
das Schicksal Kotzebues, seine Ermordung durch Sand zu
sprechen.^)
Auch ein zweites Stück Kotzebues *^Pigarro*\ d. i, „Die
Spanier in Peru oder Rollas Tod*', gleichfalls von
Thompson 179iJ übersetzt, ist kurz besprochen, ""j
Das bereits erwähnte Essay über Cruikshank gibt
Thackeray' Grelegenheit, auch der „K i ii d e r- und Haus*
m ä r c h e n* * der G e b r ü d e r G r i m m Erwähnung zu tun, 2U
denen Cniikshank gleichfalls die Illustrationen lieferte und^)
im Hinblick auf dieThackeray nun einzelne Märchen namentlich
anführt.. Besonders des Märchens vom Rumpelstiezchen und
der dazu gehörigen Zeichnung gedenkt er ausführlicher.
Eine Beeinflussung Thackerays durch Grimm, das
„Aschenputtel**- Motiv, namentlich in "A shabhy gmted
1) m, 4L - ^) 111, 41 £ — 8) ni, 56.
*) m^ !40. — Die übrigen Erwähnungen Kotzebues sind belanglos;
höchstens die autobiographisch zu nehmende Notiz, XVII, 20L sei
angeführt: Fitzboodle liest in Weimar während seiner selbst auf-
erlegten Krankenhaft sämtliche Werke Kotzebues.
^) ** Populär Startes, trandated from the Kinder- und Hausmärchen
callected Inf M, M, Grimm . . illustrated by George Cruik^ankj Puhlishcd
btf C. Baldwin^ Newgate Street, London 1824" in 2 Bänden und selbständig
davon eine verkürzte Ausgabe; **Fairy Talei, from the German of
X L. Grimm . . - with ülHstrationä by CfMikshank, London 1827^. —
Vgl Werner, a, a. 0. p, 22.
^^ 25 —
wo sich allerdingB Anklänge finden^ sucht Werner
nachzuweisend;
Nicht unerwähnt darf gerade an dieser Stelle auch
eine Bemerkung über Tieck bleiben, die Thackeraj" an-
läßlich der Besprechung des bereits erwähnten Bildes ans
.,Undine'' von Maclise macht:
**W€ must have ihefmryTaks illustrated bt/ ihis gmiihman**
(d. i. Maclise) *7ff is the only person, except Tieck of Dresden,
who kttows antfthing aftout Ihetn,**
Einen außerordentlich wertvollen Äuftchluß erhalten
wir aus einer Karikatur aus Thaekeraya Schulzeit im
Charterhouse, einer Zeichnung auf dem Titelblatt von
CA. lioUins **Äncient }iisiory'\ das in der Schule zu jener
Zeit benutzt wurde ; Clio, ein altes Weib mit H-egenschirm,
Trompete und Korb, stützt sich auf einen Stoß Bücher,
Virgil, Rollin, Don Quixote, Orlando Furioso, Tasso, Homer
und zu Unterst AI ü n c h h a u s e n. Dieser gehörte also zu
seiner Jugendlektüre und übte im Verein mit dem gleich-
falls angeführten Don Quixote einen ziemlich großen
Einfluß auf die Jugendarbeiten Thackerays aus, deren burleske
Elemente namentlich diesen beiden Büchern anzurechnen
sind.^)
Münchhausens Greschichten^ auf deutschem Boden er-
zeugt, wm'den von Rudolf Erich Raspe* Bibliothekar in Kassel,
der sich lange Zeit in England aufhielt, in englischer Sprache
herausgegeben 1786,^) im selben Jahre anonym von Büiger
übersetzt und erweiteit^) und erlangten seitdem namentUch
in England in mannigfachen Überarbeitungen eine große
Beliebtheit.
Der Einfluß des Buches zeigt sich am deutlichsten in
'*The tretitendous c^ventures of Major Gahagan'\ einem Münch-
hausen ins Englische übertragen, der mit seinen zahlreichen,
in verschiedenen Diensten. namentUch aber in Indien voll-
brachten Abenteuern und den Belegen, die er für die.sel1>pn
^) A. a, O, p. 23tl
^) Vgl Weriior, a. a. 0. p.24ft:
^1 Bmvn Munchfiüit^en*» narrative of hü marvellmis travelit and
vximptMi^m in RusaiiM, bt/ K, E. Kaspe, Oxford 1786,
*) Wunderbare Reisen au Wasser und zu Lande^ Feld;5tlge luid
lustigt» Ab*JD teuer des F reihe rro von MüncUhausen.
— 26 —
in seinen Erzählungen vorweist, sich ganz an das Vor-
bild anschließt.^) Auch sonst finden sich Anklänge, so in
*'A Legend of the Rhine*\ wo das wild dahinstürmende Pferd
des getöteten Gottfried unter anderen Hindernissen auch
eine Postkutsche nimmt,*) wie Mtinchhausen mit seinem
Eoti durch eine Postkutsche setzt oder in den ganz im
Miinchhausenstil erzäldten Abenteuern des Grafen vonCleve.*)
Ein bisher noch nicht konstatiei-t er Einfluß auf Thackeray
ist der Hau f f s, der freilich nur ein einziges Mal zu sehen
ist, im '*SuUan Stark'\*) dessen Grundlage, aUerdings für
Thackeray s satirische Absichten geändert, Hauffs Märchen
vom y^KuUf Storch'' ist.
Auch als Kritiker eines deutschen Buches erscheint
Thackeray einmal in Fraser^ts Mag, February 1S44: ''The
Bun/omasler of Berlin, from the Gertfian &f Willihald Alexis'*:
der Name des Übersetzers erscheint nur mit den Initialien
W. A. G-*) — Thackeray, der dem Buche **true Gertnan
industry and no sthuII sharc of kumour'* zuspricht, findet
darin ein sehr genaues Bild deutschen Lebens im IB. Jahr-
hundert, das kennen gelernt zu haben den Leser freut,
wenn er auch am Seh hisse des schweren, besonders für
Engländer schweren Buches angelangt, dasselbe mit einem
Seufzer der Erleichterung weglegt.
Auch das deutsche Volkslied, Kirchen-, Soldaten-,
Studenten-Lied ist Thackeray nicht unbekannt: Luthers
^,Ein fester Burg ist unser Gott*' (sie!),®) „Prinz
Eugen, der edle Ritter*',') femer ein ganz originelles
altes Soldatenlied: ^0 Gretchen, mein Täubchen, mein
Herzenstrompet, Mein Kanon, mein Heerpauk und meine
Musket",®) Das deutsche StudentenJied kommt an anderer
Stelle zur Besprechung.
Nicht unbei-ührt darf an dieser Stelle das Verhältnis
Thackeray s zu B u 1 w er bleiben. Die Gründe für die Gegner-
*) Geiiftueres siehe Werner, a. a. O. p. 25,
-«) XV, 222. — «) XV, 252,
*) Sultan Stork and other siari^.
») A Box of Novck. ^ Stand. Ed„ XXV, p. 69.
♦^) XIX, m u, a.
— f] TV
XIX, a». - «) XIX, 80,
•obaift gegen Bulwer ohaxakterisiert Leslie Stephen : *) Biilwer
erscheint namentlich dem jungen Thackeray "as auoiher
avatar of the greai spirit oj hmnbuy, For not onbj dkl i he netr
writer talk aboui the Tnte and the Beauitful in capiial letterSt
or, in other wordSy iry to ettUven British dulness hy a liberal
inßision of Oernian mysticism and sentimentalisvi, hut he applied
ihis sham philosophy to point very immoral doctrines in such
books iMS 'Ernest 3Ialtravers* and 'Eugene Äram\** Thackeray,
der sowohl Scotts Eomantik als auch den "Bifronism*' für
abgetan ansieht, sieht anch in ''Bulwerism'* nur "a new
phase of aß'eciation imported from Gct^many by u conceited
dandi/\
Am schär&ten zeigt sich diese Gegnerschaft in der
Kritik von Bulwers ''Ernst 3laUraver$'\^) Es sind die Ein-
flüsse der deutschen Romantik und Raligionsphilosophie,
gegen die sich Thackeray wendet. Ernst Maltravers, ein
exzentrischer Jüngling, gerade von der Universität heim-
gekehrt und erfüllt mit den Ideen seiner Zeit, entflieht
mit einem jungen Mädchen. Thackeray zergliedert nmi
dieses Verhältnis; ^*ffe is a yoxmg man of f/etierous dis-
pQSiiiofis; lie i$ an exedleni Christian atid instructs the
Ignorant Alice in the anful tniths of his religimi: vwreover,
he is deep in poetry, philosophtj^ and the German metaphysicsJ*
Ernst Maltravers steht also ganz deutlich, wenn auch keine
Namen genannt sind, unter dem Einflüsse der Romantik,
Schleiermacher, Schlegel, Sohelling u. s. f. ; und
Thackeray zieht nun die Schlußfolgerung f üi* das Verhältnis
Ernsts zu Alice, wie es sich seiner Anschauung nach —
natürlich nach Hulwer — unter solchen philosophischen
Ideen und Moralanschauimgen nur entwickeln kann : *'Hotc
should such a Christian instruct an innocent and heautiful chitd,
his pupil? What should such on philosopher do? Why, seduce
her, to he sureT
Die AngriflFe Thackerays gegen die moralischen An-
schauungen der Schleiennacher, Schlegel etc., natürlich
indirekt über Bnlwer und daher nicht klar und gerecht
1) The Wriiinffä of Thackeray Staiid. Ed., XXIV., p. 335 ff.
>) Frager*» May., XVH, 1B38, p. 79—1(6. On a Baich of novels for
Christmas 1837, wiederabgedmckt in Criiical Faper» in Liierature by
W, M. Thaekeran, London. 1904.
'— 28 —
sdieidend und wohl auch nicht ganz bewußt, sind trotzdem
90 deutlich, <laß sie nicht übersehen werden können.
Deutlicher spricht er sich über deutsche Philosophie,
über Kant^ an anderer Stelle aus, gelegentlich einer Re^ndew
von CarhjU's "French Revolution'' ^): " — ihe iniiiated in meta-
physics, the sages tcho harn passed ike vcil of Kantian phtlosophy,
and discövered thal the 'critique of pure reason* is really that
which ü purporis to be and not the critique of pure nonsettse,
OS ii seenis to worldly mai : to those the presettt book has chartns
unhwwfi to US." — Von hoher Aufiassung und Erfassung
der Kantschen Philosophie zeugt die Stelle nicht, die im
Gegenteil Leslie St ej^hens Vrieil-) über Thackerays Erfassung
deutschen Geisteslebens völlig bekräftigt.. Stephen behauptet,
daß Thackeray nicht allzuviel aus Deutschland heimgebracht
habe^ ging er doch als neunzehnjähriger Jüngling hin und
'^was probahly not prepared in any way to catch the conta^ftoH of
German thought. At Cambridge there was not evett that kind
of intelkctual fermmtation which was making Oxford the cetHre
of a greai rcligious movement, Sonie young men, knoiai to
Thackeray then or in tatet life^ such as Maurice and Sterling,
would have gone to Germnny as eager pilgrims anxious to know
what answers could be draum from the oracles of phihsophy to
the questiofis which were perplexing timr mmds, But that was
not Thackeray's tefnper^\
Dies gilt ganz sicher von Thackerays Kenntnis der
deutschen Philosophie* Und betrachtet man Thackerays
Kenntnis der deutschen Literatur, so kann man sie doch
nur als eine oberflächliche bezeichnen. Einen tiefgehenden
Einfluß hat er von der deutschen Literatur nicht erfahren;
von der gelegentlichen Beeinflussung in einem oder dem
andern seiner Erstlinge muß man wohl absehen. Der
Thackeray des "Vanity Fair\ des ''Pendetmis", "Esmond'\
der f.Virginians'* ist stockenglisch; und wäre er es nichts
wir wären wohl um manche Perle echtenglischen Humors
ärmer.
Thackeray hat seine Kenntnis der deutschen Literatur
in einem Brief an Macvie Napier's Bevollmächtigten T. Lmig^
*) The TimeUf 3. Aug. 1887^ wiederabgedruckt in Siätan Stark d' oihtr
iiories, Critical Papet-H in Literature sowie Biogr. Ed.
-) Leslie Stephen, Tfic Wnlingit of Thackeray, Stand. Ed., XXIV, p.326.
'— 29
man, der Thackeray eine Eiiiladimg zur Mitarbeit an der
Edinburgh Review sandte, selbst charakterisiert:^)
''Reform- Club, Simciay 6, April [184:5].
My Dear Sir,
I hardly kfiow whai subject io point out as stuted to my
capaeity — Upht matter.^ connected tvith art, humourous reviews,
critiques qf noveh — French subJectSj menioirs, poeiry, hisiory
from Louis XV. dmvnwards and qf an mrlier period — that of
Frossart and Monsirelet — Gernian lighi Uteraiure and poetry,
thottgh öf ihis I know but Utile heyond wJmt I leamed tu a
year's residence in the cauntry 14 years ago**^)
*) Der Briet j der sich in den MacHt-Napier-Fapers im Britischen
Museum befindet, ist abgedruckt in der Einleitung zu den Critical
Paper» in Literaturen
2) Es erübrigt mir nur noch eine Notiz: Bio^r. Ed., voL IT*
p. XXVIII, findet sieh unter Datum vom 30. Juli 1H40 folgendem
Zitat aus einem Briefe Thackeray«: *'/ have read Ranke's 'Histortj of
the Popes' (in the way of bueine»»)* U is a yreai hook^ and matf he
f€ad tcith proßt hy some permm who wonder how oiher persans can talk
ahout the 'beautiful Roman Catholic Church\ in 'who9e boaom repose so
mantf mtnU afid sagend Saint^i und sages do skep there and tcenjwherc
nnder God's sitnshine, I hopt'*
Im Augusthet^ von Fräser'» Mag,, 1840 (vol, XXII, p. 127— 145 ^
tindet sich nun pine Heview der Übersetzung von Rankes Geschiehte
der Päpste von Sarah Attstin {The Ecclesiastical tf- Poliiical Historu
of the Popes of Btmie diiring the Sirteenth and SevetUeenth Centuries. Bij
Leopold Ranke. Translated from ihc German by Sarah -lw5iiii, 3 vols,.
London IMOJ, die man auf den ersten Bhck mit Rtlcksicht aut
Tbackerays **in the wog of btmness** wohl dießetii zuzuschreiben sioli
verleitet fühlen könnte, die abei* gerade ihres orthodoxen, zelotiach-
protestan tischen Charakters wegen — der Eeviewer sucht die Ereig-
nisse, die Reaktion zu Gunsten des Papsttums im 16, und 17. Jahr-
hundert aus biblischen Weissagungen zu erklären: DanteL cap. 2, Bl.
die Weissagung von den vier Reichen, cap, 7, seine Vision der vitt
Tiere und St. Johannis Offenbarung, cap. IT, Die große Hure Babylon
auf dem Tiere mit sieben Häuptern und zehn Hömem — zu Thackeray-
gerade in der betreffenden Notiz klar ausgesprocheneu Meinung im
diametralen Gegensatz steht. Auch die Artikel der übrigen Zeitschriften
über Rankes Buch können für Thackeray nicht in Anspruch genommen
werden, zumal da sie alle gezeichnet sind, und Thackerays Plan einer
Review, der aus oben zitierten Zeilen klar hervorgebt, dürfte Absicht
geblieben sein.
— 30 —
Thackerays Verhältnis zur deutschen
Tonkunst,
Einen ziemlich groüeii Raum gewährt Thackeray in
seinen Werken auch der deutschen Musik. Abgesehen von
Händel/) den die Engländer ja für sich in Anspruch
nehmen^ und auch von Haydn»^) der in England früher
Anerkennung fand als in seiner eigenen Heimat, hat
Thackeray von fast allen bedeutenderen deutschen Kom-
ponisten Kenntnis : Mozart, Weber, Beethoven,
Meyerbeer, Mendelssohn, Liszt*
Er gibt geradezu Analysen der Eindrücke, die einzelne
Stellen und Partien auf seine Helden machen. Man lese
die Stelle in den Newcomes über den ^Don Juan**, "/Ae
sweetesi of all music"!^) Freilich, Ethel spielt, Clive hört
zu! Das ganze alte, romantische Land taucht vor seinen
Augen auf unter dem Einfluß dieser Musik. An einer andern
Stelle spricht Thackeray von der ''aw/ul music ofDonJimn
hefare the statuc mters''*) (II, Anfeug, 21. Auftritt), bevor
die Grabstatue des Komturs erscheint, der Einladung seines
Mörders zu folgen. „Don Juan**, der sein Lieblingsstück
von Mozart zu sein scheint, namenthch der weichen
schmeichelnden Musik wegen, die das Entzücken Emmy
Üsborns bildete,^) erscheint am häufigsten zitiert. Daneben
erwähnt er die „Zauberflöte'^*) oder ^Figaros Hoch-
zeit**^) oder spricht von Mozart als Komponisten religiöser
Lieder,*') Übrigens versteht er die unter italienischem Ein-
fluß stehende Musik Mozarts gan^ gut, wenn er ihn in
einem Atem mit Cimarosa nennt.**)
Aucli Weber findet sich häufig angefühil, dessen
.»Freischütz*^ Thackeray vor allem zu lieben scheint.
Er hebt einzelne Lieder imd Chöre aus demselben hervor:
„D a 8 T r i n k 1 i e d*' *") ( ,,Hier im irdischen Jammertal", I, 6), .
den "Bridesniaid*s Chorus*'^^) („Wir winden Dir den Jungfern*
kranz*\ DI,?), den „Jägerchor**, 'Hhe Hunimnm' s GAoms'*")
(„Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen**, HI, 9>
1) V,67; V, 136 u.a.
^ 11,172. — '^)n,207. -
XXY, 317. — a» n^ 149, _
»«) XV, 233.
— s) V, 136; IX, 259 u.a. — ») V, 136. — j
«) II, 172; XVn, 207 u, a. - ^ XX, 224|/
ö) n, 297. - 10) in, 165. - ") XT, 23a —
— 31 —
Eine weitere Erwähnung des T,FreischütK**,') die sich aul
den Text, die Handlung bezieht, findet später ihi*e Würdigimg.
Außerdem ei'^^ähnt Thackeray noch Webers ^,Oberou'%'*)
•femer '*thai imder love':^ong ofWeh€r*ft'\ „Einsam bin ich nicht
alleine*^ •) aus der P r e c i o s a, Text von Pius Alexander
Wolf/)
Ein klar aiisgesprochenes Urteil, eine ausgesprochene
Wertsühätzung^ die wir bei den beiden besprochenen Musikern
nur aus den mehr oder weniger häufigen Zitaten ersehließen
können, finden wir über Beethoven, Mit feinem Blicke
setzt Thackeray den gewaltigen Beethoven, der einsam
in seiner mächtigen Höhe dasteht^ neben den grandiosen
Michel Angel o;
'*!/ Mr. Clive is not a Michael Angelo or a Beethoven ,
if his ffernus is fioi gloomy^ solitary, gigantiCy shining alone,
Uke a Ughthouse, a sionn round cthout A*m, and breakers dashing
at his feet —' *)
Wir besitzen recht wenig Urteile dieser Art!
Über eine ,,Fidelio**-AufiHihrung, die er mit Frau
Sehr oe der- Devrient in der Titelrolle in Weimar ge-
sehen, berichtet er im Briefe an Lewes, Die Auffühnmgt
die er seine Beisegesellschafl:- in ^'Vanity Fair'' in Weimar
mitmachen läßt, ist die Aulfiihnmg jenes Abends im
Jahre 1831:
"and Madame Schroeder-Devrietit, then in the bloom of her
heauig and genitis, perfomted tke pari of the f^eroine in th*
wonderful opera of 'Fidelio' . . * ihe astonishing Chorus oj
Prhmers, over which ihe delight/ul voice of ihe aciresB rase
and soared in ihe ntosi ravishing harmong.*'^)
Die Schroeder ist für ihn unti-ennbar verbunden mit
der Figui' Fidehos.')
Gleich im Anschluß an die „FideUo**-Au£fühning** in
**Vanity Fair" en^'ähnt Thackeray eine andere Komposition
Beethovens, „Die Schlacht bei Yittoria^^**) Gemeimt ist
die auf den Sieg W^eUingtous bei Vifctoria 1813 komponierte
l) XY, -233. - «) V, 136 und XX, 270. ~ 3) II, 359.
*) Gelegentlich erschemt auch Webers englischer AufenthüJt
in einer Reklamanekdote t^r einen englischen Musiker ausgenutzt
XX 207 ft.
' &) VI, 6. - «) n, 300. - 7) Vgl auch XXV, 388. — ») H, 300.
— 82 —
Symphonie^ gewöhnlich „Schlachtensymphonie** über-
schrieben (op, 91), die Thackeray als Engländer natürlich
bekannt sein mui3te. Ganz charakteristisch für ihn aber ist
eine andere Stelle, an der er von der gleichen Komposition
spricht. Wieder bringt er die bildende Kunst in eine Pai'allele
mit der Tonkunst, wie an der Stelle, da er Beethoven neben
Michel Ängelo setzt. Diesmal ist es William Turner und den
Eindruck, den die '^Fighting Temeraire'* ausübt, vergleicht er
dem tiefen Eindruck, den er gelegentlich einer Autf ühnmg
der "BüHle o/Vitioria" in Weimar empfangen hat, als **amidst
a stonn of (jlorious mus^ie, ihe air of *God save ihe Kuuf\ was
iniroduced** : begeisternd hier der Ton, dort die Farbe.')
Atich andere deutsche Musiker erscheinen, freilich nur
kurz erwähnt: Meyerbeer mit seinem ,,Robert der
TeufeP%-) Mendelssohn, nur mit Namen genannt,*)
so auch sogar Liszt, freilich "Liä/j'' geschrieben ;*) daneben
auch die Pianisten und Komponisten Kalk brenn er fFriedr.
WiUi.)«^) und Henri Herz.«)
Allzuhoch darf man Thackeray 9 musikalisches Ver-
ständnis nach solchen gelegentlichen Äußerungen wohl nicht
anschlagen, wenn auch das Feingefühl des Künstlers ihn
gelegentlich ein schönes Bild finden läßt für sein Urteil.
Seine Kenntnisse sind wohl im allgemeinen die eines ge-
bildeten Engländers seiner Zeit, dem das reiche Musikleben
Londons — man lese nur die Artikel in Fräset-' $ Mag, aus
den vierziger Jahren über die deutsche Oper und deutsche
Gastspiele in London') — genügend Gelegenheit zu mu^ika-
lischer Bildung bot.**)
») XXV, la?, die Stelle stammt aus 1839 (Froitr'» Mag., A ucand
hiter on the fine Arts) iüt ako firüher gesclmeben aÜB die Zusammeu-
-stelltuig Beethoven- Michel Angelo.
») m, 207. a) VI, 73. - *) XVII, 204, Aiifang der viei'ziger
Jahre hatte sich Liözt durch seine KmiÄtreisen bereits durchgesetst;
die FUzb(mdk-Pap€fs^ die ihn nennen, fallen 1842/184S.
») XVU, 204. - «) XX, 222,
^) Frastr's Mag., 1841, MambUng Retnarks wük reference to ih€
Genttan opera. 1842. The German opera, <tc.
*l Thackeray selbst scheint in London ein üeLßiger Opernbesucher
gewesen zu sein. Seine Briefe au Mra, Brookßeld berlohten öfters von
Opernbesnchen; Mey erbeers ^Hu^notten"
i j). 140). [Brmkfield LetUrsJ
(p, 60), „Don Giovanni^
B3 —
Thackeray und die bildende Kunst der
Deutschen,
Die bildende Kunst der Deutschen kommt bei Thackeray
sehr schlecht weg. Während er Kaphael, Michel Angelo.
Kubens, Van D^^ke wiederholt zitiert, den französischen
und englischen Kunstausstellungen seiner Zeit ganze Artikel
widmet, bleibt es bei der deutschen Malerei ^ denn mir
dieser Teil der bildenden Kunst erscheint überhaupt er-
wähnt — nur bei gelegentlichen Äußerungen.
Thackeray erscheint als Gegner der Schule Dürers
und C ran ach 8,') er setzt der ^.christlichen*' oder
„katholischen*^ Kunst der 0 v e r b e c k und Cornelius,
^Hke nambt/-pamby mystical Germun schoül, which isfor carry mg
tiS b(tck tö Cranach and Dürer, and which is niuking progress
hete"^j (sc. in Paris), hart zu. Nichts scheint ihm leichter
als diese Kunstrichtung ; Helle Farben auf goklenem Orunde,
Kostüm des beginnenden 15, Jahrhunderts, die Apostel im
Meßgewand, die Jungfrau gekleidet wie eines Bürgermeisters
Weib von Cranach, den Kopf zur Seite geneigt, die Augen
geschlossen, ein möghchst einfältiges Lächeln und dazu
einen Heiligenschein nach genauem Wagenradmuster. Und
Thackeray findet diese Kunst auch in England, durch ^ner
Jahrhunderte überliefert, in den Karten- Königen und
-Königinnen *'. . * the cosiumes and atiitiides are precisehj
simüar ta tlwse which figure in the catholicities of the school
üf Overbeck and Comelius/'^)
An einer andern Stelle erscheint Overbeck als "/Äe
mystical and tender-hearied*',*)
Besser ergeht es der Düsseldorfer Schule: ''sanie
wen from Düsseldorf have smt very fine scietittßc faithfui
piciures, ihat are a utile heavy, but still you see thai they are
1) XIV, Fans Sketch Book, On the French St^iool of Painting.
«) Auch XXV, "May GofnboU; or Tiimarsh in the Picture Galleriet**,
iipmcht er von "U^e n^w German dandy-pietüticiü schoor und erwähnt
Overbeck, p. 238,
») XIV. On the Frmch School of PainHng,
*} Om 8ome tllmtr. Children*» Book*, Fraser's Mag., XXXUI (1846)
[dieser Aufsatz ist niemals wiederabgedruckt], p. 496.
FrisA^ Deutsche Kult»rverhiiltj}is.^e. B
— 34 -
poriraüs dratmi respecifully from ihe grmi, beautiful, various,
divine fate of Nature.'*^)
Namen deutsclier Künstler erscheinen ziemlich selten:
Angelika Kaufmann;*) Retzsch") (Moritz, Dresden)
mit seinen Radieningen zum ,, Faust" (2(> Blätter, 1812,
durch Nachstiche auch in England und Frankreich ziemlich
bekannt); oder sonst gelegentlich der Londoner Ausstellungen,
wie Wehnert^) etc. Grelegentlich eines Aufsatzes über Illu-
strationen zu Kinderbüchern nennt er die deutschen Zeichner
"a kindly and good natured rctce^ wiih the organ of philo-
pragenitivetiess sirongly devehped". ^)
Verglichen mit seinen ÄnÜerungen über deutsche Musik
oder gar deutsche Literatur müssen diese wenigen Be-
merkungen gerade auf dem Gebiet, das Thackeray für sein
eigenstes hielt, ziemlich unbedeutend erscheinen.
I
Deutsche GescMclite.
In der deutschen Greschichte ist Thackeray im aUgemeinen
ganz gut zu Hause. Altertum und Mittelalter sind
mit wenig Belegen vertreten: Hermann^) — die Gelegenheit
zu einem Seitenhieb auf den Teutonismns der dreißiger
Jahre des 19, Jahrhunderts macht ihm die Erwähnung des
Cheruskerftirsten möglich. — Das Mittelalter erscheint mit
einer Erwähnung der FehmeJ)
Viel mehr Besprechung findet hingegen die Neuzeit,
Aus der allerersten Zeit nennt Thackeray Georg von Frunds-
berg, Herrn zu Mindelheim (* 1473, f 1528), *'a colonel of
fooifolk in the Imperial Service at Fama'\^) dessen „Leben"
eines der Lieblingsbücher Heniy Esmonds ist. Was fiir ein
Buch gemeint ist, ob überhaupt an ein vorhandenes Buch
gedacht ist, dem dann der Enkel Esmonds den Stoff zu
seinem Drama entnimmt, eine Geschichte aus den Kämpfen
der Beformation, der Bilder- und Klösterstürmer/') ist un-
möglich festzustellen- Es existiert tatsächhch eine Biographie
Frundsbergs von Adam Reißner „Historia Georgen
1) XXV, p. 226. — «) XXII, 208. — «) XXV, 24Ö. - ^) XXV, 257.
^) Oneäome ülustr, CMdren*s Books. Fräser* g Ma ff., XX^TTT^ p. 496.
«) xvn, 18a. ^ 7) n, 98. — b) ix, iös. — i», ix, 153 1
I
— 35
und Kaspern von F r u n d s b e r g* ' ( Frankfurt 1 568).
Daß Thackeray dieses alte Buch gekannt haben sollte, ist
schwer anzunehmen und so ist wohl das Buch wie Warring-
tons Stoff Thackerays eigene Schöpfung.
Auch der Dreißigjährige Krieg findet in einzelnen seiner
hervorstehenden Persönlichkeiten gelegentUch Erwähnung:
Gustav Adolf,*) Wallenstein, Butler-) etc.
Im Vordergrund seines Interesses aber steht das Zeit-
alter des „Sonnenkönigs^' und dessen EiniiuÖ auf Deutsch-
land. Ludwigs XIT. Eroberungszüge, die die Kheinlande,
namentlich die Pfklz verwüsteten, meint er wohl mit den
''camjmigns of the Ehine and tke Palatuiale'^^) Die Nach-
ahmung Ludwigs XiV. an den deutschen Höfen, die
Großmannssucht aller der kleineren und größeren deutschen
Fürsten, die glänzenden Hofhaltungen, die Pi'acht hauten
nach dem Muster von Versailles, die Herrenhausen, Wilhelms-
höhe, Ludwigslust u. s. C, die Biesensummen verschlangen,
die aufzubringen ganze Eegimenter verkauft, wurden, die
Maitressen Wirtschaft, die nicht zuletzt an all dem schuld
war^ hat Thackeray wiederholt gegeißelt.'*) Die Höfe des
18, Jahi'huncierts sind ein Sammelpunkt aller Sorten von
Abenteurern mämiliohen und weiblichen Geschlechteg/j der
Meiflenbach,*^) der Königsmarck^) und wie sie alle hießen.
So zieht auch Ban-y L^iidon von einem Hofe zum andeni.
von einer SpielhöMe zur andeni ; denn an den Holen jener
Zeit war das Spielen ganz gewöhnlich. Er kommt, nachdem
er aus Berlin entwichen ist, nach Dresden, wo es ihm an
dem flotten Hofe König Augusts ganz gut gefallt.^) Aber
weder Dresden noch auch Wien, von dem Barrys Onkel
schwärmt,**) können sich messen mit den Höfen der Kirehen-
fürsten am Khein, zu Trier und Köln.***) Überhaupt die
süddeutschen Höfe!
Barry Lyndon gibt uns eine ansführhche Schilderung
eines solchen Hofes :>*) Es ist das Herzogtum von X . . .
Der Herzog residiert nicht in seiner Hauptstadt S . . .,
sondern er hat sich einige Meilen von derselben einen
- *)XXILI, 8--10. -
8»
38
fcy her hushand föT adulU^y; Frederic William, bom in 17 3 4^
m. in 1780 the Priucess Carolina of Brunswick- Wolf enbuttel,
whö died the 27^^ Sq)tember 1788. For the rest of thc stortf see
V Empire ou dix ans sousNapolem, par un ChambeUan:^) Paris,
AJlardin 1836, vol /, 22ff\^)
Zum mindesten ist mit dieser Notiz Klarheit über die
Quelle geschaffen, aus der Thackeray schöpft, wenn die-
selbe auch den historischen Tatsachen widerspricht* Die
Geschichte kennt wohl die Namen: Friedrich L (Wilhelm
Karl), König von Württemberg, geb. 1764, vermählt seit 1780
mit der Prinzessin Auguste Karoline von Braunschweig-
Wolienbüttel, welche 1787 starb. Von einem Ehebruch und
Moni weiß die Geschichte nichts.^) Thackeray ist also hier
einer französischen Skandalchronik aufgesessen. Wie weit
die Berichte des französischen Buches gehen und wie weit
sie von Thackeray benutzt sind, kann ich leider nicht fest-
stellen, da mir das Buch nicht zugänglich war.
Nicht übersehen darf aber jedenfalls die Ähnlichkeit
dieser Geschichte mit der Tragödie der Prinzessin von
Ahlden werden^ der Gattin des ersten Georg.*) Die all-
gemeinen Züge stiimnen überein: Die leichtlebige Prinzessin,
die Tochter der Französin d'Olbreuse, der verschlossene,
ernste Gatte, den das Wesen seiner Frau wiederholt zn
WntanfäHen bringt, der Geliebte der Prinzessin, GrafKönigs-
marck, ein Schwede — dort ein Franzose — an dem sie
mit leidenschaftlicher Liebe hängt; das Verhältnis wird
verraten, der Geliebte wird beiseite geschaflfl, die Prinzessin
interniert. Freilich bis zur Hinrichtung kommt es nicht
und auch die Begleitumstände bei der Entdeckung stimmen
^) Der Verfasser dieses Buches, das ich leider nicht auftreiben
kotiiit«, ist La Mo the Houdaucourt, später La Mo the Langon.
3) Biogy. Ed., vol, IV, p. XXXrV\
^) Und nicht nur in Bezug auf den angeführteii Friedrich I.; ein
derartiger Fall ist der Geschichte Württembergs überhaupt iremd.
*\ Vgl Thackerays eigene Schilderung in den „Fo«r Georg€s'%
XXm, 1H^21; vgl. auch Frank T, Marzials in der Einleitung
meiner Ausgabe des BaiTV Lyndon; daselbst auch über die Quellen
und Vorbilder zu Barry Lyndon; ebenso Walter Jerrold in der
Einleitung zu seiner Ausgabe (The Prose Works of \V M. Th.). —
Thackeray notiert übrigens selbst die Ähnlichkeit der beiden Flille
XIX, mL
— 89 —
nicht, Thackeray erzählt nichts von dem Emgreifen der
Maitresse des alten Herzogs imd die Geschichte der Prin-
zessin von Ahlden weiß nichts von einem Smaragd tind
dem Haß eines Pohzeiministers.
Es muß festgehalten werden: Thackeray wollte in seinem
kultur-histoiischen BrOman '*The Luch of Barnj Lyndon' auch
ein Schulbeispiel für die Hofwirtschaft jener Zeit geben. Wie
er zeithch kombiniert — Friedrich den Großen und den Er-
bauer von Ludwigsburg, Herzog Eberhard Ludwig (f 1733i —
überträgt er — wenn auch die Grundlage in jenem französi-
schen Buche zu suchen ist — auch Züge der Katastrophe
in Celle auf die Tragödie in Ludwigslust.
Einer eingehenden Betrachtung würdigt Thackeray in
den Vorlesungen über die '*Füur Georges" natürlich auch
die Vorfahren des englischen Königshauses, Es ist nun von
hohem Interesse, auf diese Partien näher einzugehen, nicht
so sehr wegen des Inhaltes dieser Schilderungen, die sich
fast durchweg engstens an deutsche Quellen anschließen,
als \nelmehr gerade dieser Quellen wegen. So eingehende
Studien, wie sie Thackeray eben dem **Esmmid" hatte an-
gedeihen lassen und wie sie George Hodder, der Thackeraj^
bei den Schreibarbeiten füi' die ,, Georges'' im britischen
Museum hilfreiche Hand leistete, auch f üi- diese Vorlesungen
behauptet, \i mögen wohl den eigentlich englischen Kapiteln
über Georg 11., III., IV* zu gut gekommen sein, viel weniger
dem erwähnten ersten, in dem sich Thackeray ziemhch
skrupellos an seine Quelle anschließt.
Die erste und wichtigste Quelle für diese Partien ist
Vehse,^ den Thackeray selbst an einer Stelle zitiert.^)
Die erst^ Erwähnung der ''Georges*' fällt Sommer 1852,
während der deutschen Heise: *'/ had a notion of lectures
oti ihe Four Georges and going io Hannover, to look at the
place whefiee the race came"*) Damals war Vehsas Buch —
ii) Memoirs of my time by George Hodder, London 1870^
cap. XI, ist Thackeray gewidmet.
^) Dr. E. Vehae, Geschichte der deutöchen Höfe seit der Ee-
fbrmatioH, 48 Bände. Hamburg, Hoffmann & Comp. 1852-1858, ( Geseh,
der Höfe des Hauses Braun.schweig m Deuts<.eblaüd imd England,)
8) xxm, p. 7,
*) Bio^j\ Ed,, X, p. 1.
— 40 —
die Partien über das Haus Braunschweig erschienen 1853 —
noch nicht veröffentlicht : 1853 aber schon erschien in Fräsers
Magcmne eine Rezension über den bereits erschienenen Teil
„Geschichte des preußischen Hofes nnd Adels
nnd der preußischen Diplomatie**, >) der noch im
selben Jahre eine weitere der eben erschienenen „Ges^chichte
der Höfe des Hauses Braunschweig in Deutsch-
land und England" folgte.^) Durch diese beiden Aitikel
dürfte Thackeray auf Vehse aufinerksam geworden sein^
wenn nicht sogar der zweite Artikel von ihm selbst henührt.")
und nun zur Darstellung Thackerays, der ich hier
unter genauer Berücksichtigung der Quellen folge: Thackeray
beginnt mit dem Sohne Ernst des Bekenners, Wilhelm
*VAe Pious*\ der in späteren Jahren der Blindheit und dem
Wahnsinne verfiel;*) bespricht dann das Schicksal der
Söhne, die das Los entscheiden ließen, wer heiraten sollte,
das Geschlecht fortzupflanzen;^) läßt dann eine genaue
Beschreibung des Hofes zu Celle folgen, ein Zitat aus Vehse:*)
dann Georgs, des glücklichen Losgewinners, Abenteuer im
Dreißigjährigen Krieg bald aulMer Seite der Kaiserlichen, bald
bei den Protestanten;^) bedauert die Lockerung der Sitten
unter den Söhnen Georgs, von denen der zweite das Leben
in dem damals in Mode stehenden Venedig voU auskostete
nnd schließlich die Französin Eleanor d'Olbreuse heim-
führte;®) übergeht rasch die Teilungen unter den Söhnen
Georgs und die Wiedervereinigung der Gebiete in der Hand
1) vol. XLVm, p. 51) ft, — 2) Ebenda p. 445 ff",
•^) Thackerays Verbindiing mit Fräser' s Mag, und Übereiüstim-
mungen^ nickt nur sachlicbe, die ja bei der gleichen Materie nicht
wundemebraen düii^en, sondern sogar wörtÜcbe mit einzelnen Partien
der in der Biogr^ Ed,^ Xlllp p. 64 ff., mitgeteilten "Nott-Books**
Thftckerays zu den "G€or^€B*\ eine wörtliche ÜbersetzuDg aus Vehse,
*'Th€ Köntff9fnarck^\ bringen die Annahme der Autorachafl Thackeray»
nahe,
*) XXIU, p. 6^ nach Vehse XVIII, p, 6t\; auch der Vergleich mit
Georg lU.t der gleichfaUs blind und wahnsinnig endete, ist Vehse ent-
Dommen, — Die weiteren Zitate sind, wo nicht anders vermerkt^ für
Bd, XXm, Stand. Ed, der Werke Thackerays^ beziehungsweise
Bd. XVIH bei Vehsc zu verstehen.
**) p. 6 u. 7, nach Vehse p. 8 u. 9.
*) p. T, Absatz 2, nach Vehse p. 9 u. 10,
T) p. 7, nach Vehse p. 13—16. — »J p- 7f., iiaeh VebRe p. *27— 30.
4
4
I
4
L
41
de« Sohnes des jüngsten der vier Brüder:*) -streift dann
die Konvertierung des di*itten Sohnes jenes Georg zum
Katholizismus,^*) um sich hierauf in einem längeren Exkurs
über die Nachahmung Ludwigs XIV, an deutschen Höfen,
seinem Lieblingsthema^ zu ergehen;^) notiert dann die H*^irat
des ersten Kurfüj^sten von Haimover mit Sophia, der Tochter
des Winterkönigs, eine Heirat, die dem Hause Haimover
die Anspiüche auf England brachte,*) und geht nach einer
kurzen Anekdote, welche recht hübsch die Anschauungen
über die Konfession der weiblichen Glieder deutscher Fürsten-
häuser*) zeigt, zu einer kurzen Charakteristik Ernst Augusts
über, "a memj princCj fond of dinner and the hoiile*\ der eine
große Vorhebe für Italien hegt und, seine glänzenden Feste
zu bestreiten, zu dem beliebten Mittel des Truppenverkaufes
greift, trotzdem aber nicht imökonomisch und nicht ohne
politischen Weitbhek ist;'^) gedenkt ferner der Einführung
der Primogenitur durch Ernst August, nicht sehr mit Ein-
verständnis seiner Söhne, ^j und bringt einen Brief der Kur-
fürstin, der sich mit dem Schicksal ihres zweiten Sohnes
beschäftigt;'^) bespricht dann das Schicksal der Kinder Ernst
Augusts,**) spricht weiter von dem Briefwechsel der Herzogin
von Orleans,* ^) Elisabeth Charlotte, dem er wohl die Episode
von der Geburt Georgs L entnimmt'^) und bringt ihre
Charakteristik ihres Vetters Georg, ''odiously hardj cold^
and s^ilmt*'/^) an die er eigene Bemerkungen knüpt\: er-
wähnt dann Greorgs 1, Teilnahme an den Kriegen seiner
1) p. 8, nach Yehse p. 19 fl.
«) p. 8, nach Vehse p. 32—34,
8) p. B— 10.
^) p. lOf bei Vehse, dem nur die TAtSBohe entnommen ist, p. 52.
"►) p. 10 f, ; Quelle mir imbekannt.
«) p, 11, nach Yehse, p. 53—60 und 107 ff. — Truppenverkauf
geiüelt Thackeray auch sonst: XIX, 72 f; IX, 382, 408. 410.
') p. 12, nach Yehse 107.
*) p, 12, etitnoumien Vehse p. 107, Der Brief ist au Herzog Rudolf
August von Wolt'eubllttel gerichtet; bei Thackeray fehlt ein Passus
in der Mitte,
^ p. 12, nach Yehse p. 107—115.
^ p. 12* bei Yehfie wiederholt angeführt.
**) Bei Vehse nicht erzählt.
*S) p, 12, Vehse teilt p. 70 den betretenden Brief vom 16. März 1702
mit, aus dem oben zitierte Worte wörtlich üb ertragen sind.
42 —
Zeit in kaiserlichen Diensten als Ki^onprinz,^) seine Vorliebe
füj* Hannover/) seine Kühlheit, als er sein Erbe, die Ki'one
von England, übernimmt, ''reasmuibly ihuhtful whelher he
should not hü turtied out some day; loohing upon himself anly as
a lodf/er, and tnaking the tnost of kis hrief tenure of St, Jmnes's
and Hampton Gaurf*:^) und berichtet kurz von den Plün-
derungen seitens der Deutschen im Gefolge des Königs;*)
findet aber doch einen Vorteil in dem deutschen Protestanten,
der England sich selbst regieren läßt, gegenüber den katho-
lischen Stuarts.*) Nach kurzem Hinweis aui seinen eigenen
Besuch in Herrenhausen 1852*) und Ei'wähnung des Todes
der Kurfürstin Sophie geht Thackeray zu einer freien
Schilderimg Herrenhausens zur Zeit Ernst Augusts und
der beiden ersten George über,^) er ist wieder bei seinem
Lieblingsthema, '^ Louis XIV* and Charles II, searce disiingnish-
ed themselves more ai Versailles or St, James's than these
Gennan Sidians in their little ciiy on the banks of the Leifie'*:
er führt sodann einen Brief Mary Wortleys über Greorgs I.
''painted sera(;Uo"f sowie über den späteren Greorg II, an;*)
eine Anführung des Rang- und Hofreglements und des
Hofetats unter Ernst August folgt sodann,*) begleitet von
einigen satirischen Ausschmückungen. In längerer Aus-
führung wendet sich Thackeray hierauf der Maitressen-
wirtschaft an den Höfen der Zeit zu und führt einzelne
dieser weibhchen Abenteurer an, die Meißenbachs, Aurora
von Königsmarck u, a., ^^) um sich schlieölich der Geschichte
der Königsmarcks zuzuwenden.
^) p. 12, ausfahrlicher nach Vehae p* 159 in einem Kote Book
[Bhgr, Ed,, XIII, p. BT].
^) P. 12.
8) p. 13f Vehse bringt» p, 9C>7, eine Depesche des französischen
Gesandten an den König von Frankreich, 1721, in der sich oben zitierte
Charakteristik Bndet,
*) p. 13, bei Yehse ausführlich p. *210u. 21L
*) p. 13.
^ p. 13.
7) p. 13 f.
8) Lady Mary Wortley Montagu; eine Ausgabe ihrer Werke
erschien London 1803^ The LeiterB and other worki of Lady Mary Wortley
Montngu, 6. Bde.
») p. 15, nach Vehse p. 115—123.
»«1 p. 16.
1
Mrs. Bitchie veröffentlicht in der Einleitung zum
XTTT. Bande der Biogr. Ed* mehrere Note-Books, hauptsächlich
zu den Georßes^ deren eines sich mit den Königsmarcks he*
schäftigt.^) In die Georges selbst ist nur ein knapper Aus*
zug dieser ausführlichen und wohl ursprünglich ganz für
die Georges bestimmten Abschnitte aufgenommen, die übrigens
die BenutzLing Vehses vollkommen beweisen, wenn noch ein
Beweis nötig wäre. Sie sind eine wörtliche Übersetzung,
die nur ab und zu Unwesentliches foiiläßt. In den Four
Gearges selbst erscheint die Geschichte der KÖnigsmarcks
bedeutend gekürzt aus dem Note-Book. ^)
Mit Philipp von Königsmarck ist Thackeray bei der
Geschichte der unglücklichen Prinzessin von Ahlden
angelangt. Nach einer Kritik des Buches von Doran,^)
in welcher Thackeray die Prinzessin gegen die scharfe Ver-
urteilung seitens des Autors zu entschuldigen und verstehen
sucht, ^j und nach Erwähnung des von Palmblad nach
den in der Upsalaer Universitätsbibliothek befindlichen
Briefen herausgegebenen Briefwechsels zwischen Sophie
Dorothea und Königsmarck,^) geht er zur Schüdenmg des
Verhältnisses der beiden und der Katastrophe über, wobei
er sich ziemlich genau an Vehse anschließt: KÖnigsmarcks
Verhältnis zur Gräfin Platen und zur Prinzessin, die ihn
leidenschaftlich hebt und überallhin mit ihren Briefen ver-
folgt; ihr Plan zu fliehen; ihre Bitte an die Elteni, ihr
Zuflucht zu gewähren: ihre Vorbereitung zur Flucht; Königs-
1) Biogr. Ed., Xni, p. LXIV— LXVII = Vehse p. 72— 8tJ. \2h&B^
Käme ireilich ist nicht geoannt.
^) p. 17.
») Ltt)€» of ihe Queens of England of the Home of Hannover bj
Dr, Dorau, London 1853, 2 vols,: voL I, p. 1—200. Sophia Dorothea —
Dorau fußt gleichfalls großenteils auf Vehse. — Thackeray unbekannt
war eine 1743 erschienene Apologie der Prinzessin: Menioirs of the
Lote and State-Intrigues of the Court of H —, From the Matriage of the
Primeeu of Z . , . ., io ihe Cro^teol Dettih of CoutU K ki A Home-
Truth -- Written origmalfy in High-Gervian — By the Vdebrated
Couniess of K--k, Sister to ihe VnfortunaU Nobleman. London Printed
for J. H. near Ludgate Hill 1743.
^) „Briefwechsel des Orafen Königiömarck und der Prinzessin
Sophia Dorothea von Celle", Leipzig 1847. Thackeray wohl nur aus
Vehi^e, p, 82 11% bekannt.
m
— 44 —
marcks unvorsichtige Außeningeii in Dresden, die Eifersucht
der P!aten;*} — und nun, bevor er zum Schluß eilt, noch
einen letzten Blick auf die Akteure des Trauerspieles,*) eine
kurze Abschweifung über die Schuldfrage und ein histori-
scher Exkurs über Eheimingen in Fürstenhäusern:'') und
endlich die Katastrophe: Georgs I, Stelhing, die letzte Unter-
redung der Prinzessin mit dem Geliebten, das Eingreifen der
Platen und Königsmarcks Ermordung ; und die schließliche
Intemiennig der Prinzessin in Ahlden.**)
Die folgenden Partien schildern den Anfall Englands an
das Haus Hannover, Georgs!, Begierungsantriti und Einzug in
London, seine Hofwirtsuhaft in London mit seinem deutschen
Gefolge, seinen deutschen Maitressen, der Kielmannsegg,
der i. e. ,,Maypole** „Kletterstange**, und der Schulenburg,
dem ^,Elephanten** *'^) u. s. f. und sind von da ab tur die
vorliegende Arbeit ohne Interesse, ebensowenig wie die Hof-
haltungen und Geschichte der übrigen George in London.
Erwähnt sei an dieser SteUe nur noch eine von Thackeray
für die Londoner Sittengchilderung zur Zeit Georgs L
benutzte Quelle, die Memoiren des Barons Po Unit z,
der nicht nur in Georg /., sondern auch in einem der von
JIrs. Ritchie veröffentlichten Note Books als Quelle angegeben
erscheint.*^)
Die letzten Abschnitte von Oeorg /,, seine Erki^ankung
und seinTod in Deutschland* sind wieder nachVehse gehalten.
Daß Vehse') auch in Georg IL und auch den andern Georges
gelegentlich benutzt ist, sei hier nur erwähnt.
Was die übrige deutsche Geschichte betrifil, erscheint
sie nur mit gelegentlichen Erwähnungen vertreten: Die
*) p. 18, nach Vehse p. 89—98.
8) p. 18 f
«1 p, 19.
*) p. 19—21, nach Vehse p. 94— 101,— Das Datum der KatastTophe
ist L JuH 1694
•) p, 22^ Yebee auch hier noch stark benntait,
ß) p. 27.^" Biogr. Ed., XILL, p. LX^TII f., LXXI,
^ Die Übereinstimmungen mit Vehse in George /, beschränken
sich nicht nur aul' die entsprechend notierten sachlichen Cberein-
Stimmungen, sondern es zeigen sich wiederholt direkt wörtliche Ent-
ilehüungen.
— 45 -
Kriege gegen Napoleon, die Lützower, "the Black Jägers'\ *)
die Schlachten von Leipzig^) und Waterloo und der Kongreß
zu Wien,*) wobei freilich den Deutschen nicht die gebührende
Stellung wird/) wenn auch von Blücher als ''ihecdehrated Prus-
sian GeneraV die Rede ist.^ ) Was für einer Anschauung er übri-
gens über Blücher ist, zeigt die Anekdote in den Four Georges:
Der alte Haudegen blickt vom Turme der St,-Pauls-Kirche auf
London, ein tiefer Seufzer entfährt- ihm : ** Was für Phrndtr /"*)
Auch eine besondere staatliehe Eiiirichtung in Deutsch*
land, die Freien Städte, erwähnt Thackeray: Bremen J) Ham-
burg^) und Fraukfui*t am Main, **thefr€e ciiy of Judensiadr .^)
Austriaca: Im Anschluß an die Behandlung der
deutschen Geschichte in der Auffassung Thackeray s sei hier
ein Kapitel erledigt, das eigentlich in den Zusammenhang
der deutschen Geschichte gehört, bei näherem Zusehen aber
doch einer besonderen Znsammenfassung wert erscheint.
Es ist ein Abschn itt üb er österreichisch e V e r h ä 1 1-
nidse, soweit sie sich bei Thackeray erwähnt finden.
Zunächst sind es natürlich die Türkenkriege, die wir
genannt finden; die Belagerung Wiens und der Entsatz
durch die Verbündeten, Sobieski/'^) dann Prinz Eugen, der
nicht nur als Feldherr, sondern auch mit seinen Sammlungen
im Beivedere genannt wirdJ*) Wien erscheint als recht
lebenslustige Stadt, wenn auch von anderen übertroffen.")
Erwähnt wird auch Maria Theresia, Josef II. ; im Sieben-
jährigen Krieg auf österreichischer Seite der Pandui'en-
führer Trenck;***) übrigens erwähnt Thackeray auch den
Östen'eichischen Erbfolgekrieg. ^*) — Den Spielberg nennt
er als Gefängnis für politische Verbrecher, namentlich liir
unbequeme Preßleute.**) — Und dann sind wir wieder in
der Zeit der Franzosenkriege: Austerhtz,^*) Marengo,*'^) der
Hof zu Schönbrumi,^*^) Kaiser Franz**) und dann sogar
die Volkshymne/**) "God preserve (he Emperor'', '*Hmven
i^y^ 400. ^ 8) I, 118 u. 295, ^ «) I, 297. - *) I, 841. - ^) \\ 141.
«) XXIH, ]». 28, wohl zu verstehen : wa« wäre da nicht alles zu
u):
plündern !
') XIX, 62. - 8) XTn, 211. ^ ») n. 296,
10) V, «54; n, 306. - ii) V, 64. ~ ^^) XIX, 108, 126. - »«) XIX, 108.-
«*) XIX, 129. - 16) y , 16a— 1«) IX, 299; XX, 210. - "J XXI, 13. - ^) VI,
1») XX. 213. — ») XX, 210, 218>
48 —
waren die natürlichen Sprecher und Verbreiter dieser Meinung
lind dui'ch Jahrzehnte und Jahrzehnte bis in Thackerays
Zeiten erhielt sieh die Ansicht: Friedrich II. ist ein heim-
tückischer Räuber und mutwilliger Friedensstörer. Dann
kam der Siebenjährige Krieg, England war im Bunde mit
Friedrich und jetzt modifizierte man diese Ansicht etwas,
man änderte sie nicht gerade, man tilgte nur hinzu: Friedrich
ist einer der größten Feldherren, Das w^aren die Ansichten
über den Könige was sein öffentliches Wirken betraf. Für
sein Privatleben aber stand es noch schlechter; die Quellen,
die in England galten, waren alles eher als lauter: Voltaires
„Vie Privee du Roi de Prusse" — "a scandalous libeP'
nennt es Carlyle — und zum Teil wohl auch die Memoiren
der Markgrafin von Bayreuth, So stand es um Friedrich
in England zu seinen Lebzeiten und diese Meinungen haben
sich bis in die Mitte des 19, Jahrhunderts, bis auf Carlyle
erhalten, der ihrer noch gedenkt.^)
Es ist nötig, hier auf die Au£fassung Macaul ays kurz
[«inzugeheu, da sie für die englische Auffassung in jener
^*2eit*) und auch fiir Thackeray maßgebend war und in
manchen englischen Kreisen heute noch gilt, man lese nor
das Urteil Leckys in seiner Geschichte Englands im
18. Jahrhundert.*)
Schon Friedrichs Vater erscheint bei Macaulay ziemlich
schwarz: "a prmce teho must be aUowed ic have pos$tss§d
*) Carlyle, a, a O. I, p 10 fF
*)ZimiVergLsei hier ein Artikel in Frasert Mag., XX1I1,1841— -
also vor Alaoanlay — **Tablemix of the mo$i tmmfnt soläters of th« eigk'
ieenih Centwy — JFV^dmdt II,'* angefülirt, Friedrichs Charakter erscheint
folgen dermußeii geschildert: ^'great as a hing amd litile oi a man —
mhiajfs admir^ tu hi^ public^ netter betaved in ki$ prwate ckaracter : —
m jmti, gemrom, 9nd UUxmam prince, -^ a tarn, mmneiow, ümd eoid-
kemied mdwidwü: kuamom hg leMpanmenl^ iewipemU m prmeHet; —
a m^jM ^iemfeam, tmd t^€cimg tki kanime$9 of tke cgmc; peoc^fuOg
äi0!pa9€d and cnUiimImg Übe mrU t^f peaee, gH ^otrciHng Ae arU of %oar
im Cldr din$i form ; — a wum of ietter§^ igmoramt of tikt bemmUes mmd
dmdaimmg t^ Umgumge of hk tommttg; — wuLgnißeemi mmd aimm^ Übe
Imädfr of palme€$t tkmirm, IAnne$, mtd tmuetmu and dging Uieraüg
mOHHU a uM§ MH m «IM Jle wmid ht hnned: -- and 1a»tig, ihe moa
Uümf md mmu^ ioMiir 4/ Mit $m€, — and akmom dmHlmlk ^ Übe
im-'* ßrm ^MiSlif^ pmtmmk oommge/'
*» Ä lEKiüry ^ Bnglamd m Übe /^ ttmimrg. Br TT. E. H. Leckj,
— 49
same talents for administration, but whose character ums dis*
ßgured btj odious vices^ and whose eccentridÜes were such, a$
had nevcr before hem seeti out of a madhome,'* ^)
Eine Manie für lange Kerls, die ihn viel Geld kosteten,
auf der einen, schmutziger Geiz auf der andern Seite,
nicht nur im eigenen Haushalt, sondern auch in Bezug auf
die Kepräsentanz im Auslande seinen Gesandten gegenüber;
dabei von unnatürlicher Härte gegen die eigenen Kinder:
so schildert Maeaulay den König und das war auch die
Meinung der Zeit, die aus den Memoiren der Markgräfin
von Bayreuth, Friedrich Wilhelms Tochter, schöpfte, einem
Buche, das allzulange unverdiente Ehren genossen hat und
dessen Geschichtsfälschimgen und clirekte Verleumdungen
erst die neuesten Forschungen aulgedeckt haben. Wenn
die eigene Tochter diese Autfassung in die Welt getragen
hat, dann ist es nicht zu wundem, daß die ÖffentHchkeit
sie angenommen hat. Von einem andei-n Vorwurf aber ist
Maeaulay nicht freizusprechen; Voltaires schamloses Libell
hätte er niemals zur Quelle für seine Darstellung des häus-
lichen Lebens Friedrichs machen dürfen.
Macaulays Urteil über Friedrich II. steht seinem Urteil
über Friedrichs Vater nicht nach:
**a tyrant of ejclraordinartf milüary and jmlitical ialents^
4)f industnj fnore extraordinart/ still, wUhout fear, without
faith, and withmd meraj'*-) — "By thc public, the King
tras considered as a poUtician destituie alike of nwrality and
dccency, insatiably rapaciatis and shamelessly false; nor was
the public much in the mrong. He was ai the same Hme alUmed
io be a man of patis, a rising general, a shrewd negotiaior
and administraior'* *)
Nur in einem Punkte erkennt Maeaulay den groÜen
Friedrich an: ^'and it waii only m adver sity, in adver sity which
seetned without hope or resource^ in admrsity which would havc
cverichelmcd wm men celebrated for strengtk of mind thai his
real greainess could be shomh"*)
Selbst das Feldhermtalent Friedrichs erkennt Maeaulay
») A, a. O* (ed. Tauclmitzt p. a.
8) A. a. O. p. 14.
*») A, a, n, p,30,
*) Ebenda.
Friiin, Deut^icbü KmltDnrorli<iiisae. 4
— 50 —
mclifc unbedingt an*) tmd wird erst bei der allerdings
glänzenden Scliüdening des Siebenjährigen Krieges, mit
der das Buch schlieijt, etwas wärmer.
Wie ganz andere sieht das Urteil Carlyles aus:
"fle left the tvorld all bankrupi we may say ; faUm in
hottomless ahysses of destructian ; he still in a payinff cofidition,
cmd with fooHng capable io carry his affairs . . , This also is
ane of the peculiarities of Friedrich, that he is hitherio the last
of ihe kings; that he ushers-in the French Revolution and
eloses an Epoch of World-History/'^)
Aber Carlyles Buch erschien erst gegen Ende der
Lebenszeit Thackerays und ist daher für die Auffassung
desselben — es kommt ja hauptsächlich der 1844 erschienene
y,Barry Lyndon" in Betracht — ohne Einfluß. ''The
ImcV* — oder wie später ''The Memoirs*' — '*of Barry Lyndon^
Esq" erschien zur Zeit, als eben durch die Publikationen
Campbells und Macaulays die Aufmerksamkeit wieder auf
Friedrich gelenkt war und beide Autoren, namentlich der
letztere, sind nicht ohne Einfluß auf Thackeray geblieben.
Man vergleiche nur Thackerays Urteil über Friedriclis
Vater, allerdings in einem späteren Werke^ in den "Fotir
ßeoryes' ; er gibt dabei ausdrücklich die Memoiren der
Markgräfin von Bayreuth als Quelle an, die ja auch
Macaulay benutzte:*) *^ Frederick the Grcai's father knock^d
dotim his sous, dauphters, ofßcers of state; he kidnapped big
men all of Enrope over to make grenadiers of; his fvasts, his
parades, his winc-parties, his tobacco-parties are all describedAj
Jonathan Wild ihe Great in language, pleasures^ and behaviour^
is scarcely nwre delicaie ihan this Gennan sovereign,"^) Das
Urteil erinnert stark an Macaulays Anschauung^ den Thacke-
ray übrigens, wenn auch nicht ausdrücldich für das vor-
liegende Thema, doch unbedingt als Autorität anerkennt,**)
Man stelle daneben aber Carlyles Beurteilung, der das
*) Man vergL den tiereits erwähnten Artikel in Fraser*s Mag. XXIII,
der Friedrich II. als Taktiker hinter Gustav Adolf, Karl XII. und dea
Marschall von Sachsen «» teilt.
«) A. a. 0. vol, I, p. 5,
^) Freilich wirken hier wohl auch schon Dr. Vehses Hof-
geschichten mit ein.
*) sc. im Bnche der Markgräfin von Bayreuth.
6) XXIII, 36. - «) III, 38Ü.
•
Treiben Friedrich Wilhelms auch gekannt und verstanden
hat, trotz Wilhelminens Buch :
"Wilder son of naiure seldom came into the ariificial
World; into a royal throne never probably. A wild man^ wholly
in eamesi, veritable as the old rorks, — and wiih a ierrible
volcanic ßre in him too* He would harn beefi stränge amjwhere;
huA amoftg the dapper Itoyal getdlemen of the Eighiemth
Century, what was to be done with such an Orson of a Kimj ? —
Clap him in Bedlam, and bring out the ballot-boxes instead?
The modern gmieratioti too still takes its impression of htm
froni these rumours, — still more now from Wilhdmina*s Book^
which paints the ouiside savagerg of the rmjal man in a most
striking manner: and leaves the inside vaeant; nndiscovered
by Wtlhelmina or the rumours/'^)
Und einige Seiten weiter spricht Carlyle das tiefsinnig-
schöne Wort von dem „stummen Poeten'^:
"We are tenipied to call Friedrich Wilhelm a man of
genius — genius fated and promotcd to work in National Hus-
bandry not umting Verses or three-volume Novels. A sileni
gmim/'*)
Und nun zu Friedrich selbst!
Die bereits besprochene Auffassung Friedrichs in Eng-
land, an der auch Macaulay festhält, findet sich ebenso bei
Thackeray: Friedrich ist ein großer Feldherr, der Lehr-
meister der Kriegskunst, das bleibt unbestritten^); sonst
aber findet auch Thackeray nicht viel Gutes an ihm. Es
muß allerdings Wunder nehmen, wie Friedrich von seinen
Zeitgenossen und namentlich auch in England als Vor-
kämpfer des Protestantismus verheniicht werden konnte,
Friedrich der Freigeist imd Vertreter religiöser Toleranz
als ** Protestant hero".*) Barry Lyndon läßt da seine Lands-
leute einen Blick hinter die Kulissen tun : Daheim in Irland,
bei den Protestanten natüi'lich nur, wird jeder Sieg Fried-
richs als Triumph der protestantischen Sache gefeiert,^)
Friedrichs Geburtstag wird festlich begangen*,) er selbst
fast wie ein Heiliger verehrt.') In Friedrichs Diensten aber
*) A. 8. 0. 1, p. 287. — S) A. a. 0. I, p, 21*1.
^ V,2Bf; IX, 260, 194; XIX, an zahireichen Stellen u. a.
«) XIX, 21, m u. a. — ») XIX, 60. — »J Ebenda — T) Ebenda; vgl.
Mftcanlay a. a O. p. 81.
4*
macht Barry ganz andere Erfahrungen; der ^'Proiesitjmi
hero** fuhrt Krieg mit den protestantischen Schweden und
Sachsen^ ^) eine ganze Menge Papisten kämpft in seiner
Armee fiir die Sache des Protestantismus.-) Auch an anderer
Stelle, in den **Four Georpes'*, gibt Thackeray seiner Ver-
wunderung Ausdruck, daß man Friedrich, der eigentlich
gar keine Religion habe, in England solange als den Ver-
fechter des Protestantismus bezeichnen konnte, denselben
Friedrich, der seiner eigenen Verwandten, Karoline von
Änspach» zum übertritt zum Katholizismus riet, als sich
der katholische Erzherzog Karl von Osterreich, der spätere
Karl Vn., um sie bewarb,^) Das urteil, das Thackeray
seinen Helden gegenüber dieser zeitweiligen, unter dem
Eindruck von Friedrichs Siegen stehenden Verherrlichung
über den „Vorkämpfer des Protestantismus^ fällen läßt, ist
keineswegs milde: *\ . , we are al the prescfit momejit admiring
Ute ^Great Freder ick\ as we call htm, and his pküosophy, and
his liberaliii/t and his milOart/ gmtuSt I, fcho have served htm,
and been as it were behind the scenes of which that great
spectack i$ composed can onlt/ look tU it wüh horror^'^) Und
ein anderes Mal nennt er den Philosophen von Sanssouci*)
geradezu **^Ac godless dd Frederick of Pnissia'\^) ähnlich
wie er in den *'Four Georges" auf Friedrichs Freidenker-
tum hinweist.^)
Das Privatleben Friedrichs kommt außer den kurzen
Streiflichtern über die religiöse Stellung Friedrichs fest
gar nicht zur Sprache. Nur der Hof wird erwähnt: ''the
siem €ouri'\^) der die Vergnügungssucht der übrigen Höfe
nicht kennte **the wreiched Barrack-court of Berlin \^) wie
>)XIX, 60. - «) Ebendo. - ») XXIU, m,
*) XIX, 64 - ») XIX, lit; vgl XIX, &5. - «) XIX, 60.
^) XXHI« 39. — Ganz im Gregensatz zur herrschendeo Meinii
Buchte Campbell in seinein Boche — dessen Herausgeber er freilich
utir sein will — Friedrich gegen den Vorwurf des Atheismus in Schutz
zu nehmen, vol. IV, 127, i^ie er auch in der von ihm selbst herrühren-
den Einleitung, vol. I, p. IX, Friedrichs Sache mit der protestan-
tischen Sache i'ür verquickt erklärt, "liis vickmes were in no hjhuU degree
connected wük tlie safeig af prote$tanti^n*% da nach »einer Meinung mit
dem Sieg des katholischen Österreich ein starkes Zurdckdrängen des
PiH>te6tantismus auf dem Kontinente hätte erfolgen müssen«
8) XIX, 97. — ») XIX, 126.
die Hauptstadt selbst **the miserable capiial in ihe greai
Sandy deserf'J)
Anch als Feldherm zeigt uns Thackeray Friedrich
eigentlich nicht. Nur gelegentlich erwähnt er Schlachten
Tind Kriegsvorgänge: Lissa^) — gewöhnlich Schlacht bei
Leuthen genannt, 1757 ; Lissa war nur der Schlußpiinkt
der Kämpfe des Tages — ; Hochkirchen, ^) 1758; doch
scheint er merkwürdigerweise hier einen Sieg der Preußen
anzunehmen — ; Kubnersdorf^) — 1759, er schreibt KühnerS'
darf — ; er spricht auch von der Brandschatzung Berlins
durch die Österreicher*) — es ist der Handstreich Hadiks
mit seinen Kroaten am 16, und 17, Oktober 1757 gemeint —
und streift anch die Operationen auf dem westlichen Kriegs-
schauplatz, wo die englischen Verbündeten Friedrichs und
Prinz Ferdinand von Braunschweig*) kämpften* Von den
übrigen Führern der preußischen Armee erwähnt er den
Öeneral Bülow^) und von der Gegenseite den Panduren-
fiihrer Trenck.*}
Das Gewicht der Schilderungen im ^Barry Lyfidon''
ruht, soweit sie sich auf preußische Verhältnisse und den
großen König bexieh»?n, auf den Armeeverhältnissen, Darin
liegt auch ihr Hauptwert..
Ein glänzendes Bild ist es gerade nicht, das Barry von
den Verhältnissen in der preußischen Armee entwirft. Die
strenge Disciplin, notwendig bei der Zusammensetzung der
Armee nicht nur aus Landeskind em, sondern auch aus zahl-
reichen Frenaden, wie Campbell zugibt, **) behagte Barry ganz
und gar nicht und auch Thackeray scheint die Notwendig-
keit nicht ganz einzusehen; aber in der Schilderung der
Auswüchse dieser Strenge geht er entschieden zu weit:
''The iife tlie private sokUers led was a frightful one to antj
but men of iron courage and emjurance. There was a corporal
to every ihree wtfiw, marching bekind them, and piiilesshj using
the cane: so much so that it used to be said in action iherc
was a front rank of privates and a second rank of sergeanis
1) XIX, lOäj vgl. XIX, 96: vgl. Macaulay, p. 43,
») XIX, fiO. - ») XIX, 188. ^ *) XIX, 265. — ») IX, 260. -
fi) XIX, 62. - ') XIX, 95
»I XIX, 1Ö3.
») A. a. 0. IV^ p. 44 «:
A
— B4 —
to drive them o«/'*) Noch deutlicher spricht er sich über den
Qabraiich des Stockes an anderer Stelle aus: **Th€ punish-
mmt wus inccssanL Every ofßcer had the liberiy io infiici i(,
and in peace H was more cruel ihan in war. . . . / kam
Seen tiw bravest mm of the antiy cnj Ulce children ai a cui of
ihe mne; I have seen a liUle ensigtt of ßfietn mll out a man
of fißy front the ranks, a man who had been in a hundred
battles, and he has stood presmiting arms, and sobbing and
hoiifliug Uke a baby, while the young wretcit lashed him ovet
ihe amts and ihighs with the stick," ^)
Man vergleiche damit das Urteil eines Franzosen» das
Kos er zitiert*): man irre^ wenn man glaube, daß der
preußische Soldat beständig unter dem Stocke lebe; die
Streiche würden stets nur auf Befehl, nicht willkürlich oder
im Affekt verabreicht. — Übrigens herrschte der Stock
auch anderswo. Daß aber die preußischen Truppen, mochten
auch noch so viele angeworbene und gepreßte Ausländer
mit darunter sein, in die Schlacht geprügelt werden mußten,
ist doch ein wenig stark aufgetragen.*)
Aber es kommt noch besser. Bairy erzählt von grauen-
haften Unmenschlichkeiten, zu denen sich die Soldaten in
Verzweiflung über ihre unerträgliche Lage hinreißen Heßen.
Sie töteten Kinder, um diesen, bei ihrer Unschuld, den
Himmel zu sichern und sich dann selbst als schuldig zu
stellen und so der harten Lage ein Ende zu machen.*)
Die Kenntnis solcher VorJfiUle entnahm Thackeray Camp-
bellsBuch,**) Sie erinnern stark an die Praxis, die von den
Spaniern in Peni berichtet wurde, eben getaufte Heiden-
kinder ins Himmelreich zu befördern, und sind übrigens dem
'^ babblenietit of Iging Anecdates^ false Criticism, hungry Fretich
Memoirs'\ von dem Carlyle spricht,^) zuzurechnen, ('brigens
schwächt Thackeray selbst diese krassen Schilderungen
gleich darauf ab : ** The tndh is however ti^ai ihere was among
our tuen (i. e. den Preußen) a much higher tone of socieiy ihan
among the clumstj louis in the English artny, and our Service
1) XIX, 93. — 8) XIX, SH. - ») A a. O. I, 639, und dazu An-
merkoBg p. 642.
*) Thackeray fand diese Behauptung in dem bereits zitierten
Artikel in Fräser' s Mag, XII L
ft) XIX, 93 f. - •) A. a. 0. IV, 44f. — T) A. a. 0. I, 11.
— 65 —
was generally as strict ihat we had Utile time for dohig mis*
Chief:'')
Natürlicherweise ist Barry Lyndon auch mit der Ver-
köstigiing nicht zufrieden "t}^ abominable raiimis of small-
beer and sauerkrauf*^) — das Sauerkraut verzeihen uns
die Engländer doch nie') — ; ebensowenig gefallt ihm die
Verordnung» die dem gemeinen Soldaten das Heiraten nui'
mit direkter Erlaubnis des Königs gestattet und ihm die
reiche Witwe unerreichbar macht.*)
Die große Strenge der Strafen schreibt Barry zum Teil
der Entfernung der bürgerlichen Elemente aus dem Offiziers-
korps nach dem Kriege zu. Ob clabei mit der Bniskheit
vorgegangen wurde, wie Bany erzählt, daü der König ver-
diente Offiziere vor die Front rief: **He is not noble, lef
htm Qo'*^) ist gerade nicht anzunehmen.*) Sonst aber stimmt
Barry's Angabe; nach Beendigung des Krieges wiii'den die
nichtadeligen Elemente aus dem Offizierskoi-ps entfernt,
die anrüchigen Subjekte — in Kriegszeiten waren natürlich
auch viele Abenteurer, namentlich in die Freibataillone ge-
langt — wurden entlassen^ wer einwandfrei und brauchbar
war, wurde bei einem Gamisonsregiment untergebracht,^)
Was die Zusammensetzung der Armee betrifft, gibt
Thackeray ein im allgemeinen ganz richtiges Bild: ein
fester Stock von Offizieren und Unteroffizieren, durchwegs
Preußen, sonst aber neben Landeskindem Geworbene und
zum Teil auch Gepreßte aus aller Herren Ländern,*) Die
Ergänzung der preußischen Armee erfolgte zum Teil durch
das ^Kanton-System"* aus Landeskindeni, zum Teil, da
dieses nicht ausreichte, durch Werbimg* Mit Werbe- und
Eskortepässen gingen die Werbeofi&ziere, für die das Werbe-
1) XIX, 95.
2) XIX, iia — 8) Vgl vn, sei; xx, laö.
*) XIX, lü2f.
^) XIX, 94.
ö) Bei CampbeU fand Thackeray folgende Anekdote: Als der
König bei einer Musterung einen nichtadeligen Offizier fand, erklärte
er dem Kommandeur, er müsse ihn los werden. Als dieser jedoch
die Verdienste des Offiziers hervorhob, erklärte der König» dann gäbe
es nur einen Ausweg : den betreffenden Offizier zu adeln. IV, 23 ff.
') Vgl. Kos er, a. a. O, II, 5051
*») XiX, 98: vgl. Koser, a. a. O. I, 533.
=- 56
geschäft eine recht eiBtrÜgUche Sache war,^) mit ihrer Be-
gleitung ins Ausland. Hinterlistige Täuschungen und Ge-
walttaten waren zwar strengstens verboten, aber es blieb
auch da beim Alten und der König konnte nicht überall
sein.') Diesen Auswüchsen hat Thackeray in seinen Schilde-
rungen einen weiten Platz gewährt^ sein Barry fällt ja
in die Hände preußischer Werber. Der preußische Offizier
hat den englischen Deserteur erkannt, lockt ihn in ein
Wirtshaus und läßt ihm die Wahl, Handgeld zu nehmea
oder als Deserteur ausgeliefert zu werden; die Bajonett©
der Werbe-Eskortö unterstützen das Angebot nachdrücklich
und so wird Barry preußischer Soldat, seine Barschaft wird
Beute der Werber. **) Derartige Fälle, daß Deserteure neues
Handgeld nahmen oder gepreßt wurden, waren freilich nicht
selten**) Der Fall Barrys ist übrigens nicht der einzige
Fall einer Pressung, den Thackeray anfiihrt: Abgesehen
von dem von Barry gelegentlich erzählten Fall des '^Morgan
Frussia'*,^) wird noch der Fall des Kandidaten erwähnt,*)
der vor seiner Probepredigt durch die List eines Juden, der,
sich konvertieren zu lassen, Neigung zeigt, in dasselbe Wirts-
haus wie Barry gelockt wird, wo man ihn für einen Deserteur
und gefangen erklärt, und ihm trotz seiner Proteste und Hin-
weise auf seinen geistlichen Stand seine Papiere abnimmt;')
oder die Geschichte des französischen Offiziers, der in voller
Uniform aufgegriffen wird, freüich bei einer etwas heiklen
Oesclüchte, *Ht was a hve^-affair wÜh a Hessian lady tchich caused
kirn to be unattended" ;^) oder des Mr, Fakenham, in dessen
Kleidern Barry desertiert und der seine Pressung auch
Barry verdankt;**) und schließlich der letzte unglückliche
Werbeversuch des Offiziers, der auch Barry aufgegriffen
hat — etwas stark aufgetragen — : Galgmsiein wird von
einem französischen Posten auf der Brücke zwischen Kehl
und Straßburg aufgegriffen, als er diesen zum Verlassen
des Postens und zur Annahme preußischen Handgeldes ver-
») Vgl. XIX, 77, — 2) Vgl. Koser, a. a. 0, 1, 538.
8) XIX, 72 ft: — ^) Vgl. Koser, a, a, 0. 1, 539, -• 6) XIX, 73 f.
•i) Der wiederholt zitierte Artikel in Frmer'» Maff. XXJIT ^b
Thackeray das Vorbild für diesen Fall in einer Notiz unter dem fcJ trieb*
* » XIX, 81 ff.
») XIX, 87, — ») XIX, 92 t;
N
leiten will, tmd wird dann, da Friedrich ihn verleugnet, als
Spion gehängt J)
Daß bei den Werbungen Vergewaltigungen und Über-
griffe vorkamen, wird niemand leugnen* Geschichten, wie
die des Kandidaten der Grottesgelahrtheit, kamen vor, man
nehme nur die Geschichte des Kandidaten Neubauer,
die dieser selbst erzählt,^) oder seines Leidensgenossen
Bräcker, der gleichfalls eine Beschreibung seiner Dienstr-
zeit hinterlassen hat,^) Aber das war doch nur der kleinste
Bruchteil ; der Hauptteil der Geworbenen waren Leute, die
nichts zu verlieren hatten und die es daheim nicht duldete/)
Thackeray freilich sieht nur die Auswüchse; daher sein
schroffes Urteil:
**The great and ühtstrious Frederick had scores of ihose white
slave-dealers all round ihe frontiirs 0/ his kingdom dehauching
iroaps or kidnapping peasants and hesitating ai no crime to
suppig ihose hrilliani regimmts of his wiih food for powder,**^)
Und doch wai' Friedrich nicht der einzige, der dieses
notwendige Übel eben anwenden mullte.
Die Folgen eines derartigen Preßsystems, wie es
Thackeray schildert, sind natürlich massenhafte Deser-
tionen. Er gibt uns selbst mehrere Beispieler Von den 600
Franzosen, die im Bülowschen Regiment beim Ausmarsche
standen, waren nach der Rückkehr sechs vorhanden, die
übrigen tot oder desertierb,'*) **The deserting to and fro was
pradigioiis,'"') Hieher gehört auch die Geschichte von "ir?
Blondin" und seiner Verschwörung in Neiße,*) deren historische
Grundlage schwerlich festzustellen ist.**)
iiXIX, 77 ff.
^) Curictilum vitae mil, Dom, Noubaner, herausg. von H. Weber
(Neue Christoterpe 1892); vgL Kos er, I^ 539.
3) Der arme Mann iu Tockenburg, herausg. von E. Bölow (1852):
vgl Kos er, I, 539.
*) Vgl. Koser, a, a. 0. I, ^39. - ») XIX, 77. - •) XIX. 93. —
T) Ebenda; vgl. Campbeil IV, 46. — «) XIX, 8» ff.
•) Als Vorbild wäre wohl an Trenck zu denken^ dessen G^'
Hchichte SiU!^ CumpbeU, II, ^363 ff., Thackeray bekannt sein maßte: Sein
Ausbruchsversuch in Glatz mit Hilfe eines Offiziers und dos Wacht-
postens (p. 6ti) oder seine Verschwörung mit den österreichischen
Kriegsgefangenen in Magdeburg (p. 3öD). Vielleicht auch benutzte er
das bei Campbell, U^ 1%, mitgeteilte Komplott der rus.sischen Gefan-
genen in Kttstnn.
- 58 —
Thackeray setzt die große Zahl der Desertionen anf
Konto der widerrechtlichen Pressungen und der eisernen
Disziplin ; es gab aber auch eine Menge Leute, die aus dem
Handgeld-Nehmen ein Geschäft machten ; heute hier deser-
tierten, um morgen dort neuerdings Werbegeld zu nehmen
11. 8. £^ unstäte Bursche, die es eben nirgend lange aus-
hielten. *)
Das Desertieren war übrigens nicht gar so leicht. Die
Regimenter wechselten selten die Garnisonen, so daß man
jeden kannte;*) die Überwaclinng der Fremden in der
Aröiee war sehr streng; ihre Briefe erreichten selten ibre
Bestimmung oder wurden doch vorher gelesen, damit nicht
unnützer Lärm entstünde;^) die Preise, die auf Deserteure
gesetzt waren/) mußten natürlich die Habsucht der Land-
bewohner erwecken und so freche Desertionen wie die
Barrys glückten natürlich nicht immer.
Das ist das Bild, das Thackeray von dem preußischen
Soldatenwesen entwirft. Daneben wirft er nur noch einen
kurzen Blick auf das Polizeiwegen»
Das Spitzelwesen tritt in den Vordergrund der Schilde-
rung. Jeder Fremde wird in Berlin bewacht und als Spion
beargwöhnt: ^The King %$ so jealous that he will see a spp
in evefy persmi who comes ts kis miserable capital,"^) —
'^The great Frederick never recewed a gnesi mihout taking this
höspitable precauiiofis*\^) daß er ihn nämlich von seinen
Spionen überwachen ließ; so fällt Barry die Überwachung
seines eigenen Oheims zu') und er läßt sich dann auf die
auch heute noch praktizierte Weise als mißliebiger Aus-
länder in der Maske seines Oheims über die Grenze biingen.^)
Natürlich findet Thackeray das Spitzelwesen auch in der
äußeren Politik **) — geheime politische Agenten nennt man
i)Vgl, Koser, I, 530.
«) XIX, 88.
*^ XIX, 116; vgl, dazu tmd dem vorhergehenden Koser^ I, 540,
*) XIX, 115,
^) XIX, 108. — «) XIX, 103.
' ) XIX, 103 m
«) XIX, 115.
*♦) XIX, 188» — Über das Polizei wesen berichtet übrigeDS Campbell
geradezu das Gegenteil: der König hätte sich geweigert, eine Geheim-
polizei und Spionagensystem ©inzufiöhren. A. a* 0* IV, 124.
•
59
80 etwas heute — , ebenso wie er anch erzählt, daß der
König das Spiel an den einzelnen Gesandtschaften unter-
stütze, um dann aus den finanziellen Verlegenheiten der
Herren seine Vorteile zu ziehen. \) — Daß der König übri-
gens schnell damit fertig war, Leute nach Spandau zu
schicken, ist nicht nur bei Thackeray, sondern auch überall
anderswo als unausrottbare Ansicht zu finden.^)
Erwähnt sei hier auch noch die kurze Notiz, die
Thackemy über den Sturz des GroÜkauzlers Fürst und
dreier Kammergerichtsräte infolge des Prozesses des Wasser-
müllers Arnold contra Grafen Schmettau macht, ^)
Thackeray ist oft kleinlich in seinem Urteil über Fried-
rich den Großen, er sieht fast nur die Schatten, aber die
Auffassung, die bei dem Historiker Macaulay nie entschuld-
bar ist, muß man Thackeray verzeihen. Er trat eben mit
all den *'EngUsh Prepossesskms'\ von denen Carlyle spricht,
an Friedrich heran- So genaue historische Studien, wie sie
später den Esmond auszeichnen, hat Thackeraj'' zum BaiTy
Lyndon nicht gemacht.
Und er hatte noch keinen Carlyle vor sich.
Am Khein.
Die persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen spielen
in Thackerays Werken immer wieder herein* Namentlich
zwei Erinnerungen seiner Jugendzeit: DerHhein und Weimar.
Wie er selbst den Rhein bereist, so reisen alle seine Per-
sonen Rhein-aufv\^ärts, die Kickleburys, Dobbin und Miss
Osborn, Pendennis, Ethel und Clive Newcome, Und Fitz-
Boodle-Thackeray erzählt seine Erlebnisse in Pumpernickel-
Weimar.
Thackerays geographische Kenntnisse der Rheinland e
zu kontrollieren, ist nicht Aufgabe des vorhegenden Themas :
trotzdem ist es nicht uninteressant, seine Lokal-Schüderun-
gen einer ktirzen Betrachtung zu unterziehen.
1) XIX, 111 i\ ^ si) XIX, ilti n. HB,
^) XIX, 98. — Notiert sei auch Bach die Erwähnung der Schwester
Friedrichs, Wilhelmine, Markgräfin von Bayreuth, die Thackeray mit
Friedrichs eigenen Worten '^sexu femina, vir ingeftio*' charakterisiert.
Yf 54 f; siehe auch XIX^ 119 u. a.
— 60 —
Die köstHchen Erinnerungen der Jugendzeit sind stark
und mächtig geblieben und tauchen in all ihrer Farben-
pracht wieder auf, den Gang der Handlung wiederholt
unterbrechend:
*'Pleasant Rhine gardms! Fair scenes of peace and sun--
shine — noble purph mountains, whose crests are reflecied in
the mugtiißcmt siream — who hos ever seen you, that iias not
a grateftd memory of ihose scenes of friendhj repose and
beauty? « , • ^1^ this time of Stimmer evening, the cotvs are troop-
ing down from ihe hills, hwing and mth their bells tinkling, to
the oM iown, mth its old tnoais, and gates, and spires, and
chesi-nui trees, tcith long blue shadows, stretching ovcr ihe gross ;
ihe sky and the rimr behw flame in crimson and gold: €md
ihe moon is already out looking pale towards the sunset The
sun sinks Iwhind the great castle-cre^ted mountains, the night
falls suddenlyt the river grotcs darker and darker, lights quiver
in it from the Windows in the old ramparts, and twinkle peace^
fully in the mllages under tJun hills on the opposile shore,*'^)
An alle die Orte, die er selbst besucht, fiihrt er die
Personen seiner Eomane ; nach Köln, Bonn, wo Grelegen-
heit ii*t, die deutschen Studenten und ihre Sitten kennen
zu lernen,-) nach Godesberg und hinauf zur Ruine, an deren
Zugängen statt der Raubritter jetzt Schwärme von Bettlern
den zu FuÜ oder auf Eseln hinaufpilgemden Touristen
wegelagemd entgegentreten;^) und weiter ins Sieben-
gebirge,^) auf den Draehenfels, der Chve sogar einige Verse
*^of a not very superior style*' abzwingt,*^) und in das an
seinem Fuß gelegene Königswanter und auf die Insel Nonnen-
werth;*^) nach Koblenz und der Feste Ehrenbreitstein, die
Mr. MilUken mit unglücklichem Erfolge — er wäre fast
verhaftet worden — zu skizzieren sucht ;^) nach Mainz und
mit einem kleinen Abstecher nach Frankfurt a. M., *-the
Free City of Judenstadt'* ;^) und weiter nach StraBburg,
**that odious btiggy'' Straß bürg.")
Thackeray fiihrt uns auch in die rheinischen Bäder:
Ems, Wiesbaden, Homburg, Baden-Baden. Das Leben in
1)11, 290 f.- 2) XXV, B2*>.
») V, 301 ; siehe auch XXV, B21.
<) V, a»2. — ») V, .401. — ^) II, 2m.
7 1 XIU, 132. — 8) 11, 2^0. — ») V, 434.
— tjl —
Baden, in dem er selbst 1853 längere Zeit weilte, hat er
in den Newcomes (The congress of Baden) geschildert-
Viel ausführlicher aber schildert er das Leben in Hom-
burg in den "Kiekleburys on the Bhine'\
In der Schilderung des Badelebens daselbst, der Spiel-
höhlen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahi^hunderts dort
ständig waren, trifft er sich mit einem andern, ihm con-
genialen Geist, mit dem Holländer Dekker, der in seinen
Mühonenstiidien das Leben in den Spielhöhlen Wiesbadens
zeichnet.
Rougetnoirbourg : Schwarz und Rot, nach dem beheb-
testen Spiel Ramie et Noir^ nennt Thackeray den Ort, der
das Ziel der H^ise der Kickleburys ist. Mit diesem Namen
meint er Homburg, das namentlich auch von der englischen
Gesellschaft um die Mitte des XIX* Jahrhunderts besucht
wurde. ^) Die ganze Beschreibung Rougeinoirböurgs stimmt
auf Homburg (seit 1834 Taunuabad) : der groÜe weiße Turm,*)
das Wahrzeichen von Homburg, weithin sichtbar, Überreste
der Burg einer längst verschwundenen D^Tiastie, derer von
Epstein, das Schloß der Landgrafen mit seinem Garten und
der Erinnerung an die englische Prinzessin, die hieher
verheiratet worden war^) — es war Elisabeth, die Tochter
Georgs HI* — , daneben die Paläste Lenoirs» das prächtige
Kurhaus von Homburg mit seinen großartigen Parkanlagen,
lassen deutlich Homburg erkennen.*) Vielleicht noch mehr:
der Name Lenoir ist fiir den Typus des Bankhalters wohl
dem Spiel Kouge et Noir entnommen ; aber es mögen auch
bestimmte Persönlichkeiten hinter den beiden Lenoirs
stecken, vielleicht die Brüder Bianc, die in den Vierziger-
Jahren die Bank hielten und denen Homburg sehr viel
verdankt, namentlich auch das Theater; das W^ortspiel
Blanc-Noir liegt nicht allzufem.
Es liegt nicht im Plane der vorliegenden Arbeit, auf
das Leben in diesen internationalen Kurorten, in denen
das Bechertrinken ^) die geringste und die Vergnügimgen
*) Vgl H. VüeUlfy, Glances Back ihraugh Sevmip Years, 2 vol*,
London 1893. Darin U, p. 23 — 40, Schilderung Homburgs und seines
Lebens (1858).
»)xni;ii7.
»)xni, Uli: - *) XII, 147. - *) xm, isl
— 62 —
— Kurmusik,*) Eoug^ etNoir und Roulette*) — die gröfite
KoUe spielen. Es würde auch zu weit abseits führen, auf
den Wettkampf der beiden Banken einzugehen.®) Und wie
es in Homburg zugeht, geht es auch in Ems^ Wiesbaden*)
und in Baden-Baden zu, das namentlich gerühmt wird; der
Großherzog ist außerordentlich gastfrei gegen die Eng-
länder.^) Wer freilich krank ist oder weniger Geld hat, geht
nicht in diese fashionablen Bäder, der begnügt sich mit
einem der kleineren Badeorte, wo man mit 300 £ im Jahr
sehr gut leben kann,*)
Bot schon das Badeleben mit seiner binaten Gesell-
schaft Thackeray einen geeigneten Zielpunkt für seine bittere
Satire, so fand er auch am Bhein selbst etwas, was seinen
Spott herausforderte: die Romantik, die sich über den
Rhein und seine Ufer spannt, die Romantik all der zer-
fallenen Schlösser mit ihren Sagen, die von rauhen Kriegs-
taten und süßem Liebeswerben erzählen, die Bheinromantik,
der auch er, als er 19 Jahre alt war, auf seiner ersten
Rheinreise ganz verfallen war. Damals mag er auch die
Sagen kennen gelernt haben, die er dann verwertete, als
er in seiner ** Legend of the lihine*' gegen die Ritterromane
zu Felde zog, die sich seit Horace Walpoles ''Coi^ilt of Ot-
rantu' in England eingebürgert hatten. Eine eingehende
Untersuchung der Satire gegen die englischen Ritterromane»
von denen Scotts ''Ivanhoe' im Vordergrund steht, gehört
nicht zum Thema der Arbeit.
Aber Thackeray hat auch die deutsche Ritterromantik
hergenommen; in das „alte romantische Land "^ der Deutsehen,
an den Rhine, verlegt er den Schauplatz und zwei Rhein-
Sagen wählt er zum Zielpunkt seiner Satire: „Otto der
Schütz**') und das ^Eräulein von Wind eck**, beide
ihm vielleicht auch aus Simrooks „Rhein-Sagen^ be-
kannt.
>)Xni, 144,
«)XII1, las ff; vgl auch H, 293.
^) XIII, 139 ff. ^ * ) II, 293.
*) IV, 114. - ^) IV, m.
'') Nach W ern er, p. 11 (Fußnote), ist „The Legend of theBhine",
soweit darin die Sage von „Otto dem Schützen" benutzt ist, ^eine
Wiedergabe von Alexander Dumas' Prosaerzählung: jOthon l'archer*
(wieder erschienen IB92^ Paris, Calman L^vy, zusammen mit ,Les
k
Die Sage von ^Otto dem Schützen^
an, Otto^ der Sohn des Landgrafen von Hessen, ist als
jüngerer Sohn dem Kloster bestimmt. Er entflieht aber mid
tritt, nachdem er bei einem Wettschießen seine Meister-
schaft über alle anderen bewährt hat^ als Schütz in den Dienst
des Herzogs von Cleve, dessen Tochter es ihm auf den
ersten Blick angetan hat. Nur ihr zu Liebe opfert er auch
seine langen Haare, den Schmuck des Freien. Sein Name
ist nur Otto der Schütz. Es entspinnt sich ein zartes Ver-
hältnis zwischen ihm und der Prinzessin. Als er aber Herrn
Homberg, einen Ritter seines Vaters, nach Cleve kommen
sieht, glaubt er sich verfolgt und flieht, wird aber wieder
eingebracht und — sein Verhältnis zur Prinzessin ist bereits
verraten — , da sem älterer Bruder tot und er, der Erbe,
das Kloster nicht mehr zu tiirchten hat, mit der Tochter
des Herzogs von Cleve vermählt.
Und nun Thackerays Bmrleske; Otto, hier der Sohn
des Markgrafen von Godesberg, flieht aus Furcht vor dem
Kloster, in das er freilich aus anderen Gründen, als in der
Sage, gesteckt werden soll. Nach mehreren Abenteuern ge-
langt er mit einer iSchar Schützen an den Hof AdoUs von
Cleve, bewährt — ganz wie Locksley im „Ivanhoe" — hier
beim WettschieÜen seine Meisterschaft und tritt — die
Prinzessin hat es ihm angetan — in den Dienst des Her-
zogs* Sein Name ist Oth the Archer, Die Aufmerksamkeit,
die die Prinzessin ihm schenkt, erregt die Eifersucht ilires
Bewerbers, Botvski, und auf sein Betreiben fällt Ottos wal-
lender Hauptschmuck. Nur der Gedanke an die Prinzessin
läßt ihn diese Schmach ertragen ; und seine Standhaftigkeit
wird belohnt: unbemerkt sieht er, wie die Prinzessin seine
abgeschnittenen Locken küßt.
Eowski von Donnerblitz macht seinen Antrag und wird
abgewiesen* Er schickt seine Herausforderung, mit dem
fr^res Corses*X wo Dumas ganz selbständig von den deutschen Be-
arbeitnngen (Kinkel, Otto der Schütz, a. a. m.) den alten Sagenstofi
der Rheinlande wiedergibt. Es sei nochmak darauf hingewiesen, daß
Thackeray auf die französische und nicht auf eine deutsche Quelle
zurückging, was sich leicht an \'ielen Beispielen nachweiBen ließe,
z. B. die romantischen Beigaben^ die eingeflochtenen Erzähliiogen
u, s. w, bei Dumas und Thackeray, die in den deutschen Wieder-
^H gaben fehlen/*
I
Prinzen oder dessen Kämpen will er zum Zweikampf an-
treten. Rowskis Truppen erscheinen. Der Herzog aber ist
alt geworden und ein Kämpfer^ der dem harrenden Rowski
entgegenträte, findet sich nicht* Otto, anf den die Prinzessin
gehoffl, ist verschwunden* Endlich, der Herzog will sich
schweren Herzens schon selbst in den Kampf wagen, end-
lich beim dritten Trompetennif — wie im ^.Ivanhoe** beim
Gottesgericht — erscheint ein Ritter, der den Feind über-
windet, darauf aber versch^vindet ; niemand hat ihn gekannt.
Der Herzog verspricht dem Retter, wenn er sich melde,
die Hand seiner Tochter. — Nach dem Siege erhält der
Herzog Besuch, der Graf von Honibourg kommt. Auch Otto
hat sich wieder eingefunden, er soll gepeitscht %verden, die
Bitten der Prinzessin aber, die ihm ihre ganze Verachtung
zeigt, verhüten die Strafe, Hombourg erkennt Otto und
erklärt ihm seine veränderte Lage^ das Kloster braucht
Otto nicht zu furchten. Die beiden entfernen sich. Am
nächsten Tage erscheint der unbekannte Ritter, begleitet
von zwei gleichfalls Gewappneten, und fordert Einlösung
des Versprechens. Seine beiden Gefährten, sein Vater imd
Hombourg, zeugen für seine edle Abstammung und so wird
er mit der Prinzessin vermählt.
Die Übereinstimmungen und Veränderungen liegen klar
zu Tage. Die letzteren erklären sich wohl zum Teil ans
dem Zusammenhange — die Satire richtet sich nicht allein
gegen unsere Sage — , zum Teil auch aus der satirischen
Behandlung des' Stoffes, Auf die Form der Satire ein*
zugehen, ohne den ganzen Inhalt des Stückes in den Kreis
der Betrachtung zu ziehen, wäre natürlich immöglich. Es
mögen daher hier nur einige Einzelheiten hervorgehoben
werden. Wie die Ritterromane hie und da durch gelehrte
Anmerkungen größeres Gewicht zu erlangen suchten, bringt
auch Thackeray — mitten im Text — einen solchen Beleg,
es handelt sich um das Recht der langen Haare : die Namen
seiner Quellen sind natürlich möglichst unwahrscheinlich
und burlesk gewählt.^) Die Liebesgeschichte wird möglichst
weich -sentimental, aber doch ernst erzählt, ebenso ist es
mit den Rittertaten, die nur hie imd da stark übei-trieben
J) XV, 247.
werden. Davon stechen dann ganz merkwürdig die plötzlich
mitten in der Handlung auftauchenden ganz köstlichen
Anachronismen ab: unter den Klängen von Variationen
nach dem Freischütz- Jägercbor reitet Otto in den
Kampf. Überhaupt der „Freischütz" erscheint des öfteren:
der Meisterschuß Ottos auf dem Marsche*) läüt die Ver-
mutung auftauchen, daß er im Bunde mit dem Freischützen
sei; der 8chuü erinnert auch etwas an den Ädlerschuß im
^Freischütz*^, wenn auch Locksleys Schuß im Walde zur Be-
schaffung der Feder für den Abt sicher mit Pate bei dieser
Szene gestanden ist. Ganz kösthch wirkt auch zum SchluU
die Ausschreibung im "^Jounioi de Francfort*' und der "^AU-
ffmmneft Zeitung*' J)
Neben der Sage von 7, Otto dem Schützen" benutzt
Thackeray noch eine andere Sage, die Sage vom „Burg-
fräulein von Windeck",^) die in Chamissos Be-
arbeitung in Simrocks „Ehein-Sagen" aufgenommen
ist. Daher, oder \^eUeicht von seiner Rheini*eisei mag die
Sage Thackeray bekannt geworden sein.
Ein Jäger (oder Ritter) trifft auf der Ruine von Wind eck
ein Fräidein. das den Ermüdeten mit einem Becher köst-
Hchen Weines labt» Seither ist er in Liebe zu ihr entbrannt
und es zieht ihn immer wieder zu der Burg, ohne daß er
sie wiedersieht, bis daß man ihn eines Tages mit einem Ring
am Finger, den er vordem nicht besessen, tot auffindet.
Er hat das Burgfräulein von Windeck gesehen imd ihr Kuß
hat ihm das Leben geraubt.
Die schöne Qeisterbraut, die in der Sage keineswegs
in hartem Licht erscheint, ist bei Thackeray zur teuflischen
Verführerin geworden, die freilich auch der komischen Züge
nicht entbehrt* Sie erscheint einem Gefährten Ottos, der
während des Nachtlagers zu Windeck die Wache hält, und
fordert ihn zum Mitgehen auf. Und nun wird aus dem ein-
fachen Becher Wein ein ganzes Gelage, das von unsicht-
baren Geisterhänden auf Wunsch des hungrigen Schützen
herbeigetragen wird. Thackeray legt den Nachdruck auf das
Mittel, mit dem sie das Opfer zu gewinnen sucht; er soll
sich ihi* vermählen. Aus der Andeutung der Sage, dem
A)XV, 233. - «) XV, 269,
«) XV, 235 ff.
Ringej ist liier eine Tatsache geworden und ein ganzes Heer
von Geistern folgt nnter den Klängen des „Chors der
Brautjungfern^ aus dem „Freischütz'^ im Hochzeits-
zuge bis zur Kapelle, wo es Otto gelingt, den ganzen Spuk
zu bannen.
Das sind die beiden deutschen Stoffe, die Thackeray
lur seine Burleske benutzt hat; es sind Repräsentanten
zweier Grattungen, die freilich oft gemeinsam erscheinen,
der Kittergeschichte und der Gespenstergeschichte,
Pumpernickel) und Kalbsbraten,
Aus dem deutschen Kleinstaat und der deutschen Kleinstadt,
In Weimar, von wo Thackeray soviele große imd schöne
Erinnerungen mitnahm, hat er aber auch den deutschen
Kleinstaat genau kennen gelernt. Die Zeiten der Größe
Weimars waren vorbei, nm^loethe lebte noch zurückgezogen,
Karl August war tot und Weimar war wieder nur ein kleine-s
Nest, das freilich an großen Erinnerungen zehrte.
In den Füz-Boodh Papers und später in Vaniiy fair
hat uns Thackeray ein Bild vom deutschen Kleinstaat ge-
zeichnet.
Es sind ganz kleine Staaten, Miniatur-Fürstentümer,
dieses Pumpernickel und Kalbsbraimi- Pumpernickel, aber über-
sehen lassen sie sich nicht, und wenn sie auch nicht nach
außen Großmacht spielen können, so richten sie es sich
wenigstens daheim recht gi'oßartig ein, wie sie es bei den
w^irklichen Großen gesehen haben, nur daß dem kleinen Kerl
die große Jacke etwas putzig steht.
Der Staatshaushalt funktioniert tadellos. Man hat »o
etwas Ahnliches wie eine Konstitution, d. h. eine Art von
'^maderate despotism'\ gemildert durch eine Kammer, ''that
mighi he or not be elected^* und die nur den einen Fehler
hat, fast nie ein Lebenszeichen zu geben. So wenigstens
ist es in Pumpernickel) und ähnlich auch in Kalbsbraten,
das eine Eepräsentantenkammer besitzt, "^tchich however
^) Der Name Pumpernickel ist £. T. A.Ho£fmaDns ,,Klein Zaches"*
entnommen; vgl. Werner^ p. Id.
«) n, 808.
Hothinff can induce to sW\^) Aber eine Verfassimg ist da,
wenn auch mir auf dem Papier.^)
Natürlieh hat Pumpernickel auch einen gan^ssen Stab
von Ministern, einen Premier, einen ^ffome Minister** und
einen Minister '^of foreign Aßairs'', wie Kalbsbraten seinen
"^Hvjh ÜhaneeUor^ wenn sein Einkommen auch nur 30(j £
beträgt, mit denen er übrigens noch einen genügend großen
Aufwand betreiben kann,^) *^ homc and foreign minist er s^ residmts
front neighbouring courts, law presidetits, town Councils, elV,
all ihe adjuncts of a big or liitk goverfimetU'\*)
Das sind die Würdenträger, die den durchJauchtigsten
Fürsten, *^His TraTisparencg ihe Duke"^) — die Übersetzung
des deutschen Durchlaucht ist nicht übel — oder *'if. &
H, ihe Ditke" zur Seite stehen.
In Pumpernickel tührt zur Zeit — als die (Jesellschaft
Dubbin-Sedle^^ sich daselbst aufhält — AnrcUus Victor, der
XVn, seines Kamens, sein mildes Regiment; mit der Herr-
schaft erbte er auch den Namen vom Vater, das ist so
Sitte an den deutschen Höfen^ und übrigens klingt Aurelius
Victor XVH» nicht schlechter als Ludwig XH^.
Der Herzog ist recht leutselig; wenn er sich zeigt,
nickt er jedermann freundlich zu;*) er hat auch künstlerische
Neigungen, er komponiert und seine Opern hätten fast das
Theater ruiniert, freilich war hauptsächlich der KapeU-
meisier schuld ; seither werden seine Opern nur im Privat-
zirkel aufgeführt, ebenso wie die Komödien seiner FrauJ)
In den vereinigten Reichen Kalbsbraten-Pumpemickel
legiert Philibert Sigisfnund Fmanurl Maria : **the Magnificmt"
•"«ennt ihn das Volk in Hinblick auf die Erbauung des all-
bekannten Brunnens auf dem Marktplatz von Kalbsbraten.^)
Der Gothasche Älmanach gibt eine genaue Beschreibung
des Staates und des Hauses dieses Fürsten. Seine Mutter
Emtlia Kunegunda Thomasina Clmrleria Emanuela Luisa
1) XVn, 185.
^) Weimar hatte 1BI6 eine konstttationells Verfassung erhalten.
8) XVn, 202 f.
*) XVU, 186.
ft)n, 302; vgl II, 297: "Ihe TrcmapamU famiip" ; U, 802: "ihe
Transparent earriogm*'.
•) IT, B02.
7) n, 308, — 8) XVII, 184.
- 68 -
Georgina, Prinzessin von ^ Saxe*Pnmp€rfnckeV\ brachte ihrem
Vetter, dem Vater des regierenden Herzogs, ein Anrecht
auf Saxe-Pumpernickel, welches denn auch unter ihrem
Sohne mit Kalbsbraten vereinigt wurde,')
Der fürstliche Hofstaat ist recht groß angelegt. Der
Herzog hat seine Kammer hen'en, seinen Privatsekretär,*)
seinen Stallmeister^ die Herzogin ihre Beschließerin, ihre
Hofdamen, ^just like amj oiher and more potetit potetHaies",^)
Dann ist natürlich auch ein Hofmarschall da*) und eine
ganze Menge von **ofßcers qf household''; selbstverständlich
auch ein " Bodij-Phijsieian", Dr, Glauber, ^)
Die Herzogin -Witwe von Pumpernickel hat natürlich
ihren eigenen Hofstaat, ihre alten Hofdamen, ihren eigenen
Hof-Kavalier.'^)
Und ganz so wie in Pumpernickel ist es auch in Kalbs-
braten : der Herzog hat seinen Hofoiarschall, seine Kanmier-
herren, die Herzogin ihre Ehrendamen imd Hofifräulein, ^)
Ein " Oherhofarchikci and Kunst- u. Bauinspecior"^) hat
in Pumpernickel die Oberaufsicht über die Bautätigkeit;
sein Werk — sein Name ist Lormzo von Speck — ist der
großherzogliche Palast, sind die Schild erhäuschen vor dem*
selben^) sowie der berühmte Brunnen mit seinen etwas un-
klaren allegorischen Figuren und Gruppen.*^)
Auch Kalbsbraten hat seine Prachtbauten : einen großen
neuen Palast, von Victor Aurelius XIV, begönnet], Mon-
plaisir — Monblaisir nennen ihn die biederen Sachsen — ,
und nur aus Geldmangel unvollendet; er ist ganz nach
dem Muster von Versailles angelegt: Haine^ Terrassen,
Wasserwerke/*) die bei den großen Festlichkeiten spielen,
bei denen auch die ganze Flucht der Zimmer des Schlosses
1) Ebeuda; die Sitte der Tautaanienliäufung ist namentlich in
katholisoh&u Kreisen Deutschlands ganz gewöhnlich; ebenso sind
weibliche Kamen bei Männern an zweiter oder späterer Stelle^ dem
Französischen nachgeahmt, nicht selten.
*) n, 309. — ») II, 306. - *) Ebenda. - *) U, 305. — «) H, 902.
7) XYH. 105. Der Spott tlber den großartig angelegten Hof ist
nicht unberechtigt. Der Hof war der glÄnxendste unter den kleinen
Höfen Deutschlands, namentlich zur Zeit, als Thackeray dort war,
tmter Karl Friedrich ; vgl. Vehse, ß. a. 0. 28. Bd., p. 330 f.
«) XVIl, 1&5, mil - ») XTII, 185. - 'ö; XVII, 184 f.
») n, 306 1\
4
i
j
4
- 69 —
dem Publikum geöffiiet ist. Besonders hervorgehoben er-
scheint ein von Aurelius Victor XV, erbauter Pavillon mit
mythologischen Wandgemälden (Baeohus und Ariadne), der
nach des Erbauers Tode von dessen sittenstrengen Witwe
Barbara wieder geschlossen wurde. *) Natürlich gibt es auch
JögdachJösser, Sommerresidenzen: Grogwitz *•) in Pumper-
nickel^ Siegmundslnst in Kalbsbraten.®)
Man darf bei diesen Schilderungen nicht gerade allein
und vorzugsweise an Weimar denken, die Satire ist hier
ganz allgemein gegen die Nachahmung von Versailles an
den deutsehen Höfen gerichtet und bei Thackeray fast
typisch. Man vergleiche nur die Schilderungen des Hofes
sm X im ^ Barry Lt/ndott' oder auch einzelne Abschnitte
in den "^Fmir Georges'\
Natürlich hat jeder der beiden Staaten auch eine Armee.
Die von Pumpernickel hat sich erst im letzten Feldzng
bewährt. Jetzt ireilich in Friedenszeiten hat sie eine weniger
rauhe Beschäftigung, Die Kapelle spielt morgens am Aurelius-
platz, abends geben die Lerute Statisten im Theater ab*
Außer dem Musikkorps gibt es zahlreiche Offiziere '^and
I believe, a few men\ die hauptsäcldich den Wachdienst
versehen ; drei oder vier versehen in Husarentmiform Palast--
dienst; zu Pferde hat sie noch niemand gesehen^ aber es
ist ja auch Friedenszeit *^and whither ihe dmice should fhe
hussars ride?*'^)
Kalbsbraten-Pumpeniickel entsendet drei imd einen
halben Mann zum Deutschen Bunde, kommandiert von 1 Ge-
neral (ExcelltmctfK "^ Major-Generalen, 64 Offizieren niederen
Grades, alle Edelleute und Ritter des herzoglichen Ordens
und fast alle groüherzogliche Kämmerer, Dazu gehört auch
eine Musikbande von 80 Spielleuten. Bei Waterloo hat die
Armee sich mit Ruhm bedeckt, nur drei Mann kehrten
zurück, der Eest wurde in Stücke geschlagen/'^)
Auch mit Orden sind diese Staaten sehr wohl versehen;
die verschiedensten Tierax'ten und Heiligen sind vertreten
und anläßlich der Hochzeit des Erbprinzen von Pumper-
nickel geht ein ganz tüchtiger Ordenregen nieder.*)
») n, 307. - 2) Ebenda.
») X\ai, iRL - * i II, 308,
»)XVII, 186. - ß) II. 3(>Z
— 70 —
Die äußere Politik spielt eine große Holle. Die Groß-
staat€iii sind durch Botschaften vertreten*) und namentlich
England und Frankreich ringen in Pumpernickel lun den
Einfluß. Jeder der beiden Rivalen hat seine Partei bei Hofe,
Karikaturen fliegen hin und her. Depeschen gehen nach
London und Paris; schliei31ich gelingt es der englischen
Politik durch Vermählung des Erbprinzen mit der von eng-
lischer Seite vorgeschlagenen Prinzessin von Schlippenschloppm
einen völligen Sieg zu erringen.*) — Auch Pumpernickel-
Kalbsbraten hat seine äußeren Verbindungen, Es steht in
Handelsverbindung mit Hambiu-g, das bei Abschluß der-
selben dem Herzog ein Faß Austern zum Geschenk macht,*)
Der klugen Politik, die zur Vereinigung von Pumpernickel
und Kalbsbraten führte, ist bereits gedacht worden.
Das gesellschaftliehe Leben ist sehr rege* Da
ist einmal das Theater in Pumpernickel; streng geschieden
sitzen Adel und Bürger;*) man hört gute Musik, Mozart^
Beethoven, Cimarosa, die bede\itendsten Kräfte geben Gast-
rollen. Auch das Theater von Kalbsbraten ist nicht schlecht,
Goethe^ Schiller, die beste Musik wird gepflegt;*) natürlich
fehlt auch das Ballett nicht/)
Im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Veranstaltungen
stehen vor allem die Hoffeste : Ein Ball bei Hufe sieht bis
400 Personen versammelt, die Pompentfaltung ist außer-
ordentlich:^) dann einfachere Diners imd Gesellschaften.
Die Fremden sind freundlich aufgenommen, wenn sie durch
das Ministerium des Äußeren und das Hotmarschallamt
passiert sind,®) namentlich die Engländer sind gern gesehen
am Hofe zu Pumpernickel.'*)
Alljährhch wiederkehrende Feste sind die Feiern der
>) I, 87; II, a(>>, m^\ III, 88 f u. a.
^ U, 309 ff.
'*)XYII, 21 L
*} Die Scheidung bestand noch 1848; vgl. Vehse, a, a. 0, 28,
p. 331.
^) XVU, 206.
•)xvn, 191,
7^1, 306; X\T[, l^t:
•*)n, 303 t; xvn,
") U, 308, 306.
190,
I
I
Geburtstage des Fürstenpaares:*) die Wasserwerke von
Moiiplaisir spielen, der großherzogliche Palast ist geöffnet^
im Theater ist freier Eintritt; auch sonst ist fiir Belusti-
gungen aller Art gesorgt.*)
Auch eine besouders große Feier, die Festlichkeiten
anläßlich der Vermählung des Erbprinzen von Pumpernickel,
tuhrt uns Thackeray vor : Feuerwerk, mit Wein und Bier
rinnende Fontänen, allerlei Volksbelustigungen („Baum-
kraxeln" etc.) und filr die feineren Kreise ausgesuchtere
V*ergnügungen : Trente-et-quarante und Roulette.^)
Größere Diners sind in Kalbsbraten eine Seltenheit,
dagegen sind einfache Teegesellsehaften an der Tages-
ordnung.*) Daneben gibt es auch kleinere Abendgesell-
schaften, Tanz fiir die Jungen, Whist, Ecarte fih* die Alten.
Zur Winterszeit unternimmt man auch Schlittenpartien nach
benachbarten Ortschaften, wo eine kleine Tanzunterhaltimg
stattfindet; auch das „Schlittenrecht" vergißt Thackeray
nicht zu erwähnen,'^)
Die „G-esellschaft" imifaßt natürlich nur die Adelakreise,
aus denen uns Thackeray einige ganz gelungene T^^pen
vorführt unter Antührung der ganzen Familienverhältnisae
und Stammbäume : Die Stadtberiihmtheit, den großen
Architekten Lormizo voit Speck, der sogar in Italien studiert
hat und jedem Fremden das Bild des von ihm erbauten
Brunnens auf einem Pfeifenkopf dediziert,^) oder der Kanzler
O&ho Siffistmmd Freifherr von Schlipjyenschlopp, der sich eines
uralten Adels rühmen kann, ebenso wie seine Frau, eine
geborene von Kartoffelstadt,')
1) Eine EinfÖhnuig der Gattin Karl Friedrichs, der rassischen
Großfürstin Maria; v^l. Velise, a. a. O. 28, Bd., p. 321 f.; U, mi.
2) Die Erwähnung des Ziidranges der Landbevölkerung gibt
Thackeray Gelegenbeit auch die Volkstracht kurz zu streiten: "peoph
in red petticoats and velvet head-dresses, or with three-comered hats and
pipea in their mouÜis'\ U, 307.
») H, 311 f. — Der SchiHening dttrtit© wohl die Vermählnng des
Erbprinzen Karl Friedrich mit der Großt\lrstin Maria Modell gestanden
haben (1H03), wenn sie anch im allgemeinen trei ist.
*J XVII, -209.
») xvn, -jod.
•) XVII, 187.
^) XVIL ^1-2 f ; vgl n, 311 u* a.
— 72 —
Die Gewohiilieiten sind^ bei aller Würde und Äbschlieliuug
I gegenüber den gewöhnlichen Sterblichen, doch nur die einer
Kleinstadt. Jeder kennt seinen lieben Nächsten genau, kennt
seine ganzen Toilettenangelegenheiten, weiß die Medizin, die
ihm der Arzt verschrieben, sowie den ganzen Verlauf' der
Krankheit zu beschreiben,*) Natürlich, kleine Hof- und
StÄdtekandä leben werden liebenswürdig kolportiert, daß der
Herzog einmal eine kleine Geschichte mit einer Kunst*
reiterin hatte,-) daß der Erbprinz eine Liaison unter-
halte^) u* s. t
Auch ästhetische Zirkel gibt es in Kalbsbraten, unter
denen der OUilia von Schlippenschlopps mit seiner Zeit-
schrift der yfKartoffclkranz** ^) wohl der hervorragendste ist.
Ottilia ist kein unbetleutendes Wesen, das nur, wie in der
guten alten Zeit, Pudding machen tind dergleichen gelernt
hat: sie hat in der Straßburger Pension ^an eftcydopmiic
leaming'' genossen, Sprachen, Malen, Singen, hat sich in
allen Wissenschaften umgesehen, kurz, ein Blaustrumpf
bester Güte, der aber trotz der höheren Sphären, in denen
sich sein Geist bewegt-, doch recht materialistischer Begimgen
fähig ist, namentlich wenn es sich um so seltene Lecker-
bissen handelt, wie Axistem,
In den Schilderungen von PmnpemickeP) und Kalbs-
braten ist außerordentlich viel Autobiographisches, das heraus-
zusuchen nicht Aalgabe der vorliegenden Arbeit ist. Die
Schilderungen sind aber jedenfalls auch von kultuiiiistori-
schem Literesse. Sie reihen sich an die Schilderungen im
1) XYU, 201.
3) XVn, 197.
*) XVJI, 2<J3ff. Daß derartige literarisch-ästhetische Zirkel in
Weimar existierten, ist unzweifelhaft. Man vergleiche nur — aattlr*
lieh in gehörigem Äbetond — den Zirkel der Schwiegertochter Goethes
und feeine Zeitschrift, das „ Chaos ".
h Gleichfalls in Pumpernickel zur Zeit des Breißigjährigeii
Krieges spielt: *'Men'8 Wi/es No. IV: IV — 's Wifi'\ seit der Ver-
Öifentlichung erst wieder in Strai/ Papers, Sil ff, gedruckt. — Eben-
falls deutsche Kleinstadtverhältnisee streift, ^*Ä stränge man just
dUcovereä in Germany'' (Stand. Ed. vol. XXVI), ein Schildbürger-
sttlckchen — ein bezechter englischer Student wird fttp^ einen Halb-
barbaren gehalten — das der Vollständigkeit halber hier angeführt sei.
4
^ Barry Lynd4m*\ beziebimgsweise gehen ümi& irorauB. Diese
Idemen Diiodezfiirsten mit ihrer Großmannssucht, mit dem
' Glauben an ihr Gottesgnadentum — Karl Friedlich von
Weimar hatte etwas derartiges an aich — , immer bemüht,
es Ludwig XIV. nachzutun, kleine „Sonnenkönige" zu
spielen^ diese Herren, die ihre halbe Million Untertanen
aussogen, wo sie nur konnten, faßt Thackeray diesmal von
■ der heiteren Seite auf und geht ihnen nicht so scharf zu
Leibe wie später im "^Batry Li/fidon*' oder den **Four
Georges".
Es ist nicht Weimar allein, das er im Auge hat^ wenn
auch Weimarer Verhältnisse in erster Linie in Betracht
kommen ; es ist auch nicht das Weimar Karl Augusts, das
Weimar Goethes, Schillers; es ist das Weimar Karl Fried-
richs, ein Kleinstaat und eine Kleinstadt wie andere.
»
I
Varia.
Deutsche Universitäten und Studenten: Auf
seiner Rheinreise hatte Thackeray Gelegenheit, in Bonn die
Verhältnisse an einer deutschen Universität und in deutschen
Studentenkreisen kennen zu lernen; ebenso vielleicht auch
während des Weimarer Aufenthaltes in dem benachbarten
Jena. Unter den Karikaturen der Weimarer Zeit finden
wir die Skizze einer Mensur und eines Studenten jener
Tage**) Was Thackeray selbst in Bonn gesehen, läßt er
auch seinen Clive sehen, Kommers, Mensiu*.-) Die Kickle-
burys haben Gelegenheit auf der Rheinfahrt Bonner Stu-
denten in ihrer malerischen Tracht zu sehen, die National-
farben auf den Kappen, langes blondes Haar, tüchtig
zerschmiüte Gesichter und — schmutzige Hände.*) Die
ünreinlichkeit Ist übrigens ein Vorwurf, den Thackeray den
deutschen Studenten jener Zeit nicht so ganz mit Unrecht
macht. Auch die beiden Studenten, die nach Pumpernickel
von der benachbarten Universität (mit dem bezeichnenden
Jf amen Schoppenhausen; gekommen sind, sind keine Muster
*) Thadcerayana, 1^)2 ii.
2J V, 3CIL
3) xin, 20.
HJ4.
von Reinlichkeit-*) Die lange Pfeife mit dem Wappen &t
dem Pfeifenkopf verläßt sie nie, Ihr Gespräch dreht sich
um die ihnen nächstliegenden Dinge: Fuchs, Burschi Phi-
lister, Kneipe, Mensur, dann auch Becky, über deren Stimme
der eine die charakteristische burschikose Bemerkung macht :
'*Saufefi und Siti^en go not togeiher^J) Auch sonst erwähnt
Thaokeray die Leipziger Burschen*) oder Heidelberger
Studenten.^) Diesen nicht gerade allzusehr anziehenden
Typen setzt er auch einen Musterstudenten gegenüber,
Lorenzö von Tische an der berühmten Universität von Kräh-
winkel, der wirklich studiert, Kollegia besucht imd nichts
zu tun hat mit dem Kneipenleben, ein Muster nicht nur
für Krähwinkel, sondern auch fiii* Bonn, Jena, Halle, für
Salamanca und Bologna und was noch alles. ^)
Das deutsche StudentenUed ist Thackeray nicht fremd*
In ""The Adventure^ of Philij/' bringt er eine freie Nach-
dichtung von Karl Mi c hl er s altem Lied „Wein, Weib,
Gesang", *" Luther",^) später in die Balladen als "Dr. LuÜter's
Spnn** übernommen* Unberechtigterweise wurde in die
Balladen aufgenommen die von Charles Lever herrührende
Übersetzimg von C. G. L. Macks «Der
herrlich
von C. G. L. Macks »Der Papst lebt
in der Welt**, als ''Commanders of the faith*
fuV* in jjRebecca und Rowena'^ eingeschaltet.^)
Ein recht nettes, wenn auch stark karikiertes Bild
gibt uns Thackeray von der Laufbahn eines Theologen des
18. Jahrhunderts.*) Der recht mitteilsame Kandidat erzählt
Barry sein Leben: mit 16 Jahren beherrschte er Latein,
Griechisch, daneben Französisch, Englisch, Arabisch; ein
Legat von 100 Reiehstalem ermöglicht ihm, die Universität
zu beziehen, wo er sich auch mit Lektionen foilhilft; eine
These über die Quadratur des Zirkels, eine Disputation
im Arabischen gegen Professor StnimpflF, die südlichen
europäischen Sprachen, Sanskrit, die nordischen Idiome,
>)n, 33Ö.
2) n, 346.
») II, 345.
^) XIX, 12a
») Straif Paj>ent, 183 ft'.
«) X, im, 215.
n Xin, 178.
8) XIX, 86 f.
4
- 75 —
I
Russisch kennzeichneii die Studienbalm dieses Polyhistor,
der bedauert, eine (xelegenheit, Chinesisch zu lernen^ ver-
säumt zu haben. Geldmangel zwingt ihn dann, sein Studium
bis zu einem günstigeren Zeitpunkt aufzugeben; da bietet
sich ihm Gelegenheit eine Pfanne zn erhalten, er hält seine
Probepredigt, aber das Schicksal will es anders, er wird
gepreßt J)
Auch den deutschen Adel bespricht Thaekeray
gelegentlich. Abgesehen von den satirischen Schilderungen
in Pumpernickel und Kalbsbraten, mit den oft recht cha-
rakteristischen Namen, und auch an anderen Stellen, ist es
namentlich der verarmte aber immer noch hochstolze Adel,
den er hernimmt, der Count de Reineck und Mademoiselle
de Reineck in ihren "faded silk gomi$'\ die sie während der
Saison in der Residenz ruiniert hat, aber aus Ökonomie
immer noch trägt, mit ihrer Gesellschafterin, mit der sie
vor der Welt recht freundlich umgeht, die aber höchst
selten ihren Lohn erhält,*) oder die abenteuernden jüngeren
Söhne im 17* und 18, Jahrhundert, der älteste erhält die
Güter, die jüngeren werden Priester oder Soldaten.^
DaÜ Thaekeray auch die deutsche Industrie nicht
übersieht j daß er die Dresdener Porzellanfabrikation, ^Dresden
China", „Dresden shepherds and sheperdesses^, die ja in
England sehr behebt waren, ^) „Berlin gloves'*'*) etc. erwähnt,
ist bei der Verbreitung dieser Ailikel in England eigentlich
ganz natürhch.
Auf religiöae Verhältnisse kommt Thaekeray,
außer in den bereits erwähnten Bemerkungen über die
religiösen Anschauungen in deutscheu Fürstenhausern und
über den Religion.swechael, wie ihn einzelne Fürsten zur
Zeit des Dreißigjährigen Krieges trieben/) auch noch im
"Denis DuvaV* zu sprechen. Hier handelt es sich speziell um
die religiösen Verhältnisse im Elsaß, an der französisch-
deutschen Grenze, um den Gegensatz zwischen ^'ihe German
1) XIX f.
«)xni, 12.
9) Siehe den Grafeü Oalgenstem in der Catherine,
^) X, 179 u. a.
»)in, 381; IV u. a.
«) Strmj Papers, 37Ö.
^ 76
Chureh" C'the Refonned Church of ihc Augsburger Coftfession'*)
und 'Hhe Freneh Church", der die Protestanten aus Frank-
reich vertrieb iiiid sie in Winchelsea eine neue Kolonie
gründen ließ, und der auch jetzt Unheil im Hause des
Hen-n van Zabem (Savemej stiftet: die Frau von Zabem
wird katholisch, der Erzbischof von Straßburg hat dabei
die Hand im Spiele.
Überhaupt der Elsaß und seine Zustände ei'scheinen
im "^ Denis DuvaV öfter gestreift, *JÄc Alsatiani jargmi oj
Frenrh and German'* bringen die auswandernden Protestanten
auch nach England hember und er ^ird wiederholt in Bei-
spielen vorgeftihrt. Auch die Besitznahme des linksseitigen
Rheingebietes durch Frankreich wird im '^Denis Duvar' er-
wähnt.
Das deutsche Wirtshaus und Hotel findet in
Thackeray auch seiuen Schild erer. In " Vanity fair^' gibt er
uns ein© ganz hübsche Schilderung einer Wirtsstube zweiten
Ranges, ""a Gtnnan inn in fair titne" : immer voll Rauch
und Biergeruch, an schmutzigen Tischen, mit Speiseresten
und vergossenem Bier^ Tii'oler Handschuhhändler, Lein-
wandhändler aus den unteren Donauländem, Studenten,
Kartenspieler, Dominospieler u. s. f. *} Natürlich mit dem
englischen Komfort in den deutschen Hotels scheint es
schlecht zu stehen,*) namentlich in Straßburg ''that odious
huggy Strasbourg''.^) Ganz köstliche Skizzen gibt er von den
deutschen Kellnern, den ''skepless German tvaiters'':^) *\ , , Herr
OberkeUneTy who swaggers as becomes the Oberkellner of a house
frequented bg ambassadors: who contradirts us io our faces,
and whose oten countenance is omammted wiih yesivrdaijs heard,
of whieh, or of ang pari of his clothing, the graceful youth
does not appear to have divested himself ^nce last we hft kirn.
We recogtiize, soniewhat dingy and faded, the elahorate shirt-
front whieh appeared ai yesterday*s banquet. Fareicell, Herr
Oberkellner! May we never see your handsome countenance,
washed or unwashed, shaveti or unshorn, againr^)
1) n, 344.
«) XIII. 156.
«) V, 434.
*) V, 399.
5) XUI, 129,
— 77 —
Es wären nun nur noch einzelne nebensächliche Kleinig-
keiten zu notieren: die Vorliebe der deutschen Mädchen fiir
das Walzertanzen, ^) das Tabakrauchen, das in Deutschlemd
viel früher eingebürgert war als in Englsaid,*) die deutschen
Weinmarken und dergleichen mehr.
Zum Schlüsse sei noch auf die Namen bei Thackeray, so-
weit deutsche Verhältnisse in Betracht kommen, hingewiesen.
Die Personennamen sind entweder recht charakteristisch
nach der Beschäftigung gewählt oder aber, und das ist der
gewöhnliche Fall, sie sind ganz willkürlich gewägt, nach
deutschen Speisen „Speck", „Eyer** u. dgl. Ebenso geht
es mit den Länder- und Lokalnamen „Pumpernickel",
„Kalbsbraten", daneben aber auch „Krähwinkel", eine Be-
zeichnung der deutschen Satire.
ScMußwort.
Thackeray ist kein Bahnbrecher für deutsche Kultur
in England gewesen, wie Wordsworth und Coleridge imd
später namentlich Carlyle. Er bringt nichts Großes, Neues ;
seine Übersetzungspläne bleiben unausgefiihrt, die wenigen
Übertragungen deutscher Balladen fallen in die erste Zeit
seiner literarischen Tätigkeit und sind wohl nicht allzuhoch
anzuschlagen. Von einem Einfluß der deutschen Literatur
vollends kann kaum gesprochen werden. Thackeray ist groß
geworden in der Schule der Swifl, Smollett, Sterne und
namentlich Fieldings.
Über deutsche Musik weiß er seinen Landsleuten nichts
Neues zu sagen und die bildende Kunst der Deutschen
berührt er, der doch den Kunstkritikern öfters ins Hand-
werk pfuscht, kaum gelegentlich. Seine Betrachtung deutscher
Geschichte, namentlich Friedrichs des Großen, steckt ganz
in den Vorurteilen seiner Zeit. Wo er zeitgenössische Zu-
stände schildert, bilden dieselben immer nur den Hinter-
grund für seine persönlichen Erlebnisse.
1) XVII, 191.
-2) XVII, 164 f, 181; XIX, 221; XIU, 146.
— 78 —
Neue Wege hat er nicht betreten, neue Blicke nicht
eröfihet. Trotzdem darf man ihn nicht unterschätzen. Er
gehört jedenfalls zu denen, die neben Carlyle für die Ver-
breitung und das Verständnis deutschen Geistes und deutscher
Zustände wirkten, wenn er auch keine zusammenhängende
Arbeit in dieser Richtung gebracht hat.
WIENER BEITRÄGE
ZÜB
ENGLISCHEN PHILOLOGIE
UNTER MITWIRKUNG
Dr. K. LÜICK
OBD. FBOF. DER KNOL. PHILO-
LOOIS AN DER UKIYERSITÄT
nf GRAZ
Dr. R. FISCHER
ORD. PROF. DER ENGL. PHILO-
LOGIE AM DER UmYERSITÄT
IN IHM8BRUCK
Dr. L. KELLIER
AO. PROFESSOR DER ENGL.
PHILOLOGIE AN DER UNI-
VERSITÄT IN CZERNOWITZ
Dr. i. POGiTSCHER
ORD. PROF. DER EHOI.. PHIL(>>
LOOIE AN DER DBUTBGBa
UNIVERSITÄT » PRAO
HERAUSGEGEBEN
Db. J. SCHIPPER
ORD. PROF. DER ENGL. PHILOLOGIE UND WIRKLICHEM MnOLIKDR DER
KAISERL. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN IN WIEN
XXVIII. BAND
WIEN UND LEIPZIG
WILHELM BRAUMÜLLER
K. U. K. HUF- UND UNIVEBSITATS-BUCHHInDLER
1908
ANDREW MÄRYELLS
POETISCHE AVERKE
VON
ROBERT POSCHER, Dr phil.
(WIEN)
WIEN UND LEIPZIG
WILHELM BRAUMÜLLER
K. ü. K. HOF. UMD UKIVSBSlTlTB-BUOHHlMiyLIB
1908
Alle Rechte, intbetoadere das der Übersetzung, vorbehalten .
K. k. Universitäts-Buehdruokorei aStyria" in Graz.
Vorwort
Uie86 Arbeit verdankt itire Entstehung dem Zufalle,
daiJ mir eines Tages im englischen Seminar unserer Uni-
versität ein Buch in die Hände kam, das der Vorstand des
genarmten Inatitutes, Herr Hofrat Prof, Dr. J. Schipper,
damals gerade fiir dasselbe angekauft hatte, eine billige
Ausgabe von **3IarvelVs Poems and Saiires'\ London^ Ward,
Lock & Co. (o. J.) Ich nahm das Buch mit nach Hause
und weil manches darin mir gefiel, so gedachte ich, einen
kleinen Aufsatz für die Zwecke des Seminars darüber zu
schreiben. Da ich aber während meiner Beschäftigung
fand, daß Marvell von den Literarhistorikern bisher über
Gebühr vernachlässigt worden ist, so erweiterte sich mein
Plan, und ich habe mich nunmehr bemüht, mein Thema
möglichst erschöpfend zu behandeln.
Es ist natürlich, daÜ ich den nicht selbständigen Teil
der Arbeit, das heißt das Biographische, möglichst ein-
geschränkt habe, wie ja auch der Titel kein y,Leben" des
Dichters verspricht. Auf die biographischen Angaben aber
ganz zu verzichten, war dennoch ausgeschlossen, da für
Marvell vielleicht mehr als für manchen andern Dichter
der Satz gilt, daß sein Dichten ohne Kenntnis seines
Lebensganges nicht verständlich ist. Und imi den Zu-
sammenhang seiner Dichtung mit seinen Lebensumständen
noch deufchcher zu machen, habe ich den hoflfentlich nicht
tadehiswerten Versuch gemacht, die notwendigen biogra-
phischen Angaben nic-ht fortlaufend von der Geburt bis
zum Tode, sondern eingeteilt stets vor den entsprechenden
einzelnen Perioden seines Schaffens zu geben, wie diese
sich meines Erachtens leicht von selbst abgrenzen.
— VI —
Diese Arbeit war so ziemlich in der vorliegenden
Gestalt bereits im Jahre 1906 fertig; gelegentlich eines
Ferienaufenthaltes in Oxford im darauffolgenden Jahre
ergaben sich noch einige kleine HinzuAigungen, da mir
dort mehrere in den Periodical Indices der Bodleiana ver-
zeichnete Kritiken zugänglich wurden.
Mein verehrter Lehrer, Herr Hofrat Professor Dr. J.
Schipper, hat die Veröffentlichung durch memchen Bat-
schlag gefordert, wofiir ihm aufrichtiger Dank gesagt sei.
"Wien, im Juli 1908.
Dr. R. Poscher.
Literatur.
Folgende Werke sind dieser Arbeit zu Grunde gelegt worden:
**Th€ Complete Works in Verse and Prose of Andrew Marveü", ed. with
Memorial IntroducHon and Notes hy the Rev. Dr, Alex, B, Gro-
sart, in 4 vols., London 1872, — Vol. I: Verse.
Diese Ausgabe, die einzige vollständige, nur in 156 Exemplaren
*'for private ciraUation'' gedruckt, konnte natürlich trotz ihrer Vorzüge
Marvell nicht in weiteren Kreisen bekannt machen. Das strebt erst
die in jüngster Zeit erschienene Ausgabe von
O. A. Aitken an: "Poems" und "Satires", London 1892, Lawrence dt
Buller; zweite billigere Ausgabe in "TJie Muses* Library",
RouÜedge & Sons, 1901,
Die im Vorwort erwähnte Ausgabe, die als Nr. 22 in der Samm-
lung "The World's Library of Standard Books" erschien, enthält ein
^'Memoir", dessen Verfasser nicht genannt ist, mit manchen unrichtigen
Angaben, femer sinnstörende Druckfehler und einige überflüssige
Anmerkungen. Eine Anfrage an die Verlagsbuchhandlung ergab die
sonderbare Antwort, sie habe "no means of ascertaining", wann und
durch wen die Ausgabe besorgt wurde. Sie dürfte ein englischer
Nachdruck der amerikanischen Ausgabe von 1881 sein; da ihre An-
merkungen mit den wiederholt von Grosart zitierten der Ausgabe von
1726 übereinstimmen, war jedenfalls diese, direkt oder indirekt, die
Grundlage.
Die neueste, etwas zu umfangreiche Biographie
^* Andrew Marvell" by Augustine Birrell (in "English Men of Letters",)
London 1905, Macmülan & Co,,
habe ich erst während meines Aufenthaltes in England kennen ge-
lernt und benutzt, wo angegeben. Während Birrell (S. 7) die Aus-
gabe Grosarts mit R^cht "invaluahle" ueimt, hat sie E.K.Chambers
in einer Kritik im 42. Bande der "Academy", p. 230, sehr schroff "badJy"
gescholten und außerdem dem neueren Herausgeber Aitken zum Vor-
wurf gemacht, daß er eine Würdigung Marvells unterlassen habe.
Sehr gut ist der Artikel über A. Marvell im
"Dictiofiary of National Biography", vol. 36,
wo auch die älteren Ausgaben der Werke Marvells aufgezählt sind,
auf die zurückzugehen heute nicht notwendig ist, ebensowenig wie
— vm —
auf die älteren, nun entwerteten Biographien, da Ghrosart sie nicht
nnr benutzt, sondern auch verbessert hat, indem er auf die dokumen-
tarischen Quellen zurückgeht: aufgezählt sind dieselben bei Gr o sart,
vol, I, p, XV ff., und bei Aitken, ''Foenis", p. LXVIU ff.
Die Kenntnis der meisten minderbedeutenden, zum Vergleiche
herangezogenen zeitgenössischen Dichter vermittelte das bekannte
Sammelwerk
''The FoeU of Great-Britain", Edinburgh 1796,
Die Grundlage für Anordnung und Behandlung des Stoffes im
metrischen Teile bildete
J. Schippers „EngliscJie Metrik'', Bonn 1881— 1S88,
Die Titel von Werken und Zeitschriflen, die nur ein- oder
zweimal zitiert werden, sind in die Fußnoten verwiesen.
Inhaltsübersicht.
Seite
Vorwort V
Literatur VII
I. Analytischer Teil.
Biographie: Eltern, Schule, Jugend, Universitätszeit .... 1
Erste dichterische Äußerungen 1
Heise nach dem Kontinent 1
Vorschule (1637— 1660) 2
„nP02 KAPPOAON TON BA2IAEA'' 2
„Ad Augustum Caesarem" 3
„Lanceloto Jos. de Maniban^^ 3
"Flecknoe", erste Satire 4
Bezug auf Dryden und Wemicke 4
Inhalt und Ton 6
Metrische Eigentümlichkeiten 7
Rückkehr nach England 7
Politische Lage daselbst 7
Gelegenheitsgedichte aus dieser Zeit B
"üpon the Death of Lord Hastin^s" 8
Mischung antiker und christlicher Ideen 9
"To Rieh. Lovelace" 9
Bedeutung beider Gedichte für Marvells polit. Beurteilung lO
"Tom May's Death" l4
Abschluß der Polemik gegen den angeblichen „Royalismus^^ 16
Stilles Landleben des Dichters im Hause Fairfax 19
L Periode (1650— 1662) 19
Allgemeine Züge derselben , 19
Gruppierung der Gedichte 20
Zusammenhang zwischen lateinischen u. englischen Dichtungen 20
„Epigramma in duos montes" 20
"Upon the Hill and Grove at Billborow" 21
"Apnleton-House" 22
Typisches Renaissancegedicht mit Gartenszenen und drasti-
schen Vergleichen 23
"Hortus" — "The Garden" 2<7
,.Ros" — "Drop of Dew" 28
Aus Senecas "Thyest" 29
"Nymph, Complaining the Death of her Fawn" 29
Liebeslieder 31
I. Mower Songs 31
"Dämon the Mower" 31
— X —
"The Mower against Gardens*^ 8*2
"The Mower to the Glow -Worms" 88
"The Mower's Song" 88
"Ametas and Thestylis" 83
IE. Pastorale (Schäfer-)Gedichte 3i
Allgemeines, Theorie 86
"Clorinda and Dämon" 86
Allegorische Deutong 36
"Dialogue between Thyrsis and Dorinda" 87
"Daphnis and Chloe" 87
"Yonng Love" 88
"The Gallery" 89
"The Pictore of Uttle T. C." 89
Emblematische Poesie 89
"To his Coy Mistress" 40
Bester Ausdruck des Carpe diem! 41
"The Match" 41
Auf Mary Fairt'ax zu beziehen? 42
"The Unfortunate Lover" 43
Verschiedene Deutungen 44
"Mourning" 44
in. Beflektierende Gedichte 46
"Definition of Love" 46
Pessimismus 46
"Eyes and Tears" 47
"The Coronet" 48
Muster Donnes? 49
Geistliche Gedichte 50
"Dialogue between Soul and Body" 60
"Dialogue between Soul and Pleasure" 60
Formelles 51
"Music's Empire" 69
Auf Lord Fairfax bezüglich 52
"The fair Singer" 68
"Doctori Wittie'» — "To Dr. Witty" 68
Bezug auf Mary Fairfax 64
Fortsetzung der Biographie:
Bekanntschaft mit Milton und Cromwell 64
Beamter der Bepublik 66
M. P. für Hüll 65
Politische Verhältnisse . 66
Periode (1652-1660) 56
Cromweliian Poems: 56
"Horatian Ode" 67
Berühmtheit derselben 68
^•Bermudas" 58
"Doctori Ingelo" 60
"Auf Cromwells Bild" 61
Früher Milton zup:eschriebeu 61
"Auf Oliver St. John" 62
"The first Anniversarv under tlie Lord Protector" .... 68
Detailmalerei 64
Stilistische Eigenheiten 65
"The Character of Holland" 68
Kontroverse Hazlitt — Leigh Hunt 70
— XI —
Seite
"Admiral Blake's Victory»' 71
"Two Songs" erstes 72
Zweites Mochzeitsgedicht 74
"Death of the Lord Protector" 76
M., der Dichter Cromwells 78
m. Periode (1660-1678) 79
Politische Zustände unter Karl 11 79
Schluß der Biographie 80
Parlamentstätigkeit, Freund Miltons 80
Prosawerke 81
Verssatiren 81
AUpemeines 82
"Last Instructions to a Painter" 83
"Advice to a Painter" 87
"Farther Instructions" 88
Abfassungszeit 89
"Clarendon*s House Warming" 90
"üpon his House" 91
"Upon his Grandchildren" 92
"The Loyal Scot" 92
"Blood's Stealing the Crown" 94
"Bludius et Corona" 94
"Britannia and Raleigh" 96
Zitierung Spensers 96
"A Historical Poem" 97
"On the Lord Mayor and Aldermen" 98
"Nostradamus' Prophecy" 99
"On the Statue in Stocks-Market" 100
"On the Statue at Charing Cross" 101
"Dialogue between two Horses" 103
Abfassungszeit 106
Urteile über die Satiren 106
''In Eunuchum Poetam" 107
"On Paradise Lost" 108
"An Epitaph" 109
„Scaevola Scoto-Britannus" 109
Pseudo-Marvellische Gedichte 110
II. Systematischer Teil.
1. Literarhistorische Stellang 111
Büd der Zeit 112
Klassifikation der Gedichte 113
Einfluß Horazens 114
Einflub anderer klassischer Dichter 116
Tot^ngespräche 116
Stellung zu modernen Dichtem 116
Stellung zu Spenser 116
Stellung zu Ben Jonson 116
Stellung zu Flecknoe, Cleveland etc 117
Stellung zu Dryden 117
Stellung zu Milton 118
Stellung zu Davenant, Chaucer, Waller, Denham 120
Stellung zu Donne-Cowley 120
Marvells Vielseitigkeit 123
- xn —
8«lte
Wirklichkeit in der Dichtung 12S
Gelegenheitsdichtong und Satiren 128
Einige Urteile 124
2. Ton und Stilmittel 126
Pastorales, Conoetti, Bilder 127
Lange Perioden 129
Skurrile Vergleiche 190
Inkonsequenzen 190
Einzelne Stilmittel 181
Sprichwörtliches 132
Figur der ^Verschränkung" 182
Mittel der Satire, spezielle 188
I. Hyperbel 138
II. VSTortspiel 184
Einkleidungen 186
8. Sprache und Grammatik 186
Altertümliches 186
Freiheiten 187
Absolute Partizipialkonstruktion 187
Füllwörter 188
Fremdsprachliche Einflüsse 198
4. Metrik 139
A. Silbenmessung imd Wortbetonung 189
B. Reim 142
Reimfrage im 17. Jahrhundert 148
C. Versarten 144
Septenar 144
Fünfbaktiger Jambus 144
Viertaktiger Jambus 147
Andere jambische Maße 149
Viertaktige Trochäen 150
Jambisch-anapästische Verse 160
D. Strophenbau 162
Unstrophische Gedichte 162
Geleitartige Strophen 152
Refrain 158
Gleichmetrische 168
Ungleichmetrische 164
Zweiteilige gleichgliedrige 165
Zweiteilige ungleichglieonge 156
Dreiteilige 155
Ungleichmetrische und ungleichrhythmische 166
Italienische Nachbildungen 167
I. Analytischer Teil.
Andrew Marvell wurde am 31. März 1621 zu Winestead
in Holdemess, Yorkshire, geboren. Als sein Vater eine Stelle
als Pfarrer und Lehrer zu Hüll erhielt, übersiedelte auch
die Famüie dorthin. Der kleine Andrew erhielt den ersten
Unterricht von seinem Vater, einem edlen, freisinnigen,
immer tätigen Manne, und kam 1633 als si/s(ir ins Trinity
College zu Cambridge. Bekehrungseifiige Jesuiten, denen
er, wie Chillingsworth, Crashaw u. a., in die Hände fiel,
brachten ihn von der Universität weg nach London. Aber
der alte Marvell erfuhr davon, machte ihn in einem Buch-
händlerladen ausfindig und brachte ihn wieder an die Uni-
versität zurück, wo Andrew seine Studien bis 1640 mit
Eifer fortsetzte. Aus dieser Zeit, einer denkwürdigen Zeit
der englischen Geschichte, stammen die ersten dichterischen
Äußerungen Marvells, Beiträge zur "Musa Cantabrigiensis"
vom Jahre 1637, ein griechisches und ein lateinisches Ge-
dicht an den König Karl L^) 1638 wurde Marvell "JB. A^
Zwei Jahre später verlor er seinen guten Vater auf tragische
Weise. Dieser ertrank, ein Opfer seiner Ritterlichkeit, im
Humber. Leigh Hunt hat dieses Ereignis in seinen Essay
^'On Stichs" eingeflochten. ^) — Der junge Andrew gehörte
der Universität bis zum Jahre 1641 8m; im September
dieses Jahres wurde Dominus Marvell mit einigen anderen
von der Universität verwiesen, wahrscheinlich einer jugend-
lichen Torheit wegen. Sein weiterer Bildungsgang war
derselbe wie der eines jeden „Kavaliers" im 17. Jahr-
hundert, nicht nur in England, sondern bekanntermaßen
noch mehr und länger in Deutschland — bis auf Lessing:
nach der Universitätszeit kommt die Bildungsreise, "fe
grand tour" ; wer Geld hatte, machte sie auf eigene Kosten,
wer keines hatte, als Reisebegleiter eines Glücklicheren.
») Grosart, voll, p, 397 ff. — Aitken, Poems, 185f,
2) "A Tcdefor a Chimney Corner, . /', ed. Edw. Ollier, L.1887, p.l65.
Poscher, Marvells poetische Werke. 1
So ging auch Marvell auf ReiseUj von 1642 bis 1646, nach
Frankreich^ HoUand, der Schweiz, Spanien, Italien* Wir
finden Anspielungen auf diese Keise in manchen seiner
Gedichte; in "Appleion'ffou$c'\ in "The GaUeryl", in ''The
ßrsi Anniversarff of the Oovtmment ander His Hlghuess the
Lord Protedö/* und anderen, also in Gedichten, die —
wie sich zeigen wird — zu ganz verscliiedenen Zeiten
entstanden sind. Einige Gedichte aber sind durchaus Pro-
dukte dieser Reise, und zwar das lateinische Gedicht auf
Dr. Lancelot Maniban und die Satire '*FleclmQe*\ Dagegen
kann das Gedicht *'27*e Charfxcter of Holland'*, wie aus dem
Inhalt hervorgeht, erst auf einer späteren Reise entstanden
sein, wenn wir überhaupt annehmen wollen, daß es an Ort
und Stelle geschrieben ist.
Diese bisher erwähnten Erstlingsgedichte Mar-
vells aus der Universitäts- und Reisezeit, zusammen mit
einigen Gelegenheitsgedichten nach der Rückkehr, von der
noch zu sprechen sein wird, bezeichnen wir füglich als
Torschiile
des Dichters, die demnach von
1637—1649/50
reicht. Wie fast jeder Dichter des 17. Jahrhunderts bat
auch Marvell mit Gedichten in lateinischer Sprache
begonnen und ist später zu Gedichten in der Muttersprache
übergegangen. Das wird besonders deutlich, wenn wir
sehen, daß unter seinen frühesten englischen Gedichten
Übersetzungen von eigenen Gedichten in lateinischer
Sprache sind.
Marvell trat mit seinen ErstUngsprodukten sofort
vor die OÖentlichkeit, denn die beiden erwähnten Ge-
dichte aus der Üniversitätszeit erschienen in der "Musa
Cantabrigimsis** vom Jahre 1637. Das griechische Gedicht
^nPO:^ KAPWÄON TON BäIIäEA- ist ein kurzes Ge-
dicht in Distichen, in dem er mit der ominösen Zahl „fünf*'
spielt; die fünf Kinder des Königs würden einst der Nach*
weit von ihm, dem Könige, wie ein lebender „Pentateuch**
Zeugnis geben. Kein besonders poetischer Gedanke also,
sondern ein gezwungener Vergleich, der in jener Zeit, im
4
4
3 —
•
17. Jahrhundert, gar nicht originell ist: das allegorische
Ausdeuten der Zahlen — 3, 5, 7, 12 — sehr oft das
Hineindeuten bei Dingen, die damit nichts zu tun haben,
ist ja häutig zu finden. Auch bei Marvell selbst wird uns
diese Spielerei nochmals begegnen.
Das zweite Gedicht au den König ist eine lateinische
,, Parodie*^ auf Horazens „Ad Augustum Caesarem*', beginnend
mit den Worten: „Jam satis pestis . . ." Zwar in sehr er-
gebenem Tone, aber zugleich in dringender Weise erfleht
er Abhilfe gegen das Unglück des Volkes vom Herrscher,
Hier meldet sich schon der zukiinltige Politiker, der Demo*
krat, der Vertreter des Volkes.
Das nächste Gedicht in der chronologischen Reihen-
folge, wahrscheinlich um 1644 auf der Reise in Paris ent-
standen, ist wieder ein lateinisches Gedicht, das schon die
humoristische Ader unseres Dichters zeigt: „Cmdanit qui
legendo seripiuram, descripsit fornmm, sapientiam sortemqm
mUhoris, Jliustrissimo viro IhnUno Lanceloto Josephe de
Manihan^ grammatomanti^ . Es ist offenbar unter dem frischen
Eindruck des Erlebnisses geschrieben, das eben ein solches
ist, daÜ man entweder gleich oder gar nicht darüber lacht.
Marvell scherzt hier über die graphologischen Experimente
des gelehrten Abb4, der ihm aus seinen Schriftzügen
Vergangen lieit, Gegenwart und Zukunft oflfenbarte. Wir
£nden in diesem Gedichte bereits in mehrfacher Hinsicht
Keime angedeutet, die später weiter ausgebildet werden;
erstens seine humoristisch - satirische Ader, hier noch in
leichter, scherzender Weise, und zweitens, was bei einem
Gedicht in lateinischer Sprache freilich doppelt nahege-
legen ist, die Verwendung klassischer Gelehrsamkeit,
die wir überall bei Marvell — aber nicht bei Marvell
allein — finden. Man war ja im 17* Jahrhundert kein
Dichter, wenn man kein gelehrter Dichter war. Aber auch
kulturhistorisch ist dieses Gedicht äußerst interessant, da
wir hier eines der ältesten Zeugnisse über die Kunst der
Graphologie vor uns haben, die ja im 17. Jahrhundert
ihren Ausgangspunkt hat. Auffällig ist, daß Marvell so
„aufgeklärt" über diese Bestrebungen spottet, — die ja
heute schon wissenschaftlichen Charakter haben * — , nach-
dem er an zahlreichen Stellen seiner übrigen Gedichte
1*
— 4 —
ganz vom Olauben an den EinfluJ] der Oestime, an As
logie und ähnliches, eingenommen ist
In dem satirischen Gedicht '^Flecknoe, an English
ai Borne*' haben wir das erste englische Oedicl
Marvells yor uns, wenn wir nicht annehmen wollen, dl
auch hier ursprünglich ein jetzt verlorenes lateinisches
Grunde lag. Wenn auch nicht die SchluiJverse deutlich
aussprächen, daß der Dichter noch zu Born weilte, als er
das Gedicht schrieb, so würden wir es doch aus formeUen_
Gründen unbedingt als einen seiner ersten Versuche
kennen, an der unbeholfenen Art, wie er Metrum und Ve
behandelt. Leigh Hunt, der das Gedicht in seiner Sehr
** Wit and Hutnour'' *) erwähnt, sagt, daB es in demselt
Geiste der Übertreibting geschrieben sei wie Marvell
"Charcieier of Holland" und auch dieselbe Rauheit di
Versifikation zeige. So weit kann man mit ihm gehe«
aber nicht mehr, wenn er die Vermutung ausspricht, dies
Rauheit sei beabsichtigt, um das heroische Versmaß den
satirischen MaJJen des Horaz näher zu bringen. An
manchen SteUen scheinen ja Taktumstellung und Enjambe*
ment als KuDstmittel angewendet zu sein; aber diese Fälle
sind gewLÜ meist unbewußt, dem natürlichen SprachgeftiM
folgend, entstanden und sie werden weitaus von den FälleB
übertroffen, wo die Unregelmäßigkeiten störend wirken,
also gewiß unbeabsichtigt sind.
Der Held des Gedichtes ist Richard Plecknoe,*)
irischer Geistlicher und Poet, mit dem Marv^ell in
zusammenkam* Er war ein römisch-katholischer Prieste^
legte aber seine Würde nach der Restauration nieder. Er
war bedeutend älter als Haryell, starb jedoch im selben
Jahre wie dieser. Durch seine Werke — meist geistlicl
Gedichte — hat er sich nicht bekanntgemacht Sein Nai
wurde vielmehr durch literarische Satire berühmt, da
Marvells Spott^ der den Anlaß zu dieser Bedeutungsfixier
gab. Dryden war es, der, den Gedanken Marvells at
greifend, seine Satire gegen den Dichter Shadwell **J
Flecknoe'* betitelte, also Sohn des Flecknoe (1682); ok
*) London 1882, S. 221.
^) Vgl« die Anmerkung bei BirreU, p. BO, und "ZHcHonar^
xioM
die Voraussetzung und Kenntnis der Satire Marvells, durch
die der Name Flecknoe eben gleichbedeutend mit ^Poetaster**
wurde^ hätte also Drydens Satire keinen Sinn, Die Fiktion
Drydens ist dann die, daß Flecknoe den Thron der Dumm-
Pheit an seinen Nachfolger Shadwell abtritt, der Dryden
dadurch geärgert hatte, daß er ihm Inferiorität vorwarf
und außerdem sein begünstigter Rivale um die Stelle
des poet laureate war. Dadurch, daß der deutsche Dichter
Wernicke {1661—1726) in seiner gegen den Hamburger
Opemdichter Postel gerichteten Satire ^3ans Sact^s'* wieder
Drydens Satire aufgreift, hat Marvell indirekt sogar auf
die deutsche Literatur eingewirkt.
Der Inhalt des satirischen Gedichtes von MarveU
ist ein rein persönlicher, biographischer- Der Dichter er*
zählt in der ersten Person. Er sucht den geistlichen Dichter-
ling in seiner Dachkammer zu Rom au£ Die Türe der-
selben besaß die lobenswerte Eigenschaft, wenn man sie
öfiiiete, gleich die halbe Kammer auszutäfeln, dank der
Kleinheit der letzteren. Flecknoe begrüßt den Besucher mit
schwungvollen Versen ohne Ende; müde geworden, geht
er zur Laute über. Und so wie von zwei, auf denselben
Grund ton gestimmten Instrumenten, wenn das eine berührt
wird, das andere alsbald, „von der Luft und von geheimen
Sympathien** bewegt, mittönt, so brummte des Sängers
hungriger Magen als Echo mit, als er mit seinen gich-
tischen Fingern über die Laute kratzte. Der gntmütige
Besucher verstand die zarte Anspielung und lud ihn zu
einem Mahle zu sich. Da aber der poetische Priester so
mager war, daß er stets befürchten mußte, seine kostbare
Seele könnte aus der durchsichtigen Hülle unversehens
entschlüpfen, umwickelte erst dieses ^Bas-relief von einem
Menschen^, wie stets beim Ausgehen, seinen sogenannten
Leib mit Papier, und zwar mit dem Papier, auf dem seine
Verse geschrieben waren. Dann gingen sie, der Besucher
voraus, — weil aus der kleinen Kammer der zuletzt Ein-
getretene immer zuerst hinaus mußte. Auf der Stiege be-
gegneten sie einem Fremden, der zu Flecknoe hinauf wollte.
Da die Stiege zu schmal war, jemand vorüber zu lassen,
gingen sie schließlich alle zusammen hinunter und begaben
sich in Marvells Wohnung, dort ein Mahl einzunehmen.
ii
6 —
Solange Flecknoe den Mund voll batte, war alles gut.
Sobald er aber fertig war, zog er schon seine Mannskripte
hervor, mit denen er ausgestopft war, bis auf einen Bogen,
den er unbedingt als Hemd brauchte. Marvell vergleicht
ihn mit dem sagenhaften Pelikan, der sich das eigene Herz
aus der Brust reilit Dann mußte der unglückliche Marvell
es über sich ergehen lassen, die elenden Gedichte von dem
zweiten Gast elend deklamieren zu hören, — so elend, daß
es auch dem schlechten Verfasser zu arg war imd er den
Vorleser beschimpfte, worauf er forteilte, uni| den Zwischen*
fall poetisch ausnutzend, seinen Zorn schnell in Verse zu
bringen. Erleichtert atmete Marvell auf, als er die Besacher
los war; von einem Maler aber ließ er die Szene auf die
Leinwand briogen, um das Bild in der Peterskirche als
Votivtafel aufzuhäugen. Aus diesem Schluß
''— ^ " and go now^
To hang it in Saint Peter'9 for a vow,"
sehen wir also, daß Marvell noch in Rom war, als er das
Gedicht schrieb* Auch der Ausdruck '*w^ youthful hrea$t'^)
deutet auf die Jugend des Verfassers,
In Zeile 100 fallt ein Seitenhieb auf die katholisch©
Trinitätslehre. Eine unästhetische, gemeine Stelle (Z, 135)
zeigt, daß Mai'vell iu Paris auch die Nachtseiten dieser
Stadt studiert hatte. Seine klassische Bildung bringt er
hier, wie überall, an, indem er von Melchisedech, Antiochia,
von Phalaris etc. spricht.
Marvell arbeitet in diesem Gedicht mit dem Haupt-
mitiel der Persiflage, der komischen Übertreibung,
die seiue Stärke ist, wie auch ''The Ckarade?' of Hollund"
zeigt, und mit absichtlichen Mißverständnissen, also Wort-
spielen, worauf im Kapitel „Ton und Stilmittel '^ zurück-
zukommen sein wird.
Geschrieben ist die Satire in fünftaktigen, paarweise
gereimten Jamben^ im heroic coupht; von den metrischen
Schwächen des Gedichtes wurde bereits andeutungsweise
gesprochen, auch ist der Metrik ein eigenes Kapitel ge-
widmet Nichtsdestoweniger scheint es nicht unpassend,
von diesem ersten englischen Gedichte Marvells gleich
hier noch einiges darüber zu sagen:
~ iTVera 25.
4
— 7 —
Von der Taktumstellung, die zur Vermeidung der
Monotonie nötig ist, macht er nur mäßigen Gebrauch;
mehr Gebrauch macht er vom Enjambement (zirka SO^o),
danmter oft sehr harte Fälle, was freilich unter Umständen
zur Komik beitragen kann;
*' OS if I were \\ possessed"; (Vv. 21/22),
" to do\\ wiih truth"; (Vv. 164/165),
" I was 'I deligMed"; (Vv. 97/98).
Oft ist Enjambement der einen Zeile verbunden mit
Taktumstellung zu Beginn der zweiten Zeile:
"— — — tumed my buming ear
Totcards ihe verse " (Vv. 81/82)
oder Vv. 41/42
" wiih his gouty fingers cratols
Over the lute ".
Mit Ausnahme des Falles
" my new made friend
Did, OS he threatened, " (Vv. 113/114),
WO es sich um einen eingeschobenen Satz handelt, der
durch die vorhergehende Taktumstellung wirksamer ge-
macht wird, wirken die Freiheiten meist unschön, weil
die Sprache sehr abgehackt klingt. Die leichteren, erlaubteu
Freiheiten, wie Vollmessung der schwachbetonten End-
silbe, Verschleiftmgen etc. brauchen hier nicht besprochen
werden.
Nachdem dieses Gedicht noch auf der Beise ge-
schrieben ist, haben wir während mehrerer Jahre nach
seiner Bückkehr in die Heimat (1646) keine dichterischen
Denkmale von Marvell, so wie wir auch bezüglich seiner
Lebensumstände während der ersten Jahre nach der Beise
nichts Bestimmtes wissen. Er hatte in der Fremde bessere
Zustände gesehen, als die waren, die er nun in England
sehen muBte: die „blutige Bevolution**, die Flucht und
Gefangennahme Karls I., seine Bünrichtung, den Bürger-
krieg, den endlichen Sieg des Parlamentes und CromweUs.
Erst aus dieser Zeit, aus dem Jahre 1649, haben wir
wieder dichterische Nachrichten von Andrew Maxvell. Es
ist möglich, sogar wahrscheinlich, daß er die dazwischen-
liegenden Jahre nicht stumm geblieben ist, aber es ist uns
nichts erhalten, — was wir freilich kaum zu bedauern
haben, denn gewiß waren es nur ein paar nichtesag^mle
Gelegenheitsgedichte.
^Gelegenheitsgedichte^ sind auch die beiden
aus dem Jahre 1649 erhaltenen Gedichte Marvells,*) die im
folgenden besprochen werden.
Das erste ist ein Trauergedicht **Up<m the ßeath af
the Lord Hmtings'*, eines jungen, zwanzigjährigen Adeligen«
der am 24. Juni 1649 starb. Der Sitte oder Unsitte der
Zeit gemäß wurde sein Tod von einer ganzen Beihe von
Dichtem und Dichterlingen besungen^ in einer ganzen
Sammlung von Gedichten, die unter dem Titel '*Lachr^mae
Mitsarufn" vereinigt wurden; darunter waren auch Herrick»
Denham und Dryden, dessen erstes Gedieht überhaupt
seine hier enthaltene „Träne" für Lord Hastings war. Da-
zumal wurde die Gelegenheitsdichtung — naturlich nicht
die im hohen Goetheschen Sinne — schwunghaft betrieben;
es konnte niemand zur Welt kommen, heiraten oder
sterben, ohne gebührend besungen zu werden, meist von
Leuten, die den „Helden" gar nicht kannten und nur auf
Bestellung oder in der Erwartung einer Vergütimg dichteten:
ein je nach ihrer Bedeutung für sie mehr oder minder
einträgliches Geschäft, das auch in Deutschland, sogar
von dem Begründer der deutschen Benaissancepoesie, der
theoretisch dagegen Stellung nahm, von Opitz, betrieben
wurde. Man erschrickt förmlich, wenn man Sammlungen,
wie die ''Poeis of Gr€ai-Britain'\ durchblättert, vor der Un-
masse dieser ungenießbaren Gelegenheitsgedichte*
Ob Marvell den Verstorbenen gekannt hat, geht ans
dem Gedichte nicht hervor, obwolil er Vertrautheit mit
den Familienverhältnissen desselben zeigt; denn diesd
konnten ihm ja von den Bestellern mitgeteilt worden sein,
wie es sehr oft der Fall war. Der poetische Wert ist ein
geringer. Er führt aus: Hastings mußte sterben, weil er zu
gut und zu vorgeschritten war für diese Welt, So wie in
Athen ein Mann durch den Ostrazismus verbannt wurde,
wenn er seine Mitbürger zu überragen drohte, so ist es auch
mit Hastings im Erdenstaate geschehen; weil er alle zu über-
1) Oeämckt hei GTostLTt,vülI,p, 148, 152 ff. — Aitken, Paem^f
p. 101, 104. '
4
*l
$
$
flügeln drohte, wurde er durch Ostrazismua in den Himmel
verbannt. Alle Götter freuen sich dort seiner Ankunft, nur
zwei nicht: HymeUj der zum Zeichen des Schmerzes seine
safrangelben Grewander zerreißt und Äskulap, der sich fttr
sich und den Arzt schämt, der jenen nicht retten konnte,
um so mehr als dieser Arzt, Mayern, der Vater der Braut
des jungen Mannes war* Aber leider, „die Kunst ist lang,
das Leben aber kurz'', — eine wörtliche Übersetzung des
lateinischen „ars hmja, vita brevis est^.
Also ein Gedicht^ das wie alle dieser Art von rüh-
menden Vergleichen lebt Auf die Verlobte des Verstorbenen,
die "virgin midotv\ spielt auch Dryden in seinem Ge-
dicht^) an. Lobenswert ist bei Marvell auiier der Er-
findungsgabe wenigstens die konsequente Durchführung
der ungewöhnlichen Vergleiche. Eine Eigeutümlichkeit
fallt uns hier zum ersten Mal auf, die wir noch oft bei
Marvell finden können, die auch lur das 17. Jahrhimdert
charakteristisch ist: die Vermischung von antiker Mytho*
logie mit christlichen Vorstellungen: in demselben Himmel,
in dem Hymen und Äskulap auftreten, halten Engel ihre
Turniere ab und ein ewiges Buch liegt dort auf; — eine
speziell christliche Vorstellung.
Das zweite der erwähnten Gelegenheitsgedichte ist der
Gedichtsammlung „Lucasta'' (1649) des Richard Love-
lace-) vorangestellt. Der Lihalt dieses **2b his ffonoured
Frietid J/r, Richard Loveluce'* betitelten Gedichtes ist für die
folgende Betrachtung wichtig.
Marvell erscheint hier als ^laudator temporis aoti**.
Er klagt über die Verderbtheit der jetzigen Zeit und be-
dauert, daß die Bargerkriege die Bürgerkrone verunziert
hätten. Der habe jetzt den meisten Ruhm, der gegen
fremden seinen eigenen anmaßend ausspiele. Auf jeder
Geistesblume sitze die Raupe der Schlechtigkeit. Die Luft
sei voll von Insekten: Wortpickem, Papierratten, Bücher-
skorpionen, verderbten Geistes ungestalten Söhnen. Die bar-
bierten Zensoren werfen auf jede Zeile ein reformierendes
Auge. Wenn einer schuldlos sei, werde er, eben weil
schuldlos, angeklagt. Auch Lovelace's y^Lucasta^ werde an-
^)Ghb€ Edition, p. 335.
« "JHctionafy of Naiional BioQraphy", t?ol. XXXTV, p, 168 ff.
— 10 —
gefeindet werden* Der eine, der sie liest, werde vielleicht
behaupten, es seien Parlamentsprivilegien dadurch verleUt
worden; ein anderer werde das Buch verbieten, weil Kent
durch den Autor seine erste Petition schickte u, s, w»,
Dennoch könne Lovelace sicher sein, denn die schöne:
Frauen werden ihm einmütig zu Hilfe kommen, wenn sie
hören, daß ihr Lovelace, der so wild gegen Feinde und so
«art gegen schöne Frauen sein kann, in Gefahr sei. Einer
der Frauen^ die im Eifer auch ihn, Marvell. für einen
bereit^ ■
a ll i Vi tu ~
"i
Gegner hält, ruft dieser zu: „Nein, auch ich bin
für ihn 2U sterben! Aber Lovelace steht so hoch, daß ihm
der Haß der Feinde nicht schadet und er auch der Hilfe
seiner Freunde nicht bedarf"
An sich ist dieses Gedicht ebenso unbedeutend wie
die meisten dieser niedrigen Gattung. Für uns ist diese»1
Gedicht sowie das vorhergehende Leichengedicht aber
deshalb wichtig, weil Grosart sie heranzieht, um "/1/if,
Strang rotjalism^* des folgenden Gedichtes auf den Tod des
Thomas May, sowie einiger Strophen in der "Horaiian Ode* 1
MarvelJs zu erklären imd darzutun^ daß unser Dichter, der]
doch in seinen Satiren später einen so heftigen Ton gegen]
das Königtum anschlägt, wenigstens um diese Zeit noc
ein getreuer Royalist war, ^)
Diese Behauptung ist vollkommen unbegründet. Es
soll daher im folgenden versucht werden, zu beweisen, daß
erstens die zwei letztbesprochenen Gedichte ohne jede Be-
weiskraft pro oder kontra, wirklich nichtssagend sind und
dann zweitens, daß das Gedicht auf Tom May nicht im
mindesten einen ^'strong royalisni'' zum Ausdruck bringt, der
bei Marvell überhaupt nicht zu finden ist und also in den
zwei ersteren Gedichten auch nicht quasi im Keim ent*
halten sein kann.
Nehmen wir das erste Gedicht, ^auf den Tod des Lord
Hastings"^, Selbst wenn man „cum studio ** an die Lektüre
geht, darin etwas finden zu wollen, wird es nicht gelingen.
Sind es vielleicht die Zeilen 19 bis 26, die „verdächtig"
sind ? Das ist ein ganz harmloses poetisches Bild, das
Marvell zu seinem lobevollen Gedicht eben gerade braue
^) Groaart, vol. I, p, XLI u. ö.
— 11 —
konnte, in Ermanglung eines besseren oder schlechteren,
ohne jede weitere Bedeutung:
"But 'tis a maxim of that State, (hat turne,
Lest he become like them^ taste more than one;
Therefore ihe democratic stars did rise,
And all that worth from hence did ostracize.'*
Der Ausdruck ''that State" kann kaum auf England
allein bezogen werden, sondern ist hier wohl gleichbedeutend
mit **the world", der Erdenstaat; es wäre auch unpoetisch,
ihn so eng zu fassen. Er tut einen allgemein gültigen Aus-
spruch : es ist immer so, wenn einer auf der Welt zu hoch
strebt, macht er sich mißliebig, weil der Neid erwacht.^)
Wollte man den Ausdruck wirklich konkret fassen,
so wäxe noch einzuwenden, daß der junge Lord sich ja
mit der Politik gar nicht beschäftigt hatte, von ihr nichts
zu leiden hatte, also er mit ihr oder besser diese mit
ihm auch nicht in Zusammenhang gebracht werden kann.
Demnach ist "all that worth" nicht allgemein und in politi-
schem Sinne zu fassen, sondern bestimmt und gleich-
bedeutend mit „Hastings". Das ''did rise" macht dabei
keine Schwierigkeiten; abgesehen davon, daß ja der Tod,
das Hinweggenommenwerden Hastings', etwas Vergangenes
ist (. . . did . . J, während der Neid, die Maxime der Welt,
immer besteht (. . . 'tis . . »), kommen ähnliche Gegenüber-
stellungen von Präsens und Präteritum wie hier "His" und
"did" ohne kontrastierende Absicht bei Marvell öfters
vor; 2) also ist diese nur scheiübare, berechtigte Auffälligkeit
für den Sinn in unserer Auffassung keineswegs hinderlich.
Ziehen wir femer die geschichtlichen Tatsachen heran,
so sehen wir, daß es nicht angeht zu sagen, daß sich da-
mals in England ein Zug geltend machte, der dem Ostra-
zismus gleichkäme. Karl I. war hingerichtet, aber nicht
verbannt worden; der große Fairfax war Lord; Cromwell,
*) Wie richtig meine Vermutung war, bewies mir ein glück-
licher Zufall nach Vollendung dieser Arbeit: Bei der Lektüre Heines,
der Marvell sicher nicht kannte, fand ich in dessen „Einleitung zur
Prachtausgahe des ,Do7i Quichotte^'' ganz denselben Gedanken, ja
sogar das Wort „Ostrazismus" wieder. — (Abschnitt 13: „Die Ge-
sellschaft ist eine Republik . . ." etc.) Möglicherweise liegt in beiden
Fällen ein klassischer Autor als gemeinsame Quelle zu Grunde.
-) Vgl. S. 187 dieser Arbeit.
12
der Mann au« dein Volke, war doch Lord-Protektor tmd
man bot ihm die Königskrone an; immer zeigte sich also
noch eine aristokratische Tendenz. Demokratie im strengen
Sinne ist al^o ebensowenig vorhanden gewesen als Ostra-
sdsmus.
Und nach all dem Detail: Betrachten wir das Gedioht
als Ganzes in seiner Gattimg. Es ist ein Gelegenheits-
gedicht, ob ein bezahltes oder nnbezaUtes, es finden sich
nicht die mindesten herzlichen Töne darin, nur schwtdstiges,
unnatürliches Lob. Ja, auch herzliche Töne hätten für
diese Frage mid jene Tage nichts zu bedeuten, wenn wir
uns S5um Beispiel an das weltberühmte „Ännchen vofi Tharau'
erinnern, jenes innige, ergreifende Lied himmelhochjauch-
zender Liebe, das so sehr Volkslied geworden ist, daß
viele den Namen Simon Dachs, des Dichters, gar nicht
kennen — , das doch nur ein Gelegenheitsgedicht für die
Hochzeit eines Bekannten war, das freilich ein echter
Dichter schrieb. Solche Gelegenheitsgedichte, wo der
Mantel immer nach dem Winde gedreht wird, dürfen uns
nie zu weitgehenden Schlüssen verleiten. So ist unser Schluß,
daß auch aus diesem Gedichte kein Schluß gezogen
werden kann.
Ahnliches gilt von dem Gedichte an Lovelace, das
gewiß persönliche, konkrete Anspielungen auf englische
Verhältnisse enthält. Aber auch hier zieht Grosart ohne
Not weitgehende Schlüsse. Marvell klagt zwar über die
Bürgerkriege, aber er sagt doch nicht, daß gerade die
Demokraten oder Republikaner daran schuld seien. Er
klagt über die „barbierten Zensoren", offenbar Geistliche,
und über ihre Rigorosität, die noch die der Presbyterianer
übertreffe. Das ist die uralte Zensurklage, die noch heute
nicht verstummt ist.
Ferner: beide Gedichte wurden gedruckt. Und
Marvell durfte doch nicht so schreiben, daß ihn die Zen*
soren, über die er ohnehin klagt, de facto inhibieren konnten.
Die Gedichte freUich, in denen er kräftig über die Re-
gierung loszieht, worden damals nicht gedruckt,
Marvell war Fanatiker nur für Wahrheit und Recht,
wo immer er sie fand. Er, der offen genug war, die Fehler
des Freundes ebensowenig zu übersehen, wie die
L3 —
Seiten des Feindes, wäre auch freimütig genug gewesen,
daJ3 er das Königtum offen mid direkt verteidigt hätte,
wenn das seine Überzeugung gewesen ware.
Ich wage zu hoflfen, daß meine Widerlegung der
Ansicht Grosarta Beweiskraft genug besitzt, um sogar noch
eine Stelle herbeiziehen zu können, die Grosart sonder-
barerweise entgangen sein maß» welche scheinbar sehr gut
für seinen Zweck gepaüt hätte, jene Stelle im ''Diahgue
between the two horses'*^) nämhch, wo es von dem hinge-
richteten König Karl heißt:
*' — at last on the $caffolä hc was left in the lurdt,
By knavts, mho cried up themselves for the churdi; — ''.
Auch nur ein scheinbarer Beweis für einen Roya-
lismns, in Wirklichkeit nichts anderes als die nmbefangene
Äußerung eines vorurteilsfreien Mannes, dessen Gerechtig-
keitssinn es empörte, zu denken, wie Karl L von denen,
für die er sich in die Bresche gestellt hatte, von
"arcftftühojjs and bishop», ard^äeacons amd detms"
dann im Stiche gelassen wurde ; Marvell spricht hier nicht
für Karl, sondern gegen die Geistlichkeit
Passend gegenüberstellen kann man dieser Offen-
herzigkeit eine andere Stelle aus demselben Gedicht, wo er
von Crom well sagt (Vv. 156/157) :
"/ fredtf dcdare it, I am for old Koll;
Tfwugh his ffovernment did a ttffant re$emble"
Also eine bewunderungswürdige Freimütigkeit nach
allen Seiten, die uns Marvell liebgewinnen läßt, ftir den
man seine eigenen Verse') zum Motto wählen kannte:
*'Truth*s OS hold a» a Uon; I am not afraid!**
All diese Ausführungen waren notwendig, aber sie
wären nicht notwendig gewesen, hätte nicht Grosart als
königstrener Engländer, offenbar in dem psychologisch be-
greifbaren Bestreben, Marv^ell, der ihm als Dichter Heb
war, auch als Politiker in den Schein eines, wenigstens
eine Zeit lang, ^ braven^ Bürgers zu setzen, in sein Leben
und seine Beurteilung einen Widerspruch hineingebracht,
der ursprüngUch nicht darin war.
1) Grosart, voll, p.361ff., VerslSTf. — Aitken, SaUrts, p,109.
^ "Dialogue beiw. the 2 Hor8es'\ V. 124
— 14 —
Nun können wir uns ktirzer fassen bei der Besprechung
des letzten Gedichtes dieser ^Vorschule'', das Qrosart also
gänzlich als einen AusfluÜ des Royalismus ansieht Es ist
die Satire **Tam Map's Death'^ zu deren Verständnis es
nötig ist, einige Worte über ihren Helden zu sagen. Thomas
May*) war der Sohn eines Adeligen in Susaex, 1696 geboren;
er studierte am Sidney College zu Cambridge, wo er seinen
"jB. A,*' machte. Er betätigte sich als lyrischer und drama-
tischer Dichter, lieferte eine Übersetzung des Lucan und
schrieb eine ,,History of the Long Parliameni of EnglancT^
dessen Sekretär er am Ende war. Er war zuerst ein eifriger
Anhänger des Königs und der Hofpartei; als aber seine
Hoffnung, der Nachfolger Ben Jonsons als Hofdichter
zu werden, getäuscht wurde und diese Würde auf Sir
William Davenant überging, fiel er ab und wurde ein
erbitterter Feind des Königs. Daher die Zusammenstellung
dieser drei Personen und der Vorwurf des Renegatentums
in Marvells Satire, dem May auch als Trinker und schlechter
Poet verhaBt war. May starb am 13. November 1660 und
aus Anlaß seines Todes schrieb Marvell seine Satire.
Die Einkleidung dieses in l^eroic coupkis geschrie-
benen Gedichtes ist die eines Totengespräches, jene
aus der klassischen Poesie stamm eüde, im Mittelalter und
noch im 17. Jahrhundert bei allen Völkern sehr beliebte
Form, die wir auch bei Marvell nochmals finden (in ''Tlie
Loyal Scoi*y
Der Inhalt nun ist: Tom May, der so unversehens
ins Jenseits gelangt war, als ob man ihn trunken dorthin
transportiert hätte, schaute beim Betreten des El3^siums
suchend herum nach den ihm sonst als Wegweiser dienenden
Wirtshauaschildern, Endlich glaubt er einen guten Bekannten,
einen dicken Wirt, zu sehen und geht auf ihn zu. Es war
aber Ben Jonson, der im Kreis der alten Poeten, unter
Lorbeer sitzend, von Helden und alten Geschichten sang
und von dem doppelköpfigen Geier, der Brutus und Cassius
frißt, die Volksbetrüger. Sobald er aber May herankommen
flieht, ändert er seinen Sang und parodiert den Anfang
%ns Mays Lucan-Übersetznng *^Pfiarsatm\ Inzwischen war
4
4
A) LHcttonari/ of NaL Biogr,, vol XXXVTI, p. UM,
15
^
^
Tom May „zu sich selbst und äu ihnen gekommen'^ — sehr
gut! — und wollte im Kreise Platz nehmen. Ben aber,
empört ob der Anmaßung^ erhob sich und trieb mit seiner
Lorbeerrute, der selbst Virgil und Horaz gehorchen^ den
Eindringling scheltend hinweg* Er nennt ihn einen schlechten
Poeten und einen schlechten öeschichtsschreiber, er wirft
ihm ftuch seine Käuflichkeit vor Er tadelt, daß May die
alte römische Republik als Muster für England hingestellt
habe^ obwohl für Rom tmd England nicht dasselbe Maß
passe; denn nicht Unwissenheit verführe ihn, sondern be-
wußte Bosheit. Weil ein Würdigerer als er, Davenant^
den Lorbeer trage, darum sein Zorn, in den er die anderen
mit hinein verwickeln wolle. Nicht solche Parteinahme sei
die Aufgabe der Dichtung, sondern wenn Gewalt freie
Richter einschüchtert und feige Priester, dann sei es Zeit
für den Poeten, blank zu ziehen und als Einzelner für die
aufgegebene Sache der Tugend zu kämpfen. Und wenn das
Bad des Reiches zmückwii*belt und die verrenkte Achse der
Welt kracht, dann singe er von altem Recht und besseren
Zeiten, suche das bedrückte Gute tmd klage erfolgreiches
Verbrechen an. May aber habe als erster den fleckenlosen
Stand des Dichter« beschmutzt, sieh losgelöst von der
heiligen Kunst, um sich aus einem Zeitungsschreiber zum
Spartakus zu machen. Das gerechte Schicksal habe ihn
jedoch dahingerafft, bevor er den Tod des großen Karl
berichten konnte; und — was seinen niedrigen Geist noch
tiefer kränkte — er mußte Davenant, seinen Rivalen^ lebend
zurücklassen. Zwar habe man May, als den Sekretär des
Parlamentes, mit allem Pomp zu Westminster begraben;
hier aber könne er keine Ruhe finden, da der große Spenser
dort liegt und der verehrte Chaucer, dei'en Staub sich
gegen ihn erheben werde. Und auch hier im Elysium dürfe
sein Geist nicht länger weilen; er weist ihn fort in den Hades,
wo Cerberus und Megära nach ihm schnappen werden.
Das ist der Inhalt des Gedichtes, den Grosart als
"Blronff roi/alism** bezeichnet. Die springenden Punkte sind:
1* daß Marvell Brutus und Caaeius VolksbetrUger nennt,
2. daß er sagt, das Muster der römischen Republik
passe nicht für England,
3. daß er den König Karl I. "great Clmrles*' nennt,
4. daB er einen Antiroyalisten wie Maj' überhaupt und
noch dazu durch den Mund des höfischen Ben Jonson augreifk.
Nehmen wir die Punkte einzeln her:
Ad 1> Brutus und Cassius, wenn man sie überhaupt
in einem Atem nennen darf bei ihrer notorischen Ungleich-
heit, sind insofern vielleicht betrogene Volksbetrüger, als
sie das Volk zu einer Tat hinrissen, die den erhofllen und
versprochenen Erfolg nicht hatte; sie stürzten das Volk
in den Bürgerkrieg und konnten den endlichen Imperia-
lismus doch nicht aufhalten. Diese Auffassung von der —
milde gesprochen — Unzweckmäßigkeit des Beginnens der
beiden ist mit einer republikanischen oder antiroyalistischen
oder demokratischen Gesinnung um so eher vereinbar, als
das Volk es war, das dadurch zu Schaden kam, und nicht
die Autokratie; solche „heroische Verbrecher", wie sie
Schiller nennt, spielen immer ein gefährliches Spiel:
gelingt der Wurf, so sind sie Volksbeglücker, mißlingt er,
sind sie Volksbetrüger. Und wer kann verbürgen, daiJ der
scharfe Ausdruck „Volksbetrüger" nicht durch den Keim
veranlaüt worden ist?
Ad 2. Ohne Erörterungen des Verfassungsrechtes: daß
England nicht nach dem Muster der römischen Republik
eingerichtet werden kann, ist eine erlaubte Privatansicht
Marvells, die wohl viele teilten und teüen und deren
Richtigkeit bis heute durch Tatsachen wenigstens noch nicht
widerlegt wurde. DaU aber Marvell gegen Republiken
überhaupt war, ist mit seinen Worten doch nicht ge-
sagt, denn zum Beispiel den vereinigten Generalstaaten der
Niederlande und der venezianischen Republik zollt er an
anderen Orten Anerkennung genug.
Ad 3, *'Gr€ar Charles ist einfach*) ein stehendes Bei-
wort ohne prägnante Bedeutung, hier aber außerdem in
Gegensatz zu ^'little mind*' in der nächsten Zeile gesetzt;
noch in einer viel späteren Zeit, wo über Marvells Anti-
royalismus kein Zweifel mehr bestehen kann, spricht er,
wieder ohne Prägnanz in das Wort zu legen, von "(Äe
'roffaV race of Stuarts".^}
*) Trotzdem auch Aitken, Poents^ p, XXV^ Wichtigkeit in den
Ausdruck legt.
'^) '*A historical poem*\ Y, 55. Er bezeichnet hier bloß den Stand
damit, keine Erhabenheit.
^^
— 17 —
Äd 4. Um diesen Punkt zu erklären^ ist es nötige sich
das Bild Marvells vor Augen zu halten, das fi'eilicli hier
nicht vollständig entwickelt werden kann: ihm, dem hooh-
gesinnten Manu, den ein Karl IL nieht bestechen konnte,
obwohl er es versuchte, der nie mit den Wölfen heulte,
konnte ein Mensch wie May, ein Renegat, nicht sympathisch
sein, auch wenn es zufällig seine Partei war, zu der jener
übergegangen war. May wollte um seiner persönlichen
Sache willen, daß
*'<iU Oh World he sei on fiame" (V. 59).
Marvell wollte Recht und Ordnung für alle. Er war gewiß
nicht als blutroter Republikaner zur Welt gekommen; allein
schon in den Universitätsgedichten, die noch Grosart *' loyal"
nennt, spricht er von — imd bittet um — Reformierung
der Zustände. Wo man alles fiir gut findet, bedarf es keiner
Abhilfe, Auch sein Freund Mil ton ist von einem anfangs
milden zu einem immer radikaleren Standpunkt vorge-
schritten. Ein Royaliat war Marvell also nie. Und er hatte
nach der Restauration noch so schön Gelegenheit gehabt,
einer zu werden ; die Anekdote von seiner Refiisierung
einer durch den Lord- Schatzmeister Danby persönlich über-
brachten carie-blanche des Königs wird in allen Biographien
erzählt.
Daß die Verdammung Mays gerade Ben Jonson
in den Mund gelegt wird, scheint den tatsächlichen Um-
ständen ganz zu widersprechen. Aber bei näherer Be-
trachtong stellt sich dieser Umstand als ein beabsichtigtes
Mittel zur Verstärkung der Wirkung dar: Ben Jonson und
Tom May waren sehr gute Freunde; Jonson nennt ihn
einmal einen '^inUrpreter *twixt gods and men" und schrieb
ein Begleitgedicht für Mays Lucan- Übersetzung (1627)
und zu der zweiten Ausgabe der Fortsetzung des Lucanus,
die May unter dem Titel *'Suppianen(um Lucani auihore
Tho* Mayy AngU*' verölientlichte, schrieb Ben Jonson
**Difjnissimo Viro Thomae Mayo — amico suo summe hmio-
rando" ein Vorwort, *) Umgekehrt schrieb May Lobgedichte
auf Ben Jonson: *'An Ekgif upmi Benjamin Jonsofi*\ den
^Künig der englischen Poesie", wie er ihn nennt*) Als
1) Ben Jonson» PoHical Workt, ed, Ounmngham, PolIU^ p.S9i.
V A, a, 0, p. 60i,
Pose her, MAivellB poet. Werke. S
Ben Jenson starb, war May noch fester Boyalist; erst als
seine Hoffnung, Bens Nachfolger zu werden, scheiterte,
wurde er Renegat,
Daher klingt es viel stärker, wenn es sein einstiger
Freund im Leben ist, der von dem Überläufer nichts wissen
will und über ihn das Urteil spricht. Zugleich aber ist es
wieder ein Beweis für Marvells Vorurteilslosigkeit, wenn
er den Haupbvertreter der elisabethinischen Hofdichtimg
so hoch stellt und ihm zugleich seine eigene Theorie und
seine hohe Auffassung von der Dichtkunst in den Mund legt.
Da Birrell und teilweise auch Aitken den Ausspruch
Grosarts von Marvells RoyaUsmua nachsprechen, so soll
kurz an einigen Punkten auch die Haltlosigkeit ihrer
Argumentation gezeigt werden.
Wenn Mar v eil wirklich ein so getreuer Hoyalist ge-
wesen wäre, wie seine Kritiker heute leicht sein können
und wie auch er es heute wohl wäre, dann hätte ihn doch
Thomas Baker, der ihm der Zeit nach viel näher stand
als wir heutzutage, nicht ^the bitter Republican'^ genannt,
wie Birrell selber zitiert (p. 24), Auch hätte der royaUstisohe
Dryden kaum Marvells Namen in tadelndem Sinne als
identisch mit Pamphletist gebraucht (ebd.)* Und Birrell
selber hilft öich über die doch auch ihm nicht sehr loyal
and ropal vorkommenden Satiren ndt einem gefährlichen
Saltomortale hinweg: **There are some keated ej^pressions m
Ihe satires, which prohahly gavc nse to the belief that M, was
a Bej/ublican" (ebd, und ähnlich p. 219). Und warum hat
der royalistisehe Kektor der St.-Giles-Kirohe nicht erlaubt,
ihm ein Grabdenkmal aufzustellen?^) Und warum nennt
sein Gegner Parker ihn mit Verachtung "/Ae servani of
Cromwell and ihe frimd of Miltoti'?*) — Nun dürften der
Beweise genug sein.
Rätselhaft erscheinen im ersten Augenblick die
Zeilen 75 und 76:
^*Yet wtt$t thüu taken hence with equal fate,
Before thou couldst ijrcat CHarUs^s death rclaie*^;
nachdem doch Karl I. Anfang 1649 hingerichtet wurde,
[»während May erst Ende 1660 starb. Die Erklärung ist, daß
Vi Aitkeü, Poems, p, XLVIU,
') A 1 1 k e n, Poems, p. LIT.
— 19 -
May in seiner ^'History of the Long ParliamenV\ soweit sie
erschienen ist, nicht bis zum Jahre 1649 kam, da ihm das
"equalfate"^ das heißt der Tod, sein Werk nicht vollenden ließ.
Damit ist die Betrachtimg der dichterischen Vorschule
Marvells beendet, in "Üer seine Art noch nicht ausgeprägt,
sondern in manchen Keimen erst angedeutet ist. Der Gattung
nach sind es lauter Gelegenheits*gedichte, nämlich
Gedichte, die aus oder zu einem bestimmten äußeren An-
laß geschrieben wurden, nur interessant für des Dichters
Weiterentwicklung und Charakter, poetisch aber wenig
wertvoll. Da die meisten davon aber gedruckt wurden,
sind es mehr als dichterische Exerzizien, wie man es von
einer Vorschule leicht annehmen könnte.
Fahren wir nun fort in der Betrachtung von Marvells
äußerer imd innerer Entwicklung.
Wir stehen also beim Jahre 1660. In dieses Jahr
fällt ein für Marvells ganzes Leben wichtiges Ereignis: er
kam als Sprachlehrer der zwölfjährigen Mary in das Haus
des ersten Generals Lord Fairfax^) — der sich damals
auf seine Besitzung Nun- Appleton -House in Yorkshire
zurückgezogen hatte — und damit in Berührung mit den
Häuptern des Commonwealth. Die hier verlebte kurze
Zeit war offenbar die glücklichste seines Lebens. Bio-
graphisch ist für diese drei Jahre des Landaufenthaltes
unseres Dichters nur wenig zu sagen ; es waren stille Jahre
mit wenig äußeren Erlebnissen, aber ganz der Dichtung
geweiht. Die Liebe zog ein in sein Herz; hier lernte er
"to read in Natureis mystic book". *) Ganz dem entsprechend
sind die Gedichte dieser seiner, von
1660—1652
reichenden
Ersten Periode.*)
(Eenaissance-Gedichte.)
Es sind meist lyrische Gedichte, Renaissance-
Dichtung nach der Mode der Zeit; die von dem dortigen
1) Nebenbei bemerkt, wohl aach ein gewichtiges Zeugnis für
den Irrtum Grosarts: Ein Fairfax, der Führer des Parlaments-
heeres, hätte sich wohl keinen „Boyalisten^ ins Haus genommen.
«) "Appleton^Hause'* V. 684.
^ Hier ein Wort über meine Gruppierung der Gedichte im
2*
— 20 —
Lokale angeregten atmen Glück und Zuftiedenheit,
alle haben die Liebe zur Natur gemeiDsam; ihr Lilialt h
im großen und ganzen durch die zwei Worte des Dichters
gegeben, der die ganze Eenaissance- Dichtung und Marvell
mehr als zeitgenössische Dichter beeinäuüt hat: Horazens h
f,Beaii4S ille qui procul negotüs" und das ^Carpe thtm!'' |
Gedichte, welche diesen Grundsätzen zu widersprechen
scheinen, sind bloß Verirrungen der Modelaune,
Die Reihenfolge der einzelnen Gedichte inner-
halb dieser drei Jahre festzustellen^ ist nicht möglich; wir
können aber dem Inhalt und der Form nach immer mehrere
in Gruppen zusammenfassen, die wohl in der folgenden
Weise anzuordnen sind.
Voran, aber keineswegs dem dichterischen Werte
nach, stellen wir zwei^ respektive drei, landschaftliche
oder naturbeschreibende Gedichte, Lobgedichte
auf Lord Fair fax, die an das Lokale von Nun-Appleton
in Yorkshire anknüpfen.
Wir sehen wieder das allmähliche Fortschreiten Mar-
vells von der lateinischen zur englischen Dichtung, denn
das erste und das zweite dieser Gedichte sind inhaltlich
eigentlich verwandt, wenn auch nicht gleich, das eine in
englischer Sprache ist nur eine Erweiterung des andern
in lateinischer Sprache ; einige Zeilen kommen direkt einer fl
Übersetzung gleich. Das lateinische Vorlagegedicht führt
den Titel: „Epigramma in duos motUes, Amosclivium et Bil-
bormm** — Farfacio, wobei das Wort ^^Epigranmia^' in dem
weiteren Sinne des 17, Jahrhunderts gefaßt ist. Der Dichter
kontrastiert den Charakter der beiden genannten Berge;
der eine wild und steil, der andere grün und sanft ansteigend ;
die Natur jedoch vereinigt beide unter einem Herrn, dem
I
Vergleich zu anderen: Die Ausgabe Aitkens spricht von '^PoemM"
und ^'Saures**; das ist^ streng genommen, zu verwerten, weil die
(Vers-)Satiren auch Gedichte sind, während dies© Einteilung leicht
die entgegengesetzte Meinung hervorrufen konnte. — Grosart hin-
gegen teilt in so viele Gruppen — sieben — , daB die Grenzen sich
wieder verwischen und man Gedichte der einen Gruppe ebensogut
in eine andere einreihen konnte. — Ich habe die Gedichte dagegen
gattungsweise, chronologisch in die sich von selbst ergeben-
den charakteristischen Abschnitte oder Periode» seines Lebens ein-
gereiht.
— 21
»
^
to
großen Lord Fairfax, zu dessen Besitz sie gehören. Er
beschreibt dann die Fernsicht und schließt mit einer
galanten Anspielung auf Maria Fairfax. Für heutige Be-
griffe ist es allerdings sonderbar^ daß der neunun dz wanzig-
jährige Lehrer seine zwölQährige Schülerin besingt, — was
eigentlich noch mehr von den folgenden (jredichten gilt,
weil speziell in diesem Gedichte die Erwähnung nur flüchtig
ist; in jener Zeit jedoch ist das nichts Ungewöhnliches;
dieses Gedicht unterscheidet sich von der eigentlichen
Gelegenheitadichtung ja nur durch den fehlenden materiellen
Zweck. Überdies kann man hier in diesen Fällen noch die
Fraueuverehning gelten lassen, während ja Marvell in einem
andern Falle zum Beispiel einen zwanzigjährigen jungen
Adeligen besungen hat, der nicht einmal den a priori- An-
spruch der holden Weiblichkeit aufzuweisen hat.
Die englische Erweiterung dieses Gedichtes heiÜt
^"Upon the Hill and Grove ai Billborow'\ Nachdem in diesem
sowie im folgenden, in viertaktigen jambischen Reimpaaren
geschriebenen Gedichte der Zurückziehung des Lord Fair-
fax vom Militärdienste gedacht wird, die im Jahre 1650
erfolgte, weil er nicht gegen Schottland kämpfen wollte,
sind diese Gedichte wahrscheinlich in der zweiten Hälfte
16B0 oder Anfang 1661 entstanden, Marvell rühmt wieder
die sanfte Schönheit des Hügels von Bülborow mit seinem
bauragekrönten Gipfel, wo man die Waffen des großen
Meisters Fairfax rasseln hört. Eine linde Brise flüstert mit
den Bäumen und sie sprechen von den Taten des Helden,
die Famas Wangen schwellen machten, dem früher andere
Haine und Berge gefielen, nämlich Haine von Lanzen and
Berge von Leichen. „Wahr sprecht ihr**, ruft ihnen der
Dichter zu, ^aber genug! Er flieht ja sein Lob, gerade
deshalb zieht er sich von den Prunkfesten in euren Schatten
zurück; er liebt die Höhe nicht, wenn sie nicht zagleich
Zuriickgezogenheit bietet.**
Das Gedicht hat den Vorzug einer nicht übermäßigen
Länge vor dem nächsten voraus. Wir dürfen wohl annehmeUj
daß es wirkliche Bewunderung ist, die aus ihm spricht; Mar-
vell hatte ja Gelegenheit, mit dem ^großen^ Fairfax täglich zu
verkehren. Man merkt, daß das Gedicht überarbeitet und
gefeilt ist; er macht vielleicht sogar den onomatopoetischen
Versuch, die wuchtige Unregelmäßigkeit der Berge durcli
den Vers auszudrücken:
" Which dö, with yöur höok-ihf^uldertd height,
The earih deform, ^ — " (Vir. 11/12).
Sogar in diesem Gedichte, das doch so wenig Anlaß
bietet, flihrt er Pairfax* Gattin als ,, Nymphe^ Vere ein,
also im Benaisäancekostam. Bemerkenswert ist seine gewiß
ernst gemeinte Behauptung von den Bäumen:
j
**— ihey, 'tw crtdibUf have sense^
Aß we, of love and rtver^nce/' (Vv. 49/50)
d
I
also eine Art Naturglaube, den wir^ f&r Marvell charakte-
ristisch, wiederholt finden werden*
Von einer ermüdenden Länge, die nur durch wenige
schöne Stellen, die wie Oasen erfrischen, unterbrochen wird,
ist das letzte Fairfax gewidmete Gedicht: ''Appleton-Home'\mm
dessen Beginn an Ben Jonsons "Petishtirsf' erinnert, ^fl
Wie alle diese landschaftlichen Gedichte jener Zeit — auch
im Deutschen bei Opitz — haben wir hier Verbindung
von Lokal Schilderung mit Lobpreisung eines edlen
Geschlechtes verbunden, dessen Geschichte ab ovo bis auf
den momentanen Träger des Namens gegeben wird, der .
natürlich immer der Beste und Größte ist. Der Gedanken-
gang dieses Gedichtes bewegt sich ununterbrochen in
Parallelen, respektive Antithesen. Der Inhalt dieser acht^dy
hundert Zeilen kann nur andeutungsweise gegeben werden. ^M
Er beginnt mit dem alten horrorvacui: kein Geschöpf liebt
den leeren Raum, alle Tiere haben der Größe entsprechende
Wohnungen, nur der Mensch braucht lebend mehr Platz
als tot und baut sich riesige Paläste* Hier in Appleton-
House ist es anders: ein kleines Haus, das große Menschen
bewohnen, Fairlax und Vere. Rundum ist es von einer
reichen Natur, von Gärten, Wiesen, Feldern, Wäldern um-
geben. Und nun die sonderbare Anknüpfung: „Während
wir mit langsamen Blicken diese (Umgebung) betrachten
und bei jedem Schritte stehen bleiben, können wir bequem
den Gang der Schicksale dieses Hauses erzählen.^ Das
geschieht auch sehr ausführlich. Zuerst war es ein Kloster,
in dessen Nahe eine blühende Jungfrau wohnte^ eine reiche
Erbin, auf deren Schätze die Äbtissin lüstern war. Li einer
- 23 —
I
hundertdreißig Zeilen langen Rede schildert diese ihr die
Freuden und Vorteile des Kliosterlebens, derentwegen sie
ihren irdischen Bräutigam, den jungen William Fairfax
aufgeben soU. Halb mit List, halb mit Gewalt hält sie das
Mädchen dann im Kloster zurück. Der junge verlassene
Held gibt seinem Groll in einem zwei Dutzend Zeilen langen
Monolog Ausdruck, in dem er natürlich auf die Nonnen,
diese ^'hjpocrite ivitches'\ nicht viel Schmeichelhaftes sagt.
Er verschafft sich einen behördlichen Freilassungsbefehl
für seine Braut und als derselbe im Kloster keine Wirkung
tut, greift er zur Gewalt und stürmt das Gebäude. Hier
bricht der Satiriker in Marvell durch, es beginnt eine fast
Chaucerische humorvolle Schilderung: einige Nonnen
halten dem Eindringling ihre hölzernen Heiligen entgegen^
die anderen suchen ihn wie einen höllischen Geist mit dem
Weihwasserwedel zu verscheuchenj aber trotzdem dringt
der liebende, zornige Jüngling zu seinem Bräutchen vor:
nicht einmal die zur Schau gestellten Reliquien halten ihn
auf, an denen nichts echt war als die Juwelen. Zur Strafe
für den Widerstand gegen den behördlichen Befehl ^\nirde
das Kloster aufgehoben und das Haus dem nun mit seiner
Braut vereinigten WilUam Fairfax zugesprochen. Deren
Sohn aber ist der „groÜe" Lord Paifax, der weltberühmte
Held, der sich nach seinen kriegerischen Erfolgen wieder
hieher zurückzog und aus militärischer Liebhaberei rundum
fünf Gärten in Form eines Forts anlegte.
Nun folgt eine für Marvell charakteristische ausfuhr-
liche Beschreibung einer Garten szene, die neben allerlei
Sonderbarkeiten wirklich poetische Schönheiten enthalt und
deshalb ausführlicher wiedergegeben werden soll:
Wenn im Osten der Morgenstrahl die Farben des Tages
auehäugt, summt die Biene durch die Alleen und schlägt
Reveiile. Dann schlagen all die Blumen ihre schläfrigen
Lider auf und entfalten ihre seidenen Wappenbanner und
füUen sich mit neuen Ladungen von Duft. Und wenn ihr
Herr vorübergeht oder ihre Herrin — Fairfax' Gattin — ,
dann geben sie duftende Salven ab. Wie zur Parade sind
die Blumen in ihren besten Farben aufgestellt, in schöner
Ordnung, Tulpen, Nelken, Hosen in Reih und Glied. Wenn
aber der wachsame Posten am Himmel um den Pol herum-
geht, falten sie ilire Blätter an den Stamm, wie die Fahnen
an den Schaft gerollt werden. Und die Bienen schlafen
als Schildwachen unter Waffen, in Blomenkelchen einge-
schlossen.
Nach einer zeitgemäUen Reflexion des Dichters, dafi
das schöne England jetzt leider andere Heere sieht als
Blumenarmeen, wird die Naturbetrachtung fortgesetzt und
er beschreibt den Ausblick, den er von den anderen Seiten
des Walles genießt, die ungeheuren Wiesen, in deren
lau gern Grase die Menschen sich wie unter Wasser fort-
bewegen. Die Szenen wechseln öfters als im Theater.
Denn es kommen die Schnitter und ziehen diurch die
Wiesenflut wie die Juden durchs rote Meer, Er vergleicht
die Mäher auch mit Soldaten, das Gemähte sind die
Toten und
**the women (hat icith forks it fling
Da reprcscnt the pillaging*-; —
eine sehr unbeholfen klingende Stelle, die aber natürlich
ganz ernst zu nehmen ist. Und dann tanzen die ^ Sieger'^
noch auf dem „Schlachtfelde" und der gesunde Schweiß
der Mäher duftet wie Alexanders Schweiß (!) und wenn
Bie sich am Ende des Tanzes küasen, so ist das frische
Heu auch nicht süßer als ihr Kufl(!!) — eine starke Ge-
schmacklosigkeit. Aber MarveJl vergleicht eben mn jeden
Preis. Auch das ist ziemlich skurril, wenn die Heuhaufen
mit den Pyramiden von Memphis oder mit römischen
tumulis verglichen werden. Die gemähte Fläche schildert
er als so glatt wie den Boden der Arena zu Madrid vor
Beginn des Stierkampfes — eine Erinnerung an Spanien«
Nach mehreren ähnlichen Vergleichen wendet er sich
dem Walde zu, der so dicht zu sein scheint, als ob die
Nacht darin verschlossen wäre; im Inneren aber zeigen sich
Gänge von korinthischen Säulen, die Nachtigall singt und
die höchsten Eichen neigen sich herab, um ihrem Liede zu
lauschen. Er schildert sein glückliches Leben unter den
Bäumen und Tieren des Waldes» der ihm als ein wunder-
bares Mosaik erscheint „Dreimal glücklich,** ruft er aus,
„wer gelernt hat, in der Natur geheimnisvollem Buche zu
lesen,'* Nachdem er auf schwellendem Moose ausgeruht
hat> geht er durch die WaldstraUe, wo die Bäume wie
4
— 26 —
eine Leibwache vor ihrem Herrn zu jeder Seite zurück-
zutreten scheinen.
Dann gibt er sich dem Vergnügen des Angelns hin,
verbirgt aber rasch seine Geräte, als Maria daherkommt,
weil er sich schämen würde, von ihr bei einer so nichtigen
Beschäftigung gesehen zu werden. Sie ist jetzt der Gegen-
stand seines Gesanges. Alle Dinge scheinen sie zu be-
grüßen, selbst die Sonne scheint sorgsamer hinabzusteigen
und weil sie sich schämt, daß Maria sie zu Bette gehen
sieht, verbirgt sie ihr Haupt in glühenden Wolken. Die
Dämmerung bricht herein, alle Wesen hat eine Andacht
ergriffen, schweigend schauen die Menschen den saphir-
beflügelten Nebel. Die Urheberin all dieser Schönheit aber
ist eben Maria, denn alle Dinge streben ihr zu gefallen
und ihre Schönheit zu erreichen; aber nichts ist so rein,
so stolz, so süß, so schön wie sie; nicht Flüsse, Wälder,
Wiesen, Gärten. Selbst die elysischen Gefilde müssen
zurückstehen hinter einer Gegend, die Maria verschönt.
Das ungefähr ist der Faden dieser umfangreichen
Dichtung. "Appleton-Hotise" gehört zur Gattung der natur-
beschreibenden Gedichte wie die zwei vorhergehenden.
Marvell hat hier allerdings soviel als möglich die Be-
schreibung durch Erzählung von Vorgängen umgangen:
im ganzen aber ist es doch ;,malende Poesie", was
äußerlich schon dadurch deutlich wird, daß er öfters von
*'scenes", das heißt Tableaux, spricht, die wie in einem
Panorama aufeinanderfolgen. Er geht quasi durch die Be-
sitzung des Lord Fairfax hindurch und macht Moment-
aufnahmen, zu denen er einen verbindenden Text schreibt.
Dieser Text besteht aus Vergleichen und Bildern, zu denen
er die ganze Welt plündert; Rom, Griechenland, Ägypten,
Spanien — der Nil, das rote Meer — die Juden und das
englische Parlament — die Pyramiden und die tumuli —
Noah, Lilly, Davenant — Geschichte, Geographie, Astro-
logie, Mathematik, Zoologie — alles muß herhalten, ihm
Stoff für seine Gleichnisse zu liefern. Es ist mehr Gelehr-
samkeit oder Bildung als Poesie in diesem Gedichte;
freilich weiß man dann die wenigen hochpoetischen Stellen
um so höher zu schätzen. Diese sind lauter Naturbilder : die
wunderschöne Schilderung des Morgenanbruches (Vv.289/300):
- 26 —
"When in (he east the moming ray
Hangs out the colours of the day,
Then flotcers their drowsy eyelids raise,
Their silken ensigns each displays" u. s. w.
Die Schilderung des Waldeszaubers ist ebenso schön wie
die Schilderung des Sonnenuntergangs (Vv. GölffO-
'T/t^ sun
Seema to dcscend tcith greater care
And, lest sfte (Mary) see htm go to htd,
In hluMng clouds conceals his head."
Staunen muß man über manche Ausdrücke, die uns ganz
modern anmuten, wie der Vergleich mit Seide oder **(he
sapphire-tvinged misf* (V. 680). Interessant fiir uns Deutsche
ist auch die Stelle (V. 619/620):
•' — Uke a guard ofi either side
The trees before their Lord dicide"
die uns unwillkürlich an die wunderbare Komposition
Abts „Waldandacht" erinnert.^)
Es tut einem förmlich leid, den Mann, der solch
poetischen Ausdrucks fähig ist, gleich darauf wieder gans
im Fahrwasser seiner Zeit zu sehen und Vergleiche zu
finden, die besser in ein Scheffelsches feucht-wissenschaft-
liches Lied passen würden, wie den erwähnten, wo die
Süßigkeit eines Kusses mit nichts anderem als mit — Heu
verglichen wird. Es wäre femer ein Rätsel, das selbst ein
Ödipus kaum lösen könnte, wenn man fragen wollte : „Was
sind ,die mit Wind geladenen Kanonen der Liehe*"? Antwort
nach Marvell: „Die Seufzer'' (Z. 716).
Wir lachen heute über derartiges, aber freilich im
17. Jahrhundert galt das als fein imd geistreich ; das war
der ungünstige Einfluß der Italiener und ihrer cancetti, der
Marinismus. Und der ist eben nicht MarveU vorzuwerfeüi
sondern auf das Konto der Mode jener Zeit zu setzen.
\> f.DauD gehet leise, nach seiner Weise.
Der liobe Herrgott durch den Wald.
Die Bäume denken: Nun laßt uns senken
Vorm lieben Herrgott das Gezweig/
— 27 —
Wie in dem griechischen Gedicht an den König,
finden wir auch in diesem Gedichte die Spielerei mit der
Zahl fünf, und zwar ist hier der Ausgangspunkt von den
fiinf Sinnen ganz deutlich.
Eine Stelle (V. 456), an der Davenant erwähnt
wird, ist ohne Kommentar nicht zu enträtseln; Grosart
hat sie zuerst (I, 49) falsch gedeutet und erst durch die
Angaben eines Dr. Brinsley Nicholson (vgl. Grosart,
vol. II, p, XLIII) richtig erklären können, als wirklich auf
William Davenant bezüglich, mit Anspielung auf eine in
dessen Werken vorkommende Stelle.
Inhaltlich mit den besprochenen Gedichten am nächsten
verwandt sind zwei Paare von Gedichten, die auch an
einen Garten anknüpfen und ungefähr um dieselbe Zeit,
nämlich 1650/51 entstanden sein werden.
Es sind lateinische Gedichte Marvells und dessen
eigene, sehr freie Übersetzung, respektive Bearbeitung.
Des ersten Paares : „Hortiis" — in lateinischen Hexametern
— und "The Garden*' — in neun achtzeiligen Strophen aus
viertaktigen, paarweise reimenden jambischen Verszeilen
geschrieben — gemeinsamer Inhalt ist das Lob der „ahna
quies" ("fair Quiet") und ihrer Zwillingsschwester „sim-
plicitas'^ ("Innocence"), die der Dichter hier zu Nun- Appleton
gefunden, nachdem er sie in der Gesellschaft der Menschen
umsonst gesucht hat, zwei Himmelsblumen, die eben selbst
wieder nur unter Blumen, also in der freien Natur ge-
deihen. Der Inhalt in beiden Gedichten ist derselbe, nur
sind die Zeilen nicht immer in derselben Reihenfolge tiber-
setzt; auch fehlen im lateinischen Gedicht die Zeilen,
welche den bemerkenswerten Ausspruch enthalten: „Zwei
Paradiese sind's in einem, im Paradies allein zu leben^
(V. 63/64). Viele Menschen mühen sich ab, die Palme, den
Lorbeer, die Eiche zu erringen« Ein einzelnes Beis krönt
höchstens ihre Arbeit, während alle Blumen und Bäume
sich vereinen, die Kränze der Erholung zu flechten. Diese
weitgehende Vorliebe Marvells fUr die Einsamkeit ist ein
Charakteristikum dieser Periode und dadurch erklärbar,
daß er jetzt, nach den aufregenden häßlichen Vorgängen
in der Stadt bei den „geschäftigen Menschen^ die sim-
plicitas und die alma quies um so wohltuender empfand
— 28 ^
und sich glücklich fohlte im Zusammensein mit der un-
verdorbenen Natur, ''far off the public $tage*\ wie er sich
in einem gleichzeitigen Gedichtchen ausdrückt Den Schluß
des Gedichtes '*The Gardm'\ ''verses, — — — ßdl of a
witty delicacy'', zitiert Leigh Hunt in dem Essay "Old
Bencher's of the Inner Temple'\^) und er gibt Marvell den
Beinamen 'Hhe garden-loving pocV*,^)
Die englische Übersetzung von „RffS*', betitelt **Ä
Ihop ofl)ew*\ hat eine so eigenartige, künstliche meti^iache
Form,^) daß wir wohl eine spätere Entstehungszeit des
englischen Gedichtes annehmen müssen. Der Inhalt ist eine
Parallele zwischen dem Tautropfen und der menschlichen
Seele: Aus dem Busen des Morgens vergossen, fließt der
lichte Tau in die blühenden Rosen; aber unbekümmert
um seine neue, schöne Wohnung — da er noch der lichten
Begion gedenkt^ wo er geboren worden — schließt er sich
in sich selbst ein und faßt in der Ausdehnung seiner kleinen
Kugel sein heimatliches Element ein. Er schätzt die
purpurne Blume gering und berührt sie kaum, wo er auf-
liegt; sondern zu den Himmeln emporblickend, glänzt er
als seine eigene Träne, weil er so lange von seiner Sphäre
getrennt ist. Rastlos rollt er und unsicher, zitternd, daß
er nicht unrein werde; bis die warme Sonne sich seiner
Qual erbarmt und, ihn verdunstend, ihn wieder zu den
Himmeln zurückhaucht. — Ebenso verachtet die Seele,
dieser Tropfen in der Menschenblume, in Erinnerung ihrer
früheren Höhe die süßen Blätter des irdischen Lebens, sie
dreht sich wie der Tautropfen immer weg, die Welt rings-
um ausschließend, hier auf Erden verachtend, dort im
Himmel liebend; leicht und gern geht sie von hinnen;
indem sie sich unten nur immer auf einem Punkte bewegt,
strebt sie doch immer hinauf. — So destillierte auch der
heilige Tau, das Manna; weiß und rund, kalt, gefroren hier
auf Erden; aber sich auflösend, eilt er in die Glorie der
allmächtigen Sonne«
Der Vergleich ist von großer Zartheit und Innigkeit.
Im ersten Teile legt er in die Gestalt des winzigen Tau*
») Campkie Works, London 1892; p. 7Ji.
«) Ebendort, p. 13L
«) Vgl S. 157 dieser Arbeit.
— 29 —
^
1
tröpfchenSi das ilim in seiner Kugelf orm als die voll-
kommenste Gestalt erscheint, eine ganze Welt mensch-
licher Empfindungen, Und die Parallele mit der menseh-
lichen Seele, diesem flüchtigen und doch nie vergehenden
Tautropfen der Menschenblume, ist keineswegs gezwungen,
sondern leicht und ansprechend ausgemalt. Den Schluß
aber möchte man gern vermissen; er bildet nur einen Ab-
fall und ist zu trocken gelehrt nach dem früheren zarten
Bilde.
Einsamkeit und Ruhe ist anch der Tenor eines kurzen
Gedichtes, der Übersetzung einer Chorstrophe From Seneca's
'* Tltffestes**, Akt II, in viertaktigen trochaischen Versen in
der Reimstellung a a a h b r c d e d efff, durchaus stumpf
und ohne Enjambement, was sonst bei diesem Metrum
selten ist;^) doch kommt hier die Kürze in Betracht Mar-
vell spricht den Wunsch aus, unabhängig von Hofgunst,
fern von der Biilme der Öffentlichkeit als stiller Mann
seine Tage zu verbringen und dereinst klaglos zu sterben,
Cowley*) hat dieselbe Chorstrophe etwas ausfuhr-
licher in vier- und fünft aktigen, paarweise reimenden
jambischen Versen übersetzt; von gegenseitiger Beein-
flussung kann aber keine Rede sein.
Eines der schönsten Gedichte Marvells, eines der
wenigen, die bekannter geworden sind, ist betitelt '*Th€
Nt^mph, Complainint) the Deaili qf her Fat€n*\ Es hat einen
so lebendigen Ton, daÜ man wohl auf den Gedanken
kommen könnte, es sei kein abstraktes Phantasiegedicht;
allein es auf Marv" Fairfax zu beziehen wie Grosart, scheint
doch aus dem Grunde unpassend, weil das dreizehnjährige
Mädchen — wenn schon besungen — doch nicht gut die
Rolle der verlassenen Geliebten übernehmen kann. Es ist
ein unstrophisches Gedicht aus paarweise reimenden vier-
taktigen Jamben in Monologform, Es enthält die rührende
Klage eines Mädchens, dem übermütige Jäger sein weites,
zahmes Rehkalb angeschossen haben, ihre einzige Freude,
das ihr treuer war als der Geliebte Sylvio, der es ihr ge-
geben, bevor er sie verließ. Sie erzählt, wie sie es auf-
gezogen und mit ihm gespielt hat. Die Beschreibung der
1) X Schipper, Engl Metrik, 11,393.
ä) PodU of Greai Briiain, ml V, p. 430,
— 30 —
Weiße des Tieres, die Schilderang des Eosengartens tmd
andere Details^ die hier nicht gegeben werden können, sind
hochpoetisck Das Rehlein stirbt dann und das trostlose
Mädchen vei-spiicht ihm, bald nachzufolgen ins Elysiam.
Dieses Gedicht gehört entschieden zu denjenigen
Marvells, von denen Hazlitt*) sagt, sie seien '*miisieal as
in Apollo* s lute*\ und Leigh Hunt:') "sfveel and fuU öf
over-ßowinf} fanetf*\ Es ist nicht zu bestreiten, daß das
Gedicht ein lebhaftes, dramatisches Element besitzt und
wunderbar den traurigen naiven Ton des klagenden Mädchens
trifft, daü der Dichter hier von jeder Übertreibung und
Lächerlichkeit sich fernhält. Der Gedanke, daß ein ver-
lassenes Mädchen sich mit einem zahmen Reh tröstet,
findet sich auch bei Browne in dessen ** Pastorais", I, 4,
Wir sehr dem Dichter immer und überall der Gelehrte in
den Nacken schlägt, können wir daraus ermessen, daß
er selbst in diesem sonst so natürlichen, naiven Gedicht
— zwar nicht in allzu aufdringlicher Weise wie in **Appl^
ion-HoHse" — der jungen Nymphe gelehrte Kenntnisse
in den Mund legt: sie spricht von den Heliaden, den
Schwestern des Phaethon, die aus Schmerz über den Ver-
lust des Bruders so sehr weinten, daß sie, in zitternde
Pappeln verwandelt, noch heute Bemsteintränen weinen;
sie spielt ferner auf die versteinerte Niobe an, spricht von
Diana, vom Elysium etc. Eine merkwürdige Selbstironi©
spricht aus den Worten:
"Bwf StfUm sfOfm had nu; beffuiled;
This (-th© fawn) tfared tarne, UfkÜe He grew wild^
And quüc regardless of my mnari
Left me his fawfij hut took his hcart.*'
Marvell muß ein großer Tierfreund gewesen sein, sonst
hätte er nicht das Kebkalb mit so viel Liebe beschrieben
und gesagt (V, 16):
'^Even bta^U mwt he with jmHce ilam,"
Das beweisen auch zahlreiche andere Stellen^ an denen er
den Tieren eine höhere Fähigkeit zuspricht, eine Art
Tierseele,
4
1
4
*) "Lrciure« on the EnffUnh poets and the Engl eomic wriUr^\ |
London 1899, l //, p. 109, $9 ff.
^) " Wü and Himour'\ London 1882, p, 214 f.
- äi -
Zum Schlüsse ser noch eine wegen ihrer wörtlichen
Übereinstimmung mit einem großen deutschen Dichter,
mit Qrillparzer, interessante Stelle erwähnt. Bei diesem
sagt Berta in der „Ahnfran^ (I,)^ als sie ihrem Vater von
der Rettung durch Jaromir erzählt:
„Und, mein Vater, für das Alles,
Was er erst für mich getan,
Könnt' ich wen'ger als ihn lieben?"
Und bei Marvell heißt es Z. 44 f:
" could I lese,
Than love ü ? "
Eine sonderbare, unabhängige Übereinstimmung, die auch
auf keine gemeinsame klassische Quelle zurückgehen kann.
Haben wir bis jetzt einzelne, größere Gedichte Mar-
vells betrachtet, so wenden wir uns jetzt der Menge
kleinerer Gedichte zu, die in dieser Periode ent-
standen. Die Mehrzahl davon sind Liebeslieder. Wir
wollen sie folgendermaßen gruppieren:
1. Mower Songs,
ländlich-idyllische Dichtungen geringen Umfanges, deren
Personen in der Maske von Mähern auftreten. Was für
alle diese Lieder gilt, ist, daß sie eine ziemlich glatte
Metrik aufweisen, daß sie durchgefeilt sind.
(1,) "Dämon ihe Mower" ist ein Gedicht von elf acht-
zeiligen Strophen aus paarweise reimenden viertaktigen
Jamben. Der Mäher Dämon besingt seine unglückliche
Liebe zu Juliana. Die Sonne brennt wie ihre Augen, seine
Sorge ist schneidend wie seine Sichel, seine Holfnungen
sind verwelkt wie das Gras. In diesem Tone geht es fort;
er bringt also alles in Bezug auf sich, auf seinen Stand.
Seine Tränen sintj die einzige Feuchtigkeit, ihr Herz ist
das einzig Kalte l3ei dieser Hitze. Nichts kann Juli an a
rühren, sie erhört ihn nicht im geringsten, obwohl er be-
kannt und berühmt ist auf allen Wiesen, die er gemäht
hat. Wie glücklich hätte er leben können, hätte nicht Amor
Disteln in sein Leben gesät! Als er sich in seiner Acht-
losigkeit selber niedermäht und zu Boden fällt, tröstet er
sich selbst, denn diese Wunden der Sichel sind gering
gegenüber jenen, die unglückliche Liebe schlägt; leicht
— 3Ö -
^liMlt man Fleischwuiiden durch Auflegen von KrauternJ
aber die Wunden, die Jalianas Augen schlagen^ heilt nur
der Schnitter Tod. _
Das Gedicht ist also ein Bollenlied, ganz a la^
müde des 17. Jahrhunderts, bei dem man der theoretischen
Vorschrift nach merken muß, dai3 hinter dieser EoUe eine
Person von größerer Bildung steht. Dieser Vorschrift ge-
nügt Marvell auch, denn ein Naturkind würde nie auf so
krasse Vergleiche verfallen wie sein Mäher. Schnitter» --
lieder waren nach den Schäferliedern eine der beliebtesten mä
Formen der Zeit, für beide gilt dieselbe Vorschrift.*) Spe-
ziell diesem Gedichte ist ein übertrieben pathetischer Ton
eigen* Unfreiwillig humoristisch aber wirkt Strophe 6, wo
der Held sich selbst so vorstellt:
''/ am (fie mower JJamon, hwtifn
Through all (he meadown 1 ktwe momC*
Wem klingen da nicht die Verse im Ohr:
**Sutn piu8 Äenecus, — — — —
— — — — fama ^*pfr acüiera nott4s*\
(Virg. Aeneis^ /, 378137
eine SteUe, die im Original schon sonderbar genug klingt,
zumal der Leser ja weiü, daß es des Äneas eigene Mutter
ist, der er sich so unbescheiden vorstellt.
(JI^.J "The Mower a^ainsi Gardens" ist in paarweise ge-
reimten^ abwechselnd fünf- und viertaktigen jambischen
Versen geschrieben, vielleicht ein versuchter Ersatz des
antiken Distichons, bei dem auch immer zwei angleiche
Zeilen dem Baue und Sinne nach zusammengehören. Der
Mäher beklagt hier, daß die Menschen Blumen in Gärten
ziehen, statt mit der freien Natur zufrieden zu sein, und
daß sie dabei mit ihrer Gärtnerkunst willkürlich Blumen-
bastarde ziehen. Nachdem Marvell in "Appleion-Housef' ge-
rade Gartenszenen mit solcher Vorliebe schüdert — auch
in "The NpnpV* und "TAc Garden" — ist dieses garten«
feindliche Gedicht eigentlich eine Inkonsequenz; doch wendet
er sich wohl nur gegen die Auswüchse der französisch*
holländischen Gartenkunst, die damals, wie die fremde Mode
überhaupt, in England eindrang, wie sie im Barockstil, in
dem Gesclmörkelten der Gärten von Versailles und Fontaine-
i) VgL S, 841 dieser Arbeit.
- 33 —
bleau ihren Ausdruck fand, während die mehr wilden eng-
lischen Parks aus der Mode kamen. Unser Schiller hat
ja noch über englische imd französische Gartenkunst ge-
schrieben und dabei der ersteren den Vorzug gegeben,
sieht jedoch eine Verbindung beider, nach seinem gewöhn-
lichen Vorgang, für das Ideal an.
Mehr liedartig, aus vier vierzeiligen Strophen aus
paarweise gereimten viertaktigen Jamben bestehend, ist
(3.) ^'The Mower to the Glow- Worms": Diese lebenden Lampen,
bei deren Schein die Nachtigall spät singt, die keine üble
Vorbedeutung, sondern nur den Zweck haben, wandernden
Mähern den Weg zu beleuchten, fär ihn leuchten sie ver-
gebens, denn seit er Juliana liebt, ist sein Sinn so aus
der Ordnung gebracht, daß er sich nie zurechtfinden wird.
Noch mehr gefeiert wird die böse Juliana in
(4,) ''The Mower's Song", einem öedicht aus fünf sechs-
zeiligen Strophen in viertaktigen Jamben; das einzige
Gedicht Marvells, in dem der Refrain durchgeführt
ist, und zwar ist dabei die letzte Zeile zu sechs Jamben
erweitert. Der Inhalt ist strophenweise: 1. Sein Sinn
war einst so heiter wie all diese Wiesen, seine Hoffnungen
waren grün wie das Gras, — bis Juliana kam — und nun
seinen Gedanken und ihm tut, was er dem Grase tut.
2. Aber die Wiesen erblühen nach dem Mähen wieder um
so firischer und grüner, er dagegen siecht in Sorgen dahin,
seit Juliana kam und . . . etc. (Refrain). 3. Die Wiesen feiern
lustige Maispiele, während er im Gegenteil niedergetreten
daliegt, seit Juliana kam und . . . etc. 4. Was aber die
Blumen nicht aus Mitleid mit ihm tun, will er an ihnen
aus Hache tun und Blumen und Gras und er sollen
gemeinsam zu Grunde gehen, denn Juliana kam und
sie . . . etc. B. So sollen die Wiesen, die fiiiher Gefährten
seines frischen, heiteren Sinnes waren, jetzt auch das
Wappenschild werden, mit dem er sein Grab schmückt;
denn Juliana kam, und sie tat ihm, was er dem Grase tat.
Dem Inhalte nach gehört zu den Mäherliedem auch
(5.) ''Ämetas and Thestylis Mdking Ray-Ropes". Es ist ein
witziger Dialog zwischen den zwei genannten Personen
während der Arbeit. Gut getroffen ist der neckische Ton
der beiden, die sich am Ende dennoch „kriegen^ ; besonders
Po 8 eher, Marvells poet. Werke. 8
- 34 —
das Mädchen ist herzig mit seiner Schnippischkeit. Der
Keiz des Qanzen liegt in der Kürze und Prägnanz des
Dialogs, die in Prosa nicht gut wiederzugeben sind. Den
Namen Thestylis^ der sich auch in Miltona ''UAUetfro"^
findet, verwendet Marvell auch in ''Appleion^nott$t\ nach
Virgils Ecl, II, 10 (Grosart).
Wir sehen also, daß in allen diesen Mäherliedern
eine Juliana eine Rolle spielt und daß alle atrophisch
sind, mit Ausnahme von Nr. 2. Vielleicht sind diese Liebes-
lieder nicht bloß Modedi chtung^ sondern beziehen sich auf
eine Dame aus Marvells Bekanntschaft^ nachdem der Name
Juliana kein allgemein gebräuchlicher Modename ist wie
die anderen ; einen sicheren Anhaltspunkt bietet seine
Biographie jedoch nicht. Die glatte Versifikation, die der
Dichter all diesen Liedern zu teil werden ließ, obwohl er
sie nicht veröffentlichte, beweist, daß er offenbar selbst
daran Gefallen fand. — Nach Grosart*) scheinen die
Mäherlieder Marvells auf William Allingham's ''Mowcr-
Satigs'* nicht ohne Einfluß gewesen zu sein.
Ähnlichen Charakter hat die zweite Gruppe,
2. Pastorale Gedichte.
Die Schäferdichtung war die beliebtaste Mode-
gattung des 17. Jahrhunderts und Marvell hat sich ihr
nicht entzogen. Es ist dieselbe Richtung, die in D entsteh -
land durch die ^Pegnitzschäfer^ vertreten ist. Interessant
ist die auf diese Gattung bezügliche Äußerung Draytons
in seiner Vorrede zu den **Pastop*als'*'^): Er versteht unter
'*Pa$torals** Dialoge oder andere Reden in Versen, welche
Hirten und ähnlichen Personen in den Mund gelegt sindj
diese Pastorais sind, *'as all öihn* fop'ms of poesie** von den
Griechen und aus zweiter Hand von den Lateinern über-
nommen worden, (Diese Einräumung einer wichtigeren
Rolle für die griechische Poesie scheint demnach in
England früher durchgedrungen zu sein als in Deutschland.)
Der Gegenstand und die Sprache sollen einfach sein.
Trotzdem können die höchsten Dinge der Welt darin be-
rührt werden. Derjenige aber, welcher fast nichts Pastorales
») Vof, J, p. LXIX.
s) FoeUf of Greüi^BHiain, UI, 568.
— 35 —
in seinen "PastoraW hat — und das sagt er von sich
selbst — handelt oflFener, wenn er '*detracto velamine" von
den höchsten Dingen spricht. Der erste Bang gebührt den
griechischen Pastoralen von Theokrit, dann Virgils
BukoUken; in dem Gesang der Engel an die Hirten bei
der Geburt des Herrn sei die pastorale Poesie geheiligt
worden. Das Hauptgesetz der Pastorale wie das jeder Poesie
ist ''decorum'\ Spenser hätte genug getan für die Un-
sterblichkeit seines Namens, schlieJ3t er, wenn er uns nichts
hinterlassen hätte als den "Shepherd's Calendar". — Also
lauter sehr laxe, ungenaue Definitionen und Gesetze, die
den größten Spielraum lassen.
Den Ausgangspunkt in England bilden bekannter-
maßen Sidney und Spenser, die wieder unter italieni-
schem Einfluß stehen. Dann schrieb fast jeder Dichter
Pastorais, und zwar bemerkt man, daß dieselben immer
kürzer werden, das heißt vielmehr, Sidney, Spenser und
andere schrieben umfangreiche Werke, oft in vielen Büchern,
in Schäfereinkleidung, Schäferromane in Versen ; diese Ein-
kleidung wurde dann so beliebt, daß sie überall durchdrang,
so daß man jetzt jedes kleine lyrische Gedicht in diese
Einkleidung brachte. Vor Marvell schrieben solche kleinere
pastorale Gedichte: Cowley, Waller, Denham, Donne,
Drayton, Suckling, Lovelace, Browne und viele
andere. Im allgemeinen ist der Wert dieser Gedichte kein
großer; ein sehr scharfes Urteil fällt Bleibtreu in seiner
Literaturgeschichte.^) Auch bei Marvell sehen wir, daß
diese a la mode - Dichtung, die nicht vom Herzen kommt,
auch nicht zu Herzen geht und nur dort Interesse hat,
wo sie sich an den Verstand wendet, das heißt, wo sie
philosophisch- allegorisch ist. Der poetische Wert muß dabei
freilich zurücktreten. Ausnahmen kommen natürlich vor
und bei Marvell relativ mehr als bei anderen.
Am meisten der Definition Draytons entsprechend,
nämlich in Dialogform, sind die nächstfolgenden Ge-
dichte dieser Art.
In ^'Clorinda and Dämon'* erscheint das Mädchen als
die Werbende und der Schäfer ist der Spröde. Sie will
1) Bd. /, 132 ff.
3*
— 36 —
ihn zu einem Schäferstündchen verlocken durch Schilderung
von einsamen Quellen, Grotten, blumigen Wiesen etc. Er
aber achtet nicht darauf und entschuldigt seine Unauf-
merksamkeit dadurch, daß er ihr erzählt, daB er Pan be-
gegnet sei, der zu ihm Worte sprach, die seinen Schäfer-
verstand übersteigen; am Schlüsse vereinigen eich beide
zu einem Loblied auf Pan, von dem die Wiesen singen,
die Höhlen tönen und die Quellen murmeln.
Warum Goldwin Smith in seiner Bemerkung über
Marvell inWards ''English Poeis''^) gerade dieses Gedicht
als das beste dieser Art nennt, ist nicht recht einzusehen.
Es steht gewiß hinter '*Daphm$ and Chlo€" zurück* Daß
der Schäfer hier als der Spröde erscheint und das Mädchen
als die Drängende^ ist ein in der internationalen Schäfer-
dichtung nicht ungewöhnliches Motiv, das schon zu einer
Zeit vorkommt, wo dieselbe noch nicht Modedichtung war,
nämlich in *'Robin and Mahpi\ einem alten schottischen
Hirtengedichte von Robert Henryson und sich noch
bei Goethe findet
Zeile 4 ist das Wort 'Uo hlazon** in der Ursprünge
liehen Bedeutung gebraucht, nämlich ,,$chüd^ni'\ das heißt
auf einem Schilde sichtbar darstelleUj daher die Wiese das
Wappenschild Floras. Das Lob Pans geht bei Marvell
wahrscheinlich auf S p e n s e r zurück, den er so hoch ver^
ehrte, der Pau in seinem '^Shepherd*s Calendur** als Gott
der Schäfer besingt. Es scheint mir aber bei dem ent-
sagenden Charakter des Gedichtes nicht ausgeschlossen,
daß unter ^Pan" Christus zu verstehen sei, der dem
Schäfer höher steht als irdische Lust und Sinnlichkeit.
Deutlich miteinander identifiziert sind Fan als Gott der
Schäfer und Christus zum ersten Male bei Milton (Strophe 8
der *'Mymn an the Nativity"):
"- — ihe mighty }*an
Was kindlif come to Uve with them l/elaw/'
Auch Dryden nennt Christus in *\Umd and Panther"
*'hle$S€d Pan*' (c.I, ik284) und ''mighiy Pan* (c. II, v.711).
In einem der berühmtesten religiösen Gedichte des 17, Jahr-
hunderts, das in alle Sprachen übersetzt wurde, in Fr, Spees
,,Trutsnachtigall'* erscheint Christus als „Schäfer Daphnis**.
») LmdoH 1880, vol. II, p. 383,
i
I
— 37 —
Es sprechen also eine Reihe von Parallelen fär die Richtig-»
keit dieser Deutung.
Geschrieben ist das Gedicht in viertaktigen, pasurweise
gereimten jambischen Verszeilen, die wiederholt gebrochen
werden, da der Schluß der Reden der Personen oft in die
Versmitte fallt und so häufige Cäsuren entstehen ; die Folge
ist eine dramatische Bewegtheit.
Das zweite Gedicht in Dialogform ist "Ä Dialogiie
between Thyrsis and Borinda*\ ebenfaDs voller concetti;
Thyrsis schildert der Dorinda auf ihr Verlangen das Ely-
sium, wie er es sich vorstellt, so anziehend, daß sie bereit
ist, sofort mit ihm zu sterben; er ist einverstanden und
sie gehen zusammen wilden Mohn pflücken, den sie in
Wein trinken wollen, um sanft zu entschlummern. — Zu
rühmen ist, daß Msurvell wenigstens den übertrieben naiven
Ton, den er einmal angeschlagen, beibehält und sich auch
keiner Anachronismen schuldig macht.
Einen etwas scherzhaften Ton zeigt "Daphnis and
Chloe'\ ein Gedicht von siebenundzwanzig Strophen von
je vier umschlossen reimenden, viertaktigen trochäischen
Verszeilen. Der Inhalt ist folgender: Der Schäfer Daphnis
muß von Chloe scheiden, die er lange vergeblich umworben
hat. Bei der Trennungsnachricht legt sie die Sprödigkeit
plötzlich ab. Er, sonst so erfahren im Umgang mit Weiber-
herzen, wußte das eine nicht, daß es, um ein Fort einzu-
nehmen, am besten sei, die Belagerung scheinbar außsu-
heben — eine Taktik, die schon Carew^) empfiehlt. Daphnis
zeigt also unverhohlen seinen Schmerz und verpaßt dar-
über die günstige Gelegenheit. Er wiD auch der Trennung
nicht verdanken, was seine Gegenwart ihm nicht gewinnen
konnte. Er schwört aber, sich an Amor zu rächen, und
reißt sich los. Von nun an gibt er sich nicht mehr mit
spröden Jungfrauen ab, sondern fiihrt ein loses Leben mit
minder spröden Schäferinnen, eine Nacht bei dieser, die
andere bei jener verbringend.
Wenn man das Gedicht zum ersten Male liest, liest
») Carew in "Poets of QreaUBHtain'' (III, 678):
" only they
Conquer Love that run atoay."
— 38 —
fnan ea mit Gefallen bis Strophe 24; man hofft, da]}
Daphnis ChJoe durch seine Worte mürbe macht, und er-
wartet eine heitere Zähmung der Widerspenstigen; ea
wäre gewiß hier nicht das Banalste, wenn sie sich am
Schlüsse ^kriegen** würden; aber als Dichter des 17. Jahr-
hunderts konnte sich Marvell jetzt nicht die Gelegenheit
entgehen lassen, einen „witzigen" spitzfindigen Schluß
anzubringen, der uds allerdings nicht gefallen kann; nicht
der ^Frivolität^ wegen, die einen prüden englischen Kritiker
veranlassen könnte^ über das Gedicht den Stab «u brechen,
sondern mehr ans ästhetischen als moralischen Gründen.
Jeder unbefangene Leser muß nach der ersten Lektüre
bedauern, daB das so hübsch angefangene Bildchen auf
diese Art „verpatzt** wird.
In den folgenden Gedichten ist die Schäfereinkleidung
nicht so streng durchgeführt, aber aus gewissen Einzel-
heiten gehören sie doch auch zur p astoralen Gruppe.
'*Young Love** ist an ein junges Mädchen gerichtet,
mehr Kind noch als Jungfrau, So wie Königreiche, um
fremde Ansprüche an die Krone von vornherein nichtig
zu machen, ihren König in der Wiege krönen, so krönt
der Dichter sie schon jetzt mit seiner Liebe, um allen
Rivalen zuvorzukommen. — Dieses schöne Bild ist leider
nicht verdientermaüen schön ausgedrückt, vor allem ist das
Gedicht zu lang für diese Parallele mit seinen acht vier-
zeiligen Strophen aus kreuzweise gereimten, vi er taktig-
trochäischen Versen. Ein noch heute existierendes Sprich-
wort findet sich in Strophe 6:
"0/ this need we'U viriue make."
Grosart vennutet, daß dieses Gedicht auf Mary Fair-
f ax, Marvells junge Schülerin, geht. Das Alter derselben,
13 oder 14 Jahre, würde ja für die Situation stimmen.
Sonderbar uiülSte uns ein solches Verhältnis gewiB an-
. muten, der Ton dieses Gedichtes ist teilweise gar nicht
platonisch. In "Äppktofi-Honse" besingt er freilich auch
[arj* FairfaXj aber in konventionell -überschwenglichen
^Versen. Hat Marveil Marj^ wirklich geliebt, so haben wir
ein ähnliches, auch unsicheres Beispiel in der Literatur
an dem Earl von Surrey, der die im Kindesalter stehende
— 39
l
Geraldin©, Tochter des Earl of Kildar, in berühmten
Sonetten besang.
Weniger Natur und leider auch weniger Kunst als
Künstelei finden wir in **TAe Galhry'\ einem Geclicht von
sieben aclitzeiligen Strophen aus viertaktigen, paarweise
reimenden jambischen Versen, Der Dichter ladet seine Ge-
liebte zur Besichtigung der Galerie ein, die er in seinem
Herzen eingerichtet hat. Auf einem Bilde ist sie als un-
menschliche Mörderin gemalt^ die gegen Männerherzen
gi'ausame Marterwerkzeuge verwendet, wie schwarze Augen^
rote Lippen, gekrauste Haare. Anf der gegenüberhegenden
Seite ist sie als Aurora in der Morgendämmerung gemalt.
Auf dera nächsten Bilde prophezeit sie sich selbst aus den
^-^inge weiden des Geliebten, wie lange sie noch schön bleiben
Iterde, und dann wirft sie dieselben dem Geier zum Fraß
von (!) So erscheint sie noch auf vielen Bildern. Ihm aber
gefällt am besten das Bild^ wo sie in der Stellung gemalt
ist, in der er sie zuerst sah, das darum auch gleich am
Eingang in die Galerie hängt; hier ist sie im Schäfer-
kostüm, mit offenem Haare^ beschäftigt Blumen zu pflücken,
um damit ihr Haupt zu krönen und ihren Busen zu füllen»
Ganz mechanisch also, an der Hand einer Bilder-
erklärung wird die Geliebte in verschiedenen Masken
vorgeführt, eine übrigens im 17. Jahrhundert nicht unge-
wöhnliche Methode, wo man, wie später in der romanti-
schen Schule, eine Vereinigung der Künste pflegte, die die
sogenannte ^e n b 1 e m a t i s c h e P g e s ie" mit sich brachte.
Auch Marveil hat noch ein zweites „Bildergedicht**, das
wir deshalb gleich hier anschließen, ein Gedicht, das nur
der Text zu einem hier wirklich vorhandenen Werke der
bildenden Kunst ist, das ihm zu einigen Reflexionen An-
laß gibt:
''Ttie Fkiure of Little T. C. in a Prospect of Flower^'
iBt auch metrisch interessant, weil es von der Schablone
abweicht: es sind fünf Strophen zu je acht Zeilen, von
denen die ersten sechs regelmäßige viertaktig-j ambische
Verse sind, während die vorletzte Zeile nur zweitaktig ist,
die letzte jedoch fünf Takte hat, also f ^ ** '' ^^ ^'^^).
Der Dichter schildert zuerst die Anmut des mit Blumen
apielenden Kindes und überlegt dann, welche Rolle das
— 40 —
jetzt noch so uuschiildigQ Mädchen einst in der Welt
spielen werde, sobald es zu seiner vollen Schönheit er-
wachsen sein werde. — Einzelne Stellen des Gedichtes
sind ganz hübsch, das Lob örosarts '*a lovely poefH*' gut
aber doch nur im Sinne des 17. Jahrhunderts.
Wie bereits einmal bemerkt, wo sich Marvell dem
Zwange der Mode — dort der Gelegenheitsdichtung, hier
der Schäferdichtung — entzieht, wird er viel anziehen-
der. So in dem Gedichte ''To hi$ Coy Mistre^'*. Et? ist
ein an seine Geliebte gerichteter Monolog: Er würde
sich aus ihrer Sprödigkeit nichts machen, wenn nur Kaum
und Zeit den Menschen in größerem Maße zugemessen
wären. Dann könnte sie am Gangesufer Kubine suchen,
während er am Ufer des Hmnber weilte; dann könnte sie
sich ihm verweigern bis zur Bekehrung der Juden. Hundert
Jahre wollte er verwenden, ihre Augen zu besingen, zwei-
hundert Jahre, jede Brust zu be wundem, und dreißigtausend
für das Übrige. Und erst im letzten Weltalter \^airde er
zu ihrem Herzen vorschreiten. Denn sie verdient es eo,
und er würde es billiger gar nicht tun. — Aber leider
höre er den geflügelten Wagen der Zeit schon hinter
seinem Rücken daherbrausen ; ihre bewunderte Schönbeit
werde nicht bleiben und sein Lied nicht in ihre Gruft
dringen. Und sie, die sich so lange ihre jungfräuliche Un-
berührtheit bewahrt habe, müsse sich ganz den Würmern
überlassen. Die flammende Glut werde zu Asche; sie
würden beide im Grabe liegen und das Grab sei zwar ein
schöner, stiller Ort, aber kein Ort zum Küssen. „D'nim laß
uns die Zeit genießen, solange der Morgentau der Schön-
heit auf deinem Antlitz liegt, solange die Seele noch vom
Lebensfeuer glüht und lieber die Zeit gleichsam in unseren
Freuden verschlingen, als daü die Zeit uns mit ihren lang-
sam kauenden Backen verschlingt."
Dieses Gedicht aus paarweise reimenden viertaktigen
Jamben ist eiu wahres Schmuckkästchen voll schöner, an-
ziehender Bilder, eines der besten Gedichte Andrew
Marvells. Die räumliche Ausdehnung ist durch die Ent-
fernung von Ganges und Humber charakterisiert ; das Bild
der Geliebten am Ganges erinnert an Heines ^Fluren des
Ganges^, der also schon Marvell als ein Ort erschien, würdig
4
4
— 41 —
der Gegenwart der Geliebten. Anziehend und treffend sind
Bilder wie 'Hime's unnged charioV\ "deserts of vast etemity",
'*the yoiUhful hue sits on thy skin like mamingdew", 'Hhe iron
gates of life" etc. Das Ganze ist die Ausführung des "Carpe
diemr — ''let us sport us, white we may!" — „Pflücket die
Böse, eh' sie verblüht/''; ein Gedanke, der freilich nicht neu
ist, der aber nie veraltet und bei dem es eben auf die in-
dividuelle Ausfiihrung ankommt. Der Ton des Marvellschen
Gedichtes ist ein schalkhaft humoristischer, wie wir ihn
selten bei dem ernsten Dichter finden; wir sehen also,
daß er aller Töne fähig war. Es ist, wie Grosart
bemerkt, ein Ausfluß jener echten genußfreudigen £e-
naissancestimmung, die selbst das Grab noch als einen
'^fine and private place'* betrachtet. Wie aus dem Gedichte
femer hervorgeht, muß Marvell auf die Juden nicht gut
zu sprechen gewesen sein, denn hier sieht er in ihnen die
verstocktesten NichtChristen: "tili the conversion of the Jews"
hat wohl den Sinn von "ad calendas graecas".
Drayton und Donne haben gleichfalls Gedichte
*'To his coy love" geschrieben, die Marvell aber nichts ge-
boten haben. Draytons') Gedicht ist viel sinnlicher gehalten,
reicht aber nicht entfernt an das Marvells heran. Auch
ein Vergleich mit Milton drängt sich auf: Das Bild von
der alles verschlingenden Zeit kann durch Miltons Gedicht
"On Time" ("to be written on a clock-case") nahegelegt sein,
aber Marvell gibt uns mit wenigen Worten eine weitaus
sinnlichere, lebendigere Vorstellung als Milton mit vielen
Strophen.
Interessant in der Form und auch geistreich im In-
halt ist "The Match", die Durchführung einer Parallele und
einer Antithese, die bis ins 19. Jahrhundert beliebte (im
Deutschen meines Erinnems zuletzt bei Körner wieder-
holt vorkommende) Gegenüberstellung „Das bin ich" —
„Das bist du". Dabei gibt es eine zweifache Methode: es
korrespondieren entweder zwei aufeinanderfolgende Strophen
miteinander, also abwechselnd eine masculine und eine femi-
nine — wenn man so sagen darf — ; oder es wird zuerst
die eine Person in einer Reihe von verschiedenen charakte-
1) Poets of Great'Bntain, UI, 585.
42 —
risierenden Strophen abgetan, dann kommt die Point©, die
erste Kulmination ; dann folgt die zweite Serie von Strophen
auf die zweite Person und die korrespondierende Pointe,
Diese zweite Art wendet Marveü hier an, und zwar korre-
spondieren die Strophen 1 und 5, 2 und 6, 3 und 7, 4 und
(8-|-9); Strophe 10 ist dann für beide gemeinsam.
Das Gedicht gebort freilich nur dem Namen Celia
und der tändelnden Manier tiach zu den ^schäferlichen**
Dichtungen, unterscheidet sich aber von den streng pasto-
ral en so angenehm, daß es auf diesen Namen leicht ver-
zichten kann. Der Inhalt des in vierzeiligen Strophen aus
abwechselnd vier- und drei taktigen, kreuzweise gereimten,
daher septenarischen Eindruck machenden Versen abge-
faßten Gedieh tchens ist kurz der folgende: Die Natnr.
— als Frau aufgefaJit, also, wie im 17. Jahrhundert fast
selbstverständlich, personifiziert — hatte längst einen Schatz
von Kostbarkeiten angesammelt, um einst gegen schlechta
Tage gesichert zu sein: die glänzendsten Farben, kost**
barsten Essenzen und feinsten Wolilgerüche hatte sie auf-
gestapelt und sorgsamst verschlossen ; aber die Gleichheit
zog das zusammen, was sie abgesondert gelegt hatte imd
aus dieser Verbindung ging eine vollkommene Schönheit
hervor — „und das war Celia**.
Die Liebe — gleichfalls als Personifikation — hatte
seit langem Vorräte an Feuerungsmaterial angesammelt,^
damit sie — im Englischen passender „er" ^ Amor =
"Love" — als Greis nicht frieren müsse; hinter starken
Riegeln lagen Schwefel, Naphta etc, streng gesondert. Aber
durch die Nachbarschaft angezogen, vereinigten sich all
diese StoiFe durch magnetische Kraft und aus all dem
Feuerzeug ging ein heijies, loderndes Feuer hervor —
„und, Celia, das bin ich!"
So sind sie beide allein die Glücklichen und Beichen,
während die ganze andere Welt natürlich arm ist, indem
sie den ganzen Vorrat der Natur und der Liebe in sich
tragen.
Es scheint, daß wir dieses Gedicht auf Mary Fair*
fax beziehen müssen. Die Begründung meiner Annahme
ist die: Die Heldin dieses Gedichtes heißt Celia, In dem
späteren Gedicht „an seinen Freund Dr. Witty^ stellt
— 43 —
Marvell als Muster for die Übersetzer eine Caelia hin,
die zwar jetzt die Sprachen Frankreichs and Italiens lerne,
aber in diesen fremden Sprachen doch nnr echt englische
unverdorbene Gedanken ausspreche. Darüber, daß diese
Caelia niemand anderer ist sAs Mary Fairfax, die unser
Dichter eben in den "tongues of Fratice and Italy" unter-
richtete, kann kein Zweifel bestehen. Die Heldin von '*The
Match" heißt auch C e 1 i a. Da somit Namensgleichheit vor-
liegt, können wir wohl mit Sicherheit schließen, daß auch
^^ The Match" sich auf Mary bezieht, die Marvell ja wieder-
holt besang und möglicherweise auch liebte, wie Grosart
bei ^'Young Love" vermutet, der aber nicht auf den eben
dargelegten Zusammenhang gekommen ist, der seine Ver-
mutung ja bekräftigen würde. Wenn Celia auch ein beliebter
Benaissancename ist, der sich zum Beispiel auch in Ben
Jonsons Nachahmungen des Catull findet, so wird doch
Marvell nicht zufallig für verschiedene Personen denselben
Namen benutzen, wenn diese nicht miteinander identisch
sind. Von einer Leidenschaft Marvells für Maria wird man
nichtsdestoweniger doch nicht sprechen dürfen, weil man
auf diese poetischen Freundschaftsäußerungen im 17. Jahr-
hundert sehr wenig geben kann; echt ist nur der H8J3.
Lassen wir auf dieses glückliche Paar zwei unglücklich
Liebende folgen, einen Mann und eine Frau.
"jThe Unfortunate Lover" ist nicht nur weniger anziehend
als das vorige Gedicht, es ist direkt unerquicklich. Auch
formell ist es nicht bedeutend, es sind achtzeilige Strophen
von viertaktig -jambischen Reimpaaren. Es bietet eine
Häufung von krassen, gesuchten Vergleichen und Bildern,
die alles in der Schäferpoesie Erlaubte und MögUche über-
schreiten, eine versifizierte Abgeschmacktheit.
Er gibt die Biographie dieses „unglücklichen Lieb-
habers*^. Schon sein Eintritt in die Welt ist sonderbar
genug. Bei einem Schiffbruch wurde seine Mutter, als sie
ihn noch unterm Herzen trug, von den Wellen auf einen
Felsen geworfen, so heftig, daß ihr Leib zersplitterte und
er, the lover, dabei ins Leben gesetzt oder geworfen wurde.
So führte die Natur zur Feier seiner Geburt die „Maske"
der kämpfenden Elemente auf; Seeraben umkrächzten das
Wrack und nahmen den verwaisten Ausgeworfenen in ihre
— 44 —
Obhut. Sie nährten ihn mitHoflFnung und Luft; und während
der eine Babe ihn fütterte^ hackte ihm der andere am
Herzen. So lebt er und schwindet zu gleicher Zeit dahin,
ein Amphibiura von Leben und Tod. Und wenn der Himmel
ein blutiges Schauspiel sehen will, müssen er und das
Schicksal auf scharfe WaflFen miteinander kämpfen. Er
kämpft zwischen Flammen und Wogen, ein zweiter Ajax.
Mit der einen Hand kämpft er gegen den Donner, mit der
andern sucht er den Felsen zu fassen, von dem ihn die
Woge immer wieder zurückreiOt.
Diese flüchtige Inhaltsangabe zeigt schon, aber noch
nicht genug, welch unertreuliche Verwirrung von Vor*
Stallungen uns zugemutet wirr]. Der Held ist zugleich ein 1
Prometheus (Z. 35), ein Ajax (Z. 48), ein Odysseus (Z. 53)
und noch verschiedenes andere. Örosart meint ^): **'17i€ iiw-
foriunate hver* seems a versification of some of the incidents]
in a tah of romance,'* Das könnte nur solch ein Bitter-
und Schauerroman gewesen sein, wie sie im '*Z)o» Quichotte"
ein verdientes Autodafe erleiden. Vielleicht aber ist es
erlaubt anzunehmen — und man greift förmlich gern zu
diesem Ausweg, um Marvell von diesem Gedichte zu
„retten", — dali es nicht ernst gemeint ist, sondern satirisch
oder parodistisch* Besonders die Strophe 2 ist es, die diesen
Gedanken eindringlich nahelegt; denn das ernst zu nehmen,
ist zu viel verlangt. Auch die fünfte Strophe ist ähnlich
bänkelsängerisch; wenn ein Dichter sagt: *'They fed himi
up uyith höpes'\ so ist das poetisch noch ernst; wenn er -
aber sagt: ''They fed him up iriih hrqws and air'\ so will
er durch diese — hoffentlich — absichtliche Zusammen-
stellung offenbar lächerlich wirken ; will er es nicht, dann
um so schlimmer für ihn. Die letzte Strophe, wo alles
heraldisch ausgelegt wird, ist auch verwirrend ; diese ist es
off'enbar, die Grosart zu seiner Vermutung geführt hat C*he \
in s(ortf onhj rules . . /'>*
Nicht viel ertreulicher ist *''Mounung'\ in dem eine
Liebende vorgeführt wird, der der Geliebte gestorben ist
Geistreich ist das Gedicht nicht oder es ist es auf die Art des
17, Jahrhunderts, die uns heut© als das Gegenteil vorkommt.
») Vol T, IS5.
— 46 —
Es beginnt mit der überflüssigen Frage, was die Tränen
bedeuten, die seit kurzem aus Chloras Augen fallen; eine
Frage, die der Dichter sogleich selber beantwortet: sie
befeuchtet den Boden, wo einst ihr toter Strephon lag.
Manche Leute, sagt er, schließen, daß die Freude jetzt
wieder ihrer so Herr geworden sei, indem sie alles Traurige
in Form von Tränen aus den Augen entfernt und die
wässerige Gabe nicht dem Begräbnis des alten, sondern
der Einführung eines neuen Geliebten gelte. Er aber, der
Dichter, behalte sein Urteil still bei sich, bestreite aber
nicht, was die anderen glauben; doch ist er überzeugt, daß,
so oft Frauen weinen, sie aus Kummer weinen.
Ein sehr banaler Schluß, wenn man nicht schon das
ganze Gedicht banal nennt. Er zeigt, wie verschieden
der Wert von Marvells dichterischen Erzeugnissen ist, daß
er, der sonst fast zu viele Gedanken in wenige Zeilen
hineinpreßt, hier ganz gedankenlos und platt ist. Man ver-
zeihe, aber das ist direkter Unsinn: Er sagt:
1. er behalte sein Urteil für sich,
2. er bestreite nicht, was die andern glauben,
3. er sei sicher, so oft Frauen weinen, sind sie be-
kümmert. Eines widerspricht doch dem anderen; denn
1. er behält sein Urteil eben nicht für sich,
2. er bestreitet doch was die Menschen sagen, und
3. ist es ganz und gar nicht sicher, daß die Frauen
wirklich nur weinen, wenn sie Kummer haben. — Und
eigentlich ist nicht nur die Eingangsfrage, sondern das
ganze Gedicht überflüssig, denn er weiß ja und sagt ja,
warum Chlora weint, nämlich um ihren Strephon.
Das sind die zwei unglücklichsten Gedichte, die Mar-
vell geschrieben hat.
Schon diese Gedichte enthielten viel Reflexion, hatten
aber doch eine schwache Handlung oder die charakteristische
schäferliche Einkleidung. Die durchaus reflektierenden
Gedichte fassen wir in der nächsten Gruppe zusammen.
3. Reflektierende Gedichte.
Auch in diesen geht Marvell ganz in den Spuren der
Zeit, überall ein Nachahmer und nur in den Cromwell-
46 —
Dichtungen und in den Satiren vermöge ihres ehrlichem
Pathos und ihrer Impetuosität selbständig und führend.
Diese Reflexionsgedichte sind Philosophie oder Mystik in
Versen, theoretisch-abstrakt, dem Gelehrten naheliegend,
nüchtern und kiihl. Den meisten ist überdies ein pessi*
mistischer Zug eigen, so *^Eyes and Ttars" oder "Definitwn
**Deßniiion of Love'* besteht aus acht vierzeiligen
Strophen aus viertaktigen, kreuzweise gereimten jambischen
Versen. Schon der Titel ist bezeichnend: er definiert
die Liebe ganz theoretisch gelehrt. Seine Definition hat den
Fehler, daß sie nur für ihn paÜt und nicht allgemein genug
ist, — sehr begreiflich, denn bisher hat eben noch nie-
mand die Liebe richtig definiert. Seine» des Dichters oder
Helden, Liebe wurde von „Verzweiflung" aus der „Un-
möglichkeit^ gezeugt Da das Schicksal stets mit neidischem
Auge auf eine vollkommene Liebe herabsieht, hat es diese
zwei Liebenden auf entgegengesetzte Pole gestellt, so dafi
sie nie zusammenkommen können. Schiefe Linien und schiefe
Liebe können sich treffen, aber ihre Liebe ist so genau
parallel, daß sie sich nie treffen können. Und so definiert
er seine Liebe als die Konjunktion(- Verbindung) der Geister
und Opposition(-6egeüüberstellung) der Sterne — also mit
astronomischen Ausdrücken. Eine viel einfachere, bessere
Definition der Liebe hat Drayton gegeben:*)
"What U hve, but the desirt
Of that thiriff Üiat ftinry wisheUi^'*
Marvells Pessimismus in der Liebe ist wie eine Vor-
ahnung Heines, Freilich, welch ein Unterschied zwischea
den beiden! Die Gegenüberstellimg der Liebenden auf den
zwei Polen ist nichts anderes als der Heineache stereotype
Gegensatz in Form und Sprache des 17. Jahrhunderts, das
gleich die Pole in Bewegung setzt:
,^EiD Fichtenbaum steht ains&m Er träumt von einer Palme,
Im Norden auf kahler Höh\ Die fem im Morgenl&nd
Ihn schläfert; mit weiüer Decke Einsam und «schweigend trauert
Umhüllen ihn Eis und Schnee, Auf brennender Felseawand,"
Ist das nicht derselbe Gegensatz ? Aber wie viel mehr
liegt in den wenig Worten !• Wenn vielleicht Heine hier
1) Poetö 0/ Great-Britain, lU, 600.
— 47 —
ebensowenig ernst empfunden hat, so hat er es doch ver-
standen, Empfindung in die Verse zu legen. Das versteht
Marvell nur in den seltensten Fällen, die auch gebührend
betont werden. Heine war eben — vom Menschen Heine
reden wir nicht — ein bedeutender Dichter; Marvell war
ein viel edlerer Mensch, aber ein geringerer Dichter. Daß
er der Empfindung unfähig war, soll nicht behauptet werden;
sie kommt aber nur an wenigen Stellen zum Ausdruck, wo
er, den Zwang der Mode abstreifend, natürlich ist. Es ist
dem verfehlten Geschmack der Zeit ins Schuldbuch zu
schreiben, daß hier von Natur nichts zu finden ist.
Den pessimistischen Zug finden wir auch in "Eyes
and Tears*'. Dieses Gedicht läßt sich in vierzehn vierzeilige
oder sieben achtzollige Strophen zerlegen, die aus viertaktig-
jambischen Reimpaaren bestehen. Den Inhalt bildet ein
überschwengliches Lob der Tränen. Die Natur habe es weise
eingerichtet, daß wir mit denselben Augen sehen und weinen,
so daß die Augen, wenn sie ein Ding als nichtig erkannt
haben, gleich bereit sind, es zu b,eweinen. Alles auf der
Welt, selbst das Lachen, werde zu Tränen; die Tautropfen
sind die Tränen der Blumen. Glücklich diejenigen, die
weinen können und ihre Augen im eigenen Wasser baden,
um sie rein zu halten. Nicht geschwellte Segel, nicht der
keuschen Frau schwangerer Schoß, noch die finchtbare
Cynthia selbst ist so schön, wie zwei vom Weinen ge-
schwollene Augen, behauptet er im übertriebenen Stil des
17. Jahrhunderts.
Die Vorliebe für Tränen ebenso wie für Blumen ist
ein Charakteristikum für Marvell; zwar hat auch Carew
ein Lob der Tränen,^) aber diese werden dort dem Lachen
gegenübergestellt, ohne daß entschieden wird, was von
beiden das Gesicht der Geliebten mehr verschönt. Das
meistgebrauchte Substantiv bei Marvell ist wohl "flo wer",
dann dürfte "tear" kommen. Einige Stellen in diesem Ge-
dichte erinnern an den ''Drop of Dew" und an die *'Nymph'\
wo auch selir viel von Tränen die Rede ist; die Nymphe
weint, das Rehkalb weint, die Bäume weinen, der Himmel
weint, sogar der Stein weint. Wenn er also in "Eyes and
tears" behauptet, daß die menschlichen Augen den Vorzug
1) Foets of Great'BHtain, III, 676.
— 48 —
y WO ebenfalls nichtmenschliche Geschöpfe
einen Beweis ans seiner
zu müssen, indem er erzählt^
haben, allein weinen zn können, so widerspricht er sich
selbst. Groaart^j fuhrt eine Stelle aus Shaksperes **As
you like. iC an
weinen, und glaubt aui^erdem
eigenen Erfahrung anführen
er habe einst einen kleinen Terrier beim Tode seines Herrn
bitterhch weinen und gleich darauf sterben gesehen. Viel*
leicht könnte gar auch der Hund der ''Dame Siris" hier
erwähnt werden- Daß Mai-vell au mehreren Stellen in vollem
Ernste den Tieren menschliche Empfindungen zuschreibt,
wurde schon früher erwähnt
Daß Marvells lateinische Dichtung auch um diese
Zeit nicht ganz aufhörte, beweist der Umstand^ daß er
einige Zeilen dieses Gedichtes auch lateinisch ausgeföhrt'
hat»^ Grosart druckt auch^) einige Stellen aus kritischen
Urteilen ab, welche zeigen, daJ diesem Gedichte von
mehreren Seiten hohes Lob zu teil wurde, das dasselbe
unserer Ansicht nach kaum verdient.
Von den noch übrigen Gedichten dieser Periode und
dieser Gruppe sind die drei folgenden
geistliche Dichtungen.
Sie zeigen mystische Einflüsse, wie das verwandte Ge-
dicht ''.4 Dr(^ of Detc*\
*'Th€ CormieV zeigt zugleich Anklänge an die Schäfer-
dichtung, die ja im 17. Jahrhundert sogar in die geistlich-
religiöse Dichtung eindrang, wo ihr durch die Vorstellung
vom guten Hirten schon vorgearbeitet war; auch das
'*Paradise Lost*' enthält ja pastorale Elemente. Alles ist in
diesem Gedichte Marvells in mystisch- allegorischer Be-
deutung: Die Domen, mit denen der Mensch Christus
immer von neuem krönt, sind die Sünden ; die Kosen, aus
denen der Mensch Kränze flicht, sind die vergängliche
irdische Lust, die Schlange, die nur Christus überwinden
kann, ist wohl das Böse im allgemeinen. Eigenartig ist die
metrische Komposition des Gedichtes. Es hat jambisch-
ungleichmetrischen Rhythmus und ist unstrophisch ge-
1) Vol. l p. 9t
ä) Abgedruckt bei Grosart, Ij 91.
«) Grosart, I, p, LXVl
— 49 —
schrieben; doch kann man folgende BesUrndtdile unter-
scheiden: drei Quartette, die nur durch die Reimstellung
(umschließend), nicht auch durch die Taktzahl aymmetrisch
sind; dann vier Zeilen in gekreuzter Stellung und dann
lein ftir sich getrennt regelmaÜiger Schluß, nämlich zwei zu
'Anfang und zu Ende von einem Reimpaare umschlossene
Terzette. Wir sehen hier also eine komplizierte metrische
l Struktur wie im '*l}r&p of Dew*\ welche zwei Oedichte die
rkünstlichsten Marvells überhaupt sind, wohl unter
italienischem EinÜuB, der sich ansonsten weniger in den
Formen als in dem marinesken Stile bemerkbar macht.
Der Titel und der Hauptgedanke dieses Gedichtes
gehen wahrscheinlich auf eines von Donne zurück, das
schon durch die italienische Überschrift seinerseits wieder
auf irgend eine italienische Vorlage hinweist, nämlich „La
Corona^. Nur in zwei Fällen, hier und bei der Be-
schreibung von „Holland^, kann man Marvell ein bestimmtes
Gedicht eines andern Dichters direkt an die Seite stellen.
Man kann daher Marvell nicht den Schüler eines be-
stimmten Dichters nennen, er hat nur die allgemeinen Züge
der Zeit. Da Grosart in seinen Anmerkungen öfters so
nebenbei von einer „Reminiszenz^ an Donne spricht — ge-
rade bei diesem Gedichte aber nicht — , so könnte man
leicht diesen für Marvells Lehrmeister halten. Um diese
irrige Ansicht nicht aufkommen zu lassen und zugleich ad
, oculos zu demonstrieren, daß Marvells Metrik, wenn auch
Illicht immer glänzend, doch die Donnes noch oft übertriflft,
so sei dessen Gedicht als dasjenige, das noch den gröliten
Einfluß auf Marvell hatte, — absolut ist auch dieser nicht
groÜ, — in seiner Gänze hiehergesetzt:
Zi9 Corona*
Dngn at my hands this crown of prayer and ptaUe,
Weao'd in mij lone dtVQut melandioly,
Thou ichich of good liaste, yea, art tre<imtriff
All dmtigtng unchang*dj Ancient of days;
But do notf with a vile crown of fraü hojf»,
JUward mg Muse's white sinceritg,
Hut what thg thomg vrown gain^d that givc me,
A crown of ghrg, which does flower always :
77ie ends crown our worh*, hut ikou crow*nst aur ends,
For at our ends bet/ttt» onr etidlcsn rest;
Foicbor, Marvollfi {loet. Werke. 4
■^- BO -^
Tlie fini hmt miä now tealously passest,
With a sWtm§ mjher thirst mit »oul attends,
'Tis time Üuit heart and voke be Ufted high,
Sakdliön io aii that wtU i» nigh.
Jedermann wird zngeben müssen: viel verdankt ihm
MarveJl nicht.
Die folgenden zwei religiösen Gedichte sind in Dialog-
form abgefaßt:
".4 Diahgm between the Sotd and Body" ist ein Wechsel-
gespräch zwiBchen Seele tmd Leib, wie es schon im Alt-
englischen vorkommt, aus vier Strophen, von denen die
drei ersten je zehnzeilig sind und die letzte vierzehnzetlig
ist, alle aber aus viertaktig-j ambischen Reimpaaren be-
stehend. — Die Seele beklagt ihre Gefangenschaft im
mensohlichen Körper, der so vielen Krankheiten und
Schwächen unter worlen ist. Der Leib antwortet mit einer
Gegenklage über die Tyrannei der Seele, die ihn nur leben
laut, um ihn bald sterben zu lassen. Nach längerem Streit
hat der Körper das Schlußwort mit dem Vorwurfe der
Obermacht der Seele, die ihm mehr Leiden aufdränge als
er ihr: falsche Hofinungen, Furcht, imglückliche Liebe, Haß,
alle Leidenschaften gehen ja von ihr aus. Am Schlüsse
der unvermeidliche Vergleich, und zwar hier von einer bei
Marvell öfters herangezogenen Kunst, der Architektur, ge-
nommen; auch am Beginn von ^^Appleton-Honse" und an
mehreren Orten spricht er von den Architekten ; an dieser
Stelle ist sogar das Reimwort dasselbe wie dort, nämlich
Der '^Diahgue hetween the Besolved Soul and Created
Pleasure' ist ein Wortgefecht, in dem die Seele den Sieg
davonträgt. Die Struktur des Gedichtes ist die folgende:
Den Beginn bildet ein Aufgesang von zehn paarweise
reimenden, viertaktigen jambischen Verszeüen, Dann setzt
der eigentüche Dialog ein. ^'Pleasure" beginnt mit sechs
Zeilen in vier taktigem trochäischen Rhythmus in der
Stellung a h a b € c, die auch zeigen, wie der trochäische
Rhythmus aus dem jambischen durch konsequente Fort-
lassung des Auftaktes entstanden ist, zumal nicht nur die
Zeilen der Seele jambisch gehalten sind, sondern in der
zweiten Hälfte des Gedichtes auch Verse vorkommen,
4
^
jambischer und trocliäischer Rhythmus wechseln. All das
ist kein Zufall, sondern man erkennt darin die bewiiJJte
künstlerische Absicht, durch das verschiedene VersmaÜ die
verschiedenen Personen oder Personifikationen voneinander
zu unterscheiden, zu charakterisieren, dasselbe Bestreben,
das sich im Drama oft durch Anwendung des Dialektes
geltend macht. Hier spricht die weichere Seele in Jamben,
einem Versmaß, das mit Auftakt beginnt, während das
lebhaftere, energischere ''Fleasure* in einem abrupteren Vers*
maß ohne Auftakt spricht Wir können in dem Gedichte
deutlich einen Abschnitt oder Einschnitt bemerken, gekenn-
zeichnet durch den eingeschalteten Chorus (V. 46 — 50),
*'Pkasur€* sind immer vier Zeilen in den Mund gelegt, der
**Sour' nur zwei Zeilen, was auch in berechneter Weise
der Natur der Sache entspricht, denn die Verführung braucht
mehr Worte als die Zurück weisimg; nur die erste, einleitende
Strophe des Dialogs ist, wie erwähnt, sechszeilig. Anderer-
seits ist die letzte Strophe des ersten Teiles — ''Soul' —
ausnahmsweise vierzeilig; innerhalb dieser zwei von der
Begel abweichenden Strophen herrscht Symmetrie : "Pleasure''
hat stets vier Zeilen, paarweise gereimt, aus viertaktigen
Trochäen, *'iSa?*Z" zwei Zeilen, paarweise gereimt, aus vier-
taktigen Jamben. Dann kommt der Chorus, sechs jambische
Zeilen ^^^ ^^ ^, Nach diesem Wendepunkt herrscht wieder
volle S^Tnmetrie, nicht mit dem ersten Teile, sondern
innerhalb des zweiten: "P/<fa.*fMre" hat immer wieder vier
Zeilen, aber in zweifacher Weise verändert gegenüber
denen des ersten Teiles, nämlich abwechselnd eine viertaktig-
trochäische und eine drei taktig-jambische Zeile J ^^ " ^, so
daß also eigentlich zwei durch Reim aufgelöste siebentaktige
Langzeilen dahinter stecken. Den Schluß bildet ein Chorus
von vier gekreuzt reimenden, viertaktigen jambischen Zeilen.
Der Inhalt ist ein schon im Altenglischen und bis
auf die Neuzeit behandelter Stoff, der Widerstreit zwischen
der entschlossenen Seele und dem irdischen Vergnügen,
daa versuchend an jene herantritt. '* Pleasttre*' sucht ''SouV
durch Schmeicheleien und Versprechungen liir seine Freuden
zu gewinnen, **S(mr aber schlagt dieselben aus, worauf der
Chor seinen Beifall ausspricht. Auch gegen erneute Ver-
lockungen bleibt **Söur' standhaft und der Chorus ver-
4»
spricht ihr dafor^ für den Yerzioht auf irdiBche Eitelkeit,
die ewige himmlische Seligkeit
Wir fiuden hier unter anderem wieder den meta-
physischen Glauben an eine Seele der Blumen; femer ist
das hohe Lob der Musik bemerkenswert in der Antwort
der Seele, — natürlich als Meinung des Dichters ausga»
sprechen — , daß, wenn irgend etwas sie zurückhalten könnte,
es nur die Musik sei.
Dieses Lob der Musik bietet einen passenden Über-
gang zu „Mtmc's Empire'% einem Gedicht in l^eraic Couplets.
Wenn Mar \ eil hier die Orgel als eine Stadt darstellt^ in
der die Familien der Töne wohnen, wenn Jung&au Diskant
den Manu BaB heiratet, so entspricht das ganz der ver-
bildlichenden, versinnlichenden Ausdrucksweise, die wir
auch sonst bei Marveü finden. Deren Nachkommenschaft.,
die Laute, die Viole, das Kornett, büdete wieder Kolonien ;
die einen benutzten den Wind, die anderen Saiten, um den
Triumph des Menschen zu singen. Die Vereinigung aller,
die Musik, ist das Mosaik der Lüfte. Der Schluß ist eine
persönliche Anspielung, die nicht ganz sichergestellt ist:
Die Musik selbst aber, heißt es, buidigt wieder einem
gütigeren Herrscher, der, wenn er auch die Musik seines
eigenen Ruhmes flieht, doch mit der Musik die Hallelujahs
der Himmel verstärkt* Zuerst vermutete ich, daß MarveU
hier auf einen Komponisten geistlicher Richtung anspiele,
der die Musik zu Ehren des Himmels wie ein gütiger
Eroberer leitet und beherrscht; das **gentler'' könnte auch
den Gedanken nahelegen, daß eine Dame gemeint sei, eine
Musikerin. Gegenwärtig aber scheint es mir am wahrschein-
lichsten, daß sich diese Stelle auf Lord Fair fax bezieht,
der ja während seiner Zurückgezogenheit Kunst, Literatur,
Poesie und Musik pflegte, Ausschlaggebend erscheint die
vorletzte Zeile:
" Wha, thouffh he ßies the mimc of hu praiM",
welche ganz mit der Charakteristik Fairfaxs in dem früheren
Gedichte *'üpon Ihe HiU and Grove at Billhorow" über-
einstimmt :
**That courage its own ptams flies",
also ein auffälliger Umstand, der Beachtung verdient.
— 63 —
»
»
M i 1 1 0 n 3 Gedicht '*At a solmun Music** hat auf Mar-
vell keinen Einfluß geübt»
Indirekt wird die Macht der Musik oder eigentlich des
Qesanges auch in einem Liebesgedicht gepriesen, betitelt:
''Tlie Fair Singer'\ einem Gedicht aus drei Strophen
zu je sechs tiinflaktig-j ambischen Versen in der Stellung
ah ah € e. Es tuhrt den Gedanken aus, daß die schone
Sängerin über doppelte "Waffen verfüge, das heißt durch
ihre Schönheit das Auge und durch ihren Gesang das Ohr
des Bewunderers fesselt. Natürlich geht dieses Gelegenheits-
gedicht auf eine Dame von Marvells Bekanntschaft, mög-
licherweise auf Mary Fairfax, die er ja wiederholt besang;
wahrsoheinlich aber geht es auf Franziska, eine Tochter
Cromwells; das kann man vielleicht daraus schließen,
daß er im Gedicht ^auf den Tod des Lord-Protektors"
von Franziska spricht, die ihren Vater durch ihren
Gesang stets erheitert habe ; in diesem Falle wäre das Ge-
dicht wohl etwas später entstanden.
Das waren die Gedichte, welche dieser Periode den
Hauptcharakter verleihen.
Zum Schlüsse müssen aber noch zwei Gedichte Er-
wähnung finden, die chronologisch schon in die Nähe von
''HortHs*\ ''The Garden'' etc* gehört hätten, indem sie bis
längstens 1661 geschrieben sind, während die besprochenen
Mäher- und Schätergedichte bis 1653 reichen ; doch sollte
deren Zusammenhang nicht unterbrochen werden. Es sind
Empfehlungsgedichte für die Übersetzung von Primroses*)
^Errores Vulgv' durch seinen Bekannten Dr. Robert Witty,
die im Jahre 1651 erschien; das eine Gedicht» in lateinischen
Distichen abgefaßt, bUeb ungedruckt, während das enghsche
in der Ausgabe der ''Populär Errors" 1651 erschien. Das
lateinische Gedicht „Dignissimo siw amico Doctori Wiitie, de
iranskUione vulgi errorum D. Primrofni*\ in dem er eingangs
die Federpest, die Schreibwnt der Zeit bespricht, ist durch
nichts weiter bemerkenswert als durch eine interessante
Äußerung über den Tabak, der gegen Ende des 16. Jahr-
hunderts durch englische Kolonisten aus Virginia nach
England eingeführt worden war* Dr, Wittys Buch erhält
ein dick aufgetragenes Lob.
) Vgl Bktionmy of NaUtmal Biagraphy, voL XLVI^ p. 38^,
64 —
Das englische Gredicht za demselben Anlasse **Ib
his Worthif Friend Dr. Witty, tqmi hts Translation of tke
'Populär Errors'" 1651, ist in paarweise gereimten fünf-
taktigen Jamben geschrieben. Hier gibt Marvell eine voU-
ständige und richtige Theorie der Übersetzungs-
kunst, Ein Übersetzer, der zu frei übersetzt, macht sich
zum Autor eines Buches, aber er ist ein schlechter Über-
setzer* Wer bei einer Übersetzung verschönem zu sollen
glaubt, wird ein Fälscher. Und nun stellt er den Über-
setzern ein Muster vor: Caelia, deren Englisch reicher
flielit als der Tagus — eine Reminiszenz an die Jugend-
reise — j lernt jetzt die Sprachen Frankreichs und Italiens;
doch sie ist noch immer Caelia; ihre eingeborene Schön-
heit ist nicht italienisiert, ihr keuscher Sinn nicht fran-
zösisiert worden; wenn sie auch andere Sprachen spricht,
ihre Gedanken sind doch echt englisch. Von ihr sollten die
Übersetzer lernen. Dr. Witty aber habe die Bedingungen
der Übersetznngskunst eo genau erfüllt, daß man weder
etwas wegnehmen noch etwas hinzufügen könne.
Das Mädchen Caeliaj das er einführt, ist niemand
anderer als seine Schülerin Mary Fair fax, die er ja in
den **tongu€s of France and Italy" unterrichtete; — ein
Bezug, der sich bei Grosart niclit angedeutet findet, den
wir aber bereits einmal zu einer Identifizierung heran-
gezogen haben.*)
Damit sind wir beim Jahre 1652 angelangt, zu dessen
Beginn Marvell das freundliche Haus zu Appleton, seine
geistvolle, schöne Schülerin und die reizende Umgebung
veriieü. Durch Fairfax war Marvell mit dem Latin Secretary
of the State, John Milton, bekannt geworden. Dieser
empfahl nun Marvell in einem Briefe vom 21. Februar
1652*) an den Präsidenten des Staatsrates Bradshaw, dies-
mal ohne Erfolg, Vielleicht geschah es auch auf Miltons
Empfehlung, daÜ Marvell nun der Erzieher von William
Dutton, Cromwells Neffen, wurde, mit dem er zu Eton
im Hause eines John Oxenbridge^) wohnte, eines re-
publikanisch gesinnten Geistlichen, der der politischen Ver-
1) "The Matc7i'\ sieh S. 43 dieser Arbeit
^ Abgedruckt bei Grosart, vol^I, p, XXXVlI.
«) Über ilin vgl. Grosart, vol.II, p,3, 5.
»
^
k
hältnisse halber eine Zeit seinea Lebens auf den Bermudas-
inseln zugebracbt hatte. Auf seine Schilderungen und Schick-
sale geht Marvells sehönes Gedit^ht „Bermudas" zurück.
Da eine genaue Biographie zu geben nicht unsere Aufgabe
ist, genügt es, bezüglich des brieflichen Verkehrs Marvella
mit Milton und Crom%v©ll auf Grosart (Band I, S. XXXIX,
XL) zu verweisen.
In einem Briefe an Milton vergleicht er dessen
^Defensio secunda" als ein Monument von Miltons gelehrten
Siegen mit der Trajanssaule ; ein Vergleich, der offenbar
durch Erinnerung an seinen Aufenthalt in Rom veranlaßt
wurde und der uns zugleich zeigt, wie Marvell mit seiner
Dichtung doch auch in der Wirklichkeit steht, das
heiüt, seine poetischen Vergleiche auch ans der Anschauung,
aus dem Leben holt, was ihn später besonders zum politisch-
satirischen Dichter befähigt. 1657 wurde Marvell endlich
Miltons Stütze als Assistant Laiin Secretary, Im nächsten
Jahre starb Cromwell und Marvell widmete ihm die würdige
^Horazische Ode**, das einzige aus diesem Anlasse ent-
standene Gedicht, das Aulrichtigkeit und persönhehe Zu-
neigung atmete
Überhaupt ist Marvell recht eigentlich der Dichter
Cromwells und des Protektorats; dabei ist von Bedeutung,
daii er Cromwell persönlich nahestand, schon vermöge
seiner amtlichen Stellung ; er würdigt vollauf seine Ver-
dienste, ist aber andererseits der einzige Panegyriker, der
such seine Schwächen nicht übersieht Im selben Jahre
wurde Marvell noch infolge seiner Verbindungen von der
Stadt Hüll zu ihrem Vertreter im Parlament gewählt; er
saß also noch im Parlament Richard Cromwells*
Und dann, bald^ kam der Zusammenbruch der Republik
und die Re staurat i on des Königtums, die bei so vielen
einen Umschwung herbeiführte und auch bei Marvell, aber
nicht als Mensch, sondern nur als Dichter: er wird Satiriker,
wie wir sehen werden. Vorläufig sind wir wieder mit der Restau-
ration bei einem großen, natürlichen Einschnitt angelangt.
Vielleicht ist es gut, da die Gedichte dieser zweiten
Periode Marvells, wie wir sehen werden, politische sind,
schlagwortartig die politischen Ereignisse jener Zeit zu
skizzieren :
':^ 66 —
Kach der Hinrichtung des Königs und der Einrichtung
Commonwealth begab sich Cromwell nach Irland
imd warf mit größter Raschheit und Härte den Aufstand
der Royalisten zu Gunsten des Prinzen von Wales nieder,
eilte dann nach Schottland, wo Karl 11. als König anerkannt
worden war und schlug die Schotten bei Dunbar (1651).
Durch die Navigationsakte (Oktober 1661) war die junge
Republik in Krieg mit den dadurch geschädigten Nieder-
landen verwickelt worden, in dem der englische Admiral
Blake über van Tromp und de Ruyter 1662 und 1663
glänzende Siege erfocht. Inzwischen war Cromwell nach
London zurückgekehrt, das widerspenstige Parlament wurde
mit Gewalt auseinandergesprengt (1653) und am 16, Dezem-
ber 1653 übernahm Cromwell als Lord-Protektor die oberste. ,
Regierung. 1664 wurde mit Holland ein günstiger Friedl
geschlossen; im folgenden Kriege mit Spanien eroberte'
Blake Jamaika und eine Silberflotte der Spanier; und
Diinkirchen kam an England. Die ihm angebotene Königs-
krone lehnte Cromwell ab, erhielt aber dag Recht, seine
Nachfolger zu bestimmen. Nach fortwährenden Schwierig-«
keiten löste Cromwell auch das neue Parlament auf; am
3. September 1658 starb er; sein Sohn Richard folgte ihm*
Dieser schien anfangs in seiner Macht gefestigt, war aber
zu schwach, sie aufrecht zu erhalten ; so bereitete sich un-
gehindert die Auflösung vor, von Royalisten und Katholiken
geschürt, und schon im Mai 1660 hielt Karl II. seineu
Einzug als König.
Die Gedichte Marvells, welche diese Epoche ausfüllen,
stehen alle in Bezug zu dem gröÜten Manne derselben,
Cromwell; wir nennen daher, diesmal in Übereinstimmunj
mit Grosart, diese Gedichte der
Zweiten Periode
(1652—166«)
Cromwellian Poems,
Voranzustellen ist ein Gedicht, das inhaltlich unbedingt
hieher gehört, der Abfassungszeit nach aber bereits de
firüheren, allerdings kurzen Periode hätte vorangestellt'
werden müssen, da es 1650 bereits geschrieben wurde. Es
— 57 —
I
steht ftlao, obwohl politischen Inhaltes, nicht in Wider-
spruch mit Marvells Charakter und Neigungen 1650 — 1662,
die wir mit den Schlag werten *'für off ihe public stagü*\
'*alma quies'\ ''soUiudv" bezeichnet haben. Denn es entstand
ziemlich gleichzeitig mit Gedichten wie das fiir ^Lovelace^
und das aul' TjTom May", wo er ja an den Tagesfragen
noch lebhaften Anteil nahm. Zugleich aber beweist dieses
zeitliche Zusammenfallen der genannten Gedichte mit diesem,
daß der dortige angebliche Koyalismus tatsächHch nicht vor-
handen sein kann, denn dieses bisher noch nicht genannte
Gedicht, eines der besten Marvells, ist die erhabene
*'Horatian Ode upon CromweU's Return frmn Irekwd'\ Ihr
Inhalt ist groß und erhaben wie der Ausdruck. Dieses
Gedicht^) hat in jeder Hinsicht hohe Bedeutung. Es ist
Marvells Auseinandersetzung mit den herrschenden und
unterlegenen Gewalten, eine klare Rechnung. Er sieht
Cromwells Auftreten als die Fügung des Schicksals an,
er betont (und in späteren Gedichten immer wieder), daß
Cromwell lu^prünglicb gar nicht für das Kriegshandwerk
bestimmt und geschaffen war, daß er ein friedlichea Privat-
leben führte, bis ihn das Schicksal herausriß, aber dann so
unbeirrt und sicher, wie mechanisch, als Werkzeug einer
höheren Macht sein Werk begann und zu Ende führte.
Gleich einem reinigenden Blitze sei er vom Himmel gesandt
worden, das Werk der Zeit zu zerstören, das hei Üt, das alte
Königtum in neue Formen zu gießen. Wo größere Geister
kommen, muß eben das Kleinere Raum machen. Er rühmt
Cromwells persönliche Tugenden, seinen Mut und seine
Klugheit. Zugleich aber findet er überraschend anerkennende
Worte für den hingerichteten König Karl I., der sich auf
dem Schafott in besserem Lichte zeigte als wähi'end seiner
Regierungszeit und dessen gemessene, chevalereske Haltung
er rühmt; aber behaupten zu wollen, daß eigentlich Karl I,
der Held dieser Ode an C r o m w e 1 1 (!) sei, wie Birrell
(p, 64) tut, ist doch viel zu weit gegangen. Der blutige
Anfang sei aber kein schlechtes Zeichen für die Republik
gewesen. Noch sei kein ganzes Jahr verflossen und schon
sind die Iren bezwungen. Wenn Marvell aber die Hoffnung
ij Birrell {p.64) gibt die Oesohiohte der OberUefenmg diesea
Geliebtes.
— 58 —
ausspricht, Crom well werde jederzeit wie ein abgerichteter
Falke, der seine Pflicht getan, auf den ersten Ruf' wieder
zurückkehren, so hat er sich getäuscht und eigentlich seinem
eigenen SchlulJappell widersprochen ; dieser wurde zur Tat-
sache: Cromwell schritt fort auf dem einmal betretenen
Wege, denn^ wie Marvell sagt:
"The mme arU Uiot did f^ain
A poiceff mtist il maintain.'^
Ein günstiger Zufall iiihrte mich darauf, daß diese
Worte nicht originell, sondern ein Zitat aus Sallust
„De coniuratione CatiUnae"^ 2, 4, sind.^)
Marvell nennt sein Oedicht *'A Horatian Ode" und
bezeichnet damit die hohe Meinung, die er selbst davon
hatte und mit Recht, denn "owc of the hast hwum bui atnong
tiie gründest tchich the English language possesses'' nennt
Erzbischof Trench von Dublin*) das Gedicht Und Gold-
win Smith^) sagt von dieser „Ode'^: ''Better than anyihwg
ehe in our language this poem gives an idea of a grand
Horatian measure^ as well as of the diction and spirii of an
Horatian OdeJ' Das Gedicht verdient diese Lobsprüche.
Es liegt eine Wucht und Grölie in Ausdruck, Form und
Inhalt, bei gleichzeitiger Einfachheit: abwechselnd immer
ein viertaktiges und ein dreitaktiges jambisches Beimpaar.
Die wenigen Enjambements und Taktumstellungen, die er
sich erlaubtj sind äußerst geschickt angebracht und dienen
zur Belebung und zur Hervorhebung markanter Stellen.
Störende Freiheiten begegnen uns hier kein einziges Mal
Wie erwähnt, entstand dieses Gedicht noch vor Mar vells
weltfremder Periode, Nach dieser bildet, inhaltlich und der
Zeit nach, eine Brücke zu den rein politischen Cromwell-
Dichtungen das halb idyllische, halb politische, vielgerühmte
Schifferlied „Bermudas'^, wohl um 1653 entstanden und
durch die Erzählungen und das Geschick des genannten
John Oxenbridge veranlaßt, ünsti^ophisch, in paarweis
gereimten viertaktigen Jamben, zwischen einem Eingang
und einem Ahgesang von je vier Zeilen, wird das eigent*
1) Vgi R Heines ^Framösüche Zustäfide", 1. Brief , 6, Ahmii,
^ Tgl. ßrosart, voL I, p, LXVU; eben dort auch eine Äußemng
aus PowelVs "Ämong my books" f London 1870],
ß) Ward's "English Fatts", U, 383.
4
liehe Lied, das die Schiffer, die emigrierten Engländer,
angeblich Bingen, in direkter Bede gegeben, Sie singen das
Lob des Höchsten, der sie zu dieser zwar kleineren, aber
glücklicheren Insel, als es ihre heimatliche ist, geführt hat,
wo ewiger Frlihling herrscht und wo sie sicher sind vor
Stürmen sowohl als auch vor Prälatenwut.
In diesem kleinen, aber schönen Gedicht finden wir
Anklänge an einzelne Stellen des naturbeschreibenden Ge-
dichtes ** Appleion' Hause' \ Eine neue Note bei Marvell ist
jetzt der Groll gegen die Prälaten, den wohl Oxenbridges
Erzählungen in ihm schürten^ und der sich später in den
Satiren immer wieder äuUert: wie Marvell hier von '*prelaies
rage'' spricht, so redet er in ''Blood's Stealing ihe Croum*'
von '*prtlafe's crueUt/'; er räumt also den Prälaten einen ge-
wissen Vorzug in diesen Untugenden ein. Der Bezug auf die
Protestanten Verfolgungen unter Karl I. macht dieses Gedicht
zugleich zu einem politischen- Vergleiche sind auch hier
zahlreich, aber sie sind nicht störend^ sondern anziehend
und wirksam, obwohl er die Insel fast als ein zweites
Schlaraffenland schildert. Die Stelle
**He hajujs in lihaäfH the oranffe brighi,
Like (foldtfit lamps in a green nighi*'
klingt wie eine Vorahnuug des Goethe sehen
„Kennst du das Land, wo die Zitronen blähn,
Im dunklen Laub die Goldorangen glükn?^
und es kann für Marvell nur ehrenvoll sein, derart den-
selben Gedanken wie unser großer Dichter, mit denselben
Worten fast, ausgedrückt zuhaben;^) auffällig, daß beide,
in allem sonst so verschieden, an einem Dinge dasselbe
charakteristisch finden, was an und fm- sich nicht unmittel-
bar naheliegt. Gewiß ist der Umstand in Rechnung zu
ziehen, daß ja beide in Italien gewesen sind.
Aus dem Jahre 1G54 stammen mehrere lateinische
Gedichte Marvells, die auf CromwelJs auswärtige Politik
Bezug haben, 1654 schickte Cromwell eine Gesandtschaft
1« Die wiederholte Heranziehung deutscher Dichter und Ver-
hältnisse bedart* wohl kainn einer Eechtfertigung, wenn solch ein
Vergleich sich von selbst aufdrängt; — Goethe, Heine, Leseing etc.
können ebetisogut zum Vergleich für englische Dichter dienen wie
umgekehrt Shakspere, Chaucer, Byron etc. für deutsche.
L
— 60 -
nach Schweden, um die Königin Christine, die „Ama*
2one des Nordens^, für seine Pläne zn gemeinschaftlichem
Vorgehen zu gewinnen. Der eine der Bevollmächtigten,
Dr. In gel o/) war ein Bekannter des Dichters und an
ihn ist sein folgendes lateinisches Gedicht gerichtet. Doch
fiihrt der Titel, die Adresse, eigentlich irre, denn nicht mn
eine Beglückwünschung oder Lobpreisung Ingelos handelt
es sich^ wie man daraus schließen könnte, sondern um eine
derart geschickt maskierte Verherrlichung Christ inen s.
Nur der Eingang des von Grosart ins Englische über-
tragenen Gedichtes „Dociori In(}do, cum Domino Whitloekr^)
ad lieginam Sneeiae delegato a Protectore, residniH, epistola'*^
wendet sich direkt an Ingelo und spricht dabei von dem
Lande, in das jener jetzt gehe. Damit ist der Übergang
auf Ohristina, die Beherrscherin, schon geboten. Nun preist
Marvell sie, die Jungfrau, die über Männer herrscht, hinter
der selbst Englands Stobs, Elisabeth, zurückstehen müßte.
Er hat ihr Bild gesehen, das an ihren großen Vater Gustav
Adolf erinnert. Dann rühmt er ihre wissenschaftlichen Be-
strebungen, \vorauf er zu den politischen Verbältnissen
übergebt. Er hofft auf baldigen Abschlnli des Vertrages,
der für beide Teile von Nutzen sein werde. — Sonderbar
ist diis Detail, daß Marvell ausdrücklich Christinas wohl-
geordnetes Haar rühmt, durch das sie schon zeigen wolle,
daß sie stets an Regeln und Gesetze sich binde, während
die Geschichte uns ausdriicklich überliefert, daß diese viel
umstrittene, jedenfalls originelle Frau ein üppiges Locken-
haar besaß, auf das sie keinerlei Sorgfalt verwendete; so
daß Marvella Schilderung nach dem Gemälde — falls diese
Einkleidung überhaupt nicht bloß Fiktion ist — der Wahr-
heit vielleicht ebenso wie dieses direkt widerspricht. Daß
das Lob sehr dick aufgetragen ist, ersieht man schon aus
der sehr kurzen Inhaltsangabe ; es ist das eben wieder der
in derartigen Gedichten im 17. Jahrhundert gebräuchliche,
übertreibende Stil. Auf den ersten Blick scheint es sonder-
bar, daß Marvell, der ja damals (1664) noch nicht in Öffent-
licher Stellung war, Ereignisse besingt, die in den Kreis
der engeren Politik gehören. Aber Marvell verkehrte ja in
V Dtctimary of Nat Biogr,, val. XXVm, p, 4S^,
V Didionrny of Nat. Biogr,, vol. LXL p. 110 ff.
p
— 61 ~
Kreisen, die die führenden genannt werden müssen, mit
Fair fax, Milton, Bradshaw^ Cromwell; er konnte
also schon der Personen, wenn nicht der Sache wegen
Interesse daran haben. Und wann auch Dr* Ingelo im Ge-
dicht selbst nur eine nebensächliche Rolle spielt^ so gehörte
er doch wahrscheinhch zum Freundeskreise Marvells, zu
dem wohl auch der im Gedicht genannte Roger zn zählen
sein wird.
Die erwähnte Gesandtschaft hatte der Königin Christine
auch ein Bild CromweUs zu überreichen- Gleichsam als
Aufschrift fiir dasselbe schrieb Marvell folgendes „Epigramm":
„Haec est quae toties inimicos umbra fugavit^
At sub quÄ cives otia leota tarunt.^
Die eben erwähnten Umstände persönlicher Natur im
Verein mit diesem Epigramm sind bestätigende Beweise
fiir die Autorschaft Marvells betreffs eines Gedichtes
von vier lateinischen Distichen, das unter dem Titel „Ad
Christinam Suecorum Ileginam Nomtm Cromwelli'^ die Ehre
hatte, von früheren Herausgebern Miltons diesem zuge-
schrieben zu werden^) und das in den Ausgaben Marvells
unter dem identischen Titel ^In Eandtm [i e, Efßt^iem
CromwelU] lieginae Sueciae Ttansmissam^ dem obigen Epi-
gramm iblgt. Das Argument^ mit dem es Milton zugeschrieben
werden konnte, ist^ daß es ja Miltons Aufgabe als Laiin
Secretarg war, solche offizielle Gedichte zu verfassen. Aber
Milton hat das Gedicht nie für sich in Anspruch genommen.
Vielleicht hat er Marvell^ mit dem er ja schriftlich und
mündlich verkehrte und der ihm als Verehrer Cromwells
bekannt war, mit der Abfassung dieser Kleinigkeit beauf-
tragt, falls nicht Marvell aus eigenem Antrieb diese Zeilen
ihm zur Verfügung stellte. Die Autorschaft Marvells ist
durch den umstand erwiesen, daü dieses Gedicht in der
Folio-Ausgabe vom Jahre 1681 gedruckt erscheint, die von
des Dichters Witwe^) *'HHder his own hand-writing'' veran-
staltet wurde und deren Authentizität Grosart in allen
1) Z, B. in ''PoeU of Öreat-Britain*\ voi V, jh 199; um dieses
längere Gedicht bandelt es sich, nicht um die vorher erwähnten zwei
Zeilen, wie BirreU, p. 68, tUIschlich meint.
2) Die freilich von manchen Biographen als eine Fiktion er-
klärt wird* YglGrosart (pro) und D irr eil, p.222f, (kontra).
- 62 ^
Punkten nachgewiesen hat,*} Auch gehören diese lateinischen
Gedichte organisch zusammen. DaJ3 wir dann eigentlich
zwei Gedichte Marvells auf Cromwells Bild haben, ist auch
nur scheinbar auffällig: das kurze Epigramm ist einfach
eine Bilderiii schritt ohne Beziehung auf die schwedische
Gesandtschaft ; das zweite Gedicht dagegen wurde erst aus
Anlaß der Übersendung des Bildes an Christina geschrieben.
Auch der hervorragende Herausgeber und Biograph MiltonSf
Professor Masson, gibt in seinem grolien Werke*)
Autorschaft Marvells zu.
Dieses Gedicht ist Cromwell selbst in den Mund
legt, als ob er oder das BUd selbst zur Empfängerin sprechen
würde: „Siehe^ Christina, Du leuchtender Stern des Poles,
welche Furchen der harte Helm meiner Stirn eingedrückt
hat ! Wenn auch alt, gehe ich dennoch gewappnet. Und
während ich den Willen eines großen Volkes vertrete,
neigt sich Dir in Verehrung mein Haupt."
Indirekt mit Cromwell in Verbindung steht das chrono-
logisch nächste Gedicht '*/n Legaimiefn Donüni OUveri
St. John\^) der 1654 in die Vereinigten Staaten der Nieder-
lande geschickt wurde, um den ersten Seekrieg zwischen
England und Holland, der durch die Navigationsakte ent-
standen war, durch einen Vertrag zu beendigen. Da die
Engländer siegreich gewesen waren, so konnte er wie ein
zweiter Quintua Fabius Maximus „Krieg oder Frieden!**
wählen lassen und es gelang ihm auch, den für England
gtinstigen ^acte van seclusie** abzuschlieBen. Großen Dingen
sind oft bedeutsame Namen gegeben, sagt Marvell. So auch
ihm, der gesandt ist, den Holländern frischen Krieg oder
neue Verträge zu bringen, der die Schlüssel zum Janastempel
in den Händen hält. Er braucht kein Pergament und keine
doppelzüngigen Worte ; sein Name ist eine Botschaft, die
alles sagt: Oliver oder St. John!, Krieg oder Frieden können
die Holländer wählen.
Aus dem Jahre 1654 stammt auch ein umfangreiches
1) Grosart^ Bd.I, p.lV, 46 u, ö,
2) "Poetical Work^ of John M^ton'*, 1874, vol, U, p. 343 ff. ;
Ohbe Edition, 1899, p. 459.
'^) Dktionar^ of National Biogi\, voLL., p, 151 ff., 164.
— 63 -
Gedicht von vierhundert viertaktig -jambischen Zeilen,
t^roie eoupkts, daa 1655 anonym veröffentlicht wurde, das
einzige politische Gedicht Marvells, das vor der Restauration
gedruckt wurde; der Grund, weshalb ihm dieselbe später
nicht so schadete, wie zum Beispiel Miltou, Es ist be-
titelt: **The ßrst Anniversanj of the Government ander His
Hif/hness the Lord Protector/' Es setzt mit einem stimmungs-
vollen Bilde ein. Wie ein ins Wasser geworfener Stein
darin versinkt, niu* ein flüchtiges Kräuseln hervorrufend,
so verschwindet der einzelne Mensch im Meer der Zeit,
deren Kreise sich über ihm schließen und glätten. Nun
kontrastiert der Dichter : C r o m w e 1 1 allein durchläuft mit
Kraft Bonnengleich die Jahre und vollbringt in einem Jahre
Taten von Zeitaltern, während Monarchen immer nur Pläne
machen, die sie dann ihren Nachfolgern als Erbe hinter-
lassen* Das ist eine echt Marvellische Stelle, der den Satiriker
nie ganz verleugnen kann. Ebenso verhält es sich mit den
folgenden Zeilen des Gedichtes, in denen die törichte An*
m&ßung der Könige und ihre Ungerechtigkeit drastisch
gegeißelt wird. Mit ihnen kontrastiert er wieder Cromwell :
Wie Amphion durch seine Leier die rauhesten Steine ge-
fügt und so das siebentorige Theben erbaut hat, geradeso
kam Ordnung in das Staatswesen, als Cromwell das Re-
gierungsinstrmnent stimmte. Und obwohl Steine noch leichter
zu beherrschen sind als der Sinn der Menschen, Cromwetl
fügten sich doch alle. In dieser Art geht es weiter, stets
Vergleich und Kontrast. Die Lenker der Staatsschiffe, die
Fürsten, sehen aoF Cromwell wie die Schiffer auf die Ge-
stirne, Wie glücklich könnten alle ihre Pläne durchführen,
wenn sie seinem Vorbild folgen möchten. Aber leider liegen
sie alle noch im Banne Roms. Der Dichter droht dann den
schlechten Fürsten, wenn das Schicksal es ihm vergönne,
sie einst aufzurütteln aus ihrer königlichen Faulheit; vor-
läufig will er bescheiden hinter dem glorreichen Cromwell
stehen, in dem höchste Macht und höchste Güte zusammen-
treffen. Unvermittelt kommt Marvell dann auf einen Un-
glücksfall Cromwells zu sprechen, der^ als er einst selbst
lenken wollte, von den Pferden aus dem Wagen geschleudert
wurde, ohne sich jedoch zu verletzen; diese Schilderung
der scheuenden Pferde erinnert lebhaft an eine ähnliche
— 64 —
Episode in der „Uias". Ebenso unvermittelt betont er dann
wieder, wie in der ^Horatian Ode*^, daß es fllr Cromwell
keine Freude war, sein ihm @o teures Privatleben aufgeben
zu müssen, um den Wagen des eigensinnigen Volkes zu
lenken. Was er aber seit damals getan, dazu drängte ihn
eine höhere Macht* Zuerst war er der Herrschaft abgeneigt.
Als aber er, der so mächtig geworden war wie Gideon,
der jüdische Kriegsheld, sah, wie andere zerstörten, was
er geleistet, oder Nutzen zogen aus dem, was ihm zukam,
da gebot er den Schmarotzern Halt! Um ein Bild fiir
Cromwells tatkräftiges Eingreifen zu finden, zieht Marvell
eine Erinnerung an seine große Reise heran: Einst auf
hoher See, als Stürme tosten, der Kurs verloren war und
Meteore flogen, als Steuermann und Passagiere verzweifelten,
da faßte ein fi-ischer Bursche das Steuer und mit sicherer
Hand, um die anderen unbeküimnert, rettete er sich selbst
samt den übrigen. Nach diesem Vergleich aus der Nautik
folgt ein anderer aus der Landwirtschaft: Nur für andere
pflanzte Cromwell den Weinstock der Freiheit, nicht selbst
trunken von ihrem Weine. Der Dichter verflucht dann jene
Gottlosen, die frohlockt hätten, wenn Cromwell ein Unglück
zugestoßen wäre, und freut sich um so mehr, daß für Cromwell
jetzt jede Gefahr vorüber ist und er mächtiger dasteht als
je. Um die Freude auszudrücken, die er und alle Guten
über den glücklichen Umschwung in Cromwells Geschick
empfanden, folgt nun ein schön ausgeführtes Bild in
Detailmalerei, das die folgende Übertragung ins Deuteche
wiederzugeben versucht:
^^Als einst der erste Mensch zum ersten Mal
Aufsteigen sah die Sann' aus tauigem Tal,
Da folgten seine Augen mit hiuauf
Und wieder abwärts ihrem stolzen Lauf
Und als sie seinem BHck entschwaiid| o weh!
Glaubt er ertrunken sie im tiefen See,
Und rings die Welt bedeckte schwarre Nacht,
Und bleiche Sterne halten Totenwacht.
Nachtvögel nur, der Rabe und die Eul*,
Erheben mit Gekrächai sich und Geheui —
Des Menfiohen Augen halten weinend Wacht,
Nicht wi^end, daß zum Schlaf bestimmt die Nacht
Dnd immer kehrt noch gegen Westen sich
Sein Bück, wo ihm ihr hehrer Glanz erblich.
^
I
^
,DurfV icti mir einmal schauen dich, o sag*?
Ist denn ein Tag nicht länger als ein Tag?* —
— Da blickt nach Osten plötzlich er zurück —
Und trifft der Sonne lächelnd heitren Blick."
Mag es meiner Übersetzung auch nur unvollkommen
gelungen sein, die Schönheiten des Originals wiederzugeben,
ao kann sie doch andeuten^ welche Perlen man in Marvells
längeren Gedichten, wo man sie gar nicht vermuten würde,
eingestreut findet; Stellen, aus denen mancher moderne
Dichter ein separates Gedicht gemacht haben würde. Man
sieht, wie gedankenreich Marvells Dichtung ist; denn ein
nicht gewöhnlicher — mein«es Erinnerus nirgend sonst
behandelter — , aber höchst poetischer Gedanke ist es :
Welche Gefühle müßte ein Mensch Sahen oder kann der
erste Mensch gehabt haben — wenn wir auf diese Vor-
stellung eingehen — , wenn er das strahlende Auge des
Tages verschwinden sieht und noch nicht weiß, daJi es am
nächsten Morgen wiederkehrt?
Wir haben eigentlich mitten in einem Vergleiche ab-
gebrochen: So freudig überraschend, wie dem Menschen
die Sonne wiederkehrte, tauchte Cromwell, dem düstere
Kacht zu drohen schien, wieder auf, so daß die anderen
Fürsten erschreckt emporfahren. Indem nim Marvell einem
derselben seine Verwunderung über die unerwarteten
Leistungen der englischen N'ation und seine Furcht aus-
sprechen läßt, daß dieselbe noch alle Reiche trlbutär machen
werde, wenn der schreckliche Cromwell noch länger ihr
Führer bleibe, legt der Dichter sehr geschickt einem Gegner
Cromwells Worte der höchsten, wenn auch un\riUigen
Anerkennung in den Mund, um nicht selbst als Schmeicliler
zu erscheinen und dabei doppelt zu wirken, indem er daran
ebenso geschickt den SclJuß knüpft: Mehr als Cromwells
Feinde sagen, kann er zu seinem Lobe auch nicht sagen.
Wie in allen größeren Gedichten Marvells wechseln
hier Lobgedicht, Satire, Sentenzen und rein lyrische Stellen
miteinander ak In den Vergleichen tritt die gelehrte
klassische Bildung des Autors wie immer zu Tage; einen
sehr ausgedehnten Gebrauch macht er speziell in diesem
Gedichte von biblischen Anspielungen, er zitiert die
Genesis, das Buch der Richter, das Buch der Könige» Er
P OBC her, Marvells poet. Werke. 5
— Ge-
flieht Ausfälle auf die im 17. Jahrhundert so vielfach in
England, Italien und Deutschland ~ hier von Qrimmels-
hausen, Chr. Weiss© u, a, — mit Becht angefeindete ^ Ratio
Status*', die raison d*Eiat ein, die so viel Unheil anrichtete
und den Deckmantel für jede Willkür bildete ; femer Aus-
fälle auf die religiösen Fanatiker und Sektierer. Es finden
sich auch Stellen, die direkt anarchistisch klingen, so wenn
er gegen Rom wettert, das er (V. 113) mit demselben groben
Schimpfnamen belegt wie Byron.Vi Hieher gehört auch
die Stelle, die uns Aufschluß gibt über seine Pläne, die
uns zeigt, daß er weitausgreifende, groJäe Absichten hatte,
die freilich nicht ganz in Erfüllung gingen, wenn er den
Fürsten zuruft : (Vv. 119 ff.)
**If graciou8 Hemtn to my life give length,
Lcisure to timef and to my wetikncss strcfigth,
Theti shall I once with gravcr acce^its »hake
Tour regai sloth and your long slionbers wake.'*
MarveU hat die Änderung freilich nicht erlebt, ab«r
man kann mit Recht annehmen, wie Leigh Hunt tut,*)
dafi er durch seine politischen Satiren keinen unbeträcht-
lichen Anteil hatte an der Vertreibung der Stuarts. Er
spricht also hier dieselbe hohe Meinung von der Aufgabe
der Dichter aus wie ähnlich in *^Tom May's Deaih-': (Vv. 65/66)
"Then is the poefe Urne, *tis Ihen he draws,
Änd smgle, fights forsaken Virtue's cause,'*
Auch in '*I%e Loyal Scot*' äußert er sich auf ähnliche
Weise; er weist der Poesie somit einen Zweck, eine
patriotisch-politische Aufgabe zu. Die Zeilen
131 — 148 sind eine förmliche Utopie. Als einsichtsvoller
Mann spricht er aber auch ganz offen von *'our brutish
fury" (V. 177).
Den hohen Ton der „Horazischen Ode" hat er in
diesem Gedicht nicht erreicht, vielleicht auch nicht ange-
strebt; sein Lob ist für den heutigen Geschmack oft doch
zu übertrieben. Wie aber in* der „Horazischen Ode*^ schon
und öfters, betont er auch in diesem Gedichte ausdrücklich,
daß Cromwell ursprunghch nicht für Krieg und Politik
i) '*The Beformcd Tramform€d'\ JT. Teil, 3, Siene, V, 26 f.
«) " Wit and Humour'\ p. 214 ff, (Londmt 18d*JJ
67 —
geschaffen war, daß er als ein Werkzeug in der Hand einer
höheren Macht handelte und auf dem einmal betretenen
Wege fortschreiten mußte, wollte er sich nicht um alle
Früchte seines Wirkens gebracht sehen. Die Stelle
P
"So have I see» cU sea
^'* (V. 265)
ihm
wo unter den ^'corposanim** das Sankt Elmsfeuer gemeint
ist (wie Groaart dazu bemerkt), zeigt, besonders durch das
scharfe „Ich*^, daß der Dichter nicht, wie es ein Epiker
sollte — und ein kleines Epos ist es ja — , über der Er-
zählung stehfcj sondern daß er mit seiner Person hervor-
und mitten in die Ereignisse tritt und für sich und von
sich spricht.
Jene Stelle, die teilweise in deutscher Übertragung
gegeben wurde^ bildet den ersten Teil eines Vergleiches,
und es verdient Erwähnung^ daß die beiden verbindenden
„So wie — — — — , 8 0 ^ durch nicht
weniger als achtzehn volle Verszeilen getrennt sind — was
deutlich die Ausführlichkeit seiner Vergleiche illustriert — ,
wenn auch speziell dieser Fall einer der stärksten ist; be-
zeichnenderweise ist das keine gelehrte Stelle, sondern ein
Vergleich aus der Natnr ; und man kann sie zu jenen zählen,
die Hazlitt^) ''musical as in Apollo' s lute" nennt.
Ein Satz, der ganz modern Englisch anmutet, obwohl
schon bei Bacon^) vorgearbeitet ist, lautet:
*^The ocean is the fountain of command;
But that mice took, we [L e. othera] captives are on land;"^)
ein Grundsatz^ den die Engländer rücksichtslos durchzu-
führen stets bereit sind.
Der Vera ist in diesem Gedichte sehr gut behandelt:
Taktumstellung und Enjambement sind meist beabsichtigt
oder zumindest nicht störend, Verschleifungen kommen in
' dem ganzen Jangen Gedicht nur in verscliwindender Zahl von
I Umgekehrt dagegen verwendet er zur Ausfüllung oft
iden Infinitiv mit /o, wo derselbe grammatisch nicht stehen
müßte.
1.
1) Sieh S. 80, Ai}m
^) Birrell, p, Gö,
^) '*Fir8t Anniver^ary »
(Vv. 369/370)
5*
68
Bezüglich einiger rein sachlich-historischer Bemerkun-
gen sei auf Grosarts Noten verwiesen.
Chronologisch das nächste Gedicht ist eine Satire in
heroic couphts, die durch das darin enthaltene Lob auf die
Republik und Crom well mit den eigentlichen ''Cromwdlian
Poenis'* in Zusammenhang steht: **Thv Charader of Hollan^^
nach Grosarts Berechnung*) zwischen 2. Juni und 31. Juli
1653 oder 5. April 1654 geschrieben. Es ist eine Verspottung
Hollands mittels krasser Übertreibung Zuerst macht sich
der Dichter über die Kleinheit und die geologische Be-
schafl'eoheit dieses Landes lustig, das eigentlich den Namen
^Land** gar nicht verdiene; es sei ja nur der Auswurf des
Meeres, die Anschwemmung britischen Sandes. Obwohl die
Holländer die gröBte Mühe darauf verwenden, ihr biJ3chen
festes Land gegen das Meer zu sichern, so zeigt dieses
ihnen doch oft genug, daß es wirklich ein „rttare liberum'^
sei, aber in anderem Sinne als jene meinen, das heiBt^ indem
es nach Beheben das Land überschwemmt. Die Fische sitzen
dort oft zu Tische, aber nicht als Speise, sondern als Gäste.
Sodann verspottet Marvell ihre Verwaltung: Wer mit der
Schaufel am besten umgehen kann, wird Deiohgraf; einer
bekleidet oft mehrere Amter, denn diese Halbmenschen,
halb trocken, halb naB, vertragen auch weder volle Freiheit
noch volle Knechtschaft. Nun nimmt der Dichter ihre
Beligion vor; es sei kein Wunder, meint er, daß so viele
Holländer sich bekehrten, da ja so viele Apostel Fischer
waren wie sie ; überdies tauft sie das Meer immer wieder.
Er stichelt auch auf die Sektenbildung in den Niederlanden,
aus denen ja auch der im früheren Gedichte mit Verachtung
genannte Thomas Müntzer stammt* Amsterdam sei eine
schlechte „Gewissensbank", wo jede GlaubensmÜDze Annahme
findet. Die Plumpheit der Holländer gibt ihm zu dem
Wortwitz Anlaß, daß sie zwar einst einen unter sich hatten,
der „Cwilis^ hieß, aber nie einen, der „höflich^ war. Er
nennt die Holländer undankbar. Den Engländern, denen
sie alles verdanken, haben sie die Verträge gebrochen und
&llen jetzt über die junge Kepublik her. Aber sie empfingen
>) Vol. l, p. 2äl;
1673 oder 1674.
nicht wie Aitken, ''Saiires**, p*lM, angibt,
— 69 -
ihren Lohn, daß die See vor Lachen schäumte. Die englische
Bepublik ebbt nur, um gleich darauf höher zu fluten. Und
der junge Herkules — England — wird die eiebenköpfige
niederländische Hydra erwürgen. Der neue Staat, dieser
Liebling der Götter, schließt Marvell, habe nichts zu furchten,
solange Dean, Monk und Blake, die drei Admirale, die
drei Spitzen des „Dreizacks des Neptun*' sind und Cromwell,
der Jupiter, den Pluto der Holle unschädlich macht.
Diese Inhaltsangabe, die infolge der Gedrängtheit nicht
beanspruchen kann^ genau genannt zu werden, leidet noch
unter dem Umstände, daß e^ unmöglich ist, jene Stellen
treffend wiederzugeben^ deren Sinn in einem Wortspiel
liegt, einem Kunstmittel, das in keinem andern Gedichte
80 viel gebraucht wird wie hier. Es sei hier nur auf
Seite 134 f. dieser Arbeit verwiesen, wo die Wortspiele im
Zusammenhang erörtert werden. Diese Wortspiele von
dem ''Cfiaracter of Holland*' finden sich aber nur im ersten
Teile des Gedichtes, der bis Zeile 100 reicht und die
eigenthche Satire bildet; denn von dieser Stelle an ist es
keine Satire mehr, sondern ein ernstes Gedicht zum Lob
der Republik und ihrer Helden, Cromwell, Monk^ Dean
und Blake, für die er sich eine ganze Mythologie zurecht-
legt, wobei dann Englands Feinde in Pluto allegorisiert
werden, DaÜ bei der starken Übertreibung viele Unrichtig-
keiten vorkommen, ist selbstverständlich.
Dieses Gedicht Marvella ist möglicherweise nicht
originell^ denn eine "Description of Hollami" findet sich in
Butlers "Itemains'\ Es ist nicht sicherzustellen, welches
Gedicht das früher entstandene ist, noch auch, ob der eine
Dichter das Werk des andern kannte. Die Verspottung
der gedemütigten Holländer war damals ja allgemein.
Vielleicht darf man schließen, daÜ Butlers Gedicht das
frühere war, weil es bedeutend kürzer ist, so daß Marvells
Gedicht — aber nur der erste Teil — eine Erweitening
wäre. Der zweite Teil ist gewiß selbständig. Gemeinsam
ist den Gedichten Butlers und Marvells nicht nur der In-
halt, die Verspottung Hollands, sondern auch das Mittel
der Verspottung ist bei beiden Dichtern dasselbe, nämlich
beabsichtigte Übertreibung.
Dieses Gedicht Marvells hat einen Streitpunkt zwischen
— 70
Hazlitt*) und Leigh Hunt^) gebildet, in ihrer Theorie
über das Komische, wozu sie es beide als Beispiel
verwerten, Leigh Hunt sagt, die besten zwei Stücke
komischer Übertreibung, die er kenne, seien, vom "Hudu
hras" abgesehen, Butlers '*Description of Holland** und
Marvells Gedicht. Er zieht Mar\^ells Satire vor ^ — über-
haupt sagt er von unserem Dichter gegenüber Butler '*Ac
exceUed htm in poetry" — , da sie sich durch größere Ver-
schiedenheit der Kontraste auszeichne. Er sagt, wir können
dicBe Verse nie ohne Lachen lesen. *^The jest of this effusim^
lies in the intmtional and excessive f^aggeration*^ also eine
Übertreibung wie in *'Flecknoe*\ für welche Satire er auch
das höchste Lob hat.
Im Gegensatz zu ihm steht Hazlitt: Seine Meinung
von Marvell als Lyriker ist keine geringe, er lobt die
Eleganz und Zartheit in den beschreibenden Stücken
(sweei as in ApoUo's lutcj, was aber die Satiren betreflTe^
BD sei Marvell dem „affektierten und gekünstelten** Stile
der Zeit zugetan gewesen, den der Kritiker überhaupt
tadelt. Als Beweis dafür nennt er ''Fkcknöe*\ Die Satire
auf die Holländer sei ein Beispiel für die gezwungene,
weithergeholte Methode der Behandlung des Gegenstandes ;
und dieselbe Stelle, die Leigh Hunt aus Bewunderung
des Witzes gesperrt druckt, druckt auch Hazlitt ab, um
die Lächerlichkeit zu demonstrieren:
'^The fish oft'times ihe burghers (Usposseasedf
And saif twt as a meat^ but as a guest" eto.
Wie so oft auf der Welt hat wohl keiner ganz nnrecht.
Bewundernswert ist ja die fast unerschöpfliche Leichtig-
keit, mit der Marvell Gegensatz auf Gegensatz und Über-
treibung auf Übertreibung häuft Aber, obwohl wirklich
komische Stellen sich finden, Übertreibung verträgt man
nur bis zu einer gewissen Grenze; und der Fehler, in den
Marvell verfallt, ist, daß ihm die Kürze fehlt. Ich bedaure,
nicht mehr unter dem frischen Eindruck der ersten Lekttire
i) Hazlitt, ''Lectures on the English Foets . . .'\ 1899, S, 69ff.
(II. T,: The Englüh Comic Wi-iters).
*) ''Ä Tale for a Clümnetj Corner and other Eiaayif'' % Leigh
Sunt, Londofi 1887 ^ S. 54 f, —Leigh Hunt/* Wii afid Humour**, London
288:9, S. 33 ff., 218.
— 71
za stehen; doch glaube ich auch in diesem Falle in das
übertriebene Lob Leigh HuntSj bei aller Zuneigung für
Marvell, nicht einstimmen zu können.
Das folgende Gedicht ist wieder ein Ruhmesblatt für
die Republik j respektive für den bereits im vorigen Ge-
dichte genannten Seehelden Admiral Blake: ''Chi the Victory
obiained by Ädmiral Blake omr the Spaniards^ in the Bay of
Santa Cruz in the Island of Teneriffe, 1657'\ Diese Schlacht
fand am 20. April statt; die Nachricht davon kam früher
nach England als Blake selbst, der noch auf der Heim-
reise erkrankte und bald starb (Grosart). Der Dichter setzt
nicht mit der Schilderung der Schlacht ein, sondern mit
der Abfahrt der spanischen Silberflotte von Amerika nach
Europa, die mit groBer Vorsicht meist bei Nacht fuhr, um
nicht abgefangen zu werden. Auf den kanarischen Inseln,
eren Reichtum Marvell ähnlich schildert wie in „Ber-
mudas*', machten die Spanier halt. Nun folgt eine sehr
patriotische, aber sehr naive Begründung: Weil das die
besten Inseln sind, verdienen sie auch die besten Herren
zu haben — das sind natürlich die Engländer ! Wie Marvel!
früher den Holländern vorgeworfen hatte, so wirft er nun
den Spaniern vor, wie unrecht sie taten, den Frieden mit
England zu brechen. Die vor Santa Cruz vor Anker
gegangenen und gelandeten Spanier be wundem die stolze
Höhe des Pik von Teneriffa; in ihrer Brust jedoch, sagt
der Dichter, trugen sie einen noch höheren Stolz, In dem
Gedichte aber steht der englisohe Stolz leider dem spanischen
nicht nach. Die Spanier zogen, als sie von der Annäherung
der englischen Flotte erfuhren, die SchiflFe zur Versohanzung
ans Land und erwarteten getrost die Ankunft Blakes. Nach
einer ermunternden Rede an seine Leute begann dieser die
Schlacht Schiffe sanken, andere flogen in die Luft; am
Ende war die spanische Silberflotte zerstört; so errang
Blake selbst auf unfruchtbarem Meere Lorbeer für sich
und England, Am Schlüsse bricht eine menschlichere,
mildere Ansicht bei Marvell durch; er wünscht^ daß alle
Schätze der Welt in ein so tiefes Grab versenkt würden
wie dieses Silber, denn dadurch würde die Ursache vielen
Streites aus der Welt geschafft sein und das Land würde
dem Meere seinen Frieden verdanken.
— 72 —
Diese heraic Cjouphis machen keinen er&eulichen Ein-
drucki weil der Patriotismus in ihnen zum Chauvinia-
mus gesteigert ist. Marvell wurde gewiß nicht mit der-
selben Gemütsruhe und Bonhomie seine Schlußfolgerung
gezogen haben, wenn die versenkte Silberflotte zutallig
eine englische gewesen wäre ; ein seltsam e i n s e i t i g-phil-
antbropischer Standpunkt also.
Wir sehen in diesem Gedichte wieder die Vermischung
der Gattungen und den Standpunkt des „«</ piciura sit
poesis'' oder der Poesie als „redende Malerei" , mithin die
Verwechslung von Sukzession und Koexistenz — nach
Lessing — ^ wenn er von seiner dichterischen Tätigkeit
sagt^ er ^male eine Szene**, das heißt ein Bild. Die grauen-
volle Schilderung des Kampfes entspricht der Vorliebe des
17. Jahrhunderts, das ja auch in den sogenannten Er-
bauungabüehem und in Beisebeschreibungen Schilderungen
von Greueln und Martern häufte.
Die Vorstellung der Schlullzeilen, wo Fama sich auf-
macht und an allen Orten die Siegesnachricht mit ihrer
Trompete verkündet, ist eine Variante der alten Virgil-
schen Vorstellung,
Marvell stellte seme Muse auch in den Dienst zur
Feier von Familienereignissen im Hause des Lord Pro-
tektors. So schrieb er zur Vermählung von Cromwells
Tochter Mary mit Lord Fauconberg im November
1657^) zwei ''Songs on fhc Lord Fauronherg and ike Lady
Marp Oromweir in Schäfereinkleidung. Im ersten ''S(mg'\ in
viertaktigen jambischen Versen, sind der Bräutigam als
Schäfer EnHymion und die keusche Luna»Cynthia, um die
er wirbt, die Personen. Aus den einleitenden Zeilen des
Chores erfahren wir, daß jetzt» wo alles schläft, selbst Astro-
logen und Wölfe (1), der Schäfer Endymion allein auf dem
Hügel länger wacht als der Mond. Er fleht Cynthia, die
Hüterin der Sterne, um Erhönmg seiner Liebessehnsucht
an* Sie aber gibt ihm zur Antwort, sie habe genug mit
ihren Schafen zu tun — eine ähnliche Antwort wie in dem
alten schottischen Gedicht von '^Mohin and Makgn\ Nach
wiederholten Bitten und ebenso vielen Abweisungen spricht
1) Grasart, /, 142.
^ 73 —
•
ihm der Chor, der offenbar mit seinem guten Engel oder
der Hoffnung identisch ist, Mut und Trost zu: auch Au-
chises sei nur ein Schäfer gewesen und doch habe ihn
Lunas jüngere Schwester im Schatten des Ida erhört So
ermutigt^ versucht Endymion Latmos' Gipfel zu erklimmen;
doch unfähig, ihn zu erreichen, fleht er sie nochmals an,
sich doch zu ihm herabzulassen. Ihre Abwehr ist schon
minder schroff und plötzlich hören wir, daß sie inzwischen
wirklich schon herabgestiegen ist, denn sie sagt: „Dietäe
Höhle ist dunkel." Er aber freut sich, denn da kann sie
niemand sehen^ imd wenn Cynthla drinnen strahlt, ist die
Hoble ja sein Himmel. Der Chorus stimmt den Jubel-
gesang an : „Heil dir, Endymion ! Denn du hast CjTithias
Gunst gewonnen und Jupiter selbst billigt eure Liebe;
denn wer ehrlich und tapfer und weise ist, ist auch den
Göttern lieb.^
Dieses Gedicht ist keines der unerfreulichen, aber eS
ist in einem Tone geschrieben, der uns heute fast zweifeln
laßt, ob wir lachen dürfen oder nicht; an einigen Stellen
fühlt man sich trotz alles Dekorums dazu versucht ; warum
auch nicht, nachdem wir es ja mit einem Hochzeits-
gedicht zu tun haben. Einen etwas scherzhaften Ton durfte
sieh also Marvell selbst diesen hohen Personen gegenüber
erlauben. Einige Wendungen, die lächerlich wirken könnten,
sind aber gewiß, in der damaligen Zeit, ernst gemeint.
Beachtenswert ist^ daß dieses Hochzeitsgedicht sich von
zeitgenössischen, ähnlichen Gedichten sehr dadurch unter-
scheidet, daß alles Frivole und Derbsiniiliche darin fehlt.
Die Vermutung in Grosarts Anmerkung, daß die
Stelle von den Sternen, den mächtigen Kivalen, sich auf
Karl (H) bezieht, der aus politischen Gründen Cromwells
Tochter heiraten wollte, ist wohl abzuweisen, denn Karl
wollte nicht Mary, sondern die älteste Tochter heiraten
und übrigens bedarf die Stelle von den Sternen in ihrem
Zusammenhang keine fernliegende Auslegung.
Endymion sind stets vier, Cynthia zwei Zeilen in den
iMund gelegt, mit einmaliger Ausnahme, Diese Verszeilen
des Dialogs sind alle regelmäßige viertaktige Jamben. Der
Chorus tritt dreimal in Aktion tmd jede dieser drei
— ll
mäBigsten: sechs Zeilen, vierbaktig-jambisch und paarweise
reimend. Di© zweite Chorstrophe in der Mitte des Ge*
dichtes besteht gleichfalls aus sechs Zeilen dieser Art, die
fünfte Zeile aber ist dreitaktig und die sechste ist fiinf-
taktig; diese reimen weiblich. Die letzte Chorstrophe be-
steht ans acht Zeilen nach dem Schema 2433^44^^ ^^^
also am unregelmäßigsten,
'*T}ie Secöfid Song'* hat ebenfalls Schäfereinkleidung;
die Personen sind zwei Schäfer, Hobbinol und Thomahn,
und die Schäferin Phillis. Diese will zur Vermählung der
Tochter Menalcas (= Cromwells) mit dem Sohne des nörd-
lichen Schäfers (Lord Fauconberg) Blumen winden, aber
Thomalin sagt ihr, daÜ keine von den vorhandenen Blumen
fär die Braut schön genug sei. Auch der grüne Zweig, den
sie dann nehmen will, sei überflüssig, weil in Menalcas
Halle Lorbeer genug wachse, den dieser selber pflanzte —
ein Lob auf Cromwell, Dann naht die Braut selbst; der
eine Schäfer vergleicht sie mit neugewaschenen Schafen.
Auch an den Bräutigam legt er seinen Schäfermaßstab an.
Sie begrüBen das Paar dann mit einem Chorgesang, in
dem sie der Freude Ausdruck geben, dall jetzt auch andere
heiraten können, denn vor Marina und vor Dämon durfte
kein anderes Paar es wagen.
Dieses Lied ist für den Hochzeitstag selbst bestimmt,
während das erste offenbar der Verlobung galt. In beiden
haben wir also Schäfereinkleidung, in beiden einen Chor.
Der Unterschied dabeiist der, daß im ersten Liede das
liebende Paar selbst redend auftritt, während im zweiten
nur von ihm gesprochen wird. Im ersten Liede ist der
Chorus unsichtbar und unbestimmt gelassen, im zweiten
ist er sichtbar und besteht aus den Personen des Liedes.
Gemeinsam ist beiden "Songs*' — nicht als Hauptsache,
sondern in zweiter Linie — das Lob Cromwells, den er
im ersten Liede unter Jupiter, im zweiten unter dem
Schäfer Menalcas versteht. Die Schäfemamen hat der
Dichter offenbar Spensers ''Shepherd's Calendar" entlelmt.
In diesem zweiten ''Song'* ist die Einteilung formell die,
daß die Männer immer je vier Zeilen sprechen, während
das Mädchen zwei Zeilen spricht. Abweichend vom ersten
^*8üfig'' haben wir hier viertaktige trochäische Reimpaare.
*
i
— 75
Di© Chorstrophe allein ist jambisch^ achtzehn-, respektive
zwanzigzeilig, die ersten zwei Zeilen kehren nämlich am
Schlüsse (Z. 19 u. 20) als Refrain wieder. M
Den Abschluß der Reihe der ''Cromweliian Poetus"
bildet ein umfangi*eiches Gedieht von 324 paarweise ge-
reimtenj fünft aktig-jambischen Zeilen: ^*Ä Poein upon the
Deaih of His Late Highness ihe Lord Froietior" (f 3. Sep-
tember 1668). Der Inhalt ist nur scheinbar ein wirres
Durcheinander, in Wirklichkeit geht Marvell ganz geordnet
vor. Zuerst spricht er von der Vorsehung, die stets für
Cromwell sorgte; diese wollte ihm einen Tod geben, der
sein herrliches Leben nicht entstellte. Nach einem Ver-
gleich aus dem Theater folgt die uns schon bekannte Be-
tonung, daii Cromwells Natur keine kriegerische war; er
war nur das Werkzeug des erzürnten Himmels. Aber sein
Herz war sanft imd milde. Drum sollte auch sein Ende so
sem*
^ Liebe" und „ Kummer'^ wurden also mit der Aus-
führung des Urteils betraut. Jetzt kommt die Vorgeschichte
seiner Krankheit, eine psychologische Motivierung. Eine
schleichende Krankheit ergrifif Elisa, seine Lieblingstochter,
und da litt er jeden Schmerz mit. und als die Nome
endlich ihren Lebensfaden abschnitt, war auch Gromwells
Schicksal entschieden und er^ der sich selbst so oft un-
sterblich gezeigt hatte, starb aus Mitleid für jemand
andern; so wie der Weinstock, der lange fruchtbar stand,
wenn zulallig ein Ast von ihm geschnitten wird, auch
selber welkt und stirbt. Neben echtem Pathos finden wir
nun auch unnatürliche Spitzfindigkeiten, die uns kalt
lassen, so gut sie auch gemeint sein mögen ; so die
folgende Steile, wo die Sterne, nachdem die Todes art
entschieden ist, die Todesstunde für Gromweil festseitzen
sollen^ wobei sie sich für den 3. September entscheiden,
den Gedächtnistag der glorreichen Schlachten von Dunbar
und Worcester, damit, wenn er an diesem Tage sterbe,
seine Feinde, die sein Tod erfreuen würde, dennoch des
Tages mit Schmerzen gedenken müssen, während seine
Freunde in der Erinnerung an diese Ruhmestaten zugleich
einen Trost finden.'*)
*) Sieh S, 153 diej^er Arbeit.
«) Nocb Byron CVhilde HaroMs Pügrimage', IV, 86) stellt die
76 -.
Dann bespricht der Dichter Cromwells Bedeutung
für England und die Welt Er war der erste, der Waffen
in die Hand der Religion gab, er lehrte die Soldaten^ den
inneren Panzer des Glaubens zu tragen und Gott und
sonst nichts zu fürchten.*) Keinem gehorchte der
Himmel je so, seit Gideon die Sonne zum Stehen brachte.
Wie er seine eigenen Kinder liebte, so liebte er auch als
Kinder des Höchsten alle Menschen, Alles, was er tat, tat
er für sie.
Nun wird Marvell ganz persönlich. Er klagt, daß
er ihn nicht mehr sehen werde; wenn Crom well aus der
Tür trat mit seiner ehrfurchtgebietenden Gestalt, schien
es, als trete Mars durch das Tor des Janustempels ; doch
wurde der Eindruck stets durch eine freundliche Miene
gemildert. Jetzt aber ist seine Stimme verstummt, die klug
dem Arm oft Arbeit ersparte. 0 welche Nichtigkeit der
menschlichen Dinge! klagt er. Und doch lebte solch un-
vergängliche Größe in seinem vergänglichen Körper. Nun
kommt ein konsequent durchgeführter Vergleich. Er glich
der Eiche, die ihre Äste gegen Himmel streckt und ihre
Wurzeln durch die Erde; und wenn Jupiter den Blitz aus-
schleudert und auch seinen eigenen Baum nicht verschont
und lim fällt und nun der Eiese ausgestreckt daliegt am
Boden, da sehen wir erst seine volle Größe, die wir,
solange er stand, nicht richtig abschätzen konnten* So
fallen auch mit Cromwell seine Schatten, und reiner und
größer steht er da, da er tot ist. Noch in fernen Zeiten
wird man sein Lob singen und sich an seinem Namen be-
geistern. Am Schlüsse des Gedichtes verwendet der Dichter
andeutungsweise das beliebte Motiv des Zusammentreffens
des.Helden mit den Heroen der Vorzeit in der Unter-
welt, ein Motiv, das sich in ausgeprägterer Weise, in der
Form eines wirkliehen Gespräches, bei MarveU noch zwei-
mal (in "Tmn Mm/s Deatli* und in ''The Loyal Scot") .findet.
Bedeutung dieses Tages, des 3. Septembers, für Cromwell susaimmeizi,
indetn er sagt, daß dieser Tag, der ihm alles gab, auch wieder
alles nahm.
*) Kann als eine noch frühere Vorahnung des Bismarck-
sohen geiltigelten Satzes als die bisher als älteste bekannte lo
Haoines „Ätfiatie" hervorgehoben werden.
- 77 -
Das Ende bildet ein Blick in die Zukunft: wie auf das Ge*
witter der Regenbogen folgt, ho folgt Richard auf Oliver,
der Sohn dem Vater, der Friede auf den Krieg, wie ein
befruchte nder^ milder Regenschauer auf die strafende Sint-
flut; eine Hofinung Marvells, die aber bekanntermaßen
nicht in Erfüllung ging.
Der ganz persönliche Charakter dieses Gedichtes
bringt es mit sich, daß wir von einer eigentlichen Ein-
kleidung nicht sprechen können; der Dichter erzählt ein-
fach, er tritt als Historiograph oder Biograph auf, aber
nicht des ganzen Lebens, sondern nur alles dessen, woraus
er Cromwells Tod ableitet. Er führt eine mythologisch-
allegorische Maschinerie ein, "ZiOve'\ "Griefe ,,Prcviden€€'\
'*Fat€'\ *'Nature*' und ''DeatW* stellt er als Wesen hin, er
personifiziert sie. Daß er so oft Vergleiche mit dem
Theater zieht, ist auffällig, da Marvell niemals Drama-
tiker war und auch die Bühnen damals geschlossen waren.
Die Länge des Gredichtes gibt ihm wie im *'First Anni-
versary , . .*' und allen umfangreichen Gedichten Gelegen-
heit, seine Kunst im Bau langer, verwickelter, aber dennoch
klarer Perioden zu zeigen. Konstruktionen von 3, 4,
ö Sätzen im Ausmaße von 10 bis 20 Verszeilen sind keine
Seltenheit. Um eine Vorstellung von Cromwells Wert zu
geben^ vergleicht er ihn, aber nicht mit einem Vorbilde,
sondern gleich mit einer ganzen Reihe: mit König
Arthur wegen seiner Tapferkeit, mit Edward dem Be-
kenner wegen seiner Frömmigkeit, mit Gideon wegen
seines Einflusses im Himmel und auf Erden, mit Mars,
David, Moses, Josua, Jupiter; aus der ganzen Welt-
geschichte und aus der Mythologie — ohne deren Kenntnis
ein Verstehen MarveUs ebenso ausgeschlossen wäre wie
bei der ganzen Renaissancedichtung — greift er seine Ver-
gleichsgegenstände heraus, in buntem Durcheinander, nur
um seinem Lobe größeren Nachdruck zu verleihen. Einen
Anklang an volkstümliche Poesie und einen Kunstgriff
derselben finden wir in den Zeilen 281—285:
**As long as ricerji to tlie sea sball tun,
Äs long as Ci/nthia shall relieve ihe sun,
While stags shall fly unto Oit foresis tfiick,
White she^ delighi tlie grasag down» to pick,
A» long asfuture tiute sitcceeds Üie poät * . .,''
— 78 —
also in der Anhäufung von Sätzen, die mit „so latig*^ be-
ginnen, zum Ausdruck der Unendlichkeit; wie im Volks-
lied auf eine solche Aufzählung als Schluß meist folgt:
— „so lang werd' ich dich lieben** — ist hier natürlich
die Pointe: so lang wird Cromwells Andenken dauern.^)
'*/ saw him deadr beginnt er seine eigentliche Klage;
80 wie er früher in diesem Gedichte sagt: "-Sa have Zsem
a vine . . /* (und im '*First Atinivef^sary": '*So have / s^en
ai sea . . /'); das Hervortreten des „Ich" also. Er schildert
ja seinen persönlichen Eindruck von dem Toten, den
er ja so oft persönlich gesehen. Aus jeder Kleinigkeit ent-
nehmen wir, daß es kein Fernstehender war, der Cromwell
hier besang, sondern ein Verehrer und Freund, der seinen
persönlichen Umgang genoÜ; so, wenn er den Eindruck
beschreibt, wenn Cromwell morgens aus seinem Zimmer
unter die Harrenden trat; wenn er die einzelnen Mitglieder
seiner Familie kennt, die häuslichen Freuden Cromwells
schildert und auch das Leiden seiner Lieblingstochter Elisa.
Um so anerkennenswerter bei diesem hohen Lobe ist Mar-
vells Unparteilichkeit, mit der er zugibt, daß Crom-
well auch seine Schattenseiten hatte — ein schönes Gegen-
stück zu der Unparteilichkeit gegenüber einem Feinde in
der „Horazischen Ode".
Solcherart und wenn wir alle seine ''Cromwellian Paems^*
überblicken^ ist Marvell der eigentliche Dichter
Cromwells, trotz Waller, Dryden etc. Diese haben
Cromwell auch besungen, aber weil Nützlichkeitsgründe
gerade dafür sprachen; in formvollendeten Gredichten hat
Dryden fast in einem Atem den Tod Cromwells beklagt
und die Rückkehr Karls IL besungen. Das hätte Marvell
nie über sich gebracht. Wo er lobt oder tadelt, da kommt
es ihm aus dem Herzen. Als Dichter Cromwells*^) hätte
Andrew Marvell wohl in den Literaturgeschichten Er-
wähnung verdient. Von Wallers Gedicht '^Upon ihe
1) Ygl. die interessante paxodistische Wendung dieser Stelle^
der Beteuerung der unendUclien Dauer« bei Pope im Sohlnßpassu^
des dritten canto seines "Eape of ihe Lock'\ und ernst iin vierten
Pmioral "Wint€r*\ zehnte Zeile vom ÖchinJä, der hier entweder auf
Marvell selbst oder eine mit ihm gemeinsame Quelle (?) zurückgeht.
^} Birrell nennt ihn (3, 71) den LawrcaU des Protektorats.
;
4
- 79 —
^^death of ihe Lord Prot€ctor*\ in dem derselbe gleich Mar-
vell von dem Sturm bei Cromwells Tod allegorischen Ge-
^■brauoh machte rühmt Bleibtren,*) der mit seinem Lob
^PgewiU sparsam ist, den hohen ernsten Ton; und nicht mit
Unrecht, Aber mit noch mehr Recht verdiente Marvells
Gedicht Erwähnung und Lob; vor allem aber die groß-
artige **Horatian Ode'\ die von allen englischen Be-
urteüem gerühmt wird*") Es ist wirklich nicht einzusehen^
warum der Name Marvells weniger bekannt und genannt
werden sollte als der eines D e n h a m oder Waller.
^^ Nun treten wir in die Betrachtung der dem Leben
^" und der Dichtung nach letzten Periode Andrew Marvells
ein, die von der Restauration bis an sein Ende
reioht,
^m Dritte Periode,
H (1660—1678.)
^m Es wird sich auch hier empfehlen, kurz den Q^ng der
historischen Ereignisse während dieser Zeit sich ins Ge-
dächtnis zu rufen.
Fast genau ein Jahr nach Richard Cromwells Ab-
dankung hielt der zurückgerufene Karl IL seinen Einzug in
London, Gleich am Beginn seiner Regierung zeigte sich
sein Charakter, indem die feierlich versprochene Amnestie
nicht gehalten wurde; die hochkirchlichen Artikel wurden
mit Zwangsmaßregeln durchgesetzt; andererseits fanden
seine katholisierendeu Tendenzen Ausdruck durch seine
Vermählung mit einer portugiesischen Prinzessin. Da er
fortwährend Geld brauchte^ wurden die Parlamentsmitglieder
bestochen. Im übrigen waren ihm seine Maitressen wichtiger
als alle Staatsangelegenheiten; dasselbe gilt von seinem
Bruder. Auch bloß um Geld zu erhalten, gab er sein Heer
zum Kriege gegen Holland her^ den Ludwig XIV. unglück-
lich ftihrte. Die allgemeine Unzufriedenheit wuchs. Da man
die katholischen Neigungen des Königs kannte, so galten
seine Freunde, die Katholiken und der Papst, als Anstifter
alles Unheils, das das Volk traf, zum Beispiel auch des
») Gench. il engl Lit, /, 134/.
3) Vgl. i4uch Äitken, "Poems'\ p,LXV,; ferner A. Chr. B e Q-
fion, *'EMa*fs*\ London 1896, p, 84 f.
m
— 82 -
ins öffentliche Leben, in die Politik eintritt, hört seine
Dichtung auf ^ wenn wir unter Dichtung Lyrik verstehen.
Eigentlich ^Dichter'^ wollte ja Marvell nicht sein: er hat
seine Produkte der Phantasie bei Lebzeiten im Polt ver-
schlossen gehalten. Jetzt, in der dritten Periode» bringt er
seine politischen Gefiihle in Verse, seine Anschauungen,
Spott und Klagen ; jedes bedeutende politische Ereignis
sowie die unterlaufenden Privat-Intriguen erwähnt er in
seinen Satiren, oft in buntem Durcheinander. Sein spotten-
der Tadel und Unwille richtet sich stets gegen das wirk*
lieh Verkehrte und Schlechte, wenn auch vielleicht in der
Hitze der Parteigefechte mancher Gegner zu oft vorge*
nommen wird. Ausgezeichnet ist die Charakterschilderung
mit einzelnen^ wenigen Strichen: dabei entfaltet er einen
glänzenden, freilich meist bitteren Humor. Gewii3 ist anzu-
nehmen, daß er vieles schrieb, respektive hinwarf, was
nicht auf uns gekommen ist. Dieser Flüchtigkeit der
Abfassung entspricht oft die schlechte metrische Form, die
rüde Behandlung des heroic coupht, in dem die meisten
Satiren veriai3t sind.
Nach dem Gedichte „auf den Tod des Lord Pro-
tectors" im Jahre 1658 haben wir eine Lücke von mehreren
Jahren in Mar^^ells poetischer Tätigkeit; auch seine Kor-
respondenz fehlt während dieser Zeit So wenig diese wohl
ganz unterbrochen blieb, so wenig wird seine Dichtung
ganz ausgeschaltet gewesen sein; aber erhalten ist uns
nichts. Eine Erklärung bilden seine teils privaten, teils
offiziellen großen Reisen , die in jene Zeit fallen* Die Kor-
respondenz beginnt dann Ende 166Ü| während die Dichtung
erst 1667 wieder einsetzt, also nach einer Paus© von fast
einem Jahrzehnt.
Das Milieu seiner Satiren, denn das sind jetzt seine
Dichtimgen, ist das der führenden Kreise in der Zeit
raffinierter Schlechtigkeit, in der sich der englische Hof
nur mit dem zu Paris vergleichen konnte ; kurz gesagt, die
Zeit der Restauration, die nur eine Übergangszeit war zur
"ghrious rebeiiion*\ jene Zeit, die jedem lebhaft genug vor
Augen steht, wenn er den Namen Karl IL hört, von dem
Thackeray sagt, er war ein Schuft, aber kein Snob.^)
*) Snahsbuch, 2. Kap,
4
4
4
— 83
L
Andrew Marvell ist ein englischer Juvenal im kleinen;
ohne etwas zu verschönern^ sagt er alles direkt heraus,
nennt die Laster bei ihrem wahren Namen, daher er oft
Ausdrücke gebraucht, die nicht salonfähig sind. Den Inhalt
dieser Satiren zu geben, ist eine undankbare Sache, denn
ohne den Witz, der nur im Original richtig wirkt, ver-
lieren sie viel von ihrem Keize, ja, sinken oft für den
heutigen Leser, der nicht vorher mit den geschichtlichen
Werken oder Memoiren jener Zeit sich vertraut gemacht
hat, zu einer bloJ^en Aufzählung von Namen herab, die
freilich fÜi* die Zeitgenossen ihren bestimmten^ wirksamen
Begriffsinhalt hatten.
Das erste, aus dem Jahre 1667 erhaltene Gedicht,
von ungeheurer Länge, eine Verschronik mit satirischer
Tendenz, ist betitelt: ''The last Instructions to a Painter
about the Dutch Wars, 1667/' Die Einkleidung ist, wie
der Titel andeutet, die, daß er angeblich einem Maler in
den Pinsel diktiert, was er malen soll, wobei sich natürlich
Gelegenheit ergibt, über alles mögliche zu sprechen.^)
Diese Form ist nicht originell, was Marvell im Titel C'Lasi )
und in den Anfangszeiten zugibt:
^*Äfi€T iwo HitifxgSf tww our Lady ^'toif,
To end Her picturf, daes Hie third iime waiV
*^Dame Staat'' hat also dem Maler schon zweimal
gesessen und jetzt kommt die dritte Sitzung. Unter den
ersten zwei „Sitzungen" meint er die gleich angelegten,
aber in royalistischem Sinne gehaltenen Gedichte gleichen
Titels von Waller^) imd Denham®). Eine genaue Inhalts-
angabe des dreiteiligen, rund 1200 Verse umfassenden Ge-
dichtes würde zu weit führen und hätte keinen besonderen
Wert. Zur Erklärung der Bezüge, die heute ohnehin keine
^) Diese Voratissetzung gebort demnach in die Rubrik „Ver-
mischung der KuQätgattungen^ : Wenn er ,, Szene auf Szene^^ an
uns %*orüberziehen läßt ("^ ÄppleiofuHouse'') , so ist das Vormisohuiig
der Dichtungtjgüttuugen: Epik und Drama. Das Drama bringt er
noch ifi die Gedicbte in der "Horatian Ode^ und dem Gedicht auf
Cromwells Tod. Er spricht selbst von der Vennischtmg der Kunst-
gattungen : '■poeiic pkture, paintcd poetry''. C^Instructwns , . /% V. 8Ö6,)
2) BicUmary of Nat Biogr,, toi LIX, p. 1^3ff.
»} Ebenda vol. XIV, p. 346 f.
— 84 —
vollständige mehr ist, sei auf Gros arts Noten ^) verwiesen.
Ich begnüge mich, im folgenden die technischen Mittel
seiner Satire aufzuzeigen und die Vergleiche zu geben^ auf
denen der Witz beruht.
Am Eingang setzt er von dem Maler voraas, da£ er
ohne Farben malen könne, so wie England ohne Schiffe
Seekriege führen muiJ ; ein Hieb auf die Vernachlässigung
der Marine, Den Namen des Henry Jermin of St. Albans,
eines Glücksritters und Weiberjägers, benutzt er zu einem
Wortspiel; er sieht in ihm gleich zwei Heilige vereint,
St German und St. Alban. Die Herzogin von York, ge-
borene Nan Hyde, preist er als die größte Erfinderin, die
von der Royal Society diplomiert zu werden verdient; sie
habe es verstanden, die so oft gesuchte Maschine zu er-
finden, mit der man ein Mädchen, nachdem es geboren
hat, wieder zur Jungfrau machen kann; auch bringe sie
es zu Stande, königliche Erben in weniger Monaten zu
produzieren, als gewöhnliche Mütter sonst aushalten müssen;
ein direkter Vorwurf der Kindeaunterschiebung, Er er-
wähnt ihre chemisch en Studien, denen sie es verdankt,
lästige Eivalinnen mittels einer harmlosen Schokolade ins
Jenseits befördern zu können. Dann spottet er in sehr
derben Auadrücken über Lady Castlemain, eine abgeblühte
Dame^ die sich in ihren Groora verliebte und sich seinet-
wegen frisch aufpuderte. In längerer Ausführung wendet
er sich nach dieser gesellschaftlichen Satire dem Paria*
ment zu, das er mit leichtsinnigen Spielern vergleicht,
die um das Wohl des Volkes würfeln. Die ^'Eüceise^', die
zur Bestechung nötig sei, nennt er ein Ungeheuer mit
tausend Köpfen, das alles verschlingt. Humorvoll ist die
Zusammenstellung :
"Thick was tht; moni»if^{= Nebel); and the FTouse f= Parl&meDti /r«*
thinr (V, 285.)
Die Beden im Parlament schildert er als einen
Kampf; auf der einen Seite stehe eine einige Partei, die
Korruption, während die anderen Parteien zersplittert sind.
Den Poeten Edmund Waller läßt er als frumpct-gmeral
auftreten. Marvells Kenntnis der italienischen Dichter zeigt
i) Vol l p. 288 ff.
— 85 —
ein Zitat aus "Orlando (furioso)^ famous in rotnanc€^\ Wie
seJir der Dichter als Parlamentsmitglied die eharakte-
riatisehen Gewohnheiten der einzelnen kannte und aufs
Korn nehmen konnte, zeigt der Passus, wo einer der
Tapferen, ermüdet, om sich zu erholen, weggeht '^to breathe
a while tobac'\ Die Rettung vor dem Überfall der Steuer-
vorlagen briugt an diesem Tage "a gross of Engltsh geniry*\
der er hohes Lob widmet. Auf ihrer Fahne ist der heil.
Dunstao abgebildet, wie er den Teufel in die Nase zwickt.
Ergötzlich ist die Sentenz:
'■ What frosts to fruiU, what arsaiic to the rate,
What to fmr Denham mortui dmcalate})
What an account io Carter H, thai and mort
A parliament ü to (Jie Omncellor," (Vv. 841—344.)
Geradezu haarsträubend aber sind Dinge, deren Wahr-
heit leider historisch verbürgt ißt:
"Now Moräaimt may witkin Äw castle-tower
Imprison parents and their child defloiver.'' (Vv, 349/860,)
Man muß nur staunen, daß Marvell nicht mehr dar-
über sagt, aber "nerves were tough in those dags'% wie
Birrell (p. 95) bei einer andern Gelegenheit meint.
Clarendon, den Lord Chancellor — den Verfasser der
*'Hisiory of the Rebetlion'* — ^ dem er später eine eigene
Satire widmet und der der Gegenstand seines besonderen
Hasses war, vergleicht er ironisch mit dem allmächtigen
Jupiter, wie er im Palast© thront, eifrig um den Frieden
besorgt, damit — sein Geld in Sicherheit sei, so die
höchsten Angelegenheiten des Staates seinen Privatinter-
essen unterordnend. Mitten hinein fällt eine Äußerung über
die Aufgabe der Dichtung, übereinstimmend mit seinen
anderweitig ausgesprochenen Grundsätzen: durch Bloß-
stellen und Lächerlichmachen des Lasters will er bessern ;
also die Horazische Nützlichkeits- oder Zweckbetonnng
in der Dichtxing. Dann spottet er über die englische Flotte:
im ersten Jahre des Konfliktes zeigte man sie bloß, im
zweiten wurde sie geteilt und im dritten war sie überhaupt
nicht mehr vorhanden. Ahnlich charakterisiert er das Ver^
halten des Lord-Kanzlers im Augenblicke der Gefahr durch
1) Anspielung auf die erwühnte Vergiftung 8. 84.
— 86
Holland: zuerst gibt er Beföhle, dann widerruft er sie und
zuletzt gibt er überhaupt keine. Marvell benutzt also
wiederholt das Moment der komischen Aufeinanderfolge,
die Klimax. Oder: er sagt etwas atis und macht dann
solche Einschränkungen, daJi die erste Aussage aufgehoben
und nichtig ist. Zum Beispiel: dem Führer, der gegen
die Holländer ziehen soll, sagt man, es stehe alles zu
seiner Verfügung; nur sind die SchiflFe ungetakelt, die
Forts unbemannt, das Geld ausgegeben, Monsieur Lewis
(Ludwig XrV. von Frankreich) will trotz Versprechungen
und Verwandtschaft nichts von Hilfeleistung wissen, dafür
schickt er ein gefühlvolles Teilnahmsschreiben mit Zitaten
aus Seneca. Nun bekrittelt er den unglücklichen Krieg
gegen die Holländer. Man schickte den berühmten Monk
gegen sie, aber erst als De Buyter schon in die englischen
Gewässer eingedrungen war. Hier finden wir wieder das
persönliche Hervortreten des Dichters mit den wohl-
bekannten AVorten "So have I seen . . /* Dann setzt eine
Schlachtschilderung ein: Sprag eilt beim Herannahen der
Holländer von Sheniess nach Chatham, er in der Front,
die Mannschaft ihm nach : was gewöhnlich als Zeichen des
Mutes gilt, wenn es gegen den Feind geht, ist natürlich
hier, auf der Flucht, eine LächerUchkeit Er kontrastiert
sodann ' die Zeiten an dem Aussehen der Schiffe. Den
Namen des Kapitäns Daniel benutzt er wieder zu einem
Wortspiel: als dieser sich an Bord der Übermacht gegen-
über sah, hielt er sich für Daniel in der Löwengrube;
nur war er weniger kühn und zog es vor zu entfliehen.
Auch den Namen des Schiffes **Lo//a? Londmt'* benutzt er
zu einem Wortspiel, indem er sagt, daÜ „London" jetzt
zum dritten Male brannte: — früher nämlich die Stadt
London 1666 und noch früher, 1665, ein Schiff „London'^.
Bei der Schilderung dieser unglücklichen Schlacht von
Chatham (12: Juni 1667) vergeht dem Dichter der Humor
und die ganze Bitterkeit bricht durch. Dann aber verhöhnt
er die Sucht, für da^ Unglück einen Sündenbock zu finden;
er stellt ironisch eine Reihe von Fragen, wer an dem und
dem Unglück schuld sei, und immer ist die Antwort im
Reim *^Petr, so daÜ wir durch sechzehn Zeilen hindurch
diesen Reim haben. Er gibt ironisch recht: gewiJJ, hat
i
4
■^ 8T —
I
I
der Erbauer Pett die Schiffe überhaupt nicht gebaut, so
hätten sie nicht verlorengehen können. Dann beschreibt er
den Wiederzusammentritt des vertagten Parlamentes, neue
Känke von Seite Hjde- Ciarendons und des Speakers
Turner, des Koches, wie er ihn nennt, der es wohl ver-
stand, jede „Sauce" für Whitehalls, das heiJit des Königs
Verdauung herzurichten. Auf Turner geht auch eine etwas
derbe Stelle:
''His patimt püi ke eauld hold langer (hau
An urinal, afui nt like anff henJ' (Vv* 831/832.)
Zum Schlüsse läßt er von dem fiktiven Maler den
König malen, in einer Vision, ein nacktes AVeib vor ihm,
mit oflenem Munde, gefesselten Händen und einer Binde
vor den Äugen, aus denen Tränen flieiJen. Während der
König nachdenkt, ob es England oder der Friede war,
erscheint schon eine neue Vision, der Geist seiner Vor-
fahren Heinrichs IV. von Frankreich und Karls L Der erste
zeigt ihm seine Wunde in der Brust und Karl zeigt ihm
den roten Streifen um den Hals und spricht leise Worte
2U ihm. Infolgedessen beschließt er am Morgen Clarendons
Absetzung. Am Schlüsse spielt Marvell auf Karls IL Kunst-
liebhaberei an, der ja selber malte und dichtete.
An diese Satire, das heißt an diesen ersten Teil der-
selben, der ernst und hoffnungsvoll endet, schließt sich
eine Bitte "7b the King'': Wenn man die Sonne mit dem
Fernrohr betrachtet, so sehe man^ daß sie Flecken auf-
weist, die sie nie verlassen, die ihre Krankheit sind. So
möge auch der König die Muse nicht tadeln^ die ihm die
Flecken zeigte, die sein Licht entstellen, jene Leute näm-
lich, die Königreich und König trennen wollen, indem sie \
sich zwischen Volk und Herrscher stellen.
Der *'Second Part'* der *'Imtructi4)tis'\ bei Grosart
unter dem Subtitel ^' Advice to a Pmnter*% wendet sich
gegen den Herzog von York, späteren James II., und
seinen papistischen Kreis; dessen Überzeugung sei, ein
Prinz von Geblüt dürfe alles tun:
**And I do Batf ii, therefare f«V ihe ImV* (Y, 36 )
Marvell bedauert die zweite Gattin desselben, die un-
glückliche gold lockige Maria Beatrix d^Este, die in ein
— 88 —
fremdes Land keim, schwacher Hoflhungen wegen, einst
Königin zu werden, die aber, gleich ihrer Vorgängerin
von der ansteckenden Krankheit ihres ansBchweifenden
Mannes infiziert, jung starb. Als Ratgeber all dieser
Schlechtigkeit betrachtet er den demütigen Heuchler
Clifford. Auf einen andern Ratgeber, Lord Bellasis,
mÜDzt der Dichter das herbe Wortspiel (Vv. 83 — 86) :
"The hera once got hanwur Inj Im mcord :
He got hie weaith by breakmg of Hü word,
And nmo his daugkUr he hath got tütth child,**
Am Schlüsse spricht sich dennoch Vertrauen und
Hoffnung auf Besserung aus- Klügere als die Genannten
hätten schon versucht, England zu ruinieren und es hat
es ausgehalten. Um so eher werde es den Bestrebungen
solcher Toren entgehen.
Wieder schließt sich daran eine Anrede **2b ihe King**,
den er bittet, Mitleid zu haben mit dem Throne, der
nicht durch ihn, sondern durch andere erschüttert werde.
Er mahnt ihn, sich zu hüten, daß er nicht Krone und
Leben zugleich durch einen falschen Bruder (James) und
einen falschen Freund (Talbot) verliere. Eine ziemlich
deutliche Sprache.
Im '*Tkird Part*' oder ^'Fariher Instructions'* endlich
will er Rom und London auf einem Gemälde haben, um
Gericht zu halten über die zwei ausgearteten Herrscher;
Karl I. und Aurelius klagen über ihre entarteten Nach-
folger, Karl IL und den neuen Papst, die Lieber zu ihren
Maitressen als zu ihren Regierungsgesehäften gehen. Er
verspottet den Staatsrat, wo bei vollen Bechern über das
Soliicksal einer armseligen Nase entschieden wird — eine
Anspielung auf die Grausamkeit gegen Sir John Coventry,
die öfters wiederkehrt. Zum Schlüsse läßt er die Olympia
malen, Karls neueste Maitresse Neil Gwynne, die Schau-
spielerin, im Kreise ihrer Anhänger. Dieser Teil schließt
bezeichnenderweise nicht mehr **To the King'\
Wir haben sicher anzunehmen, daß ein solch um-
fangreiches Gedicht nicht in einem Atem geschrieben
wurde, auch nicht einmal der erste Teil. Daß der zweite
und dritte Teil spätere Anhängsel sind, ist evident. Am
80. August 1667 wurde Clarendon, der in Ungnade gefallen
p
4
— 89 -
»
^
war, abgesetzt. Der gröüte Teil von Parti ist offenbar
vor diesem 30, August geschrieben, weil Clarendon
noch als in voller Macht sitzend und mit solchem Haß
geschildert wird, wie man ihn dem gefallenen Gegner
nicht mehr entgagenbringt. Mit den Zeilen der Vision des
Königs ( Vv. 877/878)
*'The wonärons night the penswe king revohes,
And rising straighi, on Hitd^r's disgrace rcmhfs/*
sind wir beim 30* August angelangt und die hoffnungs-
volle Stimmung des Dichters am Schlüsse entspringt der
Voraussetzung, daß von nun an mit der Entfenmng
Ciarendons und dessen üblen Einflusses auf den König
wieder bessere Zeiten für England kommen würden.
Zwischen dem ersten und zweiten Teile miiß ein größerer
Zwischenraum liegen^ in dem Clifford sich zu einer äiiu-
lichen Stellung hinautjgearbeitet hatte wie vordem Claren-
don. Auch ist in diesem zweiten und dritten Teile von
Holland nicht mehr die Bede. Der zweite Teil scheint im
Jahre 1669 geschrieben zu sein, denn in diesem Jahr© war
es^ wo die katholischen Element© unter der Führung des
Herzogs von York die Oberhand gewannen. Grosart ver-
sucht keine Zeitbestimmung durchzuführen, weist aber in
einer Anmerkung^) darauf hin, daß der Name Danby^ der
im Gedichte vorkommt, falsch sein muÜ; denn der Titel
eines Earl of Lktnhif wurde erst 1674 verliehen and so
spät ist das Gedicht sicher nicht entstanden, denn da
lebte der geschilderte Clifford gar nicht mehr. Auch
andere Gründe können angeführt werden : Für 1674 paßt
die ganze Konstellation nicht mehr; 1674 war ein neuer
Krieg mit Holland^ den Marvell gewiü nicht unerwähnt
gelassen hätte. Ferner würde sich dann ergeben, daß der
sogenannte dritte Teil vor dem zweiten geschrieben wäre.
Aus allen Gründen können wir also für Part II das Jahr
166!^ ansetzen, — Part HI ist frühestens Ende 1670 ab-
gefaßt,-) das ergibt sich aus den Anspielungen auf Frank-
reich und aul* **(h(' phfjer*\ Neil Gwynne, jene Schau-
») Bä. l, 319,
-) Aitken vertauscht die Stellung des hier sogenannten zweiten
und dritten Teiles und nimmt für seinen zweiten Teil C'Forther Instr/')
l&il^ für den dritten C'Advice") 1678 als Entstehungeaseit an.
00
Spielerin, die dem König in Dr^'dens Stücken so gefallen
hatte, daß er sie zu seiner Maitresse machte.
So sind diese ''Instmciions to a Painter' ein ausführ-
liches Zeitgemälde, von nicht engbegrenztem Lokal, in dem
er mit beizender Ironie und schlagendem Witz alle mög-
lichen Personen und Ereignisse, Parlamentösitzungen und
Schlachten, Betrügereien und Liebeleien, List und Ge-
walt etc. etc. vorfuhrt.
Mitten in den langen Zeitraum hinein, während
welchem diese vielen Hunderte Verse geschrieben wurden,
fallen auch noch andere selbständige Satiren. Claren-
don, den Marvell schon in den *' Instructions*' so arg her-
nimmt, ist der Gegenstand derselben; es ist begreiflich,
daß Marvell seinen politischen Gegner nicht mit zu hellen
Farben zeichnet.
'* Ciareudon* s HoHse-Wünnin(f\ in viel lebendigerem
Tone und anziehenderer Form geschrieben» besteht aus
achtundzwanzig Strophen zu je vier Zeilen von viertaküg-
jambisch-anapästischem Rhythmus in gekreuzter Reim-
stellong. Die Äbfassungazeit dieser Satire läÜt sich ziemlich
genau feststellen: Sie setzt Clarendon noch auf dem
Gipfel seiner Macht voraus und erwähnt andererseits das
„grolie Feuer** von London schon; der Tag dieses Ereig-
nisses, der 2, September 166B, ist der temiitms a quo und
die Absetzung Clarendons am 30- August 1667 der tertninus
ad qtienu
Marvell bezichtigt Clarendon in diesem Gedichte
direkt verbrecherischer Handlungen. Clarendon hatte sich
ein prächtiges Palais erbaut^ Clarendon-House, und zwar
nach Marvells Vorwurf auf öffentliche Kosten. Gleich ein-
leitend und durch den selbstverständlichen Ton, in dem
das gesagt wird, um so krasser wirkend, nennt er ihn die
Ursache des Krieges, der Pest imd des Feuers, den Be-
trüger von England und Flandern. Er läßt Clarendon die
Mittel und Wege bedenken, sein Haus möglichst billig zu
bauen. Strophe 4 ist zu frivol, um wiedergegeben zu
werden. Um ganz klassische Beispiele nachzuahmen, er-
bettelte er sieh vor allem, wie Dido, ein Stück Land, das
seinen Namen trug — ein Wortspiel mit seinem eigent-
lichen Namen Hyäe — hide — Haut, Er hatte seinem könig-
4
^
4
— 91 —
»
^
^
liehen Herrn so manches Luftschloß gebaut, er selber
wollte aber in einem solideren Gebäude wohnen. Geld
nahm er, wo er es nnr kriegen konnte; ja^ der Teil der
Geistlichen entging nur mit Not seinen Händen; — zu-
gleich ein scharfer komischer Seitenhieb auf die Geist-
lichkeit wie bei Goetlie und Heine. Der folgende Anwurf,
daß Clarendon Steine von St. Paul's gestohlen habe, ist
der ungerechteste, denn Clarendon bezahlte die zur Re-
paratur von St, PauTs Caihedral bestimmten Steine, die er
für sich benutzte (Grosart), Er trieb Steuern ein und schwur,
seine Patente nicht zurückzunehmen ''no, would the wholc
parUameni kißs hini behhur, Da er auÜerdem den königlichen
Steuereinnehmer zum Freund hatte, so war der Palast
bald fertig, von einer Kuppel gekrönt, damit er angesichts
der niedergebrannten Stadt sich seines Besitzes um so
mehr freuen könne. Der Dichter findet die Lage des Ge-
bäudes sehr praktisch^ weil Clarendon durch Hijde Park
hindurch leicht nach Tißhurn kommen könne und auch der
Stall nahe ist, damit er nicht weiter habe als ein Ochse,
wenn er einst seiner Verbrechen wegen gleich einem
solchen öffentlich am St, James' fair geröstet würde.
Auch in diesem Gedichte arbeitet Marvell viel mit
Vergleichen; aber hier sind sie nicht unwillkommen,
der gan^e Witz liegt in einem gelungenen Vergleiche,
Wieder legt er sich keine Schranken auf: Vergleiche aus
der Zoologie — Eisvogel^ Salamander, Ochsen — aus der
Geschichte — Rhodope, Amphion, Dido, Pharao — kommen
nebeneinander vor. Einzelne Stellen sind wohl absichtlich
übertrieben und ungerecht, manche auch ziemhch derb,
aber das Ganze wirkt erheiternd.
Marvell war freundlich genug, für das neue Hans
auch eine Inschrift zu verfassen: *' lipon His noi(se'\ die
der glückliche Besitzer wohl weder bestellt hat noch an-
bringen Heß ; in derselben wird es als die Gruft bezeichnet,
die von den holländischen Geldern für seinen Vaterlands-
verrat erbaut worden sei, in der die Gebeine des betro-
genen Paulus, Bestechungen, Schandgelder etc. liegen.
Formell ist das kurze Gedicht sehr schwach; es ist eben
gar nicht ausgearbeitet; es sind ud gleichtaktige jambische
z^euen ^ ^ ^ ^ ^ g.
n —
Auch ein Epigramm ^^Upon ffisf-Clarendon^s) Grand-
children'* sclmeb Marvell, das zum ersten Male bei Grosart
abgedruckt ist: Ciarendons Enkel sind die Kinder seiner
Tochter Anne Hyde, Gemahlin des Herzogs Jakob von
York; ein Sohn war gestorben, der andere dem Tode nahe
und Marvell sieht darin ein gerechtes Opfer tiir Lady
Denhams Geist, die von der eifersüchtigen Herzogin, eben
Nan Hyde, mit Schokolade vergiftet worden sein soll.
Um dieselbe Zeit (1667) entstanden ist auch ein Ge-
dicht, das wir eine pathetische Satire nennen können,
die auch zu dem holländischen Kriege lq Bezug steht^
betitelt '*The Loyal Scot" und geschrieben in keroic couplets.
Es hat eine literarische Anknüpfimg. Cpt, Douglas, der
Held des Gedichtes, war bei Chatham auf seinem Schiffe
von den Holländern verbrannt worden (12* Juni 1667). Sein
Geist gelangt in die Unterwelt und dort wollen ihn die
alten Heroen würdig begniUen. Zu diesem Zwecke be-
auftragen sie den Geist des Dichters G I e v e 1 an d ^) (1630 bis
1669), der ein lateinisch-englisches Gedicht ^^Rebellis Scotas**
geschrieben hatte, in welchem er die schottische Nation
satirisierte, gleichsam zur Strafe und BuJ3e dafür, den neu--*
angekommenen Helden, der ja ein Schotte war, in Versen
zu begrüBen* Diesem, also einem bekehrten Gegner, ist
das Lob Douglas^ in den Mund gelegt. Er beginnt mit
der Preisung von Douglas' Schönheit, Jugend und Kühn-
heit tmd schildert nun seinen Heldentod, „Und dieser
Held war ein Schotte! — Darum keine Feindschaft mehr
zwischen England und den Schotten! Warum auch? Hat
die Natur die beiden Länder so getrennt? Soll ein da-
zwischenfließender Flui] alles so scharf trennen, daß Feind-
schaft nötig ist? Wohnt an einem Ufer die Tugend und
am andern das Laster? Nein, nicht die Natur macht eine
Grenze, die Geistlichkeit ist es, die sie für gut findet.
Alle Litaneien sind darum falsch, weil die Stelle fehlt r
,Und erlöse uns vom Zorn des Bischofs*. Wenn auch König-
reiche sich vereinen, die Chnrch stellt sich immer in Oppo-
sition zur KirkJ) Sie hetzen alle auf, um alle zu beherrschen.
1} "Dietionanj of Nat Biogr/', vol. XI, p, 51,
2) Auch bei Drummond findet sich ein Epigramm über die
Feindseligkeit von dmrch und kirk (Poets of Great BrUain, vol. IV, p. 689),
I
I
I
i
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— 93
I
I
Was das Meer vereint — England und Schottland — , das
trennt ein Bischof. Eä gibt doch nur zwei Nationen anf der
Welt, die Guten und die Bösen, und diese sind überall
vermischt. Drum soll ein König, ein Glaube, eine Sprache,
«ine Insel sein;" Am Schlüsse entschuldigt sich CJeveland-
Marvell wegen seiner langen Ansprache und bittet Douglas,
ihm seine früliere Satire zu vergessen. Dieser erwidert,
daß er wegen seiner Aufrichtigkeit sein Freund sein wolle
und warnt ihn nur, daU er, seine Verwandlung fortsetzend,
nicht noch gar ein eifernder schottischer Presbyter werde.
Dieses Lobgedicht, in dem zugleich Marvells satirische
Ader zum Ausdruck kommt, benutzt wie '^Tom May's
DeaW das tu'alte Lukianische Motiv der Toten-
gespräche, der Gespräche in der Unterwelt. Zugleich
haben wir hier einen krassen Fall von Vermischung
antiker und christlicher religiöser Vorstellungen, denn
Cpt. Douglas sehnt sich beim Brande des SchiflFes in den
Himmel hinauf und dann kommt er doch in die elysischen
Gefilde hinunter. Grosart bemerkt, daJJ aus dem abrupten
Eingang des Gedichtes (Zeile 15: ''Not so brave Douglas. . /*)^)
hervorgehe, daJi es urspiünglich nicht selbständig geplant
war, sondern einen Teil der *' Instructions** bildete. Ich
wüJJte aber nicht, an welcher Stelle der ''Instructions"
man dieses Gedicht und diese Anknüpfung "(Not so . , .'*)
passend einschieben könnte. Deshalb glaube ich eine bessere
Erklärung vorschlagen zu können: Ich halte die Worte
*'Not so brave Douglas . . ." einfach für eine direkte An-
knüpfung an, respektive Widerrufung von Clevelands
Satire "Eebeüis Scotus'\ die mit den Versen endigt:
^*A Scotj whcn from the ^allows-tree goi laase
Dropä inio StyXj and iums a Solana goose,"
Daraui' paßt ganz gut aus dem Munde des zur Buße
verhaltenen Dichters Cleveland das revo zierende
''Not 8o brave Douglas , . /'
Das wiU ja offenbar auch Zeüe 14 sagen.
In der Mitte des Gedichtes vergessen wir ganz, daß
1) Aitken, "Pom«", p. USß, druckt "As so.
Sinn ergibt.
was keinen
94
wir es mit einem gewissen Douglas zu ton haben, wir
hören nur eine ganz allgemeine Apologie für die Einheit
von England und Schottland sowie eine Verwünschung
der alles trennenden Kirche. Die schonen Gedanken, die
Marvell hier ausspricht, goldene Worte, hat er selbst nicht
immer befolgt; erinnern wir uns seiner Satire gegen
Holland und des Hasses gegen die Spanier, Aber jet^t
wuUte er^ daß die Engländer, so wie die anderen Völker,
selbst schuld waren an ihrem jeweiligen Erfolg oder Miß-
erfolg. Man wird es nicht als Indifferentismus ansehen,
sondern als abgeklärten Standpunkt über den niedrigen
Parteiungen, wenn er sagt:
*'The World in all doth hui iwo natums bear:
The good, ihe baä — and (hwe miaed cvcjywftere.**
Die folgenden zwei Gedichte gehen auf ein Ereignis
des Jahres 1671 zurück Ein gewisser Colonel Bio od ver-
suchte die englische Königskrone aus dem Tower zu
stehlen, um mit diesem Pfand in den Händen seinen ver-
meintlich oder wirklich zu Recht bestehenden Forderungen
rückständiger Zahlungen aus dem Staatsschatz größeren
Nachdruck zu verleihen. In der Verkleidung eines Geist-
lichen wäre ihm der Streich auch gelungen, wenn er nicht
im letzten Momente abgestanden wäre, weil er den ent-
gegentretenden AVächter nicht töten wollte.*) Diesem Vor-
fall widmet MarveU zwei Gedichte, ein engUsohes und ein
lateinisches von je acht Zeilen, "üpofh Blood's Stealing the
Crown^* in heroic Couplets und „Bbidius et Coröna'\ mit
ziemlich übereinstimmendem Inhalt. Die Tat selbst bietet
ihm nur den Hintergrund zur Satire gegen den Klerus,
Die Pointe ist die, daß Bloods Streich gewiß geglückt
wäre, hätte er mit dem Prieaterrock auch die Priester-
grausamkeit angenommen. Eine solche Kleinigkeit nähert
sich natürlich einem Epigramm, mit welchem Titel man
im 17. Jahrhundert auch noch längere Gedichte bezeichnete;
hier ist das Wort schon wegen des "üpon** zu ergänzen»
Auch ist eine Zweiteilung vorhanden, wie sie nach
L es sing das Charakteristikum für das Epigramm ist.
I
I
J) Grosart, pol I, p, 383/,
— 96 —
I
Zwischen 1670^) imd 16743), nach Grosart«) im
Jahre 167B geschriebeu, ist die pathetische Satire ''Britannia
and Iialei(jh'\ gleichfalls in htroic coupleiH, aber mit sechs
'Hriplets" an verschiedenen Stellen. Die Einkleidung ist, wie
der Titel bereits vermuten läßfc^ ein Dialog, zwischen der
personifizierten Britannia und dem groüen Raleigh, der sich
aber sehr einem Mo n o 1 o g nähert^ indem Raleigh im ganzen
nur zwölf Zeilen spricht. Ein dramatisches Element ist
schon im Eingang nicht zu verkennen: eine Person tritt
hilferufend auf, der Angerufene erscheint und fragt nach
dem Grunde, und das bietet den AnlaÜ zur Erzählung. Dem
Tone nach Ist dieses Gedicht eines der stärksten^ heftigsten ;
^ie Angriffe gegen den König, der aber teilweise noch
immer als der Irregeführte hingestellt wird^ gegen die
GeistUchkeit, den Thronfolger, die Minister und Katgeber,
wie Lauderdale, sind so vehement, daß es ganz selbstver-
ständlich ist, daß so etwas nicht gedruckt werden konnte.
Die entflohene Britannia erzählt dem erscheinenden Raleigh
von der Maitressenwirtschaft am Hofe, von der Ungerechtig-
keit Karls, den sie umsonst durch Erinnern an die schot-
tischen Revolutionen auf gute Wege zu bringen gesucht
habe. Marvell droht also direkt mit Revolution und stellt
eine Hinrichtung auch dieses Königs als nichts Unmögliches
hin, Auch seinen Holt gegen die Franzosen, die den Hof
korrumpierten, verbirgt er nicht. Bemerkenswert ist die Ein-
führung von '[famed Spenser\ der auf Britannias Veran-
lasstuig in *'lofiy notes* Titdor's blessed rate besingt und Karl
die groUe Elisabeth zum Vorbild hinstellt. Wie Grosart
meint, handelt es sich hier nicht um den großen Spenser
in persona, sondern es soll eine Anspielung auf eine Satire
jener Tage sein, in welcher Spenser oder sein Geist redend
eingeführt worden war. Diese Form ist nichts Ungewöhn-
liches ; auch Marvell fuhrt den Geist eines Dichters redend
ein — in *^Thfi Lmjal Scof und '*Ttfm 3lay*s Deatli\ Da uns
aber nicht der mindeste Anhaltspunkt über die Existenz
einer solchen j^Spensersatire" vorliegt und Grosart seine
1) Grosart, voL i, p. 334^ Anm.
^ Weil der dariu erwähcte Osbome nur bis 1674 diesen Titel
von diesem Jahre an nber Eari of Daoby hieß.
«) Grosart^ voL IV, p. 435,
— 96 —
Vermutung durch nichts stützen kann, dürfen wir wohl an-
nehmen, daÜ Marvell hier den grolien Spenaer selbst
einfuhren will, ohne den Umweg einer solchen zeitgenössischen
Satire. Die zeitliche Entfernung bildet für den Dichter kein
Hindernis; auch ^E^aleigh^ ist der Geiet eines längst Ver-
storbenen, eine dichteiische Lizenz. Für diese Ansicht spricht
auch das Epitheton ,,f(tmed'* Spettser, das man eher dem
wirklichen Spenser zulegen wird, als einer dichterischen
Nachbildung. Spenser hat ja tatsächlich in der vierten Ekloge
seines **Sh^herd*s Calendar*' das Lob der Tudors, das heißt
Elisabeths gesungen. Ein Bild, dem Größe nicht abzuleugnen
ist, ist jenes, in dem Königin Elisabeths Regierung und ihr
Ende mit '*« glorioiiB setiing sun' verglichen wird, der die
Blicke des Volkes von fem nachfolgen. Britannia hält dem
König auch "trtith's mirror*' vor; aber eine Dame in fran-
zösischem Kostüm kommt dazwischen und hält dem schon
halbgewonnenen König nun Ludwig XFV^. zum Muster vor,
mit seiner Ränkepolitik. Grosart*) sieht in derselben eine
Personifikation Frankreichs in Gestalt von Karls Schwester,
der Herzogin Henriette von Orleans; doch brauchen wir
kaum soweit suchen; die Dame dürfte eher eine, in jener
Zeit in allen Literaturen, auch in der deutschen satirischen,
vorkommende Personifikation des Macchiavellismus
überhaupt sein, dessen Grundsätze diese Dame in lehr-
hafter Weise vorträgt, die freilich am besten von Lud*
wig XIV. und Mazarin befolgt worden sind, Auch in dem
nicht von Marvell herrührenden, ihm fälschlich zugeachrie-
benen Gedicht **Oceana and Britannia" kommt ein Hieb auf
Nicolo (= Nicolo Macchiavelli) vor. An Virgil erinnern
uns die Zeilen 100 ff:
**Three spotkss virgins to your bed l'U bring" etc., mit
denen die Verführerin Karl, wie Minerva den Äolus, für
sich gewinnen will. Der Hauptangriff richtet sich eigentlich
gegen den Duke of York, den Schwiegersohn Clarendona,
und Lauderdale, Wie bei den Gedichten liir Lovelace,
Hastings etc. schon hervorgehoben wurde, atmet dieses
Gedicht förmlich Revolution, Umsturz und Republikanismus^
als dessen Muster ihm ^Hhe serene Veneiian State" erscheint,
4
») VoL I, p, 334.
97 -
wohin sich Britannia begeben will, um neue weise Lekren
enipfangeu. Es ist denn doch zu willkürlich gehandelt,
Jie eine Zeile (140) aus diesem Gedichte herauszuheben
" 'Tis godlihe good io 8<we a falling hing**
und^ alles andere vergessend oder nicht achten wollend,
das als einen Beweis fiir Marvells royalistische Ge-
sinnung anzusehen, wie Grosart es tut. — Am Schlüsse
^des Gedichtes findet sich ein Gedanke ausgesprochen, der
Gedichten des 17. Jahrhunderts öfters durchklingt, näm-
*lich eine Aufforderung zum Zuge gegen die Türken und
den Halbmond; für einen Engländer ist dieser Gedanke
aber weniger naheliegend als für die deutschen politischen
^■Dichter jener Tage.
B Um die Wende der Jahre 1673/74, vielleicht direkt
als Neu Jahrsgedicht gemeint, entstand "A Historical
kToenr\ Der Dichter vergleicht in diesem in funftaktigen
jambischen Reimpaaren abgefaiJten Gedichte König Karl
^ mit dem Sohne Kishs, des Juden, der in Verbannung lebte,
bis das Volk ihn heimberief und, was mehr ist, ihm zugleich
Geld schickte. Marvell führt wieder eine sehr aufreizende
Sprache» Als Karl ins Land kam, nahm er gleich einem
Untertanen sein Weib weg und machte sie zur königlichen
Ifaitresse. Sein besserer Bruder starb, dafür blieb der böse
James am Leben, der die schwangere Konkubine eines
andern heiratete, Nan Hyde. Seuchen und Krieg suchten
die Lisel heim. Die Holländer flohen aber sofort vor dem
schwarzen Tod und vor dem beulenentstellten Gesicht des
Herzoge. Er macht ihm direkt den Vorwurf, London in
Flammen gesteckt zu haben. Unter den Tudors blühte
England; jetzt ist ein Weiberknecht König, dem die Be-
I stochenen ihre eigenen Weiber imd Töchter darbringen wie
^Keinem Moloch. In ebenso heftiger Weise wendet sich der
^■Dichter nun den Priestern zu. '^Priests were the firsi dduäers
^gof mankind'*; sie sind stolzer als Luzifer und reden dabei
der Welt ein, daß sie es sind, die gehorchen. Dann greift
er die Ratgeber des Königs an; Lauderdale, Osbom und
James mit seinen Römlingen tyrannisieren den König und
das Land ; den Letztgenannten, James, beschuldigt er sogar
direkt des beabsichtigten Königs- und Brudermordes auf
Poseber, M&nells |)öot. Werke. 7
römidche Einflüsterung Ein. Unrl er schlieÖt mit der ver-
zweiflungsvollen Frage: Wenn einer als Kronprätendent
schon solches UngUick anrichten kann, was ist zu erwarten,
wenn er selbst König sein wird?
Diese Aufzählung aller Schandtaten von der Heim-
berufiing Karls an erinnert an die Pseudo-Marvellischen
'*I{opal R€Söltäions\^) Da Oöbome Mitte 1674 Eariof Danby
wurde, ist das Gedicht vor dieser Zeit geschrieben ; anderer-
seits starb Hyde 1673; nachdem sein Tod erwähnt wird^
können wir das Gedicht, wie anfangs geschehen, nm die
Wende 1673/74 ansetjsen* Um diese Zeit war auch der Haß
gegen die Katholiken, Schotten und Irlander besonders
heftig. Marvells Hai3 wäre bei dem sonst so konzilianten
Manne fast unbegreiflich, wenn wir nicht bedächten, daß
die Worte ^Katholik", ^ Protestant **, ^Schotte** und ^Ire**
in jener Zeit viel mehr sagten als heute. Marvell ist auch
nicht immer so friedlich gestimmt und leidenschaftalos wie
in ''The Loyal Seoi"; er gibt hier die Vermutung, daß die
Katholiken im Einverständnis mit James und Clarendon
London in Flammen gesetzt hätten (*'Greal Firt*), nicht
nur hier übrigens, sondern auch euadem Ortes, als sichere
Tatsache.
Gelungenen Humor und Witz atmet in Ton und Inhalt
die ''Bailad an the Lord-Mayor, and ihe Court of Aklerwen,
pre^eiäing ihe King and ihe Duke of York, each with a Capy
of his Freedonif Anno Dorn, 1674'\ bestehend aus achtzehn
Strophen von anapästisohem Rhythmus nach dem Schema;
{^ %X^ % V}' J^®^ historische Anlaß ist im Titel genannt
Der Dichter verspottet zuerst die Spießbürger, die zwar
kein Geld haben um Brot zu kaufen und ihre vom Feuer
zerstörten Häuser wieder aufzubauen, wohl aber fiir solche
Speichelleckereien. Er wendet sich gegen den unwürdigen
König, der so viele Schulden und Bastarde habe, für die
London aufkommen müsse. Mit fast unbegreiflicher Nach-
sicht meint er schließlich, bis der König der Torheiten
müde gew^orden, würde es vielleicht besser werden. Dann
stellt er eine Reihe satirischer, höhnischer Fragen, was
wohl die Schachtel enthalte, die dem Herzog James gebraq
1) Sieh Anm, S. 110 dieser Arbeit.
— 99 —
I
werde. Pillen fär seine Krankheiten? Das wäre zu spät.
Möglicherweise sei darin Hostie imd Monstranze, das passe
für ihn. Er begünstige eine französische Regierung und
habe ein itahenisches Weib und eine italienische (römische)
Religion. Er meint endlich, den Londonern werde nicht zu
helfen sein, bis sie ein zweites Mal abbrennen.
Wie ersichtlich^ handelt es sich hier nicht nur um
politische, sondern sehr stark um persönliche Satire. Der
Hanptreiz liegt in dem lebhaften höhnischen Ton, den das
Metrum ermöglicht.
Den Bezügen zufolge stammt aus dem Jahre 1676*)
das Gedicht ^'Nostnuiamus' Prophecy", in heroic Couplets ge-
schrieben« Hier ist die Einkleidung die, daJJ dem alten,
sagenhaften Nostradaraus Prophezeiungen in den Mund ge-
legt werden fiir die Zeit Karls II; ein dankbares, oft als
Mittel der politischen Satire gebrauchtes Motiv, so noch
bei Beranger, dem gi'öBten politischeo Chansonnier, und
seinem Übersetzer Chamisso, Die Prophezeiungen werden
hier wie „ein Blatt von Nostradamus' eigener Hand" gegeben.
Ohne jede Einleitung beginnt der Seher seine Rede, deren
feierliches Pathos durch Alliteration am Anfang gehoben
werden soll:
h
*'For faults and follies London' i doom «Äo/I fix,
Ami she must ^ink in flames in sixty-si.c,
Fire-balls shaU fhj . , r
^
Er prophezeit also das ^ große Feuer '^^ das damals
den Papisten und Irländem in die Schuhe geschoben wurde.
Die Stadt werde sich zwar schöner als früher wieder
erheben, bis zum Himmel, wo die Rache wohnt. Wenn ihre
Richter sie verraten, wenn ihre Priester sie betrügen werden,
wenn Schauspielerinnen (die Maitressen des Königs, Neil
6w>Tine, Moll Davis etc*) die Rolle von Königinnen spielen
werden ; wenn — nun folgen einige schauderhafte Verse
über die Unzucht am Hofe, besser Verse über die schauder-
hafte Unzucht am Hofe — ; wenn, geht es dann weiter,
1) Nach Orosart, t>ohI^ p.340; der Ckronologie nach gehörte
dieses Gedicht also bedeutend später eingereilit, doch schien es un-
vorteilhaft, den stofTUcheD Zusammenhaog der folgenden Gedichte
zu unterbrechen.
T
100
die Banken ausgeraubt werden^ kein Wort, kein Eid güt^
wenn den Königsstubl ein schwatzender Betrüger einnehmen
wird, den die Männer verlachen und die Weiber be-
herrschen ; wenn einer Minister wird, der nur mit der Zunge
umgehen kann, und einer — Lauderdale — das Haupt der
Hierarchie, der früher schottischer Dissenter war; und wenn
ein schurkischer Schatzmeister in einem Jahre sich reich
und das Volk arm machen wird ; und wenn ein englischer
PrinÄ — James, Duke of York — die Engländer verachteD
und Franzosen ehren wird; wenn die Magna Charta nicht
mehr gelten wird; — dann werden die Engländer einen
größeren Tyrannen kennen lernen^ als die Geschichte je
aufzuweisen hatte, ihre Weiber werden seiner Lust preis-
gegeben sein und ihr ßeichtom seiner Verschwendung und
wie die Danaiden werden sie sich seinetwegen mühen, um-
sonst, denn er wird nie genug haben. Holland und Venedig
werden sie dann um ihre Freiheit beneiden; diese preist
Marvell ja auch bi ''Briiannia and Baleigh*\ Und er schließt:
Zu spät aber werden die Frösche einsehen, was sie sich
selbst erbeten haben, und werden Jupiter wieder bitten,
sie zu befreien; — also mit einer Anspielung auf die be-
kannte Äsopische Fabel.
Wir haben also die alte, ewige Klage über Karl,
James etc,, nur in neuer Form, der Form der Prophe-
zeiung — natürlich von Dingen, die bereits Tatsache sind.
Wieder eine andere Form der Satire wendet Marvell
in den nächsten drei Gedichten an, nämUch die Satire mittels
eines Bildwerkes, einer Statue. Die ersten zwei druckt
Grosart nach der Ausgabe von 1776 ab, die wieder auf
Manuskripte Marvells zurückgeht, also authentisch isL
Das ''Foem on the Statue in Stocks-Market*' besteht aus
fünfzehn vi erzeiligen, jambiseh-anapäatischen Strophen, mit
einer geringen Anzahl von weiblichen Eeimpaaren, die
offenbar nur zufällig sind; die übrigen sind stumpfe Reim-
paare.
Der Inhalt ist folgender: Als Sir Robert Viner aus
unredlich gewonnenem Gelde in Stocks-Market ein Reiter-
standbild des Königs Karl 11. aufführen ließ, hielten das
einige für eine edle Handlung, Nach Marvells Meinung
war es vielmehr eine Bosheit, am Gebui1:stage des Königs
I
- 101 —
»
p
p
ein Ding zu enthüllen, das mehr einem Affen als einem
König ähnlich sei, so daJ3 die Marktweiber nebenan sich
Instig machen, die auf ihren Körben viel graziöser reiten*
Aber, meint er^ ein Marktplatz, wo stets gefeilscht und
gebandelt wird, sei sehr passend für den König, der auch
immer schacherte und auch selbst verkauft wurde von seinen
Untertanen, Diese Statue sei schmachvoller als alle hollän-
dischen Karikaturen, die aus Anlaß des Krieges erschienen.
Nicht 80 sehr den Künstler als vielmehr den Stifter, Sir
Viner, hält Marvell Tiir den Schuldigen, da dieser seinen
Lehensherru so zum Hanswurst mache. Oder wollte er mit
den bedeckenden Tüchern quasi den Mantel der christlichen
Nächstenliebe über seine Fehler breiten? Sir Robert ver-
sichert zwar, daiJ der Bildhauer bereits an der Verbesserung
arbeite* Aber der Dichter meint, das sei umsonst, denn
den König könne kein MeiJJel mehr ändern. Versuchen
möge man es immerhin, deon trotz allem sei er noch immer
besser als sein bigotter Bruder, der Duke of York.
Nachdem die verspottete Statue am Geburtstage des
Königs, also am 29. Mai, enthüllt wurde, wie es in dem
Gedichte hervorgehoben wird, und da femer am Ende vom
Dezember und dem kommenden Frühjahr die Bede ist, so
geht hervor, daß dasselbe im Herbst 1672') (eventuell 1673)
geschrieben ist. Die Satire liegt in den abwechselnden
Bezügen auf das Bild und auf den wirklichen König; so
wenn er zum Beispiel sagt, der Bildhauer ist daran, den
König (in eftigie) auszubessern und dann bemerkt, so ein
König (Karl IL in persona) sei nicht mehr zu ändern ;
gegenüber dem späteren '*DiuUgue betweeti thc iwo horses*'
ist die Satire hier noch ziemlich milde und nur indirekt
gegen den König gerichtet.
Dasselbe ist der Fall in ''The Statue ai Charing-
Crosse'*, in demselben Versmaß, aber in gekreuzten Reimen
geschrieben. Diese Statue ist die Karls I., die der
Dichter zum Gegen stände nimmt, bevor sie enthüllt
wurde. Er knüpft zwar an die Statue an, aber nicht
gegen den hingerichteten König Karl L wendet er eeine
■ *) Vgl. Aitken, „Satires**, p, 166, Hinweis auf Bericht
London Gajtetle für 30, Mai 1672.
der
— 102 —
Satire, in edler Befolgung des *^De moriuis nil nisi bmie*^
sondern gegen den Errichter Lord Osbome-Danby und
nebenbei gegen Karl IL und den Hof. Er vergleicht ihn
mit den Personen der italienischen Stegreifkomödie, mit
Skaramuz und Policinell, dem Prahlhans und der lustigen
Person, bo mit einem Worte seinen Charakter zeichnend.
An die Umgebung anknüpfend fragt der Dichter sich,
warum Charing-Cross sohon so lange mit Brettern ver-
schlagen, abgesperrt sei, und stellt Vermutungen an, was
hinter den Planken gebaut werde. Eine Bühne kann es
wohl kaum werden, denn fiir den König, der so gern
Skaramuz oder Pohcinell spielt, sei Whitehall ein schöneres
Theater, Für eine Uhr passe der Platz deshalb nicht^ weü
es dem Hofe gewiü unangenehm wäre, einen Maßstab der
so schlecht angewendeten Zeit in solcher Nähe zu haben.
Endlich errät der Dichter das Richtige: die Figur des toten
Königs soll hier zu Pferde zu sehen sein. Glaubt vielleicht
Schatzmeister Danby, dali die Untertanen, denen die
Zahlungen eingestellt wurden, durch den Anblick eines
Königs entschädigt werden V Er wollte sich wohl nur nicht
von seinem Schwager beschämen lassen, der zu Stocks-
Market eine Statue aufstellen lieB, drum läßt er hier am
Fleischmarkt auch eine errichten, vielleicht um auf die
Schlachtbank der Parlamentarier anzuspielen. Daß die
Vollendung so lange dauert, scheint Marvell begreiflich
bei einem Manne, der bereits zweimal das Parlament ver-
tagte; er vertagt eben jetzt auch den König. Dann schildert
Marvell au einem drastischen Beispiel die Machinationen
der Geldbeschafiung und Stimmenwerbung durch Bestechung
der Abgeordneten. Am Schlüsse gibt er den Rat, man möge
bei der Aufstellung darauf achten^ daß die Statue das Gesicht
nicht dem Palaste von Whitehall zuwende ; denn wenn
auch von Erz, würde es sie doch kränken, einen so miß-
ratenen Sohn stets im Auge zu haben*
Der Witz besteht also wieder darin, daß von der Statue
Dinge ausgesagt werden, die nur von lebenden Menschen
gesagt werden können. Dieses Gedicht ist natürlich später
entstanden als das frühere, da die Statue zu Stocks-Market
in Strophe 8 dieses letzten Gedichtes als schon vorhanden
erwähnt wird, aber auch nicht viel später, da 1676 schon
I
103
»
I
I
beide Statuen fertig standen und im Gedichte die zweite
ak nicht vollendet vorgeführt wird,^)
Das dritte und letzte Gedicht, das an Statuen anknüpft,
'ist der äußerst interessante ''Dkihgue hrtwetn iwo Horses'\
vohl die beste Satire Marvells überhaupt. Sie zerfällt
eigentlich in drei Teile: 1. *'Th€ IntroducUön'* ; 2. **The
Dialoyutr ; 3, **Couclusion'\
'*Thc Infröduetion' gibt uns eine Rechtfertigung dieser
köstlichen Einkleidung» zwei Pferde über ihre Herren sich
unterreden zu lassen* Das Sprechen der Tiere nimmt
offenbar von der Tiersage seinen Ausgang, wo diese zu-
gelegte Fähigkeit schon mancbmal zu satirischen Seiten-
bieben benutzt wird, aber noch nicht die Haupt^che ist,
Bedende Tiere, aber in allegorischer Bedeutung^ finden
wir ja in '*Hind and Panther', in ..Fuchs und LamnC\ **Etd€
und I^achtigaW* etc. und noch früher. Mir ist aber kein
Fall erinnerlich^ wo zwei Pferde auftreten würden, sei
es in der cDglischen oder einer andern Literatur, Dagegen
hat Cervantes ein „Zwiegespräch der beiden Hunde"
geschrieben, ebenso Burns in späterer Zeit Dun bar
fahrt sich selber einmal als alten Grauschimmel ein,^
Marvell nun erzählt: In profanen sowohl als in heiligen
Berichten lesen wir von Tieren, die artikulierte Worte
auegesprochen haben; Elstern und Papageien können reden,
auch Statuen und Bilder haben schon gesprochen. Er zitiert
Li^dus imd die Geschichte des Phalaris von Äkragas, Friar
Bacons sprechenden Kopf und den Esel des Propheten
Balaam. Zu Rom und Delphi gaben Steine und Watfen
Antwort. Heutzutage noch haben die frommen Katholiken
Heiligtümer, welche sprechen. Warum sollen also nicht
die Unterredungen zweier lebloser Pferde Glauben finden?
Dann nennt er die Pferde, die er meint, nämlich die der
Statuen von Wool-Church und Charing- Gross, die,
wie in den früheren Gedichten erwähnt wurde, von Lord
Danby und Sir Robert Viner enichtet werden. Er begründet
die Unterredung: Als die beiden Fürsten, des langen Sitzens
») YkL Brief Marvells vom 24. Juli 1675 : " äoe» not yei ne
ihe ligUr
-') William Dufihar. Sein Leben unditeine Gedickte, Von J.Sehipp er.
1884. S. 2^.
104
müde, sich nachts herabbegaben und inkognito fortstahlen,
fanden sich die zwei Rosse, der eherne Hengst und die
weüJmarmorne Stute, nach gegenseitigen Komphmenten za
folgendem
*'Dialogue* zusammen. Es beginnt nun eine Art sen^attok.
Die Pferde sprechen alternierend, eines über Karl L und
eines über Karl 11. Von dem letzteren heißt es, dali er
sich ''Defender of the Faith" titulieren läßt und doch gar
keinen Glauben hat» Die Pferde raisonnieren über des Königs
Schulden, die herabgekommene Flotte, die Undankbarkeit
der Stuarts, die Maitressen des Königs, die Feilheit des
Parlamentes. Sie charakterisieren ihre Reiter dadurch, daß
sie sich . gegenseitig erzählen^ wohin dieselben jetzt ge-
gangen sind : der eine ging, Bischof Land zu besuchen,
der andere, einen Schreiber zum Hahnrei xu machen, Karl L
war ein verzweifelter Fechter für Mitra und Stola: aber
auf dem Schafott wurde er von den feigen Schurken, für
die er kämpfte, im Stiche gelassen. Karl U. hingegen fechte
nur für seine Vettebi. War Karl I. ein blindwütiger Löwe,
90 ist Karl II* ein geiler Bock; beide sind schlecht genug.
Aber Nero sei doch dem Sardanapal vorzuziehen. De Witt
und Cromwell waren wackere Männer, obwohl sie Feinde
waren; das eine Pferd sagt (Vv. 156^168):
**I ftedy declare it^ I am for old Noll.
Though his govemmetU äiä a ttfranl reatmble.
He made England greal and fm enemies tremble,**
Das ist wieder eine hochwichtige Stelle, sie zeigt
Marvell im besten Lichte, beweist seine Unbefangenheit
und Vorurteilslosigkeit und reiht sich würdig der
Stelle über Karl I. in der ''Horaiian Ode'' an. — Dann
sprechen die zwei Pferde über ihre Erwartungen oder viel*
mehr Befürchtungen von Seite James\ Duke of York>
wenn er einst zur Herrschaft kommen würde. Ihr Resum^
ist: T,Nie werden die Dinge besser werden, bevor nicht
die Herrschaft der Stuarts zu Ende sein wird*** Damit
schließt prägnant das Gedicht, das heißt der Dialog. An-
gehängt ist noch die
'*Conchision*\ in der der Dichter selbst das Wort
ergreift: Wenn zu Rom die Tiere sprachen, bedeutete das
schreckliche Ereignisse. Das werde auch für England der
I
— lOB —
I
Fall sein. Dann folgt eine äuJierst gelungene^ aber sehr
laszive Stelle über das Benehmen der beiden Pferde. Der
Scblui} hat ©in reines Augenblicksgepräge, er bezieht sich
auf ein Edikt Karls II., das die Schließung der Kaflee-
häuser, als Orte politischer Diskussion, anordnete und fordert
die Aufhebung desselben,
Aus diesem Schlüsse hatOrosart die Abfasaungs-
zeit des Gedichtes genau festgestellt: Das Edikt wurde
am 29. November 1676 erlassen und am 8. Jänner 167B
bereits zurückgezogen. Daher muß das Gedicht zwischen
diesen zwei naheliegenden Punkten abgefaßt sein. Diese
Zeitbestimmung ist gewiß richtig, nur hat die scharfe
Grenze nach rückwärts (29. November) nicht für das ganze
Gedicht, sondern bloß für die *'Conclusion' Geltung, Es
springt in die Augen, daß ''Diahgue** und '^Conclusion" m
einem sehr lockeren Zusammenhang stehen; ja, nach dem
so prägnanten Schlüsse des Dialogs ''Wfien ihe reign of
the Une of ihe Stuarts is c^ded'' wird die Wirkung durch
die "Conchmon" nur geschwächt* Wir können daher mit
Sicherheit annehm en^ daß der Dialog, ohne die **Con*
chisian'^ zuerst als selbständiges Gedicht verfaßt ist,
an das aus Anlaß des provokanten Kaffeehaus -Ediktes
später, freilich nicht viel später, noch die *'Concliisi(m"
ohne jeden inneren Zusammenhang angehängt wurde.
Das Gedicht trägt in der Überlieferung der verschie-
denen Drucke hinter dem Titel die Jahreszahl ^1674**,
die auch Grosart abdruckt. In der Anmerkung erklärt er
auf Grund seiner erwähnten Berechnung diese Angabe des
alten Druckes für unrichtig, AUerdings habe ich auch bei
einem Gedichte eines andern Dichters jener Zeit, das mit
dieser Statuenfrage zusammenhängt, das Datum ^1674"
nach dem Titel angegeben gefunden; es ist Wallers
Epigramm ''On (he Statue of Kintj Cfmrles L ai Charing
Cross, in the year UJ7 4'\^) Erklärlich ist diese zweimalige
unrichtige Angabe nicht ; dennoch müssen wir uns für die
Berechnung Grosarta entscheiden; es ergibt sich also:
1. Abfassungszeit des Gedichtes auf die „Statue zu Stocks-
Market*^i Herbst 1672 (8. 101 dieser Arbeit) ; 2. Abfassung«-
Mit des Gedichtes auf die -Statue zu Charing* Gross";
') FoeU of Great-Britain, pol V, p, 49$.
A
106 —
zweite Hälfte 1676 (S. 103, Anm, i, dieser Arbeit); 3. Ab-
fassungszeit des „Dialogs der zwei Pferde** : Ende 1675,
und zwar speziell die **Conclusion" sswischen 29- Novem-
ber 167B und 8, Jänner 167ti (vorige Seite).
Über die Bedeutung dieses interessanten Gedichte«
für die politische Beurteilung Marvells wurde schon ge*
legenblich der AViderlegung des „ Royalismus'^ auf Seite 13
gesprochen* In der Einleitung kommt des Dichters allge-
meine Bildung und Belesenheit zum Ausdruck; er kennt
die abergläubischen Gebräuche bei den Griechen, Körnern,
Juden, Christen und verfolgt sie durch die ganze Welt-
gescliichte bis herauf in seine eigene Zeit; er kennt Livius
so gut wie die mittelalterlichen katholischen Mirakeln. In
erster Linie richtet sich seine Satire hier gegen Karl IL
und dessen Bruder James. Die Sehnsucht nach den Tudors
spricht sich in keinem Gedichte so heftig aus wie hier;
während die feilen zeitgenössischen Dichter, wenn sie auch
nicht blind waren für den Unterschied, von den Tudors
schwiegen und die Stuarts priesen. In der "Conclusion"
sehen wir, daß auch Marvell nicht frei ist von den Derb-
heiten seiner Zeit; eine Tatsache, die ihn natürlich flir
den heutigen Engländer a priori ungenießbar macht;
während wir, ohne Lob dafür zu finden, bedenken, daß
auch ein Goethe, derselbe Goethe, der hohe Oden und
Hymnen und duftigste Lyrik schrieb, verschiedene nicht
,, salonfähige'* Stellen im y,Faust** und etwas Ahnliches wie
Marvell in Nn 4 der **Politika*' und den „Beruf des
Storches" schrieb — um nur einiges zu nennen.
Formell besteht das Gedicht aus vierzeiligen Strophen,
aus viertaktig- jambisch - anapästischen Beimpaaren, mit
männlichen und weiblichen Reimen, worüber mehr im Ab-
schnitt „Metrik" gesagt wird.
Die Satiren Marvells wurden nun im Zusammenhang
betrachtet. Wir haben gesehen, daß Marvell wirklich, wie
Grosart sagt,*) den Sarkasmus des Aristophanes, den
Stachel des Juvenal und den beißenden Witz des Tereuz
vereinigt
So uneingeschränktes Lob wird den Satiren unseres
Dichters freilich nicht von allen englischen Kritikern «u
») Vol. 1, p, xxri.
— 107 —
teil. So sagt Benson^) von ihnen, sie seien *'öf ihe coarsesit
h%nd*\ obwohl er auch zugibt, daß sie schöne Stellen ent-
halten. Chambers sagt in seiner Besprechung von
Aitkens Ausgabe in der *'Acadenty'\^) dali sie kein Gegen-
stand sind, bei dem man gern verweilt, während Aitken
(p, LVm) sehr gut von Marvell spricht, Birrell tadelt
die inhaltliche und formelle Rauheit wiederholt, doch
findet auch er „großes Vergnügen"") an Marvells Satiren,
E. Gosse*) hält den Dichter für einen Schüler Cievelands
in der Satire und Henry Rogers^) spricht ihnen politische
Bedeutung zn. Mary Russell Mitford **) erinnert an das
Lob Swifts, der Marvell auch nachahmte. Gegen den Vor-
wurf der Gemeinheit oder Bösartigkeit nimmt G. Dawson^)
den Dichter in Schutz; er sagt ganz richtig, Satiren sind
nur dann verdammenswert, wenn sie gegen Gutes ge-
richtet sind; Marvell aber wendet sich gegen das wirklich
Schlechte. Auch dürfen wir Marvell ^ den Dichter des
17. Jahrhunderts, nicht nach den Anstandsregeln des
20. Sftkulums richten, die er nicht kannte»
Es sind nun noch einige kleinere, nicht satirische Ge-
dichte zu erwähnen, die, wenn auch in dieser Periode ent-
standen, doch das durch den Titel „Satiren'^ bezeichnete
Gepräge derselben nicht zu ändern vermögen.
Die beiden folgenden Gedichte beziehen sich auf zeit-
genössische Dichter, Das erste ist ein wenig bedeutendes
Gedicht ,Jn Eunuthum Poetam'\ die Person ist uns nicht
bekannt. Marvell tröstet den Ungenannten, er brauche
sich nicht unfruchtbar zu nennen, wenn er auch nicht An-
teil habe an den Freuden und Leiden der Ehe; er um-
arme und befmchte dafür die neun Musen imd seine Verse
seien die Kinder dieser Vereinigung.
Das andere Gedicht ist Marvells bekanntestes,
wenn auch nicht bestes; es sind die in der Ausgabe von
1674 zum ersten Male Miltona groiSem Epos vorange*
') ''Esmtfs", London 2896, p. 87,
^) Vol 42, p, 23Qff.
3) p. 230 f.
<) ''Fnmi Shakspere to Pope'\ Camhtidge 1885, p. 192, 211— 22L
») "Essai^Sj Crüical and UioyraphimV\ Lofidon 187 4, vol. 1,
<>) **Iiecolkctiom of a IMerary Life", London ltiö2, voL IJl, p. 250ff.
1) "Biographical Jjeciure»*\ Lonäofi 1886, p. 89.
108
druckten Vers© '^On Paradise Lost'\ eine der wenigen zeit-
genöasischen Würdigungen dieses Werkes. Das Gedicht
ist zu bekannt aus den Aasgaben Miltons, als da£ sein
Inhalt hier wiedergegeben werden müßte. Seinen Wert er-
hält dieses Empfehlungsgedicht durch den Umstand, daß
Marvell hier in einer Zeit zu MÜton steht, in der niemand
von ihm weder politisch noch poetisch wissen wollte.
Andererseits wäre dieses Empfeblungsgedicht heute so ver-
gessen wie alle seinesgleichen, wenn es eben nicht das
"Faradise Lost'* wäre, das empfohlen wird. Interessant ist
es wegen Marvells theoretischer Stellungnahme fiir Miltons
reimlosen Vers: charakteristisch genug ist, daß dieses
Lob der Beimlosigkeit in gereimten Versen,
fünftaktigen jambischen Reimpaaren , gesungen wird, von
einem Dichter, der in seiner Praxis nie einen reimlosen
Vers schrieb» So stehen sich Theorie und Praxis diametral
gegenüber. Er gibt ja selbst zu: '"/, transported by the
mode . . /\ Rühmenswert ist die Bescheidenheit, mit der
sich Marvell selbst nicht zu den Dichtem rechnet, zu den
wü'klich großen nämlich, durch die Unterscheidung
"Th€ potts tag (htm, we far fasHion wcar*\
Eine poetische Leistung ist das Gedicht ja auch
wirklich nicht und Benson spricht direkt von "awJcward
and utjlt/ linc8'\^)
An die Schlußverse von Marvells Empfehlungsgedicht
anknüpfend^ sagt Masson in seiner Ausgabe Miltons^ ^
mau sehe daraus, wie der Reim f[ir den Dichter wirklich
nur ein Zwang sei, indem Marvell genötigt ist, auf '*offend'*
einen Reim zu suchen und deshalb statt eines besser
passenden Wortes *'eommend'' nehmen muß; daraus ersehe
man die Superiorität des reimlosen Verses Miltons. —
Etwas Wahres ist gewiß daran, nämlich an der ersten
Hälfte der Behauptung; ansonsten reizt sie zum Wider-
spruch; denn es wurde schon von vielen beobachtet, daß
trotz der Reimlosigkeit auch Milton oft des Metrums
wegen sich zu überflüssigen Verbreiterungen und Wieder-
holungen hat verleiten lassen. Vers, ob mit oder ohne
Reim, ist eben nicht Prosa.
^) Emȧ fty K Cbr, B ensoD, London 18B6, p. 85,
«) Massons Milton^ Bd. III, S. 110,
■
^- 109 —
I
I
I
Bas Gedicht Mai-vells enthält scharfe Ausfälle auf
D r y d e n, den er als Toum-Baißcs verspottet Dryden hatte
nämUch, angeblich nach eingeholter Erlaubnis, Miltons
**Paradise Losf dramatisch in Szenen zerlegt als '^Tiie
State of Innocettce*' (1674), ein Drama, daa allerdings nicht
aufgeführt wurde, Grosart versucht noch eine andere
Deutung des ''Tonm-Bcujes**, worauf bei Besprechung der
Stellung Marvells zu anderen Dichtem zurückzukommen
sein wird.
Als vorletztes Gedicht ist eine Grabschrift zu er-
wähnen, in viertaktigen jambischen Reimpaaren ge-
schrieben, deren Datum und Person wir nicht ermitteln
können, Sie ist für eine Dame verfaßt und atmet schein-
bar wirkliches GefühL **Än Epitaph upon ..." ist die Be-
zeichnung in den Ausgaben, In Wirklichkeit haben wir
uns die Sache so vorzustellen, daß auf dem Grabstein oben
der Name der Verstorbenen steht und dann unmittelbar
das Gedicht; denn dieses beginnt: **Enmi(jh; and leave (he
rest io Farne", das heißt also: es genügt, den Namen zu
nennen; ihr Name ist Lob genug. Zu sagen, daß sie in
einem so lockeren Zeitalter als reine Jungfrau lebte und
in der Zeit, wo das Laster ein Ruhm war, sich ihrer
Tagend nicht schämte — das alles ist wahr, aber be-
deutungsvoller ist, daß sie tot ist!
Ahnlich, wie wir schon öfters gefunden haben, daß
Marvell das Lob maskiert, geschieht es auch hier, indem
er sagt, es sei gar nicht nötig, das und das zu sagen, und
es dabei doch sagt«
Einige lateinische Epitaphien, die wahrecheinliah von
Marvell herrühren, aber nicht sicher, sind ganz in der her-
kömmlichen Art der Durchsohnittsgrabechriften der Zeit,
bestellte Gelegenheitsware, die nicht zur Dichtung ge-
rechnet werden kann. Grosart druckt sie auch gar nicht
ab, dagegen finden sie sich in der anonymen Ausgabe,
wahrscheinlich nach der von mir nicht benutzten Ausgabe
von 1776, sowie in den ''MisceUaneous Poems*' by A, Mar-
vell, London 1681, die ich in Oxford einsah.
Dem Datum nach das letzte oder letzterhaltene Ge-
dicht Marvells ist ein lateinisch-satirisches, betitelt „Scae^
vola ScoiO'Britannu8*\ das Grosart ins Englische übertragen
110
hat. Die VeranlassuBg war der miBluDgene Mordanschlag
einea schottischen Fanatikers auf den verhaßten Erzbischof
Sharp im Jahre 1668. Der Täter, James Mitchell, wurde
eingekerkert, entfloh, wurde wieder festgenommen und
nach langer Haft 1678 zur Tortur gebracht, die er mit
großer Festigkeit ertrug, weshalb ihn Marvell hier ab
zweiten Scävola feiert. So wie der römische Scävola den
Tyrannen Porsena schreckte, so schreckte der schottische
Scävola den Tyrannen Shai-p; auch er habe Dreihundert
hinter sich, die ausfuhren werden, was ihm nicht gelang,
wenn der Tyrann nicht nachgibt.
Aus den Daten der Ereignisse geht hervor, daB das
Gedieht in der ersten Hälfte des Jänners 1678, also im
Todesjahre Marvells, geschrieben ist.
Fälschlieh sind in den Ausgaben Marvells seit der
Thompsons mehrere Gedichte aufgenommen, die nicht von
Marvell herrühren können. Von dreien — **Hod(fe^s Vision
from ihe MoHument'\ **Oceana and Britannia*, ''Ro^al Eeso-
lutians'' — weist Grosart^} unwiderleglich nach, daß de,
zufolge enthaltener Bezüge auf Ereignisse nach Marvells
Tode, sicher nicht von diesem herrühren können; während
einige andere zwar Satiren auf Ereignisse früherer Zeit
Bind, deren Autorschaft aber Marvell wohl nur deshalb
zugeschrieben wurde, weil er an anderen Stellen dieselben
Ereignisse satirisiert. Nachdem es aber in jener Zeit
anonyme Satiren in großer Anzahl gibt, sind wir nicht
berechtigt, diese ohne weiteren Anhaltspunkt Marvell zu-
zusprechen. Manchmal tut es einem wirklich leid, so be-
sonders bei der köstlichen Satire ''Royal Mesohitions",^) die
ganz in modemer „Serenissimus^* Manier gehalten ist.
Natürlich müssen wir von einer Besprechung dieser Ge*
dichte abstehen.
Damit ist die Betrachtung von Marvells sämtlichen
poetischen Werken beendet,
^ ^} Voil, p. LVni—LXIV.
^) Gedruckt bei Grosart, vol. I, p, 431, und hei Aitken,
*'Satires'\ p, 21ß.
I
IL Systematischer Teil.
Im bisherigen ersten Teile der Arbeit wiird© verancht,
Marvell durch Einzelheiten verständlich zu machen und
nahezubringen. Im zweiten Teile soll versucht werden, das
Gefnndene in ein System zu bringen, die Fäden aufzuzeigen^
mittels deren er mit seinem Jahrhundert zusammenhängt
und worin er sich von seinen Zeitgenossen unterscheidet.
Literarhistorische Sti^Ilung:.
Andrew Marvell war ein Dichter zu einer Zeit, die
der Dichtung nicht günstig war, obwohl eine beträchtliche
Anzahl von Dichtenden in ihr lebte, der Zeit der Bevo*
lution imd der Restauration, Es war die Zeit^ wo
politische and religiöse Gegensätze dem Bürger die Waffen
in die Hand drückten, wo der starre Puritanismus eich zum
Vertreter des Geistes Gottes machte und jeden, in dem der
„Geisf* nicht war, als Feind betrachtete, dem er sich als
harter Gegner in der Tat zeigte ; der ein morsches König-
tum niederwarf, dessen vielleicht nicht schuldigstes Opfer
König Karl I, w^ar; die Zeit, in der aus dem einfachen
Landmann Cromwell das Haupt der englischen Republik
wurde, das fremde Völker fürchteten» aber auch ein Haupt,
das die untergebenen Glieder mit Willkür beherrschte; die
Zeit, wek'her dann nach dem in Heuchelei und Frömmelei
ausgearteten, bald verfallenen Puritanismus die Reaktion
der Zügellosigkeit, Unzucht und Frivolität, auch des Witzes
zwar, folgte, die der zurückgerufene Karl IL als fran-
zösische Mode mit nach England brachte, der nur zurrechten
Zeit starb, um vielleicht dem Schicksal seines Vaters zu
entgehen, durch das er sich nicht warnen ließ, bei dem das
sprichwörtliche „Chtrchez la femme'* die Setzung in den
Plural verlangt, da zahlreiche Maitressen den König be-
herrschten, die wieder von Nebenakteuren gelenkt wurden :
ein Puppentheater, bei dem dem Volke die Tränen in die
— 112 -
Augen kamen; dazu Krieg, Feuer, Pest; die richtige Vor-
bereitung, mit einem Wort, zur zweiten, unblutigen "ghriaus
rebclUon', die bald darauf über seinen Nachfolger Jakob
hereinbrach, der schon als Duke of York genug getan
hatte, um sein Schicksal zu verdienen.
Das war die politische und reli giöse Signatur
der Zeit, ein aufreibender Kampf im Inneren, zu dem noch
Kämpfe im Ausland hinzukamen.
Die soziale Konstellation war dem entsprechend: Auch
in der Gesellschaft zuerst die Herrschaft des ehrUchen,
aber plumpen Paritanismus, dessen zweites Wort immer
Gott war; dann die Herrschaft der „Kavaliere", bei denen
stets eine geistreiche Phrase und eine Zote abwechseku ^*
Die Extreme folgen einander.
Und nun zum literarischen Ausdruck der Zeit:
Der bekannteste dichterische Name jener Periode ist
der Miltons. Aber wir können ihn nicht zum Maßstab
der Zeit und zum Maßstab fär Marvell machen. Denn, wenn
wir den Namen John Milton hören, so denken wir unwill-
kürlich an den Dichter des '*Paradis€ Losi'% den englischen
Klopstoek, — und Marvell war kein religiöser Dichter. Er
hat etwas mit dem jungen Dry den gemeinsam, aberDryden
ist vor allem Dramatiker. So müssen wir Marvell, da es
eich hier nur um Lyrik handelt, an der Menge der ge*
ringeren Dichter neben und nach Milton messen, den
^Kavalieren'*, wie sie Bleib treu im ersten Bande seiner
bekannten Literaturgeschichte nennt, — Hervorbringer
einer Menge von fingierten Liebesliedem in der pastoralen
Mode und einer erdrückenden Masse von Gelegenheits-
dichtungen. Diese sind, vom Theater abgesehen, der lite-
rarische Ausdruck der Zeit. Wir können, wohlgemerkt,
Marvell an ihnen messen; wir können ihn aber nicht
unter sie zählen. Er war weder ihr Freand — in politischer
Beziehung; noch ihr Schüler — in poetischer Beziehung.
Wenn wir die Zeit als eine endlose Wellenlinie an*
sehen, indem jedes Prinzip nach Erreichung der Kulmination
verflacht und dem nächsten, heranreifenden, Platz macht
und so fort, so können wir sagen, daJ3 Marvell zugleich
auf zwei Wellenbergen steht; das heißt, einerseits ist er
noch Puritaner, wenn auch nicht im finstersten Sinne
i
I
I
4
— 113 —
rtes, in seinem ehrlichen» geraden, rechthchen Sinne;
and andererseits, mit Bezug auf die formelle Seite, ist
er^ wenigstens eme Zeitlang, ein Kind der jüngsten Zeit,
ein Dichter der tändelnden, schäferlichen Mode und ein
B Satiriker. Eine seltsame Kombination, von der mir kein
* zweites Beispiel bekannt ist — von Miltons ''Minor Poems''
aus dem angetührteu Grunde abgesehen.
■ Zahlen spreclien. Wir haben von Marvell
25 Liebesgedichte und ßeflexionsgedichte, darunter
13 in Schäfer- oder idyllischer Einkleidung,
110 Gedichte an bestimmte Personen, darunter 2 in
Schäfereinkleidung,
3 commendatory poems,
2 literarische Satiren und
15 politische Satiren.^)
Die Hauptmasse also Mode- (Seh äfer-)Dichtung und
Gelegenheitsgedichte, ergo ein Kind der Zeit, ein Re-
naissancedichter, ä la Drayton, Carew, Suekling,
■ Browne, Pletcher^ Crashaw, Donne, Cowley, Waller, Denhanx,
in welcher Reihe ja auch, freilich nur sozusagen im ^Neben-
fach^j Ben Jonson schon, dann Milton und Drydon mittaten.
H Aber Marvell ist nicht der Schüler eines dieser; er
™ steht nicht unter deren Einfluß, sondern unter demselben
£in£uÜ, unter dem diese schon standen, nämhch dem Ein-
flüsse der internationalen, in erster Linie der italienischen
ßenaissancedichtuDg, die wieder von der antiken Richtung
abhängig ist ; die Kichtung des sogenannten Marinismus
also, die in Deutschland durch den „Schwulöf^ der zweiten
Schlesier vertreten ist, deren Hauptkennzeichen a) die
pastorale Einkleidung, ft^ das Kunstmittel der cimcetti Bind;
eine Fortsetzung des Euphuismus, der eigentlich nicht viel
• älter ist und schon alles im Keime enthält.
Von bleibendem Wert ist freilich diese Renaissance-
dichtung nicht gewesen, diese Liebeslieder stehen trotz des
aufgebotenen riesigen Apparates unendlich weit hinter den
schlichten, ergreitenden der mittelenglischen Zeit zurück;
aber so wegwerfend dürfen wir sie doch nicht behandeln,
*) Die drei Teile der "InsirucHons to a painter^' nur als e i n Ge-
dicht gezählt ; die lateinisohen Gedichte sind nicht miteinbezogen.
Po seil er. MttrvoJls poel. Werke, g
^ 114 —
wie es Bleib treu tut; die guten Leute können ja nichts
dafür, daß sie in einer Zeit lebten, wo die Mode ihnen so
diktierte; und der Mode entgegentreten konnten sie nicht.
Auch Milton, neben Crom well der starkgeietigste Mann der
Zeitj hat das nioht vermocht ; erat im Alter, von der Welt
abgeschlossen, hat er es versucht Die Renaissancemode
war eben allmächtig, nicht nur in der Literatur, auch in
der Architektur der Häuser von außen, in den geschnörkelten
Möbeln innen, in den Gartenanlagen, in der Tracht der
Leute, überall finden wir sie. Was Marvell speziell an-
belangt, so ist er, der nirgends die Extreme liebt, auch
hier kein Extremer; dem war seine klare, nüchterne Natur
entgegen; er macht die Mode gezwungen mit; so ist er
auch in den concetti, dem Unding, das auch er nicht ab-
streifen kann, doch viel mäßiger als zum Beispiel Cowley,
Donne und andere.
In erster Linie haben wir bei Marvell den Einfluß
Horazens. Der Grundgedanke seiner ländlichen Gedichte
ißt das bekannte „Beatus ilU qui procttl neßotiis . . .** (in
'' Appleton- ffome'\ ''HortHs'\ ''The Gardm*\ '*Rös'* und vielen
anderen). Demselben Gedanken folgend, übersetzt er auch,
gleich Cowley, die Chorstrophe „Stet quiamque volet . . .*
aus Senecas '*ThtfesV\ Ohne gegenseitige Abhängigkeit
geht dieser Gedanke auch durch ähnlicbe Dichtungen seiner
ungefähren Zeitgenossen Donne, Ben Jonson, Mitten
(„II Penseroso^J, Cowley, Waller, Denham C*Cooper's Hiir:
" . , , Happiness of sweet retired cantenf') und erreicht in
Pope einen Höhepunkt.
Ein anderer, unendlich oft variierter Gedanke ist das
Horazische „ Carpe diem ! ", am schönsten ausgedrückt in
dem launigen, schalkhaften Gedichte '*To his coy mi$tres^\
— auch wieder bei den genannten Dichtern zu finden, be-
sonders bei Waller.
Das ^Ars hngUy vita brevis'' nach Hippokrates und
Horaz fanden wir sogar wörtlich in der Schlußzeile des
Gedichtes ^jauf den Tod des Lord Hastings":
"Art indeed is long^ hui Lift is short,"
Das lateinische Gedicht „Ad Regetn Carolum*' nennt
sich selbst eine ^Parodia^ auf Horazens „Ad Atu/ttstum
Caesar em** i ^Carnu, I, 2. ^
1
i
— 115 —
I
Auch in den Episteln ahmt er Horaz nach, zum
Beispiel „Episiola Doctori Ingelo . . ,^ und „Dodori Wittie'^,
Also Horaz auf allen Linien ; halb auf dessen Rechnung,
halb auf die des Landaufenthaltes zu Nun-Appleton zu
setzen ist der ''out of door^-Charakter seiner Poesie^ den
viele Engländer hervorheben,'^)
Dann finden wir auch den Einfliii3 Virgils: Wie in
der „Aneide" Minerva dem Aolus eine reine Jungfrau ver-
spricht, um ihn für ihre Plane zu gewimien, so verspricht
die Personifikation des Macchiavellismus dem König Karl
**thr€e spotless mrgins'\ Auch die Figur der Fama^ die ihre
Backen schwellt, malt er nach Virgil.
An Homer erinnert die Stelle im ''Fir.^i Anniversary*\
wo das Benehmen der den Führer abschleudernden Rosse
geschildert wird.
Einflüsse Catulls sind zwar nicht so mit den Händen
zu greifen, finden sich aber in MarveUa Liebeslyrik wie
in der ganzen Renaissance, besonders bei Ben Jonson.
Marvell kennt Asop (im *^Dialogue beiween two horses*^
und hat oflTenbar von ihm den Tierglauben übernommen.
Auch Seneca kennt er, denn er übersetzt aus ihm. Auf
antiken Einfluß geht auch die wichtige Form der Toten-
ge spräche zurück, die ihm besonders zur Satire dient.
(*'Tom Mays Dmtii\ ''Tiie Loyal Seot"; q. v.) Marvell pflegt
nur die ältere, echtere Art dieser Gespräche, nämlich zwischen
wirkhch Verstorbenen in der Unterwelt; nicht aber auch
die Wanderungen Lebender in die Unterwelt. S a 1 1 n s t
zitiert er in der *'fforatian Ode'',
Nach den Alten haben auf Marvell als Mittelsmänner
die modernen Nachahmer derselben, besonders die Italiener
und seine eigenen Landsleute, eingewirkt (8 pensers
*^Shepher(Vs Calendar'*, Sidney etc.), von denen er, gleich
anderen, die Schäfemamen Hubbinol, Dämon, Thjrsia,
Clorinda etc. übernimmt. Er befolgt die von diesen theo-
retisch geäuiierten und praktisch betätigten Vorschriften,*)
Ein Unterschied zwischen Spenser und Marvell bei diesen
Schäferdichtungen ist, abgesehen von der sonstigen ße-
i) Gosse, "From Sfmlspere to Pope*, Cambr. 1885, /?. 219 f;
ferner ''Academtf, vol 51, p, 478: ebd. ml. 42, p.U3Öf.
*) Vgl. Seite 84 f. dieser Arbeit.
— 116 —
deutiiDg^ daß Spenser seine Schäferdichtung zu praktischen
Zwecken benutzt hat, nämlich um sich Gönner zu erwerben,
um die Leute anzusingen oder ihnen für etwas zu danken,
während Marvell für sich dichtet, wenn vielleicht auch
mancher Schäfemame Personen seiner Bekanntschaft ver-
birgt, wie zum Beispiel ausnahmsweise in den y,Two SongB*^
für die Hochzeit von Cromwells Tochter; Mary Fairtax
fuhrt er als Nymphe ein.
Bloß antiken Einfluß zeigt Marvell in den Satiren;
dieser ist aber bei einem gelehrten Dichter natürlich; die
Satiren sind es also^ wo Marvell am selbständigsten ist,
Betrachten wir Marvells Stellung zu den Dichtern,
welcher er in seinen Dichtixngen besonders gedenkt, so
haben wir vor allem Spenser und Ben Jonson, Thomas
May und Richard Flecknoe, Dryden, Lovelace und Milton
zu nennen.
Von seiner Bewunderung fiir Spenser warde bereits
gesprochen ; er gibt ihm das Beiwort "fame(V\ Inwiefern
er nur sein Schüler zu nennen ist, wurde eben gesagt,
Spenser ist aber Hofdichter ^ Marvell steht dem Hofe
feindlich gegenüber, freilich einem anders beschaffenen.
Marvell ist auch dem Schäferkostüm nicht so unwiderruf-
lich verfallen wie Spenser; dieser sagt alles im Schäfer-
kostüm ; während Marvell dort, wo der große Ernst durch-
bricht^ immer die Maske abwirl't, als ob das wahre Gefühl
die glatte Decke sprengen würde*
Ben Jonson führt unser Dichter in ''Tom Mays
Death" redend ein; er legt ihm scharfe Worte in den Mundf
mit denen der Renegat May aus der Versammlung der
Poeten in der Unterwelt hinausgewiesen wird. Er läßt vor
seiner Rute Virgii und Horaz erzittern. Ben Jonson spricht
die hohe Meinung von der Aufgabe und der Pflicht der
Dichtkunst aus, eine utilitaristische Meinung, die eigene
Meinimg Marvells, die uns bereits bekannt ist. Da er Ben
Jonson also zum Organ seiner Meinung macht, hatte er
oflenbar eine hohe Achtung vor ihm, obwohl Ben Jonson
der Gresinnung nach nicht auf Marvells Seite stand ; fireilich
waren fiüher die Gegensätze nicht so schroff gewesen und
Marvell war stets hochdenkend genug, auch anderen ihr
Recht widerfahren zu lassen. Dem widerspricht nicht, daß
4
4
— 117 —
er zu Beginn dieses Gedichtes über Jonsons gutes Aus-
sehen scherzt, indem er ihn mit einem Wirte verwechselt
werden laut, — ein harmloser Scherz des Satirikers^ dessen
Spitze mehr gegen den betrunkenen May gerichtet ist als
gegen Ben. Daß Jonson ihn auch direkt beeinflußte, liegt
als bei dem Nachahmer Catulls, dem Übersetzer des „Beatus
Ula . . .'* (''Happy is he thai front all business clear . . ."), nahe
genug. Man stelle nur das Marvelliache '*Lct us .^port us
while we mat/* C'To his cotj Misiress'\) neben das JonsoDsche
'^Come^ mtf Celia, let us proüe^
While wt maij^ the Sports of love^"^)
Was Marvell in demselben Gedichte von May meint
und denkt, ist in der Inhaltsangabe ausführlich genug dar-
gelegt und begründet worden. Dasselbe gilt bezüglich
Flecknoes, der den Gegenstand seiner ersten literarischen
Satire bildete.
Cleveland, den er in der Satire "77ie Lot^al Scot''
auftreten läßt und den er dadurch ehrt, daß er ihm seine
eigene Ansicht aussprechen läßt, dürfte er, als einen der
wenigen ehrlichen politischen Gegner, hochgeschätzt haben.
Lovelacö, dessen Name ohne Ursache etwas be-
kannter ist als der Marvells, nennt dieser seinen teuren
Freund und schätzt ihn in seinem Widmungs- und Geleit-
gedicht, der herkömmUchen Art nach, höher als er ihn
wohl in AVirklichkeit stellte.
Dagegen ist seine Stellung gegenüber Dryden eine
entschieden feindselige. Der Angreifer scheint Mar^'-ell ge-
wesen zu sein, wenigstens ist kein früherer Angriff seitens
Dryden bekannt. Das Gedicht Marvells auf Miltons '*Para^
dise LqsV ist voll temperamentvoller Ausfälle auf Dryden,
wegen dessen Dramatisierung dieses Epos (1674); offenbar
verleitete unsern Dichter die große Verehrung fiir Milton
dazu* Die Ausdrücke "soiw? le^s skilful hamr und ''vo room
is here for writers hß, hiU to detect ihtir ignoraner or theff'
gehen alle auf Dryden und seinen ''State of Innocmc€'\
der kurz vorher erschienen war. Er ist es auch offenbar, den
Marvell hier unter dem Namen ''Town-Batjes'' versteht;
^^While ihe Towit- Bai/es wriies all the while and s^iells,
And iike a pack-horse Urea wüHout His bells,''
i) Ed, Ciifmingham, III, ^66.
r_ 118 _
während Grosart in der Anmerkung zu seiner Ausgabe
Dryden gar nicht erwähnt, sondern meint, "Tofmi-Bayes**
sei entweder die anglizierte Form von „Bavius^ oder es
bedeute Monday, "the Ciiy-poet'\ wie ihn Ben Jenson
nennt, also Town-Bayes = Town-Laureate. Da ein© andere
etymologische Erklärung nicht existiert, und auch mir
nicht gelungen ist, hat diese letztere von Qrosart etwas
für sich. Andererseits aber liegt es doch näher, auch diesen
Angriff auf Dryden zu beziehen^ da es nicht wahrscheinlich
ist, daJJ Marvell in dem einen Gedicht gleich zwei Männer
angriff, von denen der eine in gar keiner Beziehung zu
MUtons ''Paradise Losf stand* Dryden rächte sich für
Marvells Ausfälle, indem er im Vorwort zur „Religio Laici'
Martin Marprelat mit ihm vergleicht, *'the Marveü 0/
thüse timeSt ike ßrst presbyierian scrihbler who sanctified libels
and scurnlity to thc use of the good old cause" J) Daß Dryden
es andererseits nicht verschmähte, an Marvells **Flecktto^'
anzuknüpfen mit seinem ''Mac Fleckrwe", wurde bereits*)
hervorgehoben. Auf wessen Seite das bessere Recht war,
ist ziemlich klar. Dryden konnte Marvell auch politisch
nicht angenehm sein; denn derselbe Dryden, der Crom-
wells Tod in Versen beweinte, als dessen Sohn Richard in
der Regierung festzusitzen schien, besang kaum achtzehn
Monate später, als die Restauration gefolgt war, mit Waller
und anderen die Rückkehr Karls IL; ja, er verglich eine
seiner Dirnen mit — Cato! Das konnte ein Marvell nicht
verzeihen,
Marvells Stellung zu seinem jetzt berühmtesten Zeit-
genossen, Milton, der aber damals gar nicht berühmt
und nur von wenigen anerkannt war, geht zur Genüge
aus seinem begeisterten Eintreten für dessen '*Paradis€ Last'*
hervor, wenn auch, wie immer, ein Teil der Begeisterung
auf das Konto der herkömmlichen Art der conimmdatory
Verses gesetzt werden muü. Die persönliche Bekanntachaft
der beiden Männer datierte seit ungefähr 1662, wie aus
Miltons Empfehlungsbrief hervorgeht; offenbar ist Lord
Fairlax der Vermittler gewesen ; imd Milton wieder empfahl
Marvell an Bradshaw und OromweU, wodurch er ja später
') Dn/dm's Poetical Worts, cd, Cunningham, vol. lH, p. 190.
2) Sieh S. 4 u, 5 dieser Arbeit.
Ü
Ü
— 119 —
ßein Amtskollege wurde. Und es zeigt wieder Marvells
ehrenhafte, herzgewinneude Persönlichkeit, daß er
Milton nicht vergaß, als er ihn nicht mehr brauchen konnte,
sondern dieser seiner bedurfte, und daß er mannhaft für
ihn gegen den minder edlen Parker auftrat und auch im
Parlament den Vielgehaßten in Schutz nahm. Der Milton-
Biograph Mark Pattison^) bedauert nur, daß Marvell
statt seines schwachen Lobgedichtes keinerlei Aufzeich-
nungen über seinen Verkehr mit Milton hinterlassen hat;
bemerkenswert ist eine Äußerung Marvells über Milton im
^^Rehtarsal Transprosed*' J)
Ein direkter literarischer Einfluß Miltons auf
Marvell ist nicht vorhanden. Gemeinsame Züge finden sich
freilich, so der Glaube an die Macht der Sterne,*) die Ver-
gleiche aus der Bibel mit den alten jüdischen Helden, mit
Samson — an "Samsmt Agonistes" denkt Marvell offenbar bei
der Erwähnung Samsons am Schlüsse seines EmpfehJungs-
gedichtes für Milton — , mit dem Ungeheuer Le\aathan etc.,
was aber nicht auffallend ist Daß Marvell für die Heim-
losigkeit Miltons theoretisch eintritt, sie aber selbst nicht
pflegt, wurde schon erwähnt Marvell und Milton sehen die
"Welt mit ganz verschiedenen Augen an: Beide sind unzu-
frieden, empört über die herrschenden Zustände. Milton
besitzt Pathos, Marvell Satire. Milton zieht sich endlich
geärgert von der Außenwelt zurück und versenkt sich in
die Zeit des Paradieses. Marvell wird immer heftiger in
seinem erbitterten Kampfe, dessentwegen er auch die
eigentliche Dichtung aufgab, während Milton geradezu
zur Dichtung gedrängt wurde, abgesehen von den anderen
Umständen, die dabei mitwirkten.
Im Gedichte „Auf Tom Mays Tod" nennt Marvell
1) ''Mütmi' (Mii^lush Mai of LettersJ, p. 131 f.
2) Grosart, vol III, p, 498-^00; ebd. p. 35 m. 494 über
Butlers "Hudthras'\
^) Die Astrologie stand damals in gebildeten Kreisen io hohem
Ansehen. William Lilty, der größte Astrologe der Zeit, sagte in
jährlichen Aljuanachen die politischen Ereignisse vorher j er wurde
auch zu Rate gezogen, a!s Karl I. aus Carisbrook-Castle fliehen
wollte. Butler verspottet ihn im ''Hudibrm** als öidrophel. Vgl
*'Mudibras'\ II, HI
120
femer Davenant gegenüber May mit Auszeichntmg **one
ttmn thee more wortht^"; tmd Chane er erhält ebendort das
Beiwort *^reverend": — übrigens ein ständiges Beiwort für
Chaucer auch bei anderen Dichtem, z, B. Dimbar.
Ein conimendaiory poem für Dn Witty zeigt die stereo-
type Übertreibung bei der Würdigung von dessen Über-
setzungskunst
An Waller und Denham, Dichter der Gegenpartei,
haltlose Gesellen, knüpft Marvell insofern an, als er den
Gedanken ihrer '* Instructions to a painter*^ die für Karl
Partei nehmen^ aufgreift und ^nach zwei Sitzungen'^ Lady
State einer dritten, längeren unterzieht, und so seine viel
umfangreicheren ''Instructions", äußerst aggressiv gegen den
König und die Regierung, schrieb. Auch erwähnt er beide
Dichter in diesem Gedichte selbst, den einen als Parlaments-
mitglied, den andern in sehr verächtlicher Weise.*) Mit
Waller hat er noch mehrere Themen gemein. Waller schrieb
*'0f a war wiih Spain and ßiiht ai sea" in heroic couphts;
Marvell ''Chi the Victorij of Blake over ihe Spaniards . . .** In
anderem Zusammeohang wurde schon erwähnt, daß Waller
ebenso wie Manuell ein '*Pöem upon the death of the Lord
Proteetür' schrieb und beide darin von dem Sttirm bei
Cromwells Tode allegorischen Gebrauch machen, ohne daß
ein weiterer Zusammenhang erkennbar wäre.
Da Grosart, der treffliche Herausgeber, in seinen
Anmerkungen öfters so nebenbei von „Reminiszenzen'* an
Donne, Cowley etc. spricht und auch der Artikel im "Dic-
tionartj of National Biographij' Marvell zur „Schule**
Donnes und Cowleys rechnet (eine solche gibt es gar nicht,
das ist eben ^Renaissance- Lyrik^), so muß entschieden be-
tont werden, daß Marvell von Donne und Cowley
absolut unabhängig ist; von einem bestimmten Ein-
flüsse kann nicht gesprochen werden, wohl aber von Ein-
Aussen (Plural !), und zwar sind das die allgemeinen Einflüsse
der Zeit, der Mode, der Tradition. Eine ^Schule Donne-
Cowley'^ existiert noch weniger als die sogenannte ^zweite
schlesische Schule'^* Diese „Schule" ist eben die pastorale
Richtung, der jeder Zeitgenosse angehörte, vielleicht mit
1) ?v. 164, 2m.
- 121 -
alleiruger Ausnahme Butlers. Unter ^Schule** versteht man
doch immer etwas Abgesondertes, Partielles und gerade
nicht das Allgemeine » Universelle.
GewiU, wir erinnern uns sogleich an Marvells ''ün-
fortunatr Lover'\ der ''Definition qf Love'\ ^'Mourning** und
ähnlicher Unnatürlichkeiten, wenn H a z 1 i 1 1 *) sagt:
^'Donne's Muse suffers continual pangs and ihroes; his thoaghis
are ddivered hg ike Caesarcan sedion'*: sowie wenn er be-
merkt, daß Donne Gelehrsamkeit filr Poesie hielt» Aber
das ist kein Charakteristikum für Donne oder Marvell
speziell, sondern allen Zeitgenossen gemein; man gehe
nur die betreffenden Bände der *'Po€is of Great Brituin'*
flüchtig durch und man wird staunen, überall dasselbe zu
finden.
Und gehen wir zu den Einzelheiten: Auch Donne
besingt einen Öarten, besingt Bilder; auch er höhnt die
Schismatiker zu Amsterdam, auch er verehrt Spenser:
lauter Allgemeinheiten, die nichts beweisen. Das größte
ist noch, daß auch bei Donne sich das Bild vom Auf-
fangen der Tränen in einer kristallenen Phiole findet
Das einzige Gedicht Donnes, das wahrscheinlich wirklich
auf Marvell eingewirkt hat, ist Donnes ,,La Corona*', ent-
sprechend dann Marvells *'The Coronet", Ein Blick auf
Seite 49, wo das Muster vollständig abgeschrieben wurde,
genügt, um zu bestätigen, daß auch dieses ihm außer der
allgemeinen Idee und dem Titel, der nicht einmal Dounes
Eigentum ist, sehr wenig geboten hat.
Es wäre verfehlt zu schließen, Marvell könne der
Üler Donnes deshalb gewesen sein, weil Donne nach
Ausspruche Ben Jonsons ein großer Dichter war,
während Marvell es nicht war. Donne war gar kein großer
Dichter, Ben Jonson nennt ihn freilich anläßlich der üb-
lichen gegenseitigen Komplimeutierung einmal ''the ddight
of Phoi'bus and each 3hise"; darauf ist aber ebensowenig
zu geben, als wenn Marvell einen Lovelace oder Witty
bis in den Himmel erhebt. Und Marvell ist Donne gegen-
über nicht zu verachten; Hazlitt nennt ihn eines besseren
JC>lg€
B >) "The Englinh Cotmc Writ^ra** (wie 9. aO, Arno. 1^ dieser Ar-
beit), p.64.
122
Zeitalters würdig und findet manohe seiner Verae ^süß
wie auf Apollos Laute**.*)
Und so wie Marvell in der pastoral en Dichtung
von Donne unabhängig ist, ist er es auch, ja noch mehr,
wenn möglich, in der Satire. Donne schrieb auch Satiren,
aber lauter allgemeine Satiren, Satiren auf schlechte Poeten,
auf den Aberglauben, über die Heuchelei etc«, während
Marvells Satire eine direkt persönliche Satire, meist
mit Namensnennung der Person ist. Andererseits ist Donne
bedeutend vielseitiger in der Metrik, er hat längere und
kürzere Verse, mehr sangbar, liedartig verbunden. Marvell
hat das nicht nachgeahmt. Überhaupt müüte man ihn einen
sehr schlechten, unfolgsamen ,,Schuler" nennen, denn Donnes
Lyrik ist, obwohl dieser ein Geistlicher war, viel sinnlicher
und nackter, besonders in den Hoclizeitsgedichten, wo in
sehr deutlicher Weise von den Freuden der Brautnacht
gesprochen wird. Derartiges finden wir bei Marvell nicht
Und Cowley gleicht Marvell nur in der Ehrlichkeit ;
Cowley war nämlich Royalist, und zwar einer der wenigen
ehrlichen. Er hatte den Mut, Cromwell bei dessen Leb-
zeiten zu tadeln. Dichterisch hat Cowley Marvell gar nicht
beeinfiuJJt. Er hat weder seine sogenannten Pindaric Ödes
nachgeahmt, noch solche Verstiegenheiten wie Cowleys
*'0f Plauts", ein Herbarium in Versen, auch so trocken
'wäe ein solches. Von Cowleys '^Mistress'\ einer Sammlung
von Liebesgedichten, die das einzige in Betracht Kommende
wäre, sagt sein Biograph in den "Poets of &rc€U Britmn*\^
daß *'suhiJeiy and far-feAched conceit usurp (he senfimefiis of
passion and nature*; sowie das auch von Marvell gilt, gilt
es von dieser ganzen „Schule".
Marvells eigentliche dichterische Tätigkeit ist auf
wenige Jahre beschränkt. Von den Vorübungen der
Universitätszeit abgesehen, haben wir seine lyrische, Be-
naissanceperiode auf die Jahre 1650 — 1652/53 beschränkt
gesehen, allerdings seine fruchtbarste Zeit, Seine politischen
Gedichte und Satiren bilden keine geschlossene Keihe,
sondern sind gelegentlich geschrieben, einzeln über viele
Jahre verstreut, am dichtesten gegen sein Lebensende zu,
«) Sieh S. 90, Aiun* 1» dieser Arbeit
2) Val \\ p. 204,
4
4
4
— 128 —
Um so auffallender ist bei der nicht groiien Zahl seiner
Gedichte seine Vielseitigkeit. Derselbe Marvell^ der
in der zweiten Hälfte seines Lebens so wuchtige Satiren
gegen seine politischen Gegner schleudert, schreibt in der
ersten Zeit zarte Hirtengedichte und findet so innige Tone
wie in *'Ä Drop of Dew*\ so galante wie in **Daphnis and
Chloe^\ so gutmütig* humoristische wie in seiner *'Ct>;/
3Iistress'\ Seine Prosasohriften, von groJdem Um-
fange, berechtigen ihn zu dem Titel eines ausgezeichneten
Prosaisten.
k Seine umfassende Bildung, die sich überall zeigt,
könnte uns in Erstaunen setzen, wenn wir nicht bedächten,
daß dieselbe etwas Notwendiges bei jedem Dichter des
17* Jahrhunderts ist. Zwar noch von manchem Aberglauben
befangen, nähern sich diese Leute, auf ihre Weise und
Kür ihre Zeit, einem Konversationslexikon oder dem
toetJieschen allumfassenden Ideal, dem Hen-kal-patL Dabei
iebt Marvell, ein Politiker, noch viel mehr im Leben
und in der Wirklichkeit als andere. Über seine Lite-
raturkenntnis wurde gesprochen, als die fremden Ein-
flüsse erörtert wurden. Er kennt aber nicht nur die klassische
Literatur, auch die zeitgenössischen fremden Literaturen^
die italienische Stegreifkomödie; mit ihrem Skara-
muz und PoHcinell vergleicht er ja Karl IL; er spricht
auch von ''Orlamlo, famous in romance' (''Instructions to a
painter", 275) und von ''thefahulous huut of Che vy- Chase'*
C'Layal Scot", 70).
Das 17. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Ge-
le genheitsdichtung; aber wenn die übrigen Dichter
diesem Meere Ströme zutllhi^en, so ist Marvells Beitrag
nur ein bescheidenes Bächlein, solange das Wort Gelegen-
theitsdichtung im engereu Sinne genommen wird. Im weiteren
Sinne ist freilich eigentlich Marvells ganzes Dichten Ge-
legenheitsdichtung. Zur erstereu Gattung zählen seine
Geleitverse — für Lovelace, Witty, Milton; seine Leichen-
gedichte — für Cromwell, Hastings, seine Hochzeits-
gedichte. Zur zweiten Art gehört alles übrige, die Crom-
ttjellian Poems j die keine leeren Lobhudeleien sind, manche
seiner lyrischen Gedichte, alle Satiren. Ein negativer Be-
weis dafür ist auch der Umstand, daß wir bei ihm nie
— 124
allgemeine Satire, Satire aut die Mode oder die im
16. und 17. Jahrhundert so beliebte ^»Satire auf aUe Stände*^
finden, sondern immer direkte persönliche Satire^ die
freilich eher dem Nichtverstanden- und Vergessenwerden
anheimfällt. Ein Zag, der durch seine ganze Dichtung^
durch jede Periode hindurchgeht^ ist, daß die Satire, wenn
auch nur in kleinen Seitenhieben, sich überall, ja sogar
in Liebesgediehten findet. ^|
Charakteristisch fiir Marvell ist die Mischung von ^m
modern -wissenschaftlichen Vorstellungen und Über-
bleibseln des Aberglaubens. Er pflegt die mittelalter*
liehe Spielerei mit der Zahl „fünf"^ (in dem griechischen
Gedicht, in ^^Apphton-Houae**); er glaubt an den Einfluß
der Gestirne wie Milton, an eine Seele der Tiere ("Nympli\
''Hill and Grove at Bilborow\ "First Anniversar (^"J, an Vor- j
herkündigungen C'Death oj ihe Lord Protector"), er hatj
noch den „Horror vacui** der Alten ('*Nature haieih
etnpimess\ in der '^Horaiian Ode*\ ''Appleton- Hause'' ); erj
zieht aber die Mathematik zu Vergleichen heran, spricht
vom Femrohr, vom Mikroskop, spottet über Graphologie, j
ja wir finden eine ganz moderne Ansicht, die in Deutsch-
land Herder zuerst aussprach, nämlich die Betonung des
Einflusses des Milieu, des Klimas, der Umgebung auf
den Menschen; so sagt er, daß die Mode es sei, welche
die Dichter beherrsche, und ein anderes Mal heißt es:
**Our wits have drawn th'infection of our ttmcs** C*Lovelace*^),
Noch ein Wort über seine Stellung als Satirike r.
Leigh Hunt*) sagt: ''Andrew Marvell — — is ihought\
io have had wo mean hand in putiimj an end io ihe dtßiasiy
of ihe Stuarts, His wit kelped io retider them ridiculous, and ,
his iniegrity added weight to the siing/* Von Butler, dem
bedeutendsten Satiriker der Gegenpartei, unterscheidet sich
Marvell wesentlich im Leben und in den Werken : Der
erstere verbrachte sein ganzes Leben in banger Hoffnung
auf die Gunst des Hofes ; zugleich geschmeichelt und ent-
täuscht, sah er keine seiner Hoffnungen sich erfüllen*
Marvell, keine "mercetiarg pen'* wie May, wies die ihm
angetragene Hofgunst, die Bestechung durch Lord
^) ** Wit anä Humonr\ p. J^Uff,
— 125 —
d
Danby zurück und blieb sein Leben lang frei und unab-
hängig, Butler schrieb, der Hauptsache nach, nur ein großes
komisches Epos, während Marvell — in Versen — kein
einziges großes, aber viele kleinere satirische Gedichte
schrieb. Mar\'ells Berühmtheit bei den unmittelbaren Nach-
kommen bestand auch nur in seinen Satiren, das zeigt der
Umstand, daÜ viele Satiren in den **Pömi8 of State Äffairs"
ihm zugeschrieben wurden, die nicht von ihm herrühren,
wie Grosart zeigt. Seine Ironie erinnert Leigh Hunt*)
mitunter an Swift, der ihn ja bewimderte,^)
Es ist nirgends meine Absiebt gewesen, Marveil
größer zu machen als er ist, aber unter den „Dichtem
geringerer Bedeutung neben Milton^ kann ihm vielleicht
auch ein Platz in Körtings .^G^rundriß** werden, wenn
schon um nichts andern willen als seiner **Ni/mph'\ '^Ber-
mudas'*, "Horaiian Ode*\ des **Dialogms oftwo horses" wegen.
Cowley zum Beispie! ist als Dichter um nichts be-
deutender als Marvell und doch ist sein Name so bekannt,
weil er durch das ''rumhUng measure of his CkieSy whidi was
calh'd Pindaric*' die englische Poesie für ein halbes Jahr-
hundert zum Nachteil des Geschmacks und der Natürlich-
keit beeinfluß te, wie sein Biograph in den **Poets of Great
Britain'\ vol F, sagt Macdonald, der Herausgeber von
''Englands Äntqjhon'' (AlacmUlan & Co.) sagt p. 247 : ein
paar halbe Dutzend seiner Gedichte sind mehr wert als
alle Verse Cowleys, Die Äußerungen von Hazlitt, Leigh
Hunt, Swift über Marvell wurden bereits mehrfach
zitiert. Grosart stellt an den Schluß seiner biographischen
Skizze einige Zeilen aus einem Sonett Words worth's,
der Marvell unter die großen MäDner rechnet:
*'Hanih ihat penn'd, and ton^iues that uUered
Wisdmn, beUer nmt^,"
Das spezielle Lob Leigh Hunts ist gewiß über-
trieben, immerhin ist es ein Zeichen, daß Marvell nicht
ganz zu vergessen ist, daß er dort in Gesellschaft von
Chaucer, Butler, Jonson, Swift, Goldsmith etc. als Vertreter
des englischen Witzes und Humors erscheint. Mark
>) " Wit and Rumour'\ p, 34, 218.
^) Die Zuäammeust«llui2g der Urteile über seine Satiren aut
S. 107 hatte auch ebensowohl an diese Stelle gepaßt.
— 126 —
Pattiso n*) nennt ihn einen kongenialen Geist Miltons,
"ineorf^*ptiblc amid povertif, unbowed Inj de/eat". Gewiß muß
Andrew Marvell jedem^ der «ich mit ihm beschäftigt, teuer
sein, wenn auch mehr als Mensch denn als Dichter* AUzn-
bekannt ist Marvell auch den wenigen nicht, die sich über
ihn äuÜem* 80 spricht Hazlitt von einem Gedicht
den Tod des Königs Karl I., in dem Marvell diesem, ob
politischer Gegner, Gerechtigkeit widerfahren läßt, und
hinzu, daß er das Gedicht selbst nicht kenne, sondern
davon sprechen hörte. Ein Gedicht Marvells auf Karls Tod
gibt es nun nicht, wohl aber stimmen diese Aassagen auf
einige Strophen der ^Horazischen Ode^, die er gewiß
meiut.^)
d
Ton und Stilmittel.
Hier könnte man trennen: Lyrische Gedichte
flud Satiren. Es ist klar, daß der Ton in beiden verschied eu
Äin muß. Der Hauptunterschied ist: die IjTischen
Gedichte, mit Ausnahmen natürlich, sind nnnatürlich
schwulstig, voll *'auri'ate tcf^nis*\ in den Satiren aber herrscht
die Sprache des Lebens, uatiirlich und öisch. Manches^
was den Ton der Eenaissancelyrik anbelangt, mußte bereits
im Laufe des vorigen Kapitels erwähnt werden, sollte nicht
um der Systematik willen das Verständnis seines Wesens
leiden, Grosart sagt von Marvells Renaissancegedichten, ■)
es sei darin Frische und Zartheit, Reinheit, Phantasie,
Melodie, passender Symbolismus und zugleich realistische
Treue, Einfachheit und zugleich Tiefe, Land- und Blumen-
duft, Sonnenschein auf Tau und Rosen. Zum Glück ist das
nicht ganz aus der Luft gegriffen, allein für alle Gedichte
gilt es doch nicht; es ist auch vieles, was Grosart als
kennzeichnend hervorhebt, kein besonderes Verdienst Mar-
vells, sondern der Stempel des Jahrhunderts; sowie wir
umgekehrt Marvell manches nicht zum Busen anrechnen
dürfen; manche lächerlich scheinende Übertriebenheiten
sind eben Marinismus, Mode, wie wir sie auch bei Milton
1) „Milton" in "Englüh Mm of Lettern", p,131f.
^) Zusammenstellung einiger lobender Urteile auch in HarUey
Coleridgea ''Life of Ä. MatvelV, Hüll 1835, p,32ff, und p. 51 f.
8) Voll, p. XXXVI.
— 127 —
^tind Opitz finden. Marvell hat auch das SüJiliche wnd die
stark versinulichenden Ausdrücke der Schäferdichtung und
spricht viel von Weihrauch, Blumen, Bernstein, Purpur,
B Kristall und Seide» Die Reflexionspoesie, jener Teil der
Renaissancelyrik, wo ohne pastorale oder ländliche Ein-
kleidung Gedanken und Reflexionen, oft mit ermüdender
Breite, ausgesponnen werden, ist auch nicht speziell Mar-
vellisch; „UAlhgro^ und ^11 Penscroso*^ von Mi 1 ton ge-
hören hieher, wir finden sie dann bei der ganzen Reihe der
früher genannten Dichter dieser Periode, ihre Ausläufer
findet sie bei Pope, Auswüchse dieser an sich nicht be-
sonders „poetischen^ Poesie sind es, wenn die Brüder
Fl et oh er den menschhchen Körper als „Purpurinsel** dar-
stellen oder Cowley uns ein „Herbarium*^ in Versen gibt
Wir haben eben im 17. Jahrhundert statt Gefühl Sentenzen
und Reflexion. Dr. Johnson nennt die ganze Gattimg auch
metaphysischePoesie, ein Titel, der viel zu viel sagt.
Am unglücklichsten zeigt sich diese Art bei Marvell in der
■ *'Definiiion of lA>ve*\ *'The Unfortunate Lover", ''Etfes and
Tears'*; am vorteilhaftesten dagegen in der *iC«>// Misiress*\
die man hieherreehnen muß, die sich sehr angenehm von
der sonstigen Art dieser Gedichte, nicht nur bei Marvell,
abhebt. Gewöhnlich läuft alles darauf hinaus, einen spitz-
findigen Wortwitz j eine Nachahmung der italienischen
jfConcetii*', anzubringen. Daraus geht hervor, daß die
W Schwäche oder Stärke in den Vergleichen liegt.
f Die Bilder zu seinen massenhaften Vergleichen, die
in keinem Gedichte und in keiner Satire fehlen, nimmt
Marvell überall her. Ihr AVert ist ein sehr verschiedener,
die einen sind flach, banal, trivial; die anderen wieder sind
wahre Perlen, überraschend imd dabei doch natiirlich, an-
mutig und lebendig. Die schönen sind sein Verdienst, die
schlechten aber nicht sein persönlicher Fehler, sondern die
Folge des Geschmackes der Zeit. Betrachten wir nur einige
seiner Quellen: Marvell nimmt seine Vergleichsobjekte
zum Beispiel ans Büchern: aus der Bibel — Saul, David,
Simson, die jüdischen Helden und Köm'ge ; auch daa Manna,
I der Turm zu Babel, das Rote Meer; aus den Klassikern —
■ Dido, Rhodope; er benutzt auch die ganze antike Mytho-
H logie. Er nimmt die Vergleiche aber auch aus dem Leben:
12B —
aus der Architektur — , er vergleicht den Staat mit einem
Gebäude*) oder den Wald mit einem Gebäude;^) die Orgel
vergleicht er mit einer Stadt;*'') oder aus der Nautik: in
*yE^e3 and Tears'' und im ''Characier of Holland"; auch der
Vergleich vom Staatsschiff kommt vor;*) er nimmt Bilder
aus der Herald ik^) und aus der Astron omie;*) zu den
Vergleichen aus der Malerei,*) der bildenden Kunst, ge-
hört auch der Vergleich mit Mosaik: er vergleicht den Wald
mit einem Mosaik^) und die Musik nennt er ein Mosaik
der Luft;^ andererseits ein Vergleich aus der Musik:
Cromwell stimmt das Regieningsinstrument;*) zu den Ver-
gleichen aus dem Militär lebend gehört auch der lächer-
liche von den mit Wind geladenen Kanonen der Liebe, den
Seufzern. Am schönsten sind die aus der Natur ge-
nommenen Bilder; das ist seine Spezialität, hier malt er
entzückende Qenrebildchen. Besonders die Gartenszenen
sind hier zu erwähn en, von denen wir in ^^Äppleton- Honst'
welche finden; das Erwachen des Tages vergleicht er hier
mit dem Reveilleschlagen in den Garnisonen, die Blumen
sind die TrQppen> die Biene der Trommler, die Blumen
halten Parade ab; dieses konsequente Festhalten von
militärischen Vergleichen ist hier keineswegs sinnlos oder
zufällig, sondern sehr wohl beabsichtigt und auch passend,
weil Lord Fair fax, dem ja das Gedicht gewidmet ist,
durch und durch MHitär wan Freilich sinlct er bei solchen
Schilderungen manchmal zu einer bloBen Aufzählung
(enumeratio) herab ^ wie in '* Apphton - House'^ an einigen
Stellen. Sehr häufig zieht Marvell die Blumen zum Ver-
gleiche heran; damit hangt zusammen, daii auch vom Tau
oft die Rede ist. In der zarten, vergleichenden Natur-
schüderung erinnert Marvell an den Deutschen Brockes,
doch ist er frei von dessen Tendenz, Marvell vergleicht
stets Gegenstände der Natur mit solchen der Kunst, zum
Beispiel den Waid mit einem Mosaik, die Wiese mit einem
Tuche etc.; aber nie umgekehrt. Ermüdend wird er dort,
wo er ein Ding mit einer ganzen Serie von Vergleichen
M "AppUton-House", "First Anniversary'', "Tom Mav*s JJmth.'' —
«) "Appkton-IIotisc/' — 3j *fMusic*s Empire:' — ^) *'First Annivet-
mrtf." ^ 5) ''Unfoiiunate lMver'\ — «) ''Definition o/ Love/* — ') ''Tke
OaÜer^/'
— 129 —
belegt, zmn Beispiel, wenn er in "The Nymph, Vomplaining
ike Dmih qf her Faum*' bescLreibt, wie das Rehkalb weint;
*^Se€ how ii meeps! ihe Uars do come
Sad, slototy, drüppin^ Uke a gum; ... 1
So fceep« the ufounded baham; m ... 2
The holif frankincenae doth flow; ... 3
The brotherkas MeUadeä ... 4
Meli in Buch amber UarB ag thtH**
Also gleich vier Vergleichsgegenstände für eine Sache!
Und das ist nicht die ärgste Stelle. Oft ist das eine Glied
eines Vergleiches so weit ansgesponnen (10 — 20 Verse),
dai3 man Mühe hat, den Wendepunkt der Periode zu finden ;
so zum Beispiel in der ins Deutsche übertragenen Stelle
aus **The first Anniversar^*', wo zwischen dem einleitenden
^So wie" und dem schließenden ^. , , so ♦ * ♦" nicht weniger
als achtzehn Zeilen stehen. Aber gerade solche Stellen,
die im Zusammenhange des Gedichtes eigentlich störend
wirken, sind, als selbständiges Ganzes herausgehoben, oft
die «chönsten Perlen seiner dichterischen Kunst.
Auch um die Dauer^ die Länge auszudrücken, benutzt
Marvell die Häufung von Bestimmungen. Um zu sagen,
Cromwells Name werde ewig dauern, sagt er:
"Am long OS rivers ta the sea shall run.
Ah hng as Cgnthia shall relieve the «i«.
White gi€tgs ahaü fly tmto 0ie foreata thid\
Whtle sheep deUght the gras9nf downs to pick^
Äs lottg as future Urne aucceeds the past —
Alwags th*j honour, praüe a»ul name ahall last"
Besonders die politischen Gedichte sind es, die ilim
Gelegenheit geben, so imgeheuer lange Perioden zu
bauen. Im *'First Anniversary" beginnt zum Beispiel der
erste Teil einer Periode mit Zeile 16; jetzt zählt er alle
Fehler und Untugenden der Könige auf und erst Zeile 45
ist die Peripetie : ** While CramweU . . /' und nun folgen
natürUch lauter rühmenswerte Eigenschaften, Unmittelbar
darauf, in demselben Gedichte, vergleicht er Cromwell mit
Amphion ; der Vergleich beginnt *'So tvhett Amphiofi . . /*
Zeile 49, und erst Zeile 67 wendet er sich zu Cromwell:
**Such was , . /' Äußerst auffällig ist es, wenn Prädikat
und Objekt so weit getrennt sind wie im *' First Anni-
Fo seh e r» Murvvlis poet. Werke» 1)
130
versari/\ Zeile 266: '*So have I sem at sea* when . , /* jetzt
ein ELoschub von sieben Zeilen, dann erst das Objekt
**. . . some histy niate . . /' Bei seinen Grleichnissen verliert
er aber nie den Faden, er führt ^^ie konsequent durch:
Oliver Cromwell vergleicht er mit dem reinigenden Ge-
witter, das über das Königtum niederging; und der milde
Richard, sein Sohn, der ihm folgte ist der versöhnende
Regenbogen darauf. Oder: Cromwell war im Leben wie
eine Elche, so fest und unerschütterlich und so groß, daB
man untenstehend die richtige Höhe gar nicht ermessen
konnte; so wie man erst bei der gefällten Eiche die Hohe
80 recht ermessen und würdigen kann, so auch sind bei
Cromwells Tode seine Schatten mit ihm gefallen und wir
erkennen ilin erst richtig. Manche Bilder Marvells sind
nicht neu, so, wenn die Ernte mit einer Schlacht verglichen
oder wenn der Tod ein Schnitter genannt wird. Leider
dürfen wir hier auch die lächerlichen Vergleiche nicht
vergessen; einer der stärksten ist wohl der zwischen dem
Schweiße der Schnitter xmd dem wohlriechenden Schweifle
Alexanders deßGroüen; nicht minder kopfschüttelnd hören
wir auch in ''AppletonSouse' die Süüigkeit eines Kusses
mit — Heu verglichen. Daß ihn die Heuhaufen an ägyptische
Pyramiden erinnern, ist noch ganz gelinde. Man glaubt
eine Parodie auf hypermoderne Art zu hören, wenn die
weite Ebene mit einem vom Fabrikanten Lily zum Trocknen
ausgespannten Tuche verglichen wird. Tief durchdacht
dagegen ist es, wenn er die Freiheit mit dem langsam
wachsenden Weinstock vergleicht, dessen Frucht auch
trunken machen kann. Eine Inkonsequenz, eine Katachrese,
f finden wir in " Applet on'ffmisc\ wenn er England mit einem
Paradies vergleicht, das mit einem ^wässerigen**, statt mit
einem feurigen Schwerte „umgeben" ist, worunter er daks
Meer versteht.
Eine Inkonsequenz des Stiles, die allerdings mit den
Vergleichen nichts zu tun hat, ist femer die an vorkommenden
Stellen bereits angedeutete skrupellose Vermischung von
antiker Mythologie und christlichen Vorstellungen,
die wir unter anderen auch bei Milton finden; sie kommt
schon in ''The Kin(/\s Quair* vor, charakteristisch aber erst
im 17. Jahrhundert* Wir fanden sie im Leichengedicbte fär
I
- 131 —
Hastings, in ''Tke Nymph" und im "Loyal Scot". Wenn wir
dort zum Beispiel Hymen unter den Engeln finden, so ist
das eine ümkebrung des modernen K 1 i n g e r sehen ,, Christus
im Olymp**.
Wenden wir uns wieder zu Marvells Stilmitteln;
die wichtigsten sind folgende: Ausrufe sind, dem abge-
schliffenen Charakter der Schäferdichtungen entsprechend,
in denselben nur selten, meist solche der unglücklichen
Liebe: „Äh mef Ah mef^ oder "OA my fearsT In den Ge-
dichten politischen Inhaltes kommen sie häufig vor, und
zwar meistens gehäuft ; so im Gedicht auf Cromwells Tod :
''0 human glory vainl 0 death! 0 toingsl
0 worihlesa world! 0 transiiory ihingar (Vv. 255/266)
oder "0 shamef 0 sinT Apostrophe kommt gleichfalls
meist in den State Poems vor, in den Gedichten an Crom-
well, Blake, Douglas und in den Satiren: "Fond menT
("Victory of Blake") oder "FondboyT ("Loyal Scot"); ''Foul
architectr ("Toni May's Death"); er spricht Cromwell an:
" — thou, the war's andfortune's son", in der "Horatian Ode";
er spricht auch die Muse an : "Say, Muse . . /' ("Instructions")
und den Pegasus ("Loyal Scot"). Asyndeton ist häufig
in den „Instructions'':
^'Of birth, State ^ wit, strength, courage/* (266)
"Confiision, folly, treachery, fear, neglect"; (610)
"Sinners, govemors, fanners, hankers, patefitees"
C*Clarendon*s House - Warming")
oder eine Häufung von lauter Eigennamen:
''Languard, Sherness, (rravesend, and üpnor? Pett."^)
"Jermain, Fitz- Gerald, Loftus, Porter, Scot."^)
Die häufigste Figur ist die Antithese, sowohl ein-
fache als doppelte, strenge durchgeführt:
*'/ liked his project, the success did fear** ^
"Make himself faty his king and people bare" ^)
" — less usefull where he rtwst desired,
Far what he least affected was admired." ♦)
"ßut those (= rights) da hold or break,
As tnen are sträng or weakj*^)
Einige Gedichte sind durchaus nur die Durchfährung
und Ausführung einer Antithese, respektive Parallele;
1) "Instructions/' — ^) "On Paradise Lost/' — ^) „Nostradatnus'
Prophecy/' — -*) ''DeaUi of the Lord Protector," — ^) "HoraUan Ode/'
9*
132
BO ''Tlie Match'\ *'A Drop of Dmc*\ teilweise auch ^^AmeUis
and Thestylis, making Hay'ropes'\ Die beiden ersten sind
zugleich Allegorien. Die Ellipse ist selten:
"Seeinff how Uitk (we are), ißt cottfesa how greaf'^} (he was).
'* Common heauties siay {iiXi) fifieeti"^) — zu ergänzen; before
they can be laved. Die H5^perbel ist, und zwar die ko-
mische Hyperbel, ein Hauptmittel seiner Satire, Ohne
Satire, aber humoristisch, findet sie sich in seiner "Coy
Mistress\ Offenbar unter dem nachhaltigen Einflüsse des
Studiums der hebräischen und klassischen Poesie steht der
reiche Gebrauch der Personifikation, Auch hier beruhen
ganze Gedichte darauf: ''Ä Dialogue heiween the SoiU and
Body*', "A Dialogue betwem the Besolved Soul and Oreated
Pkasure'*. Fast alle abstrakten Begrifie werden personifiziert:
Love, Deathf Time, Fama, Fate, Hope eto* sind handelnde
Personen, Britannia tritt hilfeflehend auf, die macchiaveUische
Politik wird als Dame eingefiihrt. Pars pro toto steht
einige Male: ^'loaden sails*'^) statt loadeii ships^ denn Segel
können ja nicht beladen sein; statt head sagt er ''temples".
Stich omythie kommt in *' Clor in da and Danton" vor, und
zwar gewöhnliche, das heil3t, Rede und Gegenrede bestehen
aus je einer Zeile; aber auch gebrochene Zeilen, und hier
wieder einmal gebrochene und zweimal gebrochene, gibt es*
Etwas Ahnliches wie Stichomji;hie finden wir im ''Dialogue
between two Horses'\ wo Rede und Gegenrede auch Schlag
auf Schlag folgt, aber stets zwei Zeilen zusammengehören*
Sprichwörtliche Wendungen finden sich auch einige
Male:
''Th£ trial neUher coaU nor Ues," (^'^pJeton-J9btw^', 196.^
"Of this fieed wc*ü virtue make." C'^f'^^^ff Looe/')
*^AXways he commands that payi/' C* Instructions/*)
''. . . OÄ poor (ts church rata" (**IHalogue between iwo Horses/')
Eine nur einmal vorkommende, überhaupt sehr seltene
Figur, die mir im Englischen jener Periode nur noch bei
Drummond aufgefallen ist, ist die sogenannte Figur der
yjVerschränkung**, die aus dem Indischen stammt.*) Bei
' n "Deaih of the Lord Proiecior:'
s) '*Toung Love."
«) "Eyes and Tears.''
*) Vgl. Bolte iu Herrigs „Ai'chiv für das Studium
I
H
— 133 —
Drummond ist dieselbe aasgebildeter als bei unserem
Dichter:
12 8 12 3
"JPor sireams, juice, hcUm ihey are, which guench, küla, charms,
12 8 1 2 3
0/ god, deaih, heü, the wraih, ihe life, the harms."
Bei Marvell werden die Glieder verworfen und die
Verschränkung ist nur zweifach, dafür aber vierteilig:
12 3 4
"She yei mare pure, stoeet, straight and fair,
4 3 2 1
Than gardenSj woods, meads^ rivers are;"^)
abo eine symmetrische Umkehrung der Glieder. Eventuell
könnte man auch folgende Stelle aus dem „Dialog der zwei
Pferde" hieherrechnen (Z. 103):
12 12
'' . . . Wkich augments and securea his oum profit and peace."
Anklänge an das Volkslied — etwas Seltenes in jener
Zeit — sind es vielleicht, wenn die Dauer, die Länge
durch eine Aufzählung ausgedrückt wird im Gedicht auf
den Tod Cromwells; femer das Motiv, daß das Bild der
Geliebten im Herzen aufgehängt ist,^) und die Spielerei
mit dem „Das bin ich — das bist Du".^) Das Wort-
spiel ist wieder ein Hauptmittel der Satire und wird als
solches separat besprochen ; ohne Satire kommt das Wort-
spiel mit Namen vor: so mit dem Namen Christina, bei
dem auf Christus angespielt wird, und bei Zerlegung des
Namens Oliver St. John.
Zusammenhängend erörtern wir nun Marvells Mittel
der Satire. Wir können insgesamt vier derselben imter-
scheiden.
I. Komische Übertreibung (Hyperbel): Zer-
streut findet sich dieselbe überall, einige Gedichte aber
leben ganz davon; vor allem *'Flecknoe, an English Priest
neueren Sprachen", Bd. 112, S. 265; daselbst zwei andere Zitate aus
Drummond, obiges aber nicht; dieses findet sich in **Foet8 of Great
Britain", vol. V, p, 661. In späterer Zeit wendet Sterne öfters ähn-
liche kunstreiche Stellungen an {"Tristram Shandy^', Kap. 88, 86 und
öfter).
1) "Appleton-Hotise'\ V. 695/96.
2) '^The (iallery"
3) "The Match."
— 134 —
at Rome\ in zweiter Linie "The Characier of Rolland". In
Flecknoe vergleicht er das kleine Zimmer mit einem Sarge;
wenn man die Tür öffnet, bedeckt sie die halbe Wand
wie eine Tapete ; der Priester ist so mager, daÜ das Licht
durch ihn hindurch kann, weshalb er sich in Papier wickelt.
Holland nennt er den unverdauten Auswurf der See, die
Anspülung britischen Sandes etc., also krasseste Über-
treibung.
n. Wortspiel, in erster Linie in *' Holland"^ in
zweiter in ^^Flecknoe" und in den politischen Satiren.
1, Doppelsinn: Er spricht zum Beispiel vom ,,mare
Ubertitn'' (freies Meer) mit dem zweifachen Sinn aj frei
für die Schiffahrt, wie die Holländer es meinen, und
b) das Meer kann Holland überschwemmen, wie es will.
Die zweifache Bedeutung von to gd liegt folgendem Wort-
spiel zu Grunde;*)
*'The hero once got honour by his sword:
Hc got his iceaith hy brtHiking of his word;
And now füs daugkier ht ha» got with child/'
Höchst erheiternd wirkt in ''Tarn Mat/s Deaih"
"— — Mag to htm seif and them was cöm^\
also er war zu sich selbst und zu ihnen gekommen; das
heifit, er war nämlich berauscht gewesen.
Mit etwas weniger Recht setien wir die zwei folgen-
den Beispiele in diese Rubrik:
" Uiey
Marne strove (= striTen) to isle ihis monarch from thia ialtß) (= England),
wobei das erste io i$le ^^ isolate ist; und aus dem **IHalogue
hetweeti two Horses'\
"For giring no mare ihe rogues are prorogued/^
2. Direktes Mißverständnis, Auffassen des un-
passenden Sinnes: Auf der Stiege von Flecknoes Haus
treffen sich zwei, der eine will hinaui', der andere hinunter;
infolge der Enge der Stiege können sie nicht aneinander
vorüber. Erzürnt — keiner will nachgeben — ruft der eine :
"1 tmll make the way hereT und meint: Ich werde mir schon
Platz machen und dich hinunterwerfen ; der Bedrohte aber
*) "Imtructwns'r jj, Vv, SaSö.
«) Ebd. V. 20 von "To the King" nach Pari L
I
I
135
faßt die Worte anders auf, nämlich : „Ich werde dir gleich
Platz machen'^ und bedankt sich noch schönstens: "S*r,
yau'U do me a great favour\
3, Daö Spielen mit dem Namen von Personen :
Unter den HoÜäudern war einst einer, der Civilis hieß,
aber nie einer, der so (i, e, höflich) war. Die „Hol! anders**
nennt er Half-andcrs, Halbraänner, indem er den Namen
zerlegt und eine Hälfte griechisch anffaÜt. Den Namen des
Fisches Poor-John wendet er auf den Evangelisten
Johannes an. Der böse Jermjn Earl of St AI bans
braucht nichts vom Könige zu fürchten, weil dieser sich
hütet^ gleich zwei Heilige zu beleidigen: St. German und
St. Albau, Bei Hyde, Earl of Clarendon, stichelt er auf
hide^ die Haut.
Daü sind die prägnantesten Fälle des Wortspiels,
Über zwei andere, nur einmal vorkommende Arten der
Satire sieh S. 86.
Marvell stellt seine Gedichte gewöhnlich nicht ein-
fach hin wie ein Bild ohne Rahmen, sondern er gibt eine
Einkleidung. Wir finden unter anderem die Ein-
kleidung eines Spazierganges in ''Hill and Groue ai Bü-
hörQw'\ *'Api>leton-House" : einer Bildererkläruug, also en-
blematische Poesie, in **The GaUen/\ **Ins{riHiions to a
painter"; nicht selbständig auch die Form einer Vision im
ersten Teil der '*InstrHcimis'\ Die Form eines Monologs ist,
außer den ^Ich^-Gedichten, vertreten durch ,,Tbe Nijmph'\
*^ Bermudas', ''Dämon the Möwer\ Als Anrede an eine
zweite Person ist der Monolog in '*Young Love'\ **Tq his
»Cot/ Misiress'* gedacht.
Neun Gedichte sind in der Form eines Zwiegespräches,
eines Dialogs, abgefaßt, darunter zwei Satiren. Der Dialog
in den Schäfergedichten steht ganz innerhalb der Grenzen
dieser Gattung, das heiij^ es sind subtile, spitzfindige Reden,
concetii In ''Chrinda and Dämon'' nähert sich der Dialog
der Stichomythie, in '*Britannia and Ralvigh'' nähert er
«ich einem Monolog. Eine besondere Abart des Dialogs
ist das Zwiegespräch von Tieren im "Dialogufi beiween
iwö Horses", ferner die wichtige Art der Gespräche in der
■ Unterwelt, Totengespräche also. Hieher kann man
K femer den '*Dialogue beiween the Soul and the Body" und
— 138 —
BloB des Metrums wegen als Füllwort, grammatiaoh
unberechtigt^ gebraucht Marvell oft does oder do ohne
Emphase: ''does f ante** (statt fames von to fame): oder
''who — triumphantlti do live" statt who live^
Einige seltene Wörter hat Grosart in Anmerkungen
erklärt. Zu einem derselben ist jedoch noch etwas za be-
merken; es ist dies das Wort *'ihe holt-felster" in]
*'Äppleton'nouse'\ V. 638. Grosart setzt /eistet* gleich mit
selter, das er von to seil, sohl ableitet, hoH-fcisicr oder -sdter *
ist also einer, der das Holz verkauft, ein Forstmann. Die
im Vorwort erwähnte anonyme Ausgabe druckt hoUs-elster^
wobei wohl an die Elster gedacht wurde, die bekannte
Yogelgattung. Das aber ist absolut unmöglich und ialsch,
denn dann hieße es im Zusammenhang, daß ein Vogel
einen andern Vogel vertritt; der Sinn soll jedoch sein,
daß ein Vogel (the hewel) den Dienst eines Menschen ver-
sieht oder nachahmt, eben des holt-felsters. Murrays
*'Nete English T)ictionary*\ voL V, p, 346, col 2, erklärt
''holt -ff Ister, i. e, holt-f eller, a woödcutter' ; das entspräche dem
Sinne; es wird hier auch die Stelle aus Marvells Gedicht
unter den Belegen zitiert.
Bei Marvell, dem aprachenkmidigen Manne, können
uns fremde Einflüsse auf die Sprache nicht ver-
wundem; es sind französische, italienische, lateinische, also
romanische Einflüsse, die uns auffallen. Hieher geboren
Wörter wie basso-reUevo und soiana (*'Flecknöc'\ 63, 74j,
s&raglio und virtuoso (*'Britanma and BaleigK\ 119), devote
('\ippleton'House*\ 152), corposaints C*First Änniver$ar^\
270J, incognito ("Diahgue betwemi iwo Hörsc$'\ 32j, Spani-
scher Abstammung ist der Ausdi*uck to beat tht dian ]
( "AppletoH'House'^ 292), die Reveille schlagen, vom spani-
schen dia, lateinisch dieSf dimi, Akkus, dimia.^) Lateinische
Formeln sind infecta re (*'lHstructiotis'\ 460), templum pacis
C'Upofi Clarendon* s House**)^ mediator (**Fkcknop*\ 155 h
mare liberum (**Character of Holland'*, 26); mit lateinischer
Endung steht amphtbii f*'Äppleton'HoHS€*\ 774). Bonne mine
(ebd. 660) und dykgrave f'Character of Holland*", 49) sind
französische, respektive holländische Ausdrücke, desgleichen
>) Grosart, lol 1, p. 45.
— 139 —
brandwine statt hrandy (ebd. 115). Eigenartigen Gebrauch
macht Marvell vom Worte **orient" oder "oriental", in der
Bedeutung licht, hell, bunt; so orientest colours ('*The
Match", 5), the Orient dew C^Brop of Dew''), auch in Prosa
(Birr eil, |). 111, Z. 18)] in anderer Bedeutung in ** Appleton-
House'\ Z. 109. Auch Milton spricht von Orient colours.
Bemerkenswert ist endlich die Klopstockische, episch-
dialektische Art der Anwendung des Komparativs
in superlativischer Bedeutung: our brighter robes
(''Appleton-House**, 120); thy death more noble (**The Loyal
Scot", 157); the rougher stones ("First Änniver$ary'\ 51) und
in der ''Horatian Ode" :
" — with Äw keener eye
The axe*8 edge did try"
Nun wenden wir uns zum letzten Kapitel dieser Ab-
handlung.
Metrik.
(J. Schippers „Englische Metrik"", I. Teil, Bonn 1882,
n. Teil in zwei Bänden, Bonn 1888/89, auf welchem Werk
die Behandlung und Einteilung dieses Abschnittes beruht,
ist im folgenden stets nur kurz als „Metrik'" zitiert.)
A. Silbenmessung und Wortbetonung.
Hier zeigt sich ein Schwanken zwischen mittelenglischen
und neuenglischen Prinzipien, zwischen germanischer und
romanischer Aussprache; je nach den metrischen Bedürf-
nissen tritt Verschleifung oder Vollmessung der Flexions-
und Ableitungssilben ein, eine große Erleichterung für den
Dichter. Eine ganz allgemeine Regel dafür läßt sich nicht
aufstellen. Die eigentlichen, lyrischen Gedichte sind ge-
ringerer Willkür unterworfen, während der ''long verse", das
heroic cou2)let, oft sehr gewaltsam auf fünf Hebungen ge-
bracht wird.
Einige Beispiele der Betonung romanischer Endsilben
auf französische Art sind: cönquerör,^) cönfessour,^) nec^ssit^,^)
1) ''Music's Empire." — 2) ''Death of the Lord Protector*\ 178. —
3) ''Character of Holland'', 37.
— 140 —
l5«»j?/) härmmi^,^) informäiiön,^) mtmciän^) bei Substantiven;
bei Adjektiven: impiolis,^) cörmptible,*) väliänty^) sphi^riedl^*)
pässaljU^})
Desgleichen bei germanischer Endsilbe; ireasurir,'^
exdmmingS} perfecting^?) präctising ;*) iänish6$;^^) gräss-
hoppärs,^^^) märhi^rs,^^'^) philösoph&}^y)
Vollmessiing und Verschleifung der schwachen Silben
kommt sogar an einem und demselben Worte vor:
"And thfye want nöthing h^avän edn qffÖr^'^ai)
"Just h^v'n thee, like Tir^as, iö regMÄe . . .f'^
ja, in ein und derselben Zeile kommt es mit verschiedener
Betonung vor in ''Bntannia and Raleigh'* (66):
*^Thu8 heaven's desitjfis 'fiainsi hdavhi ^Öu shaU tum,'*
Meist aber ist heaven einsilbig; so noch im "JDea^A of
ihe Lord Frutedor** (160), **0w Paradise Lost" (5); als ein-
silbige Senkung kommt heav'n in ''The Loyal Scot" (30) vor;
Beispiele für Zweisilbigkeit des Wortes sind noch im '*Foem
upm the Death of the Lord Proiector*\ V, 166, 184. Vollge-
messen wird delug^s (im Reim aui* seas) im eisten der Tico
Stmgs (21), confederaciesV) Einsilbig ist show'ra}^'^) Viel
schlechter klingt die schwache Endung in der Hebung:
cr^dibU,^^^^) öracUs}^^) miracUs,^^^) spectaclc}^ PeöpW^\) wird ein-
mal zweisilbig genommen. Die schwache Betonung der
Flexionssilbe -ed ist in der Senkung nicht auffällig: gai-
nH,^^) deserved,*) whigtdi^} und kommt unzähhge Male vor.
Stets einsilbig ist flowers,^^) showers, ^^^) power, ^'^)
Die Eigennamen werden sehr willkürlich behandelt:
Äera/fe,!^ Mekhisedek,''') Helmdesr^) nMi/h's,^'} Elf/siüm'^)
und El^sium,^) the CönfessouK^^)
1) «i^air Singer"', 2-^. — «) '*Fieckm^\ 19, ;». — ») "On PtmiäiAe
Lö»i*\ 24. — *) ''Charader of HoUand'\ 134. — ») ''Flecknoe'\ Uö. -
^)''Appkion-I{ome"; a)52; ^i) 500. — "^ ** Kostradamus' Prophecy*\ 35, —
») ''The Gallert"; a) 11; [i) 24. — »•) 'Music'« Empire', 15. — ^J 'Victüflf
of Blake", 23, — ^^) ''AppUton-Hou^e"; ^)371; ^) 381 ; i)5et; ^) 4$;
i) 74 ; t) im. — 1«) "Blake"; a) 41t ?) 29130; i) 31. — ^^ "O» Paradtit
Lo9t^\43. — ^ '*ünfortunate Lover", 42. — ^) ^'Character of Holland'^
102. — W) *'Dea(h of ike Lord Pro(e€tor*\ a) 19, ^) 12t — '«) "Etfe» and
Tears", 19; a) 23, — ") ^'Beßmtiofi of Love*\ 16, — ^) ''Charncier of
Holland'^ 138. — »») "Fkcknoe", 3. — ^) *'The Nymph'\ 99, — «) '^Applr-
i&t^Home'\ 401. — ^) ''Thffrm and Dorinda*\ 19; a) 30. — ^ ''Death
of the Lord ProUctar", 178,
'en I
I
— 141 —
Kontraktion von will und shall kann zwar, muß aber
nicht stattfinden; zum Beispiel:
''sh^ü ere long conf^s"'^) . . .
"öf ^is n€(fd we'ü virtue mäke^*^)
oder ril bring ;^) dagegen '*yet w6 will mdke . . ."*)
Betonung des Artikels, ein Fehler, der durch schwe-
bende Betonung ausgeglichen wird, ist sehr häufig, zum
Beispiel :
'*T?ien Musick, the mosaic of the ear"; ("Music's Empire", 17)
"X liked his project, the sticcess did feaar"^)
ebenso in "TAe Death of the Lord Protector", V. 160, ''The
Character of Holland", V. 111, "Britannia and Raleigh",
V. 108, etc. Das Gegenteil, ebenso häufig, ist die Elision
beim Artikel, respektive Verschleifung desselben: th'alU
s6eing «wn/«) th'öcean's slow allüvion,^^) tK Apostl6s,^^) tVEng-
lish,'^) auch "Flecknoe", Vv. 13, 36, 64; "Britannia and
Baleigh", Vv. 83, 84; ''Nostradamus' Prophecy", Vv. 34, 37;
vor Spiritus asper in '^Äppleton-House", V. B38; dagegen ohne
Bücksicht auf den Hiatus : to adore in demselben Gedichte,
V.3B.
Apokope ist seltener:
"Then might y'ha'daüy his aff^ction spy*d,"«)
oder in ''Britannia and Baleigh", V. 146, eventuell der er-
wähnte Fall ''Appleton-House", V. B38.
Sjmkope kommt oft vor: fun'rcds,^) tim'rous,^^) with'r-
ing,^?) entsprechend der moderneren Aussprache; femer
in "Flecknoe", 48, ''Instructions to a Painter", Vv. 4, 14B,
811 etc., etc.
Aphärese ist nicht minder häufig: 'scaped,^^) durch
Kontraktion des it: 'tis, 'twas,^^) femer in "Character of
Holland", 12, 26; "Instructions to a Painter", 62, 244, 816;
"Britannia and Ealeigh", 88, 132; "Second Song" der "Two
Songs", V. 11.
Synärese ist besonders bei ever, never gebräuchlich,
1) ''Viciory of Blake"', 45; a) 137. — 2) ''Young Love", 19. —
3) "Bntannia and Raleigh", 100. — ^) "Coy Mistresa", 46. — ») "On
Paradüe Losr, 12. — ß) ''Character of Holland"; a)5; ß) 58. — ^) "Nostra-
damus' Propliecxj", 37. — ») "Beath of the Lord ProUctor", 43. —
9) ''Death of the Lord Proteciar", 108; a) 180; ß) 55. — lo) "Victory of
Blake", 72. — i^j "Characiw of Holland", 60.
142
die dann einailbig sowohl als Hebung als auch als Senkung
stehen; ferner or aus over;^) direkt eine Ausnahme ist
e^'cr, zweisilbig gebraucht, in **The Pidure of Litile T, C . . ."
///, 5; Ins aus in hi$ findet sich in *'FJ€ckvae*% V. 70,
*'Britannia and Jlalelg}i% 36; ^'Lasi Instructimis'\ 98; prä-
gnant ist wheres'&e (wkere-so-evcrj in *'ÄppIetofi'Hou$e' (673)
und in *'Th€ Gardm** (28). Ähnliche Fälle zeigen "£ri-
iannia atid Rahigk'\ Y\ 138; Vidonj of Blake'\ 45; ''In-
structions to a Painter\ 164, '*Our* ist sowohl einsilbig als
zweisilbig; Beispiele dafür sind "Appleion'Hötise'^ Vv. 100,
107; ''üpm the Hill and Groue at Bilborow*\ Yv* 70, 71.
B. Reim.
4
i
Hieher gerechnet wird auch die Alliteration; dieselbe
steht regellos in tonmalerischer Absicht zur Verstärkung
der Feierlichkeit am Beginn von *'Nosiradamm Prophecy*';
andere Fälle sind kürzer: **m the eradle Aroum their hing**^
und Vers 16 des ^'Historical Poem*\ Hell and heaveii\ *'boli$
and hones* im ''Diahgue hetwecn the Soul and Body'' sind
naheliegende Verbindungen, In den lyrischen Gedichten,
wo man sie am ehesten als Schmuck vermuten würde,
findet sich kein weiterer Fall von Alliteration. Die folgenden
Beispiele sind sämtlich aus Satiren:
'^Th*aU'8€€inQ 8un never gazed on sw!h a sighV';^
'^Mofe wished far, and §Hore welcome ü than sletp";^)
"Of wind*» and water' 9 ragt they fearful bc*';^^)
"From Gambo gold, and from the Ganges gemsJ' *)
Diese Fälle und die in Part I, 896, und Pari II,
dürften sämtliche sein.
Assonanz kommt nur einmal vor: '^hy hook and by
crook*\^)
Der Reim ist gewöhnlich bei Marvell stumpf oder
männlich; klingender Beim kommt in den jambischen^
lyrischen Gedichten nur einmal in zweifelhafter Weise vor,
nämlich im ersten der '*Two Sonys', 33J34; ebenso zufällig
ist derjenige in den "Instructions'^ 749J750, 7671768, beide
sind nicht sichere Fälle ; unzweifelhaft klingender Beim ist
') '*M<mmm(y\ o. — «) ''Toung Love", 27, — ^ ''(M the Victory qf ■
Biake'% 137; t>) 18; ß) 15. — ^)'*Lak Imtruciiom io a PainWr'\671. —
*) ''Ülarendon's Home -Warming", 60.
n
— 143 —
jedoch ganz am Schlüsse des dritten Teiles dieses Gedichtes:
"püy — city*\ Nicht selten jedoch ist klingender Reim in
den jambisch- anapästischen Gedichten, wo davon die Bede
sein wird.
Gleitender Reim kommt nicht vor. Reicher oder
rührender Reim findet sich in den ** Instructions'', 8131814,
im Gedicht auf ''The Death of the Lord Protector", 2061207,
"On the Lord Mayor and Aldermen", XIII, 1/2. Gleicher
Reim, eigentlich ein Fehler, findet sich im letztgenannten
Gedichte XVIII, 3/6, Gebrochener Reim kommt öfters vor:
im ''Dialogue betiveen the two Horses'\ Vv. 21/22, 27/28, 65/66,
76/76; ''On the Lord Mayor . . /', 5/^. Doppelreim fand ich
nicht. Erweiterten Reim können wir in dem Gedichte ''On
the Statue at Stocks Market" annehmen: "and tom — and
born"; *'a thing — a king" (Vv. 11/12, 47/48).
ünakzentuierter Reim und Binnenreim ist vermieden.
Unrein ist der Reim in ''Äppleton-House", 9/10.
Durchgereimt ist die satirische Stelle in den "Jw-
structions", V. 721 — 736, also ein längerer Abschnitt, der
durchaus auf ''Pett" reimt.
Marvell hat kein einziges reimloses Gedicht
geschrieben, trotz seiner theoretischen Stellungnahme für
die Reimlosigkeit in dem Gedichte ''On Paradise Lost". Die
Frage, hie Reim, hie Reimlosigkeit, tauchte im 17. Jahr-
hundert auf und spann sich bis in die moderne Zeit fort.
Schon 1611 schrieb Samuel Daniel eine „Verteidigung
des Reimes'^, in welcher er bewies, 'Hhat rhyme is thefittest
hannony of words".
Im Gegensatze dazu setzte Milton seinem ** Paradise
Lost" eine kritische Erörterung der metrischen Frage voraus,
in der er seinen Vers ''heroic verse without rhyme" nennt,
dem Homers und Virgils gleich ; der Reim sei die Erfindung
eines barbarischen Zeitalters, ein Hindernis für die wahre
Poesie, ''of no true musical delight"; dieses letztere stimmt
bei den meisten seiner Zeitgenossen. Aber es ist bezeichnend,
daß Milton es überhaupt für nötig fand, seinen Versuch
der Reimlosigkeit erst zu rechtfertigen; ja, in seinen kleinen
Gedichten hat Milton selbst stets den Reim verwendet.
Dazu paßt geradezu die Inkonsequenz Marvells in seinen
empfehlenden Begleitversen "On Paradise Lost", die schon
— 144 —
betont wurde.') Bemerken mui3 man dazu aber, daß es so*
nach von MarvelU Seite eine Ungerechtigkeit war^ Dryden
seine ^Reimerei'* vorzuwerfen.
C. Vers arten.
Der Septenar kommt in seiner langzeiligen Form
bei Marvell nicht vor, dagegen durch Reim zu zwei vier-
und dreitaktigen Kurzzeilen aufgelöst in ''The Match**, ganz
regehnäßig, dem üblichen Gebrauche gemäß nur stumpf,
gekreuzt reimend. Enjambement von einer Periode zur
andern kommt dabei nicht vor.
Der Alexandriner ist nicht vertreten.
Die meist angewendete Versart, der Länge der Gedichte
nach^ ist der f ü n f t a k t i g e j a m b i s c h e V e r s, fortJaufend
und stumpf als ''heroic coupleV\ Nur einmal findet er sich
in anderer Reimstelhing bei strophischer Gliederung in
einem lyrischen Gedichte **I%e Fair Singer^\ drei Strophen
zu je sechs Zeilen in der Reimstellung a b a b c c^ sehr
regelmäßig gebaut; nur einmal kommt dabei Verschleiiung
des Artikels vor vokalisch anlautendem Substantiv vor
(Wadvdntage) und einmal VoHmessung des -ed der Fleiions-
silbe (fjaitiMj: das einzige Enjambement (11/12) ist zum
Ausdruck der Lebhaftigkeit sehr gut angebrachtw Takt^
Umstellung kommt in diesem Ij^rischen Gedichte nur zwei-
mal vor; die Betonung vidor^, hdrmony kajin nicht als
Fehler gelten. Über die Cäsur läßt sich bei einem so kurzen
Gedichte keine Regel aufstellen.
Nun das erzählende herok coupkt; der Artikel im
"DicHonarp of Natiofial Biography" (vol, XXX VI) sagt!
*^His (MarvelVs) Unes are hasiy and rough Acir«, and in em-
ploifing the heroic couplet, Marvell is ncver completely master
of hi$ insirtmimt.'* Dazu ist zu bemerken, daß ein Teil der
in dieser Art abgefaßten Gedichte Jugendarbeit unseres
Dichters ist, während die Mehrzahl — die Satiren — nur
flüchtig hingeworfen sind^ ohne jede Feile, da sie auch
nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren. Das ist sicher:
So schlechte Yerse wie sein Zeitgenosse Donne') baut
>) Sieh Seite 106.
145
Marvell nicht» Bei der ungleichmäBigen Behandlung sieht
man noch deutlich, welche Gedichte ausgefeilt und welche
nur skizziert wurden. Zu den ersteren, glatteren gehören die
Widmungs- oder Gelegenheitsgedichte für Hastings^ Love-
lace — in dieaem wird Presb^ienj, also nach griechischer
Art, betont — , das Gedicht an Dr, WiUy^ *'0n Paradise
Losf\ "Musics Empire'* etc, in denen häufiger, passender
Gebrauch von Tafcturastellungen, seltener des Enjambe-
menis gemacht wird. Die stumpfen Cäsuren sind in der
Überzahl, epische kommen nicht vor. An einigen Stellen
der Gedichte in htroic coupJets stehen auch Triplets (a a a)
statt der Reimpaare, zum Beispiel in **Adincc io a Painter"
(IL Part der "Instmciions''} Yv. 25^27, 30—32; **Britanma
and Ilaleigir, Vv. 30—41, 56—58.
Öfters, besonders bei dieser Art von nichtlyrischen
Gedichten, ist schwer zu entscheiden, ob man Takt-
umstellungen oder bloß Tonhöhe zu Eingang eines Verses
anzunehmen habe. Fehlender Auftakt kommt nicht vor.
Stumpfe Cäsur ist viermal so häufig als lyrische, meist
nach dem zweiten Fuße. Wenn wir zwei gleich lange Ge-
dichte vergleichen, zum Beispiel ''Oh thv Vidorij obiained
6y Blake" und "The Loyal Scot'\ so finden wir ein Ver-
hältnis der Ungleichheit; das letztgenannte Gedicht ist
reicher an Taktunistellimgen und Cäsuren, auch weist es
eine größere Anzahl romanisch betonter Wörter auf;
andererseits ist das Enjambement hier verhältnismäßig
selten. Wir finden also keine feste Regel, keinen be-
stimmten Maßstab. Einige sehr vom Schema abweichende
Zeilen finden wir in beiden Gedichten; so entspricht Z, 166
in **The Viciory of Blake , , J' an Unregelmäßigkeit der
Z. 135 des *'Lm/al Scot*\ Z. 75/76 des ersteren Gedichtes
(admire : higher) und Z, 77/78 (givm : heatmt) ^ind nicht als
weiblicher Reim, sondern einsilbig, stumpf zu fassen. In
Z. 49 steht das Substantiv in der Senkung, respektive in
schwebender Betonung, was hier nicht fehlerhaft, sondern
eine Hervorhebung des prägnanten Adjektivs ist: *^Your
worih io all ihesc isles a jüsi right brhtgs/* Wie immer, ist
der Artikel je nach Bedarf zu verschleifen oder steht in
der Hebung, ebenso ist ein Wort einsilbig oder zweisilbig;
zum Beispiel das schon erwähnte Wort heaven (** Blake* s
Poseber, Maryclb poet. Werke. lÜ
— 146 —
Victortr, 41 — "Loffal ScoV\ 30), Wir bemerken also
deutlich, daß der Versbau MarveUs in den gröüeren
epischen Gedichten \\e\ unregelmaÜiger ist als
in den rein lyrischen, was uns aber nicht berechtigt»
zu sagen, daß Marvell dieses Versmaß nicht handhaben
kann.
'*TAe First Anniversary . , /\ fast 400 Zeilen lang, hat
22% Taktumstellungen, aber einen sehr geringen Prozent-
satz Enjambements; die Cäsuren sind nicht stark aus-
geprägt und nicht fest. Das Füllwort do, does (da leiid,
does dratv etc.) kommt der Taktierung wegen mehrmals
vor. Ebenfalls des Metrums wegen gebraucht der Dichter
die altertümliche Form thou ixercisedst (V, 231); gezwungen
ist die Betonung cönqfienki (Z* 32)^ wo also die Flexions-
endung sogar in der Hebung steht. Ähnlich verhält es
sich im allgemeinen mit dem kürzeren "Poem upon the
Death 0/ the Lord Protect o/\ in dem Z. 207/208 {served : de-
served) als stumpf anzunehmen ist, was bei Marvell immer*
hin Erwälinung verdient; schwebende Betonung, Taktum-
Stellung im Inneren des Verses kommt auch einige Male
vor (Vv. 40, 156, 160, 248 f, 268 etc.). Ziemlich regebnäßig
ist **Tam May*s Death* \ Eine doppelte Senkung im Inneren,
die durch Verschleifung nicht zu beseitigen ist, zeigt
V, 44 des ''Historical Pöern'*:
" With n^nham*s find Cctrntfitßc's Inf^cM plöL"
V. 96 hat doppelte Senkung im vorletzten Fuß.
Betrefis des Gedichtes ^'Fkchnoe" wurden bereits an-
läßlich der Besprechung S. 6. 7 einige metrische Freiheiten
erwähnt, auch^ daß Leigh Hunt die Rauheit der Versi-
fikation als eine beabsichtigte Nacbalmiung der satirischen
Versmaße des Horaz erklärt So groß auch ansonsten
der Einfluß dieses Lateiners auf Marvell ist, scheint diese
Annahme doch verfehlt und unbegründet zu sein, um so
mehr, als ich in Schippers ,,Metrit' keine Andeutung
ähnlicher Versuche von derartigen Nachbildungen sati-
rischer Versmaße bei den Zeitgenossen gefimden habe,
von denen Leigh Hunt wie von allgemein Bekanntem
spricht,^) Daß ''Fiecknoe" prozentuell die meisten Enjambe-
») *'Wit and Humoitr'', 221.
- 147 —
ments und Cäsuren aufweist, bewirkt schoD der lebhafte,
dramatische Ton der ErzähluBg. Der Umstand, daJ3 En-
jambement und darauffolgende Taktumstellung sehr oft
miteinander verbunden sind^ ferner fehlende Senkungen,
ach webende Betonung, bewirken, daß der Rhythmus ziem-
lich verloren geht und das Ganze sich der Prosa
nähert. Ahnliehe Eigentümlichkeiten zeigt '*The Cha-
racter of Holland''; fehlerhaft sind Verse wie Z. 33, wo der
in der Hebung stehende Artikel auch durch schwebende
Betonung nicht ausgeglichen werden kann. Verunglückte
Verse sind zum Beispiel:
'And silenL Nothmg now dint^r stdifed" f'^Fltcknoe'*, 57),
WO man eigentlich nur vier Hebungen hat, wenn man un-
gezwungen liest; ähnlich sind folgende Fälle:
'*llis önlfj^imp6saibhi is tö be rieh'*
oder anders gelesen;
'*Hü ötdtj imposMible^ü to be rieh"; ("Fkckno€^\ ßß)
'*And hdw (%mpö89ibÜ!) he tndtU yet wirö" C'Fltchioe*\ 14^)
'*A teäter Berad^s, büiter Colöss'* ("Charaeter of Hollafid'*, 94).
So barbarisch muß man manche Verse behandeln,
will man nicht auf die fünf Hebungen verzichten, .aller-
dings sind das die ärgsten Fälle, denen gegenüber die
*' Insirudions" , die natürlich bei ihrer riesigen Länge alle
möglichen erwähnten Freiheiten aufweisen, noch ziem-
lich regelmäßig genannt werden müssen, bei üren rund
250 Taktumstellungen zu Versbeginn, zwei Dutzend im
Versinneren, respektive schwebende Betonungen, und dem
seltenen Vorkommen des Enjambements, das sie etwas ab-
gehackt klingen läßt.
Der viertaktig -jambische Vers ist das ge-
bräuchlichste Versmaß der rein lyrischen Gedichte, daher
fast immer in strophischer Verw^endung zu treffen; neun-
zehn Gedichte sind in demselben abgefaßt. Dieses Vers-
maß ist mit größerer Feinheit behandelt und auch künst-
licher variiert* Er versucht sogar manchmal Tonmalerei,
Die Taktumstellung ist meist eine rhetorisch-emphatische:
'^Flt} fiom Ümr vkes, , /* ('*Apphton-HonJie*' 221)
*'FhJ from th€ir hün , . /' ('*Appkton-Hoitse'* 223)
'^Viifiacience, (hat " ("Appkion-House*' 355)
"Cöme mie infant " C^Young Love").
10*
— 148 —
In den Gedichten der ersten Zeit ist das Enjambe-
ment oft störend statt verbindend. Wenn eine Cäsar auf-
tritt, erscheint sie meist als stumpfe Cäsar nach dem
zweiten FnÜe; möglich ist sie aber an allen anderen
Stellen, Lyrische Cäsnr kommt im dritten Fuße vor
('*3Iourmng\ 15, 21). Epische Cäsm* meidet Marvell; nur
''Tltp Nymph*\ V. 4, kann eventuell mit epischer Cäsar ge-
lesen werden:
"Who kiUed thee, \\ Thim n^^ diä$t alive . . .",
während bei der Betonung;
"irfto kOkd tm, II Th^ ne'er diä$i alim . . .%
also bei lyrischer Cäsur, das ^Hhou** wirksam hervorge-
hoben und mit dem Vorhergehenden kontrastiert wird.
Ein schlechter Vers in diesem Versmaß ist:
"TTäö here hos the haltfelsier's care" C*^ppkt&n-HQU8e'\ 53$),
mit fehlender Eingangasenkung und doppelter Senkung
im letzten Fiil3e, wodurcli der jambische Rhythmus ganz
verloren geht.
Das Enjambement ist natürlich in den erzählenden
Gedichten zahlreicher als in den lyrischen ; sehr reich
daran ist "TAr Nt/mph . , .", das auch die meisten Cäsuren
aufweist. Die Reims tellung ist meist eine paarige, in
zweiter Linie gekreuzte; in einigen Gedichten findet sich
eine künstlichere Anordnung, Die Abwechslung wird nicht
durch den verschiedenen Versausgaug hervorgerufen —
derselbe ist gewöhnlich stumpf — , sondern bloÜ durch
den Stropheubau. Klingender Reim kaxm nur in der
mittleren Chorstrophe des ersten der ''Twi) Songs** even-
tuell angenommen werden. Reimhrechung habe ich nur im
Dialog angetroffen, an die beiden Sprechenden verteilt.
Doppelte Senkung im Inneren des Verses ist äußerst selten
anzunehmen, da dieselbe durch Silbenverschleifung be-
hoben wird* Fehlende Eingangssenkung findet sich nur zu
Beginn von ''The Pidure of Liitle T. C . . /' allein. Fehlen
der Eingangssenkung u n d doppelte Senkung im Inneren
finden wir in '*The Hill aml Grove at Bilborow", Vv, 14,61;
und in Z. 13 des ,,Epitaph upon , . •". Unschön klingt
der folgende Vers wegen des ähnlichen Klanges neben-
einanderstehender Silben: (**HiU and Grove ai Bilborow'*, 26)
»
f
— 149 —
"And in unmcied (fttalnesa Htunda'*.
Doppelte Taktumstellung, zu Beginn der Zeile und
nacli der Cäsur, zeigt '^ The Hill and Grove at Bilhorow'\ V. 42:
"Fear of the master^ and respect
Of ihe greai mßnpK did ii protect;*'
femer ''The Garden % V. 48 **Äppleton'House'\ 309, S90,
Dieses umfangreichste Gedicht dieser Gruppe hat 14 7o Takt-
umsteUungen. Die Folge der in diesem Gedicht geringeren
Freiheiten ist eine gewisse Einförmigkeit; es ist auch ein
Jugendwerk, Die lyrischen Cäsaren sind speziell in diesem
Gedicht nicht selten (Vv, 305, 462, 492 etc,). Doppelte Ein-
gangssenkung tmd fehlende Senkung im Inneren zeigt
V,595:
''While the wind^ \\ cöoUnff thrc^tgh the btkgha . , /'
Spezi eU von diesem langen Gedichte abgesehen, helfen
Marvells sonstige, oft groBe Freiheiten doch den Reiz
dieses Metrums zu erhuhen^ der ihm überhaupt eigen ist
In abwechselnd fünf- und viertaktigen jam-
bischen, paarweise reimenden Verszeilen abgefaßt ist
''Tlie Mower against Gardens'\ fortlaufend geschrieben, doch
gehören immer zwei und zwei Verse zusammen. Vielleicht
ist das Versmaß dieses Gedichtes von Marvell als ein Ersatz
des klassischen elegischen Versmaßes beabsichtigt, dessen
strengerer Form entsprechend sich der Dichter auch keine
Freiheiten gestattet, von einigen Taktumstellnngen abge-
sehen, streng taktierend. Wie beim Distichon Hexameter
und Pentameter zusammengehören, so würden hier immer
ein Fünftakter und ein Viertakter zusammengehören.
In vier- und dreitaktigen jambischen Versen
geschrieben ist allein die einzig dastehende **Horatian Ode\
in freier Nachahmung des Ho razi sehen OdenmalSes; es
reimen abwechselnd immer zwei aufeinanderfolgende vier-
taktige und zwei aufeinanderfolgende dreitaktige Verse,
also ^\^\i die mit klassischer Strenge gebaut sind; auf-
fallend ist nur against (Z* 37), das durch schwebende Be-
tonung des Verses gemildert wird*
In meist viertaktigen, ein paarmal dreitaktigen, teUs
stumpf, teils kUngend endigenden jambischen Versen ist
10»*
— 150 —
das kurze, unbedeutende Gedicht "Upon Clarendon* $ Rouse"
geschrieben.
In jambisch-ungleiohtaktigen Versen ist nur
ein Gedicht geschrieben, *'The CormicV\ das auch in strophi-
scher Beziehung (q. v.) vereinzelt dasteht Es sind drei-,
vier- und fünftaktige Jamben gemischt Kunstvoll ist die
Vermischung von nnglei ch taktigen und ungleichmetri-
scben Versen in **A Drop of Deu?'\ drei-, vier- und fünf-
taktige jambische Verse und ein Einschub von sechs
trochäischen Versen, Die kunstvolle Architektur dieses Ge-
dichtes ist ebenfalls im „Strophenbau** erörtert.
Der viertaktige trochäische Vers ist stets
strophisch verwendet, nur ötumpf reimend, aber in jeder
Eeimstellung. Das Enjambement spielt auffalligerweise
hier bei Marvell nicht die große Rolle, die es sonst bei
diesem Verse spielt („Metrik^ ^ 11, 393), DaJJ die Cäsur keine
Holle spielt, ist natürlicher. Die Chorstrophe des zweiten der
^^Two Smigs'* ist jambisch, während das übrige Gedicht voll-
kommen schematisch trochäisch ist Diese Vermischung
von jambischen tmd trochäischen Versen ist konsequent
durchgeführt in dem ^'Dialogue beiween ihe Besolved Soul and
Created Pl€asure*\ wo Soul in viertaktigen Jamben, Pleasure
in viertaktigen Trochäen spricht, welche stets paarig reimen;
im zweiten Teile des Gedichtes ist die Vermischung noch
inniger, indem in den Eeden einer Person viertaktige
trochäische und dreitaktige jambische Verse (oder trochäische
Verse mit Auftakt) gemischt sind, die gekreuzt reimen. Im
^'Diahgue bettvem Thyrsis and Dortnda" sind regellos drei-,
vier- und fünftaktige jambische (33) und trochäische Verse
(15) gemischt, so daß nur die paarweisen Reime den prosa-
ähnlichen Eindruck mindern.
J a m b i 3 c h-a napästisohe Verse verwendet Marvell
ausschließlich zur Satire. Hier erreicht er die größte Mannig-
faltigkeit; er verwendet stumpfe und klingende Verse in
paar weiser und gekreuzter Reimstellung. Bei den gekreuzten
viertaktigen Verszeilen tritt die ursprüngliche Entstehung
dieses Metrums aus dem achttaktigen Vers durch einge-
schobenen Reim deutlich hervor ( „Mcirik'^^ 11, 400, 410),
Der bewegte Ton ist dem satirischen Zwecke äußerst an-
gemessen und die ungezwungene Beweghchkeit der Cäsur
— 161 —
trägt dazu mit bei. Durch eine fiehlende Senkung wird der
dritte Fuß öfters jambisch (in ^'Clareixdmts House-Wanning"
ist das sechzehnnial der Fall und zweimal im zweiten Fuße);
auch kann der erste, gewöhnlich jambische Fuß anapäatisch
sein. Der zusammenhängende achtt aktige anapästische
Rhythmus ist hergestellt, wenn
I, a\ stumpf endigt und a, (oder h) anapästisch beginnt,
zum Beispiel 19/20:^)
"Those idoU ne^er 9poke, but are miracles döne
B^ a di^üj a priest, a friar or a nun";
desgleichen *'Clarmdon^s Eouse -Wanmng'\ ^/4, ISjli etc.
n, a\ klingend endigt und a^ (b) jambisch beginnt:
^/lO: "PhcUarin fiad a bull, which, 09 graw emthora t^U y^,
Wöulä roar like a devil with a man in fm bdly**;
ebenso 25J26; ''Clarendon s House- War ming*\ 17118, 19120 etc.
und andererseits ist der anapästische Rhythmus unter-
brochen, wenn entweder
in, a\ klingend endigt und a^ (h) mit einem Anapäst
beginnt, so 7j8:
"Livy teils a stränge stoTif, can hctrdly he f^lSwed,
Thut a säcrißced ox, tohen Ms ffuts toere out, beUowed^':
desgleichen ISjU, 21122, 23124, 27128 etc. oder wenn
IV. üi stumpf endigt und a^ (b) jambisch beginnt:
1/2: "TFe read, in profane and (in) sacred rec^ds,
Uf hiaxtSf which have uttered artictdate tcords*' ;
femer so in 5/4, 5j6, 11112, 15\lß, 17118, 29(30, Sl\32,
33134 etc.
Insgesamt, bei Betrachtung aller hiehergehörigen Ge-
dichte C'Dialoffue beiwem two Horses'\ '' Clarendon' s House-
Warming*\ "Poew on the Statue at Stocks- Market*' und '*0n
ihe Statue at Charing Crosse'') kommt der Fall I 74mal, der
Fall n 29mal, der Fall III 22mal und der Fall IV Somal
vor, ergo 103mal zusammenhängender, 107mal unter-
brochener anapästiecher Rhythmus ; also ziemliches Gleich-
gewicht
In anapästischem Rhythmus ist auch die Ballade
**0» the Lord Mayor and Court of Aldernien . . ," geschiiebenj
*) Alle Beispiele, wenn nicht anders angegeben, aus '*IHalogue
btiiutHn ihe two H&rses*\
i
d
— 152 —
und zwar in Zeilen zu zwei und drei Takten; rein ist der
anapästische Rhythmus nur in wenigen Strophen durch-
geliihrt (VI, YH, X— XII), häufig ist der zweite Takt der
Zeile ein Jambus. Die dritte (oder sechste) Zeile ist stets
klingend endigend und man kann sonach dieses Versmaß
als aus dem siebentaktigen jambisch*anapästischen Vers
entstanden auffassen; das ist besser in der Form zu ersehen,
in der Grosart dieses Gedicht abdruckt, zum Beispiel
Strophe 12:
"Hi» words nar Im oa^ mnnoi hmd htm to troih,
Ana he '^alues Wit credit or hi€t*r$f . , /'
während die Ausgabe von Aitken den Baim auch fiirs
Auge deutlicher macht:
'*J5fw tcoftfe nor hia oath
Cannot bind him <o trotk
And he value» fwt credit or Äwriary/*
Das leitet uns schon hinüber zum Strophenbau.
D, Strophenbau.
Ünstrophiflch, nämlich in fortlaufenden Keim-
paaren geschrieben, sind vi erimdz wanzig Gedichte Mar-
vells, die meist nur in mehrere ungleich lange Sinnes-
abschnitte zerfallen. In viertaktigen Jamben dieser Art
sind geschrieben: ''üpon the Hill and Grove at Bilhorow'\
**AppleioH'House*\ also landschaftlich-beschreibende Gedichte,
ferner ''The lit/mph, Complaining the Death of Her Faum"
und ''CoijMistress''; das kurze ^*Epi(aph upon . . /'. Das kleine
Gedicht '^Upon His fClarefidons) House'^ enthält auch drei-
taktige Jamben, ^*Clormda and Danton" ist eigentlich weder
fortlaufend noch strophisch geschrieben, sondern zerfSJlt in
längere und kürzere Redeabschnitte des „Dialogs". In fort-
laufenden fiinftaktigen jambischen Reimpaaren, also in
heroic Couplets, sind siebzehn Gedichte geschrieben.*)
Qeleitartige Strophen.
Eine inhaltlich geleitartige Eingangs- und SchluÜ-
strophe („Metrik*', II, 794), respektive Auf- und Abgesang
zeigt das monologische '*Benmuias'\ Desgleichen haben wir
^) Wobei alle Teile der "InairucHons^* zusammen als ein Gedicht
zählen.
— 153 —
in "Clorinda and Dämon" eine vierzeiüge, auch äußerlich
als '* Chorus" kenntlich gemachte Schlußstrophe. Eine auch
formell unterschiedene Eingangs- und Schlußstrophe zeigt
der erste der "Two Songs", zu Beginn einen sechszeiligen
'* Chorus" und einen achtzeiligen am Schlüsse; der zweite,
**Second Song", hat eine nur formell getrennte Schlußstrophe.
Der *'Dialogue between the Besolved Soul and Created Pleasure"
weist eine zehnzeilige Eingangsstrophe als Anrede auf,
ist durch einen achtzeiligen, formell abweichenden ** Chorus"
in zwei Teile geteilt und wird durch einen vierzeiligen
*' Chorus" geschlossen. Ein formell nicht abweichendes, aber
durch die Aufschrift "To the King" gekennzeichnetes
**Envoy" haben Part I und Part II der '* Instructions"; femer
hat der ^'Dialogue between two Horses" eine *'Introduction"
und eine ''Conclusion". Rechnet man auch den
Reftain
als Strophenform, so kommt das Gedicht *'The Mower's Song"
in Betracht, das einen leicht variierten Refrain von zwei
ungleichen Zeilen hat, dreimal
"WJien Juliana came cmd she,
What I do to Ihe gross, does to my thoughts and me";
und zweimal '*For Juliana came. . ." Femer wiederholen
sich am Ende der Chorstrophe des ^'Second Song" die zu
Beginn derselben stehenden Verse:
*^Joy to that happy pair,
Whose hopes united banish out despairJ*
Gleichmetrische Strophen.
Zweiteilige, gleichgliedrige — verdoppelte — unteilbare.
Aus vierzeiligen Strophen von viertaktig-j ambischen
Versen in paarweiser Stellung (^ " * 5) bestehen nur "JBer-
mudas" und teilweise der erste der *'Two Songs"; in ge-
kreuzter Stellung (^^^5) ''TheMower te the Glow -Worms",
'^Definition of Love", ''Mouming".
Verdoppelte Strophen nach der ersten Art, achtzeilig,
finden wir in "TAe Garden", *'Damon the Mower", *'Eyes and
Tears'\ ''The Gallery", ''The Unfortunate Lover", also häufiger
verwendet als die einfachen Strophenarten. Eine Erweiterung
— 154 —
dieser Versart zu einer zehnzeiligen Strophe sind die ersten
drei Strophen des ^*Diahgue between ihe Soul and Body**,
Vierzeilige Strophen, im Dialog manchmal zweizeiligj
paarweise reimender viertaktiger, trochäischer Verszeilen
finden wir im ^'Secotid Sotig* (exlusive Chorstrophe), gekreuzt
reimend in *'Ametas and Thesfi/li$'\ sowie '*Toung Love*\
mnschlieüend in ''Daphnis and Chloä"; hier haben wir also
die größte Variation,
Vierzeilige Strophen von funftaktigen jambischen
Reimpaaren (" ^* ^ 5), welclie hier das einzige Mal strophisch
verwendet sind, zeigt **Mimc's Empire". In sechszeiligen,
eigentlich nicht teilbaren Strophen aus funftaktigen jambi-
schen Versen in der Stellung a b a b c c ist *'Thi' Fair Sififfer'*
geschrieben.
Während alle bisher erwähnten Strophenarten durch-
aus stumpfen Ausgang der Verszeilen zeigen, findet man in
der nächst erwähnten stumpfe und klingende Versausgänge
in willkürlicher Mischung; es sind Strophen aus vier
jambisch-anapästischen, viertaktigen Versen, und zwar ent-
weder in paarweiser Reimstellung wie im '^Diulogue bei wem
the twö Horses'* und im *'Poem on the Statue in Siock$-
Market" oder in gekreuzter Reimstellung in ** Ciarendons
ffouse-Warmitig" und in '*Tke Statue at Charing Crosse**,
Gleicbmetrisch ist ferner das von Marvell überseute
zweite Chorlied aus Senecas **Thyesf\ das man in zwei
siebenzeilige Strophen zerlegen kann — obwohl es un-
strophisch gednickt erscheint — , von viertaktig- trochäischem
Rhythmus mit der Reimstellung aaabbcc-\-ded e f f f^
wobei also keine Kongruenz der Strophen vorhanden ist.
Ungleichmetrische Strophen.
ZweiteÜlg-glelohgliedrige.
In vierzeiligen Strophen von abwechselnd vier- und
drei taktigen jambischen, gekreuzt reimenden Versen, also
nach der Formel (4 3 ^ J) ist ''The Match" geschrieben,
einreihbar unter § 292^ ,,M€trlt\ II; also aus einem durch
Mittelreim aufgelösten septenarischen Reimpaare ent*
standen.
- 166 —
Eine überhaupt seltene Strophenart, flir die sich nicht
einmal in „Metrik** II ein Beispiel findet (vgl. jedoch § 244),
die aber unter § 299 des genannten Werkes einzureihen wäre,
zeigt **The Mower dgainst Gardens", das zwar bei Grosart in
äußerlich unstrophischer Form gedruckt ist: es sind vier-
zeilige Strophen von paarweise gereimten jambischen Versen,
abwechselnd fünf- und viertaktig (5454) ; eine Hypothese
über die Bedeutung dieser Strophe wurde S. 32 dieser
Arbeit ausgesprochen.
Zu den zweiteilig-gleichgliedrigen ungleichmetrischen
Strophen gehört auch die jambisch-anapästische Strophen-
art der Ballade **0n the Lord Mayor and Court of Aldermen",
bestehend aus 18 Strophen nach der Formel ^ 2 T ^ 2 3'
(sieh auch S. 151 f.), eine interessante Abart der Schweifreim-
strophe, die auch bei Denham vorkommt (,, Metrik" II,
§ 287 y S, 515); der Ton ist anziehend und frisch wie in
einer echten Bänkelsängerballade.
Zweiteilige ungleichgliedrige!
Die einfachste und zugleich strengst gebaute ist das
Versmaß der "Horatian Ode", vierzeilige Strophen aus ab-
wechselnd vier- und dreitaktigen jambischen Reimpaaren
("4^3)? ^^® ™®^ vielleicht als eine durch Umstellung der
geteilten Verse von zwei Septenaren entstandene Variante
dieses genannten Metrums auffassen imd unter § 322 der
„Metrik**, S, 559, einreihen kann.
Dann gehört hieher die achtzeilige Strophe des Ab-
gesangs im **Second Song", paarweise reimende, ungleich-
metrische Jamben ^ 4 s ö'^^I t ^^^ren zweite Hälfte der
Strophenart des §323 der „Metrik** entspricht; femer die
mittlere „Chor^^strophe des *'Dialogne between Resolved Soul
and Created Pleasure" (sieh S. 1B6).
Dreiteilige.
Dreiteilig ist die Strophenart des '*Mower*s Song",
nämlich zwei jambisch-viertaktige Reimpaare « « ^ ^ ver-
bunden mit einer als Refrain stets wiederkehrenden
canda eines jambisch-ungleichmetrischen Reimpaares, also
- 156 —
); diesö Strophenart steht am nächsten einer
/a a b b CC
vonDryden verwendeten (* ** ^ ^J^) (,,M€trik'*IlS.64i).
Ungleichmetrisch dreiteilig ist auch die Chorstrophe im
ersten der "Two Songs'* « « ^ ^ ^ ^^ Büeher wollen wir auch
die schwer zn schematisierende Strophenart des '^Piciurt' of
Utile T, C. . , /' setzen ; im ganzen achtzeilig, besteht sie aus
sechs nicht immer teilbaren, viertaktig-jambisohen Zeilen
in der Stellung ab a c cb, denen eine cauda ^ ^ folgt.
Ungleichmetrlsch und ungleichrhythmisch
ist **Thyr$is and Dorinda\ nur dem Sinne nach in Eede-
abschnitte geteilt, die an die zwei Sprechenden verteilt
sind, von verschiedener Zeilenzahl : in dem meist viertaktig-
jambischen Gedichte sind eben gelegentlich, wahrscheinlich
unbeabsichtigt, weil regellos, (16) trochäische und drei-
taktige und fünf taktige Verse eingestreut.
Im "Diahjgue beiween fhe Resolved Sotd and Created
Pk(isure' finden wir eine mannigfache Mischung von un-
gleichmetrischen und ungleichrhylihmischen Versen, aber zum
Unterschied vom frühergenannten Gedichte nicht regellos.
Nach der zehnzeiligen paarreimigen jambischen Eingangs-
strophe beginnt Pleasure das Gespräch mit einer sechs-
zeiligen Strophe in viertaktigen Trochäen in der Stellung
a b ü h c €, worauf Soul mit einem viertaktig-jambischen
Reimpaar antwortet und Pleasure wieder mit einer vier-
zeiligen trochäischen Strophe repliziert; nach mehrmaligem
Wechsel in dieser Art schlieft Sotil mit vier Zeilen; dann
gibt der "Choms*' seine Meinung ab in einer zweiteiligen
ungleichgliedrigen ungleichmetrischen Strophe <* ^ ö a*c€.
Diese eingeschobene Chorstrophe bildet einen Wendepunkt;
nun beginnt, formell nur, ein zweiter Teil, in dem Pleasure
jetzt in Strophen nach der Formel f ^ J ^ spricht, wobei
a trochäisch, ß jambisch ist Den Scbluil bildet ein Chor
in jambischen Versen « ^ " J.
In den folgenden zwei letzten Fällen kann man
eigentlich von strophischer Gliederung, die nämlich auch
akustisch zur Geltung käme, nicht mehr sprechen; doch
— 167 -
finden wir hier eine feindurchdachte, komplizierte formelle
Gliederung färs Auge.
"The Coranef* ist jambisch ungleichmetrisch, man
kann es folgendermafien zerlegen:
abba»cddc*effe'ghgh'ii'klm*klm*nn;
5 854545545 4 5
das heißt in Worten : drei Quartette, jedes in umschließen-
der Brcimstellung, aber von verschiedener Yerslänge, ein
Quartett gekreuzter viertaktiger Zeilen und zwei, von je
einem Brcimpaare zu Anfang und zu Ende eingeschlossene
Terzette fünftaktiger Jamben.
Noch künstlicher ist die Architektur von **A Drop of
I)euf*y nämlich:
abc»abc»ffe»gg»hh* -f
8 4 8 4 48 8 4 8 2 6 .^-4
ix ±1.
i i •kk*ltnlin*nn* (o n (o n • q> q> • r $ r 8 • t t • u u;
4 6 iTö 6 j 4 "|6 4 TT j 4 6 "^T
wobei wieder die griechischen Buchstaben Trochäen be-
zeichnen. In der zweiten Hälfte herrscht also in der
graphischen Darstellung eine künstliche symmetrische Form.
Als Schwäche muß man es bezeichnen, daß die Sinnes-
abschnitte keineswegs diesem metrischen Schema ent-
sprechen, was der Grund daftLr ist, daß dasselbe fiir das
Ohr nicht zur Geltung kommt. Gewiß sind diese zwei
kompliziert gebauten Gedichte Nachahmungen italienischer
Kunstformen, aber auch die einzigen bei Marvell; die
übrigen metrischen Kunststücke der Benaissancedichter
macht Marvell nicht mit, offenbar aus Unvermögen; ein
formgewandter Dichter ist er ja nicht. Marvell gehört
auch zu denjenigen Dichtem der Zeit Miltons, die kein
einziges Sonett geschrieben haben (f^Metrik** II, 866).
[
?
^s^
1
Veröffentlicliangen des Deutschen Instituts
fOr Außenpolitische Forschung
Herausgegeben von Professor Dr. Friedrich Berber
Band VII
DEUTSCHLAND-ENGLAND
1933-1939
Die Dokumente
des deutschen Friedenswillens
1943
ESSENER VE R L AG S AN S T ALT
DEUTSCHLAND-ENGLAND
1933-1939
Die Dokumente
des deutschen Friedenswillens
Herausgegeben von
Professor Dr, Friedrich Berber
4. Auflage
12.— 19. Tausend
1943
ESSENER VERLAGSANSTALT
Die ÄchTift wini in der NS.«Bibüo^iiphie geführt.
Berlin, den "20. 9« 1941
Der VoniUende der Parieiamtlichen Prorungakommiision
tum SchuUe dei NS.-SehriUtums
Die Wiedergabe der Reden de» FOhrers
erfolgt mit Genehmigung des ZentralverUiges der NSDAP.
Pran2Eher Nachf., G.ra*b,H.,
München- B er hn
Alk Bcchtc vorbehalten
Copyright 1940 by Essener Verlagsangtalt G, m. b. FL, Esaen
Säte und Druck: Nationai-Zeitung, Verlag und Druckerei, G.nub.ll.« Ftsen
Printcd in Germany. Verla gsnummer l^
\m
INHALT
Vorbemerkung
7
Einleitung .
9
1933 .. .
13
1934 .
31
1935 .
4&
1936 .
83
1937 .
109
1938 .
129
1939
171
Vorbemerkung
Der vorliegende Band bringt einhundertsechs Dokumentenstücke
in deutscher Sprache. Naturgemäß war es nicht möglich, sämtliche
Dokumente im vollen Text zu bringen. Es wäre dadurch nicht nur der
Umfang des Bandes unverhältnismäßig angewachsen, sondern auch
die mit ihm verfolgte eigentliche Absicht — lediglich die deutsch-
englischen Beziehungen im politischen Gesamtzusammenhang der
Jahre 1933 — 1939 darzustellen — vereitelt worden. Infolgedessen sind
im wesentlichen nur diejenigen Fälle der Dokumente veröffentlicht
worden, die mehr oder weniger unmittelbar das deutsch-englische Ver-
hältnis betreffen. Wo der zum Abdruck gebrachte Auszug den Zu-
sammenhang nicht deutlich genug erkennen ließ, ist versucht worden,
im Zwischentext ergänzend das Notwendige zu sagen. Die einzelnen
Dokumente tragen laufende Nummern, die am Seitenrand verzeichnet
sind.
Die im Urtext fremdsprachigen Dokumente sind in deutscher
Übersetzung gebracht worden, und zwar ist, soweit bereits eine getreue
Übersetzung vorlag, diese übernommen, andernfalls eine eigene Über-
setzung vorgenommen worden. Die Dokumente sind nach Möglichkeit
amtlichen Quellen entnommen ; nur soweit solche nicht vorlagen, sind
andere, nach Möglichkeit primäre Quellen benutzt.
Bei fremdsprachigen Dokumenten bedeutet „E'* oder „F", daß
an dem angegebenen Fundort das betreffende Dokument in englischer
oder französischer Sprache vorliegt. Durch „D" wird die deutsche
Übersetzung nachgewiesen.
Bisher unveröffentlicht waren die nachfolgend aufgeführten Do-
kumente: 3, 8, 10, 13, 39, 41, 45, 49, 54, 55, 56, 61, 78. Zahlreiche
Dokumente werden zum ersten Male in deutscher Sprache veröffent-
Ucht.
Einleitung
Als im Herbst 1918 das im Felde unbesiegte deutsche Volk sich
zu Friedensverhandlungen bereit erklärte» hatten die Alliierten und
insbesondere ihr wichtigster und aktivster Teil, GroDbritannien, die
Neuordnung Europas nach ihren eigenen Grundsätzen, Kriegszielen
und Deklarationen frei in der Hand. Insbesondere Deutschland gegen-
über hatten sie nunmehr, nach dem Sturz der kaiserlichen Regierung
und nach der Errichtung eines demokratischen Systems, die Möglich-
keit, ihre in Millionen von Flugblättern vertretene Propaganda these^
ihr Kampf gelte nicht dem deutschen Volke, sondern nur der deutschen
Führung, in die Wirklichkeit umzusetzen und Deutschland als in jeder
Hinsicht gleichberechtigten Partner in die neue europäische Staaten*
gemeinschaft aufzunehmen. Daß nichts dergleichen geschah, dali viel-
mehr das deutsche Volk in schmählicher Weise hintergangen und seiner
primitivsten Lebensrechte beraubt wurde, ist die allseitig anerkannte*
eindeutige Ursache all der Leiden und Verwirnmgen, die den euro-
päischen Kontinent in den letzten zwanzig Jahren heimsuchten und
die schließlich zu einer erneuten Entfachung des erst so kurze Jahre
gelöschten Kriegsbrandes führten. Damit ist aber zugleich die ein-
deutige Schuld derjenigen, die für dieses Versagen und für diesen
Verrat verantwortlich waren, festgestellt.
Es wird für kommende Generationen, die die Ereignisse der letzten
zwanzig Jahre aus historischem Abstand betrachten werden, immer
ein verwunderliches Rätsel sein, wie sich die Friedensmacher von 1919
denn eigentlich die weitere Regelung des von ihnen geschaffenen Zu-
siandes vorstellten. Denn über seine Unzulänglichkeit, ja Unmöglich-
keit waren sich eigentlich alle einig. Aber sie legten trage die Hand in
den Schoß und warteten auf die heilende Kraft der Zeit, auf eine Ent-
wicklung, die diesen ungesunden Zustand zur Normalität zurückführen
würde, auf ein Wunder.
Und dieses Wunder, das herbeizuführen diese Schuldigen nichts,
das zu verhindern sie alles taten, ereignete sich. Die in den Feind-
ländem längst als Reaktion auf ihre unsinnigen Maßnahmen gefürch-
tete innere Entwicklung Deutschlands trat ein: der Nationalsozialis-
mus ergriff in Deutschland die Maclit. Zugleich aber — und darin lag
das W^under — stellte diese zur Macht gekommene Regierung ein aus-
gesprochenes Friedensprogramm, ein Programm der friedlichen Revi-
sion, des peaceful change auf, statt, was nicht verwunderlich, sondern
natürlich gewesen wäre, eines Programms des Hasses, der Gewalt, der
1 — nr
10
DeutschTand - Enj^Iand
Revanche. Das war die zweite große Chance der „Sieger** des Welt-
krieges seit 1919: in enger Zusammenarbeit mit dem nationalen, aber
friedliebenden Deutschland für die Beseitigung der gröbsten Sinnlosig*
keilen und Härten des Versa Uler Systems, für die Wiederaufrichtung
einer europäischen Ordnung zu wirken, sich den eigenen Völkern gegen-
über für die Notwendigkeit der Maßnahmen auf die veränderte Macht-
lage wie auf die hoffnungslos gewordene internationale Wirtschaftslage
zu berufen und die Gerechtigkeit der elementaren deutschen Forde-
rungen durch die eigene Teilnahme anzuerkennen, Italien ist unter der
Führung seines genialen Staatschefs MussoHni diesen Weg gegangen.
Kngland, das diesem Weg friedlicher Revisionen allein volle Wirksam-
keit verleihen konnte, hat sich ihm versagt. Und dabei war es gerade
die Freundschaft mit Engtand, auf die das ganze auOenpolitiscbe
Programm des Führers hinzielte.
Adolf Hitler ergriff die Macht in Deutschland mit dem festen und
eindeutigen außenpolitischen Programm, das er bereits 1924 in seinem
Kampfbuche niedergelegt hatte: wenn irgend möglich ein Bündnis
mit Italien und mit England zu erreichen. Dadurch war nach seiner
Überzeugung sowohl den deutschen Interessen wie dem Weltfrieden
am besten gedient. Sechs Jahre lang hat er dieses Ziel durch immer
erneute Vorschläge und Angebote zu verwirklichen gesucht und Frie-
denspolitik getrieben. Daß sie endlich gescheitert ist, ist einzig und
allein Englands Schuld. England hat alle die Jahre hindurch eine
wahre Verständigung zwischen den beiden Völkern abgelehnt und
hintertrieben, England hat die immer wiederholten deutschen Vor-
schlage für einen dauernden Frieden als zu radikal und als zu kühn
empfunden^ während doch die völlig verfahrene europäische Situation
nur mit radikalen und kühnen Maßnahmen gerettet werden konnte.
Es hat in hochmütiger Verblendung auf die deutschen Vorschläge
nur mit halber Aufmerksamkeit und mit halbem Herzen hingehört,
wälirend doch ein Zusammenkommen der beiden so verschiedenen
Partner nur bei konzentriertester Aufmerksamkeit auf die gemein-
same Aufgabe möglich gewesen wäre. Es hat jede ihm dargebotene
Möglichkeit viel zu langsam begriffen und immer zu spät ergriffen,
statt blitzschnell bei dieser einzigartigen Chance, aus dem selbst-
verschuldeten Wirrwarr ohne einen neuen Krieg herauszukommen»
zuzugreifen. Es hat den Sonderbotschafter des Führers, Hibbentrop,
mit Unverständnis empfangen, statt in der Entsendung des engsten
außenpolitischen Vertrauten des Führers die eminente Geste der
Freundschaft zu sehen. Seine Presse hat die von englischen Vorstel-
lungen vielfach abweichenden inneren deutschen Verhältnisse mit
feindseligem Hohn und mit giftiger Kritik überschüttet, statt alles zu
tun, um die beiden Völker, von deren gegenseitigem Verstehen die
Zukunft des Kontinents abhing, in Freundschaft einander näher-
«ubringen. England hat sich, statt die lebendige Kraft des deutschen
Volkes anzuerkennen und sich mit ihr zu verbinden, auf die antiquierte
und schemenhafte Lehre vom Gleichgewicht der Mächte zurückgezogen,
die ihm die sti&ndige Intervention auf dem Kontinent gegen jede er-
Einleitung 1 1
starkende Macht gebot. Es hat schließlich im Verfolg dieser Doktrin
sich dem unter seiner genialen Fuhrung zusehends erstarkenden
Deutschland in den Weg gestellt, wo immer es konnte, hat auf seine
berüchtigte Tradition der Einkreisung zurückgegriffen, hat überall
den Widerständen gegen Deutschland den Rücken gesteift und damit
schließlich jenen Brand heraufgeführt, den gerade England im Inter-
esse seiner so leicht verletzlichen Herrschaft überall in der Welt unter
allen Umständen hätte vermeiden sollen.
Die einzelnen Etappen dieses verhängnisvollen Weges seit 1933
sind in der nachfolgenden Sammlung dokumentarisch nachgewiesen.
Dabei kommen in wissenschaftlicher Objektivität beide Seiten gleich-
mäßig zu Wort. Das englische Versagen, die englische Schuld tritt
damit nur um so deutlicher in Erscheinung. Die britische Linie stellt
sich dabei trotz allen Schwankens im einzelnen als eine durchaus gerad-
linige heraus: Deutschland sollte nicht stark werden, Deutschland
sollte schwach bleiben, Deutschland sollte in den Fesseln von Ver-
sailles bleiben. Angesichts dieser dokumentarisch nachgewiesenen Linie
erscheint das heute mit immer größerer Offenheit verkündete englische
Kriegsziel, Deutschland zu Versailles zurückzuführen, ja ihm noch weit
über Versailles hinausgehende Fesseln anzulegen, als Konsequenz der
allzu häufig durch tönende Phrasen getarnten wahren britischen außen-
politischen Linie. Das deutsche Volk wird dafür sorgen, daß dieses
britische Programm diesmal nicht in Erfüllung geht.
Berber
1] Das Jahr 1933 15
Bereits die erste Begegnung des Führers mit der britischen Politik
fährte zu Erfahrungen^ wie sie Deutschland seit 1933 immer wieder machen
mußte. Die erste Auseinandersetzung des nationalsozialistischen Deutsch-
land mit Großbritannien knüpfte sich an die Abrüstungsfrage, bei der die
Außenpolitik des Führers nach Lage der Umstände Anfang 1933 ein-
setzen mußte. Durch die von Großbritannien, Frankreich, Italien und
Deutschland abgegebene Erklärung vom 11, Dezember 1932 war Deutsch-
land grundsätzlich die Gleichberechtigung „in einem System, das allen
Nationen Sicherheit bieteV, zugestanden worden. Statt dieses feierliche
Versprechen einzuhalten, suchten die Westmächie nach der Machtergrei-
fung die grundsätzlich zugestandene Gleichberechtigung durch endlose
Diskussionen in Genf zu zerreden und gegenstandslos zu machen. Am
16. März 1933 endlich legte der britische Ministerpräsident MacDonald
einen neuen Abrüstungsplan vor. Die Stärke der Heeres-, Flotten- und
Luftstreitkräfte, die Dauer der Dienstzeit der Landstreitkräfte wurden
festgelegt und eine qualitative Abrüstung erwogen. Die Bestimmungen
des Abschnitts V des Versailler Vertrages sollten durch diese Bestim-
mungen ersetzt werden. Der MacDonald- Plan bedeutete zwar eine be-
schränkte Rüstungsangleichung, stellte aber nicht im entferntesten die
Deutschland bereits zugesicherte Rüstungsgleichheit mit den hochgerüsteten
Westmächten her, die sich bislang stets ihrem Abrüstungsversprechen
entzogen hatten. Er genügte auch keinesfalls den Erfordernissen der deut-
schen Sicherheit; wurde doch Deutschland z. B. kein einziges Flugzeug
zugestanden. Obwohl also der MacDonald- Plan für Deutschland alles
andere als befriedigend war und weit hinter den bereits gegebenen Ver-
sprechungen zurückblieb, hat sich der Führer gleich in seiner ersten
programmatischen Reichstagsrede, die er als Kanzler hielt, positiv zu
dieser englischen Anregung geäußert. Der Wille zur deutsch-englischen
Zusammenarbeit steht also am Anfang der nationalsozialistischen Außen-
politik.
Aus der Reichstagsrede des Führers vom 23. März 1933
Das deutsche Volk will mit der Welt in Frieden leben. Die Regie-
rung wird aber gerade deshalb mit allen Mitteln für die endgültige
Beseitigung einer Scheidung der Völker der Erde in zwei Kategorien
eintreten. Die Begriffe von Siegemationen und von Besiegten können
^»r^
16
r»eut«''hfflnd * Kn)?fnnfl
nicht ais eine dauernde Basis freundschaftlicher Beziehungen der
Völker untereinander gelten. Die ewige Offenhaltung dieser Wunde
führt den einen zum Mißtrauen, den anderen zum HaO und damit
zu einer allgemeinen Unsicherheit.
Die nationale Regierung ist bereit, jedem Volke die Hand zu einer
aufrichtigen Verständigung zu reichen, das gewillt ist, die traurige Ver-
gangenheit endlich einmal grundsätzlich abzuschlieOen, Die Not der
Welt kann nur vergehen, wenn innerhalb der Völker und unterein-
ander durch stabile Verhältnisse wieder Vertrauen geschaffen wird.
Denn folgende Voraussetzungen sieht die nationale Regierung für die
Behebung der allgemeinen Wirtschaftskatastrophe als notwendig an:
erstens eine unbedingte Autorität der politischen Führung im Innern
zur Herstellung des Vertrauens in die Stabilität der Verhältnisse;
zweitens eine Sicherstellung des Friedens durch die wirklich großen
Nationen auf lange Sicht zur Wiederherstellung des Vertrauens der
Völker untereinander; drittens den endlichen Sieg der Grundsätze der
Vernunft in der Organisation und Fuhrung der Wirtschaft sowie eine
allgemeine und internationale Entlastung von Reparationen und un-
möglichen Schuld- und Zinsverpflichtungen.
Leider stehen wir vor der Tatsache, daß die Genfer Konferenz
trotz langer Verhandlungen bisher kein praktisches Ergebnis erzii
hat. Die Entscheidung über die Herbeiführung wirklicher Abrüstun
maßnahmen ist immer wieder durch das Aufwerfen technischer Einzel
fragen und das Hereinziehen von Problemen, die mit Abrüstung nichts
zu tun haben, verzögert worden. Dieses Verfahren ist untauglich. Der
rechtswidrige Zustand einer einseitigen Abrüstung und der daraus
resultierenden nationalen Unsicherheit Deutschlands kann nicht länger
dauern. Als ein Zeichen des Gefühls der Verantwortung und des guten
Willens erkennen wir es an, daß die britische Regierung in ihren letzten
Vorschlägen in Genf den Versuch gemacht hat, die Konferenz endlich
zu schnellen Entscheidungen zu bringen. Die Reichsregierung wird
jede Bemühung unterstützen, die daraufgerichtet ist^ einer allgemeinen
Abrüstung wirksam zu dienen und dabei den schon längst fälligen
Anspruch Deutschlands auf Gleichberechtigung sicherzustellen.
Allein seit vierzehn Jahren sind wir abgerüstet, und seit vierzehn
Monaten warten wir auf ein Ergebnis der Abrüstungsverhandlungen.
Umfassender noch ist der Plan des Chefs der italienischen Regie-
rung, der großzügig und weitblickend versucht, der gesamteuropäischen
Politik eine ruhige und folgerichtige Entwicklung zu sichern. Wir
messen diesem Plan die ernsteste Bedeutung bei. Wir sind bereit, auf
dieser Grundlage in voller Aufrichtigkeit mitzuarbeiten an dem Ver-
such, die vier Mächte Deutschland, Italien, England und PVankreich
zu einer friedlichen politischen Zusammenarbeit zusammenzuschließen,
die mutig und entschlossen an die Aufgaben herangelit, von denen das
Schicksal Europas abhängt.
Aus diesem Anlaß empfinden wir besonders dankbar die ver-
ständnisvolle Herzlichkeit, mit der die nationale Erhebung Deutsch-
lands in Italien begrüßt worden ist. Wir wünschen und hoffen, daß
^^ M
n
Dfis Jahr 1933
17
Gleichheit der geistigen Ideale die Grundlage für eine stetige Vertie-
fung der freundschafthchen Beziehungen zmschen den beiden Ländern
sein wird.
Ebenso legt die Reichsregierung, die im Christentum die uner-
schütterlichen Fundamente des sittlichen und nioralisrhen Lebens
unseres Volkes sieht, den größten Wert darauf, die freundschaftlichen
Beziehungen zum Heiligen Stuhle weiter zu pflegen und auszugestalten.
Gegenüber unserem Brudervolk in Österreich empfinden wir alle
das Gefühl der innersten Anteilnahme an seinen Sorgen und Nöten.
Die Reichsregierung ist sich in ihrem Handeln der Verbundenheit des
Schicksals aller deutschen Stämme bewußt.
Die Einstellung zu den übrigen einzelnen fremden Mächten ergibt
sich aus dem bereits Erwähnten. Aber auch da, wo die gegenwärtigen
Beziehungen heute noch mit Schwierigkeiten belastet sind, wollen wir
uns ehrlich bemühen, einen Ausgleich zu finden. Allerdings kann die
Grundlage einer Verständigung niemals die Aufrechterhaltung der
Unterscheidung in Sieger und Besiegte sein.
Wir sind denn auch der Überzeugung, daß ein solcher Ausgleich
in unserem Verhältnis zu Frankreich möglich ist, wenn die Regierungen
die sie betreffenden Probleme beiderseits wirklich weitschauend in
Angriff nehmen.
Gegenüber der Sowjetunion ist die Reichsregierung gewillt, freund-
schaftliche, für beide Teile nutzbringende Beziehungen zu pflegen.
Gerade die Regierung der nationalen Revolution sieht sich zu einer
solchen positiven Politik gegenüber Sowjetrußland in der Lage. Der
Kampf gegen den Kommunismus in Deutschland ist unsere innere
Angelegenheit, in den wir Einmischungen von außen niemals dulden
werden.
Die stadtspolitischen Beziehungen zu anderen Mächten, mit denen
uns gemeinsame Interessen verbinden, werden davon nicht berührt.
Das Verhältnis zu den übrigen Ländern verdient auch in der Zu-
kunft unsere ernsteste Aufmerksamkeit, insbesondere zu den großen
überseeischen Staaten, mit denen Deutschland seit langem durch
Freundschaft und wichtigste wirtschaftliche Interessen verbunden ist.
Das Schicksal der Deutschen außerhalb der Grenzen des Reiches,
die als besondere Volksgruppen innerhalb fremder Völker um die
Wahrung ihrer Sprache, Kultur, Sitte und Religion kämpfen, wird
uns stets bewegen, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln für die den
deutschen Minderheiten garantierten internationalen Rechte einzu-
treten.
(Verhandlungen des Beichdiagcs, Bd. 457, S. 30f.)
Dieses Zeichen des Gefühls der Veraniwortung und des guten Willens
Deutschlands war über die Sache hinaus ein deuUicher Wink an die eng-
lische Adresse, Er begegnete hier zunächst keiner Bereitschaft zur Ver-
ständigung mit dem neuen Deutschland. Die Machtübernahme durch den
Nationalsozialismus hatte in England Panik, Feindseligkeit y Kreuzzugs-
Blimmung und die Geneigtheit ausgelöst, sich schulmeisterlich in die
DtutacMand-England 2 '
18 Deutschland - England [2
inneren deuischen Verhältnisse einzumischen. Dadurch ist die erste Etappe
charakterisiert.
Widersinnige Putschgerüchie und Gerede von Kriegsgefahr veran-
laßten bereits am 2. März 1933 die erste der nun in langer Reihe folgenden
Deutschland-Debatten im Unterhaus. Der deutschen Botschaft in London
gingen Hunderte von Protestresolutionen gegen angebliche Vorkommnisse
in Deutschland zu. Jüdische Firmen in England drohten mit dem Boykott
deutscher Waren. Die Presse tat das ihre zur Förderung dieser feindseligen
Stimmung. Fast alle englischen Korrespondenten in Deutschland waren
ohne jedes Verständnis für den Umbruch. Sie hatten vor 1933 nur mit
der Linken verkehrt. Neue unvoreingenommene Männer wären erforderlich
gewesen. Am 30. März 1933 beschäftigten sich Unter- und Oberhaus zum
erstenmal in anklägerischem Tone mit der Lage der Juden in Deutsch-
land. Hier haben diese Debatten über interne deutsche Angelegenheiten
natürlicherweise ernstliche Verstimmungen ausgelöst. In einer leidenschaft-
lichen antideutschen Aussprache im Unterhaus am 13. April, gegen die
deutscherseits amtlich Beschwerde erhoben wurde, hielt Winston Churchill
eine Rede, in der er die Gerechtigkeit des Versailler. Vertrages verleidigle.
Er erklärte sich gegen die deutsche Gleichberechtigung in der Rüstung und
malte das Schreckgespenst eines nahen Krieges an die Wand. Auch der
Premierminister MacDonald sprach sich am 16. Mai unfreundlich gegen
Deutschland aus.
Der Fährer ließ sich durch diese Verdächtigungen nicht irre machen.
Er ging zielbewußt seinen Weg, Deutschland die Gleichberechtigung zu
gewinnen, weiter. In seiner Reichstagsrede vom 17. Mai brachte er
die Kriegsgerüchte zum Schweigen und gab einen unmißverständlichen
Beweis seines Friedenswillens. Er legte die Berechtigung der deutschen
Forderungen dar, bekannte sich erneut zum Gedanken der Abrüstung auf
der Grundlage des MacDonald-Plans und zeigte Wege zu ihrer praktischen
Verwirklichung.
2. Aas der Reichstagsrede des Führers vom 17. Mai 1933
Deutschland wäre auch ohne weiteres bereit, seine gesamte militä-
rische Einrichtung überhaupt aufzulösen und den kleinen Rest der ihm
verbliebenen Waffen zu zerstören, wenn die anliegenden Nationen
ebenso restlos das gleiche tun. Wenn aber die anderen Staaten nicht
gewillt sind, die im Friedensvertrag von Versailles auch sie verpflich-
tende Abrüstung durchzuführen, dann muß Deutschland zumindest
auf der Forderung seiner Gleichberechtigung bestehen.
Die deutsche Regierung sieht in dem englischen Plan eine mögliche
Grundlage für die Lösung dieser Frage. Sie muß aber verlangen, daß
ihr nicht die Zerstörung einer vorhandenen Wehreinrichtung auf*
gezwungen wird ohne die Zubilligung einer zumindest qualitativen
Gleichberechtigung. Sie muß weiter fordern, daß eine Umwandlung
der heutigen von Deutschland nicht gewünschten, sondern uns einst
vom Auslande auferlegten Heereseinrichtung Zug um Zug erfolgt, im
2] Das Jahr 1933 19
Maße der tatsächlichen Abrüstung der anderen Staaten. Dabei erklärt
sich Deutschland im wesentlichen damit einverstanden, eine Über-
gangsperiode von fünf Jahren für die HersteHung seiner nationalen
Sicherheit anzunehmen, in der Erwartung, daß nach dieser Zeit
die wirkliche Gleichstellung Deutschlands mit den anderen Staaten
erfolgt.
Deutschland ist femer ohne weiteres bereit, auf die Zuteilung von
Angriffswaffen dann überhaupt Verzicht zu leisten, wenn innerhalb
eines bestimmten Zeitraumes die Rüstungsnationen ihrerseits diese
Angriffswaffen ebenfalls vernichten und durch eine internationale
Konvention die weitere Anwendung verboten wird.
Deutschland hat nur den einzigen Wunsch, seine Unabhängigkeit
bewahren und seine Grenzen schützen zu können. Nach dem Ausspruch
des französischen Kriegsministers im Februar 1932 werden die zum
großen Teil farbigen Überseestreitkräfte sofort in Frankreich selbst
verwendet. Er rechnet sie deshalb ausdrücklich zu den Heimatstreit-
kräften. Es entspricht daher nur der Gerechtigkeit, diese Streitkräfte
bei der Lösung dieser Frage zu berücksichtigen. Es widerspricht der
Gerechtigkeit, militärisch völlig ausgebildete Reservisten während ihres
Urlaubs nicht in Anrechnung zu bringen, aber Polizeikräfte, die nur
für Polizeizwecke bewaffnet und ausgebildet sind, für Deutschland der
Heeresstärke zuzuzählen. Gänzlich aber unmöglich ist es, Verbände,
die allein politischen oder volkserzieherischen oder sportlichen Zwecken
dienen, überhaupt keine militärische Ausbildung genießen und keine
militärische Ausrüstung besitzen, in Deutschland auf die Heeresstärke
anzurechnen, in anderen Ländern aber überhaupt nicht zu sehen!
Demgegenüber würde sich Deutschland jederzeit bereit erklären,
im Falle einer gegenseitigen internationalen Kontrolle der Rüstungen
bei gleicher Bereitwilligkeit der anderen Staaten die angeführten Ver-
bände dieser Kontrolle mit zu unterstellen, um ihren vollständig un-
militärischen Charakter eindeutig vor aller Welt zu beweisen. Dabei
wird die deutsche Regierung kein Waffenverbot als zu einschneidend
ablehnen, wenn es auf alle Mächte Anwendung findet. Soweit indes
Waffen anderen Mächten gestattet bleiben, können die Waffen der
Verteidigung Deutschland allein nicht für alle Zukunft verboten wer-
den. Wir sind dabei bereit, von dieser unserer Gleichberechtigung nur
in einem durch Verhandlungen festzustellenden Umfange Gebrauch
zu machen.
Alle diese Forderungen beinhalten nicht eine Aufrüstung, sondern
ausschließlich nur ein Verlangen nach Abrüstung der anderen Staaten.
Ich begrüße dabei noch einmal namens der deutschen Regierung
den weitausschauenden und richtigen Plan des italienischen Staats-
chefs, durch einen besonderen Pakt ein engeres Vertrauens- und Ar-
beitsverhältnis der vier europäischen Großmächte: England, Frank-
reich, Italien und Deutschland, herzustellen. Der Auffassung Musso-
linis, daß damit die Brücke zu einer leichteren dauernden Verständigung
ffeschlagen werden könnte, stimmt die deutsche Regierung aus innerster
Überzeugung zu. Sie wird das äußerste Entgegenkommen zeigen, so-
20 Deutschland - England [2
fern auch die anderen Nationen zu einer wirklichen Überwindung etwa
entgegenstehender Schwierigkeiten geneigt sind.
Der Vorschlag des amerikanischen Präsidenten Roosevelt, von
dem ich heute nacht Kenntnis erhielt, verpflichtet desgleichen die
deutsche Regierung zu warmem Danke. Sie ist bereit, dieser Methode
zur Behebung der internationalen Krise zuzustimmen, denn auch sie
ist der Auffassung, daß ohne die Lösung der Abrüstungsfrage auf die
Dauer kein wirtschaftlicher Wiederaufbau denkbar ist. Sie ist bereit,
sich an diesem Werk der Inordnungbringung der politischen und wirt-
schaftlichen Verhältnisse der Welt uneigennützig zu beteiligen. Sie ist,
wie ich schon eingangs betonte, ebenso überzeugt, daß es heute nur
eine große Aufgabe geben kann, den Frieden der Welt zu sichern.
Sie erkennt auch ohne weiteres an die Richtigkeit der für die
heutigen Rüstungen unter anderem verantwortlichen Gründe. Allein
ich fühle mich doch verpflichtet, festzustellen, daß der Grund für die
heutigen Rüstungen Frankreichs oder Polens unter keinen Umständen
die Furcht dieser Nationen vor einer deutschen Invasion sein kann;
denn diese Furcht hätte ihre Berechtigung ja nur im Vorhandensein
jener modernen Angriffswaffen auf der anderen Seite, die erheblich
stärker sind als die Mittel der modernen Verteidigung. Gerade diese
modernen Angriffswaffen aber besitzt ja Deutschland überhaupt nicht
— weder schwere Artillerie noch Tanks, noch Bombenflugzeuge, noch
Giftgase! Die einzige Nation, die mit Recht unter der Furcht vor einer
Invasion leiden könnte, ist die deutsche, der man nicht nur die An-
griffswaffen verbot, sondern sogar das Recht auf Verteidigungs-
waffen beschnitt, ja selbst die Anlage von Grenzbefestigungen unter-
sagte.
Deutschland ist nun jederzeit bereit, auf Angriffswaffen zu ver-
zichten, wenn auch die übrige Welt ihrer entsagt. Deutschland ist
bereit, jedem feierlichen Nichtangriffspakt beizutreten ; denn Deutsch-
land denkt nicht an einen Angriff, sondern an seine Sicherheit!
Deutschland würde in der Verwirklichung des großherzigen Vor-
schlages des amerikanischen Präsidenten, die mächtigen Vereinigten
Staaten als Friedensgaranten in Europa einzuschieben, eine große Be-
ruhigung für alle die erblicken, die sich aufrichtig zum Frieden be-
kennen.
Wir haben aber keinen sehnlicheren Wunsch als den, beizutragen,
daß die Wunden des Krieges und des Versailler Vertrages endgültig
geheilt werden, und Deutschland will dabei keinen anderen Weg gehen
als den, der durch die Verträge selbst als berechtigt anerkannt wird.
Die deutsche Regierung wünscht, sich über alle schwierigen Fragen
politischer und wirtschaftlicher Natur mit den anderen Nationen fried-
lich und vertraglich auseinanderzusetzen. Sie weiß, daß jeder militä-
rische Akt in Europa auch im Falle seines vollständigen Gelingens,
gemessen an seinen Opfern, in keinem Verhältnis steht zum möglichen
endgültigen Gewinn.
Die deutsche Regierung und das deutsche Volk werden sich aber
unter keinen Umständen zu irgendeiner Unterschrift nötigen lassen.
-^m
Das Jahr 1933
21
die eine Verewigung der Disqualifizierung Deutschlands bedeuten
würde.
Der Versuch, dabei durch Drohungen auf Regierung und Volk
einzuwirken, wird keinen Eindruck zu machen vermögen.
Es ist denkbar, daß man Deutschland gegen jedes Recht und
gegen jede Moral vergewaltigt; aber es ist undenkbar und ausge-
schlossen, daß ein solcher Akt von uns selbst durch eine Unterschrift
Rechtsgültigkeit erhalten könnte.
( Verhandlungen des Beichstags, Bd. 457, S. 52f.)
Die Hede vom 27. Mal J933 hat die inier nationale Lage erheblich
tnhpannl. Der Hauplausschuß der Abrüstungskonferenz, die bereits sech-
zehn Monate tagte, nahm seine zeilweilig unterbrochenen Beratungen
wieder auf. Aber nur langsam und schleppend wurde die erste Lesung
des englischen Planes beendet. Die Sicherheitsfrage (europäische Gewalt-
verzichlserklärung und europäischer Hilfeleistungspnki) schob sich wieder
dazvnschen. In den Unterausschüssen führte der Widerstand Frankreichs
und seiner Verbündeten zu langwierigen und scharfen Auseinander-
Setzungen, Englands Hallung war zwiespältig. Seine Vertreter haben sich
ohne Nachdruck für den Plan ihres Premiers eingesetzt. Es beginnt bereits
die Linie, die dann zu seiner Preisgabe durch die englische Regierang
führen sollte. Stall sofort die zweite entscheidende Lesung folgen zu
lassen^ hat sich der Hauplausschuß am 29. Juni bis zum 16, Okiober
vertagt, angeblich um die festgefahrene Konferenz durch direkte Ver-
handlungen zwischen den Begierungen wieder flottzumachen. Der deutsche
Vertreter hatte sich der Vertagung verständlicherweise widersetzt. Der
französische Vertreter hatte sich bereits für die Durchführung der zu
beschließenden Abrüstungsmaßnahmen eine ^.notwendige Probezeit' vor-
behalten. Davon war im MacDonald-Plan nichts enthalten gewesen,
Frankreich wollte ihn zu seinen Gunsten umgestalten, wollte Deutschland
erneut einer diskriminierenden Sonderkontrolle unterwerfen und dadurch
Deutschlands Gleichberechtigung hintertreiben. Die Verhandlungspause
gab Frankreich den Spielraum dazu. Ebenso halle Frankreich damals den
üon Mussolini vorgeschlagenen Vierer pakl entwertet, England hat das
alles schließlich hingenommen und mitgemachi.
Die allgemeine Stimmung des Mißtrauens und der Feindseligkeil
hatte sich in England seil Beginn des Jahres kaum gewandelt, ja war eher
noch gewachsen. Am 26, Mai halle der Außenminister Simon wieder
mit Hinblick auf das Reich von der Krankheit der Mächlebeziehungen
orakelt. Die Lage in Europa müsse sich bessern^ Zusammenarbeit an die
Stelle des Argwohns treten. Am 5. Juli verbreitete er sich im Unter-
haus über die deutsche Innenpolitik, Deutscherseits wurde dazu amtlich
durch W,T,B, energisch Stellung genommen. England glaubte sich be-
rechtigt, hiergegen durch seinen Geschäftsträger in Berlin offiziell Prolet
zu erheben. Im Auswärtigen Amt wurde dieser aber als unbegründet ah-
gelehnl. Der Vorfall ist symptomatisch für die damaligen Beziehungen,
22
Deutschland < England
13
AufzeichDUDg des Leiters der England- Abteilung im Auswärtigen
Amt, Ministerialdirektor Dieckhoff, vom 10> Juli 1933
Der engliBche Geschäftsträger suchte mich heute auf und teilte
mit, er sei von Sir John Simon beauftragt, dem Herrn Reichsmioister
eine Mitteilung zu überbringen, deren Wortlaut er mir vorlas.
Ich habe Mr. Newton geantwortet, daß ich selbstverständlich die
message von Sir John Simon dem Herrn Reichsminister unterbreiten
würde, ich glaubte, ihm aber schon jetzt die Antwort des Herrn
Reichsministers mitteilen zu können, da der Herr Reichsminister,
dem die bevorstehende Beschwerde bereits am Freitag von unserer
Botschaft in London angekündigt worden sei, mich noch vor seiner
Abreise mit Weisung versehen habe. Unser Standpunkt sei folgender:
So sehr wir verstünden, daß bei einer Debatte über den auswärtigen
Etat im Unterhaus auch deutsche Fragen diskutiert würden, so nähmen
wir doch an der Art und Weise, wie dies in der Sitzung vom 5* Juli
durch die meisten Abgeordneten geschehen sei, Anstoß und erblickten
hierin eine Einmischung in innerdeutsche Angelegenheiten. Sir John
Simon habe sich in seiner die Debatte zusammenfassenden Rede
(deren wörtliche Vorlesung ich Herrn Newton nicht ersparte) mit dem
Inhalt der Reden der Abgeordneten identifiziert, und wir müßten
daher auch in seiner Rede eine Einmischung in unsere internen Dinge
erblicken. Trotzdem hätten wir in dem Bestreben, die durch die immer
wieder, übrigens ganz einseitig aus England nach Deutschland herüber«
klingenden unfreundlichen Töne verschlechterten deutsch-englischen
Beziehungen nicht noch mehr verschlechtern zu lassen, die deutsche
Presse gebeten, in ihren Kommentaren zur Debatte und zur Rede von
Sir John Simon möglichst zurückhaltend zu sein. So sei die Anmerkung
des W.T.B. entstanden, die, wie Mr. Newton sicher zugeben werde,
in durchaus ruhigem Tone abgefaßt sei und nichts enthalte was ,,in-
flammatory** wirken könnte.
Was den Passus über die lialb verhungerten Menschen anlange, ,
80 sei in dem Kommentar des WT.B, nicht behauptet^ daß Sir John
Simon diese Bemerkung getan habe; Sir John Simon habe aber, als
Herr Lansbury die Anfrage wegen der hungernden Frauen und Kinder
in Deutschland (vgl. S. 349 des Hansard) an ihn richtete und im späteren
Verlauf der Debatte in einer zweiten Ansprache von den \äelen Menschen
sprach, die in Deutschland halb verhungert leben (vgl. S. 453 des
Hansard), die Anfrage nicht abgelehnt, sondern habe sich durch die
Wendung ,,I appreciate the importance of the Suggestion'* gewisser-
maßen mit ihr indcntifiziert.
Das von beiden Seiten in freundschaftlichem Ton geführte Ge-
spräch endete damit, daß ich Mr. Newton sagte, hier würde es — wie
schon mehrfach besprochen — sehr begrüßt werden, wenn nicht nur
die Parlamentsdebatten, sondern auch die sich immer wiederholenden
Protestversammlungen, die vielen kritischen Reden und Zeitungs-
artikel über die inneren deutschen Dinge in England allroähhch auf-
3] Das Jahr 1933 23
hörten und wenn die englische Öffentlichkeit sich diesen Fragen gegen-
über dieselbe Reserve auferlegen würde, die sie z. B. bei den Vorgängen
in den Vereinigten Staaten, auch wenn sie' ihnen innerlich noch so
kritisch gegenübersteht, zu beobachten pflege. Gerade die englische
öffentliche Meinung verstehe es, in solchen Fragen eine bemerkens-
werte Disziplin zu üben, wenn sie nur wolle.
Zum Schluß sagte ich Herrn Newton, daß von uns aus über seine
Demarche nichts veröffentlicht werden würde. Sollte sich aber die
Presse oder das Unterhaus mit diesem Protestschritt beschäftigen,
so würden wir gezwungen sein, zu erklären, daß wir den Protest als
unbegründet abgelehnt hätten.
(Aus den Akten des Auswärtigen Amtes.) Dieckhoff
Nach der Vertagung der Abräslungskonferenz trat deren Präsidium
zum erstenmal am 9. Oktober wieder zusammen. Inzwischen hauen sich
die beiden Westmächte auf eine neue Verhandlungsgrundlage geeinigt,
die einer Sabotage des MacDonald- Plans gleichkam. Während des Som-
mers war von Paris und London gegen das nationalsozialistische Deutsch-
land ein heftiger Pressefeldzug geführt worden. Die These von dem Unruhe-
stifter und Friedensstörer Deutschland gab den Westmächten den Vor-
wand, jede unmittelbare Abrüstungsmaßnahme zu verweigern. Durch vier-
jährige Rüstungskontrolle, die formell als „allgemein'' bezeichnet wurde,
praktisch jedoch als einseitige Kontrolle Deutschlands verstanden war,
sollte das nötige Vertrauen hergestellt und erst nach dieser Bewährungsfrist
mit der tatsächlichen Abrüstung der hochgerüsteten Staaten begonnen
werden. Das war für Deutschland unannehmbar. Der Reichsminister des
Auswärtigen, Freiherr von Neurath, brachte in einer Rede vom 15. und in
einem Interview vom 21. September 1933 den deutschen Standpunkt klar
zum Ausdruck. Auf der Völkerbundversammlung, die am 25. September
begann, äußerte sich die wachsende Deutschfeindlichkeit. Am 6. Oktober
notifizierte die Reichsregierung der englischen und italienischen Regierung
noch einmal, daß sie am MacDonald-Plan festhalte und bereit sei, die
Reichswehr in ein kurzdienendes 200 000-Mann-Heer umzuwandeln
Aber England hatte seine Schwenkung zum französischen Standpunkt
bereits vollzogen. Am 14. Oktober ersetzte der englische Außenminister
Simon den alten Plan durch einen eigenen neuen. Wieder verwies er auf
die „gegenwärtige ungeklärte Lage Europas'' und auf „das neuerdings so
heftig erschütterte Vertrauen" . Außerdem eignete ersieh den französischen
Vorschlag an. Deutschland wurde die Gleichberechtigung verweigert. Es
sollte einer neuen demütigenden Kontrolle unterworfen und die Abrüstung
sollte um vier Jahre vertagt werden. England trifft somit die historische
Schuld, die Abrüstung zunichte gemacht zu haben. Durch Englands
Schachzug wurde den Verhandlungen zwischen dem abgerüsteten Deutsch-
land und seinen hochgerüsteten Weltkriegsgegnern jede tragfähige Grund-
lage entzogen. Mochte die britische Regierung dann auch noch mehrere
Monate lang sich den Anschein geben, als sei ihr ehrlich an Ab-
rüstungsverhandlungen gelegen, so hatte sie durch diese Preisgabe des
MacDonald-Planes offen dokumentiert, daß sie im Grunde eine Ab-
24 Deutschland - England [4
räsiung nicht wollte. Daraufhin schied Deutschland aus der Abrüstungs-
konferenz aus und kundigte seine Mitgliedschaft beim Völkerbund, Die
Reichsregierung wandle sich mit einem Aufruf an das deutsche Volk und
legte ihm die Gründe dar.
^' Aafruf der Reichsregierung vom 14. Oktober 1933
zum Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund
Die Deutsche Reichsregierung und das deutsche Volk sind sich
einig in dem Willen, eine Politik des Friedens, der Versöhnung und
Verständigung zu betreiben als Grundlage aller Entschlüsse und jeden
Handelns.
Die Deutsche Reichsregierung und das deutsche Volk lehnen daher
die Gewalt als ein untaugliches Mittel zur Behebung bestehender Diffe-
renzen innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft ab.
Die Deutsche Reichsregierung und das deutsche Volk erneuern
das Bekenntnis, jeder tatsächlichen Abrüstung der Welt freudig zu-
zustimmen mit der Versicherung der Bereitwilligkeit, auch das letzte
deutsche Maschinengewehr zu zerstören und den letzten Mann aus
dem Heere zu entlassen, insofern sich die anderen Völker zum gleichen
entschließen.
Die Deutsche Reichsregierung und das deutsche Volk verbinden
sich in dem aufrichtigen Wunsch, mit den anderen Nationen einschließ-
lich aller unserer früheren Gegner im Sinne der Überwindung der
Kriegspsychose und zur endlichen Wiederherstellung eines aufrich-
tigen Verhältnisses untereinander alle vorliegenden Fragen leiden-
schaftslos auf dem Wege von Verhandlungen prüfen und lösen zu
wollen.
Die Deutsche Reichsregierung und das deutsche Volk erklären
sich daher auch jederzeit bereit, durch den Abschluß kontinentaler
Nichtangriffspakte auf längste Sicht den Frieden Europas sicher-
zustellen, seiner wirtschaftlichen Wohlfahrt zu dienen und am all-
gemeinen kulturellen Neuaufbau teilzunehmen.
Die Deutsche Reichsregierung und das deutsche Volk sind erfüllt
von der gleichen Ehrauffassung, daß die Zubilligung der Gleichberech-
tigung Deutschlands die unumgängliche moralische und sachliche Vor-
aussetzung für jede Teilnahme unseres Volkes und seiner Regierung
an internationalen Einrichtungen und Verträgen ist.
Die Deutsche Reichsregierung und das deutsche Volk sind daher
eins in dem Beschlüsse, die Abrüstungskonferenz zu verlassen und aus
dem Völkerbund auszuscheiden, bis diese wirkliche Gleichberechtigung
unserem Volke nicht mehr vorenthalten wird.
Die Deutsche Reichsregicrung und das deutsche Volk sind ent-
schlossen, lieber jede Not, jede Verfolgung und jegliche Drangsal auf
sich zu nehmen, als künftighin Verträge zu unterzeichnen, die für jeden
Ehrenmann und für jedes ehrliebende Volk unannehmbar sein müssen.
S]
Das Jahr 1933
25
in ihren Folgen aber nur zu einer Verewigung der Not und des Elends
des Versailler Vertragszuslandes und damit zum Zusammenbruch der
zivilisierten Staatengemeinschaft führen würden. Die Deutsche Reichs-
regierung und das deutsche Volk haben nicht den Willen, an irgend-
einem Rüstungswettlauf anderer Nationen teilzunehmen; sie fordern
nur jenes Maß an Sicherheit, das der Nation die Ruhe und Freiheit
der friedlichen Arbeit garantiert. Die Deutsche Reichsregierung und
das deutsche Volk sind gewillt, diese berechtigten Forderungen der
deutschen Nation auf dem Wege von Verhandlungen und durch Ver-
träge sicherzustellen.
(WTB, vom 14. Oktober 1933.)
Der deulsche Schrili vom 14. Oktober 1933 rief in der inier nalionalen
Presse einen Siurm der Entrüslung hervor: Dealschland, nicht, wie e^
in Wahrheit der Fall war^ England, habe die Abrüstungskonferenz^ jadie
ganze Abrüstung sabotiert, um ungehindert auf rüsten zu können und um
sich zu einem neuen Kriege vorzubereiten. Dem sind der Führer selbst
und rieichsaußenminisler von Neuraih noch mehrfach im Wahlkampf
zur Volksabstimmung und Beichslagswahl vom November 1933 entgegen-
getreten: Deutschland kämpfe nicht um Eroberungen ^ sondern um sein
Lebensrecht, um Sicherheit und Gleichberechtigung,
Wie stellte sich England zur neuen Lage? Außenminister Simon
erläuterte am 17. Oktober in einer Rundfunkansprache und am 7, No-
vember während der außenpolitischen Debatte des Unterhauses den
Standpunkt der Regierung. Er zeigte dabei ein gewisses formelles Ent-
gegenkommen und eine Distanzierung von Frankreich. yyWUr Engländer
verstehen Deutschlands Gefühle gut,'' Dennoch blieb Deutschland für
England der einzige Schuldige.
Aus der Unterhausrede des britischen Außenministers Sir John Simon
vom 7. November 1933
Warum verstimmten Deutschland diese Vorgänge? Wir müssen
uns in die deutschen Gefühle hineindenken, was immer sie auch getan
haben. Wir müssen begreifen, warum Deutschland diese Erbitterung
zur Schau getragen hat. Dieser ganze Zeitaufwand, der zu keinem Er-
gebnis führte, war nicht nur schmerzlich, sondern er muBte auch
Deutschland immer ungeduldiger machen. Wir alle besitzen genügend
gesunden Menschenverstand und Einsicht dafür, daß man sich nicht
darüber zu wundern braucht . . .
Heute handelt es sich nur noch um die politische Frag^, wir
Deutschlands Forderung nach Gleichberechtigung und Frankreichs
Wunsch nach Sicherheit miteinander in Einklang gebracht werden
können. Dies ist ein schwieriges Problem. Auf der einen Seite steht
die Erinnerung an eine frühere Invasion und die daraus entstandene
26 Deutschland - England [6
Furcht, auf der anderen Seite die Erinnerung an die Niederlage und
die Erbitterung über die dadurch erlittene Demütigung. Keines dieser
beiden Gefühle kann unnatürlich genannt werden. Deshalb ist die
Politik Großbritanniens darauf gerichtet gewesen, keines der beiden
Argumente zu leugnen oder zu verkleinern, sondern sich um eine
Versöhnung zwischen ihnen zu bemühen . . .
So bedauerlich auch Deutschlands jüngster Schritt ist und so
ungerechtfertigt er auch erscheint, ist dies doch kein Grund dafür,
die Tür, die Deutschland ins Schloß geworfen hat, als abgeriegelt und
versperrt zu betrachten.
Großbritannien wird jede vorhandene Möglichkeit benützen, um
mit Deutschland ebenso wie mit den anderen Mächten in Fühlung zu
bleiben.
(E: Parliamentary Oebates. House of Gommons. Bd. 2Sl, Sp. 46 f., 58, 62f. —
D: Der Völkerbund, Nr. 83/84, S. 9f.)
Die Reichsiagswahl vom 12. November 1933 erbrachte ein ein-
mütiges Bekenntnis des deutschen Volkes zur Außenpolitik der Reichs-
regierung. Bereits Ende Oktober hatte Adolf Hitler neue diplomatische
Verhandlungen zur Durchsetzung des deutschen Standpunktes in der
Rüstungsfrage begonnen. Bei ihm lag die Initialive. Er wollte kein ufer-
loses Wettrüsten^ sondern durch Verhandlungen eine maßvolle Begrenzung,
Wieder wandte er sich mit seinem Angebot zunächst an England und
Italien. Bei England konnte angenommen werden y daß es zwischen
Deutschland und Frankreich vermitteln würde. Die Besprechungen dienten
der Erklärung der deutschen Forderungen und Ziele. Sie wurden zusam-
mengefaßt in der Denkschrift der Reichsregierung vom 18. Dezember.
Nach der Jahreswende gingen die Rüstungsbesprechungen weiter.
Denkschrift der Reichsregierung vom 18. Dezember 1933 über die
Rüstungs- und Gleidibereditignngsfrage
I
Die Deutsche Regienmg vermag angesichts der Haltung, die die
hochgerüsteten Staaten, insbesondere Frankreich, in den Genfer Ab-
rüstungsverhandlungen eingenommen haben, leider nicht den Glauben
zu teilen, daß im gegenwärtigen Zeitpunkt mit einer ernsthaften
Durchführung der allgemeinen Abrüstung gerechnet werden kann.
Sie ist überzeugt, daß die Wiederaufnahme von neuen Bemühungen
in dieser Richtung ebenso ergebnislos bleiben würde, wie die seit-
herigen jahrelangen Verhandlungen. Sollte diese Befürchtung nicht
zutreffen, so würde dies niemand mehr begrüßen als die Deutsche
Regierung.
Ohne die vielen Gründe im einzelnen zu untersuchen, die für die
Auffassung der Deutschen Regierung sprechen, wird man an zwei
wesentlichen Tatsachen nicht vorbeigehen können:
6] Das Jahr 1933 27
1. Eine Herabsetzung der Rüstungen der anderen europäischen
Staaten ist praktisch nur denkbar, wenn sie von allen Nationen
der ganzen Welt übernommen wird. An die Möglichkeit einer
solchen allgemeinen internationalen Abrüstung glaubt aber
heute niemand mehr.
2. Die Ereignisse der letzten Monate lassen die Wahrscheinlichkeit,
in einigen Ländern eine selbst von den Regierungen ernstlich
beabsichtigte Abrüstung den Parlamenten dieser Staaten mit
Erfolg zur Ratifikation vorlegen zu können, mehr als zweifelhaft
erscheinen.
Aus diesem Grunde glaubtt die Deutsche Regierung nicht mehr
länger einer Illusion nachhängen zu können, die geeignet ist, die Be-
ziehungen der Völker untereinander eher noch mehr zu verwirren als
zu verbessern. Sie glaubt daher unter Berücksichtigung der konkreten
WirkKchkeit folgendes feststellen zu müssen:
a) Deutschland hat als einziger Staat die im Friedensvertrag von
Versailles festgelegte Abrüstungsverpflichtung tatsächlich durch-
geführt.
b) Die hochgerüsteten Staaten gedenken nicht abzurüsten oder
fühlen sich hierzu nicht in der Lage.
c) Deutschland hat ein Recht, auf irgendeine Weise seine Gleich-
berechtigung auch in bezug auf seine Sicherheit zu erlangen.
Von diesen Feststellungen ging die Deutsche Regierung aus, als
sie ihren letzten Vorschlag zur Regelung des Problems machte. Der
Hinweis darauf, daß Frankreich in Genf einem präzisen Abrüstungs-
programm zugestimmt habe, ändert an diesen Feststellungen nichts.
Denn das Programm, an das hierbei offenbar gedacht ist, enthielt
Bedingungen, die Deutschland unmöglich annehmen konnte, und die
die Deutsche Regierung deshalb gezwungen haben, die Genfer Ab-
rüstungskonferenz zu verlassen.
Falls entgegen der Überzeugung der Deutschen Regierung die
anderen Nationen trotzdem zu einer vollständigen Abrüstung sich
entschließen sollten, so gibt die Deutsche Regierung von vornherein
ihre Bereitwilligkeit kund, einer solchen Konvention beizutreten und
ebenfalls abzurüsten, wenn nötig bis zur letzten Kanone und bis zum
letzten Maschinengewehr.
Sollte insbesondere Frankreich bereit sein, nach einem präzisen
Abrüstungsprogramm abzurüsten, so bittet die Deutsche Regierung
um zahlenmäßige Angabe der Abrüstungsmaßnahmen, die Frankreich
vornehmen will (Personal, Material, Dauer der Durchführung und
Zeitpunkt des Beginns, zahlenmäßige Kontrolle der Durchführung).
Die Deutsche Regierung vermag nicht einzusehen, wie die An-
passung der deutschen Rüstungen an die deutschen Sicherheitsbedürf-
nisse und ihre teilweise Angleichung an den Rüstungsstand der Nach-
barstaaten zu einer allgemeinen Rüstungsvermehrung und zum Beginn
eines Wettrüstens führen sollte. Die deutschen Vorschläge beziehen
sich ausschließlich auf defensive Rüstungen. Sie sind so gemäßigt,
28 Deutschland - England [6
daß die Überlegenheit der französischen Rüstungen weiter bestehen
bleibt. Sie schließen im übrigen deshalb jedes Wettrüsten aus, weil
danach die hochgerüsteten Staaten verpflichtet werden sollen, ihre
Rüstungen nicht weiter zu erhöhen.
Der Vorschlag der Deutschen Regierung geht dahin:
1. Deutschland erhält die volle Gleichberechtigung.
2. Die hochgerüsteten Staaten verpflichten sich untereinander,
eine weitere Erhöhung ihres derzeitigen Rüstungsstandes nicht
mehr vorzunehmen.
3. Deutschland tritt dieser Konvention bei mit der Verpflichtung,
aus freiem Willen von der ihm gegebenen Gleichberechtigung
nur einen so maßvollen tatsächUchen Gebrauch zu machen, daß
darin keine offensive Gefährdung irgendeiner anderen euro-
päischen Macht zu sehen ist.
4. Alle Staaten anerkennen gewisse Verpflichtungen einer humanen
Kriegsführung bzw. einer Vermeidung gewisser Kriegs waffen in
ihrer Anwendung gegen die zivile Bevölkerung.
5. Alle Staaten übernehmen eine gleichmäßige allgemeine Kon-
trolle, die die Einhaltung dieser Verpflichtungen prüfen und
gewährleisten soll.
6. Die europäischen Nationen garantieren sich die unbedingte Auf-
rechterhaltung des Friedens durch den Abschluß von Nichtan-
griffspakten, die nach Ablauf von 10 Jahren erneuert werden
sollen.
II
Nach Vorausschickung dieser grundsätzlichen Ausführungen will
die Deutsche Regierung zu einzelnen Fragen des Herrn Französischen
Botschafters folgendes bemerken:
1. Die Zahl von 300 000 Mann entspricht der Heeresstarke, die
Deutschland angesichts der Länge seiner Landesgrenzen und
angesichts der Heeresstärke seiner Nachbarn benötigt.
2. Die Umwandlung der Reichswehr in ein 300 000-Mann-Heer mit
kurzer Dienstzeit wird naturgemäß mehrere Jahre in Anspruch
nehmen. Für die Dauer der Umwandlungsperiode ist auch die
finanzielle Seite von maßgebender Bedeutung.
3. Die Zahl der Defensivwaffen, die Deutschland beansprucht,
müßte der Normalbewaffnung einer modernen Verteidigungs-
armee entsprechen.
4. Das Tempo der Durchführung der Bewaffnung müßte Hand in
Hand mit dem Tempo der unter Ziffer 2 behandelten Umwand-
lung der Reichswehr gehen.
5. Die Deutsche Regienmg ist bereit, einer internationalen, perio-
disch und automatisch funktionierenden allgemeinen und glei-
chen Kontrolle zuzustimmen.
6. Zu welchem Zeitpunkt diese Kontrolle einzusetzen hätte, ist
eine Einzelfrage, die erst entschieden werden kann, wenn eine
Einigung über die Grundfragen erzielt ist.
7. Art und Charakter der SA. und SS, werden von der Umwand*
lung der Reichswehr in ein 300 000-Mann-Heer mit kurzer
Dienstzeil nicht berührt.
Die SA. und SS. sind keine militärischen Organisationen und
werden dies auch in Zukunft nicht sein. Sie sind ein unzertrennlicher
Bestandteil des politischen Systems der nationalsoziaHstischen Revo-
lution und damit des nationalsozialistischen Staates. Sie umfassen
rund 2^ Milhonen Männer vom 18. Lebensjahr bis in das höchste Alter
hinein. Ihre einzige Aufgabe ist, durch diese Organisation der politi-
schen Massen unseres Volkes eine Wiederkehr der kommunistischen
Gefahr für immer zu verhindern. Ob von diesem System einmal weg-
gegangen werden kann oder wird, hängt ab von dem Bleiben oder der
Beseitigung dieser bolschewistisch-kommunistischen Gefahr. Mit mili-
tärischen Dingen haben diese dem früheren marxistischen Reichs-
banner und dem kommunistischen Rotfrontbund gegenüberstehenden
nationalsozialistischen Organisationen überhaupt nichts zu tun. Der
Versuch, die SA. und die SS. mit dem Reichsheer in eine militärische
Verbindung zu bringen, sie als militärische Ersatzformation anzu-
sprechen, geht von jenen pohtischen Kreisen aus, die in der Beseiti-
gung dieser Schutzeinrichtung des nationalsoziaHstischen Staates die
Möglichkeit einer neuen Zersetzung des Deutschen Volkes und damit
eine neue Förderung kommunistischer Bestrebungen erblicken.
Um die Eigenart der SA. und SS. als politische Organisationen
einer allgemeinen geistigen und körperlichen Immunisierung gegen-
über den Gefahren einer kommunistischen Zersetzung zu belegen, lehnt
es die Deutsche Regierung nicht ab, bei den Kontrollen über die Durch-
führung der Konvention den Nachweis für die genaue Einhaltung dieser
Erklärungen zu erbringen,
8, Die Deutsche Regierung ist bereit, dem Gedanken einer Fest-
legung allgemeiner Bestimmungen über politische Verbände
und vor- oder nachmihtärische Organisationen in den einzelnen
Ländern näherzutreten.
9. Die Beantwortung der Frage der Kontrolle dieser Organisa-
tionen in den verschiedenen Ländern ergibt sich aus dem, was
am SchluB von Ziffer 7 hinsichtlich der SA. und SS. ausge-
führt ist,
10. Der Inhalt der Nichtangriffspakte, zu deren AbschluO die
Deutsche Regierung mit allen Deutschland umgebenden
Staaten bereit ist, ergibt sich aus der Praxis der Nachkriegs-
zeit.
11.0b und inwieweit dabei im Verhältnis zwischen Deutschland
und Frankreich der im Jahre 1925 abgeschlossene Locamo-
Rheinpakt zu besonderen Überlegungen Anlaß gibt, ist eine
juristisch-technische Frage, die der späteren Einzelverhand-
lung vorbehalten bleiben kann.
r2. Die Deutsche Regierung ist jederzeit bereit, die zwischen
Deutschland und Frankreich auftauchenden Streitfragen auf
den hierfür am besten geeigneten Wegen gütlich zu bereinigen.
30 Deutschland - England [6
III
Der Gedanke einer abstimmungslosen Rückgliederung des Saar-
gebietes wurde lediglich zu dem Zwecke zur Erwägung gestellt, um,
wenn möglich, die mit der Abstimmung unvermeidlich verbundene
Erhitzung der öffentlichen Meinung in Deutschland und Frankreich
zu umgehen und der Bevölkerung des Saargebietes die Erschütterungen
durch einen Wahlkampf zu ersparen, dessen Ausgang nicht zweifelhaft
sein kann. Wenn die Französische Regierung den Standpunkt ein-
nimmt, einer abstimmungslosen Rückgliederung nicht zustimmen zu
können, so betrachtet die Deutsche Regierung diese Frage damit als
erledigt.
IV
Nachdem die Deutsche Regierung nunmehr wiederholt ihre Auf-
fassung über die Regelung der Abrüstungsfrage in aller Offenheit dar-
gelegt hat, kann sie sich von einer Fortführung der Besprechungen
nur dann einen Erfolg versprechen, wenn jetzt auch die anderen Re-
gierungen sich unzweideutig darüber äußern, welche Stellung sie zu
dem Standpunkt der Deutschen Regierung einnehmen und wie sie
sich ihrerseits die Behandlung des Problems in seinen konkreten
Einzelheiten denken.
(Schwendemann: Abrüstung und Sicherheit. Bd. II, S. 518ff.)
1934
> Sr "-^
Uvi> AuUi L'J31
33
Da sich eine allgemeine A brüst itnQ als Illusion erwiesen halle, mußte
die Verwirklichung der deutsehen Gleichberechlignng auf anderem Wege,
und zwar auf dem der Angleiehnng des deulschen BüsUingsniveaus an
das der Umwelt, gesucht werden. Deutschland forderte eine Defensivarmee
Don 300 000 Mann mit kurzer Dienstzeit, Die Ileichsregierung erhal hierzu
die Stellungnahme der anderen Regierungen, Die britische antwortete nach
der französischen und vor der italieni sehen mit einem Memorandum vom
29, Januar 1934. Sie kam im Unterschied zn der französischen Antwort
den deutschen Hüstungsforderungen ein gutes Stück entgegen. Sie akzep-
tierte sie außer denen zur Luftrüstung; diese mitten Deutschland noch
zwei Jahre vorenthalten bleiben; außerdem sollle es nach Genf zurück-
kehren.
Aus der Denkschrift der britlsdien Regierung zur Rüstungs* und
Gleidiliereditigungsfrage vom 29. Januar 1934
7.
8. Die Regierung Seiner Majestät ist der Ansicht, daß eine inter-
nationale Einigung bezüglich der Rüstungen nur erreicht werden kann,
indem man hinsichtlich der drei Hauptfragen (a) Sicherheit, (b) Gleich-
berechtigung, (c) Abrüstung eine befriedigende Regelung trifft. Sämt-
liche drei Themen sind in dem Konventionsentwurf behandelt worden,
und der Zweck des vorliegenden Schriftstücks besteht darin, darzu-
legen, wie unter den gegenwärtigen Umständen und im Lichte der
Forderungen und Vorschläge, die von verschiedenen Seiten vorgebracht
worden sind, der Inhalt des Konventionsentwurfs zum Zweck einer
allgemeinen Verständigung in gewissen Einzelpunkten abgeändert oder
erweitert werden könnte* Die Regierung Seiner Majestät hat die von
den Regierungen Frankreichs, Italiens, Deutschlands und anderer
Länder im Laufe des kürzhchen Meinungsaustausches vorgebrachten
Auffassungen sorgfältig geprüft. Vor fast einem ,Iahre hat es die Rc-
gierung Seiner Majestät übernommen, dem Hauptausschuß der Ab-
rüstungskonferenz den vollständigen Text eines Vertragsentwurfes
vorzulegen. Die jetzt vorgeschlagenen leichten Abänderungen des
Textes dieses Konventionsentwurfs sind diejenigen, welche auf Grund
späterer Mitteilungen und Überlegungen am besten geeignet erscheinery^^TI^
konkrete Ergebnisse herbeizuführen
9. Sicherheit. Teil I des Konventionsentwurfs handelte von
OeutBchiiiod- England 3
poai
34 Deutschland - England [7
Sicherheit. Auf Grund einer Neufassung, die am 24. Mai 1933 einmütig
gebilligt wurde, besteht er nunmehr aus vier Artikeln, von denen drei
vorsehen, daß im Falle einer Verletzung oder einer drohenden Ver-
letzung des Kellogg-Paktes eine sofortige Beratung zwischen den
Signatarmächten der Konvention verlangt werden kann und stattfinden
soll zu dem Zweck, den Frieden zu wahren, gute Dienste für die Wieder-
herstellung des Friedens zur Anwendung zu bringen und für den Fall,
daß es sich als unmöglich herausstellen sollte, den Frieden auf diese
Weise wiederherzustellen, die Streitpartei oder die Parteien zu be-
stimmen, die die Verantwortung trifft. In der jetzigen Fassung werden
diese Bestimmungen also lediglich durch eine Verletzung oder eine
drohende Verletzung des Kellogg-Paktes zur Anwendung gebracht.
Die Regierung Seiner Majestät hält diese Bestimmungen für äußerst
wichtig. Die Verbindung zwischen dem Sicherheitsgefühl und dem
Frieden der Welt ist jedoch so vital, daß die Regierung Seiner Majestät
zu diesen Artikeln noch weitere hinzufügen möchte. Ihrer Ansicht
nach ist es wichtig, den Grundsatz der Beratung im Falle der Ver-
letzung oder drohenden Verletzung des Kellogg-Paktes auf den Fall
der Verletzung oder drohenden Verletzung der Abrüstungskonvention
selbst auszudehnen . . .
Ein weiterer Beitrag zur Sache des Friedens und der Sicherheit
durch Minderung jeglicher Spannung oder Unruhe, welche zwischen
Deutschland und den es umgebenden Staaten besteht, wird durch die
Bereitwilligkeit des deutschen Reichskanzlers zum Abschluß von Nicht-
angriffspakten mit allen Nachbarn Deutschlands geliefert. Derartige
Pakte dürften keinesfalls die bestehenden Verpflichtungen zur Auf-
rechterhaltung des Friedens auf Grund von Verträgen wie der Völker-
bundssatzung, dem Kellogg- Pakt und den Locarno- Verträgen
schwächen, sondern müssen im Gegenteil diese Verpflichtungen
ausdrücklich wieder bestätigen; die Regierung Seiner Majestät kann
keinen Zweifel darüber hegen, daß, wenn solche Pakte ausdrücklich
in Verbindung mit der Konvention eingegangen würden (für welche
die Regierung Seiner Majestät aus den weiter unten aufgeführten
Gründen ebenso wie für die Pakte zunächst einen Zeitraum von zehn
Jahren für angebracht hält), dürfte ihr praktischer Wert für die
Schaffung eines Sicherheitsgefühls nicht bestritten werden.
Die Regierung Seiner Majestät ist der Ansicht, daß die hier bei
dem Punkt „Sicherheit** zusammengestellten Anregungen insgesamt
ein Ganzes ausmachen, das allgemeine Annahme verdient. Sie glaubt
erwarten zu dürfen, daß diese Regeln und Verpflichtungen, wenn sie
feierlich übernommen wären, nicht leichthin verletzt werden würden
und daß jeder Verletzung am zweckmäßigsten und wirksamsten be-
gegnet würde, wenn die Regierungen und Staaten zusammenberufen
würden, um Frieden und Einigkeit zwischen den Völkern gegenüber
dem Friedensstörer und Vertragsverletzer zu wahren.
10. Gleichberechtigung. Die Fünf-Mächte-Erklärung vom
11. Dezember 1932 hat im Zusammenhang mit der Abrüstungsfrage
den Grundsatz der „Gleichberechtigung in einem System der Sicherheit
7] Das Jahr 1934 35
für alle Nationen'' aufgestellt und erklärt, daß dieser Grundsatz in
einem Abrüstungsabkommen Verwirklichung finden soll, das eine
wesentliche Herabsetzung und Begrenzung der Rüstungen herbeiführt.
Von dieser Erklärung ist die Regierung Seiner Majestät niemals zurück-
getreten, und sie bestätigt jetzt aufs neue, daß sie an ihr uneingeschränkt
festhält. Im vorigen Abschnitt dieses Memorandums ist versucht wor-
den, die wesentlichen Faktoren der Sicherheit zu bestimmen, ohne
die die notwendigen Bedingungen für ein angemessenes Abrüstungs-
abkonmien nicht erfüllt sein würden. Aber die Regierung Seiner Maje-
stät zögert nicht zu erklären, daß der Grundsatz der Gleichberechtigung
in der Rüstungsfrage nicht weniger wesentlich ist als der Grundsatz
der Sicherheit — beide müssen praktisch zur Anwendung gelangen,
wenn eine internationale Verständigung über die Rüstungen erreicht
werden soll. Die nachstehenden Vorschläge sind ebenso wie der Kon-
ventionsentwurf selbst in diesem Geiste gehalten und stellen eine
praktische Erfüllung dieses Grundsatzes dar.
11. Abrüstung. Die Regierung Seiner Majestät entnimmt mit
Freude aus den Erklärungen des Herrn Hitler, daß Deutschland dar-
auf verzichtet, den Besitz von „Angriffswaffen** zu beanspruchen, und
sich auf eine normale „Verteidigungsbewaffnung** beschränkt, wie sie
für die Armee benötigt wird, die in dem Abkommen für Deutschland
vorgesehen würde. Überdies macht der deutsche Kanzler diesen Vor-
schlag in der Annahme, daß die schwergerüsteten Staaten nicht bereit
sind, auf Grund des Abkommens irgendeinen Teil ihrer jetzt bestehen-
den Waffen aufzugeben. Wie bereits in Ziffer 7 dieses Memorandums
gesagt, ist die Regierung Seiner Majestät keineswegs bereit, sich diese
letzte Annahme zu eigen zu machen; sie muß darauf bestehen, daß
nur eine Vereinbarung, die sowohl eine Herabsetzung wie eine Be-
schränkung der Rüstungen enthält, den Namen einer Abrüstungs-
konvention verdient. Außerdem besteht noch ein weiterer Grund,
weshalb die Regierung Seiner Majestät die Tatsache besonders hervor-
hebt, daß die Erklärung des deutschen Kanzlers, auf Angriffswaffen
zu verzichten und nur das zu beanspruchen, was zur normalen Ver-
teidigung notwendig ist, sich auf die Annahme gründet, daß die hoch-
gerüsteten Mächte nicht bereit sind, ihre eigenen Rüstungen irgendwie
zu vermindern. Wenn nämlich diese Annahme sich als unzutreffend
erweist, so wird der Umfang dessen, was Deutschland benötigt, sich
notwendigerweise verringern. Ein positiver Beitrag der hochgerüsteten
Mächte zur Abrüstung wird also dazu helfen, das Niveau allgemein
herabzusetzen, und müßte also nach dem Ermessen der Regierung
Seiner Majestät die Forderungen verringern, die Deutschland andern-
falls vielleicht zu stellen geneigt wäre.
12. Die nachstehenden Abänderungsvorschläge zu dem Abkom-
mensentwurf gehen von der Annahme aus, daß die Vereinbarung auf
zehn Jahre abgeschlossen wird. Sie sind verfaßt worden, nachdem
Anregungen und kritische Äußerungen von allen anderen Seiten aufs
vollständigste und sorgfältigste geprüft worden waren, und stellen
nach Ansicht der Regierung Seiner Majestät eine Lösung dar, auf
8*
36 Deutschland - England [8
die man sich unter den obwaltenden Umständen gut einigen
könnte. . .
20. . . . Die ernsten Folgen, die ein Mißerfolg der Abrüstungs-
konferenz nach sich ziehen würde, stehen jedermann klar vor Augen
und bedürfen keiner weiteren Hervorhebung. Die Politik der Regierung
Seiner Majestät auf internationalem Gebiet ist vor allem anderen dar-
auf gerichtet, mit allen Kräften dahin zu wirken, daß durch eine all-
gemeine Verständigung diese Folgen vermieden werden. Wenn die
Verständigung erreicht und die Rückkehr Deutschlands liach Genf
und in den Völkerbund erzielt wird (und dies sollte eine wesentliche
Bedingung der Einigung sein), so würde die Unterzeichnung des Ab-
kommens eine neue Perspektive internationaler Zusammenarbeit er-
öffnen und einen neuen Grund für die internationale Ordnung legen.
(E: Cmd 4512. — D: Schwendemann: Abrüstung und Sicherheit. Bd. II,
S. 543 ff.)
Frankreich lehnte die deutschen Rüstungsforderungen ab, Italien
vertrat den deutschen Standpunkt, — Verhandlungen der vier europäischen
Mächte kamen wieder in Gang, In der zweiten Februarhälfte 1934 be-
suchte der englische Lordsiegelbewahrer und Unterstaatssekretär im Aus-
wärtigen Amty Eden, Paris, Berlin, Rom, um Erkundungen über die
Beurteilung des englischen Memorandums durch die drei anderen Mächte
einzuholen. In Berlin wurde Eden vom Führer empfangen, und es fanden
mit allen maßgebenden Persönlichkeiten Besprechungen statt, Sie nahmen
einen befriedigenden Verlauf und gaben Klarheit über die friedlichen
Absichten und die Verständigungsbereitschaft der Reichsregierung, In
einem in Prag aufgefundenen Bericht vom 15. März äußerte sich der
Gesandte der Tschechoslowakischen Republik, Jan Masarijk, über
Edens Rechenschaftsbericht und ein Gespräch, das er mit dem Lordsiegel-
bewahrer nach seiner Reise gehabt hatte.
Aus dem Bericht des tschechoslowakischen Gesandten in London
vom 15. März 1934
Die Rede wurde in der Presse im ganzen günstig aufgenommen,
an einigen Stellen wird auf ihre zu große Vorsichtigkeit verwiesen.
Tatsache ist, daß Eden den Ereignissen nicht vorgreifen wollte, in
Erwartung einer endgültigen Antwort aus Paris. Die Antwort Winston
Churchills machte im Parlament keinen kräftigen Eindruck; es ist
nämlich allgemein bekannt, daß Winston eine Phase der alarmierenden
Psychologie durchmacht und ständig auf die nahe Möglichkeit eines
Krieges und die Notwendigkeit der Rüstungen verweist.
Ich habe heute mit Eden gefrühstückt, der in seinen Äußerungen
ebenso vorsichtig wie im Parlament war. Eine Verzeichnung verdient,
daß mir Eden sagte, er habe mit Hitler eine fünfstündige Unterredung
gehabt, und daß Hitler auf ihn einen sehr guten Eindruck gemacht
hat. Er hält Hitler für einen ehrlichen Fanatiker, der den Krieg nicht
will. Mein persönlicher Eindruck ist, daß Eden die Beförderung zum
9] Das Jahr 1934 37
Lordsiegelbewahrer und die gleich darauf folgende Reise durch Europa
ein wenig in den Kopf gestiegen. Eden ist verhältnismäßig sehr jung,
und das Leben hat ihn recht verwöhnt. Ich habe schon von mehreren
Eden freundlich gesinnten Seiten Befürchtungen gehört, daß das über-
große Selbstbewußtsein seiner Karriere schaden könnte, die so außer-
gewöhnlich versprechend begonnen hat.
(Aus den Akten des tschechoslowakischen AuOenministeriums.)
Am 13, März 1934 hat die Reichsregierung die Situation noch einmal
zusammenfassend gekennzeichnet. Selbst in England entstand der Ein-
druck: Deutschland ist verständigungsbereit, Frankreich lehnt ab. Ein
Rüstungsstand wie der im Versailler Vertrag festgelegte kam für Deutsch-
land auf keinen Fall mehr in Betracht. Davon gingen alle neueren Vor-
schläge aus, auch die französischen, Deutschland forderte jetzt für sich
nur das Minimum dessen, was es zu seiner Sicherheit und Verteidigungs-
möglichkeit brauchte. Es verzichtete von vornherein auf alle Angriffswaffen
und wollte jede noch so weitgehende Rüstungsbeschränkung annehmen,
wenn dies auch die anderen Mächte taten. Das Einverständnis der deut-
schen, englischen und italienischen Regierung stand fest. Frankreich
schloß sich nicht an. Es wollte weder selbst abrüsten noch Deutschland
Gleichberechtigung bewilligen. Stur hielt es am Versailler Vertrag und
am Völkerbund als dessen Hüter fest. Deutschland sollte in diesen Völker-
bund und in dessen Abrüstungskonferenz zurückkehren. England bemühte
sich um die Fortsetzung der Verhandlungen und war sogar bereit, eine
Durchführungsgarantie zu übernehmen, die es aber nicht im Sinne einer
Garantie des Status quo und einer Verstärkung der Verpflichtungen aus
Artikel 16 der VB. -Satzung verstanden wissen wollte. Es suchte Frank-
reich zunächst auf das englische Memorandum vom 29. Januar fest-
zulegen, abgeändert entsprechend den von Adolf Hitler Eden gemachten
Vorschlägen. Der deutsche Standpunkt ist am 16. April in den „Er-
läuterungen'' nochmals konkretisiert worden.
Erläuterungen der Reichsregierung vom 16. April 1934 zur Frage
der Verwirklichung der Gleichberechtigung
Die Deutsche Regierung ist bereit, das Memorandum des Ver-
einigten Königreichs vom 29. Januar 1934 als Grundlage für eine
Konvention anzunehmen, jedoch unter dem Vorbehalt gewisser wich-
tiger Änderungen. Die Deutsche Regierung hält es für unmöglich, zwei
Jahre lang auf anjgemessene Mittel zur Verteidigung in der Luft zu
warten. Sie wünscht, vom Beginn der Konvention an eine Verteidi-
gungsluftflotte von Flugzeugen mit kurzer Reichweite, zu der keine
Bombenflugzeuge gehören würden, zu besitzen. Die zahlenmäßige
Stärke dieser Luftflotte würde 30 Prozent der zusammengerechneten
Militärluftstreitkräfte der Nachbarn Deutschlands oder 50 Prozent
der MiUtärluftflotte Frankreichs (d. h. derjenigen, die es in Frankreich
selbst und in seinen nordafrikanischen Gebieten besitzt) — je nach-
38
Deutschtand • England
[9
dem, welche Zahl die geriogere ist^ nicht überschreiten. Diese Forde-
rung erhebt die Deutsche Regierung ohne Präjudiz für das Ergebnis
der in dem Memorandum des Vereinigten Königreichs vorgeschlagenen
Untersuchung über die Luftfrage, die, wie vorgeschlagen, stattfiaden
würde, und die wenigstens die Bombenflugzeuge abschaffen sollte.
Deutschland verlangt während der ersten fünf Jahre einer zehn Jahre
laufenden Konvention keine hierüber hinausgehende Zahl von Mihtär-
flugzeugen; aber nach diesen fünf Jahren verlangt es, daß die nötigen
Herabsetzungen und Erhöhungen vorgenommen werden, so daß es
am Ende der zehn Jahre dauernden Konvention volle zahlenmäßige
Gleichheit mit den Hauptluftmächten erhalten würde. Die Deutsche
Regierung wäre bereit, auf der Grundlage der Gegenseitigkeit der
Festlegung der von dem Reichskanzler am 21. Februar Herrn Eden
angegebenen weiteren Vorschriften zwecks Sicherstellung des nicht-
militärischen Charakters der SA. und der SS, zuzustimmen, wobei dieser
Charakter durch ein System der Kontrolle überwacht werden würde.
Diese Vorschriften würden besagen* daß die SA. und SS. 1, keine Waffen
besitzen, 2. keine Ausbildung mit Waffen erhalten, 3. nicht in militä-
rischen Lagern zusammengezogen oder ausgebildet werden, 4, weder
direkt noch indirekt durch Offiziere der regulären Armee ausgebildet
werden, 5. keine Felddienstübungen vornehmen oder daran teil*
nehmen dürfen. Die Deutsche Regierung ist ferner bereit, zuzustimmen,
daß die Rüstuogsherabsetzungen der anderen Mächte bis zum Ende
des fünften Jahres der Konvention hinausgeschoben werden, so daß
die in dem Memorandum des Vereinigten Königreichs vorgesehenen
Abrüstungsmaßnabmen erst während der zweiten fünf Jahre der
Konvention durchgeführt würden. Alle anderen in dem Memorandum
des Vereinigten Königreichs gemachten Vorschläge, soweit sie von
diesen Änderungen nicht berührt sind, wie z. B. bezüglich der Kon-
trolle, werden von der Deutschen Regierung angenommen. Die Deutsche
Regierung erkennt auch weiterhin die Locarnoverträge an, Sie steht
auf dem Standpunkt, daß die Rückkehr Deutsehlands in den Völker-
bund erst nach Lösung der Frage der .Abrüstung und vor allem ihrer
Gleichberechtigung erörtert werden kann.
(Seh wende mann: AbrüBlung und Sieherheil. Bd. II, S. ^06 f.)
Zwischen Deukchland und Halten sowie in gewisser Hinsicht auch
mit England war über die Bäslungsfrage Einmütigkeil erzielt. Frankreich
aber brach durch seine Antwort nole an England vom 17. Aprit 1934 alte
Verhandlungen über Büslungsbegrenzungen brüsk ab. Es griff Deutsch-
land mil schweren Beschuldigungen an, von denen es sicher sein konnte y
daß sie in England mit Zustimmung aufgenommen werden würden: Die
kurz vorher erfolgte Veröffentlichung des deutschen Wehretals beweise^
daß Deulschtand ohne Rücksicht auf die noch schwebenden Verhandlungen
in großem Stile aufrüste. Das könne Frankreich nicht zulassen. Adolf
Hitler war^ wie Reichsaußenmini sler von Neuralh am 27. April vor
Presseuertrelern noch einmal ausdrücklich unlerslrich, zn weitgehendem
Entgegenkommen ^ zur Verständigung und zum baldigen Abschluß einer
10] Das Jahr 1934 39
Konvention bereit gewesen. Er konnte aber die Sicherheit und das Schicksal
seines Landes nicht vom Gutdünken und Ermessen anderer Länder ab-
hängig machen. Nach jenem ,^ein** hatte er die Handlungsfreiheit
zurückgewonnen .
In diesen Tagen schwerwiegender Entscheidungen hatte der deutsche
Botschafter in London eine interessante Unterredung mit König Georg V.,
über die er am 25. April telegraphisch berichtete.
Telegramm des deutschen Botschafters in London, von Hoesdi, an 10.
das Auswärtige Amt vom 25. April 1934
Ich war gestern und. . . (fehlt ein Wort) bei König und Königin
in Windsor zum Wohnbesuch eingeladen. Neben Hofstaat und mir
waren nur noch der soeben von einer Weltreise zurückgekehrte Prinz
Georg und der neuernannte britische Botschafter für Brüssel, Sir
Esmond Ovey, nebst Gemahlin anwesend.
Nach gestrigem Abendessen zog König Georg mich in ein langes
politisches Gespräch. König, der sich über schwebende Probleme gut
unterrichtet zeigte, gab zunächst eine kurze Schilderung der deutsch-
englischen Beziehungen in der Nachkriegszeit. Er ausführte, wie sich
englische Stimmung gegenüber Deutschland nach Kriegsende schnell
verbessert und schließHch einen beträchtlichen Grad freundschaft-
lichen Verständnisses erreicht habe, bis dann nach der Umwälzung
in Deutschland mit überraschender Schnelligkeit ein Umschwung ein-
getreten sei. Diesen Umschwung zurückführte Monarch in erster Linie
auf Behandlung Judenproblems und auf von ihm selbst als übertrieben
bezeichnete Nachrichten über Konzentrationslager. Ich gab zu beiden
Punkten die entsprechende Aufklärung und gewann dabei Eindruck,
daß König Judenfrage nicht mehr ganz so schroff beurteilt, wie dies
z. B. in seiner Unterhaltung mit Herrn v. Neurath im Juni v. J. zum
Ausdruck gekommen war, und daß er auch dem deutschen- Vorgehen
gegen Kommunismus gewisses Verständnis entgegenbringt.
Monarch zuwandte sich dann Abrüstungsproblem und ausdrückte
lebhaftes Bedauern, daß die in Wehrhaushalt erkennbar gewordene
vorzeitige deutsche Aufrüstung Lösung Abrüstungsfrage so überaus
erschwert habe, indem er meinte, Einigung hätte erzielt werden können,
wenn Deutschland Aufrüstung bis nach Abschluß Konvention hinaus-
geschoben hätte. Dabei betonte er, daß er Deutschland keineswegs
andere Absichten als die Schaffung einer Defensivrüstung unter-
schieben wolle und auch durchaus anerkenne, daß Deutschland sich
noch bis vor kurzem an Vertragsbestimmungen gehalten habe. Im
Anschluß daran fragte er mehrfach, ob denn Deutschland seine De-
ferilivaufrüstung aus reinen Prestigegründen oder zum Zweck der
Verteidigung gegen mögliche Angriffe wünsche, indem er betonte,
daß ihm der letztere Beweggrund unbegreiflich erscheinen würde, da
ja Deutschland von niemand bedroht werde. Ich ausführte dem-
40 Deutschland - England [10
gegenüber, daß großes Land im Herzen Europas nicht ewig ungerüstet
bleiben könne, wenn die übrigen Staaten ihre Abrüstungsverpflich-
tungen nicht erfüllen, und daß die weitere Aufrechterhaltung einer
Rechtsungleichheit fünfzehn Jahre nach Kriegsende ein Unding sei.
Ferner verwies ich auf die unerträgliche Situation des ungerüstcten
Deutschlands mit seiner tragischen Grenzziehung im Osten inmitten
der höchstgerüsteten Staaten Europas. König Georg stand niclit an,
das Diktat von Versailles abfälhg zu kritisieren, wobei er den Krieg
an sich als einen menschlichen Irrwahn verantwortlich für solche
bedauernswerte Folgen machte.
Anschließend hieran sprach Monarch über Gefahren der künftigen
Entwicklung. Er ausführte, Deutschland habe ja mehrfach Versiche-
rungen abgegeben, daß es kein Wettrüsten zur See mit England be-
absichtige. Auch deckten sich ja deutsche und englisclie Bestrebungen
in bezug auf völlige Abschaffung der U-Boot-Waffe. Trotzdem ver-
bleibe für England mit seiner überaus verwundbaren Hauptstadt die
Sorge auf dem Luftgebict. Vor allem aber in Frankreich errege deut-
sches Streben nach Defensivaufrüstung eine wahre Panik, und diese
französische Furcht vor der deutschen Gefahr sei das eigentliche
Hindernis für den Abschluß einer Abrüstungskonvention. Komme es
zu keiner Konvention, so werde man unfehlbar in eine Periode des
erneuten Wettrüstens hineingeraten und damit zu Zuständen gelangen,
die denen der Vorkriegszeit ähnelten und die mithin die Gefahr eines
Krieges in sich tragen würden. Er selbst sei von Wahnsinnigkeit
eines Krieges in seinem tiefsten Innern überzeugt und habe sich zur
Richtlinie gemacht, daß, solange er lebe, England in keinen Krieg mehr
verwickelt werden sollte. Dementsprechend werde er alles tun, um
kriegerische Möglichkeiten auszuschließen in der festen Überzeugung,
daß ein neuer Krieg den Untergang für alle bedeuten würde. Je länger
man aber mit einer Lösung zögere, desto gefährlicher werde Lage
werden, da die heranwachsende jüngere Generation die Schrecken des
Krieges nicht kenne und seine Nutzlosigkeit wohl nicht so verstehe,
wie die Generation der Kriegsteilnehmer. Es laste daher auf den
Staatsmännern die verantwortungsschwere Pflicht, die Völker, die
selbst sicherlich nicht den Krieg wünschten, auf die Bahn einer wechsel-
seitigen Verständigung zu führen.
Ich entgegnete, Begründung französischer Haltung mit Furcht
genüge nicht; es käme dazu, wie zum Beispiel das jüngste Buch Tar-
dieus zeige, der Wunsch Frankreichs, seine Position als Sieger zu
wahren und seine Abneigung, mit Deutschland auf gleichem Fuße
zu paktieren. Deutsche Regierung und insbesondere Reichskanzler
persönlich hätten alles Denkbare getan, um Verständigung mit Frank-
reich herbeizuführen, wie wiederholter Verzicht auf Elsaß-Lothringen
und Vereinbarung mit Polen er\^'iesen. In Abrüstungsfrage seien wir
mit Italien völlig und mit England nahezu einig, und nur der obstfnate
Widerstand Frankreichs verhindere immer wieder das Zustande-
kommen einer Konvention. Auch jetzt bleibe Deutschlands Wunsch
nach Verständigung mit Frankreich nach wie vor bestehen, und es
U] Das Jahr 1934 41
sei reine Verbohrtheit, wenn Frankreich in die immer wieder aus-
gestreckte Hand nicht einschlage. Ich anschloß hieran Hinweis auf
die verschiedenen Kundgebungen Reichskanzlers, in denen Friedens-
wille so überzeugend zum Ausdruck gekommen sei, und betonte, daß
deutsche Politik allein darauf hinausgehe, in Frieden und Gleich-
berechtigung das neue Deutschland aufzubauen.
König ableugnete nicht Hartnäckigkeit französischer Regierung,
verwies aber dabei auf überaus unbequeme Einstellung französischer
öffentlicher Meinung, die von Hetzern wie Pertinax irregeleitet werde.
Er sprach auch von der schwierigen innerfranzösischen Situation und
schien Lage in Frankreich als recht unsicher und sorgenvoll anzusehen.
Zu meinem Erstaunen bezeichnete er General Weygand als ein Element
der Vernunft und bemerkte, Weygand habe sich neuerdings in Richtung
auf Verständigung orientiert. Er kenne Weygand gut und erwarte im
Sommer seinen Besuch in England. Friedenspolitik des Reichskanzlers
anerkannte König unumwunden und sprach mit Achtung von deut-
schem Regierungsoberhaupt, wobei er allerdings beanstandete, daß
andere deutsche Stellen gelegentlich in Reden Absichten und Auf-
fassungen kundgäben, die mit Friedenspolitik Kanzlers nicht in Ein-
klang zu bringen seien.
König abschloß Unterredung mit einem erneuten Appell an
Deutschland zu verständnisvoller Mitarbeit zum Abschluß einer Ab-
rüstungskonvention, die unter allen Umständen zustandegebracht
werden müsse. Ich gewann in Unterredung Eindruck, daß König
Deutschland gegenüber verständnisvoll und rechtlich eingestellt ist,
daß aber die Sorgen um die aus dem Abrüstungsproblem sich mög-
licherweise ergebenden Zukunftsgefahren bei ihm augenblicklich alles
andere überschatten.
(Aus den Akten des Auswärligen Amtes.) Hoescll
Milien zwischen den Abrüslungsverhandlungen ereignele sich ein
charaklerislisches Zwischenspiel: Die brilische Regierung erhob Einspruch
gegen das von Deutschland cuis zwingenden wirlschafllichen Gründen er-
klärle Transfer-Moralorium hinsichllich des Diensles der Dawes- und
Young-Anleihe: England besland auf den in Versailles erpreßten, später
sicherheitshalber , .kommerzialisierten'' Tributen,
Note der britischen Regierung vom 26. April 1934 11.
Der Botschafter Seiner Majestät empfiehlt sich dem Reichs-
minister des Auswärtigen und gibt sich die Ehre, im Auftrag des
Staatssekretärs des Auswärtigen Seiner Majestät festzustellen, daß
die Regierung Seiner Majestät schwere Bedenken gegen jeden Vor-
schlag der Anw^endung eines Transfer-Moratoriums auf die Dawes-
oder Young-Anleihe erheben würde. Diese Anleihen wurden im Ein-
verständnis der beteiligten Regierungen aufgelegt und werden gegen-
wärtig gemäß den auf der Londoner Konferenz von 1924 und den
42
DeutBchland - England
[12
Konferenzen im Haa^ und in Paris 1930 getroffenen Vereinbarungen
verwaltet. Die Regierung Seiner Majestät vertritt mit Nachdruck die
Auffassung, daß in der gegenwärtigen Behandlung dieser Anleihen
keinerlei Änderung eintreten sollte. Sir Eric Phipps ist beauftragt,
hinzuzufügen, daß — sollte ein Moratorium auf die Reichsanleihen
Anwendung finden — hierdurch offensichtlich der Wiederherstellung
des deutschen Kredits auf weite Sicht größte Schwierigkeiten bereitet
würde. Die Regierung Seiner Majestät hegt die ernsthafte Hoffnung,
daß kein derartiger Vorschlag der deutschen verantwortlichen Stellen
auf der kommenden Konferenz vorgelegt oder angenommen werden wird.
(Aus den Akten des Auswärtigen Amtes.)
Auch nach der französischen Note vom 17, April 1934 tat man in
England so, als gehe das Eingen um die Abrüslung weiter. Englische
Kirchenfährer riefen zur Abrüsiung auf. Sie sahen darin ,,die moralische
VerpfliiMiing gegenüber Deulschland'\ Nach wie vor sollte die Abrüstung
Grundlage einer allgemeinen Verständigung sein. Die eigentliche Aktion
aber lag an ganz anderer Stelle, Immer latder wurden nämlich neben
diesen Stimmen andere, die nach einer eigenen Aufrüstung^ insbesondere
nach einer ausreichenden Luflrüstung üerlangten. Die britischen Lufi-
streilkrafle seien völlig ungenügend für den Heimatschutz, hieß es in der
Unterhaussitzung vom 8. März, Derselbe Büldwin, der am 23, April zugabf
daß Deutschlands Wunsch nach Verstärkung seiner Luflflolie berechtigt
sei, forderte, daß England sich stärker machen müsse. Denn wenn es
Sanktionen im Rahmen des Völkerbundes durchführen wolle, müsse es
für den Krieg bereit sein. Sanktionen sind Krieg, Am 19. Juli hat
Batdwin als Lordpräsident des Haies das Programm der englischen
Luftrüstung bekanntgegeben. Am 30. Juli fand darüber die Aussprache
im Unterhaus slalL Dabei sprach Baldwin das Wort^ Großbritanniens
Grenze liege am Rhein,
^2* Au8 der Unterhausrede des Lordiirisidenten dee Rates,
Stanley Baldwin^ vom 30. Juli 1934
Wir sind hierzulande allzu sehr geneigt anzunehmen» daß alle
Völker von den gleichen Idealen beseelt sind wie wir. Das trifft gegen-
wärtig nicht zu. Es sind in der Welt Anzeichen für eine Art der Macht-
ausübung vorhanden, die einen Geist atmet, der im Falle seines Er-
starkens das Ende alles dessen bedeuten würde, was wir in unserem
Lande hochhalten und was in unserem Sinne das Leben lebenswert macht.
Lassen Sie uns niemals folgendes übersehen: Seit die Luft eine
Rolle spielt, gibt es die alten Grenzen nicht mehr. Wenn Sie an die
Verteidigung Englands denken, dann denken Sic nicht mehr länger
an die Kalkfelsen von Dover, Sie denken an den Rhein. Dort liegt
unsere Grenze.
(E: Parllamenlary Debates, Hause of Commons. Bd. 292, Sp. 233fl. — D:
Freund, Weltgeschichte der Gegenwart in Dokumenten, Bd. J, S. 362f.)
iq Das Jahr 1334 ^
Englands Rückkehr in den Machtkampf der Weli^ die mit der noch
lange umkämpften Aufrüstung einsetde, halte üon Anbeginn eine deutsch-
feindliche Spitze. Die Propaganda stellte die deutsche Rüstung, die
detdsche Luftflotte als den Gegner hin, der England zu solchen Lasten
neigte. Seit Mitte des Jahres 1934 trat in England ein Umschlag zu
offener Feindschaft gegen Deutschland und eine offene Abkehr von der
Abrüstungspolitik ein. England ließ hinfort der französischen Politik
in dieser Frage freien Lauf. Der Locarno-Pakt war daher schon im Juli
1934 entwertet und gegenstandslos gemacht. Durch Englands Vermittlung
und mit seiner Empfehlung wurde am 12. Juli in Berlin der fran-
zösische Vorschlag des Ostpaktes überreicht, der nach den Absichten seiner
Urheber ein verkapptes französisch-russisches Bündnis gegen Deutsch-
land enthielt. Die Aufrüstungspropaganda wurde lebhafter.
1935
13] Das Jahr 1935 47
Trotz der im Laufe des Jahres 1934 eingeirelenen Wendung zu einer
noch beionier deutschfeindlichen Stimmung hatte sich in England aus
einflußreichen Persönlichkeiten ein kleiner Kreis, der die Herbeiführung
besserer deutsch-englischer Beziehungen anstrebte, gebildet. Der bekannteste
Vertreter dieser Gruppe, der inzwischen verstorbene, gewissenLabour-Kreisen
nahestehende Lord Allen of Hurtwood, weilte im Januar 1935 zu Besuch
in Deutschland und wurde am 25. Januar vom Fährer empfangen.
Außerdem wurden Frontkämpferbesuclie ins Auge gefaßt. Am 11. Juni
beglückwünschte der Prince of Wales die British Legion, den eng-
lischen Frontkämpferverband, zu ihrem Entschluß, eine Delegation nach
DeutscMand zu entsenden.
Aufzeidinung über die Unterredung 13.
zwischen dem Führer und Lord Allen of Hurtwood
am 25. Januar 1935
Lord Allen eröffnete das Gespräch, indem er sich für den ihm
gewährten Empfang wärmstens bedankte. Er wies darauf hin, daß er
keinen offiziellen Besuch in Berlin abstatte und auch nicht im amt-
lichen Auftrag der englischen Regierung handele. Er habe aber den
Auftrag vom englischen Ministerpräsidenten MacDonald erhalten, eine
Botschaft des guten Willens zu überbringen. Zwar bestünden in der
englischen öffentlichen Meinung noch Zweifel über manche Ereignisse
in Deutschland. Es sei aber ein starker Wechsel der Meinungen zu-
gunsten Deutschlands festzustellen. Das Bedauern über die in den
letzten zwanzig Jahren begangenen politischen Fehler nehme zu und
damit der Wunsch, sich über die noch bestehenden Mißverständnisse
zu einigen. Die europäische politische Lage errege insofern große Be-
sorgnis in England, als man mit dem offensichtlichen Bestreben anderer
Mächte, eine neuerliche Einkreisung Deutschlands vorzunehmen, nicht
einverstanden sei. Um diese Entwicklung aufzuhalten, sei eine Ver-
ständigung zwischen England und Deutschland, die später in einer
allgemeinen Rüstungsvereinbarung ihren Niederschlag fände, von be-
sonderer Wichtigkeit.
Der Führer und Reichskanzler dankte Lord Allen für seinen
Besuch; angesichts des Umstandes, daß aus der englischen Presse ein
Bild über die wahren Verhältnisse in Deutschland nicht zu gewinnen
48 Deutschland - England [ 1 3
sei, bezeichnete er als besonders erfreulich, wenn bedeutende Eng-
lönder sich selber von der ruhigen Lage in Deutschland überzeugen.
Diese innere Ruhe sei eine Voraussetzung für Deutschlands Wieder-
aufbau. Deutschland brauche für vierzig bis fünfzig Jahre ungetrübten
Frieden; denn der Krieg reiße mehr ein, als was zehn Jahre Frieden
aufbauen. Die jetzige Generation habe nicht die Aufgabe, einen neuen
Krieg vorzubereiten, sondern die Folgen des Weltkrieges zu liquidieren.
Das deutsche Regime sei auch, ohne sich um äußere politische
Erfolge bemühen zu müssen, von großer innerer Stärke. Wenn Deutsch-
land an der Erhaltung des Friedens ebenso interessiert sei wie die
anderen Mächte, so sei klar, daß zur Erreichung dieses Zieles Deutsch-
land Anspruch auf vollkommene Gleichberechtigung und Sicherheit
seiner Grenzen habe. Zur Förderung des Friedensgedankens in der
Welt habe er im Laufe des letzten Jahres zwei wichtige Erklärungen
abgegeben: Durch die Vereinbarung mit Polen sei eine allgemeine
Beruhigung in Europa eingetreten. Das gleiche müsse man erwarten,
nachdem er der französischen Regierung nach der Saarabstimmung
wiederholt zu verstehen gegeben habe, daß Deutschland keine territo-
rialen Forderungen irgendwelcher Art mehr an Frankreich zu richten
habe. Damit seien alle Voraussetzungen geschaffen, die die Gewähr
für eine friedliche Entwicklung in sich schlössen. Die eben erwähnten
Erklärungen seien in voller Öffentlichkeit abgegeben worden. Deutsch-
land habe damit selbst vor aller Welt die Gründe zerstört, die in einem
Teil der öffentlichen Meinung der Welt als Grundlage der deutschen
Rcvanchelust betrachtet worden seien. Dieser deutsche Beitrag zur
europäischen Befriedung sei im Verhältnis zu dem, was andere Nationen
nach anderen Kriegen geleistet hätten, größer und bedeutungsvoller.
Deutschland hat niemals die im Vertrag von Versailles zum Aus-
druck kommende Auffassung einer eigentümlichen politischen Moral
angenommen. Zwar hat sich Deutschland mit dem durch den Vertrag
geschaffenen tatsächlichen Zustand abfinden müssen. Es lehnt aber
nach wie vor die Bestimmungen des Vertrages ab, die durch die Diskri-
minierung und ungleiche Behandlung Deutschlands bis jetxt nur
eine Quelle der Beunruhigung gewesen sind. Das deutsche Volk habe
Jahr für Jahr auf eine Einkehr zu einer besseren Einsicht gewartet.
Statt dessen seien bei fast allen unseren Nachbarn größere Rüstungen
festzustellen. Besonders zwei Ereignisse erfüllten uns mit Sorge. ?.u-
nächst die Tatsache, daß unsere Vorschläge auf dem Gebiet der Ab-
rüstung abgelehnt worden seien, und dann die Tatsache, daß die labilen
politischen Verhältnisse in Frankreich einen häufigen Wechsel von
Regierungen zur Folge hätten, die ihre innere Schwäche durch außen-
politische Erfolge auszugleichen suchten. Der Völkerbund habe Deutsch-
land das Gefühl der Sicherheit nicht gegeben. Deutschland könne aber
nicht darauf warten. Dies solle nicht bedeuten, daß Deutschland jede
Zusammenarbeit mit anderen Nationen ablehne. Dagegen sehe Deutsch-
land in dem heutigen System, Kollektivpakte zu schließen, über
deren Tragweite sich einzelne Teilnehmer gar nicht im klaren sein
könnten, eine große Gefahr für den Frieden Europas.
13] Das Jahr 1935 49
Der Führer und Reichskanzler erläuterte diesen Gedanken an
dem Beispiel des Ausbruchs der Feindseligkeiten zwischen Rußland
und Polen.
Deutschland sei jederzeit bereit, eine Rustungsvereinbarung mit
England abzuschließen. Auf maritimem Gebiet habe Deutschland
keinerlei Ehrgeiz, mit England in Wettbewerb zu treten. Es sei daher
bereit, sich in einer derartigen Vereinbarung auf etwa 35 Prozent der
englischen Flottenrüstung zu beschränken. Selbstverständlich verlange
Deutschland die Gleichberechtigung in der Luft, sei aber jederzeit zu
einem Abkommen mit England über die Parität der Luftrüstung im
Verhältnis zur stärksten kontinentalen Luftmacht bereit. Die deutsche
Rüstung zu Lande würde für England niemals eine Bedrohung sein.
Das bisherige Verfahren, um zu einer Rüstungsvereinbarung zu
gelangen, sei völlig hoffnungs- und aussichtslos. Es handele sich jetzt
darum, einen Kristallisationspunkt zu finden, von dem eine neue
Initiative ausgehen könne. Diese sähe er in einer Rüstungsvereinbarung,
die zunächst zwischen England und Deutschland geschlossen würde.
Lord Allen bemerkte zu diesen Äußerungen, die der Führer und
Reichskanzler selbst nicht als Vorschläge, sondern als politische Ge-
danken bezeichnete, daß England zweifellos nicht davon abgehen
könne, sich mit den anderen Nationen zu beraten, bevor es eine der-
artige Rüstungsvereinbarung mit Deutschland abschließe.
Der Führer und Reichskanzler erwiderte, daß eine solche Kon-
sultation wenig Erfolg haben würde, da die anderen Nationen eben
nicht bereit seien, von ihrem Rüstungsstand abzugehen.
Auf die Frage Lord Aliens, ob die deutsch-englische Rüstungs-
vereinbarung etwa auch die Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfe-
leistung einschließen könnte, erwiderte der Führer und Reichskanzler,
daß dies keinesfalls in Frage käme. Die Vereinbarung solle lediglich
die Begrenzung der Bewaffnung zum Ziele haben. Ihr Zweck sei, einen
allgemeinen Wettlauf in der europäischen Aufrüstung zu verhindern.
Die Folge eines solchen Abkommens würde voraussichtlich zunächst
sein, daß Italien sich der Vereinbarung anschließe. In dieser Lage
würde auch Frankreich schließlich nichts anderes übrigbleiben, als
sich zu fügen.
Lord Allen betonte noch einmal den Wunsch zur Verständigung
mit Deutschland. Gleichzeitig habe aber die englische Regierung ein
großes Interesse an regelmäßiger Zusammenarbeit mit anderen Na-
tionen. Der Reichskanzler habe in der letzten Zeit wiederholt den An-
spruch auf Gleichberechtigung öffentlich formuliert. Er, Lord Allen,
glaube, daß die englische öffentliche Meinung und damit gleichzeitig
die englische Regierung vorteilhaft darauf reagieren würden, wenn der
Reichskanzler bei einer sich bietenden Gelegenheit eine Erklärung
abgebe, in der er sich sowohl zur Zusammenarbeit mit Europa bereit
erkläre als auch seine Stellungnahme dazu präzisieren würde, wie
Deutschland sich verhalten werde, wenn ihm die Gleichberechtigung
gewährt worden sei.
Der Führer und Reichskanzler entgegnete hierauf, daß es für ihn
Deutschland-England 4
W Deutschland - Engbind [13
nicht leicht sei, eine solche Erklärung abzugeben, da Deutschland seit
Dezember 1932 schlechte Erfahrungen gemacht habe. Die französische
Presse fange schon jetzt an, Bedingungen an die Gewährung der
Gleichberechtigung zu knüpfen. Auf derartige Bedingungen werde
sich Deutschland niemals einlassen. Teil V des Vertrages von Versailles
müsse ein für allemal gelöscht werden. Deutschland würde aber niemals
zustimmen, daß an die Stelle dieses Abschnitts des Friedensvertrags
ein neues Statut träte, durch das Deutschland neue Bedingungen auf-
erlegt würden. Was Deutschland freiwillig unterschreibe, werde es
auch stets halten. Sobald er darüber Gewißheit habe, daß ein derartiges
neues Statut nicht beabsichtigt sei, werde er auch zu der von Lord
Allen als erwünscht bezeichneten Erklänmg bereit sein.
(AuH rlon Akten den Aimwfirtigen Amtes.)
An der Jahreswende 1934I3S ließ sich Englands Poliiik Deuiscidand
gegenüber etwa dahin charakterisieren: England erstrebte Deutschlands
Einordnung in ein festes System, das Deutschland der Möglichkeit unlielh-
samen selbständigen Vorgehens berauben sollte. Es sollte durch Beitritt
zu entsprevlienden Pakten und Abmachungen einen Beweis seines Friedens-
willens geben. Der Ostpakt, die lUickkehr in den Völkerbund und auch die
Abrüstungs frage wurden in diesem Zusammenhang wieder erörtert. Die
letztere hatte Baldwin durch eine Bede im Unterhaus vom 28, Noveml^er
1934 neuerdings angeregt. Er nannte zwar die deutschen Büstungen die
wichtigste Quelle der Beunruhigung; sie seien aber nun einmal eine Tal-
sache, und es sei notwendig, Ktarlieit über Deutschlands Absichten und
Pläne zu erhalten, Xu diesem Zn^cke müßten die Verhandtungen zwischen
den Mächten wietler aufgenommen werden.
Man konnte also auch in Engtand nicht länger umhin, den deutschen
Standpunkt anzuerkennen : Abschnitt V des Versailler Vertrags war M^
eine neue Begelung unter Wahrung der iHillcn Gleichbcrechligung Deutsch-
lands mußte an seine Stelle treten.
Im Januar 1935 kamen englisch-französische Besprechungen wieder
in Gang und führten zu der Londoner Erklärung vom 3, Februar 1935,
Eine allgemeine Begelung der Büstungsfrage wurde ins Auge gefaßt. Aber
gemäß der französischen These wurde auch der .X^rganisalion der Sicher-
heit gedacht und dabei an den Ostpakt erinnert, Deutschland soltle ferner
in den Völkerbund zurückkehren. Endlich wurde ron der Möglichkeit
eines Lufipaktes ztvischen Deutschland, England, Frankreich, Belgien
und Italien, den fünf Locarno- Partnern, gesprochen. Auch diesmal kam
der Führer den andern entgegen. Im Interesse des Friedens iiH>Ute Deutsch-
land gemeinsam mit den Slächten prüfen, wie sich die irefahr eines Weä-
rüstens vermeiden ließe. Es hieß in der deutschen Anttrort vom 14, Februar
793S, daß „wwr der in der britisch-französischen \'erlautbarung zum
Ausdruck kommende (reist freier } ereinharung avischen souveränen
Staaten zu dauerhaften internationalen Begelungen auf dem Gehide der
Rüstungen führen kann**. Deutschland slimmle auch einem Lufipaki zu.
Die Atmosphäre schien sich zu reinigen. Am 7.?. Januar 79S5 haue die
Saarabstimmung jenen eindeutigen deutschen Sieg gebracht, vor dem sich
14]
Das Jahr 1935
51
auch die französische Regierung loyal heugte. Nunmehr waren nach dem
Worte des Führers alle ierriiorialen Streitfragen zwischen Deutschland
und Frankreich erledigt.
Dennoch nahmen die schon in Gang gekommenen Abrüslangsüerhand-
langen eine ungünstige Wendung, Die englische Regierung, die sie an-
geregt halte, hat sie auch sabotiert. Die neue Rüslungs vorläge , die sie am
2L März 1936 im Parlament einbrachte, wurde mit einem Weißbuch be-
gründet, in dem Deutschland der Bedrohung des Weltfriedens und des
Bruchs des Versailler Vertrages bezichtigt wurde. Unter Bezug auf eine
in Deutschtand vor sich gehende Aufrüstung wurden eigene Rästungs-
Verstärkungen und ein Umbau atler englischen Streitkräfte zu Wasser, Land
und in der Luft angekündigt, Engtand hatte eine vollzogene Tatsache ge-
schaffen^ ehe es noch zu irgendwelchen Verhandlungen hatte kommen können.
Aus dem britiBchen Rüstungs-Weißbudi vom 1* März 1935
Teil III
8. Die Lage war Mitte vorigen Sommers wie folgt:
(1) Die Abrüstungskonferenz war dem Wesen nach zum Stillstand
gekommen. Es war offensichtlich, daß weitere Verbandlungen durch
die Tatsache gehemmt werden würden, daß Deutschland nicht nur
entgegen den Bestimmungen des Teils V des Versailler Vertrages offen
in großem Maßslab aufrüstete, sondern auch seinen Austritt aus dem
Völkerbund und der Abrüstungskonferenz erklärt hatte. Auch Japan
hatte seinen Austritt aus dem Völkerbund erklärt. Alle größeren
Mächte, außer dem Vereinigten Königreich, vermehrten ihre Rüstungen.
(2) Ins einzelne gehende, sorgfältige Untersuchungen wurden
über die ernsten Mängel unserer Verteidigungsstreitkräfte und -mittel
angestellt. Es wurde festgestellt, daß Land und Empire sich nicht mehr
in einem angemessenen Verteidigungszustande befänden» wenn nicht
ein Programm in Angriff genommen würde, das sie neu ordnete und
modernisierte. Sollte daher trotz aller unserer Bemühungen, Frieden
zu halten, ein gegen uns gerichteter Angriff stattfinden, so würden
wir nicht in der Lage sein» unsere Seeverkehrswege, die Ernährung
unserer Bevölkerung oder die Verteidigung unserer wichtigsten Städte
und ihrer Einwohner gegen Luftangriffe zu sichern. Überdies liegt
der große Wert des Vertrages von Locarno für unser Land in seiner
abschreckenden Wirkung auf etwaige Angreifer, Diese wird aber wesenl-
lieh abgeschwächt durch die von allen Signataren geteilte Erkenntnis,
daß, falls unsere Verpflichtung klar ist, unsere Mitwirkung doch nur
wenig entscheidende Wirkung haben kann. Die gleiche Erwägung
würde natürlich auch auf jedes andere System gemeinsamer Sicherheit
anzuwenden sein, dem wir angehören würden.
9. Unter obigen Umständen war sich die Regierung Seiner Majestät
bewußt, daß sie ihrer Verantwortung nicht gerecht werden würde,
wenn sie, bei uneingeschränkter Fortführung ihrer Bemühungen um
54 Deutschland - England [15
Folgendes waren die von dieser Kommission bestätigten Arbeiten
der Zerstörung der deutschen Wehrkraft und ihrer Mittel:
A. Heer
59 897 Geschütze und Rohre
130 558 Maschinengewehre
31 470 Minenwerfer und Rohre
6 007 000 Gewehre und Karabiner
243 937MG.-Läufe
28 001 Lafetten
4 390 MW.-Lafetten
38 750 000 Geschosse
16 550 000 Hand- und Gewehrgranaten
60 400 000 scharfe Zünder
491 000 000 Handwaffenmunition
335 000 t Geschoßhülsen
23 515 t Kartusch- und Patronenhülsen
37 600 t Pulver
79 500 Munitionsleeren
212 000 Femsprecher
1 072 Flammenwerfer
31 Panzerzüge
59 Tanks
1 762 Beob.-Wagen
8 982 drahtlose Stationen .
1 240 Feldbäckereien
2 199 Pontons
981,7 t Ausrüstungsstücke für Soldaten und
8 230 350 Satz Ausrüstungsstücke für Soldaten
7 300 Pistolen und Revolver
180 MG.-Schlitten
21 fahrbare Werkstätten
12 Flakgeschützwagen
11 Protzen
64 000 Stahlhelme
174 000 Gasmasken
2 500 Maschinen der ehem. Kriegsindustrie
8 000 Gewehrläufe.
B. Luft
15 714 Jagd- und Bombenflugzeuge
27 757 Flugzeugmotoren.
C. Marine
Zerstörtes^ abgewracktes, versenktes oder ausgeliefertes Kriegs-
■ehiffmaterial der Marine:
26 Großkampfschiffe
4 Küstenpanzer
15] Das Jahr 1935 ^
4 Panzerkreuzer
19 Kleine Kreuzer
21 Schul- und Spezialschiffe
83 Torpedoboote
315 U-Boote.
Bemerkungen zu A und B
Femer unterlagen der Zerstörungspflicht: Fahrzeuge aller Art,
Gaskampf- und zum Teil Gasschutzmittel, Treib- und Sprengmittel,
Scheinwerfer, Visiereinrichtungen, Entfernungs- und Schallmeßgeräte,
optische Geräte aller Art, Pferdegeschirr, Schmalspurgerät, Feld-
druckereien, Feldküchen, Werkstätten, Hieb- und Stichwaffen, Stahl-
helme, Munitionstransportmaterial, Normal- und Spezialmaschinen
der Kriegsindustrie sowie Einspannvorrichtungen, Zeichnungen dazu,
Flugzeug- und Luftschiffhalien usw.
Nach dieser geschichtlich beispiellosen Erfüllung eines Vertrages
hatte das deutsche Volk ein Anrecht, die Einlösung der eingegangenen
Verpflichtungen auch von der anderen Seite zu erwarten.
Denn:
1. Deutschland hatte abgerüstet.
2. Im Friedensvertrag war ausdrücklich gefordert worden, daß
Deutschland abgerüstet werden müsse, um damit die Voraus-
setzung für eine allgemeine Abrüstung zu schaffen, d. h. es war
damit behauptet, daß nur in Deutschlands Rüstung allein die
Begründung für die Rüstung der anderen Länder läge.
3. Das deutsche Volk war sowohl in seinen Regierungen als auch
in seinen Parteien damals von einer Gesinnung erfüllt, die den
pazifistisch-demokratischen Idealen des Völkerbundes und seiner
Gründer restlos entsprach. Während aber Deutschland als die
eine Seite der Vertragschließenden seine Verpflichtungen er-
füllt hatte, unterblieb die Einlösung der Verpflichtung der
zweiten Vertragsseite. Das heißt: Die Hohen Vertragschließen-
den der ehemaligen Siegerstaaten haben sich einseitig von den
Verpflichtungen des Versailler Vertrages gelöst!
Allein nicht genügend, daß jede Abrüstung in einem irgendwie
mit der deutschen Waffenzerstörung vergleichbaren Maße unterblieb,
nein: es trat nicht einmal ein Stillstand der Rüstungen ein, ja im
Gegenteil, es wurde endlich die Aufrüstung einer ganzen Reihe von
Staaten offensichtlich. Was im Kriege an neuen Zerstörungsmaschinen
erfunden wurde, erhielt nunmehr im Frieden in methodisch-wissen-
schaftlicher Arbeit die letzte Vollendung. Auf dem Gebiet der Schaffung
mächtiger Landpanzer sowohl als neuer Kampf- und Bomben-
maschinen fanden ununterbrochene und schreckliche Verbesserungen
statt. Neue Riesengeschütze wurden konstruiert, neue Spreng-, Brand-
und Gasbomben entwickelt.
Die Welt aber hallte seitdem wider von Kriegsgeschrei, als ob
niemals ein Weltkrieg gewesen und ein Versailler Vertrag geschlossen
worden wäre.
56 DeuUchland - England [15
Inmitten dieser hochgerüsteten und sich immer mehr der modern-
sten motorisierten Kräfte bedienenden Kriegsstaaten war Deutschland
ein machtmäßig leerer Raum, jeder Drohung und jeder Bedrohung
Jedes einzelnen wehrlos ausgeliefert. Das deutsche Volk erinnert sich
des Unglücks und Leides von fünfzehn Jahren wirtschaftlicher Ver-
elendung, politischer und moralischer Demütigung.
Es war daher verständlich, wenn Deutschland laut auf die Ein-
lösung des Versprechens auf Abrüstung der anderen Staaten zu drängen
begann. Denn dieses ist klar:
Einen hundertjährigen Frieden würde die Welt nicht nur ertragen,
sondern er müßte ihr von unermeßlichem Segen sein. Eine hundert-
jährige Zerreißung in Sieger und Besiegte aber erträgt sie nicht.
Die Empfindung über die moralische Berechtigung und Notwen-
digkeit einer internationalen Abrüstung war aber nicht nur in Deutsch-
land, sondern auch innerhalb vieler anderer Völker lebendig. Aus dem
Drängen dieser Kräfte entstanden die Versuche, auf dem Wege von
Konferenzen eine Rüstungsverminderung und damit eine internatio-
nale allgemeine Angleichung auf niederem Niveau in die Wege leiten
zu wollen.
So entstanden die ersten Vorschläge internationaler Rüstungs-
abkommen, von denen wir als bedeutungsvollen den Plan MacDonalds
in Erinnerung haben.
Deutschland war bereit, diesen Plan anzunehmen und zur Grund-
lage von abzuschließenden Vereinbarungen zu machen.
Er scheiterte an der Ablehnung durch andere Staaten und wurde
endlich preisgegeben. Da unter solchen Umständen die dem deutschen
Volke und Reiche in der Dezember-Erklärung 1932 feierlich zugesicherte
Gleichberechtigung keine Verwirklichung fand, sah sich die neue
Deutsche Reichsregierung als Wahrerinder Ehre und der Lehens-
rechte des deutschen Volkes außerstande, noch weiterhin an solchen
Konferenzen teilzunehmen oder dem Völkerbund anzugehören.
Allein auch nach dem Verlassen Genfs war die Deutsche Regierung
dennoch bereit, nicht nur Vorschläge anderer Staaten zu überprüfen,
sondern auch eigene praktische Vorschläge zu machen. Sie übernahm
dabei die von den anderen Staaten selbst geprägte Auffassung, daß
die Schaffung kurzdienender Armeen für die Zwecke des Angriffs
ungeeignet und damit für die friedliche Verteidigung anzuempfehlen sei.
Sie war daher bereit, die langdienende Reichswehr nach dem
Wunsche der anderen Staaten in eine kurzdienende Armee zu verwan-
deln. Ihre Vorschläge vom Winter 1933/34 waren praktische und
durchführbare. Ihre Ablehnung sowohl als die endgültige Ablehnung
der ähnlich gedachten italienischen und englischen Entwürfe ließen
aber darauf schließen, daß die Geneigtheit zu einer nachträglichen
sinngemäßen Erfüllung der Versailler Abrüstungsbestimmungen auf
der anderen Seite der Vertragspartner nicht mehr bestand.
Unter diesen Umständen sah sich die Deutsche Regierung ver-
anlaßt, von sich aus jene notwendigen Maßnahmen zu treffen, die eine
Beendigung des ebenso unwürdigen wie letzten Endes bedrohlichen
16] Das Jahr 1935 57
Zustandes der ohnmfichtigen Wehrlosigkeit eines großen Volkes und
Reiches gewährleisten konnten.
Sie ging dabei von denselben Erwägungen aus, denen Minister
Baldwin in seiner letzten Rede so wahren Ausdruck verlieh:
„Ein Land, das nicht gewillt ist, die notwendigen Vorsichtsmaß-
nahmen zu seiner eigenen Verteidigung zu ergreifen, wird niemals
Macht in dieser Welt haben, weder moralische noch materielle Macht."
Die Regierung des heutigen Deutschen Reiches aber wünscht nur
eine einzige moralische und materielle Macht; es ist die Macht, für
das Reich und damit wohl auch für ganz Europa den Frieden wahren
zu können !
Sie hat daher auch weiterhin getan, was in ihren Kräften stand
und zur Förderung des Friedens dienen konnte:
1. Sie hat all ihren Nachbarstaaten schon vor langer Frist den
Abschluß von Nichtangriffspakten angetragen.
2. Sie hat mit ihrem östlichen Nachbarstaat eine vertragliche Rege-
lung gesucht und gefunden, die dank des großen entgegenkommenden
Verständnisses, wie sie hofft, für immer die bedrohliche Atmosphäre,
die sie bei ihrer Machtübernahme vorfand, entgiftet hat und zu einer
dauernden Verständigung und Freundschaft der beiden Völker führen
wird.
3. Sie hat endlich Frankreich die feierliche Versicherung gegeben,
daß Deutschland nach der erfolgten Regelung der Saarfrage nunmehr
keine territorialen Forderungen mehr an Frankreich stellen oder er-
heben wird. Sie glaubt damit, in einer geschichtlich seltenen Form die
Voraussetzung für die Beendigung eines jahrhundertelangen Streites
zwischen zwei großen Nationen durch ein schweres politisches und
sachliches Opfer geschaffen zu haben.
Die Deutsche Regierung muß aber zu ihrem Bedauern ersehen,
daß seit Monaten eine sich fortgesetzt steigernde Aufrüstung der
übrigen Welt stattfindet. Sie sieht in der Schaffung einer sowjet-
russischen Armee von 101 Divisionen, d. h. 960 000 Mann zugegebener
Friedenspräsenzstärke, ein Element, das bei der Abfassung des Ver-
sailler Vertrages nicht geahnt werden konnte.
Sie sieht in der Forcierung ähnlicher Maßnahmen in anderen
Staaten weitere Beweise der Ablehnung der seinerzeit proklamierten
Abrüstungsidee. Es liegt der Deutschen Regierung fern, gegen irgend-
einen Staat einen Vorwurf erheben zu wollen. Allein, sie muß heute
feststellen, daß durch die nunmehr beschlossene Einführung der
zweijährigen Dienstzeit in Frankreich die gedanklichen Grundlagen
der Schaffung kurzdienender Verteidigungsarmeen zugunsten einer
langdienenden Organisation aufgegeben worden sind.
Dies war aber mit ein Argument für die seinerzeit von Deutsch-
land geforderte Preisgabe seiner Reichswehr!
Die Deutsche Regierung empfindet es unter diesen Umständen als
eine Unmöglichkeit, die für die Sicherheit des Reiches notwendigen
Maßnahmen noch länger auszusetzen oder gar vor der Kenntnis der
Mitwell zu verbergen.
58
DeuUchlaDd • En^rland
U6
Wenn sie daher dem in der Rede des englischen Ministers Baldwin
am 28. Noveraber 1934 ausgesprochenen Wunsch nach einer Auf-
hellung der deutschen Absichten nunmehr entspricht, dann geschieht es:
1. um dem deutschen Volk die Überzeugung und den anderen
Staaten die Kenntnis zu geben, daB die Wahrung der Ehre und Sicher-
heit des Deutschen Reiches von jetzt ab wieder der eigenen Kraft der
Deutschen Nation anvertraut wird;
2* aber, um durch die Fixierung des Umfanges der deutschen
Maßnahmen jene Behauptungen zu entkräften, die dem deutschen
Volke das Streben nach einer militärischen Hegemoniestellung in
Europa unterschieben wollen.
Was die Deutsche Regierung als Wahrerin der Ehre und der
Interessen der Deutschen Nation wünscht, ist, das AusmaO jener Macht-
mittel sicherzustellen, die nicht nur für die Erhaltung der Integritsit
des Deutschen Reiches» sondern auch für die internationale Respek-
tierung und Bewertung Deutschlands als eines Mitgaranten des allge-
meinen Friedens erforderlich sind.
Denn in dieser Stunde erneuert die Deutsche Regierung vor dem
deutschen Volk und vor der ganzen Welt die Versicherung ihrer Ent-
schlossenheit, über die Wahrung der deutschen Ehre und der Freiheit
des Reiches nie hinausgehen und insbesondere in der nationalen deut-.
sehen Aufrüstung kein Instrument kriegerischen Angriffs, vielmehr*
ausschließlich der Verteidigung und damit der Erhaltung des Friedens
bilden zu w^ollen.
Die Deutsche Reichsregierung drückt dabei die zuversichtliche
Hoffnung aus, daß es dem damit wieder zu seiner Ehre zurückfindenden
deutschen Volke in unabhängiger gleicher Berechtigung vergönnt sein
möge, seinen Beitrag zu leisten zur Befriedung der Welt in einer
freien und offenen Zusammenarbeit mit den anderen Nationen und
ihren Regierungen.
{Raichsgesetiblatt, 1935, Teil 1. Nr. 28.)
Mit ruhiger Entschlossenheii hat der Führer das deutsche Votk durch
die internationale Krise gesteuert, die der deutsche Schritt vom 16, März
1936 zur Foige hatte. Die Mächte erhoben Einspruch, jedoch kam es nicht
zu einem gemeinsamen Schritt, Auch hier ging England wieder voran,
1 6. Protestnote der britischen Regierung vom 18. März 1935 gegen die
Einführung der Wehrpflicht
1. Ich beehre mich, Ihnen im Auftrage des Königlichen Staats-
sekretärs für Auswärtige Angelegenheiten mitzuteilen, daß sich die
Königliche Regierung in dem Vereinigten Königreich genötigt sieht,
der Deutschen Regierung ihren Protest gegen die von ihr am 16. März
verkündete Entscheidung zu übermitteln, die allgemeine Wehrpflicht
einzuführen und den Friedensrahmen des deutschen Heeres auf 36 Divi-
sionen zu erhöhen. Nach der Bekanntgabe über eine deutsche Luft-
1^ Das Jahr 1935 59
macht ist eine solche Erklärung ein weiteres Beispiel für eine einseitige
Aktion, die, ganz abgesehen von der grundsätzlichen Seite der Frage,
geeignet ist, die Unruhe in Europa in ernster Weise zu erhöhen. Der
Vorschlag einer englisch-deutschen Zusammenkunft, die in einer Woche
stattfinden sollte, ergab sich aus dem Inhalt der englisch-französischen
Mitteilung vom 3. Februar und der deutschen Antwort vom 14. Februar,
die durch weitere Besprechungen zwischen der Königlichen Regierung
und der Deutschen Regierung ergänzt worden sind. Die Königliche
Regierung hält es für notwendig, auf den Inhalt dieses Dokumentes
besonders hinzuweisen.
2. Die Londoner Mitteilung vom 3. Februar stellte einerseits fest,
daß vertraglich begrenzte Rüstungen nicht durch einseitige Aktion ab-
geändert werden können, erklärte aber andererseits, daß die Britische
und die Französische Regierung zu einer allgemeinen Regelung geneigt
seien, über die zwischen Deutschland und den anderen dächten frei
verhandelt werden solle. Diese allgemeine Regelung sollte über die
Organisation der Sicherheit in Europa nach den in der Mitteilung an-
gegebenen Richtlinien Bestimmungen treffen und gleichzeitig Rüstungs-
vereinbarungen festlegen, die für Deutschland die einschlägigen Be-
stimmungen des Teiles V des Versailler Vertrages ersetzen sollten.
Die Mitteilung führte weiter aus, es sei als Teil der ins Auge gefaßten
allgemeinen Regelung anzusehen, daß Deutschland seine aktive Mit-
gliedschaft im Völkerbund wieder aufnehme, und skizzierte schließlich
den Inhalt eines Luftpaktes zwischen den Locarnomächten, der als
Abschreckungsmittel gegen Angriffe wirken und Sicherheit vor plötz-
lichen Luftüber fällen gewährleisten sollte.
3. Die Antwort der Deutschen Regierung zehn Tage später be-
grüßte den Geist freundschaftlichen Vertrauens, den die englisch-
französische Mitteilung zum Ausdruck brachte, und stellte in Aussicht,
daß die Deutsche Regierung die in dem ersten Teil der Londoner Mit-
teilung enthaltenen Fragen einer eingehenden Prüfung unterziehen
werde, femer die Zustimmung, daß der in der Mitteilung zum Ausdruck
gebrachte Geist freier Verhandlungen zwischen souveränen Staaten
allein zu dauerhaften internationalen Regelungen auf dem Gebiet der
Rüstungen führen könne. Im besonderen begrüßte sie den Vorschlag
über einen Luftpakt. Die deutsche Antwort endete mit der Erklärung,
daß die Deutsche Regierung es vor Eingehen auf die vorgeschlagenen
Verhandlungen für erwünscht halte, in besonderen Besprechungen mit
den in Frage kommenden Regierungen eine Anzahl von grundsätz-
lichen Vorfragen zu klären. Zu diesem Zweck lud sie die Königliche
Regierung ein, mit der Deutschen Regierung in einen unmittelbaren
Gedankenaustausch einzutreten.
4. Da die Königliche Regierung sich vergewissem wollte, daß hin-
sichtlich des Umfanges und des Zweckes der vorgeschlagenen englisch-
deutschen Unterhaltung kein Mißverständnis bestehe, richtete sie
am 2L Februar an die Deutsche Regiemng eine weitere Anfrage, auf
die diese am folgenden Tage antwortete. Das Ergebnis war eine end-
gültige Übereinstimmung zwischen den beiden Regierungen, daß der
60 Deutschland - England [16
Zweck der beabsichtigten Zusammenkunft sein sollte, die Unterhaltung
über alle in der englisch-französischen Mitteilung behandelten Fragen
ein Stück weiter zu führen. Auf dieser Basis hat sich die Königliche
Regierung darauf vorbereitet, den von der Deutschen Regierung vor-
geschlagenen Besuch in Berlin auszuführen.
5. Was ins Auge gefaßt war, waren also „eine allgemeine, frei
zwischen Deutschland und den anderen Mächten zu treffende Rege-
lung" und „Vereinbarungen über Rüstungen, die für Deutschland die
Bestimmungen im Teil V des Versailler Vertrages ersetzen sollten".
Dies ist stets das Ziel der Politik der Königlichen Regierung gewesen,
und auf die Erreichung dieses Zieles hat sie alle Bemühungen in Genf
und sonstwo gerichtet. Aber das Zustandekommen einer umfassenden
Einigung, die auf Grund allgemeiner Übereinstimmung an die Stelle
der Vertragsbestimmungen treten soll, kann nicht erleichtert werden,
wenn man jetzt als eine bereits getroffene Entscheidung Heeres-
personalstärken bekannt gibt, die alle seither in Vorschlag gebrachten
erheblich überschreiten — überdies Stärken, die, falls sie unverändert
aufrechterhalten werden, die Einigung mit anderen ebenfalls stark be-
teiligten Mächten schwieriger, wenn nicht unmöglich machen müssen.
6. Die Königliche Regierung wünscht keineswegs, die durch den
vorbereiteten Besuch etwa geschaffene Gelegenheit, ein Einver-
nehmen zu fördern, ungenutzt vorübergehen zu lassen. Aber unter den
neugeschaffenen Umständen hält sie es vor der Ausführung dieses
Besuches für nötig, die Deutsche Regierung auf die obigen Gesichts-
punkte aufmerksam zu machen. Sie wünscht, darüber Gewißheit zu
haben, daß der Deutschen Regierung das Zustandekommen des Be-
suches mit dem Umfang und Ziel der Unterhaltung, wie früher verab-
redet, so wie es oben im Abs. 4 ausgeführt ist, noch erwünscht ist.
(E: Cmd. 4848. — D: Berber, Locarno. S. 99ff.)
Die britische Anfrage, ob die Reichsregierung zu weiteren Verhand-
lungen bereit sei, wurde bejahi. Der Außenminister Sir John Simon hat
sich auch in der Unterhausdebatle vom 21. März 1935 mit einer Ver-
wahrung begnügt. Die kriegsgefährliche Verschärfung der Lage erfolgte
durch den Schritt der französischen Regierung, die am 20. März 1935 den
Völkerbund anrief, um hier die Anklage gegen den „Vertragsbrüchigen''
zu erheben und ihn aburteilen zu lassen. Aber auf der Pariser Bespre-
chung der drei Westmächte vom 23. März 1935, auf der für den 11. April
1935 die Konferenz in Stresa beschlossen wurde, beharrte die englische
Regierung auf ihrem Entschluß, erst die Informationsreise der beiden
englischen Minister nach Berlin, die schon vor dem 16. März 1935 ver-
abredet war, durchzuführen, ehe ein weiterer Schritt erfolgte.
Am 25. und 26. März 1935 waren der englische Außenminister Sir
John Simon und der Lordsiegelbewahrer Eden in Berlin, während der
Pressesturm noch mit unverminderter Stärke weitertobte. In Gegenwart
des Führers fanden die Besprechungen statt. Nach dem am 26. März 1936
ausgegebenen Kommuniqui fanden sie in „offenster und freundschaft-
lichster Form** statt und fährten zu einer „vollständigen Klarstellung der
17] Dag Jahr 1935 61
beiderseitigen Auffcusungen'*. Die Gesamtheit der europäischen Probleme:
Abrüstung, Luftpaki, allgemeiner Konsullalivpaki, wurden besprochen.
Die Reichsregierung halle bereits in ihrem Kommuniqui vom 10, Sep-
tember 1934 den Beitritt zum Ostpakt aus naheliegenden Gründen ab-
gelehnt. Dabei blieb es. Sie war aber zu jeder Art internaiionaler Zu-
sammenarbeit bereit, die den Frieden Europas sichern und festigen
könnte. Darum sprach sie sich auch positiv für den ins Auge gefaßten
Luftpakt aus. Sir John Simon konstatierte in seiner Erklärung vor dem
Unterhause vom 28. März 1935, daß die Besprechungen „beträchtliche
Meinungsverschiedenheilen zwischen den beiden Regierungen** ergeben
kälten. In seiner Unterhausrede vom 9. April 1935 berichtete er über die
Absichten der deutschen Politik der Freiheil, Ehre und Gleichberechtigung,
in der vom 10. April 1935 über die Ansichten der europäischen Regie-
rungen, die Eden inzwischen in Moskau, Warschau und Prag festge-
sUllt halte.
Aus der Unterhausrede des britisdien AuBenministers Sir John Simon 17.
vom 9. April 1935 über das Ergebnis seiner Berliner Besprediungen
Hinsichtlich des sogenannten Ostpaktes, der zuerst von dem
verstorbenen Außenminister Barthou im vergangenen Sommer angeregt
wurde, hat Reichskanzler Hitler klar zum Ausdruck gebracht, daß
Deutschland nicht gewillt ist, einen Ostpakt zu unterzeichnen, der
Deutschland zu gegenseitiger Unterstützung verpflichten würde. Ins-
besondere ist Deutschland nicht bereit, einen Pakt zu gegenseitiger
Unterstützung mit Rußland einzugehen. Andererseits wurde erklärt,
daß Deutschland einen Nichtangriffspakt zwischen den in Osteuropa
interessierten Machten, der eine Konsultation für den Fall eines
drohenden Angriffs vorsieht, begünstigen würde. Hitler ist unter den
gegenwärtigen Umständen nicht bereit, die Einbeziehung Litauens in
irgendeinen Nichtangriffspakt in Aussicht zu nehmen. Die Deutschen
schlugen ferner vor, daß, falls trotz dieses Nichtangriffs- und Konsul-
tativpaktes Feindseligkeiten zwischen zwei vertragschließenden Mäch-
ten ausbrechen würden, die anderen vertragschließenden Mächte sich
verpflichten sollten, den Angreifer in keiner Weise zu unterstützen. In
einem anderen Zusammenhang verwies Hitler allerdings auf die Schwie-
rigkeit, den Angreifer zu bestimmen. Über seine Ansicht für den Fall
befragt, daß irgendwelche Unterzeichner eines solchen Nichtangriffs-
paktes untereinander ein Abkommen über gegenseitige Unterstützung
abschließen, erklärte der Reichskanzler, daß er diesen Gedanken für
gefährlich und anfechtbar halte, da er nach seiner Meinung darauf
hinauslaufe, Sonderinteressen einer Gruppe im Rahmen des weiteren
Systems zu schaffen . . .
Was den Gedanken eines mitteleuropäischen Paktes angeht, der
auf der französisch-italienischen Zusammenkunft in Rom näher be-
sprochen worden ist, hörten wir in Berlin, daß die deutsche Regierung
den Gedanken eines solchen Abkommens nicht grundsätzlich ablehnt,
62
Deutschland - England
[17
aber seine Notwendigkeit nicht einsieht und eine große Schwierigkeit
in der Bestimmung des Begriffs „Nichteinmischung** in bezug auf
Österreich erblickt. Hitler gab jedoch zu verstehen, daß für den Fall,
daß die anderen Regierungen einen mitteleuropäischen Pakt abzu-
schließen wünschten und sich auf einen Wortlaut einigen könnten, die
deutsche Regierung diesen in Erwägung ziehen würde . . .
Hinsichtlich der Landrüstungen stellte Reichskanzler Hitler fest,
daß Deutschland 36 Divisionen benötige, die eine Höchstzahl von
550 000 Soldaten aller Waffengattungen einschließlich einer DivisioE
SS und militarisierter Polizeitruppen darstellten. Er versicherte, daß
es in Deutschland keine halbmilitärischen Verbände gäbe. Deutsch-
land, so erklärte er, beanspruche, über alle Waffen typen zu verfügen,
die andere Länder besitzen, und sei nicht bereit, auf den Bau gewisser
Typen zu verziehten, solange andere Länder sie ebenfalls besitzen.
Falls andere Länder gewisse Typen aufgeben, so würde Deutschland
das gleiche tun. Hinsichtlich der Seerüstungen beanspruche Deutsch-
land unter gewissen Vorbehalten 35% der britischen Tonnage und in
der Luft Gleichheit mit England und Frankreich, vorausgesetzt, daß
sich die sowjetrussischen Luftstreitkräfte nicht derart entwickelten,
daß eine Überprüfung dieses Verhältnisses notwendig werde. Wenn
irgendein allgemeines Abkommen über die Begrenzung der Rüstungen
erreicht werden könnte, wäre Deutschland bereit, ein System dauernder
und automatischer Überwachung anzunehmen und ins Werk zu setzen
unter der Voraussetzung, daß eine solche Überwachung in gleicher
Weise für alle Mächte Anwendung findet. Hitler erklärte, daß die
deutsche Regierung dem in der Londoner Vereinbarung enthaltenen ,
Vorschlag eines Luftpaktes zwischen den Locarnoraächten günstig "
gegenüberstehe.
In der Frage des Völkerbundes berief sich Hitler auf seine im Mai
1933 abgegebene Versicherung, daß Deutschland im Völkerbund nicht
weiter mitarbeiten würde, falls es weiter als das behandelt würde, was
er als Land minderen Rechts bezeichnete, und er machte beispiels-
weise geltend, daß sich Deutschland in einer untergeordneten Stellung
befinde, wenn es keine Kolonien besitzt.
(E: Paräamenlary Debatcs, House of Commons. Bd. 300» Sp, 984 ff, — D;^
Hamburger Monatshefte für Auswärtige Politik, Mai 1935, S. 8 f.)
Auf die Konferenz nach Stresa, die am IL April 1935 begann,
gingen die Mächte keineswegs ah eine geschlossene Fronl mit einheit-
lichem Willen. Am 14. April kam ihre Schlußresolulion heraus.
Wiederum wurden der Osipakl, die österreichische Frage, der Luftpakt
für Westeuropa^ die Ahrüstung, Locarno, aber auch so revisionislische
Fragen wie der Abrüstungssland Ungarns^ Österreichs und der Türkei
erörtert. Die Siresamächie bekundeten ihre völlige Einigkeil, ,,stcA mit
allen geeigneten M titeln jeder einseiligen Aufkündigung von Verträgen
zu widersetzen''. Eingehend hat man sich daneben mit den Fragen einer
Friedenssicherung in Osteuropa beschäftigt. Hier war seit Monaten die
französische Außenpolitik sehr aküv. Im September 1934 war die Sowjet-
18] Das Jahr 1935 63
Union in den Völkerbund geholif am 5. Dezember 1934 das französisch-
russische Protokoll^ der Vorläufer des Pakles vom 2. Mai 1935, unler-
xeichnei worden. Die französisch-russische Entente sollte das Ruckgrat
des künftigen Ostpaktes bilden, zugleich aber sollte sie auch die Achse der
europäischen Paktpolitik werden. In deren Netze suchte man Deutschland
zu verstricken. Simon teilte in Slresa die Auffassung des Führers zum
Ostpakt mit. Die deutsche Reichsregierung präzisierte ihren Standpunkt
noch einmal in einem Kommunique vom 15. April 1935. Sie nahm grund-
sätzlich zum ganzen Paktsystem Stellung und sprach sich für bilaterale
Pakie, wie den mit Polen vom 26. Januar 1934, und gegen automalische
militärische Beistandsverpflichtungen aus. Die Unterstützungspakte
waren nach deutscher Ansicht mehr ein Element der Friedensstörung als
ein solches der Friedenssicherung, die Unteilbarkeit des Friedens mehr
die Unteilbarkeit eines ausbrechenden Krieges.
Aus den Besdilüssen der Konferenz von Stresa vom 14. April 1935 18.
2. Die Auskünfte, die sie erhalten haben, haben sie in der Absicht
bestärkt, daß die Verhandlungen hinsichtlich der Entwicklung fort-
gesetzt werden sollen, welche bezüglich der Sicherheit in Osteuropa
erstrebt wird.
3. Die Vertreter der drei Regierungen prüften von neuem die
österreichische Lage; sie bestätigten die englisch-französisch-italieni-
schen Erklärungen vom 17. Februar und 27. September 1934, durch
die die drei Regierungen anerkannten, daß die Notwendigkeit, die Un-
abhängigkeit und Unversehrtheit Österreichs aufrechtzuerhalten, auch
weiterhin ihre gemeinsame Politik bestimmen werde. Hinsichtlich des
französisch-italienischen Protokolls vom 7. Januar 1935 und der eng-
lisch-französischen Vereinbarung vom 3. Februar 1935, in welchen
die Absicht bekräftigt wurde, sich gemeinsam über die Maßnahmen
zu beraten, die im Falle der Bedrohung der Unversehrtheit und Un-
abhängigkeit Österreichs ergriffen werden müssen, kamen sie überein
zu empfehlen, daß Vertreter aller im römischen Protokoll genannten
Regierungen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zusammenkommen
sollen, um die mitteleuropäische Vereinbarung abzuschließen.
4. Hinsichtlich des vorgeschlagenen Luftpaktes für Westeuropa
bestätigten die Vertreter der drei Regierungen die Grundsätze und das
einzuschlagende Verfahren, wie sie in der Vereinbarung vom 3. Fe-
bruar vorgesehen sind, und sie kamen überein, das Studium dieser
Frage wirksam fortzusetzen mit der Absicht, einen Pakt zwischen den
fünf in der Londoner Vereinbarung genannten Mächten sowie alle
zweiseitigen Abkommen abzuschließen, die ihn begleiten können.
5. Indem sie sich dem Problem der Rüstungen zuwandten, haben
die Vertreter der drei Mächte daran erinnert, daß die Londoner Ver-
einbarung ein Abkommen vorsah, das frei mit Deutschland verhandelt
werden sollte, um an die Stelle der entsprechenden Bestimmungen von
Teil V des Versailler Vertrages zu treten, und sie haben das kürzliche
64 DeuUchland - England [19
Vorgehen der deutschen Regierung und den Bericht Sir John Simon's
über seine Unterredungen mit dem deutschen Reichskanzler über diese
Frage sorgfältig und besorgt erörtert.
Es wurde mit Bedauern festgestellt, daß die Methode der ein-
seitigen Aufkündigung, die von der deutschen Regierung in einem
Augenblick angewandt wurde, als Schritte eingeleitet waren, um ein in
freier Weise verhandeltes Abkommen über die Rüstungsfrage zu er-
reichen, das öffentliche Vertrauen in die Sicherheit einer friedlichen
Ordnung untergraben hat. Darüber hinaus hat das groOe Ausmaß der
verkündeten deutschen Wiederaufrüstung, deren Programm bereits
mitten in der Ausführung begriffen ist, die zahlenmäßigen Schätzungen
entwertet, auf die sich die Anstrengungen für eine Abrüstung bisher
begründeten, und die Hoffnungen erschüttert, von denen jene An-
strengungen inspiriert waren . . .
Schlußerklärung
Die drei Mächte, deren politisches Ziel die kollektive Aufrecht-
erhaltung des Friedens im Rahmen des Völkerbundes ist, sind völlig
einig in dem Bestreben, sich mit allen geeigneten Mitteln jeder einsei-
tigen Aufkündigung von Verträgen zu widersetzen, die den europäischen
Frieden gefährden könnte, und werden zu diesem Zweck in enger und
freundschaftlicher Zusammenarbeit vorgehen.
(E: Cmd 4880. — D: Hamburger Monatshefte für Auswärtige Politik, Mai
1935, S. 9f.)
Am 15. April 1935 begann der ^,Prozeß gegen die Geschichte** in
Genf. Die Resolution des Völkerbundrates vom 17. April 1935 sprach
eine Verurteilung Deutschlands aus^ das durch sein eigenmächtiges
Handeln den Versailler Vertrag gebrochen habe und die Sicherheit
Europas bedrohe. Die deutsche Regierung hat gegen diesen Versuch
einer erneuten Diskriminierung protestiert. Aber sie begnügte sich nicht
hiermit.
Die Zeichen der Zeit deuteten überall auf Sturm. Die Wolken des
Abessinischen Krieges standen drohend am Horizont. Der kommende
französisch-russische Pakt verschob alle Machtverhältnisse. Deutschlands
Wehrmacht als Mittel der europäischen Friedenssicherung war notwendiger
denn je zuvor. Nur durch einen Abbau und Beseitigung der Versailler
Nachkriegsordnung war in der Mitte Europas überhaupt der Friede auf
die Dauer zu erhalten. In dieser Situation entwickelte der Führer sein
großes Friedensprogramm vom 21. Mai 1935. Daran knüpfte die oft
schwer entwirrbare diplomatische Aktion der folgenden Monate mannig-
fach an.
19. Aus der Reidistagsrede des Führers vom 21. Mai 1935
Wenn das heutige Deutschland für den Frieden eintritt, dann
tritt es für ihn ein weder aus Schwäche noch aus Feigheit. Es tritt für
den Frieden ein aus einer anderen Vorstellung, die der National-
sozialismus von Volk und Staat besitzt. Denn dieser sieht in der macht-
19] Das Jahr 1935 65
mäßig erzwungenen Einschmelzung eines Volkes in ein anderes,
wesensfremdes, nicht nur kein erstrebenswertes politisches Ziel, son-
dern als Ergebnis eine Gefährdung der inneren Einheit und damit der
Stärke eines Volkes auf lange Zeit gerechnet. Seine Lehre lehnt daher
den Gedanken einer nationalen Assimilation dogmatisch ab. Damit
ist auch der bürgerliche Glaube einer möglichen „Germanisation"
hinfällig. Es ist daher weder unser Wunsch noch unsere Absicht,
fremden Volksteilen das Volkstum, die Sprache oder die Kultur weg-
zunehmen, um ihnen dafür eine fremde deutsche aufzuzwingen. Wir
geben keine Anweisung für die Verdeutschung nichtdeutsclier Namen
aus, im Gegenteil: wir wünschen dies nicht. Unsere volkliche Lehre
sieht daher in jedem Krieg zur Unterjochung und Beherrschung eines
fremden Volkes einen Vorgang, der früher oder später den Sieger inner-
lich verändert und schwächt und damit im Erfolge zum Besiegten
macht.
Wir glauben aber auch gar nicht daran, daß in Europa die durch
und durch national erhärteten Völker im Zeitalter des Nationalitäten-
prinzips überhaupt noch national enteignet werden könnten! Die
letzten 150 Jahre bieten hier belehrende und warnende Beispiele mehr
als genug. Die europäischen Nationalstaaten werden bei keinem
kommenden Krieg — abgesehen von vorübergehenden Schwächungen
ihrer Gegner — mehr erreichen können als geringfügige und im Ver-
hältnis zu den dargebrachten Opfern gar nicht ins Gewicht fallende
volkliche Grenzkorrekturen.
Der permanente Kriegszustand, der aber durch solche Absichten
zwischen den einzelnen Völkern aufgerichtet wird, mag verschiedenen
politischen und wirtschaftlichen Interessenten vielleicht als nützlich
erscheinen, für die Völker bringt er nur Lasten und Unglück. Das Blut,
das auf dem europäischen Kontinent seit 300 Jahren vergossen wurde,
steht außer jedem Verhältnis zu dem volklichen Resultat der Ereig-
nisse. Frankreich ist am Ende Frankreich geblieben, Deutschland
Deutschland, Polen Polen, Italien Italien usw. Was dynastischer
Egoismus, politische Leidenschaft und patriotische Verblendung an
scheinbaren tiefgreifenden staatspolitischen Veränderungen unter
Strömen von Blut erreicht haben, hat in nationaler Beziehung stets
nur die Oberfläche der Völker geritzt, ihre grundsätzliche Markierung
aber wesentlich kaum mehr verschoben. Hätten diese Staaten nur
einen Bruchteil ihrer Opfer für klügere Zwecke angesetzt, so wäre der
Erfolg sicher größer und dauerhafter gewesen.
Wenn ich als Nationalsozialist in allem Freimut diese Auffassung
vertrete, dann bewegt mich dabei noch folgende Erkenntnis: Jeder
Krieg verzehrt zunächst die Auslese der Besten. Da es in Europa aber
einen leeren Raum nicht mehr gibt, wird jeder Sieg — ohne an der
grundsätzlichen europäischen Not etwas zu ändern — höchstens eine
ziffernmäßige Vermehrung der Einwohner eines Staates mit sich
bringen können. Wenn aber den Völkern daran soviel liegt, dann können
sie dies, statt mit Tränen, auf eine einfachere und vor allem natür-
lichere Weise erreichen. Eine gesunde Sozialpolitik kann bei einer
Deutschland-England 5
€6
Deutschland - England
[19
Steigerung der Geburtenfreudigkeit einer Nation in wenigen Jahren
mehr Kinder des eigenen Volkes schenken^ als durch einen ICrieg an
fremden Menschen erobert und damit unterworfen werden könnten.
Nein! Das nationalsozialistische Deutschland will den Frieden
aus tief innersten weltanschaulichen Überzeu^ngen. Es will ihn weiter
aus der einfachen primitiven Erkenntnis, daß kein Krieg geeignet sein
w^ürde, das Wesen unserer allgemeinen europäischen Not zu belieben,
wohl aber diese zu vermehren. Das heutige Deutschland lebt in einer
gewaltigen Arbeit der Wiedergutmachung seiner inneren Schäden.
Keines unserer Projekte sachlicher Natur wird vor 10 bis 2€ Jahren
vollendet sein. Keine der gestellten Aufgaben ideeller Art kann vor
50 oder vielleicht auch 100 Jahren ihre Erfüllung finden. Ich habe einst
die nationalsozialistische Revolution durch die Schaffung der Bew^egung
begonnen und seitdem als Aktion geführt. Ich weiO, wir alle werden
nur den allerersten Beginn dieser groOen umwälzenden Entwicklung
erleben. Was könnte ich anders wünschen als Ruhe und Frieden?
Wenn man aber sagt, daß dies nur der Wunsch der Führung sei, so
muß ich darauf folgende Antwort geben: Wenn nur die Führer und
Regierenden den Frieden wollen, die Völker selbst haben sich noch nie
den Krieg gew^ünscht ! , . .
Als im Jahre 1919 der Friede von Versailles dem deutschen Volk
diktiert wurde, war der kollektiven Zusammenarbeit der Völker damit
zunächst das Todesurteil gesprochen worden. Denn an Stelle der Gleich-
heit aller trat die Klassifikation in Sieger und Besiegte. An Stelle des
gleichen Rechts die Unterscheidung in Berechtigte und Hechtlose.
An die Stelle der Versöhnung aller die Bestrafung der Unterlegenen,
An die Stelle der internationalen Abrüstung die Abrüstung der Be*
siegten. An die Stelle der Sicherheit aller trat die Sicherheit der Sieger,
Dennoch w^urde noch im Friedensdiktat von Versailles ausdrück-
lich festgestellt, daß die Abrüstung Deutschlands nur vorausgehen
soll zur Ermöglichung der Abrüstung der anderen. Und nun ist an
diesem einen Beispiel festzustellen, wie sehr die Idee der kollektiven
Zusammenarbeit gerade von denen verletzt wurde, die heute ihre
lautesten Fürsprecher sind. . .
Wenn ich von diesen allgemeinen Betrachtungen nun übergehe zu
einer präzisen Fixierung der vorliegenden aktuellen Probleme, so
komme ich zu folgender Stellungnahme der deutschen Reichsregierung.
1. Die deutsche Reichsregierung lehnt die am 17. März erfolgte
Genfer Entschließung ab. Nicht Deutschland hat den Vertrag von
Versailles einseitig gebrochen^ sondern das Diktat von Versailles wurde
in den bekannten Punkten einseitig verletzt und damit außer Kraft
gesetzt durch die Mächte, die sich nicht entschließen konnten, der von
Deutschland verlangten Abrüstung die vertraglich vorgesehene eigene
folgen zu lassen. Die durch diesen Beschluß in Genf Deutschland zu-
gefügte neue Diskriminierung macht es der deutschen Reichsregierung
unmöglich, in diese Institution zurückzukehren, ehe nicht die Voraus-
setzungen für eine wirkliche gleiche Rechtslage aller Teilnehmer ge-
schaffen ist* Zu dem Zweck erachtet es die deutsche Reichsregierung
19]
Das Jahr 1935
67
als notwendig, zwischen dem Vertrag von Versailles, der aufgebaut ist
auf der Unterscheidung der Nationen in Sieger und Besiegte, und dem
Völkerbund, der aufgebaut sein muß auf der Gleichbewertung und
Gleichberechtigung all seiner Mitglieder, eine klare Trennung herbei-
zuführen.
Diese Gleichberechtigung muß eine praktische sein und sich au!
alle Funktionen und alle Besitzrechte im internationalen Leben er-
strecken.
2. Die deutsche Reichsregierung hat infolge der Nichterfüllung der
Abrüstungsverpflichtungen durch die anderen Staaten sich ihrerseits
losgesagt von den Artikeln, die infolge der nunmehr einseitigen ver-
tragswidrigen Belastung Deutschlands eine Diskriminierung der deut-
schen Nation für unbegrenzte Zeit darstellen, Sie erklärt aber hiermit
feierlichst, daß sich diese ihre Maßnahmen ausschließlich auf die mora-
lisch und sachlich das deutsche VoSk diskriminierenden und bekannt-
gegebenen Punkte beziehen. Die deutsche Regierung wird daher die
sonstigen, das Zusammenleben der Nationen betreffenden Artikel ein-
schließlich der territorialen Bestimmungen unbedingt respektieren und
die im Wandel der Zeiten unvermeidlichen Revisionen nur auf dem
Wege einer friedlichen Verständigung durchführen.
3. Die deutsche Reicbsregierung hat die Absicht, keinen Vertrag
zu unterzeichnen^ der ihr unerfüllbar erscheint, sie wird aber jeden frei-
willig unterzeichneten Vertrags auch w^enn seine Abfassung vor ihrem
Regierungs- und Machtantritt stattfand, peinlich einhalten. Sie wird
insbesondere daher alle au3 dem Locarnopakt sich ergebenden Ver-
pflichtungen so lange halten und erfüllen, als die anderen Vertrags-
partner auch ihrerseits bereit sind, zu diesem Pakte zu stehen. Die
deutsche Reichsregierung sieht in der Respektierung der entmilitari-
sierten Zone einen für einen souveränen Staat unerhört schweren
Beitrag zur Beruhigung Europas. Sie glaubt aber darauf hinweisen
zu müssen, daß die fortgesetzten Truppenvermehrungen auf der an-
deren Seite keineswegs als eine Ergänzung dieser Bestrebungen anzu-
sehen sind.
4. Die deutsche Reichsregierung ist jederzeit bereit, sich an einem
System kollektiver Zusammenarbeit zur Sicherung des europäischen
Friedens zu beteiligen, hält es aber dann für notwendig» dem Gesetz
der ewigen Weiterentwicklung durch die Offenhaltung vertraglicher
Revisionen entgegenzukommen. Sie sieht in der Ermöglichung einer
geregelten Vertragsentwicklung ein Element der Friedenssicherung,
in dem Ahdrosseln jeder notwendigen Wandlung eine Aufstauung von
Stoffen für spätere Explosionen.
5. Die deutsche Reichsregierung ist der Auffassung, daß der Neu-
aufbau einer europäischen Zusammenarbeit sich nicht in den Formen
einseitig aufoktroyierter Bedingungen vollziehen kann. Sie glaubt, daß
es richtig ist, sich angesichts der nicht immer gleichgelagerten Inter-
essen stets mit einem Minimum zu begnügen^ statt diese Zusammen-
arbeit infolge eines unerfüllbaren Maximums an Forderungen scheitern
zu lassen, Sie ist weiter der Überzeugung, daß sich diese Verständi-
68 Deutschland - England [19
gung mit einem großen Ziel im Auge nur schrittweise vollziehen
kann.
6. Die deutsche Reichsregierung ist grundsätzlich bereit, Nicht-
angriffspakte mit ihren einzelnen Nachbarstaaten abzuschlieOen und
diese durch alle Bestimmungen zu ergänzen, die auf eine Isolierung
der Kriegführenden und eine Lokalisierung des Kriegsherdes ab-
zielen. Sie ist insbesondere bereit zur Übernahme aller Verpflichtungen,
die sich daraus für die Lieferung von Materialien und Waffen im Frie-
den oder Krieg ergeben mögen und von allen Partnern übernommen
und respektiert werden.
7. Die deutsche Reichsregierung ist bereit, zur Ergänzung des
Locarnopaktes einem Luftabkommen zuzustimmen und in seine Er-
örterung einzutreten.
8. Die deutsche Reichsregierung hat das Ausmaß des Aufbaues
der neuen deutschen Wehrmacht bekanntgegeben. Sie wird davon
unter keinen Umständen abgehen. Sie sieht weder zu Lande noch zur
Luft noch zur See in der Erfüllung ihres Programms irgendeine Be-
drohung einer anderen Nation. Sie ist aber jederzeit bereit, in ihrer
Waffenrüstung jene Begrenzung vorzunehmen, die von den anderen
Staaten ebenfalls übernommen würde. Die deutsche Reichsregierung
hat von sich aus bereits bestimmte Begrenzungen ihrer Absichten
mitgeteilt. Sie hat damit am besten ihren guten Willen gekennzeichnet,
ein unbegrenztes Wettrüsten zu vermeiden. Ihre Begrenzung der deut-
schen Luftrüstung auf den Stand einer Parität mit den einzelnen an-
deren westlichen großen Nationen ermöglicht jederzeit die Fixierung
einer oberen Zahl, die dann miteinzuhalten sich Deutschland bindend
verpflichten wird.
Die Begrenzung der deutschen Marine liegt mit 35% der englischen
mit noch 15% unter dem Gesamttonnagement der französischen
Flotte. Da in den verschiedenen Pressekommentaren die Meinung be-
sprochen wurde, daß diese Forderung nur ein Beginn sei und sich ins-
besondere mit dem Besitz von Kolonien erhöhen würde, erklärt die
deutsche Reichsregierung bindend: Diese Forderung ist für Deutsch-
land eine endgültige und bleibende.
Deutschland hat weder die Absicht noch die Notwendigkeit oder
das Vermögen, in irgendeine neue Flottenrivalität einzutreten. Die
deutsche Reichsregierung erkennt von sich aus die überragende Lebens-
wichtigkeit und damit die Berechtigung eines dominierenden Schutzes
des britischen Weltreiches zur See an, genau so wie wir umgekehrt
entschlossen sind, alles Notwendige zum Schutze unserer eigenen kon-
tinentalen Existenz und Freiheit zu veranlassen. Die deutsche Re-
gierung hat die aufrichtige Absicht, alles zu tun, um zum britischen
Volk und Staat ein Verhältnis zu finden und zu erhalten, das eine Wie-
derholung des bisher einzigen Kampfes zwischen beiden Nationen für
immer verhindern wird.
9. Die deutsche Reichsregierung ist bereit, sich an allen Bestre-
bungen aktiv zu beteiligen, die zu praktischen Begrenzungen uferloser
Rüstungen führen können. Sie sieht den einzig möglichen Weg hierzu
19]
Dos Jahr 1935
69
in einer Rückkehr zu den Gedankengängen der einstigen Genfer Kon-
vention des Roten Kreuzes. Sie glaubt zunächst nur an die Möglich-
keit einer schrittweisen Abschaffung und Verfemung von Kampf*
mitteln und Kampfmethoden, die ihrem innersten Wesen nach im
Widerspruch stehen zur bereits geltenden Genfer Konvention des
Roten Kreuzes,
Sie glaubt dabei, daß» ebenso wie die Anwendung von Dumdum-
geschossen einst verboten und im großen und ganzen damit auch
praktisch verhindert wurde, auch die Anwendung anderer bestimmter
Waffen zu verbieten und damit auch praktisch zu verhindern ist. Sie
versteht darunter alle jene Kampfwaffen, die in erster Linie weniger
den kämpfenden Soldaten als vielmehr den am Kampfe selbst un-
beteiligten Frauen und Kindern Tod und Vernichtung bringen.
Die deutsche Reichsregierung hült den Gedanken, Flugzeuge ab*
zuschaffen, aber das Bombardement offenzulassen, für irrig und un-
wirksam. Sie hält es aber für möglich, die Anwendung bestimmter
Waffen international als völkerrechtswidrig zu verbannen und die
Nationen, die sich solcher Waffen dennoch bedienen wollen, als außer-
halb der Menschheit und ihrer Rechte und Gesetze stehend zu verfemen.
Sie glaubt auch hier, daß ein schrittweises Vorgehen am ehesten
zum Erfolg führen kann. Also: Verbot des Abwerfens von Gas-,
Brand- und Sprengbomben außerhalb einer wirklichen Kampfzone,
Diese Beschränkung kann bis zur vollständigen internationalen Ver-
femung des Bombenabwurfes überhaupt fortgesetzt werden. Solange
aber der Bombenabwurf als solcher freisteht, ist jede Begrenzung der
Zahl der Bombenflugzeuge angesichts der Möglichkeit des schnellen
Ersatzes fragwürdig.
Wird der Bombenabwurf aber als solcher als völkerrechtswidrige
Barbarei gebrandmarkt, so wird der Bau von Bombenflugzeugen da-
mit bald als überflüssig und zwecklos von selbst sein Ende finden.
Wenn es einst gelang, durch die Genfer Rote-Kreuz-Konvention die
an sich mögliche Tötung des wehrlos gewordenen Verwundeten oder
Gefangenen allmählich zu verhindern, dann muß es genau so möglich sein,
durch eine analoge Konvention den Bonibenkrieg gegen die ebenfalls
wehrlose Zivilbevölkerung zu verbieten und endlich überhaupt zur
Einstellung zu bringen,
Deutschland sieht in einer solchen grundsätzlichen Anfassaug
dieses Problems eine größere Beruhigung und Sicherheit der Völker
als in allen Beistandspakten und Militärkonventionen.
10, Die deutsche Reichsregierung ist bereit, jeder Beschränkung
zuzustimmen, die zu einer Beseitigung der gerade für den Angriff
besonders geeigneten schwersten Waffen führt. Diese Waffen umfassen
erstens schwerste Artillerie und zweitens schwerste Tanks, Angesichts
der ungeheuren Befestigungen der französischen Grenze würde eine
solche internationale Beseitigung der schwersten Angriffswaffen Frank-
reich automatisch den Besitz einer geradezu hundertp^^^zentigen
Sicherheit geben.
I 11. Deutschtand erklärt sich bereit, jeder Begrenzung d laliber-
70
Deutschland * England
[19
stärken der Artillerie, der Schlachtschiffe, Kreuzer und Torpedoboote
zuzustimmen. Desgleichen ist die deutsche Reichsregierung bereit,
jede internationale Begrenzung der Schiffsgrößen zu akzeptieren. Und
endlich ist die deutsche Reichsregierung bereit, der Begrenzung des
TonneDgehalles der U-Boote oder auch ihrer vollkommenen Beseiti-
gung für den Fall einer internationalen gleichen Regelung zuzu-
stimmen.
Darüber hinaus aber gibt sie abermals die Versicherung ab, daß
sie sich überhaupt jeder internationalen und im gleichen Zeitraum wirk-
ßam werdenden Waifenbegrenzung oder Waffenbeseitigung an-
schließt.
12. Die deutsche Reichsregierung ist der Auffassung, daß alle
Versuche, durch internationale oder mehrstaatliche Vereinbarungen
eine wirksame Milderung gewisser Spannungen zwischen einzelnen
Staaten zu erreichen, vergebliche sein müssen, solange nicht durch
geeignete Maßnahmen einer Vergiftung der öffentlichen Meinung der
Völker durch unverantwortliche Elemente in Wort und Schrift, Film
und Theater erfolgreich vorgebeugt wird.
13. Die deutsche Reichsregierung ist jederzeit bereit, einer inter-
nationalen Vereinbarung zuzustimmen, die in einer wirksamen Weise
alle Versuche einer Einmischung von außen in andere Staaten unter-
bindet und unmöglich macht. Sie muß jedoch verlangen, daß eine
solche Regelung international wirksam wird und allen Staaten zugute
kommt* Da die Gefahr besteht^ daß in Ländern mit Regierungen, die
nicht vom allgemeinen Vertrauen ihres Volkes getragen sind, innere
Erhebungen von interessierter Seite nur zu leicht auf äußere Einmi-
schung zurückgeführt werden können, erscheint es notwendig, den Be-
griff ,, Einmischung'* einer genauen internationalen Definition zu unter-
ziehen.
(Verhandlungen des Reichstags. Bd. 458, S. 42, 43, 53/55.;
Schon einen Monat nach der Rede des Führers wurde Pankl 8 seines
Friedens programmes durch das deutsch-englische FloUenabkommen vom
18, Juni 1935 erfüllt, Deutschland erkannle die Lebenswichligkeit der
britischen Flotte als dominierenden Schutzes des britischen Weltreiches
an und erbrachte gleichzeitig einen Beweis schöpferischer Politik, die nur
auf der Achtung der t/eiderseitigen Lebensinieressen aufgebaut sein
konnte. Dieser praktische Erfolg auf dem Gebiete der Büstungsbeschrän-
kung war erzielt durch eine offene Aussprache and Verständigung zu
zweien. Deutschtand konnte nichl auf seine Sicherheit zur See ver ziehten,
aber es wollte die Floltenrivatität vermeiden, die vor dem Weltkriege
1914J18 den deutsch-englischen Gegensalz aufs äußerste verschärft und
unheilbar gemacht hatte. Darum sollte künftig die deutsche Flotte in einem
festen zahlenmäßigen Verhältnis zur englischen gehalten werden. Das
deutsch-englische FloUenabkommen war eine Tat, die Deutschlands und
des Führers Wunsch nach freundschafllichen Beziehungen mil England
§0 eindeutig und offenkundig wie nur irgendmöglich dokumentierte.
I
20]
Das Jahr 1935
71
DeutsdL-eogliBdies Flotten abkommen vom 18* Juni 1935
1. Schreiben de^ Staatssekretärs für Auswärtige Angelegen-
heiten Sir Samuel Hoare an den Außerordentlichen und
Bevollmächtigten Botschafter von Ribbentrop
20.
Foreign Office, den 18, Juni 1936.
Euere Exzellenz 1
L Während der letzten Tage haben die Vertreter der Regierung
des Deutschen Reiches und der Regierung Sr* Majestät im Vereinigten
Königreich Besprechungen abgehalten, deren Hauptzweck darin be-
stand, den Boden für eine allgemeine Konferenz zur Begrenzung der
Seerüstungen vorzubereiten. Ich freue mich, Euerer Exzellenz nunmehr
die formelle Annahme des Vorschlages der Regierung des Deutschen
Reiches, der in diesen Besprechungen zur Erörterung gestanden hat,
durch die Regierung Sr. Majestät im Vereinigten Königreich mitzu-
teilen» wonach die zukünftige Stirke der deutschen Flotte gegenüber
der Gesamtflottenstärke der Mitglieder des Britischen Common-
wealth im Verhältnis von 35 zu 100 stehen solJ, Die Regierung Sr.
Majestät im Vereinigten Königreich sieht diesen Vorschlag als einen
außerordentlich wichtigen Beitrag zur zukünftigen Seerüstungs-
beschränkung an. Weiterhin glaubt sie, daO die Einigung, zu der sie
nunmehr mit der Regierung des Deutschen Reiches gelangt ist und die
Bie als eine vom heutigen Tage ab gültige dauernde und endgültige
Einigung zwischen den beiden Regierungen ansieht, den Abschluß
eines zukünftigen allgemeinen Abkommens über eine Seerüstungs-
begrenzung zwischen allen Seemächlcn der Welt erleichtern wird,
2, Die Regierung Sr, Majestät im Vereinigten Königreich stimmt
weiterhin den Erklärungen zu, die von den deutschen Vertretern im
Laufe der kürzlich in London abgehaltenen Besprechungen bezüglich
der Anwendungsmethoden dieses Grundsatzes abgegeben wurden.
Diese Erklärungen können folgendermaßen zusammengefaßt
werden:
a) Das StÖrkeverhälLnis 35 zu 100 soll ein ständiges Verhältnis
sein, d. h, die Gesamtlonnage der deutschen Flolte soll nie einen Pro-
zentsatz von 35 der Gesamttonnage der vertraglich festgelegten See-
streitkräfte der Mitglieder des Britischen Commonwealth oder — falls
in Zukunft keine vertraglichen Begrenzungen der Tonnage bestehen
sollten — einen Prozentsatz von 35 der tatsächlichen Gesamttonnage
der Mitglieder des Britischen Commonwealth überschreiten*
b) Falls ein zukünftiger allgemeiner Vertrag über Seerüstungs-
begrenzung die Methode der Begrenzung durch vereinbarte Stärke-
verhältnisse zwischen den Flotten der verschiedenen Mächte nicht ent-
halten sollte, wird die Regierung des Deutschen Reiches nicht auf der
Einfügung des in dem vorhergehenden Unterabsatz erwähnten Stärke-
verhältnisses in einen solchen zukünftigen allgemeinen Vertrag be-
stehen, vorausgesetzt, daß die für die zukünftige Begrenzung der See-
72 Deutschland - England [20
rüstungcn darin etwa angenommene Methode derart ist, daO sie
Deutschland volle Garantien gibt, daO dieses Stärkeverhältnis aufrecht-
erhalten werden kann.
c) Das Deutsche Reich wird unter allen Umständen zu dem Stärke-
verhältnis von 35 zu 100 stehen, d. h. dieses Stärkeverhältnis wird von
den Baumaßnahmen anderer Länder nicht beeinflußt. Sollte das all-
gemeine Gleichgewicht der Seerüstung, wie es in der Vergangenheit
normalerweise aufrechterhalten wurde, durch irgendwelche anormalen
und außerordentlichen Baumaßnahmen anderer Mächte heftig ge-
stört werden, so behält sich die Regierung des Deutschen Reiches das
Recht vor, die Regierung Sr. Majestät im Vereinigten Königreich auf-
zufordern, die auf diese Weise entstandene neue Lage zu prüfen.
d) Die Regierung des Deutschen Reiches begünstigtauf dem Gebiete
der Seerüstungsbegrenzung dasjenige System, das die Kriegsschiffe
in Kategorien einteilt, wobei die Höchsttonnage und das Höchst-
kaliber der Geschütze für die Schiffe jeder Kategorie festgesetzt wird,
und das die jedem Lande zustehende Tonnage nach Schiffskate-
gorien zuteilt. Folglich ist die Regierung des Deutschen Reiches bereit,
grundsätzlich und unter Vorbehalt des nachstehenden Absatzes das
35prozentige Stärkeverhältnis auf die Tonnage in jeder beizubehalten-
den Schiffskategorie anzuwenden und jede Abweichung von diesem
Stärkeverhältnis in einer oder mehreren Kategorien von den hierüber
in einem zukünftigen allgemeinen Vertrag über Seerüstungsbeschrän-
kung etwa getroffenen Vereinbarungen abhängig zu machen. Derartige
Vereinbarungen würden auf dem Grundsatz beruhen, daß jede Er-
höhung in einer Kategorie durch eine entsprechende Herabsetzung in
anderen Kategorien auszugleichen wäre. Falls kein allgemeiner Vertrag
über Seerüstungsbegrenzung abgeschlossen wird oder falls der zu-
künftige allgemeine Vertrag keine Bestimmung über Kategorienbe-
schränkung enthalten sollte, wird die Art und das Ausmaß des Rechtes
der Regierung des Deutschen Reiches, das 35prozentige Stärke-
verhältnis in einer oder mehreren Kategorien abzuändern, durch Ver-
einbarung zwischen der Regierung des Deutschen Reiches und der Re-
gierung Sr. Majestät im Vereinigten Königreich im Hinblick auf die
dann bestehende Flottenlage geregelt.
e) Falls und solange andere bedeutende Seemächte eine einzige
Kategorie für Kreuzer und Zerstörer behalten, hat das Deutsche
Reich das Recht auf eine Kategorie für diese beiden Schiffsklassen,
obgleich es für diese beiden Klassen zwei Kategorien vorziehen würde.
f) Hinsichtlich der Unterseeboote hat das Deutsche Reich jedoch
das Recht, eine der gesamten Unterseeboottonnage der Mitglieder des
Britischen Commonwealth gleiche Unterseeboottonnage zu besitzen,
ohne jedoch das Stärkeverhältnis 35 zu 100 hinsichtlich der Gesamt-
lonnage zu überschreiten. Die Regierung des Deutschen Reiches ver-
pflichtet sich indessen, außer den im folgenden Satz angegebenen Um-
ständen mit ihrer Unterseeboottonnage über 45 v. H. der Gesamt-
Unterseeboottonnage der Mitglieder des Britischen Commonwealth
nicht hinauszugehen. Sollte eine Lage entstehen, die es nach Ansicht
"^ * ^
20]
Das Jahr 1935
73
der Regierung des Deutschen Reiches notwendig macht, von ihrem
Anspruch auf einen über die vorgenannten 45% hinausgehenden Pro-
zentsatz Gebrauch zu machen, so behalt sich die Regierung des Deut-
schen Reiches dag Recht vor, der Regierung Sr. Majestät im Ver-
einigten Königreich davon Mitteilung zu machen, und sie ist damit
einverstanden» die Angelegenheit zum Gegenstand freundschaftlicher
Erörterungen zu machen» bevor sie dieses Recht ausübt,
g) Da es höchst unwahrscheinlich ist, daß die Berechnung des
35prozentigen Stärkeverhältnisses in jeder Schiffskategorie Tonnage-
zahlen ergibt, die genau teilbar sind durch die zulässige Tonnage für
Schiffe dieser Kategorie, kann es sich als notwendig herausstellen, daß
AnglcichuDgen vorgenommen werden müssen, damit das Deutsche
Reich nicht daran verhindert wird, seine Tonnage voll auszunutzen.
Es ist daher abgemacht worden, daO die Regierung de^ Deutschen
Reiches und die Regierung Sr. Majestät im Vereinigten Königreich
vereinbaren werden, w^elche Angleich ungen zu diesem Zweck erforder-
lich sind. Es besteht Einigkeit darüber, daß dieses Verfahren nicht zu
erheblichen oder dauernden Abweichungen von dem Verhältnis von
35 zu 100 hinsichtlich der Gesamtflottenstärken führen soIK
3. Hinsichtlich Unterabschnitt c der obigen Erklärungen habe
ich die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß die Regierung Sr. Majestät im
Vereinigten Königreich von dem Vorbehalt Kenntnis genommen hat
und das darin erwähnte Recht anerkennt, wobei Einverständnis
darüber besteht, daß das Stärkeverhältnis von 35 zu 100, falb zwischen
den beiden Regierungen nichts Gegenteiliges vereinbart wird, auf-
rechterhatten bleibt,
4* Ich habe die Ehre, Euere Exzellenz um eine Mitteilung darüber
zu bitten, daß die Deutsche Regierung anerkennt, daß der Vorschlag
der Deutschen Regierung in den vorstehenden Absätzen dieser Note
richtig wiedergegeben ist.
Ich habe die Ehre zu sein usw.
Samuel Hoare
IL Schreiben des Außerordentlichen und Bevollmächtig-
ten Botschafters von Ribbentrop an den Staatssekretär
für Auswärtige Angelegenheiten Sir Samuel Hoare
Euere Exzellenz!
London, 18. Juni 1935.
Ich beehre mich. Euerer Exzellenz den Empfang des Schreibens
vom heutigen Tage zu bestätigen, in dem Sie die Freundlichkeit hatten,
mir im Namen der Regierung Sr. Majestät im Vereinigten Königreich
folgendes mitzuteilen:
(Es folgt die wörtliche Wiedergabe der Abschnitte 1 bis 3 aus dem
Schreiben des Staatssekretärs Sir Samuel Hoare.)
Ich beehre mich. Euerer Exzellenz zu bestätigen, daß der Vor-
»chlag der Regierung des Deutschen Reiches in dem vorstehenden
74
DeuUchland * England
[20
Schreiben richtig wiedergegeben ist und nehme davon Kenntnis, daß
die Regierung Sr. Majestät im Vereinigten Königreich diesen Vor-
schlag annimmt.
Die Regierung des Deutschen Reiches ist auch ihrerseits der An-
sicht, daß die Einigung, zu der sie nunmehr mit der Regierung Sr. Ma-
jestät im Vereinigten Königreich gelangt und die sie als eine vom heu-
tigen Tage ab gültige Einigung zwischen den beiden Regierungen an-
sieht, den Abschluß eines allgemeinen Abkommens über diese zwischen
allen Seemächten der Welt erleichtern wird,
Ich habe die Ehre, zu sein usw.
Joachim von Ribbentrop
■ Außerordentlicher und Bevollmächtigter
^ Botschafter des Deutschen Reiches
(E: Cmd. 4930, — D: Völkerbund und Völkerrecht, 1935/36, S. 269ff.)
I Außer dem Fhiienabkommen war die Heichsregierung seit längerem
auch zu einer Verständigung über die Luflrüsiung bereit gewesen. Naiur-
gemaß machle sie aber ihre Zustimmung zum Luftpakl von der An-
erkennung der deuischen Luftmackl abhängig^ und zwar in der Pariiät
mit den Luftflotten der einzelnen Weslmächie. Bezeichnenderweise verlor
die französische Regierung ihr Interesse am Luflpaki, als die deutsche
ihre Zustimmung erteilte. Sie verlangte bilaterale Abkommen innerhalb
des Luftpakies^ schob wieder den Osipakt in den Vordergrund und ver-
langte Deutschlands Zustimmung hierzu, Ja^ die Verwirklichung des
Luftpükles sottle nur gleicfizeitig mit den Verhandlungen über den Ost-
pakt und die anderen Punkte des Londone r Kommuniques vom 3. Februar
1935 erfolgen. Luflpakt und östpakl bildeten fortan ein unheilvottes
Junktim. Gerade solcher Verkoppelung von mehreren schwierigen Fragen
hatte der Führer in seiner Bede vom 21. Mai 1935 ah höchst unpraklisch
widerraten. Im übrigen hatte er immer wieder Beistandspakte militä-
rischen Charakters abgelehnt. Er hatte an Stelle dessen Nichtangriffs-
pakte mit den einzelnen Nachbarstaaten Deutschlands angeboten. Er
befand sich, was hervorgehoben zu werden verdient ^ mit dieser Einstel-
lung zu den Ostpaktfragen in Übereinstimmung mit der polnischen Re-
gierung,
Über alle diese Fragen wurden seit Mai 1935 monatelange diplo-
matische Verhandlungen geführt. Seit Juni 1935 war die Außenpolitik
der englischen Regierung wegen ihrer Haltung im Abessinienkonflikt
und wegen des sowohl im eigenen Lande wie besonders in Frankreich
heftig angegriffenen Flollenabkommens mit Deutschland in großer Be"
drängnis. Die englisch-französischen Beziehungen waren damals so
stark getrübt und auf französischer Stile von Mißtrauen so durchsetzt,
wie sie es wohl seil 1931 nicht mehr gewesen waren. In erster Linie war
hieran das Floltenabkommen schuld. Um die französische Verstimmung
auszugleichen^ machte sich die britische Regierung wider ihr besseres
Wissen den französischen Standpunkt zum Luflpakt und Ostpaki zu
eigen. Am 11. Juli 1935 hielt der damalige Außenminister Sir Samuel
21]
Das Jahr 1935
75
Hoare im Unterhaus eine sehr kühle Bede, in der er an den Führer
appellierle, durch seine Zustimmung zum Osipaki die atlgemeine Regelung
der europäischen Fragen zu fördern. Er machte sieh die These von der
f^Unieilbarkeil des europäischen Friedens" zu eigen und konstruierte ein
englisches Interesse an dem Ostpakt. Dies konnte angesichts der Sowjet-
pakle in Deutschland nicht mehr verfangen. Daß aber in England der
Wind wieder umgescfitagen war^ zeigte sich auch darin, daß wieder , wie
kurz nach der Machtübernahme^ innerdeutsche Angelegenheiten gegen
Deutschland ausgebeutet wurden und eine neue Hetzweite über das Land
ging.
Aus der Unterbausrede des britischeii AußeiuDiniBtere 21.
Sir Samuel Hoare vom 11* Juli 1935
Uns liegt an einem Luftpakt, der eine Beschränkung der LufU
flotte einschließt. Schon vor zehn Jahren, lange bevor die Lnftraacht
ßo furchtbar wurde in ihrer Schnelligkeit, ihrer Wirksamkeit und zer-
störenden Gewalt, wie sie es jetzt ist, erschien mir die Gefahr eines
Knockoutschlages so groß, daß nur das Abschreckungsmittel einer
nahezu überwältigenden Luftflotte die Welt vor einer großen Kata-
atrophe bewahren könnte. Ich glaube, diese Ansicht wird von der großen
Mehrheit der ehrenwerten Mitglieder geteilt. Wir alle wünschen einen
Luftpakt. Wir alle wünschen Beschränkungen der Luftflotte. Es mag
sich dann die Frage erheben : Warum kann nicht unverzüglich ein Luft-
pakt abgeschlossen werden, wenn wir doch alle den Luftpakt und
eine Beschränkung der Luftmacht wünschen?
Ich glaube, wenn ich die Frage einem Komitee des Hauses vor-
gelegt habe, wird man sehen, daß das Problem nicht ganz so einfach
ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Die grundlegende Be-
dingung für einen Luftpakt ist, daß alle fünf Mächte ihm zustimmen
müssen. Es ist nicht immer leicht, fünf Mächte zu einer Übereinstim-
mung über irgend etwas zu bringen, sei es auch nur über die Verhand-
lungsbasis,
Im Falle des Luftpaktes ist der Sachverhalt der — - es führt zu
nichts, Tatsachen zu übersehen — , daß einige der Regierungen, unter
ihnen die französische, die Ansicht vertreten, daß der Frieden ein
unteilbares Ganzes ist und daß man nicht zu einem Zeitpunkt ein
Teilproblem behandeln kann, sondern daß alle Teilprobleme zusammen
behandelt werden müssen. Wir wollen dieser Ansicht einmal Rechnung
tragen; erlauben Sie mir, sie zu analysieren, damit wir sehen, wie weit
sie durch die augenblickliche Situation gerechtfertigt ist, wie weit es
eine Tatsache ist, daß der Frieden eins und unteilbar ist, und ob es un-
möglich ist, sich mit einem Teilproblem zu beschäftigen, bevor man
sich mit dem Gesamtproblem beschäftigt . . .
Lassen Sie mich die Behauptung» daß der Frieden ein einziges
Ganzes ist, dadurch illustrieren, daß ich versuche, eine Frage zu beant-
worten. Es ist die Frage: Was hat Großbritannien mit einem Ostpakt
zu tun? Das heißt mit einem Nichtangriffspakt in Osteuropa. Lassen
m
76 Deutschland - England [21
Sie mich dem Hause erklären, was ich für Großbritanniens Interesse
an einem Ostpakt halte, und desgleichen, was ich für das Interesse
Großbritanniens an einem Nichtangriffspakt in Zentraleuropa halte.
Es kann sich nicht um weitere Verpflichtungen handeln. Der Aus-
schluß weiterer Verpflichtungen auf unserer Seite, worauf in der Ver-
gangenheit häufig angespielt worden ist, schließt aber nicht unser
Interesse an einer Regelung der Fragen aus.
Es gibt viele Regierungen in Europa — ich brauche sie nicht zu
nennen — , die das Zentrum und den Osten Europas für Gefahren-
zonen halten. Einige gehen soweit zu glauben, daß eine Übereinkunft
im Westen, beispielsweise über den Luftpakt, losgelöst von einer
Regelung der übrigen Friedensfragen, die Gefahr im Osten noch größer
machen würde, als sie jetzt ist. Ich kann zwar diese Befürchtungen nicht
ganz teilen, stimme aber insofern bei, als ein Kriegsausbruch im Zen-
trum oder im Osten Europas, nach unserer Erfahrung zu urteilen,
wahrscheinlich zu einem allgemeinen Konflikt führen würde und daß
es darum wesentlich ist, sich unverzüglich mit allen möglichen Ge-
fahrenzonen zu befassen. Das ist der Grund, weswegen der britischen
Regierung so sehr daran gelegen ist, einen Ost- und Donau-Nichtan-
griffspakt sobald wie möglich abgeschlossen zu sehen.
Es gab eine Zeit, in der der deutsche Reichskanzler einem Ostpakt
ablehnend gegenüberstand. Die Vorschläge waren in einer Form ge-
macht worden, die er nicht akzeptieren konnte. All das hat sich jedoch
jetzt geändert. Der deutsche Kanzler willigte bei der Stresakonferenz
ein, daß kein Einwand erhoben werden würde gegen den Abschluß
von Beistandspakten durch andere, vorausgesetzt, daß von Deutsch-
land nichts weiter erwartet wurde als Nichtangriffsverträge, Konsul-
tativabkommen und die Beistandsverweigerung gegenüber dem An-
greifer. Der deutsche Kanzler erklärte weiterhin in seiner letzten Rede :
Die deutsche Reichsregierung ist grundsätzlich bereit, Nicht-
angriffspakte mit ihren einzelnen Nachbarstaaten abzuschließen und
diese durch alle Bestimmungen zu ergänzen, die auf eine Isolierung der
Kriegführenden und eine Lokalisierung des Kriegsherdes abzielen.
Die französische Regierung hat die deutsche Regierung davon be-
nachrichtigt, daß sie die deutschen Vorschläge als Verhandlungs-
grundlage annimmt. Ich glaube, der Donaupakt kann auf ähnliche
Weise erreicht werden. Es besteht daher nach der Ansicht der Regie-
rung Sr. Majestät keinerlei Grund mehr, daß der Abschluß eines Ost-
paktes nicht schnelle Fortschritte machen sollte. Die Regierung Sr.
Majestät hat der deutschen Regierung ihre Ansicht über diese Fragen
ausführlich dargelegt.
Es steht nun in der Macht des deutschen Kanzlers, einen wirk-
lichen Beitrag für die Sache des Friedens zu liefern, einen Beitrag, der
eine Ursache der Beunruhigung bei vielen Regierungen, nicht nur in
Mittel- und Osteuropa, sondern auch in Westeuropa, beseitigen wird.
Ich möchte wagen, ihn dringend zu bitten, diesen Beitrag zu geben.
Ich glaube in der Tat, er würde seiner eigenen Sache dienen, wenn er
diesen Beitrag lieferte. Er selbst sprach in seiner Rede vom 21. Mai
22]
Das Jahr 1935
77
sehr freimütig» und ich weiß, er wird nicht verstimmt sein, wenn ich
ebenso freimütig spreche. Wir hier — und in der Tat die weite Welt —
sind nicht nur durch Deutschlands Aufrüstungsprogramm, sondern
aych durch gewisse andere Phänomene des neuen Deutschland beun-
ruhigt worden. Nichtsdestoweniger haben wir den Kanzler bei seinem
Wort genommen und haben erst in den letzten Wochen einen prak-
tischen Beweis dafür gegeben, indem wir das Flottenabkomraen mit
ihm abschlössen*
(E: Parliamentary Debntes, Houstj of Commons, Bd. 304, Sp, 5J3ff, — D:
Weltgeschichte der Gegenwart, Bd. 3» S. 30yrf.)
Am 22. Juli 1936 ieille dm britische Hegierang der Iratizösiscken ihre
Bereilschafi zum Abschluß bilateraler Abkommen innerhalb des Luft-
paktes mit, Sie war also auch in diesem Punkte der französischen Forde-
rung entgegengekommen, Sie machte aber die Voraussetzung, daß diese
Abkommen nur das Zustandekommen eines allgemeinen Lufipakles tpe-
fördern und nur mit ihm wirksam werden sollten. In einem Gespräch
mit dem deutschen Botschafter von Hoesch vom 23. Juli 1935 entwickelte
Hoare noch einmal den Standpunkt seiner Bede vom IL Juli: keine
Forischriile in der Verhandlung des Luftpaktes ohne Fortscliritle in der
Verhandlung des Ostpakies* Eine Weisung im Sinne dieses Junktimg
erhielt der englische Geschäftslräger in Berlin am L August 1935, Am
gleichen Tage vertrat Hoare diese Forderung abermals vor dem Unter-
haus. Das Junktim wurde die These, mit der England im Verein mit
Frankreich den Luflpakl endgültig sabolierle.
Instruktion des Außenministers Sir Samuel Hoare an den britisdien '«^S.
Geschäftsträger in Berlin, Newton, vom 23. Juli 1935
Auf meine Bitte hat mich der Deutsche Botschafter heute nach-
mittag aufgesucht. Im Unterhaus wurde bereits angefragt, ob der
Reichskanzler irgendwie auf meinen Apell an ihn in der Außenministe-
riumsdebatte vom 11. Juli geantwortet habe; auch verlautete in Berlin
gerüchtweise^ daß die Deutsche Regierung selbst erwäge^ sich darüber
zu beklagen, daß ich für die deutsche Lage nicht genügend Verständnis
aufgebracht hätte. Unter diesen Umständen schien es für mich am
besten, die strittigen Fragen sofort mit dem Botschafter zu besprechen.
2. Zunächst sagte ich, daß ich sehr stark auf eine Antwort auf
meine Bitte, der Kanzler möchte den Abschluß eines Ostpaktes er-
leichtern, gehofft hatte. Der Botschafter wies auf den Abschluß des
französisch-russischen Bündnisses hin, auf die Nutzlosigkeit des Faktes»
sowie auf die Tatsache, daß ein Abschluß des Paktes das französisch-
nisöische Bündnis wieder gutmachen würde. Ich erwiderte, daß ich
als praktischer Mann in jedem Fall zu dem Schluß gekommen sei, daß
der von der britischen, wie auch von der Deutschen Regierung ge-
wünschte Luftpakt unerreichbar bleibt, wenn nicht gleichzeitig ein
78
Deutschland • England
m
Fortschritt in der Angelegenheit des Ostpaktes zu verzeichnen ist.
War der Ostpakt so zwecklos, wie es die Deutschen hinstcüen, warum
sollten sie dann zugeben, daO er einera von ihnen in Wirklichkeit ge-
wünschten Luftabkommen im Wege steht? Der Botschafter erklärte
daran fhin^ daß neben den deutschen Einwendungen auch noch von
Polen Einwendungen erhoben würden und daß diese in den kürzlich
stattgefundenen Unterredungen zwischen Herrn Beck und dem Reichs-
kanzler in Berlin zur Sprache gekommen seien.
3. Ich bestand weiterhin auf dem Ostpakt/Warum, fragte der Bot-
schafter, bestand ich so sehr darauf? Warum hatte ich es in meiner
Rede unterlassen, viele der anderen in der Reichskanzlerrede an wich-
tiger Stelle vorgebrachten Fragen zu behandeln? Hierbei überreichte
er mir ein Exemplar der Reichskanzlerrede und las mir auch eine ganze
Reihe Absätze daraus vor. Ich sagte ihm, daß meine Rede keineswegs
als Antwort auf die Reichskanzlerrede gedacht war. Die Antwort
darauf ist bereits in der unmittelbar darauffolgenden Rede des Herrn
Baldwin erfolgt. Meine Rede befaßte sich nur mit einem, und zwar
nur mit dem einen Gegenstand, nämlich die Dinge wieder in Gang zu
bringen, die stillzustehen schienen, und um auf einem Gebiet, das
durch unüberwindliche Schwierigkeiten völlig blockiert zu werden
drohte» wieder Bewegungsfreiheit zu bekommen. Gewiß wolle der
Reichskanzler ebensoviel Bewegung wie ich. Tatsächlich schien mir
der Wunsch nach Bewegung der eigentliche Inhalt seiner Rede zu
sein. Wolle er denn nicht verstehen, daß, wenn es im Luftpakt Bewe*
gung gfbt, es auch auf den anderen Gebieten, und insbesondere auf
dem des Ostpaktes Bewegung geben muß?
4. Der Botschafter versprach mir, alle meine Ausführungen im
einzelnen sofort nach Berlin weiterzuleiten. Vor seinem Weggang
machte er nochmals dieselbe Feststellung wie zu Beginn unserer
Unterredung, nämlich daß die Deutsche Regierung die Tür vor dem
Ostpakt nicht zugeschlagen habe, und daß, wenn auch für den Ab-
schluß ernsthafte Schwierigkeiten beständen, doch keine gegenteilige
Entscheidung getroffen sei.
Samuel Hoare
(E: Cmd. 5143. Nr. 34. ^ O: Eigeoe OberseUung.)
23, Aus der Instruktion des AuBenministers Sir Samuel Hoare an den
britischen Geschäftsträger in Berlin, Newton, vom 1. August 1935
Ich bat den Deutschen Botschafter, heute morgen bei mir vorzu-
sprechen zwecks Rücksprache über die Lage des Luftpaktes. Ich
wiederholte zunächst, was ich schon oft vorher über die Notwendigkeit
gesagt habe, die Verhandlungen über den Ostpakt in Angriff zu neh-
men, wenn wir überhaupt eine Aussicht haben sollen, diesen Luftpakt
in die Wege zu leiten. Der Botschafter wiederholte einige frühere Fest-
stellungen über den Ostpakt, Er fügte jedoch hinzu, daß er mir er-
25] Das Jahr 1935 79
freulicherweise eine mündliche Nachricht seiner Regierung über die
Stellung der Locamomächte unter dem französisch-russischen Vertrag
übermitteln könne . . .
(E: Cmd. 5143. Nr. 36. — D: Eigene Obersetzung.}
Ao8 der Unterhaasrede des britischen Außenministers Sir Samuel 24.
Hoare vom 1. August 1935
Bezüglich der Frage eines Ostpaktes werden sich die Herren noch
der gestern von mir erteilten Antwort entsinnen. Ich wiederhole sie
nochmals. Ich betrachte den Abschluß eines Ostpaktes als eines der
wichtigsten Momente auf dem Gebiet der europäischen Entwicklung.
Mir ist es durchaus klar, daß, wenn wir auf dem Gebiet des Ostpaktes
nicht weiterkommen, es sehr schwierig sein wird, einen befriedigenden
Fortschritt mit dem Luftpakt und einigen anderen Maßnahmen zur
Befriedung und Versöhnung Europas zu verzeichnen. Sie, meine
Herren, dürfen versichert sein, daß ich diesen Standpunkt der Deut-
schen Regierung, wie auch anderen europäischen Regierungen gegen-
über weiterhin geltend machen werde. Ich selbst sehe keinen Grund,
warum, so wie die Dinge augenblicklich liegen, ein Ostpakt nicht ab-
geschlossen werden sollte, auch bin ich sicher, daß, wenn es zum Ab-
schluß eines Ostpaktes kommt, dieser als eine Versöhnungsmaßnahme
in Mittel- und Osteuropa angesehen und eine große Hilfe für den Ab-
schluß eines Luftpaktes darstellen wird, weil er nicht nur von uns
selbst, sondern auch von der Deutschen Regierung gewünscht wird.
(E: Parliamentary Debates. House of Gommons. Bd. 304, Sp. 2962f. — D:
Eigene Obersetzung.)
Am S. August 1935 erhob die englische Regierung in einem Memo-
randum an die Reichsregierung dringliche Vorslellungen, die auf den Ab-
schluß eines kollektiven Nichtangriffspaktes hinzielten.
Aus dem Memorandum der britischen Regierung vom 5. August 1935 25.
Wenn die Deutsche Regierung es unterlaßt, so zu handeln und
fortfährt, sich in dieser Sache auf das zu beschränken, was in der Rede
des Kanzlers vom 21. Mai gesagt wurde, indem sie außerdem die Rede-
wendung „Nachbarstaaten** eng auslegt als Staaten, welche an
Deutschland angrenzen, dann scheint nicht zu erwarten, daß ein Fort-
schritt gemacht werden kann. Es gäbe gewiß keine Hoffnung, daß die
französische Regienmg befriedigt sein wird, und das Ergebnis wird so
sein, wie es Herrn von Ribbentrop und dem deutschen Botschafter in
London dargelegt wurde, daß die Aussichten auf den Luftpakt, dem
Seiner Majestät Regierung und, wie sie bis jetzt verstanden hatten,
auch die deutsche Regierung solch große Bedeutung beimessen, wohl
eitel sein möchten. Seiner Majestät Regierung hofft daher ernstlich,
M Deutachland - England [»
daß die deutsche Regierung einwilligen wird, in einen kollektiven
Sicherheitspakt auf Nicht-Angriff nicht nur Litauen (das Partner
einer Lösung der Memelfrage ist), Polen und Tschechoslowakei, sondern
auch Lettland, Estland und Rußland einzuschließen . . .
Seiner Majestät Regierung wünscht daher die besondere Auf-
merksamkeit des Kanzlers auf diese Bemerkungen zu lenken im Hin-
blick auf den Nachdruck, welchen er in seiner Rede im Reichstag am
21. Mai auf die Bedeutung einer friedlichen Regelung in Europa legte.
In seiner Rede erklärte der Kanzler, daß die Deutsche Regierung zu
jeder Zeit bereit wäre, an einem System kollektiver Zusammenarbeit
zur Sicherung des Friedens in Europa teilzunehmen. Er bezog sich
nicht nur auf das große Ziel, welches die Deutsche Regierung im Auge
hatte, sondern gab seiner Meinung Ausdruck, daß solch ein Ziel nur
Schritt für Schritt erreicht werden könnte. Diese Ansicht entspricht
genau der von Seiner Majestät Regierung, und der Staatssekretär des
Auswärtigen wiederholte sie im Unterhaus am 1. August. Unter diesen
Umständen vertraut Seiner Majestät Regierung ernstlich darauf, daß
sich der Kanzler als ersten Schritt zur Erfüllung des großen Zieles der
Befriedung Europas, worauf er sich in seiner Rede bezog, zu einem
kollektiven Nicht-Angriffspakt mit den 6 Oststaaten auf der Linie des
deutschen Entwurfs, der Sir John Simon in Berlin mitgeteilt wurde,
bereitfinden wird.
Seiner Majestät Regierung wird dankbar sein, wenn ihre An-
sichten in baldige und günstige Betrachtung gezogen werden können
und hofft sehr, daß des Kanzlers Antwort einen schnellen Fortschritt
in naher Zukunft in einer Angelegenheit, der sie soviel Bedeutung bei-
mißt, erlauben wird.
(E: Cmd. 5143. Nr. 37. — D: Eigene Übersetzung.)
Seit dem Sommer 1935 wurden die Verhandlungen über Lufipaki,
Oslpakl, Locarno und Kollekiivpaki durch den Ahessinischen Krieg, der
am 3, Oktober 1935 ausbrach, und den neuen Vorstoß der Komintern in
den Hintergrund gedrängt. Die britische Regierung hat auf diplomati-
schem Wege noch mehrmals an die Beantwortung ihres Memorandums
vom 5, August 1935 erinnert, Freiherr von Neurath teilte am 23, Oktober
1935 dem englischen Botschafter in Berlin mit, daß eine Antwort unter
den obwaltenden Umständen nicht opportun sei. Anfang Dezember 1935
regte Sir E. Phipps an, die Verhandlungen über einen Luftpakl wieder
zu eröffnen. Hoare beurteilte die Aussichten skeptisch. Er wollte auf
keinen Fall die bekannten französischen Wünsche ignorieren. Immerhin
gab er dem Botschafter in Berlin am 5. Dezember 1935 die Weisung,
beim Führer festzustellen, „welche konkrete Bedeutung er Verhandlungen
auf der Basis der Rede vom 21. Mai 1935 beimesse*'. Zu diesem Zweck
erörterte er nochmals die dreizehn Punkte des deutschen Friedenspro-
gramms.
Es ist bezeichnend, mit welch unerhörter Oberflächlichkeil dabei ein
so enbcheidend wichtiger Vorschlag wie der des Verbots des Bombenab-
wurfs außerhalb von Kampfzonen von britischer Seite abgetan wurde.
Das Jahr 1935
81
Nicht zuMzl war es auch diese Ünfähigkeii der Engländer^ große und
auf den ersten Blick undurchführbar scheinende Vorschlage aufzugreifen
Und ni verwirklichen, welche die deutsch-englischen Verhandlungen in
allen Fragen immer wieder zum Scheitern verurteilten.
Aus dem Telegramm des Außenministers Sir Samuel Hoare
an den britisdien Botschafter in Berlin, Sir Eric Pliipps,
vom 5. Dezember 1935
26.
6. Zur Orientierung von Ew. Exzellenz darf ich hier erklären, dnQ
einii*« bei diesen Punkten aufgeworfene Fragen, namentlich bei Punkt
l, 2, 3- 4 und 5 der Führerrede vom 21. Mai 1935, überhaupt keine
Verl' -fragen sind, sondern grundsätzliche Meinungsäußerungen
der i
n Regierung. Andere von diesen Punkten (namentlich
die Teile von Punkt 8 betr. Land- und Seestreitkräfte und Punkt 11
betr, Seerüstung) behandeln entweder eine Frage (Landstreitkräfte),
die jetxi sowohl von Deutschland ab auch von Frankreich als im Augen-
blirk unlösbar bezeichnet wird^ oder Seefragen, die bereits im Flotten-
abkommen vom letzten Juni beliandelt oder bei der Flottenkonferenz
zu behandeln sind. Punkt 9 behandelt die Abschaffung von gewissen
Waffen und Kriegführungsmethoden, insbesondere das Verbot des
Bombenabwurfs außerhalb der Kampfzone; ich glaube, daß der Reichs-
imzler, ebensowenig wie auch wir, der Ansicht ist, duQ dieses Ergebnis,
»s von der Zustimmung vieler Mächte abhängt, in der allernächsten
Zukunft erreicht werden dürfte.
7. Die in den dreizehn Punkten, die in nicht allzuferner Zeit
Gegenstand einer Aussprache sein dürften, enthaltenen Fragen sind: —
1. Der Hinweis in Punkt 6 auf die Dereitwilligkeit der Deutschen
Regierung zum Abschluß von zweiseitigen Nichtangriffspakten
mit Nachbarstaaten;
2. Der Hinweis in Punkt 7 und 8 auf den Luftpaki und Beschrän-
kung der Luftstreitkräfte;
3* Der Hinweis in Punkt 10 auf die Beschränkung von schweren
Waffen; und
4, Der Hinweis in Punkt 12 und 13 auf das Nichteingreifen in
Österreich.
{El Cmd. &143. Nr. 45. — D: Eigene Cber»etzui)g,)
D^Uelüand^Englaiid 6
1936
■PlüMM
r^^^^ -me^
t7]
Das Jahr 1036
85
Ilätte der damalige britische Premierminister Baldwin nicht das an-
maßende und überhebliehe Wort von der englischen Grenze am Rhein
gepragl\)^ so wäre das Interesse Englands an dem wichtigsten Ereignis
des Jahres 1936, an der \V tederherslellung der deutschen Wehrhoheit im
Hheinland, völlig unversiändlich. Jenes Wori erleichtert das Verständnis
der britischen Politik^ wenn auch nicht das Verständnis ihrer Berech-
tigung.
Am 7. März 19S6 waren die deutschen Truppen in das nach dem
Locarno- Vertrag und nach Art. 42 ff. des Versailler Vertrages entmiU-
larisierle Fiheinland einmarschierL Am Mittag desselben Tages gab der
Fährer in einer Reichstagsrede die politischen und rechtlichen Gründe an,
die Deulschland diesen Schritt erlaubten. Er besiätigle auch bei dieser
Gelegenheil seinen beständigen Wunsch und sein aufrichtiges Bemühen
um eine allgemeine Verständigung mit England und Frankreich.
Aus der Keidistagsrede des Führers vom 7. März 1936
27.
ich habe mich in den letzten drei Jahren bemüht, langsam, aber
stetig die Voraussetzungen für eine deutsch-französische Versiündigung
zu schaffen. Ich habe dabei nie einen Zweifel darüber gelassen^ daß zu
den Voraussetzungen dieser Verständigung die absolute Gleichberech-
tigung und damit die gleiche Rechts Wertung des deutschen Volkes
und Staates gehört. Ich habe aber be\Mißt in dieser Verständigung
nicht nur ein Problem gesehen, das auf den Wegen von Pakten gelöst
wird, sondern ein Problem, das zunächst den beiden Völkern psycho-
logisch nahegebracht werden muß, da es nicht nur Verstandes-, sondern
auch gefühlsmäßig vorbereitet werden soll. Ich habe daher auch oft
den Vorw^irf bekommen, daß meine Freundschaftsangebote keine
konkreten Vorschläge enthalten hätten. Dies ist nicht richtig. Was
konkret zur Entspannung der deutsch-französischen Beziehungen
überhaupt vorgeschlagen werden konnte, habe ich auch mutig konkret
vorgeschlagen.
Ich habe einst nicht gezögert, mich dem konkreten Vorschlag
einer Rüstungsbegrenzung von 200 000 Mann anzuschließen. Ich habe
mich, als dieser Vorschlag dann von den verantwortlichen Verfassern
^ g, oben S. 42.
86 Deutschland - England f
selbst preisgegeben wurde, mit einem ganz konkreten neuen Vorschlag
ao das französische Volk und an die europäischen Regierungen ge-
wandt. Auch der 300 OOO-Mann-Vorschlag erfuhr Ablehnung.
Ich habe eine ganze Reihe weiterer konkreter Vorschläge zur Ent-
giftung der öffentlichen Meinungen in den einzelnen Staaten und zur
Reinigung der Kriegführung und damit letzten Endes zu einer wenn
auch langsamen, so aber sicheren Abrüstung gebracht. Es ist ein ein-
ziger dieser deutschen Vorschläge wirklich berücksichtigt worden.
Der realistische Sinn einer englischen Regierung hat meinen Vor-
schlag der Herstellung einer dauernden Relation zwischen der deut-
schen und englischen Flotte, die ebenso den Bedürfnissen der deut-
schen Sicherheit entspricht, wie umgekehrt Bedacht nimmt auf die
enormen überseeischen Interessen eines großen Weltreiches, ange-
nommen, und ich darf wohl darauf hinweisen, daO bis heute noch dieses
Abkommen der praktisch einzig existierende wirkliche verständnisvolle
und daher gelungene Versuch einer Rüstungsbegrenzung geblieben ist.
Die Reichsregierung ist, wie Sie wissen, bereit, diesen Vertrag durch
eine weitere qualitative Abmachung mit England zu ergänzen.
Ich habe den sehr konkreten Grundsatz ausgesprochen, daß die
Sammel Programme einer internationalen Paktomanie ebenso w^enig
Aussicht auf Verwirklichung besitzen wie die Generalvorschläge einer
unter solchen Umständen von vornherein schon als undurchführbar
erwiesenen Weltabrüstung. Ich habe demgegenüber betont, daß nur
schrittweise an diese Fragen herangetreten werden kann, und zwar
nach der Richtung des vermutlich geringsten Widerstandes hin. Ich
habe aus dieser Überzeugung heraus den konkreten Vorschlag auch
für einen Luftpakt entwickelt, unter der Zugrundelegung gleicher
Stärken für Frankreich, England und Deutschland. Das Ergebnis
war zunächst eine Mißachtung dieses Vorschlages und dann die
Hereinführung eines neuen, in seinem militärischen Ausmaß unbe-
rechenbaren osteuropäisch-asiatischen Faktors in das europäische
Gleichgewichtsfeld .
Ich habe mich jahrelang also mit konkreten Vorschlägen abge-
geben, altein ich stehe nicht an zu erklären, daß mir mindest ebenso
wichtig wie die sogenannten konkreten Vorschläge die psychologische
Vorbereitung für die Verständigung erschienen ist, und ich habe auf
dem Gebiete mehr getan, als ein aufrichtiger fremder Staatsmann
jemals überhaupt auch nur erhoffen durfte.
Ich habe die Frage der ewigen europäischen Grenzrevisionen aus
der Atmosphäre der öffentlichen Diskussion in Deutschland genommen.
Man steht leider nur zu oft auf dem Standpunkt — und dies gilt be-
sonders für ausländische Staatsmänner — , daß dieser Einstellung und
ihren Handlungen keine besondere Bedeutung zukommt. Ich darf
darauf hinweisen, daß es mir genau so möglich gewesen wäre, als
Deutscher die Wiederherstellung der Grenzen vom Jahre 1914 mo-
ralisch als mein Programm aufzustellen und pubhzistisch und orato-
risch zu vertreten, so wie das etwa französische Minister und Volks-
fübrer nach dem Jahre 1871 getan haben.
[2™
27] Das Jahr 1936 87
Meine Herren Kritiker sollen mir auch auf diesem Gebiet nicht
jede Fähigkeit absprechen. Es ist viel schwerer für einen Nationa-
listen, einem Volk zur Verständigung zuzureden, als das Um-
gekehrte zu tun. Und es würde für mich wahrscheinlich leichter ge-
wesen sein, die Instinkte nach einer Revanche aufzupeitschen, als das
Gefühl für die Notwendigkeit einer europäischen Verständigung zu
erwecken und dauernd zu vertiefen. — Und dieses habe ich getan!
Ich habe die deutsche öffentliche Meinung von Angriffen solcher Art
gegen unsere Nachbarvölker befreit.
Ich habe aus der deutschen Presse jeden Haß gegen das französi-
sche Volk entfernt. Ich bemühte mich, in unsere Jugend das Verständ-
nis für das Ideal einer solchen Verständigung hineinzubringen, und
zwar sicher nicht erfolglos. Als vor wenigen Wochen die französischen
Gäste in das Olympische Stadion in Garmisch-Partenkirchen einzogen,
da hatten sie vielleicht Gelegenheit festzustellen, ob und inwieweit
mir eine solche innere Umstellung des deutschen Volkes gelungen ist.
Diese innere Bereitwilligkeit aber, eine solche Verständigung zu
suchen und zu finden, ist wichtiger als ausgeklügelte Versuche von
Staatsmännern, die Welt in ein Netz juristisch und sachlich undurch-
sichtiger Pakte zu verspinnen.
Dieses Bestreben von mir war aber doppelt so schwer, weil ich
in derselben Zeit Deutschland aus der Verstrickung eines Vertrages
lösen mußte, der ihm seine Gleichberechtigung raubte, an dessen Auf-
rechterhaltung aber — ob mit Recht oder Unrecht ist nebensächlich —
das französische Volk geglaubt hat interessiert sein zu müssen.
Ich habe dabei gerade als deutscher Nationalist für das deutsche
Volk noch ein weiteres besonders schweres Opfer bringen müssen. Es
ist bisher, wenigstens in der neueren Zeit, noch nie versucht worden,
nach einem Krieg dem Verlierer souveräne Hoheitsrechte über große
und alte Teile seines Reiches einfach abzusprechen. Ich habe nur im
Interesse dieser Verständigung dieses schwerste Opfer, das man uns
politisch und moralisch aufbürden konnte, getragen und wollte es
weiter tragen, nur weil ich glaubte, einen Vertrag aufrechterhalten
zu sollen, der vielleicht mithelfen konnte, die politische Atmosphäre
zwischen Frankreich und Deutschland und England und Deutschland
zu entgiften und das Gefühl einer Sicherheit auf allen Seiten zu ver-
breiten.
Ja, darüber hinaus habe ich oft und auch hier in diesem Hause die
Auffassung vertreten, daß wir nicht nur bereit sind, diesen schwersten
Beitrag für die europäische Friedenssicherung zu tragen, solange auch
die anderen Partner ihre Verpflichtungen erfüllen, sondern daß wir
in diesem Vertrage überhaupt den einzig möglichen, weil konkreten
Versuch einer europäischen Sicherung erblicken wollen.
Ihnen, meine Abgeordneten, ist der Inhalt und der Sinn dieses
Vertrages bekannt. Er sollte zwischen Belgien und Frankreich einer-
seits und Deutschland andererseits für alle Zukunft die Anwendung
von Gewalt verhindern. Durch die schon vorher abgeschlossenen
Bündnisverträge Frankreichs ergab sich leider die erste, wenn auch
88 Deutschland - England [28
den Sinn dieses Rheinpaktes noch nicht aufhebende Belastung.
Deutschland leistete zu diesem Pakt den schwersten Beitrag, denn
während Frankreich seine Grenze in Erz, Beton und Waffen armierte
und mit zahlreichen Garnisonen versah, wurde uns die fortdauernde
Aufrechterhaltung einer vollkommenen Wehrlosigkeit im Westen
aufgebürdet. Dennoch haben wir auch dies erfüllt in der Hoffnung,
durch einen solchen, für eine Großmacht so schweren Beitrag dem
europäischen Frieden zu dienen und der Verständigung der Völker
zu nützen.
(Verhandlungen des Reichstags, Bd. 458, S. 6*Jff.)
Es war bezeichnend^ daß die durch Außenminister Eden vor dem
Unterhaus bekanntgegebene Stellungnahme der britischen Regierung
weder auf die tieferen Rechtsgründe des deutschen Vorgehens, noch auf
die Wiederholung des deutschen Verständigungswunsches einging^ sondern
sich auf den formalistischen Einwand beschränkte, Deutschland habe
durch die einseitige Auflösung des Locarno-Vertrages die internationale
Lage erschwert.
28. Aus der Unterhausrede des britisdien Außenministers Eden vom
9. März 1936 zur Wiederbesetzung des Rheinlandes
Nach dem Empfang dieser Mitteilung durch den deutschen Bot-
schafter erklärte ich Sr. Exzellenz, daß er irgendwelche ins einzelne
gehende Bemerkungen über ein Dokument von dieser Bedeutung
nicht von mir erwarten könne, ehe ich nicht Gelegenheit gehabt
hätte, es durchzuarbeiten und mich mit meinen Kollegen über die
dadurch geschaffene Situation zu besprechen.
Gleichzeitig sagte ich Sr. Exzellenz, daß ich eine Bemerkung aller-
dings sofort machen müsse. Ich sprach mein tiefes Bedauern aus über
die Mitteilung, die mir der Botschafter über die Aktion der deutschen
Regierung hinsichtlich der entmilitarisierten Zone gemacht hatte.
Der deutsche Botschafter werde würdigen können, daß dies auf die
einseitige Aufhebung eines freiwillig eingegangenen und freiwillig
unterzeichneten Vertrages hinauslaufe.
Ich hatte eine deutliche Erinnerung an die Erklärung, die mir der
Reichskanzler bei unserem ersten Zusammentreffen in Berlin über den
Locamovertrag machte. Er machte eine klare Unterscheidung zwi-
len diesem Vertrag und dem Vertrag von Versailles und betonte,
Deutschland den Locamovertrag freiwillig unterzeichnet hätte.
Ich sagte dem Botschafter, daß mir die Auffassung der deutschen
ierung hinsichtlich der Auswirkungen des französisch-sowjctrussi-
jen Paktes auf den Locamovertrag bekannt sei. Diese Auffassung
*de jedoch von den übrigen Signatarmächten des Vertrages nicht
ilt, und wenn die deutsche Regierung trotz der Ansicht der übrigen
atarmächte ihre Schlußfolgerungen noch aufrechterhalte, dann
i ein geeignetes Schiedsverfahren zu ihrer Verfügung.
Das Jahr 1936 80
Ich fürchtete, daß die unvermeidliche Wirkung der einseitigen
Aufhebung dieses Vertrages auf die Regierung Sr. Majestät und auf
die öffentliche Meinung in Großbritannien bedauerlich sein würde.
Was nun den letzten Teil der Mitteilung des Botschafters betrifft,
80 erklärte ich, daß die Regierung Sr. Majestät diesen genau prüfen
müsse, aber daß die Erklärung über die deutsche Haltung gegenüber
dem Völkerbund zweifellos außerordentlich bedeutungsvoll sei. Der
Botschafter unterrichtete mich daraufhin, daß die Entscheidung der
deutschen Regierung hinsichtlich des Völkerbundes weitgehend ihrem
Wunsch zuzuschreiben sei, den häufig von dem Premierminister und
mir geäußerten Ansichten entgegenzukommen, in denen wir nach-
drücklich betonten, daß die Politik der Regierung Sr. Majestät sich
auf den Völkerbund und die kollektive Sicherheit gründet.
Deutschland, sagte er, sei bereit, sich dieser Politik anzuschließen,
und knüpfe keine Bedingungen an seine Rückkehr in den Völkerbund.
Wenn die deutsche Regierung erwarte, daß die Völkerbunds-
satzung im geeigneten Zeitpunkt aus dem Versailler Vertrag gelöst
und die Frage der kolonialen Gleichberechtigung geregelt würde, seien
dies keine Bedingungen, sondern Verhandlungsgegenstände nach voll-
zogener Rückkehr Deutschlands in den Völkerbund.
Ich beabsichtige nicht die Bedeutung der deutschen Mitteilung,
über die ich dem Hause berichtet habe, zu unterstreichen. Gleich-
lautende Memoranden sind den übrigen Signatarmächten des Locarno-
vertrages, nämlich Frankreich, Italien und Belgien, übermittelt
worden.
Bevor ich jedoch zu Bemerkungen allgemeiner Art übergehe,
möchte ich das Haus über die Schritte unterrichten, die in der un-
mittelbaren Zukunft getan werden müssen.
Die französische und die belgische Regierung haben mit vollem
Wissen und im Einverständnis mit der Regierung Sr. Majestät be-
antragt, daß der Völkerbundsrat sobald als möglich einberufen werden
soll, um die Sachlage zu prüfen. Ich muß dabei betonen, daß der
Völkerbundsrat das für diesen Zweck zuständige Organ ist.
Der Rat wird, wie verlautet, am nächsten Freitag zusammen-
treten, und vor dieser Tagung kann natürlich keine Entscheidung
getroffen werden. Aber morgen wird in Paris ein Meinungsaustausch
stattfinden zwischen den Vertretern der vier Locarnomächte ohne
Deutschland, der übermorgen in Genf fortgesetzt werden wird. Die
Regierung Sr. Majestät wird bei diesen Besprechungen durch den
Lordsiegelbewahrer Lord Halifax und mich vertreten sein.
Ich habe dem Haus nun einen Bericht über die jüngsten Ereig-
nisse gegeben, mit einigen Anmerkungen dazu. Ich habe dem Haus
außerdem die Einzelheiten des in der nächsten Zukunft einzuschlagen-
den Verfahrens, soweit sie mir bekannt sind, mitgeteilt.
Aber die ehrenwerten Mitglieder werden zweifellos schon jetzt
einige Andeutungen erwarten über die Gedanken und Absichten,
mit denen die Vertreter der Regierung Sr. Majestät in Genf an ein
Problem herangehen müssen, dessen Entwicklung bis jetzt noch in
00
Deutachland * England
[29
einigen wichtigen Punkten undurchsichtig ist. Das ist sicherlich
wünschenswert, denn niemand kann die Bedeutung der stabilisieren-
den Kraft einer klarsichtigen und einigen britischen Meinung auf die
europäischen Angelegenheiten in diesem kritischen Zeitpunkt übersehen.
Wir wollen uns nicht täuschen, der Kurs, den die deutsche Re-
gierung eingeschlagen hat, indem sie einseitig Verpflichtungen aufhob,
die sie freiwillig eingegangen ist, und indem sie gleichzeitig so handelt,
als ob diese Verpflichtungen nicht beständen, kompliziert und er-
schwert die internationale Lage.
(E: Parliomentary Debates. Hause of Commons. Bd. 309, Sp. 181411.. — D:
Weltgeschichte der Gegenwart, Bd. 3. S. 3641.)
Verhandlungen über gewisse Einschränkungen der Bemilifarisierung
des Bheinlandes, zu denen Deubchland bereil war^ scheiierlen daran^
daß von englischer Seite Forderungen gestellt wurden^ die nach wie vor
eine schwere und durch nichts begründete einseilige Bescfiränkung der
deutschen Hoheitsrechle bedeutet hallen. Es kam daher — ähnlich wie
ein Jahr vorher in der Frage der deutschen Wehrfreiheil — zu einer er-
neulen Diskriminierung Deutschlands durch den in London lagenden
Völkerbundsrat.
'^' Amtliche Verlautbarung über die Mitteilung des britischen
ÄuBenministers Eden an den deulsdien Botschafter in London
vom 11. März 1936
Es wurde bekanntgegeben, daß Herr Eden nach der außerordent-
lichen Sitzung des Kabinetts am Mittwochabend den deutschen Bot-
schafter Herrn von Hoesch sah und ihm sagte» daß man die ernste Be-
urteilung der gegenwärtigen Situation durch die britische Regierung
schwerlich übertreiben könne, Herr Eden teilte dem Botschafter mit,
daß am folgenden Tag eine zweite Sitzung der Locarnomüchte statt-
finden würde und daß sich die britische Regierung daher berechtigt
fühlte, Herrn Hitler zu bitten, sobald als möglich einen spontanen
Beitrag zu einer Regelung zu liefern,
Herr Eden gab dann den Umfang des zu leistenden spontanen
Beitrags an. Er schlug vor, die deutsche Regierung möge, um die Auf-
richtigkeit ihrer Wünsche darzutun,
L alle Truppen bis auf eine symbolische Zahl aus der Rheinland-
zone zurückziehen;
2. die Zahl nicht vermehren;
3. es übernehmen, die Zone nicht zu befestigen, wenigstens nicht
während des Zeitraumes, der nötig sei, um die Pakte zu ver-
handeln und die internationale Situation einzurenken.
'«'r (Herr Eden) sei sicher, daß, wenn die deutsche Regierung eine
^ntane Geste machen würde, dies ein wertvoller Beitrag zur
lung der internationalen Situation sein würde,
e Times vom 13. März 1936. — D: Eigene Übersetzung.)
32] Das Jahr 1936 91
Amtliche Verlautbamng über die Mitteilung des deutsdien 30.
Botsdiafters in London vom 12. März 1936 an Außenminister Eden
Eine Diskussion über dauernde oder vorübergehende Beschrän-
kungen unserer Souveränität in der Rheinlandzone kann für uns nicht
in Betracht kommen.
Um der französischen Regierung ein Eingehen auf die deutschen
Vorschläge zu erleichtern, will der Führer und Reichskanzler aber
seine von Anfang an bekundete Absicht, die Wiederherstellung der
Souveränität im Rheinland zunächst nur symbolisch in Erscheinung
treten zu lassen, in folgender Weise präzisieren:
Die Stärke der im Rheinland friedensmäßig in Garnisonen sta-
tionierten Truppen wird vorerst nicht erhöht werden.
Es besteht bis auf weiteres nicht die Absicht, diese Truppen näher
an die französische oder belgische Grenze heranzuführen.
Das vorstehend gekennzeichnete Maß der militärischen Wieder-
besetzung des Rheinlandes gilt für die Dauer der schwebenden Ver-
handlungen. Dies setzt allerdings eine gleiche Einstellung auch auf
französischer und belgischer Seite voraus.
(DNB. vom 13. Mftrz 1936.)
Resolution des Völkerbundrates vom 19. März 1936 31 .
Der Völkerbundrat stellt auf Ersuchen Belgiens und Frank-
reichs vom 8. März 1936 fest, daß die Deutsche Regierung gegen Artikel
43 des Versailler Vertrages verstoßen hat, indem sie am 7. März 1936
militärische Streitkräfte in die durch die Artikel 42ff. des besagten
Vertrages und durch den Locarnopakt demilitarisierte Zone einrücken
und dort Fuß fassen ließ, und fordert den Generalsekretär in Anwen-
dung von Artikel 4 Abs. 2 des Locarnopaktes auf, den Signatar-
mächten dieses Paktes von dieser Feststellung Mitteilung zu machen.
(F: S. d. N. Journal Officiel, April 1936, S. 340. — D: Berber: Locarno-
S. 287 f.)
Wenn auch die britische Regierung in dieser ihre Lebensinteressen
überhaupt nicht berührenden Frage nicht bereit war, einem Sanktionsvor-
schlag zuzustimmen^ so gingen die von ihr an Deutschland gestellten Zu-
mutungen doch so weit, daß Außenminister Eden sich genötigt sah, auch
in der englischen Öffentlichkeit lautgewordene Bedenken zu beschwichtigen.
Aus der Unterhausrede des britisdien Außenministers Eden 32.
vom 26. März 1936
Es ist kein Geheimnis, welche Haltung die französische und die
belgische Regierung einnahmen. Sie erklärten, daß es ihnen nicht
möglich wäre, mit Deutschland zu verhandeln, bevor irgendeine
Aktion in die Wege geleitet sei, die zeigte, daß die Gültigkeit inter-
nationaler Verträge aufrechterhalten bliebe. Als wir fragten, welche
92 Deutschland - England [32
Vorschläge sie in dieser Richtung machten, sagte uns die französische
Regierung, daß es ihrer Ansicht nach notwendig sei, daß Deutschland
seine Truppen aus der Zone zurückziehen solle, in die es entgegen den
Verpflichtungen eines von ihm unterzeichneten Vertrages einmar-
schiert war. Als wir fragten, wie diese Forderung durchgesetzt werden
sollte, wenn Deutschland sich weigern würde, wurde uns geantwortet:
Wenn die Zurückziehung auf keine andere Weise erreicht werden
könnte, dann sollte sie durch einen steigenden Druck, beginnend mit
finanziellen und wirtschaftlichen Sanktionen, durchgesetzt werden.
Wir teilten diesen Standpunkt nicht. Wir verkannten wieder die
Schwere des begangenen Vertragsbruches noch die Folgen für Europa,
aber wir hielten es für unsere gebieterische Pflicht zu versuchen, durch
Verhandlungen das Vertrauen wiederherzustellen. Dies war unser Ziel
von der ersten Stunde an in diesen kritischen vierzehn Tagen ; wir haben
durchweg versucht, wiederaufzubauen. Aber — wir müssen dieser Tat-
sache insAuge sehen — es ist unmöglich wiederaufzubauen, wenn nicht die
Grundlagen gut und wahrhaftig gelegt werden können, und die Grund-
lagen können dann nicht gut und w^ahrhaftig gelegt werden, wenn
einige Beteiligte glauben, daß das Gebäude schließlich doch nur das
Schicksal seiner Vorgänger teilen wird. Es ist unsere Aufgabe gewesen,
eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen, in der diese Verhand-
lungen stattfinden konnten. Dies waren allgemein die Gesichtspunkte
beim Beginn.
Wir dachten, der Lordsiegelbewahrer und ich, daß es bei der Be-
schaffenheit der gegenwärtigen Phase internationaler Beziehungen klug
wäre zu versuchen, unsere Kollegen dahin zu bringen, daß der Schau-
platz der Verhandlungen von Paris nach London verlegt würde. Sie
willigten ein, und das Ergebnis war, daß die Tagungen des Rates und
der Locarnomächte in London stattfanden. Es waren viele Tage an-
gespannter und sogar kritischer Verhandlungen. Der schwierige Kern-
punkt unseres Problems blieb immer: Wie sollte das internationale
Recht verteidigt werden? Wie sollten wir — woran uns selber am
meisten lag — diese schwierige vorläufige Periode überbrücken, bis
die Verhandlungen beginnen konnten? Das Weißbuch enthält drei
Vorschläge für diesen Zweck. Es fordert Deutschland auf, dreierlei zu
tun: den Streit über das Verhältnis vom französisch-sowjetrussischen
Pakt zum Locarnopakt vor den Haager Gerichtshof zu bringen; eine
Befestigung der entmilitarisierten Zone zu unterlassen und einer inter-
nationalen Truppe für die vorläufige Periode zuzustimmen.
Ich möchte jeden in diesem Hause, der diese Forderung für zu
weitgehend hält, bitten, sich an unseren Ausgangspunkt in Paris zu
erinnern, an die Forderung, die damals erhoben wurde, und die ganz
folgerichtig und berechtigt auf Grund des Wortlautes des Vertrages
selbst erhoben werden konnte. Ich muß klarstellen, daß diese Vor-
schläge stets Vorschläge gewesen sind. Sie sind kein Ultimatum,
noch weniger ein „Diktat". Wenn bei der internationalen Truppe die
Schwierigkeit läge, und wenn die deutsche Regierung einige andere
positive Vorschläge statt dessen machen könnte, dann würde die Re-
331 I^as ^^^^ 193G ^3
gierung Sr. Majestät völlig bereit sein, an die übrigen beteiligten
Mächte heranzutreten und zu versuchen, ihre Zustimmung dazu zu
erhalten; aber man muß zugeben, daß ohne einen positiven Beitrag
von deutscher Seite die Aufgabe derer, deren einziges Ziel und ein-
ziger Ehrgeiz die Ermöglichung dieser Verhandlungen ist, fast un-
möglich ist.
(E: Parliamentary Debates. House of Commons. Bd. 310, Sp. 1443 ff. — D:
Weltgeschichte der Gegenwart, Bd. 3, S. 419 f.)
Der Führer hal sich durch das Verhalten der britischen Regierung
in der Bheinlandfrage — das im übrigen in einem bemerkenswerten
Gegensatz zur öffentlichen Meinung in England stand — nicht entmutigen
lassen, seine konstruktiven Pläne für die Neuordnung Europas in einem
großzügigen Friedensplan niederzulegen^ der den Westmächten am
31. März 1936 in Form eines Memorandums übergeben wurde,
Memorandum der Reidbsregierung vom 31. März 1936 33.
(Deutsdier Friedensplan)
Mit aufrichtiger. Zustimmung hat die Deutsche Regierung von
dem Botschafter v. Ribbentrop erfahren, daß es der Wunsch der
Britischen Regierung und des britischen Volkes ist, baldmöglichst mit
den praktischen Arbeiten für eine wahre Befriedung Europas zu be-
ginnen. Dieser Wunsch deckt sich mit den innersten Absichten und
Hoffnungen des deutschen Volkes und seiner Führung. Es erfüllt
daher die Deutsche Regierung mit um so größerem Bedauern, daß sie
nicht in der Lage ist, in dem ihr am 20. März übergebenen Entwurf
der Vertreter der Locarnomächte eine taugliche und fruchtbare Grund-
lage für die Einleitung und Durchführung einer solchen wahrhaften
Friedensarbeit erkennen zu können.
Es fehlt diesem Entwurf in den Augen des deutschen Volkes und
in den Augen seiner Regierung jener Geist des Verständnisses für die
Gesetze der Ehre und Gleichberechtigung, die im Leben der Völker
zu allen Zeiten die erste Voraussetzung für die Abmachung freier und
damit geheiligter Verträge bilden.
(2) 1 , Die Deutsche Regierung glaubt es dem heiligen Ernst der in
Frage stehenden Aufgabe schuldig zu sein, sich in der Feststellung der
negativen Seite des ihr übergebenen Memorandums auf das Allernot-
wendigste zu beschränken. Sie will aber dafür versuchen, durch eine
Erweiterung und Klärung ihrer am 7. März ausgesprochenen Vor-
schläge von ihrer Seite aus den Beginn einer konkreten Arbeit der
europäischen Friedenssicherung zu erleichtern.
(3) Zum Verständnis ihrer «Ablehnung der einzelnen diskriminieren-
den Punkte sowie zur Begründung ihrer konstruktiven Vorschläge muß
die Deutsche Regierung folgendes grundsätzlich erklären:
Die eingeklammerten Zahlen stammen aus der englischen Obersetzung des
deutschen Memorandums und sind in den Text hier oben eingeschaltet worden,
weil der britische Fragebogen (u. S. 101 ff.) auf die Zahlen mehrfach Bezug nimmt.
94
Deutschland * England
13^
(4) Die Deutsche Regierung hat soeben vom deutschen Volk unter
anderem ein feierliches Genera Imandat erhalten zur Vertretung des
Reiches und der deutschen Nation nach zwei Richtungen:
1. Das deutsche Volk ist entschlossen, unter allen Umständen seine
Freiheit^ seine Selbständigkeit und damit seine Gleichberechtigung
EU wahren. Es sieht in der Vertretung dieser natürlichen internatio-
nalen Grundsätze des staatlichen Lebens ein Gebot der nationalen
Ehre und eine Voraussetzung für jede praktische Zusammenarbeit der
Völker, von der es unter keinen Umständen mehr abgehen wird,
2. Das deutsche Volk wünscht aus aufrichtigstem Herzen mit
allen seinen Kräften mitzuhelfen am großen Werk einer atigemeinen
Versöhnung und Verständigung der europäischen Nationen zura
Zweck der Sicherung des für diesen Kontinent, seine Kultur und seine
Wohlfahrt so notwendigen Friedens.
(5) Dies sind die Wünsche des deutschen Volkes und damit die
Verpflichtung der Deutschen Regierung.
(6) Die Deutsche Regierung möchte weiter in Anlehnung an ihre in
der vorläufigen Note vom 24, März 1936 schon mitgeteilte grundsätz-
liche Einstellung noch folgendes bemerken:
A. Deutschland hat im Jahre 1918 den Waffenstillstand abge-
schlossen auf Grund der 14 Punkte Wilsons, Diese sahen keinerlei Ein-
schränkung der deutschen Souveränität im Rheinland vor. Im Gegen-
teil: Der hauptsächlichste Grundgedanke dieser Punkte war» durch
eine neue Völkerordnung einen besseren und dauerhaften Frieden auf-
zubauen. Er sollte im weitesten Umfange dem Selbstbestinimungs-
recht gerecht werden, und zwar ohne Rücksicht auf Sieger oder Be-
siegte !
B. Der Königlich Britische Außenminister hat in seiner Rede vom
26. März über die entmilitarisierte Zone mitgeteiUi daO diese letzten
Endes nur als Ablösung für eine eigentlich von Frankreich im Jahre
1918 angestrebte Lostrennung des Rheinlandes errichtet wurde. Aus
dieser Feststellung ergibt sich, daß die entmilitarisierte Zone selbst
nur als Folge der vorausgegangenen Verletzung einer auch die Alliierten
bindenden Verpflichtung entstanden ist,
C. Die Demilitarisierungsbestimmungen des Versaiüer Vertrages
basierten demnach selbst auf der Verletzung einer Deutschland ge-
gebenen Zusicherung und besaßen als einziges rechtliches Argument
nur die Gewalt. Sie sind vom Versailler Vertrag in den Locarnopakt
übernommen worden nach einer neuerlichen Rechtsverletzung, näm-
lich der Besetzung des Ruhrgebietes, die selbst von englischen Kron-
juristen als Rechtsbruch bezeichnet worden ist,
D. Der sogenannte ,, freiwillige Verzicht** auf die Souveränität
Deutschlands in diesen westlichen Provinzen des Reiches ist mithin
eine Folge des Versailler Diktats und einer Kette von sich hier an-
schließenden schwersten Bedrückungen des deutschen Volkes, wobei
insbesondere hingewiesen werden muß auf die furchtbare Not- und
Zwangslage des Reiches infolge der Rheinlandbesetzung.
I (7) Wenn daher von Seiten der Britischen Regierung heute erklärt
33] Da6 Jahr 1936 95
wird, daß man wohl von einem Diktat von Versailles gesprochen habe,
aber doch niemals von einem Diktat von Locarno, so muß die Deutsche
' Regierung mit der Gegenfrage antworten :
„Gab es oder kann es überhaupt in der Welt ein großes Volk
geben, das freiwillig und ohne äußersten Zwang einseitig auf seine
Hoheitsrechte, und zwar in diesem Fall auf das primitivste Recht
der Verteidigung seiner eigenen Grenze verzichtet hat oder verzichten
würde?**
(8) Trotzdem aber hat das deutsche Volk diesen Zustand 17 Jahre
lang ertragen und noch am 21. Mai 1935 erklärte der Deutsche Reichs-
kanzler, daß „die Deutsche Reichsregierung in der entmilitarisierten
Zone einen für einen souveränen Staat unerhört schweren Beitrag zur
Beruhigung Europas sieht*', und daß die Reichsregierung „alle aus
dem Locarnovertrag sich ergebenden Verpflichtungen so lange halten
wird, als auch die anderen Vertragspartner bereit sind, zu diesem
Pakt zu stehen**.
(9) Die Deutsche Reichsregierung hat bereits in ihrer vorläufigen
Note vom 24. März 1936 darauf hingewiesen, daß der von Frankreich
mit Sowjetrußland abgeschlossene militärische Vertrag dem Locarno-
pakt sowohl die rechtliche als aber besonders die politische Grund-
lage und damit die Voraussetzung seiner Existenz entzogen hat. Es
erübrigt sich, hierauf noch einmal näher einzugehen. Denn:
Es ist kein Zweifel, daß die Tendenz, Europa mit Militärbünd-
nissen zu durchziehen, überhaupt dem Geist und Sinn der Aufrichtung
einer wirklichen Völkergemeinschaft widerspricht. Es wächst die
große Gefahr, daß aus dieser allgemeinen Verstrickung in militärische
Allianzen ein Zustand entsteht, der jenem gleicht, dem die Welt den
Ausbruch ihres furchtbarsten und sinnlosesten Krieges mit in erster
Linie zu verdanken hatte.
(10) Es liegt nun nicht im Vermögen einer einzelnen Regierung, eine
solche von bestimmten Großmächten eingeleitete Entwicklung zu
verhindern, allein es gehört zum pflichtgemäßen Auftrag jeder Re-
gierung, innerhalb der Grenzen des eigenen Hoheitsgebietes Vorsorge
vor jenen Überraschungen zu treffen, die sich aus einer solchen un-
durchsichtigen europäischen Militär- und Kabinettspolitik ergeben
können,
(11) Die Deutsche Regierung hat daher nach der vorliegenden Ent-
wicklung, die eine Aufhebung der juristischen und politischen Grund-
lagen und Voraussetzungen des Locarnopaktes bedeutet, sich auch
ihrerseits als an diesen Pakt nicht mehr gebunden erklärt und die
Souveränität des Reiches über das gesamte Reichsgebiet wiederher-
gestellt.
(12) Die Deutsche Regierung ist nicht in der Lage, ihren zur Sicher-
heit des Reiches unternommenen, nur deutsches Reichsgebiet betreffen-
den und niemand bedrohenden Schritt der Würdigung eines Gremiums
zu unterstellen, das selbst im günstigsten Fall nur die rechtliche Seite,
aber unter gar keinen Umständen die politische zu beurteilen in der
Lage ist. Dies gilt um so mehr, als der Völkerbundrat bereits eine Ent-
96 Deutschland - England [33
Scheidung getroffen hat, die die rechtliche Beurteilung der Frage prä-
judiziert.
(13) Die Deutsche Regierung ist weiter der Überzeugung, daß ein
solches Urteil nicht nur keinen positiven Beitrag liefern könnte für
eine wirkliche konstruktive Lösung der Frage der europäischen Sicher-
heit, sondern ausschließlich geeignet ist, eine solche Lösung zu er-
schweren, wenn nicht gar zu verhindern.
(14) Im übrigen: Entweder man glaubt an die Möglichkeit einer
allgemeinen europSischen Friedenssicherung, dann kann ein solcher
beabsichtigterEingriffindie Hoheitsrechte eines Staates nurerschwerend
wirken, oder man glaubt an eine solche mögliche Friedenssicherung
nicht, dann käme einem solchen Entscheid höchstens nachträglich eine
feststellende juristische Bedeutung zu.
(15) Die Deutsche Regierung kann daher in diesem Punkte sowie
in jenen weiteren dieses Entwurfes der Vertreter der Locarnomächte,
die sich nur als einseitig belastend für Deutschland erweisen, nicht nur
keinen nützlichen Beitrag für eine wirklich großzügige und konstruk-
tive Lösung der Frage der europäischen Sicherheit erblicken, sondern
höchstens Elemente der Diskriminierung eines großen Volkes und
damit einer Infragestellung jeder dauerhaften Friedensgestaltung.
(IG) Entsprechend dem ihr vom deutschen Volke erteilten Auftrag
muß daher die Deutsche Regierung alle Deutschland einseitig belasten-
den und damit diskriminierenden Vorschläge dieses Entwurfes ablehnen.
(17) Deutschland hat, wie schon aus seinem Angebot hervorgeht,
nicht die Absicht, jemals Belgien oder Frankreich anzugreifen. Es ist
bekannt, daß bei der gigantischen Rüstung Frankreichs und den
enormen Festungswerken an der französischen Ostgrenze ein solcher
Angriff aber auch rein militärisch sinnlos wäre.
(18) Aus diesen Gründen ist der Deutschen Regierung auch der
Wunsch der Französischen Regierung nach sofortigen Generalstabsver-
handlungen unverständlich. Die Deutsche Regierung würde darin nur ein
ernstes Präjudiz sehen, wenn vor dem Abschluß der neuen Sicherheits-
pakte solche Generalstabsabmachungen zustande kämen. Sie ist der
Auffassung, daß solche Abmachungen in jedem Falle erst die Folge
der politischen Beistandsverpflichtungen der fünf Locarnomächte
sein, und dann nur auf streng reziproker Grundlage stattfinden
könnten !
(19) Die Deutsche Regierung ist weiter der Auffassung, daß der
Komplex der vorliegenden Probleme zur leichteren Lösung nach den Ge-
sichtspunkten der beabsichtigten Ziele zweckmäßig gegliedert werden
müßte. Sie muß dann aber folgende grundsätzliche Fragen stellen:
Welches soll das Ziel der Bemühungen der europäischen Diplo-
matie sein?
A. Soll dieses Ziel sein, die sich als für jede dauernde Friedens-
sicherung als ungeeignet erwiesene Zweiteilung der europäischen Völker
in Mehr- oder Wenigerberechtigte, in Ehren- oder Unehrenhafte, in
Freie oder Unfreie unter irgendwelchen neuen Formen oder Modi-
fizierungen beizubehalten oder fortzuführen ?
33] Das Jahr 1936 97
Soll es weiter die Absicht der europäischen diplomatischen Be-
strebungen sein, aus einem solchen Willen heraus auf dem Wege ein-
facher majorisierender Beschlüsse Feststellungen über Vergangenes
zu treffen, Urteile aufzurichten, um damit die scheinbar juristisch
noch fehlenden Begründungen für die Fortführung dieses früheren Zu-
standes zu finden? Oder soll
B. das Bemühen der europäischen Regierungen daraufhin ge-
richtet sein, unter allen Umständen zu einer wirklich konstruktiven
Ordnung des Verhältnisses der europäischen Nationen untereinander
und damit zu einer dauerhaften Friedensgestaltung und -Sicherung
zu kommen ?
(20) Die Deutsche Regierung ist es ihrem Volke schuldig, hier ein-
deutig zu erklären, daß sie nur an diesem zweiten, in ihren Augen
allein aufbauenden Versuche teilnehmen wird, und dies dann aller-
dings aus tiefinnerster Überzeugung und mit dem vollen Gewicht des
aufrichtigen und sehnsüchtigen Willens der hinter ihr stehenden Na-
tion.
(21) Die Deutsche Regierung glaubt, daß dann die vor den euro-
päischen Staatsmännern liegende Gesamtaufgabe in drei Abschnitte
gegliedert werden müßte :
a) In die Zeit einer allmählich sich beruhigenden Atmosphäre
zur Klärung der Prozedur für die einzuleitenden Verhandlungen
b) In den Abschnitt der eigentlichen Verhandlungen zur Sicher-
stellung des europäischen Friedens.
c) In eine spätere Periode der Behandlung jener wünschens-
werten Ergänzungen des europäischen Friedenswerkes, die
weder in Inhalt noch in Umfang von vornherein genau fest-
gelegt oder begrenzt werden können oder sollten (Abrüstungs-
und Wirtschaftsfragen usw.).
(22) Zu diesem Zweck schlägt die Deutsche Regierung nun folgen-
den Friedensplan vor:
1 . Um den kommenden Abmachungen für die Sicherung des euro-
päischen Friedens den Charakter heiliger Verträge zu verleihen,
nehmen an ihnen die in Frage kommenden Nationen nur als voll-
kommen gleichberechtigte und gleichgeachtete Glieder teil. Der
einzige Zwang für die Unterzeichnung dieser Verträge kann nur in
der sichtbaren von allen erkannten Zweckmäßigkeit dieser Abmachun-
gen für den europäischen Frieden und damit für das soziale Glück und
das wirtschaftliche Wohlergehen der Völker liegen.
2. Um die Zeit der Unsicherheit im Interesse des wirtschaftlichen
Lebens der europäischen Völker möglichst abzukürzen, schlägt die
Deutsche Regierung vor, den ersten Abschnitt bis zur Unterzeichnung
der Nichtangriffspakte und damit der garantierten europäischen
Friedenssicherung auf vier Monate zu begrenzen.
3. Die Deutsche Regierung versichert unter der Voraussetzung
eines sinngemäßen gleichen Verhaltens der Belgischen und Französi-
schen Regierung, für diesen Zeitraum keinerlei Verstärkung der im
Rheinland befindlichen Truppen vorzunehmen.
Deutschland-England 7
Deutschland - England [33
4. Die Deutsche Regierung versichert, daß sie die im Rheinland
befindlichen Truppen während dieses Zeitraumes nicht näher an die
belgische und französische Grenze heranführen wird.
5. Die Deutsche Regierung schlägt zur Garantierung dieser beider-
seitigen Versicherungen die Bildung einer Kommission vor, die sich
aus Vertretern der Garantiemächte England und Italien und einer
desinteressierten neutralen dritten Macht zusammensetzt.
6. Deutschland, Belgien und Frankreich sind berechtigt, je einen
Vertreter in diese Kommission zu entsenden. Deutschland, Belgien
und Frankreich besitzen das Recht, dann, wenn sie glauben, aus be-
stimmten Vorgängen auf eine Veränderung der militärischen Ver-
hältnisse innerhalb dieses Zeitraumes von vier Monaten hinweisen zu
können, ihre Wahrnehmungen der Garantiekommission mitzuteilen.
7. Deutschland, Belgien und Frankreich erklären sich bereit, in
einem solchen Fall zu gestatten, daß diese Kommission durch die eng-
lischen und italienischen Militärattaches notwendige Feststellungen
treffen läßt und hierüber den beteiligten Mächten berichtet.
8. Deutschland, Belgien und Frankreich versichern, daß sie die
sich daraus ergebenden Beanstandungen im vollen Umfange berück-
sichtigen werden.
9. Im übrigen ist die Deutsche Regierung bereit, auf der Basis
voller Gegenseitigkeit mit ihren beiden westlichen Nachbarn jeder
militärischen Beschränkung an der deutschen Westgrenze zuzu-
stimmen.
10. Deutschland, Belgien und Frankreich und die beiden Garantie-
mächte kommen überein, daß sie, sofort oder spätestens nach Ab-
schluß der französischen Wahlen, unter Führung der Britischen Re-
gierung in Beratungen eintreten über den Abschluß eines 25jährigen
Nichtangriffs- bzw. Sicherheitspaktes zwischen Frankreich und Belgien
einerseits und Deutschland andererseits.
11. Deutschland ist einverstanden, daß in diesem Sicherheitsab-
kommen England und Italien wieder als Garantiemächte unter-
zeichnen.
12. Sollten sich aus diesen Sicherheitsabmachungen besondere
militärische Beistandsverpflichtungen ergeben, so erklärt sich Deutsch-
land bereit, auch seinerseits solche Verpflichtungen auf sich zu nehmen.
13. Die Deutsche Regierung wiederholt hiermit den Vorschlag
für den Abschluß eines Luftpaktes als Ergänzung und Verstärkung
dieser Sicherheitsabmachungen.
14. Die Deutsche Regierung wiederholt, daß sie bereit ist, falls
die Niederlande es wünschen, auch diesen Staat in dieses westeuro-
päische Sicherheitsabkommen einzubeziehcn.
15. Um dem Werk dieser aus freiem Willen erfolgenden Friedens-
sicherung zwischen Deutschland einerseits und Frankreich anderer-
seits den Charakter eines versöhnenden Abschlusses einer jahrhunderte-
langen Entzweiung zu geben, verpflichten sich Deutschland und
Frankreich, darauf hinzuwirken, daß in der Erziehung der Jugend
der beiden Nationen sowohl als in öffentlichen Publikationen alles
33] Das Jahr 1936 99
vermieden wird, was als Herabsetzung, Verächtlichmachung oder un-
passende Einmischung in die inneren Angelegenheiten der anderen
Seite geeignet sein könnte, die Einstellung der beiden Völker gegenein-
ander zu vergiften. Sie kommen überein, eiije gemeinsame Kommission
am Sitze des Völkerbundes in Genf zu bilden, die beauftragt sein soll,
einlaufende Beschwerden den beiden Regierungen zur Kenntnisnahme
und Überprüfung vorzulegen.
16. Deutschland und Frankreich verpflichten sich, im Verfolg
der Absicht, dieser Abmachung den Charakter eines heiligen Vertrages
zu geben, die Ratifizierung durch eine Abstimmung von den beiden
Völkern selbst vornehmen zu lassen.
17. Deutschland erklärt sich bereit, seinerseits in Verbindung zu
treten mit den Staaten an seiner Südost- und Nordostgrenze, um diese
zum Abschluß der angebotenen Nichtangriffspakte unmittelbar ein-
zuladen.
18. Deutschland erklärt sich bereit, sofort oder nach Abschluß
dieser Verträge wieder in den Völkerbund einzutreten. Die Deutsche
Regierung wiederholt dabei ihre Erwartung, daß im Laufe einer an-
gemessenen Zeit auf dem Wege freundschaftlicher Verhandlungen die
Frage der kolonialen Gleichberechtigung sowie die Frage der Trennung
des Völkerbundstatutes von seiner Versailler Grundlage geklärt wird.
19. Deutschland schlägt vor, ein internationales Schiedsgericht zu
bilden, das für die Einhaltung dieses Vertragswerkes zuständig sein
soll und dessen Entscheidungen für alle bindend sind.
(23) Nach dem Abschluß eines solchen großen Werkes der europäi-
schen Friedenssicherung hält es die Deutsche Reichsregierung für
dringend notwendig, Versuche zu unternehmen, einem uferlosen Wett-
rüsten durch praktische Maßnahmen Einhalt zu gebieten. Sie würde
darin nicht nur eine Erleichterung der finanziellen und wirtschaft-
lichen Lage der Völker sehen, sondern vor allem eine psychologische
Entspannung.
(24) Die Deutsche Reichsregierung verspricht sich aber nichts von
dem Versuch universaler Regelungen, der von vornherein zum Scheitern
verurteilt sein würde und daher nur von denen vorgeschlagen werden
kann, die am Zustandekommen eines praktischen Ergebnisses nicht
interessiert sind. Sie glaubt, daß demgegenüber die Verhandlungen
und Ergebnisse auf dem Gebiet der Beschränkung maritimer Rüstun-
gen belehrend und anregend wirken können.
(25) Die Deutsche Reichsregierung schlägt daher die spätere
Einberufung von Konferenzen mit jeweils nur einer, aber klar um-
rissenen Aufgabe vor.
(26) Sie sieht es als die zunächst wichtigste Aufgabe an, den Luft-
krieg in die moralische und menschliche Atmosphäre der seinerzeit durch
die Genfer Konvention dem Nichtkriegsteilnehmer oder dem Verwun-
deten zugebilligten Schonung zu bringen. So wie die Tötung wehrloser
Verwundeter oder Gefangener oder die Verwendung von Dumdum-
geschossen oder die Führung des warnungslosen U-Boot-Krieges
100 Deutschland - England [33
durch internationale Konventionen geregelt bzw. verboten worden
sind, muß es einer zivilisierten Menschheit gelingen, auch auf den
Crebieten neuer Waffenanwendung die Möglichkeit einer sinnlosen
Entartung zu unterbinden, ohne dem Zweck der Kriegführung zu
widersprechen.
(27) Die Deutsche Regierung schlägt daher für diese Konferenzen
zunächst als praktische Aufgaben vor:
1. Verbot des Abwurfes von Gas-, Gift- und Brandbomben.
2. Verbot des Abwurfes von Bomben jeglicher Art auf offene
Ortschaften, die sich außerhalb der Reichweite der mittleren schweren
Artillerie der kämpfenden Fronten befinden.
3. Verbot der Beschießung von Ortschaften mit weittragenden
Kanonen außerhalb einer Gefechtszone von 20 km.
4. Abschaffung und Verbot des Baues von Tanks schwerster Art.
5. Abschaffung und Verbot schwerster Artillerie.
(28) Sowie sich aus solchen Besprechungen und Abmachungen die
Möglichkeiten der weiteren Begrenzung der Rüstungen ergeben, sind
diese wahrzunehmen.
(29) Die Deutsche Regierung erklärt sich schon jetzt bereit, jeder
solchen Regelung, soweit sie international gültig wird, beizutreten.
(30) Die Deutsche Reichsregierung glaubt, daß, wenn auch nur ein
erster Schritt auf dem Wege zur Abrüstung gemacht ist, dies von
außerordentlicher Trag^^^eite für die Einstellung der Völker zueinander
sein wird, und damit auch für die Wiederkehr jenes Vertrauens,
das die Voraussetzung für die Entwicklung von Handel und Wohl-
stand bildet.
(31) Um dem allgemeinen Wunsche nach einer Wiederherstellung
günstiger wirtschaftlicher Verhältnisse zu entsprechen, ist sie daher
bereit, im Sinne der gemachten Vorschläge sofort nach Abschluß des
politischen Vertragswerkes mit den in Frage kommenden Ländern in
einen Gedankenaustausch über wirtschaftliche Fragen einzutreten und
alles in ihrer Macht stehende zur Verbesserung der Wirtschaftslage
in Europa sowie der von dieser nicht zu trennenden Weltwirtschaft im
allgemeinen beizutragen.
(32) Die Deutsche Reichsregierung glaubt, mit dem oben nieder-
gelegten Friedensplan ihren Beitrag geleistet zu haben zum Aufbau
eines neuen Europas auf der Basis der gegenseitigen Achtung und des
Vertrauens zwischen souveränen Staaten. Manche Gelegenheiten zu
dieser Befriedung Europas, zu der Deutschland in den letzten Jahren
so oft die Hand bot, sind versäumt worden. Möge dieser Versuch einer
europäischen Verständigung endlich gelingen.
(33) Die Deutsche Reichsregierung glaubt zuversichtlich, durch die
Vorlegung des obigen Friedensplanes den Weg hierzu nunmehr frei-
gemacht zu haben.
(DNB. vom 1. April 1936.)
Die englische Aniworl auf dieses weiigespannie Programm einer
europäischen Neuordnung war — ein ,yFragebogen'\ und zwar ein Frage-
*1
Das Jahr 1936
101
bogen, der nicht eiwa sachliche Auskünfte verlangte, sondern durch die
anmaßend-ironische Form seiner Formulierung offensichtlich darauf
abzielte, den Gedanken an eine sachliche Erörterung der deutschen Vor^
schlage im Keime zu ersticken. Nur so ist es verständlich, daß die britische
Regierung es für richtig hielt, ihren Fragebogen mit dem Bedauern ein-
zuleiten^ daß die deutsche Regierung nicht in der Lage gewesen sei, einen
^^greifbareren Beilrag zur Wiederherstellung des Vertrauens zu leisten,
das eine so wesentliche Vorbedingung für die umfassenden Verhandlungen
ist, die sie beide ins Äuge gefaßt haben^\ und daß sie anfragen zu müssen
glaubte, „ob sich das Deutsche Reich nunmehr in der Lage sieht, ,wirk'
liehe Verträge* abzuschließen''.
Instruktion der liritischen Regierung an ihren Botschafter in Berlin 34.
vom 6. Mai 1936 (Britischer Fragebogen)
Herr Botschafter 1 Euerer Exzellenz dürfte bekannt sein, daß die
Regierung Seiner Majestät im Vereinigten Königreiche seit einiger
Zeit die Denkschriften über die Wiederbesetzung der entmilitarisierten
Zone und die Friedensvorschläge der Deutschen Regierung sorgfältigst
erwogen hat, die mir von dem verstorbenen Herrn von Hoesch am
7» März 1936 und von Herrn von Ribbentrop am 24. März und am
1. April 193G übermittelt worden sind,
2. Eine solche Erwägung war natürlich unerläßlich angesichts
der Bedeutung, die Seiner Majestät Regierung, wie Eurer Exizellenz
bekannt ist^ der Aufrichtung eines wahren und dauernden Friedens
in Europa beimißt, der sich auf die Anerkennung der Gleichberechti-
gung und Unabhängigkeit eines jeden Staates, wie auch darauf gründet,
daß jeder Staat die von ihm eingegangenen Verpflichtungen beachtet.
Es ist der Wunsch der Regierung Seiner Majestät^ jegliche in ihrer
Macht liegende Anstrengung zu machen, um an der Förderung de»
Zieles mitzuarbeiten» das die Deutsche Regierung in der Denkschrift
vom 31. März als ,,das große Werk der Sicherung des europäischen
Friedens" bezeichnet. In Verfolgung dieses Zieles und um den Weg zu
ergebnisreichen Verhandlungen frei zu machen, richte ich diese Weisung
an Sie mit der Bitte, eine Rücksprache mit dem Herrn Reichskanzler
herbeizuführen. Ihren Ausführungen wollen Sie eine Erklärung in
diesem Sinne vorausschicken.
3. Eine Reihe der Vorschläge der Deutschen Regierung behandelt,
wie Eure Exzellenz wissen, vorläufige Maßnahmen in der entmilitari-
sierten Zone^ die bis zur Beendigung des ersten Abschnittes der all»
gemeinen Verhandlungen für den europäischen Frieden in Kraft
bleiben sollen, die die Deutsche Regierung vorgeschlagen hat. In
dieser Weisung beabsichtige ich nicht, auf diese vorläufigen Maß-
nahmen einzugehen, wenn Eure Exzellenz ja auch darüber im Bilde
sind, daß Seiner Majestät Regierung bedauert, daß die Deutsche
Regierung nicht imstande gewesen ist, einen greifbareren Beitrag zur
102
Deutschland - England
[3
Wiederherstellung des Vertrauens zu leisten, das eine so wesentliche
VorbediDgung für die umfassenden Verhandlungen ist, die sie beide
ins Auge gefaßt haben.
4. Im Laufe meiner Besprechung mit Herrn von Ribbeotrop am
2, April habe ich Seiner Exzellenz mitgeteilt» daß Seiner Majestät
Regierung die in der deutschen Denkschrift vom 3L März (die mir
am L April übermittelt worden war) im Hinblick auf die Zukunft
gemachten Vorschläge für sehr wichtig und einer ernsthaften Prüfung
würdig erachtet. Diese Prüfung ist nun bereits weit vorgeschritten;
aber Seiner Majestät Regierung stößt bei ihrer Fortsetzung auf Schwie-
rigkeiten, solange sie nicht mit der Deutschen Regierung (wie bereits
in dem Genfer Kommunique vom 10. April angedeutet worden ist)
eine Reihe von Punkten der drei Denkschriften eingehender erörtern
kann, vor allem der Denkschriften vom 24, und 3L März. Seiner
Majestät Regierung ist davon überzeugt, daß die Deutsche Regierung
ihre Ansicht teilt, daß die gröOtmögliche Klarheit erwünscht ist, ehe
allgemeine Verhandlungen beginnen können, damit nicht später etwa
Mißverständnisse das vertrauensvolle Zusammenarbeiten der euro-
päischen Mächte beeinträchtigen. Denn es ist die aufrichtigste Hoff-
nung Seiner Majestät Regierung, daß das vertrauensvolle Zusammen-
wirken durch die vorgeschlagenen Verhandlungen gefördert werden
möge, und sie ist davon überzeugt, daß die Deutsche Regierung diese
Hoffnung teilt.
5, In den deutschen Denkschriften vom 24, und 3L März kommt
eine Reihe von Stellen vor, die Seiner Majestät Regierung in einem
gewissen Zweifel darüber lassen, wie sich die Deutsche Regierung die
Grundlage denkt, auf der die zukünftige Regelung fußen soll.
6* Der erste Punkt, dessen Klarstellung wünschenswert ist, ist die
Frage, ob sich das Deutsche Reich nunmehr in der Lage sieht, „wirk-
liche Verträge'* abzuschließen.
In Abschnitt \, Absatz 2 der Denkschrift der Deutschen Regierung
vom 24, März 193^5 sind Stellen enthalten, die offenbar andeuten, daß
die Deutsche Regierung der Ansicht ist, durch ihr Vorgehen im Rhein-
land diese Lage geschaffen zu haben. Andererseits sind in Abschnitt 2
der Denkschrift vom 24, März Stellen enthalten, die anders ausgelegt
werden könnten, was die Regierung Seiner Majcstüt von sich aus aber
nicht tun möchte. Es ist selbstverständlich klar, daß Verhandlungen
über einen Vertrag zwecklos wären, wenn eine der Parteien spater die
Freiheit für sich in Anspruch nähme, die von ihr eingegangene Ver-
pflichtung mit der Begründung zu verleugnen, sie sei damals nicht in
der Lage gewesen, einen bindenden Vertrag abzuschließen* Die Regie-
rung Seiner Majestät wird eine klare Stellungnahme der Deutschen
Regierung begrüßen, die jede Ungewißheit über diesen Punkt aus-
räumt.
7. Wenn die in Abschnitt 6 der Denkschrift der Deutschen Regie-
rung vom 3L März angeführte Folgerung allgemein gelten soll, so
könnte dies zu Zweifeln darüber Anlaß geben, wie die Deutsche Re-
gierung über das weitere Inkraftbleibeo der übrigen noch gültigen
341
Das Jahr 1936
loa
Bestimmungeo des Vertrages von Versailles und schließlich aoch aller
Vereinbarungen denkt, von denen gesagt werden könnte, daß sie auf
die Bestimmungen des Vertrages von Versailles zurückgehen. Die
Regierung Seiner Majestät möchte über die in dem erwähnten Ab-
schnitt enthaltene historische Auslegung der Ereignisse nicht streiten
und will deshalb ihre eigenen Ansichten hier nicht aussprechen. Sie
muß aher natürlich klar zum Ausdruck bringen, daß es ihr nicht
möglich ist, den von der Deutschen Regierung in dem erwähnten Ab-
schnitt ausgesprochenen Ansichten zuzustimmen.
8. Abschnitt 4 der Denkschrift vom 31. März bietet einen weiteren
Anlaß zu Zweifeln. Es heißt in diesem Abschnitt, ,»die Deutsche Re-
gierung habe vom deutschen Volk ein feierliches Generalmandat er-
halten zur Vertretung des Reiches und der deutschen Nation** zur
Durchführung einer Politik, die unter allen Umständen ,, seine Freiheit,
seine Selbständigkeit und damit seine Gleichberechtigung** wahrt.
Anscheinend wird zwischen Reich und deutschem Volk ein Unter-
schied gemacht. Die Frage ist in Wirklichkeit die, ob Deutschland der
Ansicht ist, daß nunmehr ein Abschnitt erreicht ist, an dem es erklären
kann, daß es die bestehende gebietsmäßige und politische Ordnung
Europas anerkennt und zu achten beabsichtigt, soweit diese nicht
später im Wege freier Verhandlung und Übereinkunft abgeändert
werden sollte.
9. Ich gehe nunmehr zu anderen Dingen über. Die Denkschrift
vom 31. März erwähnt in Abschnitt 22, Ziffer 13 ,,den Abschluß eines
Luftpaktes als Ergänzung und Verstärkung dieser (westeuropäischen)
Sicherheitsabmachungen*'. Im F*rühjahr 1935 glaubte man, die
Deutsche Regierung vertrete die Ansicht, daß die Verhandlungen über
einen Luftpakt nicht durch den Versuch erschwert werden sollten,
gleichzeitig ein Abkommen zur Begrenzung der Luftstreitkräfte ab-
zuschließen. Seitdem scheint sich eine etwas widerspruchsvolle Lage er-
geben zu haben. In der Reichstagssitzung vom 21. Mai 1935 erwähnte
Herr Hitler die Möglichkeit eines Abkommens zur Begrenzung der
Luftwaffe auf der Grundlage einer Parität der Großmächte im Westen,
unter der Voraussetzung, wie wir annahmen, daß die Entwicklung der
Luftwaffe Sowjetrußlands keine Änderung nötig machen wird.
Die Rede des Herrn Reichskanzlers vom 21. Mai 1935 wurde nach
der Unterzeichnung des französisch-sowjetrussischen Vertrages ge-
halten, und doch teilte er Eurer Exzellenz im Dezember 1935 mit,
daß dieser Vertrag eine Begrenzung der Luftwaffe unmöglich gemacht
habe. Eine Entscheidung, die dahin ginge, eine regionale Begrenzung
der Luftstreitkräfte nicht gleichzeitig mit dem Abschluß eines Luft-
paktes im Westen zu versuchen, würde von Seiner Majestät Regierung
sehr bedauert werden. Die in Abschnitt 2 der deutschen Denkschrift
enthaltene Erklärung, daß die Ergebnisse des unlängst auf dem engeren
Gebiete der Seerüatung abgeschlossenen Vertrages die Deutsche Re-
gierung beeindruckt haben, ermutigt Seiner Majestät Regierung zu
der Hoffnung, daß die Deutsche Regierung ihr in diesem Punkte
beipflichten wird.
104 Deutschland - England [34
10. Seiner Majestät Regierung begrüßt es, daß die Deutsche Re-
gierung in der Denkschrift vom 31 . März, Abschnitt 22, Ziffern 10 und 14
den Abschluß von Nichtangriffspakten zwischen Deutschland einer-
seits und Frankreich, Belgien und möglicherweise Holland andererseits
vorschlägt. Seiner Majestät Regierung nimmt Kenntnis davon, daß
die Deutsche Regierung damit einverstanden ist, daß diese Pakte von
Garantieverträgen begleitet werden. Die genaue Fassung dieser Ver-
träge muß den Verhandlungen über die Einzelheiten vorbehalten bleiben.
Seiner Majestät Regierung nimmt auch Kenntnis von dem in
Abschnitt 22, Ziffer 17 gemachten Vorschlage von Nichtangriffsver-
trägen zwischen Deutschland und den an der deutschen Südost- und
Nordostgrenze gelegenen Staaten. Seiner Majestät Regierung erlaubt
sich, an die allgemeine Grundlinie für solche Verträge zu erinnern, wie
sie von Freiherrn von Neurath am 26. März 1935 in Berlin Sir John
Simon dargelegt worden ist. Sie würde es begrüßen zu erfahren, ob nach
Ansicht der Deutschen Regierung die erwähnten Pakte sich im all-
gemeinen an diese Grundlinie halten sollen, und ob sie damit ein-
verstanden ist, daß diese Pakte ebenfalls durch Abmachungen über
gegenseitige Unterstützung garantiert werden können.
Die Erklärung, die die Deutsche Regierung hinsichtlich der Bereit-
schaft Deutschlands zum Wiedereintritt in den Völkerbund abzugeben
in der Lage war, ermöglicht der Regierung Seiner Majestät die An-
nahme, daß die Frage der Übereinstimmung der vorgeschlagenen Nicht-
angriffspakte mit den Verpflichtungen als Völkerbundmitglieder
keinen Anlaß zu Schwierigkeiten bieten wird, und daß die Durch-
führung dieser Verträge sich im Rahmen der Völkerbundsatzun^
vollziehen wird.
Noch zwei weitere Punkte erfordern Aufmerksamkeit. Der erste
betrifft die Bedeutung der Worte „Staaten an Deutschlands Südost-
und Nordostgrenze**. Die Regierung Seiner Majestät kann sich dem
Eindruck nicht verschließen, daß die allgemeine Regelung sehr erheb-
lich erleichtert werden würde, wenn es der Deutschen Regierung mög-
lich wäre, diese Worte so auszulegen, daß sie neben den unmittelbar
an Deutschland angrenzenden Staaten mindestens auch die Sowjet-
union, Lettland und Estland einschließen. Seiner Majestät Regierung
gestattet sich, in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß die
Deutsche Regierung sich in ihrer Denkschrift vom 26. März 1935 bereit
erklärt hat, mit den „an den osteuropäischen Fragen interessierten
Mächten** Nichtangriffspakte zu schließen.
Der zweite Punkt betrifft Nichteinmischung in die Angelegen-
heiten anderer Staaten im Gegensatz zu Nichtangriff. Seiner Majestät
Regierung erinnert sich mit Befriedigung der Erklärung des Herrn
Reichskanzlers im Reichstag am 21. Mai 1935, daß die Deutsche
Regierung „jederzeit bereit sei, einer internationalen Vereinbarung
zuzustimmen, die in einer wirksamen Weise alle Versuche einer Ein-
mischung von außen in andere Staaten unterbindet und unmöglich
macht**.
11. In Abschnitt 22, Ziffer[19 „schlägt Deutschland vor, ein inter-
34] Das Jahr 1936 105
nationales Schiedsgericht zu bilden, das für die Einhaltung dieses
Vertragswerkes zuständig sein soll". Vermutlich sind hiermit die in
Abschnitt 22, Ziffern 9, 10, 11, 12, 13, 14 und 17 erwähnten Verein-
barungen gemeint. Es wäre wünschenswert zu erfahren, welches ganz
allgemein die Aufgaben und die Zusammensetzung des vorgeschlagenen
Schiedsgerichtes sein sollen, und in welcher Beziehung seine Aufgaben
zu denen des Völkerbundrates und des Ständigen Internationalen Ge-
richtshofes stehen sollen.
Angesichts der Ankündigung von Deutschlands Bereitschaft zur
Rückkehr in den Völkerbund wird die Deutsche Regierung gewiß
bereit sein anzugeben, wie ihre künftige Einstellung gegenüber dem
Ständigen Internationalen Gerichtshof sein wird (besonders in bezug
auf die Fakultativklausel) und gegenüber den verschiedenen Bestim-
mungen über Schiedsgerichtsbarkeit, Schlichtungsverfahren oder ge-
richtliche Regelung, die in Verträgen enthalten sind, an denen Deutsch-
land beteiligt ist.
12. Ich bitte Eure Exzellenz, wenn Sie mit dem Herrn Reichs-
kanzler sprechen, die in dieser Weisung aufgeworfenen Fragen mit ihm
zu erörtern und ihm einen Abdruck davon zu übergeben. Euer Exzellenz
wollen dabei bemerken, daß diese Ausführungen nicht erschöpfend
sind. Es liegen noch andere Fragen vor, die zu einem späteren Zeit-
punkt zur Sprache gebracht werden müssen ; und bevor Deutschlands
Rückkehr in den Völkerbund zur Erörterung kommt, wird die Deutsche
Regierung es gewiß auch für wünschenswert halten, die Worte „Tren-
nung des Völkerbundstatutes von seiner Versailler Grundlage" in Ab-
schnitt 22, Ziffer 18 näher zu erläutern. Für den Augenblick hält Seiner
Majestät Regierung es für besser, nur die Punkte zu behandeln, die
unbedingt geklärt werden müssen, bevor die allgemeinen Verhand-
lungen eröffnet werden, die sie, wie oben dargelegt worden ist, aufrich-
tig zu fördern wünscht.
(E: Cmd. 5175. Nr. 3. — D: DNB. vom 8. Mai 1936.)
Die Reichsregierung hal es selbsiversländlich nicht für nötig befunden^
Fragen zu beantworten, die zum Teil nur als eine bewußte Herausforderung
verstanden werden konnten, zum weiteren Teil in den Reden des Führers
bereits mehrfach in bündigster Form beantwortet worden waren. Infolge-
dessen kamen die W est paktver handlangen mit der Übergabe des britischen
Fragebogens zunächst ins Stocken,
Noch einmal kam es im Jahre 1936 zu einer deutsch-englischen Aus-
einandersetzung über Bestimmungen des Versailler Diktates. Durch eine
an die in den internationalen Stromkommissionen für Rhein, Donau,
Elbe und Oder vertretenen Regierungen gerichtete Note vom 14. November
1936 erklärte die Reichsregierung, daß sie die im Versailler Vertrag ent-
haltenen Bestimmungen über die auf deutschem Gebiet befindlichen Wasser-
straßen und die auf diesen Bestimmungen beruhenden internationalen
Stromakte nicht mehr als für sich verbindlich anerkenne. Sie führte in
ihrer Note aus, daß in Versailles im Widerspruch mit dem Grundgedanken
der Freiheit der Schiffahrt auf allen Wasserstraßen und der gleichen
106 Dwitachland > England ^35
Behandlung aller im Frieden lebenden Staaten auf diesen Wasserstraßen
einseitig zum Naekteü DeaisckUmds ein künstliches und den praktischen
Bedürfnissen der Schiffahrt zuwider laufendes Sgstem geschaffen worden
nei, das Deutschland eine dauernde internationale Cherwaehung seiner
Wasstersiraßen aufzuzwingen suchte, indem es die deutschen Hoheits-
rechte mehr oder weniger auf internationale Kommissionen unter weit-
gehender Mitwirkung ton Niehtufersiaaien Hbertrug. Sie betonte, daß
Deutschland sich auf das emsihaftesie bemüht habe, diese unerträgliche
Begelung durch anderweitige Vereird>arungen zu beseitigen. Die deutschen
Bevollmächtigten in den Kommissionen hätten in langwierigen Verhand-
lungen eersucht, spätestens bis zum L Januar 1937 einen Zustand her-
zustellen, der mit dem deutschen Standpunkt oerträglich gewesen wäre.
Ein Erfolg sei diesen Bemühungen versagt geblieben^ weil die anderen
beteiligten Mächte sich nicht hätten entschließen können^ ein System auf-
zugeben, das in seinen Grundlagen mit den deutschen Hoheilsrechten
unvereinbar sei.
Die britische Ardwort auf diesen deutschen Schritt entsprach wiederum
ganz der auch in der Frage der Wiederbesetzung des Rheinlandes ange-
wandten Taktik: Man konnte die innere Berechtigung des deutschen
Vorgehens nicht leugnen, glaubte sich aber über die dabei angewandten
Methoden beschweren zu müssen. Diese für die britische Polilik bezeich-
nende Gnindhallung hat viel dazu beigetragen, daß auch bei der Liquidie-
rung derjenigen Fragen des Versaiüer Vertrags, in denen englische In-
teressen nicht oder kaum berührt wurden, eine freundschaftliche Begelung
mit England nicht möglich war.
35. Unterhaaterklimiig des britisdien AoBeimimuten Eden
▼om 16. NoTember 1936
Am 14. November ging eine Note von der deutschen Botschaft
ein, in der erklärt wurde, daß die deutsche Regierung sich nicht länger
gebunden erachte an diejenigen Artikel des Versailler Vertrages, die
sich auf die Intemationalisierung der Flüsse und die Verwaltung des
Nordostseekanals beziehen, noch an irgendwelche internationalen Ab-
kommen, die daraus abgeleitet sind. Die Note rechtfertigt diesen Schritt
damit, daß die fraglichen Artikel Deutschland aufgezwungen und nicht
frei verhandelt worden seien. Die Note schließt aber mit der Fest-
stellung, daß in Zukunft die Fahrzeuge aller Staaten, die mit Deutsch-
land in Frieden leben, auf deutschen Wasserstraßen unter der Voraus-
setzung der Gegenseitigkeit die gleiche Behandlung erfahren werden
wie die deutschen; die deutschen Strombehörden würden bereit sein
zur Erörterung und zum Abschluß eines Abkommens mit den ent-
sprechenden Behörden der anderen Uferstaaten über Angelegenheiten
von allgemeinem Interesse. Die deutsche Regierung führt auch Klage
darüber, daß ihre Vertreter seit dem Kriege noch nicht wieder zu der
Europäischen Donau-Kommission, die die Hündung dieses Flusses kon-
trolliert, zugelassen worden seien.
35] Das Jahr 1936 107
Folgende Stromkommissionen werden von dieser Erklärung be-
rührt: die Internationale Donau-Kommission, die Zentralkommission
für den Rhein, die Internationale Kommission für die Elbe und die
Internationale Kommission für die Oder. Die Regierungen Seiner
Majestät und Frankreichs sind ebenso wie die Uferstaaten in allen
diesen Kommissionen vertreten, und Italien in allen außer in der Oder-
Kommission.
Die deutsche Regierung hat seit der Unterzeichnung des Vertrages
von Versailles bei vielen Gelegenheiten zum Ausdruck gebracht, daß
sie in zahlreicher Hinsicht mit der durch die Friedensverträge ein-
gesetzten internationalen Stromverwaltung unzufrieden sei; aber am
21. Mai 1935 erklärte der deutsche Reichskanzler öffentlich in bezug auf
die verbleibenden Artikel des Vertrages, einschließlich derjenigen, die
sich auf die internationalen Flüsse und den Nordostseekanal beziehen:
„Die deutsche Regierung wird die im Wandel der Zeiten unvermeid-
lichen Revisionen nur auf dem Wege einer friedlichen Verständigung
durchführen.** Diese Erklärung wurde dem britischen Botschafter in
Berlin am 31. Mai 1935 bestätigt.
Seit vielen Jahren haben langwierige Verhandlungen stattgefun-
den, die zum Ziele hatten, die deutschen Wünsche mit den Interessen
der anderen in Betracht kommenden Mächte auszusöhnen. Die Ver-
handlungen führten zu beachtenswerten Erfolgen, z. B. wurde im
letzten Mai ein Abkommen von allen in Betracht kommenden Mächten,
einschließlich Deutschlands, aufgesetzt, das die Schiffahrt auf dem
Rhein regulierte; die Niederlande, die noch gewisse Bedenken rein
technischer Art hatten, schlössen sich aus. Das Abkommen würde
trotz des Fernbleibens der Niederlande am 1. Januar in Kraft getreten
sein, vermöge des modus vivendi, den Deutschland jetzt gekündigt
hat. Weiterhin führten direkte Verhandlungen zwischen der deutschen
und der tschechoslowakischen Regierung kürzlich zu einem Abkommen
über die Elbe, das, wie man gehofft hatte, in aller Kürze in Kraft
treten sollte.
Unter diesen Umständen bedauert die Regierung Seiner Majestät,
daß die Deutsche Regierung zu einem Zeitpunkt, in dem Verhand-
lungen stattfanden, und trotz ihrer im letzten Jahre gegebenen Ver-
sicherungen wiederum den Wog der Verhandlungen verlassen hat zu-
gunsten einer einseitigen Aktion. Dieses Bedauern entspricht nicht
der Furcht, daß irgendwelche britischen Handelsinteressen durch den
Schritt der deutschen Regierung gefährdet worden sind, sondern wird
veranlaßt durch die Tatsache, daß derartige Handlungen die Hand-
habung der internationalen Beziehungen schwieriger gestalten müssen.
(E: Parliamentary Debates. House of Commons. Bd. 317, Sp. 1334 f. — D:
Berber, Versailles, S. 1480 ff.)
AU ein weiterer, häufig nicht genügend l>eachteter deutscher Beitrag
zur Flottenverständigung erfotgte im November 1936 der Beitritt Deutsch-
lands zum Londoner U -Boot-Protokoll vom 6. November 1936. Es ist
ganz offensichtlich, daß dieses Protokoll, das eine weitgehende Einschrän-
108 Deutschland - England [36
kung der U-Boot-Kriegführung zur Folge haben mußle, eine Vereinbarung
darsteUUj die am weiieslen den Interessen Englands — des geschworenen
Feindes der U-Boot-Waffe — entgegenkam. Wie nicht anders zu erwarten
war^ ist dieser wichtige deutsche Beitrag zum Werk der Flottenverstän-
digung mit England jedoch kaum jemals in einem seiner Bedeutung ent-
sprechenden Maße gewürdigt worden,
36. Note der Reichsregiening vom 23. November 1936 über den Beitritt
Deutschlands zum U-Boot-ProtokoII
In einer Mitteilung vom 9. d. M. hat der Königlich Britische Bot-
schafter in Berlin dem Reichsminister des Auswärtigen Abschrift eines
am 6. November 1936 in London unterzeichneten Protokolls über die
Regeln der Unterseebootkriegführung gemäß Teil IV des Londoner
Vertrages vom 22. April 1930 übersandt und dabei namens seiner
Regierung der Hoffnung Ausdruck verliehen, die Deutsche Regierung
werde den genannten Regeln beitreten. Diese Regeln lauten:
„1. Bei ihrem Vorgehen gegen Handelsschiffe müssen Untersee-
boote sich nach den Bestimmungen des Völkerrechts richten, welchen
Überwasserschiffe unterworfen sind.
2. Insbesondere darf, mit Ausnahme des Falles der fortgesetzten
Weigerung zu stoppen, nachdem die ordnungsmäßige Aufforderung
hierzu ergangen ist, oder des tatsächlichen Widerstandes gegen Be-
sichtigung oder Untersuchung, ein Kriegsschiff, ob Uberwasserschiff
oder Unterseeboot, ein Handelsschiff nicht versenken oder zur See-
fahrt untauglich machen, ohne vorher die Passagiere, die Bemannung
und die Schiffspapiere an einen sicheren Ort gebracht zu haben. Für
diesen Zweck werden die Boote des Schiffes nicht als ein sicherer Ort
angesehen, es sei denn, daß die Sicherheit der Passagiere und der Be-
mannung bei den herrschenden See- und Wetterverhältnissen durch
die Nähe von Land oder durch die Anwesenheit eines anderen Schiffes,
welches in der Lage ist, sie an Bord zu nehmen, gewährleistet ist.*'
Die Deutsche Regierung hat anläßlich der deutsch-englischen
Flottenverhandlungen in der Zusammenfassung den Besprechungen
zwischen den deutschen und englischen Flottensachverständigen am
23. Juni 1935 ihre Bereitwilligkeit erklärt, den Bestimmungen über
den Unterseebootkrieg des Teiles IV des Londoner Seerüstungsver-
trages beizutreten.
Demgemäß beehre ich mich, im Auftrage meiner Regierung zu
erklären, daß die Deutsche Regierung den oben wiedergegebenen
Regeln beitritt und diese als vom heutigen Tag ab für sie verbindlich
annimmt.
von Ribbentrop
(DNB. vom 23. November 1936.)
1937
37] Das Jahr 1937 111
Das Jahr 1937 begann mil einer im Hinblick auf die deutsch-eng-
lischen Beziehungen höchst charakteristischen grundsätzlichen Ausein-
andersetzung zwischen dem Außenminister Eden und dem Führer, deren
im folgenden wiedergegebene wichtigste Partien keines weiteren Kom-
mentars bedürfen. Besondere Beachtung verdient ein Telegramm des
deutschen Geschäftsträgers in London , das deutlich den Kurs der von der
britischen Regierung gesteuerten planmäßig feindseligen Pressepolitik
erkennen läßt,
SdiluB der Unterhausrede des britischen Außenministers Eden vom 37.
19. Januar 1937
Ich möchte nun einige Worte über die allgemeine internationale
Lage sagen. Ich bitte dringend um die Aufmerksamkeit des Hauses,
weil das, was ich zu sagen habe, vielleicht von größerer Bedeutung ist,
als was gewöhnlich von einem Staatssekretär des Äußeren im Verlauf
einer Debatte gesagt wird. Ich werde morgen nach Genf abreisen, um
einer der drei ordentlichen Ratstagungen beizuwohnen. Wir werden
dort einer geradezu erschreckenden Tagesordnung gegenüberstehen,
die allen Kritikern zum Trotz an sich schon die wichtige Rolle zum
Ausdruck bringt, die der Völkerbund in internationalen Angelegen-
heiten spielt. Unsere Aufgabe wird es sein zu versuchen, diese Rolle
zu unterstreichen und zu erweitern. Aber ehe ich zu jener Tagung
abreise, möchte ich gewisse Bemerkungen an das Haus richten. In
Reden, die ich kürzlich vor dem Unterhause und im Lande gehalten
habe, habe ich versucht, die Ziele unserer gegenwärtigen Außenpolitik
und die Mittel, durch welche jene Ziele erreicht werden könnten, zu
umreißen. Ich werde nicht versuchen, jene Reden zu wiederholen,
aber in der ersten Rede, die ich im neuen Jahr gehalten habe, sind
gewisse Faktoren, mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben. Die
Regierung Seiner Majestät ist augenblicklich damit beschäftigt, die
Wiederaufrüstung ihrer drei Waffengattungen durchzuführen. Obwohl
wir der Überzeugung sind, daß dies ein unumgängliches Mittel für die
Erreichung unseres Zieles ist, so ist es nicht unser Ziel selbst. Dies
bleibt, wie ich früher festgestellt habe, durch Verhandlungen zu einer
europäischen Ordnung zu gelangen und die Autorität des Völkerbundes
zu stärken. Wir sind bereit, an dem gemeinsamen Werk der politischen
1 12 Deutschland - England [37
Befriedung und wirtschaftlichen Zusammenarbeit mitzuwirken. Wenn
dies Werk von Erfolg gekrönt sein soll, bedarf es der Mitarbeit aller,
und wenn dieses erreicht wird, kann es bei niemandem in diesem Hause
oder sonstwo einen Zweifel darüber geben, daß wir ein besseres, ge-
sünderes und gedeihlicheres Europa in einer Welt des Friedens schaffen
können.
Wie kann das geschehen? Die Welt muß nicht nur ihre Rüstungs-
ausgaben verringern, weil diese ihren Lebensstandard schon herab-
setzen, sondern sie muß die Möglichkeiten wirtschaftlicher Zusammen-
arbeit lernen, so daß der Lebensstandard gehoben werden kann. Lassen
Sie uns nie vergessen, daß unser Ziel in diesem Lande das Wohlergehen
aller sein muß ; damit meine ich sowohl die Hebung des Lebensstandards
in den Ländern, in denen er heute niedrig ist, und seine Besserung dort,
wo er heute verhältnismäßig hoch ist. Wir sind bereit, dabei mitzu-
helfen, daß erhöhte wirtschaftliche Möglichkeiten geschaffen werden;
dies sollte jedoch nach unserer Ansicht unter einer Bedingung geschehen.
Wirtschaftliche Zusammenarbeit und politische Befriedung müssen
Hand in IJand gehen. Wenn wirtschaftlicher und finanzieller Auf-
schwung nur zu erhöhten Rüstungen und politischen Störungen führt,
wird der Sache des Friedens eher geschadet als genützt. Andererseits
wird eine neue und freiere wirtschaftliche und finanzielle Zusammen-
arbeit, die sich auf feste und gut angelegte politische Verpflichtungen
gründet, eine mächtige Hilfe für die Herstellung einer einheitlichen
Zielsetzung in Europa sein. Letztes und höchstes Ziel allen ehrlichen
politischen Strebens in jedwedem Lande muß die Hebung des Lebens-
standards sein. Wir sind heute durch die Wissenschaft gut genug dar-
über unterrichtet, daß das geschehen kann, wenn es in einer Atmosphäre
des Friedens und gegenseitigen Vertrauens unternommen wird. Indem
wir uns dieser Aufgabe zuwenden, erkennen wir gewisse Dinge nicht
an. Wir erkennen nicht an, daß Europa vor der Alternative einer Dikta-
tur der Rechten oder Linken steht. Wir erkennen nicht an — und lassen
Sic mich das ganz klar herausstellen — , daß die Demokratien der Nähr-
boden für den Kommunismus sind. Wir sehen sie eher als sein Gegen-
mittel an. Wir finden uns nicht damit ab, Europa fieberhaft rüsten zu
sehen unter den widerstreitenden Zeichen rivalisierender Ideologien.
Es gibt einen besseren Weg. Wir kennen ihn, und wir wünschen ihn
zu beschreiten.
Und so muß ich diesen Überblick mit einigen Worten über Deutsch-
land abschließen. Die Zukunft Deutschlands und die Rolle, die es in
Europa spielen wird, ist heute die Hauptfrage für ganz Europa. Diese
große Nation von 65 000 000 Menschen im Herzen unseres Kontinents
hat die Rasse und den Nationalismus zu einem Glaubensbekenntnis
erhoben, das mit derselben Inbrunst ausgeübt wird, mit der es verkündet
wird. Die ganze Welt fragt sich gegenwärtig, wohin diese Lehren
Deutschland führen sollen, wohin sie uns alle führen. Werden sie ihm
die Stellung einer Großmacht in der Mitte Europas zurückgeben, die
die Achtung der anderen großen und kleinen Mächte genießt und die
mannigfachen Gaben ihrer Bevölkerung dazu benutzt, Vertrauen und
37] Das Jahr 1937 113
Wohlergehen wiederherzustellen in einer Welt, die Kämpfe und Gegen-
sätze herzlich satt hat und die Rückkehr zu den normalen Bedingungen
für Arbeit und Gemeinschaft leidenschaftlich herbeisehnt? Oder werden
sie Deutschland zu einer Verschärfung der internationalen Gegensätz-
lichkeiten und zu einer Politik noch größerer wirtschaftlicher Isolierung
führen? Europa fragt sich heute ernstlich, welches die Antworten auf
diese Fragen sind : denn Europa kann sich nicht weiterhin einer immer
unsicherer werdenden Zukunft entgegentreiben lassen. Es kann sich
nicht zwischen akuten nationalen Rivalitäten und in starkem Gegen-
satz stehenden Ideologien zerreißen lassen, und es kann nicht hoffen,
am Leben zu bleiben, ohne Wunden davonzutragen, die während einer
Generation nicht verheilen. Es steht in Deutschlands Macht, eine Wahl
zu beeinflussen, die nicht nur sein eigenes, sondern auch das Schicksal
Europas entscheiden wird. Wenn es die volle und gleiche Zusammen-
arbeit mit anderen Nationen wählt, dann gibt es niemanden in diesem
Lande, der nicht von ganzem Herzen dazu beitragen wird, Mißver-
ständnisse zu beseitigen und den Weg zu Frieden und Wohlergehen
zu ebnen.
Aber es ist müßig, sich einzubilden, daß wir die Übel, an denen
wir leiden, durch reine Linderungsmittel beheben könnten; auch keine
lokalen Heilmittel werden genügen. Es darf keine Vorbehalte oder
Ausflüchte seitens irgendeiner Nation — welche Ideologie und welche
Regierungsform sie auch bevorzugt — in ihrer Zusammenarbeit mit
anderen und im Verzicht auf jede Art von Einmischung in die Ange-
legenheiten anderer geben. Wir können die Welt nicht durch Pakte
oder Verträge heilen. Wir können sie auch nicht durch politische
Glaubensbekenntnisse, welcherart sie auch immer sein mögen, heilen.
Wir können sie nicht durch Reden heilen, mögen sie noch so himmel-
anstrebend und friedvoll sein. Es muß ein unmißverständlicher Wille
zur Zusammenarbeit da sein. Dieser Wille wird auf sehr bestimmte Art
zum Ausdruck kommen — durch Ablehnung der Lehre nationaler Ex-
klusivität und Anerkennung jedes europäischen Staates als potentiellen
Partners eines allgemeinen Abkommens, durch Herabsetzung der
Rüstungen auf ein Maß, das für die notwendigen Bedürfnisse der Ver-
teidigung ausreicht und nicht darüber hinaus, und durch Annahme
solcher internationaler Einrichtungen zur Beilegung von Konflikten,
die den Völkerbund zu einem Segen für alle und zu niemandes Knecht
machen.
Diese Dinge müssen jetzt zu Anfang des neuen Jahres klar fest-
gestellt werden. Wir selbst haben keinen größeren Wunsch als den der
vollen Zusammenarbeit mit anderen; und dabei machen wir keine
Ausnahmen. Wo immer dieser gleiche Wunsch sich kundtut, werden
wir ganz darauf eingehen, und wir werden für das größtmögliche Zu-
sammenhalten in dem Glauben arbeiten, daß es von der großen Mehr-
heit des Volkes jeder Nation im Grunde des Herzens leidenschaftlich
gewünscht wird.
(E: Parliamcntary Debates. Bd. 310, Sp. 93 ff. — D: Monatshefte für Aus-
wörtige Politik, 1937, S. 66 ff.)
Deutschland-England 8
114 Deutschland - England [38
38. Aus der Reidistagsrede des Führers vom 30. Januar 1937
Ich möchte an dieser Stelle meinen wirklichen Dank aussprechen
für die Möglichkeit einer Antwort, die mir geboten wurde durch die
so freimütigen wie bemerkenswerten Ausführungen des Herrn eng-
lischen Außenministers.
Ich habe diese Ausführungen, wie ich glaube, genau und richtig
gelesen. Ich will mich natürlich nicht in Details verlieren, sondern ich
möchte versuchen, die großen Gesichtspunkte der Rede Mister Edens her-
auszugreifen, um meinerseits sie entweder zu klären oder zu beantworten.
Ich will dabei zuerst versuchen, einen wie es mir scheint, sehr be-
dauerlichen Irrtum richtigzustellen. Nämlich den Irrtum, daß Deutsch-
land irgendeine Absicht habe, sich zu isolieren, an den Geschehnissen
der übrigen Welt teilnahmslos vorbeizugehen oder daß es etwa keine
Rücksicht auf allgemeine Notwendigkeiten nehmen wolle.
Worin soll die Auffassung, Deutschland treibe eine Isolierungs-
politik, ihre Begründung finden?
Soll diese Annahme der Isolierung Deutschlands gefolgert werden
aus vermeintlichen deutschen Absichten, dann möchte ich dazu folgen-
des bemerken :
Ich glaube überhaupt nicht, daß jemals ein Staat die Absicht
haben könne, sich bewußt an den Vorgängen der übrigen Welt als
politisch desinteressiert zu erklären. Besonders dann nicht, wenn diese
Welt so klein ist wie das heutige Europa. Ich glaube, daß, wenn wirk-
lich ein Staat zu einer solchen Haltung Zuflucht nehmen muß, er es
dann höchstens unter dem Zwang eines ihm selbst aufoktroyierten
fremden Willens tun wird.
Ich möchte Herrn Minister Eden hier zunächst versichern, daß
wir Deutsche nicht im geringsten isoliert sein wollen und uns auch gar
nicht als isoliert fühlen. Deutschland hat in den letzten Jahren eine
ganze Anzahl politischer Beziehungen aufgenommen, wieder ange-
knüpft, verbessert und mit einer Reihe von Staaten ein — ich darf
wohl sagen — enges freundschaftliches Verhältnis hergestellt. Unsere
Beziehungen in Europa sind von uns aus gesehen zu den meisten
Staaten normale, zu einer ganzen Anzahl von Staaten sehr freund-
schaftliche. Ich stelle hier an die Spitze die ausgezeichneten Bezie-
hungen, die uns vor allem mit jenen Staaten verbinden, die aus ähn-
lichen Leiden wie wir zu ähnlichen Folgerungen gekommen sind . . .
Allein auch wirtschaftlich gibt es nicht den geringsten Anhalts-
punkt dafür, zu behaupten, daß Deutschland sich der internationalen
Zusammenarbeit etwa entzöge. Es ist ja doch wohl umgekehrt. Wenn
ich so die Reden mancher Staatsmänner in den letzten Monaten über-
sehe, dann kann nur zu leicht aus ihnen der Eindruck entstehen, als
ob etwa eine ganze Welt darauf warte, Deutschland mit wirtschaft-
lichen Gefälligkeiten zu überschwemmen und nur wir verstockte
Isolierungspolitiker an diesen Genüssen nicht teilnehmen wollen.
Ich möchte zur Richtigstellung dessen ein paar ganz nüchterne
Tatsachen anführen:
6]
Bas Jahr 1937
115
Erstens: Seit Jahr ynd Tag müht sich das deutsche Volk ab, mit
seinen Nachbarn bessere Handelsverträge und damit einen regeren
Güteraustausch zu erreichen- Und diese Bemühungen waren auch nicht
vergeblich» denn tatsächlich ist der deutsche Außenhandel seit dem
Jahre 1932 sowohl dem Volumen als auch dem Werte nach nicht
kleiner, sondern gröCer geworden. Dies widerlegt am schärfsten die
Meinung, daß Deutschland eine wirbchaftliche Isolierungspolitik be-
triebe.
Zweitens: Ich glaube aber nicht, daß es eine wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit der Völker auf einer anderen Ebene, und ZAvar von
Dauer geben kann als auf der eines gegenseitigen Waren- und Güter*
austausches. Kredit manipulationcn können vietleicht für den Augen*
blick ihre Wirkung ausüben, auf die Dauer aber werden die wirtschaft-
lichen internationalen Beziehungen immer bedingt sein durch den
Umfang des gegenseitigen Warenaustausches, Und hier ist es ja nun
nicht so, daß die andere Welt etwa mit ungeheuren Aufträgen oder
Perspektiven einer Steigerung des wirtschaftlichen Austauschverkehra
aufzuwarten in der Lage wäre, dann, wenn ich weiß nicht was für
Voraussetzungen sonst erfüllt sein würden.
Man soll doch die Dinge wirklich nicht noch mehr komplizieren,
als sie es an sich schon sind. Die Weltwirtschaft krankt nicht daran,
daß Deutschland sich etwa an ihr nicht beteiligen will, sondern sie
krankt daran, daß in die einzelnen Produktionen der Völker sowohl
als auch in deren Beziehungen zueinander eine Unordnung gekommen
ist. Beides hat nicht Deutschland verschuldet. Am wenigsten das
heutige nationalsozialistische Deutschland. Denn als wir zur Macht
kamen, war die Weltwirtschaftskrise wohl noch schlimmer als heute.
Ich befürchte allerdings^ den Worten Mister Edens entnehmen
zu müssen, daß er als ein Element der Ablehnung internationaler Be-
ziehungen von Seiten Deutschlands die Durchführung des neuen Vier-
jahresplanes ansieht.
Ich möchte daher darüber keinen Zweifel aufkommen lassen, daß
der Entschluß, diesen Plan durchzuführen, keine Änderung zuläßt.
Die Gründe, die uns zu diesem Entschluß veranlaßten, w^aren zwin-
gende. Und ich habe in der letzten Zeit nichts entdecken können, was
uns irgendwie von der Durchführung dieses Entschlusses hätte ab-
zubringen vermögen.
Ich nehme nur ein praktisches Beispiel:
Die Durchführung des Vierjahresplanes wird durch die synthe-
tische Erzeugung von Benzin und Gummi allein eine jährliche Mehr-
förderung von 20 — 30 Millionen Tonnen Kohle in unserem Lande
sicherstellen. Das heißt aber die Beschäftigung von vielen Zehntausen-
den von Kohlenbergarbeitern für die ganze Zukunft ihres Lebens. Ich
muß mir wirklich die Frage erlauben: Welcher Staatsmann würde in
der Lage sein, mir im Falle der Nichtdurchführung des deutschen
Vierjahresplanes die Abnahme von 20 oder 30 Millionen Tonnen Kohle
durch irgendeinen anderen Wirtschaftslaktor außerhalb des Reiches
zu garantieren? Und darum handelt es sich.
116 Deutschland - England [38
Ich will Arbeit und Brot für mein Volk. Und zwar nicht vorüber-
gehend durch die Gewährung meinetwegen von Krediten, sondern
durch einen soliden, dauernden Produktionsprozeß, den ich entweder
in Austausch bringen kann mit Gütern der anderen Welt oder in Aus-
tausch bringen muß mit eigenen Gütern, im Kreislauf unserer eigenen
Wirtschaft.
Wenn Deutschland durch irgendeine Manipulation diese 20 oder
30 Millionen Tonnen Kohle in der Zukunft auf den Weltmarkt werfen
wollte, so würde dies doch nur dazu führen, daß andere Länder ihre
bisherige Kohlenausfuhr vermutlich senken müßten. Ich weiß nicht,
ob ein englischer Staatsmann z. B. ernstlich eine solche Möglichkeit
für sein Volk ins Auge fassen könnte. Dies aber ist das Entscheidende.
Denn Deutschland hat eine ungeheure Zahl von Menschen, die
nicht nur arbeiten, sondern auch essen wollen. Auch der übrige Lebens-
standard unseres Volkes ist ein hoher. Ich kann die Zukunft der deut-
schen Nation nicht aufbauen auf den Versicherungen eines auslän-
dischen Staatsmannes über irgendeine internationale Hilfe, sondern
ich kann sie nur aufbauen auf den realen Grundlagen einer laufenden
Produktion, die ich entweder im Innern oder nach außen absetzen
muß! Und hier unterscheide ich mich vielleicht in meinem Mißtrauen
von den optimistischen Ausführungen des englischen Außenministers., .
Sollte aber — ich muß auch dies untersuchen — die Ursache für
die Meinung, Deutschland treibe Isolierungspolitik, etwa unser Aus-
tritt aus dem Völkerbund sein, dann möchte ich doch darauf hinweisen,
daß die Genfer Li^a niemals ein wirklicher Bund aller Völker war,
daß eine Anzahl großer Nationen ihr entweder überhaupt nicht ange-
hörten oder schon vor uns den Austritt vollzogen hatten, ohne daß
deshalb jemand behaupten wird, diese betrieben eine Isolierungspolitik.
Ich glaube also, daß Mister Eden in diesem Punkt die deutschen
Absichten und unsere Auffassungen sicherlich verkennt. Denn nichts
liegt uns femer als, sei es politisch oder wirtschaftlich, die Beziehungen
zur anderen Welt abzubrechen oder auch nur zu vermindern. Im Gegen-
teil, das Umgekehrte ist richtiger.
Ich habe es so oft versucht, zur Verständigung in Europa einen
Beitrag zu leisten, und habe besonders. oft dem englischen Volke und
seiner Regierung versichert, wie sehr wir eine aufrichtige und herzliche
Zusammenarbeit mit ihnen wünschen. Und zwar wir alle, das ganze
deutsche Volk und nicht zuletzt ich selbst!
Ich gebe aber zu, daß in einem Punkt eine tatsächliche und, wie
mir scheint, unüberbrückbare Verschiedenheit zwischen den Auffas-
sungen des englischen Außenministers und unseren besteht.
Mister Eden betont, daß die britische Regierung unter keinen
Umständen wünsche, Europa in zwei Hälften zerrissen zu sehen.
Ich glaube, diesen Wunsch hatte wenigstens früher in Europa
anscheinend niemand. Heute ist dieser Wunsch nur eine Illusion.
Denn tatsächlich ist die Zerreißung in zwei Hälften nicht nur Europas,
sondern der Welt eine vollzogene Tatsache.
Es ist bedauerlich, daß die britische Regierung nicht schon früher
40] Das Jahr 1937 117
ihre heutige Auffassung vertreten hat, daß eine Zerreißung Europas
unter allen Umständen vermieden werden müsse, denn dann wäre es
nie zum Versailler Vertrag gekommen. Dieser Vertrag hat tatsächlich
die erste Zerreißung Europas eingeleitet: nämlich die Aufteilung der
Nationen in Sieger und Besiegte und damit Rechtlose.
(Verhandlungen des Reichstags, Bd. 459, S. 11 ff.)
Telegramm des deutsdien Gesdiäftsträgers in London 39.
an das Auswärtige Amt vom 1. Februar 1937
Während Londoner Sonntagspresse unter spontanem Eindruck
der Führerrede in Überschriften fast durchweg positive Momente der
Rede stark hervorhob, folgt heutige Londoner Presse, mit Ausnahme
durchaus positiv eingestellter Daily Mail, den gestern vom Foreign
Office ausgegebenen Losungen, die sie zum Teil durch eigene Zutaten
ergänzt. Wegen der vom Außenministerium ausgegebenen Richtlinien
verweise ich auf die nur zur Information gegebene DNB.-Meldung vom
1. Februar morgens. Ergebnis ist, daß beutige Presse fast durchweg
der Meinung Ausdruck gibt, daß Führerrede keine Förderung in gegen-
wärtiger politischer Lage bedeute und daß positive Momente bagatel-
lisiert und den meisten Punkten eine abträgliche Deutung gegeben
wird. Erklärungen über Reichsbahn und Reichsbank und über Kriegs-
schuldfrage finden so gut wie keine Beachtung.
Woermann
(Aus den Akten des Auswärtigen Amtes.)
Die in den Ausführungen des britischen Außenministers zutage
getretenen Äußerungen des Mißtrauens und der Verdächtigung gegen
Deutschland sollten auch für dm Jahr 1937 bestimmend bleiben. Von
deutscher Seite wurden immer wieder Vorstöße in Richtung einer grund-
sätzlicheny auf dem Flottenabkommen und einem Westpakt aufzubauenden
Verständigung unternommen, bei der in irgendeiner Weise auch die
Kolonialfrage hätte geregelt werden müssen.
Aus der Rede des Botsdiaf ters von Ribbentrop in Leipzig 40.
vom 1. März 1937
Die Einteilung der Welt nach dem Kriege in Sieger und Besiegte
brachte auch ihre Einteilung in die Nationen der „Habenden'' und der
„Habenichtse", wie ein britischer Staatsmann dies im vorigen Jahre
ausdrückte. Es ist nun ein durchaus natürlicher und verständlicher
Vorgang, wenn die Nationen, die nichts haben, den Allesbesitzenden
mit Unzufriedenheit und die Besitzenden den Nichtbesitzenden mit
Mißtrauen gegenüberstehen. Diese Unzufriedenheit -und dieses Miß-
trauen können ober wiederum nur dadurch beseitigt werden, daß die
besitzenden Nationen zu einem Arrangement mit den Besitzlosen
118
Deutschland - England
[40
kommen, das, wenn es auch diese nicht zu den Reichen dieser Erde
macht, so doch ihnen einen gewissen Ausgleicli bietet.
Versailles hat Deutschland, einen der einst wohlhabendsten
Staaten der Erde^ in die Front der Besitzlosen gedrängt. Man hat
Deutschland seinerzeit un vernünftigerweise seine gesamten mobili-
sierten Werte genommen und so eine Ungleichheit des Besitzstandes
auf allen Gebieten geschaffen» die letzten Endes niemals von Dauer sein
kann, und die heute für ein gut Teil der Unruhe in der Welt verant-
wörtlich zu machen ist.
Es liegt aber im Interesse aller Staaten, diese Unruhe in der Welt
«u beseitigen und daher einen Ausgleich zwischen den besitzenden und
den besitzlosen Nationen zu finden*
W*as die Lösung der Kolonialfrage angeht, so hat der Führer in
seiner Rede vom 30. Januar erklärt, daß ,,die Forderung nach Kolo-
nien in unserem so dicht besiedelten Lande sich als eine selbstverständ-
liche immer wieder erheben wird**, und hat gleichzeitig die Gründe,
die für die Zurückhaltung der ehemaligen deutschen Kolonien von dem
Auslande vorgebracht werden, schlagend widerlegt. Wenn man heute
die Mantelnote des Versailler Vertrages nachliest uod feststellt, wie
dort die Verwandlung der deutschen Kolonien in Mandatsgebiete
wörtlich begründet wird mit ,,den Raubzügen auf den Welthandel,
die Deutschland von seinen Kolonien aus betrieben hat", und mit der
Unfähigkeit, Kolonien zu verwalten, so wird uns heute so recht klar,
unter welch krankhafter Haßpsychose und mit welch fadenscheinigen
Gründen der deuUche Kolonialbesitz liquidiert wurde. Ich glaube, daß
jeder Vernünftigdenkende heute diese Argumentierung der damaligen
Zeit kaum mehr für möglich hallen wird und ferner glaube ich, daß
auch jeder Unvernünftige kaum behaupten wird, daß diese seltsame
Begründung des Präsidenten Wilson, daß „eine freie, weitherzige und
unbedingt unparteiische Schlichtung aller kolonialen Ansprüche ge-
funden werden müsse*\ zu verein boren ist. Ausschließlich vertrauend
auf die Wilsonschen Zusagen hat aber das deutsche Volk seinerzeit
die Waffen niedergelegt.
Deutschland beansprucht grundsätzlich das Recht auf Kolonial-
besitz, wie dies auch jeder anderen, selbst der kleinsten Nation der Welt,
zusteht, und muß jegliche Argumentation, die ihm dieses Recht streitig
machen will, in aller Form zurückweisen.
Im übrigen: England, Japan, Frankreich, Italien, Holland, Bel-
gien, Spanien, Portugal, alle diese Länder haben Kolonien und zum
Teil Kolonialreiche, die meist um ein Gewaltiges größer sind als die
Motterländer. Deutschland mit seiner auf engstem Räume zusammen-
gedrängten großen Bevölkerung braucht Kolonien mehr als irgend
jemand. Ausgerechnet Deutschland aber soll keine Kolonien besitzen?
Ebenso abwegig aber wie die Gründe, mit denen Deutschland die
Kolonien weggenommen wurden, ist auch die Begründung, die man
dann und wann iti der ausländischen Presse liest, wonach Deutschland
eine imperialistische Kolonialpolitik treiben und seine Kolonien zu
strategischen Stützpunkten ausbauen würde. Abgesehen davon, daß
I
41] Das Jahr 1937 119
militärisch gesehen an sich jede Kolonie für Deutschland von vorn-
herein eine verlorene Position bedeutet, ist wohl der zwischen Deutsch-
land und England abgeschlossene Flottenvertrag der schlagendste
Beweis gegen solche Behauptungen. Ich darf im übrigen in diesem
Zusammenhang an die seinerzeitige Erklärung des Führers erinnern,
daß mit dem Besitz von Kolonien sich keine Erhöhung der deutschen
Flottenforderung ergeben würde.
(DNB. vom 2. Mftrz 1937.)
Aus dem Beridit des Botschafters von Ribbentrop 41.
vom 14. Februar 1937 über seine Ansspradie mit dem stellvertretenden
AuBenminister Lord Halifax
Ich habe Halifax zum Schluß unserer Aussprache nochmals mit
allem Ernst vorgestellt, daß meiner Auffassung nach die Gestaltung
des deutsch-englischen Verhältnisses bestimmend für die zukünftige
gesamte Weltentwicklung sei. Mr. Baldwin habe mir ja einmal erklärt,
Deutschland und England seien die beiden stärksten und männlichsten
Nationen der Welt; wir dürften nie wieder kämpfen, denn ein noch-
maliger Kampf zwischen uns würde ein Kampf bis zum bitteren Ende
sein. Dies sei durchaus auch die Auffassung des Führers und Reichs-
kanzlers. Mir schiene daher die Frage der Beziehungen dieser beiden
großen Völker zueinander von so überragender Bedeutung zu sein,
daß bei klarer Erkenntnis der Dinge alle anderen Probleme dagegen
verblassen müßten. Die diplomatische Sicherheit zwischen unseren
beiden Ländern könnte meiner Auffassung nach letzten Endes nur
durch zwei Dinge, nämlich durch die klare Festlegung der gegenseitigen
vitalen Interessen zur See und zu Lande garantiert werden. Die erste
Frage sei durch das Flottenabkommen gelöst, die zweite Frage könnte
durch einen Garantievertrag für die low countries und vielleicht
darauffolgende weitere westliche Friedenssicherungen geregelt werden.
Damit seien die nach menschlichem Ermessen zwischen unseren
Ländern überhaupt möglichen Sicherungen getroffen. Durch Schaffung
dieser Garantien fiele aber jeder wirkliche Kriegsgrund zwischen
England und Deutschland fort. Hüten müßten sich die beiden Völker
aber, je wieder in einen Krieg hineingezogen zu werden, in dem sie
sich für Interessen, die sie nicht vital berühren, als Feinde gegenüber-
stehen würden. Deutschlands Politik liege klar in dieser Richtung,
während ich in England immer noch starke Kräfte sähe, die sich zu
einer solchen Erkenntnis in keiner Weise durchgerungen hätten. Einmal
werde, früher oder später, auch England sich entscheiden müssen.
Einen Mittelweg werde es meines Erachtens nicht geben, und ich hoffte
nur, daß die sprichwörtliche Nüchternheit britischer Staatsmänner
nicht zu lange zögern möchte, den den wahren britischen Interessen
entsprechenden Entscheid zu treffen. Halifax schienen diese Gedanken-
gänge stark zu interessieren, und er sagte mir zum Schluß, daß er
122 Deutschland - England [44
Davon aber kann man in London überzeugt sein: die Erfah-
rungen, die wir dieses Mal gemacht haben, sind für uns eine Belehrung,
die wir niemals mehr vergessen werden I
Wir werden von jetzt ab in solchen Fällen doch lieber die Frei-
heit, die Unabhängigkeit, die Ehre und die Sicherheit der Nation in
unsere eigenen Hände nehmen und uns selbst beschützen! Und Gott
sei Dank, wir sind heute auch stark genug, um uns selbst schützen zu
können!
Wir haben aus diesem Vorgang Konsequenzen gezogen, die für die
ganze Zukunft wirksam seia werden. Redensarten in Parlamenten oder
von Staatsmännern werden uns in Zukunft nicht mehr einnebeln
können. Wir haben einen Angriff erlebt, seine Behandlung gesehen
und sind dadurch geheilt für immer. Ich hatte getan, was man pflicht-
gemäß tun mußte. Es wurde versucht, und heute kann niemand mehr
in der Welt erklären, daß wir böswilligerweise irgendwie voreingenom-
men seien gegen kollektive Abmachungen.
Nein! Hätte sich diese kollektive Abmachung vom 12. Juni be-
währt, hätte man es sich vielleicht überlegen können, ob man nicht
doch noch weiter geht. Nachdem sich aber selbst diese kleinste Ab-
machung in der Praxis als undurchführbar erwies, soll das für uns
nun eine Warnung sein, eine ähnliche Enttäuschung eines Tages nicht
vielleicht in einem schlimmeren Fall noch einmal zu erleben.
Jede Katze kann sich einmal die Pfoten verbrennen und jeder
Mensch einmal Fehler machen, aber nur Narren tun das gleiche zwei-
mal! Weder ich noch die deutsche Nation haben nun Lust, sich ein
zweites Mal in eine solche Gefahr zu begeben.
(DNB. vom 28. Juni 1937.)
Gleichwohl dachte die Reichsregierung nicht daran, die gleichzeitig
laufenden Flottenverhandlungen zu unterbrechen. Es kam vielmehr am
19. Juli 1937 in London zur Unterzeichnung eines weitereny qualitativen
Flottenabkommens, das eine wertvolle und für das englische System der
Flottenverträge außerordentlich wichtige Ergänzung der deutsch-eng-
lischen Flottenverständigung bildete. Selbst Außenminister Eden konnte
nicht umhin, ,,den staatsmännischen GeisV* der deutschen Außenpolitik
in diesem Punkte anzuerkennen.
44. Aus der Unterhausrede des britisdien Außenministers Eden
vom 19. Juli 1937
Da ich die heute bestehenden Schwierigkeiten in der Zusammen-
arbeit der Staaten kenne, möchte ich der vferdiensUichen und staats-
männischen Haltung der deutschen und der sowjetrussischen Regie-
rung — es ist reizvoll, sie beide in einem Atemzug nennen zu können —
Anerkennung zollen, die durch den Abschluß von Flottenabkommen
mit England vor einigen Tagen freiwillig dem System der qualitativen
Begrenzung und des Austausches von Informationen, das im Londoner
45] Das Jahr 1937 123
Flottenvertrag festgelegt worden ist, beigetreten sind. Ich möchte
mich über dieses Thema, das noch morgen vom Marineminister be-
handelt wird, nicht weiter auslassen, aber ich finde, daß ihre Bereit-
willigkeit, auf dem Gebiet der Seerüstungsbeschränkung mit uns zu-
sammenzuarbeiten, ein sicherer Beweis dafür ist, daß es bei beider-
seitigem gutem Willen und gegenseitigem Verstehen nicht unmöglich
ist, auch die schwierigsten Probleme zu lösen.
(E: Parliamentary Debates. House of Commons. Bd. 326, Sp. 1817. — D:
MonaUhefte für Auswärtige Politik, 1937, S. 523.)
Trotz dieses abermaligen bedeutenden Entgegenkommens der deut-
schen Politik in der Flottenfrage dauerte die antideutsche Pressehetze in
England an,
Telegramm des deutsdien Gesdiäftsträgers in London 45.
an das Auswärtige Amt vom 11. August 1937
Wie aus DNB.-Berichten dort bekannt, ist in letzten Tagen hier
in Linkspresse förmliche Kampagne gegen in England lebende Deutsche
und besonders Parteiangehörige entfacht worden. Habe dies zum An-
laß genommen, um im Foreign Office bei Deutschlandreferenten
Strang in ernster Weise auf Gefahr einer derartigen Kampagne hinzu-
weisen. Habe dabei insbesondere News Chronicle vom 9. August,
Manchester Guardian und Evening Standard vom 10. August und
Daily Herald vom 11. August erwähnt, der direkt gegen Parteior-
ganisation in England hetzt. Habe angeführt, daß Beispiel Schweiz
zeige, wohin derartige Hetzkampagne führen könnte, worauf Strang
von sich aus Namen Gustloff nannte. Habe dabei besonders Hetze
Daily Herald gegen Parteiorganisation hervorgehoben und erwähnt,
daß nach Daily Herald auch Foreign Office mit Prüfung Angelegenheit
befaßt sei. Da in Daily Herald auch entstellender Bericht über an-
gebliche Parteiveranstaltung gegeben wird, wo Landesgruppenleiter
Bene anwesend war, womit offenbar Feier vom 1. Mai gemeint ist,
habe ich ausgeführt, daß auf dieser Versammlung ja englische Polizei
anwesend gewesen sei, die sicher darüber berichtet habe. Mir sei vor
allem in Erinnerung, daß Bene alle in England lebenden Deutschen er-
mahnt habe, sich der Pflichten bewußt zu sein, die sie gegenüber Eng-
land als Gastland hätten. Ich wisse, daß auch gegenwärtiger Landes-
gruppenleiter in gleichem Sinne arbeite. Um so törichter sei es, wenn
Parteimitglieder in England verdächtigt würden. Artikel legten Ver-
mutung nahe, daß derartige Mitteilungen vom Home Office oder
Scotland Yard ausgingen, was völlig unverständlich sein würde.
Strang nahm meine Ausführungen verständnisvoll auf, wußte
aber nicht recht, wie er darauf reagieren sollte. Er wiederholte bekannte
These von Freiheit englischer Presse, worauf ich ihn erneut darauf
hinwies, daß bei gutem Willen Einflußmöglichkeit bestände. Er ver-
sicherte, daß Foreign Office an Kampagne in keiner Weise beteiligt
124 Deutschland - England [45
sei, er glaube auch nicht, daß dies auf andere britische amtliche Stellen
zutreffen könne. Ich insistierte darauf, daß etwas geschehen müsse,
worauf er zusagte, die Angelegenheit zunächst mit Sir Robert Van-
sittart zu besprechen und mir nach einigen Tagen weitere Antwort
zu geben.
AnschUeßend erwähnte ich, daß mir Vansittart von 60 deutschen
Jouraalisten in England gesprochen habe und daß in Presse Zahlen
von 80 und über 100 genannt würden. Wie ich festgestellt habe, seien
auf deutscher Journalistenliste ledigUch 32 Personen verzeichnet. Ich
könne mir denken, daß die hohe Zahl zum Teil dadurch zu erklären
sei, daß Emigranten hier noch mit JournaHstenausweisen tätig seien
und daß vielleicht auch einige Gelegenheitsjournalisten miteinge-
schlossen seien. Die dauernde Erwähnung der hohen Zahl der Jour-
nalisten erfolgt aber offenbar zum Zweck, durchbHcken zu lassen,
daß es sich hier nicht wirklich um Journalisten handele. Wir seien
selbst an der Reinhaltung des Journalistenberufes interessiert. Wenn
die britischen Behörden Beschwerden hätten, sollten sie diese doch
offen mit uns besprechen und nicht auch in dieser Hinsicht derartige
Kampagne starten.
Woermann
(Aus den Akten des Auswärtigen Amtes.)
Den zweiten Versuch eines unmiltelbaren deulsch-englischen Kon-
takies in diesem Jahre bildete der Besuch des damaligen Lordpräsidenten
(späteren Außenministers) Lord Halifax in Berlin vom 17, bis 21, No-
vember 1937,
Indessen war auch dieser zweite Versuch von so vielen merkwürdigen
Begleitumständen umgeben, daß die mit ihm verfolgten Absichten in
einem höchst zweideutigen Lichte erscheinen müssen. Noch bevor Lord
Halifax in Deutschland überhaupt eingetroffen war, mußte sich die
Nationalsozialistische Parteikorrespondenz bereits am 14. November
energisch gegen tendenziöse Kombinationen verwahren, die im Zusammen-
hang mit der bevorstehenden Reise in der englischen und französischen
Presse angestellt worden waren. In gleicher Weise mußte sie nach dem
Abschluß des Besuches am 24, November gegen falsche Tendenzmel-
dungen protestieren, die sich über angeblich von deutscher Seite in den
Besprechungen mit Lord Halifax gestellte Forderungen ausließen, Lord
Halifax selbst äußerte sich zuerst am 2, Dezember 1937 anläßlich des
zweiten Jahrestages der „Anglo-German Fellowship*^ in London über
seinen Berliner Besuch. Es war sehr bezeichnend, daß er sich in seinen
Äußerungen darauf beschränkte, von der Berliner Jagdaussiellung zu
sprechen, die er auf Einladung von Generalfeldmarschall Göring besich-
tigt hatte. Die offizielle Erklärung Chamberlains über die Berliner Be-
sprechungen schob die Frage der deutsch-englischen Beziehungen auf
jenes lote Geleise, das die britische Regierung schon in der Frage des
Westpaktes benutzt hatte, um eine wirkliche Einigung zu verhindern: sie
gipfelte wiederum in der utopischen Forderung einer „Gesamtregelung'',
46] Das Jahr 1937 125
Verlautbanmg der NS.-Parteikorrespondenz vom 24. November 1937 46.
über den Besudi des Lordpräsidenten Halifax in Berlin
Erst vor kurzem sahen wir uns genötigt, mit deutlichen Worten
Pressemanövern entgegenzutreten, die noch vor dem Besuche des Lord-
präsidenten Halifax versuchten, mit dreisten Unterstellungen die inter-
nationale Atmosphäre zu vergiften. Man hätte annehmen sollen, daß
diese überall verstandene klare Antwort auf derartige für die Besse-
rung der internationalen Beziehungen denkbar „ungeeignete Methoden**
genügt hätte, um den verantwortungslosen Elementen in der aus-
ländischen Presse die Lust zu nehmen, ihre ebenso lächerlichen wie
gefährlichen Machenschaften fortzusetzen.
Diese Hoffnung war trügerisch! Nach dem Besuche des Lord-
präsidenten HaHfax wurde die Lügenflut eines Teiles der ausländischen
Presse schlimmer denn zuvor. Angebliche ,, Forderungen**, „Wünsche**
und Behauptungen über mehr oder weniger „poHtische Erpressungen**
des Führers sind nach wie vor in den Spalten dieser Blätter Themen
des Tages. So liefert uns neuerdings der „Manchester Guardian** ein
Musterstück lügenhafter Berichterstattung.
Der diplomatische Korrespondent dieses Blattes berichtet, daß
deutscherseits in den Besprechungen mit Lord Halifax „Forderungen**
gestellt worden seien, die sich in folgenden Punkten zusammenfassen
ließen :
1 . Deutschland sei bereit, dem Völkerbund unter einer Reihe von
Bedingungen, die sich auf bestimmte Punkte des Versailler
Vertrages und die Anerkennung der italienischen Oberhoheit
über Abessinien beziehen, wieder beizutreten.
2. England werde von Deutschland aufgefordert, einer Reorgani-
sation des tschechischen Staates nach dem Muster des Schwei-
zer Bundessystems zuzustimmen, wobei das Sudetenland den
Charakter eines Schweizer Kantons erhalten solle.
3. England werde aufgefordert, sich zu verpfHchten, der öster-
reichischen Regierung keinerlei diplomatischen, politischen
oder militärischen Beistand zu geben.
4. Deutschland verpflichte sich, die Kolonialfrage für eine Periode
von sechs Jahren nicht aufzugreifen, und verspreche, später
keinerlei Flotten- oder Militärbasen in seinen früheren Kolonien
einzurichten.
5. Deutschland verpflichte sich, den Frieden in Spanien wieder-
herzustellen, sobald die britische Regierung die Regierung
in Salamanca de jure anerkannt habe usw.
Wir wissen nicht, aus welcher trüben Quelle diese „Informationen**
stammen, aber wir wissen, daß sie von Anfang bis zu Ende lügenhafte
Erfindungen sind !
Der englische Ministerpräsident Chamberlain sah sich veranlaßt,
auf diesbezügliche Anfragen heute im Unterhaus alle diese Spekula-
tionen nicht nur als unverantworUich, sondern auch als höchst un-
richtig zu bezeichnen. Wir möchten sie als freche und unverschämte
126
Deutschtand - Eni^land
[47
politische Verleumdungen, ihre Verbreiter als internationale Bruni^en-
vergifter brandmarken!
Mit solchen publizistischen Gangstermethoden kann Dian dem
nationalsoziahstischen Deutschland nicht mehr kommen!
Wie oft sollen wir es sagen: Es ist bei uns nicht üblich, dera
Minister eines befreundeten Landes, der nach Deutschbnd kommt
zwecks „Förderung des Wunsches zur Schaffung eines engeren gegen-
seitigen Verstehens", Forderungen zu stellen und ihm die Pistole auf
die Brust zu setzen! Aüe Kombinationen in dieser Richtung tragen
also schon von vornherein den Stempel der Lüge auf der Stirn!
Wenn der diplomatische Korrespondent des Manchester Guardian
dann seinem lügnerischen Elaborat die Krone aufsetzt, indem er seine
Regierung auffordert, diese uns so dreist unterschobenen „Vorschläge**,
die das ,, größere Deutschland im Embryo** enthielten, als unannehm-
bar zurückzuweisen, weil ihre Annahme eine ,,Krise der englisch-franzö-
sischen Beziehungen stören" würde usw., dann wissen wir, was man
mit diesen fortgesetzten Unterstellungen Deutschland gegenüber be-
zwecken möchte,
Wir werden auch in Zukunft diesen politischen Gangstermethoden
mit der ihnen gebührenden Deutlichkeit entgegentreten und den publi-
zistischen Strauchrittern die Maske vom Gesicht reiOen. Denn wir sind
mehr denn je überzeugt, daG» solange diesen internationalen Brunnen-
vergiftern, die jede Fühlungnahme zu lügenhafter Hetze benützen,
nicht das Handwerk gelegt ist, alle poHtischen Besuche und Bespre-
chungen zwecklos sind und nur zu einer Verwirrung der internatio*
nalen Lage beitragen können.
(DNB. vom 25. November 1937.)
47. Aus der Anspradie des Lordpräsidenten Halifax anläBlidi der
zweiten Jahrestaguag der Anglo-German Fellowship in London
am 2. Dezember 1937
In seiner Aussprache sagte Lord Halifax, er habe in der ver-
gangenen Woche das Vergnügen gehabt, Berlin zu besuchen, um —
wie er erinnern möchte — die große Jagdausstellung zu besichtigen*
Da dies der ursprüngliche Zweck seines Besuches gewesen sei, würden
seine Hörer nicht überrascht sein^ daß er der Ausstellung den größten
Teil der ihm zustehenden Drei-Minuten-Sprechzeit widmen würde.
Die Ausstellung sei ohne Zweifel die größte Jagdausstellung, die die
Welt je gesehen habe. Alle Besucher der Ausstellung würden ihm bei-
pflichten, wenn er sagte, daß sie einen Markstein für die Leistungen
der Menschen aller Länder auf dem Gebiete des Sports, der sportlichen
Kunst und, wie er hinzufügen möchte, der Ausstellungskunst bilde.
Er sei dankbar dafür, daß er hier Gelegenheit habe, seine warme An-
erkennung für den höflichen, offenen und freundlichen Empfang aus-
zusprechen, der ihm von allen Seiten, den höchsten wie den niedrigsten,
bereitet worden sei* Er glaube allen Ernstes, daß die Beziehungen der
48] Das Jahr 1937 127
einzelnen Menschen auf sie gemeinsam interessierenden Gebieten,
wie etwa Sport, von großer Bedeutung für die Beziehungen der Na-
tionen untereinander seien. Er zögere nicht, zu sagen, daß das Ver-
ständnis zwischen den Völkern, zu deren Förderung die Anglo-German
Fellowship gegründet sei, zweifellos die größte Notwendigkeit für die
heutige Welt sei. Seiner Ansicht nach könne keine Gesellschaft einen
größeren Dienst leisten als den, daß sie zum gegenseitigen Vertrauen
und Verstehen der Nationen untereinander beitrage.
(E: The Times vom 3. Dezember 1937. — D: Monatshefte für Auswärtige
PoliUk, 1938, S. 34.)
Aus der Unterhausrede des britischen Premierministers 48.
Chamberlain vom 21. Dezember 1937
Der Abgeordnete Attlee hat die verschiedenen kürzlich statt-
gefundenen internationalen Besprechungen erwähnt; ich möchte
darauf zurückkommen und mit dem Besuch des Herrn Lordpräsi-
denten des Staatsrats in Deutschland beginnen. Ich habe dem Hause
schon mitgeteilt, daß die Besprechungen zwischen dem Lordpräsi-
denten und dem Reichskanzler und verschiedenen bekannten Deut-
schen vertraulichen Charakter trugen, und sicherlich wünscht kein
Abgeordneter, daß ich irgend etwas sage, was als Bruch der Voraus-
setzung angesehen werden könnte, auf Grund deren die Besprechungen
stattfanden. Aber ich darf vielleicht eine oder zwei allgemeine Bemer-
kungen machen, die das über dieses Thema schon Gesagte ergänzen.
Seiner Majestät Regierung hat niemals erwartet oder beabsich-
tigt, daß diese Besprechungen sofort Ergebnisse zeigen sollten. Es
waren Besprechungen und keine Verhandlungen; und deshalb wurden
in ihrem Verlauf keine Vorschläge gemacht, keine Verpflichtungen
eingegangen und keine Abmachungen getroffen. Das von uns erstrebte
und erreichte Ziel war, einen persönlichen Kontakt zwischen einem Mit-
glied Seiner Majestät Regierung und dem Reichskanzler herzustellen
und, wenn möglich, auf beiden Seiten zu einem klareren Verständnis
für die Politik und die Haltung beider Regierungen zu gelangen. Ich
glaube sagen zu können, daß wir jetzt eine ziemlich genaue Vorstellung
von den Problemen besitzen, die nach Ansicht der deutschen Regierung
gelöst werden müssen, wenn wir in den europäischen Angelegenheiten
den von allen gewünschten Zustand erreichen wollen, in welchem die
Nationen einander mit dem Wunsch nach Zusammenarbeit, anstatt
mit Mißtrauen und Groll, gegenüberstehen.
Wenn wir zu einem solchen Zustand gelangen sollen, so kann das
natürlich nicht durch eine Abmachung zwischen einzelnen Ländern
erreicht werden. Eine solche könnte nur als erster Schritt zu einem all-
gemeinen Bemühen angesehen werden, um zu dem zu kommen, was
manchmal eine allgemeine Regelung genannt worden ist, nämlich
dazu, daß berechtigten Beschwerden abgeholfen, Mißtrauen beseitigt
und Vertrauen wiederhergestellt wird. Dazu ist natürlich erforderlich,
-^ m -w-
491
Das Jahr 1938
13t
Im Anschluß an den Besuch von Lord Halifax fand am 26. Januaf
1938 eine Unterredung zwischen dem Beichsaußenminister von Neuraih
and dem britischen Botschafter in Berlin, Sir Nevile Henderson, statt,
die ein klares Licht auf die englische Hallung in jenen Verhandlangen
wirft. Mit aller Deutlichkeit trat hcnmr, daß man auf englisctier Seite das
Wort Verständigung ausgiebig brauchle, zu irgendeinem sachlichen Ent-
gegenkommen aber nicM bereit, sondern offenbar bewußt entschlossen war,
durch eine solche Uatlung die Verhandlungen zum Scheitern zu bringen
Aufzeichnung des Reidisaußeniiiinifiters FreUierrn von Neurath vom
26. Januar 193B über seine Unterredung mit dem briliscfaen
Botsdiafter Henderson
49
Der englische Botschafler stichle mich heute ouf und ieille mir
mit, er sei von seiner Regierung nach London berufen zu einer Aus-
sprache über die von seilen Englands auf Grund der Halifax-Unter-
redung zu machenden Schritte. Henderson wiederholte die schon
öfter gemachten Bemerkungen, daß die englische Regierung, insbe-
sondere der Premierminister, fest entschlossen sei, Deutschland in der
Kolonialfrage entgegenzukommen. Er habe natürlich große Schwierig-
keiten, denn es gäbe viele Leute in England« die nichts hergeben woll-
ten. Es würde die Arbeit des Premierministers sehr erleichtern» wenn
er bei den Verhandlungen schon irgendwelche Gegenleistungen von
deutscher Seite in Aussicht stellen könnte.
Ich sagte dem Botschafter, er habe doch schon wiederholt und
auch aus dem Munde des Führers gehört, daß unser Anspruch auf
Rückgabe der Kolonien kein Handelsobjekt sei. Der Botschafter fuhr
fort zu fragen, ob wir denn wenigstens bereit seien, in irgendeine
Diskussion über Rüstungen und Bombenabwürfe usw. einzutreten.
Ich sagte ihm darauf, die Frage des Bombenabwurfs könne gegebenen-
falls unabhängig davon einmal erörtert werden, jedenfalls aber nicht
im Zusammenhang mit der Kolonial frage. Als Henderson dann auch
wieder die Rückkehr Deutschlands in den Völkerbund erwähnte und
eine Zusicherung haben wollte, daß wir eventuell die Frage des Wieder-
eintritts in einen reformierten Völkerbund diskutieren würden, er-
klärte ich ihm, ich wünschte diese Frage überhaupt nicht zu disku-
132 Deutschland - England [49
tieren. Über unsere Stellung zum Völkerbund hätte ich mich klar genug
ausgedrückt. Im übrigen ersähe ich aus den jetzigen Verhandlungen in
Genf, daß England nicht einmal mehr den Mut aufbringe, die Dis-
kussion über die Reform des Völkerbundes fortzusetzen.
Sodann frug Henderson noch nach unseren Plänen gegenüber der
Tschechoslowakei und gegenüber Osterreich. Ich sagte ihm, er wisse
aus verschiedenen Konversationen mit mir, welche Beschwerden wir
gegen die Tschechoslowakei hätten. Wenn diese von tschechischer
Seite behoben wären, so würde sich auch das Verhältnis zur Tschecho-
slowakei von selbst normalisieren. Was Osterreich anbelange, so könnte
ich ihm nur — und zwar mit der Bitte um Wiederholung in London —
erklären, daß wir uns in die Regelung der Beziehungen zu Osterreich
auch von England nicht hineinreden lassen würden. Diese Regelung
sei eine ausschließlich deutsch-österreichische Frage, und wir würden
jede Einmischung ablehnen.
Als der Botschafter noch frug, ob ich nicht glaubte, daß der Führer
ihm irgendeine Zusicherung für die von Deutschland einzunehmende
Haltung im Falle eines Entgegenkommens in der Kolonialfrage geben
könne, sagte ich ihm, ich sei überzeugt, daß der Führer ihm auch nicht
mehr sagen würde, als ich getan hätte. Mit Zusicherungen von deut-
scher Seite hätten wir bisher noch nicht das mindeste erreicht. Wir
würden abwarten, bis wir von der anderen Seite konkrete Angebote
hätten. Dann könne man sich darüber unterhalten, ob und welcher
Beitrag von unserer Seite geleistet werden könne.
Henderson reist morgen abend nach London ab und glaubt etwa
in der zweiten Hälfte der nächsten Woche nach Berlin zurückzu-
kommen.
Freiherr v. Neurath
(Aus den Akten des Auswärtigen Amtes.)
Nachdem sich die englische Presse am Ausgang des Jahres 1937 mit
Rücksicht auf den Besuch von Lord Halifax und auf den Verlauf der
deutsch-englischen Besprechungen eine gewisse Zurückhaltung auferlegt
hatte, schlug dieser Zustand am Anfang des Jahres 1938 wieder völlig in
sein Gegenteil um. Die Maßnahmen des Führers vom 4. Februar 1938,
die zu einem Umbau der Wehrmachtsführung, zur Bildung eines Geheimen
Kabinettsrates und zur Übernahme des Außenministeriums durch den
bisherigen Botschafter von Ribbentrop führten, lösten in England eine
wüste und hemmungslose Pressehetze aus. Der Führer sah sich infolge-
dessen genötigt, in seiner Reichstagsrede vom 20. Februar 1938 das
deutsch-englische Problem unter dem Gesichtspunkt dieser ständigen
Vergiftung der Atmosphäre durch eine planmäßige und ständige Presse-
agitation zu erörtern.
51] Das Jahr 1938 133
Aus der Reidistagsrede des Führers und Reiiliskaiizlers 50.
vom 20. Februar 1938
Deutschland hat auch mit England keinerlei Streitigkeiten, es
seien denn unsere kolonialen Wünsche. Es fehlt jedoch jeder Anhalts-
punkt für einen auch nur irgendwie denkbaren möglichen Konflikt.
Das einzige, was das Zusammenleben dieser Staaten vergiftet und
damit belastet, ist eine geradezu unerträgliche Pressehetze, die in
diesen Ländern unter dem Motto „Freiheit der persönlichen Meinungs-
äußerung" getrieben wird.
Ich habe kein Verständnis dafür, aus dem Munde ausländischer
Staatsmänner und Diplomaten immer wieder zu vernehmen, daß in
diesen Ländern keine gesetzliche Möglichkeiten bestünden, der Lüge
und der Verleumdung ein Ende zu bereiten. Denn es handelt sich hier
nicht um Privatangelegenheiten, sondern um Probleme des Zusammen-
lebens von Völkern und von Staaten. Und wir sind nicht in der Lage,
diese Vorgänge auf die Dauer auf die leichte Schulter zu nehmen. Wir
können auch nicht vor den Folgen dieser Hetze die Augen verschließen.
Denn es könnte sonst nur zu leicht sein, daß in gewissen Ländern durch
niederträchtige dauernde internationale Lügenfabrikation ein so starker
Haß gegen unser Land entwickelt wird, daß dort allmählich eine offene
feindselige Stimmung gegen uns entsteht, der vom deutschen Volk
dann nicht mit der notwendigen Widerstandskraft begegnet werden
könnte, weil ihm selbst durch die Art unserer Pressepolitik jede Feind-
seligkeit gegenüber diesen Völkern fehlt. Und dies ist eine Gefahr, und
zwar eine Gefahr für den Frieden. Ich bin deshalb auch nicht mehr
gewillt, die zügellose Methode einer fortgesetzten Begeiferung und Be-
schimpfung unseres Landes und unseres Volkes unwidersprochen hin-
zunehmen. Wir werden von jetzt ab antworten, und zwar mit national-
sozialistischer Gründlichkeit antworten.
(Verhandlungen des Reichstages, Bd. 459, S. 39)
Indessen ließ man es auf englischer Seile mil dieser Einmischung in
innersle deutsche Angelegenheiten nicht genug sein und fühlte sich be-
müßigt^ den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich zum Anlaß
einer offiziellen diplomatischen Einmischung zu machen.
Note des Präsidenten des Geheimen Staatsrates Freiherrn von Neura th 51 .
vom 12. März 1938 an den britischen Botschafter in Berlin
Herr Botschafter!
Mit Schreiben vom 11. März haben Euer Exzellenz mitgeteilt,
der Königlich-Britischen Regierung sei die Nachricht zugegangen,
daß in Wien ein deutsches Ultimatum gestellt worden sei, in dem der
Rücktritt des Bundeskanzlers, seine Ersetzung durch den Minister des
Innern, die Bildung eines neuen Kabinetts mit einer Zweidrittelmehr-
*»^^
134
Deuischland - England
[5!
heit von DaiionalsoziaHstischen Mitgliedern und die Wiederzuhissung
der ösierreichischen Legion gefordert worden sei. Für den Fall, daß
diese Nachrichten zuträfen, bat die Königlich-Britische Regierung
gegen einen derartigen auf Gewalt gestützten Zwang protestiert, der
auf einen unabhängigen Staat ausgeübt worden sei, um eine mit
seiner nationalen Unabhängigkeit unvereinbare Lage zu schaffen,
Namens der deutsehen Regierung muü ich demgegenüber darauf
hinweisen, daO der Königlich-Britischen Regierung nicht da» Recht
zusteht, die Rolle eines Beschützers der Unabhängigkeit Österreichs
für sich in Anspruch zu nehmen. Die Deutsche Regierung hat die
Königlich-Britische Regierung im Laufe der diplomatischen Unter-
haltungen über die Österreichische Frage niemals darüber im Zweifel
gelassen, daß die Gestaltung der Beziehungen zwischen dem Reich
und Österreich lediglich als eine dritte Mächte nicht berührende innere
Angelegenheit des deutschen Volkes angesehen werden kann.
Es erübrigt sich, die historischen und politischen Gründe dieses
Standpunktes noch einmal darzulegen.
Aus diesem Grunde muß die Deutsche Regierung den von der
Königlich-Britischen Regierung, wenn auch nur bedingt, eingelegten
Protest von vornherein als unzulässig zurückweisen.
Gleichwohl will die Deutsche Regierung gegenüber der in Ihrem
Schreiben erwähnten Nachricht, daß die Reichsregierung in Wien
ultimative Forderungen gestellt habe, nicht unterlassen, zur Steuer
der Wahrheit hinsichtlich der Vorgänge der letzten Tage folgendes
festzustellen:
Vor wenigen Wochen hatte der Deutsche Reichskanzler in Er-
kenntnis der Gefahren, die sich aus der unerträglich gewordenen Lage
in Österreich ergaben, eine Aussprache mit dem damaligen öster-
reichischen Bundeskanzler herbeigeführt. Das Ziel war, noch einmal
den Versuch zu machen, jenen Gefahren durch die Verabredung der ]
Maßnahmen zu begegnen, die eine den Interessen der beiden Länder
wie den Interessen des gesamten deutschen Volkes dienende ruhige
und friedliche Entwicklung sicherstellen konnte. Die Vereinbarung
von Berchtesgaden hätte, wenn sie auf österreichischer Seite im Geiste
der Aussprache vom 12. Februar loyal durchgeführt worden wäre,
eine solche Entwicklung latsächlich gewährleistet.
Statt dessen hat der frühere österreichische Bundeskanzler am
Abend des 9. März überraschend den eigenmächtig von ihm gefaßten
Beschluß bekanntgegeben, mit einer Frist von wenigen Tagen eine
Abstimmung zu veranstalten, die nach den obwaltenden Uniständeo,
inabesondere nach den für die Durchführung der Abstimmung geplan-
ten Einzelheiten, allein den Sinn haben konnte und sollte, die über-
wiegende Mehrheit der Bevölkerung Österreichs politisch zu verge-
waltigen. Dieses mit der Vereinbarung von Berchtesgaden in flagrantem
Widerspruche stehende Vorgehen hat, wie vorauszusehen, zu einer
äußersten Zuspitzung der inneren Lage in Österreich geführt. Es %var
nur natürlich, daß die an dem Abstimmungsbeschluß nicht betei-
ligten Mitglieder der damaligen österreichischen Regierung dagegen
51J Das Jahr 1938 135
schärfsten Einspruch erhoben. Infolgedessen ist es in Wien zu einer
Kabinettskrise gekommen, die im Laufe des 1. März zum Rücktritt
des früheren Bundeskanzlers und zur Bildung einer neuen Regierung
geführt hat. Daß vom Reich aus auf diese Entwicklung ein gewalt-
samer Zwang ausgeübt worden wäre, ist unwahr. Insbesondere ist die
von dem früheren Bundeskanzler nachträ^ich verbreitete Behauptung
völlig aus der Luft gegriffen, die Deutsche Regierung habe dem Bundes-
präsidenten ein befristetes Ultimatum gestellt, nach dem dieser einen
ihm vorgeschlagenen Kandidaten zum Bundeskanzler ernennen und
die Regierung nach den Vorschlägen der Deutschen Regierung zu
bilden hätte, widrigenfalls der Einmarsch deutscher Truppen in Oster-
reich in Aussicht genommen werde. In Wahrheit ist die Frage der
Entsendung militärischer und polizeilicher Kräfte aus dem Reich erst
dadurch aufgeworfen worden, daß die neugebildete österreichische
Regierung in einem in der Presse bereits veröffentlichten Telegramm
die dringende Bitte an die Reichsregierung gerichtet hat, zur Wieder-
herstellung von Ruhe und Ordnung und zur Verhinderung von Blut-
vergießen baldmöglichst deutsche Truppen zu entsenden. Angesichts
der unmittelbar drohenden Gefahr eines blutigen Bürgerkrieges in
Österreich hat sich die Reichsregierung entschlossen, diesem an sie
gerichteten Appell Folge zu geben.
Bei diesem Sachverhalt ist es völlig ausgeschlossen, daß das Ver-
halten der Deutschen Regierung, wie in Ihrem Schreiben behauptet
wird, zu unübersehbaren Rückwirkungen führen könnte. Das Gesamt-
bild der politischen Lage ist in der Proklamation gekennzeichnet, die
der Deutsche Reichskanzler heute mittag an das deutsche Volk ge-
richtet hat. Gefährliche Rückwirkungen könnten in dieser Lage nur
dann eintreten, wenn etwa von dritter Seite versucht würde, im Gegen-
satz zu den friedlichen Absichten und legitimen Zielen der Reichs-
regierung auf die Gestaltung der Verhältnisse in Osterreich einen Ein-
fluß zu nehmen, der mit dem Selbstbestimmungsrecht des deutschen
Volkes unvereinbar wäre.
Freiherr v. Neurath
(Aus den Akten des Auswärtigen Amtes.)
Chamberlain und Halifax gaben am 14, und 16. März 1938 in beiden
Häusern des Parlaments zwar zu, daß der durch den Vertrag von St, Ger-
main geschaffene Zustand nicht für alle Zeiten hätte aufrechterhalten
werden können. Auch erkannte Großbritannien formell den Anschluß
durch Umwandlung der Wiener Gesandtschaft in ein Generalkonsulat an.
Gleichwohl kamen immer wieder deutliche Zeichen des Unwillens mit dem
Lauf der Dinge zum Ausdruck. Noch in seiner Rede in Birmingham am
8. April 1938 glaubte Chamberlain eine Billigung der österreichischen
Entwicklung mit kritischen Bemerkungen über die bei der Wiederein-
gliederung Österreichs zur Anwendung gekommenen ^.Methoden** ein-
schränken zu müssen.
1 36 Deutschland - England [52
52. Aus der Rede des britisdien Premiermiiiisters Chamberlain
vom 8. April 1938 in Birmingham
Unsere Politik beruht auf zwei Erkenntnissen. Die erste ist: Wenn
man sich einen dauernden Frieden sichern will, so muß man die
Kriegsursachen ausfindig machen und beseitigen. Dies kann nicht
dadurch geschehen, daß man die Hände in den Schoß legt und darauf
wartet, daß etwas geschieht. Man muß sich andauernd darum be-
mühen. Man muß sich die Schwierigkeiten und die Gefahrenquellen,
die Gründe für jede vermutliche oder mögliche Störung des Friedens
klarmachen und, wenn man dies alles ausfindig gemacht hat, sich
bemühen, ein Heilmittel zu finden.
Die zweite Erkenntnis ist: In einer bewaffneten Welt muß man
selbst bewaffnet sein. Ein Land muß darauf bedacht sein, seine Vor-
bereitungen oder seine Verteidigungs- und Angriffswaffen so zu orga-
nisieren und aufzubauen, daß niemand in Versuchung gerät, einen An-
griff zu wagen, sondern, daß im Gegenteil alle mit Achtung auf seine
Stimme hören, wenn diese für den Frieden spricht. Dies also sind die
beiden Säulen unserer Außenpolitik: Frieden zu suchen auf dem Wege
freundschaftlicher Unterhaltung und Verhandlung und die Wehrmacht
auf einer Basis zu erhalten, die unserer Verantwortung und der Rolle, die
wir bei derAufrechterhaltung desFriedens zu spielen wünschen, entspricht.
Man könnte mich fragen: Und wo bleibt hierbei der Völkerbund?
Warum rufen Sie nicht die kollektive Sicherheit zu Hilfe? Müssen wir
zugeben, daß die herrlichen Ideale, die uns erfüllten, als der Völkerbund
gegründet wurde, preisgegeben werden? Wir haben den Völkerbund
niemals lächerlich gemacht. Wir lassen uns durch niemanden davon
abhalten, diesen großen und herrlichen Idealen treu zu bleiben. Wir
wünschen noch immer, jede mögliche Gelegenheit zu ergreifen, den
Völkerbund neu zu bauen und zu stärken und ihn wiederherzustellen,
damit er einst nochmals ein wirkungsvolles Instrument zur Erhaltung
des Friedens werden möge.
Aber heute müssen wir den Tatsachen ins Auge sehen, heute,
nachdem einige der mächtigsten Staaten der Welt sich daraus ent-
fernt haben, müssen wir uns zunächst einmal über etwas klarwerden,
ehe wir dem Völkerbund die hervorragende Aufgabe der Wahrung
des Friedens aufzuerlegen versuchen. Kollektive Sicherheit kann nur
erzielt werden durch die Bereitwilligkeit und Fähigkeit der Mitglied-
Staaten zu einer Gemeinschaftsaktion, die wirkungsvoll genug ist, jeden
Angriff aufzuhalten. Ist der Völkerbund tatsächlich in der Lage, dies
zu tun?
Vor einiger Zeit richtete ich an die Opposition in diesem Hause
eine Frage — und ich bitte sie sich zu erinnern, daß dies vor den letzten
Ereignissen in Osterreich war. Ich fragte sie, ob man mir einen einzigen
kleinen Staat in Europa nennen könne, der, wenn er heute von einem
mächtigen Nachbarn bedroht wäre, sich allein auf den Völkerbund
verlassen könne, um kollektive Sicherheit zu erhalten. Ich erhielt
keine Antwort auf diese Frage, ich konnte keine erhalten, denn man
53] Das Jahr 1938 137
wußte genau, daß die einzig aufrichtige Antwort wäre, daß es keinen
solchen Staat gäbe, weil es keine kollektive Sicherheit gibt. Das ist
kein Hangel an Loyalität. Wahrhafter Mangel an Loyalität zur Liga ist
es, vorzugeben, daß diese heute Aufgaben erfüllen könne, die offen-
sichtlich außerhalb ihres Machtbereichs liegen. Dieser Art von Treue-
bruch wollen wir uns nicht schuldig machen.
Aber lassen Sie uns auch nicht den Gedanken an einen größeren
und besseren Völkerbund der Zukunft aufgeben. Lassen Sie uns viel-
mehr versuchen, eine neue Atmosphäre des Verständnisses in der Welt
zu schaffen, denn das ist die grundlegende Vorbedingung für einen
Völkerbund, der funktioniert. Ich erwähnte eben die Ereignisse, die
sich vor genau einem Monat zugetragen haben und die durch die Ein-
gliederung Österreichs in das Deutsche Reich ihren Abschluß fanden.
Ich ^aube nicht, daß die Bevölkerung dieses Landes den Wunsch
haben könnte, hemmend einzugreifen, wenn zwei Staaten sich zu
vereinigen wünschen. Aber in diesem besonderen Fall der Vereinigung
wurden • Methoden angewandt, die der Regierung Seiner Majestät
außerordentlich mißfielen und die die öffentliche Meinung schwer
schockiert haben.
(E: Neville Ghamberlain, The Struggle for Pencc London (1939), S. 167 ff.
— D: Eigene Obersetzung.)
Von deutscher Seite hat man sich — trotz der energischen Zurück-
weisung unberechtigter Proteste — bemüht^ die englischen Interessen bei
der Liquidierung des österreichischen Staates besonders zu berücksichtigen.
Obwohl Deutschland grundsätzlich die Rechtsnachfolge in die österreichi-
schen Staatsschulden ablehnte — und mit guten völkerrechtlichen Gründen
ablehnen konnte — , traf es mit England besondere Vereinbarungen, Die
Verhandlungen wurden von dem Wirtschaftsberater der britischen Regie-
rung, Sir Frederick Leith-Ross, am 23. Mai 1938 in Berlin aufgenommen
und führten zu einer vollkommenen Einigung und Unterzeichnung meh-
rerer Abkommen am 1. Juli 1938.
Aus der Unterhauserklärung des britisdien Schatzkanzlers 53.
Sir John Simon vom 1. Juli 1938
Es freut mich, sagen zu können, daß die Delegationen Englands
und Deutschlands, die über eine Revision des englisch-deutschen
Zahlungsabkommens unter Berücksichtigung der Eingliederung Öster-
reichs in das Deutsche Reich verhandelt haben, heute zu einem Er-
gebnis gelangt sind. Die Grundlage dieser Regelung, unter dem Vor-
behalt gesetzlicher Verbindlichkeit, ist, daß die deutsche Regierung
der Regierung des Vereinigten Königreiches alle Beträge zurückzahlt,
welche von dieser als Garantie für die österreichischen Garantie-
Anleihen bezahlt worden sind und zugleich den gesamten Anleihedienst
für die Obligationen, die am 1. Juli 1938 in britischen Händen waren,
sicherstellt.
138
^^^
Deutschland - England
153
Die Regelung bestätigt außerdem die Grundsätze eines Abkom-
mens, das zwischen den deutschen Vertretern und dem Komitee der
Glaubiger deutscher langfristiger Anleihen, betreffend die zukünftigej
Handhabung anderer deutscher und österreichischer langfristiger i
Schulden, getroffen wurde. Auf Grund dieser Regelung ist der Dienst
der nachstehenden deutschen und österreichischen Anleihen wie folgt:
Für die Da wes- Anleihe und die österreichische siebenprozentige
Anleihe von 1930: je 5 vom Hundert Zinsen und 2 vom Hundert kumu-
lativer Tilgungsfonds,
Für die Young-Anleihe und die Saarbrücken-Anleihe: 4% vomj
Hundert Zinsen und 1 vom Hundert kumulativer Tilgungsfonds, be-^
ginnend nach zwei Jahren*
Der Dienst der vierprozentigen Reichs-Tilgungs* Obligationen so-
wie der österreichischen Kreditanstalt^Obligationen wird für britische
Eigentümer voll aufrechterhalten.
Bezüglich der übrigen mittleren und langfristigen Schulden
Deutschlands und Österreichs wird eine zeitweilige Regelung getroffen,
wodurch während der nächsten beiden Jahre Coupons, Dividenden
usw. in bar zu 50 vom Hundert ihres Nennwertes mit höchstens vier-
prozentiger Verzinsung gezahlt werden.
(E: Parüamenlary Debates. Home of Commons. Bd. 337, Sp. 2364 f. — O:
Eig&ne Übersetzung.)
' Es isl vor allem die anmaßende Einmigchung Großbritanniens in die
Neuordnung der durch die Pariser Vororherlrage desorganisierien miUeU
europäischen Verhällnisse gewesen j die das deulsch-englische Verhällnis
im Jahre 193S belaslet hat, — Stärker noch als in der öslerre ichischen
Frage (rat dies in der hchechoslowakischen Krise zutage, die im Mai 1938
ihren erslen Höhepunkt erreichle. Die tschechische Mobilmachung vom
2h 122, Mai 1938 war ein Ereignis^ das sich ohne englische Ansliftang
und Beifiilfe überhaupt niemals halte ereignen können. Deulschland halte
damals allen Anlaßt auch die geringste Beunruhigung zu vermeiden,
Konrad Henlein halle noch am 13, Mai in London nicht nur dem diplo-
matischen Ilauplberaler der Regierung^ Sir Robert Vansittarl, sondern
auch führenden OpposiUonspolilikerh wie Winsion Churchill und Sir
Archibald Sinclair einen Besuch abgestattet, um sie über die Lage im
Sadelenland zu informieren. Die lange ausgesetzten Gemeindewahlen in
der Tschechoslowakei standen vor der Tür, und die Sudelendeutschen
hatten das größte Interesse daran, daß sie nicht unter dem Druck des
militärischen Ausnahmezustandes staltfanden. Ein Bericht des bekannten
französischen Journalisten Jules Sauerwein über ein Telephongespräch
des britischen Geheimdienstes mit Prag am 20. Mai hat später darüber
Aufschluß gegeben, wo die Quelle der gefährlichen Alarmnachricht über
angebliche deutsche Truppenkonzenlrationen an der tschechischen Grenze
tu suchen war.
Rückblickend kann es nicht wundernehmen, daß die während des
ganzen Sommers 1938 geleisteten „guten Dienste^' der britischen Regierung
zur Sicherung eines erträglichen Aulonomiestatus für die Sudetendeutschen
56] Das Jahr 1938 139
einen so geringen Erfolg hauen. Die damalige Prager Regierung wußte
nur zu guij wieweit sie die Ermahnungen der Londoner Regierung ernst-
zunehmen hatte und wieweit nicht. Es ist in diesem Zusammenhang von
Interesse, das persönliche Urteil des tschechoslowakischen Gesandten in
London, Jan Masaryk, über den Leiter der englischen Politik zu kennen.
Aus dem Beridit des tsdiechoslowakisdieii Gesandten in London 54.
Jan Masaryk vom 24. Februar 1938
Neville Ghamberlain ist ein vorsichtiger, erfahrener, aber hundert-
prozentig parteiischer Politiker. Das Schicksal der Konservativen
Partei ist ihm sakrosankt, und damit die Partei keinen Schaden erleide,
ist er bereit, ein und manchmal auch beide Augen vor einem nicht
gerade sehr ehrlichen Vorgehen zu schließen. Ich will nicht sagen,
Neville ist unehrlich. Im Gegenteil, seine Überzeugung, er handle gut,
ist geradezu rührend ehrlich. Er wuchs in der Birminghamer Munizipal-
politik auf, wo er ein ausgezeichneter Bürgermeister war. Und seine
politischen ,, kleinen Betrügereien** sind eher von munizipaler als von
Staats- und Reichsgröße. Ghamberlain ging spät in die Politik. Minister-
präsident wurde er mit 68 Jahren, auf den Kampfplatz der Außen-
politik trat er erst beinahe 70j ährig mit der Überzeugung von der
Heiligkeit seiner Sendung, aber weder mit technischer noch mit fak-
tischer Schulung ausgerüstet.
(Aus den Akten des tschechoslowakischen AuOenministeriums.)
Aus dem Beridit des tsdiechoslowakischen Gesandten in London 55.
Jan Masaryk vom 26. September 1938
Ghamberlain ist aufrichtig überrascht, daß wir eine Zurückziehung
des Militärs aus den Befestigungen nicht beabsichtigen. Ich betonte,
daß gestern die Befestigungen auf englischen und französischen Rat
besetzt wurden und daß wir sie heute nicht wieder räumen können.
Das wollte er nicht begreifen. Es ist ein Unglück, daß dieser dumme,
uninformierte, kleine Mensch englischer Premier ist, und ich bin über-
zeugt davon, daß er es nicht mehr lange sein wird.
(Aus den Akten des tsdiechoslowakischen AuOenministeriums.)
Ebenso isl es von Interesse, das Wachsen der Kriegsstimmung in
England in dieser Zeil zu beobachten.
Aas dem Beridit des deutsdien Botsdiafters in London von Dirksen 56.
vom 5. Juli 1938
In meinen Berichten über die Woclienendkrise und die Zeit danach
habe ich verschiedene Male darauf hingewiesen, daß die englische
140 Deutschland - England [5G
Öffentlichkeit sich mit dem Gedanken eines bevorstehenden Krieges
vertraut gemacht hat. Ich habe insbesondere in meinen Berichten
über die Verstärkung der englischen Luftaufrüstung und über die in
Aussicht genommene Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zu
Beginn eines Krieges darauf aufmerksam gemacht, daß die englische
Regierung Kritik von Seiten der Öffentlichkeit nur in der Hinsicht
erfahren hat, daß die getroffenen Maßnahmen nicht weit genug gingen.
Wenn man weiß, wie groß die Abneigung des einzelnen Engländers
gegen alles ist, was mit der allgemeinen Wehrpflicht zusammenhängt,
kann man erst ermessen, welches Ausmaß die Sorgenpsychose erreicht
haben muß, um die Opposition gegen diese einschneidende Maßnahme
völlig verstummen zu lassen.
Wie tief sich diese Stimmung in Bewußtsein und Unterbewußtsein
des englischen Volkes festgesetzt hat, möchte ich durch einige Beobach-
tungen erläutern, die auf wirtschaftlichem Gebiet gemacht worden sind :
Die Vertreter großer deutscher Firmen haben mich darauf auf-
merksam gemacht, daß in den letzten Wochen die Auftragserteilung
für deutsche Fabrikate in auffälliger Weise zurückgegangen sei. Die
Beobachtungen der hiesigen Vertretung von Siemens- Schuckert wäh-
rend der letzten Monate haben gezeigt, daß ein merklicher Rückgang
der Aufträge nach Deutschland (etwa 25 v. H. geringer als normal)
eingetreten ist, der seine Begründung nur teilweise in wirtschaftlichen
Vorgängen findet, für den vielmehr politische und stimmungsmäßige
Momente weitgehend verantwortlich sind. Von den Interessenten, die
ihre Bestellungen nicht nach Deutschland vergeben wollen, werden
diese Gründe mehr oder weniger offen angegeben. Dabei ergibt sich
folgendes:
Aufträge werden nicht mehr nach Deutschland vergeben:
a) aus Furcht vor einem baldigen Kriege, dessen Ausbruch die
Lieferung verhindern würde;
b) aus Besorgnis, daß innerdeutsche Maßnahmen die Lieferanten
an der Lieferung hindern könnten;
c) aus einer Abneigung gegen die deutschen Exportmethoden (Aus-
fuhrförderung), die man als „unfair** ansieht, weil sie die eng-
lische Ware auf dem Binnen-, aber auch auf dem Auslands-
markt bedrängt.
Als Begründung für die weitverbreitete Furcht vor dem baldigen
Ausbruch eines Krieges (gegen Deutschland) führt man hier das Ver-
hältnis Deutschlands zur Tschechoslowakei an. Man begegnet häufig
der Ansicht, daß das sudetendeutsche Problem nur mit Gewalt gelöst
werden würde. Zu dieser Auffassung trägt die Tatsache bei, daß Reden
maßgebender deutscher Persönlichkeiten häufig nur unvollständig und
entstellt in der britischen Presse wiedergegeben werden. Es kommt
hinzu, daß durch Regierung und andere amtliche britische Stellen
vor Kriegsgefahr gewarnt worden ist, allerdings zu dem Zweck,
den englischen Bürger aus seiner Lethargie zu wecken und ihn zur
Beteiligung an den freiwilligen Schutzverbänden (Luftschutz, Frauen-
hilfsdienst usw.) aufzurütteln. Diese Verbände müssen angesichts des
56] Das Jahr 1938 141
Fehlens einer allgemeinen Dienstpflicht in Friedenszeiten ausschließ-
lich durch freiwillige Beteiligung gebildet werden. Der Engländer
beteiligt sich erfahrungsgemäß an solchen Einrichtungen erst dann
freiwillig, wenn das Vaterland in Gefahr ist. Es mag daher für die
Durchführung der Aufrüstung und des Luftschutzes nötig sein, eine
solche Gefahr an die Wand zu malen.
Die Besorgnis, daß innerdeutsche Maßnahmen die Lieferung ver-
hindern könnten, ergibt sich aus der Tatsache, daß Lieferungssperren,
wie sie z. B. gegen die jüdische Loewy Engineering Co., London, von
den maßgebenden deutschen Stellen verhängt worden sind, zur
Stockung der Ausführung von Aufträgen geführt haben. Der Boykott
•der Loewy Engineering durch Anweisung an deutsche Industrieunter-
nehmen ist in weiten Kreisen bekannt. Die für die englische Mentalität
unverständliche Tatsache, daß solche Maßnahmen getroffen werden
können, erweckt Mißtrauen und führt zu Zurückhaltung bei Bestel-
lungen nach Deutschland.
Die in den letzten Monaten besonders intensiv gewesene —
und noch andauernde — Propaganda gegen die deutschen Export-
förderungsmethoden wird nicht nur von der „Buy British"-Bewegung
in England geschickt ausgenutzt, sondern die Industrie, z. B. die Auto-
industrie, benutzt diese Propaganda, um Deutschland auch für den
Rückgang des englischen Ausfuhrgeschäftes und für andere Vorgänge,
z. B. für Arbeiterentlassungen in englischen Autofabriken, verantwort-
lich zu machen. Dabei wird letzthin auch auf die angebliche steigende
Ausfuhr „subsidierter" deutscher Waren nach den Empire-Ländern
verwiesen, wodurch die englische Industrie „schwer" geschädigt würde.
Dies Argument ist zugkraftig, weil der Engländer — obwohl er es nicht
gern zugibt — , instinktiv fühlt, daß sein Einfluß in den Dominien
nicht mehr sehr stark ist. Für die deutsche Gegenpropaganda ist es
besonders schwierig, mit Vemunftgründen gegen diese gefühlsmäßigen
Reaktionen anzugehen.
In diesem Zusammenhang verdient auch die englische Propaganda
gegen das wirtschaftliche Vordringen Deutschlands auf dem Balkan
und im Nahen Orient Erwähnung. Im Zusammenhang mit dem eng-
lisch-türkischen Kreditabkommen ist weiten Kreisen klargeworden,
daß diese Abkommen eine Spitze gegen den deutschen Handel haben.
So verlautet z. B. hier, daß Deutschland türkisches „Chromerz** in
Zukunft nur noch über die Anglo-Turkish Commodities Ltd., d. h.
nur mit englischer Genehmigung wird beziehen können. (Hierüber soll
in Berlin ein Bericht unserer Botschaft in Ankara vorliegen, der hier
noch nicht bekannt ist.)
Bisher bestellte das britische War-Office Pharmazeutica für die
Armee in großem Umfange in Deutschland. Wie ich von der Vertretung
der I. G. Farbenindustrie höre, werden diese Bestellungen mehr und
mehr nach den USA. verlegt, obwohl hier sehr wohl bekannt ist, daß
diese Erzeugnisse qualitativ schlechter sind. Diese Verlegung der
Bezüge wird begründet mit der Möglichkeit, daß ein ausbrechender
Krieg weitere Bezüge aus Deutschland immöglich machen würde.
H2
Deutschland - i^ngland
Das deutsche Reipeverkehrsbüro sowie die Firma Th. Cook haben
mitgeteilt, daO seit Pfingsten der englische Reiseverkehr nach Deutsch-
land um 60 V. H., stellenweise um 75 v. H. zurückgegangen sei. Ins-
besondere besuchen viele Engländer Österreich nicht mehr, weil sie
befürchten, im Falle eines ausbrechenden Krieges von der Heimat
abgeschnitten zu sein.
Die großen englischen Reisebüros bestellten bis vor kurzem häufig
bei der deutschen Reichsbahn Sonderzüge für die von ihnen veran-
stalteten Wochenendfahrten. Bei einer Ausschreibung an die interes-
sierten Büros in den letzten Tagen ergab sich, daß die Mindestbetei-
Hgung (300 Personen) auch nicht entfernt erreicht wurde. Es meldeten
sich auf allen Büros zusammen 14 Teilnehmer,
F^in Mitglied meiner Behörde, das vor kurzem hierher versetzt
worden ist und eine Wohnung sucht, hat mir gemeldet, daO in zwei
Fällen aussichtsreiche Verhandlungen über Miete eines Hauses ab-
gebrochen worden seien, als die Hauseigentümer (Inhaber der lease)
erfuhren, daß der Mieter Deutscher ist- Der Leiter einer Immobilien-
Maklerfirma hat die Frau dieses Botschaftsmitgliedes offen gefragt:
,,Was tun Sie denn mit dem Haus, wenn ein Krieg ausbricht?**
(Aus den Aictcn de& Auswärtigen Amtes,)
Am 26. Juli 1938 kündiffle Chamberlain in seiner ü nterhausrede
die Entsendung oon Lord Baneiman nach Prag als ^, unabhängigen Be-
obachter und Vermitiler'' an. Er beschloß diese Hede mit optimistischen
Ausführungen über die Möglichkeit einer deutsch-englischen Verständi-
gung nach einer friedlichen Regelung der tschechoslowakischen Frage,
wobei er zwar die deutschen Vorleistungen für diese Verständigung an-
erkannte, sich über einen englischen Beitrag dazu aber wiederum aus-
schwieg.
57. Aus der Unterhausrede des briliedien Premierminislers Chamberlain
vom 26. Juli 1938
Weim wir nur für diese tschechoslowakisctie Frage eine friedliche
Lösung finden können, so \Ä.iirdc ich persönlich glauben, daü der Weg
für neue Bemühungen um eine allgemeine Befriedung frei ist, eine
Befriedung, die nicht erreicht werden kann, bevor wir nicht die Ge-
wiOheit haben, daß kein größerer Fall von Meinungsverschiedenheiten
oder Streitigkeiten unerledigt geblieben ist. Wir haben bereits fak-
tisch bewiesen, daß zwischen einem demokratischen und einem tota-
litären Staat ein vollständiges Abkommen möglich ist, und ich kann
persönlich keinen Grund sehen, warum dieser Versuch nicht wiederholt
werden soll. Als Herr Hitler einen Flottenvertrag anbot, nach dem die
deutsche Flotte auf ein gegenseitig vereinbartes Niveau beschränkt
werden sollte, das sich in einem fest bestimmten Verhältnis zur Größe*
zur britischen Flotte hält, machte er eine bemerkenswerte Geste von
58]
Das Jahr 1938
143
außerordentlich praktischer Bedeutung für den Frieden « und es scheint
mir, daO die Bedeutung dieser Geste als einer auf diese allgemeine
Befriedung abzielenden Handlung nicht immer voll anerkannt worden
ist. Dieser Vertrag besteht nun als ein Beweis dafür, daß es zwischen
Deutschland und uns möglich ist, in einer für uns beide lebenswichtigen
Angelegenheit zu einer Verständigung zu gelangen. Und weil wir uns
bereits über diesen Punkt verständigt haben, sollten wir es nach meiner
^sicht nicht für unmöglich halten, unsere Bemühungen um eine
Verständigung fortzusetzen, Bemühungen, die, wenn sie erfolgreich
wären, in so hohem MaOe dazu beitragen würden, das Vertrauen
wiederherzustellen.
(E: Parliameatary Debates. House o( Coramons. Bd, 338, Sp. 296^»' —
D: Monütshefie für Auswürüge Politik« 1938, S. 856 f.]
Während die Mission Lord Runcimans ohne jedes praküsche Er-
gebnis blieb, spilzien sich die Verhäilnisse im Sudetengebiet immer mehr
zü. Auf dem Nürnberger Parteitag nahm der Füfirer in grundsätztichen
Ausführungen zu dem sudetendeulschen Problem Siettung. Auch in dieser
Bede wurde wiederum deutlich^ wie er jedes einzctne Problem Mittel-
europas stets im Zusammenhang mit einer neuen europaischen Friedens*
Ordnung sah, die sich nach seiner Meinung auf der Versldndigung mit
den Westmüchten und insbesondere mit England aufbauen mußte.
Aus der Schlußrede des Führers auf dem ersten Reichsparteitag;
Großdeutsdilands in Nürnberg vom 12. September 1938
58.
Der nationalsozialistische Staat hat um des europäischen Friedens
willeo sehr schwere Opfer auf sich genommen^ und zwar sehr schwere
natioiiale Opfer. Er hat jeden sogenannten lievanchegedanken nicht
nur nicht gepflegt, sondern im Gegenteil aus dem gesamten öffentlichen
und privaten Leben verbaunL
Im Laufe des 17. Jahrhunderts hat Frankreich das Elsaß und
Lothringen dem alten Deutschen Reich mitten im tiefsten Frieden
langsam genommen, 1870/1871 hat Deutschland nach einem schweren
Krieg, der ihm aufgezwungen war, diese Gebiete zurückgefordert und
erhalten. Nach dem groüen Weltkrieg gingen sie w^ieder verloren.
Für uns Deutsche bedeutete das StraDburger Münster sehr viel.
Wenn wir trotzdem hier einen endgültigen Strich gezogen haben, dann
geschah es, um dem europäischen Frieden für die Zukunft einen Dienst
zu erweisen. Es konnte uns niemand zwingen, solche Revisionsansprüche
freiwilüg aufzugeben, wenn wir sie nicht aufgeben wollten!
Wir haben sie aufgegeben, weil es unser Wille war, den ewigen
Streit mit Frankreich einmal für immer zu beenden.
Auch an anderen Grenzen hat das Reich dieselben entschlossenen
Maßnahmen verfügt und die gleiche Haltung eingenommen. Der Na-
tionalsozialismus ist hier wirklich von höchstem Verantwortungs-
bewußtsein getragen vorgegangen.
144 Deutschland - England [58
Wir haben die schwersten Opfer an Verzichten freiwillig auf uns
genommen, um Europa für die Zukunft den Frieden zu erhalten imd
vor allem der Völkerversöhnung von uns aus den Weg zu ebnen.
Wir haben dabei mehr als loyal gehandelt. Weder in der Presse
noch im Film oder auf der Bühne ist eine diesem Entschluß entgegen-
stehende Propaganda gemacht worden. Nicht einmal in der Literatur
wurde eine Ausnahme geduldet.
Ich habe aus diesem selben Geiste heraus Angebote gemacht zur
Lösung europäischer Spannungen, die einer Ablehnung verfielen aus
Gründen, die uns heute noch unverständlich sind. Wir haben selbst
unsere Macht auf einem wichtigen Gebiete freiwillig begrenzt, in der
Hoffnung, mit dem in Frage kommenden Staat niemals mehr die
Waffen kreuzen zu müssen.
Dies ist nicht geschehen, weil wir etwa nicht mehr als 35 v. H.
Schiffe würden bauen können, sondern es geschah, um einen Beitrag
zur endgültigen Entspannung und Befriedung der europäischen Lage
zu geben.
Da in Polen ein großer Patriot und Staatsmann bereit war, mit
Deutschland einen Akkord zu schließen, sind wir sofort darauf ein-
gegangen und haben eine Abmachung getätigt, die für den europäischen
Frieden mehr bedeutet als alle Redereien im Genfer Völkerbunds-
tempel zusammengenommen.
Deutschland hat nach vielen Seiten hin vollständig befriedigte
Grenzen und es ist entschlossen, und es hat dies versichert, diese
Grenzen nunmehr als unabänderlich und endgültig hinzunehmen und
anzunehmen, um damit Europa das Gefühl der Sicherheit und des
Friedens zu geben. Diese Selbstbegrenzung und Selbstbeschränkung
ist aber anscheinend von vielen nur als eine Schwäche Deutschlands
ausgelegt worden.
Ich möchte deshalb heute diesen Irrtum hier richtigstellen:
Ich glaube, es kann dem europäischen Frieden nicht nützen, wenn
darüber ein Zweifel besteht, daß das Deutsche Reich nicht gewillt ist,
deshalb nun überhaupt sein Desinteressement an allen europäischen
Fragen auszusprechen, und insonderheit, daß Deutschland nicht bereit
ist, dem Leid und Leben einer Summe von 3^ Millionen Volksgenossen
gegenüber gleichgültig zu sein und an ihrem Unglück keinen Anteil
mehr zu nehmen.
Wir verstehen es, wenn England oder Frankreich ihre Interessen
in einer ganzen Welt vertreten. Ich möchte aber hier den Staats-
männern in Paris und London versichern, daß es auch deutsche In-
teressen gibt, die wir entschlossen sind wahrzunehmen, und zwar unter
allen Umständen.
Ich möchte sie dabei erinnern an eine Reichstagsrede vom Jahre
1933, in der ich zum ersten Male vor der Welt feststellte, daß es
nationale Fragen geben kann, in denen unser Weg klar vorgezeichnet
ist, daß ich dann jede Not und jede Gefahr und jede Drangsal lieber
auf mich nehmen werde, als von der Erfüllung solcher Notwendigkeiten
abzustehen.
61] Das Jahr 1938 145
Kein europäischer Staat hat für den Frieden mehr getan als
Deutschland! Keiner hat größere Opfer gebracht!
(DNB. vom 13. September 1938.)
Alle Reden und Schrifhlücke, die im Verlaufe der Seplember-Krise
gewechselt wurden^ sind neben der sudelendeulschen Frage immer wieder
von der größeren deulsch-englischen Frage beslimml.
Mitteilung des britisdien Premierministers Chamberlain an den 59.
Führer und Reidiskanzler vom 14. September 1938
Im Hinblick auf die zunehmende kritische Lage schlage ich vor,
sofort zu Ihnen herüberzukommen, um zu versuchen, eine friedUche
Lösung zu finden. Ich schlage vor, auf dem Luftwege zu kommen und
bin morgen zur Abreise bereit.
Teilen Sie mir bitte den frühesten Zeitpunkt mit, zu dem Sie mich
empfangen können, und geben Sie mir den Ort der Zusammenkunft
an. Ich wäre für eine sehr baldige Antwort dankbar.
Neville Chamberlain.
(DNB. vom 14. September 1938.)
Amtliche dentsdie Verlantbarnng vom 15. September 1938 60.
Berchtesgaden, 15. September. Der Führer und Reichskanzler
hatte am Donnerstag auf dem Obersalzberg mit dem britischen
Premierminister eine Besprechung, in deren Verlauf ein umfassender
und offener Meinungsaustausch über die gegenwärtige Lage stattfand.
Der britische Premierminister fährt am Freitag nach England
zurück, um sich mit dem britischen Kabinett zu beraten. In einigen
Tagen findet eine neue Besprechung statt.
(DNB. vom 16. September 1938.)
Aufzeichnung über die Unterredung des Führers mit dem britisdien 61.
Premierminister Chamberlain auf dem Obersalzberg
vom 15. September 1938
Der Führer sagte: „Grundsätzlich könne er erklären, daß er
seit seiner Jugend den Gedanken einer deutsch-engiischen Zusammen-
arbeit gehabt habe. Der Krieg sei für ihn eine schwere, innere, seelische
Erschütterung gewesen. Er habe aber nach 1918 stets den Gedanken
an die deutsch-englische Freundschaft vor Augen gehabt. Der Grund,
weshalb er derartig für diese Freundschaft eingetreten sei, liege darin,
daß er seit seinem 19. Lebensjahr gewisse Rasseideale in sich selbst
entwickelt habe, die ihn dazu veranlaßt hätten, sofort nach dem Ende
Deutfchland-Eiurland 10
1«
Dduischland - England
[62
des Krieges grtiDd^izIich die Annäherung beider Völker wieder als
eins seiner Ziele ins Auge zu fassen. Er müsse zugeben, daß in den
letzten Jahren dieser idealistische Glaube an die deutsch-englische
Rassengemeinschaft sehr schwere Schläge erlitten habe. Er würde sich
jedoch glücklich schätzen, wenn es in letzter Stunde geliitge^ die ge-
samte politische Entwicklung trotz allem wieder in den Rahmen der
Gedankengänge zurückzuführen, die er seit anderthalb Jahrzehnten
immer wieder in seinen Reden und Schriften verfochten habe.**
(Aus deD Akten des Auswärtigen Amtes.)
Erklärung des britischen PremierminiBters Chamberlain oadi seiner
Wiederankunft in London vom 16. September 1938
Ich bin schneller wieder zurückgekehrt, als ich angenommen hatte.
Ich hätte die Reise genießen können, wenn ich nicht zu beschäftigt
gewesen wäre.
Gestern nachmittag habe ich eine lange Unterredung mit Herrn
Hitler gehabt. Es war eine offene, aber freundschaftliche Aussprache,
und ich bin darüber zufrieden, daß jeder von uns jetzt voll versteht,
was der andere meint.
Sie werden natürlich nicht von mir erwarten, daß ich mich Jetzt
über das Ergebnis dieser Unterredung äußere. Alles, was ich jetzt zu
tun habe, ist, mit meinen Kollegen Rücksprache zu nehmen, und ich
gebe den Rat, nicht voreilig einen unautorisierten Bericht dessen, was
sich in der Unterredung abgespielt hat, als wahr hinzunehmen.
Ich werde heute abend mit meinen Kollegen und anderen, beson-
ders mit Lord Ruociman, die Unterredung erörtern.
Später, vielleicht in einigen wenigen Tagen, werde ich eine weitere
Aussprache mit Herrn Hitler haben. Dieses Mal aber, so hat er mir
gesagt, beabsichtigt er, mir auf halbem Wege entgegenzukommen.
Herr Hitler wünscht, einem alten Mann eine so lange Reise zu ersparen.
(DNB. vom 17. Sftptember 193d.)
Die zweite Begegnung zwischen dem Fährer und Chamberlain, die
am 22,12S. September in Godesberg slaitfand, war wiederum durch Begteit-
umstände gekennzeichnet, die für die Geschichte der deutsch-englischen
Beziehungen nur allzu bezeichnend sind. Während nämlich die Bespre-
chungen in Godesberg noch im Gange waren — sie endeten bekannilich
am 24. um L30 Uhr nachts, ohne bereits eine Entscheidung nach der einen
oder anderen Seile zu bringen — wurde in Prag am 23, September um
20 Uhr der Mobilmachungsbeschluß gefaßt und um 22,20 Uhr über den
Prager Sender bekanntgegeben. Man hat später aus englischer Quelle er-
fahren, daß die tschechische Regierung vorher in London angefragt hatte.
Im Foreign Office habe man daraufhin, so berichtete die ,, Times**, die
Meinung gefaßt, daß England dem tschechischen Drängen auf Mobil-
machung nicht weiter widerstehen könne, wenn man nicht die moralische
Verantwortung dafür auf sich nehmen wolle, daß man dann den Tschechen
63]
Da» Jahr 1938
147
bewaffnete Hilfe gewähren müsse, wenn es zu einem deutschen Einmarsch
käme. Das heißt: England konnte weder einen Rat für noch gegen die
Mob itis ieru ng erle ilen .
Aber die englische Regierung habe hinzugefügt, die Mobilisierung
gehe aliein auf tschechische Verantwortung, sie habe ferner eine Warnung
00 r den ernsten Konsequenzen hinzugefügt. Dieser Meinungsaustausch
der Tschechen mit dem Foreign Office und der Schritt des englischen
Gesandten in Prag haben demnach ohne Wissen Chamberlains stall-
gefunden. Außerdem habe weder das Foreign Office noch die Prager
Regierung zu diesem Zeitpunkt Kenntnis davon gehabt ^ was zwischen
Chambertüin und dem Führer tmr sich ging.
Die Bestimmungen der Vorschläge Hitlers seien im Foreign Office
noch nicht bekannt gewesen^ als dort die Nachricht üon dem endgültigen
Beschluß der Tschechen eingetroffen sei, mobil zu machen,
„Es ist daher eoidenV', so schließt die ,,Times'^ ihre sorgfältigen
Untersuchungen, daß diese Entscheidung nicht nur ohne das Anraten
und die Zustimmung, sondern auch sogar oime Wissen der engtischen
Regierung getroffen wurde,*'
Die merkwürdige Haltung des Foreign Office, das hier hinter dem
Rücl\-en des Regierungschefs in unverantwortlicher Weise eine selbständige
Politik machte und mit seiner zweideutigen Erklärung den Weg für die
tschechische Mobilmachung und damit für die letzte VerscJiärfung der
Krise freigab, konnte nicht dazu angetan sein, das deutsche Vertrauen
in die Absichten und Methoden der britischen Politik zu erhöhen. Es
zeigte sich auch hier wieder, daß die britische Politik einen doppelten
Boden tialte. Hinter Chamberlain und seinen Friedens Proklamationen
stand jederzeit aktionsbereit, auf die erste Gelegenheit wartend, jene unuer-
aöhnliche Gruppe von Kriegspolitikern, die den Konflikt nicht schneit
genug auf die Spitze getrieben sehen konnte. Trotz dieser abermaligen,
zu höchstem Mißtrauen Ijerechtigenden Erfahrungen nutzte der Fütirer
auch die letzte Möglichkeit einer friedlichen Lösung der sudetendeutschen
Frage. Nachdem er im Augenblick der höchsten Spannung, in der Sport-
palast'Rede vom 26, September, noch einmal auf die prinzipiellen Vor-
ausseizungen der deutsch-englischen Zusammenarbeit hingewiesen hatte^
brachte die Münchener Konferenz in der Tat ein Ergebnis, das über die
Lösung der aktuellen Krise hinauszuweisen schien: die deutsch-englische
Friedenserklärung vom SO, September,
Ana der Rede des Führers Lm Berliner Sportpalast
vom 26. September 1938
63,
Ich habe in dieser Zeit nun versucht, auch mit den anderen Nationen
allmähhch gute und dauerhafte Verhültnisse herbeizuführen.
Wir haben GaraniieD gegeben für die Staaten im Westen und allen
unseren Anrainern die Unversehrtheit ihres Gebietes von Deutschland
aus zugesichert. Das ist keine Phrase. Es ist das unser heiliger Wille.
Wir haben gar kein Interesse daran, den Frieden zu brechen.
148 DcoUefatand - Eociaad ;m
Di«« deutschen ADsr^bot* «tieCen auoh auf wauhiecdeä Verstand-
Dia. Allzndhüch lös«n sich imm«*r mehr Völker von jener vahnsinnigen
Genfer VerLiendane. die — i-rh rr.«j.:Lte sag^n — nicht zu einer kollek-
tiven Friedensverpflichtune. sondern zu einer kollektiven Krieg5\'er-
pflichtung ^Tirde. Sie lösen «izh davon und binnen, die Probleme
nüchtern zu sehen. ?ie sind verständiz^j res bereit und frxe*Jen2wiUig.
Ich bin weitergegangen und habe England die Hand geboten!
Ich habe freiwillig darauf verzichtet. j'^maU wie«i»rr in eine Flotten-
konkurrenz einzutreten, um dem Bntiä«:hen Reich das Gefühl der
Sicheriie«t zu g^ben. Ich habe das ni>;ht etwa getan, weil ich nicht
mehr würde bauen können, darüber soll man sich keiner Täuschung
hingeben« sondern aussrhlieOli>:h aus dem Grund, um zwischen den
beiden Völkern einen dauerhaften Frieden zu sichern.
Freilich, eines ist huf'r Voraussetzung: Es geht nicht an, daß der
eine Teil sagt: ..Ich will mit dir nie wieder Krieg führen, und zu diesem
Zweck biete ich dir eine freiwillige Begrenzung meiner Waffen auf
35 V. H. an" — der andere Teil aber erklärt: „Wenn es mir paOt,
werde ich von Zeit zu Zeit schon wieder Krieg führen." Das geht nicht!
Ein solches Abkonunen ist nur dann moralisch berechtigt, wenn
beide Völker sich in die Hand versprechen, niemals wieder miteinander
Krieg führen zu wollen. Deutschland hat diesen Willen! Wir alle wollen
hoffen. daO im englischen Volk diejenigen die Überhand bekommen,
die des gleichen Willens sind!
(DNB. vom 27. September 1938.*
64. Deutsch-englisdie Erklirang von München vom 30. September 1938
Wir haben heute eine weitere Besprechung gehabt und sind uns
in der Erkenntnis einig. daC die Frage der deutsch-englis<*hen Bezie-
hungen von allererster Bedeutung für beide Länder und für Europa ist.
Wir sehen das gestern abend unterzeichnete Abkommen und das
deutsch-englische Flottenabkommen als symbolisch für den Wunsch
unserer beiden Völker an. niemals wieder gegeneinander Krieg zu
führen.
Wir sind entschlossen, auch andere Fragen, die unsere beiden
Länder angehen, nach der Methode der Konsultation zu behandeln
und uns weiter zu bemühen, etwaige Ursachen von Meinungsverschie-
denheiten aus dem Wege zu räumen, um auf diese Weise zur Sicherung
des Friedens Europas beizutragen.
30. September 1938 Adolf Hitler Neville Chamberlain
:DNB. vom 30. September 1938.'
Was nach München kam, zeigte indessen nur allzu schnell^ auM
welchen Motiven das Einlenken Chamberlains geboren war: daß es einzig
und allein das Bewußtsein war, die Aufrüstung noch nicht collendd zu
haben, das ihn abhielt, andere Worte zu finden. Der damalige Häsiungz^
agent der britischen Regierung, Lord Winlerton, prägte dafür die cAoroIr-
65] Dag Jahr 1938 149
Urisiische Formulierung^ man dürfe von den britischen Staatsmännern
nicht verlangen, daß sie mit einer auf dem Rücken festgebundenen Hand
verhandelten. Die Reden und Äußerungen der britischen Staatsmänner
nach München zeigen, daß mit diesem Bilde der Geist der Münchener
Vereinbarungen treffend beschrieben war.
Aus der Unterhausrede des britischen Premierministers Cha^berlain g5.
vom 3. Oktober 1938
Ich glaube, es gibt viele, die mit mir der Ansicht sind, daß eine
solche von dem deutschen Reichskanzler und mir unterzeichnete Er-
klärung etwas mehr ist als nur eine fromme Meinungsäußerung. In
unseren Beziehungen zu anderen Ländern hängt alles davon ab, daß
auf beiden Seiten Aufrichtigkeit und guter Wille vorhanden sind. Ich
glaube, daß hier Aufrichtigkeit und guter Wille auf beiden Seiten vor-
handen sind. Das ist der Grund, warum die Bedeutung dieser Erklärung
für mich weit über ihren tatsächlichen Wortlaut hinausgeht. Wenn es
eine Lehre gibt, die wir aus den Ereignissen dieser letzten Wochen ziehen
können, so ist es die, daß ein dauernder Friede nicht dadurch erreicht
werden kann, daß wir stillsitzen und auf ihn warten. Um ihn zu er-
langen, bedarf es aktiver und positiver Bemühungen. Ich werde zweifel-
los viele Kritiker haben, die sagen, daß ich mich eines leichtfertigen
Optimismus schuldig mache und daß ich besser täte, kein einziges
Wort zu glauben, das von den Regierenden anderer großer europäischer
Staaten geäußert wird. Ich bin zu sehr Realist, um zu glauben, daß
wir unser Paradies in einem Tag erringen. Wir haben nur den Grund-
stein des Friedens gelegt. Mit dem Oberbau ist noch nicht einmal
begonnen worden.
Wir sind in diesem Land bereits während eines langen Zeitraums
mit einem großen Wiederaufrüstungsprogramm beschäftigt, das in
Tempo und Umfang ständig zunimmt. Niemand soll glauben, daß wir
es uns infolge der Unterzeichnung des Münchener Abkommens zwischen
den vier Mächten leisten können, unsere Anstrengungen im Hinblick
auf dieses Programm in dem gegenwärtigen Zeitpunkt zu verringern.
Die Abrüstung kann seitens dieses Landes nie wieder eine einseitige
sein. Wir haben das einmal versucht und haben uns dabei fast ins
Unglück gestürzt. Wenn die Abrüstung kommen soll, so muß sie schritt-
weise kommen, so muß sie durch Übereinkommen und die aktive Mit-
arbeit anderer Länder kommen. Und bis wir dieser Mitarbeit sicher
sind, bis wir uns über die tatsächlich zu unternehmenden Schritte
geeinigt haben, müssen wir auf unserer Hut bleiben. . .
Und während wir erneut entschlossen sein müssen, die Lücken
in unseren Rüstungen und in unseren Verteidigungsmaßnahmen zu
schHeßen, um zu unserer Verteidigung bereit zu sein und unserer
Diplomatie Wirksamkeit zu verleihen — ich bin Realist — , so sage
ich nichtsdestoweniger mit dem gleichen Sinn für Realitäten, daß ich
in der Tat neue Gelegenheiten zur Inangriffnahme dieser vor uns
liegenden Abrüstungsfrage sehe, und ich glaube, daß sie heute zum
mindesten ebenso aussichtsreich sind, wie sie es jemals zu irgendeiner
früheren Zeit waren.
(E: Parliamentary Debates. Hous« of Commons. Bd. 359, Sp. 49 f. —
MonaUhefte für Auswärtige Politik, 1938» S. i091 f.)
Die freundschafilkhe Atmosphäre von München war durch diese
Rüsiungsrede Chamberlains rasch wieder verflogen. Eine entsprechende
deutsche Antwort konnte nicht ausbleiben: der Führer gab sie in seiner
Saarbrückener Bede vom 9, Oktober.
Rede des Führers in Saarbrücken vom 9. Oktober 1938
Am Beginn dieses 20. Jahres nach unserem Zusammenbruch habe
ich den Entschluß gefaßt, die zehn Millionen Deutschen, die noch außer-
halb unserer Grenzen standen» zurückzuführen in das Reich. Ich war
mir dabei vollkommen bewußt, daß diese Rückkehr nur durch unsere
eigene Kraft erzwungen werden konnte.
Die andere Welt hat es weder gesehen noch sehen wollen, daß hier
im Gegensatz zum sogenannten Seibstbestimmungsrecht der Völker
zehn Millionen Menschen vom Deutschen Reich getrennt und wegen
ihres Deutschtums unterdrückt wurden. Und sie hat es weder ver-
standen noch verstehen wollen, daß diese Menschen nur eine einzige
große Sehnsucht hatten: zurück zum Reich!
Diese internationalen Weltbürger, die zwar Mitleid mit jedem
Verbrecher haben, der in Deutschland zur Rechenschaft gezogen wird,
waren taub gegen das Leid von zehn Millionen Deutschen! Auch heute
noch ist diese Welt erfüllt vom Geist von Versailles. Man sage uns
nichl^ daß sie sich davon gelöst hat. Nein: Deutschland hat sich von
ihm gelöst!
Es mußte ein harter Entschluß getroffen werden. Es hat auch bei
uns Schwächlinge gegeben, die das vielleicht nicht verstanden hatten.
Allein es ist selbstverständlich, daß es zu allen Zeiten die Ehre \^irk-
licher Staatsmänner war, eine solche Verantwortung zu übernehmen.
Eine Reihe von Voraussetzungen war notwendig, um diese Lösung
herbeizuführen:
Erstens: Die innere Geschlossenheit der Nation, Ich war bei
meinem Entschluß davon überzeugt, daß ich der Führer eines mann-
haften Volkes bin. Ich weiß, was vielleicht viele in der übrigen Welt
und einzelne auch in Deutschland noch nicht zu wissen scheinen, daß
das Volk des Jahres 1938 nicht das Volk von 1918 ist.
Niemand kann die gewaltige Erziehungsarbeit übersehen, die
unsere Weltanschauung geleistet hat. Heute ist eine Volksgemeinschaft
entstanden von einer Kraft und einer Stärke, wie Deutschland sie
noch nie gekannt hat. Dies war die erste Voraussetzung zum Gelingen
eines solchen Kampfes.
Die zweite war die nationale Rüstung, für die ich mich nun seit
6e)
Das Jahr J938
151
bald sechs Jahren fanatisch e''nge&etzt habe. Ich bin der Meinung,
daß es billiger ist» sich vor den Ereignissen zu rüsten, als ungerüstet
den Ereignissen zu erliegen ynd dann Tribute zu bezahlen.
Die dritte Voraussetzung war die Sicherung des Reiches. Ihr seid
ja selbst hier Zeugen einer gewaltigen Arbeit, die sich in eurer nächsten
Nahe vollzieht. Ich brauche euch darüber nichts im einzelnen zu sagen.
Nur eine Überzeugung spreche ich aus, daß es keiner Macht der Welt
gelingen wird, jemals diese Mauer zu durchstoßen.
Und viertens: Wir haben auch außenpolitische Freunde gewonnen.
Jene Achse, über die man in anderen Ländern manchmal glaubte
spotten zu können, hat sich in den letzten zweieinhalb Jahren nicht
nur als dauerhaft ervviesen, sondern gezeigt, daß sie auch io schlimmsten
Stunden Bestand hat.
Wir sind glücklich, daß dieses Werk des Jahres 1938, die Wieder-
eingliederung von zehn Millionen Deutschen und von rund 110 000
Ouadratkilometcrn Land in das Reich ohne Blutvergießen vollzogen
werden konnte trotz der Hoffnungen so vieler internationaler Hetzer
und Profitmacher.
Wenn ich die Mitarbeit der anderen Welt an dieser Friedenslösung
erwähne, dann muß ich zuerst immer wieder von dem einzigen wahren
Freund sprechen, den wir heute besitzen: Benito Mussolini. Wir alle
wiasen, was wir diesem Mann zu verdanken haben.
Ich möchte auch der beiden anderen Staatsmänner gedenken,
die sich mühten, einen Weg zum Frieden zu finden und die mit uns
jenes Abkommen geschlossen haben, das vielen Millionen Deutschen
ihr Recht und der Welt den Frieden gesichert hat.
Allein, gerade die Erfahrungen dieser letzten acht Monate können
und müssen uns nur bestärken in dem Entschluß, vorsichtig zu sein
und nichts von dem zu versäumen, was zum Schutze des Reiches getan
werden muß.
Die Staatsmänner, die uns gegenüberstehen, wollen — das müssen
wir ihnen glauben — den Frieden, Allein, sie regieren in Ländern, deren
innere Konstruktion es möglich macht, daß sie jederzeit abgelöst
werden können, um anderen Platz zu machen, die den Frieden nicht
so sehr im Auge haben. Und diese anderen sind da.
Es braucht nur in England statt Chamberlain Herr Duff Cooper
oder Herr Eden oder Herr Churchill zur Macht zu kommen, so wissen
wir genau, daß es das Ziel dieser Männer wäre, sofort einen neuen
Weltkrieg zu beginnen. Sie machen gar kein Hehl, sie sprechen das
offen aus.
Wir wissen weiter, daß nach wie vor drohend im Hintergrunde
jener jüdisch-internationale Feind lauert, der im Bolschewismus seine
staatliche Fundierung und Ausprägung erfahren hat. Und wir kennen
ferner die Macht einer gewissen internationalen Presse, die nur von
Lügen und Verleumdung lebt.
Das verpflichtet uns, wachsam und auf des Reiches Schutz be-
dacht zu sein! Jederzeit zum Frieden gewillt, in jeder Stunde aber
auch zur Abwehr bereit !
152 Deutschland - England [66
Ich habe mich deshalb entschlossen, den Ausbau unserer Befesti-
gungen im Westen, so wie ich sie in meiner Nürnberger Rede ankün-
digte, mit erhöhter Energie fortzusetzen. Ich werde nunmehr auch
die beiden großen Gebiete, die bisher vor unseren Befestigungen lagen,
das Aachener und das Saarbrücker Gebiet, in diese Befestigungen
einbeziehen.
Im übrigen aber bin ich glücklich, nunmehr schon in den nächsten
Tagen jene Maßnahmen aufheben zu können, die wir in den kritischen
Monaten und Wochen durchführen mußten. Ich freue mich, daß dann
alle die Hunderttausende unserer Männer wieder nach Hause gehen
und unsere Reservisten wieder entlassen werden können, und ich
danke ihnen für die Art, in der sie ihren Dienst erfüllten und ihre
Pflicht taten.
Insbesondere danke ich den Hunderttausenden deutscher Arbeiter,
Ingenieure usw., von denen heute zehntausend in eurer Mitte stehen,
die hier an unseren Befestigungen gearbeitet haben.
Ihr habt mitgeholfen, meine Kameraden, Deutschland den Frieden
zu sichern !
Mein besonderer Dank aber gilt dem ganzen deutschen Volk, das
sich so mannhaft benommen hat.
Als starker Staat sind wir jederzeit zu einer Verständigungspolitik
mit unseren Nachbarn bereit. Wir haben keine Forderungen an sie.
Wir wollen nichts als den Frieden. Nur eines wünschen wir, und das
gilt besonders für unsere Beziehungen zu England : Es würde gut sein,
wenn man in Großbritannien allmählich gewisse Allüren der Versailler
Epoche ablegen würde. Gouvernantenhafte Bevormundung vertragen
wir nicht mehr!
Erkundigungen britischer Politiker über das Schicksal von Deut-
schen oder von Reichsangehörigen innerhalb der Grenzen des Reiches
sind nicht am Platze. Wir kümmern uns auch nicht um ähnliche Dinge
in England. Die übrige Welt hätte manches Mal Grund genug, sich
eher um ihre eigenen nationalen Vorgänge zu bekümmern oder z. B.
um die Vorgänge in Palästina.
Wir jedenfalls überlassen das denen, die sich vom lieben Gott
berufen fühlen, diese Probleme zu lösen, und beobachten nur staunend,
wie schnei] sie mit ihren Lösungen fertig werden.
Wir möchten all diesen Herren den Rat geben, sich mit ihren
eigenen Problemen zu beschäftigen und uns in Ruhe zu lassen! Auch
das gehört zur Sicherung des Weltfriedens.
Wir selbst haben große Aufgaben vor uns. Gewaltige kulturelle
und wirtschaftliche Probleme müssen gelöst werden. Kein Volk kann
mehr den Frieden brauchen als wir, aber kein Volk weiß auch besser
als wir, was es heißt, schwach und der Gnade oder Ungnade anderer
ausgeliefert zu sein.
(DNB. vom 10. Oktober 1938.)
Am 10. Okiober kündigte der britische Kriegsminister Hore-Belisha
eine durchgreifende Reorganisation der Territoriatarmee an. Am 16, Ok-
67] Dag Jaht 1938 153
iober hielt Winsion Churchill über den Rundfunk eine Heizrede nach
Amerika, Auf demGauparteilag in Weimar wurde ihm am 6. November
vom Führer die Antwort erteilt.
Randfankrede Winston Chtirdiills nadi Amerika 67.
Yom 16. Oktober 1938
(Am Abend des 16. Oktober 1938 von New York aus über das Sender-
netz der National Broadcasting Company verbreitet.)
Ich benutze mit Genugtuung die Gelegenheit, zum Volke der Ver-
einigten Staaten sprechen zu dürfen. Ich weiß nicht, wie lange solche
Möglichkeiten noch bestehen werden. Die Sender, über die man noch
unzensiert seinen Gedanken Ausdruck geben kann, sind im Begriff,
ihren Betrieb einzustellen. Die Lichter gehen aus. Noch aber haben
diejenigen, für die das parlamentarische Regierungssystem etwas be-
deutet, Gelegenheit, sich miteinander zu beraten.
Lassen Sie mich denn in allem Ernst sprechen. Das amerikanische
Volk hat sich, wie ich glaube, ein richtiges Urteil über das Verhängnis
gebildet, von dem Europa befallen worden ist. Es versteht vielleicht
klarer, als die französische und britische Öffentlichkeit es bisher ver-
mocht hat, die weitreichenden Folgen der Abschaffung und des Unter-
gangs der Tschechoslowakischen Republik.
Ich bin, wie schon vor einigen Monaten zum Ausdruck gebracht,
der Meinung, daß, wenn Großbritannien, Frankreich und Rußland im
April, Mai oder Juni gemeinsam erklärt hätten, daß sie gegen Nazi-
deutschland gemeinsam vorgehen würden, falls Herr Hitler einen nicht
herausgeforderten Angriff gegen diesen kleinen Staat unternehmen
sollte, und wenn sie Polen, Jugoslawien und Rumänien gegenüber
erklärt hätten, was sie zur rechten Zeit zu tun gedächten, und wenn
sie diese Staaten aufgefordert hätten, der Vereinigung der den Frieden
verteidigenden Mächte beizutreten, in diesem Falle der deutsche
Diktator sich einem derart eindrucksvollen Aufgebot gegenüber gesehen
haben würde, daß er von seinen Absichten Abstand genommen haben
würde.
Das würde auch allen friedliebenden und gemäßigten Kräften in
Deutschland Gelegenheit geboten haben, gemeinsam mit den Führern
des deutschen Heeres eine große Anstrengung zur Wiederherstellung
zivilisierter Zustände zu machen.
Wenn die mit einem Kriege verbundenen Risiken, die Frankreich
und Britannien im letzten Augenblick liefen, zur rechten Zeit kühn
ins Auge gefaßt und wenn eindeutige Erklärungen abgegeben worden
und aufrichtig gemeint gewesen wären, wie andersartig würden sich
dann heute die Aussichten darstellen!
Alle diese auf die Vergangenheit bezüglichen Betrachtungen sind
aber zwecklos. Es hat keinen Sinn, unter Freunden über die Ver-
gangenheit scharfe Worte zu gebrauchen und sich gegenseitig für das
154
DeuUcbland - England
fß7j
Vorwürfe zu machen, was nicht zu ändern ist. Die Zukunft, nicht aber
die Vergangenheit, gebietet unsere frühzeitige und besorgte Betrach*
tung. Wir müssen uns klar darüber sein, daO die parlamentarischen
Demokratien und die liberalen, nach Frieden strebenden Kräfte überall
eine Niederlage erlitten haben, die sie moralisch und physisch zu sehr
geschwächt hat, um den Gefahren, die ungeheuer groB geworden sind,
zu begegnen.
Aber die Sache der Freiheit hat eine ihr innewohnende Fähigkeit
und Kraft, sich wieder zu erholen, die es ihr ermöglicht, aus dem
Unglück neue Hoffnung und neue Stärke zu schöpfen. Wenn es jemals
eine Zeit gab, da Männer und Frauen, die die Ideale der Begründer
der britischen und amerikanischen Verfassungen hegten und pflegten,
ernsten Rat miteinander pflegen sollten, so ist diese Zeit jetzt gekommen.
Die ganze Welt sehnt sich nach Frieden und Sicherheit. Es ist
ihr Herzenswunsch. Haben wir diesen Frieden und diese Sicherheit
erlangt? Das ist die Frage, die wir stellen. Haben wir diesen Frieden
und diese Sicherheit durch die Hinopferung der Tschechoslowakischen
.Republik erreicht?
Diese Republik war das Musterbeispiel eines demokratischen
Staates in Mitteleuropa^ ein Land, in dem die Minderheiten besser als
in irgendeinem anderen Lande behandelt wurden. Dieses Land hat
man im Stich gelassen und vernichtet, und es wird jetzt aufgesogen.
Die Frage, die für eine große Anzahl einfacher Leute von Interesse
ist, geht dahin, ob diese Vernichtung der Tschechoslowakischen Repu-
blik sich für die Welt als ein Segen oder als ein Fluch erweisen wird.
Wir müssen alle hoffen, daO sich diese Vernichtung zum Segen
auswirken wird. Wir müssen alle hoffen, daß alle Menschen, nachdem
wir unsere Blicke eine Zeitlang von den Kräften der Unterjocht
und der Liquidation abgewendet haben werden, freier atmen können,"
daO es uns möglich sein wird, wenn der auf uns lastende Druck beseitigt
sein wird, zu uns selbst zu sagen: „Nun, die Angelegenheit ist jedenfalls^
erledigt; nun wollen wir unser regelmäßiges tägliches Leben wüederl
aufnehmen!"
Sind diese Hoffnungen aber wohlbegründet? Oder linden wir uns
lediglich, so gut wir können, mit dem ab, was zum Einhalt zu bringen
wir nicht den Mut und die Kraft haben? Das ist die Frage, die die eng-
hsch-sprechenden Menschen in allen unsern Ländern sich heute vor-
legen müssen; sie müssen sich heute fragen; ,,Ist dies das Ende
oder steht noch weiteres zu erwarten?" Und daraus ergibt sich noch
eine weitere Frage: „Kann der Friede, der gute Wille und das Vertrauen
auf einem Unrecht aufgebaut werden, hinter dem die Gewalt steht?**
Man kann diese Frage in umfassender Weise wie folgt formuHeren:
T,Hat die Menschheit damit, daß sie sich der organisierten und berech-
nenden Gewalttätigkeit unterwarf, jemals irgendeinen Vorteil oder
irgendeinen Fortschritt erzielt?** Das ist die Frage, in umfassender
Form gestellt.
Wenn wir auf die lange Geschichte der Völker zurückblicken, so
müssen wir, ganz im Gegenteil, erkennen, daß sich ihr Ruhm auf den
67]
Daa Jahr 1938
155
Geist des Widerstandes gegenüber der Tyrannei and der Ungerechtig-
keit gründete, ganz besonders, wenn diese Laster sich auf überlegene
Gewalt zu stützen schienen.
Seit dem Anbruch des christlichen Zeitalters hat sich bei dejl
westlichen Völkern allmählich eine gewisse Lebensauffassung gebildet,
und gewisse Normen in bezug auf Lebens- und Regierungsform haben
Wertschätzung erlangt. Nach vielem Elend und nach lang andauernder
Verwirrung stieg der Begriff von dem Recht des Einzelnen zum hellen
Tageslicht empor; sein Recht, in bezug auf die Regierung seines Landes
befragt zu werden, sein Recht, an der Regierung seines Landes Kritik
zu üben und in Opposition zu ihr zu treten» sein Recht, die Gesetze
seines Landes sogar gegen den Staat selbst anzurufen. Unabhängige
Gerichtshöfe w^urden geschaffen^ den Gesetzen Geltung verschafft;
und damit wurde selbstverständlich innerhalb der ganzen englisch-
sprechenden Welt sowie in Frankreich auf Grund der unerbittlichen
Lehren der Revolution erreicht, was Kipling mit ,,die Möglichkeit,
ohne einen anderen Menschen dafür um Erlaubnis bitten zu müssen,
unter dem Schutz des Gesetzes zu leben*' bezeichnete.
Nun erscheint es mir aber, und ich glaube, auch zahlreichen unter
Ihnen, daß alles dies den Menschen das Leben wertvoll macht und dem
Staat Ehre und Wohlergehen einbringt.
Wir stehen aber noch einer anderen Tatsache gegenüber. Es
handelt sich nicht um etwas Neues. Es springt uns aus den finsteren
Zeiten des Mittelalters an — Rassenverfolgung, religiöse Unduldsam-
keit, Unterdrückung der Redefreiheit, der Begriff, der den Bürger
lediglich zu einem seelenlosen Bestandteil des Staates macht.
Dazu hat sich der Kriegskult gesellt. Schon zu Anfang ihrer Schul-
zeit wird in den Kindern die Freude an der Eroberung, die Lust zum
Angriff und an dem sich daraus ergebenden Nutzen geweckt. Durch
schwere Entbehrungen ist ein mächtiges Staatswesen in eine kriege-
rische Gemütsverfassung versetzt worden. Es wird in diesem Zustand,
den es ebensowenig schätzt wie wir, durch eine mehrere MiUionen
starke Parteiorganisation gehalten, die aus der Aufrechterhaltung de«
Regimes jeden nur möglichen Nutzen zieht.
Genau so wenig wie die Kommunisten dulden die Nazis irgend-
eine andere Meinung als die ihrige. Genau so wie die Kommunisten
leben sie vom Haß. Genau so wie die Kommunisten sind sie gezwungen,
von Zeit zu Zeit und, beachten Sie das wohl, in immer kürzeren Zwi-
schenräumen, ein neues Opfer zu finden. Bei all seinem Stolz ist der
Diktator in den Fängen seines Parteiregiraes. Er kann wohl vorwärts-
marschieren,, aber nicht zurückgehen. Er muO seine Hunde an Blut
gewöhnen und ihnen Kurzweil bereiten, wenn er nicht von ihnen zer-
rissen werden wall. So stark er auch nach außen hin erscheinen mag,
so schwach ist er im Innersten.
Es ist schon richtig, was B\Ton bereits vor hundert Jahren schrieb:
„Dieser heidnische militärische Geist mit seiner messinggepanzerten
Brust und seinen tönernen Füßen.**
Niemand sollte indessen die Stärke und Leistungsfähigkeit eines
156 Deutschland ■ England [67
totalitären Staates unterschätzen, in dem die Bevölkerung eines ganzen
Landes — liebenswerte, gutherzige und friedliebende Menschen —
durch eine kommunistische oder Nazi- Gewaltherrschaft, die, obgleich
sie verschiedene Namen haben, ein und dasselbe sind, mit einem
Würgegriff an der Kehle gehalten und an den Haaren herumgeschleift
wird. In einem solchen Staate können die Gewalthaber vorübergehend
für kriegerische Zwecke und für Vorherrschaft nach außen hin eine
Gewalt ausüben, der gegenüber sich die parlamentarischen Gemein-
schaften zugestandenermaßen in einem schweren praktischen Nachteil
befinden. Darüber müssen wir uns klar sein.
Zu alledem kommt aber nun noch diese wundervolle aus der Luft
wirkende Kraft, die in unserem Jahrhundert entdeckt wurde, deren
sich aber die Menschheit bisher leider als unwürdig erwiesen hat.
Diese Gefahr aus der Luft, die sich vermißt, die Frauen und
Kinder, die Zivilbevölkerung, alle bescheidenen Menschen in den be-
nachbarten Ländern zu quälen und zu terrorisieren — diese Verbin-
dung, bitte beachten Sie es wohl, von mittelalterlicher Leidenschaft,
von Waffen, wie sie die moderne Wissenschaft hervorgebracht hat,
und von der erpresserischen Gewalt des Bombardierens — , diese Ver-
bindung ist die ungeheuerlichste Herausforderung des Friedens, der
Ordnung und des fruchtbaren Fortschritts, die seit dem Einfall der
Mongolen im 13. Jahrhundert jemals in der Welt aufgetaucht ist.
Die alles überschattende Frage, zu der ich mit diesen wenigen
Worten, diesen einleitenden Bemerkungen gelange — die alles über-
schattende Frage ist, ob die Welt, wie wir sie gekannt haben, die große,
hoffnungsvolle Welt vor dem Kriege, die Welt, die dem gemeinen
Mann immer größeren Raum zur Freude bietet, die Welt mit ihrer
Ehre, ihren Überlieferungen und mit ihren sich immer mehr ent-
wickelnden Wissenschaften — ob diese Welt dieser Gefahr damit
begegnen soll, daß sie sich ihr unterwirft oder ihr Widerstand leistet —
das ist die Frage, um die es geht. Wir wollen nun einmal überlegen,
ob uns die Mittel zum Widerstand heute noch zur Verfügung stehen.
Der Ruhm Frankreichs, des tapferen Frankreichs, ist verblaßt.
Trotz seines tapferen, tüchtigen Heeres ist sein Einfluß tief herab-
gemindert worden. Niemand hat das Recht, zu behaupten, daß Bri-
tannien, wenn es auch schwere Fehler begangen hat, sein Wort gebrochen
habe. Nein, wenn es zu spät war, hat es sich stet^ besser als sein Wort
erwiesen. Nichtsdestoweniger aber beugt sich Europa in diesem Augen-
blick gedemütigt und bestürzt vor den triumphierenden Ansprüchen
diktatorischer Gewalt. Sie können das nach vielen Richtungen hin be-
obachten.
Auf der spanischen Halbinsel ist ein reinspanischer Streit durch
die Einmischung — oder soll ich, um die landläufige Redensart zu
gebrauchen, sagen, durch die Nichteinmischung? — durch die Nicht-
einmischung von Diktatoren ist der spanische Streit durch diese Ein-
mischung in den Bereich eines Weltkrieges gerückt worden. Aber nicht
nur in Europa herrschen diese Unterdrückungen. Durch eine militä-
rische Clique in Japan ist China in Stücke gerissen worden. Das arme.
^7] Das Jahr 1938 157
gequälte chinesische Volk setzt dem Feinde eine tapfere und hart-
nAckige Verteidigung entgegen. Gott helfe ihm!
Das alte Kaiserreich von Äthiopien ist überrannt worden. Die
Äthiopier waren gelehrt worden, glaubig zur Heiligkeit der öffentlichen
Gesetze aufzuschauen. Man hinderte sie sogar daran, Waffen einzu-
kaufen, solange es noch Zeit war. Man verwies sie an das Tribunal
zahlreicher Nationen, die sich in majestätischer Einigkeit versammelt
hatten. Alles aber war vergebens. Sie wurden betrogen, und nunmehr
gewinnen sie ihr Lebensrecht damit zurück, daß sie von Grund auf
wieder anfangen müssen — ein Kampf um die primitivsten Lebens-
rechte.
Selbst in Südamerika beginnt das im Schutze der Monroe-Doktrin
blühende Naziregime die Struktur der brasilianischen Gesellschaft zu
untergraben. Das ist das Bild, das sich uns bietet.
Zu Ihnen, der Bevölkerung der Vereinigten Staaten, die weit
entfernt und in glücklichster Weise von den Gewässern des Atlan-
tischen und des Pazifischen Ozeans umspült geschützt liegt,^ habe
ich nunmehr Gelegenheit zu sprechen. — Sie sind die Zuschauer, und,
ich darf hinzufügen, die immer mehr in die Angelegenheiten dieser
Tragödien und Verbrechen verwickelten Zuschauer. Wir brauchen
keinen Zweifel darüber zu hegen, auf welcher Seite die amerikanischen
Interessen und Sympathien zu finden sind; gestatten Sie mir aber,
da ich die Gelegenheit dazu habe, die folgende Frage an Sie zu richten :
„Wollen Sie warten, bis die britische Freiheit und Unabhängigkeit
unterdrückt worden sind, und wollen Sie erst dann für die Sache ein-
treten, wenn sie zu drei Vierteln erledigt ist? Und wollen Sie sich dieser
Sache, wie Sie es zu tun haben werden, dann annehmen, wenn sie aus-
Bchließhch zu der Ihrigen geworden ist?" Ich habe in den Vereinigten
Staaten sagen hören, daß das amerikanische Volk mit der ganzen An-
gelegenheit nichts zu tun haben wolle, weil England und Frankreich
es unterlassen hätten, ihre Pflicht zu tun. Das ist vielleicht die Auf-
fassung zahlreicher Menschen, die aber keinen Sinn hat. Wenn die
Dinge um vieles schlimmer geworden sind, so haben wir um so mehr
Veranlassung, den Versuch zu machen, ihnen zu begegnen. Denn
schließlich stellen diese Länder die übriggebliebenen Kräfte der Zivili-
sation dar. Sie sind überwältigend, und wenn sie nur zu einem einzigen
Begriff, zu einem einzigen gemeinsamen Begriff von Recht und Pflicht
vereinigt würden, so könnte es keinen Krieg geben.
Im Gegenteil, das deutsche Volk, das so fleißig, treu und tapfer ist,
dem es aber leider an dem richtigen Geist für bürgerliche Unabhängig-
keit mangelt, dieses deutsche Volk wird, wenn es erst einmal von dem
gegenwärtigen Alpdruck befreit sein wird, seinen ehrenvollen Platz
in der Vorhut der menschlichen Gesellschaft einnehmen.
Alexander der Große erklärte, die Bevölkerung Asiens sei er-
schlagen worden, weil sie nicht gelernt habe, das Wort „Nein** aus-
zusprechen. Wir dürfen das nicht zur Grabschrift für die englisch-
sprechenden Völker, für die parlamentarische Demokratie, für Frank-
reich oder für die zahlreichen überlebenden liberalen Staaten Europas
-*l. #-'
158
DeuUchtand - England
[67
werden lassen! Das ist, in einem einzigen Wort ausgedruckt, der Ent-
ßchluO der Kräfte der Freiheit und des Fortsehritts, der Duldung
und des guten Willens — das ist der Entschluß, den Sie fassen sollten.
Das liegt nicht im Machtbereich einer einzelnen Nation, einerlei wie
stark sie auch bewaffnet sein möge, noch viel weniger liegt es im Macht-
bereich einer kleinen Gruppe von Männern, gewalttätigen, unbarm-
herzigen Männern, die immer noch ihre Blicke nach rückwärU gerichtet
haben — es liegt nicht in ihrem Machtbereich, den Versuch zu machen,
den Fortschritt des menschlichen Geschickes in Fesseln zu sehlagen.
Überwältigende Kräfte der Welt stehen auf unserer Seite. Es
bedarf nur ihrer Vereinigung, um ihnen Gehorsam zu verschaffen.
Frankreich muß den Anfang machen, ebenso Britannien und Amerika.
Wenn wir uns durch ein ernsthaftes Verlangen nach Frieden in eine '
nachteilige Lage gebracht haben, so müssen wir das durch verdoppelte
Anstrengung und, wenn nötig, durch Stnndhaftigkeit im Leiden wieder-
gutmachen.
Wir werden zweifellos aufrüsten. Britannien wird, indem es jahr-
hundertelange Gewohnheiten über Bord wirft, für seine Bürger die
nationale Dienstpflicht einführen. Das britische Volk wird erhobenen
Hauptes dastehen und allem entgegensehen, was immer auch kommen
mag. Aber, liebe Freunde, diese ,,Instrumentalitäten**, wie Präsident
Wilson sich ausdrückte, sind an und für sich nicht genügend. Wir
müssen sie noch durch die Kraft der Ideale ergänzen.
Es gibt Leute, zahlreiche Leute, die erklären, daß wir uns nicht
in einen rein theoretischen Gegensatz zwischen Nazitum und Demo-
kratie hineinziehen lassen sollten; aber der Gegensatz besteht bereits.
Er bestimmt unser Leben. Es ist gerade diese Verbindung geistiger
und moralischer Ideen, die den freien Ländern einen großen Teil ihrer
Stärke gibt. Man kann diese Diktatoren beobachten, wie sie, umgeben
von ihren Soldaten und den Gummiknüppeln ihrer Polizei, auf ihren
Postamenten stehen. Von allen Seiten werden sie von sie umgebenden
Massen, Flugzeugen, Befestigungs werken und ähnlichen Dingen be-
schützt, Sie rühmen und brüsten sich vor der Welt. Ihre Herzen aber
sind voll unaussprechlicher Furcht, Sie fürchten sich vor Worten und
Gedanken, vor im Auslände gesprochenen Worten, vor Hoffnungen,
die im Innern ihres Landes laut werden und die um so machtvoller
sind, weil sie verboten sind. 0 Schrecken! Ein Gedanke, so groß wie
eine kleine, eine kleine, winzige Maus, taucht auf, und selbst die mäch-
tigsten Potentaten werden von Panik ergriffen,
Sie machen krampfhafte Anstrengungen, um Gedanken und Äuße-
rungen zu unterbinden, Sie fürchten sich vor der Tätigkeit des mensch-
lichen Geistes. Flugzeuge können sie zwar in großen Mengen herstellen,
wie aber wollen sie das natürliche Drängen der menschlichen Natur
ersticken, die nach all diesen Jahrhunderten der Heimsuchung und des
Fortschritts zur Rüstkammer machtvollen und unzerstörbaren Wissens
geworden ist?
Diktatur, die götzenhafte Anbetung eines Mannes, gegen die die
britische und die amerikanische Verfassung umfangreiche Vorsorge
68]
Das Jahr 1938
159
getroffen haben — eine Diktatur kann nicht einen Teil solcher Verfas-
sungen bilden — ein Geseüschaftszustand, bei dem die Menschen ihren
Gedanken keinen Ausdruck verleihen dürfen, bei dem Kinder ihre
Eltern bei der Polizei denunzieren, bei dem ein Geschäftsmann oder
kleiner Ladenbesitzer seinen Konkurrenten dcimit zugrunde richtet,
daß er unwahre Gerüchte über dessen private Meinung in Umlauf
setzt — ein solcher Gesellachaftszustand kann nicht lange andauern ^
wenn er stetig in Berührung mit der gesunden Außenwelt gebracht wird.
Das Leben des zivilisierten Fortschritts, das ständig im Fluß ist,
und die damit verbundene Zusammenarbeit^ dieses Leben mit seiner
Erhabenheit und seinen Freuden, ist, wie die Geschichte beweist, oft
ausgelöscht worden. Ich glaube aber, daß wir jetzt endlich der Barbarei
den Bang so weit abgelaufen haben, um sie überwachen und ver-
meiden zu können. Notwendig ist lediglich^ daD wir uns darüber klar
sind, was im Gange ist und daß wir rechtzeitig unsere Entschlüsse
fassen. Selbstverständlich werden wir das schließlich einmal tun, und
wir werden es zweifellos tun. Um wieviel härter sind aber unsere Be-
mühungen aus Anlaß eines jeden Tages, den wir dabei versäumen.
Das ist es, was ich Ihnen bei dieser Gelegenheit zu sagen habe.
Und nun lassen Sie mich fragen, ob dies eine Aufforderung zum Kriege
ist? Kann irgend jemand behaupten, daß das Treffen von Vorberei-
tungen zum Widerstand gegen einen Angriff gleichbedeutend mit der
Entfesselung eines Krieges ist? Das ist tatsächlich ein ganz trauriges
KapiteL Ich erkläre, daß solche Vorbereitungen die einzige Friedens-
garantie, die beste und sicherste Aussicht, auf den Frieden sind —
die schnelle organisierte Zusammenfassung von Kräften, um nicht
nur einem militärischen, sondern auch einem moralischen Angriff zu
begegnen ; das entschlossene und nüchterne AuXsichnehmen von Pflichten
durch die englischsprechenden Völker und durch alle großen und
kleinen Staaten — von denen es viele gibt — , die Seite an Seite mit
ihnen zu marschieren wünschen.
Ihre treue und innige bewaffnete und wirksame Kameradschaft
würde fast über Nacht den Weg des Fortschritts frei machen und
unser aller Leben von der Furcht befreien, die für Hunderte von
Millionen Menschen bereits Gottes Sonnenlicht verdunkelt.
(E: Tbe New York Times voai 17, Oktober 1938. — Dr Eigene Obersetzung,)
Aus der Rede des Führers auf dem Gauparteitag in Weimar
vom 6. November 193B
68.
Man kann vielleicht von einem Wunder sprechen, wenn man sich
diese Entwicklung vor Augen hält. All die alten Parteigenossen, die
diesen gewaltigen Aufstieg miterlebten, können nur mit Rührung
zurückdenken an diese Zeiten und an das, was sich seitdem Großes
ereignete. Was uns aber jetzt zurückblickend fast wie ein Wunder
erscheint, ist nichts anderes als der Lohn für eine unermeßliche und
unermüdliche Arbeit!
160 Deutschland - England [68
Denn das können wir Nationalsozialisten wohl vor der deutschen
Geschichte behaupten: Noch niemals ist inbrünstiger, mit mehr Arbeit
und auch mit mehr Opfern um das deutsche Volk gerungen worden
als in dieser Zeit des Kampfes unserer Bewegung um den deutschen
Menschen! Nunmehr haben wir dafür von der Vorsehung den Lohn
bekommen, genau so wie einst das Deutschland des Jahres 1918 seinen
Lohn erhielt!
Damals wurde es jener Segnungen teilhaftig, die wir unter dem
Sammelbegriff .Demokratie' verstehen! Das Deutschland von damals
hat sich angeklammert an die Hoffnungen, die vielleicht am stärksten
jener Amerikaner aussprach, der uns einen Frieden zusicherte, in dem
es weder Besiegte noch Sieger geben sollte. Nachdem das deutsche Volk
im Glauben an diese Theorien die Waffen niedergelegt hatte, wurde
es belehrt, daß Demokratie in der Praxis etwas anderes ist als in der
Theorie.
Wenn heute manchmal Parlamentarier oder Politiker in fremden
Ländern zu behaupten wagen, Deutschland hätte seine Verträge nicht
gehalten, dann können wir diesen Männern nur zur Antwort geben:
Der größte Vertragsbruch aller Zeiten ist am deutschen Volk verübt
worden! Alles, was man Deutschland in jenen 14 Punkten zugesichert
hatte und auf Grund deren dann die deutschen Waffen niedergelegt
wurden, ist nachher gebrochen worden.
1932 stand nun Deutschland vor dem endgültigen Zusammen-
bruch. Das Deutsche Reich und Volk, sie schienen verloren. Dann
aber kam die deutsche Wiederauferstehung!
Sie begann mit einer Umwandlung des Glaubens. Während alle
deutschen Parteien vor uns an Kräfte und Ideale glaubten, die außer-
halb des Reiches und unseres Volkes lagen, haben wir Nationalsozia-
listen unentwegt den Glauben an unser eigenes Volk gefördert, aus-
gehend von der ewig gültigen Parole, daß Gott nur denen hilft, die
bereit und entschlossen sind, sich selbst zu helfen. Wir haben an die
Stelle all jener internationalen Faktoren — Demokratie, Völker-
gewissen, Weltgewissen, Völkerbund usw. — einen einzigen Faktor
gestellt: unser eigenes Volk!
Dieses Volk aber mußte damit von seiner Zersplitterung und
Zerrissenheit befreit werden. So entstand die nationalsozialistische
Partei mit dem Befehl und der Aufgabe, dieses Sammelsurium poli-
tischer Verbände zu beseitigen und an ihre Stelle eine einzige Macht
zu setzen: die Macht einer Bewegung! Die NSDAP, wurde damit zur
Trägerin der deutschen Volksgemeinschaft.
Wir alle waren uns darüber im klaren, daß eine wahre Volksgemein-
schaft nicht von heute auf morgen, nicht durch Theorien oder Propa-
ganda erzielt wird, sondern daß viele Jahrzehnte hindurch, ja vielleicht
immer und für alle Zeiten der einzelne Mensch für diese Volksgemein-
schaft erzogen werden muß. Diese Erziehungsarbeit haben wir seit
der Gründung der Partei und besonders seit der Übernahme der Macht
durchgeführt.
Aber nichts ist vollkommen auf dieser Welt, und kein Erfolg kann
68] Das Jahr 1938 161
als endgültig befriedigend empfunden werden. Daher wollen wir auch
heute nicht etwa behaupten, das Erreichte sei schon das gewollte
Ideal an sich. Uns schwebt ein Ideal vor, und ihm entsprechend er-
ziehen wir die deutschen Menschen, Generation um Generation.
So wird der Nationalsozialismus immer mehr von einem politischen
Bekenntnis zu einer wirklichen Volkserziehung werden!
Als weitere Aufgabe war der Bewegung die Gestaltung einer neuen
Führungsauslese und die Heranbildung einer neuen Führungsschicht
gestellt. Nur ein Blinder kann heute noch bestreiten, daß die politische
Führung der deutschen Nation jetzt innen und außen anders ist als
etwa vor fünf, zehn oder zwanzig Jahren.
Die Regenschirmtypen unserer bürgerlichen früheren Parteienwelt
sind ausgelöscht und kehren niemals wieder!
Ich kann den wenigen, die vielleicht doch mit einer Träne im Auge
darauf zurückblicken sollten, nur eines versichern: Diese Bewegung
hat ihre heutige Führung aus einem harten Kampf heraus erhalten,
die Führung der Zukunft aber, die wir heute großziehen, schaut noch
ganz anders aus! Das wird ein Korps härtester Entschlossenheit und
rücksichtslosester Tatkraft sein, so daß man sich in 30, 40 oder 50
Jahren gar nicht mehr wird vorstellen können, daß es einmal anders
gewesen war. Die Partei ist der Garant dieser Führung unseres Volkes!
Das Dritte aber, das wir uns schufen, ist die neue Wehrmacht. Ich habe
vom ersten Tage an einen Grundsatz aufgestellt: Der Deutsche ist ent-
weder der erste Soldat der Welt oder er ist überhaupt keiner! Keine
Soldaten können wir nicht sein und wollen wir nicht sein. Daher werden
wir nur die ersten sein!
Als friedliebender Mann habe ich mich bemüht, dem deutschen
Volke jene Wehr und Waffen nunmehr zu schaffen, die auch andere
zum Frieden zu überzeugen geeignet sind.
Es gibt nun allerdings Leute, die den Igel beschimpfen, weil er
Stacheln hat. Sie brauchen freilich diesem Tier nur seine Ruhe zu
lassen! Es hat noch kein Igel angegriffen, es sei denn, er wurde selbst
bedroht. Das möchten auch wir uns vornehmen! Man soll uns nicht
zu nahe treten. Wir wünschen nichts anderes als unsere Ruhe, unsere
Arbeitsmöglichkeit und das Lebensrecht für unser Volk, das gleiche
Recht, das auch die anderen für sich in Anspruch nehmen.
Das müßten gerade die demokratischen Staaten begreifen und
verstehen, denn sie reden ja dauernd von Gleichberechtigung! Wenn
sie von den Rechten der kleinen Völker sprechen, wie können sie dann
empört sein, wenn auch ein großes Volk das gleiche Recht beansprucht!
Der Sicherung und der Garantierung dieses Rechtsanspruches dient
unsere nationalsozialistische Wehrmacht!
In diesem Sinne habe ich auch außenpolitisch eine Umstellung
vorgenommen und mich jenen Staaten genähert, die ähnlich wie wir
gezwungen waren, sich für ihr Recht einzusetzen.
Wenn ich heute die Ergebnisse dieses unseres Handelns überprüfe,
dann kann ich sagen: Urteilt alle selbst, ob wir nicht wirklich Unge-
heures mit diesen Prinzipien erreicht haben!
DeuUebland-England 11
162 Deutsehland - England [68
Wir wollen aber gerade deshalb nie vergessen, was uns diese Erfolge
möglich gemacht hat. Wenn heute gewisse ausländische Zeitungen
schreiben: „Das hättet ihr doch alles auf dem Verhandlungswege er-
reichen können!" — so wissen wir sehr wohl, daß ja das Deutschland
vor uns nichts anderes getan hat, als andauernd zu verhandeln. Fünf-
zehn Jahre lang haben sie nur verhandelt und haben dabei alles ver-
loren. Ich bin ebenfalls bereit zu verhandeln, aber ich lasse keine
Zweifel darüber:
Das deutsche Recht lasse ich weder auf dem Verhandlungswege
noch auf irgendeinem anderen für Deutschland kürzen!
Vergiß nie, deutsches Volk, wem du deine Erfolge verdankst!
Welcher Bewegung, welchen Gedanken und welchen Prinzipien! —
Und zweitens: Sei inmier vorsichtig, sei stets auf der Hut!
Es ist sehr schön, von internationalem Frieden und internationaler
Abrüstung zu reden, allein, ich bin gegenüber einer Abrüstung der
Waffen mißtrauisch, solange man nicht einmal den Geist abrüstet!
Es hat sich in der Welt die seltsame Gepflogenheit herausgebildet,
die Völker in sogenannte autoritäre, das heißt disziplinierte Staaten
und in demokratische Staaten einzuteilen. In den autoritären, das
heißt in den disziplinierten Staaten ist es selbstverständlich, daß man
fremde Völker nicht verleumdet, nicht über sie lügt und nicht zum
Kriege hetzt! Aber die demokratischen Staaten sind eben „demokra-
tisch", das heißt, dort darf dies alles geschehen!
In den autoritären Ländern ist eine Kriegshetze natürlich unstatt-
haft, denn ihre Regierungen sind ja verpflichtet, dafür zu sorgen, daß
es keine Kriegshetze gibt. In den Demokratien aber haben die Regie-
rungen nur eine Pflicht: die Demokratie aufrechtzuerhalten, das heißt
die Freiheit, wenn notwendig auch zum Kriege hetzen zu dürfen!
Ich habe kürzlich drei dieser internationalen Kriegshetzer bei
Namen genannt. Sie haben sich getroffen gefühlt, aber nicht etwa nach
der grundsätzlichen Seite hin, nein, nur deshalb, weil ich es wagte, sie
beim Namen zu nennen. Herr Churchill hat offen erklärt, er sei der
Meinung, daß man das heutige Regime in Deutschland beseitigen müsse
unter Zuhilfenahme innerer deutscher Kräfte, die ihm dankbar dafür
zur Verfügung stehen würden.
Wenn Herr Churchill weniger mit Emigrantenkreisen, das heißt
mit ausgehaltenen, vom Ausland bezahlten Landesverrätern, ver-
kehren würde, sondern mit Deutschen, dann würde er den ganzen
Wahnsinn und die Dummheit seines Geredes einsehen. Ich kann
diesem Herrn, der auf dem Monde zu leben scheint, nur eines ver-
sichern : Eine solche Kraft, die sich gegen das heutige Regime wenden
könnte, gibt es in Deutschland nicht! In Deutschland gibt es nur eine
Kraft, die Kraft der deutschen Nation, in Führung und Gefolgschaft,
in Wehr und in Waffen.
Ich will diesem Herrn gar nicht bestreiten, daß wir natürlich kein
Recht haben, etwa zu verlangen, daß die anderen Völker ihre Ver-
fassungen ändern. Ich habe aber als Führer der Deutschen die Pflicht,
diese Verfassung und die Möglichkeiten, die sich aus ihr ergeben, zu
"^^
Bl
Das Jahr 1938
163
berücksichtigen. Wenn vor einigen Tagen der Stellvertreter des eng-
lischen Oppositionsführers im Unterhaus erklärte, er mache kein Hehl
daraus, daO er es begrüDen würde, wenn Deutschland und Italien ver-
nichtet würden, dann kann ich natürlich nicht verhindern, daß dieser
Mann vielleicht auf Grund der demokratischen Spielregehi mit seiner
Partei Lat^sächlich in ein oder zwei Jahren zur Regierung kommt.
Aber das kann ich ihm versichern: ich werde verhindern, daß er
Deutschland vernichtet! Und genau so wie ich überzeugt bin, daß
das deutsche Volk dafür sorgen wird^ daC die Pläne dieser Herren in
bezug auf Deutschland nie gelingen, genau so wird auch das faschi-
stische Itaüen, das weiß ich, für sich sorgen!
Ich glaube, daß für uns alle diese internationalen Hoffnungen nur
eine Lehre sein können^ fest zusammenzustehen und fest zu unseren
Freunden zu rücken. Je mehr wir in Deutschland selbst eine einzige
Gemeinschaft bilden, um so geringer werden die Aussichten dieser
Kriegshetzer sein, und je enger wir uns besonders mit dem Staat
zusammenschließen, der sich in gleicher Lage befindet wie wir, mit
ItaUen, um so mehr wird ihnen die Lust vergehen, mit uns anzubinden!
Wenn wir das Jahr 1938 heute noch einmal im Geiste an uns
vorüberziehen lassen, dann kann es uns nur mit tiefstem Stolz und mit
größter Freude erfüllen. Deutschland ist größer geworden auf dem
natürlichsten und auf dem moralisch unanfechtbarsten Wege, den es
gibt! Millionen von Volksgenossen, deren einzige Sehnsucht und ein-
ziges Ziel es war, zu Deutschland zurückkehren zu können, sind nun
in unsere Gemeinschaft eingerückt! Sic werden das Reich nunmehr
mit tragen helfen und ihm als treue Glieder dienen, weil sie selbst am
besten erkennen konnten, was es heißt, abgesprengt und verlassen zu
sein. Dieses Jahr ist aber für uns auch ein Jahr großer Verpflichtungen :
Wir müssen aus ihm die Erkenntnis und den Entschluß gewinnen,
den erfolgreichen Weg niemals mehr zu verlassen! Wenn die andere
Welt von Abrüstung spricht, dann sind auch wir dazu bereit, aber
unter einer Bedingung: daß erst die Kriegshetze abgerüstet wird! So-
lange die anderen aber von Abrüstungen nur reden, die Kriegshetze
aber infam weitertreiben,nehmen wir an, daß sie uns nur unsere Waffen
stehlen wollen, um uns noch einmal das Schicksal von 1918/19 zu be-
reiten.
Da aber kann ich den Herren Churchill und Genossen nur eines
sagen: Das gibt es nur einmal, und das kehrt nicht wieder!
Ich habe meinen Weg begonnen mit einem unbändigen Glauben
an das deutsche Volk. Was anders hätte uns denn damals vor der Ver-
zweiflung zurückhalten können? Ich glaubte an das deutsche Volk,
an seine inneren Werte und damit auch an seine Zukunft.
Heute ist dieser Glaube wunderbar gerechtfertigt. Er hat in diesem
letzten Jahr nur noch eine weitere Stärkung erfahren. Wie hat sich
unser Volk in diesen fünf, sechs Jahren bewährt! Wie ist nicht alles
das in Erfüllung gegangen, was ich Jahr um Jahr prophezeite, und was
wir alle endlich erwarteten.
Wie hat sich nicht in diesen letzten Wochen und Monaten unser
u*
164 Deutflchland - England [69
Volk 80 ganz wunderbar benommen. Sie können es mir glauben, meine
Volksgenossen, ich bin ja so stolz und glücklich, daß ich euer Führer
sein darf.
Gerade in diesen letzten Wochen hat unser deutsches Volk ein
ebenso herrliches Bild harter Entschlossenheit gezeigt, wie ich es in
seinen schwersten Belastungszeiten im Kriege kennengelernt habe:
keine Nervosität, keine Hast, keine Unsicherheit, keine Verzweiflungs-
stimmung, sondern Zuversicht und treueste Gefolgschaft. Jeder ein-
zelne Mann und jede einzelne Frau hat es gewußt, daß das Schicksal
vielleicht auch den letzten Einsatz von uns hätte fordern können.
Dieser Geschlossenheit und dieser Ruhe ist es zu verdanken, wenn
dieser letzte Einsatz uns erspart blieb! Das Schicksal hat uns nicht
in die Schranken gefordert, weil es uns stark wußte! Das wollen wir
als Lehre mitnehmen für alle Zukunft!
Dann kann unsere m geliebten Deutschland nichts zustoßen, jetzt
nicht und nicht in alle Ewigkeit.
Deutschland! Sieg Heil!
(DNB. vom 7. November 1938.)
Die Empfindungen, die sich in Deulschland angesichls dieser merk-
würdigen Entwicklung der Münchener Versöhnungspolilik in England
bilden mußten, wurden am 7. November durch Reichsaußenminister
von Ribbenirop zum Ausdruck gebracht. Angesichts der späteren Ereig-
nisse, die zum Kriegsausbruch führten, ist besonders hervorzuheben, daß
der Reichsaußenminister bewußt die ganze Verantwortung für die neue
Heiz- und Rüstungswelle der Opposition zuschob und geflissentlich über
den Anteil der führenden Männer der Regierung daran hinwegsah. Deut-
lich wird an dieser Haltung erkenntlich, daß der Reichsaußenminister
immer noch sorgfältig vermied, die Brücken zu einem besseren deutsch-
englischen Verhältnis hinter sich abzubrechen,
69. Aus der Rede des ReidtsauBenmuiisters von Ribbentrop vor dem
Verein der Aosländisdien Presse in Berlin vom 7. November 1938
Die Stellung des Dritten Reiches als Weltmacht ist heute endgültig
begründet. Dies bedeutet aber nicht, daß Deutschland nicht den
Wunsch nach einem Ausgleich zwischen den. Interessen der verschie-
denen Mächte teilt.
In diesem Zusammenhang darf hier daran erinnert werden, daß
der Führer es war, der die Mächte mit dem Ziel, einen friedlichen Aus-
weg aus der Krise zu finden, im September nach München einlud. In
diesem Sinne hat der Führer auch mit dem englischen Premierminister
auf dessen Wunsch am Tage seiner Abreise die bekannte deutsch-eng-
lische Friedenserklärung abgegeben.
Um so erstaunter waren wir, daß die erste Antwort auf den Geist
von München in der Parole bestand: Der Friede ist gerettet, deshalb
Aufrüstung bis zum äußersten. Dieses neue Aufrüstungsfieber in einigen
70] Das Jahr 1938 166
Staaten wird gleichzeitig begleitet von einer erneuten Hetze der unver-
besserlichen Kriegstreiber.
In diesem Zusammenhange müssen wir leider feststellen, daß diese
Kriegshetzer, in der Besorgnis, man könne z. B. Deutschland seine
bekannte und unverrückbare Rechtsforderung auf Rückgabe der ehe-
maligen deutschen Kolonien erfüllen, in der afrikanischen Presse eine er-
staunliche Propaganda gegen Deutschland und alles Deutsche betreiben.
Ministerpräsident Chamberlain und Außenminister Lord Halifax
haben in weiser Einsicht allen diesen englischen Kriegshetzern und
ihrer die Völker auseinandertreibenden Tätigkeit eine klare Abfuhr
erteilt. Ebenso haben Frankreichs Ministerpräsident Daladier und sein
Außenminister Bonnet in den letzten Wochen Reden gehalten, die in
Deutschland einen sympathischen Widerhall gefunden haben.
Es ist zu erwarten, daß sich im weiteren Verfolg des in München
mit England beschrittenen Weges in Zukunft neue Möglichkeiten des
besseren Verständnisses auch zwischen Deutschland und Frankreich
ergeben werden und entsprechend gestaltet werden können. In diesem
Sinne ist der Wunsch des französischen Außenministers nach einer
aufrichtigen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich
bei uns begrüßt worden. Der soeben bestätigte Ausgleich Italiens mit
England liegt auf der gleichen Linie.
Diese Haltung der verantwortlichen Staatsmänner in London und
Paris läßt die Hoffnung zu, daß letzten Endes doch die Vernunft über
die Kriegshetzer in den westlichen Demokratien die Oberhand gewinnen
mag. Der Führer hat in seiner großen Rede in Weimar das Treiben dieser
Kriegshetzer mit unerbittlicher Schärfe und Logik gebrandmarkt.
Diesem Treiben gegenüber steht das deutsche Volk einig und ge-
schlossen hinter seinem Führer, stark und wachsam, immer bereit
zum Frieden, aber ohne Sorge vor dem Krieg, und immer entschlossen,
die Lebensrechte der Nation gegen jedermann zu wahren.
(DNB. vom 8. Novem))er 1938.)
Gerade in diesen Monaten zeigte sich jedoch in zahlreichen Reden
üeranlworllicher britischer Staatsmänner und Politiker^ wie tief die Feind-
schaft gegen Deutschland in allen führenden Kreisen des englischen öffent-
lichen Lebens verankert war. Die Rede des Ministers für Überseehandel
Hudson vom 30. November 1938 ließ eine der tiefsten Wurzeln des eng-
lischen Kriegswillens hervortreten: den Haß gegen den durch seinen
größeren Fleiß und seine bessere Leistung auf allen Weltmärkten trotz
aller Boykotthetze immer noch erfolgreichen deutschen Konkurrenten.
Aus der Unterhausrede des britischen Ministers für Überseehandel 70.
Hudson vom 30. November 1938
Schließlich kommen wir zu dem Kapitel Deutschland. Ein ehren-
wertes Mitglied des Hauses hat gefragt, warum wir es wie die Ver-
einigten Staaten von Amerika nicht abgelehnt haben, die Meistbegün-
166
DeuischlRnd - England
[7a'
stigungsklausel auf Deutschland auszudehnen. Meine Antwort darauf
lautet, daß die Vereinigten Staaten von Amerika sich geweigert haben,
die MeistbegünstiguDgsklausel auf Deutschland anzuwenden, weil
dieses die amerikanischen Waren in Deutschland nachteilig behandelte
Deutschland läßt britischen Waren in Deutschland keine nachteilige'
Behandlung zuteil werden. Wir haben uns darüber zu beklagen, daß
Deutschland durch seine Methoden den Handel in der ganzen Welt
zerstört. Es liegt also kein Grund vor, die Meistbegünsiigungsklausel
fallenzulassen, was davon abhängt, wie unsere Waren in Deutschland be-
handelt werden. In Frage st cht das viel umfassendere Problem.wie man der
neuen Form der deutschen Konkurrenz in der ganzenWelt entgegentritt ...
Soweit wir feststellen können — denn es ist schwierig, sich wirk-
lich genaue Auskunft darüber zu beschaffen^ wie die Dinge eigent-
lich in Deutsehland vor sich gehen - — , besteht die Grundlage für die
wirtschaftliche Stellung Deutschlands darin, daß es den Erzeugern von
WareninZentral-undSüdosteuropa bei weitem mehr bezahlt.alsderWelt
marktpreis beträgt. Es ist klar, daß Deutschland dies auf Kosten seines^
eigenen Volkes tut. Wie es sein eigenes Volk behandelt, ist Sache der
Deutschen Regierung. Wir werden aber auch davon berührt. . .
Ich versuche Ihnen klarzumachen, daß Deutschland durch solche
Methoden in den Ländern dieses Teiles von Europa eine Erdrosselungs-
Stellung erlangt, und zwar eine solche unwirtschaftlicher Art, die auf
Kosten seines eigenen Volkes geht, weil nämlich solche Methoden ein«
Steigerung der Lebenshaltungskosten des eigenen Volkes und tat
sächlich die Ausfuhr von Waren zu einem geringeren Preis als der
Selbstkostenpreis bedeuten* Verschiedene ehrenwerte Mitglieder fragten,
was da die Lösung sei ? . . .
Wir haben alle möglichen Verfahren, die wir ergreifen könnten,
geprüft. Der einzige Weg, den wir sehen, ist der, daß wir unsere Indu-
strien so organisieren, daß sie in die Lage versetzt werden, als eine ge-
schlossene Einheit den entsprechenden deutschen Industrien entgegen-
zutreten und ihnen zu sagen: ,,Wenn ihr nicht bereit seid, mit euren'
jetzigen Methoden ein Ende zu machen und ein Abkommen zu treffen,
wonach ihr euch verpflichtet, eure Waren zu Preisen zu verkaufen,
die einen vernünftigen Gewinn gewährleisten, dann werden wir euch
bekämpfen und euch mit euren eigenen Mitteln schlagen.** Unser
Land ist, was die finanzielle Seite anlangt» unendlich viel stärker als,
ich möchte sagen, irgendein anderes Land in der Welt, aber auf alle
Fälle stärker als Deutschland und deswegen genießen wir große Vor-
teile, die, wie ich glaube, dazu führen werden, daß wir den Kampf
gewinnen. Hierfür ist aber notwendige Voraussetzung, daß unsere
eigenen Industrien organisiert werden.
(B: Parliamentary Debotes. House of Common». Bd. 342, Sp. 502ff. — D:
Dokumente zur Vorgeschichte de^ Krieges, Nr« 229.)
Es kann nichi wundernehmen^ daß im Verlauf dieser Auseinander-
setzungen nach München die brilische Begierung ihre schon früher hmifig
genug bekandde Weigerung, den deutschen Hechisansprächen in der
711
Das Jahr 1938
167
Koloniallrage enigegenzukommen, auch jetzt wieder in aller Form be-
kräftigte, wobei sie sich wieder hinler dem bekannten fadenscheinigen
Vorwand verschanzte^ daß ihre Pflichten als Mandatarmacht keine all-
einige Verfügung über die Deutschland geraubten Kolonien erlaube.
Aufi der Uoterh ausrede des britischeii Kolonialministerfl Malcolm 71.
MacDoDald vom 7. Dezember 1938
Ich glaube nicht, daß es heute auch nur irgendeine Gruppe in
diesem Lande gibt, die geneigt ist, irgendeinem anderen Land die
Sorge für irgendeins der Territorien oder Völker zu übertragen, für
deren Regierung wir als Kolonial- oder Mandatsmacht verantwortlich
sind. Diese Auffassung hat heute nachmiLtag in jedem Teil des Hauses
Ausdruck gefunden; es ist eine Auffassung, die von Seiner Majestät
Regierung geteilt wird. Wir erörtern diese Frage nicht; wir ziehen sie
nicht in Erwägung; sie ist gegenwärtig kein Gegenstand der prak-
tischen Politik.
Faüs wir jemals in eine Erörterung dieser Frage treten sollten,
dürfen gewisse Dinge nicht vergessen werden. Vor allem ist dies Land
nicht das einzige beteiligte Land. Großbritannien ist nicht das einzige
Land, das nach dem Kriege zusätzliche territoriale Verantwortlich-
keiten übernahm. Andere Länder würden gleichfalls einbezogen wer-
den, und die Frage müßte von allen beteiligten Ländern zusammen unter-
sucht werden. Es gibt jedoch noch eine weitere Erwägung von größter
Tragweite, auf die der .\nlrag und beide Amendements Bezug nehmen.
DieVöIker,dieam unmittelbarsten und vitalsten von irgendeinem solchen
Vorschlag betroffen würden, sind die Völker, die in den Mandatsgebieten
selbst leben. Wir können sie nicht als bloße Waren oder Vieh betrachten,
über die man summarisch verfügt; wir haben Verantwortlichkeiten und
Verpflichtungen gegenüber diesen Völkern. Wir müssen ihren eigenen
W^ünschen Beachtung schenken; wir müssen die Wünsche der verschie-
denen Bevölkerungsgruppen in diesen Gebieten in Erwägung ziehen.
Soweit britische Mandatsgebiete betroffen sind, kommen nicht
nur die großen einheimischen Eingeborenenbevölkerungen in Betracht;
in gewissen Gegenden gibt es auch europäische Siedler, die ihr ganzes
Vermögen in diesen Ländern angelegt haben und an ihrer Entwicklung
in den letzten zwanzig Jahren stark beteiligt waren. In gewissen Gegen-
den gibt es bedeutende indische Gemeinden. Wir müssen das Recht
dieser Völker, sich zu dieser Frage zu äußern, die so wichtig für sie ist,
berücksichtigen, und wir müssen ihren Ansichten volles Gewicht und
volle Bedeutung beimessen. Es wäre unmöglich, irgendeine Änderung
des Status irgendeines dieser Gebiete zu erwägen, ohne die spontanen
Ansichten der Einwohner voll zu berücksichtigen. Außerdem haben
diese Völker gewisse Vertragsrechte. Diese Völker haben gewisse mate-
rielle Interessen in diesen Gebieten* Diese Rechte und Interessen
müssen voll gewahrt und gesichert werden.
Ich möchte aber außerdem auch noch folgendes wiederholen. Das
1939
75] Das Jahr 1939 173
Das Jahr 1939 begann wiederum mil unerfreulichen diplomaiischen
Auseinandersetzungen über empörende Entgleisungen der britischen Presse.
Bericht des deotschen Botschafters in London 75.
vom 5. Januar 1939
Ich habe den angeordneten Schritt erst heute ausgeführt, um den
bisher auf Weihnacbtsurlaub abwesenden Lord Halifax persönlich
sprechen zu können. Ich habe schärfste Verwahrung gegen die in dem
Aufsatz von Welis im „News Chronicle" ausgesprochenen schweren
Beleidigungen des Führers und leitender Staatsmänner Deutschlands
eingelegt und darauf hingewiesen, daß die Botschaft in den letzten
Monaten leider in immer größerem Umfange derartige Beschwerden
wegen Verunglimpfungen des Führers hätte vorbringen müssen; ich
führte Lord Halifax diese Beschwerden und ihren Anlaß vor Augen,
indem ich die einzelnen Fälle zitierte. Die schwerste Beschimpfung
aber enthalte der Neujahrsaufsatz von Wells im „News Chronicle",
der weniger von der Absicht einer Kritik auszugehen schiene, die
Beleidigungen nicht scheue, als lediglich zu dem Zweck geschrieben
schiene, eine Häufung von schweren Kränkungen auf den Führer und
Reichskanzler und auf dessen nächste Mitarbeiter auszusprechen.
Es sei mir bekannt, daß die Englische Regierung die Möglichkeiten
einer unmittelbaren Einflußnahme auf die Presse als nicht gegeben
ablehne und daß sie auch auf den Mangel an gesetzlichen Handhaben
hinweise. Ich hätte auch gesehen, daß die beiden Aufsätze von Wells
nicht einmal vor einer herabsetzenden Kritik des englischen Königs-
paares haltmachten und daß sie Chamberlain schwer beleidigten.
Diese Tatsachen aber könnten nichts an der Feststellung ändern,
daß die zahlreichen Schmähungen des deutschen Staatsoberhauptes
und die Unmöglichkeit einer entsprechenden Genugtuung das deutsche
Volksempfinden schwer verletzten und nachteilige Folgen auf die
englisch-deutschen Beziehungen haben müßten. Ich wollte daher erneut
die Frage zur Erörterung stellen, ob nicht wenigstens für die Zukunft
in irgendeiner Form Abhilfe geschaffen werden könnte.
Lord Halifax erwiderte, daß er nicht anstehe, den genannten
Artikel, der ihm bekannt sei, als die empörendste Schmähung des
Führers zu kennzeichnen, die er bisher in der Presse gelesen habe. Er
1 74 Deutsch land - England
woUe mir daher auch sein uneingeschränktes Bedauern über diese
Beleidigung des Führers aussprechen und bäte mich» dieses Bedauern
der Deutschen Regierung zum Ausdruck zu bringen. Es sei höchst
bedauerlich, daß in den letzten Monaten wieder zahlreiche Entglei*
gungen zu verzeichnen gewesen seien ; eine Erklärung, wenn auch keine
Entschuldigung dafür, sei in der Tatsache zu suchen, daß derartig
Schniähariikel, wie z. B, auch der vorliegende, vorwiegend aus inner
politischen Gründen geschrieben seien, um die Englische Regierung
zu treffen. Auch die aUgemeinpolitische gereizte Stimmung, die jetzt
vorherrsche, sei in Betracht zu ziehen.
Ich erwiderte Lord Halifax, daß der bisherige Zustand nicht
fortdauern könne. Ich müsse ernstlich ersuchen, auf irgendeine Weis
eine Besserung herbeizuführen, uro unerfreuliche politische Folge-
ningen zu vermeiden.
Lord Halifax stellte in Aussicht, daß er sein möglichstes im Rahmen
der ihm zur Verfügung stehenden Einflußmöglichkeiten tun wolle, um
in Zukunft solche Beschimpfungen des Führers zu unterbinden*
Dirksen
(Dokumente zur Vorgt*schichte des Kriegen, Nr. 233.)
-4 m 7^. Januar 1939 machle die Reichsregierung der britischen
Begierung die MiUeilung, daß Deutschland seine U-Boot-Tonnage bis
zur Parität mit der der Milglieder des britischen Reiches ausbauen sowie
die Bestückung der beiden im Bau befindüchen 10 OÖO-t-Kreuzer ändern
und damit ro« der Gteitktausel Gebrauch machen werde. Diese Mitteilung
hiell sich vollkommen im Rahmen der Deutschland durch die Flutten-
vertrage gewährten Rechte. Die Reichstagsrede des Führers vom 30. Januar
1939 enthielt wiederum — wie in fast allen Jahren — in ausdrücklichen
Worten den Wunsch, zu freundschafilichen Beziehungen mit England
zu gelangen,
76. Aus der Reidistagsrede des Führers vom 30. Januar 1939
Deut^rhfand hat gegen England und Frankreich keine territorialen
Forderungen außer der nach Wiedergabe unserer Kolonien. So sehr
eine Lösung dieser Frage zur Beruhigung der Welt beitragen würde,
so wenig handelt es sich dabei um Probleme, die allein eine kriegerische
Auseinandersetzung bedingen körmten.
Wenn überhaupt heute in Europa Spannungen bestehen, so ist
dies in erster Linie dem unverantwortlichen Treiben einer gewissen-
losen Presse zuzuschreiben, die kaum einen Tag vergehen läßt, ohne
durch ebenso dumme wie verlogene Alarmnachrichten die Menschheit
in Unruhe zu versetzen.
Was sich hier verschiedene Organe an Weltbrunnen Vergiftung er-
lauben» kann nur als kriminelles Verbrechen gewertet werden. In letzter
Zeit wird versucht, auch den Rundfunk in den Dienst dieser inter-
nationalen Hetze zu stellen.
761
Das Jahr 1939
175
Ich möchte hier eine Warnung aussprechen: Wenn die Rundfunk-
sendungen aus gewissen Ländern nach Deutschland nicht aufhören,
werden wir sie demnächst beantworten.
Hoffentlich kommen dann nicht die Staatsmänner in kurzer Zeit
mit dem dringenden Wunsch^ zum normalen Zustand wieder zurück-
zukehren. Denn ich glaube nach wie vor, daß unsere Aufklärung wirk-
samer sein wird als die Lügenkampagne dieser jüdischen Völker-
verhetzer.
Auch die Ankündigung amerikanischer Filmgesellschaften, anti-
nazistische, das heißt antideutsche Filme zu drehen, kann uns höchstens
bewegen, in unserer deutschen Produktion in Zukunft antisemitische
Filme herstellen zu lassen. Auch hier soll man sich nicht über die Wir-
kung täuschen. Es wird sehr viele Staaten und Völker geben, die für
eine so zusätzliche Belehrung auf einem so wichtigen Gebiet großes
Verständnis besitzen werden!
Wir glauben, daß, wenn es gelänge, der jüdisch-intcjnationalen
Presse- und Propagandahetze Einhalt zu gebieten, die Verständigung
unter den Völkern sehr schnell hergestellt sein würde.
Nur diese Elemente hoffen unentwegt auf einen Krieg, Ich abei
glaube an einen langen Frieden!
Denn welche Interessengegensätze bestehen z, B. zwischen Eng-
land und Deutschland ? Ich habe mehr als oft genug erklärt, daß es keinen
. Deutschen und vor allem keinen Nationalsozialisten gibt, der auch
nur in Gedanken die Absicht besäße, dem englischen Weltreich Schwie-
rigkeiten bereiten zu wollen.
Und wir vernehmen auch aus England Stimmen vernünftig und
ruhig denkender Menschen, die die gleiche Einstellung Deutschland
I gegenüber zum Ausdruck bringen. Es würde ein Glück sein für die
► ganze Welt, wenn die beiden Völker zu einer vertrauensvollen Zu-
sammenarbeit gelangen könnten.
(Verhandlungeo des Reichstags, Bd, 460, S. 19.)
Am S, Februar gab der briiische Außenrninhler Lord Halifax dem
Wunsche nach einer Vertiefung der Handelsbeziehungen zum Deutschen
Reich Ausdruck, Der Handehminisler OUver Stanley gab am 7. Februar
im Unterhaus Mitteilung von Verhandlungen zwischen deutschen und
englischen Industriegruppen. Am 18, Februar weilte Reichsorganisations-
teiter Dr. Ley anläßlich der Arbeitstagung des .^internationalen Beraiungs-
ausschusses*' und des internationalen Zeniralverbandes ^.Freude und
Arbeit* in London und wurde von Premierminister Chamberlain emp-
fangen.
Zwischen den Vertretern der deutschen und englischen Kohlenindustrie
wurden am 21. Februar die Verhandlungen mit positivem Ergebnis ab-
geschlossen. Am gleichen Tage äußerte sich Premierminister Chamberlain
im Unterhaus über die Aussichten einer Friedenskonferenz und fand dabei
bemerkenswerte Worte über das in Engtand herrschende übertriebene
Mißtrauen und die Leichtgläubigkeit im Hinblick auf die Angriffs-
absichlen anderer.
176 Deutschland - England [78
77. Aos der Unterhanserklänuig des britischen Premierministers
Chamberlain vom 21. Febmar 1939
Der Premierminister: Wenn ich glauben könnte, daß eine solche
Friedenskonferenz gegenwärtig ein positives Ergebnis zeitigen könnte,
würde ich nicht zögern, sie einzuberufen. Aber eine gescheiterte Kon-
ferenz wäre schlechter als gar keine. Ich glaube, wir müssen, bevor
wir mit dem Erfolg einer solchen Konferenz rechnen können, sicher
sein, daß die Teilnehmer einen guten Willen und die Entschlossenheit
mitbringen, zu dem gewünschten Ergebnis zu kommen. Ich glaube
nicht, daß bisher genügend Vertrauen geherrscht hat, um die Kon-
ferenz schon heute als einen praktischen Vorschlag erscheinen zu lassen.
Mr. Maxton: Der Premierminister sagte, daß sich die Einberufung
einer Konferenz nicht lohnt, wenn unter den Teilnehmern nicht ein
Geist des guten Willens herrsche. Aber waren diese Vorbedingungen
denn gegeben, als der Premierminister nach Berchtesgaden, Godesberg
und München fuhr?
Der Premierminister: Ja, ich glaube, daß die Teilnehmer der Kon-
ferenz von München mit der Absicht dorthin gingen, die Konferenz
zu einem Erfolg zu führen. Doch das war ein Einzelfall. Wenn ich genau
so vertrauensvoll in bezug auf den befriedigenden Abschluß einer Ab-
rüstungskonferenz sein könnte, würde ich der erste sein, der sie befür-
wortet. Aber ich glaube, wir müssen, bevor die Zeit für eine solche
Konferenz gekommen ist, in bezug auf das Vertrauen noch etwas
größere Fortschritte machen.
Vielleicht würde es gar nicht so schlecht sein, wenn wir selbst
etwas mehr Vertrauen zeigen und nicht jede Nachricht glauben würden,
die uns über die Angriffsabsichten anderer erreicht. Ich bin nicht sicher,
ob die ehrenwerten Mitglieder sich darüber klar sind, wie diese Haltung
des Mißtrauens anderswo ihre Parallele findet.
(E: Parliamentary Debates. House of Gommons. Bd. 344, Sp. 233 f. — D:
Monatshefte für AuswfirUge PoUUk, 1939. S. 283.)
Alle diese bescheidenen Ansähe einer deutsch-englischen Zusammen-
arbeii^ die sich trotz der Rästungsdebatten der letzten Monate angelnihni
hatten, fanden jedoch mit den Ereignissen des März 1939 radikal ein Ende.
Ein Mitglied der tschechischen Gesandtschaft in London hatte noch am
12. März 1939 über die Politik Chamberlains Worte gefunden, die im
Hinblick auf die folgenden Ereignisse und auf die Reaktion Englands
auf die Eingliederung des Protektorats besondere Beachtung verdienen,
78. Aos dem Bericht des tschechisclien Vertrauensmannes in London,
Prof. F. Dvornik, vom 12. März 1939
Wir haben schon früher auf die Taktik Chamberlains aufmerksam
gemacht, Hitler ständig irgendwelche Knüppel unter die Füße zu
werfen, über welche er auf seinem Wege zu seinen Zielen stolpern würde.
79] I^as Jahr 1939 177
ihn nervös zu machen und ihn abzurackern durch unaufhörliche
Schwierigkeiten und Komplikationen. Nur daß sich dieses Interesse
Englands und Chamberlains — leider — nicht völlig mit dem unsern
deckt. Es ist nämlich möglich, daß Hitler den Knüppel, über welchen
er stolperte, im Zorn völlig zerhackte, so daß niemals mehr jemand
mit ihm ein solches Spiel aufführen könnte.
Die Engländer würden keinen Fuß rühren, daß dieser Knüppel,
der eine Weile in der englischen Politik eine untergeordnete Rolle
gespielt hat, aus Hitlers Händen gerissen und vor dem Zerhacken
bewahrt würde. Ich denke, daß der Sinn dieses „Gleichnisses"' klar
ist und keiner langen Erläuterung bedarf.
(Aus den Akten des Iscliechoslowakischen AuOenministeriums.)
Die letzte Phase der deutsch-englischen Beziehungen steht im Zeichen
der völlig unvernünftigen und unbegründeten Reaktion Englands auf die
deutschen Schritte, die zur Errichtung des Protektorats Böhmen und
Mähren führten. Auf dem Hintergrunde einer hemmungslosen Agitation
und einer wilden und verantwortungslosen Aufpeitschung der öffentlichen
Meinung in England ließ sich die britische Regierung zu jenem verhäng-
nisvollen Schritte hinreißen, der dann den Ablauf der Ereignisse zwangs-
läufig bis zum bitteren Ende vorherbestimmte: zu der Erteilung eines
Beistandsversprechens, das von der polnischen Regierung als eine Blanko-
vollmacht aufgefaßt werden mußte und aufgefaßt wurde,
Beridit des deotsdien Botsdiafters in London 79.
vom 18. März 1939
Bei meinem heutigen Protest gegen Beschimpfung des Führers
durch den Abgeordneten Duff Cooper habe ich Lord Halifax gegen-
über folgendes ausgeführt:
Ich hätte wiederholt über schwere Verunglimpfungen des Führers
Klage führen müssen; diese Beleidigungen seien in der Presse aus-
gesprochen gewesen, und man habe mir daraufhin geantwortet, daß
die Britische Regierung diese Ausfälle zwar bedauert und in Aussicht
gestellt habe, ihren Einfluß auf die Presse geltend machen zu wollen;
da dieser Einfluß aber beschränkt sei und die gesetzlichen Handhaben
zum Vorgehen gegen die Presseorgane fehlten, sei eine wirksame Ab-
stellung nicht möglich. Ich wolle daher auf verschiedene schwere
Beleidigungen des Führers, die in den letzten Tagen in der Presse
wiedergegeben seien, nur hinweisen.
Bei Duff Cooper aber liege dieser Fall anders. Hier habe ein eng-
lischer Abgeordneter in einer Sitzung des Unterhauses den Führer
in gemeinster Weise beschimpft, ohne daß der Speaker eingeschritten
sei und ohne daß ein Mitglied der Regierung diese Sprache zurück-
gewiesen hätte. Es sei mir bekannt, daß das Unterhaus keine Geschäfts-
ordnung wie andere Parlamente habe, sondern nach Gewohnheitsrecht
geleitet werde. Ich müsse aber darauf hinweisen, daß laut einer Zei-
Deutschland-England 12
TT
178
Deutsehland • Enivland
[80
tungsnotiz das bekannte staatsrechtliche Werk von Erskine May
als üblich bezeichne, daß abfällige Bemerkungen über fremde Staats-
oberhäupter nicht ausgesprochen werden sollten,
Lord Halifax erwiderte hierauf, was den Abgeordneten Gooper
angehe, so sei dieser vom Führer ebenfalls angegriffen und als Kriegs-
treiber bezeichnet worden. Es sei daher wohl verständlich, daß eine
Reaktion seitens des Angegriffenen erfolge. Für die Mitglieder der
Regierung sei es nach den geltenden Gepflogenheiten nicht möglich
gewesen, einzugreifen und derartige Angriffe zurückzuweisen; der
Speaker sei autonom in seinen Befugnissen und könne keine Weisungen
hinsichtlich seiner Geschäftsführung erhalten.
kh fragte hierauf Halifax, ob die Britische Regierung jetzt auf
dem Standpunkt stehe, daß fremde Staatsoberhäupter gewissermaßen
vogelfrei seien.
Der Außenminister erwiderte, das habe er damit nicht sagen
wollen.
Ich wies Lord Halifax darauf hin, daß eine Gleichstellung des
Führers mit Du ff Cooper wegen ihrer durchaus verschiedenen Stellungen
nicht möglich sei. Außerdem habe der Führer Du ff Cooper niemals
beschimpft, sondern ihm nur den zutreffenden Vorwurf gemacht, daß
die von Cooper befolgte Politik zum Kriege führen müsse. Da Cooper
das Kabinett mit der Begründung verlassen habe, daß er die friedens-
erhaltende Politik Chamberlains nicht mitmachen könne, so hätten
die Angriffe des Führers nur eine Darstellung eines vorhandenen Tat-
bestandes enthalten.
Ich gab meinem Befremden darüber Ausdruck, daß Lord Halifax
nicht in der Lage sei, mir eine befriedigende Erklärung abzugeben;
gerade England könne sich über unsere Haltung gegenüber der Herein-
ziehung des Staatsoberhauptes in die Tagespresse nicht beklagen. Dies
ergebe sich aus der Diskretton unserer Presse während der Abdankung
des früheren Königs. Nicht einmal die leitenden Staatsmänner der
jetzigen oder einer vorherigen Regierung seien von amtlichen Persön-
lichkeiten angegriffen oder gar beschimpft worden.
Lord Halifax mußte dies zugeben. Er erklärte, daß er dem Premier-
minister Bericht erstatten werde.
Ich erwiderte, daß ich meiner Regierung ebenfalls einen Bericht
über den Verlauf der Unterredung erstatten würde.
von Dirksen
(Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges, Nr. 247.)
80.
Rede des britischen Premierministers Cbamberlain
in Birmingham vom 17. M'irz 1939
Eines ist gewiß. Die Öffentliche Meinung der Welt hat einen
stärkeren Schock erfahren, als ihr bis jetzt, selbst durch das gegen-
wärtige Regime in Deutschland, jemals zugefügt worden ist. Welches
die endgültigen Auswirkungen dieser tiefgehenden Beunruhigung auf
Das Jahr 1939
!79
die Gemüter der Menschen sein werden, ist noch nicht abzusehen;
eines aber ist sicher, daß nämlich diese Beunruhigung weitreichende
Folgen für die Zukunft haben wird. Am vergangenen Mittwoch fand
darüber eine Debatte im Unterhause statt, und zwar an dem gleichen
Tage, an dem die deutschen Truppen in die Tschechoslowakei ein-
marschierten, und wir alle, ganz besonders aber die Regierung, waren
im Nachteil, weil die uns zur Verfügung stehenden Nachrichten nur
teilweiser und zum erheblichen Teil nichtamtlicher Art waren. Wir
hatten keine Zeit, diese Nachrichten zu prüfen, noch viel weniger
aber, uns darüber eine wohlerwogene Meinung zu bilden. Daraus ergab
sich zwangsläufig, daB ich, im Namen der Regierung sprechend, ange-
sichts der Verantwortung, die mit dieser Stellung verbunden ist, mich
gezwungen sah, mich auf eine stark zurückhaltende und vorsichtige
Darlegung dessen zu beschränken, über das ich seinerzeit, wie ich
glaubte, nur geringe Erläuterungen abgeben konnte; und vielleicht
war es auch ganz natürlich, daß diese etwas kühle und sachliche Er-
klärung Grund zu einem Mißverständnis gab, und daß einige Leute
glaubten, daß meine Kollegen und ich, weil ich ruhig sprach und
meinen Gefühlen nur beschränkten Ausdruck gab, uns von der An-
gelegenheit nicht stark beeindruckt fühlen. Ich hoffe, diesen Irrtum
heute abend berichtigen zu können.
Zunächst möchte ich aber etwas zu dem Argument sagen, das sich
aus diesen Ereignissen heraus entwickelt hat, in dieser Debatte benutzt
wurde und seither in verschiedenen Organen der Presse erschienen ist.
Es ist behauptet worden, daß diese Besetzung der Tschechoslowakei
die unmittelbare Folge des Besuches gewesen sei, den ich im ver-
gangenen Herbst Deutschland abstattete, und daß, da die Ergebnisse
dieser Ereignisse in der Zerreißung der in München erreichten Ver-
ständigung bestanden hätten, damit bewiesen sei, daß die ganzen
Umstände, unter denen diese Besuche erfolgt seien, irrig gewesen seien.
Es wird behauptet, daß, weil es sich um eine persönliche Politik des
Premierministers gehandelt habe, ihn die Schuld an dem Schinksal
der Tschechoslowakei treffen müsse. Das ist eine gänzlich unvertret-
bare Schlußfolgerung. Die Tatsachen, wie sie sich heute darstellen,
können an dem Zustand der Tatsachen, wie er im vergangenen Sep-
tember bestand, nichts ändern. Wenn ich damals recht hatte, so habe
ich heute auch noch recht. Dann gibt es einige Leute, die erklären:
„Wir waren der Ansicht, daß Sie im September unrecht hatten, und
nunmehr ist festgestellt, daß wir recht hatten."
Lassen Sie mich das einmal überprüfen. Als ich mich entschloß,
mich nach Deutschland zu begeben, erwartete ich niemals, der Kritik
zu entgehen. Ich ging bestimmt nicht nach Deutschland, um Popula*
rität zu erhaschen. Ich begab mich in erster Linie und vornehmlich
aus dem Grunde nach Deutschland, weil mir dieser Schritt, angesichts
der fast verzweifelten Lage, als die einzige Möglichkeit erschien, einen
europäischen Krieg zu vermeiden. Und ich darf Sie daran erinnern,
daß sich, als zum ersten Male angekündigt wurde, daß ich im Begriff
stünde, abzureisen, nicht eine einzige Stimme der Kritik erhob. Alle
180 Deutschland - England [80
zollten diesem Bestreben Beifall. Erst später, als es sich herausstellte,
daß die Ergebnisse der endgültigen Verstöndigung hinter den Er-
wartungen einiger Leute, die die Tatsachen nicht voll würdigten,
zurückblieben, erst dann begannen die Angriffe, und selbst dann war
es nicht der Besuch, sondern waren es die Verständigungsbedingungen,
die gemißbilligt wurden.
Nun, ich habe niemals bestritten, daß die Bedingungen, die ich
in München zu erreichen in der Lage war, nicht denjenigen entsprachen,
die mir selbst willkommen gewesen sein würden. Aber ich hatte mich,
wie ich damals erklärte, mit keinem neuen Problem zu befassen. Es
handelte sich um etwas, was seit dem Frieden von Versailles immer
bestanden hatte, um ein Problem, das schon längst hätte gelöst werden
müssen, wenn nur die Staatsmänner der letzten zwanzig Jahre eine
großzügigere und aufgeklärtere Auffassung von ihrer Pflicht gehabt
hätten. Dieses Problem hatte sich wie eine lange vernachlässigte
Krankheit entwickelt, und ein operativer Eingriff erwies sich als not-
wendig, um das Leben des Patienten zu retten.
Jedenfalls wurde der erste und unmittelbarste Zweck meines
Besuches erreicht. Der Frieden Europas war gerettet; und wenn diese
Besuche nicht stattgefunden hätten, so würden heute Hunderttausende
von Familien um die Blüte der besten jungen Männer Europas trauern.
Ich möchte noch einmal meinen tiefempfundenen Dank allen jenen
Berichterstattern abstatten, die aus allen Teilen der Welt an mich
geschrieben haben, um ihrer Dankbarkeit und ihrer Anerkennung für
das, was ich damals tat und was ich seither versucht habe zu tun,
Ausdruck zu geben.
Ich habe wirklich keinen Grund, für meine im vergangenen Herbst
Deutschland abgestatteten Besuche Entschuldigungen vorzubringen.
Denn welche Wahl hatten wir? Nichts von dem, was wir hätten unter-
nehmen können, nichts von dem, was Frankreich oder Rußland hätten
unternehmen können, wäre dazu angetan gewesen, die Tschechoslowakei
vor einem Einmarsch und vor der Vernichtung zu bewahren. Selbst
wenn wir später zum Kriege geschritten wären, um Deutschland für
sein Vorgehen zu strafen, und wenn wir nach den furchtbaren Ver-
lusten, die allen Teilnehmern an einem Kriege zugefügt worden wären,
schließlich siegreich geblieben wären, würde es uns niemals möglich
gewesen sein, die Tschechoslowakei in derselben Form wiederaufzu-
richten, die sie durch den Frieden von Versailles gefunden hatte.
Mit meiner Reise nach München verband ich aber noch einen
weiteren Zweck, und zwar die Förderung der Politik, die ich von dem
Augenblick an, da ich meinen jetzigen Posten übernahm, verfolgt
habe, eine Politik, die zuweilen als die Politik der europäischen Be-
ruhigung bezeichnet wird, obgleich ich selbst nicht der Ansicht bin,
daß es sich dabei um eine sehr glückliche Bezeichnung oder um eine
solche handelt, die den Zweck dieser Politik genau umschreibt. Wenn
diese Politik erfolgreich sein sollte, so war es von wesentlicher Bedeu-
tung, daß keine Macht den Versuch unternehmen sollte, die allgemeine
Vorherrschaft in Europa zu erlangen, sondern daß jede einzelne Macht
80] Das Jahr 1939 181
damit zufrieden sein sollte, vernunftmäßige Möglichkeiten zur Ent>vick-
lung ihrer eigenen Hilfsquellen zu erlangen, sich ihren eigenen Anteil
am internationalen Handel zu sichern und die Lebensbedingungen
ihres eigenen Volkes zu verbessern. Ich glaubte, obgleich das vielleicht
ein Aufeinanderprallen der Interessen verschiedener Staaten bedeuten
konnte, daß es trotzdem durch die Übung gegenseitigen guten Willens
und auf Grund eines Verständnisses für den Umfang der Wünsche
anderer möglich sein sollte, alle Meinungsverschiedenheiten durch
Erörterung und ohne einen bewaffneten Konflikt zu lösen. Indem ich
mich nach München begab, hoffte ich, durch persönliche Fühlung-
nahme festzustellen, welche Gedanken Herrn Hitler bewegten und ob
eine Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, daß er bereit sein werde, bei
einem Programm dieser Art mit uns zusammenzuarbeiten. Nun, die
Atmosphäre, in der unsere Erörterungen stattfanden, war keine sehr
günstige, weil wir uns inmitten einer akuten Krise befanden. In den
Pausen zwischen mehreren offiziellen Besprechungen hatte ich aber
trotzdem gewisse Gelegenheiten, mich mit ihm zu unterhalten und
seine Ansichten zu erfahren, und ich glaubte, daß die Ergebnisse nicht
gänzlich unbefriedigend seien.
Nach Rückkehr von meinem zweiten Besuch berichtete ich dem
Unterhause über meine meinerseits mit Herrn Hitler stattgehabte Be-
sprechung, von der ich erklärte, daß Hitler, mit tiefem Ernst sprechend,
wiederholt habe, was er bereits in Berchtesgaden erklärt hatte, daß
es sich nämlich um die letzte seiner territorialen Bestrebungen in Eu-
ropa handle und daß er nicht den Wunsch habe, in das Reich Völker,
die einer anderen Rasse als der deutschen angehörten, einzuverleiben.
Herr Hitler selbst bestätigte diesen Bericht über die Besprechung in
der Rede, die er im Sportpalast in Berlin hielt, indem er erklärte
„ . . . dies ist der letzte territoriale Anspruch, den ich in Europa zu
stellen habe." Und ein wenig später erklärte er in der gleichen Rede:
„ . . . Ich habe Herrji Chamberlain versichert, und ich betone das
hiermit, daß es für Deutschland nach Lösung dieses Problems keine
weiteren territorialen Probleme in Europa gibt.** Und er fügte hinzu:
„Ich werde an dem tschechischen Staate kein weiteres Interesse habenund
dafür kannichgarantieren.WirwollennichtnochmehrTschechenhaben.**
Und dann findet sich auch im Münchener Abkommen selbst, das
die Unterschrift des Herrn Hitler trägt, die folgende Bestimmung:
„Die endgültige Grenzfestsetzung wird durch eine internationale
Kommission erfolgen** — die endgültige Festsetzung. Und schließlich
brachten wir in der Erklärung, die er und ich gemeinsam in München
unterzeichneten, zum Ausdruck, daß jede weitere Frage, die unsere
beiden Länder betreffen würde, nach dem Konsultationsverfahren
behandelt werden solle.
Nun, angesichts dieser wiederholten, mir freiwillig gegebenen Ver-
sicherungen hielt ich mich für berechtigt, darauf meine Hoffnung zu
stützen, daß es, wenn erst einmal diese tschechoslowakische Frage ge-
regelt sein würde, wie es in München den Anschein hatte, möglich
sein würde, die Politik der Beruhigung, die ich beschrieben habe,
182
Deutschland - England
[80
weiter fortzuführen. Dennoch aber war ich zur gleichen Zeit nicht
bereit» in meiner Vorsicht nachzulassen, bis ich davon überzeugt seinj
würde, daD diese Politik eingeleitet worden »ei und daß auch andere!
sich diese Politik zu eigen gemacht hätten, und deshalb wurde nach
München unser Verteidigungsprogramm tatsächlich beschleunigt und
genügend erweitert, um gewisse Schwächen zu beseitigen, die während
der Krise zutage getreten waren. Ich bin überzeugt, daß die große
Mehrheit des britischen Volkes nach München meine Hoffnung teilte
und den tiefen Wunsch hegte, daß diese Politik weitergeführt werden
möge. Heute aber teile ich Ihre Enttäuschung, Ihren Unwillen darüber,
daß diese Hoffnungen so mutwillig zerstört worden sind.
Wie ist es möglich, die Ereignisse dieser Woche mit den Versiche-
rungen, die ich Ihnen vorgelesen habe, in Einklang zu bringen? Als
einer der Signatare des Münchener Abkommens hatte ich zweifellos,
wenn Herr Hitler glaubte, daß dieses Abkommen aufgehoben werden
sollte, Anspruch auf die Konsultation, die in der Münchener Erklärung |
vorgesehen ist. Statt dessen hat er das Gesetz in seine eigene Hand
genommen. Noch vor dem Empfang des tschechischen Präsidenten,
der sich Forderungen gegenübersah, denen zu widerstehen er keine
Macht besaßt waren die deutschen Truppen schon auf dem Marsch
und innerhalb weniger Stunden in der tschechischen Hauptstadt,
Auf der gestern in Prag zur Verlesung gekommenen Proklamation
sind Böhmen und Mähren in das Deutsche Reich eingegliedert worden.
Die nichtdeutschen Einwohner, zu denen selbstverständlich auch die
Tschechen zählen, werden dem deutschen Protektor im deutschen
Protektorat unterstellt. Sie unterliegen den politischen, militärischen
und wirtschaftlichen Notwendigkeiten des Reiches. Sie werden als
sich sei bßtre gierende Staaten bezeichnet, dem Reich unterstehen aber
ihre Außenpolitik, ihre Zollverwaltung und die Verwaltung der in-
direkten Steuern, ihre Bankreserven und die Ausrüstung der ent*
waffneten tschechischen Streitkräfte. Am bedenklichsten ist es viel-
leicht, daß wir von dem Auftreten der Gestapo, der geheimen Polizei,
hören, verbunden mit den üblichen Gerüchten über Müssenverhaf-
tungen prominenter Persönlichkeiten, die Folgen einsehließen, mit
denen wir alle vertraut sind.
Jeder Mann und jede Frau in unserem Lande, die sich des Schick-
sals der Juden und der politischen Gefangenen in Österreich ent-
sinnen, müssen heute von Kummer und Sorge erfüllt sein. Wessen
Herz ißt wohl nicht voll Mitgefühls für das stolze und tapfere Volk,
das so plötzlich ein Opfer dieses Einmarsches wurde, dessen Freiheiten
beschränkt sind und dessen nationale Unabhängigkeit der Vergangen-
heit angehört. Was ist aus der Erklärung ,, keine weiteren territorialen
Bestrebungen**, was aus der Versicherung ,,wir wollen keine Tschechen
im Reich haben*' geworden? Welche Achtung ist dem Grundsatz der
Selbstbestimmung zuteil geworden, über den sich Herr Hitler so
leidenschaftlich mit mir in Berchtesgaden stritt, als er die Abtrennung
des Sudetenlandes von der Tschechoslowakei und seine Einverleibung
in das Deutsche Reich forderte?
Das Jahr 1930
183
Jetzt erklärt man uns» daö diese Gebietsergreifiini; infolge von
Unruhen in der Tschechoslowakei erforderlich wurde. Man erzählt
uns» daO die Verkündung dieses neuen deutschen Protektorats gegen
den Willen seiner Einwohner durch Unruhen unvermeidlich gemacht
worden sei, die den Frieden und die Sicherheit seines mächtigen Nach-
barn bedroht hätten. Wenn es zu Unruhen gekommen ist, wurden sie
dann nicht von außen her geschürt? Und kann irgend jemand außer-
halb Deutschlands ernsthaft der .\nsicht sein, daß solche Unruhen eine
Gefahr für jenes große Land hätten bedeuten können und daß sie eine
Berechtigung für das^ was sich ereignet hat, abgeben? Wird da in
unsern Köpfen nicht unvermeidlich die Frage aufgeworfen, welcher
Verlaß auf irgendwelche andern Versicherungen aus der gleichen
Quelle ist, wenn es so leicht ist, gute Gründe zur Außerachtlassung
von Versicherungen zu finden, die so feierlich und so oft gegeben
wurden ?
Es gibt noch eine Reihe weiterer F*ragen, die unvermeidlich in
unsern und in den Gedanken anderer, vielleicht sogar in Deutschland
selbst, auftauchen, Deutschland hat unter seinem gegenwärtigen Re-
gime der Welt eine Reihe unangenehmer Überraschungen bereitet.
Das Rheinland, der österreichische Anschluß, die Abtrennung des
Sudetenlandes — all diese Vorkommnisse haben die öffentliche Mei-
nung der ganzen Welt verletzt und beleidigt. Welche und wie viele
Anstände wir aber auch an den in jedem dieser Fälle angewendeten
Methoden hätten nehmen können, jedenfalls ließ sich auf Grund der
Rassenzugehörigkeit oder gerechter Ansprüche, denen zu lange Wider-
stand geleistet worden war, etwas zugunsten der Notwendigkeit einer
Änderung der bestehenden Lage sagen.
Die Ereignisse aber, die im Laufe dieser Woche unter völliger
Mißachtung der durch die deutsche Regierung selbst niedergelegten
Grundsätze Platz gegriffen haben, scheinen mir in eine andere Klasse
zu fallen und müssen uns alle veranlassen, uns die Frage vorzulegen:
,,Ist dies das Ende eines alten Abenteuers oder der Anfang eines
neuen?**
,,Ist es der letzte Angriff auf einen kleinen Staat oder werden ihm
weitere folgen? Ist dies tatsächlich ein Schritt in der Richtung eines
Versuchs zur Weltherrschaft durch Gewalt?**
Das sind schwerwiegende und ernste Fragen. Ich werde diese
Fragen heute abend nicht beantworten. Ich bin aber überzeugt, daß
sie eine tiefernste und gewissenhafte Erwägung nicht nur durch
Deutschlands Nachbarn, sondern auch durch andere Mächte, viel-
leicht sogar solche jenseits der Grenzen Kuropas, notwendig machen
werden. Schon jetzt liegen Anzeichen dafür vor, daß dieser Prozeß
eingesetzt hat, und es ist offensichtlich, daß er nunmehr voraus-
sichtlich einen schnelleren Verlauf nehmen wird.
Wir selbst werden uns selbstverständlich zunächst an unsere
Partner in der britischen Gemeinschaft der Nationen und an Frank-
reich wenden, mit denen wir so eng verbunden sind; und ich bezweifle
nicht, daß auch andere, die wissen, daß wir nicht uninteressiert an
tffe
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•«in H«i/ii. IimI«! .iiIi Im liitiM:-.-<ii /.ijj.'iiii •!« fi «iii«--» solrhiTi Anspruchs«
i|' Il •'•liiiil'ii lim.- VV* MI* 1 |i f/i .- u II :•..•.! I /.i-fi Kr'ifilK*.
I ml jii 'I' 1 i«ii *iii(.'« :-ii lih- ili I l.'liMii i|ii (if^riiji htc, die alle
li •■• II l'iiiiiii II ii.iliiiiii I.- iiiij.'j.iiiliJM II, iliili ijM.^ ciiH' solchf^ Ileraus-
liiiili 11111(1 mli «I • I nli II r<iillli If II Itiliji' Hilf h vi'i-priirlit.<!L, ZU erklären.
• liih iili).li II II h II im lil iliiiiiiil Mii Im ii'ilit hm, tifisrr I..'iim1 durch iicue,
Uli hl liliii liiiiM In il In III N 1 1 |illii li! iiii^mii /ii vi'rpriif'h(<>n, die sich
iiiilii hl tltiif:iiii}ii II iHL-wiiliiii Kniiiiliii, tili* ji-t/.l iiit-hl vorauszusehen
••liiil l>i tu (.likllini ImIimii iMfniiif.'fii wi'iilni koiuilr, ids anzunehmen,
ihiii iiM'i i \ nil, ^\, ti I -1 iiiii |\ii, ,. Im niif Mimlii.si> unii grausame An-
hil.f.iiiliiil hall, ihiiiil \iil Mtii Ml iiinii SilliNllM'\\nl.UsiMn einCfebüBt
h.ihi Hill III« hl .ilh:i III .iiiiui Iviiill Slrlirihh* .'u hm. uni eine solche
lli i.iii il.Mih iiiiir. :ii»lllf "II- uniaji rili«i;.'eii, /unu'k/uweisen. h'ür
»II» 1 I ilii.iiMii. liiith 1. h wir II h uhn.iui.'l hm. iiirhl nur die Inler-
•1*11 uu.. .In \ xMs' . (1 -luimiiiiii; uiul ila> \eilraueu meiner Landü-
hui. •.•u«L ii\ uiiiU I« h .Uli h \\w /uihuumm;; ile.H i:au;en britischen
81] Das Jahr 1939 185
Imperiums und aller anderen Staaten finden, die wohl den Frieden,
die Freiheit aber noch mehr zu schätzen wissen.
(E: The Times vom 18. Mflrz 1939. — D: Eigene Übersetzung.)
Ao8 der Rede des britischen Außenministers Lord Halifax 81 .
im Oberhaus vom 20. März 1939
Ich möchte gern einiges über die Gründe sagen, mit denen die
deutsche Regierung die von ihr ergriffenen Maßnahmen zu recht-
fertigen sucht. Die direkte Ursache der gegenwärtigen Krise in Mittel-
europa hatte in der Slowakei ihren Ursprung, und es wird geltend ge-
macht, daß die deutsche Regierung bei Erhalt der Bitte um Unter-
stützung des zurückgetretenen slowakischen Ministerpräsidenten zum
Eingreifen berechtigt war. In der Slowakei hat es immer eine Partei
gegeben, die für eine Autonomie eintrat. Diese Autonomie ist nach
München tatsächUch zustande gekommen, und zwar durch Überein-
kommen zwischen den verschiedenen slowakischen Parteien und der
Zentralregierung in Prag.
Die radikalen Elemente in der Slowakei waren jedoch mit diesen
Abmachungen nicht zufrieden, aber nach allen mir zur Verfügung
stehenden Unterlagen kann ich mir nicht vorstellen, daß der plötzliche
Entschluß gewisser slowakischer Führer, sich von Prag zu lösen, dem
die Bitte um Schutz an das Deutsche Reich sofort auf dem Fuße folgte,
unabhängig von äußeren Einflüssen gefaßt wurde. Es heißt, das deut-
sche Eingreifen in der Tschechoslowakei sei durch die Unterdrückung
der deutschen Minderheiten durch die Tschechen gerechtfertigt ge-
wesen. Jedoch, und auch das ist Tatsache, setzte die deutsche
Presse erst kurz vor Hitlers Ultimatum an den tschechischen Präsi-
denten mit ihrer Kampagne vom letzten Sommer über die an-
geblichen tschechischen Brutalitäten gegen deutsche Staatsangehörige
wieder ein.
Im Augenblick scheint die Lage der deutschen Minderheit mit
ihren ungefähr 250 000 Seelen seit dem Münchener Abkommen so zu
sein, daß man sie als Ausnahme- Vorzugsstellung bezeichnen könnte.
Trotz des gemäß Art. 7 des Abkommens eingeräumten Optionsrechtes
wurden die Angehörigen der deutschen Minderheit angehalten, in der
Tschechoslowakei zu bleiben, um nützliche Zentren der deutschen
Tätigkeit und Propaganda zu bilden, auch wurden der deutschen
Minderheit von ihrem Führer diesbezügliche Weisungen erteilt. Auf
Grund des deutsch-tschechoslowakischen Abkommens über den gegen-
seitigen Schutz der Minderheiten erhielt die deutsche Regierung die
gesetzliche Berechtigung, sich unmittelbar für die Belange ihrer
Minderheiten in der Tschechoslowakei einzusetzen; auch erhielt die
Minderheit sofort das Recht, selbständige Organisationen ins Leben
zu rufen; im Anschluß daran gab die tschechoslowakische Regierung
ihr Einverständnis dazu, daß die NSDAP, in der Tschechoslowakei in
f ^
186
Deutschland - England
l'Hl
vollem Umfange das Recht zur Fortsetzung ihrer Tätigkeit in Böhmen
und Mühren erhielt.
Die Schlußfolo^erung, deÜ weitaus die Mehrzahl der Zwißchen-
fölle vor der deutschen Invasion mit Vorbedacht provoziert und daQ
ihre Wirkung stark übertrieben wurde, ist schwerlich von der Hand zu
weisen. Hier ist meines Erarhtens ganz unparteiisch hinzuzufügen^!
daß die tscheehoslo wakischen Behörden angewiesen wurden, sich
gegenüber diesen Provokationen die größte Zurückhaltung aufzuer-
legen, wie es auch tatsächlich geschah. Ich glaube, es ist nicht not-
wendig, über die Behauptung, der tschechoslowakische Präsident habe
der Unterjochung seines Volkes tatsächlich zugestimmt, viel Worte
2ü verlieren. In Anbetracht der Umstände, unter denen er nach Berlin
kam^ sowie der bereits erfolgten Besetzung tschechischen Gebietes
glaube ich, daU jeder einsichtige Mensch zu dem Schluß kommen muß,
daß es sich hier kaum um Verhandlungen handelte, und daß es viel
wahrscheinlicher ist, daß die tschechischen Vertreter einem Ultimatum
gegcnübergestellL wurden, unter Androhung von Gew^alt, und daß siej
klein beigaben, um ihr Volk vor dem Schrecken einer raschen undl
vemichtenden BeschieOung aus der Luft zu bewahren.
Schließlich heißt es, Deutschland sei ii^endwie durch die Tschecho-
slowakei gefährdet gewesen. Doch dürfte die deutsche Regierung selbst^
sicherlich kaum envartet haben, daß diese Behauptung von irgend-
einer Seite ernsthaft aufgenommen würde. In der Tat, wenn ich meine
eigene Ansicht über diese vers*^hiedcnen Untersuchungen zusammen-
fassen darf, so möchte ich nur wünschen, daß an Stelle der veröffent-
lichten Mitteilungen und Erklärungen, die wenig überzeugend wirken,
die überlegene Stärke Deutschlands offen als die entscheidende Instanz
anerkannt worden wäre, die sie in der Tat gewesen ist.
Unter diesen Umständen hielt es die britische Regierung für an-
gezeigt, unverzüghch bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Sie brach
den Berliner Besuch des Ilöndelsministcrs und des Sekretärs der Ab-
teilung für Überseehandel sofort ab, von dem man erhofft hatte, daß
er der Regierung ein unmittelbares Eingreifen in jene inoffizielle, gerade
damals erfolgende Fühlungnahme der Industrievertreter ermöglichen
würde. Wir waren der Ansicht — und sind es auch noch — daß unter
den inzwischen eingetretenen Umständen jede Weiterverfolgung un-
serer Bemühungen in dieser Richtung ganz offenbar undenkbar war
und daß dieses und manche anderen Dinge auf unbestimmte Zeit ver-
schoben werden mußten und es auch noch bleiben müssen. Die britische
Regierung hat den britischen Botschafter in Berlin zur Berichterstat-
tung zurückgerufen; er ist gestern hier eingetroffen.
AuOi^r diesen beiden Schritten haben vvir bei dar deutschen Re-
gierung formell Protest erhoben, indem wir ihr mitteilten, daß wir
nicht umhin konnten, die Ereignisse der letzten paar Tage als einen
klaren Bruch des Münchener Abkommens und eine Verleugnung des
Geistes anzusehen, in dem die Unterhändler sich damals selbst zur
Zusammenarbeit für eine friedliche Regelung verpflichtet hatten. Auch
nahmen wir Veranlassung, gegen die durch die deutschen Militärmaß-
81] Das Jahr 1939 187
nahmen in der Tschechoslowakei erfolgten Änderungen zu protestieren,
und haben zum Ausdruck gebracht, daß unserer Ansicht nach diese
Änderungen jeder rechtlichen Grundlage entbehrten.
Ich glaube daher, daß wir den Anspruch erheben dürfen, die
deutsche Regierung über die Haltung der britischen Regierung nicht
im unklaren gelassen zu haben und, wenn ich mich auch über die
Wirkung von Protesten keinen übertriebenen Hoffnungen hingebe, so
glaube ich doch, daß Sie, meine Herren, es durchaus für richtig halten,
daß solche Proteste zu Protokoll genommen werden.
Von Zeit zu Zeit habe ich die Verfechter des deutschen Stand-
punktes bemüht gesehen, die Handlungsweise ihrer Regierung durch
Heranziehung der Geschichte des britischen Imperiums zu rechtfertigen.
Es ist wohl nicht erforderlich, Sie daran zu erinnern, daß der Grund-
satz, nach dem das britische Imperium geführt wird, Erziehung zur
Selbstverwaltung ist. Wo in der Welt wir auch immer waren, überall
haben wir eine Spur der Freiheit und Selbstverwaltung hinterlassen,
und unsere geschichtliche Vergangenheit hat nichts gemein mit der
Unterdrückung von Freiheit und Unabhängigkeit von Menschen, die
durch ihre politische Entwicklung bereits in den Genuß der Vorzüge
eines Eigenlebens gelangt waren.
Auch wurde der Einwand erhoben, daß die Ereignisse in der
Tschechoslowakei uns weder interessieren noch etwas angehen. Ganz
richtig, wir haben stets anerkannt, daß, wenn aus keinem anderen,
so doch aus geographischen Gründen Deutschland von einigen Ge-
sichtspunkten aus in der Tschechoslowakei oder in Südosteuropa mehr
interessiert sein muß als wir selbst. Es war das naturgegebene Feld
für die Ausdehnung des deutschen Handels.
Aber abgesehen davon, daß Änderungen in irgendeinem Teil von
Europa nachhaltige Wirkungen an anderer Stelle zeitigen, so ist die
Lage doch eine völlig andere, wenn wir vor die Tatsache der willkür-
lichen Beseitigung eines unabhängigen, souveränen Staates durch
Waffengewalt und unter Verletzung dessen, was ich als die elementarsten
Grundregeln internationalen Verhaltens betrachte, gestellt werden.
Es ist durchaus verständlich, daß im Lichte dieser Ereignisse der
Regierung gesagt wird, daß die Münchener Politik ein tragischer Fehler
war. Ich kann natürlich nicht beanspruchen, Lord Snell Vorschriften
über den Ausdruck einer aufrichtig von ihm vertretenen Ansicht zu
machen, wohl aber glaube ich, eine einzelne ihm entfahrene Bemer-
kung richtigstellen zu können. Er bezeichnete die vom Premierminister
betriebene Politik als eine persönliche Politik. Falls der ehrenwerte
Lord damit sagen will, daß das eine Politik war, für die der Premier-
minister sein Letztes an Energie, Einbildungs- und Entschlußkraft
hergegeben hat, so gehe ich mit ihm durchaus einig — sollte er aber
unterstellen, daß es eine Politik ohne vollständige Zusammenarbeit
mit mir, als Außenminister, sowie mit jedem einzelnen Regierungs-
mitglied war, so müßte ich mir die Freiheit nehmen, seinen Ausfüh-
rungen auf das schärfste zu widersprechen.
Bei Annahme des vom Oberhaus wie auch von anderer Seite gebillig-
188 Deutschland - England [81
ten Münchener Abkommens hatte die Regierung Sr. Majestät zwei von-
einander ganz verschiedene Ziele im Auge. Der erste Zweclc bestand
darin, zu der unter den durch die Zeit bedingten, äußerst schwierigen
Umständen bestmöglichen Lösung eines Problems zu gelangen, das
tatsächlich ein solches war und dessen Lösung dringend geboten war,
wenn der Frieden Europas gewahrt bleiben sollte. Und hierzu möchte ich
sagen — was ich bereite an dieser Stelle gesagt habe — : ich hege nicht
den mindesten Zweifel, daß die Regierung nach allen ihr zur Verfügung
stehenden Informationen zu dem von ihr eingeschlagenen Kurs berech-
tigt war.
Der zweite Zweck von München war die Schaffung einer größeren
europäischen Sicherheit auf der Grundlage von freiwillig angenom-
menen Beratungcn'als dem Mittel, durch das alle künftigen Schwierig-
keiten beigelegt werden könnten. Dieser auf lange Sicht gefaßte Plan
wurde, wie wir alle feststellen mußten, durch die Ereignisse in unheil-
voller Weise Lügen gestraft. Man wirft uns vor, wir hätten den von
Hitler abgegebenen Versicherungen, er würde nach München keine
territorialen Ansprüche mehr hegen und keine Eingliederung von
nichtdeutschen Elementen ins Reich mehr wünschen, allzu schnell
Glauben geschenkt.
Das ehrenwerte Oberhausmitglied (Lord Snell) sprach von einem
mehr als einfältigen Premierminister. Ich darf Ihnen, meine Herren,
die Versicherung abgeben, daß weder der Premierminister, noch ich
selbst, noch irgendein Regierungsmitglicd zu irgendeinem Zeitpunkt
es verabsäumt haben, sich des Unterschiedes zwischen Glauben und
Hoffen in aller Schärfe bewußt zu bleiben. Es war bestimmt berechtigt
und richtig, Hoffnungen zu hegen; doch haben wir stets — und ich
möchte es jedem von Ihnen, meine Herren, anheimstellen, das Gegenteil
zu beweisen — in voller Erkenntnis dessen gehandelt, daß Hoffnungen
lediglich mit der Zeit zu wirklichen Überzeugungen werden können.
Es ist zweifellos der Fall, daß vorhergegangene Zusicherungen
gebrochen worden sind, welche Rechtfertigung Hitler vom Standpunkt
seiner Mission auch immer vorbringen mag, die er darin sieht, ehemals
deutsches Gebiet und vorwiegend deutschen Raum in das Deutsche
Reich einzugliedern. Für die Maßnahmen Hitlers bis nach München
kann immerhin geltend gemacht werden, daß er seinen eigenen Grund-
sätzen treu geblieben ist, das heißt dem Zusammenschluß der Deutschen
im und Ausschluß der Nichtdeutschen aus dem Reich. Diese Grund-
sätze hat er jetzt umgestoßen. Mit der Stellung von 8 000 000 Tschechen
unter deutsche Herrschaft ist er seiner eigenen Lebensanschauung be-
stimmt untreu geworden. Die Welt wird nicht vergessen, daß im
September vorigen Jahres Hitler an den Grundsatz des Selbstbestim-
mungsrechtes für 2 000 000 Sudetendeutsche appellierte. Das ist ein
Grundsatz, auf dem das britische Reich selbst aufgebaut wurde und
dem wir infolgedessen bei der Behandlung von Hitlers Forderungen
Rechnung zu tragen uns verpflichtet fühlten. Dieser Grundsatz ist
nun in krasser Form durch eine Reihe von Maßnahmen Lügen gestraft
worden, die gerade das Recht verleugnen, auf dem die deutsche Haltung
81] Das Jahr 1939 189
vor sechs Monaten fußte. Welches auch immer die Wahrheit über die
Behandlung der 250 000 Deutschen sein mag, ich kann unmöglich
glauben, daß das nur durch die Unterwerfung von 8 000 000 Tschechen
wiedergutgemacht werden kann.
Welche Schlußfolgerung sollen wir nun aus dieser Eroberung der
Tschechoslowakei ziehen? Sollen wir annehmen, daß die deutsche
Politik damit in eine neue Phase eingetreten ist? Wird sich die deutsche
Politik weiterhin auf die Festigung der vorwiegend von einer deutsch-
stämmigen Bevölkerung bewohnten Gebiete beschränken? Oder wird
«ich die deutsche Politik nunmehr auch auf die Beherrschung von
nichtdeutschen Völkern richten ? Das sind sehr schwerwiegende Fragen,
die heute in allen Teilen der Welt aufgeworfen werden.
Das deutsche Vorgehen in der Tschechoslowakei ist nach neuen
Methoden erfolgt. Die Welt hat in der letzten Zeit mehr als eine neue
Wendung auf dem Gebiet der Technik des internationalen Umgangs
erlebt — Krieg ohne Kriegserklärung, Ausübung eines Druckes unter
Androhung sofortiger Grewaltmaßnahmen, Eingreifen bei internen
Schwierigkeiten anderer Staaten ; Länder sehen sich vor die Tatsache der
Förderung des Separatismus gestellt, und zwar nicht etwa im Interesse
der Separatisten oder Minderheiten, sondern im imperialen Interesse
Deutschlands. Die schlechte Behandlung der deutschen Minderheiten
in anderen Ländern, auf die man sich beruft und die in manchen oder
auch in vielen Fällen wirklich aus natürlichen Gründen entspringen
mag, die aber auch Gegenstand und Ergebnis einer Provokation von
außen her sein kann, wird als Vorwand zum Eingreifen benutzt.
Diese Methoden sind einfach und mit zunehmender Erfahrung
ganz unverkennbar. Haben wir irgendwelche Sicherheiten, daß sie
nicht auch anderweitig Anwendung finden? Jedes Deutschland be-
nachbarte Land lebt jetzt in der Ungewißheit, was der nächste Tag
bringen wird, und jedes Land, das auf seine nationale Identität und
Souveränität Wert legt, fühlt sich von einer inneren, von außen her
geschürten Gefahr bedroht. Während der letzten Tage ging das Ge-
rücht um, die deutsche Regierung habe bei ihren Wirtschaftsverhand-
lungen mit der rumänischen Regierung eine scharfe Haltung ange-
nommen. Ich kann erfreulicherweise mitteilen, daß ein Bericht, in
dem sogar von einem Ultimatum die Rede war, von der rumänischen
Regierung selbst dementiert worden ist; aber selbst wenn Rumänien
heute nicht bedroht ist, bzw. wenn bis heute diese Bedrohung noch
keine konkrete Form angenommen hat, und sich in diesem Sinne auch
nicht auszuwirken braucht, so ist es doch nicht überraschend, wenn
die Bukarester Regierung — ebenso wie andere Regierungen — den
Ereignissen der letzten Tage mit den größten Besorgnissen gegen-
übersteht. . .
Ich möchte noch folgendes sagen: Seit Jahren hat das britische
Volk stets den Wunsch gehegt, mit dem deutschen Volk in gutem
Einvernehmen zu leben. In unserem Volk ist kein nationales Empfinden
so stark ausgeprägt wie die Neigung, nach einem Kampf dem Gegner
die Hand zu reichen und die Angelegenheit beizulegen.
190 DeuUchland - Knptan<l [H2
Unser Volk war nicht so rückständig, um nicht einige ändcrungsbe-
dürftige Fehler imWrsailler Vertrag einzugestehen, aber jedesmal, wenn
sich im Lauf der letztenJahredieMöglichkeit einer besseren Verständigung
EU bieten schien, hatdie deutsche Regierungetwas unternommen, das ein
Weiterkommen unmöglich machte; ganz besonders war das in den
letzten Monaten der Fall. Sehr bald nach München wurden von der
deutschen Regierung Maßnahmen ergriffen, die der Weltmeinung einen
heftigen Stoß versetzten. Vor kurzem noch durfte man hoffen ^ w^enn
auch viele Wolken am und hinter dem Horizont aufzogen — , daO wir
einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit entgegensehen könnten ;
und es bestand sogar Hoffnung, daß sich diese wirtschaftliche Zusam-
menarbeit noch weiter ausgestalten würde, als wir bei den von mir
bereits erwähnten Besuchen beschlossen hatten. Diese ganze Initiative
Würde durch die Maßnahmen der deutschen Regierung in der letzten
Woche wieder zunichte gemacht, und es ist schwer, sich vorzustellen,
wann sie wiederaufgenommen werden kann...
Es ist noch nicht möglich, die Folgen der deutschen Maßnahmen
völlig abzusehen. Die Geschichte kennt manche Versuche, Europa eine
Herrschaft aufzuzwingen. Aber alle diese Versuche haben früher oder
später denen, die sie unternommen haben, Unheil gebracht. Noch nie
hat es sich auf die Dauer als möglich erwiesen, den Geist der freien
Völker auszurotten. Wenn man der Geschichte glauben darf, wird das
deutsche Volk die in seinem Namen gegen das tschechoslowakische
Volk ergriffenen Maßnahmen noch bedauern.
Vor zwanzig Jahren gelangte das tschechoslowakische Volk mit
Hilfe und Förderung des größten Teiles der Welt wieder in den Besitz
seiner PVeiheiten, Jetzt wurden sie ihm mit Gewalt wieder entrissen-
Im Lauf seiner langen Geschichte wird es nicht das erstemal sein, daß
dieses zähe, tapfere und arbeitsame Volk seine Unabhängigkeit ver-
loren hat. Aber es hat niemals das verloren, was die Grundlage für
Unabhängigkeit ist: die Freiheitsliebc.
Inzwischen wird die Welt, genau wie sie nach dem letzten Krieg
dem Aufstieg der tschechischen Nation zusah, heute ihre Bemühungen
verfolgen, sich ihr kulturelles Eigenleben und, was noch wichtiger ist,
ihre geistige Freiheit unter dem letzten und grausamsten Schlag,
dessen Opfer sie geworden ist, zu erhalten.
(E: Partiamentary Debates. House of Lords. Bd. 112, Sp* 310 ff — T»;
Eigene Tbersetiung.)
Unterhauserklärung des britischen Premierministers
Chamberlain vom 31. März 1939
* diesen Morgen erklärte, besitzt die britische Regierung
*i Bestätigung für die Gerüchte irgeudeines geplanten
m. Es darf daher nicht angenommen werden, daß die
lerüchte für wahr hält. Ich freue mich, diese Gelegen-
um erneut die allgemeine Politik der Regierung zu
83] Das Jahr 1939 191
erklären: Die britische Regierung hat sich ständig für Berichtigungen
eingesetzt, und zwar auf dem Wege freier Verhandlungen zwischen
den betroffenen Parteien, für jede Streitigkeit, die sich zwischen ihnen
ergeben mag. Sie hält dies für den natürlichen und angemessenen Weg
dort, wo Streitigkeiten vorhanden sind. Ihrer Ansicht nach sollte es
keine Frage geben, die nicht durch friedliche Mittel zu lösen wäre,
und sie würde daher keinerlei Rechtfertigung dafür finden, daß Gewalt
oder Drohung mit Gewalt an die Stelle der Methoden der Verhandlung
gesetzt werde.
Wie dem Hause bekannt ist, finden zur Zeit gewisse Konsulta-
tionen mit anderen Regierungen statt. Um die Haltung der britischen
Regierung in der Zwischenzeit völlig klarzustellen, bevor diese Kon-
sultationen abgeschlossen sind, fühle ich mich veranlaßt, dem Hause
mitzuteilen, daß während dieser Zeitdauer für den Fall irgendeiner
Aktion, die klarerweise die polnische Unabhängigkeit bedroht und die
die polnische Regierung daher für so lebenswichtig ansieht, daß sie
ihr mit ihren nationalen Streitkräften Widerstand leistet, die britische
Regierung sich verpflichtet fühlen würde, der polnischen Regierung
alle in ihrer Macht stehende Hilfe sofort zu gewähren.
Sie hat der polnischen Regierung eine derartige Zusicherung ge-
geben.
Ich kann hinzufügen, daß die französische Regierung mich autori-
siert hat, darzulegen, daß sie die gleiche Haltung in dieser Frage ein-
nimmt wie die britische Regierung.
(E: Parliamentary Debates. House of Commons. Bd. 345, Sp. 2421. — D:
Monatshefte für Ausw&rtige Politik, 1939, S. 456f.)
Die Hemmungslosigkeiiy mit der sich auch die oeranlworllichen
Männer der Londoner Regierung einer känsilich aufgepeitschten und
gänzlich unberechtigten Kriegspsychose hingaben, wird am besten durch
den peinlichen Zwischenfall gekennzeichnet, den der damalige Erste Lord
der Admiralität, Earl Stanhope, am 4. April 1939 durch unbegreiflich
unbedachisame Äußerungen verursachte.
Bericht des deatschen Geschäftsträgers in London 83.
vom 6. April 1939
Anläßlich einer Filmvorführung an Bord des britischen Flugzeug-
mutterschiffes „Ark Royal** am Abend des 4. April d. J. sagte der
Erste Lord der Admiralität, Earl Stanhope, auf eine Reihe leerer Sitze
hinweisend: „Kurz bevor ich die Admiralität verließ, war es nötig.
Befehle zu geben, die Luftabwehrgeschütze der Kriegsmarine zu be-
mannen, und dies erklärt die leeren Sitze.** Späterhin erklärte Lord
Stanhope einem Berichterstatter, daß die Flotte alle Vorkehrungen
treffe und stets bereit sei.
Auf Veranlassung der Admiralität wurde eine sogenannte „D**-
192 Deutschland - England [83
Notiz ausgegeben, die besagte, daß es nicht im internationalen Interesse
wäre, wenn die Rede Lord Stanhopes veröffentlicht würde. Die Rede
Lord Stanhopes wurde dann nur von einem Teil der Morgenpresse
in sensationeller Aufmachung gebracht. „Times" und „Daily Tele-
graph** enthielten sich jeder Bezugnahme.
Die Bemerkungen des Ersten Lords der Admiralität haben sowohl
im Unterhaus als auch in den Redaktionen starkes Aufsehen hervor-
gerufen. Lord Stanhope soll angeblich dem Premierminister seinen
Rücktritt angeboten haben, der jedoch nicht angenommen worden sei.
In der Unterhaussitzung vom 5. d. M. fragte daraufhin der Stell-
vertretende Führer der Opposition, Abgeordneter Greenwood, den
Premierminister, ob er eine Erklärung zu dem offiziellen Ersuchen der
Regierung abgeben könne, die Presse möge die von Lord Stanhope
in seiner Rede erwähnten Anweisungen der Admiralität nicht ver-
öffentlichen.
Der Premierminister wies darauf hin, daß die Rede anläßlich einer
Zusammenkunft wegen der Organisation von Filmvorführungen auf
Kriegsschiffen gehalten worden sei. Lord Stanhope habe unvorbereitet
(unpremeditated) gesprochen. Er habe darauf hingewiesen, daß die
Teilnehmer an der Veranstaltung nicht vollzählig wären, da eine Reihe
von ihnen an Bord ihrer eigenen Schiffe zurückgehalten worden seien.
Sie lägen in Bereitschaft, die Geschütze zu bemannen, was in Span-
nungszeiten eine Normalmaßnahmc sei. Die Admiralität habe keine
anderen Befehle ausgegeben, als daß diese Übung auch selbst bei einer
so besonderen Gelegenheit nicht geändert werden solle.
Der Premierminister fügte hinzu, daß er die Presse haben bitten
lassen, die Rede des Ersten Lords der Admiralität nicht zu veröffent-
lichen oder, wenn es geschehe, ihr keine besondere Bedeutung zuzu-
schreiben. Seine Bemühungen, dem Publikum eine unnütze Aufregung
zu ersparen, seien erfolglos gewesen. Doch habe der Vorfall die stete
Bereitschaft der Flotte bewiesen. Lord Stanhope habe ihm gegenüber
sein Bedauern zum Ausdruck gebracht, daß seine Worte, die sicherlich
nicht glücklich gewählt worden wären, so stark kommentiert worden
seien. Er, der Premierminister, glaube nicht, daß ein Vorfall dieser Art
die Eignung Lord Stanhopes als Leiter der Admiralität berühre.
Mit dieser Erklärung hat der Zwischenfall zunächst seine Erle-
digung gefunden.
Die Verordnung der Admiralität läßt sich nur mit der Unmenge
der hier kürzlich kursierenden Gerüchte und Sensationsmeldungen und
der hierdurch ausgelösten Übernervosität erklären. Erstaunlich ist
jedoch, daß solche Bemerkungen aus dem Munde des Ersten Lords
der Admiralität fallen können, fraglos eine „Gaffe** erster Güte. Es
ist nicht zum erstenmal, daß Stanhope durch Unbedachtsamkeit eine
unbequeme Sensation heraufbeschwört.
Die Linkspresse hat den Zwischenfall aufgegriffen, vor allem, um
gegen die Institution der sogenannten ,^D**-Notizen vorzugehen. Nach
vorherrschender Auffassung kann ein Schriftleiter, der eine solche
„D**-Notiz unbeachtet läßt, unter Umständen nach dem „Official
«41
Das Jahr 1939
193
Secrets Act" belangt werden. Nachdeni nunmehr die Admiralität eine
eigene Rede ilires Chefs» die dieser selber freigegeben hatte» unter-
drückt hat, wird in der Presse gefordert, daß „D'^-Notizen nicht mehr
als offizielle Verbote angesehen werden sollen.
Im Auftrag
von Selzam
(Dokumente zur Vorgeschichte dee Kriegt*«, Nr '2490
In zwei großen Reden antwortete der Fährer auf den engtischen
Siimmungsumschwung, Diese Beden sind ein deidticher Beweis der Tat-
sache^ daß er auch jetzt die Hoffnung auf eine endgültige deutsch-englische
Verständigung noch nicht aufgegeben hatte. Obgleich Deutschland durch
die politische Haliung Englands seit den März-Ereignissen genötigt war,
das deutsch-engtisi'he Fhfte nabkommen zu liündigen, weit seine Voraus-
setzung — daß nämlich Deulschlonfi und England nie wieder Krieg mit-
einander führen würden — erschüttert war, fand er gleichwohl Worte,
die von einem tiefen Verständnis der britischen Lebensnotwendigkeiten
zeugten und die noch immer versuchten, den historischen Liistungen des
britischen Imperiums und der Richtung der britischen Potitik einen
positiven Sinn abzugewinnen.
Aus der Rede des Führers vom 1. April 1939 in Wilhelmshaven 84,
Wir wissen heute aus den Akten der Geschiclite, wie die damalige
EinkreisungspoUtik pjanmäüig von England aus betrieben worden war.
Wir wissen aus zahlreichen Feststellungen und Publikationen, daß man
in diesem Lande die Auffassung vertrat, es sei notwendig, Deutschland
militärisch niederzuwerfen» weil seine Vernichtung jedem britischen
Bürger ein höheres Ausmaß von Lebensgütern sichern w^ürde. Gewiß,
Deutschland hat damals Fehler begangen. Sein schwerster Fehler war,
diese Einkreisung zu sehen und sieh ihrer nicht beizeilen zu erwehren.
Die einzige Schuld, die wir diesem damaligen Regime vorwerfen
können, ist die, daß es von dem teuflischen Plan eines Überfalls auf
das Reich volle Kenntnis hatte und doch nicht die Entschlußkraft
aufbrachte, diesen Überfall beizeiten abzuwehren, sondern diese Ein*
kreisung bis zum Anbruch der Katastrophe ausreifen Heß. Die Folge
war der Weltkrieg!,.,
Wenn heute ein englischer Staatsmann meint, man könne und
müsse alle Probleme durch freimütige Verhandlungen und Bespre-
chungen lösen, dann möchte ich diesem Staatsmann nur sagen: ,,Dazu
war vor unserer Zeit fünfzehn Jahre lang Gelegenheit!" Wenn die Welt
heute sagt, daß man die Völker teilen müsse in tugendhafte Nationen
und in solche, die nicht tugendhaft sind — und zu den tugendhaften
Nationen gehören in erster Linie die Engländer und die Franzosen
und zu den nicht tugendhaften gehören die Deutschen und Italiener — ,
dann können wir nur antworten: „Die Beurteilung, ob ein Volk tugend-
t)«ut<;chTAnd-Efigland 13
Jf4
Deutschlünd - England
[Ö5
haft oder nicht tugendhaft ist, die kann doch wohl ein Irdischer kaum
aussprechen, das müßte man dem lieben Gott überlassen!** Vielleicht
wird mir nun dieser selbe britische Staatsmann eDtgegoen: „Gott hat
das Urteil schon gesprochen, denn er hat den tugendhaften Niitionen
ein Viertel der Erde geschenkt und den nicht tugendhaften alles
geoooimen!" Darauf sei die Frage gestattet: ,,Mit welchen Mitteln
haben die tugendhaften Nationen sich dieses Viertel der Erde er-
worben?** und man muü antworten: ,,Es sind keine tugendhaften
Methoden gewesen!*' Dreihundert Jahre lang hat dieses England nur
als untugendhafte Nation gehandelt, um jetzt im Alter von Tugend
zu reden! So konnte es passieren, daß in dieser britischen tugeodlosen
Zeit 46 Millionen Engländer fast ein Viertel der Erde unterworfen
haben, während 80 Milltonen Deutsche infolge ihrer Tugendsamkeit
zu 140 auf einem Quadratkiiouieter leben müssen. Ja, vor zwanzig
Jahren, da war die Frage der Tugend für die britischen Staatsmänner
immer noch nicht ganz geklärt, insofern es sich um Eigentumsbegriffe
handelte. Damals hielt man es mil rler Tugend noch für vereinbarlich,
einem anderen Volk, das seine Kolonien nur durch Verträge odf r durch
Kauf erworben hatte, sie einfach wegzunehmen, weil man die Macht
hatte. . . Wenn heute ein britischer Staatsmann fordert, daß jedes
Problem, das inmitten der deutschen Lebensinieressen liegt, erst mit
England besprochen werden müßte, dann könnte ich genau so gut ver-
langen, daß jedes britische Problem erst mit uns zu besprechen sei.
Gewiß, diese Engländer mögen mir zur Antwort geben: ,,In Palä-
stina haben die Deutschen nichts zu suchen 1** — Wir wollen auch gar
nichts in Palästina suctien. Allein, sowenig wir Deutschen in PaJästina
etwas zu suchen haben, so wenig hat England in unserem deutschen
Lebensrauni etwas zu suchen I . . .
Ich habe einst ein Abkommen mit England abgeschlossen, das
Flottenabkommen. Es basiert auf dem heißen Wunsch, den wir alle
besitzen, nie in einen Krieg gegen England ziehen zu müssen. Dieser
Wunsch kann aber nur ein beiderseitiger sein. Wenn in England dieser
Wunsch nicht mehr besteht» dann ist die praktische Voraussetzung
für dieses Abkommen damit beseitigt. Deutschland würde auch das
ganz gelassen hinnehmen! Wir sind deshalb so selbstsicher, weil wir
stark sind, und wir sind so stark, weil wir so geschlossen sind und weil
wir außerdem sehend sind!
(DNB. vom I. Aprii iy39.)
8&.
Aus der Reicfastagsrede de» Führers vom 28. April 1939
Die Münchener Lösung konnte unter keinen Umständen als eine
endgültige gelten; denn sie hat ja selbst zugegeben, daß weitere Pro-
bleme noch der Lösung bedürften und gelöst werden sollten* Daß sich
nun die Betroffenen — und dies ist entscheidend — nicht an die vier
Mächte gewandt haben, sondern nur an Italien und Deutschland,
kann wirklich nicht uns vorgeworfen werden. Ebensowenig auch, daß
mi
Daa Jahr 1939
195
der Staat endlich als solcher von selbst zerfallen war und damit eine
Tschccho-Slowakei nicht mehr existierte. Daß aber, nachdem das
ethnographische Prinzip schon längst außer Kraft gesetzt worden i^ar,
nunmehr auch Deutschland seine immerhin tausendjährigen Interessen^
die nicht nur politischer, sondern auch wirtschaftlicher Art sind^ in
seine Obhut nahm, ist wohl selbstverständlich.
Ob die Lösung, die Deutschland gefunden hat, richtig oder nicht
richtig ist, wird die Zukunft erweisen. Sicher aber ist das eine, daß die
Lösung nicht einer englischen Kontrolle oder englischen Kritik unter-
steht* Denn die Länder Böhmen und Mähren haben als letztes Rest-
gebiet der ehemaligen Tschecho-Slowakei mit der Münchener Ab-
machung überhaupt nichts mehr zu tun. Sowenig, als etwa englische
Maßnahmen, sagen wir in Irland, mögen sie richtig oder falsch sein,
einer deutschen Konirolle oder Kritik unterstellt sind, so wenig ist
dies bei diesen alten deutschen Kurfürstentümern der Fall.
Wie man aber die in München zwischen Herrn Chamberlain
und mir persönlich getätigte Abmachung auf diesen Fall beziehen
kann, ist nnir gänzlich unverständlich; denn dieser Fall der Tschecho-
slowakei war ja in dem Münchener Protokoll der vier Mächte geregelt
worden, soweit er eben damals geregelt werden konnte* Darüber hinaus
war nur vorgesehen, daß, wenn die Beteiligten nicht zu einer Einigung
kommen würden, sie sich an die vier Mächte würden wenden können. Und
diese wollten dann nach drei Monaten zu einer weiteren Beratung
zusammentreten, ^
Nun haben aber diese Beteiligten sich überhaupt nicht mehr an
die vier Mächte gewandt, sondern nur an Deutschland und Italien,
Wie sehr diese dazu doch letzten Endes berechtigt waren, geht darauö
hervor, daß weder England noch Frankreich dagegen Einspruch er-
hoben haben, sondern den von DeuLschland und Italien gefällten
Schiedsspruch ohne weiteres auch selbst akzeptierten.
Nein, die Abmachung» die zwischen Herrn Chamberlain und mir
getroffen wurde, hat sich nicht auf dieses Problem bezogen, sondern
ausschlieOlich auf Fragen, die das Zusammenleben Englands und
Deutschlands betreffen. Das geht auch eindeutig hervor aus der Fest-
stellung, daß solche Fragen im Sinne des Münchener Abkommens und
des deutsch-englischen Flottenvertrages in Zukunft also freundschaft-
lich behandelt werden sollten, und zwar auf dem Wege der Konsui-
tierung.
Wenn sich aber dieses Abkommen auf jede künftige deutsche Be-
tätigung politischer Art bezogen haben würde, dann dürfte auch Eng-
land keinen Schritt mehr unternehmen, sei es zum Beispiel in Palästina
oder woanders, ohne sich mit Deutschland erst zu konsultieren. Es ist
selbstverständlich, daß wir dies nicht erwarten; ebenso aber lehnen
wir jede ähnliche Erwartung, die an uns gestellt wird, ab.
Wenn nun Herr Chamberlain daraus folgert, daß diese Münchener
Abmachung damit hinfällig sei, weil sie von uns gebrochen worden
wäre, so nehme ich nunmehr diese Auffassung zur Kenntnis und ziehe
daraus die Konsequenzen.
in*
196 Deutschland - England [85
Ich habe während meiner ganzen politischen Tätigkeit immer den
Gedanken der Herstellung einer engen deutsch-englischen Freundschaft
und Zusammenarbeit vertreten. Ich fand in meiner Bewegung unge-
zählte gleichgesinnte Menschen. Vielleicht schlössen sie sich mir auch
wegen dieser meiner Einstellung an. Dieser Wunsch nach einer deutsch-
englischen Freundschaft und Zusammenarbeit deckt sich nicht nur
mit meinen Gefühlen, die sich aus der Herkunft unserer beiden Völker
ergeben, sondern auch mit meiner Einsicht in die im Interesse der
ganzen Menschheit liegende Wichtigkeit der Existenz des britischen
Weltreiches.
Ich habe niemals einen Zweifel darüber gelassen, daO ich im Be-
stände dieses Reiches einen unschätzbaren Wertfaktor für die ganze
menschliche Kultur und Wirtschaft sehe.
Wie immer auch Großbritannien seine kolonialen Gebiete erworben
hat — ich weiß, es geschah dies alles durch Gewalt und sehr oft durch
brutalste Gewalt — , so bin ich mir doch darüber im klaren, daß kein
anderes Reich auf anderem Wege bisher entstanden ist, und daß letzten
Endes vor der Weltgeschichte weniger die Methode als der Erfolg
gewertet wird, und zwar nicht im Sinne des Erfolges der Methode son-
dern des allgemeinen Nutzens, der aus einer solchen Methode entsteht.
Das angelsächsische Volk hat nun ohne Zweifel eine unermeß-
liche kolonisatorische Arbeit auf dieser Welt vollbracht. Dieser Arbeit
gehört meine aufrichtige Bewunderung. Der Gedanke an eine Zer-
störung dieser Arbeit erschien und erscheint, mir von einem höheren
menschlichen Standpunkt aus nur als ein Ausfluß menschlichen Hero-
stratentums. Allein dieser mein aufrichtiger Respekt vor dieser Leistung
bedeutet nicht einen Verzicht auf die Sicherung des Lebens meines
eigenen Volkes.
Ich halte es für unmöglich, eine dauernde Freundschaft zwischen
dem deutschen und dem angelsächsischen Volk herzustellen, wenn nicht
auch auf der anderen Seite die Erkenntnis vorhanden ist, daß es nicht
nur britische, sondern auch deutsche Interessen gibt, daß nicht nur
die Erhaltung des britischen Weltreiches für die britischen Männer
Lebensinhalt und Lebenszweck ist, sondern für die deutschen Männer
die Freiheit und Erhaltung des Deutschen Reiches!
Eine wirkliche dauernde Freundschaft zwischen diesen beiden
Nationen ist nur denkbar unter der Voraussetzung der gegenseitigen
Respektierung. Das englische Volk beherrscht ein großes Weltreich.
Es hat dieses Weltreich gebildet in einer Zeit der Erschlaffung des
deutschen Volkes. Vordem war Deutschland ein großes Weltreich.
Es beherrschte einst das Abendland. In blutigen Kämpfen und religiösen
Streitigkeiten sowie aus den Gründen einer inneren staatlichen Auf-
splitterung ist dieses Reich an Macht und Größe gefallen und endlich
in tiefen Schlaf versunken.
Allein als dieses alte Reich sein Ende zu nehmen schien, da wuchs
bereits der Keim zu seiner Wiedergeburt. Aus Brandenburg und
Preußen entstand ein neues Deutschland, das Zweite Reich, und
aus ihm wurde nunmehr endlich das deutsche Volksreich. Es möchten
nun alle Engländer begreifen, daß vnr nicht ira geringsten das Gefühl
einer Inferiorität den Briten gegenüber besitzen. Dazu ist unsere ge-
schichtliche Vergangenheit zu gewaltig!
England hat der Welt viele große Männer geschenkt, Deutschland
nicht weniger. Der schwere Kampf um die Lebensbehauptung unseres
Volkes hat im Laufe von drei Jahrhunderten nur in der Verteidigung
des Reiches von uns ßlutopfer gefordert, die weit darüber hinaus-
gingen, was andere Völker für ihre Existenz zu bringen hatten. Wenn
Deutschland als ewig angegriffener Staat dabei trotzdem seinen Besitz-
Btand nicht zu wahren vermochte, sondern viele Provinzen opfern
mußte, dann nur infolge seiner staatlichen Fehlentwicklung und der
daraus bedingten Ohnmacht!
Dieser Zustand ist nun überwunden. Wir haben daher als Deutsche
nicht im geringsten die Empfindung, dem britischen Volk etwa unter-
legen zu sein. Die Achtung vor uns selbst ist genau so groß wie die eines
Engländers vor England. Die Geschichte unseres Volkes hat in ihrer
nunmehr fast zweitausendjährigcn Dauer Anlässe und Taten genug,
um uns mit einem aufrichtigen Stolz zu erfüllen.
Wenn nun England für diese unsere Einstellung kein Verständnis
aufbringt^ sondern in Deutschland glaubt vielleicht einen Vasallen-
staat erblicken zu können, dann ist allerdings unsere Liebe und unsere
Freundschaft an England umsonst dargeboten worden. Wir werden
deshalb nicht verzweifeln oder verzagen, sondern wir werden dann
— gestützt auf das Bewußtsein unserer eigenen Kraft und auf die Ivraft
unserer Freunde — die Wege finden, die unsere Unabhängigkeit solcher-
stellen und unserer Würde keinen Abbruch tun.
Ich habe die Erklärung des britischen Premierministers ver-
nomn»en, nach der er meint, in Versicherungen Deutschlands kein
Vertrauen setzen zu können. Ich halte unter diesen Umständen es
für selbstverständlich, daß wur weder ihm noch dem englischen Volk
weiterhin eine Lage zumuten wollen, die nur unter Vertrauen denk-
bar ist.
Als Deutschland nationalsozialistisch wurde und damit seine
Wiederauferstehung einleitete, habe ich im Verfolg meiner unent-
wegten Freundschaftspolitik England gegenüber von mir aus selbst
den Vorschlag einer freiwilligen Begrenzung der deutschen Seerüstung
gemacht.
Diese Begrenzung setzte allerdings eines voraus, nämlich den
Willen und die Überzeugung, daß zwischen England und Deutschland
niemals mehr ein Krieg möglich sein würde. Diesen Willen und die
Überzeugung besitze ich auch heute noch.
Ich muß aber nunmehr feststellen, daß die Politik Englands
inoffiziell und offiziell keinen Zweifel darüber läßt, daß man in London
diese Überzeugung nicht mehr teilt, sondern im Gegenteil der Meinung
ist, daß, ganz gleich, in welchen Konflikt Deutschland einmal verwickelt
werden würde, Großbritannien stets gegen Deutschland Stellung
nehmen müßte. Man sieht also dort den Krieg gegen Deutschland
als etwas Selbstverständliches an.
198 Deutschland - England f86
Ich bedaure dies tief; denn die einzige Forderung, die ich an Eng-
land stellte und immer stellen werde, ist die nach Rückgabe unserer
Kolonien. Ich ließ aber keine Unklarheit darüber, daß dies niemals
der Grund für eine kriegerische Auseinandersetzung sein würde. Ich
war immer des Glaubens, daß England, für das diese Kolonien keinen
Wert haben, einmal Verst&ndnis für die deutsche Lage aufbringen
würde und die deutsche Freundschaft dann höher bewerten müßte
als Objekte, die keinerlei realen Nutzen für England abwerfen, während
sie für Deutschland lebenswichtig sind.
Ich habe aber, davon abgesehen, nie eine Forderung gestellt, die
irgendwie britisches Interesse berührt haben würde, oder die dem Welt-
reich hätte gefährlich werden können und mithin für England irgend-
einen Schaden bedeutet haben könnte. Ich habe mich immer nur im
Rahmen jener Forderungen bewegt, die auf das engste mit dem deut-
schen Lebensraum und damit dem ewigen Besitz der deutschen Nation
zusammenhängen.
Wenn nun England heute in der Publizistik und offiziell die Auf-
fassung vertritt, daß man gegen Deutschland unter allen Umständen
auftreten müßte, und dies durch die uns bekannte Politik der Ein-
kreisung bestätigt, dann ist damit die Voraussetzung für den Flotten-
vertrag beseitigt. Ich habe mich daher entschlossen, dies der britischen
Regierung mit dem heutigen Tage mitzuteilen.
Es handelt sich dabei für uns nicht um eine materielle Angelegen-
heit — denn ich hoffe noch immer, daß wir ein Wettrüsten mit England
• vermeiden können — , sondern um einen Akt der Selbstachtung. Sollte
die Britische Regierung aber Wert darauf legen, mit Deutschland über
dieses Problem noch einmal in Verhandlungen einzutreten, dann würde
sich niemand glücklicher schätzen als ich, um vielleicht doch noch zu
einer klaren und eindeutigen Verständigung kommen zu können.
(Verhandlungen des Reichstags, Bd. 460, S. 30 ff.)
86. Memorandum der Reichsregierung an die britische Regierung
vom 28. April 1939 über die Kündigung des deutsch-englischen
Flottenabkommens
Als die Deutsche Regierung im Jahre 1935 der Königlich Bri-
tischen Regierung das Angebot machte, durch einen Vertrag die Stärke
der deutschen Flotte in ein bestimmtes Verhältnis zu der Stärke der
Seestreitkräfte des Britischen Reiches zu bringen, tat sie dies auf Grund
der festen Überzeugung, daß für alle Zeiten die Wiederkehr eines kriege-
rischen Konfliktes zwischen Deutschland und Großbritannien aus-
geschlossen sei.
Indem sie durch das Angebot des Verhältnisses 100:35 frei-
willig den Vorrang der britischen Seeinteressen anerkannte, glaubte
hne mit diesem in der Geschichte der Großmächte wohl einzig da-
stehenden Entschlüsse einen Schritt zu tun, der dazu führen würde,
für alle Zukunft ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden
86J Das Jahr 1939 199
Nationen zu begründen. Selbstverständlich setzte dieser Schritt
der Deutschen Regierung voraus, daß die Königlich-Britische Re-
gierung auch ihrerseits zu einer politischen Haltung entschlossen sei,
die eine freundschaftliche Gestaltung der deutsch-englischen Bezie-
hungen sicherstellte.
Auf dieser Grundlage und unter diesen Voraussetzungen ist das
deutsch-englische Flottenabkommen vom 18. Juni 1935 zustande
gekommen. Das ist von beiden Seiten beim Abschluß des Abkommens
tibereinstimmend zum Ausdruck gebracht worden. Ebenso haben
noch im vorigen Herbst, nach der Konferenz von München, der Deut-
sche Reichskanzler und der Britische Ministerpräsident in der von
ihnen unterzeichneten Erklärung feierlich bestätigt, daß sie das Ab-
kommen als symbolisch für den Wunsch beider Völker ansähen, nie-
mals wieder Krieg gegeneinander zu führen.
Die Deutsche Regierung hat an diesem Wunsche stets festgehalten
und ist auch heute noch von ihm erfüllt. Sie ist sich bewußt, in ihrer
Politik dementsprechend gehandelt und in keinem Falle in die Sphäre
englischer Interessen eingegriffen oder diese Interessen sonstwie be-
einträchtigt zu haben. Dagegen muß sie zu ihrem Bedauern feststellen,
daß sich die Königlich-Britische Regierung neuerdings von der Linie
einer entsprechenden Politik gegenüber Deutschland immer weiter
entfernt.
Wie die von ihr in den letzten Wochen bekanntgegebenen poli-
tischen Entschließungen und ebenso die von ihr veranlaßte deutsch-
feindliche Haltung der englischen Presse deutlich zeigen, ist für sie
jetzt die Auffassung maßgebend, daß England, gleichviel in welchem
Teil Europas Deutschland in kriegerische Konflikte verwickelt werden
könnte, stets gegen Deutschland Stellung nehmen müsse, und zwar
auch dann, wenn englische Interessen durch einen solchen Konflikt
überhaupt nicht berührt werden.
Die Königlich-Britische Regierung sieht mithin einen Krieg Eng-
lands gegen Deutschland nicht mehr als eine Unmöglichkeit, sondern
im Gegenteil als ein Hauptproblem der englischen Außenpolitik an.
Mit dieser Einkreisungspolitik hat die Königlich-Britische Re-
gierung einseitig dem Flottenabkommen vom 18. Juni 1935 die Grund-
lage entzogen und dadurch dieses Abkommen sowie die zu seiner Er-
gänzung vereinbarte „Erklärung" vom 17. Juli 1937 außer Kraft
gesetzt.
Das gleiche gilt auch für den Teil III des deutsch-englischen
Flottenabkommens vom 17. Juli 1937, in dem die Verpflichtung zu
einem zweiseitigen deutsch-englischen Nachrichtenaustausch fest-
gelegt worden ist. Die Durchführung dieser Verpflichtung setzt natur-
gemäß voraus, daß zwischen beiden Partnern ein offenes Vertrauens-
verhältnis besteht. Da die Deutsche Regierung ein solches Verhältnis
zu ihrem Bedauern nicht mehr als gegeben ansehen kann, muß sie
auch die Bestimmungen des erwähnten Teiles III als hinfällig ge-
worden bezeichnen.
Von diesen der Deutschen Regierung gegen ihren Willen auf-
200 Deutschland - England [87
gezwungenen Feststellungen bleiben die qualitativen Bestimmungen
des deutsch-englischen Abkommens vom 17. Juli 1937 unberührt.
Die Deutsche Regierung wird diese Bestimmungen auch in Zukunft
beachten und so ihren Teil dazu beitragen, daß ein allgemeiner un-
beschränkter Wettlauf in den Seerüstungen der Nationen vermieden wird.
Darüber hinaus wird die Deutsche Regierung, falls die Königlich-
Britische Regierung Wert darauf legt, mit Deutschland über die hier
in Betracht kommenden Probleme erneut in Verhandlungen einzutreten,
dazu gern bereit sein. Sie würde es begrüßen, wenn es sich dann als
möglich erwiese, auf sicherer Grundlage zu einer klaren und eindeutigen
Verständigung zu gelangen.
(Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges, Nr. 294.)
87 . Aus dem Memorandum der britischen Regierung an die Reichsregierung
vom 23. Juni 1939 zur Kündigung des Flottenabkommens
1. In ihrem Memorandum vom 28. April d. J. erklärt die Deutsche
Regierung, daß sie, als sie im Jahre 1935 das Angebot machte, sich
auf einen Prozentsatz der britischen Flottenstreitkräfte zu beschränken,
dies getan habe „auf Grund der festen Überzeugung, daß die Wieder-
kehr eines kriegerischen Konflikts zwischen Deutschland und Groß-
britannien für alle Zeiten ausgeschlossen sei**.
2. Die Deutsche Regierung rechtfertigt ihre Handlungsweise —
nämlich die Lösung des Englisch-Deutschen Flottenabkommens von
1935, der Ergänzenden Erklärung von 1937 und des Teiles III des
Flottenabkommens von 1937 — damit, daß das Verhalten der Regie-
rung Seiner Majestät im Vereinigten Königreich zeige, daß diese Re-
gierung jetzt der Ansicht sei, daß, ganz gleich in welchem Teil Europas
Deutschland in einen kriegerischen Konflikt verwickelt werden
würde, Großbritannien stets gegen Deutschland Stellung nehmen
müßte, selbst in Fällen, wo englische Interessen durch einen solchen
Konflikt nicht berührt wären.
3. Die Frage, ob die Haltung der Regierung Seiner Majestät über-
haupt in irgendeinem Fall eine Rechtfertigung dafür sein kann, daß
die Deutsche Regierung diese Verträge löst, ohne daß mindestens
vorher eine Konsultation zwischen den beiden Regierungen statt-
gefunden hätte, wird weiter unten behandelt. Es trifft nicht zu, daß,
ganz gleich in welchem Teil Europas Deutschland in einen kriegerischen
Konflikt verwickelt werden würde, Großbritannien stets gegen Deutsch-
land Stellung nehmen müßte. Großbritannien könnte nur dann gegen
Deutschland Stellung nehmen, wenn Deutschland eine Angriffshand-
lung (act of agression) gegen ein anderes Land begehen sollte; und die
politischen Entscheidungen, auf die die Deutsche Regierung in ihrem
Memorandum offenbar Bezug nimmt, und die Garantien Großbd-
tanniens an gewisse Länder zum Gegenstande haben, könnten sich
nur dann auswirken, wenn die betreffenden Länder von Deutschland
angegriffen werden sollten.
Das Jahr 1939
201
4. Dil" Deutsche Regierung nimmt in ihrem Memorandum das
Recht in Anspruch, die britische Politik als eine Politik der Einkrei-
sung zu bezeichnen. Diese Bezeichnung ist ohne jede Berechtigung
und offenbart ein Mißverslehen und eine Mißdeutung der britischen
Absichten, die richtiggestellt werden müssen*
5. Die Handlungsweise, mit der die Deutsche Regierung kürzlich
gewisse Gebiete dem Reiche einverleibte, hat, gleichviel was nach
Ansicht der Deutschen Regierung die Rechtfertigungsgründe dafür
gewesen sein mögen, zweifellos vielerorts zu einer stark zunehmenden
Beängstigung geführt. Die Schritte, die die Regierung des Vereinigten
Königreichs daraufbin getan hat, haben keinen anderen Zweck als
den, zur Beseitigung dieser Angst beizutragen, und zwar dadurch, daß
sie kleineren Nationen dazu verhÜft, sich im Genuß ihrer Unabhängig-
keit sicher zu fühlen, wozu sie das gleiche Recht haben wie Groß-
britannien oder Deutschland selbst. Die Bindungen, die Großbritan-
nien in dieser Absicht kürzlich eingegangen ist, sind begrenzt, und sie
können, wie bereits oben gesagt, nur dann wirksam werden, wenn die
betreffenden Länder Opfer eijies Angriffs würden.
6. Ebenso hat die Regierung Seiner Majestät auch weder die Ab-
sicht noch den Wunnch, der Entw'icklung des deutschen Handels
Schranken zu ziehen. Im Gegenteil, auf Grund des Englisch*Deutschen
Zahlungsabkommens ist Deutschland ein erheblicher Betrag von freien
Devisen zum Erwerb von Rohstoffen zur Verfügung gestellt worden
Dieses Abkommen ist für Deutschland so günstig wie nur irgendeins,
was je abgeschlossen worden ist, und Seiner Majestät Regierung
würde gern weitere Erörterungen über Maßnahmen zur Besserung der
wirtschaftlichen Lage Deutschlands in Aussicht nehmen, wenn nur
die wesentliche Vorbedingung sichergestellt werden könnte, nämlich
die Herstellung gegenseitigen Vertrauens und guten Willens, die die
notwendige Voraussetzung für ruhige, vorurteilslose Verhandlungen ist.
7. Der ständige Wunsch der Regierung Seiner Majestät war und
ist keineswegs die Betreibung eines Krieges mit Deutschland, sondern
die Herstellung englisch-deutscher Beziehungen auf der Grundlage
gegenseitiger Anerkennung der Notw^endigkeiten beider Länder bei
gleichzeitiger gebührender Rücksicht auf die Rechte anderer Na-
tionen.
8. Während aber Seiner Majestät Regierung aus diesen Gründen
nicht zugeben kann, daß in ihrer Politik oder Haltung irgendeine
Änderung eingetreten wäre, die den kürzlichen Schritt der Deutschen
Regierung rechtfertigte, muß sie hinzufügen, daß ihrer Ansicht nach
der Hauptzweck des Englisch- Deutschen Flottenabkommens darin
bestand, in die Lage zur See eine gewisse Stabilität zu bringen und ein
unnötiges Wettrüsten zu vermeiden.
9. Aus diesem Grunde sahen die Abkommen keine einseitige Kündi-
gung auf Betreiben nur einer der Parteien vor, sondern nahmen eine
Lösung oder Abänderung nur durch gegenseitige Konsultation in
Aussicht — und Seiner Majestät Regierung bedauert, daß die Deutsche
Regierung sich nicht in der Lage gesehen hat, dieses Verfahren auch
im vorliegenden Fall einzuschlagen. Denn in dem Abkommen von
1935 war ausdrücklich gesagt» daß es ein dauerndes sein sollte, und
Seiner Majestät Regierung möchte die Aufmerksamkeit der Deut-
schen Regierung auf den Wortlaut des Notenwechsels vom 18. Juni
1935 hinlenken» der das Englisch-Deutsche Flottenabkommen von
jenem Jahre enthält und aus dem sowohl der Charakter des Abkom-
mens wie die Umstände, die für seine Abänderung in Aussicht genom-
men waren, völlig klar hervorgehen.
23. Im letzten Absatz ihres Memorandums erklärt die Deutsche
Regierung^ daß sie bereit ist, in Verhandlungen über zukünftige
Fragen einzutreten» wenn Seiner Majestät Regierung es wünscht. Wie
oben gesagt, ergibt sich aus der deutschen Handlungsweise der letzten
Zeit eine Lage, die in mancher Hinsicht ungewiß ist, und ein Meinungs-
austausch würde dazu beitragen, sie zu klären...
24. Wenn jedoch die Deutsche Regierung an Verhandlungen über
ein anderes Abkommen denkt, das an die Stelle der jetzt von ihr ge-
lösten Vereinbarungen treten soll, so würde Seiner Majestät Regierung
gern Angaben über den Umfang und Zweck haben, den die Deutsche
Regierung für ein solches Abkommen angemessen finden w^ürde»
25. Insbesondere wünscht Seiner Majestät Regierung zu wissen,
erstens, wann nach deutscher Ansicht die Erörterungen für den Ab-
schluß eines solchen Abkommens stattfinden sollten. Zweitens wünscht
Seiner Majestät Regierung zu wissen, was die Deutsche Regierung
vorschlagen würde, um sicherzystellen, daß etwaige Schritte im Sinne
einer Kündigung oder Änderung des neuen Abkommens während
seiner Gültigkeitsdauer die Zustimmung beider Parteien hätten,
(E: Cnul. 6106. No. 24. — D: DNB. vom 29. Juni 1939.)
Die briUsche Regierung ließ sich indessen durch die Warnung und
das gleichzeilifje Enigegenkommen des Führers in der Weilerverfolgung
ihrer EinkretsungspolHik nicht beirren. Die üeraniworilichen Leüer der
britischen Außenpolitik, insbesondere der Außenminister Lord Halifax^
beslritten nicht, daß England eine Mächtegruppierung zu organisieren
suche ^ dit^ dazu dienen sollte, einen machlmäßigen Druck auf Deuhchtand
auszuüben. Dem Vorwurf der EinkreisungspotHik wußte er nur mit dem
sinnlosen und nickissagenden Argumeni zu begegnen, daß Deutschland
an dieser Einkreisung selbst schuld sei,
88. Instruktion des britischen Außenministers Lord Halifax an den
Botschafter Sir Nevile Henderson vom 16. Juni 1939
Der deutsche Botschafter sprach heute morgen im Auswärtigen
Amt vor, um ein technisches Abkommen ohne groOe Bedeutung
zwischen den beiden Regierungen zu unterzeichnen, und ich hatte da-
nacli mit ihm eine Unterredung von wenigen Augenhl icke n. Diese
folgte zum Teil der gewohnten Linie, indem er seinerseits die Wirkung
darlegle, die in Deutschland durch die Einkreisung hervorgerufen
89] Das Jahr 1939 203
werde. Der Botschafter äußerte die Ansicht, daß ebenso wie der alte
Ausdruck „The Fleet in being" einen Druck, auch ein offenes Vor-
gehen, andeutete, jetzt die von uns organisierte Umgruppierung der
Mächte tatsächlich dazu bestimmt sei, einen Zwang auf Deutschland
auszuüben, und dies sei es, was man verüble. Seine Exzellenz sagte
und machte späterhin in unserm Gespräch die gleiche Bemerkung,
daß viel von dem gegenwärtigen Empfinden auf die ganze Erörterung
über unsere Anti-Aggressions- Verhandlungen mit Rußland zurück-
zuführen sei. Seines Erachtens würde es die Lage erleichtem, wenn die
Verhandlungen einmal so oder so erledigt wären. Ich dachte, diese
Bemerkung sei vielleicht nicht ohne Bedeutung.
2. Ich erwiderte, wenn jemand Deutschland einkreise, so tue es
das selber durch die Politik, die es beharrlich verfolge. Wie immer
man über die jetzt von unserm Land betriebene Politik denken möge,
es erscheine uns ganz klar, daß der deutsche Kanzler das Porzellan
in Europa zerbrochen habe, und daß nur er es auch wieder zusammen-
flicken könne. Wir hätten uns unserseits wiederholt bemüht, den Weg
für eine Entspannung und eine Besserung der Beziehungen zu öffnen,
dies habe aber bisher von Herrn Hitler keinerlei Erwiderung aus-
gelöst.
3. Ich sagte Herrn von Dirksen, ich hoffte, er werde es mich wissen
lassen, wenn er mir irgendwann einmal etwas, das er für wichtig halte,
mitzuteilen wünsche, und er drückte in Erwiderung hierauf einen ähn-
lichen Wunsch aus, ich möchte nicht zögern, ihn jederzeit herzubitten.
Halifax
(E: Cmd. 6106. No. 23. — D: Eigene Obersetzung.)
Aus dem Vortrag des britisdien Außenministers Lord Halifax 89.
vom 29. Juni 1939 vor dem Royal Institute of International
Affairs im Chatham House
Unser erster Entschluß ist, der Aggression Einhalt zu gebieten.
Ich brauche nicht die Aggressionshandlungen wieder aufzuzählen, die
stattgefunden haben, oder die Wirkung, die sie auf das allgemeine
Vertrauen ausübten, das Nationen in Worte und feierliche Versprechen
zu setzen vermögen. Aus diesem Grund, und aus diesem Grund allein,
haben wir uns mit anderen Nationen vereinigt, um einer gemeinsamen
Gefahr zu begegnen. Wir alle kennen diese Vereinbarungen, und die
Welt weiß, daß sie keinen anderen Zweck haben als Verteidigung. Sie
bedeuten das, was sie ausdrücken — nichts mehr und nichts weniger.
Aber man hat sie gebrandmarkt, als zielten sie auf die Isolierung —
oder, wie man es nennt, die Einkreisung — Deutschlands und Italiens
hin, und als seien sie darauf berechnet, zu verhindern, daß sie sich den
für ihre nationale Existenz notwendigen Lebensraum schaffen. Ich
werde mich mit diesen Anschuldigungen heute abend befassen, und
ich gedenke es mit vollendetem Freimut zu tun.
204 DeuUchland - England \Bi^
Man sagt uns, unsere Beweggründe seien, Deutschland in einem
Ring feindseliger Staaten zu isolieren, seine natürlichen Ausmündungen
zu verstopfen, die ganze Existenz einer großen Nation einzuengen
und zu erdrosseln. Wie verhält es sich damit? Die Tatsachen sind
sehr einfach, und jeder kennt sie. Deutschland isoliert sich selbst und
tut es höchst erfolgreich und vollständig. Es isoliert sich von andern
Ländern wirtschaftlich durch seine Politik der Autarkie, politisch
durch eine Politik, die andern Nationen dauernd Sorge bereitet, und
kulturell durch seine Rassenpolitik. Wenn man sich vorsätzlich durch
eigene Handlungen von andern isoliert, so kann man niemand als
sich selbst die Schuld daran beimessen, und solange diese Isolierung
weitergeht, müssen sich die unausbleiblichen Folgen verstärken und deut-
licher abzeichnen. Das letzte, was wir wünschen, ist, den einzelnen
Deutschen, Mann oder Frau oder Kind, Entbehrungen leiden zu sehen;
doch wenn dies geschieht, liegt die Schuld daran nicht bei uns, und es
hängt von Deutschland, und bloß von Deutschland, ab, ob dieser
Prozeß der Isolierung weitergeht oder nicht, denn er läßt sich jeden
Tag durch eine Politik der Zusammenarbeit beenden. Es ist angebracht,
dies klar auszusprechen, damit hier oder anderwärts kein Mißverständ-
nis bestehe.
Ich komme jetzt zum Lebensraum. Dies Wort . . . bedarf einer
fairen und sorgfältigen Prüfung. Natürlich sieht sich jede entwickelte
Gemeinschaft dem vitalen Problem des Lebensraums gegenüber.
Das Problem wird indes nicht einfach dadurch gelöst, daß man mehr
Gebiet erwirbt. Ja, das wird das Problem vielleicht nur verschärfen.
Es kann bloß dadurch gelöst werden, daß man die heimischen Ange-
legenheiten eines Landes weise ordnet und die Beziehungen zu andern
Ländern draußen anpaßt und verbessert. Nationen breiten dadurch
ihren Reichtum aus und heben den Lebensstandard ihres Volks, daß
sie das Vertrauen ihrer Nachbarn gewinnen und damit den Waren-
verkehr unter sich erleichtern. Das genaue Gegenteil ist die wahr-
scheinliche Folge, wenn eine Nation die unabhängige Existenz ihrer
kleineren schwachen Nachbarn unterdrückt. Und falls Lebensraum
in diesem Sinn angewendet werden soll, verwerfen wir ihn und müssen
uns seiner Anwendung widersetzen. Es ist bemerkenswert, daß dieser
Anspruch auf Lebensraum in einem Augenblick vorgebracht wird, da
Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist, das Arbeiter in
großer Zahl aus der Tschecho-SIowakei, aus Holland und Italien ein-
führt, um den Bedürfnissen seiner Industrie und Landwirtschaft zu
genügen. Wie kann Deutschland da geltend machen, daß es über-
völkert sei? Belgien und Holland und in geringerem Grad unsere
eigenen Inseln haben bereits bewiesen, daß eine sogenannte Über-
völkerung durch produktive Arbeit verhütet werden kann. Die weiten
Räume und natürlichen Hilfsquellen des Britischen Reichs und der
Vereinigten Staaten von Amerika vermochten sie nicht vor weitver-
breiteter Not während des großen Niedergangs von 1929 — 1932 zu
bewahren. Die Welt ist wirtschaftlich viel zu eng verflochten, als daß
ein Land hoffen könnte, auf Kosten seiner Nachbarn zu profitieren,
W]
Das Jahr 1939
205
und weniger als jedes andre Land kann Deutschland hoffen, seine
wirtschaftlichen Probfeme in Isolierung zu lösen. Wir können ohne
Zweifel gegenwärtig nicht den Tag voraussehen, an dem der Handel
iiberall frei sein wird. Aber es i?t» bei gegebener Gelegenheit, möglich,
Abmachungen zu treffen, die den Bereich der Freiheit stark erweitern
würden. Durch Zu^animenarbeit — und wir für unser Teil sind bereit,
zusammenzuarbeiten — gibt es reichlich Spielraum, um auf alle
Nationen die Gelegenheit umfassenderen wirtschaftlichen Lebens aus-
zudehnen mit allem, was in dem Ausdruck », Lebensraum** inbegriffen
liegt,
(E: Cmd, 610t>. No» 25. — D: Eij^ene Übersetzung.)
Jn Weilerverfolgung ihrer Einkrelsungspolilik suchte die britische
fiegierung in den folgenden Monaten der sich immer mehr zuspitzenden
Krise den Polen den Rücken zu stärken, wo sie nur Gelegenheit hotte.
Sie identifizierte sieh mit den polnischen Übergriffen und Heß sich
wider besseres Wissen sogar zu einer V erteidigung der unhaltbaren Lage
Danzigs nach dem Versailler Diktat herbei.
Unterhauserklärung des brttisciien Premierministers Chamberlain 90.
über Danzig vom 10. Juli 1939
tch habe schon früher festgestellt, daß die Regierung Seiner
Majestät mit der polnischen und der französischen Regierung hin-
sichtlich der Danziger Frage in enger F'ühlungnahme steht. Ich habe
den Informationen, die dem Haus bereits über die dortige Lage gegeben
worden sind, gegenwärtig nichts hinzuzufügen* Aber es ist vielleicht
von Nutzen^ wenn ich die einzelnen Teile dieser Frage, so wie sie sich
der Regierung Seiner Majestät darstellen, noch einmal bespreche.
Volksmäßig ist Danzig fast völlig eine deutsche Stadt; aber der
Wohlstand seiner Bewohner hängt in sehr hohem Maße vom polnischen
Handel ab. Die Weichsel ist der einzige Wasserweg, der Polen mit der
Ostsee verbindet, und der Hafen an seiner Mündung hat natürlich für
Polen eine lebenswichtige strategische und wirtschaftliche Bedeutung.
Eine andere Macht, die sich in Danzig festsetzt, könnte» wenn sie
wollte, Polens Zugang zur See sperren und auf diese Weise einen wirt-
schaftlichen und militärischen Druck auf Pulen ausüben. Die für die
Ausarbeitung des heutigen Status der Freien Stadt VerantworUichen
waren sich dieser Tatsache durchaus bewußt und taten ihr Bestes, um
entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Überdies kann von einer Be-
drückung der deutschen Bevölkerung Danzigs keine Rede sein. Die
Verwaltung der Freien Stadt liegt, im Gegenteil in deutschen Händen,
und die einzigen ihr auferlegten Beschräukungen sind nicht so geartet,
daß sie die Freiheit ihrer Bürger beschneiden. Obwohl die heutige Re-
gelung einer Verbesserung zugänglich sein mag, kann sie doch an sich
nicht als ungerecht oder unlogisch angeschen werden. Die Aufrecht-
erhaltung des Status quo ist in der Tat vom Deutschen Reichskanzler
1^ m
206
Deutschland " England
[90
selbst bis 1944 durch den zehnjährigeo Vertrag, den er mit MarschaU
Pitsudski abgeschlossen hat, garantiert worden.
Bis zum letzten März schien Deutschland der Ansicht zu sein, dal),
obschon die Stellung Danzigs letztlich vielleicht einmal revidiert wer-
den müsse, diese Frage weder dringend sei noch geeigneti um zu einem
ernsthaften Kontlikt zu führen. Aber als dann die deutsche Regierung
im März ein Angebot in Form gewisser Wünsche machte, das von einer
Pressekampagne begleitet wurde, erkannte die polnische Regierung,
daß sie sich unter Umständen schon sehr schnell einer einseitigen Lö-
sung gegen üb ersehen könnte, der sie sich mit allen Machtmitteln zu
widersetzen haben würde, Sie hatte die Ereignisse in Österreich, iaj
der Tschechoslowakei und im Memelland vor Augen. Demzofolge«
lehnte sie es ab, den deutschen Standpunkt anzunehmen und machte
ihrersi.'its A^'orschläge für eine mögliche Lösung der Probleme, an denen
Deutschland interessiert war. Am 23. März ordnete Polen gewisse De-
fensivmaßnahmen an, und am 26. März schickte es seine Antwort nach]
Berlin. Ich bitte das Haus, sich diese Daten sorgfältig zu merken,^
Es ist in Deutschland freimütig erklärt worden, daß es die britische
Garantie war, die die polnische Regierung dazu ermutigt hat, die
oben beschriebene Aktion zu iinternehmen. Es muß aber festgestellt
werden, daß unsere Garantie erst am 31. März gegeben wurde: am
26. März war darüber der polnischen Regierung gegenüber noclr nicht
einmal Erwähnung getan worden.
Kürzliche Vorfälle in Danzig haben unvermeidlieherweise Be-
fürchtungen aufkommf*n lassen, daß beabsichtigt wird, den künftigen
Status der Freien Stadt durch einseitiges Vorgehen, das durch heim-
liche Methoden organisiert würde, zu regeln und so Polen und die
anderen Mächte vor ein fait accompli zu stellen* unter diesen Um-
ständen würde, gibt man zu verstehen, jede Maßnahme, die Polen zur
WiederhersteHung der Sachlage ergreift, als eine von ihm unter-
nommene Angijiffshandlung hingestellt werden, und wenn seine Aktioa,
durch andere Mächte unterstützt würde, dann würden diese ihrerseit
bezichtigt werden» Polen bei der Gewaltanwendung zu helfen und '
Vorschub zu leisten.
Wenn sich die Ereignisse in der Tat so abspielen sollte», wie es
diese Hypothese vorsieht, werden sich die ehrenwerten Herren auf
Grund dessen, was ich früher sagte, darüber kiar sein, daß der Fall
nicht als rein lokale Angelegenheit angesehen werden kann, die mir
die Rechte und Freiheiten der Danziger betrifft, die, nebenbei gesagt,
in keiner Weise bedroht sind; sie würde vielmehr sofort ernstere, die
nationale Existenz und Unabhängigkeit Polens berührende Fragen auf-
werfen. Wir haben garantiert, Polen für den Fall einer klaren Bedro-
hung seiner Unabhängigkeit beizustehen, die ihm einen Widerstand
mit seinen nationalen Streitkräften lebenswichtig erscheinen ließe,
und wir sind fest entschlossen, dieses Versprechen zur Ausführung zu
bringen.
Ich habe bereits gesagt, daß die heutige Regelung weder grund-
sätzlich ungerecht noch unlogisch ist; sie mag Verbesserungen zu-
90] Das Jahr 1939 207
gänglich sein. Über die möglichen Verbesserungen könnte man viel-
leicht in einer klareren Atmosphäre verhandeln. Oberst Beck hat denn
auch selbst in seiner Rede vom 5. Mai gesagt, daß alle Besprechungen
möglich seien, wenn die deutsche Regierung sich an zwei Bedingungen
halte, nämlich an friedliche Absichten und Methoden des Vorgehens.
Der Deutsche Reichskanzler hat in seiner Reichstagsrede vom 28. April
gesagt, daß, wenn die polnische Regierung zu einer neuen vertrag-
lichen Regelung der Beziehungen zu Deutschland kommen wolle, er
dies nur begrüßen würde. Er fügte hinzu, daß eine solche Regelung
dann auf einer ganz klaren und beide Teile gleichmäßig bindenden
Verpflichtung beruhen müßte.
Die Regierung Seiner Majestät ist sich darüber klar, daß die
jüngsten Ereignisse in der Freien Stadt das Vertrauen gestört und es
für den Augenblick schwer gemacht haben, eine Atmosphäre zu fin-
den, in der vernünftige Ratschläge die Oberhand gewinnen können.
Angesichts dieser Lage ist die polnische Regierung ruhig geblieben,
und die Regierung Seiner Majestät hofft, daß die Freie Stadt mit
ihren alten Überlieferungen wieder einmal, wie schon früher in ihrer
Geschichte, beweisen wird, daß verschiedene Nationalitäten zusammen-
arbeiten können, wenn ihre wirklichen Interessen zusammenfallen.
Inzwischen verlasse ich mich darauf, daß alle Beteiligten ihre Ent-
schlossenheit erklären und zeigen werden, keinerlei Zwischenfälle im
Zusammenhang mit Danzig einen derartigen Charakter annehmen zu
lassen, daß eine Bedrohung des Friedens von Europa daraus er-
wachsen könnte. -
(E: Parliamentary Debates. House of Commons. Bd. 349, Sp. 1791 ff.) — D:
MonaUbefte für Auswärtige Politik, 1939. S. 818 ff.)
Nachdem die deutsch-polnischen Beziehungen durch den Noten-
wechsel zwischen Warschau und Danzig einerseits und Berlin und War-
schau andererseits in der Zeit vom S. bis 10, August 1939 (vgl. Deutsches
Weißbuch: ^^Urkunden zur letzten Phase der deutsch- polnischen Krise*',
Nr. 1 — 5) zunehmend gespannter geworden waren, war der britische
Botschafter in Berlin, Sir Nevite Henderson, am 18. August zu der
Überzeugung gekommen, daß man die Dinge nicht mehr treiben lassen
könne. In dem Telegramm an den britischen Außenminister wiederholte
er daher seine schon bei früherer Gelegenheit vorgebrachte Anregung, daß
der Premierninister ein persönliches Schreiben an den Führer richten
und durch einen besonderen Boten übermitteln solle (vgl. britisches Weiß-
buch: Germany No. 1 [1939J Final Report by the Right Honourable
Sir Nevite Henderson G.G. M. G on the circumstances leading to the Ter-
mination of his Mission to Berlin, September 20, 1939, Cmd. 6115.
Nr. 23).
Infolge dieser Anregung kam es zu dem Briefwechsel zwischen Cham-
berlain und dem Führer vom 22.123. August 1939, in dem der Führer
wiederum die jahrelangen vergeblichen deutschen Bemühungen um die
englische Freundschaft betonte.
2()8 Deutschland - England [91
91 . Sdixeiben des britisdien Premierministen an den Führer
vom 22. August 1939
Kuos Exzellenz!
Euer Exzellenz werden bereits von gewissen Maßnahmen Kennt-
nin erhalten haben, die von Seiner Majestät Regierung getroffen
und heute abend in der Presse und im Rundfunk bekanntgegeben
wurden.
Diese Maßnahmen sind nach Ansicht Seiner Majestät Regierung
notwendig geworden durch Truppenbewegungen, über die aus Deutsch-
land berichtet worden ist und durch die Tatsache, daß anscheinend
die Ankündigung eines deutsch-sowjetischen Abkommens in gewissen
Kreisen in Berlin als Anzeichen dafür aufgefaßt wird, daß eine Inter-
vention seitens Großbritanniens zugunsten Polens nicht mehr eine
I^ventualität darstellt, mit der zu rechnen notwendig ist. Kein größerer
Fehler könnte begangen werden. Welcherart auch immer das deutsch-
sowjetische Abkommen sein wird, so kann es nicht Großbritanniens
Verpflichtung gegenüber Polen ändern, wie Seiner Majestät Regierung
wiederholt öffentlich und klar dargelegt hat und diese entschlossen
ist, zu erfüllen. Es ist behauptet worden, daß, wenn Seiner Majestät
Regierung ihren Standpunkt im Jahre 1914 klarer dargelegt hätte,
jene große Katastrophe vermieden worden wäre. Unabhängig davon,
ob dieser Behauptung Bedeutung beizulegen ist oder nicht, ist Seiner
Majestät Regierung entschlossen, dafür zu sorgen, daß im vorliegenden
Falle kein solch tragisches Mißverständnis entsteht.
Nötigenfalls ist Seiner Majestät Regierung entschlossen und
bereit, alle ihr zur Verfügung stehenden Kräfte unverzüglich einzu-
setzen, und es ist unmöglich, das Ende einmal begonnener Feindselig-
keiten abzusehen. Es würde eine gefährliche Täuschung sein zu
glauben, daß ein einmal begonnener Krieg frühzeitig enden würde,
selbst wenn ein Erfolg auf einer der verschiedenen Fronten, an denen
er gi»führt werden wird, erzielt worden sein sollte.
Nachdem unser Standpunkt auf diese Weise vollkommen klar
dar«rt*legt ist, möchte ich Euer Exzellenz wiederholt meine Über-
zeugung dahingehend zum Ausdruck bringen, daß Krieg zwischen
unseren beiden Völkern die größte Katastrophe darstellen würde, die
überhaupt eintreten könnte, loh bin überzeugt, daß weder unser Volk
noch das Ihrige einen Krieg wünscht, und ich kann nicht ersehen,
daß die zwischen Deutschland und Polen schwebenden Fragen irgend
etwas enthalten, das nicht ohne Gewalt gelöst werden könnte und
sollte, wenn nur ein Zustand des Vertrauens wiederhergestellt werden
könnte, der es ermöglichen würde, Verhandlungen zu einer besseren
als der heute In^stehenden Atmosphäre zu führen.
Wir sind immer bereit gewesen und werden es auch stets sein, zu
der Schaffung von Bedingungen beizutragen, in denen solche Ver-
handlungen stattfinden könnten, und in denen es möglich sein \^-ürde.
^hzeitig jene größeren, zukünftige internationale Beziehungen be-
92] Daa Jahr 1939 ^
rührenden Probleme zu erörtern, einschließlich die uns und Euer
Exzellenz interessierenden Angelegenheiten.
In dem heute bestehenden Spannungszustande nehmen jedoch die
Schwierigkeiten zu, die friedlichen Verhandlungen im Wege stehen,
und je länger diese Spannung aufrechterhalten wird, desto schwerer
wird sich die Vernunft durchzusetzen vermögen. Diese Schwierigkeiten
könnten jedoch gemildert, wenn nicht beseitigt werden, wenn über
einen anfänglichen Zeitraum auf beiden Seiten — und überhaupt auf
allen Seiten — eine Pause eingehalten werden könnte, in der Presse-
polemik und jedwede Aufreizung einzustellen sei.
Wenn eine solche Pause herbeigeführt werden könnte, dann dürfte
Grund zu der Hoffnung bestehen, daß, nach Ablauf dieses Zeitraumes,
in dem Schritte unternommen werden könnten, um die von beiden
Seiten erhobenen Beschwerden bezüglich der Behandlung von Minder-
heiten zu untersuchen und in Angriff zu nehmen, geeignete Bedin-
gungen geschaffen sein würden für die Aufnahme von direkten Ver-
handlungen zwischen Deutschland und Polen über die zwischen ihnen
bestehenden Fragen (unter Mitwirkung eines neutralen Vermittlers,
sollten beide Parteien dies für zweckmäßig erachten).
Ich fühle mich jedoch verpflichtet zu sagen, daß nur eine geringe
Hoffnung bestehen würde, solche Verhandlungen zu einem erfolg-
reichen Abschluß zu bringen, wenn es nicht von Anfang an feststünde,
daß ein zu erreichendes Abkommen bei seinem Abschluß von anderen
Mächten garantiert werden würde. Seiner Majestät Regierung würde
bereit sein, wenn der Wunsch dazu ausgesprochen werden sollte, zu
der wirksamen Durchführung solcher Garantien nach ihrem Vermögen
beizutragen.
In diesem Augenblick gestehe ich, daß ich keinen anderen Weg
sehe, eine Katastrophe zu vermeiden, die Europa in den Krieg führen
wird.
Im Hinblick auf die schweren Folgen für die Menschheit, die aus
einer Handlung ihrer Herrscher entstehen können, vertraue ich darauf,
daß Euer Exzellenz mit tiefster Überlegung die Ihnen von mir dar-
gelegten Gesichtspunkte abwägen werden.
Neville Chamberlain
(E: Cmd. 6106. No. 56. — D: Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges,
Nr. 454.)
Antwortschreiben des Führers an den britisdien Premierminister 92.
vom 23. August 1939
Euer Exzellenz!
Der Königlich-Britische Botschafter hat mir soeben ein Schreiben
überreicht, in dem Eure Exzellenz namens der Britischen Regierung
auf eine Reihe von Punkten hinweisen, die Ihrer Auffassung nach
von größter Wichtigkeit seien.
Ich darf dieses Ihr Schreiben wie folgt beantworten:
Deutschland-England 14
210 Deutschland - England [92
1. Deutschland hat niemals Konflikte mit England gesucht und
sich nie in englische Interessen eingemischt. Es hat sich im Gegenteil
— wenn auch leider vergebens — jahrelang bemüht, die englische
Freundschaft zu erwerben. Es hat aus diesem Grunde freiwillige Be-
grenzungen seiner eigenen Interessen in einem großen Gebiet Europas vor-
genommen, die ansonst nationalpolitisch nur sehr schwer tragbar wären.
2. Das Deutsche Reich besitzt aber — wie jeder andere Staat —
bestimmte Interessen, auf die Verzicht zu leisten unmöglich ist. Sie
liegen nicht außerhalb des Rahmens der durch die frühere deutsche
Geschichte gegebenen und durch wirtschaftliche Lebensvoraussetzungen
bedingten Notwendigkeiten. Einige dieser Fragen besaßen und besitzen
zugleich eine nationalpolitisch und psychologisch für jede Deutsche
Regierung zwingende Bedeutung.
Zu ihnen gehören die deutsche Stadt Danzig und das damit im
Zusammenhang stehende Problem des Korridors. Zahlreiche Staats-
männer, Geschichtsforscher und Literaten, auch in England, waren sich
wenigstens noch vor wenigen Jahren dessen bewußt. Hinzufügen möchte
ich noch, daß alle diese Gebiete, die in der vorher erwähnten deutschen
Interessensphäre liegen, und insbesondere die seit achtzehn Monaten
zum Reich zurückgekehrten Länder ihre kulturelle Erschließung nicht
durch Engländer, sondern ausschließlich durch Deutsche erhalten
haben, und zwar zum Teil schon in und seit einer Zeit, die über tausend
Jahre zurückliegt.
3. Deutschland war bereit, die Frage Danzig und die des Korridors
durch einen wahrhaft einmalig großzügigen Vorschlag auf dem Wege
von Verhandlungen zu lösen. Die von England ausgestreuten Behaup-
tungen über eine deutsche Mobilmachung gegenüber Polen, die Be-
hauptung von Aggressionsbestrebungen gegenüber Rumänien, Ungarn
usw. sowie die später abgegebenen sogenannten Garantieerklärungen
hatten die Geneigtheit der Polen zu Verhandlungen auf einer solchen
auch für Deutschland tragbaren Basis beseitigt.
4. Die von England Polen gegebene Generalzusicherung, ihm unter
allen Umständen beizustehen, ganz gleich, aus welchen Ursachen ein
Konflikt entstehen könnte, konnte in diesem Lande nur als eine Er-
munterung aufgefaßt werden, nunmehr — gedeckt durch einen solchen
Freibrief — eine Welle furchtbaren Terrors gegen die 1% Millionen
zählende deutsche Bevölkerung, die in Polen lebt, anlaufen zu lassen.
Die Greuel, die seitdem dort stattfinden, sind für die Betroffenen
entsetzlich, für das dabei zusehen sollende Deutsche Reich unerträg-
lich. Der Freien Stadt Danzig gegenüber hat Polen zahlreiche Rechts-
verletzungen begangen, Forderungen ultimativen Charakters geschickt
und mit der wirtschaftlichen Abdrosselung begonnen.
5. Die Deutsche Reichsregierung hat der Polnischen Regierung
nun vor kurzem mitteilen lassen, daß sie nicht gewillt ist, diese Ent-
wicklung stillschweigend hinzunehmen, daß sie nicht dulden wird,
daß weitere ultimative Noten an Danzig gerichtet werden, daß sie
nicht dulden wird, daß man die Verfolgungen des deutschen Elementes
fortsetzt, daß sie ebenso nicht dulden wird, durch wirtschaftliche Maß-
21
Das Jahr 1939
211
nahmen die Freie Stadt Danzig umzubringen, das heißt, durch eine
Art von Zollblockade derDanziger Bevölkerung die Lebensgrundlagen zu
vernichten, und daß sie auch nicht dulden wird, daß sich sonstige
weitere Provokationsakte gegen das Reich ereignen. Unabhängig davon
müssen und werden die Fragen des Korridors und von Danzig ihre
Lösung finden.
6. Sie teilen mir, Exzellenz, im Namen der Britischen Regierung
mit, daß Sie in jedem solchen Fall des Einschreitens Deutschlands
gezwungen sein werden , Polen Beistand zu leisten. Ich nehme diese
Ihre Erklärung zur Kenntnis und versichere Ihnen, daß sie keine
Änderung in die Entschlossenheit der Reichsregierung bringen kann,
die Interessen des Reiches in dem in Punkt 5 mitgeteilten Sinn wahr-
zunehmen. Ihre Versicherung, daß Sie in einem solchen Fall an einen
langen Krieg glauben, teile ich ebenfalls. Deutschland ist — wenn es
von England angegriffen wird — darauf vorbereitet und dazu ent-
schlossen, Icli habe schon öfter als einmal vor dem Deutschen Volk
und der Welt erklärt, daß es über den Willen des neuen Deutschen
Reiches keinen Zweifel geben könne, lieber jede Not und jedes Unglück
und auf jede Zeit auf sich zu nehmen, als seine nationalen Interessen
oder gar seine Ehre preiszugeben.
7. Die Deutsche Reichsregierung hat Kenntnis davon bekommen»
daß die Britische Regierung beabsichtigt, Mobilmachungsmaßnahraen
durchzuführen, deren eindeutiger Charakter als nur gegen Deutschland
gerichtet, nach den eigenen Erklärungen in Ihrem Schreiben an mich,
Herr Ministerpräsident, feststeht. Dies soll auch für Frankreich zu*
treffen. Da Deutschland niemals die Absicht hatte, sei es gegen Eng-
land oder gegen Frankreich, militärische Maßnahmen außer solchen
defensiver Natur zu treffen, und — wie schon betont — nie beabsich-
tigte und auch für die Zukunft nicht beabsichtigt, England oder
Frankreich anzugreifen, kann es sich in dieser Ankündigung, wie Sie
sie, Herr Ministerpräsident, in Ihrem Schreiben mir bestätigen, nur
um einen in Aussicht genommenen Akt der Bedrohung des Reiches
handeln. Ich teile daher Euer Exzellenz mit, daß ich im Falle des Ein-
treffens dieser militärischen Ankündigungen die sofortige Mobil-
machung der deutschen Wehrmacht anordnen werde.
8. Die Frage der Behandlung der europäischen Probleme im fried-
lichen Sinn kann nicht von Deutschland entschieden werden, sondern
in erster Linie von Jenen, die sich seit dem Verbrechen des Versailler
Diktates jeder friedlichen Revision beharrlich und konsequent wider-
setzt haben. Erst nach der Änderung der Gesinnung der dafür verant-
wortlichen Mächte kann auch eine Änderung des Verhäimisses zwischen
England und Deutschland in einem positiven Sinne eintreten. Ich habe
zeit meines Lebens für eine deutsch-englische Freundschaft gekämpft,
bin aber durch das Verhalten der britischen Diplomatie — wenigstens
bisher — von der Zwecklosigkeit eines solchen Versuches überzeugt
worden. Wenn sich dies in der Zukunft ändern würde» könnte niemand
glücklicher sein als ich. Adolf Hitler
(Dokumente zur Vorgeschichte des Kriegea, Nr. 456*)
14»
212 Deutschland - England [94
Sir Nevile Henderson hai in einem Telegramm vom 23. Augusl an
Lord Halifax hesläligl, daß auch in seinen persönlichen Unterhallungen
mit dem Fährer, die sich an diesen Briefwechsel anschlössen, der gleiche
Gesichtspunkl immer wieder nachdrücklich in den Vordergrund gerückt
wurde.
93. Aus dem Telegramm des Botsdiafters Sir Nevile Henderson an den
britischen Außenminister Lord Halifax vom 24. August 1939
über seine Unterredung mit dem Führer
Er sprach mehrere Male von seinen wiederholten Freundschafts-
angeboten an England und deren unveränderlicher und verächtlicher
Abweisung. Ich verwies auf vorjährige Bemühungen des Minister-
präsidenten und seinen Wunsch nach Zusammenarbeit mit Deutsch-
land. Er sagte, er habe damals an Herrn Chamberlains guten Willen
geglaubt, er tue das aber, namentlich seit Einkreisungsbemühungen
der letzten paar Monate, nicht mehr. Ich legte das Fälschliche dieser
Ansicht dar, doch seine Antwort lautete, er sei jetzt endgültig von der
Richtigkeit der ihm früher von andern vorgehaltenen Ansichten über-
zeugt, daß England und Deutschland sich nie einigen könnten.
(E: Cmd. 6106. No. &8. — D: Eigene Übersetzung.)
An dem Tage, an dem der britische Premierminister den Antwort-
brief des Fährers in seinen Händen hielt, das heißt am 24. August 1939,
gab er im Unterhaus eine Erklärung ab, in der er die Durchfährung um-
fassender militärischer Maßnahmen bekanntgab. Die Rede, die sich im
übrigen mit dem inzwischen bekannt gewordenen deutsch-russischen Nicht-
angriffspakt beschäftigte, enthielt nur die Versicherung, daß das an Polen
gegebene Beistandsversprechen unabhängig von den Verhandlungen in
Moskau erteilt worden sei und infolgedessen von dem Zusammenbruch
dieser Verhandlungen und der deutsch-russischen Annäherung nicht be-
rührt werden könne.
Trotz dieser wenig ermutigenden Rede ließ der Führer am 25. August
1939 den britischen Botschafter Sir Nevile Henderson nochmals zu sich
kommen, um ihm ein letztes, weitreichendes Freundschaftsangebot mit-
zuteilen.
94. Erklärung des Führers gegenüber dem britischen Botschafter vom
25. August 1939, mittags 13.30 Uhr
Öer Führer erklärte einleitend, daß der Britische Botschafter am
Schluß der letzten Unterredung der Hoffnung Ausdruck gegeben habe,
daß doch noch eine Verständigung zwischen Deutschland und England
möglich sein wird. Er, der Führer, habe sich daraufhin die Dinge noch
einmal durch den Kopf gehen lassen und wolle heute England gegen-
über einen Schritt unternehmen,^ der genau so entscheidend sei wie der
94] Das Jahr 1939 213
Schritt Rußland gegenüber, der zu der kürzlichen Vereinbarung ge-
führt habe.
Auch die gestrige Unterhaussitzung bzw. die Reden Ghamberlains
und Lord Halifax' hätten den Führer veranlaßt, noch einmal mit dem
Britischen Botschafter zu sprechen. Die Behauptung, daß Deutsch-
land die Welt erobern wolle, ist lächerlich. Das Britische Imperium
umfaßt 40 000 000 qkm, Rußland 19 000 000 qkm, Amerika 9 500 000
qkm, während Deutschland noch nicht 600 000 qkm umfaßt. Wer
also die Welt erobern will, ist klar.
Der Führer teilte dem Britischen Botschafter folgendes mit:
1 . Die polnischen Akte der Provokation sind unerträglich gewor-
den, gleich, wer verantwortlich ist. Wenn die Polnische Regie-
rung die Verantwortung bestreitet, so beweist dies nur, daß sie
selbst keinen Einfluß mehr auf ihre militärischen Unterorgane
besitze. In der letzten Nacht seien wieder einundzwanzig neue
Grenzzwischenfälle erfolgt, auf deutscher Seite habe man größte
Disziplin gewahrt. Alle Zwischenfälle seien von der polnischen
Seite hervorgerufen worden. Außerdem wurden Verkehrsflug-
zeuge beschossen. Wenn die Polnische Regierung erkläre, nicht
verantwortlich dafür zu sein, so beweise dies, daß es ihr nicht
mehr möglich sei, ihre eigenen Leute im Zaume zu halten.
2. Deutschland sei unter allen Umständen entschlossen, diese
mazedonischen Zustände an seiner Ostgrenze zu beseitigen, und
zwar nicht nur im Interesse von Ruhe und Ordnung, sondern
auch im Interesse lies europäischen Friedens.
3. I>as Problem Danzig und Korridor müsse gelöst werden. Der
Britische Ministerpräsident habe eine Rede gehalten, die nicht
im geringsten geeignet sei, einen Wandel in der deutschen Ein-
stellung herbeizuführen. Aus dieser Rede könne höchstens ein
blutiger und unübersehbarer Krieg zwischen Deutschland und
England entstehen. Ein solcher Krieg würde blutiger sein als
der von 1914 bis 1918. Im Unterschied zu dem letzten Krieg
würde Deutschland keinen Zweifrontenkrieg mehr zu führen
haben. Das Abkommen mit Rußland sei bedingungslos und
bedeute eine Wende in der Außenpolitik des Reiches auf längste
Zeit. Rußland und Deutschland würden unter keinen Umständen
mehr die Waffen gegeneinander ergreifen. Davon abgesehen
würden die mit Rußland getroffenen Abmachungen auch wirt-
schaftlich für eine längste Kriegsperiode sichern.
Dem Führer habe immer an der deutsch-englischen Verständigung
gelegen. Ein Krieg zwischen England und Deutschland könne im
günstigsten Fall Deutschland einen Gewinn bringen, England aber
überhaupt nicht.
Der Führer erklärt, daß das deutsch-polnische Problem gelöst
werden müsse und gelöst werden würde. Er ist aber bereit und ent-
schlossen, nach der Lösung des Problems noch einmal an England
mit einem umfassenden großen Angebot heranzutreten. Er ist ein
Mann großer Entschlüsse und wird auch jn diesem Fall zu einer großen
214 Deutschland - England [M
Handlung fähig sein. Er bejaht das Britische Imperium und ist bereit,
sich für dessen Bestand persönlich zu verpflichten und die Kraft des
Deutschen Reiches dafür einzusetzen, wenn
1. seine kolonialen Forderungen, die begrenzt sind und auf fried-
lichem Wege ausgehandelt werden können, Erfüllung finden,
wobei er hier zu einer weitesten Terminbestimmung bereit ist,
2. seine Verpflichtungen Italien gegenüber nicht tangiert werden,
d. h. mit anderen Worten: Er fordert von England nicht die
Preisgabe seiner französischen Verpflichtungen und könnte sich
seinerseits auch nicht von den italienischen Verpflichtungen
entfernen.
3. Er wünscht ebenso den unverrückbaren Entschluß Deutsch-
lands zu betonen, nie mehr mit Rußland in einen Konflikt ein-
zutreten.
Der Führer ist bereit, dann mit England Abmachungen zu treffen,
die, wie schon betont, nicht nur die Existenz des Britischen Weltreichs
unter allen Umständen deutscherseits garantieren würden, sondern
auch, wenn es nötig wäre, dem Britischen Reich die deutsche Hilfe
sicherten, ganz gleich, wo immer eine derartige Hilfe erforderlich sein
sollte. Der Führer würde dann auch bereit sein, eine vernünftige
Begrenzung der Rüstungen zu akzeptieren, die der neuen politischen
Lage entsprächen und wirtschaftlich tragbar wären. Endlich ver-
sichert der Führer erneut, daß er an den westlichen Problemen nicht
interessiert sei und daß eine Grenzkorrektur im Westen außerhalb
jeder Erwägung stehe; der mit Milliarden Kosten errichtete Westwall
sei die endgültige Reichsgrenze nach Westen.
Wenn die Britische Regierung diese Gedanken erwägen würde,
so könnte sich daraus ein Segen für Deutschland und auch für das
Britische Weltreich ergeben. Wenn sie diese Gedanken ablehnt, wird
es Krieg geben. Auf keinen Fall würde Großbritannien aus diesem
Krieg stärker hervorgehen; schon der letzte Krieg habe dies bewiesen.
Der Führer wiederholt, daß er ein Mann großer und ihn selbst
verpflichtender Entschlüsse sei und daß dies sein letzter Vorschlag
wäre. Er werde sofort nach Lösung der deutsch-polnischen Frage mit
einem Angebot an die Britische Regierung herantreten.
(Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges, Nr. 457.)
In einem Telegramm vom 25, August 1939 hat Sir Neoiie Henderson
über seine Unterredung mit dem Führer an den britischen Außenminister
berichtet. Der Bericht schließt mit den Sätzen:
,, Nachdem ich fortgegangen war, sandte Herr von Ribbentrop
Dr. Schmidt zur Botschaft mit dem Text der wörtlichen Erklärung und
weiterhin mit einer Mitteilung von ihm selbst, die dahin ging, daß Herr
Hitler immer und auch jetzt noch ein Abkommen mit England gewünscht
habe und daß er mich bitte, Seiner Majestät Regierung zu veranlassen,
daß sie das Angebot sehr ernst nähme.** [Cmd. 6106. No. 69.)
Am Abend des gleichen Tages, an dem der Führer dem britischen
Das Jahr 1939 215
Bolschafter diases weilreichende Angebot gemacht hatte, wurde in London
der briliscb'polnisvhe Beistandspakt unterzeichnet.
Es ist später von Lnlerstaatssekretär Butler im Unterhaus festgestellt
worden, daß sich dieses Abkommen eifxzig und allein gegen Deutschland
richtete. Die wahren Motive der britischen Politik konnten nicht deutlicher
gekennzeichnet werden, als es damit geschah: Nicht die Unabhängigkeit
und das Sthicksal Polens waren es, die England bestimmten, sondern
lediglich das Btstreben, der Revision der deutschen Ostgrenzen und einer
davon belürchielen deutschen Machtsieigerung entgegenzutreten.
UDterhauserklärung des britischen Unterstaatssekretäre Butler 95.
I vom 19. Oktober 1939
p Auf die Anfrage Mr. Harveys antwortend, der den Premierminister
gefragt halte^ ob der in dem am 25. August d, J. zwischen dem Ver-
einigten Königreich und Polen geschlossenen Abkommen enthaltene
Hinweis auf einen Angriff durch eine europäische Macht auch für den
Fall eines Angriffs durch andere Mächte als Deutschfand, einschließ-
lich Rußlands, Geltung haben solle, erklärte Mr. Butler, UntersLaats-
sckrctär für Auswärtige Angelegenheiten: ,,Nein, mein Herr. Während
der Verliandlungen, die zur Unterzeichnung des Abkommens führten^
herrschte zwischen der Polniscfien Regierung und der Regierung Seiner
Majestät Einverslöndnis darüber, daß das Abkommen lediglich für
den luvll eines Arjgiiffs durch Deutschland Geltung haben solle, und
die Polnische Regierung beslaligt, daß dem so ist.**
(li: Tlie Times vom 2i>. Oktober U*31K ^ D: EJ|feiie fJbersetÄung.)
' Nachdem im Grunde die praktischen Möglichkeiten ^ zu einer raschen
deutsch-englischen Verständigung zu kommen, durch den formellen Ab-
schluß des britisch-polnischen Beistandspaktes und die darin beschlossene
Besläligang der an Polen gegebenen Blanko-V ollmacht vereiteil waren^
ging die britische Antwortnote vom 28. August J 939 gleichwohl noch einmal
auf dieses Angebot ein. Indessen ließ ihre Formulierung deutlich erkennen^
daß man es in London nur auf eine dilatorische Behandlung dieser ernsten
und schicksalsschweren Frage angelegt hatte und infolgedessen einer
genauen Slelluminahme auszuweichen trachtete.
Memorandum der Britischen Regierung vom 28. August 1939, 96.
dem Führer vom britisdien Botsdiafter abends 22.30 Uhr übergebet]
Seiner Majestät Regierung hat die ihr vom Herrn Deutschen
Reichskanzler durch den Britischen Botschafter in Berlin übermittelte
I Botschaft empfangen und hat dieselbe mit der ihr gebührenden Sorg-
' falt geprüft.
L Seiner Majestät Regierung hat den vom Herrn Reichskanzler
zum Ausdruck gebrachten Wunsch, daß Freundschaft die Grundlage
216 Deutschland - Enfrland [96
der Beziehungen zwischen Deutschland und dem Britischen Imperium
bilden möge, zur Kenntnis genommen, und sie teilt diesen Wunsch
voll und ganz. Auch sie glaubt, wie der Herr Reichskanzler, daß, wenn
eine vollständige und dauernde Verständigung zwischen diesen zwei
Nationen hergestellt werden könnte, es beiden Völkern unermeßlichen
Segen bringen würde.
2. Die Botschaft des Herrn Reichskanzlers behandelt zwei Gruppen
von Fragen — diejenigen, die gegenwärtig Gegenstand von Differenzen
zwischen Deutschland und Polen sind, und diejenigen, die die end-
gültigen Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien be-
rühren. Im Zusammenhang mit diesen zuletzt genannten Fragen ersieht
Seiner Majestät Regierung, daß der Herr Reichskanzler gewisse Vor-
schläge angedeutet hat, die er unter einer Bedingung der Britischen
Regierung zur Herbeiführung einer allgemeinen Verständigung zu
unterbreiten bereit sein würde. Diese Vorschläge sind naturgemäß in
sehr allgemeiner Form gehalten und würden eine genauere Definierung
erfordern, aber Seiner Majestät Regierung ist voll und ganz bereit,
sie mit einigen Zusätzen als Gegenstand von Unterhaltungen anzu-
nehmen, und sie würde bereit sein, wenn die Streitfragen zwischen
Deutschland und Polen auf friedlichem Wege beigelegt werden, sobald
wie möglich diesbezügliche Besprechungen einzuleiten mit dem auf-
richtigen Wunsche, zu einer Verständigung zu gelangen.
3. Die Bedingung, die der Herr Reichskanzler festlegt, ist, daß
eine Lösung der zwischen Deutschland und Polen bestehenden Diffe-
renzen vorangehen muß. In dieser Beziehung ist Seiner Majestät Re-
gierung vollkommen gleicher Ansicht. Alles hängt jedoch ab von der
Art der Lösung und von der Methode, die zur Erzielung derselben an-
gewandt wird. Zu diesen Punkten, deren Wichtigkeit dem Herrn
Reichskanzler gegenwärtig sein wird, ist in seiner Botschaft nichts
gesagt, und Seiner Majestät Regierung fühlt sich gezwungen, darauf
hinzuweisen, daß eine Verständigung bezüglich dieser beiden Punkte
für die Erzielung eines weiteren Fortschrittes unbedingt notwendig ist.
Die Deutsche Regierung wird sich dessen bewußt sein, daß Seiner
Majestät Regierung gegenüber Polen Verpflichtungen hat, die sie
binden und die einzulösen sie beabsichtigt. Sie könnte nichi-wegen
irgendeines Großbritannien angebotenen Vorteils einer Lösung zu-
stimmen, die die Unabhängigkeit eines Staates gefährden würde, dem
sie ihre Garantie gegeben hat.
4. Nach Ansicht Seiner Majestät Regierung könnte und sollte eine
vernünftige Lösung der Differenzen zwischen Deutschland imd Polen
auf dem Wege der Vereinbarung zwischen den beiden Nationen erzielt
werden auf einer Grundlage, die die Sicherstellung der wesentlichen
Interessen Polens einbeziehen würde, und Seiner Majestät Regierung
erinnert sich, daß der Herr Reichskanzler in seiner Rede am 28. April
die Wichtigkeit dieser Interessen für Polen anerkannt hat.
Wie jedoch der britische Premierminister in seinem Schreiben
vom 22. August an den Herrn Reichskanzler zum Ausdruck brachte,
ist es nach Ansicht Seiner Majestät Regierung unerläßlich für den
96] Das Jahr 1939 217
Erfolg der Besprechungen, die der Vereinbarung vorangehen würden,
daß es im voraus feststünde, daß ein zu erzielendes Abkommen von
anderen Mächten garantiert werden würde. Seiner Majestät Regierung
würde bereit sein, wenn der Wunsch dazu ausgesprochen werden sollte,
zu der wirksamen Durchführung einer solchen Garantie beizutragen.
Nach Ansicht Seiner Majestät Regierung folgt hieraus, daß als
nächster Schritt direkte Verhandlungen zwischen der Deutschen und
Polnischen Regierung eingeleitet werden sollten auf einer Grundlage,
die die oben erwähnten Grundsätze einschließen würde, nämlich die
Sicherstellung der unentbehrlichen Interessen Polens und die Sichet-
stellung des Abkommens durch eine internationale Garantie. Seiner
Majestät Regierung hat bereits eine definitive Zusicherung von der
Polnischen Regierung erhalten, daß diese bereit ist, auf dieser Grund-
lage in Besprechungen einzutreten, und Seiner Majestät Regierung
hofft, daß die Deutsche Regierung ihrerseits ebenfalls bereit sein
würde, einem solchen Verfahren zuzustimmen.
Wenn, wie Seiner Majestät Regierung hofft, solche Besprechungen
zu einer Vereinbarung führen würden, so wäre der Weg offen für Be-
sprechungen über jene breitere und umfassendere Verständigung
zwischen Großbritannien und Deutschland, die beide Nationen er-
streben.
5. Seiner Majestät Regierung stimmt mit dem Herrn Reichskanzler
darin überein, daß eine der hauptsächlichsten Gefahren in der zwischen
Deutschland und Polen bestehenden Lage in Berichten über die Be-
handlung der Minderheiten ihren Ursprung hat. Der gegenwärtige
Spannungszustand, zusammen mit den ihn begleitenden Grenz-
zwischenfällen, Berichten über Mißhandlungen und der aufreizenden
Propaganda ist eine ständige Gefahr für den Frieden. Es ist offensicht-
lich eine Frage äußerster Dringlichkeit, daß alle Zwischenfälle dieser
Art unverzüglich und mit fester Hand unterdrückt werden, und daß
die Verbreitung unbestätigter Gerüchte verhindert wird, um eine Frist
zu erlangen, in der ohne Provokation auf beiden Seiten eine eingehende
Prüfung der Möglichkeiten einer Lösung unternommen werden könnte.
Seiner Majestät Regierung ist überzeugt, daß beide beteiligten Regie-
rungen sich dieser Erwägung völlig bewußt sind.
6. Seiner Majestät Regierung hat ihre eigene Haltung gegenüber
den besonderen zwischen Deutschland und Polen strittigen Angelegen-
heiten erschöpfend zum Ausdruck gebracht. Sie vertraut darauf, daß
der Herr Reichskanzler nicht glauben wird, daß Seiner Majestät Re-
gierung, weil sie ihre Verpflichtung gegenüber Polen genau nimmt,
aus diesem Grunde nicht bestrebt ist, ihren ganzen Einfluß für das
Zustandekommen einer sowohl Deutschland wie Polen befriedigenden
Lösung einzusetzen.
Daß eine solche Lösung erzielt werden sollte, erscheint Seiner
Majestät Regierung als unbedingt notwendig, nicht nur aus Gründen,
die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Lösung selbst entstehen,
sondern auch wegen der umfassenderen Erwägungen, von denen der
Herr Reichskanzler mit solcher Überzeugung gesprochen hat.
218 Deutschland - England [96
7. Es ist unnötig, in der vorliegenden Antwort die Vorteile einer
friedlichen Lösung hervorzuheben gegenüber einem Entschluß, die in
Frage kommenden Probleme mit Waffengewalt zu lösen. Die Folgen
eines Entschlusses, Gewalt zu gebrauchen, sind in dem Schreiben des
Premierministers vom 22. August an den Herrn Reichskanzler klar
dargelegt worden, und Seiner Majestät Regierung zweifelt nicht
daran, daß diese Folgen vom Herrn Reichskanzler genau so klar er-
kannt werden wie von Seiner Majestät Regierung selbst.
Andererseits glaubt Seiner Majestät Regierung, indem sie mit
Interesse den in der Botschaft des Herrn Reichskanzlers enthaltenen
Hinweis auf eine Begrenzung der Rüstungen zur Kenntnis nimmt,
daß, wenn eine friedliche Lösung erreicht werden kann, die Unter-
stützung der Welt zuversichtlich vorausgesetzt werden könnte für
praktische Maßnahmen, die es ermöglichen würden, den Übergang von
einer Vorbereitung zum Kriege auf eine normale Tätigkeit friedlichen
Handels sicher und reibungslos durchzuführen.
8. Eine gerechte Lösung dieser zwischen Deutschland und Polen
bestehenden Fragen kann den Weg zum Weltfrieden öffnen. Das
Ausbleiben einer solchen Lösung würde die Hoffnung auf eine bessere
Verständigung zwischen Deutschland und Großbritannien zerschlagen,
würde die beiden Nationen in Konflikt bringen und könnte sehr wohl
die gesamte Welt in den Krieg stürzen. Ein solches Ergebnis wäre eine
Katastrophe ohne Beispiel in der Geschichte.
(E; Cmd. 6106. No. 74. — D: Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges,
Nr. 463.)
Über die offenkundig hinhaltende Taktik der britischen Regierung
hinwegsehend, leitete der Führer seine Antwortnote vom 29. August 1939
mit den Sätzen ein:
,,Der KgL Britische Botschafter in Berlin hat der Kgl. Britischen
Regierung Anregungen übermittelt, die ich vorschlagen zu müssen glaubte,
um
1. dem Willen der Reichsregierung nach einer aufrichtigen deutsch-
englischen Verständigung, Zusammenarbeit und Freundschaft
noch einmal Ausdruck zu geben,
2, keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß eine solche
Verständigung nicht erkauft werden könnte mit dem Verzicht auf
lebenswichtige deutsche Interessen oder gar einer Preisgabe von
Forderungen, die ebenso im allgemeinen menschlichen Rechl wie
in der nationalen Würde und Ehre unseres Volkes begründet
sind.
Mit Befriedigung hat die Deutsche Regierung aus den Antwort-
schreiben der Kgl, Britischen Regierung und den mündlichen Er-
läuterungen des Kgl. Britischen Botschafters entnommen, daß die
KgL Britische Regierung auch ihrerseits bereit ist, das deutsch-englische
Verhältnis zu bessern, es im Sinne der deutschen Anregungen zu ent-
wickeln und auszubauen.'* (Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges,
Nr. 464)
■il-
.. -^^^
Das. Jahr 11*39
219
Diese EinieHurtg ließ klar erkennen, daß der Führer bestrebt war^
alle Empfmdiichkeilen beheiiezuseizen und nur auf diejenigen Punkte
der englischen Note einzugehen, die die friedliche Entwicklung der Lage
positiü zu fördern geeignet waren. Trotz aller Zweifel in die polnische Ver~
handtiingsbereilschafl beschränkte sich die Note daher darauf, das in dem
britischen Memorandum enthaltene Vermitllungsangebot anzunehmen
und das Eintffrständnis der deutschen Regierung zu erklären, daß ein
mit allen Vollmachten versehener polnischer Vertreier bis zum 30. Augusl
19S9 die Verhandlungen in Berlin übernähme, Sir Nevile H ender son
hat auch zu dieser Unterredung, welche die Rückgabe der deutschen Ant-
wortnote begleitete, einen aufschlußreichen Kommentar gegeben. In seinem
Telegramm an Lord Ifalilax vom 29, August 1939 bestätigte er, daß der
Führer wiederholt hatte, er wünsche die britische Freundschaft mehr ah
irgend etwas auf der Welt, Aber er könne nicht Deutschlands Lebern-
inleressen dafür opfern, ,,Es sei ein unerirägticher Vorschlag^ wenn Seiner
Majestät Regierung über einen solchen Gegenstand einen Handel ab-
schließen wolle'\ (Cmd, ßlÖß, No, SO,)
Das Schicksal der angeblichen britischen^ ,,Vermiitlungsaktion** ist
bekannt: in ihrem Memorandum vom 30, August 1939 ließ die britische
Regierung durchblicken, daß sie zu einer tatsächlichen Vermittlung in
Wirklichkeit gar nicht gemilll gewesen war; sie bescfiränkte sich darauf ^
die Reichsregierung nunmehr auf den „unmittelbaren Meinungsaustausch'*
mit der polnischen Regierung zu verweisen. Es war damit klar, daß die
ganzen letzten Ereignisse auf seilen der britischen Regierung überhaupt
nur noch Einzelheiten eines taklisctten Spiels gewesen waren, das darauf
abgezielt halte, Zeit zu gewinnen und das zu diesem Zweck mit Hilfe
einer bewußt ungenauen Ausdrucksweise den Anschein erweckt hatte^
als wenn die briltsche Regierung zu einer wirklichen Vermittlung zwischen
Deutschland und Polen bereit und imstande gewesen sei. Die Dokumente
des hriiischen Blaabuches selbst haben erwiesen, in welchem Maße hier von
britischer Seile ein falsches Spiel getrieben worden ist. Während der ganze
,,Vermilltungsüorschlag'' auf der in dem britischen Memorandum vom
28. August zum Ausdruck gebrachten Behauptung beruht halle, man habe
in London bereits eine ,,definitive Zusicherung*^ von der polnischen
Regierung über ihre Verhandlungsbereitschaft erhallen, geht aus dem
britischen Blaubuch hervor, daß davon überhaupt nicht die Rede sein
konnte.
Noch in einem Telegramm vom 30. August 1939 berichlel nämlich
der britische Botschafter in Warschau, Sir Howard Kennard, an Lord
Halifax, er sei sicher, „daß es unmöglich sein würde, die polnische R
gierung dazu zu veranlassen, Herrn Beck oder irgendeinen anderen
Vertreter sofort nach Berlin zu entsenden, um eine Vermittlung auf der
von Herrn Hitler vorgeschlagenen Grundtage zu erörtern*', (Cmd. 6106.
No, 84,)
Die Aufdeckung des britischen Falschspiets durch die Note vom
30. August 1939 bedeutete naturgemäß das Ende der deutschen Ver-
tländigungsbemühungen, Zwar ließ der Führer auch jetzt noch keine
Möglichkeit ungenutzt, die eine friedliche Regelung hätte herbeifuhren
97.
220 Deutschland - England [98
können. Indessen war allen diesen Friedensbemühungen das Rückgrat
gebrochen, das bei der gegenwärtigen politischen Verfassung Europas
naturnolwendig in einer deutsch-englischen Verständigung liegen muß.
Die englische Intransigenz hatle den Ausbruch des Konflikts un-
vermeidlich gemacht. Vom 1. September ab mußte sich Deutschland mit
Waffengewalt der polnischen Übergriffe erwehren. In seiner Reichstags-
rede am 1, September 1930 setzte der Führer die Gründe des deutschen
Vorgehens auseinander. Auch in dieser Rede wird noch einmal erkennllich^
welche Möglichkeiten einer friedlichen Entwicklung durch die vorgehenden
Ereignisse vernichtet worden waren.
Aus der Reidistagsrede des Führers vom 1. September 1939
Wenn nun Staatsmänner im Westen erklären, daß dies ihre In-
teressen berühre, so kann ich eine solche Erklärung nur bedauern; sie
kann mich aber nicht eine Sekunde in der Erfüllung meiner Pflicht
wankend machen. Ich habe es feierlich versichert und wiederhole es,
daß wir von diesen Weststaaten nichts fordern und nie etwas fordern
werden. Ich habe versichert, daß die Grenze zwischen Frankreich
und Deutschland eine endgültige ist. Ich habe England immer wieder
eine Freundschaft und, wenn notwendig, das engste Zusammengehen
angeboten. Aber Liebe kann nicht nur von einer Seite geboten werden,
sie muß von der anderen ihre Erwiderung finden. Deutschland hat
keine Interessen im Westen. Unser Westwall ist zugleich für alle Zeiten
die Grenze des Reiches. Wir haben auch keinerlei Ziel für die Zukunft,
und diese Einstellung des Reiches wird sich nicht mehr ändern.
(Verhandlungen des Reichstages, Bd. 460, S. 46f.)
Die britische Regierung steuerte nunmehr zielbewußt auf die Aus-
breitung und Verallgemeinerung des deulsch-polnischen Konfliktes zu,
Ihre ultimativen Noten vom i., 3. September und die planmäßige Vereite-
lung des italienischen Vermiülungsvorschlages und die Kriegserklärung
vom 3, September bezeichnen die letzten Etappen ihres auf den Ausbruch
des allgemeinen Krieges angelegten diplomatischen Spiels,
Note der britisdien Regierung vom 1. September 1939, dem Reidis-
außenminister von Botsdiafter Henderson um 21 Uhr übergeben
Euer Exzellenz !
Im Auftrage des Ministers Seiner Majestät für Auswärtige An-
gelegenheiten beehre ich mich, folgende Mitteilung zu machen.
In den frühen Morgenstunden des heutigen Tages hat der Deutsche
Reichskanzler einen Aufruf an die Deutsche Wehrmacht erlassen, aus
dem klar hervorging, daß er im Begriff war, Polen anzugreifen.
Aus Nachrichten, die zur Kenntnis der Regierung Seiner Majestä t
100] Daa Jahr 1939 221
im Vereinigten Königreich und der Französischen Regierung gelangt
sind, geht hervor, daß deutsche Truppen die polnische Grenze über-
schritten haben und daß Angriffe auf polnische Städte im Gange sind.
Unter diesen Umständen sind die Regierungen des Vereinigten
Königreichs und Frankreichs der Auffassung, daß die Deutsche Re-
gierung durch diese ihre Handlung die Voraussetzung geschaffen hat
(nämlich einen agressiven Gewaltakt gegenüber Polen, der dessen
Unabhängigkeit bedroht), welche seitens der Regierungen des Ver-
einigten Königreichs und Frankreichs die Erfüllung ihrer Verpflich-
tungen, Polen Beistand zu leisten, erheischen.
Ich bin daher beauftragt. Euer Exzellenz mitzuteilen, daß die
Regierung Seiner Majestät im Vereinigten Königreich ohne Zögern
ihre Verpflichtungen gegenüber Polen erfüllen wird, wenn nicht die
Deutsche Regierung bereit ist, der Regierung des Vereinigten König-
reichs befriedigende Zusicherungen dahingehend abzugeben, daß die
Deutsche Regierung jegliche Angriffshandlung gegen Polen eingestellt
hat und bereit ist, ihre Truppen unverzüglich aus polnischem Gebiet
zurückzuziehen.
Nevile Henderson
(E: Cmd. 6106. No. 105. — D: Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges,
Nr. 472.)
Notiz des italienisdien Botsdiafters Attolico, 99.
dem Auswärtigen Amt am 2. September 1939 vormittags übergeben
Zur Information läßt Italien wissen, natürlich jede Entscheidung
dem Führer überlassend, daß es noch die Möglichkeit hätte, von
Prankreich, England und Polen eine Konferenz auf folgenden Grund-
lagen annehmen zu lassen:
1. Waffenstillstand, der die Armeen läßt, wo sie jetzt sind;
2. Einberufung der Konferenz in zwei bis drei Tagen;
3. Lösung des polnisch-deutschen Streits, welche, wie die Sachen
heute liegen, sicher günstig für Deutschland sein würde. ^
Für den Gedanken, der ursprünglich vom Duce ausgegangen ist,
setzt sich heute besonders Frankreich ein.
(Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges, Nr. 474.)
Mitteilung der Havas-Agentur vom 2. September 1939 100.
Die Französische Regierung ist gestern ebenso wie mehrere andere
Regierungen mit einem italienischen Vorschlag zur Regelung der
europäischen Schwierigkeiten befaßt worden. Nach Beratung über
diesen Vorschlag hat die Französische Regierung eine positive Ant-
wort gegeben.
(Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges, Nr. 475.)
222 Deutschland - England [102
101. Aue der Unterhausrede dee britischen Premierministers Chamberlain
vom 2. September 1939 nadimittags^
Auf die mahnende Botschaft, die gestern abend Deutschland
übermittelt wurde, ist bisher noch keine Antwort eingelaufen.
Es ist möglich, daß diese Verzögerung auf von der italienischen
Regierung gemachte Vorschläge zurückzuführen ist, wonach eine Ein-
stellung der Feindseligkeiten erfolgen und unverzüglich eine Konferenz
zwischen Großbritannien, Frankreich, Polen, Deutschland und Italien
einberufen werden sollte.
Der Britischen Regierung ist es aber nicht möglich, an einer Kon-
ferenz teilzunehmen zu einer Zeit, da Polen einer Invasion ausgesetzt
ist, polnische Städte mit Bomben belegt werden und Danzig durch
Gewalt Gegenstand einer einseitigen Lösung geworden ist.
(E: Cmd. 6106. No. 116. — D: Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges,
Nr. 476.)
102. Note der britiedien Regierung vom 3. September 1939, von Botschafter
Henderson vormittags 9 Uhr im Auswärtigen Amt übergeben
Euer Exzellenz!
In der Mitteilung, welche ich die Ehre hatte, Ihnen am 1. Sep-
tember zu machen, unterrichtete ich Sie auf Weisung des Staats-
sekretärs für Auswärtige Angelegenheiten Seiner Majestät, daß die
Regierung Seiner Majestät im Vereinigten Königreich ohne Zögern
ihre Verpflichtungen gegenüber Polen erfüllen werde, wenn nicht die
Deutsche Regierung bereit sei, der Regierung Seiner Majestät jm
Vereinigten Königreich befriedigende Zusicherungen dahingehend ab-
zugeben, daß die Deutsche Regierung jegliche Angriffshandlung gegen
Polen eingestellt habe und bereit sei, ihre Truppen unverzüglich aus
polnischem Gebiet zurückzuziehen.
Obwohl diese Mitteilung vor mehr als 24 Stunden erfolgte, ist
keine Antwort eingegangen, hingegen wurden die deutschen Angriffe
auf Polen fortgesetzt und verstärkt. Ich habe demgemäß die Ehre,
Sie davon zu unterrichten, daß, falls nicht bis II Uhr vormittags
britischer Sommerzeit am heutigen Tage, dem 3. September, eine be-
friedigende Zusicherung im oben erwähnten Sinne von der Deutschen
Regierung erteilt wird und bei Seiner Majestät Regierung in London
eintrifft, ein Kriegszustand zwischen den beiden Ländern von dieser
Stunde an bestehen wird.
Nevile Henderson
(E: Cmd. 6106. No. 118. — D: Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges,
Nr. 477.)
^ Eine gleichlautende Erklärung wurde kur/e Zeit später vom Außenminister
Lord Halifax im Oberhaus abgegeben.
!04]
Daö Jahr 1939
223
1
Nate des britiacfaen AuBenministers Lord Halifax 103.
an den Deutschen Gesdiäftsträger in London vom 3. September 1939«
vormittags ILIS Uhr übergeben
Herr Geschäftsträger !
Am L September onterrifhtete der Botschafter Seiner Majestät
in Berlin auf meine Weisung hin die dortige Regierung davon» daO die
Regierung Seiner Majestät im Vereinigten Königreich ohne Zögern ihre
Verpflichtung gegenüber Polen erfüllen werde, wenn nicht die Deutsche
Regierung bereit sei, der Regierung Seiner Majestät im Vereinigten
Königreich befriedigende Zusicherungen dahingend abzugeben, daO
die Deutsche Regierung jegliche Angriffshandlung gegen Polen ein-
gestellt habe und bereit sei, ihre Truppen unverzüglich aus polnischem
Gebiet zurückzuziehen»
Um 9 Uhr vormittags am heutigen Tage unterrichtete der Bot-
schafter Seiner Majestät in Berlin auf meine Weisung hin die Deutsche
Regierung dahingehend, dtiß, falls nicht bis 1 1 Uhr vormittags britische
Sommerzeit am heutigen Tage, dem 3. September, eine befriedigende
Zusicherung im obengenannten Sinne von der Deutschen Regierung
erteilt wird und bei Seiner Majestät Regierung in London eintrifft,
ein Kriegszustand zwischen den beiden Ländern von dieser Stunde
an bestehen wird.
Da keine solche Zusicherungen eingingen, habe ich die Ehre, Sie
davon zu unterrichten, daO ein Kriegszustand zwischen den beiden
Ländern von 11 Uhr vormittags am heutigen Tage, dem 3» September,
an gerechnet, besteht,
Halifax
(D: Dokumente zur Vorgvschiriitr iir-^ Krif^i>, :\r* 478,)*
Memorandum der Reichsregierung vom 3. September 1939^
dem britischen Botsdiafter vom Reichsaußenminister vormittags
11.30 Uhr ausgehändigt'
Die Deutsche Reichsregierung hat das Ultimatum der Britischen
Regierung vom 3. September 1939 erhalten. Sie beehrt sich, darauf
folgendes zu erwidern :
L Die Deutsche Reirhsrcgierung und das deutsche Volk lehnen c»
ab, von der Britischen Regierung ultimative Forderungen entgegen-
zunehmen, anzunelimen oder gar zu erfüllen,
2. Seit vielen Monaten herrscht an unserer Ostgrenze der tatsäch*
* Bez^Hchnendcrweise fehlt diese Note im britischen Blfiiibu^h Ctml 6106,
Die rein propagandistische Anlage f\"w»i}r englischen VtTAffenlliel»iiiig zeigt sich
auch daran wieder: man hielt es cffenhor für khlger, di*i Tatsache zu versrhlciern,
dnß England diesen Krieg erklürt l^tat.
• Eine Abschrift dieses ^lemorandiims wurde dem FranxOsischi^u Bot&ctuifier
vom ReichsauOenminlsler am 3* Soplenibt»r 1939, mittag 12,20 Uhr, übergeb<?n.
104.
224 Deutschland ■ England [104
liehe Zustand des Krieges. Nachdem der Versailler Vertrag Deutsch-
land" erst zerrissen hat, wurde allen deutschen Regierungen seitdem
jede friedliche Regelung verweigert. Auch die nationalsozialistische
Regierung hat nach dem Jahre 1933 immer wieder versucht, auf dem
Wege friedlicher Aushandlungen die schlimmsten Vergewaltigungen
und Rechtshrüche dieses Vertrages zu beseitigen. Es ist mit in erster
Linie die Britische Regierung gewesen, die durch ihr intransigentes
Verhalten jede praktische Revision vereitelte. Ohne das Dazwischen-
treten der Britischen Regierung wäre — dessen sind sich die Deutsche
Reichsregierung und das deutsche Volk bewußt — zwischen Deutsch-
land und Polen sicher eine vernünftige und beiden Seiten gerecht
werdende Lösung gefunden worden. Denn Deutschland hatte nicht die
Absicht oder die Forderung gestellt, Polen zu vernichten. Das Reich
forderte nur die Revision jener Artikel des Versailler Vertrages, die
von einsichtsvollen Staatsmännern aller Völker schon zur Zeit der Ab-
fassung dieses Diktates für eine große Nation sowohl als für die ge-
samten politischen und wirtschaftlichen Interessen Osteuropas auf
die Dauer als untragbar und damit unmöglich bezeichnet worden
waren. Auch britische Staatsmänner erklärten die damals Deutschland
aufgezwungene Lösung im Osten als den Keim späterer Kriege. Diese
Gefahr zu beseitigen, war der Wunsch aller deutschen Reichsregierun-
gen und besonders die Absicht der neuen nationalsozialistischen Volks-
regierung. Diese friedliche Revision verhindert zu haben, ist die Schuld
der britischen Kabinettspolitik.
3. Die Britische Regierung hat — ein einmaliger Vorgang in der
Geschichte — dem polnischen Staat eine Generalvollmacht erteilt
für alle Handlungen gegen Deutschland, die dieser Staat etwa vorzu-
nehmen beabsichtigen würde. Die Britische Regierung sicherte der
Polnischen Regierung unter allen Umständen für den Fall, daß sich
Deutschland gegen irgendeine Provokation oder einen Angriff zur
Wehr setzen würde, ihre militärische Unterstützung zu. Daraufhin
hat der polnische Terror gegen die in den einst von Deutschland weg-
gerissenen Gebieten lebenden Deutschen sofort unerträgliche Formen
angenommen. Die Freie Stadt Danzig wurde gegen alle gesetzlichen
Bestimmungen rechtswidrig behandelt, er^t wirtschaftlich und zoll-
politisch mit der Vernichtung bedroht und endlich militärisch zerniert
und verkehrstechnisch abgedrosselt. Alle diese der Britischen Regie-
rung genau bekannten Verstöße gegen das Gesetz des Danziger Status
wurden gebilligt und durch die ausgestellte Blankovollmacht an Polen
gedeckt. Die Deutsche Regierung hat, ergriffen von dem Leid der von
Polen gequälten und unmenschlich mißhandelten deutschen Bevölke-
rung, dennoch fünf Monate lang geduldig zugesehen, ohne auch nur
einmal gegen Polen eine ähnlich aggressive Handlung zu betätigen.
Sie hat nur Polen gewarnt, daß diese Vorgänge auf die Dauer
unerträglich sein würden und daß sie entschlossen sei, für den Fall,
daß dieser Bevölkerung sonst keine Hilfe würde, zur Selbsthilfe zu
schreiten. Alle diese Vorgänge waren der Britischen Regierung auf das
genaueste bekannt. Es wäre ihr ein leichtes gewesen, ihren großen Ein-
104]
Das Jfthr 1939
225
lluD in Warschau aufzubieten, um die dortigen Machthaber zu er-
mahDen, Gerechtigkeit und Menschlichkeit walten zu lassen und die
bestehenden Verpflichtungen einzuhalten. Die Britische Regierung hat
dies nicht getan. Sie hat im Gegenteil unter steter Betonung ihrer
Pflicht, Polen unter allen Umständen beizustehen, die Polnische Re-
, gierung geradezu ermuntert, in ihrem verbrecherischen, den Frieden
Kuropas gefährdenden Verhalten fortzufahren. Die Britische Re-
gierung hat aus diesem Geiste heraus den den Frieden Buropas immer
noch reLLen könnenden Vorschlag Mussolinis zurückgewiesen, obwohl
die Deutsche Reichsregierung ihre Bereitwilligkeit erklärt hatte, darauf
einzugehen. Die Britische Regierung trägt daher die Verantwortung
für all das Unglück und das Leid, das jetzt über viele Völker gekommen
ist und kommen wird.
4. Nachdem alle Versuche, eine friedliche Lösung zu finden und
abzuschließen, durch die Intransigenz der von England gedeckten
Polnischen Regierung unmöglich gemacht worden waren, nachdem die
schon seit Monaten bestehenden bürgerkriegsähnlichen Zustände an
der Ostgrenze des Reichs, ohne daß die Britische Regierung etwas
dagegen einzuwenden hätte, sich allmählich zu offenen Angriffen auf
das Reichsgebiet verstärkten, hat sich die Deutsche Reichsregierung
entschlossen, dieser fortdauernden und für eine Großmacht unerträg-
lichen Bedrohung des erst äußeren und dann endlich auch inneren
Friedens des deutschen Volkes ein Ende zu bereiten mit jenen Mitteln,
die, nachdem die Regierungen der Demokratien alle anderen Revi-
sionsmöglichkeiten praktisch sabotiert hatten, allein noch übrig-
bleiben, um die Ruhe, die Sicherheit und die Ehre des Deutschen
Reiches zu verteidigen, Sie hat auf die letzten, das Reichsgebiet
bedrohenden Angriffe der Polen mit gleichen Maßnahmen geant-
wortet. Die Deutsche Reichsregierung ist nicht gewillt, infolge irgend-
welcher britischer Absichten oder Verpflichtungen im Osten Zustände
zu dulden, die jenen gleichen, wie wir sie in dem unter britischem
Protektorat stehenden Palästina vorfinden. Das deutsche Volk aber
ist vor allem nicht gewillt, sich von Polen mißhandeln zu lassen.
5. Die Deutsche Reichsregierung lehnt daher die Versuche, durch
, eine ultimative Forderung Deutschland zu zwingen, seine zum Schutze
des Reiches angetretene Wehrmacht wieder zurückzurufen und damit
die alte Unruhe und das alte Unrecht erneut hinzunehmen, ab. Die
Drohung, Deutschland ansonsten im Kriege zu bekämpfen, ent-
spricht der seit Jahren proklamierten Absicht zahlreicher britischer
Politiker. Die Deutsche Reichsregierung und das deutsche Volk haben
dem englischen Volk unzählige Male versichert, wie sehr sie eine Ver-
ständigung, ja eine engste Freundschaft mit ihm wünschen. Wenn die
Britische Regierung diese Angebote bisher immer ablehnte und nunmehr
mit einer offenen Kriegsdrohung beantwortet, ist dies nicht Schuld
des deutschen Volkes und seiner Regierung, sondern ausschließlich
Schuld des britischen Kabinetts bzw. jener Männer, die seit Jahren die
Vernichtung und Ausrottung des deutschen Volkes predigen. Da»
deutsche Volk und seine Regierung haben nicht wie Großbritannien die
DeuUchland- England 15
226 Deutschland - Enirland f 101»
Absicht, die Welt zu beherrschen, aber sie sind entschlossen, ihre
eigene Freiheit, ihre Unabhängigkeit und vor allem ihr Leben zu ver-
teidigen. Die im Auftrag der Britischen Regierung von Herrn King
Hall uns mitgeteilte Absicht, das deutsche Volk noch mehr zu vernichten
als durch den Versa iller Vertrag, nehmen wir zur Kenntnis und werden
daher jede Angriffshandlung Englands mit den gleichen Waffen und
in der gleichen Form beantworten.
(Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges, Nr. 479.)
Nach dem erfolgreichen Abschluß des polnischen Feldzuges unlernahm
der Führer in seiner Beichslagsrede vom 6, Oktober 1939 einen letzten
Schrill zum Frieden und zur Verständigung. Das Schicksal dieses Schrittes ist
bekannt: England stieß die ausgestreckte deutsche Friedenshand zurück.
105. Aus der Reidistagsrede des Führers vom 6. Oktober 1939
Nicht geringer waren meine Bemühungen für eine deutsch-eng-
lische Verständigung, ja, darüber hinaus für eine deutsch-englische
Freundschaft. Niemals und an keiner Stelle bin ich wirklich den briti-
schen Interessen entgegengetreten. Leider mußte ich mich nur zu oft
britischer Eingriffe deutschen Interessen gegenüber erwehren, aueh
dort, wo sie England nicht im geringsten berührten. Ich habe es gerade-
zu als ein Ziel meines Lebens empfunden, die beiden Völker nicht nur
Verstandes-, sondern auch gefühlsmäßig einander näherzubringen.
Das deutsche Volk ist mir auf diesem Wege willig gefolgt. Wenn mein
Bestreben mißlang, dann nur, weil eine mich persönlich geradezu er-
schütternde Feindseligkeit bei einem Teil britischer Staatsmänner
und Journalisten vorhanden war, die kein Hehl daraus machten, daß
es ihr einziges Ziel wäre, aus Gründen, die uns unerklärlich sind, gegen
Deutschland bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wieder den
Kampf zu eröffnen. Je weniger sachliche Gründe diese Männer für ihr
Beginnen besitzen, um so mehr versuchen sie, mit leeren Phrasen und
Behauptungen eine Motivierung ihres Handelns vorzutäuschen. Ich
glaube aber auch heute noch, daß es eine wirkliche Befriedung in
Europa und in der Welt nur geben kann, wenn sich Deutschland und
England verständigen. Ich bin aus dieser Überzeugung heraus sehr
oft den Weg zu einer Verständigung gegangen. Wenn dies am Ende
doch nicht zum gewünschten Ergebnis führte, dann war es wirklich
nicht meine Schuld.
(Verhandlungen des Reichstags, Bd. 460, S. 59.)
Beichsaußenminister von Ribbenlrop hat in seiner Rede in Danzig
am 24. Oktober 1939 das historische Fazit der deutschen Friedens- und
Verständigungspolitik gezogen. Seine Feststellungen bilden das Schlußwort
zu einer Epoche von nahezu 7 Jahren, in der die in ihrer Tragweite un-
absehbare Möglichkeit zu einem Neubau Europas und einer fruchtbaren
wellpolitischen Entwickelung auf der Grundlage des freundschaftlichen
deutsch-englischen Zusammenwirkens bestanden hatte. Diese well-
106]
Das Jahr 1939
227
geschicfüliche Chance isi nunmehr verpaßt. Die europäische Neuordnung
wird sich auch so unausweichlich vfÄUithen: wenn nicht mit Engtand,
dann ohne England oder — gegen England,
AuB der Danziger Rede des ReicUsaaßeiimmisters von Ribbeatrop
vom 24. Oktober 1939
Die Verständigung mit England war immer das Fundament der
AuOenpolitik des Führers. Als außenpolitischer Mitarbeiter des Führers
kann ich es vor der WeltöffenUichkeit bekunden, daß seit dem 30. Ja-
nuar 1933 der Führer nichts, aber auch gar nichts unversucht gelassen
hat, um diese Verständigung mit England herbeizuführen. Unzählige
Reden, Handlungen, Taten des Führers, unzählige Reisen von mir in
seinem Auftrag nach England dienten ausschlic^ßlich diesem Zweck.
Dabei handelt es sich nicht etwa um vage Ideen, sondern um ganz kon-
krete Vorschläge, die ich wiederholt dem englischen Premierminister,
AuGenminister oder sonstigen maÜgebenden Persönlichkeiten des
politischen Lebens im Auftrage des Führers unterbreitete. Diese An-
gebote irmfaDten im wesentlichen folgende Punkte:
1. Ein deutsch-englisches Flottenabkommen auf der Basis 35 : 100.
2. Die ewige ünantastbarkeit der zwischen Deutschland und Eng-
land liegenden Länder Holland, Belgien und Frankreich.
3. Respektierung der britischen Interessen in der Welt durch
Deutschland und Respektierung der deutschen Interessen in
Osteuropa durch England.
4. Ein Schutz- und Trutzbündnis zwischen den beiden Ländern,
wobei Deutschland auf englische Waffenhilfe verzichtete, seiner-
seits aber bereit war, sowohl seine Flotte als auch eine be-
stimmte Zahl von Divisionen jederzeit England zur Sicherung
seines Imperiums zur Verfügung zu stellen.
England hat dies abgelehnt und dem Führer bei jeder Gelegenheit
sowohl durch den Mund verantwortlicher britischer Minister, Politiker,
Parlamentarier als auch durch die Presse zu verstehen gegeben, da0
England auf die Freundschaft Deutschlands keinerlei Wert legt.
Trotzdem hat der Führer seine Bemühungen, die ebenso seiner
gefühlsmäßigen Einstellung als auch seiner völkischen Einsicht cnt-
sprangen, mit einer beispiellosen Zähigkeit und Hartnäckigkeit fort-
gesetzt. Und erst nachdem er wieder und wieder bis an die Grenze des
Menschenmöghchen gegangen war, mußte er erkennen, daß man in
England nicht wolle. Der Führer hat dann allerdings auch die Kon-
sequenz aus dieser englischen Haltung gezogen und nunmehr in nüch-
terner Erkenntnis der realen politischen Gegebenheiten die deutsche
Außenpolitik aufgebaut. Die Länder, deren Interessen denen Deutsch-
lands solidarisch waren, waren hierbei für Deutschland vor allem
von Bedeutung. Eine .\nnäherung an diese wurde gesucht und ihre
Freundschaft gefunden. . .
Meine Volksgenossen I Nunmehr zu den Gegnern und zu Englands
Kriegsschuld !
i&"
Zunächst Frankreich: Ich glaube, daß heute in der gesamten Welt-
ölfentlichkeit nicht der geringste Zweifel darüber besteht, daß das
französische Volk diesen Krieg nicht gewollt hat, daß das französische
Volk lieber heute als morgen Frieden haben möchte und daß ihm dieser
Krieg mit einer Verschlagenheit, einem Zynismus und einer Brutali-
tät sondergleichen von England und seinen Handlangem in Paris und
in der französischen Regierung aufgezwungen wurde,
England: Ich habe Ihnen bereits vorhin einen kurzen Überblick
über die englische Politik gegen Deutschland seit dem 30. Januar 1933
gegeben und will Ihnen nunmehr heute abend den unwiderlegbaren
Beweis erbringen, daß dieser Krieg gegen Deutschland von der jetzigen
englischen Regierung seit Jahren heimlich und planmäßig vorbereitet
wurde.
Die Münchener Konferenz ist im vorigen Jahr von einem Teil der
Welt als das große Friedenswerk des derzeitigen englischen Premier-
ministers Chamberlain gerühmt worden. Nichts ist falscher als das.
Vergegenwärtigen wir uns nochmals die Lage, die zu München führte.
Die britische Regierung hatte der damaligen tschechoslowakischen
Regierung ihre Unterstützung gegen Deutschland in Aussicht gestellt
und damit aus diesem Problem, das ohne das Einmischen von Eng-
land über Nacht gelöst worden wäre, überhaupt erst eine europäische
Krise gemacht. Wenn daher Herr Chamberlain später in München
seine Hand zu einer halbwegs vernünftigen Lösung dieses Problems,
und zwar im allerletzten Augenblick bot, so hat er damit nichts anderes
getan, als seinen eigenen Fehler, durch den er die Krise erst schuf und
durch den er Europa an den Rand des Krieges gebracht hatte, zum Teil
wiedergutzumachen.Warumabertat er das? Die Antwort gabunsdieerste
Rede, die Herr Chamberlain nach seiner Rückkehr nach Londen hielt,
und in der er in der einen Hand den Ölzweig des Friedens heimbrachte,
in der anderen aber dem englischen Volk ein gigantisches Aufrüstungs-
programm präsentierte. Das heißt also, Herr Chamberlain, der gehofft
hatte, Deutschland mit Kriegsdrohungen von seinen berechtigten
Forderungen zur Befreiung seiner Sudetendeutschen abzubringen, hat
die Drohung lediglich deshalb nicht ausgeführt, weil England rüstungs-
mäßig nicht fertig war. Chamberlain war also nicht nach München j
gekommen, um den Krieg zu verhindern, sondern um den von der!
britischen Regierung beschlossenen Krieg nur zu verschieben.
Daß nun in England bereits seit Jahren eine systematische Hetze
in der Öffentlichkeit gegen alles Deutsche getrieben wurde, daß man
Vorbereitungen für einen kommenden Krieg nach jeder Richtung hin
traf — ich erinnere nur an die von Herrn Chamberlain kürzlich zu-
gegebene, bereits vor zwei Jahren erfolgte Organisation eines Blockade-
ministeriums — ist bekannt. Im Winter 1938/39 aber steigerte sich die
Hetze in geradezu ungeheuerlicher Weise. Das englische Volk, das im
Grunde in Freundschaft mit dem deutschen Volk leben möchte, wurde
jetzt ganz offen mit allen Mitteln der Propaganda von den englischen
Kriegshetzern, und zwar unter Förderung durch die englische Re-
gierung, in eine Haß- und Panikstimmung gegen Deutschland gebracht*
106]
Das Jahr 1939
229
Ich könnte Ihnen unzählige Beispiele für diesen systematischen Pro-
pagandafeldzug geben.
Soweit die Propaganda! Das Ziel der englischen Regierung muBte
es aber nun sein, Großbritannien auch politisch und diplomatisch in
einen unüberbrückbaren Gegensatz zu Deutschland zu bringen, der es
ihm je nach Lage der Dinge ermöglichen sollte, den Krieg gegen
Deutschland zu dem ihr am günstigsten erscheinenden Zeitpunkt zu
entfesseln. Dies muüte wiederum in einer solchen Weise geschehen» daß
es für die kriegshetzerische britische Regierung vor ihrem eigenen Volk
ein Zurück nicht mehr geben konnte, das heißt also, es mußte ein
Vorwand gefunden werden, der es der britischen Regierung gestattete,
lern englischen Volk gegenüber den Kriegsgrund so zwingend er-
sbeinen zu lassen, daß jeder Engländer ein Zurückweichen als mit
^deni Ansehen seiner Nation unvereinbar ansehen sollte. Diesen Zu*
stand suchte Herr Chambcrlain herbeizuführen mit der Garantie an
Polen. Daß diese Garantie nur ein Vorwand war, ergibt sich weiter
eindeutig aus der soeben im britischen Parlament abgegebenen offi*
ziellen Erklärung der britischen Regierung, daß die Garantie sich
ausschließlich gegen Deutschland richten sollte. Nicht die Unversehrt-
heit des polnischen Staates war für England interessant, sondern aus-
schließlich die Waffenhilfe gegen Deutschland.
Mit dieser Garantie, mit der sich England zu sofortigem, und zwar
unbeschränktem Beistand Polen gegenüber verpflichtete, hat Engtand
das jahrhundertealte Fundament seiner kontinentalen Politik ver-
lassen. Während noch im Jahre 1936 sogar der bekannte Deutschen-
feind Sir Austen Chamberlain erklärte, England werde keinen Finger
rühren wegen des polnischen Korridors, England habe kein Interesse
am Korridor» hat nunmehr sein Bruder ausgerechnet für dieses aller-
schwerste Unrecht, das Versailles Deutschland angetan hat, die eng-
lische Waffenhilfe verpfändet. Diese Politik, die zunächst wahnsinnig
erscheint, ist nur zu verstehen als ein Ausdruck des konsequenten
Willens Großbritanniens, sich unter allen Umständen, und zwar in
nicht 2u ferner Zeit, einen Vorwand zu einem Losschlagen gegen
Deutschland zu verschaffen. Die Folgen dieser von England klar be-
rechneten Politik stellten sich programmäßig ein, und Sie, meine Dan-
ziger Volksgenossen, haben sie am eigenen Leibe ja zur Genüge zu
spüren bekommen. Die Polen verfielen in einen Taumel des Größen-
wahnsinns. Wiederum zeigten sich nun die wahren Absichten der
englischen Politik. Anstatt Polen, was für die englische Regierung ein
leichtes gewesen wäre» zu dem immer noch möglichen Ausgleich zu
raten, wissen wir heute, daß England nicht etwa Polen zur Ruhe er-
mahnte, sondern zu aggressiven Handlungen geradezu aufgestachelt hat.
Ein weiterer Beweis für den absoluten Kriegswillen der britischen
Regierung gegen Deutschland sind die Vorgänge in den letzten Tagen
unmillelbar vor Ausbruch des Krieges. Der italienische Botschafter
in Berlin überbrachte am 2. September eine Botschaft von Mussolini,
wonach Italien noch die Möglichkeit zu einer friedlichen Beilegung des
polnischen Konfliktes habe. Die Havas-Agentur vom gleichen Tage
230 Deutschland - England [10&
veröffentlichte die Zustimmung der französischen Regierung zu diesem
italienischen Friedensplan. Während auch Deutschland zustimmte,
wurde derselbe noch am Nachmittag durch eine Erklärung des eng-
lischen Außenministers Lord Halifax abgelehnt. Daß der englische
Premierminister, Herr Chamberlain, die Stirn hat, diese Sabotierung
des Mussolini-Plans Deutschland zuzuschieben, ist ein erschütternder
Beweis seines schlechten Gewissens.
Ihr wahres Gesicht und ihren Vernichtungswillen gegenüber dem
deutschen Volk aber hat die englische Regierung gezeigt, als sie das
großzügige Friedensangebot, das der Führer am 6. Oktober vor dem
Reichstag an England machte, ablehnte und durch ihren Sprecher,
den britischen Premierminister Chamberlain, mit Beschimpfungen
beantworten ließ, die im gesamten deutschen Volk hellste Empörung
ausgelöst haben.
Jeder vernünftige Mensch muß sich nun fragen : Was ist eigentlich
der wahre Grund dieser gewissenlosen, ja an Wahnsinn grenzenden
englischen Außenpolitik?
Englische Kriegshetzer behaupten, Deutschland strebe nach der
Weltherrschaft. Diese Behauptung ist schon an sich verlogen und dumm,
denn jeder Gymnasiast weiß heute, daß es so etwas wie eine Welt-
herrschaft nicht mehr gibt und wohl auch in Zukunft niemals mehr
geben wird, aus einem englischen Munde aber ist diese Behauptung
eine Unverschämtheit. Denn : während 46 Millionen Engländer 40 Mil-
lionen Quadratkilometer besitzen, das heißt über ein Viertel der
gesamten Erdoberfläche verfügen, verfügt Deutschland für seine
80 Millionen nur über eine Fläche von zirka (500000 Quadratkilometer.
Während England 611 Dominien, Kolonien, Protektorate, Reservate
und sonstige Schutzstaaten sein eigen nennt, hat Deutschland heute
keinerlei Kolonialbesitz. Wenn ich die von England in der Welt be-
herrschten Völker Namen für Namen Ihnen vorlesen wollte, so würde
diese heutige Kundgebung zumindest um eine Stunde verlängert
werden müssen. So z. B. stehen in Indien neben 290 Millionen in den
verschiedenen Provinzen von Britisch- Indien wohnenden Indern noch
562 indische Fürstentümer unter britischer Herrschaft. Es gibt kein
Gebiet der Erde, wo nicht die britische Flagge gegen den Willen der
betroffenen Völker weht, wo nicht Gewalttat, Raub und Lüge die Wege
des britischen Imperialismus kennzeichnen. Unermeßliche Reichtümer
hat Großbritannien so im Verlauf der Jahrhunderte aufgestapelt.
Der Vorwurf des Strebens nach Weltherrschaft trifft daher ausschließ-
lich England, Deutschland gegenüber ist er — noch dazu aus eng-
lischem Munde — unverschämt oder besser noch einfach lächerlich.
Der Führer hat wiederholt die sehr begrenzten Ziele der deutschen
Außenpolitik klar und eindeutig umschrieben. Sie heißen in einem
Satz zusammengefaßt: Sicherstellung des Lebens und der Zukunft
des deutschen Volkes in seinem natürlichen Lebensraum, der dem
deutschen Volksgenossen einen angemessenen Lebensstandard sichert
und seine kulturelle Entwicklung ermöglicht. Während die britische
Regierung für die kapitalistischen Interessen und den Luxus einer
"ioei
Das Jahr 193!>
231
Oberschicht kämpft, die großen Massen der englischen Arbeiter aber
tagtäglich um ihre Existenz und soziale Verbesserungen ringen, iBt
das Ziel der nationalsozialistischen deutschen Führung die Sicherung
des täglichen Brotes jedes einzelnen seiner 80 Millionen Volksgenossen.
Gerade diesem primitivsten Lebensrecht eines Volkes aber stellt sich
England entgegen.
Was ist nun das Resultat von sechseinhalb Jahren deutscher
Außenpolitik?
Der Prozeß der Konsolidierung des Deutschen Reiches in Europa
ist abgeschlossen. Das Unrecht von Versailles ist beseitigt, Deutsch-
land hat durch die Neuregelung im Osten Siedlungsraum für Gene-
rationen und ist zurzeit bemüht, all die deutschen Splittergruppen in
Europa, die umgesiedelt werden können, in diesem Raum zu vereinigen.
Es schafft damit endgültige, klare völkische Zustände und Grenzen
und beseitigt durch diese großzügigen Umsiedtungsaktionen die Mög-
lichkeit zukünftiger Konflikte. Die Grenzen des Reiches im Norden,
Osten^ Süden und Westen sind nunmehr endgültige. Deutschland hat,
wie der Führer auch in seiner letzten Reichstagsrede wieder erklärte,
an Frankreich und England mit Ausnahme der Rückgabe des ehe*
mal igen deutschen Kolonialbesitzes, das heißt also der selbstver-
ständlichen kolonialen Betätigung, wie sie einer Großmacht zusteht,
keine Forderungen. Der Unsinn von Versailles ist beseitigt, und in
Europa sind stabile Verhältnisse geschaffen. Dies ist das ausschließ-
liche Verdienst des Führers. ' ^
Ausgerechnet aber mit Verwirklichung dieses Zustandes, mit dem
alle Voraussetzungen für einen europäischen Dauerfrieden gegeben sind,
hält die englische Regierung nunmehr den Zeitpunkt für gekommen,
um zwischen dem englischen und dem deutschen Volk einen Krieg auf
Leben und Tod zu entfachen. Die britische Regierung spielt damit ein
gefährliches Spiel mit dem Schicksal ihres Imperiums. Wenn die bri-
tische Regierung diese Politik, die man sowohl im Interesse des eng-
lischen Volkes als auch der Menschheit an sich schlechthin als ver-
brecherisch bezeichnen muß, fortsetzt, so wird sie eines Tages als
Totengräber des britischen Imperiums in die Geschichte eingehen.
Daß diese Entwicklung weder im Interesse des britischen noch des
deutschen Volkes liegt, das ist für diese kleine Clique von gewissen-
losen Hasardeuren oder engstirnigen Doktrinären, die in einem Dilet--
tantismus ohnegleichen ihr Volk in den Abgrund führen, anscheinend
belanglos. Als Anfang September der englische Botschafter das letzte-
raal bei mir war, habe ich ihn mit den Worten verabschiedet, es werde
eines Tages von den Chronisten der W^eltgeschichte als eine historische
Groteske registriert werden, daß England, ohne die geringsten Inter-
essengegensätze mit Deutschland zu haben, ausgerechnet dem Mann
den Krieg erklärt hat, der die Verständigung mit England zu einem
politischen Glaubensbekenntnis erhoben hatte.
Aber Herr Chamberlain hat es nicht anders gewollt. Au» stjner
letzten Rede vor dem englischen Parlament, in der er in einem Gemisch
von Naivität, britischer Überheblichkeit und Schulmeisterei da» An*
*Ä-.
232
Deutschland - Eni^land
[106
gebot des Führers ablehnte, möchte ich zur Charakterisierung der
ganzen Unwahrhaftigkeit, Heuchelei und des Dilettantismus der
jetzigen britischen Machthaber nur einen einzigen Punkt herausgreifen,
das ist die Behauptung, Deutschland und sein Führer hätten ihr Wort
gebrochen, und es sei daher nicht mehr möglich, einem Wort Deutsch-
lands zu vertrauen.
Solche Äußerungen haben wir in der letzten Zeit wiederholt aus
dem Munde englischer Schwätzer hören müssen. Diese Schwätzer
»ind unfähig, irgendeine nützliche Arbeit für die menschJiche Gemein-
schaft zu leisten. Um so krampfhafter sind sie daher bemüht, aus ihrer
Froschperspektive völkerbewegende Ereignisse und Begebenheiten zu
kritisieren, deren inneres Gesetz und äußere Gestaltung sie in ihren
Spatzengehirnen überhaupt nicht zu fassen vermögen.
Etwas anderes ist es allerdings, wenn der Leiter des britischen Im-
periums selbst mit dreister Stirn eine solche Behauptung aufstellt, die
nicht nur jeglicher Grundlage entbehrt, sondern an die er zweifellos
selbst nicht glaubt. Im Zusammenhang mit den Taten des Führers
zur Konsolidierung der europäischen Verhältnisse gerade in dem Munde
eines britischen Ministers den Vorwurf des Wortbruches zu hören, ist
nicht nur der Gipfel der Heuchelei, sondern viel mehr als das, nämlich
eine bodenlose Dummheit, Daß die einmalige historische Persönlichkeit
des Führers über solche lächerlichen Angriffe eines britischen Parla-
mentariers erhaben ist, ist selbstverständlich. Ich kann hier nur die
Worte des Führers aus seiner letzten Reichstagsrede wiederholen, daß
das Urteil über ihn in der Geschichte Gott sei Dank einst nicht von
erbärmlichen Skribenten geschrieben wird, sondern durch sein Lebens-
werk selbst. Aber hinter diesem britischen Vorwurf eines angeblichen
Wortbruches unseres Führers steckt \^4ederum eine typisch britische
Niedertracht und Berechnung. Man will gewissermaßen durch eine
Diffamierung des Führers durch das hochehrenwerte britische Parla-
ment das brave und anständige deutsche Volk entfreraden. Da haben
aber nun die englischen Herren Parlamentarier wiederum einen kapi*
talen Fehler gemacht. Denn: das deutsche Volk ist heute Adolf Hitler,^
und Adolf Hitler ist das deutsche Volk, Der Vorwurf des Wortbruches
des Herrn Charaberlain trifft daher jeden einzelnen dieser 80 Millionen
Deutscher. Ihr Danziger gehört auch zu diesen SO Millionen Deutscher,
und ich frage euch: Fühlt ihr euch wortbrüchig? Nein! Dann möchte
ich mich heute abend zu eurem Sprecher, wie auch zum Sprecher der
ganzen 80 Millionen Deutscher machen und Herrn Chamberlain er-
klären: Dieses deutsche Volk hat jeden Schritt und jede Tat des
Führers zur Befreiung aus den Fesseln des Versailler Vertrages nicht
nur gutgeheißen, sondern begeistert begrüßt und verbittet sich ein
für allemal eine solche englische Unverschämtheit. Wir bestreiten
darüber hinaus Großbritannien als dem Urheber allen Unglücks von
Versailles überhaupt das Recht, über irgendeine Handlung Deutsch-
lands und der deutschen Regierung in den letzten Jahren zu , .urteilen'*.
Wenn aber von Wortbruch gesprochen wird, so glaube ich hier
als die einmütige Auffassung des deutschen Volkes- feststellen zu
106]
Dus Jahr 1939
233
können, daß der größte Wortbruch aller Zeiten beim Waffenstillstand
im Jahre 1918 dem deutschen Volk gegenüber verübt wurde! England
war der Anstifter dieses Wortbruches, das haben maßgebendste Eng-
länder selbst zugeben müssen* Daß aber darüber hinaus ein englischer
Staatsmann nicht das Recht hat, ja, wenn er klug genug wäre, sich
schwer hüten würde, überhaupt den Ausdruck ,, Wortbruch** in den
Mund zu nehmen, dafür will ich Ihnen jetzt nur einige wenige Beispiele
aus der jüngsten Geschichte des britischen Imperiums zitieren,
L Beispiel: Im Londoner Vertrag von 1915 hat England den
Italienern für den Fall, daß England und Frankreich nach Kriegsende
ihren Besitz in der Türkei, in Asien oder in Afrika erweitern sollten^
entsprechende Kompensationen in Vorderasien und Afrika zugesagt»
Was aber tat Großbritannien? England hat sein Wort Italien gegen-
über auf das schmählichste gebrochen und es mit einigen Dorn-
gebüschen im Wüstengebiet von Jubaland nachträglich abzufinden
versucht. Erst die Genialität des Duce — und auch dies wieder im
schärfsten Kampf gegen England — hat es dann fertiggebrachti im
Jahre 1936 aus eigener Kraft diese Kompensationen für Italien zu
schaffen. Dies ist ein eklatanter Wortbruch Großbritanniens!
2. Beispiel: Im Jahre 1915 sicherte die britische Regierung durch
den Mund des britischen Oberkommissars in Ägypten den Arabern
die Schaffung eines alle arabischen Gebiete umfassenden arabischen
Staates einschließlich Palästina zu. Was aber hat Großbritannien ge-
tan? Der unabhängige arabische Staat wurde nicht gegründet, und der
bekannte englische Oberst Lawrence, der die Araber während des
Krieges für England gewann und ihnen im Auftrage der englischen
Regierung sein Wort verpfändet hatte, quittierte wegen dieses Treu-
und Wortbruchs seiner eigenen Regierung seinen Dienst* In diesem
Falle war der Betrug der englischen Regierung aber noch ein doppelter,
denn: trotz des den Arabern gegebenen Versprechens wurde noch
während des Krieges durch die Balfour-Deklaration das arabische
Palästina den Juden zugesagt. Mit diesem Versprechen an die Juden
beabsichtigte England, einflußreiche Juden für den Eintritt Amerikas
in den Krieg gegen Deutschland zu gewinnen. Dies war ein doppelter
Wortbnich der britischen Regierung!
3. Beispiel: Während des Weltkrieges hat die britische Regierung
am 20. August 191 7 den Indern volle Selbstverwaltung und den Statu»
der anderen britischen Dominien zugesichert. Was tat Großbritannien?
Auch dieses Wort wurde schmählich gebrochen, und Indien ist heute,
20 Jahre nach dem Kriege, unter einem dünnen Mantel nichtssagender
Scheinkonzessionen nichts anderes, als was es immer war, nämlich
eine britische Kolonie, Dies war ein weiterer englischer Wortbruch I
Vor einigen Tagen hat nun England, wie wir in der Presse lesen,
Indien erneut dasVersprechen der Selbstverwaltung gemacht. Wir können
getrost den Bruch auch dieses Wortes bereits im voraus registrieren.
4. Beispiel : Das britische Reich ist in Amerika während des Welt-
krieges freiwillig ungeheure Schulden für Kriegslieferungen eingegangen
mit ganz klaren und präzisen Rückzahlungsversprechungen. Was tat
234 Peutochland- England [106
Großbritannien? England hat diesen Schuldenvertrag einfach ge-
brochen und nicht bezahlt. Es denkt auch in Zukunft nicht daran,
diesen Betrag von 10 Milliarden jemals zu bezahlen, aber bereits jetzt
ruft es schon wieder in Amerika nach Krediten und Unterstützung,
und zwar wiederum zur Lieferung von Kriegsmaterial gegen Deutsch-
land. Gewissenlose Elemente möchten wie im Weltkriege auch heute
wieder an solchen Krediten ihr Blutgeld verdienen. Interessant wird
es aber sein, ob das amerikanische Volk, das die englische Kriegsschuld
von damals auf sich nehmen mußte, auch heute wieder gewillt ist,
zugunsten einiger Parasiten neue und völlig sinnlose Opfer auf sich
zu nehmen und seinen Lebensstandard einzuschränken.
5. Beispiel: Am 30. September 1938 schloß Herr Chamberlain in
München auf sein eigenes Drängen mit dem Führer eine Vereinbarung
ab, in der der Wunsch der beiden Führer ausgedrückt ist, niemals
wieder Krieg gegeneinander zu führen. Was aber tat Herr Chamber-
lain? Herr Chamberlain hat dieses Abkommen gebrochen. Denn: er
duldete in London bereits wenige Tage nach Abschluß dieser Verein-
barung die wüsteste Kriegshetze gegen Deutschland, er predigte die
Aufrüstung mit allen Mitteln, beteiligte sich selbst an der Hetze und
erklärte unter Bruch des Münchener Abkommens am 3. September 1939
Deutschland den Krieg.
Diese Beispiele britischer Wortbrüche stammen aus der letzten
Zeit. In Wahrheit stehen an jeder Etappe des Aufbaues des britischen
Imperiums in den letzten Jahrhunderten unzählige Wortbrüche. Es
ist nicht umsonst, daß der Volksmund, und zwar gleichermaßen in
der ganzen Welt das Wort geprägt hat „perfides Albion!" Schon vor
bald zweihundert Jahren hat Friedrich der Große, als er im Sieben-
jährigen Kriege von den Engländern treulos verlassen wurde, folgendes
gesagt: „Einem Verbündeten die Treue brechen, Komplotte schmieden,
wie sie keiner seiner Feinde ersinnen könnte, mit Eifer auf seinen
Untergang hinarbeiten, ihn verraten und verkaufen, ihn sozusagen
meucheln, solche Freveltaten, so schwarze und verwerfliche Hand-
lungen — das ist England!**
Folgenschwerer aber als diese Beschuldigung des deutschen Volkes,
die aus dem Munde eines britischen Ministers kindisch wirkt, ist die
politische Bedeutung der Chambcrlainrede. Jedes Wort, das Herr
Chamberlain vor dem englischen Parlament am 12. Oktober gesagt
hat, beweist, daß zwischen der großzügigen und säkularen Einstellung
des Führers und dem materialistischen Starrsinn des Herrn Chamberlain
eben ein Abgrund klafft. Herr Chamberlain spricht zwar auch vom
Frieden, aber dieser Friede heißt: „Zurück zu Versailles und Vernich-
tung des Nationalsozialismus!** Dieser Friede würde heißen: Verewi-
gung von Zwietracht, Unfrieden und Unordnung in Europa und Vernich-
tung des deutschen Volkes. Aber da mag Herr Chamberlain sich noch so
viel Mühe geben : Diese Zeiten kommen niemals wieder, und die Idee, ein
80-Millionen-Volk vernichten zu wollen, ist würdig eines Don Quixote.
Das historische Friedensangebot des Führers vor dem Reichstag
aber hat Herr Chamberlain nicht nur nicht verstanden, sondern er hat