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Full text of "Grundriss der Geschichte der deutschen National-Litteratur. 4e, verbesserte und umgearb. Ausg. 5 ..."

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^  aL^GüST  KOBERSTEIN'S 


(JRUXDRISS  HRK  OFSCHirmT. 


DKH 


iLI.">CliKN  .NAIlO.NALUTKKArUK 


FÜNFTE  UMGEAKBEITETE  APFLAGE 


VOM 


KARL  BARTSCH 


VIERTER  BA^^D. 


I  EIFZir., 

VKftliAO   VON   K   c,    W.   VOGEL. 

1873. 


AUGUST  KOBERSTEIN'S 

GRÜNDRISS  DER  GESCHICHTE 

DER 

DEUTSCHEN  NATIONALLITERATÜR 


FÜNFTE  UMGEARBEITETE  AUFLAGE 


VON 


KARL  BARTSCH. 


VIERTER  BAND. 


LEIPZIG, 

VERLAG  VON  F.  C.  W.   VOGEL. 
1873. 


AUGUST  KOBERSTEIN'S 


GESCHICHTE 

DER 


DEUTSCHEN  NATIONALLITERATÜR 


VOM  ZWEITEN  VIERTEL  DES  ACHTZEHNTEN  JAHBHÜNDERTS 
BIS  Zu  GOETHE*S  TOD. 


FÜNFTE   UMGEARBEITETE  AUFLAGE 


VON 


KARL  BARTSCH. 


/^-  '/f^ 


ZWEITER  THEIL.  Vi  \r^^ 


LEIPZIG, 

VERLAG   VON   F.    C.   W.   VOGEL. 
1S73. 

^  ^   ^  ;::  :- 


INHALT  DES  VIERTEN  BANDES. 


SECHSTE  PERIODE  (Fortsetzung). 

Vom  zweiten  Viertel  des  achtzehnten  Jahrhunderts  bis  in 
das  beginnende  vierte  Zehent  des  neunzehnten,  oder 

bis  zu  Ooethe*s  Tod 3 

Vierter  Abschnitt,  üebersicht  über  den  Entwickelungsgang  der 
Literatur  überhaupt  (Fortsetzung). 
Von  1773—1532. 
I^essing  zieht  sich  von  der  ästhetischen  Kritik  ganz  zurück  nnd  liefert 
auch  als  Dichter  bloss  noch  seinen  ..Nathan",  warnt  aber  zuvor 
sehr  ernstlich  vor  den  Verdächtigern  aller  Kritik,  die  alle  Regeln 
verwerfen  und  alles  von  dem  Genie  allein  erwarten  wollen.  Grosser 
Nachtheil,  welcher  der  Fortbildung  der  schönen  Literatur  durch 
die  Dichter  der  Sturm-  und  Drangzeit  daraus  erwächst,  dass  ihnen 
ein  Vertrauen  erweckender  kritischer  upd  kunstphilosophischer 
Führer  fehlt.  Allgemeine  Beschaffenheit  der  neuen  kunsttheore- 
tischen Schriften  und  der  in  den  Uterarischen  Zeitschriften  geübten 

ästhetischen  Kritik 3  ff . 

Der  Eintritt  einer  neuen  Epoche  zu  Anfang  der  Siebziger  deutlich 
genug  angekündigt  in  den  Urtheilen  über  die  angesehenem  Dichter 
aus  den  letzten  vierzig  Jahren,  so  wie  in  dem  Verhalten  der  neu 
auftretenden  zu  den  noch  lebenden  liltem:  Mauvillons  und  Unzers 
Briefe  .,über  denWerth  einiger  deutschen  Dichter"  etc. ;  die  Dichter 
des  Göttinger  Kreises  und  Goethe  mit  seinen  Jugendfreunden  gegen- 
über den  altern  Dichtern 13  ff. 

Allgemeiner  Geist  und  Charakter  der  Bestrebungen  auf  den  Gebieten 
der  Dichtungstheorie  und  der  dichterischen  Production  im  Beginn 
der  Sturm-  und  Drangzeit;  Natur,  Originalität  und  Genie  werden 
die  Losungswörter:  bevorzugteste  Vorbilder;  Herders  Einfluss; 
Gründung  der  „Frankfurter  gelehrten  Anzeigen**;  die  Blätter  „von 
deutscher  Art  und  Kunst" ;  Klopstocks  -deutsche  Gelehrtenrepublik**. 
Die  Neugestaltung  des  deutschen  Drama's  vorzugsweise  von  dem 
goethe'schen  Kreise  ausgehend ;  die  Neubelebung  der  rein  lyrischen 


vt 


Inhalt. 


and  der  eiiisch-Iyrischen  Poesie  vornehmlich  von  den  GAttingcrn  ge- 
pflegt ,  Anmerkungen  übor's  Theater-  von  Lenz  und  J.  G.  Schlossers 
Schreiben  des  -Trinzen  Tandi"  etc.;  BUrgers  .Hcrzensausguss  Über  Volks- 
poesie**  und  Herders  Abhandlung  „von  Aehnlicbkeit  der  mittlem  eng- 
liscben  und  deutschen  Dichtkunst-  etc 22  ff. 

Erste  Hauptwerke  in  der  dichteriscbeu  Production  der  jungen  Geni&li- 
t&tea  (OoclhL-'a  »Götz  von  Uerlichingon"  und  -Wertlier".  Bürgers 
.Lenore^);  gro&se  Hegaamkeit  der  Productionslust  in  vcrscbiodeueu 
poetischen  Gattungen;  die  Dichter  der  neuen  Scbule.  ihre  Beziehungen 

und  Verbiniiungen  unter  einander '. ^7  ff. 

\\*iilfr3prucb  und  Widerstand  gegen  Ibrel'beorien  und  deren  Anwen- 
dung; die  neue  Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften  etc.;  der 
deutsche  Merkur;  die  allgemeine  deutsche  Bibliothek;  Lichtenberg 
und  andere  Gt-guer i>7  ff. 

Die  Fortsfhritie  der  scb/tnen  Literatur  des  Sturms  und  Dranges  zeigen 
sich  nur  mehr  an  einzelnen  Krscheinuugeu  als  an  dem  (ian^cu  der 
neuen  Dichtung,  viel  mehr  in  den  kleinen  als  in  den  grossen  Galtungen, 
und  hier  TorzOglich  nur  au  Gocthe's  Werken.  Haupt verirmngen  und 
Uanp6nangel  in  der  grossen  Mehrzahl  der  dichterisL-ben  Erzeugnisse, 
vornehmlich  im  Drama  und  im  Roman s5  ff. 

Goethe,  unter  allen  jungen  Dichtern  der  Sturm-  und  Drangzeit  einzig  und 
allein  mit  der  Vollkraft  einer  genialen  r»ichterntttur  begabt,  stn-bt  auch 
schon  früh  sehr  entschieden  nach  einer  kiinitllerischen  Ocs-taUung  seiner 
Stoffe;  bat  sich  iu  allen  Dichtarten  versucht  und  bietet  in  dem  gescbicht- 
Ucbeo  Verlauf  seines  dichterischen  Hervorbringens  ein  Abbild  von  dem 
Kntwickclungs^ange  uusrrer  vaterUndischeu  Dichtung  überhaupt.  Werke 
seiner  ersten  Periode  (-Götz  von  Berlichingeu".  Antunge  des  »Faust*, 
.Werthers  Leiden".  Lieder  und  Balladen  etc.» **h  ff 

Altniiihlichcs  Kinleuken  der  mebten  jungen  Dichter  des  Stunns  und  Dranges 
in  ein  gemesseneres  und  ruhigeres  Verfahren  und  immer  sithtlirher 
werdendes  AuäeinanJergehen  ihrer  Geunnnngen  und  ßestn-bungen; 
lioelbe'ä  Verhalten  zur  Literatur  seit  seiner  Ankunft  in  Weimar  bis 
Eur  Italien.  Reise;  Schillers  Jugendwerke:  W.  Hnnse's  .Ardtntjhelto* ; 
AuBgang  und  Nachvirkunn^en  üer  Sturm-  und  Dr&ngzeit \\(t 

Gegonaber  der  mehr  idealinti&chen  uud  tragi»eheu  Dichtung  des  Stnrms 
ODd  Dranges  wird  von  vielen  nanihfifien  Srhriftsiellern  iiocb  eine  ganz 
ander«,  m«br  realistiK^be  und  humoritstisdiegeptlcei;  allgemeinrg  gegen- 
•italiehea  VerhMtuiss  Kviscbeu  beiden;  Aehuliehkeit  und  Zusammenhang 
dttselbm  mit  dem  Gegensatz  jtwiücben  KIopstock<i  niid  Widands  Poesie 
In  denSech/.igern,  Wielsnds  grosser  Aühanur.  hohes  Aiisebu  und  Muster- 
gültigkeit unter  den  den  Originalgenies  abholden  SchriftaU'lleru   ...      137  ff. 

WieUnds  Püe>ie  icii  den  oralen  siebziger  Jahr^-n;  gebOit  dem  Krüsston 
uud  hegten  Theile  uQcb  in  die  erzählende  Gattung;  vortheilbafte  Ver- 
indtrungen  In  dem  lliarakier  seiner  neuen  Werke:  erzÄbleude  Dich- 
tungen in  Versen;  Rüuiftne  Uü  ff. 

Der  «rxäblenden  Gaituiite   und   zwar  dem  Roman  wenden  sich  auch  vor- 

f..,r>.«,.;.^   jj(j   mit  Wielaud   mehr   oder    wreniger  innerlich  verwandten 

N-r   run   realtsiUcher  and  humoristischer  Richtung  /.u.    Ge- 

^t.llLull.:  nnd  l'barakter  des  deutschen  Romans  unter  vielfachen  fremden 

Klntlduen  von  der  Mitte  der  Vimiger  bis  in  den  Anfang  der  Siebziger     i:i4  ff. 

ron  dem  Anfang  der  Siebxlgvr  bis  gegen  das  Ende  der  Achtziger  16?  ff. 


Iiibalt. 


vu 


8clU 

rbuDgeo   der  den  Th^orieu  dor  Originalgt^uieü  abhulden  Dicliier  im 
la;  d(*8&6U  dAdureli  mehr  und  molir  besUtnmtt*r  Charakter         .    .     t'."!  fl. 

Iffiaud  und  KoUebuc  uJs  I>ruumtiker 2ii*)  ff. 

LafontaLno  uls  Kuuianscbreiber 222  K. 

Pas  Ceberhauiduehmen  der  Viuhchreibem  in  der  dramatischen  wie  iu  der 
erzÄhlenden  CJattung  h.tt  beide  gegen  die  Mitte  derNeuniiger  zu  tiefer 

Entartung  und  YiTwildtTiing  geführt 22r»  ff. 

Eine  neue  Wenduni;  dt-r  t-chöuen  Literatur  tum  Bedseru  tritt  erüt  um  die 
Mitte  dtr  Neunziger  ein,  ht  aber  rtvhon  in  den  beiden  vor  au  fireh  enden 

Jahrzeboten  vorbereitet 239 

dnrcb:  a)  surgfultige  and  gescbmackvoUe  mefxLäcbe  Uebersetzungen 
fremder  Dichtungen  (Ramler,  Herder,  J.  H.  Vosa,  A,  W. 
Schlegel  u.  A.i 240  ff. 

b)  GcKJthe's  neu  briebte  dicbtoriscbo  Thatigkcit  während  seines 
Aufeothulis  in  Italien  imd  anmittelbtir  nach  seiner  Heimkehr     250  ff. 
(Gleichzeitige  Leistungen  anderer  Dichter  in  den  beiden 
grosBi'n  Gattungen  I .     293  ff. 

c)  die  Fortschritte  der  deutschen  Wissenschaft 318 

nomentJirh  der  Aesthctik  .  31$  ff. 
der  Geschichte  überhaupt  ...  3^8  ff. 
und  der  Literaturgfscbichtc  iiibbebondtre 3SI  ft'. 

Go«the  und  Schiller-  Ihre  schrift^iellprische  Thiiiigkeit  unroiltelbar  vor 
Ihret  wechsc-Iäeitigen  Aunäb'.'rung.  Schüler  ludet  Goethe  zur  Tbeilnahnie 
an  den  .Hören-  ein:  Verbindung  beider  Dichter  zu  gemeinsamer  Wirk- 
•4ink«it.    Gruudnng  der  . Hören"  und  de«  -Musenalmanachs-.    .    .    .     403  ff. 

Was  mit  den  ..Floren-  bezweckt,  und  wie  weit  dieser  Zweck  erreicht 
wurde;  Will  Schiller  und  was  Goelh«;  dazu  geliefert;  ihre  Mitarbeiter; 
Aufnahme  der  Zeitjichrirt  von  Weiten  des  Publicums;  geha**>iges  Vcr- 
haJte»  der  Tageskritik  7.u  ihr 413  ff. 

KuckwirkuBg  der  wenig  günstigen'AntJDahme  der  «Hören-  auf  Schiller  und 
Goethe:  die  -Xenien-;  ihr  Charakter  im  Allgemeinen;  Persönlichkeiten, 
die  darin  b^-Bonders  mitgenommen  waren;  ihre  Wirkung  auf  dasPubli- 
cuui  uberhau[it,  w  wi**  auf  die  augi<grlffenen  Sebrift.ite]Ier  und  deren 
freunde  und  Anhänger  im  Besonderu.  I-j*wJcderungsschrifieu  auf  die 
.Xcui'iü";  üoifthe  dariu  noch  mehr  augegriöea  als  Schiller.  Weitere 
Folgen  dea  Xenionstreiies 427  ff. 

Ufginn  einer  nen<*n  gros'jarUgGn  dichterischen  Thatigkeit  Goethes  und 
Schillere:  „Wilhelm  MW^ters  LchrJÄhre"  vollcudet;  Schillers  lebendiges 
und  durch  seinen  Beirath  betb.itigtes  luteresse  an  dem  allm.ihlichen 
WVnleu  des  RoTiiaos.  D.-ubirch  zugleich  iu  ihm  die  Neigung  zu  eigener 
dächteriäcfapr  rroductioD  wieder  geweckt;  sein  Uebergang  dazu,  und  be- 
Kind^T»  zum  fJnim.-i,  vermittelt  durch  didaktisch-lyrische  GedicUto.  Epi- 
gramme und  die  Abhandlung  . über  naive  und  äeutimentalibcbe  Dichtung". 
Krue  kleinere  Oedichio  von  Goethe;  sein  Kpos  ..Hcrm.Tnn  und  Doro- 
thf.A*'  begonnen  nnd  vollendet.  Glückliche  Wirkung  de-:selben  auf 
ScbiUen  künstlerische  Bildung;  seine  Kiickwendnng  zur  dramatischen 
Gattung  nnd  insbesondere  zur  Tragödie;  AViedeiaufnahme  des  Plana 
and  der  Vorarbeiten  zum  .Wallenstein";  langsames  Vor&chreiteu  der 
Arbeit,  üoctbe  entwirft  Plane  zu  neuen  epischen  Dichtungen;  wie  weit 
er  mit  d<ren  Austahrung  gekommen;  ..Faust"  wieder  vorgenommen;  er 
grOndet  mit  H.  Me>er  die  ^PropylikeD\    Die  im  mündlichen  und  brief* 


INHALT  DES  VIERTEN  BANDES. 


SECHSTE  PERIODE  (Fortsetzung). 


Seit« 


Tom  zweiten  Viertel  des  achtzehnten  Jahrhunderts  bis  in 
das  beginnende  vierte  Zehent  des  neunzehnten,  oder 

bis  zu  Goethe*s  Tod 3 

Vierter  Abschnitt  Uebersicht  über  den  Entwicklungsgang  der 
Literatur  überhaupt  (Fortsetzung). 
Von  1773— IS32. 
Lessing  zieht  sich  von  der  ästhetischen  Kritik  ganz  zurück  und  liefert 
auch  als  Dichter  bloss  noch  seinen  „Nathan",  warnt  aber  zuvor 
sehr  ernstlich  vor  den  Verdächtigern  aller  Kritik,  die  alle  Regeln 
verwerfen  und  alles  von  dem  Genie  allein  erwarten  wollen.  Grosser 
Nachtheil,  welcher  der  Fortbildung  der  schönen  Literatur  durch 
die  Dichter  der  Sturm-  und  Drangzeit  daraus  erwächst,  dass  ihnen 
ein  Vertrauen  erweckender  kritischer  upd  kunstphilosophischer 
Führer  fehlt.  Allgemeine  Beschaffenheit  der  neuen  kunsttheore- 
tischen Schriften  und  der  in  den  Uterarischen  Zeitschriften  geübten 

ästhetischen  Kritik 3  £F. 

Der  Eintritt  einer  neuen  Epoche  zu  Anfang  der  Siebziger  deutlich 
genug  angekündigt  iu  den  Urtheilen  über  die  angesehenem  Dichter 
aus  den  letzten  vierzig  Jahren,  sn  wie  in  dem  Verhalten  der  neu 
auftretenden  zu  den  noch  lebenden  altern:  Mauvillons  und  Unzers 
Briefe  -über  den  Werth  einiger  deutschen  Dichter**  etc. ;  die  Dichter 
des  Göttinger  Kreises  und  Goethe  mit  seinen  Jugendfreunden  gegen- 
über den  altern  Dichtern 13  ff. 

Allgemeiner  Geist  und  Charakter  der  Bestrebungen  auf  den  Gebieten 
der  Dichtungsthcorio  und  der  dichterischen  Production  im  Beginn 
der  Sturm-  und  Drangzeit-,  Natur,  Originalität  und  Genie  werden 
die  Losungswörter;  bevorzugteste  Vorbilder;  Herders  Einfluss; 
Gründung  der  .Frankfurter  gelehrten  Anzeigen-;  die  Blätter  „von 
deutscher  Art  und  Kunst" ;  Klopstocks  „deutsche  Gelehrteurepublik**. 
Die  Neugestaltung  des  deutschen  Drama*s  vorzugsweise  von  dem 
goethe'schen  Kreise  ausgehend ;  die  Neubelebung  der  rein  lyrischen 


Inhalt 


Soll« 


Mitarbeiter;  Tieck.  Anderweitig  boscliafdgt,  ist  nicht  ddruntor;  sein 
.poetisches  Jourunl".  Der  bcitleu  SchlegC'l  andere  Arbeiten  neben  nnd 
zunächst  nacb  den  zum  .Athenäum"  gelieferten  Artikeln.  ScbrifUtcIle- 
rische  Thatigkeit  ausser  Be7.ujj  zu  jener  Zciiscbrifi  von  Novalis,  Item- 
hardi,  Schleiermucber,  ächelling.  Jena  wird  eine  Zeit  Uug  der  die 
Gründer  der  romant  Schule  uud  einige  ihrer  her  vor  rage  ndaten  übrigen 
Mii^flieder  örtlich  vereinigende  Mittelpunkt.  Krweiterung  des  Kreises 
durch  meltrere  jüngere  Männer.  —  Auflosung  desselben  bei  fortdauern- 
dem geistigen  Verkehr  und  literarischer  Verbindung  seiner  Mitglieder. 
.Charakteristikeu  und  Kritiken"  der  beiden  Scbicgel ;  .Kuropa-  heraus- 
gvgeben  von  Fr.  Scblogel;  Miiarboirer  daran  und  an  dem  .Muiteoalnui- 
Dach*  von  A.  W.  Schlegel  und  Tieck.  Zuwachs  der  romantischeu 
Schule  an  neuen  Kräften,  vornehmUch  in  Jena  und  in  Iterliu:  Crriee, 
ßrontano,  Steffens,  Vermehren,  Klingemann,  Frz.  Ilona;  W.  von  Schütz. 
Ad.  Müller,  von  Arnim,  Neumann,  Hitzig,  Varnhagea  von  Kuset  von 
Chamisso,  Foaque.  Zach.  Werner;  —  Ileinr.  von  Klein 

Pie  Richtung  der  Uomantiker  von  Anfang  an  eine  den  herrschenden 
Jiiteraturtendenzen  schlechthin  entgegengesetzte  und  eut^'cgenstrebeude; 
ihr  Absehen  auf  eine  durchgreifende  Keform  der  vorgefundenen  aU- 
gemeiuen  Literaturziistandc;  hieha  bcgegueu  sie  den  Absichten  und 
Bestrebungen  O'oethe's  und  Scliillere;  während  diese  aber  vorzüglich  als 
iJichter  reformierend  wirken,  bleibt  die  starke  Seile  der  Uomantiker  die 
äjtheUsche  Kritik.  Tiefer  Standpunkt  derselben  vor  dem  Auftreten  der 
Romantiker.  Zweifache  Kichtung  ihrer  Kritik  als  einer  negierenden 
und  einer  positiven.  Das  Signal  der  erstem  schon  durch  die  -Xenien" 
gegeben.  Tiecks  und  der  beiden  Schlegel  kritische  Aufsätze  und  Frag- 
mente in  verschiedenen  Zeitschriften  erregen  vornehmlicli  den  llasB 
gegi*n  die  neue  Schule.  A.  W.  Schlegel  uud  »eine  Kreun<le  gegen  die 
Kritik  des  Tages:  des  erstem  Beurtheilung  der  dichtmscben  Troduc- 
iiuu,  be&ouders  im  Fache  des  Itomau»  und  auf  dem  Gebiete  der  Lyrik; 
Femhardi's  Theaterkritiken,  vorzüglich  Itftunds  und  Kotxebur'^  Stücke 
betrefrcfid;  der  iieiden  Schlegel  und  ihrer  Freunde  anderweitige  Kritik 
im  .Athenäum*;  A.  \V.  Schlegels  .Vorlesungen  über  Literatur,  Kunst 
nnd  Geist  des  Zeitalters* 

A.  AV.  Schlegels  Bezeicbuaug  eines  Grundfehlers  der  ästhetischen  Kritik. 
vi«  sie  so  lange  im  Allgemeinen  geübt  wurden;  »ein  BetrritT  von  der 
wahren  C'orrectheit  im  (iegcusaiz  zn  dem,  wa^  mau  zt>ithor  darunter  v»*r- 
standen.  l'oäitive  uder  rharakterisiereude  Kicbtung  der  ästhetischen 
Kritik*  der  Komantiker;  ihre  rigt-nen  Lrlstungcu  darin;  A.W.  Schlegei 
darin  am  glücklichsten;  seine  vor^ügHclisten  Kritiken;  die  werthvollsten 
öder  bemerkenswertlieeten  von  Fr.  Schlegel  und  Bernhardi.  (Jute  Wir- 
kungen der  poleinisiervnden  and  der  charakterisicreuden  Kritik  der 
Komantiker 

ADknn(ifung  ganz  neuer  VirhiiltmäSL'  zwischen  der  deutscbeu  und  fremden 
Literaturen  alter  und  nener  Zeit  durrh  die  Romantiker,  theils  in  lie- 
sondern  charakterisierenden  Aufsätzen  nud  Utcrargeschichtlichen  L'eber- 
sichten,  tbeüs  in  kunstmAi^igeu  L'chersct/uogeu ;  hierin  Einscbla^eudcs 
von  den  beiden  SchJeg*d,  Tieck,  Uno«.  Sich  steigerudcs  Bestreben  der 
Freunde,  ein  allgpmcineres  Interesse  an  der  Focsie  dor  sadr-!-^"'-''"n 
Kationen  zu  erwecken.  Kinburgirung  Shakspeare's  durch  A  .^^ 
rebersctxtiag.    Frühzeitiges  tingehn  der   Bomantiker  auf  Üu  i:-  m- 


GI3  ff. 


»94 


I&  ff. 


lull  alt. 


XI 


B«t(a 

tercfiSü  an  der  Poesie  des  Morgenlandes.  Dire  uud  nameutlich  A.  W. 
ScMegela  und  Ticcks  Rcmuhnngon.  dem  Mittelalter  überhaupt  und  der 
üUdcutfclieD  Dichtung  insbesondere  gn^ssere  Anerkennung  zu  verBchafleu. 
In  der  geschichtlichen  Auffassung  und  Dargtelhuig  heimificher  und 
fremder  Utenitnrzustände  der  Vorzeit,  von  Herder  begonnen  und  von 
drn  Itoniautikern  weiter  geftkhrt,  kündigt  sich  der  Aufang  einer  eigent- 
lichen LitiTatuGgCächichtschrcibung  in  Hentst-hland  nu 734  ff. 

Die  Kunsttheorie  der  neuen  Schule  wird  lmu])ts:ichlicl)  vou  Fr.  Schlegel 
ftufgcetclU  und  verkündigt :  ihr  anfängliches  Verhaltniss  zu  Schillers  kunst- 
philosophitchen  Scliriftcn ;  theils  beeiuttusat  von  Fichte's  ^Wissenschafts- 
^^  lehre",  Schlt'iennachers  „Kedeuüber  die  Religion"  und  Schellings  Xatur- 
^H  Philosophie,  theih  sich  mndiHcierend  mit  der  Erweiterung  von  Schlegels 
^™  Hterargeschichtlichem  Uesichtskreise.  Der  Vortrag  seiuer  Kuu&tlehi"e 
r  kommt  über  eine  fragmentarische  Form  nicht  hinaus;  Schriften,  worin 
I^H  er  sie  vornehmlich  niedergelegt  hat.  Ihre  Gruudzüge.  wie  sie  vou  ihin  nach 
^^P  und  uach  gefasstuodiuisgcäprochen  worden.  Seine  Lehre  vou  einer  Zu- 
^^^  ktmftspoesie :  nach  dieser  Auffassnng  der  dichterischeu  Thätigkeit  und 
ihres  Zieles  wird  die  Kunst  von  dem  wiiklichcu  Lebfu  getrennt  und 
2U  absfthiterS(']bs't;indigkeit  über  dasselbe  erhoben;  die  Verwirrung  der 
iuithetificbeu  BegnlTe  noch  gesteigert  durch  die  Forderung,  dasa  nicht 
allein  alle  poeti.scheu  Gattungen  vereinigt,  sondern  auch  die  W'issen- 
sclufcft  und  zuletzt  noch  die  lleiigion  in  den  engsten  Verband  mit  der 
Toetie  gebracht  werden  aoUen.  Die  vollständige  VerwirkHcbnng  dieser 
im  Werden  he^ilfcuen  Poesie,  die  als  die  romantische  bezeichnet  nnd 
als  eine  progrt-ssive  t'niversalpoeaie  chaiakterieiert  wird,  is*  nur  mög- 
lich, weiin  wir  eine  neue  Mythologie  besitzen,  die  sich  auch  bilden 
Ufae.  Worin  bis  dabin  die  einzigen  romantischen  Erzengnisse  des  Zeit- 
alters zu  suctirn  seien,  wenn  vou  Ooetbe  abgesehen  werde,  der  der  uni- 
renelläte  aller  Dichter  sei,  dessen  Knnst  zum  erstenmal  die  ganze  Poesie 
der  AJt4JLa  nnd  der  Modrrnen  umfasse  und  den  Keim  ewigen  Fortschrei- 
l«i»  enthalt*».  —  Fr.  Schlegels  Theorie  %brt  die  Dichtung  in  der  Lehre 
von  einer  esoterischen  Poesie,  Im  Gegensatz  zu  einer  exoteriscben,  der 
Didaktik  und  einer  svmbolibierenden Mystik  zu:  Charakterisierung  und 
0<^eu»tiiude  der  esoterischen  Poesie;  was  dafür  schon  mit  dem  „Hein- 
rich VMO  Uftordini,'en*  von- Novalis  und  mit  der  „Genoveva"  von  Tieck 
nnnen  Bei.  —  Eintluas,  den  Schelling,  Xovalis  und  die  Schriften  von 
UAhme  ttiit'  Scbletrels  Grundansirhten  g*'habt.  —  Auch  in  der  Philo- 
»phir  sei,  wIl'  Schlt'gd  verlangt,  «iue  Scheidelinie  zwischen  einer  exo- 
terl^rh^n.  profanen  und  einer  esoterischen.  gebeimnissvoUen  Behand- 
le >  1  ziehen 748  ff. 

VtT  I  ,     der  anf  der  Grenzscheide  des    1>.  und  19.  Jahrb.  In  der 

Antawung  des  Wesena  der  Religion  und  ihres  Zusammenhanges  mit 
allem  geistigen  und  sittlichen  Leben  eintritt,  ist  noch  folgenreicher  in 
»einpm  Einriuss  auf  die  dichterische  Producrion  der  Romantiker  als  auf 
ihre  Kun&ttheorie.  —  Allm&hÜche  Lockerung  und  LV'sung  des  alten 
Bandes  zwibchen  der  deutschen  Dichtung  und  der  Religion  durch  die 
rat-  '  '  !  he  Aufkläruni;.  Wie  einzelne  iu  der  Literatur  hervor- 
n-  'ler  —  Hamann,  Lavaler.  Juug-Stilling,  M.  Claudius,  J.  G, 

Sch;r.ivtT,  i-r.  H.  Jacobi  und  Herder  —  sich  zur  Religion  verhielten, 
wie  andierseita  die  grosse  Maäse  der  Schriftsteller  und  darunter  die 
ef>teu  und  gröestea  Dichter  der  Nation.    EÜuc  Aendemog  hierin  tritt 


Inhalt. 


Schlegel,  Tieck  uud  Öchelliug.  Üauptetreich,  den  Nicolai  ia  einem 
Artikel  der  vou  ihm  winler  redigierten  allgcm.  deutschen  Bihliotbek  gegen 
die  neue  Schule  oder  die  «CHqnc"  zu  führen  vermeint.  Fichte's,  von 
A.  W.  Schlegel  herausgegebene  Schrift  gegen  Nicolai.  Dieser  setzt  mit 
mehreren  Ge-ainnuttgsgeiiossen  den  Kampf  gegen  die  neue  Schule  in  der 
allgem-  d.  bihUothek  bis  zu  deren  Eingehen  IMtü  ununterbrochen  fort  — 
Fehde  A.  W.  Schlegels  und  Schelliugs  mit  der  Jenaer  Ut.-Zeitung. 
L.  F.  Huber  tritt  in  dieser  Zeitschrlil  uud  nachher  in  Kotxebue's  «Frei- 
mUthigem-  als  ein  neuer  Gegner  der  Koiuaiitiker  auf.  Koteebue  seihst 
sucht  sich  wegen  vielvr  Angriffe  der  Uomantiker  gegen  ihn  an  denselben 
zu  rieben;  sein  -hyperboreischer  Esel- zieht  ihm  A.  W  Schlegels  -Khren- 
pforte  und 'rriumiihhogen"  otc.  zu.  Erweiterung  des  Kampfplatzes  und 
VcrgriMsorung  der  Zahl  der  Streitenden  auf  t>eiden  Seiten :  auf  der  einen 
and  auf  der  andern  ersclit^iuen  verschiedene  satirisclie  uud  pasquillan- 
tische  Schriften  in  Vfrscii  und  in  Prosa  ohne  Namen  der  Verfasser. 
Versuch,  di»  Ilauptvertretei'  der  Uomantik  im  Allgcmenieu  vun  der  Ber- 
liner  Itnhne  aus  Ut'herHch  ku  macheu  und  Tieck»  persönlicht^n  Charakter 
KU  TeruugliDipfen  Als  ontsdiiedciio  Feinde  der  neuen  Schule  zeigen  sich 
auch  Falk,  Merkel  und  Uottiger;  dagi^^i  gesellt  sich  als  neuer  Kampf- 
genosse den  altem  nomantiki'ni  Itn-niano  zu.  Die  .Zeitung  für  die 
elegante  Welt"  auf  ihrer  Seite  in  Artikeln,  die  besonders  gegen  Merkel 
nnd  Kotzebu e  gerichtet  sind.  Dagegen  von  Koizebne  .der  Freimüüiige" 
gegrilndet,  worin  er  nicht  bloss  g^t*n  ilie  Jtomantiker,  soudera  auch  gegen 
üoetbe  »eine feindselige Gesimiung  vollaiislUsst;  seine. E.xi^ectoratiünea". 
Merkel  übernimmt  die  Kedaction  des  .FreimUthigcn".  Der  Kampf 
»wischen  der  -Zcitun«  f  d.  elegante  Welt"  und  dem  -Freimiltlugcn* 
lasst  allmählich  in  seiner  Heftigkeit  nach;  dagegen  dauern  die  feind- 
seligen Artikel  gegen  die  Homantiker  und  gegen  tioethc  im  .Freimäthigen" 
bis  zum  J,  isüti  fort «HS  ff. 

flrrders  Verhiilten  gegenüber  den  «euen  Bewegungen  uud  Strebungüii  In 
Wissmsrliftft,  Dichtung,  ästhetischer  Kritik  und  knastmussigcr  l'ebcr- 
seizung  fremder  Dirhtun:ir«wfrke.  Anlässe  und  Ursachen  seiner  in 
Feindseligkeit  uhrrgehcmleu  Verstimmung  zunächst  iL;eL*en  die  nene 
Philosophie  und  sodann  gegen  alles ,  was  in  dvr  Wtsoouscliaft  und  in 
der  Kunst  mit  ihr  in  iritend  einer  Art  zuaammenliieug.  Wie  er  aber 
die  von  Kam  ausgegangene  Htmegung  in  der  Philosophie,  wie  über 
Schülern  bedeutendste  kunstphilosophische  Schriften,  wie  Ober  seine  und 
Goethe's  nrueste  poetischf  Werke»  wie  über  die  ili»»oreii9chen,  kritischen 
nnd  dichirrist  hen  Ueatrehungcn  der  Homantiker  nrtlietlte.  Seine  Vor- 
liebe filr  dir  namhaftem  Dichter  und  Prosaisten  der  alten  Schule.  — 
Stl^ruIlgen   und   Unt*<rlirechuni;en  des  guten   Kinveniehnli'ns   Wir  <  > 

mitt'oetfap  und  Srhdler  aeit  der  Mitte  dor  Ncnn/iKcr;  steine  zunehi 

Annäherung  aii  Herder  sj»7  ff. 

Itfkrkidick  auf  die  F.ntwlckelung  dri    ^ n^riiun   und   wisbcuschaflUchi^n 

Literatur,  auf  die  Fortüchrltte  und  die  Wtrksanikt^it  di.<r  Kritik  in  beiden 
Gebieten,  auf  lUe  vorgeschritt^'ne  Hildung  de«  Fublicumb  und  sein,  be- 
sonders durch  Kcldlb-r«  uinl  der  tx'iden  Schlegel  Wrmiticlung  verändert«» 
Vpr  i:   LittTutur.   «eil  der  Mitte  der  Neunziger 

bi&  .  .  I  lernde  grosse  Missvcrhaitnisse  und  Mangel 

in  der  lUuraUir  und  in  t\vu  allgemeinen  Bildungszustanden.  von  A.  W 


Inhalt. 


X7 


Schlegel  üchoD  1^03  hervorgehoben.  Das  fortvirkonde  Grundubel  in 
nnaercr  gthöiien  I.iterncnr  mit  seinen  hAiiptsüchlicltöten  Folgeu  fiir  Ihren 

KnlwickeluiigsgaiiLt   . OO-I  ff. 

Irkung  dos  Ttruck»  der  Fretndhcrrsciiaft  auf  das  deutsche  Leben  und 
auf  die  zeitherigeu  Kichtangen  der  poetischen  und  der  wissonsohftft- 
licbeo  Literatur.  Damit  zusammenhangende  Bestrcbunifeu  der  beiden 
ScMegcL  Ad.  Mallere.  K.  M.  Arndts,  Schellings  und  vorzüglich  Fichte's 
i^Beden  an  die  deutache  Nation").  Das  Interesse  an  der  vaterländischen 
Vorzeit  und  insbesondere  uu  der  altdeutschen  Literatur  fiingi  an  allge- 
meiner und  lebhafter  zu  werden;  Andeutung  der  sich  tlur:in  kniipft^nden 
ruiheru  und  entferntem  Folgen 912  ff. 

irkuDgen  und  Folgen  der  Freiheitskriege  auf  dem  Litcraturgebiet.  Die 
Hoffnung,  ditö»  die  deutsche  Literatur  endlich  auch  etueu  wahrhaften, 
tiefen  ond  allseitigen  volksthumlichen  Ctchatt  gewinnen  werde,  scheint  ^ich 
anfkuiflich  erfüllen  zu  wollen,  besonders  in  der  Lyrik.  Die  bald  ein- 
IreiendeWifudnng  und  Geataltung  der  öffentlichen  VorhÜtniese  in  Deutsch- 
lund hemmt  den  vurstrebonden  Geist  der  Nation,  bewirkt  einen  Rückgang 
der  vchOueu  Literatur  uder  lenkt  sie  in  neue  Irrwege  eiu:  wiilirend  der 
znnuchst  auf  die  FreiheitsUriege  folgenden  Jahre  bietol  sie  nicht  viel  mehr 
diLT  aU  eine  krankhafte,  in  ihren  Fruchten  immer  mehr  ausartende 
Nnchbbitbf'  der  Dichtung  der  beiden  voraufgehenden  Jahrzehnte.  Allge- 
mt'  ti^ristisclK*  nauptrUge  des  in  einz«'lu*»n  poctisduiu  (Gattungen 

Uli  iteu  vor  dem  Beginn  der  zwanziger  Jahre:  die  Nachfolger 

der  :*lurn  itomantiker:  die  Dichter,  die  sich  vorzuglich  Schiller  rxim 
Mnster  geuonimcu;  die  Satiriker;  die  für  blosis  augenblickliche  Luter- 
bftUung  sorgenden  Schriftsteller;  die  rcbersetzcr.  Aulltommcn  der  Vor- 
itoUojig  von  einer  sogeuannten  Weltliteratur.  —  Bessere  \N'endung  der 
schönen  Literatur  in  den  grossen  Gattungen  seit  dem  Ueginu  der 
cv&iuiger  Jahre:  Kintiuss  darauf  von  Walter  Scott,  Tieck.  Hegel  und 
dem  durch  eine  gründliche  Geschichtsforschung  und  IcIicnsvoUe  üc- 
Fiohicfatsrhreibung  geweckten  historischen  Sinn.  Dabei  kündigt  sich  aber 
auch  Bchon  der  F.intritt  einer  ganz  neuen  Epoche  in  unserer  scIiOnen 
Literatur  au,  die  mit  der  zweitpu  französischen  Kevolution  1^.')"  zu 
vollem  Durchbruch  kommende  Kpoche  des  juny,en  DeutschlamU.     .     .    930  ff. 

He  be'ioiitcudci'n  Werke  der  schönen  Literatur,  die  seit  Schillers  Tude 
bis  in  den  Anlang  der  dreissiger  Jahre  erschienen,  verdanken  wir  zum 
guten  Tbeil  einigen  altem  Dichtern.  Wieland.  Fr.  H.  Jacobi.  J.  H. 
Vo8«.  die  Grafen  Stolberg.  Klinger  und  die  beiden  Schlegel  haben  ent- 
weder ganz  dem  eigenen  dirhtcrisrhen  Hervorbringen  entsagt,  oder 
dichteu  nicht  mehr  etwas  Grosses  und  UervoiT.)gendes.  Goethe's  noch 
Ober  ein  Vierteljalirhuudert  liiuans  rastlose  ThÄtigkeit  ist  zwischen  poe- 
tiarktm  Schaffen  und  wisscnsrhaftUchpu  l''orsclmugen  getheilt:  der  erste 
Theil  des -Faust"  zum  Abschluss  gebracht,  ..die  Waldverwandtschaften-, 
.Dichtung  und  Wahrhrit"  nud  der  .weslüstliche  Divau".  Allgemeiner 
Charakter  di-r  Dichturi'p'eu  seines  hohen  Alters:  -die  Wanderjahre"  und 
der  zweitf"  Thiril  des  -Faiisl".  Jean  Pauls  jüneere  Werke  nach  dem 
.TitÄU"  und  den  -Flegeljalwen":  seine  Gtltung  beim  Piddicum.  Tieck 
hl*  in  sein  holx'reä  Alter  noch  immer  dichterisch  productiv;  was  von 
nach  dem  -Uciftviauns-  eracbiencn  ist:  lyrische  Gedichte,  raärchcn- 
EnrikhJnnsen,  .derl>iiumliüg",  -Fortunat-,  Novellen  («der  Aufruhr 


zn  Inhalt- 

S*ito 
in  den  Cevennen"),  „Vittoria  Accorombona".  —  Unter  den  hervorragen- 
den jOngem  Dichtern  steht  Heinr.  von  Kleist  als  Dramatiker  und  Er- 
zähler obenan:  „das  Käthchen  von  Heilbronn  %  «der  zerbrochene  Krug", 
„der  Prinz  von  Hombnrg" ;  Erzählungen.  Demnächst  zeichnen  sich  vor 
andern  aus  Uhland,  Haupt  der  sich  nun  bildenden  schwäbischen  Dicbter- 
Bchule ;  ROckert ;  Graf  von  Platen  -  HallermOnde  nnd  Immennann.  — 
In  demselben  Zeitabschnitt  herrscht  eine  ansserordentliche  Regsamkeit 
in  den  Wissenschaften 939  ff. 


ZWEITE  ABTHFJLUNG. 

DIE  NEUERE  ZEIT. 


E(>b«;it«iit.  ürundrus.   5.  Aufl.  IV. 


Sechste  Periode. 

TTO  zweiten  Viertel  des  achtzehnten  Jahrhunderts   bis  in 
da8  beginnende  vierte  Zehent  des  neunzelinten,  oder  bis  zu 

Goethe's  Tod. 


Fünfter  Abschnitt. 

üebcrsicht  über  Ueu  EntwickelungsgAug  der  Literatur. 
B.    Vou  1773  bis  IS32. 

§  298. 

Nicht«  war  der  zur  Mündigkeit  und  männlichen  Kraftflille  fort- 

IJMlireitendeu  Entwickelung  unserer  schönen  Literatur  vor  dem  Jahre 

'1773  förderlicher   gewesen,    als    der    innige    Verband    der   Produc- 

ftion  mit  der  Kritik  in  Lessings  schriftstellerischem  Wirken.   Er  war 

w'cli  deutlich  bewusst,   wie  vieles  er  der  letztem  in  seinem  eigenen 

jHerrorbriugen  zu  danken  habe,   und  hatte  daraus  die  feste  Ueber- 

i2:ang  gewonnen,  dass  die  wahre  Kritik  nimmermehr  das  Genie 

sticken,  dass  sie  aber  wohl  dazu  dieneu  kOnue,    dasselbe  nicht 

lein  vor  Verimingen  sicher  zu  stellen,  sondern  selbst  bis  zu  einem 

wisisen  Grade  zu  ersetzen*.  Als  er  daher  für  die  deutschen  Dichter, 

lie  mf  sein  Wort  hören  wollten,  den  Zwang  der  alten,  grössten- 


§  3llS.  I)  Id  der  berahmten  SLeUe  zu  Ende  der  Dramaturgio  (s.  Sclirifteu 
14**  f.i.  wonn  er  ein  Crtlieil  über  seine  dramtttiachcn  Ldp.tnngcn  mit  einer 
tbst«rkeTLutniäa  ansspricht.  die  schon  allein  das  Siegel  der  Wahrheit  auf  alles 
Icken  würde,  was  er  in  dem  Buche  Über  dramatiächc  Dichtung  und  dramatische 
gesagt  hat,  lehnt  er  die  Ehre,  für  einen  Dichter  gehalten  zu  werden,  well 
dramatische  Versuche  gewagt  habe,  von  sich  ab.  „Die  ilteeten  jener 
'*.  äussert  er  sich,  ,,8ind  in  den  .Tahrcn  hingeschrieben,  in  welchen  man 
»t  und  Leichtigkeit  so  gern  für  Genie  hält.  Was  in  den  penern  Erträgliches 
lu  bin  ich  mir  aebr  bewusst,  dasR  ich  es  einzig  und  allein  der  Kritik  zu 
cen  habe.  Ich  fohle  die  lebendige  Quelle  nicht  in  mir,  die  durch  eigene 
sich  empor  arbeitet,  durch  eigene  Kraft  iu  so  reichen,  so  frigchcn,  so  reinen 


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mmp^mmm 


VI.  Vom  zweitcü  Viertel  des  X\1U  Jahrhundertä  bis  zu  Goethes  Tod. 


'gen    , 


g  29S  theil8  auf  Miädver^tuiid  oder  auf  gauz  falschen  Vorauesotzungen 
ruhenden  Kunstregeln  beseitigt  hatte,  und  nun  gegen  die  Siebzi, 
hin,  unter  den  yerschiedenartigsten  Anregungen  im  Vaterlande  sei 
und  von  aussen  her,  das  Bedürfniss  nach  einer  originalen,  natu^ 
geniässcn  und  volksthütulichen  Dichtung  bei  uns  immer  fühlbarer, 
dos  Verlangen  darnach  auch  schon  lauter  mirdo:  schien  es  ihm  um 
80  nothwendigor,  vor  einem  Geschlecht  von  deutschen  Schriftstelleni 
zu  warnen,  die  anfiengen  alle  Kritik  verdächtig  zu  machen,  alle 
Regeln  ver^varfen  und  alles  von  dem  Genie  allein  erwarteten.  Er 
benutzte  dazu  den  Schluss  seiner  Dramaturgie,  mit  der  und  den 
wenige  Jahre  später  herausgegebenen  „zerstreuten  Anmerkungen 
über  das  Epigramm  und  einige  der  vornehmsten  Epigrammatisten 
er  selbst  als  Schriftsteller  von  der  acathetischen  Kritik  Abschi« 
nahm.  Nachdem  er  bemerkt  hat,  das  lange  in  Deutschland  be« 
dene  Vorurtheil  (die  Franzosen  im  Drama  nachahmen,  sei  eben  96 
viel  gewesen,  als  nach  den  Regeln  der  Alten  arbeiten!  habe  nicht 
ewig  gegen  unser  Geftthl  bestehen  können,  das  glücklicherweise 
durch  einige  englische  Stücke  aus  seinem  Schlummer  erweckt  worden 
sei,  fährt  er  fort^:  ,,Wir  machten  endlich  die  Erfahrung,  dass  die 
Tragödie  noch  einer  ganz  andern  Wirkung  fähig  sei,  als  ihr  Cor- 
neille und  Racine  zu  ertheilcn  vermocht.  Aber  ge'blendet  von  diesem 
plötzlichen  Strahle  der  Wahrheit,  prallten  wir  gegen  den  Rand  eines 
lindern  Abgrundes  zurück.  Den  englischen  Stücken  fehlten  zu  augen- 
scheinlich gewisse  Regeln,  mit  welchen  uns  die  französischen  so 
kaunt  gemacht  hatten.  Was  schloss  man  daraus?  Dieses:  dass 
auch  ohne  diese  Regeln  der  Zweck  der  Tragödie  erreichen  l 
ja  dass  diese  Regeln  wohl  gar  Schuld  sein  könnten,  wenn  man 
weniger  erreiche.  Und  das  hätte  noch  hingehen  mögen.  Aber  mit 
diesen  Regeln  tieng  man  an  alle  Regeln  zu  vermengen  und  es 
Überhaupt  für  Pedantcrei  zu  erklären,  dem  Genie  vorzuschrcibeu, 
was  es  tbun,  und  was  es  nicht  thuu  müsse.  Kurz,  wir  waren  auf 
dem  Punkte,  uu»  alle  Erfahrungen  der  vergangenen  Zeit  muthwillig 
zu  vcrscherten,    und    von   den  Dichtern   lieber  zu   verlangen,    d 


iigen- 

1  i3B 


Str&hl«n  «ufftchiesst:  leb  muM  «Uc«  durch  Druckwerk  und  Rotiren  ftos 
bertaf  preuen.  Ich  vQrdc  w  «rm.  so  kalt,  so  kunsiehtig  Min.  wenn  ich 
■inlgcirniMSCD  gelernt  bätti*.  fremdo  Sch&tae  beschdJca  ru.  borgen«  an 
roa«r  mich  xu  w&rmen  und  durch  die  Oliser  der  Kanal  mein  Au^  su  stftrkob^ 
Ich  bin  daher  Inner  br^cUiinit  oder  verdrOsaUch  gowordeo,  wenn  ich  sub  Nach- 
tbfiU  der  Kritik  otvaa  las  oder  hOrt«.  Sie  «oU  da«  Oenle  oatlduiD:  and  ich 
schmeichelic  mir.  etwa»  von  Ihr  zu  cHiali4*tt.  wa»  d*m  0«ni«  whr  nahe  kommt 
leb  bin  ein  Lahnirr.   drn  (ioo  Schtnali  'irb  erbauea 

kaan'^     V5I   ;,  42'  ff.  igcf^en  Klouon»    -  .-r 

U  215  3)  V|Ci   $  297.  Anm.  "?7.  '^t  <,  4W. 


EntwickeJuags^ang  der  Litwalur.    1773— J&32.    Aeetheüsche  Kritik.        5 

ider  die  Knnst  aufs  neue  für  aicli    erfinden  sollte.    Ich  wäre  eitel 
jDMg,  mir  einiges  Verdienst  um  unser  Tbeater  beizumessen,    wenn 
ich  glauben   durfte,    das  einzig'O  Mittel    getroffen   zu    haben,    diese 
rähning  des  Geschmacks  zu  hemmen."*    AU  Dichter  wie  als  Kri- 
iker  hatte  er  sich   mit  dem  Drama  immer  am  meisten  und  liebsten 
ischftftigt,    und  als  er  die  Dramaturgie  schrieb,    war  es  ihm  auch 
»llkoromen  klar  geworden,   dass  mit  der  Ausbildung  der  dramati- 
rhen  Gattung  für  die  deutsche  Literatur  erst  „die  höchste,  ja  die 
einzige  Poesie"  gewonnen  werden  konnte\    Der  Ausgang  des  ham- 
burgischen Nationaltbeaters,  an  dessen  Eröffnung  sich  so  grosse  Hoff- 
nangen  fQr  die  deutsche  Schauspielkunst  und  Bildung  knüpften,  hatte 
ihm  nun   dicBcs  Interesse  an  der  dramatischen  Poesie,  wie  an  dem 
'hcater,  und  damit,    wie  es  scheint,  auch   sein  früheres  lebendiges 
itere^ÄC  an  der  vaterländischen  schönen  Literatur  überhaupt  ver- 
ide4*.     Wenigsten»  stand  er  fortan  davon  ab,  mit  gewohnter  Kraft 
kd  Ausdauer   in    ihre   Fortbildung    selbst  einzugreifen.    Zu  Zeiten 
rdlicb  erwachte  in  ihm   wieder  die  alte  Neigung  für  die  deutsche 
*\vaubQhne,  aber  nur  vortlbergühcud ';  und  nach  der  Emilia  Galotti 
lichtete  er  nur  noch  seinen  Nathan%  zu  dessen  Ausarbeitung  ihn 


20& 


Ij  Vau»  Lesstng  hier  besondere   die  in  den  Schleswiger  Briefen  Über  Merk- 

irkeiteu  der  Literatur  ttHfgestcIlten  Ansichten  von  der  Entbclirlicbkeit  der 

legein  fftr  das  Genie  im  Auge  hatte,  ist  bereits  III,  4!32.  27  angedeutet  worden. 

Lach  zielte  er  gewiss  mit  atil'  Gersienbergs  UgoUno  (vgl.  Ili.  4ti^,  Amn.  ',\), 

i>  Nich  dem  Bericht  des  Rector  Klose  soll  Lessing  noch  wiüirend  seioes  Aufent- 

Its  in  Breslau  behauptet  haben,   von  Dichtern  rerdienc  nur  der   epische  den 

Famen  in  der  eigentlichen  Bedeutung,  und  der  dramatiBchc  komme  mit  ihm  in 

tcinr  Vcrffleichuug  (vgl    Lesaiugs  Leben  von  K.  G.  Lceaing  S.   21^»|.    Dagegen 

äbt  Leesing  in  einem  Briefe  »n  Nicolai  d.  20.  Miir/  I'ii'J  (12,  225  f.),  nach- 

^fon  der  höhen»  Mahlerei  die  Rctle  gewesen  ist :  die  Poesie  mUsse  echlcchterdings 

illkCLrIicheu  Zeichen  zu  natüriicben  zu  erbeben  äuchcn,  und  nur  da- 

icheidc  sie  sich  von  der  Prosa  und  werde  Poesie.    Alle  die  Gattungen, 

tu  nur  solcher  Mittel  bedienen  können,  welrhe  die  willkürlichen  Zeichen 

rlichen  näher  bringen,   aber  sie  nicht  zu  natürlichen  machen,  seien  ala 

ru   betrachten,   und  die  hüchsto  Gattung  der  Poesie  Bci  die,   weiche 

tio  willkürlichen  Zeichen  gänzlich  zu  natürlichen  Zeichen  mache.    Das  sei  aber  die 

la tische    Auch  Aristoteles  habe  schon  gesagt,  dass  sie  die  höchste,  ja  die 

Poesie  sei,   und   er  gebe  der  Epopöe  nur  in  sofern  die  zweite  Stelle,  als 

istentlicils  dramatisch  sei  oder  sein  könne.  6)  Vgl  die  lU,  4li4,  49 

Stelle  und  dazu  IjCssingB  Briefe  aus  den  Jahren  1766 — 77  an  Ramler, 

BPinen  Bruder  Karl  und  Bodo  12.  21-1;  23U;  ItUt;  3Wf.;  4l0f.;  421;  42fe; 

*2;  4h^,  nebst  Nicolai's  Anmerk.   zu  seinem  Briefe  an  Lessing  vom  li*.  Aug. 

i"€9  (13,  IS4  ff.).  7)  Vgl.  zu  verschiedenen  der  eben  angeführten  Briefstellen 

ib  12,  275;  289;  331.  S)  „Nalhuti  der  Weise.    Ein  dramatische»  Gedicht 

ftnf  Aufzügen".     Berlin    177^».    8.    Naumann.   F..   Literatur  über  Leasings 

[aUun.     Au&  den  Quellen.   Separntabdruek  au&  dem  Üster-Programm  der  Annen- 

lule  l2tt  Dresden)  U\t  das  J.  1^67.    Dresden  1867.   6. 


6      VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIH  Jahrbanderts  bis  eu  Ooethc's  Tod. 

9  298  Uberdiess  zunächst    seine  theologischen  Streitigkeiten   bestimmten! 
und  von  dem  er  auch  gar  nicht  glaubte,  dass  er  je  auf  das  Th( 
kommen    würde '^     Seine  Hauptthätigkeit   verwandte   er   auf  gi 
andre  Arbeiten  als  auf  Dichtungen   und  in   das  Gebiet  der  schön« 
Literatur  einschlagende  Kritiken.    Schon   wAlirend  er  noch   an  der 
Dramaturgie  schrieb,  Tcrfasste  er  die  antiquarischen  Briefe'*,  und  in 
den  Siebzigern  beschäftigten  ihn  neben  Forschungen  in  verschiedenen 
Fächern    der  Gelehrsamkeit  vornehmlich  theologische  Gegenstände 
und  seine  sich  an  die  Herausgabe  der  Wolfenbilttler  Fragmente 
schliessenden  polemischen  Schriften.    So  zog  der  Mann,  der  seith< 
BO  unendlich  viel  fttr  die  Neubclebungj    Kräftigung  und  Veredlung 
unserer  schönen  Literatur  gewirkt  hatte,    und   der  vor  allen  sein« 
Zeitgenossen  dazu  herufeu  und  befähigt  war,  sie  auf  ihrem   fern« 
Bildungsgapge  durch  seine  Kritik  vor  neuen  Verin-ungon  zu  wähl 
gerade  zu  der  Zeit  die  Hand  von  ihr  ab,  als  sich  auf  einmal, 
sonders  flir  das  Drama,  eine  bis  dahin  noch  nicht  dagewesene  Fol 
productiver  Erflfte  in    einem  jungen  Dichtergeschlecht    hervorthat, 
das  seines  Baths,   seiner  Warnung  und   seiner  Zurechtweisung  »o 
sehr  bedurfte.    Denn   bei   ihrem  stürmischen    Auflehnen   gegen  die 
alten  Theorien    und   gegen   joden   Regelxwang    und    bei    ihrer   be- 
geisterten Hingabe  an  Vorbilder,   die  sie  ihrer  eigensten  Natur  un« 
ihrem   eigentlichen  Werthe  nach   noch   nicht  zu  würdigen  und  d< 
halb  auch  nicht  in  der  rechten  Art  zu  benutzen  verstanden,    wai 
diese  jungen  Dichter  ohne  einen  solchen  ihre  Schritte   gleich  v< 
vom  herein  mit  Aufmerksamkeit  verfolgenden  kritischen  Rathgel 
und  Warner  um   so   mehr   in  Gefahr,    bei   Ausübung  ihrer  Talent 
auf  Irrwege  zu  gerathen   und   ihre  besten  Kräfte  in  verfehltcu  V< 
suchen  zu  vergeuden,  je  seltener  sie  Unbefangenheit,   Besonnenheit 
und    Bildung    genug    hesassen,    aus    Lessings    sohou    vorhandenen 


9|  Am  1 1.  Auiz:ii5t  171»»  sclirieb  LcBsing  au  Beinen  Bruder  Karl  (12,  üfX»  f>: 
habe  vor  vif>1CD  Jährten  ciouiAl  ein  SchauHpiel  entworfen,  dessen  Inli&lt 
Art  TOu  Analogie  mit  meinen  gegenwArtigeu  Streitigkeiten  liat,  die  leb  mir 
mala  wohl  nicht  tniumen  Hess.  Wenn  Du  nud  Moses  i  Meadelssoho  i  Pb  fOr 
tinden,  so  will  ich  das  Ding  auf  Subscription  drucktn  ift&sen.  —  Wenn  Ihr  d< 
Ijüuüt  wEbeen  wollt,  so  schlagt  das  Decamerone  des  Boccaccio  auf.  —  leb  (^Uuil 
dae  Mhr  tnleressante  Episode  dasa  erfunden  zu  haben,  das«  eich  alles  sehr 
»oll  lesen  lassen,  und  ich  (rcwiss  den  Theologen  einen  Argem  Possen  damit  spl 
will,  aJs  noch  mit  zehn  Fragnien(t*u."  Vgl.  1:£,  514.  Lesaing  beabsichtigte  aui 
ein  Nachspiel  zum  Nathan  zu  machen,  welches  der  Derwisch  heissen  soUt4>  it\ 
52it).    Vgl.  (jubrauer,  Lessing  '2,  2.  201.  10)  „Es  kann  wohj  sein,  das« 

ffatfaan  im  Ganzen  weni^  Wirkung  thun  wurde,  wenn  er  auf  das  Theatt-r  k&i 
woldiM  wohl  nie  geschehen  wird"      12,  52S;  vgl.  jedoch  10,  514.  11 »  Vj 

den  Brief  an  Kicolai  vom  2S.  Septbr    ITO«  (11  '10h, 


Enlwickelangsgaoff  der  Literatur.    1773— 1S32.    Aesthetificlie  Kritik.         7 

iftcn  sieb  selbst  Ratha  zu  erholen".     Und  woher  sonst  hätten  §  298 
kritische  und  kuustphilosophische  Fllbrer  kommen  sollen,  die 
in  Vertrauen  verdienten,  wie  es  sich  Lessing  hei  dem  oinsichtigom 
'heil  der  Nation  erworben  hatte?    Die  vor  dem  Jahre  1773  erschie- 
lenen   Systeme    der    Dichtungslehrc   waren   veraltet;    einen    neuen 
und   hOheru  Aufschwung   nahm   die  Kunst]>hilo8ophie   erst  in  Kants 
Kritik  der  Urthcilskraft  und  in  den  darauf  fussenden  Abhandlungen 
ichillers:  was  in  der  Zwischenzeit  Über  die  Theorie  der  Dichtkunst 
in  wissenschaftlichem  Vortrage  geschrieben   wurde,   wie  die  im  An- 
fang der  Achtziger  zugleich  herausgegebenen  Bücher,  die  „Anfangs- 


.12)  Wie  Lessing  über  Äe  Bestrebungen  und  Leistungen  der  jungen  Männer 
urme»  und  Prangea   urtheilte,   köanen   wir  nur  aus  einigen  Äeusserungen 
,  dde  in  eeineu  eigenen  Briefen  vorkommen,   oder  vorüber  Andere  be- 
:n.  Darnach  war  er  namentlich  mit  ihren  „theatralischen  Freibeutereien" 
"dnsufrieden ,   so  wie  damit,   dass  sie   so  geringen  Rcspect   vor  Aristoteles 
.  und  hätte  er  sich  noch,  wie  sonst,  lebhaft  für  das  Theater  intprcssiert, 
8d  wtlrd«  pr  Gefahr  gelaulen  haben,   „über  das  theatrahscho  Unwesen   fergerlicb 
20  ircvden  und  mit  Gouüie.  trotz  seinem  Genie,  worauf  er  so  sehr  poclie.  auzu- 
bEDden".    Vgl    den  Brief  an  seinen  Bnidcr  Karl   vom  II.  Novbr.  1774  (12,  421; 
dan  S.  423  und  Boie's  Schreiljen  an  Merck  in  den  Briefen  an  Merck,    1S35,  S. 
II,   Ob  er  mit  Goethc*s  Göt2  von  Borlichingen  ganz  zufrieden  gewesen  ist,  weiss 
Ich  nicht:  ans  dem  Briefe  an  seinen  Bruder  vom  20.  April  1774  (12,  41t))  ergibt 
Pisch  nur  das  mit  Bestimmtheit,   dass   er  es  ILLcherlich  fand,   von   dem  Stück  so 
lüsiscfa  zn  urüieilea,  wie  csTlamler  gethan  hatte  (vgl.  dazuGuhrauer  2,  2,92). 
AuftfüUrlicher  hat  er  über  den  Werlher  gesprochen  in  eiuem  Briefe  an  JSschen- 
barg  02,  420i     Kr   sagt  diesem  „tausend  Dank  für  das  Vergnügen,   welches  er 
ihm  durch  Mittheilung  des  goethe'srhen  Romans  gemacht  Imbe",  meint  aber,  dass 
i,,wenn  ein  so  warmes  Product  nicht  mehr  Unheil  als  Gutes  stiften  sollte,  es  noch 
le  Weine  kalte  Schlii^srcdc  haben  müsstc".  —  „Solche  klcingrosse,   verächtlich 
tbarc  Origiuiile  (wie  den  Charakter  des  Wertherl   hervorzubringen",  beisat 
fcn  de«  Scbluss  (ics  Briefes,  „war  nur  der  christlichen  Erzieimng  vorbehalten, 
iße  ein  knq)erUchcs  Bedlirfniss  so  schön  in  eine  geistige  VoUkoramenheil  zu  ver- 
warid-Mn  weis&     Also,  Heber  Goethe,  noch  ein  Kapitelcbeu  zum  Schlüsse;  und  je 
je  besser!'*    (Incthe's  Geflieht  „rromethcuß",  das  er  durch  Fr.  H.  .Ta- 
nrn  lerute,  getiel  ihm  nicht  bloss  seines  Inhalts  wegen  sehr,   sondern  er 
lobte  es  auch  als  Gedicht  und  bewunderte  den  echten  lebendigen  Geist  des  Alter- 
thums  nach  Form  und  Inhalt  darin.    Vgl.  Fr.  H.  Jacobi's  Werke  4.  1,  61  ff.;  4, 
^3,  215.  —  Kurze  Urtheile  Über  Lenz  (mit  Bezug  auf  die  ihm  fülscblich  beigelegte 
.Kin*'—'  '^"rin",  deren  Verfasser  H.  L.  W^agner  war),  über  Klinger  und  über 
die  '  i'ios  Uberliaupl  finden  sich  12,  491  (vgl.  13,  5S0);  12,  42ti;  45ri  (vgl. 

i;^  r.t>  • .  ^o.i\:  vgl.  auch  Brandes.  Leben sgcscbichte  2,  214  f.;  aber  auch  Lossings 
'Loben  von  K.  Lesaing  1.  423  f.  Dazu  vgl.  die  Mittheilungen  über  Lessing  in  Fr. 
Nicolai'*  Anhang  zu  Fr.  Schillers  Musenalmanach  für  das  J.  1797,  S.  15sff.,  von 
di>nrn  wi^niir-^ieDs  durch  das,  was  Boas  (ScJiiller  und  Goethe  im  Xcnienkampf  2,  154) 
dag'- '  Kracht  hat,  noch  keineswegs  erwiesen  ist,   (biss  sie  jedenfalls  aus 

VfrW.  >  Lucr  lessingiscbcn  Aousscrung  benorgegaugeu.  wo  nicht  ganz  er- 

fanden ^icn. 


m 


8      VI.  Vom  TWGiten  Viert«!  d«  XTITI  JfthrhnnderU  bis  zu  Goethe*i  Tod. 


i 


§  298  grrOniie  einer  Theorie  der  Dichtmigsarlen,  aus  den  ueuesten  Mu* 
entwickelt"",  von  Jobann  Jacob  Engel",  die  „Theorie  der  schön 
Künste  und  Wissenschaften,  zum  Gebrauch   seiner  Vorlesungen*" 
von  Johann  August  Eberhard""'  und  der  „Entwurf  einer  Theorie  un 
Literatur   der   schönen   Wissenschaften   zur   Grundlegung:   bei    V 
lesungen'*",   von  Johann  Joachim  Eschenburg'",   erhob  sich  in  d 
Grundsätzen    auch    noch   nicht   über   die    baumgartensche  Ae^tbe 
and  die  kunsttheoretischen  Werke  der  Englander,  oder  es  war  scboi 
von  Lessing  gesagt,    und  dioss  konnte,   wie  es  in  seinen  Schrifi 
stand ^  die  jungen  Dichter,  die  darauf  achten  wollten,  besser  lei 
und  eher  vor  IrrthUmern  schützen ,    als  alle  vorhandenen  Systeme 
der  Aesthetik.    Die  Zeitschriften  aber,   die   sich  mit  der  Kritik  d 
schönen  Literatur    des  Tages   abgaben,    verwalteten    ihr  Richtora 
seit  1773  bis  dahin,  wo  die  Jenaer  allgemeine  Litcraturzeitnng  rec 
in  Aufnahme  kam ,  im  Ganzen  genommen  mit  so  wenig  durchgebi 
detem  und   in   den  Kern  der  Dinge  eindringendem  Kunstverstande, 
oder  auch   mit  so  viel  Vorurtheil  und  ParteirUcksichten ,    das«    die 
productiven  Köpfe,  die  sich  fühlten  und  von   keiner  Regel  und  Zu- 
rechtweisung wissen  wollten,  durch  die  der  Flug  des  Genie'«  irgend 
gehemmt  oder  erschwert  werden   könnte,    diese  seichte,    befangene 
und    dabei    ganz   veraltete  Art    von    Kritik   bald    völlig   verachte 
mussten  und  sich  um  den  Tadel  oder  die  Warnungen  ihrer  Reco 
senten  entweder  gar  nicht  mehr  kümmerten,   oder  ihnen  Spott  un 
Hohn  entgegensetzten.    Noch  kurz  vor  1773  hatte  es  geschienen,  aU 
habe  die  aesthetischc  Kritik  wieder  ein    ähnliches  Organ,    wie  d 
Literaturbriefe   gewesen   waren,    in   den  Frankfurter  gelehrten   An' 
»eigen  erbalten:  allein  als  die  Herausgabe  derselben  bald  in  andere 
Elinde   ttbergieng*'',   h^rte  ihre   Bedeutung  für  die  Fortbildung   der 
achuuen    Literatur    sogleich    auf.      Von    den    übrigen    periodischen 
Schriften,    die   entweder  ausschliesslich  oder  wenigstens  theilweise 
der   Beurthcilung   neu   erschienener   Werke    der   schönen    und    der 
wissenschaftlichen  Literatur  gewidmet  waren,   behaupteten  sich  d 
neue  Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften  und  der  freien  Kün 


^ 

n^^ 


13)  Per  cntc  Theil  crschica  zn  Bcrlia   und  St^-ttin   M*<^.    S.;    ein   xwMt 
bUeb  ftua.    Jenfr  irurde  \b*H  von  Nicolai   aiifn   neue   herftusgegcben   and 
$U  W.  BAfld  ▼on  ,tJ.  J.  Engels  Schriften".    Rorlin  tnOI— IM>n.     J2  ßde     8 
14)  Vgl.  Ober  sein  Leben  §  351.  15)  Halle  n*<3.    8.;  nachfat^r  noch  in  xwd 

nrbesserUm  Auflagen.  16)  Vgl.  über  sein  Leben  $  377.  17)  B<Trlfo  imd 

Stettin   17h:i     s.    Die   dritte  und  vierte  AuÜ&go   ilS05  n.  lSt7)   nnl«r  dem 
„Entwurf  einer  Tbeoric  nnd  Literatur  der  scbOneu  Hedckünstc"  etc.   Kecbenbi 
MBeispieUamnünng  zur  Theorie  und   I^iteratur   der  scbAocn  Wisscnsrh&ftpn" 
6  Bdo.    h.  etuchien  rn  Berlin  und  Stettin   17S8— y&.  18»  Vgl.  $  'Kr,,  Anm.  31 

19)  Vgl.  «  259,  Aom.  77. 


mm^m 


Fnfcwicielnngßgang  der  Uteraüir      1775— 18:i2.    Afsthetische  Kritik  9 

Äic  allgemeine  deutsche  Bibliothek  und  der  deutsche  Merkur  zwar  § 

lange  in  ihrem  Ansehen  bei  dem  grossen  Publicum.    Wenn  sie  aber 

shon  das  Urthcil  ihrer  Loser  über   den  Werth  oder  den  Unwerth 

der  i  '  Diehtungswerke  im  Ganzen  viel  mehr  missleiteten  als 

iure-'.         ~   iij    80    konnten    die    Dichter   selbst,   die  sich    an   den 

'heorien   und  Absichten    der   alten  Schulen    nicht    mehr   gentlgen 

ieesen  und  ganz  neue  Ziele  im  Auge  hatten,  aus  der  ersten  jener 

drei  Zeitschriften  so  gnt  wie  gar  nichts  mehr  fltr  ihre  Kunst  lernen* 

und;  nachdem  sich  Herder  von  der  allgemeinen  deutschen  Bibliothek 

;anz  zuröckgezogen   hatte",  aus   den  beiden  andern  nur  so  lange 

»neu  reinen  und  höhern  Gewinn  ziehen,    als  Merck   dazu  Beiträge 

lieferte,    E^ie  allgemeine  deutsche  Bibliothek  kam,  je  Ifinger  je  mehr, 

Widerstreit  mit  allen  neuen  Richtungen,  die  sich  seit  dem  Beginn 

ler  Siebziger  in  unsemi  Geistesleben  und  in  unserer  Literatur  herror- 

laten.     Wie  Nicolai    ihre  Herausgabe    leitete^,    blieb    der   in    ihr 

lerrscbende  Geist  viel  zu  sehr  bestimmt    durch    seine   persönliche 

ItcUuag  zn  den  Schriftstellern,  deren  Werke  beurtheilt  wurden,  und 

Lurcli   Bein   besonderes  Verhalten  zu  den   literarischen  Bestrebungen 

ler  Zeit.  Nun  aber  zerfiel  er  bereits  in  den  Siebzigern  und  Achtzigern, 

theils  duwh   eigene  Schuld,    theils  in  Folge  gegen  ihn  gerichteter 

AngriATe,  mit  vielen  Schriftst^llenu  die  entweder  iu  den  neuen  Rich- 

tongen  vorangicngen   oder  mindestens  zu  den  bedeutendem    dieser 

!eit  geborten.    So  hatte  er  sich   schon    1773,  vor  dem  Bruche  mit 

lerder.  mit  Hamann*^  und  mit  den  Brüdern  Jacobi"^  völlig  verfeindet; 

rei  Jahre  darauf  brachte  er  durch   die  ,, Freuden  des  jungen  Wer- 

lera**  Goethen  gegen  sich   auf,   reizte  Jung-Stilling  zu  einem  An- 

■ifl***  und  gerietli  mit  Wielaud   in  eine,   bald   nachher  mit  grosser 

Crbitternng  geführte  Fehde''*';   im  Jahre    1777   band   er  mit  Bürger 


2(>»  Nur  die  Recension  übfr  Worther,  IS,  4ft  ff.,  macht  pino  AiiBnalime. 
iV  *':*'  Kfcensionen ,   -weklie  Herder  für  die  allgemeine  dcatsche  Bibliothek  go- 
tiAt.  siod  thoila  abgedruckt,   theils  bloss  verzeichnet  in  seinen  Werken 
^»iii  -<.u-juen  Literatur  a.  Kunst  2o,  üitR— 3J2;  411  f.    Im  Anbist  1774  aber  brach 
den  Briefwechsel  mit  Nicolai  ab  und  enlAagte  damit  auch  aller  Tlieiluahme  an 
iliothek  (vgl,  a.  a.  0.  S.  tl2  die  Note  und  dazu  Briefe  aus  demFreundes- 
»ou  Goethe,  herausgg.  von  K.  Wagner,  S.   tOr>  und  140  f».  22)  Vgl 

f*  r  23  t  Vgl.  den  Vorberichl  zum  4.  Bde.  von  dessen  Schriften. 

^  Vgl.   F.  II.  Jarobi'8  anserlcficnen   BriefwprhBel    I,  llfi — UO.     Wie  erbittert 
H.  Jacobi  gcffen  Nicolai  war,   ergibt  sich  auch  aus  seinem  Verhalten  in  dem 
Lreit  ziviBchen  Voss  und  Nicolai,  worüber  Kühercs  in  Wcinholds  Buch  Über  Boie 
!23.  25)  Vgl.  desacn  sämmiliche  Werke,  Ausgabe  von  IMl  f.  1,  433  f. 

t6)  Vgl.  einerseits  den  d.  Merkur  von  1775,  I,  2**4,  die  beiden  letzten  Quar- 
1778,  und  von  17TP,  1.  154  ff.;  und  audrersoits  den  Anhang  rum  2^. — 3&. 
.allgemeinen  d.  Bibliothek  8.  62&  ff.;  61^  ff.  und  Bd.  37,  1,  295  ff.,  80- 
igk  in  Fr.  Nicolais  Leben  S.  53  f. 


sie 


PBfVHB^PVMV 


10    VI.  Vom  zTcitea  Viertel  dos  XVm  Jahrhunderts  bis  tu  Goetke'a  Tod. 

6  298  an*';    1779  und   in  den  beiden  folgenden  Jahren   erfuhr  er 

An^fle  von  J.  H.  A^osa*';  und  17S7  gieng  seine  schon  lange  vor- 
handene und  von  Jahr  zu  Jahr  zunehmende  Abneigung  gegen  La- 
vater  zu  offener  Feindseliurkeit  über".  Wie  hatten  unter  solchen 
Umständen  die  Recensenten  an  der  allgemeinen  deutschen  Bildiotbek 
die  volle  Unbefangenheit  des  Ürtheils  bewahren  können,  wenn  sie 
Ober  Werke  berichteten,  die  von  diesen  Gegnern  Nicolai'«  und  ihn« 
befreundeten  oder  sinnesverwandteu  Schriftstellern  herrührten?  üi 
wären  diese  Recensenteu  im  Fache  der  schonen  Literatur  nur  n< 
andere  Leute  gewesen!  Aber  die  meisten  zeigen  sich  aladieelendi 
sten  Schwätzer,  die,  ohne  allen  Beruf  zur  aesthetischen  Kritik,  in 
den  abgedroschensten  Redensarten  Lob  und  Tadel  austheilen:  Biester, 
Eschenburg,  Kniggo,  Musaeus,  Schatz  und  Nicolai  selbst  sind  noch 
immer  die  besten,  und  wie  unbedeutend,  ja  geistlos  sind  doch  auch 
oft  genug  ihre  Reurtheilungen,  von  Parteilichkeit  gar  nicht  cinmi^d 
zu  reden!  Dabei  stehen  die  Recensioueu  Über  Werke  der  scbönafl^ 
Literatur  seit  1774  fast  durchgehends  unter  den  „kurzen  Nachrich- 
ten**: sie  gehören  zu  joner  Classe  von  ^,Recensiönchen**,  die,  wie 
der  jüngere  Lessing  in  einem  Briefe  an  seinen  Bruder**  bemerkli^ 
Nicolai  aus  England  nach  Deutschland  verpflanzt  hatte.  Diess 
klärt  es,  dass  Mercks  Beiträge  Il>eil8  immer  seltener  wurden**,  theil 
zu  kurz  gofasst  werden  musstcn.  Was  seine  Tlicilnahme  am  deul 
sehen  Merkur  betrifft,  so  war  er  zum  Mitarbeiter  daran  von  Fr.  H. 
Jacobi  schon  gewonnen  worden,  als  letzterer  sich  mit  Wieland  zur 
Herausgabe  dieser  Zeitscbrift  vereinigt  hatte";  auch  halte  Merck 
bereits  zu  Anfang  des  Jahres    1773  Verschiedenes   an  Jacobi    eiu- 


•klji 


27*  Davon  an  anderer  StcIJe.        28»  Vjjl  deutsches  Museum  I7'i»,  '*,  15»^ 
I7S0,  \,  2fll  ff.;  2.  416  ff.;  !7si.  |,   Ihh  ff.;  347  ff.;  2.  S7  ff  ;  ihre  spater  crfol 
Versöhnung  hpsiejelte  Nicolai   durch    die   pilelmuthigstc   Haudlnog;    vgl.   Btii 
V.  J.  H.  Vom  X  2.  131.  29»  Vgl.  die  Vurreile  und  den  Anhang  zum  h.  Bdi 

von  Nlcolai's  Heschrpibung  einer  Reiäe  durch  Deutschland,  und  dazu  ijerrini 
5*,  27*i— 'ii:.  3(li  Leasings  sänunUiche  Schrilten   i;i,  510  1".  :i\\  In  d< 

von   Parthey  herausgegebenen   Verzeichniss   der  HiLarboiter  an  der  allgemeini 
deiiUchrn  Bibliothek  steht  Merck  als  Recenfient  für  das  Fach  der  T,srb{inen  \Ma8< 
achaficn"  in  den  Rubriken  derJalire  1773—5»'.    Er  hat  aber  vomj.  1774  an  nt 
sehr  wenig  Beitrage  geliefert:  wenigstens  habe  ich  keine  andern  von  einiger 
deutung  gefuuden.  als  die  Anzeigen  von  Goetbe's  Weiiber  und  den  durch  dieA4 
hervorgerufenen  Schriften  in  Bd.  2^i.  t.  102  ff.   und  im  Anhang  r.u  Bd.  25 — Zi 
S.  Mm  tf  :   doch  ist  an  erster  Stelle  von  Mrrck  nur  die  Anzeige  von  Goetbel 
Roman  und  den  nicolaiseben  Freuden  WerrJker&,   dai  lebrige  hat  Nicolai  s«I 
«Iigeli4ngt  (Vgl    Briefe  an  Merrk.  Ih.iö.  S.  05  ff:  7H).  32)  Bei  der  Gi 

düng  dt's  dnitAchtn  Merkur,  wieGuhrouor  ^'J.*.>5  bemerkt,  war  auch  auf  Lesaii 
gefi-chnet  worden  (s.  Schritten  12.  426ii  aber  zwischen  deu  Zeilen  dickes  BrisCl 
liegt  dputlicb  genug,  dass  der  Merkur  seiflCD  Beifall  nicht  hatte. 


HHIP9 


imiim 


£nt«ickdiu>gsgang  der  Literatur.    1773 — 1S32.    Aeatbetiscfae  Kritik.       11 


^ 


^ 


dt,  der  nber  nur  einige  Stücke  davon  Wielanden  zum  Abdruck  5  298 
llle  und  die  übrigen  als  dazu  nicht  recbt  geeignet  zurückbehielt^. 
Erst  1776  trat  er  in  ein  näheres  und  lünger  dauerndes  Verhältnis» 
zu  demselben.  Fr.  H.  Jacobi  nflmlich,  der  sich  damals  noch  immer 
als  Mitherausgeber  ansah,  uud  der  schon  lange  mit  der  im  Merkur 
geübten  Kritik  unzufrieden  gewesen  war^',  hatte  im  November  1775 
aa  Wieland  geschrieben^:  er  muge  doch  mit  Goethe,  der  kurz  zu- 
vor in  Weimar  eingetroffen  war,  überlegen,  wclchergeßtalt  der  Merkur 
gemeinnütziger  gemacht  werden  konnte.  ,, Nichts  würde  ihm  mehr 
Ao/helfen,  als  wenn  wir  mehr  Urtheile  über  Bücher  und  andre  Dinge 
tuneinbringeu  könnten;  denn  den  Leuten  liegt  an  nichts  so  viel,  als  zu 
wissen,  wag  sie  Über  alles  Vorkommende  denken  und  sagen  sollen. 
Goethe  selbst  und  Herder  wären  eigentlich  die  Leute,  welche  der  Herr 
zu  uns  senden  mUsste"  etc.  Hierauf  scheint  Wieland  mit  Goethe  die 
•Sache  besprochen  und  dieser  Merck  in  Vorschlag  gebracht  zu  haben, 
an  den  sich  Wieland  sofort  gewandt  haben  muss.  Denn  Wielands 
Brief  vom  5.  Januar  1776  mit  einer  Nachschrift  von  Goethe"  ist 
Rchon  eine  Erwiederung  auf  ein  verloren  gegangenes  Schreiben  von 
Merck,  worin  dieser  seine  Bereitwilligkeit  erklärt  hatte,  das  kritische 
Amt  im  Merkur  zu  verwalten,  das  ihm  Wielaud  nun  ohne  alle  Be- 
Hchnlaknng  Übertrug.  Gleich  im  Jahre  1776  begann  auch  Merck 
[tecensionen  zu  liefern.  Sie  betrafen  in  ihrem  Fortgange  ausser 
Werken  der  schönen  Literatur  auch  noch  Vieles  aus  andern  Fächern 
der  Wissenschaft  und  der  Kuust^^  Wenn  Wieland  es  schon  im 
Mai  1778  für  räthlich  lüclt,  von  den  Recensionen  über  schöne  Lite- 
ratur ftlra  erste  ganz  abzustehen'*,  so  musste  er  doch  bald  seinen 
Sinn  Ändern"*;  und  so  lieferte  Merck  in  diesem  Jahre  auch  noch  hin 
und  wieder  einen  kleineu  dahin  einschlagenden  Beitrag;  später  je- 
doch, bis  zum  Jahre  I7SI,  au.sser  BeurtheiUmgen  wissenschaftlicher 
oder  artistischer  Werke  und  eiuer  Bilanz  der  wissenschaftlichen  Li- 
teratur der  Jahre  1778  und  79**,   nur  noch  einige  selbständige,  auf 


3S*  Vgl.  Fr.  11.  Jacobi's  auserlesenen  Driefwechsel  l,  101  und  109  f.;  Gniber 
to  Wielands  Letwn  A,  4H;  Briefe  aus  dem  Frcundeßkreise  von  Goethe  etc.  S,  56, 
wo  aber  di<^  Jahreszahl  an  der  Spitze  in  I77:j  verändert  werden  muss;  und  dazu 
Briefe  an  Merck.  )S35,  S.  XAXVl  ganz  oben,  und  S.  259  unten.  Recensionen 
pdar  andre  kritische  Sachen  scheinen  nicht  darunter  gewesen  zu  sein.  Ob  er 
jeuer  Sendung  für  die  beiden  uacliaten  Jahrgänge  des  Merkurs  noch  etwas 
fert  habe,   ist  mir  nicht  bekannt.  34)  Vgl.  dessen  auserlesenen  Brief- 

isel  I.  127,  351  Ä.  a.  0.  1.  230  ff.  3t>»  Briefe  an  Mprck.  IS33, 

8.  Sl  ff.  37»  Vgl.  Briefe  an  Merck.    I»35,  S.  XXXVIU  f.  und  Ad.  SUhr. 

J.  II.  Mercks  ausgewählte  Schriften  S.  88.  38)  Briefe  an  und  von  Merck. 

1«*!.  S.  I3ft  ff.        39"  Vgl.  daselbst  8.  143.        40»  D.  Merkur  1779.  1,  iy;j  ff.; 
«ND,  X  18  ff.;  Tgl.  Briefe  an  Merck.  1835,  S.  225. 


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1 2    VJ.  Von  zweitea  Viert«!  des  XVIU  Jakrhniiderts  bis  cu  Goetke'i  Tod. 

'398  die  Baipraobung:  allgemeiner  Gebrechen  in  unserer  schönen  Literat 
eingehende  AufsUtze.  Leider  war  Merck  durch  die  ganze  Einrieb« 
tung  des  Merkars  genuthigt ,  auch  nur  mehr  RecensiOnchen  als  Re- 
censionen  zu  schreihen;  und  was  noch  viel  übler  war,  er  mnsste  in 
seinen  Rourtheilungen  auf  Wielands  ausdrückliches  Bitten  zu  oft 
allerlei  Rücksichten  nclimen  und  sich  in  seinem  Ton  nach  den  Ver- 
hältnissen richten ,  In  welchen  dieser  zu  den  Schriftstellern  selbst 
oder  7M  einzelnen  Landsmannschaften  und  Coterien  stand".  So  kam 
eS;  dass  anch  hier  Merck  bald  die  Lust  verlor  und  aufhärte,  tiber 
GegonsUndo  aus  dem  Fache  der  schöucn  Literatur  für  die  genannten 
Zeitschriften  zu  schreiben,  und  so  wirkte  auch  er  auf  schriftatellcri- 
sehem  Wege  durch  seine  Kritik  ins  Allgemeine  hin  weit  weniger, 
als  er  bei  seiner  hohen  Befähigung  dazu  hiltte  thnn  können*'  und 
in  seinem  persönlichen  Verkehr  mit  Goethe  auf  diesen  insbesondere 
auch  in  dnr  That  gewirkt  hnt'\  —  So  war  das  Verhilltniss  der 
Theorie  und  der  Kritik  zur  Production  im  Allgemeinen  während 
der  iiAehsten  zwanzig  Jahre  nach  1773  ein  durchaus  rerschiedene« 
von  dem ,    welches  in  den  vorhergehenden  fünfzig  Jahren  Statt  ge- 


41)  Vgl  Briefe  wiMerek.  l&as,  8.  82;  ST:  1»2;  l<H):  tü5;  19";  200:  —  I^Sh 
8.  Hl;  70;  \)2,  Note  •);  IMO;  154.  4'2l  Mcrcks  Kritiken  zeichnen  »ich  vor 

»tkn  Andern,  die  mm  jnncr  Zeit  tUnunen,  durch  die  Gediegenheit  der  God&ok 
und  Mr  prJfcnnntp,  runde,  allea  BcgrifikmiSBige  vollkommen  veriuiBclAiiBehi 
AuvdriickNWflNC!  ho  Holir  «üb,  da««  ne,  aach  venn  sein  Nam«  mcht  ^nuint 
lelj*ht  hcraaiiff(>funden  werden  kOnnen  <vgl.  waa  Herder  und  Wiciand  von  ihm 
Kcrttriumt/'n  geHa^t  halten,  in  den  Briefen  an  Merck.  1S35,  S.  37,  and  1838, 
S.  f»)>;  da/u  Orrvinun  V,  rwiö  f.  und  Ad.  Stahr  a  a.  0.  S.  h2  ff.K  Ich  *onr«iM 
hierbei  bewindcri  au*  seine  Anzeige  des  Werthcr  (allijemeinc  d.  Bibliol-bck  2«.  l 
103  ff,',  «iif  die  Bcurlhcilnngen  des  vossifichrn  Musenalmanachs  für  ITTf»,  dcr„B«i 
(rice  xnr  Geschichte  doutschen  Kcicha  und  deutscher  Sitten'*  von  Blankenh 
dos  vierten  ThcdH  der  ..Lcbenggeschlchtc  Tobiatj  Knauts'^  von  Wexel,  der  «.Situ 
Üoa  auf  Kau»ta  Leben"  von  Mabler  Müller,  dea  ,3i<^^i^rt'*  von  Miller  (im  deut* 
•cfara  Merkur  1776.  I,  S5  ff.;  270:  272  f.;  3,  S\  ;  1777,  2,  255  ff.);  so  wir  auf 
Willen  Aufstuze  ,,Ucher  den  Mangel  des  cpificheii  (icUtfs  in  nnfierm  liebeti  Taur- 
tande"  und  „Heber  den  engherzigen  Geist  der  Deutschen  im  Ictxtcn  Jahrxeheat*' 
iA.  Merkur.  1776,  1,  48  ff.;  177M,  2,  25  ff.;  beide  auch  bei  Ad.  Sta.hr  a.  «.  O. 
8-  3^(1  ff)  43)  Welchen   Oberaus   wohlthiitigen  KinllusH  Alerck   durch  Mine 

Kritik  auf  Goethe  in  der  ersten  H&lfte  der  Siebziger  ausübte,  hat  uns  der  Dichter 
In  icinem  Leben  selbst  erzählt.  Koch  im  J.  1771*.  als  Merck  in  Weimar  war  und 
der  Aufführung  der  Iphigenie  in  Etteraburg  beigewohnt  hatte,  bemerkte  Goetfa« 
io  KJoem  Tagebuch;  „Gute  Wirkung  ron  Mercks  Gegenwart.  Sie  hat  mir  uichU 
vrnchoben.  nur  wenige  durrc  Scimirn  abgestreift  und  im  alten  Outon  mich  b^ 
festig,  durch  Knnnerttng  des  V<*rgiuig«nco  und  seine  Vorstellnngsart  mir  nrabie 
nandlungcn  in  einem  wunderbaren  Spicffd  gezetgt.  Da  er  der  einzige  Mejisch  Sit, 
der  gaus  erkennt,  was  Ich  thne  und  wie  icb's  ihue.  und  es  doch  wiöder 
ander«  «icht,  wiv  ich,  von  anderem  Staudpunkt,  so  gibt  das  schduc  Gewittahait" 
llUemrr.  Mitihcihingen  ober  GoKhe  2,  H"). 


.  vor 

i  aSiH 

18387^ 

B«i-     ' 

lua^H 


Entwick^luDgsg  d.  Literatur.  ITTH— 1S32.  Aesthet.  Kritik.  Mau>ilion  u.  Dnzer.    13 

funden  hatte.  Sich  selbst  ttboiiassen,  weil  die  kritischen  Führer,  §  298 
deneu  sie  hätte  vertrauen  können,  sich  ihr  entweder  ganz  entzogen, 
oder  ihr  nur  hin  und  wieder  Winke  ertheilteu,  und  diejenigen  zurück- 
weisend, die  sich  ihr,  ohne  IJeruf  dazu,  aufdrängen  wollten,  schritt 
unsere  Dichtung  nun  zwar  mit  kühnem  Selbstvertrauen  ihren  neuen 
Zielen  zu,  gerieth  dabei  aber  auf  nicht  geahnte  Abwege,  die  sie 
wieder  auf  längere  Zeit  weit  davon  abbrachton. 

§  299. 

Der  Eantritt  einer  ueueu  Epoche  in  dem  Bildungsgange  unserer 
schönen  Literatur  kündigte  sich  zu  Anfang  der  Siebziger  schon  deut- 
lich genag  in  den  Urtheilen  an,  die  von  verschiedenen  Seiten  her 
Ober  die  in  den  letzten  vierzig  Jahren  zu  Ansehen  und  zu  Ruhm 
gekommenen  Dichter  laut  wurden,  und  nicht  minder  in  dem  Ver- 
balten  der  neu  auftretenden  Dichter  zu  den  noch  lebenden  altern. 
Lesöinj^ö  Kritik  und  Herders  Muslerung  der  deutschen  Literatur- 
zustiLnde  in  seinen  Fragmenten  hatten  bereits  in  weitern  Kreisen  ge- 
wirkt und  den  Glauben  an  die  Vortrefflichkeit  des  zeither  in  der 
Dichtung  Geleisteten  sehr  erschüttert;  der  Unterschied  zwischen  ur- 
sprünglicher, echter  Poesie  und  einer  bloss  nach  den  gangbaren 
Theorien  gemachten  konnte  nicht  länger  durchaus  verkannt,  der 
Werth  der  Originalität  im  Producieren  vor  jeder,  auch  der  geschick- 
testen Nachahmung  nicht  mehr  abgeleugnet  werden,  und  die  so  lange 
vorzQgsweiae  geübten  Gattungen  mit  den  Mustern  dafür  hatten  in 
demselben  Masse  an  Bedeutung  verlieren  müssen,  in  welchem  sich 
hei  uns  der  Bereich  ganz  neuer  poetischer  Anschauungen  nach  den 
verschiedensten  Seiten  hin  erweitert  hatte.  Noch  waren  die  Blätter 
von  deutscher  Art  und  Kunst  und  der  Götz  von  Berlichingen  nicht 
erschienen  und  auch  die  Frankfurter  gelehrten  Anzeigen  nicht  ein- 
mal ins  Leben  getreten,   als  Jacob  Mauvillon'   und  Ludwig  August 


I  299.  ll  Geb.  1743  zu  Leipzig,  besucht«  von  edncm  Vi.  Jahre  an  das 
tm  in  Braooschweigf  an  welchem  sein  Täter  als  Letirer  der  firanzösiscben 
Sprache  angestellt  worden  war.  Krst  zum  Theologen,  sodann  zum  Kechtsgelehrten 
iml,  jedoch  ohne  Neigung  xu  einer  dieser  Berufsarten,  trat  er  noch  sclu* 
■Ja  Ingenieur  ia  hannoversche  Dienste,  verliesa  diese  jedoch  nach  Beendigung 
«iebenjälirigeo  Kriegs  und  tieng  nun  doch  noch  an  in  Leipzig  die  Hechte  im 
«tudj^reu.  Allein  nicht  lauge,  so  wurde  ihm  diess  Studium  so  sehr  verleidet,  dass 
i'C  üi  plötzlich  aufgab.  1106  wurde  er  Collaljoraior  inllield,  wo  er  Ünzer  kennen 
leni«  und  beb  gewann.  Später  kam  er  als  Weg-  und  Brücken-Ingenieur  uach 
wo  er  zugleich  die  Kriegshaultuust  am  CaroHnum  lehrte  und  nachher  als 
itmaon  beim  CadoUen-Corps  angeätollt  wurde.  1785  folgte  er  einem  Ruf  nach 
^liuschweig  aU  Mujur  bei  dem  Ingcuieur-Curps  und  als  Lehrer  am  dortigen 
CaruliDuin.  Er  .starh  1704.  Vgl.  über  Um  Schlicbtcgrolls  Nekrolog  auf  das  J. 
HM,  I.  t(>:{  flf.  und  C.  G.  W.  Schiller.  Brauuschweigs  schOne  Literatur  S.  U2  ff- 


14     VI.  Vom  xweiten  Viertel  dea  XVIU  JahrbuaUerta  bU  zu  GoeUie's  Tod. 

19  Unzer'  das  erste  Stück  ihres  Briefwechsels  „über  den  Wertb  einiger 
deutscher  Dichter"  herausgegeben  \  Hierin  war  es  besondere  auf 
eine  Prüfung  des  dichterischen  Verdienstes  Gellerts  und  auf  eine 
Kritik  seiner  gesammten  schriftstellerischen  Wirksamkeit  abgesehen. 
Es  sollte  gezeigt  werden,  wie  wenig  Geliert,  der  so  lange  fast  überall 
in  Deutschland  für  einen  der  grOssteu  Dichter  der  Nation  angesehen 
war,  und  dessen  Werke  die  weiteste  Verbreitung  in  ihr  gefunden 
hatten,  seinen  Ruhm  verdiene,  während  Kabener,  der  ihm  an  Genie 
und  an  Witz  weit  überlegen  gewesen  und  in  dem  Nutzen,  den  er 
als  moralischer  Dichter  gestiftet,  wenigstens  nicht  nachstehe,  schon 
beinahe  vergessen  sei^.  Es  sei  zwar  wahr,  heisst  es  in  diesen 
Briefen,  dass  Leseing*,  Wieland,  Ramler  niemals,  soviel  man  wisse, 
eine  besondere  Hochachtung  für  den  seligen  Geliert  als  Dichter  lu 
iussem  für  gut  befunden  hätten;  desto  mehr  sei  derselbe  aber  ron  dem 
grossen  Publicum  bewundert  worden.  Denn  ausser  einigen  wenigen 
fnten  Köpfen  und  echten  Kennern  der  schönen  Wissenschaften  habe 
unser  Publicum  bis  jetzt  gar  keinen  Geschmack,  und  das  furcht- 
bare Wort  f,Geschmack  der  Nation"  sei  ein  sinnloses  Wort.  Dem 
Verfasser  d^s  zweiten  Briefes  (Mauvillon,  der  überhaupt  der  eigent- 
liche Kritiker  in  diesem  Briefwechsel  ist)  scheint  Geliert  „durch- 
gohcnds  ein  sehr  mittelmrissiger  Schriftsteller  und  ein  Dichter  ohne 
einen  Funken  von  Genie"  zu  sein.  In  den  folgenden  Briefen  wird 
Geliert  nun  als  Briefsteller,  als  Romanschreiber,  als  Lustspieldichter, 
als  Kritiker,  als  Verfasser  von  Schäferspielen,  von  Fabeln,  ernst- 
haften und  komischen  Erzählungen,  als  Dichter  geistlicher  Lieder 
und  als  Didaktiker  im  Besondern  kritisiert.  Geliert  hcissc  bei  seinen 
blinden  Verehrern  „der  wahre  Dichter  der  Natur,  einfältig  und  edel, 
wie  sie!"  „Eine  grosse  Ehre  für  Homer  und  für  Ossian,  dass  sie, 
die  gr»")^sten  Copisten  der  Natur,  einen  solchen  Farbenstrcicber  neben 
sich  gestellt  sehen  müssen!"  Nur  als  Verfasser  geistlicher  Lieder 
wird  er  gelobt,  aber  dieses  Lob  wird  wieder  sehr  verkümmert  durch 
den  Zusatz:  er  habe  seine  Lieder  ohne  Genie  machen  können  zu 
dem  Zwecke,  dem  sie  dienen  sollten;  im  Grunde  seien  sie  doch  nur 
in  Silhonmass  geschlossene  Prosa,  ohne  einen  Funken  von  dem 
Feuer,   welches  einen  J.  Bapt,  Boosseau  oder  Klopstock   begeistert 


2»  fipb.  IT4S  Ell  "Wernigerode,  gest.  alsCandidai  der  Theologi«  1775  lullten- 
borg  bei  Wemlgcrode  ivi(l.  Jftrdens  2,  12s  f.).  'S)  „üeher  den  Werth  etnigcr 

deotsclieo  Dichter  nnd  Qbrr  andere  Gegenstüode  den  Geschmack  uod  die  «cbSoe 
Utenitnr  betrfttrinil  Em  Urii'fwecbsel".  i  Stücke.  Frankfurt  und  Loipxig:  1T7I. 
"2.    S.     Di^  Vfrfa»eer  Uttttrn  sich  nicht  Kcnauul  4i  Vgl.  Briel  13.  S.  2»5  ff, 

5)  Wie  LeitHing  über  Gellen  bereit*  1755  uriheütc,  ist  ans  Dantcl,  Lessing 
1,  330.  tu  er«ebeu. 


mm 


^^&twickeIoBgsg- d.  LiterAtuT.  1773— 1S32.  Aesthet.  Kritik.  Maarillon  u.  Uiizer.     15 

^Hh^  Bei  der  Charakterisieruu^  von  Gellcrts  Fabel-  und  Erzftblunge- 
PBHle  wird  gezeigt,  wie  tief  er  hierin  unter  La  FontAiae  atebe^  und 
docli  sei  dieser  als  Crziibler  noch   hinge    nicht  das,   wofür    ihn    die 
Franzosen  ausgeben  möchten:  das  müsse  gleich  in  die  Augen  springen, 
I     wenn  man  ihn  mit  Ariosto  zusammenstelle".    Die  letzten  Briefe  des 
^ksten   Stücks   beleuchten   endiich    die   Verdiousto,  die  sich  Geliert 
^%8  moralischer  Schriftsteller  und  als  Beförderer  des  guten  Geschmacks 
^     erworben  haben  soll.    Auch  in  dieser  Beziehung  werde  er  über  Ge- 
bühr  gepriesen.     Seine  moralischen   Vorlesungen   seien,   wie  seine 
^geistlichen  Lieder,  zwar  gnt  für  Leute  ohne  wissenschaftliche  Bil- 
^Bungf   die   daraus   manches   Gute    lernen  könnten;    allein   für   die 
*     denkende   Welt,   für  das  wissenschaftliche   Publicum  seien  sie  ein 
Buch,  das  beweise,  Geliert  sei  ein  eben  so  seichter  Kopf  für  die 
Wissenschaften  gewesen,  wie  er  für  einen  ganz  genielosen  Dichter, 
^Helbst  im  geistlichen  Liede,  gehalten  werden  müsse.    Und  noch  weit 
^Bbichter,  weit  unnützer  und  unfähiger,   eine  gesunde  Tugend  beizu- 
^Bpngen,  »ei  das  Moralische  in  seinen  übrigen  Schriften :  überall  finde 
^Biau  nur  das  Lob  des  guten  Herzens,  d.  i.  der  Temperaments-,  Er- 
Hpebungs-  und  Voruriheilstugend ,   deren  Schwäche  doch  sattsam  be- 
kannt sei.     Die  in  Deutschland  so  weit  verbreitete  weiche  Empfind- 
Kimkeit    und   aüssliche  Freuudschaftelci ,    wobei    alle   Männlichkeit 
?rloren  gehe,   und   eine  tapfere  Gesinnung,   wenn  das  Vaterland 
ertheidiger  brauche,  nicht  aufkommen  könne,  habe  niemand  mehr 
srbeigcführt  und  genährt  als  Geliert.    Er  habe  zuerst   die  Nation 
dabin  geführt,  Geschmack  an  Richardsons  Romanen  zu  finden.  Wenn 
er  bewirkt  habe,  dass  die  Neigung  zum  Lesen  belletristischer  Werke 
tberhaupt  in  Deutschland  viel  allgemeiner  geworden  sei,   so   habe 
dadurch  doch  keineswegs  zur  Bildung  des  guten  Ge-schmacks  bei- 
vielmehr  müsse  behauptet   werden ,    dass  die  Nation  im 
izen  noch  ohne  Geschmack  sei,  und  dass  diejenigen,    denen  ein 
rhtiger  Geschmack  bcigiclcgt  werden  könne,  ihn  nicht  Gelierten 
»kcn;  wogegen  es  vornehmlich  von  seinem  Einüuss  auf  die 
sbe   Jugend    herrühre ,    dass    so    viele    der    neuesten    Dichter 
flboraus    seicht    und    elend    seien,    und   dass   namentlich    auch 
;r    winselnde    Ton    der    Nachtgedanken    von    Young    in    unsere 
foeaie  so  leicht  Eingang  gefunden  habe".  —  lieber  andre  itoetische 
?rühmtheilen   aus   den    letzten  Jahrzehnten,    wie   über  Wieland', 


§  299 


6t  Vgl.  in,  428  i.         7)  Vgl.  §  nt\,  gp»ron  Ende  von  Anm.  II.         8)  Brief 
S.  f^B;    ..H*»rr  Wielanii  scJimbt  viel;   es  ist  uuraögüch.   da£B  alles  gleich  gnt 
^  "D  ,Aie  Grazien"  mit  vieler  Nachlässigkeit  gedichtet  zu  seio.  so- 

»Ul  i:  >is  io  der  Einkleidung.    Von  den  Ursachen   und  Wirkungen   der 

dygrapbic .  die  ansere  Dichter  anficht ,  sobald  sie  berOhmt  werden,  liesse  sich 


■I 


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16    VI.  Vom  Bweiteo  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  biä  zu  Goethe'»  Tod. 

{  299  Kflstner'  und  die  Lebrdichter  überhaupt,  äusserten  sich  die  VerfaMer 
der  Briefe  fürs  erste  nur  mehr  beiläutig;  doch  konnte  es  schon  darnach 
nicht  mehr  zweifelhaft  sein^  dass  sie  ausser  Wielands  Musarion  keines 
der  Vorhandenen  Werke  der  didaktischen  Gattung  als  ein  eigentliches 
Gedicht  anerkennen  wollten"'.  Mehr  mit  dem  Gesammtcrtrag  unserer 
schönen  Literatur  während  der  letzten  vierzig  Jahre  hatte  es  du 
zweite  Stück  zu  thun.  Was  früher  zum  Lobe  Rabeners  gesagt 
worden,  wurde  nun  beschränkt  und  gegen  ihn  Liscow  erhoben". 
Halleni  ward  die  höhere  Dichterbegabung  so  gut  wie  ganz  ab- 
gesprochen'-; die  meisten  aus  Gottscheds  Schule  hervorgegangei 
Verfasser  der  Bremer  Beiträge  mit  den  ihnen  geisteaverwandl 
Dichtern  wurden  tief  herabgesetzt'^;  J.  G.  Jacobi,  Gotter,  Kretsc 
mann,   Michaelis  u.  a.  mit  Spott  über  ihre  markloseu,    witzelni 


nel  aagen.    Ich  fürchte.  Hr.  W.  wird  sich  nicht  geoag  für  diesen  Stein  des 
stosBcs  huton  und  viel  Mlttehnääsiges  unterlaufen  Iftssen.    Indessen  ist  W.  immer' 
ein  Geiiie  und  ein  grosser  Kopf".  9)  Brief  %  S.  163  ff..  Brief  ft.  S.  211  ff.. 

Brief  10,  S.  22'.»  ff.  Unter  seinen  Gcdichtt-n  taugen  nur  die  Epigramme  etwas 
Wenn  aber  Dicht  einmal  der  durcbgehends  gute  Gpigrammatist  unter  die  Zahl 
der  wahren  Dichter  zu  rriben  ist,  wie  kann  derjenige  in  diesem  Fache  aelbst 
seiner  Nation  besondere  Ehre  macheu,  der  nach  Epigrammen  Jagt  and  also  frei- 
lich unter  vielen  ein  gutes  tiudetv  10»  Brief  9,  S.  I*»5  ff.  „Wir  haben  einen 
tlpberfloss  an  dogmatischen  Dichtern;  —  Hallcr.  Dusch,  Wieland.  Cz,  Croncgk. 
Uchtwer  u.  A  haben  sich  in  diesem  Felde  bervorgezeichnet.  Obgleich  alle  mit 
sehr  versciüedcnem  VorthcU»  so  sind  sie  dennoch,  sogar  Licbtwer,  iu  meinen  Augen 
über  IfcUert.  —  Nach  dem  gewöhnlichen  Ue^iffe  davon  k&nn  ich  aber  die  Lehr- 
gedichte unmöglich  unter  die  Gedichte  rechnen,  und  Üoileau  ist  mir  nichts  mehr, 
als  ein  witziger  Versmacher.  —  Wir  Deutschen  haben  nur  einen  Lehrdichter  nach 
meinem  Degriff,  und  der  ist  Wlcland.  Nicht  in  seinen  bekannten  Lehrgedichten, 
welch«  er  sclirieb,  als  ihn  noch  der  Geschmack  für  die  engUscbeu  Dichter  be- 
hern.ehtc;  nein,  in  deinem  vollkommensten  Gedichte,  das  ihn  zum  Stolze  s«ines 
Vaterlandes  und  zum  Mitgouossen  der  Unsterblichkeit  macht  —  in  seiner  Unaa* 
rioa'v  11|  Brief  15,  S.  11-27.  12)  Brief  19.  S.  «17  ff.  Alle  eifrij 
Anhilnger  Gellerts  rechneten  aasscr  ihm  Ilallem  unter  die  grösslen  Dichter 
Deutschland.  Allerdings  wftre  derselbe  der  erste  gewesen,  der  von  jenem  wj 
richten  Modeton  abwich,  der  zu  seinen  Zeiten  herrschte,  aber  onmöglich  k^ 
rr  deswegen  ein  Dichter  genannt,  geschweige  unter  die  Zahl  unserer  groMeo 
Dichter  gesetzt  werden.  Sein  ganzes  Verdienst  bestünde  darin,  philosophisch« 
Sentenzen  in  Reime  gezwungen  zu  haben ,  der  einzige  Werth  seiner  Gedichte 
darin,  dau  sie  verschiedene  glückliche  und  starke  Gedanken  enthielten.  Auch 
seine  Alpen  dftr/ton  fOr  kein  wahres  Gedicht  gelten;  nur  als  Lyriker  hätte  er 
zweimal  poetbebe  Kraft  gezeigt  (In  der  „Doris''  und  iu  der  ..Trauerode  beim  Ab- 
slerben seiner  geliebten  Mariane'*).  I3i  Brier  M,  S  ä9.  wo  des  Natzena  ge- 
dacht vrlrd,  den  die  reichte  saürischo  Freiheit  in  der  Literatur  mit  sich  fahren 
würde,  hei^l  es:  „Nehnien  Sie  nur  die  Kritik  in  Deutschland!  Welch  eine  ver- 
änderte GestuU  würde  !tir  gewinnen!  Wie  würde  das  Verdienst  eines  Deni^ 
*orK(izoferi.  und  die  Schlegels,  (iisekeiis,  U&rtners  undCrouegks  iu  Uire  veiu.  ..^ 
Ditiik*'lh*li  HidTalrgcachleudcrt  werden  I** 


d. Literatur.  l7T.t— Hf\2.  Äeathet.  Kritik.  Mauvülouu. Unzer,  17 

kleineu  Poesien  abgefertigt";  die  heitern  erotischen  Dichter  über-  §  299 
baupt.  obgleich  sie,  wie  mit  bitterer  Ironie  auseinandergesetzt  ward, 
unter  den  bestehenden  Regiei-ungöformeu  und  bei  dem  derzeitigen 
Zustande  der  Ge^ellHrhaft  von  einem  gewissen  Nutzen  wären,  fllr 
lächerlich  erklärt;  sofern  sie  sich  selbst  eine  so  grosse  Wichtigkeit 
beilegten  und  sich  fUr  Lehrer  der  Tugend  ausgäben '^  Die  gegen 
die  heitern  Diehter,  welche  von  Wein  und  Liebe  singen  und  daa 
Vergntlgen  anpreisen ,  erhobenen  Beschuldigungen  werden  wider- 
legt Zu  der  Tugend  freilich,  wird  dann  weiter  bemerkt,  die  auf 
füäten  Ueberxeugnngen  beruht,  zu  der  Tugend  der  grossen  und  starken 
Seeleu,  tragen  diese  Dichter  so  wenig  bei,  dass  sie  vielmehr  fähig 
wären,  dieselbe  zu  schwächen  oder  wohl  gar  auszurotten.  Diejenige 
Tugend  aber,  die  in  der  Empfänglichkeit  de^  Herzens  ftlr  Rührungen 
besteht,  die  sympathetische  Tugend,  die  das  Vergnügen  und  die  Be- 
4|uemlichkeit  Anderer  zum  Zweck  hat,  diese  befördern  die  erotischen 
Dichter.  "Wenn  sie  wirklich  einen  Einfluss  auf  die  Denkuugsart 
ihrer  Le^er  ausüben,  so  bilden  sie  Epikuräer,  fühlbare  Seelen,  die 
den  lieben  Gott  einen  frommen  Manu  sein  lassen,  keinem  Menschen 
Leids  tbuu,  im  Gegentheil  ihrem  Nächsteu  helfen,  so  viel  als  sichs 
ohne  ihre  Unbequemlichkeit  tbuu  lässt,  und  sich  übrigens  die  Zeit 
in  der  Welt  so  gut  vertreiben,  als  sie  können.  Heut  zu  Tage  stiften 
aber  diejenigen,  welclie  das  symjiathetische  Gefühl  rege  zu  machon 
wissen,  diejenigen,  die  die  Weichherzigkeit  einflössen,  grössern  Nutzen 
als  die,  welche  feste  und  unerschütterliche  Charaktere  bilden.  Denn 
grosse  Thaton,  wozu  eine  gewisse  Stärke  de»  Geistes  gehört,  hissen 
sich  bei  den  bestehenden  Regierungsformen  und  dem  Zustande  der 
Geselbchaft  nur  gar  selten  mehr  thun;  kleine  Wohlthaten  dagegen 
können  u*»ch  immer  geübt  werden.  Freilich  würde  eine  Gesellschaft, 
die  aus  lauter  starken  Seelen  bestünde,  weit  besser  sein,  als  die 
insrlge  ist,  für  welche  die  erotischen  Dichter  Nutzen  stiften.  Uebri- 
gens  aber,  heisst  es  dann  noch  weiter,  scheine  es  etwas  sonderbar 
za  aein,   daas  nusere  scherzenden  Dichter,   anstatt   die  Nation  zur 


I4>  Brief  ts,  S.  73  f.  „Sobald  ein  neues  Gediclitchen  von  Jacobi  (den  ich 
UbrigVDs  U6ber  schätze  ala  manclie,  die  seine  Absichtei^  und  Gaben  verkennen) 
o<!er  eine  pi^cc  fngitive  von  Kngeln.  Ebeling.  Koch,  Gottom.  Kretschmann, 
Michüelis  und  Sftngerhausen  ersclieint:  o  so  sollten  Sie  sehen,  wie  beßierig  man 
iin  witzigen  OeBellBcUatten)  die  frischen  Bissen  verschlingt!  Dann  schreit  man: 
\V'le  himmlisch!  wie  göttlich!  welche  attische  Urbanitixt!  welch  ein  lydischcr 
irejcher  Gelang!  Wie  schalkbaft!  wie  fliessend!  —  und  wie  die  Modeeiclam»- 
tionen  alle  heissen.  Ja,  wo  bleiben  da  die  Stammhalter  der  deutschen  Poesie? 
V»ter  Httge*loru  ist  gegen  einen  neuen  Witzling  unausstehlich  troclken,  und  Kleist 
hat  den  Ton  der  guten  Gesellschaft  verfehlt"  etc.  15)  Hien'on  handeln  Urief 

^  OOd  24. 

KoUnteliL  GnodrlM.    6.  An«.  IV.  2 


1%    VLTw 


Tkrtti  öM  XVni  Jftlizbitaderti  Ui  n  Govüie't  Tod. 


f  9S%  fVoate  n  kckM«  iie  nit  Gewalt  daza  zwingen  wollen,  da  ne 

asntttHatefc  eiaen  jeden  Terdammen,    der  mit  ihnen  nicht  laAcic^ 
wolle  eder  kOnne,  aDd  dabei  die  VertheidigTuig  ihrer  Göttin  oft  sehr 
flcUedrt  Mtfea".  Der  Dichter  aolite  nor  nach  den  Genie  gee^Atit 
md  das  Oenle  kaopWehUch  in  der  Kraft  za  schaffen  gesucht  werdeiL 
„Em  reratebt  sich,  hciast  es*^,   dass  mir  des  Dichtere  8chöpfen«cher 
Geilt  laoier  Dinge  TonteUea  moss,  die  mich  interessieren.     Kann 
er  ans  eiaem  decn  Scbeine  nach  unbequemen  Dinge  etwas  machen, 
dai  mich  inieif  ieit:    Heil  ihm!     Ich  bewundre  ihn  desto  mehr. 
Aber  aach  das  ist  schon  hinreichend ,   ihn  in  mdnen  Angen  znm 
grossen   Dichter  zu  machen,    wenn  er   nur  weiss  Gegenstiiude  zu 
wlUeiiy  welche  wichtijf  sind,  und  das  Wichtige,  das  darin  Hegt,  es 
beatehe  im  Grossen  cxler  Reizenden,    herauszuholen,   tun   mir's  zu 
zeigen«    Diese  ist  die  llaupteigeuHchaft  aller  Dichter  und  der  Ms«- 
Stab,  naeh  dem  Ich  sie  abmesse  .  .  .  Den  Lehrdichter,  wenn  er  nichl 
alle  seiBe  Sätze  durch  GemAhlde,  und  zwar  dichterisch  bear>>etteti 
Oemlhlde,   durch  den  ganzen  Schmuck  der  Einbildungskraft   weil 
sinnlich  zu  machen,  streiche  ich  ganzlich  aus  der  Zahl  der  Dichter' 
wef . . .  Wer  nur  die  ioteressiereud^te  Erfindungskraft  besitzt,   daa^ 
ist  der  Dicliter,   den  ich  in   die  erste  Klasse  setze.    Er  dichte  mii 
ron  Hirten   oder   von   Göttern,    von  Schlachten    oder  von   Liebca-I 
gMchichten,  er  drücke  die  Begebenheiten  und  Empfindungen  Anderer 
oder  »cino  eignen  aun;  kurz^   wenn  er  mich  nur  interessiert,    so  iM 
CT  mein  Dichter,  und  ich  liebe  ihn",    llicniach  könnten  bloss  KIop- 
stock,  Ramler,  Gessner,  Wieland  und  Gleim  (wiewohl  die  beiden 
letzten  auch  nicht   ohuc  Einschränkung)   unter   unsern  Dichtorn    die 
,; wahrhaft  grossen*'  hcisscn;    ihnen   zunftchat,    aber    schon   um    eine 
Stufe  tiefer,  sollten  Uz,   Gerstenberg,  die  Karsch,  Denis ,  vielleichl 
auch  noch   liottnicr,  Kleist  und  Lichtwer  stehen,  und  höchstens  erst' 
in  oino  dritte  Klasse  Mfiuner  wie  Hagedom,  Zachariae,  Willamov^j 
Krctschmann,  Duscli,  Gramer,  Thtlmmel,  J.  G.  Jacobi,   Michaeli 
niuni    k<mimou.     Lossiug  endlich,  ,,ohue  Zweifel   der  grösste  um 
vollkominonsto  Prosator  in  Deutschland,  so  wie  unser  erster  Kunst- 
richtcr",   und  Weisse  hatten  zwar  gezeigt,   zu  welchem  Grade  der\ 
Vnllkomnuüihoit    man    es    mit    Fleiss,    Studium    und    Uebung    zu- 
hriugon  veriuochto,  ohne  oben  ein  grosses  Genie  zu  haben;  aber  als 
Dichter  konnten  sie  beide  nicht  einmal    einen  Anspruch   auf  eine' 
ßtcllo  der  »weiten  Klasse  machen".  —  Diese  Briefe  erregten  grosses 
Anftohon;   mochte   sich    aber   auch  bald  von  verschiedenen  Seiten 


ftj)  Hlrr  «tri  Ito^ütidcn  Bezog  auf  Grundsatze  und  Lohrcn  gmommen ,  diS; 
in  WIeUndi  Ploffi*ni'%  v«rtf«ini^pn  waren.  l7)  Bn>r  WK  S    s**  ff.        jSi  Vgl, 

Kt  1.  S.  14S  IT 


ttwickelongsgang d. Literatnr.  i773-i^32.  Aesthet.Kritik.  MauvUIonu.üozer.  19 


W 


der  alten  Schule  her  heftiger  AVitlersprueh  dagegen  erheben  *^  so  §  29! 
sprachea  sie,  wenn  auch  keineswegs  durchweg,  so  doch  in  vielem 
Einzelnen  und  besonders  in  Betrefif  Gellerts  Grundsfitze  aus,  die  tla- 
mals  schon  ziemlich  allgemein  von  den  , «sogenannten  Freigeistern 
in  Sachen  dea  Genie's'*  gehegt  wurden.  Goethe's  Beurtheilung  des 
ersten  Stücks  der  Briefe*'  beginnt  mit  den  Worten:  „Es  ist  eine 
iin"  '  •  Arbeit,  wenn  man  Ketzer  rotten  soll,  wie  es  die  Verff. 
in     '  iig^   der   iillgeraeinen    Orthodoxie    des   Geschmacks    sind, 

gegen  den  sie  sich  auflehnen.  An  Geliert,  die  Tugend  und  die  Re- 
ligion glauben,  ist  bei  unsemi  Publico  beinahe  Eins.  Die  sogc- 
naunleu  Freigeister  in  Sachen  des  Geuie's,  worunter  leider  alle 
ansre   jetzt    lebenden    grossen  Dichter    und  Kunstriehter    gehören, 

n  eben  die  GrundsAtzo  dieser  Briefsteller;  nur  sind  sie  so  klug, 
der  lieben  Ruhe  willen  eine  esoterische  Lehre  daraus  zu  bilden." 
Goetho  fand  es  zu  hart  geurtheilt,  Geliert  einen  mittelmässigen 
Dichter  ohne  einen  Funken  von  Genie  zu  nennen,  und  war  beson- 
der« mit  dem  heftigen,  barschen  und  wegwerfenden  Ton  der  Briefe 
anzufrieden.  Allein  er  mochte  doch  auch  nicht  mehr  zu  Gunsten 
de«  Dichten*  Gellort  sagen,  als  dass  er  „ein  angenehmer  Fahulist 
und  Erzihler"  sei,  der  „einen  wahren  Einfluss  auf  die  erste  Bildung 
der  Nation**  gehabt,  und  der  durch  „oft  gute  Kirchenlieder  wenigstens 
wieder  einen  Schritt  zu  einer  unentbehrlichen  Verbesserung  des 
Kircbenrituals"  gethan  habe.  Ein  Dichter  auf  der  Scala,  wo  Oasian, 
j*tock,  Shukspearc  und  Milton  stellen,  sei  er  freilich   nicht  ge- 

n-,  „nichts  mehr  als  ein  Bei  Esprit,  ein  brauchbarer  Kopf,  der 
Ton  der  Dichtkunst,  die  aus  vollem  Herzen  und  wahrer  Empfindung 
Htrömc,  welche  tlic  einzige  sei,  keinen  BegrifT  gehabt  habe."  —  Die 
Zeit  verlangte  nach  einer  andern  Poesie,  als  die  zeithcrigo  im  Allge- 
meinen gewesen  war.  Von  allem,  was  in  dieser  durch  Geist  und 
Form  nu  eine  den  sogenunnten  französischen  Classikern  und  den 
englischen  Didaktikern  verwandte  Schule  erinnerte,  kehrte  sich  das 
neue  Dichtergeschlecht  am  entschiedensten  ab.  Damit  griif  auch  bei 
tbm  binnen  Kurzem  die  Missachtung  gegen  die  Vertreter  der  alten 
Richtungen  immer  weiter  um  sich.  Wenn  man  in  dem  Göttinger 
Kreiae  mit  Berufung  auf  Klopstocke  Urtheil  der  Poesie  Gellerts  und 
Wcisee'u  nur  mehr  stillschweigend  entgegentrat  und  bloss  in  brief- 
licher Mittheilung  sie  und  ihresgleichen  als  Dichter,  auf  welche  die 
NiUioD  fltolx  sein  könnte,  fernerhin  nicht  wollte  gelten  lassen",  und 


19»  Vgl.  Jördens  2.  M.  20)  In  den  Frankfurter  gelehrten  Anzei^sn: 

Wtfke  :w,  H«ff.  2u  im  Febr.  \":\  schriehVoss  an  seinen  Freund  Brückner 

iBKefe  v.  J.  U.  Voss  1,127)  mit  nAchbteni  Uezug  nuf  die  Sprache  in  J- A.  Cramers 
Gedichten:   „Bieriu  hat  der  liebe  (lellert  auch  noch  viel  verdorben,   dessen  fran- 


20     VI.  Vom  nreiten  Viertel  des  XVni  Jiüirhauderis  bis  zu  Goetbe*s  Tod. 

{  299  weuu  sich  hier  ebenfalls  in  iler  Stille   erst  eine  Aenderung  des  Ur- 
tlieils  über  Gesaner-'  vorbereitete":  so  verlautbartc  es  dagegen  Imld 
in  Deutschland,  wie  feindselig  diese  jungen  Dichter  gegen  Wieland 
gesinnt   wÄren*',   den  Gerstenberg  ja  schon   einige  Jahre   zuvor 
heftig  angegriffen  hatte",   und  gegen  den  auch  aUbald  die  Dicbti 
am  Rhein  und  Main^  mit  Goethe  an  der  Spitze,  ins  Feld   rUcktcn. 
Goethe,    der   unch   im   Anfang    des  Jahres   1770   sehr  für  Wielaod] 
eingenommen    war*    hatte   in   seiner  Bewunderung   für  denselbei 
wohl  zuerst  durch  Herder  einen  Stoss  erhalten;  doch  beweisen  zwe 
fiecensiouen    in    den  Frankfurter  gelehrten   Anzeigen^   hinlängUcl 


tOBJBches  Deutsch  so   lange  für  scfaOo  gehalten  ward.    Cod  deshalb   tat  es  oi 
recht  gut.  dass  l'nzer  und  Maarillon  in  ihren  Briefen  ihn  ein  wenig  angegriffc 
ob  nur  gleich  die  Art  missftllt".    Vgl.   daeu  die  Bric/stellcn    1,  Kis   und    IM 
In  der  zweiten  wird  Geliert   al&  Dichter  geistlicher  Lieder  uiclit  rirl  hoher 
B.  Schmolck  gestellt.    „Seine  Lehrgedichte   —   willst  Du  die  Gedichte  luviofnl 
Seihst   unter  den   Lehrgedichten   stehen  sie   auf  der   niedrigsten   Stufe. 
Fabeln  —  wer  bat  Aesop  und  Phaedrus  einem  Homer,    Piudar,   Virgil   nur  v< 
ferne  an  die  Seit«  gesetzt?  —  Seine  Komödicu,  seine  Briefe,  seine IVosal  —  A< 
hn  mich;  ich  will  ja  gerne  dem  Volk  seine  Götzen  Itissen.   nur  rerlau^e   nichl 
dass  ich  selbst  niederfallen  soll.   Geliert  war  ein  guter,  fr^nuner  Mann;  ein  guti 
Schriftsteller  fdr  Zeiten,  wo  Gottsched  alles  war;  und  durchaus  kein  l»icbte-r  etr 
Mein   Urtheil   Ist  das   Urtheil  des   Bandes  und  Rlopetocks".    An   einer  axkdei 
Stolle  il,  1ä9  T)   scbrcibt  Voss,   von   uuseru   Dichtern   sei  Klopstocken  keine 
widriger  als  Weisse.    Er  sage,  dass  Weisse  keinen  Funken  von  Genius  hätte 
nur  ein  neuer  Ilofmannswaldau  w&re.    Wielauds  Genie  schätze  er<  bei  aber  deai 
onzufriedener,  da.ss  er  immer  nachahme     Ueber  J.  G.  Jacobi  lache  er.  —  Stil 
Gleim  war   177 1   zu  der  Ueberzeuguag  gelaugt«   es   sei  von   den  Dichtern   alten 
Schlages  kein  Heil  for  das  Vaterland  zu  erwarten.    ..Es  ist**,  schrieb  er  an  Hcinse 
(Briefe  zwischen  Gleini.  W.  Heinse  etc.  l,  iOlf.i.  „ein  unausstehlich  faule«  Wesen 
in  unserem  ganzen  lieben  VatorUnde,  und  doch,  wir  müsseu  es  Ueben  und  Sachen, 
unsere  Leser  immer  besser  zu  luachon.    Mit   einem   ^nzen   Dutzend   Gelierten 
wird  nichts!    Kiu  Dutzend  Guetheu  und  ein  Dutzend  Deines  Feuers,  bester  Sohn, 
die  konnten  helfen.  22»  Vgl.  über  ihn  §  31S.  2'A\  Gc^en  Ende  di 

J.  1771  schrieb  Voss  noch  an  Brückner  (Briefe  1,  I^öi:  „Ges«.nor  ist  su  tdcl 
als  Geliert,  und  doch  ein  Dichter,  ein  grosser  Dichttr!'"  Aber  schon  einige  MoitaU- 
sp&ter,  als  ihnTheokrit  zuerst  auf  die  cigcutUche  Bestimmung  der  Idylle  uufmerk- 
MUD  gemacht  hatte»  fand  er  (I,  \\)0  f.»,  dass  Gesaner  nicht  ihm.  sondern  d« 
Spaniern  und  ItaUenem  hi  dieser  Diohtungaart  gefolgt  sei  und  Schweizenmtur  mi 
arkadit^chen,  oder  besser  idcnlisrhen,  d.  h.  chimüischcn  Einwohnern  KC'iuahll  habe, 
„Was  gibst  Du  mir",  setzt  er  fragend  hinzu.  ..wenn  ich  Dir  zeige,  dass  er  nur 
da  vortreftlich  ist,  wo  er  wirkHrhc  Nutur  hAt''*'  —  Dass  schon  Herder  in  den 
Fragmenten  den  gro&seu  L'uterschied  zwischen  der  geiuterischeu  und  der  theokri* 
tischen  Idyllellpoesie  vortrefHitih  auseinAndergefleUt  hatte,  ist  oben  ($'2tU,  Anm.  l'Jt 
«rwÄhni  worden.  2*1»  Vgl  die  Briefe  vonJ  H  Vo.ss  I,*.t:tf  und  llliwovon  das 
Weaeuiliche  oben  1111.97  f.]  mitgetheilt  tsti.  und  dazu  Prutz,  der  Göttinger  DicUter- 
lK»d  8.  8iur.  26)  Vgl  §  l'Mi  zu  Ivnde  der  Aumerk.  71,  und  dazu  Gruber  In 
tfUlaadf  Leben  1,  irs  f.  und  besonder»  J.  ^  tt.  26)  Diees  ergibt  sich  aai_ 

den  vu  oben  lU,  l'^ä  angefahrt  ist  27)  Werke  33,  3i  flf  und  130  t 


m.      I 

be.H 
lur^l 


EDtwickelan^sgAUg  d.  Lit^ratnr.     1713—1^^2.    Aestfaet.  Kritik. 


21 


aueli   noch   im  Jahre    1772  die  alte   Hochachtung  gegen  den  §  299 
Dichter   der  Musarion    und    des  Agathoii    immer  gross  genug   war. 
Irst   der   deutsche  Merkur^    der  Goethen  überhaupt  nicht  gefallen 
Lonute  und  dabei  gleich  in  der  ersten  Zeit  so  manches  enthielt,  was 
reeignet  war,  ihn  zu  verstimmen,  zu  reizen  und  zu  verletzen,  brachte 
leine  SinnesÄudernng  in  ihm  hervor,  die  sich  im  Jahre  1774  sowohl 
In  Briefen",  wie  in  der  Farce  ,, Götter,  Helden  und  Wielaad'*  aus- 
jiprach'^.     Von  andern  Dichtern,  die  mit  Goethe  in  der  ersten  Hälfte 
der  Siebziger  befreundet  waren  und  Angi'iflFe  gegen  Wieland  rich- 
leien,  sind  besonders  H.  L.  Wagner  und  Lenz  zu  nennen.    Wagner 
bijbnte'ihn  in  der  zu  seiner  Zeit  so  berüchtigt  gewordenen  dramati- 
echen  Satire  ,, Prometheus,  Dcukalion  und  seine  Recensenten"  (17751, 
[von   der   noch   anderwärts    die  Rede  sein  wird.     Lenz  schrieb  ein 
^a^qnili  auf  ihn,  „die  Wolken"'*  betitelt,  und  sodann,  obgleich  er 
»elbst  den  Druck   desselben   hintertrieb"    eine  ,,Verthcidigung    des 
[Hm.  W(ieland)  gegen  die  Wolken"^.  Auch  in  der  von  Lenz  in  dra- 
matischer Form  abgefassten  Skizze  „Pandaemoniiim  Germanicum"", 
welche  ebenfalls  noch  im  Jahre    1775   oder  im  Anfang   des   nilchst- 
folgcnden    geschrieben    sein    mnss " ,    wird    Wiclaud    durchgilngig 
lächerlich  gemacht**.     Der  einzige  deutsche  Mann,    der   zu  Anfang 
der  Siebziger,  in  Goethe's  Kreise  nicht  minder  wie  unter  den  Göttin- 
gern,  »ich  in  dem  vollsten  Dichteransehen  behauptete,  und  auf  den 


2b)  Vgl  Werke  60,  2*22;  324  und  Briefwecfasel  zwischen  Goethe  und  Fr.  H. 
}\  S.  M.        29»  Vgl  oben  in,  t40  und  dazu  Werke  2e,327ff.        30)  Ucber 

pmz^  Verhalten  Goethe's  zii  Wieland  vom  Ausgang  der  Sechziger  bia  zu  ihrer 

zuerst  durch  Andere  veiinittelten  AniiHhernuit,  die  gleich  mit  Goethe's  Eintritt  in 
Wdiuar  zu  herzlicher  Freuntlschaft  wurde,  gibt  die  außfUhrlichate  und  beste  Aus- 
kunft II.  DCinizer  in  den  „PVeundesbiUlern  aus  Goethe's  Leben.  Studien  zum 
Lebeo  des  IHchtors*'.  Leipzig  1853.  8.  S.  290— :m.  31)  Vgl.  über  dasselbe 
Weinbold,  Bole  8.  102  ff.  Es  war  eine  Nachbildung  der  aristophanischen  Wolken, 
wohn  Wieiand  ans  seinen  Schritteu  gehechelt  ward.  32)  Vgl.  Morgenblatt 

l^äS,  Nr.  :tS.  S.  &94  ff.  33)  Sie  erschien  1770,  ist  mir  aber  nicht  weiter 

aU  ani  Nicolai*»  Bericht  darüber  in  dem  Anbang  zum  2ö. — 36.  Bde.  der  allgem.  d. 
Bibliothek  S.  774  r  bekannt.    Vgl.  Weinhold  a.  n.  0.  S.  194.  34)  Aus  seinem 

liehen  Nachlasse  herausgegeben  von  G.  F.  Dumpf,  Nürnberg  ISIÖ,   h.,  dann 
sr   gedruckt  im  \i.   ßde,    der  „gesammelten  Schriften   von  J.  M.  R.  Lenz. 
Ton  L.  Tieck'S  S.  207  ff.  35)  Xftch  Hettner  (in  Westennanns 

»natsheften  lStj7,  Januar,  S.  aSO>  wahrscheinlich  bald  nach  dem  „Werther" 
!ii.  30)  Ausser  ihm  kommen  darin  von  deutschen   Schriftsteilem 

oder  minder  schlecht  davon  Hagedom,  Geliert,  Rabener,  Weisse,  J.  G.  Jacobi, 
Is   and  der  Kuustrichter  und  Vielschreiber  Clir.  Heinr.  Schmid  (über  den 
ichat  auf  JOrdens  4,  .55!    uud  auf  Goethe's  Werke  20,  Ißt)  ff.  verweise); 
»er  Oleim  und  Mk;  verherrlkht  werden,   nebst  Goethe  und  Lenz  selbst,   nur 
t^lopBtock,    Lessing  und  Herder.  —  Vgl.  auch  „das  leidende  Weib"  (von  Klinger) 
in  den  geaammclteji  Schriften  von  Lenz,  1,  163  ff. 


23     VI.  Vom  zireitra  Viertel  des  XVni  Jahrhunderts  bis  zn  Goethe's  Tod. 

f  299  alle  diMejungen  Genialitaten  mit  Verehrung  blickten;  war  Klopstack 
daa  dichterische  Verdienst  Leasings,  so  ^iel  Anerkennung  er  au 
als  Dramatiker  fand,  vermochten  jene  jungen  Feuerköpfe  noch  nicht 
seiner  eigensten  Natur  und  ganzen  Grösse  nach  zu  würdigen;  in 
Glcim,  der  beiden  in  der  Achtung  der  JUngem  am  nächsten  stand, 
ehrten  und  liebten  sie  eigentlich  weniger  den  Dichter  als  den 
MeuHcben  und  den  hUlfebereilen  Förderer  jedes  der  Unterstützung 
bedürftigen  Talents;  Ramler  wurde  vornehmlich  nur  als  Metriker 
und  als  feinfühlender  Kritiker  geachÄtzt,  Kleist  hauptsächlich  nur 
als  Frühllngssänger  von  den  empfindsamen  Naturschwärmeru  des 
Göttinger  Kreises  hoch  gehalten.  Indess  auch  für  Klopstock  nahte 
schon  die  Zeit,  wo  sich  die  Zahl  seiner  Bewunderer  vermindern  ui 
er  von  der  Höhe  herabsteigen  sollte,  die  er  so  lange  io  der  öft'cnl 
liehen  Meinung  als  der  grösste  Dichter  DeutsehUnds  eingenomm« 
liatte  *. 


§   300. 

Indem  unsere  jungen  Dichter  in  diesem  Verhalten  zu  ih 
Vorgängern  alles  fallen  liesseu,  was  in  der  zeitherigen  Art  d 
poetischen  Producierens  veraltet  und  abgelebt  war,  und  damit  den 
meisten  der  so  lange  vorzugsweise  behaudelteu  Gegenstände  un 
den  für  ihre  Darstellungsfonnen  benutzten  Mustern  den  Rück 
kehrten,  verwarfen  sie  auch  aufs  entschiedenste  alle  Theorien  und 
Kunstregelu  der  alten  Schule  und  setzten  an  deren  Stelle  eine  ganz 
neue  Dichtungslohrc.  Die  von  Klopstock  und  Lessing,  von  Young 
und  Diderot,  von  Hamann,  Gerstenberg  und  Herder  in  den  Boden 


nd^ 


toek^l 


37 1  l'cbcr  dio  bis  zur  Verpfitterung  sich   versteigende  Verehrung  Klops 
In  dem  G<Htingcr  Kreise  vgl.  oben  III ,  97  f. ;   über   das   Verhalten  Qoethe^s  luii 
•dner  Freunde   tu  ihm  uro  dieselbe  Zeit  vgl.  Goethe's  Werke  20,  112.     Wie  der 
Wfkrtemberger  Kraflmann  Chr.  F.  Dau.  Schubart  für  deu  Messäiu  begeütert  war 
und  seine  Begeisterung  durch  Vorlosen  und  öffentliche  Declamation  d**«  Gedic 
auch  auf  Andere  zu  Qt>ertr&^eu  suchte,  kaun  man  aus  dorn  d.  Museum  von  177 
2.  S55  ff.  (»gl.  dazu  den  Brief  Schubartß  an  Klopetock  in   den  „Briefen  von 
an   Klopetock'*   herausg.  ron   Lappenberg  S.  26S  ff.;    dazu  S.   51  Oi   crseboti  ( 
diesem  Bericht  über  die  Wirkungen  des  Messias   auf  I/eeer  und  Hörer  ans 
Standen  halte  man  aber  als  Gegeustttck  einen  andern  in  der  neuen  Bibliotii«k  d. 
scbAnen  Wissenschaften  23,  1,  ßS  ff.  3S)  Darauf  deuteten  bereits  in  den 

ersten  siebziger  Jahren  manche  Stellen  in  Briefen  von  Hamann,  Herder  und  Merck 
(Vgl.  Herden  Lebensbild  3,  I,  13S;  llamaons  Schriflcn  5,  6h  f.;  75  und  Briefe 
aus  den  Frenndeskreifle  von  Goethe  S.  Il<(),  und  vorzüglich  dos  in  den  Briefen 
an  Merck  abgedruckte,  schon  oben  (§242.  Anm.  7)  angezogene  Scbroibcu  von  Hein- 
rieb FueitU  an  Lavater  (vgl.  auch  Knebels  literarischen  Nachlass  X  113  ff  ;  130 
and  Prutx.  der  Oöttingcr  Diditexband  S.  VM  f.;  321—320;  so  wie  zu  dem 
des  gaoxen  %  ebenda  3.  2ä8— 2%). 


Entnickelungigang  d.  Literatur.    1773— 18>2.   Aesthet.  KritÜL.  Ueuieperiode.    23 

dea  deutöchen  Geisteslebens  gestreute  reiche  Saat  anregender  und  §  300 
lÄufhellender  Gedanken  über  das,   was  eigentlieb  Poesie  sei,   wo  ihr 
Ursprung  gesucht  werden  mUsso,  worin  ihre  wahre  Bestimmung  be- 
ruhe, wo  sie  die  ihrer  würdigsten  Gegenstände  finden   könne,    was 
den  Dichter  erst  zum  Dichter  mache,    und    wodurch  allein  er  die 
tVbsteu   Wirkungen    hervorzubringen   vermrige,    —   war   allmähüg 
laufgegangen.      In    ihrem    Waehsthum   gekräftigt   durch  jene    FUlle 
[neuer  Aoschauungeu  und  Erfahrungen,  die  in  den  Gebieten  fremder 
und  alter  heimischer  Poesie  seit  dem  Beginn  der  Sechziger  gewonnen 
waren,  fieng   sie  nun  an  in  den  von  dem  jungen  Geschlecht  aufgo- 
[«teilten  und  beim  dichterischen  Ilervorbringen  angewandten  aesthe- 
fti8<.'heu  Tbeorien  Frucht  zu  tragen.     Diese  Theorien  waren  zunächst 
von  einem  ganz  revolutionären  Charakter.     Denn  wie  die  poetisch 
gestimmte  Jugend,  die  während  und  unmittelbar  nach   dem  sieben- 
jährigen Kriege  herangewachsen  war,  hier  für  Rousseau^s  Naturevan- 
gelium begeistert,  dort  von  Klopstocks  patriotischen  Ideen  ergriffen 
und   für   sein  Urdeutschthum  schwärmend,   und    überall  von   einem 
bis  zum  stnrmiscben  Freibeitsdrauge  gesteigerten  Unabbängigkeits- 
ainne  getrieben,  im  Leben  gern  alle  Schranken  durchbrochen,    alle 
Begrenzungen    übcrspningen    hätte,    welche    durch    staatliche    und 
kirchliche    Eiuiicbtungen ,    durch   Gesetz,    Sitte,    Herkommen    und 
Formen  der  bürgerlichen  Gesellschaft  gezogen  waren;  und  wie  sie 
in    ihrem  Thun    sich  lieber  von   dem   subjectiven  Gefühl  und  von 
einem   leidenschaftlich    enegten  Herzen,  als  von  der  Vernunft  und 
dem  angenommenen  Sittengesetz  wollte  leiten  lassen ' :  so  strebte  sie 


$  300.  Li  Besonders  beKelchuend  für  diese  Stimniuiig  der  damaligen Jugond 
sind  zwei  Stellen  in  Briefen  von  Fr.  H.  Jacobi  an  Uoctbe  aus  dem  J.  1774.  In 
d4!ir  ein^D,  die  geschrieben  ist  unter  den  ersten  mächtigen  Eindrücken,  die  Jacobi 
Ton  Wertheri  Leiden  empfangen  hatte,  heisst  es  lüriefweehscl  zwischen  Goethe 
und  Jacübi  S.  43):  „Dein  Herz,  Dein  Herz  ist  mir  alles.  Dein  Herz  ist's,  wa* 
Dich  erleuchtet,  kräftiget,  gründet.  Ich  weiss,  dass  es  so  ist;  denn  auch  ich  höre 
di«  Stimme,  die  Stimme  des  Eingeboruen  Sohni  Gottes,  de«  Mittlers  zwischen  dem 
Vater  and  uns".  Die  andere,  nur  um  wenige  Wochen  junger  und  aus  einem 
mit  welchem  Jacobi  die  Uandschrlft  des  Prometheus  Gocthen  zurücksandte, 
si  la.  a.  0  S.  41):  .^Ich  weiss,  an  wen  ich  glaube.  Der  einzigen  stimme 
mtanes  ITerzcns  horch*  ich.  Diese  zu  vernehmen,  zu  unterscheiden,  zu  verstehen, 
■nur  VTeisbeit;  ihr  mathig  zu  folgen,  Tugend.  So  bin  ich  frei:  und  wie  viel 
tch^  als  die  Behaglichkeiten  der  Ruhe,  der  Sicherheit,  der  Heiligkeit  ist  nicht 
"Wonne  dieser  Freiheit  I"  —  Dazu  halte  man  deJi  Inhalt  des  Werthcr,  als  den 
ToIUtandi^ten  Ausdruck  des  Aufhorchens  jener  Jugend  auf  die  Stimme  des 
HcrKe.nE  und  Ihres  VertraucDS  auf  seine  Leitung  bei  allem  Thun,  Bilden  und 
Dicbt4>n ;  sudann  auch  die  Darstellung  des  Charakters  von  Allwill  in  Jacobi's 
glei' :  I  Roman,  in  dem  die  zweite  jener  angeführten  Stollen,   wie  manche 

aaO'  lacn  Briefen  an  Goethe  und  Wieland,  so  gut  wie  wörtlich  eingefügt 

iit  <v^i.  Duutzer.  FreundesbUder  ans  Gocthe's  lieben  S.  136  ff.). 


wßmm 


24     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhundrrts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

f  300  auch  in  der  Dichtung  vor  allem  Andern  dahin,  jeden  RcgelzwAng^ 
alizuwcrfen,  alles  bloss  Conventionelle  zu  beseitigen,  die  Natur  in 
alle  ihre  Kecbte  einzusetzen  und  dem  Subject  seine  VoUfreiheit  bei 
allem  Ertinden  und  Ausführen  zu  sichern.  Nicht  der  Verstand  und 
der  Witz  sollten  fernerhin  im  Gebiet  der  Poesie  die  Herrschaft 
haben,  sondern  allein  die  Phantasie  und  Empfindung*.  Nicht  eia 
gemachtes  Gefühl,  sondern  die  Natur  mftsse  den  Dichter  wie  den 
Vngcl  in  der  Luft,  zum  Singen  treiben^;  weder  an  dem  blossen 
Nachahmen  fremder  Muster,  noch  auch  an  freiem  Nachbildungen 
»ollle  er  sich  gontlgen  lassen,  sondern  wirkliche  Originalwerke 
schaflen;  nicht  nach  fremder  Sinnes-  und  Anschauungsweise,  sondern 
in  deulÄchem  Geiste  und  nach  deutscher  Art  dichten,  nicht  blogg  fOr 
die  ^'clchrten  und  höher  gebildeten  Klassen,  sondern  für  das  Volk 
nberliaupt.  Reproduction  der  Aussenwelt  durch  die  innere  Well  in 
ci^rncr  Fonu  und  Manier',  kräftige,  Ictiensvolle  Charaktenstik  im 
DarHtclIen  menschlicher  Individuen  und  Verhältnisse,  Naturtreue, 
Mannigfaltigkeit  und  Energie  im  Ausdruck  der  Leideuschafleu, 
Innigkeit  und  Wahrheit  der  Empfindung,  die  aus  vollem  Herren 
fttttimen  müsse ',  wurden  als  erste  und  höchste  Erfordernisse  eines 
wahrhaft  poetischen  Werks  angesehen.  Daher  sollte  der  Dichter, 
Htatt  uu  die  Kegel,  sich  au  die  Natur  halten,  die  allein  den  grossen 
Künstler  bilde*,  anstatt  nach  einem  abstracten,  nach  einem  leben- 
digen, aus  Uebung  und  Erfahrung  gewonnenen  Wissen  trachten,  und 
weil  der  Mensch  immer  der  Hauptvorwurf  aller  Poesie  bleibe,  sich 
vorzüglich  Menschenkenntniss  zu  verschaffen  suchen \    Die  höchste 


2)  Vgl   weiter  anten   ($   :iOO.   -12)   Bürgers  „llvrzensftnsgnis   über  VoUcs- 
poeal«*';  auch  zu  andern  der  nAchatfulgendcu  H&tzc,   die  ich  hier  ubnc  Belege 
iMMt   werden  tich  manche   in   der  zweiten  Halft«.'  dus  §  finden   lassvn 
3)  Vgl.  Ooethe's  Werke  3H,  ;wi.  4)  Ära   24.  Auk.  t7?4    sclineb  Goethe  an 

Fr,  H.  Jftrobl  (Briefwechsel  S.  29  f):  „Sieh  Lieber,  was  doch  alles  Schreiben» 
Anfuntf  und  Kndc  i$t,  die  üoprodaction  der  Welt  um  mich  durch  die  innere  Welt, 
die  alles  packt,  Terbindot,  ncuschafft,  knutct  and  in  dgner  Fürm,  Manier  wiMler 
blDStetU,  ihis  bleibt  ewig  Gebeimniss,  Gott  soi  Dank*  das  ich  auch  nicht  offen- 
barm will  den  Gaffern  und  Scbwätzem*'  (vgl.  Uant^er  a.  a.  0.  S.  KtS».  5)VgL 
OoeOie  :i3»  12.  6)  Vgl.   Goethe  H>.  17  f.     Was  hier  Weriher  von  dmn 

Zeichner  oder  vielmehr  dem  bildenden  Kflnstlor  überhaupt  behauptet,  fand  oacii 
der  Ansicht  der  jungen  GenialitAcen  cbcoauwohl  seine  Anwendung  auf  den  Dichter. 
—  Schon  1772  halte  Voss  an  Brückner  geschrieben  < Briefe  l,  101  f,i:  ..N^atar, 
Ja  die  Ut  einrig  DichtkuiisU  da  oinc  leere  Thraseologie  mit  allem  ihrem  farbigten 
Schimmer  wie  eine  Seil'eoblasc  verschwindet.  Man  empfinde  nur  ganz  und  sape 
dum  «eine  Kraptinduu^  auch  in  Haas  Sach^icns  Spruche,  es  wird  mehr  Eindruck 
m»fhen,  als  allr  prarhiigcn  Püano  einiger  lächerlichen  Nachahmer  unaers  grossen 
Fl .  k-c*.  7i  Uiess  war  einer  der  Iluuptgründe  de«  groaaen 

ui.  .  ivsgrii,  welches  in  den  Siebzigern  dierhvMoguomik  erregte: 

drnu  «^11!  »ch'^u  der  iiitl  von  Lavaters   physiognomischen  Fragmenten  verspncli. 


£jiewi«keluiigsg&ng  d.  Litoratnr.    1773—1832.   Acsthct.  Kritik.   Genicperiode.    25 

Begabung  aber,  die  eigentliche  Schöpferkraft,  milfese  ihm  von  oben  §  300 
kommen;  diese  magische  Gewalt,  die  mit  dem  Worte  Genie  be- 
txcfchnot  wurde,  sei  die  allein  gesetzgebende  im  Reiche  der  Poesie, 
an  keine  Theorie  imd  Vorfichrift  in  ihrem  Wirken  gebunden,  durch 
keine  Regel  beschrankt  und  vertnOgo  einer  Art  innerer  Offenbarung 
iund  Anschauung  selbst  im  Stande,  dem  Dichter  den  Mangel  an  Er- 
fahrung, an  Kenntnissen  und  an  Uebung  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  zu  ersetzen.  Die  Vorstellungen,  die  von  der  Natur  und  den 
Kräfleu  des  Genies  in  den  Siebzigern  in  Umlauf  kamen  und  Glau- 
bensartikel der  neuen  Diohterschule  wurden,  hatten  sich,  eben  so 
-wie  die  Ansicht  von  Originalität  in  der  Dichtung,  zunfichst  aus 
Youngs  »^Gedanken  Ober  die  Originalwerke"  herausgebildet.  Ausser 
dem  bereits  oben*  daraus  Angefllhrten,  geboren  besonders  folgende 
Sätze  hierher:  Eine  allzugrosse  Ehrfurcht  vor  den  Alten  fesselt  das 
Genie  und  versagt  ihm  diejenige  Freiheit,  die  es  haben  muss,  wenn 
es  seine  glOcklicLsten  MeistorzUge  wagen  soll.  Das  Genie  ist  der 
Meister  des  Werks;  die  Gelehrsamkeit  (d,  h.  das  Studium  der 
Alten)  ist  nur  ein  AVerkzeug,  das  zwar  höchst  schätzbar,  aber  doch 
nicht  allezeit  unentbehrlich  ist.  Der  Himmel  will  keine  GehUlfen 
annehmen,  wenn  er  einen  seiner  Lieblinge  zum  vollkommenen 
Oenie  erhebt:  er  venvirft  alle  menschlichen  Mittel  und  beliält  den 
ganzen  Ruhm  fßr  sich  allein.  Das  Genie  ist  von  einem  guten  Vor- 
stände, wie  der  Zauberer  von  einem  guten  Baumeister  unterschieden: 
I jener  erhebt  seine  Gebäude  durch  unsichtbare  Mittel,  dieser  durch 
den  kunstraftssigen  Gebrauch  der  gewöhnlichen  Werkzeuge.  Des- 
wegen   hat  man    stets  das  Genie   für  etwas  Göttliches   gehalten. 


sollteo  tlicfiolben  „inr  Bofürdcrniig  der  Mcnscheiikenntuiss**  dieneu.  Das  ganze 
Studium  der  Physiopiomik  iu  Deutschland  hieng,  mo  Oervinus  5*,  2<)5  treffend 
htaneckt,  mit  dcia  allgemeinen  Rückgang  auf  die  Katur  zusammen.  „Da  man  die 
onmlUeibarc  Stimme  der  Natnrdichtung  vernommen  hatte,  nnd  die  unmittelbarere 
deti  HeR«ns  in  der  Musik  vernahm,  wollte  man  auch  die  anmittelbarste,  die 
stumm«  Sprache  der  Seele  lesen*'  ivgl.  anch  die  vier  nächstfolgenden  Seiten  bei 
(iervinus,  besonders  S.  acj).  Dann  aber  stand  diese  Studium  auch,  wie  die  Natnr- 
KhwiLnni*rel,  in  sehr  nahem  Bezüge  zn  dem  ganzen  Charakter  des  damaligen  so- 
wohl in  dem  reüi^iöseu  wie  i«  dem  weltlichen  Gebiet  hervortretenden  EmpHnd- 
SMn!  .  <  i:   nicht  bloss  Beförderung   der  Menschenkenntnips,   sondern  auch 

iler  lebe   wurde  auf  dem  Titel  jener  Tragmento  verhcisscn;  und  nach 

1,  ;  Physiognomik   bezwecken:    „Gefühl  der  Monschenwftnic,    Freude 

U  'i  lieit,  Auachaobarkeit  Gottes  im  Menschen,  Offenbarung  eines  neuen 

-i'utjutillsder  Menschenfreude".    Womit  es  noch  sonst  imZusammen- 
'  irr  was  dadurch  wirklich  befördert  wurde,  wie  namentliclt  das  ge- 
Adgerte  'd   der  Individuen    und   das    rodieii    des   Subjects   auf  seinen 

W«rtti  nti  i  iue  Befugnisse  im  Thun  und  im  Dichten,  hat  Goethe  ;to,  2i;t  ff. 

aoMtoanderg^set?.!.  8)  Bd.  UI,  420  ff. 


mm^ 


26     Tl   Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethc's  Tod 

S  300  Schönheiten,  die  man  noch  nie  in  Regeln  vorgeschriebe^?  nnd  etwag 
Vortreffliches,  von  dem  man  noch  kein  Exempel  hatte  fimd  diess  ist 
die  Charakteristik  des  Genie's),  diese  liegen  weit  ausser  den  Greux- 
zeichen  der  Herrschaft  der  Gelehrsamkeit  und  ihrer  Gesetze.  Diese 
Grenzzeichen  muas  das  Genie  überspringen,  um  zu  jeuen  zu  ge- 
langen. Regeln  sind  wie  Krücken^  eine  nothwondige  Htllfe  fOr 
den  Lahmen,  aber  ein  Himleniiss  für  den  Gesunden.  Ind< 
gibt  es  eine  Art  von  Genie,  welches  die  Hülfe  der  Gelebrsamkc 
braucht,  um  sich  hervorzuthun.  Man  kann  es,  im  Gegeni 
zu  dem  frühem  oder  mrinnlichen*,  das  spätere  oder  kindiscl 
nennen.  Dieses  muss  gleich  andern  Kindern  genährt  und  aaf< 
zogen  werden«  wenn  es  nicht  ganz  eingehen  soll,  und  seine  Ami 
und  FUhrerin  ist  die  Gelehrsamkeit.  Allein  oft  erkennt  sich  au( 
<iaa  Genie  nicht  selbst,  denkt  zu  klein  von  sich  und  verliert  da 
vielleicht  einen  unsterblichen  Namen.  Um  dem  vorzubeugen,  mi 
man  sich  au  zwei  Regeln  halten,  die  in  der  Composition  nicht  w< 
niger  als  im  Leben  goldene  Regeln  sind:  „Erkenne  dich  selbst",  und 
„Habe  vor  dir  selbst  Ehrfurcht'*,  d.  h.  lass  nicht  die  grossen  Bei 
spiele  oder  Autoritäten  deine  Vernunft  in  ein  allzugrosses  Misstraut 
gegen  dich  seihst  niederschhigcu;  habe  vor  dir  selbst  so  y\e\  Ach- 
tung, dass  du  die  natürliche  Frucht  deines  eigenen  Verstandes  dei 
reichsten  Einkommeu  eines  fremden  Landes  vorziehest:  denn  solcl 
erborgte  ReiohthUnior  machen  uns  arm.  —  Das  Merkwürdigste,  wj 
soviel  mir  bekannt,  in  Deutschland  selbst  während  der  Gcniezi 
über  das  Genie  geschrieben  worden  ist  und  in  jedem  Worte  da« 
OeprAge  des  stürmischen  Drangs  jener  Zeit  aufs  allerdcutlichste  od 
sich  trägt,  ist  bei  Lavater'"  zu  finden.  Um  nur  die  HauptstcIIen 
daraus  nnzufuhrcni  so  sagt  Lavater:  „Genie  ist  Genius.  Wer  be- 
merkt, wahrnimmt,  schaut,  emptindet,  denkt,  spricht,  handelt,  bildet, 
dichtet,  singt,  schaft^i,  vergleicht,  sondert,  vereinigt,  folgert,,  ahnet, 
gibt,  nimmt  —  als  wenn's  ihm  ein  Genius,  ein  unsichtbares  Wesen 
höherer  Art  dicticrt  oder  angegeben  hätte,  der  hat  Genie,  als  wei 
er  Bolb«t  ein  Wesen  höherer  Art  wäre  —  ist  Genie.  —  Genie 
das  ulterorkonnbarste  und  unbeschreiblichste  Ding!  fühlbar,  wo  es 
ist,  und  unaussprechlich  wie  die  Liebe.  —  Der  Charakter  des  Gcnio'i 
und  alle  Werke  und  Wirkungen  des  Genle's  ist  meines  Erachtoi 
—  Ap[»arition  .  .  .  Wie  Engelsorscheinung  nicht  kommt  —  sondei 
ilanteht;  nicht  woggebt,  sondern  weg  ist;  wie  Engelserscbeinung  ins 
Inpumto  Mark  trifft  —  unsterblich   ins  UDSterbliche   der  Menschheit 


\h  Od   lU.  4'J'i.  lui  Im  vierteo  Yersucb  der  physiogpomisclicn 

MHtU,  d«r  mn  «rtdüen.  S.  Sü  ff. 


Eatwidielungsgftng  d.  Literatur.    i;73-lS32    Aesthet.  Kritik.  Geniep«riode.    27 


L^  Eatf 

^^  wirkt  —  und  verschwindet  und  fortwirkt  naeb  dem  Verschwinden  §  300 
L  —  und  sUsse  Schauer  und  Schreckensthränen  und  Freudenblässe 
^J  zurflcklfUst  —  80  Werk  und  Wirkung  des  (lenie's.  —  Genie  — 
^"  propior  Deus  —  Oder  nenn'  oö,  heschreib  es,  wie  du  willst.  Nenn's 
Fruchtbarkeit  des  Geistes!  UnerschOpflicbkeit!  Quellgeist!  Neun's 
Kraft  ohne  ihres  gleichen  —  Urkraft,  kraftvolle  Liebe!  nenn's 
Elastieität  der  Seele  oder  der  Sinne  und  des  Nervensystems  —  die 
leicht  Eindrücke  annimmt  und  mit  einem  schnell  inserierten  Zusatz 
^K  lebendiger  Individualit/it  zurückschnellt  —  Nenn's  unentlehnte,  na- 
^»  ttirliche,  innerliche  Energie  der  Seele;  nenn's  Schöpfungskraft; 
nenn'fl  Menge  in-  und  extensiver  Seelenkräfte  —  Sammlung,  Con- 
eentrierung  aller  Naturkräfte;   nenn's   lebendige   Darstellungskunst; 

Snenn'fi  Meisterschaft  über  sich  selbst;  nenn's  HeiTschaft  über  die 
Oemflther;  nenn*8  Wirksamkeit,  die  immer  trifft,  nie  fehlt  in  alle 
ihrem  Wirken,  Leiden,  Lassen,  Schweigen,  Spreeben;  nenn's  Innig- 
keit, Hurzlichkeit,  mit  Kraft  sie  fühlbar  zu  machen.  Nenn's  Central- 
gdst,  Centralfeuer,  dem  nichts  widerateht;  nenn's  lebendigen  und 
lebendig  machenden  Geist,  der  sein  Leben  fühlt  und  Iciclit  und 
vollkriftig  mittheilt ,  sich  in  alles  hineinwirft  mit  Lebensfillle, 
mit  BUizeskvaft  —  Nenn's  üeberraacht  über  alles,  wo  es  hintritt; 
nenn's  Ahnung  des  Unsichtbaren  im  Sichtbaren,  des  Zukünftigen  im 
Gegenwärtigen.  Nenn's  tiefes  erregtes  Bedürfniss  mit  Ahnung  innerer 
Kraft,  die  das  BedUrfniss  stillt  und  sättigt  —  Nenn's  ungewöhnliche 
^_  Wirksamkeit  durch  ungewöhnliches  BedUrfniss  erregt  und  unter- 
^B  halten  \  Nenn's  ungewöhnliche  Schnelligkeit  des  Geistes,  entfernte 
^H  Verhi'iltnissc  mit  glücklicher  üebcrspringung  der  MittelA-erliältnisse 
^B  zusammen  zu  fassen,  —  oder  Aehnlichkeitcn,  die  sich  nicht  heraus- 
^m  forschen  lassen,  im  eilenden  Vorbeiflug  zu  ergreifen  —  Nenn's  „Ver- 
"  non/t  im  schnellsten  Flammenstrome  der  Empfindung  und  Thätigkeit*' 

—  Nenn's  Glaube,  Liebe,  Ilotinung,  die  sich  uicht  geben,  nicht 
nacbftffen  lässt;  oder  nenn's  schlechtweg  nur  Erfindungsgabe  —  oder 
Infltinct:  nenn's  and  beschreib's,  wie  du  willst  und  kannst  — 
nllemal  bleibt  das  gewiss  —  das  L'ngelemte,  Unentlehnte,  Unlern- 
bare,  Ünentlehnbare ,  innig  Eigenthümliehe ,  Unnachahmliche,  Gött- 
liche —  ist  Genie  —  das  Inspirationsmässige  ist  Genie  —  hiess  bei 
allen  Nationen,  zu  allen  Zeiten  Genie  —  und  wird's  beiseen,  so 
lange  Menschen  denken  und  empfinden  und  reden.  —  Unsterblich 
ist  alles  Work  des  Genie's  wie  der  Funke  Gottes,  aus  dem  es  fliesst. 

—  Unnachabmlichkeit  ist  der  Charakter  des  Genie's  und  seiner 
Wirkungen,  wie  aller  Werke  und  Wirkungen  Gottes!  Unnachnhm- 
licbkcit ;  Momentaneitiit ;  Oft'enbarung;  Erscheinung ;  Gegebenheit, 
wenn  ich  so  sagen  darf!  was  wohl  geahnet,  aber  nicht  gewollt, 
nicht  begehrt  werden   kann  —  oder  was  man  hat  im  Augenblick 


Tl.  Von  zweitco  Viertel  des  XVHI  JAhrbunderta  bU  za  Goeth«*«  Tod. 


I  300  de«  Wollen«  und  Begehrens  —  ohne  zu  wiseen  wie?  —  wa«  gegebeo 
wird  —  nicht  von  Menschen,  sondern  von  Gott,  oder  Tom  Satan! 

—  Von  was  Art  immer  ein  Genie  sein  möge,  aller  Genieen  Wesea 
nnd  Natur  ist  —  Uehernatur  —  Ueberkuust,  Uehergelehrsnmkdt, 
Ucbcrtalcnt  —  Selbstleben!  Sein  Weg  ist  immer  Weg  des  Blitze«, 
oder  des  Sturmwindes,  oder  des  Adlers.  —  Man  staunt  meinem 
wehenden  Schweben  nach!  hört  sein  Brausen!  sieht  seine  Herrlich- 
keit —  aber  wohin  oder  woher?  weiss  man  nicht  Und  seine 
FnsHstapfen  findet  man  nicht.*'  Weiterhin  werden  die  „Genieen*' 
auch  he/eichuei  als  .,Lichter  der  Welt^  Salz  der  Erde,  Substantive 
in  der  Grammatik  der  Menschheit,  Ebenbilder  der  Gottheit  —  an 
Ordnung,  Schönheit  und  unsichtbaren  Schöpferkräften,  Menscben- 
götter,  Schöjifef,  Zerstörer,  Offenbarer  der  Gelieimnisse  Gottes  und 
der  Menschen,  Dolmetscher  der  Natur,  Anssprecher  unausupreeb- 
llchcr  Dinge,  Propheten,  Priester,  Könige  der  Welt*'  etc.  Und  von 
dem  L'rg'enie  heisst  es:  sein  Denken  sei  Anschauen,  sein  Empünde» 
Tbat,  seine  That  unwidertreiblich  und  unaustilgbar.  Ein  solche« 
„gan/cH,  wahres  Genie"  war  für  Lavater  unter  den  Dichtern  vor 
allen  nbrigen  Goethe.  „Wer  ist  Dichter?"  fnigt  er'*.  „Ein  Geist, 
der  fühlt,  was  er  schaffen  kann,  und  der  9<hafft  —  und  dessen 
Schöpfung  nicht  nur  ihm  selbst  innig,  als  sein  Werk  gefällt,  sondern 
von  dessen  Schöpfungen  alle  Zungen  bekennen  müssen  —  „„Wahr- 
heit! Wahrheit!  Natur!  Natur!  wir  sehen,  was  wir  nie  sahen,  und 
h»'»rcn ,  was  wir  nie  hörton  —  und  doch  was  wir  sehen  und  hören, 
ist  P^leisch  von  unsenu  Fleisch  und  Gebein  von  unserem  Gebeine""; 

—  Wo  sind  Dichter?  Dichter,  die  ihrer  eignen  Seele  Schöpfungen, 
oder  vielmehr  das,  was  sie  mit  Liebe  sahen  und  hörten  —  und  nur 
da«,  und  das  rein  und  ganz  —  herausblit/.ten,  herausleuchteteo, 
9trr>mton,  darstellten?  Schöpfungen,  in  denen  sich  die  Seele,  wie  die 
Gottheit  in  ilireu  Werken  er9i>iegolt?  Schöpfungen,  die  der  ewige 
Schöpfer  durchregt  und  durchhaucht  —  in  denen  man,  wie  im 
lebenden  und  Höhenden  Anlütz,  voll  gegossen  die  lebende  und 
liebende  Seele  erblickt,  lieb  gewinnt,  anschmachtet  —  verschliugt? 
Schöpfungen,  unangetastet  vom  Hanehe,  Ton,  Schimmer  —  irgend 
dnor  Mtidc,  Convention,  künstlichen  Manier?'*  Wo  also  wabre, 
echte,  ganze  Dichtung  —  wo  ist  sie?  wo  ist  sie  möglich?  —  Und 
doch,  Jahrhundert  und  Deutschland!    hast  du  einen  Manu   —  der 


I 


llt  Ire   D    Vt'micli  $    305  ff.  12)  Selbst   der  iinnacluhmlickc  HoiaBr, 

rill  nii'htirr.  »lo  antor  dtuücndcu  nicht  än<T.  »cI  nicbt  frei  von  Ton  nnd  Muüar; 
und  »uu  iiutvni  brrolLmti'ktrn,  litHhner.  Owsncr,  Uamler.  WieUnd,  Lcnx.  Klop- 
flock, StoU>rtg  —  keiner  frti  dftvoa:  doch  h»bo  WJeUnd  wenig  |!!i,  Lcn*  rieJ- 
Iflcht  am  woui<*t^n  iM>. 


Eahrickelungsgang  d.  Literatur.    1773—1^:12.   AesÜiel-  Kritik.   Gemeperiode.    29 

die  unbemerktesten  Sichtbarkeiten,  die  innigsten  Unsiclitbarkeiten  §  300 
allgemein  yerstehbar  Liustelleu  konnte  —  und  kann  —  ohne  Ton 
und  Manier.  —  Du  kennst  den  Namen  —  und  den  Mann"",  —  Natur, 
Originalität  und  Genie  waren  die  grossen  Losungswörter  fUr  die 
Dichter  dieser  Sturm-  und  Drangzeit.  Hiermit  hieng  aufs  engste 
zusammen,  dase  ron  ihnen  unter  allen  Dichtern  der  Vorzeit  Shak- 
81>eare  am  meisten  geliebt  und  als  höchstes  Vorbild  hervorgehoben 
wurde'*,  als  derjenige,  dem  die  Gabe  des  Genies  im  vollsten 
»e  am  Theil  geworden  sei,  der  von  ihr  auch,  ohne  irgend  welche 
fterlieferten  Kunstregeln  zu  befolgen,  nur  im  treuesteu  Ansehluss 
iiu  die  Natur,  den  grossartigsteu  und  bewunderungswürdigsten  Ge- 
branch gemacht  habe,  und  der  in  allen  seinen  Schöpfungen  sich 
diircbaus  original  zeige.  In  seinen  Schauspielen  und  sodann  in 
den  Gej<ängon  Homers,  Ossians"  und  der  Skalden,  so  wie  in  den 
alten  Liedern  des  Morgenlandes,  den  in  Percy's  Sammlung  enthal- 
teueu  Stücken,  auch  in  unserer  mittelalterliehen  Lyrik  und  in  Hans 
Sachsens   Gedichten  '*    sah    man    vorzugsweise    die  Art  Poesie    ver- 


J3)  Vgl  &uch  Versacb  3,  S.  22:t  f  —  Üebcr  die  Begriffe,  die  mau  damals 
mit  dran  Wort^?  Genie  verband,  und  Ober  das,  was  man  alles  vou  ibm. erwartete, 
idt  daiUL  uoch  besonders  zu  vergicicbou  Guethe  2tj.  Hyi;  'Ml  f.  und   IS,  14S  f. 

14)  Mit  welcber  Üe^eisterunu  die  juugcu  Dichter  des  goethesebeu  Kreises^ 
DOcb  ibrer  Abwendung  von  allem  veralteten  Wesen  in  der  französischen  Literatur, 
bicb  an  Sbakspeare  biugaben,  und  wie  sie  in  seinen  Werken  lebten  und  webten, 
crbcVlt  aus  Goeüie's  Schilderung  von  seinem  und  seiner  Freunde  belletristischem 
Treibrn  in  Straasburg,  Werke  2(i,  50— 7h,  wo  besomlers  S.  71  f;  74— 7H  irnclau- 
le&en  sind  (vgl.  auch  Aurnerk.  35).  üeber  das  Verlialteu  Bürgei-s  unJ  seiner 
Frt^iode  in  Göttlngeu  zn  Sbakspcar«  etc.  vgl.  Bürgers  Loben  von  Althof  in  der 
Aufgabe  der  bürgerticbeu  Werke  von  Keinhard  4.  23.  15)  So  viel  auch  be- 

reits IUI  Vergleich  mit  frQhcrhin  von  Leasing  und  Herder  für  eine  richtige  Anf- 
1^  deä  humenscheu  Geistes  und  für  ein  besseres  Verständniss  des  griecM- 
Kpos  geschehen  war,  so  daiieiie  es  doch  nocli  ziemlich  lauge,  bis  sich  die 
Fe  ron  der  cigeatlicben  Natur  niid  Beschaffenheit  eines  echten  Volkäepos  so 
weit  aothellten.  daae  mau  homerische  und  ossianische  Dicbtuug  nach  ihrem  beider- 
seitigen Wertbe  richtig  abschftt/eii  lernte.  Das  Urtheü  musste  hier  uoch  um  so 
leiciiter  in  jeuer  Zeit  irreu,  jemehr  die  Gemüther  sich  durch  die  Emptindsamkeit 
in  ihren  poetischen  Neigungon  bestimmen  liesscu.  Wir  dürfen  uns  daher  nicht 
aihcu  Behr  wunderu,  wenn  Ossian  damals  noch  meistens  über  Homer  gesetzt  wurde. 
Waa  Goethe  hcinen  Werther  achreiben  lusst  Uti,  125):  ..Ossian  hat  in  meinem 
ilerzeu  den  Homer  vcrdr^kiigt",  war  zu  Anfang  der  Siebziger  nicht  bloss  au»  der 
eines  (.'laudius  geschrieben  ngl.  dessen  Werke»  Ausgabe  von  1S!9.    ].  75). 

(sertc  sich  doch  selbst  der  Jüngling,  der  nachher  als  Mann  so  viel  für  die 
Einbürgerung  Homers  in  Deutschland  gcthau  hat.  J.  H.  Voss,  noch  im  J.  1775 
(Briefe  l,  l!*l  t)  doliin:  „Was  braucht's  schöner  Natur  (nach  der  Theorie  von 
Batl«ui(     Der  Scholle  Ossian  ist  ein  grosserer  Dichter,   als  der  lonicr  Homer". 

16)  Auf  jene  giengen  iusbesoudere  die  Göttinger  Dichter  zurück  und  ver- 
»ochteu  »ich  in  „Minneliedern**  (vgl.  Prutz,   der  Göttinger  Dichterbund  S.  214  f. 


30,    VI.  Vom  rreiten  Viertel  des  XVIU  Jahrhunderts  bis  zu  Gocthe's  Tod. 

■300  wirklicht,  die  für  die  allein  iirm^issige;  echte,  naturwahre  geliallen 
wurde,  und  der  so  weit  es  sich  immer  thun  lasse,  die  in  Aussiebt 
^nommene  neue  deutäobe  angenähert  werden  sollte.  Mit  diesen 
Werken  des  Genie'»,  mit  diesen  Natur-  und  Volkspoesien  fwofflr 
damals  auch  noch  die  Lieder  unserer  Minnesänger  galten)  suchte 
man  eich  daher  auch  besonders  vertraut  zu  machen '\  tbeils  am 
daran  die  eigene  poetische  Kraft  zu  erfrischen  und  zu  steigern, 
tbeils  um  daraus  zu  lernen,  wie  es  angefangen  werden  mtlsste,  wenn 


and  ru  den  Ton  ihm  in  den  Noten  an^khrten  Stollen  noch  die  Briefe  von  Von 
t,  138  f.  und  J.  M.  Millera  Gedichte.  S.  471  f.);  mit  diesen  bescbäftigtea  nch 
dagegen  viel  tiocthe  und  seine  Freunde  (vgl.  §  259,  'M  und  $  272.  Anm.  23. 
\1)  Zugleich  weckte  uud  befeuerte  diess  Streben  den  Wetteifer  im  Auf- 
suchen uDil  Utik&nut machen  hciuiischer  Volkslieder,  su  wie  im  Uebertnigen  un< 
Bearbeiten  fremder.  Bereits  1747  hatte  Ragedom  in  der  Vorrede  zu  seinen 
Oden  und  Liedern  von  dem  Geist  und  den  Schönheiten  einiger  lapplnndischen 
Lieder  f  einiger  alten  Gesänge  nordischer  und  omerihaoischer  Vßlkor,  den  Tanz- 
and  Liebesliedem  der  Polen,  den  kriegerischen  „Dumy"  der  Kosacken,  aber  mehr 
nnr  nach  Hörensagen,  mit  Anerkennung  gesprochen,  der  alten  Uom&nzen  und 
Villanellen  der  Spanier  gedacht  und  vornehmlich  einige  alte  Balladen  der  £ug- 
l&nder  rühmend  ht^rvorgchoben  (vgl.  oben  §  2tVi,  :\s).  Zwölf  Jahre  darauf  gab 
Leasing  im  33.  Literatur-Briete  einige  bedeutende  Winke  über  seine  Ansicht  vom 
Yolksgesang.  Aas  dem  lappUndiscfaen  Liede,  bemerkte  er,  welches  Kleist  bei 
einem  seiner  Gedichte  vor  Augen  gehabt  habe,  könnte  man  lernen,  dase  unter 
jedem  Himmelsstrich  Dichti^r  geboren  würden,  und  dass  lebhafte  Empfindungen 
kein  Vorrecht  gesitteter  Völker  wären.  Erst  vor  kurzem  hatteu  ihn  einige  Ht- 
tauiscbe  „DainoB'*  oder  Liederchen,  wie  sie  die  gemeinen  Mädchen  daselbst  sängen, 
und  die  erinRnhigs  littauischem  Wörterbuche  gefunden,  dnrch  ihren  naiven  Witz,, 
ihre  reijicnde  Einfalt  unendlich  vergnügt  (Zwui  der  artigsten  theilte  er  nach  Utihigs 
Tebersetaung  mit;  über  sein  Interesse  für  Volkslieder  vgl  Guhrauer  2,  2,  Ueilago 
S.  M  f.).  Aber  erst  als  die  volksmässigcu  Dichtungen  des  Auslandes,  von  denen 
$  TAI  die  Rdle  gewesen  ist,  als  namentlich  Ossion,  eine  Anzahl  altnordischer  Gfr-J 
6Äng€  und  Percy's  Sammlung  in  Deotschlaud  bekannter  wurden,  Gerätenberg  in 
den  Briefen  nber  Merkwürdigkeiten  der  Literatur.  Herder  in  den  Fragmenten,  in 
Recensionen  und  in  den  [ll&ttcrn  von  deutscher  Art  und  Kunst  sich  dartlber 
hatten  vernehmen  lassen.  6eng  man  an  sich  auch  um  deutsche  Volkslieder  va 
kümmern,  sie  au^u&uchcu.  zu  sammeln  und  herauszugeben  (vgl.  Bd.  I,  325.  An- 
merk.  'S).  Wie  rege  das  Interesse  dafür  uud  für  die  Teberlragung  oder  Bearbet* 
tung  fremder  Volkslic-der  gerade  in  dem  Kreise  von  Herder  und  Goethe,  so  wie 
in  dem  Göttinger  war.  beweisen  auiyscr  Anderm  besonders  die  uns  von  Mitgliedern 
jener  Kreise  aufltehaltenen  Itriefe  aus  dem  J.  1770  und  den  nächstfolgenden.  VgL 
die  Briefe  von  flcrvler  in  den  Briefen  au  Merck  is:i5.  S.  12  ff.;  in  Herders  Lebens- 
bild 3,  L  2>»  ff.;  313  ff.;  3IT  ff.;  und  in  den  Briefen  an  und  von  Merck  Is3*, 
S.  31;  3ü  fdazn  Goethe's  Werke  25,  36ü  und  Scholl,  Briefe  und  Anfshtze  von 
Goethe  aus  den  Jahren  I7»Hi  bis  l7btv,  S.  120 — 130i;  —  von  Merck  iu  den  Briefen 
atu  dem  Freundeskreise  von  Goethe  S.  hl;  —  von  Boie  in  den  Briefen  an  Merck 
isafi  S.  4ß;  :i6;  —  von  Voss  1.  130  f.;  Mit.  lUeber  das  Interesse,  welchei 
Noe«er  an  der  Aufsuchung,  Herausgabe  und  Bearbeitung  deutscher  Volkslieder 
nahm,  vgl.  dessen  Tcrmischte  Schriften  2,  231  f.;  333.  —  Zn  I,  326,   Anin.  3  bt 


Entwickeliuigsg.  d.  Literatur.  1773—1832.  Aesthet.  Kritik.  Herder  u.Klopetock.  31 

Aehnliches  und  von  ähulicher  Wirkung  hervorgebracht  werden  sollte.  $  300 
—  Wir  wissen  schon,  dass  es  Herder  war,  der  die  im  aesthetißchen 
Gebiete  während  der  sechziger  Jahre  aufgekommenen  Ideen  am 
lebendigsten  crfasst  und  am  kÜbuBtcn  ausgebildet  hatte,  und  dass 
er  selbst  in  diesen  Ideenkreis  Gocthen  und  dessen  Freunde  bei 
Beiucm  Aufenthalt  in  Straseburg  zuerst  einführte".  Bald  darauf 
rdcn  die  Frankfurter  gelehrten  Anzeigen  gegründet;  die  darin 
Ate  Kritik,  sofern  sie  Werke  aus  dem  Fache  der  schönen  Litera- 
tur betraf,  fusste  ganz  auf  Herders  Ideen",  die  namentlich  durch 
Goethe's  Rcccnsionen  überall  durchblicken".  Vollendet  aber  wurde 
das  Fundament,  auf  dem  sich  die  Theorien  der  jungen  Dichter  er- 
hohen, erst  mit  den  beiden  berder'schen  StUckcn  in  den  ,, Blättern 
von  dentscher  Art  und  Kunst"  und  mit  „Klopstocks  deutscher  Ge- 
lehrtenrepjublik"*'.  Dieses  merkwürdige  Buch  ent8])racb  bei  seinem 
im  Ganzen  buchst  grillenhaften  Inhalt  und  seiner  nicht  minder 
wunderlichen    Einkleidung"    zwar    den    grossen    Erwartungen    des 


nachzutn^en,  dass  1777  auch  die  ..BaUadeu  uud  Lieder  altenglischer  und  all- 
6cbo(tL»cber  Dichtart.  Herausgegeben  von  A  F.  l'rsinus'*  io  Berlin  orschieiien: 
'  ■  ■  i-xte  and  rebersetzungen  von  verscbiedciieu  Tländen,  uebgt  zwei  von 
rg  aus  dem  Englischen  übertragenen  Abhandlungen  und  Anmerkungen). 
ISt  Vgl.  5  2ii4  und  in,  137.  Wie  Herder  insbesondere  auch  auf  Jung  wirkte. 
berichtet  dieser  in  seiner  Lebensgeschicbte  iJ.  U.  Jungs,  genannt  Sülling,  sümmt- 
Uche  Werke  I,  350i.  19)  Daher  schrieb  auch  schon  gegen  Kndc  des  J.  177,! 

Chr.  V.  ■Wösse  an  Cz  (Morgenblatt  von  1S40,  Decbr.  N.  2fi3u  unfehlbar  sei 
Herder  nebst  einem  gewissen  „Gede"  Hauptverfassrr  dieser  Anzeigen.  —  Goethe 
selbst  hemerkt  31,  4  f.:  „Die  Recensionen  in  den  Frankfurter  gel.  Anz.  von  177'j 
nnd  T3  geben  einen  vollätuudigen  Begriff  von  dem  damiiUgen  Zustand  anaexerGe- 
■«Uschaft  nnd  Persönlichkeit.  Ein  unbedingtes  Bestreben,  alle  Begrenzungen  zu 
durchbrechen^  hl  bemerkbar".  20)  Sic  sind,  mit  Rücksicht  auf  die  Bedeu- 

tung, die  sie  als  Vorarbeiten  zu  dem  apaler  Geleisteten  haben,  von  Brandis  in 
Idet  Vorrede  zu  Mendelssohns  Schriften  (!,  (!3|  nicht  unpassend  mit  den  lessing- 
fichen  in  der  vossischen  Zeitung  verglichen  worden.  Ausser  den  Stollen  aus  den 
^06tbcadi«&  Recensionen,  auf  die  ich  bereits  in  den  vorhergehenden  Anmerkungen 
gCDOiiuneo  habe,  sind  darin  vorzugsweise  beachtenswerth.  thcUs  als  beson- 
f&r  das  oben  im  Texte  Gesagte,  theils  als  Ausdruck  des  gootheschen 
und  Strebeus  überhaupt  und  als  Verkündigung  der  Poesie,  die  durch  ihn 
IS  Leben  gerufen  werden  sollte:  33,  21;  3ü  f.;  H»  ff.  (vorzüglich  wichtig); 
lÄ  f.;   49:   72.  21)   „Die   deutsche   Gelebrtenrepublik.     Ihre   Kmrichtung. 

Ihre  Gesetze.  Geachichte  des  letzten  Landtags"  etc.  Erster  Theil.  Hamburg 
llw4.  ?».  Nach  Wcinhold.  Boie  S,  170,  waren  bereits  1771  im  Wandsbccker 
Nr  101— luS  die  Gesetze  der  Gelehrten-Republik  in  Deutschland  raitgethcilt, 
Klfipfitock  mit  der  Herausgabe  des  zweiten,  nie  erschienenen  Theils  zögerte» 
er  fünf  Jahre  spater  in  den  „Fragmenten  Über  Sprache  und  Dichtkunst", 
hl  die  er  eine  Stelle  daraus  einrückte  (bei  Back  und  Spindler  2.204».  22)  .»Wie 
Klopitock  ober  Poesie  und  Literatur  dachte,  war  in  Form  einer  alten  denischen 
I>nLidenrepubLIk  dargestellt,  seine  Maximen  über  das  lachte  und  Falsche  in  laconi- 


«  n-T«. 


▼iCMf  4ci  XXm 


lä  n  GocOira  T< 


in  AUgcnelaea  vaa%  oder  gar  ricM*, 
FV«ttida  «ek  waügstcu  «aüa^kh  ra^t  uiud< 
fir    ifawptbe   xcigten^   aU   die   Gödugtr  Dicht« 
Bier  manm  ia  dMclim  Abacfcnittc»   die  Gnmdaitw  der  nea« 
UAUmpUbr^  wem  aaek  aar  mebr  allgeowia«  akdergeli^ 
itm  Balke   ,r^  j^^i^  Dichter'^  *^  empfiehlt  KInpatnck    ror   allen 
Diafea   drcietlei:    Untenucbosg    des  Meascken,   VoTülmn^n    and 
Byfachkftiatni«.    ,fkuB  dem  eoldenea  Abece  der  Dichter'*'*  bat  er 
M§m6e  VoiradirifteD  sofgeDommeQ:  „Lass  da  dich  keb  Re^lbueh 
irr«,  wie  dick  e«  auch  sei,  und  was  die  Voned  auch   daron 
»eUe^  data  ohne  solchen  We^eiser  keiner,  der  da  dichtet,  köi 
aadii  Dar  Eineo  «ehero  Schritt  thun.  Frag  du  den  Geist,  der  in  dir  isl 
ttad  dk  Dinge,  die  du  om  dich  siehst  tind  hörest,  und  die  ßeschaffenb 
deai,  wovon  da  vorhast  su  dichten.    Und  was  die  dir  antworten,  dei 
Mfß*     Und  weno  Aan  nnn  hast  zu  Ende   bracht   und   kalt  wai 
Mit  voo  dem  gewaltigen  Feuer,  womit  du  dein  Werk  hast  arbeitetj 
m  oaKenueh  alle  deine  Schritt  und  Tritt  noch  einmal;  und  wo  si 
atwa  wankend  gewesen  sind  und  gleithnft,   da  geh   du   von    neuem 
eiakar  oad  lialte  Holchcn  Gang,   der  stark  und  fest  sei.     Willst  du 


•ckta  X«raipraclk«D  ftng€d«at«t,  wobei  jedocb  manches  Lehrreiclie  der  seJuamen 
'  ^--   -r-^f/M^art  irarda^.    Goeihi»  M,  115.    DicAureguag  zu  diewni  Werke,  ver-^ 
ifUwl  (t4MiDC  I,  3tt<.   Kot«),   möge  Klopstock   durch  „die  neuen  kri 
I.  '  "    von  liodmcr  und Breitinger.  ZOricb  1749.  >.|S.  151  erbftltcfi 

•  f^tlit  M,  227;  2r,,  IM  ff.;   Trutz  a  a.  0.  S-  »22  ff.  and  n 
hi'rr  -  .    «iit/!  I  BimcfnhrK'n  B^^u^tllcilungen  noch  die  Briefe  von  Chr,  F.  Weit»« 

i('t  M'.rt/cnl'Lut  Ton  l'»4».  I>rchr  S.  n'4  1.;  von  Garve  in  dcsseu  „Briefen  && 
<;hf  y.  Wi-iiKC  und  Knige  andere  Freunde'*  (Breslau  lso:t.  2  Thle.  S.)  l,  75  ff.; 
f'»n  Wi*.Un(j  in  }'.  H,  Jacobi's  auserlesenem  Briefwechsel  1 ,  Mi9.  Auch  Herder 
in<*n  (it^mWcn  an  der  frclehrtenrepuhlik  finden;  denn  sie  ist  doch  w 
Ml  „neuen  Werk**  gemeint,  über  dos  er  in  einem  Briefe  ao  Hamann 
d«»f9»  hcbriften  Ei.  7:»i  nein  l'rtheU  altgibt  Au  Boie  schrieb  Herder  (den  &. 
I'74):  ..KJopttoclt»  Werk  Ut  ein  vnlliger  Banquorout  an  tdccn  vor  gani I>«atadi< 
htnd  i^eapiclt  und  itranx  DcuUchlaud  in  die  fUndc  gespielt  Sich  das  Buch  in  alk 
d<T  l4«*fter  lliiitüen  xu  dimken,  hx  lustig.  Indcss  aber  ein  vahres  Originalweik  in 
ütil  und  iclUt  M&hgctQ.  da«  eben  seiner  Armuth  wegen  grossen  Nutzen  «tiften 
kann"  VkJ.  Weinhvld  a.  a.  0.  S.  l7o  f.  24)  Nach  einem  Briefe  Ooethe's  aa 
Hchoooborn  vom  lo.  Juni  1771  «Werke  60,  2^'>f.)  hat  ihm  ^.Klopstock»  herrfiebea 
W'rrk  nouoc  Leben  in  die  Adern  gegossen**.  Es  wird  „die  einzige  Poetik  aller 
'Mvttn  tind  >  ölkcr"  genannt.  ..die  einzigen  Regeln,  die  möglich  sind**.  Etn  Jtkna* 
ling.  (Ion  da«  Unglück  unter  die  Recensentonschar  gefohrt.  und  der  vor  diaaem 
W'rrkq  nicht  keine  Feder  wegwerfe,  aUe  Kritik  undKritelei  verschwöre,  dch  nlfikl 
geradran  wie  ein  Quietidt  zur  Contemplation  seiner  selbst  niedersetze,  m 
witrdo  nichts  T><*nn  hier  llOtiKcn  die  heiligen  Quelleu  bildender  Enipündtmg 
am  vom    i  '  r  Natur.   —  Man   muss,    um   diese  Stelle  ganz   zu   verstell 

wiaseu,   u  lock   sich   In  der  Gelehrten  republik  der  Kritik  sehr  « 

neigt  Migtc.  2b)  11  122  f.  26«  S.  115  f. 


rdet      I 

"M 


EntirickeluDgsgang  d.  Literatur.    1773— IS32.   Klopstocks  Gelehrtenrepablik     33 


H     Ed 

^"  dich  nacb  gethauor  Arbeit  erholen  und  erlustigen,  so  nimm  der 
l  dicken  Rcgulhüclier  eines  zur  Hand  und  lauf  hie  und  da  die 
^B  Narrentbeidungen  durch,  die  du  vor  dir  iindest."  Die  „Zurecht- 
^"  Weisung*""  hebt  an:  ,jSind  Viele,  die  allerhand  Regclgeschwfitz 
treiben  über  das,  was  dem  Dichter  obliege:  frommet  aber  selbes 
nicbte,  sondern  rieht  vielmehr  Schaden  an  bei  kleinlauten  Ge- 
^_  mQthern.  Wahrer  und  echter  Re^'eln  des  Dichters  sind  nur  etliche 
^H  wenige;  und  die  haben  denn  sichere  und  gewisse  Merkzeichen." 
^  Solche  Regeln  seien:  1)  gutes  Ursprungs,  d.  h.  hergenommen  aus 
des  menschlichen  Herzens  Art  und  Eigenschaft,  wie  auch  aus  der 
Beschaffenheit  und  dem  Zustande  der  Dinge,  die  um  den  Menschen 

Eher  sind;  sie  seien  2j  leicht  anzuwenden,  zeigen  gerade  gebahnte 
Strassen  dahin,  wo  der  Dichter  hiu  mUsse,  wenu  ihm  vor  Meister- 
sango  ekle;  es  seien  3)  nicht  kleine  Ziele,  zu  welchen  er  durch  sie 
gebracht  werde;  sondern  wenn  er  dort  angekommen,  so  fahre  er 
aufs  Herz  zu,  dass  einem  schaudre  oder  froh  zu  Mntli  werde,  oder 
was  sonst  mehr  für  gewaltige  Beweg-  und  Erschütterungen  seien, 
die  eioer  gern  haben  mdge.  Aber  ja  nicht  müsse  der  Dichter  dabei 
zu  erwägen  aus  der  Acht  lassen,  dass  selbst  solche  echte  und  wahre 
Kegeln  zu  nichts  taugen  dem.  der  nicht  Geisteskraft  und  Gabe  dazu 
habe,  etwas  nach  selbigen  hervorzubringen/'  In  dem  Abschnitt  „zur 
Poetik""  spricht  K.  zuerst  ,,von  der  Handlung,  der  Leidenscliaft 
und  der  Darstellung"".  Der  Begriff  der  Handlung  wird  festgestellt, 
sodann  bemerkt,  dass  einige  Handlungen  ohne  Leidenschaft  ge- 
schehen, dass  aber  die,  welche  der  Wahl  des  Dichters  würdig  sein 
sollen,  mit  Leidenschaft  geschehen  müssen.  Daraus  folge  denn  auch, 
dass  in  einem  Gedicht  noch  keineswegs  viel  Handlung  sei,  wenn 
es  nur  Begebenheiten  enthalte.  Zwischen  der  epischen  und  der 

»dramatischen  Handlung  sei  kein  wesentlicher  Unterschied,  die  letz- 
tere nur  dadurch  eingeschränkt,  dass  sie  vorstellbar  sein  müsse.  Dem 
lyrischen  Gedicht,  obgleich  es  Handlung  nicht  aussehliesse,  sei 
Leidenschaft  zureichend-,  aber  wenn  es  auch  diese  allein  habe,  ent- 
behre es  jener  dennoch  nicht  ganz,  da  mit  der  Leidenschaft 
wenigstens  beginnende  Handlung  verbunden  sei.  Die  Erdichtung 
sei  keine  der  wesentlichen  Eigenschaften  eines  Gedichts,  doch  ge- 
höre sie  beinahe  dazu.  Wesentlich  notbwendig  hingegen  sei  ihm, 
dass  es  Handlung  und  Leidenschaft  darstelle,  d.h.  dass  es  ihnen 
alle  die  Lebendigkeit  gebe,  deren  sie,  nach  ihrer  verschiedenen  Be- 
schaffenheit, fähig  seien.  Leblose  Dinge  seien  nur  dann  der  Dar- 
stellung fähig,  wenn  sie  in  Bewegung  oder  als  in  Bewegung  gezeigt 


27i  8.  I.S2  f.  2S)  S.  309  ff.  29)  Dass  sich  dariu  der  Eiafluss  voa 

itlagB  Laokoon  zeige,  ist  scbon  §  295,  Anm.  40  erwihnt  worden 

K*Wrtlcia,  Craadru«.     &.  Aul     IV.  -^ 


^m 


34     YI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jahrhundertfi  bis  za  Goethe*i  Tod. 

f  300  werden;  vermöge  das  der  Dichter  uicbt;  so  bescbroibe  er  nur.  Der 
Dichter  habe  vor  dem  Mahler  den  Vorsprung,  da^s  er  in  weit 
hOherm  Grade  als  dieser  die  Darstellung  bis  zur  Täuschung  lebhaft 
zu  machen  vermöge.  Den  zweiten  Theil  dieses  Abschnitts  bildet 
ein  „Vorschlag  zu  einer  Poetik,  deren  Regeln  sich  auf  die  Erfahrung 
grtluden/^  Es'wird  davon  ausgegangen,  dass  die  meisten  Regeln  in 
fast  allen  Theorien  der  Dichtkunst  bo  boschafien  seien,  dass  sie, 
ohne  die  Voraussetzung,  diese  oder  jene  poetische  Schönheit  muss 
diese  oder  eine  andere  Wirkung  nothwendig  hervorbringen,  uner- 
weislich bleiben.  Was  müsHe  der  Theorist  also  thuu,  der  wahre 
Regeln  festsetzen  wolle?  Er  mQsso  1)  erfahren  und  die  Erfahrungen 
Anderer  sammeln ,  welche  Eindrücke  Gedichte  von  allen  Arten 
machon;  und  2)  die  Beschaflonheitcn  der  verschiedenen  Gedichte 
mit  genauen  Bestimmungen  von  einander  absondern,  oder  das  in 
Dichtarten  zergliedern,  was  Wirkung  hervorgebracht  habe.  Da  be- 
sonders, wo  es  der  Dichter  so  recht  warm  aus  der  Natur  schiene 
herausgenommen  zu  haben,  mtlsste  man  ihm  in  der  Natur  selbst 
uacherfahren.  Träfe  man  hier  die  Eindrücke  wieder  an,  die  man 
vorher  durch  ihn  bekommen  hätte,  so  könnte  man  sich  von  diesen 
Punkten  des  Festzusetzenden  desto  gewisser  Überzeugen. 

Tiefer  griflen  Herders  „Blätter  von  deutscher  Art  und  Kunst"  ein. 
Auf  seinem  Aufsatz  Über  Shaksjtcare  baute  sich  unmittelbar  die  neue 
Theorie  des  Drania's  auf,  und  auf  die  Briefe  Aber  Ossian  und  die 
Lieder  alter  Völker  stützte  sich  alles,  was  über  das  Wesen  der 
Natur-  und  Vulkspoesie  und  ihren  Unterschied  von  der  Kunstdich- 
tnng,  80  wie  über  Volksmässigkeit,  als  eine  der  höchsten  Forderun- 
gen, die  alle  echte  Dichtung  zu  erfüllen  habe,  in  den  Siebzigern 
geschrieben  wurde.  Jenes  geschah  hauptsächlich  in  dem  goetheschen 
Kreise»  der  sich  in  der  Production  auch  vorzugsweise  der  Neuge- 
stiiltung  des  deutschen  Dramas  zuwandte;  dieses  giong,  insofern 
Herder  sich  in  diesem  Felde  nicht  uuch  selbst  thätig  erwies,  haupt- 
sächlich von  den  Göttingern  aus  und  stand  in  dem  alternäcbstOD 
Zusammenbange  mit  der  Neubildung  unserer  rein  lynscben  and 
episch-lyrischen  Poesie,  auf  deren  Pflege  sich  wieder  dieser  Kreis 
mit  besonderer  Vorliebe  legte*.     Wenn  sie  auch  nicht  in   eia  so 


30»  Demnücbst  gieug  vou  hier,  aber  zu  derselben  Zeit  aucli  von  üeo  Rhein- 
jigWldcn  durch  den  Mabler  MaUcr.  die  Neugestaltung  dor  IdyUe  aus.  Auf  die 
groiMti  Oftttungcn  licssen  sie  sieb  zunächst  fast  gar  nicht  ein.  Denn  im  DramA 
versuchte  »Ich  in  den  Siclizigeni  nur  Leisowity.  einmal,  der  aber  erst  spAt  und 
auch  nur  mrhr  vortlberjjt'ljt'nd  dem  Runtif  beitrat  'vgl,  Üd.  III.  ^W);  SpnWmann  ge- 
hörte ihm  eigentlich  nie  an  und  nuhcrto  sich  erst  nach  seiner  Auflösung  eiozelnon 
Mitgliedern  dcwaUwn  (Prutz  a.  a.  U.  S.  xm,  Notci      Mit   Plaacn  m  Epo|M>an 


EntirickelongagaDg  d.  Literatur.   1773—1832.  HerUersBUtterv,  deutscher  Art.    35 


r 

^m  nahes  und  unmittelbares  VerhMtiüss,  wie  die  jungen  Dichter  am  $  3( 
^m  Rhein  und  Main,  zu  üerder  kamen  und  daher  auch  nicht  in  den 
^M  Bereich  des  Cinflusseä  seiner  mächtig  anregenden  PerBünliebkoit 
^"  traten:  so  hatten  doch  schon  seine  ersten  Schriften  die  Aufmerk- 
samkeit mehrerer  unter  ihnen  in  hohem  Grade  erregt,  auf  ihre 
Bildung  gewirkt  und  ihm  ihr  Vertrauen  erworben^'.  Nun  aber  er- 
schienen die  Blätter  von  deutscher  Art  und  Kunst:  Voss  empfahl 
sie  glöch  dringend  seinem  Freunde  Brückner;  er  werde  manches 
goldene  Sprüchlein  darin  finden  ^.  Bürger,  der  von  ilem  Erscheinen 
der  „herrlichen  fliegenden  Bliitter*'  im  Mai  1773,  als  die  Lenorc 
bereits  entworfen  war^  und  auch  deren  erste  Ausführung  schon 
ziemlich  weit  vorgerückt  sein  musste,  zuerst  durch  Boic  etwas  er- 
fuhr, schrieb  an  diesen,  dass  er  sie  geleseu,  bei  Bücksendung  der 
„Kachifeier  der  Venus":  es  habe  ihm  mit  dem  Umschmelzen  dieses 
dichts  nicht  recht  gelingen  wollen;  der  Ton  dessclhon  sei  ihm 
ou  so  fremd  geworden,  töne  ihm  schon  so  weit  hinten  in  der 
Ferne  imd  so  dunkel,  dass  er  kaum  noch  darüber  urtheilen  und 
entHcheideu  könne.  „Der,  den  Herder  auferweckt  hat,  der  schon 
lange  auch  in  meiner  Seele  auftüntc,  hat  nun  dieselbe  ganz  erfüllt, 
und  ich  musa  entweder  durchaus  nichts  von  mir  selbst  wissen  oder 
ich  bin  in  meinem  Element.  0  Boie,  Boie,  welche  Wonne!  als  ich 
fand,  dass  ein  Manu  wie  Herder  oben  das  von  der  Lyrik  des 
V^olkes,  und  mithin  der  Natur,  deutlicher  und  bestimmter  lehrte, 
was  ich  dunkel  davon  schon  längst  goducht  und  empfunden  hatte. 
Ich  denke,  Lenore  soll  Herders  Lehre  einigermassen  entsprechen**". 
Nach  der  Seite  der  Dramatik  hin  sprach  sich  der  Geist  der  neuen 

trugen  sich  xwtx  Im  J.  mw  K.  F.  Cramer  und  J.  Fr.  Halm  (Briefe  von  Vom 
I,  IS2  f./;  es-  kam  aber  nichts  davon  zu  Stande.  Nur  J.  M.  Miller  warf  sich, 
doch  anch  erst  uäch  seinem  Weggänge  von  Göttingen,  mit  Entschiedenheit  auf 
den  Komai).  3ij  Diees  erhellt  besonders  ans  einem  Briete  von  Voss  aus 

Agm  Anfange  dea  J.  1773  (I,  I:t0;  vgl  S.  135;  welche  Anregung  Itilrger  als  üeher- 

^r  des  Homer  durch  Herders  Fragmente   bereits  1771  empfangen  hatte »  kann 

LH  aus   den  „GedanUeu  Über  die  Beschaffenheit  einer   deutschen  Uebersetzung 

des  Homer'  etc.  ersehen,  in  Bürgers  Werken  3,  28  ff).  32)  Briefe  1,  145. 

33»  Vgl.  in  dem  (zmulchst  von  Voss  im  Morgeublntt,  Octbr.  l'^O'.t.  N.  24t  ff. 

beraiisgcgebenen ,   dann)  der  von  A.  W.  Bobtz   besorgten  Ausgabe  von  Bürgers 

ichcn  Werken,  in  einem  Bande,  Göttingen  IS35,  einverleibten  Briefwechsel 

jers  mit  Boie  über  die  Lenore  S.  4b4 — 6G.  —  Fasst  mau  die  wechselseitige 
»bende  Einwirkung  beider  Dlchtergruppeu,  der  rhein-mainländischen  und  der 
gOtCisigischen ,  überhaupt  vergleichend  ius  Auge,  so  war  die  von  der  erstem  aus- 
geiutade  bei  weitem  die  grössere  und  stärkere.  Mau  lese  nur,  was  Bürger  über 
den  Eindruck  »chreibt,  den  Goethe's  Götz  auf  Um  machte.  In  dem  Bricfwechbel 
mit  Boie,  a  a.  0.  S.  ■lOti  („dieser  Götz  v.  B.  bat  mich  wieder  zu  drei  neuen  Stro- 
phen aur  I/enore  begeistert''»:  sowie  die  Stellen  in  den  Briefen  von  Voss  über 
dftnüOtx^  dea  Clavigo,  den  Wertber  und  Ober  den  (saerst  ebenfalls  für  ein  goetbe- 

3* 


9 


mm 


36     VI.  Vom  zweJua  Viertel  des  XVm  Jahrhunderts  bis  zu  Goetbe*t  Tod. 


'f  300  Schule  auf  dem  Felde  der  Theorie  nach  dem  J.  1773  am  vollßtän- 
digftteu  uüd  deutlichateu  iu  Leuzcns"  Anmerkungen  Uber's  Theater" 
und  in  J.  G.  Schlossers  Schreiben  des  „Prinzen  Tandi  an  den  Ver- 
fasser dos  neuen  Monoza"*'  aus.  Die  Anmerkungen  von  Lenz  be- 
ginnen mit  sehr  tumultuarisch  hingeworfenen  Andeutungen  Über  die 
Gesi^hichte  des  Drama's  alter  uud  neuer  Zeit,  worin  die  tragische 
Manier  der  Franzosen  verspottet,  von  den  englischen  Dramatikern 
aus  der  Zeit  der  Königin  Elisabeth  bemerkt  wird^  dass  „sie  sich 
nicht  entblödet  hätten,  die  Natur  mutterfadenuackt  auszuziehen  und 
dem  kenschen  und  züchtigen  Publicum  darzustellen,  wie  sie  Gott 
geschaffen  hat'',  und  das  deutsche  Theater  ,,ein  wunderbares  Ge- 
menge alles  dessen"  heisst,  was  anderwärts,  bei  Griechen,  Rt^mem, 
Engländern,  Franzosen,  Italienern,  auf  die  Bühne  gekommen  und 
Ton  uns  dmch  kritische  Augengläser  angesehen  worden  sei;  hier- 
nach wird  die  Frage  nach  den  Quellen  der  Poesie  überhaupt  aufge- 
worfen. Diese  sollen  sein  der  in  uns  als  freihandelndon  Wesen  sich 
regende  Trieb,  Gottes  Schöpfung  im  Kleinen  nachzuschafleu  oder 
mindestens  nachzuäflen,  und  das  immerwährende  Bestreben  iu  uns. 
alle  unsere  gesammelten  BegritTe  wieder  aus  einander  zu  wickeln 
und  sie  anschaulich  und  gegenwärtig  zu  machen.  Tritt  hierzu  nun 
noch  ,,die  Folie,  was  Horaz  ^nvida  vis  ingenii,  wir  Begeisterung, 
Schöpfungskraft,  Dichtungsvermögen  uennen":  so  können  Gedichte 
hervorgebracht  werden.  Der  Knoten,  die  nota  diacritica  des  poeti- 
schen Genie's  ist,  den  Gegenstand  zurückzuspiegeln.  Der  wahre 
Dichter  verbindet  nicht  in  seiner  Einbildungskraft,  wie  es  ihm  ge- 
fällt, was  man  die  schöne  Natur  zu  nennen  beliebt,  was  aber  bloss 
die  verfehlte  Natur  ist.  Er  nimmt  Standpunkt  —  und  dann  musa 
er  so  verbinden:  man  kann  seine  Gemähide  mit  der  Sache  ver- 
wechseln. Diess  vorausgeschickt,  was  ist  nun  in  Betreff  der  Nach- 
ahmung oder  Nachschaffung  im  Schauspiel  dereu  Hauptgegen- 
stand? der  Mensch?  oder  das  Schicksal  des  Menschen?    „Hier 


Bch4>s  Werk  gehaltenen I  HofineUter  uud  den  neuea  Mcouza  vun  Lenz,  I.  M5;  ttio 
^deu  „üofmeister  kenne  tcb,  eine  Komädie,  eben  so  empörerisch  gegen  das  Re^I- 
bucb  als  Götz  v.  B.  und  eben  so  nackte  Natur.  KJopstock  ist  solir  damit  m- 
frioden*-);  3.  176;  IbO;  2r>2.  34i  l'eber  sein  Loben  vgl.  $  3mL  35)  «.An- 

iD«rkungi*tt  Qber*ä  Theater,  nebst  angehängtem  abersetzten  Stück  SlialcspeaicV' 
(LoTe*i  Labour'a  lost).  Leipzig  1771.  S.  (beiTieck  2,  199  0'.).  Diese  AnmerkungVD 
«rnrden  anfanjcHch  Goethen  beigelegt  (d. Merkur  1771,  4,  ISll;  vgl.  1*75,  l,04fj. 
Nach  dem  kurzen  Vorwort  soUten  aie  schon  zwei  Jahre  vor  dem  Krscheinen  der 
Blatter  voa  deutacher  Art  und  Kunst  und  des  Götz  v.  B.  in  einer  GeaeUschaft 
guter  Freunde  vorgelesen  worden  srin :  was  vielleicht  bezweifeU  werden  darf  (vgl. 
Goethe  26,  253;  dazu  aber  auch  Dontxer  a   a.  O.  ä.  7U  f.  die  Note).  '^i 

Leipxig  1775;  ao%«Boniinen  io  J,  0.  Schlotten  kleine  Schriften  3.  261  ff. 


liegt  der  Knoten,  aus  dem  zwei  so  verschiedene  Gewebe  ihren  Ur-  9  300 
sprnng  genommen  haben,  als  die  Schauspiele  der  Franzosen  (sollen  wir 
der  Griechen  sagen?)  und  der  altem  Engländer,  oder  vielmehr  Über- 
haupt aller   altem  nordischen  Nationen  sind,    die   nicht    gnechisch 
gesattelt  waren.*'     Indem  Lenz   nun  insbesondere  zunächst  auf  die 
Theorie    des  Trauerspiels   eingehen  will,  sucht  er   die  Gültigkeit 
>  r  üauptsätze  der  aristotelischen  Poetik   für  die  Neuern  zu  be- 
^en.    Nach  Aristoteles   sei    für  den  dramatischen  KdnRtler  das 
Wichtigste  unter  allem  die  Zusammensetzung  der  Begebenheiten,  die 
Fabel  des  Stücks  als  eine  Handlung:  dieas  sei  der  letzte  Endzweck, 
dsks  Principium  des  Drama's;  die  Personen  eines  Stücks  sollen  nicht 
handeln,  um  ihre  Sitten  darzustellen,  sondern  die  Sitten  werden  um 
der  Handlungen  willen  mit  eingeführt.    Diese  könne  aber  unmöglich 
für  ans  gelten,  selbst  zugegeben,  das  Drama  schliesse  nothwendig 
die  Handlung  mit  ein,  um  seinen  eigentlichen  Endzweck  zu  erreichen. 
Aristoteles'  Lehre  sei  durch  die  Muster,  die  er  vor  sich  gehabt»  be- 
dingt worden,  deren  Entstehungsart  sich  wieder  aus  den  Beligiona- 
begriffen  der  Alten  klar  machen   lasse.     Da  ein   eisernes  Schicksal 
ilamaln  die  Handlungen  bestimmte  und  regierte,  so  konnten  sie  als 
dcbe  interessieren,  ohne  dass  davon  der  Grund  in  der  menschlichen 
le  aufgesucht  und  sichtbar  gemacht  zu  werden  brauchte.     Anders 
Ml  OB  bei  uns:  wir  lassen  solche  Handlungen,   von   denen  wir  die 
Ursachen  nicht  einsehen,  und  nehmen  keinen  Theil   daran.    Daher 
gehen  sich  die  heutigen  Aristoteliker,  die  bloss  Leidenschaften  ohne 
Cbaraktwe  mahlen,  genöthigt,  eine  gewisse  Psychologie  für  alle  ihre 
handelnden  Personen  anzunehmen,   die  im  Grunde  nichts  als  ihre 
eigene  Psychologie  ist.    ,,Wo  aber  bleibt  da  der  Dichter?  wo  die 
Folie?*'  wo  die  individuelle  Kcnntniss  der  menschlichen  Seele?  „wo 
die  unekle,   immer   gleich  glänzende,    rückspiegelndej    sie  mag  im 
Todtengraberbusen    forschen    oder    unterm    Reifrock    der   Königin? 
Nach  meiner  Empfindung  schätz'  ich  den  charakteristischen,  selbst 
den  Caricaturmahler  zehnmal  höher  als  den  idealischen  —  hyper- 
bolisch gesprochen  — :    denn  es  gehört  zehnmal    mehr   dazu,    eine 
Figur  mit  eben  der  Genauigkeit  und  Wahrheit  darzustellen,  mit  der 
Genie  sie  erkennt,  als  zehn  Jahre  an  einem  Ideal  der  Schönheit 
zirkelit,  da*  endlich  doch  nur  iu  dem  Hirne  des  Künstlers,   der 
es  hervorgebracht,  ein  solches  ist.    Die  Idee  der  Schönheit  muss  bei 
nnsem  Dichtem  ihr  ganzes  Wesen  durchdrungen  haben  —  denn 
fort  mit  dem  rohen  Nachahmer,  der  nie  an   diesem  Strahl  sich  ge- 
wärmt hat,  auf  Thespis'  Karren!  —  aber  sie   muss  nie  ihre  Hand 
fuhren  oder  zurückhalten,  oder  der  Dichter  wird  —  was  er  will, 
nur  nicht  Darsteller,  Dichter,  Schöpfer.'*     Der   neuere  Dramatiker 
»oU    eI«o   nach   dieser  Lehre   vor   allen   Dingen    naturgetreue,    zu 


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39     VL  Tom  fwnuti  Viert«]  des  XVITI  J&brhQDderts  bis  m  Goetiie's  Tod- 


300  Tollster  Individualität  heraasgearbeitete  Cbaraktcrdarstellung  zum 
Zielpunkte  nebmen;  und  zwar  soll  er  Charaktere  bilden,  „die  sieb 
ihre  Begebenheiten  erechafTen;  die  selhgtftndig  und  unveränderlich 
die  ganze  g^rossc  Maschine  selbst  drehen",  ohne  die  Gottheiten  in  den 
Wolken  nOthig  zu  haben,  Aristoteles'  Vorschrift  mttsse  för  die 
neuem  Dichter  geradezu  umgekehrt  werden :  nicht  die  Fabel  sei  da« 
Prinoipium  und  gleichsam  die  Seele  unserer  Tragödie,  sondern  die 
Sitten  oder  Charaktere;  nicht  die  Zusammensetzung  der  Begeben- 
heiten sei  das  Wichtigste  fOr  den  tragischen  Dichter,  sondern  die 
lebensvolle  Gestaltung  der  Charaktere,  dieMenschendarstcIlung. 
Nach  diesen  Erörterungen  wendet  sich  Lenz  zur  Prüfung  der  Lehre 
von  den  drei  Einheiten.  Was  heissen  sie?  Hundert  Einheiten  lassen 
sich  angeben,  die  alle  immer  die  eine  bleiben,  die  wir  bei  allen 
GegenstÄndeu  der  Erkenntniss  suchen,  die  eine,  die  uns  den  Ge- 
sichtspunkt gibt,  aus  dem  wir  das  Ganze  umfangen  und  überschauen 
kAnnen.  Aristoteles  sage :  Fabula  autcro  est  una,  nou  ut  aliqoi 
putant,  si  circa  unum  sit.  Er  sondere  immer  die  Handlung  von  der 
handelnden  Hauptperson  ab,  die  in  die  gegebene  Fabel  hinein  passen 
rnttsse,  wie'a  auch  immer  sei.  ,3ei  den  alten  Griechen  war's  die 
Handlung,  die  sich  das  Volk  zu  sehen  versammelte;  bei  uns  ist's 
die  Reihe  von  Handlungen,  die  wie  Donnerschläge  anf  einander 
folgen,  eine  die  andere  stützen  und  heben,  in  ein  grosses  Ganzes 
zusammcnflieHscn  mllssen,  das  henmch  nichts  mehr  und  nichts  minder 
ausmacht  als  die  Haiiptperson ,  wie  sie  in  der  ganzen  Gruppe  ilirer 
Mithändlcr  hervorsticht.  Bei  uns  also  fabula  est  una,  si  circa  unum 
sit."  Wir  finden  kein  Vcrgnllgen  mehr  au  abgerissenen  Handlungen; 
wir  wünschen  ein  Ganzes ;  wir  wollen  den  Menschen  sehen,  wo  jene 
nur  das  unwandelbare  Schicksal  und  seine  geheimen  EiutlUssc  sahen. 
Die  Einheit  des  Oiis  bei  den  Alten  war  wegen  des  Chors  ge- 
boten. In  die  Einheit  der  Zeit  setze  Aristoteles  gar  den  wesent- 
lichen Unterschied  der  Tragödie  von  der  EpopCe;  aber  seien  denu 
zehn  Jahre  nicht  eben  so  gut  bestimmte  Zeit  als  unus  solis  ambitus? 
und  springe  es  nicht  in  die  Augen,  dass  der  specitische  Unterschied 
iwischen  beiden  Gattnngeti  darin  bestehe,  dass  in  der  Epopöe  der 
Dichter  selbst  auftrete,  In  der  Tragödie  hingegen  seine  Helden, 
d.  h.  dass  diese  vorntelle,  jene  erzähle?  Und  hieraus  ergehe  sich 
auch  gleich,  in  welchem  Vorthcile  sich  der  dramatische  Dichter  vor 
dem  epischen  befinde;  um  wie  viel  ktlrzor  des  ersteren  Weg  sei  tn 
dem  Ziele,  sein  grosses  Bild  lebendig  zu  machen,  wenn  er  nur 
riehore  Hand  habe,  in  der  Puls  der  Natur  schlage,  vom  göttlichen 
Genius  geführt.  Wie  weil  man  es  in  neuerer  Zeit  gebracht  habe, 
wvnu  auf  aristoteÜHchom  Fundament  dramati.sche  Gebfiudc  aufge- 
führt werden  sollten,  lasse  sich  am  leichsten  und  sichersten  an  dem 


F «-      "■" 


EniwickdangBffang  der  Literatur    1773—1832.    Lenz  übers  Theater.      39 

Drama    der    Franzogen    erkeunen.      In    allen    ihren    Schauspielen 
wenle  man  eine  gewisse  Aehnlichkeit  der  Fabel  gewalir:  ein  offen- 
barer ßewrcis  des  Handwerke;  denn  die  Natur  sei  in  ihren  Wirkun- 
gen mannigfaltig.    In  den  französischen  Intrigueu  zeige  sich  nichts 
alft  •cbimmerude  Armuth,  die  aus  der  Aehnlichkeit  der  handelnden 
FetBonen  herrühre.     Die  Mannigfaltigkeit  der  Charaktere  und  der 
Psychologien  sei  die  Fundgrube  der  Natur;   hier  allein  schlage  die 
"WBnsche.lruthe  des  Geuie's  im,   und  sie  allein  bestimme  die  unend- 
liche Mannigfaltigkeit   der  ITaudlungen  und  Begebenheiten  in   der 
Welt.     Es  sei   keine  Calumnie,   dasa  die  Franzosen  auf  der  Scene 
keine  Charaktere  haben:  überall  ein  Oeaicht,  eine  Art  zu  denken, 
atoo  auch  eine  grosse  Einförmigkeit  in  den  Handlungen.    Ihr  ganzer 
Yonag  würde   demnach  der  Bau    der  Fabel,    die   willkürliche  Zn- 
satnmensetzung   der  Begebenheiten    bleiben,   zu    welcher  SchiUlerei 
der  Dichter  seine  eigene  Gemtithsrerfassung  als  den  Gmnd  unter- 
lege, d.  b.  sein  ganzes  Schauspiel  werde  im  besten  Falle  nicht  ein 
Gemftblde  der  Natur ,  sondern  seiner  eigenen  Seele.    So  seien  Vol- 
taire'd  Helden    fast    lauter   tolerante   Freigeister,   Corncille's    lauter 
Seneea's:  die  ganze  Welt  nehme  den  Ton  ihrer  Wünsche  an;  selbst 
Rousseau  in  seiner  ncloise,  dem  besten  Buch,  das  jemals  mit  fmn- 
zteischen  Lettern  gedruckt  worden,  sei  davon   nicht   ausgenommen. 
Um  die  manierierte   französische  Kunstart  im  Gegensatz  zu  echter, 
naturgemäftscr  dramatischer  Darstellung  an  besondorn  Beispielen  zu 
erläutern,    wird   der   Tod    Caesars    von   Voltaire    mit  Shakspeare's 
JuUod  Caesar  verglichen  und  sodaun  insbesondere  ein  schon  früher 
beregter  Punkt    in    ein    helleres  Licht    gesetzt:    „warum    nämlich 
Aristoteles  gerade  im  Trauerspiel ,  wo  auf  die  handelnden  Personen 
alles  ankomme,  den  Clmrakteren  so  wenig  gebe."     Der  Grund  liege 
in  dem  r;^og  der  Schauspiele.     „Bei  den  Alten  waren  die  Schau- 
spiele alle  sehr  religiös,  da  ihr  Ursprung  Gottesdienst  war.    Da  nun 
(atum   bei   ihnen  alles  war,  so  glaubteu  sie   eine  Ruchlosigkeit  zu 
begehen,  wenn  sie  Begebenheiten  aus  den  Charakteren  berechneten. 
Die  Hauptempfindung,  welche  erregt  werden  sollte,  war  nicht  Hoch- 
ihtung  für  die  Helden,  sondern  blinde  und  knechtische  Furcht  vor 
den  Göttern.     Von  jeher  aber  und  zu  allen  Zeiten  sind  die  Empfin- 
dungen, GemUthsbeweguugen  und  Leidenschaften  der  Menschen  auf 
ihre  Religionsbegriffe  gepfropft."     Damit  wir  nun,  nnsem  Religions- 
begrlffen  und  unserer  ganzen  Art  zu  denken  und  zu  handeln  gemäss, 
die  Grenzen  unseres  Trauerspiels  richtiger  abstecken,  als  bisher  ge- 
schehen,  so    müssen   wir   von    einem  andern  Punkte  ausgehen  als 
A  '•'>^:  wir  müssen,  um  den  unsrigen  zu  nehmen,  den  Volksge- 

^  der  Vorzeit  und  unscrs  Vaterlandes  zu  Rathe  ziehen,   der 

noch    heut    zu    Tage    Volksgeschmaek    bleibt    und    bleiben    wird. 


§  300 


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40     VI.  Vom  zweit«!!  Viertel  de&  XVKI]  JfthrbuDderU  bis  zu  Goetfae'B  Tod. 


{  300  Daraaeb  aber  eei  in  unserer  Zeit  die  üauptempßndung  in  der  Ko* 
mödie)  d.  b.  das,  was  das  IntercBse  voi*  allem  Andern  errege  und 
festbalte,  immer  die  Begebonbeit;  in  der  Tragödie  bingegen  die 
Person,  die  Scböpfer  ibrer  Begebenbeiten  sei,  die  Person  mit 
all  ibren  Nebenpersonen ,  Interessen ,  Leidenschaften ,  Haudhingenj 
wie  sieb  diess  binlänglicb  aus  unsem  ältesten  Scbauspieldichtern, 
namentlich  aus  Ilans  Sacbs  ergebe.  So  sei's  mit  den  bistoriscben 
Sttlcken  Sbakspeare's,  die  CbarakterstUcke  heissen  konnten,  wenn 
das  Wort  nicbt  so  gemissbrancbt  wäre.  Der  edle  Todte,  dem  der 
Poet  seinen  Geist  cingehaucbt,  stebe  hier  wieder  auf;  in  verklärter 
Sehöne  gebe  er  aus  den  GescbiebtsbUcbern  hervor  und  lebe  mit  uns 
zum  andernmale.  Sei  also  der  Hauptgedanke  einer  Tragödie  eine 
Person  und  der  Charakter  des  Helden  allein  »^der  ScblUssel  zu 
seinen  Schicksalen",  so  sei  der  Hauptgedanke  einer  Komödie,  nnd 
namentlich  einer  sbakspeareschcn,  eine  Sache;  die  Personen  seien 
hier  nur  für  die  Handlung  da". 

Das  Schreiben  des  Prinzen  Tandi  Hess  Schlosser,  den  Lenat 
unter  der  Maske  des  Prinzen  Tandi  verstanden  haben  soll  * , 
bald  nachdem  ,,der  neue  Menoza,  oder  Geschichte  des  cumbani- 
sehen  Prinzen  Tandi.  Eine  Komödie"  (von  Lenz)"  erschienen 
war,  drucken.  Es  beginnt  mit  einem  Zuspruch  an  Lenz,  sich 
durch  die  Beurtbcilungen,  die  sein  Stück  erfahren  habe,  nicht  irro 
maohon  zu  lassen,  sich  nicht  an  die  Jourualkritik  zu  kehren,  oder 
gar  zu  seiner  Vertbeidigung  das  Wort  in  einem  Journal  zu  er^eifen. 
Unter  den  lächerlichen  Urtheilen  des  Tages  seien  die  am  läober- 


37)  Vgl.  dazu  Jen  zwei  .Tahre  cpftter  herausgegebenen,  in  einer  wonii^  affec- 
lierten  Manier  geschriebenen  kleinen  Aufsatz  „über  die  VerÄcdening  des  Tbeatera 
Im  Shakspearc"  tl>ei  Tieck  2,  :i35  ff),  wo  in  wenigen,  aber  sehr  veretandigpn 
Worten  der  Tnlug  gerügt  wird,  den  junge  Dichter  damals  mit  dem  bikutigen 
S^enenwccb&el  in  ihren  SlQckon  trieben,  indem  sie  sich  dabei  immer  auf  SliAk- 
gpeare  beriefen  und  ihre  Leser  glauben  machen  wollten,  die  Schönheiten  dieses 
Dichtcra  bestünden  bloss  In  seiner  UnregelmässiKkeit.  Allein  wie  vielen  Orund 
bat  uns  Lern  selbst,  anch  noch  in  seinen  m  derselben  Zeit  erschienenen  ..Sol- 
daten'* Uiettner.  in  Westennanns  illustr.  iMonat^heften,  Jannar  IS67,  S.  3$7  bMt 
die  „Soldaten'*  trotz  dem  Briefe  von  Klinger  für  Leuzens  unbestreitbare«  Eig^n- 
thum;  vgl-  da^eg«n  Goschc's  Archiv  f.  Literatnrgesch.  I,  312  ff.)  gegeben,  ihn  mit 
nntcr  jene  jungen  Dicliter  zu  rechnen  I  3S)  A.  Nicolovins,  J,  0.  Scblofißcn 

Irfben  S    3'.t.  1)0)  t'pipzig  1771.    ^.    Per  Titel  weist  auf  den  damals  aUgrinno 

bek&nnteii  dftni^ebrn  Roman  „Menoza,  ein  aitiuti^clier  Prinz,  welcher  die  Welt  um- 
hftrgczogcn,  Christen  zu  suchen,  aber  des  Gesuchten  wenig  gefunden  ".  DicSoJUfct- 
rrceniion.  mit  welcher  Lenz  in  den  Kratikfiirter  gel.  Anzeigen  ilT75,  S.  159  ff) 
dem  Vcnt&ndnUs  der  Leser  zu  liüjfc  zu  kommen  suchte,  beurkundet,  dass  Prinz 
Tand),  der  flrld,  einen  rousseauschen  Natnrmpnschen  darstellen  sollte,  der  das 
Wesen  und  Treibcti  der  sogenannten  Bildung  beoba<'htet  und  rieh  von  dtttn 
Gebrechen  und  N*turvidngkeit  verletzt  abwendet    Vgl.  Mettner  a.  a.  O.  S.  3h7. 


Entwkkelangtgiing  der  Lileratnr.     1773—1932.    ScUoseere  FriiiE  Tandi.    41 


Ucliftteii,   welche    die  Kunst,    das  Gefühl,   den  Uehergang  in's  Herz  §  3O0 
beträ/en.    Es  gebe  tausend  Thore,  durch  welche  die  Natur  in  unser 
Herz  eindringe;  deu  Schul  weisen  sei  nur  eins  bekannt,  und  recht 
bekannt  auch  nur  wenigen.     Darauf  erzfthlt  Prinz  Tandi,  mit  welcher 
Gewalt  ihn  Sophokles,  Homer,  Ossian   ergriffen,   wie  sehr  sie  ihn 
hingerissen  hätten,  bevor  er  noch  den  Aristoteles  gelesen;  wie  ihm 
aber  geworden,  da  er  an   diesen  mit  seiner  den  Wirkungen  jener 
Dichter  so  offenen,  von  ihnen  so  erwärmten  Seele  gekommen  wäre; 
da  er  „den  kalten  Unmenschen  die  Linien  drechseln  gesehen,  womit 
er  die  Wege  bezeichnen  w^ollte,  worauf  die  Unsterblichen  zu  seiner 
(Tandi's)  Seele  gegangen  wären."     Zehn  Jahre   hafte  er  das  Buch 
hinter  sich  geworfen  und  inzwischen  gehört,  wie  die  Leute  von  den 
Dichtern  sprachen,  womit  er  so  lauge,   wie  mit  den  Geistern  des 
Himmels,  gelebt  hatte;  von  ihrer  Kunst  zu  mahlen,  von  der  Einheit 
der  Handlung  bei  Sophokles,  von  dem  Gewebe  einer  so  verwickelten, 
bis  auf  die  Einmischung  der  Götter  auch  so  wahrscheinlichen  Ge- 
schichte bei  Homer,   von  der  strengen   Beobachtung  des  CostUmes 
bei  09«iaD,  von  der  Macht  der  Illusion,  von  dem  Wesen   und  dem 
Gnmde  des   Sch«)nen,    von   den  Regeln,    die    sich    daraus    ziehen 
Hessen  etc.     Erst  in  einer  Krankheit  nahm  er  den  Aristoteles  wieder 
vor,  eo  wie   die  französischen    und   deutschen  Kunstlehrer   von  Du 
Boa  bis  auf  Meier.    Unfähig  zu   fühlen ,  hatte  er  Müsse  und  Kälte 
genug,  ihnen  nachzudenken.    Er  hilligte  nun  alle  ihre  Regeln   und 
bekam  Ehrfurcht  vor  den  Dichtern,  die  sich  daran  hielten.    Wieder 
gesund,  suchte  er  diese  sorgfältig  auf  und  fieng  bei  den  Franzosen 
an:   Corneille  rührte  ihn  kaum  zweimal,  Racine  nicht  einmal,  Vol- 
taire   gliteerte    ihm    nur    vor   den  Augen    etc.     Er  gieng   zu   deu 
Deutschen    über,    zu   Croncgk,   Brawe,    Schlegel:    er    sah    wieder 
nherall  Mass  und  Zirkel  und  erstaunte,  dass  er,  überzeugt  von  der 
Wahrheit  der  Regeln,  doch  ungerührt  bliebe.    Da  tielen  ihm  Shak- 
«peare*8  Macbeth  und  Coriolan  in  die  Hände:  was  er  hier  fand,  war, 
mit  den  Regeln  zusammengehalten,  Zauberkraft  und  durch  Zauber- 
stab hervorgebracht.     Nun  sah   er,  was  er  in   der  Krankheit  nicht 
gesehen,    „dass  die  Regelmacher   alle   nur  an  der  Hulle  gehangen 
und  den  Geist  nicht  gekannt  hätten,  der  sie  belebte;  sah  mehr,  sah, 
dass  der  Geist,  wo  er  ist,  sich  HUllo  nehmen    kann   und   nie   von 
dem  verkannt  wird,   dem  er  hurbar  ist"  etc.     Es   gebe   tausend 
Formen,  und  es  sei  nur  ein  Geist,  der  sie  belebe;  eine  Regel,  und 
die  sei;  fUhIc,  was  du  fühlen  machen  willst.     Und  die  Regel  lehre 
kdne  Aesthelik.    Die  sei  der  Stempel  des  Dichtergenie*s;  den  habe 
Lenz,  mit  dem  möge  er  sich  begnllgen*'*. 


40)  Was  Götsinger.  die  dentscho  Sprache  und  ibro  Literatur  '2,  602  ff.  «agt, 


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42    VI.  Vom  zwoiteu  Viertel  des  XVHI  Jahrhunderts  bis  zu  Goetbe's  Tod. 

}  300  Während  hier  die  neue  Theorie  vom  Drama  gelehrt  wird*',  find 

wir  die  neuen  Anschauungen  UherNatur-  und  Volkspoeaie  ausgegprocb 
in  Bürgers  „Herzensausguss  über  Volkspoeaie""  und  in  Herder»  A 
handlung  f^vou  Aehnlichkeit  der  mittlem  englischen   und  deutschen 
Dichtkunst,  nebst  Verschiedenem,  was  daraus  folget"**.  Die  Dichtkunst, 
heisst  csbei  Bürger,  sollte  nicht  bloss  für  die  obersten  Klassen  da  sein 
der  wahren  Dichter  Beruf  ist ,  gleich  rerständlich  uud  unterhal 
für  das  Menschengeschlecht  im  Ganzen  zu  dichten.    Warum  ist  dii 
bei  uns  nicht  so?    Der  Qulsquiliengelahrtheit  unserer  Nation  babes 
wir's    grösstentheils    zu   verdanken,    dass   bei   uns   die  Poesie    d« 
allgemeinen  Eingangs  in  Ohren  und  Her/en  sich  nicht  rUbmen  kann, 
den  sie  bei  andern  Nationen  fand.    Weil  wir  so  hoch  und  tief  ge- 
lahrt sind,    dass    wir  schier  aller  Völker  Sprachen  reden   können, 
ihre  Handlungen,  Sitten,  Gebräuche,  alle  ihre  Weisheit  und  Thorheit 
auswendig  wissen,  überall  bei  ihnen  heimisch,  mit  allem  bei  ihnen 
bekannt  und  bewandert  sin;  so   sind   wir  auch   in   uuserm  Dichten 
und  Trachten,  Reden  und  Thun  so  fremd  und  so  ausländisch,  dass 
der  Ungelehrte  unserer  Landsleute  selten  klug  aus  uns  werden 
Das  Schlimmste  ist,   dass  das,    was   wir  der  Art   lenien,    me 
todtes  Kapital  bleibt.     Aber  möchte  diess  gelehrte  Treiben  bei  n 
seinen  alten  Gang  anderswo  immerhin   gehen;    nur   nicht   „in    il 
Poeterei.*'     Die  deutsche  Muse  sollte  billig  nicht  auf  gelehrte  Reis 
gehen,   sondern   ihren  Naturkatechismus   zu   Hause  auswendi 
lernen.  Wo  steht  in  diesem  aber  geschrieben,  dass  sie  fremde  Phanr 
sien  und  Empfindungen  einholen  und  ihre  eigenen  in  fremde  Mummen 
hüllen  soll  ?  wo,  dass  sie  keine  deutsche  Menschensprache,  sondern 
gleichsam  eine  OOttersprache  stammeln  soll?   Was   ist    denn    di 
Göttersprache,  die  so  viele  junge  Dichter  lallen  wollen?    Oft  nich 
anders  als  allerlei  thierischer  Laut  und.  statt  eines  in   allinühlige 
Fall,   in    distinctem,    vernehmbarem  Wohlgetön  hinströmenden  G 
sanges,    ein   verwin*endea    unerquickliches  Geräusch    und   GepoU 
Man    will    ferner   keine  menschlichen,    sondern  himmlische  Seen 
mahlen;    nicht  wie  seines  Gleichen,    sondern   wie   Völker  andei 


Schlo&öcr  habe  sich  üi  die«oiii  Sendschreiben  ..sehr  gering  scb&txead  überL^Ml 
als  Kritiker   und  ala   drunatiscben  Schriftsteller  auagiesprorhcD*',   ist  rtir   eiu< 
Bftlfle  nicht  wahr  and  beruht  zur  andern  auf  dem  gänzlichea  Missverstehn  eint 
Aeuiaerang  Sohlosscrs   über  Kmilia  Galotti.  4 1 1  Ueber  die  Theorie 

Drama'i«  die  in  de»  S)(«bxigern  Jie  allein  richtige  9cin  sollte,  vgl.  anch  den  enl 
Abschnitt  ,^uii  Daniel  Wuuderlichs  BucV*  |s-  die  folgende  Anmork.).  42i 
zwdte  und  KtAasere  Absihnitt  des  dem  d.  Mnscom  ITTti,  1.  440  ff.  oinvtrldbt 
Artikels  .^ni  Panict  Wundorlicbs  Buch"  (in  Bürgers  sammtlichen  Werk« 
heraasgg.  ton  Bohtz,   S.  31^  ffi.  43.»  Zuerst  im  deutschen  Museum 

3,  42t  IT.  fin  d«D  Werken  zur  schonen  Literatur  und  Knust  T,  47  ff.)* 


Eptwickeinngigftng  der  Literator.    1773— 1S32.    Borger,  über  VoIkspocBif*.    43 

Zeiten  und  Zonen,  oft  gar  wie  «ler  liebe  Gott  und  die  heiligen  Engel  §  300 
empfinden.  Und  gleichwohl  soll  es  nach  der  deutschen  Dichter 
Meinung  nur  an  dem  kalten  und  trägen  Publicum  liegen,  dass  ihre 
Gedichte  nicht  durch  das  ganze  Volk  gfing  und  gäbe  sind!  —  Wie 
aber  dieftem  Unheil  abhelfen?  —  Kein  kräftigeres  Mittel  gibt's,  als 
das  80  oft  beecbrieene  und  citierte,  aber  selten  gelesene  Buch  der 
Natur.  T,Man  lerne  das  Volk  im  Ganzen  kennen,  man  erkundige 
seine  Phantasie  und  Fühlbarkeit,  um  jene  mit  gehörigen  Bildern  zu 
fallen  and  für  diese  das  rechte  Caliber  zu  treffen!  Alsdann  den 
Zauber«tab  des  natürlichen  Epos  gezückt!  Das  Alles  in  Gewimmel 
und  Aufruhr  gesetzt I  Vor  den  Augen  der  Phantasie  vorbeigejagt! 
Und  die  güldenen  Pfeile  abgeachosseu!"  Wer's  dahinbringt,  dessen 
Gesang  ^rird  eben  so  sehr  den  verfeinerten  Weisen,  als  den  Be- 
wohner des  Waldes,  die  Dame  am  Putztisch,  wie  die  Tochter  der 
T^atur  hinter  dem  Spinnrocken  und  auf  der  Bleiche  entzücken. 
j,DieÄS  gei  das  rechte  uon  plus  ultra  aller  Poesie!*'  —  Der  Einwand 
der  Vera-  und  Theorienmacher,  dass  doch  nicht  alle  Gegenstände, 
ef>ndcrlieh  ,,die  Belustigungen  des  Verstandes  und  Witzes"  so  allge- 
mein verständlich  und  behaglich  sich  behandeln  Hessen,  dass  das 
Lehrgedicht,  das  Epigramm  und  Aebnliches  sich  gegen  dergleichen 
/en  auflehnen  wUrden  —  verdient  keine  Beachtung:  die 
'.  Natur  wird  durch  solcher  Leute  Theorie  nicht  geirrt.  Die 
Natur  weist  der  Poesie  das  Gebiet  der  Phantasie  und  Empfindung, 
dag^en  das  Reich  des  Verstandes  und  Witzes  der  Versmacher- 
kunat  an.  Jede  soll  sich  vornehmlich  auf  ihrem  angewiesenen 
Grund  und  Boden  herumtummeln;  dann  mögen  beide  als  verträg- 
liche Nachbarinnen  neben  einander  hausen  und  sich  selbst  hier  und 
da  freundnachbarlich  an  die  Hand  gehen :  im  Grunde  blieben  sie 
doch  von  einander  gesondert.  Jlit  den  Angelegenheiten  der  Vers- 
macherkunst hat  der  Verf.  hier  nichts  zu  schaffen;  ihm  liegt  das 
WoW  und  Wehe  der  Poesie  am  Herzen:  ihre  Producto  wünscht  er 
insgeeammt  volksmässig  zu  machen.  Zunächst  aber  hat  er  die 
lyrische  und  die  episeh-lyrische  Gattung  im  Auge.  —  Der  Zauber- 
stab de«  Epos,  der  den  Apparat  der  Phantasie  und  Emp6ndung  be- 
leben und  in  Aufruhr  setzen  soll,  ist  nur  in  wenigen  Ilflnden.  Viele 
haben  vergeblich  darnach  gesucht,  weil  sie  es  nicht  am  rechten  Orte 
ihaten.  Er  ist  aber  am  ersten  und  leichtesten  zu  finden  in  unsern 
ulten  Volksliedern,  wo  ihm  erst  seit  Kurzem  einige  echte  Sühne  der 
Natur  auf  die  Spur  gerathon  sind.  Diese  alten  Volkslieder  bieten 
dem  reifenden  Dichter  ein  sehr  wichtiges  Studium  der  natürlieli 
poetischen,  besonders  der  lyrischen  und  episch-hrischen  Kunst  dar. 
Sie  «ind  meist,  sowohl  in  Phantasie  als  Empfindung,  wahre  Aus- 
flaa»d   einheimischer  Natur.     Wie   sie   auch  in  der   Ueberlieferung 


■1 


44     V].  Vom  KVQten  Viertel  des  XVIII  JahrhtuidertB  bis  la  Goethe's  Tod- 

§  300  gelitten  haben  mögen:  wer  das  Gold  von  den  Schlacken  zu  »cheid 

weiss,  wird  wahrlich  keinen  verächtlichen  Schatz  erbeuten.   In  jener     i 
Absicht  bat  der  Verf.   (3fter  in  der  Abenddämmerung   dem  Zaube^H 
schalle  der  Balladen  und  Gassenhauer,  unter  den  Linden  des  Dorfir^^ 
auf  der  Bleiche  und   in   den  Spinnstuben  gelauscht.    Gar  herrlich 
und  durchaus  ganz  allein  lässt  sich  hieraus  der  Vortrag  der  Ballade 
und  Romanze  oder  der  lyrischen  und  episch-lyrischen  Dicbtart  er- 
lernen.   Denn    alles  Lyrische    und   Episch-Lyrische    sollte    Ballade 
oder  Volkslied   sein.     Freilich    will    die   sogenannte  höhere   Lyrik 
unter  dieser  Gattung  nicht  stehen;  allein  es  gibt  Werke  in  derselben, 
die  bei  alle  dem  sehr  volksmässig  sind,  und  die  höhere  Lyrik,  die 
nicht    fUr    das  Volk   ist,   mag  hinlaufen,   wohin   sie   will.  —  Durch 
Popularität  kann  die  Poesie  das  wieder  werden,  wozu  sie  Gott  ge- 
schaffen und  in  die  Seele  der  Auserwählten  gelegt  hat:   lebendiger     | 
Odem,  der  über  aller  Menschen  Herzen  und  Sinnen  hinweht;  Odem 
Gottes,  der  Tom  Schlaf  und  Tod  aufweckt,  die  Blinden  sehend,  die 
Taubon    hörend,    die   Lahmen    gehend    und    die   Aussätzigen    rein      ' 
macht.  —  Von  der  Muse  der  Romanze  und  Ballade  ganz  allein  mag     | 
unser  Volk  noch  einmal  die  allgemeine  Lieblingacpopüe  aller  StAnde     | 
hoffen I    Diese  Muse,   so  sehr  sie  von   manchen  herabgesetzt  wird, 
hat  das  ganze  unermessliche  Gebiet  der  Phantasie  und  Empfindung 
anter  sich;  hat  den  rasenden  Roland,  die  Feenkönigin,  Fingal  uod 
Temora,  ja   die  Ilias  und  Odyssee  gesungen.    Denn  all   diese  Ge- 
dichte waren  den  Völkern,  welchen  sie  gesungen  wurden,  nichts  als 
Balladen,    Romanzen    und    Volkslieder.     Uns    Deutschen    sind  sie 
freilich  nicht  mehr  volksmassig,    eben    weil  wir  Deutsche  sind.   — 
Wollen   unsere  Dichter  mehr  gelesen  werden,   so   müssen   sie   erst 
von  den  Gipfeln  ihrer  wolkigen  Hocbgelahrlheit  herabsteigen,  erst 
uns  ein  grosses  Naiionaigedicht  von  jener  Art  geben,  das  an   das 
Herz  des  Volks  schlage.  —  Dass  Volkspoesie  bisher  vernachlässigt, 
dass  Ballade  und  Romanze  schier  verächtlich   und  poetisches  Spi 
werk  worden ,  daran  sind  hauptsfichlicb  mit  ,jdio  nackigen  Poetc 
knabcn''  Schuld^  die  sich  einbilden,  sie  könnten  auch  wohl  Ballad 
und  Roman/.en  machen,  nnd  diese  Dichtart  gleichsam   für  das 
tische    Abc.    haiton.     In    solchen   Stücken    regt   sich    kein   Lei 
kein  Odem;    da  ist    kein   glücklicher  Wurf,    kein    kühner  Sprun 
so    wenig    der    Bilder     als    der     Empßndungen;      nirgend     etwa« 
AnfrUhrcndes,  so  wenig  für  den  Kopf  als  fürs  Herz,    Möchten  aber 
jene  Pootenknaben  nur  bedenken,  dass  Volkspoesie  eben  deswegen^ 
weil  sio  das  nun  plus  ultra  der  Kunst  ist,  die  allerschwerstc  sei 
Der  Aufsatz  schlicsst  mit  dem  Wunsche,  dass  doch  endlich  ein  deu 
scher  Porcy  aufstehen,    die  Ueberbleibsel    unserer   alten   Vol 
Ueder  sammeln  und  dabei   die  Geheimnisse  dieaer  magischen  K 


KntirickdttsgBg  d.  lat-  1773— IS32.  Herder,  Aehnlichkeit  d.  mitUern  Dichtkunst.  45 


^ 


mebr^  als  bisher  gescheheu^  aufdecken  möchte.  ;,So  eine  SammluDg  S  300 
von   einem  Kuustverständigen,   mit  Änmerkangeu   verseben  I    Was 
wollt'  ich  niobt  dafür  geben!    Zur  Nachahmung  im  CVanzen  und  ge- 
meinen Leetüre  wäre  sie  freilich  nicht;  aber  für  die  Kunst,  für  die 
einsicbtsTolle  Kunst  würde  sie  eine  reiche  Fundgrube  sein."" 

Herders  Abhandlung  empfiehlt  den  Deutschen  das  Studium  der  eng- 
li&cben  Sprache,  Poesie  und  Literatur,  welches,  da  England  im  Mittel- 
alter reeht  ein  Kern  nordischer  Poesie  und  Sprache  geworden,  und 
der  ungeheure  Schatz  angelsächsiscber  Sprache  in  England  mit  unser 
sei,  im»  sehr  nUt/lich  sein  würde!  An  äussern  Aufmunterungen  und 
Geletg^mheiten  dazu  fohtt  es  aber  bei  uns:  wir  stehen  den  Engländern 
darin  weil  nach.  Wie  viel  haben  wir  noch  am  Stamm  unserer 
eigenen  Sprache  zu  thun ,  ehe  wir  unsere  NebenschOsslinge  pflegen 
und  darauf  das  Unsere  suchen!  Wir  haben  noch  nicht«  weniger, 
,al»  eine  Geschichte  der  deutschen  Poesie  und  Sprache.  An  Vor- 
[ftrbeiten  dazu^  zumal  im  juristisch -diplomatisch -historischen  Fache, 
.liata  mcbt  gefehlt;  sie  sind  aber  alle  noch  erst  zu  nutzen  und  zu 
beleben,  l^och  ist  namentlich  nachzuweisen,  ob  und  wie  die  roman- 
tische Denkart  der  mittlem  Zeiten  überhaupt  sich  in  unserer  alten 
Pocaie  irgendwie  original  oder  volkathömlich  modificiert  zeigt.  Da- 
bei wtlrden  auch  die  gemeinen  Volkssagen,  Märchen  und  Mytho- 
logie in  Betracht  zu  ziehen  sein:  „sie  sind  gewissermassen  Besultat 
dea  Volksglaubens,  seiner  sinnlichen  Anschauung,  Kräfte  und  Triebe, 
wo  man  träumt,  weil  man  nicht  weiss,  glaubt,  weil  man  nicht  sieht, 
und  mit  der  ganzen,  unzertbeilten  und  ungebildeten  Seele  wirket; 
altio  ein  grosser  Gegenstand  fUr  den  Geschichtscbreiber  der  Mensch- 
heit, den  Poeten  und  Poetiker  und  Philosophen.  —  Wie  weiter 
wftren  wir,  wenn  wir  die  Volksmeinungen  und  Sagen  auch  so  ge- 
braucht hätten,  wie  die  ßritten,  und  unsere  Poesie  so  ganz  darauf 


44  t  VgL  dazu  die  Vorreden  zur  ersten  und  zur  zweiten  Ausgabe  vou  Bürgers 
Gedichten  iGöttingen  I77S  und  17VJ.  8.;  beide  bei  Bohte  S.  323  ff».  In  der 
ersten  erklärt  er:  er  glaabe  featiglich  an  die  Wahrheit  des  Artikels,  welcher  die 
AchM  Mi,  am  die  sich  seine  ganze  Poetik  drehe:  dass  alle  darstellende  Bildnerei 
Tolksniftsäg  sein  könne  and  solle :  das  sei  das  Siegel  ihrer  VoUkommenheit ,  und 
die  einzige  wahre  Poesie  sei  die  cigeutlicbo  Volkspoesie»  die  er  über  alles  andere 
poetische  Machwerk  erbebe.  In  der  andern  bekennt  er,  dass  er  sich  In  jener 
rttcksichtlich  dessen,  was  er  von  Volkspoesie  behauptet,  ein  wenig  abenteuerlicb 
aoigedrtlckt  habe;  er  wolle  sich  hier  also  deutlicher  erklaren.  Unter  dem  Geist 
der  PopulariUt  in  Gedichten  verstehe  er  den  Geitft  der  AnscbauUchkeit  und  des 
tcbenji  Tür  unser  ganzes  gebildetes  Volk,  —  Volk !  nicht  Pöbel !  In  diesem  Sinne 
gvlaaiit,  sei  Popularität  eines  poetischen  Werks  das  Siegel  der  Vollkommenheit. 
Wer  diesen  Satz  sowohl  in  der  Theorie,  als  in  der  Auslobung  verläugne.  der  miss- 
kkU  dM  ganze  Geschäft  der  Poesie  und  arbeite  ihrem  wahren  Endsweck  ent- 

(CgBL 


mm 


46     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  JaiirfaoxidertB  bie  zu  Goetbc's  Tod. 

I  ZOO  gebaut  wäre^    als  dort  Cbaucer,   Speneer,  Sfaakspeare  auf  Glaub 
des  Volks  baueten,  daber  scbufen  und  daber  nabmen!  —  Mit  welcher 
Begierde  babeu  die  Eugluuder  ihre  alteu  Gesäuge  und  Melodien  go- 
iftammelt,  {gedruckt  und  wiedorgedrucktj   genutzt  und  gelesen!    Aon 
Samenkörnern  der  Art  ist  der  Britten  beste  lyrische,   dramatische, 
mythifiche,   epische  Dichtkunst  erwachsen;   und  wir  —  wir  üb 
füllten,   satten,    classiscbeu  Deutschen    —   wir?  —   Man    UuMte 
Deutschland  nur  Lieder  drucken,  wie  sie  Ramsay**,  Percy  u.  A* 
zum  Theil  haben  drucken  lassen,  und  höre,  was  unsere  gescbmac 
vollen,  clasaiscbeu  Kuuslrichter  sagen!'*  —  Wie  wenig  geneigt 
Deutscheu  seien,  sich  nicht  die  Mdhe  rcrdriesseu  zu  lassen,  die 
allerdings  koste,  den  poetischen  Schatz  unseres  Alterthums  zu  heben 
und  daraus  deu  recliten  Nutzen  zu  ziehen,   zeigt  Herder  an   einei 
Beispiele:  an  der  geringen  Wirkung,  welche  die  von  den  Sehwme 
herausgegebenen  Lieder  aus  dem  sogenannten  „manessischen  Codex 
gemacht    haben.    Denn   diese  Gedichte  seien  nur  etwa  durch   den 
einzigen  Gleim  in  Nachbildung,  wenig  andere  durch  Ueboractzu 
recht  unter  die  Nation  gekommen ;  der  Schatz  selbst  liege  da,  we 
gekannt,  fast  ungenutzt,  fast  angelesen.  — „Aus  altern  Zeiten  hab' 
wir  also  durchaus  keine  lebende  Dichterei,    auf  der  unsere   neaere 
Dichtkunst,    wie   Spross    auf   dem  Stamm  der  Nation,    gewnchs 
wäre.  —  Bei  uns  wAchst  alle«  a  priori,  unsere  Dichtkunst  und  cl 
sische    Bildung    ist    vom   Himmel   geregnet.  —   Und    doch    bleib 
immer  und  ewig,  das«  der  Theil  von  Literatur,    der  sich  aufs  Vu 
bezieht,  volksmässig  sein  muss,  oder  er  ist  classiscbe  LuftblaM 
doch  bleibts  immer  und  ewig,    dass,    wenn   wir  kein  Volk  haben, 
wir  kein  Publicum,    keine  Nation,    keine  Sprache   und  Dichtkunst 
haben,  die  unser  sei,  die  in  uns  lebe  und  wirke.  —  Unsere  classi  Ach 
Literatur  ist  Paradiesvogel,  so  bunt,  so  artig,  ganz  Flug,  ganz  Höbe 
und  —   ohne  Fuss  auf  die  deutsche  Erde".  —  lu  dem  letiteu  The; 
seines  Aufsatzes  legt  Herder  es  den  Deutschen  nochmals  dringe 
ans  Herz,  sich  um  die  Lieder  und  Gesilnge  ihrer  Vorfahren  mehr  a 
zeither  zu  kümmcrm,  sie  aufzusuchen,  sie  sich  anzueignen,  um 
zu  lernen,   waa  unsere  Nation  sei,   und  was  sie  nicht  sei,   wie  üt 
dachte  und  ftlhlte,  oder  wie  sie  denke  und  fühle.    Damit   und  mit 
den  darauf  folgenden  Andeutungen   über  den  reichen  Gewinn,    der 
sich  für  die  Kenntniss  fremder  Völker  aus  deren  Gesängen   ziehen 
lasse,  war  zum  Voraus  der  Gesichtspunkt  bezeichnet,  unter  welchem 
Herder  seine  schon  lange  vorbereitete,  aber  erst  im  Laufe  der  beiden 
n&chsteu  Jahre  herausgegebene  Sammlung  von  ,, Volksliedern"*   su 


^ 


45)  Teft-Tftble  mkceU&njr;  vgl  Bonterwek  S  213  f.        46»  L«ip^  17TK 
l  Bde.   8. ;   sp&tfr  in  den  Werken  wurde  der  Ttt«l  geiodert  in  ..Stimmea 


■ 


EDtwickehiugsgang  der  Literatur.     1773—1^32.    Götz,  Werliier,  Leaore.    47 

denen  auch  die  unter  dem  Titel  „Lieder  der  Liebe,  die  ältesten  und  §  300 
[<cb«.'.n*ten  aus  dem  Morgenlande"  '  lierausgegebeue  Beiirbeitung  des 
,, Lohen  Liedes'^  gerechnet  werden  darf,  aufgefasst  und  benutzt  wissen 
vroLlte. 

i  30L 

Die  beiden  Jahre,  in  denen  die  Blütter  von  deutscher  Art  und 
Knust  und  die  deutsche  Gelehrtenrepnblik  erschienen^  brachten  auch 
gleich  im  Gebiet  der  dichterischen  Productiou  drei  Haupt-  und 
Meisterwerke,  die,  ganz  von  dem  Geist  der  dort  vorgetragenen 
Theorien  eingegeben,  durch  die  Wirkung,  die  sie  machten,  deren 
Richtigkeit  auf  das  vollkommenste  zu  bestätigen  schienen  und  darum 
auch  den  lange  vorbereiteten  Umschwung  in  dem  Bildungsgänge 
unserer  schuuen  Literatur  wie  mit  einem  Schlage  entschieden: 
Goetbe's  Götz  von  Berlichingen  *,  seine  Leiden  des  jungen 
^  'TS*    und    Bürgers    Lenore^     An    vielen  Orten  tauchten 

a    oder    binnen  Kurzem  junge  Talente   auf,    die,    von   einer 
ren  Productionslust  getrieben,  sieb  im  Drama  und  im  Roman,  in 
Tin  l>Tiicben  und   in  episch-lyrischen  Stücken,   in  Idyllen  und  in 


in  Ltccltrra.     Gesammfit,   gronlnet,   zum  Theil   übersetzt  durch  J,  O.  r 
.    Sie  sollte  orspriiüglich  unter  Boie's  Namen  erscheinen;   vgl.  WeinbolU 
L^l  f.    VgL  noch  B.  Suphun^  Herders  YolksHedcr  und  J.  v.  MuUcrsMStiinmcD 
ler  VnUc«r  in  Liedern",  in  der  Zeitscbrift  f.  deiitaobe  Philologie  3,  45&— 17&. 
7)  Leipzig  177S.  S. 

$301-  tl  ,,Götz  von  BorUchingen  mit  der  eisernen  Hand.  Ein  Schauspiel". 
73.  9.  idte  folgenden  Auflagen ,  so  wie  die  Drucke  aller  goetheschen  Werke 
id  am  vollständigäteo  aufgeführt  in  [Htrzels]  „Verzcichniss  einer  Ooethe-Biblio- 
lek'v  Leipzig  IMS.  <.\:  vgl  §  2M»,  35,  wo  aber  die  aus  ..Wahrheit  und  l>ich- 
cntnomiBene  Angabe  der  Zeit,  in '  welcher  GOtz  von  Berlichiogea  zufrbt 
^BlfedefgeMkrioben  wurde,  unrichtig  ist.  Bicss  geschah  nämlich  nach  den  Briefen 
an  Hahaaui  im  Morgenblatt  von  I1S3S,  N  '1^  schon  zu  Ende  des  J.  i:7t  und  zu 
du  folg^odea,  also  vor  des  Oicliters  Al»gang  von  Frankfurt  nach  Wetzlar 
Libuu  noutzer,  Frau6iibilder  etc,  S.  173,  wo  aber  im  Text  ITTii  und  in  der 
Uli  zu  Andern  sind  in  1T71  und  1772).  2\  ,.Uie  Leiden  des  jungen 

Leipzig  1771.    S. ;  vgl.  Bd.  III,  Hl.  3»  Sie  erschien  zuerst  im 

Musenainianach  fftr  1774.  Gedichtet  wurde  die  Ballade  im  Sommer 
id  zu  Anfang  des  Septbr.  druckferlig  im  Boie  abgebaudt.  Ueber  ihr  all- 
Entstebcn  und  die  anregenden  Kinöasse,  die  Bürger  bei  der  Abfassmig 
iformung  einzelner  Theüc  von  Horders  Aufsätzen  in  den  UUttem  von  deut- 
td  Kunst,  so  wie  von  Goethe's  Götz  empficng,  vgl.  den  §  aoo.  Anm.  3:i  an- 
teo  BriE-fwechsel  Biirgere  mit  Boie;  über  die  Bchnelle  Verbreitung  der  Bal- 
td  den  KntJjaBiaraius,  mit  dem  sie  von  Gebildeten  und  Ungebüdetf^u  auf- 
gCBOmiuon  wurde,  Bürgers  Leben  von  AJtbof  «in  Heinhardti  Ausgabe  4,  37  If ,  bei 
Bdttc  S.  i3fi);  dA£u  auch  Go«the  4$,  41  f. 


48    TL  Ti»  Ev 


TIflrtd  dtt  Xnn  JaJiAaBteti  bb  nt  Gotüic'6  ToiJ 


f  901  aadem  poetitcben  Mittdarten  Tereuehten.    Sich,  in  der  ereten  Zeit 
woüpleuy  •cboD  b  ihrem  Streben  innerlicb  renrandt  fablend^  weil 
aüeMkni  Hflrden  und  zu  Kiojistockfi  Theorien  bekaanteo,  alle  sich  in 
der  Terebnm^  dee  letztem  vereinigten^  bo  wie  in  der  Bewunderung 
von  Goethes  DichtergrOsse  nnd  in  dem  Drange  es  ihm  aacbiuthun  in 
dem  geniale  Auflehnen  gegen  allen  Zwang,  alle  Unnatur  und  alles 
aoeliodisehe  Weeen  in  der  Poesie:    hatten   nele   auch    noch  unter, 
einander  mehr  oder  minder   nahe   persönliche  Beziehungen,    rmi 
niMfirdrm  fanden  die  meisten  wenigstens   fQr  ihre  kleinen  Puesien' 
eioeo   fluaiem   Einiguogspunkt    in    dem   Guttinger   Musenalmanach., 
So  konnte  schon   gegen  Code   des  Jahres    1774   von  einer  neuei 
weltrcraweigten    Dichterschule    die   Rede    sein.     Sie    wird    in    der'' 
„Fortsetzung  der  kritischen  Nachrichten  vom  Zustande  des  deutschen 
PamMses"'  mit  unter  der  literarischen  „Partei  begriffen,  die,  „ciw 
der  neuesten   und  zahlreichsten"    in  Deutschland,    ,.mit    einer   (zu)"^ 
feurigen  Phantasie  eine  grosse  Neigung  zum  Philosophieren  und  eine 
zügellose  Neucrungssucht  verbinde."    Ihr  Ursprung  sei  auf  Hamani 
zurückfahren:  er  und  Herder  seien  auch  ihre  Häupter j  sie  sei  stol 
darauf,  jetzt  Klopstock  unter  die  Ihrigen  zählen  zu  können;  ihr  ge- 
liöre    auch   Goethe    an,    „unter    allen  Göttern    und  Götterkindem, 
welche    in    Herders   Himmel    Über    die   Stämme    deutscher   Natioi 
herrsohen'*,  am  begierigsten  gelesen  und  von  dem   meisten  Einflui 
auf  den  Mode^eschmack    der  Zeit.     Anbetung  Sbakspeare'a,   Ungi 
bundeiihoit,  Verachtung  des  Zwanges,  doa  Wohlstand,  Gewobnbeii 
Regel  auflegen,   üppige  Phantasie,  seien  sympathetische  Bande  ge- 
nug, um  ihn   mit  Herder  und  seinen  Freunden  zu   verkuUpfen  et 
Zu  dieser  Schule  gehörten   gleich   Anfangs  oder  konnten   noch   voi 
Ablauf  der  Sechziger  gerechnet  werden  mit  Herder,  Goethe,  Merck' 


4»  t>ie»«1b«  ntfht  im  deuUcben  Merkur  von  1774.  4,  itil  tf  uud  rührt  n 
JtO*n  Chr.  II.  Sclitnid  ({{ob.  1740  2a  Kislchen.  studierte  in  Leipzig,  wurde  UM' 
SU  «liuT  iinlMinoldclcn  Prnfensur  in  dt*r  juristischen  KaciihiU  nach  Erfurt  benifen, 
WQ  rr  mit  WieUitd.  itiinlcl  und  Mruttf)  in  Verbindung  kam,  gicug  zwei  Jshr« 
•pattf  sU  Profrasor  der  llcrnlumkrii  und  Dichtkunst  nach  GiesscD,  erhielt  den 
Tlt«l  tiw  Reffinunffiratli«  und  dir  Obcrauftiicht  Ober  die  Universitätsbibliothek 
und  ftlttfh  iMfO)  her,  den  ich  üben  (  2'J'>,  Anm.  36  crwuhut  habe.  5)  Merck  batt« 
frriUch  weit  mehr  inncrn  Beruf  eur  Kritik  als  zum  dichterischen  Schaffen;  allein 
».er  fnhlic",  wie  uoi  Üoetbe  *i6,  06  f.  berichtet.  ,.einen  gewissen  dUettaatiackea 
^ruductioiuilrieb.  dem  er  um  bo  mehr  nacbhieng,  als  er  sich  in  Prosa  und  Vi 
«Kkcklicb  ausdrückte  und  unter  den  ichönen  Oeiitem  jener  Zdi  ein  UoUe  t\ 
•ptoloo  wohl  wagcMi  durfte'*.  Ooethe  b^saas  noch  in  seinem  Alter  poeüsrhe  E\}U 
Mrfa  ton  Ihm,  di^  narh  «einem  /eugoias  von  ungemeiner  Kühnheit.  I>erbhett 
ffwifUachor  (»alln  waren  und  »ich  durch  originelle  Ansichten  von  Penoneo  oad' 
tssliin  bOehlleh  autaeiohnoton.  Kr  glaubt«  sie  aber  wegen  der  vcrletaeodeBKrsf^ 
irwidl  «U  gfltchri*b«n  waren,  nicht  pubUderea  zu  dürfen,  und  woist«  auch  üi( 


Knlnickcluogsgang  der  Literatur.     nT3— 1932.    Lenz. 


49 


und  J.  G.  Scblosser"  aus  dem  Kreise  ihrer  nJlbern  Bekannten  und  S  301 
Freunde,  Reiubold  Lenz,  HcinricU  Leopol  d  Wagu er,  Fried- 
rieb Maximilian  Kiinger^  Friedrieli  Heinrich  Jacobi  und 
Johann  Heinrich  Jung.  Jacob  Michael  Heinrich  Lenz', 
1750  za  Sesswigen  in  Liefland  geboren.,  kam  im  neunten  Jahre  nach 
Doqiat,  wohin  sein  Vater  als  Prediger  berufen  war,  und  zeigte  früh 
■Neig:ung  znr  Dichtkunst.  I76S  bezog  er  die  Universität  Königs- 
berg, wo  er  bereits  im  folgenden  Jahre  ein  hexametrisches  Gedicht 


cminAl,  ob  er  sie  lieber  vertilgen,  oder  ab  auffalleode  Docamctite  des  geheimen 
Ziriespalts  in  unserer  Literatur  der  Nachwelt  aufbewahren  sollte.  (Vgl.  dazu 
Erkermauns  Geq)rache  mit  Goethe  2,  fiO;  wahrscheinlich  gehörte  nach  den  Briefen 
&n  und  von  Merck  lS;i*i,  S.  5S  zu  jenen  Episteln  auch  die  daselbst  S.  59  ff.  ge- 
druckte „Mttiint.^e  eines  Receusenten**;  vgl.  Riemer,  Mitlheiluugen  über  Goethe 
2,  22  f.  mul  Lenzena  gesammelte  Schriften  S.  261  f).  Die  unschuldige  Dar- 
ttelluugslagt.  welche  aus  der  Freude  an  dem  Vorbild  und  dem  Xachgebildeten 
enlsprinfft,  vormisstc  Merck  in  sich,  und  er  sprach  es  oft  gegen  Goethe  aus,  dass 
er  ihn  um  diese  Gäbe  beneide.  Wenn  er  indess  auch  frQhcrhiu  in  allen  seinen 
Ärbäten  remeinend  und  zerötöreud  zu  Werke  gehen  mochte,  wie  Goethe  be- 
bauiit't  ^->  zeigte  er  doch  nachher  durch  aeine  Charakterbilder  und  Schilderungen 
ToiJ  in  Krzihlungs-  oder  Briefform,  beaonderö  durch  seine  vortrefiliehen 

„Gt 1.  ..  lies  flerm  Oheim"  und  „Herrn  Oheims  des  Jüngern"  (mit  den  übrigen 

hiwher  fallenden  Schriften  zuerst  im  d.  Merkur  von  17TS — Sy  gedruckt  und  daran« 
In  J.  H.  Mercka  ausgewählte  Schriften  etc.  herauagg.  vonStahr,  S.  121  -  272  auf- 
(^Qoxniaen),  dass  Ihm  ein  positives  Darstellungstaleut  in  der  schönen  Prosa  keincs- 
wei$9  abgleng.  Von  seinen  in  Versen  abgefassteu  Sachen  sind,  so  viel  mir  bekannt, 
nur  gedmckt,  ausser  jener  Maiim^e  und  der  §  259,  Anm.  7H  angeführten  „Aus- 
wahl auÄ  seinen  Fabeln  und  Erzählungen"  (sie  reichen  wenigstens  bis  in  das  J. 
ITrti)  zarück;  vgl.  Briefe  aus  dem  Freundeskreise  von  Goethe  S.  17  und  dazu 
Briefe  au  und  von  Merck  Ih3S,  S.  21.  Fünf  von  seinen  Fabeln  und  zwar  drei 
bUber  unbekannte,  wurden  im  Güttinger  Musen-Almanach  für  1770  abgedruckt; 
fgl.  Weimar  Jahrbuch  .t,  20  f.,  Anm.  Sie  smd  wieder  abgedruckt  mit  einem 
Vorwort  im  Weimar.  Jahrb.  3,  192—195),  mehrere  lyrische  und  andere  kleine 
QedJebte  aus  demJ.  177)  und  den  niichätfolgenden  (im  Göttinger  Musen- Almanacb; 
im  MjjrgunbUtt  etc.;  vgl.  Briefe  an  Mürck  Isi5,  S.  17;  114;  Briefe  aus  dem 
Freundes  kreise  von  Goethe  S.  27,  Note  2;  Briefe  au  und  von  Merck  IS3h,  S.  14  f.)» 
die  ..Rhapsodie  von  Johann  Heinrich  Reimharl  dem  Jiing«^rn"  1773.  H.  und  „Paetua 
luid  Arria,  eine  KQustlenomanze".  Freistadt  am  Bodensee  1775.  S.  (zur  Werther- 
Litcr»tar  gehörig).  Ob  auch  die  Elegie  „Lotto  bei  Wertbers  Grabe"  (d.  Merkur 
I77Ä,  'i.  tfl3  f.  und  mit  ..Pactiu  und  Arria**  zusammen  gedruckt  Leipzig  und 
1775,  8.,  dann  auch  beide  Stl^cke  mit  jener  ,, Rhapsodie*  und  mit 
^iBoist  in  dramatischer  Form  abgcfassten  Sachen  von  Goethe,  Wagner  und 
i«Bi  fm  „Rheinischen  Most*',  1.  Heft  1775.  S.,  worüber  zu  vergleichen  Nicolai'» 
Aatei^ee  im  Anbang  zum  2.V — 3ii.  Bde.  der  allgemeinen  d.  Bibliothek  S.  754)  von 
Merck  iät-  wie  K.  Wa^'ner  (Briefe  an  Merck  XSib,  S.  XSXIV)  annimmt,  ist  nicht 
au-«;^omacht:  vgl.  Ddnlzor.  Studien  zu  Goetbe's  Werken  (wo  S.  249  ff  dies  Stück 
und  ..PttHus  nud  Arria"  neu  gedruckt  sind)  S.  194.  6)  Alwr  eigentlich  bloss 

aU  Gesinnungsgenosse  überhaupt  und  als  Theoretiker;   denn  für  den  Druck  ge- 
lücbtet  h4t  er  nur,  soviel  ich  weiss,  einige  Kleinigkeiten.  7)  Vgl.  Tiecks  Ein- 

XotMniain.   OruodrU)      r>.   A.*4fl.     IV.  4 


50    VI.  Vom  zweiten  Viert«!  des  XVIU  Jalirhuuderts  bis  t\x  Gocthc'i  ToU 

§  3üi  in  sechs  BUcheru,  „die  Landplagen"  drucken  liea«'.    Im  Jahre  1771' 
begleitete    er    als    Hofmeister    zwei   junge    kurläudische    Edelleute 
Über  Berlin*  nach  Strassburg.     Er  gicng  hier  meistens  mit  Offizierei 
der  Garnison  um,  kam  aber  auch  mit  Goethe  und  dessen  Freundei 
in  Verbindung  '^    Goethe's  Genie  weckt«  eigentlich  erst  sein  Ta1eutj| 
das  sich  nun  schnell   entwickelte,  aber  ei^st   nach   dem  Erscheinen 
des  O0^z  und  des  Werther  sich  in  grOssera.  namentlich  dj-aiuatischca, 
Productionen,   fruchtbar  zeigte.      1772   zog  er  in  Gesellsebnft  eiu< 
jungen  deutschen  Edelmann«  zuerst  nach  Fort- Louis,   von   wo  ai 
er  ein  leidenschaftliches  Verhältniss  jnit  Friederike  Brion  in  Sesen^ 
heim^  anzukntlpfen  suchte,   gieng  dann  nach  Landau  und  ron  da 
wieder  nach  Strassburg  zurück,   wo  er  bis  in  den  Muri  177ö  blieb. 
Kurz  vor  seiner  Abreise  nach   Weimar,   wo  er  zu   Anfang  Ai>riUj 
eintraf|  nuiss  jenes  Schreiben  '^  abgefasst  sein,  das  von  einem  dure 
äussere  Umstände  und  Gemüthsvei^assung  damals  schon  sehr  heral 
gestimmten    Bewusstsein   seines    Dichterberufs    zeugt.     „Meine   Gi 
mAhlde'^T  schrieb  er  au  Merck,  „sind  alle  noch  ohne  Stil,  sehr  wiltll 
und  nachlässig  auf  einander  gekleckt,   haben  bisher  nur  durch  daaj 
Auge    meiner  Freunde    gewonnen.     Mir    fehlt    zimi   Dichter  MosM 
und  warme  Lust  und  Glückseligkeit  des  Herzens,   das  bei   mir  tii 
auf  den   kalten  Nesseln  meines  Schicksals  halb  im  Schlamm   ver- 
sunken liegt  und  sich  nur  mit  Verzweiäung  emporarbeiten  kann' 


Icitnng  zu  den  gcf^aromelten  Schriften  von  .1.  M.  R.  Lenz  l ,  S.  CXIIT  ff. ;  aack 
Ticck  bei  Rud.  Köpke  in  Ticcks  L«bea  2,  lOt)  ff.;  W.  t.  Maitzahn  in  d«o 
BUtt«m  f.  Utcrar.  UnttTbaltung  ls4^,  8.  iMS  ff.;  Düntzcr,  FraiicnUildcr  aas 
(roethc's  Jogendzcit.  Studien  Kum  Leben  des  Dichters.  Stuttgart  tHS2.  >. 
8.  t;n  -tdi;  5SU  ff.;  I>orer-h:gluff,  J.  M.  K.  Lena  und  seine  Schriften.  Nochtrige 
in  dor  Aiifignbo  von  T^.  Ticck  und  doroit  Ergänzungen.  Baden  IS57  u 
„Der  Dichter  J.  M.  R.  Lenz",  im  Mon^enblatt  IS5**,  Nr.  37  f.,  wahrst 
von  Dünüeeri;  O.Gruppe,  R.Lenz.  Leben  und  Werke  mit  KrpAnrunmi  derTipet-^ 
sehen  Ausgabe.  Berlin  I'^OI.  '♦. :  Hettner.  riilder  ans  der  deutschen  stnrm-  Mt*d 
l>rangperiode.  K.  Leux.  In  Westernianus  illnstrirUin  MonaUheflen.  Jai 
S.  ;i'*ö — :n*I.  Ucber  das  Verbaltniss  zwisehcn  Lon«  und  Boie  v«l.  v 
n   Chr.  rtoie  S    l'.)2  ff.  Sl  Ein  Drama,  .,dc'r  verwundete  Bf*uti>iaiu'*.  das  er 

zwei  oder  drei  Jahre  früher  geschrieben  h&bcn  soll,  blieb  ungt'druekt  und  ist  erst, 
1845  TU  Berlin  von  K.  LBlum  ans  der  Originalbandächrift  herausgegebiti  worden. 

9)  Vgl-  Düntzor,  Fraucubilder  aus  Godhe^s  Jugendzeit  S.  ;(5  f.  die  Note. 

10)  VgL  Goethe  26,  76;  fio.  2in  f.;  2ß,  247  ff.  (die  letite  Stelle  enthalt  eto«^ 
TiMtrefflicJjo  Charaktehslik  Lenxenßl.  und  Jungs  Lobonsgesthicbte  I,  HUI 
II)  Vijl.  B<1.  IIL  i:n  und  A.  Slöber.  der  Dichter  Lenz  und  FriiHlerike  von  S«arn- 
heitn.  Aus  Briefen  nnd  gletchüciligeu  Quollen  nebst  Gedichten  und  Andorni  von 
Leu/  und  Uoethr.    Basel  ISI2.   S.    «Auch  in  StMiers  AUatia  1^53,  S.  «4  ff( 

Vh  Kiogerßckt   mit   falscher  Jahreszahl   in  die  Briefe  an   und  von  Merck  \y^\ 
^   ^*1   ff-  Li)  Vgl   auch  eine  Aeusserung  F.  H.  Jaeobi's  über  dm  auA  doa 

Endtf  dc8  J.  1»iä  In  dessen  auaerJescnem  Briefwechsel  1,  232. 


Entwickeliingsgaag  der  Literatur     177,'^ — !*t32.    Lenz.    W^iier. 


51 


Wcim:ir   blieb   er  vou  Anfang  iles  Aprils  bis  in  den  Spätherbst  §  301 
Jabres  1776,  wo  er  von  Goethe  und  auch  von  Wieland,  der  ihm 
leine  frttbcrn  Angriffe  nicht   nachtrug,  und  dessen  enthusiastiscliei' 
'erehrer  er  jetzt   geworden    war",    viel  Freundliches    erfuhr  und, 
mgeaebtet  seiner  Sonderharkeiteu  und  „dumnjen  Aflenstreiche'*,  wie 
in  rerzogonee  Kind  in  aller  Weise  geschont  und  getragen  wurde, 
n%  er  sich  in  meinem  Verhalten   so  weit  vergass,    dass   er  Weimar 
verlassen  mu8ste'\     Im  Jahre  1777   befand   er  Hieb   ivieder  in  den 
Rheingegenden,  besuchte  die  Schweiz  und  hielt  sich  abwechselnd  za 
Ztirich  und  anderwärts  auf.  Schon  damals  scheint  er  einen  Aufall  vna 
WahuBiun  gehabt  zu  haben,  der  sich  im  Hause  des  Pfarrers  Oberliu 
tu   Waldbach   im  Elsass  seit  Anfang   177S    mehrmals  wiederholte. 
Er  wurde  nun  zunächst  nach  Strassburg  und  vou  da  nach  Emmeu- 
iingeu  7,u  J.  G.  Schlosser  gebracht,  iu  dessen  Hause  sein  Wahnsinn 
[miu  vollen  Ausbruch  kam.     Nachdem  sich  sein  Zustand  wieder  ge- 
bewert  hatte,    tbat   ihn  Schlosser   zu   einem  Schuhmacher,  dessen 
iHandwerk  er  lernen  sidlte.     1779  holte   ihn   sein   TiUerer  Bnider  in 
die  Heimath.     In  Petersburg  bewarb   er  sich  um  eine  Professur  der 
Tactik,  in  Kiga  um  die  Rectorstelle,  doch   beidemal  ohne  Erfolg". 
2Cnrbdem  die  atigemeine  deutsche  Bibliothek   mebimals  seineu  Tod 
'_'t  und  diese  Anzeige  immer  widerrufen  hatte,    brachte  sie'" 
...'..A  aus   die  Nachricht,   Lenz    lebe   in  St.  Petersburg '\    Von 
[Feteralmr^   gitüg   er    nach   Moskau,    wo    er   iu    tiefem  innem   und 
ifttwaero  Elende  am   21.   Mai    1792   starb'^     Heinrich    Leopold 
Wagner,  geboren    1747   zu  Strassburg,  gehörte  dort  und  nachher 
[in  Frankfurt,   wo  er  wenigstens  schon   zu  Anfang  des  Jahres    1775 
in  iDussto  und  später  unter  die  Zahl  der  Advocateu  aufgenommen 


14)  Er  ist  doch  dieser  Lenz,  auf  den  die  von  Weinbold  a   a.  0.  S.  15"  an- 
fftKOfgeob  Stelle  aus  eiucui  Briefe  Boic's  sich  bezieht.    Dieser  schrieb  nilmlicb  am 
p.  1776  an  Bürger:    „Ich  sinne  recht  auf  eine  Gelegenheit,  Wielanden  im 
0«rechtigkeit   [in   gutem  Sinne]  Triderfahren  zu   lassen.    Im   December 
doo  Epistel  vou  Lenz:   „ßpisCcl  eines  Einsiedlers  an  W'ieland"  (d.  MuseuiD 
S.  umi — n02|  au   ihn,   die   es  schon  zum  Thoil  ihut".    Boie  bezcicbnet 
■        '  |»isiel   als  einen  reuieren  Nachball   der  Wolken  von  Lenz.    Kr 
'1  in  seiner  Weimarer  Zeit  und  Hess  sie,  ausser  im  d.  Museum. 
liitübi  s  Iris  (VII)  drucken.  15»  Vgl.  F.  II.  Jacobi's  auserlesenf-n 

lei  I,  242:  Briefe  nn  und  von  Merck  1<;:<h.  S.  «H;  «h  ;  Briefe  au  Merck 
91  — 9y  <liber  den  Eindruck,  den  er  in  Weimar  hinterlassen  halte,   anch 
-^    t*'"  nad   in  der   andern  Sammlung  S.  07).   und   Riemer,    Mittheilungen   ttber 
16)  Hettner  a.  a.  0.  S.  'Mn.    In    den  Briefen  an   und  von 
^.   171;   \^1  i.  und  in  der  Sammlung  von  is:i6.  S.  190  steht,  dass  er 
itfilcRÄor  geworden  sei.  17»  Bd.  41,  i,  MVL  IS)  Vgl.  dazu  die  Briefe 

M  .Vcrclc  IS35,   S   2*r..  !9>  Vgl.  InteiligOnz-Blatt  der  Allgem   Litcratur- 

Ztüabü  IVjt,  Nr.  m. 

r 


52     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVITI  Jiüirhundßris  hia  tu  Goctbe's  Tod. 

I  301  wurde*",   zu  den   Kreisen,    die   sich   um   Goethe   an    beiden   Orten 
•  bildeten,   und  starb  nach    17S3''.    Ausser   der  Farce  „Prometheus» 
Deukalion  und  seine  Reccnsenten",  für  deren  Verfasser  ihn  wenigste! 
Goethe  früher  and  sptiter  erklärt  haf,   ist  von  seinen  Dichtungcal 
am  meisten  bekannt  geworden  das  Trauerspiel  „die  Kindennörderia''",j 
wozu   er   den  Stoff  Gocthe's  Mittheiinngen   über   seine  Absicht  mll 
Faust  und  besonders  tlber  die  Katastrophe  von  Gretchen  entnahm' 
Friedrich  Maximilian  Klinger"   geboren  zu  Frankfurt  a.  ÄL^ 
1752*    verlor  frUh  den  Vater,   der  die  Seinigen  in  sehr  dürftigen 
Umständen  zurückliess.    Aber  durch  rastlose  Thätigkeit  vermochte 
die  wackere  und  veretäudige  Mutter  sich   und  ihren    drei  Kindern 
ohne  fremde  Unterstützung  den  Unterhalt  zu   verschaffen.     Als  der 
Knabe  zehn  bis  zwölf  Jahre  alt  war,  lernte  ihn  ein  Gymnasiallehrer 
in  Frankfurt  kennen,  dem   sein  vortheilhuftes  Aeussere  aufgefallen 
war;    durch   seine  Vennittelung   wurde    er   in    der   Folge   als  Frei- 
schüler in  das  Gymnasium  aufgenommen.    Bei  seinen  vortrefflichen 
Anlagen    und    einem  musterhaften  Fleisse  machte   er   schnelle  und 
bedeutende   Fortschritte   in    den   Schuhvissenschaftcn,    besonders    in 
den  Sprachstudien:   neben   den   alten   ClaBsikcrn  beschäftigten   ihn 
schon  damals  sehr  die  besten  englischen  und  französischen  Autoren, 
unter  denen  Shakspeare  und  Rousseau  seine  Lieblinge  waren  und 
(vornehmlich  der  letztere  durch  seinen  Emil)^  den  meisten  Einfluaa 
auf  seine  spätere  schriftstellerische  Thätigkeit  hatten.     Bald  war 
im  Stande ,    durch    das,    was    er   sieh    durch   Privatunterricht   um 
anderweitig  erwarb,  seine  Mutter  zu  unterstutzen.    So  hatte  er  schoi 
von  früher  Jugend   an   „alles^    was"   zu   der  Zeit,    da  ihn  Uocthi 
kennen  lernte,  „an  ihm  war,  sich  selbst  verschafft  und  geschaffen.* 
Wenn  dadurch  in  ihm  der  Grund  zu  einer  stolzen  Unabbängigkei 


20)  Düntzor,  FraupnMIdcr  eic.  S.  221,  21»  Oödeke'ß  Gruudrias  S.  t}tih. 

22t  Vul.  in  diesem  §  Anuj.  13I.  23»  So  lautete  der  Titel  in  iler  ersten, 

Gestall.  Leipzig  IT7G.   v  24)  Vgl.  Goethe  26,  2ö3  f.  und  über  dip  ümarbi 

tungcn,  die  daa  Stück  zuerst,  um  es  bühDeugcrecht  xu  m&chen.  voa  K^  Li 
daDD  von  dem  Verf.  selbst  erfuhr.  Lesaings  b.  Schriften  13,  5S0;  12.  4SI  und  di 
ftllffcmeiDC  d.  Bibliothek  40,  2,  484  f.  üeber  Andere  von  ihm  vcrf&sste  and 
Gudena  chronologischcD  Tabellen  zur  (xeschichte  der  d.  Sprache  und  Nstioi 
Literatur  3,  l'A  verzeichnete  Sachoii  idramatischo.  Ensrihlungfu  in  Versen 
rlucn  uDvoUeudet  gebliebenen  Roman)  vgl.  allgcm.  deutsche  liibtioUiek  27,  %  4991 
32,  2,  476;  30,  t,  252;  255  und  OiTvinns  r.  535  iwo  aber  vergessen  zu  eel 
»cbcint,  d»)!fi  FatiBts  Famulus  schon  in  dem  alten  VoUt&roman  und  darnach  au< 
bn  r  ■  1  Wagner  beissl).  2ä)  Vgl.  Hettuer  in  den  Bildern   aus 

deuii  ,:j\.  und  DrauBpcriodc,  "Wcstermanns  illustrirte  Monatshefte   ISbTj 

M&n,  S-  0'i2-ii05.    Eine  Biographie  und  kritiBche  Ausgabe  der  Werke  Klii 
wird  Ton  M.  Kieger   vorboreitet.  2t)l  Nicht   1753;   vgl.  Dontzcr.   Fi 

bilder  etc.  8.  Jso,  Note  2.  27)  Vgl.  Klingers  s&mmUicbo  Werk«  H.  93  C 


EntwLckeluDgsgang  der  Literatur.    1713—1^32.    ■Waguor.    üiüigcr.       53 

und  mäanliehcn  Festigkeit  des  Charakters  gelegt  wurde,  so  schlicb  §  301 
sich  damit  doch  auch,  weil  er  mit  äusaeru  Verhultuisseu  so  viel  zu 
kilmpfen  hatte  und  sich  „durchstürmen ,  durchdräug:en  musste,  ein 
bitterer  Zug  in  sein  Wesen  ein,  den  er  in  der  Folge  zum  Theil 
hegte  und  nährte,  mehr  aber  bekämpfte  und  besiege'"".  Um  die 
Beehte  zu  studieren,  gieng  Klinger  nach  Giessen"  allein  er  be- 
ach&ftigte  sich  hier  viel  eifriger  mit  schöner  Literatur  und  mit  eige- 
nem Produciereu  als  mit  der  Kechtswisseuschaft.  Bereits  auf  der 
Scbnie  hatte  er,  dazu  durch  eine  wirkliche  Begebenheit  veranlasst, 
ein  Trauerspiel,  „das  leidende  Weib",  geschrieben;  ein  anderes, 
„Otto**,  verfasste  er  im  ersten  Halbjahr  seines  Aufenthalts  in 
Gicßscn*.  Auch  entstand  schon  1774  sein  drittes  Trauerspiel,  „die 
Zwillinge'*,  mit  welchem  er,  als  die  hamburgische  Theaterdirection 
(unter  Schruder)  auf  Bode*»  Anregung  im  Februar  1775  Preise  ftlr 
eingelieferte  gute  OriginalstUckc  und  Uebersetzungen  oder  Umarbei- 
tungen ausgesetzt  hatte",  den  Sieg  über  Leisewitzens  „Julius  von 
Tarcnt"  davon  Irng".  Auch  während  der  nächsten  Zeit  war  er  sehr 
thsUig  und  fruchtbar  im  dramatischen  Fach;   mit  erzählenden  Dich- 


2b)  Vgl.  dazu  Klhigcrs  simmtliche  Werke  12,  143  f.  29)  Im  Herbst  1772 
ücheint  er  schon  du  {^wesen  zu  sein;  vgl.  Briefe  aus  dem  Freniidcbkreiae  von 
Goethe  S.  M>— 02,  wo  die  über  den  ersten  Brief  mnlhmassüch  gesetzte  Jahreszahl 
durch  Enrahnunts  KlopstocUa  und  anderer  UmBlände  auf  S.  9(3 — VS  gerecliifertigt 
werden  durfte.  30>  Beide  einzeln  gedruckt  zu  Leipzig,  das  erste  ohne  Jahres- 
zahl, daa  nr«ite  1775.  8.;  jenes  von  Tieck  Lenzen  beigelegt  und  in  dessen  ge- 
sammelte Schriften  I,  151  ff.  aufgenommen;  vgl.  aber  Briefe  an  und  von  Merck 
IS3^,  S.  2STf.  und  dazu  die  allgemeine  d.  Bibliothek  27,  '1,  'S*^i\f.;  500,  besonders 
diese  letzte  Stelle,  vro  die  aus  einem  zu  „dem  leidendeu  Weibe"  im  nUchsten  Be- 
zug fttchendeo  Nachspiel,  „die  frohe  Frau",  Offeubach  und  Frankfurt  1775.  b. 
eattekote  ^achhcbt  über  den  Verf.  jenes  Traueri^piels  eingerückt  ist:  „er  studiert 
lu  GICBfien.  heisst  Klinger.  Er  nimmt  sich  selir  \iel  heraas-  Kr  ist  erst  ein 
halbes  Jahr   »on  der  Frankfurter  Schule"  etc.  31)  Vgl,  Schütze's  bam- 

burgische  Theatergeschichte  S.  129  f.  und  F.  L,  W.  Meyer  in  Schriklera  Leben 
I,  2~ri.  32i  Dass  die  oft  wiederholte  Angabe,   Schröder  habe  bei  der  Preis- 

lang  ein  Trauerspiel  verlangt,  worin  ein  Brudermord  vorkommen  müsste,  auf 
beruhe,  ist  bereits  von  GOtzdnger  die  deutBche  Sprache  nnd  ihre  Literatur 

iJO,  Note  angemerkt  worden;  und  dassKliogcr  sein  Trauerspiel  schon  gedichtet 
hatte,  che  jene  Aufforderung  der  Hamburger  Directioo  bekannt  wurde,   folgt  aus 

Jahresixüil,  die  dor  Dichter  seihst  vor  „die  Zwillinge '  In  seinem  Theater, 
nst'i  f.  gesetzt  hat,  und  aus  dem  Datum  der  Aufforderuug.  Diese  wurde 
»der  abgedruckt  im  1.  Bde.  des  „hamburglschcu  Theaters"  Hamburg  l'7fiff.  9. 
IftQcb  in  iicnnobergers  Aufsatz  über  Leisewitzens  Stück,  in  seinem  Jahrbuch 
l,  111  ff),  wo  auch  „die  Zwillinge",  wenn  ich  nicht  irre,  mit  den  übrigen  Preis- 
Mücken  zuerst  im  Dnick  erschienen  {aufgeführt  wurden  sie  in  Hamburg  zuerst 
l'7tt;  vgl.  bthrüder»  Leben  von  Meyer  ?.  2,  'jih.  Diess  stimmt  auch  mit  der  tou 
DOntzer,  Frauenbilder  S.  :ti  it.  Note  1  ausgebübenen  Stelle  aus  Schubarts  deutscher 
Cbroaik;  dogegen  Yertrdgt  sich  nicht  damit  Duntzers  Annahme  in  Betreff  des 


54    V].  Vom  Ewcitcu  Vieitd  des  XYXU  JitUriianderU  bU  lu  Goeüie'a  Tod- 

I  301   tungen  in  der  Form  des  Romans  trat  er  erst  einige  Jahre  spiltcr 

zuerst  mit  dem  in  das  Gewund  des  Feenmärchens  gekleidelesi] 
„Orpheus,  einer  tragiseh-koraischen  Geschichte" "•  Goetho's  B^ 
kanntschaft  soll  Küiij^er  auf  einem  Besuche  von  Giesseu  aus  Itt*^ 
Frankfurt  gemacht  huhcn^*;  indcss  wäre  es  nicht  unmöglich,  da» 
ihre  Aunäheruug  schon  früher  durch  Goethes  Giessner  und  Darm- 
Städter  Freunde  verniittelt  wurde,  da  Klinger  nach  einem  Briefe", 
der  doch  mit  ziemlicher  Sicherheit  in  das  Jahre  1772  gesetzt' 
werden  darf,  damals  IIu[]fnem  und  den  ihm  zunächst  ätehcndon 
sehr  bekannt  sein  musste^*.  Im  Jahre  1775  begleitete  Klinger 
Goethen,  die  beiden  Stolbcrgc  und  Haugwitz  auf  der  Reise  nach 
Zürich,  wo  er  seinen  Freund,  den  Musiker  Kayser,  besuchte:  auch 
scheint  er  mit  Goethe  zusammen  die  Rückreise  nach  Frankfurt  ge- 
macht zu  haben*".     In  Frankfurt  soll  er  sich  um  eine  Anstellung,! 


J&lu'es,  in  welchem  Klinger  den  Preis  durch   ^die  Zwillinge"  gewonnco  hftb«i 
S,  2M»,  und  dicsdben  erschienen  seien  S.  313,  Note  1.  X\i  Genf  ITTS  ^0.1 

T  Thle.   s.  (Tgl.  Neue  Liter. -Zeitung  tTOI,  Sp.  :*27l  uni^^enrbeitel  unter  dem  Titel I 
„B&mbino's  sentimentalisch-politiscbc,  kümisch-tragische  UescUichte".    St  Feters-j 
bur^  und  Leipzig  I7U1.    -1  Thle.   S.    Wenn   in   dem  der  Ausgabe  seiner  sämmt-j 
liehen  Werke  von  Ih4*J  angehängten  Aufsätze  über  „Klini^rs   schriftatellcrüclieal 
Charakter**  12,  345  gesagt  ist.  „in  den  sämmtlichcn  Werken  Klinß:er8  finden   wir 
keine  Verse",  ao  kann  dJess  nur  von  ilen  fiäinmilielien  Werken  in  dieser  Aaagabe 
gelten:  denn  Lieder  von  ihm  Ündet  man  z.  D.  in  einer  1777  erschienenen  Smnua* 
lung  vun  Gesäugen  Mehrerer,  über  die  Üüntaer.  rrauenlillder  ete.  S.  2*.ii'  lK>richt«t. 
Kinige  Lieder,  welche  er  l'Tfi  an  sfiueii  Freund  und  Laiidsuinnn  KnyBcr  in  ZOrich 
KurComposition  schickt«,  sind  abgeilrucUt  in  Hotfiniinnti  von  FallerslelH^n  l'*indliugea 
(ISdiM  I  .  1.15.     F.a   ist   mehr  Zartheit    und   Innigkeit   der  Eniptindnng    und  iMfat 
walin'  l.iedermiisäiifkeit  in  ihnen,  als  niau  von  dem  Verf.  der  wilden  driunatii 
PliauUsien  erwartet.    Hettner  a,  n.  0.  S.  öWö.    Sonette  von  ihm  erwuhnt  KU 
Mitthriliinpcn  l,  :\b.  34»  Wie  Dnntxer  a   n    0.  S.  2*i-l ;    'Js'.»  meint, 

srhfiuhrh  1774  oder  ganz  im  Anfange  von  1775.  35)  In  dm  lirivfon 

dem  Freundeskreise  von  Goelhc  S.  h*}  f.  36)  Vgl.  aneh  Briefe  an  nnd  von 

MtTck  \^'S^.  S.  2H,  Note  und  dazu  Urtntzer.  Frcuudesbilderetc.  S.  IIS  — Goethe 
uuterslUtcte  Klingern  auf  eine  si'hr  edle  Weise  bei  seinem  Studieren,  ohn«  daiB 
die  Mitwelt  jfm&ls  etwas  davon  erfuhr;  Riemer.  Mittheilungen  I.  lu'i;  daxa  S  rtSS. 
..Kr  <Guvthi*i  verschenkte  auch  wohl  sein  Mscr.  zu  beliehigcm  Gebrauch  an  cineiLJ 
armen  Freund  und  Jugendgeno^sen,  di^r  es  dann  anzubringen  und  In  ein  gut«a 
Uonornr  zu  verwandeln  wuaste".  Als  lleleg  werden  die  Briefe  an  und  von  Mctdc 
S.  214  mit  Wagners  Note  angefßhrt.  Diese  Note  lautet:  ..So  schenkte  (iootke 
lOiugom  das  SIsrr.  seiner  I-astnachtsspiele,  möge  er  es  zerreissf-n ,  hiotegcn  oder 
vrrkm  n.   KUnger  Üess  sieh  ein  »^Hii'ines  Hoiiornr  vonWeygand  in  Loipcig 

dafm  37)  Uunuer.  Fratienhüder  err    R,  ?s<>r  :m2  f  —  Aui  dem 

er».t*iti   Vittt*!  *Jlr«Ps  .Talircs  nngeflihr.  hnt  K  >\  dad 

In  ilen  HrifiVij  an  und   von  Merrk  !*:?h.    s    |.  ine» 

Brief'  v. ,   worin  »irh  >  ■.  ci 

4UM|i  '11  >'anir    von  »i-  i    iat: 

w&s  d?un  xnr  Folge  grhalit  hat,   das«  Ad.  Titahr,  iierhnus  u.  A.  ebeniiUli  die»« 


Eütwickeluqgsgang  der  Literatur,     ITTS— iS32.    Kliuger.  55 

'SB^^Iine  Erfolg j  beworben  haben.  Gegen  Ende  Mai's  mnss  er  § 
wietler  in  Gieös^eu  gewesen  sein",  wobiu  im  Goetbe's  Mutter  von 
ihres  Sohnes  Befinden  in  Weimar  schrieb*".  Dorthin,  wo  Lenz  be- 
reits angelangt  war,  zog  es  nun  auch  ihn:  er  traf  daselbst  den 
24.  Juni  ein  und  wurde  von  Goethe  sehr  heralich  aufgenommen. 
Bald  jedoch  fühlte  dieser  sich  durch  ihn  gedruckt  und  verbarg  es 
ihm  nicht,  dass  sie  beide  nicht  mit  einander  wandeln  konnten '". 
Am  16.  September  war  Klinger  noch  in  Weimar*';  unmittelbar 
darauf  musa  er  aber  nach  Leipzig  gegangen  sein,  wo  ihn  Nicolai 
im  October  sah  und  wo  er,  nachdem  er  den  Plan  aufgegeben, 
„die  Artillerie  zu  lernen",  um  sich  nach  Amerika  zu  begeben 
und  dort  für  die  Freiheit  zu  fochten,  Theaterdichter  bei  der 
seylerschen  Gesellschaft  wurde *^  Mit  ibr  wird  er  auch  nacb 
Frankfurt  und  Manhcim  gegangen  und  wieder  in  Mereks  Nflhe 
gekommen  sein,  bei  dem  sich  Wieland  nach  ihm  im  Herbst 
1777  erkundigte^*.  Beim  Ausbruch  des  bairischeu  Erbfoigekrieges 
trat  er  in  Österreichische  Kriegsdienste  und  erhielt  durch  fürstlicho 
Vermitlelung  eine  Offizierstelle.  Nacb  Beendigung  des  Krieges  legte 
er  diese  nieder  und  gieug  zu  J.  G.  Schlosser  nach  Emmendingen*', 
wo  er  mit  Ffcffel  bekannt  wurde,  der  ihm  durch  Franklins  Ver- 
mittelung  eine  Kriegsstelle  in  amerikanischen  Diensten  zu  ver- 
schafTon  suchte.     Da  hieraus  aber  nichts  wurde,  'so   verwandte  sich 


AcuftMmng  auf  Klioger  belogen  haben.  Allein  wenn  es  schon  anwahrscheinlich 
ist.  tUäs  Merck  nicht  den  rechten  ÄnfnngsfauchstiLbcn  zur  ßczoichnimg  Kliugora 
geWiUiU  haben  «nllte.  so  dürften  nUe  Zweifel  darüber,  dass  ein  ganz  Anderer  hier 
itw^nden  werden  muse,  achwinden,  wenn  mau  eine  Stelle  in  NVielands  Brief  au 
:k  vom  2".  Mai  177Ü  (a.  a.  0.  S.  «7)  mit  dem  Inhalt  jenes  Bruchstücks  zii- 
«UUneabAlt.  Denn  dass  der  hier  erwähnte  Cl.  nimmermehr  Klinger  sein  kann, 
IfiocbteC  roo  selbst  dn.  Ich  bin  überzeugt,  es  ist  dort  wie  hier  (wo  auch  schon 
IL  AVaxnC'r,  S.  2»t4,  Col.  2,  den  rechten  Mann  erkannt  hat)  niemand  anders  als 
L  Claudius  gemeint,  der  1776  in  Darmstadt  lobte,  und  dem  Wieland  erst 
tehn  Tage  vor  Absendung  seines  Briefes  Grüsse  ftir  Cioethe  und  Lenz  durch 
de  geschickt  batW:  vgl  a.  a.  0.  S.  00.  Damit  aber  ordnet  sich  jenes  Brncb- 
•tbck  erst  unter  die  Briefe  aus  dem  J.  177tj  ein.  'AH)  Joducb  wobl  schwer- 

lifh  noch  als  ätudeiit,  wie  Dünt2er,  Frnuenbihler  S.  IBl  glaubt.  3dt  Riemer, 

MjItheUuugifu  2,  27;  kurz  vorher  hatte  Wiehind  einige  Worte  über  Klingers  pooti- 
ichea  „Fortudlen'*  in  einen  Brief  an  Merck,  Sammlung  von  ls:tH,  8.  <i(i  emfliessen 
Ussen-  4l»'  Vgl.  Düntzer  a..a.  0.  b.  b2;   Briefe  an  Merck  I8:i5,  S.  y4  und 

di7  inliing  von  l?i3s,  S.  277.  41)  Briett?  an  Merck  I^:^6.   S   US; 

Bri-  's  an  Lavater  S.  21.  42|  Briefe  aus  dem  Freundes  kreise  voq 

GopU»«  S.  l  IJ;  Briife  an  und  von  Merck  t>3S,  S.  su  f.  43)  Vgl.  Briefe  an 

ttod  von  Merck  Is3*.  S.  IIMI  imd  di(^  in  der  Note  citierte  Stelle,  44)  Briefe 

und  von  Merck  Ki\  S    171.   Nach  d«n  vonS.  lürzel  hernu.sgegebcuen  „Zwölf 
feu  von  Goetbe's  EUcm  nn  Lavater.    Als  Mscr.  für  Freunde  zur  Feier  des 
i*  Ju.  1S9(i  in  Druck  gegebea''  S.  l&,  war  Klinger  im  März  IT76  bei  Schlossfer. 


hü     VI.  Vüm  zveiteu  Viertel  deb  Will  Jaluhuuderts  bU  zu  Goethe*«  Tod. 

{  301  Schloeser  im  Früblin^^  17&0  (?;  bei  seinem  Freunde  Sarasin  in  Basel 
für  Kliuger,  das»  dieser  in  den  Stund  gesetzt  würde,  nach  RusHland 
2u  gehen.  In  Sarasins  Sommerwohnung  bei  Basel,  in  der  Klinger 
darauf  noch  einige  Zeit  verweilte,  entstand  der  unter  seinem  Namen 
gebende  Roman  „Plimplamplasko"",  an  denscn  Abfassung  jedoch 
auch  Sarasin,  Pfeffel  und  Lavater  Tbeil  gehabt  haben  sollen  *•-  Im 
September  I7S0  schiffte  er  sich  zu  Lübeck,  wo  er  Boie's  Bekannt- 
schaft machte,  nach  Russland  cin'\  In  Petersburg  wurde  er  ala 
Lieutenant  in  das  Bataillon  der  Marine  aufgenommen  und  dann  ab 
Ordonnanz,  sowie  auch  als  Vorleser  bei  dem  GrossfUrsten  Paul  ange- 
stellt.  In  seinem  Gefolge  machte  er  bald  nachher  eine  weitere 
Reise,  nach  Itiilien  und  Frankreich.  Nach  seiner  Rückkehr  zog  er 
mit  gegen  die  Türken,  und  als  es  nicht  zum  Kneg:e  kam,  nach 
Polen.  I7S5  erhielt  er  eine  Anstellung  am  Cadettencorps  in  Peters- 
burg, dessen  Director  er  später  wurde.  Nach  und  nach  wurden 
ihm  daneben  auch  noch  andere  Aemter  übertragen  und  zuletzt 
der  Rang  eines  Generallieutenauts  verliehen.  Unterdessen  hatte  er) 
sich  noch  fortwährend  mit  schriftstellerischen  Arbeiten  im  Fache 
der  schönen  Literatur  beschäftigt :  mehrere  seiner  Dramen ,  die 
meisten  seiner  Romane,  sein  vollendetstes  Werk,  ;}der  Weltmann 
und  der  Dichter'*  iin  Gesprächen,  1707)  und  seine  ,, Betrachtungen 
und  Gedanken  über  verschiedene  Gegenstände  der  Welt  uud  der 
Literatur'*  (l&O'ifl.)  sind  iu  Russland  gCMchrieben.  Im  Jahre  1822" 
legte  er  seine  meisten  Aemter  nieder  und  starb  1S3I.  In  der  Charakteri- 
stik, die  Goethe  "  von  ihm  gibt,  erscheint  er  im  entschiedenen  und  zwar 
für  ihn  sehr  günstigen  Gegensatz  zu  Leuz.  Friedrich  Heinrieh 
Jacobi**",  1743  zu  Düsseldorf  geboren,  war  der  jüngere  Bruder  von 
Joh.  Georg  Jacobi  und  wurde  lange  für  minder  begabt  als  dieser 
gebalten.  Didier  bestimmte  ihn  sein  Vater,  ein  unterrichteter  und 
wohlhabender  Kaufmann,  für  sein  Gesch:tft  und  gab  ihn  vom 
sechzehnten  Jahre  an  als  Lebriiug  zuerst  in  ein  Frankfurter,  dann 


4b)  0.  0.  IT^.   ^.;  nach  Gödeke,  GnmdrUs  S.  671,  Gent  17S0.   8.  46)| 

So  DüJitzer.  a.  a.  0.  S.  §G  t  47)  Wetnhuld,  H.  Chr.  Boie  S.  07.    In  dar 

all^omemon  d-  Bibliothek  4-1,  1,  30t  vird  dkgcgeo  aus  Riga  vom  Dccbr.  17S0  ge* 
meldet  f  KJinger  sei  bereits  im  I>eceml>er  des  vorigeD  Jahres  nach  Peiersbai^  i^ 
kommen.  48)  Xftch  Güdclcc  a.  a.  0.  S.  tiG'.t  schon  lh2n.  4*4)  Werk« 

26.  'iü.l  ff.  50)  Vgl    Fr   Uotbs  „Nachricht  tod  dem  Leben  Fr.  H.  .Jacobi»** 

vor  dem  ersten  ThcU  de*  auserlG«encn  BriefwccbselB ;  Deycks,  .Jr>.  II.  Jacob!  im 
Vcrh&ltnlu xa  seineu /citgeQ066co,  besonders  zu  Goethe",  Ih4S:  "Dünizor,  Freuodo»- 
bUiler  etc.  S.  125— *i*»7;  E.  ZirnßiebeK  Kr.  H.  Jacobi  s  Leben,  Dkbten  nnd  nenken. 
KiaBdtfa^i  xor  Gcücbicbte  der  deutschen  Literatur  und  Philosophie.  Wien  1^57.  6. 
lUgcoeigt  von  Ad.  Zeiüng  in  deu  LUatti-rn  i.  liier.  Unterhaltung  1M>\  Xr.  2t.  g 
3)7  ff),  und  iL  ZöpperiU.  Aus  Jacobi's  Nachliss.    2  Bde.    Leipzig  1$6U.    8. 


£ntwickdiiugBgaug  der  Literatur.    177:1—1832.    Kliuger.    F.  H.  Jacübi.    07 

in  ein  Genfer  Haudhingsbaus.  An  leTztercm  Orte  benutzte  er  mit  $  SÖT 
grossem  Eifer  die  sich  ihm  darbietende  Gelegenheit  zu  seiner  weitern 
wisi^uscbaftlioben  Ausbildung  und  machte  sich  besonders  mit  der 
französischen  Literatur  vertraut.  Gern  hätte  er  sich,  als  er  in  seinem 
iwanziiTSten  Jahre  Genf  verliess,  dem  kaufmännischen  Geschäft  ent- 
zogen, am  sich  einem  gelehrten  Facbe  zu  widmen;  er  sah  sieb 
indes»  genöthigt,  sogleich  die  Handlung  seines  Vaters  zu  übernehmen, 
der  jetzt  in  dem  nahe  bei  Düsseldorf  gelegenen  Pempelfort  eine 
Zuckerfabrik  errichtete.  Schon  im  nUchsten  Jahre  verheiratbete  er 
sich  mit  einem  vortrftfäicben  und  liebenswürdigen  Mädchen,  Bettj' 
Clermont,  aus  Vaels  bei  Aachen.  Sein  Handelsgeschäft  hielt  ihn 
nicht  ab,  sieb  fortwäbrend  mit  Literatur  zu  bescbäftigen ,  und  sein 
lebhaftes  Interesse  an  ihr,  sowie  seine  wissenschaftlichen  Neigungen 
wnrden  gesteigert  in  dem  Umgang  oder  durch  den  Briefwechsel  mit 
mehreren  der  damaligen  literarischen  Berühmtheiten,  namentlich  mit 
Sophie  von  La  Roche  und  mit  Wicland,  dessen  persönliche  Bekannt- 
schaft er  1 77 1  machte ,  nachdem  ein  freundliches  Verhältuiss 
zwischen  beiden  schon  früher  durch  J.  G.  Jacobi  vennittelt  worden 
war.  Als  im  Jahre  1772  durch  den  Grafen  Goltstein,  damaligen 
kurpfäLziscben  Statthalter  in  Düsseldorf,  Fr.  H.  Jacobi's  Ernennung 
zum  Mitgliede  der  Hofkammer  ausgewirkt  und  er  insbesondere  mit  ■ 
dem  Zollwcsen  betraut  worden,  entledigte  er  sieb  seines  Handels- 
gesohäfts.  Er  gründete  nun  mit  Wieland  den  deutseben  Merkur". 
Indessen  sab  sieb  Wieland  bald  genOthigt,  so  gut  wie  allein  für  die 
Fortfttlirung  dieser  Zeitschrift  zu  sorgen.  Auch  ihre  anfänglich  sehr 
entbusiaslische  Freundscbaft  erlitt  bereits  im  Jahre  1773  durch  die 
Ton  Wieland  dem  ,Merkur  einverleibte  günstige  Beurtbeilung  von 
yicolai's  „Sebaldua  Nothanker'*,  der  die  Brüder  Jacobi  aufs  tiefste 
verletzt  batte",  so  wie  durch  das,  was  sich  daran  knüpfte,  einen 
empfindlichen  Stoss;  doch  wie  die  darüber  gewechselten  Briefe  zu 
keinem  Bruch  führten**,  so  trat  ein  solcher  auch  späterhin  nie  voU- 
fitAndig  ein,  obgleich  in  Folge  mehrerer  Verstimmungen  und  Reibun- 
gen zwischen  beiden^*  das  alte  trauliche  Verhältuiss  mit  der  Zeit 
immer  mehr  schwand.  Viel  eintlussreicber  und  auch  dauernder, 
ungeachtet  ihrer  allmählig  immer  weiter  auseinander  gehenden 
:l]tungeu  und  einer  177l>  eintretenden  und  bis  in»  dritte  Jahr 
irenden  völligen  Entfremdung  des  Einen  gegen  den  Andorn,  war 
»bi's  Verbindung  mit  Goethe,  den  er,  nachdem  bereits  eine  An- 
lerung  zwischen  ihnen  durch   die  Frauen  des  jacobiseheu  Hauses 


5ll  Vgl,  IM.  in,  l->3  f.  52)  Vgl.  §  255,  Amn.  9.  53)  Vgl,  Fr.  11. 

Jacobi*»  anserlesencu  IJrielwcohsel  I,  116—140.  54l  Vgl.  besonders  Briefe 

&fl  Merck  IS35,  5.  2^2  und  Düutzer  a,  a.  0.  8.  177  f. 


^m 


■PVi 


58     VI.,  Vom  zweitem  Viertel  da  XVin  Jalirbundcrta  bU  zu  Goetbo'a  Tod. 

3ül   eingeleitet  %vnr,   7Aierst  im  Juli    1774  in  ElberfeKl  }»ei  Jung  Sti 
persönlich  kennen    lernte ^\      HauptsricliUcb   m  Folge   der   aussero 
dentliehen  Einwirkung,  welche  Jacobi  von  Goethe  unmittelbar  an 
durch  dessen  Werther  erfuhr,  schrieb  er  seine  beiden  R»>D)aue,  vo 
denen   der  erste  unvollendet   blieb,  ;,AllwilIs   Briefsamnilung**    und 
„Woldemar"".    Im  Jahre  I77C  kam  er  in  den  Besitz  des  anseh 
liehen  Vermögens  seiner  Fraii,  mit  dem  er,  sobald  er  wollte,  völli 
unahhi'lngig  lultte  leben  können.     Allein   er  blieb  in  seinem  Am 
und  folgte  auch  1779  einem  Rufe  nach  MUnchen,  wo  er  als  Gehei 
rath  und  Ministerialreferent  über  das  gesamnUe  Zoll-  und  Comme 
ivesen  angestellt  wurde.     Bald  jedoch  zogen   ihm    die  Entschieden 
heit  und  die  Frcimüthigkeit,   womit  er  die  Durchführung  gewiss 
Regierungfimassrcgoln   bekämpfte,    die  Ungnade  des  Hofes  zu. 
kehrte   nach   Düsseldorf  zurllok,    llbernahm    wieder   die  Geschiir 
eines  Flofkammerniths  und  behielt  dieselben  auch  bei,  als  17S(>  die 
ihm    hei    der  Austeilung   In  MUnchcn   verliehene  Zulage  zu   seinem 
frühem  Gehalt  eingezogen  wurde.    In  Düsseldorf  selbst  hielt  er  sich 
seitdem  gemeiniglich  nur  den  Winter  über  auf;   vom  Anbeginn  de» 
Frühlings   bis   in    den  Spätherbst   wohnte   er  mit  den  Seiuigen  auf 
seinem  Landsitz  zu  Perapelfort,  wo  er  oft  ihm   befreundete  Männer 
und  Frauen  aus  der  Nähe  und  Ferne  als  Gäste  willkommen  faie«s. 
Noch  im  Sommer  17S0  machteer  eine  Reise  durrh  Norddeutschlaudj 
auf  der   er  Lcssing,  Klopstock,  Claudius,  Gerstenberg,  Gleim  ui 
andere  bedeutende  Männer  sah.    Damals  war  es  auch^   wo  Ia^äsi 
durch    ihn    Goethes    Gedicht    ,, Prometheus"    aus    der    llaudsohril 
kennen  lernte,   welches  die  erste  Veranlassung  zu  dem  Zerwürfnii 
Jaeobi's   mit  Mendelssohn    über  Lessings  Spinozismus  gab^'.     171 
verlor  er  seine  (}attin,  der  hurteste  Schlage  der  ihn  tretfcu  könnt« 
Das  Jahr  darauf  besuchte   er  seine  Freunde  Goethe,  Wieland   ai 
Herder  in  Weimar,   wo  zu  derselben  Zeit  auch  Claudius  einapracl 
In  den  nächsten  Jahren  beschäftigten  ihn   lies(mders  die  Abfnssui 
der  „Briefe   über  die  Lehre   des  Spinoza'',    des  Anhangs   dazu,   drs 
„Gesprächs   über  Idealismus   und  Realismus''   und   sein  Antheil   aa 
den  Streitigkeiten  Lavatcrs  und  seiner  Freunde  mit  den  ßerlinem. 


55)  Vgl.  Dünlfor.  Frouudosbildcr  S.   i:iM  ff   nnil  dazu  SO  ff.    "Was  .' 
J.  ITT»  so  sehr  g*gon  (»tietbe   aan>ruclite,    war   das  Gericht,   welcho-: 

iide   dei  UoLiermutbs   zu    Ettcrsburg   Qtter   den  „WoldiinAr*    hielt: 
iöl  zwUchcTi  Go«tht}  and  Fr.  ü.  Jnoobi  S.  55 — ,5'.»;  dazu  ßririo  au  M»i 
'.>:i.'.,    ö,   l*»*!  f  ;    I>üiitzcr  ».  a   ü.  S.   Ui7  ff.    und  Schnorr  v.  CaroUfrld.    iii>«h 
Tind  Jftrohi'«  Wi-MfRiar.  in  (iotjchf's  Archiv  f.  Lit.-t^esch.  1.  1M\  ff.        'lOi  Jffni 
If    fi«?il    1775.    dH*ser    seif    1777    rrscliipiicn;    vgl  Rrit'twivhsd 
"1  .lacohi  S.  37;  dir  Zueignung  ^nt  dein  Wold'mar  luui  ti 
•inh  :*W».  itl)  Vgl.  ^  2Ö9,  Anm.  47  und 


EutrJckclongiigÄng  der  Literatur.     I7;;t— IS32.    F.  11,  Jacobi.   Jung-Slillin^.    59 


I7s6  war  er  auf  kurze  Zeit  in  England;  zwei  Jahre  darauf  zog  er  $  301 
ganz  aus  Düssoldorf  nach  Pempclfort  hinaus.  Im  Herbst  1794,  als 
die  Franzosen  dem  Niedenbein  immer  näher  rttokten,  hielt  er  es 
am  geratheusten,  Pempelfrut  auf  einige  Zeit  zu  verlafinen:  er  gieng 
zanilolist  nach  Hamburg  und  Wandsbeck,  wechselte  dann  mehrmals 
seinen  Aufenthaltsort,  bis  er  sieb  1799  entschloas,  sich  in  Eutin 
dauernd  niederzulassen.  1^01  machte  er  eine  RetKO  nach  Pans. 
ISD5  folgte  er  einem  Rufe  an  die  neugebildete  Akademie  der 
Wii98en8cbaften  zu  Manchen,  zu  deren  Präsidenten  er  im  nächst* 
folgenden  Jahro  ernannt  wurde.  1812  gab  er  diese  Stellung  auf, 
behielt  aber  seine  volle  Besoldung.  Er  starb  IS  19.  Johann 
Heinrich  Jung,  genannt  Stilling^  wurde  geboren  1740  zu  Grund 
im  Nassauiächon.  Hein  Vater  war  ein  armer  Schulmeister,  der  zu- 
gleich da»  Schneiderhaudwork  betrieb,  ein  Mann  von  streng  religiö- 
ser, dem  Pietismus  sich  stark  zuneigender  Riclitung.  So  lange  der 
(wToeavatcr.  ein  höchst  wackerer,  von  e-chter,  lebensmuthiger  Frömmig- 
keit durchdrungener  Kohlenbrenner  lebte,  schloss  sich  der  Knabe, 
der  frOh  seine  Mutter  verlor,  Niel  mehr  au  ihn  als  an  den  Vater 
an.  Diess  waren  die  glücklichsten  Jahre  seiner  Jugend.  Seitdem 
hatte  er,  ala  Knabe  und  als  Jüngling,  sich  durch  ein  sehr  kummer- 
volles Leben  durchzuwinden.  Nachdem  er  nothdlirftig  dazu  vorbe- 
reitet war»   besuchte  er  eine  dem  Wohnort  seines  Vaters  nahe  ge- 

tue  lateinische  Schule;  alte  Volksbücher  voll  Ritter-  und  Wunder- 
g«eclüchten,  Balladen,  die  unter  dem  Volke  um^iengen,  weckten 
und  niihrtcn  seine  Phantasie;  das  Glück  führte  ihm  einen  Homer  in 
deutaebea  Versen  zu,  fUr  den  er  schon  im  Voraus  durch  das  Lesen 
des  Virgil  in  der  Schule  begeistert  worden  war.  Der  Trieb  zum 
Studieren  war  in  ihm  gross,  aber  jede  Aussicht,  dass  er  befriedigt 
vrerden  könnte,  fehlte.     Er  musste  es  schon  für  ein  Glück  achten, 

tn  er,  wozu  er  sehr  früh  herangezogen  wurde,  Schule  halten 
ite.  um  dadurch  der  Nothwendigkeit  überliobeu  zu  werden,  bei 
dem  Schneiderhandwerk,  das  er  bei  seinem  Vater  lernte,  zeitlebens 
zn  bleiben.  Indcss  war  durch  seine  Erziehung  und  durch  das  Lesen 
der  Bibel  und  verschiedener  mystischer  Schriften  bereits  der  Grund 
Z.II  einer  ganz  eigenthüralichen  religiösen  Gefühls-  uud  Anschauungs- 
weäf«e  und  damit  zu  einer  Glaubcusfestigkeit  in  ihm  gelegt,  die  ihn 
auch  unter  den  grössten  Bekümmernissen  nie  ganz  vorzagen  liess 
uud  ihm  in  jeder  Noth  immer  die  Hoffnung  auf  unmittelbare  gött- 
liche Hülfe  gegenwärtig  erhielt.  Mehrere  Jahre  hindurch  musste  er 
"bald  den  Schneidergosellen,  bald  den  Informator  machen,  bis  end- 
lich, nachdem  er  als  Hauslehrer  zu  einem  Kaufmann  gekommen 
war,  ein  neues  Leben  für  ihn  begann.  Er  lernte  jetzt  von  Dichtern 
Miiton^  YouDg  und  Kloi)8tock  kennen,   von  Philosophen  Wolff  und 


60     VL  Tom  J!«cit43i  Viert«]  des  XVIII  JahrhuudtTU  bts  zu  Goeüie*s  Totl. 

301   Leibnitz.     Plötzlich  erwachte  in  ihm  auch  die  Lust,  die  griechiBchc 
Sprache  zu  erlernen,  worin  er,  bei  seinem  breuuenden  Eifer  dafür, 
bald  grosse  Fortschritte  machte.    Sein  Principal  rieth  ihm,  Mediciai 
za  ßtudicrcn;  er  ^eng*  sogleich  darauf  ein,  da  er  hiermit  den  We^ 
zu  leincDi  oigentlichcn  Beruf,  der  ihm  so  lange  verborgen  gewesen^ 
gefunden  zu  haben  glaubte.     Ifachdem  er  sich  eine  Zeit  lang  zur 
Ausführung    seines   Vorhabens    vorbereitet    hatte,    gieng    er,    ohne 
irgend  eine  entfernte  Aussicht,   woher  er  die  Mittel  zum  Studieren 
verde  nehmen  können,  nur  im  Vertrauen  auf  den  Beistand  Gottesgj 
der  ihn  noch  nie  vcrliess,  im  Herbst  1770,  also  in  seinem  30.  Jahre,^ 
nach  Strassburg,  wo  er  mit  Goethe  und  durch  ihn  mit  Herder  be-l 
kannt  wurde**  und  wo  er  bis  zum  Frühjahr  1772  blieb.     Schon  das 
Jahr  zuvor  hatte  er  sich  verhcirathet.     Er  liess  sich   nun  zuerst  in 
Elherfeld  als  Arzt  nieder  und  erwarb  sich  bald  einen  grossen  Ruf  durch 
die  Geschicklichkeit,   womit  er  vielen  am  grauen  Staar  Erblindeten 
das  Augenlicht  wiedergab.  Jung  hatte  die  Geschichte  seiner  Jugend 
niedergeschrieben;  als  ihn  Goethe  1774  in  Elberfeld  besuchte,  nahm 
er,   wie  Jung  seihst  berichtet'*,   diese  Erzählung  in  der  Handschrift 
mit  nach  Hause  und  gab  sie,  ohne  dass  dieser  davon  wusste,  unter 
dem  Titel   „Heinrich  Stillings  Jugend''   heraus".     Im  Jahre    177! 
gieng  Jung,  dem  seine  Ärztliche  Praxis  nicht  viel  eintnig,  als  Lehrer] 
au   die  Kameralakademie  zu  Kaiserslautern   in  der  Pfalz,    und  ala, 
diese  Anstalt   17S4   nach  Heidelberg  verlegt  und  mit  der   dortigei 
Universitflt  vereinigt  wurde,   folgte  er  ihr  dahin,  vertauschte  aber' 
drei  Jahre   spftter  seine  Stelle    mit    der  Professur  der  Oekonomio-, 
Finanz-    und    R  am  eral  wissen  sc  haften    an    der    Universität  Marburg. 
UnlerdcHSün  und  auch  noch  bis  in  seine  letzten  Lebenstage  war  er 
als  Schriftsteller  sehr  thätig;  auch  führte  er  unzählige  Staaroperationcn 
ans,    und    da  seine  Hülfe  oft  aus  weiter  Ferne  gesucht  wurde,   st> 
machte  or  viele  kleinere  und  grössere  Reisen.     !8Ü3  berief  ihn  der 
Kurfürst  von  Baden  nach  Heidelberg,  ohne  von  ihm  etwas  Änderet 
zu  verlangen,  als  dass  or   „durch  Briefwechsel    und  SchriflsteUcrei i 
Religion  und  praktisches  Ghristenthum  befördere/'     Er  wurde  zum 


58)  Vfrl.  80100  Lcbensgeschicbtc  Bd.  I,  341  ff.:  ä5u.       59)  A.  a.  O.  S.  41: 
60i  Ürrlin    1777.    N.;   vgl.  Fr.  11.  JacoWa  »uaerlcscncn  Bricfwechaol   2,  ASt 
tmil  I>UDty.cr.    Krouudeobildcr  S.  3U.    Die  Fortsctxnngen  wurden   daan  von  Ji 
BOlbat  oacli  uad  nacli  iu  Druck  K^gcbcoi  als  „H.  Süllinga  Jtinglingsjahrr",  ,,W&nder-' 
«c.liaft",  ..hauBlicht'b  Lobeu",  U<?rlin  I77>h— Sl»;  vgl.  die  LebciwgeschicUtp  S.  Ihi^t 
^i  iti-r  knmvn  dnieu  ,JI    Stillings  Lehrjabre"  lSit4  und  „Alter**,  ein  Fraginout  voaj 
ii.m  .irlliM,    neb»t   *eint!iu  ..Lebensende"  von  einem  Enkel,   nojdelbcrp  Isi7,   S.; 
ili'  <  I"  iimmen.   oIk  «.StUltngB  Lobensgesebichte*',   füllt  mit  zwei  AnhAiigen  üea 
iTMrn  liiutd  ton  J.  II    JiiugS,  gCüinnt  SiilUng,    Biinimtlidien  Workeii.     StultgAl 
IMI  f   IS  üdr     ^ 


Eotvickelangsgang  der  Literatur.    n73~1832.  Jung-StiUbig.  Mahlcr  Malier.    61 


slicimeD  Hofrafh  ernannt,  zog  1S06  nach  Karlsruhe  und  starb 
jelbst  1S17.  Auch  Lavater  gehörte  zu  der  neuen  Dichterechule, 
wiewohl  er  weniger  durch  seine  Dichtungen  als  durch  anderweitige 
Schriften  und  durch  seine  ganze  damalige  Geistesrichtung  in  das 
literarische  Leben  dieses  Kreises  tiefer  eingriff;  sodann  nebst 
T.  Gerstenberg  und  G.  Fr.  Ernst  v.  Sehoenborn"  als  schon 
Altem  Anbflngem  Klopstocks,  Bürger  und  dessen  Freunde  im 
GOltinger  Hainbunde.  Ausserdem  noch  Friedrich  M  Uli  er,  Lud- 
wig Philipj)  Hahn,  Matthias  Claudius,  Anton  Matthias 
Sprickraann,  und  Chr.  Fr.  Daniel  Schubart,  die,  wenn  auch 
nur  zum  Tbeil  durch  persönliche  Verbindungen,  doch  alle  durch 
Sinnesart  und  dichterische  Richtung  dem  gootbeschen  oder  dem 
gottingischen  Kreise  nahe  standen.  Friedrich  M  Uli  er,  gewöhn- 
Kcb  3Iahler  Müller  genannt",  geboren  1750  zu  Kreuznach,  widmete 
sich  früh  der  bildenden  Kunst  und  gab  schon  in  seinem  achtzehnten 
Jahre  mehrere  Sammlungen  radierter  Blätter  heraus.  Er  soll  eine 
Zeit  lang-  als  Mabler  und  Kupferstecher  in  herzoglich  zweibrÜckischen 
Dienfiten  ^'estandcn  haben.  Um  I77t*  war  er  nach  Manheim  ge- 
kommen, wo  in  regem  Verkehr  mit  Dalberg,  Gemmingen  und  dem 
Buchhändler  Schwan  der  dichterische  Trieb  in  ihm  sich  regte.  In 
dieser  manheimer  Zeit  sind  fast  alle  seine  Dichtungen  entstanden. 
Als  Dichter  machte  er  sich   zuerst  als  „ein  junger  Mahler'*,   dann 


30] 


61)  Geb.  zu  Stolberg  1737,  der  Sohn  eines  Geistlichen.  Er  gehörte  in  Kopen- 
hagen« wo  er  von  dem  Grafen  A.  P,  Bernstorf  in  die  öfft-ntHrhon  GoschÜflc  ein- 
gefOhrt  wonle,  zu  dorn  Kreise  Klopstocks  und  Gerateubergs  und  war  auch  schon 
mit  den  Stolbergon  befronndel,  als  er  auf  der  Reise  nach  Algier,  wohin  er  als 
dAnischer  ConBulfttssocretÄr  1773  gesandt  wurde,  inGötttngen  anch  zu  den  Übrigen 
I>ichtt*.ni  des  Hainbundes  in  ein  nahes  VerbdltniBS  kam  und  in  Vrankfurt  die  Be- 
k&nntfichAft  Goethes  und  seiner  Kltem  machte,  mit  denen  er  wiihrend  Reines 
Aufeathult«  in  Algier  in  Briefwechfiel  blieb  (vgl.  Goethe  HO,  221  ff.  und  Ä.  Nico- 
Icriiu,  über  Goethe  S.  4.'i5  f.;  13^  ff.).  1777  gieng  er  als  Legationssccrctir  nach 
London,  wo  er  beinahe  dreissig  Jahre  blieb.  Nach  seinem  Fortgange  von  dort 
hkelt  er  fach  theils  in  Hamburg,  tlieils  zu  Emkeodorf  im  Holsteinischen  auf,  wo 
er  IMI  starb.  Er  lieferte  poetische  Beitrüge  zu  den  Schleswiger  Briefen  über 
Merkwtlrdigkeiten  der  Literatur,  zum  Wandsbecker  Boten,  zum  Götting.  Musen- 
»Imanach.  zum  d.  Museum  etc.  Kine  Auswahl  daraus  (aber  wohl  nicht  ohne  bc- 
deateodc  Abänderungen  im  Geiste  des  Herausgebers)  steht  in  Matthissons  lyriöcher 
Anthologie  Zarich  IS03  ff.  6,  229—256.  Vgl.  K.  Weinhold,  G.  F.  K.  Schönborna 
Aufzeichnungen  über  Erlebtes.  Kiel  o.  J.  b. ;  Friedrich  Perthes  Leben  von  Gl.  Th. 
Perthes  Gotha  iSt^.  t,  10$  ff.;  u.  U{hi),  Schönbom  und  seine  Zeitgenossen. 
Hamlmrg  iSiiG.  %.;  ausserdem  Briefe  von  J.  H.  Voss  I,  146;  Prutz,  der  Göttinger 
Dichtorhuud  S.  304  f. ;  Knebels  Uterarischer  Nachlass  2.  11«;  116;  Dtintzer,  Krauen- 
bilder  8.  452  und  Gervlnus  5^  M).  62t  „Maler  Mnller*'  in  „Bilder  aus  der 

^^leutücheo  Starm-   nnd  Urangperiode  von   H.  Hettner',  in  Westcrmanus  ilJustr. 
»natflhcftcn,  Febmar  l$ti7,  S   4G4  ff. 


62     VI.  Vom  zvciteu  Viertel  des  XVIII  Jflhrhunilorts  bis  za  Ooetbe'a  Tod. 

i  301  als  „Mahler  Müller"  seit  1774  bekannt  durch  seine  Beiträge  m 
der  Zeitschrift  „die  Schreibtafel''"  uud  durch  verschiedene  andere, 
in  den  Jahren  1775 — 7S  bcBonders  herauggegreliene  oder  J.  G. 
Jacobi's  Iris  und  dem  vossischeu  MuHCimlmanach  einverleibte  ^rd9*j 
»ere  und  kleinere  Poesien'*.  Unter  den  G«".ningem  muss 
ein  vertrautes  Verhältniss  zu  J.  Fr.  Hahn  gehabt  haben®, 
freundlichem  Vernehmen  stand  er  auch  mit  Fr.  H.  Jacobi ,  mit' 
Merck  und  Claudius,  von  denen  er  neni^stens  den  beide» 
letzten  persönlich  nahe  gekommen  Bein  muss**.  Wieland  nanni 
ihn  seineu  Freund*"  uud  Goethen  hatte  er  es  hauptäächlieh  zu  vgi 
danken,  dass  er  in  den  Stand  gesetzt  wurde ;  177S  nach  Boro  xt&i 
liehen ••  und  dass  er  dort,  weni^Btene  die  ersten  Jahre,  leben  konnte**. 
In  Rom  wurde  er  wfthrend  einer  schweren  Krankheit  tnoch  vor  dem, 
Herbst  17S1)  Qberrcdet,  sich  zur  katholischen  Religion  zu  bekennen^* 
Er  dichtete  hier  noch  Verschiedenes,  widmete  sich  aber  Vorzugs 
weise  der  Kunst  und  ihrer  Theorie,  so  wie  dem  Studium  der  Alter« 


63)  Dieselbe  ersctiieu  zu  MaiiLeim  ITT4— 79;  iu  der  2— e.UeleruBg  siäliea 
von  ibm  darin  „der  Faua"  eine  Idylle:  ,,der  Rieso  Undan",  Fragment  eiuefl  0«- 
dichU;  „der  en.cl)]at'ene  Abel",  ein»?  Idyllf^,  „die  PfaUjirÄtin  Genovefa",  ein  StAdc 
aus  feeinem  crsi  nel  später  hcrau&gogebcnen  Drama  ».Golo  undGenovefa";  „Kreuz- 
nach^ und  ändert!  kleinere  Sachen;  vgl.  allgemeine  d.  nihliotbek  :ft.  t,  2111  IT.;' 
.17.  3.  4S9  f.  64)  Die  Idyllen  „Hacchidon  und  Miluu  inebst  einem  Oesaus« 

auf  die  Geburt  des  Bacchus),  Frankfurt  und  Lcipxig  1773.  s.:  „der  Satyr  Mop-< 
8U8".  Frankfurt  and  Leipzig  1775.  s.;  „die  Scbaalschur",  Manlieiin  I7T6.  I».;| 
„Adamfl  crates  Krwachen  und  erste  belige  Nachte".  Munheim  I77b.  ^.;  —  ,t&*l- 
Udeo",  Manht'im  |77ri.  K;  —  .»Situation  aus  Fausts  Leben".  Maijheim  I77fl.  Sl;  — 
^,Dr.  Fausib  Leben,  drainalisiert.  Erster  Theil**,  Manheim  \''^,  **, ;  —  ^Niol 
ein   lyrischem  f^rama",   Manheim    177^.    S.  65)  Vgl.  K.  GoedeVe   1,  778*^ 

77y  f.     Sacli  Wi^iiihold,  Uoio  S.  4S,  Anra.  4,  vorkehrte  Huhn  in  derZwiw, 

«wischen  seinem  ersten  und  2w<'iten  Aufenilialt  iu  GöltJngen.  als  er  in  Zwcibi 

war  (Winter   I771>,   viel   mit  Müller.  *i(>)  Vgl.   die  Dedicniionen   vor  dea^ 

Idyllen  ..der  Satyr  MopHus"  und  „die  Schaafschur'S  Uriefe  «wischyu  Gleim,  Qeinie  et 
I,  TiO'.  Briefe  an  und  von  Merck  ls3h,  S.  '.»2.  67)  I).  Merkur  I77S,  3,  241  ff.: 

vgl,  Briefe  an  Morck  ISaö.  S.   I  iri  und  Weimar,  dahrb    i,  is.  GS)  IMe  Ai 

gäbe',   die  man  In  vielen  Uüchom  findet,  Müller  sei  bereit«  l7Ti»  nach  Italien 
gangen,  ist  falsch:  das  hätteu  schon  die  Briefe  zwittcheo  Gleim,  Tleiu^eetc.  1.371 
und  flaim  die  an  Merck  1^3h,  S.  'J2  darthau  bOnnen:   Beine  Abreise  M^olf$te, 
wir  nun  aus  dem  Briefwochgel  Kwigcfaen  Goethe  und  Knebel  (»eätimmt  wisiea, 
im  August  177<^.  6dl  Vgl.  BricfwechBcl  swiselieu  Goethe  und  Knebel,  Ldpxi 

1-1  1  Thie.  'fi.  L  üi  ff  uud  itaeu  Guetbe's  Werke  311.  txs.  Daati  Goethe  iui4' 
M  ii'T  »ich  abrr  schou  vur  ihrem  Zuäummoiitretren  Iu  Rom  von  Augeaicht  au  An* 
.     i  I  :   liabrn.  bezweiHe  ich:    denn  kein  AndcriT  als  Malier  dürfte  jtfitctr 

I  .r    tfpwesen    Bein,    der    lu    dem   in    tiuetiio'*  Werken  V7.  2*»S   ct- 

■■ivs"  in  den  ersten  Tntten  uav.U  drs  Irtjttrru  Av 
Vrnnulliung   ist  jctil  bcsuitigt   durch  L.  Tic  < 
i;,  K.^|rke  i.  ai'i  L^  70)  Vgl.  Briefe  zwischen  Ukun,  Hciuae  Oc-  i,  i4i5. 


JCntwIckoIungsgang  der  Literatur.    1773—1633.  Mnhler  Müller.  Haliü.  Ciauilitis.   G3 

thUmer,  und  diente  den  Fremden  vielfach  als  erfahrener  und  kennt- 
nisftireicher  Führer  in  dieser  Stadt.  Der  König  ron  Baieru  ernannte 
ihn  zum  haierischen  Hofmahlcr.  In  seinen)  Alter  soll  er  sehr  zu- 
rUckge^ogen  und  im  Schmutz  fast  vergraben  gelebt  haben.  Er  starb 
1^25"'.  Ludwig  Philipp  Habn'*,  gehört  zu  den  in  Übertriebenen 
und  verzerrten  Darstellungen  am  weitesten  gehenden  Dramatikern 
der  Slunn-  and  Drangzeit '\  Matthias  Claudius'*,  geboren  1740 
zu  Rcinfeld  im  Holsteinischen,  studierte  in  Jena  und  trat  schon 
J76>H  mit  ,/randeleicu  und  Er/uhliingen"  auf.  die  aber  in  den 
Litemmr-Bnefen"  sehr  mitgenommen  und  als  „die  ]>!atte8ten  Nach- 
ahmungen Gerateubergs  und  Gellerts"  bezeichnet  wurden.  Nachher 
ward  er  einer  der  ersten  unter  unsem  Dichtern,  die  nach  Volka- 
m&gftig^kett  strebten,  und  oft  bat  er  den  naiv-volksmässigen  Ton  auch 
glaeklicb  getroffen,  besonders  in  Liedern,  weltlichen  und  geistlichen. 
Für  seine  prosaischen  Sachen' bildete  er  sich  in  seiner  besten  Zeit 
eine  eigene  Sprache,  voll  Elisionen,  Wortauslassuugen  und  Idio- 
tismen, welche  der  traulichen  Redeweise  des  Volkes  dhtsprcchen 
>Ute,  aber  im  Ganzen  doch  zu  viel  Absicht  vorrieth  und  dadurch 
manieriert  uud  affectiert  erscheinen  musste.  Sie  fand  iudess 
eine  Zeit    lang   viele  Nachahmer^".      In   Wandsbeck,    wo  Claudius 


71)  Eine  vou  Tieck  (vgl.  dessen  Sclirifteu  1,  S.  XXXIII  S.  und  K.  K{)pke 
%.  %.  O.  I,  31S)  besorgte  Ausgabe  seiner  Werke  in  drei  Bänden,  die  aber  keiuca- 
vegs  *Üe  seine  Dichtungen  enthält,  erschien  zu  Hcidelberif  I'^ll.  S.;  und  wohl- 
feiler \^1h.  Dazu:  Dichtungen  von  Maler  Müller.  Mit  Einleitniig  herausgg. 
TOfl  n  UetlflpT.  2  Theile.  Leipzig  l-^^is.  ^.  (aIs  10.  II,  Bd.  der  Hildiothek  der 
d.  XatiouaJ-Iiiteriitar  des  1"^.  und  VJ.  Jahrb.).  Ein  Aufsatz  „üIict  Mahler  Müllers 
(poctiflche)  Werke"  steht  in  Friedr.  Schlegels  deutsrbem  Museum  4.  242  ff. 
72*  iit'h.  IT4H  zu  Trippstadt  in  der  Pfalz.  Ob  er  eine  Umversitat  besucht  hat, 
wetps  ich  nicht.  Kr  kam  früh  in  zweibrückiscbe  Dienste.  Nach  der  allgeuieinen 
d.  itibüothek  ;iO.  I,  :u>2;  4*2,  \,  2Slt  war  er  anfiinciich  Marstallftint^secretiir  in 
^▼^brttcken,  dann  lutberibcher  KirchschatTner  zu  LlUzelbteiu,  von  wo  er  17^0  als 
R«clwnxng8rt'vis(ir,  mit  dem  Charakier  eines  fiirstl.  ItciitknnimersecrctJirs  wieder 
nach  Zweibrücken  versetat  wurde.  Hier  starb  er  aU  rrikfectursccrctÄr  ISIS.  Dass 
er  mit  irgend  einem  namhaften  Dichter  aus  der  Geuiaütatszcit  persönlich  befreimdet 
gewentCD.  kann  ich  nicht  nachweisen;  denn  dass  nicht  er,  sondern  J.  Fr.  Hahn 
Mnhler  MuIlcrs  Freund  war.  erhellt  biulan^riich  aus  den  Beziehungen  auf  Fr.  Leop. 
SUilbem  nod  Klopstock  in  dem  Gedicht  „Nach  Hahns  Aliscbied"  bei  K.  Goedckc 
I,  '79  f.  73)  Seine  drei  Trauerspiele  sind  „der  Aufruhr  in  Pisa",  Ulm  17711.  S. 
ftn  nilcKstem  Bezüge  zu  Gcrstenberu;s  Ugolino  stehend),  ..Graf  Karl  von  Adels- 
bri  ■  /ig  I77Ö.  S.  und  „Robert  von  nobeneckon**,  Leipzig  177s.  s.  Vgl. 
Ji  r  _>  flf.  tind  Gervinus  V.  535  f.  74 1  Vgl.  Herbst,  Matthias  Claudius 

drr  ViÄiia^Ucckor  Bote.  Ein  deutsches  Stilllcben.  Goth.i  1S57.  S.-(3.Aiiii  is(i3); 
J.  n.  Dfitihardt.  Leben  und  Charakter  des  WandsbocUer  Boten  M.  Claudius. 
»!'  ^.     H    Kable,    ClaudiuB    und   Hebel.     Berlin    ls<>l;   MQnckeberg, 

ii  1  lins      Hnuiburg  IHi9.   >.  7.i)  Brief  Hli.'i,  S.   178  ff. 

76)  Oegrn  Aküü  fattuptaächlich  war  das  satirische  Schreiben  ,im  d.  Museum  177S, 


■nmi 


64    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderte  hia  zu  Gocthe's  Tod. 

:^0!  mehrere  Jahre  ohne  Amt  lebte,  gab  er  unter  dem  Schriftstellernamen 
Asmns  mit  J.  .1.  Ch.  Botie  von  1770  bis  1775  eine  populäre  Wochen- 
schrift, „den  Wandsbecker  Boten",  heraus".  Hierin,  so  wie  in  den 
hamburgischen  Adresscomptoir-Nachrichten  und  im  GOttingor  Musen- 
almanach erschienen  zum  grusaten  Theil  die  Gedichte  und  prosaischen 
Aufsätze  zuerst,  die  er  nebst  seinen  einzelnen  gedruckten  Sachen 
1774  zu  sammeln  begann  und  unter  dem  Titel  f^Asmus  omnia  Sua 
eecum  portans,  oder  sämmtlichc  Werke  des  Wandsbecker  Boten", 
in  zwei  Theilen  zu  Hamburg  1775  herausgab".  Als  Dichter  gehörte 
er  zunächst  der  Schule  Rlopstocks  und  seiner  Göttinger  JUnger  an; 
seiner  religiüsen  Richtung  nach  neigte  er  sich  am  meisten  zu  Ha- 
mann, Lavater  und  Fr.  H.  Jaeobi;  Herder  hielt  viel  auf  ihn  und 
auch  Goethe  liebte  ihn  in  seiner  frühem  Zeit.  Als  Voss  iu  Wands- 
beck lobte,  war  er  mit  diesem  aufs  innigste  verbunden.  1776  wurde 
er  nach  Darmstadt  berufen,  wo  er,  als  Mitglied  einer  unter  Fr.  K, 
yon  Mosers  Oberleitung  ,,zur  Verbesserung  des  allgemeinen  Nah 
rungsstandes"  gebildeten  Commission,  das  Amt  eines  Ober-Landcom 
missarius  verwaltete  und  dazu  seit  Anfang  1777  die  Redaction  der 
hessisch-darmstädtischen  Landeszeitung  tibernahm.  Er  konnte  aber 
das  doitige  Klima  nicht  vertragen  und  kehrte  nach  überstanden 
schwerer  Krankheit  schon  im  Frühjahr  1777  nach  Wandsbock  zurück. 
Hier  blieb  er  auch  wohnen,  als  er  I7S8  zum  ersten  Revisor  bei 
der  schleswig-holsteinischen  Bank  in  Altona  ernannt  ward.  Zuletzt 
lebte  er  bei  seinem  Schwiegersohn  Perthes  in  Hamburg,  wo  er  1SI5 
starb.  A.  M.  Sprickmann'*,  17  49  zu  Münster  geboren,  war  Ka* 
tholik,  studierte  die  Rechte,  wurde  1771  als  Regierungsrath  lAid 
fünf  Jahre  später  auch  als  Professor  der  Rechte  in  seiner  Vaterstadt 
angestellt.  Nach  und  nach  rückte  er  daselbst  in  die  hohem 
Richtorcollcgicn  ein,  bis  er  ISN  als  Professor  des  Staatsrechts  nach 
Breslau  und  1^17  nach  Berlin  berufen  wurde.  Er  starb  zu  Münster 
1833.  Der  GOttinger  Hainbund  hatte  sich  bereits  aufgelöst,  als 
Sprickmann  sich  einzelnen  Mitgliedern  desselben,  namentlich  Boie. 
und  Holty    näherte,    durch   welche   er    1776    auch    mit   Kloj)8toc 


2,  127  ff.  gerichtet.  77)  Nach  Weiobold,   Boie  S.  72,  Anm.  2.  ep«chlen 

erste  Xununer  am  I.  Januar  1771;   seit  der  ersten  Nummer  von  1773  1aut<!tc  i]( 
Titel  ,,<lcr  deutsche,  sonst  Wandsbecker  Uote'*;  die  letzte  Nr.  ist  Totn  ^*^.  OctbrJ 
1775.  —  Vgl.    noch  ßedlicb,   die   iioetiscben   Beitrage  zum  Wand«becker   Bott 
UamLurg  ISII.   4.  IH)  Sp&ter  folgten  nnch,  bis  zum  J.ihr  I^IJ,  tQnf  Th«{ 

nebst  eini>r  Zugabe  als  S    Tbeil,  wovon  die  siebente,   woHIfcile  Auflage  llambui 
und  Gotha  1>«ll.    ^  Thle   gr.  10  herauskam.   K  ÄuS.    2  Hde.    Gotha  t*^<;5;  d: 
NacUlfse  («ron  Fledlich^  Gotha  1S7|.    s  70i  Vgl  K.  Weinhidd,  A.  M.  Sprick- 

mann. In  der  Zoil«chnlt  f.  deutsche  Kulturgeschichte  l^7i,   S.  .J6I— 2UI ;   Wi 
hold,  üoie  S.  2 IS  ff. 


EnfirickeJungsgtng  der  Literatur.    177,^— 18:»5.    Sprickmaun.    Scimbart     05 

ClandiuB  und  Voi?s  in  Verbindung  kam".  In  Münster  geliOrte  er 
Dftcliber  zu  dem  Kreise  der  Fürstin  Galliziu.  Seinen  Dichtomif  bo- 
grttndcle  er  vornehmlich  dnrch  drei  Dramen:  ,.dio  natürliche  Tochter*', 
ein  rührendes  Lustspiel";  „Eulalia''.  ein  Trauerspiel*'  und  „der 
Schmuck*',  ein  Lustspiel".  Ausserdem  lieferte  er  Beiträge  zu  den 
Musenalmanachen,  die  aber  im  Ganzen  sehr  unerheblich  sind  und 
meistens  aus  Epigrammen  bestehen,  und  zum  deutschen  Museum, 
beBOBders  dramatisierte  Vorfülle,  Erzählungen^  Gesehichtehen  etc. 
Schubart  endlich  wurde  1743  zu  Obcrsontheim  in  Schwaben  geboren 
und  in  dem  schwäbischen  Stildtcheu  Aalen  erzogen,  wo  sein  Vater 
MiQ  als  öchullehrer  und  Musikdirector  angestellt  wurde  und  einige 
Jfthre  später  das  Diaconat  erhielt.  Bis  in  sein  siebente«  Jahr  ver- 
sprach der  Knabe  gar  nichts;  nun  aber  traten  mit  eiuemmale  be- 
dentendo  Anlagen,  besonders  ftir  die  Musik,  hervor,  die  sich  schnell 
«ntwickelton.  Da  er  studieren  sollte,  schickte  ihn  sein  Vater  1753 
auf  (IdA  Lyceum  zu  Nördlingeu  und  nach  drei  Jahi-on  auf  eine  Nürn- 
berger Schule.  Schon  während  er  jene  Anstalt  besuchte,  auf  der 
er  neben  den  alten  Classikern  auch  die  Werke  der  besten  deutschen 
Dichter,  besonders  Klopstocks  Messias  fleissig  las,  versuchte  er 
sich  in  der  Abfassung  deutscher  Lieder  und  in  Compositionen  ftlrs 
Ciavier.  175S  gieng  er  nach  Erlangen,  um  Theologie  zu  studieren, 
Anfjinglich  war  er  fleissig,  bald  aber  Hess  er  in  seinem  Eifer  nach, 
gericth  durch  sein  unordentliches,  ausschweifendes  Lehen  tief  in 
Schulden  und  nöthigte  dadurch  seine  Eltern,  ihn  nach  Hause  kommen 
zu  laaacn.  Indessen  hatte  er  noch  immer  so  viel  gelernt  und  so 
viel  an  Fertigkeiten  im  Reden,  Predigen  und  in  der  Musik  gewonnen, 
dass  sein  Vater  sieh  bald  wieder  mit  ihm  aussrdinte.  Er  wurde 
non  znerst  anf  kurze  Zeit  Hauslohrerf  dann  Schullehrer  und  Organist 
in  dem  kleinen  Orte  Geislingcnj  schien  sich  an  Ordnung  und  Fleiss 
zu  gewöhnen,  hcirathete  1764  ein  vortreffliches  Miidchen  und  glaubte 
«ein  GlQck  vollends  gemacht,  als  er  176S  zum  Organisten  und  Musik- 
director in  Ludwigsburg,  dem  Hoflager  des  Herzogs  Karl  von  WUrtem- 
berg,  ernannt  ward.  Hier  fanden  auch  seine  musikalischen  Lei- 
stungen und  die  Vorlesungen,  die  er  über  Geschichte  und  Aesthetik 
hielt,  vielen  Reifall;  allein  durch  seine  ungeordnete,  ja  zügellose 
Lebensweise,  durch  seine  unbesonnenen  freien  Reden,  die  besonders 


30] 


80i  VgL  Briefe  von  Voss  t,  301  ff.  und  dazu  Prulz  a.  a.  0.  S.  336.  Note. 
Er  kam  l"7fi  der  Bibliothek  wegen  nach  Göttingen  und  trat  mit  Hölty,  Barger, 
Vc»8,  Leiaewitz  in  lebhafte  Beziehnnff.  brieflich  und  durch  Besuche;  Weinhold, 
Boie  S.  S4,   xVnm.  4.  Sl)  Mflnster  ITTI.   's.    J.  Moser  empfahl   es  gleich 

BwaemKreunde  Nicolai;  vgl.  vermiEchte  Schriften  2,150.         82)  Leipzig  1777.  S- 

S;ii  MüDrter  1780-   8. 

KotMtaUht.  r.run>VUs.   5.  Aafl.   IV.  6 


■P 


06     VI   Vum  zweiten  Viertel  de»  XVIII  JalirbuuiSprte  bis  zu  Goethv'fi  Tod. 


auSj 


<i  30 1  die  Geistlichkeit  verletzten  und  erzürnten,  und  durch  ein  Paar  g^rci 

Anstoeg  cnegende  Gedichte  brachte  er  es  nach  und  nach  dahin,  da; 
seine  Frau,  die  in  Schweimuth  verfallen  war,  sammt  den  Kinde 
in  das  Tlaua  ihres  Vaters  zurtickkehrtCj  und  er  wegen  seines  sitteU' 
losen  Wandels  zur  Verantwortung  gezogen,  eine  Zeit  lang  ins  G 
faugniss  gpKet/.t   und    endlich    vom  Amte    entfernt   und    des  Land 
verwiesen  wurde.    Fürs  erste  lebte  er  hierauf  in  HeÜhronn,  in  Ueidel 
berg  und  in  Manheim,    indem  er  sich  durch  Musikunterricht  seinen 
Unterhalt  erwarb.     Als  er  die  Aussicht  auf  eine  Anstellung   in  d 
Pfalz  durch  eine  unvorsichtige  Aeusserung  verscherzt  hatte,    nah 
ihn  ein  Graf  Schmettau  so  lange  zu  sich ,  bis  sich  andenveitig  oi 
Unterkommen  für  ihn  würde  gefunden  haben.   Ein  bairischer  Dijdo 
mat^  dessen  Bekanntschaft  er  gemacht,  rioth  ihm,  zu  seinem  besser 
Fortkommen  Katholik  zu  werden;  in  seiner  Lage  schien   ihm  jed 
andere  Aussicht  auf  EUlfe  abgeschnitten;    er  wies  den  Rath   nichi 
zurflck,  folgte  seinem  neuen  Günncr  nach  Würzburg  und  MQnclieu 
ivurde  dort  fllr  sein  Sjiiel  von  dem  Fürstbischof  reichlich  besoheuk 
und  holTte  hier  eine  Anstelhnig  zu  finden,  als  die  über  ihn  in  Stu 
gart  eingezogenen  Erkundigungen  seine  plötzliche  Ausweisung 
München  zur  Folge  hatten.    Er  gieng  nach  Augsburg,  wo  sich  ib 
bald  ergiebige  Erwerbsquellen  eröffneten:   er  gründete  nfLmlicb  eine 
Zeitung,   die  „deutsche  Chronik",   die  er  von  1774 — 77  redigierte, 
und  die  binnen  Kurzem  eine  der  gelegensten  in  Deutschland  wurde; 
EMgleich  ertheilte  er  musikalischen  und  wissenschaftlichen  Unterricht, 
dichtete  und  veranstaltete  Concerte  und  Declamationen,  in  denen  er 
u.  a.   auch  Stücke  aus   dem  Messias  vortrug**.    Durch  seine  Unbo-, 
snnnenheiten  und  Neckereien,  so  wie  durch  seinen  ganzen  Wand 
erweckte  er  sich  indess  auch  hier  Feinde,  besonders  unter  der  Geist 
Hchkeit.    Mehr  noch  schadete  er  sich    durch  die  Angriffe,   die  er 
gegen  den  gefallenen  Jesuitenorden   richtete,   und  durch  sein  Ein- 
mischen in  die  Sache  des  berüchtigten  Gassner:  er  war  in  Augsburg 
nicht  mehr  sicher,   wurde  verhaftet  und  nach  seiner  Loslassung  ge- 
zwungen,  die  Stidt  zu  räumen.    Er  wandte  sich  nach  Ulm,  setzt 
dnsclbst   seine   Chronik    fort    und    vereinigte   sich    wieder    mit   de 
Seinigen.    Allein  seine  Feinde  ruhten  nicht;  er  war  in  Gefahr,  von 
dem  r>8teiTeichischen  General  Ried  aufgehoben  und  nach  Ungarn  in 
ein  Gcfjlngniss  geschickt  zu  werden,  als  Herzog  Karl  von  Würtcm- 
bcrg,  den  der  Oesterreicbcr  von  seinem  Vorhaben  unterrichtet  hatte, 
«ich  selbst   der  Sorge   unterzog,  Schubart  unschädlich  zu  machen 
K»  gelang,  ihn  aus  Ulm  auf  würtembergisches  Gebiet  zu  locken;  er 


er 


&4)  Vji.  I  J»9,  iUim.  37. 


Exitwickeluags^ang  der  Littratur.    1773— 1&32.  Si.'hubail 


Ü7 


wn-Mf        liaffet  unJ  auf  den  Anbeii;  gt'lnaclit,    wo    er  zehn  Jahre  §  301] 
fes!.  I   ti    wanl,   das  erste  Jahr  im  sfrcngsten  und  bflrtesten  Gc- 

wabrsam,  seitdem  aber  milder  bebandelt.  Seine  Gattin  erhielt 
unterde.ss  eine»  Jabr«;cbiilt  vom  Herzog  der  aiH'h  für  die  Erziehung 
der  Kiüder  »orgte.  Wälircud  dieser  langen  Haft  bekeiirte  sieh 
Schubart  Ton  scioer  Freigeisterei  zum  Mysticismus.  Ausser  Ge- 
dieViten  schrieb  er  im  Kerker  auch  (oder  diclierte  er  vielmehr  eiaem 
Mitgefangenen  durcli  eine  OeiTnung  in  der  sie  trennenden  Wand) 
da»  Buch  „Schtibarts  Leben  und  Gesinnungen",  das  Hpäter  von  ihm 
und  seinem  Sohne  herausgegeben  wurde"  Im  März  1TS7  wurde  er 
endlich  in  Freiheit  gesetzt  {me  es  heisst,  auf  Verwendung  des 
König»  Friedricb  Wilhelm  II,  dem  sein  ein  Jahr  zuvor  gedichteter 
Hymnus  „Friedrich  der  Grosse'*  bekannt  geworden  war»  und  vom 
Herzog  aU  Direclor  der  Hofmusik  und  Hof-  und  Theaterdichter  in 
Stuttgart  angostelU.  Sogleich  gieng  er  auch  wieder  au  die  Fort- 
setzung seiner  Zeitung,  die  nun  den  Titel  „Vaterlandschxonik"  er- 
hielt (I7S7— 91),  Er  starb  1791".  Unter  den  vorher  genannten 
^hieru  scheint  ihm  Mahler  Müller,  wenigstens  eine  Zeit  lang,  sehr 
ihe  Itefreundet  gewesen  zu  sein '^  Goethe  soll  ihn  1775  auf  seiner 
ScbweizciTeise  mit  Klinger  besucht  und  sich  später,  als  er  auf  dem 
Asberg  sass,  bei  dem  Herzog  für  ihn  verwandt  haben". 

Es  konnte  nicht  ausbleiben,  dass  die  neue  Diehterschule  mit  ihren 
Theorien  und  mit  der  Art,  wie  sie  dieselben  zur  Anwendung  brachte, 
»«ch  bald  Widerspruch  und  Widerstand  bei  den  Schriftstellern  her- 
vorrief, die  entweder  an  dem  zeilher  in  der  deutschen  Dichtung  Er- 
strebten und  Erreichten  festhielten,  oder  nüchtern  und  besonnen  ge- 
nüg" waren,  dem  Ungesunden  und  Uebertriebenen  in  einer  zwischen 
genialem  Sturm  und  Drang  und  melancholisch  wählerischer  Senti- 
mentalität   »ich    tlieilenden    Poesie,    so   wie    dem    Thörichten    und 


&5i  Stuttgart  1791.  D.I.  2  TUlc.  h.  Dazu  kum  dann  noch  als  Beschliiss 
.jSchTibirtfi  Charakter",  von  seinem  Sohne  Ludw.  Schubart  Erlangen  I7ys.  b. 
AU  Er^oznog  hierzu  D.  F.  Sirauss,  Schubaite  Lfbeii  in  aeineu  Briefen.  2  Bile. 
IM9.  6.;  vgl.  auch  Frutz  im  litentrhistorisoben  Taschenbuch  f>,  3UI  ff. 
SÖ>  Nachdem  Schultart  seit  l7G(i  verschiedene  poetiach«  Sachen  einzeln,  in  kleineu 
SammlnDgeu  (darunter  seine  „Todesgeeinge",  ITüT)  und  in  periodiscleii  Schiilteu 
drucken  lagsen  (Tgl.  Jördens  4,  (Us  f),  erschien  ohne  sein  \\is8cn  eine 
irolong,  „Chr.  F.  1),  Scbubarts  Gedichte  aus  dorn  Kerker".  Zürich  17&5  8., 
er  seihfit,  mit  ErUubnibä  di.'s  Herzogs,  auf  dem  Asberg  eine  Sammlung  ver- 

und    ale    seine   „ßäniuitliihun   üedichte"    in   2   üiinden  Frankf.    a.   M. 

17*7  S.  herausgab.  Später  besorgte  sein  Sühn  eine  verbesserte  Ausgabe.  Die 
mir  bekanDtca  ncoostCD  sind  in  „Scliubarls,  dis  Patrioten,  gesamtncUrn  Schriften 
onil  Bchicksaiea'*,  Ötuttgart  ihli^  f.  b  lide.  IG.  und  in  einem  hesomlcru  Druck, 
Stottgart  IhU-    2  üde.    kL  8.  bh  Vgl   Gervinus  5^  Vib.  Sb)  Vgl. 

Uttaiccr,  Fiauenbilder  S.  312  ff. 


^ 


wmmm 


ßS    VI.  Tom  «weiten  Viertel  des  XVIII  Jalirbunderta.Vis  zu  Goethe'B  Tod. 

§  301   Lädjerliclicn  in  dem  Auftreten   der  meisten  jener  jungen  Die 

die  fllr  Originalgcnies  gelten  wollten,  auf  den  Gnind  zw  sehe 
Anfanglicli  ilusserte  sicli  dieses  nur  mehr  in  Ablehnung  und  Mi 
billigung  der  neuen  poetischen  Tendenzen,  allmfihlig  jedoch  gi 
es  in  eine  immer  lauter  und  heftiger  werdende  Opposition  geg^ 
dieselben  über.  Von  den  drei  gelescnsten  Zeitschriften,  die  sich  mit 
aesthetischer  Kritik  abgaben,  venieth  die  neue  Bibliothek  d 
schonen  Wissenschaften,  obgleich  sie  dem  in  ihr  herrschenden  Geisi 
nach  noch  am  meisten  der  alten  Zeit  angehörte  und  deshalb  in  ihrer 
Aesthetik  am  weitesten  hinter  den  neuen  poetischen  Theorien  zurück- 
geblieben war^  doch  längere  Zeit  fast  allein  durch  ihr  Schweigeo, 
das  nur  durch  einzelne  gelegentliche  Ausfälle  unterbrochen  wurde, 
ihre  Abneigung  gegen  die  Neuerungen,  welclie  seit  der  Mitte  der 
Sechziger  allmäblig  Eingang  in  unsere  schöne  Literatur  gefunden 
hatten.  Als  die  ossianischen  Poesien  und  Percj**8  Sammlung  e 
schienen  waren,  hatte  sie  sich  beeilt,  ihren  Lesern  davon  Kunde 
geben  und  bei  ihnen  ein  Interesse  dafür  zu  erwecken".  Sobald 
sich  aber  die  Wirkungen  davon  in  unserer  schOnen  Literatur  starker 
zu  äussern  begannen,  wurde  sie  stutzig;  und  je  mehr  die  Hardeu- 
oder  Skaldenpoeaie  in  die  Mode  kam,  das  Interesse  für  Volksdich 
tung  wuchs,  die  Göttinger  und  die  IlalbcratAdter  sich  der  Wied 
belobung  des  MLnnoliedes  und  dem  Petrarcliisicren  geneigt  zeigte 
die  Dramatiker  auf  Shakspeare  zurückgiengen,  Ugolino  und  Gö 
von  Berlichingcn  von  den  jungen  Dichtem  bewundert  und  nachg 
ahmt  wurdeu,  und  somit  die  alten  poetischen  Gattungen,  Manieren 
und  Formen  immer  mehr  in  Gefahr  gericthen,  ganz  bei  Seite 
geschoben  £u  werden:  desto  sparsamer  wurden  in  ihr  die  An- 
zeigen von  diesen  Neuerungen,  und  kam  sie  bin  und  wieder 
darauf  zu  sprechen ,  so  Hess  sie  deutlich  genug  merken ,  wi 
wenig  Heil  sie  davon  für  die  vaterländische  Dichtkunst  erwartet 
und  wie  sehr  ihr  alles  zuwider  war,  was  aus  den  alten  Glei 
wich*'.  War  der  neuen  Bibliothek  doch  selbst  Lessings  Polemi 
gegen  die  Franzosen  in  der  haniburgischen  Dramaturgie  etwas 
denklich:  sie  sah  darin  nur  „eiue  durch  das  ganze  Ruch  merkliebe 
Nebenabsicht,  uämlich  unsere,  wie  Lessing  glaube,  ausschweifende 


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89)  Vgl.  §  292,  AozD.  24  und  3&.  90)  Vgl.  su  dea  noch   1769  oo»- 

getprocheoen  j^nstlgen  UrtheUco  über  Krotfichmanns  „Ges&xig  Khingulpb«  da 
B&rtUm"  UDd  den  Ossian  vou  Denis  b,  I.  76  ff.;  ^w,  die  Stellea  aas  drm  J  1771  ff. 
ia  12«  1,  24  ff.  (von  Garrc).  2,  241  f  ;  13.  1.  %  ff.,  wo  allcrdlugB  du  Allermeiste» 
waa  gegen  die  modünie  Barden*  und  Skaldenpoosie  gesagt  ist,  nur  gebilligt  werden 
kann,  wenn  die  Ausstellungen  auch  lange  nicht  so  gründlich  auf  die  Sache  i 
gehen  ala  Herden  Uecension  in  der  allgcmeineo  d.  Bibliothek  17,  2,  43' 
(IT72). 


Entwickelmiijtia.ü.LiL.  1773— 1>32.  Die u. Bibliothek ^l.bcllöoeu^Vb3t'Ubcllalltitl.  (JQ 

Hochachtung  för  die  Franzosen  zu  maßsigeu",  und  eine  Art  von 
Wiedervergeltung  für  die  Verachtung,  welche  die  Franzosen  so  lange 
gegen  die  Deutschen  an  den  Tag  gelegt  Latten;  und  sie  meinte,  es 
wÄre  doch  wohl  ,»grossmllthiger  gehandelt",  wenn  wir  uns  wegen 
dieser  chtimaligen  Verachtung  gegen  uns  nicht  hinterdrein  durch  ein 
ähnliches  Verfahren  rächten^V  Was  aus  dem  rhein-mainlündischen 
Kreise  und  vun  Klopstock  und  den  Göttingern  seit  dem  Anfang  der 
Siebziger  au  theoretischen  Schriften  und  an  dichterischen  Werken 
kam,  zeigte  sie  in  der  Regel  gar  nicht  an:  von  1773 — 1779  nur 
Goethes  kleine  Schrift  „von  deutscher  Baukunst",  „Wortbers  Leiden" 
und  Herders  Preisschrift  von  den  „Ursachen  des  gesunkenen  Ge- 
Mtimacks".**  Bloss  die  Beurtheilung  der  Leiden  Werthers  (etwa 
von  Engel  ?J  ist  ohne  alle  Auäfälle  auf  die  neue  Dichterschule  und 
dabei  gründlich:  sie  lässt  dem  hohen  dieliterischcu  Werth  des 
Bomans  in  rollern  Masse  Gerechtigkeit  widerfahren;  ja  sie  ist  die 
beste  aus  den  siebziger  Jahren,  die  ich  kenne.  Jene  kleine  goethesche 
Schrift  dagegen  wird  darum  mit  „wahrer,  aber  etwas  boshafter 
Fittide"  begrünst,  weil  sie  die  Hoffnung  erwecke,  «lass  „die  neumo- 
diftcbCi  mit  Metaphern  überladene  und  seltsam  launigte  Schreibart^ 
die  einige  unserer  besten  Köpfe  angesteckt  und  sich  sogar  in  unsere 
philosophischen  Schriften  eingeschlichen  habe^*,  durch  den  Missbrauch, 
wenn  er  zu  der  Höhe,  wie  hier,  getrieben  würde,  bald  von  selbst 
awsgerottet  werden  dürfte.  Was  aber  den  Inhalt  betrifft,  so  wird 
„»'■  "^^igen  Schwiltxcr"  der  Rath  ertheilt,  sich  zuvor  eine  genaue 

K-  '  der  Baukunst  zu  erwerben,  ehe  er  darüber  zu  schreiben 

wage.  Auch  in  der  dritten  Recenaion  ist  von  „den  zerrissenen 
Pbrajien,  verzerrten  Wendungen,  der  zerstümmelteu  und  zerstückten 
Sprache  unserer  jehsigeu  sttgenannteu  grossen  Genieeu",  die  Rede, 
ÄO  wie  von  „nnsern  neumodischen  shakspearlsierendon  Dichtern", 
in  d^ren  Werken  die  Gegenstände  wie  Blitze  vor  den  Lesern  und 
oft  so  stQckweise  vorbeigefUhrt  würden,  dass  sie  nicht  wUssten,  was 
sie  sähen  etc.,  und  von  den  ,,Originalgcnieen,  die  so  genannt  wUrden, 
man  wisse  nicht,  warum?  denn  sie  ahmten  so  gut  nach,  wie  das 
übrige  Heer  der  imitatorum'*  etc.  Auf  eine  Widerlegung  der  Dichtuugs- 
theorie,  zu  der  sich  die  rhein-mainliindischo  Schule  bekannte,  und 
der  von  ihr  in  den  Frankfurter  gelehrten  Anzeigen  geübten  Kritik 
ist  es,  in  mehr  versteckter  Weise,   abgesehen  bei  der  Anzeige  des 


§  301 


91 1  10,  I,  121  flf ;  die  Recensioü  ist  von  Garve.  In  eiaem  Briefe  Gottera  an 
SUMpe  vom  19.  Decbr.  1769  (Weimar.  Jahrlmch  ü,  TO)  heisst  es:  „Zu  meiner 
grouen  Vervuiiderung  fand  ich  in  Leipzig  ilie  Zahl  von  Lessings  Verehrern  sehr 
kleb,  man  hält  ihn  fUr  £u  streng,  man  hasst  den  Shiikspearianiamum  und  nimsit 
«Ue  Uieaem  Fniuzosen  noch  immer  unter  die  Flügel  der  Liebe".  92)  II,  3^ 

&T  ff.;  IS,  I,  Iti  ff.;  ly,  I,  Si  ff 


70     VI,  Vom  zweiten  Viertel  des  XVin  Jalirhuiiderts  bis  zu  Gotthe'e  Tod. 


f  301  fünften  Tlicils  von  Gcggncrs  Sdinftou",  da  Gesöners  Poesie  in  deu 
Frankfurter  Blättern  „so  tief  lieral>ge8etzt  sein  sollte"*'.  Käme  diese 
Art  von  Kritik  zu  allgemeiner  Geltung,  so  wllrde  die  Dicbtkun« 
von  allen  leblosen  Gegeustfluden  auf  die  lebendigen  eingescb rankt, 
von  dem  Wesen  der  Kiiibildtingskraft  auf  den  wirklichen  Meuöelien, 
von  allen  übrigen  Formen  auf  die  einzige  dramatische  Form.  D» 
fehlte  weiter  nichts,  als  dass  man  auch  in  dieser  Form  die  einzige 
besondere  iManier  I)C9timmte:  und  welche  wllrde  die  anders  sein  als 
Shakspeaie's  Manier?  „So  fiele  denn  auf  einmal  die  ganze  Literatur 
in  den  einzigen  Shakspcaro  zusammen  1^'  An  welcher  Dichtuugslehre  ^J 
diese  Leipziger  Kritik  sich  noch  nm  1770  und  späterhin  gentlgea^^H 
liess  und  welche  Forderungen  sie  vor  allen  undera  an  den  Dichter,  ^ 
der  ihr  für  den  wahren  galt,  stellte,  besonders  in  der  Lyrik,  kann 
man  am  besten  aus  den  sehr  ausführlichon  Anzeigen  neuer  Ausgaben 
des  ramlcrschen  und  des  schlegelschcu  Batteux  und  aus  der  Beur- 
theiluug  der  1772  erschienenen  Sammlung  von  Ramlers  lyrischen 
Gedichten  erscheu".  Im  Ganzen  reichte  fUr  die  neue  Bibliothek 
das  goldene  Zeitalter  unserer  schönen  Literatur  auch  nicht  viel 
weiter  als  bis  zum  Jahre  l?!)«)"**.  Weisse  ärgerte  sich  geradezu  an 
allem,  was  seit  der  Mitte  der  Sechziger  Neues  auf  dem  Literaturge- 
bieto  hcmorlrat.  Er  war  in  der  Zeit,  wo  Lessings  Freundschaft 
gegen  ihn  erkaltet  war,  und  bevor  dieser  sich  ihm  wieder  geufihert 
hatte,  mit  dessen  ganzer  kritischen  Verfahrungsweise  und  mit  seiner 
Kritik  in  der  Dramaturgie  insbesondere  sehr  unzufrieden  und  er- 
wartete von  ihr  nichts  Gutes  fUr  das  deutsche  Drama.  Auch  an 
seiner  Emilia  Galotti  hatte  er  vielerlei  auszusetzen.  Er  wollte  voa 
Gersteubergs  und  Klopstocks  Theorien  und  neuen  Poesien  uicbts 
wissen;  fand  iu  den  Briefen  von  Mauvillon  und  Uazer  zwar  viel 
Wahres,  bezeichnete  aber  die  Art,  wie  der  erstere  gegen  Geliert 
aufgetreten  wäre,  als  „niederträchtig".  An  Wiciands  neuen  Erfin- 
dungen musste  er  viel  mehr  tadeln  als  loben.  MissmUthig  betrachtete 
er  die  Erfolge  der  neuen  Barden  und  Skalden  und  ihrer  Einführung 
der  nordischen  Mythologie  in  deutsche  Gedichte.  Er  verhöhnte  die 
Minne-  und  Wonnesänger,  die  Romanzen-  und  Balladeudichter; 
8euf/.te  ober  eine  nbermäasige  Bewunderung  und  Anpreirtiing  Shak- 
«pcare*8  und  über  «lio  heillose  Sucht  ihn  nachzuahmen,  über  Herder, 
Goethe,  Lenz,  Lavater,  über  Bürger,  Claudius  und  die  ganze  , Junge 


03)  U.  1,  Hfl  flf.  04)  VgrI.  Weisses  Brief  im  MorgenbUtt  ISIO,  N.  21>3. 

8    MTl*.  9J)  %  t  2HII  ff.;  M.  2.  265  ff.;   12,  I,  Oyff.;  M,  2,  TM  ff.;   I&,  1 

-     '1  DÖI  Vgl.  das.  was  Ild.  111,  P.m  f.  Uhcr  die  AnaiVhtcn  mitgcthrili  Ul. 

r  auch  tu  der  Leipziger  Schule  zAhleiidc  Adelung  uucb  zu  Anfang  der  Aitlit* 

«i««r  ia  telnem  HagaziD  aussprach. 


a'Ji:ut^*-S  <i  Lii    ITiS— 1'*33.  DKmi  Bibliuüiek  d  sfböuwiWiäBcQbtilittften.  71 

Baude  Gottinger,  die  dem  Wiindsbecker  Boten  nacLliefcn'S  über  §  3ol 
(Meiin,  der  „bintcr  ihnen  in  Bockssprilngcn  hereilte".  Er  meinte,  um 
den  guten  Geschmack  sei  es  geschehen,  seitdem  alles  in  Prosa  her- 
derisiere  und  in  Versen  klopstockisiere,  alles  ,.Iavaterisch,  goethiseh, 
henicrisch  und  lenzisch  sei'*;  er  jammerte  darüber,  dass  ,, unsere 
guten  alten  Schriftsteller  beinahe  vergessen  würden",  und  tröstete 
sieb  nur  mit  der  Hoflfnuiig  auf  die  Zeit,  wo  der  gegenwiirtige  Rausch 
ausgeschlafen  sein  werde.  Allein  so  äusserte  er  sich  nur  unter  dem 
Siegel  der  Verschwiegenheit  gegen  den  Freund,  und  er  ^viede^holte 
diesem  die  Versichemng,  dass  er  sich  wohl  hüten  werde,  mit  seinen 
Ansichten  und  Gesinnungen  in  seiner  Bibliothek  hervorzutreten,  weil 
er  zu  furchtsam  »ei  und  zu  sehr  den  Frieden  liebe;  er  wolle  sich 
Dicht  den  Zorn  irgend  einer  der  streitenden  Parteien  zuziehen  und 
sich  nicht  die  Finger  verbrennen.  Er  fürchtete  sich  zugleich  oder 
hinter  einander  vor  Lessing,  Herder,  Klotz,  Kiedel,  Nicolai,  Mau- 
villon,  Gerstenherg,  NVieland,  Gleim  und  wer  weiss,  vor  wem  noch '^. 
In  seiner  Behuts^imkeit  scheute  er  sich  irgend  eine  der  vorhandenen 
literarischen  Parteien  zu  reizen  und  zum  Widerschlag  herauszufordern, 
so  lange  er  sich  nicht  eines  starken  Rückhalts  versichert  hielt". 
Erat  als  er  diesen,  besonders  an  Lessing  und  der  allgemeinen 
deutschen  Bibliothek,  gefunden  zu  haben  meinte"',   und   als  in  dem 


97)  Gegen  Ende  des  Jahres  1774  scbrieb  er  (S.  294,  S.  1175b),  sehie  Uiblio- 
ihek  bring«  alle  mtaiifeu  Köpft*  wieder  ilm  auf,  weil  er  über  ilirc  Werke  ein 
titfes  SrUUcbwPigon  beobachte.  Vidldcbt  mocbteu  sie  erratben,  was  er  davon 
würde,  wenn  er  reden  sollte.  9Sl  Die  voUatüjidigatL'u  Delege  dazu  wird 

In  den  Auszügen  aus  den  Briefen  finden,  die  Wcibsc  an  üz  In  den  Jabrcn 
ITW! — I7SI)  geschrieben  bat,  und  die  im  Morgenblatt  von  IS40,  N.  2S2— 2S7; 
293— 3tVI:   SOH;  301   gedruckt  smd.  99)  Was  die  Erkaltung  von  Lesainga 

vie^jAltriger  freundschafüicher  Gesinnung  gegen  Weisse  in  der  zweiten  Hälft©  der 
Sechziger  reriuUasst  hatte,  entAUlt  dieser  in  seiner  Selbatbiograplue  S.  13Ü  ff.  (vgl 
dazu  (itthrauer,  Lessing  2,  l,2«2f.).  Als  Lessing  im  Frtihjabr  1775  sich  acht  Tage 
tnLcäpzig  aafbielt,  n&bcrte  er  sieb  wieder  soiucm  alten  Freunde  frgl.  Weisse  a.  a.  0. 
S.  ilOi.  In  den  „vortraulichen  und  angenehmen  Interbaltuiigen**  mit  ihm  erfuhr 
Wei*««,  wie  es  scheint,  zuerst,  dass  Leasing  „sehr  gegen  Goethea,  Lavatem,  Uer- 
dem  und  Andere  die&er  Partei  aufgebracht  war"  (vgl.  CJubrauer  a.  a.  0.  2,  2,  1>3, 
Kote),  und  „virileicht  wäre",  wie  es  in  dem  Briefe  an  Uz  vom  20.  Mai  1775 
iMorgcnblatt  N,  2'.U,  S.  I17(;a)  he'sst,  Jamals  ,.sein  Eifer  losgebrocbeu",  wenn 
oiclit  ganz  luivermutbet  bcinc  Reise  nach  Italien  dazwiscbcn  gekommen  wUre.  In 
riaem  spätcni  Briefe  an  Uz  aus  dem  Herbst  1775  (a.  a.  0.  N.  296,  S.  US3b) 
»chreibt  Weisse;  „Lessing  war  über  Goetbo's  und  Coropagnie  Haupt-  uud  Staats- 
aktionen sehr  aufgebracht  und  schwur,  das  deutsche  Drama  zu  rächen.  Kr  hatte 
gi'hört  da»a  Goethe  rincn  Doctor"Faust  liefern  will,  uud  tritt  er  ihm  da  iu  den 
Weg,  80  mÜsBte  ich  ihn  sehr  verkennen,  wenn  er  nicht  Wort  halten  sollte:  be- 
aoudi'fft  verdross  IbnLenzcns  Gewäsche  Über  da^  Drama,  das  er  einem  Übcr&etjsten 
Stucke  von  Shakspearc  vorgesetzt."  iDiess  auch  zur  Ergänzung  von  !^  2^>'^, 
Ann».  12.    Vgl.  dazu  noch  Morgenblatt  N.  301,  8.  I203fl  uud  die  Stelle  in  den 


wm 


^^m 


72     VI.  Vom  zweiten  Viertel  de^  XVIII  Jalirhuuderts  bis  zu  GoetlLe's  Tod. 

S  3ül   deutschen  Museum   eine    neue  Zeitgchrift    eülslnndcu    war,    die   di 
Geltung   und   dem  EiuÖuss   seiner  BibliotLek    noch  gefährlicher  i\ 
werden  drohte,  als  es  der  deutsche  Merkur  bereits  geworden  warj 
trat  die  Leipziger  Kritik  mit  grosserer  Entschiedenheit,  aber  freÜicl 
in  einer  sehr  geistloseuj  plumpen  und  itlutteu  Art  gegen  die  aesibi 
tischen  Theorien  und  die  ganze  Vcrfahruugsweise  der  neuen  Dichter- 
schule  in  die  Schranken'*'.  —  Ein  ganz  anderes  Verfahren  beobachtet! 
der  deutsche  Merkur.  Allerdings  warf  er  sich  gleich  von  Anfang  an  dei 
allermeisten  der  neuen  Tendenzen  entgegen:  wie  sich  diess  voniehmlich 


Brirfen  von  Ch.  Garve  an  "Weise  etc.  1,  115:  „Der  Auszug  aus  Leasings  Uni 
boltangeu"  (den  Weisse  au  Gane  gesehickt  hatte),  ..ist  mir  sehr  lieh,  ~  aa< 
daas  er  der  goetbesclion  Partei  nicht  zu  sehr  ergebci]  ist.  Wenn  er  auch 
Seite  der  alten  Ritter-  und  GötüM^schichteii  und  der  erkUustdtcu  R( 
träte:  so  weiss  icb  nicht,  wo  endUcli  Natur  und  Vernunft,  bo  wie  $ic  fOx 
Jahrhundert  gehören,  sich  hinretten  würden.  Aber  Wcrthers  Leiden  thnl  er 
Unrecht*  etc.;  vgl.  auch  Gubrauer  a.  a.  0  2.  2,  97  f.  und  ■Weimar.  Jahrirach 
2,  470  i  ).  Aus  diesen  Unterhaltungen  mit  Lessing  scheint  Weisse  zucrbt  doi 
Math  goächöpft  za  haben ,  fortan  etwas  dreister  gegen  die  nt'ue  IHchtenchul 
aolzatrvteu,  und  dieser  Mutb  wuchs.  al&  die  allgemeine  d.  Uibliothek  nach 
J.  1775  eine  immer  enl&chiednere  oppositionelle  Stellung  gegen  die  neueu  poet 
Bcheo  Ricbtongcn  einnahm.  Eben  „desswegen  schützte  er'  diese  BibUothi 
1777  halte  er  sich  seiner  FurchtsamlkCit  venigslens  schon  so  weil  entgd 
dass  er  niclil  mehr  bloss  seinem  Frtmnde  Uz  seine  kritiechen  Bckinnmernisse  mit 
theiltCt  Mindern  in  Leipzig  unter  den  jungen  Leuten  olles,  was  er  thuii  könnt! 
that,  „um  sie  von  dem  neologiscben  Geschmack  abzubnitcu**  (vgl.  M' 
'S.  301,  S.   I2o:tb).  ll.lO)  \Nie  wenig  Weissen  das  Erscheinen  des 

älrrkurs  xur  Freude  gereichte,  wie  er  Wirlanden  die  Anznbl  seiner  Snl 
naclir^cbnete,  und  wie  er  e«  gar  nicht  ungern  aali,  dass  der  Merkur  >)> 
Erwartungen  keineswegs  zu  ertüUen  Bchieo.  die  man  sieb  davon  batit; 
mUfifien,  bezeugen  cbcnfuIJs.  oder  las&cn  wenigstens  merken,  die  Briefe  an  Ui 
Eine  Aeusseruug  über  das  d.  Muscam  enthalten  sie  nicht.  Allein  die  sehr  wdl 
lAuftige,  In  den  J.  1770  und  17^0  gedruckte  iVnzeige  der  ersten  drei  Bünde  {.: 
I.  5S  ff.:  23,  I,  54  ff.;  2.  217  ff.;  24.  I,  25  ff.),  SO  wenig  feindselig  sie  auch  n 
Anfang  berein  zu  sein  scheint,  beweist  In  ihrem  weitern  Fort4;ang  nur  alUn  %t 
wie  unwillkommen  diese  Zeitschrift  den  Männern  der  neuen  Bibliothek  der  schdDi 
Wisaenschaften  gewesen  sein  rnuas.  Penn  eben  diese  Anzeige  ist  es»  wo  sich 
Grimm  der  Leipziger  Kritik  über  die  Neuerer  in  der  poetischen  Theorie  and 
der  Dichtung  in  söuer  ganzen  Plattheit  und  dazu  mit  elnur  su  plumpen  Grobh 
entladen  hat.  dass  e&  kaum  zu  begreifen  ist,  wie  der  ä ngs tl ich- hO Hiebe  Weiför 
etwas  nur  zum  Druck  befördern  konnte.  Ich  bcguiii»e  mich,  da  zu  chai 
lierenden  Ausz&gen  hier  nicht  Baum  genug  ist,  anf  einige  Itauptpartira 
verweben:  22,  1,  Sl— 9i  (über  Bürgers  beide  Abschnitte  „aus  Iianiel  Wuni 
Buch";  »{?!  oben  S- 42  f.);  23.  1,72—70  (belrifll  deu  Aufsalz  im  d.  Museum 
über  das  >  n  allgemein   und   über   das  Goeihisiercn    inabe»uDdcre*' 

^3,  2,  3^~  .ifr  einen  ArtikeJ   von  Escbeuburg,   „Shakipearc    wider 

toltairtschr  i>chraaiiongvn  rertheidigt** ,  das  schlagendste,  roheste  und  albernste 
Ge|QUbtUck  XU  Leazeos  Anmerkungen  Uber*a  Theater^  Eben  so  loseoswerth.  ak 
dicM  Stack«  for  demjenigen  sind,  der  sich  eine  deutliche  VonteUiuig  von  difi 


£a(W2c]Leluiigsgaug  der  Literatur.    n73-l!);»2.    Wiulauds  Merkur.         73 

\n  dem  gleich   dem  zweiten  Bande  des  ersten  Jahrgangs"*'   einge-  §  301 

rückloü  Artikel  „Über  den  gegenwärtigen  Zustand  des  deutschen  Par- 

iiasses"  (von  Chr.  H.  Schmid)  und  in  den  „Zusätzen  des  Herausgebers" 

dfizu'*^  zeigte.  Hier  trat  Sehniid  gegen  die  neumodischen  „National- 

ngc**  ins  Oewelir,  gegen  die  neuen  Barden  undMinnesinger,  gegen 

lle  „charakteristische  Poesie"  überhaupt,  die  indessen  „Gefahr  liefe, 

lald  erschöpft  zu  werden,   falls   uns  nicht  die  Küssen   irgend   einen 

I neuen  Weltthcil  entdecken  sollten" ;  gegen  diejenigen,  welche  aus 
DriginaLBucht  die  Farben  zu  ihren  Erfindungen  von  allen  Zeitaltern, 
kllen  Katiüneu,  allen  Stüudeu  entlehnten,  um  wenigstens  mit  einem 
neuen  Anstriche  zu  gleissen;  gegen  die  deutschen  Pctrarchisten, 
^egeu  die  Humoristen  in  Steme's  Manier  und  die  „sentimentalischeu 
Herren*'  etc.  Hamann  war'**  der  Vater  der  neuen  Künsteleien  ge- 
nannt, die  unserm  Stile  schon  so  verderblich  geworden,  und  die 
ich  den  Verfasser  des  sonst  lesenswttrdigeu  Aufsatzes  „von  deut- 
•her  Baukunst"  zu  seinen  stilistischen  „SchnOrkelu"  verführt  hätten; 
[ercks  Rhapsodie  an  J.  H.  Keimhardt  d.  J.  hingegen  wurde  gelubt 
;d  dabei  bemerkt,  sie  sollten  sich  alle  diejenigen  zur  Beherzigung 
pfohlen  sein  lassen,  welche  dieses  Jahr  den  Museuberg  hinaufzu- 
Lomtuon  gedächten.  In  Wielands  Zusätzen  ist  besonders  der  Ab- 
:hnitt  benierkcuswerth,  der  sich  Über  „den  Eifer,  unserer  Dicbt- 
Lunst  einen  !Nationalcharakter  zu  geben*',  auslässt,  und  der  uächst- 
»Igcnde'**.  Gewiss  ist  manches  Wahre  darin;  im  Ganzen  ergibt 
aber  doch,  dass  Wieland  Herders  Ideen  hierüber  (denn 
teint  er  vornehmlich  hier  im  Auge  gehabt  zu  haben)  nur 
ihr  oltönhin  und  gar  nicht  in  il^rem  Kern  gefasst  hatte.  Er  hatte 
unter  dem  von  Herder  empfohlenen  Rückgange  auf  die  ^atnr-  und 
Volks]>oesie  nichts  anders  verstanden,  als  eine  Nachahmung  ur- 
mäsaiger  Volksdichtungen,  namentlich  celtiseher  und  scandinavischer; 
and  da  er  fand,    es  sei  besser,   die  Griechen  nachzuahmen,  sobald 

InämHcb  zugegeben  würde,  dass  die  „wahre  Bestimmung  der  Dicht- 
kunst in  der  Verschönerung  und  Veredelung  der  menschlichen  Natur" 
bestände.  Denn  alsdann  mUsste  sie  sich  über  die  blosse  Nachahmung 
■er  individuellen  Natur,  über  die  engen  Begriffe  einzelner  Gesell- 
lebaften,  über  die  unvollkommenen  Modelle  einzelner  Kun8t^^'erke 
H-heben,    aus   den   gesammelten  Zügen    des   über  die  ganze  Natur 


kligUchen  Grimm   der  Leipziger  Kritilter  gegen  die  Neuerer  vcrschaÜ'tn  will,  ist 
Beurtheilimg  voo  J.  Moesers  Schreibco  „über  die  deutsche  Sprache  und  Lite- 
llar'  (2T,  1,  3S  ff.»,  deren  Verfasaer  sich  dadurch  noch  besonders  charaklerieiert 
dass   er  seinem  albernen   und  seichten  Geschwätz  die  Krklaniug  voraus- 
et:   er  zweilie  hilJig,   dass   diese  Schritt  den  (allgemein  verehrten)  Herrn 
rum  Verfasser  habe.  101)  S.  Iä(»  flf.;  ina  IT.  102)  S.  lüs  ff.; 

^5  ff.  103    A.  a.  0.  S.  207.  104)  S    174  ff. 


74    VI.  Vom  zwtiton  Viertel  iles  XVIll  JaLrliuuutrts  bis  zu  CufÜie's  Tiid. 


5  30t  ausorcgoäscuen  Scbüuen  sicL  ideale  Formen  bilden  und  aus  ilicsen 
die  Urbilder  ;cu5an]measetzeU}   nach   deuen  sie  arbeite.     Da  Lieriai 
die  Griocben   die   einzig   rechten   Muster    wären,    so   erklärte   fltol 
Wieland "^  sehr  bestimmt  gegen  das  Bardenwesen  in  der  Poesie  nnd' 
die  ganze  Richtung  des  poetischen  Patriotismus  in  der   klojistocki- 
schen  Schule"     Die  Musen,  als  getreue  GehUifmnen  der  Philosophie, 
seien  dazu  bestimmt,  die  Seelen,  welche  diese  e  r  1  e  u  c  b  t  c  t ,  /u  e  r  w  är  - 
uieu,  die  ungestümen  Leidenschaften  nicht  anzuflammen,  sondern  zu 
besänftigen  und  in  Harmonie  mit  unsem    moralischen  Pflichten  zu 
stimmen  etc.  '*'     Von  den  „Fortsetzungen  der  kritischen  Nachrichten 
vom    deutschen    Parnaßs"*"*    ertheilte    die    erste    zwar"*    flerdcrs 
Stücken  in  den  Blilttem  von  deutscher  Art  und  Kunst  grosses  Lob, 
brachte   aber  dagegen""    über   den  Götz  von  Berlichiugen  eine  iml 
Ganzen  viel  ungünstigere  Recension,  als  die  bereits  im  dritten  Bande 
desselben  Jahrgangs'*'  erschienene  gewesen  war,  mit  der  sich  Wie- 
land auch  schon  nicht  ganz  einverstanden  erklärt  hatte,  und  der  er^ 
später"'  einen  eigenen,  die  Vortrefflichkeit  des  goetheschen  Werke« 
im  vollsten  Masse  anerkennenden  Aufsatz  entgegenstellte.  Die  andere^ 
Fortsetzung,  vor  deren  Ei-scheinen  Goethc's  Farce  „Götter,  Helden, 
und  Wieland*'  bereits  allgemein    bekannt  war,    enthielt  neben  der] 
oben*"  berührten  Charakterisierung  der  neuen  Dichterschnle  Urtheiloj 
über    die   von    ihr  in    der  jüngsten  Zeit  gelieferten  Werke.    Trotz' 
seiner  Abneigung  gegen  die  neuen  Tendenzen  war  aber  der  Heraus- 
geber des  deutschen  Merkurs  ein    viel   zu   gewandter,    fciusinniger 
und   für   das   wirklich   Gute,    von   welcher  Seite   es  auch  komuien. 
mochte,    viel  zu   empfänglicher  Mann,    als   dass  er  seine  Zeitsehril 
Andern  jemals  für  eine  rohe  und  gemeine  Polemik  hätte  öfl'uen  uj)d 
dass  er  alles,   was  von  seinen  Gegnern  kam,   hätte  verwerfen  oder 
auch  nur,   wo  er  auf  Angriffe,   die  gegen  ihn  unmittelbar  gerichtel 
waren,   antwortete,    den    feinen  Tact   weltmännischer   Bildung  und 
den  ihm  sonst  eignen  heitern  und  schalkhaften  Ton  hätte  verläuguen 
fiolleu  "\     Bald    £restaltete    sich    sein   Yerhältniss    zu  Goethe    und 


105l  S.  lS:i  ff.  lOCi  Vgl  Rrubcr  In  Wielands Lehon  3,  78— S.1;  Kitotli«^ 

ober  C   F.  Kretschmaun  8.  20,  Aam.  1;  it.  lOTi  Scbou  hieraus  wird 

Bvbeo,  dasb  Wiebud  wenigstens  nerdcrs  Zielpunkt  gur  nicht  herausgefunden  Ualt< 
und  tUfiS  er  mit  «einen  Aiisichtcn  über  die  Bestimmung  der  Poesie  noch  liniud 
lief  in  der  Noulicbkdtsthcorie  steckte.  I08>  n^i,  I.  2\b  ff.;   I"!.  4,  uA 

100»  S.  ra  \  10.  S,  ;*äT  ff.  1  I  h  S.  2.7  ff.;  DftnUtrr.  Krau< 

blldor  S.  2<»4  veruiutlieti  nie  lei  von  Meusel;  Grub^r  R.  a.  0.  S.  S7  Irgt  i'u 
Chr.  n.  Schmid  bei.  112»  I"l,  2,  a>I  ff  WX)  S.  49.  \\i>Vi 

«iifisor  dpm  Bchr.u   angeführten  Aufsatz   üher  Gfttz  von  IJi'rlichiugen  no<:h  be4oa« 
diTB  d    Merkur  TTJ,  7,  .151  f.  (ühcr  Coetbe's  ..Götter.  Helden  and  WieUud",  y« 
Wiidwid  Mlbit);  auch  3.  I^itiff  (über  Klopstocla  Gelehrtt^nrepnbUk»,  350  ff  (QI 


Intwickoluiig^^Ang  der  Lit^-i.itur.    iTT3— IS(2.   Die  allgemeine  d   BibUoUn'k,    75 

[crtler,  nacLLer  auch  zu  einzelnen  Diebtern  der  Göttinger  Scbnle,  |  301 

ishcsondere  zu  Voss,  so  freundlich,  dass  von  einer  weitem  Befch- 

lung   der  von  ihnen  vertretenen  Richtungen  nicht  mehr  die  Rede 

in    konnte"*;    und    Uberdiess    biitten    die   kritischen   Artikel   des 

[erkurs    üJjer  Werke   der  schönen   Literatur  Wielandeu   90   vielen 

^erdruss  bereitet,  das»  er  sie  allmäblig:  ganz  eingeben  lies».  —  Am 

ewigsten  eingenommen  gegen  die  jungen  revolutionierenden  Theo- 

?tiker   und    Dichter,    namentlich    die   rhcin-maiuländischen,    zeigte 

ich    anfänglich   die   allgemeine   deutsche  ßibliothek.     Billigte  und 

d)te  sie  auch  nicht  alles,  was  von  ihnen  ausgieng,  so  war  sie  doch 

ihrem  Tadel   gehalten,    besonnen,    massig,   ohne  blinde  Vorliebe 

Jas  Alte,  und  nicht  selten   hatte  sie  die  wirklichen  Fehler  in 

len  Werken  der  jungen  Geniemilnner  mit  riclitigera  Tacte  herausge- 

inden  und  warnte  einsichtig  vor   den  Irrwegen,   die  sie  entweder 

shon    eingeschlagen   hatten,   oder   in    die   zu   geratheu  sie  Gefahr 

lefen"*.     Erst  nach    dem  Jahre   1775  änderte   Nicolai's  Zeitschrift 

len   Ton.      Um    diese  Zeit  war  er   schon   mit  Herder   zerfallen*'': 

nun  erschienen  Anfang  des  Jahres    1775  die  ,, Freuden   des  jungen 

kVerthers**    etc.,    wodurch    er  Goethen   gegen   sich    aufbrachte,    und 

777 — 78  sein  ,, kleiner  feiner  Almauaeh*'  ete.,  der  die  Enthusiasten 

T  das  deutsche  Volkslied,  vornehmlich  Bürgern,  verspottete.     Da- 

Inrch,   wie  durch  anderweitige  Reibungen,  gerieth  er  in  ein   feind- 

digcs  Verhflltuiss  zu  den  meisten  Hauptvertretern   der  neuen  Lite- 


h  i-ter):   4,  33H  ff.  (über  Clavigo,   den  neuen  Menoza  von  Lenz  und 

f\  ui;    1775,  1 .  94  ff.   füber  Leuzens  Anmerkungen  üler'a  TheAter/: 

>:;  ti-  (UbcrNiooJai*s  Freuden  des  jungen  Werthers  eic.i;  3,  HT  ff.  (über  Klingers 

lificko  ..dna  leideudp  Weib"  und  „Otto").  115)  Der  Jahrgang  17T(i  des  d. 

[erkurs  wurde  gleich  mit  einem  Gedicht  von  Goethe  eröffnet.  1 16)  kh  sehe 

|erb«i  uAttLrlich  von  Mercks  Beurtheilung   der  Leiden  Werthers   ('J6.  1  .  I02  ff. 

3.  t?)  ganz  ab   und  beziehe  mich  nur  aitf  Recensionen   von  Männern,   die 

<nr  Neunziger  herein  und  noch  später  zu  der  allgemeiueu  d  Bibliothek  viele 

geliefert  haben,   wenn    ich  besonders  verweit^e   auf  duu  Anhang   zum 

■^l.  ßande,  S.  1  Hill  ff.    (Biestera  Anzeige  der  BUttcr  von  deutscher  Art  und 

!nn«t,  von  denpu  er  entzückt  ist);   2*1,  2,  472  (Eschenburg,  über  die  von  Lenz 

's  dratache  Theater  bearbeiteten  „Lustspiele  nach  Plautua",   Leipzig  1774.    **., 

roTAu   auch  Goeth'*  Autheil   hatte;, vgl.  Morgenblatt    \^:\^,    N.  l^rt  den  Brief  an 

vom  6.  Mär^  ITT:0;  27,  2,  atil  ff.  {Kscbenburgs  Anzeige  des  Götz  von 

linyou    nud    der  „dramaturgischen   Allhandlung*'   über   dieses   Schauspiel, 

npzig  1T7I.    s,   die  dpm  Giessner  Chr.  11.  Sclunid  beigelegt   wird   [eine  Xach- 

dve  nach  Sehmids  Aeusseruuff,  im  d.  Morkur  1774,    I.  ISI  sehr  bedenklich 

tU  die  Lessing  12,  42M  ein  „Wischiwusohi"  nannte:   des  Clavigo;   des  Hof- 

des  neuen  Menoza  und  der  Anmerkungen  liber^s  Theater  vonLeuz;  des 

tto  und  d«?s  leidenden  Weibes   von  Klingen;   Anhang  zu  Bd.  25— :jt),   S.  7ii3  f. 

!ichenburg,    über  die  „ftücbtigen  Aufsätze"  von  Lenz);   3',  I,  219  ff.;   225  f. 

iratiT,  aber  Dichtungen  von  Mahler  Muller).  117)  Vgl.  S.  9. 


76    VI.  Vom  Eweitou  Viertel  Uea  WUl  Jaiirhuadcrts  Ms  zu  Üoetli«'«  Tod. 

3Ül   ralurriclituntjeu'**,  und  daraus  erklärt  sieb  die   lange   licrkOniinlicbi 
Aufia-ssimg,  Nicolai   als    den   borniertestesteu  Kritiker  und   alt*  dei 
ärgsten  Querkopf  in  Sachen   des  Geschmacks   zu   verdchreicni   di 
sich  in  viele  Dinge,  von  denen  er  wenig  oder  gar  nichts  verstanden^ 
gemischt;  alles  Gute  und  SchOuc,   was  nicht  von  seiner  Partei  go- 
kommeu;    hemäkelt;    überall   Händel   angefangen   habe;    und    dei 
alleini<;en  Grund  der  vielen  Streitigkeiten,  in  die  er  nach  und  nac] 
gerteth,  in  seinem  Eigendünkel  und  in  seiner  Eitelkeit  zu  sucb< 
die  ihn  zu  dem  Glauben  verleitet  hätten ,  er  sei  vor  allen  Andern 
zur  Bevormundung  der  deutseben  Literatur  und  Geistesbildung,  zui 
Vorkämpfer  der  Aufklärung  und  des  gesunden  Menschenverstand« 
berufen.    So  theilt  er  in  vielen  Beziehungen  Gottscheds  Loo»,  aucl 
darin,  das»  über  sein  spfiteres  Verhalten  die  grossen  Verdienste  ga 
vergessen  zu  werden  ]»flegen,   die  er  sich  in  seinen  jungem  Jahi 
um   unsere  Literatur  erwoibeu   bat.     Ich   bin   weit   davon  eutfeml 
abläugnen  zu  wollen,  da!*8  er  den  Übeln  Ruf,  der  an  seinem  schrift 
stellerischen  Namen  haftet,  zum  allergrussten  Theil  selbst  verscbuldi 
hat.     Allein    wie  Gottsched  in    seinen  Rruideln    nicht    überall    um 
durchaus    im  Unrecht   war    und    seine  Gegner   nicht   immer   Bechl 
hatten,  so  wird,  wer  unbefangen  die  Acten  geprüft  und  sich  bc«oi 
ders  in  den  gedruckten  Briefen  aus  dem  letzten  Drittel  des  vorigei 
Jahrhunderts    etwas    unjgcsehen   hat,    auch  Nicolai  nicht   unbedinj 
verurtheilen  und  seineu  Widersachern  in  allen  Stücken  Recht  gehen  "*^ 
Er  verkannte^   als  Goethe   auftrat,    in   diesem    wahrlich   nicht   dci 
genialen  Dichter  und  betheuerte  die  hohe  Bewunderung,  von  der 
für  den  Götz  und  den  Werther  durchdrungen  wilre,   nicht  bloss 
dem,  was  er  um  die  Mitte  der  Siebziger  drucken  Hess,  sondern  aucl 
in  seineu  Briefen  au  Freunde,  gegen  die  er  sein  Ilcrz  ansschUttetej 
als   er   schon  Anlass   genug   zu    bittern   Klagen    Über  Goethe    und 
dessen  Freuude    zu    haben    meinte.      Aber   er    koniite  von  seineia, 
Standpunkte  aus  , .solche  persönlichen  Satiren   nicht  billigen",   wi< 
sie  Goethe  in  seiner  Farce  gegen  Wieland  hatte  ausgehen 
und    wie   er   sie   in   den   ihm   zum   Verlag    angcboteueu    „Possen* 
spielen***^  fand.    Als  er  sich  dann,   von  Mendelssohn   dazu  auf| 
muntert*",  entschloss,  in  der  zugleich  die  Sprache  der  KraftmÄniier" 


118)  Vgl.   obeu  S.  0  f.  lIOl   nier,   wo  zunAohst  nur  von   sdncm 

VerfaUreu  gegen  tJueihe  aud  dcu  Schlagen,  die  er  sich  dadurch  /uzog,   die 
laU  kaiui  ich  dem  nur  biistiiuuit'n,  was  Prutz«  der  Gottiugcr  Uichiorbuiid  S.  SOifj 
yoto  2  bemtTkt  hot :   Nicolai  bei  weder  so  &iiiefasbUrgt'rlich  bcschnkuki.  noch 
t^-lpi^rh  ticweacu,  wie  Goethe  c*  aufgclasst  etc.  120)  Dem  „nioraliacb-jiolit 

I  |>L-U8pinl"  und  vielleicht  auch   dem  „Dr.  Hahrdt";   vjj;].  Itriefe  aus  de 
urini^e  von  Ooetho  S.  UM  f    und   diuu  Oünizer,   FrauenbiJdor  S.  Ii: 
KcM  I.      121 ) Mcohü'8  Leben  toq  Ooeckiag  S.  52  f. ;  Ussmgi  s.  Sduiflen  13,  W 


Entwickclungflgang  dnr  Litcrftttir.     1 773— 1832.    Dio  allgftm.  d.  Bibliothek.    77 

verspMtenden  Schrift  „Freuden  des  jungen  Wcrtlicrs;  Leiden  und  5  301 
Frenden  "Werfbers  des  Mannes.  Voran  und  zuletzt  ein  Gespräcli*"" 
seine  Meinung:  Über  die  gefährliclien  Folgen  abzugehen,  die  Goethe's 
Wertber,  ein  so  ausgczciebnctcs  Werk  es  aurh  von  Seiten  der 
dicbtcriscben  Kunst  sei,  für  die  Jugend  nach  sich  ziehen  krnintc, 
und  einen  Versuch  zu  liefera,  wie,  bei  der  geringsten  Veränderung 
der  Umstände,  dem  Schicksal  Werthers  eine  Veränderung  hätte  ge- 
geben werden  können,  dass  die  schreckliche  Katasti'opbe  nicht 
noth  wendig  gewesen  wäre:  so  machte  ersieh  zwar  durch  die  ausser- 
ordcDtliche  Plattheit  und  AbgcBchmacktheit  dieses  Versuchs  und 
durch  die  albernen  Sticheleien  darin  auf  die  Geniemänner  (die  „viel, 
neust'  aufgehrachterraassen ,  vom  ersten  Wurfe,  von  Volksliedern; 
and  Ton  historischen  Schauspielen;  zwanzig  JAhrchen  lang,  jed'q  in 
drei  Minuten  zusammengedruckt,  plauderten,  auch  aufn  Batteux 
Bcbimpften")  nur  lächerlich;  die  Mcinun^r  jedoch,  dass  Goethe's 
Roman  gefährliche  Wirkungen  in  der  Zeit  haben  könnte,  theilten 
damals  wenigstens  mit  Nicolai  und  Mendelssohn,  wenn  auch  viel- 
leicht nicht  ganz  aus  denselben  Gründen,  Mflnner  wie  Lessing '", 
J,  Moeser'*^  uud  GarAc'=\  In  keinem  Falle  hatten  Goethe  und 
seine  nilcbston  Umgebungen  Ursache,  Über  Nicolai's  BQchlein  so 
sehr  in  Zorn  zu  gerathen,  wie  es,  freilich  nicht  nach  Goethe's 
eigenem  Bericht  *" ,  aber  nach  Mercks  und  Nicolai's  Briefen  ge- 
schehen sein  muss;  und  wahrscheinlich  wäre  darüber  auch  nicht 
80  grosser  Lärm  von  ihnen  erhoben  worden,  hfitte  Fr.  H.  Jacobi  in 
aeincr  Erbitterung  gegen  Nicolai  bei  Goethe  nicht  das  Feuer  ange- 
facht**'. Den  „Freuden  Werthers"  folgte  noch  vor  Eintritt  des 
Frühlings  !L  L.  Wagners  Farce  in  Knittelversen,  „Prometheus,  Deu- 
kalioD  und  seine  Recensenten"  etc.*^,   die  wieder,  und  auch  noch 


122)  üerliu  177».  S.  123)  Vgl.  S.  7,  Anm.  !2.  124)  Verniiacbte 

SfUtiftfin  i,  läl.  125)  EngüU  St-brifton  1 ,  3S  ff.  wo  S.  2fi  ff.  bcwoiscn,  wie 

»ehr  ftucfa  Garre  von  der  tiefen  Wahrheit  und  der  hinrcisaenden  Gewalt  der 
goetbwcben  Dirbtttiig  erfrisst  war;  v^d.  auch  seine  Briefe  an  Weisse  1,  ^6  ff.; 
116  f.  —  Boien  gefiel  Kicolai's  Parodie  nicht  Übel.  Er  schrieb  den  '20.  Februar 
t77ä  an  Nicolai:  ,Jch  habe  mich  sehr  gefreut,  dass  Ibr  Urtbeil  über  Wertbers 
]>idcn  80  sehr  mit  dem  moinigen  übereinstimmt.  Ich  verkenne  die  Absicht  Ihrer 
Schrift  gar  niclit,  die  mit  einer  Pbilosophic  und  Laune  gescbrieben  ist,  die  ihrem 
Verf.  grosse  Ehre  macht.  Am  meisten  hab  ich  mich  über  das  nachbarliche  Genie 
f«frrat.  —  Goethe's  Buch  wird  iaat  allenthalben  ganz  falsch  an^sehen,  als  Ver- 
llieidigimg  des  Selbstmordes.  In  unsem  Gegenden  stellen  die  wirklichen  Charaktere, 
nacb  denen  er  gezeichnet  uud  die  er  nicht  immer  unkenntlich  genug  gemacht  hat, 
»ein  Werk  noch  voUendB  in  ein  falsches  Licht".  Weiubold,  Boie  S  HJ5. 
I26>  2fi,  230  ff  127|  Vgl.  Briefe  aus  dem  Freundeskreise  von  Goethe 

S.  115  f.  and  dazuDüntzer  a.  a.  0.  S.  277.  Note  1.         128)  Göttingen  (Leipzig) 


78     VL  Vom  zwHira  Ticrtül  des  Xmi  Jahrkundcft«  bi«  sa  GorUkc*»  TyL 

j  3ui  lu  demselben  Jiibre,   auf  der  Gegenseite,   aber   ohne   das»  Xitol 
darou  *vu»«te,  eiue  andere  Farce  in  derselben  Verwirt,  „Wen»ch< 
Thiere  und  Goetle'*  etc.'**,  hervorrief'*".  Wagiier» Stück,  iu  welch« 
Nicolai,  neben  andern  Recensentcn  des  Werther  in  Thiergestalt,  ftl 
Orang-Outang  auftrat,   wurde  allgemein  Goethen  zugeschrieben,  d4 
üich  ftl»er  üffentlicb    dagegen  erklärte   und   Wagnern  als  Verfi 
nannte'".     Merck,    der'"  auf  Nicolai's   wiederholtes  Ansuchen  dk 
auf  eine  Beilegung  der  Feiudeeligkeiten  berechnete  Recension  d« 
goetbeadien  und  nicolaiachen  Wcrtlier  fOr   die  allgemeine  deutsche 
liibliotbek  lieferte'^,   suchte  nachlier,   als  Nicolai   in   einer  Anzeij 
von  Goetbe's  „Dr.  Babrdt",  der  Farce  gegen  Wieland,  dem  „moi 
lisch  politischen  Puppenspiel",   so    wie  von   Wagners  Farce  etc, 
gepeu   Goethe    heftig   polemisicii   hatte,    in    einem   Briefe,    der    di 
-Mannes  Charakter  in  das  schönste  Liebt  setzt'",  durch  den  freun« 
liebsten  Zuspruch  beschwichtigend  und   besünftigend  auf  Nicolai 
wirken;  indess  waran  eiue  Aunglcicbung  zwischen  diesem  undGoell 
wohl  nicht  mehr  zu  denken'**.     Wie  durch  die  „Freuden  Wcrtbers" 
so  machte  sich  Nicolai  nach  anderer  Seite  hin  durch  den  „klein* 
feinen  AlmaDach*""   lächerlich  uud  verhasst.     Er  wollte  mit   dies« 
Sammlung,  welche  Herder**  als  „eine  Schüssel  voll  Schlamm'* 


129)  Der  Verf.  war  J.  J.  Hnitingcr  in  Ztirich;  vgl.  (Hirzd>  Ilriefc  von  0< 
ftn  hclvctUobt;  Frounde.    Zur  Ftier  des  21.  Mai   t^(.T.    Leipzig  isfiT.   S.    S,  11 
{'M)i  ßeidc  Farcen  siod  wieder  abgedruckt  in  Duiitzers  Studien  S.  211 — 34t 
U!)  Vgl.  Goethe*s WVrke  20,  3:il  ff.;  Riemer,  Mittlieilungcn  '1,  «WT  oder 
Btiefweclibel  zidscben  Goethe   und  Knebel   I,  b;   dazu  Briefe   zwücbcD   Qldfli^ 
Heiosc  etc.  !,  213  f.;   221;  aber  ancli  Briefe  ao  und  von  Merck  I63S,  S.  2^  t 
und  Briefe  aus  dem  Freundeskreise  von  Goethe  S.  U".  132)  Xtch  dem 

letzt  angeführten  Schreiben   und   nach    den  Briefen  an  ihn  IS35 ,   S    65  ff*. 
13:»  2t),  I,  lo:i  (f.  134)  AUgemeine  d   Bibliothek  2i;,  1,  202  S.  t3J 

Briefe  aus  dem  Freundetkreiae  von  Goethe  S.  131  ff.  136)  Vgl.  von  Briefe 

die  sich  auf  diesen  Zwist   beziehen,   ausser  den   schon  angefahrlea  noch  Briefe^ 
ftue  dem  Freumle^ikreise   von  Goethe  S.  U5  f.;    121;    129   und  Briefe  aü  Merck 
1^:k\  S.  "5  f.;  So.    Der  letzte  Briet  ist  besonders  merkwürdig  wegen  des  Scll»st- 
gcfQhls,  womit  Nicolai  versichert,  da.S8  er,  ohne  sich  rttJimcu  zu  wollen,  vor  dem 
Publicum  sehr  bald  mit  Goethe  fertig  werdeu  wollte,  wenn  deraelhe  etwa  auf  den 
Kinfall  kikme,  mit  ihm  zu  spielen,  wie  die  Katze  mit  der  Maus  spiele,   oder 
er  mit  Wiclaiid  grepiclt  habe   und   noch   sidele.  —  Üeber  den  guiuen   Verlai 
dir.ser  Sache  und  die  Kritiken  und  besondem  Schriften,  die  Goethc's  Werther 
den  Siebzigern  überhaupt  hervorrief,  vgl.  DUntzers  Studien  S.   IS3  IT   andZimmc 
mann,  Werthers  Lc^idcn  uiul  der  literariiche  Kampf  um  sie.  im  Archiv  f.  d.  Studitn 
ü.  ncuoroii  Sprachen  lö.  241—298.  137»  „Ein  feyner  kleyner  Alman&ch  V 

»chocnua  cchtcrr  üblicherr  VoUksIieder ,   lustigerr  llejen  unudl  kl*'glicht*r  Mui 
getchichte,   gc-sungrn    von   Gabr.   Wunderlich    W17I     Benkelseugerru   zu   l>eswai 
beranfgf>(;eben    von  Dan.  Seuberlich,   Schußterm    tJtu   UitzmUck    ann    der    Kll 
2  Jahrgiuge,  Berlin  und  Stettin   177^.  7S    12.  13S)  In  drm  §  JW,  43 

gnogvnen  Aufutz 


Eutwickehiog«gÄTig  drr  Litorator.    1773— lS:i:i.    Die  ftUg^m   d   Biblioibok.    79 

zeichnele,  die  indess  nebeu  scLIeclU-u  Stücken   auch   manches  gute  j  3t)l 
und  vortreffliche  Volkslied  (doch  nicht  ohne  alle  Aeuderun^a^n   der 
alten  Texte i  brachte,   ,,dein   übennflesigen  Geschwätz  von  VoIkBÜc- 
ilern  ein  wenig  in  die  Quere  kommen'*'",   ,,nn9ern  sein   wollenden 
GeuieSf    die   allerlei   Unfu^^   treiben ,    einen   kleinen  Zwick    in    die  i 

Ohren  geben,  dabei  aber  auch  solche  Volkslieder  aus  der  Dunkel- 
heit ziehen,  die  wahre  Naiveti\t  hätten*"  ^  Dass  die  Sammlung 
und  insbesondere  die,  wie  der  Titel,  in  alterthümelnder  Sprache  und 
Wortschreibung  ahgcfasstcn  Vorreden  zu  beiden  Jahrgangen  zunächst 
ge-gen  Bürgers  „Hcrzensausgnss  Über  Volkspoesie"  gerichtet  waren, 
zeigten  schon  die  im  Titel  gebrachten  Numen.  Bereits  in  alter  Zeit, 
(t  sieh  Mstr.  Seuberlich  in  der  Vorrede  zum  ersfeu  Jahrgang 
lehinen,  sind  die  Schuster  bei  deutscher  Nation  sonderlich  be- 
flissen gewesen,  liebliche  Reien  und  Gesänge  zu  machen;  die  Lein- 
,Äber  haben  sich  von  jeher  flink  gezeigt,  die  von  Schustern 
iten  Keien  zu  singen,  darob  auch  bald  bei  Feiei-abend  zu 
klügeln  und  weidlicbe  Theorien  zu  erdenken.  Nachher  jedoch  er- 
hoben sich  die  Leinweber  ungebührlich  über  die  Schuster  und  wollten 
die.'^eu  ihren  Ruhm  in  der  Poeterei  rauben;  tauften  allerlei  hübscJie 
und  artige  Einfälle  in  der  Poeterei  „den  ersten  Wurf'*,  als  ob  etwa 
ein  Leinweber  sein  Schilf  wUrfc,  und  einen  hohen  Sinnesbegriff,  der 
plrttzlicb  den  Poeten  antrete,  „einen  Sprung",  gleich  als  ob  dem 
Weber  in  Folge  ,,zu  groben  Wurfes*'  ein  Faden  spränge.  Mit 
solchem  altmodischen  Gcnamsel  ist  es  aber  eitel  Mischmascherei. 
Dichten  und  Schustern  geschah  aufu  ersten  Schnitt,  frei  aus  „innerm 
Drang"  eine  Sohle  zu  schneiden,  wie  über  dem  nackten  Fu8*?e  ob 
der  Sohle  der  lebendige  Odem  freier  Luft  webte  und  wehte,  so 
webte  niid  wehte  auch  alles  in  der  Poeterei.  Da  nun  in  der  Folge- 
ze\i  das  liebe  AKe  nimmer  gelten  sollte,  ward  aus  der  „P(ietcrei  die 
Versmacherkunst",  aus  der  Schusterei  die  Schuhmacherkunst,  und 
tretinten  sich  grimniiglich.  In  den  letzten  betrübten  Zeiten  gieng 
vftMends  alles  dninter  und  drüber;  Gelehrsamkeit ,  Verbesserungs- 
und Verschnuerungssucht  würde  das  ganze  menschliche  Geschlecht 
verderbt  haben,  wäre  nicht  noch  bei  dem  gemeinen  Haufen,  absou- 
iderlicb   bei   den  ehrbaren  Gewerken,   ein   kleines  FUnklein   unver- 


139)  Zu  denen,  welche  Herders  Auregung  zur  Samtnlung  von  Volksliedern 
loitetcu,  geborte  auch  Schloezer,  der  HerUern  zu  TerLOhnen  suchte  mit  dessen 
leu  \Vortcn  lin  den  Blättern  von  d.  Art-  und  Kunst):  „Herder  gehöre  zu  der 
^reo  Racc  von  Theologen,  den  galanten  witzigen  Herren t   denen  Volkslieder, 

|dir  Auf  Strassen-  und  Fiscliinarktcn  gesungen  würden,  so  uiteresaant  wie  Dog- 
latike-n  seien'.     0    Schade  im  Weimar.  Jahrbuch  3,  247.  14U(  Vgl.  seine 

ltri«ie  in  Leasings  s.  Schriften  13,  55^;  5S5  f.;  5üi,  und  in  Moesers  vermischten 

Sciriften  2,  IC4i. 


^^p 


n 


80    VI.  Vom  zwoiton  Viertel  des  XVTII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod 

5  301    derbter  Natur  liegen   geblieben.     Der  llebea  Poeterei   würde    das 
Versmachen  auch  den  Garaus  gemaclit  haben,  webte  and  wehte  die 
alte,  deutsche  redliche  Poeterei  nicht  noch  bei  den  ehrbaren  Band 
werksburschea:  die  wisRcn,  dass  Poeterei  „nentensausguss''  ist  uu 
aus  „innerm  Drang"  hervorschwellen  muss.     Dabei  sind  noch  immer 
die  Schuhmachergesellcn  und  die  Leinwebergesellen,   wie  sonst  die 
voniehnisten ;  denn  mit  den  neuen  Gesellen,   die   hin   und   her  ge- 
spürt werden  und  sich  Genie's  nennen,  die  Läng'  und  die  Quer*  toi 
„Volksliedern'*,  vom  „ersten  Wurfe  und  Sprunge"  schwätzen,    iat*i 
eitel  Mnmmerei;    sie   sind    doch    nur  „Versemacher**.      Mit   solch 
Mischmacherei  alter  und  neuer,  feiner  und  grober  Art  ist  nicht  zu 
hoffen,  alte  deutsche  Volkspoeterei  möchte  neu  eroporgebracht  we 
den,  wie  die  Genies  etwa  wähnen.     Die  äussere  Form  thut*»  wah 
lieh  nicht.    Es  muss  traun  ganz  gcthan  sein,  oder  mnss  gar  bleibe 
Wohlan,    ihr  Genies!   wollt  ihr   deutscher  alter  Volkspoeterei  aufi 
helfen,   lasst  alle  Cultur,  Ucppigkcit  und  gelahrtes  Wesen,   werd 
ehrliche  Handwerksleute,  arbeitet  \nele  Wochen  mit  Macht,  bis  ein 
Tag  kommt;    da  ihr  den  „Drang"   fühlet,  Volkslieder  zu  dichten. 
Da  wird   denn  Thatkraft  inne  sein,   die   werden  die  Seele  füllen, 
werden  das  Volk  wie  ein  Feuer  erschüttern,  werden,  einem  fresse 
den  Krebs  gleich,  um  »ich  greifen,   werden   aller  bösen  Cultur,   di 
enem    „Schnitten"    und   ,, Würfen"    hinderlich    ist,    rein    schaha 
machen.    Sollt^s  euch  aber,  meine  Genie^s,  doch  nicht  gelingen,  a 
deutschem  Vatorlande    die    leidige   Ordnung    und   eiskalte  Vcruun 
ganz  weg  zu  singen  und  dafür  einzuführen  den  einfältigen  Kindersi 
und  ehrlichem  Köhlerglauben,   der  euch  Volkssiingem  wohl  füget 
wird   doch   deutschem  Vaterlande  eure  Handarbeit  mehr  Fromm 
bringen,  als  eure  putzige,  windschiefe,  gelehrte  Volkslieder,  woroi 
ihr  eitel  Spielwerk  treiht  und  die  das  Volk  nimmer  singen  m5chl 
Hierauf  rirhtet  Mstr.  Seuberlicb  seinen  hausbackenen  Witz  gemdi 
gegen  Bürgers  Aufsatz,   dem   es  der  Leser  schon  anmerken  werdoj 
dass  er  wieder  eine  von  einem  Leinweber  ausgeheckte  neue  Theorie 
und  Klügelei  enthalte.     Nur  das  dürfe  diesem  Mstr.  Daniel  Wuudei 
lieh  zugegeben   werden,    dass   es  gut   wftrc,    alle  alten  VolksHedi 
würden  aufbehalten  und  in  Druck  gegeben;  zwar  nicht  für  die 
lehrten  Versmacher,   dass  sie  darin  eine  Fundgrube   für  ihre  Kum 
hätten,  sondern  in  Städten  für  ehrbare  Handwerkshurschen,  auf  dem 
platten   Lande  fUr  Spinnstnben  und  auf  den  Märkten  für  ß&nkel- 
sftnger,  die  sich  damit  nühren.     Auch  in   der  Vorrede  zum   zweite 


k 


Jahrgange  fehlt  es  nicht  an  allerhand 
platten  Ausfällen  gegen   die  Genies'". 


zum  Thcil 
Fortan   wurde  Nicolai'» 


sehr  groben  um 


Bi 


EDtwickelonsgaDg  der  Literatur.    1773—1832.    Garve.    Sturz. 


81 


Miothek  die  eifrig^ste  Gegnerin  sowohl  der  sogenannten  Originalgenies  §  301 
und  Kraftmänner,  wie  aller  Beförderer  der  Empfindsamkeit  und 
Schw&rmerei'".  —  Aber  nicbt  bloss  in  der  Journalkritik  bildete  sich 
gegen  sie  nach  und  nach  eine  mächtige  Opposition,  auch  anderwärts, 
bei  vielen  altern  uod  jUngern  Schriftstellern,  regten  sich  Missmuth, 
Unwille,  Satire  und  sprachen  sich  theils  öffentlich,  theils  in  Briefen 
ans.  Ich  will  hier,  statt  aller  Andern,  von  denen  wir  schon  aus 
den  Siebzigern  Zeugnisse  der  Art  haben,  nur  zwei  Männer  nennen, 
die  unter  die  besten  Prosaisten  joner  Zeit  gerechnet  werden  dürfen 
and  auch  wegen  ihres  Charakters  in  der  allgemeinsten  Achtung 
standen:  Garve  und  Sturz.  Dem  ersten,  der  noch  ein  Manu  der 
alten  Schule  und  der  vertraute  Freund  Weisse's  war,  gereichten 
schon  die  Blätter  von  deutscher  Art  und  Kunst  zum  Aergerniss'", 
and  wenn  er  auch  von  Werthers  Leiden  hingerissen  war,  so  schenkte 
er  doch  dem,  was  sonst  von  Goethe  und  dessen  Partei  ausgieng, 
keineswegs  seinen  Beifall*'*.  Sturz,  schon  eher  ein  Mann  der  neuen 
Zeit,  da  er  mit  Klopstock  und  Gei'stonberg  von  Kopenhagen  her 
befreundet  war  und  auch  zu  dem  deutschen  Museum  mit  beisteuerte, 
liefts  in  dieses  bereits  1777'^'  einen  Aufsatz  einrücken,  der  die 
jungen  Geniemäuner  zur  Bescheidenheit  ermahnte"*;  und  zwei  Jahre 
später  erschien  in  seinen  Schriften"',  augeblich  von  der  Hand  eines 


BibliothoV  S.  3571  ff.  und  Miinso  S.  2<K)  Anm.  p.  Wie  Merck  und  Moeser 
}«lcoI&i'H  AJmAnach  aufnabnicn,  ist  aus  den  Bripff^n  aus  dem  F>eundeskrcise  von 
Goethe  S.  115  f.  und  aus  Moesors  vermischteu  Scliriftea  2,  IGl  f.;  I7'2  zu  erseliMi. 
ÜeljCT  Lessings- Verhalten  vgl.  Gnhrauer,  Lessing  2,  2,  00  (Lessing,  s.  Schriften 
12,  lU;  4Söt.  —  Bürger  soll,  nach  Jördens  1,270,  Willens  gewesen  sein,  sich  an 
Kicobki  durch  einen»  unstreitig  bittern  Ausfall  zu  rächen,  der  aber  nie  gednickt 
worden  Die  Stelle,  welche  sich  gegen  Daniel  Seuherlich  in  dem  kleinen  Aufsatz 
findH.  den  Bohtz  S.  M22  i.  aus  der  Hda.  zuerst  hat  abdrucken  lassen,  kann  hier- 
tmt  natürhch  nicht  gemeint  sein.  142)  Besonders  verfolgte  Musaeua  in  seinen 

rielcn  „Reccnsii'inchen"  von  Romanen  die  Kraftgenies  und  die  Empfindsamen  mit 
hclneta,  durch  «las  häufige  Wiederholen  derselben  Wendungen  immer  stumpfer 
werdenden  Wiiic.  Meistens  hatte  er  es  freilich,  wie  die  allgemeine  deutsche 
fiibliolhek  tiherlianpt,  von  l'Tt*  bis  in  die  Neunziger  herein  entweder  nur  mit 
poptischcm  Mittt'lgut  oder,  wns  noch  \ie\  hAuliger  der  Fall  war,  mit  ganz  schlechten 
oiid  »ertchllichen  Erzeugnissen  der  Unterhaltungsliteratur  zw  tbuu.  N.'ichst 
Miisaetts  gehörte  Knigge  zu  den  rührigsten  Vorkilmpfem  der  Berliner  aesthetischen 
Kritik:  auch  er  hat  viele  Romaue  angezeigt,  ausserdem  aber,  neben  Eschenhurg, 
viele  Neuigkeiteu  im  dramaüschen  I-'ach.  Von  Biester,  der  nach  Herders  tmd 
Mercks  Äligange  unter  den  Mitarbeitern  an  der  Bibliothek,  die  über  Werke  der 
»chöuea  Literatur  berichteten,  unstreitig  der  geistvollste  und  in  der  ersten  Zeit  wohl 
mocb  der  unbrtnngenste  war.  wurden  die  Beitrüge  seit  dem  Ausgang  der  Siebziger, 
wo  Knigge  und  Schatz,  auch  Manso  und  J.  G.Milllor  (der  Verf.  des  Siegfried  von 
Liudrubcrg»  erst  eintraten,  immer  spärlicher.  143)  Vgl.  seine  Briefe  an  Weisse 
t,  25f.  U4i  Vgl.  S.  77,  Anm.  125  und  S.  72,  Anm.  09.         145)  2,  244  IT.; 

Schriften.  Ausgabe  von  1 7SG.  2, 107  ff.        146)  Vgl.  auch  2, 342  ff.        147t  I .  ao.T  ff. 


kr>V«nt»in.  t^nindii'ji. 


Aufl.  IV. 


S2     VI.  Vom  rwdlcn  Viertel  des  XVUI  Jahrliimdoru  bis  zu  GocÜic'fc  ToJ. 

§  301  Freundes,  eiu  Auliaiig  zu  dem  zwölften   seiner   im  Jahre    176S   ai 
einer  Reise  etc.  geschriebenen  Briefe'",  der  einen  sehr  starken  Er- 
gU88  des  Unmuths  Ober  die  neuesten  Literaturzustfinde  enthielt,  di< 
durch  den  Sturm   und  Drang-,  so    wie  durch  das  Empfiadsamkeits- 
fieher    herbeigeführt    worden.     Denn   hier   wurde   schmerzlich    und 
ztlrncnd  hingewiesen  auf  ,)die  ThräncnUbung  im   Mondschein,   auf 
den   Veitstanz   convulsivischcr  Leidenschaften,   auf   den   stark    sein 
sollenden  Unsinn,  abenteuerlich  aus  Barden  und  Skalden  geplündert, 
auf  die  Dramen,  wo  alle  Helden  Kenommiston  und  alle  Bösewichter 
Schaarwächtcr  wären";  auf  die  Dichter,  welche  „mit  dem  Stabe  in 
der  Hand  unsere  Mord-   und  Gespenstergeschichten   absängen ,   odci 
gar  den  Geist  und  die  Kraft  der  Nation"  in  Krllgen  und  Herhergeo 
suchten  und  „Volkslieder  nachzuleiern  nicht  errötheten,  als  wäre  t%i 
ein  schimmerndes  Verdienst,  so  witzig  als  ein  Handwcrksburscho  za.j 
sein";  auf  die  ,, sinnlose,  zerhackte,  holperige  Prose  oder  die  fiachca' 
Knittelreime",   die  uns  jetzt  nach   zehn  Jahren  geboten    würden, 
nachdem  wir  Lessing,  Mendelssohn,  Zimmermann,  den  Agathon  micLI 
Sulzern    gelesen,    uns   an    Klopstocks    himmlischen  Gedichten,    an 
Wiclands  irdischen  ergetzt  hätten";  auf  die  „PObeleien  im  Drama 

,  und   in   der  Satire",   auf  die  Einfälle,  sich  „niederzulassen  In  der 

leeren,  sumpfigen  Gegend  der  Natur,  dort  allein  Moor-  und  Haide- 
blumen  zu  sammeln",  oder  den  Dichter  bei  dem  „Strohfidelversler 
und  dem  Bänkelsünger"  in  die  Schule  zu  schicken.    „Durch  solehe 


Würfe  seien  wahrlich  die  Griechen  nicht  unsterblich  geworden.  Voo^J 
ihrem  Genie,  „das,  in  der  vollkommensten  Euphemie,  tiefen  Gehalt^H 
in  reizenden  Ausdruck  gekleidet,  habe  Aristoteles  seine  Begoln 
empfangen  und  nicht  Gesetze  dem  Genie  gegeben,  die  man  jetzt  so 
gern  verachten  mCichte,  weil  man  sie  nicht  mehr  ausüben  könnte." 
Sturz  erklärte  zuletzt  zwar  feierlich,  er  nehme  keinen  Antheil  an 
diesem  Ausfall;  allein  seine  Erklärung  beweist  durch  ihren  durchweg- 
ironischen  Ton  zur  Genüge,  dass  er  dje  Ansichten  seines  angeblichen 
Freundes  vollkommen  theilte,  ja  dass  er  sich  nur  unter  dessen  Maske 
versteckt  hat'*'.  Ihren  geistreichsten,  witzigsten  nnd  durch- gebildet- 
sten Gegner  hatten  die  Originalgenies,  wenn  von  Les^ing  ganz  ab-i 
gesehen  wird,  an  Georg  Christoph  Lichtenberg'*",  und  er 
würde  ihnen  noch  bei  weitem  gefährlicher  geworden   sein  und  viel 


148)  Vnter  der  Ueberechrlft  „sa  der  Note  Ilnbeni  betreffend"»  vgl  !,  2ül  f. 

14*J)  Gervinus  hftt  diese  Erkl&rtmg  so  verstanden,  als  sei  sje  enuüuift  ge- 
soalist  gewoBOUi  und  dem  gemäss  Sturzou  denjenigen  SchrifUtcUeru  zugnscUt, 
welche  aaf  Seiten  der  jungen  GeniaütAten  gestanden  und  die  Ui*vo]uCion  in  uoscntr 
LSter&tur  gebilligt  hiUtsn-  Ich  bin  aber  überzeugt,  er  wird  mir  t>etstuninea,  sobtld 
er  die  KleUe  noohznalfl  ansieht  und  damit  jenen  oben  angcfahncD  Aufati  tor. 
Scan  vergleicht  150J  Heber  sein  Leben  vgl.  4  375. 


EQtwickcluQgsgang  der  Lltoratur.     1772—83.    Lichtenberg. 


63 


* 


I 


erfolgreicLer  entgegengewirkt  haben,  wenn  er,  statt  bloss  vereinzelte  §  301, 
Ausfälle  gegen  sie  zu  richten,  einen  seiner  literarischen  Hauptpiane 
ausgeführt,  oder  auch  nur  Torsehicdene  von  den  Fragmenten  ver- 
üfTentlicht  hätte^  die  aus  seineu  Papieren  erat  nach  seinem  Tode 
herausgegeben  worden  aind.  Jener  Plan  .war  oino  satirische  Schrift, 
„Parakletor,  oder  TrostgrUnde  für  die  Unglücklichen,  die  keine 
Origiuulgeuies  sind."  Sie  scheint  ihm  besonders  am  Herren  gelegen 
zu  haben,  denn  er  hat  derselben  oft  in  seinen  Papieren  gedacht  und 
vielerlei  angemerkt,  was  er  darin  behandeln  wollte'^'.  V'on  den 
Fragmenteu  gehören  hierher  ausser  denen  des  Parakletors  noch 
vorzüglich  die  ,, Bittschrift  der  Wahnsinnigen"  und  das  Stück  „über 
die  Macht  der  Liebe" "^.  Das  deutsche  Publicum,  heisst  es  u-  A. 
im  Parakletor'",  „verlange  Origiualgenies  und  Originalwerke.  Aber 
daa  war  gerade  der  Punkt,  auf  dem  wir  es  erwarteten,  uud  es  ist 
ein  betrübter  Beweis,  wie  unerfahren  der  deutsche  Leser  in  der 
Kenntniss  seines  eigenen  Landes  ist;  immer  die  Augen  jenseits  des 
Rheins  oder  jenseit«  des  Canals  gerichtet,  sieht  er  nicht,  worauf  er 
tritt.  .  .  Es  war  eine  Lust  anzusehen,  droissig  Yorike  ritten  auf  ihren 
Steckenpferdeu  in  Spiralen  um  ein  Ziel  herum,  das  sie  deu  Tag 
xuTor  in  einem  Schritt  erreicht  hätten;  uud  der,  der  sonst  beim 
Anblick  des  Meeres  oder  des  gestirnten  Himmels  nichts  denken 
konnte,  schrieb  Andachten  über  eine  Schnupftabaksdose.  Shak- 
speare  standen  zu  Dutzenden  auf,  wo  nicht  allemal  in  einem  Trauer- 
spiel, doch  in  einer  Reoension ;  da  wurdeu  Ideen  in  Freundschaft 
gebracht«  die  sich  ausser  Bedlam  nie  gesehen  hatten;  Raum  und 
Zeit  in  einen  Kirschkern  geklappt  und  in  die  Ewigkeit  verschossen; 
es  biess:  eins,  zwei,  drei,  da  geschahen  tiefe  Blicke  in  das  mensch- 
liche Hera,  man  sagte  seine  Ileimlicbkeiten,  und  so  ward  Jlenachen- 
kenutaiss.  Selbst  draussen  in  Böotien  stand  ein  Sliakspeare  auf, 
der,  wie  Nebucadnezar,  Gras  statt  Frankfurter  Miichbrot  ass  und 
durch  Prunkschnitzer  sogar  die  Sprache  originell  machte  '*'.    Nieder- 

15t»  Die  Bnicbstllcke,  die  sich  davon  nach  seinem  Tode  Torgcfunden,  sind 
gedruckt  in  den  vennlschten  Schhflea  [Gottingen  1800  — isoo)  i,  Q5  £f.  (vgl.  dazu 
den  Vurbericbt  zum  1.  Bd.,  S.  XIIl  etc.)-  Auch  zwei  jUngere  Pliinc,  zu  einem 
aatiriftchen  Gedicht  und  zu  einem  Ronmn,  worin  im  Allgemeinen  die  Thorheiten 
ood  Mängel  des  Zeitalters  ans  Licht  gezogen  und  gegdselt  werden  sullteu,  blieben 
UDAnagefllhrt  (vgl.  vermischte  Schriften  2^  S.  XI  ff.  Von  dem  satirischen  Gedicht, 
»t  hier  bemerkt,  habe  sich  in  den  Papieren  Lichtenbergs  nicht  eine  Zeile  ge- 
funden: sollten  aber  nicht  die  zuerbt  im  Anfange  der  Achtziger  gedruckten  und 
in  die  Termischten  Schriften  4,  363  ff.  aufgenommenen  Hmchstucke  daraus  sein? 
luoiges  Nähere  über  den  von  ihm  beabsichtigten  Komau  hat  uns  Lichtenberg  In 
dem  gOttingischen  TafichoJikalender  mitgcthclltf  vermischte  Schriften  5,  -111  ff). 

152»  Vermischte  Schriften  t,  93  ff.;  !  15  ff.  153)  S.  tiy  ff.  JÖ4) 

KUnger?  —  Dcun  Goethe  kann  damit  doch  unmöglich  gemeint  sein. 


84     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XYIII  JahrbunderU  bis  zu  Ooetfae's  Tod 

^301  fiacbseii  summte  seine  Oden,  sang  mit  offenen  Nasenlöchern  und 
voller  Gurgel  Patrit^tismus  und  Spracbe  und  ein  Vaterland,  da«  die 
Sänger  zum  Teufel  wUnscbt.  Da  erklangen  Lieder  und  Romanzen, 
die  es  mebr  Mühe  kostete  zu  rerstehen,  als  zu  machen.  Kurz,  die 
Originale  waren  da;  und  das  Publicum  —  was  sagte  das?  Anfangs 
beschämt  über  die  unerwartete  Menge,  stutzte  es,  dann  aber  erklärte 
es  feierlich:  das  wflren  keine  Originale,  das  wÄren  Dichter  aus 
Dichtem  und  nicht  Dichter  aus  Natur,  durch  sie  würde  das  Capital 
nicht  vermehrt,  sondeni  nur  die  Sorten  verwechselt"  etc.  In  der 
„Bittschrift  der  Wahnsinnigen"  zielen  die  Schläge  besonders  gegea 
die  Sprache  und  den  Stil  der  Originalgenies;  den  Hauptarten  des 
letztem  sind  Namen  beigelegt,  die  zum  Theil  von  Salatsamen  her- 
genommen sind,  wie  „Gross  shakspearische  Nonpareille",  j^Englisch 
gYMcbachtcr  Hanswurst",  „Sachsenhäuser  Steinkopf,  bunt"  etc.  Wm 
Lichtenberg  „über  die  Macht  der  Liebe",  mit  besonderem  Bezöge 
auf  den  Werther  und  den  Siegwart,  im  Jahre  1777  aufgezeichnet 
liat,  ist  eine  verneinende  ßcantwortting  der  Frage,  ob  diese  Macht 
unwiderstehlich  sei  ?  Er  behauptet  nämlich  „mit  völliger  Ueber- 
zeugung:  die  unwiderstehliche  Gewalt  der  Liebe,  uns  durch  einen 
Gegenstand  entweder  höchst  glücklich  oder  höchst  unglücklich  zu 
machen,  ist  poetische  Faselei  junger  Leute,  bei  denen  der  Kopf 
«och  im  Wachsen  begritTen  ist,  die  im  Rath  der  Menschen  Über 
Wahrheit  noch  keine  Stimme  haben  und  meistens  so  beschaffen 
sind,  dass  sie  keine  bekommen  können."  Unter  den  von  Lic|j|tcn- 
\>erg  selbst  herausgegebeneu  Aufsätzen ,  in  denen  die  Kraftmänncr 
und  Empfindler  verspottet  werden,  sind  die  beiden  merkwürdigsteo 
die  Nachricht  „von  ein  Paar  alten  deutschen  Dramen"  und  das 
„gnädigste  Sendschreiben  der  Erde  an  den  Mond."  Jone'"  betraf 
zwei  im  Stil  dos  serhzchntcn  Jahrhunderts  nbfrefasste  Stücke  von 
dem  „osnabrückischen  Hans  Sachs",  Rudnlf  von  Belliukhaus*'*,  „der 
das  Talent,  Verse  ohne  Poesie  za  machen,  in  einem  hohem  Grade 
beaeasen  habe,  als  irgend  ein  neuerer  Lieblingsdichtcr  unserer 
Jugend."  Er  hat  nele  Stücke  geschrieben;  von  den  beiden,  die 
Lichtenberg  kannte,  bemerkt  er  beissend :  „sie  übertreffen  an  unter- 
haltendem Scherz  nnd  au  Lehre  die  meisten  unserer  Dramen  und 
Fr:igmcnte  von  Dramen,  und  von  der  Seite  des  mit  Recht  so  sehr 
beliebten  Sonderbaren  vielleicht  alle.  Sie  siud  dabei  ursprünglich 
deutsch,  haben  ihre  Schönheiten  weder  Rom,  noch  Griechenland, 
noch  England  zu  danken,  sind,  so  zu  reden,  mitreu  unter  Eichen 


155»  Zacrat  ge*imckt  im  »1.  Mnsenm  1"7*i.  2,  145  ff.:    vermhcht«»  Srhriftm 
•i  3  ff.  150»  liest,  iü  «einem  "V  Jahn«  Iil45  ni  Osnabrück;  t«:!.  >Vpii 

Jfthrbncb  4,  Mi  ff. 


EulwickelunijsgÄug  der  Literatur.    1773— 1S32.    MÄogcl  des  Ori^iaaJgenlee.  85 

entatanden  und  zeigen  mehr  aU  alles,  was  ich  gelesen  babe^  was  iu  §  30; 
dieeem  Fache  Genie  ohue  Umgang  mit  der  Welt  und  obue  Cultur, 
bloss  durch  Drang  allein  vermag"  etc.  In  dem  „Sendschreiben""' 
kamen  besonders  auf  die  Dichter,  die  der  Mond  zu  ihren  Oden, 
Trauerspielen  and  Romanen  begeistere,  und  auf  die  mondsüchtigen 
Humoristen  Aasfällo  vor'**. 

§  302. 
Und  doch  war,  so  wenig  es  auch  die  Gegner  der  neuen  Schule 
trbaupt  zugeben  mochten  und  so  manchen  Grund  zu  gerechtem 
Tadel  die  einsichtsvollem  unter  ihnen  an  ihr  fanden,  der  Geist, 
womit  sich  unsere  schöne  Literatur  um  die  Mitte  der  siebziger  Jahre 
erfüllte,  im  Vergleich  mit  dem,  welcher  so  lange  Zeit  in  ihr  fast 
durchgängig  geherrscht  hatte,  Ton  einer  viel  jugendlichern  Frische 
and  LebenskrHitigkeit,  zeigte  sich  in  seinen  Bewegungen  viel  freier, 
selbständiger  und  eigcnthUmlicher,  gieng  bei  seinem  Schaffen  viel 
tmmittelbarer  auf  die  Natur  zurUck  und  auf  das  Leben  ein  und 
suchte  auch  bei  weitem  mehr  deutscher  Sinnesart  und  Volksthüin- 
lichkeit  sich  anzuschmiegen.  So  wurde  manches  von  dem  jetzt 
wirklich  erreicht,  worauf  die  Kritik  schon  seit  längerer  Zeit  hinge- 
arbeitet, was  die  neue  Theorie  als  die  erstrebenswerthesten  Ziele  mit 
gutem  Recht  hingestellt  hatte,  und  anderem  suchte  man  sich  we- 
QJg>»tens,  so  weit  ea  irgend  möglich  war,  anzunähern.  Aber  freilich 
bewährte  sich  beides  vielmehr  nur  an  einzelnen  Erscheinungen  als 
an  dem  Ganzcu  der  neuen  Dichtung,  viel  mehr  an  dem,  was  iu 
den  kleinen  als  was  in  den  grossen  Gattuiigen  hervorgebracht  wurde^ 
und  in  (Lesen  vorzüglich  nur  an  Goethe's  Werken.  Denn  entweder 
blieb  hier  die  grosse  Mehrzahl  unserer  jungen  Dichter  mit  ihren 
Leistungen  noch  in  weitem  Abstände  von  jenen  Zielen,  oder  sie 
verirrte  sich  noch  viel  weiter  darüber  hinaus.  Das  letztere  konnte 
um  so  weniger  ausbleiben,  je  ungestümer  die  literarische  Bewegung 
diewr  Jahre  war,  und  je  entschiedener  sie  bei  dem  Beseitigen  der 
alten  aestlietisehen  Theorien  und  bei  der  Lossagung  von  allem  bloss 
üerkömmlichen  in  den  poetischen  Darstellungsarten  und  Formen 
auf  ein  Durchbrechen  jeder  Schranke  ausgieng,  welche  ftir  die  freie 


157)  Zuerst  !m  6.  Stack  des  gättingiscben  Magazins  TomJ.  1760;  vernÜBchte 
Schriften  4,  tsuff.  I5S)  Dazu  vgl.  noch  das  „Fragment  von  Schwänzen"  (ver- 
mischt« Schriften  3.  5S^»  ff.)  and  iu  dem  „Vorschlag  zn  einem  Orbls  pictus"  etc. 
ivermüchtc  Schriften  1)  S.  [\b — 140.  —  Oft  angeführt  ist  die  StcUo  aas  seinen 
Werkes,  dasa  er  liLgUch  sehen  müsste.  wie  Leute  zum  Namen  Gerne  kämen,  wie 
die  KeUdresel  znm  Namen  Tauscudfnss,  nicht  weU  sie  so  viele  Füsse  hnben,  son- 
dern weil  die  Mei&tcu  nicht  bis  auf  vierzehn  zählen  woUcn  (vermischte  Schriften 
l,  23«;  vgl.  n.  54M). 


86     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

§  302  Entfaltung:  der  Produftionskraft  nach  der  Meinung  der  jungen  Stür- 
mer irgend  ein  Hemmnisa  ahgcbcn  könnte.  Lessing  hatte  durch 
seine  letzten  dramatischen  Werke  gezeigt,  wie  unsere  in  fremder 
NachahmunpT  befaug-ene  und  deshalb  zum  allergrössten  Theil  bloss 
conventionelle  Dichtung  in  der  Hauptgattuug  der  Neuzeit,  der  sich 
jetzt  auch  nach  Goethe's  Vorgang  die  bedeutendem  Kräfte  zumeist 
zuwandten,  von  dem  Zwange  falscher  Regeln  befreit,  zur  Natur 
zurückgelenkt  und  auf  eine  zugleich  kunst-  und  volksmftssige  Weise 
reformiert  werden  konnte.  Allein  anstatt  daraus  und  aus  seinen 
kritischen  ächriften  zu  lernen,  dass  nur  die  Befolgung  falscher  und 
willkürlicher  Kunstvorscbriften,  aber  nicht  die  Beobachtung  der  in 
dem  Wesen  der  Poesie  tiberhauitt  oder  in  dem  Charakter  einer  be- 
sondem  Art  begrüudeteu  Regeln  die  Poesie  von  der  Natur  abführe, 
ihre  Wirkungen  auf  das  Gemüth  schwäche,  ihre  VolksthÜmlichkelt 
beeinträchtige  und  die  wahre  dichterische  Freiheit  im  Erfinden  und 
Anaführen  gefährde:  Hessen  diese  ungestümen  Dichter,  und  besonders 
die  dramatischen,  sich  von  ihrem  Enthusiasmus  für  Vorbilder,  iir^ 
denen  sie  nur  die  unvergleichliche  Naturwahrheit  der  Darstellung 
bewundeileu,  den  tiefen  Kunstverstand  in  der  dichterischen  Behand- 
lung aber  Übersahen,  oder  nicht  zu  begreifen  vermochten,  hinrcissen 
und  goriethen  damit  meistentheils  auf  den  Abweg,  vor  dem  Leasing 
am  Schlüsse  der  Dramaturgie  mit  so  dringendem  Ernste  gewarnt 
hatte,  dass  sie  im  alleinigen  Vertrauen  auf  die  Eingebungen  des 
Genie's  und  unbekümmert  um  alle  auf  eigentliche  Kunstform  und 
Sch<>nheit  abzielende  Regel  eine  Poesie  ins  Leben  zu  rufen  suchten, 
die  eine  treue  Rückspiegelung  unveHillschter  Natur  in  kr&ftig 
charakterisierender  Darstellung  der  Innen-  und  Aussenwelt  sein 
sollte'.  Es  schien,  als  hfltteu  sie  sich  von  den  theoretischen  Sätzen, 
welche  Voung,  Klopstock,  Herder  aufgestellt  hatten,  und  die  die 
Grundlage  der  neuen  Dichtungslehre  bildeten,  nur  diejenigen  recht 
gemerkt,  welche  von  der  Macht  und  den  Befugnissen  des  Genie*s 
und  von  dem  Unwerth  der  Regeln  handelten,  diejenigen  hingegen 
ganz  uubeachtel  gelassen  oder  nicht  recht  verstanden,  worin  ausser 
der  natUrlicben  Begabung  auch  noch  vieles  Andere  von  dem  Dichter^ 


§  302.  \\  Riemer  horichtot  (ina  (MIttbefluogpn  2, 6G5),  Goethe  hab«  in  fteioen 
letzteo  Jahren  ciDmal  tod  dt^  Emilia  Galotti  gesagt:  ,^u  meiner  Zeit  stieg  diu 
titück  wie  die  lusel  Dolos  aus  der  gottj^ched-gellert-woisseschen  Wnssertlutli.  um 
eine  kreissende  Göttin  barmherzig  aufzuueLmcn.  Wir  jungen  Lcnto  ormuthigt^m 
uns  darmn  und  wurden  Lcsslng  desLaib  viel  »chuldig**.  Man  nird  gern  sugelien, 
dass  von  den  juugoa  DramutikerD  der  siebziger  Jahre  noch  mancher  audere  tack 
au  diesem  Werk  ermutlii^  bahc;  keiner  aber  sonst  als  Goethe  aUdn  hat  das.  was 
er  Letsfaigen  deshalb  6chuldig  wurde,  zu  einem  reiiieii  Gewiiui  fOr  aasen» 
tisdio  Litentar  tu  bcnutx«!!  ventandeD. 


Kfltwickelnngsgang  der  Literatur.    1773—1832.    M&ngel  des  Orig^algcnies.    $7 

tind  zumal  von  dem  bloss  talentvollen  Dichter,  gefordert  wurde,  wenn  §  3iV2j 
er  Bedeutendes  schaffen  und  damit  grosse  und  dauernde  Wirkungen 
hervorbringen   wolle,    oder  worin  den  jungen   Dichtem  die  wich- 
tigsten  Rathschlflge   und   Belehrungen   ertheilt    waren.     Weil,    wie 
Voung  gesagt  hatte,  Shakspeare  vielleicht  weniger  gedacht  haben 
wUrde,  wenn  er  mehr  gelesen  liütte,  meinten  sie  wohl  auch,  durch 
Lectttre  könnte  die  Energie  ihres  Dichtens   eher  herabgestimmt  als 
gehoben  werden;  aber  was  hatten  sie  in  dem  Buche  der  Natur  und 
in    dem  Buche  des  Menschen  gelesen,   und  was   darin   schon  ver- 
standen?^    Und  war  denn  ihr  Genie  von  der  männlichen  Art,  dass 
c«  der  Hülfe  des  Studiums  nicht  bedurfte,  dass  es  durch  das  Studium 
nicht  genährt  und  auferzogen  zu  werden  brauchte,   wenn   es  nicht 
eingehen  sollte?'    Von  den  beiden  goldenen  Regeln,    an   die    man 
«ich,  wie  Young'  rieth,  bei  der  Composition  vornehmlich  zu   halten 
habe,    befolgten   die  jungen  Genies   die   zweite  zwar  gewissenhaft 
genug;  die  erste  dagegen  hatten  sie  entweder   übersehen,  oder  sie 
maasten  ihr  ungefähr  denselben  Sinn  untergelegt  haben,  wie  jener. 
Klopgtocks  Vorschrift,  dass  der  Dichter  sich  durch   kein  Regulbuch 
sollte  irren  lassen,  wurde  von  ihnen  gleichfalls  treulich  beobachtet, 
de^to  weniger  aber  sein  Rath  benutzt:  sie  möchten  vor  allem  Andern 
darnach  trachten,  sich  Meuschcukeuntniss  zu  erwerben,   und   re<^ht 
viele   Vorübungen   anstellen'.     Und   wie  viele  unter  ihnen  mögen 
«ich  das  alles  wohl  recht  zu  Herzen  genommen  oder  auch  nur  recht 
verstanden   haheu,   was  Herder  hier   und   da    dringend    empfohlen 
hatte?   z.  B.  der  Dichter,    der  auf  sein  Volk  wirken  wolle,  müsse 
den  Wahn  und  die  Sagen  der  Vorfahren  studieren,  sich  nach  alten 
Nalionalliedern  erkundigen,  um  tiefer  iu  die  poetische  Deukart  der 
Voraeit  zu  dringen  und  poetische  Fabeln  zu  neuer  Anwendung  zu 
erhalten;    sich   recht   in   seinem  Lande   und   in   dessen  Geschichte 
unithun,  sich   da  seine  Gegenstände   und  die  Mittel  zu  deren  Aus- 
schmückung suchen,   um  in  volksthUmlichem  Geiste  zu  ilichten  und 
seinen  W^erken  einen  volksthümlichen  Gehalt  und  eine  volksthUra- 
liehe  Farbe  zu  verleihen*.    Er  solle  von  den  Gesängen  der  Barden 
und   Skalden   nicht   die  äussere  Form    entlehnen,   sondern    iu    den 
innorn    Geist    des    Liedes,    in    die    innere   Bearbeitung    desselben 
einzudringen ,     überhaupt    jede    echte    Dichtung    der    Vorzeit    in 
ihrem  geschichtlicheu  Werden,    in    den   Bezügen    zu    der  Zeit    und 
zn    der    Natur,    worin   sie    entstanden,   zu    der   Bildung  und   dem 
^resammten   Geistesleben    des    Volks,    dem    der   Dichter   angehört 
habe,   zu   erfassen  suchen,  um  daraus  zu  lernen,  Gegenstände  aus 


2)  Vgl.  Bd.  ni,  422.  3)  V^.  3.  'ifi.  4)  A.  a.  0. 

32  r  6)  Vgl.  Bd.  IU,  439  und  442. 


5J  Vgi. 


SB    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XYin  Jahrhunderts  bis  zu  Goetlie^s  Tod. 

§  302  der  Geschichte  seines  Volks  und  aus  seiner  Zeit  oben  so  oigren 

80  wahr  darzustellen*.  Wie  wurde  Herder  inissverstandcu,  da  er 
das  Interesse  fUr  Volkspoesie  zu  wecken  suchte,  nicht  allein  von 
seineu  Widersachern,  sondern  auch  vou  seinen  JUng:ern!  Er  war 
weit  davon  entfernt,  die  Bildung  gesitteter  Zeiten  zu  verachten  und 
mit  Rousseau  den  so^^cnnnnteu  Naturzustand  zurOckzuwUnschen»  und 
so  fiel  ihm  bei  seiner  Anempfehlung:  der  Natur-  und  Volksdichtung 
auch  nichts  weniger  ein,  als  den  Stab  tlber  alle  Kunstpoesie  zu 
brechen  und  diese  durch  jene  verdrAngon  zu  wollen,  oder  alte 
V^olksgesflnge  in  allem  für  Muster  neuer  Gedichte  auszugeben:  die 
neuern  Dichter  sollten  an  jener  urmSssigeu  Poesie,  an  jener 
..Muttersprache  des  menschlichen  Geschlechts"  nur  unterscheiden 
lernen,  was  das  Wesentliche  und  was  das  bloss  Zufällige  oder 
Angeküustelte  in  der  Dichtung  gebildeter  Zeiten  sei,  um  in  ihren 
Erfindungen  vor  allem  Andern  nach  jenem  zu  streben,  ohne  sich 
durch  dieses  irren  zu  lassen;  wenn  etwas  verdrftngt  zu  werden  ver- 
diente, erklärte  er  unumwundeuj  so  wftr's  „die  neue  Eomanzenraacher- 
uud  Volksdichterci,  die  mit  der  alten  meistens  so  viel  Gleichheit 
habe,  als  der  Affe  mit  dem  Menschen"*.  Herder  hatte  ferner  in 
seinem  Aufsatz  Über  Shakspeare  noch  mit  der  grössten  Achtung  tod 
der  Poetik  des  Aristoteles  gesprochen"  und  Aber  Shakspeare's  Natur- 
wahrheit nicht  dessen  tiefen  Kunstverstand  in  der  wundervollen 
Composition  seiner  grossen  Tragödien  verkannt;  er  hatte  kurz 
darauf"  es  aufs  entschiedenste  geleugnet,  ilass  Shaksjicare  keine 
Regeln  beobachtet  habe,  und  er  fand  es  daher. sehr  tadelnswertb, 
dasa  jeder,  der  für  ein  Genie  gelten  wolle  und  darum  alle  Regeln 
verachte,  sich  immer  auf  das  Beispiel  Shakspeare's  beriefe.  Aber 
Lenz,  der  behauptete,  er  habe  sich  durchaus  in  »Shakspeare's  Manier 
und  die  C  0  m  p  0  8  i  t  i  0  n ,  die  ins  Grosso  gehe  und  sich  auf  Zeit  und  Ort 
nicht  einschnlnkcu  könne,  einstudiert",  stellte  der  nristotelischen 
Theorie  Ober  die  tragische  Kunst  die  seinige  schroff  entgegen'*  und 
lernte  mit  Klinger  und  den  andern  Dramatikern,  die  sich,  wie 
Wieland  an  Merck  schrieb",   „solche   airs   gaben,    als   ob   sie  mit 


I 
I 


7)  Vgl.  allg.  d.  Bibliothek  n,  2,  437  ff.  S»  Vgl.  die  B)&tt«r  tod  de>at»cb«r 
Art  und  KuortS.  IS;  39  (Werke  lur  echöncn  Literatur  7,  20;  2fi  f.);  VolksUeUer 
1»  Sil ;  (Uzu  noch,  vas  am  Schluss  des  eraten  Stflcks  der  Blatter  von  d.  Art  uiul 
Kunst  über  die  unglückliche  Art  bemerkt  ist,  in  welcher  man  bd  uns  schon  um 
I77:t  angpfuDgen  hat^e,  den  Oestan,  die  Lieder  der  Wilden,  der  Skalden,  Komanzen, 
deutsche  VoUtsUeder  zu  bcnut/cn.  9»  Blütter  von  d.  Art  und  Kunflt  S.  so  f.; 

vgl.  ßd.  ITI,  Ah2.  10)  In  der  Preisschrift  ,,Ur8acbea  det  gesunkenen  Qe- 

schroacks  bei  verschiedenen  Völkern**  etc..  Werke  zur  schönen  Literatur  u.  KnnAt 
1A,  ■'>9  f.  H)  Vgl.  den  Anhang  zum  25  — :ui.  Bde.  der  ftllgcmeinen  d.  ßiblio* 

thck  S.  774.  12)  Vgl  S.  37  ff.  13)  Sammlung  von  IS36,  S.  7J. 


üliitwickeluiigsgiuig  der  Literatur.    1773—1^32.    M<U)gel  des  Originalgcoies.  S9 


ihakspeare's  Geist   bliude   Kuh    zu   spiolcTi   gowohnt    wären",   aus 
issen  Wölken  nur,  ilass  alle  Re;j:eln  der  Theoretiker  zu  verachten 
;ieu,   und  (iasa  e»  auf  die   kunstmiissige  Composition  aller  Glieder 
iner  Tragödie  zu  einem  einheitlichen  Ganzen  gar  nicht  ankomme, 
(bald  nur  in   einer  Reihe,    wenn   auch    noch  so  lose    verknüpfter 
[andlungen   Jede   einzelne    fllr   sich   die  volle  Naturwalirhcit  habe. 
Js  das  Geschrei  immer  allgemeiner  und  lauter  wurde,  das  Genie 
lüde  «ich  eelb&t,   und  das  Studium   der  Alten  könne  es'^ehcr  ver- 
ünimem    als  in   seiner  Ausbildung   fördern,    erklärte   Herder,    ein 
ö8cr  Dfimon  habe  diesen  Grundsatz  erfunden,    der  die  hiisslichste 
,ögre  sei",  und  einige  Jahre  später  bemühte  er  sich  in  der  kleineu 
»olirift   ,,rom  Erkennen   und  Empfinden**'^    den  Bej^riff  Genie   rich- 
ger  zu  bestimmen,  als  wie  er  von  den  jungen  Dichtern  damals  jre- 
röbnUcb   gefasst  wurde.     Gleichwohl   erschien  zu   derselben  Zeit 
iinbiseher  Erguss  über  das  Genie'",  der  vollends  die 
1     .     -  i--[en  irre  leiten  musste.    Da  der  Bereich  ihrer  äussern 
lud   Innern  Erfahrungen    in    der  Regel   nur   sehr   beschränkt   sein 
iT.        '      und  es  deshalb  ihrer  aus  dem  Leben  selbst  gewonnenen  Welt- 
:   jscbenkeuntniss  eben  st»  sehr  an  Weite  wie  au  Tiefe  fehlen 
lUBftle*,  da  sie  überdiess  viel  seltener  iu  die  wirkliche  Welt  mit  dem 
leüen  and  scharfen  Blick  des  Beobachters  als  mit  dem  umschleierten 
uge    des   poetisch    gestimmten  Träumers   und    des  schwärmenden 
Weltverbesserers  schauten  '*  und  auch  die  Natur  und  die  Geschichte 
zuwenig  studierten:  so  erschufen  sie  sich  mehr  mit  der  Einbildungs- 
kraft cm©  Welt  der  Gegenwart  und  der  Vergangenheit,  der  sie  ein 
.wirkliche«  Leben  zu  ertheileu  suchten,   als  dass   sie  die  eine  und 
die  andere  in  ihrer  Wahrheit  und   Unmittelbarkeit  autfassten,    um 
ihr  eine  poetische  Gestalt  zu  geben'*.    Damm  lassen  ihre  Erfindun- 


§  302 


•ii  In  der  augeführtt-n  Stelle  jener  Preisschrift.  15)  I77S.    Werke  zur 

)phic  und  Geschichte  H,  5  ff.  16l  Vgl  S.  25  ff.  17)  KUnger  hat 

selbst  gemeint,  wenn  er  in  seinen  spütern  Jahren  den  Dichter  zu  dem 
s&grn  Usst  (9,  V.i^  f.l:  „Ich  könnte  Ihnen  viel  erziüden,  —  wie  alle 
?si>roducte  (aus  einer  frühem  Periode)  einen  gewissen  Mangel  an  sich 
wi«  es  iUnea  au  dem  festem  Charakter  der  spätem  feh]t  und  fehlen 
BinBAtP.  Ich  küuutc  Ihnen  weitlaut'tig  dartbun,  wie  sich  erst  die  wirk- 
liche Welt  bloss  durch  den  dichterischen  Schleier  meinem  Geiste 
dafätcllte,  wie  die  Dichterwelt  bald  darauf  durch  die  wirkliche  erschüttert  ward 
and  (Unn  doch  den  Sieg  behielt,  weil  der  erwachte,  selbstiindigc,  moralische  Sinn 
^l'icht  durch  die  Fiusteruiss  verbreitete,  die  des  Dichters  üeiöt  ganz  zu  verdunkein 
ite".  Diese  Stelle  ist  nicht  allein  sehr  bemerkensweith  fOr  die  innere  Ge- 
lte Klingers  und  die  verschiedeneu  Perioden  in  seinem  Dichterleben;  die  ge- 
gedruckten  AVorte  lassen  sich  auch  auf  die  meisten  Übrigen  Stürmer  und 
»r  In  dtn  S:ebzi(^rn  und  Achtziirem  anwenden.  Vgl.  auch  Gervinus  4',  522  f. 
sa  dem,  was  daselbst  über  Mcrcks  Fluch  gesagt  ist,  wieder  oben  S.  57  f.,  Anm.  37). 
18)  Der  jttngere  Stolbcrg  bildete  sich  hierQber  eine  eigene  Theorie,  die  man 


^ 


00     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  za  Goeüie's  Tod 


i  302  gen  oft  eben  das  am  allermeieten  vermissen,  worauf  es   darin  i 
xUglicli  abgesehen   war,  die  volle  Naturwahrbeit   in   der  Zeicbn 
und  Ausmahlung  der  Charaktere  und  die  treue  RUekspiegelung  des 
wirklichen  Lebens  in  den  dart^estellten  Handlungen  und  geschilder-^j 
ten  Verhältnissen.     Dieser  Mangel  machte  sich  in  den  beiden  poeti^| 
sehen  Gattungen,  die  hierbei  am  meislon  in  Betracht  kommen^  im^^ 
Drama  und  im  Roman,  gleich  fühlbar:   wo  die  Darstellung  nicht  ia^y 
üacher   Allgemeinheit    verschwimmt'^,    bat    die    individualisieread|^| 
Belebung  des  Dargestellten  sich  oft   um  so  weiter  Über  alle  Nati^r 
hinaus  verstiegen  und  ist  bis  zur  Caricatur  Ubcitriobeu.     Und  sind 
auch  mitunter  iu  einem  Werke  beide  Extreme  mit  besserm  Glück 
vermieden,  so  ist  es  dann  gewöhnlich  nicht  viel  mehr  als  ein  Abbild 


t^^l 

iche 

i 


aoa  versciiiedeDea ,  vod  ihm  ia  das  deutsche  Museum  von  1T77 — S2  geUefcxtea 
Äuf8lkt2en  kenuen  Icrut  (sie  sind  nachher  ia  dea  Id.  TheU  der  gesammelt 
Werke  boider  Brüder  aufgenommen).  Besonders  merkwürdig  ist  der,  welc 
..¥om  Dichten  und  Darstellen"  hftüdelt  id.  Museum  nSO,  !,  2y7  ff^;  er  erläu 
vortrefflich  die  zweite  UiUfte  jener  AeusseruDg  Mercks  über  das  ge^nftitaUch« 
Verhültniss  zwischen  der  dichterischen  Richtung  Goethc's  und  dem  Be&treben 
meisten  übrigen  jungen  Dichter  der  siebziger  Jahre  (vgl.  (  259,  7S|.  Öiol 
unterscheidet  darin  Dichten  im  engern  Sinne  und  Darstollen.  Jenes  vcrglei 
er  mit  dem  Empfangen,  die^^es  mit  dem  Gebaren.  In  jenem  Zustande  ist 
Dichter  eigenüicb  nur  im  vollsten  ^innc  Dichter:  er  ist  begeistert,  und  ,Jhn  um- 
schweben  gross  uud  hehr  strahlende  Göttcreracheinungen.  Sobald  er  darsteUt 
strahlen  sie  nicht  mehr;  sie  schwelen  nicht  mehr,  aber  sie  wandeln  leicht 
schwebten  sie,  in  dem  achimmemdeu  Gewände,  in  welches  der  Dichter  sie  kleide 
Im  Dantellcn  entsinkt  er  der  Höbe,  auf  welche  ihn  seine  Phantasie  gebr; 
hatte.  Aber  er  tnwat  sich  zur  Darsieliung  herablassen,  wenn  er  auf  den  Mcnsc 
wirken  will-  —  Kach  dieser  Theorie  gebraucht  also  der  Dichter  die  Wirklichk 
bloss  aU  Gewand,  um  die  Gestalten  seiner  imagiuierleii  Welt .  ^.das  Imaginativ 
darin  zu  kleiden :  oder  —  wie  C3  Stolbcrg  in  dem  Aufsatz  ,.Uber  die  Begeiste: 
(d.  Museum  17^2,  I,  3S7ff.)  ausdriickt  — :  die  Üegeisteruog  schenkt  ihm  daa  Or 
giua  1  des  Gedichts,  als  DarsteUcr  gibt  er  nur  die  Ucbcrsetzung,  eloe  Ve 
Setzung,  welche  weniger  als  andere  das  Origimil  erreicht.  Hieruach  ist  ihm  denn  auc 
lS.  39&)  Klopstück  der  grösste  Dichter  jener,  vielleicht  jeder  Zeit  19i  Liobton- 
berg  hatte  bereits  1775  in  einem  seiner  Briefe  aus  England  ivermisclii 
3,  303  ft  geschrieben:  ,^\Ue  unsere  dramatischen  Dic-hter  uudUomai;- 
man  darf  wohl  so  allgemein  sprechen,  wo  nur  zwei  oder  drei  ausgenommen  we 
können,  deren  Werth  bekannt  genug  ist  —  achreibe«,  als  fehlte  es  ihnen  an  S 
zur  Beobachtung  oder  an  Geist  dazu,  uud  deu  meititen,  als  fehlte  os  ihnen 
beiden'*.  Er  deutete  dann  weiter  an.  wie  die  Cliaraktere  nach  ihrom  Stande,  ihrer 
Berufnart.  ihrem  Tempenuneut,  ihren  vorherrschenden  Tugenden  und  Lastern 
Immer  roJt  denselben  herkAmmlichcn  Zügen  uud  ia  derselben  tlachen  Manier  ge- 
zeichnet würden .  uud  kuQpfte  daran  die  Frage,  üb  das  Sbakspc^are'a  Kuoat  ati? 
Funf  Jahre  später  kam  rr  auf  diesen  Gegenstand  zurück,  als  er  in  dem  „V< 
achlagc  zu  einem  Orbis  pictus"  etc.  (vermischte  SchrÜieu  4.  II. %  ff)  sclneai 
wUlett  ulwr  die  auMerürdentlR-he  ScicbtigkeiC  der  Schauspiel-  and  Komaoi 
jvuer  Zdt,  Ober  du*  Stumpfheit  des  Publicums.  das  sich  von  ihnen  ttnterbal 
Hau,  und  aber  di«  elende  Jounialkhtik,  die  Ihre  Krtindungeu  anpries,  Luft 


■  U1.U 

iton-     , 


Eohriekdongsgang  der  Literatur.    1773 — 1832.    Mängel  des  Origisalgenies.  91 


SMftCI 

W 

un 


de»  Gemein-Natllrlieben  in  seiner  zufälligen  Erscheinnng,  wobei  es  8  -^02 
aach   noch    fast  immer  der  Darstellung  an  innerer  Bindung  aller 
einen  Theilo  zu  einem  organischen,  in   sich  kunstmassig  abge- 
ihlossenen  Ganzen,  sowie  an  Scbünheit  der  Uusseni  Fonn  mangelt. 
Wohl  keiner  unter  den  Münnern,  die  in  mehr  oder  minder  nahem 
und  freundlichem  Bezüge  zu  der  neuen  Dichterschule  standen,  er* 
kannte  schon  damals  mit  hellerm  Blick  alle  diese  Mängel   in  ihren 
erken  und  ertheilte  den  jungen  Talenten  bedeutendere  Winke,  um 
ie  auf  das  aufmerksam  zu  machen,  wonach  sie  zunächst  und  zumeist 
trachten  mtlssten,  wenn  sie  es  zu  Leistungen  von  gediegenem  Worth 
ingen  wollten,  als  Merck.     Von  seinen  Recensionen  gibt  gleich  die 
Anzeige  des  Wertber^  hierzu  einen  der  sprechendsten  Belege.    ,,Das 
innige  Gefühl",    heisst    es   hier   von  Goethe,    „das   Über  alle  seine 
mpositionen  ausgebreitet  ist,  die  lebendige  Gegenwart,  womit  die 
t  seiner  Darstellung  begleitet  ist,  das  bis  iu  allen  Theilen  ge- 
Detail   mit    der    seltensten    Auswahl    und    Anordnung   Ver- 
den, zeigt  einen  seiner  Materie  allezeit  mächtigen  Schriftsteller, 
Wer  da  weiss,  was  Compositiou  ist,  der  wird  leicht  begreifen,  dass 
eine  Begebenheit  in  der  Welt  mit  allen  ihren  Umständen,  wie  sie 
schehen  ist,  je  ein  dramatischer  Vorwurf  sein  kann,  sondern  doss 
e   Hand    des   Künstlers   wenigstens  eine  andere  Haltung  darüber 
breiten  muss.     Viel  Locales  und   Individuelles   scheint  indessen 
oh   das  ganze  Werk  durch;  allein  das  innige  Gefühl  des  Ver- 
rs,  womit  er  die  ganze,    auch    die   gemeinste    ihn    umgebende 
atnr   zu   umfassen    scheint,    hat    Über   alles    eine   unnachahmliche 
oesie    gehaucht.      Er    sei    und    bleibe    allen   unsern    angehenden 
ichtern  ein  Beispiel  der  Nachfolge  und  Warnung,  dass  man  nicht 
eringston  Gegenstand  zu  dichten  und  darzustellen   wage,   von 
n  wahrer  Gegenwart  man  nicht  irgendwo   in   der  Natur  einen 
Punkt  erblickt  habe,    es   sei  nun  ausser   uns    oder  in  uns. 
er  nicht  den  ei)isclieu  und  dramatischen  Geist  in  den  gemeinsten 
ceuen    des    häuslichen  Lebens    erblickt    und    das   Darzustellende 
avon  nicht  auf  sein  Blatt  zu  fassen  weiss,   der  wage  eich  nicht  iu 
die  ferne  Dämmerung  einer  idealischcu  Welt,  wo  ihm  die  Schatten 
Ton  nie  gekannten  Helden,   Kittern,  Feen   und  Königen    nur   von 
dtem  Torzittern.     Ist   er  ein  Mann,   und  hat  sich  seine  eigene 
eukart  gebildet,  so  mag  er  uns  die  bei  gewissen  Gelegenheiten  in 
iner   SeeJo  angefacliton    Funken    von   Gefühl    und    Urtheilskraft, 
urch  «eine  Werke  durch,  wie  helle  Inschriften  vorleuchten  lassen; 
t  er  aber  nicht  dergleichen  aus  dem  Schatze  seiner  eigenen  Er- 
hrungen  aufzutischen,  so  verschone  er  uns  mit  den  Schaubroteu 


en 


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92     VI.    Vom  zweiten  Viertel  des  XVllI  jAhrhunderts  bis  zq  Goethe'»  Tod. 

§  302  seiner  Maximeu  und  Geoieinplätzc.''    In  der  Anzeifre  deä  vosäiäcLeif 

iMuHeiiiilmaiiaehs  von  177C,  in  welcher  er  den  jungen  Poeleu,  die^^ 
Klopstocks  Panier  ergriffen  Latten  und,  sieh  darunter  frei  und  sicbe^H 
dttiikendj    in    das  gelobte  Land    der  Tugend  ziehen    wollten,    di^^ 
Freiheit  zu  ihrem  Feldgeöchrei  machten  und  Palmenzweige  in  ihren 
Fahnen  wehen  Hessen,  besonders  das  Unsinnige  und  Carikierte  ihrer 
Freiheitsgedichte  und  ihre  Wütherei  gegen  eingebildete  Tjrannen  in 
derber  Sprache  vargerückt  hatte,  sagte  er  zum  Schluss:  »Die  wahre 
Welt,  die  unsere  jungen  Dichter  umgibt,  erscheint  ihnen  durch  kein 
gefärbtes  Medium   genug,   dass  sie  zu   ihrer  Nachbildung   augerci 
würden;   daher  werfen   sie  sich  jetzt  mit  aller  Gewalt  in  idcalisc 
Abgrtinde  und  mahlen,  was  kein  Auge  gesehen  und  kein  Ohr  gehd 
hat.     Ffthlten    sie   aber   die  Magie   des  Epos   in  jeder  Scene   d 
Lebens,  so  wdrden  ihre  BlUtter  eben  so  voll   davon  sein,   wie  d 
Werke  ihrer  Meister,  die  sie  mit  so  vielem  Recht  bewimdera/*    V 
Mahler  Müllers  „Situation  aus  Fausts  Leben"  bemerkt   er  u,  A.*i? 
es  erhelle   daraus   deutlich,  dass  der  Verfasser  seinen  Gegenstand 
nicht    lange    im    Busen  genAbrt  habe.     ,jHatte  er  Fausts  Schicksal 
mit  sich  herumgetragen,  so  würde  der  Mensch  eher  entstanden  sein, 
als  die  Situation,  worin  er  gesetzt  werden  sollte.    Shakspearc's  G 
(an  den  das  Stück  gerichtet  ist)  hatte  ihn  erinnern  sollen,  wie  e 
Shakspeare   seinen   Helden    bei  jedem  Menseben  Interesse   zu  T 
schaffen  weiss;  wie  sie  alle,  unter  dem  tollsten  Gewühl  von  Last 
und  Schwachheit,  entweder  einen  edlen  Hauptzug  in  ihrem  Charak 
oder  doch  glückliche  Organisation,  Anlage,  edel  und  gut  zu  werd 
verrathen.    Bedächten  doch  einmal  die  jungen  dramatischen  Schrift- 
steller,   dass  Drama   nichts  anderes  ist  als  Fragment   menschlicher 
Geschichte,    dem  Leser   zur   Lehre    und   Warnung    dargestellt,    aiu 
Keminiscenz  eigner  Erfahrung  mit  Treue  und  Kunst  nachgebildet, 
—  80    dass   jeder    glaubt,    es   zu  sehen   oder   gesehen    zu   haben. 
Nehmen  sie  aber  ihren  Stoff  aus  dunkeln  Trftumen   poetischer  Be- 
gierde,   und   nicht    aus    dem  Markt  des  Lebens  auf,   «er  »oll  Ihre 
Figuren  wieiler  erkennen  und  sagen:   das  ist  Fleisch   von  meinei 
Fleisch  und  Bein  von  meinem  Beinl"    In  Leisewitzens  „Julius  roi 
Tarent'*   verkannte    er"  nicht  das  „ungemeine  Genie"  des  jun| 
Verfassers;  jedoch   fand  er  darin  vorzugsweise  nur  eine  blendend^ 
Diction,  eine  bis  zur  Wjlnne  des  innigsten  Gefühls  auflliegende  Eil 
bildungskraft  und   eine  Flllle  von  Einfallen:    wogegen    er   an   d< 
Charakteren  Selbständigkeit  und  Naturwahrheit  vermissie,  dean 
w&ren  nur  in  dem  Gehirn  des  Verfassers  entsprungen,  wie  alle  0^ 


21)  Deutscher  Merkur  1776,  t.  S5  ff. 
23)  D.  Merkur  1776,  4,  91. 


22»  D.  Merkur  1776.  1,  Sl  ff. 


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EDtwickelansgaug  der  Literatur.    1773—18113.    M&ogel  des  Oripnaleemes.    03 


1 


schöpfe  unserer  (lerzeiti2:en  Dramatifexe.  EinLeit  der  Handliinfr  §  302 
würde  man  frerne  in  einem  Stücke  tlurehaus  durchgefUlirt  vermissen, 
tmd  die  Kritik  kOnne  es  wohl  erlauben,  dass  in  einem  Schranke 
mehr  denn  ein  Schubkasten  sei.  Allein  die  Fächer,  woraus  daa 
Ganze  bestehen  sollte,  mUssten  auch  ganz  sein,  d.  i.  von  Anfang 
hi«  zu  Ende  in  ihrer  Entgtebungsart  sichtbar  und  uacbempfindbar 
win.  Hierzu  wtlrde  es  nun  sehr  gut  sein,  dasg  man  menBchliche 
Geschiebte,  wie  alle  Werkeltago  bei  uns  zu  schauen  sei,  auffasste, 
dramatisch  darstellte  und  überschriebe,  wie  man  wollte.  W?lre  auch 
die  luscription  zu  hoch  angegeben,  so  blieb'  es  doch  menschliche 
Gescbiehte.  Ziehe  man  aber  alles  aus  sich,  so  werd'  es  Abstractum, 
Skelet  mit  reicher  Diction  bekleidet,  und  weiter  nichts.  Die  Men- 
schen aber  wollten  nicht  gerade  wissen,  was  unser  Vorrath  vermöge, 
sondern  was  in  der  weiten  Welt  vorgehe,  und  das  nenne  man 
Drama'*.  Ausser  diesen  Uccensi"neu  ist  dann  in  der  oben  ange- 
^beaen  Beziehung  noch  besonders  beachtenswerth  der  Aufsatz  „tlber 
den  Mangel  des  epischen  Geistes  in  Deutschland"".  Man  habe, 
bepnnt  er,  früher  darüber  jreklagt,  dass  wir  gar  keine  guten 
Bomane  hätten;  nachher  seien  genug  gekommen,  aber  die  besten 
ftcttMt  Ton  der  Art,  dass  sich  bald  gezeigt  habe,  der  Boden,  worauf 
sie  gedeihen  könnten,  müsste  entweder  ausländisch,  oder  antik,  oder 
utopisch  sein.  Der  Grund  davon  wurde  in  allerlei  Dingen  und 
UinstÜDden  gesucht,  halb  und  ganz  wahren.  Man  wurde  muthlos. 
weil  man  meinte,  uns  fehle  im  Leben,  in  Charakteren,  Sitten, 
Interessen,  was  den  Inhalt  der  fremden  Romane  bildete.  Aber  eben 
da»,  was  uns  muthlos  machte,  hÄtte  uns  aufmuntern  sollen:  die  Be- 
merkung, daKs  unser  eigenthUmlicher  Charaker  so  unterschieden 
von  dem  Charakter  anderer  Völker  wäre,  hätte  uns  eine  neue  Fund- 
grube zeigen  sollen,  wo  wir  Gemähldo,  Situationen,  Theater-Coups, 
Charaktere  etc.  mit  leichter  Mühe  aufgreifen  konnten.  Au  Auffor- 
derungen dazu  fehlte  es  nicht:  alle  unsere  Kritiker  riefen:  deutsch, 

,  deutsch   mltssen   eure  Producte  sein!    Aber    wie  gelang«? 

Theoretiker  hatten  so  viel  schöne  Lehren  und  Warnungen 
gegebeUt  and  die  Schriftatelier  nahmen  sie  sich  zu  Herzen:  sie 
hQtefen  Hieb,  Cjmraktere  auszuarbeiten,  HchuTen  sich  ein  Dctnil,  das 
ttc  nie  gesehen  hatten,  und  setzten  sich  in  eine  Stimmung,  die  weder 
Knuikheit  noch  Gesundheit,  sondern  eine  gemachte  Indisposition 
war.  Daraus  entstanden  denn  alle  die  neuen  episch-dramatischen 
Werke,  wo  unter  zehn  nicht  eins  an  die  Güte  „dor  schwedischen 
Ortiin'*  reicht,  und  gegen  welche  „die  asiatische  Banise"  in  einer 


24)  Vgl  dazu  WieUndfi  Schreibea  in  den  Briefen  im  and  von  Merck  1S3S, 
^  Ml  25)  P.  Merkur  17TB,  U  AH  ff. 


94     VL  Vom  zweiten  Viertel  des  XYIII  JahrbunderU  bis  zu  Goethe'i  Tod. 

302  coneistenteni  Manier  gearbeitet  ist.  Niemand  kann  diese  Din( 
lesen,  auHser  juuge  Leutchen,  die  sieb  mit  der  Tradition  der  neuem 
schönen  Schriften  schleppen.  Was  bat  es  genützt ^  dass  man,  wie 
so  vielfach  vorgegeben  wird,  zu  keiner  Zeit  die  Alten  eifriger 
studiert  bat,  als  gerade  jetzt?  Welchen  Einfluss  hat  ihr  Beispiel, 
die  Sobrietät  ihrer  Empfindungen,  die  Keuschheit  ihres  Ausdrucks, 
die  ganze  Composition  auf  unsere  Scliriftsteller  gehabt?  Die  jungen 
Herren  wollten,  wie  gewohnlich,  nicht  anfangen  von  unten  auf  zu 
dienen.  Zum  epischen  Wesen  geboren  wackere  Sinne.  Mit  dem 
blossen  Schwatzen  von  Liebe  zur  Natur  ist's  nicht  gethan;  bei  d< 
Meisten  ist's  garstige  Tradition,  und  sie  liehen  die  schOne  Nai 
weil  sie  ist  beschrieben  und  besungen  worden.  Ausserdem  trenn! 
sie  die  Socte  der  Empfindsamkeit  und  des  Geuiewesens  von  allen 
ihren  BrUdem.  Was  sollen  sie  an  Menschen  sehen  können  ^  deren 
ganzes  Spiel  von  Leidenschafton  ihnen  zu  alltilirlich,  allzu  philister- 
haft vorkommt,  als  dass  es  aufgenommen  zu  werden  verdiente? 
Was  hilft  das  viele  Schwatzen  von  Shuk8i)eare,  wenn  man's  ihm 
nicht  nachthut  und  den  Menschen  überall  nachschleicht,  sie  in  allen 
Masken  und  Verkleidungen  doch  immer  als  menschlich,  und  nicht 
als  phantastisch  aufgreift.  Wie  weit  erstreckt  sich  denn  die  Reise 
unserer  jungen  Herren,  die  uns  so  freigebig  mit  Dramen  und  Be- 
gebenheiten beschenken,  durchs  Leben,  wie  ^nel  haben  sie  davon 
aus  eigener  Anschauung  kennen  gelernt?  Alles  ist  bei  ihnen  von 
Hörensagen  und  aus  Lectüre  entnommen.  Sie  sollten  sich  nur  Üben, 
einen  Tag  oder  eine  Woche  ihres  Lebens  als  eine  Geschichte  ru 
beschreiben,  daraus  ein  Epos,  d.  i.  eine  loscnswUrdige  Begebenheit 
zu  bilden,  und  zwar  so  unbefangen  und  so  gut,  dass  nichts  von  ihren 
Reflexionen  und  Empfindnissen  durchflimmert,  sondern  dass  alles  so 
dasteht,  als  weun's  so  sein  mUsste.  Dann  mögen  sie  Romane 
schreiben.  —  Nicht  weniger,  als  zur  vollen  Naturwahrheit  und 
Schönheit,  fehlt  dieser  Poesie  im  Allgemeinen  zu  wirklicher  Origi- 
nalität und  zu  einem  echt  volksthUmlichen  Charakter.  So  viel  auch 
in  allen  Gattungen  hervorgebracht  wurde,  fast  durchgehends  erinnert 
bald  die  Wahl  der  Gegenstilnde,  bald  die  äussere  Form  und  Ein- 
kleidung, bald  die  innere  Behandlung,  oder  alles  zusammen,  wenn 
auch  nicht  mehr  so  auflallend,  wie  diess  noch  in  der  Poesie  der 
sechziger  Jahre  der  Fall  war,  an  unmittelbare  Nachahmung  oder 
freiere  Nachbildung,  doch  an  mannigfaltige  und  zum  Thoil  sehr 
starke  Einflüsse  ausländischer  Dichtungen  auf  die  deutschen  Erfin- 
dungen*'.   Um  aber  ihren  Werken  im  hohem  Grade  den  Charakter 


26)  Am  meisten  origioAl  Jseigt  sich  Doch  die  Lvrik,  besonders  die  eigentlicbft 
Liederpoetie.  * 


Entwickeliingsgang  der  Literatur.     1773— 1S33.   Goeihe. 


95 


[er  VolksthUmliclikeit  verleihen  zu  können,  biUteu  die  Dichter  schon.  §  302 
ihre  Gegenstände  tiefer  aus  dem  Lehen  der  heimischen  Voraeit  und 
Gegenwart  schöpfen  mflssen :  allein  dazu  gebrach  ihnen  meistentheils 
zü  viel  an  einer  grllndlichera  Kenntniss  der  vaterländischen  Sago 
und  Geschichte^,  und  waren  sie  zu  wenig  vertraut  mit  deutscher 
Volksalt  überhaupt  und  mit  der  eigeutlinmlicben  Sinnes-,  Geftthls- 
luid  Anschauungsweise  jeder  Klasse  und  jedes  Standes  in  der  Nation, 

§  303. 

So  hatten  die  jungen  Dichter  dieser  Zeit  alle  den  unzweifel- 
m  innern  Beruf  zur  Poesie  haben  können,  und  dennoch  hätte 
ferken  der  allcraieisteu  immer  noch  viel  an  den  Eigenschaften 
abgehen  niUsseu,  die  nach  den  Grundsätzen  der  neuen  aesthetisehen 
Tbeorieu  die  wesentlichsten  in  aller  echten  DichtUBg  sein  sollten. 
Allein  fast  alle  täuschten  sich  schon  selbst  genug  Ober  die  Höhe 
ihrer  Begabung  und  wurden  ausserdem  aoch  häufig  durch  die  Be- 
wunderung, die  ihren  Talenten  von  Andern  gezollt  ward,  und  durch 
die  Ueberschätzung  des  von  ihnen  bereits  Geleisteten  in  ilirer  Selbst- 
überhebung bestärkt'.  Denn  wie  viele  sich  auch  für  Originalgenics 
hielten  und  bei  ihren  xMitstrebenden  dafUr  galten,  die  Vollkraft  einer 
genialen  Dichternatur  besass  doch  nur  einzig  und  allein  Goethe. 


'  27 1  Der  Sinn  fOr  vaterläudische  Sage  und  Geschichte  war  überhuupt  noch 
so  gQl  wie  gv  nicht  gßwecki:  die  erstere  fristete  zwar  noch  in  den  untcra  Stän- 
den «ia  kaaun(>rUcbes  Leben,  unter  den  höher  gebildeten  und  gelehrten  Klasäeu 
alter  war  fast  jede  Erinnerung  daran  erloschen:  das  geächichtliche  Bewusstsetn 
reichte  auch  nicht  weit  zurück ,  in  den  protestantischen  Lundcrn  hftchateas  bis 
zur  Hefonnationszeit.  lUJd  wie  wenige  wu3sten  seihst  von  diesem  Zeitraum  etwas 
GenAaeres'  Denn  auf  den  Schulen  geschah  wenig  oder  nichts,  die  Jugend  in  die 
Ocscbiclite  unserer  Vorzelt  einzuführen ,  und  von  unsern  Sagen  war  da  gar 
nicht  einmat  die  Hede-  So  giengon  den  Dichtern  zwei  Uauptfundgruben  ab,  aus 
denen  für  die  Poeaie.  und  gerade  für  die  beiden  grossen  Gattungen  in  stofflicher 
BexiebuDg  eine  volkstbümJicbe  Grundlage  gewonnen  werden  konnte.  Die  groifsen- 
tbefle  von  den  Schriftstellcm  selbst  gemachte  Geschichte  und  Sage  in  den  Ritter- 
•chMspiolen  und  Ritterromanen  war  am  wenigsten  geeignet,  uns  dazu  zu  ver- 
helf ea. 

i  303.  1)  Unter  denen,  die  dazu  besonders  viel  beitragen  mochten,  so 
manchen  jiuigen  Dichter  der  Sturm-  und  Drangzeit  in  dem  Glauben  an  sein  Genie 
und  LD  der  Ucbcrzcugung  von  der  Vortrefflichkeit  seiner  Leistungen  zu  bestärken, 
WÄf  Laiftter  gewiss  einer  der  Ersten.  Merck  hatte  es  kein  Uchl  gegen  ihn,  wie 
ire&J|e  ihm  „die  böscu  Monumente"  gefielen,  „die  er  allen  jungen  Leuten,  die  noch 
zuciits  in  der  Welt  gethan  halten ,  in  seiner  Physiognomik  gesetzt  habe",  und  er 
ibeinCc,  dass  ausser  dem  „Getratsche"  über  die  rhy.Moguomik .  welches  Zimmer- 
mann unter  dem  hannoverschen  Adellhnm  hervorgerufen  habe,  vorzüglich  noch 
diese  Monamente  Lichtenbergen  in  Harnisch  wider  diö'  Physiognomik  gebracht 
hkttm.    Vgl.  die  Briefe  an  und  von  Merck  1S3S,  S.  140  f. 


^^ 


96    VI.  Vom  rweiten  Viertel  des  XVITI  Jahrhtmderls  bU  m  üo^tbe'i  Tod 


i  303  In  ihm  fand  sicL  in  seltner  Stärke  das  Vermuten,  die  Diniie  d( 
Ausseuwelt  mit  reinem  und  sicberm  Blick  aufzufassen,  so  wlo  alli 
was  er  in  sich  selbst  empfunden  und  innerlich  erfahren  hatte,  aii 
durch  eine  geistige  Anschauung  georenständlich  zu  machen,  mit  di 
höchsten  Energie  einer  schöpferischen  Phantasie  vereinigt,  die  ihn 
heffihi^tCf  das  von  Aussen  hör  in  sieh  Aufgenommene  oder  innerlich 
Angeschaute  in  durch  und  durch  dichterisch  belebte  Bilder  zu  fassen» 
in  beseelte  Gestalten  zu  verwandeln   uud   diese   mit    der   vollkom- 
mensten Objectiviening  des  Dargestellten  in  Bewegung  und  Hand- 
lung zu  setzen.     Dabei  hatte  sich  schon   früh  seine  i)oeti8che  Rich^ 
tung  dabin  entschieden,  dass  er  nur  dasjenige  darzustellen  sich  gi 
trieben  fühlte,    was    ihn    innerlich   bewegte  oder  sonst   lebhaft   b( 
schäftigte',  was  er  aus  eigner  Erfahrung  oder  aus  eigner  Beobad 
tung  kannte,  kurz  was  in  einem  unmittelbaren  Bezüge  zu  seinei 
innern  Leben  und  zu  dem  Gange  seiner  Bildung  stand,  und  was 
meistenthoils    schon    lange    mit   sich    herumgetragen    und    inncrlicj 
verarbeitet  hatte,    bevor  er   es,    von  individueller  Anschauung  un< 
Empfindung  zu  allgemeiner  VerstJlndliclikeit  und  Sympathie  erhobei 
in    ohjcctiv    dichterischer  Gestaltung    aus   sich    heraustreten    lies«' 
War  er  somit  schon  von  der  Natnr  zu  dem  Dichter  ausgestaltet  und 
berufen»  dessen  Streben  und  unablonkbare  Richtung  sein  sollte,  dem 
Wirklichen   eine  poetische   Gestalt  zu  geben ',    so  vereinigten   sich 
auch,  wie  oben  angedeutet  worden  ist',  bereits  in   seinem  Knaben- 


^1 

i 


2l  Vgl.  Goetbes  Werke  25.  108  f.  3)  Vgl.  Werke  45.  SIS, 

Eckermann  äusserte  Goethe  iGesprücbe  3.  172  f.):    ,j>g,  kommen  sie  nnd  fi 
welche  (dee   ich   in  meinem   raiisi  zu  verkörpern  gesucht?   —   Als  oh  ich 
selber  wüsstc  und  ausspreche»  könnte  1  —  Es  war  im  Ganzen  nicht  moinp  AfÜ 
als  Poet  nach  Verkörperung  von  etwAsÄbstrartcm  zu  streben.   Ich  empfi«og  in 
meinem  Innern  K  i  u  d  r  li  c  k  e,  und  zwar  Kindri\cke  sinnlicher,  lehensTolIer.  liehlicii 
bunter,  humlerif^iltigcr  Art.  wie  eine  rege  Einhililungskraft  es  mir  darbot,  und 
hatte  ah  Poet  weiter  nichts  zu  thun.  als  solche  Anschauungen  und  Eindrücke  in 
küustiehsch  zu  runden  und  auHZubUdea  und  durch  eine  lebendige  Dartttelluug 
com  Vorschein  zu  bringen,  dass  Andere  dicselhig(.>n  Kindrucke  erhielten,  wenn  sie 
rann  Dargeät^dltes  hrirt«u  und  lasen.    Wollte   ich  jedoch  eiumal  als  Poet  irgca< 
eine  Idee  darstellen,  so  that  ich  es  in  k leinen  Gedichten,  wo  eine  enlechiedi 
Einheit  herrschen  konnte,   und  welches  zu  übersehen  war,  wie  z.  B.  die  ,.Mei 
morpho8C  der  Thiere"  etc.    Das  eimdgo  Product  von   grösserm  Umfang,  wq  l 
mir  bewussi  bin,  nach  DarsU'ilung  einer  durchgreifenden  Idee  gearbeitet  zu  habi 
wÄreu  etwa  meine  Wahlverwandtschaften".  —  Cnd  zu  einer  andern  Zeit  (.'♦.  31 
..Ich   habe  in  meiner  Toesie   nie  aflffctiert.    Was  ich  nicht  lebt<>,  nnd   was 
nicht  auf  die  Nlgel  brannte  und  zu  schaffen   machte  ^    habe   ich   auch  nicht 
dichtet  und  ausgesprochen.     LieheBgedicbie   habe  ich   nur   gemacht,    wenn   i 
Uebte**.    Anderes  hierher  Bezugliches   ans  des  Dichters  Werken   rtndct  man  \ 
sammcu  in  der  aUgemi-iuen  Charakteristik  Üoothe's   von  llillebrand.  d    deutle 
Xai.-Lit^r»lHr  2.  S— t'.'i.  It  Vgl.  $  3&i).  TS  und  dazu  Goethes  oigeno  Wo, 

über  „das  IlAclifflc  der  DarateUong".  Werke  4».  3a  f.  5)  Vgl   Bd.  III.  I:U 


Entw-ickelußgsg&ng  der  Literatur.     i773— 1832.    Goethe's  Götz. 


97 


msd  Jöngliujrsnlter  viele  günstige  Umstäude,  ihn  in  Beinern  Streben 
nach  einer  gründlichen  und  vielseitigen  Ausbildung,  nach  geistigem 
Erwerb  und  innerm  Wachsthum  in  jeder  Art  zu  fördern,  die  Ent- 
wickelung  aller  in  ihn  gelegten  Kräfte  zu  erleichtern  und  in  deren 
Anwendung  ihn  vor  den  Verirrungen  seiner  Zeitgenossen  zu  wahren. 
Zwar  konnten  kurzsichtige  Bewunderer  oder  in  Vorurtheilen  befangene 
Widersacher  zu  der  Zeit,  wo  sein  erstes  Hauptwerk  eben  ersehieneu 
war,  wohl  glauben,  dass  darin  aller  Kegel  Hohn  gesprochen  wäre» 
und  dass  der  Dichter  dasselbe  aus  blossem  Natur-  uud  Geniedrang, 
ohne  künstlerische  Absicht,  hervorgebracht  habe";  gegenwärtig  jedoch 
mtlsöteu,  wenn  auch  aus  der  Gestalt  des  Götz  von  Berlichingen 
selbst,  in  welcher  er  zuerst  gedruckt  wurde,  nicht  auf  eine  ganz 
andere  Entstehungsart  desselben  uud  auf  ein  schon  damals  in  dem 
Dichter  sehr  bestimmt  hervortretendes  Streben  nach  einer  künstleri- 
schen Gestaltung  seiner  Stoffe  geschlossen  werden  könnte,  schon 
die  ausdrücklichen  uud  unverwerfiicheu  Zeugnisse,  die  sonst  dafUr 
Vorhanden  sind,  das  durchaus  Irrige  einer  solchen  Annahme  darthun. 
Es  kommen  hierbei  hauptsfichlich  zwei  Stellen  ausGoetho's  Werken 
in  Betracht,  die  eine  erst  lange,  die  andere  bald  nach  der  Abfassung 
des  Götz  niedergeschrieben.  Jone,  die  nach  dos  Dichters  Tode 
durch  die  Herausgabo  dos  Götz  von  Berlichingen  in  seiner  ersten 
Gestalt'  noch  viel  mehr  Beweiskraft  erhalten  hat,  findet  sich  in 
„Wahrheit  uud  Dichtung'**.  Goethe  erzShlt  hier,  dass  er  sich  bei 
der  ersten  Abfassung  des  Götz  allerdings,  ohne  Plan  und  Entwurf, 
bloss  der  Einbildungskraft  und  einem  inneru  Triebe  überlassen,  aber 
schon  nach  einiger  Zeit,  als  er  sein  Werk  wie  ein  fremdes  be- 
trachten konnte,  erkannt  habe,  es  sei  von  ihm  bei  dem  Vorsuch, 
auf  die  Einheit  der  Zeit  und  des  Orts  Verzicht  zu  thun,  auch  der 
höheren  Einheit,  die  um  desto  mehr  ^^efordert  werde,  Eintrag  gethan 
worden.  Da  ihn  nun  die  Natur  seiner  Poesie  immer  zur  Einheit 
bindrSngte,  so  hegteer,  anstatt  der  Lebensbeschreibung  Götzens  und 
der  deutschen  AUerthümer,  sein  eigenes  Werk  im  Öiuue  und  suchte 
ihm  immer  mehr  historischen  und  nationalen  Gehalt  zu  geben  und 
das,  was  daran  fabelhaft  oder  bloss  leidenschaftlich  war,  auszu- 
Iö9clien-,  wobei  er  freilich  manches  aufopferte,  indem  die  mensch- 
liche Neigung  der  künstlerischen  Ueberzcuguug  weichen  muaste.    So 


§  31)5 


ij)  Was  Goethe  (2*;,  'Um)  von  eeiaen  drama tischen  Protluctioncu  aus  dea 
Jaliren  1773  nud  7-t  ^^agt,  tiodet  ganz  bcsouders  seino  Anwendung  auf  doa  Götz: 
dcTSülbo  wurdr  als  ein  Panlor  angesehen,  unter  deasen  Vorschritt  alles,  was  ia 
<kr  Jugend  WiMes  uud  Ungeschlachtes  leht,  sich  wohl  Raum  machen  dürfte. 
7»  „Göchicbie  Ootlfriedß  von  Borlichin;^en  mit  der  eiuernen  Hand,  dramatisiert* *, 
42.  Bde.  der  Werke;  über  das  Verliältiüas  beider  Gestalten  des  Güiz  zu  ein- 
Tgi.  0.  Schado  im  Weimar.  Jahrbuch  5,  439  ff.  S)  Werke  36,  201  f. 

SoWrtirlK.  OnuidrUa.   5.    AuB.  tV.  7 


98    VI.  Vom  zvetteo  Viertel  des  XVni  Jakrliuudert«  bis  za  Goethe*s  Tod- 

303  Bclirieb  er  das  Ganze  um  und  brachte  ein  ganz  erneutes  Werk 
Stande,    welches   das  zuerst  gedruckte  war.     Die  andere  Stelle 
schon  1776  gedruckt '^     Es  sei  endlich  einmal  Zeit,  heisst  es  hier, 
dass  man  aufgehört   habe,    Über  die  Form   dramatischer  Stücke   in 
den  herkummlicheu  Rubriken  zu  handeln,   und  dass  man  nunmehr 
stracks  auf  den  Inhalt  loa^ehe,  der  sich  sonst  so  von  selbst  zu  gel 
schien.     Deswegen  gebe  es  doch  immer  eine  Form,   die  sich  abi 
von  jeuer  alten  unterscheide,  wie  der  innere  Sinn  von  dem  aussei 
die  nicht  mit  Händen  gegriffen,  die  gefühlt  sein  wolle.     Unser  Kopf 
mtlsse  Übersehen,   was  ein  anderer  Kopf  fassen  könne,   unser  Ilerx 
müsse  empfinden,   was  ein  anderes  fühlen  mOge.     Das  Zusammen- 
werfen der  Regeln  gebe  keine  Ungebuudeuheit.     Wenn   indess  das 
Beispiel  hierin  gefährlich  sein  sollte,  so  sei's  im  Grunde  noch  immer 
viel  besser,  ein  verworrenes  Stück  machen  als  ein  kaltes.    Freilich, 
wenn  mehrere  das  Gefühl  dieser  innem  Form  hStt«n,  die  alle  For- 
men in  sich  bogreife,   würden   uns  weniger  verschobene  Gehurtei 
des  Geistes  anekeln.    Man  würde  sich  nicht  einfallen  lassen  ^  jedi 
tragische  Begebenheit  zum  Drama  zu  strecken,   nicht  jeden  Roman 
zum  Schauspiel  zerstückeln.    Jede  Form,  auch  die  gcfühltcste,  habe 
etwas  Unwahres,  allein  sie  sei  ein  für  allemal   das  Glas,   wodurch 
wir  die  heiligen  Strahlen  der  verbreiteten  Natur  an   das  Herz  der; 
Menschen  zum  Feuerbliek  sammeln.     Aber  das  Glas!  Wem's  nicht 
gegeben  sei,  der  werde  es  nicht  erjagen".  —  Goethe  hat  während  derj 
langen  Dauer  seiner  poetischen  Thütigkeit  sich   nicht   nur  in  allen 
Dichtarten  versucht,   und  in  keiner  ohne  die  glücklichsten  Erfolge; 
er   hat    uns  auch    zugleich    in   der  Gesammtheit  seiner    poetischcni 
Werke  eine  Reihenfolge  von  Erzeugnissen  hinterlassen,  die   ihremi 
allgemeinen  Geist  und  Charakter  nach  in  ihrem  zeitlichen  Eutstehea 
ein   in   mehr  als  einer  Beziehung  getreues  Abbild   im  Kleinen  voUi 
dem  Entwickelungsgange  unserer  vaterländischen  Dichtung  seit  der 
ftltesten  bis  in  die  neue  Zeit  darbiclen.     In  seinen   frühesten  nns 
aufbehaltenen  Sachen,  namentlich  den  dramatischen  **,  erinnert  zwar 


9)  Werke  A4,  I  ff.  10)  „Neuer  Versuch  über  die  Schauspielkmist   Am 

dem  Französischen.    Mit  einem  Anhang  ans  Goethes  Brieftasche".    Leipzig;  vj[l. 
Düutzer.  Studien  zu  Goethe's  Werken  S.  258,  Anmerkg.  11)  So  drang  Goethe 

auch  schon  zu  üex  Zeit,  da  der  Oötz  seine  ersten  Wirkungen  aaf  Lenz  ausgcOl 
kftUe,  vie  er  uns  wenigstens  selbst  {'2i\,  2ö'li  berichtet,  bei  diesem  immer  daranf^ 
i^dats  er  aus  dem  formlosen  Schnreifen  sieb  zusammenziehen  und  die  Biidungigabo, 
die  QoD  angeboren  war,  mit  konst^emasser  Fassung  benutzen  mOchte'*.  \2\  „I>ie 
LauM  dea  Verliebten"  (zuerst  gedruckt  l$06  in  der  Ausg  der  Werke,  lobingeq, 
I94k6  ff.  Bd  4)  und., die  Mitschuldigen"  (zuerst  gedruckt  n$>T  in  der  gOschenscbeii 
Aoag.  der  Schriften  Bd.  2);  über  die  Entstehung  b«tder  Stacke  vgl.  Wirke  iä,j 
100—113  und  daau  noch  S.  212. 


EDtwickGlaogsgftng  der  Literatur.    1773—1632.    Goethe*3  Götz. 


99 


;h  Tielca  an  die  Hcrkömmlichkciten  der  alten,  sich  an  die  Frau-  §  301 
zosen  anlohuonden  Dicbterschule'^;  in  allen  j|;ro8sern  und  kleinem 
Werken  dagegen ,  die  er  seit  seiner  BekanntRchaft  mit  Herder  bis 
um  die  Mitte  der  Achtziger  abgcfasst  und  schon  damals  veröffent- 
licht hat,  zeigt  sich  uns,  wenn  aucl»  nicht  durchweg  in  den  Gegen- 
ständen* ao  doch  in  dem  darein  gelegten  geiKtigeu  und  sittlichen 
Gehaüt  nnd  in  der  ganzen  dichterisclien  Behandlung  alles  volks- 
tbUiuHch  deutsch,  und  auch  iu  Betreff  der  dafUr  gewählten  Einklei- 
dangs/ormen  eiuo  fjist  durchgängige  Unahhangigkeit  von  der  Fremde*'. 
So  aind  gleich  die  beiden  grOsstcn  dramatischen  Dichtungen  dieser 
«raten  Periode,  deren  Anfänge  wenigstens  nicht  weit  auseinander 
liegen,  wenn  der  Dichter  auch  nach  der  schnellen  Vollendung  der 
einen  erat  viel  später  die  andere,  und  zwar  zunächst  nur  als  Frag- 
ment folgen  Hess,  ganz  aus  heimisch-volksthilmlichem  Grunde  er- 
wachsen. In  dem  Götz  vou  Berlichingen  ward  ein  Gegenstand 
ans  dem  regungsvollen,  kampfcrftlllten  Zeitraum  der  frühern  vater- 
lündischen  Geschichte  behandelt,  zu  dem  das  nationale  Leben  der 
Neuzeit  noch  zumeist,  äusserlich  wie  innerlich,  in  einem  fühlbaren 


13)  Das  erste  Stück  ist  eiu  Scbäforspiel,  das  andere  dreht  sich  um  eiDe  uner- 
quickUcbe  Elipstaiidsgeachichto;  beide  faaste  der  Dichter  noch  in  Aloxandriaem 
ab.  14)  Was  Goethe  in  der  Zeit,  welche  mit  dem  Götz  vou  Berlichingen  an- 

hebt und  bis  ZQ  seiner  Heise  nach  Italien  reicht,  gedichtet  oder  wenigstens 
zu  dichten  angefangen  hat,  vergleicht  sich  seiaeni  allgumcinen  Charakter  nhch. 
unacrer  volksüiümüchen  Toesie  iu  den  Jahrhuuditrten,  wek'li&  der  Ausbildung  der 
besonders  anter  dem  Kinftuss  der  KreuzzOge  anfgelcomuienen  mittelhochdeutschen 
Kuoatdirhtung  dea  Hofes  voraufgiengen.  Wie  aber  bereits  lauge  vor  dem  letzten 
Jahrzehnt  des  12.  Jahrhunderls  einzelne  Einwirkungen  Ircmdcr  Bildung  und  Lite* 
ntur  »af  die  deutsche  Poesie  wnhrgeuommeD  werden  kunneu,  welch«  den  Kiu- 
tritt  der  mittelhuchdeutsoheu  hütischen  Dichtung  aUmählig  vorbereiteten,  so  ist 
auch  Gocthe's  zweite  Periode,  worin  er  das  Hoclifite  als  eigentlich  kunstmässiger 
IKcbter  leistet,  schon  vor  ihrem  wirklichen  Beginn  vielfach  in  seiner  durch  Behr 
«erachi edenartige  EinßQsse,  besonders  aber  durch  seine  Natur-  und  Kuiiststudien 
bettimmti^n  dichterischen  Tliätigkeit  zu  Ende  der  Siebziger  nud  iu  der  ersten 
HlUfte  der  Achtziger  aa^ekOiidigt,  uud  zwar  zunlichst  in  den  (lOgcustundcn,  denen 
er  sich  seit  seiner  Niederlassung  in  Weimar  zuwandte,  dann  aber  auch  schon  in 
der  Art  ihrer  Behandlung  und  lelhst  in  den  dafür  gebrauchten  ausseru  Formeu. 
Denn  seit  I71S  benutzte  er  bereits  hin  und  wieder  zu  kleinem  Gtylichtcu  den 
Bcxumeter  nnd  das  antike  elegische  Versmasa.-und  einigcJalkre  nachher  dichtete 
er  das  Fragment  „die  Geheimnisse*'  und  die  „Zueignung**  in  der  Form  der  itaÜGni- 
8ch<'n  Stanze,  da  er  vorher,  nach  seiner  Lossagung  vom  Alexandriner,  wenn  er 
oicbt  der  gebundenen  die  Trosarode  vorzog,  ausser  jenem  ganz  einzeln  stehcndeu 
Fall  {VOM  dem  J.  1771).  dessen  §  276,  T  gedacht  ist,  sich  zu  seinen  Erluiduugei# 
Bur  d«r  sogenannten  haiis-^achsischen  Versart  uud  volksmUssiger  Liederformen, 
M  -'Q   einfachen  .jambischen    und  trochäischeu  Massen    für   unbtrophische 

jeni'T.  ganz  oder  halb  freien,  von  Klop.stock  aufgebrachten  metrischen 
Grbikle  bediente,  von  denen  oben  (Dd.  III,  2(r&  f.)  die  Kede  gewesen  ist. 


mtm 


100    VI.  Vom  zweiten  Viertel  dea  XVIII  Jahrhundert*  bU  xu  GoeLhe's  Tod 


§  303  Bezüge  stand;  in  dem  Faust  eine  Sage  erfaast,  die  mehr  als  irgend 
eine  andere  im  VoIksbewuBstaein  lebte'*,  und  die  derselben  Zeit  ihre 
Entstehung  und  erste  Ausbildung  verdankte,  in  welche  der  GOtz  zu- 
rückwies. Die  erste,  jed<>ch  nur  sehr  mittelbare  Anregung  zur  dra- 
matischen Bearbeitung  von  Gegenständen  aus  der  vaterländischen 
Geschichte,  wie  sich  ihm  einer  nachher  in  Götzens  eigener  Lebens- 
beschreibung darbot,  hatte  Goethe  bereits  1766  in  Leipzig  empfangen, 
als  das  dortige  neu  erbaute  Theater  mit  der  Auffllhning  von  J.  E. 
Schlegels  „Hermann"  eingeweiht  wurde'*.  Die  Vorstellung  diesee 
patnotischen  StUckes  lief,  ungeachtet  alles  darauf  verwandten  alt- 
germaniscben  Anputzes,  sehr  trocken  ab,  und  da  Goethe  gegen 
alles,  was  ihm  nicht  gefiel  oder  missfiel,  sieh  sogleich  in  eine  prak- 
tische Opposition  setzte,  so  dachte  er  nach,  was  man  bei  einer  sol-^j 
eben  Gelegenheit  hätte  thun  sollen.  Er  glaubte  einzusehen,  daa^H 
solche  Stücke  in  Zeit  und  Gesinnung  zu  weit  von  uns  ablägen,  and^^ 
suchte  nach  bedeutenden  Gegenständen  iu  der  spätem  Zeit;  uud  ao 
war  diess  der  Weg,  auf  dem  er  einige  Jahre  später  zu  Götz  von 
Berlichingen  gelangte '\  Die  Lebensbeschreibung  desselben  crgriflT 
ihn  im  Innersten:  die  Gestalt  eines  rohen  wohlmeinenden  Selbst- 
helfers in  wilder  anarchischer  Zeit  erregte  seinen  tiefsten  Antheil". 
Was  noch  alles  zusammentraf,  den  Dichter  fUr  die  Bearbeitung  ge- 
rade dieses  Gegenstandes  zu  begeistern  und  sich  bei  deren  Ausfüh- 
rung zunächst  die  Form  des  shakspeare'schen  Drania's  zum  Vorbild 
zu  nehmen,  ist  oben"  angedeutet  worden.  Gleich  eine  der  ersten 
und  besten  Beurthcilungen,  die  über  den  Götz  in  den  kritischen 
Zeitblättern  erschienen,  die  in  den  Frankfurter  gelehrten  Auzeijren^B 
von  1773 *\  rechnete  dem  Dichter  die  Wahl  dieses  vaterländiscbei^H 
Gegenstandes,  so  wie  die  Art,  wie  er  sich  auf  dessen  Behandlung 
vorbereitet  und  dieselbe  ausgeführt  habe,  zu  einem  iranz  besonderen 
Verdienst  an.  „Unsterblisher  Dank  sei  (dem)  Verf.  für  sein  Studium 
der  alten  deutschen  Sitten,  Man  hat  sie  bisher  immer  nur  in  Her- 
mannswäldern  gesucht,  aber  hier  sind  wir  auf  altem  deutschen  Grünt 
und  Boden.  Schon  durch  die  Neuheit  dieses  Versuchs  sollte  di 
Stück  sein  Glück  machea.  Die  Reichshistorie  der  mittleren  Zeiti 
ist  freilich  ein  Ding,  das  wenige  unserer  Poeten  zu  kennen  die  Ehi 
haben.  Aber  hierher,  wenn  ihr  Helden,  Deutsche,  nicht  aus  der 
Luft  gegriffene  üelden  haben  wollt!''     Als   das  bedeutsamste  und 


er- 


•       l5)  Vgl.  Bd.  UI,  '(71    und  zu   dem,    worauf  dort  Änmerk.  20  verwiesen 
DilntEcr,  ..Ooclhe's  Faust.    Erster  uud  zweiter  Thi-il.    Znin   cr^teunial  voIlstJuidJi 
crUutcrt".   Leipzig  isäo.  51.    2  Thle.    S.    I,  }—12.        16)  Vgl.  Biuinner  S    IM 
17)  Vgl.  Werke  lio,  310  f.  IS)  Werk©  25,  314-  I9l  lid.  III,   Utt 

20)  Bei  A.  Mcotorlas,  über  Goethe  etc.  S.  -IS  ff. 


Entirickdungsgang  der  Literatur.     1773—1^32.    Gocthe's  Göta.         lOl 

Terheiasun^evollBto  Zeugnisa  einer  in  jugendlicher  Kraft  aus  volks-  §  303 
tbümlicLem  Grunde  erwachsenden  deutschen  Originalpoesie  halte 
iTorzÜglieh  auch  J.  Moeser  den  Götz  von  Berlichingon  aufgcfasst,  als 
er  ihn  17S1  in  seinem  vortrefflichen  Schreiben  über  die  deutsche 
Sprache  und  Literatur  gegen  das  ürtheil  Friedrichs  des  Grossen*'  in 
Schutz  nahm.  Moeser  verkannte  in  der  Schrift  des  Königs  keines- 
wegs die  Sprache  „eines  edlen  deutschen  Her/ens,  das  nicht  spotten, 
sondern  wirklich  uUtzcn  und  bessern  wollte";  allein  davon  konnte 
er  sich  nicht  Überzeugen,  dass  es  von  den  Deutschen,  um  eine  eigene 
gebildete  Literatur  zu  erhalten,  wohl  gcthan  sein  würde,  wenn  sie 
bei  dea  Griechen,  Lateinern  und  Franzosen  zu  Markte  giengcn  und 
dasjenige  von  Fremden  borgten  oder  kauften,  was  sie  selbst  daheim 
haben  könnten;  und  er  meinte,  sie  würden  besser  daran  thun,  ihre 
Götze  von  Berlichingen,  sowie  es  die  Zeit  bringen  werde,  zu  der 
ihrer  Natur  eigenen  Vollkommenheit  aufzuziehen,  als  ganz  zu  ver- 
werfen, oder  sie  mit  den  Schönheiten  einer  fremden  Nation  zu  ver- 
zieren. Freilich  schiene  uns,  in  Folge  unserer  staatlichen  VerhültniBse^ 
der  Zerstückelung  des  Vaterlandes,  der  Bescbaffonheit  des  ganzen  deut- 
schen Lebens,  wie  es  nun  einmal  wäre,  und  des  uns  cigeuthümlichen 
Charakters,  gar  vieles  abzugehen,  um  es  in  der  Poesie  zu  etwas  Grossem 
zu  bringen.  Jedoch  diess  bei  Seite  und  immer  vorausgesetzt,  dass  unser 
Klima  so  gut  als  andere  seine  eigenen  Früchte  habe,  die  zu  unsern  Be- 
dürfnissen', wie  zu  unserm  Vergnügen  vorzüglich  bestimmt  seien:  so 
dürften  wir  doch  allemal  am  sichersten  handeln,  solche  so  gut  als 
möglich  zu  erzielen.  Der  Götz,  so  sehr  ihn  der  König  herabsetze, 
sei  immer  ein  edles  und  schönes  Product  unscrs  Bodens,  und  es  sei 
nicht  abzusehen,  warum  wir  dergleichen  nicht  ferner  ziehen  sollten; 
die  höchste  Vollkommenheit  werde  vielleicht  durch  htugero  Cultnr 
kommen.  Wir  müsstcn  nur  auf  den  Gründen  fortbauen,  welche 
Klopstock,  Goethe,  Bürger  und  andere  Neuere  gelegt  hauten;  denn 
wenn  auch  noch  alle  in  der  Wahl  der  Früchte,  welche  sie  zu  bauen 
Tcrsncht,  gefehlt  und  das  Gewählte  nicht  zur  höchsten  Vollkommeu- 
bcit  gebracht  haben  sollten,  so  sei  ihr  Zweck  doch  die  Veredlung 
oinheimischer  Producte  gewesen,  und  dieser  verdiene  den  dankbarsten 
Beifall  der  Nation.  Goethe's  Absiebt  in  seinem  Götz  von  Berlichin- 
den  sei  gewies  gewesen,  uns  eine  Sammlung  von  Gemäblden  aus 
dem  Natioualleben  unserer  Vorfahren  zu  geben  und  uns  zu  zeigen, 
w«fi  wir  hätten  und  was  wir  könuten,  wenn  wir  einmal  der  artigen 
Kammerjungferu   und  der  witzigen  Bedienten  auf   der   französisch- 


21)  Itmtatiou  detestable  de  ces  mauvalses  pieces  aiiglaiscs  (de  Shakspeare) 
ces   df^^ofiiatitf'B   platUudcH.   in    dem  Sendschreiben    de  la  litt^rature   aUc- 
mande,  p.  i'. 


102     VI.  Tom  ziroiten  Vierte!  des  XVIII  Jahrhondcrta  UU  zu  Goethc't  Tod. 

§  303  deutseben  Bühne  müde  wären  und;  wie  billig,  Veränderung  gucbten. 
Leicht  wäre  es  dem  Dichter  g:eworden,  die  Sammlung  seiner  Ge- 
mfiblde  den  VoTBcbriften  der  franzusischen  Dramaturgie  anzube- 
quemen, wenn  er  aus  dem  einen  Stücke  drei  hätte  machen  wollen. 
Allein  er  habe  einzelne  Partien  mahlen  wollen,  die  wahre  einhei- 
Enische  VolksstUcke  sein  sollten;  er  habe  dazu  ritterliche,  Iftndlicbe 
und  bürgerliche  Handlungen  einer  Zeit  gewählt,  worin  die  Nation 
noch  Original  gewesen  wäre,  und  der  alte  Ritter  den  jungen,  wie 
der  alte  Kanzler  deu  jungen  Kanzler  ohne  fremde  gelehrte  Hülfe 
erzogen  hötie*'.  So  wenig  sich  der  GOtz  zur  AuflTöhrung  eignete, 
wurde  er  doch  schon  1774  in  Berlin  von  Koch  und  in  Hamburg  von 
Schroedcr  mit  geringen  Verftnderungen  auf  die  Bühne  gebracht,  dort 
im  Frühjahr,  hier  im  Herbst.  In  Berlin  fand  er  so  vielen  Beifall, 
dass  ihn  Koch  zum  grossen  Gewinn  für  seine  Kasse  achtzehnmal 
spielen  Hess;  viel  weniger  Glück  machte  er  in  Hamburg,  obgleich 
dort  alle  Hauptrollen  vortrefflich  dargestellt  wurden".  Ergt  ald 
Goethe  im  Verein  mit  Schiller  das  Theater  in  Weimar  leitete,  giexig 
er  daran*',  sein  Werk  so  viel  als  möglich  bUhiiengereclit  zu  machen. 
Die  gerade  nicht  zum  Vortheil  der  Dichtung  ausgefallene  Umarbei- 
tung erschien  aber  nicht  eher  gedruckt  aU  im  Jahre  1832".  —  GvU 
von  Berüchingen  und  Faust  waren  die  beiden  Gegenst&nde,  die 
sich  bei  Goethe  schon  j^eingewnir^elt  hatten '^  als  er  in  Strasburg 
mit  Herder  bekannt  wurde,  ,,uiid  die  sich  nach  und  nach  zu  poeti* 
sehen  Gestalten  ausbilden  wollten".  „Die  bedeutende  Puppenspielfabel 
des  letztem  i Faust)  klang  und  summte",  wie  er  berichtet**,  „gar  viel- 
tönig  in  mir  wieder.  Auch  ich  hatte  mich  in  allem  Wissen  umher- 
getrieben und  war  früh  genug  auf  die  Eitelkeit  dessellten  hinge- 
wiesen worden.  Ich  hatte  es  auch  im  Leben  auf  allerlei  Weise  ver- 
sucht und  war  immer  unbefriedigter  und  gequülter  zurtlckgekommen/* 
Ausser  ilem  Pup])enspiel  dürfte  Goethe^  auch  schon  sehr  frühzeitig 
das  um   die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  \icl  verbreitete  Volks- 


22j  Vgt.  faiorza  Gocihe's  Brief  an  Moesers  Tochter  in  den  Werken  (10,  SSOfT 
—  Wie  die  in  der  Tiefe  des  Gcmuthü  flchliunmcrnden,  tm  erstarrten  öffenüichen 
Leben  erdrückten  Gedanken  und  Gefühle  iu  Dcutaoliland  vonGootbe,  und  namect- 
lieh  durcli  seinen  Gfitz  i-rwcckt  wurden,  ist  von  Ucjhbcrg  mit  wenigen,  über  krif* 
tigen  Worten  angedeutet  worden  in  dem  Briefe  an  Tieck,  Einleitung  zu  den  ge- 
sammelten Schriften  voD  Leuz.  S.  CKXYl  f.  '23)  Vgl.  Le-ssings  Schriftea 
13.  ISO;  öiib  f:  Ramlers  Brief  an  Gebier  in  Kr.  Schlegels  d.  Mnseam  4.  IM  f. 
und  PlQniickc.  Kutwurf  eiuer  Thefttcr^cschichtc  von  Berlin  etc.  S.  40*1,  eo  wte 
Schaue,  harabuigische  Theatergescluchte  S.  41(1  ff.  und  Meyer  in  Schroeden 
Leben  1.  ?"i  ff  24i  In  deu  JaJireu  l*-»:^  und  4;  vgl.  deu  Briefwechsel  mit 
Schüler  ö,  I9y;  26**;  270  und  Goctbe's  Werke  MI,  IHs.  "201  Werke  42, 
233  ff.  2*)»  In  den  Werken  25,  M\.  27»  Wie  Imnizrr  a.  a  O. 
I.  73  meint, 


Entwickelangsgang  der  Literatur.    1773— 1S32.   Ooethe's  Faust  und  Werther.    103 

buch  vom  Döctor  Faust  kennen  gelernt  haben,  welches  als  eine  freie,  §  303 
kOrzere,  imd  dem  Volkston  gemÄssere  Bearbeitung  von  Pfitzera 
Faufitbüch*"  seit  dem  ersten  Viertel  des  achtzehnten  Jahrhunderts  in 
vielen  aufeinanderfolgenden  Ausgaben  gedruckt  war.  Von  dem, 
was  Goethe  erst  1790  unter  dem  Titel  „Faust.  Ein  Fragment" 
heTBusgab**,  hatte  er  die  ersten  Scenen  1774  niedergeschrieben,  auch 
den  grüssten  Theil  der  übrigen  schon  I77ö  vollendet  und  in  einer 
Reinschrift  mit  nach  Weimar  gebracht*'.  —  Weder  im  Götz  noch  im 
Faust  hatte  eine  glücklichere  Wahl  des  Stoffes  getroffen  werden 
können,  um  dann  das  poetisch  darzustellen^  was  damals  nicht  allein 
dem  Dichter  selbst  viel  zu  schaffen  machte^',  sondern  die  GemUther 
Oberhaupt,  besonders  in  dem  jugendlichen  Geschlecht,  nach  den  ver- 
scbiedeuateu  Seiten  hin  in  Bewegung  setzte,  jene  geistigen  Kämpfe 
und  drangvollen  Anstrobungen  gegen  alle  dem  Anschein  nach  un- 
natQrlicheu  Beschränkungen  im  äussern  wie  im  innem  Leben".  Was 
hiervon  in  dieseu  Dichtungen  indess  nur  mehr  mittelbar  zur  Dar- 
stellung kam  und  seinen  dichterischen  Ausdruck  fand,  bildete,  von 
einer  andern  Seite  gefasst,  ganz  unmittelbar  den  Inhalt  von  Goethe's 
drittem,  gleich  auf  den  GOtz  von  Berlicbingen  folgendem  Hauptwerk, 
den  Leiden  des  Jungen  Werthors".  Denn  obgleich  der  Stoff 
zn  diesem  Roman  zum  nicht  geringen  Theil  aus  eignen  Erlebnissen 


2Si  Vgl.  BU.  I.  403.  29)  Im  aicbenten  Baude  seiner  Schriaen.  30)  Vgl. 
Eckcrm&iiQs  Gespräche  mit  Goethe  2,  ti?  und  über  die  alliniihlige  Kntstohnng  der 
gEnxea  Dichtung  Dantzer  a.  a.  0.  1,  Til— 107.  3  b  Nachdem  Goethe  in  der 

scbon  oben  (f  24*J,  Anm.  5)  angezogenen  Stelle  das  in  der  Jugend  dßr  sicbuger 
Jahre  sich  go  stark  und  heftig  regende  „Bedürtniss  der  Unabhängigkeit*'  und  waa 
In  den  Strebongen  deT  Zeit  Eunllchst  zusammenhieng,  geschildert  nnd  auf 
rrsachen  zurückgeführt  hat,  bemerkt  er  schliesalich  (20,  u;i):  „Was  von 
'jtaer  Sucht  (der  Weltvcrbesserung ,  des  Einniiacbens  ins  Regimeut  etc.)  in  mich 
eingedrungen  sein  mochte,  davon  strebte  ich  mich  kurz  nachher  im  Götz  von 
Beriichingen  zu  befreien,  indem  ich  scliilderte,  wie  in  wüsten  Zeiten  der  wohl- 
dmkcnde  bnve  Mann  allenfalls  un  die  Stelle  des  Geseteos  und  der  ausübenden 
Gewalt  tu  treten  sich  entschliesst ,  aber  in  Verzwcitlung  ist,  wenn  er  dem  ver- 
^Itftwii  Überhaupt  leweideutig,  ja  abtrünnig  erscheint".  ^VgL  dazu  Schäfer,  Baud- 
dcr  Geschichte  der  deutschen  Literatur  2,  '2'Ah  Anm.  4S.)  Was  Goethe 
das  ihm  innerlich  zu  schatfen  machte,  in  der  Faustsage  Toi^ebUdet 
&nd,  10  ilass  er  sich  zu  ihrer  Dramatisierung  hingezogen  fühlte,  deutet  die 
eben  (S-  Ift2,  26|  mitgelheiUe  Stelle  aus  Wahrheit  und  Dichtung  an.  32)  Vgl 
ibieRu  Gerviuus  4'.  460;  474  f.  und  ganz  besonders  h\  9S  ff.  33)  Bald  nach 

iet  Vollendung  de«  Werther.  am  I.  .Tun,  1T7J,  schrieb  Goethe  an  Schoenbom 
fWeike  (^0.  2221:  MAllerhand  Neues  hub'  ich  gemacht.  Kine  Geschichte  des 
Titels;  die  Ltfiden  des  jungeu  Werthers ,  darin  ich  einen  jungen  Menschen  dar- 
»tcUft,  der  mit  einer  tiefen,  reinen  Kmptindung  und  wahrer  Penetration  begabt, 
sich  in  »chwÄrroende  Trunnie  verliert,  sich  durch  Specnlation  untergrabt,  bis  er 
zuletzt  durch  ilaxuiretcnde  unglückliche  Leidengchaft^u,  besonders  eine  endlose 
Liehr,  zerrüttet,  ^icb  eine  Kugel  vor  den  Kopt  scbles&t". 


■■« 


t04    VI.  Vom  zweiten  Yiertel  des  XVIII  Jahrbunderts  bis  zu  Goethes  Tod. 

303  und  uuH  individuellen  Verhr&ltniBBeD  und  Stimmungen  des  Verfa&serft 
geHclii^pft  war'*,  so  batton  diese,  nebst  dem  daraus  und  aus  der 
Geschichte  de«  jungen  Jerusalem"  für  die  Dichtung  gewonnenen 
geistigen  und  Kittliehen  Crehalt,  doch  ihre  so  zu  sagen  zeitweilig 
volkHthtlmlicho  Grundlage  in  der  ganzen  selbstquälerischen,  leicht  in 
Lehenstlberdruss  ausartenden  Empfindungsweise  des  damaligen  jungem 
Oeschlücht»,  wie  sie  aus  der  weichen  ÖentimcutalitÄt  der  frühem 
Jaln/.flhiite  sich  entwickelt  hatte,  als  der  AViderstreit  zwischen  den 
vermeintlichen  Rwrhteu  und  Forderungen  der  Natur  im  Menschen 
und  den  die  <f0»«ell8chaft  unischlicsseuden  und  sondernden  Schranken 
des  Gesetzes,  der  Sitte  und  des  Herkommens  immer  fühlbarer  wnrde. 
In  Goethe*«  Schilderung  der  Zeitstimmung,  welche  die  tiefere  Grund- 
lage des  Werthor  bildet*,  wird  der  Ueberdniss  und  Ekel  am  Leben, 
der  sich  r»ftor  aufthue  und  damals  namentlich  die  Jugend  erfasst 
habe,  zunächst  aus  mehr  allgemeinen  Ursachen,  dann  aber  besonders 
AUS  dem  Etntluss  abgeleitet,  den  der  düstere  und  melancholische 
Theil  der  poetischen  Literatur  der  Phiglftnder  (Youngs  Nachtgedanken, 
Gray's  Dorfkirchhof  etc.,  selbst  Hamlet,  vorzüglich  auch  Ossian,  der 
zu  allem  Trübsinn  ein  vollkommen  passendes  LocaI  hergegeben)  auf 
die  Deutschen  schon  seit  längerer  Zeit  ausgeübt  hatte  und  noch  fort- 


34»  Zu  dem  Bd.  ITl,  139  über  Goetho's  VerhUltnißS  zu  Chmrlotte  Bnff  (H- 
Mften  t^.  Goetho's  Werke  2t;,  149—17.*  ondDUntzers  Studien  etc.  S.  s^ff.;  ober 
^M  Verh&ltniss  zu  MaximUiaue  La  Hoche  vor  und  uach  ihrer  Verbeirathnng  mit 
4m  EanfmiuiD  Brentaiio  in  Frankfurt,  welches  den  nnchsteu  Anlass  zur  Abfaunng 
dwWerÜicr  gab,  vgl.  Werke  26,  17»— 1&8;  223— 22(i;  Duutzer  a.a,  0.  S.  MI— lU 
«Bd  dessen  Franenbilder  S.  212  f.;  23t»--224.  35)  Vgl.  $  2ä7,    Anm.  b.    Un 

J«kre  1'S24  sagt«  Goethe  in  etnem  Gospr&ch  mit  Kckermann  (3,  37),  nachdem  er 
airli  dar«l>er  «ngoUnen.  vie  die  deutschen  IMchter  der  neuem  Zeit  alles  in  nch 
adbat  b4Clea  (bidea  aflisea,  da  tob  aussen  sie  alles  in  Stich  gelassen,  too  seinem 
TTerkte':  ,J)as  ist  anch  so  «in  GeschtVpf.  das  ich  gleich  dem  Pelican  mit  dem 
Slito  mämm  e%wi>«  Henawi  gefüttert  hAbo.  F^  ist  darin  so  riet  InnerUches  aas 
MfJMT  iigaea  Brut,  wo  liA  von  Kniptindungcn  und  Gedanken,  um  damit  wohl 
tiMB  Rosas  WB  Mba  solchea  Rjadchen  aoasustatttt".  £r  gab,  iud«>m  er  der 
«Oft  äet  aBgtsMia  mliiiilmaii  Anaidil  ahwtsichtndnn  BtMcrinmg  Eckcrmanos.  dass 
4er  Wcsther  CpodM  f— adil  k»b«»  w«il  «r  cfffcbtcftexi,  nicht  vcil  er  in  einer  ge- 
visMB  Zeit  iisildiy,  vad  6mä  daftlr  ugeAÜirtes  Grande  beistinmie,  gelbst  xn^ 
dMs  m  IDUDB  wt^  pkaku  httl«,  (itt  Wahrheit  nnd  IHchisngi  mümb  elgcasn 
n  «M  ■Hgwielaag  EhflasMn  meiner  Zeit  ood  wu  der  Lectnn 
Aa«ttr«A  hemMic».  JEm  «mroo  riehBehr  iadividaelle  nahe 
di*  Mir  auf  die  Ki««i  hrasattt  imd  air  n  schaffen 
d&ff  ^di  la  jmm  QfWth— tl—d  Weckten,  aas  dm  der  VTerther 
Ick  h*llr  g«leK  t^MA  v»l  aakr  fial  goMca!  —  Pm  var  es  Di« 
Wcfftkctactt  ge^Afft.  ««bb  «bb  «k  aihM^  Wrrarhm,  fnSich  nicht 
WckiCBttBr  aa.  soadem  ieai  h^msgu^  jedes  EfaoclaeB,  der 
NatarsSav  sich  ia  ^  beachNakaBdcB  Feowa  «iaer  Ttr* 
akrti«  W^  teiAM  aad  kUcImb  kcBaa  nl**  Bfte.  36l  Worka  tfi,  Sil  & 


4 


4 


Entwickelungsgang  der  Literatur,    n73-l&32.  Goethe's  Wei-ther  und  Lieder.  105 

^vdbrend  ausübte.  „In  einem  aolcliea  Element'',  fahrt  er  fürt,  „bei  §  303 
^K)lchcr  Ura;i:ebun^,  bei  Liebhabereien  und  Studien  dieser  Art,  von 
^unbefriedigten  Leidenschaften  gepcinig't,  von  aussen  zu  bedeutenden 
PKLindlungen  keineswegs  angeregt,  in  der  einzigen  Aussicht,  uns  in 
einem  schleppenden,  geistlosen,  bürgerlichen  Leben  hinhalten  zu 
tttasen,  befreundete  man  sich,  in  unmuthigem  Uebermuth,  mit  dem 
lanken,  das  Leben,  wenn  es  einem  nicht  mehr  anstehe,  nach 
[genem  Belieben  allenfalls  verlassen  zu  können,  und  half  sich  damit 
►er  die  Unbilden  und  Langeweile  der  Tage  nothdürftig  genug  hin. 
lese  Gesinnung  war  so  allgemein,  dasa  eben  Worther  deswegen 
fie  grosse  Wirkung  that,  weil  er  überall  anschlug  und  das  Innere 
ine«  kranken  jugendlichen  Wahns  öffentlich  und  fasslich  darstellte*'". 
Am  frühesten  hatte  Goethe  in  der  Liederpoesie  sich  aller  an 
•mde  Vorbilder  oder  EinHns.se  erinnernden  Manieren  seiner  Vor- 
;Änger  und  Zeitgenossen  entsohlagen.  .  Das  bewahrte  sich  schon  in 
deu  ersten  lyrischen  Stücken,  die  er  drucken  Hess*',  noch  viel  mehr 
»er  in  den  reizenden,  seelenvollen  Liedern,  die   er  in  Strassburg, 


37»  Vgl.   auch   Werke   :to,  212   f.     Man    wird    die    vorhiü   Anm.   35    an- 
^n  AcusscruDgen  Goetlie's  gegen  Eckcnnann  im  Allgomeinen  gelten  lassen 
,   ohne  dass  dadurch    das   in    dieser  Stelle   ans   Wahrheit   und   Dichtung 
im  Ganzen  beschrankt  oder  Im  Einzelnen  aufgehoben  zu  werden  brauchte: 
dettii  gende  die  siebziger  Jahre  waren  es  ja,   in  denen  das  neuere  Deutschland 
überbaopt   jene   Stufe    innerer   Entwickeluug    betrat,    zu   welcher  der   Lebens- 
lang  jeden  Einzelnen   unter  den   von   Goethe  angegebenen   Bedingungen   führt. 
Jgl.   hierzu  den    Anra.   22   angeführten   Brief  Rehbcrgs  an   Tieck.    —  Die   im 
782   ontemommenc  Bearbeitung  des   Werther.  welche  sich   von   der  ersten 
^stalt  nicht  aUcin  durch   einzelne  kleinere  Äenderungen.   sondern  auch  durch 
nicht   unbedeutende   Erweiterungen  unterschied,  erschieu   HS"   itn   ersten 
indc  der  Scbrifton  (vgl.  Dtintzcr,  Studien  S.  176  ff.).    Ueber  die  Aufnahme,  die 
XV'erther  bei  seinem  ersten  Erscheinen  fand,  so  wie  über  die  vielen  Hcliriften, 
'     -te,  gibt  nähere  Auskunft  Dtintzer  a.  a.  0.  S.  IS3ff;  Verzeichnisse 
rindet   man   auch  bei  Jördcns  2.  Hi*i  f.  (vgl.  li,  20ü  f.;  so  vie  '^, 
\X\.    Nüt4>,   zur  Erklünmg   der  Anspielung   auf   die   weite    Verbreitung   des 
Vrtber  in  den  venetianiHcbmEpigi'ammenN.  31bi;  A.Nicolovius.  über  Goethe  etc. 
19  ff.  und  Üoas,   Nachträge  zu  Goethe's  Werken,  Leipzig  lh4t.    ^^  Thie.    10. 
229  ff.  3S)  Vgl.  Bd.  UI.    135.    Die  {in)  „neuen  Lieder  in  Melodie  ge- 

!*•  tu. ,   die .  ohne  dass  der  Name   des  iHchters   auf  dem  Titol  genannt   war^ 
tftrst  1769  erscbioncn,  hat  nach  dem  Text  des  zweiten  Druckes  (von  1770),   mit 
irr  kurzen  Einleitung.  L.  Tieck  ISU   wieder  abdrucken   lassen  in  dem  neuen 
'buch   der   berUuischcn  Gesellschaft   für  deutsche   Sprache  6,  272  ff.  (auch 
»DdfTb  ausgegeben  als  „Goethe^s  kitestes  Liederbuch",  Berhu  1841.   8.).    Den 
logischen  Putz,  der  damals  noch  so  vielfach  in  unserer  weltlichen  Lyrik  zur 
lang  koiu,  hatte  Goethe  schon  in  Leipzig,  zunächst,  wie  er  uns  exzrihlL,  von 
auf  deu  damit  getriebenen  Missbraucli  aufmerksam  gemacht,  bei  Seite  ge- 
Ftn;    Ainor    uud  Luna   waren  nun  die   einzigen  Ootlbeiten,    die  er  in    seinen 
Gedjciiten  aUunfalls  noch  nafirrten  liess  (Werke  25,  135  ff.). 


und 


PHP«! 


106    VI.  Vom  Bweiten  Viertel  des  XVIII  JafarhandcrtB  bü  zu  Oo«tii«'i  Tod 

§  303  Wetzlar  und  Frankfurt  dichtete*",   und  in  seinen  aiteeten,  bei  a 
Einfachheit  doch  so   wunderschönen   Balladen '°,  ,,da8  Veilchen"* 
,,der  untreue  Knabe**"   „der  Fischer" "   „der  König  inThule""  und 
„der  ErlköniJ5*"^     Hierin    war  alles  in  jeder  Beziehung  von 
menschlicher  Naturwahrheit  und  zugleich   von   echt  deutscher 
denn  wie  diese  kleinen  Gedichte  ihrem  Inhalte  nach  entweder 
mittelbar    und    rein    aus    wirklicher    tmd    nicht   bloss    vorgcbli 
Empfindung  des  Dichters  oder  aus  noch  lebendigen  volksthUmlichen 
Vorstellungen  hervorgiengen,   so  waren  dafür  Form,  Behandlungsart 
und  Ton  unseres  Volksliedes  wieder  aufgenommen,  nur  gehoben  u 
veredelt  durch  das  Talent  einer  innerlich  reichen  und  fein  gebildet 
Persönlichkeit.  —  Und  so  hatten  auch    fast   alle   Übrigen    gr<3afle 
und  kleinem  Poesien ,  die  vor  der  italienischen  Reise  im  Druck 
schienen,  ihre  stoffliche  Grundlage  theils  in  besondem  persönlich 
Verhältnissen,  die  den  Dichter  innerlich  beschilftigten,  theils  in  all 
meinen  Zeitintorcsscn  und  Zeitstimmungen,  die  ihn  in  der  oineu  od 
der  andern  Weise  nahe  genug  berührten,   um  seine   poetische  P 
duction  anzuregen ;  und  so  verschieden  sie  auch  nach  Gegenstand 
und  Gattungen,  in  ihrem  inncm  Geluilt  und  in  ihrer  Äussern  Form 
waren,  sie  bezeugten  durchweg  in  allem,  was  sie  insgesammt,  od 


39)  Was  von  wirklichen  lyrischen  Liedern  aus  dieser  Zeit  and  aas  den 
D&chslfolgcndcn  Jahren,  so  wie  von  gleichzeitigen  unstrophischen  Gedichten,  dl« 
Goethe  später  in  den  verschiedenen  Ausgaben  seiner  Werke  unter  die  „Liedft^ 
aufgenummen  hat,  schon  in  den  Siebzigern  gedruckt  wurde  (mit  Aa^n&huie  d 
lyrischen  Stücke  in  seinen  Singspielen),  erschien  in  J.  G.  Jftcobi's  IrU  ron  IT 
l'Werke  I,  H2;  Mi  t,;  13  f.;  79;  7"  f.;  75  f.;  23  f.;  53;  92);  ifl  Lavater«  phjs 
gnonuschen  Fragmenten  1,  272  (Werke  2,  191);  im  d.  Merkur  von  l7Trt  (Wi 
1.  S4  f.;  Ml);  130  1'.;  T4;  19  f.);  in  der  Iris  von  ITTü  (Werke  1,  SS;  steht  a 
auch  unter  J.  G.  Jacobi*s  Godichleu.  Ausgabe  von  IS  13,  Bd.  3,  lOS;  vgl.  Uirzcl» 
Verzeichnis»  einer  Goethe-Bibliothfk  S.  12);  in  dem  An  merk.  10  angeführten  ».An- 
hang aus  Goethe's  Brieftasche'MWerke  2,  ISiff.);  im  2.  Thell  von  Herders  Volki- 
liedem  i Werke  I.  171.  üeher  erat  später  gedruckte  Lieder  aus  Goethe's  Stx&^- 
bnrger  und  Frankfurter  Zeit,  so  wie  aus  den  ersten  Jahren  seines  Aufenthaltes 
in  Weimar  tindet  man  die  vollstiXndigBte  Auskunft  iu  Düntzens  Frauenbilderti 
(besonders  in  den  Abschnitten  „Friederike  Urion"  und  Anna  Elisabeth  Seh 
mann;  vgl.  Goethe'«  Werke  Is)  und  iu  den  Briefen  an  Frau  von  Stein 
40)  Düntzer  behauptet  in  seinem  Ruch  über  Goethe's  Faust  l,  2s:j,  alle  eig 
liehen  Balladen,  die  Goethe  vor  seiner  Bekanntschaft  mit  Schüler  dicbt<»te,  v 
dankten  dramatischen  Stücken  ihren  Ursprung.  Ich  «rüFSte  jedoch  nicht, 
welches  Ht&ck  ..der  Fischer"  bestimmt  gewesen  wjire,  den  DOntrer  doch  siehe 
nicht  von  den  eigcntlicheu  iJnllnileti  ansbi-hliessen  wird.  A\)  Schon  1T7H 

dichtet  (vgl   Th.  Bcrgk.    acht  Lieder  von  Goethe,  Wetzlar  1^57.    S.  »5  f.i, 
in  Erwin  und  F.lmire  Aufgenommen  1775.  42)  Iu  Claudine  von  VOla  Be 

1776.  43 1  In  der  rrsteu  Sammlung  der  Volks-  und  andern  Lieder  etc.  v 

S.  Ton  Seckeudorff.    Weimar  1771».   4.  44)   In   der  dritten  Sammlung 

ScckondorlTs.    Dessau  17K2.    i.  45)  In  dem  Singspiel  ..die  Kischerin".    I7 


M 


EntwickelongBgang  der  Literatur.    1T73— 1832.    Goethe's  CUrigo.         107 

'as  je»les  Gediclit  insbesondere  charakterigiert,  das«  nur  die  vollste  §  303 
ilbätandigkeit  und  lebcnsfriscbeate  Unmittelbarkeit  der  dichteriscben 
lildkraft  Bio  hervorgebracht  haben  konnte.  Von  seinen  draroatiscben 
erken  erschien,  ausser  dem  Götz  von  Berlichingen,  schon  vor  der 
tamnilung  seiner  Schriften  in  Göschens  Verlag,  von  denen  der  erste 
Band  1787  herauskam,  zunächst  das  Trauerspiel  Clavigo".  Ein 
Recht«bande1,  in  welchen  der  bekannte  französische  Schriftsteller 
Beaumarchais  verwickelt  worden,  und  seine  im  Anfange  des  Jahres 
[774  erfolgte  Vemrtheiluug  hatten  überall  in  Europa  unter  den  Ge- 
Ideten  grosses  Aufsehen  erregt.  Um  so  mehr  war  die  allgemeine 
ufmerkaamkeit  auf  die  interessante  Deukschrift  gelenkt  worden,  die 
durch  jenen  Rcchtshandcl  dazu  veranlasst,  Über  seine  zehn  Jahre 
»rher  nach  Spanien  unternommene  Reise  und  seine  Verwickelungen 
lit  dem  zu  Madrid  lebenden  Archivar  der  Krone,  Don  Joseph 
lavijo,  herausgegeben  hatte  *^  Goethe,  der  mit  dem  Original  im 
'rttbjftbr  1774  bekannt  wurde,  dramatisierte  es  binnen  acht  Tagen: 
die  Hanptsceue  zwischen  Beaumarchais  und  Clavigo  ist  so  gut  wie 
^^örtlich  aus  der  Denkschrift  aufgenommen".  In  diesem  Familien- 
^Brama  hatte  sich  Goethe  der  Form  von  Lessings  Emilia  Galotti  ge- 
^B&hert;  es  wurde  dadurch  viel  bdhneugerechter  als  der  Götz  von 
^Bcrlichin^cD,  stand  diesem  aber  freilich  an  genialer  Kraft  der  Con- 
Pfteptiou  weit  nach*".     Einem   ganz  andern   Genre  gehören  an  der 


46)  Leipzig  1774.  S.  47)  Im  Äuguststftck   des  d,  Merkurs  von  1774, 

k  M!%  ff.,  %\b  fioethe's  Tranerspiel  bereits  gedichtet  war,  gab  K.  H.  Jacobi  mit 
einem  Vorbericht  eine  Üebersetzuni?  von  Beaumarchais  DenkBcbrift,  „Fragment 
j^^einer  Reise  nacb  Spanien";  eine  noch  voUßtUndiijrere,  „die  wabre  Geschiebte  des 
^Hpiaviijo",  erschien  Hamburg  17';4.  s.  Nach  Gubrauer,  Lessing  2,  t,  :i2t.  Anm. », 
^Bjeniient  in  Bezug  auf  Beaumarchais'  „Kugenie*'  bemerkt  zu  werden,  dass  nach 
^^hf  Afisabe  des  Arilkelf^  „Beaumarchais"  in  der  Biographie  untverseUe  derGcgcn- 
^^tud  ^fii  Briefes  zu  des  Verfassers  eigenem  Abenteuer  in  Spanien  mit  Clavigo 
Sa  engster  Beziehung  steht,  kurz,  dass  wir  hier  eine  Tragödie  Clavigo  vor  (iocthe 
faftbcn.  Vgl.  noch  J.  Risch,  Ober  das  VerhäUniss  des  Gocthe*schcn  Clavigo  zu 
Quelle.  Stralsund  ISfil.   S.  4S»  Vgl.  über  tlie  nfthern  ümstÄnde,  unter 

OoctUe'3  Clavigo  entstand,  Werke  26.  340  ff.    Am  l.  Juni  1774  schrieb  er 
wn  %n  Schoeoboru  (Werke  00,  222) :   „Dann  hab'  ich  ein  Trauerspiel  gearbeitet : 
ivigo,  moderne  Anekdote  dramatisiert,  mit  möglichster  SimplicitJit  und  Ilcrzcns- 
irheH**  etc.;    und   im  August   an  F,  H.  Jacobi  (Briefwechsel   zwischen   beiden, 
A0>:    ..Oass  mich  nun  die  Memoires  des  Beaumarc[iais,  de  cet  avanturier  fran- 
firenten.  romantische  Jiigendkraft  in  mir  weckten,  sich  sein  Charakter,  seine 
mit  Cliarakteron   und  Tbatcn   in  mir  amalgamierteu ,    und   so   mein  Clavigo 
das  ist  ein  Glück,  denn  ich  hab  Freude  gehabt  darüber,  und  was  mehr  ist, 
dere  das  kritische  Messer  auf,   die  bloss   tiberseUtcn  Stellen   abzutrennen 
:eu,  ohn'  es  zu  zerlieiscbon,  ohne  tödtliche  Wunde  —  nicht  zu  sagen  der 
)rie  —  snntlern  der  Structnr.  Lebensorganisation  des  Stftckes  zu  vprsetÄen", 
^gl.  liiemi  noch  Ditntzcr,  Frauenl)Udcr  2'J()  ff,  49)  Merckcn  galten,  wie  er 

Mcolai  schrieb,  der  Clavigo  und  die  Stella  für  vreiter  nichts  als  für  ..Neben- 


108    VI.  Vom  zweiten  Yiertcl  des  XYin  JAhrhnnderta  bis  za  Goetbe's  Tod. 

303  „Prolüg  zu  den  neuesten  Offenbarungen  Gottes,  verdeutscLt  durcb 
Dr.  C.  Fr.  Bahrdt"^  die  Farce  „Götter,  Helden  und  Wielaud"  und_ 
„Neueröffuetes  moralisch  politisches  Puppenspiel*'",  lieber  die  Ui 
stände,  Anlässe  und  Stimmungen,  denen  diese  kleinen  satiriscbi 
und  scherzhaften  Stöcke,  so  wie  andere  damit  im  Ton  verwand! 
aber  in  der  Form  davnn  verschiedene  humoristische  und  witzi( 
kleine  Gedichte  ihre  Entstehung  verdanken,  hat  sich  Goethe  ii 
Allgemeinen  ausgesprochen".  „Mehr  als  alle  Zerstreuungen  d^ 
Tages";  berichtet  er,  „hielt  den  Verfasser  von  Bearbeitung  und 
Vollendung  grösserer  Werke  die  Lust  ab,  die  über  jene  Gesellschi 
(ihn  und  seine  Freunde  nach  seiner  Heimkehr  von  Wetzlar) 
kommen,  alles,  was  im  Leben  einigermasscn  Bedeutendes  vorgieng, 
zu  dramatisieren.  Durch  ein  geistreiches  Zusammensein  an  den 
heitersten  Tagen  aufgeregt,  gewöhnte  man  sich,  in  angenblieklichen 
kurzen  Darstellungen  alles  dasjenige  zu  zersplittern,  was  man  sonst 
zusammengehalten  hatte,  um  grössere  Compositionen  daraus  zu  er- 
bauen. Ein  einzelner  einfacher  Vorfall,  ein  glücklich  naives,  ja  ein 
albernes  Wort^  ein  Missvcrstnnd,  eine  Paradoxic,  eine  geistreiche 
Bemerkung,  persönliche  Eigenheiten  oder  Angewohnheiten,  ja  eine 
bedeutende  Miene,  und  was  nur  immer  in  einem  bunten  rauschenden 
Leben  vorkommen  mag,  alles  ward  in  Form  des  Dialogs,  der  Rate- 
chisation,  einer  bewegten  Handlung,  eines  Schauspiels  dargestellt^ 
manchmal  in  Prosa,  öfters  in  Versen.  Man  liesa  Gegenstände,  Be- 
gebenheiten, Personen  an  und  für  sich,  sowie  in  allen  Vorbältnisst 
bestehen,  man  suchte  sie  nur  deutlich  zu  fassen  und  lebhaft  abzi 
bilden.  Alles  Urtheil,  billigend  oder  missbilligend,  sollte  sich  vor 
den  Augen  de«  Beschauers  in  lebendigen  Fonnen  bewegen.  Man 
könnte  diese  Productionen  belebte  Sinngedichte  nennen,  die  ohne 
Schärfe  und  Spitzen,  mit  treffenden  und  entscheidenden  Zügen  reich- 
lich ausgestattet  waren.  Das  Jahrmarktsfest  ist  ein  solches,  oder 
vielmehr  eine  Sammlung  solcher  Epigramme.  Unter  allen  dort  auf- 
tretenden Masken  sind  wirkliche,  in  jener  Societat  lebende  Glied) 
oder  ihr  wenigstens  verbundene  und  einigermassen  bekannte  P( 
sonen  gemeint;  der  Prolog  zu  Babrdts  neuesten  Offenbarungen  gilt 


«tunden"  (Briefe  aiia  dem  Freundeskrcisp  von  Goethe  S  133  f.l:  j»  er  iosac 
g(>gen  Goethe  BcHist:  aolch  oiuen  Quark  dUrfo  er  ihm  künftig  nicht  mehr  Bchreil 
das  ki^nntm  die  Andern  auch  «Werke  2(i,  351).  50)  Gicssen   IIT^.    v 

51t  Leipzig  1774.   S.  i)2)  Prolog.  —  De»  Künstlers  Erdeuwailen.    Dranuu. 

Jolirmarktfifcst  zu  PlunJcrswoilcm.  Ein  Schönbortäspiel  rZwci  iütiTC  Scenen  si 
erst  gedruckt  in  den  Werken  57.  253  ff.i.  —  Ein  Fastnachtsspiel,  auch  wohl 
xn  tra^neren  nach  Ostern»  vpm  Pater  Brey,  dem  falscheji  Proplieten  Zu  Lehr, 
Nutz  und  Kurzweil  gemeiner  Christenheit,  besonders  Krauen  und  Jungfrancn  cum 
goldenen  Spit-gcl.    Leipzig  1774.   t?.  b'6)  In  den  Werken  3(j,  237  £. 


Eatwickolungsgang  der  Literatur.    t773— 1S32.    Goethe's  Stella  etc.     109 

Ir  einen  Beleg  anderer  Art;  die  kleinsten  iinden  sich  unter  den  §  303 
gemischten  Gedichten"".  Ebeufalis  in  die  Classe  dieser  Stücke  ge- 
hört der  ÖatyroB,  der  aber  erst  in  den  spätem  Ausgaben  von 
roethe's  Werken  gedruckt  erschien".  Wiederum  dem  Gebiete  des 
'ragischen  geliurt  dagegen  an  „Stella.  Ein  Schauspiel  für  Liebende 
in  fünf  Acten'***,  unter  Goethe's  grossem  Dramen,  die  er  in  dieser 
»it  dichtete,  das  bei  weitem  am  wenigsten  gelungene.  Es  ist  auch 
►ch  aus  der  Zeitatimmung  hervorgegangen,  welche  uns  der  Werther 
HO  lebendig  vergegenwärtigt;  allein  das  allgemeine  Sittengeaetz  der 
^christlichen  Welt  ist  in  dem  Schluss  des  Schauspiels  auf  eine  viel 
^^bistössigere  Weise  verletzt  als  in  dem  Roman,  und  die  zur  Motivie- 
^^■dt  dieses  Ausgangs  angeführte  Dojjpelehe  des  Grafen  von  Gleichen, 
pVRv  sie  die  Volkssage  berichtet,  reicht  als  Beispiel  keineswegs  aus, 
denselben  nur  einigermasson  zu  rechtfertigen.  Goethe  hat  später 
^■leu  Schluss  geändert  und  dadurch  aus  dem  Schauspiel  ein  Trauer- 
^H>iel  gemacht;  es  ist  damit  die  Bigamie  beseitigt,  aber  der  Kunst- 
^^pertb  des  Werks  nicht  erhöht  worden".  Ferner  entstanden  in 
^■ieaer  Periode  mehrere  Singspiele:  „Erwin  und  Elmire,  ein  Schau- 
^Bpiel  mit  Gesang*'^,  aus  der  Romance  in  Goldsmiths  Laudprediger 
Ton  Wakcfield  hervorgegangen*^,  und„CIaudine  von  Villa  Bella.  Ein 
;hauspiel  mit  Gesang"*^,  beide,  mit  Ausnahme  der  ftlr  den  Gesaug 
lestiiumten  Stellen,  in  Prosa,  später  in  Versen  umgearbeitet'"  und 
,die  Fiacherin,  ein  Singspiel*'",  in  welches  mehrere  Volkslieder  aus 
fcrders  Sammlunp"  eingelegt  sind.  Ausserdem  wurden  noch  von 
•inen  vor  der  italienischen  Reise  gedichteten  dramatischen  Sachen 
;edruckt:  „Gesänge  aus  Lila*"',  die  „Proserpina,  ein  Monodrama"**, 

5-1»  Vgl.  auch  Werke  31»  5;  4S.  S6.   Im  Desondern  vgl.  über  „Götter.  Helden 

id  Wklaud"  auf  S.  2\    die   dort   augefüLrteii  Stellen  und  dazu  Werke  60,  ITl 

id  Düntzer»  Frauenbilder  S.  7i>  f. ;  Ober  „Pater  Brey"  §  295,  Anm.  29;  Riemer.  Mit- 

idiungen  2.  533  IT.  uud  Düntzcr  über  Satyros  S.  110  f.  55)  S.  §  25«,   19; 

iftaer.  a.  a.  0.  S.  535  f.  und  besondera  Dontzer,  Obnr  Goetbe'B  Satyros,  in  Hennc- 

■gers  Jalirbuch  f.  d.  Lit.-Gcscb.   !,  I3l>— 15s.    Hier  wird  nachgewieaen,  dass  unter 

iityros  keineswegs,  wieGcninus  meinte,  Basedow  zu  verstehen  sei.   Von  dem 

ttigffn  Kaufmann  aus  Winterthur  bemerkt  Düutzcr  S.  U.S,  derselbe  komme 

Satyros  zunächst,  Goethe  habe  ihn  aber  frühestens  im  folgeuden  Jabre  zu 

kennen  gfllemt.        50)  Berlin  mn.  s.       57)  ücber  zwei  viel  friibero, 

tcfifit  plende  Versuche  Anderer,  dus  Anstössige  des  Schlu^ises  ins  Gleiche  zu 

vgl.  die  all^remeine  d.  Bibliothek  31.  2,  <ll)fif.  und  DUntzer.  Studien  S.  195  f. 

I.  5S)  Zuerst  gedruckt  in  J.  Q.  Jacobi's  Iris  von  1175,  dann  noch  in 

dttnielben  Jahre  besonders  zn  Frankfurt  und  Leipzig.   $.;  zwei  neue  Arien  dazu 

im  d.  Merkur  von  ITTfi.  59)  Vgl.  Werke  4h    Iti3.  60)  Berlin  177«.   S. 

Ot)Vt?|  Bd.  Hl,  146.       62  (Zuerst  in  der  zu  Berlin  berausgegebeuen  Literatur- 

•nug  für  daä  J.  17M.    Vgl.  H.  Burfebardt,  die  erste  Aufführung  der 

1  arke  zu  'l'iefurt.  in  den  Grenzboten  is72,  Nr.  10.  t)»il  In  der 

Oiia  t'othda  von  t77S,  die  ebenfalls  zuBurliu  erschien,       64)  Vgl.  Bd.  UI,  146, 


W9 


llü    VI.  Vom  zwdtcn  Viertel  des  XVIII  JahrhimdcrtB  bis  zu  Goethe*s  TotL 

§  303  und  ,,Seenen  aus  Ipbigenie  in  Tauris"*^.    Von  den  erzftldenden 

dichten  erschienen  die  „Erklärung  eines  alten  Holzschnittes,  vor- 
stellend Hans  Sachsens  p(»etische  Sendung*'*"  und  der  nach  einer 
italienischen  Ueborsetzung  des  sorbischen  OrigiBals  gefertigte  „Klage- 
gesang von  der  edlen  Frauen  des  Asan-Aga"*".  Endlich  viele  klei- 
nere lyrische  und  didaktische  Stücke,  die,  verschieden  an  Inhalt, 
Form  und  Ton,  von  dem  Dichter  nachher  in  die  „Vermischte  Ge- 
dichte", „Kunst'*,  „Epigrammatisch"  und  „Parabolisch"  tiberschri©- 
benen  Abtlieilungen  seiner  Gedichte  aufgenommen  worden  sind, 
auch  mehrere  jener  schon  früh  anhebenden,  in  ganz  freien  reiml 
Versen  abgefassten  StUcke  gehören*. 


§  304. 

Gegen  den  Anfang  der  achtziger  Jahre  gewann  es  den  Ansehe 
als  habe  die  drangvoll-stümiiscbe  Bewegung  in  unserer  poetischen 
Literatur  sich  schon  bedeutend  gelegt,  wo  nicht  gar  ihr  Ende  er- 
reicht. Von  jenen  Männern  und  Jlinglingen,  die  in  ihrem  Enthusias- 
mus fttr  eine  neu  zu  begründende  vaterländische  Dichtung  anfäng- 
lich, wenn  nicht  durchaus  gemeinsame,  doch  sich  sehr  nahe  liegende 
Ziele  verfolgten,  so  wie  von  den  bedeutendem  Schriftstellern,  die 
sich  ihnen  znn.lchst  anschlössen,  hatten  die  allermeisten,  die  d«^J 
achte  Jahrzehent  überlebten  und  sich  noch  feiiierhin  literarisch  thät^^H 
erwiesen,  bereits  gegen  Ausgang  der  Siebziger  von  ihrem  poetischen 
Ungestüm  allmählig  in  ein  gemesseneres  nud  ruiugoros  Verfahren 
eingelenkt,  indem  sie  zugleich  in  ihren  Bestrebungen,  wie  in  ihren 
Gesinnungen,  immer  weiter  auseinander  kamen.  Einzelne  von  ihnen 
giengen    überdicss   für   immer    von   der  Dichtung   zur  Wissenscb. 


Gedruckt  im  d.  Merkur  von  177&  und  in  demselben  Jahre  in  der  Litenitur-  and 
Theaterzeitung.  65)  Im  1.  Bande  des  schwäbisclieii  Museums,  bcrausgg.  Toa 

J.  M.  Armbruater.    Kempten  1765.   h.  66)  Zuerst  im  d.  Merkur  von  I77e 

gedruckt  trgl.  Bd.  I,  323).  67)  1T7S  in  tlerders  Volksliederu  (I,  :m>9  ff) 

dmckt.  6S)  Diese  Sachen  erschienen  im  Göttiuger  Moseualmauadi  von  l'ti 

und  75  (dort  „der  Wanderer",  Werke  2,  176  ff.;  „Mahomets  Gesang",  2,  &ä  ff«] 
ausserdem  noch  die  Stücke  2,  272  und  77  f.;  hier,  was  2,  2t.t  f.  steht);  im  vi 
sehen  Musenalmanach  von  I77A  (2,  rJ2  f ;  11)4  f.);  im  d.  Merkui*  von  1770  (2,  11 
das  erste  kleine  Gedicht);  im  „jVnhaug  aus  Goethe's  Brieftasche"  I77fi  (2,  197 
lyft  das  zweite  Stück);  im  d.  Museum  von  1777,  2,  267  ff.  („Seefahrt'*,  2,  75 
vgl.  Goethe's  Briefe  an  Lavater  S.  22  ff.):  in  Fr.  U.  Jacobi's  Schritt  „aber 
Lehre  des  Spinoza"  etc.  1785  („das  Göttliche",  2,  86  ff.;  „Prometheus",  2,  79 ff.). 
—  üeber  die  Dichtnngen,  die  Goethe  vor  dem  J.  1780  entweder  bloss  entwarf 
oder,  sei  es  gauz«  sei  es  nur  theiiweise,  ausführte,  ohne  daas  davon  schon  damals 
etwas  im  Drucke  erschien,  vgl.  UI,  1-tL— 145;  über  den  Plan  zu  dcm^.MahomeCj 
über  den  „Prometheus"  und  den  „ewigen  Juden"  insbesondere  vgl.  Werke 
21)&— 300;  30b-3IO;  Riemer,  Mitthcilungen  2.  524  ff.,  und  dazuGervinus  l\  ibb 


ickelongsgftog  der  Literatur-    niS— 1S32.    Einlenken  der  Oemes.     111 

Ober,  oder  wandten  sich  dieser  wenigstens  vorzugsweise  zu;  andere  §  304 
wirkten   als  Schriftsteller  im   Dienste   verscliiedeuo-r  Interessen  des 
tpraktischeu  Lebens,  (»der  betbeilijjteu  sich  hauj)t8fi('hnch  nur  an  den 
(religiösen  Bewegungen  der  Zeit  und  an  den  damit  in  näherem  oder 
entfernterem    Zusammenhang    stehenden    geistigen   Reibungen    und 
iPurteikämpfen ;  noch  andere  Iteschfiftigtcn  sich  fortan  entweder  allein 
tnit  der  bildenden  Kunst  und  deren  Theorie,  oder  verwandton,  mit 
entscbiodener  Vorliebe  für  das  Altcrthum,  ihre  Kräfte  vornehmlich 
Auf  das   kuustmäasige  Uebertragen  classischor  Dichtungen  in  unsere 
Sprache.    Am  längsten  blieb  noch   unter  den   berühmten   Dichtei*n 
ms    den   Siebzigern ,    bei    einer   nicht   versiegenden    Fruchtbarkeit, 
Kli  nger  als  Dramatiker  dem  Geiste  der  Sturm-  und  Dran^r/eit  treu; 
indessen  auch  er  war  um   I7S0  bereits  massvoller,   natürlicher  und 
:cordneter  in  seinen  Schauspielen  geworden.   Als  er  die  vier  Theile 
»eines  ,, Theaters"*  herausgab,  nahm  er  in  diese  Sammlung  nur  die- 
jenigen Stücke  auf,  die  er,  wie  er  sich  in  der  zu  Anfang  des  J.  1785 
:6cUriebeueu  Vorrede  zum  ersten  Theil  ausdrückte,   ,, anerkannte*', 
fund  schlosjü  stillschweigend  einige  seiner  Jugondarheitcn ,    .^das  lei- 
'dende  Weib"  und  den  „Otto",  davon  aus:  gewiss  aus  keinem  andern 
Grunde,  als  um  sie,   wo  möglich,  völlig  der  Vergessenheit  zu  Uber- 
iben.      Ueber  einige   andere,    die  zufolge   ,, gewisser  Regeln"  und 
»Äch  der  damaligen  „Denkungsart"  des  Dichters  ein  gleiches  Loos 
ijitte   treffen   mögen,   die  aber  dennoch  darin  einen  Platz  fanden, 
»pracb  er  sich  in  NVoi*ton  aus,  die  mir  zur  Bezeichnung  des  Stand- 
punkted,  auf  welchen  er,  wenn  nicht  schon  früher,  doch  wenigstens 
liegen   die  Mitte   der  Achtziger  als  Dichter  gelangt  war,    und  von 
vrelrhem  aus  er  nun  seine  frühern  Arheiten .  so  wie  die  Strebungen 
und  Leistungen  der  Sturm-  uud   Drangzeit  im  Drama   beurtheilte, 
pinterefifiant  genug  scheinen ,   um  sie  hier  auszugsweise  einzurücken. 
fene  Altern  Stücke,  bemerkte  er,  die  er  nicht  ausgeschlossen  hatte, 
„sind   freilich  individuelle  Gemähide  einer  jugendlichen  Phantasie, 
lines  nacb  Thätigkeit  und  Bestimmung  strebenden  Geistes,  die  in  das 
iich    der  Tniurae  gehören,    mit   dem    sie   nah  verwandt   zu    sein 
ichoinen.     Wer   aber   gar   kein   Licht  in    diesen   Explosionen    des 
idlicben  Geistes  und  Unmuthes  sieht,  ist  nie  in  dem  Fall  ge- 
n,   etwas  davon    in  sich  seihst  zu  fühlen.     Ich   kann   heute  so 
^t  darüber  lachen,   als  einer:  aber  so  viel  ist  w^abr.   dass  jeder 
junge  Mann  die  Welt,  mehr  oder  weniger,  als  Dirhiei  und  Träumer 
■ansieht ^...  Erfahrung,   Uebung,  Umgang,    Kampf  und   Anstossen 
heilen  uns  von  diesen  überspannten  Ideutcu  und  Gesinnungen,  wo- 
von wir  in  der  wirklichen  Welt  S"  Mcuig  wahrnehmen,  und  führen 


fi  3UI.     Ii  Riga  IT^u  f.  s. 


2)  Vgl.  dazn  oben  §  302,  Anro.  17. 


■w 


1 12    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  JahihuudertÄ  bis  zu  Goetfae*B  Tod. 

304  un»  auf  den  Punkt ,    wo   wir  im  bürgerliclieu  Leben  'steben  sollen 
Eben  dieso  lebren  den  Dicbter  und  Kllnstler,  das«  Einfacbbeit,  Ord- 
nung und  Wabrbeit  die  Zauberruthen  seien,  womit  man  an  das  Herz 
der  MenscLen  acblageu  mUssej  wenn  es  eintoneu  soll.  .  .  .  Die  Klagen 
sind  unendlich,    die  man  über  die  wilden  Producte  führt,    die  zu 
Zeiten    in    der   deutschen   Welt,    und    besonders    fürs   Theater   er- 
scheinen. . .  .  Soviel  ist  indessen  gewiss,    dass  wir  Deutscheu  durch 
diese  Verzerrungen  gehen  müssen,   bis  wir  sagen   mögen,  so  und 
nicht  anders  bebagt's  dem  deutschen  Sinn.    Nichts  reift   ohne  Gä 
rung.   Gewiss  sind  die  kalten,  beschränkten  Regeln  des  französische 
Theaters  mit  seiner  Declamation  dem  thätigem,  rauhem  und  starkem 
Geist  der  Deutschen  nicht  genug;  aber  eben  so  gewiss  ist  er  nicht 
muthwillig,   launig  und  besonder  genug,    ums  allgemein   mit   dem 
englischen  Humor  und  seinen  Sprüngen  zu  halten.    Also  wäre  das 
wilde  Thun  bisher  doch  nichts  anders,  als  eine  Form  suchen,  die 
uns  behage!    Machten  wir  eine  Nation  aus,  so  hätten  wir  dieselbe 
gewiss  vorgefunden. .  .  .  Die  einfachste  Form  ist  gewiss  die    beste 
aber  mich  dUnkt,  der  Deutsche  mOcbte  mehr  Leben,  Handlung  un 
That  sehen,   als  schallende  Dedaraatitm  hören.    Ein  solches  Stück 
ist  nun  freilich  schwerer  zu  schreiben,  als  wilde  Phantasien,  wo  d 
unerfahrne  Autor   alles  aus  sieb  selbst  nimmt".     Klinger   verfol 
sogar  schon   zu  derselben  Zeit   (17S0)   in  einem  Roman   mit  seine 
Spott  das  Gebahren  und  Treiben  der  Kniftraänner  und  Originalgeni 
vom  gemeinen  Schlage ^  wie  er  bereits  etwas  früher  iu  einem  ande 
Roman*  seine  satirische  Lauge  über  die  emptindsjime  und  nnmän 
liehe  Liebossch  wärmerei  und  jede  Art  von  Unkraft  und  ohnmftcb 


i4 


3t  ^.PlimplftmpUüko,  der  hohe  Geist.  Eine  Uacdschrift  aua  den  ZtsUi 
KuipiTerdolUnga  und  Dr.  Mart.  Luthers,  zum  Druck  befördert  von  einem 
tanten  der  Wahrheit*'  etc.  i>.  0.  HSO.  8.  (vgl  §  301,  45.  4t)i.  Musaeus.  der  ia 
der  allgemeinen  d.  Itihliothek  51,  I,  22'J  f-  „die  Spottschrift  gegen  die  scUwindel- 
k(ftpfigen  Uunse  jeuca  Jahr/ehuts,  die  sogenaanteo  Genies  oder  KrjUmikiiiier"  an- 
iclgtc.  ahnte  woM  nicht,  von  wem  dieselbe  ausgegangen  war:  denn  er  mfiute.  ..der  ge-_ 
rechte  L'uwUIe  eines  killten  Vernünftlers,  d  h.  eines  Mannes,  der  gesunden  Menschei 
yerstand  gern  in  Khren  erhalten  milchte**,  schiene  diesoB  CaricaturgeiuAhlde,  welch« 
die  Geniefratze  drollig  genng  schildere,  erzeugt  zu  haben.  -|i  In  dem  anCicq 

und  Manier  manchen  Ertindungeu  Wiclauds  nah  verwandten  „Orpheus"  oder, 
dieser  Roman  in  der  Umarbeicung  betitelt  wurde,  ..Bambino"  (vgl.  0*H,  Ajim.  :*a| 
—  Kurx  vorher  halte  auch  Goethe  auf  eine  andere,  twar  bei  weitem  feinere  Ai 
aber  auch  nicht  mit  so  tief  einschneidender  Satire  das  EmptiuiUainkvilswirs'-n 
Leben  und  in  der  Literatur  durch  seinen  „Triumph  der  Emptiudsamkcit"  od« 
wie  die  erste  t'ebe«cbrifl  lautete,  ..die  geflickte  Braut"  versputlel  (vgl.  Dantz< 
in  den  BUttem  für  liier  rnterhaltimg  ISl*J,  Nr.  Js  f.  und  KreuudesbiWer  S.  1(>|| 
doch  wurde  iii«e  „dramatische  GriÜo"  erst  IT^T  im  I  Bde.  von  (;oeihe"<  Schril 
grdnickt 


EntwickeloDgsgaßg  der  Literatur.    1773—1832.    Goethe. 


113 


lilatouisiercndeu  Idealismus  iu  der  Dichlim{^  und  im  Leben  der  Zeit  §  304 
aaagegosacn  hatte.  Goethe,  der  in  seinem  genialen  Schaffen  gleich 
von  Anfang  au  seltea  oder  nie  das  rechte  Mass  dichterischer  Frei- 
heit Überschritten,  bei  seinem  Streben  nach  Naturwahrheit  frllh  das 
Ziel  oehter  Kunst  ins  Auge  gefasst,  die  Wechselbeziehung  und  sich 
gegenseitig  bedingende  Abhängigkeit  von  Gehalt  und  Form  in  der 
Pf>e8ie  erkannt  und  daH  unmittelbar  Charaktoristiache  in  seinen  Dar- 
stellungen mit  den  Gesetzen  der  Schönheit  in  Einstimmung  zu  bringen 
gesucht  hatte;  —  Goethe  hätte  jetzt,  wo  sein  zu  allseitiger  Durch- 
bildung anstrebender  Geist  sich  männlicher  Reife  nahte,  violleicht 
die  noch  nicht  erschöpften,  aber  gemässigten  dichterischen  Kräfte 
seiner  ehemaligen  älitstiebendcn  und  Nachahmer ^  so  wie  die  neu 
erstehenden  Talente  bei  weitenn  ötl'ontlichea  Vorgeben  in  der 
Prodaction  durch  sein  Beispiel  um  sich  sammeln  und,  aufs  neue  be- 
lebt, in  der  rechten  Bahn  zur  poetischen  Kunst  sich  nachziehen 
ikönnen.  Allein  fUr  diejeuigen ,  die  ihm  nicht  ganz  nahe  standen, 
ste  es  scheinen,  als  verwendete  er  die  Zeit,  die  ihm  seine  Vor- 
Lisiie  zu  dem  weimarischen  Flofe  und  Lande  noch  tibrig  Hessen, 
vorzQglich  nur  auf  gewisse  Liebliugsstudiou^:  von  dem,  was  er  seit 


M.  111,  141  f.    Ausser  den  Briofeu  an  Frau  von  Stein   gewähren  in 

iGof  LÜgi?  äussere  und  ianere  i^ustande  den  besten  Einblick  seine „Hriole 

^«11  Lavater  aas  den  Jalireii  iTTt  bis  I7S3,  heraus^'egcbeti  von  11.  Ilirzel.    Leipzig 

isSa.   8,  so  trie  die  liddea  Sammlungen  der  Uriot'e  an  und  von  Merck,  die  Briete 

iiin  Fr.  U.  Jacobi,  an  Knebel  u.  A.    Merck  war  gar  nicht  zufrieden  mit  (joelho's 

in  Weimiir;  vgL  Falks  Schritt ,. Goethe  aus  nftherm  persönlichen  Umgang 

Leipzig  \sT2.   gr.  12.    S.  U5,  oder  Briefe  an  Merck  1835,  S.  XVI  f.; 

aach  tUemor.  Mitthellungen  2,  2S  f.,  und  besonders  2.  15  ff.;   dagegen 

idann  2,  IJu  i'eine  sehr  wichtige  Stelloi,  wo  Goethe  an  seine  Mutter  (17SI)  schreibt: 

t^Mvrck  und  mehrere  beurtheileu  meinen  Zustand  gaux  falsch"  etc.    Bekanntlich 

^Lat  Niehuhr  von  Goethe  gesagt,  das  wpJmarisf.ho  Hofieben  sei  die  DcHla  gewesen, 

lüt'nn  deuLschtin  Simsen    seine  Locken  und  damit  das  Gelieimniss  aciuGs 

tifs  iroranbt  habe    Es  lusst  sich  wohl  darüber  streiten,  ob  Goethe,  wenn 

^*T  nüht  I  leinen  Hof  gekommen  wiü-e,  an  welchem  er  sich  eine  Zeit  long 

\^  der    -  ■    Kalhgeber  seines  Fürsten  der  Leitung  der  Lanüesongelegon- 

,tii.'iti;3i  uitU'rzivhcn  musstc,  zur  Förderung  der  yaterländischen  Dichtung  nicht  mehr 

thun  können,  als  er  wirklicii  gcthnu  hat;  obgleich  sich  nicht  recht  absehen 

von  wo  her  er  unter  den  damaligen  VorhäUniBscii  in  Deutschland   und   bei 

Ic  unserer  nationalen  Bildung  eine  grossartigere  und  iu  statigerrr  Folge 

idc  dichterische  Wirksamkeit  hiitte  ausüben  können.    Das  scheint  mir 

\vm  Zweifel  zn   unterliegen,   doss,   wie   es  nun   einmal  im  Vaterlaode 

md   des   letÄtpn  Viertels   des   vorigen   und  im  Anfang  des   laufenden  Jahr- 

aUBbah,  Goethe  kaum  irgendwo  anders  ungcstüUer  und  vutlstüudiger  seine 

itc  Natur  und  alle  in  dieselbe  gelegten  Kräfte  hätte  entwickeln  und  ausbilden 

leu,  ^^  in  den  Verbältnissen  und  unter  den  Begünstigungen,  die  ihm 

in  Weini' ;  wnrdeo.  die  ihm  auch  den  üiugen  Aufeutlialt  in  Italien,  wenn 

idcht  schlL'LliLUm  Mtsi  möglich  machten,   doch  wesentlich  erleichterten.    Es  war 

tkvtcfHALa,  OraiidriA».    j.  Aufl.  tV.  s 


^^^M^^ 


1 1 4    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  JahrhuuderU  bis  zu  GocÜie'i  Tod. 

8  !J04  seiner  Ankunft  in  Weimar  bis  zur  Reise  nacli  Italien  dichtete,  wurden 
nur   bisweilen    einzelne   kleine   Erfindungen  allgemeiner   bekannt*; 
mit  den  grossen  Werken,   an   denen  er  arbeitete,  und  von  denen 
bloss  bin  und  wieder  etwas  nach  aussen  bin   verlautete,    rückte    er 
nur  langsam  vor,  oder  hielt  damit  8ell)st  in  ihrer  ersten  ausgeführten 
Gestalt  zurück,  so  dass  Über  zehn  Jahre  hindurch  von  ihm  jede  nur 
einigermassen  bedeutende  unmittelbare  Einwirkung  auf  den  Bildungd-j 
gang  unserer  schonen  Literatur  ausblieb.     So  waren  um    1780   ii 
derselben  überhaupt,  besonders  aber  in  ihren  beiden  OauptgattungenJ 
dem  Drama  und  dem  Roman,  schon  der  Anzeichen  genug  vorhandeu,j 
die  darauf  hinzudeuten  schieneni  als  ob,  wenn  eine  Zeit  lang  genial« 
Trotz  gegen  alles  Ilerkömmlichc,  eine  unnatürliche  Ueberspannunj 
und  krankhafte  UebeiTcizung  die  Dichter  auf  Abwege  gefuhrt  hattei 
die  Productionskraft  nun,  wie  erschlafft  und  gelähmt,  in  der  gerade 
entgegengesetzten  Richtung  sich   hauptsächlich  nur  zur  Darstellung' 
des  platt  Natürlichen,  Alltäglichen  und  Unbedeutenden  wenden,  ihre 
Gegenstände  der  gemeinen,  jedes  höhern  Gehalts  baren  WirkÜchkcii 
entnehmen  und  von  den  frühern  Neigungen  vorzüglich  nur  den  Han| 
zu  weichlicher  Erapfiudelei,  zu  seichtem  Moralisieren  und  zu  allcrl< 
von    der   Poesie   weit   abliegenden   Lehrzweeken   festhalten    wolln 
Auch  sah  es  aus,  als  neige  sich  der  Geschmack  des  Publicums  scLoi 
viel  mehr  dieser  Richtung  der  Literatur  zu,  als  derjenigen,   welch« 

der  Grundtrieb  seiner  sittlichen  und  j^istigen  Natur,   nicht  sowohl  nach  sossca^ 
auf  und  für  Andere  unmitt«lbAr  bildend  zu  wirken ,   als  sein  ganzes  perftönlicbei 
Poscin  allseitig  tu  der  grösgtmfvgüclicn  Hnnnomc  und  Klarheit  auszubild»-    Von 
dieser  feinsten,  aber  auch  freilich  verzcihliclibteu  Art  des  Kgoismus,  die  ihm  an- 
geboren war  und  durch  mancherlei  unangenehme  und  schmerzliche  Krfahruogt» 
von  früh  an  verstÄrht  sein  mochte,   wird  er  nicht  freigesprochen  werden  können. 
Er  hat  es  sicherlich  von  sich  selbst  gesagt,  was  er  seinen  Wilhelm  Meister  II! 
1S1;  153»  schreiben  lAsst:    „Dass  ich  Dir's  mit  Einem  Worte  sage,   mich   seU 
ganz  wie  ich  bin,  auszubilden,  das  war  daukol  von  Jugend  auf  mein  Wunsch  ui 
meine  Absicht.  —  Ich  habe  nun  einmal  gerade  zu  jener  harmouiüchen  Ausbildi 
meiner  Natur,  die  mir  meine  Güburt  versofit,  eine  unwiderstehliche  Neigung".    Ci 
fiO  suchte  er  denn  auch  allmätüig  zu  der  „Art  Absonderung  iu  äich  solbst*'  ta 
langen,  die  dem  Abbe  im  Wilhelm  Meister  (20,  21*})  für  den  Mrnscbeu,  der  tu 
(Iberhaupt  bilden  wolle,  als  das  am  schwersten  zu  bewirkende  erschien,   und 
der  dem  Dichter  iu  Weimar  nach  Verlauf  der  zwölf  ersten  unruhigen  Jahre  fi 
mehr  Gelegenheit  geboteu  wurde.   Weiter  hierauf  (hinzugehen,  verbietet  der  Rani 
6)  Die  Erfahrungen,  die  er  an  seinen  Nachahmern  früherhin  gemacht  hati 
scheinen  ihn  besonders  eine  Keiho  von  Jahren  hindurch  zu  dem  Kargen  mit  sein« 
Oaben  an  das  Publicum  bestimmt  zu  haben     In  einem  Briefe  au  Lavater  aus  d< 
J.  17M>  (S.  102  f.|,    dem  einige  Gedichte,  bezeichnet   a1»  „Blumen-   und  Kr&ul 
büschcl.  die  er  am  Wege  gesammelt",  beigeschlossen  waren,  heisst  es;    „Lass 
nur  wenige  sehen,  und  nur  keinen  praHendirenden  Schriftsteller;  die  Kuben  habt 
mich  von  jeher  aus-    und  nachgeschrieben   und   meine  Manier  vor   dem  Vühhi 
lAcberiich  und  stinkend  gemacht". 


Entwiekelungsgftng  der  Literatur.     1773— 1&32,    Schiller. 


il5 


ihr  die  Bewe^ngsm anner  gegeben  Latten.     Da  trat  17S1  Friedrich  §  304 

chiller  mit  „den  Räubern"  auf,  denen  er  in  den  nächsten  Jahren, 
nebgt  einer  Sammlung  von    kleinem,   meist  der  lyrischen  Gattung 
»Dgebtirenden  Gedichten,  seine  beiden  andern  dramatischen  Jugend- 
fcflKMteü,  „Ficsko"  und  ,,Kabale  und  Liebe*',  folgen  liesH.    Johann 
Chri8to]>h   Friedrich   Schiller  wurde,   wie  er  selbst  angibt', 
den  10.  November   1759  in  dem   wUrtem bergischen  Städtcheu  Mar- 
jbach  geboren.    Sein  Vater,  der  früher  Wundarzt  gewesen  war,  stand 
[damals  als  Officier  in  wUrtembergischen  Diensten;  die  Mutter  befand 
üch  bei  der  Geburt  ihres  Sohnes  im  Hanse  ihrer  Eltern,  in  welchem 
de  auch  geblieben  zu  sein  scheint,  bis  ihr  Gatte  nach  dem  Absehluss 
*des  Hubertsburger  Friedens  auf  die  Dauer  in  seine  Heimath  zurück- 
kehrte und  als  herzoglicher  Hauptmann  seinen  Standort  zunächst  in     . 
Ludwigsburg  erhielt.     Er   lebte  hier  mit  den  Seinigen  zwei  Jahre, 
worauf    er    als   Werbeofficicr    nach    Schwabisch-GemUnd    geschickt 
wnrde;  indess  erlaubte  ihm  der  Herzog  Karl,  mit  seiner  Familie  im 
fs^^hsten    wUrtembergischen    Greiizorte,    dem   Städtcheu   Lorch ,    zu 
'"wohnen.     In   dem   Hause  des  Pfan'ers  Moser   daselbst    erhielt   sein 
iohu  den  ersten  regelmässigen  Unterricht,     1768  wurde  der  Haupt- 
lanu  Schiller  nach  Lud\vigsbarg  zurückberufen,  wo  Friedrich  fortan 
die   lateinische  Schule   besuchte.     Hier   sah   er  in    seinem    neunten 
Jahre   zum   ci-stennial   ein  Theater,   und  zwar  ein  glänzendes  und 
r|>räch!iges;   die  Wirkung  des  Schauspiels  auf  ihn   wjir  so  mächtig, 
[dass  ihn  schon  damals  Plane  zu  Tmucrspielcn  beschäftigten.     1769 
jrerfassle  er  »ein  erstes  deutsches  Gedicht;  lateinische  Verse  halte 
er  auf  der  Schule  schon  früher  gemacht.     Er  blieb  auf  derselben 
ich  noch,  als  der  in  Botanik»  Gartenkunst  und  Obstbaumzucht  wohl- 
jrfahrenc  Vater  in  dem  zuletzt  genannten  Jahre  zum  Oberaufseher 
iber  alle  Garteuanlagen  und  Baumpflanzungen,  die  bei  dem  hcrzog- 
iicheii  Lustschlosa  Solitudc  entstelicn  sollten,  ernannt  und  dahin  ver- 
worden war.     1772  sollte  Friedrich,  der  schon  in  Lorch   eine 
entschiedene  Neigung  für  den  geistlichen  Stand  gefasst  hatte, 
der  Ludwigsburger  Schule  in  eine  der  wUrtembergischen  Kloster- 
acbnlcn  treten.     Unterdessen  aber  hatte  Herzog  Karl   den  Plan  zu 
einer    weitidufigen   Lehr-  und  Erziehungsanstalt  entworfen,   welche 


7)  Briefwechsel  mit  Körner  2,  133.  G.  Schwab,  Urkunden  über  Schiller  und 
le  Kaxnüie  etc.  1S40,  S.  34,  glaabte  aus  dem  Marbacber  Taufrepstcr  den 
In.  Nov.  nochgeviesen  zu  haben;  allein  diess  ist  derTauftag.  Vgl.  auch  Weimar, 
JalirbucU  Ü,  221  f.  —  Ueber  Scbülers  Jugend  vgl.  Schillers  Jugendjahre.  Eine 
[Sldzzr  von  Cliristopbine  Rciuwald,  geb.  Schiller,  mitgetheilt  von  Boxberger,  in 
OoKhc's  ArcUJv  f.  Lit.-Gesrh.  1,  Ao2  ff.;  sowie:  Scbillcrs  Beziehungen  zu  Eltern. 
Gc»cbfri£t«m  und  der  Familie  von  Wolxogen.    Stuttgart  !S59.  9. 


116    VI,  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  so  Goethe's  Tod. 

§  304  zuerst  als  militärische  Pflanzscbule  auf  der  Soütude  gegründet   i 

lijild  die  Lieljling8schüj>fuug  des  lIci*zogs  ^viirde.  Friedrich  Schiller, 
iliin  xurAnfnahme  in  dieselbe  empfohlen,  erhielt  eine  Freistelle  und 
niasste  sich  nun,  so  schwer  es  ihm  auch  wurde,  entschliesscn ,  daa 
Studium  der  Theologie  iiufzuge]>on.  Er  entschied  sich,  da  nach  und 
nach  alle  Wissenschaften,  mit  Ausnahme  der  Theologie,  in  den  Leh 
plan  der  Anstalt  aufgenommen  wurden,  zunächst  für  die  Recht 
Wissenschaft,  begann  das  Studium  derselben  aber  erst  1774;  i 
ersten  Jahre  beschäftigte  er  sich  nur  mit  den  Gegenständen,  wie 
auf  Gymnasien  gelehrt  zu  werden  pflegen.  Indessen  fühlte  er 
»ehr  den  Druck  der  militärischen  Einrichtung  der  Anstalt  und  der 
Btrengeu,  pedantischen  Zucht,  die  in  dem  ganzen  Leben  derselben 
'  herrschte,  als  dass  er  mit  freiem  Geist  und  frohem  Herzen  sich 
den  Studien  hätte  widmen  können;  er  lernte  in  diesem  Jahre  sehr 
wenig,  nur  im  Lateinischen  machte  er  bedeutende  Fortschritte,  im 
Griechischen  dagegen  kam  er  wenig  oder  gar  nicht  über  die  An- 
fangsgründe hinaus.  Er  konnte  daher  die  Lebeusheschreihimgeti 
lies  Plutarch,  die  lange  Zeit  zu  den  Lieblingsgegenständen  seiner 
Leetüre  gehörten,  nur  in  derllehorsetzung  lesen.  Die  Werke  deutscher 
Dichter  zu  lesen,  war  den  Karlsschülern  verboten;  indesa  wussteu  si 
Schiller  und  seine  nächsten  Freunde  verstohlen  zu  verschaflfen,  w 
«ie  nicht  auf  oöenem  Wege  erhalten  konnten,  und  enthusiasmie 
sieb  an  den  Werken  der  deutschen  Dichter,  die  um  die  Mitte  d 
Siebziger  die  berühmtesten  und  gelesensteu  waren.  Klopstock,  dess 
Poesie  eine  sehr  bedeutende  Wirkung  auf  Schillers  Bildung  ha 
reizte  ihn  zuerst  zur  Nachahmung:  er  trug  sich  mit  dem  Plan 
einem  epischeu  Gedicht,  dessen  Held  Moses  war,  und  giong  a 
schon  an  die  Ausarbeitung  desselben.  Unter  uusern  Lynkeru  so^i 
ihn  neben  Kloj)8tock  htesonders  noch  Uz,  Bürger  und  Schubart  a; 
den  letztgenannten,  dessen  „Fürstengruft''  eben  sehr  nachhaltig 
Eindruck  auf  ihn  gemacht  hatte,  besuchte  er  auf  dem  Asperg,  oh 
jedoch  dadurch  in  ein  näheres  Verhältnis«  mit  ihm  zu  komme 
Hatte  ihn  schon  Gerstenbcrgs  Ugolino  begeistert,  so  fasste  ihn  n 
viel  mäehtiger  Goethe's  Götz  von  Berlichingen:  bald  wurde  Goet 
der  Abgott  Schillers  und  seiner  Freunde.  Ausser  seinem  Götz  fa 
er  das  meiste  Wohlgefallen  an  dem  Clavigo,  wogegen  Werthe 
Leiden  weniger  ihn  als  seine  Freunde  fesselten.  Nächst  Goethe 
wurde  ihm  damals  als  dramatischer  Dichter  noch  vorzflgüch  Lossing 
werth,  und  Leisewitzons  JuUuä  von  Tarent  ward  eines  seiner  Lieb- 
lin^stUcke.  Auch  KlinL'cr  gehörte  zu  denen,  „welche  zuerst  u 
mit  Kraft  anf  seinen  Geist  wirkton"  und  unauslt^schliche  Eindrüe 
in  ihm  znrOckliessen.  Diese  Dichter  zogen  ihn  mehr  und  mehr  v 
der  epischen  Dichtung  Klopstocks  und  von  der  Lyrik  zum  tragisch 


Entwickelungsgang  der  Literatur.     177;t  -i\.M.    ScWUcr. 


117 


Drama  bin,  wofür  seine  Neigung  sieb  nocb  mebr  eutscbiod,  alö  er  §  304 
^Diit  Sbakspoare*s  Werken  iu  Wielauds  Uebersolzung  bekannt  wurde. 
[mmer    stärker    regte  sieb   nun    in    ibm   der  Drang    zum    eigenen 
diobteri«oben  Producicren.     Woran  iiin  Mauern  und  Gitter  binderten, 
die   wirkliebe  Welt    durcb    lebendige   Anschauung    und  Erfabrung 
kennen  zu  lernen,  dafür  niussten  ibm  sein  Plutarcb  und  seine  Dicbter 
Irsatz  leisten:  so  gewöhnte  er  sich  frühzeitig  daran,   wozu  ihn  sein 
»chicksal  während  seiner  ganzen  dichterischen  Laufbahn  zwang,  sich 
lit  der  Well  und  mit  den  Menschen  hauptsächlich  nur  durch  Bttcher 
»eknnnf  zu  machen,  aus  ihnen  .,die  Natur  abzufühlcn  und  sich  an- 
zueignen/*    Nachdem  1775  die  militärische  Pflanzscbule  nach  Statt- 
Lrt  rerlegt,  zur  hoben  Karlsschule  oder  Karlsakademie  erhoben, 
ind  nun  auch  die  Medicin  unter  die  Lehrfächer  aufgenommen  wor- 
[den  war,  entschloss  sich  Schiller,   das  Rechtsstudium,   von  dem  er 
ücb  mehr  abgestoseen  als  angezogen  fand,  aufzugeben  und  zur  Medicin 
bcrzugebeu.    In  diese  Zeit  etwa  fielen  seine  frühesten  Versuche  im 
Tauersfiiel,  der  erste  „der  Student  von  Nassau",  der  andere,  dein 
'ulius  von   Tarent  an  Inhalt   und  Bebaadlung  verwandt,   „Kosmus 
'on  Medicis"  betitelt,  beide  bald  nachher  von  ibm  vernichtet;  auch 
fc'erfasjste  er,  besonders  von  Klopstock  dazu  angeregt,  verschiedene 
lyrische  Gedichte,  von  denen  „der  Abend",  das  älteste  uns  erhaltene, 
LOB   seinem    sechzehnten   Jahre    herrührt".     Zwischen    den   Jahren 
776 — 78   entwickelte   sich    zuerst   in   ibm  der  Trieb  zum   i)hiloso- 
pbischen   Denken:   die  Philosophie   wurde  ibm  schon  damals,  wie 
die  Poesie,  zu  einer  Herzensangelegenheit.     Die  Geschichte  dieser 
inneru  Entwicklung  hat  er  uns  später  selbst  iu  seinen  „pbilosopbi- 
iBcLen  Briefen"  geschildert,  zu  denen  bereits  im  Jahre  17b2  der  Plan 
'entworfen   wurdet      Vorzüglich  studierte  er  Garve's  Anmerkungen 
ZQ  Fergusons  Moraipbilosophie;  auch  »oll  er  Schriften  von  Mendels- 
sohu,  Öulzer,  Herder  und  Lessing  gelesen  haben.    Von  neuem  Aua- 
llndem  übte  vornehmlich  Rousscjiu  eine  starke  Anziehungskraft  auf 
ihn  au^  und  die  Eindrücke,  die  er  von  ihm  empfieng,  trugen  wesent- 
lich dazu  bei,   seinem  Geist  und  Charakter  das  Gepräge  zu  geben, 
das  sieb  in  den  bedeutendsten  Dichtungen  seines  Jünglingsalters  so 
bestimmt  ausspricht.    Von  diesen  wurde  die  erste  und  grossartigste, 
„die  Riluber",  bereits  im  Jahre  177S  begonnen;  doch  gieng  er  an 
die  eigentliche  Ausarbeitung  erst  zwei  Jahre  später.     In  der  Zwi- 


Sl  Mit  mehrem  andern  seiner  sptUcriiutordiiicktonJugcndgcdichtr*  abgedruckt 
b  DöriagB  „Nachlese  zu  Schillers  sammtlicben  Werken\  Zeiz  Is.'iö.  Ifi.  Jetzt 
tindet  man  äIIcb  in  kritischer  Bearbeitung  in  der  von  K.  Goedeke  redigierten 
Cnuts  kritischen  Ausgabe  von  Schillers  Werken  (I.— iri.  Thcil.  Stuttg.  HüT— 72. 
p.  %.\  bmnmtnen  9)  Vgl.  den  Uriefwechsel  niit  Körner  1,  277. 


1 1 8    AI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  JalirUunderU  bis  zu  Gof  the'ft  Tod-' 

§  304  echeuzeit    ,, widmete    er  sicL,    als    er    plotzHcb    eine  Pause    in   sei- 
ner foeterci  machte,   ausschlieBsIich    ilcr  Medicin""'   und    studici 
zu    dem    Ende     mit    anhaltendem    Eifer   Hallers    wisseDgchaftlicl 
Schriften.     1779    »ah    er  Goethe,    als   dieser  mit    dem  tlcrzog  t* 
Weimar  durch  Stuttgart  kam,  und  hoide  die  Karlaschule  sieh  zeig« 
Hessen.     I7S0  schrieb  er  als  Probearbeit  eine  Abhandlung,  „Versuch 
Über  den  Zusammenhang  der  thicrischen   Natur  des  Menschen   mi^ 
seiner  geistigen"   etc.",   die  er  zu  Ende  desselben  Jahres  in   latei 
Bischer  Sprache  bei  der  öftentUcheu  Prüfung  in  der  Karlsschulo  vei 
theidigte,  worauf  er  diese  Anstalt  verliess  und  als  Regimeutsmedicui 
in  Stuttgart  ange-stcllt  wmdc.      Daraals    waren    „die    Räuber",    ai 
denen  er  unter  der  strengen  Zucht  der  Akademie  nur  sehr  vcrstobli 
hatte  arbeiten  können  ^    in   der  Handschrift  schon  ganz  oder  doel 
beinahe  vollendet".     Diese  Dichtung   war   das  Erzeugnias  der  ei 
bitterten  Stimmung  über  die  druckenden  und  beengenden  Verhält- 
nisse, denen  er  sich  so  lange  hatte  fügen  müssen,  und  seiner  darai 
erwachsenen  aUgemeinen,  bis  zum  Ingrimm  gestiegenen  Uuzufricdei 
heit   mit   der  Welt.     Noch    in    demselben  Jahre,    in    welchem 
.        Räuber    herauskamen,    unterzog   sich   Schiller,    rou    dem   Freihei 
Wolfg.   Herib.   von   Dalberg,   Intendanten   des  Manheimer  Theatei 
dazu  aufgefordert,  dner  Umarbeitung  des  Stücks  für  die  theatralische 
Aufführung '\    Auch  besorgte  er  in  diesem  Jahre  einen  Musenalina- 
uach,   unter   dem  Titel  „Anthologie    für    das  Ji^hr    17S2"".      Da 
Meiste  darin  ist  von  ihm  selbst:  ausser  wilden  uud  noch  sehr  rohen 
lyrischen  und  balladenartigen  Stücken,  die  er  später  nur  zum  Theil 
in  die  Sammlung  seiner  Gedichte  aufnahm'*,  auch  die  schon  in  der 
Karlsakademie  gedichtete  ,,Scmele,  eine  lyrische  Operette**,  die  nach- 
her eine  bedeutende  Umarbeitung  erfuhr.    Seine  Freunde,  auf  deren 
Beistand  er  gerechnet  hatte,  steuerten  nur  wenig  bei.     Um  der 
fuhrung  der  Räuber  in  Manheim  zu  Anfang  des  Jahres  i7S2  b< 


lOl  Briefwechsel  mit  Körner  2,  20.         1 1 )  Wieder  geUruckt  in  Dfirings  XactüeM 
S.  tiff.;  beiGödt'ke  1. 13";  ff.         12)  Sie  orBchiencn  zuerst,  ohne  den  Namen  dea  Ver- 
fAÄserB,  auf  soiue  Ki>3ten  gedruckt,  Frankfurt  und  LeiiJzig  1  TS I.  s.;  die  Ausübe«  auf 
deren  Titel  „ein  aufslfigeudcr  zorniger  Löwe,  mit  dem  Motto:  in  Tymunos", 
die  zweite,  Frankfurt  und  Leipzig  I7s'2.    s.  (vgl    Pnttz,  Vorlesungen  über  die  G< 
schichte  d.  d.  Theaters  S.  :Mr2,  Anm.  zu  S.  :i30).  |3>  Zuerst  gedruckt  Man- 

heim  11^2.  I  1)  Gedruckt  ohne  Schillers  Namen,  zu  Stuttgnri ,  au^^eblich 

Tobolsko.     s.     Keue  Titdausfi[abe,  Stutt;fart  IT'>  (v^l.  Weimar.  Jahrb.  2,  2t*tt  f . 
*fin  neuer  Abdruck  i^t  von  E.  v.  liuluu   besorgt,  Ueldcll>ci^  1^50.    *»,     Bei  GOdeJ 

1,  JÖT-   :ts&.  —  üeber  die  Entstehung  der  Antholoffie  vgl.  E.  Bons.  Scbillen»  er«t 
literarische  Fehde    uud   die  Herausgabe   der   Anthologie,    im    Weimar.  Jahrbui 

2,  21M  ff.         .  15)  Vgl.  Dörings  Nachlese;  Boas,  ..Nnclitrikge  zu  Schillerö   sAmml 
liehen  Werken",  a  Bde.    Stuttg.  is.is.  m.    t«.  und  Uoflmcister  „Suppleoientr* 
Schüler»  Werken.  I  Bde.    Stuttgart  und  Tübingen  IMü.  41.    I(*. 


Kfitirickeluogsgang  der  Literatur.    i"a-  IS32.    Schiller. 


ny 


^bnen,  reiste  Schiller  heimlich  dahin.  Der  Erfolg  des  StUckes  auf  §  304 
der  Btthne  Hess  ihn  an  seinem  Beruf  zum  dramatischen  Dichter 
nicht  länger  zweifeln.  Um  so  unei-trägliclier  wurden  ihm  die  Ge- 
«chfifte  seines  Amtes  und  der  Zwang  des  Dienstes;  alles  drängte  ihn 
zu  erneuter  poetischer  Thatigkeit  hin.  Er  entschied  sich  zunächst 
für  die  draraatiachc  Bearbeitung  der  Verschwörung  des  Fiesko  und 
bereitete  sich  dazu  durch  geschichtliche  Studien  vor;  das  Interesse 
an  diesem  Gegenstände  soll  zuerst  durch  Rousseau  in  ihm  geweckt 
wonlen  sein.  Zugleich  darauf  bedacht,  sich  ein  eigenes  Organ  fUr 
die  Kritik  und  für  seine  Kitnstansichtcn  zu  verschaffen,  vereinigte 
er  sich  mit  einem  seiner  ehemaligen  Lehrer,  dem  Professor  Abel, 
und  mit  seinem  Freunde  Petersen  zur  Herausgabe  eines  „würtem- 
ischen  Repertoriums  der  Literatur",  einer  Vierteljahrscbrift,  von 
aber  nur  drei  5>tllcke  (17ü2)  erschienen.  Ausser  zwei  Aufsfltzen 
und  einer  EntÄhlung"  lieferteer  darin  eine  anonyme  Selbstreceusion 
iler  Räuber.  Unterdesa  hatte  tliese  Dichtung  ein  ganz  ungewöhn- 
Uohes  Aufsehen  erregt  nud  neben  grosser  Bewunderung  auch  viel 
Bedenken  und  Acrgerniss.  Herzog  Karl,  mit  Schillers  i)oeti8cher 
Richtung  unzufrieden,  wollte  den  Dichter  lenken  und  meistern;  dazu 
wollte  dieser  sich  nicht  willig  finden  lassen;  der  Herzog  wurde  ver- 
driesälich,  ein  unangenehmer  Zwischenfall  brachte  ihn  vollends  auf, 
und  Schiller  erhielt  den  Befehl,  bei  Strafe  der  Festung,  ausser  medici- 
niscben  Sachen,  nichts  weiter  drucken  zu  lassen,  auch  sich  aller 
Verbindung  mit  dem  Ausland  zu  enthalten.  Eine  zweite  heimliche 
Reise  nach  Manhelm  blieb  nicht  verborgen  und  wurde  mit  vierzehn- 
tüg'igem  Arrest  auf  der  Hauptwache  bestraft.  Vergeblich  hoffte 
Schiller  durch  Dnlberg  aus  einer  Lage,  deren  peinlichen  Druck  er 
täglich  stärker  fühlte,  erlöst  zu  werden  und  nach  Manheim  gehen 
%u  kennen.  Sein  Gemlith  verdüsterte  sich  immer  mehr:  er  sann  auf 
Flucht,  arbeitete  aber  inzwischen  an  seinem  Fiesko.  Als  er  damit 
fast  zum  Aböciiluss  gekommen  war,  entfloh  er  im  Geleit  eines 
Freundes,  des  Musikus  Streicher,  im  September  1782  nach  Manheim, 
von  wo  er  unmittelbar  nach  seiner  Ankunft  eine  Wanderung 
nach  Frankfurt  machte.  Unterwegs  und  in  dieser  Stadt  bildete 
er  den  Plan  eines  bürgerlichen  Trauerspiels  aus,  den  er  schon 
zti  Stuttgart  während  seines  Arrestes  gefasst  hatte.  Von  Dalberg, 
an  den  er  «ich  wegen  eines  Darlehns  gewandt  hatte,  im  Stich 
gelassen ,  gieng  er  in  seiner  Bedrängnias  nach  dem  Manheim 
nahe  gelegenen  Oggersheim,  arbeitete  zunächst  fleissig  an  dem 
bürgerlichen  Trauerspiel  „Luise  Milloriu",  oder,  wie  es  spilter 
betitelt  wurde,  „Kabale  und  Liebe",  und  dann   an  der  Vollendung 


16)  Id  der  Ausgabe  seiner  Werke  voalSlS,  Tb.  2. 305— 3SS;  bei  Gödckc  2,  340  ff. 


120    VT.  Vom  zveiten  Vicnel  des  XVITI  Jalirhunderts  bis  tu  Go'elbe's  Tod. 

§  304  des  Fiesko,  mit   dem  er  zugleich   tlie  für  ilio  Aufführung  iiothweu" 
digen  Veränderungcu  vornahm.    Allein  seine  HotVnung,  dass  wenig- 
stens jetzt  Dalbei'g  das  Stuck  annehmen  und  ihm  aus  seiner  bM 
kummervollen  La^e  helfen  werde,   trog  ihn  ahcmmls;   er  verkaufte 
es  also  um  ein  Geringes  an  einen  Buchhändler'^;  und  da  er  sich  io 
Oggersheim  vor  dem  Heraog  Karl  nicht  mehr  sicher  glauhle,  so 
Bchloas  er,  von  einer  schon   frllhern  Einladung  der  Frau  von  Wol 
zogen  '*,    die   er   durch   einen  ihrer  Sohne,   seineu  Studicngcnoasei 
hatte  kennen   lernen^  Gehrauch  zu  machen  und  nach    ihrem  Giiu 
Bauerbach  bei  Meiningen  zu  gehen,  wo  er  im  November  17S"2  eintraf 
Während    seines    dortigen,    zum    grossen  Thcil    sehr   vereinsamtci 
Aufenthalts  vollendete  er  sein  bürgerliches  Trauerspiel   z\i  Anfauj 
des  Jahres  1783'"  und  wandte  sich  dann,  nachdem  er  einige  Zeit  ii 
der  Wahl  von  Stoffen  zu  neuen  tragischen  Werken  geschwankt  hat^ 
(damals   dachte    er   schon   an  ein  Trauerspiel   „Maria  Stuart"   un< 
legte  die   erste  Hand  an  ein  anderes,   ,, Konradin   von  Schwaben' 
dem  „Don  Carlos**  zu,  den  er  nach  St.  Reals  gleichnamiger  NovcU« 
zu  bearbeiten  anfieng*\     Auf  diesen  Gegenstand  war  er  schon   ii 
Stuttgart  von  Dalberg  aufmerksam  gemacht  worden,   der  sich  je! 
unvermuthet  wieder  mit  ihm  in  Verbindung  setzte  und  ihn,  da  %'oi 
dem  Herzog  von  Würtemberg  deshalb  keine  Unannehmlichkeiten  zi 
befUrchton    schienen,   als  Theaterdichter   nach   Manhcini  zu    ziehei 
wünschte.    Schiller  reiste  darauf  in  der  Mitte  des  Sommers  zu  ibi 
vorläufig  mit  der  Absicht,   wieder  nach  Bauerbach   zurückzukehren 
er  entschloss  sich  jedoch,  ein  Jahr  lang  in  Manheim  zu  bleiben  un( 
für   eine  Vergütung   von    500  Gulden   seine  Kräfte   der  ßühne 
widmen.    Nachdem   er  für  diese  zunächst   den  Fiesko   und  Kabal( 
und  Liebe  eingerichtet  hatte,   dichtete  er  den  ersten  Act  des  „Dni 
Carlos"  und  schrieb,  als  er  in  die  kurpfülzische  deutsche  Gesellschal 
zu  Mauheim  aufgenommen  wurde,   die  Abhandlung,   womit  er  seiu( 
, »Thalia*'  eröffnete,  und  die  nachher  unter  dem  ivon  dem  ursprüng- 
lichen abweichenden)   Titel:    „die  ScbaubOhne  als  eine  moralischi 
Anstalt  betrachtet**  in   die  sämmtlichen  Werke^'   aufgenommen   isLj 
Dabei  beschäftigten  ihn  mancherlei  Plane  zu  dramatisclieu  Workoi 
doch  entschied  er  sich  endlich,   fürs  erste  am  Don  Carlo«  fortzuai 
heilen.    Zu  derselben  Zeit   studierte  er  Wel   die  französischen  Tra- 
giker, indem  er  hoffte,  dadurch  seinen  Geschmack  regeln  und  »cin< 


17 1  „Die  Verschwörung  des  Fiesko  zu  Genua.    Ein  repubücanlscbca  Tmuei--:] 
spicK    Mflnhpira  I7s3.   s.  IS)  Tgl.  die  in  Anm.  7  angerogPne  Schrift. 

liM  Gedruckt  wurde  „Kabale  untl  Liebe''  (TSt  nS4-  S.  zu  Manheim  20)  Vgl. 
Heller,  die  Quellen  de«  Schillerscheji  Don  Carlos  un  Archiv  f.  ü.  Studium  d. 
jieueren  Sprachen  24,  &5— iOS.  21)  2,  3**9  ff;  bei  Göd«ke  3,  VW  JT. 


Entwickrluagsg^aug  der  Literatur.     HTIi— 1832.    Schiller. 


121 


Ein  kvaft  zäbnien  zu   lernen.     Da  ihm   indcss  die   Aussiebt  $ 

alic.L_-, :cu  war,  durcli  Ärztliche  Praxis  seine  Existenz  zu  sichern, 

and  da  er  noch  alte  Schulden  abziitrag;en  hattCf  musste  er  auf 
andere  Mittel  zur  Vertnchrung  seiner  kfirglichen  Einnahme  denken. 
Er  verßel  auf  die  Herau8^abc  einer  Zeitschrift,  die  zwar  hauptsuch- 
licb  dem  Scbau8|»iel  und  Theater  j^ewidmet,  jedoch  auch  der  Auf 
nähme  anderer,  allgremoin  menschliche  Interessen  berührender  Ar- 
tikel geöffnet  sein  sollte.  Sie  wurde  als  „Rheinische  Thalia"  gegen 
Ende  des  Jahres  1 784  angckünditrt^  und  erschien  zuerst  unter 
diesem,  dann  unter  dem  Titel  ,, Thalia"  seit  dem  Frühling  des 
njlcbsten  Jahres".  Bereits  im  Sommer  17S4  halte  er  in  Manheim 
die  Bekanntschaft  der  geistvollen  und  vielseitig'  gebildeten  Frau  von 
Kalb  gemacht'*  und  einen  Brief  von  Leipzig  erhalten,  der  sein 
Freundschaftsverhrdtniss  mit  Kürner",  dessen  Braut,  ihrer  Schwester 
und  L.  F.  Huber  anknüpfte.  Diese  doppelte  Vorbindung  war,  die 
eine  besonders  für  die  nächsten  Jahre,  da  er  mit  Frau  von  Kalb 
trieder  in  Weimar  zusammentraf,  die  andere  für  seine  ganze  übrige 
Lebenszeit  von  dem  wohlthätigsten  Einfluss  auf  die  Lilutcrung  seines 
Oeniütbs,  auf  die  Veredelung  und  Verfeinerung  seines  Geschmacks 
nnd  auf  seine  gesammte  innere  Entwickelung^.  Zu  Anfang  des 
'CS  17S5  wurde  Schiller  von  dem  Herzog  von  Weimar,  dem  er 
Hofe  zu  Darmstiidt  den  ersten  Act  des  Don  Carlos  vorgelesen 
battOy  7.um  herzoglichen  Itath  ernannt  Diese  Auszeichnung  verlieh 
ihm  etnc  gehobnere  Stellung  nnd  liess  ihn  fester  und  sicherer  auf- 
treten, be»ondera  dem  Manhcimer  Theater  gegenüber.  Allein  seine 
Unheile  Dber  dasselbe  im  ersten  Hefte  der  Thalia  brachten  die 
SchnuHpieler  gegen  ihn  auf:  seine  conti*aci liehe  Verbindung  mit  dem 
TliCAtor  liatte  er  schon  aufgegeben,  jetzt  war  ibm  der  Aufenthalt  in 
Manheim  durchaus  verleidet:  ,, Menschen,  Verlialtnisse,  Erdreich  und 
Himmel  waren  ihm  zuwider;  seine  Seele  dUrsteto  nach  neuer  Nah- 
mng,  nach  bessern  Menschen,  nach  Freundschaft,  Anhänglichkeit 
oud  Liebe"".    Er,gieng  nach  I^eipzig,  wo  er  in  der  Mitte  des  Aprils 


22»  fm  d.  Mtisi^nm  nS4.    2,  fiM  ff.;  vgl.  Briefwechsel  mit  Körner  i,  r. 
2Cil  Leipzig   17S5 — 91,  in   12  Heften  oder  '^  liändon,  S.;   fortgesetzt   als  „neue 
Thalia*'.  12  Stücke  oder  l  Tbeilo,  Leipzig  1702.  93.   S.  24)  Vgl.  E.  Köpicc, 

..Charlotte  v.  Kalb  und  ihre  Beiichunffcn  zu  ScliiUer  und  Goethe".  Berlin  IS52.  12, 
ILSauppo,  Charlotte  von  Kalb,  im  Weimir.  Jahrbnch  1,  372  — 407  und  Kuhlmej', 
SchlUera  Eintritt  in  Weimar.  Programm  des  kölnischen  RealgymnAsiums  in  Berlin 
IW&.    4.    S.  3  f.  25»  Geboren  zu  Leipzig  170'J.  gestorben  xu  Berlin  IH3I. 

26)  In  das  Frcandächat'tsverhültntsB  zwischen  Scliillcr  und  Körner  gewüihrt 
ans  ihr  rdchhaltiger  Briefwechsel  aus  den  Jahren  17S4 — lsn5,  Berlin  !S|7. 
t  Tblc    6.   den  voilstanüigsten  Kinblick.  2Ti  Vgl.  den  Briefwechsel  mit 

KAner  1,  tl  ff. 


122    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVllI  JahrbunderU  bis  tu  Gocthe'a  Tod. 


3<»4  eintraf.  Körner  hatte  unterdess  eine  Austeilung  in  Dresden  erbalten; 
seine  Braut,  deren  Hchwesler  und  Huber  waren  aber  noch  lu  Leip- 
zig; im  Verkebr  mit  ihnen  verlohte  Schiller,  von  Körner  auf  die 
odelmUthigate  Weise  mit  den  nöthigen  Mitteln  versehen,  um  wenig- 
stens fürs  erste  Über  die  Schwierigkeiten  einer  höchst  bedrängten 
und  sorgenvollen  Lage  hinwegzukommen ",  zu  Leipzig  und  in  dem 
nahe  gelegenen  Gohli»  den  Sommer,  sab  ungefähr  in  der  Mitte 
desselben  zum  erstenmal  seinen  Freund  und  folgte  ihm,  als  er  sich 
verheirathet  hatte,  im  September  nach  Dresden.  In  dieser  Stadt, 
wo  sich  eine  leidenschaftliche  Neigung  zu  einem  Frfiulein  von  Arnim 
in  ihm  entwickelte,  deren  er  aber  allmählig  Herr  wurde,  blieb  er 
bis  zum  Juli  1787^  wohnte  zu  Zeiten  auch  in  dem  nahen  Loschwitx 
auf  Körners  Weinberge  und  in  Tharandt,  und  begab  sich  dann  nach 
Weimar,  wo  er,  gegen  seine  anfängliche  Absicht,  fürs  erste  seinen 
Wohnsitz  nahm".  Unterdess  hatte  er  seit  seinem  Abgange  von 
Manheim,  ausser  einigen  lyrischen  Stücken,  den  ,,Don  Carlos"  voll- 
endet, das  Bruchstück  eines  andern  Drama's,  ,,dor  Menschenfeind", 
(1787)  und  die  Erzählung  ,,der  Verbrecher  aus  verlorner  Ehre" 
M7S5)  geschrieben,  „den  Geisterseher"  angefangen  (17S6),  so  wie 
auch  die  „philosophischen  Briefe''  ausgearbeitet  (!7S6)".  Xacb  Be- 
endigung des  Don  Carlos  Hess  Schiller  lungere  Zeit  die  dichterischo 
Production  fast  ganz  ruhen;  auch  trat  nach  Abfassung  der  philoso- 
phischen Briefe  fürs  erate  das  speculative  Denken  bei  ihm  zurück, 
indem  er  sich  die  nächsten  Jahre  vorzugsweise  auf  geschichtliche 
Studien  und  GeschichtHchreibung  legte.  Das  zuerst  durch  Plutarch 
in  ihm  geweckte,  nacliher  durch  die  Vorarbeiten  zum  Fiesko  und 
zum  Don  Carlos  genährte  Interesse  an  der  Geschichte  wurde  schon 
in  Dresden  bei  ihm  immer  lebendiger^'.  Er  war  kaum  ctnigo 
Wochen  in  Weimar,  —  wo  er  bald  mit  Wielaud  und  auch  mit 
Herder  in  freundschaftliches  Vernehmen  kam ,  sich  diesem  aber 
weniger  anschloss  als  jenem,   der  ihn  schon   im  October  zum  Mit- 


28)  Vgl.  Briefvrechsel  1,  30-46.  29»  Vgl.  das  in  Anm.  24  citiorie  Pro- 

gramm von  Kuhlmoy.  30)  Den  letzten  ausgeDOmmon.  tler  aber  nicht  ron 

Schiller,  sondern  von  Körner  zwei  Jahre  RpiUer  geschrieben  iat  ivgl  Brielwechsel 
1.  27S— 2'»2.  und  day.u  1,  :*01;  »00;  2.  «S  f.;  3|0».  AUe  diese  Sachen  erschienen, 
so  weit  sie  vor  seiner  Cebcrsiedelung  nach  Weimar  ausgeführt  waren,  in  der] 
ThaUa,  das  Bruchstück  „der  Menschenfeind"  aber  erst  im  H.  üpfl  1790  (vgl. 
a.  a.  0.  2.  21t  f.i;  vom  „Uou  Cnrloä"  die  heideu  ersten  Act«'  und  vom  dritten 
die  Auftritte  1—7,  aber  in  sehr  verschiedener  (festalt  von  der  in  der  ersten  Ans- 
Kftbc  (iv%  tfänzcn  I>rama'B,  LoipziglTST.  S.  und  auch  nicht  alle  Sccucn  nut;gofahrt{ 
(Vgl  „SchUlerä  Don  Carlos  nach  dessen  ursprünglichem  Entwürfe,  zusammeD- 
ßt^HtcIU  mit  den  beiden  spätem  Itearbeituugen"  etc.  Hannover  IMO,  kl.  h,);  „dft 
Geisterseher"  Vis  zum  SclUuEse  des  ersten  Tbeits,  he!  dem  es  verblieb,  sodana 
I^ipxig  I7M»    *.  31 1  Vgl.  den  Uriefwcchsel  mit  Körner  1.  57;  W). 


Entwickelungsgang  der  Literatur.    ITT3— 1S32.    Schüler. 


123 


hcrauBgelier  des  (Icutsclien  ^lerkars  (für  iiiclit  viel  Ifinger  als  für  die  §  304 
beiden  nüchsteu  Jahrej  gewann  —  als  er  auch  acLou  mit  sich  einig 
geworden,  hier  zu  seiner  ersten  schriftatellerischen  Arl>eit  die  Ge- 
schichte ,,<ler  uiederliHndischen  Rebellion"  zu  machen"*.  Er  arbeitete 
»ehr  ileissi^'  daran  und  lebte  sehr  ein^^ezo^^cn ;  seine  Lage  blieb, 
weil  er  mit  seiner  Sehriftstellerei  noch  immer  wenig  verdiente,  fort- 
däaerud  eine  sehr  sorgenvolle.  Im  Spätherbst  17S7  besuchte  er 
«eine  iu  Meiniugen  verheirathete  älteste  Schwester  und  Frau  v.  Wol- 
zogen  in  Bauerbach;  auf  der  Rückreise  erneuerte  er  in  Rudolstadt 
die  in  Manheim  nur  flüchtig  gemachte  Bekanntschaft  mit  Frau  von 
Lengefeld  und  ihren  beiden  Tüchlern;  deren  zweite  sjiäter  seine 
Gattin  wurde".  Bald  darauf  schrieb  er  an  Körner,  er  sehne  sich 
ih  einer  bürgerlichen  und  häuslichen  Existenz,  und  das  sei  das 
lige,  was  er  jetzt  noch  hoffe ^'.  Ein  mehrmonatlicher  Aufenthalt 
während  des  folgenden  Sommers  und  Herbstes  in  dem  dicht  bei 
Rudolstadt  gelegenen  Volkstädt  und  in  Rudolstadt  selbst  befestigte 
das  Band,  das  sich  zwischen  Schiller  und  der  Familie  Lengcfeld 
angeknöpft  hatte;  in  üirom  Kreise  traf  er  auch  zum  erstenmal  nach 
dessen  Rückkehr  aus  Italien  mit  Goethe  zusammen,  doch  wollte  sich 
weder  jetzt  noch  iu  den  folgenden  fünf  Jahren  ein  näheres  Verhält- 
niBS  zwischen  beiden  Dichtem  bilden".  Als  der  erste  Theil  der 
ffGeecbichte  des  Abfalls  der  vereinigten  Niederlande"  erschienen 
war**,  wurde  ihm,  Tornehmlich  auf  Goethe's  Verwendung^',  eine 
aoBserordentliehe  Professur,  zunächst  ohne  allen  Gehalt,  in  Jena 
Übertragen,  die  er  im  Fürhling  1789  antrat.  In  der  Zeit  seit  seiner 
Ankunft  in  Weimar  hatte  er  neben  seinen  geschichtlichen  Arbeiten, 
in  denen  er  sich  durch  Körners  Einreden  nicht  irre  machen  Hess", 
vorzüglich  von  Wieland  dazu  augeregt ,  angefangen ,  sich  mit 
den  griechiBchen  Dichtem ,  freilich  nur  durch  lateinische  und 
deutsche  Ucbcrsctzungen ,  l)ekannt  zu  machen.  Er  las  eine  Zeit 
lang  überhaupt  keinen  andern  Dichter  als  Homer,  und  er  hatte  die 
AbftichtY  sich  zwei  Jahre  hindurch  von  allem  Modernen  entfernt  zu 
balten  und  sich  nur  in  die  Alten  einzulesen,  um  an  ihnen  seinen 
Geschmack  zu  reinigen.    Er  getraute  sich  damals  noch,  durch  gute 


32\  A.  a.  0-   I,  155  f.;  1S7;  226.  33)  Vgl.  Charlotte  v.  Schüler    und 

ihre  Fremde  (hcrauag.  v.  t'rlichs).    Stuttgart  lStl2.  ft.  31)  A.  a.  0.  l,  241. 

35j  Vgl.  a.  a.  0.  1.  :i:Jti;  »n  ff  :  und  dazu  2.  21  f.;  53;  207.  3til  Leipzig 
IT^S.  s. ;  Proben  davon  hatten  schon  im  d.  Merkui'  gestanden;  dem  ersten  Thcü 
folf^ten  Dur  noch  zwei  npüagen.  „Egrnonts  Leben  und  Tod",  in  der  Thmita  1789 
oimI  „die  Belagerung  von  Aütweryien",  in  den  Iloren  1793.  37)  Vgl.  Hirzel, 

(»oethe's  Antrag  aaf  Srhillcra  Berufung  nach  Jena,  in  Gosche's  Archiv  f.  lAt.- 
«weh.   I,   U".  38)  Vgl.    a.  a.  0,   1,  J3ü-;tS:    242— 51  ;    257;    2W»;    270; 

304—«;  327 


124    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVÜI  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

304  Uebersetzungen  spielend,  die  griecbisehe  Sprache  zu  studieren". 
Zu  diesem  Ende  verdeutschte  er  auch  in  Versen,  zunächst  för  seine 
Freundinnen  in  Rudolstadt,  nach  einer  wörtlichen  lateinischen 
Uebersetzung  des  Euripides  dessen  „Iphigenia  in  Aulis"  und  „Scenen 
aus  den  Pboenizierinnen"^**.  Von  eigenen  Poesien  entstÄuden  in 
diesen  Jahren  nur  „die  Götter  Griechenlands"^'  und  „die  Künstler"**, 
beide,  wie  jene  Uebersetzungen,  Früchte  seiner  Beschäftigung  mit 
den  Griechen".  Ausserdem  arbeitete  er  hin  und  wieder  am  Geister- 
seher, schrieb  die  „Briefe  über  Don  Carlos""  und  den  kleinen  Aufsatz 
„Herzog  Alba"  etc.",  lieferte  seit  1787  Recensionen  in  die  Jenaer  Litera- 
tur-Zeitung ***  und  gab  1788  den  ersten  fund  einzigen)  Band  einer,,  Ge- 
schichte der  merkwürdigsten  Rebellionen  und  Verschwörungen"  etc. 
heraus,  wozu  er  sich  schon  früher  mit  Andern  vereinigt  hatte  und  selbst 
nur  einen  Artikel,  meist  blosse  Uebersetzung  aus  dem  Französischen, 
beitrug.  Wenige  Monate  vor  seinem  Abgange  nach  Jena  fieng  er 
an  sich  ernstlicher  mit  dem  von  Körner  in  Anregung  gebrachten 
Plan  zu  einer  grossen  epischen  Dichtung  zu  beschäftigen,  deren  Held 
zuerst  Friedrich  der  Grosse,  späterhin  Gustav  Adolf  werden  sollte, 
die  aber  nie  zur  Ausführung  kam^^.  In  Jena  eröffnete  Schiller  im 
Mai  1789  seine  Vorlesungen  unter  ganz  ausserordentlichem  Zudrang 
der  Studierenden  '*  mit  der  Antrittsrede  „Was  heisst  und  zu  welchem 
Ende  studiert  man  Universalgeschichte  ?"^^  Ungeachtet  des  allge- 
meinen Beifalls,  den  er  als  Lehrer  fand,  missfiel  er  sich  doch  bald 
gar  sehr  in  seinem  neuen  Verhältnisse.  Nachdem  er  jedoch  zu 
Anfang  des  nächsten  Jahrs  —  da  ihm  von  dem  Herzog  von  Weimar 
ein  Jahrgehalt  von  200  Thaleni  ertheilt  worden  fzu  gleicher  Zeit 
wurde  er  auch  von  dem  Meininger  Hofe  zum  Hofrath  ernannt),  seine 
Schriftstellerei   ihm  auch  mehr  als  zeither  einzubringen  versprach, 


39)  A.  a.  0.  I,  334  f.;  später  hätte  er  diese  Sprache  auf  die  gewöhnliche  Art 
zu  erlerccü  versucht,  wenn  ihm  nicht  Humboldt  und  Goethe  davon  abgerathen 
hätten;  vgl.  Briefwechsel  mit  W.  v.  Humboldt  S.  290  f.;  303  ff.  und  Briefwechsel 
mit  Goethe  5,  322  f.  40)  Beides  seit  dem  Herbst  178S;  zuerst  gedruckt  io 

der  Thalia.  41)  Zu  Anfang  178S;  zuerst  im  d.  Merkur  dieses  Jahres. 

42)  In  der  ersten  Gestalt  zu  Kndc  17bS  schon  fast  ganz  fertig,  vor  dem  Druck 
im  d.  Merkur  von  1780  aber  noch  viel^ch  umgearbeitet  und  verbessert. 

43)  Auf  die  Conccption  und  Ausführung  der  Künstler  hatte  noch  besonders  Ein- 
iluss  Moritzens  eben  erschienene  Schrift  „über  ^tc  bildende  Nachahmung  des 
Schönen**.  Braunschweig  17SH.  8.  gehabt.  44)  Zuerst  gedruckt  im  d.  Merktet 
von  17SiS.  45)  Zuerst  im  d.  Merkur  von  178S:  in  den  sämmtlichen  Werken 
7,  415  ff.  46)  Ausser  den  bekannten  auch  noch  andere,  wovon  mehrere 
P.  Trömel  im  Weimar.  Jahrbuch  4,  171  ff.  hat  wieder  abdrucken  lasseu.  Vgl. 
auch  P.  Trömela  Schiller-Bibliothek.  47)  Vgl.  Briefwechsel  mit  Kömer  I, 
350;  353:  2,  57  ff.;  277  ff.  48)  Vgl.  a.  a.  0.  2,  90  ff.  49)  Zuerst  gedr. 
im  d.  Merkur  von  17S0.           50)  A.  a.  0.  2,  139. 


Entwickelaogsgang  der  Literatur.    1773— 1S32.    Schiller.  125 

und  sieb  ihm  noch  anderweitig  gUnstige  Aussiebten  fttr  die  Zukunft  §  304 
eröffneten  —  sieb  verheiratbet  batte,  füblte  er  sieb  in  seinem  ebe- 
lichen  Verbältniss  so  glttcklicb,  dass  er  wieder  mit  frischem  und 
frobem  Muthe  fortarbeitete,  wenn  er  aucb  bereits  zu  der  Ueberzeu- 
gung  gelangt  war,  dass  ihn  die  Vorsebung  nicht  zu  einem  muster- 
haften Professor  bestimmt  habe".  Bis  ins  Jahr  1791  herein  ver- 
wandte er  seine  Zeit  und  Kraft  fast  ausschliesslich  auf  geschichtliche 
Studien  und  auf  die  Abfassung  geschichtlicher  Schriften.  Aus  dieser 
Zeit  stammen  die  „Geschichte  des  dreissigyäbrigen  Krieges",  die  er 
aber  erst  im  Jahre  1792  vollendete"  und  die  kleinen  historischen 
Sachen,  die  im  siebenten  Bande  der  sämmtüchen  Werke"  stehen 
und  zuerst  theils  in  der  Thalia,  tbeils  als  einleitende  oder  eingefügte 
Abhandlungen  in  den  ersten  Bänden  der  „allgemeinen  Sammlung 
historischer  Memoires  vom  12.  Jahrhundert  bis  auf  die  neuesten 
Zeiten"  etc."  erschienen,  welche  Schiller  anfänglich  allein,  dann 
mit  mebrem  Andern  herausgab,  bis  er  sie  diesen  bald  ganz  Hberliess. 
Zu  Anfang  des  Jahres  1791  war  er  in  eine  lebensgefährliche  Brust- 
krankbeit  verfallen,  die  einige  Monate  später  wiederkehrte  und  seinen 
Zustand  so  zerrüttete,  dass  er,  wenn  sich  auch  das  Karlsbad,  das  er 
noch  denselben  Sommer  gebrauchte,  wobltbätig  erwies,  seitdem  doch 
eigentlich  nie  wieder  ganz  gesund  wurde  und  schwer  litt.  Ermusste  daher 
aucb  seine  Vorlesungen  für  längere  Zeit  ganz  aussetzen  und  konnte  sie 
auch  nachher  nicht  mehr  in  der  Art  wie  früherhin  halten.  Was  aber 
für  ihn  das  Uebelste  war,  sein  Gesundheitszustand  verstattete  ihm, 
wenigstens  fürs  erste,  nicht  mehr  das  anhaltend  angestrengte  Arbei- 
len; und  doch  bestand  zur  Zeit  sein  Einkommen  hauptsächlich  nur 
in  dem  Ertrag  seines  schriftstellerischen  Fleisses,  von  dem  aucb 
allein  die  Abtragung  seiner  ihn  noch  immer  drückenden  Schulden 
zu  erwarten  war.  Da  kam  kurz  vor  dem  Scbluss  des  Jahres  1791 
unverhofft  Hülfe  von  Kopenhagen.  Durch  den  Dänen  Jens  Baggesen, 
der  Schiller  das  Jahr  vorher  auf  einer  Reise  kennen  gelernt  hatte, 
erfuhren  der  Herzog  Christian  Friedrich  von  Augustenburg  und  der 
Minister  E.  v,  Sehimmelmann,  in  welcher  Lage  sich  der  Dichter  be- 
fände, dessen  Don  Carlos  sie  eben  erst  mit  Bewunderung  erfüllt 
hatte:  sie  boten  ihm  für  die  nächsten  drei  Jahre  einen  Jahrgehalt 
von  tausend  Thalern  an  und  ladeten  ihn  zugleich  zu  sich  nach 
Kopenhagen  ein.  Er  fand  kein  Bedenken,  ein  Geschenk  auzu- 
uehmeu,  das  ihm  auf  eine  eben  so  zartsinnige,  wie  edelmüthige 
Weise  angeboten  wurde.     Er  hatte  nun  die  nahe  Aussieht,  sich  ein- 


51)  A.  a.  0.  2,  1S7.  52)  Zuerst  gedruckt  im  historischen  Kalender  für 

Damen,  Jahrgang  IT'Jl— 'J3.  53)  S.  32—414.    Bei  Gödcke  im  0.  Bande. 

54j  Jena  1790— ISOO;  vgl.  Briefwechsel  mit  Körner  1,  371. 


^^ 


MB 


•126    Vi.  Vom  zweiten  Vtcrtd  des  XVIII  JahrhanderU  bis  zu  GoeÜic'A  Tod. 

§  304  zurichten,  seine  Schulden  zu  tilgen  und,  unabhängig  von  ^ahrungs- 
sorgen,  ganz  den  Entwürfen  seines  Geistes  zu  leben.     Er  hatte  end- 
lich einmal  Müsse,  zu  lernen  und  zu  sammeln  und  fQr  die  Ewigkeit 
zu  arbeiten".     Es    fiel    diess    in   die  Zeit,    wo   er  so   eben   mit   der 
ganzen  Energie  seiner  geistigen  Natur  in  seinen  Studien  und  seiner 
Bchriftstellerischen  Tbätigkeit  von  der  Geschichte  den  Uebergang  rar 
Philosophie  gemacht  hatte,   die  ihn  nun  noch  einige  Jahre  vorzugs- 
weise beschäftigen  sollte,   bevor  er  den  schönen  Freundschaftsbun« 
mit  Goethe  scbloss  und  in  die  letzte  und  bedeutendste  Periode  seiner 
dichierisehen    Wirksamkeit    trat.      Schüler    hatte    seinen    Beruf   zutj 
Speculation  schon  früher  in  den  „philosophischen  Briefen"  und  ii 
dem    philosophischen    Gespräch    im  „Geisterseher^'   hinlänglich    b( 
währt,  als  er  mit  Kants  Schriften  noch  so  gut  wie  gar  nicht  bekannt 
war;  Körner  hatte  ihn  schon  lange  zum  Studium  derselben   auf^ 
fordert,  aber  erst  auf  Reinholds  Empfehlung  hatte  er   1787  eioii 
von  Kants  kleinen  Aufsätzen  in  der  Berliner  Monatsschrift  gelesen  *\ 
Es  lag  in  Schillers  geistiger  und  sittlicher  Natur,  die  sich  in  dem 
Gange   ihrer  Entwickclung   zwischen    philo8oi)hi8chc8  Denken    un< 
dichterisches  Scbaflen  gleichsam  theilte,  dass  er  bei  seinem  Pbilosi 
phiercn  vorzugsweise  sittlich-aestbetischc  Zwecke  ins  Auge  fasste  und 
verfolgte,  und  dass  er  sich  als  Dichter  zu  keiner  poetischen  GattaQ( 
mehr  hingezogen  fühlte,  als  zur  Tragödie.     Er  knüpfte  daher,  a1 
er  sich  aufs  neue  der  Piiüosophie  zuwandte,    zuerst  an  denjenigen 
Theii  der  Acsthetik  sein  Denken  an,   der  sich  mit  dem  Wesen  derj 
Tragödie  beschäftigt,  indem  er  schon  im  Sommer  1790  darüber  ei] 
Publicum  las,  ohne  daliei  irgend  ein  Buch  über  Aesthetik  zn  Rathi 
zu  ziehen,   obgleich    damals  bereits  Kants  Kritik  der  UrtheilskrEi) 
erschienen    war  und  ihm   in  Jena   „zum  Sattwerden"   angepriessei 
wurde*\    Erst  nach  der  schweren  Ki-ankheit  im  Winter  1791,  utig( 
fähr   im   Anfange   des  März,    fleug   er   an  sich   mit  Kants  grössoi 
Werken  bekannt  zu  machen,  indem  er  zunächst   und   besonders  ii 
darauf  folgenden  Winter,   die  Kritik  der  Urtheilskraft  mit  grosi 
Eifer  studierte".    Jetzt  entstand  die  Abhandlung  „Über  den  Grua< 
des  Vergnügens  an  tragischen  Gegenständen**"*.    Im  Winter  1791 — 91 
las  er  ein  Privatissimum  über  Aesthetik  *°:  er  glaubte  den  objectiveo^ 


55)  A.  a.  0.  a.  2S2  f.  56)  A.  a.  0.  1,  162;  175.  57)  A. 

2,  187  f.;  190;  192.  5Sl  A.  a.  0.  2.  235  f.  59)  Gedruckt  1702  in  de 

oeueo  Tbnlla;  ob  die  AbhftiiülunB:  „über  die  tragische  Kunst"  lUmaU  aucb,  t>dc 
schon  1700  zuerst  niedergeschriebea  und  nachber  nur  fdr  die  n.  Thalia  vun  171 
Qberarboitct  wurde,  weiss  ich  nicht :  IIofTineistcr  2,  'iüü  f.  lüssl  br>idc-  Abhandhingr 
tiumittGlb&r  aua  jenem  Puldicuiu  des  J.  17^10  bervorgcbu ,  die  rrste  aber  grwii 
mit  Unrecht:  vgl   Briefweibscl  mit  Körner  2,  28ü.  6t>i  Vgl.  Briefwechsel 

Körner  2>  345. 


Entwfckelun^goDg  der  Litoratur.    IT7;t— 1832.    ScMUgf- 


127 


tegriff  des  Schönen,   an   wcicbem  Kant    verzweifle,    gefunden    zu  §  304 
laben    nnd    wollte    seine    Gedanken    darüber   in   einem   Gespräch, 
Kallias,  oder  Uher  die  Schönheit,  entwickeln.    Diess   kam   nicht   zu 
itande;  wir  haben  aber  in  einer  Reilie  von  Briefen  an  Körner*'  die 
I-Tgcbnisse   seiner   damaligen   Untereuchungen    Über  die  Natur  des 
ichönen,   und  namentlich  über  den  objeetiven  Begriff  des  Schönen. 
im  Miii  179.'i  beschäftigte  ersieh  mit  der  Abhandlung  „Über  Anmuth 
md  Würde"":  sie  ist  unter  seinen  ae8thetis<*hen  Uauptschriften  dem 
.her  nach  die  erste".    Zwei  andere  Abhandlungen,   „Über  das  Er- 
labene'^"'  und  ,, zerstreute  Betrachtungen  Über  vcrBchicdene  aeßthe- 
ische  Gegenstände",  wurden  ungefähr  um  dieselbe  Zeit  ausgearbeitet". 
Sf^'mmer  1793  reiste  Schiller  mit  seiner  Gattin  zu  seinen  Eltern 
lach  Schwaben,  wo  er  unter  andern  Bekanntschaften  auch   die  des 
tuebbändler  Cotta  machte  und  mit  ihm  den  Plan  zu  einer  neuen, 
»eieits  seit  einigen  Jahren  beabsichtigten  Zeitschrift,  den  Hören,  ver- 
ibredcte.      Erst    im   Frühjahr    1794    kehrte    er    nach   Jena    zurück. 
Wenige   Wochen    zuvor    war   Wilhelm   von    Humboldt    dort  ange- 
kommen".    In  dem  täglichem   Umgange  mit  ihm"'  erweiterte  und 
berichtigte  sich  nicht  allein  Schillers  Kenutniss  des  classischen  Alter- 
tbnma  und  besonders  der  griechischen  Dichter,  sondern  er  fand  sich 
iurch  des  Freundes  Beistand  auch  in  der  Ausbildung  seiner  Kunst- 
(heoric   und   in  dem  noch   immer   mit  grosser  Ausdauer  ]»etriebencn 
Studium  der  kritischen  Philosophie  gefördert,   indem  ihm   zugleich 
,dic   neue  Ansicht ,   welche  Ficlitc   dem  kantischen  Systeme  gab**, 
las  tiefere  Eindringen  In  diese  Materie  erleichterte".     In  demselben 
[Jahre   knüpfte  sieh   auch   das   nähere  Verhilltniss  zwischen  Selnller 
|taod  Goethe  an,    weiches  bald  darauf  durch   ihr  schriftstellerisches 
lusammonwirkeu,  zunjlchst  an  ,,den  Boren"  *°  und  am  Musenalma- 
nachr    fester  und  inniger  wurde""'.     Schiller  hätte  jetzt  seine  ,. freie 
Existenz  in  Jena  mit  keinem  andern  Ort  in  der  Welt  vertauschen" 
lögen;  er  lehnte  daher  auch  den  Ruf  an  die  UuiversitAt  Tübingen, 
ler  im  Frühjahr   1795  an  ihn  ergieng,   ohne  Bedenken  ab,  wofdr 
Ihm,    im  Fall  seine  Gesundheit  ihm  die   Schriftstellerei    untersagen 
sollte,  von  Weimar  aus  die  Verdoj>pelung  seines  zeitherigen  Gehaltes 
za^esiehert  wurde".    Bereits  während  seines  Aufenthalts  in  Sehwa.- 


61»  3.  5  ff.       62)  A.  ft.  0.  3,  105.       63)  Gedruckt  1793  in  der  n.  Thalia. 
64)  Kur  der  letzte  Absclmitt  ist  unter  dem  Titel  „über  das  Pathetische**  in 
ie  Werke  aufgenommen.  65}  Gedruckt  Uyti  in  der  n.  Thalia.         66)  Vgl. 

259,  Anm.  S4.  67l  Vgl.  Briefwechsel  zwiecbeu  Schiller  und  W.  v.  Uum- 

»Idt  3.  7.  68)  Briefwechsel  mit  Knmer  3.  1S2.  69)  Unter  Schillers 

tciUcUon.  Tübingen  1795—97,  jeder  der  drei  Jahrgüugo  in  12  Heften     8. 
'ni  Vgl    Dd.  m,    14S  f.  und  zu  dem  dort  Anijcfiihrten   den   Itriefwechsel   mit 
[ön>er  3.  175  f-;  1^1:   ino  f.        71)  Seine  drei  Jahre  spater  erfolgte Kmeunung 


128    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  JahrhunJerts  bis  xu  Gocthe's  Tod 


n 


%  30-1   ben  hatte  er  seine  zweite  in   das  Gebiet  der  Kunstphilosophie  ein- 
schlagende  Hauptscbrifl,  „über  dlo  aestbetiscbe  Erziehung  des  Meu- 
8chen*',  in  Briefen  an   den  Herzog  von  Augustenburg  auszuarbeiten 
angefangen;  er  vollendete  sie  in  Jena".     Die  dritte,  letzte  und  fi 
die  Folgezeit  fruchtbarste  seiner  grossen  kunsttheoretischen  Arbeite 
vor   oder   nach    deren   Abfassung    aber    noch    einige   kleinere    un 
weniger   bedeutende   aestbetiscbe  Aufsätze  fallen,   die  Abhaudloug 
,,tlber  naive  und  sentimentaliscbe  Dichtung",  entstand  allmfthlig  seit 
dem  Herbst  1794,  gestaltete  sich  indoss  zu  dem,  was  sie  gcwordci 
ist^,  erst  ein  Jahr  später'*,    Sie  bildete  für  Schiller  gleichsam 
ßrdcke    zu    der   poetischen  Production**",    der   er   nun   alle   sei 
Kräfte  zuwandte.    „Die  Sehnsucht  nach  der  Dichtung,  wie  nach  d 
cigenthUnilichen  Ileiuiath  seines  Geistes",    hatte   ihn    nie   verl 
und  verrielh  sich,  wie  in  seinen  Briefen  an  Kömer,  so  auch  in  allen 
seinen  Beschäftigungen  während  der  letzten  acht  Jahre.     Aber  g 
rade  durch  diese  Beschäftigungen  mit  der  Geschichte,  mit  den  alte 
Poeten    und    mit    der  Philosopliie    hatte   sein  Dicbtergenie   erst  die 
Mittel  sich  angeeignet  und  die  Wege   gefunden,   in    voller  Energii 
nnd  in  der  ihm  gemässesten  Weise  zu  wirken.    Durch  die  Geschieh 
hatte  er  die  Welt  und  die  Menschheit  kennen  gelernt,   „mit  jede 
Schritte  an  Ideen  gewonnen,  und  seine  Seele  war  weiter  geworde 
mit  ihrer  Welt";   sie  wurde  „das  Magazin",    woraus   er   fortan   die 
würdigsten  und  fruchtbfirsteu  Gegenstände  fllr  seine  Dichtung  schöpfe 
konnte*',  und  er  erkannte  bald,  wie  „diese  Aufüllung  mit  Materialien 
aus  ihr  iu  seinen  schriftstellerischen  Arbeiten  in  nicht  gar  langer  Z 
sich  merklich  fühlbar  machen  werde.     An   den  Dichtern   des  classi 
scheu  Alterthums  läuterte  er  seinen  Geschmack  und  schulte  er  sieb, 
beobachtend    und    nachbildend,    im   Formellen    der  Kunst*.     Die 
Philosophie  mussto  ihm  erst  die  Fragen  über  die  höchsten  Kunstge- 
setze überhaupt  beantworten  und  seinem  dichterischen  SchafTcn  eine 
feste  theoretische  Grundlage  vorbereiten,  um  ihn  zuletzt  noch   ttb 
das  allgemeine  gegensätzliche  Verhältniss  der  moderneu  Poesie  r 
antiken  ins  Klare  zu  setzen,  dass  er,  dieser  gegenüber,  die  nöthi 
Sicherheit   in  der  seiner  Natur  allein   gemässen   poetischen  Verfab 
rungsweise  erlangte.      So   hatte   er   seinen  Trieb   zur    dichterisch 
Production.  und  namentlich  zu  neuen  dramatischen  Arbeiten,  in  sie 
zurückgedrängt,  so  lange  er  sich  noch  nicht  mächtig  fühlte,  ihm  nac! 


^ 


m 


xat»  onlGntUebeu  Professur  ta  Jena  schobt  ihm  keioe  Gehaltszulage   gebrAcM 
haben;  vgl.  Briefwechsel  niit  Goethe  i,  137.  72)  Gedruckt   I'ii5  in 

ersten  Suickea  der  Hören.  73i  (icdnickt  1795  und  06  in  den  Hören. 

74)  Vgl.  Briefwechsel  mit  Körner  3,  IWU;  lüT;  U02:  311;  317.  75(  A   ä. 

3,  tu:.  7ti)  Ilriefwecluel  mit  Körner  I,  334  f  ;  353  f.;  3S7  f.:  2,  52;  26*J. 


Eatirickieluiigagflizig  der  Literatur.    1773— ltl32.    Schiller. 


129 


*  (=;  der  Bicb  im  Laufe  dieser  Bildungsjalire  stats  ßteigeradeo  §  30J 

iig^en  an  sich  selbst  zu  genügen ''^    Im  Anfang  der  Neunziger 

'ersDchte  er  sieh  poetisch  nur  in  der  Uebersctzung  des  zweiten  und 

ierten  Buchs  der  Aeneide.    Schon  auf  der  Karlsakadeniie  hatte  er 

iu   Bruchstück  aus  dieser  Dichtung  in   deutsche   Hexameter  Über- 

!n;  als  ihn  Bürger  17S9  in  Weimar  besuchte,  waren  sie  überein- 

'gekommen,  dasselbe  Stück  aus  dem  Virgil  zu  übersetzen,  jeder  in 

einer  andern  Versart.    Schiller  wfthlte  sich   dazu  eine  freiere  Form 

der  italienischen  Stanze,  vornehmlich  auch,  um  sich  in  dieser  Form, 

welcher  er  sein  grosses  episches  Werk  abfassen  wollte,  'in  üben. 

\r  fieng  damit  schon    im  Frühjahr    1790   an,  gieng   aber   erst  im 

folgtsaden  Jahre  ernstlicher  an  diese  Arbeit'*  und  eröffnete  damit  die 

iiden  er&ten  Stücke  der  neuen  Thalia.    Ausserdem  beschäftigte  er 

ich  mit  dem  Entwurf  zu  einem  neuen    dramatischen   Werke,    wo- 

luTch  der  Plan  zu  dem  grossen  epischen  Gedicht  vordrängt   wurde. 

►urch  *eiue  Vorarbeiten  zur  Geschichte  des  dreissigjAhrigen  Krieges 

TAf  in  ihm  nämlich  zu  Anfang  des  Jahres  1791  die  Idee  zu  seinem 

,Wal!enstein"  entstanden**,   und  im  folgenden  Jahre   legte  er  auch 

?hon  die  erste  Ihind  an  diees  Werk,  aber  die  Fortsetzung  verzog 

ich  noch  lange  hiu^".    Erst  als  er  mit  Goethe  iu  uiihere  Verbindung 

streten  war,  wurde  Schillers  neuorwachtes  Verlangen  nach  dichteri- 

iliem  Hervorbringen  so  mächtig,  dass  er  sich  ihm  bald  ganz  Uber- 

less.     Zuerst  entstund  nun  eine  Reihe  kleinerer  Gedichte  von  aus- 

tblicsslicb  oder  doch  vorzugsweise  lyrisch -didaktischem  Charakter, 

iie  theils  in  die  Hören,  theils  in  den  zugleich  mit  diesen  untemom- 

meuen  „Musenalniaiiiu'h**'"   eingerückt   wurden;    die    bedeuteuilsten 

inter,  ans   dem  Jahre    1795,    waren   „das  Reich   der  Schatten**, 

»ftter  betitelt  „das  Ideal  und  das  Leben*',  und  die  „Elegie",  nach- 

f,der  Spaziergang'*  überschrieben*-.     Das  nächste  Jahr  brachte 

sr  vielen  lyrischen  und  lyrlsch-didaktiscben  Stücken  im  Musen- 

Imanach  die  zunächst  durch  die  schlechte  Aufnahme,  welche  die 

tfnnden  hatten,  liervorgenifenen   ,,Xenieu"  und  andere  Epi- 

Ganz  ausserordentlich    hatte   auf  die  Ncubclobnng  von 

;hiUers    dichterischem  Vermögen    und   auf   die  Ausbildung   seines 

[uDslverstandes  schon  Goethe's  „Wilhelm  Meister"  gewirkt*',   über 


77»  Vgl.  a.  ».  0    I,  334;  2,  212;  309  ff;  394;  396,  78)  A.  a.  0.  2,  90; 

Wl  242:  267  f.  70i  Ä.  a.  0.  2,  225.  SO)  Ä.  a.  0.  2,  MO:  332;  :i.  167; 

f  81;  FtXr  das  J.    1790,  mit  BcilrJigcii  von  Goelbe.  Herder,  A.  W. 

lo^el    ü.   A-  NouBlrelitz    1795      12.;   für   die  vier  folgenden  Jahrn  TübiDcrea 

I79ft.   12.  82)  Beide  gedruckt  iu  den  Hören;  das  zweite  bcwibrte  vor- 

dic  Moisicrhaiid  des  Dichters  und  darf  seinen  vortrefflichsten  Werken  bei- 

werdeu,  S3i  Virl.  Bü.  KI,  149-  84»  Briefwecbael  mit  Körner 

345  f 

XoWMtaik«  Oro&dris«.    :>.  Aull.    lY.  9 


130    VI-  Vom  Kweiteu  Viertel  des  XVIU  J&brhuuderts  bis  zu  Ggethe*»  Tud. 

§  304  deu  er  eine  Reihe  kritischer,  die  tiefste  Einsicht  in  die  Compositio] 
bezeugender  Briefe  an  Goethe  schrieb";  nun  kam  die  Wirkung  voi 
jjllerinaan  und  Dorothea^'  hinzu.    Er  hatte  diess  Gedicht  eutstehei 
sehcDj  es  brachte  in  seinen  Gesprächen  und  seinem  Briefwechsel  mil 
Goethe  alle  Ideen  Über  epische  und  dramatische  Kunst  in  Bewe^uni 
und  hatte,   verbunden  mit  der  Lecttlre  des  Shakspeare  und  Sopb< 
kies,   auch   für  »einen  Wallenstein  grosse  Folgen".    In  den  beidi 
Jahren  1707  und  98  dichtete  er,  nebst  verschiedenen  andern  klcinei 
Stücken  für  den  Musenalmanach,  im  Wetteifer  mit  Goethe  die  mcistt 
seiner  Balladen.      Unterdessen    hatte   er,    neben    seiner  Arbeit 
Wallenstein,  den  Plan  zu  einem  andern  dramatischen  Werke,   „<ü( 
Maltheser",  ausgebildet,  womit  er  der  Kunslform   der  griechischci 
Tragödie  so  nahe  wie  möglich  kommen  wollte".     Doch  entschied 
sich  endlich  im  Milrz  1796  dafür,  zuvörderst  seinen  W^alleostein  ai 
^         zuführen;  er  rUckte  indess  auch  jetzt  noch  immer  nur  iangaaüi  mit 
dieser  Arbeit   vor";    erst    im   Frühjahr    1799    war   sie    vollendet' 
Unter  den  verschiedenen  lyrisch-didaktischen  Gedichten,  die  um  di< 
selbe  Zeit   entstanden,    war  das  bedeutendste   „das  Lied    von  d< 
Glocke^'  aus  dem  Jahre   1799,    wozu  ihm  der  erste  Gedanke  sAn 
schon    lange   zuvor   aufgestiegen    war**.     Im    December    1799    z<»g 
Schiller,  um  dem  Theater  nahe  zu  sein,  von  Jena  nach  Weimar:  der 
Herzog,   dessen  Wohlwollen   sich   auch   darin    erwies,    dass    er   ibm 
drei  Jahre  später  die  Verleihung  des  Adels  beim  Kaiser  auswirkte, 
hatte,    um  ihm  diese  Uebersiedelung  zu  erleichtern,  seinen  Gcbal^^ 
erhöht.     Er  hatte  sich   nun   fast    ausschliesslich    dem   Drama    zug&l^H 
wandt,  und  auf  den  „Wallenstein'^  folgten  fortan  rasch  hinter  einnn-       | 
der  seine  übrigen  W'erke  in  dieser  Gattung.    Schon  im  Sommer  wari 
die  ,, Maria  Stuart'*  begonnen,  und  im  nächsten  Sommer  war  sie  b( 
reits  druckfertig*';  inzwischen  hatte  er  auch  Shakspeare's  „Macbeth*' 
für  das  weimarische  Theater  bearbeitet**,  in  dessen  Leitung  er  si( 
seit    seiner   Niederlassung    in  Weimar   mit  Goethe    theilte.     Glci< 
nach  AbschluBS  der  „Maria  Stuart"   tieng  er  ,,die  Jungfrau  von  Cr-' 
leans"   an,    die   im  Frühjahr    ISOl    beendigt    wurde".     Gegen   d< 
Ausgang  des  Jahres  iSOI  bearbeitete  er  auch  noch  die  „Turandot* 
nach  einem    italienischen  W^erke   von  Gozzi**;   im    uÄcbstfolgcnden 


85)  Vgl.  in  dem  Briefwechsel  mit  diesem  besoiidcrs  Nr.  175;  17S~lgO;  l$9j 
\bb;  226;  243.  S6»  Briefwechsel  mit  Kömer  4,  21.  87)  \   a.  0.  3,  3(iO| 

Briefwechsel  mit  Goethe  3,  353  f,        &Sl  Bricfwecheel  mit  Körner  .l,  330  f.;  3"Äj 
3tfl— 30%i  4,  tiO.  89»  „WaHcüßtem,  ein  dramatiscbes  Gediclit".    Tohi 

1^00.    2  Thie.   8.  90)  Zuerst  gedruckt  im  Musenalmanach  für  1*»00. 

9l»Tübhi(f(?u  ISOü.   S.  92»  Tübingen  !SOL   S.  li:^)  Zuerst  gearuckl 

IHOI  im  Bcrtiuor  Kalender  auf  cIas  J.  Isu2;  in  einer  zweiten  umgearbeiteten  Auf- 
b^e.    Berlin  IS02.  6.  94)  Tobingen  1S02.  S. 


EntwickeluDgsgimg  der  Literatur.     1773—1832.    Schüler. 


131 


le  „die  Braut  von  Mesßina,    oder  die  feindlichen  Brüder",    be- 
gonnen und  im  Februar  1803  beendigt*''.    An   nie  scbloss  sich  bald 
»r  „Wilhelm  Tell'S  mit  dem  sieh  Schiller,  nachdem  er  inzwisebea 
ei  französische  Lustspiele  von  Picard.  j,der  Panusit,  oder  die  Kunst 
sin  Glück  xu  machen",  und  ,,der  Neffe  als  Onkel"  für  die  deutsche 
tQluie  bearbeitet,  auch  schon  im  Sommer  1S03  zu  beschäftigen  an- 
ig";   worauf  er  sofort  den  Plan  zu  einem  neuen  Drama,  „Deme- 
lus",  fasste,  das  er  aber  nur  bruchstückweise  auszuführen  vermochte. 
Im  Frühling  1S04  war  er  nach  Berlin  gereist.     Um   ihn   für   diese 
Stadt  auf  die  Dauer  zu  gewinnen,   wurden   ihm  von   höchster  Stelle 
aus  glänzende  Anorbietungcn  gemacht;  er  begnügte  sich  indoss  mit 
einer  sehr  massigen  Zulage  zu  seinem  bisherigen  Gehalt  in  "Weimar 
und  lehnte  den  Ruf  ab.    Seine  letzten  Arbeiten  waren  das  Festspiel 
,,die  Huldigung   der  Künste",    das    er   binnen  wenigen  Tagen  zur 
■Veier  der  Vermählung  des  Erbprinzen  von  Weimar  mit  der  Grosa- 
^Blrstin  Maria  Paulowna  dichtete '%   die  Bearbeitung  der  „Phaedra" 
^BoD  Racine  "*   und   die  Bruchstücke    des  „Demetrius''.     Mitten    im 
^Vollgefühl   seiner  geistigen   Kraft    und   auf  dem  Flöhepunkt   seines 

Nichterischeu  Wirkens  ergritT  ihn  der  Tod:  er  starb  an   einem  hef- 
gen  An/all  seiner  gewöhnlichen  Brustkrankheit  den  9.  Mai  1805". 
-  Die  Aufnahme,  welche  gleich  Schillers  erste  Dichtungen  und  be- 
I sonders  die  Sehausiiiele,  in  Deutachland  fanden,  und  die  Wirkungen, 
lie  sie  in  allen  Kreisen  der  Gesellschaft,  vorzüglich  bei  der  Jugend, 
fcer\orbrachten,  waren  ganz  ausserordentlich  und  bewiesen  mehr  als 
■inlänglich,    wie    wenig    der   Geschmack   des   deutschen   Publicums 
lureb  die  excentrisch-leidenschaftlichen,  roh-Überspannten   und  ver- 
ierrfen   dichterischen   Erfindungen  des  abgelaufenen  Jahrzehnts  für 
ähnliche  Flrzeugnlsse  der  Phantasie  abgestumpft  worden  war,  sobald 
ieselben  den  Stempel  einer  entschieden  grossen   und   wirklich  ge- 
ialeu  Naturkraft  so  unverkennbar  an  sich  trugen,   wie  es  hier  der 
Pall  war.     Denn  Schiller,  dessen  sittlicher  und  poetischer  Charakter 
Ich  bis  dahin  ganz  und  gar  unter  den  Einflüssen  der   in   den   sieb- 
;r  Jahren  nnter  der  dichterischen  Jugend  herrschenden  Ideen  und 
itcr  den  mannigfachsten,  seine  innere  Bildung  bestimmenden  Ein* 
•acken  der  von  ihr  ausgegangeneu  Werke  entwickelt  hatte,  und  der 
ifUr  um  90  empfänglicher  gewesen  war,  je  schmerzlicher  er  den  harten 


§  304 


05 1  Tübingen  isö:*.    K  96)  Tübingen   1604.    8.  i»7)  Gedruckt 

rübioKeu  lwi4.   b.  HS)  Tübingen  1SÜ5.    12.  99)  Vgl.  K.  Boffmeister, 

)n  Leben,  Geistescnt-wicUolung  und  Werke  im  Zusammen  hang*  ^    Stuttgart 

>.Zh — A'i.    5  Thie.   S. ,  ein  treffliches  Huch,  bei  dessen  Ausarbeitung  aboj  leider 

:ii  nicht  Scliillera  Briefwechsel  mit  Köruer  benutzt  werden  kouute;  E.  Palleskc, 

JLebcn  und  Werke.    2  Bde.   Berlm  ih5&— 5'J.  S.,  und  die  treffliche  Dar- 

ig  in  OOdeke's  Grundrias  8.  910— 10U7. 

9* 


132    VI.  Vom  eweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhanderta  bü  zu  Goethe'fl  Tod. 


g  304  Druck  der  besondern  Verbältnisse  empfunden  batte,  unter  denen 
seine  Jünglingsjabre  verleben  rauaatc,  vereinigte  in  seinen  ersten  Ü 
tungen,  in  denen  die  lange  nur  beimlicb  geübte  und  von  jeder  freien 
AeusBerang  zurückgedrängte  Kraft  seines  Geistes  in  aller  ihrer  Jugend- 
lieben Stitrko  hervorbrach,  die  flämmtlicben  drangvoU-stUrmiÄcben  Ten- 
denzen seiner  Vorgänger.  Gegen  all  die  wirklieben  oder  scheinbaren 
Uebelständo  und  Natnrwidrigkeiten  im  staatlichen  und  gesellschaft- 
lichen Leben,  wogegen  jene  sich  erhoben,  diesie  schon  so  eifrig  bekämpft 
hatten,  eröffnete  er  in  diesen  Productionen  eine  noch  viel  heftigere  und 
energischere  Polemik.  Aber  von  so  wilder  Form  dieselben  auch  waren, 
so  verletzten  sie,  namentlich  die  bedeutendsten  unter  ihnen,  die  Schau- 
spiele, selbst  dem  Formellen  der  Anlage  und  Ausführung  nach  doch^H 
im  Ganzen  weit  weniger  die  Gesetze  eigentlicher  Kunst,  als  did^^ 
allermeisten  dramatischen  Arbeiten,  die  in  den  Siebzigern  von  den 
Dichtei-n  der  neuen  Schule,  Goethe  ausgenommen,   hervorgebrachl^H 


waren']  und  noch  weit  mehr  überragten  sie  dieselben,    ungeach 
aller  auch  ihnen  eigenen  Unnatur  und  Ucbertreibung  in  den  Charak 
teren,  Situationen,  Handluugen  und  Reden,  an  genialem  Gedanken- 
gehalt,  Grösse  der  Gesiuuung  und  erschütternder  Wirkung.    lud 
80  lange  es  auch  währte,  dass  diesen  Werken,  und  vomobralicb  „d 
Räubern",  in  denen  „ein  kraftvolles,  aber  unreifes  Talent  seine  eth 
schon  und   theatralischen  Paradoxen   recht   im   vollen   hinroissend 
Strome  über  das  Vaterland  ausgegossen  hatte"*'*    von  vielen  Seiten 
ein  grenzenloser  Beifall  gezollt  ward;   der  Dichter  selbst  erkann 
bald  die  Hauptmängel  darin  und  sprach  sich  auch  öffentlich  darllb 
aus.   In  der  Ankündigung  der  rheinischen  Thalia'^'  schrieb  er:  „ 
seltsamer  Missvorstand  der  Natur  bat  mich  in   meinem  Geburtso 
zimi  Dichter  verurtbcilt.     Neigung  für  Poesie  beleidigte  die  G 
des  Instituts,   worin  ich   erzogen  ward,   und  widersprach  dem  Plan 
seines  Stifters.    Acht  Jahre  rang  mein  F.nthusiasmus  mit  der  mili- 
tairiflcben  Regel;  aber  Leidenschaft  für  die  Dichtkunst  ist  feurig  un 
stark,  wie  die  erste  Liel)e.    Was  sie  ersticken  sollte,  fachte  sie  a 
Verhältnissen  zu  entfliehen,  die  mir  zur  Folter  waren,  schweifte  mci 
Hera  in  eine  Idealenwelt  aus;  —  aber  unbekannt  mit  der  wirklichen, 
von  welcher   mich   eiserne  Stäbe  schieden;  —   unbekannt  mit  de 
Menschen,  —  denn  die  vierhundert,  die  mich  umgaben,    waren  ei 
einziges  Geschöpf,  der  getreue  Abgass  eines  und  eben  dieses  Model 
von  welchem  die  jdastiscbo  Natur  sich  feierlich  lossagte;  —  unbe- 
kannt mit  den  Neigun^^en  freier,  sich  selbst  überlasscner  Wesen,  — 
denn  hier  kam  nur  Eine  zur  Reife,  eine,  die  ich  jetzt»  nicht  nonne 
will;  jede  übrige  Kraft  dos  Willens  erschlaiTtc,  indem  eine  einz 


en- 
thH 


100k  Qoethe'i  W«rke  60,  253.         101)  Im  d.  Museum  von  HM.    3,  564  &] 


£at*rickcliuigsgBng  der  Literatur.    1773— lb32.    Schillers  Jugeuddraxnen.   133 

Ich  connilsivisch  epaunte;  jede  Eigeulieit,  jede  Ausgelassenheit  der  §  3Q4 

'tausendfacb   spielenden   Natur   gicug  in  dem   regelmässigen  Tempo 

Ider  berrscheuden  Ordnung'  verloren;  —  unbekannt  mit  dem  scböneu 

[Oegcblecbt,  —  die  Thore  dieses  Instituts  offnen  sieb,  wie  man  wissen 

viräj  Frauenzimmern  nur,   ebe  sie  anfangen  interessant  zu  werden, 

wenn  sie  aufgebort  haben  es  zu  sein;   —   unbekannt  mit  Men- 

und  Menscbenschicksal  —  musste  mein  Pinsel  nothwendig  dio 

I mittlere  Linie  zwiseben  Engel  und  Teufel  verfehlen,   niusstc  er  ein 
L'ng^heuer  hervorbringen,   das   zum  Glück    in   der  Welt   nicht  vor- 
banden war,  dem  ich  nur  darum  Unsterblichkeit  wünschen  möchte, 
um  ilas  Beispiel   einer  Geburt  zu  verewigen,   die   der  naturwidrige 
Beiisehlaf  der  Subordination  und  des  Genius  in   die  Welt  setzte.  — 
Ich    meine   die  RUuber. Wenn   von    allen   unzähligen  Klag- 
fichriften  gegen  die  Räuber  eine  mich  trifft,  so  ist  es  diese,  dass  ich 
zwei  Jahre   vorher  mir  anmasfite,   Menschen  zu  schildern ,    ehe  mir 
noch    einer  begegnete*'.    So   suchte  er  mit   gereifter  Einsicht   schon 
|ln  der  Mitte   der  Achtziger  nach   einem  andern  und  bessern  Wege 
3K»r  dramatischen  Kunst.   Iil'  der  vordem  Hälfte  soines  „Don  Carlos", 
wie  sie  zuerst  nach  dem  ursprünglichen  Plane  des  Ganzen  ausgeführt 
war,  konnte  er  zwar  noch  nicht  den  Zögling  der  Sturm-  und  Drang- 
'zeit  ganz  vcrlaugnen;  allein  bei  Abfassung  der  zweiten  Hälfte,    mit 
;der  er  die  erste  nicht  einmal  durch  eine  neue  Ueberarbeitung  der- 
^Iben    in  völligen   Einklang   zu   bringen   vermochte,    hatte   er   als 
Dichter  und  Denker  bereits  eine  ganz  andere  Hildungsstufe  betreten, 
vind  Dach  Vollendung  dieses  Drama^s  zog  er  sich  für  lauge  Zeit  fast 
durchaus  von  aller  eigenen  Dichtung  zurtlck   und  kehrte  erst  dann 
wieder  zu  ihr  um,   als  unter  sehr  ernsten   und  anhaltenden  Studien 
gein  Talent  die  Vollreife  männlicher  Kraft   erreicht  hatte. 

JJach  Schillers  drei  Jugenddramen  zeigte  sich  in  den  bedeutendem 
Erzeugnissen  unserer  schönen  Literatur,  die  seit  der  Mitte  der  acht- 
ziger Jahre  erschienen,  nur  noch  einmal,  in  W,  Heinse'a  Roman 
„Ardinghello'V"*  <lcr  wild  übersprudelnde  Geniedrang  in  seiner 


102)  Von  den  eigenen  dichterischen  Arbeiten  Hcinse's  sind  die  grossem  ans 
ersten  Zeit  noch  ganz  unter  dem  Kinduss  entstanden,  den  WicltLnd  mit  den 

iduDgen  seiner  zweiten  Periode  auf  ihn  ausgeübt  hatte:  das  Product  der 
Gnucienpliilosophic  ..Laidiun.  oder  die  eleusiniBclien  Geheimnisse**  (Lemgo  1771.  S. 
ein,  mit  eingemischten  Versen,  in  Tiosa  ahgei'asates,  in  mehrere  Hücher  getheillea 
and  an  Aristipp  goricbletes  Seudächreiben  der  Lais  aus  Elysium,  worin  sie  vor- 
nehmlich schildert,  was  mit  ihrer  Seele  seit  ihrem  Tode  vorgegangen  ist,  zugleich 
aber  auch  das  Hnaptsachlictistc  ans  dem  Verlauf  ihres  irdischeu  Lebens  berichtet 
ond  allerlei  wunderliche  PhDosopheme  mit  einflichO  und  eiue  Anzahl  Stanzen  aus 
einezD  auf  ziwouzigGesilDge  angelegten^  abernlcmals  aber  den  ersten  und  den  Anfang 
des  fOnften  ausgeführten  Ueldengedicht  (dieser  letztere  gedruckt  als  Anhang  zu 


134    VI.  >'om  zweiUu  Viertel  des  XVIU  JahrhundorU  bis  zu  Goctho's  Tod. 


§  304  vollen  Starke,    aber   aucli    in   einer  bis  dabin  nocb  nicbt  erb 

Zügelloaijjkeit.  Demi  bier  batte  ev,  wie  in  seiner  Sussersten  Entar- 
tung, 80  cyniscb  alle  Scham  abgelegt  und  sprach  so  froch  aller  Sitt- 
lichkeit und  allen  bObem  Lebenszwecken  Uobnj  dass  das  ganze,  in 
inebrfacber  Beziehung  allerdings  von  einem  nicht  geringen  Darstel- 
lungstalent  zeugende  Werk  seiner  Innern  Tendenz  nach  eigentlich 
auf  nichts  anderes  hinauslief,  als  auf  die  Verktlndigung  und  ErhAr 
tung  einer  Lehre,  der  zufolge  das  letzte  und  wünscbenswertbes 
Ziel  alles  menschlichen  Strebens  eine  so  wenig  wie  möglich  b 
schränkte  und  darum  nur  in  einer  Art  von  wild  phantastisch 
Naturstaat  erreichbare  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  des  Sinuesgen 
von  dem  durch  die  bildende  Kunst  veredelten  an  bis  zum  aller- 
.    gröbsten   herab,    sein    sollte.     3Ian  braucht,  um  eine  ausreichende 


Laidion;  vgl.  §  2T0,  I")     VTte  XVieland  diese  Stanzen  sammt  der  schAn  ^o  Jalir 
früher  erschienenou  Arbeit  Heinsc's,  „llcgebenhcilcn  desKukoIp,  aus  dem  Satiriko 
des  Petron  übersetzt'*,  aufnahm,  ist  oben  (III, '^;i  f.»  angedeutet  und  auch  der  Bi 
bezeichuet  worden  (Aum.  Ui.   in  wcIchcTa  der  Sch&ler  sich  gegen  seinen  Lei 
verthcidigte  utid  dieseu  vieder  freundlich  gegen  Eich  zu  stimmen  suchte.    Du 
gelang  ihm  auch  ivgl.  Briefe  zwischen  Gleün,  W.  Heins e  etc.  1,  171).  und  Wieli 
wünschte  ihn,  wie  er  au  Fr.  R  Jacobi  schon  im  Mai  1774  schrieb  (Jacobi*s  aua- 
erleaener  Briefwechsel  I,  I(i7  f.)  für  seinen  deutschen  Merkur  als  Mitarbeiter  za 
gewinnen,  sobald  es  Jacobi,  bei  dem  sich  Ileinse  damals  aufhielt,  geliugcn  k6imte,j 
Ihn  dahin  zu  bringen,   „richtiger  zu  denken  und  weniger  zu   schw&rmei]'*,   od« 
vielmehr  ihn  „von  seinem  Seelen -Priapismus  zu  heilen".    In  den  nachstfoIgen( 
Jahren  nahm  Wieland  wirklieh  von  ihm  verschiedene  Artikel  in  den  Merkur  at 
namentlich  auch  Berichte  „über  einige  Gejn&hlde  der  Düsseldorfer  Gallerie",  at 
Briefen  an  Oleim  (vgl.  Jördeus  2,  342).    Unterdeason  hatte  Heinse  im  yommer  l''\ 
bei  jenem  Zu Ba min en treffen  Gocthe's  mit  Fr.  H.  Jacobi  in  Elberfeld  (vgl.  $  :ii»i,  Ääj 
den  erstem  persönlich  kennen  gelernt  (Jung  führt  in  seinem  Berichte  aber 
was  damals  iu  seinem  Hause  vorgieng.  Meiuse  nnter  dem  Namen  Juvenal  ein.  du 
Gebrüder  Vollkraft  sind  die  beiden  Jacobi ;  vgl.  Jungs  sämmtliche  Werke  I.  4«"  ffjj 
Er  war  von  ihm  so  begeistert  worden,  dass  er  an  seine  Freunde  in  ilalbersi 
einige  Wochen  DBchher  schrieb  (Briefe  zwischen  Gleim,   Heinse  etc.  1,  lyii  fij 
„Goethe  war  bei  uns.  ein  schöner  Junge  von  '2h  Jahren,  der  vom  Wirbel  bis  itur 
Zehe  Genie  und  Kraft  und  Stikrke  ist,  ein  Herz  voll  Gel'ülil,  du  Geist  voU  Keu( 
mit  Adlerflügeln  t  qui  mit  immeusns  ore  profundo":  und  nicht  lange   darauf 
Uleim  {A.  a.  0.  1,  201):   „Ich  kenne   keinen  Menschen  in  dt'r  gauxen  gelehrt« 
Geschichte,  der  !n  solcher  Jugend  so  rund  and  vuU  von  eigenem  Genie 
wäre,  wie  er    Da  ist  kein  Widerstand;   er  reisst  altes  mit   sich  fort"  (vgl.  aucb 
\,  TU  und  über  die  Wirkung,  welche  einige  Zeil  später  Werthers  Ldden  in  Boat 
d.  i.  Heinse  henorbrachtcu,  den  RriefweehBc!  zwischen  Goctlio  und  Jacob!  S.  311  IT i- 
Goethe  scheint  sich  damals  auch  sehr  lehhatt  für  Dcinse  und  dessen  rroductioneo 
interessiert  zu  haben:    l*aidion  setzte  er  weit  ftber  das,    was  Wieland   und  J.  O^ 
Jacobi  in  ähulichem  Ton  und  Charakter  geschrieben  hatten,  und  die  Stanzen  Ober^ 
trafen  in  seinen  Augcu  alles,   „wus  je   mit  Schmelzfarbon  gemahlt  worden"  ivgl 
Goethc*s  Brief  an  Schunborn  ans  UeraJuli  1774  in  den  Werken  i>u,  227  und  dazi 
Qoethe*s   Briefwechsel   mit  Jacobi  S.  31 .    so  wie    die  Briefe  zwiscbeu   Uleimt^ 


EntwickelungBgaog  der  Literatur.     i:73— lS:i2,    neinse's  Ardinghello.     135 

VorstelluDg  von  dem  zu  bokommen,  worauf  alles  in  diesem  Roman  §  304 
hinzielt,  mag  darin  auch  noch  so  viel  über  Kunst  und  Kunstwerke 
gehandelt  und  über  die  höchsten  Dinge  philosophiert  werden,  nur 
zu  Ende  desselben  die  Schilderung  der  Einrichtung  und  des  Lebens 
in  dem  Freibeutei-staat  zu  lesen,  den  Ardinghello  mit  seinen  Freun- 
den und  Freundinnen  auf  den  Cycladen  gegründet  hat.  Aus  den 
Grundbegriffen ,  worin  diese  Anhänger  des  fratzenhaftesten  und 
lästerlichsten  Republicanismus,  die  für  die  alten  Griechen  begeistert 
eein  wollen,  übereingekommen  sind,  und  durch  die  sie  sich  in  ihrem 
Handeln  leiten  lassen,  will  ich  nur  zwei  Stellen  herausheben,  die 
gentigen  werden,  den  Geist  zu  charakterisieren,  aus  dem  diese  Er- 


Hemsc  etc.  t,  21:^1.    Auch  Merck,  obgleich  er  in  Laidlon  nichts  weiter  sab»  als 
rekung  der  Kräfte,  artheilte  doch  von  den  Stanzen,  dass  sie  an  Politur  undFein- 
hrii  »lies  übpftrafeu,  was  er  je  von  der  Art  gesehen  b&ltc;  ja  sogar  Klopstock 
&oU  Heinse  haben  sagen  lassen,  dass  er  ihn  als  Uebcrsetzer  und  Dichter  sehr  hoch 
»ch&tze   (vgl.   Briete  aus   dcni  Freundeskreise   von   Goethe  S.  Iu7  f.    und  Briefe 
zwischen  Gleäm,  Heinso  etc.  1,  215).    Diess  alles  und  der  Aufenthalt'in  Fr.  H. 
Jacobis  Uaiise  dazu  musste  einen  jungen  Mann  von  Ueinse's  Charakter,  der,  wie 
Jacobi  im  Octbr.  1774  au  Goethe  schrieb  (Briefwechsel  S.  42),  kein  Herz  hatte, 
dessen  Seele  in  seinem  Bhite,  und  dessen  Feuer  blosse  Glulb  der  Sinne  war,  bald 
dabin  fahren,   dass  er  sich  in  setner  innern  Kntwickelung  und  in  seiner  schrift- 
stellerischen Natur  fortan  so  zu  sagen  zvriscben  Wielands  Richtung  und  die  der 
neuen  Schale  theilte,  um  am  Ende  beide  in  ihren  Extremen  in  sich  zu  vereinigen. 
Wielanil  fand  bereits  gegen  Ende  des  J.  1774,   dass  Ucinse  ihn  zu  necken  und 
zu  stechen  und  anch  in  den  bcrderlschen  Modeton  der  neuen  Prosaisten  einzu- 
stunmcu  anfange,  indem  er  „immer  über  die  gesunde  Vernunft  und  die  gelassene 
Untersuchung,  als  ein  Paar  gefronie  alte  Weiber,  spöttele  und  nichts  für  vrahr 
geJfcu  lassen  wolle,  als  was  den  Sinnen  und  einer  erhitzten  Imagination   so   vor- 
koniine*'  (Fr.  FI.  Jacobi's  auserlesener  Briefwechsel  I,  195  f.).   Bis  zu  seiner  Reise 
Italien  und  wahrend  seines  Aufenthaltes  in  diesem  Lande,  wo  er  in  Hom  mit 
der  Müller  und  Kliuger  zusammentraf,  arbeitete  er  vorzüglich  nur  an  seinen 
üebersotzuDgen  des  Tasso  und  des  Ariosto,   und  ausserdem  lieferte  er  Beiträge 
an  J.  0.  Jacobi's  Iris  und  zum  d.  Merkur.    (Wie  wenig  seine  Kunsturtheile  in 
letztem  liber  die  Düsseldorfer  Oallerie  Mercken  anstanden,  zeigt  dessen  ver- 
■Mt  Atisfall  auf  Ileiuse  in  dem  Jahrgang  177*^.   3,  120 f.;  vgl.  Wieland  in  den 
Briefen  an  Merck  1S35,  S.  131).    Aus  einem  „Leben  des  Apelles'*,  das  er  seinem 
Oleim  versprochen  hatte,   wurde  eben  so  wenig,  wie  aus  einem  Uoman,   den  er 
IT78  schreiben  wollte  »Briefe  zwischen  Gleim,  Heinse  etc.  I,  2'M;  231;  2:^Si.    Im 
fol^nden  Jahre  sprach  er  zu  seinen  Freunden  sogar  von  zwei  Romanen,  an  denen 
i^e  Seele   brüte;   aber  Fr.  H.  Jacobi   schrieb  au  Wieland  (auserlesener   Brief- 
wechsel I,  27u  f.;,   vr  glaube    nicht,   dass  Ileinsc  je  ein  Ganzes  von  wahrhaft 
Ifbrndiger  Schönheit  hervorbringen  werde,   weil  sein   Flerz  echter,  reiner  Liebe 
tuJÜlug   sei,   und   er   bei   vielem  Geist,   bei   vielem  Talent  und  auch  bei  einem 
«chiktzenswerüien  Charakter  nie  etwas  aus  der  Fülle  zu  thiin  vermöge.   Erst  nach 
Miner  KucJikelir'aus  Italien  schrieb  er  seineu  Ardinghello:  im  März  I7S5  war  er 
aclion  weit  damit  vorgerückt  (Briefe  zwischen  GlcJm.  Ilein.se  etc.  2,  511);  in  dcni- 
m  and  im  folgenden  Jahre  erschienen  zuerst  mit  grösseren  und  kleineren  Aus- 


mm 


136    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVni  Jalirhundcrt«  bis  zu  GoeUie's  Tod. 

5  304  findun^   liervorgegangeu   ist:    ..Kraft    zu    genicsscn,    oder    wclchetj 
einerlei   ist,  RedUrfniss   gibt  jedem  Dinge    sein  Recht;   und  Htärki 
und  Verstand,  OHlck  und  Schönheit  den  Besitz.      Deswegen   ist  der] 
Stand  der  Natur  ein  Stund  des  Kriege«.  —  Wirkliche  —  nicht  bloM 
eingebildete  und  erträumte  —  Glückseligkeit  besteht  allezeit  in  einem 
unzertrennlichen  Drei:   in  Kraft  zu   geniesBCu,  Gegenstand   nnd  Ge- 
uiiss.     Regierung  und  Erziehung  soll  jedes   verschaffen,    verstärken 
und  verschdnern.''    Ee  ist  kaum  zu  begreifen,  wie   der  Ardingbello 
zu  der  Zeit,  da  er  orsoliien,  und  auch  nachher   noch,   von   ernstge^J 
einnten  und  vei'ständigen  Männern  mild   und  nachsichtig  bcurtheilt|l 
ja  in  mehrfacher  Beziehung  angeprieasen  werden  konnte***.    GoetfaoD 
dagegen,  den  der  Roman  anwiderte,  wurde  Heinse  verhasKt,  weil 
unternommen  hatte,  Sinnlichkeit  und  abstruse  Denkweise  durch  hiU 
dende  Kunst  zu  veredeln  und  aufzustützen*'^';   und  Schiller  erkLli 
Äueh  schon  1795'%  Ardinghello  sei  bei  aller  sinnlichen  Energie  un( 
allem  Feuer  dos  Colorits  nichts  weiter  als  eine  sinnliche  CaricatürJ 
ohne  Wahrheit   und   aesthctische  Würde,    obgleich    dieses   seltsami 
Product.  als  ein  Beispiel  des  beinahe  poetischen  Schwunges,  den  di( 
blosse  Begier  zu   nehmen  fähig  wäre,    immer   merkwürdig    bleib« 
würde'"*.  —  Sonst   blieb    seit   dem  Beginn    der  Achtziger   von   dei 
Nachwirkungen    der   Sturm-    und    Drangzeit    auf    dem    Gebiet    d< 
dichterischen  Production    nicht   viel    mehr   Übrig   als  der   schlechi 
Bodensatz  jener  grossen  literarischen  Gährung:  eine  sich  immer  nei 
erzeugende  Menge  von  Ritterschauspielen,  Ritter-,   Geschicbts-  un( 
andern  elenden  Ausgeburten   einer  ganz  rohen  Piiantasie,  die  siel 
aber  bei   dem  grossen  Haufen  der  Theaterbesucher  und  Leser  no( 
lange  in  besonderer  Gunst  erhielten.  — 


lofisangen,   liruchEtQckß   dar&UB   unter  besondem  llobcrscliriften  im  tl.  Miimqi 
|t7&5.  t,  4'J3  ff;    2.  20(i  ff.;    17^6    1,  «»9  ff.);  der  ganze  Roman  dann  ont^r  dci 
Titel:   „Ardingheüu  und  die  glackscligeu  Inseln.   Eine  italieniäcbe  Gescblchto  iti 
dem  I(i.  Jabrhundert"  Lenjjjo  I7S7.    2  Bde.    S.;   eine  zweite,  vpritosserte  Aufla^^ 
ni>4  (in  W.  Heiiise'b  Bümmtlichen  Schriften,   herausgg.   von  H.  Lwibc     Leip/i| 
IS;^S.     10  Bde.    N.  &\s  die  beiden  ersten   D&nde.    Ueber  seinen   nndrrn   Romati, 
„Hildegard  von  Hohcnthol'",  der  erst  ITliö  f.   zu  Berlin  in  3  Theilen   bcrauskat 
vgl.  Oenins  5-*,  15  ff.).  KWi  Vgl.  z.  B.  die  Anzeigen  in  der  u,  Hihlioihi 

der  »chönen  WisBeaschaftea  ;t7,  '.'»T  ff;  ;(•*,  252  ff.  und  in  der  Jenaer  alUj*'moin( 
Literatur-Zeitung  t7S%.  I.  Sp.  113  ff.,  so  wie  Körners  Brief  an  Scbillcr  aus  tU 
J.  n«s  im  Briefwechsel  1,  2fiS.  I04i  Werko  fio,  253.  105)  In  der  A! 

haDdluiu;  über  naive  und  scntimf>atxüi8Cbe  Dichtung  f^.  3.  129.  lOU)  Boi« 

der  im  Museum  Probestfkcke  des  Ardingbello,  freilich  nicht  ohne  Verschneiduni 
verAffentlichie  (Mai  nud  Sept  tTi^.s,  Febr.  l"Hüt  nannte  den  Roman  (in  eiw 
Briefe  an  v.  IJalem  17s7i  ..das  Meistci^tack  der  Üppigsten  Philosophie  und  l'haE 
tasie**.  ,Jch  möchte  das  Stuck  hüben  sehroiben  können  und  doch  nicht  j^ 
Mhrieben  haben".    Vgl.  Weinhold,  Boie  S.  224. 


£niirickelui]gsgAiig  der  Literatur.     1773— IS;32.    Rc&listisclie  Ilichtung.    137 


§  305. 

Da  ea  den  jungen  Enthusiasten  der  siebziger  Jahre,  welche  die 
Vorhergehenden   angedeuteten   frroflsen  Verilnderun^en   im   deut- 
hon Literaturleben  bewerkstelligten,  koincswcgea  gelang,  mit  ihren 
aesthetiscben  Theorien  liberall  durchzudringen,  sich  ihnen  vieiraehr 
auf  dem  Felde  der  Kritik    bald   starke   und   cinflussreiche  Parteien 
entgegen  warfen,  die  mit  dem  dicbterisehen  Piervorbringen  der  neuen 
hule  zugleich  ihre  Lehrsätze  in  vielen  Punkten  aufs  heftigste  be- 
inpften:    so   blieb   noch   immer  eine  sein-    grosse  Zahl    namhafter 
hnftsteller   Obrig,    die   eine  ganz  andere  Dichtung  als   die   des 
urmes  und  Dranges  pflegten,  eine  Dichtung,  die  zu  dieser,  unge- 
btet  mancher  Berühmngen  und  Uebcrgilnge  zwisclien  beiden,   im 
nxeu  genommen  doch  geradezu  die  Kehrseite  und  in  mehrfacher 
'      iir  auch  das  oppositionelle  Widorspiel  bildete.     Zwar  Natur- 
1   wurde  im  Aligemeinen  auch   hier  als  das  Erate  und  Uner- 
licfaste  von  jeder  Art  Darstellung  gefordert;  und   wenn   der  Ruf 
ch  Originalität  auch  nicht  so  laut  und  so   oft  erschallte,  als  aus 
a  Reihen  der  jungen  Krafirnänncr,  so   legte  man  doch   auf  diese 
genschaft  dichterischer  Erzeugnisse  einen  nicht  geringern  Werth, 
ochte  es  mit  der  ßestimmuug  des  Begriffs  von  einem  Originalwerke 
iherhaupt    und   mit   seiner   Uebertragung   auf  das  Besondere   auch 
elleicht    noch    weniger   genau   genommen   werden  als  dort;    und 
nao  sollte  auch  hier  die  Dichtung  in  jeder  Art  Einkleidung  ein 
euer  Spiegel  des  wirklichen  Lebens  der  Gegenwart  oder  der  Ver- 
nbeit  sein.    Allein  wenn  die  Dichtung  der  Einen  fast  durchweg 
n  die  Verhältnisse  und  Hinrichtuugen  der  Gegenwart  polemisch 
anstürmte,  so  stellte  sich  die  der  Andern  friedlicher  zu  derselben. 
Jene  hatte  daher  vorzugsweise  einen   ernsten    und   tragischen  Cha- 
rakter, sie  zog  die  dunkeln  Seiten  der  Menschennatur  ans  Licht  und 
«1«nte  besonders  die  zerstörenden  Wirkungen  gewaltiger  und  wilder 
idenscbaften  dar;  diese   neigte  sich   entschiedener  zu  komischen, 
tzigcn  imd  humoristisclieu  Erfindungen,  indem  ihre  Vertreter,  wo 
Kic  nicht  auch  dem  altgemeinen  Zuge  des  Zeitalters  zu  empfindsamer 
SchwAnnerei  nachgaben,  meist  mit  Ileiterkeit,  Laune  und  lachender 
Satire,  oder  wenigstens  mit  einer  gewissen,  vorzüglich   praktischen 
Z'Mvken   nachhängenden  GeraOthlichkeit   das  wirkliche  Leben  anf- 
'i^sien,  e«  in  seiner  Unmittelbarkeit  oder  in  der  Hülle  irgend  einer 
l  h'iiun  mehr  von  Seiten  seiner  uussem  Erscheinungen  und  zufälligen 
Verwickelungen,  mit  seinen  Widersprllcheu,  Mj'ingeln  und  Gebrechen 
Oberhaupt,  mit  den  Thorheiten  und  Vorirmugen  des  Zeitgeistes  ins- 
he«ondero,    unter    den    verschiedenartigsten   Gestaltungen   in   ihren 
Werken  abzubilden  and  gewöhnlich  mit  der  Fackel  jener  sogenannten 


ihci 


^ 


1^ 


13s    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  JaUrImndcrU  bis  2U  GoetKc'«  Tod. 

§  305  PLiloBophie  des  gesunden  Monschenverstandes  zu  beleucliten  sucLten 
Dort   dichtete   mehr   die  Phantasie   aus   iunerer   und    uusserer  Aq- 
Bchauung  und  aus  warmer  Empfindung  heraus,  hier  mehr  der  Ver- 
stand nach  Beobachtung  und  Reflexion.     Dort  endlieh  war  die  allge- 
meine Tendenz  der  Dichter,  insofern  sie  sich  gegen  alle  Arten  von 
Beschränkungen  im  Leben  stemmten  und  sie  zu  durchbrechen  such- 
ten, um  freiere  und.  wie  sie  meinten,  naturgemässcrc  Zustände  her- 
beizuführen, ihrem  innersten  Wesen  nach  eine  idealistisclic;  hier  da- 
gegen,   wo   man   an  den   vorhandenen  allgemeinen  und  besondem 
LebensTerhältnissen  zwar  auch  nelerlei  auszusetzen  hatte,  sie  aber^J 
im  Ganzen  nahm,  wie  sie  waren,  und  sich  damit  abzufinden  i3ucht6|^| 
80  gut  es  gehen  wollte,  zielte  alles  darauf  hin,  Über  dem  Bcstreben^^ 
nach  möglichen  Reformen  im  Einzelnen  das  Behagen  an  einem  bali 


feinem  bald  derbem  Realismus  nicht  aufzugeben.     So  thal  sich  e 
ähnlicher  Gegensatz  zwischen  beiden  Hauptseiten  unserer  Dichtun 
in  den  siebziger  und  achtziger  Jahren   hervor,   wie    er   in   dem   un- 
mittelbar   voraufgegangeuen    Jahrzehnt    zwischen    Elopstocks    and 
Wielands  Poesie  Statt  gefunden  hatte,  eine  Aehnlichkeit,  die  uro  w 
weniger  für  eine  bloss  zufällige  angesehen  worden   kiiuu,   durch  je 
mehr  innere  und  äussere  Faden  die  Dichtung  der  Originalgenies  i 
Anfange  mit   der  von  Klopstock  angegebenen  Richtung  zusamme 
hieng,  und  je  unverkennbarer  auf  der  Gegenseite   das  Meiste   voi 
dem.  was  nicht  den  schon  völlig  veralteten  Gattungen  und  Manier 
angehörte,  sondern  noch  eine  gewisse  Lebenskraft  in  sich  hatte,  od 
sie  erst  recht  zu  gewinnen  schien,  in  einem  entweder  ganz  offen 
oder  doch  wenigstens  iunern  Bezüge  zu  dem  Geist  und  Charakt 
der  wielandischcu  Poesie  stand.   Daher  galt  Wieland  hier  auch  v 
allen  übrigen  deutschen  Dichtern   als  der  grüaste  und  eigentlich 
Kunstmeister   und    hatte    unter    den    den    Originalgenies    abhold 
Schriftstellern    unzählige    Anhänger,    die    sich    ihn   theils    in    d 
Gegenständlichen,  theils  in  dem  Formellen  seiner  Werke,  theils  nach 
in  beidem  zugleich  für  ihre  poetischen  Erfindungen  zum  Muster  nahmen, 
dabei  aber  viel  öfter  in  alle  seine  Fehler  verfielen,   als   ihm    auc 
nur  in  einer  seiner  Tugenden  nahe  kamen.     Die  nachthciligon  Fol, 
von  Wielands  poetisclier  Wirksamkeit   während    der  sechziger  u 
im  Anfange  der  siebziger  Jahre  fiengen  nun   erst  au  recht   sieht 
zu   werden.     Seine  glatten   Formen,  seine  eiusuhmeichelnde 
das  Gefällige  seiner  Darstellung,  die  scheinbare  Vielseitigkeit  sei 
Geistes  und  W^issena,   der  leichtsinnige  Ton,   in  welchem  er  nur 
häufig  Über  alles  Hohe  und  Edle  scherzte,  seine  schlüpfrigen  Sc 
derungcn  und  seine  bequeme,  mit  so  grossem  Behagen  vorgetrage 
Lebensphilosophie  lockten  die  Menge  der  Leser,  besonders  unter  d 
feiner  gebildeten  Ständen;   und  die  Schriftsteller,  die  sieb   um 


M 


EntwickcUuig^ang  der  Literatur.     1773— is:i2.    M^iclaud. 


130 


funst    dieses  Publicums   bewarben,   konnten    nichts  Besseres    tbun  §  305 
'als  seine  Dichtungsmanier,  so  ^eit  ihr  Talent  reichte,  treulich  nach- 
zuahmen, oder,  wenn  sie  Verlangen  trugen,  ihren  Leserkreis  nach 
:iefer  abwärts  zu   erweitem,    dieselbe   so   zuzurichten   und    zu   ver- 
gröbern, dass  sie  auch  einem  durch  die  Leckerbissen  des  Auslandes 
mbder   cultiviorten   und    verAv^hnten    Geschmack    zusagten.     Das 
Hauptorgan,  durch   welches  Wieland  selbst  seit   1773  auf  den  Ge- 
Bchniack  der  Schriftsteller  und  des  Publicums  seinen  Einfluss  übte, 
[der  dentsehe  Merkur,  war  als  Monatsschrift,  die  fast  in  jedem  Stück 
etwas  von  ihm  selbst  brachte,   ganz  dazu  geignet,   in  stätiger,   nie 
unterbrochener   Folge   nach    allen    Gegendon    Deutschlands   hin   zu 
irken.    In  andern  schon  vorhandenen  Zeitschriften  wurde  Wieland 
^gelegentlich  immer  viel  mehr  gelobt  als  getadelt,  und  als  die  Jenaer 
allgemeine  Literatur-Zeitung,   zu    der  er   den    Plan    mit   entworfen 
latte',   und  bei  deren  Gründung  und  Verbreitung  sein  Freund  Bcr- 
ich  so  nahe  betheiligt  war,    17S0  ins  Lehen   trat,   wurde   in   den 
!rsten   Jahren   von    neuen    Erscheinungen    im   Fache    der    schönen 
Literatur  zwar  das  Allenneiste  ganz  kurz  abgefertigt,  selbst  die  vier 
ersten  Bände  von  Goetbe's  Schriften,  obgleich   darin  die  Iphigenie 
Luerst  erschien*,  dagegen  die  Sammlung  von  Wielands  auserlesenen 
'Gedichten^  in  verhältnissmässig  grosser  Ausführlichkeit  und  in  dem 
Tone  uul>eschränktester  Bewunderung  für  den  Verfasser  augezeigt*. 
„Wir  haben",  heisst  es  hier*,  „noch  kaum  ein  Paar  Dichter,  die  im 
■;  Range  mit  ihm  stehen;   die   übrigen   sind    bei    aller  Vor- 
zeit, so  nah  sie  ihm  auch  kommen  mögen,   doch  nur  longo 
intervallo  proxiroi!     In   mehr    als    einem    Betracht    wird   Wieland 
allem  jinsehu  nach  Jahrhunderte  lang  der  Einzige   bleiben.     Seine 
jrlassiftche  Gelehrsamkeit,  seine  Belcsenheit  in  den  besten  poetischen 
erken  der  Alten  und  Neuern  aller  cultivierten  Nationen,  besonders 
"m  einer  fast  unzähligen  Menge   von  RitterbOcheni,   Romanen,  Le- 
idenden,   ist   schon    an    und   für  sich    eine  Seltenheit;    seltener   die 
itnächlige  Einbildungskraft,   mit  der  er  Sandwüsten   trockener  No- 
[Tellen  in  blühende  Gefilde  voll  Leben  und  Schönheit  umschafi't;  am 
seltensten  die  Kunst,  alte  und  neue  Mythologie,  gelehrte  Kenntnisse 
und  Belesenheit  für  Poesie  ergiebig  zu  macheu  und  mit  so  weiser 
Anordnung  zu  brauchen,  dass  der  Leser,  auch  nur  mit  der  massigsten 
Vorbereitungskeuntuiss  ausgerüstet,  überall  sich  leicht  orientiert,  das 
rtnme    richtig   und   doch    nicht   allzu    fremd   und   unverständlieh 


§305.  1»  Vgl.  briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Körner  I,  170;  dazu 
GnibfeT  tn  Wiplandfi  Leben.  4,  11.  2t  Vgl.  17S7.  4,  Sp.  05  tT.  3)  Leipzig 
KM.  S5.     7  Bde.     10  4>  Im  Jahrgang   17^0.     1 ,  329  ff.;   425  ff. 

h)  ti.  430  f. 


140     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Juhrbaiidert«  bis  za  Goethe's  TuJ. 

§  305  findet,  und  indem  er  dem  Dichter  bald  nach  Griechenland  bald  m 
Babylon  folgt,  sich  jetzt  unter  Götter  und  Helden  des  Altertbui 
jetzt  in  die  Ritterzeiten,  dann  wieder  in  die  Feenwelt  versetzt  siel 
ohne  einen  Eustathius  als  Cicerone  nöthig  zu  haben,  das  Vergnüj 
des  Ansohauens  ununterbrochen  geniessen  kann.  Mit  allen  di 
80  seltenen  Talenten  vereinbart  ist  wahrhaftig  einzig  der  gltlcklicho 
Fleisfl.  den  Wieland,  dem  Feuer  der  Composition  deH  Ganzen  nnbe 
schadet,  auf  die  Vollendung  der  einzelnen  Zöge  in  Gedanken  und 
Aasdruck  venvendet  und  jede  gezwungene  Inversion,  jeden  LQcken- 
bllBser  des  Verses,  jedes  matte  oder  unpassende  Beiwort  auszumer- 
zen und  selbst  poetische  Lieenzen  in  Forderungen  des  Geschmacks 
zu  verwandeln  weiss.  Nimmt  man  dazu  den  unübertrefflichen 
Wohlklang  der  Versification  in  einer  Sprache,  welche  ihm  so  vm 
Hindernisse  setzte,  und  die  unglaubliche  Leichtigkeit  und  Gras 
mit  welcher  er  sich  in  den  Fesseln  des  Reims,  besonders  in 
Stanzen  des  Idris  und  Oberon,  beweget,  so  wird  es  nach  dem  Lai 
der  Natur  wohl  nicht  zu  verwundern  sein,  wenn  Jahrhunderte  Ti 
laufen,  ehe  so  mannigfultige  Talente  in  solchem  Grade  sich  wi< 
in  einer  Person  vereinigen !  Wir  ehren  herzlich  das  Verdienst,  dui 
leichte  Lieder  und  Volksreime  zum  Unterricht  und  Vcrgnttgen  der 
niedem  Classc  der  menschlichen  Gesellschaft  etwas  beizutrag( 
aber  es  ist  doch  ein  weit  erhabneres  uud  schwereres  Verdiei 
för  die  feinere  und  cultiviertere  Gattung  mit  solchem  Krfolge  zu 
beiten  und  hier  den  strengen  Kenner  nicht  bloss  zu  befriedige 
sondern  au  bezrxubern.  Welch  eines  grossen  Dankes  wäre  es  scbi 
wcrth,  wenn  Wieland  bloss  durch  die  eben  an  angenehme  als  oi 
nelle  Laune,  welche  in  seinen  griechischen  Erzählungen  hcrrscl 
die  Stirne  so  manches  für  den  Staat  arbeitenden  Biedermanns 
Abend  eines  mühseligen  Tages  erheitert,  oder  gefühlvollen  Üenkcm 
so  manches  geheime,  jeder  andern  Classe  von  Menschen  frem< 
Leiden  in  dieser  Werktagswelt  versüsset  hätte  1  Aber  wer  kann 
vielen  unn»ittclbar  moralischen  Stellen  verkennen,  in  denen 
Wahrheit  und  Tugend  ins  schönste  Gewand  der  Poesie  zu  kleide 
und  beiden  unwiderstehliche  Reize  zu  geben  gewusst  hati"' 

$  306. 
Der  grosse  Einfluss,  den  Wieland  auf  den  Geschmack  der 
und  auf  die  deutschen  Dichter  auch  noch  nach  dem  Jahre    1773 


6)  Diese  Stelle  kann  zugleich,  uud  mehr  als  irgend  ein  anderer  Artikel  in 
ersten  Jahrgängen   der  Jenaer  allgemeinm  Literatur-Zeitung,   zum   ch&rakt 
sehen  Belege  der  aestbeiischen  Gnmdsittjee  dieueu,  welcbco  auch  noch  d 
Schrift  bei  ihrem  BeginDen  huldigte. 


£ntwiekclungsgaDg  der  Literatur,     t?!;^— 1SJ2.    Wiel&nd.  141 

inger  Dauer  ausübte,  war  indes»  keineswegs  bloss  eine  Folge  seiner  §  306 
Schriften  aus  dem  roraufgegangeneu  Jalirxehent.  So  riel  er  auch 
jhon  in  Prosa  und  Versen  geschrieben  hatte,  die  schuustc  und 
siehste-  Blütbe  seiner  Poesie  fiel  erst  in  die  Zeit;  wo  Klopstock  und 
.essing  nur  noch  in  geringem  Mass  unmittelbar  auf  den  Biidunge- 
unserer  schönen  Literatur  einwirkten,  Goethe,  nach  der  Heraus- 

ibe  seiner  ersten  Hauptwerke,  sich  immer  mehr  von  ihr  zurtlckzu- 
iehen  echien,  und  Schiller  noch  nicht  aufgetreten  war.  Unter  allen 
Ibrigen  Dichtern    der    siebziger    und    achtziger  Jahre    aber    besass 

ielandy  wenn  auch  vielleicht  nicht  das  schöpferischste  und  frucht- 

itOi    doch    unzweifelhaft   das   geschmeidigste   und  ausgehildetste 

'alent.     So  musstc  natürlich  in  demselben  Yerhältuiss,  in  welchem 

ieses  sich  jetzt  dem  ihm  überhaupt  erreichbaren  Höhepunkt  seiner 

lat Wickelung  näherte,  auch  Wielands  Einfluss  Überall   hin  auf  die 

leutschen  Schriftsteller,  so  wie  auf  das  Publicum,  in   dessen  Gunst 

sich  bereits  früher  gesetzt  hatte,  wachsen  und  tiefer  in  unser 
titeraturleben  eingreifen.  Von  der  eigentlichen  Lyrik  hatte  er  sich, 
^enu  man  von  einigen  Oden  aus  seiner  ersten  Periode  absieht,  zeit- 
ler  immer  fern  gelialtenj  er  versuchte  sich  auch  jetzt  nicht  darin. 
He  dramatischen  Werke  aus  seinem  Jünglingsalter*  gehörten  zu 
jiuen  schwächsten  und  unbedeutendsten  Arbeiten  und  aus  den  ge- 
Ingen  oder  mindestens  sehr  vorübergehenden  Erfolgen,  die  er  mit 
sinen  erst  in  den  Siebzigeru  gedichteten  Singspielen'  erreichte, 
Iberzeugte  er  sich  endlich  selbst,  dass  er  zum  dramatischen  Dichter 
licht  geboren  sei*.  Sein  bisheriger  Dichternihm  beruhte  also  haupt- 
lich,   oder  eigentlich   ganz   allein,   auf  seinen   in   Versen  und 


§  806.  \\  .Xady  Joh&ima  Gray,  ehi  Trauerspiel".  Zarich  l7üS.  **,  und 
■la  von  Porrelta,  em  Trauerspiel".  Zürich  ITGö.  ft.  Vgl.  Bd.  III,  lüO 
..tur-Briefe  123  f.  2)  ,.Alccste,   ein  SinRspiel  in  fünf  Aufzügen*', 

1773.  S.  —  „Die  Wahl  des  Herkulen.    Ein  lyriHchca  Praraa";  zuerst  im 
Merkur   von    1775.     a,  !3;i  ff.   —   „Das  Urthoil   das  Mid&a.    Ein  komisches 
lel**;  im  d.  Merkur  von  1775.    1,  I  tf .  —  „Rosemunde,  ein  Siugrspiel  in  drei 
in".     W'eimnx   177S.    8.  —  „Pandora.    Kin  Lustspiel  mit  ßesang"   loino 
fUrsprün^lich  nur  iinn  Gebrauch  eines  Liebhabertheaters  bestimmte  Kleinigkeit"); 
Merkur  von  HTU.     '\  ;i  ff.  3)  Noch  im  April  1777  Latte  Wieland  an 

gctrhrieben  (Briefe  an  und  von  Merck,  IS3R,  S.  sni,  er  ßchmelchle  sich, 
TreuTid  werde  tindon,  dass  die  „Rosemunde**  ein  gesundes,  wohlgestaltetes 
lind  «ei.  Allein  schon  gegen  F^nde  des  nächsten  Monats  urtheilte  er  anders 
!*3):  „Meine  Rosemunde  ist  (Ilinen  ins  Ohr  gesagt)  ein  dummes  Ding, 
gedruckt,  noch  anderswo  als  etwan  in  Qutha  oder  Weimar  aiifucführt 
teil  MJin  und  darf.  Nach  dieser  letzten  misHlungenen  Probe  erkenne  und  be- 
k«ttae  ich  vor  Gott  and  Menschen,  dass  ich  weder  Sinn  noch  Talent  tür  dramu- 
dflcbe  Compositiun  habe,  und  soll  mich  dieser  und  jener  etc..  wenn  ich  mich 
wM«r  verfuhren  lasse,  eine  Oper  zu  sclireiben'*.  Vgl,  auch  Fr.  H.  Jacobi's  aus- 
crlcneoeo  Briefwechsel  l.  262  f.;  265—277. 


■■ 


142    \1.  Vom  zweiten  Viertel  ües  XVIII  Jahrhonderts  bis  za  Ooeüies  Tod» 

S  306  in  Prosa  abgefassten  Werken  in  der  erzählenden  Gattung ,  Tvelcli 
ihrer   allgemeinen   Form   nach    auch    die    namhaftem    didaktischen 
Poesien  aeiner  zweiten  Periode  angehorten.    Ganz  in  Versen   waren 
„Nadine"  \*  „Komische  Erarihlungen"%  enthaltend  „das  ürtheil  des 
Paris",  „Diana  und  Endymion",  „Juno  und  Ganymed",  „Aurora 
Cephalus"",  unter  dem  Titel  „griechische  Erzählungen   im   zweite 
Bande  der  „auserlesenen  Gedichte"  (17S4)  mit  zwei  andern  Stücken 
„Kombabuß"'  und  „Aspasia"*;  „Idris,   ein   heroisch-komischeB 
dicht  in  fünf  GesÄngen""*,  später  verbessert  als  „Idris  und  Zenide, 
ein  romantisches  Gedicht"";    „Musarion,    oder  tlie  Philosophie  det, 
Grazien.    Ein  Gedicht  in  drei  Bncbern"**;   „der  neue  Amadis.    Ei 
komisches  Gedicht  in    IS  Gesängen"";    theils    in   Versen,    theils   i 
Prosa  „die  Grazien"*';   in  der  Form  des  Prosaromans:    „Der  Sie 
der  Natur  über  die  Schwärmerei,  oder  Abenteuer  des  Don  Sylri 
von  Rosalva"  etc.";   die  „Geschichte  des  Agathon"'*  und  „der  gol 
dene  Spiegel,   oder  die  Könige   von   Scheschian"  etc."     In  dieflcr 
erzählenden  Gattung  dichtete   er  nun  auch  wieder  das  Meiste  un 
Vorzüglichste,  womit  er  unsere  schöne  Literatur  aufs  neue  boreicbert 
In  den  Gegenständen  jedoch  und  in  den  in  die  Darstellung  gelegte 


4)  Schou  I7r)2  gedichtet,  al>€r  zuerst  gedruckt  in  Chr.  ü.  Scbmids  Anthologift^ 
der  Deutschen  iFrankiurt  und  Leipzig   I17(>— 72.     3  Thie.    s.)   I,  265  ff.;  i 
Chr.  M.  Wieland.    GcscMldert  you  üruber    I,  179  f.   die  Kote,  5»  0. 

(Zürich)  17CÖ.   S.  0)  Dieselben  in   der  rwettcn  verbesserten  Ausgabe  voft^ 

1768.  7)  Dagegen  war  das  dritte  der  froheren  „Juno  und  Ganymed"  hier, 

aosgeechieden.  8)  Zuerst  gedruckt  Leipzig  1771.   8.  9|  Schon  in  den 

Sechzigern  gedichtet,  aber  erst  177a  im  d.  Merkur  2,  120  ff.  gedmckt.  In  die 
Büknuntlicben  Werke  Bd.  10  wurden  jene  drei  altern  Stücke  der  Aiug.  von  I7&4j 
wieder  als  „komische  Erzühlungcn"  aufgenommen.  lOi  Leipzig  176S.   b. 

11)  Im  G.  Bd.  der  „auserlesenen  Gedichte".  12)  Leipzig  176!*.    S. ; 

])es8ert  im  1.  Bde.  der  „auserlesenen  Gedichte".  13)  Leipzig  1771.    2  Bde.  8. 

nrogeArbeitct  1704  im  4.  und  5.  Bde.  der  siimmtlichen  Werke  (vgl.  Bd.  m,  334U 

14)  Leipzig  I77u.   8.  15)  Ubn  1764.    2  ThIe.   S.;   zweite,  verl 

Ausgabe.    Leipzig  1772.   8.  16)  Frankfurt  und  Leipzig  (Zürich)  17Ö6.  67. 

2  Bde.  8.;  zweite,  verbesserte  Ausgabe  (mit  der  hinzugekommenen  geheimen  G< 
schichte  der  Daoae  und  einem  ganz  neuen  Schluss)  iu  4  Thicu.  Leipzig  1773. 
In  der  dritten  Bearbeitung  ^  welche  1794  erschien  und  die  ersten  drei  Bände 
s&nUDtUchcn  Werke  fOlHe,  war  Wielauds  „bauptsachHcbstc  Bemühung  darauf 
richtet  gewesen,  die  Lücken^  die  den  reinen  Zusammenhang  der  Sodengtiäcbiclite 
Agathons  bisher  noch  unterbrochen  hatten,  zu  ergänzen,  einige  fremdartige  Aus* 
wüchse  dafür  wegzuschneiden ,  dem  moralischen  Plane  des  Werks  durcii  den  nei 
hinzugekommenen  I'inlog  zwischen  .\gathon  und  Arcbytas  die  Krone  aufzusetz« 
nnd  vermittelst  alles  dieses  das  Ganze  in  die  möglichste  UebereinatiminaDg 
der  ersten  Idee  desselben  zu  bringen,  um  es  der  Welt  mit  dem  innigsten  Bffwnwi* 
sein  hinterlassen  zu  können,  dass  er  wenigstens  sein  M6glii;h!>tes  gethan  habe,  m 
der  Aufschrift:  Quid  Virtus  et  quid  Sapientia  possit,  würdig  zu  machen". 
17)  Leipzig  1772.    4  Thle    S. 


£ut^vickclaQgsgIUlg  der  Literatur.     1773—1832.    Wieland. 


143 


widenzen,    iu    den   Einkleiilungsurteu,    in    der    Conipositiou  jedes  §  306 

'Gauzcn  und  iu  der  Ausftiliruiig  alles  Einzelnen  als  Er2:ililung,  Scliil- 

deruQg  und  Betraelitungeu  glielien  seine  neuen  Erfindungen  nur  noch 

mehr  ihrem   iilli::emeineren  Charakter  nach,    und    auch    darin    mehr 

Eiun    Theil ,    als    dureh^'Ängig ,    den    altem ,    die    zwischen    1762 

|bDd   1773  entstanden   waren;   im  Besondern    änderte  sich   in   allen 

:iesen  Beziehun^ren  manches,  und   fast  durch^ehouds  zum  Vortheil, 

licht  hlosd  des  poetischen,  sondern  auch  des  sittlichen  Gehalts  der 

louea  Productionen.    Er  hatte  durch  seine  schUipfritfou  Gomählde  hier 

und  da  viel  Aergemiss  erregt  und  war  deshalb,  besonders  auch  von 

den  Göttingern,  hart  aogegrifien  worden;  er  hatte  selbst  die  Erfah- 

irung  machen  mttsseu,  dass  andere  Dichter,  die  iu  der  Ausmahlung 

solcher   Liebessceuen,    wie    sie    sich    in    seineu   Dichtungen    häufig 

Ifanden,  ihn  nicht  bloss  zu  erreichen    gesucht  hatten,   sondern  weit 

Iher  die  von  ihm  noch  beobachteten  Grenzen  hinausgegangen  waren, 

[eich  auf  sein  Heispiel  beriefen  und  ihm  ihre  schmutzigen  Schildereien 

idmeteo";  er  war  endlich  zu  der  Einsicht  gekommen  und  sprach 

ich    darüber   auch   ößfentüeh  aus^    dass   er  in  dieser  Hinsicht  mit 


IS)  Ein  preusfiiacher  Oftizier,  Freiherr  v.  d.  Goltz,  schrieb  „Gedichte  im  Ge- 
schmack des  Grecourt"  (1771)  imd  widmete  sie  Wielandca.  der  über  diese  „ekcl- 
hJiften  Obscönitüieu"  eines  Mannes,  dem  „der  unflätigste  Priapismus  statt  dcrBe- 
grisieriuig  diente'*,  höchst  entrüstet  war  (vgl.  Grubor  in  Wielauds  Leben  3,  121  f.). 
'reUicb  Hess  er  sieb  nachher  durch  einen  Briet*  desFreiherru  wieder  eo  weit  um- 
Iftümmen»  dass  er  demselben  seine  Frcuudsehnft  anbot,  (vgl.  „Natürlicblieilen  der 
iKinaUchea  nnd   empfindsamen  Lieltc  Vüm  Frhrrn.  F.  W.  v.  d.  G."'     Berlin  17ifS. 
\4  Thie    S   —  die  auch  jene  Gedichte  iu  einer  neuen  Ausg.  eutlialten  —  3,  üMJff.), 
Urorüber  er  sich  l»ald  darauf  gegen  Fr.  H.  Jacobi  auf  eine  höclist  eeltsanie  Weise 
larte  (Jacobi's  auseriesenet  Briefwechsel  1,  Tj"?!).   Wenige  Jahre  ßpiiter  musste 
wieder  erleben»  dass  Heinse,  dem  er  wegen  seines  Vetron  und  wegen  einiger 
ler  in  dem  Anhange  zu  Laidjon  gedruckten  Stanzen  zUmte,  ihm  deutlich  ge- 
lag  r.u  verstehen  gab»   Wieland   habe  selbst  zn  Schilderungen   der  Art,   wie  sie 
le  StAszen  enthielten,   das  Beispiel  gegeben  (vgl.  Gruber  a.  a.  0.  3,  113  ff.). 
,So  »rhr  SchOler  bin  icli   nicht  mehr',  schrieb  Ueinse  an  ihn  (Briefe  zwischen 
Uelnse  etc.  1,  UfVf.K  „dass  ich  nichts  von  der  muralischen  Schüuheit^Uuie 
sollte.    Ihneu  selbst  habe  ich  In  dem  gelindesten  Tone  —  in  einer  Samm- 
komischer KrzÄhlungen   (worin  auch  Wielands  „Diana   und  Endymiou"  auf- 
geavmnieu    war)  —  schon  vor  einem  Vierteljahre  den  Vorwurf  von  einer  Dame 
BUChoo  lassen,  dass  Sie  bei  einer  der  unschuldigsten,   schönsten  Göttinnen  der 
Oriechca  diese  Linie   sehr  ül>erscliritteu  hatten-    Setzen  Sie  einmal   Ihre  Diana, 
die  Sie  einem  Satyr  überlassen,  gegen  meine  Almina  (iu  jenen  Stanzen);  Ihre  Be- 
iHUuUung  ist  räsonniert,  meine  im  Taumel  der  Thautasie  begangen  worden  —  ich 
lUeht^  dass  der  Meister  dem  jungen  Artisten  verzeihen  könne".    Dabei  legte  ihm 
Udfiae  das  schalkhafte  Gelöbnis»  ab.  in  Zukunft,  so  viel  in  seinen  Kräften  stände, 
keine  ZcUe   zu   schreiben,   die   nicht   von  den  Yesialen  gelesen  werden  könnte, 
gWCkheo  infln  die  komischen  Erzählungen  und  den  neuen  Amadis  vorlesen  dürfte. 
^gL  ftocli  GerriuQfl  i\  200  f. 


1 44     Vt  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jahrhimderts  hb  la  OoeÜie's  Tot! 

I  300  «einen  Gedicbten  wohl  mehr,  als  er  früher  geglaubt,  geschadet  haben 
könne.     In   den  „Unterredungen   zwischen   W**  und  dem  Pfarrer 


ZQ 


»««ai« 


die  Wielaud  schrieb,  um  sich  gegen  die  ihm  wegen  »einer 
Dichtungen,  namentlich  der  erotischen,  gemachten  Vorwürfe  lu  v 
theidigen**,  läsat  er  u.  A.  den  Pfarrer  sagen:  „Ich  denke,  die  V 
Stellung,    dass   es  so  leicht  ist,   durch  Schriften,   die   in  jedei 
Hände  kommen,  diesem  oder  jenem  Schaden  an  seinem  Kopfe 
Herzen    zu    thun,    s'.Ute   die   Schriftsteller    ein    wenig    behatsam« 
macbent   »Is  viele  —   und   verzeihen  Sie  mir  ■ —  als   vielleicht  Sic 
selbst  gewesen  sind";   und  antwortet  darauf:  „So   denk'  ich  je 
auch.    Aber  damals,  als  ich   die  komischen  Erzählungen  und  d 
Idris  machte,  halte  ich  die  Welt,  von  der  ich   gelesen  sein  wol 
und  die  solche  Werke  ohne  Schaden   lesen  kann,   so    lebhaft 
den  Augen,  dass  ich  nicht  daran  dachte,   dass  diese  Gedichte  a 
vorwitzigen  Knaben  und   gltihendeu  Jünglingen   (glühende  Mädch 
gibt  es  nicht,  denn  an  denen,  die  es  sind,  ist  schon  nidits  mehr 
verderben !)  in  die  Hände  fallen,  jene  lüstern  machen  und  bei  diesen 
ins  Feuer  giessen  würden/'    Er  müsse  sich  über  sich  selbst  wunde 
wie  er  in  seinem  Leben  nie  auf  den  so  simpeln  Gedanken  gekomn 
sei,   dass   ein  Gedicht,  eine  Erzählung  von  der  erotischen  Galt 
einem  Leser  in  die  Hände  fallen  könne,  dem  es  vielleicht  in  taus 
andern  Augenblicken  unschädlich  gewesen  wäre,  aber  gerade  in  dem 
Augenblicke  schaden  künnte,   wo  er  es  läse.     Hätte  er  diesen 
danken  gehabt,   da  er  die  komischen  Erzählungen  drucken 
wollte,    so   wären  sie  auf  der  Stelle  ins   Feuer  geworfen    word' 
Und    weiterhin:    „Ich   kann  gefehlt  haben,    da  ich   den   Gedanb 
fasste,    so   ein   Gedicht  zu  machen,    wie  Endymion  oder  Juno 
Ganymod  ist;  aber  dess  bin  ich  gewiss,  dass  ich  damals,  da  ich 
II  oder  12  Jahren   einige  Erholungsstunden  mit  deren  Verfcrtigu 
zubrachte,  weder  die  Absicht  noch  die  Hesorgniss  liatte,  jemand 
durch  schädlich  zu  sein"*'.     Fortan  wurde  Wieland  züchtiger 
mahlte,    wo  ihn  noch  die  Wahl  der  Gegenstände  zur  Darstellui 


19»  Fn  d.  Mprkur  von  1775.     2,  70  ff.;    TXA  ff.;    3,  25t  ff.;    4,  *>1   ff.;  2»5 
(sammtliclie  Werke,   Ausgabe  von   ISIS  ff.   49.  119  ff.).  20)  Der  6<)ttii 

Hnsen-AJmaQach  für  1775  enthielt  eiu  Gcilicht  von  Voss  &uf  Michaelis,   das 
begann:    „Jdiovas  WagschiU  sank   und  uicbt   würdig  war  Des   cdleu   Jungl 
dieics  entacrvte   Volk,    Das  Wiciands   Buhln^äugca   borcbct,   Dacions   K6i 
Klopatocks  Lied  schenkt".    Wieland    Bcbricb.   durch  don  Vossiacben  Augriff 
stimmt,  »eine  „Unterredungen".     Vgl.  WViubold,  H.  Cbr.  Üoie  S.   157  f. 
Wenn  Oruber  a.  a.  O.  2,  II  f.   meint,  scbon  „der  verklage  Amor",  der  vor 
„Unterredungen'^   erscbien,    Sri  offenbar  nicbts  anders  als  eine  poetische 
fertigung   von   WicUnds   bUbcrit;er   erutiscbor  Poesie,   so   tritt   wenigstena  di«  _ 
Uerhtfertignng  darin  noch  Bohr  ge^n  die  ei^'entlicbe  Tendenz  des  Gedichtes  corOek. 


Euiwickciungä^äug  der  Literatur.     177:4 — 1S32.    Wielaotl. 


145 


von  Bildern  der  sinnlichou  Liebe  fUhrtCj  wenigstens  mit  einem  etwas  §  301» 
keu3cbern  Pinsel".  Anderweitige  vortheilhafte  Veränderungen,  welche 
theils  seine  Dicbtung^mauier  Überhaupt,  theils  die  Wahl  der  Geg^n- 
.do  und  die  besondere  Art  ihrer  Beliandluiig  betrafen,  traten  vor- 
kglicb  in  seinen  in  gebundener  Rede  abgefasstcn  grOsseru  und 
kleinem   ErzShlungs werken,   viel   woniger  hingegen  an  seinen  Ro- 

Klanen  bervor.  Denn  diese  hatten  noch  immer  und  in  fast  allen 
tUcken  sehr  viel  Verwandtes  und  Uebereinstimmondes  mit  seinen 
Iteru  Romanen.  Er  Hess  hier  noch  alles,  was  er  erzählte  und 
>nat  berührte,  wenn  es  zum  grossen  Thcil  auch  ganz  moderne  Zu- 
iäude  und  Verhältnisse,  Ansiebten  und  Strebungcu  betraf,  in  der 
antiken  Well  oder  im  fernen  Orient  vorgehen,  bald  unter  geschicht- 
lich bekannten,  bald  unter  fingierten  Personen,  wobei  ihm  zugleich, 
in  mehr  oder  weniger  bestimmter  Richtung,  didaktische  oder  aati- 
rirtche  und  polemische  Zwecke  vorgeschwebt  hatten;  so  dass  seine 
Romane  auch  jetzt  noch  viel  mehr  nur  der  äussern  Form  als  dem 
Innern  Gehalt  nach  für  eigentlich  dichterische  Gebilde  gelten 
tonnten.  Dagegen  hatte  er  in  der  andern  Gattung  seiner  oraillilcn- 
[en  Werke  sich  nun  völlig  fUr  solche  Stoffe  entschieden,  die  sich 
ihm  entweder  in  der  Ritterdichtung  des  romantischen  Mittelalters 
ind  in  der  Mdrchenpoesie  des  Morgen-  und  Abendlandes  darboten, 
ler  die  er,  ihnen  ähnlich,  selbst  erfand.  Die  beiden  Hauptt^ueüen, 
kU8  denen  aus  denen  Wieland  diese  Stoffe  schöpfte,  waren  die  pro- 
leu  Be;irheitungen  und  Auszüge  altfranxöaischer  Rittergeilichte, 
und  Fabliaux  in  der  ,,Biblioth6que  universelle  des  Romans^'", 
lad  ,jLea  Mille  et  une  nuit«;  cuntes  Arabes,  traduits  par  Galland"**. 
OD  abendlilndischen  Mfircbensammlungen "  hat  Wieland  in  seinen 
redichten  keine  unmittelbar  benutzt,  da  er  seinen  ,,Pervonte''  nicht 
uiich  dem  ursprQnglich  in  neapolitanischer  Mundart  abgefassten 
iPentameron"  des  Giambattista  Biwile  selbst,  sondern  mvch  dem 
koszuge    dichtete,     den     die     Bibliothi^que    des     Romans    davon 


22»  Vgl.  Oniber  a.  a.  0.  2,  220  ff.  23)  Dieselbe  erschien  zu   Paris 

ITiS— S9  in  224  Thdlen  oder  112  lUüdcn;  vgl.  Wielands  simmtliche  Werke,  Aus- 
übe Ton  ISl*  ff.   4",  l«  ff.  besonders   von  S.  32  an.  241  Paris  ITOI— 17. 
II  Bde     12.    Nach  Eberis  ailgemeinem  bibliograph.  Lcxicon  N.  I4<i37  soU  davon 
;hwn  1730  zu  Leipzig  eine  deutsche  Üobcrsotzuntr  io  *i  Uden.  s.  herausgokotnmon 
q»;   üb  hiervon  die  „Tausend   and   eine  Nacht,   vorinneu   seHäanie  arabigebe 
aud  wunderbare  Uegeboubeiten  ctc,   erzählt  sind".     Leipzig    1771—74. 
de.  *».  bloss  eine  neue  Aiiria-^'e  sind,  oder  ob   sie  von  einem  andern  L'eber- 
herrühren,  kann  ich  nicht  an;i;ebpn,     Die  IJebcrsctKung   aus  dem  Französ. 
lallond  von  J.  H.  Voss  erschien  erst  HSI — sö  zu  liremen  in  Ti  ßden.  '^. 
25l  Vgl.  über  die  Gesclüclite  der  europäischen  Märchojilitpratur  seit  der  Mitte 
J«s  IC.  Jh.  der  Brtlder  Grimm  Kinder-  und  Hüiiamiirchen.  'J.Auflage,  Berlin  i'^inff. 
Bd.  3,  271  ff. 

Kobmtvln.  Gmndrl«.  }.  AuS.  IV.  lü 


146     VI.  Vota  zweiten  Viertel  des  XYlIl  Jahrhanderts  bia  zu  Goetbe's 


§  306  im  Jahre    1777    brachte**.     In  Frankreich,    von   wo    zunächst    die 
Märchenpoeeie  in  unsere  Literatur  Eingang;  fand,  waren  schon  gegen 
Ende    des    achtzehnten    Jahrhundorts    Sammlungen    einheimischer 
Märchen   von  Perrault   und    der  Gräfin    d'Aulnoy    veranstaltet   und 
hcraus^^egeben  worden,  und  durch  GaÜands  bald  darauf  erschienene 
Uebersetzung   der   arabischen   Märchen   nahm    die  Liebhaberei    an 
dieser  Art  von  Erzählungen  so  sehr  zu,  dass  sich  seitdem   dieser 
Literaturzweig  dnrt  in  schnellem  Wachsthum  entwickelte.   In  Deutsch- 
land kam  damals  noch  niemand  auf   den  Einfall»    die   unter    dem 
Volke  gangbaren,   nur   in   mündlicher  Ueberlieferung  fortlebenden 
Märchen  zu  sammeln  und  als  ein  Unterhaltungsmittel  für  die  Inso- 
weit aufzuzeichnen.    Die  ersten  gedruckten  Märchen  in  neudeutscho^H 
Sprache  waren  Uebersetzungen  aus  dem  Französischen.     Nach  jene^B 
Verdeutschung  der  Mille  et  une  nuits  aus 'dem  Jahre  1730  erhielten 
wir;  soweit  ich  hierin  habe  nachkommen  können,   erst  dreissig  bis 
vierzig  Jahre  später  drei,  ebenfalls  wohl  ganz  aus  dem  Französischen 
Übersetzte  Sammlungen:    das  „Cabinet  der  Feen,  oder  gesammelte 
Feenmärchen"",  „Märchen  einer  Amme"  (1764)  und  „Romane  und 
Fevenmärchen"",    Aber  noch  bevor  diese  letzte  Sammlung  erschien 
hatte  Wieland  bereits  in  seinem  Don  Sylvio  von  Rosalva  besonde 
auch  durch  Verspottung  der  Schwärmerei  för  die  Feenmärchen   de 
Natur    zum  Siege    über    die  Schwärmerei    überhaupt   verhelfen    zu 
können  gemeint.     Dioss  würde  zu   einer  Zeit,   wo  die  Fcenmärchcn 
in  Deutachland  noch  wenig  Eingang  gefunden  hatten,  ein  kaum  b 
greiflicher  Missgriff  gewesen  sein,  wenn  Wieland  bei  seiner  dam 
ligen  Schriftstellerei    nicht   vor  jedem   andern   Publicum    die    ganz 
französisch  gebildeten  und  darum  auch  mit  der  französischen  Mod 
Literatur  vertrauten  höhern  Classen  im  Auge  gehabt  hätte.     A 
schon  im  Idris  und  im  neuen  Amadis  lenkte  er  bei  der  Behnndlun 
des  Feen-  und  Zauberwesens  in  einen  andern,  zwischen  der  ariosti 
sehen  und  der  neufranzösischen  Behandlungsweise  die  Mitte  haltea 
den  W^eg    ein,    der   ihn   jetzt    ebenso    zu    den   alten   Quollen    d 
Märchenpoe^ie,  wie  zu  bessern  Stoffen  für  seine  romantischen  Dich 
tungen  führte".    Waren  diese  nun  schon  an  und  für  sich  von  eio 


26)  Vgl.  Gruberta  Anmerkongen  zu  Wielands  sammtlichen  Wcirkcn  22,  ."»IT. 
Welche  üeberliefcrnngen  aus  dem  Mittelalter  und  der  .neuem  Zeit  er  sonst  uochj 
xa  dnzelnen  Heiner  Gedichte  seit  demJ.  1775  verwandt  bat,  wird  im  weiteren  Vi 
lauf  dieses  g  angegeben  werden.  27)  Nürnberg  17GI  ff.    0  Thie.    >i. 

28»  Glogau  1770,     5  Thle.    8.  29j  Später,  im  J.  1785.  als  er.  von  sdni 

Uebersctznng  und  Auslegung   der  horazischcn  Briefe   und  Satiren  ermüdet,  einer] 
Erholung  liednrftc,  kam  er  —  völlig  im  Widerspruch  gegen   seine  Irabere  Vcr-- 
spottung  der  Feenmurcbon   -    sogar  auf  den  Gedanken ,   zum  Zeitvertreibe  einige 
der  artigsten  Märchen  aus  dem  „Cabinet  desFf^os,  ouCoUcction  choisie  deContes 


Eatwickelangsgang  der  Literatur.     1173— lb32.    Wielaad.  147 

Itwa*  gresundern  Natur  und  eiuem  weniger  leichtfertigen  Charakter  §  'MiO 

Is  die  Slofte,  welche  er  sich  aus  Ueberiieferungeu  des  Alterthums, 

ich  ßciner  Auffassuugsweise,  für  die  komischen  oder  griechischen 

Zählungen  angeeignet,  oder  für  den  Idris  und  den  neuen  Amadis 

ilbsl  erbunueu  hatte:   so   hatte   er  auch   bei  ihrer  Bearbeitung  viel 

mehr,  als  in  jenen  altem  Gedichten,  das  widerwärtige  Modernisieren 

ler  den  eiugefflbrten  Personen  beigelegten  Gesinnungen,  Vorstellungs- 

irten  und  Sitten  vermieden,  so  wie  in  einem  ungleich  hohem  Grade 

den  reinen  Erzählungston  getroffen  und  Oberhaupt  bei  weitem  mehr 

len  Anforderungen  genügt,  die  ein  gebildeter  Geschmack   und  eine 

Üefero  Kunsteinsicht   an    den    erzählenden  Dichter   machen    dUrfen. 

lochten  sich  diese  glücklichen  Vcrtlnderungen  in  Wiciands  Poesie 

lach  schon  seit  seiner  Berufung  nach  Weimar  unter  den  Einflüssen 

ler  neuen  Umgebungen,  in  die  er  sich  versetzt  sah,  im  Allgemeinen 

'orbereitet    haben,    so    war  es  doch   insbesondere  der  Umgang  mit 

»ethe  und  mit  Herder,  in  dem  sein  Talent  sich  läuterte*".     Durch 

roethe  wurde  er  auch  gleich   in   der  ersten  Zeit  ihrer  persönlichen 

intschaft.   wo  ihr  Vcrhilltuiss  am  traulir-hsten   war,    veranlasst, 

den  kleinen  poetischen  Erzählungen  zuzuwenden,  die  er  seinem 

taupt werke  in  der  epischen  Gattung   voraufgehen   liess^^     Mit  der 


F^es  etc.    Amsterdam  (Paris)  I7S5— ?9.    41  Bde.    12.  frei  zu  übersetzen  and 

igene  Meen  iu  Märchen  auszuführen.    So  eutgtaud  das  „Dachinnistan,  oder  aiiB- 

rlescne  Feen-  nnd  GeistcnmircheD.  theiis  nt'u  erfunden,  tlieila  neu  übersetzt  und 

inigeftrb«itet".     Winterthur    l7Sü— ¥J.     3  Thle.    S.    (Anthcil   daran  hatten   noch 

H.  T    Kinbiedel  und  A.  J.  Liebegkind).    Von  AVielandä  eigener  Kründung  sind 

„derStfin  der  Weist-n*'  und  ».der  Druidr,  oder  die  Sal  am  an  drin  und  die  IJUdsÄule", 

►ride  in  den  slitnmtlichf-n  "Werken.     Auspihe  I^IS  tl'.     27.  4^  ff.;    v|fl.  Gruber  in 

'ielands  Leben  3.  3*2:i  ff.  30)  Auch  sein  Charakter,  obgleich  nicht  ganz  so, 

rie  Merck  es  wanschtc.   Zu  Anfang  des  J.  1778  schrieb  dieser  nandich  un  Lavater 

Iriffe  von  und  an  Merck  1ti38,  S.  120):    „Der  Druck,  woriji  Wicland  unter  den 

'obcntatf'n  Herder  und  Goethe   lebt,   hat  ihm   allen  Sehmutr.   der  Eitelkeit  ab- 

ibraunt,  und  er  ist  ein  so  bonhomischer,  piter  Junge,  dass  er  mir  höchst  beilig 

Et    Nur  zu  kleinmüthig  haben  ihn  die  Furscbe  gemacht,   und   das  ist  wieder 

lücfals  nOüu^".  '6 1 )  „Mein  persAnllches  Verhältniss  zu  Wicland  war  immer 

lelir  gnt,  besonders  in  der  Iruhern  Zeit,  wo  er  mir  allein  gehörte.    Seine  kleinen 

F.mhhmf^n    hat    er  auf  meine  Anregung  geschrieben".     Eckermann,   Gespräche 

mit  Goethe  l.  3-»4;   vgl.  Uüutzer.    KreundesbÜder  S.  J09  f.;  314,   und  Kriefe  an 

ond  ron  Merck  1S3*<,  S.  102.  —  Wenn  man  auf  eine  Auslassung  Wielands  gegen 

Mertk  in  einem  Briefe  aus  dem  J.  ms  (Briefe  an  und  von  Merck  1^3S,  S.  134  f,) 

QA  ]^osges  Gewicht  legen  wollte,  so  mUsste  man  annehmen,  das&  seine  Erzählungen 

fltul  Marcheu  bei  ihrem    Erflcheinen  im  MtTkur  nur  in  dem  kleinen  Kreise  ge- 

klWetertr  Leser  und  Leserinnen  Ueifall  gefunden,  auf  das  grossere  Publicum  da- 

K4(ni  „tbeils  gar   keine,   thcils  eine  so  fatale  Sensation"  gemacht   hdtt^'n,    dass 

"ieliud  furchten  musste,   den  Merkur  durch  dergleichen  Stücke  zu  Grunde  zu 

richten.    Indess  wird   dabei  zu  erwägen  sein»  dass  dieser  Brief  zu  einer  Zeit  ge- 

"Julien  ist,  wo  sich  Wieland  körperlich  und  geistig  selir  verstimmt  fühlte;  und 

10* 


\  4S     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jahrhuaderts  bia  zu  Gocthe'fi  To4- 


306  Abfjissung  de»  tlieilweiae  sclion  1772,  aber  Tollstfuidig  erst  1774  b^' 
kannt  gemacbteu  „verklagton  Amor""  hatte  er   den  alten  Stoffen 
ftUB  der  griechischen  Mythologie  den  Abschied  gegeben.     Die  Idee 
dieses  komisch-didaktischen   Gedichts  in   Erzählungsform,    welches, 
wie  es  im  Vorberichtc  bloss,  als  ein  Gegenstück  zu  Musarion  ange- 
sehen werden  könnte,  und  in  dem  Wieland  der  Manier  nach  noch 
ganz  der  alle  war,   wie  er  sich  in  den   komischen  Erzählungen  ge- 
zeigt hatte,  war  schon  1771  gefasst.    Ein  Thcil  wurde  gleich  damals 
niedergeschrieben,  das  Uebrige  erst  drei  Jahre  später.    Kurz  darsuf 
dichtete  er  nach  einer  deutschen  Ortssage,  die  sich  an  zwei  seltsam 
geformte  Felsspitzen  in  der  Nähe  der  Wartburg  knüpft,  „Sixt  und 
Ciärchen"".     Nun    eröffnete   er   die  Reihe   der  auf  Märchenstoffe 
beruhenden    Erzählungen    mit    dem    zierlichen    „Wintermärchen'*' 
worauf  gleich  schnell   hinter  einander  zwei   der  trcftlichsten  Erzä] 
lungen  „Gandalin,  oder  Liebe  um  Liebe"",  und  „Geron  der  Adelige"^ 
folgten.   Jenes  anmuthige  und  reizende  Gedicht  von  Gandalin  schei] 
ganz  Ton  Wielands  Erfindung  zu  sein;  wenigstens  hat  weder  er  seil 
ein  Buch  angegeben,  woraus  der  Stoff  geschöpft  worden,  noch  habe  u 
irgend  sonst  wo  eine  Nacbweisung  der  Art  gefunden".     Der  St( 
des  „Geron^'  ist  aus  dem  ganz  besonders  Übel  geratheuen ",  von  d( 
Grafen  von  Tressau  gefertigten  Auszuge  des  altfranzösischen  Ritter-^ 
romans  „Gyron  Ic  Courtoys*"*   herausgehoben.     Wielaud  wühlte  für 
das  Gedicht  eine  metrische  Form*°,  die  ihm  durch  ihre  Einfalt  UD|fl 
Schlichtheit  am  besten  zu  der  Würde  des  Sujets  zu  stimmen  schien  ^'^l 
Und  um  auch  der  Diction  eine  dcnisclbcu  cntÄprcchendc  allcrthüm- 


es  ist  bekannt  genug,   dass  er  dann  leicht  ganz  klcinmuthlg  wnrdc  und  an 
selbst  wie  an  den  Erfolgen  seiner  Schriftstellerei  verzagte  ^gl.  auch  einen 
und  einen  später  geschriebenen  Brief  in  den  Briefen  an  Merck  1S35,  S.  119  f.; 
147).         32)  Die  beiden  ersten  Bücher  und  ein  Bnichatück  des  dritten  gedmcl 
in  den   „Ilirtenliedem  von  F.  A-  C.  W(erthest'*.    Leipzig   IT72.    ».;   voUstÄnc 
(und  das  bereits  Gedruckte  verbessert»  im  d.  Merkur  von    1774.   3,  -17  ff.   ni 
»ucb  besonders  Weimar  1774.   8.        33)  „Siit  undClarchen.  oder  der  Mönch  ui 
die  Nonne  auf  dem  Madclstein'*;  zuerst  im  d.  Merkur  von  1775.    1,  103  ff.  i  2«3! 

34 1  „Ein  Wintermarcben"  (nach  einer  Erzählung  in  Mille  et  unc  nuita). 
erst  im  d.  Merkur  von  i77<i.  1.  49ff.;  91) ff.        35)  Zuerst  uulcr  der  Ueberscl 
„Liebe  um  Liebe**  im  d.  Merkur  von  l'7rt.    2»  121  ff.;   217  ff.;    3,  3**  ff.;   97 
4.  14H  ff.;  193  ff.  3G»  Erschien  zuerst  unter  der  Ueberschrift  ,.6eron  der" 

AJelicJi.    Eine  Errablunp  aus  Künj<r  Artus  Zeit",  im  d.  Merkur  von  1777.  1,  Sff.^ 
lo.S  ff.  37|  Auch  Gruber,  iu  AMdauds  Leben  3,  l7o,   nennt  es  „frei 

fundcn".         38.i  Nach  F.  W.  V.  Schmidts  Ürthcil  in  der  {(«cension  vonDunloi 
History  of  fiction  etc.    Wiener  Jahrbücher  von  IR2ft.  2l).  10&  ff,  39)  In 

Bibliothrqup  univereelle  des  Uoman».  (Jclb.  Mld.  40)  Vgl.  Ober  di 

$  273,  Anm.  24.  41t  Wir  sehr  er  von  der  Geachiclitc  Uyrons   angex»E(on 

worden,   die   ihm  in   dem   benutzten  Auszuge  viel  herrlicher  erschien  als 
,.Copio'',  erhellt  aus  den  Briefen  an  Merck  IH35,  S.  108  f. 


EntwicieluBgsgang  der  Literatur.     1773— I^:i2.    Wieland.  149 

:he  Farbe  zu  g^eben,   battc  er  sich  nach  unserer  Sprache  im  sech-  §  30Ö 
thnten  Jahrhundert  ,,eine  Art  von  deutschem  Gaulois"  gebildet,  so 
rie  er  auch   schon  vorher  in    den  Gaudalin    viele  Ausdrücke   und 
ortformen  au8  der  altdeutschen  Sprache  hertibergenommen   hatte. 
Er  hatte  die  Absicht,  gleich  auf  seinen  Geron  die  Bearbeitung  der 

Ireschichte  Tristans  von  Leonnoys,  ebenfalls  nach  dem  Auszüge  des 
Itfranzösisc'hcn  Romans  dieses  Namens^',  folgen  zu  lassen  und  zu 
iefter  Dichtung  eine  mittlere  Manier  zwischen  der,  worin  Geron, 
hd  der,  worin  Gandalin  gedichtet  waren,  und  wovon  „gar  ein  lieb- 
ch  Ideal**  in  seiner  Seele  war,  zu  wählen  ".  Indessen  ist  von  dem  auf 
iele  Gesänge  berechneten  Tristan  Wielands  nie  etwas  erschienen. 
.u  Gandalin  und  Gerou  schlössen  sich  noch  vor  Ablauf  des  Jahres 
^177S  „Das  Sommcrmarchen ,  oder  des  Maulthiers  Zaum.  Eine  Er- 
^■Bblung  aus  der  Tafelrunde-Zeit''^*,  nach  dem  von  Wieland  fälsch- 
^Hlrh  dem  Chritiea  de  Troyes  beigelegten  Fabliau  „la  Male  sans 
^ftein'',  aber  nicht  unmittelbar,  sondern  nach  der  prosaischen  Bear- 
beitung davon  in  der  Bibliothäque  des  Romans*^;  „Bann  und  Gulpen- 
ich,  oder  zuviel  gesagt  ist  nichts  gesagt.  Eine  morgen  ländischc 
Erzählung*'";  „Der  Yogelsang,  oder  die  drei  Lehren*''",  nach  dem 
Itfranzösischen  „Laia  de  TOiselct*'^';  „Schach  Lolo"*',  nach  einer 
Irzühlung  in  den  Millo  et  uno  uuits,  mit  einer  langen  breit  raisou- 
lierenden  Einleitung,  die  eigentliche  Erzählung  ohne  rechtes  Leben 
md  in  der  ironisch-witzelnden  Manier  der  ,jden  goldenen  Spiegel*' 
inruhmcnden  Geschichte;  und  „rervontc,  oder  die  Wünsche.  Eia 
tea)K>Utauisches  Märchen"".  Nur  die  ziemlich  weitschweifige  und 
wenigsten  gerathene  Geschichte  von  „Clelia  und  Sinibald"**,  wie 


42)  In  tlrr  BibUotfaequc  des  Romans,  April  I7T0;  der  Auszug  ist  vonTreseau. 

1)  Merck  wurde  gebeten,  ausCxime  deSte.  Palnyc's  Menioires  sur  I'aucietme 

lerio  eiueArt  von  Auszug  fOr  den  d.  Merkur  zu  fertigen,  damit  die  deutschen 

tcr  und  Loserinnen  diese  Riitergmlichte  Wielands  besser  verstehen  und  geniessen 

^ontvu  (Briete  an  und  von  Merck  is:ts,  S.  S*i  f.).     Dieser  Bitte  wurde  auch  von 

Icrck  in  soweit  geuugt«   dass  er  die  im  d.  Merkur  von  1777.  2,  2'.)  ff.   gcdmtktc 

fftlüstorische  Nachricht  von  dem  Ritterweseu  der  mittlem  Zeiten''  schrieb. 

[41)  Zuerst  im  d.  Merkur  tou  1777.    1^,  3  ff.;  *»7  tT.  Ab)  Februar  1777;  vgl. 

W.  T.  Schmidt  a.  a.  0.  S.  Vll  ff.  46)  Im  d.  Merkur  von  I77*j.    I,  103  ff. 

}'»  Quelle,  wenn  der  Dichter  anders  eine  benutzt  hat,  ist  mir  unbekannt     Nach 

ibcT  a.  au  O.  H,  70  i&t  bic  ein  arabisches  Märchen.  47)  Im  d.  Merkur  von 

IT7S.    I  ,  Itia  ff.  4S)  In   den  Fabliaux   et  ('ontes   des   poetcs  Fran^ais  etc. 

ibU^  par  Barbazan).    Paris  175B.    3  Bde.    12.  (in  der  neuen  und  vermehrten 

kOBg.  von  M^on,  Paris  ISOS.    4  Bde.   8.    3,  n4  ff.  \d\  Im  d.  Merkur  von 

|r7S».   2,  y7ff.         50)  Die  beiden  ersten  Theile  im  d.  Merkur  von  I7  7S.  4/nff.; 

)3  ff.;   and  1779.    1^  3  ff.;  mehr  auch   nicht  in  den  „auKerle^enen  Uedichten" 

4.  ö;   mit  einem  dritten  Theile  in  den  sämmtlichen  Werken  Bd.  18.     Heber  die 

teuf,  aus  welcher  der  Stoff  zunächst  geschöpft  ist,  vgl.  Anm.  2(>,        51)  „ClcUa 

id  Slnibakl,  eine  Legende  aus  dem  12.  Jahrhundert";  im  d.  Merkur  von  1783. 


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150    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIIT  JahrhundertB  bia  eu  üoethe's  Tod 


g  306  es  acbeint,  eine  freie  Erfindung  des  Dichters",  und  „die  Waaserkufe 
oder  der  Einsiedler  und  die  Scncaeballin  von  Aquileja"**,  nach 
einem  altfvunzCisiacheu  Gedicht",  erschienen  später,  jene  drei,  diese, 
als  die  letzte  xon  Wielands  epischen  Dichtungen  in  gebunden 
Forno,  erst  fünfzehn  Jahre  nach  dorn  in  seiner  ersten  Gestalt  17 
gedruckten  „Oberen",  dem  vollendetsten  und  berühmtesten.  nicK 
nur  unter  seinen  romantischen  Gedichten,  sondern  auch  unter  allen 
seinen  Werken".  Wielands  Hauptqnelle  für  den  Oberon  war  der 
von  Tressan  herrührende  Auszug  in  der  Bibliothäque  des  Romaus'* 
aus  dem  aUfninzüsischen  Kifterroman  von  Huou  de  Bordeaux*',  der 
wieder  auf  einem  altem,  durch  seinen  Inhalt  in  den  Sagenkreis  v 
Karl  dem  Grossen  eingreifenden  Gedicht  beruht^".  Der  Charakt 
des  Zwerges  Oberon,  wie  er  in  dem  altfranzüsischcn  Werke  er- 
scheint, ist  aber  von  Wieland  ganz  umgewandelt  worden;  sein 
Elfenkönig  hat  mit  jenem  Oberon  kaum  mehr  als  den  Namen  gi 
mein;  er  ist  mit  der  Titania  zunächst  den  beiden  gleichnamig 
Beherrschern  des  Elfcnrcichs  in  Shakspeare's  Somraernachtstraum 
nachgebildet,  und  ausserdem  hat  Wieland  dazu  auch  noch  the 
Mercliantes  Tale  des  alteuglischen  Dichters  Chaucer  (in  dessen 
Canterbury  Tales)  nach  Pope's  Umarbeitung   benutzt".     Die  Ver- 

1,  3  ff.;  y7  ff.;  2,  121  ff.;   I,  07  ff.;  212  ff.;  1784.   I,  34  ff.;  2,  41  ff.;  97  ff.;  auch 
besonders  gedruckt  Weimar  nS4.    S.  52)  Nach  Höttiger,  literarische  Zu- 

stände und  Zcit^'euoescu  1,  IS2  ist  die  erste  Idee  dazu  entnommen  aus  den  M6- 
langes  tirös  dune  grArde  hiblioUi^«iue;  vgl.  dagegen  Gnibor  3,  370,  der  das 
dicht  für  eine  freie  Ertindung  hält.        53)  Im  neuen  d.  Merkur  von  1795.  1,239; 
54)  Dasselbe  war  von  le  Grand  d^Äussy  in  dessen  ».Contes  dövotB,   tiüiles 
anciena  romans",  Paris  17SI.   S.  bearbeitet;  vgl    Kbert  a.  a.  0.  N.  7254. 
55)  Im  d.   Merkur  von  17SU,   dessen  erstes  VjerteljabrstUck  das  Gedicht 
führte  ca  die  Ueberschrift  ,,Oberon.    Ein  Gedicht  in  vierzehn  Oes&ngon**.     Qld« 
in  demselben  Jahre  erschien  davon  eine  besondere  Änsgabe  in  Weimar;   sodi 
verbessert  und  in   zwölf  Gesänge   abgethcilt,   1785  im  3.  und  4.  Bde.  der  ,4111 
erlesenen  Gedichte**,  und  viedemm  verbessert  in  einer  eigenen  Ausgabe,  Leij 
17^9.   S.  (neu  aufgelegt  17'J2).    In  den  sämmtlicheu  Werken«  Bd.  22  und  2.'1, 
hielt  ca  den  Titel  ,.Oberon.    Ein  romantisches  Heldengedicht  in  zwölf  GesAngen^ 
Neueste  Ausgabe  von  R.  Köhler  als  9.  Ud.  der  Bibliothek  der  deutscheu  Natioi 
literatur  des  1>.  und  19,  ,laUrh.     Leipzig  1808.   S.        5(5l  April  177S.        57) 
älteste  Ausgabe  gilt  eine  Pariser   von    l.Slf».  58)  Vgl.  F.  W.  V.  Sc! 

u.  a.  0.  Bd.  :il,  118  ff.   Das  ultfraozOsische  Gedicht  aus  dem  Knde  des  t2.Jahrl 
i»t  herausgegeben  von  F.  Guessard  und  C.  Orandiuaiaon.    Paris  18*10.    Üebcr 
Sage  vgl.  Wolf,  Olxjr  die  beiden  wiederaufgefundenen  niederlaud.  Volksbücher  v< 
der  KAuigin  Sibillc  und  von  Huou   von  Bordeaux.    Wien   Is57.    4.    (Dos  nled< 
lÄndische  Volksbuch  „Huyge   von  Bordcus*'  int  von  F.  Wolf,   Stuttgart  l<iGO. 
ftU  55.  Publicat. ,   d.  litcrar.  Verems  herausgegeben).  59)  Vgl.  Bouterw< 

7,  74  Note  und   über  Chaucers   KrziLblung,   so  wie  über    das  Vorhaltniss 
Sbakspeare's  I)rania   zu   ihr,   Th.  Warton ♦   the  Hislory  ol  english   poetry 
U)Ddon  1*^24.    4  Bde.   S.   2,  25Ü  ff.;  F.  W.  V.  Schmidt  a.  a.  0.  und  R.  KöhJi 
Einleitung  zu  seiner  Ausgabe. 


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Eotirickelungsguig  der  Literatur.     1773— 1833.    WielAnds  Oleron        151 


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flechtung  der  Geschichte  von  Oberons  und  Titania's  Zwist  in  die  Ge-  §  306 
schiebte  Huous  und  Rezia's  ist  ganz  Wielands  Werk,  und  die  Art,  wie 
di&sel^>e  von  ihm  ausgeführt  worden,  hielt  er  für  die  eigen thUmlichste 
Schönheit  des  Plans  und  der  Composition  seines  Gedieht«.  Die  Episode 
von  dem  Betrüge,  welchen  dem  alten  Gangolf  sein  junges  Weib  spielt, 
ißt  Chaucer  nacherzählt".  Auf  kein«  seiner  poetischen  Werke  hatte  Wie- 
land so  viel  Zeit  verwandt,  keins  mit  ausdauemderm  Fleiss  und  gros- 
serer Sorgfalt  gearbeitet;  und  keins  war  ihm  auch  in  der  Ausfuhrung  so 
schwer  geworden,  wie  der  Oberen".  Er  schrieb  das  Gedicht,  fort- 
während daran  bessernd,  viermal  eigenhändig  ab,  bevor  er  es  dem 
Druck  übergab*'.  Im  März  178U  konnte  er  es  gedruckt  an  Merck 
senden",  der  ihm,  nach  der  RtlckUusserung  Wielands"',  viel  Gutes 
und  Freundliches  darüber  geschrieben  haben  muss.  Goethe,  der  dem 
Dichter  schon  im  Sommer  1779,  als  ihm  derselbe  die  ersten  fünf 
Gesilnge  seines  Werkes  vorlas,  die  freudigste  Anerkennung  bezeugt 
hatte ''^  sandte  dem  Freunde,  nachdem  er  das  Ganze  gelesen,  einen 
Lorbeerkranz"  und  schrieb  nicht  lange  nachher  an  Lavater*^:  „Sein 
Oberen  wird,  so  lange  Poesie  Poesie,  Gold  Gold  und  Krj'stall 
Krvstall  bleiben  wird,  als  ein  Meisterstück  poetischer  Kunst  geliebt 


.M.  B 


ftO)  Nach  Köhler  S.  XVI;  nachGruber  a.  a.  0.  2,  229  f.  (vgl.  auchWielauds 
3,  372)  einem  alten  Fabliau.  61)  An  Merck,  dem  er  von  dem  all- 

n  Fortrücken  ilieaer  Arbeit  im  J.  1779  von  Zeit  zu  Zeit  briefliche  Älil- 
«leflungen  machte  (vgl.  Briefe  an  Merck  lsr>,  S.  157;  ITIf.;  192f.:  197),  schrieb 
er  ileu  20.  Novbr.  1779  (a.  a.  0.  S.  192  f.):  „Seil  drei  Monaten  bin  ich»  ausBcr 
zwölf  Tagen,  die  ich  beim  Statthalter  von  Erfurt  (v.  Dalbergi  und  am  Hofe  zu 
Gotha  im  Septbr.  zugebracht  habe,  foitt  gar  nicht  auB  dem  Hause  gekommen. 
Tag  tiod  Nacht«  bin  Ich  mit  nichts  als  Oberon  beschäftigt.  —  Die  unendliche 
Arbelt.  die  er  mir  macht,  und  das  bischen  YerguUgen,  das  ich  denn  doch  von 
it  zu  Zeit  habe,  wenn  ich  mir  einbilde,  dass  mir  etwas  gelungen  sei,  macht 
mich  alles  andere  rein  vergessen.  —Ich  werde  nun  nächstens  mit  dem  10- Gesang 
fertig  sein,  und  dann  hab'  ich  noch  ungefähr  160  bis  200  Stanzen  za  machen.  - 
Von  der  Mtüi'  und  Arbeit,  die  ich  auf  diess  opus  wende,  hat  schwerlich  jetzt  ein 
Dichter  noch  Dichterling  im  h.  röm.  Reich  einen  Begriff.  —  Ich  mache  mir'a  so 
schwer  als  möglich.  Die  Scbvderigkeiteit ,  die  nur  bloss  im  Mechanismus  meiner 
achtxeillgen  Strophen  liefen  und  in  der  Natur  des  Jamben  und  in  der  verhältniss- 
mAfsig  geringen  Anzahl  unserer  Reime,  —  die  Schwierigkeit,  aus  einem  so  spröden 
LfSm  gerade  das  Bild,  das  ich  haben  will,  hcrauszu ungern  nnd  ihm  die  Rundung 
nod  Jas  fini  zu  »eben,  ohne  welches  ich  keine  Freude  daran  haben  kann ,  ist  oft 
unsäglich  Ich  kann  Dir  zuschworen,  dass  ich  !n  dieser  Woche  dritthalb  Tage 
über  einer  einzigen  Strophe  zugebracht  habe,  wo  im  Grund  die  ganze  Sache  auf 
einem  einzigen  Wort.,  das  ich  brauchte  und  nicht  finden  konnte,  beruhte"  etc. 

62)  Graber,  a.  a-  0.  2,  325.  63)  Briefe  an  diesen  IS:J6,  S.  216. 

04)  A.  a.  0.  S.  234  f.  65)  A.  a.  0.  S.  169  f.;  vgl.  Riemer,  Mittheilungen 

2.  91  f.  66)  Briefe  an  Merck  IS35,  S.  229;  vgl.  auch  S.  227;  235. 

67)  Briefe  von  Goethe  an  Lavater  S.  99. 


152     VI-  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  JalirhunJerts  bis  xu  Goethe'«  Tod. 

§  306  und    bewundert    werden""*.  —  Unter   seinen    neuen  Romanen 
der  zuerst  angefangene,  die  ,,Gescbichte  der  Abderiten"",   wolil 
das  Beste  un^cselien  werden,    was  er  in   dieser  Gattung'*   Oberbaup 
geleistet  hat:  eine  an  griechische  Uoberlieferungen  angeknöpfte  um 
auch  nach  Griechenland  verlegte  satirisch-humoristische  DarstcUuni 
de«  spiessbUrgerlich  beschränkten  und  thörichten,  bald  zum  Lächei 
liehen,  bald  ztim  Verderblichen  aussclilagenden   privaten  und  öffenl 
liehen  Treibens   kleinstädtischer  und   kleinstaatlicher  Gemeinderer- 
bAnde^  oder  eine  SchildliUrgergeschichte,   die   zwar  in   der  antikei 
Welt  spielt,  aber  im  Ganzen  wie  im  Einzelnen  alle  Angenldicke  ai 
deutsche  Verhältnisse  erinnert.    Wieland  hatte  besonders  in  Biberacj 
Gelegenheit  genug  gehabt,   das  kleinstädtische  und  kleinrcpublika 
nische   Leben    in    Deutschland    gründlich    kennen   zu  lernen.     Ih 
manches  von  ihm  selbst  Erlebte  in   den  Roman   verarbeitet   wurd< 
ist   gewi68'^     Indeasen   war   in   der  Geschichte  der  Abderiten   die 
Schildenmg  des  deutschen  Spiessbttrgerthums  Überhaupt  so   treffend 
ausgefallen,  dass  man  llberall  Oiigrinale  zu  seinen  Charakteren  tindcU] 
und  hier  und  da  auch  einzelne  Partien  in  der  Erzählung  auf  beson« 
dere  locale  Zeitereignisse  bezichen  wollte^'.     Lh'e  bald  nachher  um 
noch    vor  Vollendung   der  Abderiten    begonnene,    in    den    fernsten 
Orient  verlegte  „Geschichte  des  weisen  Danischmend""  steht  durch 
Inhalt  und  Tendenz  in  der  nächsten  Verwandtschaft  mit  f^dcni  gol- 
denen Spiegel",  zu  dem  sie  auch  eine  Fortsetzung  oder  einen  An* 


CS)  Vgl.  auch  Clopthe  nnd  Werther.    von  Kestner  R.  253;   dngegen  Goethe* 
rrtht'il  über  dss  GeiJichl  aus  dem  J,  ISto  bei  lEckermann.  GesprÄclic  2^193  f. 
Als   Wjelnnd   bei   der  AnRgabe    seiner   BämintHchen   Werke  mit   Ausfeilnnf   de 
Oberon  beschäftigt  war.  belhciligte  sich  Goethe  dabei  mit  seinem  Uath  ivg*!  G ruber i 
ft.  a.  0.  2,  4HI  f.).    So   sehr   Wielaud   aber   auch   durch   die  Auorkeniiuug,    dia] 
win  Gedicht   bei   »einen  weimarischen   und   bei  andern  Freunden   fand,    erfreut 
wurde,   80  wenig  zufrieden  war  er  mit  der  Aufnahme,  die  es  anßiugUch  bei  dml 
grossen  Publicum  fand   (Tgl.  Briefe  an  Merck  \s:\b ,   S.  24fi;  IS3S,  S.  179).    Voal 
den   riffeiitüchen  Heurthcüungen   sprach   sich,  soviel  mir   bekannt  ist,  zuerst  du 
oben   S.    13'.»    angefahrte   Recension    der   auserlesenen   Gedichte    in   der   Jenaer] 
I.iterntnr-Zritung   unbedingt   lolicnd   Über   den   Oberon   aus.  60|   Zurr 

im  d.   Merkur,   der  Anfang   1T71  (wieder  gedruckt  Weimar  1776.    S,),  die  Foi 
(■\:'tiiig   und  der  Schlofis    177*» — *sO.     VollsiÄndig,   in  einer   nmgcarbeiteten   uii4| 
^•Tiiu'hrten  Ausgabe,  mit  dem  „Schlüssel  zur  Abderiteugeschichte",  Leipzig  I7äI. 
2  Thlc.    s.  7ih  Vgl.   Gruber   in   Wielands   Leben   2,  361— 3Ü4. 

71 1  Vgl.   den  ».SchlüBsel  zur  Abderitcngeschichte"  in   den   ft&mmtlirfaeD  Werken 
20.  14S  ff.  und  Wieland.  geschildert  von  Gruber  3.  213  t-,  dazu  d.  Mufiruro  mi 
1776.    I.  117  ff.  (Briefe  an  und  von  Merck  1^3«,  S.  67 1;  den  d.  Merkur  ron  I77S^] 
a.  Zii  ff.  (llrtefe  an  Merck  IS3ö,   S.  145):   auch  Wielands  Hrief  au  Schwan  »us! 
dem  Sept.  1778,  im  Weimar.  Jahrbuch  5,  IS  ff.  72i  Zuerst  als  ..Gescbichta 

des  rhil»sophcnI>anischmende"  im  d.  Merkur  von  I77Ä,  alwr  nur  bis  zum  Sc  hin« 
des  Sl.  Kapitels;  roUsUndig  erst   17!»5  im  S.  Bde.  der  &4nimtUchen  Werke. 


Eniwickelangsgang  der  Literfttor.    1773—1632.    Wieland.  153 

;ng  bildet^.     Beide  hangen,    wie   die   schon    frülier  geschriebene  §  306 

lexicanische  Geschichte  „Koxkox  und  Kikequetzel*'  und  die  „Reise 

lea  Priesters  Abulfauans  ins  innere  Afrika",   nebst  den  dazu  gehö- 

Igen  „Bekenntnissen   des  AbulfauariK'*   ihrem  Ideengehalt  nach  zu- 

ichst  mit  den  durch  Rousseau's  Schriften  hervorgerufenen  Aufsitzen 

Lsammen,  die  Wieland  in  den  ,, Beiträgen  zur  geheimen  Gescliichto 

?8  menschlichen  Vorstandes  und  Her/ens""^*  herausgab.  —  Seit  dem 

inde  der  achtziger  Jahre  wandte  sich  Wieland,    der  nun   fast  gar 

iehts  mehr  in  gebundener  Rede  schrieb,   im  Roman  der  eigentlich 

liUisopbisch-historischen  Gattung  zu.    ZnnÄchst  veranlasste  ihn  sein 

ihr  lebendiges  Interesse  an  den  Bewegungen  auf  dem  theologischen 

lebieV  besonders  an  den  Kämpfen  der  Aufklärungsparlei  gegen  alle 

,rten  voi\  Aberglauben,  Schwärmerei,  geheime  Gesellschaften  etc.", 

dche  Stoffe  aus  der  alten  Welt  zu  dichterisch-geßchichtlicher  Dar- 

'llung  henmszuheheu,    die   sich   vorztiglich  eigneten,    daran   seine 

tgenen  Ideen  über  Christcnthum ,  Aufklärung,  Schwfuraerei ,  Magie 

zu  entwickeln.     SpAter,   wo  er  sich  mit  seinen  Neigungen  und 

Indien    beinahe   ganz    auf  das  classische  Alterthum  zurückgezogen 

te,  unternahm  er  es,  das  griechische  Leben  zur  Zeit  des  Sokrates 

nnd  seiner  Schüler  nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin,  jedoch 

mit  vorzüglicher  Berücksichtigung  der  von  Sokrates'  Lehre  zunächst 

isgegangcnen   philosophischen  Systeme,   der  Neuzeit  zu  vergegen- 

igen.    So  entstanden  zuerst  der  „Peregrinus  Proteus"  und   der 

Lbodämou**  und   zuletzt   der  ,,Ari8tipp".     Den  näclmten  Anlass 

dem  erstem  Romane  gab  Lucians  Erzählung  von  dem  Leben  und 

^nde  des  Gauklers  oder  Schwärmers  Peregrinus  Proteus,  an  welcher 

Wieiand  als  Uebersetzer  der  Werke  Lucians    ein    ganz    besonderes 

tnterC)!»«e  nahm".     Schon  im   deutschen  Merkur  von    17SS"  wurde 

lit  der  naebhcrigen  Vorrede  zur  ersten   vollständigen  Ausgabe  des 


73»  Vfl   §  295,  Schiaas  von  Anm.  3ö.  74»  Leipzig  1770.    2  Thle.   S. 

*5t  DiesM   Interesse  hczenß:en.   flnsscr  »einen  spatem  Romanen,   hesonders 

^Igflid«  AufsäUe,   aus   denen  man  aacb  Wielands  religuise  Ansichten  und  seine 

^^fliine  zu  den  sich  in  den  Acbtzitrcrn  bekllmpfenden  Parteien  am  besten  kennen 

fckiBaa  kann :    ..ücber  den  Manir  der  Menschen  an  Magie  und  Getstererscheiiiungen 

lUen"  (im   d.  Mcrknr   von    17SI;   a.   Werke  ^'1,  \2:\  ff.);    „Antworten  nnd 

»n  anf  die  Zweifel  und  Anfragen   oinos  vorgeblichen  WtOibtirgers"  (im 

Xfrlur  von  \'S:i;  s.  Werke  ;u,  l*'7ff.);  „Ueber  den  freien  Gebrauch  dcrVer- 

in  Glanbenssachen"   fim  d.  Merkur  von    17^^;    s.  "W.  'M,  'A  ff);    , »Nicolas 

L   Paul  Lucas   und   der  rer^iisch  von  Hnissa"  lim   d   Merkur  von    17SS; 

13,  117  if.i.    Pazn   vgl.   das   sechste  und  achte  seiner   „GÖttergeapräche" 

^^ff.;  8.  W.  27.  -ins  ff.;  liiil  fft.   Vgl   auch  Wieland,  geschildert  von  Gruber 

[l  IW^l'M  Mer  vielmehr  in  Wielands  Leben  3.  2S2  ff.)  und  GervinuB  5*,  1*03  ff. 

7ß)  Sie  steht  im  3.  Bde.  der  Hebersctzung.    Vgl,  Gruber  a.  a.  0.  2,  298  ff. 

77)  3,  (;i  ff. 


f^^^^^^^^^^^^ 


rod.       I 


154     VI.  Vom  zwuteu  Viertel  des  XVUI  JahrbuDderu  bla  £u  Ooetbe*e  Tod 

§  306  Romans  der  deniHelben  vorangescbickte  Auszug  aus  Luciana  Kach- 
ricLten  von  dem  Leben  und  Ende  des  Scbwärmers  Pere^n  gedruckt. 
Eben  daseibat*'  erschien  auch  unter  der  Ueberachrift  „Pere^'rin  und 
Lucian.  Ein  Dialog  im  Elysium^',  der  Anfang  des  Romans,  der 
dann  in  dem  Jahrgang  1789  bis  über  die  Mitte  hinaus  als  .,dt«  ge« 
beimo  Geschichte  des  Philosophen  Pore^rinus  Proteus.  In  einem 
elysischen  Dialog  zwischen  Peregrin  und  Lucian",  fortgesetzt  und  in 
einer  eignen  Ausgabe"  vollendet  wurde"  Eine  Art  GegeustUck  zu 
dem  Peregrinus  Proteus  ist  der  „Agathodfimon'*";  auoh  hier  ist 
Held  der  Geschichte  ein  verrufener  Schwflnner  aus  der  römisc 
Kaiserzeit,  Apollonius  von  Tj'ana,  dessen  Lebensbeschreibung 
dem  älteru  Philostratus  dem  Roman  zu  Grunde  liegt.  Der  dritte 
man  ,,Ari8tipp  und  einige  seiner  Zeitgenossen",  in  Briefen",  sollte  nach 
der  Anlage  des  Ganzen  wohl  noch  weiter  geführt  werden  als  bi» 
zum  Scbluss  des  vierten  Buchs,  womit  er  jetzt  absehliesst'* 


§  307. 
In  der  Hauptgattung  dichterischer  Production ,  für  welche 
lands  Talent  sich  am  meisten  eignete,  mit  welcher  er  sich  wäh 
der  ganzen  Dauer  seiner  schriftstellerischen  Tbätigkeit  am  an 
hallendsten  beschäftigte,  worin  er  auch  die  glücklichsten  Erfolge  er- 
zielte und  seit  der  Mitte  der  sechziger  Jahre  mehr  oder  weniger  fQr 
Andere  Richtung  und  Ton  angab,  haben  wir  nun  auch  vonugsweue 
die  Werke  derjenigen  Schriftsteller  zu  suchen,  welche  in  einem 
näheren  oder  entfernteren  Bezüge  von  Geistesverwandtschaft,  Welt- 
anschauung^ und  Sinnesart  zu  ihm  standen  und  in  dem  oben  ange- 
deuteten Ycrhältniss  während  der  Zeit  des  Sturms  und  Dranges  die 


7S)  S.  176  ff.  79)  Leipzig   1791.    2  Thle.   f».  80)  0«w{»  hat 

Gervinas  Recht,  wenn  er  S',  306  bemerkt«  ^ielaud  habe  in  seiner  Schfld«nng 
des  Tere^jnus  auf  Lavater  und  die  ihm  ÄeluiHcben  hinübergeblickt ;  er  Ucfot 
ein  Abbild  dieses  christlichen  Mystikers  und  seines  Strebcns  noch  Gottei 
einigung  etc.    Vgl.  Wielanüs  Brief  an  Reinhold  in  Baguesens  nriefwerhsel  1, 

Sh  l^ie  ersten  drei  Bücher  erschienen   ira  attischen  Museum  von  IT96, 
Ganze  im  32.  Ude.  der  siiinmllichen  Wurkc  1709.  82)  Zuerst  als  3: 

Band   der   sümmtlichen  Werke   ISOü— 1802.     Die   erste   Ausgabe  tod   Wi< 
sjimmtlicben  Werken,   die  er  selbst   veranstaltete,   und   worin  die  roGiat«n 
früher    bekannt  gewordenen   poetbchun   und   prosaischen   Schriften    mehr 
weniger    verbessert,    einige    auch    vervollständigt   waren,    erschien    zu 
1794 — 1S02  in  3 (i  Banden  S.  (wozu  später  noch  3  Bde.  kamen)  und  i\  Snp] 
bänden  (welche  die  Jugendschriften  enthielten),  zugleich  als  Pracbtauj 
Ociav  und  in  Quart,  mit  Kupfern.    l>anu  besorgte  Gruber  eine  Ausg.  in  1*J 
in  8.  und  in  Taschenformat,  Leipzig  isi^  ff.  idio  letztere  neu  aufgelegt  IS34 
Eine  andere  Ausg.  in  3ii  Banden  16.  erschien  zu  Ldpzig  1S3<.I.  40.  S3) 

Grubers  Anmerk.  in  seiner  Ausgabe  der  slunmtlichen  Werke  30.  379  ff. 


Entw1ckeIung?gaog  der  Literatur.    ITT."— IS32. 


•m:'..- 


B Seite  zu  den  Originalgenies  bildeten.  Und  zwar  ist  es  hier  §  ;^07 
aman,  an  welchem  das  Charakteristiscbe  dieser  Gruppe  von 
Eatellem  zunächst  und  zumeist  sich  hervorthut,  da  die  Erzäh- 
i'erke  in  gebundener  Rede,  die  sich  an  Wielands  Poesien  dieser 
An  anschliesaen,  sofern  sie  nicht,  wie  Ludwig  Heinrich  von  Nicolay's' 
bierherfallende  Gedichte,  in  blossen  Nachbildungen  verschiedener 
Partien  aus  Ariosts  rasendem  Roland*,  oder  in  einzelnen,  bald  selb- 
ständigen, bald  auch  nur  nachgebildeten  Versuchen  in  der  komischen 
ErÄfiblung*  bestehen,  alle  erst  nach  dem  Erscheinen  des  Oberon  ge- 
dichtet 8ind\  und  als  Nachahmungen  desselben  schon  einer  andern 
Literftturrichtung,  als  der  hier  zuvörderst  in  Betracht  kommenden, 
angeboren.  —  Der  Roman  war,  wie  schon  an  einer  andern  Stelle 
bemerkt  ist*,  unter  allen  Darstellungsformeu  unserer  schüVncn  Litera- 
tur am  allermeisten  von  den  Dichtern  in  der  ersten  Hälfte  des  acht- 
^jehnten  Jahrhunderts  vernachlässigt  worden:  erst  gegen  die  Mitte 
^■er  Sechziger  rückte  er  in  bedeutendem  Werken  in  die  Reihe  der 
^«u  höherer  Ausbildung  anstrebenden  dichterischen  Gattungen  ein, 
and  der  erste  epochemachende  Originalroman  des  Jahrhunderts  war 
Wielands  Agathon.  Als  solchen  begrüsste  ihn  zuerst  öffentlich  Lessing 

f  307.     1)  üeb.  IT.tT  zu  Strassburg,  wo  er  auch  die  Rechte  und Philosopliie 

stadlert«  und,  nachdem  er  zuerst  Gesandtschaftssccretär  in  tranzOsiscben  Diensten 

^HcwFsen,   an  der  UnivcrsiUXt  als  Professor  der  Logik  angestellt  ward.    Im  Jalirc 

^^Kr'.*!  berief  ihn  die  rusMsohc  KaiBerin  aU  Krzieher  des  Orossfilrsten  Paul   nach 

^^■l  Pct4-,r8bnrg.    1773  wurde  erCabinetssecretar  und  Bibliothekar  des  Grossfürsten, 

^^beuD  Jahre  spater  in  den  Adelsstand  erhoben,  Bodanu  zum  Staatsrath  und ,  nach- 

^^feem  er  mehrere  Getsandtschaft^posti^n  bekleidet,  auch  eine  Zeit  lang  als  Dircctor 

^^^r  kaiserlichen  Akademie  der  Wisseuächafteii  vorgestanden  hatte,   zuletzt  zum 

wirkJichen  geheimen  Itatli  ernannt.    Nacli  Pauls  Tode  zog  er  sich  auf  sein  Land- 

gut  bei  Wiborg  in  Finnland  zurück,  wo  er  18*20  starb,  2>  Zuerst  „Ualwine". 

in  sechs  Gesängen,  Petersburg  1773.    12.;   dann  in  den  ersten  Theileu  der  „ver- 

miachteu  Gedichte",  Berlin   und  Stettin    n7S — S6.     9   Thle.    S.     „Richard   und 

Hdlasc*',  ,»AJclnen3  Insel",  in  zwei  Büchern,  „Anaelm  und  Lilla".  „Zorbiu  und 

I      B«Qa**,  in  sechs  Ge&angcn.  u.  a.    Spater  machte  sich  Xicolay  in  ähnlicher,  aber 

freierer  Art  an   die  Bearbeitung  tou  Bojardo's  Orlando   iiiamorato:   „Morganena 

OrMte'*,  in  \ior  Büchern  (vermischte  Gedichte  Öd.  4i  und,.Ucinhold  und  Angelika", 

in  xwOlf  GesängcD,  Berlin   17H1  tf.     3  Thle.    s.   (auch  im  0.— s.  Bde.   der  ver- 

hten  Gedichte».    Vgl.  Jördens  t,  6B  f.  3)  Anderer,   weniger  bekannter 

zum  (Trossen  Thcil  schon  ganz  verschollener  zu  geschweigen,  führe  ich   hier 

;  Thümmela,  ..Inoculation  der  Liebe",  Leipzig  177L   **.   und  HeinÄc's  wegen 

emporondon  Inhalts   berüchtigte  ErzahUiDg  (nach  dem  Französischen  des 

i  „die  Kirschen",  Berlin  1773.  S.  an  (die  sclüüpfrige  Erzählung  „die  Schäfer- 

e",  welche  Laube  in  Heiuse's  sämmtl.  Schriften  to.  75  S,  aufgenommen  hat, 

nicht  von   diesem  Dichter,   sondern   von  Rost  [vgl.  §  2>*l.   Anm.  41]  und 

schon  in  dessen  Schafererzählungen  S.  V.iQ.).         4)  Was  von  Heinae's  be- 

Ichrigtcm  ..Heldengedicht**  1774  erschien,  ist  oben  S.  133,  Anm.  102«  angegeben. 

b)  Bd.  III.  t7U. 


wm 


156    VI.  Vom  xweitoB  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bU  ra  Gocthe*8  Tod 

§  3'>7  in  der  hambur^sclien  Dramaturgie*.    „Dieses  ist  das  Werk",  heis 
es  hier',  .,von  welchem  ich  rede,  von  welcliem  ich  es  lieber  nicl 
an  dem  schicklichsten  Orte,  lieber  hier  als  jrar  nichr  sa^en  will, 
sehr  ich  es  bewundere:  da  ich  mit  der  äussersten  ßcfremdung  wahr^' 
nehme,    welches    tiefe   Stillschweigen   unsere   Kunstrichter    darflber 
beobachten,   oder  in    welchem    kalten  und  ^leichi^^llltig-en  Tone  sie 
davon    8])rechen.      Es    ist   der   erste   und    einzige  Roman    für   d( 
denkenden  Kopf,  von  classischem  Geschmacke.    Roman?  Wir  wolU 
ihm  diesen  Titel  nur  geben;   vielleicht,   dass  es  einige  Leser  mel 
dadurch  bekümmt.     Die  wenigen,   die  es   darüber  verlieren  mOchl 
an    denen   ist   ohnedem    nichts    gelegen."     Bis    dahin   hatten 
Leser,    welche   nach   diesen  Unterbai  tungsmitteln  Verlangen    tni^ 
und  sich  au  den   rohen   und  geschmacklosen  Erfindungen   aus  d< 
Schlüsse  des  vorigen  Zeitraums  oder  den  ihnen  an  Geist  und  Foi 
verwandten,  die  aus  neuerer  Zeit,  meist  von  ganz  untergeordnete 
unter  den  gebildetem  Schriftstellern  der  Nation  gar  nicht  mitzilhlui 
den  Buchmacbeni  herstammten,  nicht  mehr  geuUgen  Hessen,  fast  ni 
nach    den  Ucbcrsetzungon    ausländischer   Romane   greifen    mttf 
wenn    diese   selbst    sich   ihrem  Verständniss  entzogen-,    und  Uel 
Setzungen  waren  besonders   aus   dem  Französischen  und  Englisehi 
bereits  vor  der  Mitte  der  Sechziger  in  so  grosser  Zahl   und  mit 
weniger  Auswahl  unter  den  eingeführten  Originalen  gefertigt  wordei 
dass    darüber    in    den   gleichzeitigen    kritischen   Hlfittern    oft    nicl 
minder  bittere  Klage  geführt  ist,  wie  Über  den  Mangel  an  deutacbi 
Originalromanen  von  nur  einigem  Wertb.    Als  Lessing   1755  in  d< 
Berliner  Zeitung  einen  elenden  ins  Deutsche  Übersetzten  Roman 
zeigte*,    schrieb  er:  „Ist  es  erlaubt,  weil  Ricliardson   und  Fieldinl 
ein  gutes  Vorurtheil  für  die  englischen  Romane  erweckt  haben, 
man    uns   allen   Schund    aus   dieser  Sprache  aufzudrängen  sucht 
Und  bei  einer   fihnlichen  Gelegenheit':    ,,\Vir  sind   die  gutherzig« 
Deutschen;    das  ist   ganz  gewiss.     Das  Gute  der.  Ausländer  gefl 
uns,  und  zur  Dankbarkeit  lassen  wir  uns  auch  das  Elendeste, 
sie    haben,   gefallen'' '*'.    Abbt,    der   in    der  allgemeinen   deutsch« 
Bibliothek"  Wielands  Don   Sylvio   anzeigte   und   dabei    u.   A, 
„vielerlei  neuen  Manieren*'  gedachte,   auf  welche  die  Franzosen  ii 
Roman  gekommen,  so  wie  der  beiden  andern,  welche  die  England« 
erfunden,  der  richardsonschen  und  ficldingschen,  bemerkte  von  d( 
Deutsehen,    dass,   wenn    sie    bis    dahin    eigene   Romaue    bekomm« 
hätten,  sie  nach  jenen  Arten  zugeschnitten  wären.    Von  sich  »eil 


6)  S.  Schriften  7,  313  f.  7)  Nßch  tUn  schon  oben  5*502.  Anm    n 

gehobenen  Worton.  8i  Slramtl.  Schriften  5,  t'».  9)  S.  Schriften  5^ 

MI)  Vgl   auch  3,  391  f ;  5,  57  f.  1  I)   I.  2,  07  ff. 


Entvickelungsgang  der  Literatur.    1773— IS32.    Romaae.  157 

itten    sie    nocli   nichts   aufgestellt,    das   eine  eigene  Gattung  aus-  §  307 

ichte".     Die  allgemeine  deutsche  Bibliothek  konnte  in  den  ersten 

ihrgjinfren   unter  der  Rubrik   der  Romane  zum  grossen  Theil   nur 

►n  Ucbersetzungen  aus  dem  Englischen  und  Französischen  berichten, 

rorunter  sehr  viele  schlechte  Waare  war.    Von  Romanen  deutscher 

Erfindung  wusste  sie,   ausser  dem  Don  Sylvio  und  dem  Agathon, 

keinen  nur  einigermassen  erträglichen  anzuzeigen.    Noch  im  vierten 

Theil"   schrieb  Miisaeus,    wenn    der  Witz   einer  Nation    aus   ihren 

^Komanen  zu  bcurth  eilen  wäre,    so   mtlsste   man  es  den  Ausländern 

^HerzeiLen,    wenn  sie   den  Deutschen  den  Witz  absprächen.     Zwar 

^^ttengeu  dem  Agathon  schon  seit  der  Mitte  der  vierziger  Jahre  einige 

'     muf  heimischem  Grunde  erwachsene  Werke   dieser  Gattung  vorauf, 

die  in  Stoffen    und  Formen,   in  Gehalt,  Stil    und  Ton    den  Deginn 

einer  neuen  Zeit  auch  für  diesen  Literaturzweig  wenigstens  ankUn- 

^■ligten;  allein  auf  die  Bezeichnung  von  eigentlich  originalen  Erfin- 

^Bungen  konnten  sie  nur  in  einem  sehr  beschränkten  Sinne  Anspruch 

^Biftchen,  da  sie  alle,  sei  es  durch   ihren  Inhalt,    sd   es   durch    die 

^T)arstellungäforro  und  den  darin  herrschenden  Ton^  oder  auch  durch 

Iihre  Tendenzen  aufs  unverkennbarste  auf  auswärtige  Einflüsse  und 
Vorbilder  zurückwiesen.  So  führte  Geliert  in  dem  „Loben  der 
Ichwedischen  Gräfin  von  G**""  die  zeitherigen  rohen  Abenteurerge- 
khichten  zu  der  empfindsam  moralisierenden,  ein  vei-stiegenes  Tu- 
lendheldcnthuni  schildernden  und  auf  psychologische  Zergliederung 
Ibzielenden  Darstellungsmanier  in  Richardsons  Familienromanen 
fctftUber.  Sein  Roman  besteht  in  einer  Reihe  von  Abenteuern,  die 
in  ihrer  Zasammcnstcllung  und  Aufeinanderhäufung  sehr  viel  Unwahr- 
^^cheinliVbes  enthalten;  die  Erfindung  des  Ganzen  ist  sehr  schwach", 
|He  Ausftihrung  der  Charakterdarstellungen  flach  und  gemein,  der 
■     Stil  weitschweifig,   der  ganze  Ton  breit  und   platt   moralisierend'*. 


I^>  Vgl.  dazu  ReaGvHz  im  294.  Literatur-Briefe  und  tn  der  allgemeinen  d. 
ibüothek  I,  'L  22S.  13)  l,  [hl.  14»  Der  Roman  erschien  zuerst  zu 

ipzig  1T40.   '*.  15)  Uebrigens  gehört  nach  Tieck  (nachgolaas.  Schriften 

W>  die  Ertiiuiuto?  nicht  Geliert  an,  sondern  beruht  auf  einer  Novelle  des  Cer- 
itea,  die  sich  nach  versciücdenen  Verwandlungen ,  die  sie  im  Französischen  er- 
hatte, endlich  auch  zu  Geliert  verirrte,  der  sie  wicilcr  auf  seine  Art  ver- 
"^rasdalte-  16l  üellert  vrar  ein  grosser  Verehrer  von  Richardson  und  empfahl 

im  diTf  zehnten  seiner  moralischen  Vorlcsangen  unter  den  Scliriftcn,  die  n&H- 
fenifto«  Mittel"  abgeben  konnten ,  .»zur  Tugend  zu  Relaugcn  und  sie  ku  vcr- 
■dircs",  von  „jguteu  prosaischen  Oedichtcn**  ausdrücklich  und  besonders  die 
fflurttt^  nnd  den  (ji-andison.  „Ich  habe",  setzt  er  hinzu,  , .ehedem  über  den 
dtbcnten  Theil  der  Clarissa  und  den  fünften  des  Graiidison  mit  einer  Art  von 
flflinr  Wehmulh  einige  der  mertwurdigaten  Stunden  für  mein  Uerz  verweinet;  da- 
flur  danke  ich  dir  noch  jetzt,  Richardson".  Was  die  Briefe  „über  den  Werth 
eisiger  deutschen  Dichter"  etc.  über  die  Folgen  von  Uelierta  Vorliebe  für  Richardson 


158     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVlll  Julirhuudcrtb  bis  xu  Goethe's  Tod. 


307  So    liatte    ee    Job.    K.    Aug.    Musäns "    auf    eine    Art    ran 

scheui  Don  Quixote  abgoselien,  als  er  in  seinem  „Grandisou  dem 
Zweiten" "  die  tborichten  Vergotterer  richardsonscher  Cbaraki 
läcberlicb  zu  macben  und  die  Scbwännerei  für  Ricbardsons  Romal 
selbst  bembÄUstimmen  suc.bte".  So  nabm  sieb  aucb  Wieland,  deasea 
erster  bier  einscblagender  Versucb,  die  dialogisierte  Geschichte 


[jebeii 


ortbeilton,  ist  S.  15  angedeutet.    Als  er  seinen  Komau  schrieb,   konnte  er  «ber 
erst  die  Pamela   gelesen  babcu   (sie  war  schon   1743   übersetzt  wordea|,  —  Eiki 
Seitcostuck  zu   dem  Leben   der  schwedischen  Gräfin  war  die  za  ihrer  Z«t  sehr 
beliebte  „G«scbichte  des  Grafen  P*»'\  Leipzig  l"55,  die  den  aua  Goetbe'8  Leben 
(25,  87)  bekannten  Hofrnth  Pfeil  zum  Verfasser  hatte.     Dass  auf  den  g)<*ic 
von  Goethe  (24.  \M)\  erwähnten  Roman  von  J.  M.  von  Loen,  „der  rt-dliche 
am  Hofe,  oder  die  Begebenheiten  dvs  Grafen  von  Kivera",  Frankfurt  a.M.  1740.' 
(ein  Auszug  in  Reichards  BibliotJiek  der  Romane  I,  «*»  ff),  schon  Uicbardson  pin- 
gcwirkt   habe,   wie  Kucb  (Compeudium   2,  275  f.)  und  nach   ihm  ..\jidere  anzu- 
nehmen scheinen,   glaube   ich  darum  nicht,   weil  Richardson   mit  seinem   erstan 
Roman,  der  Pamela,    nuch   erst    1740  hervortrat  (vgl.  Hettner,  üebchichte  der  4- 
Literatur  im  is.  Jahrb.,  2.  Buch,  S.  79  ff.i.       Wie  sehr  man  sich  in  Deutschland 
beeiferte,  Richardsons  beide  Romane,   die  auf  die  Pamela  folgten,  den   des  Eng- 
lischen unkuudigeu  Lesern   zugänglich   zu  machen ,   erhellt  uub  folgenden  Thit- 
sacben:  die  1748  erschienene  Clarissa  wurde   bereit«  174S— 52  \\n  Üöttingen,  wk 
ea  beisst,  von  J.  D.  Michaelis  und  ilaller;  vgl.  n.  allgemeine  d.  Biblinüiek  14,  I. 
161)  übersetzt,    und  von   dem   1753   vollendeten  Grandison  konnte  Lcssing  and 
schon  1754  den  in  diesem  Jahre  zu  Leipzig  gedruckten  dritten  Band  einer  Ver- 
deutschung anzeigen  (s.  Scbrilten  4,  4S3)   —  Mit  den  Werken  Richardsons.  nod 
namentlich  mit  der  Clarissa,  beginnt  in  der  neuem  Literatur  überhaupt  die  Reit» 
der  Familienromane.    Richardson  war  es,  der.  mit  Danzel  zu  reden,  das  niod^nw 
Familienleben,   an  welchem  man  bis  dahin  vorübergegangen  war.  für  die  Poem 
ganz  eigentlich  erst  entdeckte  (Danzel,   Lessing    I.  305  ff.;  351).     I»ass  er  fftr 
Dentschland  auch  eine  Hauptanregung  zu  dem  bürgerlichen  Familientrauenpid 
gab,  ist  schon  oben  Bd.  Hl,  'AI  I  erwähnt  worden,    lieber  das  gegenseitige  VerhultaiB 
Ton  Richardsons  und  Fieldings  Romanen,   welcher  letztem  KinÜass  auf  umot 
schöne  Literatur  besonders  erst   seit  dem  Anfange  der  Siebziger  wahmchmbir 
wird,  vgl.  Schlosser  2,  454  fi.;  3,  SSO  ff.  l7|  Geb.  1735  zu  Jena,  wufde.  ih 

sein  Vater  bald  darauf  nach  Eisenacb  versetzt  worden,  von  einem  VerwRiuIvo. 
zuerst  in  Allstädt,  dann  in  Eisenach,  erzogen,  worauf  er  in  seiner  Gebur 
Theologie  studierte.  Nachdem  ihm  die  Hofiuung.  eine  Laudpfarre  in  d<  > 
von  Eisenach  zu  erhalten,  vereitelt  worden,  ward  er  17ß3  Pagenhofmri: 
Weimar.  Sechs  Jahre  später  erhielt  er  eine  Professur  am  dortigen  Hyiui 
and  starb  17S7.  Vgl.  M.  Müller,  Job.  K.  A.  Musiius,  ein  Lebens-  und  '- 
Stellercharakterbild.  Nebst  emem  Anhange,  enth.  einige  Gedichlr  von  M 
Jena  18ti7.   &.  18)  „Grnndison  der  Zweite,  oder  Geschichte  des  Herr 

N'»,  in  Briefen  entworfen".  Ei&enach  1760—62.  3  Thle.  S.  (der  erste  Tb' 
neu  aufgelegt).  Die  Geschichte,  die  ohne  des  Verf.  Namen  erschien,  war  ii. 
ersten  Gestalt  nirht  zu  Ende  geführt.  19)  Abbt.   der  gleich  ein  1* 

Interesse  an  dicf-rm  Buche   nahm   ivgl.  dessen  Werke  3.  5S),   berichtete  da: 
ausführlich  und  einsichtig  im  3!  4.  Literatur-Briefe.    „Wenn  es  dem  Verf.". 
er  IL  a.,  „durchaus  geglückt  hütte,  den  wahren  Ton  seines  Werks,  den  er  elHi 
Hai  Rusnehmeud  gut  getroffen,   beizubehalten,  so  vrürde  ich  dieses  Werk  oi 


Entwickelüngsffang  der  Literatar.     1773— IS32.    Uebersetztc  Romane.     159 

,Arft*>|)eB  und  Panthea**  nur  die  Bearbeitung  einer  Episode  in  der  §  3<»7 
/ropädJe  war*",  in  dem  „Don  Sylvio  von  Rosalva*'  eben  jenen 
spaniBchen  Roman  zum  Vorbilde".  Dergleichen  Einflüssen  von 
aussen,  namentlicb  van  Frankreich,  England,  Trankrcieh  und  Spanien 
her,  blieb  der  deutsche  Roman  auch  in  der  Folge  um  so  mehr  und 
um  Bo  dauernder  unterworfen,  je  mehr  die  Zahl  der  Uebersetznngen 
ausländischer  Eraeugnissc  dieser  Gattung  mit  jedem  Jahre  wuchs. 
Um  hier  nur  die  mir  bekannt  gewordeneu  Uebersetzungen  von 
rimanen  einiger  der  bedeutendem  und  auf  unsere  Literatur  einfluss- 
jichern  Schriftsteller  des  Auslandes  zu  erwähnen  so  erschienen 
in  die  Neunziger  herein  1.  aus  dem  Englischen  ausser  den 
len"  bezeichneten  Aufgaben :  von  Richardson  die  „Pamela"  von  Fr. 
:hmit,  1772;  die  „Clarissa"  von  einem  Ungenannten  und  Ch.  H. 
Schmid  1704  und  1790  f.;  von  L.  Th.  Kosegarten  1790  ff.;  eine 
Jtildung  f,,Albertine"i  von  Fr.  Scbulz  t7S8  f.;  der  .jGrandison" 
j.  2;  17S0;  17S9  f.;  und  alle  drei  Romane,  „im  Kleinen  entworfen'* 
bcisaranien  17ü5 — 76;  von  Fielding,  nach  dem  oben'*  Angeführten, 
der  ,, Jos.  Andrews*'  1770  und  1784";  die,,  Amalia"  1797  f.;  der  „Tom 


Bc^Unlea  uut«r  die  besten  Arbeiteu  des  Witces  in  anserer  Sprftcbe  Betzeo".  Dem 
aber  nicht  so,  woraus  sich  last  schlie&sen  lasse,  dass  der  Verfasser  —  wie  es 
ilcQ  unserer  goteo  Köpfe  gehe  —  m  einem  Winkel  irgend  einer  Provinz,  ferne 
HI  khtischeu  Freunden  schreibe  und  dadurch  den  Vortheil  entbehren  mUsse, 
inen  Werken  die  letzte  Anafeiinng  angodeihen  zu  lassen.  Derselbe  sei  Übrigens 
Lthia  genug  jrewesen.  an  Richardson  einige  Kehler  zu  ahnden  i  und  dafür  müsse 
in  ihm  dinken.  „Verehren  wir  erst  einmal  einen  Schriftsteller,  besonders  einen 
Lusliinder.  diT  es  aus  hundert  Gründen  verdient,  so  untersteht  sich  fast  niemand 
ihr.  dfn  creringsten  Fehler  an  ihm  wahrzunehmen.  Predigt  voUetidtj  dieser 
^hriftstcUor  Tugeudiehren  ein,  bo  heisst  der  geringste  gegen  ihn  ausgesprochene 
Tadel  die  reine  Folge  eines  eingewurzelten  Uasses  gegen  Tugend  und  Keügion. 
la  darf  ei  denn  wagen,  an  einem  Kichardsou  etwas  auszusetzen?  Mau  bat 
HO  bisher  in  der  Stille  den  Ekel  ertragen,  den  seine  Personen  durch  ihr  unauf- 
Srliches  und  wechselseitiges  ins  Augesicht-Loben  uothwendig  erregen  müssen". 
folgt  BodaDD.  was  man  ausserdem  noch  alles  in  Richardsons  Romanen  habe 
(rtgen  messen  Was  Abbt  an  der  Composition  des  deutschen  Werkes,  an  der 
nlage  und  Ausftihrung  der  Charaktere,  so  wie  an  dem  Stil  tadelt,  ist  im  Ganzen 
ühr  treffend.  In  Bezug  auf  den  letzten  Punkt  heisst  es  namentlich:  es  dfirfte 
iitticb  einmal  Zeit  sein,  die  gellertschcu  Briefe  —  deren  Manier  und  Ton  auch 
jch  in  diesem  Roman  herrschten  —  nicht  mehr  ftlr  unverbesserliche  Muster  zu 
—  Masaeus  arbeitete  später  sein  Buch  völlig  um  und  gab  ihm  den  Titel 
^dcatschc  Graudison.  auch  eine  FamilicDgeschichte".  Eisenach  17S1.  ^2- 
U«,   *.  20)  Vgl.   Bd.  III.  12U.     In  diesem  Werke  „lag  gewissermnsscn 

der  Keim  zum  Agathon".  21)  Nach  Abhts   Bemerkung   in  der   all- 

;n  d.  Bibliothek  I,  2,  97  war  in  diesem  Roman  ..dieStoUung  von  Cervantes 
Farbenmischung   von  Fielding**;    der   hauptphilosophische  Gedanke,    der 
xom  Grunde  liege,  mAgc  dem  Verf.  eigen  ficin  und  könne  ihm  Ehre  machen. 
22)  i  205.  Anm.  29;  §  2*l(i.  Anm.  i*;  $  :m7,  Anm.   lü.        23)  Sti^ti,  Anm.  W. 
24)  Vgl.  aligemeine  d.  Bibliothek  60,  2,  404. 


«V 


160    Vi.  Vom  zveiten  Yicrtel  dei  XVm  Jahrhunderte  bU  zu  Goethe*»  Tod. 


§  307  Jones**  von  Fr.  Scbinit  17S0  f,   und  dann    17S6   ff.**  von   J.  J. 
Bode*^',    der   sich   als  Uebersetzer   in    der  literanschen  Welt  ei 
grossen  Ruf  cnvarb;  von  Sraollet  der  „Percgrine  Pickle"   1769 
von  W.  Cb.  S.  Mylius    1785   und    17S9;    der  „Roderieb    Rando 
ebenfalls  von  Myliug  1790;  die  ^^Reisen  Humpbry  Klinkers"  in  ei 
neuen  AuHa^o  von  Bode's  Uobersetzung  17S5;  von  Goldsmith   „ 
Dorfprediger  von  Wakefield"  in  mehreren  neuen  Auflagen  und  Na 
drucken  von  Bode*s  Uebersetzung;  von  Sterne  die  „Briefe  an  Eli 
in  zwei  Uebersotzungen  1775,  die  eine  von  Bode;  „Yorik's  cmpünil 
same  Heise*'  und  ,, Tristram  Sbandy'^,  von  Bode  übersetzt,  in  ne 
Auflagen  und  Nachdrucken.  2.  Aus  dem  Frauzüsischen  :  von  Ra! 
lais  „Gargantua  und  Pantagruel,   umgearbeitet   nach   Rabelais   un' 
Fiscbart  von  Dr.  Eckstein  (d.  h.  Cb.  L.  Fr.  Sandcr.i    17S5   ff.*"; 
dann,  abgesehen  von  altem,  schon  vor  1760  fallenden  Uebersetz: 
gen.  SciUTons  ,, komischer  Roman**    1782   ff.    und    dessen    ,,tragi 
komische  Novellen'*  1779  und  1791 ;  von  Lo  Sage  der  ^^Güblas" 
Wtlther  176S  und  von  W.  Cb.  S.  Mylius  1779  ff.,  letztere  Ue 
Setzung   Wter   aufgelegt;    „der  Baccalaureus    von  Salanianca"   i 
auch  schon  früher  übersetzt  war)    17S2;    ,,der  lahme  Teufel''    1704 
und  1789;   von  Voltaire  der  „Candida"  von  Mylius   1779,  „Romane 


•  I    25)  LdpK!g.    fi  Bdo.   8.  26)  Geb.  1730  in  Brtunsehfreig.    Er  war 

Sohn  eines  Soldatea  und  TagGlöbners  und  erhielt  eiuen  äusserst  dUrftigeu  Sc! 
Unterricht,  suchte  aher.  während  er  bei  dem  Brauaschveigcr  Stadtmusikua  in 
Lehre  war,  seine  Wiasbegierde  durch  Bücherleaeu  zn  hetriedigeu.  AU  er  oacl 
Hautboist  bei  einem  Re^ment  geworden  war.  gieng  er.  um  äich  iu  seiner  Ei 
zu  vervüUkouunnCD.  mit  Kiuwilli^ng  seiner  Obern  nach  IleirastAdt  zu  einem  gc* 
achicktou  Musiker  und  fand  hier  Gelegenheit,  neuere  Sprachen  und  die 
gründe  der  lateinischen  zu  erlernen.  Da  es  ihm  nach  seiner  Rückkehr 
lang,  eine  Stelle  in  der  braunschweigischen  Uofcapelle,  auf  Jie  er  sich  Iloffbi 
gemacht  hatte,  zu  erhalten,  gab  er  1752  sein  bisheriges  Dienstverhältntss  aaf. 
alti  llaulhüisi  in  ein  hannoversches  Regiment  fu  Celle  einzutreten.  Hier  fuhr 
fort,  sich  wiasonschattlich  auszubilden.  Nach  einigen  Jahren  trat  er  zuerst 
Compuuist,  dann  auch  als  Schriftsteller  auf.  1756  hatte  er  seinen  Abschied 
nommen;  im  nächsten  Jahr  war  er  nach  Uamburg  gezogen,  wo  er  bald  in 
genehme  und  hedeuteude  Vorhinduugeu  kam.  in  den  Freimaurerorden  trat  (ii 
welchem  er  nachher,  so  wie  auch  17S2  unter  den  Illurainaten,  eine 
spielte),  17()2  und  ti:{  den  hamburgiscben  Correspondcnten  redigierte, 
übersetzte  und  dabei  auch  immer  als  Musiker  und  Componist  thAÜg  blieb. 
eine  lloirath  gelangte  er  zu  einem  ansehnlichen  Vermögen;  er  fleng  Ma 
händJergeschaft  an,  bei  dem  sich  auch  Lessing  eine  Zeit  lang  bethciligte.  (and 
dab«i  so  wenig  seinen  Vortheil,  dais  er  17 7^  der  Einladung  dcrCir&tiu  Uemsl 
der  Wittwc  des  bertlhmteu  düuischen  MiniblcTS.  folgte,  mit  ihr  als  ihr  Üebcl 
ftlhrer  nach  Weimar  zn  ziehen,  wo  er  zu  Anfan?  des  J.  1770  eintraf  und  bis 
aeiuen  Tod  wohnen  blieb.  £r  erhielt  von  niehroron  Höfen  Uathstitet  und  i\ 
nachdem  er  noch  eine  Reise  nach  Paris  und  Niedersachsen  gemacht,  1TU3. 
27)  Hamburg.    3  Bde.   ^. 


Entwickelungsgang  der  Literatur.     1773— 1S32.    Uebersotzte  Romane.     161 

rad  Eaählungen"  von  demeelbon  1786;  von  Crebillon  dem  Jüngern  §  307 
lie  „Vftr/Ugli(*li8ten'*  Werke  von  Mylius  1782  ff.;  von  Marivaux  ,,der 
iporgefcomiuene  Landmanu^*  von  Lotich  und  Myliua  17S7  ff.; 
^Marinnens  Begebenheiten'*  1791  f.  und  in  demselben  Jahre  die 
lach  dem  Original  bearbeitete  ,, Josephe"  von  Fr.  Schulz"";  von 
:oQiaw«eau  „die  neue  Heloiae'*"  von  K.  F.  Gramer;  der  „Emil" 
762  ff.  und  von  Cranier  17S9  ff.;  von  Marniontel  der  „Belisar** 
1707  und  1770;  die  ,.Inkas"  et<\  1777,  dann  von  Bode  1783;  die 
(moralischen  Erzähhmgen",  bearbeitet  von  Anton  Wall  (Heyne)", 
Iberseta  von  Schmerler  1791  und  von  Chr.  G.  Schutz  1794  f. 
L  Aus  dem  Spanischen:  von  Cervantes  der  „Don  Quixote",  der 
»ereit«  im  siebzehnten  Jahrhundert  bei  uns  eingeführt  war^'  und  um 
,7^0  das  Interesse  der  Schweizer  in  so  h(»hem  Grade  erregt  hatte^ 
Bodmer  der  Betrachtung  der  beiden  Hauptcharaktere  darin  den 
tnzen  IS.  Abschnitt  seiner  ,, Betrachtungen  Über  die  poetischen 
emählde'*  widmete,  wurde  nach  einer  franzüsischen  Uebersetzung 
den  ersten  drei  Bänden  des  „angenehmen  Passetems'*"  von  einem 
iwissen  Secretär  Wolf  verdeutscht ,  worauf  die  aus  der  Urschrift 
les  Cervantes  und  der  Fortsetzung  des  Avellaneda  gefertigte  von 
F.  J.  Bertnch,  „Leben  und  Thaten  des  weisen  Junkers  Don  Quixote 
von  Mancha*'"  folgte,  in  der  jedoch  die  Novellen  theila  verkürzt, 
theils  weggelassen  waren,  weil  sie,  wie  der  Coberaotzer  meinte,  „in 
den  jetzigen  Zeiten  ein  wirklicher  Fehler  des  Werkes  wären**;  „die 
Abenteuer  des  Pcrsiles  und  der  Sigismunde**  zum    erstenmale  aus 

Idem  spanischen  Originale  verdeutscht  von  Julius  Grafen  von  Soden 
1782";  von  J.  F.  Butenschon  I7S9";  die  „Galathea",  aus  dem 
Französischen  des  Florian,  von  Mylius  1787;  die  Novellen  (Novelas 
pxcmplares),  nach  einer  ungetreuen  franzüsischen  Uehersetzung  1752'', 
ium  erstenmal  nach  dem  Original  von  dem  Grafen  von  Soden  1779". 
you  picjirischen  Romanen  erschien  der  „Lazarillo  de  Tormes*'  von 
Diego  Hurtado  de  Meudoza.  der  schon  1624  verdeutscht  worden,  in 
iwci  neuen  Uebersetznngen"';  „die  Geschichte  des  berühmten  Pre- 
ligcrs  Bruder  Gerundio  von  Campazas,  sonst  Gorundio  Zotes'*,  von 


2ä)  Sie  erschien   zuerst   in  dessen  kleinen  prosaischen  Schriften,   Weimar 

|-!W  ff.  29)  Vgl.  §  205,  Anm.  30.  'Ai))  Bd.  !.    1787.  31 1  Vgl. 

an,  l?>  32)  Frankfurt  und  Leipzig  I7ai— iri.    6  Bde.  %.;  vgl.  allgemeine 

Bibliothek  6.  I,  307;   Biester  im  Anhang  zum  25.-^6.  Bde.  derselben  Biblio- 

S.  :i.'J9S.    Eine  zweite  Auflage  erschien  Leipzig  1753,  eine  dritte  1767;   vgl. 

d.  Bihliothek  a.  a.  0.  33)  Leipzig  117.^—77.     6  Bde.    «  ;   neue 

iPO         34)  Anapach.    4  Bde.   h.        35i  Heidelberg.   *».        36)  Frank- 

trt  und  I>eipzig;  vgl.  Leasing«  s.  Schiiften  3,  375  f.         37)  Leipzig.   2  Öde.  •*. 

3^1  Ulm  I7rt9.   2  Hde.   S,  und  Leipzig  I7S2.   S.;  vgl.  Eberts  bibliographischea 

[^xicon  N.  i37KS. 

KobcMUlo.  Graküri«.    5  Aul.     IV.  \\ 


162     VI.  Vom  zweiten  YiertGl  des  XVTII  Jahrhunderts  bis  za  Goatho*s  Tod. 

307  F.  J.  Bcrtuch,  aber  nicbt  Dach  dem  spanischen  Original,  sondorn 
nach  einer  englischen  Ueborsetzung * ;  das  „Leben  des  Gran  Tacanno", 
von  Quevedo^*;  „der  Nachtschwärmer**,  nach  Quevedo";  „Geschichte 
eines  Kraftgenie's"  etc.,  nach  dem  Spanischen  des  Quevedo"  frei 
umgearbeitet".  —  Die  ausländischen  Einflüsse  musstcn  um  so  fühlbarer 
werden,  je  mehr  der  Geschmack  des  Publicuma  durch  die  ins 
Deutsche  übersetzten  ausländischen  Werke  bestimmt  wurde  und  sich-i 
daran  gewöbnte,  je  cmpffluglichor  unsere  schone  Litcretur  Überhaupt! 
noch  immer  für  alle  Arten  fremder  Einwirkungen  blieb,  je 

die   deutschen  Zustände,    das    öffentliche    wie   das   gesellsch .   __ 

Leben  *^  die  Entwickelung  einer  volksthümiiehen,  Ton  einem  hohem 
poetischen  Geiste  erfüllten,  in  reine  und  schöne  Formen  sich  klei- 
denden Romanliteratur  begüustigten,  und  je  seltener  dabei  eudlich 
unter  uns  Romandichter  von  eigentlich  genialer  Begabung,  roa^ 
wahrhaft  selbständiger  Erfindungskraft,  oder  auch  nur  von  tieferer 
Menscheukenntuiss  und  reicherer  Welterfahrung  waren**.  Hatte  doch 
auch  bei  seinem  Ägathon  Wielaud  die  Anlage  und  die  Form  der 
griechischen  Romane  im  Auge  gehabt;  und  so  werden  sich  auch  unter 
den  [Ihrigen  Romanen  aus  den  Sechzigern  und  den  beiden  folgenden 
Jahrzehnten,  die  von  der  ungeheuem  Masse  der  bloss  für  die  augen- 
blickliche Unterhaltung  geschriebenen  Fabrikarbeiten  als  die  beasi 
und  besten  abgesondert  zu  werden  verdienen  j  neben  Goethe's  Wer- 
ther nur  äusserst  wenige  nennen   lassen,  auf   deren  Anlage  und 


39)  Leipzig  1773.    2  Bde.;  TgL  d.  Merkur  von  1773.    3,  11*5  ff.  40)  Im 

3.   Bde.    voD   Bertachs   Magazin   der  spanischen    and   portuTiesischen   Literatur, 
Weimar  ITso.  S*i.   **.  41)  AJteuburg  I7S2.   ^.    Ißt  das  Original  mit  dem  derJ 

folgenden  Bearbeitung  dasselbe?  42)  HiBtoria  de  la  vida  de]  Bubcuq  IbunaUo 

DoD  PabloB.  43)  Uamburg  17S9.    S.  —  Wie  unzählig  viele,  nicht  alltiu  bloss 

mittcltnitöüige .   sondern   ganz  elende  und  uicbtswürdiiire  Romane  und  Rra&hlangcn 
ausserdem,  besonders  seit  df>n  achtziger  Jalireu  aus  dem  Französischen  und  Knf- 
Uschi?u  übersetzt  vurden,  kann  mau  scbuu  beim  tiUcbtigsten  Durchblättern  einiger] 
Jahrgänge    der  allgemelnea  d.    tiibHothctt   und  der  Jenaer  ullgemeincn  Literatur- 
Zeitung  sehen.  44)  Lichtenberg  wies  mit  seinem  Fragment  „über  den  deut* 
6chen    Roman'*   (Termiscbtc   Schriften    1 ,  Sl  ff.)   zwar  nur    iu   scht^-zendcr   ui 
ironischer  Laune  darauf  hin,  wie  gewisse  VerhlUtnLssc  und  Einrichtungen  im  Leben,] 
die  den  Deutschen  ganz  abgiengen.   in  England   den  RomanscUreibern   Uire  Kr< 
findungCQ  erleichterten;  allein  durch  seine  Laune  bückt  die  ernste  Meinung  drut' 
lieh  genug  durch,  daas  in  Deut&chlnnd  überhaupt  ein  &ehr  milderer  und  weuig 
Sunden    und    kri^ftigon  Krtrng  gewährender   Uodcn  für  diejenige  Literatnrg.'ittun^j 
Mi,   die,    nach  Mercks  Krklurunf^  (d    Merkur  von  1770.     1,  272  f.),    „eigrntJichj 
nicht«  anders  sein  soll  oIh  Nachbildung   di?s  getieUschaftlicfaen  Lebens  und    bc" 
sonders  der  Sittcnmassc  der  Zeit,  worin  die  Verfasser  scbreibcn".  45»  Vffl< 
Lichtenberg  in  den  S.  90.  Anm.  IM  angeführten  Stücken  und  Mercks  S    93  f.  \m\ 
Auszüge  luitgeiheilten  Aufbatz  im  d.  Merkur  von  177^.    1,  -IS  ff.     Vieles  dort  um 
hier  Gesagte   passt  voruehmlich  auf  die   Vorfasser   unserer   humoristiachen   uodj 
pragmatischen  Uomaav  der  siebziger  und  achtzigeT  Jahre. 


Eniwickoluiig*u:in;:  '^'*»'  LJttTHiur.     1773— 1S32.    Romane.    Hermefi.      1Ü3 

Ltisfilbrung  niclit  einer  oder  der  andere  Augländer,  sei  es  Kichard-  §  307 

lu  (»der  Fielding-  mit  Smollel  und  fioldsmith,  Sterne  oder  Cen'antea, 

Be  epanisohen  Verfasser  der  sogenannten  picariscbeu  Komane  oder 

re  französischen  Nachfolger  Scarron  und  Le  Sage,  Rousseau  oder 

^oltaiic   mit   MarivauXj   CrebUIon    dem   Jüngern   und  andern  Fran- 

►?en,  in  irgend  einer  Weise  deutlicher  oder  versteckter  eingewirkt 

dien.    Im  Ganzen  jedoch  blieben  von  allen  diesen   ausländischen 

liollnssen  diejenigen,  welche  von  den  Engländern,  namentlich  von 

Üchardgon,  Fielding  und  Sterne  ausgiengen,  die  wirksamsten,  nach- 

laltigfften  und.  in  einer  Beziehung  wenigstens,  auch  die  fördersamsten, 

Denn  wenn  durch  sie  sowohl  der  innere  Chaiakter,  wie  die  üjissoro 

'orm   und    die  ganze  Behandlungsart  der  bessern   deutschen  Erfin- 

itiDgeu  Oberhaupt  am  meisten  bestimmt  wurden,  so  trugen  sie  noch 

Besondorn  ganz  vorzüglich  dazu  bei,  dass  die  deutschen  Roman- 

:breil>er  von  Wielands  Verfahren  —  die  Stoffe,  wo  nicht  aus  räum- 

icher  oder  zeitlicher  Ferne  herzuholen,  doch  in  der  für  sie  gewähl- 

m    Einkleidung  dahin   zu  verlegen  —  bald  abwichen,   indem   sie, 

d  dem  gleichen  Streben,  Charaktere,  Sitten  und  Begebenheiten  der 

irklicbkeit  30  treu  wie  möglich  nachzubilden,  ihre  Gemähide  lieber 

1/  dem  Grund  des  heimischen  als  eines  fremden  Lebens  auftrugen 

8ie  in  dem  Costume  und  der  Umgebung  entweder  der  unmittel- 

n  Gegenwart  oder  der  jüngsten  Vergangenheit  ausführten.     Ein 

leiapiel  der  Art  hatte  zwar  Musaens  schon    1760  gegeben;   es   war 

«•  ohne  Nachfolge  geblieben.    Es  schien,  als  fehlte  es  unsern 

■  Hern    noch    an    dem    Glauben ,    dass    ein    in    Deutt>chland 

spielender  Komau  fUr  gebildete,  an  die  Erfindungen  des  Auslandes 

rowi'ihute  deutsche  Leser  von  Interesse  sein  kannte.   Auch  Johann 

imolheua  Hermes"  hatte  noch  in  dem  ersten  Versuch,  den  er  im 


46^  Gel).  M'A^  zu  Petznick  bei  SUrgard  in  romnii'iti.  Sein  Vator  war 
und  in  verschiedenen  Fächern  ein  tiichüger  (ielehrter;  di«  Mntter  blieb 
>ia  Leben  liuig  üaa  Muster  echter  Weiblichkeit,  Uatt  ihm.  nach  seiner  eigenen 
Icberung,  in  »einen  Schriften  iiherttll,  wo  er  aber  dus  Weib  spricht,  vor  Augen 
:fawebt  haL  Die  gei&ti>fen  Anlagen  dfs  Knaben  entwickelten  sieh  so  ungleich- 
issig,  daaa  er  zw  dcrgelben  '/Mt  in  einigen  lleziehungen  für  ein  i'rühreifeudea 
»«lie  and  in  underu  tiir  einen  Uumnikopf  gelten  konnte.  Erst  in  seinem  achten 
ire  gbch  sieb  in  Folge  einer  Ivrarikheit  dieser  luilTallende  Widerspruch  in  seiner 
Nainr  ^luckltch  aus.  r>eu  ersten  l'nterricht  erhielt  er  ihcila  von  dem 
p,  tb^iU  von  einem  geschickten  Hauslehrer;  später  kam  er  aul  das  Gymnasiiuu 
trganl,  lon  wo  er  nach  Kt'nigsbcrg  gieng.  um  Theologie  zu  studieren.  Dort 
OMHte  «r  üch  im  Anfange  sehr  ktioimerlich  behellen.  fand  aber,  als  er  sich  in 
i&ff  b««t«D  U&uber,  besondere  durch  seine  Kemiluisfr  der  frauzöstschen  Sprache, 
Zatriu  zu  ver&ohaffcfi  wusste,  allmahlig  so  viel  l'ntersttitzung,  dass  er  etwas  ge- 
■AdUicber  leben  konnte.  Von  seinen  Lehrern,  zu  denen  auch  Kant  gehört«, 
Mhm  lieb  vorzüglich  der  Professor  Arnold  seiner  an.    £r  machte  ihn  u.  a.  aucb 

11' 


IÖ4     VI.  Vom  z weilen  Vierlei  dos  XTIII  JalirlitinderU  bis  zu  Goetbe'a  Tod 

307  Stil  der  eugliseben  Fiimilienromane  machte  und  womit  er  1766  her- 
vortrat,   in  der  „Geschichte  der  Miss  Fanny  Wilkes''"  den  Schau-, 
platz  der  Begebenheiten  nach  England   verlegt;  ja   er  meinte  »eil 
Werk  deutschen  Lesern  von  Geschmack  durch  nichts  mehr  em])feh!en 
zu  können,   als    durch    die   gleich    auf    dem   Titel    au9i,-e8prochene 
Versicherung,  dasselbe  sei  „sn  gut  als  aus  dem  Englischen  übersetzt". 
Es  war,    wie  auch  der  nächstfolgende  Roman,    in   einer   gewissen 
mittlem  Manier  zwischen  der  richardsonschen  und  fieldingschen  ab- 
gefasst,   so  dasa  darin  eine  weitere  Fortbildung  der  von  Geliert  b( 
uns  eingeführten  Roraanform  vorliegt.    An  Kunstwerth  steht  Herrn« 
Erfindung  nicht  viel  höher  als  das  „Leben  der  scbwedisclien  Gräfin*'j; 
am  ungeniessbarsten  sind   die  Partien,   in  denen   der  Verfasser  au 
eine  ganz  läppische  Weise  humoristisch  sein  will.    Zum  Beleg  kam 
gleich  das  erste  Kapitel   dienen,    worin  Hermes  sich  auch  auf  dea^ 
Gnmd  einlfllsst,  der  ihn  bestimmt  habe,  auf  dem  Titel  nicht  nur  jene 
Versicherung  anzubringen,  sondern  auch,  um  das   Buch   noch   kräf- 
tiger zu  empfehlen,   die  Worte  „so  gut  als"  mit  so  kleinen  Lettern 
drucken  zu  lassen,  dass  sie  wenig  ins  Auge  üelcn  und  das  Buch  im 
Messkatalog  um  so  eher  als  schlechthin  „aus  dem  Englischen  über- 
setzt"   aufgeführt    werden    könnte.      Dass    Übrigens    Hermes    xan 
richardsonschen  und  fieldingschen  Romanen   nicht   bloss   seinen  0» 
Bchmack  gebildet,  sondern  auch  aus  denselben,  namentlich  aus  dei 
Grandison,  ganze  Charaktere  als  Copist  in  den  seinigen  Ubcrtragci 
habe,    w^urde   schon   gleich    nach    dem  Erscheinen   der  Miss  Fann; 
Wilkes  von  Musaeus"  bemerkt.     Noch  war  also  kaum   ein  Anfaj 
gemacht,  dem  Mangel  an  deutschen  Originalromanon,  w(»rUber  zeitb« 
schon  80  viel  geklagt  worden,  abzuhelfen ;  aber  die  Zeit  wurde  siel 
wenigstens  immer  mehr  darüber  klar,  wo  die  Gründe  dieser  Armutb,^ 


mit  HichardsoDS  Grandison  bek&unt  und  veranlaaste  Ibn  zu  einer  eignen  Art  t( 
Ausarbeitung  eiuea  Abschnitts   seiner  Vorlesungen  Über  Moral,   die   6o   sehr 
seiner  Zufriedenlicil  ausfiel,  dass  er  gegen  Hermes  äusserte:   er  kflnnte,  wenn 
fortfahre,  seine  Beobachtungen  und  Erfahrungen  in  dieser  Weise  niederzu schreib«! 
dereinst  ein  deutscher  Richardson  vrcrden.    Diess   war  im  Jahre  175^,   und  m 
fleug  auch  Hermes  gleich  an  ^.dto  ganze  Moral    des  Weibes  in   der  Form  seil 
gemachti^r  Krfuhrungpn   niederzusth reiben"  und  damit  gewiss ermassen   schon 
(•rundlinien  zu  seiner  ganzen  nachhcrigen  Sehriftstellerei  zu  xiehen-  AkerKi 
lierg  verliesfi,  gieng  er  als  Ilauslelirer  zuerst  nach  Diinzig  und  von  da  nach 
wo  er  seJueo  ersten  Roman    schrieb.     Nachdem    vt  eine  Zeit   lang  Lehrer 
Kitlcrakademie  in  Brandenburg  gewesen,  erhielt  er  eine  Anstellung  als  FeM|>re<)i| 
bei  einem  preussischen  Regiment,    das  seinen  Standort  in  Schlesien  hatte, 
bald  darauf  anhält  kOthenschcr  Huf-   und  Schloss predige r   in   Pless  und   von  da 
1*73  nach  Bresliin  berufen,  wo  er  seitdem  bis  zu  seinem  Tode  versehie<lene  get»l 
liebe  Aemter  verwaliote.    Er  starb  l*!21.         47 1  Sie  erschien  zu  Leipzig  in  xi 
OctaT-Üündeu;   neue  Auflagen   17Tn  und  I7M.  4S)  In  der  allgemeinen 

Bibliothek  tl.  1,  SO  IT. 


Entirickduugsgaog  der  Literatur.     1773— IS32.    Itomane.    Hermes.      165 

wenn  aiu:h  nicbt  aiiHscliliesslk-li.  doch  zunächst  zu  suchen  seien.  So  §  307 
vfie»f  als  1767  in  Klotzcna  deutscber  Bibliothek  der  schönen  Wissen- 
schaften Wielands  A^athon  angezeigt  und  beurtheilt  wurde  **,  der 
Recensent  auf  einen  der  nächstliegenden  Grllnde  sehr  bestimmt  und 
sehr  verständig  hin.  „Wie  lange",  äusserte  er  sich,  „werden  docb 
noch  die  deutschen  Schriftsteller  nach  fremden  Ländern  betteln 
geben?  So  hat  schon  sehr  oft  mancher  Patriot  gefragt  und  vielleicht 
eben  so  oft :  warum  scbaflen  sich  die  Deutscheu  keine  National- 
romane? Ich  will  hier  nicht  Gründe  und  GegengrUnde  abwägen. 
Genug,  dass  wir  eben  so  gut  wie  andere  Nationen  Grandisons  und 
Clevelande  aus  unserm  Mittel  könnten  aufstehen  lassen ;  genug,  dass 
wir  noch  keinen  einzigen  wahrhaft  deutschen  Roman  besitzen ;  genug, 
wenn  doch  einmal  Romane  geschrieben  werden  mtlssen,  dass  es 
recht  und  billig,  dass  es  sogar  von  ungleich  grösserem  Nutzen  sein 
Irde,  wenn  wir  nach  dem  Bei8|iiele  aller  andern  Nationen  fein  zu 
ic  blieben  und  unser  eigenes  Vaterland  erst  studierten,  ehe  wir 
unter  andern  Völkerschaften  herumliefen  und  nicht  den  Gelehrten 
glichen»  die  die  alten  Ae^vpter  oder  die  Hottentotten  genauer  kennen 
als  ihre  eigenen  Landslcute.  Noch  nicht  laug<^  ist  es,  dass  Hermes 
nach  England  schiffte  und  uns  eine  niedliche  Fanny  Wilkes  mit- 
brachte, und  Wielaud  reiset  gar  mit  vielen  Kosten  nach  Griechen- 
land, um  uns  einen  Aguthon  zu  holen."  Erst  in  seinem  zweiten 
Romane,  „Sopbiens  Reise  von  Memel  nacb  Sachsen",  die  seit  1770 
herauskam**,  hatte  Hermes  nach  dem  Vorbilde  der  englischen 
Familienromane  eine  rein  deutsche  Geschichte  mit  Charakteren  und 
Itten  aus  dem  Mittelstande  erfunden  und  damit  auch  erst  den 
rentAcben  Roman  dem  Leserkreise  ganz  nahe  gerückt,  auf  dessen 
Empfinglichkeit  für  poetische  Erzeugnisse  der  Heimath  damals  am 
meisten,  wo  nicht  allein,  zu  rechnen  war.  Wirklich  erregte  dieses 
Werk  auch  sehr  grosses  Aufseben,  so  wenig  kunsigerecht,  ja  so  ver- 
worren seine  Anlage,  und  so  geringfügig,  bei  einer  breiten,  zerfah- 
renen, oft  platten  und  witzelnden  Schreibart,  sein  von  einer  Menge 
erbaulicher,  moralisierender  und  lehrhafter  Auswüchse  überwucherter 
dicbterischer  Gehalt  war.  Seine  Theorie  von  der  Anlage  und  Aus- 
fnhrung  eines  deutschen  Originalromans,  wie  er  ihn  sich  dachte,  bat 
Henne«  in  dem  zwölften  Briefe  des  ersten  Theils  in  einer  Reihe  von 
Sitzen  skizziert,  die  er  einer  Person  in  seiner  Geschichte  in  den 
Mnnd  legt;  und  fast  allen  einzelnen  Punkten  dieser  Theorie  ent- 
spricht denn  auch  die  von  Hermes  in  seinem  weitschweifigen  Werke 


A9)  Bd.  1,  S.  11  ff.  50i  Leipsig  \"u~'2,  fünf  TheUc.  8  ;  zweite,  Btitrk 
verzDehite  und  verbesserte  Ausgabe  in  t>  Theilea  1775;  dritte  (eben&lls  sehr  er* 
veiicrte)  n~&.  auch  verschiedeutlich  oachgedruckt. 


t66     VJ.  Vom  zvdteu  Viertel  des  XVIIl  Jahrhundcrta  bis  zo  Gofithe'i  Tod. 

307  beobachtete  Praxis.    Die  Hanptabsicht  bei  seiner  ganzen  Erfindui 
gibt  er  in  der  Voircde  zum  zweiten  Tbeil  der  ersten  Aiijagabe  dui 
einen  Wink   zu  erkennen:   er  wollte  auf  eine  „unpedantische"  Ai 
„unterrichten",  und  zwar  vornehmlich  als  Sittenlehrer  im  weil 
Sinae,  nach  den  Grundsätzen  seines  rationalistischen  Chrislenlh! 
Vortrcftlich  ist  die  kurze,    im  Tone  der  feinsten  Ironie  ^eschriebci 
Charakteristik,    die  Merck    auf  Wielands  Verlangen"   von  Hennei^ 
und  dessen  Roman  für  den  deutschen  Merkur  "^^  lieferte.    „Es  ist  in 
der  Tbat  merkwürdig  für  unsere  Zeit",    hcisst   es    hier,    ,,da8S  ein 
Geistlicher  von  so  mannigfaltigen  Gaben   sich  den   kleinem  Bcdttrf-, 
nissen  der  Gesellschaft  aufopfert  und  die  Moral,  die  sonst  die  Heri 
dieses  Standes  nur  en  gn»8  umzusetzen  gewohnt  sind,  durch  eine 
gefällige  und  gemeinnutzige  Schrift  en  detail  in  aller  Hände  zu  brii 
gen  sacht     Diese  Absicht,  so  wie  der  unterhaltende  Stil    des  Ver- 
fassers, die  Geschmeidigkeit  seines  Geistes,  Sprache  und  Bedtlrfniwe 
aller  der  Charaktere  anzunehmen,  die  er  aufstellt,  lassen  auf  seioQ^ 
Eanzelberedsamkeit,  auf  die  Popularität  und  Gemeinnützigkeit  seini 
Vortrages  die  gegründet  vortheilliaftcsten  Schlüsse   machen:  so 
die  Strenge  seiner  Grundsätze  —  die  allen  Personen  seines  Roi 
einen   ganz   eigenen   und  von   den  Personen  alter  Dbrigen  Romai 
abgehenden  Umrisss  geben  imd  daher  die  Situationen,  in  die  er  9M 
setzt,  eher  zu  wunderbaren  und  die  Neugier  aufreizenden  Schickun- 
gen des  Himmeis  als  zu  dem  Erfolg  ihrer  eigeuen  Gesinnungen  um 
Handlungen  stempeln   —  seine  Orthodoxie  und  Gewissenhaftigkei 
ausser  allem  Zweifel  setzt.     Zudem   hat   er  das  Laster  sowohl  zi 
Warnung  des  milnulicben  als  des  weiblichen  Geschlechts  in  —  leinigei 
Personen  —  so  sichtbar  zu  strafen  gewnsst,    dass  in    der  Tbat    ein"^ 
«olcher  Roman  wegen  seines  moralischen  Zwecks  eine  unsern  Zeiten 
»ehr  angemessene  Wohltbat  bleibt."    Wieland   hat  hierzu  einen  Zt 
satz  gemacht,  worin  er  u.  A.  treffend  sagt:  mau  dürfe  Hermes' 
man  (wenn  das  Werk  ja  ein  Roman  heisson  sollte)  nicht  nach  dei 
Gesetzen  der  poetischen  Composition  beurtheilen.     Er   sei   so  weui| 
ein  Werk  des  Dichter-Genius,  als  ein  treuer  Ahriss  der  Menschheit; 
er  sei  vielmehr  ein  Buch,  worin  ein  Mann  von  nicht  gew(>hnlichi 
Talenten,  mit  dem  besten  Willen  für  das  Wohl  seiner  Kebenmensrboni 
alle  seine  Welt-   und  Meuschenkcnntniss,   alles    was   er    iu    »eiui 
Kopf  und  Herzen  mittheilungswürdig  hielt,   und   hanptsfichlich   seil 
System  ober  Religion  und  Moral,  unter  der  angenehmen  Einklcidui 
einer  Geschichte,  in  einer  stätcn  Abwechselung  von  Erzählung,  Od-, 
sprachen  und  Monologen,  vortrage,   weil   er   nun  einmal  ein  Buchj 
und  ein  gemeinntttzlicbes  Buch^  sehreiben  wollte  und  diese  Art  der 


51  f  Vgl   Briefe  an  Mcrvk  1^35.  S.  3ti  und  daza  S.  9(K         52)  1776.  1,  tOft« 


Entwickclungsgaug  der  Literatur     17*3 — 1833.    Komanc 


167 


Einkleidung  für  die  gefälligste  uud  iutere^santeBte  hielt".  Trotzdem  §  307 
wurde  der  Roman,  besonders  in  den  gebildeten  Mittelklassen,  mit  so 
Tielem  Beifall  aufgenommen,  dass  nun  auch  andere  Romanftcbreiber 
ermuthigt  werden  mussten,  in  den  rfiumlichen  und  zeitlicben  Ein- 
rabmungen  ihrer  Gescbicbten,  in  der  Wahl  der  Charaktere,  welche 
dai^^teüt,  der  Sitten,  welche  geschildert  werden  sollten,  dem  von 
Hermes  gegebenen  Beispiele  zu  folgen. 

§  308. 

Indessen  so  bald  sich  jetzt  auch  unsere  Romanschreiber  im 
Allgemeinen  für  die  Heimkehr  zu  dem  Heiraatblieben  in  den  Gegen- 
Bt^ndcn  und  in  der  äussern  Gewandung  ihrer  Werke  entschieden, 
und  so  bemerkbar  diess  bereits  um  die  Mitte  der  Siebziger  wurde, 
mit  so  geringem  Ernste  schienen  sie  es  darauf  anzulegen,  ihren 
Erfindungen  auch  von  Seiten  der  innern  Behandlung  in  Form,  Stil 
und  Ton  zur  Originalität  zu  verhelfen.  Hierin  riobteten  sich  die 
allermeisten  fortwährend  mehr  oder  weniger  nach  fremden  Vor- 
bildern. Je  mannigfaltiger  aber  und  je  verschiedenartiger  diese 
Vorbilder  waren,  die  binnen  kurzer  Zeit  nttch  uud  neben  einander 
bei  uns  eingeführt,  Übersetzt  und  nachgeahmt  wurden,  desto  eher 
liefen  nun  auch  noch  in  unsern  Romauen  die  besonderen  Arten  und 
Richtungen  der  ausländischen  in  einander,  und  desto  leichter  ver- 
mischte man  darin  die  verschiedenen  Formen,  Manieren  und  Töne 
ihrer  Verfasser.  So  wahrte  man  nicht  einmal  irgend  einer  der  von 
aiiswilrts  eingeführten  Sonderarten  des  Romans  beim  Nachbilden 
ihren  Charakter  in  der  Bestimmtheit  und  Reinheit,  worin  man  ihn 
flbemommen  hatte,  geschweige  dass  man  es  dahin  gebracht  hätte, 
ihn  ira  volkstbümlicb  deutschen  Geiste  zu  ähnlicher  oder  gar  gleicher 
Bestimmtheit  und  Reinheit  umzubilden.  Eine  Elgeuacbaft  ist  es 
vorzüglich,  die  sich  durch  die  ganze  Gattung  hindurchzieht  und  bei- 
nahe in  jedem  unserer  beachtenswerthcm,  nicht  in  der  grossen  Masse 
der  blossen  Unterbaltungsscbriften  begriffeneu  Romane,  gleichviel 
welches  Inhalts  uud  welcber  Form,  wiederkehrt:  die  in  die  Zeich- 
nung der  Charaktere  und  in  die  Erzählung  der  Begebenheiten  ge- 
legte pragmatisch-lehrhafte  Tendenz.  Sie  ist  schon  erkennbar  genug 
in  den  ältesten  hierherfallenden  Productionen  dieses  Zeitraums,  deren 
vorhin  gedacht  worden  ist;  sie  bezeichnet  ganz  besonders  den  Geist, 
welchem  der  Agatbon,   der  goldene  Spiegel  und  Sophiens  Reise 

^fasst  sind;  und  sie  wird  seitdem  so  vorherrschend  in  diesem 
Literaturzwetge,   dass  auch  Schriftsteller  aus  Goethe*s  Kreise,  wie 


53t  Vgl.  den  Aufsatz  von  Prutz  „Sophiens  Reise"  etc.  in  dessen  Üterarhistori- 
tcben  Tascbeubucb.    Jahrgang  1^4^,  S.  3.S3ff. 


m§ 


lOb     VI.  YoiQ  zweiteo  Viertel  des  XVUI  JahrbaudcrU  bu  zu  üoeÜie*6  Tod. 

308  F.  H.  Jacolii  und  Jung,  oder  aus  dem  Güttingcr  Verein,  wie  Miller, 
Bobald  sie  Kouane  selireiben,  ihrmelir  oder  weniger  hutdigeii.     Ei 
anderer  Ilauptzug,  in  dem  sieb  wenigstene  viele  der  bier  in  Betrat 
kommenden  Erfindungen  gleichen,  und  an  dem  sich  nocL  viel  mebr 
als  in  der  pragmatisch  Ichrliuften  Tendenz  das  innere  gegensaulicbe 
Verbältniss   der   ganzen  KlaBsc   zu   den    von    den   kraftmänniscben 
Genies  bervorgebracliten  Werken  beniuBBtellt,  ist  das  Humoristisobe 
in  der  Auffassung  und  Behandlung  der  (jargcstellten  Personen ,  B 
gebenbeiten,  Verhältnisse  und  Situationen.     Schon  durch   den  Ein- 
fluss,    den    einerseits  Cervantes   und    die   fremden   picarischen   oder 
Scbelmeu-Romane,  andererseits  FiehUng  und  die  ihm  zunächst  ver- 
wandten Engländer   auf  unsere  Schriftsteller  ausübten,    vorbeieiu 
und  eingeleitet,  that  sich  die  humoristische  Darstellungsform  bei  um 
doch  erst  seit  der  Zeit  recht  hervor,  wo  man  in  der  Nachahmunj 
der  Werke  Sterne's  von  Yoriks  emj>findsamer  Kcise  zu  dem  Tristi 
Sbandy  Ubergieng.     Diess  geschah  ungefähr  zugleich  mit  dem  erstei 
bedeutenden  Auftreten  der  jungen  Sturm-  und  Drangninuner',   um 
80  wie  in  der  von  diesen  eingeschlagenen  Uauptrichtung  Shaksjiean 
das  grosse  Vorbild  war,   so   sahen   viele   von  unsern  pragniiitiscbci 
Romanscbreibcm  in  Stenie  ihr  höchstes  Muster'.    Die  Hauptvertreti 
dieser  huraoristiachen  Richtung  während  der  siebziger  und  achtzigei 
Jahre,    wenn    wir    von    Wicland    bier   absehen,    sind:    Fried ric 
Kicolai,  dessen  erster  Roman,  „das  Leben  und  die  Meinungen  d< 
Herrn  Magisters  Sebaldus  Nothankcr"  1773  ff.  ei-schien*  und  desci 
, »Freuden   des  jungen  Werthers"^   wegen   ihrer  Einkleidung  in   ds 
Gewand   des  Romans  gleichfalls  hierher  gehören;    Johann    Kar! 
WezcTy  von  dessen  Romanen  der  ei-ate,  „LebeusgeBchicbte  Tobi] 


k 


§  308,  1)  Die  Humoristik.  wie  bIc  sich,  besooders  tm  AofichJuBs  an  Sttm%^ 
bei  ans  entwickelte,  battc  ihrcu  licferu  Grund  nicbt  minder  kh  die  Starkgcisler«! 
der  Originalgenies  und  die  sich  in  beidt;  eiudräiigeudc  Kmptindfiamktnt  In  jei 
Zcitstimmung,  von  der  nach  dem  siebenjährigen  Kriege  besonders  die  deuUcI 
Jugend  ergriffen  uud  beherrscht  war«  in  dem  sich  Überhebenden  Sclbstgefobl  d( 
Sulgects  gegenüber  den  bcBtehcndcn  objectiven  Verhältnissen  in  Staat,  Kirct 
Gesellschaft,  Literatur  (vgl,  Dd. III,  l(i — 20|;  nur  dass  sich  dicEcs  in  der  llumuri-^ 
Btik  bei  veränderter  Stellung  des  Snbjects  z\i  diesen  Verhaltnis&cn  und  der  da- 
durch bedingten  Verscliiedenheit  ihrer  Auffussung  nach  einer  andern  Richtung  hin 
offenbarte  ivgl.  ?.  U*  r.  uud  dazu  Gervinuä  &\  14rt  ff.\.  2)  „Wie  man  den 

wilden  Genius  Shakspeare  jetzt  auf  dem  Theater  nachahmt  und  doch  Originalccist 
beisseu  will**,  schrieb  im  Spätherbst  17T&  Hamler  an  Gebier  (Fr.  Schlegels  d. 
Museum  4,  U<l  f.j,  „so  will  Jetzt  jeder  scherzen  wie  Sterne^'.  <i)  Berlin  ttad 

iäteitin.    3  Bde.   h.  4)  Vgl.  S.  '1.  5|  Geb.  1747   zu   Sonder^baasai. 

studierte  seit  I7(i|  in  Leipzig,  wo  er  bei  Geliert  eingt.*fübrt  war,  wurde  1769  llof- 
meister  in  einem  griUlichcu  Hauec  der  Lausitz  und  machte  dann  Beison,  die  iha^ 
auch  nach  London  and  Paria  und  zuletzt  nach  Wien  fahrten.    Hier  war  er  ciae 


^Knauts   doä   Weisseu''"    auch    der'  nierck würdigste   und   beste   ist;  §  3( 

Musiicus,  dossou  Roman  „Graudison  der  Zweite"  bereits  erwiibnt 

^vurde\  und  der  einen  zweiten  bierher  gehörigen  Roman  ppbystogno- 

^Büscbe    Reisen^'    herausgab ' ;    von    H  i  ]>  ]» e  1 ,    von    dessen    beiden 

Romanen  der  filtere^  ,, Lebensläufe  nach  aufsteigender  Linie'**  auch 

der  bei  weitem  vorzllglicbere  und  überhaupt  der  bedeutendste  unter 

I      allen  unseru  vor  dem  Beginu  der  Neunziger  erschienenen  humnristi- 

'      sehen  Romanen  ist;  Johann  Gottwerth  Müller"*,  <ler,  nachdem 

er  schon  manches  Andere  geschrieben  hatte^  1779  den  „Siegfried  von 

Lindenberg**"  herausgab^  mit  dem  er  sich  gleich  im  Fach  des  komisehen 

Romans    einen    bedeutenden    Ruf    erwarb,    und   Freiherr  Adolf 

von  Kaigge*^  dessen  bekannteste  von  allen  seinen  Schriften  (er 

Zeit  lang  Theaterdichter  und  genoss  der  besondern  Gnade  des  Kaisers  Joseph  II 
Na4:b<l«ra  er  von  Wien  Da<.'h  Leipzig  gegangen  und  hier  geisteskrank  gevordeu 
war,  kiUD  er  17S6  wieder  nach  Sondershausen.  Kr  Ichte  nuu  iu  stiUem  Wahnsinn 
abgesondert  von  aller  Welt,  gieng  fast  nie  bei  Tage  aus,  streifte  dagegen  Nachta 
in  W&ldern  und  eiogameQ  Gegenden  umher ;  seine  Bedürfnisse  bestritt  er  anflng- 
bch  mit  den  Ersparnissen  von  seinen  Schriftstellerhonoraren,  später  unterstützten 
ihn  der  sondersbäasische  Hof  und  eine  Gesellschaft  von  Menschenfreunden.  Kin 
[ersucb,  ihn  ISOo  von  einem  Ärzte  iu  Altona  herstellen  zu  lassen,  schlag  fehl, 
»ch  IS04  erschienen  zu  Krfnrt  in  vier  Bäudchcn  „Werke  des  Wahnsinns  von 
r<ml  dem  Oottmenschen'*  (auch  unter  dem  Titel  ..Oott  Wezeis  Zuchtruthe  dos 
■hengeschleebts"»,  die  zwar  von  anderer  Haud  heraus^zegebcn  wurden,  aber 
fiul  ptnc  so  lon  WeKCl  selbst  verfasst  sein  sollen.  iDass  Wezel  dies  Werk  wirk- 
icb  verfasftt  habe,  wird  von  einem  Sundershäuscr  sehr  bezweifelt  in  der  Zeitung 
die  elegante  Weit  tsOö,  St.  4H,  Sp.  5S7}.    Er  starb  erst  IS19.  6)  Leipzig 

n"4    75.    4  Bde     S.  7)  Vgl.  5  30T,  Anm.  17.  S)  Zuerst  gedruckt  Aiten- 

bürg  1778.  79.    4  Hefte.   S.  9)  Berlin  I77s— Sl.    n  Bde.  nebst  Beilagen.   8. 

10)  Geb.  1744  zu  Hamburg,   war  zuerst  Buchh&ndler  in  Itzehoe,   gab  aber 
F72  sein  Geschäft  auf  und  lebte  fortan,  im  Genuas  eines  Jahrgeldes,  das  ihm  der 
von  Dänemark  auszahlen  Hess,  als  Privatgelehrter  in  Itzehoe,    wo  er  tS2b 
1  I)  Hamburg  in  ^.;  anfänglich  nur  in  einem  Bande,   woraus   später, 
:hi  xum  VorUiKÜ  des  Ganzen,  vier  Theile  wurden.  12)  Geh.  17.S2  auf  dem 

ite  seines  Vaters  Dredenbeck  bei  Hannover,  wurde  durch  geschickte  Hofmeister 
»dtTweitigun  Privatunterricht  zum  akademischen  Studium  vorbereitet,  das  er 
*tn  G^ttingen  begann.   Schon  anderthalb  Jahre  darauf  ernannte  ihn  wahrend 
thxn  Desuch>i   iu  Cassel  der  Landgraf  von  Hessen  zum  Hofjunker  und  Astessor 
_bei  dff  Kriegs-  und  Domaiuenkammer ;  doch  erhielt  er  so  lauge  Urtaub  zurRUck- 
nach  Götiiugen,   bis   er  seine  Studieu   beendigt   hatte.     I77'i   trat  er  seinen 
icnet  in  Casse]  an.    Er  verwaltete  hier  verächiedene  Aemter,  und  es  eröffneten 
;h  for  seine  Znkunft  die  günstigsten  Aussichten,  als  die  Umataudc.  in  welchen 
:b  die  ihm  von  seinem  Vater  hinter  las  äcnen  Guter  befanden,  ihn  nöthigten,   um 
le  EotUssong  einzukommen  und  in  seine  Hcimatb   zurückzukehren.    Nachdem 
•ich  tbciU  hier,   tlieils  wieder  in  Hessen  eine  Zeit  kng  aufgehalten  hatte,  be- 
lle er   mehrere  deutsche   Höfe,  so  wie   El&ass   und  Lothringen.     1777   cr- 
rom  Herzogß  von  Weimar  die  KammerhermwUrde.    In  demselben  Jahre 
eich  mit  seiner  Kamille  in  Hanau  nieder,   von  wo  er  1T80  in  eine  länd- 
IVobnung  dicht  bei  Frankfurt  a.  M.  zog.    Zu  dieser  Zeit  kam  er  in  nähere 


EntwickeluDgsgang  der  Literatur.    1773— 1S32.    Humoristische  Komane.     169 


170    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrliuntlertt  bis  ta  Goetho'a  Tod. 

§  30S  gab  sich  auf  dem  Titel  derselben  Öfters  andere  Namen,  B.  NMdmai 
Spiessglas  etc.)  heut  zu  Tage  noch  die  sehr  oft  aufgelegte  „über 
Umgang  mit  Menseben"  ist'*,  und  von  dessen  Romanen  die  ält< 
„der   Roman   meinea   LebcuB'"'    und  „Geschichte  Peter  C!u«8cn«' 
sind.  —  Alle  diese  deutschen  Humoristen  kamen  indesa  grö«stcnlh< 
mit  ihren  Leistungen  dem  Meisterwerke  Steme's  nicht  riel  näher 
die   alleimciBtcn   Originalgenies  mit    den    ihrigen  den   dramal 
Schöpfungen   Sbakspcare's.     Das   verhinderte   schon,    selbst 
jene  Mflnuer  mit  ihrem  Talent  für  Humoristik  an  ihr  Vorbild  gere?l 
hätten    (was    violleicht    nicht    einmal    völlig   bei   Hippel,    und 
weniger  noch  bei  den  übrigen,  der  Fall  war)  die  vielfache  Einfttgung 
trocken-lehrhafter  Partien  in  die  Erzählung,  wobei  ein  sich  in  voll 
dichterischer    Freiheit    bewegender    Humor    gar    nicht    aufkomi 
konnte.      Denn    das    war    Überhaupt    die   Folge    der    didaktisel 
Richtung,  die  bei  uns  der  Roman  im  achtzehnten  Jahrhundert  gh 
von  Anfang  an  nahm,  dass  derselbe,  in  ganz  ähnlicher  Weise 
Im  siebzehnten,  von  den  meisten,  die  sich  an  ihm  versuchten, 
nicht  viel  mehr  als  für  eine  Form  erzählender  Darstellung  an^ 
wurde,  in  die  sich  mit  Requemlichkeit  alles  mögliche  Wissenswttn 
und  Gemeinnützige  einschachteln  Hesse"*,  worin  allerlei  individu« 
Ansichten,  Meinungen  und  fMahnmgen  niedergelegt,  alle  Arten 
Raisounement  vorgetragen",  so  wie  zweckdienliche  Warnungen..  V 


Verbindung  mit  dem  t77ß  von  Weisbaupt  gestifteten  Ulutninfttenorden;  er 
nnter  dem  Xaiueo  Philo  eins  seiner  allcrthAtigstcn  Mitglieder  und  bemfthte 
seine  genauen  und  umfassenden  Kenntnisse  in  der  Freimaurerei  zur 
der  Illuminateu  anzuwenden  (vgl.  hierüber  Schlosser  :t.  305  ff.».  Soit  I7>5  wo\ 
er  in  neidelberg  bis  zum  J.  179n,  wo  er  OberliAiiptmann  ül»er  daa  kurfbrstfidi 
hannoversche  Gebiet  in  Bremen  und  erster  Scholarch  der  dorti|^a  Domachol« 
wurde.  Seine  letzten  Lebensjahre  verbitterten  ihm  die  Folgen  mancher,  bcfioodcci 
durch  seine  BetheiJigtuig  an  dem  Treiben  der  Geheimordeo  herbei^fühiteo  tl>ii4rt 
und  mehr  noch  eine  anhaltende  gchmerzhafte  Krankheit.  Er  starb  zu 
17%.  Vgl.  K.  Gödeke,  Ad.  Frhr.  Knigge.  Hannover  1S44.  12.;  Jaxu  „Mt 
Knigge**,  von  A.  Bock,  im  literar -historischen  Taschonbacb  von  rruLi.  h 
gang  IS  15.  und:  ..Aus  einer  allen  Kiste.  On'ginalbriefe.  Hflnd.^chnft«n  und 
mente  aus  dem  Nachlasse  eines  bekannten  Mannes  (von  U.  Klencke).  Leipxig  |h&3 
13»  Hannover  nS8.  8.  14t  In  Uriefen.  Riga  1781—83.  4  Thlfi.  8.  tb\ 
178:»— S5.    :i  Thlc.  S  l(j)  Musaeus  bemerkte,  als  er  ein  solchra  Wtrii 

d.  J.   I7S0  in  der  allg.  d.  Bibl.  47,2,  449  anzeigte:    ^Unsrre  Romai 
sind  wahre  HaiÜsche.   lUe   alles  vorschliiigoii.   was   ihnen   vorkommt,   uiul 
Magen  auch   die  heterogensten  Dinge  zu  verarbeiten  wissen".  17)  la 

Vorrede  zu  dem  Sebaldus  Nothanker  hcisst  es  ausdrücklich :  man  möge  aich 
wundern,  wenu  t&  sich  etwa  ergeben  sollte,  daas,  alles  wohl  berc<bnet.  fcn 
Werke  mehr  Meinungen  als  Geschichte  und  llAudlnugon  vurküuen     ,^Ucr 
Sebaldns  kannte  die  grosse  Welt  nicht,  die  die  EogUnder  bigli-life  iienneo.   S| 
Ution  war  die  Welt,  in  der  er  lebte,  und  jede  Meinung  wax  Ihm  ao  wichtig. 


KoHrickclimgsgaofl  der  Uterator.     tT73-1932.    HuuorifitiacUc  nomanc.    17) 

•chllgfe  und  Voraeliriften  flir  das  praktiadie  Lebeu  illierliaupt  und  §  308 
Fiugerzeige  für  das  Verhalten  in  beHomlorn  Füllen  nnd  in  eigen- 
thflmlicbeu  Lagen  ertheilt  werden  konnten.  In  jene  Richtung  ge- 
r'.rr),  er  aber  hauptsäcblit'L  darum  so  leiobt  und  so  dauernd,  weil  sich 
i'i  liei  der  Besiohuftenheit  der  damaligen  staatlichen,  bürgerlichen 
1  '  gesellschaftlichen  Zustände  in  Deutschland  kaum  anderswo 
-'  rto  von  einem  tiefern,  der  alltäglichen  Wirklichkeit  entrückten 
*  -:;ilt  und  zugleich  von  einem  allgemeinem  luteresse  für  die  huher 
oder  vielmehr  gelehrt  gebildeten  Klassen  darboten,  als  in  dem  nach 
allen  S«iten  hin  erregten  geistigen  Lehenj  wie  es  sich  einestheils  in  den 
rcformatorischen  Bewegungen  auf  dem  Gebiete  der  Dichtung  selbst,  der 
Wiasenschaft,  der  Ensiehnng,  des  Unterrichts,  der  Staatstheoric,  und 
ftnderutheils  in  den  Reibungen  und  Kämpfen  offenbarte,  welche  durch 
die  Gegensätze  der  religiösen  Parteien  und  der  damit  enger  oder  loser 
xnaammenhängcnden  Geheimorden  herbeigeführt  wurden.  So  entstand 
■eben  den  Familiengeschichten,  den  picarischen  und  satirischen,  den 
bumoristi&chen  und  komischen  Romanen,  in  welchen  die  lehrhaften  Be- 
sbutdtheilc  noch  mehr  als  nebensächliche  Einschaltungen  erschienen, 
gno  lange  Reihe  anderer,  in  denen  die  dichterische  F>findung  vor  ganz 
(timmten  wissenschaftlichen  und  praktisch  gemeinnützigen  Zwecken 
ir  KurQcktrat,  dass  sie  fast   nur    die  äussere  F^orm  für  einen 


kaoiD  manciiKTD  andern  eioe  Handlung  ist.  Daher  ist  die6t>s  Werk  auch  gar  nicht 
far  die  groiW  Weit,  Bondern  —  deutsch  heratis  zu  reden  —  nur  fflr  Gelehrte  von 
Ptufciaion  gMchrieben".  -  Mit  einer  »olchen  Verfahniugsweisc  lieim  Uoman- 
ichrnbcn  «mr  wieder  niemand  vrenif^cr  einvcrstAndpn  als  Merck.  Er  rügte  sie 
beMaden  «n  Wezeis  „Tubias  Kiiaut",  als  er  den  vierten  Uand  im  d.  Merkur  von 
Trt.  I,  27'2f.  ADZf'igle,  und  er  wftrde  sich  violliiicht,  wenn  Wieland  ihn  nicht  ge- 
»,  säuberlich  mit  dem  Verf.  zu  verfahren  iBriefe  an  Merck  is:i5,  S.  87) 
yafierßr  Kntschiedeuheit  darüber  ausgelassen  haben.  In  diesem  Bande. 
)e  sich  die  Manier,  besonders  pe^en  die  beiden  ersten  Theiie,  merklidi 
ptaAett.  ..Vorher  wurde  dem  Leser  nur  wenig  Begebenheit  mitgetheilt;  sie  war 
ncfandir  fremder,  in  möglichster  Ktlrze  hingesetzter  Text,  um  darüber  Raisonne- 
mnte  anxubringen  Jetzt  aber  fängt  der  erzählende  Theü  au  das  Uebergewicht 
l>i*kominen.  und  die  i^otrachtnngen  sind  untergeordnet,  auch  sparsamer  vcr- 
Deu  Leser  durch  bestandiges  Raisonnieren  gehfirig  zu  unterhalten,  sei 
lern;  dersc1l>e  werde  dadurch  Idoss  an  das  Gesiebt  des  Autors  gefesselt,  da 
«tau  dieser  Einsamkeit  eine  Welt  neuer  Menschen  und  Begebenheiten 
>i&be.  ,.6ei  unsem  jetzigen  UomanBchreibern  ist  es  nun  einmal  Oeaetz 
!>D,  MtVinungen  statt  Leben  zu  schreiben,  seitdem  Sterne  den  Ton  dazu  ge- 
hat  Indessen  geben  wir  ihnen  zu  bedenken,  ob  der  Leser  nicht  dadurch 
?winnen  wünle,  wenn  sie,  statt  der  Überall  aufgebingten  Tafeln  eigner 
Jonen,  entweder  dcu  Weg  einschlagen  wollten,  eine  pragmalische  Ge- 
ILre«  Holden  zu  liefern,  oder,  ohne  Monologen,  das  Miirchen  so  episch 
Ctt  xnachex).  als  ihnen  möglich  wäre.  Dnr  letzte  Aufwand  ist  freilich  der  kostbarste, 
•Udn  ancli  (ierjeoiige ,  der  ihr  Publicum  ungemein  erweiterte  luid  ihnen  zugleich 
ttehr  Macht  und  Ansehen  über  ihre  Leser  versicherte''  etc. 


172     VI.  Vom  xweiteo  Viertel  des  XVIII  JabrbunderU  bu  lu  Goetbe't  Tod 

§  3oS  bald  in  trocken  raisonnierendem  oder  lehrendem ,  bald  in  eatirii 
humoristiBobem  und  polemischem  Tone  vordre tra^euen  Inhalt  ab^ 
der  theils  in  die  besonderen  Fächer  der  Philosophie  und  der  Sitli 
lehre,  der  Geschichte  und  Staatskunst,  der  Tbeolo^He  und  der 
ziehungslehre  einschlug ,  theils  die  mehr  allgemeinen  innem  und 
äussern  Cultur-  und  Literaturverhältnisse  in  Deutschland  betraf.  Hier 
war  von  vorn  herein  der  Widerspruch  zwischen  Stoff  und  Form  so 
gross,  dass  von  den  Romanen  dieser  Klasse  kein  einziger  aas  einer 
trüben  Mitte  zwischen  dichterischer  Darstellung  und  wissenschaft- 
lichem Vortrag  heraustreten  konnte.  Aber  auch  von  jenen  freu 
erfundenen  Erzählungs werken,  die  auf  die  hier  vorwaltenden  Zwei 
am  wenigsten  berechnet  waren,  hob  sich  keius  durch  seinen  eig< 
lieh  dichterischen  Werth  zu  einer  bedeutenden  Hohe.  Selbst 
Beste,  «was  geleistet  wurde,  bestand  immer  weit  mehr  in  der  geh 
genen  Ausführung  einzelner  Theile  eines  Werks,  als  in  der  kQi 
lerischen  Gestaltung  eines  Gan^eu.  Und  doch  fehlte  es  auch 
wie  in  den  dramatischen  Werken  der  Originalgenies,  nur  allzu 
sieht  bloss  an  innerer  Geschlossenheit  und  durchgilngiger  EiuBtimmi 
keit  des  Gegenständlichen,  so  wie  an  Reinheit^  Ebenniu&s  und 
Schönheit  der  Form,  sondern  auch  an  der  gehörigen  Motivierung 
einzelnen  ßegebenbeiten  und  Handlungen,  oder  an  Wahrheit 
Gründlichkeit  in  der  Anlage  und  Ausführung  der  Chaniktere. 
berichtet  Merck  von  dem  vierten  Theile  von  Wezeis  Tobias  Knauti 
die  Begebenheiten  wären  so  wenig  an  einander  gereiht  und  gr< 
nach  ihrem  Aeusserlichen  so  sehr  an  das  Wunderbare  und 
ordentliche,  dass  eine  Vorzilhlung  derselben  dem  Verf.  1 
Lesern  des  deutschen  Merkurs  zum  grOsstcn  Schaden  gereichen 
würde.  Er  scheine  darüber  sehr  wenig  bekümmert,  was  der  Leser 
von  seiner  Erfindunrjsgabe  halte,  wenn  er  ihm  nur  seine  Idi 
Grillen  etc,  mittheilen  könne.  Der  Verf.  zeige  sich  in  einem  ungleÜ 
vortheilbaftem  Liebte  als  sein  Buch,  und  man  sei  zuweilen  sehr  un- 
zufrieden mit  ihm,  dass  er  von  der  ihm  eigenen  Kunst  zu  erzfthU 
seiner  Laune,  seiner  Speculationsgabe,  seiner  Welt-  und  Mensch 
kenotniss  nicht  einen  andern  Gebrauch  gcnuacht  habe.  Hätte 
seinen  Charakteren  mehr  im  Ganzen  Individuelles,  seinem  Hell 
mehr  Substanz  und  seinen  Begebenheiten  mehr  Ineinandcrgreifent 
gegeben,  so  würde  mau  ihm  das  omne  tulit  punctum  mit  VergnQj 
zurufen.  So  urtheilte  Merck  Über  einen  humonstischen  Roman,  di 
sicherlich  nicht  zu  den  schlechtem  seiner  Zeit  gehörte".     Wie  ihn 


IS»  Im  d.  Morknr   1776.    1.  272  f.  I0|  Hamann   war   sehr   nngi 

darüber,   ob   er   nicbt,    wie   alle  seine   guten  Freunde  in  Königsberg,    nach 
Scbrtibart  des  Knaut«  in  der  er,  obgiddi  kein  jmsseres«  doch  viei  Innere  Mi 


Kntvickt^UtngBgang  der  Literatur.     1773- 1932.    Humoristische  Romaae.     173 

ic  Werke  dieser  Gattung  von  gewöhnlicliem  Sclilage,   die  damals  §  308 

'ausgekommen  waren,  erschienen,   deuten  die  jenem  besondern 
Vtbeile  voraufgebenden  Worte  von  allgemeinerem  Bezüge  bestimmt 
'ung    an.     ,, Eigentlich",    lauten  sie,    „soll    doch  der  Roman  nichts 
ideres  sein  als  Nachbildung  des  gesellschaftlichen  Lebens  und  be- 
nders  der  Sittenmasse  der  Zeit,  worin  der  Verf.  schreibt.     Sind 
nun  die  Begebenheiten  so  sorglos  geordnet,    dass  der  Leser   seine 
inbildungskraft  an  dem  Motivierten  der  Handlung  nicht  im  geringsten 
n    kann;    sind    die  Charaktere   bloss    aus   der   Luft    gegrififone 
rieaturen,  wo  von  dem  menschlichen  Gesichte  kaum  Nase,  Mund, 
ugen  und  Ohren  zu  erkennen  bleiben,   so  geht  natürlicher  Weise 
Hoffnung  des  versprocheneu  Vergnügens  zu  Grunde,   die  unter 
emählde  gesetzten  Verse  mögen  auch  noch  so  geistreich  sein." 
u  Lichtenberg  von  der  sterncschen  Kunst  unserer  Romanschreiber, 
ie  sie  8ich  bis  zum  Jahre  178o  gezeigt  hatte,  im  Allgemeinen  hielt, 
dnoen  wir  in  seinem  „Vorschlag  zu  einem  Orhis  pictus"  lesen": 
an  schreibt  Romane  aus  Romanen»  ohne  im  Stande  zu  sein  oder 
cb  nur  den  Willcu  zu  haben,   die  Zeichnung  endlich  einmal   mit 
Natur  zusammenzuhalten.    Thörieht  affectierte  Sonderbarkeit  in 
eser  Methode  wird  das  Kriterium  von  Originalität,  und  das  sicherste 
leben,    dass   man   einen  Kopf  habe,    dieses,   wenn  mau  sich  des 
agc«  ein   Paar  Mal   darauf  stellt.     Wenn    dieses   eine  sternesche 
Kunst  wäre,  so  ist  wohl  so  viel  gewiss,  es  ist  keine  der  schwersten.. 
Mit  etwas  Witz,  biegsamen  Fibern  und  einem  durch  ein  wenig  Bei- 
fall gestärkten  Vorsatz,  sonderbar  zu  scheinen,  l/lsst  sich  eine  Menge 
närrisches  Zeug  in  der  Welt  anfangen,   wenn  man   schwach  genug 
ist,  es  zu  wollen,  unbekannt  genug  mit  wahrem  Ruhm,  es  schön  zu 
ftndcn,  und  mUssig  genug,  es  auszuführen.    Was  kann  endlich  daraus 
etrden?     Nichts  anders,  als  man  mahlt  den  Menschen  nicht  mehr, 
e  er  ist,  sondern  setzt  statt  seiner  ein  verabredetes  Zeichen,   das 
dem  Originale  oft  knum  so  viel  Aehnlichkeit  hat  als  manches 
dische  mit  dem  seinigen"  etc.    Lichtenberg  fand,  dass  unsere 
ngen  Romanschreiber,  so  wie  unsere  jungen  Dramatiker,  um  nicht 
häufig  auf  das  gröblichste  gegen  alle  Naturwahrheit,  besonders  in 
er  Charakterzeichnung,  zu  Verstössen,  nicht  bloss  \*iel  zu  arm  au 
tiden  wissenschaftlichen  Kenntuissen  wären,  sondern  dass  es  ihnen 
noch  viel  mebr  an  Lebenserfahrung,   au  Welt-  und  Menschen- 
tuiss  fehlte''*.    Eines  höhern  poetischen  Gehalts  raussten   diese 


majf  ron  Herders  „verwünschtem  rothdeuiadiem  Stil"  zu  erkennen  glAubte.  diesem 

[«ben  A^ntbeil  daran  zuschreibeQ  mUsste;   vgl.  ilämanns  Scbriftea  5,  61  und  daza 

l«nler»  Antwort  5,  IX  20)  Vermischte  Schriften  4,  110  if.  21)  Bis  die 

dt  oua  hilxnp,  wo  sie  selbst  in  die  WerkstUtton  gehen  könnten,  um  sich  zu  er- 


{'\    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVDl  JalirhuntlertB  bU  xu  Gotthe's  Tod. 

§  30S  Romauo  im  All^^exneincu  aber  schou  darum  entbehren,  weil  sie  ibi 
Stoffen  naoli  viel  zu  Rchr  auf  dem  Grunde  des  platten,  kleinhtlr^ 
lieben  und  ongbesscbränkteu  Alltagslebens  berubten,  und  sieb  fast 
ausschliesslich  in  der  Copioiunfj  der  Natur  gefielen,  welche  Sebillj 
in  der  Abhandlung  ,,Ober  naive  und  Bentimentalische  Diehtuni 
als  die  gemeine  oder  \virkliche,  im  Gegensatz  zu  der  wahren,  be- 
zeichnet bat.  Nachdem  Schiller  hier,  seiner  Deduction  und  Einthei- 
lung  zufolge,  die  naive  Dichtung  eine  Gunst  der  Natur  genannt  und 
diese  Bezeichnung  nfiber  erläutert  bat,  folgert  er  weiter:  fehle  d< 
naiven  Dichtergenie  eine  formreiche  Natur,  eine  dichterische  W< 
eine  naive  Menschheit,  sehe  es  sich  vielmehr  von  einem  geistli 
Stoff  umgeben,  so  werde  es  entweder,  um  nur  dichterisch  zu  si 
seutimentalisch ,  oder  es  werde  gemeine  Natur,  um  nur  Natur 
bleiben.  Vor  diesem  Zweiten  mOehte  sich  sehwerlich  ein  Diel 
vollkommen  schlitzen  können,  der  in  einer  gemeinen  Welt  die  Nai 
nicht  verlassen  könne.  Die  wirkliche  Natur  nämlich ,  von  der  die 
wahre  Natur,  die  das  Subject  naiver  Dichtungen  sei,  nicht  soi- 
genug  unterschieden  werden  kOnne.  „Wirkliche  Natur  t-M^üM 
Ubenill,  aber  wahre  Natur  ist  desto  seltner;  denn  dazu  gehört  eine 
innere  Nothwendigkeit  des  Daseins.  Wirkliche  Natur  ist  jeder  noch 
80  gemeine  Ausbruch  der  Leidenschaft;  er  mag  auch  wahre  Natur 
sein,  aber  wahre  menschliche  ist  er  nicht;  denn  diese  erfordert  einen 
Antheil  des  selbsiündigen  Vermögens  an  jeder  Aeusserung,  deren 
Ausdruck  jedesmal  Wtirde  ist.  Wirkliche  menschliche  Natur  ist 
jede  moralische  NiedertrÄchtigkeit,  aber  wahre  menschliche  ist  sie 
hoflentlich  nicht;  denn  diese  kann  nie  anders  als  edel  sein.'*  Es 
sei  nicht  zu  Übersehen,  erinnert  Schiller  dabei,  zu  welchen  Abge- 
schmacktheiten diese  Verwechselung  wirklicher  Natur  mit  wahre; 
menschlicher  Natur   in    der   Kritik   wie  in   der  Ausübung   verleitet 


werben,  -viaa  ibiieu  nucb  at'gicngi*,  l]ei^!>en  sich  ihuen,  mciute  en  wohl  um  leidtteitei 
nützliche  Hegriffe  bcibringon   durth  den  Weg  eiflCfi  8olohen  Orhis  pictus,  irie  IT 
ihn  vorschlug.    „NilmÜcb  durch  ein  Huch.  worin  man  ihnen  allerlei  Bemerkung« 
über  den  Menschen  vorsagte  und  vorzeichnete,  wodurch  sie,   wenn  sie  doch  - 
ohne  die  WerksUilten   besuclit  zu  haben  —  fortschreiben  wollten,  in   den  Stand 
geseut  würden,  alles  mehr  zu  individualisieren  und  auch  in  einer  einfjiltiiten  Ge- 
schichte doch  wenigstcua  die  Illusion  so  weit  zu  treiben,   als  unter  diest*-   '  •"- 
stAndcu  möffUch  würe^'.    Kin  solches  Werk  inüsste  also  bei  verschiedenen  > 
im  mensclüichen  Leben  nicht  bloae  in  Kegeln  Ichren,  sondern   durch  I 
zeigen,  worauf  mau  zu  achteu  hütte;  mOsste  eine  Menge  von  Hcmerkungoi 
enthalten,    keine  allgemeine,    leere  Silhouetten,    auf  die  sieb  in  unsern  u 
Werken  fast  alles  allein  einschrikuke,  sondern  Züge  nnd  Karl>en,  die  der  Sil 
Bestimmflicil  und  Leben  giihen.    Von  Chodowiecky's  künstlerischem  l.t' 
stützt,  gab  Lichtenberg  selbst  verschiedene  l'roben  der  Art  am  Sc. 
Vorschlage«.  22)  ?,  2»  S.  U7  ff. 


EntwickddflgigAng  der  Literatur.    1773 — 1A32.    Rom&ae.    Drama.       175 

i;  wek*be  'I'ri%ialitäten  mau  in  iler  Poesie  gestatte,  ja  lobpreiee,  §  308 
reil  MC  leider!  wirkliche  Natiir  seien;  wie  man  sieb  freue,  Carica- 
iren,  tue  einen  scbon  aus  der  wirklichen  Welt  herausäugstigen,  in 
tr  tliobteri.scheu  sor;rfältig  iiufbewalirt  und  nacb  dem  Leben  couter- 
»t  zu  seilen",  Was  Scliiller  bicr  zuletzt  berührt  und  beklagt,  hatte 
ich  Merck  schon  1776*'  gerügt  in  der  Anzeige  des  ersten  (und 
inzigem  Tbeils  der  „Heitnlge  zur  Geschichte  des  deutschen  Reichs 
id  deutscher  Sitten*'",  eines  Romans  von  Chr.  Fr.  von  Blanken- 
irg".  Der  Verf.  sei,  so  wenig  er  dies«  auch  zugeben  möge,  ganz 
I verkennbar  ein  Nachahmer  Sterne's.  Aber  was  diesem  erlaubt 
sei,  werde  sich  nicht  jeder  Andere  herausnehmen  dürfen.  „Hier  in 
d---^  "  ^rhcit  sind  die  Ereiguisse.  wie  im  Tristram  SLandy,  alle  sehr 
-ij;;  allein  die  Personen  sind  auch  Üljerdiess  —  eine  ausge- 
leu  —  nicht  im  geringsten  interessant  und  liebenswürdig.  Sie 
id  vielmehr  höchst  widrig  und  oft,  wie  der  Verf.  selbst  in  der 
rorrede  sagt,  abscheulich.  Soll  diess  nun  als  eine  wahre  Copio 
mtAcher  Sitten  gellen,  und  finden  sich  die  Originale  dazu  in  einem 
inkel  unsers  Vaterlands,  so  thut's  uns  leid:  allein  die  Nachbildung 
rar  nicht  der  Mühe  wertb,  und  diejenigen,  welche  durch  Vorhaltung 
Megels  sollen  gebessert  werden,  haben  nicht  einmal  Sinn 
kill  Blatt  von  dieser  Art  zu  lesen'*  etc. 

§  309. 

Viel  weniger  als  im  Roman  können  die  Bestrebungen,  welche 
unserer  schOuen  Literatur  die  Gegenseite  zu  den  stürmisch  drang- 
roUen    T     '      -  n     der    Originalgenies    bildeten ,    in    der    zweiten 
tetigcbri  /i-'altung  gleich   vom  Jahre  1773  an  wahrgenommen 

und  verfolgt  werden.    Erst  allmahlig,  als  der  erste  Ungestüm  jener 


t^tl  1m<*5s  charnkterisiert  aufs  treffendste  nicht  bloss  so  Vieles,  v&s  der 
Hasse  unserer  gemeinen  UiiterlialtungBliteratur  zufällt,  sondern  auch 
ro  nicht  dis  Meiste,  was  unsnre  Mumoristen  In  den  Siebzigern  und  Acht- 
ci^cRi  bcrTOTgebracbt  babon.  Vgl.  dazu  auch  a  a.  0.  S.  IHI  f.,  wo  wir  auch 
dortb  dAi.  was  über  die  Verirrung  den  arntiincntAHschen  Dichtnngslricbes  gc&agt 
teL  fto^oiclt  aa  so  rieles  von  dt?ii  Originalgfuit?$  llervurgebracbte  irmnert  werden. 
2*11  Im  d.  Merkur  von  IT7«>.  I,  270  f.  25»  Deraelbe  erachieu  Leipzig  und 
Ufpdtx  K75.    S.  26)  Geb.  1744  in  der  Nabe  von  Colberg.  ein  Verwandu-r 

»TO  E.  Clir.  V.  Kleist.  Kr  trat  fitüi  in  Kriegsdienste  und  machte  den  siebou- 
jihritfiu  Krit'i?  mit  Als  er  1777  auf  seinen  Wunsch  den  Abschied  erbalteu, 
n  Wohnsitz  in  Leipzig,  weil  er  hier  seinen  wisbenschaitlichcn 
v4-  *u.ä  Studien  am  uügestöricfiten  leben  zu  kennen  vermeinte.  Er  war 
tmuie  Freund  Ch.  F.  Weisse'«.  Als  Schriftsteller  hat  er  sich  am  be- 
tten gemacht  durch  seinen  „Versuch  tlber  den  Roman".  Leipzig  \mä  Lieg- 
utx  1774  ^.  und  durch  die  „literarischen  Zusätze  zu  Sulzers  allgemeiner  Theorie 
ter  «cb/incu  Ktmstr"  etc.    Leipzig  179«  ff.    3  Thie.   8.    Er  starb  t7'.tt>. 


m 


176     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhuuderts  bis  zu  Goethe*«  To< 


§  309  Bewegungemänner  schon  sehr  nachgelassen  und  der  Unwille  Ul 
die  bis  2iir  wildesten  Kohheit  und  hässliebsten  Unnatur  gedieh 
Entartung'   des   von  ihnen    bei  uns  ins  Leben  gerufenen  Drnuia's' 
Zeitschriften    und    anderwärts  seine  Stioinie    immer  lauter  erho 
hatte,  erhielten  wir  mehr  und  mehr  Schauspiele  von  einer  zahmem 
Natur,   die  in  mehrfacher  Beziehung  durch  Stoff,  Gehalt  und  Ri 
tung  den  pragmatischen  Romanen  dieser  Zeit  verwandt  waren. 
Der  Sieg,    welchen  Lessing  in  Deutschland  Über  die   franxösiscl 
Tragiker  und  ihre  Dramaturgie  erfochten  hatte,  war  zu  entscheidi 
gewesen,  als  dass  die  Form  der  Kunsttragödie,  die  Gottsched  ui4 
»eine  Schule  bei  uns  eingebürgert  hatten,  bei  unsern  jungem  Dicbi 
noch    hätte   in   einigem   Ansehen    bleiben   können.     Die  Versui 
welche  um   dieselbe  Zeit,   wo  der  GCttz  von  Berlichingen  erschi 
und    auch    n<»ch    zehn  Jahre  später  von    Götter'   gemacht   wurdcHj 
durch  die  mit  feinem  Sinn  ausgeführte  Bearbeitung  einiger  Stücke 
von  Voltaire  das  Interesse  für  den  Kunststil  der  sogenannten  classi- 
Hchen  oder  hcruischcu  Tragödie  der  Franzosen  in  Deutschland  neu  zu 
beleben*,  vermochten  nicht  dieses  zu  bewirken.     Seine  Absicht  gibt 
Gotter  in  der  Vorrede  zum  zweiten  Bande  seiner  Gedichte  (17SS)  deut- 
lich genug  zu  verstehen.   Sic  und  eine  Schrift  Wiclands,  von  der 
die  Rede  sein  wird,  gehören  zu  den  sprechendsten  und  bea'  i 
werthesten  Zeugnissen    für  die  Stimmung  und  das  Urtheil,  welche 
sich  in  Betreff  unserer   kraftgenialischcn   Dramatiker  niedern    Ran- 
ges  imter  den   ihrem  Treiben   abholden  Dichtein,    namentlich   den 
vorzugsweise  französisch  gebildeten,  nach  und  nach  gebildet  hattön, 
80  wie  für  der  letztem  Ansichten  von  dem  guten  Einfluss,    welchen 
das  triigische  Theater  der  Franzosen  auf  das  uusrige  haben  könnte. 
„Wenn  ITngebnndcnheit  und  Ueberapannung  der  Massstab  des  Genien 
sind",  Hussort  sich  Gotter,   ,.nnd  wenn  Gefälligkeit  gegen  jede  mit 
dem  Namen  Schauspiel  gestempelte  abenteuerliche  Geburt  der  Ein- 

§  :i09.     I)  Vgl.  Bd.  III,  SH  f.  2)  In  den  Jtüiren  1772  uj»d  ':\  bMcit« 

er  die  Bcarbeitnngcn  des  „Orcst"  (unter  dem  Titel  ..Orest  .und  Eleklra".  der 
»pftler  tu  „Eleklra"  verwandolt  wiirde)  und  der  „Merope"  in  Weiniar  »uf  äß 
Bühne;  für  das  erste  Stück  hatte  er  Alexandrincrverae  bcibelialten,  für  d&e  amlfl» 
reimlose  jambische   FtUiffUasIer   gewählt   (beide   zuerst   einzeln   gedruckt 

1774.   '^. ,  nachher  mit  der  .,Alzire"  im  2.  Bde.  seiner  Gedichte.    Gotha  t"-      ■ 

2  Bde.  S.,  wozu  noch  als  „literarischer  Naehlass'*  1^02  ein  dritter  kam»  AU 
später  unter  Josejib  11  auf  dem  Wieuer  National-  oder  Burgtheater  wied» 
Aussicht  für  das  Aufkommen  der  Trag5dic  frftnzö&ischon  Stils  eröffnete,  and 
Kaiser  die  deutschen  Dichter  zn  guten  versificierten  Uebersetzougen  aufmoot 
bearbeitete  Gotter  die  „Alzire"  (in  Alexandrinern)*,  die  zuerst  17*3  in  Wieo 
AufTuhrting  kam.  Alle  diese  Bearbeitungen  sind  sowohl  in  Rücksicht  auf 
Oekonomic  der  Stücke  als  nuf  den  Gang  einzelner  Seen«'»  und  den  AnsdnicJt 
frei  behandelt. 


EütvickduDgBgAQg  d- Lit.   17*3— IS32.  Drama.  FrauzAe.  Geschmack.  Oottcr.     177 


lliiiiiigftkrnft.    wenn   Woblbeliagen    an    leideiiBcbftftliclier  Cnricftlur 
t\   an    der  roLesten  Darntelluii^  schauderhafter  Auftritte   die  Ein- 
FÄnglichkeit  einer  Nation   für  tragische  Schönheiten  bewähren;  «o 
ihen  wir  aus  ungemessener  Höhe  auf  unsere  Nachbarn  an  der  Seine 
jrab,  80  thnn  wir  eH  selbst  den  Hritten  zuvor,  so  sind  die  Deutschen 
tragischste  Volk  Europens".    Niemand  sei  lebhafter  aU  er  von 
sn  Mflngeln  Überzeugt,   die  Lessing  nnd  nach  ihm  mehrere  scharf- 
iiii^re    Kunstrichter    an    einzelnen    franzosischen  Trauerspielen,    in 
lck«ii:ht  auf  die  zu  ilngstliebe  Beobachtung  conventioneller  Regeln, 
trngt   haben ;  niemand   stimme  herzlicher   in  die  Behauptung  ein, 
die  dramatischen  Meisterstücke,  die  wir  thcils  von  Shakspeare 
tf  unser  Theater  übergetragen,  theiU  einigen  unserer  vortrefflichsten 
[üpfe  zu  danken  haben,  reichbaltiger  au  Dicbtungskraft,  Menschen- 
intniäs  und  Fhilusophie,   und   eben   darum  aucli   wirkungsffihigor 
len   aU  die  besten  SlUcko  der  Franzosen.     AHein   die  Intoleranz 
;cu  die  französische  Tragödie  sei  bis  zur  Ungerechtigkeit  bei  uns 
trieben  worden.    Sie  bleibe    immer    eine   schützbare   dichterische 
iion,  die  gleichsam  zwischen  dem  epischen  Gedicht  und  der 
1       -    iie.    Sie  gewahre  einen  um  so  reinem  Geiinss>  je  sorgfältiger 
alles    vermeide,    was   die  Aufmerksamkeit   zerstreuen   oder   die 
[luRion  stören  oder   widrige  Empfindungen   erwecken   könne;   aber 
lilich  berlibre  sie  eben  deswegen  auch  in  den  meisten  Fällen  nur 
le   Oberflficbe   der  Seele.     „Aus    diesem   Gesichtspunkt  betrachtet, 
rörde  sich  das  französische  Trauerspiel  vielleicht,  trotz  dem  Bann- 
ihk der  Kritik,  auf  unserer  BUline   erhalten   haben,    wenn  sich 
nicht   zu   gleicher  Zeil   alle  Umstände   zu   seiner  Verbannung  ver- 
ibworen  hätten.     Die  alten  gereimten  Ucbersetzungcn  wurden,  nach 
^erb^ltnisd  des  täglich  sich  verfeinernden  poetischen  Geschmacks,  völ- 
unbrauchbar,  und  unsern  Dichtern  fehlte  es  entweder  an  Willen 
ler  an  Vermögen,  ihnen  ein  modischeres  Gewand  zu  geben.     Shak- 
>e«re  and  einige  nach  seinem  Vorbilde  mit  Glück  gemodelte  vaterlän- 
lische  Originale  bezauberten  das  Publicum  und  verderbten  dem  Volk- 
bhcD  der  Nachahmer  die  Köpfe.     Es  geschah,  was  Lessing  selbst  im 
rophetiftchen  Geiste  vorausgesehen  hatte ;  wir  prallten  gegen  den  Rand 
tiines  andern  Abgrunds  zurück  \   Wir  suchten  den  erstaunenden  Beifall, 
mit  dem  jene  Stücke   allgemein  aufgenummeu  wurden,  nicht  in  der 
Kunst,  eine  Reite  von  Begebenheiten  in  ein  grosses  Ganzes  zusammen- 
tadräugen  und  so  zu  ordnen,   dass  eine  jede  zu  Erreichung  eines 
geuiemHcbaftlichen  Endzwecks  das  ihrige  beitrage;  nicht  in  der  uu- 
lÄßbiüiuilichen  Gabe,  durch  Entwickclung  der  geheimsten  Falten  des 
Hmtiüjj    die    ansprechenden    Saiten    des    uusrigen    zu    treffen,    die 


§  309 


3)  Vgl.  übwi  S.  i. 


178    VI.  Vom  zweiteu  Vierte]  des  XVlll  Jahrhunderts  bis  zu  Goethes  Tod. 

309  Sprache  dem  Charakter,   das  Colorit  der  Situation   anzupasson 

der  immer  fortschreitenden  Handlung  durcli  glückliche  Eintüeohtung 
kleiner  j  oft  unbeträchtlich  scbeiuender  oder  mit  dem  Hauptton  ge- 
wissermassen  eoptrastiereuder  Nebenumstände  mehr  Wärme,  Ah- 
wechselung  und  Wahrscheinlichkeit  mitzutheilen:  wir  Bucbten  ihn  in 
der  l'mstossung  aller  Regeln,  in  der  Ueberladung  an  Personen  uaiH^ 
Vorfällen,  Mascbineiie  und  Gepränge,  in  der  gcschmackloseöte^^ 
Mischun;;  des  Schrecklichen  und  Lächerlichen,  des  Schwülstigen  und 
Pöbelhaften,  in  der  Kühnheit,  ungesehene  Dinge  in  einer  unerhörten 
Sprache  vorzutragen.  Die  Kraftgenies  entstanden  und  machten  tum 
wenigsten  ein  ephemeres  Glück.  Die  Schauspieldirectoren  fanden 
ihre  Rechnung  dabei,  die  Zuschauer  durch  die  Lockspeise  d 
Neuheit  anzukirreu,  und  erniedrigten  lieber  das  Theater  Äur  Mark 
schroierbude,  um  Logen  und  Parterre  anzufülteu,  als  dass  sie  Bi 
der  Gefahr  aussetzten,  bei  Iceren  Wllndeu  den  Musen  ein  ihrer  Go 
heit  würdiges  Opfer  zu  bringen.  Und  die  Schauspieler?  Wie  hätt 
sie  nicht  die  Gelegenheit  ergreifen  sollen,  Lorbeeren  einzuernten,  d 
ihnen  grössteutheils  mehr  Anstrengung  der  Lunge  als  des  Geist 
k(»steten?*  So  verlor  sich  das  französische  Trauerspiel  nach  u 
nach  von  unserer  Bühne.'' ^  So  wenig  als  Gotter's  Uebersctzungsv 
suche"  hatten  die  Trauerspiele,  welche  uugcfähr  gleichzeitig  Corneii 
llenuann  von  AyrenhoÖ''  im  französischen  Stile  dichtete,  eine  tief 

4)  Im  J.  n^-a  schrieb  Gotter  an  W.  F.  v.  Dalberg  in  Miuiheira  (W« 
J&hrbnch  5,  17)  in  Üetroff  der  Räuber:  „Von  Iffland  auf  die  übrigen  (Schau- 
spielen zu  bchliesseu,  boluUt  das  Stück  iu  der  (iattuug  des  Schtecktichen  den 
Preis.  Aber  der  Himmel  bcwalirc  uns  vor  mehr  Stucken  dieser  Gattung!" 
5)  Auch  UeberäeUungeu,  wie  der  „Zaire"  dardi  Kscheiilurg  (t77ü|  und  d«r 
,,Athalia**  durch  K.  F.  Cramer  (t7S6»,  gehörten,  bo  viel  sonst  auch  von  fruutei- 
scheii   Dramen  übertragen  wurde,   zu  den  Selteuheit^^ii.  6t  Nach  Gorvini 

5^,  -IM  muss  eti  scheinen,  als  habe  Gotter  sich  früher  selbständig  im  bürgerlicl 
Trauerspiel  ver»urhl    und    sich  enil   nachher  von  der  Kichtung  „der  klini 
"Waigiierscheii  Familientnigödien"  losgesagt.    Allein  so  ist  es  nicttt     I>ie 
(ein  btirgerliches  Trauersipiel.    Gotha  ITTO.    S.   und  im  3.  Bde.  der  Gedic 
nicht  von  Gotter  selbst  erfuuden.    sondern    nach   der  Mi-lanie  des  La 
arbeitet,  und  schon  ilrei  .laltre  frtihcr  erscliit'n  lim  d.  Merkur  von   177H     \ 
die  berühmte,  zunacbsi   mit  durch  den  Tod   des  jungen  Jerui»alem    vei 
Epistel  „über   die  ätarkgcisterei"  (Gedichte    1.  'M\S  ff.),   die  gegen  die  KcIigioBS- 
vcracbter  und  laUcheu  Pbilusophcn  gerichtet'  ist  und  eine  der  wielandischen  ni 
verwandte  Lebensweisheit  emptiehlt.  7)  Geb.  173;*  zu  Witti,   besuchte 

Uteiniscbe  Schule  der  Jesuiten  und  widmete  sich  vom  IS.  Jalire  an  dem  KiU 
dienfte.  Lr  machte  den  siebenjubrigeu  Krieg  mit,  wohnte  melirem  blnl 
äcblacbtcn  Wi  und  ^erieth  zweimal  in  Gefangenschaft.  Nach  dem  Fricdeosschluai 
wurde  er  Obcrstlieulcuaut  und  I7S-1  General.  Um  dicb«  Zeit  machte  er  einrReiBC 
nach  Italien.  17U3  ruckte  er  zum  Ihinge  eiues  KeMmimchallüeatenants  hinaof. 
wonach  er  noch  zehn  Jabre  im  liienste  blieb.  Halb  blind  und  heinahe  gant 
Uob  lies»  er  sich  ISua  in  den  Ruhestand  versetzen  und  starb  IhtO. 


Ickclungsg.  d.  Lit.  1773  — liliai.  Drama.  FranzOs.  Geschmack.  AyrcnhofF.    179 

ifende  Wirkung.    AyrcnhnflT  hatte   im  Umgänge  mit  einer  gebil-  §  309 

letcn   Frau   aus   böberm  Stande  Geschmack    an  LoctUre  gewonnen 

id    eine  Auflruiirung    von  Cronegkß  Kodnis    erweckte   in    ihm    die 

teigting  zur  dramatischen  DiohtkuuBt.     Bereits  im  Jahre  1766  wurde 

^on    ihm    ein  Trauer8|>iel    in   Alexandrinerversen;    „Aurelius,    oder 

Wettstreit  der  Grosamuth'*,  auf  die  Wiener  Bühne  gebracht,  dem  bis 

^Muin  Jahre  !772  noch  zwei  von  gleicher  Form  folgten'.     Nach  einer 

^■cbnjfihrigen  Pause  gab  ihm  zu  einem  neuen  Versuch  im  Trauerspiel 

^Bacb  frauzösiscbem  ZuBchnitt,  ausser  der  Begünstigung,  welche  dem- 

^Selben  von  Joseph  H   widerfuhr,   besonders  noch   eine  Schrift  Wie- 

^Bftnds  den  nächsten  Anlass.    Dieser  hatte  nämlich  17S2  am  Scbluss 

seines  zweitea  Sendschreibens   an   einen  jungen  Dichter*   auf  den 

damaligen   Zustand   unserer   draniatiRchcn   Poesie  Bezug  genommen 

und  den  Verächtern   der  französischen  BUhne  die  Fragen  vorgelegt, 

ro  denn  unsere  Corneille,  Racine,  Meliere  etc.  zu  finden  seien?  wo 

ic  deutschen  Tragödien,   die  wir  Werken,  wie  Cinna,  Athalia,  Bri- 

innicus,  Catiliua,    Ahire,    Mahomcd    etc.    entgegenstellen    dtlrften, 

ine    uns    vor   allen   Personen    von  Geschmack    in    ganz    Europa 

Icherlich    zu    machen?      Diese   Fragen    nahm    Ayrenhoff'  für   eine 

Aufforderung'"  und  wurde  dadurch   zu   einem  neuen  Versuch  auge- 

lert,   wo  möglich  unsere  tragische  Muse  wieder  in  den  Weg,  den 

K.  Schlegel,  Cronegk  etc.  schon  so  glücklich  betreten  hatten,  zurück 

leiten  und  haui>t8ächlich  Nachfolger  zu  erwecken,  die  ihm  selbst 

'   ruhmvollen  Bahn   zuvorlaufen   und  endlich  einmal  zeigen 

Ti  dasö  dem  deutschen  Genius,  von  deutscher  ünverdrosseuheit 

und  Beharrlichkeit  unterstützt,  auch  diese  hohe  Ziunc  des  Ruhmes-  « 

mif^eli?  nicht  unersteiglich  sei.     Dieser  Versuch  war  das  Trauers]»iel 

jKleopatra  und  Antonius"".     Dem  Druck  dcsselhen  gieng  eine  Zu- 

:nungsschrift  an  Wieland  vorauf,  worin  Ayrenhoff  als  unbedingter 

mderer  der  französischen  Tragiker  die  Entartung  des  Thealer- 

[macks  in  Deutscliland  vornehmlich   von   der  Nachahmung  der 

Inglaudcr,    und    insbesondere   von    dem    Einfluss  Shakspeare's  auf 

rc    dramatischen    Dichter   herleitete,    Shakspearen    selbst   alles 

iche  Böse  nachsagte,  Goethe's  Werther  zwar  bewunderte,   von 

itnieni  Theatergeschmack  und  seinen  Theaterstücken  dagegen  nichts 


ß)  Zuerst  einzeln    gedruckt,   dann  in   den  TcrscbiGdcnen  Ausgaben  seiner 

ielien  Werke.  Wien  und  Lcijtzig  17^0.    4  Bde.   8.;  vermehrt  uud  vorbessert 

lKü3,   6   Bde.   S,   und   zuletzt,   besorgt  vom  Frhra.  v.  Hetzer.   Wien  ISU, 

iaUÜ»  n  Bde.  9)  Im  d.  Merkur   von  jenem  Juiire  und   in   den  Werken 

li  l'>o  ff^  lOi  Wie  Wielaud  bicU  iu   dem  dritten«  dem  Merkur  von  1TS4 

ingtrückteu  Sendsdireiben  (Werke  -l-t,  15a  fF,)   ausdrückt.  II)  Aufgeführt 

Wien  gegen  Ende  des  J.  nS3  uud  zusammen   mit  zwei  Lustspielen  gedruckt 

Sien  i:Si.   8. 

12' 


ISO    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  Will  .lahrhunderts  bis  zu  Üoetlie'B  Tod. 


309  wisgen  wollte  und  immcntlidi  von  dem  GmU  von  Berlichin^cn  nicU 
Aergeres  sagen   xu   können   vermeinte,    ala  dass    derselbe  ,ju  jedi 
Rttcksicht  jedes  Meisterstück   des  göttlichen  Sliakspeare  aufwiegreul 
Diese  Aeusserungen ,    für  welche  Ayrenhoff  auf  Wielands  volle 
Stimmung  rechnete,  bewogen  den  letztem  zur  Abf;iASun^  neinett  dritt 
Send  Schreibens".     Wieland  erklärte  darin,   diiss  er  in  dem  Sobluu 
des  zweiten  von  Ayrenhoff'  gänzlich  missverstanden  worden  sei.  ui 
setzte  nun  ausführlich  auseinander,   wie  er  Über   die  Üesohaflenhi 
unserer  dramatischen  Literatur  und  tlher  den  Zustand  unserer  Hühn( 
über  die  französischen  Dramatiker  und  über  Shak8|>eare,  Goethe  ui 
beider  Nachahmer,    über    die  Mittel,    wodurch   unserm  Drama  ui 
unserer  Huhne  aufgclM)Ifen  worden  könnte  n.  s.  w.  eigentlich  dächl 
Diess  ist  die  Schrift,   auf  welche  oben  ^*  Bezug   genommen   wui 
Wer  sie   nicht   selbst  durchlesen   mag,    ündel  das  Weseutlicbe 
dariu  niedergelegten  Gedanken  in  folgenden  Sätzen:   ««Shakspean 
Unregelmässigkeit  wird,  an  sieh  selbst,  nie  eine  Schönheit  werd< 
wiewohl  sie  bei  ihm   oft   die  Veraulassung  grosser  SchOubeiten  h 
und  seine  Fehler  bleiben  Fehler,    wiewohl  sie  Fehler  eines  gn 
Mannea  sind.     Es  ist  nicht  wohlgethan,  jene  nachzuahmen,  ohne  tuu^ 
der  Natur  mit  Geisteskräften  wie  die  seiuigen  ausgesteuert   wordi 
zu  sein;   und   es  ist  lächerlich,   diese  uachzuätTen  .  .  .  Indessen  sii 
ea  doch  bloss  die  AfTcn  Shakspeare's,  deren  Machwerk  er  nun  dari 
entgelten  soll,  weil  sie  ihn  von  seiner  tadethaften  Seite  zum  Mui 
genommen  haben.     Immerhin  eifere  mau   gegen   seine  unbcrufeni 
unverständigen    und    geschmacklosen    Nachtreter!     Aber    was 
•    Shakspeare  mit  diesen  xu  schaffen  ?  .  .  .  Wenn  Sbakspearc  auch 
unter  uns  bekannt  worden  wäre   oder  gar   nicht   existiert   hätte: 
wttrden  wir,  aller  Wahrscheinlichkeit  nach,  nicht  ein  einzige«  n 
trefiliches  Werk  mehr  und  kein  schlechtes  weniger  haben.     Die  rt 
der  letzten  Gattung  wtirden  nur  unter  andern  Formen  und  in  eij 
andern  Manier  schlecht  sein:  statt  missgescbaflener  Nachabmanj 
des  Engländer»  würden  wir  eine  grössere  Anzahl  schaler,  geial 
gereimter  oder  ungereimter  Nachahmungen  der  Franzosen  bek< 
haben:    statt    wilder    Menschenfresser,   Tollhäusler,    Banditen    Di 
Helden,  die  aufs  Rad  oder  wenigstens  an  eine  Galeerenkette  geh« 
würden  wir  sctideriscbc  und  calprenedische  Romaneuhelden  oder 
feine    parisische  Herren    und  Damen    verwandelte  Griechen,    RAl 
und  Morgenländer  auf  unsere  Buhnen  sehen:   und    was   hätte 
die  Kunst   und   unsere   Literatur   dabei   gewonnen?'^  .  .  .    Durch 
Revolution,   weldio  der  Götz  von  Bcrliehingen,   ein  StUrk,  das 
Aufführung  weder  geschickt  noch  gemacht  gewesen,  in  unserer  di 


12)  8.  Aam    lo 


13)  S.  176. 


EDtwickelaogtgADgd.LU    1773— isn2.  Drama.  FraazÖs.Gefichmack.  Wiclaad.  181 


matiscben  Literatur  herv(n'^ebracht  habe,  seien  freilich  allerlei  seli- 
Bjune,    zum    Theil    missratltüue    uud    eiues    aiif^^eklärteu    Zeitalters 
itinwdrdigc  Producte  auf  die  Bühne    gekommen    und   mit    dem    leb- 
Lafteaten  Beifall  gekrönt  worden,  selbst  in  den  vornehmsten  Städten 
Dentsrhlauds ;  ja   man  könne  mit  j^iitem  Grunde  sagen,   das»   nicht 
wenige  darunter  zeither  die  Lieliliuf^HstUi'ko  dos  Publicums  gewesen. 
Unmöglich    sei    es   aber,    das»  'eine   ganze   Nation    das   lebhafteste 
Wohlgefallen  an  einem  Schauspiel  finde,   ohne  dass  es  einige  Ver- 
diengte habe,  die  dieses  Wohlgefallen  rechtfertigen.     Recht  nachge- 
sehen *   seien  auch  die  Gründe  dieses  Wohlgefallens  die  nämlichen; 
vamm   Schauspiele  bei   jedem  Volk   in   der   Welt   eine  besondere 
Bensation  gemacht  halten.     Bei  den  allermeisten  Srhauspielen,  womit 
tman  da«  deutsche  Publicum  seit  Gottscheds  Zeiten  unterhielt,  musste 
lieh  dasselbe  bald  nach  Griechenland,  bald  nach  Italien,  bald  nach 
[Frankreich  oder  England,  bald  nach  Koustantinopel,  Babylon,  Mem- 
'l>bis  oder  Pecking  versetzen  lassen.     „l>outsche  Geschichte,  deutsche 
Helden,  eine  deutsche  Scene,   deutsche  Charaktere,  Sitten   und  Ge- 
lirftuche  waren  etwas  ganz  Neues  auf  deutschen  Schaubühnen.     Was 
kann   nun   natürlicher  sein,    als   dass  deutsche  Zuschauer   das    leb- 
Fliafieste  Vergndgen  empfinden  mussten,  sich  einmal  —  in  ihr  eigenes 
fVaterland,  in  wohlbekannte  Städte  und  Gegenden,  mitten  unter  ihre 
eigenen  Laudsicutc  und   Voreltern,  in  ihre  eigene  Geschichte  und 
[Verfassung,   kurz   unter  Menschen  versetzt  zu  sehen,   bei  denen  sie 
[vu  Hause  waren  und  an  denen  sie,   mehr  oder  weniger,   die  Züge, 
die    unsere  Nation    charakterisieren,    erkannten?"    Aber  dicss  sei 
noch    nicht    alles,    woduroh   jener   ausserordentliche   Beifall    erklärt 
werde.    „Die  besagten  Schauspiele  —  so  wild  und  unregelmässig  im 
[an»  »0  übertrieben  in  Charakter  und  Leidenschaften,  so  schwülstig, 
«nbastisch,  ungleich,  unrichtig,  auch  wohl  unanständig  und  schmutzig 
Sprache  und  Ausdruck  sie  zum  Theil   Bein  mOgen  —  haben  das 
erdienst,  durch  stark  gezeichnete  und  abstechende  Charaktere,  hef- 
Kxplosionen  gewaltiger,  stark   contrastierender  Leidenschaffen, 
ifordeutliche  Situationen,  eine  grosse  Mannigfaltigkeit   von   dra- 
itiwben  Gcmühlden,  viel  Schangepränge  und  Aciion,  viel  Theater- 
idorungen    und   opernmässige  Decorationen,    kurz    durch    alles, 
st;irk  auf  die  Sinnlichkeit  wirkt,  die  Zuschauer  auf  den  Schau- 
platz, zu  heften  und  Iniiuer  in  Erwartung,  Unruhe  und  abwechselnde 
Li-mchOtterungen  von  Liebe  und  Haas,  Bewunderung   und  Mitleiden, 
'urcht  und  lIoHnung,  Schrecken  und  Entsetzen,  Freude  und  Trau- 
Ifigkeii.    kurz   in   alle  die  Affecto  zu  setzen,    worein  alle  oder  dock 
[die   meisten  Menschen,    wenn   die  Sache  sie   nur  nicht  unmittelbar 
LDgeht,  sich  so  gerne  setzen  lassen.'*     Welch  ein  Abstand  sei  diess 
TQn  der  LaugeuweÜe  oder  höchstens  schwachen  Tbeiluebmung  ge- 


§  309 


1S2     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVin  Jahrhunderts  bii  la  OoeCb«*s  Tod. 


5  309  weacn,  welche  tier  griJsstc  Theil  der  franzosiächea  Sittcke  oder  ibrtl 
Nacbahmungen    hervorgebractt  hätten!  .  .  .    Wenn   Götz  v.  B.   undl 
seine  wohl  oder  Übel  g^eratbenen  Nachahmungen   kein  anderes  VerJ 
dienst  liflttcn,  als  dass  sie  uns  durch  die  Erfahmng:,   die   man  von 
ihrer  Wirkung  gemacht,  den  Weg  gezeij^t  hatten,  .auf  Welchem  wir 
eine  wahre  National-SchaubUhne  erhalten  könnten,  so  wÄre  es  äcfaoit] 
Verdienst  genug.     ,, Männer  von  Genie ,  aber  Männer,    nicht  roh( 
nngcbändigte,  von  Natur-,  Kunst-  und  Weltkenntnis^  gleich  stark  en( 
blösste  Jünjirlin^'e,   die,    ohne  es  zu  merken,   alle  Augenblicke  von 
einer  halbwahuHinnigen  Phantasie  Über  die  Grenzen  der  Natur  und, 
des  Schicklichen    hinausgerissen    werden  —  Münner   von    wabrei 
Genie,  und  Talent  werden  (wie  uns  das  Beispiel  des  Verf,  von  G« 
und  von  Ipbigenie  schon  gezeigt  bat)  auf  diesem  Wege  zuletzt  un- 
fehlbar selbst  mit  einem  Aescbylus  und  Sophokles  zusammentreffen  I* 
Mit  jenem  Wunsche  nach  einem  versificierten  und  gereimten  Trauei 
spiel, *da3  neben  einem  von  Racine  oder  Voltaire  stehen  krmnte,  ba- 
roerkt  Wieland  zuletzt,    habe   er  weder  mehr  noch  weniger   sagei 
wollen,   als  dass   wir,  so  viel   er  wösste,  noch  kein  solches  Stock'' 
hätten,  und  dass  es  uns  nicht  anstünde,  die  Frauzosen  herabsetzen 
«u  wollen,  bis  wir  gezeigt  büttcn,  dass  wir  es  ihnen  in  ihrer  Mani« 
luvor  thun   konnten.    Aber   er    wäre   weit,    weit  entfernt  gewe«ei 
diese  Manier,  diese  Form  für  die  einzige  oder  nur  fllr  die  beste   zi 
halten;  weit  entfernt,  einen  lUciue  oder  Voltaire  we^en  ihrer  Ke^d 
mllssigkeit,  wegen  eines  mehr  oder  weniger  künstlichen  Plans,  weg< 
der    reinem  Spraejie;   schönem  Versification  und  überhaupt   weg< 
des  feinern   und   e*llern  Geschmacks   ihrer  Zeit  ili   llbcr  Shakspe-ai 
zu  erheben,    dem  sie  au  Genie  und  Imagination,   an   tiefem  OefUh 
und   getrener  Darstellung  der  Natur  so  weit   nachstünden,   als   du 
spmcbreiche   philosophische  Heuriade  der  Ilias.      Kr  wäre  eben   s< 
weit   entfernt   ijewcsen,    uusern   Götz   von   Berlichingen,    als   Le^rg 
Hamlet   oder  Othello    für  Ungeheuer  zu   hatten;    oder   die   neuei 
Nachahmungen  derselben  deswegen,,  weil  die  Einheiten  der  Zeit  umf 
des  Orts  und  andere  Regeln  nicht  darin  beobachtet   seien,    für  vcr« 
werflich  zu  halten.     Wenn  er  sie  tadle,   so   sei    es   wegen    solchi 
Fehler,  Ausschweifungen  und  Ungereimtheiten,  die  es  auch  in  dcmT 
rcgelmäs»igsten  Stücke  sein  würden.      Kr   wünsche  nicht,    daM   wir 
uns   »clavisch   weder  nach   den  Griechen  ntK-h  nach  den  Franzosei 
bildeten:    sondern    da$s   wir   eine  Schaubühne   hätten,    die  sich  ti 
unsere  Zeit,    unsere  Nationalität,    den  Stand    unserer   Bildung 
schickte,  wie  zur  Zeit  ihrer  BlÜthe  die  der  Griechen  und  Franzoiei 
für  Athen  und  Paris,  die  aber  von  allen  Fehlern,  die  den  allgemei-^ 
neu  Meuschensiun  beleidigen  und  dem  wahren  Zweck  der  Scbau> 
spiele  zuwider  sind,  gereinigt,  in  ihrer  Art  vortrefflich  genug  wAre^ 


Entwickcluugsgang  der  Literatur.    1773—183*2.    Drama.  183 

um  Personen   von  Verstand   und   Geschmack,   welches   Landes  und  §  309 
Volks   sie   auch  sein    mochten,    auch    durch   Schünheiten,    die   von 
National-    und   Lo»^lverhAltnisson    und   allen  Arten  conventioneller 
Form  unabbiln^g  seien,  zu  gefullen. 

AlleS;  was  nur  von  irgend  einiger  Bedeutung  iu  der  Gattung  des 
enisten  Drama'»  während  des  achten  Jabi*zelicnts  entstand  und  ein  all- 
gemeineres Interesse  im  Publicum  zu  erwecken  vermochte,  beruhte 
wesentlich  auf  den  Theorien,  die  theils  aus  Bhakspeare's  Werken  —  wie 
sie  die  Zeit  verstand  —  gezogen,  rbeils  in  den  dramaturgischen  Zugaben 
\zu.  Diderots  Theater  niedergelegt  waren",  und  gieng  zum  allergrüssten 
'beilr    ausser   von  Goetbo   selbst ,    von  den  ihm  zunächst  sich  an- 


\4)  Vgl.  Bd.  ni,  40t  f.    Hierhin  sind,   ausser  dem  durchgäo^gca  Drüigen 

anf  die  rolle  XaturwuhrUeit  der  ilramatischeD  ITandlung,  d.  b.  den  barea  Naturalis- 

not   and   Healismns  in  der   Darstelluitg.    besonders  folgende  Sätze  zu   rechnen, 

data  Anvendung  in   dem   ernsten  ^chau&picl   und  dem  rührenden  Lastspiel  des 

Viertels  im   vorigen  Jahrh.   überall  durchblickt,    o)  Aus  den   Entreticus: 

»a^  es  gebe  keine  grosse  tragische  Leidenschaften  mehr  zu  erregen;   man 

EfTne  die  erhabeneu  Gesijiuungeu  uumögUch  auf  eine  neue  und   rührende  Art 

rortmgen.    Das  kann  in  der  Tragödie  wahr  sein,   so  wie  sie  die  Griechen,   die 

Kfimer,  clie  Franzosen,  die  Italicner.  die  Engländer  und  alle  Volkpr  auf  der  Welt 

•gemacht  tiabcn.    I>ie  bürgerliche  Tragödie  aber  wird  eine  andere  Haudlung^  einen 

indem  Ton  und  ein  Krhabenes   haben ,   das  ihr  eigeuihünilich  r.ngehort.    Diese 

TftgiWie  ist  UU3  nAher:  sie  ist  das  Gemühide  der  L'nglflcksfülle,  die  uns  nmgeben. 

'Ic?    Sie  begreifen  nicht,  wie  stark  eine  wirkliche  Scene,  wie  stark  wahre  Klel- 

iun^en,    einfuche  Handlungen   und   diesen  Handlungen   angemessene  Reden,   wie 

iBtarW  CfcUhren  auf  Sie  wirken  würden,  ob  welchen  Sie  nothweodig  ziiteru  müsstcn« 

-wcüin  Ihre  Anverwandte,   Ihre  Freunde  oder  Sic  selbst  ihhen  aiL<^esetzt  wttr«n? 

änt*  g&iuliche  Glürksveränderang,    die  Furcht  vor  der  Schande,    die  Folgen  des 

^Jeudcs,  eine  Leidenschaft,  die  den  Menschen  Ins  V'eTderbeu,  von  dem  Verderben 

rr  Verrweiflung,  von  der  Verzweiflung  zu  einem  gewaltsamen  Tode  bringt,  sind 

«elteoc  Begobenheilen:  und  doch  glauben  Sie,  dass  Sie  weniger  dabei  fühlen 

als   bei   dem   fabelhaften  Tode  eines  Tyrannen,   bei  der  Opferung  eines 

'r*  —  „Die  Absicht  eines  dramatischen  Stückes  ist,   dem  Menschen  Liebe 

«r  Tugend  und  Abscheu  vor  dem  Laster  ein  zuflössen".  —  Die  Frage  nach  den 

zu  dem  rrnstliaften  Komischen  wird,  da  es  hiVhstens  ein  Dutzend  wirklich 

;be  Charaktere  «clie  und  die  kleinen  Verschiedenheiten   unter  den  racnsch> 

len  Charakteren  nicht  so  glücklich   bearbeitet   werden   können,    als  die  reiiien 

tiiTermischteii  Charaktere,   dahin  bcantwoiict:   ,.dass    man,    eigentlich  zu   reden, 

licht  mekr  die  Charaktere,  sondern  die  Stunde  auf  die  Bühne  bringen  muss.   Bis- 

ler  ist    in   der  Komödie   der  Charakter   da*  Hauptwerk   gewesen,   und  der  Stand 

»ar  nrir  etwas  Zufalhges ;    nun   aber   muss   der  Stand   das   Hauptwerk   und   der 

Charakter  dm  ZufAlligc  werden.    Aus  dem  Charakter  zog  man  die  ganze  Intrigne. 

^Üan  suchte  dnrchgAngig  die  Umstünde,  in  welchen  er  sich  am  besten  äussert,  und 

.tcrhand  diese  CmaiAude  unter  einander.    Künftig  muss   der  StAnd,   müssen   die 

JTfficlitni,    ilie  Vortlieile.   die    Cnbequeralichkeiten    desselben    zur   Grundlage   des 

Werk»  dienen**.    Domgeraftss  solle  man  nicht  bloss  den  Gelehrten,  den  Philoflophen, 

d«n  Kanfmann.  den  Uichter.  den  Sachwalter,   den  Staatsmann,  den  Hürger,  den 

Herrn,  den  Suttbalter  spielen;  sondern  auch  alle  Verwandtschaften.-  dea 


184     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUL  JahrhuDderts  bis  tu  Oootbe*B  Tod. 

30d  schlieesendea  Dichtern   oder  ihren  SinneBverwandten  aas.     Sie  be- 
stimmten so  erfolgreich  Richtung  und  Form  des  ernsten  Drama'ft  und] 
gaben  so  entschieden  den  Ton  dafür  an,  dass  fürs  crelo  keine  andere' 
Art  ernster  Stücke    nehen   den  ihrigen    l'ortliestehen  oder   neu  aal- 
kommen  konnte  ^   und  dass  selbst  ein  Dichter  wie  Wezel,    der 
Roman   weit   von  ihren  Wegen  ahgicng,   im  Schauspiel   ihnen   gxns 
anzugehören  schien '^    Allein  diese  Stücke  reichten  lange  nicht  ans 
für  das  BedUrfniss  der  Theater,  zumal  der  grössern  und  bessern,  diftj 
jetzt,  wo  sie  immer  mehr  feste  Stfltten  fanden,  oder  mindestens  nichf 
mehr   zwischen    so   vielen  Orten   und  so  hfiufig,    wie    frühcrliin,    zu 
wechseln  brauchten,   in  demselben  Verhältniss  für  Mannigfaltigkeit 
und  Neuheit  in  ihren  Vorstellungen  zu   sorgen   hatten,   in   wclcheiftj 
sich  das  Verlangen   darnach    bei  dem  Publicum  von  Jahr  zu  Jabi 
steigerte.     Manche  dramatische  Werke  von  deutscher  Erfindung  eig- 
neten   sich    auch    nicht   einmal    für   die  scenische  Autlllhrung    od* 
mussten  dazu  wenigstens  erst  besonders  eingerichtet  werden.     Da» 
kam,  dass  unsere  Literatur  noch    immer  arm   an    ei^^entUchen  Lu«l- 
spielen  blieb.     Waren  unsere  öticntllchen  und  gesellschafilichen  Ver^ 
bältnisse  der  Entwicklung  einer  schönen  Literatur  von  höherm  Q< 
halt  und  einem  zugleich  volksthUmlichen  Charakter  überhaupt  nicht 
günstig,   80  waren   Jsie  es  in   manchen  Beziehungen  gerade  für  tti 


Uausviitor,  ilcn  Ehetnnnn,  die  Schwester,  den  Bruder  —  „Die  Stände!  Wie 
wichtige  Auutühruugen,  wie  viel  öffentliche  und  hüuslicbe  Verrichlungeu ,  wie 
unbck&Dute  Wahrheiten ,  wie  viH  neue  Siltiationen  simi  aus  dieser  Qtv'tlc 
schöpfen  I  —  Aber  diese  Stoffe  gehören  der  enistbaften  Gattung  nicht  t'inu{{  an< 
alleiD.  Sie  können  komiacb  oder  tragisch  werden,  nach  dem  das  Genie  ist, 
aich  damit  abfiibt**.  —  bt  au«  deju  Tmite  sur  ta  poi^sie  dramatique:  „Ich  liab 
mauchmul  gedacht,  dssi  man  gar  wohl  die  wichtif^teii  Stücke  der  Moral  auf  di 
Theater  ahhiindcln  könnte,  ohne  dadurch  dem  feurigen  und  reissenden  Fort^ 
der  dramatischen  Handlung  zu  schaden.  —  Auf  diese  Weise  k<)nnte  der  Dicblorj 
die  Frage  vou  dem  Selbstojorde,  von  der  Ehre,  voui  Duell,  vom  Koichthume  ui 
künden  andere  abhandeln  Unsere  Gedichte  wurden  dadurch  eine  \VnnJ<>  hi 
kommen,  die  ihnen  fehlt.  Wenn  eine  eulcb»*  Sceue  uoüiwendig  ist.  wenu  sie  mi 
dem  ätoffti  zusammenhängt,  wenn  sie  vorbereitet  ist.  wenn  fic  der  Zuschauer 
wartet:  so  wird  ex  ihr  seine  ganae  Äufmcrksanikeit  schenken  und  wird  gm 
anders  davon  gerührt  werden,  als  von  dcu  klciueu  niedUchen  Seuteuzm ,  au 
welchen  unsere  neuere  Werke  zusammenge.stüppfli  sind".  —  So  hitch  l.rsyii 
Diderot  als  Dramaturgen  stellte,  so  wich  er  doch,  als  er  seine  Draraaturgirichriel 
schon  in  mehrern  sehr  wesentlichen  ruiikten  von  dessen  Theorie  ah,  indem 
fuunentlich  die  Naturwahrheit  kfinstlerischer  Dar<tlcltung  in  einem  f^nr.  and' 
bei  weitem  hAheni  Sinnt*  fasste  als  Diderot  ivgl.  Itd.  ilt,  U)*^  und  dazu  Guhraaii 
i.cssing  2.  I.  'ion  f.».  Uei  den  aUermei^ien  unserer  Jangern  Dr&mutiker  brifcchc 
dagegen  Diderot«  Lehren  und  Beispiel  Wirkungen  hervor,  die  unserer  UUbrnw« 
dichtnng,  icnmal  seit  dem  Beginn  der  achtziger  Jahre,  nicht  minder  zumNachl 
wie  zum  VortJieil  gereichten  15)  In  dem  Trauerspiel  ..der  (iraf  von  Wi< 

bam'%  Leipxig  ITM.   H. 


Entwickelnugsgang  der  Literatur.     1773—1833.    Dr&ina. 


rS5 


am    allerwenigsten.      Wir    hatten   in   Deutschland   keine  §  309 

lauptstadt  und  keinen  Hof,   der  den  feinen  Ton  für  das  Iniriguen- 

tflck,  ja   nur  für  daa   höhere  Conversationsstflck  angegeben  bätte^ 

ir  hatten  kein  uffentliches  Leben  und  erhielten  daher  auch   keine 

JtarakterstUcke  von  anerkanntem  Werth;  wir  hatten  auch  nicht  die 

'rcihoit,    die  uub  ein  Lustspiel   vcrachat^'t   hätte,   das   im  Charakter 

ler  Satire  einen  Ge^censatz  ^egen  au&i^cartete  Zustünde  der  Geaell- 

diaft    bilden    konnte,    oder   gegen    einen    ühcrbobcncn   Trieb    des 

löhern  Ijcbens'*.     Was  der  Entwickchmjr  unscrs  Drnma's  Überhaupt 

id  der  des  Lustspiels  insbesondere  dadurch  abgieng,  daes  Deutsch- 

td   keine   Hauptstadt  als  Mittelpunkt   der  feinern    Bildung   hatte, 

md  dass  die  einzelnen  Hofe  sich  der  vateHilndischen  Literatur  und 

mbne  so  wenig  geneigt  zeigten,  wurde  schon  lange  gefühlt  und  auch 

lebr  oder  weniger  deutlich  ausgesprochen '\    Als  lange  nachher,  im 

ihre   1795,  Kürner  bei  Schiller  anfragte,  warum  Oocthe  nicht  ein- 

ihI  seine  ganze  Kraft  in  einem  Lustspiel  versuche,  da  wir  noch  so 

an    dieser  Gattung  wären,    antwortete   ihm  Schiller:    derselbe 

üllc  ttiirum  „auf  die  Komödie  nicht  entricren",  weil  er  meine,  ,,da83 

wir  kein  gesellschaftliches  Leben  bätten''"^     Die  deutschen  Original- 

fttfloke,   die    sieb    für    Lustspiele   ausgaben^    waren,    wenn   sie   aus 

frilkerer  Zeit  herrührten,  zum  grossen  Theil  schon  veraltet,  die  neuen 

■lektens  so  unbedeutend,   dass  sich  nur  wenige  bei  dem  Publicum 

Gunst  erbalten  konnten.     Von  den  gehaltvollem  Stücken  hiesseu 

manche  Komödien,  wie  namentlich  die  leuziscbcn,  waren  aber 

fcigenüich  gar  keine  Lustspiele,  sondern  vielmehr  zu  der  ernsten  Art 

tu   rcchncü   und   dabei   auch   noch   von   einer  Form,   die  sich   ohne 

riele  Ahinderungeu  wieder  nicht  mit  der  Vorstellung  auf  der  HUhne 

rerfra^.    Was  blieb  unter  solchen  Umständen  den  Theatervorstehem 

Ibrig,  als  «ich   (woran   sie  seit  Gottscheds  Zeiten   gewöhnt  waren t 

rihrend  nach  Uebersetzungcn  und  Bearbeitungen  fremder  Schan- 

l«le  umzusehen»  um   dem  Mangel  an  deutschen  Erfindungen,   die 

V'  der  Zeit  zusagten,  abzuhelfen.    An  Bereitwilligkeit 

derartiger   Auskunftsmittcl    fehlte   es    nicht :    nicht 

wenige  Schauspieler  legten  selbst  Hand  ans  Werk,  freilich  nur  der 

eiwige  Friedrieb   Ludwig  Schroeder'*  mit  dem   rechten  Gc- 

icliick    und    in   einer    wirklich    erfolgreichen  Art.     Dieser,    1744  zu 


I6>  Vill  Gerrinus  5\  402.  17)  Vff?   NicoUi   in   üen  Briefen  nl»rr  den 

jO^tn  ZnaiMMid  der  ichöuen  WUsenscbafttiu  etc.  S.  Iltif.  und  im  'ioo.  Liti^ratur- 
hngint  w  wie  •'  !  J.M/iscra  aus  dem  J.  1761  in  den  vermiBchtcn  Schriften 

t  liftf  .  :>  Briefwechsel  mit  Körner  3,  2*;j  f.;  2ü7.  1*)»  Vgl. 

ftMridi  LoJ^Ih^  Sviaueder.  Beitrag  zur  Kunde  des  Menscheu  und  des  KUnsUfn 
*tF  U.  W.  Meyer  Hamburg  IM;».  •>  Thle  gr.  ^.  (neue  Ausgabe  tS*J2);  niid 
1»  firoatar.  Fr  t.  Schroeder.    Ein  Künstler-  und  UbensbUd.    Leipzig  iBf^.    9. 


196     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhundcrta  bis  zu  Goethe'«  Tod. 


§  309  Scbvrerin    geboren,    wurde    von    der    zartesten   Kindheit    an    untei 
strenger  und  oft  »ehr  barter  häuslicher  Zucht  für  die  Bühne  gebildet, 
der   seine  Mutter  und   sein  Sliefvnter  Ackennann   angehorten.     Mü 
ihnen  hatte  er  schon  in  verschiedenen  StÄdten  Russlands,  Preu»*ei 
und  Polens  gespielt,   als  er   1754   zn  Warschau  in   die  Schule  d( 
Jesuiten  kanu  aber  nur  so  lange,  bis  Ackennann  mit  seiner  Trupp 
diese  Stadt  verliess ,   worauf  der  Knabe  zuerst  bloss  von  einem  mH 
mancherlei    gelehrten  Kenntnissen  ausgerüsteten  Mitgliede  der  G< 
Seilschaft    unterrichtet    wurde    und    sodann,    als  Ackermann    nacl 
Königsberg    gekommen  war,    das    dortige  Collegium  Fridcricianui 
besuchte.    Dieser  Anstalt  wurde  er  ganz  anvertraut,  als  seine  Eltei 
im  Begriff  waren.  Königsberg  zu  verlassen.     Er  war  sehr   fleii 
aber  auch  sehr  mutbwillig.     In   der  Mitte  des  Jahres    1757    mu49t6' 
er,  da  die  Zahlungen  für  ihn  scbou  seit  einiger  Zeit  ausgeblieben 
waren,  die  Schule  verlassen.    Er  befand   sich   in   der  drückendstt 
Lage;   ein  armer  Schuhmacher  war  der  einzige  Mensch  in  Koni; 
berg,  der  sich  seiner  annabm,  ihm  Obdach  gewährte  und  seine  api 
liehe  Nahrung  mit  ihm  theilte,  wofür  Srhroedcr  ihm  wie<icr»  Sft 
es  gehen  wollte,  bei  seinem  Handwerk  half.     Eine  bes-sere  Zeit 
gann  für  ihn  erst  gegen  Ausgang  des  Jahres  175S,   als  der  damals 
berühmte  englische  Dralittftnzer  und  Aci|iiilibrist  Stuart  nach  Könii 
berir   kam.     Er   und   seine    fein   gebildete  Frau    nahmen    sieb    d« 
Jünglings  an,  die  letztere  unterwies  ihn  im  Schreiben,  in  Musik  um 
Sprachen,   wogegen    er   sie    im    theatralischen   Tanze    untcrricbteli 
Jetzt   lernte  er   auch   Shakspeare    aus    einzelnen   Auftritten    seint 
Trauerspiele    kennen,    die   Stuart    sehr    gut    vorzutragen    verstam 
Dieser  wollte  Schroederu  mit   nach  England  nehmen,   doch   musgU 
derselbe  zufolge  einer  Anordnung  seines  Stiefvaters  im  Jahre    171 
zur  See  nach  Lübeck  abgehen,    von   wo  er  zu  seinen   Eltern,    dh 
damals  mit  ihrer  Trn]ipe  in  der  Schweiz  umherzogen,  berufen  wurd< 
Er  traf  sie  zu  Solothurn,  betrat  nun  sofort  wieder  die  ßnhne  nui 
erwarb  sich  als  Schauspieler  in   niedrig  knmischcu  Rollen  und  voi 
züglich  als  Tilnzer  im  Ballet   bald   grossen   Beifall.     Da   er   ind< 
keine  Hoffnung  hatte,   das  äusserst  geringe  Taschengeld,  dafi    iki 
Ackermann  bewilligt  hatte,    vermehrt  zn  sehen,    so  suchte  er  siel 
eine  bessere  Einnahme  durch  Billardspiol  zu  voi*sehaft'en,  dem  er 
eifrig  nadigieug,  dass  ihm  sein  eigentlicher  Beruf  völlig  zur  Xebei 
eacbe  zu  werden  schien.    Dennoch  gerieih  er  uach  und  nach  imm» 
tiefer  in  Schulden,   ans  denen   er  sich   leider  auf  eine  Äusserst  ni 
reohtlirhe  Weise  1761  in  Strassburg  zu  ziehen  suchte,  und  als  du 
die  verdric^slichsten  Folgen  für  ihn  hatte,  ergrift*  er  die  Flucht,  vei 
söhnte  sich   jedoch    bald   wieder  mit   seinen  Eltern   und   kehrte 
ihrer  Gesellschaft  zurück.    Sein  Wochengeld  wurde  etwas  erhöbt,  ei 


EntwickelangBgang  der  LUerator.     1775— 1632.    Drama-    Schröder.      187 


^erhielt  bessere  Rollen  und  \vidmeto  sich  fortan  mit  grösserem  Eifer  §  309 
der  Böbne,   besonders   iiJs  Tänzer    und   als  Ertinder   von  Balleten. 
'nterdess  erschien  der  Anfang   von   Wielanda  Ueberscti&ung   sbak- 
spearisnher  Stöcke;  sie  wurde  bald  Schroeders  Hauptbuch,   der  da- 
mals des  Englischen  noch  nicht  so  mächtig  war,  dass  ihm  die  Urschrift 
liese  Uebertragung  entbehrlich  gemacht  hätte.    1763  gienj;  Ackermann 
riit  seiner  Gesellschaft,  nachdem  er  seit  Ausbruch  des  siebenjährigen 
iKrieges  in  verschieilenen  Städten  der  Schweiz,  des  Elsasses  und  des 
südwestlichen  Deutschlands  Vorstellungen  gegeben  hatte,  über  Cassel 
üuil  Braunschweig  nach  Flannovcr.     Hier  trat  zu  Anfang  des  folgen- 
fden  Jahres  Eckhof  der  Gesellschaft  bei;  Ackermann  verlangte,  dasa 
'in  Stiefsolin   eich    die  Erfahrungen   und   das  Spiel  des  berühmten 
vflustlcrs  zu  Nutze  machte  und    sich   von  ihm  in   der  Behandlung 
siner  Rollen  unterweisen  Hesse.     Davon  wollte  jedoch   der  junge, 
'on  sich  sehr  eingenommene  Mann    nichts  wissen:   er  gieug   lieber 
»inen  eigenen  Weg.     Im  Spätsommer    1764  kam   die  Truppe   nach 
iamburg,   wo   sich  Schroeder    die  Gunst    des  Publieums    bald    in 
lohem  Grade  erwarb.    Sehr  vortheilhafteu  Eiuduss  auf  seine  thea- 
•rtliache  Bililung  hatte  ein  Bekannter  von  Strassl>urg  her,  Namens 
'bilippi;   eine  Aeusserung  desselben  gab  den   ernten  Anlass,    dass 
roeder  sich  mehr  und  mehr  vom  Ballet  zurückzog,   um  sieh  mit 
\o  grossemi  Eifer  dem  recitierenden  Schauspiel  zu  widmen.     Als 
I7ß7  das  sogenannte  deutsche  Nationaltheater  ins  Leben  trat"  ver- 
Schroeder  diese  Stadt,   um  in  die  Gesellschaft  von  Kurz,   die 
d«  in  Mainz  spielte,   einzutreten.     Allein  schon  zu  Anfang  des 
folgenden  Jahres  trennte  er  sieh  wieder  von  ihr  und  kehrte  zu  der 
Hauiburger  Bühne  zurück  als  Ballctmeister  und  Schauspieler.     Nach- 
leoa  niebt  lange  darauf  das  Nationaltheater  seine  Endschaft  erreicht 
ttbcmahm  Ackermann  zwar  aufs  neue  das  Hamburger  Bühnen- 
in,    Qberlio8S   indess   die  eigentliche  Direction   fast  ganz  seiner 
kttio  lind  seinem  Stiefsohn.     1771  brachte  dieser  seine  erste  Bear- 
»tang  eines  fremden  Stückes,    „den  Arglistigen"  nach   Cougreve, 
ir  Aufführung.     In  demselben  Jahre  stiftete  Schroeder  eine  kleine 
^Oosellschaft    gebildeter  Thenterfretinde,    denen    er  Wielands  Shak- 
Steinbrüchels  Theater  der  Griechen  und  andere  zum  Theil 
Ihrbare  Stücke  vorlas,  zu  welchen  seit  I77:j  auch  die  Werke 
«^the'^  und  seiner  Schule  kamen,  ans  der  ihm  besonders  Lenzons 
ItOcko  zusagten.    Obgleich  dieser  Verein   nur  bis  zum  Herbst  1774 
Lnd,  bot  er  Schroedern  doch  ein  nicht  unwirksames  Organ,  sich 
in  Publicum  von  einem  geläutertem  Geschmack  heranzubilden  und 
lassclbc  insbesondere  fUr  die  Autführung  der  von  ihm  bearbeiteten 


188     VT.  Vom  Ewoitco  Viertel  i\es  XVIU  Jahrhanderts  bis  eti  6o«lhe*i  Tod 


§  309  Stücke  Shakspeare's  empfänglich  zu  machen.    Im  Herbst  1771 

Ackermann  gestorben  und  die  Leitung  seiner  Gesellschaft  ganz  &i 
Schroedern  und  dessen  Mutter  übergegangen.    Am  20.  Septbr.  1771 
brachte  Schroedor  zuerst  ein  Stück  von  Shakspeare,  den  Hamlet, 
seiner  Bearbeitung  der  wielaudischen  Uebersetzung  auf  die   Bflb 
und  kurz  nachher  auch   den  Othello,   dem  er  später   noch   mehrer« 
andere   shakspearesche  Schauspiele    folgen    Hess.      Mancherlei    v 
driessliche  Erfahrungen  veranlassten  ihn,  zu  Ostern  17Sü  die  Leitu 
des  Theater«,  welchem  er  «o  lauge  vorgestanden  hatte,  aufzugeben; 
seine  Mutter  verpachtete  es  mit  allem  Zubelinr  auf  sechs  Jahre  an 
eine  Gesellschaft  von  Actionftren.   Schroeder  machte  eine  Reise  über 
Berlin,  Wien,  Mflnchcn  und  Mauheim,  woerilberall  mit  dem  au 
ordentlichatcu    Reifall   Gastrollen   gab,    nach  Paris.     Viele  deutac 
Buhnen  suchten  ihn  ganz  zu  gewinnen;  er  blieb  indess  nach  seio 
Rückkehr  fürs  erste  noch  in  Hamburg.     Seine  Gattin  hatte  ihr  Ve 
hfiUnisfl  zu  dem  dortigen  Theater,  nicht  gelöst;  er  selbst  trat  wied 
öfter  auf,  gieng  aber  im  Anfang  des  folgenden  Jahres  mit   sein 
Gattin   zu  dem  Wiener   Hoflheater   über.     Die  grössere   Müsse. 
ihm    hier  zu  Theil  ward,    benutzte  er  zur  Erfindung  eigner  Seh 
spiele"  und  zur  Bearbeitung  fremder;  vieles,  was  er  8p.aterhin  e 
vollendete,  wurde  um  diese  Zeit  schon  entworfen".     Indess  fand 
die  Theatorvcrhilltnisso  in  Wien  nicht  von  der  Art.  das»  er  auf  di 
"Länge  sich  dort  hätte  gefallen  können;  schon  in  den  ersten  ande 
halb  Jahren  begehrte  er  wiederholt  seine  Entlassung,   Hess  sich  j 
doch  noch  zum  Bleiben  bereden;  erst  zu  Anfang  des  J.  1765  sehi 
er  mit  seiner  Gattin   von  Wien,  um  die  Leitung    einer  Gesellsch 
zu  übernehmen,  die  zunächst  in  Altena,  Lübeck  und  Hannover  u 
seit  Ostern  1786  in  Hamburg  spielte.    Nachdem  er  derselben  d 
zehn  Jahre  vorgcfttauden,  überliess  er  die  Dircction  seines  Thente 
die  ihm  durch  viele  unangenehme  und  bittere  Erfahrungen  verieid 
worden  war,   vertragsweiso  andern  Unternehmern  und  zog  sich  auf 
ein  ländliches  Besitztbum  zurück ,   das  er  sich  zu  Reilingen  iu  d 
Nilhe  von  Hamburg  erworben  hatte.     Hier  lebte  er  mit  seiner  wO 
digen  Gattin  im  Kreise  von  Verwandten    und  Freunden ,   von  alle 
die  ihn   näher  kennen  gelernt  hatten,  eben  so   hoch   gejir'*  -     T 
Mensch,  wie  er  als  Schauspieler  bcmuidert  worden  war.   Ai 
besehfiftigte  er  sich  viel  mit  der  Laudwirthschaft,  daneben  aber  auc 
mit  mancherlei   wisseoscbaftlichcn  Studien  und  8cbnft8tollerii»ck< 


BT«         I 


2U  »t)cr  Fiiindrirh**  1TH2:   „Adelheid  von  Saüsbury"  HS»;  ..der  VHt«r 
Listabou"    «nU    „Victonnt'"    \1^4.  T2)  Oh   amh   schon   das  ».Portrait 

MutUT**.  sein  IrtKtcs  uud  hc&tes  OrigiiiaUtack.  wcUs  Ich  nicht;  aufgefllhrt 
es  em  in  Hamburg  I7«ä. 


Entwiclcdungsgang  der  Literatur.    177a— 1S32.    Draoia.    Schröder.      189 

vorzüglich  auf  die  Gescbiclite  der  Freimaurerei  beÄhgliclien  Arbeiten. 
Mit  der  Zeit  jedoch  fand  sieb  hierdurch  i^ein  Thätii^^keitstrieh  nicht 
befriedigt;  er  faaste  aufs  neue  ein  lebhaftes  Interesse  für  dasScbau- 
Bpiel.  bearbeitete  viele  fremde  Stücke  für  die  deutsche  Bühne^  und 
ale  im  Frlibjahr  IHU  der  mit  den  zeitherigen  Tbeaterunternehmeni 
bestandene  Vertrag  abgelaufen  war,  trat  Schroeder  wieder  an  ihre 
Stelle.  Nur  zu  bald  fand  er  in  dem  Verhalten  des  Publicimis  Ur- 
saefaeT  diesen  Schritt  m  bereuen;  adion  zu  Ostern  des  nächsten 
JabreH  ^ab  er  die  Fülirung  des  Theaters  auf  und  ^ieug  wieder  nach 
Eellingeu.  Die  let/te  Zeit  seines  Lebens  beschüftigte  er  sich  vor- 
nehmlich mit  der  Sternkunde.  Er  starb  zu  Hellingen  1816  und 
wurde  mit  grosser  Feierliclikeil  in  Hamburg  begrabeu."  üeber  da?* 
Qeaehick  und  den  sichern  Tuet,  womit  Schroeder  besonders  drama- 
tüche  Werke  der  Engländer  aus  Karls  II  und  aus  früherer  oder 
späterer  Zeit  „dem  deutschen  Sinne  angoähnlicbt"'  und  zu  dem  Ende 
öfter  ,,von  Grund  aus  verändert  hat**,  ist  mit  grosser  Anerkennung 
Ton  Goethe  gesprochen.'*  Ein  vorzügliches  Verdienst  erwarb  er 
«ieb  durch  seine  Bearbeitungen  und  AuffUhrungon  sbakspearescher 
Stücke  und  durch  die  dabei  beobachtete,  für  die  damalige  Zeit  ge- 
wiss ganz  angemessene  Verfahrungsweise,  den  Dichter  bei  uns  zu 
nationalisieren.  Er  legte  allen  seinen  Bearbeitungen"  den  Text  der 
wielandischen  und  eschenburgischen  Uebersetzung  zu  Grunde,  über- 
schlug immer,  was  er  seinem  Publicum  von  vorn  herein  bieten  konnte, 


§  309 


^ 


2ÜI  Wai  Schroeder  von  eigenen  dmmatischftn  Ertindungen  und  von  Bearbei- 
tiutgen  Oller  L'eljers(?lzun(;eu  fremder,  voruehmJich  englischer,  Stücke  seit  1771 
theUa  in  dem  „hamburgiachen  Thuftter"  iHamburg  1776— ?!.  4  Bde.  *».»,  drm 
„Beitrag  zur  dtut-^rhen  SohftubUhne"  (Berlin  l'SG— 90.  3  Thle  H. :  enthUt  nur 
Arbeiten  von  Schroeder,  in  den  beiden  andern  Sammlungen  sind  auch  Stücke  von 
andern  VcrttLasem  oder  Bearbeitern)  unil  in  der  „Samnihing  von  Schauspielen  tür 
da^  hamburgische  Theater"  Schwerin  und  Wismar  l"S»0— *H.  4  'Ihle.  S.)  hat 
drucken  lassen,  hat,  so  viel  ihm  die  Sonderdrucke  bekannt  geworden  sind,  Meyer 
a  a  0  2,  17J  f.  verzeichnet  (ebendaselbst  S.  171  ff.  findet  man  ein  „Verxeichniss 
der  von  Schroeder  mehr  oder  weniger  bearbeiteten ,  umgejutderU-n ,  tiheraetzten 
ttml  selbst  verfassten  Schauspiele"  und  für  jedes  .die  Angabe  des  Jahres  und 
Ta^ea  seiner  ersten  Aufführung»  Diese  Stücke  —  jedoch  von  den  Bearbeitungen 
shaJupeareschtT  aUein  der  Hamlet  —  sind  mit  noch  andern  wieder  gedruckt  in 
„F.  L.  Schroeder«  dramatischen  Werken  Herausgg.  von  K  von  Bülow.  Mit 
Witt  Einleitung  von  L.  Tieck".  Berlin  l'^^l.  4  Bde.  S.  '24)  In  den  Werken 
2«.  lOti  f.  (Vgl.  Schroeders  Brief  bei  Meyer  a.  a.  0.  2,  1,  ^^ü);  nüher  geJtcn 
daJ^uf  ein  Ticck  in  jener  Ktnleitung  S.  XLIIl  Ü.  und  v.  Bülow  in  den  Vorreden 
a«t   den   einzelnen  Theilen   seiner  Ausgabe.  25)  Hamlet  und  Othello    177ij; 

der  Kaufmann  von  Venedig  uud  Maasa  fUr  Maass  1777;  Ktmig  Lear,  Richard  n 
uskd  Heinrich  IV  —  beide  Theile  in  ein  Stück  zufiammongezogen  —  1778;  Mac- 
beth I77U;  die  Kinderzucht  oder  das  TuüCament,  nach  the  Louduu  Prodigal,  I7!»l; 
Tlei  LArmen  um  nichts  179*2. 


190     W.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVHI  .TfthrliUDdcns  bis  zu  üoetiie  s»  Tod 

»9  uud  was  er  ihm  besser  vorenthielt,  suchte  aber  fast  bei  jeder  neuen 
Vorstellung  dem  Dichter  mehr  vou  seinen  Schätzen  zurUekzugebent 
80  dass  seine  gedruckten  Bearbeitungen  weder  das  sind,  was  sie  bei 
der  ersten  Aufftthnin^^  waren,  noch  daSj  was  sie  bei  der  letzten 
wurden."  Durch  Schroeders  und  anderer  Schriftsteller  Bestrebungen 
mehrte  sich  der  aus  den  voraufgegangenen  Jahrzehnten  vorhandene 
Vorrath  an  Übersetzten  oder  bearbeiteten  altern  und  neuern  Werken 
des  Auslandes  bei  uns  schon  im  Laufe  der  Siebziger  sehr  ansehnlich, 
und  noch  viel  höher  schwoll  die  Masse  an  im  folgenden  Jahrrchent 
Die  R«^>mer'^,  die  Italiener^  die  Spanier,  die  DAnen  mussten  uns  ww 
ihren  literarischen  Schätzen  mit  dramatischen  Neuigkeiten  versorgen, 
und  am  reichlichsten  lieferten  sie  wieder  die  Nationen ,  von  denen 
auch  die  meisten  der  fremden  Komane  nach  Deutschland  hernber- 
geholt  wurden,  die  Franzosen  und  die  Engländer.  Von  Übersetzten 
oder  bearbeiteten  Stücken  neuerer  Ausländer  (Franzosen,  KnglAnderi 
Italiener,  Spanien  erschienen  %iele  1)  in  vermischten  Sammlungen 
(theils  mit,  theils  ohne  Beigabe  deutscher  Origiualwerke),  nnd  zwar: 
in  denen  des  Wiener  Theaters,  als  „Neue  Schau8i»icle,  aufgeführt 
auf  dem  k.  k.  Theater  zu  Wien''";  „Neues  Wiener  Theater*'"; 
„K.  k.  Nationaltheater""  und  „K.  k,  National-Hofthealer"*';  in  der 
,, Sammlung  einiger  der  neuesten  und  besten  Schauspiele,  auft  dem 
Französischen  uud  Englischen  Übersetzt  von  A.  Wiltenborg"*";  in 
den  von  Schroeder  seit  1776  veranstalteten  Sammlungen";  in  dem 
,f Vermischten  Theater  der  Ausi  Ander.  Zum  Gehrauch  der  dcutsclioii 
Buhne  herausgegeben  von  J.  Ch.  Bock"";  in  dem  ,, Theater  der 
Ausländer.  Verdeutschungen**  (herausgg.  von  11.  A.  0.  Reichard)""; 
in  der  „Welschen  Bühne.  Versuch  für  deutsche  Schauspielertruppen" 
(ebenfalls  von  Rcichardi*;  in  den  „Neuen  Schauspielen  für  dfts 
deutsche  Theater,  bearbeitet  von  M.  G.  Lambrecht'*";  iu  J.  F. 
Jüngers  ,,.Komi8chem  Theater"";  in  F.  L.  W.  Mevers  „Beiträgen  der 


26j  Meyer  a.  ft.  0.  I,  290;  vgl.  hierzu  Goethe  4b,  55  f.;  UerfiDus  5\  4^-sC 
und  A.  Stahr  in  dbu  Bterarhistonschcii  Tafichenbuch  von  Pmtz.  Jahrsranfr  IVtl, 
8.  4$  ff.  27)  Lenz,  von  Goethe  unterBtntzt,  (»earlieitett*  fünf  „t^nsiipiolr  n%rk 

dem  Plantus   Idn  deutsche  Theater",    Frankfurt   und   Leipzig  1771.    ^.   (auch  io 
Tiecki  AuA^abe  der  gesamraelien  Schriften  von  Lern:,  Ud    2;  rgl.  §301.  Amn.  lift^ 
Ob  aber  je  eins  davon  io  Deutschland  aufgeführt  worden,  ist  mir  nicht  bekannt 
2S|  Preashurg  n72-75.    »2  Thie.    s.  29l  Wien  1175—77.    r,  Thle.    *f. 

30)   Wien    17*8— Sl      fi  Thle.    V  31iW(cü    l7Sa— sä.     7    Thltv    s.  —  SU 

lieferten    mit   das  Schlechteste  uud  Geschmackloseste,    was    von   Ori^aalstl 
Uebenetsoogen    und    ücarbeitiuigen    aut    deutsche    Bühnen    kam;    vgl    Grrrii 
4',  36».         32t  Haraburi?  1774.    S.         33l  Vgl.  S.  IMt,  Anm    T.\.        3ll  XMi 
177*— *>1.     i  IWe.    •*.  :jr>l  Gotha  l77S-St.     'A  Ude.    S.  :^G\  W 

1790.   6.  (nur  ein  Band,  der  £wei  Stocke  vuu  Goldoni  und  ctna  von  Calderon 
kAh^  37  t  Augsburg  1780.    h,  36)  Leipzig  1792—95.    3  Bde.    8. 


Untwjclcetaiigsgang  der  LiCoratur.    1773— tS32.    Drama.    Uebersetzuugen.     19I 


iterläudiscbeu  ßUline  gewidmet*'*':  iiud  io  andern  Sammlungen  der  §  309 
erke    verscbiedener  Ueutsclier  Tlieuterdieliter.    —   2)    Nach    ihrer 

nationalen    Abkunft   oder   nach    den    Verfaascra    zusammengestellt, 

\)  Französische:  in  dem  ,, Komischen  Tlieater  der  Franzosen  für  die 
sutschcn.     Herausge^^eben  von  J.  G.    Dyk'*'";    in  Ad.  v.  Knigge's 
lammlunK  ausländischer  Schauspiele  für  das  deutsche  Theater  um- 
irbeiiet"**;  in  dem  „Neuern  französischen  Theater,  bearbeitet  von 
u  F.  Fluber"**;   in  Voltaire's  ,,8ämnitlichen  SchHusinclen'-  etc."j  in 

,DestoucUe-8   für  Deutsche",   von  A.  G.   Meissner   nnd   W.    Ch.    S. 
Ivlius*';  und  „Moliöre  für  Deutsche*',  von  denselben".  —  b)  Eng- 
;he:  in  dem  „Englischen  Tlieater  von  Chr.  H.  Schmid'*  "^;  in  dem 

»tBritiscben   Theater,    fUr   die    Manheimer   BUbue    bearbeitet**    (von 

■W.   H.   Freiherru  von  Dalberg;*'   und  in  Eschenburgs  Üebersetzung 

les  Shakspeare".  —  c)  Italicnischo :  in  den  „Komischen  Opern  der 

[talieuer.   Zum  Gebrauch  für  die  deutsche  Bühne  herausgegeben  von 

Ch.  Bock****;    in   den  „Singspieleu,    nach  ausländischen' Mustera 

ir  die  deutsche  Bühne  boransgcgobcn  von  G.  F.  W.  Grossmann*' **; 

„de«  Herrn  C.  Goldoni  sümmtlicheu  Lustspielen"  (übersetzt  von 

L   H.   Saal)*';  in  j.Metastasio's  dramatischen   Gedichten*'   etc.   (von 

A.  Koch;",  und   in  den  „Theatralischen  Werken  von  C.  Gozzi* 

ron  F.  A.  Cl.  Werthcs)'''.  —  d)  Spanische.  Auf  denReichthnm  des 

mischen  Theaters  hatte  zuerst  v.  Cronegk  hingewiesen   in  einem 

dd    nach   seinem   Tode  (l7;iH)  gedruckten  kleinen   Aufsatz,    „die 

laniscbe  Bühne'**'.     I7C6  brachte  die  neue  Biblinthok  der  schönen 

isÄcnschaften "  ,, einige  Nachrichten ,   den  Zustand  der  spanischen 

'oesie  hctrcflond''",  worin  sich   eine  fUi-  jene  Zeit   schon  ziemlich 

FEokanntschaft  mit  der  spanischen  Literatur  zeigte.     Drei  Jahre 

if  erschien  dann  zu  Göttiugen   die  „Gescbicbte  der  spaniscbon 

irbtkunst   von  Don  Luis  Joseph   Vclas(|uez.     Aus  dem  Spanischen 

.Ubensetzt  und  mit  Anmerkungen  erläutert  von  J.  A.  Dieze"".    Kurz 

39l  Ucrlin  n'.»3.    8.  4Ul  Leipzig  1777— Wi.     10  Thle.    9.  41)  Ileidel- 

tetg  17*4.  85.  2  Thlc.  fi.  42i  Leipzig  1795-in.  :<  Thle.  8.  43j  Nürn- 
>»€tg  l-i'>6— 77.    5  Thle,    S.  44)  I  Theil  (nur  zwei  Stücke)  Leipzig  1771).    K 

Ab)  I  Theil  luur   drei   Stücke)   Leipzig   l'^o.    8.  40)  Frankfurt  und 

l«pci^  I7C»— 73;  DÄiisüg  1774—77.  7  Thlc.  V  (Vgl.  Bleatcr  in  der  allgcraeineu 
1  StbUotliek  23,  2,  &(Hi  ff.;  '.iU,  2,  h4i  S.  und  Anhang  zu  lid.  'iö-Sti,  S.  2UN2  ff- 

47)  Bd.   I.   Mjulheim  17S«.    8.  48)  Vgl.  §  21H),  Anni.  71.         49)Leipxig 

nsi.  S2.    2  Thlc.    s  5i»  Frankfurt  u.  M.  !7s3.    S.  51)  Leipzig 

IH7-77.     U  Thle.   8.    Vgl  Bd   UI.  42b.  52)  Wien  HOS— 76.    8  Thle    fi. 

53)  Bern  1777-79.     .=»  Thio.    S.  54)  Zu  Ende  des  ersten  TheUs  seiner 

Nnch  Bouterwek    11,  IUI    soll   er   auch   einige  spanische  Lieder  nach- 

it  hal»fn.  55>   I,  S.  200— 2ai.  5t5)  Von   DiezeV     Nach   der  d. 

;^jÄil^S6ch^ift  l*>fi7,  Heft  *i,  S.  11*  von  Schieheler.  57»  OiJttingen  l'dit.  8. 

I>Kzr  wiu-  geb.  172H  zu  LeipKigt  1704-H-l  Professur  iu  üOttingeü  und  starb  17b9 
^  Maine. 


^Mi 


192    VI.  Vom  eweiteu  Viertel  dea  XVm  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe*!  Tod 

§  309  zuvor  hatte  Lessing,    der   schon    1750   damit   um^egau^eu   zu  »cio, 
scheint,  „das  Loben  ein  Traum"  von  Calderon  zu  Übersetzen**,  un( 
in   der  Folge  ^    besonders    wfthrend  seines  Aufenthalt«  in  HarobnrfTt' 
immer  vertrauter  mit  der  dramatischen  Literatur  der  Spanier  gewordei 
war,    auf   dieselbe   in    der  Dramaturgie   in    ungleich    anrogenderei 
Weise  als  Cronegk  aufmerk&am  gemacht  und  mit  Anerkennung  voi 
ihr  gesprochen".     Auch  die  Verfasser  der  Briefe  Ober  den  Wei 
einiger  deutschen   Dichter  etc.   deuteten  mehrfach  auf  die  Schflt 
und  eigenthümlidien  Reize  der  spanischen  Poesie  und  besonders  d< 
spanii^cheu  KomOdio  hiu^"'.     Indessen  wandte  man  sich  bei  der  Vci 
pflanzuug  spanischer  StUcke  nach  Deutschland  zunächst  noch  ntcl 
zu  den  Originalen  selbst,  sondern  zu  den  Bearbeitungen  spanisch* 
Dramen  in  Lingucta  „Tlieütie  Espagnol"  (1768—70),  welcheö  F.  Wj 
Zachariae   in   Gemeinschaft   mit  K.   Ch.  Gärtner  übersetzte'', 
erste    Sammlung,    worin    spanische    Dramen   aus   den   Grundtextei 
übortrajtreu  erschienen,  war  da«  v'^^J^g^^^iii  *^^^  spanischen  und  portu- 
giesischen Literatur**  von  Bcrtuch".    ,, Schauspiele  nach  spanisch) 
Planen   bearbeitet*'   gab  G.  W.  Rup.  Becker   heraus".  —  3.)  Uebei 
Setzungen  oder  Bearbeitungen  einzelner  Stücke  besonders  gedrucl 
erschienen  in  sehr  grosser  Zalil.    Ueberhaupt  wurden  Übersetzt  od< 
bearbeitet  a)   aus    dem   Französischen    vornehmlich   Lustspiele    vt 
Meliere,   Destouches,  Marivaux,  Voltaire,  Regnard,  Sedaine,  hi 
marchais,   Mercier,   Dorvigny,   Florian,  Monvel,  Dumaniant,  Colli 
d'Harleville  etc.  —  b)  Aus  dem  Englischen  StUcke  von  allen  Gi 
tungen,   namentlich  von  Stiakspeare,  ßeaumont  und  Fletcher,  V4 
brugh,  Farcpihnr,  Colman,  Cibber,  Congreve,  Cumberland,  Goldsraitl 
Moore,   Murphy   etc.    Von  shakspeareschen  Stücken   erschienen 
Bearbeitungen ,  ausser  den  von  Schroeder  herrllhrenden  und  in  di 
von  ihm  veranstalteten  Sammlungen  aufgenommenen  (wozu  i 
von  Heinrich  IV"  kommti  andere,  mehr  oder  weniger  n)i-- 
oder  den  Dichter  völlig  misshandelnde,    theils  in  verschicdeneu  d< 
Ubrigeu  oben  angeführten  Sammehverke,  thoils  einzeln,  wie  ,,Othell( 


58)  VrI  s&mmtl  Schrifleo  13,  b41.  59)  Vgl,  »d.  ni,  411  und 

GubrauLT  iu  der  FortaeUung  von  PftnzeU  Lessing  I,  *io7  H. ;  auch  S.  Hiti  f. 
6O;  Z.  B-  I,  291;  2\n  f.  61 1  „Spanisches  TheAter"    Bmunsrhwpig  177a— 71 

3  Bde.  8.  —  Von  eben  denselltcn  (Jel)orset2em  soll  utich  der  ungemeinen  d  ßihlt 
thek  21, 2. 5.'1^  auch  der  „Beitrag  zum  spanischen  Theater".  Hamburg  und  Rif«  1711 
herrhhren,  den  ich  nicht  naher  kenne«  und  von  dem  icli  auch  nicht  weiss,  ob  4lo 
darin  cntlialtcnen  Sachen  (ein  Lustspiel  von  Antonio  de  Sotis  und  rier  kWM 
werthlo»e  Nachspiele)  aus  dem  Spanischen  uumittelbar  oder  aus  {raniOfli 
BeArheititngcu  verdeutscht  sind.  021  Weimar  I7sn.     Üessuu  !7*i.     S 

(der  dritte  Band  auch  besuaders  unter  dein  Titel  „Thc«ter  der  Spanier  md 
giesea").  t}3)  Dresden  und  Leipzig  1783.   8.  64)  Wien  17^2.    9. 


Kniwickclungsgang  der  Literatur.     1771t — Iä32.    Drama.    UeberBetzongen.    193 

von  Ch.  H.  Schmid  ITGV)"";  eine  Bearbeitung  des  Othello  „daa  §  309 
Schnupftucb  t^ler  ilcr  Mohr  von  Venedig?,  Otliello,  ein  Schauspiel  in 
5  AufzUjceu  nach  dem  Shakspeare  von  J.  H.  S."";  „Cymbeline"  von 
Sulzer  1772*';  für  das  Wiener  k.  k.  Theater  1773  „die  lustigen 
Abenteuer  von  der  Wien'*  (nach  den  lustigen  Weibern  von  Windaor) 
von  Pelzet,  „Macbeth"  von  Stephanie  d.  J.,  „Hamlet"  von  üeufeld, 
,,,die  lacberlicbeu  Üoclizeitsfeste'*  inacli  dem  Sommeruachtstraum)"; 
[ferner  „Amor  vincit  omnia"  (nach  Love's  Labotir'a  lost)  von  Lenz 
1771;  ..die  Iirungen"  von  G.  F.  W.  Grogsmann  1777**;  fürs  Prager 
,Tlieater  „adaptiert"  von  F.  J.  Fischer  1778  „Macbeth",  „der  Kauf- 
lann  von  Venedig",  „Richard  II"  und  „Timon  von  Athen" ^"j 
„Macbeth"  auch  von  R.  Leopold  Wa;i:ner  1770'';  von  J.  Ch.  Book 
,Köui^  I*car"  17S0;  von  0.  v.  Genimingen  ,, Richard  II"  1782;  von 
|6chiuk  „die  bezähmte  Widerbellerin"  1783;  vou  G.  A.  Bürger  „Mac- 
beth'^ 17S3'":  von  W.  IL  von  Dalberg  „Julius  Caesar"  1785;  von 
W.  H.  Brömel  „Gideon  von  Tromberg,  eine  Posse"  (nach  den 
lustige«  Weibern  von  Windsor)"  und  „Gerechtigkeit  und  Rache" 
(nach  Mass  für  Mass)  1785;  „die  lustigen  Weiber  von  Windsor", 
Oöuingcn  1786;  „CromvvcU",  München  l7S*i;  „Othello*^  von  Hage- 
meister  1790-  —  c)  Aus  dem  Italienischen  die  Stücke  von  Goldoni 
und  vrtn  Gozzi.  —  d»  Aus  dem  Spanischen  mittelbar  und  unmittel- 
bar, einige  Dramen  von  Lope  de  Vega,  Cervantes,  Calderon.,  Mo- 
reto  etc.  —  e)  Aus  dem  DÄnischen  wenige  Stücke  von  Holberg,  der 
schon  frllber  auf  unserm  Theater  heimisch  geworden  war,  und 
einigen  andern  Dichtern.  —  Zu  den  tleissigsten  und  geschicktesten 
l'ebersetzcni  und  Bearbeitern  gehörten  ausser  Schroeder  und  Götter" 
auch  J.  J.  Ch.  Bode,  J.  Ch.  Bock",  Chr.  Lob.  Heyne  oder,   wie  er 


65)  In  dessen  „englischem  Theater''  Th.  1.  das  zweite  Stück:  rgl,  Klotzena 
tek  rt,  2,  379.  6G(  Frankfurt  ii.  Leipzig  I77i>;  flngezt?igt  in  KJol/.ettß 

»Uiek  5.  %  2:i7  ff.  uod  als  sehr  otcudcs  Machwerk  bezeichnet;  düin  Ilearbeitor 
it  Chr.  Ii.  Schmids  Othello  völlig  unbekannt  gewesen  zu  stiia.  (57)  Vgl 

IC  X\,  45  t  6S>  Vgl.    l-eip/.ij!;er  Alnianacli  der  d.   Musen   von    1774, 

51  ff  69)  J.  J.  Engels  „Vermahlungstag*',  nach  „Viel  Lärmen  um  nicht«'*, 

ftui:h  angeftihr  um  diese  Zeit  angefangen  wurde,  blieb  unvollendet:  die  ersten 
Acte  erschienen  erst  ISü.t  im  5  Bde.  der  Schriften;   vgl.  Bd.  G,  274  f  ;  wie 
trftgi   sieb  aber  damit  die  Nachricht  in  ^chroeders  Leben  von  Meyer  I ,  :msV 
70t  Vgl.  allgemeine  d.  Bibliothek  3>^.  1,  147  f.  71i  In  dessen  Theaier- 

Trankfurt  a.  M.  1779.    S.;  vgl.  Ersch  Nr.  37U-  72)  Schon  zu  An- 

d«a  J.  1777  hatte  Bole  Bürgern  gebeten,  die  Ilexcnsceue  von  neuem  zu  bo- 
Vgi.  Weinhold,  Boie  S   stl.  7.*^)  In  Schroedera  Leben  I.  3*)(»  heisst 

la  Bearbeitung  ..Hanuibal  von  Donnersberg*'.  74 1  Vgl.  In   dessen  Oe- 

ilrn  Öd.  3,  S.  XLII  f.  und  Jrirdens  2,  207  ff.  75 1  Geb.  in  den  Zwanzigern 

SU  Presden,  trat,  von  Bode  empfublen,  1772  als  Tfacatordicbtor  zu  der  ackermann- 
ichroedctncben  Gcselischaft  in  Uamburg.  folgte  seinem  Freunde,  dem  Schauspieler 

K9k«nt«lA,  (iniDdrtti.    V  Aafl.  IV.  13 


^^^m 


194    VI.  Vom  zweiten  Vierte]  des  XVIII  JahrbunderU  bis  eu  Gocthe'a  Tod 


309  ßich  als  Schriftsteller  nannte,  Anton  Wall",  J.  F.  Jünger",  F.  L. 
Meyer"  und  L.  F.lluber'''*;  denen  wenigBtcnB  ibrer  grossen  Betri« 
samkeit   wegen   noch  beige^äblt  werden   können   Ch.  H.  Schmid, 


Relneckc,  177^  Dach  Leipzig,  wo  er  für  die  bondiniacbe  GeaeUacbaft   tli&tij:   war. 
nnd  starb  tTS5  zu  Dresden.  7ti}  (jcb.  1751,  nach  Andern  l'bi,  zu  Bi 

BtAdt  im  Schöuburßiscbea  (oder  zw  Leuben  bei  Lommatscb?),  erhielt  seine 
büdung  zu  Naumburg  a.  d.  S.  und  gieng  von  da  naob  Leipzig,  wo  rr  die 
Btodicrte  und  sich  dabei  viel  mit  neuern  Spruchen  beschäftigte.  Kr  blieb  hier 
auch  noch  nach  Vollendung  seiner  Studien  mehrere  Jahre,  ohne  eine  Anstelli 
zu  suchen,  und  trat  als  Dichter  zuerst  177>)  mit  ,. Kriegs liedem"  auf.  Na< 
er  Leipzig  vei  lassen  hatte  und  eine  Zeil  lang  Privatsecretar  bei  dem  Kaniler 
mann  in  Halle  gi'wcsen  war,  begub  er  sich  etwa  gegen  den  Ausgang  der  Acht- 
ziger nach  Berlin,  wu  er  privatisierte;  eine  ihm  von  der  preuss.  Regierung  an* 
gebotene  Stullo  schlug  er  aus.  Später  lebte  er  in  verschiedenen  Orten  des  Kur- 
fürstcnthums  Sachsen  und  des  Herzogtlmms  AUcnburg.  indem  er  sich  theUi  nüt 
SchriftstcHcrei  beschäftigte,  theils  als  Ilau&lchrer  Üutenicht  erlheille.  Zuletzt  to^ 
er  nach  llirschherg  hei  Tlof,  wo  er  IäJI  starb.  77)  Geb.  175it  zu  Lei| 

lernte  anfängh'ch  die  Handlung,  studierte  dann  aber  die  Rechte  in  seiner  Vi 
Stadt,  wurde  daselbst  auf  kurze  Zeit  Hofmeister  zweier  Priuzen  und  gieng 
nach  Weimar,  wo  er  mehrere  Jahre  privatisierte.    Als  Schriftsteller  hatte  er  al 
zuerst  im  Roman  versucht:   von  seinem  „Huldreich  "Wurmsamen  von  W'urmfel 
einem  komischen  Roman,   erschien  der  erste  Thoil  bereits  17S1    zu  Leipzig, 
dritte  und  letzte  I7k7.    In  diesem  J    begab  sich  JOnger  nach  Wien,   wurde 
zwei  Jahre   spMer  vum  Kaiser  zum   Huftheaterdicbter  ernannt,   aber    tTvi 
dieser  Stvlle  wieder  cutlassen.    Seitdem  lebte  er  von  dem  spürlichen  Erwerb, 
er  aus  seinen  literarischen  Arbeiten  zog;  er  verfiel  zu  wiederholten  Malen  in 
in  stillen  Wahnsinn  grenzende  Schwermuth  und  starb  1797.  7S>  Geb.  1 

zu  Harburg,  kam  mit  seinen  Eltern  sehr  früh  narh  Hamburg,  besuchte  ai 
das  dortige  Johauueum,  später  die  Schah;  zu  Ibleft-ld  und  zuletzt  das  Ha.mbi 
akademische  Gymnasium,  worauf  er.  um  die  Hechte  zu  studieren,  nach  (i^ttiiuroi^ 
gieng.  Nach  eiuern  kurzen  Aufenthalt  in  St  Petersburg,  wohin  er  sich  mit  Hoff'- 
nungen,  die  unerfüllt  blieben,  begeben  hatte,  trat  er  bei  der  Regierung  in  Stad« 
aU  Auditor  ein  Da  ihm  die  Geschäfte,  denen  er  sich  hier  unterziehen  maiati^ 
nicht  zusagten,  nahm  er  17>5  die  ihm  angetragene,  mit  dem  Professortitd  ver- 
bundene Stelle  eines  Untcrbibliotliekars  in  Göttingen  an,  gab  sie  aber,  da  erVer- 
xnög(!u  genug  besa^s,  um  unabh&Dgig  leben  zu  können,  schon  17b'J  wieder  auf  ond 
verwandte  nun  die  nächsten  Jahre  zu  Reisen  durch  Deutschland.  England,  Ki 
reich  und  Italien,  Die  Hauptstädte  dieser  Lander  besuchte  er  zu  wiederboM 
Malen  auf  längere  oder  kürzere  Zeit;  in  Berlin  verweilte  er  mehrere  Jahr«, 
erstand  er  ein  Gut  zu  Gr.  Bramstedt  m  Holstein ,  wo  er  fortan  seinen  Wol 
nahm,  ohne  jedoch  sein  zeitheriges  Wauderlebcn  ganz  aufzugeben.  Er  starb 
Bramstedt  I»*10.  Vgl.  „Zur  Erinnerung  an  F.  L  W  Meyer*'  etc.  Braansehvoig 
1S47.  2  Thle.  S.  Nach  Hettner,  in  Westermanna  illustr.  Monatsheften,  Deccab. 
1B66,  8.  255.  ist  der  sonst  Heiusen  zugeschriebene  Roman  .,Eionnona*\  den  sdhtt 
V.  H.  Jacob!  (vgl.  Sömmeringb  Leben  von  R.  Wagner  I,  49)  für  ein  Werk  tleinM*! 
hielt,  von  Meyer.  Er  in  eine  schwache  Nachahmung  des  Ardlnghetlo 
79l  Ein  Sohn  von  Mich.  Huber  {vgl.  §  2*^5,  Anm.  13),  geb.  1761  zu  Paris,  tob 
wo  er  im  zweiten  Jahre  mit  seinen  Eltern  nach  Leipzig  kam.  Eine  iorgfilUga 
l'Mehuiig  ond  der  geistauregeude  Elufluss  vieler  seinem   väterlichen  lUtoae   b»> 


if  und 

•'ran^^J 

>hnä^l 
irb  ^" 


Eatwickelungsgang  d«r  Literatur.     1773—1832     Drama,    lieber  Setzungen.     105 

J.  G.  Dyk«»,  A.  G.  Meissner"'  und  W.  Ch.  S.  Myliua".  —  Je  gros-  §  309 

^^cm  Spielraum   das  Ausländische   erliielt,    desto    stärker   wirkte    es 

^Btuf  den  Charakter  der  eigenen  Erfindungen  unserer  Dramatiker  ein, 

^Bhid  desto  schwankender  und  wandelharer  niusstc  aueb  das  Publicum 

Pfcaserer  Bühne  in  seinem  Geschmack  werden.     Natürlich  konnte  bei 

einer  solchen  Lage  der  Dinge  sich  auf  dem  Grunde,  welchen  Leasing 

^^nd  Goethe  zu  einem  volksthümHclien  Drama  gelegt  hatten,   weder 

^■io  ganze  Gattung  organisch  fortbilden,    noch   eine  ihrer  besondorn 

^Hrten  in  eigentbümlich  deutscher  Weise  zu  einer  reinen  Form  ent- 

^^pickeln.      In    dieser  Beziehung   hatte   also    schon    vor   Ablauf  der 

^Biebziger    das    deutsche  Schauspiel    mit  dem    deutschen  Roman   im 

Allgemeinen    ein    gleiches  Schicksal ;    es    dauerte    nicht   lange,    so 

wandten    sich    auch    unsere    dramatischen    Dichter    mit    besonderer 

Vorliebe  und  mit  der  vollsten  Beistimmung   des  grussten  Thcils  der 

Theaterbesucher  zu  Darstellungen,  in  denen  sich  ebenso,  wie  in  der 

groftsen  Mehrzahl  unserer  Romane,  nur  die  gemeine  und  alltägliche 

Wirklichkeit   mit    ihren  kleinbürgerlichen  bäusUchon  Verhältnissen 

und  Interessen  abspiegelte. 


rreondctcn  Männer  entvickelteu  früh  die  trefTIichcu  Anlägen  des  Knaben.    Bei 

iacr  grossen  Lrrnbogicrdo  gelangte  er  bald  zu  ausgebreiteten  Kenntnissen,   be- 

loders  in  neacrn  Spracfien  und  in  der  sclulneu  Literatur   der  Franzosen,   Eng- 

and  Deiitflcken.     Scbou   iu   seinem    fünfzehnten  Jahre   fieng  er  an  Uebcr- 

[cn  für  den  Druck  zu  liefern.    Da  es  ihm   die  Verhältnigsc  seiner  Biltern 

i'gest&Ueten,  bloss  seinen  literarischen  und  dichterischen  Neigungen  ku  leben, 

suchte  er-  sieb  in  Dresden  zum  Gescbäftsmanne  zu  bilden.    Hier  gehörte  er, 

\c   schon   Torher   in  Leipzig,   zu  Körners   und    seit  I7S5  auch  zu  Schillerd  ver- 

lutesten  Freunden    (vgl.  S.  I2U.     I7sb   gieng  er  als   kursüchsischer  Lcgations- 

!retir  nach  Mainz;  zwei  Jahre  daraui'  wurde  er  zum  kursächsischon  Residenten 

M&inzer  Hofe  befördert.    Bald  bildete  sich  ein  enges  FrcundachaftsverhäJtniss 

rkchen   ihm   und  Georg  Förster   und  dessen  geistvoller  Gattin,  einer  Tochter 

ir- G.  Heyne's  in  Götiingen.    Die  Kriegsereignisse  veranlassten   ihn,    17^2  von 

nach  Frankfurt  zu  gehen,   von  wo  er  nicht  lauge  nachher  nach  I^resden 

Eherufen  wurde.    Als  in  FoljQ  von  Forsters  politischer  Hand  längs  weise,  die 

ih  Paris  führte,  seine  Familie  in  die  bedrängtoste   und  bedenklichste  Lage 

Llhen  war,  gab  Huber,  um  für  sie  zu  sorgen,  seine  bisherige  Stellung  auf  und 

.^«g«n   Ende  des  J.   1703   zu   ihr  nach  der   französischen  Schweiz.     Nach 

Tode  heirathete  Hnber  die  "NVittwe;  einige  Jahre  später  zog  er  zunächst 

'übiagen.  dann  nach  Stuttgart  und  lBu:i  nach  Ulm,  wu  er  kurz  vor  seinem 

im  Jiandesdirectionsrath  ernannt  wurde.    Er  starb  180*.  80)  Geh 

10  ru  Leipzig»   wo  er  nachher  als  Buchhändler  und  Dr.  der  Philosophie  lebte 

Id  \bi'>\  starb  Sil  Geb.  I7,')t  zu  Bauzon,  studierte  in  Leipzig  und  Witten- 

die  Hechte,  war  dann  zuerst  Uegistrator  beim  gelieimcn  Archiv  zu  Dresden, 

il   1785  Professor  der  Aesthetik  und  der  classiächen  Literatur  an  der  Prager 

ivenit&t  and  seit  1805  Consistorialrath  und  Director  der  höhern  LehranstAlten 

FuldA,  wo  er  I&07  starb.  hl)  Geb.  1754  zu  Berlin,  studierte  die  Kcc&te 

lebte  nachher  als  Privatmann  in  seiner  Vaterstadt,  wo  ex  1837  starb. 

ir 


196    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XYIIF  JabrlmudertB  \>Iä  zu  Goethe*!  Tod. 


$  310. 
Vorbereitet  war  diese  Wendung  seit  langer  Zeit.  Denn  ab( 
sehen  davon^  dass  sie^  sobald  die  vaterländiHcbe  Literatur  sieb  ei 
fiobiedener  der  Auflassung  und  Darstellung;  ilea  beimischen  Lebei 
der  Gegenwart  zuzuneigen  begann,  schon  Mberbaupt  durch  die  Be- 
schaffenheit unserer  Öffentlichen  und  gesellschaftlichen  Zustände 
durch  die  ruhig  bürgerliche,  von  keinen  hohem  nationalen  Inl 
essen  irgendwie  gehobene  Zeitstimmung  begünstigt  wurde,  die 
dem  Hubertsburger  Frieden  ]>is  zum  Ausbruch  der  fiauÄOöi&cb< 
Kevolution  in  der  grossen  Masse  der  Nation  die  vorherrschende 
war:  so  hatte  auch  nach  und  uach  so  manches,  tbcils  rnitt* ''  - 

aussen  her,  theils  unmittelbar  bei  uns  selbst,  auf  den  I-lnt\\ 
gang  unsrer  dramatischen  Literatur  im  Besondem  eingewirkt,  da« 
sie  immer  mehr  in  eine  solche  von  dem  Ziele  aller  eigentlichen  und 
wahren  Kunst  abführende  Richtung  geradezu  hiueindifingte.  Hierhin 
ist  bereits  aus  den  Vierzigern  her  zweierlei  zu  rei'hncn :  die  geistlose 
und  platte  Art,  in  welcher  die  bürgerlichen  Lustspiele  Holberg»  un- 
mittelbar nach  ihrer  ersten  Einführung  aus  Dänemark  von  der  güli- 
schedischen  Schule  nachgeahmt  wurden  \  und  die  vomehmlicb  di 


§  3  U).  1 1  Kme  vollst&ndige,  After  aufgelegte  Uebersctzung  der  Lt 
Uolbcrg»  crscliien,  nachdem  drei  (,^ean  de  Frauce",  „Bramarbas"  und  ..der 
tische  Kanneugicsßer")  bereits  etwas  früher  von  G.  A.  Detbardms;  nnd 
Wochonstubp"!  von  einem  Ungenannten  verdeutscht  war©«  (jene  in  Gol 
deutscher  Schaubühne  Th.  1 — :\.  1741  f.;  dieses  besonders  gedruckt  o.  0.  1 
5  Octavbäuden.  der  erste  zu  Uambnrg  nad  Leipzig,  die  übrigen  zu  Küpent 
und  Leipzig  17J3 — hh  (auf  dem  Titel  des  ersten  Bandes  bat  sich  der  Ucbers* 
mit  den  Buchstaben  J.  G.  L.  v.  A.  bezeichnet;  vgl  Gottscheds  nOtbigcu  Voi 
\,  3lf>  ff,;  %  2Stit.  Schon  Prutx  hebt  in  seinen  Vorlcautiaen  über  die  Geschichte 
des  deutschen  Theaters  8.  23s  f.  die  Verse hieiienartigkeit  de»  Kintlossie«  herror. 
den  die  FrauKoscn  und  den  ilolbtrg  uiif  unsere  Lustspieldichtung  in  der  koU- 
achedi&chen  Zeit  und  SchtUc  hatten,  indem  die  französischen  Komiker  ihre  Stefle 
aus  der  hohem  Umgangswelt,  der  Modeweli  des  Lebens  genommoii ,  Holben;  ilch 
dtf^egen  in  Beinen  Stücken  durchgängig  auf  den  Bürger*  und  BauemstAitd  be- 
•cLrAnkt  hatte.  Hanzel  (Guttsched  S.  t4:i  f.)  stimmt  ihm  darin  zwar  im  All- 
gemeinen bei,  vilt  aber  jenen  Gegensatz  nicht  für  eJn  tügentlicheit  Kntgegen treten 
eines  ganz  neuen  Princips  gegen  ein  lilterea  genommen  wissen  Indessen  bleibt 
da«  UaaptsAchlirhstc  für  uns  in  Prutzenfl  Bemerkung  dal»ei  immer  bestehen«  lUtt 
es  Dimlich  vorzuglich  Elolbergs  Stucke  waren ,  welche  dir  deutschen  LiutJpicI- 
dichter  der  vierziger  Jahre  darauf  führlt.'n,  die  Stotfe  zu  ihren  eigenrn  ErtiudungfiD 
zum  allcrgrussten  Theil  aus  dem  Leben  und  den  Veriiältnisscn  der  dt^atscbcfl 
Mittelstände  und  des  beimischen  BOrgiTthunis  leu  nehmen,  und  zwar  in  den  pro- 
vinziellen und  städtischen  Besonderheiten  der  nördlichen  Gegenden,  in  deuec  «if 
aufgewachsen  waren  Da  aber  gereichte  es  nun  gleich  von  vom  herein  demLflal» 
apEel  des  i^.  Jahrb.  zum  grössten  Nachtheil  und  tieng  schon  &a  den  Obanktar 
unsetb  Dranu'6  überhaupt  für  die  Fulgeseit  mit  zu  beBtiinmen,  dua  aOet.  was  4it 


EatvickeluDgBgang  dor  Lit.    1773—1832.   Prama.   Pas  weinerliche  Lustspiel     197 

Geliert  he\verk8telli;rte  Einbürgerung  der  von  den  Franzosen  herüber-  §  31i>| 
geuoinnie-Den  weinerlichen  oder  rührenden  KoraAdic,  die  sich  weit 
besser  aU  das  echte  Lustspiel  mit  den  auf  eine  gefühlvolle  Er- 
bauung und  auf  eine  erapfindBani-moraliRierende  T.ehrhaftigkeit  ge- 
richteten Tendenzen  unserer  damaligen  schönen  Literatur  vertrug. 
Einige  Ansätze  zu  der  Comt^die  larmoyante,  wie  Voltaire  spöttisch 
die  neue  Art  von  Schauspieleu  nannte,  fanden  sich  in  Frankreich 
Bchon  bei  Destonches  und  Marivaux,  noch  früher  bei  Corneille-,  ja 
treibst  bei  Moliere;  ihr  eigentlicher  Begründer  wurde  aber  noch 
vor  1740  Nivelle  de  la  Chaussöe'.  Dieses  Dichters  StOcke  waren 
68,  welcbc  Geliert  sich  fUr  seine  Lustspiele  und  namentlich  für  „die 
liehen  Schwestern'*',  die  für  das  älteste  rührende  Lustspiel  in 
;her  Sprache  gelten,  im  Allgemeinen  znm  Muster  nahm^ 
Geliert,  der  sieh  nach  der  Vorrede  zu  seinen  „Lust-  und  Schäfer- 
«pieien*'*  gern  den  „schönen  Vorwurf  wollte  machen  lassen"^  dass 
seine  drei  Ltistspiele,  „die  Betschwester*',  „das  Looa  in  der  Lotterie" 
itod  „die  zÄrtlichen  Schwestern"'  „eher  mitleidige  Thnlnen  als 
freudiges  Gelüchter  erregten*',  vcriheidigte  und  empfahl  bald  nachher 
noch  besonders  die  rtlhrende  Kctmödie  in  seinem  Programm  „de 
Comoedia  commovente*'*,  von  dem  Lessing  eine  Uebessetzung  seinen 
,,Abhandliingen  von  dem  weinerlichen  oder  rührenden  Lustspiele" 
in  der  theatraiischcn  Bibliothek  einschaltete''.  Lessing  hatte  schon 
1750  in  einer  Note  zu  seiner  Uebersetzung  der  Gefangenen  des 
PlAutus'"  deutlich  genug  zu  verstehen  gegeben,  wie  wenig  er  die 
iMXXk  Weinen  gemachte  Komödie  der  Neuern  Überhaupt  billigte,  und 


goUsehediache  Schule,    mit  Frau  Gottsched   an   der  Spitze,    unter  dem  EiiitluHse 

'Üolb«rKV  an  komjschen  Stticken  mit  deutschen  Charakteren  und  Sitten  hervor- 
bvmchl^.  dnrchaug  nur  das  Platt-Natürliche  unserer  damiitigen  SpiesHbOrgerüchkcit 
oder  Pcdanierei  in  der  ftUerpro^aischesten  Auffassung,  und  ohne  auch  nur  einen 
Ajiflog  von  der  dramatischen  Lebendigkeit  und  komischen  Kraft  bolbergischer  Er- 
finduogen  zu  haboo,  darstellte  (vgl.  hierzu  Mendclfisobn  im  312.  Lit«ratur-Briefe; 
loesshigs  eämmtllchc  Schriften  7.  97— 9^J:  2:f:t— '2:ttf;  DanzeL  Gottsched  S.  142  ff. 
und  dnisclben   in   Leseings  Leben  1,  134  flf.)-  2)  Vgl.  Guhrauer,   Lessing 

2,  l.  311   lind  besonders  Note  2.  3)  "Vgl.  Schlosser  l,5')0ff.;  Danzel,  Lessing 

I,  191— l»ft  und  dazu  S-  K*3  f.    Die  „Mi^lanide"  von  N.  de  la  Chaussee  kam  erst 
1741  auf  das  franz.öRische  Theater;  vgl.  Lessing  7,  .10.  A)  Leipzig  und  Bremen 

1*45.   fc,  5)  Vgl.  Lesping  I,  155;  nicht,  wie  Danzel  \ti.  a.  0.  S.  :w\)  angibt, 

^itt0  „Ciaie"  der  Frau  von  Graftiigny,   da  diese  erat   1751  erschien  (vgl.  Guhrauer, 

7,  1,  2UÖ);  sie  wurde  1753  vun  Frau  Gottsched  übersetzt  und  in  der  An- 

;r  Uebcnsetzung  von  demselben  Jahr  inicht  vom  .1.  1751,  wie  bei  Danzel 

IL.  O.  8.  30'i  stehi)  gebrauchte  Lessing  zuerst  den  Ausdruck  „weinerliches  Liut- 

f»j>Ud-:  vgl.  ftÄmrnthche  Schriften  3,  :i93  und  dazu  4,  Ild,  auch  7.  Ss  f. 

'6»    Leipzig    171^.     S.  7t  Alle   zuerst  einzeln   gedruckt  im  J.  1745. 

I)  Let|ung  l'äl.    4.;  vgl.  Bd    HL  Ro.  9)  Sammtlichc  Schriften  4.   1.14  ff. 

ilU)  S.  Schrtfleo  U.  32. 


198    VI.  Vom  zwoUen  Viertel  des  XVUl  Jakrhimderta  bis  tu  Goethe'0  Tod 

J  310  wie   unstatthaft  ihra   gar  ihre  Einführung  in   Deutachland   zu  ein« 

Zeit  schien,  wo  wir  noch  nicht  einmal  eine  wahre  Komüdie,  wie  die^ 
Franzosen,   hatten.     Auch  noch  vier  Jahre  später  sprach  er  sich  in 
jenen  Abhandlungen  so  aus,  dass  er  das  weinerliche  Lustspiel,  ebei 
80  wie  das  Possenspiel,  nur  für  eine  Abart  von  der  wahren  Komödü 
hielte'*.     In  den  Fünfzigern  wurde  das   rUhrcndc  Lustspiel  nament- 
lich von  J.  A.  Schlegel  in  den  seiner  Ueberaetzung:  des  Batteux  an- 
gehängten Abhandlungen  in  Schutz  genommen",  wogegen  Ramler** 
die  „weinende  Kora5die'*  nur  f(lr  eine  ,,gesehwÄchle  Tnigödie"  er- 
klärte,  die  man  wenigstens  nicht  zum  Muster  anpreisen  dürfe,  wem 
eine  vollkommene  Idee  von  der  Komödie  gegeben  werden  solle. 
Gegen  Ende  der  Vierziger  ficngen  die  Romane  Richardson»  an  ihre 
tiefgreifende  Wirkung   in   Deutschland    und    bald    auch    in    unsenn 
Drama  zu  äussern".     Die  folgenden  Jahrzehnte    brachten    uns    das 
bürgerliche  FamilieHtmuer8|)iel  '*  und  dann  Diderots  Theater,  welches 
dem    ernsthaften    und    rührenden    Lustspiel    und   dem    bUrgerlicbei 
Trauerspiel  eine  neue  Stütze  und   der  Theorie  von  jenem   erat 
rechten  Nachdruck  verlieh**.      Mit  der  bürgerlichen  Tragödie  di 


1 1 )  Vgl.  Bd.  ni.  :^ß9;  in  Belrt^tT  der  minder  unganstigen  AeuEseniogen  Lesaiags 
Ober  jenes  in  der  hamburgischen  Dramaturgie  7 ,  äß:  95  ff.  verweiae  ich  aof 
Guhrauer  a.  a.  0.  S.  2U4  ff.  12)  l  Ausgabe  S.  106  ff.  Li)   ta    di 

Vorboiicht  xu  dpr  Einleitung  in  diß  schönen  Wisaonschaften  nach  Balu-nx  et«. 

14)  Vgl.  §  2M),  13  und  §  2SS.  17.  15)  Vgl.  Bd.  III,  :Miü  ff.  16)  V| 

Bd.  in,  401  ff;  A.  W.  SchUgol  in  den  Vorlesungen  Ober  draraallscho  Kunst  ui 
liiteratiir  (silramtlicho  Wc-rko)  n,   142  ff.  und  Schlosser  2,  624  ff.  idrr   aber    dai 
irrt,  dass  er  Diderot  die  Einführung  der  Prosa  in  das  von  N.  de  la  Chansa^e  b( 
gründete  Drama    zuschreibt;    denn    schon    sechs   Jalire    vor  dem  ErschEincn 
Diderots  FUs  nalurel  und  den  diuu  gehörigen  EntK'lieus  hatte  Krau  von  Gl 
ihre  in  Prusa  abgefasale  Ci^nie  herausgegeben).    ..Diderot"',  bcisät  es  in  der 
Literatur-Zeitung  von  17^7.    St.   lys.    ,,wor  es,    der  «uerst    gegen    verjahi 
gewOhnungon  und  Conveutionen  die  Rechte  der  Katur,  ala  des  <.irundge«c( 
dio   dramaiiEchen  Dichter,   zu   behaupten   suchte.  —  So  vorüieilhaft  er 
einen  Seile  (heiU  unmittelbar,    thcila  durch  seinen  KinHuss   auf  Lesslugs 
und  Austibung  für  unsere  Bühne  gewirkt  hat,    bL>sonders   um  uns  der  Ki 
entledigen,   die   eine   blinde  Nachahmung  der  Franzosen  den  Deutschen  ai 
hatte.   80   hat  er  doch  auf  der  anderu  Seite  xu  sehr  verderblichen  Miasv«i 
lüssen  Anlass  gegeben     Seine  Begriffe  von  sittlicher  Belehrung,   von  Natur, 
Waiirheit  der  Darstellung,   von  TUusChung  haben   sich   unter  den  Händen  H 
Haehfolger  so  vergröbi^rt .   dasa   nun  der  Zuhörer   unaufhörlich   mit  seineu  bfti 
liehen  und  bürgerlichen  rtliihteii  unterhalten  wird;    dass  nichts   mehr  für  nalOr* 
lieh  gilt,  aU  das  Alltägliche  und  platt  Prosaische;  dass  man  glaubt,  die  gcrixigiU 
Terschi'hnerndt.^  Krhöhung  hebe  die  Wahrheit  auf".    (Die  Receniiion  ist  von  A. 
Schlrgcl  (vgl.  sämmtl.  Werke  H,  53  ff.],  aber  nicht  ganz;    zum  Theil  auch  .,t< 
der   Hand    eintT  geistreichen    Frau",    d.   h.    seiner   ersten    Cattin.    vgl.    kniiat 
Schriften    1,  ^.  XVll  f.).    Ausser  Diderot  war  es  auch   vorzüglich  Uraumarcl 
(»eine   l^ug^e  ervchien  seit  1707   in   verachiedeneo.    öfter  aufgelegten   Urt>«r- 


EntvickelangBgang  d  Literatur.  1773— IS33.  Dram».  Duj:gerUchefl Trauerspiel.   199 

die  Proeafonn,  der  für  daa  Lustspiel  bereits  die  gottscbedische  Schule  §  310 
im  Ganzen  den  Vorzug  vor  der  gebundenen  Rede  zugestanden  hatte, 
aach  in  die  tragische  Dichtung  ein.  Gottsched  selbst  hatte  sich  in 
seiner  kritischen  Dichtkunst  ausdrücklich  weder  für  die  ungebundene 
nocb  fUr  die  gebundene  Form  allein  erklärt:  er  fand  sie  ja  beide 
in  der  Komudio  der  Franzosen  vor.  Aus  seinen  Worten  aber  — 
einerseits  dass  die  Komödie  eine  ganz  natürliche  Schreibart  haben 
und,  „wenn  sie  gleich  in  Versen  gesetzt  werde",  doch  die  gemeinsten 
Redensarten  beobachten  müsse,  und  andrerseits,  dass  es  keinem 
Zweifel  unterliege,  „ob  mau  auch  in  Versen  KomOdien  schreiben 
könne,  und  wanim  diess  nicht  im  Deutschen  angehen  sollte?'' 
—  scheint  sich  doch  zu  ergeben,  dass  er  die  prosaische  Form 
hier  für  die  natürlichere  und  angemessenere  hielt.  Ich  habe 
nicht  nachsehen  können,  ob  die  Stelle  der  kritischen  Dichtkunst, 
woraus  ich  diess  entnommen  habe,  sich  ihrem  wesentlichen  Inhalt 
nach  schon  eben  so  in  der  ersten  Ausgabe  vorfindet'^;  es  ist  mir 
indes«  am  nichts  minder  walirscheinHch,  als  dass  er,  da  er  diess 
Werk  schrieb,  auch  bereits  dasselbe  Urtbeil  Über  den  Vorzug  reim- 
Jo«er  Verse  vor  gereimten  in  Tragödien  und  Komödien  fällte,  wel- 
ches in  der  zweiten  Ausgabe  steht".  Im  Jahre  1732  wenigstens  er- 
klärte er":  „Was  auch  die  Trauerspiele  und  überhaupt  die  theatra- 
lischen Gedichte  anlangt,  so  würde  es  sehr  gut  sein,  wenn  man 
darin  das  vcrdrUsslicho  Keimen  abschaffte:  weil  es  in  solchen  Vor- 
stellungen menschlicher  Uandlungen  eben  so  unnatürlich  klinget,  als 
das  unaufhörliche  Singen  in  deu  Opern''^.  Nichts  anders  als  eine 
ifUhrlicliero  HcgrÜnilung  dieses  Urtheila,  welches  sich  auf  Gott- 
leds  acj^thetiaches  Grundprincip  von  der  Naturnachahmung  stützte, 
war  nun  G.  B.  Straube's  1740  gedruckter  „Versuch  eines  Beweises, 
daas  eine  gereimte  Komödie  nicht  gut  sein  könne'S  der  eine  Ent- 
gegnung Ton  seinem  Freunde  J.  E.  Schlegel  hervorrief";  nur  dass 
Straube  hier  nicht,  wie  Gottsched  gethau,  der  gereimten  Komödie 
ÜMA  reimlose,  sondern  das  prosaische  Lustspiel  als  das  der  Voll- 
kommenheit eher  fähige  entgegenstellt".  Dass  er  hierunter  wirklich 
ein  Stück  in  ganz  ungebundener  Rede  verstanden  habe,  ergibt  sich, 
alle»  Andere,  was  dafür  spricht,  ungerechnet,  schon  allein  aus  seiner 
Berufung  auf  unsere  alten  Komödien    von  Schoch,  Gryphius  u.  A., 


•dsoogeti),   der  von  aussen  her  die  Kntwickelung  dra  rührenden  Sch&aspiels  bei 
aas  förderte.     Vgl.  Schütze,  b&mburgische  Thrfttergeschichte  S.  340.  17)  In 

iler  »Wfilca.  von  )T37,  steht  sie  S    706.  IS)  S.  3(10.  I9)  Beiträge  zur 

krt(j»cben  IlUtorie  der  d.  Sprache  I,  93.  20)  Vgl.  auch  das  darauf  Folgende. 

2U  Vgl.   $  iS5.   AnoL  ^.  22)  Gleich  S.  463  f.   des  23.  StUcka  der 

Bekrtge. 


200    YI.  Vom  zreitoa  Viertel  des  XTIIl  Jahrhunderts  bU  zu  Ooetbc's  Tod- 


310  die  ja  prosaisch  seien";  und   es  ist  eine  !ecre  Ausflucht    den  ihi 
entgegeugehalteueu  Gründen  Schlegels  gegenüber,  wenn  er  ujichher 
gagt,   sein  Freund  haho  ihn   misHverstanden :   er  sei   nie  gegen   di 
Komödie  in  Ycr«en  gewesen,  sondern  nur  gegen  die  in  Reimversei 
Im  Jahre  1742  erhob  ein  anderer  Verehrer  Gottscheds,   der  Reetoi 
Richter  in  Annaberg,   auch  schon  Bedenken  gejron  die  Nothwctidi| 
keit  des  Verses  im  Trauerspiel,  in  einer  Einladungsschrift,  die  Goi 
Bübed   gleich    das  Jahr   darauf   ohne  alle  Gegenbemerkting    in   dil 
Beiträge    etc."    aufnahm;    und   zu    derselben   Zeit    erschien    in   di 
„hallischen  Bemühungen  zur  Beförderung  der  Kritik"  ein  Schreil 
„von  den  Reimen  und  dem  Silbenmasse  in   den  Bcbauspieleu'*  T( 
Chr.  Mylius**,   worin  derselbe  sich   unumwunden   nidit   bloss 
den  Reim,   sondern   auch  gegen   ein   „gezwungenes  Siibenmi 
Schauspiel    überhaupt    erklärte.     Mit    Beziehung    auf  jeueu   StrdI 
Äwischcn  Straube  und  Schle^'cl   gab  er  gleich  zu  Anfang  seine  Ah 
«cht  dahin  zu  erkeunen,  dass  er  sowohl  die  Tragödie  als  die  K< 
mddie  Ton  dem  unanständigen  Joche  der  Reime  und  des  Silbeuma 
befreien  möchte,   und  berief  sich  bei  dem,   was  er  zur  Kmpfehlnji( 
der  prosaischen  Form  im  Trauerspiel  vorbrachte,    auf  die  vou  Fi 
Gottsched  in  ungebundener  Rede  gefertigte  üehersetzung  des  „Ca< 
von  Addison".     Mau  möge  es  doch   endlich    wagen,    auch  Trai« 
spiele,  so  wie  man  bereits  mit  den  Lustspielen  angefangen  habe,  ii 
Prosa  zu  verferligen;  die  Erfahrung  werde  den  Nutzen  einer  solchi 
Kühnheit  deutlich  genug  zeigen.     Das  Ergcbniss  dieser  versohiedent 
Anfechtungen;  welche  Reim  und  Silbenmass  im  Drama  erfuhren,  wi 
dass  zwar   in   den  Tragödien   der   gottschedischen  Schule  Vem  ui 
Reim    ihre  Herrschaft    behaupteten,    in    ihren   Lustspielen    dngegei 
sowohl    in    den    übersetzten^    wie  in  den  seihst  erfundeneu.    beid( 
schon  von   171*2  an,   wo  der  erste  Theil  der   deutschen  Scliauhllbnl 
„den  Mensclienfeind*'  nach  Moliere  von  Frau  Gottsched  in  ungchi 
dener  Form  brachte;  vor  der  Prosarede  aufs  entschiedenste  zarAel 
traten.     Selbst  J.  E.  Schle.i;el  fand  es  angemessen,    von  seinen  vi( 
oder  fUnf  vollendeten  Lustspielen  nur  eins,  j,dio  stumme  Schönheit*' 
ÄU  versificiercn  und  zwar  in  gereimten  Alexandrinern"     Die  Prosa- 


23)  8.   IT»  f.  24i  Im  2ii.  Stücke  der  Beitrage  S.  2S7  ff.  25)  St. 

8.  4«5  ff.  26»  lu  dessen  vermisrhton  Schriften  S.  292  ff.  27)  IM\ 

\':\y    H.  2St  fjodruckt  \'41.  2\))  „Die  entführte  Pose",  in  r^mli 

Trlmctern.  fAllt  vor  da»  J.  IUI,  vgl,  oben  $  275,  3I;  „die  drei  Philo  so  phea»*, 
Alexandrinern,  hat  er  nicht  zu  Ende  geführt,  vgl.  Werke  2,  iioo  ff.  —  Vgl.  L>uii«l, 
Gottsched  S  27G  f  (die  dort  angeführte  CehoreetÄung  „des  Ruhmrediivcu**  wb 
I>e8tourhe8  erscliien  nach  fJottscbeds  uOthiRom  Vorri^th  1,  'A2\  im  J.  IT45:  nfL 
Jordciifi  4,  5o:t).  —  Nach  diesen  Andeutungen  ist  zu  ergänzen  und  zu  vertiefsfni. 
■wn  bei  Danzcl,  Leasing  I,  133  stellt. 


Entwickelungsgang  der  LUeraiur.    1173—1832.   Drama.  Prosa-  und  VcrBform.    201 

«TU  wurde  seit  <ler  Verdrfingun;^''  der  den  Franzogcn  nacbgekünstoltcn  ^310 
jroiiÄrbon   Trag:i>dic  in   unserer  gesummten   dramatischen   Literatur 

lange  Zeit  hin  die  beinahe  durchgängig  herrechende**.     Diderot» 

lealer*"  wirkte  gewiss  niclit  weni^'  mit  dahin,  der  von  Lessing  in 

ie  Tragödie  eingeführten  Prosaform   allgemeine  Geltung  und  lange 

Hier  zu  verschuften.     Wenn   man   übrigens  gemeint  hat,  I^ssing 

»j  bevor  er  den  Nathan  dichtete^  dem  Gebrauch  eines  SilbenmaBses 

Drama  schlechthin  abgeneigt  gewesen,  oder  er  habe,  wie  A.  \V. 
•hiegel  sich   ausdrückt",  ein  Vorurtlieil    dagegen   gehabt  und   sei 
lor  Urheber  der  falschen  Theorie"  gewesen,  welche  das  Aufgeben 
ler    metrischen   Form    forderte":    so    beruht    diese   Meinung    auf 
foraossetzungen,  die  sich  mit  gewissen  Stellen  in  Lessings  Werken 
nicht  vortragen".    Wer  aber  >vird  läugncn  wollen,  dass  /.u  den 
Mten.    wo    Miss  Sara  Sampson,   Philotas    und  Bmilia  Galotti   ent- 
tnden,    e»  eine   wahre  Wuhllhat   für  die  Bildung  unnerer    drama- 

:lien  Sprache  uod  damit  auch  für  den  ganzen  inncru  Charakter 
isereB  Traueröpiels  war,  dass  der  auf  Stelzen  einherschreitende 
.Icxaiidriner  aufgegeben  und  die  tragische  Sprache,  wie  sie  Lessing 

gebrauchen    vorstand,    erst    wieder    an   einen   freien   natürlichen 

mg  gewöhnt  wurde?  Ganz  anders  war  der  Stand  der  Dinge,  als 

sr    zweite   Theil    von    Engels   „Ideen   zu   einer  Mimik""  erschien, 

roria*'  jene  ,. falsche  Theorie"    wirklich  aufgestellt,  oder  vielmehr 

sh  den  Grundsätzen,  von  denen  schon  Straube  und  Mylius  ausge- 

angen   waren,    und  mit  Berufung  auf  Diderots  Lehren,    aufs  neue 

orgetragen  wurde.     Denn  unterdess  hatte  nicht  nur  in  den  übrigen 

rattuDgen  der  Poesie  unsere  Verskunst  die  bedeutendsten  Fortschritte 

*omarht   und   eine    ungleich  gi'Ossere  Freiheit   und  Gelenkigkeit   in 

iren  Bewegungen  gewonnen,  als  sie  zwanzig  Jahre  früher  besass; 

ir    hatten    auch    schon    so   glückliche   Versuche   im    versificiorten 

»rania,  wie  den  Nathan  und  die  erste  Hälfte  des  Don  Carlos.    Engel 

iJ»cr  gieng  in  seiner  Verblendung  so  weit,   dass  'er  die  Behauptung 

[liuzustellen  wagte,  das  Drama  der  Griechen,  auf  welches  sich   die 

^Vertheidiger  der  Schauspiele  in  gebundener  Rede  vorzüglich  beriefen, 

«e»  nicht  so  naturgeniäss  wie  ihre  andern  Dichtungsarten  entstanden, 


30t  Als  ScbrUdctr  1775  die  Preisuufgubc  stellte,  liicee  ea  in  der  AnkUiidigimg 
'Tgl.  S.  ä.'i):  „oh  wir  gleich  Traiiepspiel*?  in  Vprsen  nirht  ganz  ausschlicHsen .  so 
'"filen  u«5  glf'ichwöhl   die   io  f'ro&a  von  sonst  gloiclier  Güte  viel  lieber  sein'*. 

IMi  Vgl.  in  Lcssings  Ucbersetzung  nach  dem  Wiener  Drnck  von  liü6,  be- 
sonders 1,  KG;  244;  *i,  200  ff.  und  dazu  Kngels  „Ideen  zu  einer  Mimik"  2,  122  ff.; 
*niltti  SchriftflD  H,  IHS  ff.  32»  Kritische  Schriften  I,  ;tSI  f.,  in  den  sEmmt- 

•»cf^n  Werken  7,  ti5.         33)  Vgl  anch  SÄmintliche  Werke  ts  407  34)  HnB 

^u  bereit»  QuhrKoor  a.  a,  0.  S.  153  ff.  bündig  nftchgewiesen.  35)  Berlin 

'^W.  W.   8.  36i  S.  111  ff.;  in  den  Schriften  8,  176  ff. 


iS— ,  «KP 


202    VI-  Tom  rweitea  Viertel  des  XVni  Jahrhunderte  bis  tu  Gocthe's  Tod. 

310  und  fögto  hinzu,  dass,  wären  sie  in  der  Verbesserung  seiuer  Fori 
fortgegangen,   sie   wabrscbeinlich    zu    dem  Besten  gegriffen   hätten 
nämlich  zur  Prosa.     Das  wahre,  volle  Ideal  einea  Drama's,  welcbi 
die  Alten   noch   nicht  gehabt  hütten,    könne   nur    erreicht   werdi 
wenn    überhaupt   alle  Versificatiöu    daraus   verbannt  würde.     Di 
£ngel   in  ßeti*eff  seines  Geschmacks   an    prosaischen  SchauHpieU 
nicht  zu   viel   sagt,    wenn    er   behauptet,    er  habe  den   bei    wcit< 
grössten  Theil  der  Nation  auf  seiner  Seite,  ist  für  die  damalige  Z« 
ganz  unzwei/elhaft.     Mussten  doch  in  den  Achtzigern  J.  B.  Schlei 
Alexandriner    in    Prosa    umgeschrieben    werden,    wenn    noch 
Tragödie  von  ihm  aufgeführt  werden  sollte"^.     EÜn  Gleiches 
mit  Goethe'ö  „Mitschuldigen"^,  und  Schiller  selbst   miisste   sich 
des  Schauspielers  Reinecke  Betrieb  entschliessen,  den  Don  Carh 
ebenfalls  in  diese  Form  zu  bringen,   als   derselbe    1787    zuerst 
Leipzig  auf  die  Bühne  kommen   sollte^'.     Noch   1799  wurde  in  B< 
lin  für  die  Aufführung  Goethe's  Claudine  von  Villa  Bella  mit  R< 
harda    Musik    in    Prosa    verwandelt '".      Die   Prosaform    trug , 
sie   von   der  grossen  Mehrzahl    unserer   Dichter,   die  Originalgeni« 
nicht   ausgenommen,    gehandhabt    wurde,    viel    dazu    bei,    mit   d 
Sprache  auch  den  Geist  und  Ton  der  deutschen  Schauspieldickti 
zu  gemeiner  Natürlichkeit   und  Alltagaplaltheit  herabzuziehen, 
Winke,    welche  Leasing    im  Laokoon    und    in  der  Dramaturgie 
und  wieder  Über  den  Unterschied  zwischen  rohem  Naturalismus 
idejiler  Naturwahvhoit  im  Dichten,  zwischen   dem    blossen  Copicr« 
gegebener  Wirklichkeit   und   einem  freien  künstleiischcn  Bilden 
theilt  halte*',   blieben  unbeachtet  oder  wurden  wenigstens  nicht  ge- 
hörig verstanden  und  benutzt;  wie  in  den  allermeisten  Werken  d< 
Stürmer  und  Dräuger,  schien  auch  in  den  Übrigen  dramatischen 
Zeugnissen  der  siebziger  Jahre  das  vön  Lessing  verkündigte  hiVchi 
Gesetz   alles    kllnstlorischen    Üervorbringena ,    die  Darstellung 


37)  Vgl.  JonAcr  Litcratur-Zeituiif;  von  1T&&.    I,  T4b.  38)  Albrecht  gosi 

di«  „MitBchuIdIgeu"  unter  dem  Titel  „Alle  strafbar**  m  Pro^a  uro;  vgl  BlOmocr, 
Geschichte  des  Theatern  io  LeipKig  S.  :\02.  39)  Vgl  E,  Devrieut.  (lesckidM 

der  d.  SrhauBpielkuDSt  j,  n9  f.  und  dazu  Goi'tho  \h,  MO;  Uriefwfirhsd  zwluikcB 
SchilU-r  und  KOruer  4,  351  f.  Dieuo  Hoarbcitung  des  l>on  Carlos  hi  ron  J.  V.  K. 
Älbrccbl  heraus^pgobcu,  Hamburg  l*iu^.  8.  Dauacb  und  oacb  llas  berausgg.  m 
Ü.SauppeinGfidt'kfsScbUleiausgabc.  ^.  Ud.  2.  TheU.  40)  So  berichtet  Ucmhanfl 
ün  Archiv  der  Zeit  17^**»,  Marx,  I.  '241.  „Da  uiiHre  Scbausptel«r.  mit  wenigen  AmJh 
nabmeo.  bekanntlich  keine  Vrrse  sprecheu  kOnnon,  so  waren  »ic*  in  UroM  »af« 
gelöat**.     Diess  gt-gchah  umiiittetbar  vur  der  ersten  Aufführung  dvr  ^i'iccnloiniai'*. 

41t  BrBondrrrt  wichtig  war  in  dieser  tlezichung  diu  Cd.  UK  112  im1gEih<41X 
Stelle  der  t Dramaturgie;  vgl  Gubrauer  a,  a.  0.  8.  210  f.  niid  Über  Lnain^  Be- 
griffe voui  iüeBit*n  in  der  Kunst,  wie  sie  im  Laokoon  entwickelt  aind.  tb«a  6m* 
selben  S.  h%  ff. 


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Kntwickelangsg&Dg  d.  Literatur.  1773—1832.  Drama.  Opposition  d.  Theologea.   203 


honen,  für  die  Diebtor  gar  keine  Gültigkeit  gehabt  zu  haben.  —  §  310 
Schon  lange  hatten  hier  und  da  einflu»sreiebo  Geisllicbe  oder  andere 
Männer  von  tlberatrenger  sittlicher  Gesinnung  ihre  Stimme  laut  gegen 
dag  Schauspiel  und  den  Besuch  der  Theater  erhoben",  gegen  Ende 
der  Sechziger  trat  J.  Melchior  Goeze  in  Hamburg  mit  einem   wahr- 
haft fanatischen  Zorneifer  gegen  beides  aufs  neue  in  die  Schranken 
und  rief  wieder  einen  heftigen  Streit  über  da«  Theaterwesen  hervor. 
J.  Ludwig  Schlosser*^   hatte   vor   seiner   Berufung   zum  Predigtamt 
nige  Lustspiele  geschrieben,  von  denen  eins,  „der  Zweikampf",  im 
Öhjahr  1766  in  Hamburg  zuerst  aus  der  Handschrift  aufgeführt  und 
hald  nachher  mit  den  Übrigen,  ohne  dass  sich  der  Verfasser  nannte, 
in  Druck  gegeben  wurde  ".     Eine  Beurtheilung  dieser  Lustspiele  in 
Klotzens  deutscher  Bibliothek  der  achönea  Wissenschaften",   worin 
er  Name   und  Stand  de»  Verfassers  genannt"  und  anzüglich   be- 
erkt  war,  „das  hamburgiseho  Ministerium  würde  ausser  sich  gc- 
tben,  wenn  es  erführe,  dass  einer  seiner  Mitbrüder  sich  so  habe 
m    bösen   Feinde    blenden    lassen",    veranlasste    den   Hauptpastor 
oexo  zu  Endo  des  Jahres  1768  zuerst  namenlos  in  Zicgra'a  soge- 
nnter  schwarzer  Zeitung   gegen  Schlosser    aufzutreten    und,    als 
escr  einen  Brief,   der  für   ihn  eine  seinem  Widersacher  gewisser- 
asflen  abgezwungene  Ehrenerklärung  enthielt,  nicht  wieder  aus  der 
and  geben  wollte,  im  nüclmteu  Jalir  eine  Schrift  abzufassen  und 
Oeffcntliehkeit  zu  Übergeben,  die  den  Titel  führte:  ,, Theologisehe 
uchung  der  Sittlichkeil   der  heatigen  Schaubühne  überhaupt, 
ie  auch  der  Frage :  ob  ein  Geistlicher,  insonderheit  ein  wirklich  im 
redigtamte  stehender  Mann,  ohne  ein  schweres  Aergerniss  zu  geben, 
e  Schaubühne  besuchen,  selbst  Komödien  schreiben,  aufführen  und 
rucken  Li^en  und  die  Schaubühue,   wie  sie  itzo  ist,   vertheidigea 


42)  Vgl.  Bd.  n,  246  und  vornehmlich  den  daselbst  Anm.  35  angezogenen  Ab- 

achnill  in  Schütze'»  hamburgischer  Theatergeschiclile ;  Journal  von  und  für  Deutach- 

Ijuid.   Jahrgang  I7'.»i>.  1,  78  ff.;    daxti  K.  Dcvricut  a.  a.  O.  2.  3i:ii".;   137  f.  und 

luhmuer  %.  a.  0.  S.   103  (wo   auch   das  Vcrdammungsurtbcil  berührt  ist,   das 

»UMcau  gegen  die  Bahne  aussprach,  als  eine  die  Sittliclikcit  gefährdende  Aa- 

aod  welches  auch  nach  Oeutschinnd  herübrrdrang.   hier  aber  nicl>t  minder 

Knuücreiih  anl'  gewichtige  Kntgegnungeu  traf;  Uevrient,  *J»  :iU  ff.). 

IT3H   zu  Hamburg,    ein  Sohn   von   üotze'a  Amtsvorgänger  au    der  St. 

»eakirche.  studiL-rte  in  Jena  Theologie,  wurde  I7ö»i  Prediger  zu  Bergedorf 

Hamburg  und  starb  |h|5.  14)  „Neue  Schauspiele".     Hamburg  l"t»7.    y.; 

Lt  neuem  Titelblatt  Bremen  !~(>H.  45)  Bd.  2,  St.  :t,  S.  n**n  ff.  46'  Danzcl 

tith  ans  dem  Hamburg.  Correspondenten  von  I7fj9  Verschiedenes  über  dieseo 

U  aus^gezogen,   darunter  die  ßomorkuug,   daas  es  nicht  der  Kocons.   in  der 

kUscheu  Bibliothek  itt,  der  Schlosaer  zuerst  genannt  (wie  z.  B.  Schutze  in  der 

ThcAter  Geschichte  angibt»,   sondern  doas  schon  das  Jahr  zuvor  von 

Scbmid  diess   in   seiner  Theorie   der   Dichtkunst   geschehen   sei.     Vgl. 

itf  a.  K  0.  2,  1,  lt>.*>,  Note. 


iWN« 


204    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  Will  Jahrbunderte  bis  <u  QoctbeT»  toO. 

§  310  und  als  einen  Tempel  der  Tugend  ^  als  eine  Schule  der  edlen 

pfiudungen   und    der  guten  Sitten   anpreioen    könne?''"     lu    ilie? 
Fehde  meinten  die  Freunde  der  Bühne  die-se  am   besten  gegf;n 
auf  sie  gerichteten  Anjrriflfe  vertheidigen  zu   kr>nnen,    wenn    sie 
„fOr  eine  sittliche  Anstalt  au8gabeji.   die   lehren   und   be*»seru   ui 
also  dem  Staat   tind   der  Gesellschaft   unmittelbar  nützen    könne'*^ 
Dies»  hatte   zur  Folge,    dass  wohUlenkende  Schriftsteller ,    die 
dieae  Ansicht  eingiengen,  wenn  Rie  für  die  Bülnie  arbeiteten,  es 
ihren  Stücken  wieder  eben  so  sehr,  wo  nicht  noch  mehr,  wie  Helh 
und   andere   Dramatiker   der   vorhergehenden  Jahrzehnte ,   auf 
Forderung  sittlicher,  lehrhafter  und  gemeinnütziger  Zwecke  anlegten 
Neben    der    empfindsamen    und    weichherzigen  Moral    gewann    jel 
auch  die  breit  geschwatzige  und  bequeme  Sittenlehre  der  Aufklanioj 
und  philanthropinischen  Erziehungsmänner  in  dem  deutschen  Drai 
wie  in  dem  deutschen  Roman,  immer  grossem  Spielraum*;  bald  unrl' 
hliufig   gesellte    sich    dazu    noch    eine   besonders  gegen   die  höhere. 
Stftnde  und  gewisse  Verhfiltnisse  und  Zeitrichtungen  im  Staate* 
GescllschafUlehen   gekehrte  dogmatisierende  Polemik"*,    die  io 
Art,    wie    sie   an    den    eingeführten  Cliar.ikteren   und   dargestelll 
Handlungen    gemeiniglich    hervortrat,    den  Gesetzen   echter    dniBft- 
tischer  Kunst  nicht  minder  zuwider  lief,  wie  jene  in  die  Stücke 
legten,  oft  in  einem  wahren  Abbandlungs-  oder  Kanzelton  *ich 
sprechenden  moralischen  und  didaktischen  Absichten'*.  —  So  strefc 
und  wirkte  in  unserer  Bühnendichtung  vieles  immer  entsehiedi 


47»  Hamburg  1770.  8.  —  Der  g&nxe  VerlÄuf  der  F^-hdc,  die  Gocx«  nicfct 
bloss  tum  Austrag  an  die  llieologiscbe  Kacultät  in  Göttingen  brachte,  soaden 
Aach  noch  uachber  auf  der  Kanzel  fortführte,  bis  der  Hamburger  Senat  ihr  i 
ein  Verbot  allrr  weitem  ^Schritte  in  dieser  Sache  ein  Ende  machte,  ist  fti 
und  mit  Angabc  dir  beiderseitigen  Streitschriften  erzahlt  von  Schatxe 
S.  34ft  ff.;  Tgl.  Jördens  4,  bhl>  f.  4S)  Hierhin  fiiUi  auch  noch  Schillers 

handlung  ,,di&  Schaubühne  als  eine  moralische  Anstalt  betrachtet"  «vgl.  b.  120,21 
worin  aber  der  (iegeofitand  schon  von  einem  hnhern  Standpunkte  ans  aafgcfawl 
ist.  49j  Vgl.  Goethe.    Werke  2r.,  lyj  ff,   und  49,  161»  ff.  5ü)  Vi 

Schlosser  4>  195  f.  51»  Vgl.  Goethe  2(i,  197  ff.  52i  Diescir  Art  Pol 

be{{«gnen   vir  auch   schon  bisweilen   in   den  dramatischen  Werken   der 
geniOB.    In  „dem  Hofmebter**  vou  Lenz  r..U.  ist  die  Hauptsache,  um  die  üek 
ganze  Schanspicl   dreht,   die   Dogmatik  oder  Polemik  über  and  gc^gcn  d*A  Hl 
meisterthum   oder  die  Erziehung  durch  Hauslehrer.     Per  Humor,  bemerkt   Tied 
in   der  Einleitung   eu   den   ge&ainmelCen  Schriften    von  Lenz  ä-  XXli,   wi 
dieser  Hauptsache  volLif;  vermisst.   Der  Komödienüichtcr  gebe  sich  dieHli 
Lehrdtchters    und    scheine    Leiden.    Freuden    und    boltsiune  Alten(cu«^r.    bl 
Figuren.  Wahrhrit  undThorhcit  fast  nur  tu  aeinc  bunte  Tapete  verwebt  £u 
um  am  !  -  trivialen  Satx.  der  sich  ebenso  von  selbst  versf^ho,  w!e 

dieser  Ai^  it  unrichtig  sei,   zu  illustrieren     Vgl.  daselbst  aucli  i>. 

CXIV;  OXXll  nud  GerTSous  4\  &2I. 


(itwickeluogsgang  der  Literatur.  1773— tS32.  Drama.  Familienschauepiel.  205 
if  die  Eiitwirkelun^  einer  smvobl  «lern  Geiste  wie  der  Form  nacli  §  31U 
ehr  prosaischen  als  poetischen  Mittel^altuiij;  hin,  auf  die  Ent- 
wickelung  dos  rührenden  Fauiilienschauspiels  oder  „Familienge* 
mähldeA^',  welche»  den  DeutHcheu  ^'oraume  Zeit  die  echte  TragAdie 
und  die  echte  Komödie  zugleich  vertreten  sollte''^.  Und  damit  nichts 
iblte,  was  diese  dramatische  Gattung  in  ihrem  äusserlichen  Wachs- 
lam  und  in  der  Giniat  hei  der  Menge  zu  fördern  remutchte,  so 
toiisten  ihr  gerade  die  Schreck-  und  Schaudersttlcke,  die  historischen 
id  Ritterschauspiele;  so  wie  ähnliche  auf  bloss  grohsinnliche  Tlieater- 
[QcXe  berechnete  Erfindungen,  die  in  den  Siebzigern  und  im  Anfang 
ir  Achtziger  haufenweise  entstanden  und  die  Bühnen  mit  ihrem 
•m  erfüllten,  voran  oder  zur  Seite  gehen.  Denn  je  entgegenge- 
ttzter  sie  diesen  waren,  desto  schneller  raussten  sie  Uuuni  auf  der 
Ktthne  gewinnen  und  desto  ungetheilter  der  Beifall  werden,  den 
neu  da»  Publicum  spendete,  sobald  sich  bei  ihm  der  Ueberdrusb 
jenen  excentrischeu,  wilden  und  rohen  Gebilden  einzustellen  be- 
i**.  Ja  selbst  den  bessern  entweder  schon  vorhandenen  oder 
t  gedichteten  dramatischen  Werken  gewannen  sie  bei  den 
olern  uud  bei  den  Zuschaueru  darin  den  Vorsprung  ah,  dass 
le  sieb  in  der  Regel  weit  leichter  und  unmittelbarer  zur  AutTühning 
ihickten,  weil  die  talentvollem  Verfasser  von  Stücken  dieser  Gat- 
lug,  entweder  seihst  Schauspieler  oder  wenigstens  mit  der  Bühne 
jhr  vertraut,  diese  bei  allem^  was  sie  für  dieselbe  schrieben,  immer 
\\  \m  Auge  behielten,  während  die  Dichter  jener  edlern  und  gc- 
tUvoUcm  Werke  bei  deren  Abfassung  öfter  gar  nicht  daran  ge- 
lt m  haben  schienen,  dass  sie  wirklich  sollten  oder  könnten 
sfDfart  werden.  —  Von  den  rührenden  Schauspielen,  die  man 
Is  deutsche  Familiengeraählde  im  engem  Sinn  bezeichnen  kann, 
die  schon  von  ihren  Verfassern  selbst  so  benannt  wurden,  er- 
len   die   ersten  im  Jahre    ITSO'*  und  wurden  gleich  mit  dem 


53)  Vurtrefflich  ist  es  seiuen  Baiipty.Ugen  nach  charakterisiert  vou  Schiller  in 

den  XeaicDN.390 — tl2  und  von  Goethe  in  dem  Prolog  zur  Eröffnung  deslJerlincr 

TlMat«r».  Werke  4,  19h.  dort  mit  hitterm,  bicr  mit  hciterm  Humor.  54)  Als 

•|HU<rtiio  dn&  Oefalleo  an  den  FamUieiigcmäblden  und  nameutlicli  au  deu  ifflandi* 

MiMn  Stocken  dieser  Gattnng  nachznlaasm  auKeug,  ächrieh  Schiller»  mit  Bezug- 

afthme  auf  eine  dabin  lautende  Nachricht  aus  Hamburg,  an  Goethe  (den  '^\.  Aug. 

I7W,    ßricfwcrhsp]  4.  2S!)):    „Unwabrscbcinlicb  ist  es  nicht,   dass  das  Publicum 

•leb  selbst  nicht  mehr  sehen  mag:  es  fühlt  sich  in  gar  zu  schlechter  Gesellschaft. 

I     Die  Begierde  nach  jenen  StUckeu  scheint  mir  auch  mehr  durch  einen  Ueberdruss 

^Bb  deu  Rit(er.^}iielen  erzeugt  oder  wenigstens  verstärkt  wurileii  zu  aein;  man  wollte 

^Hlch  von  Vorzerrunc;»)  erboten.     Aber   das    lauge  Angaffen    eines   Älltagsgesichts 

^^poSB  endhch  freilich  auch  ermüden**.  ^5)  Um  dieselbe  Zeit  kamen  auch  im 

PHftomaii  die  ».Familiengeschichten''  auf  tTgl.  Maoso  S.  2(t'i).     In  der  Anzeige  einer 

der  «rttec,  „Gescbichtu  der  Familie  Frink"  (von  Ä.  O.  Meissner),  I.Tbl.     Li«ipzig 


W"^« 


206    VI.  ^'oIIl  zweiten  Viertel  des  XYIII  JafarhunderU  bis  tu  Goetbc'f  Tod, 

310  allgemeinsten  Beifall  aufgenommen;  „der  deutecbc  Hausvater** **  t< 
0.  H.  Frhri».  von  Gemminj,^en*'  und  ,, Nicht  mehr  alssoclis  Seböeaeln"^ 
von  G.  Fr.  W.  Groasmann  "*.     Erstercs  Stück,  zu  welchem  das  V( 
bild  DiderotsPöro  de  famille  gewesen  war™,  hat  vielleicht  Scbillci 
die    erste  Anregung   zu  „Kabale   und   Liebe'*   gegeben*';    Icl/tei 
wurde   gleich    in   Berlin   binnen    vierzehn  Tagen   zehnmal   und  v 
Ablauf  eines  Jahres    über    dreissigmal   gegeben '^    und   gefiel    aa< 
anderwärts  selir".     Ihnen  folgten  zwei  Oiiginalsthckc  von  Schroedi 
die  gleichfalls  eine  Zeit  lang  ganz  ausserordentliches  Glück  macht 
und  die  Gattung  um  so  schneller  in  der  Gunst  des  Publicuras  bobei 
„der  Fäbndrich",    welcher    zwar    den  Kamen  Lustspiel    führt,   al 
ganz  im  Charakter  der  rührenden  Familiengemählde  abgefosst 


1779.   8.   berichtete   1780  Musaeus  (allgemGine  d.   Bibliothek  42,  1.  9fi); 
fangen  die  Famihengeschichten  an  in  Gang  zu  kommen,  damit  dicltomaoeja 
ins  Weite  gedehnt  werden.    Von  einer  ganzen  Sippschaft  laast  Eicb  aUenUogi 
leichterer  Millie   eiu  Buch   ausfüllen  als  mit  dorn  Leben   und  den  Thatea  daa 
f'inziiiea".      Vgl     dazu    allgemeine  d.    Dibliothek    -11,  2,  43»;    f>2,   I.    150. 
Oti)  ..Per  deutsche  Hausvater,   oder    die   Familie,   ein  Schauäplel   in    5   Acti 
erschieii   zuerat   in  München  n'^O.    S.,    dann    in  llerliu  ITisi.    8.  57»  Gi 

1T30  in  der  Pfalz,   lebte  um  I7M>  als  kurpfAlzisclier  Kämmerer  und  Hofki 
rath  in  Manhcim  und  seit  nsi  in  Wien,  wo  er  (wenigstens  um  t79(i|  pfalzircW 
Ceschäfuträger  war  (vgl.  Schlosser  5,  ;i5St.     1797   zog  er  noch  Wurxburg,   trtx 
später  in  badcneche  Picnste  als  wirkl.  Geheimeratb  und  Staat&ministi'r  und  wohi 
i;tiletzt  als  baicrscher  Reichsrath  in  Anspach.    Er  starb  \S22.  58i  ,.Ni 

mehr  als  sechs  Schüsseln,  ein  Farailiongcmahlde  in  5  AufKOgeu",  erschien  xoi 
in  Bonn  1780.  8.  und  in  dem^^lben  Jahre  auch  noch  in  Leipzig.  hlh  Geh,  1746 
Itfrlin.  machte  es,  ungeachtet  der  grossen  Armuth  seiner  Eltern,  m<^gttch.  sq  it 
diercn,  und  wurde  zuerst  Secretiir  bei  dem  prcues.  Kesideoiea  in  I>aimg,  prii 
iien«  dann  eiut?  Zeil  lang  in  Ikrlin  und  beuchaftigte  sich  voningHch  mit  «choc 
Literatur.  Der  Kintluss  I^s&iogs.  dem  er pers^iulich  bekannt  geworden  (vgl.  l^«ah 
BÄmmtl.  Schriften  13,  -105;  12,  410;  17*'),  bestimmte  ihn.  sich  im  Drama  ta 
»uclien:  seiuerstes,  dreiactiges  Schauspiel,  „die Feuersbrunst",  Halle  1773.  b. 
in  drei  Tu^en  entworfen  und  ausgeführt-  1771  lernte  er  auf  einer  Hci^  So 
die  soylerscho  Sc  hau  spiele  rgescllschaft  kennen:  bald  entschied  er  E.ich.  in  di«sell 
einzutreten.  Nach  einigen  Jahren  übernahm  er  die  Leitung  des  kurcOloiacbta 
Hofiheaters  zu  Bonn.  \'^^  die  Direction  der  in  Mainz  und  Krankfurt  f^pielcndea 
GeseÜschafC.  Nachdem  er  durch  Theaterbrand  in  Frankfurt  seine  ganze  Uabe 
%'ertoreu  hatte,  hütte  er  allmülüig  einen  Krsatz  dafür  als  Vorsteher  der  Bohne  ru 
Hannover  (nebst  llremen  und  I*)Tmout)  finden  können;  allein  er  war  kein  guter 
AVirth,  starzte  eich  in  Schuldon  und  ergab  sich  dem  Trünke.  Auch  war  «x  si 
Zeit  der  französischen  Kerolution  in  seinen  Reden  (und  selbst  auf  der  Bühne) 
unvoreif'htig,  dass  er  sich  sedis  Monate  Gef^ngmsiistrafe  ziuog.  Kach  ihrer  AI 
bUssung  durfte  er  nicht  mehr  dietiuhne  betreten.  Kr  starb  tiUfi  (vgl.  K.  Derrit 
».  a.  O,  3,  lOfiff).  bü)  Vgl.  Kschenburg  in  der  allgemeinen  d.  Bibliothek 

I,  116  f.  und  Kr.  Hörn,  die  Toesie  und  Hcrodsamkeit  der  Deutschen  H,  Hl 5  ff 

61)  Nach  ICoffmeister,  Schillers  Leben  I,  162  62)  Vgl.  Piamicke,  Ei 

Wurf  einer  Thcatergtiachichle  von  Berlin  S.  304  ff.;  432.  63)  Vgl.  S< 

»  ä.  0.  S.  4St. 


Entirickeltizigsgang  der  Literatur      1773—1832.    Drama.    Iffland.        207 

md  j.der  Vetter  in  Lissabnn",   wolnlier  „ein  bürgrerliches  Familien-  §  3!0 

^Diähhle"  heisst*'.     Als  nun    noch   Aug-ust   Willielni    Iffland, 

fder  gleicbgam  fUr  sie  geboren  zu  gein  scbien'*,  seit  1781  seine,  wie 

lan  lan^e  {irlauben  mua«te,  mit  den  Jahren  nur  zunehmende  Frucbt- 

irkcit  entfaltete,  war  ihr  Glück  völlig  gemacht.     Iffland,    1750  zu 

lannover  geboren,  der  Sohn  angesehener  und  wohlhabender  Eltern, 

"nrde  zuerst  von  Hauslelirern   unterrichtet   und   besuchte   dann  die 

öffeulliche  Schule    seiner  Vaterstadt.      Bereits   in    seinem    sechsten 

ihre    hatte    eine    theatralische    Vorstellung    der    ackermannschen 

ippe,  der  er  beiwohnte,  den  tiefsten  und  nachhaltigsten  Eindruck 

auf  seine  Sinne  gemacht.     Als  zwei  Jahre  darauf  die  Gesellschaft 

der    Hamburger  Actinnäre    in   Hannover    spielte,    er   viel    von    dem 

Inhalt  der  aufgeführten  Stücke  zu  Hause  erzflhlen,  seinen  ältesten 

Bradcr  aus  Lessings  Dramaturgie  vorlesen  und   darüber  mit  seinen 

Freunden  sprechen  hörte,  endlich  die  Miss  Sara  Sauipson  und  Cor- 

neille's  Rodogüne  aufführen  sah,  erwachte  seine  Neigung  zur  Schau- 

spielkuBst  schon  zur  vollsten  Lebendigkeit.     Die  Buhne  erschien  ihm 

tu  da  an  „als  eine  Schule  der  Weisheit,  der  schönen  Empfindung", 

19   tragische  Kunst   liatte   ihn   „mit   BchwfirmeriHcher  Ehrfurcht  or- 

lllt"    Allein  der  Vater,   der  seine  Kinder  zwar  in  das  Schauspiel 

dokt  hatte,   damit   sie   aus   der  Miss   Sara   Sampson    einsehen 

m,    welch    Herzeleid    Kinder    ihrem    Vater    bereiten    könnten, 

rollte  doch  auch,  dass  sie  noch  etwas  anderes  lernten,  und  suchte 

^Gedanken  des  kleinen  Theaterenthusiasten  auf  ernstere  Dinge 

luf  Komödiensjjiel  zu  lenken.     Es   gelang    ihm    nur   mehr  dem 

ibeine  nach:    sein  Sohn  verschafi'te  sich   und    las  alle  möglichen 

Icbaußpfele   und    wusste   sich   auch    noch    eiumal    ins   Tlicatcr    zu 

teilen.     Als  ihm  endlich  auch  das  Komödicnlcaen  erschwert  ward, 

lusstcn    ihm    die  Predigten,   die   sich    der  Vater  von  ihm  Abends 

»rieacn  licss,  zum  Mittel  dienen,  sie  im  Charakter  seiner  Tragödicn- 

ilden  den  Eltern  vorzudeclamieren.     Indessen  war  er,  so  lange  er 

rh  Privatunterricht  genoss,   fleissig  im  Lernen  und  besonders  zog 

in  die  Geschichte  an.     Entschiedenen  Eindruck  machten  um  diese 

it  auf  ihn  der  Graudison  und  die  Kanzel vortr{lge  Job.  Ad.  Schlegels. 

ie   letztern   und   die  ganze  Persönlichkeit  Schlegels    machten    ihm 

geistliche  Lehramt  ehrwürdig,   und   er  fieng  schon  an  sich  mit 

im  Gedanken  zu  tragen,  dereinst  selbst  Frediger  zu  werden.    Als 

\t  Primaner   geworden,   erzählt  K.   Ph.    Moritz,    der   damals   sein 

Miisch liier  war,  „lebte  er  ganz  in  der  Phantasiewelt  und  hatte  sich 

gerade   ein   sehr   reizendes  Bild  von    der  angeuehmeu   Lage  eines 


64)  Uebor  die  Zeit,  wo  beide  Stücke  aaf  die  Bühne  kamen,  vgl.  §309,  Anm.  21. 
tcki  wurden  sie  erst  IT-IÜ  in  ücm  ;, Beitrag  zur  deutseben  Sch&ubOhne*'. 


2()8    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUl  J&hrhuDderU  bis  xu  Ooethe'fl  Tod 

§  31u  Laudpredigers  entworfen";  freilich,  setzt  er  hinzu,  sei  Iffland  n'u 
Prediger  geworden,  aber  es  sei  doch  sonderbar,  dass  jene  Ideen  vi 
häuslicher  stiller  Ollickseligkeit,  die  er  damals  so  oft  geftuasert,  ni< 
verloren  gegangen,  sondern  in  allen  seinen  dramatischen  Arbeii 
realisiert  worden  seien,  da  er  sie  in  seinem  Leben  nicht  halw?  rci 
sieren  können ''^  In  seiner  wissenschaftlichen  Bildung  blieb 
seitdem  er  die  öffentliche  Schule  besuchte,  hinter  seinen  MitschUb 
zurück,  woran  mit  Schuld  war^  dass  er  gleich  bei  seinem  Eintritt  la 
dieselbe  in  eine  xu  hoheClasfie  gesetzt  worden  war.  Diess  verleidi 
ihm  den  Unterricht;  seine  Neigung  zur  Schauspielkunst  wurde  ai 
neue  angeregt  und  steigerte  sich  zur  Leidenschaft,  als  sich  ihm 
seiner  Vaterstadt  wieder  einmal  die  Gelegenheit  bot.  einer  Voi 
lung  von  VVeissc's  Riehard  III,  welche  die  ackermauu-schroedei 
Gresellschaft  gab,  beizuwohnen.  Was  er  an  diesem  Abend  gesehen  und 
in  sich  empfunden  hatte,  brachte  ihn  zu  dem  Entschluss,  sich 
'  Kunst  zu  widmen.  Da  er  nicht  darauf  rechnen  konnte,  dass  m 
Eltern  zu  einer  solchen  Bemfswalil  jemals  ihre  Einwilligung  ^1 
würden,  so  entfernt«  er  sich  heimlich  von  Hannover  und  gieng 
Gotha,  wohin  ihn  ,,Eekhof8  Name  und  sein  Glaube  an  ihn  zo 
und  wo  er  im  Frühjahr  1777  zuerst  die  Bühne  des  herzoglic! 
Hoftheatei*8  betrat.  Eckhof  nahm  sich  seiner  väterlich  an;  niemai 
aber  that  mehr  für  Ifflands  künstlerische  Ausbildung  als  Götter:  ihl 
verdankte  er,  nach  seinem  eigenen  Bekenntniss,  alles,  was  rnan  in 
dem  Künstler  später  billigte,  wie  so  vieles  von  dem,  was  das  GIU( 
seines  Lebens  ausmachte.  Hier  schloss  Iffland  den  Freundschi 
bund  mit  seineu  jungen  Kunstgenossen  Beil  und  Beck",  mit  den< 
er  nach  Eckhofs  Tode  (1778)  und  der  bald  darauf  erfolgten  Auflänui 
des  gothaischen  Hoftheaters  zu  der  unt^r  W.  H.  v.  DalbciTgs  lol 
danz  und  Seylers  Direction  sich  neu  bildenden  Manheimer  BOl 
1779  Ubergieng.  Als  1796  die  Kricgsdraugsale  der  Revolutionsi 
auch  Manheim  schwer  trafen  und  Iffland  flüchten  musste,  nahm  er 
die  Berufung  zur  Direction  des  Berliner  Nationaltheaters  an.  Seiner 
rastlosen  ThfLtigkeit  wjlhrend  der  Franzosenherrschaft  war  es  haupt 
Bftchlieh  zuzuschreiben,  dass  die  von  ihm  geleitete  Bühne  auch  in 
den  Jahren  bestehen  konnte,  wo  ihr  die  zeitherigen  Unterst ütiungen 
aus  Staats-  und  Hofmitteln  entweder  ganz  oder  zum  grossen  Theil 
abgiengen.  Der  König  belohnte  den  grossen  Künstler  und  wackern 
Director  im  Jahre  ISIl  durch  die  Verleihung  eines  Ordens  und 
durch  Ernennung  zum  Generaldirector  aller  königlichen  Schauspiele. 


65)  Anton  Reiser  a,  IS6  f-:  vgl.  aacb  Meyer  in  SchroeUors  Leben  t*  I. 
66)  Vgl.  E.  Devrient,  QeBchicfate  der  d.  SchftuapielkunBt  3.  4  ff. 


EalwickeluQgsgang  der  Literatur.    1773— IS32.    Drama.    Ifflaod.       209 

fäaad  starb  zu  Berlin   iSU"'.    Bald  nachdem  er  nach  Manheim  ge-  §  310 
kommen,    hatte   er   begonnen   eich    als  Scliriftsteller   zu  versuchen: 
zuerst  lieferte  er  einige  Aufsätze  über  Schauspielkunst  in  die  „rhei- 
nischen und  pfÄlzischen  Beiträge  zur  Gelehraamkeit"  (1781  f),  worauf 
er  gleich   seiu  Trauen?piel   „Albert  tou  Thurneisen'*"  folgen    Hess, 
ie  es  schon  auf  dem  Titel  der  ersten  Ausgabe  lautet,  ein  „bUrger- 
Trauerspiel""'^,  das  iu  der  neuesten  Zeit  spielt  und  gewisser- 
m  den  Uebergang  von  den  lärmenden  Theaterstücken  (in  der 
Art  ».des  Grafen  Walltron"  von  dem  Schauspieler  H.  F.  Möller)  zu 
den  rührenden  FamiliengemäLlden  bildet.     Von  seinen  drei  zunächst 
abgcfasstoü    Stücken,    „Verbrechen   aus    Ehrsucht,    ein   ernsthaftes 
'amUiengemählde"™,    „die   Mftndel>    ein    Schauspiel''''    und    „die 
',  ein  ländliches  Sittengemählde"'-,  begründeten  vorzüg^ch  das 
und   das  dritte  Ifflanda  Ruf  als  Theaterdichter:    „die  Jäger" 
fürden  für  lange  Zeit  ein  Lieblingsstück   des  deutschen  Publicums 
id  verdienten  auch  unter  allen  dramatischen  Arbeifon  Ifflands  am 
leisten,  es  zu  werden.    Eine  lange  Reihe  neuer  StUcke  schloss  sich 
diese  an:  besonders  fruchtbar  daran  waren  die  Jahre  1792  —  96 
manchem  Jahre  lieferte  er  vier  grosso  Schauspiele);   das   beste 
irunter  ist  das  Lustspiel  „die  Hagestolzen"^';  im  Ganzen  aber  ist 
nebt  zu  verkennen,  dass  der  Werth  seiner  Stücke  immer  mehr  sank, 

§  311. 

td  verband  mit  der  gründlichsten  Bllhnenkeuntniss  kein 
dnes  Talent  für  diese  mittlere  Gattung  des  Dramas.  Aber  bei 
illeni  seinem  Geschick  sowohl  in  der  Behandlung  des  Details  der- 
slben  überhaupt,  wie  besonders  in  der  Auflassung  und  Darstellung 
;ewiÄäer  individueller  Züge  in  der  menschlichen  Natur  und  iu  der 
ichildcrung  idyllisch-häuslicher  Scenen  fohlte  es  ihm  oft,  und  mit 
Aer  2ieit  immer   mehr,   an   dem  rechion  Geschmack  in  der  Wahl 


07 1  Er  hat  seiae  Jagendgeschichte  und  sein  Buhnenloben  big  nach  der  MUte 
4«r  Nenniiger  aolbat  beschrieben:  „Meine  theatmliscUe  Laufbahn".  Leipzig 
IT4*.  ».  Sie  bUdet  auch  den  erstea  Band  seiner  „dramatischen  Werke*'.  Leipzig 
nSd-lSOa.  ItjBde.  S-,  wozu  noch  ein  17.  Bd.  kam  aU:  neue  dramatische  Werke. 
iBd.  Berlin  iSrtS.  Eine  Auswahl  seiner  vthentraüschen  Werke"  erschfen  zu 
Uipzi«  IS27  f.  IC,  eine  neue,  anders  geordnete  Auflage  (mit  Hinzufügung  „der 
MMel"  und  ..NachricJiten  von  Ifflanda  Leben")  Leipzig  I8t».  10.  Vgl.  dazu 
l'ttutckcr,  Iflhiud  in  eeiuen  Schriften  als  KuuBller,  Lehrer  und  Director  der 
Bftrliuer  Bahne.    Berlin  1^550.   S.  tiSi  >Lanheim  ITSl.  69)  Kein  ..ritter- 

|";kfta  Spiel"  im  Charakter  der  StUcke  des  Hofgorichtaratli  Maier,   wie  öermus 
■''•  Wi  angegeben  hat   tmd  Andere  ihm   nachgeschrieben  haben.  70)  Man- 

K  ti^i.  s  71)  Berlin  17S5.   8.  12)  Berlin  1755.   S.  73»  Leipzig 

k«V«nteU.  GfundilkK    U.  Aul  IV  U 


m 


210    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jalirhoaderts  bis  zu  Goethe's  Tod- 


i 


311  seiner  GegenstÄndCj  an  Mannigfaltigkeit  in  der  Erfindung  seim 
Charaktere  und  der  Motive  ihrer  Haudlutigen,  so  wie  an  der  eigent- 
lichen pnetiac'hen  Kraft  zum  Hervorbringen  eines  in  allen  seinen 
Thoilen  einstimmigen,  zu  schöner  Rundung  sich  zusafbmeuschliessen- 
den  Ganzen.  Seine  Stücke  sollten  eine  Sittcnschule  sein^  und  du 
in  einem  Sinne^  der  »ich  mit  den  wahren  Absichten  der  dramatischen 
Kunst  nicht  verträgt:  ihr  Hauptzweck  blieb  immer  ein  eigentlich 
lehrhafter;  Tugend  und  Sitteneinfalt  seinen  Zuschauern  und  Le«era 
liebenswürdig  zu  macheu,  gegen  Thorheiton,  Laster  und  Verbrecb 
ihre  Verachtung  und  ihren  Abscheu  zu  erwecken,  darauf  arboit 
Iffland  nicht  bloss  durch  die  dargestellten  Handlungen  hin,  sond 
auch  durch  eigene  empfindsam  moraliHiercudc  und  predigtartJ^ 
Reden,, die  er  seinen  tugendhaften  Charakteren  gar  zu  gern  and  oft 
bis  zum  Uebermass  gehäuft,  in  den  Mund  legte.  Diese  Milngel,  %n 
denen  alle  seine  Stücke  mehr  oder  weniger  leiden,  wurden 
andeni  schon  zu  der  Zeit,  wo  sein  Talent  noch  die  volle  Fri 
beaass  und  durch  Vielsehreiberei  noch  nicht  abgeschwächt 
in  den  gelesensten  kritischen  Blättern  hervorgehoben  und  gei 
Schon  in  der  Anzeige  „der  Mündel'*  und  „der  Jäger*',  wel 
sich  in  der  Jenaer  Literatnr-Zeitung  von  1787*  findet,  wurde  Iffland 
auf  die  bedeutenden  Fehler  in  diesen  Stücken  aufmerksam  gt- 
macht  und  vor  einer  gewissen  Manier  gewarnt,  in  die  er  nur 
zu  leicht  verfalle.  Er  besitze,  bemerkt  der  Recenscnt,  vorzüglich 
die  Kunst,  diejenigen  Saiten  zu  trefl'cn,  die  in  dem  Herzen  eines 
jeden  noch  nicht  ganz  verdorbenen  Menschen  bei  der  leisesten  Be- 
rührung ansprechen;  und  nie  sei  seine  Manier  hinreissender,  als  w 
er  sich  mit  Gefühlen  der  Natur,  häuslichen  Banden,  Aienschenli 
und  Tugendschwärmerei  beschäftige.  Xur  Schade,  dass  ihn 
Wärme  für  diese  Gegenstände  oft  zu  Deelamationen  verleite,  (VSi 
80  wenig  auch  gegen  ihren  Sinn  und  Klang  einzuwenden  sei,  doch 
am  unrechten  Ort  stünden.  Die  wesentlichste  Eriiyieruug  lasse  aicb 
aber  gegen  den  Plan  dieser  Stücke  machen;  in  ,,den  Mündeln"  •« 
er  verworren,  in  „den  Jägern"  sei  vieles  unnatürlich.  In  einem 
Artikel  der  neuen  Bibliothek  der  sch<!)nen  Wissenschaften'  aoa  den 
Jahre  179.3  heisst  es  u.  A.':  „Iffland  ist  voll  von  glücklichen  Ideen; 
er  hat  einen  seltenen  Rcichthum  von  Charakteren  und  besitzt  daa 
Talent  eines  frischen  und  in  die  Augen  fallenden  Colorits,  In 
Kunst  zu  rühren  ist  er  ein  Meister.  Aber  kein  einziges  M 
Sttlcke  ist  uutadelhaft.  In  einigen  ist  die  Mntene  mehr  werth 
die  Form,  in  andern  ist  auch  die  Form  unbedeutend.  Bia' 
fehlt  CS  der  Handlung,  bisweilen  den  Charakteren  an  Wab 


I 


8  311.     1}  4,  Sp.  361»  ff. 


2)  19.  3  ff.  and  50.  26  ff 


3)  60.  61. 


EntwickelungBgang  der  Literatur.    1773— 1S32.    Drama.    Ifilaud.        211 


lit.    Oft  sind  die  Scencn  zu  kurz,  oft  zu  lan^.     Nur  in  wenigen 
ttteken  ist  das  richtige  Mass  zwischen  dem  Zuviel  und  Zuwenig  ge- 
troffen, und  in  keinem  überall.     Dem  Dialog  fohlt  es  oft  an  Rundung, 
der  Sprache  oft  an  Wahrheit.    Mit  einem  Wort,   mau  Tcrmisst  die 
;alto,   langsame  Beurtheilung,    welche  alle  einzelnen  Thcile  eines 
Kunstwerkes  sorgfältig  abmisst  und  sich  nicht  eher  beruhigt^  bis  in 
allen  das  richtige  Verhältnis«  gefunden  und  eine  vollkommene  Zu- 
sammenstimmung  dersellmn  zu  einem  Zwecke  hervorgebracht  ist"*. 
Im  Ganzen  jedoch  galt  IfHand  bis  über  die  Mitte  der  Neunziger  hinaus 
kaum  minder  vor  dem  Richterstuhle  der  öffentlichen  Kritik,  wie  bei  dem 
I     grossen  Publicum   für  einen  unserer  aus^ozoiclinctstcn   dramatischen 
^Blchter.   Ein  Reccusent  des  Schauspiels  ,jßewusstsein''  (1787*  erklärte 
^B7SS\  ein  solches  Stück  sei  bei  dem  noch  immer  herrsehenden  Kraft- 
^0nd  Geniewesen  ein  herzliches  Labsal.  IfHand  wandle  auf  dem  Pfade 
der  einfältigen  Natur;    daher   seien    denn  auch  seine  dramatischen 
Producte  ausgemacht  den  vorzüglichsten  unserer  Bühne  beizuzählen. 
^     Langer   meinte",   bei  weniger  Eilfertigkeit  würde  sich   Iffland  zum 
^BAng  classischer  Schauspieldichter  hinauf  schwingen.     Zur  Charak- 
^Brigierung  des  um  die  Mitte  der  Neunziger  herrschenden  Geschmacks 
^Hbd  zur  Bezeichnung  des  Standpunktes,  ron  welchem  aus  man  da- 
^tnals    in    kritischen   Zeitschriften   Iftland    alö    dramatischen  Dichter 
leurtbcilte,  scheint  mir  auch  folgende  Stelle  von  Knigge'  merkwür- 
genug,   um  hier  angeführt  zu  werden:    „Das  ernsthafte  Drama, 
id    voniOglich    diejenige   Art    von    rührenden   FamilicDgcmühldenj 
fovou  Ifflaud  uns   schon   eine  beträchtliche  Anzahl  geschenkt  hat, 
kobauspiele^  in  welchen  hilusliche  Glückseligkeit,  Einfalt  und  Reinig- 
:cit  der  Sitten,   Arbeitsamkeit,    Genügsamkeit,   Zufriedenheit   mit 
»einem   Zustande    reizend    dargestellt   und   empfohlen,    die    gegen- 
leiligen    Verderbnisse    und    Thorheiten    hingegen    verüchllich    und 
^herlich  gemacht  werden :  diese  Art  theatralischer  Producte  scheint 
tter  allen  Gattungen  von  Schauspielen  dem  echten  Bedürfnisse  des 
!utachen  Puhlicums  (besonders  auch  in  Rücksicht  auf  die  moralische 
'irkung)  am  angemessensten  zn  sein;  und  Ifüand   verdient  gewiss 
ihr  grossen  Dank   für  seine  auf  alle  Weise  mit  Erfolg  gekrönten 
leniülitingen."  —  Unterdessen    war   es    aber    Hcboii   einem   Andern 
dnngen,  die  Neigung  des  deutschen  Bühnenpublicums  in  noch  viel 


§  311 


-4)  Vtizn   Tgl  über   einzelne  Schauspiele  Ifflauds,   die   bis   um  dif  Mitte  der 
rgwiTglgpr  herauskamen,   die  Urtheile   (von  Schatz  und  KRchouhurLT)  in  der  aH- 
icio<»»  d   Bibliothek  lOW,  t,  124  ff.  and  in  der  neuen  alJgcmeincu  d.  Bildiothek 
l»  22.'.  tf.;  29,  2,  340  f.;  38. 2, 502  ff.  und  besondera  die  in  der  .lenacr Literatur- 
älang  von  1793.    I,  129  ff.;  3,  247  f.;  4,   1S9  f.  5)  In  der  Jpnaer  Literfttur- 

titang  3.  ^29  ff.  6)  In  der  neuen  allgemeiiieD  d.  Bibliothek  24,  2.  331  tf. 

7>  In  der  neuen  allgemeinen  d.  Bibliotbok  2S,  2,  456  f. 

14* 


Vom  zweiten  Viertel  des  XVTII  Jahrhunderts  bis  ra  G««Uie'«  Tod 


lacn 

m 


212 


f  311  LOlienD  Grade  zu  gewinnen  und  za  fesseln.  Diess  ist  An; 
Fr.  Ferdinand  von  KotzebueV  1761  zu  Weimar  geh 
wurde  er,  da  er  schon  wenige  Monate  darauf  seinen  Vater  verlor, 
der  hcrzogl.  Legationsrath  war,  von  seiner  Mutter  erzogen  und  nach 
einander  von  mebrereu  Hauslehrern  unterrichtet.  Der  Unterricht  war 
aber  nicht  der  Art,  daas  er  den  lebhaften  Knabcu  zu  fcsBoln  ver- 
mochte; desto  eifriger  suchte  dieser  seinen  von  der  Mutter  früh  ge- 
weckten und  genährten  Hang  zu  unterhaltender  LectUre  zu  befrie- 
digen. Don  Quixote,  Robinson  Crusoe,  die  Insel  Felsenburg,  wurd«o 
seine  LieblingsbUcher.  Auch  die  Lust,  Verse  zu  machen,  regte  sieb 
schon  in  ihm,  als  er  kaum  sechs  Jahr  alt  war;  nicht  lange  darauf 
wagte  er  sich  sogar  an  den  Versuch,  eine  Fabel  in  ein,  wenn  aocb 
nur  sehr  winziges  Lustspiel  zu  verwandeln.  Einen  enthusiastisch 
Liebesbrief  au  eiu  erwachsenes  Mädchen  schrieb  er  an  sei 
siebenten  Geburtstage,  und  die  schwache  Mutter  unterlie^s  nicht, 
in  Gegenwart  des  Knaben  aller  Welt  mitzutheiieu.  Ein  um  diese! 
Zeit  in  ihm  sich  entwickelnder  „Hang  zur  ReligionsschwÄrmerei" 
verlor  sieh,  als  er  gezwungen  war^  allsonutäglich  zweimal  die  Kirche 
zu  besuchen;  ja  der  kleine  Kotzebue  fieng  bald  nachher  an  ,pein 
Zweifler  zu  werden."  Die  Hoffnung,  eine  Elegie,  die  er  ungefÄhr 
in  -seinem  neunten  oder  zehnten  Jahre  auf  den  Tod  eines  jungen 
Mädchens  in  Weimar  gemacht  hatte,  gedruckt  zu  sehen,  gieng  zwu 
nicht  in  Erfüllung,  bewirkte  indess  nichts  desto  weniger,  daas 
allgewaltige  SchhftstcUereitelkcit  zum  crstenmale  ihre  Tyrannei  Ül 
ihn  ausübte/'  Was  fUr  seine  Bildung  die  \vichtigstcn  Folgen  hal 
und  ihn,  wie  er  später  meinte,  von  seiner  zartesten  Kindheit  an 
unwiderruflich  zum  deutschen  Öchriftatcller  bestimmte,  war  der 
druck,  den  die  erste  theatralische  Vorstellung,  die  er  mit  ansah, 
Aufführung  von  Klopstocks  Trauerspiel  „der  Tod  Adams'*,  auf  l\m 
machte.  Seine  dadurch  geweckte  Leidenschaft  für  das  Schaus] 
fand  nicht  lange  nachher  vielfache  Nahrung,  als  Weimar  mit 
von  der  Herzogin  Amalia  dahin  berufenen  seylerschen  Gesellsol 
für  einige  Jahre  il771 — 74)  eine  stehende  Bühne  erhielt.  Seia( 
glücklichen  Gedächtniss  prägten  sich  Stücke  wie  „Emiiia  Galot 
and  „Engels  dankbarer  Sohn''^  die  er  bloss  spielen  gesehen, 
gelesen  hatte,  so  fest  ein,  dass  er  sie  auswendig  wusste,  und 
er  seine  Gespieleu  so  weit  brachte,  sie  ihm  auffuhren  zu  belfea. 
Jener  Epoche  vordankte  er,  wie  er  selbst  nach  mehr  als  zwamig 
Jahren  schrieb,   „den  grössten  Theil  der  Bildung  seines  Vcrstandea 


8)  Er  war  bürgerlicher  Abkunft;   erst  um   17S5,   aU   er  iu   R(isslaii4 
Stellung  erlangt  hatte,  mit  welcher  der  Adel  verbundeo  iat,  tieng  er  a 
■einen  Schriften  A.  von  Kotzobae  za  nennen. 


Entwickelmigsgang  der  Literatur.    1773— 1S.')2.    Drama.    Kotzebue.     213 

wid  Herzens',  Eckhofs  göttliches  Spiel  liereieherte  seine  Vernunft  §  31t 
und  Phantasie  mit  Ideen  und  Bildern,  welche  ihm  ohne  diess 
T«hikel  nicht  so  anschaulicli  geworden  wären."  Unterdessen  war 
der  Privatunterricht  mit  dem  auf  dem  Gymnasium  seiner  Vaterstadt 
vertauscht  worden.  Aher  anstatt  die  Lehrstunden  gehörig  zu  be- 
nutzen, beschäftigte  sich  Kotzebue  lieber  mit  seinen  theatralischen 
Spielereien;  oder  er  machte  allerlei  Gedichte  für  „die  poetische 
Stunde"  bei  Musaeus,  zu  dem  er  sich  unter  seinen  Lehrern  am 
meisten  hingezogen  fühlte,  von  dem  er  noch  besondern  Unterricht 
empfieng,  aber  auch  mehrfach  in  seiner  schon  damals  sehr  merklich 
hervortretenden  dichterischen  Eitelkeit  bestärkt  wurde.  Neben  klei- 
nen sentimentalen  Gedichten  wurden  nun  auch  Trauer-  uud  Lust- 
spiele niedergeschrieben,  alles  in  Nachahmung  seiner  letzten  LectÜre. 
Als  Goethe  seine  „Geschwister"  auf  das  Liebhabertheater  des  wei- 
marischen  Hofes  brachte,  durfte  Kotzebue,  dem  sich  der  Dichter  bei 
seinen  häufigen  ßesuchen  im  mütterlichen  Hause  oft  freundlich  er- 
wiesen hatte,  darin  auftreten t  um  ein  Paar  Worte  zu  sagen;  die 
Verehrung,  die  er  damals  für  Goethe  gcfasst  hatte,  steigerte  sich  an 
dem  „Werther",  den  er  bald  darauf  las,  zu  „einer  schwärmerischen 
Liebe".  Auch  mit  Klinger  kam  er  in  Berührung.  In  der  Schule 
weiter  hinauf  gerückt,  fand  er  nur  Freude  anTerenz;  alles  Andere, 
wa»  in  der  ersten  Classc  gelehrt  wurde,  erweckte  ihm  solchen  Ekel, 
dass  er  in  den  Schulstunden  fast  nichts  that,  als  heimlich  Romane 
lesen.  Noch  nicht  ganz  sechzehn  Jahre  alt,  gieng  er  nach  Jena,  um 
die  Rechte  zu  studieren;  doch  suchte  er  sich  in  der  ersten  Zeit 
hauptsächlich  nur  in  der  lateinischen  und  in  neuern  Sprachen  zu 
üben.  Ein  von  Studenten  errichtetes  Liebhabeitheater  bot  ihm  die 
Gelegenheit,  öfter  die  Bühne  zu  betreten.  Dabei  fuhr  er  fort,  allerlei 
zu  dichten.  Er  hatte  sich  jetzt  besonders  Wieland  zum  Muster  ge- 
nommen, und  er  war  eitel  genug,  an  diesen  für  den  deutschen 
Merknr  ein  Wintermärchen  zu  senden.  Zwar  erreichte  er  dicssmal 
»eine  Absicht  noch  nicht,  zwei  Jahre  später  war  aber  Wieland  so 
freundlich  oder  nachsichtig,  einer  kleinen,  im  Ton  der  Ballade  ge- 
haltenen Erzählung  von  Kotzebue,  „Ralph  und  Guido",  einen  Platz 
im  Merkur  zu  gönnend  Diess  Stück  und  ein  Gedicht  auf  den  Tod 
eänes  Studenten  aus  derselben  Zeit  waren  von  seinen  Erfindungen, 
die  gedruckt  worden  sind,  die  ersten.  Unterdoss  war  er  seiner 
^fchwester  zu  Liebe,  die  sich  nach  Duisburg  verheirathet  hatte,  für 
^kige  Zeit  auf  die  dortige  Universität  gegangen.  Auch  hier  war 
^■eich  eine  seiner  ersten  Sorgen,  ein  Liebhabertheater  zu  errichten, 


9)  JUxigang  17^0.  4,  3  ff. 


214    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVin  Jahrhaoderts  bis  cn  Goethe'«  Tod 


§311  (las  auch  wirklich  zu  Stande  kam.  Er  fuhr  fort,  sein  Schriftai«!! 
^'lück  im  Roman  und  Lustspiel  zu  versuchen,  ohne  jedoch  die 
hofften  Erfolge  zu  erlangen.  Als  er  1779  nach  Jena  zurnck^kehrt 
war,  legte  er  sich  mit  ziemlichem  Ernst  auf  das  Rechtsstudium, 
hehielt  aber  Zeit  genug  für  das  Liehhabertheater,  für  neue  dram»- 
tiseho  Arbeiten  und  andere  Erfindungen,  so  wie  für  eine  poctiac 
Gesellschaft  flbrig,  die  er  gestiftet  hatte.  Nach  Beendigung  geiui 
Universitätsstudien  wurde  er  AdvocAt  in  Weimar.  In  dem  vertrati 
Umgange  mit  Musaeus  schrieb  Kotzebue  wieder  mauchcriei  in  ver 
«cbiedenen  Dichtungsarten,  wovon  mehreres  auch  gedruckt  wu: 
Im  Herbst  17S1  gieug  er  auf  Veranlassung  eines  alten  Freund 
seines  Vaters  nach  St.  Petersburg,  wo  er  zunächst,  als  Nachfol 
von  Lenz,  die  Stelle  eines  Sccrctflrs  bei  einem  hohen  Offizier  erhi 
dem  die  obere  Leitung  des  deutschen  Theaters  in  Petersburg  B 
ti*agen  war.  Hierdurch  kam  Kotzebue,  der  sieh  anfänglich  vo 
Dommen  hatte,  in  seinem  Amte  der  Dichtkunst  ganz  fern  zu  bleib 
in  zu  nahe  Berührung  mit  eiuer  Bühne,  als  dass  er  sicii  niclit  h 
mit  neuem  Eifer  auf  die  Erfindung  von  Schauspielen  hätte  1 
«ollen,  zumal  als  sich  sein  Vorgesetzter  durch  eine  langwieri 
Krankheit  genöthigt  sah,  ihm  die  Directionsgeschäfte  ganz  zu  0 
lassen.  Nach  dessen  Tode  kam  Kotzebue  im  Jahre  1783  als  A 
und  Titnlarralh  an  diis  Oberappellationstribünal  in  Reval,  und 
Jahre  darauf  erhielt  er  die  Stolle  eines  Präsidenten  des  Gouverm 
mentsmagietrats  von  Esthland,  die  er  zehn  Jahre  lang  verwalte 
Schon  während  dieser  Zeil,  in  der  er  ausser  verschiedenen  Reisen 
Deutschland  auch  eine  nach  Paris  machte  (1790),  bewies  er  dun-h 
was  er  alles  in  den  Druck  gab,  in  vollem  Masse  die  erstaunlic 
Fruchtbarkeit  im  Producieren,  die  ihm  sein  ganzes  Leben  lang  ei 
blieb  und  ihm,  wenn  man  bloss  auf  die  Masse  seiner  Schriften  sie 
unter  den  Vielschreibern  aller  Zeiten  einen  der  ersten  Plätze 
Bichert  hat.  Von  dem,  was  er  fast  in  allen  Gattungen  der  schön 
Literatur  und  auch  im  wissenschaftlichen  Fache  theils  selbst  he 
gebracht,  theils  nur  bearbeitet  oder  übersetzt  hat,  von  seinen  d 
malischen  Sachen  in  jeder  Art  und  jeder  Form  (sie  belaufen  ei 
allein  auf  mehr  als  zweihundert  Stücke),  seinen  Romanen,  N  " 
Erzählungen  in  Versen  und  in  Prosa,  Anccdoten,  Geschieht* 
Misccllen,  von  seinen  lyrischen  und  satirischen  Gedichten,  aetn 
geschichtlichen  Werken  und  biographischen  Mittheilungen^  sein 
Reiseberichten,  seinen  niisonnierenden  und  polemischen  Aufsäi 
von  seinen  Zeitschriften  endlich  und  fliegenden  Blättern  orsehi 
vieles  bereits  vor  und  in  dem  Jahre  1795.  Das  erste  Werk,  w^ 
durch  er  seinen  Namen  bekannter  machte  und«  sich  in  die  Gu 
des    Publicums    setzte ,    waren    „die    Leiden    der    ortenbergiscboä 


^ 


Eatiri<keluug6gaQg  der  Literatur.    1773--]  852.    Dnuua.    Kot/ebue.      215 


^amiIie"'^     Von   seiuen    dramatifichen  Sachen,    die  in  dieser  Zeit  §  311 
it8ta,nden ,  entschied  daä  rührende  Schauspiel  „Menschenbass  und 
i",  welches  er  während  einer  seinGemüth  verdüsternden  Krank- 
schrieb", sein  Glück  auf  den  deutschen  Bühnen  und  trug,  da 
Ml  bald  auch  in  viele  fremde  Sprachen    tlborset/t   und    überall    mit 
Incm  bis  dabin  an  einem  deutschen  Stücke  ganz  unerhörten  Beifall 
ifgenommcn  ward,  Kotzebue's  Namen  weit  über  die  deutsch  redenden 
Inder  hinaus.     Im  Jahre   1795   wurde  er  auf  sein  Ansuchen  aus 
sinero  bisherigen  Dtcnstverhältnisß  mit  einer  ihm  bewilligten  Rang- 
rhOhung  entlassen ;   er  lebte  nun  auf  dem  von  ihm  selbst  erbauten 
mdsitz  Friedenthal,  einige  Meilen  von  Narva,  bis  er  im  Herbst  1797 
der  durch   v.  Alxingers  Tod  erledigten  Stelle   eines  Hoftheater- 
tichters  nach  Wien  berufen  ward.    ludessen  gefiel  er  sich   hier  so 
reuig,  dass  er  schon  nach  zwei  Jahren  um  seinen  Abschied  einkam, 
^fler  ihm  auch  mit  einem  ansehnlichen  Jabrgehalt  auf  Lebenszeit  ge- 
währt wurde".     Er  siedelte  sich  in  Weimar  an,   reiste  bald  darauf 
Familienangelegenheiten  nach  Russland,   ward  aber,  weil  er  als 
hriftsteller  dem  Kaiser  Paul  verdächtig  geworden  war,  auf  dessen 
lefehl  gleich  auf  der  Grenze  verhaftet  und   nach  Sibirien  geschafft, 
[ier  musste  er  vier  Monate  ausharren,    die    er   in    dem   Buch   „das 
lerkwUrdigste  Jahr  meines  Lebens"'*  geschildert  hat,   wurde  nach 
tiner  ZurQckberufung    von    dem   Kaiuer    mit    einem    Landgute    in 
lieÜand   beschenkt   und  zum   Hofrath   und    Üirector  der   deutschen 
lofscbauapielertruppe   in   Petersburg   mit   üeberweisung  eines  sehr 
»edeutcnden  Einkommens  ernannt.     Nach  der  bald  darauf  erfolgten 
■rmordung  Pauls  erhielt  er  die  Erlaubniss,  mit  Beibehaltung  seines 
lehalts    und    dem    Titel    eines    kaiserlichen    Collegienraths    nach 
leut^chland  zurückzukehren.    Er  zog  zunilchst  wieder  nach  Weimar 
II    ^       ^  da  1802  nach  Berlin;  eine  Zeit  lang  hielt  er  sich  auch  in 
lK      ^       rg  auf.    Vier  Jahre  später  floh  er  vor  Napoleon  nach  Russ- 
id.     1813  wurde  er  zum  russischen  Staatsrath  ernannt,  eiuige  Zeit 
kchhor   als  Generalconsul   für   Preussen  nach   Königsberg  gesandt, 
[0  er    auch    1815  vorübergehend  die  Leitung   des  Theaters   tiber- 
ihm,   und  1S1G  mit  dem  Auftrage  und  mit  der  Bestimmuug  nach 
►cutscbland  geschickt,   hier  den  politischen  Späher  zu  macheu  und 
lach  Kussland  von  dem  unter  uns  herrschenden  Geist  und  von  allen 


10)  I.  Thdl,  St.  Petersburg  t785,  nach  der  Dedication  schon    I7H3  aus- 

rbeitet;  1.  und  2.  Theil,  Leipzig  1787.    S.  Hl  Gedruckt  Berlin  1789.    8. 

12'  Anders  lautet  der  interessante  Bericht  tiber  Eeine  Wiener  Stollung  zum 

'htÄl*r  und  seinen  Abgang'  in  dem  Berliner  Archiv  der  Zeit  n*J9,  März,  S- 332  ff. 

'gl.    diuu  Koty.ebue's  „Ueber  meinen  Aufenthalt   in  Wien"  etc.  (.Tördenß  3,  102; 

»att)  uud   Archiv  der  Zeit   1790,   Decbr.,   S.  452  ff.  13)  Berlin    ISOl. 

Thl«    S.      • 


beo 


216    VI,  Vom  zweiten  Vierteldes  XVni  Jahrhundert«  bis  im  Goeth«'B  TchI. 

§311  über  Staatsangelegenheiten,  öffentlichen  Unterricht  etc.  in  Umlauf 
komuientleu  neuen  Ideen  monatlich  Bericht  zu  erstatten.  Er  hie 
sich  nun  zuerst  theils  in  Berlin,  theils  in  Weimar  und  seit  ISIS  i 
Manheira  auf,  zog  sich  durch  die  Rolle,  die  er  spielte,  die  Verachtu 
aller  wahren  Vaterlandsfreuude  und  den  Haas  einer  politisch  exal- 
tierten Jugend  zu  und  wurde  1819  in  Manlieim  ermordet".  Kotze- 
bue  war  kein  höher  begabter  Dichter  als  Iffland;  er  stand  aber 
allem,  was  Geschicklichkeit  und  Fertigkeit  in  dem  Gemein-Tec 
nischen  der  Schauspieldichtung  zu  leisten  vermögen,  mit  Ifflan 
wenigstens  auf  gleicher  Linie  und  war  ihm  an  Erfindungsgabe  an 
an  Schmiegaamkeit  in  alle  möglichen  Formen  und  Manieren  bei 
weitem  überlegen.  Beide  gehörten  zu  den  Vielscltreibern ,  die  bei 
allem,  was  sie  hervorbrachten,  keine  andern  poetischen  Zwecke  Im 
Auge  gefasst  hatten  als  die  unmittelbare  Wirkung  der  sceuischeo 
Darstellung  ihrer  Stücke.  Waren  indessen  Iftlands  Schauspiele  mi 
ihrer  kleinlichen  Sittenmahlerei  und  Sittenlehre  und  ihrem  Sire 
nach  gemeiner  Naturwahrheit  wenigstens  immer  ,, gegen  ein  bOrge 
lieh  rechtliches  Behagen  hingewendet*"*,  so  hatte  Kotzcbue  in 
Heinigen  gleich  von  Anfang  an  eine  Richtung  eingeschlagen,  in  der 
er,  unter  dem  Anschein,  als  Ifige  ihm  nur  daran,  der  Natur  z-um 
Siege  Über  verjährte  Vonirtheile  zu  verhelfen ,  oder  verkehrten 
Strebungen  in  der  Zeit  eutgegenzuarbeiten,  der  Anpreiser  und  B^ 
förderer  einer  mehr  als  ,, lockern  Sittenfreiheit''  und  einer  mehr  als 
leichtfertigen  Denkart  in  Deutschland  wurde.  Nicht  leicht  sind  »q 
schöne  Anlagen,  wie  er  sie  besass,  und  so  mannigfaltige  Fertigkeite 

\A)  Kotzebne  hat  seinen  „literarischen  Lebenslauf^  bis  znm  Jahre  17d6ielbit 
ausführlich  beschrieben  im  fünften  Bändcbcn  einer  Sammlung  ron  Sttlcken  tckr 
verschiedener  Art  und  Form,  die  unter  dem  Titel  „die  jQugsten  Kinder  mcmar 
Laune"  zu  Leipzig  nort— 'J*.  6  Bdchen.  s.  erschien.  Vgl.  daxu  „Kotsebot^ 
Leben.  Nach  seinen  Schriften  und  nach  authentiscben  Mitthciliingeu  dai 
(von  Fr.  Cramer).  Leipzig  \S'10.  S.  und  H.  Doering,  A.  v.  Kotzebuc'a 
Weimar  IS30.  \r>.  —  Eine  Aasgabe  seiner  gesammti^n  Werke  gibt  es  noch 
und  wfthrBchemlJch  wird  auch  nie  eine  veranstaltet  werden.  Samnilangen 
dramatischen  Arbeiten  sind:  ..Schanspiele  von  A.  v.  Kotzebuc'*.  IfCipcig  1T9T 
5  Bde.  s.;  „Xcue  Schauspiele".  Leipzig  1798-ISI9.  23  Bde.  S.:  „Akoftoacb 
dramatischer  Spiele  zur  geselligen  rnterhaltung  auf  dem  Lande'*.  IS  JahrgAi^fL 
Leipzig  1S03— 20.  IB.;  ..Sanuntliche  dramatische  Werke".  Leipzig  IS2S  f.  44 
TUe.  16.  und  ,,Theater*'  in  30  Bauden  mit  10  Supplementbänden  IMfKlg 
184(1  f.  16.  In  Betreff  seiner  übrigen  Scbrifton  verweise  ich  anf  Jurdcns  1,71»  ff; 
6,  424  ff.;  Piftchon«  Denkmiiler  der  d.  Sprache  5,  431  ff.  and  W.  KngebauM 
Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften  I,  ll*s  ff.  15)  Vgl.  Goethe,  Work» 

30,  256.  Ein  beachtenswerthes  Wort  Goethe*s  über  zurei  Hauptfehler  in  IfflaDda 
Stücken  ist  uns  in  Büttigcrs  literarischen  Zuständen  und  /citgenoK8«n  I,  97  t 
aufbewahrt  worden;  es  scheint  in  dieser  Aufzeichnung  verUsslicher  m  i«ia  als 
Tieles  Andere  was  in  diesem  Buche  steht. 


Estwickelungsgaug  der  Literatur.    1773— 1S32.    Draxs«.    KoUebue.      217 


v'  -irh  anzueignen  wusste,  so  selir  dazu  gemissbraucht  worden,  §  311 

t  -   den  Schwächen    der  menschlichen  Natur   zu  schmeicheln 

und  Fehltritte,  SUnden  und  auch  wohl  eigentliche  Verbrechen  da- 
durch zu  beschönigen,  ja  ihnen  selbst  den  Anschein  tugendhafter 
Handlungen  onzulllgen,  dasB  er  jedes  andere  Geftlhl,  das  sie  hätten 
erwecken  können,  immer  in  weichliche  Rührung  und  sentimentale 
Tbeilnahmo  vcrtiösste,  —  und  andrerseits  alles,  was  sich  von  einem 
böhern  geistigen  Lehen  in  der  Zeit  regte  und  Bedeutung  gewann, 
mit  dem  frivolsten  Spotte  zu  verfolgen  und  auf  die  frechste  Weise 
herabzusetzen.  Dieser  Vorwurf,  der  ihm  überhaupt  wegen  seiner 
ganzen  schriftstellerischen  Wirksamkeit  gemacht  werden  kann,  trifft 
ihn  doch  ganz  besonders  als  dramatischen  Dichter.  Als  solcher  war 
er  am  längsten  thfUig,  hatte  er  das  grösste  Publicum  aus  allen 
Schichten  der  Gesellschaft  und  fand  er  immer  neue  Mittel,  um 
seinen  Einfluss  in  ununterbrochener  Folge  auf  dasselbe  auszuüben.  — 
Kotzebue's  Rnhm  hatte  seinen  Höhepunkt  schon  mit  dem  Bekannt- 
werden des  Schauspiels  „Mensehenhass  und  Reue"  erreicht;  unmittel- 
bar darauf  sank  er  fast  noch  schneller,  als  er  zuvor  gestiegen  war. 
Zwar  nicht  bei  den  gewölinlicheu  Theaterbesuchern  und  Komödien- 
le»em,  deren  auserkorener  Liebling  er  noch  lange  blieb,  und  die 
seiii  Talent  um  so  mehr  bewunderten,  je  mehr  Neues  er  ihnen  all- 
jährlich zubrachte,  und  Je  unerschöpflicher  ihnen  darum  seine  Erfin- 
dungskraft schien;  dagegen  bei  jedermann,  der  mit  einer  rechtlichen 
Gesinnung  oder  nur  mit  einem  für  Sitte  und  Anstand  nicht  ganz 
tumpfeu  oder  abgestorbenen  Gefühl  einen  hühern  Grad  von  Bildung 
und  einen  geläutertem  Geschmack  als  der  grosse  Haufe  der  Vor- 
aebmen  und  Geringen  in  Deutschland   besass  und  dem  Gange  von 

otzebue's  Bchriftstolleris4rhem  Treiben   mit  einiger  Aufmerksamkeit 

t   war.     Denn   schon   ein  Jahr   nach    dem   Erscheinen   jenes 

nden  Schauspiels  hatte  der  Mann,    der    durch   seine  Dramen, 

imane  und  Erzählungen  die  Menge  auf  so  lange  hin  locken  und 
Itetbören,  ihre  Begrifte  von  Tugend  und  Recht,  Sitte  und  Herkommen 
verwirren,  ihr  sittliches  Gefühl  und  ihren  Geschmack  missleiten 
konnte  und  damit  auf  die  gcsammte  geistige  und  sittliche  Bildung 
des  '  ■■M  Volks  unberechenbar  schädlich  einwirkte,  in  einer 
schäti  1  Schmähschrift  und  in  seinem  Verhalten  bei  den  Folgen^ 

die  sie  hatte,  seine  eigenste  Natur  selbst  onthUllt  und  den  Boden 
blo80  gelegt,  aus  welchem  seine  Dichtung  Üppig  emporwiichorte.  Tm 
Jahre  1700  erschien  nämlich,  veranlasst  durch  die  Händel,  in  welche 

r    hannoversche    Leibarzt  Zimmermann   geratben    war",    ein   in 


^ 


218    Vr.  Vom  zweiten  Vierte!  des  XVIII  Jahrhunderte  bis  zu  Goethe'«  Tod 

§311  dramatischer  Form  abgefasstes  scliändlicbes  und  nichtswUrdig^eSj 

den  gröbsten  Unfiätereien  und  den  BchensÄÜchaten  ObacönilÄten 
strotzendes  Pasquill  auf  alle  diejenigen;  welche  mit  Zimmermann 
einmal  in  irgend  einer  Art  Öffentlich  angebunden  hatten ,  wie 
Lichtenberg,  Nicolai,  Biester,  Gedicke,  Campe,  Boie,  Kästner,  Man- 
rillon,  Ton  Blankenburg  etc.  Alle  waren  hier  zu  einer  VerschwOrunp 
gegen  Zimmermann  um  den  berüchtigten  Dr.  Bahrdt"  vereinigt,  auf 
den  die  Schandschrift  ganz  besonders  gcmUnzt  war,  und  nach  dem 
sie  auch  den  Titel  führte  ,;Doctor  ßahrdt  mit  der  eisernen  Stin^^H 
oder  die  deutache  Union  gegen  Zimmermann.  Ein  Schauspiel".  Alfl^ 
Verfasser  war  auf  dem  Titelblatt  und  untor  der  Zueignungsepistcl 
an  Orossmann  der  Freiherr  von  Knigge  genannt,  der  ebenfalls  zn 
Zimmermanna  entschiedensten  Wideruachern  gehörte.  Hier  und  da, 
wo  man  Kotzebue  von  lange  her  persrmlich  kannte,  wie  in  Wclmw 
und  der  Umgegend,  regte  sich  bald  der  Verdacht,  dass  er,  wo  nicht 
selbst  der  Verfasser  sei,  doch  die  Hand  im  Spiel  gehabt  habe" 
Eine  gerichtliche  Untersuchung  Über  den  Urheber  des  Pasquills,  und 
was  sich  daran  knüpfte,  führte  endlich  dahin,  dass  Kotzebue,  un 
achtet  aller  KniÖe  und  unehrenhaften  Mittel,  deren  er  sich,  um  v 
borgen  zubleiben,  bediente,  gegen  Ausgang  des  Jahres  1791  in  den 
Zeitungen  erklären  musste,  dass  er  der  Verfasser  sei,  dass  ab 
alles  Ehrenrührige  (d.  h.  die  Anecdoten,  die  er  benutzt  hatte)  vi 
einem  Freunde  herrühre'*.  Ungefähr  zwei  Jahre  später  erschien 
gedruckter  Bogen  „An  das  Publicum  von  Aug.  von  Kotzebue",  w<h 
rin  dasselbe  um  Vergebung  der ,, Unbesonnenheit"  (!)  gebeten  wurde, 
deren  er  sieh  durch  seinen  ,,Bnhrdt  mit  der  eisernen  Stirn*'  schuldig 
gemacht  habe;  unmittelbar  vorher  halte  er  aber  noch  im  ersten  Thoü^ 
,,der  Jüngsten  Kinder  seiner  Laune"  neue  Ausfälle  auf  die  Man 
gemacht,  auf  die  er  in  jenem  Pasquill  seineu  Schmutz  geworfi 
hatte**.  Gleich  nachdem  dasselbe  erschienen  und  Kotzebue's  N 
damit  in  Verbindung  gebracht  war,  änderte  sich  in  den  kritisch 
Zeitschriften  der  Ton  über  den  innern  Charakter  und  ilen  ae 
tischen  Werth  seiner  dichterischen,  und  namentlich  seiner  dr 
tischen  Arbeiten.  Das  beste  Zeugniss  dafür  legt  die  Jenaer  Litera- 
tur Zeitung  ab.  Bis  zum  Jahre  1791  lobt  sie  entweder  alles,  wu 
sie  von  Kotzebue's  Sachen  anzeigt,  oder  macht,   im  achtungsroUea 


lind  J 
den  ' 
ei^H 


17)  Vgl.  Bd.  ni.  177  f.         18)  Vgl.  Jenaer Litemttir-ZcitiiDg von  179t.  4,%1%\ 
tOt  V)i;t.  hiertlhrr  besonilors  die  wfihrsoheinlicb  vun  Nicüüi  horrttlir 

Ärige  eiuer  UriKPn  Keihe  von  Schriften ,  welclic  sich  aiif  die  durch  Zh; 

SchriftcD  «her  FiioJrlth  den  Grossen  hervorgerufenen  ITanJtl  belogen,  in  üu 

pcmrinnn   d    Bibliothek  112,  1,   19«  ff.  von  No.    lü  an.  20»  Vgl.  die  a( 

allgemeine  d.  Hibliolhek  9,  2,.  339  ff. 


Eatvickolungsgang  der  Literatur.    1773—1832.    Drama.    Kotzebac.      219 

on,  nur  einzelne  Ausstellungeu  daran".  Solmll  sie  aber  seiner  §  3t  I 
•ahrscheinliehen  Betheiligung  an  dem  Pasquill  gedacht  hat"  spricht 
je  ihm  zwar  noch  immer  ein  nicht  unbedeutendes  Talent  zur  BUh- 
lendichtung  zu,  richtet  aber  dabei  in  einer  Reihe  von  ReceuRionen 
»rtwährend  Angriffe  gegen  den  ganzen  Charakter  seiner  Schrift- 
stellerei,  die  mitunter  nicht  weniger  stark  und  nachdrücklich  sind 
m}s  die,  womit  einige  Jahre  später  die  Romantiker  anfiengen  seinem 
linfluss  entgegenzuarbeiten".  Besonders  lesenswerth  ist  unter  die- 
sen Recensionen  die  dritte  von  Huber,  welche  „die  edle  Lltge",  eine 
I Fortsetzung  von  „Menschenha^B  und  Reue''  zum  Gr^genstand  hat". 
hEs  wäre  schlimm'',  sagt  Huber,  „wenn  wir  nicht  auf  Zeiten  zu 
boffen  hätten,  wo  man  es  unbegreiflich  finden  wird,  dass  ,, Menschen- 
bass  und  Reue"  auf  unsern  Bühnen  Epoche  gemacht,  und  dass  es 
binem  solchen  Product  beschieden  war,  worauf  unsere  besten  Kopfe 
«eil  langer  Zeit  Vei-zioht  gethan  haben:  Enthusiasmus  bei  unserra  . 
Publicum  hervorzubringen  ...  An  den  Werken  des  Hrn.  v.  K.  hat  die 
lunat  Gelegenheit  zu  prüfen,  was  es  ist,  das  in  denselben  so  viele 
sCaüene  Mädchen  und  Weiber,  unschuldige  Verführer  und  Verführte, 
jn  die  Convenienzen  zu  Felde  ziehende  Helden  etc.  zur  süsaesteu 
Irgetzlichkcit  unsers  grossen  Haufens  zusammenbringt.  Der  dünne 
Firniias  moralischer  Sentenzen  und  nothdürftiger  Gemeinsprüche  von 
Empfindung  und  Tugend  kann  diese  Richtcrin  am  wenigsten  be- 
techen;  der  Grund  ist  weichliche  Verwöhnung,  schlecht  verhüllte 
tinnlichkeit  und  jene  aller  Kraft  und  aller  Tugend  entgegengesetzte, 
in  der  Menschheit  so  allgemeine  Anlage  des  Egoismus  und  der 
»chlaffcn  Nachsicht  gegen  sieh  selbst,  die  den  schwachen  Damm  der 
[Convenienzen '  und  der  positiven  Moral  einreisst,  ohne  ihn  durch 
Hgenc  Stärke  ersetzen  zu  können.  Dieser  Kreis  ist  der  wahren 
jinst  so  fremd  als  der  wahrcTi  Sittlichkeit,  und  dieser  Kreis  ist  es, 
welchem  unsere  Aftermusen  Geschmack  und  Herz  zugleich  ver- 
lerben,  oder  die  schon  vorhandene  Verderbniss  durch  einen  lügen- 
liaften  Anstrich  von  Gefühl  und  Originalität  bestärken.     Die  Tugend 


2b  Vj{l.  ITi^S.    I,  2*>l  f.,  wo  „die  Lrfdrn  der  o  rtfin  bergischen  Familie"  als 
ein  8^r  muralischf^B,  vod  einem  sehr  tugeuilb alten  und  rechtscbiüTeDeii  Vert.  her- 
ihrcodes  Werk  bezeichnet  werden;   2,  Itl  ff.  die  Anzeige  des  erste«  ThciU  der 
leiiiou  g€sammclteQ  Schriften*',  welche  dieselben  als  eine  sehr  iingenehnie  und 
Lte  Lcctürc  enipfiehlt   und  dem  Verf.  eine  ,fdurchaus  edle  Kmptindung** 
»mt;    17S9.    1,  IH3  f.;  2,  617  f.;  THfi;  3.  6G  ff.;    171»).    M,  62  f.,  wo  über 
iXetucheuhaas  und  Reue"  auch  noch  mehr  Lobendes  als  Tadelndes  gesagt  v\id. 
22)  17'Jl,  -1,  579  ff.  23»  Vgl.  1702.  I»  6ö5  f.,  eine  Recension  von  L.  F. 

[aber;  2.  3i>'.H.;  :t,  .|97fr.;  179:j.  2,  HU  fl".,  zwei  Recensionen  vonHuher;  2,  173 f.; 
tAÄi  1796.  l,  10.J  ff.;  ij,  315  ff.;  17%.  I,  217;  :t,  »521»  f.;  ■!,  \^o  ff.;  die  nftchste 
;<!naion,  1796.  4.  345  ff  ist  schon  von  A.  W.  Schlegel.         24)  1793.  2,  102  ff. 


■■« 


220     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  JalirhuDderts  bia  zu  Goethe'»  ToU. 

§311  ehrwürdig  und  tbeuer  zu  machen  in  ihrem  Falle,  das  ist  die  Kunst 
ihrem  Zwecke,  der  Schönheit  selbst,  schuldig.    Die  Ehebrecherin  in 
der  Düsseldorfer  Gallerie  erregt  die  reinsten  und  ernstesten  Geftlble 
in  jedem  Herzen;  die  Eulalia  des  Hm.  v.  K.  (in  Menschenhass  und 
Reue)  schmeichelt  mit  ihrer  platten  Reue  der  gemeinsten  Schwäche 
und  Sinnlichkeit .  . .  Dass  sich  unsere  Sitte nverderbcr  hinter  weiner- 
lich possenhaften  Schauspielen  und  andern  Zwitterarten   der  Kunst 
verbergen,   macht   ihren  Einfluss   gefährlicher  als   den    öffentlichen 
Muthwillen  verrufener  französischer  Schriftsteller;  und  wir  fürchten» 
dass  in  Deutschland,   wo  die  Sünde  mit  moralischem  Gewäsch  und 
die  Libertinage  mit  Empfindelei  bewässert  wird,  wahre  Einfachheit 
und  Reinheit  der  Sitten  weniger  beisammen  gehalten   wird,   als   io^H 
jenem  Lande,   wo  die  Sittenlosigkeit  gleichen  Schritt  mit   der  Ver»^^ 
feinerung  gehalten  hat,  und  wo  gerade  deswegen  die  entschiedensten 
Contraste  neben   einander  bestehen,   ohne  sich  je  zu  vermischen." 
Auch  in  der  neuen  Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften  erschien 
bereits   1791*'  ein  Artikel,    in   welchem   der  mit  der  dramatischen 
Kunst  getriebene  Unfug  in  Kotzebue's  Stücken  auf  verständige  Weis 
gerügt  und  die  nicht  allein  unkUnsilerische,  sondern  auch  unsittlich 
Natur  derselben  deutlich  genug  ans  Licht  gestellt  wurde;   und  ro: 
1792  an  Hess  es  eben  so  wenig  die  allgemeine  deutsche  ßibliotbek' 
an  sich  fohlen,  gegen  Kotzcbue^s  dramatische  und  erzählende  Werkei. 
80  wie  gegen  seine  ganze  schriftstellerische  Richtung  mit  ins  Fei 
zu  rücken".     Allein    er,   der   nie   einen   andern  Massstab  für  de 
sittlichen    und   aesthctischen  Gehalt  seiner  Stücke    kannte   hIs    d 
Beifallklatschen  der  Menge  und  die  ThränenfUlIe,  die  er  ihr  entlock 
hatte  %   rief  denjenigen,   die  dem  Publicum   die  Augen   Über  di 


25)  44,  244  ff.  26t  Vgl.  die  von  Schatz,  t.  Knigge,  Escbenborg,  Luigtr, 

Madso  etc.  herrührenden  Anzeigen  107,  1,  IGI  und  I9u;  UO,  t,  HO;  111,  1,  \i 
lOti  nnd  im  E;  neac  allgpindne  d.  Bibliothek  1,  31K)  ff.;  2,  1.  61  ff.;  4.  1,  Ulj 
T,  2,  3l'i  ff,;  10,  1.  4SI  f.;  3ü.  2.  5U  ff.;  'MK  I,  44  f.  27i  Diess  ergibt  si< 

auB  Kotzobuc'B  eigenen  Aeuseerungen,  wie  sie  sich  ah  rerschiedenen  Orten  sein« 
Schriften  aus  den  neunziger  Jahren  tindcn,  z. 'ß.  in  den  Vorreden  zu  „den 
der  Liebe"  (ITÖU,  zu  „Adelheid  Ton  Wulfingen**  (2.  Auflage  von  1791»  und 
„der  edlen  Lüge"  (1792),  wo  er  über  die  Anfechtnngen,  die  seine  Stücke  erfahren 
hatten,  bemerkt:  „Ich  habe  zu  allen  unbilligen  Trtheilen  geschwiegen  and  irerd» 
auch  femer  schweigen,  so  lange  meine  Stücke  trotz  nlles  Plaudems.  dietjcnig« 
Wirkung  auf  das  Publicum  machen,  die  ich  davon  erwarte;  denn  vox  popaU,  tox 
Dd.  Than  sie  einst  diese  Wirkung  nicht  mehr,  nun  dann  werde  ich  a&cli 
schweigen,  denn  dann  ist  es  Zeit,  die  Feder  ganz  niederzulegen.  Bis  dahin  — 
werde  ich  üio  wenige  Geisteskraft,  die  ich  besitze,  mir  von  keinem  Dictator  exa- 
kerkern  lassen;  ich  werde  schreiben,  was  Geist  und  Vernunft,  und  nicht  was  Ver- 
hältnisse mir  gebieten;  ich  werde  ohne  Unterschied  jeden  Gegenstand  meiopr  Be- 
haudlnng  werth  gkuben,   welchen  das  Fublicam  seines  Interessea  wenh  findet**. 


Entwickelungsgang  der  Literatur.    t773— 1932.    Drama.    Kotzebue.     221 


^toegenstilade  seiner  Bewunderung  und  seines  Entzückens  zu  öffnen  §  31 
^■achten,  mehr  als  einmal  laut  zu:  ,,es  herrsche  in  seinen  Schau- 
spieleu gewiss  die  reinste  Moral,  die  jemals  von  der  Kanzel  und 
von  der  Bühne  herab  gepredi^  worden  sei**.  Dicss  sa^  er  in  seinem 
literarischen  Lebenslauf  namentlich  von  f,der  edlen  Lüge'*,  „obgleich 
in  diesem  StUcke  abermals  ein  gefallenes  Mädchen  vorkomme"". 
Aber  schon  einige  Jahre  früher  hatte  er  in  der  Vorrede  zu  demselben 

Kchauspiel  gesehrieben:  ,, Mau  würdigt  alles  herab,  was  ich  schreibe, 
iskü  lobt  Andere  auf  meine  Unkosten,  man  dichtet  mir  Sittenlosig- 
eit  und  Unmoralität  an,  obgleich  in  dem  dicksten  Bande  Predigten 
nicht   mehr  Moral    enthalten    ist   als   in   meinen  Schauspielen,    die 
^»Aberdiess   nicht   so   langweilig   sind    als  jene."     Und  um   die  vor- 
^b'efüicheu  Wirkungen  seiner  Moral  zu  bekräftigen,  setzt  er  triumphie- 
rend   hinzu:    „Menschenhass   und  Reue,   weit  entfernt  Schaden    zu 
stiften  I   bat  wirklich   eine  verirrte  Frau  zu  ihrem  Manne  zurückge- 
ftthrt"  elc    Er  benutzte  nicht  nur  selbst  jede  Gelegenheit,  sich  und 
•eine  Stücke  gegen  den  Vorwurf  der  Unsittlichkcit  zu  rechtfertigen; 
^^B  erschien  auch»  bald   nachdem  der  erste  Sturm  gegen  ihn  losge- 
^Brocben   war,    in    dem   „Journal   von   und   für  Deutschland"   vom 
^bihre  1791"  ein  ausführlicher  Aufsatz  „über  die  Moralität  vou  den 
^Bchauspielen   des  Hrn.  v.   Kotzebue'*,    der   den    durchaus  sittlichen 
Gehalt  aller  bis  dahin  bekannt  gewordenen  StUcke  beweisen  sollte, 
ypVier  wirklich  nur  bewies,  dass  sein  Verfasser  entweder  nicht  sehen 
^HrMlte   oder    nicht   sehen    konnte,    worin  eigentlich   das  Unsitlliclio 
^pdieaer  Stücke  liegt".    Er  schloss  selbst  das  Ohr  gegen  alles,  was 
^dic  Kritik  mit  dem  vollsten  Rechte  an  seinem  Treiben  und  Schaffen 
rügen  mochte,   weil  er  zu  der  Ueberzeugung  gekommen  war,  dass 
es  Andere  eben  so  gemacht  hätten  wie  er,  ohne  sich  gleiche  Vor- 
würfe zuzuziehen",  und  dass  „Shakspeare  nie  der  grosse  Mann  ge- 
worden sein  würde",  wenn  er  je  auf  einen  Tadel  gehört  und  je  auf 
etwa»  anders  gesehen  hätte  „als  auf  die  gewaltige  Wirkung,  die 


gl.  auch  die  Vorrede  zum  l.  Bd.  der  „neuen  Schauspiele**  und  die  vorzüglich 
gfigen   L.   F.  Uubers  Kocensioncn  in  der  Jenaer  Literatar- Zeitimg   gerichteten 

Fragmente  QberReceusentca-Unfug.   EineHeüAgc  za  der  Jenaer  Literatur-Zeitung 
TOD  A-  T.  Kütxebue.    Leipzig  I7ü7.   S.  28)  Vgl.  Jördena  :»,  77  f. 

29)  8t.  M.  S.  y'O  ff.  3»h  Ob  der  zweite  Artikel  in  demselben  Journal,  Jahr- 
gUKg  1792.  SL  n,  den  Jördeus  3,  104  anfülut.  in  gleichem  oder  in  entgegen- 
fCMtstexD  äinae  abgcEasst  ist,  habe  leb  nicht  ermitteln  köonen-  3  b  Aus  der 

Vorrede  «ur  ..edlen  Luge**:  „Ich  lasse  zuweilen  schwangere  oder  verführte  M&d- 
ciien  in  meinen  Schauspielen  auftreten;  darüber  achreit  denn  die  ganze  Welt; 
warum f*  weiss  Ich  nicht;  denn  über  die  scliwangere  Lotte  inGcmmingcns  „Haufi- 
«ftt6r^«  ftber  die  schwangere  Kugenic  von  Beaumarchais  et  caetera,  et  caetera. 
Mhrie  niemand.  Ich  musa  also  glauben,  nicht  der  Gegenstand,  sondern  das  Bis- 
chen Ruhm  des  Verfassers  sei  den  Herren  unleidlich". 


m 


222     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jolu-huDdcrte  bis  zn  Goeth«*B  Tod. 


§311  sein  Genie  auf  die  Zuschauer  hervorbrachte""-  —  In  demselben  Jah 
in  welchem  Kotzcbue  durch  sein  Schauspiel  „MenschenhaA^ 
Reue"  Ifflanden  die  Herrschaft  über  die  deutäche  Bühne  streitig 
machen  unfieug,  begann  ein  dritter  Dichter  seine  Laufbahn,  d 
nicht  minder  schnell  und  nicht  minder  hoch  als  jene  beiden  Dram 
tiker  in  der  Gunst  des  Publicums  stieg:  August  H.  J.  Lafontaine. 
Derselbe  war  175S  zu  Braunschweig  geboren,  wo  sein  Vater  ab 
Mahlcr  lebte.  Er  hatte  von  frühester  Kindheit  an  Gelegenheit,  sich 
mit  der  franzöaiscbon  und  engliecben  Sprache  und  Literatur  vertraut^B 
zu  machen.  Eine  in  dem  Knaben  zeitig  hervortretende  Erzuhlung^^H 
gabo  entwickelte  sich  besonders  im  Kreise  seiner  Geschwister,  denen 
er  gern  und  häufig  zuerst,  ausser  allerlei  Märchen,  Geschichten  ans 
Ovids  Metamorphosen,  dem  Robinson  Crusoi^,  den  alten  Romanen  von 
ßucbhoiz  und  Herzog  Anton  Ulrich  und  später  aus  den  ersi 
Romanen  von  Hermes  oder  aus  Yoriks  empfindsamer  Reise  mit  Ei 
Weiterungen  und  Fortbildungen  seiner  üigcneu  Phantasie  vortrug, 
Auf  einer  der  gelehrten  Schulen  seiner  Vaterstadt  legte  er  eine« 
guten  Grund  in  den  alten  Sprachen,  doch  zogen  ihn  diese  sei 
weniger  au  als  das  Sachliche,  das  er  iu  den  alten  ScbrifttiteUe 
fand.  Um  zu  dem  Studium  der  Theologie  gehörig  vorbereitet 
werden,  kam  er  in  seinem  sechzehnten  Jahre  auf  die  damals  in  b 
sonders  gutem  Ruf  stehende  braunsehweigisi'be  Schule  zu  SchuningeBi, 
von  wo  er  die  Helmstädtcr  Universität  bezog.  Da  er  sich  zi 
Theologie  mehr  auf  den  Wunsch  seiner  Eltern  alä  aus  eigen« 
Neigung  entschlossen  hatte,  betrieb  er  ihr  Studium  nicht  mit  al 
grossem  Eifer.  Am  meisten  zogen  ihn  noch  die  geschichtlichen 
Tbeiie  dieser  Wissenschaft  an,  wie  er  sieh  denn  überhaupt  fttr  all 
Geschichtliche  sehr  lebhaft  interessierte.  HauptgegenstAnde  8etn< 
Privatstudien  waren  Rcisebeschreibungen  und  die  Werke  Shakspoare'i 
Vom  Jahre  17so  bis  ITSö  war  er  in  einer  Familie  anf  dem  La 
Hauslehrer,  hielt  sich  dann  eine  Zeit  lang  in  Braunschweig  auf.  w 
er  u.  A.  am  Carolinum  untcn-ichtete,  Eschenburg  bei  seiner  A 
der  Beispielsammlung  zu  der  Theorie  der  schrmen  Wissenich 
half  und  auch  seineu  ersten,  längst  verschollenen  Versuch  im  Romas 
schrieb,  und  wurde  im  Jahre  17S6  aufs  neue  Hauslehrer  bei  dem 
Obersten    von  Thadden    in   Halle,    der   ihm    drei  Jahre    später   die 


32)  Eben  daher.  Uamiltelbar  vorAuf  geben  die  Worte:  „Dio  vielen 
«prcclicnden  Recenßioncn  verwirren  oinem  armen  Dichter  ganz  den  Kopf 
Eine  lobt,  was  der  Andere  tadelt;  man  lUugt  an  sich  selbst  zu  inibHlrauen.  rata 
wird  augetUch,  schwankend;  das  Genie  verliert  seine  Schnellkraft  und  hört  anl, 
frei  und  unbefangen  zu  wirken,  bessern  tbuu  die  Kntiken  blutwenig,  verdert^en 
sehr  viel".  —  Auf  Hotzebue's  Verhalten  gegen  die  Roraaniiker  und  gegen 
und  Schiller  um  das  J.  isoü  komme  ich  weiter  unten  zu  sprechen. 


KatwickelongsgaDg  der  Literator.     1773— 1S32.    Lafontake. 


223 


'eldpredi^erstelle  bei  seinem  Rcgiraente  verscbaffte.    Schon   vorher  §  311 
hatte  er  maucherlei  iu  Ilalle  geschrieben,    indem   er,   durch  Sbak- 
speare  und  vorzüglich   durch   dessen  „Julius  Cäsar"  dazu   angeregt, 
^Terschiedenc  Begebenheiten  aus  der  griechischen  und  römischen  Ge- 

ihichte  dramatisierte,  danu  aber  auch  mehrere  Schauspiele  von 
modernem  Inhalt  entwarf.  So  entstanden  schon  damals  in  der 
Üauptsache  die  „Scenen"",  das  Trauerspiel  „Antonio,  oder  das 
Klostergelübde*'",  „die  Tochter  der  Natur,  ein  Familiengemühlde**'*, 
nnd  das  Lustspiel  „die  Prüfung  der  Treue,  oder  die  Irrungen'*  *. 
Im  Jahre  179!  trat  er  zuerst  iu  der  ei-zählenden  Gattung  mit  eigenen 
Erfindungen  und  mit  freien  Uebersetzungen  nach  dem  Französischen 
auf*'.  Da  sie  gleich  eine  weit  glinstigerc  Aufnahme  bei  dem  Publi- 
cum fanden  als  seine  „Sceuen''  und  sein  Trauerspiel  j  so  bestimmte 
ilin  diess,  fernere  Veraucbe  im  Drama  aufzugeben  und  «ich  ganz  der 
erz&hlenden  Gattung,  vornehmlich  dem  bürgerlichen  oder  Familien- 
Boman  zuzuweuden.  Er  wurde  nun  einer  unserer  fruchtbarsten  und 
gelescnsten  Schriftsteller  im  Fache  des  Romaus  und  der  kleinen  pro- 

liscbcn  Erzilhlung.   Sein  erster  Roman,  „der  Naturmensch*',  erschien 

sreits  im  Jahre  1792;  er  eröflnete  mit  „dem  Öunderling"  (1793  f.) 

[ie  Reihe  der  „Gemähide  des  menschlichen  Herzens  in  Erzählungen**, 

^eren  erste  Thoile  er  unter  dem  Namen  Miltenberg  herausgab.    In 

demselben  Jahre  folgte  er  seinem  Regimcnto,  als  dasselbe  gegen  die 

'ranzosen  ins  Feld  rückte;  erst  1796  kehrte  er  nach  Halle  zurück, 
ahrend  des  Feldzuges    war   indess  seine  Feder   nicht  mUssig  ge- 
wesen: er  hatte  mehrere  Romane  theils  entworfen,  theils  ausgefllhrt, 
wcJchen  ihm  die  Revolutionseroignisso  selbst,  so  wie  seine  eigenen 

Irlebni^se  und  Beobachtungen  in  deutschen  und  französischen  Landen 
mtweder  die  Stoße  oder  die  Anregung  gaben:  „Rudolf  von  Werden- 
wrg",   17'J3;  „Quinctius  Hevmerau  von  Fläming'*,  vor  dem  sich  der 

erfasser  zuerst  Gustav  Freier  nannte,  3795  f.;  „Klara  du  Plessia 
d  Klairant",  1795;  die  „Familie  von  Halden"  und  „Saint  Julien" 
den  „Familiengeschichten",  1797  ff.  Er  war  nun  schnn  ein  Lieb- 
gsschriftsteller  der  deutschen   Nation  geworden,    und    die   neuen 

omane  und  Erzählungen  (Fortsetzung  der  „Gemähide  des  mensch- 
ichen  Herzens"  und  der  „Familiengeschrchteu'',  ,,Fami!ienj)aprere'*, 

Gemähldc^ammlung  zur  Veredlung  des  Familienlebens"  etc.),  womit 


33)  „Die  Befreiung  Bonw"  und  „Kleomencs",  I>cipzig  1789.   2  Thle.   8.;  Ge- 
voD  Cbaraktcren  durch  die  Begebenheiten    unter  einander  verbunden  und 
isch  dargestellt,  als  Vorbereitungen  zu  künftigen  Arbeiten  in  der  tragischen 
fchtkunst.  a4)  Halle  HHi».   8  35)  Görlitz  1793.    8.  36)  Görlitz 

KiCi.  K  37)  „Die  tiewalt  der  Liebe,  in  Erzählungen**.    Berlin  1791—91. 

I  Tille,  d. 


I^MPH« 


224     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVni  Jahrhunderts  bis  zu.  Oootho*B  Tod? 


§  3n  er  das  Publicum  in  den  nÄcbstfolgendeu  Jahren  beschenkte,  bobco 
ihn  noch  mehr  in  dessen  Gunst,  obgleich  sie  im  Ganzen  den  frOhern 
an  Wertb  nachstanden.  Im  Jahre  ISOO  legte  er  sein  Feldprediger- 
amt  nieder  und  kaufte  ein  Grundstück  dicht  bei  Halle,  auf  welchem 
er  bis  kura  vor  seinem  Tode  lebte  und  neben  dem  Unterrieht,  den 
er  anfänglich  jungen  Verwandten  ertheilte;  und  den  wissenschaft- 
lichen Studien,  die  er  später  betrieb,  seine  alte  schriftstellerische 
Thätigkeit  fortsetzte.  Durch  die  Huld  des  Königs  erhielt  er  cÄn 
Kanonikat  am  Domstift  zu  Magdeburg.  1911  machte  er  mit  einem 
seiner  Freunde,  dorn  Kanzler  Niemeycr,  und  zwei  jungen  Aenrten, 
eine  Reise  nach  Venedig  und  Wien,  In  seinen  spätem  Lebeusjahrea 
beschäftigte  er  sich  vorzugsweise  mit  classischen  Studien,  die  im 
nächsten  Bezüge  zu  Aeschjlus  standen.  »Sein  letzter  Roman,  „die 
Stiefgeschwister",  erschien  1822.  Er  starb  zu  Halle  1831".  Wi» 
Iffiaud  im  Familien  drama,  so  gelangte  Lafontaine  im  Familienroman 
zum  ausgebreitotston  Rufe.  In  den  Gegenstilndcn,  die  er  mit  be- 
sonderer Vorliebe  behandelte,  schloss  er  sich  demnach  ganz  nahe  an 
jenen  an;  in  Betreff  des  Geistes  dagegen,  der  in  seinen  Eründungeu 
vorherrschte,  und  ihrer  sittlichen  Richtung  hielt  er  sich  mehr 
einer  gewissen  Mitte  zwischen  Iffiand  und  Kotzebue.  Doch  ist  d 
Maügel  an  einem  gediegenen  und  reinen  sittlichen  Gehalt  in  deiQ 
Dargestellten  bei  ihm  weit  mehr  auf  eine  ihm  eigene  weichlich© 
Goftihlsmoral  und  eine  gutmUthige  Nachsicht  gegen  die  Schwächca 
des  menschlichen  Herzens,  so  wie  auf  eine  den  sogenannten  aufklä« 
renden  Zeittendonzen  huldigende  Denkart  zurückzuführen,  als  »uf 
eine  eigentliche  Gruudsatzlosigkeit  und  Missachtung  alles  Höheni 
und  Edlen  in  der  Natur  und  im  Streben  des  Menschen,  wie  beide 
an  Kotzebue's  schriftstellerischem  Charakter  hervortreten.  Ein  leichte«, 
gefälliges  Erzählungstalent  ist  Lafontaine  nicht  abzusprechen,  an  die 
Beachtung  und  ernstliche  Krstrebung  eigentlicher  Kunstzwecke  aber 
auofa  bei  ihm  nicht  zu  denken.  Wenn  in  der  Wahl  der  Gegenst&nde 
zu  seinen  frühem  Werken  noch  ein  gewisser  Tact  für  etwas  Beiseiee 
und  Gehaltvolleres  wahrgenommen  werden  kann,  als  sich   in   dem 


38)  Vgl  „Äagusl  Lafontaine'«  Leben   und  'Wirken.     Von  J.   G.   Gntbcr*. 
Halle  1S33.    8.,  ein  Buch,  in  welchem  Gruber  die  literarische  Wirksamkeit  Lafoi 
taine'fi  weit  melir  vom  Standpunkte  eines  vertrauten  Freundes   als   eines 
fangenen  and  eines  einsichtäyolleu  Ucurtheilers  gesctiüdert  hat.    Aas  einer 
Lebembeschrcihung  angehängten  Beilage   kann  man  auch  ersehen,   in  irie 
firemde  Sprachen  viele  von  Lafontaine*s  Schriften  übersetzt  worden  sind.    Sein« 
Romane,   Erzählungen   und   driiraatischcn  Sachen  sind  verzeichnet   hc\   pjscho 
DenkmAler  deutscher  Sprache  <>.  bis  ff.  und  bei  W.  Eugehnann,   Bibliothek 
ich6neD  Wlftsenacbaflen  1«  211  ff. 


EntwickeliuigsgaDg  der  Literatur.    1773— lä32.    Lafontaine. 


225 


jliclien  Lclien  darbietet,  so  rerliert  Hioli  aucb  der  mit  der  Zeit  §  311 

[imer  sicLtlirbor  unter  der  Vielgescbüftigkeit  seiner  zwar  stÄts  neue 

rescbicbten   ersinnenden^   aber   meistentbeils  nur  früher  erfundene 

!baraktere    und    Situaticfueu    wiederholenden    Phantasie.    —    Auch 

'^en  ihn  re^to  sich  bald  die  Kritik,  voraüglieh  in  der  romantiscbea 

;bale;  ira  Atigemeinen  lauten   zwar    die  Anzeigen  lafontainescber 

»mane  und  Ei-zähluugen  bis  ins  Jahr  1797  lobend,  bin  und  wieder 

wt    sieb    aber    aueli    schon    ein  Tadel    und    mitunter    in   ziemlich 

trkon   Ausdrücken   vernehmen.     In   der  Jenaer  Literatur -Zeitung 

ibe  ich  von  der  letztem  Art  nichts  gefunden:   sie   preist  vielmehr 

an,  was  Lafontaine  von  1789  —  95  frescbrieben  hat*".     Anders 

mteu   einzelne   Urlheile  in   der   allgemeinen  deutschen  Bibliothek. 

Lucb  sie  spendet   diesem  Schriftsteller  mitunter  ihr  Lob*^;   dagegen 

'merkt  Pockelt*  gleich   über  Lafoniaine's  ersten  Komau,   ,,der  Na- 

irmensch"":    diess   Kind    der   Natur   sei    eine    blosse   Geburt    der 

lagiuatiou;  das  Buch  mOge  für  die  Classe  emptindelnder  Leser  und 

Irinnen  seinen  Werth  behalten,  vorausgesetzt,  dass  selbst  diese 

;i  den  ewigen  Liebeshändeln  der  darin  aufgestellten  jungen  Leute, 

ji  den  vielen  bis  zum  Ekel  vorkommenden  Küssen,  Seufzern    und 

Imarinungeu    und    Oberhaupt   bei  dem  Gcmilbldc    eines    sonst   sehr 

leldenkenden  Jünglings,  der   aber  doch  oft  als  ein  Kind  oder  als 

in    Hulbverrückter    handle,    nicht    endlich    Langeweile    empfinden. 


3\J)  Vgl  1791.   4,  494  f.;    1794.   I.  439  (Anzeige  des  3.  Theüs  ..der  Gewalt 

etc.    „Die  Erzählungen  dieses  Bkndchena  sichern  L   immer  mehr  eine 

kleinen  Auswaiil  derjenigen  deutschen  Schriftsteller,  die  Eniplindung 

niM  urifinalitat  mit  Bildung'  uudClussicitUt.  Innigkeit  und  Wurme  mit  Geschmack 

\erbtndt'u.  —  An  Wahrheit,  Natur  nud  rührender  Einfacliheit  ist  diese  Sammlung 

'ü  „Skizzen"  [von  Mcidsncrl   weit  vorzuziehea  und   scheint   diese  Eigenschaften 

lehr  aus  der  ersten  Quelle  zu  haben  als  die  „Bflgatellen"  von  Ant.  Wall");  179S. 

216  f  ;  1*90.  1,  5nl ;  1,  3!M)  ff.  (Anzeiife  der  „nioraliscbeu  Erzählungen".    Ueber 

Werth  derselben  habe  die  Stimme  des  iMihlicnms   schon   bo  laut  entscliiedtm, 

der  Anpreisung  des  Uec.  nicht  mehr  bedürfe.     Möchte  doch  diese  btimme 

so  gerecht   und    nnhestüchen  sein!     Die  Anzahl   unserer  Schriftsteller   sei 

>hr  klein,  die,  wie  Lafontaine,  durch  die  Erzählung  einer  einfachen  Geschichte, 

le  leichte  Kntwickelung  der  innersten   Triebfedera  des  Herzeus,  durch  die  I>ar- 

teUung  wahrer  Em])tindungcn   und  vorzüglich  des  in  Bch6ncn  Seelen  ^o  interes- 

iiczi  Kampfes  der  Leidenschaft  mit  der  PHicht  zu  rühren  wissen.    Diese  Kunst 

selten;   denn   nur  wahres  Talent  wisse   mit   wenigen  Mitteln    viel  zu   wirlten. 

zeige  vorztJglicb  in  der  Darstellung  weiblicher  rharnktere  eine,  grosse  Feinheit 

Zartheit  der  Kmptindung.    Hohe  Reinheit    des  Gefühls    und  zarte  Liebe  sei 

flauptzo^  in  dem  Charakter  seiner  üeldinucn ,   die  doch  durch  die  mauuig- 

It^e  Mischung  beigesellter  Kigeuschaften  hiuliiuglioh  von  einander  unterschieden 

und  individualisiert  seien  etc.);  t~9Ö.  3.  553  f.  40)  Vgl.  1)2,  2,  413  fl'.;  neue 

^JÜgemmae  d.    Ribliothek  (4,  2,  501  ff.  and  Anhang  zum   1— 2fi.  Bde.  2,  IUI  ff. 

41)  Neue  aUgemeine  d.  Bibliothek  2,  2,  542  ff. 

Kot»«nUlH,  flrnndrU*.   6.  AuQ.    IV.  t& 


226    VI.  Vom  zweiten  Viertel  de«  XVIIl  Jahrhunderts  bis  zu  Gocthe'i  Tod. 

311  Und  in   der  An7.ei;re  „des  Sonderlings"":   dieser  Wasserqaell  hal 
noch  nicht  aufgehört,  seinen  Sand  dem  Publicum  in  reichem  Mi 
zuzuschlemmen;   unstreitig   besitze    der   Verfasser   eine    angenehme 
Darstcllungsgabe,  aber  ^vie  vieler  Unwahrscheinlichkeiten  mache  er 
sich   schuldig;   und   dann  —  seine  verliebten  Kinder,    die  Schwän- 
gerungen! etc/*    Die  Kritik   störte   indess   el)en    so    wenig  ihn  ia 
seiner  schriftatellerischen  Verfahningsweise*',  wie  sie  den  Lesern, 
er  entzückte,   ihren  Geschmack  verduchtigte:  er  blieb  ebenfalls 
Paar  Jahrzehnte  hindurch   ein   Lieblingsschriftsteller  der   deutschi 
MJlnner-  und  Frauenwelt. 


§  312. 

Schriftsteller,  die  bei  dem  Meisten,  wo  nicht  bei  allem, 
im  Fache  der  schönen  Literatur  hervorbrachten,  es  zunilchst  Mer 
auch  ganz  allein  nur  auf  die  zcitkürzcndo  Unterhaltung  der  growien 
Menge  abgesehen  hatten,  um  deren  Beifall  sie  buhlten,  oder  die  gar 
ihr  Talent  bloss  zum  Mittel  eines  rein  handwerksmassigen  Erwerbes 
benutzten,  hatte  es  in  Deutschland  schon  lange  gegeben*.  Häufi^r 
aber  und  in  dichterer  Masse  stellten  sich  diese  erst  mit  dem  Beginn 
der  Achtziger  ein.  Die  Reihe  dieser  theils  in  eigen  erfundenen,  thcib 
in  bloss  bearbeiteten  oder  übersetzten  Romanen,  Erzählungen,  Novellen 
etc.  zu  ihrer  Zeit  gelesensten,  oder  die  Bühnen  mit  Schauspielen  am 
reichlichsten  versorgenden  Schriftsteller  hebt  hier  mit  A.  G.  Meissner 
an,  der,  nachdem  er  seit  dem  Jahre  1776  schon  eine  ganze  Antabl^ 
meist  nach  dem  Französischen  bearbeiteter  Opern  und  Lustspiele  \u 
drucken  lassen,  177S  den  Anfang  mit  seinen  ,,Skirzen"  machte" 
Auf  die  Skizzen,  welche  den  ausserordentlichsten  Beifall  fanden, 
liess  er  noch  viele  andere  belletristische  Schriften,  vornehmlich  Er- 
zAhlungBwerko  der  verschiedensten  Art  folgen,  darunter  als  »eine 
beiden  Hauptromane  den  „AIcibiades"'  und  die  ,, Bianca  Capello*'', 
Ihm  reibt  sich  zunächst  an  J.  F.  Jüuger\  Auch  J.  Gottw.  Müller 


42)  fi.  2,  5'.»tt  ff,  43i  Vgl.  u,  i  4St  f.  und  2(t.  i,  225  ff.  44)  Graber 
berichtet  S.29S»  LafoutAine  habe  yuu  allem,  was  Ober  und  gegen  ihn  geschricbcB 
worden,  selbst  luchts  gelesen  und  nur  an  dem  Klfer  vobimeincnder  Frennd«  oad 
wohl  auch  an  dem  Aerger  seiner  Frau  gemerkt,  wie  er  mit  seinen  Gc^en  ^ 
namentlich  den  Uomantikem  —  stehe. 

§  'M2.  ll  Vfll.  Bd.  n,  MH  und  dazu  $  20i,  Amn.  35;  §  112,  S$~47. 
2|  Zuerst  zehn  Sammlungen,  Leipzig  \"> — IT^S.  S.;  dann  in  der  dritten, 
lieh  umgearbeitoten  Ausgabe,  Leipzig  17^2  f.  noch  um  vier  Samsnlungi^n  \ti 
die  WM'  emchieueii.         3)  Leipzig  ITsi— ss.    4  Thle.   v.  4)  Zumt  tm  4tt 

Sltiueo,  dann  in  erweiterter  Umarbeitung.    Leipzig  17^5.   S.  5»  Vgl 

▲um.  77. 


Ktttwiftcdnngsg.  d.  Lit.    1773—1832.    Virischreiber  im  Roman  und  Drama.   227 


und  V.  Knigge  gesellten  siob  bald  mit  den  Romanen,    die  sie  nach  §  312 
ihren  ersten  und  bessern  Arbeiten'  abfassten,    der  Schar  der  riel- 
läfchreibenden  Unterhaltunjrgschriftsteller  an\    Diese  vier  dUrfeu  aber 
noch    immer   nicht   in   die  Classe  der   eigentlich  schlechten  Schrift- 
3teller  ihrer  Zeit  gesetzt  werden.     Eben   so  wenig   gehören   in  die- 
selbe schlechthin  zwei  andere  Vielschreiber,  die  in   den  Achtzigern 
die  lange  Reihe  ihrer  Romano   und  Erzählungen  eWiffneten,  J.  Chr. 
^^riedrich  Schulz  und  Frau  Christ.  Benedicte  Eng.  Naubert. 
^■chulz,   von  dessen  bessern  Romanen  au  anderer  Stelle  die  Rode 
^Bein  wird,  war  geboren   1762  zu  Magdeburg,   gieng  in  seinem  sieb- 
P^ehnten  Jahre  auf  die  Universität  Halle,  wo  er,  elternlos  und  ohne 
weitere  Unterstützung,  als  die  ihm  andere  Studenten  gewährten,  sich 
^Mine   Zeit    laug    hau])tsricldich    durch    seine    guten    Kenntnisse    und 
^Wertigkeiten  in  der  französischen  Sprache  als  Lehrer  und  Uebersetzer 
^Brthalf  und  einige  theologische  Vorlesungen   besuchte.    Seine  Lage 
wurde  indess  nach  geradeso  druckend,  dass  er  1780  Halle  verliess, 
«u  Dresden  in  eine  Schauspielertruppe  trat,  sich  von  derselben  aber 
tdcb   wieder   trennte    und    nun    sein   Fortkommen    durch   Schrift- 
lellerei  in  Uehertictzungen   und   eigenen  Erfindungen   suchte.     Sein 
rter  Roman  erschien  1781.    Er  gelangte  bald  zu  einem  gewissen 
[oi  und  Wohlstande,   machte  Reisen  durch  Deutschland   und  lebte 
dd  in  Wien  oder  Berlin,  bald  in  Weimar,     Hier  verweilte   er  am 
kngsten  und  erwarb  sich  viele  Freunde;    in    ein    besonders   nahes 
erhältniss    trat    er    zu   Rode.       Ausser    den    Beiträgen,    die    er 
im   deutscheu  Merkur   lieferte,    schrieb  und   bearbeitete  Schulz  in 
'eimar  Qi>ch  vielerlei.     17S9  gieug  er  nach  Paris,  wo  er  den  Stoff 
«einer  „Geschichte  der  grossen  Revolution  in  Frankreich*'  (1789) 
zu   seinem   Buch    „Ueber  Paris    und    die   Pariser'^    (1791)   aus 
ten  Anschauungen  und  Erfahrungen  sammelte.     1790  kehrte  er 
Berlin  zurück,  von  wo  er  an  das  akademische  Gymnasium  zu 
itaii  als  Professor  der  Geschichte  berufen  ward.     Noch  vor  seinem 
kbgange   dahin    erhielt   er  den  Titel    eines    herzogl.   weimarischen 
Um  seine  Hchwankendc  Gesundheit  herzustellen,  reiste  er 
K'h    Italien;    seine    Kränkliclikeit    nahm    zu,    als    er    nach 
anderthalbjähriger  Abwesenheit  wieder  nach  Kurland  gekommen  war, 
und  zerrüttete  seinen  Geist  so  sehr,  dass  er  zuletEt  in  vollen  Wahn- 
I     »inn  verfiel  und  darin  179S  starb.     Benedicte  Naubert,  Tochter 
feBee   Professor  Hebenstreit   zu   Leipzig,   geboren    1756,    erhielt   eine 
^völlig  gelehrte  Erziehung  und  gelangte  dadurch  zu  sehr  guten  Kennt- 
^Kssen  in  der  Geschichte  und  in  neuem  Sprachen.     Sic  heiratbete 
^BierBt  den  Kaufmann  und  Rittergutsbesitzer  Holdenrieder  in  Naum- 


6/  Vgl.  §  JOS,  lU.  14.   15. 


7)  Vgl  Gerrinns  5%  184  ff. 


15» 


^ 


mm 


22S    VI.  Vom  «weiten  Viertel  des  XVm  Jahrhunderts  bis  zxx  öocthe's  Tod. 


§312  Itur^  a.  d.  Saale  und  nach  dessen  Tode  den  Kaufmann  Naul 
ebeii  daselbst.  Später  zog  sie  mit  ihrem  Gatteu  nach  Leipzig, 
sie  18!  9  starb.  Bei  aller  ihrer,  in  eigenen  Arbeiten  mit  dem  Ja 
1785  nnhebenden  Srliriftstcllerei  vcmacblässigte  sie  ihre  hünslirk 
Pflichten  so  wenig  und  war  so  weit  davon  entfernt,  mit  dorn  Beifi 
den  ihre  Schriften  fanden,  gegen  Andere  zu  prunken,  dafts  sei 
ihre  Freunde  und  Angehr»rigen  erst  einige  Jahre  vor  ihrem  Tode 
fuhren,  dass  sie  die  Verfasseiin  so  vieler  Romane  und  der  noe 
Volksmärchen  der  Deutschen"  wäre.  Auch  ihrer  besten  Sachen  wt 
noch  anderwärts  gcdaclit  werden.  Von  den  Vielsciireiberu  Hfl  an 
Kotzebuo  und  Lafontaine  ist  so  eben  ausführlicher  die  Rede 
wesen.  Die  rechten  gewerbsmäseigcn  Fabrikarbeiter  in  unserer  ea 
lendcn  und  dramatiscben  UntcrIialtungHliteratnr,  die  seit  dem  Bude 
Siebziger  bis  gegen  die  Mitte  der  Neunziger  nach  und  nach  auft 
und  mit  ihren  bald  ganz  rohen  und  wlistcu,  bald  flachen,  faden 
leichtfertigen  Producten.  zum  Theil  bis  tief  in  das  neunzehnte  Ji 
liundcrt  herein^  den  literarischen  Markt  von  Messe  zu  Messe  neu 
versorgten,  waren,  um  hier  nur  die  einst  gelesensten  und  jetzt  n 
bekanntesten  zu  nennen,  die  folgenden:  J.  F.  E.  AI  brecht",  v 
dessen  Romanen  und  dramatischen  Sachen  die  ersten  in  das  Co 
der  Siebziger  und  den  Anfang  der  Achtziger  fallen,  und  der  in 
Abfassung  mancher  seiner  Schriften  von  seiner  Gattin,  Sophie  AI 
recht,  gob.  Baumer,  die  selbst  als  Dichterin  und  mit  mehr  Erf< 
als  Schauspielerin  auftrat,  unterstützt  worden  sein  soll*;  K.  Au 
Seidel'",  der  seine Lauflmhu  als  Dramatiker  und  Roroanschriflsteller 
ungefähr  um  17S0  begann;  Fr.  Chr.  Schlenkert",  dessen  scbrifl 
»teilerische  Thätigkeit,  zuerst  im  dramatischen  Fache,  dann  vo 
lieh  im  historischen  Roman,  auch  ungefähr  um  17S0  auhob;  K.  G 
lob  Cramer*V  ^^^  »^it  17S2  nahe  an  fünfzig  Romane  schrieb;  Cbr 


IM 


8)  Geb.  1762  zu  Stade,  stuiüertc  Meilicin,  wurde  Leibarzt  hd  einen  Onitn 
inReval,  lebte  darauf  abvechselod  in  vcr^cbiodencn  ileuuiclien  Sudten,  ktineZdl 
auch  als  UuchhUudlcr  lu  Frag,  dauu  als  Diroctor  dos  Theaters  in  Alti>oa,  MleOt 
als  prakticiercnder  Anst  in  llambucg  und  starb  1^16  9»  Vgl    ührr  ri*  f  111, 

Ann».  2;^  und  IJoxberger,  Schillers  Beriehungon  zu  Erfurt  S.  2.  I0>   0«b. 

1754  zu  Lobaii,  studierte  Tliwlogie.  wurde  Bibliothekar  des  FOrston  von  WaliUck« 
dann  Hauslehrer  iu  Grimma,  worauf  er  ohne  Anstellung  in  WeisscofeU  lebCiü 
bis  er  1^00  Lehrer  an  einer  Mädchenschule  in  Dessau  wurde     Rr  starb  mil. 

11)  Geb.  1757  EU  Dresden,  besuchte  Schulpforta,  studierte  sii  hH^ai$, 
war  von  17S2  an  im  Finanzdcpartement  zu  Dresden  angestellt,  rrhicli  alj*r  17*1 
Mine  Entlassung  and  privatisierte  nun  in  seiner  Vaterstadt  bis  sum  J.  fS15,  vtt 
er  Professor  der  deutschen  Sprache  an  der  Forstakodemie  ku  Tbaraud  ward, 
atarb  is-»o.  12»  Gob    1T5S  zu  Pödelitz  bei  Freibunf  a.  d.  TJostnU.  MtodM 

in  Leipzig  Theologie,  privatisierte  dann  zunächst  in  WeiEsenfels,  epfttcr  in  Xi 
bürg,  wurde  I7*.t5  Forstrath  iu  Meinioj^n  und  Lehrer  an  der  ForgpücaUeniia 
DrBHMlyrVwr  bcd  Mcdningen  und  starb  1h|7. 


Eolvickelungig.  d.  Lit     1773—1532.    Vielschreiber  iin  Roman  und  Drama.    229 


^ 


Heinricb  Spiess",  der  vom  Jahre  1782  an  zuerst  als  Verfasser  von  §  312 

hauspieleu  auftrat »   nat'hlier  aber  sich  mehr  auf  deu  Roman   und 

dero  entählcmie  Darstellungen  warf;  Chr,  August  Vulpius",  der 

bereits  I7S*2  Mit;xrbeiter  an  Rcichards  Bibliothek  der  Romane  wurde" 

und  von  dem  wenip:e  Jahre  darauf  die  ersten  von  ihm  gelbst  erfun- 

iCnen  oder  nach  filtern  Werken  bearbeiteten  Romane  erschienen,  an 

e  sieb  zahllose  andere,   nebst  kleinen  Erzählung:en,  Schauspielen, 

gspielen  etc.  anschlössen;   Fr.  Gustav  Schilling"*,    der  schon 

S3  ein  Drama  drucken  Hess,  dessen  ausserordentlich  zahlreich  darauf 

Igende  Ertindungen  aber  zum  allergrössten  Theil  dereraäblendeu  Gat- 

g  angehören;  GottL  Heior.  Heinso'*,  dessen  Romane  seit  dem 

hre  1786  erschienen;  und  K.  Grosse'*,  der  sich  als  Schriftsteller 

f  von  Vargaa  und  Marquis  von  G.  nannte'",   und  deaaen  erster 

und  bekanntester  Roman;,  ,,der  Genius",  der  zu  der  Classe  der  Naeh- 

mungen  von  Schillers  „Geisterseher'*  gehört,  17111 — 95  erschien^". 

eh  wttrde  in  diese  Classe,  wenn  man  ihn  bloss  nach  den  Schau* 

ielen  und  Romanen  seiner  Jüngern  Jahre  beurtbeilen  wollte,  Johann 

einrieb  DanielZscbokkc*'  einzureihen  sein,  hätte  er  sich  nicht 


13)  Geb.  1755  zu  Freiberg  in  Sachsen,  war  eine  Zeit  laug  Schauspieler,  wurde 

\hS  Wirthscbaftslnfipcctor  auf  einem  gnifllchcn  Gate  in  Döhmcn  und  starb  17<.)9. 

14i  Geb.    ntj:i   (vgl.  Lloäbiunn   im   Weimar.   Jahrbuch    »i,  16ii    zu   Weimar, 

liertc  XXI  Jena  und  Erlangen,  hioli  sich  dann  au  verschiedenen  Orten  in  Frauken 

id  Sachsen  auf,  bis  er  17',Ki  nach  Weimar  zurückkehrte,  wo  er  Kuorst  Thcator- 

mirde.  sodaon  durch  Goethe,  der  bpäterhin  tieine  Schwester  heiratlietc, 

!llc  bei  der  l^ibliothek  erhielt,    1^U5  /um  Bibliothekar  und  Aufsohpr  dea 

tbiactti  hinaufrückte,  1*^10  groesherzogl.  Hath  ward  und  1S2?  starb. 

i)  Vgl.  Bd.  K  i'S*^;  2T(»  und  dazu  allgemeine  d.  Ihbliuthek  H'j,  2.  4on  tV. 

[6^  Gi'b,  1760  zu  Dresden,  besuchte  die  Kurstenschule  zu  Meissen  und  trat  dann 

die  sjichsibche  ArtilU'rie  ein.    17^*»  wurde  er  Lioulcimiit,  machte  179^  und  IbOß 

FebizUge   gegen   diu  Franzosen  und  nach  der  Schlacht  bei  Jena  gegen   dia 

ussen  und  Russen  mit,  wurde  1^07  zumllanpimann  ernannt,  muaste  aber  zwei 

re  darauf  wegen  eines  Nervenübels  seinen  Abschied  nehmen  und  woluitc  seit- 

©rat  in  Fr^iherg.  nachher  in  Dresden,  wo  er  i^'M  starb.  17)  Geb.   176G 

Gera,   war  eine  Zeit  lang  liuclihftndler  in  Zeiz  und  Naumburg  und  lebte  seit 

»*•  nach  einander  in  Wittenberg.  Gera  und  Basel,  dann  wieder  in  Zeiz.    Ob  er 

II  auch  ätarb  und  wann?  ist   mir  nicht  bekannt.  ISi  Geb.  17(U  za 

rg,  bnll  Doctor  der  Medicin  und  grafl.  ätolbergseher  Hof-  und  I'orstratb 

seu  Bein  und  gich,  nach  dem  Intelligcnz-Blatt  der  neuen  all- 

d  ;'k   *.t(i,  'i,  :*'*2,    um  das  J.   I'^uä   im    untern  Italien,   unweit 

ipH,   autgt-hulten  baben.    Zuletzt,  heisst  es,  wäre  er  nach  Spanien  gegangen. 

Jodosjahr  weiss  ich  nicht  anzugeben.         .  \\))  Eine  von  Sicna  aus  datierte 

intf    dürflber    von    einem    vorgeblich    wirklichen    Graten    von   Vargas,   der 

in  franzftäischcr,  italienischer  und  deutscher  Sprache  geschrieben  haben 

enchien  im  Intelligenz- Blatt  der  Jenaer  Literatur-Zeitung  von  1797,  N.  Ifill, 

\h\  t  ivgl.  die  n.  nUgcmciuc  d.   Hibliotbek   40,  1.  I1U)  20)  Hallo, 

Tbeilon  21)   Geb.    1771    zu    Magdeburg,    schtoBS   sich   in  äelncni 

i;fiehnt«Q  Jahre  einer  wandernden  Schauspielergcsellschaft  als  Theaterdichter 


i 


230    \X  Vom  zweiten  Viertel  des  XVru  Jahrhunderts  bis  za  Oocthe's  Tod.      ^i 

§312  später,    ungeachtet  seiner  Vielschreiberei,    wie    durcb  geacliichtlich^^ 
Werke,  so   auch   durch  Romane,  Novellen   und  kleine  Er/,ähliiu^ea 
eine  weit  ehrenvollere  Stelle  in   der  deutschen  SchTiftsteUerwelt 
werben  als  dieCmmer,  Spiess,  Vulpius  etc.  —  Von  den  Achtzig« 
des  vorigen  Jahrhunderts  an  mehrte  sich  die  Zahl  der  Unterhaltunj 
Schriftsteller  mit  jedem  Jahrzehent,  und  immer  weiter  griff  nun  eine 
heillose  Vielschreiberei  um  sich.    Langer  bemerkte  1796",  ein  nii 
schlecht  unterrichteter  Buehhfindler  habe  ihm  die  Berechnung  voi 
legt,  dass  nur  vom  Jahre  1773  an  Über  sechstausend  Producte  tii( 
Art    'die    Übersetzten   wohl    mit   eingerechnet!  in    Deutschland  zi 
Vorschein  gekommen  w&ren;  und  1805  lesen  wir**:  „Im  Verlauf 
drei  Jahre  17H9— 1771  waren  275  Romane  erschienen;  die  einzi] 
Jubilaic-Messe  von  IS03  lieferte  dagegen  deren   27ti,  so   dass 
nun  auf  den  gleichen  Zeitraum  von  drei  Jahren  anderthalb  tausei 
rechnen    kann.*'     Wie   schnell   einzelne  Romauschreibcr  arbeitet 
und   wie    reichlich  sie  die  Leihbibliotheken  mit   neuer  Waare 
sorgten  r  davon  nur  zwei  Beispiele.     Das  erste  ist  eine  Angabe  vxMi 
Chr.  H.  Schmid"%    wonach    der  Verfasser  des  „Hatto'*    allein   v^ 
1787—90  dreizehn  altdeutsche  Romane,  id.  h.  Romane,  deren  St 
aus  der  Geschichte  des  Mittelalters  geschöpft  war)  herausgab-**.     Di 
andere  Beispiel  haben  wir  an  dem  Buchhändler  G.  H.  Hcinse:  dl 
selbe  lieferte  nämlich  von   17S6  —  93  im  Ganzen  drei   und  :twaiuig 
Romane,    wovon    allein  auf  die  Jahre    1791 — 93    nicht  weniger  aU 
17  kamen".     Diese  Vielschreiberei   drohte  unsere  schöne  Literatar, 


■Wf  Btudiert«  darauf  in  Frankfurt,  wo  er  sich  auch  1792  als  Privatdocent  babÜK 
tiefte,  nachdem  er  bereits  zwei  Jahre  früher  ein  Trauerspiel  hatt«  drucken  Usmb. 
Als  e8  ihm  I7l»5  nicht  gelungen  war,  eine  urdeutliche  Professur  2u  crUn^eo, 
machte  or  eine  grctf^sere  Kptse  und  uliomalim  zu  KoichcDau  in  Graubundeo  4tn 
Leitung  muer  Kr/.iebunprsanstalt.  Die  unruhigen  Zeitverbältnisse  rissen  ihn  aha 
aus  (bVftem  Wirkuugskreiae  und  nOthigten  ihn  zur  1  heilnahme  an  den  Offentlidwo 
Angelegchheiten  der  Schweiz.  Im  J  ISU«  emnimte  ihn  die  Centn« Ipevipning  b 
Bern  cum  Itcgicruiigscommissar ;   bald  darauf  ward  er  Uegieruij  r  dr« 

CaDtouB  Basel  und,  nachdem  er  einige  Zeit  sieb  van  allen  öffontii'  -^^ivn 

nach  IlibL-rstein  im  Aar^au  zurückgezogen  hatte,  Mitglied  des  Obertorgt-  und  B«vf- 
aratB  im  Tauton  Aargau.     l&<)v  zog  er  von  Biberstein  nach  Aarau:    i^2i»  kfft«* 
einen  Thcil  der  ihm  nach  und  nach  übertragenen  Aemter  niedtr    Er  starb  I' 
22)  In  dem  Artikel  „Romane"  der  neuen  allgemeinen  d.  Bibliothek  2i,  t,  I 
2H)  In   der  Hallischen  Literatur-Zeitung  von   1S05.   2,  153.  24» 

Journal  von  und  für  Deuuchland  von   ITiXi.   2,  .'»31.  Note  25)  Der 

iai  ein  Werk  der  Frau  Benedictc  Kaubert,  und  weiui  man  in  W.  Ei 
Bibliothek  dt*r  schönen  Wissenschaften  LS'^ff.  nachzählen  will,  wird  man  flndeSt' 
doM  S^chmidh  Angabe  richtig  ist,  und  dass  Kmu  Naubert  in  denßWben  Jabm 
auch  noch  einige  fremde  Romane  üherftotzt  und  ausserdem  schon  den  Anfang  oft 
der  Hcransgnlic  ihrer  Volksroärdien  gemacht  hatte.  2iji  In  :\2  BAudoo; 

Int«Ili4feuz-Blau  zux  Jenaer  Literatur-Zdtung  von  179-1,  K.  111,  Sp.  H«iS. 


m^mu 


EntwickeloogBg.  d.  Lit.     1773— [S32.    Vielschreiber  im  Roman  und  Dr&ia&.    23t 


Tornehmlicb  in  ihren  beiden  Hauptgattuiigen,  der  ensählenden  und  §  312 
der  dramatieclien,  wie  um  allen  höhern  Gehalt,  so  um  jede  edle  und 
kuDStmil!«!?ige   DHrtstellungaart    zu    bringen,   zog   sie    in  Stoifen    und 
^Jormen  immer  tiefer  zu  platter  Alltäglichkeit,  zum  Niedrigen,  Rohen 
^Knd  Albernen  herab"  und  wirkte  sowohl  verderblich  auf  die  Sitten, 
^Bie  ganze  Denk-   und  Sinnesart    des    nach    stets    neuer  Buch-   und 
^^BUhuenunterhaltung  lüsternen  Publicums  ein,  wie  sie  dessen  Geschmack 
an  die  schlechteste  und  ungesundeste  Geistesuahrung  gewöhnte.    Im 
Jahre    1791    schrieb   ein   Beurtheiler   der  Schauspiele  Kolzelme's**; 
jtlch  sehe  die  MeiHterslUrke  der  Kunst  vernachlflssigt  und  die  raittel- 
mäasigaten  Producte  zum  Himmel  erhoben.     Der  grosse  und  unge- 
bildete Haufe  enUcheidct  über  den  Werth  der  Schauspiele,  und  der 
.     Dichter,  welcher  das  PuiditMtin  zu  sich  emporziehen  sollte,  lÄsst  sich 
^k  ihm  herab,  weil  es  klatscht  und  bezahlt."    Mit  vollem  Recht  be- 
^■eichnet  Schlosser"  die  Romanfabrikanten,  die  seit  dem  Ende  der 
^^iebziger  uiit  ihrer  Waarc  den  titcrarischcn  Markt  ÜberHutheten,  als 
°^,eine  Pest   dee  deutscheu  Lebens,   das  sie  verflachten,  da  sie  der 

27)  Was  Ucbtoubpri;  ITso   und  AVieland  zwei  Jahre  später  über  die  eigent- 
Hasse  der  d&maligen  douUchen  Schriftsteller  in  den  FjLchcm   des  Romans 
des  Drsjna's,  so  wie  über  die  ÜescUaOeiihcit  der  dem  grossen  Publicam  dar- 
Bbotcnen  Tagcsliterstur  schrieben,  tiiidot  seine  Anwendung  in  noch  %-iel  orhöhtcrGm 
[e  Auf  die  aUiTineisten  Uomaiischreiber  und  Scbauspieldichter  aus  dorn  As- 
iT  neunziger  Jahre  und  eiucr  noch  spätem  Zeit.    Lichtenbergs   vormiechte 
m  ■),  115  ff.:    „Die  Seic-htigkeit  der  Schansplel-   sowohl  als  Romandichter 
iter  aot  ist  zu  einer  Grösse  gediehen,  bei  der  sie  sich  mit  dem  Credit,  den  sie 
bei  einem  Publicum  erhalten  kann,  das  sich  jetzt  über  gewisse  Pracht- 
Icbilder  und  Modeempfindungen  verglichen  und  dahin  vereint  zu  haben 
Werth  oder  l'uwerth  einer  Schrift  bloss  nach  dem  Grade  der  Näherung 
mn  Jcfioa  Conveutionssystem  zu  bestimmen.  —  Vox  popali  hcisBt  auch  hier  tox 
Iiei  und  Bachhi^ndlerubsalz  der  Maasstab  für  innern  Werth-   Es  hat  sich  nAmlich 
in  aniere  Schauspiele  sowohl  als  Romano  und  Gedichte  —  ich  rede  hier  von  der 
b«i  weitem  grossem  Anzahl  —  eine  gewisse  Gradus  ad  Parnassum  Methode  ein- 
fKcfalicben,  eine  schlaue,   den  Obren  der  Zeit  angepo^^ste  Logodadalie  und  Ver- 
MCmngskunst  des   tausendmal  Gesagten,    die  die  Lesegesellsclmflen  in  Kriftauncn 
artsMm,   aber  jeden  wahrhaften  Kenner  des  Menschen   mit  uube»>clireiblicheni  Un- 
willen rrfüllcn**.  —  WieUnd   schrieb   im  Mai  n>»2  an  Gleim  (Ausgewählte  Briefe 
Ton  ihm  in  verschiedene  Krcunde.    Zürich  1M5  f.     4  Bde.    S.    3,  3U»  f.),  Raynal 
I  Min  wären   in  Weiuinr  gewesen    und    hiittcn    viel   Auflicbens    von   dem 

t  Zustande   der   deutschon    Literatur   gemacht:    «^wUhrond   dass   es   nie 

rli*Q<lrr  nm  aus  ausgesehen  hat.   während  unsere  meisten  Autoren  nicht  einmal 
,..,...  ^.^r-if'bfchler  zu  schreiben  wisaeu,   unsere  meisten  Versemacher  keine  Idee 
ation  haben,  unsere  schreibselige  Jugend  lauter  Monstra  ausheckt,  und 
.  '>i  <or  der  Thür  ist,  wo  jedes  kleine  Provinzchen«  Städtchen  und  Durfchea 
■;t«chland  seine  eigene  Sprache^  Grammatik,  Rechtschreibung,  Prosodic,  seinen 
"  rnass  und  seinen  eigenen  nussrbliessUchcu  Geschmack  haben,  im  Ganzen 
noch  eine  I?pur  von  wahrer  Literatur  Übrig  sein  wird".  28)  In 

ilet  neüLii  Bibliotliek  der  schönen  Wissduschaften  41,  211  f.  29»  4,  194. 


232     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVEI  Jahrhunderts  bis  in  Go«tlw'8  Tod 

312  ernsten  und  durchgreifenden  ßildung  einer  Nation,  die  keine  to 
gebende  Hauptstadt  batte,  dadurch  ein  unOberwindliehe«  Hinderni 
entgegensetzten,  dass  sie  sentimentale  Geschicliten  oder  wilde  S 
von  Einem  zum  Andern  für  Genialität  oder  für  Dichtung  verkauf 
Die  Kritik  war,  wo  sie  nicht  selbst  von  ParteirÜeksichten  hei 
oder  von  Stumpfblick   irre  geführt,    das  Mitlelnii^ssige   anpri 
das  Schlechte  wenigstens  in  ein  so  viel  wie  möglich  günstiges 
za  stellen  suchte^'.  ohnrnHchtig,  das,  was  sie  wirklich  als  schlechibin 
Terwerflich  bezeichnete,   dem  grossen  Publicum  zu  verleiden,  «choa 
weil  die  wenigsten  Komanieser  und  Tbeaterhesucher  kritische  Blattet 
zu  lesen  pflegton;  und  andrerseits  Hess  sich  wieder  durch  ihre  Mi 
nungen   und  Rügen   der  grosse  Haufe   der  Roman-  und  Scbauspi« 
fabrikauteu  in  seiner  Beti  iebsanikeit  und  in  seiner  schriftstcileriscb« 
Verfahrungsweise  nicht  stören^  so  lange  er  sich  auf  deu  Beifall  d| 


30)  Vgl.  auch  Gervicua  5',  »27  ff.  3li  1>&fi8  das  Eine  oder  du 

Dicht  selten  in  der  nllgemeinen  d.  Bibliothek  geschah,  wie  scbou  das  Dt 
blftttom  weniger  Düude  aus  den  achtziiccr  oder  neunziger  Juhren  lehren 
wird  gerade  nicht  befremden.  So  erscheint  es  z.  ß.  (jauz  in  der  Ui-dnung, 
V.  Kjiigge*&  leines  tlcisHlgen  Mitarbeiters  un  dieser  Zeitschrifif  Kooiaii.,B<-'uj.  N'i 
manne  (ieschichte  der  Aufklärung  in  Abys^inien'*  etc.  Gfittingen  1791  2  ThJe. 
BU.  107.  I,  17D  als  „eins  der  witzigsten  I'roducte,  das  eine  Menge  der  fri 
Batirischen  Züge  enihalte*.  charakterisiert  wird.  Allein  selbst  in  dit-srin 
wird  man  doch  mit  Verwundi  rung  ein  Lüb  lesen,  wie  es  di*m  berüchtigten  Kosas 
TOn  Vulpiua  „Kinaldo  KiiuiMini.  der  Riuberhauptniann"  etc,  Lctp/ig  IT*T^ 
:<  ThJe.  s.  in  der  n.  allgemeiiien  d.  liibliothek  .ii).  l.  :\h  f.  erthellt  wird  U 
Rec  meint  ndralich.  diese  Geschichte  gewiüire  eine  angenehme  Unterhaltung; 
Verf.  verstehe  diu  Kunst,  Charaktere  zu  zeichnen  und  zo  ballen  und  H 
betten  zu  onlnen,  und  seine  S|)ruclie  sei  rein,  edel,  reich  und  birirsam,  «rin  l>ij 
gednuigt,  eingreifend  und  sehr  oft  aiiuiihtheginatisch.  —  Aber  nicht  bloss  die 
gemeine  d.  liibliothek,  auch  die  Jenaer  Literatur-Zeitung  zeigt  neue  bclletrii 
Sachen,  die  höchstcnti  zum  leidlichen  Mittelgut  geliürcn.  öfter  in  einem  Tonf 
als  hatte  die  Nation  darin  wahre  Meisterstacke  der  poetischen  Kunst  crl 
So  wird  im  Jahrgang  I7s7.  \,  !I7  ff  viel  Aufbebens  von  den  Roiunnen  Joh  Gt 
werth  Mullers  gemacht,  und  cbciidnäelb^t  Sp.  4l!of.  wird  denijcoigf'ii  Scbrifutellvr 
„der  sich  zum  guten  Itomancier  xind  zum  [>arsteller  schwieriger  iluiraktcro  bddift 
wolle",  neben  Lessings  Kmilin  Galolti  als  ein  „nndrcs  Meistersttlck 
Meissners  vortreffliche  Bianca  Ctipcllo"  du  der  Üearbeituug  von  i7sö) 
Gar  kein  Knde  des  Lobes  kann  der  Rec.  von  Meis&ners  „AJcibiades**  in 
zeige  des  3.  Theils  findm  Il7s7.  4,  ii97  f.»:  dieser  Roman  ist  ihm  „rJo  VT« 
voll  attiRchen  Sal*e8,  «o  voll  wahrer  Schönheit,  so  voll  feiner  und  tiefer  Menschtn- 
knnde,  so  voll  richtiger  Bemerkungen,  mithin  so  unterhaltend  und  lehmälcb.  tka 
nichts  beigemischt  ist,  waa  nicht  zur  Sache  gehörte,  und  wo  das  znr  Saehe  G«- 
härige  durchaus  nicht  mit  muthwilligpr  »Weiterung  behandelt  ist":  —  da»*  «« 
we^eu  eines  Bandes  mehr  keiner  Entschuldigung  l>ei  wahren  Freunden  der  Lii^ 
ratur  bedürfe,  da  jeder  hinzukumraendo  Bogen  eine  VergrAsaemng  den  VenBemMa 
•ei,  das  ein  solcher  Verf.  sich  nm  die  Lesewelt  erwerbe.  (Ganz  ander«  kliiift  il»> 
gcigea  ichOQ  das  UrOicil  aber  den  ..Alcibiades*'  im  Jahrgang  l*l»l.    I,  Tat  C». 


Entwickehuigsg.  d.  Lit    1773 — 1$32.    Vielscbreiber  im  Roman  und  Drama.    233 

Publieamg  berufen  konnte.  „Seit  sechs  oder  sieben  Jahren",  schrieb  §  312 
1797  Ä.W.  Schlegel",  „stemmen  sich  alle  Recensenten  des  heiligen 
römischen  Reichs,  die  in  diesem  Fache  arbeiten,  gegen  die  Ritter- 
romane: aber  die  Menge  der  ritterlichen  Lanzen  und  Schwerter 
dringt  immer  unaufhaltsamer  auf  sie  ein.  Vor  den  Fehmgerichten, 
den  geheimen  Bündnissen  und  den  Geistern  ist  vollends  gar  keine 
Rettung  mehr."  Wie  hätten  auch  die  Recensenten  das  herzlich- 
freundschaftliche  Verhältniss  zu  stören  vermocht,  das  sich  zwischen 
Romanschreibern  wie  J.  F.  E.  Albrecht,  K.  G.  Gramer  "und  Aehn- 
lichen  einerseits  und  dem  Publicum  andrerseits  gebildet  hatte  und 
immer  mehr  befestigte!  „Ich  bin  dem  Publicum,  welches  mich 
lieget,  so  gut!"  hetheuerte  Alhrecht",  und  er  bewies**  diese  über- 
gfosse  Güte  für  dasselbe  allerdings  dadurch,  dass  er  sein  geliebtes 
Publicum  von  einem  halben  Jahre  zum  andern  aufs  freigebigste  mit 
Romanen  beschenkte.  Historische  Romane  und  romantische  Historien, 
dramatische  Darstellungen  und  dialogisierte  Geschichten,  Gemähide 
und  Erzählungen  jagten  einander;  jüdische  und  griechische  Helden, 
italienische  Buhlerinnen ,  ägyptische  Königinnen  und  deutsche 
Fürstinnen  wechselten  ab  etc.  Was  half  es,  dass  Gramem  seine 
Sudeleien  in  den  kritischen  Blättern  vorgerückt  und  Rügen  gegen 
seine  Anmassung  und  Dünkelhaftigkeit  erhoben  wurden?  Er  posaunte 
in  die  Welt  hinein",  dass  sein  „deutscher  Alcibiades" "  und  sein 
„Hermann  von  Nordenschild""  zu  seinem  grössten  Vergnügen  nicht 
allein  in  ganz  Deutschland  bereits  Über  sieben  Jahre  mit  ungetheiltem 
Beifall,  den  Beifall  einiger  Recensenten  ausgenommen,  gelesen,  son- 
dern sogar,  ebenso  wie  sein  „Erasmus  Schleicher""  von  den  auf 
ihre  eigenen  Producte  so  stolzen  Britten  in  ihre  Sprache  Übersetzt 
zu  werden,  gewürdigt  worden.  „Und  wirklich",  heisst  es  in  der 
neuen  allgemeinen  deutschen  Bibliothek^,  „hat  der  Recensent  die 
Erfahrung  gemacht,  dass  der  Name  des  Verfassers  auf  das  roman- 
neugierige Lcsepublieum  wie  eine  magische  Zauberruthe  wirke,  dass 
er  allerdings  sagen  konnte:  „„meine  Romano  werden,  was  auch 
immer  trübsinnige,  mürrische  Recensenten  denken  und  sagen  mögen, 
nicht  gelesen,  sondern  verschlungen,  nachgedruckt  und  doch  viermal 
aufgelegt.""     Gramer  erklärte***  in   seiner  Kraftspracho  die  Recen- 

32)  In  der  Jenaer  Literatnr-Zeitiing  von  17',n  (Säramtliche  Werke  11,  ?6). 

lyA)  In  der  Vorrede  zu  seinem  historisch-dramatischen  Gemähldo,  „die  Familie 
Medicis  in  ihren  glänzendsten  Epochen".    Leipzig  nitn.    1  Thle.  8.         34)  "Wie 
der  Kec.  in  der  Jenaer  Literatur-Zeitung  von  1797.    :j,  270  bemerkt.        3ö)  Vor- 
rede zu  „den  gefährlichen  Stunden".    Weissenfels  l'D!»  f.    2  Thle.   8. 
36)  Weissenfels  1700  f.    :^  Thle.    **.  37)  Weissenfels  17i»2.    2  Thle.   8. 

3S)  Leipzig  HM)  if.    4  Thle.   S.  39)  50,  2,  371  flF.  40)  In  der  Vor- 

rede zum  2.  Theil  „der  gefährlichen  Stunden''. 


wmm 


234    VI.  Vom  rweiten  Viertel  des  XVin  Jahrhunderts  bis  ru  Goethe*«  Tod. 


312  senten  geradezu  fOr  „elende  au&getroeknete  Miischiucu-Menscb 
die  keinen  Sinn  fQr  etwas  anders  als  fdr  hölzerne  Regeln  bftt 
nach  denen  sie  eben  eo  stocksteif,  als  ihr  Gang,  Blick  und  ga 
scharmantes  Selbst  sei,  alles  in  der  ganzen  Welt  mAssen,  ob 
gleich  so  heterogen  sei,  wie  Christus  und  Belial/*  ,,Un8  ist  d 
gelegen",  setzt  er  hinzu,  „dass  die  Welt  uns  lese  und  gern  l 
darum  kümmera  wir  uns  auch  nicht,  es  ist  uns  einerlei,  wag  ihr  v 
uns  schmiert,  wenn  wir  nur  den  Ton  treffen,  in  welchem  Herz 
und  Sinne  unsers  Zeitalters  gestimmt  sind"  etc.  So  war  die  M 
der  Bcblechten  Uuterhaltungsliteratur  von  deut8cher  Erfindnng, 
deren  Ueberbleibsclu  in  den  Leihbibliotheken  heut  zu  Tage  K^wuhn- 
lieh  nur  noch  die  Leser  und  Leserinnen  aus  den  untern  Volkscl 
ein  lebhaftes  Interesse  finden,  die  aber  damals  ihr  Publicum 
vorzugsweise  unter  beiden  Geschlechtern  der  sogenauntcu  gebildet 
Stände  hatte  und  auf  diese  zunächst  ihren  schädlichen  Einduss 
Ubte^S  bereits  um  die  Mitte  der  Neunziger  bis  ins  Ungeheure  ang^ 
wachsen.  Neben  zahllosen  bald  empfindsamen  und  rührenden,  b; 
frivolen  und  schmutzigen  Liebesgeschichten,  den  vielen  nied 
komischen  und  platt  humoristischen  Romanen,  den  „Lehensscenen 
der  wirklichen  Welt ',  den  „Leben  und  Meinungen"  oder  „Bege 
heiten  von  dem  und  dem",  dem  unübersehbaren  Haufen  von  Fi 
miliengescbichten  und  Familiengemähldcn ,  von  Klosterge8*.'hicht 
Rittcrroraanen  und  „romantischen  Gemählden'*,  von  „Sagen  d 
Vorzeit",  „Bildern  der  Vorwelt'^  etc.  und  eigentlichen  GescLic 
romanen*',  von  ßobinsonaden  und  andern  Abeuteurergeschicbt 
von  allerlei  Schauer-,  Wunder-  und  Zauberromaneu ,  namentU 
Geister-,    Geisterseher  -    und    Geisterbannergeschichten ,    in    deu< 

,       sich   meistens  alle«  um  die  Wirksamkeit  gewisser  geheimer  Ge^l 
Schäften  und  Orden   drehte'^,  von  „Biographien  der  Selbstmorde 


asa€^^ 
det«H 


4 1 )  Ich  wurde  sehr  mi&sverstandeD  werden  *  weiui  man  aus  dieaeQ  Wortta 
herausluse,  ich  hielte  die  Literatur  der  aUcrneuesteu  Zeit,  an  der  sich  die  dmjsM 
Leser  und  Leseriuncn  aus  Jiesca  Stüodeu  heutiges  Ta^s  vorzugsweise  erqoicka 
für  eine  viel  hessere  und  weniger  schädliche  als  jene,  die  für  diese;*  l'ublicun  mil 
echou  längte  veraltet  ist.  42)  Auch  auf  liiblischo  Stuti'e  gieng  man 

xurUck  ivgl.  I  212,  20—22».    So  eraohienen  von  Gruher.. Susanna    KiocG( 
der  Urwelt",  und  „Judith"   (beide  Woiasenlola  und  Leiiizi«  ITOri    8.;   and< 
Alhrechr    etc.i:   ja   sogar   eine  im   Sinn   der  flachsten   Aut'khirere]   geacl 
„Natürliche  Geschichte  des  groBsen  Propheten   von  Nazareth"   und  eiu  N) 
dazu,  „Jesus  der  Aufrrstandeuu".  wurden  iu  den  Jabreu  l^Uu  und  1S02 
i%gl.  die  IL  allgemriue  d.  liiblioihek  til.  ;i6l»:  Sl.  1021,;  S2.  "  t}.  43| 

solche  UeselU chatten  uud  Orden .  wie  sie  in  den  achtziger  und  ueuazi|fer  Ji 
sei  es  wirklich,    sei  rs  nur  in  deni  Glauben  sehr  vieler  bestanden  und 
dem  Staat,  der  protestantischen  Kirche   und  der  Gesellschaft    bAcht^t   k«| 
Zwecke  vcrfolgtco  oder  verfolgen  soUtcu,  nicht  bloss  von  den  schlecfatoi 


Kotwickelttttgsg.  d.  Lit.     1773— IS32.    Vielschrdber  im  Roman  und  Drama.   235 


und  „Biographien  der  Wahnsinnigen"",  von  Leidens-  und  Elends-  §  312 
romanen",  von  Revolutions-  und  Emigrantengesehichteu*',  endlich 
Kvon  Riluber-,  Diebes-  und  Gaunerronianen"  —  waren  in  kaum  min- 
"äerer  Zahl  rohe  und  elende  RitterstUcke  und  andere  historische 
Trauer-  und  Schauspiele,  Soldaten-  und  Räuherstllcke ,  bürgerliche 
Trauerspiele,  Farailieugenißhlde,  Lustspiele,  Possen  und  Operetten 
des  buntesten  Inhalts  entstanden.  Und  was  war  und  wurde  dazu 
nicht  noch  alles  von  roittelmässigen  oder  auch  ganz  elenden  Romanen 
und  Schauspielen  aus  fremden  Sprachen  in  stets  zunehmender  Be- 
iebsanikeit  Übersetzt  und  bearbeitet!^*  Als  ob  die  Massen  der  in 
Deutschland  erfundenen  Romaue  mit  denen,    die   in   vollständigen 


Ptri 


tKbreibcni  als  poetißche  Maschinerie  vielfach  benutzt  wurden,  sondern  dass  auch 
fie  Verbindungen  zur  Ft>rdening  besonderer  und  geheimer  Absichten  in  Werken 
lern  Wieland  iPeregrinus  Proteus),  Schiller,  tlippel,  Jung  Stilling.  Goethe  (Wilhehn 
Mrister).  Jean  Paul  etc.  mit  diesen  Erfahrnugen  und  Vorstellungen  des  Zeitalters 
Ktfs  engste  zusammenhängen,  ist  schon  vonGervinus  5',  250  I".  angemerkt  worden 
(?gl.  auch  5\  IS(»  t.  und  Über  damals  wirklich  vorhandene  Gcheimorden.  so  wie 

IlXbcr  ihre  bewiesenen   oder  ihnen   Schuld  gegebenen  Zwecke,   ausser   deu   oben 
i  342,  Aiim.  l'J  angetühneu  Bücber»telleu,  die  inteniisante  Vorrede  Kicolai's  zum 
K.  Bde.  der  n.  allgemeinen  d.  Bibliothek  nebst  deu  Ergiiiizun^en  dazu  in  der  Vor- 
rede zum  1.  St.  des  tis.  Bdes. ;  vgl.  auch  Gruber  in  Wielaudä  Leben  3,  2611  ff.  und 
Buhraner,  Lessing  2,  *J.  22t;  f).    Die  groBse  Fluth  der  Romane  dieser  CIüssp,  von 
fli'ucu  allein  hier  die  Rede  ist,  wurde  besonders  durch  Schillers  „Geisterseher" 
und  L.  F.  Huber's  Trauersjiiel  „das  heimliche  Gericht",  Leipzig  171)0.    S.  hervor- 
gernfcn  Ugl.  allgemeine  d.  Bibliuthek   MO,  2,  4:^5;   n.  allgemeine  d    Bibliothek  5, 
SU2;  0.  1 ,  272).    In  der  Anzeige  eines  Romans  der  Art  aud  dem  J.  1796  sagt 
d«rKM.  ia  der  Jenaer  Literatur-Zeitung  von  1707.    1,  50:   „Die  rechte  Yer^-icke- 
lun^  der  Uesdiichtc  IKngt  erst  da  an,   wo   ein  gewisses  mysteri/iscs  Wunderbare 
*Q  Helden  auf  den  A>'ahu  bringt,  als  ob  ii^nd  eine  höhere  Macht  die  Hand  im 
liele  habe,  welches  sich  dann  in  der  Folge  dahin  anfkliirt.  dass  altes  von  den 
italtuügen  einer  geheimen  Gesellschaft  lierrührt,  deren  Mitglied  eine  ehe- 
Geliebte  des  Helden   ist.    Das  Lesepublirum   inufis  an   dergleichen  Dingen 
En  besonderes  Wohlgefallen   finden .   du   jetzt  oft  in   einer  Messe  Dutzende  von 
imAucu  durch  deu  SclUeier  zu  reizen  suchen,  den  die  Unternehmungen  geheimer 
(chafien  über  den  rinn  zu  verbreiten  scheinen'*.  44)  Solche  roman- 

Biographitn  gab  Spiess  heraus  (l'sa  ff.:  1*95  ff.).  45)  Chr.  G.  Salz- 

ins  ..Karl  von  Karlshcrg,  oder  über  das  menschliche  Elend".    Leipzig  \'K\ — SS. 
Thio.    S.,  mit  seioeu  noch  viel  elendem  Nachfolgern.  46)  In  dieser  Classe 

lOren  einige  von  Lafontaine,  wie  , .Klara  du  Plcssis't  etc;.  und  „St.  Julien*'  (vgl. 
2'i3)    und   von   K-  A.  Seidel  („Aristokratismus   in   seiner  unimUirliciiCB   Aua- 
tUDg"  etc.    Weisscniels  nnd  Leipzig  \'\ih.   S.;  vgl.  n.  allgemeine  d.  Bibliothek 
2,  3tiä  ff.  lind  dazu  31,  2.  3SI  f.)  der  Zeit  nach  zu  den  ersten.  47j  „Der 

»err   aller   seitdem  wie  Schwämme   hervorgeschossenen"  Rauberromane  war 
tcbokke's  „Abällino,  der  grosse  Bandit"  etc.   Frankfurt  a.  d.  0.  179:).  S.  (nach- 
von  dem  Verf.   auch  als  Trauerspiel   bearbeitet,   Leipzig  1795).  —  Von  deu 
der  eben  angeführten  Romanclassen  werde  ich  im  fünften  Abschnitt  Ge- 
lt haben,  die  der  Zeit  nach  ersten  oder  die  merkwtlrdig^ten  anzuführen. 
4S)  VgL  S.  IMI  ff.  und  S.  190  ff. 


^i 


236    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jalirhnuderts  bis  ra  6o«Üi«^i  Tod. 

§  312  üebersetzungen  und  Bearbeitungeu  aus  der  Fremde  eiu^ftlhrt 

den.  noch  nicht  ausreichten,  das  Bedtirfniss  nach  dergleichen  Unl< 
haltungsmitteln  zu  befriedigen,  veranstaltete  H.  A.  Oftokar  Reichanl' 
nach   dem  Vorbilde  der  Bibliothi^que  universelle   des  Romans^ 
Jahre  I77S  auch  noch  eine  besondere  ,, Bibliothek   der  Koinnne'*' 
welche,  unter  den  Rubriken  ,, Retter-,  Volks-,  deutsche,  atishlndiscl 
und  Religions-Romane*',  nach  der  Absicht  des  Herausgebers  von  d< 
ültesten   und   am    wenigsten    bekannten   der  inländischen   und   di 
interessantesten  und  neuesten  der  ausländischen  Romane  ,,dM 
oder  den  Geist  geben  und  gleichsjira  ein  Miniaturgemähide  a' 
und  ausserdem  auch  noch  Episoden  aus  grossem  Romanen  und  kb 
Geschichten  vollständig  liefern**  sollte".     Auch  hatte  bereits  seit  di 
Ende    der  Siebziger    neben    der   Gattung   erzählender    Werke    v< 
grösserem   Umfang    oder    den    eigentlichen   Romanen    die    kloinei 
Prosaerzählung    ihre    verschiedenen  Zweige  in  bald  ernsten,   bal 
konüschen  Novellen,   iu  „moralischen  Erzfihlungen".  in  ScliwÄnlt( 
und  Anecdoten,  in  dem  novellistischen  Vortrag  wirklicher  Ereignii 
in  sogenannten  Volksmärchen   und  andern  raArchenhaften  Ertindi 
gen  uud  ganz  vorzHglicb  in  kleinen  Liebesgeschichten  aus  den  euj 
Kreisen  des  damaligen  Lebens  zu    treiben    angefangen.      Von    d( 
meisten   dieser   verschiedeneu  Arten   fanden    sich   schon    xahlretcl 
Stucke  in  Meissners  „Skizzen''",   mit  welchen  diese  Gattung 
lender  Werkchen  iu   der  deutschen  Literatur  des   vorigen  Jahrhun- 
derts eigentlich  erst  in  rechte  Aufnahme  kam.    Meissner  selbst 
gleich  nach  dem  Erscheinen  der  ersten  Sammlungen  seiner  Skü 
neben   deren  Fortsetzung  auch   noch   als  eine  Art   Er. 
;, Erzählungen  und  Dialogen**"''  heraus.    Die  ersten,  gr-  il» 

einem  witzelnden  Tone  geschriebenen  und  in  maneherlei  satiriscl 
Anspielungen  abncliweifenden  Volksmärchen,  die  er  besser  Voll 
sagen  benannt  hätte,  schrieb  Jfusaeus",  worauf  bald  die  schlicht« 
und  mehr  im  reinen  Sagenton  erzählten  „Neuen  VoIksmSrcheu  di 
Deutschen"  von  Frau  Benedicte  Naubert  folgten**.  Diese  Pn) 
Zählungen  wuschseu  ebenfalls  schnell  unter  der  Pflege,  die  sie  ball 


49)  Geb.  1751  XU  Gotha,  wo  er  auch  nach  vollcudeteii  üuiverntAtsstitdlm 
verschinleuen  Aeinteru  lebte,  ziiieizt  als  Kriegsdfrector.  und  \**2'^  starb. 
50)  Vgl.  i  Mv^,  ■i^.       51*  Vgl  $  1(1«^,  Anm    I.       52)  V'm»  fwhrit:  dann 
dahin,  dau  man  anch  anrien^,  die  alton  dickleibigen  Romane  des  16.  u.  17.  Ji 
Bioderuisiorcnd  omzuarbeiteu;  vtfl.  deu  Anhang  aum  3t>. — 52.  lidc.  dor  nllfrfnM 
d.  BiliünthekS.  :(7t;  und  Bd    (J*),  I.  4üö  ff.  63)  Vgl  ^  312.  2.  54) 

17^1— *>y.    :i   Hefte.    |cl.  t.  55»   „Volksuiftrchen   der   Deutscbett^     G< 

179:2— %7.     5  Thie.    ^.   fmit  Einlrituog   und  ADincTkuiig(.'n   heraus^eg.    roo  ModCl 
Mnllor    :i  Theile.    Lripjrig  l-^HS.    k.j.  5tii  Lfi]izig  17*«»— !^7      4  ndrhro     ?*  : 

ihr  Worlb   oahixi   mit  jedem  Bandcbeu   eher  ab  als  ru.  —  Ueber  Wit-laads  swti 
MArchen  in  Prosa  aus  derselben  Zeit  vgl  (  .'luO.  AmB.;^2D  gegen  Kndr. 


Eutwickcltuigsgang  der  Llterfttur.     11:3—1832.    Novellen  und  Mircheu.    237 


iinal  von  Seiten  mancher  Vielscbreiber  fanden",  und  auch  hier 
urde,  was  man  in  Dcntscblaud  selbst  erfand,  uocb  durch  lieber- 
!tzungea  und  Bearl)eilungen  auHljunÜHcher  Sarben  ansehnlich  ver- 
lehrt.  Ausser  den  Ueberöctzun^eu  oder  Bearbeitungen  kleinerer 
Irzäbiungen,  Novellen  etc.  von  Scarron,  Voltaire ^  Marninntel  und 
Jervaute«,  die  ich  schon  oben"  angeführt  habe,  fallen  hierher:  viele 
Itücke  in  Reichards  Bibliothek  der  Romane,  und  „Kleine  Romane, 
iraählungen  und  Schwanke"  (aus  verschiedenen  Sprachen),  von 
W.  Clir.  S.  Myliufi'^.     Aus?  dem  Frauzimisehen    insbesondere:   „Retif 

la  Bretonne,  die  Zeitgenossen**,  ebenfalls  von  Mylius**;  des  Hm. 

sötte  moralisch-komische  Erzfthlunjjen,  Märchen  und  Abenteuer. 
.08  dem  Französisclien  Ühorsetzt  von  ft.  Sehnt//' ;  ,, Erzählungen  aus 
lern   12.   und  13.  Jahrhundert,   mit  historischen  Anmerkungen"**'  vau 

C,  A.  Ltitkemilller'"^  und  sonst  von  französischen  Erftmlungen 
iich  sehr  viele,  Übersetzt  von  Ant.  Wall,  Meissner,  Mylius,  Jünger, 
r.  Schulz  u.  A.*'.  Aus  dem  Italienischen:  mehrere  der  Novelle 
itiche  und  anderes  Novellistisches  in  Fr.  Schmits  ^^Italienischer 
.nthologiCt  aus  prosaischen  und  poetischen  Schriftstellern,  in  deut- 
[heu  Uebei'setÄungeu''*'";  „das  Decamcron  des  Boccaz",  neu  Über- 
unter  Aufsicht  von  Meissner";  „F.  Argelati^s  Deoamerou"*' 
F.  Grazzini's  Novellen*'".  Zu  den  oben**  bezeichneten 
ingen  von  Märchen  kamen  bis  in  die  Neunziger  herein 
ioch  „Tausend  und  ein  Tag;  jiersische  Erzählungen",  aus  dem 
'ranzösischen  des  Petit  de  la  Croix  übersetzt  von  S.  Schorch™; 
„Neue  tausend  und  eine  Nacht.  Märchen  aus  dem  Arabischen", 
fach   dem   Französischen   von  Chavis  und  Cazotte  verdeutscht  von 

A.  Wiehmann^';  „die  blaue  Bibliothek  aller  Nationen*'  (herausge- 


312 


57t  Im  Bpginn  der  Neunziger  waren,   nach  einer  Bemerkung  von  Schatz  in 
aitgemdiieu  d.  JÜliliothek  (112.  2,  4i;t  fl'j,   seit  einigen  Jahren  schon  vielerlei 
Lttche  in  der  „kürzeru  prosaischen  Erzählung"  gemacht   worden ;   die   meisten 
aber  nur  ratssliagea  k()nneu,  und  kaum  drei  bis  vier  hatten  sich  über  die 
iÄssiffkeit  erhoben.  5S)  S.  Uio  f.  59)  Berhii  UM— si^.    ß  Bde.  §. 

60i  Berlin  iTSI  ff.     II  Bde.   s.  6h  Leipzig  17M)  f.     4  Thie.   8. 

12)  Kine  Verüeutschang  der  FabUaox  ou  Contes  etc.    traduits  ou  extraits  par  le 
Irand  d'Aussy.    Paris  1779.    3  Voll.   8.  63)  HaUe  1795—97.    4  Bde.   H. 

64)  Unter  den  Franzosen  hatte  ganz  vorzüglich  Marrnontel  einen  sehr  grossen 

■infliiEs  naf  dnn  Charakter ,   den   die  kleinere  prosaische  Erzählung  damals  bei 

tnahm.    Die  Jt^naer  Literatur-Zeitung  weiss  ihn   in  den  ersten  zehn  Jahr- 

nicht  genug  herauszustreichen;  man  vgl.  nur  die  Anzeige  der  Ueberselzung 

raoraliachGuErziihhingon  vonChr.  Gottfr.  Schtktz  im  Jahrgang  171)1.   4,  3a  ff. 

65»  LiegaiU  und  Leipzig   177>— Sl.    4   Thle.   s  (>6)  St.   Pctersbiurg 

M.    4  Bde.   S.  67)  Wittenberg  und  Zorbsi  I7^a-S5.    3  Bde.   8. 

dptfig  i:sK.   2  Thle.  b.         b9)  S.  14äf.  70;  Leipzig  1768  f.   3  Bde.  6. 

71)  L«iii£ig  1790—02.    5  Bde.    8. 


1^^ 


238    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  JabrhunderU  bis  tu  Goethe'i  Tod. 

§  312  geben  von  F.  J.  Bertucb)"  und  andere  Sammlungen  morg« 
dificher  Märchen  aus  dem  FranzusiscLen  und  Knglisclion  Ubei 
Es  dauerte  nicht  lange,  so  wurden  dergleichen  kleine  ErzAh1un| 
werke  ein  Hauptbestandtheil  zweier  sich  neu  bildenden  Ch 
periodischer  Sammolachriften ,  der  belletristischen  Taschenbücher 
nnd  der  helletriafischen  Tageblätter  oder  Zeitungen '*,  deren  Hinfli 
auf  den  Geschmack  und  die  Bildung  der  mittlem  und  hJJhern  Stirn 
sich  im  Laufe  der  Zeit  vielleicht  noch  schädlicher  erwiesen  hat. 
die  Wirkung,  welche  auf  den  einen  un<l  die  andere  von  di 
schlechten  Romanen  und  Schauspielen  ausgieng.  —  Waren  nun  d 
beiden  grossen  Gattungen  unserer  schönen  Literatur  nach  dem 
versprechenden  Aufschwung,  den  diese  um  die  Mitto  der  Siehzij 
nahm,  schon  in  jeder  andern  Beziehung  nach  und  nach  imi 
sichtlicher  entartet  und  verwildert,  so  venioth  sich  endlich  a\ 
darin  noch  der  Rückfall  einiger  der  beliebteHtcn  Schriftsteller  dii 
Jahrzehnte  in  eine  alle  hohem  Runstgesetze  aufliebendo  Rohbi 
dass  sie  die  natürliche  Grenzlinie  zwischen  erzählender  und  dranui- 
tischer  Daratcllungsform  gar  nicht  mehr  an/ucrkennen  schient 
Denn  zwischen  den  Romanen  in  reiner  Erzählungsform  oder 
Briefen  und  den  wirklich  aufführbaren  oder  mindestens  der  Ai 
rung  nicht  schlechthin  wider8|irechenden  Schauspielen  brachten 
seit  1779  eine  Mittelgattung  von  Werken,  vorzüglich  historisc] 
Inhalts  auf,  die  ihrer  Anlage  und  inncrn  Behandlung  nach  für 


72i  Gotha  iTiHf— isoo.  12  Hde.  h.  iBd.  I--I  «bcrsetjit  von  Fr.  Jac«1 
gleich  im  ersten  ßaodo  die  „Milrchcn  meiner  Mutter  Gnus*  tou  PeiraaJt, 
denen  nach  biestcrs  An^be  in  der  aUgemetnen  d.  Bibliothek  lOo,  *.*,  412  ff.  »cbM 
177(1  eine  Uebersetzung  in  Berlin  ersohieuCD  war;  iu  den  3.  und  die  fobmd^ 
B&ndc  sind  die  Märchen  der  Grätin  d'Aulnoy  vertheUt.  73i  r»i(?  langr  ' 

derselben  (vgl.  W.  Kngehnaons  Üibliothek  der  schönen  Wissenscbattea  1,   i    ' 
2,  313  t)  eröffnete  1791   das  ..Taschenbuch  zum  geselligen  Vergnügen*',   henat' 
gegeben  von  W.  G.  Hecker  (geb.   175,t  zu  Ober-Kalenberg  im  Scb6nl 
wurde,   nachdem  er  eine  Zeil  lang  Lehrer  am  Pbilanthropiu  in  I>e8saa  gi 
und  darauf  Keiscn  durch  verschiedene  Länder  gejnacht  halte.   I7S2  Professor 
der  Ritte nikadeniie  zu  Dresden,  spater  Inspector  des  Antiken-  um]  Mtinzcabineto 
auch  zamHofratb  emanut  and  starb  ISi3).  nachher  von  Fr.  Kind  und  A.   I^i 
12.    iNacb  Fr.  Launs  Memoiren.    Bunzlau  1837,    s.    1 ,  73   soll   dt-r  cigw 
Begründer  ein  gewisser  Zschieilrich   in  Dresden  gewesen  sein).  74) 

Älteste  ist,  so  viel  ich  weiss,  die  „Zeitung  für  die  elegante  Welt**,  welche  ISUI 
Lcipzitr  von  K.  Spazier  (geb.  Hrto  (vgl.  Zeitung  für  die  elegante  Well  l*»05,  St. 
tu  Berlin,  lebt*»  als  Lehrer,   llufmeistor  und  privntiaiereMd  in  D^san,  GöU 
Halle.  KopentiaifCMi   nnd  Kenwied,    wo  er  von   ik-m  Fürsten  den  Hofrathstitirl 
Idelt,  wurde  dann  an  einer  Handelsschule  iu  Berlin  angcKtellt  nud  170TMil 
einer  Fralehuugsanstalt  in  Dessau,    von   wo   er   1*^110  nach  Leipzig  aberaMdH 
Er  starb  isn^^  gogrOndet  und  nach  dessen  Tode   von  A.  Mahlmann,  i] 
Andern  redigiert  wurde. 


W9m 


ekelongyg.  d.  hii.    1773—1532.   Miscbang  vod  Krzüblung  und  Drama.    239 

lane  gelten  tnussten,  aber  entweder  narh  Art  des  Drairia's  liurcb- 
gebend*  in  dialog-ischer  Form  oder  so  abgefasst  waren,  dass  ErÄjiblung 
ind  dramatischer  Dialog:,  ja    dieser   selbet   mit  Briefen    dariu    ab- 
Tohselten.     Der  erste,   mir  bekannte  Koraan  in  dialogiscber  Form 
-ar  „Gustav  Aldennann.      Ein    dramatiscber  Roman""  (von  F.  T. 
ie)^,  dem  zwei  Jahre  darauf  ein  zweiter  von  demselben  Verfasser 
■„Friedrich  Maliler,    ein  Reytrag  znr  Menschenkunde"^    folgte.     Zur 
Empfehlung  und  Verbreitung  dieser  Form  trug  indess  niemand  mehr 
n    als    Meissner    mit    seinem  ».Alcibiades".      Ihm    schlössen    sich 
lamentlich    an:    Seblenkert",    H.    G.   Schmieder"     J.   A.  Fessler", 
K.  G.  Gramer"  und  Albrecht"   —  Es  bedurfte  also  einer  neuen,  auf 
[urchgreifende  Reformen   gerichteten  Wendung   in   unserer  schönen 
jtcratur,  wenn  ihre  Erzeugnisse  in  Gehalt  und  Form  wieder  etwas 
lehr  werden  sollten,  als  ein  bloss  zeitkUrzondes  Unterhaltungsmittel 
tr  ein  Publicum,   dessen  aesthetisehes  Urtbeil   noch   so   wenig   ge- 
ildet  wart  dass  es  an  dem  vielen  Schlechten,  was  ihm  in  Büchern 
id  auf  den  Buhnen  geboten   wurde,  im  Atlgemeinon,    so  bald  es 
mr  neu  war,    weit  mehr  Wohlgefallen  faud,    als  an  dem  wenigen 
ruten  und  Vortreftlichen,  das  wir  damals  schon  in  der  erzählenden 
lod  dramatischen  Poesie  besassen.    Eine  solche  Wendung  trat  wirk- 
Icb  um  die  Mitte  der  Neunziger  ein   und  wurde  auch  schon  in  den 
;iden    vonmfgehenden  Jahrzehnten   mehrfach  vorbereitet:    zuniichst 
lurcb,  da9|  einzelne  hervorragende  Männer,  thcils  durch  sorgfältige 
lud  geschmackvolle  metrische  Uobersetzungen   fremder  Dichtungen, 
l*1beUs  durch  eigene,  besonders  dramatische  Werke  in  Versen  wieder 
den  SioD  für  den  Werth  schöner  kunstmässigor  Formen  im  dichteri- 
schen Darstellen  weckten.  — 


^ 


§  312 


75l  Leipzig  177(».    2  Thie,   ^.  76)  Geb.  1751  zu  Stefnbach  bei  Penig, 

wurde  nach  «einen  Universitutsjahrpii  in  Dresden  anpostellt ,  wo  er  Kuletzt  Geh. 
CAbiuetsflecretar  war  und  \yi.\  starb.  77)  Leipzig.  2  Thle.  b.  7Si  M^'ned- 
rieh  mit  der  gebissenen  Wange".    Leipzig  I7S4 — Sh.    4  Tide,    h.  und  andere. 

79t  Geb.  17fj.1  in  Sachsen,  trat  zuerst  in  Kriegsdienste,  studierte  dann,  worauf 
er  ftfi  verscliiedenec  Orten  privatisierte.  ISoi  gieng  er  nach  St.  Petersburg. 
Or^t.  ?  „Scenen  aus  der  neuesten  Weli'v  Halle  17Si;  „das  Erdbeben  zu 
MriiinÄ".    llaUe  175ti  etc.  SO)  Von  ihm  und  semcu  Romanen  anderw*rts 

::i-  ir.  Sil  „Uaspar  a  Spada,  eine  So^re  aus  dem  i:i.  Jahrhundert''.    Leipzig 

'  ':  i.    2  Thle.   ^.  ^2)  „Üie  FamUie  Eboli".    Dresden  «nd  Leipzig  ni»2. 

1  Itile.  s.  l'ni  das  J.  1790  äusserte  Schatz  im  Anhang  zum  5;i.  ^ü.  Bde.  der 
^^i.^.meiBe«  d  Bibliothek  S.  lSt>7:  „Seit  einigen  Jahren  haben  wir  dnunatifiierte 
KSil  romanisierte  Biographien  zu  Dutzenden  bekommen;  wahrscheinlich  weil 
iHe  Arbeit  ziemlich  bequem  i&t,  und  man  so  auf  die  leichteste  Art  den 
~  n  rra*.'^  Dichters  zu  erlangen  glaubt".  Ueber  Romane,  die  theils  diaio- 
^1  li.  theiU  in  Briefen  abgefasst  waren,  vgl,  die  neoe  aUgemeine  d.  Biblioiliek 
14,  2,  4«  f. 


240     M.  Vom  Kweitea  Viertel  des  XYIU  JabrhunderU  bk  zu  Goeüie's  Tod. 


§  313. 
So  viel  auch  an  dem  eigenthnmlichen  Gehalt  der  8C1 
Literatur  aus  der  Sturm-  und  Drang^-eit  und  dem  <iarauf  folgendeft_ 
Jahrzobent  im  Allgemeinen  und  im  Besondem  auBgesetzt  wei 
kann,  so  bewährt  sich  darin  doch  immer  noch  eine  nicht  unbedf 
londe  Kraft  und  Mannigfaltigkeit  des  dichterischen  Erfindeoa. 
gegen  zeigt  sich  in  ihr ,  wenn  wir  sie  von  ihrer  formellen  Seite 
trachten,  im  Ganzen  nicht  allein  die  aufTüUigste  Vernachlii8*i| 
innerer  kuustmässigcr  Ausbildung,  sondern  auch  ein  beinahe  di 
gängiger  Maugel  an  selbständig  erfundenen  äussern  Kunstformen, 
sogar  an  Sinn  für  das  Wesentliche  äusserer  poetischer  Form  Ül 
haupt.  Die  früherhin  bei  uns  mehr  oder  minder  glücklich  eil 
führten  metrischeu  Gebilde  der  Fremde,  die  bis  in  den  Beginn 
Siebziger  für  die  vcrschiodeneu  Gattungen  der  Poesie  zur  Anwendi 
kamen,  waren  grossenthcils  veraltet.  Neue  eigene  wurden  nicht 
scbaffen:  selbst  die  innere  Triebkraft  dazu  schien  in  unserer  Di*.' 
tung  versiegt  zu  sein'.  Nur  das  Lied,  das  epische  wie  das  l^rihcbe. 
gelangte  schon  in  den  Siebzigern,  vornehmlich  durch  Goethe  und 
einige  Dichter  aus  dem  GOttinger  Kreise,  zu  edlen,  schönen  ui 
zugleich  eigcnthdmlich  deutschen  Formen,  weil  dasselbe  in  »eii 
altem  volksmässigen  Art  nie  so  völlig,  wie  die  Obngen  poetische 
Gattungen,  abgestorben  war,  und  die  Dichter  hier  nur  die  Foi 
des  noch  lebendigen  Volksgesanges  kunstmässig  auszubilden  hrau< 
ten*.  Die  Versuche  den  altdeutschen  Erzflhlungsvers  aufs  neue  w 
beleben  und  ihn  namentlich  in  der  erzählenden  und  in  der  di 
tischen  Poesie  in  Aufnahme  zu  bringen,  blieben  zu  vereinzelt 
traten  auch  zu  bald  wieder  zurtlck,  dort  vor  verschiedenen  alt 
und  neuem  Nachbildungen  fremder  Versarten,  hier  vor  der 
rede*.  Wie  weit  gerade  diese  altm^lhlig  in  allen  Dichtarteu  um 
gegriffen,  wie  sie  ganz  besonders  im  Drama  die  gebundene  Rede 
gut  wie  völlig  aus  dem  Felde  geschlagen  hatte,  ist  im  Vorhergel 
den  an  verschiedenen  Stellen  nachgewiesen  worden  \  Was  vor  d< 
Ausgange  der  Achtziger  entweder  auf  dem  Wege  der  Ausübung  oi 
auf  dem  der  Forderung  geschah,  um  hierin  eine  wesentliche  Xem 
ruug  zu  bewerkstelligen,  war  dazu  nicht  massgebend  und  durcb- 
grcifcnd  genug:  theils  empfahl  es  sich  bei  den  Schwierigkeiten, 
mit  dem  Gebrauch  metrischer  Formen  verbunden  siud^  den  Dichl 
die  sich  an  das  Be(|ueme  der  prosaischen  EinkleidungswciM  gei 


.     S  3J3.     1»  Vgl  IW.  m,  211.  2}  Vgl.  Bd.  lU,  215.  270;  und  IV,  U 

3)  Vgl.  lU.  -l^b;  25<J;  IV,  §  3U3.  Anm.  14,  und  dazu  HI,  21&.         4]  § 
Anm,  .11  uud  IV»  I3$— 202. 


ickettingBgong  der  Literatur     1773 — i83'2.    Poetiache  und  Prowi-Form.    241 

ifttten.   zu  wenig:  xur  Nachfolge;   thoils  stiesa  oa  auch  auf  den  fort-  §  313 

ternden  WidersprucL  irriger  Theorien  und  gefasater  Vorurtheile. 
»land  blieb  mit  Beinen  erzählenden  Dichtungen  in  Versen  lange 
nlicb  allein  stehen;  die  meisten  Erzähler,  die  den  seinigen  ver- 
wandte Stoffe  behandelten,  wilhlten  dafür  lieber  die  ungebundene  als 
die  gebundene  Rede.  Leasing  hatte  schon  1779  in  seinem, »Nathan"  das 
Beispiel  gegeben,  wie  sich  ein  dramatisches  Werk  von  dem  edelsten 
Gehalt  in  eine  metrische  Form  fassen  Hess,  die  zwar  im  Allgemeinen 
der  shakspeareschen  nachgebildet  war,  aber  weder  der  deutschen 
Sprache  irgend  welche  Gewalt  anthat,  noch  die  Natürlichkeit  und 
freie  Bewegung  des  dramatischen  Dialogs  im  geringsten  becia- 
trÄcbtigte*;  und  wenn  er  sie  auch  wirklich  mit  ihrer  gn^ssern  I^eich- 
tigkeit  wegen  der  prosaischen,  wie  er  sie  von  sich  forderte,  vorge- 
logen haben  sollte",  so  bestimmte  ihn  dazu  doch  auch  noch  ein 
innerer  Grund';  und  sicherlich  hat  seine  Dichtung  dabei  an  Kunst- 


^^   5)  JambUchc  Fünffüssler  hatte  Lpsaing  bereits  in  dem  Fragment  seines  Trauer- 
^■bIs  Fatme  (17^9)  gebraucht  ivgl..  s.  Schriften  2,  500  ff.);  ebenso  in  den  Frag- 
Vtaten   des  Trauerspiels  Klconnis  (2,  507)  und  im  Horoscop  (2,  515  ff.). 
6l  Am  1.  Dec.  177s  schrieb  Lessing  an  seinen  Rruder,  als  er  diesem  den  Anfang 
..Nathan'*  Uborsandtc  isdiniull.  Schriften  12«  515):   „Wenn  ich  Dir  noch  nicht 
iriobH.n  habe,  dasa  das  Rrück  in  Versen  ist:   so  wirst  Du  Dich  vermuthlich 
idem,  es  so  zu  tindcn.     Lass  Dir  aber  nur  wenigstens  nicht  bange  gein.   dass 
dämm  spüter  fertig  werden  wtlrde.   Meine  Proso  hat  mir  vou  jeher  mehr  Zeit 
[OBlot.  als  Verse".     Und  zwei  Wochen  spikter  an  Elise Reimarus  (12,  517t:   „Ich 
is  machen,  dass  ich  mit  meinem  Nathan  fertig  werde.   Um  geschwind  fLTtig  zu 
Ion.  mjwhe  ich  ihn  in  Versen.    Freilich  nicht  in  gereimten:   denn   das  wäre 
XQ  uugereimt*^  7)  Leasing  hat  sich  selbst  in  zwei  Stellen  seiner  Hricfe 

ien  Grund,  so  wie  über  den  allgemeinen  Charakter  seines  dramatischen 
und  über  die  Wahl  der  Versart  geiUissert  Erstlich  in  dem  eben  angetnhrten 
Briefe  an  seinen  Bruder,  worin  er  fortführt:  „Ja.  wirst  Du  sagen,  als  solche 
le!  —  Mit  Erlauboiss;  ich  dächt«,  sie  waren  viel  schlechter,  wenn  sie  viel 
;r  waren".  Sodann  in  einem  Briefe  an  Eamler  vom  18.  Dec.  177*^  {12,  317): 
lerdings  —  bin  ich  Ihnen  eine  Entachuldlgung  schuldig,  warnm  ich  in  dem 
^0  versißcierten  Stücke,  das  ich  mache,  nicht  unser  verabredetes  Metrum  ge- 
Lcht  habe".  (Es  war.  wie  sich  aus  dem  Folgenden  ergibt ^  die  zweite  Art  des 
»D  $  275,  iX  näher  bezeichneten  Trimetera,  dessen  sich  Ramler  In  einigen  6e- 
bedteut  hat)  „Die  reine  lautre  Wahrheit  ist,  dass  es  mir  nicht  geliiutig 
.gmig  war.  Ich  habe  Ihren  „Ceplmlus*'  wohl  zehnmal  gelesen,  und  doch  wollten 
die  AnapiUten  uiemals  von  selbst  kommen,  Sie  in  den  fertigen  Vers  hincinzu- 
sken,  das  wollt'  ich  auch  nicht.  —  Aber  nur  Geduld!  Das  ist  bloss  ein  Ver- 
mit  dem  ich  eilen  muss,  und  den  ich  so  ziemlich,  in  Ansehung  des  Wohl- 
ing«s.  von  der  Hand  wegsclilagen  zu  können  glaube.  Denn  ich  habe  wirkhch 
Verse  nicht  des  Wohlklanges  wegen  gewählt:  sondern  weil  ich  glaubte,  dass 
orientalische  Ton.  den  ich  doch  hier  und  da  angeben  müssen,  in  der  Prose 
sehr  auffallen  dürfte.  .\ur,h  erlaube,  meinte  ich,  der  Vera  immer  einen  Ab- 
cher, wie  ich  ihn  jetzt  zu  meiner  anderweitigen  Absicht  bei  aller  Gelegcn- 
iieit  ergreifen  muss.    Bfir  gnüget  dass  Sic  nur  so  mit  der  Veratfication  nicht  ganz 

KvbttntolK.  Oruodrin.    &   Aafl.  IV.  16 


^ 


242    VI.  Tom  zweiten  Viertel  dea  XVm  Jaiirhundexta  bis  im  Goethe*»  Tod. 


J 

habend 


313  mäsfiigkeit  mebr  gewonnen  als  verloren.  Wenige  Jahre  nach 
sprach  sich  Wielaud  dahin  aus,  er  verlange  nicht  minder  von  d 
dramatischen  wie  von  dem  epischen  Dichter ,  dass  er  sich  den 
Schwierigkeiten  der  Versform,  ja  selbst  des  Reimes  unterziehe, 
dem  zweiten  „Sendschreiben  an  einen  jungen  Dichter*'*  sagt 
„Ein  Tragödiendichter  in  Prosa  ist  wie  ein  Heldengedicht  in 
Verse  sind  der  Poesie  wesentlich:  so  dachten  die  Alten,  so 
die  grössten  Dichter  der  Neuern  gedacht;  und  schwerlich  wird 
jemals  einer,  der  eine  Tragödie  oder  Komödie  in  schönen  Ve 
machen  könnte,  so  gleichgültig  gegen  seinen  Ruhm  sein,  lieber 
Prose  schreiben  zu  wollen.  Ich  dinge  sogar  den  Reim  ein:  weil 
nicht  eher  ein  Recht  haben,  uns  mit  den  grossen  Meistern  der 
lilnder  (d.  h.  der  Franzosen)  zu  messen,  bis  wir,  bei  gldcl 
Schwierigkeiten,  eben  so  viel  geleistet  haben  als  sie."  Indes«  r 
den  bedeutendem  Dramatikern  hörte  zunächst  nur  Schiller  auf 
Wort  und  entschied  sich  fllr  die  Versart  von  Leasings  Nathan  gle» 
beim  ersten  Entwurf  seines  „Don  Carlos"*.  „Ein  vollkommeDi 
Drama'S  sagt  er'*,  „soJ^  wie  uns  Wieland  sagt,  in  Versen  gesch 
ben  sein,  oder  es  ist  kein  vollkommenes  und  kann  für  die  Ehre  d 
Nation  gegen  das  Ausland  nicht  concurrieren  .  .  .  Nicht,  als  ob  i 
auf  das  Letztere  Anspruch  machte,  sondern  weil  ich  die  Wahrh 
jenes  Ausspruchs  Überzeugend  erkannte,  habe  ich  diesen  Carlo» 
Jamben  entworfen.  Aber  in  reirafreieu  Jamben,  —  denn  ich  unt 
schreibe  Wielauds  zweite  Forderung,  dass  der  Reim  zum  Wesen  d 
guten  Drama's  gehöre,  so  wenig,  dass  ich  ihn  vielmehr  för  eil« 
unnatürlichen  Luxus  des  französischen  Trauerspiels,  fUr  einen  tmi 
losen  Behelf  jeuer  Sprache,  för  einen  armseligen  Stellvertreter  d( 
wahren  Wolilklangs  erkläre,  —  in  der  Epopöe  versteht  sichs  und 
der  Tragödie.  Sobald  uns  die  Franzosen  ein  Meisterstück  dii 
Gattung  in  reimfreien  Versen  zeigen,  so  gehen  wir  ihnen  ein  äbi 
liches  in  gereimten."  Vcrmuthlich  tnig  Schillers  Beispiel  viel  dazD 
bei,  dass  auch  der  Frhr.  Wolfgang  Heribert  von  Dalberg  "  bald  nach 


und  gar  unzufrieden  sind.  Ein  andermal  ich  wUl  Ihrem  Muster  besser  tiachfo]ga> 
Doch  musB  ich  Ihnen  voraussagen,  dasu  ich  sechsfüssige  Zeilen  nie  wählen  venie. 
Wenn  es  auch  nur  der  armseliiton  Ursache  wegen  wäre,  ilass  sich  im  Drucken 
ordiniirem  OctaT  die  Zeilen  so  garstig  brechen^'.  H)  Werke  4-4,  150  C  ;  »| 

oben  $  a09.  9.         Oi  Schilhn's  Briefe  an  den  Frhm.  H.  von  1>alherg.    KatI 
iHäft.    10.   S.  öl  (aus  dem  August  t'st):    ..Froh   bin   ich,   dan^  ich   nunmehr 
ziemlich  Meister  Ober  den  Jamben  bin;  e&  kann  nicht  fehlen,  ün&4  JcrVitni  nicioi 
Ctrios  sehr  viel  Würde  und  tilanz  geben  wird'*.  lU)  Kinleitnng  xnr  mtsn 

HAlfte  des  ..l>on  Carlos"  vom  J.   M^h,  in  der  Thalia   1,  1,  IMt  |  h  Gcb    i' 

zu  Herrnsheim  bei  Worms,  kurptalzischer  (ieheimerrath  und  Kunimerii',  rerwalu 
BMihrere  hohe  8tA&ts&mter.  war  Präsident  der  deutschen  Geselletcii4lt  xa  Hi 


:ltelttnflr»«&ng  der  Litpffttur.     1773— 1«32.    Poeiiscbe  und  Prosa-Forro.    24^ 

[em  Erscheinen  der  ersten  Hfilfte  des  Don  Carlos  mit  einem  Hebau-  §  313 
^»iel    in    jambischen    Ftlnffilsslern    hervortrat'"    mit    einem    vorauf- 
■Dfaenden  Schreiben  an  Gotter,  worin  Dalberg  sich  für  die  metrische 
Einkleidung  draniatisrher  Werke  evklÄrte,    ,,obne  die  Erheblichkeit 
der  dawider  gemachten  Einwürfe  zu  verkennen**.     Schon   das  Jahr 
vorher  sprach  er  sich  für  die  metrische  Fonn  des  Trauerspiels  ent- 
Mliieden   aus".     „Alle  filtern  Nationen,    auch  Engländer  und  Fran- 
Hbien,    haben    einen  Rhythmus  auf  ihre  Bllhne  im  Trauerspiel   ge- 
bracht, nm  einer  grossem   zügellosen  Weitschweifigkeit  Einhalt  zu 
^^n,  in  welche  des  Dichters  all/u  feurige  Phantasie   und   seine  er- 
Iplzte  Leidenschaft  gar  leicht  verfällt.     Man   sehe   nur   die    neuem 
deutschen   prosaischen  Trauerspiele!     VontUglich  Schillers,  Kliugers 
jod  Mehrerer  Stücke.     Was  wird  es  endlieh  um  den  tragischen  Stil 
^ftrdeo,    wenn  ihm  nicht  leichte  Fesseln  angelegt  werden ,   um  ibu 
tn    die  Grenzen    des   guten  Geschmacks   zurückzuführen."     Goethe 

«irde  schon  vor  der  italienischen  Reise,  als  er  seine  grossem  dra- 
Itigchen  Werke  noch  in  Prosa  schrieb,  durch  den  ihm  inwohnenden 
LOnheitssinn  gleichsam  unwillkürlich  aus  der  ganz  ungebundenen 
Rede  zu  einer  rhythmischen,  dem  jambischen  Mass  sich  zumeist  an- 
nähernden Darstellungsform  hingedrängt,  wozu  die  „Iphigenie**  in 
ihrer  altern  Gestalt  und  der  aufänglich  auch  noch  nicht  in  abgesetzten 
Zeilen  niedergeschriebene  „Kliieuor"  die  Hauptljelegc  sind'\  Gleich- 
^^bl  konnte  Engel  beim  Erscheinen  des  Don  Carlos  noch  eine  der 
^nelandischen  geradezu  entgegengesetzte  Theorie  mit  so  gutem  Er- 
folge verfechten,  dass  sich  auch  Schiller  ihr  fügen  musate,  als  sein 
Carlos  auf  die  Bühne  gebracht  werden  sollte'*.  —  So  schien  der 
Sinn  für  die  Vorzüge  der  metrischen  Form  vor  der  prosaischen  in 
den  grossen  Gattungen  der  Poesie  bei  uns  fast  ganz  abgestorben  zu 
sehi.  Er  mnsste  erst  überhaupt  wieder  bei  Dichtern  und  Publicum 
belebt,  geübt  und  geschärft  werden,  wenn  jene  Gattungen  in  ihrer 
Einkleidung  einen  kunstm.ässigern  Charakter,  als  der  zcitherige  ge- 

nnd  Intendant  des  von  ihm  selbitt  gestifteten  Theaters;  seit  tS03  badenschcr  Ofaer- 
boftneiflter  uii<l  Staatsmiiiister,  gest  ISOö.  Vgl.  Weimar.  Jalirbuch  h,  16  ff  ,  wo 
'^    tfc  an  W.  II;  Frhr.  v.  Dalberg  mitgetheüt  sind.  12)  „Der  Mönch  von 

tel",  Berlin  am!  Leipzig  1TS7.  s.,  dem  Tarmelite  von  Cumberlaml  frei  nach- 
—  In  derselben  Fonn  soll  nach  E.  Devrients  Geschichte  der  deutschen 
lielkuust  5.  15  noch  ein  anderes.  In  demselben  Jahre  zu  Mauheim  gedrucktes 
lUspEcl  V.  HalherfPs  „Mout*!Squieu,  oder  die  unbekannte  Wohlthaf*,  sein,  das 
nicht  weiter  kenne.  Von  den  gleichfalls  \'*sl  herausgegebeneu  „Schauspielen 
CbJIren  von  den  Brüdern  Chr.  und  Fr  L.  Grafen  zu  Stolbcrg"  an  andrer 
1^.  13)  In  einem  liriet'e  an  F.  L.  W.  Meyer  (Zur  Krinnerung  an  Meyer 

\<{^)  vom  13.  Juli  IT^tt.  14|  Vgl.  oben  §  '275,  Anm.  TU     Die  Scenen  im 

lODt",   in  denen  der  jambische  Ithythmus  so  cntachieden  Torhcrracht.   sind 
erst  ia  Italien  so  ausgeführt  worden.  ib\  Vgl.  4  31U,  39. 


i^ 


2-U    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVTH  Jahrhasdert«  bii  in  OMAe*«  To4 

8  513  wescn  war«  crbalton  sollten;  und  es  war  diess  nm  »o  nöthtger, 

durcb  die  Belebung  des  Sinnes  fQr  die  auaserc  Kuustfonn  auch  ttit 
die   Erweckung   und    Bildung   des   Sinnes   fUr   die    SchOohcit   «od 
kUnstloriscbe  YolFkommenbeit  des  innern  Baues  einer  Diebtang  rer- 
mittelt  zu  werden  vermocLte.    In  dieser  Beziehung  erwies  sieb  %htr 
fürs  erste  nichts  wirksamer  und   erfolgreicher   als   die   durch   wort- 
und  foringetreues  üeberaetzen   vollführte  Einbürgerung   der  »iich 
formeller    Hinsicht    ausgezeichnetsten    Dichtwerke    den    claMuicl 
Altcrthums  uud  der  neuem  Ausländer,  woraus  sich  bei  uns  alli 
lig  eine  eigene  Uebersetzungskuust  bis  zu  einer  Eübe^  wie  bei  keil 
andern  Volke,  entwickelte.  —  Als  der  erste  Begründer  dieser  Kui 
muss  Ramlcr  anerkannt  wenleu:    er   erwarb  sich  schon   vor 
siebziger  Jahren   das   Verdienst,  in  einer  Anzahl    Übersetzter  0( 
des  Horaz  seinen  Landsleuten  ein  für  jene  Zeit  vortreffliche«  Mi 
im  üebertragen  des  Inhalts  und  der  Form  antiker  Gedichte  in 
deutsche  Sprache  aufzustellen '\     Ein  anderes,  viel  bewundei 
digerea  und  in  seiner  Art  noch  immer  kaum  erreichtes,  gewiss  aber 
nicht  übertroffenes  Meisterwerk  in  der  Kunst,  fremde  Poesi« 
allein   nach  Inhalt  und  äusserer  Form,   sondern   auch    nneh 
eigentbümlicbeu  Geist   und  Ton   uns   anzueignen^    lieferte  Ilcrdi 
gegen  Ende  der  Siebziger  in  seinen  „Volksliedern'"*.     Diese 
ein    in   seiner  Art  ganz   einziges   Besitztburc   unsers  Volks,    di 
Gleichen    keine   andere  Nation   in    ihrer  Literatur    wird    aufwelMB 
können.    Weit  entfernt,  bloss  deutsche  Lieder  in  sich  zu  befuteB 
(sie  bilden  nur  einen   kleinen  Theil   de^  Ganzen),  veigegenwKr^j^ 
diese  Sammlung  gleich  in  ihrer  ersten  Gestalt   mit  ihrem  Inhalt 
zu   sagen   die   volksmässige  Liederpoesie   des   ganzen  Erdballs 
weit  sie  damals  der  gebildeten   und  gelehrten  Welt  schon  bcki 
geworden   war.     Griechische  und  lateinische  Stücke,   altnordiscl 


16)  Vgl.  U.  Gruppe,  JeuiscUe  ücbersetzcrkunat    Baanover  IS59.    s.    (St 
Ausgabe.    IHfiS);   und  W.  Hertzberg,   zur   Geecbicbte    uud  Kritik    der   deol 
Ueberscbmngcn  »ntiker  Dit'litfr.   in  den  Prcusbiscbcu  Jahrbüchern  1H64,  Iti 

17)  Nach  einem  Driefe  AbbU  aus   dem  J    ITOl  (Werke  b,  57)   hatt* 
schon  d&maU  „alle   burazischen  Oden  nach  augefl^hr  ühulicheD  Metru   drol 
Uberactzt'';  er  werde  aber  wobi,  meinte  Abbt,  noch  zwanzig  Jahre   daims  teiks, 
deun  niemand  sei  auf  den  ^ringsten  Ausdruck  (^nauer.    Heraosgo^ben 
von   ihm   zuerst   (faufzrhn)  „Oden  aus   dem  Horaz".     Ilerlin  tTßft.    ^.  <w 
waren,  gibtJörüeiis  4,  2li:t,  Note  t  an);  wiederholt  ia  seinen  „lyrischen  G« 
liertin   I77'2.    S. .   verbessert    und   um   fünf  vermehrt   im   2    Theü  der 
Werkt'",     tterlin  IS(h»  f.  in  t.  und  S.    Andere   hatte   Uamler.   aobaJd  er  tk 
druckwunlii*  hielt,   in  verschiedene  periodische  Scliriftcn    cinröcken   la^s^n^ 
allen  war  er  erat  kurz  vor  st^nem  Tode  fertig  geworden,  ihre  Herausgabe 
Oden.  Ubemetict  uud  mit  Aumerkungeu  erläutert  von  K  W.  Ramler**. 
2  ]Me.   s   «Hebte  er  nicht  mehr.  18)  Vgl.  }  300,  4tt. 


tckelaogsg.  d.  Lit.    n73— 1832.  Uebersctzuugakunst.   Kamlcr.   Herder.    245 


Liscbe,  englisclie  und  schottische,  simnische,  italienische  inul  fran-  §  31^ 
zOflische,  littauisebc,  lettische  und  estbnisuhe,  wendische,  böhmische 
and  morlackische^  lappländische,  grönländische  und  peruanische  sind 
in  deutRcher  Bearbeitung  hier  mit  den  ursprünglich  deutschen  Liedern 
XU  einem  Kranz  von  unvergleichlichem  Reiz  zusammengeflochten. 
Dftft  eigentlich  Bewundernswürdige  darin  ist  aber  nicht  die  Fülle 
und  Mannigfaltigkeit  der  poetischen  Blüthen,  womit  Herder  in  einer 
Zeit,  wo  noch  so  weniges  der  Art  zugänglicher  gemacht  nnd  erreich- 
bar war,  seine  Nation  beschenkte;  sondern  die  treue,  höchst  glück- 
liche Wahrung  alles  Eigentbümlichen  und  Nationalen  der  fremden 
Volkspoesien  in  diesen  doch  so  durchaus  zwanglos  erscheinenden 
Verdeutschungen".  Unterdessen  hatten  sich  auch  schon  zwei 
^bup|)en  V(m  Uebersetzem  gebildet,  deren  eine  ihre  Kntfte  vorzugs- 
Hkiae  im  metrischen  Verdeutschen  einiger  der  hervorragendsten 
poetischen  Werke  des  classischen  Alterthums,  namentlich  der  ho- 
merischen Gesänge,  versuchte;  die  andere  sich  hauptsächlich  ange- 
legen sein  liess,  unserer  Literatur  die  berühmtesten  Kunstdichtungen 
der  n>manischen  Südländer,  besonders  der  Italiener,  fürs  erste  jedoch 
noch  mehr  in  deutscher  Prosa  als  in  deutscheu,  den  Originalfonnea 
auchgebildcten  Versen,  anzueignen.  Jene  stand  im  nächsten  innem 
and  äussern  Befuge  zu  Klopstöck,  diese  zu  Wieland.  Unter  den 
Üebcrsetzem  antiker  Dichtwerke  finden  wir  den  alten  Bodmer 
wieücr,  BUrger,  die  beiden  Grafen  Stolberg,  und  J.  H.  Voss,  nebst 
E.  W.  von  Wobeser^'j  nnter  denen  Voss  den  eraten  Preis  der 
MeistonM^haft  errang.  Vossens  Uebersetzerruhm  gründet  sich  zunächst 
und  zumeist  auf  seinen  Homer,  und  keine  Verdeutschung  eines  alten 
fliehten)  hat  auch  so  bedeutend  und  so  wohlthätig  auf  unsere  Poesie 
Hid  insbesondere  auf  die  Dichtung  Goethe's  in  seiner  mittlem  und 
wjbiilers  in  seiner  letzten  Periode  eingewirkt,  als  Vossens  Homer, 
namentlich  die  Odyssee  in  ihrer  ersten  und  deutschesten  Gestalt.  Was 
im  achtzehnten  Jahrhundert  an  Ucbersetzungen  der  beiden  homeri- 


IQ)  .J{«rder*S  sagt  A.  W.  Schlegel  in  den  Charakteristiken  und  Krltikon  2,37 
iSfciuutliche  Werke  8,  *J'i  f ),  ,,bat  die  Volkslieder  der  Terschicdenstea  Naüoaen 
and  Zeiialtar  mit  gänzlicher  Reinheit  von  aller  Manier  und  poetischem  Schulwesen, 
jedes  treu  in  seinem  Charakter  übertragen.  In  dieser  in  ihrer  Art  einzigen  Samm- 
hmg  sind  die  eigensten  Naturlaute  mit  allseitiger  Empfänglichkeit  horauegetalUt". 
TfL  dazu  Hen  An^ng  von  Schlegels  Beurthcilung  der  herderschea  Tcrpsicborc  in 
»Ainnitbchen  Werken  10,  37(1  f.  und  die  schöne  Charakterisierung  der  herder- 
Volkslieder  von  Gerrious  4',  A'M)  ff.  20)  üeb.  1727  zu  Luckenwalde 

ideuburgischen ,   besuchte  die  Schule  zu  Kloster  Uergcn  und  trat  dann  in 
iste.     Alb  Officier  kam  er  an  den  Neuwieder  Hof,  wo  er  achtzehn  Jahre 
wtibrond  welcher  Zeit  er  aber  auch  Hollaud  und  England  besuchte.     17t<4 
rde  er  Uermhnter  nnd  starb  M^ib.   Vgl.  InteUigenz-Ülalt  der  Jenaer  Liieratur- 
ing  von  n«0.  N.  3». 


246    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  J&hrhunderts  bis  su  Ooftho*t  Tod 

§313  scbon   Gedichte    oder  einzelDer  Sttlcke  daraus  bis  zum  Be^nn 
Siebziger,  theils  in  Prosa,  theils  iu  Reimversen  oder  auch  Hexamet« 
erschienen  war",  kann,  wenn  man  nicht  etwa  Bodmers  bexametriscl 
Versuche  aus  den  Sechzigern**  ausnehmen  will,  in  einer  Oescbicl 
unserer  schönen  Literatur  gar  nicht  in  Betracht  kommen.     Erst  vom 
Jahre  1771  hepmn  die  Reihe  der  in  ihren  Bildungsgang  tiefer  ein- 
greifenden und  ihn  fördernden  Uebertragungeu  mit  den  von  BDr^r 
in  jambischen  FUnffilssIern   verdeutschten  TheÜen    der   Ilia«.     Das 
erste   Probefragment,    mit   einem    voniusgeschickten    Aufsatz,    . 
danken   über  die  Beschaffenheit  einer  deutschen   Uebersetznng 
Homer"  erschien  1771".    In  jenem  Aufsatz  versuchte  Bürger  nac 
zuweisen,    das»    für    eine  Verdeutschung   des   Homer   die  jambivl 
Form  jeder  andern,  und  namentlich  auch  der  hexametrischen,  v< 
zuziehen  sei ;  er  berief  sich  dabei  auch  besonders  auf  dasjenige, 
Herder  in  seinen  ,, Fragmenten  über  die  dcutsdie  Literatur** 
den  Gebrauch    des   Hexameters    beim   Uebersetzen   antiker    Poeci« 
Torgebracht   hatte".     Als   seine  Sfttze   und   ihre  Anwendung  anp- 
fochten  wurden ,  Huchte  er  sie  durch  Widerlegung  der  Gegei 
noch  fester  zu  hegrflnden  in  dem  Schreiben  ,,an  einen  Freunt 
die  deutsche  Uias  in  Jamben**".     Im  Allgemeinen  fanden   die 
hOrger  bekannt    gemachten   Bruchstücke   seiner  jambisi'hen  Uel 
Setzung  grossen  Beifall     Gleichwohl  Änderte  er  einige  Jahre  «] 
als  er  die  Erfolge  sah,  die  Andere  mit  hexametris^'hen  Verdeul 
gen  des  Homer,  und  uamentlich  Voss  mit  seiner  Odyssee,  erreii 
seine  Ansicht    ganzlich    über    das    für    einen    verdeutschten  H* 
passendste  Verpmass  und  gicng  nun    selbst   an  eine  hexametrii 
Uebertragung  der  llias,    von  der  die   ersten   vier  OesÄnge    17S4 
ersten  Bande  des  Journals  von  und  für  Deutschland  gedruckt  wurden^ 
Unterdess  hatten  schon  im  Jahre   177S  Bodmer  eine  Verd 
der  llias  und  der  Odyssee  in  Hexametern*^  und  F.  L.  Gr.  zi 


21t  Vgl    J.  fi.  Sc.hummoU  Uebcrseuer-Bibliothek  etc.  forl^josctzt  von  J  G. 
Schlüter     Hannover  t:**4.    's.    S,  2  ff.  22)  Im  2.  Ud  der  t'alHopc.  S    157] 

23)  Im  (').  Bd   von  Klotzens  deuUcher  Bibliothek  der  Hchönon  WisseoiK 
S.  1 — II,  worauf  dann  im  deiitächen  Museum  von  ITTi»  und  ira  deutschen  M« 
von  demselben  Jahre  noch  mehrere  Siticke  in  derÄelhen  Versart  folgten. 
24)  Vgl.  ia  Reinhards  Ausgabe  von  Bürgers  Werkeai  3.  ISff :  bei  IJohtz  S 
*25»  Gedruckt  im  d.  Merkur  von  ITTti.    -1,  4U  ff.  2()t  Alle  von 

vcröfl'culllehteu  Stücke  seiner  beiden  Uebersetzuntfon  finden  sich ,  mit  d^  Vi( 
berichten,  dem  Schreiben  an  einen  Freund  etc.  beisammen  in  Heinhardf  Ai 
'I'h  3  und  in  der  vun  Bohlz  S.  \'M>f\'.  Dort  sind  ausserdem  noch  ein  Paar StttcUT 
hier  anch  alles  Utbrige  zum  erstcniual  gedruckt,  was  die  Herausgober  in  BQiigKi 
handscbriftlicheiii  Xachla^s  von  beiden  Uebersetzuugon  vorfanden  27'..HuaHn 

Werke.    Aus  dem  (irlechischcn  übersetzt  von  dem  Dichter  derNoacUide". 
2  Thlc.   S. 


HDtwickelongig&ng  der  Literatur.    1773—1632.   Uebers«tzungskuuBt    Voss.    247 

eiae  in  gleiclier  Vereart  von   der  Ilias  geliefert*'.     Die  dritte  roll-  §  3i3 
ftUndigro,  ebenfalls  bexametrisehe  Uebersetzung  der  Ilias  gab,  ohne 

Mob  auf  dem  Titel  zu  nenueu,  E.  \V.  von  Wobesor,  die  ,,Ueber- 
'■etziing  des  Ungeuannten*'*".  J.  H.  Voss  erbielt,  wie  Stolberg"  die 
erste  Anregung  zu  seiner  Uebersetzung  der  homeriacben  Gedicbte 
durch  Kl(>i)sto<'k,  der  ibm  im  Anfang  de^Jabres  1776  seine  für  den 
^«weiten  Tbeil   der  ».Gelebrtenrepublik'*   bestimmten ,  in   Prosa  ver* 

[eutschten  BrucbstUcke  aus  dem  Flomer  vorlas  und  ihm  anlag,  mit 
'ftu  der  Uebersetzung  desselben  zu  arbeiten**.  Im  März  1777  hatte 
■fr  über  400  Verse  aus  der  Odyssee  übertragen,  die  ins  deutsche 
Mueum  kommen  sollten";  damals  war  es  ihm  erst  i, wahrscheinlich", 
dasö  er  dies<.'8  Gedicht  ganz  Übersetzen  würde".  Zwei  Jahre  darauf 
kündigte  er  an,  er  denke  die  Odyssee,  mit  erklärenden  Anmerkungen, 

wf  Pränumeration   herauszugeben  ^\     Eine    zweite  Probe,    den    14. 

besang,   brachte  der  deutsche  Merkur  von  1779";   eine  dritte,  mit 
nmcrkuugen,  das  deutsche  Museum  von  1790".     Endlich  erschien 

rHcjmerg  Odyssee,  übersetzt  von  J.  H.  Voss"".    An  die  üebei-setzung 

ler   Ilias  gieng  Voss    I7S6";  als  Probe   wurde  der  neunte  Gesang 

km  neuen   deutscheu  Museum  von   1790**  einverleibt,  das  Ganze 
mit  der  ttberarbeiteteu  Odyssee,  erst  drei  Jahre  später  beraus- 
chen;   ,, Homers  Werke  von  J.  H.  Voss"***.     Von   andern    alten 
Clwsikern  verdeutschte  Voss,  Je  lAnger,  desto  steifer  und  gewaltthä- 
gegen  die  deutsche  Sprache,  (was  auch  von  seinen  verschiedenen 
irbeitiingen   des  Homer  gilt)   noch   vor  Ablauf  des   achtzehnten 
Jahrhunderts:   Virgils  Georgica";  „Virgils  Werke"**;   „Ovids  Ver- 

■ ^ 

^B       2Sl  »Jlomers  Ilias,  verdeutscht  durch  F.  L.  Gr.  zuätolberg*\   Flensburg  und 

^■^ipzi;.    2  Bde.    ^.   Mit  dem  bereits  l'7ti  im  d.  Mus«um  gedruckten  20.  Gesänge 

^BMIft&Colb^rg  die  be>'orst4*heude  Erscheinung  seines  Werks  angekündigt.    UrtbeÜe, 

^^^^Ka  damals  über  CodmerB  und  Stolborgs  Arbeiten  von   bedeutenden  Männern 

^gHÖll  wurd*»n,  tuidet  mau  u.  a.  in  den  Briefen  an  und  von  Merck.    I'ja^,  S.  142; 

im  d.  Merkur  177*^.    2.  2'«2  (von  Mercki;  in  Herders  Volkaliedem  2,  7  f.  Anmerk. : 

Sa  dm  Briefen  von  J.  H    Voss  3.  I,  14«;  in  der  allgemeinen  d.  Bibliothek  37.  I, 

131   IT.  and  im  d.  Museum   !77y.    2,   »5^  ff:    I7M).    1,  2«4  ff.  2\h  „Homers 

QiAde.  von  neuem  metrisch  übersetzt".    Leipzig  17M— ^7.   H  Thie.   8.        30)  Vgl. 

4.  Moaemn  I77ii.    2.  957.  31)  Vgl.  seine  Briefe  1,  3i)0.  32)  Sie  er- 

tdneaen  im  d.  Museum  von  1777.    1.  462  ff.  33)  Briefe  1,  ;t34.  31)  D. 

1779.    U  S74.  35)  1.  i>7  ff.  36»  1,  ;tu2  ff.  37)  Hamburg 

Ift.   8.;  jedoch  ohne  die  Anmerkungen.  3S)  Vgl.  Briefe  2,  2'!*l  ff. 

)»  1.  I  ff.  40t  Altena  t7<>:t.     )  Bde.    s.;   vgl.  darüber  besonders  A.  W. 

:hlegeU  Receusion  in  der  Jenaer  Literatur- Zeitung  von  17^»),  N.  2ti2  ff.  und  die 

imerkougen"  dazu  in  den  Charakteristiken  und  Kritiken  2,  l'J2  ff.  und  in  den 

itiscben  Schriften  I.  ITiiff  ;  allrs  beisammen  in  den  sämmtl.  Werken  lu,  115  ff. 

41)  .,I>e*  P.  Virgilius  Maro  Landbau.    Uebersetzt  und  erläutert"  etc.    Eutin 

nambun;  17*9.   >,;   mit  den  Eklogen  als  „Ländliche  Gedichte'*  etc.    Aitona 

[9l_ISüu.    4  Bde.    •*.  42f  Braunschweig  179fl.     :*  Bde.    8. 


^^^^^^^^^^^^W^^HVP 


24S    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XYUI  Jahrhunderts  bis  en  Go«the*5 


Tod.    ^M 


313  wandluagen"  (in  einer  Auswahl)",   so  wie  rerschiedene  Stücke 
dem   Theokrit,    Horaz,    TibuU*'.      Als  Ucbereetzer    sÜdromaniBcbi 
Dichter  traten  nach  und  nach  zusammen  Wertbcs,  Fr.  Schrait,  F. 
Bertuch'%  einer  der  Ersten,  durch  welchen  die  Deutachen  mit  di 
Schätzen  der  spanischen  Literatur  näher  bekannt  wurden,  W.  Heim 
Mauvitlon,   J.  C.   Fr.  Manso^**   und   andere.     Von    italienisch o| 
Dichtern  waren  bis  zum  Ausgange  der  Neunziger*^  ziemlich  vi( 
Uebersctzungcn  erschienen.    Von  Ariosts  rasendem  Koland:  in  echt« 
Ottaven    die   ersten    acht  Gesflnge    1774 — 78    durch   Werthcs' 
Prosa  von  W.  Heinso  der  Anfang  in  J.  G.  Jacobi's  Iris  von  I77i 
das  Ganze  1782   f."*   und  von  J.  Mauvillon  1777  f.";    in    verschil 
denen   Versarten  von   Th.   W.   Broxtermann*^   Proben    einer    freie« 
Uebersetzung  der  ersten  beiden  Gesänge"  (die  eine  in  Hexametern, 
die  andere  in   achtzeiligen  reimlosen  Strophen    in  Jambiächen  Fönf- 
fOsslern)  uud  von  S.  C.  A.  LUtkomdUor"  fünfzehn  Gesänge  in  reim- 


43)  Berlin  1798.   2  Thle.   8.        44)  Von  andern  metriscben  Verdeut^cfaimgca 
antiker  Dichter  will  ich  hier  nur  noch  den  ..Sophokies,  Übersetzt  von  Chr.  Ot. 
Stolbcrg,  Leipzig  1787.     2  Bde.    S.   anführen,  worin  aber  nicht  die  Vt«rsartea 
Originals  nachgebildet,  sondern  jambUchc  Füuffüabler  für  den  Dialug  und  huri 
lyrische  Formen  für  die  Chöre  gebraucht  sind.    Die  „vier  Tragödien  des  Arsi:hyl( 
Teiche  Fr.  L.  Gr.  zu  Stolberg  übereetzt  hat,  erschienen  erst  IS02.    Hamburg. 

45)  Geh.  t'47  (nach  Uoffoiann.  Weimar  Jalirb.  6.  126,  imJ.  I74ß)  zu  Wui 
studierte  in  Jena  zuerst  Tboologie,  dann  die  Hechte.  Als  er  darauf  nach  All 
bürg  in  das  llaub  de»  Gehcimenratbs  von  Backliof  kam,  der  früher  dänischer 
saudter  in  Madrid  gewesen  war,  bot  sich  ihm  die  Gelegf^nhcil,  das  Spani=rbe 
erlernen.  1772  gieng  er  nacb  Weimar  zurück,  wurde  hier  1775  CabincUsecrcl 
bald  darauf  herzogl.  Rath  und  endlich  Legatioosrath.  I79f;  trat  er  auf  di 
Dienste  und  widmete  sich  fortan  besonders  der  Leitung  mehrerer  von  ihm  ge*'^- 
grQndeten  Institute ,  namentlich  des  LandesiuduHiriocomtoirs.  Kr  war  Hituatv 
nehmer  des  d.  Merkurs  und  der  Jen.  Literatur-Zeitung,  Begründer  und  Hmni- 
geber  des  „Journals  des  Luxus  und  der  Moden"  (Weimar  17hu6:.k  so  wie  suidcror 
pcriodiacber  Sammelwerke,  schrieb  und  übersetzte  auch  selbst  mancherlei.  & 
starb  lb2*i  (vgl.  Brtttiger,  Uterarische  Zustande  u.  Zeitgenossen  I,  ?<;&  ff) 
4(y)  Geh.  1759  zu  Zella  im  Gülhaiscben,  sollte  in  Jena  Tlieologiü  studieren,  wftUtt 
dafür  aber  bald  das  Studium  der  Philologie  und  Philosophie,  wurde  d^nn  B«a»- 
lebrcr,  znerst  in  Jena,  nachher  in  Gotha,  wo  er  auch  l7S:t  atn  OymnasiiiiD  *i>i 
Anstellung  erhielt,  t7'jtj  gieng  er  als  Prorcctor  an  das  Magdalenen-Gjrmni 
EU  Breslau  u]}d  rückte  drei  Jahre  apüttT  zum  Kcctor  desselben  hinauf.  Er 
1^20-  -17)  Ueber  die  vor  das  Jahr  177ä  fnllcnden  Ucbersrtzuugcn  vgl   U4, 

427  f  48)  Vgl.  Bd.  in.  271,  20.         49i  „lloland  der  Wüthendo,  ein  Hftldi 

gedieht  von  L.  Ariost"  etc.    Uannover.    A  Thle.   S.  50)  „L.  Arioslo'i, 

den  Italienern  der  G<lttliche  genannt,  wUtiiender  Roland"  etc.    Lemgo.     4  Bde. 

5t)  Geb.  1771  zn  OsnabrOck,  war  zuerst  Advoeat  in  seiner  Vater^t&dl, 
aber  die  juristische  Praxis  I7it^  auf,  privatisierte  eine  Zeit  lang  und  trat  dann 
Kanzlcirath  in  dip  Dienste  des  Herzogs  Wilhelm  von  ßaiern.    Er  staHi    IACki 
München.  52)  Im  neuen  d.  Merkur  von  1744  und  17*15  53»  Geb    V 

lebte  eine  Zeit  lang  bei  Wielaud  und  wurde  nachher  Prediger  in  der  Uark.    ÜcaC 


i 


«■w 


EaCvickelan^Aug  der  Literatur.    1773— l(j32.    Uebersctzungekunst.     249 

losen  jambisolien  Versen"^.  „L.  Ariosto's  Satiren*'  hatte  Ch,  W.  §  313 
Ahlwardt^'  in  reiinloaen  jambisclieu  FUnlTüsalern  ültertraj^eii"'.  Von 
[Torquato  Tasso  war  „das  befreite  Jerusalem""  in  Prosa  von  W. 
Heinse  verdeutscht;  in  freigebauten  acbtzeiligen  Stanzen,  nach  Art 
der  wielandischen  im  Idris"*,  die  erBteii  fünf  Gesäuge  von  Manso^. 
Epische  fiedicbte  von  A.  Tassoni  und  N.  Fortiguerra  hatte  Fr. 
[Schmit  übertragen".  Probestücke  aus  Bemardo  Tasso's  Amadis,  der 
I Anfang  einer  jambischen  Uebersetxuug  von  Dunte's  Hölle,  einiges 
von  Boccaccio,  Bojardo  etc.  erschienen  in  Chr.  J.  Jagemann'a 
^Magazin  der  italienisohen  Literatur  und  Künste***";  Gedichte  von 
'etrarca  und  A.  in  Fr.  Schmits  „italienischer  Anthologie'*  ete." 
'Was  die  spanischen  und  portugiesischen  Dichter  betrifft, 
»0  wurden  die  eigentbUmlicheu  Formen  der  spanischen  Poesie  vor 
[dem  £lnde  der  Neunziger,  so  viel  ich  weiss,  in  keiner  Uebertragung 
genau  nachgebildet;  auch  die  in  Herders  Volkslieder  aufgenommenen 
[Komanzen  sind  assonauzlos  übersetzt.  Was  vou  der  schOneu  Lite- 
itur  der  Spanier,  meist  in  prosaischen,  seltner  in  frei  versifieierteu 
'Uebertragungen,  hei  uns  eingeführt  wurde,  besonders  in  Bertuchs 
.fMagazin  der  spanischen  und  portugiesischen  Literatur'*,  ist  grosseu- 
ttidls  obeu'^  entweder  im  Besondern  oder  im  Allgemeinen  ange- 
•eben  worden.  Aus  dem  Portugiesischen  erschienen  Proben  von 
^Camoens,  namentlich  der  erste  Gesang  „der  Lusiaden**,  vom  Frei- 
berm  von  Seckendorf  iu  gereimte  achtzeilige  Strophen  Übertragen, 
^Dttd  dramatische  Sachen  von  Ferrcira  in  Fiertuchs  Magazin,  dann 
Hftucb  noch  „Probe  einer  Uebersetzung  der  Lusiaden"  etc.  in  frei  gc- 
Vbauten  achtzeiligen  Stro]then,  von  Ch.  W.  Ahlwardt**'.  —  Alle  diese 


51)  „Orlando  der  Rasende,  mit  Anmerkungea  und  vorausgeschicktem  Aus- 
zöge des  Orlando  inamorato",  Zürich  1797  f.  8.;  vgl.  A.  W.  Schlegels  sämmtliche 
iJWerkc  II,  3^2  ff.  55»  üeb.  I7(i0,  war  Professor  in  Greifswald,  gest  ib'M). 

5Gi  tierUa  1794.    H.         57)  Xebst  dem  Leben  desDicbters,  Manheün  1761.  8. 
idkoa   1714  5   hatte  er  in  J.  G.  Jacobi's  Iris  einen  Auseug  aas  dem  Gedicht  unter 
•r  Üeberachrin  „Arraida"  gegeben.  58)  Vgl.  Bd.  111,  2:n.  59)  ,>[>»« 

freite  JeruBalem,  ein  episches  Gedicht'*  etc.   Leipzig  1791.    8.;  bei  diesem  ersten 
blieb  «8;   der   Uebersetzer  hat  auch   den  luhalt   und  Gedankenausdruck 
'egs  treu  wiederzugeben  gesucht.  —  Noch  andere  Verdeutschungen  desOe- 
&ns  den  Achtzigern  und  dem  Anfang  der  Neunziger  sind  in  W.  Engelmanna 
(ibÜotJiek  der  schönen  Wissonsc haften  1,  4^3  aufgeführt;  ich  habe  aber  nie  eine 
gesehen   und   weiss   also  auch  nichts  über  ihre  Form  zu  sagen.    Eben  so 
ist  mir  der   dort  erwähnte  „Ämyuf  von  Torquato  Tasso,   metrisch   über- 
vtin  F.  ü.  Walter.     Berlin  1791.    8.  nSher  bekannt.  (50)  Vgl.  %  276, 

23  61)  Weimar   USO  ff.     8    Bde.     S.  G2)   Vgl.   §   312,  h'o, 

über  andere  Verdeutschungen  petrarchischer  Gedichte  W.  Engelmauu  a.  a.  0. 
2*rt»  f.  6H)  S.   LO)  f.;    191  f.;   193.  Ö4)  im  d.  Merkur  von  1794. 

f.  A3#. 


250    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrbuaderta  bis  zu  Goethes  Tod. 

313  Ueborsetzungen    waren    iudess   nur  VorlUufer    der  Leistungen 

A.  W.  Schlegel  und  J.  D.  Griea,  die  das  Uebertrajren  südländisch 
romanischer  Poesien   in   unsere  Sprache  erst  zur  eigentlichen  Kunst 
ausgebildet  haben.     A.  W.  Schlegel",  ein  Solm  von  Johann  Adolf 
Schlegel,  geboren  1767  zu  Hannover,  erhielt  seine  erste  Schulbildung 
durch  Hauslehrer  und  besuclite  danu   das  Gymnasium  seiner  Vater- 
stadt.     Schon    früh    zeigten    sich    in    ihm    glückliche   Anlagen    zur 
Dichtkunst   und    besonders  Geschick   uud   Leichtigkeit   im   Versbau 
und  Reim.    Auch  sein  spAtorhin  mit  so  gläuzeudem  Erfolge   ai 
bildetes  Sprachtalent  entwickelte  sich  bereits  auf  der  Schule  in 
gewöhnlicher  Weise.     Ein    in   seinem   achtzehnten  Jahre   bei  eil 
festlichen   Gelegenheit    gehaltener  Vortrag    in  Hexametern,    d( 
Inhalt  ein  Abriss    der  Geschichte    der    dcutscben  Dichtkunst  wi 
erregte   grosse  Aufmerksamkeit   und   wurde    als  Schülerarbeit   vi 
allen,  die  ihn  gehört  hatten,  bewundert.     1786  gieng  er  nach  Gön 
gen,  wo  er  anfänglich  Theologie  studierte,   von  dieser  jedoch  si 
den   philologischen  Studien  zuwandte;    er  wurde  Mitglied   des  Ti 
Heyue  geleiteten   philologischen  Seminars,   erhielt    M^^l   als  Jlitl 
Werber  um  einen  akademischen  Preis  ffir  seine  lateinisch  gescbi 
bene  Abhandlung    Über    homerische  Geogra]>hie    das  Aceessit 
lieferte  im  nächsten  Jahre  das  treffliche  Register  zu  Heyne's  V 
Auch  wurde  er  schon  vom  Jahre  17^9  an  unter  die  Mitarbeiter 
den  göttiugischen  Anzeigen  aufgenommen.     Einen  bedeutenden  Ei] 
ttuss  auf  die  Ausbildung  und  Richtung  seines  dichterischen  Taleul 
hatte  Bürger,  mit  dem  er  in  nahe  und  sehr  freundliche  Verbindi 
kam*'   und    der   auch  schon  in  dem  von  ibm  redigierten  Göttii 
Musenalmanach  für  das  Jahr  I7S7  zwei  Gedichte  von  Schlegel  ai 
nahm*".     Von   Göttingen    gieng  Schlegel    nach   Amsterdam,    wo 
Ifingere  Zeit  Hofmeister  in  einem  ansehnlichen  Handlungsluiuse  v« 
aber  immer  mit  der  deutschen  Literatur  in  Verbindung  blieb,  indcfl' 
er  zu  verschiedenen   periodischen  Schriften   beisteuerte  und  ziilctit 
auch  schon  von  Holland  aus  Beiträge  zu  Schillers  Hören  uud  Musen«' 
almanach  einsandte.     Er  blieb  in  Amsterdam  bis  tief  ins  Jahr  1791] 
herein",  kebiie  dann  nach  Deutschland  zurtlck  und  Hess  sich  ni 


65)  Vgl.  über  ifab  besonders  R.  Ha}rm  in  seinem  vortrefflichea  Bache: 
romftntische  Schule.    Berlin  Uiij.    s.  66i  Vgl.  die  Vorred«  zur  sweitea^ 

gäbe  von  Bürgers  (iodichten.    Göttinpen  ITSil;  b«  Bolitz  S.  'MO,  und  diui  Roal 
Sonett  ÄU  A.  W.  Schlegel,  bei  Reinhard  2,  174.  bei  Bohtz  S.  S4.  60  wie  Schi« 
Gedicht  an  Barger  in  den  äkmmtliclien  Werken  2,  360  f.  67»  Sie  ft«hfD 

den   sÄDuntUcheu  Werken  1 ,  S2  ff.  uud  'i ,  3 j5  11'. ;  andere  Beiträge  lieiertt  \t 
Sclüegcl  lür  die  uüi-hstfolgcndcn  Jahrgänge   des  Musen-Alniauacbs  und   tut  ^' 
„Akademie  der  schönen  UedekUnste".    Berlin  1790  f    8.  öS»  Im  .Inui  nii«iW 

er  noch  dort  sein;  vgl.  Schiilen>  Briefwechsel  mit  Körner  3,  SP;  at>6;  t't- 


EntwickQlungag.d.Lit.  1773—1^32.  UeberseUuug&kunst.  A.  W.  Schlegel  u.Gries.  251 


K|en  auch  viel  mit  der  Uebcrsetzuiig  des  Sliakspeare".     V( 
^vnn  Riidolstadt  zum  Ratb  ernannt,  wurde  er  179S  auch  au 


niederhielten  Besuchen  zu  Anfang  des  Jahres  1796  in  Jena  nieder°^  § 
Er  hielt  hier  Vorlesinigen^  war  bis  ins  Jahr  1799  ein  sehr  fleissiger, 
nd  im  Fache  der  aesthctiscben  Kritik  der  bedeutendste  Mitarbeiter 
an  der  Jenaer  Literatur-Zeitungi  wobei  ihn  seine  geistvolle  Gattin'* 
untergtUtzte*'.  und  beschäftigte  sich  unter  andern  literarischen  Arbei- 

om  Fürsten 
ausserordent- 
licher Professor  an  der  Universität  Jena.  Nachdem  er  sich  von 
seiner  Gattin  getrennt  hatte,  gieng  er  im  Februar  ISOl  nach  Berlin" 
und  kündigte  hier  für  den  Winter  Vorlesungen  über  schöne  Literatur 
und  Kunst  an,  denen  im  Lauf  der  nächsten  Jahre  sich  andere  an- 
schlössen''. Vom  FrÜliling  180-1  bis  znm  Jahre  ISIS  lebte  er 
tgrossentbeils  entfernt  von  Deutschland,  zumeist  in  der  Gesellschaft 
der  Frau  von  Stael,  die  er  in  Berlin  hatte  kennen  lernen,  indem  er 
bald  in  ihrem  Hause  zu  Coppet  am  Genfersee  wohnte,  bald  sie  auf 
ihren  Reisen  und  ihrer  Flucht  vor  Napoleon  begleitete.  So  kam  er 
nach  Italien  und  Frankreich  und  ISOS  nach  Wien,  wo  er  seine  bald 
nachher  in  Druck  gegebenen  Vorlesungen  über  dnimatische  Literatur 
und  Kunst  hielt.     Von  Wien  aus  besuchte  er   seine  Anverwandten, 

I Lehrer  und  Freunde  in  Hannover,  Güttingen  und  Cnssel.  1811  auf 
eine  Denunciatiou  des  Präfccten  von  Genf  aus  dem  französischen 
Beiche  verbannt,  zog  er  sich  nach  der  Schweiz  zurück,  die  ihm 
69»  Vgl.  Briefwechsel  zwischen  ScUUler  und  W.  vou  Uumboldl  S.  3S3;  zwi- 
Ecben  Schiller  und  Goethr  2 .  2:)  und  dazu  Briete  Schillers  und  Gocthc's  an 
A-  "W.  Schlefc'el,  Leipzii?  i*»lf..   -S.    S.  l-iö.  7U)  Caroline  Schlegel,   eine 

Tochter  von  J.  D.  Michaelis  in  GCltingen,   zuerst  mit   einem  Dr.  Böhmer  vcr- 
heirathet,   dann  mit  A.  W.  Schlegel  und,    nachdem  sie   von   diesfTn   gei9chieden 
,      wordim,  SchelüngB  erste  GaKiu.     Vgl.,  über  sie  Boas,   Xeuicuknrapf   l,  U7  f.; 
^A  T.  Feuerbachs  biograpb.  NachlasB.   '1.  Ausg.   Leipzig  I^5.t.   2  Bde.   S.    l,t;9f. ; 
tnd  besonders  das  an  bedeutenden  Aofschlilssea  über  die  Romantiker  reiche  Buch: 
.Caroline.     Bride  au  ihre  Geschwister,  ihr*;  Tochter  Auguste,  die  Familie  Gotter, 
1^  W.  Meyer,  A.  \V.   und   Fr.  Schlegel,   Schelling  u.  a.    Nebst  Briefen   von 
W,  ond  Fr.  Schlegel  u.  a.    Ilerausgu.  von  0.  Waitz".    2  Bde.    Leipzig  1*71.    8. 
71)  Vgl.  S.  1!»>,  Anm.  10,  unten,  und  die  dort  angefahrte  Stelle  ans  der  Vorrede 
den  kritiachen  Schriften.        72)  „In  den  nicht  vollen  neun  Jahren,  vom  Sommer 
179.5   bis  zum  FrOhliog   IMt-l,   kam  das  Meiste  ui  den   „„kritischen  Schriften"** 
ie«ammoItc  zu  Stande,  sodann  die  NnchbiUlungeii  des  Shakspearc,   des  Calderou 
'und  einzelner  Stücke  von  italienischen   und  spanischen  Dichtern".     Vorrede  zu 
den  kritischen  Schriften  I,  S.  XIII  f.  —  Von  den  literarischen  Kämpfen,  welche 
rr  in  dieser  Zeit,  fheils  allein,  tlieiU  in  Verbindung  mit  seinem  Bruder  Friedrich 
und  Andern,  gegen  verechiedene  Uichtungen  und  rinllussreiclie  Männer  im  Felde 
unserer  Literatur  führte,  wird,  sowie  auch  von  den  Schriften,   die  er  damak  und 
•pftter  entweder  allein  oder  mit  seinem  Bruder  herausgab,  weiter  unten  die  Uede 
•cia.         73»  Vgl.  aus  Schleimachcrs  Lcbcu  :4,  2«2:  'im.         74)  Vgl  lutcUigens- 
BlftU  d«T  n.  ailgemeinco  d.  Bibliothek  zu  Bd,  ft.t,  472  und  zu  Bd.  b5,  3U;   dazu 
Schlegels  d.  Museum  1,  lf>. 


313 


252    YL  Vom  zveitcn  Viertel  des  XVm  JahrbunderU  bia  m  üoeih«*t  Ti 

313  aber  auf  die  Dauer  keinen  Schutz  gewahren  konnte,   worndf 
Sommer  1812  Frau  von  Stael  auf  ihrer  Flucht  Über  Stockholm  m 
England  hegleitete.     Währeud    des   Feldzugs  von    1913    and    \BU 
folgte   er   dem    damaligen  Kronprinzen   von  Schweden  als 
nach    Deutschland    und    den   Niederlanden;    holte    nach    Napoleoi 
Sturz  seine  Freundin    wieder   ans  England   ab,    lebte   die  nächste 
Jahre  abwechselnd  in  Frankreich,  in  der  Schweiz  und  in  Italien  unl 
benutzte  diese  Zeit  zu  seinen  Liehlingsstudien".     Durch  ..ein  Diploi 
mit  welchem  Kaiser  Ferdinand  III  seinem  Urältervatcr  für  sich  ui 
seine  männliche  Nachkommenschaft  zugleich  den  Reichs-  und  unj 
rischen  Adel  verliehen^'  hatte,  hielt  er  sich  berechtigt,   sich    in  di 
letzten  dreissig  Jahren  seines  Lebens  A.  \V.  von  Schlegel  zu  untci 
zeichnen^".     Im  Jahre  1S18  wurde  er  als  ordentlicher  Professor 
die  Universitftt  Berlin  berufen;  er  gieng  indcss  nicht  dahiiif  sond< 
bewirkte  es,   dass  es  ihm  veretattet  ward,    in   gleicher  Eigenschal 
zuerst  nur  vorläufig,  später  auf  die  Dauer,  an  der  Bonner  Uoiversitl 
zu  Ichren.     Er   widmete  sich   nun  neben   seinen  Vorlesungen  Dl 
Literatur   und   Kunstgeschichte   etc.    mit    besonderer   Vorliebe   dei 
Studium  der  indischen  Sprache  und  Literatur,  zu  dessen  BegrUndui 
und  Ausbreitung  in  Deutschland  er  sehr  wesentlich  mitgewirkt  ba 
Von  Bonn  aus  besuchte  er,   besonders  seiner  orientalischen  Stadi< 
halber,  mehrmals  Frankreich  und  1823  auch  wieder  Llnglaud.     Vl( 
Jahre  später  verweilte  er  lungere  Zeit   in  Berlin  und  hielt   dasell 
Vorlesungen    Über  Theorie    und  Geschichte   der   bildenden  KQuel 
Er  starb  1S45  zu  Bonn     Als  Uebersetzer  trat  er  zuerst  1701" 
einer  Abhandlung   ,,nher   des    Dante  Alighieri   göttliche   Komüdi« 
auf,  die  mit  dem  Anfange  der  iheilweise  übersetzten,  theil weise  bl< 
ausgezogenen  „Hülle"  schloss.     D^e   Übersetzten   Stellen    waren  ii 
eine  noch  unvollkommene  Art  von  Terzinen  gekleidet,  indem  darin 
gewöhnlich  nur  je  zwei  Zeilen  überschlagend  reimten,  die  dazwiscbf 
liegenden  dagegen  zu  allermeist  ungebunden  blieben.  Eine  Fortsetzui 
folgte  179r*,  sodann  die  ganze  Hölle  1795  im  ersten  Jahrgang  d( 
Hören,  woran  sich  in  den  beiden  nächsten  Jahren  noch  ähnlich  h 
handelte  Stücke  aus  ,.der  BQssungswelt"  und  „dem  Himmelreich'*^ 
schlössen  •**.     Einzelne  lyrische  Stücke  der  Italiener  und  -'  ?iim 

Theil  in  freiem,  zum  Theil  in  genauem  Nachbildungen,  •  .  ^  ini 

Güttioger  Musenalmanach  für  1790 — 92  und  in  Beckers  Taschenbuch 


75)  Vgl.  sämmtliche  Werke  ?,  250  ff.  76)  A.  &.  0.  &.  26»,  Note. 

77)  Im  3.  Stuck  dcfl   I.  Bandes   von  Bargers  ^.Akademie  der  Echanen 
kftiBte'\  7S»  In  Beckers  Taschenbuch  7.tim  geseUigen  Vergnageo.  79t  la 

W.  G.  Beckers  Krhohingen  und  Tascheubuch  zum  geselligen  YergBOgeB. 
80)  Alka  btlsamaiea  in  den  sammtlichcn  Werken  3,  199  ff. 


XotwicIceluDgsg.d.  Lit.  1773 — 1832.  UebcrsetzungBkunBt.  A.W.  Schlegel  u.Grics  253 

fttr  1794  f."'     Nuü   folgten  die    sii'li    an    die  Formen   der   Originale  §  313 
Streng  haltenden  Uebersetzungeu:  1799  der  elfte  Gesang  von  Anosts 
tndem  Roland",  mit  einer  Nacbscbrift  an  L.  Tieck",  nebst  ein- 
Inen  Stanzen  aus  demselben  Gedicht".     In  jener  Nacbflchrift  an 
ieck  bemerkte  Schlegel'':  „Nur  die  vielseitige  Empfänglichkeit  für 
fremde   National poesio,    die    wo    möglich    bis  zur  Univeraalität  ge- 
^deihen    soll ,   maoht  die  Fortschritte  ira  treuen  Nachbilden  von  Ge- 
Hdicbten  möglich.    Ich  glaube,    man    ist   auf  dem  Wege,   die   wahre 
Bpoetische   Uebersetzuugskunst   zu    erfinden;    dieser  Ruhm    war    den 
Hi>eutschcn  vorbehalten.     Es    ist    seit    kurzem    hierin    so    viel   und 
|HDancherlei  geschehen,  dass  vielleicht  schon  ßeispielo  genug  vorhan- 
den   sind,    um    an    ihnen    nach   der  Verschiedenheit  der  möglichen 
Aufgaben    das   richtige   Verfahren   auf  Grundsätze   zurückzuführen; 
und  ich  will  Ihnen  nur  gestelien,   ich   gehe  mit  dem  Versuche  um. 
Freilich  wäre  mit  der  blossen  Theorie  wenig  geholfen  ,   wenn   man 

»nicht  die  Kunst  selber  besitzt;  ich   arbeite  daher,   mir  diese  zu  er- 
verben,  und  Sie  müssen  den  Uberschickten  Gesang  als  eines  meiner 
vielen  Studien  dazu  betrachten.     Meine  Absiclft  ist,   alles  in   seiner 
Form  und  EigenthUmliehkeit  poetisch  Übersetzen  zu  können,  es  mag 
HiSamen  haben,  wie  es  will :  Antikes  und  Modernes,  classische  Kunst- 
^■jnrke  und  nationale  Naturproducte.     Ich  stehe  Ilinen    nicht  dafür, 
HGb  ich  nicht  in  ihr  oastiliaucs  Gehege"  komme,  ja  ich  möchte  Ge-  ■ 
legenhcit    haben,    die  Sanskrit-  und   andere  orientalische  Sprachen 

»lebendig  zu  erleinen,  um  den  Hauch  und  Ton  ihrer  Gesänge  wo 
tnOgVich  zu  erhaschen."  18f>3  und  1809  erschien  sein  „Spanisches 
Theater"",  welches  fünf  Stücke  von  Calderon  enthielt;  auf  Ueber- 
aeizungen  seiner  Stücke  hatte  es  Schlegel  hei  der  Herausgabe  dieses 
Werks,  das  nach  seiner  ursprünglichen  Absicht  viel  weiter  reichen 
»oUte,  vorzugsweise  abgesehen;  doch  „dachte  er,  wenn  ihn  der  Bei- 
lall des  Fublicums  unterstützen  würde,  nach  und  nach  auch  das 
orzUglichste  von  Cervantes  j  einige  auserlesene  Stücke  von  Lope, 
Ton  Moreto  und  Andern  zu  geben"".  Es  erschien  aber  nichts  weiter 
ata  diese  beiden  Bände.  18(^4  kamen  die  „Blumensträusso  italieni- 
Mher,  spanischer  und  portugiesischer  Poesie"",  worin  viele  lyrische 
;hen ,  Sonette,  ßallaten,  Madrigale,  Canzonon ,  Stanzen ,  eine 
►tine  etc.,   von  Dante,  Petrarca,  Boccaccio,  Torquato  Ta.sso,  Gua- 


81»  Z<^rstreut  in  den  sümintl.  Werke»  Bd.  4.        82)  ImAtbeu&um  2,  2, 247  ff. 
,)  In  der  Jenaer  Literatur-Zeiniiigi  Biimmtl.  Werke  4, 89  ff.        84)  4,  126  f. 
\bi  Diesa  bezieht  sieb  auf  Tiecke  Uebereetaung  des  Don  Quixote,  deren  An- 
171»!*  herauskam.  86l  Berlin.    2  Bde.   s.  87»  Vgl.  seinen  Aufaatz 

ila»  >i>unificlie  Theater"  iu  Fr.  Schlegels  „Europa"  l,  2,  lO.         88)  BerHn 
isot.    l^ 


254    Vr  Vom  zweiten  Viertel  dea  XVin  JuhThtwderts  bis  xa  Goetbft'i  T«(L 

313  riui,  Montemayor,  Cervantes,  Camoens,  nebgt  Stocken  nu« 
Aiuynlas,  Guarini's  Pantor  Fido  und  Camoens'  Luaiaden" 
Jahre  nach  Schlegels  ersten  Versuchen  sehen  wir  Gries  mit  sein) 
Hauptwerken  auftreten.  Dieser**,  1775  zu  Hamburg  geboren 
suchte  das  dortige  Jobanneum,  und  sollte  sich  dann,  g6gen  aeii 
Neigung,  zum  Kaufmann  ausbilden,  erhielt  aber  doch  endlich 
Erlaubniss  zum  Fortshidiereu  und  gieng  1795  nach  Jena,  nm  sioi 
der  Rechtswissenschaft  zu  widmen.  Seine  Liebe  zur  Dichtkunst 
ihn  indess  bald  sehr  davon  ab  und  brachte  ihn  in  ein  nähere«  V 
hf&ltuisä  zu  Schiller,  der  eins  seiner  Gedichte  in  den  Musenalmani 
für  I79S  anfnahm.  In  Dresden,  wo  er  den  Sommer  dieses  Jabi 
verlebte  und  mit  Schelling  bekannt  und  befreundet  wurde,  fasste 
den  EntBchluss,  Tasso's  befreites  Jerusalem  im  Versmasse  de«  Ori| 
nals  zu  nbersetzen.  Nachdem  er  noch  ein  Jahr  in  Göttingen  si< 
mit  grösserm  Ernst  als  zeither  auf  das  Rechtsstudium  gelegt  hatti 
wurde  .er  1800  in  Jena  Doctor  der  Rechte  und  kehrte  nach  eini 
Reise,  auf  der  er  auch  elf  Tage  in  Wetzlar  sich  aufhielt,  im  Herl 
I8ü0  wieder  nach  Jena  zurück,  wo  sich  seine  Umstände  ■''■ 
gestalteten,  dass  er  fortan  ganz  seiuen  dichterischen  un  -  i 
stellerischen  Neigungen  l«ben  konnte.  Im  Frtlhjahr  1S06  siedeil 
er  nach  Heidelberg  über,  kehrte  aber,  nach  einer  Reise  durcb 
Schweiz  und  Ober-Italien,  im  Herbst  I80S  aufn  neue  nach  Jona 
rück.  IS24  zog  er  nach  Stuttgart;  in  demselben  Jahre  erhielt 
von  dem  Grossherzog  von  Weimar  den  Hofrathstitel.  Ge^en  En( 
IS27  finden  wir  ihn  wieder  in  Jena,  wo  er  die  nächsten  zehn  Jabi 
blieb,  bis  er  im  Herbste  IS.37,  von  der  Gicht,  an  derer  schon  lan( 
gelitten,  an  den  Hiinden  fast  ganz  gelähmt,  nach  Hamburg  n1 
siedelte,  wo  er  1S42  starb.  Das  erste  Hauptwerk,  in  web'hem 
sich  als  kunstreichen  Uebersetzer  zeigte,  war  seine  Venl* 
von  „Torquato  Tasso's  befreitem  Jerusalem*'",  worauf  ^'U.v.. 
Uebersetzung  von  „Ariosts  rasendem  Roland**"  folgte.  Die  von  T 
Übersetzten  Schauspiele  des  Calderon,  an  der  Zahl  dreizehn,  da» 
erae  aber  in  zwei  Theilen,  erschienen  erst  seit  dem  Jahre  Ih15' 
Unter  allen  Uebersety.ern  und  Uebersetzungen  hat  aber  Sohlegel 
den  von  ihm  verdeutschten  Schauspielen  Shakspeare's  rielleicbt 


89t  Einiges  darin  ist  ab«r  aacfa  Tontiries  übersetzt.   Alle«,  wts  tod  ScUi 
bom\lirt,  stobt  im  :t.  und  4.  IM.  der  slünmtUcheD  Werke.  90)  Vgl.  über  Om' 

Hiatter  t  Htcr.  linterlmhung  |s4*j,  Nr.  iok— m  und  besonders:  .^Aus  liemLeWfl 
von  J.  0.  Grios.  Nacb  «einen  eigenen  und  df n  Brieft-n  »oiaer  ZeitgoooMoi**  <Ali 
Mftcr.  gettracktt.  1fö5.  ^-  und  den  Aaszng  Uotfmanns  daraus  im  Wefasar.  Jahr- 
bach 3,  144— !^9.  911  Jena  l**»i»- Im»:i.  4  Tbie  4  ;  in  den  folfendefl  Aof- 
Ug«n  weMuUich  veryoUkommnet  92»  Jena  IS04— 9  5  ThJ«L  $. 
93)  BerHn.    7  Bde.  8. 


itvickelungsg.  d.Lit.  I7"3— IS33.  UeberBetzungBkuDBt.  SohlegelaShakspearo.  255 

Lrtigste  und  Vollendetste  in  der  Uebersetzungskan»t  Öherliaupt  §  ,T13 
rtet,  SL'hon  in  der  letzten  Zeit  seines  AiifeiUlialts  in  Güttingen 
itte  Schlegel  Antheil  an  einer  Nachbildung  ;,de8  Sommernachtß- 
ift"  genommenj  die  Bürger  unternahm*'.  Von  seiner  eigenen 
'Setzung,  lind  zwar  aus  „Romeo  und  Julie",  pib  Schlegel  im 
ire  1796  Proben  in  Scliillers  Hören  und  im  Journal  „Deutsch- 
nid"*,  in  den  Hören  auch  Scenen  aus  dem  „Sturm"  und  im 
►Igenden  Jahrgang  Scenen  aus  „Julius  Caesar**.  Zugleich  erschien 
Im  Jahrgange  179f»  der  Hören  ein  Aufsatz  von  ihm,  „Etwas  llber 
^'illiam  Shakspeare  bei  Gelegenheit  Wilhelm  Meisters"*',  „worin  er. 
loch  ohne  Nennung  seines  noch  unbekannten  Namens ,  sein  Vor- 
iben,  den  Shakspeare  zu  übersetzen,  auf  einem  Umwege  ankOn- 
igte***'.  Er  kam  nämlich  im  Verfolg  seiner  Bemerkungen  Über" 
»ethe'«i  Auffassung  des  Hamlet  im  Wilhelm  Meister  darauf  ku 
'  wie  wUnschenswerth  es  wäre,  eine  poetische  Uebersotzun^ 
kspeare  zu  besitzen,  wenn  auch  die  von  Escheuburg  sehr 
•rdienstiich  und  brav  sei.  „Soll  und  kann  Shakspeare",  sagte  er, 
mr  in  Prosa  Übersetzt  werden,  so  mösste  es  allerdings  bei  den 
Inherigen  Bemühungen  so  ziemlieh  sein  Bewenden  haben.  Allein 
i»t  ein  Dichter  auch  in  der  Bedeutung,  da  man  diesen  Namen  an 
Gebrauch  des  Silbcnmasscs  knüpft.  W^enn  es  nun  möglich 
ihn  treu  und  zugleich  poetisch  uaclizubilden,  Schritt  vor  Schritt 
im  Buchstaben  des  Sinnes  zu  folgen,  und  doch  einen  Theil  der 
Lzähligen,  unbeschreiblichen  Schönheiten ,  die  nicht  im  Buchstaben 
igen,  die  wie  ein  geistiger  Hauch  Über  ihm  schweben,  zu  er- 
leben! Es  gilt  einen  Versuch.  Bildsanikeit  ist  der  ausgezeichnetste 
^orzug  unserer  Sprache,  und  sie  hat  in  dieser  Art  schon  vieles  ge- 
istet»  was  andern  Sprachen  missgltlckt  oder  weniger  gelungen  ist: 
an  niu&s  an  uichtö  verzweifeln.  Wir  sind  jeib>ch  an  prosaische 
ramen  aller  Art  so  sehr  gewöhnt,  dass  mancher  hierbei  denken 
rbte,  Shakspe^are  sei  ja  ein  dramatischer  Dichter;  au  seinen 
femeni  als  sololien,  könne  daher  nicht  viel  gelegen  sein.  Es  komme 
if  die  Handlung,  die  Charaktere,  die  Reden  der  Personen  an,  und 
der  Uebersetzer,  der  ihn  in  Prosa  überträgt,  nehme  ihm  höchstens 
'  Leo  entbehrliehen,  zufälligen  Zienat,  befreie  ihn  wohl  gar  von 
\em  wahren  Fehler.  Wie  sehr  würde  er  sich  irren"!  Um  dies« 
deachtend  zu  beweisen,  geht  Schlegel  nun  tiefer  in  Shakspeare's 


94)  Vgl.  Jenaer  LitorÄtur-Zeitung  von  170".     1,  27:t  ff.,   wo  eine  Stelle  aus 

Bearbeitung  mil^etheilt  ist,  and  dazu  A.  W.  Schlegels  Vorerfnnorung  vor 
tnten  ThcH  seiner  l'oborsotzung.   Vgl.  jetzt  besonders  Mich.  Bernavs.  zur  Ent- 

mi  te dos Schlegelgchpii Shakspeare   Leipzij?  i^'T'i.  s.        OftlHerausgg. 

J.  I  iidt.         ytii  SäTTuntliche  Werke  7.  24fl'.;  vgl   dazu  Briefe  Schtllera 

Ooethea  an  A.  W.  Schlegel  S.  14  ff,  97)  SÄmmiUche  Werke  7,  *i4. 


wmm 


^>r.    TT   Von  cweit«ii  Viert«!  des  XTIU  J»lirband«rti  bit  zu  Gocthe'i  Tod 

f  31^  ci^'        ~    Vt'he  Art   der  Darstelluns:    ein   nnd    handelt  ausführlich 
Bh*-,  lisoliung  der  poetiscLen  und  der  prosaischen  Form,   der 

reimtoften  ond  gereimten  Stellen  in  seinen  Stücken,  gibt  die  GrOnde 
an,  die  den  Dichter  hestiminten»  hald  Prosa,  bald  Verse  zu  brauch 
ond  geht  von  hieraus  zu  einer  Vertheidigung  der  poetischen  Foi 
im  Drama  über,  wobei  auf  Didcrots  und  Leasings  Heispiel  im 
brauch  der  Prosa  und  auf  die  besonders  von  Engel  verfocht 
Lehre ••  Bezug  genommen  wird.  Um  die  Bedenken,  die  gogen  die 
Nolhwendigkeit  nder  das  F^mpfeblenswertbo  der  Silbeumassc  im 
Drama  vorgebracht  werden  können  und  vorgebracht  worden  Bind, 
gründlich  zu  heben,  erörtert  Schlegel  das  Wesen  des  dramatijtchen 
DialoiCH  und  den  (rrundsatz  der  Nachahmung  nach  seinem  gDlttgen 
Sinne  und  seinen  £inschr«^nkungen.  Zuietzt  gibt  er  an,  was  m 
Uebersotzer  des  Shakspeare  in  der  Uebertragung  der  poetiseheo 
Theile  seiner  Stücke  alles  zu  beobachten  habe.  Schlegels  Ve 
Setzung  von  ,,Shak8peare's  dramalischeu  Werken''  erschien  I7S7 
ISlü*",  umfasst  jedoch  leider  nicht  sämmtliche  Dramen  dea 
Britton  *". 


nde 


§  314. 

Was  in  Betreff  der  Wiedereinführung  metrischer  Formen 
grossen  Gattungen  der  Poesie  durch  kunstmässige  Ueberseiziiu^ 
von  fremden  poetischen  Meistorwerken  des  Alterthums  und  der  N( 
zeit,  Bo  wie  durch  Wielands  erzahlende  Diclitungcn  in  gebund( 
Rede,  durch  Lessings  Nathan  und  die  erste  Hfllfte  von  Schilli 
Don  Carlos  bei  uns  bis  zur  Mitte  der  achtziger  Jahre  vorhereil 
worden  war,  das  fand  nun  zunächst  die  bedeutendste  und  bald  tx 
erfolgreichste  Förderung  in  verschiedenen  draujatiscbeu  Werl 
Qoethe's,  die  zum  Theil  schon  lange  entworfen  oder  selbiit  sch< 
ganz  ausgearbeitet  waren,  jetzt  aber  von  dem  Dichter  entweder 
durchgiingig  in  regelrechte  Verse  umgeschrieben ,  oder  auch  d< 
Inhalt  wie  der  Form  nach  völlig  umgeschmolzeu  wurden.  In  di< 
Qostalt  eröffneten  diese  Dichtuugcn  die  Reihe  derjenigen  «eil 
Werke,  in  denen  er  sowohl  von  Seiten  der  inneru  Anlage  eintf 
jeden  Ganzen  und  der  harmonischen  Ausbildung  aller  einzelnen 
Theile,  wie  von  Seiten  der  Sprachbehandlung  und  der  Anwendt 
metrischer   Formeu    das   Uöciiste    und  Vollendetste   als    eigcntl] 


98)  V(rl.  obon  S  2oi  f.  9fti  Berlin.    9  Bde    s.  100)  Parin 

Rorara  und  Juüc;  ein  SotimicriiacliUtraum ;  Julius  Caesar;  Wai  ihr  woUt;  (kr 
Sturm;  llamlrt;  diT  Kaufnmuii  von  Venedig;  Wie  es  euch  ^flilU;  KOtüg Jotiaaa; 
Richard  II,  die  brtdtMi  Tlicile  von  Ueinricli  IV;  Htinrich  V;  die  drei  Thttle  fta. 
B«iukli  VI;  Richard  UI 


w 


Entwickelungagang  der  Literatur.    I"T3  — 1S32.    Goethe  in  Italien.      257 


kunstmässiger  Dichter  geleistet  hat.  —  Während  die  allermeisten  §  314 
ealschen  Dichter  lange  in  der  Ausübung  ihre»  wirklichen  oder  ver- 
eintlichen  Berufs  bald  mehr  bald  weniger  irre  gegangen  waren, 
erst  aus  zu  blindem  Vertrauen  auf  Regeln,  deren  Nachahmung  keine 
bte  Naturwahrheit  und  keine  lebendige  Unmittelbarkeit  des  Ge- 
nstilndlichcn  in  ihren  Darstellungen  aufkommen  Hess,  sodann  in 
Folge  einer  zu  glaubensvollen  und  unbeRchnlukten  Hingabe  an  das 
it  den  sechziger  Jahren  verkündigte  und  so  vielfach  von  ihnen 
issverstandene  Naturevangelium,  wodurch  ihnen  wiederum  das 
iel  echter  Kunst  fast  ganz  aus  dem  Auge  gerückt  wurde:  schlug 
«ethe  V^cgG  ein,  die  ihn  im  Laufe  seiner  dichterischen  Bildung 
em  Punkte  immer  näher  führten,  wo  sich  ihm  der  Gegensatz 
ischen  Kunst  und  Natur,  dessen  scheinbare  llnausgleichbarkeit 
ither  so  viel  Vferwirruug  in  unserer  schönen  Literatur  veranlasst 
tte  und  diesem  Dichter  selbst  in  seiner  Jugendzeit  noch  viel  zu  • 
hafifen  machte,  auf  die  befriedigendste  und  fUr  sein  dichterisches 
ervorbringen  filrdersamste  Weise  zu  lebendiger  innerer  Einheit  ver- 
iltelte.  War  er  auch  in  jenen  ersten  zehn  Jahren  nach  seiner 
iederlassung  in  Weimnr  mit  amtlichen  Geschäften  überbürdet  und 
ureh  sein  Verhältnis»  zu  dem  fürstlichen  Hofe  zu  Zerstreuungen 
Her  Art  verleitet  worden,  so  hatte  er  daraus  doch  einen  reichen 
ewiuD  An  Welt-  und  Menschenkenntniss  gezogen  und  ausserdem 
ich  noch  immer  Zeit  genug  Übrig  behalten,  seinen  poetischen 
eigungen  sowohl,  wie  gewissen  Lieblingsstudien  nachzuhängen,  die, 
wenig  innerlich  Verwandtes  sie  auch  mit  der  dichterischen  Thä- 
gkeit  zu  haben  schienen,  auf  diese  doch  im  Laufe  der  Zeit  auf 
as  glfloklicliste  und  fruchtbringendste  einwirkten.  Wenn  man'  an 
n  Werken  aus  Goethe's  früherer  Zeit  die  rechte  künstlerische 
ildung  und  Kühe  noch  vermissen  kouute,  so  unverkennbar 
ie«e  glückliche  Dichterorganisation,  die  jeden  so  verschredenen 
off  ergriff  und  sich  mit  ihm  am;^lgamierte",  schon  in  jenen  altern 
!roducnonen  hervortrat,  so  strebte  er  nach  jener  rastlos  schon  in 
eimar  vor  seiner  italienischen  Reise;  zu  dieser  gelangte  er  erst, 
$  ihm  die  licisso  Sehnsucht  nach  Italien  gestillt  war,  in  diesem 
ndc,  und  nun  konnte  er  sich  auch  erst  der  Fortschritte  rocht  er- 
en,  die  er  dort  täglich  in  seiner  Bildung  machte.  Jene  woima- 
«bo  Zeit  war  die  Epoche,  die  Schiller  in  Goethe'a  Bildungsge- 
bichto  annehmen  zu  müssen  glaubte,  als  er  ihm  1797  schrieb'; 
,Cfl  ttollce  mich  wundern,    wenn   sich  in  den  Ent Wickelungen  Ihres 

^  314  h  Wie  auch  einer  unserer  bestea  iin<l  sinnigsten  Kritiker  ans  dem 
&^n  der  Dcuazig»3r  Jalire,  L.  F.  Hubor,  in  oiaem  Briefe  aus  dem  J.  \W}  '^n 
Körner,  in  den  sämmtl,  Werken  %i\i  dem  J  Ib02.  Stuttgart  !Sü:i— 19.  4  Thle.  8. 
l  m)  andeatete.  2)  Briefwechsel  3.  S  f. 

(«Wrwttia,  Orundri«!.    V  Asfl.  IV,  1 « 


25S    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jahrhunderts  bis  eu  Goethe'«  Tod,, 

§  314  Wesens  nicht  ein  gewisser  nothwoudiger  Gang  der  Natar  im  M 

sehen  überhaupt  nachweisen  Hesse.    Sie  müssen  eine  gewiB^e, 

sehr  kui-ze  Epoche  gehabt  haben,  die  ich  ihre  analytische  Periode 

nennen  möchte,  wo  Sie  durch  die  Theilung  und  Trennung  zu  eü 

Ganzen  strebten,  wo  Ihre  Natur  gleichsam  mit  sich  seihst  zerfs 

war   und    sich    durch  Kunst  und   Wissenschaft  wieder  herzui^tel 

suchte."     Wie  er  in  Italien   die  innere  künstlerische    und    »ittli( 

Buhe  fand,  bezeugen  viele  Stellen  in  seinen  Briefcu  aus  jenem  Lai 

bezeugt  der  ganze  Ton,   in  dem  sie  geschrieben   Bind,   und  mat 

spätere  Aeusserung  des  Dichters*.    Er  fühlte  hier  bald  lebhaft, 

eine  immer  fort  wirkende  Wiedergeburt  seine  künstlerische  und 

liehe  Natur  von  innen  heraus  umarbeite,  und  erstaunte,  wie  weil' 

in  die  Schule  zurückgehen,  wie  viel  verlernen,  ja  durchaus  umici 

müsse.     Er  kam  sich  >vie  ein  Baumeister  vor,  der  einen  Thunn 

führen  wollte  und  ein  schlechtes  Fundament   gelegt   hatte,    ee  afifr 

noch  bei  Zeiten  gewahr  wird,  den  angefangeneu  Bau  \vicder  abbri« 

um  ihn  nach  einem  erweiterten,  veredelten  Grundriss  auf  mobr 

sicherlem  Grunde  von  neuem  aufzuführen*.     Er  wurde  dalwi  imocf 

mehr  innc,  dass  ihn  zwei  Hauptfehler  sein  ganzes  Leben   verfol 

und  gepeinigt    hätten:    der   eine,    dass  er  nie  das  Handwerk  eb 

Sache,  die  er  treiben  wollte,  lenien,  der  andere,  damit  verwand! 

dass  er  nie  so  viel  Zeit  auf  eine  Arbeit  oder  ein  Geschäft   wcod« 

wollte,  als  dazu  erfordert  ward ;  nnd  er  dachte  nun  ernstlich 

„sich  zu  co^rigieren"^    Hier  seh loss  sich  für  ihn  endlich  jene  „i 

lytische  Periode"  ab,  indem  er  über  seinen   eigentlichen  Beruf  m 

erst  vollkommeu  mit  sich  einig  ward,     „Ich    bin^',    schrieb   er  in 

Februar  I7SS  von  Kom  aus  an  Herder' ,   ., recht  still  uud  rein,  nnd 

wie  ich  auch  schon  versichert  habe,  jedem  Ruf  bereit  uud  ergebt*. 

Zur  bildenden  Kunst  bin  ich  zu  alt,  ob   ich  also  ein  bischen  mdir 

oder    weniger    pfusche,    ist  eins.     Mein  Durst  ist  gestillt,   auf  dem 

rechten  Wege  bin  ich,  der  Betrachtung  und  des  Studiums,  meiaGe- 

nu88  ist  friedlich  und  genügsam'*  etc.     Und  wenige  W(»cheu 

,,Ich  bin  fieissig  und  vergnügt  und  erwarte  so  die  Zukunft, 

wird  mirs  deutlicher,  dass  ich  eigentlich  zur  Dichtkunst  geboren 

und  dasB  ich  die  nächsten  zehn  Jahre,  die  ich  höchstens  noch  »i 

tcn  darf,   dieses  Talent  excolieren    und   noch   etwas  Gutes   mi 

sollte,  da  mir  das  Feuer  der  Jugend  manches  ohne  grosses  Stni 

gelingen  Hess.     Von  einem  lungeren  Aufenthalt  in   Rom   werde 

den  V'^orthcil  haben,  dass  ich  auf  das  Ausüben  der  bildenden  Kdi 


3»  Vgl.  u.  a.  Werke  27.  153  f.:  29.  300;  (SD,  213  und  üespriche  mit  Ed 
mann  2.  2«.  4i  Werke  27,  2J2f.  5)  Werko  2'.».  3S  f  fii  \v. 

39,  ns.  1\  Werke  29.  2S1. 


Entwickclungsgaug  Jor  Literatur.     IT7J— 1S32.    Goethe  in  Italien.       259 

^erzieht  tliue.*'  In  Italien  gieng  dem  Dichter  erst  das  redte  Ver-  §  314 
läaduiss  Über  die  Gegenstände  auf,  die  ihm  äo  lanpre  zu  schaffen 
imacht  hatten.  »,Dic  historische  Konntuias*',  schrieb  er  bereits  im 
[erbst  17S6  von  Vencdijj:  aus^  „fordert  mich  nicht,  die  Ding:o 
indeu  nur  eine  Hand  breit  von  mir  ab;  aber  durch  eine  undurch- 
[Qgliche  Mauer  geschieden.  Es  ist  mir  wirklich  auch  jetzt  nicht 
Iwa  zu  Muthe,  aU  wenn  ich  die  Sachen  zum  erstenmal  sähe,  soxi- 
lern  als  o]>  ich  sie  wiedersähe."  Dann  ;:ieiph  in  dem  zweiten 
Briefe  von  Rom^:  „Wohin  ich  gehe,  finde  ich  eine  Bekanntschaft  in 
einer  neuen  Welt;  es  ist  alles,  wie  ich  mir'a  dachte,  und  doch  alles 
neu.  Ebenso  kann  ich  von  meinen  Beobacbtun^ren,  von  meinen 
leen  sa^cn.  Ich  habe  keinen  ganz  neuen  Gedanken  gehabt,  nichts 
inz  fremd  gefunden,  aber  die  alten  sind  so  bestimmt,  so  lebendig, 
ZQsamnieuhängend  geworden,  dass  sie  für  neu  gelten  können" 
ras  auch,  wenn  es  auf  seine  poetischen  Arbeiten  in  Italien  ange- 
randt  wird,  aufs  genaueste  zutrifft).  Von  Jugend  auf  war  es  sein 
"rieb  und  seine  Plage  gewesen,  dass  für  ihn  nichts  Tradition  und 
larae  bliebe,  dass  ihm  vielmehr  alles  zu  anschauender  Kenntniss, 
lebendigem  Begrit!*  werden  sollte;  und  er  hielt  es  an  der  Zeit, 
statt  wenigstens  das  Erreichbare  zu  erreichen  und  das  Thunliche  zu 
lan '°.  Zum  Fortgange  in  seinen  Naturbetrachtungen  fand  er  sich 
sil  Beginn  seiner  Reise  überall  auf  Wegen  uud  Stegen  angeregt: 
rin  Streiten,  wie  er  es  einige  Jahre  später  in  einem  Briefe  an 
H.  Jacobi  bezeichnete",  gieng  immer  bestimmter  darauf  hin,  „die 
dlgtmeiuen  Gesetze,  wonach  die  lebendigen  Wesen  sich  organisieren, 
läher  zu  erforschen"  und  alles  durch  äimpliücation  des  Mannig- 
iJtigen  auf  Urgestalteu  oder  Urphänoraene  zurückzuführen.  ,,Wem 
ibcr  die  Natur  ihr  otlenbares  Gehcimniss  zu  enthüllen  aufängt,  der 
^findet  eine  unwiderstehliche  Sehnsucht  nach  ihrer  würdigsten 
kttslegrerin  der  Kunst'*.  So  fühlte  sich  Goethe  in  Rom  bald  vitr 
Ijem  Andern  zu  der  Beschäftigung  mit  der  Kunst  der  Griechen  hin- 
idrängt,  um  „zu  erforschen,  wie  jene  unvergleichlichen  Künstler 
rerfahren,  um  aus  der  menschlichen  Gestalt  den  Kreis  göttlicher 
tildung  zu  entwickeln,  welcher  vollkommen  abgeschlossen  ist.  und 
rorin  kein  Ilauptcharakter  so  wenig  als  die  Uebergiingc  und  Ver- 
littlungen  fehlen."  Was  ihm  damals  nur  noch  mehr  Verniuthtmg 
rar,  dass  jene  Künstler  nach  eben  den  Gesetzen  verfahren,  nach 
reb'hcn  die  Natur  verfährt,  und  denen  er  schon  auf  der  Spur  zu 
üa  glaubte'-^,  wurtlc  ihm  mit  der  Zeit  zu  fester  Uebcizeugung,  als 
da8  wahre  Verhältniss  zwischen  den  vollkommeusteu  Hervorbrin- 


Sl  Worke  27,  154.         9)  Werke  27.  2U3.  10)  29,  «:  66.  11)  Brief- 

S.  125.  12)  Werke  11»,  6li.  13)  Werke  2T,  271. 


200     VI    Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrliunderts  big  lu  Goethe'i  Tod 


§  314  giiugeu   <ler  Natur  und   denen   der  Kunst   gefunden   hntte".     Jet 
fieng   er   auch    erst   an,    den  Homer  recht   zu   verstehen,    and  die 
Odyssee  ^vurde  ihm  „ein  lebendiges  Wort",  als  er  die  alte  Dichtung 
in  der  Naturumgebung  Ins,   die  sich  darin  abapiegelt.     Er  fand  die 
Besehreibungen,    die  Gleichnisso  etc.,    die    uns   poetisch    vorkilmen, 
doch  80  unsäglich   nattlrlich,    aber  freilich   mit   einer  Reinheit  tmd 
Innigkeit  gezeichnet,   vor  der  man   erschrecke;    und  als   er  an  der 
homerischen  Dichtung  die  Erfahrung  gemacht,  dass  die  Alten  die 
Existenz    dacstellten^    die  Neuern    dagegen  gewöhnlich   den   Effect, 
jene  das  Fürchterliche  oder  das  Angenehme,  diese  fürchterlich  oder 
angenehm,  so  lag  ihm  mit  einemmale  die  Grundursache  alles  Ueber 
iricbenen,  alles  Manierierten,  aller  falschen  Grazie,  alles  Schwilsl« 
der   neuem   Poesie  vor  Augen".      Er  suchte  fortan   durch   die 
trachtung  von  Gemälden  und  Bildsäulen  und  durch  ihre  Vergleicht 
mit   der  Natur   zu    dem    höchsten    anschauenden  Begi*iff  von  Ni 
und  Kunst  zu  gelangen,  und  er  wurde  dessen  gewiss,  dass  die  alt 
bildenden  Künstler   ebenso  grosse  Kenntniss  der  Natar  und  eil 
eben  so  sichern  Blick  von  dem,  was  sich  vorstellen  lasse,  und 
es  vorgestellt  werden  müsse,  gehabt  hätten,  als  Hf»mer.     Die  hol 
Kunstwerke  der  ersten  Klasse,    die  uns  erhalten   geblieben, 
zugleich  als  die  höchsten  Naturwerke  von  Menschen   nach  wabi 
und  natürlichen  Gesetzen  hervorgebracht  worden.    Alles  Willkörlicl 
Eingebildete  falle  zusammen,  da  sei  Noth wendigkeit,  da  sei  Gottl 
Dabei  kamen  ihm  seine  ,, frühern  italienischen  Ideen""  wie  Lu( 
stalten  vor,  die  einer  ernstern  Epoche  nur  vorspukten.     Er  war  nl 
recht  im  Studium  der  Menschengestalt,    welche  er  für  da»  non  plu? 
ultra  alles  menschlichen  Wissens  und  Thuns  hielt,  und  sah  und 
noss  erst  das  Höchste,  was  uns  vom  Alterthnni  übrig  geblieben, 
Statuen".      Indem   er  zuerst  in  Weimar  und  spflter  in  Italien  eicl 
mit  seinen  wisseuschaftlichen  Studien  zwischen  Natur  und  Kunst  w 
zu  sagen  gleichmüssig  thcilto,  das  innere  Leben  und  stille  Scfaaffei 
der  Natur  immer  tiefer  zu  ergrUndeu,   sich   mit   den  Meisterwerken 
der  alten  bildenden  Kunst  durch  Winckelmanns  Schriften  und  duitt 
die  eigene  Anschauung  immer  vertrauter  zu  machen  suchto  und 
dabei  zugleich  in  ein  lebendiges  VerstÜndniss  der  Dichter  de«  d 
scheu  Alterthums  hineinlas,  in  deneu  jener  Gegensatz  von  Natur 
Kunst  eben  so  wie  in   den  antiken  Bildwerken  zur  schöusteo 
Stimmung  ausgeglichen   war":  lernte  er  gleichsam   der  Natur 

Ui  Vgl.  .Werke  r.  *2r.  ff.  15»  Werke  2S,  242  {.  I6i  W«rta 

23,  i't  n,  ^ftf.;  vgl.  Bricfworhsel  zwischen  Goethe  and  Knebel  t.  »^rt.         17t  B* 
Aüipielung  «uf  Bein  üedichl  ..Prometheus*';, wie  Riemer.  Mittheilnutien  7.  !^* 
der  Note  bemerkt  l*ij  Werke  21»,  216.  19'  Neben  srineu  Natur- 

Kunttstudien  besch&ftiot«  Ihn  in  den  letzten  Jalircn  ror  der  italieui«r.bai 


AU      1 


wmm 


Entwickeltmgsgaag  der  Literatur.    1773 — 1^32.    Goethe  in  Italien.      261 


Absiebten  und  Gesetze  beim  Hervorbringen  und  Bilden,  bis  hinauf  §  314 
2u  ihrem  höcbstcu  Producte,  der  beseelten  Menschengestalt  ab,  um 
Dichter  einen  geistigen  Gehalt  auf  eine  ähnliche  Art  zu  leben- 
en  Organismen  zu  verkürpeni,  während  er  zugleich  der  bildenden 
Kunst  das  Geheimniss  ihrer  Verfahrungs weise  im  Gestalten  eine» 
solchen  Gehalts  zum  vollendet  Schönen  der  innern  und  äussern  Form 
absah.  Wie  Goethe  durch  seine  Studien  das  Vcrbältniss  von  Natur 
und  Kunst,  als  den  das  Schöne  hervorbringenden  Mächten,  aufzu- 
fassen lernte,  erhellt  am  besten  aus  einer  Stelle  seiner  Schrift  über 
Wiuckelmann  (1S05).  „Das  letzte  Product  der  sich  immer  steigern- 
den Natur",  heisst  es  hier***,  „ist  der  schöne  Mensch.  Zwar  kann 
sie  ihn  nur  selten  hervorbringen,  weil  ihren  Ideen  gar  viele  Bodin- 
ngen  widerstreben,  und  selbst  ihrer  Allmacht  ist  es  unmöglich, 
e  im  Vollkommenen  zu  verweilen  und  dem  hervorgebrachten 
honen  eine  Dauer  zu  geben.  Denn  genau  genommen  kann  man 
eu,  es  sei  nur  ein  Augenblick,  in  welchem  der  schöne  Mensch 
ihöD  sei.  Dagegen  tritt  nun  die  Kunst  ein;  denn  indem  der  Mensch 
den  Gipfel  der  Natur  gestellt  ist,  so  sieht  er  sich  wieder  als 
I  eine  ganze  Natur  an,  die  in  sich  abermals  einen  Gipfel  hervor- 
^Kobringen  hat  Dazu  steigert  er  sich,  indem  er  sich  mit  allen 
^HToUkommenheiten  und  Tugenden  durchdringt,  Wahl,  Ordnung, 
^^annonio  und  Bedeutung  aufruft,  und  sich  endlich  bis  zur  Pro- 
^^uction  de«  Kunstwerke«  erhebt,  das  neben  seineu  übrigen  Thatcu 
und  Werken  einen  glänzenden  Platz  einnimmt.  Ist  es  einmal 
hervorgebracht,  steht  es  in  seiner  idealen  Wirklichkeit  vor  der  Welt, 
so  bringt  es  eine  dauernde  Wirkung,  es  bringt  die  höchste  hervor: 
enn  indem  es  aus  deu  gesammten  Kräften  sich  geistig  ent^vickelt, 
nimmt  es  alles  Herrliche,  Verehrungs-  und  Liebenswürdige  in 
b  auf  und  erhebt,  indem  es  die  menschliche  Gestalt  beseelt,  den 
enscben  über  sich  selbst,  schliesst  seinen  Lebens-  und  Thateukreis 
und  vergöttert  ihn  für  die  Gegenwart,  in  der  das  Vergangene 
od  Künftige  begriffen  ist.  Für  diese  Schönheit  war  Winckelmann, 
Wmer  Natur  uach,  fähig,  er  ward  sie  in  den  Schriften  der  Altcu 
Itwahr;  aber  sie  kam  ihm  aus  den  Werken  der  bildenden  Kunst 


»Kh  vielfach  Spicoz&'s  Philosophie.  ,,Das  Dasein  tinil  die  Denkweise  dieses 
totMmrdentlicbea  Mannes  hattu  er"  schuu  vur  etwa  xelui  Jahren  „in  sich  auf- 
IHkonuneD,  zwar  nur  unvollstiladig  uud  wie  auf  den  Raub,  aber  er  empfand  da- 
voa  doch  schon"  damals  „bedeutende  Wirkungen'*  <26,  290  ff.;  vgl.  48.  7  ff.). 
^«Ut  abtc  er  sich  an  ihm  und  las  und  las  ihn  wieder,  weil  er  sich  durch  ihn,  wie 
^  ieinem  Denken  Über  den  Urgrund  aller  Realität ,  so  auch  in  äcineu  besondera 
^Uoistadieo  vorzüglich  gefördert  fand  (vgl.  Briefwechsel  zwischen  Goethe  und 
h-H.  Jacobi  S.  S:i;  S5  f.;  'Jl ;  Itiö;  dazu  Goethe's  Werke  27,  153;  öS,  'M  uud 
Gd»»,  die  neuere  d,  Kalionol- Literatur  2,  3S7  ff.  20)  Werke  37,  2ß  ff. 


262    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhiiudrrta  liis  zu  Goctho's  T«l 

§  311    i^ers^nlich  entgogenj  ans  denen  wir  sie  erst  kenneu  lernen,  um 
au  den  Gefilden  der  lebendigen  Natur  gewahr  zu  werden   und 
sclifttzen"".  —  Nncb  ebe  Goethe  nach  Italien  gieng,  hatte  er   ei 
grosae  crzäblende  Dichtung,  „die  Geheimnisse"  ersonnen  und  berei 
iu  eben  80  regelrechten,  wie  wohllautenden  Ottaven  auHZufQbren 
gönnen",    in    eben    dieser  Versart    ungefAhr   um   dicHcIbe   Zeit 
„Zueignung"  gedichtet,  niit  der  er  von  soiuer  frühem^  mehr  voll 
tbtliuliehcu  Naturdicbtung  vor  der  Nation  gleichsam  Abschied  nai 
und  ihr  die  Aussicht  auf  eine  ideellere  Kunst])oe8ie  in  Werken  eitn 
gereiftereu  Lebensalters  eröffnete",    und   sieh   auch   schon    in   di 


21)  Von  dieser  Schönheit  der   liildenden  Kunst  erfuhr  Goethe   die    crstt 
deutende  uitd  upmittelbare  Wirkung  auf  die  Dichtungen,   die  iliu   in  ItAtien 
schäftijtrten,  uls  er  in  Bologna  eine  heilige  Agathe  von  Raphael  sah:  er  hatt^  äck. 
wie  er  mn  11».  Ocibr.  ITSi;  schrieh  (27,  1«*»  f.t,   ihre  tieslalt   wohl  gemerkt  and 
wollte  Ihr  im  fleist  seine,, Iphlgcnic*'  vorlesen  nnd  soinp Heldin  nicht*  sagen  UBsea» 
WAS  die  Heilige  nicht  aussprechen  nt6chte.     Und  diese  echte  tind  reine  Sch^nhcil 
in  den  Werken   der  bildenden   und  namentlich  der  plastischen  Kunst  suchte  s 
auch  den  Gestalten  seiner  sich  an  die  Iphigenie  auschlicgsenden  poetisciicn 
beiten  zu  verleihen.    So  erwiederte  er  l'it'  auf  ein  Schrdbea  von  Schüler  (Bri< 
Wechsel  .'l.  57  f.),  worin  dieser  mit  hcsonderni  Bezüge  auf  die  tragische  Kunst 
merkt  halte,   es  würde  den  Poeten   nnd  Künstlern  schon   dadurch    ein  gro«i 
Pienst  geschehen,  wenn  nur  erst  inb  Klare  gebracht  wäre,  was  die  Kunst  von 
Wirklichki'it  wegnehmen  oder  fallen   lassen   müsstc:   (3,  Ali  f.»   „diejeni^jcu  V( 
theile,   deren  ich   mich  in  meinem  letzten  Gedicht  (llermanu  und  Dorothea) 
diente ,   habe  ich   alle  von  der  bildenden  Kirnst  gelernt     Denn  bei  Ginem  gleii 
zeitigen.  sinnUch  vorAugon  stehenden  Werke  ist  das  UeberflOsaige  weit  auff*Uea( 
als  bei  einem,  das  in  der  Succcssion  vor  den  Augen  des  Geistes  rorboigehi". 
'22.t  G<*gGn  Ende  Mäns  des  J.  17hö   war  er  bis  zur  -K».  Strophe  gelangt;   ob^h 
ihm  das  Unternehmen   eines  so  grossen  Gedichts,   wie   es   iu   seinem  Plane  li 
„ungeheuer  für  seine  Lage"  schien ,   wollte  er  damals  doch   noch  fortlahrcn  ni 
sehen,  wie  weil  er  käme.    Er  kam  aber  nicht  viel  weiter  ifertii?  sollen  IhSIat 
gewcÄcn  sein:  vgl.  Üriefwechsel  mit  Knebel  1.  »ü;  ()3  und  Kieraer.  Mitüidlt 
2,  IHi;  gedruckt  sind  aber  nur  41,   zuerst  im  S.  Bd.  der  von  Göschen  verU^^tfiT 
Ausgabe  der  Schrilteu).    Später  nahm  »»r  diese  Arbeit  nie  wieder  vor;    übor  den 
Sinn  und  dii.'  Absicht   des  Gedichts ,    dessen   erste  Idee   vielleicht   durch  Lesaii 
Nathan  geweckt  wurde,  erkllrte  er  sich  aber  IMi»  im  Morgenblail  N.  102  (Wi 
45,  TU  ff.l.    Vgl.  $  iTt;.  2\.  23»  Nach  Düntzcr,  die  drei  ältesten  Henri 

tuugen  von  Goethe's  Iphigenie,  Stuttgaft  und  Tübingen  !*«ä4.   **.    S.  IM  f.  N01« 
bland  ilie  „Zueignung",    die  jetzt  vi>r  den  Werken  steht,  ursprünglich  iü.  h. 
wohl  in  der  Handschrift)  vor  „den  Gcheimnisapn";  vgl.  dazu  Düntzers  Neue  fioai 
Studien.    Nürnberg  ISül.   **.   S.  1ü7.    In  seiner  Recension  von  Goethe*»  SchriJ 
in  der  Jenaer  Literatur-Zeitung  von  1792.  N.  'JIM  schrieb  L.  F.  Huber:    „In 
Zueignung  —  bat  der  Dichter  gleichsam  sein  Geheimnis?  offenbart  und  da« 
heiligste  der  Kunst  aufgeschlossen,   wie   es  vor  ihm   noch  nicht  in  mmscblld 
Rede  geschnh      Wir  glauben  nicht,    dass  es   In   irgend  einer  Sprachr  etwas  |^l 
daa  an  Vollendung.  Zartheit,   Fülle  tmd  Einfachheit  diesem  Geilichte  gleich 
in  welchem  die  Allegorie    des  Dichters:    ..„Aus  Morgenduft  gewebt  nnd  SoiiOM- 
klarhoit.  Der  Dichtung  Schleier  aus  der  Hand  der  Wahrheit**",  »elbst  so  lebeiuU( 


Kntwickelongsgang  der  Literatur.    t773— 1832.    Goethes  rphigenic.      263 

.g«picl  „Scherz,  List  und  Rache*'   für  dcu   diircbgäugigcu ,  wenn  §  314 
;h    noch    ziemlich    freien  Gebrauch    der  Veraform    eutschieden'*. 
in  erhielten  diejenigen  unter  seinen  dramatischen  Werken,  die 
regelmässigen,  fünfmal  gehobenen  jambischeu  Versen  besitzen, 
kd  die  früher,  theils  gedruckt,  thcils  bloss  handschriftlich,  schon  in 
"anderer  Art  ausgeführt  oder   wenigstens   angefangen    waren,   jene 

«na  erst  während  und  nach  der  italienischen  Reise.  Noch  wenige 
ichea  vor  dem  Antritt  derselben  war  er  entschlossen,  in  der  ersten 
mmlung  seiner  Werke,  die  er  selbst  veranstaltete,  die  ,,Iphigenie" 
in  ihrer  altem,  aber  schon  zweimal  überarl>eiteten  Gestalt^,  nachdem 
er  sie  nochmals  durchgegangen  und  wieder  „in  Verse  geschnitten" 
hatte**,  drucken  zu  lassen.  In  der  Ankündigung  von  Goethe's  sfimmt- 
licben  Werken  in  acht  Bänden  durch  G.  J.  Göschen  aus   dem  Juli 

tiß'''   vei-spracheu    die    aus    einem    Briefe   Goethe's    eingerückten 
llen  in  tien  ei*stcn  vier  Bänden:  die  „Zueignung  an  das  deutsche 
Publicum;  die  Leiden  des  jungen  Werthers;  —  Götz  von  Berlichin- 
;  die  Mitschuldigen;  —  Iphigenie;  Clavigo;  die  Geschwister;  — 
»IIa;  den  Triumph  der  Empfindsamkeit;   die  Vogel"  —  mit  dem 


^hh 


ckt  bt,  dass  dem  KansUer,   der  sie  ^nz  darin  zu  fassen  vüBBte.  alles, 

\ejtb(?tik  heisfit,  entbehrlich  werden  könnte".  24|  In  den  Jahren  17S4 

\>h;  Über  Uif>  mit  der  Abfassung  dieses  Singspiels  verhnndejien  Absichten  nnd 

clraachen.    warum   die   aiUi.ikaliscbo  (Jompoaition   des  Ganzen   durch  Goethe's 

i  Kayser  in  Zürich  nicht  zu  Stande  und  das  Stück  niemals  auf  die  Bühne 

»gl-  Wrrke  "iH,  Us  f.;  'M  ,  1»   und   dazu  Riemer,   Mittheilunßen  2,  l'H  ff. 

lim  eigentlichen,   meist  durcbgeliends  gereimten  Gesängen  haben  die  bald 

bald  langem  Verse  gewöhnlich  jambisches  Mass;  einzelne  darunter  sind 

Auch  von  trochäischem  oder  vou  ganz  freiem  Bau;  neben  ganz  durch  gereimten 

f^kn  sind  noch  mehr  reimlose,  und  in  andern  hat  der  Dichter  nur  ganz   ver- 

dlo Reimbindungen  angebracht.   Gedruckt  zuerst  1700  im  7.  Bd.  derSchriften. 

2i»)  t»Ie  drei  altem  Texte  der  Iphigeuio  ans  den  Jahren  1779,  l'SO  und  17SI 

*VJi]etii,  der  erste  und  dritte  voIIstSndig,   der  zweite  in  einzelnen  Scenen  vor 

I^Ucititra  eben  angeführtem  Buch  (die  beideu  Ausgaben   von  Stahr  und  in  den 

*Tken  67.  2h  ff.  enthalten  den  dritten,   aber  fehlerhaft  wiedergegebenen  Textl. 

tr  ihre  Geschichte  vgl.  Uicmer,  Mittheilungen  I.  '»2;  2,  ^2  f.;  Goetlic's  Itriefe 

t^  S.  Ut^  f.;    i:*U;   seineu  Briefwechsel  mit  F.  H.  Jacobi  S.  \V2  und  die 

ngen  dazu  in  Düntrers  lieiden,  seinem  Iluche  beigegebenen  Abhandlungen 

ÖMchichte  und  vergleichenden  Kritik  des  Stückes,  besondorä  S.   13'iff.    ilier- 

fii  (3    ih()   hatte  Goethe  Krau   von  Stein  in  dem  Charakter   der  Iphigenie   gc- 

'•rt:  wogegen  nach  Knebels  Bericht  (in  dessen  literarischem  Kachlass  i,  S.  XXIX) 

lam  wfimarischeu  Hufei   in  dem  Bilde  der  Ipiiigenie  den  Charakter  der 

H'iTi  Herzogin  iLuise)  fanden'*.  2t5)  Schon  in  der  Bearbeitung  aus  dem 

lT*iu  crhiell  iie  in  der  Handschrift  diese  Vorm  (vgl.  oben  §  275,  Aum.  7:»  und 

tUer  S.  &:)  ff.:  ISH  f.i.   die   aber  das  Jahr  darauf  in  der  dritten  Bearbeitung 

•^W  in  anabgesclzte  Zeilen  umgeschrieben  wurde.  27l  Im  Journid  von  und 

'  rifuiscbhind  17^0,   Sl.  G,  S.  575  ff.  (daraus  wieder  abgedruckt  im  Weimar. 

trijucb  rt.  195  ff.)  und  Im  d.  Museum  von  l7Si<.   2,  JSti  ff. 


k^irlp 


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VPH«| 


264    VI.  Vom  zweiten  Viertel  dea  XVlll  Jnhrbuoderts  bis  zu  Ooetiies  Tod. 

§314  Zusatz:    „Von    den   vier   ersten   Bänden    knnn   ich    mit  Gewissl 
sogen,    dass  sie  die  angezeijrten  Stücke  enthalten   werden."    Wi 
darauf  folgte  lu&ät  seblieösen,  dass  der  Dichter  damals  noch  glaubt 
die  bereits  in  Weimar  vor  seiner  Keise  nach  Karlsbad  angefangci 
neue  Durchsicht   und  Glättuug    der  Iphigcnie"    binnen    kurzem 
Ende  und  bis  zur  Druckfertigkeit  bringen  zu  kOnnen.   und  dass  er 
au  eine  solche  metrische  Umarbcituug,   wie  er  sie  spilter  in  ltali( 
ausführte^  noch  gar  nicht  dachte "^     Erst  auf  Herders  Zureden, 
noch  einige  Aufmerksamkeit  zu  schenken^,   nahm   er  sie   mit  Ul 
die  Al))en"  und  ^^ab  nun   während   der  eisten  Monate  seiner 


2S)  Vgl.  Dttntzer  a-  a.  0.  S.  US  ff.  29)  .,Wie  sehr  wünsche  ich 

aber",  hatte  er  nämlich  geschrieben,  „so  viel  Kaum  und  Ruhe,  um  die  angi'fan^i 
Arbeiten,  die  dem  secb&ten  und  siebenten  Bande  zugeihcilt  sind  tKgrnooL,  unre 
endet:  Elpenor,  zwei  Acte;  —  Tasso,  zwei  Acte;  Faust,  einFraffmeut;  Moralist 
politisches  Puppenspiel'  wu  uicht  säumtUch,  doch  zum  Thetl  vullcudet  zu  lirfr 
in  welchem  Falle  die  vier  letzten  Pande  eine  andere  Gestalt  gewinnen 
lifl  den  fünften  sollten  Gaudiue.   Erwin  und  Elmire,   Lila,  Jery  und  DMely 
dieFißcherin,  in  den  achten  die  ,, vermischten  Schriften  und  <ic<lichte'*  Bnfgen< 
werden.    Elpenor  (vgl.  Briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Goethe  -»»Sl^f.;  ii) 
223;  227,  uud  Riemer,    Mittheiluugen  2,  62\  ff.)   uud  die  Fischerin  blieben 
uachher   ausgeschlossen   und   erscbientn    erst  in  der  Ausgabe  der  t,Werkr* 
1^06  tr.;  über  den  frühem  Druck  „der  Fischerin"  vgl.  §  :W3.  Änm.  (»2.        30)  V| 
Werke  27,  2ti  f.  3 1 1   Sic  erschien   wirklich   noch   im   dritten   Pande 

Schriften („Goethe's  Schriften".    Leipzig  b.  Bd.    !-4.    17^7;  Bd.  5.    I7*<*.:  Bd.( 
und  7.    1700;   Bd.  h  schon  I"St)).    Während  Goethe*s  Abwesenheit  von   DcutKl 
lond  besorgte  Herder  die  Ausgabe  bei  Göschen;  vgl.  Riemer.  Mittheilungeu  l.z*^^ 
Kote;   ihm   stellte  es  der  Dichter  selbst  auheim,    ob  er  vielleicht  in  die  ihm 
lu.  Januar   I7S7   von  Rom   aus  übersandte  fertige  Iphigeuie  ein  Paar  Fedenf^r 
hinein  thun  wolle  (27,  251  f.).    Eine  geringere  Ausgabe  in  -I  Blanden  kam  in  d( 
selben  Verlag  heraus  ITS7.  I'yi.  h.  vgl.  Goethc's  Briefwechsel  mit  Schiller  0.311 
—  Auch  die  übrigen  Dichtungen,  die  iu  jener  Ankündigung  den  vier  er«ieii  Uaüd< 
zugetheilt  waren,   wurden  iu  dieselben  in  der  uäniUcheu  Ordnung  uud  die  hvt 
früher  gedruckten  in  mehr  oder  minder  verbesserter  Gestalt  fingertickt     Wai 
zum  erstenmal  gedruckten  betrifft,  so  vgl.  über  „die  Mitschuldigen"  Bd.  III.  l^bm 
die  $  3u3,   Anm.  12  angeftüirten  Stellen.  —  „Die  Geschwisier".    Dieses  einad 
Schauspiel  in  Prosa  schrieb  (ioethe  im  October  177«*  binnen  wenigen  Tagen  ftir 
Liebbaberthenter  in  Weimar  (vgl.  Riemer.   MiCtbeilungen  2,  Sd  Note  und  Eck« 
manns  Gesprftche  mit  Goethe  S,  2'Ab).    Wie   BtHtiger  berichtet  (Litemrischr 
Stande  und  Zeitgenossen  t,  521,   soll  Goethe   dieses  anmuthige  Stück  Kotxebi 
Schwester  zu  Gefallen  geschrieben  und  diese  sowie  sich  selbst  darin  copien  hat 
ivg!.  Vieboff.  Goethe*s  Leben  2,  :ia7  ff).  —  ..Der  Triumph  der  EmpHndsAink« 
in  0  Acten,  bis  auf  die  eingelegte  „Proserpina"  ivgl.  §  27&.   Anm.  l'i)  iumI 
andere  auch  meist  iu  ganz  freieu  Versen  abgefasste  Stellen,  iu  Prosa  grachriotw 
Vgl.  Bd  HI,  Mb;  §:iO-l.  Anm.  3;  Goethe'»  Werke  Hl,«  und  Riemer  2,626.  -  „ 
Vögel'*,  ausdem  J.  l7so,  eine  dramatische  Satire  auf  Volksvcrffthrer.  brsondrr« 
die  ihre  Leser  irre  leitenden  Schriftsteller,  die  geistlosen  Kritiker  i  ' 
belbOrendc  Publicum,  wurde  mit  audern,  verloren  gegangenen  Ft 
TbeU«r  auf  Ettersburg  nach  dem  Eingang  des  gleichnamigen  aruiopliiuüai 


Eatirickeluü(^gaug  der  Literatur.     1""3— 1^32.    Goethc's  Iphigeuie.    2b5 

iser  wnudervoll  niildeu  und  reinen  Dichtung:,  in  der  er  nur  die  §  314 
»sersten  Uuirisse  der  griecliisehe.n  Ueberlieferunjr  beibehalten,  die 
ize  OekoDomie  der  dnimatischen  Handlung  aber  mit  alleu  ihren 
[ötiveu,  30  wie  sßmmtliche  Charaktere  in  deutKchem  Geiste  neu  er- 
funden und  miB  der  tiefsten  Innerlichkeit  der  Goethe  eigenihltmlichen 
Dichternatur  herausgebildet  waren,  zu  ihrem  schOneu  geistigen  und 

ftlicheo   Gehalt    auch    noch    die  kunstgerechte  Vollendung  in   der 
räche  und  in  der  raetriacheu  Form",     Sein  Verfahren  bei  dieser 
beit   war,   wie  er  nach  der  Vollendung  von  Rom  aus  berichtete, 
DZ    einfach:    },Ich   schrieb  das  Stdek  ruhig  ab  und  Hess  es  Zeile 
Tor  Zeile,  Period  vor  Period,  regelmässig  erklingen.    Ich  habe  dabei 
Mthr  gelernt  als  gethan.**     Und  iu  derTbat  weicht  die  neue  durch- 
^ngig    metrische  Bearbeitung   vou    dem    letzten    in    unabgesetzten 
Zeilen  «iedergeschriebenen  Texte  aus  dem  Jahre  1781  so  wenig  ab, 
dftfts  oft  ganze  Seiten  wörtlich  llbereinstimmen  oder  nur  sehr  geringe 

ierachiedenheiten  zeigen.  Auch  führte  er.  ganz  abgesehen  von  den 
bhr  lyrischen  Rhythmus  beobachtenden  Stellen,  nicht  überall  den 
■Dbischen  FlinffUssler  mit  aller  Strenge  durch,  sondern  liesa  die 
lere  freiere  Fnrm  mit  sehr  geringen  Veränderuugen,  wo  ihn  ein 
fernes  Gefühl   dazu  bestimmte,   unangetastet".     Aber   schon   L.    F- 

tber,  der  im  Jahre  17S8  die  Handschrift  eines  altern  Textes  durch 
ethe's  Mutter  kennen  gelernt  und  mit  dem  neuen  gedruckten  ver- 
glichen hatte,  bemerkte  treffend":  die  ältere  Bearbeitung  eteche  gegen 
^le  neue  sehr  ab,  und  er  habe  wirklich  gefunden,  dass  die  ganze 
^pUe  Schönheit  der  Dichtung  mit  auf  den  kleinen  hinzugekimmienen 
Bruckern ,  vorzüglich  in  der  Diction,  beruhe.  Dagegen  behielt 
Goethe,  als  er  den  schon  vor  zwCdf  Jahren  angefangenen  ,,Egmont** 
in  Italien   vollendete ,   für  dieses  8tÜek  im  Ganzen  die  reine  Prosa- 

re  bei  und  ertheilte  nur  in  einzelnen  Sceneu,   vornehmlich  gegen 
£ude  bin,  der  Sprache  eine  entschieduere  rhythmische  Bewe- 


kks  in  Prosa  ahfrefasst  ivgl.  den  versiäcierten  Epilog  dazu;   Werke  Hl.  ■)  und 

ler  2.  l'J2t.  —  Als  der  Dichter  die  vier  ersteu  Bande  seiner  Schrifteu  in  Rom 

m  hatief  schneb  er  von  dori  im  Soptlir.  \~'^1  au  acine  Freundß  in  Weimar 

&6i:    ..Kb  ist  mir  wabrlicli  sonderbar  zu  Muthc,  dass  diese  vier  zarten  Biind- 

I.  die  Resultate  eines  halben  Lebens,  mich  in  Rom  aufsuchen.   Ich  kann  wohl 

fo:  es  ist  kein  Buchstabe  dnrin.   der  nicht  gelel)t,  cmptundeu,  genossen,  ge- 

I,  gedacht  wilre,   und  sie  sprechen  mich  luin  alle  desto  lebhafter  an.    Meine 

rgc  iiud  Hütfnung  ist,  dass  die  vier  foleenden  nicht  hinter  diesen  bleiben'*. 

\)  Vgl    Bd   HI.  148.    üeber  das  allmahlige  Vorrücken  der  völligen  Ausbildung 

stissL-n   Bürde*'   öder  ,.dieses  Schmerzenskindes",   wie  Goethe  in   seinen 

iefeu  aiisllali*'n  die  Ipliigenie  uenni,  vgl.  Werke  27.  20  f.;  Kit)  f.;  250  fr.:  25  »ff. 

dazu  die  Krgänzuogen  bei  Utiutzer  a.  a.  0.  S.  lodff.  33)  Vgl.  DUutzer 

TJ^  bis  zu  Ende.  34)  Sammtliche  Werke  seit  dem  J-  1502.    1.  2ns. 


■■■ 


266     VI.  Vom  zweiten  Vimd  dcB  XVIII  jAhrhimdcru  ha  sa  Goctb**»  Tod 


§  314  ^iDg'^,  worunter  freilich  die  Haimonie  des  TonB  mehr  litt,  Als  wenn 
er,  in  Shakspcai-e*»  Weise,  nach  dem  besondeni  Inhalt  de»  Dargt- 
stellten  und  dem  Cliaraktcr  der  auftretenden  Personen  in  diesem  in 
80  vielen  Beziehungren  vortrefliichen,  des  Dichters  schünstcn  Werk 
sich  anschliessenden  Drama  zwischen  Prosa  und  eigentlicher  Versfo 
gewechselt  h:ltte.     Die  Anfänge  des  „Egniont"  schlössen   sich 
Zeit  nach   nahe  an  die  Vollendung  der  ersten   beiden  Hauptwcr 
Goethe's.     Nachdem  er,  wie  er  uns  berichtet,  im  Götz  von  licrlich 
geu  das  Symbol  einer  bedeutenden  Weltepoche  nach  steiner  Art  ti 
gespiegelt  hatte,  sah  er  sich  nach  einem  ähnlichen  Wendepunkt  d 
Staatengeschichte  sorgfältig  um.    Der  Aufstand  der  Niederlande 
wann  seine  Aufmerksamkeit,  und  der  Dicliter  be-^ann  den  ,,Egmon 
im  Herbst  1775  zu  schreiben,  als  er  die  fürchterliche  Ltlcke,  welc 
die  Losung    seines  Verhältnisses    zu  Lilli    iu    ihm    zurQckgel 
durch    Geistreiches    und  Seelenvolles    auszufüllen   hatte.      Zugid 
suchte  er  sich  hiermit  vor  einem  furchtbaren  Wesen,  das  er  in  d 
Natur,  der  belebten  und  unbelebten,  der  beseelten  und  uubcseelt 
zu  entdecken   glaubte,    das   sich  nur  iu  Widersprüchen  manifc«ti 
und  deshalb  unter  keinen  Begriff,  noch  viel  weniger  unter  ein  W 
gcfasst  werdeu  könne,  vor  dem,  wie  er  es  nannte,  Dämonischen, 
retten,    indem    er   sich    nach    seiner   Gewohnheit    hinter   ein    Bi 
flüchtete*'.     In  Weimar  Hess  Goethe  diese  Arbeit  wÄhrend  der  ert 
Jahre  ruhen;   erst  seit  dem  Ende  des  Jahres  177S  nahm  er  sie  v 
Zeit  zu  Zeit  wieder  auf".     Im  December    17SI    schrieb  er  an  Frai 
von  Stein":    „Mein  Egmont   ist  bald  fertig,    und  wenn   der  fatale 
vierte  Act  nicht  wäre,   den  ich  hasse  und  nothwendig   unischrcib 
muss,  würde  ich  mit  diesem  Jahre  auch  dieses  langverrrödelle  Sttl 
besohliessen."     Ein  Vierteljahr  später  hatte  er  Hoffnung,  das  Wr 


iie 

1 


35)  Die  Stollen  tm  Kgmoot.  iroriu  die  Ucdc  si^b  rhythmiscb.  ond  zvat 
uiei*t  in  jainbUcheni  Schritte  bewegt ,   so  dasü  oft  mehrere  regolrecbie  jiuni 
FüuffUssIer  unmittelbar  aufeinauiler  folgen,  sind  bezeiehocC  von'  Duutxer  a. 
h.  :i20:  :Mr<;  :m->;  :\h\:  ;if.4;  356  f.:  ;J«I— 371;  3^2  (gn.isstentheils  in  Jra 
Dass  ..der  jambische  Fu88tritt"  auf  allen  Seiten  (Vi  des  Kgraunt,   ,.voi 
den   pathetische»   Scenen,    unwidorstehlich   ins  Ohr  falle",    bemerkte  schoi 
Kr.  l'cucfcr  in  der  Zeitung  für  die  elegante  Welt  N.  116  f.  in  einem  eigoQ< 
laix,  „Moiiolo;^'  aus  dem  6.  Acte  von  Guetlu*'»  Kgmont  me'risrh  geordnet' 
beruft  &icli  dabei  u.  a.  auf  die  Uutcrrt^dungen  zwischen  Ki^ont   und  Orauu 
'wUcben  Alba  und  Kgiuout,  zwischen  Clärchen  uud  Britckeuburg  und  «wte«! 
K^mont  uud  seinem  Secretär.   Aber  den  voUaiüudigsteu  Beweis  liefere  der 
Kgmonu  im  Kerker.     Peucer  hat  versucht,  dieses  ungemein  schöne  Scgmeutj 
fceiuein  individuellen  Alusikgefübl   in  Verszeilen  abzusetzen.  36)  Wi 

HVS  f.;  17b  tf.  37)  Vgl.  Kiemer,  Mittheilungen  2,  'tj  und  dir  Briefe  an  Kl 

»on  Stein  aua  den  Jahreu  ITT»— I7S2.  3Si  2,  127. 


Eotirickelungsgang  der  Literatur.    1773— 1*«.12.    Ooethe's  Kgniont.       2ß7 

ide  zu  bringeti;  doch  werde  es  langsamer  gelieii,  als  er  gedacht  §  314 
bähe.     „Es  ist'*»  bemerkt  er  gegen  die  Freundin^",  „ein  wunderbares 
Sttlck.     Wenn  ich'e  noch  zu  Bchreibcn  hfttte,  schrieb'  icba  anders  und 
vielleicht  irar  nicht;  da  es  nun  aber  da  steht,   mag  es  stehen;   ich 
will  nur  das  allzu  Aufgeknüpfte,  Studentenhafte  der  Manier  zu  tilgen 
ichen,    das   der  Würde    des  Gegenstandes    widerspricht."      Einige 
'ochen  darauf  war  es  auch  wirklich  so  weit  ausgeführt,  dass  er  es 
ram  5.  Mai  178*2  in  seiner  ersten  abgeschlossenen  Gestalt  an  Mosers 
ochtcr  mit  der  Bitte  sandte,  es  ihrem  Vater  zur  Beurtheilun^  vor- 
degen  *".    Seitdem  Hess  er  es  ganz  ruhen  und  gieng  erst  wieder  in 
[tftlien  daran,    als  er  im  Sommer    1787   ron  Neapel   nach  Honi   zu- 
rückgekehrt war.     Am   5.  Juli  war  die  neue  Bearbeitung  so  weit 
TorgerUckt,  dass  er  den  Freunden  in  Weimar  melden  konnte:  „der 
ite  Act    ist    ins  Reine  und  zur  Reife;    es  sind  ganze  Scenen   im 
»tttcke,    an    die  ich  nicht  zu  rühren  brauche"".     Am  5.  September 
endlich  hatte  der  Dichter  die  letzte  Hand  an  dieses  Werk  gelegt*'; 
den  T»g  darauf  sandte  er  es  an  Herder;  im  Druck  erüfifuetc  es  den 
Inften  Band  der  Schriften".     Auf  die  ihm    von  Weimar  aus  nach 
^Rom  niitgetheilten  Urtheile  und  Bemerkungen  über  den  Egmont  er- 
wiederte  Goethe  u.  A.'*:  „Die  Aufnahme  meines  Egmont  macht  mich 
;1Ucklich ,   und  ich  hoffe,  er  soll  beim  Wiederleeen   nicht  verlieren, 
lenti  ich  weiss,   was  ich  hineingearbeitet  habe,  und   dass  sich  das 
licht  auf  einmal  herauslesen  lässt.     Es  war  eine  unsäglich  schwere 
Lüfgabe,   die  ich  ohne  eine  ungemessene  Freiheit  des  Lebens  und 
lÄea  Gemtlths  nie  zu  Stande  gebracht  hätte.    Man  denke,    was  das 
nagen  will:  ein  Werk  vornehmen,  was  zwölf  Jahre  früher  geschrie- 
ben ist,  es  vollenden,  ohne  es  umzuschreiben.     Die  hcsonderu  Um- 
•tÄnde  der  Zeit  haben  mir  diese  Arbeit  erschwert  und  erleichtert*'". 
Gelangte  er  hier  nicht  zu  einer  völligen  Umschmclzung,  so  hatte  er 
sicli  doch  auch  , .durch  die  Bearbeitung  Egmonts  in  seineu  Forderun- 
gen gegen  sich  selbst  dergestalt  gesteigert",   dass  er  es  nicht  mehr 
Hber   sich    gewinnen    konnte,    die    beiden   schon   lange  gedruckten 
Siuggpiele  „Erwin  und  Elmire"  und  „Claudine   von  Villa  Bella"  in 


3U|  2.  170.  4\))  Riemer  2,  143.  Note.  J  1)  Werke  21),  2*.l  f.;  über 

4*Tl  Fort«ftDg  der  Arbeit  vgl.  S.  :t2  f.;  35;  41 ;  57  f.;  7G.  42)  2'»,  7s. 

^3)  Vgi.  hieran  DüDlJier,  „Goethe's  Gfttz  und  Egmont.  Gcschiclitc,  Entwickelung 
"»»1  Wür(li;;nnff  beider  Dnimen".  Uraunschweig  1''54.  h.  S.  2H2— 2:VJ.  Ueber 
^  'nidit  gedruckte)  Uearbeitung,  der  Schiller  mit  Qoethe's  Einviilliifung  den 
^^öwmt  fnr  die  Aiiffn!iruiig  auf  der  weimarischcu  Bühuc  im  J.  179ti  unterwart, 
'«l-  SchiUers  Briefwechbel  mit  Köruer  :*,  :i;f.U.;  Goethe's  Werke  3t,  )',3;  45,  22  ff. 
•"<*  DüDlter  a.  a.  0.  S.  3s.i  ff.  4-1»  2!i,  \:\\k  45l  Hazti  Werke  2'.*,  142: 

'^^n  Stuck  bab'  ich  mit  mebr  Freiheit  des  Gemüllis  uud  mit  mehr  Gewiüseu- 
**%lieit  vollbracbt  als  dieses^ 


p«« 


1 

ben^ 
ueuefl 


2t)ä    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bia  ra  Goc(he*t  Tod. 


§  314  ihrer  ersten  Form"  der  Sammluug  seiner  Schriften  einzuverleiben 
Er  arbeitete  beide  Stücke  völlig  um  und  gab  ihnen  eine  ganz 
in  jeder  Beziehung  kunstmJiäsigero  Gestalt,  indem  er  zwar  in  den 
Gesängen  das  Meiste  aus  den  alten  Texten  beibehielt",  hingegen 
die  dramatische  Fabel  eines  Jeden  sowohl  in  ihrer  ganzen  Anlage, 
wie  in  der  Ausführung  der  einzelneu  Thcile  wesentlich  änderte  und 
auch  für  alle  Reden  die  Form  der  fünffüssigen  Jamben  wählte.  An 
die  Umarbeitung  von  „Erwin  und  Elmire''  muss  der  Dichter  gleich 
nach  der  Vollendung  des  Egraont  gegangen  sein^'.  Er  suchte 
er  sagf^  dem  kleinen  Stücke,  das  ihm  jetzt  als  „eine  Schülerar 
oder  vielmehr  Sudelei"  vorkam,  mehr  Interesse  und  Leben  zu  v 
schaffen  und  ,,8chmiss  den",  nach  seinem  Dafürhalten, 
platten  Dialog  ganz  weg.**  Ungefähr  vier  Wochen  später  glaubte 
damit  so  gut  als  ganz  fertig  zu  sein^',  und  im  Anfang  des  Novem 
bers  war  auch  schon  ,,Claudinc"  in  der  Arbeit,  die  ganz  neu  ausge 
führt  werden  sollte,  so  dass  die  alten  Spuren  seiner  Existenz  heraof- 
geschwungen  würden".  Dennoch  sandte  er  das  erste  Singspiel 
seiner  neuen  Gestalt  nicht  eher  als  im  Jahre  178S  zum  Drucke  a 
als  auch  schon  die  Bearbeitung  von  „Claudine"  ziemlich  weit  vo 
rückt  war.  In  der  ersten  Hälfte  des  Novembers  1787  war  nämli 
Goethe's  Freund  und  Landsmann,  der  Componist  Kayser,  nach  Ro 
gekommen,  unter  dessen  Anleitung  der  Dichter  sich  erst  recht  lu 
die  eigentliche  italienische  Opornform  eindachte  und  einübte*'. 
Wahrscheinlich  wurde  in  Folge  dessen  auch  noch  mancherlei  an 
„Erwin  und  Elmire"  geändert,  nachdem  Goethe  damit  schon  fast 
zum  Abschtuss  gekommen  zu  sein  meiute.  Er  schrieb  an  Flerdor 
Ueberscndung  dieses  neuen  „Pröhchens  deutscher  Art  und  Kunst*' 
„Du  wirst  bald  sehen,  dass  alles  aufs  BedUrfniss  der  lyrischou  BQbtie 
gerechnet  ist,  das  ich  erst  hier  zu  studieren  Gelegenheit  liatte:  alle 
Personen  in  einer  geuissen  Folge,  in  einem  gewissen  Mass  zu  ht- 
Bcbäftigen,  dass  jeder  Sänger  Ruhepunkte  genug  habe"  etc.  Vier 
Wochen  darauf  war  auch  ,.Claudine  von  Villa  Bella"  fertig:  an 
6.  Februar  17sS  gieng  der  dritte  Act  nach  Deutschland  ab  und  in 
dem  ihn  begleitenden  Briefe  schrieb  Goethe^':  „Da  ich  nun  die  Be- 


46)  Vgl.  oben  S.  Iü9.    Beide  Sttlcke  in  ihrer  ältesten  Gestalt  sind  aa& 
abgedruckt  in  ilen  Werkrn  57,  101  ff.        47)  Vgl.  Werke  2%  U6  f.        48»  Wl 
Goethe,  als  er  am  12.  Septbr.  nS7  „Erwin  und  Elmire"  bereits  „zur  tl 
geacbrieben-  hatte,  nach  Weimar  meldete  (2',»,  S2f.):  „die  artigen  Uesjkage, 
sich  alles  dreht,  blcihcu  alle,  wie  uatUrllch'S  so  ist  dtess,  wie  hich  aua  der' 
glcüdniug  des  neue»  mit  dem  alten  Texte  er^bt,   nicht  buchsiÄbUch  zu  ni 

49)  I>aa  beweist  das  Datum  dos  iu  Aum.  48  angesogenen  Briefes, 
demaelben  Briefe.  51)  Werke  2:»,  IKI  f.  52i  '.Mt,  U2 

29,  13»— 161  und  213;  31,  lU.  bi)  29.  215.  55)  29,  j;^. 


EntwickelnngagaDg  d.  Litcrator.    1773 — tS32.   GocÜig's  Singspiele  und  Tosso.    269 


rdttrfnisse  des  lyrischen  Tlieaters  prenauer  kenne,  haho  ich  geancht,  §  314 
lurch  manche  Aufopfern ngcn  dem  Componistcn  und  Acteur  ent- 
gegenzuarbeiten. Das  Zeug,  worauf  gestickt  werden  soll,  muss  weite 
*JideD  haben,  und  zu  einer  komischen  Oper  mnss  es  absolut  wie 
larli  gewoben  sein.  Doch  hab'  ich  bei  dieser,  wie  bei  „Erwin", 
luch  fürs  Lesen  gesorgt.  Genug,  ich  habe  gethau,  was  ich  konnte." 
Beide  Stücke  bildeten  nun  im  Dnicke  mit  dem  Egmout  den  Inhalt 
des  fünften  Bandes  der  Schnften.  Gleich  nach  Vollendung  der 
Ipbigenie  und  bevor  noch  die  letzte  Hand  an  den  Egmont  gelegt 
würde,  gedachte  er  seinen  ,, Torquato  Tasso",  von  dem  vor  der 
Italienischen  Reise  nur  die  ersten  beiden  Acte  in  poetischer  Prosa 
niedergeschrieben  waren",  einer  neuen  Bearbeitung  zu  unterwerfen 
und  das  Werk  zum  Abschluss  zu  bringen".  Kurz  vor  der  Abreise 
ron  Rom  nach  Neapel  schrieb  er":  „Eins  habe  ich  über  mich  ge- 
wonnen, dass  ich  von  meinen  poetischen  Arbeiten  nichts  (nach 
^^2ieapeU  mitnehme  als  Tasso  allein;  zu  ihm  habe  ich  die  beste  HofT- 
Hklii^...  Der  Gegenstand  ...  will  im  Einzelnen  noch  mehr  ausge- 
I^Krbeitet  sein  (als  Tphigcnie);  doch  weiss  ich  noch  nicht,  was  es 
^^nrerden  kann;  das  Vorhandene  muss  ich  ganz  zerstören,  das  hat  zu 

I  56»  GoeÜie  berichtet  (2S,  S4  f.)  in   eiuern  Briefe  vom   30.  März  17^7,   die 

D  ttciden  Acte  seien  schon  vor  zehn  Jahren  gesclirioben;  allein  mit  gutem 
runde  batDüiitÄer  (in  seinem  Buch,  „Goethe'a  Tabso.   Zum  erstenmal  vollständig 
iAuterl".    Leipzig  1*»54.   S.    S.  4»  angemerkt,  die  Fassung  dieser  Briefstelle  sei 
offcnbir  au£  spaterer  Zeil  und  der  Inhalt  unzuverliUsig.    Die  Chronologie   etc. 
fahrt  „die  Anfange  des  Tasso"  erst  unter  dem  J.  I7sa  auf,  und  bis  dahin,  und 
twnr  bis  ram  30.  März,  reichen  auch  nur  wirklich  in  den  gedruckten  Mitlhcllnngen 
AUS  «einen  Tagebüchern  und  in  seinen  Briefen  die  Hindeutungen  des  Dichters  auf 
üdue  l^chiiftigung  mit  diesem  Uegcnstandc  zurück,  vgl.  Riemer,  Mittheilungen 
llfi;    l-U  f.;    134;    Uli;    Briefwechsel   mit  Knebel  1.  *»2  f.,    wo  die  Briefe  N. 
ST  TOD  dem  äerauBgeber  mit  falschen  Jahreszahlen  überächrieben  sind,  indem 
wie  DdnUcriFreundcsbilder  S.  442,  Note  *i  und  Goethe's Tasso  S.  17,  Note:*) 
nchligl,   in  den  Ausgang  des  J.  ITSO  gehören;   die  Briefe  an  Frau  von  Stein 
in   1«.  bis  25.  Xovbr.  1780,   vom  19.— 23.  Apr..    vom  9.  Mai  und  5.  Juni  I7SI; 
e  Briefe  an  Lavatcr  S.  i:t1  f.;  IH5;  142.  und  zu  allem  Duntzer,  Uoethe's  Tasso 
l— 2<>.  hl)  Am  )(>.  Febr.  I7S7,  als  Goethe  oben  die  Nachricht  von  der 

cklicben  Ankunft  der  Iphigenic  in  Weimar  crhalteu  liatte,  schrieb  er  von  Rom 
,  *i75  f.):  ..Denke  ich  au  meine  vier  letzten  B&ude  im  Ganzen,  so  möchte  mir 
bwindelnd  werden;  ich  mubs  sie  einzeln  angreifen,  und  so  wird  es  gehen.   Hatte 
H  nicht  besser  gdhanruach  meinem  ersten  Entschluss  diese  Dinge  fragmentarisch 
die  >Velt  zu  schickeu  und   neue  ticgeustaude,   au   denen  ich   frischeren  An- 
nehme,  mit  frischen]  Muth  und  KriUten  zu  unternehmen?    Thüt'   ich   nicht 
Iphigenia   auf   Ddphi    (vgl.    27,  lt,'.i  f.;   'lb2   und   oben  Bd.  111.  I4G|   zu 
ben,  als  mich  mit  den  Grillen  des  „Tasso"  herumzuschlagen  V  und  doch  habe 
\eh  auch  dahinein  schon  zu  viel  von  meinem  Kit^ucn  gelegt,  als  dass  ich  es  frurht- 
Im  aufgeben  sollte".    Vgl.  dazu  deu  Briefwechsel  mit  Kuehel  1,  79.         Ö8i  Brief 
tto»  Rom  Tom  21.  Febr.  1767  (27,  2^4). 


W 


27t)     VI.  Vom  zwcitL'U  Vieitcl  des  XVIU  Jalirbundcrta  bu  zu  (iuelhe's  Tod. 

311  Inuge  gelegen,  unil  weder  die  Personen,  noch  der  Plftu,  noch  d< 
Ton  Laben  mit  meiner  jetzigen  Ansiebt  die  mindeste  VerwandlÄcbaft 
Die  beiden,  in  poetischer  Prosa  gesehriebeneD  Acte  hatten,  wie 
in  jener,  dem  Briefe  ans  Italien  vom  30.  März  17S7  einireschobcni 
Stelle"  bcisat,  „etwas  Weichliches,  Nebelhaftes",  welches  sich  al>e^ 
bald  Terloreu  habe^  als  der  Dichter  nach  neuem  Ansichten  die  Form:» 
vorwalten  und  den  Rhythmus  eintreten  liesg**.  Er  benutzte 
Tag:e  seiner  Ueberfahrt  von  Neapel  nach  Palermo,  zunAchal  di 
Plan  des  StUckes  neu  zu  durchdenken,  dessen  er  auch  so  ziemli« 
ITerr  wurde".  Hierbei  blieb  es  aber  fürs  erste.  Nur  hin  und  wi( 
gedenkt  er  in  seineu  Briefen  aus  der  zweiten  Hälfte  des  Jabre«  l*i 
des  Tasso  als  einer  Arbeit ^  deren  Ausführung  ihm  mit  Beginn 
nAchsten  Jahres  bevorstehe";  aber  auch  da  kam  er  iu  den  erstttl' 
>Her  Monaten  nicht  dazu,  dies»  Werk  ernstlich  in  An^riif  zu  Dchmefl*'. 
Nicht  eher  als  auf  seiner  Rückreise  ins  Vaterland,  während  seine« 
Aufenthalts  in  Florenz,  als  er  sich  von  den  Schmer/ensj^efühlen,  die- 
der  Abschied  von  Rom  in  ihm  erre^  hatte,  zu  einer  freieru  pnct»*! 
sehen  Thiltigkeit  ennannte,  ^ieng  er  wirklich  an  die  Ausarbeitung*',- 
die  or  dann  mit  der  feinsten  Kunst  zu  einem  im  Ganzen  mal  iai 
allen  Einzelheiten  der  Darstellung,  iu  der  Gestaltung  der  Charaktercrj 
iu  der  Motivierung  der  Handlungen,  in  der  Entfaltung  und  d* 
Ausdruck  der  Em]>tinduugen,  endlich  in  der  Behandlung  derSpraclidfl 
und  des  Versbaus  sich  iu  harmonischer  Schönheit  abrundend» 
Meisterwerke  deutscher  Dichtung  in  Weimar  völlig  ausbildete*  unAj 
im  Sommer  17S9  vollendete".  Wie  sich  aber  das  Nachwirken  jenßfi 
wehmfithigen  Stimmung  des  von  Italien  scheidenden  Dichters,  nach 


59»  2S  M  f.  60»  Vgl.  auch  2S',  55.  GM  Vom  30.  März  bi» 

2.  April  I7S7;  vgl.  2b,  84;  S7  f.  C2>  Vgl.  21»,  liO;   I4ft.  63)  Vgl.  W,  «1^ 

177;   279:  291;  m  f.  Ol)  Nach   sciDem  Abscbiede  von  Rou.  erzählt 

der  Dichter  t6D,  250  ff.},  scheute  er  aich  anfänglich,  auch  nur  eino  Zeile 
scbreibca,  aus  Furcht,  der  zarte  Dui't  tnnigpr  SchmcrEPU  möchte  Ttr&cbi 
„Ich  mochte  beinahe  utchls  ansehen,  um  mich  in  dieser  süssen  QuuJ  nicht  st4r^* 
xa  lassen.  Doch  gar  bald  dranif  sich  mir  auf,  wie  herrlich  die  Ansicht  der  W** 
sei,  weDu  vir  sie  mit  gerührtem  Situie  betrachten.  Ich  ermannte  mich  2U  di»^ 
firmieren  poetischen  Tlmtigkcit;  der  Gedanke  an  Tasso  ward  angeknüpft,  nr;'!  ''"^ 
bearbeitete  die  Stellen  mit  vorzftglioher  Neigung,  die  mir  in  diesem  Augen' 
zunftch.';!  lagen.  Den  grössten  Theil  meines  Aufenthalts  in  Florenz  verbrachu-  »"-- 
iu  den  dortigen  Lust-  und  PrachtgiU'ten.  Dort  schrieb  ich  die  Stellen,  die«*"" 
uwch  jetzt  jene  Zeit,  jene  Gefühle  unmittelbar  zurückrufen".  (ifii  Vebfr  J** 

Fortschreiten  dt-r  Arbeit-  nach  seinem  Wiedereintreffen   in  Weimar  vj»!   Oo«Hb<  * 
Briefwuchsi'l  mit  Fr  Il.Jacobi  S.  III;  Brief  an  Fruu  v.  Stein  vom  12    ' 
Briefwechsel  mit  Knebel  1,  "9 f.:  Brief  an  Frau  v,  Stein  vom  S.  Juni  i 
Wechsel  mit  Knebel  I.  !»l,  oder  DünUer  a.  a.  0.  S.  :*2— 37.  60»  Am  i.'  J* 

„bei  einem  zufalligen  Aufeuthait  zu  Belvedere**  bei  Weimar;   vgl.  XUemer  3.  l* 
und  Goethe*«  Werke  6«,  26:^;  daiu  Düntjw  a.  «.  0.  S.  37. 


KatwickeluDgbgaug  der  Literatur.     !773— ls?32.    Goeihe's  Tasso.        271 

m  eigner  Andeutung,  in  dem  ganzen  Stücke  fühlbar  macLf",  so  §  314 
it  er  nberbau|it  so  viel  von  soinem  Ei?:eneu  hineingelegt,   dass  er 
»ch  öpUt  avicb  von  dieser  Dichtung  sagren  konnte:  sie  sei  Bein  von 

linem  Beiu  uud  Fleisch  von  seinem  FleiMch"*.     Und   in   dieser  Be- 

iehang  steht  der  Tasso  in  dem  nächsten  VerwandtschaftsvcrhAltniss 
Werther;  denn  wie  in  jenem  Roman,  so  gibt  uns  Goethe  hier  in 

luem    ömma   ein    in    unoudlich    vielen   Zügen    treiiCH   Abbild    der 
:enen   innern  Erlebnisse  und   Erfahrungen  während    einer   seiner' 

richtigsten  Bildungsperioden  und  alles  dessen,  was  er  in  Ihr  durch- 
ipfunden  und  durchgeküoipft,  wns  ihn  bedrückt  und  was  ihn  er- 
►ben,  verwirrt  und  geläutert;  bedrängt  und  in  sich  frei  gemacht 
itte*".  —  Was  Goethe  ausser  den  bisher  aufgeführten,  entweder 
im  erstenmal,  oder  in  ganz  erneuter  Gestalt  erscheinenden  Werken 
m  dramatischen  Stücken,  die  schon  vor  seiner  Reise  nach  Italien 
tdicbtet;  aber  noch  nicht  gedruckt  waren,  in  die  Ausgabe  seiner 
'hriften  aufnahm,  das  Fragment  des  „Faust"^"  und  die  beiden,  bis 

tif  die  Gesflnge  durchgängig  in  Prosa  abgefassten,  Singspiele  ,,Lila"'' 
id  „Jery  und  Bätely*''^  erfuhr  dabei  keine  wesentlichen  Textverän- 
^n :   nur  der  Faust  war  in  Italien  um  eine  oder  zwei  Seenen 


67i  Werke  üO»  251  f.    „Der  schmerzliche  Zug  einer  leidenschaftlichen  Seele, 

amri<l  erste  blich  zu  einer  unwiderruflichen  Verbannung  hingezogen  wird,  geht 

ittik  das  gADzc  btOck.    Diese  Stimmung  verliess  mich  nicht  auf  der  Reise  trotz 

*r  Zentreunng  und  Ablenkung".  68)  Kckcrmanns  Gespräche  mit  Goethe 

\1l.  69)  Der  ..TaBso"  erschien  im  sechsten  Bande  der  Schriften. 

fOi  V^.  §3(13,  211.   Was  das  „Fra^ent"  enthielt,  steht  in  den  AVerken  1*2,  2'.»  his 

EU  Fäusü  Worten  auf  S.  31)  „Und  froh  ist,   wenn  er  Ketrenwünuer  tiijüet*'  (doch 

rtblt*ü  im  Fragment  die  vier  letzten  Verse,  die  Wagner  sprichti ;   8.  Sl»  von  dem 

[Vfrae  „Und  was  der  ganzen  Menschheit  zugotheilt  ist*'  hia  zu  Knde  von  y.  [M 

f\ei  (eMten  wieder  auf  S.  120  die  beiden  letzten  uud  auf  S.  121   die  ersten  zehu 

Tcrv,  dann  auf  S.  122  Vers  5— fi  und  auf  S.  104  Vers  l— 4i;  von  S.  177   hia 

%  IS-^:  TOD  S.  ITl  bis  S.  1*6;  auf  S.  l<?*jr  uud  vodS,  1<J!>  (ohne  den  vierzehnteu 

V«nibU  zu  Knde  von  S.  2ül.  71)  Vgl.  Bd.  HI,  115;  dazu  Goeihe's  Werke 

^i.  t  and  Kiemer  2«  57.    Das  Stück  rnrde  hinter  dem  TasBO  im  8cchsteJi  Baude 

gMruckl.  72i  Werke  äl,  7.    „Lnde   177'J  fallt  die  zweite  Schweizerreise.  — 

t^  Uiukreise,  da  wir  wieder  in  die  flachere  Schweiz  liclaugten.  licss  mich  ,.Jery 

'«d Datei)'*  eriiunen;  ich  schrieb  das  Gedicht  sogleich  und  konnte  et.  völlig  fertig 

•wi  ntch  Deutschland  nehmen.     Die  Gebirgshift,  die  darinnen  weht,  empfinde  ich 

[B^ct;,  wenn  mir  die  Gestalten  auf  Bühücnbretterji  zwischen  Leinwand  und  Pappen- 

entgeyentreten".     Schon  Ende  Decbr.   I7"tt   sandte  der  Dichter  es  nach 

hirt  au  Kayser  und  abermals  eine  zweite  Abschrift  einen  Monat  apftter  mit 

ins  Einzelne  gt^heuden  Anweisung,   wie  er  es  coraponiert  wünsche.    Kiemer 

'•  Ul  idessen  vierte  Note  zu  S.  117  Düntzer.  Goethe's  Tasso  S.   10  f.  berichligtl. 

^"üii  Güfilhe  d.  I.  Febr    I7SS  von  Rom  aus  schrieb  (2^277),  der  tJ.  Band  scinrr 

^itrifieu  werde  walir^cheinlich  Taaso.  Lila,  Jery  und  ItÄlely  cuthalten,  „alles  nm- 

*nl(iiugearl>eitet,  dass  man  es  jiichl  mehr  kennen  »olle*,  so  folgt  daraus  nod» 

?w  nicht,  was  Viehoff  (Goctic's  Leben  2,  -I5SV  als  ausgemacht  annimmt,    r^fry 


272     VI.  Vom  zweiton  Viertel  des  XVIll  JabrbuiiUorts  bis  lu  Gofltho'g  Tod 

§  314  bereichert  worden '^    Dazu  kam  noch  ein  kleines,  auch  erst   \i\ 
gedichtetes  Drama   in  Reimveraen,  ,, Künstlers  Apotheose*'**, 
beiden   Sammmlungen    „vermischter   Gedichte""    wurde    mit    den 
meisten  bereits  von  früher  her  bekannten  Liedern  und  andern  klci* 
neu  Poesien  verschiedener  Art  und  Form*'  eine  bedeutende  Aozahi 
neuer,  thoils  vor  theils  wahrend  der  italienischen  Reise  entstandener 
Stücke  von  ähulichem  Charakter  einverleibt". 


uuil  Bätely"  sei  ia  Italien  nochmah  so  um-  aad  ausge&rbeit  wordeo.  dftu 
uoch  zu  erkcuuen  war.    Gedruckt  ward  das  Stock   im  7.  Bande  zwischen 
„Faust"  uud  „Scher/,    List  uud  Rache'*  73)  Am  1.  Mira  ITSS  b«H< 

der  Dichter  von  Rom  aus  i20,  20.1  f  >.  er  haho  in  der  rergangeaeo .   mebhJlUfa 
Woche  den  Muth  gehabt,  seine  drei  letzten  Bände  auf  einmal  zu  QberdeDken.  UÜ 
wisse  uuu  genau,  was  er  machen  wolle     „Zuerst**,  füirt  er  fort,  „ward  der  Pk» 
zu  Faust  gemacht,  und  ich  hoffe,  diese  Operation  soll  mir  geglückt  6etn     K»tiir- 
lieh  ist  es  ein  ander  Ding,  das  Stück  jetzt  oder  vor  fünfzehn  Jahren  ausschr 
ich  denke,  es  soll  nichts  dabei  verlieren,  besonders  da  ich  jetzt  glaube,  denlji'- 
Wieder  gefunden  zu  haben.    Auch  was  den  Ton  des  Ganzen  betriÖFt.   bin  ich  ;:•- 
iröstet;  ich  habe  schon  eine  neue  Scene  ausgeführt  idie  in  der  HexenkücbPi  tin-i 
wenn  ich  das  Piipier  rauchero.  so  dicht'  ich  sollte  sie  mir  niemand  au«  den  aiL« 
herauätindca.    Da  ich   durch  die  lange  Ruhe  und  Abgeschiedenheit  gauz  auf  'hk 
Niveau  meiner  eignen  Existenz  zurückgebracht  bin,  so  ist  es  merkwürdig,  wie  v'^a 
ich  mir  gleiche,  und  wie  wenig  mein  Inneres  durch  Jahre  und  Begebenh< 
litten  hat.    Das  alte  Mannscript   macht  mir   manchmal  zu  deuken,   weia* 
vor  mir  sehe.    Es  ist  noch  das  erste,  ja  in  den  Hauptscenen  gleich  so  ohne' 
cept  hingeschrieben:  nun  ist  ea  so  gelb  von  der  Zeit,  so  vergriffea,  so  mOrbe  ai 
an  den  Rändern  zerstosseu.  das3  es  wirklieb  wie  da;  Fra^ent  oiitcs  altonCoila] 
aussieht,  so  dass  ich,   wie  ich  damals  in  eine  frühere  Welt  mich  mit  Sinnen 
Ahnen  versetzte,  ich   mich  jetzt  in  eine  selbst   gelobte  Vorzeit  wieder   « 
musa'*.    Vgl.  Dontzer.  Gocthe's  Faust  I,  M»— s*>;  2in  {vro  aber  Zeile  T,.Febi 
statt  „Mdr*"  zu  setzen  sein  wird».  -   Ausser  der  Scene  in  der  Hexenküche  »tn 
wie  kaum  ku  bezweifeln  steht,  die  Scene  in„Wald  uud  Hflhie"  (12,  170— ITCi,  diel 
Fragment  anderwärts  eingefügt  ist  alä  im  voliataudigeu  ersten  Theil  dvr  IHcbtni 
(vgl.  Anmerk.  "Ot.  noch  !n  Italien  oder  bald  nach  Gocthe's  Heimkehr  gedichtet    V| 
Dilnizer  a.a.O.  I.  ^'♦h.         74)  Xach  dem  Briefe  vom  l.MArz  liss  ri%  T)U  loUlr 
„des  Künstlers  Erdenwallen"  (vgl.  §  259,  Anm    'i'^  und  i'M)H.  Anm.  52t  „ut?«  lu 
geführt"  und  „dessen  xXpotheose"  hinzugethan  werden.    Ob  an  dem  ersten  SiAc 
wie  es  ITT4  gednickt  worden,  für  die  Aufnahme  in  die  Schriften  (S,  2ST  tti 
geändert  ist,  kann  ich,  da  mir  der  alte  Druck  nicht  zur  Hand  ist,  nicht  angft 
Das  zweite  folgt  in  dem  v  Bde.  der  äcbriften  uumittelbar  auf  das  erste. 
75i  Im  S.  Bande,  der  auch  noch,  ausser  den  beiden  in  der  vorigen  Anmrrk- 
naunten  Stücken  und  dem  Fragment  ,,d*?r  Geheimnisse",  das  „neueröffnete  mi't 
lisch-politiacho  Puppenspiel'*  (Proloif.  —   Jahrmarktsfesl  zu  Plunder^«- ll^r, 
Fasiimchtsspiel  vom  Pater  Brey)  und  den  „Prolog  zu  den  neuesten  0 
üoltcs,  verdeutscht  durch  Dr.  C  Fr.  Bahrdf  •  enthiUl.        76)  Vgl    S   lu, 
roerkk.  :<s— »3  undS.  M0,«i7-ti<j.        77»  In  diesen  beiden  Sammlungen  atc 
nicht  ganz  in  derselben  Folge^  die  Stocke,  welche  in  den  Werken  au  fln<' 
J,  13-IS;  29f ;  45f.;  G:1;  (»7;  O'J;  Tl  f.;  Tl-S«;  s7  idüserätei;  921.;  IWI-I' 
lOtirdosorat«.:  Ihi-Il3:  llUdajcrstoi;  Uüf.;  I*a-I*r»;  —  2,  31— 99;  "5 


w 


Entwickeiungsgang  der  Literatur     1773— IS32.    Urtheile  aber  Goethe.    273 


1§  315. 
Brhob  sich  nun  aber  auch  Goethe  in  der  Ausbildung'  der  Haupt- 
ke  aus  dem  Anfang  dieser  seiner  zweiten  Petiode  bis  auf  den 
ÜObepunkt  relnstct-  und  edelster  Kunstgestaltung  im  Dichten,  und 
schuf  er  damit,  sozusagen,  eigentlich  ernt  einen  wahren  KunststiP 
in  tler  neuern  deutschen  Poesie:  so  waren  doch  die  Wirkungen, 
welche  dieselben  gleich  bei  ihrem  Erscheinen  und  in  den  nächsten 
JaLren  darauf  hervorbrachten,  nicht  im  entferntesten  mit  denen  zu 
rergleichen,  welche  von  seinen  ausgezeichnetsten  Jugendwerken  in 
der  ersten  Hälfte  der  Siebziger  ausgiengcn.  Zu  einer  enthusiasti- 
schen ßegrUssung  dieser  war  damals,  vorzüglich  in  der  Jugend, 
ftll68,  ZU  einer  ähnlichen  Aufnahme  der  neuen  oder  neu  bearbeiteten 
Dicbtimgen  auf  der  Grenze  der  achtziger  und  neunziger  Jahre  wenig 
oder  gar  nichts  vorbereitet.  Dazu  hiitte  die  ästhetische  Bildung  der 
Deutschen  im  Allgemeinen  weiter  vorgeschritten  sein  müssen,  als  sie 
B  wirklich  war.  Von  äusserst  wenigen  in  ihrem  geistigen  und 
Bblieben  Gehalt  verstanden,  nach  ihrem  Kunstworth  geschätzt,  in 
thren  Schönheiten  genossen,  waren  diese  Werke  für  die  allermeisten 
»0  gut  wie  gar  nicht  da.  Denn  durch  die  zum  grössten  Theil  bald 
rohen  und  wilden,  bald  scliwilchlichen  und  platten  Homane  und 
Schauspiele  der  letzten  anderthalb  Jahrzehnte  hatte  sich  der  Ge- 
imack  des  Publicums  zu  sehr  vergröbert  und  an  das  Mittelmässige 
ler  auch  ganz  Schlechte  in  der  Literatur  zu  sehr  gewöhnt,  und 
iTch  das  Festhalten  und  Wiederkauen  alter  verlegener  Theorien 
ir  da«  Urtheil  des  grossen  Haufens  der  wortfUhrendon  Kunstrichter 
befangen  und  zu  seicht  geblieben,  als  dass  jenes  ftlr  die  Schön- 
iten  echter  poetischer  Kunst  empfänglich  gewesen  w;irc,  diese 
Iren  günstige  Aufnahme  bei  ihm  durch  eine  vorständigo  und  ein- 
shtige  Kritik  hiltten  vermitteln  können.  Es  kam  hinzu,  das9 
)ethe,  der  sich  in  den  letzton  zehn  Jahren  von  der  Theilnahmc  an 
ätt  allgemeinen  Angelegenheiten  und  Strebungeu  der  Nation  in  den 


1;  lOi— Uli:   Hfl— IH;  127— i:i5;    175—196;  —  13,  123     MU.    Die  beiden 

'Tiiw  Rulotzt  angereihten  Gedichte,  „Han5  Sachsens  poetische  Sendung"  und  pAuf 

^'^imfy  Tod",   sollten  nach  der  vom  Dichter  am  22.  Febr.  HSS  (29,  2S-2i  «egen 

41(nlor  ansge^prochenen'Absicht  den  s.  Band  uud  so  seine  Sciiriftcn  ftlr  diessmal 

^»'^tiUoiiiPji  tirus  al»er  im  Druck  nicht  ijeschchen  ist).    Sie  könnten,  meinte  er,  statt 

iWoalien  und  Parentation  gelten,  wenn  er  etwa  in  Rom  sterben  sollte. 

{315.  l)  E>as  Wort  Stil  Inder  Bedeutung  gefasst,  wie  Goethe  selbst  sie  in 
^  rSH  geächriebeuen ,  zuerst  im  (\.  Merkur  von  ITSi»  gedruckten  kleinen  Äuf- 
"•U;  „Kinfaehe  Nachahmung  der  Natur.  Manier  und  Stil",  mit  nächster  Be- 
'Winng  auf  die  büdende  Kunst  entwickelt  uüd  fostgeateUt  hat.  Er  steht  in  den 
Gölten  :t*i,  IS»  ff.;  vgl.  dazu  oS,  115— i  IT. 

KvWiuiA.  GnmdriA    i.  Aufl.    IV.  1* 


274    VI.  Vom  zweiteu  Viertel  des  XVIII  JahrhonderU  bis  t\x  Goethe'» 

§  315  Kreis  der  beaondern  Interessen  »einer  nächsten  Uinj;ebungen.  mit 
seinen  Natur-  und  Ktiuststudien  in  sich  selbst  zurUckgezog-eo  ua^ 
damit  in  »ein  weimarisehcä  Leben  gleichsam  so  eingcsponnen  hati 
dass  von  seinen  äussern  und  innern  Erlebnissen ,  so  wie  von  d( 
Gange  seiner  sittlichen  und  ktinstlerischon  Bildung  nur  wenig 
aUgemciDcr  Kenntniss  gekommen  war',  den  innern  Gehalt  »eioer 
bedeutendsten  Dichtungen  gerade  vor/.ugs weise  aus  seiner  in  dietem 
Leben  wurzelnden   und   von  ibm  beHtiiuniteu  Biklungsgeschlchte  g^_ 


2t  Goethe  selbst  hat  uns  gesagt  (58,  11!^):  „Die  Auflage  meiniv 
Scbriften  tiel  in  eine  Zeit,  wo  Betit^chland  nichts  mehr  von  mir  wntste, 
wissen  wollte,  und  ich  glaubte  zu  bcmerkcu,  mein  Verleger  liude  den  Absatz  aictt 
ganz  nach  seinen  Wünschen'*.  Vgl.  A.  "W.  Schlegel  in  den  Chai 
und  Kritiken  2,  0  (Särnmtlielie  Werke  h,  UG).  In  welchem  Lichte  selbst 
wie  Schiller  und  Körner  zu  der  Zeit,  dnCiOCthe  in  Italien  war,  dessen  Ki 
und  ganzes  Verhalten  wahrend  der  letzten  Jahre,  so  wie  der  Einfloas 
den  er  auf  seine  nAchBten  Freunde  iu  Weimar  gehabt  hatte,  ist  aus  einen 
Schillers,  der  bald  nach  seinem  Kintreffen  in  dieser  Stadt  geschrieben  ist,  tUMi 
Körners  Antwort  darauf  zu  ersebex*.  „GoeUie's  Geist",  berichtet  Schiller  u 
12.  Aug.  1787  |l,  UfHi,  mit  besonderm  Bezüge  auf  Knebel,  dessen  Bek&untscl 
CT  eben  gemacht  hatte,  „hat  alle  Menschen,  die  sich  zu  seinem  Zirkel  zahlen, 
modelt.  Kine  stolze  philosophische  Verachtung  aller  Specalalion  und  If 
8iichui\g,  mit  einem  bis  zur  Aflfectation  getriebenen  Attachemcnt  an  die  Natur  i 
einer  Kesiguation  in  seine  fuuf  Sinne;  kurz  eine  gewisse  kindliche  Kiufah 
Verniint't  l>ezeichnet  ihn  und  seine  ganze  hiesige  Secte.  Da  sucht  man  li( 
Kr&Dter  oder  treibt  Mineralogie,  als  dass  man  sich  in  leeren  Demonsir  < 
fienge.  Die  Idee  kann  ganz  gesund  und  gut  sein,  aber  man  kann  and 
treiben".  Auf  diese  Mittheilung  erwiederte  Körner  u.  a.  (f,  142  f.».  „1  w; 
grossen  Haufen  ist  eine  solche  Beschränkung  heilsam,  und  sie  allgcm<iu*f 
machen,  ist  gewiss  ein  Verdienst.  Aber  sich  selbst  und  seinesglei«  hen  mn» 
grossere  Mensch  davon  ausschiicssen  Ks  fehlt  nicht  an  Vemnla^iiiMigen  zn  im 
barer  Thätigkcit  für  jede  höhere  Seelenkrafi,  und  dirse  ungebraucht  zu  lassea, 
iMebstahl  an  seinem  Zeilaller  Freilich  ist  es  bequemer,  unter  kleinen  Mcntcfcit- 
zu  herrechen,  als  unter  grossem  seinen  Platjs  zu  behaupten.  So  lange  nurh  is 
politischen  oder  schriftstellerischen  Wirkungskreise  für  Ooethe  etwa»  zu  tku 
übrig  bleibt,  das  seines  Geistes  wUrdig  ist,  —  uud  kann's  ihm  wohl  daran  iriiM 

—  80  ist  es  unverantwortlich,   seine  Zeit  im  Naturgenusse   au  verichwolgeD 
mit  Kr<)utem  und  Steinen  zu  tiindelu.    Ich  clire  die  wahre  SintptitltJit  — ,  : 
sie   wird   nicht  bloss   durch   lavatersche  Kindlichkeit   erreicht.     I>ie    höclisu^ 
strengung  des  menschlichen  Geistes  wird  oft  dazu  erfordert,  um  da,  woVcrwoi 
heit,  Künstelei.  Pcdautismiis  herrschen,   sie  wiedvr  herzustdlen  oder  zu  »chi 

—  Verdient  der  Gi  ist  cini.*5  Raphacl,  eines  Lei hnitz,  eines  Shakspeare,  eineafj 
rieh  weniger  Aufmerksamkeit  als  ein  Gras,  das  ich  zertrete?  —  Ks  ist  U 
sagt^   dass   unsere  Zeiten  und  N'crhlUlnissc   uns   zu   keiner  begei&ttruu 
Wirksamkcir  auffordern.    Mit  eben  dem  Ueelite  kouiitcn  die  Griechen  zu 
Zeiten  klagen,  dass  keine  Ungeheuer  mehr  zu  erlegen ,  keine  Hirsen  mehr 
k&mplen  waren,  wie  zu  den  Zeiten  dcrHerom.   Andere  Zeiten,  andere  Vüi 
Stoff  zur  Wirksarakoit  bleibt  immer  genug   für  den  groi&sen  Mann.     Kt 
das  Schwere  heraussuchen,   woran  kleinere  Mrnsrhen  sich  nicht   wa^^rB".    ^t 


I 


Eutwickeliuigsguig  der  iJierAtux.     1773—1832.    L'rtlieüe  Über  GoeUie.    275 


hOpft  hatte.    „Goethe*»  poetische  Tendenz,  bemerkt  Riemer^,  geht  §  310 
Überall  auf  das  Schone  und  auf   (bis  Sittliche.     Sein   eigenca'Ge- 
'*'    '  '  -*,    das9    er   berufen   sei,    ;MiWeltverwirrung  zu  betrachten, 
-  iTung  zu  beachten''",  zeigt,  dasö  er,  die  putiiologischcn  Zu- 
!«tiuidG  der  Menschheit  zu  seiner  Aufgabe  machend,  aus  der  Krank- 
heit zur  Gesundheit,   aus  dem  Irrthum  zur  Wahrheit,  aus  dem  Un- 
nittlicheu   zum  Sittlichen,   und  so   vnm  lI&iRliehen  zum  Schönen  zu 
fuhren    trachtete:    dieses   Ziel,    dieses    einfache   Resultat    aber    als 
Dichter   nicht   anders    erreichen    konnte,    denn   dass   er   eben   die 
.Mannigfaltigkeit  leidenschaftlicher  Zustände,  d.  h.  des  Irrthums,  in 
aisächlicher  Entwickelung  vor  Augen  legte,  aus  denen  der  Mensch 
ich  zu  entwirren  habe,  um  zur  Uebereinstimmung  mit  sich,  mit  der 
atur  und  Gott,  und  so  zu  Ruhe  und  Glück   zu  gelangen.*'     Diess 
It  allerdings  eben  so  gut  von  dieser  Periode  in  der  Geschichte  des 
ichters,  wie  von  der  frühem,   in  welcher  der  Götz,  der  Werther 
2;um  grössten  Theil  auch   das  Fragment  des  Faust  cutstanden; 
t  ebenfalls  von  seiner  sjiätern  Zeit,    wo   er  noch  im  Vollbesitz 
poetischen   Kraft    war.     Allein  der  Unterschied    zwischen    den 
cbtungswerken,  zu  deren  Hervorbringnng  ihn  jene  Tendenz  in  der 
neu  und  in  der  andern  Periode   führte,    ist    der,    dass    unter   den 
thologischen  Zustanden  der  Menschheit,  deren  j)oeti8che  Darstellung 
sich  in  seiner  Jugend  zur  Aufgabe  machte,   damals  mit  ihm  zu- 
eich  unendlich  viele  in  Deutschland  litten,  und  dass  demnach  der 
SlotT  geiner  grossen  Jugeudwerke  gleichsam    aus  weit  verbreiteten, 
efgreifetulen  Bedürfnissen,  Stimmungen  und  Strebungen  der  Nation 
'schöpft  war:    wogegen  Goethe  sich  in  seiner  mittlem   und  seiner 
fltero  Periode  vorzugsweise,  und  im  Gan^cen  auch  je  länger  desto 
mehr,  darauf  beschränkte,  die  pathologischen  Zustände  auf  die  von 
Hiemer  angedeutete  Weise  in  dichterischen  Gebilden  zu  veranschau- 
li^'hcn,    die  entweder  tr  allein,   oder  in   ahnlicher  Art  nur  wenige 
Andere  durchle>>t   und   durchenipfunden   hatten.      Daher   passen   auf 
diese  spätem  Dichtungen  ganz  besonders  die  Worte,  die  uns  Ecker- 
inann  von  ihm  aus  dem  Jahre  1S28  aufbewahrt  hat*;  „Meine  Sachen 


werden  muss,  dass  hier  t-in  Lieblingsstudium  Gocthc*6  in  seiner  Bedeu- 

'I  seinen  Folgen  für  den  E>ichtcr  zu  sehr  unterschilÄt,  das  UrtheiJ  über 

'i;;koit  VTÄbreud  jener  Jahre  überhaupt  zu  einseitig  i8t,  so  wird  man  doch 

i  w   i,  Körners  Worte  an  so  manches  erinnert,   wofür  Goethe  damals  und 

:  batU'  wirken  können,  wenn  er  sich  nicht  jenem  in  der  §  3fM,  Anm    h  he- 

cten  Grundtriebe  seiner  geistigen  und  sittlichen  Natur  zu  ausschUessUch  hin- 

■  II  UAtte.     Wurde  er  ja  doch   mit  der  Zeit  immer  Rbdchgüliiger  gpgon  alle 

■u  allgemeinen  Interessen  der  Uegenwart.    wie   er   es  echou  jetzt  gegen  die 

i^fhichtr  überhaupt  und  gegen  die  vaterltlndi^he  iusbesünderc  war!        3)  Mit- 


Uiiiiazigen  1 


4i  Werke  4.  4»;. 


5)  Gespräche  2,  34- 


IV 


57^     VI.  Vom  zweiten  Viert«!  des  XVIIT  Jahrhunderts  bSi  «u  Ooift*^ 


W        1 


f  315  können  nie  populär  werden;  wer  daran  denkt  und  daftr  strek,  m 
in  einem  Irrthum.  Sie  sind  nicht  für  die  Masse  gesebriebeik,  mmiat 
nnr  fflr  einzelne  Menechen,  die  etwas  Aebnliches  wnllen  und  mcka 
und  in  ähnlichen  Riebtungen  begriffen  sind";  sobald  wir  nodi  e- 
gSnzend  hinzusetzen:  und  die  Aebnlicbes  gelitten,  von  ihnlirki 
Innern  Kämpfen  Erfahrung;  haben.  Und  daber  lag  ihm  ftuck  bei 
aÜem,  was  er  in  dieser  Zeit  dichtete,  immer  sehr  viel  an  des  Bo- 
fall  seiner  Freunde,  die  ihn  kannten  und  Hebten,  wenig  oder  fv 
nichts  daran«  „wie  das  Publicum  diese  Sachen  betrachtete*'*.  Sdm 
Dichtungen  konnten  deshalb  schon  durch  das,  was  in  dicbten«rto 
Productionen  immer  zumeist,  Ja  fast  allein  das  grosse  PablimiD  <^ 
greift  und  mit  sich  fortrcisst,  durch  den  Stoff  an  aicb.  bei  dieHB 
kein  lebhaftes  Interesse  für  sieb  erwecken,  viel  weniger  noek  ia  w 
kunstvoller  Fassung,  worin  es  dem  Dichter  gelungen  war,  alles  ^ 
besondem  Wirklichkeit  entnommene  Stoffartige  zu  einer  br»beni  Be- 
deutung und  zu  einem  innerlich  und  äusserlicb  aufs  feinste  suifB^ 
bildeten  allgemein  menschlichen  Gehalt  zu  erbeben.  Wenn 
schon  in  dem  Kreise  der  ihm  zunächst  befreundeten  Menschen 
sein  äusseres  und  inneres  Leben  doch  noch  am  besten  kannten, 
kQnstlenschen  Absichten  in  der  Ausfflhrung  mehrfach  missverBtando, 
au  den  Werken,  die  er  mit  vorzüglicher  Liebe  und  nnvcrdrosseoitff 
Sorgfalt  ausgearbeitet  hatte,  mancherlei  Ausstellungen  gemacht  wv' 
den':  so  darf  es  am  so  weniger  befremden,  dass  von  den  ihm  feraer 


0»  Vgl.  Werke  27.27ö.        7i  Die;»  ergibt  sich  aas  dem  InhaJt  TonebM^ff 
Briefe  üo«tlie*a,  die  er  aus  llalieo  ao  die  ihm  Befreuodeton  in  Weimar  XMckrida 
bat.    Vgl.  Ober  die  Auf  Dahme,  welche  bei  ihneu  die  ,.Iphigeme"  faud,  l'^.ihi.;  ^ 
(darüber  aher,  wie  das  den  jaogen  deatscben  Künstlera  in  Rom  vun  dem  Pifbia 
vofgAleaeae  Werk,   die   „etwas  Berliclüagisches   erwartet   hatten'*,  auf  dloM^I* 
wMtt«,  n.  Vth):  welche  der  ,,Eg:raoDr\  I^K  \V^t{.;  I«;  Ifil  <und  in  dem 
vom  Dcbr.)   inrt  ff.    (Mochte  Uerder   —   auf   des«?a  Crthoile  über  ^pttott 
(.toetfae  doch   wohl  bauptstkchlit^h  in  jenen  Briefen   bezieht   —  aach  nicht 
Elnseincn   in  diesem  Werke   einen  aabedingten  Beifall  sollen  und  hier  uß4 
etwas  darin  TerralAscn,   so  war  er  doch  vo^u  dem  Ganxen  so  aberwältigt.  diM 
den  6.  Dcbr.  17s7  an  FL.  W.Meyer  schrieb  [Zur  Erinnerung  an  M*?yer  I.  ITI 
„Jetzt  habe  ich  —  Egmont  und  lasse  ihn  abschreiben.    Kin   histori^cbm  Ti 
apiel,  das  mich  Scenc  fUr  Scenc  in  seiner  tiefen,  männlich  gedarhti'n  Wi 
Hast  XU  Boden   gedruckt   hat.     Leges  et  sentics").    Wa3   F.   H.  Jarobi   an 
„Taaso*^  verstand,   „als  wenn   er  es  selbst  gemacht  bitte",   nud   was   tliro 
weniger  zusagte,   ersehen  wir  aus  dessen  IlrieTe   an  Goethe  vom   12.  .Vpril  l< 
(Briefwechsel  S.  127  fj.  —  Vgl.  zu  dieser  Anmerkung  nuch  Riemer  2,  314  f 
UüDtzer,  die  drei  ältesten  Bearbeitungen  Ton  Goethu*s  Iphigenie  ^ 
GöU  und  Egmont  S.  2'lM  ff-     Wpnn  der  letztere  aber  iu  seinem 
Buch  S.   Itt'i  unter  den  für  den  Dichtir  orfn-ulirbem  Urthrilrn  uImt  ,liv'  tpkli 
di(*  aus  dJMor  Tk'it  herrühren.  Horders  Aii!;sprurh  in  den  „liricfen  xurBeföni^ 
4ler  UumanilM**,  N.  M  in  folgender  Fassung  anfahrt:    „dass  er  (Govtbel  in 


Entwlckelungsgoug  der  Literatur.     1773«-1^32.    UrthcUc  über  Goethe.    277 


;u  ßeurtheilern  seiner  neuen  Stücke,  sf»bald  sie  sicU  darUboi' 
,n  dcu  ki'itisclien  Ta^eblrutern  vcrnclimcn  licsBCu,  nur  wenige  den 
»geotlichcn  Charakter  und  Werth  derselben  und  das  Verdienst,  das 
jich  der  Dirbter  damit  um  unsere  schaue  Literatur  aufs  neue  crwor- 
t>en,  im  Allgemeinen  recht  begriffen  hatten,  und  dasa  im  Besondeni  fast 
Kben  so  oft  einzelue  Hauptwerke  und  auch  kleinere  Poesien  unterschätzt 
und  bekrittelt,  als  in  ihrer  Vortrefflichkeit  anerkannt  und  mit  Einsicht 
in  ihre  eigenthQmlicben  Schönheiten  besprochen  wurden.  Die  erste 
der  benierkenswerthern  Anzeigen  von  „Goethe's  Schriften",  die  mir 
bekannt  geworden,  findet  sich  im  deutsclien  Merkur  von  1787".  Sie 
betrifft  natürlich  nur  die  ersten  vier  Bände,  ist  kurz  und  von  Wie- 
land selbst  abgefasät.  Sie  huldigt  dem  Genie  und  der  Kunst  des 
Dichters  in  zierlichen  Redeblumen,  enthält  aber  ausserdem  nur  eine 
be  des  Inhalts  jener  Bände  mit  wenigen  eingestreuten  Bemer- 
en  über  die  einzelnen  Stücke,  die  für  den  Dichter  sehr  günstig 
en,  allein  im  Gan/en  sehr  uubedeutend  sind.  Am  merkwürdigsten 
das  über  die  „Iphigenie"  Gesagte:  es  beweist  bei  aller  seiner 
doch  hinlänglich,  wie  wenig  Wieland  in  den  Geist  der  grie- 
en  Tragödie,  wie  wenig  in  deu  der  goetheschen  Oiclitung  ein- 
gedrungen war:  „Ein  Schauspiel  im  griechischen  Geschmack,  wiewohl 
|||iic  Chöre.  Iphigenie  scheint  bis  zur  Täuschung,  sogar  eines  mit 
'Bp  ^iecliischen  Dichtern  wohlbekannten  Lesers,  ein  altgriechisches 
Werk  zu  sein ;  der  Zauber  dieser  Täuschung  liegt  theils  in  der  Vor- 
b^luDgsart  der  Personen  und  dem  genau  beobachteten  Costum, 
l^^iU  und  vornehmlich  in  der  Sprache;  der  Verfasser  scheint  sich 
ans  dem  Griechischen  eine  Art  von  Ideal,  gleich  dem  Kanon  des 
olvkletus  gebildet  und  nach  selbigem  gearbeitet  zu  haben.  Das 
verdient  eine  kritische  Prüfung,  die  nicht  dieses  Ortes  ist." 
d  darauf,  im  October,  brachten  die  GOttinger  gelehrten  Anzeigen 
nicht  längere  Recension  derselben  Bände  von  F.  L.  W,  Meyer', 
er  fand  darin  ,,allc8'8<t  fein  gefliblt  und  gesagt*',  dass  er  nicht 
in   konnte,    sie   gleich   an  Goethe    nach  Rom   in  Abschrift   zu 


315 


e  Sophokles  und  Kuripideü  überwunden",  so  ist  er  dazu  wahrscheinlich 
L  Nicolovius  lÜeber  fioctho  S.  53)  verleitet  worden.    Herders  Worte  lauten 
ff  ersten  Aasgahe  jener  ©riefe,  wo  sie  in  der  I79fl  (nicht  17941  erschienenen 
Sammlung  unter  N.  11)4  S.  141  stehen,  und  genau  eben  so  in  den  Werken 
«chfiurn  Lit   und  Kunst   IK,  I5<i,   ganz  anders.    Er  sagt  nämlich;    „In   ilir 
Iphigeoüi   in  Tauris)   bat  er  (Goethe)   wie  Sophokles   den  Euripides  über- 
ea^'    Hier  wird  Goethe  in  seinem  YcrhUltnihä  zu  Euripides  nur  mit  Sophokles 
chen;    nach  jener   Fassung  dagegen   würde  Herder   den   deutschen   Dichter 
t  allein  Uher  Euripides,  soudem  auch  Über  Sophokles  gestellt  haben. 
,  i(  Sepu-inbcr-Stack  S.  CXXl  ff,  9)  Vgl.  Böckinga  Vorrede  zum  7.  Bd.  von 

.  SchicgcU  äiunmtlicbea  Werken  S.  XVI  f. 


278    VT   Vom  Eweiton  YiertPl  dea^XVin  JulirhunderU  hin  tu  GottUc»  luu 

%  Mh  senden'".    Man  wird  dieser  Recension  heim  Lesen  daa!*elbc  Lob 
tbeilen,    wenn    man    etwas   nuber   mit  der  Manier  bekannt  ist, 
welcher  zu  jener  Zeit  jremeiniglich  Über  Werke  der  sehoncQ  I^Uei 
in  Deutschland  ^^^eurtheilt  wurde.     Meyer  spricht   Über  C.      ' 
ein    feinsinniger    Mann,     der    in    die    (^igenthUmlicbo    1 ' 
Goetbc's  einen  tiefern  Einblick  gethan  hat  und  weiss,  worin 
poetische  Schrmheit  besteht.     Aber   eine   auf  jedes  einzelne  W« 
nAber  eingehende  Charakteristik   der  gDetbeseheu  Poesie   tUrf 
schon  darum  nicht  envartet  worden,  weil  die  Kecenaion  von  so 
beschränktem  Umfange  ist.    Von  der  Ipbigenie  insbesondere  ist 
weiter  bemerkt,   als  da88  sie  „in  Jamben,  griechischen  Geistes 
doch  dem  Kedtlrfniss  unserer  Bnhncu  an^emesBcn"  sei.     Wahrsrb( 
lieh  ist  von  Meyer  in  denselben  Blättern"   auch  die  Anzci^ 
fünften  Bamies  der  Schriften.    Sie  hebt  verständig,  aber  in 
Kttrzc,   einige  charakteristische  Züge  im  .,Egmont"  hervor  nnd 
röhrt  in  gleicher  Art  die  wesentlichsten  Veränderungen  in  deu  hei<i 
Singspielen   dieses  Bandes".      Auch    schon    im    letzten   Viertel  n 
I7S7  berichtete  die  Jenaer  allgemeine  Literatur-Zeitung"  Überj« 
vier  Bände  der  Schriften.    In  dieser  nichtssagenden  Anzeige  beii 
es  von  der  „Iphigenie"  (und  über  sie  ist  der  Ref.  noch  am  ausflAr' 
lichstenj:  ,, Von  allen  neuern  Kationen  dürfte  wohl  keine    ' 
Gedicht  für  die  Buhne  besitzen,  das  den  griechischen  Mn 
in  Form  und  innerm  Gehalt  zugleich,  mehr  näherte  als  die  Iphi 
Bei  der  genauesten  Beobachtung  aller  Regeln  hat  doch  die  seil 
dige    Darstellung   jedes    Charakters    und    das    lebhafte    Spiel 
Leidenschaften  gar  nichts  verloren.     Wie  sehr  unser  Verfasser 
in   den  Geist  und   die  Denkart  der   von   ihm  gewfthlten  Zeiten 
versetzen   weiss,    ist   längst   bekannt,    und  in   diesem  Stück  bat 
wieder  die  schönsten  Beweise  davon  gegeben;   und  dennooh  hal 
die  Fabel  des  Stüeks  nicht  etwa   von  den  Alten   entlehnt ,  snndt 
sie  ganz  anders  als  Euripides  gewandt"".    Im  nächsten  Jahrjruj* 
folgte  Schillers   Recension    des   „Egmont",    der,    wie   sie   in 
Werke'*  aufgenommen  ist,  in  der  Zeitung  nur  noch  eine  kurze 
gäbe   von   dem    ganzen   Inhalt   des  fünften  Bandes    der  Scbi 
voraufgelit,  ohne  dass  über  die  beiden  Singspiele  irgend  ein  IJrtl 
abgegeben   wäre.    So  sehr    diese  Recension    aber   auch   den  eilt* 
Jahrgängen  der  Literaturzeitung   zum  Schmuck  gereichte  und 


lOi  Zur  Friunoning  an  F.  L.  W.  Moyer  L  171.  1t» 

\2)  T>ir.  AMeißen  der  drei  folgenden  Bände  in  den  beiden  nh« 
fclüd  von  A.  W.  Schlegel;  ich  komme  auf  sie  weiter  unten  zurück. 

1 4 »  Dttfiiif  folgen  noch  einige  Probesiellen ;  vgl.  hierzu  S   i  :i»> 
3,  769  ff  IC)  s.  2,  :t02  ff.  (üödeke  6.  90  ff.) 


]5i  t: 


PHHHHiV^M^^^i^^^^BW^I^ 


EDtwickcluiig&gan?  iJ^r  Literaiur,    1773— 1«52.    UrtheUe  über  Goethe    279 

darin  vor  allen  anilern  llljor  Werke  aus  (lern  Fache  der  schönen  §  «"tr» 
Literatar  ausxeichneter  ao  war  Schiller  doch,  von  dem  damals  auch 
durch  Hoiuo  historischen  Studien  mit  hcHtinimtcn  Standpunkt  seiner 
ftsthetiKchen  HÜtinnK  aus,  nicht  uni>efang:cn  und  tief  ^euu^  in  die 
kflnstlcric^chen  Ahsicltten  Goethes  eingedrungen,  um  ganz  gerecht 
nber  die  Conceplion  des  ganzen  Drama's  und  Über  jedes  Einzelne 
Jarin  nrtheilen  zu  können.  Am  wenigsten  durfte,  wer  nicht  alles 
oud  jedes,  was  Ooethe  gedichtet  hat,  unUbertrefÖich  findet,  gegen 
den  Schlussabsatz  der  Rcccnsion  einzuwenden  haben".  Erst  ^egen 
Ende  des  Jahren  1792  erschien"  eine  alle  acht  Bände  der  Schriften 
betreffende  Reeension  von  L.  F.  Huber '^  die,  geistvoll  und  gründ- 
lich, die  neuen  Werke  des  Dichters  mit  Begeisterung  begrtlsste,  aber 
freilich  auch  einige  Urtheile  hinstellte,  die  man  jetzt  wohl  uicht 
acblechthiu  möchte  gelten  lassen.  „Wo"  sagt  Huber  u,  A.,  „wie  in 
Iphigenie,  Egmont,  Tasso,  Faust  —  der  altern  Arbeiten  des  Verf. 
hier  uicht  zu  gedenken  —  raphaeliscbe  rJestalten  sich  an  dieser 
Linie  (des  Apelles)  bewegen,  da«  reinste  und  umfasseud.ste  Gefühl, 
der  reifste  Geschmack  und  das  kühnste  Genie  wetteifcra,  den 
n&chfttcn  Uebergang  der  Natur  in  die  Kunst  zu  treffen,  die  Schönheit 
B  der  Rigenthümlichkeit  jedes  Gegenstandes,  dem  sie  augehört,  dar- 
^■btcUeu,  un vermischt  und  unabhängig  von  jedem  Medium,  ausser 
Wtr  Gabe,  sie  zu  erkennen  und  zu  empfangen;  da  verliert  sich  die 
Kfilte  der  Kritik  in  Begeisterung,  da  gilt  von  solchen  Kunstwerken 
^Kr  mahometunischo  Glaube  von  dem  Koran :  daas  er  von  Ewigkeit 
her  existiere;  da  ist  kein  Machwerk,  keine  Fuge  auszuspüren;  da 
»ind  die  Muster  aufgestellt,  in  wolclieu,  nfichst  der  Natur,  jeder 
_kunstffibigc  Geist  die  Kegel  lebendig  und  dem  innern  Sinn  au- 
haulich  zu  erkennen  hat.'*  Hierauf  folgt  die  bereits  oben** 
geführte  Stelle,  und  nachdem  die  Veränderungen,  welche  der 
rfasscr  in  dieser  Ausgabe  mit  dem  „Werther"*'  und  mit  dem 
ötz  von  Berlichingen*'  vorgenommen  habe,  berührt  worden  und 
hingedeutet  ist.  wie  die  Vollendung  des  ernten  Werks,  die 
bo  durch  die  veränderte  Personalitat  des  Dichters  und   durch 


17)  Ha  «tio  tiinl.IngUch  l'ekanni  oder  mintiostcns  nllgomein  zut^ngUoh  ist,  sn 
\re  CS  Itlosao  Ruumvcrsrhwi'nduug,  hier  einen  Auszug  daraus  zu  geben      Lieber 

^(•tuc  ich  noch  auf  Schillprs.  Konirrs  umi  I».  F    !Iiil»crs  Briefe,  die  sich  theils 

d^n  K^mont  sHbiit,  theilg  nuf  Schiüers  Itecensiou  bezichen,  und  worunter  be- 
läen  die  kArnerschen  von  einem  feinen  Kunaturthcil  zeugen,  in  dem  BriefwecbBoI 
billors  mil  Körner  1,  '21»3;   :t5-! ;  37S  und  in  Hnl)erB  sämmUichen  Werken  seit 
J.  |si)2  8.  2M*  f,;  HOS;  M^  f.  (sie  sind  an  Körner  gerichtet  gewesen!, 
t)  In  der  Literatur-Zeitung  1.  2S1  ff.        19)  Wieder  abgedruckt  iu  dessen  ,.Vor- 

rhten  Schriften^     Kerlin  17t»3.    2  Thle.   H.    2,  Sy  ff.         20)  §  3M,  Anm.  23. 

2\i  Vgl   t  3113.  AuinHT,  und  ddzu  Goethe  und  Werthrr  von  Kcstner  S.  257  ff. 


280    VI.  Vom  zwetbn  Viertel  des  XVUI  Jahrhunderts  bis  n  Ooetbe's  Tod. 


§  315  die  damit  verbundenen  mildernden  nud  motivierenden  Zflge  erbalu 
liabo,  für  das  ^e^enwftrti*^e  Publicum  veiloren  geg'angen,  die  allj 
meine  Wirkung  des  andern   uunmebr  aucli   unterbrociien,   da^rcp< 
gerade  jotxt  die  Zeit  gekommen  sei,   wo  die  vjfabren  Freunde  d< 
Dicbtkunst  dieses  Schauspiel  um  so  mehr  bewundem  und  sich  di 
erfreuen  könnten,  heisst  es  weiter:  „Vorzüglich  wönscbten  wir,  da« 
dieses  Schauspiel^   vergtiehen  mit  andern  Melstergtücken  des  näml 
eben  Dichters,  zum  Studium  dienen  möchte,  was  Manier  hcisst,  tu 
welcher  Unterschied  zwischen  Manier  des  jedesmal  gewählten  StofTe 
und  Manier  des  Dichters  ist;  denn  ho  frei  von  aller  eigenen  Mani( 
die  immer,  wie  schön  sie  auch  sei,  dem  dargeslcllton  Ge^enMani 
geliehene  Individualität  des  Darstellers  bleibt,   ist   nie  ein  Dicht 
gewesen  als  Goethe:   oder  viohnehr,  die  Individualität,   die  man 
seinen  Werken  wahrnimmt,  ist  nichts  anders  als  eine  fast  Ober 
Aufschlüsse  der  Psychologie  erhaltene  Gabe,  sein  ganzes  Wesen, 
ein  Proteus,  aber  ohne  Spuren  von  Anstrengung  oder  GewaltAamkeil 
nach  dem  Erfordemiss  jedes  Gegenstandes  umzuformen,  jedes  Gaur^ 
das  seine  Phantasie  auffasst.  nie  anders  als  in  dessen  eignem  nnif 
vollem    Lichte   zu   schauen   und  darzustellen.     Zu  dieser,   unstroitifi 
am  meisten    charakteristischen   Eigenschaft    der    goetheschcn    Mu» 
tragen  Ruhe,  Siniplicitüt  und  Klarheit  im   höchsten  und   streujritea 
Sinne  dieses  Worts  vorzüglich   bei;  auch  ist  es  sehr  genau  damit; 
verbunden,  das»,  ungeachtet  der  vielen  einzeln  schönen,  sinnreidien 
und  kräftigen  Gedanken  iu  seinen  Werken,  es  keinen  Dichter  ^Hbi, 
in    welchem   man   so    wenig   sogenannte  Stellen   ausfindig   macbcnj 
könnte,  keinen,  au  welchem  man  so  sehr  zu  lernen  hätte,  diese 
wohnliche    Klippe    der    dran»atiscbeu    Begeisterung    zu    vermeide! 
Darum  kann  er  sogar  einem  durch  die  Üppige  Manier  manches  voi 
trefflichen   Dichters   verwöhnten  Geschmack    oft   seicht    und   ma| 
scheinen;  darum  ist  die  Haltung  iu  seinen Compositionen  zu  einfarl 
das  Licht  darin   zu    bell  für  manche  Schönheiten,  manche  auasemr- 
dcntliche  Züge,   manche   kühne  Saillieu   der  Phantasie,   die  wns  ii^ 
andern  Dichtem  besehfiftigen,  aufregen  und  hinroissen  können,  deret^ 
relative  Unmöglichkeit  aber  gerade  die  Vollkommenheit  eines  Didk-" 
tcrs  ausmacht f  an  welchem  alles,  Charaktere,  Situationen   und  D^-" 
tails,  nur  zu  Einem  schönen  und  innigen  Eindruck   zusammen   har- 
moniert.'*    Von  den   frühem  Arbeiten  Goethe'»,  in  denen  .»vielitirli  ' 
ein  glücklicher  Instinct  und  das  Genie  allein  dieses  Allee  am  mciMo» 
bewirkt"  habe,  geht  Hnber  zu  den  Werken  über,  worin  der  Dicht 
es  nun  anf  dem  Höhepunkt  seiner  Reife  mit  der  letzten  Vollendui 
her\orgebracht,  zu  ,Jphigenie"   und  „Tasso".     In  classischer  KUi 
beit,  ganz  Seele  und  Gefühl,  werde  „Iphigenie^'  ewig  das  Ideal  di 
Künstlers  sein,  begeisternder,  weil  es  unnacbgeahmt  bleiben  vn 


IPV 


luoiwickeluiigsguDg  der  Literatur.    1773— IS32.    Urtheilo  über  Goölbe.    281 

8«n**.   das  auB^earbcitetste  unter  allen  Werken  Gnethe's,  sei  für  §  315 
Studium   wie  f(ir  den  Oenußs  des  Künstlers  ein   kustliches,    in 
9iner  Art  cinKi^en  Geschenk.     Indes»  scheine  das  Interesse  an  diesem 
la   mehr   durch    die  Sunst   aufg:edningen   als   natürlich,     „Die 
irftktere   und  die  Situationen  behalten,   unter  dem  zarten  Hauch 
i9  miuialnrahnlichen  Colorits,   eine  gewisse  UnbestiromtheitT   die 
Eindruck  des  Ganzen  kaum  woblthätig  macht,  und  sie  sind,  in 
inuigen  und  seelenvollen  Behandlung,    die  Goethen    eigen    ist, 
►fahr   ebenso   auf   eine   Nadelspitze    gestellt,    wie  manche  Cha- 
tere  und  Situationen  in  Lessings  subtiler  und  sinnreicher  Manier'**^, 
„fast    bis  zur  Uebertreibung   vollendeten  Gemähide"  wird 
Ter  seltsame  Torso,  „„Faust"*'  gegenüber  gestellt,    liier  habe  der 
»hter  in  dem    ganzen   Heichthum  der  gothiscben   Legende,    vom 
tdischen  (!i  bis  zum  Firbahengten,  geschwelgt.     Hier  wechsle  das 
iehiedenartigi?te   so   grell,    und   doch    durch  jenen   Instinct  von 
lonie  so  verbunden  neben  einander  ah,  als  wäre  es  die  grosse 
ir  selbst.     Hier  sei  neben  den  beiden  Haujitgestalten,  und  zwar 
T"    *      'ersen,  ein  weibliches  Geschöpf  geschildert,  ,,ein  albenies 
-  Gänschen"  (Ii,  das  nur  durch  einfache  Natur,  durch  Un- 
ild  und  Weiblichkeit  die  Züge  bald  einer  Madonna,   bald   einer 
rdnlena  erbalte  und,  mit   dem  unglücklichen  Opfer  seiner  erha- 
bnen Triebe  in  einen  Abgrund  gesttirat,  die  tragischen  Empfindun- 
rder  Rührung  und  des  Schreckens  im  vollsten  Masse  erwecke". 
Betreff  des  „Egmont*'  erklärt  sich  Huber  gegen   die  schillersche 
ELecension  insofern,  das»  es  nicht  zu  begreifen  sei,  welcher  mit  dem 

fch^en  Gesetz  der  Kunst  verwechselten  Convcnienz  zu  Liebe  Schiller 
tt  des  leichtherzigen  Helden,  welchen  Goethe  geschildert,  den 
^islorischen  Egmont,  einen  mit  Vater-  und  Haussorgen  bei  seinem 
l'n;:lnck  beladencn  Mann,  vorgezogen  haben  würde.  Goethc's  Egniont 
«ci  ein  Gewinnst  für  die  dramatische  Kunst,  ein  Wagstück,  das  nur 
^cm  Geist,  der  e»  beschlossen,  habe  gelingen  können,  und  an 
•^elcliem  die  Kritik  sich  nur  belehren  solle,  weil  es  die  Grenzen 
i^r^T  Erfahrungen  erweitere.  Zu  bemerken  sei  indess  der  Abstich 
iaeben  den  ersten  und  den  letzten  Acten,  der  plötzliche  und  fUhl- 
Uebergang  von  einer  populären,   der  Natur  unmittelbar  abge- 

22)  Vgl    Hubers   Brief  an  Körner  aus   dem   J.    1790  in   den  sämnitlicht*u 
rkcn  wit  IS02.    I,  377  ff,  23)  Vgl.  hiermit  eine  Stelle  in  Hubers  Reren- 

Ton  KJinKcrs  Kanst,  Jenaor  Literatur-Zeitung  1792.  :\,  349  f.  oder  in  den 
**tini«chlen  Sthriftfn  2,  44,  und  seinen  zwei  Jahre  früher  geschriebenen  Brief  au 
^ÖtDer  iu  deu  sämmtücbeu  Werken  seit  IS02.  1,  asi»  ff.  Kin  Urtbeil  Köruera 
**i  dcr»elben  Zeil,  durch  dos  wir  zugleich  erfahren,  dass  Schiller  mit  dem  Faust 
^cht  infriedeii  war.  findet  sich  in  dem  Briefwochsel  mit  Schiller  2,  I9:i;  darnach 
iMtf  „der  Biinkelsängerton'S  den  Goethe  gewilhlt,  „ihn  nicht  selten  zu  Plait- 
,  wodurch  da«  Werk  verunBtaliet  werde,  verleitet  haben. 


5S2    VI.  Vom  zwHUn  Viertel  des  WITT  Jahrbundrrts  bis  tu  Gorthe'«  Tml 

315  borgten    zu    einer   lyrisohei»,    sehwcreren  Manier.     Auch    werde 

Erachcinung  der  mit  der  Geliebten  de«  Helden  identitinerten  Freiheit; 
im  letzten  Act  immer  ein  salto  mortale  bleiben.     Nachdem  nm-h  tiic^ 
weiblichen  Chaniktere  in  Goethes  Werken  als  einer  besondeni  Ao*^ 
Zeichnung  würdig  befunden  worden,  wird  die  Rccenaion  mit  einige^ 
schönen  und  treffenden  Worten   zur  Charakterisierung  der  Gedicht^ 
im  letzten  Bande  der  Schriften  geschlossen.     Unterdessen  war  an^^ 
schon  im  Jahre  I7S9  von  den  ersten  fünf  und  iu  den  beiden  näcbaf^ 
Jahren  von  den  Übrigen  B;lndeu  der  Schriften  eine  weitlAuftige  F^, 
urtheilung  iu  der  neuen  Bibliothek   der  schönen  Wissenschftfieu    ^f, 
Bchienen**.      „Die    Arbeiten    dieses    vortrefflichen    und    originale-^ 
Dichters",'  liest   man  hier,   seien   bei  seiner  ersten  Erscheinung  itn 
Publicum   mit   einem    Enthusiasmus  aufgenommen   worden,   der  hin 
zur  Ausschweifung  gegangen.     .\u8  dem  zahlreichen  Schwann  »mrr 
Nachahmer   hatten    die   meisten   ihren    ephemerischen  Kuhni   wbon 
längst  überlebt;  dagegen  würden,  so  lange  noch  echtes  Genie  tni.I 
wahre   Nachbildung   der   Natur  auf  Bewunderung  rechnen  dUr/ten. 
die  meisten  von  Goethe's  Werken  gelesen  werden.    Unter  den  neuen  * 
Stücken    (der  ersten  fünf  Bfinde»  verdienten  ,.Iphigenic"  und  ,,Eg- 
mout"  vorzügliche  Aufmerksamkeit.     Diese  Iphigenie  sei  keine  Niwb- 
ahmung  der  euripideischen,  sie  sei  das  Werk  eines  Geistes,  der  mit 
dem  Geiste  der  Alten  gerungen  und  sich  ihn  eigen  gemacht  hak 
ein    Werk     voll    Einfalt    und    stiller    Grösse.      Was    sodann   uoch 
Weiteres  darüber  gesagt  ist,   zeugt   von   einer  so  vei*8t.1ndigeu  Aul 
fassung  der  Dichtung,  dass  dieser  Theil  der  Gesammtrecen&ioo^  on*     l 
geachtet  einzelner  Schwächen,  nur  Beifall  verdient.     Aehulich  verhüll 
es  sich  mit  der  Beurtheilnng  des  ,;Egmont".     Der  Dichter,  heiai  «     j 
hier  u.  A.,  der  sich  vornähme,  den  (historischen)  Charakter  Egmonif 
zu  schildern,  so  wie  er  sich  in  mannigfachen  Situationen  entwickelt 
habe,  dürfte  leicht  dos  einzigen  Zweckes,  rlen  er  linben  ki^nnte,  ftr 
seinen  Helden  zu  interessieren,  verfehlen.    Nicht  so,   wenn  etr  ''•' 
Goethe  gethan,  in  diesen  Charakter  die  Ursache  einer  wichtipon  H^ 
gebenheit  lege;  wenn  gerade  seine  Eigenschaften,  jene  oft  unz- 
Fröhlichkeit,  Unbesonnenheit  und  Unbefangenheit  seineu  Tod  b. 
Und  aus  diesem  Gesichtspunkt  betmchtet,  sei  nicht  zu  läugueu,  .U  - 
sich  alle  Theile  dieses  Stücks  zu   einem  vollkommenen  Ganzen  w-    | 
sammenschliessen.     Da  sei   nichts  Müssiges,   nichts  Zwecklose«!  p'< 
Was  die  übrigen  Stücke  dieser  fünf  Bande  betrifft ,  so   bleiitea  il^' 
„Götz'',    der  „Clavigo",  „Erwin    und   Elmire"   und  „Clnndine  t<* 

24)  3S,  n«— 171;  39,  Sl  — la?:  li,  (i>— 104;  253—275;  «.  1«— 5fn  Si 
soll  n»cb  E.  J.  Saupe  (Die  Schiller-Goeiheschpn  Xeiilen  S.  IU9»  Ton  Fr.  Jl^*** 
sein:  Tgl.  E.  Boa^,  Xenienkampf  I,  'h    '2.  291  f. 


EntirIckdungKgAng  der  Literatur.     17'3— IW2.    Urthoilc  über  Goetbe.    283 


illa  Bella"  uohesproclieu.     Beim  ,, Werther"  wird  auf  f\\c  erweitern-  §  315 
iden  Zusritze  und  EinK»^haltungen   aufmerksam  gemacht   und   deren 
unstniäasige   Nothwendigkeit    hervorgehoben.     In    den    ,,Mit8cbuI- 
ifreu**  seien  nur  einzelne  Flecken  zu  rUgeu.  hingegen  der  Fonds  für 
nn  Luatpiel   vortreftüch,    die   Charaktcr/eichnung  meisterhaft.   Ver- 
icklnng  und  Auflösung  gleich   natürlich.     In   „den  Geschwißtern" 
erde  mau  den  Verfasser  de«  Werther  nicht  verkennen.      In    „dem 
'riumph  der  Empfindsamkeit"  sei  echter,  treffender  und  feiner  Witz, 
ic!  glückliche  Laune,  viel  Phantasie,    eine  lebhafte  Handlung  und 
lin  feuriger  Dialog.     Endlich  wird  auch  ,,den  Vögeln*'  viel  Lob  ge- 
eilt.    Aus  einem  ganz  andern  Tone    wird    aber   schon    aber   den 
jTaftso*'  gesprochen.     Bei    vielen    einzelnen  Schönheiten    sei    dieses 
itück  im  Ciranzen  doch  mangelhaft;  voll  feuriger,  rülirender,  erhabener 
jdanken,   aber  ohne  Handlung,  die  diese   einzelnen  Theile   unter 
linen  Gesichtspunkt  brachte  und  die  Wirkung  in  einem  Brennpunkt 
ereinigte.     Kein  Dichter   kenne   das  Wesen   des  Romans  und    des 
►rama's   genauer  und    inniger  als  der  Verfasser  des  Werther  und 
[er    Iphigenie.     Jener   befriedige   die   strengsten   Forderungen    der 
[ritik  an  einen  Roman,  diese  sei,  wenn  irgend  eine,  eine  vollkom- 
lene  Tragödie.     Aber  im   Tasso   habe   man  weder    einen  Roraau. 
locb  ein  Trauerspiel,  noch  überhaupt  ein  Drama  in  Aristoteles  Sinn. 
Dem  Recens.  scheine   diess  Werk   nichts  anders   zu    sein^   als   eine 
dramatische  Schildening  eines  Charakters,  oder  vielmehr  nur  einer 
hesondem  Seite  desselben  unter  verschiedenen  Gesichtspunkten;  eine 
^Reihe  von  Situationen,  eine  Folge  von  Scenen,  deren  jede  für  sich 
einen  vorzüglichen  Wcrth  bfttte,  und  deren  zuweilen  drei  oder  vier 
ein  poetisches  Ganzes  ausmachten,  die  aber  durch  nichts  zusammen- 
'ehalten  würden,  als  höchstens  durch  eine  Leidenschaft,   der  es  an 
[Ai»fang,  Mittel  und  Ende  fehlte.     So   geht  es  fort:   nel>en   mancher 
•effenden  Bemerkung  im  Ganzen  viel  Schiefes  und  Absurdes,  und 
nn  der  tiefern  Bedeutung  dos  Werks  und   dem  Innern  Verhältniss 
des  Dichters  zu  ihm  auch  keine  Ahnung.    Am  ungünstigsten  lautet 
Urthell  über  den   Inhalt  der  letzten  Bände.     Den  Singspielen 
ird  noch  mehr  Gutes  als  Uebles  nachgesagt,   vorzUglich   ist  „Jer> 
[und  Bütely"  gelobt.     Nicht  so  gut  ergeht  es  dem  „Faust".     Er  ist 
[dem  Rec.   „eigentlich    eine  Hand    voll  Scenen    aus   einem  Ganzen, 
[essen  Erscheinung  das  Publicum  dem  Ausehen  nach  vergebens  er- 
wartet hat."    Manche  Sceue  sei  jetzt  rjlthselhaft,  manche  ,, durchaus 
unverdaulich."    Keiner  einzigen  zwar  fehlte  es  ganz  an  glücklichen 
[redanken^  an  feinen  Bemerkungen   und   satirischen   Blicken;   aber 
lie  Wirkung  derselben  werde  nicht  selten  ,, durch   die   dunkle,   un- 
ersländliche   und    incorrecte   Sprache   gehemmt."     Mehr   als   eine 
»cene  sei  meisterhaft  angelegt,   mehrere  trefflich   mit  einander  ver- 


315 


^f 


2b4    YL  Vom  zweiten  Viertel  des  XVJD  Jahrbußderts  bi»  xa  Ooctbe's  Tod 


die 


Intrigne  mit  Gretcben. 


welche  Fausten  ganz  zam 


bunden 

mache,    mit  Meisterhand  geführt »    ohne  Zweifel   das  interoMMiU 
Stück  des  ganzen  Fragments,    und    aie    würde  eiucn  Anspruch   aaf 
Vollendung  haben,  wenn  das  abgeschnitten  würde,  was  die  Deli( 
tesse  eines  Jeden  Lesers  beleidigen  müsse  und   auch  gelbst  in  dv] 
hans-sarhsischou  Stile  missfatle^.     Endlich    kommen,    um    hier  ui 
das  am  meisten  Charakteristische  dieser  Becension  zu  berübreu,  di 
kleinen  ,,Godicbte*'  im  achten  Bande  an  die  Reihe.    Mit  ihnen  glaul 
der  Rec.  am  wenigsten  zufrieden  sein  zu  köuncu.    ,, Nicht  als  wenn 
ihnen  ganz  an  Verdiensten  fehlte,  aber  doch  nui'  wenige  haben 
Vollendung  erhalten,  die  man,  ohne  unbillig  zu  sein,  ron  einem  kloiu< 
Kunstwerk  fordern  darf.   Hier  ist  es  mit  der  rohen  Darstellung  cxm 
Idee   oder    Empfindung    nicht    gethan.      Den    allermeisten    klein< 
Poesien  Goethes  fehlt  es  bald  in  dem  Stoff,  bald  in  der  Einkleidu»^ 
F]inige  derselben  drücken  Enipfindungeu  au»,   welche  die  Mühe  il( 
Versiricati(»n  nicht  belohnten.     In  fvndern  ist  die  Empfindung  dunkolj 
und  räthselhaft ;  noch  andern  fehlt  es  wenigstens  hin  iHid  wieder 
Bestimmtheit,  Klarheit  und  Angemessenheit  dos  Ausdrucks.     Uiiwillij 
scheint   der  Dichter   die  Fesseln   des   Sitbenmasses   und   Reims  z\ 
tragen;   selten    bewegt  er  sich   in  denselben   mit   Leichtigkeit;  oft 
wirft  er   sie   gauz   weg,   und   diese  Bequemlichkeit  ist  die  liraachi 
dass  mancher  schöne  Gedanke,  manche  zarte  Empfindung  der  Ri 
beraubt  ist,  mit  der  er  gewirkt  haben  wUrde,  hätte  der  Dichter  di 
Mechanische  der  Poesie  mehr  iu  seiner  Gewalt  gehabt.     Manche  voi 
diesen  Gedichten  sind  noch  in  der  leidigen,  ehemaligen  Volkspoosie. 
Als  Probe  plattester  Poesie  wird  das  „fleidenröslein"  augeführt,  un4 
80  werden  noch  an  andern  Stücken  vermeintliche  Incorrectheiten, 
denen  mehr  oder  weniger  die  meisten  dieser  Gedichte  leiden  sollf 
aufgestochen,  so  dass  der  Schluss  dieser  ganz  verständig  anhebendi 
Beurtheilung  aller  acht  Bände  der  »Schriften  sich  ins  völlig  Alberi 
verläuft.  Endlich  berichtete  1792  auch  die  allgemeine  deutsche  Bibli« 
thek  Über  Goethe's  Schriften,    Hier  lieferte  Escbenburg"  eine  RecensiotC 


25)  „Npid!"  nift  sodann  (lorRer,  aus,  „Plumphoit.  wenn  auch  noch  »o  omt- 
gisch,  kann  niemals  poetifidi  sein.   Ausdrücke  und  Handlungen,  wie  sie  iu  der  tfl 
sich  schon  Tridrigeu  Hexenküche,  bei  dem  Studentengelag  in  Aucrbaclie  Uof  on^ 
noch  an  andern  Stellen  vorkommen,  kftnnen  nnr  den  PObel  vergnügen,  drr  ktint 
Witz  kennt,  als  der  ^icU   um   Bchmntzige  Hilder  dreht  und  in  uuiücsittet^«  A\ 
drucken  herrscht.     Licenzen  dieser  Art  werden    kaum  durch  die   . 
hdteii  gut   gemacht"  etc.  —   So  fand   auch  Heyne,   wie  er  aeinen; 
U,  Förster  ITili  schrieb  tKorsters  Kriel'w.  2,  I.Mi,    in   dem  Fangt  uibuii  achi 
StüUen  Dinge  t  die  nur  der  in  die  Welt  habe  schreiben  kennen,  „der  aUk  AiitevB 
neb«n  sich  für  Schafskopfe  ansah".  2G)  13d.  llo.  2.  ItU  ff.  im  er*!»  tiaiap«- 

ftrtikol:  ficboD  rorbcr  Bd.  I04'>,  1,  14s  war  von  Knigge  das  Singspiel  M!>rht9rz,  l  ■  tit 
und  B4cbe**.  mit  Lob,  aber  ganz  kurz  angexeigt  worden. 


Entwickelungsgang  der  Literatur.     1773— IS32.    Urtheile  über  Goethe.    285 

Icr  acht  Bände,  die  von  .anständiger  Haltung  war  und  wenn  auch  §  ^\^ 
ijneawega  von  Tiefbliok,  doch  von  einem  meist  besonnenen  Urtheil 
td  einem  gebildeten  Geschmack  zeugte.     Um   hier   das   Ober   die 
lern  Werke  Gesagte  ganz  zu  tibergehen  und  auch  von  den  ürthei- 

Uber  die  neuen  nur  diejenigen  zu  berühren,    welche   diese  Re- 
msion  besonders  charakterisieren,  so  wird  die  „Iphigonio"  als  ein 
[eisterstOck   bezeichnet,    das  allein  schon  hinreichend   wäre,   dem 
Perf.  den  gerechten  Ruhm  eines  ganz  mit   dem   echten  Geiste  des 
iechischen  Alterthuras  genährten  Dichters  zu  sichern.     Alles  gebe 
Hescm  Schauspiel   einen  so  hohen  Werth,    dass   man    es  ohne  Be- 
denken für  die  glücklichste  Nachbildung  des  herrlichen  Trauerspiels 
nämlichen  Inhalts  von  Euripidcs  halten  und  dabei  doch  mehr 
Wetteifer  als  eigentliche  Nachahmung  erkennen  müsse.    Goethe  habe 
►t  alles,  Charaktere»  Handlung,  Umstünde  und  Aufschluss,  anders 

der  griechische  Dichter  eingeleitet  und  behandelt;  Kunstrichter, 
ler  und  Zuschauer  mUssten  hier  noch  grössere  Befriedigung  finden ; 
»mehralich  sei  die  Wendung  des  Ausgangs  glücklicher".  ,,Egmont*' 
ibe  überall  die  herrlichsten  8pnrcn  des  erfinderischen  Geistes  nnsers 
ichters,  seiner  innigsten  Her/enskenntniss  und  seiner  oft  ganz  shakspea- 
ihen,  oft  mehr  als  shakspeareschen,  oder  vielmehr  ganz  originalen 
fwnst,  wenn  auch  dem  scharfsinnigen  Kunstricbter  in  der  allgemeinen 
ilcratur-Zeitung  (Scbilleri  fast  in  allem  beigepflichtet  werden  müsste. 
im  eigonthUmlichen  Verdienst  gereiche  dem  Verf.  „der  treffliche" 
id ,  so  viel  der  Rec.  wisse,  „noch  von  keinem  Dichter  so  tief  ge- 
»<in\mcne  Eindrang  in  die  Politik  und  in  die  feinsten  Verhandlungen 
loraelben.**  ./rorquato  Tasso"  biete  ungemein  viel  von  echter 
Icistesnabning  für  den  Leser;  doch  sei  zu  bezweifeln,  dass  das 
itOck  auch  bei  der  AuflFlthrung  wirken  werde,  da  es  weit  mehr  Ge- 
yi»räch  als  Handlung  enthalte.  „Faust"  scheine  schon  in  seiner 
Anlage  nur  zum  Frapnent  bestimmt  gewesen  zu  sein.  Roh  und  wild 
»ei  alles  hingeworfen;  starke  und  auffallende  Züge  wechseln  mit 
manchen  doch  allzu  sorglos  unbearbeitet  gelassenen  ab;  man  sehe 
j«doi'h  bald,  dass  es  so  habe  sein  sollen,  und  wer  sei  berechtigt, 
dem  Eigensinn  und  dem  Umherstreifen  des  phantasiereichen  Dichters 


57)  Welcher  Art  inileas  die  Aufnahme  war,  welclie  die  Iphigeme  boim  Publi- 

**"ÄfMi(l,  erfahre«   wir  von  einem  amlem  Mitarbeiter  au  dieser  Zeitschrift,  von 

^^»17-  tu  der  Anzeige  einer  englischen  UeherscUunp  der  Iphigeme,  n.  allgemeine 

•*■  mbKotbek  9.  t,  192  ff.     Dieses  Meisterwerk  Goothc's    sei   nämlich  in  Deutsch- 

'*od  voD   dem   grossen  Publictim  mit  einem  Kaltsinn  aufgenommen  worden ,   der 

?^  onfvkUirlich  sein  wttrde,  wenn  man  nicht  wftsste.    wie  ^eine  jetzigen  drama- 

^"Apb  GOiiBiünge  seit  einigen  Jahren   mit   dem   besten  Erfolge  daran  gearbeitet 

•^»^eti.  dorn  Geschmack  desselben  eine  Kichtung  zu  geben,   worin  es  für  zarte 

»Hfl  (itifacbe  poetische  Schönheiten  gana  gefnhllos  habe  werden  müssen. 


!2S(3     VI.  Vom  ^weiteo  Vierte]  des  XYUl  JfthrhuuderU  lU  xu  GoeUie*«  Tod- 

§  3llj  Gesetze  vorzuschreiben?    Und  zuletzt  die  „vermiscbleD  Gedichte' 
eine  herrliche  Bereicherung  des  deutschen  Liedervorraths,  vornehi 
lieh  dci*  echten  Volkspoosie,  worin  der  Verfasacr  so  gauz   origim 
und  meistens  so  äusserst  glacklich  sei.    Auch   in    den   kleincu  e] 
grammatischen  Stücken  im  griechischen  Geschmack,  so  wie  in  di 
hier  und  da  eingestreuten  Gnomen,  die   wohl  so  gut  als  die  i>ytbj 
goriscbeu,  goldene  Sprllche  heisscn  konnten ,   finde  lierz  uud  Phai 
tasie  reiche  und  en|uickende  Nahrung*".    Am  günstigsten  und  dal 
Übereinstimmendsten  lauteten,  wie  man  sieht,  die  Urtheile  noch  dU 
die  ,,I|»higcnic^'  uud  einige  der  kleinem  dramatischen  SacUeu,  mcl 
Ausstellungen   wurden    schon   am  „Egmont"   und  am   „Tasao*' 
macht,  am   wenigsten  wusste  man  sich   in   den  „Faust"   zu  findei 
und  verwarf  darin  beinahe  eben  so  viel,  als  man  daran  lobtc^  undj 
ganz  auseinander  giengen   die  Urtheile  tlber  den  Werth   der  ,,vei 
mischten  Gedichte."    Es  mussten  daher  erst  mehrere  Jahre  vergehe 
und  rou  auderu  Seiten  her  noch  ganz  andere  Umstände  hinzutrct 
bevor  diese  Werke  von  classischer  Vollendung  in  ihrem  eigentlichi 
Wertbe  allgemein   anerkannt  wurden    uud  im   Verein    mit    s{»fttci 
grossartigen  Schöpfungen  Goethe's  andere  bedeutende  Talente  et 
weder  neu  anregten  oder  aucli  erst  weckten,   ihm  in  seinem  kilnM 
lerischen  Streben  nachzueifern  und  dahin  mitzuwirken,   daas  un&ci 
Dichtung,   besouders^  die  dramatische,    in  formeller  Hinsicht  ihi 
Verwilderung   entrissen   uud   zugleich  mit  einem  hohem  und  cdh 
'Gehalt  erfüllt  würde,   als  der  war,  an  dem  man  sich   mcistenibeil 
genügen  Hess.    Es  darf  jedoch  nicht  verhehlt  werden^  dass  Goetl 
eigenes  Verhalten   im  Anfange   der  Neunziger,   das  mehrere   Keim 
wftrmsten    und    auch    kunstverständigsten    Verehrer    an    ihm    iri 
machte",  mit  daran  Schuld  war,  dass  jener  Zeitpunkt  sich  nock 
weit  hinausBchob.     Er  hatte  sich  in  Italien  so  sehr  in  die  Natur  d< 
Südens  und  in  die  antike  Kunst  eingelebt,   sich  unter  den  dortij 
Umgebungen  so  glücklich  gefühlt,  dass  er  nach  seiner  Rückkehr  si< 
nicht  so  bald  wieder  an  die  heimische  Natur  gewöhnen,   unter  d< 
heimischen  Verbältnissen  zurecht  finden  konnte*      Er  sehnte  sie' 


2>jl  Vgl.  ansäcr  Jen  im  VorhergebendeD  mitgelheüton  UrtheiloD  über  I(»M 
uud  Ta660  auch  nocb  Mause  ,.l'eber  einige  Verschiedenbeiten  in  dem  gric< 
and   dtmt^cbeD  Trauerspiel**,  im  2.  Thei]   der  Nachträge  zo  Sulzer  (aus  den  / 
1193)  S.  2^6;  204  ff;  275  fl".  29)  Z.  B.  G.  Forster;  vgl    Ajim.  4\t. 

30)  Werke  &S,  Itöf.   „Aus  Italien,  dem  formreicben,  war  icb  in  daä  geslaltJoM < 
Deutschland  zurückgewiesen,  heiteren  Himmel  mit  einem  düeterea  zu  vertaascbcflj 
die  Freunde,  statt  mich  zu  trösten  und  wieder  au  sieb  zu  xiebco.  brachteo 
zur  Verzweinuug.   Mein  Entxiicken  über  entfernteste,  kaum  bekaniH' 
meine  Leiden,  meine  Klagen  über  da.s  Verlorne  schien  sie  zu  beltj 
nÜMt«  jede  Thcilnalun«,   niemand  verstand  meine  Sprache     In   dieuiu  j>CLiiüicktt 


EntnickelQOgBgang  üw  Literatur.     1773— IW2.    Urtbeile  über  OoetliG.    "iST 

L'rtwährend  nach  jenem  Lande  zurück    und  peug,   da  er  dicssinal  §  315 
:ine  Reise  uiclit  weiter  aiisaudebneu  vermocbte,    1790   weiiigsieus 
locbmals  nach  Venedig.    Bei  der  ausschweifenden  Vorliebe  für  das, 
er  hatte  verlassen  luürison,  suchte  er  es  sich  daher  durch  fort- 
;te  Kunst-  und  Natui-studien  tlieiU  zum  Kuchgonuss  zu  vergegen- 
wärtigen, theiU  zu  ersetzen^',  wahrend  er  alles,  was  ihm  das  Vater* 
ind  an  greistigou  Gütern  hätte  hieten  können,    und   was  es  au  ge- 
'hielitlichen    Krinnertingcn.    an   Bildung,    K»inst    \ind   Lebenscigen- 
thnmliehkcilen  besass,  misslaunig  von  sich  fern  hielt  oder  ungerecht 
herabsetzte.    Gleich  hei  seinem  Eintritt  in  Italien  hatten  ihn  schon 
Palladio's  Bauwerke  begeistert,  und  als  er  in  Venedig  ein  Stück  des 
rebälkes  von  einem  antiken  Tempel  in  Abguss  gesehen  hatte,  das 
in    au    einen   lange   vorher  in   Manheim   gesehenen  Abguss   eines 
Lnlcneapitüts  aus  dem  Pantheon   erinnerte",  schrieb  er,  der  einst 
m  der  Herrlichkeit  und  Erhabenheit   deutscher  Baukunst  so  schön 
md  mit  solchem  Feuer  gesprochen  hatte,  nach  Weimar":  ,,Dafi  ist 
silich  etwas  anders  als  unsere  kauzeuden ,  auf  Kragsteinlein  tiber- 
inander  geschichteten  Heiligen    der   gothischen   Zierweisen,   etwas 
iders  als  unsere  Tabakspfeifen-SÄulen ,  spitze  Thürmlein  und  Blu- 
lenzacken;  diese  bin  ich  nun,  Gott  sei  Dank,  auf  ewig  losl"'   Ver- 
mute er  doch  1790  die  Trefflichkeit  uns<jrer  Sprache  in  dem  Grade, 
is8  er  damals  schreiben  und  sjiäter  drucken  lassen  konnte^':  j,Nur 
einzig  Talent   bracht'   ich  der  Meisterschaft   nah:   Deutsch   zu 
"'■  I        Und    so    Verderb*    ich    unglilcklicher   Dichter    In    dem 
'  <ten  Stofif  leider  nun  Leben  und  Kunst/*     Ich  werde  einen 
ielfaeh    wohlthötigcn  Einfluss  Italiens    auf  Goethes    kOnstlorische 
tildung  damit  noch   nicht   ahgehlugnet,    noch    dem,    was  ich   oben 
, rüber  gesagt,    widersprochen   haben,    wenn    ich    die   Fragen   und 
lemerkungen  beistimmend  wiederhole,  die  Tieck.  als  er  des  Dichters 
dienische  Reise  gelesen  hatte,  an  Solger  richtete^:  „Ist  es  Ibnen 
^lohl  aufgefallen,    wie  dieses  herrliche  Gerallth   eigentlich   aus  Ver- 
tlnmntng,  Ueberdrus-»  sich  einseilig  in  das  Alterthum  wirft  und  recht 
rorsätzlich  nicht  rechts  und  nicht  links  sieht?  Und  nun,  —  ergreift 


iUnd  «asste  icb  micb  Dicbt  zu  finden,  dieKntbebmngwar  zu  gross,  an  welche 
der  üuBeereSinu  gewObneu  sollte"  otc. .  Vgl.  auch  HO,  '252  ff  !JIi  Die  bil- 
Ht\c  Kunst,  ziin>al  die  der  Alten,  blieb  immer  ein  Hanptgegenstand  seineR 
*i«TMC  und  feiner  Studien,  vornebmlich  wieder  seit  der 'Zeit,  wo  er  II  Meyer 
fceine  nnmitißlbarste  Xäbe  gezogen  hatte  (vgl,  31,  41 1;  demndcbst  die  Natur. 
er  17(10  »US  Vfuedig  rurückgekebri  war.  gehrieb  er  an  Knebel  lliriefwecbBel 
It  ihm  I/joi:  „Meiu  Gemüth  treibt  mieb  m^hr  als  jemaU  zur  Naturwissenscbaft, 
>d  mich  wundert  nur,  d&ss  in  dem  prosaischen  Deutschland  noch  ein  Wolkchen 

lie  Ober  meinem  Scheitel  Bcbwebeu  Ideibt-.  32.i  Werke  2ü,  s7. 

l;  27^  137.  34j  I,  355.  35)  SoIg:er8  nachgelassene  Schriften  I.  4S6  f 


2S$    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhunderts  bis  la  Goethe*!  Tod. 


M 


§315  er  denn  nicht  auch  so  oft  den  Schein  des  WirkUchen,  statt  des  Wi 

lieben?  Darf  er,  weil  sein  überströmendes  junges  GemDth  iiii» zuerst 
zeigte,   was  diese  Welt  der  Erscheinungen  um  uns  sei,   die  bis 
ihn  unverstanden  war,  —  darf  er  sich,  bloss  weil  er  es  verkUndi^^^ 
mit  einer  Art  vornehmer  Miene  davon  abwenden  und  unfromni  un«^ 
undankbar  gegen  sieh  und  gegeu  daja  Schönste  sein?  Und  wafarlir'^ 
doch  nur,  weil  alles  iü  ihm,   wie  in  einem  Dichter  so  leicht,  no^ 
nicht  die  höchste  Reife  und  Ruhe  erlangt  hatte,  weil  seine  UngeduW 
eine  Aussenwclt  suchte   und   nur   das  getrAumte  Alterthum  ihm  «V 
die  gesuchte  Wirklichkeit  erschien.     Ich  nenne  es  geträumtes,  w« 
gerade  Goethe  in  jener,  selbst  der  schöusten,  Zeit  in  scharfer  Op 
sition   mit  Religion   und   Sitte  und  Vaterland   würde   gewogen   m 
Er   vergisst   um   so   mehr,   dass  unsere   reine  Sehnsucht  nach  ä 
Untergegangenen,  wo  keine  Gegenwart  uns  mehr  stören  kann. 
Reliquien    und  Fragmente   verklärt    und    in  jene   reine  Kepon  il 
Kunst  hinüberzieht.     Diese  ist  aber  auch  niemals  so  auf  Enlcn  ge- 
wesen, dass  wir  unsere  Sitte,  Vaterland  und  Religion  deshalb  gering 
schätzen  dürften'"^.     Wie  wäre  es  Übrigen«  möglich   gewesen,  dits 
Goethe   sich    ein    ganz   unbefangenes,    geschweige  ein   vollkommeB 
richtiges  Urtheil   über   das  innerste  Wesen   und   die  Bedeutung  der 
Kunst  und  der  Poesie  bei  den  Alten,  so  wie  über  ihr  mustcrgebeod«! 
Verhältniss  zur  Neuzeit  gebildet  und  die  Wurzeln,  aus  denen  sie 
wachsen,   bis  in  den  tiefsten  Grund  für  sein  geistiges  Auge  auf] 
deckt  hätte",   da  er  nur  immer  vorzugsweise  darüber  zu   klaren 
griffen   zu  gelangen  suchte,    wie  beide  sich  zur  Natur  und  zu  d 
absoluten  Gesetzen  des  Schönen  verhielten,  dagegen   bei  seiner 
kanuteu  Abneigung  gegen  alle  eigentlich  geschichtlichen  Studien  o)i 
oder  wenigstens  nicht  gründlich  genug,    darnach   forschte,   wie 
bildende  und  die  poetische  Kunst  der  Griechen  aus  dem  ganzen* 
eigenthümlichen  Leben  des  Volks  hervorgicngon,  einem  Leben, 
durch  unendlich  viele,  uns  Neuern  und  namentlich  uns  Deut^cl 
abgehende  klimatische,  religiöse,  politische,  sociale  etc.  VerhÄl 
bedingt  war,  mit  denen  die  Lntwickelung  der  einen  wie  der  an 
durch  tausend  Fäden  zusammonhiengl  Denn  die  wahrhaft  histo 
Erkenntniss  der   uns  aufbewahrten   Denkmäler  antiker   K  ;    * 
Poesie  kann  und  muss  zwar  durch  die  auf  die  Natur  zurll.  ,. 
und  durch  die  ästhetische  Betrachtungsweise  ergänzt  werden,  «c 
aber  nie  vor  diesea  zu  sehr  zurücktreten,  und  unsere  grössteu  Dicbi 
und  Künstler  würden  gewiss  vor  manchen  Missgriffen  und  VerirfS 
gen  bewahrt  worden  sein,  wenn  sie  sich,  wo  sie  den  Alten  nacli 
eifern  suchten,  mehr  darum  bemüht  hätten.  —  In  der  allerersten 


36)  Vgl.  auch  Schlossers  Geschichte  de»  1^.  Jahrb.  7,  I,  191  U 


*i 


wm 


EotwlckeluDgBgüng  der  Literatur.     1773— IS32.    Goethe*«  Gross-Cophla     2S9 

h  der  Rückkehr  au»  Italien  fühlte  sieh  Goethe  indess  unter  den  §  315 
lern  Nachwirkungen  der  in  Italien  enii)fang:eneu  Eindrücke  noch 
aer  dichterisch  ^enug  gestimmt,  seinen  Tasso  zu  vollenden.  Nun 
r  gesellte  sich  zu  dem  Verdruss  über  die  geringe  Empfänglichkeit  des 
tdcLen  Publicums  für  dieses  Werk,  so  wie  für  die  übrigen  Dicb- 
\gen,  die  in  den  letzton  Jahren  von  ihm  ausgeführt  waren,  auch 
sli  das  Schreckbild  der  französischen  Revolution.  Viele  andere 
rvorragende  Geister  in  Deutschland  erblickten  darin  den  Beginn 
!r  neuen»  glücklichen  Epoche  für  die  Menschheit;  ihn  dagegen) 
\  bei  seinen  stillen  Beschäftigungen  vor  allem  an  Erhaltung  der 
Qtlichen  Ruhe  und  an  gesicherten  Zuständen  lag,  und  der  das 
il  der  Menschheit  und  die  Fortschritte  der  Gesittung  anderswo 
artete  als  aus  dem  gewaltsamen  Umsturz  des  Bestehenden  ^  ihn 
Ulte  die  Revolution  mit  Entsetzen  und  Abscheu.  Dadurch  gerieth 
knebr  als  durch  alles  Andere  eine  Zeit  lang  in  starken  Widerstreit 
seiner  Zeit  und  mit  den  Neigungen  und  Hoffnungen  vieler  unter 
neu  Landsleuteu.  Natürlich  konnten  da  auch  dichterische  Erfiu- 
,  die  ans  dem  Grunde  einer  so  tiefen  Vorstimmung,  wie  seine 
ung  jener  ausserordentlichen  Weltbegebenheit  sie  mit  sich 
hie,  zunächst  hervorgiengen,  damals  schon  ihres  Inhalts  wegen 
en  grossen  Beifall  finden,  hätte  darin  auch  für  das,  was  an 
cm  misstieU  die  Kunst  der  Composition  und  Darstellung  den  voll- 
digsten  Ersatz  gewahrt.  Allein  diess  war  bei  denjenigen,  die  er 
der  Mitte  der  Neunziger  vollendete  und  veröffentlichte,  keines- 
der  Fall :  bei  den  beiden  in  Prosa  abgefassten  Lustspielen  „der 
foss-Cophta""  und  „der  Bürgergeneral''".  Der  Stoff  von  jenem 
agt  mit  der  Person  des  vorgeblichen  Grafen  Cagliostro  zusammen. 
e«cr,  der  eine  Zeit  lang  in  mehreren  Ländern  Europa*a  die  Rolle 
nes  Magiers  so  geschickt  zu  spielen  verstand,  hatte  aus  der  Ferne 
iWn  früh  Goothe's  Aufmerksamkeit  auf  sich  gezogen,  sich  ihm  aber 
neb  eben  eo  bald  sehr  verdächtig  gemacht".    Als  dann    ITSf)  von 


37»  Er  erscliiea  im  crsteu  Bande  von  „GoctUe's  neuen  Schriften*',  (und  ein- 
h)  Herün  1702.  H.  An  dieses  SlUck  schloss  sich  „des  Joseph  Balsamo,  gc- 
oat  Cftgliostro .  Stammbaum.  Mit  einigen  Xachrichten  von  seiner  iu  Palermo 
^^  lebenden  Familie"  (zum  grfis&teu  Theü  wieder  abgedruckt  iu  den  Werken 
y  120  ff.»,  Ausserdem  enthielt  dieser  Tlieil  noch  „das  römische  CarneTal'*, 
*^lchc8  hereits  I7s'.»  einzeln  mit  Kupfer»  zu  Berlin  gr.  4.  erschienen  war, 
Sl  Gedruckt,  mit  dem  BeivaU  au t*  dem  Titel'  „Zweite  Fortsetzung  der  beiden 
l^ileü".  Berlin  17113.  ^.  .,Die  beiden  Hillc-t«"  nUmlich,  von  Aot.  Wall  nach  dem 
W  des  Florian  bearbeitet  ün  Dyks  komischem  Theater  der  Franzosen  für  die 
**ttUcht!n,  vgi.$;j<t'J,  10).  hatten  von  demselben  schon  eine  erste  Forlsetzung  er- 
*'t«fl,  „der  Stammbaum",  Leipzig  1791.  8.  Vgl.  dazu  den  Briefwechsel  mit 
^HJrtCobiS.  160.       39}  Vgl.  die  Briefe  anLavateraua  dem  J,  1781,  &.120;  131. 

i^bfrtUin.  Grandri^ff.    5.  AqH.    IV.  19 


290    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIll  Jolirhunderts  bis  zu  Guetho't  T(kI 


315  Paria  au»  die  berüchtigte  HalBbandgesehiohte  bekannt  wurde^  in  die 
Cagliostro   mit    verwickelt  war,    erschreckte  dieselbe  Goethen  ,.wic 
das  Ilaupt  der  Gorgone."     Die  furchtbaren  Ahmiogen,    die    i 
Ereigniss  in  ihm  hervorrief,  trug  er  mit  aicii  nach  Italien  und  In.: 
sie  noch  geschärfter  zurück.    Cagliostro's  Process  hatte  er  mit  ^t.-m  ^ 
Aufmerksamkeit  verfolgt  und  sich  deshalb  in  Sicilien  um  Nachr  ■ 
von  ihm  und  seiner  Familie  bemüht*"-     Älil  dem  Ausbruch  umi 
Fortgang  der  französischen  Revolution  sah  er  jene  Ahnungen  in  L^ 
fQllung   gehen.      Um   sich    nun   einigen  Trost   und  Unterhaltung  ^^ 
verschaffen,  suchte  er  diesem  Ungeheuern  eine  heitere  Seite  nbzug'e. 
vrinnen;  er  beschloss  zu  dem  Ende,  die  Halshandgeschichte  dnuiu- 
tisch,    und    zwar   als   Oper   in   rhythmischer   Form    zu    hearbeiteR. 
Mehrere  Partien  kamen  auch  wirklicli  zu  Stande,  und  ein  Compoaiit 
war  auch  schon  in  dem  Capellmeister  Reichardt  gewonnen.    Alldti 
diese  Arbeit  gerieth   in  Stocken,  und  um  nicht   alle  Mühe   zu  rei- 
Heren,  machte  der  Dichter  daraus  ein  prosaisches  Lustspicr*.    Wti 
den  „Bftrgergeneral"  betrift't,  so  berichtet  Goethe  selbst*'  über 
Stimmung,  in  der  er  sich  befand,  als  er  dieses  kleine  Stück  scbiiel 
„Einem  thätigon  productiven  Geiste,  einem  wahrhaft  vaterländiscLgO^] 
sinnten  und  einbeimische  Literatur  befordernden  Manne  wird  mun 
es  zu  Gute  halten^  wenn  ihu  der  Umsturz  allen  Vorhandenen  schreckt, 
ohne  dass  die  mindeste  Ahnung  zu  ihm  spräche,  was  denn  besscrcR, 
ja  was  anderes  daraus  erfolgen  solle.     Man  wird    ihm   beistimmen, 
wenn    es    ihn    verdriesst,    dass    dergleichen   Intluenzen    sich    itAcli 
Deutschland  erstrecken,  und  verrückte,  ja  unwürdige  Personen  di» 
Heft  ergreifen.    In  diesem  Sinne  war  ,,der  Bttrgergeneral"  gcßcliric*- 
ben***\     Da  beide  Dichtungen  eben  so  wenig  von  Seiten  der  kllu?i- 
lerischen  Ausführung,  wie  rücksichtlich  der  gewählten  Gegenstänüe 
mit  seinen  letzten  dramatischen  Werken   den  Vergleich  Ausbieltcn. 
so  musstcn  sie  selbst  den  einsichtsvollem   und   unbefangenem   TLeil 
des  Publicums  kalt  lasBen,  bei  denjenigen  aber,   welche  die  Eni; 
nissc  in  Frankreich  und  ihre  EinHüsse  auf  Deutschland  mit  nu<i(m 
Augen  ansahen  als  der  Dichter^  sogar  die  Wirkung  jener  Mcisiti 
werke,  wenn  auch  nicht  auflieben,  doch  mehr  oder  weniger  schwäfhi"" 
Goethe  hat  später  selbst  bekannt  *',  er  habe  sich  beim  „Gro88-0>|iliü 
im  Stoff  vergriffen,  oder  vielmehr  seine  innere  sittliche  Natur  sei  i'Of 
einem  Stoffe  Überwälti^rl  worden ,    dem    allerwiderspenstigstcn ,  »w» 
dramatisch  behandelt  zu  werden.    „Eben  deswegen",   f:ibrt  er  i^ 
„weil   das   Stück   ganz   trefflich   (von   der  neuen  SchauHpielergC*«?'*' 


4(b  Vgl.  den  Briefwechsel  mit  F.  11.  Jacobi  S.  131.  4ll  Vgl.  a«,  T^'^' 

31.  H>  f.         42l  In  geinen  Tag-  und  .lahresheften:    Werke  31,  2-1.         13'  ^»^ 
»ach  :i».  2*;w  i  44)  Werke  30,  2fi7  ö. 


Kntwickelangsgang  der  Literatar.    1773—1832.    Goethe*s  Gross-Cophta.    291 

Schaft  in  Weimar)  gespielt  wurde,  machte  es  einen  desto  widerwär-  §  315 
tigern  Effect.  Ein  furchtbarer  und  zugleich  abgeschmackter  Stoff", 
kttbn  und  schonungslos  behandelt,  schreckte  jedermann,  kein  Herz 
klang  an;  die  fast  gleichzeitige  Nähe  des  Vorbildes  Hess  den  Ein- 
druck noch  greller  empfinden;  und  weil  geheime  Verbindungen  sich 
ungünstig  behandelt  glaubten,  so  fühlte  sich  ein  grosser  respectabler 
Theil  des  Publicums  entfremdet,  so  wie  das  weibliche  Zartgefühl 
sich  vor  einem  verwegenen  Liebesabenteuer  entsetzte."  Auch  „der 
Bttrgergeneral",  nicht  minder  trefflich  gespielt,  habe  die  widerwär- 
tigste Wirkung  hervorgebracht,  selbst  bei  Freunden  und  Gönnern, 
die  darum  auch  behauptet  hätten,  er  wäre  gar  nicht  der  eigentliche 
Verfasser  des  Stücks"  Unter  den  mir  bekannt  gewordenen  Recensio- 
nen  über  den  Gross-Cophta"  gibt  die  von  L.  F.  Huber^",  so  kurz  und 
verblümt  sie  ist,  doch  deutlich  genug  zu  verstehen,  dass  Goethe  in 
diesem  Lustspiele  nichts  weniger  als  ein  Werk  geliefert  habe,  wie 
es  von  ihm  erwartet  werden  konnte.  Eschenburg"  erkennt  an,  die 
Täuschungen  Cagliostro's  und  die  Charaktere  der  Personen  in  der 
Halsbandgeschichte  seien  so  lebendig  und  treffend  dargestellt,  dass 
man  darin  die  Hand  des  berühmten  Meisters  in  der  dramatischen 
Kunst  nicht  vermissen  werde:  besonders  sei  darin  Überall  die  Her- 
zenskunde des  Verfassers  sichtbar.  Gleichwohl  werde  diese  mehr 
zum  Lesen  als  zur  Vorstellung  geeignete  Arbeit  für  kein  Meisterwerk 
Goethe's  gelten  können.  Viel  ungünstiger  lautet  das  Urtheil  des 
Berichterstatters  in  der  neuen  Bibliothek  der  sehöneu  Wissenschaften^". 
Den  stärksten  Tadel  hat  aber  G.  Forster,  nicht  in  einer  Recension, 
sondern  in  zwei  Briefen^'  ausgeschüttet.  Goethe,  schreibt  er  in  dem 
ersten  an  J«icobi,  habe  ihm  das  schon  lange  und  mit  einiger  Em- 
phase angekündigte  Stück  zugeschickt.  „Wir  waren  sehr  darauf  ge- 
spannt, hatten  lange,  lange  kein  gutes  Buch  gelesen.  Ich  that  einen 
Sprung,  als  ich  das  Petschaft  aufriss  und  sah,  dass  es  der  Gross- 
Cophta  war.  Und  nun!  o  wliat  a  falling-off  was  therel  Dieses 
Ding  ohne  Salz,  ohne  einen  Gedanken,  den  man  behalten  kann, 
ohne  eine  schon  entwickelte  Empfindung,  ohne  einen  Charakter,  für 
den  man  sich  interessiert,  dieser  platte  hochadelige  Alltagsdialog, 
diese  gemeinen  S])itzbuben,  diese  bloss  hüfische  Königin  —  Ich  habe 
die  Wahl  zwischen  dem  Gedanken,   dass  er  die  Leute  in  Weimar, 


45)  Uft.  270  f.;  vgl.  dagegen  den  Briefwechsel  mit  ¥.  H.  Jacobi  S.  105.  AVir 
erfahren  bier  auch,  und  noch  bestimmter  S.  ItiO,  dass  wenigstens  Jacobi  den 
Bürgergeneral  beifällig  aufgenommen  hatte.  40)  In  der  Jenaer  Literatur- 

Zeitung  t792.    4.  2*»7  f.  (Hubers  vormischte  Schriften  2,  llOtt'j.  47j  In  der 

n.  allgemeinen  d.  Bibliothek  5,  2y;(  tf.  4S)  54,  5ü  ff.  49)  An  Fr.  II. 

Jacobi  und  in  einem  an  Heyne:    Försters  Briefwechsel  2,  112 ff. ;  lOS. 

19* 


2i»2    TL  Vm  zw^ttm  riend 


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btft  BQ  Goeibfr*£  Tod. 


§  315  die  ilm  Teri^dtteriif  zum  Bestes  hat  haben,  bat  sehea  wollen,  vi«] 
weit  die  dnmme  Aabetsn^  geboi  könne,  und  dabei  das  Publicui 
zu  sebr  reracbtet ,  am  es  aucb  nar  mit  in  Anschlag  zu  brin^u,  — J 
und  dann,  da^a  der  Enbiscbof  von  Se>'üla  im  GUblas  hier  wh 
leibhaftig  vor  ans  steht."    Und  in  dem  zweiten:  ^.Die  altpiecbiscbi 
aristophanische  DentHcbkeit  •alias  Plattheit*  ist  wohl  zuverli&ssi^  dal' 
Modell  j  welcUcÄ  dem  Verf.   rorgeschwebt  hat.     Allein   die  ScbcTi* 
des  Histrionen  hatten  wenigstens  ihre   Beziehung    auf   die  Zeitge- 
noaaen  und  würzten  sein  Drama  mit  bitterer  Satire;   was  hat 
Oroaa-Cophta  zum  Ersatz?"    In  dem  Briefe  an  Heyne  heisst  es  u. 
„Ist  es  möglich,  auch  dieser  Mann  hat  sich  so  Überleben  koi 
Oder  ist  tlas  eine  Art,   über  die  dumrae  Vergötterung,    die  mi 
ihm  zolleu,  und  über  die  Unempfänglichkeit  des  Publicums  fttr 
Schönheiten  seines  Egmont,  seines  Tasso  und  seiner  Iphigenie  scim 
Spott  und  seine  Verachtung  auszulassen?'*    Von  den  Urtheilen  Dl 
den  „Bürgergeueral",  der  ohne  den  Namen  des  Verfassers  ersi'biew 
war,  -den  alle  Welt  jedoch  gleich  Goethcn  zuschrieb,  ist  das  E»cb< 
burgs"  mehr  lobend,  das  andere^^  mehr  tadelnd,  keins  aber  b< 
ders  charakteristisch,  noch  von  einiger  Bedeutung.     Von  zwei  andenij 
im   Jahre    1793    entworfenen  Dichtungen,    die    durch    ihren  Inl 
ebenfalls  in  nahem  Bezu^re  zu  den  Folgen  stehen,  welche  die 
zösische  Revolution  für  die  deutschen  Zustände  hatte,    und   die 
ähnlichem  Sinn,  wie  „der  Bürgcrgeneral**  geschriebeu   sind,  fnlift« 
Goethe   die   eine  „die  Aufgeregten,,   ein  politisches   Drama  in  M 
Acten",   in    diesem    und    dem   nächsten  Jahre    nur   theilweise, 
audere,  wenn  sie  auch  nur  ein  „fragmentarischer  Versuch'*  blieb, 
„Unterhaltungen  deutscher  Ausgewanderten*"  (der  Form  nach  eincAi 
Nachbildung  von  Boccaccios  Decamerou  oder  von  Tausend  uod  eiiffj 
Nacht)  1793 — 95  wenigstens  bis  zu  dem  ihr  gegebenen  ScblussganxattS*. 


5U)  In  der  d.  allgemeSnea  d.  Bibliothek  17.  i,  271.  51)  In  dar 

Literatur-Zeitung  Hit«.   2,  .'M2  f.  52)  Dieec  erschieDen  in  SchlUen  Batm, 

Jahrgang   1TU5.  die  immer  uu vollendet  gcbliebcneu  ,, Aufgeregten**   dugegta  nt 
l*tn  im  IM.  Bande  der  Ausgabe  von  Goetbe's  Werken.   Stutigan  und  ToWapi 
1815  ff.    Vgl.  Werke  30,  271  und  Riemer,  MiiiheUungen  2.  ütH)  ff.    Auch  <fi«  B** 
arbeitimg  des  „Reineke  Yos"  in  hocbdeutachcii  llciaraeterQ.  an  die  Ooeüie  fteki^ 
falls  1793  gieng,  unternahm  er,  um  sich  seines  Verdrusses  aber  die 
lutiouären  Bewegungen  der  Zeit  zu  ent^rhlagcn.    Indem  er  „die  ganss 
uichtsvünUg  erklärte'',  kam  ihm  „durch  eine  besünduro  FtU,'ung**  die  alte 
in  dieUände;  er  erheiterte  sich  durch  den  Einblick  in  dieseu  ..Rot- und  R( 
Spiegel"  and  Übte  sich  bei  der  Bearbeitung  „dieser  anheiügen  Weltbibc^'j 
in  dcu  Gebrauch  des  deuföcht-u  Hex.imeUTS  ein  (vd.  ;io,  272  f.;  31,  SS 
Wechsel  mit  F.  H.JacobiS.  lüfil,  T)er„RGinekoFucbs"  erschien  alsirweit«rl 
„neuen  Schriften",  Berlin  ITVU.  S.  —  Ausser  dem  Grosa-CophU  und  denBoifV^I 
general  wurden  In  den  Jahren  17')l — 94  von   eigenen  poetischen  Sarges  OovtKi^ 


Entwickelimgsgang  der  Literatur.    1773— IS32.    Goethe's  BttrgergCDeral. 


Wie  wenig  Nachfolge  Goethe  auf  dem  Wege,  deu  er  seit  I7Sö  §  315 
geschlagen  hatte,  bis  zur  Mitte  der  Neunziger  fand,  ergibt  schon 
flachtiger  üeberblick  der  bedeutendem  oder  wenigstens  be- 
erkenswerthem  Werke,  die  wjlhrend  dieser  Zeit  von  andern 
Wchtern  in  den  beiden  grossen  Gattungen  entweder  erst  hervorge- 
!bt  oder  aufs  neue  bearbeitet  und  von  der  damaligen  Kritik  auch 
mehr  oder  weniger  Auszeichnung  aus  der  AlUagsliteratur  heraus- 
oben  wurden.  Im  Drama  sah  es  am  schlechtesten  aus.  Die 
tsche  Btthne,  in  deren  Herrschaft  sich  Iffland  und  Kotzebue 
ilten,  und  von  der  daher  auch  noch  lange  genug  die  di*amatiscben 
isterwerke  aus  Goethe's  zweiter  Periode  so  gut  wie  ganz  ausge- 
lossen  blieben ",  wurde  nicht  eher  wieder  mit  einem  eigentlichen 
twerk  bereichert,  als  bis  Schiller  mit  seinem  „Wallenstein"  her- 
t.  Von  den  Trauerspielen  Klingers,  welche  im  Anfang  der 
lunzigor  erschienen,  zeichneten  sich  zwar  einige  vor  den  übrigen 
ichzeitigen  durch  sittliche  WUrde  und  einen  gediegenem  Ge- 
kengebalt  aus,  waren  aber  weit  mehr  Einkleidungen  politischer 
ihrsAtzc  in  die  dramatische  Prosaform  als  schöne  sinnlich  belebte 
Gebilde  einer  nach  rein  künstlerischen  Absichten  schaffenden  Dichter- 
phant:isie,  und  sind  wohl  niemals  für  die  Aiiffühnmg  geeignet  be- 
tedea  worden**.  In  der  erzählenden  Gattung  begegnen  uns  von 
■erken   in   gebundener  Rede  nur    die   Rittergedichte   von  Johann 

nr  noch  einige  Kleinigkeiten  gedruckt:  duige  SinDgedichte .  eine  Elegie,  ein 
Bfthnen-Prolog  und  z^'ei  Buhnen-Kitiloge  in  den  Jahrgängen  1791  und  02  der  in 
Berlin  herauegogebonen  deutschen  Monatsschrift,  und  ein  Lied  in  Kwalds  „Crania 
far  Kopf  und  Herz",  Hannover  ITÜ'J.  S.  Vgl.  Hirzels  Verzeichniss  einer  Goethe- 
Blbliothek  S.  2^—30.  53)  Die  Iphigenie  nach  dem  Druck  von  IT67  wurde 

nertt  im  Mai  1802  zu  Weimar  aulgcfl\hrt,  sodann,  auch  noch  vor  Abtaut  des 
Jahres,  lu  Berlin  (Dtmtzer,  die  drei  ültestcu  Uearbeitungen  von  Ooethe's  Iphigenie 
8.  162  ff-);  derKgmont  betrat  zwar  schon  ITui  die  Buhne,  machte  aber  in  Weimar 
fiin«n  so  wenig  gunstigen  Eindruck,  dass  der  Dichter  dieses  Stück  vor  der  Hand 
guiz  bei  Seite  legte,  und  erst  seit  dem  J.  IVjü  fasstc  es  in  Schillers  Bearbeitung 
festem  Fusb  auf  den  deutschen  Theatern  (DtUitzcr.  Goethe's  Götz  und  Egmont 
S.  3>t$ff.);  die  erste  Vorstellung  des  Tasso  endlich  fand  nicht  eher  als  im  J.  1S07 
statt  (Goethe's  Werke  32»  3  f.).  54)  Diese  Stücke  waren  „Aristodymos**  (so 

b  der  ersten  Ausgabe,  später  verbessert  in  „Aristodemos'S  17^7),  ,.Damokles*' 
IITSs)  und  „Medca  auf  dem  Kaukasos**  |l7'.)*i,  die Fort^ietzung  der  schon  HSU  ge- 
lehrtobenen  „Medea  in  Korinth'\  oder  „das  Schicksal^  welche  zuerst  das  Jahr 
■naf  iin  dritten  Theil  seines  „Theaters"  erschien).  Die  beiden  ersten  Uess  er 
mit  einigen  andern  ^  weniger  bemerkcuswerthen  dramatischen  Sachen  in  seinem 
.jieuen  Theater*'  (St.  Petersburg  und  Leipzig  1790.  2  Thle.  S.),  das  dritte,  zu- 
Bftaunen  mit  einer  neuen  Auflage  der  „Medea  in  Korinth**,  St.  Petersburg  and 
Leipzig  1791.  &.  drucken  und  nahm  sodann  alle  vier  in  den  zweiten  Band  der 
iJüuwahl  ans  seinen  dramatischen  Werken**,  Leipzig  I70L  2  Thlc.  8.  auf.  (Sie 
lind  atich  in  seinen  sämmtlichen  Werken  zu  finden).  Beurtheilungcn  derselben 
lieferten  die  Jenaer  Literatur-Zeitung  1791.    1,  330  ff.  und  4,  657  ff.  (boide  von 


294     VI.  >'om  zweiten  Viertel  des  XVm  Jabrbtutdertji  bis  zu  Goethe*8  Tod. 


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3ir»  Baptist   von  Alxiugcr"   und  Friedrich  August  MUller",   die  sieh 
ihren  Gegenständcu    und    in    ihren   Formen    itunjtchst    an   \Yiol&ni 
Oberon    und  an  von  Nicolay's  Bearbeitungen   einzelner  StUeko 
italienischen  Epikern"  anschlicssen,  über  ihrem   p<»ctischcn  Wertl 
nach   hinter    dem    einen    unendlich   weit  zurückgeblieben   sind  uw 
auch  die  andern  niclit  einmal   ganz   erreichen.      Von   jenem    habft^ 
wir  ,,Doolin    von   Mainz.      Ein  Rittergedicht   in    zehn  GesÄBgen"^ 
dessen  Stoff  er  dem  nach  der  Bibliothäquo  des  Romana   ^efertigt^ 
Auszüge    eines    altfranzösischeu   Romans'"^    in   Reicliards   Bibliotht 
der  Romane**   cntlchnte''S    und   „Bliombcris.     Ein  Kittergedicht 
zwölf  Gesängen''",  für  dessen  Inhalt  Florians  gleichnamige  NoTdi 
die  unmittelbare,  die  Biblioth6quc  des  Romans  die  mittelbare  Quellft^ 
war"':    von    diesem  „Richard   Löwcnhcrz.     Ein    Gedicht  in  siebei 


L.  F.  Huber,  vgl.  vermischte  Schritoi  2.  17  IT.:  35  ff.  Am  merkwUrJigita  iA 
hier,  dass  von  dem  „Damoklcs"  gesagt  wird,  Receiis.  stelle  dieses  Dram*  an  JJ 
f>pitze  aller  klingerschen  und  uottfr  die  Meisterwerke  unserer  Dichtkunst  Ober- 
haupt; ich  wenigstens  hegroife  nicht,  wie  so  etwas  aus  Hubers  Feder  Vorotat* 
konnte,  selbst  wenn  ich  allem  Andern  beizustimmen  gonci^  wäre,  was  in  den 
Vorhergehenden  an  dem  Stück  gerühmt  istj  —  und  in  der  n  allgrmeinM  d 
Bibliothek  17,  I,  JtiT  ff.  (von  Manso;  vgl.  auch  tSchau  in  der  aUgemeinfta  <L 
Itibliothek   lO'l.  'J,  12:iff.}.  55)  Geb.  1755  zu  Wien,  wurde  von  seinem  I^fctt 

dem  berühmten  Numismatiker  Eckbel.  gründlich  in  den  alt«ni  Sprachen  unteniclittC 
studierte  in  seiner  Vaterstadt  die  Rechtswissonschaft  und  wurde  dann  elieadaaelbit 
Ilofage.nt.  Da  er  frühzeitig  durcJi  ein  ererbtes  Vermögen  in  eine  unahhangigr  Lagv 
kam,  so  benutzte  er  seine  amtliche  Stellung  viel  mehr  dazu,  Dürftigen  sctatt 
rechtlichen  Beistand  zu  Iclsien  als  Geld  zu  verdienen-  \~\*i  wurde  er  von  do 
Director  des  kaiserlichen  Hoftheaters  bei  demselben  als  SecreUr  nngcfit<?IU  \aA 
zwei  Jahre  darauf  als  solcher  vom  Hofe  betitäiigt  und  mit  einem  anständigen  J•k^ 
gehalt  bedacht.  Cnter  den  Wiener  Schriftstellern  seiner  Zeit  hallo  «r  vmIMcM 
die  ausgebreitetsten  Verbindungen  in  der  deutschen  literarischen  Welt:  seit 
war  er  auch  Mitarbeiter  an  der  Jenaer  allgemeinen  Literaturzeitung.  Kr 
1797.  5t>l  Geb.  1707  in  Wien,  studierte  Philosophie -und  bescbit^i^ 

dann  mit  wissenschaftlichen  and  dichterischen  Arbeiten.  (So  nacti  den  gevi 
liehen  Angaben;  dagegen  soll  er  nach  einem  Briefe  in  dem  Buch  ,^ar  KrinncfiBf 
an  F.  L.  W.  Moyer"  l.;iU  ein  Schweizer  geweseu  und  in  Berlin  gt4iUdet 
sein,  und  gewiss  ist  es  sowohl  nach  diesem  Brii^c,  wie  nach  einem  andern 
Bfirger  in  demselben  Buch  I,:K(S.  dass  Möller  in  (iöttingen  studierte  und  im  F: 
jähr  I71MI  du  Zuhörer  Bürgers  wart.  Im  Anfang  der  Neunziger  scheint  er 
Erlangen  gegangen  zu  sein,  wenigMens  liicU  or  sich  dort  schon  zu  Ostern  17 
anf  (Vgl.  die  Unterschrift  der  Nachrede  zu  ..Adelbert  dem  Wilden");  Tier  Jahn 
spater  habilitierte  er  sich  an  der  l.^ntversitjit  als  Privatdocent  und  starb  tsuT 

57»  Vgl.  §  :*tt7,  Anm. 'i.  5Si  Leipzig  17^7,  s.;  neue  und  sehr  Terbewert*  A 
toce  1707.  59)  Vgl.  F.  W.  V.  Schmidt  in  den  Wiener  Jahrbdchem  dor  L 
ritur  Bd.  3t,  125  f.  60»  4,  54  ff  61»  Ueber  die  HuUsinitt.vl,  ^ic  rr 

den  drri  letzten  GesÄngen  benutzte,  vgl.  die  Vorrede  zur  zweiten  A  ' 

t)2»  Leipzig  noi.   h.        03)  Nach  dieser  ist  der  Auszug  in  1;  -     . 

thek  der  Komane  S,  7  ff.;  vgl.  F,  W.  V.  Schmidt  a.  a  0.  29,  tUö.  —  iJvUr 


«feto    ,, 

i 


Entwickelungsgang  der  Literatur.     1773— L!t32.    Jacobrs  Romane.       295 

Büchern'***,  „Alfonso.  Ein  Gedicht  in  acht  Gesängen*'",  eine  von  §  316 
dem  Verfasser  ganz  erfundene  Geschichte  aus  dem  achtzehnten 
Jahrhundert,  deren  Scene  auf  ein  Paar  auch  erdichtete  Inseln  im 
atlantischen  Ocean  verlegt  ist";  endlich  „Adelbert  der  Wilde.  Ein 
Gedicht  in  zwölf  Gesängen"*",  ebenfalls  ganz  Eigenthum  des 
Dichters,  oder  wie  er  sich®*  ausdrückt,  eine  Geschichte,  die  er  im 
Geiste  des  Mittelalters  zu  erfinden  und  auszuführen  versucht  hahe^. 
Von  Müllers  Dichtungen  wurde  zur  Zeit  ihres  Erscheinens  weit 
weniger  gemacht  als  von  denen  Aixingers,  doch  verdienen  sie 
diesen  eher  vorgezogen  als  nachgesetzt  zn  werden. 

Besser  verhielt  es  sich  zwar  mit  einigen  in  diesen  Jahren 
entweder  in  erneuter  Gestalt  widerkehrenden  oder  zum  erstenmal 
hervortretenden  Erscheinungen  im  Fache  des  Romans,  da  sie  ihrem 
innem  Werthe  nach  den  voi*züglicheren  Erzeugnissen  ihrer  Art  aus 
den  vorhergehenden  Jahrzehnten  —  wenn  von  Goethe's  Werther 
ganz  abgesehen  wird  —  zum  Theil  wenigstens  nahe  oder  auch 
gleich  kamen,  zum  Theil  sie  sogar  übertrafen.  Allein  wer  darunter 
ein  im  vollsten  Sinne  schönes,  von  einem  echt  poetischen  Gehalt 
ganz  erfülltes  und  nach  rein  künstlerischen  Zwecken  entworfenes 
und  ausgebildetes  Werk  vermuthete,  würde  sich  doch  mehr  oder 
minder  getäuscht  sehen.  In  diese  Kategorie  gehören  Wielands 
schon  angeführter  „Peregrinus  Proteus"™,  die  beiden  neu  bearbeiteten 
Romane  von  Fr.  H.  Jacobi  „Allwills  Briefsammlung",  und  „Wolde- 
mar",  und  die  ganze,  mit  „Fausts  Leben,  Thaten  und  Höllenfahrt" 
anhebende  Reihe  ei-zählender  Werke  von  Klinger.  Der  Anfang  von 
„Allwills  Briefsammlung",  fünf  Briefe,  erschien  unter  der  Ueber- 
schrift  „Eduard  Allwills  Papiere"  zuerst  1775",  die  Fortsetzung  im 
d,  Merkur  des  folgenden  Jahres.  Nach  dem  Vorbericht  im  Merkur 
sollten  diese  Briefe  nur  für  „Materialien"  zu  einem  Roman,  nicht 
für  einen  daraus  wirklich  gebildeten  Roman  gelten.    An  dem  Anfang 

metrische  Form  beider  Gedichte  vgl.  Bd.  III,  238;  Beurtheilungen  in  den  kriti- 
schen Zeitschriften  sind  angegeben  beiJördens  1,43;  5,711  f.  (vgl.  auch  6,  552  f.) ; 
über  andere  poetische  Werke  Aixingers  s.  Jördens  1 ,  3S  if.  Seine  „sämmtlichen 
Schriften"  erschienen  Wien  1SI2.     10  Bde.   ¥».        64)  Berlin  undStettin  1790.  8. 

65)  Göttingen  1790.   8.  66)  Vgl.  A.  W.  Schlegel  in  den  Göttinger  gel. 

Anz.  1790,  St.  94;  sammtliche  Werke  10,  26  ff.  67)  Leipzig  1793.   2  Bde.  8. 

6S)  In  der  Nachrede  dazu  2,  473  f.  69)  Das  erste  Werk  ist  unstrophisch 
and  in  gereimten  jnmbischen  Zeilen  von  vier  bis  zu  sechs  Hebungen  abgefasst. 
Ueber  die  metrische  Form  der  beiden  andern  vgl.  Bd.  III.  23S.  70)  Vgl. 

S.  153.  71)  In  J.  G.'Jacobis  Iris  4,  Septbr -Stück,  wiederholt  und  dazu  die 

Fortsetzung  im  d.  Merkur  von  177«.  2,  19 ff.;  3,  57  ff.;  4,  229  ff.  (über  Goethe's 
Einfluss  auf  die  Entstehung  oder  Ausbildung  dieses  Werkes,  so  wie  über  das,  was 
ins  Jacobi*s  nächsten  Umgebungen  in  dasselbe  eingieng,  vgl.  S.  5S,  56;  S.  23, 
Anm.  I;  dazu  Fr.  H.  Jacobi*s  auserlesenen  Briefwechsel  1,  237—245,  259,  und 
Düntzer,  Freundesbilder  S.  159  ff). 


SM   TLTfB 


Titftdte  XVm 


bfan6«cte^Tol 


$$ti  mierlA  haiem  Goethe  laid  Wietoad  eroMs  OeUkB™,  wk  a) 
die  FoftKlnag  im  Merkur  eraehicaea  war,  bedaacrte«  se,  d«n 
kerrli^e  Materialien,  an  denen  der  VeifuKr  so  Tiel  kitle  gewiaai 
hi— gl,  wtmsk  er  ne  Tefari>eitet  bitte,  rob  r^kaoft  wttrden^.  N« 
•ekaot  Merck  dartber  geurtheilt  zu  haben'*,  und 
•cbon  Ton  dem  Anfaage^:  „Waa  die  guten  Leeenam 
«er  Ina)  mit  dem  onnataHichen  ImmbaadMehea  Zeoge  machea  aoUtea, 
wvrdflB  me  ohne  Zweifel  so  wenig  gewvast  haben,  ala  wir/*  Abb  d«n 
Merkur  nahm  Jacobi  ,,E-  Allwills  Papiere''  in  den  ersten  innd  eicxi- 
gea)  Tbetl  «einer  vermischten  Schriften"'*  auf.  Von  demselben  Jalut 
(1761;  sind  zwei  Schreiben^,  das  eine  an,  daa  andere  Ton  Jaoobi, 
die  nn«  belehren,  welche  Tendenz  er>  damals  wenigstens,  adsoi  ' 
Allwül  untergelegt  wissen  wollte.  Nach  dem  Auszog  des  enlea  bat 
Hch  der  Schreiber  gefreut ,  dass  im  letzten  Briefe  ron  AUtüIi 
Papieren  „das  Gegengift  gegen  die  vorher  angepriesene  Henwhift 
der  Leidenschaften  gegeben''  sei.  Allein  das  Gift  in  diesen  Bric/ai 
sei  doch  zu  stark,  zu  feurig  zugerichtet,  und  man  mOsae  ftlrcbten. 
daas  nur  dieses  den  leichtesten  Eingang  in  die  jugendlichen  Herz^i^j 
die  schon  so  sehr  darnach  gestimmt  seien,  gewinnen  möge.  [ftS 
unserer  Bittenlehre  dQrfte  hauptsächlich  darauf  zu  sehen  sein,  wohiD 
sich  das  Jahrhundert  neige:  Unmenschlichkeit  sei  es  nicht  mekr^ 
aber  Ausschweifung  der  Begierden  in  Wollust.  Daher  das  b«l 
Schädliche  der  beliebten  Romane  von  Ficlding.  Hierauf  erwider 
Jacob!  dem  Freunde  u.  A. :  ea  seien  doch  wohl  in  dem  tlbcr  di( 
Stftrke  des  Gifts  und  des  Gegengifts  Gesagten  vornehmlich  ilie  iwi 
letzten  Briefe  berücksichtigt  worden^  und  da  könne  er  nicht 
in  welchem  Grade  seine  Empfindung  der  des  Freundes  widersprecbft 
„Mir  d&ucht ,  man  braucht  nur  den  Eingang  von  Luciens  Brief  ge- 
lesen zu  haben,  um  sich  des  Beifalls,  den  man  Allwills  Zflgellonf- 
keit  gegeben  haben  möchte,  zu  schfimen. ...  Da  ich  den  Charaktff 
Allmlls  80  glänzend  entworfen  und  Alles  hineingelegt  habe,  vru 
sich  von  löblichen  Dingen  damit  reimen  licss,  das  ist  gewiss  nicbt 
zum  Nachtheil  der  guten  Sache  geschehen.  Um  bei  dieser  seltsamni 
Gattung  von  Schwärmern",  den  Original-  und  Kraftgeuies  io  der 
Sittlichkeit,  „einiges  Gehör  zu  finden,  mues  man  sich  bezeigen  ils 
einen  aus  ihrer  Mitte,  als  einen,  der  zu  allem,  was  sie  hochscbloeB, 


72)  Jacobi*6  auserlefteucr  Briefwechsel  1 ,  229.  73)  Vgl   Briefe  u  od 

von  Merck  IS3%,  S.  64  f.  74)  Vgl.  a.  a.  0.  S.  Tl  ff.  aod  daxo  Poatw 

a.  a.  0.  S.  160  f.  75)  Allgemeine  d.   ßibliothek     Anhang  xn  Bd.  22-3«. 

5.  342A.  7Gl  Breslau  HSl.   b.  77»  Sic  wurden  später  unter  d«a  am 

enten  Thello  aemer  Werke  einverleibten  vermischten  Briefen  S.  351  ff. 
welM  gedruckt. 


^ 


EatwickelongegftBg  der  Literatur.    1773— IS32.    Jacobis  Allwül. 

Hell  den  Zeug  Iiat,  und  der  nucb  nicht  zu  zärtlich  ist,  um  sogar 
in  die  Hand  m  nehmen  und  mit  eignen  Augeu  zu  betrachten 

mit  eigener  Seele  zu  schätzen  in  seinem  eigenen  Sein  ein  jedes 
lg.*'  Ueberarbeitet  und  mit  einer  Anzahl  neuer,  eingeschobener 
öfo  bereichert  erschienen  dann  diese  Papiere  unter  dem  Titel  „Ed. 
prills  Briefsammlung.  Herausgegeben  mit  einer  Zugabe  von 
len  Briefen"".  In  der  Vorrede  wird  dem  Leser  vorgeschlagen, 
t  unter  dem  Herausgeber  der  Briefsammlung  einen  Manu  vorzu- 
len,  dem  es  von  seiner  zartesten  Jugend  an  und  schon  in  seiner 
idheit  ein  Anliegen  war,  dass  seine  Seele  nicht  in  seinem  Blute 
r  ein  blosser  Athem  sein  möchte,  der  dahin  fährt.  Dieses  Au- 
en habe  uichts  weniger  als  den  blossen  gemeinen  Lebenstrieb  zum 
ßde  gehabt.  „Er  liebte  zu  leben  wegen  einer  andern  Liebe,  und 
e  diese  Liebe  schien  es  ilim  uuertrüglich  zu  leben;  auch  nur 
in  Tag.  Diese  Liebe  zu  rechtfertigen,  darauf  gieng  alles  sein 
iten  und  Trachten,  und  so  war  es  auch  allein  sein  Wunsch,  mehr 
it  Über  ihren  Gegenstand  zu  erhalten,  was  ihn  zu  Wissenschaft 

Kunst   mit  einem  Eifer  trieb,   der  von  keinem  Hinderniss  er- 

ete.  Ein  veaehrendes  Feuer  trug  der  Jüngling  im  Busen.  Aber 
c  seiner  Leidenschaften  konute  je  über  den  Affect,  der  die 
e  seines  Lebens  war,  die  Oberhand  gewinnen.  Jene,  wenn  sie 
zel  fassen  sollten,  mussten  aus  diesem  ihren  Saft  {lolen  und  sieh 
ihm  bilden.  So  geschah  es,  dass  er  philosophische  Absicht, 
lidenken,  Beobachtungen  in  Situationen  und  Augenblicke  brachte, 

sie  äusserst  selten  angetroffen  werden.  Was  er  erforscht  hatte, 
hte  ersieh  selbst  so  einzuprägen,  dass  es  ihm  bliebe.  Alle  seine 
tbtigsten  Ueberzeugungen  beruhten  auf  unmittelbarer  Anschauung, 
le  Beweise  und  Widerlegungen  auf  zum  Theil,  wie  ihn  diluchte, 
it  genug  bemerkten,  zum  Theil  noch  nicht  genug  verglichenen 
iisacheu.  Er  musste  also,  wenn  er  seine  Ueberzeugungen  Andern 
Heilen  wollte,  darstellend  zu  Werke  gehen.  So  entstand  in 
cer  Seele  der  Entwurf  zu  einem  Werke,  welches,  mit  Dichtung 
ichsam  nur  umgeben,  Menschheit,  wie  sie  ist,  erklärlich  und  un- 
l&rlich,  auf  das  gewissenhafteste  vor  Augen  stellen  sollte."  Sehr 
Ifond  urtheilte  Kurncr  gleich  im  Jahre  1792  über  den  Allwill  in 
ieru  Briefe  an  Si-hiller,  der  ihn  noch  nicht  gelesen,  aber  viel 
les  darüber  gehört  hatte'\    In  einzelnen  Briefen  erkannte  er  eine 


7S)  Königsberg  I  vn,   5.   Die  Vorrede  »teilte  eiaen  zweiten  TheiJ  mit  Gewiss- 

luid  ciucu  dritten  mit  liöchsier  Walirscheinlichkeit  in  Auasicht;  es  blieb  je- 
b  bei  dem  ersten .  der  uaclihcr  den  ersten  Bund  der  Sammlnng  von  Jacobi'ß 
ken,  Leipzig  1S12— 25.  6  Bde.  s.  eröffnete  (vom  vierten,  iu  drei  Abtheilongcn 
iDenden  Bande  an  heraasgg.  von  Fr.  Koppen  und  Fr  Roth).  79)  Brief- 

tiel  2.  330  f.;  vgl  S.  zm. 


29'>     VI.  Vüm  zweileu  Viertel  lies  XVUl  Jabrbuuderts  bis  zu  GoeÜi«*i  T( 


315  Meifiterliand,  besonders  in  dem  von  Lucio  an  AllwiU;  andere 

vcronchl Assist  (ider  Uber8]>annt.  Ueberbau|)t  feble  dem  gaoxeft, 
Werke  ein  gewisse«  Gepräge  der  Vollendung,  Die  Form  de» 
mauH  sei  dem  pbilosopbisoben  Zwecke  zu  merklieb  subordiniert  ui 
zerstreue  gleiebsnm  die  Aufmerksamkeit  zu  sebr,  so  dnss  weder  d< 
•  PbiloBopb  nocb  der  Kunstlicbbaber  werde  befriedigt  werden. 
Kunsttalent  febio  es  dem  Verfasser  nicbt,  was  besondere  die  Sei 
derung  einiger  Cbaraktere  beweise.  —  Von  Jaoobi's  zweitgeuannt 
Romane  „Woldemar"  wurde  was  ursprünglicb  den  ersten  Tbeil 
den  sollte,  in  der  späleru  Umarbeitung  aber  den  Grundbestandrh« 
des  Ganzen  abgab,  nacb  der  ersten  Abfassung  unter  dem  T\ie\ 
„Freuudscbftft  und  Liebe.  Eine  wabre  Gescbichte  von  dem  Hemo»- 
geber  von  Ed.  Allwills  Papieren'*  1777 •"  gedruckt",  dauti 
„Woldemar,  eine  Seltenbeit  aus  der  Naturgescbfchfe"**  be^ndi 
berausgegcben,  und  in  demselben  Jabre  erschien  aucb,  als  ..ausd« 
zweiten  Bande  des  Woldcmar"  entnommen,  „Ein  Stück  Philosoph! 
des  Lebens  und  der  Menscbbeit*'".  Lessing  hatte  der  Woldema 
wie  er  an  Jacobi  schrieb,  eine  unterrichtende  und  gefühlvolle  Stuw 
gemacht,  und  er  forderte  den  Verfasser  auf,  das  angefangene  W( 
zu  „vollführen"*'.  G.  Forster  fand  sich  von  dem  ersten  Theile  de« 
Romans  und  von  den  Bruchstücken  im  deutschen  Museum  gleich  in- 
ge/ttgen  und  sdiricb  ilarüber  sehr  hcivJich  an  Jacobi**'.  Goethe  da- 
gegen, von  „dem  leichtsinnig  trunkenen  Grimm,  der  muthwillifrn 
Herbigkcit,  die  das  Halb-Gute  verfolgten  und  besonders  gegen  dca 
Geruch  von  Präteusioncn  wütheten*\  hingerissen,  hielt  ein  GcHcM 
über  den  Woldemar,  das  zu  seiner  Zeit  zu  vielem  Gerede  .\nlM» 
gab".  In  der  allgemeinen  Bibliothek"'  schrieb  Biester:  „Ich  möchiOj 
fragen:  sind  alle  diese  Charaktere,  Woldemar.  Henriette,  Allwini 
wahr?  Gibt's  solche  Menschen?  ganze  Gruppen  davon?  und  die  it\ 
zusammenfanden?  Und  dann:  können  vernünftige  Menschen  sieb 
ganz  einzeln  denken  und  handeln,  als  wären  alle  Verhältnisse 
Nachbarn,  Bekannten,  Nebenmenschen   etc.    nichts?    Denn   da* 


80»  Im  d.  Merkur  2,  1)7  ff.:  2(t2ff.;  :»,  M3  ff  ;  22*1  ff.;  4.  246 ff.  Sl» 

die  Aufuahme,  wokhe  drr  Anfang  boi  Wieland  und  bei  Gortiir  fand,  vgl.  Ja^ntf» 
auseriesenen  liriefwcchsol  I.  'IM  ff.  und  .Ucobfa  Brief  hoi  Wcinhold,  ßuieS. 

SV)  rd.  I.    Flensburg  und  Leipzig  1TT9.   5«.  S3)  Im  d.  Museum  1.  Sfi^i 

und  :v.i.(  ff.;  bald  darnuf  In  deu  vermischten  Schrifte«  als  „der  Kiinätj^utea. 
philosupbiscbes  (jcepriich",  wieder  abgeüntckt  und  uachher  grossen theiJa  an 
Stellen  der  An&g.  dos  Woldemar  von  IT^M  pingefOgt.  S4)  Lesaiag»  ita 

Schriften  i?,  :i:il;  oVX  Söi  Forsters  Briefwechael  !,  \n  ff.  S6»  V^ 

5  3<>K  Aum.  55,  die  nngofabrtvn  Stellen  und  dazu  auch  Goethe's  Brirf  an  Lai 
S.  I2(if.  und  Jacobi'g  llrief  Au  Boie  bei  Weinhold  a.  a.  0   S.  n\  ff.         Slj 
hat»«  tum  Ti. — i*.  Bilc..  S    1^2^  f 


er  der  Fall  der  GescbicUto.''  Nachdem  Jacobi  lauge  das  Werk  iu  §  315 
äer  ersten  Gestalt  hatte  ruhen  lassen,  erweckte  in  ihm  der  Cha- 
iter  von  Goethe's  Tasso  die  Erinnerung  daran;  es  wurde  wieder 
TVrtr^czogen ,  mit  ansehnlichen  Erweiterungen  gänzlich  umgear- 
dtet  und  damit  auch,  ohne  einen  eigentlich  ganz  neuen  Theil,  zum 
■chluss  gebracht.  So  erfichien  1794  der  Roman,  mit  einer  Zueig- 
mg  an  Goethe,  unter  dem  Titel:  „Woldemar"'*.     Die  Vorrede  ver- 

rin  BetretY  desäen,  was  ala  da»  Wesentlichste  Über  den  Wolde- 
rorauH  zu  sagen  gut  geiu  möchte,  auf  die  Vorrede  zu  AUwills 
nersammlung,  nur  finde  sich  jene  philosoidiische  Absicht  („Menscb- 
ütj    wie    sie    ist,    erklilvlich    oder   unerklärlich,    auf  das  irewissen- 
te  vor  Augen  zu  legen**)  in  dem  gegenwärtigen  Werke  nicht 
dort  mit  Dichtung  bloss  umgehen,  sondern  hier  scheine  vielmehr 
Darstellung  einer  Begebenheit  die  Hauptsache  zu  sein.     Von  den 
nsioncu,  die  Über  den  Woldemar  erschienen  *",  waren  die  beiden  bc- 
endsten  und  geistvollsten  die  von  W.  von  Humboldt**",  1794,  und 
von  Fr.  Schlegel"  in  Reichardts  Jorn-nal  Deutschland,  179ö'".   Die 
welche  Jacobi  schon  vor  dem  Abdruck   von  Humboldt  zuge- 
kt  erhielt,    und  die  ihn  ausserordentlich  erfreute",   stellt  den 
demar  als  philosophisches  und  poetisches  Werk  sehr   hoch  und 
icht  alle  Ausstellungen,    die   daran  gemacht  werden  könnten,    so 
äpl  wie  nur   irgend  möglich   zu  beseitigen.     Aber  Humboldt  ist  in 
em  Lob    viel   zu    weit   gegangen.     Desto  herber  ist  Schlegels 
*'  jreschriebene  Benvtheilung.    Jacobi's  philosophischer  und 
'i-  Charakter   wird    darin   durch   Ironie  so  zu  sageu  zer- 
Öckelt  und  aufgerieben,  so  wenig  dioas  auch  aus  dem  Anfang  vcr- 
thet  werden  kann ,  und  so  wenig  selbst  im  ferneren  Verlauf  das 
iilicli  Vortreffliche  in  dem  Werk  Übersehen  oder  verkleinert  ist*'. 


^I  KöDigsborg.  2  Thie.  ft.;  neun  verbesserte  Aufl.  1700;  dann  als  tünftor 
■  der  Werke  l>20.  Die  dem  2.  Thle.  eingefügte  Geschichte  von  Agis  und 
Bounes  181  aber  ulcbl  von  Jacobi  gelbat,  sondern  aus  der  Feder  eines  Jugend- 

Biies  voofhm:  V)?l.  Vorbericht  zu  JAcobrsauaerlesenpm  Ilriefwr.fhsel  S.  XXVUT. 

Js9t  Kiue,  im  Ganzen  sehr  lobende,  von  Fr.  .lacolts,  brachte  auch  die  n.  aU- 
«  d   Bibliothek  'ift,  I,  271  flf.  {){)]  In  der  .lenaer  Literatur- Zeitung  von 

4.  3,  SOI  ff.  Iwieder  abgedruckt  iu  Humboldts  Werken  1,  tSÄ  fl'.t.  Vgl.  Über 
ood  über  den  Woldemar  selbst  in  dem  Briefe  Kaliels  au  Pav.  Veit  (vom 
XoT   iT'Jlt  S.  Iü4  ff.  (I.  Theil  von  .,Rahe!'*(.  \)\)  Nach  der  Ausg.  von 

5.  92)  Daraus  iu  den  Charakteristiken  und  Kritiken  der  beiden  Schlegel 
Jff.  93)  Vgl  scinon  auseriesenen  Briefwechsel  2,  173  ff.  94)  Hier 
Mn«  d«Mu  letzten  Theilc  ein  Paar  Stellen.  Nachdem  Jacobi'R  Schreibart  sehr 
fiiunt  worden,  indem  sein  „echt  prosaischer  Ausdruck  nicht  bloss  schön,  son- 
D  gcotaliscb  sei,  lebendig,  geistreich,  kühn  und  doch  sicher  wie  der  lessingsche. 
IUI  einen  geschjcktcn  Gebrauch   dor  eigenthamlichen  Worte  and  Wendungen 

der  Kumtsprache  des  Umgangs,  durch  sparsame  Anspielungen  auf  die  eigent- 


300     VI.  Vom  zwdten  Viertel  des  XVÜI  JAhrhnndertt  Ui  so  Ooedie't  Tod 

315  Von    Rlingers    erzählenden   Schriften    hat    der   IHchter   selbst 

seine  drei  zuerst  herau8ge|cebenen  Romane  ebensowie  eine  fime 
Anzahl  seiner  altern  Schauspiele  aus  der  Sammlung  seiner  Werke" 
auagedchlossen.  Zweier  dieser  Romane,  des  „Orpheus"  uder  ,^BitQ- 
bino"  und  des  „Plimplamplasko",  ist  bereits  oben  gedacht  worden". 
Den  dritten,  „Prinz  Fonnoso's  Fiedelbogen  und  der  Prinxessin  Siia- 
clara  Geige,  oder  Geschichte  des  grossen  Königs*"^,  den  ich  nicit 
habe  lesen  können,  hat  Musaeus**  äusserst  ungElnstig  beurtbeili 
Der  erste  Roman ,  den  Klinger  in  einer  spätem ,  theils  erweiterten, 
theils  die  grössten  Anstösaigkeiten  tilgenden  Umarbeitung  unter  dem 
Titel  „Sahir,  Eva's  Erstgeborner  im  Paradiese",  jener  SammioDg 
einverleibt  bat,  war  ,,die  Geschichte  Tom  goldnen  Hahn.  Ein  Bei- 
trag zur  Kircbenhiatorie**"*.  In  der  Form  einer  märchenhaftes  und 
allegorischen  Erzählung,  deren  Schauplatz  in  den  Orient  verlegt  iit, 
soll  hier  im  Anschluss  an  jenen  Satz,  den  Rousseau  an  die  SpitK 
seines  Emil  gestellt  hat^,  und  mit  ganz  besonders  starker  Berrm^ 
hebung  der  Folgen,  welche  die  entartete  christliche  Religion  für  die 
Menschheit  gehabt  habe,  gezeigt  werden,  zu  welcher  Entsittlichosj 
und  Yerderbtheit  ein  in  der  Einfalt  des  Naturzustandes  leheoda 
Volk  durch  eine  falsche  Aufklärung  und  die  künstlichen  VerhiÜtBitti 
der  Cirilisation  herabsinken  könne.    Die  mehr  als  frivole  und  iMer- 


Ucbe  Dicbterwelt  eben  so  urban   vie  dieser,  aber  seelenvoller  und  zarter*» 
beUst  es  weiter:    „lieben  diese  Lebeadigkeit  seines  Geistes  macht   at^er  aoch 
ImmoraUtüt  der  darstellenden  Werke  Jaeobrs  so  äusserst  gefiüirlicb.  —  In 
lebt,    atbmet  and  glüht   ein  verlUhrenscber  Geist  vollendeter  Seelenschvelgtr^' 
einer  grenzenlosen  Unmässigkeit^  welches  trotz  ihres  edlen  Ursprungs  alle  Gei9it 
der  Gerechtigkeit  und  Scbicklichkcit  durchaus  vernichtet.  —  Per 
der  sich  über  das  Ganze  (des  M'uideinar)  verbreitet  und  ihm  cincEinbt 
lorits  gibt,  ist  Ucberspannung:  eine  Erweiterung  jedes  einzelnen  Objecta  derl 
oder  Begierde  über  alle  Grenzen  der  Wahrheit«  der  Gerechtigkeit  und  der 
liebkeit  ins  unermesslichc  Leere  hinaus*'.    In  Schleiennachers  Roc.  derGkanUd* 
stiken  und  Kritiken  (Erlanger  Literatur-Zeitung  isui.    1,  \h\:\  ff.;   &bgedraekc. 
Schleiermachers  Leben  etc.   1,  554  ff.)  wird  Schlegel  vorgeworfen,  er  habe  in 
Beortheilung  dcsWoIdcmar  die  moralischen  Angelegenheiten  des  Monscheai 
vor  das  grosse  Publicum  gebracht,   welches  anderswo  von  A.  W.  Sei 
Recht  hart   und  grausam  genannt   werde  (in  seiner  Schrift  flber  bürgert 
ganze  polemische  Ton,  den  das  als  kritisch  angekündigte  Verfahren  aebr  bald 
nimmt,  der  Schein  von  Animosität,  der  von  da  au  durch  das  Ganze  hiodurci 
und  eine  gewisse  Kinscitigkoit  der  Ansicht  waren   die   natürlichen  Folgen 
Eingriffs  in  ein  fremdes  Gebiet".        95)  Königsberg  ISoy— Kl.    12  Bde.    K 
AnOage  Stuttgart  und  Tübingen  1S42.    12  Bde.    16.        Oti)  Vgl.  S.  $1,  53;  & 
Anm.  4.  —  S.  It2,  Anni.  :t;  und  dazu  S.  56,  45.    Kncb  den  Ergiüisaik0»-i 
zur  Jenaer  Literatur-Zeitung  für  die  Jahre   17^5—1^00.    4.  JahiigMg,  Bd. 
126   BoU   die  äatire  im   Plimplamphisko   sich  auch   auf  den  bekannten 
Kaufmann  beziehen.  97)  Genf  t7S0.    2  TMe.    S       9"»  In  der 

d   Bibliothek  4S.  1.  t5)f.  99)  0.  0.  17&5.  «.  100)  Vgl.  Bd.  HI 


Efliwickelungsgang  der  Literatur.    1773—1832.    Elingers  Romauc.      301 


I     det 


licLe  Fabel  von  dem  Ursprünge  des  Christenthums ,  die  gegen  den  §  315 
Schluss  des  Buchs  vorgetragen  wird  "",  bat  Klinger  später  unterdrückt. 
Der  Zeit  seiner  ersten  Abfassung  nach   (doch   nicht   in    der   neuen 
Bearbeitung)  eröffnete  diese  Geschichte  die  Reihe  summtlicher  eigent- 
lich lehrhafter  Romane  Klingere,  zu  denen  er  auf  einmal  den  Plan 
entwarf,  und  zwar  so,  dass  jeder  derselben  ein  für  sich  bestehen- 
des Ganze  ausmachte  und  sich  am  Ende  doch  alle  zu  einem  Haupt- 
eck vereinigten'***.  Sie  sollten  „des  Verfassers  aus  Erfahrunij^  und 
achdenken  entsprungene  Denkungsart   Über   die  natürlichen    uud 
erkünstelten   Verhältnisse   des  Menschen   enthalten,    dessen   ganzes 
moralisches  Dasein   umfassen   und  alle  Punkte  desselben   berühren. 
GeselUchaft,  Regierung,  Religion,  hoher  idealischer  Siuuj  die  süssen 
äume  einer  andern  Welt,  die  schimmernde  Hoflnung  auf  reineres 
ein  über  dieser  Erde  sollten  in  ihrem  Wertho  und  Unwcrthc,  in 
rer  richtigen  Anwendung  und  ihrem  Misshrauche  aus  den  aufge- 
llten Gemäblden  hervortreten."    Diese  müssten  natürlich  eben  so 
ielseitig  werden,   als   sie  sich   uns  in  der  moralischen  Welt  durch 
ren  scbnei<lenden  Contrast  auffallend  darstellen.     Daher  nun   der 
loa«  scheinbare  Widerspruch  dieser  Werke  unter  und  gegen  einan- 
er,  welcher  manchen  IjCscr  werde  irre  leiten   können,   und  darum 
erde  oft  das  folgende  Werk  niederzureissen  scheinen,  was  das  vor- 
lergehende  so  sorgfältig  aufgebaut  habe.     Beides  sei  hier  Zweck 
und   da   uns  die  moralische  Welt  in  der  Wirklichkeit  so   viele  ver- 
schiedene, oft  bis  zur  Empörung  widersprechende  Seiten  zeige,  so 
habe  eine  jede,  weil  jede  in  der  gegebenen  Lage  die  wahre  sei,  so 
und  nicht  anders  abgefasst  werden  müssen.     Hier   nun    müsse    die 
Erfahrung   und   nicht   die  Theorie  das  Urtheil  sprechen;    denn  die 
rWidersprUche  selbst  zu  vereinigen,  oder  das  Räthsol  ganz  zu  lösen, 
ehe  über  unsere  Kräfte.     Wie  es  übrigens  in  der  moralischen  Welt 
ergehen  sollte,    habe  der  Verfasser  nicht  unterlassen  anzuzeigen, 
ihrbeit  und  Muth  seien  des  Mannes  herrlichster  Werth,  und  darum 
teile  der  Verfasser  den  Menschen  in  diesen  Werken  bald  in  seiner 
länzcndsten  Erhabenheit,  seinem  idealischsten  Schwünge,  bald  wieder 
»einer  tiefsten  Erniedrigung,   seiner  flachsten  Erbärmlichkeit  auf. 
w^rdc   der  Leser  hier   den    rastlosen,    kühnen,    oft   fruchtlosen 
pf  der  Edlen  mit  den  von  dem  trugvollen  bunten  Götzen,  dem 


,101)  Sie  brachte  wohl  hauptsächlich  deu  Keccns.  in  der  allgemeinen  d.  Biblio- 

66,  I,  »0  auf  die  Vermuthung,  die Gesclüchte  vom  goldeüenHahn  möge  wohl 

Cßbereetziing:  eines  französischen  Buchs  von  irgend  einem  Affen  Voltaires 

10"2)  Wie  er  sich  in  einer  der  zweiten  Au8gal>e  seiner  Geschichte 

ihAcls  iIg  Aqnillas  angehängten  Nachricht,  die  nachher  als  Vorrede  zu  seinen 
neu  überhaupt  dem  H.  Bde.  der  sämratl.  Werke  vorgesetzt  wurde,  auseprack 


304    VLYi 


JfthAndcrt«  bb  «i  6o«(W*s  Tod. 


315  Wahne,  erzeugen  Gespenstern,  die  Venemingen  des  UenceiM  md 
des  Veretandes,  die  erhabenen  Tnlunie,  den  thierächen,  verderttm. 
den  reinen  und  hohen  Sinn,  Heldenthaten  und  Verbrechen,  Kln^he 
and  Wahnsinn ,  Gewalt  und  seufzende  Unterwerfung ,  kurz  di 
ganze  menschliche  Gesellschaft  mit  allen  ihren  Wundern  und  Tt 
heiten,  allen  ihren  Scheusslichkciten  und  VorzQ^n:  nher  aucb  dafl 
in  jedem  dieser  Werke  bemerkte  Glück  der  natttrlichen  Einfalt, 
schrfinktheit  und  Genflgsamkeit  finden.  Allein  endlich  und 
allerletzt  wflrdc  der  Verfasser  doch,  nach  vrdliger  Anerk-  n 

allgewaltigen  ewigen  Nothwendigkeit,  seine  verwickelti  i 
lungen  auf  die  Fragen,  von  welchen  er  in  der  ersten  ausg&^aaga^J 
zurückführen  müssen:  Warum?  Wozu?  Wofür?  Wohin?  Fia^n, 
auf  welche  über  dem  sonderbaren  uinl  schauder^oUeu  SchaQpl«i*_ 
des  Menschengeschlechts  ein  tiefes  Schweigen  berrBchc,  dos  nid 
beantworte,  als  unsere  innere  moralische  Kraft,  und  auch  sie  seil 
nur  durch  ihr  Wirken.  Von  den  zehu  Bomanen,  die  Klinger  ui 
seinem  „auf  einmal  entworfenen  Plane"  ausfuhren  wollte,  hat  «r 
acht  wirklich  vollständig  und  von  einem,  „das  zu  frühe  Erwaciw 
des  Genius  der  Meuschheit*^  den  Prolog  und  eine  nicht  unbedeuteali 
Zahl  von  Bruchstücken  geliefert.  Jene  erschienen  alle  »m  Lnnfc 
neunziger  Jahre"";  „Faust^s  Leben,  Thaten  und  Höllenfahrt**':  .,< 
schichte  Hajthaels  de  Aquillas""*;  „Geschichte  Giafars  de*  lUr 
ciden"*";  „Reisen  vor  der  Sündfluth'**"';  „der  Faust  der  Mor 
länder"***;  „Geschichte  eines  Deutschen  der  neuesten  Zeit'"*; 
Weltmann  und  der  Dichter**"'*  und  „Sahir,  Eva's  Erstgeborner 
Paradiese"'".  Die  leitenden  Ideen  in  den  drei  zuerst  genaoafc 
Komanen,  die  zu  ihrer  Zeit  viel  Aufsehen  machten"*,  hat  Klii 
selbst  in  der  Vorrede  zu  der  Geschichte  Giafars  angegeben.  In  nlla 
acht  hat  sie  ausführlich  uud  in  ihrer  Beziehung  auf  einander 
legen  gesucht  der  Verfasser  eines  grossen ,  „Roniauen-Lil 
Uberscbncbcnen  Artikels  in  der  Hallischeu  Litenitur-Zeilun| 
IS0.5"*.  Derselbe  stellt  daTtei  alle  diese  Romane  Klinger^  nie 
allein  ihrem  pliilosopbischen  Gehalte  nach  sehr  hoch,  sniulcni  be- 
hauptet auch,  es  hindere  nichts,  sie  als  eigentliche  Kunstwi 
gelten  zu  lassen.  In  dieser  Behauptung  möchte  ihm  n^  ■  -  vi  ei 
so  wenig  beizupflichten  sein,   als   das  gerechtfertigt 


1031  Alle*,  nebst  den  BnirhstOckcn  aas  jenoin  nnvollpmlpt  ^bUrtioDün 
hl  den  flfuumtlichim  Werken  Th    H— 10.  UM>  St   rcfcrsluir«  WM,   ». 

105)  Sl.  Pfitei-sburg  nnd   Leipzig  171*3.    h.  lOÜt   St   P«  • 

2  Thlo.   8.  n»7»  üftgtUid  (Riga)  1795.   ^.  löS)  Bftpia.i 

109»  Loipeig  n'.is.   8.  110)  Leipzig  1799.   S.  I  U>  liiii 

n»S.   8,  112)  Vgl   nricfwecbacl  zwisohen  Schiller  unil  HumholiU 

113»  i.  !*^  ff 


rickehingsgAng  der  Literatur.    1773— 1S32-    KlingerB  Romane.       303 

gegen    eine   Bemerkung   Jeau   Pauls""   vorbringt,    die    daliin  §  315 
Dtele:  iu  Klingci-  habe  sicli  die  dichtende  und  die  bürgerlicbe  Welt 

lange  bekämpft,  bis  endlich  diese  siegend  Überwog.  Vielmehr 
■J  Jean  Paul  gewiss  sowohl  damit,  wie  mit  dem  Znsatz  dazu"* 
bt  aliein  gegen  jenen  Kecensenten,  sondern  auch  gegen  den 
iluss  der  oben***  mitgetbcilten  Stelle  aus  „dem  Weltmann  und 
D  Dichter*^  Recht  behalten,  dass  nämlich  Klingers  Poesien  den 
riespalt  zwischen  Wirklichkeit    und  Ideal,   anstatt   zu   versöhnen, 

erweitern,  und  dass  Jeder  Roman  desselben,  wie  ein  Dorfgeigen- 
tek,  die  Dissouanzeu  in  eine  schreiende  letzte  auflöse,  wenn  auch 
weilen  (in  Oiafar  und  andern)  den  gut  motivierten  Krieg  zwischen 
Dck  und  Werth  der  matte  kurze  Friede  der  Iloffuung  oder  ein 
Igeu-Seufzer  schliesse;  dass  aber  ein  durch  seine  Werke  wie  durch 
a  Leben  gezogenes  Urgebirjrc  seltener  Mannhaftigkeit  für  den 
geblichen  Wunsi^h  eines  frohern  farbigen  Spiels  entacbädige*'*. 
In  den  Romanen  Jacobi's  wie  Klinger»  herrscht  noch  immer  viel  zu 
ir  die  alte  pragmatisch-lehrhafte  Richtung  vor,  als  dass  dieselben  für 
ne  Gebilde  einer  frei  schaffenden  poetischen  Kunst  gelten  konnten. 
Mön  80  wenig  wirtl  man  diese  Bezeichnung  für  einige  andere,  v(m  vor- 
^Bweise  bnmoristisehom  Charakter  ansprechen  dUrfen^  für  den  Roman, 
tt  v.  lÜpj)el  auf  seinen  ersten  und  bessern  folgen  Hess,  die  j,Krcuz- 
d  QuerzUgc  den  Ritters  A  bis  Z'',  so  wie  für  die  hierher  fallenden 
rfiuduugen  Jean  Pauls.  Schon  in  jenem  ersten  Romane  Hippels 
den  Lebensläufen  nach  aufsteigender  Linie"'",  sind  nur  einzelne  Par- 


lU)  Sp.  1S2  f.  1151  In  der  Vorschule  der  Acsthetik.  llÜt  In 

Ott"  2.  Ansgabc  dor  Vorschule  der  Acsthetik:  sammtl.  Werke  il,  lüü.  1 17) 

v.t.  Aam.  17.  HS)  V);l.  dazu  L.  F.  Huberts  Kecension  Aber  deu  Fanst  in 

4*rJfloacr  Lit -Zeitung  I7ii>.  5.  3iyff.  (veriuiHiOue  Schriften  2,  nü.).  —  Unter 
^ SchrifUtclIern  der  neuesten  /dt  hat,  so  ^iel  mir  bekannt  geworden,  keiner 
Klngfri  Roman<^a  mehr  Uühuiliches  nachgesagt  als  Schlosser  in  BeincrUe&cbicbte 
^  1^.  Jalirh.  l,  I7ö;  7,  1 .  25  fl".;  Dl  ff.  Doch  auch  er  äotzt  Klingers  eigcnt- 
wb»  Verdienst  nur  in  das  eines  „h.'hrenden  Erzählers",  der  den  Inhalt  seiner 
"*ke  ans  dorn  reichen  Schatze  der  mannigfalligslen  Wfltcrfahrungen ,  aus  um- 
»Mettier  Mcnschenkenntniss  und  aus  gründlichen  Studiru  geschöpft  hatte,  nnd 
^^  »OD  dem  eigentlich  dichterischen  Wertli  seiner  Werke  so  gut  wie  ganz  ah. 
l"ingw  seihst  war,  wenigstens  in  soinen  reifen  Jahren,  der  Ueherzengung ,  dass 
•^ti' Po(>Me  in  echter  Moralitat  aufgehen  rnüäste.  das»  sie  von  dieser  gar  nicht 
l^^imt  gv'dijcht  werden  könnte,  und  dass  die  hoho  moralische  Kraft  allein,  wie 
**!  Helden,  so  auch  dpn  Dichter  mache.  Daher  stand  ihm  auch  immer  Klopstock 
**>  t)»cbter  »0  hoch.  Vgl.  besonders  seine  „Hntrachtungen  und  Gedanken  Über 
■ttwhiedeue  GegejistÄnde  der  Welt  und  der  Literatur*,  N.  151  »ind  dann  N.  24: 
10  m'v  W*.rke  k.  lü;  %  11.  119»  Was  oben  S.  170  ff.  zur  allgenxtaea 

?i)  '  :  der  humö  riß  tischen  Romane  der  siebziger  und    nchtjrigw  3thrt 

ft   .  .ilt  auch  insbeBondere  von  dem  besten  darunter,  von  dtm  „Lebcns- 

a  o&cb  aufsteigender  Linie"  (vgl.  S.  171,  «).    Wenn  die  CJewhichtc  tein  tM 


304    VI.  Vom  «weiten  Viertel  des  XVUl  JahrhundertB  bis  zu  Qoelbe's  Tod. 


315  tieu  von  lebensvoller  Gestaltung  und  von  dem  Geist  echter  Dichtu: 
beseelt^  das  Ucbrige  lund  dessen  ist  sebr  viel)  ißt  zum  allerg:rüi«ti 
Theil  von  einem  Inbalt,  der  nicbta  weniger  als  poetiscb  if?t,  und 
eine  Form  gefasst,  die  sieb  Über  alle,  selbst  die  eiufacbsten  Reg) 
kttnstlcriscber  Comjiosition  wegzusetzen  seheint.  Da  Hipjiel  in 
vertrauten  Umgaug  mit  Kant  und  durch  Collegienhefte  von  dewo 
Zuböreru  mit  dem  philosophischen  System  seines  Freundes  «to 
nfiher  bekannt  geworden  war,  als  dieser  noch  keins  der  gro«eo 
Hauptwerke,  worin  dasselbe  ausgeführt  ist,  herausgegeben  hatte,  ilH 
benutzte  er  diesen  geistigen  Erwerb  schon  für  sein  Buch  ,.Qber  dwH 
Ehe"  (1774)  und  sodann  auch  im  ausgodehntestcn  Masse  für  die 
,, Lebensläufe'*,  so  dass  in  diesen  beiden  Werken  manche  SteÜen 
buehstäblich  mit  denen  (tbei'cinkommen,  die  in  Kants  auf  die  Kritik 
der  reinen  Vernunft  folgenden  Schriften  stehen.  Bei  der  üngc^vHi»* 
heit,  in  der  man  sich  Überall  in  Deutschland  und  selbst  in  Küui 
berg  über  den  waliren  Verfasser  des  Buchs  über  die  Ehe  und 
Lebensläufe  befand'",  war  es  daher  nicht  zu  verwundern,  wenn 
Kant  selbst  entweder  dafürhielt,  oder  ihm  wenigstens  einen  w 
liehen  Antheil  bei  der  Abfassung  beider  Bücher  zuschrieb'*'.  A 
in  dem  zweiten  Romane,  den  „Kreuz-  und  QucrzUgcn  dea  Ritt 
A  bis  Z"'",  worin  die  Schilderung  des  Treibens  der  geheimen  Gfr 
Seilschaften  oder  der  Orden  in  der  damaligen  Zeit  den  ^aupti>^ 
standtheil  bildet,  ist  manches,  naracntlich  in  der  Zeichnung  cinwl 
Charaktere,  voi-trefdich  ausgefühil  und  alles  geistreich  gedacht,  a 
fast  noch  formloser  zusammengestellt  als  die  Geschichte  iu  d 
Lebensläufen,  auch  nicht  minder  mit  Raisonnement,  Declamationeo 
Predigten,  Betrachtungen  und  Anspielungen  überladen,  so  wie 


I 


Uipixil  imOauzeu  ersouneu  war,  so  hatte  er  die  darin  auftretenden  PenoDM 
Eum  grössteii  Theil  der  unmittelbnren  WirlcUchkeit,  nnd  zwnr  dem  Kreiae 
nächsten  Verwandten  oder  ihm  amlerweitig  genau  bekannter  >ren8chca  CDtO< 
und  Iu  vielen  Zügen,  so  zu  sagen,  nucli  dem  Leben  portmitieri;  eben  h  bat 
vieles  aug  seinen  eiurnea  Krlobnissen  und  aus  dem  Lehen  Anderer,  n&aif 
•einer  Eltern,  ilaiiu  erzählend  verarbeitet  (vgl.  Hip[>eU  Selbstbiographie  qdA 
Noten  dazu  im  letzten  Theil  seiner  dammtlichcn  Werke,  UerUnlS27-W.  12Bdt 
120)  Vgl.  IJd.  III.  I*J«  und  dazu  namanns  Schriften  5.  292;  «.  66  f.;  ' 
195;  Fr.  11.  Jacohi's  Werke  4,  3.  TT:  Briefwechael  Schillers  mit  Körner  Z  tfi, 
Scheffner  statt  Scheffler  zu  lesen  ist.  I2h  Es  erschienen  in 

BUittern  Aufforderungen.  das&  sich  ihr  Verf.  nennen  mOcbte.    £r«t  nach  Ot| 
Tode  wurde  die  Sache  ins  Reine  gebracht  durch  eine  ächrlfc  „Ceber  daa  AdI 
Schicksal  des  VeH'adsors  des  Buchs  über  die  Ehe,  der  Lebetisükuf^-'*  etc.    fi< 
berg  171)7,   s.  von  Borowaki.  einem  dt.T  vertrautesten  Freuude  Hipiwrls,  and 
eine  Erkhining  Kant*  im  Tuldlii^nz-Blatt  der  Jenaer  Literatur-Zeitung 
N.  9  (Tgl.  dazu  die  Literatiu--Zeitung  von  IT^v    I.UTf  ».         J22)  Sie 
tu  B«rUii  1193.  94.    2  Bde.   9. 


EutwickeluD^sgAiig  der  Literatur.     1773— tb32.    Hip{)cl.    Jeiui  Paul       305 

llerlei  Abschweifunjren  UTiterbrochen***.   Anderer  Art  sind  die  Mängel  §  315 
in  Jean  Fanls  Itierlior  gehörigen  Schriften.    Jean  Paul'-",  oder  wie 
sio  vollständiger  Name  war,  Johann  PanI  Friedrich  Richtei"  wurde 
iboren  den   21.  Milrz    1763  zu   Wunaiedel  im    Ficbtelgebirgc,   wo 
!in  Vater  Tertius  an  der  Schule  und  Organist  war.     Da   derselbe 
schon  zwei  Jahre  darauf  das  Pfarramt   zu  Joditz,   einem  Dorfe  bei 
Hof  erhielt,  so  rllhrte  der  Einflugs,  den  auf  das  Geniüth  des  Knaben 
die  eigenthüraliche  Natur  der  Umgebungen  seiner  Geburtsstadt  hatte, 
weniger  unmittelbar  rnn  dersell)en  als  von  der  Vorstellung  her,  die 
davon,    in    der  Einsamkeit  seines  Dorflcbens  durch  seine  Phantasie 
anagebildet,  in  seiner  Seele  fortlebte.     Diese  Jahre  seiner  Kindheit 
|lind  seines  Knabenalters  lagen   ihm  in  gros.ster  Klarheit  8i>Htcr  be- 
itÄndig  vor  der  Seele;  er  sehnte  sich   in  sie  sein  Lebelang  zurück, 
ichte  immer  die  Wirklichkeit  dieser  Zeiten  und  die  in  denselben 
gehnlitcn  Ooftihle  und  Bilder  sich  gegenwi'irtig   zu  erhalten   und   in 
der  Erinnerung  neu  zu  durchleben,  ja  er  konnte  nicht  müde  werden, 
h  seinen  Werken  unter  den  verschiedensten  Einkleidungen  stets  auf 
[ibfc  Schilderung  zurückzukommen,    wie  ihm  denn  auch   als  Dichter 
tticbts  besser  gelungen  ist  als  derartige  Gemühide.     Auf  das    väter- 
liche Haus    beschränkt   und  nach   einem  kurzen   Besuch   der  Dorf- 
whule  auch    von  der  Theilnahme   an   einem   öffentlichen  Unterricht 
I ausgeschlossen,    bekam  er,  wie  er  selbst   crzfiblt  hat,   „von   da  an 
'oe  eigene  Vomeigung  zum  Häuslichen,  zum  Stillleben,  zum  geistigen 
'^«fmachen".     Der  Thätigkeitstrieb  des  Knaben   konnte   sich    vor- 
^climlieh  nur  in  geistigen  Spielen  äussern,    die   er  mit  unsäglicher 
*"ftide  trieb.     Früh  jedoch  tieng  er   auch  schon  au  sein  Inneres  zu 
I^bacliten   und   sict>  mit   seinen  Scelenzustündeu    zu  beachflftigcn. 
^"errichtet  wnrde   er  mit  seinen  Brüdern  von  dem  Vater   selbst; 
*^t  auch   im  Lernen   blieb  er  mehr  auf  sich  selbst  gewiesen.     So   . 
er  indess  war,    und  so  eifrig  er  sich  mit  dem  Inhalt  jedes 


123»  Von  den  Offentliclien  Bcurtheilungon ,    die   bald   nach   der  Ausgabe  des 

erschienen,   gicngen  die  bHdeu  mir  bekannten,   in  der  Jenaer  Litcratur- 

ig  (l7iH.    4,  50«  ff.)  und  in  der  n.  allgemeinen  d.  Bibliothek  t2H.  ?.  519  ff.», 

im  Lob  noeb  im  Tadel  zu  weit.  12t  (  Kr  hatte  seine  Selbstbiographie 

20  Jahre  vor  seinem  Tode  eutworien,   und   7  Jahre  vor  demselben  fleug 

:Ut'b    ftn  sie  auszuarbeiten,   kam   aber   nidit  Aber  die  Schilderung  seiner 

ixeit  hinnus.     Diese  bildet  das  erste  Heft  von  Chr   Otto'a  (durch  E.  Förster 

>  Werk  ..Wahrheit  aus  Jean  I'ttiils  Lebeu'%  Hreslau  lS2ti— 3n.    s  fleft- 

^     Dazu  Tgl.  „Jean  Paul  Friedr.  Riclitf-r.     Kin   biographischer  Commeotar 

*n   Werken  vou   Itirh   0.  Sprizier.  Neffen  Jes  I'ichters".    Leipzig  l^3:l. 

i.    (neue,   anveriinderto  Ausgabe  als  (i|.-i».'>.  Bd.   vou  J.  Pauls  sämml- 

Werken     IkrUn  l^^'t.    "^  ;  H.  Döring,  J.  !'.  Fr.  Richters  Lcbeu  und  Cha- 

ik.    2  Bde.    Leipzii?  1^30.  :V2.   s,;  E.  Förster,  Denkwftrdigkeitcn  aus  drm 

Ton  J.  P.  Fr.  Richter.     *  fide.    München  1  ?".'».   «. 


wmm 


306    Yi.  Vom  zweiten  Vierte]  des  XVIU  JftbvLuDÜerts  bis  tu  GocUt«*s  To«l 

315  Buchs  bekannt  zu  machon  suchte,  dessen  er  habhaft  werden  koni 
80  waren   seine   Kenntnisse  und  Fertigkeiten ,    als  er   zwOlf  Jal 
lählte,    für   dieses  Alter   doch  noch   immer  sehr  mangelhaft.     I 
wurde  sein  Vater  als  erster  Pfarrer  nach  dem  Marktflecken  Schwai 
bach    an  der  Saale   versetzt.    Mit  dieser  Verbesserung  der  äuf 
Lage  der  Eltern  gieng  fllr  den  Sohn  der  Wunsch  in  Erfüllung, 
öffentliche  Schule  besuchen  zu  können;   allein  bald  sah   er  sieb 
den  Hoffnungen,  die  er  auf  sie  gesetzt  hatte,  getilusoht:  der  Uni 
rieht  gentigte  seiner  Wissbegierde  nur   kurze  Zeit,    und    einen  il 
gleich  vorwärts  strebenden  Jugendfreund,    nach   dem   er  sich  scb( 
lange  gesehnt  hatte,  fand  er  unter  seinen  Schulgenf^sseu  auch  m 
Was  ihn  den  Mangel  an  geistiger  Anregung  und  au  Bildungsroim 
noch  schmerzlicher  empfinden  Hess,   war  die  Schwierigkeil,   Bl 
zu   erlangen.     Besonders  suchte   der  besorgte  Vater  allea  VOD  i\ 
entfernt  zu  halten,   was  damals  in  jenen  Gegenden   von  deutscl 
Romaneu  und  andern  dichterischen  Erfindungen  der  Neuzeit  gangl 
war  und  gelesen  wurde:. und  doch  war  in  dem  Knaben  schon  das  V 
langen  nach  RomancnlectUre  sehr  stark  geworden,  Tornehmlich  »eitdi 
er  den  alten  Robinson  Crusoe-  kennen  gelernt  hatte.    Er  suchte  «i< 
indess  von  Büchern  zu  verschaffen,  soviel  ihm  nur  immer  erreichba 
war.    Es  traf  sich  für  ihn  glücklich  genug,  dass  ihm  endlich,  nw»! 
bevor  er   das  väterliche  Haus  verliess,   eine  aosgewilhlte  Bücbei 
Sammlung,    die    ein    in   der  Nähe  von  Schwarzenbach    angestellt 
Prediger  besass,   theilweise  zur  Benutzung  geöffnet   wurde.     Er  li 
nun  alles,  fertigte  von  allem  Auszüge  an  und  legte  damit  deu  Gri 
zu  der  eigeutliümlicheo  Art,  wie  er  sein  ganzes  übriges  Lclwn  liii 
durch  seine  sich   über  alle  Literaturfächer  au34phnende  Le^'tUr« 
trieb  und  die  Früchte  derselben  in   eigenen  ExcerpteubUchcm  i\ 
dereinstigen  Gebrauch  bei  seinen  eigenen  schriftstellerischen  Arbcil 
zusammentrug'**.    Auf  diese  Weise  hatte  sich  der  junge  Richter 
seiner  ausserordentlichen   geistigen  Begabung  schon  einen  fttr  «eil 
Alter  iingewühnlichen  Schatz  von  Kenntnissen  erworben,   als  er 
Ostern  1779  auf  das  Gymnasium  zu  Hof  kam.     Hier   fand   er  zw 
Freunde,  doch  auch  wieder  so  wenig  einen  Unterricht,    wie  er  il( 
Bedürfnissen   des    strebsamen  Jünglings  entsprach,    dass  er  sich 
Betreff  seiner  wissenschaftlichen    Fortbildung  weit   mehr  auf 
wieder  aufgenommeneu  Selbststudien,  als  auf  das  verliess,  was  er  t' 


125l  Vgl  aber  die  Exc«rptPAhefle  aus  seinem  f&nfzehntcn  Jahre   u 
Ton  Spfljtier  I,  loo  ff,;  dazu  über  die  Art,  wie  er  seine  Studienhcflo  und 
bfichcr  zu   seinen   spütora  grossen   darstellenden   Werken   cturiclitete, 
:»,  l&T  ff.    Spazier  berichtet  uns  auch,  dass  Jcau  Paul  in  seiner  Jugend  Cait  lU^^ 
BOKcnaunten  llealkenntnisse  nur  aus  der  allgemeinen  deut£cheu  BibUutbek  ithO^fu^-- 


Xatvickelangsgang  der  Literatur.     t7T3— |S32.    Je&n  PaiU. 


3(t7 


Lobrem  lernen  konnte.    Besontlers  verleii!eten  ihm  tliese  die  §  315 
Classiker  und  die  Gescbichte;    an   einigen   unter   den  erstem, 
namentlich  an  Cicero  und  Scneca,   lieng  er  erst  auf  der  Uuiveraitftt 
an  Geschmack  zu  finden^  gegen  die  Geschichte  behielt  er  lange  ge- 
radezu einen  Widerwillen  und   gewann  ihr  eigentlich  nie  ein  recht 
lebendiges  Interesse  ab.     Er  war  erst  einige  Wochen  in  Uof,  als  er 
plöttlich  «einen  Vater  verlor.    Dieser  Schlag  war   für  die  Familie 
um    so  hrirter,  als   er  binnen  Kurzem   ihre   vt'dlige  Verarmung  zur 
'olge  hatte.     Unser  Richter  war  der  älteste  Sohn  des  Verstorbenen ; 
»n  ihm  konnte  die  Mutter  mit  ihren  jungem  Kindern  zuerst  Unter- 
:Utetiüg  envarten,    wenn  er,    wie  der  Vater  es  gewollt,    sich  der 
'heologie  widmete.     Aber   woher  die   Mittel   dazu   nehmen?     Fürs 
ite  schützten  zwar  noch  die  Eltern  der  Mutter,  die  in  Hof  ansässig 
tren,  diese  mit  den  Ihrigen  vor  dem  bittersten  Mangel,  aber  auch 
[e  starben   bald   hinter  einander.     Ein  Process    mit   Übelwollenden 
Verwandten  verhinderte  die  Benutzung  des  ererbten  Vermögens  und 
minderte  dasselbe  so  sehr^  das»  zuletzt  Hir  die  richtersebe  Familie 
nichts  llbrig  blieb.   Zu  diesem  Aeussersten  war  es  indess  noch  nicht 
gekommen,    so   lange   der  älteste  8obu    das  Gymnasium   besuchte. 
Scbnu  damals  regte  sich  in  ihm  der  Trieb  zum  geistigen  Producieren, 
indem   er  sich   in  Aufsiltzen   und  Abhandlungen    von    religirtH-philn- 
«opbißchero,  sentimentalischem  und  verschiedenartig  didaktischem  In- 
halt versuchte,  oder  bloss  aphoristische  Bemerkungen  niederschrieb'", 
ssondern    Einfluss  scheinen   bereits  um   diese  Zeit  Hippels  Werke 
Ld   namentlich  die  T^I^ebensläufe"  auf  ihn   gehabt  zu    haben,    die 
lachber  so  entschieden  auf  die  Richtung,  die  seine  scbi-iftetellerischo 
biltigkeit    nahm,    einwirkten.      Vtm    andern    unserer    bedeutenden 
Schriftsteller  ans  den   sechziger  und  siebziger  Jahren  scheinen  ihm 
wenige  näher  bekannt  geworden  zu  sein.    Im  Frühjahr   t7Sl  bezog 
er  die  Universität  Leipzig,    um  Theologie  zu   studieren.    Ohne  alle 
ipfehlungen  und  mit  keinem  Schulfreunde  zusammentreffend,  fand 
|cr  dich  in  Leipzig  bald  einsamer  und  verlassener  als  jemals;  bald 
purde  er  auch  von  den  bittersten  Nahrungssorgen  bedrängt,  da  sich 
plia  keine  Aussicht  erütTncte,  sich,  wie  er  gehofft  hatte,  seineu  Lebens- 
l^nitrhalt    durch   Privatunterricht   zu   erwerben.     Indcss  vorzagte  er 
i^fiieLt  m  bald  und  begann  seine  Studien,  indem  er  einige  theologische 
^rle^ungen   besuchte   und   daneben   andere  tJber  Philosophie  und 
Uthematik  hörte.    Wieder  fand  er  nicht»  wornach  ihn  so  sehr  ver- 
ipte,   geistreichen  Unterricht;    und   da  es  ihm  auch  an  dem  üm- 
lu^  mit  geistvollen  Freunden  fehlte,    so  wandte  er  sich  aufs  neue 
td  eifriger  als  je  zu  den  ßildungsmilteln,  an  die  er  sich  zeitber 


126»  Spwier  1.  VMi  ff 


2a* 


308    ^^.  Vum  zweiten  Viortcl  des  XVIII  Jalirhunderta  bi»  zu  Goethe'«  Tod. 


§315  vorzugrsweise  §;elialtcn   hatte.    Er  warf  sich   nun  zunSchRt  auf  dt 
Studium  französischer   uud  eugliachcr  »Schriftsteller:    voraUg-lich 
Bchäftigten  ihn  die  Werke  Rousseau's,   die  auf  seine  ganze  Denkart 
einen  grossen  EinHuss  ausübten;  demnächst  die  eugliscben  Satiril 
und  Humoristen.     Diess  hatte   zui'  Folge,    dass   er  sich  in    seiw 
ArbeitBhUchem  immer  mehr  von  philosophischen  Denkübungen 
wandte  uud  sich  zur  Abfassung  von  Schriften  im  Fach  der  schönt 
Literatur  vorbereitete.    Unterdessen   waid  seine  äussere  Lage  v^ 
Tage  zu  Tage  drückender;   im  Herbst  17S1    war  die   TöUige  V< 
armuug  seiner  Mutter  entschieden;  er  gerieth  in  die  Äusserst«  N( 
und  es  dauerte  von  nun  an  beinahe  zehn  Jahre,  bis  er  etwas  soi 
freier  in    die  Zukunft   schauen   konnte.     Der  Entscbluss    war   u 
nicht  mehr  fremd,  die  theologische  Laufliahu  aufzugeben   und  tth 
baupt  auf  jede  amtliche  Wirksamkeit  zu  verzicbteu;   er   trat  il 
näher ;    als    er  den  Versuch   machte,    sich  und  seiner  Mutter  d\ 
Schriftstellerei  etwas  zu  verdienen.   Nachdem  er  einen  Anlauf  dazu 
einem    Lob   der    Dummheit   genommen ,    worauf  ihn    des    Krasmi 
encomium  raoriae  gebracht  hatte,    und   wobei  er  sich  die  Scbreil 
des  Seneca  zum  Muster  nahm,  dauerte  es  noch  ein  gauzes  Jahr,  bif^ 
er   mit   seinem    ersten ,   aus  rcrschicdenen    satirischen   Skizzen 
stehenden  Werkeben,  den  ,, grönländischen  Processen^S  auftrat  il7S3) 
Das  Honorar,    das  er  für  den  ersten  Theil  erhielt,    entschied  selnd] 
Zukunft:   er  gab  die  Theologie  nun  wirklich   auf  und  wollte  fortaa 
nur  von  Schriftstellcrei  leben.     Allein   die   Aufnahme   des   znrciM 
Theils  der  Processe   war  nicht  geeignet,   ihm  Hoffnung  auf  feroertj 
gute  Ei-folge  seiner  schriftstellerischen  Thutigkeit  zu  machen:  die« 
Satiren  blieben    so   gut    wie   unbeachtet  oder  wurden   von  der  dv 
maligen  Kritik  sehr  wegwerfend  behandelt.    Gleichwohl   gab  er  e* 
nicht  auf,   an  einer  Fortsetzung  derselben  zu  arbeiten;    allein  all« 
seiner  Bemühungen  ungeachtet  fand  er  dazu  keinen  Verleger  mehr* 
Er  befand  sich  aufs  neue  in  der  grössten  Kotb,    musste  die  lettW 
Hoffnung,  sich  langer  in  Leipzig  zu  halten,  aufgehen,  verlie«s  di«» 
Stadt,    um    nicht    von  seinen  Gläubigern  festgenommen  zu  wcrdeöi 
heimlich    im  Spätherbst  I7S4   und  eilte  nach  Hof  zu  «einer  Mut 
zurück,    wo   ihn  gleiche  Noth   erwartete.    Bei  seinem   Entschh 
sieb  uur  als  Schriftsteller  auszubilden  und  von  seiner  Feder  zu  lel 
beharrend,    beschäftigte  er  sich    in  der  ersten  Zeit  mit  Ueber- 
Durcharbeitnng   seiner  neuen  satirischen  Aufsätze  und  wandte  «icl 
wie  er  schon  frUber  getban,  an  berühmte  und  eiuflussreiche  Mäoui 
uanientlich  an  Herder,  zu  dem  er  vor  allen  andern  Vertrauen  gel 
liatte,  um  durch  ihre  Vcrmittelung  einen  Verleger  zu  gewinnen;  a1 
wieder  ohne  den   gewünschten  Erfolg.     El>en  so  wenig  gelang  «• 
ihm,  bei  Wieland  die  Aufnahme  einiger  Aufsätze  in  den  dentsebea 


EutwickeluoifsgaDg  der  Literatur.     1113—1832.    Jena  FanJ. 


309 


terkur  zu  erwirken.  Seine  Lage  war  iini  so  troBtl^iser,  da  er  auch  §  315 
n  Hof  seines  angeblichen  Atheismus,  seiner  auffallenden  äussern 
incheiQung  und  seines  g;anzen  Lebens  und  Treibens  wegen  fast  all- 
l^etnein  geuiieden,  ja  angefeindet  wurde,  und  da  ein  Schul-  und 
Jniversitätsfreund,  der  Sohn  begüterter  Eltern,  ungeachtet  des  besten 
rtTillens,  ihm  nur  geringe  Unterstützung  konnte  zukommen  lassen, 
ländlich  jedoch  wirkte  derselbe  es  bei  seinem  Vater  aus,  dass  Richter 
ron  ihm  zu  Anfang  des  Jahres  1787  als  Lehrer  seiner  jungem 
^der  nach  Töpen,  einem  einige  Stunden  von  Hof  gelegenen  Dorfe, 
wrafen  ward.  Allein  die  Lage  in  dem  elterlichen  Hause  des  Freundes 
irurde  für  ihn  bald  so  drückend,  dass  sie  die  volle  Entwickelung 
tiner  in  ihm  schon  früher  keimenden  Hypochondrie  zur  Folge  hatte. 
Cr  arbeitete  daher  wenig  oder  gar  nicht  mehr  an  seinen  neuen, 
«bcm  in  Leipzig  begonnenen  Satiren  fort,  obgleich  sich  ihm  jetzt  die 
lusBicbt  auf  den  Druck  derselben  bot.  Und  wirklich  kaufte  ihm 
tuch  ein  Bachhändler  die  Handschrift  für  ein  freilich  sehr  geringes 
loDorar  ab,  Hess  sie  aber  dann  noch  zwei  Jahre  liegen,  bevor  sie 
inter  dem  Titel  „Auswahl  aus  des  Teufels  Papieren"  erschien  (1789). 
Nachdem  es  ihm  unterdessen  auch  geglückt  war,  einem  sehr  frei- 
Innigen  Batirischen,  gegen  das  damalige  FUrstenwesen  und  die  ge- 
wöhnliche Regierungsweise  jener  Zeit  gerichteten  Aufsatz  in  das  von 
Enbolz  herausgegebene  ,  Journal  für  Länder-  und  Völkerkunde*' 
hme  zu  verschaffen  (1788),  arbeitete  er  noch  einige  Aufsätze 
n  Inhalts  aus,  die  er  wieder  au  Herder  sandte.  Statt  in  seine 
l&nde,  der  damals  in  Italien  war,  gelangten  sie  in  die  seiner  Gattin 
And  erwarben  Richtern  sofort  die  Zuneigung  dieser  ausgezeichneten 
Frau  und  deren  warme  Theilnabme  an  seinem  Schicksal.  Dagegen 
Lieb  das  Publicum  nach  dem  endlichen  Erscheinen  der  „Auswahl 
des  Teufels  Papieren*'  gegen  dieselben  eben  sogleichgültig,  wie 
lieh  gegen  die  ,,gi'ünländi8chen  Processe"  gezeigt  hatte"".  Unter- 
war der  Aufenthalt  in  Töpen  Richtern  nach  und  nach  so  ver- 
idet  worden,  dass  er  im  Herbst  1789  seine  Hauslehrerstelle  auf- 
ib  und  zu  seiner  Mutter  nach  Hof  zurückkehrte,  wo  er  jetzt,  weil 
«ein  Aeusseres  änderte  und  sich  in  die  gesellschaftlichen  Formen 
schicken  lernte,  wenigstens  in  eine  günstigere  Stellung  zu  der 
dbnerschaft  überhaupt  und  bald  auch  in  nähere  Verbindung  mit 
■Äebrern  Familien  kam.  Er  blieb  jedoch  nur  den  Winter  Über  in 
lof;  im  Frühjahr  1790  übernahm  er  aufs  neue  ein  Lehramt  in 
iliwarzenhach ,  iudem  er  die  Kiudcr  dreier  Familien  zu  einer 
riratschule  vereinigte.    Hier  gestalteten  sich  seine  Verhältnisse  um 


127)  Die  ersten  wdoo  Bp&ter,  aber  nur  zum  Theil,  von  iiun  Überarbeitet 
ia  die  »^PaUngencsien**.  1796,  aufgenommen. 


mm 


310    VI.  Vom  it weite«  Viertel  des  XVUI  Jahrhunderts  bis  xu  Ooeihe'a  Tod. 

%  'S\h  vieles   l»088cr  als  in  Töpeu;  er  kam  jetzt   zuerst  in  einen  ununt« 
brochenen  geselligen  Verkehr   mit   niehrcrn  wissenschaftlich  gel 
defen,    ihm    wohlwollenden  Männern    und   scbloss   im  Sommer  d< 
J.  1700  den  Seclenbund  mit  aeiuem   ihm  scbon  von  der  ScLule  m 
Universität  her  l)ekannten  Christian  Otto  in  Hof.  Mit  imi  so  prösserof 
Freudigkeit  unterzog  er  sich  beinahe  drei  Jahre  lang  dorn  Unterric|^l 
seiner  ZOglinge.    Seine  schon  früher  gefasste  Absiebt,    einen    päd^B 
gogißcben  Roman  zu  acbreibcu,   wurde  bald  zum  festen  Enlscblus«. 
Zuvor  aber  arbeitete  er  noch  einige  kleinere  Sachen  aus,  satiriscl 
und  komische  Charakterbilder  in  ErzÄhlungsform,  worunter  die  Idyl 
„Leben  des  vergnügten  Schulrocisterlein  Maria  Wuz  in  Auenth&I" 
ihm  am  meisten  gelang  und  ihn  am  unmittelbarsten  zu  seinen  gr^ 
darstellenden  Werken  hinübcrfilhrte'".     Denn  gleich  nach  der  Vol 
endung  des  ,,Wmz^*   begann  er  seinen  ersten  Hoinnn,  „die  unnel 
bare  Loge'S  bei  dessen  Ausarbeitung  er  indess  bald  seine 
liebe  Absicht,    eine  Er/Jehuugslebrc  in   dichterischem   Gev^ 
liefern,   fast  ganz  aus  den  Augen  verlor.     Er  fahrte  ihn  im  Verlauf 
eines  Jahres  bis  zum   Ende   des  zweiten   Theils'*^  und  sandte  il 
1702  an  K.  Ph.  Moritz  nach  Berlin,  mit  der  Bitte,  ihm  einen  Vi 
leger  dazu  zu  verschaffen.    Diese  Bitte  gieng  in  Erfüllung,  und  das 
Honorar,  welches  dem  Dichter  für  sein  Werk  geboten  wurde,  eröfifw 
ihm  endlich  die  Aussicht  auf  ein  sorgenfreieres  Leben   und  auf  Al 
erkennung  im  Publicum.    ,,Die  unsichtbare  Loge-    Eine  Biograpl 
von  Jean  Paul''   erschien   im  folgenden  Jahre*".    Mit  freierem 
mtlth   und  mit   der  besten  Hoffnung  des  Gelingens  legte  er  boi 
im  Flerbnt  1792  Hund  an  einen  neuen  Roman  und  führte  ihn  bis  nr 
Mitto  des  Jahres  1704  zu  Ende:  „Hesperus,  o<ler  45  HundspoMtage. 
Eine   Biographie**'"      Mit   dem    „Hespems"   begründete  Jean  Paul 
eigentlich   erst  seinen  schriftstellerischeu   Ruhm :    ,,die    unsichtbare 
Loge''   hatte   ihm    bloss  eine  kleine  Gemeinde   von   Verehrern  ge- 
wonnen ^   der  Hespems  vergrössertc  sie  gleich  aiisserordentlieh  uad 
ganz  vorzüglich  in  der  Frauenwelt.   Wahrend  der  Ausarbeitung  de»- 
selben  fosste  or  auch  schon  den  Entsehluss,    die  „der  unsichtbara^ 
Loge*'  zu  Grunde  liegende  Idee  aufs  neue  aufzunehmen  und  zu  ihi 
höhern,    reichern    und    lebensvollem   Ausbildung  in   einem   Werl 
welches  sein  Hauptroman  werden  sollte,  alles  allmfthlig  zu  aamn< 
und  vorzubereiten,  was  ihm  äussere  und  innere  Erfahrungen,  Wi 


12S)  Aas  dem  ScMuss  dea  J.  17^0  und  dem  Anfang  des  folgenden; 
als  AnhiLog  znr  ..unsicbtltarcn  Loge''  nu3.  120)  Vgl.   seine  siE 

Werke  l.  S.  XXXI  130)  An  die  Ausarbeitung  de^  noch  fehlenden 

ist  Jean  Paul  nie  gegangen.  131)  Berliu  1793.    2  Thle.   S.  132) 

1795.     4  Heftlcin.   8. 


Kntvickelungagfttig  der  Literatur.     1773—1^32.    Jean  Paul. 


311 


iiRS  und  Rtuilitim  zuftlhron  würden,  unterdessen  aber  sein  Dar-  §  315 
igstalenl  au  woni^^er  umfassenden  Vorwürfen  zu  Üben.  So  ent- 
den^  nachdem  .Ican  Paul  ini  Frühjahr  1794  sein  Lehrerverhältnias 
Schwarzenbach  aufgegeben   hatte  und  wieder  in  Hof  lebte,    von 
Zeit   zu  Zeit   aber   auch    in   Baireuth    bei   einem   neu   gewonnenen 

fcunde  verweilte,  das  „Leben  dos  Quintus  Fixlein'"",  eine  dem 
„  uz**  Ähnliehe  idyllische  Darstellung,  der  mehrere  kleinere  Sachen, 
theiU  sentimentalen  theila  humoristischen  Inhalts,  beigesellt  waren, 
die  „biographischen  Belustigungen  unter  der  fTehirnschale  einer 
iesin*"*'  und  die  „Blumen-,  Fmebt-  und  DornenstUcke,  oder  Ehe-' 
d ,  Tod  und  Hochzeit  des  Armenadvocaten  Siebenkäs"  "*,  einer 
er  besten  Knmane.  Im  Frühling  1796  erhielt  Jean  Paul  mehrere 
efc  von  Frau  von  Kalb'^*,  die,  enthusiastisch  für  ihn  eingenommen, 
ii36  persönliche  Bekanntschaft  zu  machen  wünschte  und  ihn  dringend 
«  einem  Besuche  Weimars  aufforderte.  Als  er  dieser  Kiuladung 
im  Sommer  gefolgt  war,  übertraf  die  Aufnahme,  die  er  in  Weimar 
■brend  eines  mebrwdcbentlicben  Aufenthalts,  besonders  bei  den 
Frauen  und  bei  M:lnncrn  wie  Herder,  Wicland  und  Knebel  fand, 
-ieiue  kühnsten  Erwartungen.  Er  fühlte  sich  in  diesen  Kreisen  „ganz 
dttcklicb";  er  meinte,  er  habe  „in  Weimar  zwanzig  Jahre  in  wenigen 
Tagen  verlebt,  und  seine  Menschenkcnntniss  sei,  wie  ein  Pilz,  mannes- 
bocb  in  die  Höhe  geschossen*'.  In  Frau  von  Kalb  glaubte  er  öin 
Weib  gefunden  zu  haben,  „wie  keines,  mit  einem  allmächtigen 
Herxen,  mit  einem  Felsen-Ich,  eine  Woldemarin*',  die  „Titanide", 
fUe  er  zum  Urbild  seiner  Linda  im  Titan  nahm.   Zu  Goethe  und  in 

Ka  zu  Schiller  kam  er  damals  in  kein  näheres  Verbältniss,  und 
b    weniger    konnte   sich    ein   solches    zwischen    ihm    und    ihnen 

tpätorhin  bilden,  nachdem  Jean  Paul  bald  nach  seiner  Heimkehr 
ch  eine  schriftliche  Aeussenuig  Ober  Goethe,  die  derselbe  wieder 
lir,  einen  Angriff  auf  sich  in  den  Xenien  hervorgerufen  hatte'". 
dachte  jetzt  gleich  an  seinen  Hauptroman,  den  Titan,  zu  gehen, 
d  jeduch  bald  wieder  davon  ab  und  schrieb  zunächst  eine  neue 
He,  ,,den  Jubolsenior**"*,  sodann  „das  Kampanerthal,  oder  über 
Unsterblichkeit  der  Seele"'**  und  verschiedenes  Andere.  Mit 
inn  des  Sommers  1797  fieug  er  endlich  an  den  ersten  Band  des 

Titan**  auszuarbeiten;    unmittelbar  darauf  machte  er  die  Bekannt- 


133)  Baireuth  l7yH.   S.         134)  i  Bdchen.    Rerün  1790.   S.         135)  Berlin 

ITftÄf.  3  Bde.  S.  136)  Vgl.J.'tOI,  Anm.  21  und  die  Grenzboton  l-iSO.  Nr.  22, 

T  137'  Was  Spazier  ider,  um  seinen  Holden  mehr  zu  erlieben, 

,  sittitcbe  Natur  und  künstlerisches  Streben  um  so  gehiisBiger  angreift  und 

?^aU^u^eli:pn  sucht)  gerade  hierüber  4,  .U  ff.  berichtet  und  dazu  in  der  Note  an- 

Uut,    ist   zu   verbessern  aus  boas'  Buch,   Schiller  und  Goethe  im  Xeuienkampf 

112.  138»  Leipzig  i;97.    9.  139)  Erfurt  1797.   d. 


^{12     VI.  Vom  zveiteu  Viertel  des  XVllI  Jahrbunderts  bis  Ka  Goethe*»  Tod. 

§315  scbaft  mit  einer  jungeu  und  scböneu  gescbiedenen  Frau^  Emilie  vi 

BerlopBch'"',   die  nicht  minder  wie  Frau  von  Kalb  für  den  Dicbter 
schwärmte   und   ihm    ebenfalls  Züge  zu  dem  Bilde  eines  der   vor- 
ncbmeteu  weiblichen  Charaktere  in  seinem  grossen  Komau  (zu   der 
Liane;  geliehen  bat.  Sie  war  es  auch  vorzüglich,  die  ihn  bestimmte, 
nach  dem  Tode  seiner  Mutter  im  Herbst  1797  nach  Lelj>zig  zu  ziehen, 
als  sie  ibm  dahin  zu  folgen   versprach.     Seine  Aufnahme   in    di< 
Stadt  stand  hinter  der,    die  ihm  in  Weimar   widerfahren    war, 
nichts  zurück.    ludess  sagte    ihm   das  dortige  Leben   doch  auf 
'Länge  so  wenig  zu,  dass  er,  nachdem  er  die  ,,Paliugene8ien'*"'  n 
endet,  im  Frühjahr  und  Sommer  1798  kleine  Reisen  nach  Hof,  DrCEsd« 
Halle,  Halberstadt  (zu  Gleim)  und  Gotha  gemacht  hatte,  im  Herbt 
als   eben  ein   uühercs  Verhältniss  zwischen  ihm   und  Fr.  H.  Jacol 
angeknüpft  war^    sich   nach  Weimar  Übersiedelte,    wohin  ihn  ganz 
vorzüglich  die  Liebe  zu  Herder  zog.    Er  fühlte  sich    hier   iu   der 
ersten  Zeit  höchst  glücklich,  zumal  in  dem  Verkehr  mit  Herder  und 
dessen  Gattin.    Neben   seinem  grossen  Roman  schrieb   er    mehi 
kleinere  Sachen,  wie  er  deren  auch  spfitcrhin  in  grosser  Anzahl 
Zeitschriften  und  Taschenbücher  lieferte.  Als  ihm  der  Aufcutlmlt 
Weimar  durch  die  dortigen  Verhiiltnisse  nach  und  nach  immer  unb 
fpiemer  ward,   verweilte  er  Öfter  au  den  HOfen  zu  Gotha  und  Hi 
hurghaus6n;  von  dem  letztem  erhielt   er  nun  auch    t709  den  Titel 
eines  Legationsraths.    Im  Frühling  ISOO  gieng  er  nach  Berlin:  d( 
Empfang  und  der  Umgang,  die  er  dort  fand,  bestimmten  ihn,  eini^ 
Monate  8])Ater  in  dieser  Stadt   seinen  Wohnsitz  zu  nehmen. 
verlobte  er  sich   hier  mit   der  Tochter  eines  hochgestellten  ri(flltB^' 
liehen  Beamten,    heirathete  sie  im  uächsten  Frühjahr,    blieb  lüilm 
nicht  hinger  iu  Berlin,  sondern  zog  mit  seiner  jungen  Gattin  narkj 
Meiningen,   wo  er  im  Sommer  1802   den  „Titan"  beendigte*",    B( 
reits  wahrend  der  Ausarbeitung  der   letzten  Theilc  hatte  er  eiii«»| 
neuen  grossen   Roman,    „die  Flegoljahre'^,    angefangen   und  bis  tnj 
dessen   Abschluss  im  Frühling   ISö5'^*  auch  noch  seine  „Vorscbulrj 
der  Aesthetik,  nebst  einigen  (fingierten)  Vorlesungen  iu  Leipzig  IIb 
die  Parteien   der  Zeit"'*',   ausgearbeitet,    untcrdess   IS03  Meiuinftffl 
wieder  verlassen"'  und  Coburg  zu  seinem  Wohnort  gewählt,   doch 
auch  diess  nach  kaum  einem  Jahre  lim  Sommer  1S04J   wieder  mU 


I4(»)  Geb    von  Oppel,  gob.  zu  Gotba  1757,  Rcsl.  zu  Scbwcrin  1S3ii.  Si»( 
machto  sieb  auch  als  Schriftstellerin  bckanot,  vgl.  Jünlt'ne  5.  7;tG  ff.  14l^i 

<jcra  und  Nürnberg  IT'JS.    2  Bdcbn.   h.  142)  Er  erschien  in  rter 

und  ttiit  zwt*l  D&ndchen  eines  ..komiscben  Aubangs**  dazu  Berlin  ISO)»-  ISO).  ^\ 
143)  Tübingen  1^04  f.    4  Tble.   8.        144)  Hamburg  !So4.   'A  AbUidltuil»- 
I45i  Vgl.  A.  Ueuneberger,   J.  Paula  Aufcntbalt   in   Meiningen.     Mciuinp*! 
ist*,    i. 


£iitiirickelu&g&gaiig  der  Literatur.    1773—1632.    Jean  Paul. 


313 


tairentb  vertauscht,    wo  er  fortan  wolineu  blieb***.    Ein  Streit,    in  §  315 
kcIcLen  er  unmittelbar  nach  seiner  Niederlassung-  in  ßaireutli  we^en 
Zueifrnungsschreibens  vor  seiner  Vorschule  der  Aestbelik  an  den 
fereog  von  Gotha  mit  der  philosophischen  Facultät  in  Jena  gerieth, 
reranlasste  ihn  zur  Abfassung  seines  ,,Freiheit8bÜchleinj>'"*',   worin 
leuselben  Freirautb,  mit  dem  er  später  unter  der  napoleoniscbcu 
»cbaft'**  da»  Wort  führte,  das  damals  iu  Ueutöcbland  herrschende 
Jensurwesen    bekämpfte.      In   der   nächsten  Zeit   schrieb    er  seine 
„Levana,    oder    Erziebungslehre""*,    sodann    „des    Feldprcdigera 
Schmekle    Reise'""\    „Kat^euber^ers     Badereise'"",    das    „Leben 
Fibels**  etc.'",  nebst  verschiedenen  Recensionen  für  die  Heidelberger 
Jahrbücher  und  viele  Aufsätze  für  Journale  und  Taschenbücher.     Im 
fahre    ISOS  war  ihm  von   dem  Fürsten  Primas  (Karl  von  Dalberg) 
Jahrgehalt  von  tausend   Gulden   angewiesen   worden,    dessen 
'ortzahUmg   er  sich  nach  Auflösung  des  Rheinbundes  nur  erst  nach 
ielen  vergeblichen  Bemühungen  bei  dem  Könige  von  Baiern  zu  er- 
wirken vermochte.    Während  der  letzten  zehn  Jahre  seines  Lebens 
denen   er  von  grossem  Werken  nur   noch  „den  Kometen,    oder 
jJJikolaus  Marggraf'',  einen   unvollendet  gebliebenen  komischen  Ro- 
man,  schrieb''*,    genoss   er   lauge   alle  Freuden    eines   glücklichen 
Familienvaters  und  auf  seinen  Reisen,   die  er  alljährlich   nach  ver- 
»eliedenen  Gegenden  und  St;ldten  Deutschlands  zu  machen  ptiegte, 
^icle  glänzende  Trium])he  als  einer  der  gefeiertesten  valerländischeu 
leichter,  bis  ihm  im  Spätherbst  IS21  der  Tod  seinen  einzigen  Sohn 
raubte.     Dieser   Schlag   traf   ihn   so    furchtbar,    dass   er    bald    zu 
Gaukeln  begaun  und  die  schnelle  Abnahme  der  KiAfte  ihm  immer 
blbarer   wurde.      1S22    verlebte  er  noch   fünf  schöne  Wochen  in 
Dresden.    Indem  er  sich  zuletzt  bei  aller  Hinfälligkeit  noch  mit  den 
l\       "       ttingen   zur    Herausgabe    seiner    sämmtlichon    Werke'*'    be- 
;;,  starb  er  am  IL  November  1S2;">.     Von  seinen  schon  aus 
^^r  ersten  Hälfte  der  Neunziger  stammenden  Werken,  der  „unsicht- 
^reu  Loge*""  und  dem  „nesperus*""*  zeigt  die  ersterc  die  luimo- 


lltj)  Vgl.  E.  C.  T   Hagen,   über  J.  Pauls  Atiffnthalt  in  Bayreuth  und  seine 

^«Jblinfs-riätze.    2.  AuH.    Bayreuth  ism.    S.  147)  Tübingen  IS05.   S. 

I4S)  Bcsondprs  in  den  ,.Dümmeningen  für  Deutschland",   Stuttgart  ISO'J.   8, 

\i\h  ürniinschweig  IS07.    2  Bdchn.   8.  15ÖI  Stuttgart  iSOb.    8. 

lall  Ucidolbcrg  IS09.    2  Bde.    8.  152|  Nürnberg  1812.   S.  153i  BexliB 

*^-l2.    :»  Bde.   6.  154)  Seine  ..sämmtUchcn  Werke"  erschienen   iu  fiO 

tPWen  2u  Berlin  IS26 — 2S.    S. ;  dazu  sein  „literarischer  Nuchlass"  in  5  Üaiideu, 

lin  lWi>— 3>.   S.;  eine  2.  Auihige  in  1*3  Bünden,  Berlin  ISIO— 42.   S. 

\ibo}  Von   den  Beartheiliingen   „der    unsichtbaren   Loge'*  ist  die   in   der  Jenaer 

.(VratUT-Ziituiig  von  I7y5.     2.  HÜ  ff.  im  Cianzeii   &ehr  llach;   nicht  viel  besser 

k  vun  Kniggo  in  der  neuen  aUgenieiocn  d.  Bibliüthek  11,  2.  :tW»  ff.  150) 

tch  den  .,Uc«perus*'  zeigte  Knigge  an,  auf  den  olles  passe,  was  Über  jenen  erst^ 


mmm 


liW    VI   Vom  zweitoü  Viertel  des  XVITI  Jalirliuniierla  bU  zu  Go«tike*fl 


Tod  ^ 


§  315   rislisclie  Darstelluug  auch  noch  zu  sehr  mit  lehrhaftcu  BentAndthciU 
versetzt    und    beaohwoil ,    letzterer    einen    unversöhnt    j;cbhobcn( 
Widerstreit   zwischen    einem    witzsprudelndcu,   in   Vergleichen 
Metaphern  schweigenden  Humor   und  einer  bald   verstiegcueu  bi 
weich  verschworamcnen  Sentimentalität,  und  dabei  ist  hier  wie  di 
eine  so  auffallende  Formlosigkeit'"  in  der  Gcsamniteompo^ition  nig 
in  der  Behandlung  fast  jedes  einzelneu  Theils,  dass  diese   Werl 
schon  dadurch   für  ein    feineres  ästhetisches  Gefühl  eher  etwas 
strtssendes  als  Anziehendes  haben''*.  —  Nur  ein  Roman,  und  n 
auch  ein  hunioristisolier,  von  dem  aber  vor  der  Mitte  der  Ncunzii 


rocti 


Küman  (;;eäagt  sei.  Hei  weitem  gediegener  uud  geistvoller  ist  die  Rcceniiim 
den  „HcRperus"  iu  der  Jenaer  Literaiur-ZeitUDg  von  1795.  1,  117  fT.  (Ste  Sit» 
Fr.  Jacobs;  vgl.  Boas,  Xeuieukainpf  I.  HO).  Uas  Gute  und  Vortrefflicbe 
Romans  ist  mit  vollster  Anerkennung  hervorgehoben,  aber  auch  die  SchattcoMfiCf 
sind  nicht  verdeckt  In  Betreff  dieser  wird  bemerkt:  manche  ItescbreiboaBii 
seien  alizti  gesucht  und  VeranJassungen  zu  hohen  Gefühlen  und  Ituhrungen,  vit 
CS  scheine.  aUzu  getlisaentlioh  herbeigezogen.  Es  werde  doL-b  fast  gar  zq  vid  in 
diesem  Buche  geweint,  uud  selbst  die  reiche  Phantasie  des  Verf.  habe  io  da 
rahrcuOeo  Scbildermigen  eine  gewisse  ermüdende  Einförmigkeit  nicht  venneMn 
können.  Ueberhanpt  aber  gleiche  dieser  Boman  einem  Waldstück,  in  «ricboi 
das  üppige  Buschwerk  viele  der  schönsten  Baurogiuppen  und  Aussichteu  venleckf- 
iJieas  gelte  von  der  Geschichte,  den  Schildcrungeo,  der  ganzen  Art  de«  Anidmffc» 
und  selbst  von  einzelneu  Worten.  Diese  Ueppigkeit  in  dem  Nebeuwerke  Bifi|t 
wohl  auch  vorzüglich  Schuld  sein,  dass  so  viele  der  haudelndru  Personen  iri« 
Schatten  einer  Zauberlaterne  rorüberzieben  und  nur  eine  Seite  Uire<i  Kfti 
zeigen,  doss  die  Umrisse  oft  schwanken  etc.  Endlicb  scheine  es  auch,  als  oll 
mancher  Auswuchs  nicht  durch  das  üppige  Treiben  des  Humors  hervorgestootf^ 
sondern  absichtlich  als  ein  Beweis  desselben  angebracht  worden  sei.  —  WieOocti* 
und  Schiller  über  den  eben  erschienenen  HespcruR  und  über  dessen  Vcrfasaeff,  ik 
sie  ihn  per&ÖuHch  kennen  gelernt,  urtheilten.  ist  in  ihrem  Briefweclisel  t,  \ 
U;i  f.;    nu;    1.  5't;    7»;    75;  X  211  f.  nachzulesen.  IT)?)  Wie  wraig  1 

Paul  der  äussern  Kunsiform  poetischer  Darstellung  Herr  war,    oder   win  sehf 
es  zu  werden  vernachlässigte,  ergibt  sich  u.  a.  auch  daraus,  dass,  als  er  171^ 
einem  gewissen  Anlofs   ein   Gedicht  in  Versen   abfassen   sollte,    er   statt 
lieber   ein  Thema    wühlte,    das  bich  iu  Prosa  behandeln  Hess,   und  beluuintCi 
wäre  nicht  im  Stande,  Verse  zu  machen;   und  dass  er  zwar  iSUn  zu  eioem 
spiel  zwei  Gesangchöre  dichtete,   diese  aber  in  freien  reimlosen  Vcr*i»n  abi 
{vgl.  Spazier  a.  a.  0.  2,  201;    h,  hi).  löS)  Den  Ünindzug  seines 

Chai akters,  wie  er  durch  alle  seine  Romane  geht,    Itezeichnet  Jean  Paul 
ganz  vortrefllicb  in  einem  Briefe  an  Knebel  aus   dem  Jahre  18tiT   iKnc' 
rariacher  Naehlass  ?,  425)  mit  den  Worten:   ,.die  zwei  Brennpunkte  mein 
scheu  Ellipse,   Hesperus-Rührung  und  Schoppens  (eines   humoristischen 
Charakters  von  seiner  Erfindungi  Wildheit,   sind  meine  ewig  ziehenden 
und  nur  gequält  geh'  ich  zwischen   beiden,   entweder  bloss  crz&blend   oder 
philosophierend,  erkülttt  auf  und  ab".    Vgl.  noch  K- Ch  Planck.  Jean  Paoli 
tung  im  Lichte  unserer  nationalen  Entwickelung.    Ein  Stnck   deutscher  K 
geschicfate.     BiTlin  I^-OT.   -i.;  J.  L.  Hoffmann.    Vorträge  über  J,  Paul  im 
des  literar.  Vereins  in  Nürnberg  ISö4.  -S.  55— 20tt. 


£iLtinckeliiiigagang  der  Literatur.    1773-1832.    Jeau  Taul.    Tbammel.     315 


log«  die  erste  Hillfte  erschien,  die  ,, Reise  in  die  mittäglichen  Pro-  §  315 
inzen  von  Frankreich'',  von  Moritz  August  von  ThÜmmel  ist 
n  allen  eben  berührten  Mängeln  und  Gebrechen  fast  ganz  frei  ge- 
ieben  und  gehört,  namentlich  seiner  Darstellungsform  nach,  zu  den 
sgezeichuetÄteu  Werken  unserer  Prosuliteratur.  ThUmmel.  I73S 
auf  dem  Kittorgut  SchÖnfcld  bei  Leipzig  geboren,  kam,  nachdem  er 
durch  häuslichen  Unterricht  dazu  vorbereitet  worden,  1754  auf  die 
Klosterschule  nach  Kosslehen  in  TliÜringcn  und  gieng  v(»n  da  zwei 
Jahre  später  nach  Leipzig,  um  die  Rechte  zu  studieren.  Seine  Nei- 
gung zur  schönen  Literatur  aber,  besonders  auch  durch  Voltaire'« 
Schriften  geweckt  und  genährt,  zog  ihn  mehr  in  Gellorts  Vorlesun- 
gen als  in  die  der  juristischen  Lehrer.  Kahl  kam  er,  ausser  mit 
Geliert  selbst,  mit  Rabener,  mit  E.  v.  Kleist,  der  damals  in  Leipzig 
stand"*  und  mit  Weisse  in  nähere  freundschaftliche  Verbindung, 
^■im  engsten  schloss  er  sich  an  Weisse  an,  der  für  seine  ganze 
^Bebcu^zeit  sein  vertrautester  Freund  und  literarischer  Ratligeber 
^^purdo.  1761  trat  ThUmmel  als  Kamnicrjunkcr  in  die  Dienste  des 
^^bmallgen  Erbprinzen,  nachherigen  Herzogs  von  Sachsen  Coburg. 
^BSr  tieng  nun  seine  Schriftstellerei  damit  an,  seinem  Freund  Weisse 
BeitrÄge  zur  Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften  zu  liefern ,  trat 
indess  bald  mit  einer  eigenen  dichterischen  Erfindung  auf,  einem 
komischen  Heldengedicht  in  Prosa^  .,Wilheimine,  oder  der  vermählte 
Pedant'*'**,  welches  mit  •allgemeinem  Beifall  aufgenommen,  in  meh- 
rere Sprachen  Obersetzt  wurde  und  dem  jungen  Dichter  schnell  einen 
Namen  in  Deutschland  machte.  Nach  dem  Tode  des  regierenden 
Herzogs  vou  Coburg  wurde  Thfimniel  von  dessen  Nachfolger  zum 
rieheimen  Hofrath  und  176S  zum  wirklichen  Geheimenrath  und  Minister 
befördert.  In  der  nächsten  Zeit  schrieb  er  die  „Inocnlation  der 
iebe.  Eine  Erzilhlung  in  Versen""'.  In  demselben  Jahre,  in 
reichem  dieses  Gedicht  erschien  (1771),  reiste  er  in  Angelegenheiten 
»iues  Hofes  nach  Wien  und  das  Jahr  darauf  in  Gesellschaft  eines 
igeru  Bnidere  und  dessen  Gattin  nach  Holland  und  Frankreich. 
[1774  wiederholte  er  in  derselben  Gesellschaft  diese  Reise,  dehnte  sie 
}r  diessmal  bis  uaeh  Ober-Italien  aus  und  kehrte  erst  1777  nach 
■  lind  zurück.  Diese  Reise  entweder  in  Sternc's  oder  in 
8  Manier  zu  beschreiben,  scheint  er  früh  den  Gedanken 
)t  zu  haben;  aber  erst  viele  Jahre  später  führte  er  ihn  auf 
igenthümliche  Weise  in  seinem  Keiscroman,  dem  Haui)twerk  seiner 
[•cbriftstelleriscben  Thätigkeit,  aus.    Unterdessen  hatte  er  1770  von 


159)  Vgl.  Bd.  III.  69. 
[^  \  3M7.  Anm.  n 


160)  Leipzig  1764,   8.         ]6il  Leipzig  177t.   S.i 


316    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderte  bis  za  Goetlie*B  Tod. 

315  einem  alten  Juristen  in  Leipzig,  der  ihn  während  seiner  Studiei 

besonders  lieb  gewonnen,  ein  nicht  unbctrilcbtliches  Vermögen  geerl^g 
und   einige  Jahre   darauf  heiratbete   er   die   reiche   Wittwe   seiiw«^ 
Jüngern  Bruders,   ho    duss  er  fortan  in  Coburg  das  gastlichste  und 
angenehmste  Haus   fUr  Einheimische   und  Fremde   machen  konute, 
Allein  manche  unangenehme  Erfahrungen,  die  er  in  seiner  amtlicl 
Stellung  gemacht  ^u  haben  glaubte,  veranlassten  ihn  1783,  aus  sei 
bisherigen  Verbältnissen  zu  scheiden  und  sich  von  Coburg  wegzul 
geben.    Er  lebte  uun  theils  in  Gotha,  iheils  auf  sciuem  Gute  Soni 
born.     Nachdem  er  lauge  sich  von  aller  Schriftstelierei   entfernt 
halten,   wandte  er  sich  ihr  wieder  zu,   um  in  ihr  Trost  und 
Streuung  zu  finden,   als  zu  sehr  bedeutenden  Verlusten  an  »eiucnT 
Vermögen  auch  noch  manche  traurige  Familieuereignisse  kamen.    Er, 
begann  seinen  Roman,    „Reisen  in  die  mittaglichen  Provinzen 
Frankreich  im  Jahre  17S5  bis  17S6'*,  den  er  in  zehn  Theilen 
beitete,    mit   oft  jahrelangen  Unterbrechungen,  so  daas  die  beid( 
ersten  bereits  1791  und  der  letzte  ei-st  1S05'"  erschienen.    Er  h*ite 
als  Verfasser  verborgen   bleiben   wollen,   bald   wurde  er  aber  als 
solcher   bekanut,    bewundert    und  in  Zeitschriften  und   Briefen  1»- 
rllbmter  Zeitgenossteu  gepriesen.     Er  lebte  in   dieser  Zeit  bald  in 
Gotha  oder   auf  seinem  Gut,    bald  in  Altenburg  bei  einem  ßnide(_ 
oder  in  Thüringen  bei    seiner   verbeiratheleu  Tochter.     Oefter  u 
weilte   er   auch    wieder   in  C-oburg.     1S03  reiste  er  aufs  neue  lucl^ 
Holland  und  Frankreich,    1S07  besuchte  er  zum   erstenmal  BcTltn. 
Als  er  im  Sommer  IS  17  in  Coburg  dem  Vermilhlungsfest  eines  fürst 
liehen  Paares  beiwohnte,   crkratikte  er  und  starb  in  der  Mitte  dw 
Octobers**^.      In    seinem    Roman    wechselt   die    Prosarede    oft  »it 
längern  und  kurzem  Versstellen  ab.    Von  der  erstem,  die  in  jedi 
Zeile   den   fcingebildetcn  Weltmann    beurkundet,    bat  Jean  Pwl' 
kaum  zu  viel  gesagt,    wenn  er  Thümnicl  den  Ruhm  der  »chOi 
(sinnlichen),  oft  ganz  homerisch  verkörpertcu  Prosa   vielleicbt 
mit  wenigen,  wie  namentlich  mit  Goethe  und  Sterne,   theilen 
Weniger  geneigt  niuchte  man  sein,  die  Verse,  ungeaehtet  aller 
ganz,  die  sich  in  der  technischen  Behandlaug,  und  ungeachtet  allar 
zierlichen  Gewandtheit,    die   sich   in    dem  oft  sehr    vcrschlunKciH 
Periodenbau  zeigt,  iu  dem  Grade  vortrefflich  und  bcwunderni*war^ 
zu  finden,  wie  sie  Lichtenberg  fand"".    In  den  kritisi^hen  Zeitschrift 


162)  Leipzig,   b.  163)  TbUmmela  BÄmmtlicbo  Werke  encbieBM'l 

B&ndca*  Ldpxlg  ISII— 10.   8.;   neue  Atiägabe  lS2ü  f.;   dann  auch  in  St 
Aasg&ben,  Leipzig  IS3^*  tuid  \>U,  beidemal  in  S  Bändca.    16.  104 r  la 

Vorscbole  der  Ae^tbetik:  sammtUche  Werke  42,  156  f.  165)  Vgl  j^tdtm 

b,  ftS. 


Eutwk'kelungsgang  der  Literatur.     1773—1932.    Thtimmcl. 


317 


nirfien  gleich  die  ersten  Theile  des  Romans  mit  ausserordentlichem 
eiCall  bcgrUöst.  Von  dem  ersten  und  zweiten  Tbeil  bemerkt 
chatz'**  U.A.:  ThUmmel  gebe  hier  ein  vortreffliches  Werk,  aus  dem 
tgendlicbe  Kraft  der  Phantasie  neben  reifem  milnnlichem  Verstände 
»uchte,  an  dem  die  wahre  Lebensweisheit  and  die  Grazien  selbst 
em  Dichter  geholfen  zuhaben  schienen.  Nicht  minder  anerkennend 
nd  den  Geist  und  inncrn  Gehalt 'des  Werks  aus  einem-Gesichts- 
ttnkt  würdigend,  der  ihn  Über  das  höchst  Schlüpfrige  mancher  dar- 
eatellten  Scenen  nicht  wegsehen  liess,  sprach  sich  Fr.  Jacobs '*'  über 
en  dritten  bis  fünften  Theil  ans"*.  Indessen  eine  so  ausgezeichnete 
teile  auch  Thüramcls  Reise  unter  allen  nnsern  humoristischen 
onaanen  einnimmt,  so  ist  doch  auf  der  andern  Seite  iu  den  darge- 
teilten  Begebenheiten  und  Auftritten  so  manches,  was  ein  unver- 
orbenes  sittliches  Gefühl  zu  sehr  verletzen  muss  und  einer  leicht 
Qtzöndlichen  Phantasie  zu  gefährlich  werden  kann,  um  sieh  durch 
^  dem  Ganzen  zu  Grunde  liegende  Tendenz  als  nothwendiges 
■ei  zur  Erreichung  höherer  Kunstabsichten  vollständig  rechtfer- 
sren  zu  lassen.     Erst  in  der  zweiten  Hälfte   hebt  sich  der  sittliche 

E.lt:  hillt  man  sich  dagegen  vorzugsweise  an  die  ersten  Theile, 
ird  man  das  Urtheil  Schillers,  der  nur  diese  hat  lesen  können, 
r  seine  Abhandlung  über  naive  und  sentiraontalischo  Dichtung 
Bhrieb,  nicht  nur  be^reitiich  finden,  sondern  ihm  auch  grossentheiU 
eistimmen  müssen.  Es  fehle.,  heisst  es  in  dieser  Abhandlung***, 
ieser  Reise  an  ästhetischer  Würde,  und  sitj  werde  dem  Tde4i! 
gegenüber  beinahe  verächtlich;  indessen  sei  es  natürlich  und  billig, 
and  er  wi«8e  aus  eigener  Eriahrung,  dass  der  thümmelsche  Roman 
mit  grossem  Vergnügen  gelesen  werde.  Denn  cla  er  nur  solche 
Forderungeu  beleidige,  die  aus  dem  Ideal  entsi)ringen,  die  folglich 
dem  grösstcn  Theil  der  Leser  gar  nicht ,  und  von  den  bessern 
nie  nicht  in  solchen  Momenten,  wo  man  Romane  lese,  aufge- 
werden,  die  übrigen  Forderungen  des  Geistes  und  —  des 
;r»  hingegen  in  nicht  gemeinem  Grade  erfülle,  so  müsse  und 
er  mit  Recht  ein  Lieblingsbuch  unserer  und  aller  der  Zeiten 
liheii,  wo  man  ästhetische  Werke  bloss  schreibe,  nm  zu  gefallen, 
bloss  lese,  um  sieb  ein  Vergnügen  zu  machen. 


§  31 


Iftfti  In  der  nllgeindnen  d.  Bibliothek  lOS,  2.  a43  ff.  167i  In  der  n- 

itanpn  d.  Bibliothek  25,  2,  VIS  ff.  168)  Vgl.  «ucb  A.  W.  Scidegfl  in 

Ängcr  pel.  Anzeigen  I7!m,    St.  69   und    dazu  im   Atlieniium  2.  2.  '*!*•  ff. 
ihr  Worke  iw,  5iff. ;  12,  51  f».     Andere   in  Zeitschriften  nnd  ^ndtrmgtu 
Hecensionen  wier  Ausspruche  über  diese  und  die  folgeudeo  Ttiril«.  xoo 
rg,    KUngrr,   Kr.   .lacobs,   öarve  etc.,   eind  theils  wiedergegeben  thrih 
büi  Jördm»  5,  i)-^  tf.  IftOi  ^.  2.  121  f.    ((Tadeke  10.  47St» 


mm 


31S     VI.  Vom  zweiten  Viert«]  des  XVm  J&hrhtuiderts  bis  zu  Guetbe's  Tf 

«  31G, 

Die    NachbiMimg:    der    niotrisehen    Formen    fremder    poci 
Meisterwerke  in  sinugetreuen  Ueber3etzungen  und  die  Dichtungen  as 
Goetlie's  tweiter  Periode  hatten  zwar  den  Anfang  dazu  gemacht, 
praktische  Weise  die  vaterL'indische  Poesie  dem  rohen  Natural ismufi 
entreissen,  in  den  sie  sich  nach  jind  nach  verirrt  hatte,  und  Hil- 
den Weg  gebracht,  sich  zur  schönen  Kunst  zu  veredeln.     Aber  ei 
als  die  unterdess  zur  Mündigkeit  herangereifte  deutsche  Wissenscbi 
ihr  die  Hand  bot,   um  sie  auf  diesem  Wege  zu  leiten,  Dichter  ni 
Publicum    über   das    eigentliche  Wesen,    die  Restiraniuog    umi  »i 
Würde  wahrer  Kunst  zu  verständigen,  jenen  und  diesem  den  rechU 
Werth  der  poetischen  Kunst  des  Altcrthums  und  der  Neuheit 
ihrem  Unterschiede  zum  Bewusstseiii  zu  bringen  und  damit  auch  er 
der  Nation  deutlieh  zu  machen,  was  sie  an  Goetbe's  neuen  Schüpfa 
gen  in  ihrer  schonen  Literatur  bereits  besass,  war  die  Zeit  gekoi 
men,  wo  unsere  neuere  Dichtung  als  schöne  Kunst  ihren  Tlöhepuii] 
erreichen  sollte.    Um  dicss  Verhältniss  der  Wissenschaft  zu  ua«e 
schönen  Literatur  in  seinen  erfolgreichen  Wirkungen  näher  b( 
nen  zu  können,  haben  wir  zunächst  den  Standpunkt  anzudeuten,  al 
dem    sich    die  Philosophie   des  Schönen    und   der   Kunst    oder 
Aesthetik  im  Anfange  der  Neunziger  befand,  und  sodann  auzi 
welche   Fortschritte   um    dieselbe    Zeit    die   Geschichtswi- 
namentlich  in  der  t>forsehung  und  Darstellung  litcrargctn, 
Geg:enstände  und  Verhriltnissc  gemacht  hatte. 

I)  Von  den  verschiedenen  Ilauptzweigen  in  der  Philosophie  «tel 
zu  der  Dichtung  die  Aesilictik  im  mlchsten  und  unmittelbarsten 
Sobald  sich  diese  in  Deutschland  selbständig  zu  einer  wissenscitaftlicbc 
Form  auszubilden  begann,  gewann  sie  auch,  wie  sich  oben  zeigt«',  v( 
mittelst  der  aus  ihr  abgeleiteten  Dichtungstheorien  Eintluss  auf  dl 
Neugestaltung  unserer  schönen  Literatur.  Allein  bei  ihrer  eigen« 
Entwickclung  als  philosophische  Wissenschaft  dem  Gehalt  und  d( 
Form  nach  in  dem  Kreise  festgehalten,  innerhalb  dessen  sich 
philosophische  Denken  Überhaupt  bei  uns  bis  zu  der  Zeit  bewc^ 
wo  Kant  mit  seinem  ausgebildeten  System  nach  und  nach  hervortr 


g  316-  D  Zu  dem,  was  oben  au  verschiedenen  Stellen,  bc6ond<>rä  Bd. 
IT'i— it:>;  :n2_3i:i  nndBd.lV,sf.  über  den  Gang  der  philoaopbischco  Hi 
Deutfiebland  von  Wolff  bis  zu  Kaot,  so  wie  Über  die  Pnucipicu  der  Aeal 
die  ana  ilir  abgeleiteten  Dicbtung<;theorien  bemerkt  worden  ist.  Tgl.  den 
Cebersicbt  über  die  (jeschicbtc  der  Aestbclik  von  Baumgart«us  Zeit  an 
den  Mhr  auvfUhrliehon  Artikel  „K<^^'ision  der  At>sth£t)k  in  den  leiy.u*n  V^ttttaim 
des  TerfloBsencn  Jahrhundcrtä*'  in  den  Ergiiiizunga-Blättem  zur  Jenaer  Litnatat- 
Zeitnng  für  die  Jabre  nS5— 180«.    h.  Jahrganp.  Bd.  3.  N.  Ioh  ff. 


Eatwicktfluug«gang  der  LiierMur.  1773— 1$:)2.  Fortfichrilte  üer  Aeetbcd'k.    ÜIO 

^ar  sie  weder  in   tlei'  Schule  Wolflftj  durch  Bauuigarten  und  seine  § 
Tachfolger,    noch   unter   der  Behandlung'  der  Anhänger  der  Erfah- 
»hilosophie,    noch    auch    bei    den   Eklektikern  so   weit   vorge- 
itten,    dass   sie    wirklich    bis   zur  Auffindung   des  Begriffs   des 
lönen  in  seiner  absoluten  Gtllligkeit  und  somit  lu  einem  Princip 
gelangt  wäre,  von  dem  aus  sie  sich  zu  einer  echten  Philosophie  der 
[anst    hätte   entfalten    können.     Ein    solches   Princip    ist   auch    in 
Kautfl  Schrift  „Beobachtungen    über   das  Gefühl    des  Schönen    und 
Irhabenen''   fl764i.    noch  gar  nicht  gefunden,  ja  es  ist   hier  noch 
licht  einmal  darnach  geaucht  worden.     Denn  wenn  in  dieser  Schrift 
sh  schon  Keime  seiner  in  der  Kritik  der  UrtheiUkraft  begründeten 
ind  entwickelten  Sätze  durchblicken,  so  hat  Kant  hier  doch  seinen 
tegeui^tand  vorzugsweise  nur  unter  dem  anthropologischen  Gesiohts- 
innkt«  aufgefasst  und,  wie  schon  von  Hamann'  bemerkt  wurde  und 
vorauf   auch    der  Titel    hinweist,    „sich   mehr  das  Auge  eiues  Be- 
obachters als  Philosophen  zugeeignet."     Er  handelt  nümlich  in  vier 
.bschnitten    itvon   den    unterschiedeneu   Gegonstäiiden   des  GeftUils 
'Vom  Erliabenen  und  Schönen'',   ,,von   den  Eigenschaften   des  Erha- 
benen und  Schönen  am  Menschen  überhaupt",  „von  dem  Unterschiede 
des  Erhabenen    und  Schönen    in    dem    Gegenverhilltniss   beider  Ge- 
,«cbleebter'*  und  .,voh  den  Nationalcharakteren,  insofern  sie  auf  dem 
iterachicdlichen  Gefühl  des  Erhabenen  und  Schönen  benihen."    So 
^nd  auch  Goethe^  darin  zwar  eine  recht  artige  Schrift,   voll   aller- 
iebfttcr  Bemerkungen    Über   die  Menschen,    nur   sollten    die  Worte 
iixön    nnd    erhaben   auf  dem  Titel   gar  nicht  stehen  und  in  dem 
Hlcbolchen  selbst   seiteuer   vorkommen.     Die    nach    meinem  Dafflr- 
laJten  geistreichste  und  der  Wahrheit  am   nächsten  kommende  Be- 
^imuirjng  der  Begriffe  der  Schönheit  und  der  Kunst,   die  vor  dem 
fchre    1790  gefunden  wurde,    ist  in  einer  Schrift  von  Moritz'  ent- 


310 


2)   Id   seiner  Anscige  der  Schrift  in   der  Königsberger  Zeitung   (Schriften 

r,  26«  ff.i.  'd\  HriefwechsH  mit  Schiller  1.  lOS.  4)  K.  Ph.  Moritz,  geh. 

th'*  ZU  Hnmeln,  sollte  iiacli  dem  Willen  seiner  in  dürftigen  Umstanden  lebenden 

Iterii  llutmacher  werden,  verliesa  aber  schon  im  vierrelinten  Jahre  seinen  Lehr- 

'iD(hi«r  und  gieng  nach  Uannover,  wo  er,   mit  Armuih  kumpfend  und  aiicb  ohne 

gert^ftltm  Fleiss,  die  Schulen  beaiichte.    Er  wollte  dann  in  Erfurt  Theologie  stu- 

g»li  diese«  Studium  aber  bald  wieder  aut,  wandte  sich  nach  Leipzig,  um 

»ieler  zu  werden,  wozu  er  sich  gar  nicht  eignete,   trat  nun  in  die  Hrüder- 

idft  üu  Barby ,   fasste  nach  einiger  Zeit  wieder  Neigung  zum  Studieren  und 

»ttch  soviel  Unterstützung,  dass  er  zwei  Jahre  lang  die  UnivcrsitÄt' Witten- 

Wjuchen  konnte.   Von  hier  gieng  er  nach  Deaeau  zu  Basedow,  verHess  diesen 

bald   wieder   und  wurde   nun  I77S  als  Lehrer  am  grossen  Waiscnhausc  in 

angoBtellt.    Von   hier  aus  wünschte   er  zu  einem  FfaiTamt  hcrafen  zu 

nftd  d&  sich  dieser  Wunsch  nicht  erfüllen  wollte,  verdüsterte  sich  sein 

itiiM  sehr,  du5  er  dem  Wahnsinn  nahe  kam.    Seine  Loge  und  Stimmung 


i^ 


320    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVHI  Jahrbunderts  bis  tu  Gocüie»  Tml 

31fi  lialten*,  an  deren  Abfassung  in  gewisser  Art  auch  Goethe  Awb 
hatte,  da  sie  während  des  Aufenthalts  beider  Männer  in  Rom'  a 
ihreu  Unterhaltungen  hervorg^eug.  In  dieser  Schrift  „lieber  ( 
bildende  Nachahmung  des  Scln"lnen"^  die  gleich  nach  ihrem  Er- 
scheinen auch  Schillers  Aufmerksamkeit  erregte  und  auf  wine 
kunstphilosopluHohc  Ausbildung  vor  seiner  Bekanntschaft  mit  KadU 
Schriften  nicht  ohne  Eiufluss  war*,  ist  zwar  auch  nur  der  GrundBatt 
für  die  Künste  aufgestellt,  dass  sie  die  Natur  nachahmen  sollen,  aber . 
in  einem  ungleich  hohem  und  der  Kunst  wUrdigeren  Sinne, 
dieses  frUher,  wenn  man  nicht  Lessing  ausnehmen  will',  von  irge 
einem  deutschen  Schriftsteller  geschehen  war.  Wie  Moritt 
Schöne  aufgefasst  hat,  ist  es  das  in  sich  Vollendete,  was  als 
für  sich  bestehendes  Ganzes  von  unserer  Einbildungskraft  umfi 
werden  kann.  Das  einzig  wahre,  für  sich  bestehende  Ganxe 
nun  der  grosse  Zusammenhang  der  Natur  in  ihrer  Totalitat,  der  a 
Über  das  Mass  unserer  Anschauung  hinausgehe.  Jedes  ciniel 
Ganze  in  ihm  sei  dagegen  wegen  der  unaußösliehen  Verkettung  der 
Dinge  nur  eingebildet.  Gleichwolil  müsse  es  sich,  als  Ganices  W 
trachtet,  jenem  grossen  Ganzen  in  unserer  Vorstellung  jlhnlieh  nnd 
nach  den  unveränderlichen  und  festen  Regeln  bilden  lassen,  nuk 
welchen  dieses  sich  von  allen  Seiten  auf  seineu  Mittelpunkt  stttit 
und   auf   seinem    eignen  Dasein   ruht.     Diess   geschehe    durch  to 


besserten  sich,  ala  er  in  tierlin  eiue  Lehrerstelle   am  tiymnftsium  xnni  rrsiira 
Kloater  erhielt.    HSO  wurde  erConrector;  zwcj  Jahre  darauf  machte  er  eine  Eni* 
uaob  England,  erhielt  nach  seiner  UQckkehr  das  Conrectocat  am  cölnischeoGfSij 
nosium  iu  Dorlin  und  I7^1  eine  ausserordeatÜchc  PrufeiKur  an  den  zu  L'in<Ti*< 
vercioigtcu  Anstiilten,  an  denen  er  so  lange  gelehrt  hatt4>.   Schon  nachxveiJi 
Irgte  er  diese  Stelle  nieder,  trat  eine  Heise  nach  Italien  an.  von  der  vr  Im  tief 
IT>%  Kurnckkehrte,   worauf  er  zunächst  nach  Weimar  ijieug  und  den  Wiutfr 
(jocthe  verlebte.    Im  Kebruar  17**9  gienct  er  mit  dem  Herzog,  bri  dem  ihnO( 
eingeführt  und  der  von  ihm  das  Englische  gelernt  hatte,  nach  lifrUn,  wo  er  iliirc 
Verwcnthing   des  Herzogs  Profesfor   nn  der  Akademie   der  Künste  wurde  ^vgL 
Srhiill.  Carl  Augui»t  Büchlein  S   ^1  f ).     Er  ward  zum  Mitglied  der  Akad< 
Wissenschaften  ernannt,  später  auch  hei  der  Artillerieschttle  aiijrtTplIt 
hielt  den  Hofruihstitel.     Er  starb  ITii:*.    Seinem   psychologisch. 
Reiser",  L'erün  ITsS— yu.    j  Thle.   *.   liegt  seine  eigene  Lebeni^ 
dem  ZcitiMiakt>  wo  er  in  Leipzig  Schauspieler  werdi^n  wollte,  ruro  Oi ' 
»einem  Tode  i^t  aeine  Geschichte  fortgeführt  von  K.  F.  KUschnig  in  ri;.  . 
Theiic,  mit  dem  besondern  Titel  ..Krinneriingen  aus  den  zehn  let/ic»  L( 
meines  I-reundes  Anton   Reisors",    Uerliu    I7m.    Vgl.   noch   W.  Alexis  ia 
Üterar-hfetoriscbem  Taschenbuch  IM7,  S.  1—11.  5»  Bernharde  bem«fkl 

einer  seiner  Thealerkritiko»  fttr  das  Herliner  Archiv  der  Zeit  itVjy  I,  üMi: 
eigentliche  Wesen  der  reinf'n  fiarstellung  hat  wohl  zuerst  Moritx  geahnet^*. 
■Dch  A.  W   Schlegel,  s.  Werke  ',i.  ;*iMi  I.  tii  Goethes  Werke  i*i.  3«T  f 

7)  Brauuschwcig  I7*s.   S.  Si  Vgl.  Briefwechsel  mit  Kftruer  3.  Äfl 

oben  I  3111,  Anm.  «X  9i  Vgl.  das  Bd   III.  Ill  I    AnirefiUtrle. 


Entwickelnngagang  der  Literatur.    1773—1532.   Ästhetik.  KauI.       321 


liMiü^tlor,  nntl  äo  sei  je<le9  schöne,  von  ihm  gebildete  Ganze  im 
Kleinen  ein  Abdruck  tleis  höchsten  Schönen  im  grossen  Ganzen  der 
Natur.  Die  Natur  des  Schönen  bestehe  *lariu,  dass  sein  inneres 
cöcn  ausser  den  Grenzen  der  Denkkraft,  in  seiner  Entstehung,  in 
nem  eigenen  Werden  liege.  Eben  darum,  weil  die  Denkkraft 
im  Schönen  nicht  mehr  fragen  könne,  warum  es  schön  sei,  sei  es 
i^u.  Denn  es  mangele  ja  der  Denkkraft  völlig  an  einem  Ver- 
gleichungspunkte, wonach  sie  das  Schöne  beurtheilen  und  betrachten 
könnte.  Was  gebe  es  noch  ftlr  einen  Vergleichungspunkt  für  das  echte 
ficbönc,  als  mit  dem  Inbegriff  aller  harmonischen  Verhilltnisse  des 
PoMea  Ganzen  der  Natur,  die  keine  Denkkraft  umfassen  könne.  Das 
Schöne  könne  daher  nicht  erkannt,  es  mllsse  hervorgebracht  oder  em- 
ttfandcn  werden.  Jenes  geschehe  durch  die  Bildungskraft  des  Genie's, 
m  diesem  befähige  uns  die  Empfindungskraft  oder  der  Geschmack. 
I  Den  Begritf  des  Schönen  vermittelst  dos  kritisoh-speculativeu 
penkcns  aus  den  höchsten  philosophischen  Wahrheiten  abzuleiten 
■d  in  alloh  Strenge  wissenschaftlicher  Begrenzung  zu  bestimmen, 
versucbte  Kant  erst  in  seiner  ,, Kritik  der  Urtheilskraft"  (1790), 
hdem  er  bereits  in  der  „Kritik  der  reinen  Vernunft'*  die 
euntniss  vei*raögen  tind  in  der  ,,Kritik  der  praktischen  Ver- 
fl"  die  Gesetze  des  sittlichen  Handelns  einer  tiefsinnigen  Unter- 
hang unterworfen  und  damit  die  grosse  Revolution  in  allem 
n  wissenschaftlichen  Denken  eingeleitet  hatte,  die  sich  von  da  an 
ta  Hegel  ununterbrochen  fortsetzte  "*.  Dass  nur  Kant  selbst  dazu 
rufen  war,  sein  philosophisches  System  durch  die  Behandlung  der 
iiebre  vom  Schönen  und  von  der  Kunst  zu  vervollstAudigen,  schien 
lesonders  aus  einer  Aesthetik  hervorzugehen,  welche  ein  nicht  unbe- 
?ibler  Anhänger  der  kritischen   Philosophie,   K.  H.  Heydeureich", 


§  316 


10)  Vgl.  B.I.  in,  21— 23.  11)  Geb.  1764  zu  Stolpen  iu  Sachsen,  studierte 
h  tihpt'v(,  wo  CT  sich  aufuQglich  mit  Kifer  auf  die  Gebcbicbte  legte ,  au&dauern- 
^  sät  der  Philosophie  beschäftigte  und  dahd  allerlei  belletristische,  besonders 
^'*o*ti«cbo  Arbeiten  betrieb,  ohne  jedocli  eine  von  diesen  zu  Ende  zu  bringen. 
^<WFm  er  l7S5MaKister  geworden  und  aich  an  der  UniToraitiVt  habilitiert  hatte, 
^er  auch  bald  als  SchriftUeller  im  philosophischen  Fache  auf.  Kr  konnte  in- 
^,  ila  rr  laujje  auf  eine  Besoldung  warten  «lusate,  mit  seinen  Uücheru  nicht  bO 
^Tmlicnen,  ilaes  er  l«i  seinem  Hange  zu  Vergnügringeu  und  zum  geselligen 
UWimitbt  immer  licteriu  Schulden  geralheu  vfXre.  Auch  nachher,  als  er  endlich 
**«•  Professur  erlnngt  hatte,  i-eichte  das  damit  verbundene  üehalt  bei  weitem  nicht 
*«.  üin  vor  immer  neuen  Verlej^eiiheiten  und  empfindlichen  DenuUhifmngen  sicher 
•■«Wien.  Kr  ?Uiubte  aussorhulb  Leipzigs  sich  eine  be*isere  Lage  bereiten  EU 
le^te  sein  Professur  H'ts  nieder  und  gicna  nach  dem  Horf  Burgwerben 
enfeb.  Sein  unmregeltes  Leben  und  unnaiilrlicho  OenüsBe  hatten  aber 
Min«  geistigen  Kräfte  sehr  geschwächt  und  seine  Gesundheit  lief  anrer- 
Cm  jene  aujjuiipannen  und  um  die  äussern  BedrSkognhs«.  in  Äe  er 
La    GruaUriM.    ^.  ^nit.  IV,  21 


322    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jfthrbuuderta  bis  za  Guetho'a  Tod 


316  zu  derselben  Zeit  herausgab'*,  wo  die  Kritik  der  Urtbeilskraft 
schien;    denn  dieses  Buch,   in   dem   schon  der  BegrrifT  des  8cbi>o( 
nichts  weniger  als  aus  den  in  Kants  ersten  beiden  Hauptwerken 
gründeten   und  entwickelten   Wahrheiten  abgeleitet  oder  auch  ni 
echt  philosophisch  bestimmt  war,  konnte  wohl  für  eine  neue  Thcoi 
der  schönen  Künste,   aber  keineswegs  fUr  das  gelten,  was  es  seio 
sollte,  für  ein  System  der  Aesthetik.    Ileydenreich  suchte  den  Grund 
des  Geschmacks   oder   des  Wohlgefallens   am  Schonen   auch  noch 
allein  in  der  Empfindung.    Er  ordnete  daher  alle  Empfindungeo  in 
sechs  Klassen   und  unterauchte  nun,    welche   dieser   verschiedeneii 
Arten  der  Empßndung    in  uns   durch   Gegenstände  erregt  wttrdeo, 
denen   wir  Schönheit   beilegen,    wonach   er  die  Schönheiten  »eil 
wieder  vierfach  classiticierte.    Hier  fand  er,  dass  sich  zwei  dif 
Gattungen   von   Schönheiten   durchaus  nicht  aus  Vemiinftprincipif 
herleiten  liesson,  und  dass,  da  bei  den  übrigen  ein  Urtheil  vorwaii 
zu  untersuchen  sei,    ob  ein  solches  Urtheil  auf  zufälligen  oder 
nothwendigeu  Ursachen  beruhe,   d.  h.   ob  alle  vernünftigen  W< 
wenn   sie   nicht  irgendwo  im  Factum   irren,   darin   UberelDstimn« 
mttssen.     Aber  wie  die  ganze  Eintheilung  der  Empfindungen  uq4 
die  darnach  gemachte  Classification  der  Schönheiten  etwas  WillkBr 
Hches  und  Unlogisches  hat,  so  ist  besonders  auch  in  der  ersten  der 
beiden  Gattungen  von  Schönheiten,  die  in  den  Bereich  des  Urtfaeili| 
fallen  sollen,  der  Begriff  der  Schönheit  auf  Gegenstände  at 
woran  unser  Wohlgefallen  aus  der  Beziehung  entspringt,  w^.. 
auf  unser  Wohl  und  Wehe  haben.    Gleichwie  der  Grund  des  fisti 
tischen  Wohlgefallens  an  gewissen  Gegenständen  bloss  in  der  Em« 
|»finduiig  liegen  soll,  so  soll  der  Ursprung  der  schönen  Künste  auck 
in  den  Zwecken  und  Bedürfnissen  des  Menschen  zu  suchen  eeio,  dia! 
sich    auf  die  Empfindungen   oder   auf  seine  „Empfindsamkeit*'  bff*' 
ziehen.     Alle   Kunstwerke,    die    wir   kennen,    lassen   sich    hienuul 
unter  dem  gemeinschaftlichen  Gesichtspunkt  vereinigen,  das«  sie  zur 
•    Befriedigung  des  im  menschlichen  Geiste  vorhandenen  Bedürfnisse» 
dienen,   eine  in  ihm  lebhaft  gewordene  Empfindung  auf  eine  auck 
Andern  sichtbare  oder  hörbare  Weise  darzustellen:  sei  es  bloM,  qid 
der  Empfindung  Luft  zu  machen,  sei  es  um   dieselbe  andern,  def 
Mitempfindung  fühigen  Wesen  mitzutheilen.    Was  insbesondere  ds^ 
Wesen  der  Dichtkunst  betreffe,  so  bestehe  es  darin,  dass  der  Dicht< 
den  bestimmten  Zustand  seiner  Empfindung  durch  Ideen   dant 


cht«H 
tfiM 


gentheo  war,  sa  vergessen,  ergab  er  sich  immer  mehr  d«m  Truuke.  Er  wv  um» 
oft  mehreiT  Tage  lang  zu  jeder  Arbeit  onHÜiig.  uod  so  battc  sich  seine  L«ge,  "^ 
■tatt  »ich  X»  »erbesseru.   nur  verschlimmert.    Er  starb  ISut,  12»  „S 

der  AcathetOr*.    |.  Bd.    Leipzig  1790.  6. 


EntwickelangBgai^  der  Literatur.    1773— 1&32.   Äeethetik.  Kant.       323 

innd  die  allgemeiDste  Einthcilung  der  Dichtwerke  sei  die,  dass  einige  §  310 

f-ilosa  den  Gegeustand  darstellen,  welcber  die  Empfindungen  erregt 

hat,  ohne  diese  Empfindungen  selbst  noch  insbesondere  zu  scbildem, 

underc  dagegen   nächst  der  Schilderung  des  Gegenstandes  zugleich 

den  Eindruck  deutlich  bezeichnen,  den  er  auf  Empfindung  und  Be- 

gebmngavennögen  des  Dichters  gemacht  habe.    Erst  ge^en  das  Ende 

des  Buchs  hin  wird  der  Begriff  der  ,;Enipfindsamkeit"  selbst  durch 

drei  Merkmale  näher  bestimmt:  die  Fertigkeit  im  Empfinden,  oder 

die   Leichtigkeit,    gerührt   zu   werden;    das   Wohlgefallen    au    dem 

Empfinden  selbst  oder  das  Interesse  daran,  gerUhrt  zu  werden;  und 

die  Freibeit    dieses  Interesse.     Diese  Freiheit   bestehe  aber  darin, 

dafis    das   Wohlgefallen    des   ,, Empfindsamen"    an    seinen    eigenen 

Empfindungen,  sein  Verweilen  dabei,  die  Bemühung  sie  zu  nähren, 

nicht    von   äusseren  Verhfiltnissen,    die   eine   Beziehung   auf  seinen 

K^igenuutz   haben,    sondern   von    innern    Eigenschaften   und   Dispo- 

^Hitionen  seiner  Seele  herrUhren  müsse.    Die  Empfindungen  selbst,  die 

^■er  Empfindsame  so  leicht  in  sich  aufnehme  und  so  gern  bei  sich 

^unterhalte,   seien  nicht  bloss  Gefühle,   sondern   auch  Bestrebungen, 

und  darnach  zertheile  sich  die  „Empfindsamkeit"  in  vier  Operationen: 

in  eine  Kraftäusserung  des  Bestrebens,  welche  schon  zuvor  vorhanden 

^jein   müsse;    in  eine  Anschauung   dieser  schon  vorhandenen  Kraft- 

HikiBsernng  durch   den  innern  Sinn;  in  ein  Urtheil,    welches   diesen 

Zustand  des  Emiifindens  und  Strebeus  als  eine  Vollkommenheit  der 

de  anerkenne;   und  in    ein    daraus  entstehendes  uneigennütziges 

iteresse   für  die  Unterhaltung  solcher  Empfindungen    und    die  Er- 

V  ,'   neuer.     Zuletzt    folgt    eine  Untersuchung    der   Natur   des 

j^-euie's.  Zu  diesem  gehöre :  sei bstscbaöende  Empfindsamkeit: 

'ähigkeit,  das  Object  seiner  Empfindungen  von  sich  selbst  im  Zeit- 

»aiikt  der  Begeisterung  zu  uuterscheiden;  Drang,  Begierde,  seine  Em- 

indung  als  das  Object  derselben  darzustellen;  und  Fähigkeit  dazu  '\ 

In  Kants  drittem  Hauptwerk  bandelt  nur  der   erste  Theil  aus- 

;bliesslich  von  der  Kritik  der  ästhetischen'Urtheilskraft,  den  wir  im 

»Igenden  Auszuge  analysieren".  Nach  den  zweierlei  in  derSubjectivi- 

i\  des  Menschen,  wie  sie  sieb  zu  der  Erfahrung  oder  der  Sinnenwelt 

^'serhält,    von  Kant  gefundenen  Principien  aller  Vernunfterkenntniss, 

IcD  theoretischen  und  den  praktischen,  wovon  jene  auf  die  Erkennt- 

ßiw  der  Natur,  diese  auf  die  Freibeit  im  Handeln  gehen,  theüt  eich 

^ie  Philosojihie  in  die  theoretische  und  die  praktische.     Die  Natur- 

t^griffe,    welche    den    Grund    zu    aller    theoretischen    Erkcnntniss 


\Z)  Kioe  EOhr   atifirahrlicb'^  BeiirthcUtiDg  von  Heydenrcicha  Buch  liat  Garve 
J"  der  n.  Bibliothek   der  acbOnon  ^Vi^?en5chaftcn  43,  1^6  ff.  geliefert. 
^*)  Vgl  «ü  d'Cficm  Auszuge  die  Anm.  l  angL-führten  Ergänzungs-Blätter  Sp.fi3— 92. 

21* 


^^mm 


mB^iW 


324    VI.  Vom  zwcitea  Viertel  des  XVUl  JaUrliuDderts  bU  ku  OovÜie'a  Tod 


§  316  a  priori  eutbalteu,  beruhen  auf  der  Gesetzgebung  de»  Verstandes; 
der  Freiheitsbegriff,  der  den  Grund  zu  allen  siünlicb-unbcdin^eu 
praktischen  Vorschriften  a  j)riori  enthalt,  beruht  auf  der  Gesetzgehim| 
der  Vernunft.  Nun  gibt  es  in  der  Familie  der  ohcm  Erkenntni» 
vennügen  ein  Mittelglied  zwischen  dem  Verstände  und  der  Venmoft, 
die  Urtheilftkrnft.  Sie  ist  das  Vermögen,  das  Resondere  der  empi- 
rischen Anschauung  als  enthalten  unter  dem  Allgemeinen  xu  denkca. 
Ist  das  AUgemeiue  (die  Regel,  das  Princip,  das  Gesetz)  gegeben,  ifi 
ist  die  ürthcilskraft,  welche  das  Besondere  darunter  subBiunicrt^  bC' 
stimmend;  geht  sie  dagegen  von  dem  Besondern,  als  dem  Gego> 
bauen  aus,  um  dazu  dasAlIgemeine  zu  finden,  seist  sie  reflec  tiefend. 
Um  dieses  Ictztitre  Geschäft  ausftlhron  zu  können,  liegt  ihr  ein  ioifltA- 
nenter  Begriff  zu  Grunde,  der  Begriff  der  Zweckmassigkeit;  dmcli 
die  Ausfuhrung  selbst  wird  sie  die  Vermittlerin  zwischen  der  reinco 
intelligenten  >Jatur  des  Menschen  und  der  Erfahrungswelt,  zwischen 
Idealismus  und  Realismus.  —  An  einem  in  der  Erfahrung  gegebenen 
Gegenstände  kann  Zweckmässigkeit  vorgestellt  werden :  entweder  m 
einem  bloss  subjecti  ven  Grunde,  als  Uebereinstimmuug  seiner  Fora, 
in  der  Auffassung  desselben  vor  allem  Begriffe,  mildern  Erkeuit- 
nissvermögen,  um  die  Anschauung  mit  Begriffen  zu  einer  Erkenodüü 
Überhaupt  zu  vereinigen;  oder  aus  einem  objectiven  Grunde,  ak 
Uebereinstimmuug  seiner  Form  mit  der  Möglichkeit  des  Dio^ 
selbst,  nach  einem  Begriffe  von  ihm,  der  vorhergeht  und  den 
dieser  Form  euthrilt.  Die  Vorstellung  von  der  Z\vecktuJiKsigk< 
ersten  Art  beruht  auf  der  unmittelbaren  Last  an  der 
des  Geigenstandes  in  der  blossen  Reflexion  tlber  sie;  die  voa 
Zweckmässigkeit  der  zweiten  Art  hat  nichts  mit  einem  GefUhle 
Lnst  an  den  Dingen,  sondern  mit  dem  Vorstände  in  ßeortbeflui^ 
derselben  zu  thun.  Ist  der  Begriff  von  einem  Gegenstände  gc^«bM» 
Bo  besteht  das  Geschäft  der  Urtheilskraft  im  Gebrauche  deMelbOD 
zur  Erkcnntuiss  in  der  Darstellung,  d.  h.  darin,  dem  Begriffeiot 
entsprechende  Anseliauung  zur  Seite  zu  stellen:  es  sei,  das«  di( 
durch  unsere  eigene  Einbildungskraft  geschehe,  wie  inderKt 
oder  durch  die  Natur  in  der  Teohuik  derselben  iwie  bei  leb« 
Organismen),  wenn  wir  ihr  unscrn  Begriff  vom  Zweck  zur  ßi 
lung  ihres  Productes  unterlegen,  also  uns  diess  Product  der  Natur 
Naturzweck  vorstellen.  Hieratif  gründet  sich  die  Eiuthcilun^ 
Kritik  der  Urtheilskraft  in  die  der  ästhetischen  und  die  der  tel0*>^ 
logischen.  Die  ästhetische  Urtheilskraft  ist  das  Vermögen,  diefoi 
male  oder  subjective  Zweckmäftsigkeit  durch  das  Gefühl  der  Lust 
Unlust,  die  leleologiüche  das  Vermögen,  die  reale  Zweckmi&si^kc 
der  Natur  durch  Verstand  und  Vernunft  zu  beurtheilen.  Die 
der  teleologischen  Urtheilskraft  bildet  den  zweiten  Theil  von 


EatwjckeluDgsg&ng  der  Literatur.     [773— 1S32.    A^tlietik.  Kant        325 


erke,  der  uns  hier  nichts  angeht.  Indem  nun  Kant  zu  einer  §  316 
nalytik  des  Schönen  übergeht,  bestimmt  er  die  Merkmale  des 
hönheitabegriffg,  indem  er  untersucht,  waa  das  ästhetische  oder 
eschmacksurtheilj  d,  h.  das  sich  äussernde  Vermögen,  das  Schöne 
EU  beurtheilen,  nach  vier  Momenten  ist  —  nach  der  Qualität,  nach 
der  QuantitÄt,  nach  der  Relation  der  dabei  in  Betracht  kommenden 
Zwecke  und  nach  der  Modalität  des  Wohlgefallens  an  den  Gegen- 
ständen. Da  ergibt  sich:  a)  Geschmack  ist  das  Vermögen,  einen 
Gegenstand  oder  eine  Vorstellungsart  zu  beurthcilen  durch  ein  Wohl- 
gefallen oder  Missfallen  ohne  alles  Interesse,  d.  h.  ohne  alle 
Beuchuug  auf  unser  Begehrungsvermögen;  und  der  CTCgenstand  eines 
solchen  Wohlgefallens  heisst  schön,  b)  Das  Schöne  ist  das,  was 
ohne  Begriffe  {d.  h.  ohne  Kategorie  des  Verstandes)  als  Object  eines 
allgemeinen  Wohlgefallens  vorgestellt  wird  (oder:  schön  ist  das, 
was  ohne  Begriff  allgemein  gefällt);  und  zwar  wird  diese  Allgemeinheit 
de«  Wohlgefallens  in  einem  Geschmacksurtheil  nur  als  subjectiv 
vorgesteUt,  doch  wird  das  Wohlgefallen  an  dem  Gegenstände  jeder- 
mann an^-osonnen.  Es  ist  aber  die  allgemeine  Mittheilungs- 
f  ä  h  i  g  k  e  i  t  des  Gemdthszustandes  in  der  gegebenen  Vorstellung,  welche 
als  subjectivo  Bedingung  des  Geschmacksurtheils  demselben  zuGrunde 
liegt  und  die  Lust  an  dem  Gegenstande  zur  Folge  hat.  Dieser  Ge- 
mUthszustand  ist  kein  anderer  als  der,  welcher  im  Verhältniss  der 
Vorstellungskräfte  zu  einander  angetmffen  wird,  sofern  sie  eine  ge- 
^«ebeno  Vorstellung  auf  Erkenntniss  überhaupt  beziehen.  Soll 
^Bds  wuer  Vorstellung,  wodurch  ein  Gegenstand  gegeben  wird,  Erkennt- 
^Hds8  werden,  so  gehören  dazu  Einbildungskraft,  für  die  Zusammen- 
^^etzuDg  des  Mannigfaltigen  der  Anschauung,  und  Verstand,  für 
die  Einheit  des  Begriffs,  der  die  Vorstellungen  vereinigt.  Diese  Er- 
kenntniaskräfte  werden  hier  durch  die  Vorstellung  in  ein  freies 
piel  gesetzt,  aus  diesem  freien  Spiel  derselben  geht  das  usthetische 
rtheil  hervor,  und  in  ihrer  Einhelligkeit  wird  der  Gegenstand  oder 
olhmg,  wodurch  er  gegeben  wird,  auf  das  Subject  und  des- 
liil  der  Lust  und  des  Wohlgefallens  bezogen**,  c)  Das  Ge- 
ihmacksurtheil  hat  nichts  als  die  Form  der  Zweckmässigkeit 
nea  Gegenstandes  (oder  der  Vorstellungsart  desselben)  zum  Grunde 
L  der  schöne  Gegenstand  hat  diese  Form  insofern,  als  die  Zweck- 
keit  an  ihm  ohne  Vorstellung  eines  (bestimmten)  Zwecks 
nommen  wird.  Denn  da  ein  ästhetisches  Unheil  schlechter- 
keine  Erkenntniss  vom  Objecto  gibt,  was  nur  durch  ein 
scbe»  Urtheil  geschieht,  sondern  die  Vorstellung,  wodurch  ein 
Öliject  gegeben  wird,  ledighch  auf  das  Subject  bezieht  ,   so  gibt  es 


1S)|  290.  Amn.  16. 


326 


VI.  Vom  tweiten  AHcrtel  dea  XVIII  Jahrhunderts  bis  »u  Ooeüie*fl  Tod 


316  auch  keine  zwcrkmflssigo  Beschaffenheit  iles  Gegenstandes,  9ond< 
nur  die  zweckmässige  Form  in  der  Bestimmung  der  Vorstelluni 
krftftc,  die  sich  mit  ihm  beschäftigen,  zu  hemerken.  Nur  da  ist 
Gescbmacksurthcil  rein,  wo  os  freie  Schönheit  fpulchritudo  v: 
betriflFt,  d.  h.  wo  kein  Begriff  von  dem  vorausgesetzt  wird,  was 
Gegenstand  sein  soll;  es  ist  nicht  rein  in  der  Beurtheilung  hh 
anhängender  Schönheit  ( pulchritudo  ailhaerens) ,  als  welcl 
einen  Begriff  und  die  Vollkommenheit  des  Gegenstandes  nach  ein« 
solchen  voraussetzt.  ludesseu  gewinnt  der  Geschmack  durch 
Verbindung  des  ästhetischen  Wohlgefallens  mit  dem  intellectuell 
danUj  dass  er  fixiert  wird,  und  zwar  nicht  allgemein  ist.  ihm  al 
doch  in  Ansehung  gewisser  zweckmässig  bestimmten  Objecto  Rege! 
vorgeschrieben  worden  können.  Kigentlich  freilich  gewinnt  in  die- 
sem Zusammentreffen  beider  GemUthsznstände,  des  ästhetischen  ui 
des  inlelleetuellen  Wohlgefallens,  weder  die  Vollkommenheit  dm 
die  Schönheit,  noch  die  Schönheit  durch  die  Vollkommenheit;  al 
was  dabei  gewinnt,  ist  das  gesammte  Vermögen  der  Vorst 
lungskraft.  —  Da  kein  Begriff  eines  Objects,  sondern  das  Gefühl  d( 
Subjects  der  Bestimmungsgruud  dos  ästhetischen  Urtheils  ist, 
kann  es  keine  objective  Geschmacksregel  geben,  welche  durch 
griffe  bestimmte,  was  schön  sei.  Der  Geschmack  muss  ein  seil 
eigenes  Vermögen  sein,  und  hieraus  folgt,  dass  das  höchste  Urbil 
des  Geschmacks  eine  blosse  Idee  ist,  die  jeder  in  sich  selbst  hen*' 
bringen  muss.  Idee  bedeutet  eigentlich  einen  Vemunftbegriff.  ui 
Ideal  die  Vorstellung  eines  einzelnen  als  einer  Idee  adäquaK 
Wesens.  Daher  kann  jenes  Urbild  des  Geschmacks,  welches  frcilit 
auf  der  unbestimmten  Idee  der  Vernunft  von  einem  jMaximura 
ruht,  aber  doch  uicht  durch  BegritTe,  sondern  nur  in  einzelner 
Stellung  kann  vorgestellt  werden,  besser  das  Ideal  des  Schöoei 
genannt  werden.  Weil  nun  aber  das  Vermögen  der  Darstellung  di 
Einbildungskraft  ist,  so  wird  es  bloss  ein  Ideal  der  Einbilduuj 
kraft  sein  —  Die  Schönheit,  zu  welcher  ein  Ideal  gesucht  werden  sol 
mnss  keine  vage,  sondern  eine  durch  einen  Begriff  von  objectivj 
Zweckmässigkeit  fixierte  Schönheit  sein;  d.  h.  in  welcher  Art  vM 
Gründen  der  Beurihcilung  ein  Ideal  Statt  finden  soll,  da 
irgend  eine  Idee  der  Vernunft  nach  bestimmten  Begriffen  zum  Grmwl 
liegen,  die  a  ju-iori  den  Zweck  bestimmt,  worauf  die  inner-  '' 
keit  des  Gegenstandes  beruht.  Nur  das,  was  den  Zweck  si 
stenz  in  sich  selbst  hat,  der  Mensch,  ist  eines  Ideals  der  ScbSi 
heit,  so  wie  die  Menschheit  in  seiner  Pereon,  als  Intelligenz. 
Ideals  der  Vollkommenheit  unter  allen  Gegenständen  in  d( 
Welt  fähig.  Hierzu  gehört  zweierlei:  die  ästhetische  Normaliii««! 
welche  eine  einzelne  Anschauung  (der  Einbildungskraft)  ist,  die  da 


Entwickclungsgang  der  Literatur.     177^— !S32.    AcbtlietUi.  Kant.        327 


Hichtmass  zur  Beurtheiluiig  des  Menschen,  al«  eiiica  zu  einer  beson- 
dem  Thior^peeies  gehörigen  Dinges,  vorstellt;   und  die  Vernurft- 
idec  in  dem  Ausdruck  sittlicher  Ideen,  die  den  Menschen  innerlich 
beherrschen,    d)  Schön  ist  endlich,  was  ohne  Begnff  als  Gegenstand 
linep  noihwendigen  Wohlgefallens  erkannt  wird'".    Es  folgt  die  Ana- 
lytik des  Erhabenen,  worin  Kant  vor^sugsweiße  von  der  Erhaben- 
leit  der  Natur  bandeln  zu  mtlssen  glaubt,  da,  wie  er  sagt,  das  Er- 
labenc  der  Kunst  immer  auf  die  Bedinfcungen  der  Uebercinstimmung 
lit  der  Natur  eingeschn^nkt  werde.     Daa  Erhabene  kommt  mit  dem 
'honen  darin  tjberein,  dass  beides  für  sich  selbst  gefällt,  und  dasa 
mäe»    kein   Sinnes-   noch    ein    logisch-bestimmendes,   sondern   ein 
Reflcxionsurtheil  voraussetzt.     Auch   touss  das  Wohlgefallen  am  Er- 
benen  wie  am  Schönen  im   ästhetischen  Urtheil  allgemein   gttltig 
d   ohne  Interesse  sein,   so  wie  subjectire  Zweckmässigkeit,   und 
lese  als  nothwendig.  vor9telli.|r  machen.    Gleichwohl  finden  zwischen 
em  Erhabenen  und  Schönen  bedeutende  Unterschiede  Statt.   Der  wich- 
innerc  ist  der,  das«  die  Natiirschönheit  eine  Zwcckmässig- 
eitin  ihrerForm,  wodurch  der  Gegenstand  für  unsere  UrtheiU- 
kraft  gleichsam  vorherbestimmt  zu  sein  scheint,  bei  sich  führt  und  so 
an  sich  einen  Gegenstand  des  Wohlgefallens  ausmacht;  dass  hingegen 
da«,  was  in  uns  —  ohne  dass  wir  vernünfteln,  bloss  in  der  Auffas- 
sung—  das  Gefühl  des  Erhabenen  erregt,  der  Form  nach  zweck- 
idrigfür  unsere  Urtheilskraft,  unangemessen  unserm  Darstellungs- 
ermögeu   und  gleichsam  gewaltthfltig   für  die  Einbildungskraft  er- 
beinen mag,  und  wir  ihm  dennoch  in  unserm  Urtheil  nur  um  desto 
ehr  Erhabenheit    beilegen.      Hier   soll  eine  Zweckmässigkeit  vor- 
eilig'  gemacht    werden,    die    eine    Zweckwidrigkeit    voraussetzt. 
gentlich  also  ist  ein  Gegenstand  der  Natur  selbst  nie  erhaben;  die 
rhabenheit  kann  nur  in  unserm  rtcmllthe  enthalten  und  der  Gegen- 
and  nur  dazu  tauglich  sein,  eine  solche  Stimmung  in  ihm  hervor- 
rnfen.     Denn  der  Begriff  des  Erhabenen  in  der  Natur  zeigt  nichts 
weckniässigca  in  der  Natur  selbst  an,   sondern  nur  in   dem    mög- 
chen  Gebrauch  ihrer  Anschauungen,   um  eine  von  der  Natur  ganz 
nabhängige  Zwecknulssigkeit  in  uns  fühlbar  zu  machen.    Gleichwie 
'Cimlich   die   Ästhetische  Urtheilskraft   in  Beurtheilung  des  Schönen 
die  Einbildungskraft  in  ihrem  freien  Spiel  auf  den  Verstand  bezieht, 
«tn  mit  dessen  Begriffen  überhaupt,  ohne  dass  diese  bestimmt  sind, 
«mbellig  zu  sein,  das  Gcschmacksurtheil  hier  also  auf  einer  blossen 
^pfiudung  der  sich   wechselseitig  belobenden  Einbildungskraft  in 
H»rer  Freiheit  und  des  Verstandes  mit  seiner  Gesetzmässigkei  t 


§  316 


i6)  Vgl.  über  diese  Analytik  des  Schönen  Hegels  Vorlesungen  Über  dieAesthe- 
*    B^ün  I8."^&— 3*».    n  Bde.   **     I,  74~SO. 


328    VI.  Vom  sweiten  Viertel  dee  XVIII  Jahrhuuüerts  bis  su  Goeüie'e  Tod. 


316  berubt:   so   bezieht  sieb   dasselbe  Vormögen  in  Beuilbeilung  cisei 
Dinges  als  eines  erhabenen  auf  die  Vernunft,  um  zu  deren  Ideen  — 
uubestimmt,  wolcbeu  —  subjectiv  Ubereiazuj^limnien ,  d.  li.  eine  G< 
müthsstimmung  bervoi-zubriugeu,  welche  derjenigen  gcmäse  und 
ihr  vertraglich  ist,  die  der  Einfluss  Lestimmter  Ideen  auf  das 
fühl  bewirken  würde.    Je  nachdem  nun  aber  die  Beziehung  auf 
Erkenntuiss-  oder  auf  das  Begehrungeveruiö^en  geschieht,  i^t  das 
habeue  entweder  ein  Mathematisch-  oder  Dynamisch-Erhabi 
nes.   Dem  Erhabenen  der  ersten  Art,  d.  h.  dem  Grossen  in  der  Natnr^ 
gegenüber  entsteht  in  uns  ein  Gefühl  der  Unlust  ^  aus  der  Unau^e- 
messcnhoit  der  Einbildungskraft  in  der  Hsthctischcn  GrOssenscbitzui 
zu  der  Schützung  durch  Vernunft,  aber  auch  eine  dabei  zugleich  ei 
weckte  Lust,  aus  der  Uehereiustimmung   eben  diescö  UrtheiU  d( 
Unangemessenheit  des  grüsston  sinnlichen  Vermögens  mit  VcraunI 
ideeu,  sofern  die  Bestrebung  zu  denselben  doch   für  uns  Gesetz 
So  wie  Einbildungskraft  und  Verstand  in  der  Beurtbeiluog  d< 
Schöuen   durch   ihre    Einhelligkeit,   so   bringen  Einbilduug*3 
kraft  und  Vernunft  hier  durch    ihren  Widerstreit   subjectir( 
Zweckmässigkeit  der  Gemüthskrftfte  hervor,  nämlich  ein  Gefühl,  datf 
wir  reine  selbständige  Vernunft  hnbcU;  oder  ein  Vortnögcn  dorGriwsen- 
Schätzung,  dessen  Vorzüglichkeil  durch   nichts  anschaulich  gcmachl^ 
werden  kann,  als  durch  die  Unzulänglichkeit  desjenigen  Vermuj 
welches  in  Darstellung   der  Grossen  —  sinnlicher  Gegen^lAnde 
selbst  unbegrenzt  ist.    In   der  ästhetischen  Beurtheilung   des  DviuLn 
misch-Erhabenen  dagogeu  wird  die  Natur  als  Macht  betrachtet,  sofenij 
sie  Gegenstand    der  Furcht    ist,    aber    Über    uns   keine  Gewalt  bat 
Denn  nicht,  in  wiefern  sie  furchterregend  ist,  beurtheilen  wir  sie  «1b 
erhaben,  sondern  in  sofern  sie  unsere  Kraft  —  die  nicht  Natur 
—  in  uns  aufruft,  dass  wir  das,  wofür  wir  besorgt  sind,  aU  kleiB^ 
und  daher  ihre  Macht  fUr  uns  und  unsere  Persönlichkeit  doch  uicbl 
fUr  eine  solche  Gewalt  ansehen,  unter  die  wir  uns  zu  beugen  hättcOf. 
wenn  es  auf  unsere  höchsten  Grundsätze  und  deren  Behauptung  odcl 
Verlassuug  ankäme.    Also  heisst  die  Natur  hier  erhaben,  bloss  wulj 
sie  die  Einbildungskraft  zu  Darstellung  derjenigen  Fälle  erhebt,  in  w( 
chcn  dos  GemUth  die  ci^^ene  Erhabenheit  seiner  Bestimmung,  seil 
über  die  Natur,  sieb  fühlbar  machen  kann.    Man  kaun  ilas  Erhaben! 
auch  80  beschreiben:  es  ist  ein  Gegenstand  —  der  Natur  — ,  di 
Vorstellung   das  Geniüth    bostimnu,   sich   die   Unerreichbarkeit 
Natur   (durch    die  Einbildungskraft)    als  Darstellung  von  Idecc 
denken.   Die  Idee  des  Uebersinnlichen,  in  sofern  wir  subjt- 
Natur  selbst  in  ihrer  Totalität  als  Darstellung  von  etwas  l  ' 
lichom  denken,  ohne  diese  Darstellung  objectiv  zu  Stande  brij 
zu  kOnnen,    wird    in   uns  durch  einen  Gegenstand  erweckt«  ÜMMB^ 


Eutviciceltmgsging  der  Literatur.    1773—1832.  Aeathetik    Kaut.       329 


irtfaoilung 


ift 


Grenze, 


e  Einbildung^ski 

latbematiscb)  oder  ihrer  Macht  über  dasGemQtb 
(djuamisch  I  anspaunt,  indem  sie  sich  auf  das  Gefühl  einer  ßoätimmun^ 
desselben  gründet,  welche  das  Gebiet  der  Einbildungski-aft  gänzlich 
Qberscbrcitct  —  auf  das  moralische  Gefühl  — ,  in  Ansehung  dessen 
tlie  Vorstellung  des  Gegenstandes  als  SU  bjectir  zweckmässig  be- 
artbeilt  wird'^   Indem  Kant  nun  auch  zeigt,  welche  Affecte  ästhetisch 
DrbAben  sein,  und  welche  zum  Schönen  der  Sinnesart  gezahlt  worden 
konneu,    knüpft  er  daran  einige  Bemerkungen,   die  ich  hier  um  so 
muger    übergehen   mag,   in    einem  je  niLhern  Bezüge  sie  zu  dem 
HteD;  was  ich  oben  hin  und  wieder  über  die  weichlich-empfiudsame 
und  noch  andere  schlechtere  Tendenzen  in  unserer  v^honen  [..itoratur 
habe.    Er  sagt  nämlich :  ,, Die  zärtlichen  Rührungen^  wenn  sie 
tum  Affoct  steigen,  taugen  gar  nichts;  der  Hang  dazu  heisst  die 
pfindelei.   Ein  theiluehmcuder  Schmers,  auf  den  wir  uns,  wenn 
erdichtete  Uebel  betrif!'t,  bis  zur  Täuschung  durch  die  Phantasie, 
( ob  er  ein  wirklicher  wäre,  vorsätzlich  einlassen,  beweiset  und 
?hl    eine    weiche ,    aber    zugleich    achwache   Seele  —    Romane, 
»inerliche  Schauspiele,  schale  Sittenvorschriften,   die  mit,   obzwar 
^hliclv  sogenannteu  edeln  Gesinnungen  tändeln,  in  der  That  aber 
Herz   welk    und   für   die    strenge   Vorschrift  der  Pflicht  unem- 
llich,  aller  Achtimg  für  die  Würde  der  Menschheit  in  unserer 
r8on  und  das  Recht  der  Menschen  —  un^J  überhaupt  aller  festen 
rundsätze    unfähig    machen:  —  vertragen    sich    nicht   einmal    mit 
detn^  ^afi  zur  Schönheit,  weit  weniger  aber  noch  mit  dem,  was  zur 
■Krbabenbeit  der  Gemüthsart  gezählt  werden  könnte.''  —  Aus  allem 
bisherigen   ergibt   sich  schon,  —  wird  aber  von  Kant  in   dem  Ab- 
tehaitt,  der  die  Deduction  der  reinen  ästhetischen  Urtheile  enthält, 
weh  tiefer  begründet  und  vollständiger  erläutert  — ,  dass  nach  dieser 
Lebra  kein   objectives  Priucip  des  Geschmacks  möglich,   und  dass 
•lie  Schönheit  kein  Bcgrifif  vom  Object  ist     Von  der  Deduction  der 
Gttcbüi;ick*iurthoile  geht  Kant,  nachdem  er  noch  von  der  Mittelbar- 
te einer  Emjitindung,   vom  Geschmack  als  einer  Art  vom   sensus 
^nniaiiis,  von  dem  empirischen  und  von  dem  intclloctuellcn  Inter- 
*we  am  Schönen  gehandelt^  zu  dem  über,  was  er  von  der  schönen 
Kjittsi  zu  «ngcn  hat.   Indem  er  zuerst  alle  Kunst  in  die  mechainsche 
N  die  ästhetische  theilt,  und  die  letztere  ihrem  allgemeinsten  Be- 
griffe nach   dahin  bestimmt,  dass  sie  das  Gefühl  der  Lust  zur  un- 
Diitlf'lbareu  Absicht  habe,  sondert  er  hierin  wieder  die  angenehme 
und  die  schöne  Kunst  von  einander  ab.     Der  Zweck  der  erstem 
djws  die  Lust  die  Vorstellungen  als  blosse  Empöndungen ,   der 


§  316 


17)  Vgl  hierzu  Hegel  a.  a.  0.  1,  -167. 


330    VI.  Yom  zwHten  Viertel  dca  XYIII  J&hrhunJeita  bis  zu  Goethe*«  Tod 


%  316  Zweck  der  andern,  da8s  sie  dieselben  als  E  rkenntnissarten  begleil 
Schöne  Kunst  ist  eine  Vorstellungsart,  die  für  sieb  selbst  stwcfl 
mflssig  ist,  und  obgleich  ohne  Zweck,  dennoch  die  Culfur  der  Gi 
müthskräfte  zur  geselligen  Mittbeilung  befördert.  Daher  hat  ßie 
reflectierende  Urtbeilskraft,  und  nicht  die  SinnenempfinduDg  it 
Richfmass.  An  einem  Producte  der  scbi'inen  Kunst  muss  man  sich 
bewusst  werden,  dass  es  Kunst  sei,  und  nicht  Natnr;  aber  doch 
muss  die  Zweckmässigkeit  in  der  Form  desselben  von  allenl  Zwatifc 
willkürlicher  Regeln  so  frei  scheinen,  als  ob  es  ein  PrrMlncl  li^ 
blossen  Natur  sei.  Auf  diesem  Gefühl  der  Freiheit  im  Sjiiele  unicn'r 
Erkenntnissvermögenj  welches  doch  zugleich  zweckmässig  sein  niusi 
bei-uht  diejenige  Lust,  welche  allein  allgemein  mittheilbar  ist,  ohne 
sich  doch  auf  Begriffe  zu  gründen.  Die  Natur  ist  schön,  wenn  sie 
zugleich  als  Kunst  aussieht;  und  die  Kunst  kann  nur  schiin  genannt 
werden,  wenn  wir  uns  bewusst  sind,  sie  sei  Kunst,  und  sie  nns  rl(» 
als  Natur  aussieht.  Daher  muss  die  Zweckmässigkeit  im  Prodt 
der  BchOnen  Kunst,  obgleich  sie  absichtlieh  ist,  doch  nicht  absicfatlk 
scheinen.  Schöne  Kunst  ist  nfimlich  Kunst  des  Genie'! 
Das  Genie  aber  ist  eine  Naturgabe,  die  angcbome  Gemfithsanlage 
genium),  durch  welche  die  Natur  der  Kunst  die  Regel  gibt 
Denn  da  jede  Kunst  Regeln  voraussetzt,  diese  aber  fOr  die  flcli'''oe 
Kunst  nicht,  wie  f{\r  die  mechanische,  von  aussen  her  genommen  wer- 
den oder  solche  sein  können,  die  einen  Begriff  zum  ßestimmungsgrunde 
haben,  so  muss  die  Natur  im  Subjecte  —  und  durch  die  Stimmmij 
der  Vennögen  desselben  —  der  Kunst  die  Regel  geben;  d.  h.  die 
schöne  Kunst  ist  nur  als  Product  des  Gcnie*s  möglich.  Hienn 
folgt,  dass  Originalität  die  erste  Eigenschaft  des  Genie'a  sein  inini: 
dass  —  da  es  auch  originalen  Unsinn  geben  kann  —  seine  Prodorte 
zugleich  Muster,  d.  i.  exemplansch  sein  und  also  Andern  zum  T  * 
mass  oder  zur  Regel  der  ßeurtboilung  dienen  müssen;  da*-:  ;  c 
Genie,  wie  es  sein  Product  zu  Stande  bringe,  selbst  nicht  beschrei- 
beu  oder  wissenschaftlich  anzeigen  kann ,  sondern  dass  e*i  :'•'• 
Natur  die  Regel  gibt,  und  daher  der  Urheber  eines  Prodnct».  ^^^'- 
ches  er  seinem  Genie  verdankt,  selbst  nicht  weiss,  wie  sich  in  ibtu 
die  Ideen  dazu  herbeifinden,  auch  es  nicht  in  seiner  Gewalt  bnt 
dergleichen  nach  Belieben  oder  planmässig  auszudenken  und  An'^'^ 
in  solchen  Vorschriften  mitzutheilen,  die  sie  in  den  Stand  sei 
gleichmässige  Prodticte  hervorzubringen;  und  dass  endlich  dicNiai. 
durch  das  Geuie  nicht  der  Wissenschaft,  sondern  der  Kunst  die 
Regel  vorschreibt,  und  auch  dieser  nur,  insofern  dieselbe  - 
Kunst  sein  soll.  Die  Regel  der  schönen  Kunst  muss  demnach  i.;-^ 
von  der  That,  d.  h.  vom  Product  abstrahiert  werden,  an  welcheia 
Andere  ihr  Taleut  prüfen  mögen,  um  sich  jene«  zum  Muster,  niebt 


EotwifkeJungpgnng  der  Literatur.    1773— 1S3?.    Aestlietik    Kant        331 

r©r  Nachmachuüg:,  soniiern  iler  Nachahmung  oder  Nachfolge  Jienen  §  316 

«In«!sen.  lutless  gibt  es  keine  schune  Kunst,  zu  ileren  Ausübung 
^fat  auch  gewisse  mechanische  Fertigkeiten  erforderlich  wflren,  die 
ler  Regeln  befa^st  und  nach  denj*elben  angewandt  werden  müssen. 
Das  Genie  kaun  nur  reichen  Stoff  zu  Producten  der  schonen  Kunst 
hergeben;   die  Verarbeitung  desselben  und  die  Form  erfordert  ein 

t;h  die  Schule  gebildetes  Talent,   um   einen  Gebrauch   davon  zu 
hen,   der  vor   der  Urtheilskraft   bestehen  kann  —  Es  gibt  Pro- 
ducte,  die  zur  schönen  Kunst  gerechnet  sein  wollen,  und  au  denen 

|;h  der  Geschmack  nichts  zu  tadeln  findet,  die  aber  dennoch  etwas 
ibefriedigendcfl  haben,  weil  sie  ohne  Geist  sind.  Geist  nämlich 
isst  in  ästhetischer  Beziehung  das  belebende  Princip  im  GemlUhe, 
ßjenigc  aber,  wodurch  dieses  Princip  die  Seele  belebt ,  der  Stoff, 
1  es  dazu  anwendet^  ist  das,  was  die  Gemüthskräfte  zweckmässig 
bt 


Schwung  versetzt,   d.  h.  in  ein  solches  Spiel 


welches  sich  von 
Ibst  erhält  und  selbst  die  Kräfte  dazu  stärkt.  Dieses  Princip  ist 
bun  nichts  anders  als  das  Vermögen  der  Darstellung  ästhetischer 
M^een;  eine  ästhetische  Idee  aber  ist  eine  einem  gegebenen  Begriffe 
■Egcseilte  Vorstellung  der  Einbildungskraft ,  welche  mit  einer 
solchen  Mannigfaltigkeit  von  Theilvorstellungen  in  dem  freien  Ge- 
^Mucbe  derselben  verbunden  ist,  dass  fttr  sie  kein  Ausdruck,  der 
^■en  beetimmten  Begriff  bezeichnet,  gefunden  werden  kann,  die 
^L>  zu  einem  Begriffe  viel  Unnennbares  hinzudenken  l/lsst,  dessen 
Hfühl  die  Erkenntnissvermügen  belebt  und  mit  der  Sprache,  als 
^p>3sem  Buchstaben,  Geist  verbindet,  Man  kann  überhaupt  SchÖn- 
beit,  sie  ma^r  Natur-  oder  Ktiustschünheit  sein,  den  Ausdruck 
tbetiscber  Ideen  nennen:  nur  dass  in  der  schönen  Kunst  diese 
le  durch  einen  Begriff  vom  Objecte  veranlasst  werden  muss,  in 
schönen  Natur  aber  die  blosse  Retlexion  tlber  eine  gegebene  An- 
lauung,  ohne  Begriff  von  dem,  was  der  Gegenstand  sein  soll,  zur 
xckung  und  Mittheilung  der  Idee,  von  welcher  jenes  Object  als 
Ausdruck  betrachtet  wird,  hinreichend  ist  —  In  aller  schönen 
mst  besteht  das  Wcsentliclie  in  der  Form,  welche  für  die  Beob- 
mchtuDg  und  Beurtheilung  zweckmässig  ist,  wo  die  Ltist  zugleich 
Cultur  ist  und  den  Geist  zu  Ideen  stimmt,  mithin  ihn  fllr  mehr 
^Icbe  Lust  und  Unterhaltung  empfänglich  macht;  nicht  in  der  Ma- 
ie der  Empfindung  (dem  Reize  oder  der  Rührung),  wo  es  bloss 
Genuss  angelegt  ist,  welcher  nichts  in  der  Idee  zurücklässt,  den 
ist  Htumpf^  den  Gegenstand  nach  und  nach  anekelnd  und  das 
iDth,  durch  das  Bewusstsein  seiner  im  Urtheile  der  Vernunft 
^kwidrigen  Stimmung,  mit  sich  selbst  unzufrieden  und  launisch 
ibt.  Wenn  die  schönen  Künste  nicht,  nahe  oder  fern,  mit  mora- 
^hen  Ideen  in  Verbindung  gebracht  werden,   die  allein   ein  selb- 


wm 


VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVin  Jahrhunderts  Ins  zu  Goeihe's  Tod 


§  3H>  stän^ii^es  Wohlgefallen  hei  sich  führen,  so  ist  das  letztere  ihr  en« 
liches  Schicksal.  8ie  dienen  alsdann  nur  zur  Zerstreuung,  doreu 
immer  desto  mehr  hedürftig  wird,  als  man  sieh  ihrer  bedient, 
die  Unzufriedenheit  des  GemUths  mit  sich  selbst  dadurch  zu  vn^' 
treiben,  dass  man  sich  immer  noch  unnfttzlicher  und  mit  sich  selbst  un- 
zufriedener macht  —  Das  Sc h 0  n  e  ist  das  Symbol  des  S i  tt  1  i  c  h  pu icn. 
Der  Geschmack  macht  gleichsam  den  Uebergang  vom  Sinneureii 
zum  habituellen  moialischen  Interesse ,  ohne  einen  £u  gewiütnmoi 
Spfung,  möglich,  indem  er  die  Einbildungskraft  auch  in  ihrer  Frei- 
beit  als  zweckmilssig  für  den  Verstand  bestimmbar  vorstellt  uod 
sogar  an  Gegenständen  der  Sinne  auch  ohne  Sinnenreiz  ein  £reie« 
Wohlgefallen  finden  lehrt.  Andrerseits  ist  aber  auch  die  vnhn 
Propädeutik  zur  Gründung  des  Gesclonacks  die  Entwickelong  sin- 
licher  Ideen  und  die  Cultur  des  moralischen  Gefühls,  da,  ntir  wenn 
mit  diesem  die  Sinnlichkeit  in  Einstimmung  gebracht  wird,  der  edUe 
Geschmack  eine  bestimmte  unveränderliche  Form  annehmen  kaoit 

Der  schwächste  Abschnitt  in  der  „Kritik  der  UrthciUkraft" 
der,  welcher  auf  die  ciuzelneu  schönen  KUnste  eingebt;  zu  eit 
gründlichem  Ausführung  desselben  hatte  der  grosse  Denker  &k 
genug  Anschauungen  von  bedeutenden  Werken  der  bildenden  Ki 
gewonnen,  und  gieng  ihm  auch  zu  sehr  die  Bekanntschaft  mit  dflfl 
vortrefflichsten  Erzeugnissen  der  Dichtkunst  ab,  zumal  mit  dese» 
der  neuem,  der  heimischen  wie  der  fremden.  Dagegen  mus«  «Uei. 
was  in  den  mehr  allgemeinen,  aus  reiner  Speciüation  hcrvorgegu* 
genen  Abschnitten  von  Gedanken  niedergelegt  ist,  als  die  erste  tu 
den  höchsten  Principien  des  Denkens  mit  wissenschaftlicher  StrcB|» 
entwickelte  Lehre  vom  Schönen,  vom  Erhabenen  und  vnn  der  Knut 
angesehen  werden.  Hierin  ist  nflmlich  zuerst  erkannt  und  pbiloto- 
phisch  erwiesen,  dass  in  dem  Schönen  Überhaupt  die  T  _'  sich 

aufgehoben  linde,   die  sonst  in  unserm  Bewusstsein  z\>  All^ 

meinem  und  Besonderem,  Zweck  und  Mittel«  Begrifl*  und  Gegetwiftiai 
vorausgesetzt  ist,  indem  sich  diese  Gegensätze  in  dem  Schönen  vor- 
kommen durchdringen;  dass  also  auch  das  Kunstschöne^  wi 
von  dem  Genie,  als  einer  Naturgabe,  hervorgebraeht  werde, 
solche  Zusammenstimmung  anzusehen  sei,  in  welcher  das  Bi 
selbst  dem  Begrifte  gemiiss  ist,  so  dass  hier  Natur  und  Fn 
Sinnlichkeit  und  ßegrifl*  in  Einem  ihr  Recht  und  ihre  BefriedigiOf 
finden.  Doch  soll  diese  vollendete  Aussöhnung  nicht  als  eine 
dem  Objectc  selbst  zu  Staude  gekommene  an  diesem  be^ffa 
erkannt  werden,  snndern  für  das  Bewusstsein  nur  subjectiv, 
gleich  mit  dem  berechtigten  Anspruch  auf  Allgemeingtlitigkeit, 
vorgehen,  und  zwar  aus  einem  durch  den  schönen  Gegenstand 
vorgerufenen   freien  Spiel  der  Einbildungskraft  und  des  Verstant 


^m 


^ 


Eutrickeiuogbgaug  der  Literatur.     1773— tS32.   Aestheiik.  Schiller.      333 


ihrer  Einlielligkeih  indem  der  Gegenstand  iu  dieser  Einhellifrkeit  §  311 
Erkenntnissvermügen    auf   das  Subject    und   dessen  GcfUbl   der 
t   und  des  Wohlgefalleus    durch  ein  refleetierendes  Urtheil»  das 
etisehe,    bezogen  werde '\      Der    wicbtigato  Satz   der  k:inti8chen 
rC;  der  nicht  bloss  für  die  weitere  Ausbildung  derselben  eich  als 
er  der  fruchtbar.steu  erwies,  sondern  auch  in  der  Anwendung  der 
flussreichste  auf  den  in  dem  Eutwickelungsgange  unserer  Dichtung 
der  Mitte  der  Neunziger  eintretenden  Umschwung  wurde,   war 
welcher  das  Wesentliche  aller  schünen  Kunst   in   die   Form, 
U  nicht  in  den  Stotf,  setzte,  d.  b.  iu  diejenige  ßeschnffenhcit  eines 
pMtwerkSf    welche   ihren  Grund    in   dem,   wie   etwas   dargestellt^ 
lebt  in  dem,  was  dargestellt  wird,  nicht  in  dem  gegebenen  oder  ge- 
hblten  GegenstAnde,  sondern  in  der  Art  und  Weise  hat,  in  welcher 
rselbe  von  dem  EUnstler  behandelt  und  zur  Anschauung  gebracht  ist. 
Schiller    war    der  erste,    der    die  Philosophie    des  Schönen 
der  Kunst  auf  dem  von  Kant  gelegten  Grunde'*,  wenn  auch  • 

tbt  in    einem   eigentlichen,  bis  zur  Vollständigkeit  in  sich  abge- 
enen  Systeme,  so  doch  iu  mehreren  Haupttbeilen  weiter  aus- 
dfile.     Allerdings  hatte  er  eine  Zeit  lang  die  Absicht,  die  Lehre 
Schunen   und   von   der  Kunst   in   ihrem   ganzen  Umfange   in 
nem  auf  mehr  als  einen  Band  berechneten  Werke  abzuhandeln, 
f5n(:lich   in  Gesprächsform ,    nachher   iu  Briefen.     Welchen  Gang 
hierbei  zu  nehmen  gedachte,  als  er  bereits  zur  Ausarbeitung  in 
iet  zuletzt  erwähnten  Form  geschritten  war,  erfahren  wir  umstftnd- 
icb  au»  einem  seiner  im  Anfange  des  Jahres    1794   von  Schwaben 
IM  «n  Körner  gerichteten  Briefe**,    „Ueber  den  Begriff  der  Scbün- 
icit''.  hcri<?btet  er  hier,  ,,habe  ich  mich  noch  gar  nicht  eingelassen, 
M  ieb  bin  auch  jetzt  noch  gar  nicht  so  weit"  (obgleich  die  fertigen 
Briefe  damals  schon  gegen  vierzehn  Bogen  im  Druck   hilttcu   füllen 
Sivjen),  „weil  ich  erst  eine  allgemeine  Betrachtung   über   den  Zu- 
UObenbaug  der  schönen  Empfindungen  mit  der  ganzen  Cultur  und 
■törliaupt  über  die  fUtbctische  Erziehung  des  Menschen  voranschickte. 
^^  dem  Eiuflui<3  des  ScbOneu  auf  den  Menschen  komme   ich   auf 
|e&  Eintiuss  der  Theorie  auf  die  Beurtheilung  und  Erzeugung  des 
iönen  und  untcreuche  erst,   was  man  sich  von  einer  Theorie  des 
kwjien  zu  erwarten   und  besonders  in  Rücksicht   auf  die  bervor- 
de  Kunst  zu  versprechen  habe.    Diess  fuhrt  micb  natürlicher- 


IS>  Vgl.  Flegel  a.  a.  0.  1.  fO  f.  1<)»  Vgl.  hierzu  und  x\i  dem  Folgenilen 

^1?a— I**.  sowie  K.  Tomasrhek,  SchiUer  iu  sdnom  VerbiltnisB  zur  WIssOTisehat» 
null  C.  IVesten.  Schiller  in  seinem  VorhäUniss  zur  WUscuftchan  dar- 
rlin  I«fi3.   S.  aud»  Probiäch   in  don  Bericbteu  der  k.  S^hs.  tf««* 
d.  WU«WJscb      IS59,  S.   (76—104.  20)  3,    1^9   ff. 


'334     VI.  Vom  zwejteu  Viertel  des  XVIH  JulirhandorU  bU  ru  Goethei  Tod 


§316  weise  auf  die  von  aller  Theorie  unabhängige  Erzeugung  des  Ori^ 
nalschöneu  durch  das  Genie.    Hier  hin  ich  gerade  jetzt,  und  es  vird 
mir  ^ar  schwer,  Über  den  Beg:riif  des  Geuie's  mit  mir  einig  zu  w 
den.    In  Kant»'  Kritik  der  Urtheilskraft  werden  darüber  sehr  hcd 
tende  Winke  gegeben;  aber  sie  sind  noch  gar  nicht  befriedigcü>l" 
Bei  Erörterung  des*  Punktes,  wie  die  Wissenschaft,  welche  die  vlid 
dem  Genie  durch  seine  Producte  gegebenen  Kegeln  sammele,  v 
gleiche  und  versuche,  ob  sie  unter  eine  noch  allgemeinere  und 
lieh  unter  einen  einzigen  Grundsatz  zu  bringen  seien ,  doch  nur 
eingeschränkte  Autorität  emj>irischer  Wissenschaften  habe,  indem 
TOD  der  Erfahrung  ausgehen  müsse  etc.,  „nehme  ich  Gel^enb 
aus  Gründen  zu  deduciereu,  was  von  empirischen  Wissen.-'    ' 
erwarten  ist,  und  aus  der  Art,  wie  die  Wissenschaft  tU 
entsteht,  darzuthun,  was  sie  zu  leisten  im  Stande  ist.     Ich  bestimm« 
also  zuerst  die  Methode,   nach  der  sie  errichtet   werden   muss, 
dann  zeige  ich  ihr  Gebiet  und  ihre  Grenze.     Nach   diesen   Vor 
reitungen  gehe  ich  dann  an  die  Sache  selbst,  und  zwar  fange 
damit  an,  den  BegrifT  der  schönen  Kunst  erst  in  seine  zwei  B 
theile  aufzulösen,  aus  deren  Vermischung  schon  so  viele  Confi 
in  die  Kritik  gekommen  ist.     Diese  zwei  Bestandtheile  sind:  1)  E 
und  2)  schOne  Kunst'*'".     „Wenn    ich    nun    auf   diesem  Wege 
reinen  Begrifl'  der  Schönheit,  der  aber  freilich  nur  empirische  A 
rität   hat,    gefunden    habe,    so   ist  mit  demselben   auch  der  ers 
Grundsatz  aller  schöoeu  Künste,  als  schöne  Künste^  ge^ebuu 
bringe  denselben  also   wieder  in  die  Erfahrung   zurück    ond 
ihn    gegen    die    verschiedeneu    Gattungen    möglicher    Danrtell 
woraus  denn  die  besondern  Grundsätze  der  einzelnen  schönen  K 
hervorgehen  werden.     Alsdann  wird  es  darauf  ankommen,  wie 
ich    mich    auf  die  Theorie   dieser   einzelnen  Künste  einlassen 
Die  Künste  selbst  theile  ich  geueraliter  ein  nach  ihrem  Zwecke,  w 
dieser  die  allgemeinen  Regeln  bestimmt;   speciticicre  sie  aber 
ihrem  Material  und  ihrer  Form,  weil  daraus  die  besondem  R 
entspringen"".     ,,Nuu  kommt  es  darauf  an,  ob  der  objective  Zw 


M 


21)  Die  techniBchen  Hegeln  namlicb,  unter  denen  auch  die  schönfEud 
aläKnnst  stehe,  dtirften  ja  nicht  mit  den  listhetiscben  verwechsdt  wenlen; 
wenn  man  dos  Technische  von  dem  Ae&thc tischen  schciUe  und  von  dtMu  Betrifft 
Species  — der  schönen  Kunst  — das  trenne,  was  bloss  d-Ti  Begriff  der  G»l 
—  Kunst  schlechtweg  —  angehe,  sei  man  auf  dem  rechten  Wege  «ur  Kntdi 
der  Scböahcitsregeln.  22)  I'ie  Haupteintbeüang  werde  dann  sein  in  KOnttei 
Bedürfnis  SC9  und  in  Künste  der  Freiheit.  Jene  bearlieit^'n  entweder  Sacheö. 
oder  Gedanken  oder  Handlungen;  darnach  erbalte  man  Ä  rcbiie  et  ur  in  «4 
iter  Bedeutung.  Beredsamkeit  und  die  BchöneLebrniiart,  Die  Künste  dir  1 
beit.  deren  eigentlicher  Zweck  darin  bestehe,  in  der  freien  Bi>trachtaui;xu 


Entwickelongsgang  der  Literatur.    1773—1^32.  Acätlietlk.  Schiller      335 

k>88  um  des  subjectiven  willen  da  ist,  oder  ob  er  auch  unabhängij?  §  316 
bn  diesem  (der  Schönheit)  den  Künstler  interessiert.  Doch  muss 
in  dem  letztern  Falle  kein  physischer,  sondern  auch  ein  ästhe- 
eher  Zweck  sein.  —  Darauf  gründet  sich  die  Eintheilung  der  KUnste 
scbüue  Künste  (In  strengster  Bedeutung)  und  in  Künste  des 
f  f  ec  1 3  *■.  Schiller  suchte,  wie  schon  oben  ^'  angedeutet  wurde,  in  seinen 
unstphilosophischeu  Abbandlungen  zunächst  die  sittlich-ästhetischen 
iwecke  der  li-a^ischen  Kunst  sich  und  Andern  zu  vollem  Bcwusst- 
in  zu  bringen.  Hierzu  boten  sich  ihm  in  der  kantischen  Lehre 
Dm  Erhabenen  die  erwünschtesten  Ausgangs-  und  Stützpunkte,  und 
iXi/t  aus  dieser  Lehre  waren  es  daher  auch  vorzüglich,  welche  in 
n  beiden  im  Jahre  1792  gedruckten  Abhandlungen,  so  wie  in 
ner  dritten  aus  dem  folgenden  Jahr,  ,,Uber  das  Pathetische"  (oder 
Ic  die  Ueberschrift  zuerst  lautete,  „vom  Erhabenen,  zur  weitem 
üsführnug  einiger  kantischeu  Ideen"j'^  von  ihm  weiter  und  mit  be- 
ruderer  Anwendung  auf  die  tragische  Kunst  entwickelt  und  er- 
itert  wurden.  Wie  Schiller  in  diesen  Abhandlungen  noch  nicht 
entlieh  über  den  Standpunkt  Kants  in  seiner  Kritik  der  Urtheils- 
ift  hiuauBgieng,  so  geschah  diess  auch  noch  nicht  in  den  unvoll- 
det  gebliebenen  „Zerstreuten  Betrachtungen  über  verschiedene 
ihetische  Gegenstände"  (über  die  Unterschiode  des  Schönen  und 
babeuen  vom  Angenehmen  und  Guten )"*,  die  wahrscheinlich  aus 
allere  Vorlesungen   über  die  Aesthetik   hervorgiengen"'.     Ueber 


en  die  schönen  KOnate  in  weiterer  Bedeutung.    Jedes  schöne  Ennstverk  fOhre 

»er  immer  einen  doppelten  Zweck  aus,  und  auf  die  Art  und  Weise,  wie  sich  diese 

eierlei  Zwecke  zu  einander  verhalten,  gründe  sich  die  Untorabth eilung  der  schönen 

inste.   I>er  eincZwcck  sei  ein  objcctiver,  den  das  Kuiiätwerk  ankündige, 

i  der  ihm  gleichsam  seinen  Korpor  verschaffe;  dorandorc  ein  subjcctiver, — 

t  es  verschweige,  ob  es  gleich  der  vornehmste  sei  —  durch  die  Art,  wie  es  den 

iveu  Zweck  aufifiihre,  den  Gescbmack  zu  ergetzen.   Durch  objective  Zweck- 

Bsigkeit  — Wahrheit  der  DarsteUung  -  werde  der  Verstand,  durch  subjoctive 

S c  h  o  nh  ei  t  —  der  Geschmack  befriedigt;  dieses  Zweite  allein  ma  che  den  Künstler 

schönen  Künstler.  23)  Von  dieser  Eintheilung  wUl   er  dem  Freunde 

,  ftoderuial  Kechenschaft  geben".    Diess  ist  in  keinem  der  folgenden  Briefe 

beheo.     Dag^n  wird  dem  Freunde  am  VI.  Septbr.  n*J4  gemeldet  (:i.  106  f.): 

ch  bearbeile  jeiii  meine  Correspondenz  mit  dem  Prinzen  von  Augustenburg,  die 

ich  Dir  gewiss  binnen  drei  Wochen  schicke.    Sie  wird  unter  dem  Titel  „„lieber 

die  Aatlietische  Eridehung  des  Menschen""  ein  Ganzes  ausmachen  und  also   von 

nehier  eigenllichea  Theorie  des  Schönen  unabhängig  sein,  obgleich  sie  sehr  gut 

dua  Torbereiten  kann".  24)  S.  126.  2j)  Vgl.  S.  127.    Bei  Gödcke  IM. 

36  ff.  26)  Bei  Gödeke  tO,  17^  flF.   Am  ausführlichsten  wird  auch  hier  vom 

bCDCD  gehandelt;  vgl  jedoch  Ilofftneister  2,  337  f.  27»  Briefwechsel  mit 

3^  224.  —  Auf  einem  freiem   und  von   Kant   uuabbangigcni   SUndpaukt 

■  hatte  sich  Schiller  vor  dem  Publicum  schon   in  der  Abbuidlaxig  „ftber 

und  Würde"  gezeigt,  welche  etwas  früher  als  die  „über  du  P»ä»«ti»che^ 

di«  „ier*treuten  Betrachtungen"  etc.  gedruckt  wurde. 


336    VI.  Vom  zweiteu  Viertel  des  XVllI  JaUrhunderts  bis  tu  Go«tbc*f  T« 

316  Kant  hinaus  gieng  er  zuersl,    als  er  nach  einem  objectire 

griff  des  Schönen  suchte.  Sein  Freund  Körner^  der  eich  früher  ab 
Schiller  mit  der  kantischen  Philosophie  beschäftigte,  und  der  wäh- 
rend der  ganzen  Zeit,  in  welclier  dieser  seine  kuDstphilosnphlscbeo 
Schriften  thcils  vorbereitete  thciU  ausarbeitete,  an  seinen  Unter- 
suchungen einen  thätigen  Antheil  nahm  und  manche  iu  jenen"  ent- 
wickelte Ideen  in  dem  Freunde  anregte**,  hatte  bereits  im  Min 
1791,  als  Schiller  eben  angefangen  hatte  nähere  Kenntnis»  von  Kints 
Kritik  der  Urtheilskraft  zu  nehmen,  an  ihn  geschrieben",  dass  ihn 
Kants  Methode  in  diesem  Werke  nicht  befriedige:  ,,Kant  gpricbt 
bloss  von  der  Wirkung  der  Schönheit  auf  das  Subject.  Die  Ver- 
schiedenheit schöner  und  hjisslicher  Objecto,  die  iu  de- 

selbst  liegt,  und  auf  welcher  diese  Classification  beruht,  un: »:  j:, 

nicht.     Dass  diese  Untersuchung  fruchtlos  sein  würde,  behaiipiet 
ohne  Beweis,   und  es  fragt  sich,    ob  dieser  Stein  der  Weiscu  Dir 
noch  zu  finden  wäre*'.    Die  erste  Meldung  Schillers  an  KÖmer, 
er  „den  objectiven  Begriff  des  Schönen,   der  eich  eo  ipso  aucb 
einem  objectiven  Grundsatz  des  Geschmacks  qualificiere,  glaube 
funden   zu   haben",    enthält  der  Brief  vom   21.  Decbr.    1792*'. 
dem  Briefe  vom  25.  Jan.  1793*'  beginnt  dann  Schiller  seine  ol 
Unterbrechung   fortlaufenden  Mitthoilungen    an    Körner    Ober 
kuu8t])hiN>so]ihi»chen  F'orschungdu,  deren  Ergebnisac  den  luhalt 
Gesprftchs  „Kallias'*   bilden  sollten".     In  jenen  Mittbeilungen 
sucht  Schiller  den  Begriff  der  Schönheit  objectiv  aufzustellen.   Si 
dem  er  gezeigt  hat,  dass  das  Object  der  logischen  Naturbeurtheilal 
—  Vornnnf tmassigkeit,  das  Object  der  teleologischen  —  Vei 
nunftähnlichkeit   sei,    begründet  er  die  Behauptung,    daw 
Schönheit  nicht  unter  der  Rubrik   der  theoretischen .  sondern 
der  der  praktischen  Vernunft  gesucht  werden  müsse.    Die  praktii 
Vernunft  näuilich   könne,  ^ben   so  wie  die  theoretische,  ihre  Fe 
sowohl  auf  dag,  was  durch  sie  selbst  ist  (freie  Handlungen K  als  t^ 


2S)  Namentlich   auch    in    doa   ßriofon   „(ther   die  ästhrtiscbo  ErziehoaV' 
Menschen".  29)  Vgl.  besonders  Briefwechsel  3,  1 15  ff,  30)  X  WJ 

31)  2,  355.  32)  3,  5  ff.  33)  Sie  rcicheo  bis  in  die  ersten  Ti 

Marx,  wo  der  Anhang  tm  dem  Briefe  vom  2N.  Febr.  qeschriel»eu  sein  mus» 
denn  zu  dicflem  Anhang,  und  nicht  zu  dem  üriet  vuoi  20.  Juui  ij^ebört 
Schöne  der  Kunst"  überscbri ebene  Beilage  i^,  (12  ff).    Es   Ist  die  „Inl 
welche  sich  Schiller  zu  Knde  jene«  Anhanges  bezieht;  mit  dem  Hnefe  vom 
hatte  Körner  die  Abhandlung  „übcrAnmuth  and  Wörde"  erhalti  i 

aoB  der  Vergleicbmig  von  3,  7:i  und  7*»  mit  dem  Inhalt  jentT  .1 
ftudrorseit«  aus  dem  Inhalt  des  ki^iruerachen  Briefes  ?om  2M.  Juli  {.i,   i.;i  ff», 
noi-  Bezug  auf  die  genannte  Abhandlung  nimmt  und  eine  Antwort  auf  dcn_ 
Schillers  vom  20.  Juni  ißt, 


v> 


Ibt 


tiwickeluBgsgaag  der  Literatur. 


Aesthetik.  ScfaiUer. 


was  nicl)t  durch  sie  ist  iNaturwirkungen)  anwenden.    Im  letz-  §  316 
Falle  leihe  sie  dem  Gegeastaiido  (regulativ,  und  jiicht,  wie  bei 
moralischen  Beurtbeilung,  constitutivj  ein  Vermögen,  «ich  selbst 
bestimmen,  einen  Willen,  und  botracbtc  ihn  nUdann  unter  der 
jn  dieses  seines  Willens.   Sie  schreibe  ihm  also  Freihoits- 
QÜchkeit  zu,  so  dass  diese  Amilogle  eines  Gegenstandes  mit  der 
m  der  praktischen  Vernunft  uicht  wirklich  als  Freiheit,  sondern  bloss 
Freiheit  oder  Autonomie  in  der  Erscheinung  erfasst  werde. 
e  Beurtheilung  nicht  freier  Wirkungen  nach  der  Form  des  reinen 
lena  aei  iUthetisch,  und  Analogie  einer  Erscheinung  mit  der  Form 
reiucn  Willens  oder  der  Freiheit  sei  Schönheit  (iu  weitester 
eutluig)/  Schönheit  sei  also  nichts  anders  als  Freiheit  iu  der  Er- 
»nuug.     Da   diese   Freiheit   nun   nichts   anders   als  die  Selbst- 
immung  an  einem  Dinge  sei,  insofern  sie  sich  in  der  Anschaiuuig 
nbare,    su  könne  ein  solches  Ding  nicht  frei  erscheinen,    sobald 
den  Bestimmungsgrund  seiner  Form   entweder  in  einer  physi- 
i  Gewalt  oder  iu  einem  verständigen  Zweck  entdecke.    Schön 
80t  eine  Form,  die  sich  selbst,    oder  die  sich  ohne  Iltllfe  eines 
[riffs  erkläre.  Spreche  mau  von  moralischer  Schönheit,  so  müsse 
h  hier  sich  Freiheit  in  der  Erscheinung  zeigen,  d.  h.  eine  mora- 
ihe  Handlung  sei  nur  dann  eine  schöne,   weuu  sie  wie  eine  sich 
selbst  ergebende  Wirkung  der  Natur  aussehe,  oder  wenn  in  der 
ien  Handlung  die  Autonomie  des  GemQths  und  Autonomie  in  der 
ncbeiuuug  coincidieren;  und  aus  diesem  Grunde  sei  das  Maximum 
tr  Charaktervollkommenheit  eines  Menschen  moralische  Schönheit, 
500  sie  trete  nur  alsdann  ein,  wenn  ihm  die  Pflicht  zur  Natur  ge- 
Orden  sei.     Offenbar  habe  die  Gewalt,  welche  die  praktische  Ver- 
tofl  bei   moralischen  Willensbestimmungen    gegen    unsere  Triebe 
lübf,  etwas  Beleidigendes;  wir  wollen  auch  die  Freiheit  der  Natur 
pectiert  wissen,   weil  wir  jedes  We^en  in  der  ilsthotischeu  Beur- 
eilttng  als  einen  Selbstzweck  betrachten,  und  es  uns,  denen  Frei- 
Öl  das  Höchste  sei,  ekele  und  empöre,  dass  etwas  dem  andern  auf- 
opfert werde  und  zum  Mittel  dienen  solle.     Daher  könne  keine 
Wsüische  Handlung  eine  schöne  sein,  wenn  wir  der  Operation  zu- 
ben,  wodurch  sie  der  Sinnlichkeit  abgcängsligt   werde.     Unsere 
Gliche  Natur  mdsse  also  im  Mi^ralischen  frei  erscheinen,  obgleich 
tw  nicht  wirklich  sei,    und  es  mlUse  das  Ansehen   haben,    als 
DU  die  Natur  bloss  den  Auftrag   unserer  Triebe  vollfilhro,   indem 
«ich,    den    Trieben   geratle  entgegen,    unter    die  Herrschaft   de* 
nen  Willens  beuge.  —  Von  allem  Bisherigen  sei  das  Resultat:  .,es 
I  eine  solche  Vorstellungsart  der  Dinge,  wobei  von  allem  Uehrigen 
trahiert  und  bloss  darauf  gesehen  wird,  ob  sie  frei,  d.  b.  durch 
iselbjt  bcstinjmt  ersohoinen.    Diese  Vorstellungsart  iat  nMbwendig, 


iw 


338    VI.  Vom  Eweitcn  Viertol  des  XVIII  Jahrhundert«  bis  zu  Goethe*»  Tod. 


§  316  denn  sie  fliesst  aus  dem  Wesen  der  Vernunft,    die  in  ihrem  prakl 
scheu  Gebrauch- Autonomie  der  Bestimmungen  unnachlänHÜch  fordert^ 
Nun   bleibe  aber  noch  immer  zu  beweisen  tlbri^,  das«  diejeni| 
Eifrenschaft  der  Dinge,  die  wir  mit  dem  Namen  Schönheit  bezeicl 
neu,  mit  dieser  Freiheit  in  der  Erscheiuung  eins  und  dasselbe  «f 
und  zwar  sei  hier  zweierlei  darzuthun:    1)  dass  dasjenige  Objectii 
an  den  Dingen,  wodurch  sie  in  den  Stand  gesetzt  werden,  frei  zu 
scheinen,  gerade  auch  dasjenige  sei,  welches  ihnen,  wenn  es  da  ii 
Schönheit  verleihe,   und  wenn  es  fohlt,    ihre  Schönheit  TemiohMJ 
2)  dass  Freiheit  in  der  Erscheinung  eine  solche  Wirkung  auf  il 
Gefühlsvermögeu  uothwendig  mit  sich  führe,    die  derjenigen   voll 
gleich  sei,  die  wir  mit  der  Vorstellung  des  Schönen  verbunden  fiud( 
Das  Letztere  lasse  sich  freilich  nicht  a  priori,    aber  doch  aus  dl 
Erfahrung,  und  zwar  durch  Inductiou  und  auf  psychologischem  We^j 
beweisen,    nämlich:    dass  aus  dem  zusammengesetzten    Begriff  de 
Freiheit  und  der  Erscheinung,  der  mit  der  Vernunft  harraouierendefi' 
Sinnlichkeit  ein  Geftlhl  der  Lust  fiiesseu  müsse,  welches  dem  Wohl- 
gefallen gleich  sei ,  das  die  Vorstellung  der  Schönheit   zu    begleiten^ 
pflege.  Auf  den  ersteu  jener  beiden  Punkte  geht  sodann  der  in  desV 
Brief  vom  23.  Febr.  1793  eingefügte  Aufsatz  „Freiheit  in   der  E^ 
scheinung  ist  eins  mit  der  Schönheit**'*    nfther  ein,    und    zwar  lo- 
nftchst  nur  insofern  die  Schönheit  als  Naturschönheit  aufgefasst  wird. 
Es   wird   gezeigt,   dass  ein   Gegenstand  der   Sinnenwelt,    der  fra 
scheinen  soll,  diess  nur  dadurch  kann,   wenn  er  von  einer  solchen 
Beschaffenheit  ist,  dass  diese  uns  schlechterdings  uutbigt,  ihn  nicht 
von  aussen  her,  sondern  durch  sich  selbst,   von  innen  heraus, 
stimmt  uns  vorzustellen*,  dass  hierzu  der  Verstand  ins  Spiel  ge«et 
und  veranlasst  werden  muss,  über  die  Form  des  Gegenstaudee  at\ 
reflectieren ,    mit  der  es  der  Verstand  allein  zu  thun  hat-,    dass 
Gegenstand  also  eine  solche  Form   besitzen  und  zeigeu   muss, 
eine  Regel  zulässt,  da  der  Verstand  sein  Geschäft  nur  nach  Regcli 
verrichten  kann;  dass  er  diese  Regel  nicht  zu  erkennen  braucht, 
weil   eine   solche  Erkenntniss   allen  Schein   der   Freiheit   zerstöret 
wflrde  —  sondern  dass  es  fUr  ihn  genügt,  auf  eine  Regel  —  unbe- 
stimmt, welche  —  geleitet  zu  werden.   Nun  heisst  eine  Form,  weld 
sich  nach  einer  Regel  behandeln  lässt,  auf  eine  Regel  deutet^  kunti 
massig  oder  technisch,  und  in  sofecn  eine  solche  Form  ein  Bedarf-^ 
niss  erweckt,  nach  dem  Grande  der  Bestimmung  zu  fragen,  so  fllhrt 
hier  die  Negation  des  Vonaussenbestimmtseins  ganz  nothwendi^  aof 
die  Vorstellung  des  Voninnenbestimmtseins  oder  der  Freiheil-   Hier- 
aas ergibt  sich   eine  zweite  Grundbedingung   des  Schi^aea,   obae 


t>e- 


EntirickeltmgBgaDg  der  Literatur,    m  3— 1832.   AostheUk.  Sclxüler.      339 


welche  die  erste  bloss  ein  leerer  Begriff  sein  würde:  Freibeit  in  der  §  316 
Erscbeinan^  ist  zwar  der  Grund  der  ycbunbcit,  aber  Technik  ist  die 
notbwendif?e  Bedingung  unserer  Vorstellung  von  der  Freibeit;  oder 
anders  aus^^edrückt:  der  Grund  der  Schönheit  ist  überall  Freibeit  in 
der  Erscheinung,   der  Grund  unserer  Vorstellung  von  SchOnboit  ist 
Technik  in  der  Freiheit.  Vereinigt  man  beide  Grundbedingungen  der 
Schönheit  und  der  Vorstellung  der  Schönheit,  so  ergibt  sich  daraus  die 
Erkläning:   Schönheit  ist  Natur  in   der  Kunstmüssigkeit. 
Elierbei  ist  nämlich  Natur  als  das  aufgefasst,  was  durch  sich  selbst, 
Kunst   als  das,  was  durch  eine  Regel  ist,  so  dass  Natur  in   der 
Kanstmüssigkeit  das  ist,  was  sich  selber  die  Regel  gibt,  was  durch 
«eine  eigene  Regel  ist  (Freiheit  in  der  Regel,  Regel  in  der  Freiheit), 
eine  reine  Zusammenstimmung  des  innern  Wesens  eines  Dinges  mit 
der  Form,    eine  Regel,    die  von   dem  Dinge  selbst  zugleich  befolgt 
tmd  gegeben  ist.    Aus  diesem  Grunde  ist  in  der  Sinncnwelt  nur  das 
Schöne  ein  Symbol  des  in  sich  Vollendeten  oder  des  Vollkommenen, 
«eil  es  nicht,  wie  das  Zweckmüssige,  auf  etwas  ausser  sich  braucht 
»gen  zu   werden ,    wmdern    sich   selbst  zugleich  gebietet  und  ge- 
lt und  sein  eigenes  Gesetz  vollbringt.  .  .  .  Diese  Natur  und  diese 
BautonomiemUsseu  nun  o  b  j  e  c  t  i  v  e  Beschaffenheiten  der  Gegenstände 
iein,  denen  sie  zugeschrieben  werden,  denn  sie  bleiben  ihnen,  auch 
wenn  das  vorstellende  Subject  ganz  weggedacht  wird ;  also  ist  auch 
ilcr  Begriff  von  einer  Natur  in  der  Technik   objectiv. . .  .  Freiheit 
iiml  Kunstmftssigkeit  oder  Technik  haben  aber  nicht  völlig  gleichen 
AtisjiTOcli  auf  das  Woblgefalleu,    welches   die  Schönheit   einflosst: 
Freibeit  allein  ist  der  Grund   des  Schönen,  Technik  ist  nur  der 
Gnind  unserer  Vorstellung  von  der  Freiheit  —  jene  also  unmittelbarer 
Oniml.  diese  nur  mittelbar  Bedingung  der  Schönheil.    Denn  bei  dem 
NiturschOnen  — und  von  diesem  ist  bisher  nur  die  Rodegewesen  — 
<li«nt  die  Vorstellung  der  Technik   bloss  dazu,  uns  die  Nichtabbängig- 
^th  des  Products   von    derselben    ins  Gemüth  zu  rufen  und   seine 
Preiheit  desto  anschaulicher  zu  machen.  .  .  .  Zweckmässigkeit,  Ord- 
^^i,  Proportion,  Vollkommenheit  (Eigenschaften,  in  denen  man  die 
Schönbeit  so  lange  gefunden  zu  haben  glaubte)  haben  mit  derselben 
ganz  und  gar   nichts  zu  tbun.     Wo   aber  Ordnung,    Proportion   etc. 
JürXatur  eines  Dinges  gehören,   da  sind  sie  auch  eo  ipso  unvorlctz- 
tar;  aber  nicht  um    ihrer  selbst   willen,   sondern  weil  sie  von  der 
Natur  des  Dinges  unzertrennlich  sind.   Die  Schönheit,  oder  vielmehr 
derGewihnmck  betrachtet  alle  Dinge  als  Selbstzwecke  und  duldet 
M^iilechterdings  nicht,    dass  eins    dem  andern   als  Mittel  dient  oder 
da*  Jt.Kh  trägt.     In  der  ästhetischen  Welt  ist  jedes  Naturwe«en  ein 
freier  Bürger,    der  mit  dem   edelsten  gleiche  Rechte   hat  und  nicht 
einmal  nm  des  Ganzen  willen  darf  gezwungen  werden,  Mmdem  zu 


4 


340    VI   Vom  zweiten  Viertel  des  XVlll  JaUihumliTt«  bU  xu  Goelhe'a  Tod, 


allem  sehlechtenliiig«  cnuaeutieren  mu«8.  ..  .  Weil  Sclionlieh 
keiner  Materie  haftet,  souiieni  bloss  in  lier  BeLuntlluii^'  betttelit,  all« 
aber  was  sieb  den  Sinnen  vorstellt,  techniscb  oder  nicbl-tecbniKhi^ 
frei  oder  nicbt-frei  erseheineu  kann:  so  folgt  daraus,   daws  sich  da 
Gebiet  des  Schönen  sehr  weit  erstrecke,  weil  die  Vernunft  bei  allcmi; 
was  Siuüiichkeit  und  Verstand  ihr  unmittelbar  vorstellen,  nacL  d( 
Freiheit  fnigen  kann  und  muss.   Darum  ist  das  Reich  des  Gesobmadi 
ein  Re^h   der  Freiheit  —  die  schone  Siuueuwolt  das  glQckliclusM 
Sjmbol,  wie  die  moralische  sein  soll,  und  jedes  scbüne  Naturwcsca' 
ausser  mir  ein  glücklicher  Bürger,  der  mir  zuruft;  Sei  frei,  wie  icL 
Nach  dieser  Untersuchung  Über  das  Wesen  dos  Naturscbönen  gelai 
Schiller   zu   der    über  das  Wesen  des  Kunstschnneu  in  dem  ..du»] 
Schöne  der  Kuust^*  Uberschriebenen  Aufsatz**,    dei-   aber  bloiw  üei 
Anfang  dieser  Untersuchung  enthält,  da  die  am  Scbluss  versprMlK 
Fortsetzung  ausgeblieben  ist.   Das  Schöne  der  Kunst  ist  von  zweiorle 
Art:    aj  Schönes    der  Wahl  oder  des  Stoffes  —  Nachabmuug  d( 
Naturschönen;  h)  Schönes  der  Darstellung  oder  der  Form  —  Ki 
abmung  der  Natur.   Ohne  das  letzte  gibt  es  keinen  Künstler;  \m 
vereinigt  macht  den  grossen  Klinstier.    Das  Schöne  der  Form  od( 
der  Darstellung  ist  der  Kunst  allein  eigen.    Bei  dem  Scbönen 
Wahl   wird  darauf  gesehen,    was  der  Künstler  darstellt;   bei  de 
Sohunen   der  Form   bloss  darauf,   wie   er  daretellt.     Schöu  ist 
Naturproduel,  wenn  es  in  seiner  Kunstmilssigkeit  frei  erscheint;  sei 
ist  ein  Kunstproduct,  wenn  es  ein  Katurproduct  frei  darstellt.  Ytt\] 
heit  der  Darstellung  ist  also  der  Begriff,  mit  dem  wir  es 
zu  thuu  haben.  .  .  .  Man  stellt  einen  Gegenstand  dar,  wenn  man 
Merkmale,  die  ihn  kenntlich  machen,  als  verbunden  unmittelbar  it 
der  Anschauung  vorlegt,  und  ein  Gegenstand  heisst  dargestellt,  wi 
die  Vorstellung  desselben   unmittelbar  vor  die  Finbildun; 
bracht  wird;  frei  dargestellt  aber  heisst  er,  wenn  er  derEiu:... 
kraft  als  durch  sich  selbst  bestimmt  vorgebalten  wird. ...  All 
der  Kunst  wird  ja  nicht  <lic  Natur  des  Gegenstandes  selbst  in  tl 
Persönlichkeit  oder  Individualität,  sondern  durch  ein  Medium  V( 
gestellt,    welches  wieder  a)   seine  eigene  Individualitüt  und  Nl 
(den  Stoff,   worin   die  Nachahmung  geschieht)  hat  untl  b)  von  dl 
Künstler  abbftugt,  der  gleichfalls  als  eine  eigene  Natur  zu  betrad 
ist     Wie  ist  es  da  möglich,  dass  die  Natur  des  Gegenstandes 
dem,    dass  sie  erst  durch  die  dritte  Hand   vor   die  Einbildungski 
gestellt  wird,    dennoch  rein  und  durch    sich   selbst  bestimmt   ki 
dargestellt  werden?    Nur  dann,    wenn  die  Natur  des  Dargeflt 
weder  von  *der  Natur  des  Stoffes,    noch    von    der  Natur  des 


342    Vi.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVTIT  JaUrhunderia  bis  xu  OoeÜie*!  Tod. 


{  316  der  Scbönbeit  gellend   zu  machen   verstand   und    das  Prineip   Dn( 
Wesen  der  schonen  Kunst  als  die  wechselseitige  Durchdrin^ng  uni 
Ineinsbildunj^  des  Vernllnftigen  und  des  Sinnlichen,  dos  All  _ 
und  des  Besondern»  der  Freiheit  und  der  Nothwcndigkeit  c: 
Ferner  ist  es  sein  ganz  besonderes  Verdienst,  dass  Kants  Lehre  toi 
Schönen  för  das  Leben  und  für  die  Kunst  erst  recht  fruchtbar  ^ 
macht   und   ilir   kräftigender   und   veredelnder  Einfluss  auf  umtit' 
Dichtung  vermittelt  wurde.     Denn   einerseits   zeigte   er  als   ki 
philosophischer   Schriftsteller   mit    der    ganzen   Energie    und   Tief«' 
seines  Geistes  und  in  einer  nicht  minder  durch  Glanz  und  SchuDfactt 
der  Sprache,   wie  durch  Klarheit  und  wissenschaftliche  Strenge  der 
Gedankeneutwickclung  ausgezeichneten  Darstellungsform  —  vornebm- 
lieh  in  seiner  Abhandlung  „Über  Anmuth  und  Würde**  und  in 
den    Briefen   „Über   die   ästhetische    Erziehung    des   Men- 
schen'* — ,  wie  Schtniheit  und  Erhabenheit   im  Handeln  erat  du 
Bild  vollendeter  Menschheit  zur  Erscheinung  bringen,  und  welcbes 
Einfluss  das  Schöne  und  der  Geschmack  nicht  nur  auf  die  Bildung 
und  Veredlung  dos  Einzelnen,  sondern  auch  auf  die  sittliche  Vei- 
voUkommnung    der   Gesellschaft    und    des    Staats    haben   köDuen: 
womit  er  das  Schone  und  die  Kirnst  auf  wissenschaftlichem  Wege 
erst  in  ihre  volle  Würde  einsetzte.  Andererseits  aber  gab  er,  indem  er 
in  der  Abhandlung  „Über  naive  und  sentimeutalische  Dicb- 
tung"  diejenigen  Sätze  der  Acsthetik,  deren  tiefere  BegTHndungnud 
vollere  Entfaltung  er  sich  besonders  hatte  angelegen  sein  lassen,  m' 
die  Theorie  der  Dichtkunst  und  die  Geschichte  der  letztem  in  alt« 
und  neuer  Zeit  anwandte  und  damit  fUr  sein  eigenes   dichteri8che& 
Hervorbringen  das  Gebiet  und  die  Verfahrungsweise  sich  zu  klardO 
Bewusstsein  brachte,  die  seiner  Natur  die  gemässesten  waren,  de«" 
erschlafl'tcn  ästhetischen  Kritik  einen  mächtigen  Impuls  und  wicji  Bt< 
in  eine  ganz  neue  Bahn  ein,   auf  der  sie  dann  vornehmlich  durp' 
die  beiden  Schlegel  in  ihrer  Ent^vickelung  weiter  geführt  ^vurdc,    1 
der  Abhandlung  ,,über  Anmuth    und  Würde"   wandte  Schill( 
Kants  Lehre  vom  Schonen  und  Erhabenen  zunächst  auf  die  äua»«' 
Erscheinung   des    handelnden  Subjects    oder    auf   die  Formen   ai 
welche  dasselbe  den  sinnlichen  Ausdrucksarten  seiner  freien  Wilh 
bestimmungcn  gebe,    insofern   darin  entweder  die  Ansprüche 
Neigung  und   der  Pflicht,    der  Sinnlichkeit  und   der  Vernunft,    d6f 
natürlichen  NOlhigung  und  der  freien  Selbstbestimmung  in  Harmontis, 
erscheinen  können,  oder  insofern  dann  der  Affect  mit  dem  Vernuni 
gesetz  sich  in  Widerspruch  befinde,  aber  dieses  über  jenen  den  Sii 
erlangt  habe.    Wo  jenes  Statt  finde,  legen  wir  dem  Subject  in  d< 


Entwif  kelungsgung  d.  Liter.  1773— 1S32.  Schüler,  über  Anm«th  u.  Würde.    343 

jcLeiming  Anmuth,  wo  dieses,  Würde  bei;  jene  liege  in  der  § 
Freiheit  willktirlicber  Bcwe^nigeu,  diese  in  der  Beberrschung  der 
unwillkürlichen;  in  dem  Einem  /.eige  sich  die  schöne,  in  dem  andern 
die  grosse  oder  erhabene  Seele.  Schiller  Hess  sich  also  hier  gar 
nicht  auf  das  Schöne  und  Erhabene  in  der  Kunst  ein,  sondern  be- 
trachtete beides  nur  als  ErHcheinungRt'ormen  der  im  Handeln  sich 
äussernden  sittlichen  Natur  dos  Menschen  in  seiner  besondern  Per- 
ai>Qltcbkeit.  In  gewisser  Weise  nimmt  daher  diese  Abhandlung  das 
Thema  von  Kants  Schrift  jj Beobachtungen  über  das  Gefühl  des 
Schönen  und  Erhabenen*'  wieder  auf,  aber  freilich  von  einem  un- 
gleich höhern  Standpunkt  aus,  der  insofern  selbst  über  Kants  ausge- 
bildete Lehre  emporgerUckt  ist,  als  Schiller  hier,  so  sehr  er  auch 
dem  Moralgesetz  Kauts  in  seiner  wissenschaftlichen  Begründung 
Gerechtigkeit  widerfahren  lässt,  doch  der  Härte  und  Strenge,  womit 
dasselbe  hingestellt  war,  entgegentritt.  Er  will  die  Sinnlichkeit 
nicht  80  schlechtbin  als  das  von  der  Pflicht  durchaus  nur  zu  Be- 
zwingende und  zu  Unterdrückende  angesehen  wissen  (wofür  es  nach 
kantischen  Lehre  leicht  genommen  werden  könnte)";  er  sucht 
ilmehr  nach  einer  Vermittelung  und  Versöhnung  zwischen  der  Sinnlich- 
it  oder  der  Neigung  und  dem  Sittengesetz  und  setzt  in  beider  lieber- 
istimmung  erst  die  reine,  vollendete  und  schöne  Menschheit.  Kant 
llbst  gab^  wenn  er  auch  nicht  allem  in  Schillers  Abhandlung  beipflich- 
te, derselben  doch  das  Zeugniss.  dass  sie  mit  Meisterhand  verfasstsei". 
In  den  Briefen  „über  die  aesthetisehe  Erziehung  des 
enachen""  war  „der  Endpunkt,  an  den  Schiller  alles  knüpfte", 
ie  W.  von  Humboldt  bemerkt",  „die  Totalität  in  der  mensch- 
rben    Natur    durch    das    Zusammenstimmen     ihrer    geschiedeneu 


38)  Vgl.  siiminllichG  Werke  8,  l,  54  ff.  39)  Vgl  desaen  Schrift  »»die 

KligioD  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft*'.   Königsberg  179:^.  8,  8.  10, 
dazu  Hofl'meister  2.  3U  ff.  40)  Dieselben  erschienen  zuerst  in  drei  Ab- 

längen fBr.  t— 9;  10— l(V;  17— 27»  im  ersten  Jahrgang  der  Hören  (1705)  St.  I.  2.  6. 
ideke  lo,  271 — 384).  Wie  Schüler  sie  im  Verhältniss  zu  der  eigentlichen  Theorie 
löDon,  die  er  auszufahren  im  Sinne  hatte,  angesehen  wissen  wollte,  ist  in  der 
330  Anm.  TS  eingerückten  Stelle  aus  dem  Briefe  an  Kdrner  vom  12.  Septbr. 
jben.  In  zwei  frühem  Briefen  hatte  er  dem  Freunde  schon  gemeldet,  in 
«ehn  {geschriebeneu  und  damals  noch  nicht  tür  den  Druck  boarbeiteteu) 
Bogen  seien  die  reichhaltigsten  Ideen  aus  seiuem  (iedicht,  „die  Kimatler",  philoso- 
linch  ausgeführt.   Die  Stelle  aua  Schillers  Schrift,  in  welcher  er  den  Zweck,  den 
bei  ihrer  Abfassung  zunÄclisl  im  Auge  gehabt  hatte,  seinen  Lesern  bezeichnet, 
oben  §  243,  13  angeführt.   Eine  trctTliche  Analyse  der  Briefe  von  G.  SchmoUer 
»ht  unter  der  üeberschrift :   „Kthische  nnd  ästhetische  Kultur.   Noch  einmal  ein 
Tort  (iber  Schillers  „ästhetische  Erziehung  des  Menschen",  in  den  preuAsiscbeA 
irbüchern,   Novemb.  IH65,  S.  427—448.  41)  In  der  Vorerinnenisg  ca 

tem  Briefwechsel  mit  Schiller  S.  23. 


344    YI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrbunderte  bis  za  GoeChe*fi  Tod 

'ilt>  Krftfte  in  ibrer  absoluten  Freiheit."  Sobiller  gebt  davon  ms, 
dass  diese  Totalität  in  der  antiken  nnd  namentlich  in  der  grie- 
ebischen  Welt  an  den  Individuen  hervortrete ,  in  der  modenjcu 
dagegen,  wo  die  Kräfte  des  Menschen  nur  in  ihrer  Verein- 
zelung und  in  einseitigen  Richtungen  ausgebildet  und  geQM 
würden,  an  ihnen  vermisst  werde.  So  lange  dieaelbc  aber  nicbl 
wiederhergestellt  sei,  könne  der  Naturstaat  auch  nicht  zw  dem  Ve^ 
nunftdtant  (dessen  Verwirklichung  man  in  Frankreich  vergebUcI 
versucht  hatte)  hinübergefuhrt  werden,  indem  erst  dann,  wenn  ik 
durch  die  neuere  Cultur  herbeigeführte  Trennung  in  dem  iooen 
Menschen  wieder  aufgehoben  und  seine  Natur  vollstflndig  gen^ 
entwickelt  sei,  nra  selbst  die  Künstlerin  zu  werden,  der  poHtiseben 
Schöpfung  der  Vernunft  ihre  Realitilt  verbürgt  sei.  Diesa  m  er. 
reichen,  sei  nur  möglich  durch  die  Ausbildung  des  Empfindungsv« 
mögens,  durch  die  Belebung  des  Sinnes  für  das  Schune  tmd  dl 
daraus  folgende  Veredlung  der  sinnlichen  Triebe,  und  das  Werkxei 
dazu  sei  die  scheue  Kunst  in  ihren  unsterblichen  Mustern.  „1 
Künstler",  beisst  es  in  einer  Stelle  des  neunten  Briefes,  bei  welcl 
Schiller  Goethe  im  Auge  hatte*",  „ist  zwar  der  Sohn  seiner 
aber  schlimm  fUr  ihn,  wenn  er  zugleich  ihr  Zögling  oder  gar  ni 
ihr  Günstling  ist.  Eine  woblthatige  Gottheit  reisse  den  Sftugling 
Zeiten  von  seiner  Mutterbrust,  nflhre  ihn  mit  der  Milch  eine^  b< 
Alters  und  lasse  ihn  unter  fernem  griechischen  Himmel  zur  MQndi| 
keit  reifen.  Wenn  er  dann  Mann  geworden  ist,  so  kehre  er,  cü 
fremde  Gestalt,  in  sein  Jahrhundert  zurück;  aber  nicht,  um  es 
seiner  Erscheinung  zu  erfreuen,  sondern  furchtbar  wie  Agameinn< 
Sohn,  um  es  zu  reinigen.  Den  Stoflf  zwar  wird  er  von  der  G( 
wart  nehmen,  aber  die  Form  von  einer  edlem  Zeit,  ja  jenseits  al 
Zoitj  von  der  absoluten  und  unwandelbaren  Einheit  seinem  W< 
entlehnen.  Bier  aus  dem  reinen  Aeth6r  seiner  dämonischen  Ni 
rinnt  die  Quelle  der  Schönheit  herab,  unangesteckt  von  der  Vi 
derbniss  der  Geschlechter  und  Zeiten."  Und  wie  soll  der  KünstI 
auf  seine  Zeitgenosseu  wirken?  Der  Ernst  seiner  OniudüUize  wi 
sie  von  ihm  scheuchen,  aber  im  Spiele  ertragen  sie  sie  a< 
an  ihrem  Müssiggange  muss  er  seine  bildende  Hand  versuchen; 
bannt  er  die  Willkür,  die  Frivolität,  die  Rohigkcit  aus  ihren  Vcr 
gnügnngen,  so  wird  er  sie  unvermerkt  aus  ihren  Handlnngcn  ui 
endlich  auch  aus  ihren  Gesinnungen  vorbannen.  Wo  er  sie  fii 
umgebe  er  sie  mit  edlen,  mit  grossen,  mit  geistreichen  Koi 
scblicsse  sie  ringsum  mit  Symbolen  des  Vortrcftlichen  ein, 
der  Schein  die  Wirklichkeit  und  die   Kunst  die  Natur  überwiad* 


42)  Vgl.  beider  Briefwechsel  I,  50  f. 


«9 


^^twickdangsgaag  d-  Lit  1773-  IB33.  Schiller,  ästhet,  Erziehuug  d.  Menschen.   345 

B—  Zweierlei  Verirrungen  sind  es,  wie  gleich  zu  Aufan^  der  zweiten  §  316 

^hbtlieilung  gesagt  wird,  von  denen  das  Zeitalter  durch  die  Schönheit 

HburBckgeführt  werden  soll,  die  Erschlaffung  und  die  Rohigkeit.    Zu 

fletn  Ende  muss  die  schöne  Cultur  das  doppelte  Vermögen   haben, 

anzuspannen  und  aufzulösen.     Die  Erfahrung  freilich  scheint  vielmehr 

Ksgen  als  för  den  Einfluss  der  Schönheit  auf  die  walire  Cultur  des 
enschen  zu  sjtrechen;  allein  es  fragt  sich,  ob  dasy  ^vas  in  der  Er- 
hrung   schön   heisst,    diesen   Namen    mit  Recht   führt.      Deshalb 
musSf    um    hierüber  ein  sicheres  Urtheil  zu   fällen,   der  reine  Ver- 
innftbegriff  der  Schönheit  auf  dem  Wege  der  Abatraction  gesucht 
Ferden,  und  aus    der  Möglichkeit    der   sinnlich  vernünftigen  Natur 
•folgert,  muss  die  Schönheit  sich  als  eine  nothwendige  Bedingung 
;r  Menschheit  aufzeigen  lassen.    Hierzu  ist  nur  zu  gelangen,  wenn 
fit    uns    auf  transcendentalem   We^e    zu    dem    reinen   Begriff  der 
fenschheit  erheben,   indem  wir  aus  den  individuellen  und  wandel- 
Lren  Erscheinungsarten  der  Menschen   das  Absolute  und  Bleibende 
entdecken  und  durch  Wegwerfung  aller  zufälligen  Schranken  uns 
ler  nothwendigen  Bedingungen  des  Daseins  zu  bemächtigen  suchen. 
>ie  höchste  Abstraction  gelangt  zu  zwei  Begriffen:  sie  unterscheidet 
dem  Menschen  etwas,  was  bleibt,  und  etwas,  was  sich  unaufhörlich 
eründert,  seine  Person  (Vernunft,  Freiheit)  und  seinen  Zustand 
iiunlichkeit).     Die  Persönlichkeit  des  Menschen  ist,  für  sich  allein 
jtracbtet,  nichts  als  Form  und  leeres  Vermögen;  der  Zustand  oder 
ie  Sinnlichkeit,  an  und  für  sich,  macht  ihn  bloss  zur  Materie.   Auf 
lern  WcchselverhAltnisH  beider  beruhen  die   beiden  Fundamentalge- 
'tze  der  sinnlich  vernünftigen  Natur:  das  erste  dringt  auf  absolute 
catität,  d.  h.  darauf,  das  Nothwendige  in  uns  zur  Wirklichkeit 
zu  ]»ringon  (die  Form  mit  einem  Ochalt  zu  erfüllen  f;  das  andere  auf 
kb^olute  Formalität,  d.  h.  darauf,  das  Wirkliche  ausser  uns  dem 
re«etzc  der  Nothwcndigkeit  zu  unterwerfen  (die  Materie  zu  formen), 
Iterzu  werden  wir  durch  zwei  entgegengesetzte  Kräfte  oder  Triebe 
gedrungen:  den  siunlichen  oder  Stofftrieb  und  den  vernünftigen  oder 
Forratrieb.   Wo  der  erste  ausschliesseud  wirkt,  da  ist  nothweudig 
die  höchste  Begrenzung  vorhanden,  und  der  Zustand  des  Menschen 
wt  hln?i«c  Empfindung;   wo  der  andere  allein  die  Herrschaft  bc- 
kauptel,  übt  der  Mensch  seine  Freiheit  aus,  er  entscheidet  und  ge- 
**>etet  für  iraraer,  wie  er  jetzt  entscheidet  und  gebietet.    Macht  der 
•We  Trieb  x\\\r  Fälle,  so   gibt  der  andere  Gesetze  für  das  lirtheil, 
^ciiu   ctä  Erkeuutniss.    für    den   Willen,    wenn    es   Thaten    betrifft. 
*^Oem  jeden    dieser   ])eiden  Triebe  seine  Grenzen   zu  sichern   und 
•^•rtlber  zu  ^vachen,   dass  sie  dieselben  nicht   überschreiten,  ist  die 
'^"'gabe    der  Cultur,    die    also    beiden    eine  gleiche  Gerechtigkeit 
■^Uldig  ist.     Die  Sinnlichkeit  muss  also  gegen  die   Eingriffe  der 


^ 


346    VI.  Vom  Eweiten  Viertel  des  XVTXI  JahrhundMlÄ  Wa  zn  Goethe*!  Tod. 

§  316  Freiheit  verwahrt,  die  Persönlichkeit  gegen  die  Macht  der  Empba^ 
düng  sicher  gestellt  werden.  Jenes  wird  durch  Ausbildung  de« 
fühlsvermögens,  dieses  durch  Aushildung  des  Vermiuftvemi^ 
erreicht.  Wo  beide  Vennögen  in  ihrer  höchsten  Ausbildung  tii 
Energie  sich  vereinigen,  da  wird  der  Mensch  mit  der  höchsten  Füll 
von  Dasein  die  höchste  Selbständigkeit  und  Freiheit 
Hält    die  Persöulichkeit    den   Stofftrieb    und    die  Sinnlin  *ni 

Formtrieb    in   den   gehörigen  Schranken,   eo   stellt  der  Mensch  in 
eigentlichsten  und  vollsten  Sinne  die  Idee  der  Menschheit  dar;  distt 
ist  aber  ein  Unendliches,  dem  er  sich  im  Laufe  der  Zeit  nnr  inniu^ 
mehr  nähern  kann,  ohne  es  jemals  zu  erreichen.    Gilbe   es  j< 
Fälle,  wo  ersieh  zugleich  seiner  Freiheit  hewusst  würde  und 
Dasein  empfände,  wo  er  sich  zugleich  als  Materie  fühlte  und 
Geist  kennen  lernte,  so  hätte  er  in  diesen  Fällen,   und  schlecbu 
dings   nur  in  diesen,  eine  vollständige  Anschauung   seiner  Meni 
heit,   und   der  Gegenstand,    der   diese  Anschauung    ihm  rcrschs 
wdrde  ihm  zu  einem  Symbol  seiner  ausgeführten  Bestimmung,  folg- 
lieb, weil  diese  nur  in  der  Allheit  der  Zeit  zu  erreichen  ist,  zu  eil 
Darstellung  des  Unendlichen  dienen.    Solche  Fälle  würden  in  il 
einen  neuen  Trieb  aufwecken,    der   eben    darum,    weil    die  bcidi 
andern  in  ihm  zusammenwirken,  einem  jeden  derselben,  einzeln 
trachtet,  entgegengesetzt  wäre.    Diess  ist  der  Spicltrieb,  deant 
Richtung  dahingeht,  die  Zeit  in  der  Zeit  aufzuheben,  Werden  mit 
absolutem  Sein,  Veränderung  mit  Identität  zu  vereiubareu.     Er  wir4 
bestrebt  sein,  so  zu  empfangen,  wie  er  seihst  hervorgebracht 
und  so  hervorzubringen,    wie   der  Sinn  zu  empfangen  tnichtet; 
wird  das  fremUth  zugleich   moralisch    und    physisch   nöthigeu 
weil  er  alle  Zufälligkeit  aufhebt,  auch  alle  Nöthigung  auflieben, 
den  Menschen,   sowohl  physisch   als  moralisch,  in  Freiheit  »et«*' 
In  demselben  Masse,   als  er  den  Empfindungen  und  Afl'ecten  ihr» 
Elintlusa  nimmt,    wird    er  sie  mit  Ideen   der  Vernunft  in  UeberciB" 
Stimmung  bringen,  und  in  demselben  Masse  als  er  den  Gesetzen 
Vernunft  ihre  moralische  Nöthigung  benimmt,  wird  er  sie  mit  di  _ 
Interesse  der  Sinne  versöhnen*'.     Nun    heisst  der  Gegenstand  d» 
sinnlichen  Triebes,  in  einem  allgemeinen  Begriff  ausgedrückt,  Lebc] 
in  weitester  Bedeutung,   der   des  Formtriebea,   ebenfalls    in  eil 
allgemeinen  Begriff  ausgedrückt,  Gestalt,  sowohl  in  uneigentli( 
als  in  eigentlicher  Bedeutung;  der  Gegenstand  des  8pieltriel»efti 


43)    Den   Kamen    Spieltrieb    rechtfertigt    der  Sprachgebrauch   toI 
<U    alles,   was   wcdor   subjc^ctiv   noch   objcctiv    zaf&llig    ist,    und    doch 
ftaseerlicb  noch   innerlich  nötbigt.   mit  dem  Worte   Spiel   beseicbüet   KO 
pflegt. 


igang  (I.Lit.  I7T3—IS32.  Schiller,  Ästhet.  Erziehung  d.  Menschen.  347 


Lllgcmeineu  Schema  vorgestellt,  wird  also  lebende  Gestalt  §  316 
köDiieu:  ein  Beg^riff,  der  allen  ästlietisclien  BeschafFenhoiten 
einungen    und    dcra,    was   man    in    weitester    Bedeutung 
it  nennt,  zur  Bezeichnung  dient.    Sobald  demnach  die  Ver- 
Sie  Forderung  vollendeter  Menschheit  aufatellt,  spricht  sie  auch 
(rdening  der  Schönheit  aus.     Dadurch,  dass  man   das  Schone 
iele  macht,   wird  es  nicht  erniedrigt,  wenn  der  Begriff  des 
nur  recht  erfasst  und  nicht  mit  dem  verwechselt  wird,  was 
wirklichen  Leben  unter  Spielen  verstehen.     Denn   wie  der 
hier  bestimmt  ist,   spielt  der  Mensch  nur^   wo  er  in  voller 
mg  des  Worts  Mensch  ist ,  und  ist  nur  ganz  Mensch ,  wo  er 
Dieser  Satz  ist  nur  in  der  Wissenschaft  unerwartet;  längst 
bat  er  in  der  Kunst  und  iu  dem  Gefühle  der  Griechen  gelebt 
wirkt,  nur  dass  sie  in  den  Olymp  versetzten,    was  auf  der 
Ute  ausgeführt  werden,  und  was  in  den  Göttergestalten  ihrer 
hen  Kunst  wirklich  ausgeführt  ist.     Das  höchste  Ideal   des 
n    wird   also    in    dem    möglich   vollkommensten    Bunde   nnd 
ewjcht  der  Realität  und   der  Form  zu  suchen  sein.    Diess 
ewicht  bleibt  aber  immer  nur  eine  Idee,   die  von  der  Wirk- 
t  nie  ganz  erreicht  werden  kann.   Hier  wird  immer  ein  Ueber- 
\i  des  einen  Elements  über   das  andre  übrig  bleiben   und  da- 
t  Schönheit  von  doppelter  Art  sein.   Hat  das  sinnliche  Element, 
iterie,  das  IJeberge wicht,  so  wird  die  vSchönheit  zur  schmel- 
m  (auflösenden  oder  abspannenden);  herrscht  die  Form  vor,  zur 
[ischen  (anspannenden)  Schönheit   Die  energische  kann  den 
hftn  eben  so  wenig  vor  einem  gewissen  Ueberrest   von  WiUl- 
nd  Härte  bewahren,   als  die  schmelzende  ihn  vor  einem  ge- 
Grad   der  Weichlichkeit  und   Entnervung  zu  schützen  ver- 
Fttr     den    Menschen    unter    dem    Zwange    entweder     der 
t  oder  der  Formen   ist  die   schmelzende,    für   den   Menschen 
der    Indulgcnz    des    Geschmacks    die    energische   Schönheit 
hiss.    —    In    der    dritten    Abtheilung    wollte    Schiller    nach 
ikündigung  am  Srbluss  des  16.  Briefes  zunächst  die  Wirkungen 
hmelzenden  Schönheit  an  dem  angespannten  Menschen  und  die 
lergischeu   an    dem   abgespannten  prüfen ,    um   zuletzt   beide 
der  Schönheit  in  der  Einheit  des  Ideal-Schönen  auszulöschen, 
er  fahrte  diese  Absicht  nicht  ganz  aus  und  behandelte  eigent- 
088  das  erste  Kapitel,   weshalb  die  dritte  Abtheilung  in  den 
,  auch  „von  der   schmelzenden  Schönheit"  überschrieben  ist. 
drd  nun  zunächst  die  Frage  aufgeworfen:   wie   die  Schönheit 
ittel  werden   kann,    die  doppelte  Anspannung  im  Menschen, 
dem  er  entweder  unter  dem  Zwange  der  Empfindungen  (der 
oder  anter  dem  Zwange  der  Begriffe  (der  Form)  sich  befindet, 


34S     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  Will  Jahrhandeits  bis  zq  Goeibe*9  T{ 


§  316  zu  heben.    Diess  führt  zu   einer  Untersuchung  Über  dei^  Urspi 

der  Schönheit  im  menschlichen  Gemüth.  Denn  wenn  durch  die 
Schünheit  der  fiinnliche  Mensch  zur  Form  und  zum  Denken  geleitet, 
der  geistige  Mensch  dagegen  zur  Materie  zurückgeführt  und 
Sinnenwelt  wiedergegeben  werden  soll,  die  SchOnheit  uns  als« 
einen  mittlem  Zustand  zwischen  Materie  und  Form,  zwischen  Lei^ 
und  Thätigkcit  zu  versetzen  scheint,  und  die  Erfahrung  auch 
lieb  zeigt,  dass  die  Schönheit  die  zwei  entgegengesetzten  Zostii 
des  Empfindens  und  Denkens  verknüpft;  so  sagt  die  Vernunft  da- 
gegen aus,  dass  es  zwischen  diesen  beiden  Zustilndcn  durchaus  m( 
Mittleres  gibt,  und  dass  der  Abstand  zwischen  Materie  und  F( 
zwischen  Leiden  und  Thätigkcit,  zwischen  Eraptindeu  und  Dcnk^ 
unendlich  ist  und  8<'lileclitcrdings  durch  nirhts  kann  rermit 
werden.  Hier  ist  also  ein  Widerspruch  zu  heben,  und  diess  ist 
eigentliche  Punkt,  auf  den  zuletzt  die  ganze  Frage  Über  die 
heit  hinauslauft.  Die  zur  Beantwortung  der  Frage  angestellte  Uni 
suchung  ergibt  nun,  dass  die  Schönheit,  bloss  insofern  sie  den  Denk- 
kräften  Freiheit  verBchafft,  ihren  eigenen  Gesetzen  gomfUs  &ich 
äussern,  ein  Mittel  werden  kann,  den  Menschen  von  der  Natur 
Form,  von  Empfindungen  zu  Gesetzen,  von  einem  beschränkten 
einem  absoluten  Dasein  zu  führen.  Sobald  nämlich  die  beiden  Gi 
triebe,  der  sinnliche  und  der  vernünftige,  die  einander  entg<e^^ 
gesetzt  sind,  in  dem  Menschen  sich  entwickelt  halKMi  und  zugU 
thätig  sind,  so  verlieren  beide  ihre  NOthigung,  und  die  Entgcgei 
zweier  Nothwendigkciten  gibt  der  Freiheit  den  Ürspning;  es 
eine  freie  Stimmung,  worin  Sinnlichkeit  und  Vernunft  zugiciel 
thätig  sind,  und  diess  ist  die  ästhetische  Stimmung.  Um 
der  Macht  der  Sinnlichkeit  zu  entziehen  und  die  Macht  der  V< 
zur  Geltung  zu  bringen,  oder  an  die  Stelle  jener  i)hysii?cb< 
wendigkeit  eine  logische  oder  moralische  Nothwendigkeit  tretei 
Ben,  mus8  der  Mensch  augenblicklich  von  aller  Bestimmanghif 
sein  und  einen  Zustand  der  blossen  Bestimmbarkeit  durchliufci« 
und  diess  ist  eben  die  ästhetische  Stimmung,  durch  welche  düs 
müth  von  der  Empfindung  zum  Gedanken  überzugeben  vei 
Durch  die  ästhetische  Cultur  bleibt  der  persönliche  Werth 
Menschen  oder  seine  Würde,  insofern  diese  nur  von  ihm  »elbit 
hangen  kann,  noch  völlig  unbestimmt,  und  es  ist  nichts  wi 
reicht,  als  dass  es  ihm  nunmehr  von  Natur  wegen  möglich 
sei,  aus  sich  selbst  zu  machen,  was  er  will,  dass  ihm  die  Frtil 
zu  sein,  was  er  sein  soll,  vollkommen  zurückgegeben  i«t 
dadurch  aber  ist  etwas  Unendliches  erreicht;  dcun  durch  die 
seitige  Nüthigung  der  Natur  beim  Empfinden  und  durch  die 
schliessende  Gesetzgebung  der  Vernunft  beim  Denken  war  ibm 


fd.  Lit.  1773— IS:J2.  Schiller,  äathet.Erziehung  d.Mfuschen.  349 


kBe  Freiheit  eutzo^eu.  Demnach  müssen  wir  das  Vermögen,  §  316 
H^n  Menseben  in  der  ästhetischeu  Stimmung  zurüekgegebeu 
^■ie  büchste  aller  ScbeDkungeU;  als  die  Schenkung  der 
fm  belrut'hten.  8io  ist  allerdings  in  einer  Rtlcksirbt  als 
lizusebeu,  in  anderer  aber  ist  sie  doch  wieder  als  ein  Zustand 
thsten  Realität  zu  betrachten,  insofern  mau  dabei  auf  die 
Ubeit  aller  Schranken  und  auf  die  Summe  der  Kräfte  achtet,  0 

lerselbeu  gemeinschaftlich  tbätig  sind.  Daher  muss  man 
njenigeu  Recht  geben,  die  den  ästhetischen  Zustand  für  den 
rsten  in  Rücksicht  auf  Erkenntniss  und  Moralitat  orklflren; 
►en  deewegen,  weil  diese  Gemüthsstimmung  keine  einzelne 
II  der  Menschheit  ausschliessend  in  Schutz  nimmt,  so  ist  sie 
l^en  ohne  Unterschied  günstig,  und  sie  begünstigt  ja  nur 
^n  keine  einzelne  vorzugsweise,  weil  sie  der  Grund  der 
keit  von  allen  ist.  In  diesem  Zustande  allein  fühlen  wir 
I  aus  der  Zeit  gerissen,  und  unsere  Menschheit  äussert  sich 
rBeinbeit  und  Integrität,  als  hätte  sie  von  der  Einwirkung 
'Kräfte  noch  keinen  Abbruch  erfahren.  Haben  wir  uns  dem 
echter  Schönheit  dahiugegeben,  so  sind  wir  in  einem  solchen 
jlcke  unserer  leidenden  und  thätigen  Kräfte  in  gleichem 
leister,  und  mit  gleicher  Leichtigkeit  werden  wir  uns  zum 
lad  zum  Spiele,  zur  Ruhe  und  zur  Bewegung,  zur  Nachgie- 
lund  zum  Widerstände,  zum  abstracten  Denken  und  zur  An- 
k  wenden.  Diese  hohe  GleicbmUthigkeit  und  Freiheit  des 
,  mit  Kraft  und  Rüstigkeit  verbunden,  ist  die  Stimmung,  in 
enn  echtes  Kunstwerk   entlassen   soll,   und  es  gibt  keinen 

8Dbierstein  der  wahren  ästhetischen  Güte.  In  der  Wirk- 
ich ist  keine  rein  ästhetische  Wirkung  anzutroffen,  und 
die  Vortrefflichkeit  eines  Kunstwerks  bloss  in  seiner 
^  Annäherung  zu  jenem  Ideale  ästhetischer  Reinigkeit  be- 
lund  bei  aller  Freiheit,  zu  der  man  es  steigern  mag,  werden 
i  doch  immer  in  einer  besondern  Stimmung  und  mit  einer 
llmlichen  Richtung  verlassen.  Je  allgemeiner  nun  aber  die 
pg,   und  je  weniger  eingeschränkt  die  Richtung  ist,   welche 

PÜth    diirch    eine    bestimmte  Gattung    der  Künste    oder 
cstimm^tes  Product  aus   derselben   gegeben    wird,    desto 
e  Gattung  und  desto  vortrefflicher  ein  solches  Product. 
zeigt  sich  der  vollkommene  Stil  in  jeglicher  Kunst,  dass 
pecitischen  Schranken  derselben  zu   entfernen   weiss,    ohne 
fipecifiscLen  Vorzüge    mit   aufzubeben^    und   durch    eine 
utzung  ihrer  EigcnthUmlichkeit  ihr  einen  mehr  allgemeinen 
ertbcilt.     Und    nicht   bloss    die  Schranken,    welche   der 
harakter  seiner  Kunstgattung  mit  sich  bringt,  auch  die- 


350    VI.  Vom  zweiteu  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bia  lu  Uocthe*ft  Tod 


316  jenigen,  welche  dem  besoadern  Stoff*,  den  er  bearbeitet,  aubftDgi^aiwIf 
muss  der  KUustler  durch  die  Behandlung  überwinden.     In  cloei 
wahrhaft    schönen  Kunstwerke  soll  der  Inhalt  niehl 
die  Form  aber  alles  thun;  denn  durch  die  Form  allein  wird 
das  Ganze  des  Menschen,  durch  den  Inhalt  hingegen  nur  auf  cii 
Kr&fte  gewirkt.    Darin  also  besteht  das  eigentliche  KuDatgcbeii 
des  Meisters,   dase  er  den   Stoff  durch  die  Form   vertil] 
Eine  schuuo  Kunst  der  Leidenschaft  gibt  es,  aber  eine  schöne  leidi 
Bchaftliche  Kunst  ist  ein  Widerspruch ;  denn  der  unausbleibliche  Ei 
des  Schönen  ist  Freiheit  von  Leidenschaften.    Nicht  weniger  wi« 
sprechend  ist  der  Begriff  einer  schönen  lehrenden  (didaktiscbeB) 
oder  bessernden  (moralischen)  Kunst;  denn   nichts  stieitet  mettr 
mit  dem  Begriff  der  Schönheit,  als  dem  Gemüth  eine  bestimmte  Ten- 
denz zu  geben.  —  Als  Hauptergebniss  aller  bisherigen  ErörtcruBgtfl 
stellt  sich  heraus,  dass  es  keinen  andern  Weg  gibt,  den  sinnlicJ 
Menscheu  vernünftig  zu  machen,  als  den,  dass  man  ihn  zuvor  &st 
tisch  mache.     Denn    durch   die    flsthetischü  GemÜthsstimnmng 
die  Selbstthätigkcit  der  Vernunft  schon  auf  dem  Felde  der  Sinnlil 
keit    eröffnet,    die  Macht    der  Em]>tindung    schon    innerhalb    il 
eigenen   Grenzen   gebrochen,    und   der   physische  Mensch   so 
veredelt,  dass  nunmehr  der  geistige  sich  nach  Gesetzen  der  Freil 
aus  demselben  bloss  zu  entwickeln   braucht.     Der  Schritt  von 
fisthetischen  Zustande  zu  dem  logischen  und  moralischen  —  VOD 
Schönheit   zur  Wahrheit    und    zur   Pflicht  —   ist    daher    un^ 
leichter,  als  der  Schritt  von  dem  physischen  Zustande  zu  dem  ivtkj;^ 
tischen   —  von   dem    blossen    blinden  Leben  zur  Form.     Es  gdi^ 
also  zu  den  wichtigsten  Aufgaben  der  Cultur,    deu  Menschen 
schon  in  seinem    bloss  physischen  Leben  der  Form  zu  uuterwi 
und  ihn,  soweit  das  Mittel  der  Schönheit  nur  immer  reichen  ktioOi 
ästhetisch   zu   machen.     Schon   auf   dem    gleichgültigen   Feldö 
physischen  Lebens  muss  erlernen,  edler  begehren,  damit  crW 
nöthig  habe,   erhaben  zu  wollen.     In  dem  jihysischeu  Zuät&lt^ 
'     erleidet  er  bloss  die  Macht  der  Natur;  er  entledigt  sich  dieser 
in  dem  ästhetischen  Zustande,    um  sie  in  dem   moralischen  ca 
herrschen.      Mit    der    Erweckung    des    Sinnes    für    die    Schönl 
treten    wir    in    die    Welt    der  Ideen ,    ohne    darum    die    einnli 
Welt   zu   verlassen,    wie   bei   der   Erkenntuiss    der   Wahrheit 
schiebt.     Diese  ist   das  reine  Product  der  Abnonderung   von  all« 
was   materiell   und   zufällig    ist;    von    der  Vorstellung   der   ScW 
heit  würde  es  vergeblich  sein,  die  Beziehung  auf  das  Empfindung»' 
vermögen   absondern   zu    wollen.    Wir  können  die    eine   nicht 
Effect    der   andern    denken,    sondern    müssen   beide   sugleich 
wechselseitig  als  Effect  und  als  Ureacho  ansehen.   In  unsonn  W< 


^btvickcJuDgsgaogd.Lit.  1773— 18J2.  Schiller,  ästhet.  Erziehung  d.  Mezischeu.  351 

^■allcn  au  der  Scbünlicit  lässt  eich  kciao  Suecesdiou  zwidcheu  der  §  316 
^^^^keit  und  dem  Leiden  unterscheiden,  und  die  Reflexion  zerfüesst 
^^^K  vollkommen  mit  dem  Gefühle,  dass  wir  die  Form  unmittelbar 
TO  empfindeu  glauben.     Die  Schönheit  ist  also  zwar  G  egeastand 
für  uns,  weil  die  Reflexion  die  Bedingung  ist,  unter  der  wir  eine  Em- 
pfindung Ton  ihr  haben;  'zugleich  aber  iet  sie  ein  Zustand  unsers 
Subjects,   weil  das  Gefühl  die  Bedingung  ist,  unter  der  wir  eine 
^onstellung  von  ihr  haben.    Sie  ist  also,  zwar  Form,   weil  wir  sie 
^■rächten,  zugleich  aber  auch  Leben,  weil  wir  sie  fühlen;  mithin 
nl^leich   unser  Zustand   und  unsere  Tbat.     Darum   eben  dient  sie 
uns  zu   einem  Biegenden  Beweise,  dass  das  Leiden   die  Thätigkeit, 
I  dun  die  Materie  die  Form,  duBs  die  Beschränkung  die  Unendlichkeit 
keineswegs  ausschliesse;  dass  mithiu  durch  die  nothwendige  physi- 
eobe  Abhängigkeit  des  Menschen  seine   moralische  Freiheit  keines- 
'  Wegs  aufgehoben  werde.    So  kann  denn  auch  nicht  mehr  die  Frage 
;  «dn,   wie  der  Mensch  von  der  Schönheit  zur  Wahrheit  Übergehe, 
,  üe  dem  Vermögen  nach  schon  in  der  ei-steru  liegt,  sondern  wie  er 
too  einer  gemeinen  Wirklichkeit  zu  einer  Jlsthetischen,   wie  er  von 
UoMCD  Lebeusgefühlcn  zu  SchOnheitsgefUhlen  den  Weg  sich  bahne. 
^  Da  die  Ästhetische  Stimmung  des  GemUths  der  Freiheit  erst  die 
Entstehung    gibt,    so   kann    sie    nicht   aus    dieser  entspringen   und 
/DlgUcU    keinen   moralischen  Ursprung  haben.     Ein  Geschenk   der 
Natur  muss  sie   sein,    und  die  Gunst  der  Zufülle  allein  kann  den 
Wilden  aus  den  Fesseln  des  physischen  Standes  lOsen  und   ihn  zur 
Hchönbeii  führen.     Das  Trachten  darnach  und  damit  der  Eintritt  in 
<lie    Menschheit    kündigt    sich    bei    ihm   schon    in    der  Freude   am 
fi^ein,  in  der  Neigung  zum  Putz  und  zum  Spiele  an.   Nur  der 
^^etlsche  Schein,    der  von  der  Wirklichkeit  und  Wahrheit  unter- 
Rhiedeu   wird,   ist  Spiel;  der  logische  dagegen,   den   man  mit  der 
äer  Wahrheit  verwechselt,  ist  Betrug.    Den  ästhetischen  Schein  ver- 
achten,   beisst   alle  Kunst   Überhaupt   verachten,    deren  Wesen  der 
Bchein  ist.    Mit  dem  sich  regenden  Spieltriebe,   der  am  Schein  Ge- 
lallen fliulct,  erwacht  auch  der  nachahmende  Bildungstrieb,  der  den 
Sebein  als  etwas  Selbständiges  behandelt.    Sobald  der  Mensch  ein- 
■f  so  weit  gekommen  ist,   den  Schein  von  der  Wirklichkeit,   die 
Hrd  von  dem  Körper  zu  unterscheiden,  so  ist  er  auch  im  Stande, 
1^  von  ihm  abzusondern:  das  Vermögen  zur  nachahmenden  Kunst 
M  also  mit  dem  Vermögen  zur  Form  überhaupt  gegeben.     Da  aller 
jfi^eiii   ursprünglich   von  dem  Menschen  als   voi*stellendem  Subject 
^H  herscbreibt,   so    bedient   er   sich  bloss  seines  absoluten  Eigen- 
^HisrecUts,  wenn  er  den  Schein  von  dem  Wesen  zurücknimmt  und 
^Idemselbeu  nach  eigenen  Gesetzen  schaltet     Diess  menschliche 
H^TVcberreoht  übt  er  aus  in  der  Kunst  des  Scheins;  aber  er  be- 


352    VI    Vom  zweiten  Viertel  dea  XViU  Jolirbunderta  bis  lu  Goetlw'i  Toi 


§  316  sitzt  dasselbe  schlcchtcrdingg  auch  nur  in  der  Wolt  dos  Schein 
in  dem  wesenlosen  Reich  der  Einbildungskraft,  und  nur.  so  lange 
Bicb  im  Theoretischen  gewissenhaft   enthält,  Existenz  davon  k\ 
sagen,   und  im  Praktischen  darauf  verzichtet,  Existenz    dadurch 
ertheilcu.     Der  Dichter  tiberschreitet  also  entweder  seiu  Dichterrecl 
dadurch    dass    er   durch    das  Ideal    in    das   Gebiet    der   Erfahrt 
greift  und  durch   die  blosse  Möglichkeit    wirkliches   Dasein    zu 
stimmen  sich  anmasst:  oder  ergibt  sein  Reclit  auf,  dadurch  da« 
dio  Erfahrung  in  das  Gebiet  des  Ideals  greifen  Iftsst   und  die  Hm;- 
lichkeit   auf    die  Bedingungen    der  Wirklichkeit    einschrftnkt. 

^         welchem  einzelnen  Mensehen  oder  ganzen  Volke  man  den  aufriclil 
gen  uud  Belbstfindigen  Scheiu   findet^    da    darf   mau    auf  Geist 
Geschmack  und  jede  damit  verwandte  Trefiliclikcit  schlicsscn. 
legen  noch  lange  nicht  Werth  genug  auf  den  ästhetischen  Scbe^ 
wir  haben  es  noch  uicht  bis  zu   dem    reinen  Schein        '       '( 
das  Dasein  noch  uicht  genug  von  der  Erscheinung  ge-  >. 

dadurch  beider  Grenzen  auf  ewig  gesichert  wären.  Dahin  hfti 
wir  es  noch  uicht  gebracht,  so  lange  wir  das  Schöne  der  lebeuilij 
Natur  nicht  geniesseu  knnneu,  ohne  es  zu  begehren,  das  Öcböpe  ii( 
nachahmenden  Kunst  nicht  bewundern  können,  ohne  nach  eio( 
Zwecke  zu  fragen,  —  so  lauge  wir  der  Einbildungskraft  noch  kCii 
eigene  absolute  Gesetzgebung  zugestehen  und  durch  die  Achtung, 
die  wir  ihren  Werken  erzeigen,  sie  auf  ihre  Würde  bin\vei*en.  - 
Nachdem  im  letzten  Briefe  noch  gezeigt  ist,  wie  der  Mensch  m 
den  ersten  Vorschönerungsversuchen  seines  äussern  Daseins  im 
fisthetischeu  Spiel  vorscbreite,  indem  die  Einbildungskraft  sieb  n 
einer  freien  Form  zu  versuchen  anfange,  und  wie  sich  der  flfiÜK 
tische  Spieltrieb  nach  uud  nach  immer  mehr  reinige  und  v( 
gelangt  Scliillcr  endlich  zu  dem  Begriff  des  Äslhetiscli  en  Sta»t| 
Im  d}' uaniischeu  ^taat  der  Rechte  begegne  der  Mensch  dem  M< 
sehen  als  Kraft  und  beschränke  seinen  Willen;  in  dem  ethiscbi 
Staat  der  Pflichten  stelle  er  sich  ihm  mit  der  Majestät  di->  '  ' 
entgegen  und  fessele  sein  Wollen;  im  Kreise  des  schonen  Uin. 
Sstbctischcn  Staat  dQrfc  er  ihm  nur  als  Gestalt  erscheinen,  nur 
Object  des  freien  Spiels  gegenüberstehen.  Freiheit  zu  geb*^  '  - 
Freiheit,  sei  das  Grundgesetz  dieses  Reichs.  E>er  dvnau); 
könne  die  Gesellschaft  bloss  möglich  machen,. indem  er  die 
durch  Natur  bezähme;  der  ethisi^he  könne  sie  bloss  (moralischjj 
wendig  macheu,  iudem  er  den  einzelnen  Willen  dem  allgt 
unterwerfe;  der  ästhetische  allein  könne  sie  nvirklicli  machen, 
er  den  Willen  de^  Ganzen  durch  die  Natur  des  ludivid'i-''"» 
ziehe.  *  Der  Geschmack  allein  bringe  Harmonie  in  die  G' 
weil  er  Harmonie  in   dem  Individuum   stifte.     Die  Schönheil  alliio 


igd.  Ut.   lT7:j-('s32.   Schüler,  üb  nftWe  u,  sentim.  Dichtung.    353 

bcglHcko  alle  Welt,  und  jedes  Wesen  vergesse  seiner  Schranken,  so  §  316 

Ke  es  ihren  Zauher  erfahre.   In  dem  ästhetischeu  Staat  sei  alles, 
I  das  dienende  Werkzeug,  ein  freier  Bürger,  der  mit  dem  edelsten 
hc   Rechte  baho.     Hier  also,    in   dem  Reiche    des  ästhetischen 
Scheins,  werde  das  Ideal  der  Gleichheit  erfüllt,  welches  der  Sehwürmer 
ÄDgem  anch  dem  Wesen  nach  realisiert  sehen  möchte.   Dem  Bedürfuiss 
nach  existiere  ein  srdeher  Staat  in  joder  feingcstimmten  Seele;    der 
That  nach  möchte  man  ihn  wohl  nur,  wie  die  reine  Kirche  und  die 
Hie  Republik,  in  einigen  wenigen  auserlesenen  Zirkeln  finden.  — 
^B  eine  Misavorstänrlnisson  vorbeugende  Rrgftnznng  zu  dieser  Schrift 
^kn   der  Aufsatz  Schillere  „Ober  die  nothwcndigen  Grenzen  beim 
Gebrauch  schöner  Formen"  (1795)  angesehen  werden.     Hier   wird 
jAnlich  dargethan,  wie  verwirrend  und  schädlich  fllr  die  Bef»*»rdening 
Bkrer  Erkenntniss,  und  wie  geHlhrlich  für  die  Aufrechthaltung  und 
Dlircbnihrung  des  Sitlengesetzes  es  \yerden  kann,  wenn  der  Mensch 
■der  Wissenschaft  dem  Geschmack  oder  der  Form  und  im  Handeln 
Ästhetischen  Stimmung  zu  sehr  huldigt  und  nachstrebt,  oder  mit 
lern  Worten,  wenn  er  dem  Geschmack  und  der  schonen  Form  in  der 
inschaft  und  im  praktischen  Leben  mehr  Werth  beilegt,  als  sich 
dem  Streben  nach  Erkenntniss  und  der  Erfüllung  der  Pfticht  vertnlgt 
Von  seinen  mehr  allgemeinen  Untersuchungen  Über  das  Schöne 
und  die  Kunst   wandte   sich   Schiller   zuerst    in    dem    einleitenden 
Tbeil  seiner    auch  noch  im  J.    1794   geschriebenen  Recension   der 
Geliebte  von  Matthisson "    speciellern ,    das  Wesen    poetischer  Dar- 
«loUung  betreffenden  Erörterungen  zw.^^    In   seiner  letzton  grossen 
Ä^*tbeti8chen  Abhandlung  „über  naiv«  und  sentimentalische 
'ich lang*'  hat  er  mit  der  Begriffsbestimmung  der  naiven  und  sonti- 
ilalischen    Dichtung    die    beiden   Hauptrichtungen    nachzuweisen 
in    denen  der  poetische   Geist  zur   Erscheinung  kommen 
,  nnd  damit  also  die  beiden  einzig  möglichen  Arten  des  dich- 
terischen Producierens.    Schiller  zeigt  zuerst,  dass  das  Interesse  an 
.<ler Natur,  als  solcher,  wo  es  nicht  affectiert  oder  sonst  zufällig  sei, 
^r  da  Statt  finden  könne,  wo  die  Natur  naiv  sei,  d.  h.  wo  sie  mit 
•i^r  Kunst  im  Contrast  stehe  und  sie  beschäme;  dass  uns  in  dieser 
I    ßct^chtungsweise  die  Natur  nichts  anders  sei,   als  das  freiwillige 
I54«ein,  das  Bestehen  der  Dinge  durch  sich  selbst,  die  Existenz  nach 
%n)an  nnabilnderlichen  Gesetzen;   und   dass  ein  derartiges  Wohl- 
)^-U\U}.\\  an   der  Natur  kein   fiJjthctischcs,    sondern   ein    moralische« 
jKi,  weil  es  durch  eine  Idee  vermittelt,  nicht  unmittelbar  durch  Be- 
Kcbtung  erzeugt  werde,  es  sich  auch  ganz  und  gar  nicht  nach  der 


41)  In  der  Jenaor  Literatur-Zpitung;  Werke  ^,  2,  310;  Gödcke  10,  136. 
45»  V^.  Briefwechsel  mit  Körner  3.  1<I2;  Briefwechsel  mit  Ooifth*  1.  36. 

rin.  CrundriÄ*.    X.  AulL     IV.  W 


m 


354    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jalirhauderta  bis  xa  Gocth«*i  Toi. 


IdJi 


§316  Schuulieit  der  Formen  richte.  Wir  lieben  hier  nicht  die  G^ 
stände,  sondern  wir  lieben  in  ihnen  eine  durch  Hie  dargestellte 
das  stille  schaffende  Leben,  das  ruhige  Wirken  aus  sieh  selbst,  du 
Daseiu  nach  eigenen  Gesetzen,  die  innere  Nothwendigkeit,  die  ewige 
Einheit  mit  sich  selbst.  Sie  sind,  was  wir  waren,  und  wa4  wir 
wieder  werden  sollen:  wir  waren  Natur,  wie  sie,  und  unsere Cullur 
soll  uns  auf  dem  Wege  der  Vernunft  und  der  PVeiheit  zur  N»t 
zurückführen.  Ihre  Vollkommenheit  ist  iudcss  nicht  ihr  Verdi« 
weil  sie  nicht  das  Werk  der  Wahl  ist;  nur  wenn  beides  sieb 
einander  verbindet,  wenn  der  Wille  das  Gesetz  der  NtUhwcndigl 
frei  befolgt,  und  bei  allem  Wechsel  der  Phantasie  die  Vernunft  il 
Regel  behauptet,  geht  das  Göttliche  oder  das  Ideal  hervor,  da« 
weuu  wir  darnach  ringen,  zwar  niemals  erreichen  können,  dem 
uns  jedoch  iu  einem  unendlichen  Fortschritt  zu  nähern  hoffen  dOrfc 
Besonders  stark  und  am  allgemeinsten  äussert  sich  die  Empfini 
keit  für  das  Naive  iu  der  Natur  auf  Veranlassung  solcher  G< 
stAnde,  welche  in  einer  engem  Verbindung  mit  uns  stehen  und 
den  Rückblick  auf  uns  selbst  und  die  Unnatur  iu  uns  näher  U 
wie  z.  B.  bei  Kindern  und  kindlichen  Völkern.  Dem  Meoschen 
Sittlichkeit  und  Empfindung  wird  ein  Kind  ein  beiliger  Ge^nstanii 
sein,  weil  es  uns  eine  Vergegonwärtigung  des  Ideals  ist,  nicht  i^ 
des  erfüllten,  aber  des  aufgegebenen,  also  ein  Gegenstand,  der  di 

►  die  Grösse  einer  Idee  jede  Grösse  der  Erfahrung    vernichtet,   ud3 

der,  was  er  auch  in  der  Beurtheilung  des  Verstandes  verlieren  nia|. 
in  der  Beurtheilung  der  Vernunft  wieder  iu  reichem  Masse  ^ 
winnt,  Ehen  aus  diesem  Widerspruch  zwischen  dem  UrtheÜ  der 
Vernunft  und  des  Verstandes  geht  die  ganz  eigene  Erscheinung  te 
gemischten  Gefühls  hervor,  welches  das  Naive  der  Denkart  in  n» 
erregt:  es  verbindet  die  kindliche  Einfalt  mit  der  k  indischentud 
bringt  die  Erscheinung  eines  Gefühls  in  uus  hervor,  in  wel< 
fröhlicher  Spott,  Ehrfurcht  und  Wehmuth  zusammenfliessen. 
•  Naiven  iu  der  Person  wird  erfordert,  dass  die  Natur  Ober  die  Kui 
den  Sieg  davon  trage,  geschehe  diess  wider  Wissen  und  Willen 
Person,  oder  mit  völligem  Bewusstsein  derselben:  im  erstem  Tt 
ist  ea  das  Naive  der  Ueberraschung  und  belustigt,  in  dem  and( 
ist  es  das  Naive  der  Gesinnung  und  rührt.  Iu  beiden  Fällen  mi 
die  Natur  Recht,  die  Kunst  Unrecht  haben.  Erst  dui-ch  diese  letit 
Bestimmung  wird  der  Begriff  des  Naiven  vollendet.  Die  Natur  Ül 
n&mlich  nicht  durch  ihre  blinde  Gewalt  als  dynamische  (wie  im  AJ 
Ober  die  Kunst  triumphieren,  sondern  sie  muss  es  durch  ihre  Fol 
als  moralische  GrösHC,  nicht  als  Nothdurft,  sondern  als  N<»tl 
wendigkeit;  und  nicht  die  Unzulänglichkeit,  sondern  dioUnatait- 
b  a  f  t  i  g  k  e  i  t  der  Kunst  muss  der  Natur  den  Sieg  verschafft  haben.  (Et 


igangd.Iit.   i;73— IS32.    Schiller,  üb.  naiven,  sentün.  Dichtung.   355 


weitere  Bestimmung  und  Erläuterung  der  Begrifie  von  dem  §  316 
ren  der  Ueberraschuug  und  dem  Naiven  der  Gesinnung,  und 
!!  spricht  sich  Schüler  Über  das  Wesen  und  die  Eigenschaften 
to  Genie'»,  so  wie  über  die  genialische  Schreibart  aus.)  Naiv  muss 
^u  wahre  Genie  sein,  oder  es  ist  keines.  Seine  Naivität  allein 
■kt  es  zum  Genie,  und  was  es  im  iDtellectuellcn  und  Aestheti- 
men    ist,    kann    es   im  Moralischen   nicht  verläugnen.     Unbekannt 

feden  Regeln,  den  Krücken  der  Schwachheit  und  den  Zurlit- 
lern  der  Verkehrtheit,  bloss  von  der  Natur  oder  dem  Instinct 
tet,  geht  es  ruhig  und  sicher  durch  alle  Schlingen  des  falsclien 
fbmacks.  Nur  ihm  ist  es  gegeben,  ausserhalb  des  Bekannten 
immer  zu  Hause  zu  sein  und  die  Natur  zu  erweitern,  ohne 
«e  hinaus7.iigohon.  Wenn  letzteres  z>yar  zuweilen  auch  den 
[taten  Genies  begegnet,  so  kommt  diess  daher,  weil  auch  sie  ihre 
ItttitiiBtischen  Augenblicke  haben,  wo  die  schützende  Natur  sie  ver- 
■Bt,  weil  die  Macht  des  Beispiels  sie  hinreisst,  oder  der  verderbte 
Mchmack  ihrer  Zeit  sie  verleitet.  Die  verwickeltsten  Aufgaben  muss 
IS  Genie  mit  anspruchloser  SimpUcität  und  Leichtigkeit  lösen;  da- 
ircli  alloin  legitimiert  es  sich  als  Genie,  dass  es  durch  Einfalt  Über 
e  verwickelte  Kunst  triumphiert.  Es  verfährt  nicht  nach  erkannten 
rincipicü,  sondern  nach  Einfällen  und  Gefühlen;  aber  seine  Einfälle 
nd  Eingebungen  Gottes  —  denn  alles,  was  die  gesunde  Natur  thut, 
t  göttlich  — ,  seine  Gefühle  sind  Gesetze  für  alle  Zeiten  und  für 
1^  Geschlechter  der  Menschen.  Es  ist  bescheiden,  ja  blöde,  weil 
B  Genie  immer  siel»  seihst  ein  Geheimniss  bleibt;  aber  es  ist  nicht 
^ptüob,  weil  ea  die  Gefabren  des  Weges  nicht  kennt,  den  es 
Hdelt  etc.  Aus  der  naiven  Denkart  flicsst  nothwendigenveise 
J^k  ^in  naiver  Ausdruck,  sowohl  in  Worten  als  Bewegungen,  und 
r  ist  das  wichtigste  Bestandstück  der  Grazie.  Mit  dieser  naiven 
MBUth  drückt  das  Genie  seine  erhabensten  und  tiefsten  Gedanken 
^  es  sind  Göttersprüche  aus  dem  Munde  eines  Kindes.  Eine 
ioddrucksart  >  wo  das  Zeichen  gjinz  in  dem  Bezeichneten  ver- 
chwindcl,  and  wo  die  Sprache  den  Gedanken,  den  sie  ausdrückt, 
lOeh  gleichsam  nackend  lägst  ^,  ist  es  was  man  in  der  Schreibart 
onnig«weide  genialisch  und  geistreich  nennt.  —  Indem  nun  Schiller 
Ina  Qbergeht,  zu  erörtern,  wie  das  Naive  der  Gesinnung,  obgleich 
B  eigentlich  genommen ,  nur  dem  Menschen  beigelegt  werden 
mne,  doch  durch  eine  Wirkung  der  poetisiereudeu  Einbildungs- 
mh  öfter  von  dem  Vernünftigen  auf  das  Vernunftlose  übertragen 
rerdeY  und  wie  die  Menschen,  besonders  in  der  modernen  Welt, 
<jb  der  Natur,  so  aufgefasst,  gegenüber  fühlen:  sucht  er  die  beson- 
dre Erachoinung  zu  erklären,  dass  man  bei  den  Griechen,  die  doch 
nn  einer  bu  sehOnen  Natur  umgeben  waren ,  so  wenig  Spuren  von 

23* 


356    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVni  Jabrlmndexts  bis  zu  GoeCbe'«  Tod. 


316  dem  scntimentalisphcu  IntcresBC  antreifoT  mit  welchem  wir  Neu« 
an  Natursceucn  und  an  Naturcharakteren  hangen  können.  ,.Woh< 
wohl  dieser  verschiedene  Geist?  Wie  kommt  es,  dass  wir,  die 
allem,  was  Natur  ist,  von  den  Alten  so  unendlich  weit  flbci 
werden,  gerade  hier  der  Natur  in  einem  hohem jGrade  hulcMj 
mit  Innigkeit  an  ihr  hangen  und  selbst  die  leblose  Welt  mit 
wärmsten  Empfindung  umfassen  können?  Daher  kommt  es, 
die  Natur  bei  uns  aus  der  Menschheit  verschwunden  ist,  und  wii 
sie  ausserhalb  dieser,  in  der  unbeseelten  Welt,  in  ihrer  Wahr 
wieder  antreffen."  Bei  den  Griechen  artete  die  CuHur  nicht  so  wi 
wie  bei  uns,  aus,  dass  die  Natur  darüber  verlassen  wnrde.  ^i 
mit  sieb  seihst  und  glücktich  im  Gefühl  seiner  Menschheit ,  musiM 
der  Grieche  bei  dieser  stille  stehen  und  alles  Andere  derselben  n 
nähern  bemüht  sein.  Er  empfand  natürlich,  wir  empfinden  das 
Natürliche.  Unser  Gefühl  der  Natur  gleicht  der  Emi)finduD^  dw 
Kranken  für  die  Gesundheit.  —  So  wie  nun  aber  nach  und  nach 
Natur  anHeng  aus  dem  menschlichen  Leben  als  Erfahrung  und 
das  —  handelnde  und  empfindendes  üb  ject  zu  verschwinden,  so  p( 
sie  in  der  Dichterwelt  als  Idee  und  als  Gegenstand  auf.  DieDi^ 
sind  überall,  schon  ihrem  Begriffe  nach,  die  Bewahrer  der  Ni 
«ie  werden  entweder  Natur  sein,  oder  sie  werden  die  verl« 
suchen.  Daraus  entspringen  zwei  verschiedene  Dicbtnngswi 
durch  welche  das  ganze  Gebiet  der  Poesie  erschöpft  und  ausgeneon 
wird,  die  naive  und  die  sentimentalische,  und  die  Dichter, 
die  es  wirklich  sind,  werden  nach  ilirer  Zeit  oder  den  zufftUi^ 
Umständen,  die  auf  ihre  allgemeine  Bildung  und  auf  ihre  vorObcr 
gehende  GemÜthsstimmung  Einfiuss  haben,  entweder  zu  den  naiTeo 
oder  zu  den  sentimentalischen  gehören.  Der  naive  Dichter  ist  streog 
und  spröde;  das  Ohjcct  besitzt  ihn  gänzlich,  sein  Herz  licgi  ni( 
gleich  unter  der  Oberfläche,  sondern  will  in  der  Tiefe  gesucht 
er  ist  das  Werk,  und  das  Werk  ist  er:  so  zeigt  sich  Homer 
den  Alten,  sn  Shakspeare  unter  den  Neuern.  Auch  jetzt,  in  d< 
künstlichen  Zustande  der  Cultur,  ist  die  Natur  noch  die 
Flamme,  an  der  sich  der  Dichtergoist  nährt,  die  Natnr  allein, 
durch  er  mächtig  ist;  nur  steht  er  jetzt  in  einem  ganz  andern  Vi 
hältniss  zu  derselben.  So  lauge  der  Mensch  noch  reine  — 
rohe  —  Natur  ist,  wirkt  er  als  ungetheilte  sinnliche  Einheit  un^ 
ein  harmonierendes  Ganze  mit  allen  seinen  Kräften  zugleich;  t« 
dagegen  in  den  Stand  der  Cultur  ^^etreten,  und  hat  die  Kunst  ihre  Bsad 
an  ihn  gelegt,  so  ist  jene  sinnliche  Harmonie  aufgehobco,  tmd  n 
kann  nur  noch  als  moralische  Einheit,  d.  h.  als  nach  Einbi 
bend,  sich  äussern.  Die  Uebcreinstimmung  zwischen  seinem  Kl 
und  Denken,  die  dort  wirklich  Statt  fand,  ist  jetzt  blona  ideatti 


w 


£j3tw{ckduiigsg&iig  (l  Lit.    1773— 1S32.  Schüler,  tib.  naive  u,  sGutim.  Dichtung.  357 


HdII 


orhanden,  als  ein  Gedanke,  der  erst  realisiert  werden  soll,  nicht  mehr  §  316 
sTbatsache  seines  Lebens.  Da  nun  der  Begritfdor  Poesie  kein  anderer 
^als  der  Menschheit  ihren  möglichst  vollständigen  Aub- 
ruck  zu  geben,  so  muss  dort  die  möglichst  vollständige  Nach- 
ahmung des  Wirklichen,  hier  hingegen  die  Erhebung  der  Wirk- 
lichkeit zum  Ideal  oder,  was  auf  eins  hinausläuft,  die  Darstellung 
des  Ideals  den  Dichter  machen.  Und  dioss  sind  auch  die  zwei  einzig 
möglieben  Arten,  wie  sich  überhaupt  der  poetische  Genius  äussern 
kann.  Daher  rubren  —  wenn  den  alten  Dichtern  die  modernen 
nicht  sowohl  dem  Unterschiede  der  Zeit,  als  dem  Unterschiede  der 
Manier  nach  entgegengesetzt  werden  —  jene  uns  durch  Natur,  durch 
ftinnlicbe  Wahrheit,  durch  lebendige  Gegenwart;  diese  durch  Ideen. 
«Beide  Gattungen  der  Poesie,  die  naive  und  die  sentimental ische^ 
können  sich  aber  nicht  bloss  in  demselben  Dichter,  sondern  sogar 
in  demselben  Werke  vereinigt  ßuden,  wie  z.  B.  in  „Werthers  Lei- 
den"'; und  dergleichen  Producte  werden  immer  den  grossten  Effect 
machen.)  Der  neuere  Dichter  geht  also  denselben  Weg,  den  der 
Menftcb  Überhaupt,  sowohl  im  Einzelnen  wie  im  Ganzen,  eiiischlagen 
mttBS:  die  Natur  macht  ihn  mit  sich  Eins,  die  Kunst  trennt  und  ent- 
zweit ihn,  durch  das  Ideal  kehrt  er  zur  Einheit  zurttck.  Weil  aber 
Ideal  ein  Unendliches  ist,  das  er  niemals  erreicht,  so  kann  der 
Itivierte  Mensch  in  seiner  Art  nie  v<tllkommen  werden,  wie  doch 
der  nattlrliche  es  in  der  seinigen  zu  werden  vermag.  Achtet  man 
demnach  bloss  auf  das  Verbältniss,  in  welchem  beide  zu  ihrer  Art 
und  zu  ihrem  Maximum  stehen,  so  tritt  der  cultivierte  Mensch  an 
Vollkommenheit  gegen  den  natürlichen  unendlich  zurück;  vergleicht 
n  jedoch  die  Arten  selbst  mit  einander»  so  ist  das  Ziel,  zu  welchem  • 
Mensch  durch  Cultur  strebt,  demjenigen,  vrelchea  er  durch  Natur 
r  reicht,  unendlich  vorzuziehen.  Der  eine  erhält  also  seinen  Werth 
orch  absolute  Erreichung  einer  endlichen,  der  andere  durch  An- 
herung  zu  einer  unendlichen  Grösse.  Weil  aber  nur  die  letztere 
rade  und  einen  Fortschritt  hat,  so  ist  der  relative  Werth  des  in 
er  Cultur  begriffenen  Menschen,  im  Ganzen  genommen,  nie  be- 
bar,  obgleich  derselbe,  im  Einzelnen  betrachtet,  sich  in  einem 
lOlhwendigen  Nachthoil  gegen  deujeuigen  befindet,  in  welchem  die 
Ätor  in  ihrer  ganzen  Vollkommenheit  wirkt.  Es  ist  aber  keine 
e,  dass  in  Rücksicht  auf  das  letzte  Ziel  der  Menschheit  dem 
der  Cultur  begriffenen  Menschen  der  Vorzug  vor  dem  natür- 
cbcQ  gebühre.  Dasselbe,  was  hier  von  den  zwei  verschiedenen 
onnen  der  Menschheit  gesagt  ist,  lässt  sich  auch  auf  jene  beiden, 
Ben  entsprechenden,  Dichterformen,  anwenden.  Man  hätte  des- 
sen alte  und  moderne  —  naive  und  sentimentalischc  —  Dichter 
^w&der  gar  nicht,   oder   unter  einem  gemeinBchaftlichen  hohem 


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teKHrt  derB^itm«  «mt  te  «  «stk  die Knat  des Uocni^ 
BAea.  Siflgca  die  aUcn  DUter  m  der  fiefelt  der  Fornee  md  k 
des«  WM  malteli  dewteHber  «sd  kdrperfidi  iil,  so  kann  der  nettn 
sie  wieder  ■■  ffwiinwiei  des  Stefts,  is  den,  w«e  nndmrsleUbv  oad 
■eaMSiiifiihliil  H  1t«n  ia  den,  wm  hu  in  KoBstwerken  Oci«L 
aeesty  bittter  sieh  lassen.  Da  der  aaiTe  Didrter  bloss  der 
lielv  nd  KwnindBafi  folgt  nnd  skb  bloss  aof  Kaobmbaam 
WMIkUceit  beschriaktr  so  kann  er  u  sdiwiB  Gegenslaade 
aar  ein  einziges  Verhiltaias  babeo,  and  es  ^bt,  in  dieser  Bl^ 
siebt.  fOr  ibn  keäoe  Wahl  der  Bebaadlmig.  Der  Teracbiedeao  Eia^fwk 
asirer  Dicbtangen  beruht,  sofern  bloss  die  poetisebe  BebatttDo^ 
nicLt  der  Inhalt  in  Betracht  gekommen  ist,  nur  auf  dem  rencbiedeaS 
Grad  einer  and  derselben  Empfindungs^veise,  mag  die  Form  \jvaA 
oder  epfseb,  dnunatiBcb  oder  begcbreibcQd  sein.  Unser  GtfA^it  f^ 
durcb^ngig  doMelbo,  ganz  ans  einem  Element,  so  daas  wir  sidM 
darin  zu  nntcrscheiden  vermögen.  Selbst  der  Unterschied  der  Spriebei 
aad  Zeitalter  ändert  hier  nichts.  Ganz  anders  verhiüt  es  sieb  vt 
dem  sentimental iMchen  Dichter.  Dieser  rcflectiert  Über  den  d* 
drockf  dcD  die  Ocgcnatäudc  auf  ihn  machen,  und  nur  auf  jene  Rcflc 
Ut  die  Rührung  gegründet,  in  die  er  ßelbst  Ter«ctit  wird  uud 
rersetzt.  Der  OcpreiiKtniu!  wird  hier  auf  die.  Idee  bezogen,  und 
auf  dieser  Beziehung  beruht  aeiue  dichterische  Kraft.  Er  htt 
daher  immer  mit  zwei  streitenden  Vorstellungen  und  Eropfindoi 
mit  der  Wirklichkeit  aU  Grenze  und  mit  seiner  Idee  als  dem  Ul 
liehen  zu  thun,  und  das  gemischte  Gefühl,  das  er  erregt  wird  ii 
von  die«cr  dop|)elten  Quelle  zeugen.  Hier  kann  nun  bei  der 
Nchiodonhoit  der  in»  Spiel  kommenden  Principien  eins  vor 
andern  in  der  Darstellung  des  Dichters  Überwiegen,  und  daher; 
eine  Verschiedenheit  in  der  Behandlung  möglich.  Denn  noa 
er  entweder  mehr  bei  der  Wirklichkeit,  oder  mehr  bei  dem  Ml 
verweilen,  Jone  nU  einen  Gegenstand  der  Abneigung,  dieses  _ 
einen  (SeKCUHtaud  der  Zuneigung  ausfuhren,  d.  b.  seine  DarsMIiif 


EntwKkclungsgang  d,  Lit.    1773— IS32.   Schiller,  Ob.  naive  u.  scntim. Dichtung.   359 


rird  entweder  satirisch,  oder  sie  wird,  in  einer  weitern  Bedeutung  §  316 

Worts,  elegisch  sein.   Sofern  er|  satirisch  ist,  macht  er  die  Knt- 

fernuflg  von  der  Natur  und  den  Widerspruch   der  Wirklichkeit  mit 

«lern  Ideale  zu  seinem  Gegenstände.    Diess  kann  er  sowohl  ernsthaft 

und  mit  Affect,  als  scherzhaft   und  mit  Heiterkeit  ausführen;  jenes 

geschieht  durch  die  strafende  oder  pathetische,    dieses  durch  die 

scherzhafte  Satire.   Den  Widerspruch,  in  den  hierbei  der  Ton  der 

[Strafe  und  der  Belustigung  mit  dem  Zweck  des  Dichters  und  dem 

Wesen  der  Poesie  geräth,   vermag  er  nur  dadurch  zu  heben,   dass 

er  der  strafenden  Satire  poetische  Freiheit  ertheilt,   indem   er  sie 

ios  Erhabene  hinUbcrftthrt,  und  dass  er  der  lachenden  Satire  poetischen 

iGebalt  verleiht,  indem  ihr  Gegenstand  mit  Schönheit  behandelt  wird: 

die  pathetische  Satire  muss  immer  aus  einem  GemÜth  fliessen,  welches 

\\ou  dem  Ideale  lebhaft  durchdrungen  ist;  die  spottende  kann  nur 

sinem   schönen  Herzen  gelingen.'"     Es  darf  aber  in  dichterischen 

{Darstellungen,   wie  im   handelnden  Leben,  der  bloss  leichte  Sinn, 

LS  angenehme  Talent,  die  fröhliche  GutmlHhigkeit  nicht  mit  SchÖn- 

leit  der  Seele  verwechselt  werden,  wiewohl  es,  wo  nur  der  gemeine 

reschmack  urtbeilt,  solchen  niedlichen  Geistern  ein  Leichtes  ist, 

;inen  Ruhm  zu  nsui'pieren,  der  so  schwer  zu  verdienen  ist."  Elegisch 

it  der  Dichter,   wenn  er   die  Natur  der  Kunst  und  das  Ideal  der 

^Mrklichkeit  entgegensetzt,  so  dass  die  Dai-stellung  der  ei-sten  Uber- 

\egi  und  das  Wohlgefallen  an  demselben  hen-schende  Empfindung 

Ist  die  Natur  und  das  Ideal  ein  Gegenstand  der  Trauer,  indem 

[jene  als  verloren,   dieses  als  unerreicht  dargestellt  wird,    so  gibt 


46)  Hierbei  kommt  Schülor  auf  die  Frage  von  dov  Rangbeetimmung  der  Tra- 
gödie und  der  Komödie.  Dem  Object  nach,  das  jede  behandle,  behaupte  ohne 
j^Zweifel  die  entere  den  Vorzug;  das  wichtigere  Subject  dürfte  aber  die  letztere 
^Kiirfürileru.  In  jener  geschehe  schon  durch  den  Gegenstand  sehr  viel ,  in  dieser 
^nichts .  viehuelir  allcü  durch  den  Dichter ;  und  da  nun  bei  Urtheileu  des  Oe- 
HkcKmacks  der^^toff  nie  in  Betrachtung  komme,  so  mtissc  natürlich  der  llsthetische 
^KMTerth  dieser  beiden  Kunstgattungen  in  umgekehrtem  VerhiiUniss  zu  ihrer  mate- 
^PrieJIen  Wichtigkeit  stehen.  Die  Freiheit  des  OemlUhs  iu  uns  licrvorzubringen  und 
xn  nlhron,  «ei  die  schöne  Aufgabe  der  Komi'die;  die  Tragödie  sei  bestimmt,  die 
OemuthstVeiheit,  wenn  sie  durch  einen  Affect  gewaltsam  aufgehoben  worden,  auf 
l**tbrti?chem  Wege  wieder  herstellen  zu  helfen.  Gehe  die  Tragödie  von  einem 
Iwirhtigem  Punkte  aus,  so  gehe  die  Komödie  einem  wichtigern  Ziel  entgegen,  and 
IIP  wnrde.  wenn  sie  es  erreichte,  alle  Tragödie  überflüssig  und  unmögUch  machen. 
III  Ihr  Ziel  sei  einerlei  mit  dem  höchsten,  wonach  der  Mensch  zu  ringen  Habe, 
von  Leidenschaft  zu  sein,  immer  klar,  immer  ruhig  um  sich  und  in  äA  m 
tchaiien,  ubertiU  mehr  Zufull  als  Schicksal  zu  finden  und  mehr  über  Cngwtiml- 
iten  zn  lachen  als  über  Bosheit  zu  zürnen  oder  zu  weinen.  47)  AI»  Ver- 

dcr  ecbttTi  i»oetischen  Satire  werden  Lucian,  Aristophaocs,  CerrairtM,  Fiel- 
*^   Slomc  hervorgehoben  und  ihnen  auch  noch  Wieland  beigntUt;   wt»geffen 
lUire  nicht  zu  dieser  Reihe  gehöre. 


3G0    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  JohrhuuderU  W»  «u  Gocthe's  Tod 


n 


310  diese  die  eigentliche  Elegie;  sind  beide  dagegen  ein  Gcgeuutaud  der 
Freude,  indem  sie  als  wirklich  vorgestellt  werden,  bo  erhalten  wir 
die  Idylle  in  weitester  Bedeutung/"  Die  Elegie  erhält  allein  dadurri 
poetischen  Gehalt,  wenn  die  Trauer  nur  aus  einer  durch  das  Ideal 
erweckten  Begeisterung  fliesst,  wenn  die  Zustände  sinnlichen  Frieden«, 
über  deren  Verlust  getrauert  wird,  zugleich  als  Gegenstände  mor»- 
lischer  Harmonie  sich  vorstellen  lassen.  Der  Inhalt  der  dichteriscbeo 
Klage  kann  niemals  ein  äusserer,  immer  nur  ein  innerer  idealiacber 
Gegenstand  sein;  selbst  ein  in  der  Wirklichkeit  betrauerter  Verlust  rnns« 
in  der  Elegie  erst  zu  einem  idealischen  umge«chafien  werden,  h 
dieser  Kcduction  des  Beschränkten  auf  ein  Unendliches  bestebt 
eigentlich  die  poetische  Behandlung;  der  äussere  Stoff  ist  dahw  i& 
sich  immer  gleichgültig.  Zärtliche  Weichmüthigkeit  und  Schwem» 
gibt  eben  so  wenig  Beruf  zur  elegischen  Dichtung  ah,  wie  eine  bl 
leichte  und  joviale  GemUthsart  zur  scherzhaften  Satire:  beiden  fehlt 
zu  dem  wahren  Dichtertalent  das  energische  Princip,  welches  dea 
Stoff  beleben  muss,  um  das  wahrhaft  Schöne  zu  erzeugen.  iE« 
werden  nuu  einige  der  vornehmsten  Dichter,  in  denen  entweder 
die  elegische  oder  die  theils  humoristische,  theils  scherzhaft  satlriack 
Empfindungsweise  vorwaltet,  näher  charakterisiert.  Ovids  Klai:^'. 
gesänge  seien  im  Ganzen  nicht  wohl  als  ein  poetisches  Werk 
betrachten,  so  viel  Dichterisches  sie  auch  im  Einzelnen  cnthalteo 
mögen;  Ossi  an  sei  oft  echt  elegisch;  in  J.  J.  Konsseau's  Dichtungei 
finde  sich  unwider8j)rechlich  poetischer  Gehalt,  nur  habe  er  dcnselbei 
nicht  auf  poetische  Weise  zu  gebrauchen  gewusst,  weil  ihm  d 
ästhetische  Freiheit  fehlte :  ei  wird ,  wie  vorher  Voltaire,  v» 
trefflich  charakterisiert.  Was  dann  über  Haller,  Kloist  und  Klop 
stock  als  sentimenlalische  Dichter,  vornehmlich  in  dem  elegisch« 
Theil  der  Gattung,  bemerkt  ist,  gehört  zu  dem  Ausgezcichne 
was  je  zur  Charakterisierung  deutscher  Dichter  gesagt  ^worden; 
muss  aber  bei  Schiller  selbst  nachgelesen  werden,  da  sich  cm 
einigermassen  genllgender  Auszug  daraus  kaum  gehen  lässt.  Gerade 
diese  Partie  der  Abhandlung  nebst  den  Stellen  Über  Goethe,  Wi( 
land,  Thümmel,  J.  M.  Miller,  Gessner,  Voss  u.  A.,  Ober  die  weki 
lich-cmpfindsameu,  die  platt  natttrlichcu,  gemein-humoristischen  nAij 
fade- scherzhaften   Darstellungen    in   unserer  schönen   Literatur  (I< 

4Sl  I*ass  die  Bcneauuugcu  Satirc.  Klegie,  Idylle  hier  in  eiucm  «eitcrm  Sic^ 
als  gcwOlinlicb  gebraucht  seicD,  uad  dass  dadur<:b  kciueswe^  die  sontt  galtip* 
Grenzen  für  die  diese  Namen  fübreuden  Gatluugt'n  verrttckt  werden  sollen,  in^ 
hier  bei  den  gt-braucbteu  liczoicbuuugeu  hloaa  auf  die  iu  diesen  OicbluDgufW 
berrscbende  Emptindungsweiso  gesehen  werde,  wird  in  einer  eigenen  Note  «»• 
drocklicb  bemerkt;  dabei  wird  es  aber  noch  besonders  gerechtfertigt«  <Ufl  ^ 
idylJc  selbst  unter  die  elegische  Gattung  gebracht  wordou. 


i4itwickclaiig«gaag  d.  Ut.    I773~1S33.   Schiller, Ob.  naive u.  seatim. Dichtung.  3Ö1 

iebiiger  biß  neuuziger  Jahre,   Über  die  Art  von  Erholung,  welche  §  316 
ie  Meisten  iu  Sclirifteu  und  iu  Theatern  suchten,   Qher  die  Kuust- 
ichtor  vom  Handwerk  —  brachten  in  die  ästhetische  Kritik^  sofern 
ie  08  mit  der  Beurtheiluug  bereits  vorhandener  EHchtungBwerke  zu 
buu  bat^  einen  ganz  neuen  Geist  und   führten  erst  zu  der  rechten 
Würdigung  unscrs  j^oetischen  Bcsitzthuras  aus  dem  letzten   Viertel 
[«e   achtzehnten  Jahrhunderts.    Was   insbesondere  Schillers  ACus- 
erung'en  Über  Goethe  betrifft,  so  kommt  er  auf  diesen,  nachdem  er 
n  llaller,   Kleist   und  Klopstack  gezeigt,  wie  der  scutimontaliscbe 
Hciitergeist  einen   natürlichen  Stoff  behandle,   und  nun  die  Frage 
ufgeworfen  ist,  wie  der  naive  Dichtergeist  mit  einem  seutimenta- 
[»cben    Stoff  verfahre.    Völlig   neu    und   von    einer   ganz   eigenen 
Schwierigkeit  scheine  diese  Aufgabe  zu  sein,   da  iu  der  alten  und 
laiven  Welt  ein  solcher  Stoff  sich  nicht  vorgefunden  habe,  in  der 
leucrn  aber  der  Dichter  dazu  fehlen  möchte.    Dennoch  habe  sich 
Genie  auch  diese  Aufgabe  gemacht  und  auf  eine  bewunderns- 
rdige  glückliche  Weise  aufgelöst:  in  dem  Werther.   Die  herrliche 
düng  dieser  Behauptung  muss  wieder  bei  Schiller  selbst  nach- 
werdeu,   ebenso  das,  was   über  das  innere  Verwandtschaft- 
he  Verhältniss  zwischen  dem  ,, Werther''  und   dem  „Tasso,"  dem 
Wilhelm  Meister**  und  dem  ., Faust,*'  so  wie  über  Goethe's  „römische 
Regien"   im  Gregensatz  zu   den  bloss  witzigen   und  lüsternen  Dar- 
dlongen  Wielands,  Thtlmmcls  und  einiger  Franzosen  bemerkt  ist.) 
—  Indem  Schiller  auf  die  dritte  Gattung  sentimentalischer  Dichtung 
MW  einzugehen  im  Begriff  ist,  warnt  er  nochmals  in  einer  langem 
Aiimerkuiig   vor  der  Verwechselung   der  Begriffe,   die   er  von   den 
drei  Darstellungsarten  des  seutimentalischen  Dichters  aufstellt,  mit 
den  im  Herkommou  gleichlautenden  Bezeichnungen  für  einzelne  be- 
*^ndere  Gcdic'htarten;  zugleich  aber  bemerkt  er,  dass,  wenn  man  die 
'•entiiuenlalische  Toesie  für  eine  echte  Art,  nicht  bloss  für  eine  Abart, 
fod  für  eine  Erweiterung  der  wahren  Dichtkunst  zu  halten  geneigt  sein 
^crde,  in  der  Bestimmung  der  poetischen  Arten,  so  wie  Überhaupt  in 
'^w  ganzen  ptietischen  Gesetzgebung,  welche  noch  immer  einseitig  auf 
'lie  Observanz  der  alten   und  naiven  Dichter  gegründet  sei,   auch* 
**if  sie  einige  Rücksicht    zu   nehmen   sein    werde.     Die   Erfahrung 
•**b8t  lehre  ja,   dass  unter   den  Händen  sentimentalischer  Dichter, 
Äücb  der  vorzüglichsten,  keine  einzige  Gedichtart  ganz  das  geblieben 
^}  was  sie  bei  den  Alten  gewesen,  und  dam  unter  den  alten  Namen 
öftersehr  neue  Gattungen  ausgeführt  worden  seien.  —  Der  Idylle, 
*^  dtr  poetischen  Darstellung  unschuldiger  und  glücklicher  Menschheit, 
iaben  die  Dichter  den  Schaui)latz  in  den  einfachen  llirtensUnd  ver- 
h^  und   derselben  ihre  Stelle  vor  dem  Aufauge  der  Cultnr 
^  dem    kindlichen  Alter   der  Menschheit   augewiesen.    Diese  B« 


HP«« 


362     VI,  Vom  zweiten  Viertel  des  XVin  JÄhrhunderta  bis  «u  Goethe'«  Toi. 


§  316  Stimmungen  sind  aber  bloss  zufällig.     Wenn  die  Idylle  den  Mensch« 
im  Stande  der  Unschuld  darstellen  soll,  so  kann  diess  nichts  and< 
heisseu,   als  sie  soll   ibn  in  einem  Zustande  der  Harmonie  und 
Friedens  mit  sich  selbst,  und  von  aussen   darstellen.     Ein   solcI 
Zustand  findet  aber  nicht  bloss  vor  dem  Anfange  der  Cultur  Sti 
Bondeni  er  ist  es  auch,  den   die  Cultur,   wcun  sie  tlberall  nur  ein^ 
be^immte  Tendenz  haben  soll,  als  ihr  letztes  Ziel  beabsichtigt.    Ih 
in  der  Cultur  begriffenen  Menschen  liegt  unendlich  viel  daran, 
der  Ausführbarkeit  der  Idee  eines  solchen  Zustandes  in  der  Sinn« 
weit,  von  seiner  möglichen  Rc:ilit:lt,  eine  sinnliche  BekrAftigung 
erhalten:  und  da  die  wirkliche  Erfahrung  den  Glauben  daran 
ständig  widerlegt,   so  kommt  das  Dichtungsvermögen  der  Vemui 
zu  Hülfe,   um  jene  Idee  zur  Anschauung  zu  bringen  und  in   ein« 
einzelnen  Falle  zu  verwirklieben ^'\     Der  Begriff  der  Idylle,   welcJ 
der  sentimentalische  Dichter  als  solcher  uns  verwirklichen  soll 
der  eines  vrdlig  aufgelösten  Kampfes  sowohl  in  dem  einzelnen  Met- 
sehen  als  in  der  Gesellschaft,  einer  freien  Vereinigung  der  Nei^ 
mit  dem  Gesetze^  einer  zur  höchsten  sittlichen  WQrde  hinaufjg 
terten  Natur,  d.  h.  das  Ideal  der  Schönheit  auf  das  wirkliche  Lebt 
augewandt.    Ihr  Charakter  besteht  also  darin,  dass  aller  Ge-geasati 
der  Wirklichkeit  mit  dem  Ideale  vollkommen  aufgehoben  sei;  aod 
mit  demselben  auch  aller  Streit  der  EmpHndungen  aufhöre;  und  il 
herrschender  Eindruck  wilre  der  der  Ruhe,  aber  einer  Rulio,  die  »Bp 
dem  Gleichgewicht,  nicht  aus   dem  Stillstand  der   Kräfte,  die  stfj 
der  Fülle,  nicht  aus  der  Leerheit  tiicsst  und  von  dem  GefUbl  cidi 
unendlichen  Vermögens  begleitet  wird-  —  Nach  diesen  ErörteruB^' 
wendet  sich  Schiller  zu  der   nfihern  Feststellung  des  VerhftltniSMl 
der  naiven  und  der  sentimeutaliachon  Dichtungsart  zu  einander  onij 
zu  dem  ])oeti8cben  Ideale.     Dem   naiven  Dichter  bat  die  Natur  die 
Gunst  ertheilt,   immer  als  uugetbeilto  Einheit  zu  wirken,   in  Jedeff 
Moment   ein   selhst;indiges  und    vollendetes  Ganze  zu  sein   und 
Menschheit,   ihrem  vollen  Gehalt  nach,  in  der  Wirklichkeit  dar 
stellen.    Dem  sentimeutaliflclieu  hat  sie  einen  lebendigen  Trieb  «it 
geprSgt,   jene   Einheit,    die   duirh   Abstraction    in   ihm    n: 
worden,  aus  sich  selbst  wieder  herzustellen,  die  Menschhc.  ... 
vollständig  zu  macheu  uud  aus  einem  beschränkten  Zustand  in  eisMj 


49)  Es  werden  die  Mängel  der  scnünientnliBcben  Uirteuidyll«  aofgetctft 
auf  ihre  ür&acheu  zunickgt'führt ;  von  ihr  sei  aber  die  nnive  ^ohl  n 
scheiden,  da  hier  schon  durch  die  Tchandlung,  durch  die  Kurm.  jeacn  MiBf^i 
vorgebeugt  sei.  Der  seulinn'ntalische  Dichter  müsse  hier,  wie  überall.  Ana  »irrB 
das  durch  den  Gegenstand  nb/ugewiuneu  suchen,  was  dieser  In  derForm  ^■■' 
ihm  loraus  habe. 


I 


l^DtirickdnDg&gang  d.  Lit.    1773—1632.   Schiller,  üb.  naive  n.  seotim.Dichtuog.    363 

unendlichen   Oberzugehen.     Der  menscblichen  Natur  ihren  völligen   §  316' 
Ausdruck  zu  ^^eben,   ist  aber  die  gemeinscliaftliche  Aufgabe  beider, 
und  ohne  das  würden  sie  gar  nicht  Dichter  heissen  können.    Allein 
der  naive  Dichter  hat  vor  dem  aentimentalischeu  immer  die  sinnliche 
Realitüt  voraus,   indem   er  dasjeni^^e  als  eine  wirkliche  Thatsaehe 
ausfuhrt,  was  der  andere  nur  zu  erreichen  sucht,   wozu  er  nur  den 
lebendigen  Trieb  hat  oder  erwecken  kann.     Dagegen  hat  der  senti- 
meutalische  Dichter  wieder  vor  dem  naiven   den  grossen  Vortheil, 
dass  er  diesem  Triebe  einen  grössern  Gegenstand  zu  geben  vermag, 
als  der  naive  geleistet  hat  oder  leisten  könnte.    Der  naive  leidet 
durch  die  Einschränkung,   der  alles  Sinnliche  unterworfen  ist;  dem 
sentimcntalischen  kommt  die  unbedingte  Freiheit  des  Ideenvermugens 
zu  Statten.    Jener  erfllUt  zwar  seine  Aufgabe,  aber  diese  selbst  ist 
eiwas  Begrenztes;   dieser  erfüllt  zwar  die  seinige  nicht  ganz,   aber 
diese  ist  ein   Unendliches.     Von   dem   einen  wendet  mau   sich   mit 
Leichtigkeit   und  Lust  zur  lebendigen  Gegenwart;   der  andere  wird 
immer  auf  einige  Augenblicke  fUr  das  wirkliche  Leben  verstimmten; 
seine  Dichtung  ist  die  Geburt  der  Abgezogenheit  und  Stille,  und 
dazu  ladet  sie  auch   ein;   die  naive  ist  das  Kind  des  Lebens,  und 
in   das  Leben   fuhrt  sie  uns  zurück.     An  <ler  naiven  Dichtung,  als 
einer  Gunst  der  Natur,  hat  die  Reflexion  keinen  Antheil;  sie  ist  ein 
glücklicher  Wurf,   keiner  Verbesserung  bedürftig,   wenn  er  gelingt, 
aber  auch  keiner  fähig,   wenn   er  verfehlt  ist.     In  der  Emptindung 
ist  das  ganze  Werk  des  naiven  Genie's  absolviert;  hat  es  also  nicht 
gleich   dichterisch,   d.  h.   nicht  gleich   vollkommen  menschlich  em- 
pfunden^   so  kann    dieser  Mangel    durch  keine  Kunst  nachgeholt 
werden.     Durch  seine  Natur  muss  es  alles  thun,    durch  seine  Frei- 
heit vermag  es  wenig.    Es  sieht  in  Abhängigkeit  von  der  Welt  und 
der  Erfahrung,  es  bedarf  eines  Beistandes  von  aussen,  es  muss  eine 
fonoreichc  Natur,  eine  dichterische  Welt,  eine  naive  Menschheit  um 
•ich  her  erblicken,  da  es  schon  in  der  Sinnenempfindung  sein  Werk 
aa   rollenden   hat.    Das  sentimontalische  Genie  dagegen   hat  seine 
ätflrke  darin,  einen  mangelhaften  Gegenstand  aus  sich  selbst  benuu 
XU  ergänzen  und  sich  durch  eigne  Macht  aus  einem  begrenzten  i» 
«iaen  freien  Zustand  zu  versetzen;  es  nährt  und   reinigt  sich  am 
ach  selbst.^    Selbst  dem  wahrhaft  naiven  Dichter  kann  die  genefat 
^atur   gefAhrlich    werden;    denn    die    schöne    Zusammei 
zwischen  Empfinden  und  Denken,   welche  den  Charakter 
attUDftefat.  ist  doch  immer  nur  eine  Idee,  die  in  der  WirUAkttt 


50)  Hier  folgt,  was  schon  S.  !T4  über  die  Richtungen  _^ 
^  naive  Üichtpr  gerathen  müsse,  wenn  ihm  jener  Beist^Bd  ttm 
'^  «ich  TOD  einem  geistlosen  Stoff  umgeben  sehe. 


364    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVITI  Jahrbrniderts  bis  zu  Goethe*«  Tod. 


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hia-_ 

I 


§316  nie  ganz  erreicht  wird^  und  auch  bei  den  glücklichsten  Genies  dieser 
Clasae  wird  die  Empfänglichkeit  die  Selbst hätigkeit  immer  um  etw» 
überwiegen  und  daher  der  Stoif  zuweilen  eine  blinde  Gewalt  öW 
die  Empfänglichkeit  auäUben.  Kann  80  das  naive  Genie  in  sofern 
fehlen,  dass  es  einer  äussern  Nothwendigkeit  oder  dem  zufälli^cu 
Bedttrfnies  des  Augenblicks  zu  sehr  auf  Unkosten  der  innern  Not; 
wendigkeit  Raum  gibt,  so  läuft  das  sentimeu talische  leicht  Gelftbi 
über  dem  Bestreben,  alle  Schranken  von  ihr  zu  entfernen,  die  menffi 
liehe  Natur  ganz  und  gar  aufzuheben  und  nicht  (was  es  darf  und 
soll)  zu  idealisieren,  sondern  Über  die  Möglichkeit  selbst  nm^h  hin- 
auszugehen und  zu  schwärmen.  Dieser  Fehler  der  Uebersp an n 
ist  eben  so  in  der  specifischen  Eigeuthtimlichkeit  seines  Verfabreus, 
der  entgegengesetzte,  der  der  Schlaffheit,  in  der  eigenthümüch 
Handlungsweise  des  naiven  gegründet.  In  den  Schöpfungen  dl 
letztern  wird  man  daher  zuweilen  den  Geist,  in  denen  des  erstem  ölt 
den  Gegenstand  vermissen.  Meisterstücke  aus  der  naiven  GattuD^^ 
weVden  gewöhnlich  die  plattesten  und  schmutzigsten  Abdrücke  ^ 
meiner  Natur,  und  Hauptwerke  aus  der  sentimeutalischeu  ein  zahl- 
reiches Heer  phantastischer  Productionen  zu  ihrem  Gefolge  haben. 

—  Es  sind  in  Rücksicht  auf  Poesie  zwei  Grundsätze  im  Gebrsocb, 
die  an  sich  völlig  richtig  sind,  aber  in  der  Bedeutung,  worin  m&D 
sie  gewöhnlich  nimmt,  einander  gerade- aufheben.  Der  erste,  „daaa 
die  Dichtkunst  zum  Vergnügen  und  zur  Erholung  diene",  ist  d 
Leerheit  und  Plattheit  in  poetischen  Darstellungen  nicht  wen 
günstig;  durch  den  andern,  „dass  sie  zur  moralischen  Veredlanf 
des  Menschen  diene*',  wird  das  Ueberspanute  in  Schutz  genommen. 

—  Beide  Principien  werden  nun  genauer  geprüft.  Daraus  ergibt 
sich,  dasa  dem  Begritf  der  Erholung,  welche  die  Poesie  zu  gewähren 
habe,  gewöhnlich  viel  zu  enge  Grenzen  gesetzt  werden,  weil  in»a 
ihn  zu  einseitig  auf  das  blosse  ßcdürfniss  der  Sinnlichkeit  ku  be- 
ziehen pflegt;  dass  dagegen  dem  BegrifTder  Veredlung,  welche dtf 
Dichter  beabsichtigen  soll,  meistens  ein  viel  zu  weiter  Umfang  p^ 
geben  wird,  weil  mau  ihn  zu  einseitig  nach  blossen  Ideen  bestimmt, 
d.  h.  ein  Ideal  der  Veredlung  verlangt,  welches  die  Vernunft  in 
ihrer  reinen  Gesetzgebung  vorzeichuet.  Weder  dieses  Ideal,  nw^ 
jenes  niedrige  der  Erholung  <larf  sich  der  Dichter  zum  Zweck  sotie 
nicht  für  die  Bedürfnisse  der  Volksklassen  sorgen,  welche  eutwe 
nur  nach  jener  Art  von  Erholung  oder  nur  nach  jener  moraliscbfi^ 
Veredlung  verlangen;  sondern  nur  eine  solche  Volksklasse^  mag  cft 
sie  geben  oder  nicht,  im  Auge  haben,  in  der  sich  der  naive  Charakter 
mit  dem  sentimentalischen  also  vereinigen,  das.s  jeder  den  andc 
yor  seinem  Extreme  bewahre,  und  indem  der  erste  das  Gemüth  v 
Ueber9]>annung  schütze,  der  andere  es  vor  Erschlafi'uug  weher  «tetli 


dera 


£DtwickeIang«gaiig  d.  Lit, .  lT73-r-l  S32.   Scliillcr,  üb.  naive  u.  scntiin. Dichtung.   365 


Dena  weder  der  naive  noch  der  sentimoiitalische  Cliarakter,  für  sich  §  316 
allein  betrachtet,  ei-scliöpft  das  Ideal  srböner  Menschheit  ganz;  nur 
aus  der  innigsten  Verbindung  beider  kann  es  hervorgehen.  In  dem 
wahrhaften  Dichter  verliert  sich  zwar  vieles  von  den  Schranken, 
von  denen  sowohl  der  naive  wie  der  sentimontalische  Charakter 
begrenzt  ist,  und  auch  ihr  Gegensatz  wird  immer  weniger  merklich, 
in  einem  je  höhern  Grade  sie  poetisch  werden;  aHein  je  mehr  sie 
den  poetischen  Charakter  ablegen^  und  je  tiefer  sie  zu  dem  gemeinen 
Leben  herabsteigen,  desto  weiter  treten  sie  aus  einander,  bis  sie 
zuletzt  in  ihren  Caricaturen  ganz  entgegengesetzt  sind.  —  Diess  ftlhrt 
Schillern  zu  der  Betrachtung  einer  Gnmdverschiodenheit  der  mensch- 
lichen Geistesform  in  einem  Zeitalter,  das  in  der  Cultur  begriffen 
ist,  zur  Betrachtung  des  Gegensatzes  zwischen  dem  Realisten  und 
dem  Idealisten.  Der  eine  lässt  sich  durch  die  Noth wendigkeit  der 
Natur  bestimmen,  der  andere  bestimmt  sich  durch  die  Nothwendig- 
keit  der  Vernunft;  daher  muss  zwischen  beiden  dasselbe  Verhält- 
nias  Statt  finden,  welches  zwischen  den  Wirkungen  der  Natur  und 
den  Handlungen  der  Vernunft  angetroffen  wird.  —  Es  folgt  eine 
tief  durchdachte,  mit  aller  philosophischen  Schärfe  durchgeführte 
Charakteristik  des  Kcalisten  und  des  Idealisten  nach  dem  gegen- 
sätzlichen Verhältnis«  ihres  Wissens  und  Handelns;  aus  ihr  werde 
erhellen^  dass  das  Ideal  menschlicher  Natur  unter  beide  vertheilt, 
von  keinem  jedoch  völlig  erreicht  ist.  Obgleich  aber  beide  dem 
Ideal  vollkommener  Menschheit  nicht  ganz  entsprechen;  so  ist  zwisctfen 
ihnen  doch  der  ^richtige  Unterschied,  dass  der  Realist  zwar  dem 
VemunftbegrifT  der  Menschheit  in  keinem  einzelnen  Fall  Genüge 
leistet;  dafür  aber  dem  Verstundesbegriff  derselben  auch  niemals 
widerspricht;  der  Idealist  hingegen  zwar  in  einzelnen  Fällen  dem 
höchsten  Begriff  der  Menschheit  näher  kommt,  dagegen  aber  nicht 
selten  sogar  unter  dem  niedrigsten  Begriff  derselben  bleibt.  Nun 
kommt  es  aber  in  der  Praxis  des  Lebens  weit  mehr  darauf  an,  dass 
da«  Ganze  gleichförmig  menschlich  gut,  als  dass  das  Einzelne  zu- 
fÄllig  göttlich  sei;  und  wenn  also  der  Idealist  ein  geschickteres  Sub- 
ject  ist,  uns  von  dem,  was  der  Menschheit  möglich  ist,  einen  grossen 
;Tiff  zu  erwecken  und  Achtung  für  ihre  Bestimmung  einzuflössen, 
kann  nur  der  Realist  sie  mit  Stätigkeit  in  der  Erfahrung  aus- 
iren  und  die  Gattung  in  ihren  ewigen  Grenzen  erhalten.  Jener 
zwar  ein  edleres,  aber  ein  ungleich  weniger  vollkommenes  Wesen; 
>r  erscheint  zwar  durchgängig  weniger  edel,  aber  er  ist  desto 
foUkommeucr;  denn  das  Edle  liegt  schon  in  dem  Beweis  eines 
grossen  Vermögens,  aber  das  Vollkommene  liegt  in  der  Haltung  des 
Ganzen  und  in  der  wirklichen  That.  —  Zuletzt  werden  beide  Charaktere 
1  ihren  Caricaturen  geschildert.  —  Bei  der  Ausführung  dieser 


366    VI  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIH  JaKrhunderU.  bis  zu  Goetho's  Tod. 

§316  Arbeit  batfe  dem  Verfasser  tiberall  das  gegens&tzlicbe  Verhftll 
vor^^escbwcbt,  das  er  zwischen  Goelhe's  und  seiner  eigenen  Dicbt 
natiir  und  DicLtun«:swoi8e   so   tief  wie  uubcfangcn  erkannte/'    AU 
Goethe  die  Abhandlung  gelesen  hatte,  schrieb  er  an  Schiller**:  «^ 
habe  sieb   zu   dessen  Äleiuung  anfangs  in   einem   polemischen  V'fl^| 
hältuiss  gefunden,   weil   er  aus  einer  allzu  grossen  Voi liebe  für  die 
alte  Dichtung  gegen  die  neuere   oft  ungerecht  gewesen.     Aber 
müsse  jetzt  seinen  Princii»ien  Beifall  geben.    .»Nach  Ihrer  Lebi 
iUgtc  er  hinzu,  ,,kanu  ich  erst  selbst  mit  mir  einig  werden,   da  U 
das  nicht  mehr  zu  schelten  brauche,  was  ein  unwiderstehlicher  Tri« 
mich  doch   unter  gewissen  Bedingungen  hervorzubringen  nuthigtd.* 
Und  spater  gegen  Eckermauu  äusserte  sich  Goethe":  „Der  H 
von  classischcr  und  romantischer  Poesie,   der  jetzt  Über  die  gat 
Welt  geht  und  so   viel  Streit  und   Spajtnngen  verursacht,  Ut 
sprtinglich    von   mir   und  Schiller   ausgegangen.    Ich  hatte  in 
Poesie  die  Maxime  des  objectivcn  Verfahrens  und  wollte  nur  di( 
gelten  lassen.  Schiller  aber,  der  ganz  subjectiv  wirkte,  hielt 
Art  für  die  rechte,  und  um  sich  gegen  mich  zu  wehren,   schrieb 
den  Aufsatz  Über  naive  und  sentimentale  Dichtung.     Er  bewies  mir, 
dass  ich  selber,  wider  Willen,  romantisch  sei,  und  meine  ,,Iphigenie** 
durch  das  Vorwalten   der  Empfindung  keineswegs  so  classisch  unii 
im  antiken  Sinne  sei,  als  man  vielleicht  glauben  möchte.     DieSchl€|;6l, 
ergriffen  die  Idee  und  trieben  sie  weiter,  sodass  sie  sich  deDDJtt 
Ubtr  die  ganze  Welt  ausgedehnt  hat.*'  —  W.  v.  Humboldt  schrieb 
Schiller  tiber  diese  Abhandlung^:  „Das  Wichtigste  in  dieser  Arbeit 
ist  unstreitig,  dass  sie  der  Kritik  eine  ganz  neue,  bisher  unl>ckanDte 
Bahn  bricht;  dass  sie  da  Gesetze  aufstellt,   wo  man  bisher  nur  au&j 
subjectiven  Gefühlen  geurtheilt  hat,  und  dass  sie  zugleich  so  vi< 
Beispiele    an    so   verschiedenen   Dichtem    auftllhrt.     Es  kann  nici 
fehlen,  dass  nicht  dieser  Weg  sollte  auch  bald  weiter  betreten  werdei 
und  diese  neue  Ansicht  macht  eine  Revision  beinahe  aller  bisherij 
Urtheile   nOtbig"^\   —   Was  Schiller   nun   selbst  auf   Iheorctischi 
Wege  für  die  künstlerische  Ausübung  gewonnen  zu  haben  glaubu 
und  an  welchem  Gegenstände  er  seine  Kräfte  zuu&cbst  prüfen  wollt 
erfahren  wir  vornehmlich   aus  zweien  seiner  Briefe  an  W.  v.  Hi 
boldt.    In   dem  ersten,   vom  26.  October   1795*",  berichtet  er  dal' 
Freunde,  er  habe  sich  in  der  Abhandlung  über  das  Naive  Aufscblutf 
über  die  Frage  zu  geben  gesucht:   „Inwiefern  kann  ich,   bei  dieitf 
Entfernung  von   dem  Geiste  der  griechischen  Poesie,   noeh  Diester 


51»  Vgl.  den  Briefwechsel  zwiscben  beiden  I,  12  ff,;  U  fll  52»  Bnf^' 

Wechsel  !.  2ti0  f.  53 J  GesprAche  2,  203  f.  54)  Briefwechsel  S.  3M  ^ 

55)  Vgl.  dazu  SchiUers  Brief  aa  Kdmer  3,  :)11.  56)  S-  ^S  ff. 


i£otvickelaogsgang  d.  Lit.    1773— 1S32.   Schiller,  Üb.  naive  u.  sentim. Dichtung.   367 


i 


n,  und  zwar  besserer  Dichter,   als  der  Grad  jcuor  Entfernung  zu  §  316 
rlauben  scheint?"    Sein  ganzer  Bildungsgang  vom  14  —  24.  Jahre, 
merkt  er  ferner,  werde  seine  uugriecLiscLe  Form  bei  einem  wirk- 
cli  unverkennbaren  Dichterlalent,  der  Einfluss  philosophischer  Stu- 
ien   auf  seine  Gedankenökouoraie  das  Uebrige  erklären.     Dass  er 
cb  aber  die  fremde  Natur  der  griechischen  Dichter,   mit  denen  er 
sich  zugleich  in  der  Zeit  seiner  philosophischen  Studien,  wenn  auch 
nur  sehr  mittelbar  beschäftigt  habe,  so  schnell   und  unter  so  un- 
nstigon  Umstilnden  anzueignen  vermocht,  scheine  doch  zu  beweisen, 
9S   nicht  eine   ursprüngliche  DiÖercnz,   sondern   bloss  der   Zufall 
iviscLen  ihn  und  die  Griechen  getreten  sein  konnte.    Ja  er  bilde 
sieb   in  gewissen  Augenblicken   ein,   dass  er  eine  grössere  Affinität 
den  Griechen  habcu  müsse,  als  viele  Andere,   weil  er  sie,   ohne 
luen  unmittelbaren  Zugang  zu  ihnen,   doch  noch  immer  in  seinen 
reis  ziehen  und  mit  seinen  Fühlhörnern  erfassen  könne.     Bei  Müsse 
d   Gesundheit   hotfc  er  noch   Producte  zu  liefern,   die  nicht  un- 
ecbischer  sein  sollten,  als  die  Producte  derer,  welche  den  Homer 
er  Quelle  studierten,  möge  auch  seine  Sprache  immer  künstlicher 
isiert  sein,   als  sich   mit  einer  homerischen  Dichtung  vortrage. 
Lassen  Sie  mich*',   fährt   er  fort,   „noch  eine  Bemerkung  machen, 
sist  etwas  in  allen  modernen  Dichtern,  die  Römerniit  eingeschlossen, 
as  sie,   als  mctdcme,   mit    einander  geraein  haben,   was  ganz  und 
r  nicht  griechische  Art  ist,   und  wodurch   sie  grosse  Dinge  aus- 
n.    Es  ist  eine  Kealitfit  und  keine  Schranke,  und  die  Neuem 
sie  vor  den  Griechen  voraus.   Jlit  dieser  modernen  RealitrU 
binden   einige,    wie  z.   B.   Goethe,    eine  grössere  oder  kleinere 
i>rtion  griechischen  Geistes,  die  aber  —  wo  sie  nicht  ganz  und  gar, 
ie  in  Voss^  auf  homerischen  Stamm  gei)fropft  ist  —  dem  griechischen 
immer  nicht  beikommt.    Ich  habe  zugleich  bemerkt,  dass  diese  An- 
Biherung  an  den  griechischen  Geist,  die  doch  nie  Erreichung  wird, 
immer  etwas  von  jener  modernen  Kcalitfit  annimmt,  gerade  heraus- 
gesagt, dass  ein  Product  immer  ilrmer  au  Geist  ist,  je  mehr  es  Natu  r 
ut.    Und   nun   fragt  sich,  sollte   der  moderne  Dichter  nicht  Recht 
lukbea,   lieber  auf  seinem,  ihm  ausschliessend  eigenen  Gebiet  sieb 
cmheimisch  und  vollkommen  zu  machen,  als  in  einem  fremden,  wo 
ihm  die  Welt,  seine  Sprache  und  seine  Cultur  selbst  ewig  wider- 
siebt, sieb  von  dem  Griechen  Übertreffeu  lassen?   Sollten  mit  einem 
Wort  neuere  Dichter  nicht  besser  thun,  das  Ideal  als  die  Wirklich- 
keit zu  bearbeiten?"  In  dem  zweiten  Briefe,  vom  29.  Novbr.  1795, 
^ftiasl  ea*':  „Ich  will  eine  Idylle  schreiben,  wie  ich  hier  eine  Elegie 
(nden  Spaüergang")  schrieb.    Alle  meine  poetischen  KrUftc  spannen 


57)  S.  327  ff: 


36S     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Ooethc'$  Tod- 

g  316    sich  zu  diesei*  Energie  noch  an.    Das  Ideal  der  Sclit^nheif  obj 
zu  indi>idualisieren   und   daraus   eine  Idylle   in   meinem   Sinne 
bilden.     In  der  sentimentalisohen  Dichtkunst,  und  äu»  dieser  hera 
kann  ich  nicht,  ist  die  Idylle  das  höchste,  aber  auch  das  schwieri, 
Problem  .  .  .  Ich  habe  ernstlich  im  Sinn»   da  fortzufahren,   wo  „»1 
Reich  der  Schatten"  c,, Ideal  und  Leben'')  aufliort,  aber  darstellca 
und  nicht  lehrend.     Herkules   ist  in   den  Olmp   eingetreten,  bi 
endigt  letzteres  Gedieh^.    Die   VermShlung   des  Herkules   mit  d 
Hebe  wird  der  Inhalt  meiner  Idylle  sein.     Ueber  diesen  Stoff  hinwn 
gibt  es  keinen  mehr  für  den  Poeten .   denn  dieser  darf  die  menwb«; 
liehe  Natiu"  nicht  verlassen ,  und   eben   von  diesem   Uel}crtriU  d 
Menschen  in   den  Gott  würde  diese  Idylle  handeln.    Gelänge  m 
dieses  Unternehmen,  so  hoifte  ich  dadurch  mit  der  sentimentalisebc 
Poesie  Über  die  naive  selbst  triumphiert  zu  haben  .  .  .  Denken  Siel 
den  GenusS;  in  einer  poetischen  Darstellung  alles  Sterbliche  nu«g< 
löscht,    lauter  Licht,   lauter  Freiheit,    lauter  Vermögen  —  kein« 
Schatten,  keine  Schranke,  nichts  von  dem   allen  mehr  zu  se 
Mir  schwindelt  ordentlich,   wenn  ich  an  diese  Aufgabe,   wenn  if' 
an  die  Möglichkeit  ihrer  Aullösung  denke  ...  Ich   verzweifle  nicht 
ganz  daran,   wenn  mein  Gemüth   nur  erst  ganz  frei  und  von  »Hein 
Unrath  der  Wirklichkeit  recht  rein  gewaschen  ist;  ich  nehme  dano 
meine  ganze  Kraft  und  den  ganzen  iit herischen  Theil  meiner  Xäi 
noch   auf  einmal  zusammen ,   wenn  er  auch  bei  dieser  Gel^oni 
rein  sollte  aufgebraucht  werden"". 

§  317, 
2i  Für  die  historischeu  Wissenschaften  überhaupt'  war  hi 
durch  Forschung  und  Kritik  seit  dem  Anfange  der  siebziger  bis  u 
Mitte  der  neunziger  Jahre  viel  gewonnen  worden.  Auch  die  Geschid 
Schreibung  hatte  nicht  unbctrüehtliche  Foiischrittc  gemacht,  sich  U 
historischen  Kunst  auszubilden".     Freilich  blieb  hier  im  Gan/.en  n< 


5S»  Bekanntlich  ist  diese  Idylle  nie  ausgefolirt  worden. 

§  317.     1»  Vgl.  zu  diesem  §  Schlosser  4,  254— 271 ;  21«*  ff.;  7.  I.  21  C 
2»  F.iü  bcmerkenswerthea  l'rtheil  darüber,  schon  aus  dem  J.  iTsi ,  findet  tlA 
J.  Mosers  „Schreiben   über   die  deutsche  Sprache   und   Literatur"  (w 
Schriften   ],  205  fi:    „l'nser  historischer  Stil  hat  sich  in   dem  VerbiH 
bessert,  als  sich  der  preussische  Käme  ansgezeichnet  nnd  uns  unsere  etj 
schichte  wichtiger  und  werther  ^macht  hat.     Wenn  vir  erst   mehr  Si 
Interesse  erhalten,  werden  wir  die  Hi^ebenheitcn  auch  mächtiger  empfibden 
fruchtbarer  ausdrückou     Ilis  djihin  aber  wird  die  Gescliichte,  nach  demWanK^ 
Millers"  (doch  wohl  des  Theologpn  Job.  Pei.  Miller  in  Göttingen.  Vcrfassep  "'" 
hwiorisch-morÄlischen  Schilderungen  V)  „höchstens  ei!»  Urkundenbncli  rur  Situv 
lehr©  nnd   Ihre  Sprache   natürlicher  Weise   erbaulicher  i>der  gelehrter  Voftr« 


rickelungsj^g  der  Literatur.  1773— tS32.  GcscUichtachreibung.  Schtoidt.   369 

r  viel  mehr  zu  wttnschen  Obrig  ala  dort.    Bedeufeudere  Werke,  §  317 

m  Vorwurf  die  Darstellung  des  Gesammtlebens  oder  einzelner 

hnitte  aus  der  Gescbichte  j^rosser,  in  dem  Bilduugs^ange  der 

iBcbheit  bcsnudcrs  wicbtiger  Völker  und  Staaten  war,  traten  noch 

»ebr,  der  Zabl  wie  dem  Innern  Wertlie  nacb,  gegen  kircbeu- 

iliicbtlii'he,   universalbislonscbe  oder  aokbe  zurück,    welcbo  von 

Gescbicbtcn    einzelner    deutscher    oder    mit   Deutscblaud    eng- 

»undener  Land-  und  Völkerschaften  bandelten *,  und  eine  geißt- 

Bre,  vorurtheiisfreie  Behandlung  literargcschiclitlicber  Verbältnisse 

Bildungen  war  erst  eingeleitet  und  noch   nicht  weit  über  ihre 

nge  hinaus  gekommen.     Noch  litt  bisweilen  unter  der  Fülle  des 

ihilufteu   Stoffs   die   Anordnung  eines  Ganzen    und    die   Gleicb- 

ngkeit  lebendiger  Gestaltung  aller  Theile,  oder  einer  gefälligen, 

ib  die  Reize  einer  glänzenden  Diction  gehobenen  Form  entsprach 

Völlig   die  Gediegenheit  des  Inhalts;   nidit  selten  verrieth  die 

Bgsuug   dos   GcgenstAndlicben    Beschränktheit   des    historischen 

:9  und  von  Vorurtheilen  geleitete   Einseitigkeit  der  Richtung; 

wenn   endlich  auch  immer  sichtlicher  ein  weitschweifiger   und 

.cner  Stil   einem  gedrängtem   und   frischer  belebten   wich,    so 

eifte  dagegen  in  einigen  der  vorzllglichera  und  einflussreichern 

^e  die  sprachliche  Darstellung  entweder  zu  weit  in's  Rednerische 

oder  verfiel   in's  Manierierte.    So  wurde  das  unverkennbare 

ben  zum  Bessern  doch  nur  mehr  in  Einzelnem  als  in  dem  Ganzen 

Leistungen  unserer  namhaftesten  Schriftsleller  in  diesem  Gebiet 

einem  glücklichen  Erfolge  gekrönt.  —  Schon  von  den   letzten 

siebziger  Jabre  an  erschien  von  Hieb.  Ign.  Schmidt'  der  erste 


.  der  uns  unterrichtet,  aber  nicht  amsoust  begeistert;  iosofeni  wir  nicht 
th,  nac^Kiem  wir  wie  tÜe  F^nzosen  alle  Arten  von  Romanen  erschöpft  haben 
niien,  die  emsthiUtc  Muse  der  Ueschichte  zur  Dienerin  unserer  leppigktiit  er- 
«drigea  wolleu"  iwozix  man  damals  schon  auf  dem  besten  Wege  war,  vgl. 
6  flf.).  3)  L^in  Katiioiik,  geb.   n:)0  zu  Arnsteia  im  WUrzburgischcu.    Er 

da  er  sich  zum  Welt^eistlichen  bestimnite,  seine  Bildung  zu  Wdrzburg 
Gymnasium  und  aodann  in  dem  bischöflichen  Seminar,  wo  er  neben  der 
sich  hauptBächlich  auf  geschichtliche  Studien  legte    Nachlicr  wurde  er 
Captan  xn  Hassfurt,  gieng  aber  bald  darauf  als  Krziebcr  nach  üamberg  in 
ns  eines  Edelmanns  von  vielseitiger  Bildung  und  fand  hier,  so  wie  in  Stutt- 
tn  dpAson  NAhe  sich  sein  rrincipal  WiUirend  des  siebenjAhrigen  Krieges  auf- 
►  Uclegcaheit,   in   dem   Umgange  mit  diesem  und  mit  mebrorn  andern  an- 
nea  und  gebildeten  Minueru  die  Welt  und  die  tieslen  Schriftsteller  alter 
Acaer  Zeit  kennen  zu  lernen  und  seinen  riescbmark  zu  bilden.    Nachdem  er 
einige  Zeit  in  das  Seminar,  als  Stellvertreter  des  abwesenden  Vorstehen;, 
«hrt  war,  wurde  er  1771  Bibliothekar  bei  der  Universität  zu  WürzburK. 
liOge  nachher  Beisitzer  der  theologischen  FacullAt  und  Lehrer  der  deiitechen 
»«feachichte.    l"'l  erhielt  er  mit  einer  ansebuUchen  Thibeude  die  Stelle  eines 
eben  Rattu  in  dem  ersten  LandescoUegium.    In  dieser  Stellung  machte  er 


370    Yl.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVlll  Juhrhunderü  bis  zu  Gocthc't 

Versuch',  die  vaterliindische  Gescliiohte  ihrer  bisherigen  Behandl 
art  zu  enthebeu  und  an  die  Stelle  einer  bU»ssen  Kaiser-,  Uei*: 
und  Ständehistorie  eine  Geschichte  unseres  A'olks  zu  setzen:  ein 
die  damalige  Zeit  sehr  verdienstliches  Werk,  dem  kein  ähDÜcl 
oder  gar  besseres  so  bald  folgte,  und  ans  dem  ntni  auch  ein  grüi 
Publicum  als  das  eigentlich  gelehrte  eine  nähere  Kcunlniss  Je: 
heimischen  Vorzeit  zu  gewinnen  antieug.  ,,  Die  Meisten  *'  (weiehc 
die  deutsche  Geschichte  sehreiben),  heisst  es  in  der  Vorrede  lUß 
ersten  Tbcil,  „begnügen  sich  damit,  die  wechselsweise  Gewalt  der 
Regenten  und  Stände  auszumesseu,  ohne  sich  zu  bektunmcm,  in 
was  für  einer  Lage  sich  das  Volk  dabei  befunden.  Ob  aber  die«» 
der  letzte  Zweck  der  Geschichte  sei,  daran  zweifle  ich  sehr.*'  >>  i' 
Absicht  bei  diesem  Werke  war  also,  „zu  zeigen»  wie  Deulsci  l^Pi 
seine  dermaligen  Sitten^  Aufklfiruug,  Gesetze ,  Kflnste  und  Wii 
Schäften,  baupts.lchlich  aber  seine  sehr  ansgezcirbnete  S' 
Kirchenverfassnug  bekommen  habe;  kitrz,   wie   es   das  vs  7., 

WAS  es  wirklich  ist.''    Zunächst  erhob  sich  daun  die  Bearbeitt 
weise  der  Kirchengescbichtc,  die  so  lange  vorzugsweise  auf  Zusamme 
tragen   des  Stofis  gerichtet   gewesen    war,    zu   einem   mehr  kutw 
massigen   Pragmatismus ,    der    bald   auch   auf  andere   Zweige 
Geschichtschreibung  umbildend    einwirkte.     Die   Wendung,   welcl 
die    Behandlung    der    theologischen    Wissenschaften     während 
Sechziger  und  Siebziger  genonmieu  hatte,   besonders  seitdem  8i( 
Lessings  zu   freier  Erforschung  und   unbefangener  Auffassung  ibi 
geschichtlicheu  Theile  so  mächtig  anregender  Geist  darin  fühlbar  w 
machen  begann,   hatte  dahin  geführt,   auch   die  Eirchengeecbicbt« 
von  einem  freiem  und  hOhern  Standpunkte  als  seither  zu  betrachttt^ 
und  entweder  einzelne  Perioden  derselben  oder  ihren  ganzen  V 
in  dem  Lichte  eines  geistvolleren  Rationalismus  mit   pragmatiscl 
Urtheil  darzustellen.     Voran   gieng   hierin  im  Beginn  der  Acht 
Gottl.  Jac.  Planck*  mit  seinem  Hauptwerke,  der  „Geschickte 


«ch  besonders  um  die  Verbesserung  do8  Volksscbulwesens  im  WOrsburgii 
verdient.  Der  Kuf,  den  er  sich  durch  sein  Geecliichuwcrk  erwarb,  ver&nlscc(t  A 
Kaiserin  Maria  Theresia,  ihn  nach  Wien  zu  Eieben,  wo  er  17*»o  als  «irk&tW 
Hofrath  und  Dir^ctor  des  Haus-  und  StaaUarcliivs  angesteltt  wurde.  Kr  iltt^ 
1701.  4i  Von  seiner  „Geschichte  der  Deutschen"  erschienen  die  ersta  f^ 

Theile,  welche  die  altere  Geschichte  befassten.  Ulm  177^ — S'X  >.  tiu  einer  »in 
und  verbeeserteu  AuM.  I7s5— S7);  der  6—11.  TheU  (die  neuere  GescitlcbM  «• 
gleich  in  Clra  und  in  Wien  17ns— 93.  s.;  fortgesetzt  von  Jos.  ^lilbiUer. 
5)  Geb.  17ÖI  zu  Niirtiugen  im  Würtemhf'rgischeii.  studierte  zu  TQblugen 'tliMlDgii; 
wo  er  t77|  Rpprtrnt  in  der  theoloeiscbpn  Facultät  wurde.  Sechs  Jalire  ^aoof 
erhielt  er  die  rrcdiL'^rstelle  un  der  Kart^akademie  zu  Stuttgart.  Nachdcoi  er  Vir 
lein  nau|itwcrk  herauszugeben  angetaugeu  hatte,  wurde  er  17^4  &lfl  Profaaor 
Theologie  an  die  UniTcrsität  Göuingen  bemfen.  wo  er  als  Lehrer  «md 


P°««««Bf 


d.Lit.  1773— lSa2.  Geschicbtschrcibung.  Tlauck.  Spllticr.  371 


ng,  der  Veräuderungea  und  der  Bilduug  unHerB  ]»roto8tan-  §  317 
!>elirbegriff8  vom  Anfaug  der  Refomiatiou  bis  zur  Einführung 
■ordieufonnel'*",  dem  sieb  untuittclbar  darauf  Ludwig  Timo- 
ittler'  nül  dem  ,,Gruudris8  der  Geschiebte  der  ehristlieben 
•  nnscbloss,  ein  Werk,  daa  seinem  Verfasser  glcicb  den  Ruf 
istvollcn  und  freimütbigen  Gescbicbtsebrcibera  erwarb,  der 
lichlroUeu  Voitr^ge  und  der  Gabe  lebendiger  Charakteristik 
tbcit  der  Darstellung  zu  rerbinden  vorstand.  Auch  in  der 
g  voü  Soudergesebiebten  einzelner  dcutscber  Länder,  der 
:bte  Wilrtembergs  unter  der  Regierung  der  Grafen  und 
*",  und  der  „Geschiebte  des  FUrstentbums  Hannover  seit 
cn  der  Reformation  bis  zu  Ende  des  17.  Jahrhunderts""',  so 
(einem  „Entwurf  der  Geschichte  der  europaiscbou  Stmiten*'" 
eu,  in  denen  überall  Klarheit  iu  der  Auffassung  gescbicht- 
erhältnissc,  politischer  Seharndiek  und  ein  verständiger 
ismus  für  das  entBcbädigeu,  waH  ihnen  an  Glrutc,  FUlle 
des  Vortrages  noch  abgebt  —  zeigte  sieb  Spittler  als  einen 
gründlichen,  wie  besonnenen  und  freimütbigen  Historiker. 
Kssten  und  geprieseusten  Namen  aber  in  der  Geschieht- 
'  erlangte  damals  Job.  Müller '^  durcb  seine  ,> Geschichten 


londers  far  Kirchen*  und  Dogmeugeschiclitc  tliaüg  war  und  nach  nnd 

Consititonulrath;'  Geueralsuperiiitendeuteu,  Abt  und  Oberconsistorialrath 

urde.     Er  starb  l*•3r^.  6|  Leipzig  I7SI— isou.    b  Btle.  in  S  Ab- 

7)  Geb.  1752  zu  Stuttgart,  wo  er  auch  das  Gymnasium  besaclite. 

I   gleng  er  nach  Tübingen ,   um   Theologie   zu   studieren,   dann   nach 

von  wo  er  1777  nach  Tübingen  zurückkehrte,   um  Re])etent  in  dem 

lien  Stift  zQ  werden.   Schon  hier  bewährte  er  sich  durch  einige  kircheu- 

che  Schriften  als  einen  tief-  und  scharfblickenden  Forscher  von  selb- 

l^lpite.    177*.(  wurde  er  aU  ordentlicher  Professor  in  die  philosophische 

HlkfiAttingen   berufen  und  17t*^   zum  Hofrath  ernannt.     Kin   gespanntes 

,  in  welches  er  zu  Ileyne  geratben  war,  und  das  Verlangen  nach  einer 

irk^amkeit  im  Staatsdienste  bewogen  ihn  im  J.  17 '.(7,  sein  akademisches 

aufzugeben  und  einem  Ruf  nach  Würiemberg  zu  folgen,  wo  er  als  wirk- 

leiinerath  angestellt  wurde.    iMMi  ernannte  ihn  sein  KOuig,  indem  er  ihn 

den  Freiherrnstand  erhob,  zum  Staatsminister.  Pnisidenten  der  Ober- 

ection  und  Curator  der  Universitiit  Tubingen.    I>adurcb  wurde  er  indt^ss 

von  dem  Ziel  seines  Strebeos,  einer  hülieni  politischen  Thutigkelt.  ent- 

iljra  angenähert.    De»  Gram  dartiber  nebst  mancherlei  Kränkungen,  die 

ben   her  erfuhr,   untergruben  seine  Gesundheit.    Er  starb   1810.    Eine 

uisgabe  äciner  Werke  in  1.^  Bänden,  bc&orgt  von  K.  Wächtfr,   erschien 

rt  1S2T— H7.   ^.    Vgl.  den  Aufsatz:   „L.  Th.  Spittler*»  in  den  Preusfii- 

rbüchem  Bd.  t,  S.  124  ff.  S)  Oöttingen  !7*»2.    8,  9)  Güttingeu 

10)  G^ittingen   1786.     2  Bde.   !s.  II)  Berlin  vm.  94.  2  Th!c.    S. 

ine  Selbstbiographie  von  ihm  (bis  zu  seiner  Anstellung  in  Bertin  reichend) 

»erst  iu  den  „Bildnissen  jetzt  lebender  BerUner  Gelehrten";  heratugg. 

.  Lowe.    Berliu  iSuo.   k  lin  den   Werken  2'J,  I  ff.i  vgl.  Goethe*a  Be. 

24* 


^i 


372    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVlII  Jahrhundert*  bis  20  Goelfae*i  Toi 

317  schweizerischer  Eidgenossenschaft."    MHller  wurde   1752  zu  Scfe 
hauäon  ireboren ,  wo  sein  Vater  Prediger  war  und  zugleich  ein  Lei 
amt  verwaltete.    Durch  den  Vater  seiner  Mutler,  der  ebeufalla  Gei 
Hoher  war,  wurde  in  dem  Knaben  schon  sehr  früh  eine  grosse  Liel 
zur  Geschichte  Uberhaujtt  und  insbesondere  in  der  seines  Deimath-J 
landes   erweckt   und   genAhrt     In  seinem  siebenten  Jahre  kam  er 
auf  die  Schule  seiner  Vaterstadt,  und  noch  ehe  er  dieselbe  verlicM. 
versuchte  er  sieh  schon  in  der  historischen  Kritik.    Als  er  im  drei- 
zehnten   Jahre    die    römischen   Classiker    näher    kennen    zu    lernen 
anfieng,  „entzündeten  diese  in  ihm  eine  unaussprechliche  Verebrnnf 
und  Liebe  grosser  Milnner  und  der  Freiheit."    Bald  darauf  wiinic 
er  in  das  Collegiura  Humanitatis  zu  Scbaffhausen  aufgenommen,  wo 
er  zwei  Jahre  lang  den  Unterricht  von  sieben  oder  acht  Profcseorw 
allein   genos«.     1769  gieng  er   nach  G^ttingen,    wo   er  nach  d( 
Wunsche  seines  Vaters  Theologie  studieren   wollte,   sich    aber  bal 
weit  weniger   dieser  als   geschichtlichen  Studien,    besonders  anl 
Schloezers  Anleitung^  widmete.    Tm  Sommer  1771  machte  er  Gh 
Bekanntschaft,    der  in   ihm  „sein  Jagendgefühl  für  Friedrieb  M 
Grossen  weckte"    und  ihm  bis  zu  seinem  Tode  immer  freundl 
zugethan  blich.    Im  Herbst  desselben  Jahres  kam   er  wieder  sflflk 
Schafiliausen,  und  schon  im  nächsten  Jahre   erhielt  er  daselbst  die 
erledigte    Professur   der   griechischen   Sprache    an    dem    CoUegiuD 
Humanitatis;  zu  derselben  Zeit  erschien  seiu,erster  gedruckter  V 
such  in   der  Geschichte,   das  lateinisch  geachricbene   , .Bellum  Üifr] 
bricum.""     1773  wurde  ihm  durch  Nicolai*«  Verraittelung,  mit  d< 
er  bereits  seit  einiger  Zeit  als  Mitarbeiter  au  der  allj^remeinea  43 
Bibliothek  in  Verbindung  stand,  das  Rectorat  des  joachimsthaliscfai 
Gymnasiums  in  Berlin  angetragen,  das  er  aber  ablehnte.'*    Ni< 
lange  vorher  hatte  er  den  Frhrn.  K.  Victor  vou  Boustetten  keom 
gelernt,    mit  dem   ihn   bald   die  zärtlichste   Freundschaft  verh»iit? 
„deren  Urkunden"  in  Müllers  „Briefen  eines  jungen  Gelchrteo  m 
seinen  Freund"  vorliegen.'^    1771  legte  er  seine  Professur  medcr. 


urtheiloiig  für  die  Jeaaer  Literatar-Zeitang  in  den  Werken  33,  131  ff.l;  Ihr  itf 
hier  vou  d^m  Herausgeber,  MQUcrs  jungerm  Brader,  ausser  den  „Erhilwiili|M 
au8  J.  Mallers -Jugendgescbichte'*  und  andern  Nachtragen,  als  die  reichluditpfM 
Ergknznngeti  angehängt,  Üioils  vollständig  theils  bnichRtUcksveise,  Briete  tt 
Maliers  Kitem  imd  Geschwister,  voniehmlicb  un  den  Herausgeber,  in  Bd.  >i— 3^ 
Auch  die  Übrigen  Briefe,  an  tionstetten.  Uonuet  und  andere  Kreund»,  catlalM 
viele  Ztige  zurVervolhiandignng  von  Müllers  Lebensbild.  —  ..SitramtKcheVTsiki*. 
herausgegeben  vou  J.  0.  Maller.  Stuttgart  ISIO— 11«.  27  Bde.  s.;  daoa  SU»* 
gart   und  Tübingen  1S;U— :»:>.     40  Bde.    12.  IH)  Zürich  !T':2-    •*. 

14»  Siimmtlicbe  Werke  37.  173  ff.  tö)  Fragmente  daraus  xuent  in  v.Evn 

„deutschem  Magazin".   Leipzig   Mbb  fi    Jahrg.   17^.  M»;   daan   die  BrM»  v« 


Entwickelongsgwigd.literfttur.  1773 — IS32.  Gescliiclitschreibuiig.  Joh.Muüer  373 


.      Frt 

■leb 


die  ihm  indes«  Ton  der  Regierung  auf  unbestimmte  Zeit  offen  behalten  §  317 
wurde  f   und  gieng  nach  Genf,   um  den  Unterriebt  der  Sühne  eines 
hähcm  Beamten  in  dieser  Stadt  zu   Übernehmen.    Allein  schon   im 
Frühling  des  nächsten  Jahres  löste  er  wieder  dieses  Verhältniss  und 
lebte  bis  zum  Winter  1776  in  Gesellschaft  eines  Freundes  aus  Nord- 
erika auf  einem   Landhause    bei   Genf  seinen  Studien;  nachher 
Terweilte  er  meist  in  der  Nähe  von  Genf  oder  in  dieser  Stadt  selbst, 
so    wie  in  der  berniscben   Landschaft  Sancn   bei   seinen  Freunden, 
dem  Naturforscher  Bannet,  von  Bonstotten  und  dem  Generalprocurator 
öbert  Tronchin,  hielt  auch  in  den  Wintennonaten  der  Jahre  1778 
nd  79  zu  Genf  Vorlesungen  Über  die  Universalgeschichte.'*    Unter 
inen    geschichtlichen   Studien    hatten    ihn    indess    zeither    immer 
anächst  und  zumeist   diejenigen  beschäftigt,  welche  sich  auf  die 
IGeschiehte  seines  Vaterlandes  bezogen."    Nachdem  er  im  Frtthjahr 
nd  Sommer    17SU    in  Bern    den   Druck   des   ersten    Buchs   seiner 
Geschichten  der  Schweizer"*'  besorgt  hatte,  machte  er  im  Herbst 
Über  HalbcrKtadt ,  wo  er  bei  Gleim  ein  Paar  Wochen  verweilte,  eine 
BeisG    nach    Berlin.     Die    hier    von   ihm    herausgegebeneu  „  Essais 
Lifltoriques",  welche  Friedrich  dem  Grossen  übersaudt  wurden,  ver- 
ten  ihm  eine  Unterredung  mit  demselben.     So  gern  MUUer  im 
ssischen  und  namentlich  in  Berlin  gehlieben   wäre,   so  waren 
die  Antrfige  von  Stellen,  die  ihm  gemacht  wurden,  doch  nicht  der 
Art,   dasB   er  sie  annehmen   mochte.     Er   ^^TiUte  sich   nun^  um   die 
durch    Leasings   Tod    erledigte   Bibliothekarstelle    in    W^olfenbüttel 
bewerben;  sie  war  aber  bereits  vergeben.     Er  gieng  also  im  Fröh- 
ahr  17S1  von  Braunschwoig  wieder  zuu:lchst  nach  Halberstadt  und 
on  da,  um  in  die  Schweiz  zurtlckzukebren,  nach  Cassel,  wo  ihm 
ine  Professur  am  Carolinum  angetragen   wurde ^   die  er  annahm.** 
p&ter  vertauschte  er  sie  mit  einer  Stelle  an  der  Bibliothek,  wobei 
tim    zugleich    der  Ratbstitel   verliehen    wt\rde.     In    Cassel   schrieb 


^: 

I,       HOL. 


17TÄ— 70  heraosgg.  tod  Friederike  Brun,  geb.  Mttnter,  Tübingen  1S02.  8^  in 
spätem  Ausgaben  die  Briefe  bis  iso^),  und  so  in  den  sämmtlichen  Werken  B?. 
]i4_3ft;    Tgl.  der  Schlegel  Atheaäum  2,  :U3  ff.    und  dazu  Maliers  Bricfo  iu  den 

erken  :*2.  S5  und  3*1.  14 '.t  f.  —  üebcr  Etonstetten  vgl.  besonders  noch  K.  Morell, 
K.  T.  Uonstetten.  WinKrthor  mw.  8.  16)  Sie  bildeten  die  erste,  französisch 
geschriebene  Gruudlage  zu  den  nach  und  nach  iu  deutficher  Sprache  ausgelübrteu 
und   erat   nacli   »einem  Tode  heran sgekommonen  „Vieruiidz wanzig  Büehera  all- 

meiner  Geschichten,  besonders  der  europäischen  Menschheit",   Tübingen  ISIO. 

Bde.    *  ;  Tgl.  die  Vorrede  des  Herausgebers  vor  dem  l.  Bde.  der  a  Werke  nnd 

o  Mollen  Briefe   in  den  Werken  3i,  150;   Xi,  2i\  und  sO;   3S,  195. 

17»  Welchen  PUn  er  schon  1773  für  eine  helvetische  Geschichte  entworfen  hatte, 

kann  man  aus  einem  Briefe  an  Bonstettcu,  Werke  34,  27  f.  ersehen;  vgl.  S.  3ti  f. 

IS»  Boston,  d.  h.  Bern  1780.   8.       19)  Nach  G.  Försters  Bericht  an  Fr.  H. 

Jacobi,  Briefwechsel  1,  271,  hdtte  Müller  selbst  darum  angesucht. 


wm 


wm 


374    Tt  Y«ai  xvtttn  Viertel  da  XVm  J*Uiiibdais  bn  n  GMOt^i  TW. 


§  317  Moller  die  „Beisen  der  Päbste''*    worin  er  „das  Jabel^earhrd 
Pnblirums  Ober  den  Utnstnrz   aller  VormaDem  militiLxisober  All 
herrscbaft  etnigennagsen  zu  stillen  tmcbtete'S  and  die  daaiali 
Aufseben  macbten.''     Im  FrDlijabr  17S3  bedachte  er  seine  HdBml 
er  eotscblnss  sieb  bier,  seine  Stelle  in  Cas&el  aufzugeben  tnid 
Genf  bei   dem   Generalproeurator  Troncbin   als  Ge«ellsefaaAer  ml 
Vorleser  eine  Anzabl  Jabre  mit  einem  ihm  in  diesem  Fall  ftir  mnt 
Lel>enszeit  zngesiebertcn  Einkommen  zu  bleiben.     Er  arbeitete  ona 
mit  besonderm  Eifer  an  seiner  Gescbicbte  der  Schweizer  und  birit 
auch  wieder  Vorlesungen".    Sein  Verbältnifts  zu  Troncbin  war 
nicht  von  Dauer;  schon  im  Herbst  17S4  trennte  sich  MQller  ron 
and  gieng  nach  Valelres»  dem  Gute  Bonstettens^  um  hier  seine 
einzig  dem  Hauptwerk  seines  Lebens  zu  widmen,  und  im 
Sommer  nach  Bern,  wo  er  bis  zum  Frflbjahr  17S6  blieb,  dann  al 
der  an  ihn  von  Mainz  aus  ergangenen  Berufung  zu    '       -    "lo 
kurfDrstlicLen  Bibliothekars,  mit  dem  Titel  eines  kurfl 
folgte.      In    diesem    Jahr    ei^ehien    auch    der    erste    Tbeil    sdBer 
Geschichten  der  Schweizer  in  der  neuen  Bearbeitung.  ,^die  Gesehichlcit 
«cbweizerischer  Eidgenossenschaft,''"    Im  Jahre   1787,   in  weleb« 
auch   die   ,, Darstellung  des  Fttrstenbundes""  erschien,  sandle  Ilin 
der  Kurftlrst  in  Angelegenheiten  der  Wahl   dea  Frhm.  von  Dali 
zum  Coadjutor  an  den  päpstlichen  Hof  nach  Rom ;  darauf  irut^ 
In  der  kurfürstl.  Cabinetscanzlei  angestellt,  zum  Geb.  Legntioneratt 
bald  nachher  zum  Geh.  Conferenzrath  und  1701 ,  als  man  ihn  üui 
Wien    und   bald   darauf  nach   Berlin   und   Hannover  ziehen   wMlt 
zum  wirkl.  Geh.  Staatsmth  ernannt.     Zur  selben  Zeit  erhob  ihn 
Kaiser  als  Johannes,   Edlen  von  Mtlller  zu  Sylvclden,   zum  ReicW 
ritter.    Nachdem  im  Herbst  1792  die  Franzosen  Mainz  besetzt  hatten 
trat  Müller  zu   Anfang  des  folgenden  Jahres  mit  BewilF. 
Kurfürsten  aus  dessen  Diensten  in   die  kaiserlichen,   als   \\ 


20»  0.  0.  ITS2.    8.;   in  den  Werken  25.  J3  ff 


21)  ^^ 


^UW^ 


vgl  auch  35,275ff..  2*3;  37,202:  270.        22»  „Eine Epoche  in  - 
art  oder  Stmlierart"   machten  Flerdors  Idepn  nir  Philosophie    Jcr  üwcliici 
MenncbbRit  (Werke  :^0,  li7).    AU  Herder   später  im  4.  TheÜ   der  Ideen 
zur  Philosophie  und  Geschichte  7.  \'.\Ct)  Müllers  Schweizergpsehirhi^  „ein« 
Üiek  voll   historischen  Verstandes"  genannt  und  gemeint   hatte,   ».eine  Qt6€\ 
der  Entsteh QDg  EuropA*s  von  diesem  Schriftsteller  geschrieben,  wiirde  wahvfcbdB* 
lieh  das  erste  und   einzige  Werk  dieser  Art  werden'*,  schrieb  Muller  ftfi 
Brudrr  ini,  'm\  f.t,  diese  Aeusseruug  sei  ihm  erfreuHchcr.  nis  wenn  ihn  deiKsl*"' 
ztun  Orsien  gemacht  hätte;    sie  habe  ihn  mit  neuem  Eifer,   mit  Muili  und  Kj 
beseelt.  23)   Leipzig    17^6.    b.:    die    beiden  führenden   Theile  kamen 

1756— 1706  heraus,   der  vierte  und  des  fünften  erste  AbtheUung  Isoä  — !»»<►>; 
dr«  ersten  In  einer  neuen  und  verbesserten  Autl.  l^0(»,   sodann   in  den  vAflffl**^, 
Werken.  24)  Leipzig  §.;  Werke  24,  ^  ff. 


ck(?liing5^Dg  d.  Literatur.  1773—1^32.  Geschichtsclireibung.  Job.  Müller.  375 

fratb  bei  der  geb.  Hof-  und  Staatscanzlei.    Nach  dem  Tode  von  §  317 
Ich.  Denis  erliielt  er  desseu  Stelle  als  erster  Custos  an  der  kaiserl. 

fiotbck.    Als  ihm  aber  naeb   manebcn  berben  und  kränkendcTi 
hrungen,   die  er  in  Wien  gemaebt   batte,   noch  dazu  venvebrt 
ie,  die  Fortsetzung  seiner  Scbweizergeschichten,  sogar  ausserhalb 
T  HStcrrcicbiscben  Staaten,   herauszugeben,   ihm   auch,  als  einem 
formierten;    die  erledigte  Prafectur   der  Bibliothek    vorenthalten 
il,  verlies»  er  Wien  und  gieng  zu  Anfang  des  Jahres  IS04  nach  Berlin, 
er  alsbald,  nachdem  er  sein  Verhältniss  zu  der  kaiserl.  Regierung 
Ist  hatte,  zum  ordentlichen  Mitglied  der  Akademie  und  zum  Historio- 
ihen   des  brandenburgischeu  Hauses  mit  dem  Titel    eines   Geb. 
legsraths   ernannt   wurde.    Eine  Kauptaufgabe   seiner   geschieht- 
ihen  Forschung  und   schriftstellerischen  Tbätigkeit  sollte   nun   die 
insgeschichte  des  grossen  Königs  werden,  über  die  er  schon  im 
mg  des  Jahres  1S05  eine  Vorlesung  in  der  Akademie  hielt,  und 
ihm  auf  königlichen  Befehl,  ausser  andern  Quellen  in  den  Re- 
Brungsacten,  auch  die  ScliÄtze  des  geh.  Staatsarchivs  geütVnet  werden 
Itea".     Der  Krieg  Preusscns  mit  Frankreich  und  die  Folgen  der 
lUcklicben  Schlachten  im  Herbst  lSi)6  verhinderten  die  Ausführung 
Müllers  Absiebten.     Er  blieb  in  Berlin,  als  die  Franzosen  ein- 
icn;  die  rtlcksicbtsvolle  und  selbst  schmeicbclbaftc  Behandlung, 
ibm   von   den  französischen  Behörden  zu  Tbeil   ward,  stimmte 
gleich  sehr  günstig  für  ihre  Sache,   und  in  einer  Untfirredung. 
der   ihn  Napoleon   berufen,   „eroberte"  ihn  dieser  völlig  „durch 
Genie  und  seine  unbefangene  Güte'*".    In  der  UngewiMbeit 
aner  Lage,  so  lange  er  sich  not-b  als  preussischer  Slajitsdiener  be- 
achtete,  glaubte  er  einen  zu  Anfang  ISO"  an  ihn  ergangenen  Ruf 
Swner  Professur  in  Tübingen  nicht  ablehnen  zu  dürfen;   die  viel- 
len  Angriffe,  die  ihn»  eine  in  der  Akademie  gehaltene  Vorlesung-* 
;j  verleideten  ibm  Uberdiess  den  langem  Aufenthalt  in  Berlin  ^^ 
verzögerte  sich  seine  Entlassung  aus  seinen  bisherigen  Ver- 
Itnissen  bis  in  den  Herbst.     Auf  dem  Wege  nach  Tübingen  Uber- 
l'rachte  ibm  zu  Frankfurt  Tein  Eilbote  die  Aufforderung,   schleunigst 
iwch  Fontainebleau  zu  kommen,  wo  er,  sehr  gegen  seinen  Wunsch, 
[ligl.   westpbälischeu  Minister  Staatssecretfir  ernannt  wurde, 
ut  trat  er  im  December  zu  Cassel  an:  die  damit  verbundenen 


^25)  Vgl.  Werke  3:».  S'J  ff.  26 1  Vgl.  Uie  Briefe  vom  J\.  Octbr.   bis 

'^OTbr.  Ifti^G  in  den  Werken  33,  105  ff.  27»  ,,De  la  gloire  de  Fred<5ric*', 

Jtit  Tou  Goethe.  2uci?t  im  Morgenblatt  von  lsf>7,  dftim  in  den  Werken 
tVT  ff  2Si  Mau  warf  ihm  „Adiseltriigerei,  Falschheit  und  Verrütherei" 

vg!.  Werke  2>,  2'.tl  l".:  SA,  124  ff.  und  HO,  22«.  Dass  er  „den  Mantel  nacU 
Winde  bunge  und  mit  beiden  Schultern  trage",  hatte  ihm  schon  IT^i  ö.  Forster 
^gVAOgt ;  Tgl.  dessen  ßriefvrechscl  1 ,  27 1  f. 


m 


376    VI.  Von  zweiten  Viert«!  des  XVIII  Jahrhaiiderts  bis  zu  Ontiht't  Toi 


§317  GeachÄfte  sagten   ihm  aber  so  wenig  zn  und  griffcB  »eine  Gennd^j 
heit  80  Bebr  an,  das»  er  auf  seine  Bitte  davon  Bchon  im  Januar  IV) 
entbunden   und   ibm   als  wirklichem  .Staatsratb  die  Generaldir©fti(nl 
der  Studien   Übertragen  ward.    Es  wÄhrtc  jedoch    nicht  lange, 
fühlte  er  immer  mehr  die  Abnahme  Beiner  Gesundheit   und  die  Zi 
nähme  geistiger  Verstimmung.    In  der  Schweiz  gieng  man  damit 
ihn  dahin  zurückzuberufen,  dass  er  bei  einem  ihm  ausgcsctsteo 
gebalt  seine  Geschichte  der  Schweiz  and  andere  gelehrte  Arl 
in  Ruhe  vollenden  konnte;   doch    bevor  dartlber  in  der  Tags 
ein  Beschluss  gefasst  werden  konnte,  starl)  Müller  im  Frühling  11 
Sein  Hauptwerk,  die  „Gesehichten  schweizerischer  Eidgenns8enscb»A* 
ist  auf  dem  Grunde  eines  uncrmcgslichen  Quellenstudiums  a^ifgel 
und  in  einzelnen  Theilen  auch  mit  grosser  Kunst  ausgeführt;  allciBi 
zu   einem   sich   dem  Stoff  und   der  Schreibart   nach  barmoni*ch 
sammenscblicflsenden  und  abrundenden  Ganzen  fehlte  ihm  noch  ^M 
auch  abgesehen  davon,  dass  die  ganze  Form  der  Darstellung  zu  wlff^ 
eine  theils  einigen  grossen   antiken  Historikern,   theils   den  bwten 
altdeutschen    GeachichtebUchcrn    nachgekünstelte    Erzflhlungsmaaiar 
verrietb.     Frühzeitig  wurde  ihm  schon  der  Vorwurf  gemacht  erahne 
zu  sehr  den  Tacitus  nach;  Hpater,  er  habe  den  historischeu  Stil  <l« 


Thucydides  mit  dem   des  Tacitus  in  seiner  Schweizergeechichle 


le  10^ 

igfoMl 
nvunH 


verschmelzen  gesucht  und  dabei  zugleich  durch  Annäherung  an 
Ausdrucksweise  der  altdeutschen  Chroniken.seiner  Sprache  eine  ci, 
alterthümlichc  Färbung  zu  geben  gestrebt.  Um  den  ersten  Vo 
zurUckzuXveisen  und  den  Bchelnbaren  Grund  desselben  zu  erkltren, 
schrieb  Müller  I7SS  an  Nicolai":  die  Nachahmung  des  Tacitus  werde 
ibm  fAlschlich  zugeschrieben.  „Nicht  nur  habe  ich  seit  zwölf  Jahres 
ihn  gar  nicht  gelesen,  er  ist  nach  meinem  Geschmack  in  der 
auch  kein  vollkommenes  Muster;  ich  hatte  weit  mehr  auf 
GriecheUj  auf  Cäf-ars  Einfalt  am  allermeisteu.  Die  Ursache 
oftmals  dunkeln  Manier  war  immer  der  Mangel  genügsamer  M 
zur  Ausarbeitung ;  es  ist  mir  nicht  möglich  gewesen,  die  Darstdlo 
des  FUrstenbundes  oder  die  Schweizer  Geschichte  auch  nur  a 
schreiben.  Daher  ein  Exc^rptcnstil,  den  lange  Gewohnheit  mir, 
Hallern,  eigen  gemacht.  Auch  was  aus  der  Seele  geflossen,  ist, 
diesem  einigen  Grund,  nicht  ein  heller  Bach,  sondern  faervorbrecfa 
der  trüber  Alpenstrom,  der  mehr  fortreisst,  als  befruchtet.  Einwls» 
Stellen  habe  ich  das  zufällige  Glück  gehabt,  ein  paarmal  umarbei(«n 
zu  können;  diese  haben  auch  Überall  Beifall  gefunden."  —  Dm» 
Schiller  sich  mehrere  Jahre  hindurch  sehr  eifrig  mit  gedcbichtlicb 
Studien  und  Arbeiten   bcschäftigle,  ist  uehst  dem  Gewinn,  den 


UV 


IcltelungsgÄÄg der Literatar.  r773-|Vj2.  GescMchtschreibung  ScliiUer.    377 

ll)8t  daraus  für  seine  8|)atcrn  Dichtung:eu  zog,  bereits  oben  er-  §  317 
wähnt  worden**;  die  Bedeutung  seiner  historisclien  Schriften,  vor- 
lehmlieh  der  „Geschichte  des  Abfalls  der  vereinigten  Niederlande'*  etc. 
17SS)  und  der  „Geschichte  des  dreissigjahngcn  Krieges''  (1791 — 93)» 
"Ar  die  deutsche  Bildung  und  Literatur  überhaupt  darf  nicht  sowohl 
lach  dem  abgesclifitzt  werden,  was  dadurch  der  eigentlichen  Ge- 
ichicbtswissenachaft  zu  Gute  gekommen  ist",  als  vielmehr  nach  ihrem 
Einfluss  auf  die  Bildung  des  historischen  Stils  und  nach  dem  In- 
»resse,  welches  sie  ftlr  geschmackvolle  geschichtliche  Darstellungen 
ind  dann  auch  für  geschichtliehe  Lectüro  im  Allgemeinen  bei  dem 
licht  gelehrten  Theil  des  gebildeteren  Publicums  in  Deutschland  er- 
sten".   In    dieser  Beziehung  schliesst  sich  Schiller  aunftchst  an 


30)  Vgl.  S.  132—125  und  8.  I2S.        31)  Ueber  die  von  Schiller  bei  der  Ah- 
tg  der  Geschichte  des  :iojährigcn   Krieges  nad  des  Wallenstcin  beoutrlen 

vgl  Boxberger  in  Gosche's  Jahrbuch  f.  Lit -Gesch.  2,  \h\)  ff. 
Schon  Job.  MtiUer  bemerkte  iu  der  für  Schiller  höchst  rühmlicheu  Heurlhei- 
der  „Geschichte  des  dreissigjährigen  Krieges**  (Jenaer  Llleratur-Zeitung  iTii3j 
HTerke  26.  iTO  ff.)  n.  a  :  der  Verfasser  hat  die  „verwickelten  Scenen"  dieses 
ICriegee,  «.zu  deren  Beui-theilung  so  viele  Kenntni&s  des  vatertäodiscben  Staats- 
recht« gehört,  mit  solcher  meisterhaften  Klarheit  und  in  so  lichtvoller  Ordnung 
Itf^estellt^  auch  da3  unvermeidlich  Trockene  durch  HeÜexionen  und  Schilderungen 
—  worin  er  vorzüglich  glücklieh  ibt  —  so  kunstvoll  und  doch  so  natürticti  unter- 
tirochcn,  dass  Damen  von  einigem  patriotischen  Gefühl  (bekanntlich  erschien  diese 
f5eschichtc  zuerst  im  historischen  Kalender  für  Pnmenl,  und  die  nur  immer  wi\rd% 
sind,  Freundinnen,   Weiber  und  Mutter  deutscher  AUnner  zu  sein,  gewiss  das 

Ec  Buch  mit  gleicher  Unterhaltung  wie  udbct  Gescblecht  lesen  werden.  So 
bs  auch  sein:  der  echte  Geschmack  gefallt  allen  Geschlechtern  and  Altern; 
'.  nnveränderlithen  Grundsätze  behaupten  uberail  und  immer  ihre  auf  die 
Katur  gegründeten  Hechte;  und  Hr.  Schiller  hatte  ohne  einige  rnbescheidenheit, 
«bttc  den  geringsten  Missstand,  sein  herrliches  Werk  eben  so  wohl  einem  Kalender 
für  die  Nation,  als  nur  für  einen  Theil  derselben  einverleiben  können".  In  unsern 
Tigen  hat  Schlosser  Schillers  Verdienst  als  Gcpchichtschreiber  besonders  schön 
bff?orgehoben  .(T,  1,  2i  ff.).  Er  tindet,  dass  Schüler  glucklicher  als  in  seinen 
philosophischen  Bestrebungen  in  dem  Versuche  gewesen  sei,  das  Interesse  des 
folks  für  die  Geschichte  vermöge  der  Poesie^zu  wecken»  oder  mit  andern  Worten, 
fOr  das  grosse  lesende  Tublicum  passende  eigene  Gattung  dichterischer  Ge- 
lichte beliebt  zn  machen.  So  misslich  der  Versuch  gewesen,  so  habe  Schiller 
Mine  beiden  Geschichta werke  einen  sehr  edlen  und  grossen  Zweck  erreicht. 
h»t)e  sich  der  Geschichte  be<lient,  um  die  ganz  verflachten  .Ansichten  des 
wlichen  Lebens  zu  veredeln,  Sinn  für  Aufopferung  ftlr  die  grössten  Wohl- 
it«Ti  dts  Lebens,  für  Freiheil  und  Religion,  zu  wecken  und  eine  poetische  Be- 
«ung  realer  Verhältnisse  der  starren,  juristischen  und  reichshistorischen  der 
fchcn  Reichsgesciiichten  entgegenzuaelzeu.  Er  habe  die  Geschiclite  aus  dem 
iM  ans  Licht  gebracht.  AVenu  man  alle  historischen  Werke  seiner  Zeit,  selbst 
*tüen  nnd  Schloezers  Werke,  ja  sogar  Job.  vou  Müllers  Schweizergeschichte 
»trachte,  so  werde  man  tiuden,  dass  alles  Ausgezeichnete  in  diesem  Fach  nur 
*1  GL-lehrten   zugftnglich.   das  Andere   weder  durch   Darstellung   noch   Inhalt 


37S    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe'«  Tod. 


§  317   Herder  an,   der  ihm  in   der  Erweckting  eines  böhem  und  ftllgfr 
meinem  Interesses   für  die  Gescbiehte  bereits  vorangegangen  wir. 
Allein  dicss  ist  nur  die  eine  Seite  von  Herders  Bedeutung  and  Wl 
samkeit  auf  diesem  Gebiet.     Wie  von  ihm   in  andern   Ricbtung< 
eine  neue  und  lebensvolle  Beseelung   deutscber  Wissenschaft  * 
gien^,  so  brachte  er  auch,   wenn  gleich  niemals  selbst  G 
Schreiber  im  strengern  Sinne  des  Worts,  mehr  als  irgend  ein 
zu  dieser  Zeit  in  die  Art,  gesohicbtliche  Verhältnisse  und  Bildn 
sowohl  in  ihrer  EigeuthUmlicbkcit,   wie  in  dem  grossen  Zusammen 
bange  der  allmäbligen  Entwicklung  der  Menschheit  aufzufassen,  einci 
ganz  neuen  Geist  und  damit  in   die  Gesehichtschreibung  selbst  a 
Schwungkraft,  die  sie  erst  zu  ihrem  künftigen  freiem  und  höbe 
Fluge  befähigte.     Dem  tief  religiC'sen   Gemütbe    des   philosoiiliiMh- 
bistoriscben   Forschers  und   poetiscben   Sehers   widerstand   die  rm 
verstandesmässige ,    alles   nur   in    das    Licht   moderner   AufklÄranr 
rückende  Betrachtungsweise,    womit  Engländer  und   Franzo&cQ  im 
achtzehnten  Jahrhundert  an  die  Geschichte  jedes  Zeitalters  und  jede: 
Bildungsstufe  der  Menschheit  getreten  waren,  und  der  man  nun  auri 
in  Deutschland,  besonders  nach  dem  Vorgange  von  J.  D.  Michaeli* 
und  Scbloezer",   auf  dem  Felde  der  biblischen   wie   der  Profanr^- 
schichte  sich  entschieden  zugeneigt  hatte.     Er  wollte  im  Gange  de* 
Weltgeschichte  ein  höheres  Walten  anerkannt   wissen,   or  suobtA  io 
ihr  eine  stufenweis    fortrückende  OtTenbarung   derselben 
Wcltordnung,   welche  sieb  in  der  Natur  überall  vcrkündi;^-..:  . 
ihre  Erscheinungen  nach  ewigen  Gesetzen  bestimme  und  regle,  und 
er   verlangte   eine  Geschichtschreibung,    welche    die    ver-* '  '   ' 
menschlichen  Zustünde,   Bildungen  und  Ueberliefertjngen 
Vergangenheit  nicht  bloss  unter  dem  einseitigen  und  beschränkten 


anregend  gewesen  sei.     Dalier  sei  es  als  eine  Wohlthat  für   die  Llterttur  tan* 
sehen,  dass  ein  grüsser  dichterischer  Geist  die  Geschichte  des  höchst  proAtii^ 
deutschen  Lebens  mit  echter  Poesie  durchäochtcn  hAbc.    Vgl.  noch  J.  JuttM» 
Schiller  als  Uibtoriker.    Freiburg  im»  Dr.  IS')3.  S.  33 1  Wie  wphJe  HtiI* 

mit  Michaelis  und  dessen  Vorgangem  im  Auslände  In  der  Auffassung  n 
der  iTgeschichte  des  menschlichen  Geschlechts,   wie   sie  im  alten  T» 
zlLhlt   ist,   übereiusiimuite,    zeigt   aberall   die   ..älteste   Urkunde   deb    M'H^  i  '  - 
gvschlcchts**.    Nicht  mindere  Un/ufriedenheit  sprach  sich  in  der  kUii   ■■'  •       * 
jfAacb  eine  Philosophie  der  Geschichte"  etc.  über  HumeX  Voltaire».  >i 
Robertson's,  Iseliii's   und  selbst  Montesf^uien's  Behandlung   der  Gosi....... 

»vgl.  Werke  zur  Philosophie  und  Geschichte  '^,  70  f  ;   yu  f.;  »»;    M«  fj.    r, 
Schloezers  „Vorstellung  seiner  ruiversalhibtorie"  (vgl.  Hl,  i>i)  h--     -=  '■  " 
bereite  I7"*2  im  bO  Stück  der  Frankfurter  gel.  .\nEeig*»n  wenig  \>o^' 
und  dadurch  Scbloezer  zu  einer  mnsslos  heiligen  und  groben  F.rwu'Mi 
die  derselbe  als  zweiten   Inahe   an   200  Octarseiien   starkem  Theil 
Stellung-'  etc.  iG^tiingen  und  Gotha  17T3J  herausgab. 


tirickehingsgang  der  Literatur.   1773—1832.  GescUchtschreibuDg.  Herder.  'M9 


»clitspankt  moderner  VerstandescuUur  auffasse  und  beurtbeile,  §  3!7 
sondern  sie  in  ihrer  durch  Orts-  und  Zeitvorhftltnisse,  dnrrh  Religion, 
Politik,  Sitten  etc.  so  mannigfaltig  bestimmten  Eigentbömlichkeit  zu 
"begreifen  und  darzustellen  trachte.  Schon  die  beiden  hier  einschlagen- 
den Schriften,  die  noch  vor  der  Mitte  der  Siebziger  herauskamen 
und  noch  beide  in  Cfcdankcn,  Sprache  und  Stil  ganz  den  Charakter 
der  Sturm-  und  Drangzeit  an  sieh  tragen,  die  ,, älteste  Urkunde  des 
Mengchengeschlechts""  und  „Auch  eine  Philosophie  der  Geschichte 
zur  Bildung  der  Menschheit*'",  sind  in  diesem  Geiste  abgefasst". 
In  Bezug  auf  die  erstere  schneb  Herder  1774  an  Hamann:'^  „Das 
Innere  des  Buchs  habe  ich   der  Wahrheit  und  Morgcnröthe  Gottes 

Eschriebenj  der  nach  hundert  Verwandlungen  auch  mein  Buch  segnen 
rd,  Keim  und  Morgenrüthe  zur  neuen  Geschichte  und  Philosophie 
der  Menschheit  zu  werden.  Glauben  Sie,  es  wird  einst  werden,  dass 
die  Offenbarung  und  Religion  Gottes,  statt  dass  sie  jetzt  Kritik  und 
Politik  ist,  simple  Geschichte  und  Weisheit  unsers Geschlechts  werde"*. 
In  der  zweiten  Schrift  sollte^  von  dem  Verfasser  „neben  so  vielen 
gebahnten  Wegen,  die  man  immer  und  iramor  betrat,  auch  auf  einen 
kleinen  Fusasteig  gewiesen  werden,  den  man  zur  Seite  liegen  Hess, 
und  der  doch  auch  vielleicht  eines  Ideengangs  werth  wäre*"  Dieser 
„Versuch"  (eine  Vorarbeit  der ,, Ideen")  „sollte  nichts  als  ein  fliegen- 
des Blatt,  ein  Beitrag  zu  Beitrügen  sein."  Merck,  der  eine  Anzeige 
davon  lieferte*,  schrieb  darin:  „Eben  der  Geist,  der  schon  in  den 
^flnigrocnten  auf  etwas  mehr  als  ein  Sandfleckchen  schöner  Literatur 
^■nzu wirken  Muth  und  Kraft  hatte,  und  der  in  den  wichtigern  theo- 

31i  Von  der  .»ältesten  Urkunde'*  erschienen  drei  Theile  (a.  „Eine  nach  Jahr- 
hmderten  enthüllte  heilige  Schrift",  d.  h.  eine  Deutung  der  Schöpfungsgeschichte 
nach  der  mosaischen  L'eherliefening;  b.  „Schlüssel  zn  den  heiligen  Wissenschaften 
ier  AegTpter" ;  c.  „Trümmer  der  ältesten  Geschichte  des  niedern  Asiens")  zn- 
ttnmen,  Riga  1174.  4.;  der  vierte  und  letzte,  womit  aber  das  Werk  nicht  voU- 
endet  vos  („Heilige  Sagen  der  Vorwelt:  ein  Abgrund  aller  Menbchengescliichte'*), 
Rigü  1776  (in  den  Werken  zur  Religion  und  Theologie  Th.  5— 7;  dem  letzten  sind 
tu  den  frühem  Entwürfen  Herders  einige  Fragmente  beigefügt,  die  theils  er» 
l^Mttnde  Zus&tze,  theihi  deutlichere  Darstellungen  seines  Sinnes,  theils  £r- 
ItaDgen  enthalten.  Die  Entstellung  dieser  Fragmente  reicht  zum  Tfadl  bis  in 
^•Jihre  1767  und  Ol*  zurück.  Vgl.  Herders  Lebensbild  I,  3,  a.  9.  XXVIIff.  und 
S'Äft5  ff.  35)  Sic  kam  ebenfalls  1774.   ^.  o.  0.  (Riga)  heraus. 

^*i»Vgl.  Bd.  111,  416  und  dazu  Hamanns  Schriften  5,  (50  f.  37)  Ueber  den 

^tiMi  Band,  im  Mai  1774:  Hainaans  Schriften  5,  71.  3S)  UrtheUe  über  dieses 
^*rk  bf-i  seinem  Krscheinen  stehen  von  Hamann  oben  §  26H,  Anm.  9,  vonGoetlie 
'"i'lfn  Werken  m.  223  tf.,  von  M.  Claudius  in  den  Werken  (Hamburg  ISIQ)  I, 
^^  1  und  von  Merck  in  den  Uriefcn  aus  dem  Freundeskreise  von  Goethe  S.  U>5  f.; 
''Ö  ff.  (vgl.  auch  daselbst  die  in  der  Kote  auf  S.  \\\\  angeführten  Recensionen. 
39(  Xach  der  Vorrede  zu  den  Ideen  zur  riiilosophic  der  (Jeschichte  der 
^HicJiheit.  40)  Für  den  d.  Merknr  I77G.    I,  M  ff. 


380     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jahrhunderts  bis  zu  Gi»ctlie*f  Tod. 

3 1 7  logischen  Untersuchungen  den  negativen  Wohlthaten  der  oeoem 
deistiächen  BibelkUn-stlcr  Hohn  spricht,  zei^t  sich  auch  hier,  am  seiDtm 
Zeitalter  den  Spiegel  über  seine  so  hochgerührate  Cultur  vorKuhalt** 
Das  ganze  Gemähide  göttlicher  Oekonomie  auf  Erden  liegt  hier  i 
allen  seinen  topographischen  Theilen  wie  eine  Morgenaiissicht  r 
einer  Bergeshöhe  vor  unsern  Augen  und  ist  nicht  4  la  francaise 
persiiectivigcher  Lage  nach  einem  gewissen  Aug-  und  DistanipanW 
zusammengedruckt.  Die  Schreibart  ist  freilich  ein  gewaltsamer  Gr 
dankenstrom,  der  nicht  so  ruhig  wie  die  Pleisse  fllesst;  - 
wie  ein  dUrftiger  Strahl  in  dem  seichten  Becken  eines  li  ^„  .  ■ 
ausnimmt**  etc.  Jedoch  in  der  vollen  Gediegenheit  seiner  Kraft 
und  in  seiner  fruchtbarsten  Flllle  zeigte  Herders  Geist  sich  emt  in 
seinem  bedeutendsten  und  reifsten  wissenschaftlichen  Werke,  in  deo 
„Ideen  zur  Philoßopbie  der  Geschichte  der  Menschheit/'  welche,  oLne 
zu  Ende  geführt  zu  sein,  in  den  Jahren  17S4  bis  1791  ersohienea 
und  in  der  Behandlung  der  Geschichtswissenschaft  bei  uns  gut 
eigentlich  Epoche  gemacht  haben."  In  der  Vorrede  zum  erste« 
Theil  berichtet  Herder,  schon  in  ziemlich  frühen  Jahren  sei  ihm  oft 
der  Gedanke  eingekommeu:  ob  denn,  da  alles  in  der  Welt  scitc 
Philosophie  und  Wissenschaft  habe,  nicht  auch  das,  was  uns  an 
nächsten  angehe,  die  Geschichte  der  Menschheit  im  Ganzen  nod 
GroBsen,  eine  Philosophie  und  Wissenschaft  haben  snlhe?  „VTi^ 
sprach  ich  mir  zu,  Gott  sollte  in  der  Bestimmung  und  Einriclitnn: 
unsers  Geschlechts  im  Ganzen  von  seiner  Weisheit  und  Güte  .if- 
lassen  und  hier  keinen  Plan  haben?  Oder  er  sollte  uns  denselben 
verbergen  wollen,  da  er  uns  in  der  niedrigem  Schöpfung,  die  nr* 
weniger  angeht,  so  viel  von  den  Gesetzen  seines  ewigen  Eotwun^ 
zeigte?  ...  leb  suchte  nach  einer  Philosophie  der  Geschichte  der 
Menschheit,  wo  ich  suchen  konnte."  Der  erste  Theil  cnlhäll  onr 
die  Grundlage  des  Werks,  theils  im  allgemeinen  üeberblickc  ^cr 
Erde,  als  unserer  Wohnst^tte,  theils  im  Durchgange  der  Or:.a^:: 
sationcn,  die  auf  ihr  unter  und  mit  uns  gefunden  werden.  Ueb^' 
hatte  ihn,  wie  es  in  derselben  Vorrede  heisst,  die  grosse  ADiü<tf*« 
der  Natur  auf  Wahrheiten  der  Religion  geführt,  die  er,  um  ni<'5i  ' 
seiner  Darstellung  uicht  selbst  vorzugreifen,  nur  mit  Mühe  uiiiti 
drtlckte.    Nachdem  in   diesem  Theil   noch  die  Idee  der  Natar  de* 


m 

% 


41)  Sie  kamen  in  vier  TheiJen  kl.  4.  zu  Riga  bcraos,  die  «rstoa  drei  1?^ 
und  ^5.  der  letzte  17*1!  (dann  Riga  17**ä— '.J2.  &.;  mit  dem  in  „tdtwn  xor  09- 
Bchichtf^  der  Menschheit"  atigo^^ndertea  Titel  in  den  Werken  rar  ThilosophW  a»^ 
Geschichte  Tb.  4—7).  Neueste  Ausgahe  mit  Einleitung  und  Aiimer1ninC«B  *•• 
Julian  Soluuidt.  a  Theile,  Leipzig  iSb«.  s.  (2^,-2^.  Bd-  der  BiblioChdi  4  ^ 
NationalUt.  d.  IS.  und  19.  Jahrb.). 


^ebuigsgaxuj  der  Literntur.   1773— tS:}2.  Geschicbtschreibuug.  Herder.    3S1 

lenschon  llberhauf)!  festgestellt  worden,  betrachtet  der  zweite  §  317 
lie  Ycrsebiedenen  Erscheinungen,  in  denen  ßich  der  Mensch  auf 
l^n  ibm  angewiesenen  Schauplatz  nach  seiner  durch  klimatische 
^erhältniöBC,  Tradition  und  Gewohnheit  bestimmten  leiblichen  und 
jeietigen  Organisation  zeigt;  W4>rauf  Herder  zur  Beantwortung  der 
■pige  nach  der  Bildungsstätte  und  dem  ältesten  Wohnsitz  der  Menschen, 
ITden  asiatischen  Traditionen  über  die  Schöpfung  und  der  ältesten 
icbriftliclicn  Ueberlieferung  von  dem  Ursprung  und  Anfang  der 
ilenschengcschichte  gelangt.  Der  dritte  Theil  beginnt  mit  der  Ent- 
ffickelungsgeachicbte  der  einzelnen  Volker  der  Erde,  nimmt  dabei 
ien  Ausgang  vom  östlichsten  Asien,  von  China,  indem  er  von  da 
mmer  weiter  nach  Westen  vorschreitet,  und  beschliesst  die  Geschichte 
1er  alten  Vrdker.  Die  daraus  hergeleiteten  allgemeinen  Ergebnisse 
bilden  den  Inhalt  des  fünfzehnten  Buchs:  sie  concentrieren  sich  vor- 
icbmlich  in  den  schöncu  Worten  kurz  vor  dem  Schluss  dieses  Theils: 
,Allü  Werke  Gottes  haben  ihren  Bestand  in  sich  und  ihren  schuneu 
Zusammenhang  mit  sich:  denn  sie  beruhen  alle  in  ihren  gewissen 
schranken  auf  dem  Gleichgewichte  widerstrebender  Kräfte  durch 
äue  innere  Macht,  die  diese  zur  Onlnung  lenkte.  Mit  diesem  Leit- 
■en  durchwandere  ich  das  Labyrinth  der  Geschichte  und  sehe 
Ifientbalhen  harmonische,  göttliche  Ordnung:  denn  was  irgend  ge- 
ibeben  kann,  geschieht,  was  ^virkeu  kann,  wirket.  Vernunft  aber 
Billigkeit  allein  dauern,  da  Unsinn  und  Thorheit  sich  und  die 
le  verwüsten."  Der  vierte  Theil  handelt  von  den  Völkera  der 
llem  Zeiten,  von  dem  Ursprung  und  der  Fortpflanzung  des  Christeu- 
und  fuhrt  die  Geschichte  dos  Mittelalters  bis  zur  Mitte  des 
Jahrhunderts  fort'\  So  mancherlei  Aussteilungen  bald  nach  * 
Erscheinen  dieses  Werks  Naturkundige,  Philosophen  und  Gc- 
uchtskcuncr  auch  an  dessen  Inhalt  machen  konnten,  und  so 
sles  darin  jetzt  als  unrichtig  oder  veraltet  angesehen  werden 
\%,  80  bleibt  dasselbe  doch  immer  ein  Denkmal  unserer  wisseu- 
laftlielien  Literatur,  auf  welches  der  Deutsche  vorzüglich  stolz  sein 
UV/'  —  Nach  den  ersten  dürftigen  und  rohen  Anfiingen,  welche  zu 
«ner  Litoraturgeechichtschreibung  in  deutscher  Sprache  bereits  im 
fiebtehnten  Jahrhundert  gemacht  waren",  dauerte  es  noch  sehr 
^*oge,  bis  sich  in  ihr  ein  besserer  Geist  zu  regen  begann,  sie  mit 


12)  Der  PlAn  zu  einem  f&uften  TheU ,  der  »ich  in  Herders  hiuterlassenen 
fand,  ist  dem  vierten  in  den  Werken  als  Nachschrift  angeliingt. 

Üeber  die  in  ZeitÄchriften  erschienenen  Be»rtheiUingen  vgl.  JOrdcns  2,  371; 
^0  r'rtUeile  von  Lichtenberg  in  den  vermischten  Schriften  2,  271  f.;  von 
Förster  im  Briefwechsel  1,  417  f.;  von  (ioetho  in  den  Werken  29,  V16— 116; 
^iW;  46,  177;  243.  und  von  Schlosser  4,  47.  44)  Vgl.  Bd.  11,  54. 


3  >2    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhuuderta  bis  za  Goe(he*A  lol 

317  einer  geschmackvollen  Darstellungsforni  aucb  einen  reinem, 
und  vollem  Gebalt  gewann.  Es  gehört  zu  Herders  vor^Ogru 
scbriftRtellerischeu  Verdiensten,  dm»  er  uiebt  allein  die  ersten  wirl 
samen  und  folgenreieben  Impulse  dazu  gab,  indem  er  uns  zuerst 
einem  Reicbtbum  von  fremden  Poesien  aus  den  verscbiedcosK 
Ländeni,  Zeitaltern  und  ßildungszustnndeu  durrb  die  lebem 
Wiedererzenguug  in  deutscher  Sprache  bekannt  und  vertraut  mocbl 
Hie  mit  seinem  fein  fühlenden  Sinne  nach  ihrem  durch  Ort^-, 
und  Culturverhüllnisso  bedinjrtcn  Entstehen,  ihren  nationalen  ui 
geschichtlichen  EigentbUmlichkeiten  aufzufassen  und  zu  deuten  v( 
stand:  sondern  dass  er,  der  schon  frUh  das  Bedürfnisa  einer  d( 
Bildungsstandc  der  Zeit  angemessenen  Gescbiflite  sowohl  der  deutscht 
wie  der  griechischen  Literatur  empfand  und  aussprach  **,  aucb  (lui 
Aufstellung  leitender  Ideen  und  durch  grössere  wie  kleinere  Gebif 
umfassende  Uebersicbteu  selbst  den  Grund  zu  einer  geistvollen  and 
die  ästhetische  Kritik  fruchtbaren  geschichtlichen  Behandlung  bei 
scher  und  fremder  Literaturepochen  bei  uns  legte.  Von  seinen  Schriften, 
in  denen  diess  in  der  einen  oder  der  andern  ßcziebuu<;  geschah,  siod 
ausser  andern,  von  denen  schon  oben  an  verschiedenen  Stellen  die 
Rede  gewesen  ist^*,  noch  folgende  hierher  zu  rechnen.  Die  beidca 
Preisschriften  ,, Ursachen  des  gesunkenen  Geschmacks  bei  den  Te^ 
scbiedenen  Völkern,  da  er  geblUbet'*",  und  „Ueber  die  Wirknng  d«r 
Dichtkunst  auf  die  Sitten  der  Völker  in  alten  und  neuen  Zeitcu."* 
In  der  ersten  kleinen  Schrift,  die  für  die  Zeit,  in  der  sie  eutstud, 
schon  vortreffliche  Andeutungen  über  den  Charakter  und  Gäd?  der 
literarischen  und  namentlich  poetischen  Bildung  bei  den  Griecbea 
und  Römern,  den  neuem  Italienern,  Franzosen  und  Engländern gtb, 
suchte  Herder  zuerst  zu  zeigen,  dass  „nicht  durch  Speculation  nMA 
einer  oder  der  andern  Hypothese,  sondern  aus  der  Geschichte  ustr- 
aucht  werden  müsse,  wie  sich  Geschmack,  ein  PhiLnomenon  tob 
Kräften  des  Genie's,  des  Verstandes  und  sittlicher  Triebe,  je  sif 
die  Irrbabn  lenken  konnte.*'  „In  jedem  Zeitalter',  meinte  er,  ,^B«c 
diesB  so  eigen  untersucht  werden ,  als  ob  es  gar  keinen  «oder* 
Geschmack  als  diesen  gegeben  habe.  Auf  diesem  Wege  werde  «• 
offenbar,  warum  der  gute  Geschmack  in  aller  GeHchicbte  so  seltc* 
gewesen;  warum  er  nie  an  einem  Orte  in  der  Gestalt  wiedcrgeki 
seil  in   der  er  vorher  gewesen'^  etc.     Besonders   beacbtcnsw< 


45t  Vgl-  §  29t,  Anm.  U).  46)  Vgl    III,  434—455;  duu  Obw  dlc 

kandlnng.fVon  Aehnlicbkeit  dor  mittlem  eogUscben  ood  deutseben  Dicblkonaf' 
S.  AbU.  und  Über  di<r  „Volksücdrr"  S.  244  f.         47)  Aas  dorn  J.  n;5,  i^dn»^* 
Berlin  tT;5.   8.    (Werke  zur  scbrmcn  Literatur  und  Kunst  I"»,  5  ff.  4S  A^* 

d«m  J.  17«S,  xuerst  gedruckt  iu  den  Abhandlungon  d«r  baierischett  Aki^i^^ 
(Werke  xar  »chüaeu  Literatur  und  Kunst  16,  206  ffi, 


rickelungfgftng  der  Literatur.    Hili— IS3i.   Lileraturgeschichto.   Herder.   383 


niemals  genug  in  Deutschland  bei  Ausübung  der  Dichtkunst  und 
1er  ästhetiseben  Kritik  beherzigt,  ist  der  Abschnitt,  der,  mit  uÄchster 
Anwendung  uuf  die  Italiener  des  mediccischcn  und  nächstfolgendeu 
SeitaUers,  von  dem  Bestreben  der  Neuem  handelt,  eine  der  antiken 
UiQÜche  Dichtung  ins  Leben  zu  rufen.  ,,Die  Alten  nachzuahmen", 
fagst  es  hier  u.  a.  *^  ,, damit  sie  nachgeahmt  wUrdcn,  und  weil,  sie 
Eiebxuahmen,  doch  so  schOn  eei,  ist  ein  zu  kalter,  bebender  Zweck. 
Mil  den  Alten  zu  wetteifern,  ja  sie  neben  ihren  Werken  zu  über- 
Ibffen.  wollte  mehr  sagen,  ward  aber  von  den  wenigsten  gesucht; 
nd  konnte  nicht  gesucht  werden,  weil  nicht  dieselben  lebenden 
Aotriebe  da  waren,  die  die  Alten  gehabt  hatten.  Der  Künstler 
irard  also  nicht  befeuert,  der  Lauf  der  Kunst  nicht  von  lebendiger 
Beschichte  noch  von  edlen  Bedürfnissen  des  Volks  fortgestossen, 
ilso  auch  nicht  durch  solche  bestimmt  und  in  Schranken  gehalten. 
Weder  Religion,  noch  Geschichte,  noch  Staat,  noch  der  lebendige 
Sesehmack  des  Volks  gab  einen  engen,  starken  Trieb  und  diesem 
Triebe  regelmässige  Schranken;  die  Kunst  schwebte  also  wirklich 
in  der  Luft  oder  beruhte  nur  auf  einem  Hauche,  in  dem  guten 
Willen  des  Künstlers  und  seiner  ßelohner.    Da  die  Dichtkunst  ganz 

b lisch   war  und   am   Geiste  der  ZeitbedUrfnisse  und  Zwecke  so 
ig  als  möglich  hieng,   so  gerieth  ihr  nächster  Schritt  immer  ins 
Land  der  Abenteuer  und  des  Uebertriebenen.    Das  Jahrhundert  des 
wiedererweckten    griechischen    Geschmacks,    der   doch    überall   auf 
Natur,    Richtigkeit  imd  Wahrheit  führte,   konnte  daher  neben  allen 
den  hohen  Mustern  und  vortrefflichen  Nachahmungen  von   elenden 
Petrarchisten   wimmeln,  ja   die  Nachahmer   der  Alten   waren   diess 
lOft  selbst;  ein  deutlicher  Beweis,  wie  untief  der  damalige  Geschmack 
r,  um  die  ganze  Natur  und  Seele  in  allem  und  für  alles  griechisch 
bilden/*     In  der  zweiten  Schrift  ist   im  Grunde  derselbe  Gegeu- 
land,  wie  in  der  vorigen  Preisschrift,  behandelt,    nur  von  einer 
adeni   Seite   gefasst.     Für   eine    Geschichte    der   Poesie   von   den 
ebräcru  an  bis  auf  die  Neuzeit  sind  darin  schon  geistreiche  leitende 
Bedanken    niedei'gelegt.     Ferner    gehört    hierher    das    unvollendet 
bliebene  Werk  „Vom  Geist  der  ebräischen  Poesie"  *°.    In  diesem 
R^trke,  welches  eine  sehr  grosse  Zahl    von  poetischen  Stücken  des 
*Hen  Testaments   in  Herders  Uebertragungen  enthält,   und   welches 
I  wie  er  17S1  an  Hamann  schrieb ,  von  Kindheit  auf  in  seiner 
"fURt  genährt    hatte,    brach    Herder   —   nachdem    er    schon    durch 
Älomons  Lieder  der  Liebe**  etc."'  seine  Zeitgenossen  in  den  Geist 


§  31' 


41*1  Werke    lö.  42  ff. 
'%go  nnd  Theologie  1—9.) 
^ft«,  47. 


5(M  DesFau  M^'l.  **:».    2  Bdc    «.    (Werke  zur 
51  j  Werke  zur  Religion  und  Theologie  Tb.  1.; 


yS-l    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhunderts  bis  zu  GoKfae't  To4 

§  31 7   alt-moi'genländiscber  Dichtung  eiuzuführeu  gesucht,  —  für  d:v-  ^-' '  tiI 
der  oricutiilisoheu   Literatur,    gegenüber  den  dahin   cin.**i  aj 

Arbeiten  von  J.  D.  Michaelis,  eine  ganz  nene  Balm   und  eroilnc* 
damit  erst  der  Neuzeit  das  Vorständniss  der  poetischen  An«cbauuu^ 
und  Dar^tellungBweisc  des  alten  Morgenlandes.    Sodann  sind  bierh( 
zu  Zähleu   verschiedene  Partien   in   den  Ideen  zur  Philosophie  »l 
Geschichte  der  Menschheit,  sowie  in   den   ,, Zerstreuten  Blättern"' 
die  Stücke  „Blumen,  aus  der  griechischen  Anthologie  gcsaramclf', 
liebst  den  „Anmerkungen  über  die  Anthologie  der  Griechen,  bewnden 
über  das  griccbische  Epigramm'*  (worin  Uerder  von  Lesaiags  obei" 
angefUbrtei*  Schrift  Über  das  Epigramm  ausgieng)'';   „ßlumeu,  an* 
niorgenlfuulischen   Dichtern  gesammelt'*,  nebst   „rhapsodisrhen  ^i- 
danken"    Über    , »Spruch    und   Bild,    insouderheit    bei  deu  M*-...'.. 
ländem*'**';  „lieber  ein  morgenländisches  Drama"";  „Andenken  an 
einige  ältere  deutsche  Dichter,  in  Briefen"";  „Ueber  die  L.        '  ** 
Weiter  aus  der  „Terpsiehoro*' "'",  ausser  deu  Nachbildungoi. 
Gedichte  von  Jacob  Bälde *"  und  anderem,   das  „Kenotaphium  tl» 
Dichters  Jacob  Bälde*'  und  ein  Aufsatz  „Alcäus  und  Sappho**".   Fivtl;  ' 
die  „Briefe  zur  Beförderung  der  HumauilHt'""  besonders  die  sie  :; 
und  achte  Sammlung".     Dieselben  handeln  „Vom  Unterschiode  dflS 
alten  und  neuen  Völker  in  der  Poesie,  als  Werkzeug  der  Cultur  ub^^ 
Humanität  betrachtet",   in  neun  Fragmeuten   mit  Nacbsrbriflen  anit 
Ergänzungen.    Hierin  ist  wieder  eine  geistvolle,  nüt  dem  [nhali  iltr 
Abhandlung  ,,Uber  die  Wirkung  der  Dichtkunst  auf  die  Sitten  der 
Völker"  etc.  zumeist  verwandte  Uebersicbt  über  den  Entwicrkelnnfs- 
gang  der  Literatur  und  insbesondere  der  poetischen ,  seit  den  Zeilen 
ihres  Verfalls  bei  Griechen  und  Römern   bis  auf  die   neue-ste  Zeiu 


52)  Sie  erschieuen  in  sechs  SaminluDgen.  Gotha  1TS5~0T.   S.  und  enthir) 
ausser  inehrorn  schon  früher  gedruckten  Aufsätzen  Herders,  tiel  Neues 
53)  S.  4,  2.  541  äammluug  1  u.  2;  Werke  zur  schöneu  Literatur  n 

10,  IT  — 115:  137—205.  55)  Sammlung  4;  Werke  zur  scliOneo  Literaiur 

Kunst  '.»,  71  —  130.  56)  Briefe  über'die  „Sakoutala.  ein  iudischoa  Sclii 

voo  Kalidas.    Aus  den  Ursprachen  —  Ins  Englische  und  aus  diesem  Ins  Drat 
übersetzt  mit  Erläuterungen  von  G.  Forster.   Mainz  und  Leipzig  17'Jl.   S.,  Sanv* 
lung  4;  Werke  zur  schOoeu  Literatur  u.  Kunst  U,  IUI  ff.  (die  Vorred«  sur  iwi 
von  Herder  besorgten  Ausgabe  der  „Sakontaia"  aus  dem  J.  ISOS,  daselbst  &.  l^'Sj 

äTi  Sammlung  :>;  Werke  z.  schöneu  Lit.  u.  Kunst  20,  leSfT.         58) 
lung  6;   Werke  z.   schönen   LIL  u.  Kunst  6,  7  ff.  59)   Labeek   TT^. 

3  Thie.    S.  60)  Vgl.  Bd.  11,  75.  -61)  Werke  z.  schönen  Lit  a. 

12,  1^1  ff.;  20,  140  ff.  62)  Von  diesen  Brieleu  gabilcrder  zehn 

herans,  Higi  !7ii3-:»7.   8.  63(  In  den  seinen  Werken  xiir  schönen  tiU 

und  Knust  Th.  15  und  lü    einverleibten    „Ideen    zur   Geschichte    and  Kritik  "te 
Poesie  und  der  bildenden  Künste.    In  Briefen",  die   der  3.   t.  5.  7.  und  *  jfü 
Sammliiugen  U7'.M-'Jt.)  eutnommoa  sind,   entspricht  der  HJ.  Th.  (S.  l— ITV) 
Inhalt  der  7.  und  S.  Sanmiluog. 


ihrickelUBeiffftngd.  LU«^ratur.    1773— IS32.  Literaturgeschichte.  F  A/Wolf.  385 


kn  einer  nerders  Auffassung  literarhistonsclicr  Verhältnisse  vorzlig-  §  317 
lieh  cbarakterisiereuden  Stelle*'  ist,  wie  in  andern   Stellen,  auch 
ein   besonderer  Nachdnick  auf  die  Belehrung:  gelegt,   die  für  eine 
Geschichte  der  Poesie,  wie  sie  sein   sollte,    aus  den  sogenannten 

tittlem  Zeilen,  ihren  Märchen,  dem  guten  Glauben  und  Aberglauben, 
Ir  »ie  beherrschte,  und  der  ganzen  Richtung,  den  die  europäische 
nkart  damals  nahm,  zu  gewinnen  sei**.  Als  Herder  diese  Briefe 
trieb,  war  schon  Schillers  Abhandlung  über  naive  und  sentimen- 
liscbe  Dichtung  erschienen,  auf  die  er  sich  auch  bezog".  Ihm 
liien  es  indess  eben  so  misslicb,  die  Dichter  der  verschiedenen 
Biten  und  Länder  mit  Schiller  nach  Empfindungen  zu  ordnen,  wie 
it  Eschenburg  nach  Gattungen  und  Arten.  Er  gab  einer  dritten 
etbode  den  Vorzug,  die  ihm  „die  Naturmethode'*  schien:  jede 
lume  an  ihrem  Orte  zu  lassen  und  dort  ganz,  wie  sie  sei,  nach 
it  und  Art  von  der  Wurzel  bis  zur  Krone  zu  betrachten,  ,, Flechte, 
■oos,  Farrenkraut  und  die  reichste  GewUrzblume:  jedes  blühe  an 
iner  Stelle  in  Gottes  Ordnung."  —  Ein  sicherer  Ausgangspunkt 
id  eine  feste  Basis  für  die  Behandlung  der  griechischen  Literatur- 
Schichte  wurde  sodann  auf  dem  Felde  streng  philologischer 
Wschung  durch  Friedrich  August  Wolfs  Untersuchungen  über 
5e  EnlHtchung  der  homerischen  Gedichte  gewonnen.  Friedrich 
Augustt  Wolf  "^  war  1 75i)  zu  Hainrode  bei  Nordhausen  geboren, 
*«ftein  Vater  Schulmeister  und  Organist  war.  Von  ihm,  der  keines- 
veg«  aller  gelehrten  Bildung  entbehrte,  erhielt  der  Sohn  den  ersten 
iFDlerricbt;  nachher,  als  der  Vater  1765  nach  Nordhausen  versetzt 
»Orden,  besuchte  er  das  dortige  Gymnasium,  auf  dem  ersieh  schon, 
ders  in  den  beiden  letzten  Jahren,  mit  dem  grOssten  Eifer  auf 
idium  der  alten  Sprachen  legte.  Im  Frühjahr  1777  gicng  er 
*wh  Göttingen,  um  sich  der  Philologie  zu  widmen.  Er  besuchte 
Mm  im  Ganzen  wenig  Vorlesungen,  studierte  dagegen  desto 
WM88iger  für  sich  selbst,  wozu  ihm  die  Bibliothek  die  reichlichsten  • 
Mittel  bot.  1779  wurde  er  auf  Heyne'»  Vorschlag  und  Empfehlung 
*l8  Collaboralor  am  Pädagogium  zu  Ilfeld  angestellt,  von  wo  er 
^^82  als  Rector  nach  Osterode  am  Harz  kam.  Schon  im  nächsten 
Jabrft  ward  er  an  die  Universität  Halle  als  ordentlicher  Professor 
W Pädagogik  berufen,  und  als  er  hier  bald  die  Blicke  der  gelehrten 
^'elt  auf  sich  zog,  erhielt  er  1784  die  seinen  Wünschen  ganz  ent- 
«Pfechendc  Professur  der  Beredsamkeit.  Bereits  das  Jahr  vorher 
^  er,  neben  exegetischen  und  andern,  pacldichen,  Vorlesungen, 


64)  Üie*elbe  steht  IG,  75-77.  65)  Vffl   auch  3.  t47  f.  66)  S.  175 f. 

Jil)  Vgl.  „Leben  and  Studieo  Fr.  Aug.  Wolfs,  des  Philologen".  Von  \V.  Körte, 
1833.    2  Bde.  e. 


rtit,  Oninitrli«.  ».  Aufl.   IV. 


25 


386    VI.  Vom  zweite»  Viertel  des  X\in  Jahrhunderts  bis  zu  Goethc's  Tod 


lod.     V 

'  HB 

erdiB^ 

sum 

den    1 


§317  80  wie  der  Leitung  der  Uobungen  in  dem  von  ihm  gegTÜodi 
j)bilologi8Cben  Seminar,  angefangen  Über  die  Gescbicbte  der 
cbiscben  Litemtur  zu  lesen,  woran  sich  USA  sein  erstes  Ct>ll 
tlber  die  Gescbicbte  der  römischen  Literatur  und  1785  das  Qlier 
Encyclopjldie  der  Philologie  schlössen".  Wolf,  der  1S05  «um 
(rebeimenrath  ernannt  worden ,  blieb  in  Halle  bis  in  den  Anfaog 
des  Jahres  1 S07 ;  kurz  vor  dem  Zeitpunkt ,  wo  diese  Stadt  den 
Königreicl;  Westpbalen  einverleibt  ward,  gieng  er  nach  Berlin, 
er  alsbald  zu  bleiben  und  als  Mitglied  der  Akademie  der  Wi 
Schäften  thiltig  zu  sein  bescbloss.  Er  war  einer  der  Ersten,  wel 
den  Gedanken ,  eine  Unireraität  in  der  preussiscben  Hauptstadt  n 
grUndeu  und  sie  mit  der  Akademie  der  Wissenschaften  auf  angemecMse 
Weise  in  Verbindung  zu  setzen,  in  Anregung  brachten.  VerBcbiedene 
Anerbietungen  zu  Stellen  im  Auslände,  wie  ihm  {\hntiche  schon  früher 
mehrfach  in  Halle  gemacht  worden,  lehnte  er  ab,  da  der  Köni^ilin 
seinem  Staate  zu  erhalten  wünschte,  und  ihm  die  Aussicht  auf  Ver- 
besserung seiner  Lage  in  Berlin  eröffnet  wurde.  ISOS  erhielt  er  die 
erledigte  Stelle  eines  Visitators  des  joachimsthalschen  Gymuuions 
und  dazu  zwei  Jahre  später  in  der  unter  seinem  Freunde  W,  von 
Humboldt  stehenden  Abtheilung  für  den  öffentlichen  Um 
Ministerium  des  Innern  die  Directlon  der  wissenschaftlich  :  . 
tation.  Allein  noch  ehe  er  seine  Wirksamkeit  als  Director  begonDCii 
hatte,  lockerte  er  das  Band,  das  ihn  an  dicsci?  neue,  seinen  Wünscbeo 
und  Ansjuüchen  zu  wenig  genehme  Amt  knüpfen  sollte;  bald  lug  et 
sieb  ganz  davon  zurück  und  gab  auch  seine  Stellung  zu  jtutm 
Gymnasium  auf.  Eine  ordentliche  Professur  an  der  ncuerrich(e4ai 
Universität  wollte  er  auch  nicht  annehmen;  indess  machte  er  sich 
anheischig,  tu  seiner  Eigenschaft  als  Mitglied  der  Akademie  auf  der 
Universität  auf  gleiche  Weise  und  nach  demselben  Plane,  wie  eüul 
in  Halle,  regelmässige  Vorlesungen  zu  halten.  Hierauf  beecbrfiolElfl 
•  sich  seitdem  seine  amtliche  Thätigkeit.  Zu  Anfange  des  JAbr« 
IS22  ward  er  von  einer  sehr  bedenklichen  Krankheit  befallen^  tw 
der  er  zwar  hergestellt  wurde,  ohne  jedoch  wieder  zu  einer  feito 
Gesundheit  zu  gelangen.  Im  Frühling  IS24  wollte  er  nach  Xio» 
reisen,  um  die  dortigen  Bäder  zu  gebraueben,  starb  aber  auf  deo 
Wege  dahin  zu  Marseille  in  der  Mitte  des  Sommers.  Sein  vornebsw^* 
Streben  und  grösstes  Verdienst  bei  allen  seinen  Vorlesungen 
schriftstelleriöcben  Arbeiten  bestand ,  ausser  der  unmittelbaren  i^ 
Wirkung  auf  seine  Zuhörer,  im  Grossen  und  Ganzen  darin ^  ^^ 
Philologie  „aus  einem  Aggregat  von  Spracbkenntuisseu  und  aoti"|M- 


6S)  Zwei  Leitfadeu  zu  den  Vorlesungen  über  die  G«schichtc  der  griwUif^ 
und  der  r^jioisdicn  Literatur  gab  er  Halle  17S7.   s.  heraus 


ickelimgsgangd.  Literatur.    1773- 1S32.  Literatargescbicbte.  F.  A.  Wolf.  3S7 

nsehen  Notizen  zu  einer  organiscb  gebildeten  Wlssenscbaft  zu  erbeben,  §  317 
«relcber  er  eine  abgescblossene  Existenz  gewaini  und  ibr  den  Namen 
^Itertbumswisseascbaft  beilegte'"".  Im  Besoudem  hat  er  auf  die 
Gestaltung  der  pbilologiscben  Studien  und  mittelbar  aucb  auf  die 
katerlUndiöcbe  Literatur  durcb  nicbts  erfolgreicbcr  und  tiefer  greifend 
ängewirkt  als  durcb  seine  „Prolegomena'*  zum  Homer.  Nacbdem 
BT  scbon  17S4  und  S5  eine  Ausgabe  der  bomeriscben  Gedicbte  be- 
lorgt  und  seit  1791  seine  Ideen  über  die  Gescbicbte  der  bomeriscben 
[>edicbte  in  einigen  Collegien  vorgetragen  batte,  lieferte  er  zebn  Jabre 
nach  jener  ersten  Ausgabe  eine  neue  Recension  des  Textes  derselben 
und  dazu  „Prolegomena  ad  Homorum,  sivc  de  Operum  Homcricoruni 
prisca  et  genuina  forma,  variisque  mutationibus  et  probabili  ratiouc 
mendandi.  Vol.  L"'",  worin  er  die  Frage  nach  der  Entstehung  der 
Bu  und  Odyssee,  so  weit  ob  mOglicb  wäre,  zu  beantworten  suchte. 
Kof  den  ersten  oder  historischen  Tbeil  der  Prolegomena  sollte  noch 
ein  zweiter,  der  technische,  folgen  ;  er  ist  aber  nie  erschienen.  Jener 
rfVerfolgt  den  €rflDg  der  Schicksale  unsers  bomeriscben  Textes  im 
Grossen  und  insoweit,  als  er  zur  Grundlage  des  zweiten  Tbeils 
dienen  konnte."  Sein  Inhalt  bewegt  sich  vornebmlich  um  die  Fragen: 
„Hat  Homer  geschrieben,  oder  bat  er  nicht  geschrieben?  Inwiefern 
igt  Homer  Verfasser  der  unter  seinem  Namen  gehenden  Werke,  und 
bl  die  vollendet  kunstreiche  Form  und  Composition  der  Ilias  und 
Odyssee  ihm  zuzuschreiben,  oder  den  Homeriden,  Pisistratiden  und 
faitikern"?  Wolf  gelangte  durch  seine  Untersuchungen  zu  folgenden 
Huptergebnissen :  1)  als  die  homerischen  Gedichte  entstanden,  war 
^B  ächreibkunst  weder  Üblich,  noch  wurde  sie  zu  deren  Aufzeichnung 
^>raiucht,  vielmehr  wurden  jene  Gedichte  mehrere  Mensehenalter 
lündurch  bloss  in  mündlicher  Ueherlieferung  erhalten.    2)  lüas  und 

Eyssee  kOnnen  nicht  von  einem  Verfasser  herrühren,  sie  stammen 
i  verschiedenen  Zeitaltem,  und  zwar  ist  die  Ilias  mindestens  um 
ein  Jahrhundert  alter  als  die  Odyssee.  3)  Selbst  keines  dieser  beiden 
Gedichte j  wie  wir  es  überkommen  haben,  ist  von  einem  Verfasser; 
(lei  hat  aus  ursprünglich  einzelnen  —  nicht  auf  ein  Ganzes  an- 
—  grossen  Rhapsodien  bestanden,  welche  dann  zuerst 
irch  Rhapsoden,  die  die  vorgeschriebenen  Zfige  weiter  verfolgten, 
inu  durcli  Diaskcuaston  zur  Zeit  der  Pisistratiden  und  endlich  durch 
ritiker  in  wohlverbundene  Compositionen  gebracht  worden  sind, 
deren  Autorität  sieb  aucb  der.gewOhuliche  Text  stützt.    4)  Beide 


69)  Ygt  seine  meisterhaft  geschriebene  „Darstellung  der  Alterthumswisuen- 
lUft".  mit  iler  das  von  ihm  und  Ph.  Buttmann  herau&iicgebeue  „Museum  der 
Jllwtimiiuwisaeuschaft'*,  JJerliu  ISOT— 1'?I0.    I  Üde.    S.    eröffnet  wiirde. 


25* 


3  SS    VI.  Vom  awcätCD  Viertel  des  XMIl  Jahrhunderts  bis  lu  Ooetbe'i  Tod, 

§  317   Gedichte  sind  also  böcbstwabrscheinlich  tbeils  aus  Dicbtuiigcn  Houk 
gelbst  als  ersten  Urbebtra,  tbeils  aus  üicbtungen  homcriscbcr  Khaiwidi 
im  Geiste  eben  desselben  Dichters  entstanden,  epater  jedoch  gewi« 
von  verschiedenen  Diaskeuasten  zu  verscbiedeneu  Zeiten  tu  ku[ 
reichen  Ganzen  scbriftlicb  so  zusammcnj^eftlgt  und  geordnet  wnn!( 
wie  wir  sie  noch  jetzt  haben. ^^    Wolfs  UnterHuchnngen  ^v 
allein  ein  ganz  neues  Licht  auf  die  Geschichte  der  filtern  gi.. 
Dichtung,  sondern  sie  leiteten  auch  für  die  geachichtlicbe  Betracht 
und  kritische  WUrdijcung  der  poetischen  Literaturen  üherhau]»t 
das   tiefere ,    wissenschaftlich  begründete  Verstäudniss   ein   vou 
Entsteh uugsart  und  dem  ursprunglichen  Charakter  echter  Volkse] 
und  ihrem  bis  dahin  nur  mehr  geahnten  und  gefühlten  als  auf  d< 
Wege   historischer    Kritik    nachgewieseneu    Unterschiede    von 
Kunstepopüen   des  classischen  Altcrthums  und   der  Neuzeit, 
zeigten  sich  auch  die  ersten  reifern  Früchte,   welche  der  deutscl 
Literaturgeschichtschreibung  zum  Theil  schon  aus  jenen  von  Hei 
ausgestreuten  Samenkörnern ,  noch  mehr  aber  aus  dem  Boden 
wolfschen    Untersuchungen    erwuchsen.     Dies    waren    verschied« 
kleinere  und  grössere  literarhistorische  Arbeiten  von  K.  W.  Friedrii 
Schlegel."*     Derselbe  war  ein  jüngerer  Bruder  von  August  Wilh( 
und  nannte  sich,  \^-ie  dieser",  später  Fr.  von  Schlegel.     Er 
geboren  1772  zu  Hannover  und  erhielt  als  Knabe  einen  vlelseitij 
Unterricht,   zeigte  aber  noch  so  wenig   hervorstechende  Anlagen 
einem  wissenschaftlichen  Beruf,  dass  er  anfänglieh  zum  K&ul 
bestimmt  wurde.     Bald  jedoch   fühlte  er,  dass  er   sieb   dazu  u< 
eigne;  der  Trieb  zum  Studieren  war  mit  einemmale  in  ihm  crwacl 
der  Vater  erlaubte  ihm,   demselben  zu  folgen,  und  so  warf  er 
vom  sechzehnten  Jahre  an  mit  dem  glühendsten  Eifer  auf  die  «11 
Sprachen,  worauf  er  zuerst  in  Güttingen  und  dann  in  Leipzig  Plul 
logie  studierte.     Die  Schriften  des  Plato,  die  tragischen  Dichter  »la 
Griechen  und  Winckelmanns  Werke  bildeten  seine  geistige  Welt 
die  Umgebung,  in  der   er  lebte,   und  1789  gelangte  er  auch  scbl 
zur  Anschauung  der  Kunstschätze  Dresdens,  vou  denen  ihn 
erst  vorzüglich  die  plastischen  Werke  aus  dem  Alterthum  fcstfelteiL 
Diese  ersten  unvergeBslicheu  Eindrücke  blieben  in  den  nächstfolgeadet 


71)  Vgl.  Körte  a.  a.  O.  t,  279  ff.  Als  „eine  Beilftge  zu  den  neatttcc  Cotff* 
«uchungen  Ober  den  Homer'*  ^h  Wo)f  seine  „Briefe  an  Hrn.  Hofr.  Heyi^ 
Berlin  1797.  S.  heraus,  worin  er  mehrere  Punkte  der  Prolegomczia  uocfa  IDchjr<^ 
Uiuterte  und  die  ibrn  gemftchten  Einwurfe  m  beseitigen  sachte.  72)  Vgl 
ihn  K.  Haym,  Friedrich  Schlegel  und  die  Locinde.  HruchstOck  aus  Jrr 
•chicbte  der  Romantik  in  den  Prenssischen  Jahrbuchern.  Sept  1S69.  6. 
and  Ha^ms  schon  obeu  citiertea  Buch  über  die  romantische  Schule. 
S.  2ö2.  7ö. 


EfltwickelungBgaiig d. Literatur.  1773-IS32.  Literatorgescliicbte.  Fr.ScUIegel.  380 

fahren  die  feste,  dnuernde  Gnindlag-e  für  seine  Studien  des  clansischen  §  317 
Iterthunis,  deneu  er  sich  eine  Zeit  lang  ansscliliesslicli  hingab.    Erst 

mch  der  Mitte  der  Neunziger  fieng  er  an  sich  ernstlieher  und  an- 

laltender  mit  der  neuern  und  mittelalterlichen  Dichtung,  besonders 
mit  Goethe's,    Shakspeare's    und  der   altern   Italiener  und  Spanier 
erken  zu  bescbflftigen,  und  nngefähr  zehn  Jahre  später  führte  ihn 

sine  Wissbegierde  auch  zu  den  orientalischen  Sprachen,  namentlich 
dem  damals  noch  wenig  bekannten  Gebiet  der  indischen.  Einen 
sehr  bedeutenden  Einfluss  auf  die  Entwickelung  seines  Geistes  und 
*  auf  den  Charakter  seiner  Schriften  um  die  Mitte  der  Neunziger 
erhielt  auch  die  kritische  Philosophie  und  noch  mehr  die  aus  ihr 
hervorgegangenen  Systeme  Fiehtc's  und  Sebelling's,  mit  denen  er  per- 
«Oulicb  befreundet  war'\  Nach  seinen  Universitätsjahren  lebte  er  bis  in 
den  Winter  1801—2  Iheils  in  Dresden,  theils  in  Berlin  und  in  Jena. 
Seine  literarische  Laufbahn  begann  er  1794  in  Dresden  mit  der 
geistvollen  und  für  jene  Zeit  sehr  verdienstlichen  Abhandlung  „Von 
den  Schulen  der  griechischen  Poesie"".  Es  folgten  die  theils  die 
Poesie  und  Kunst  der  Griechen,  theils  die  innere  Sittengeschichte 
and  die  politischen  Gebräuche  derselben  oder  dio  Kunsttheorie 
betreffenden  Aufsätze"*:  „Vom  ästhetischen  Wertb  der  griechischen 
Komödie" '';  „Ueber  die  Dai-stellung  dei-  weiblichen  Charaktere  in 
den  griechischen  Dichtem"";   „Ueber  die  Grenzen  des  Schönen""; 

»Ueber  die  Diotima"**;  ,jDer  Epitaphios  desLysias,  mit  Einleitung, 
»eurthelluug  etc.  und  Kunsturtheil  des  Dionysios  Über  den  Isokrates", 

mit  Einleitung*'.    Sodann  lieferte  Schlegel  Beiträge  zu  Reichardts 


74)  Vgl-  hierzu  sämmtliche  Werko  6,  S.  VII  fl".  und  dio  Vorrede  ku  der  Aus- 
lief Vorlesungen   über  die  Gosciiichte  der  alten   und  neuen  Literatur  vom 
3. 1H15  im  1.  Bd.  der  sämmtUcbeu  Werke.  75)  Zuerst  gedruckt  in  Biestcrs 

Beriln.  Monatsschrift,  Novbr.  170  J,  S.  378  ff. ;  in  deu  sänuntlichen  Werken  4,  5  ff. 
nur  wenig  verändert.  Es  war  diess  der  erste  Entwurf  von  dem  Ganzen  ednet 
ptefm  Werke»  über  die  Geschiebte  der  griechischen  Poesie,  welches  er  dnaiala 
wton  «u  schreiben  gedachte,  und  von  dem  vier  Jahre  spater  auch  wirklich  der 
•We  TheU  erschien  (vgl.  Anm,  Sü).  Im  nächsten  Bezüge  dazu  standen  auch  noch 
i^^lfe  von  den  Abhandlungen,  die  er  unmittelbar  oder  nicht  Ungo  nach  jenem 
^t»urf  herausgab,  so  wie  andere  Vorarbeiten  aus  dem  J.  I7D5,  die  erst  in  den 
•kiiüatl  Werken  a,  2rt7  Ü".  als  Fortsetzung  der  unvollendet  gebliebenen  Geschichte 
«r  griechischen  Poesie  gedruckt  worden   sind.  76|  Sie  sind  mehr  oder 

f»«ujger  überarbeitet  in  den  4.  Theil  der  sänuntlichen  Werke  aufgenommen. 
J*»  Zuerst  in  der  Berliner  Monatsschrift  üecbr.  1704.  S.  4S5  ff.  78i  Eben- 

juis  dem  J.  I7ii4,  ich  weiss  aber  nicht,  wo  zuerst  gedruckt;   vielleicht  auch 
der  Berliner  Monatsschrift  Jahi-gang  1795?  den  ich  nicht  zur  Hand  habe. 
^)  1794,    zuerst  im  d.   Merkur  von  1705.    2.  7y  ff.;  vgl.  Briefwechsel  Schillers 

Kfimen  3,  27:t.  80)  Zuerst  in  der  Berliner  Monatsschrift  von  1705; 

Briefwecbfiel  ScluÜers  und  Kürners  3,  275;  301  f.  Sl)  Beide  zuerst  in 

^kUods  attischem  Museum  l,  2,  213  ff.  und  t,  3,  135  ff. 


ickeltmgsg&og  d.  Literatur.  1773—1832.  LiteraturgeBchichtc  Fr.bcblegeJ.  303 

kunstgemäss  entwickelt,  gegeullbergestellt,  die  maugelbafte  Be-  §  31  7^ 

laffeuheit  der  einen   an    dem  vollendeten  Org-anismns  der  andern 

lemesäen  und  darzulhun  ^'esuoht,  was  für  die  eine  ans  dem  rechten 

dium   der  andern   gewonnen   werden   kOnne.     Und  liier  war  er 

h   zuerst  auf  Goethe's  Bedeutung  in  der  GesoliicLte  der  neuem 

l  namentlich  der  deutschen  Poesie  nfiher  eingegangen,   indem  er 

ah  denjenigen  Dichter  der  Neuzeit  cbarakterisierte,  mit  dessen 

rken  eine  dem  Geiste  und  der  Form  nach  sieh  der  griechischen 

i&liernde  echte  Dichtung  wieder  begonnen  habe.     Es  springe  in 

Äugen,  IjejHnnt  Schlegel,  dass  die  neuere  Poesie  das  Ziel,  nach 

Ichem   sie  strebe,  entweder  noch  nicht  erreicbt  babe^   oder  daas 

Streben  überhaupt  kein  festes  Ziel,  ihre  Bildung  keine  bestimmte 

ebtung,    die  Masse    ihrer  Geschichte    keinen   gesetzmässigen  Zu- 

imenhaug,  da«  Ganze  keine  Einheit  habe.    Bei  allem  Reichtbum 

Werken   von  unerschöpflichem  Gebalt,   von   Übermächtiger,   alle 

rzeu   hiureissender  Gewalt,  finde  sich  iu  ihr  doch  nicht  die  Be- 

^digung  des  vollständigen  Genusses,  wo  jede  erregte  Erwartung 

Ifttlt.  auch  die  kleinste  Unruhe  aufgelöst  werde,  wo  alle  Sehnsucht 

ihweige;  und  bei  einer  Fülle  einzelner,  trefflicher  Schönheiten  fehle 

doch  eine  vollständige  Scliönheit,  die  ganz  und  beharrlich  wäre. 

der  zunächt«t   folgenden  Schilderung  des  damaligen  verworreueu 

Standes  der  modernen  Dichtkunst  heisst  es  dann  u.   a.;  ,, Gerade 

der  bcösern  Kunst  selbst  offenbaren   sich  die  Mängel  der  neuern 

be«e  am  sichtbarsten.     In  den  meisten  Füllen  scheint  das,  worauf 

e  Kuust  am  ersten  stolz  sein   dürfte,  gar  nicht  ihr  Eigenthum  zu 

'Iß'    Cs  ist  ein  schönes  Verdienst  der  neuern  Poesie,  dass  so  vieles 

Ute  und  Grosse,   was  in  den  Verfassungen,   der  Gesellschaft,   der 

bulweisheit  verkannt,  verdrüngt  und  verscheucht  worden  war,  bei 

"bald  Schutz  und  Zuflucht,   bald  Ptlege  und  eine  Ileimath  fand. 

er,  gleichsam  an  die  einzige  reine  Stätte  in  dem  uuheiligen  Jabr- 

^crt,  le-gten  die  wenigen  Edlem  die  Blüthe  ihres  höbern  Lebens, 

«Beute  von  allem,  was  sie  thaten,  dachten,  genossen  und  strebten, 

e  auf  einen  Altar  der  Menschheit  nieder.     Aber   ist   nicht   eben 

oft  und  öfter  Wahrheit  und  Sittlichkeit  der  Zweck  dieser  Dichter 

'das  Schöne?    Das  Schöne  ist  so  wenig  das  herrschende  Princip 

^  üewern  Poesie,  dass  viele  ihrer  vortrefflichsten  Werke  ganz  oflfeu- 

t  Darstellungen  des  Hüsslichen  sind.    So  verwirrt  sind  die  Grenzen 

f  Wisften«chaft  und  der  Kunst,   des  Wahren  und   des  Schönen. 

*  Aogar  die  Ueberzeugung  von  der  Unwandelbarkeil  jener  ewigen 

^ßBzen  fast  allgemein  wankend  geworden  ist.     Die  Philosophie  ver- 

'rt  8icb  in  das  dichterisch  Unbestimmte,  und  die  Poesie  neigt  sich 

einer  grllblerischen  Tiefe;  die  Geschichte  wird  als  Dichtung,  diese 

*r  als  Geschichte  behandelt.    Selbst  die  Dichtarten  verwechseln 


rod.  ■ 


390    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XYIII  JahrbunderU  bis  zu  Goethc's  Tod. 

g  317  Journal  „Deutschland""  und  zum  „Lyceum  der  schönen  Künste'*^ 
Das  erste  Buch  ,  da»  er  selbst  herausgab,  „Die  Griechen  und  Röi 
Historische  und  kritische  Versuche  über  das  classische  Allertbuiu**' 
enthielt,  ausser  schon  früher  Gedrucktem,  seine  erste  Hauptschi 
„lieber  das  Studium  der  griechischen  Poesie"**.  Das  zweite 
die  „Geschichte  der  Poesie  der  Griechen  und  Römer"**.  In 
Jahren  179S— ISOO  gab  er  mit  seinem  Bruder  das  „Athenäum", 
Zeitschrift '^  und  unmittelbar  darauf  die  zumeist  schon  früher 
ihnen  in  Zeitschriften  einzeln  mit^etheilten  „Charakteristiken 
Kritiken"",  heraus**.  Mit  Schleiermachor  vorabrodete  er,  eine  Uel 
Setzung  des  Plato  zu  veranstalten,  ohne  jedoch,  als  jener  wirkM 
daran  gieng,  seinen  Beitrag  dazu  zu  liefern**'.  Von  ISOO  hm 
den  Winter  ISOl — 2  war  Schlegel  Privatdocent  in  der  philosophiscbi 


82)  ,,Ueber  das  epische  Gedichr,   179ti,   Heft  II,  auch  wohl  eine  der  V^ 
arbeiten  za  der  Geschichte  der  griecbificheo  Poesie;  vgl.  BriefwecfaGc]  zwi« 
Goethe  und  Schiller  3,  sS:  —  und  die  Recensiou  von  F.  11.  Jacobfa  „Woldeinu*J 
vgl.  oben   S.  29'J.  S3)  Berlin   1797.   s.  „Georg  Foreter.     Fragment  m«' 

Charakteristik  der  deutschen  Cinssikcr'*;  „Ucber  Leasing*',  unvollendet,  und  „Kri- 
tische Fragmente**;  die  beiden  ersten  Stücke,  und  zwar  das  zweite  toUodiIä. 
wurden  in  den  1.  Th.  der  CharakteriBtikeD  und  KrittkcD  aufgenommco ;  etwA  ub 
Viertel  von  diesen  Fragmenten  hat  Schlegel  mit  andern  aus  dem  „Athenänm**  «r- 
einigt  und  unter  der  Cebcrschrift  „Kiäcafeile''  dem  Sohiuss  der  Abhandlung  „tb^ 
Leasing"*  in  den  Charakteristiken  und  Kritiken  (1,  224  ff.)  angchiuigt  (nur  BetMa 
Fragmeute,  die  hier  stehen,  habe  ich  weder  im  „Lyceum"  noch  im  „Athcnit 
gefunden.  Vgl.  mit  ilineu  die  theils  von  Frledr.  Schlegel,  theils  vou  seinem  Bi 
herrührenden  „Fragmente'*  im  ersten  Theil  des  Athenäums  St  2,  S.  '^  ff. 
84)  1-  Bd.    Ncustrelitz  1797.   S.  85)  Einen  Auszug  daraus  laus  den  enUB 

sehn  Bogen  des  ersten  Drucks,  die  bis  gegen  das  Ende  des  dritten  Kapitels  reit 
brachte  bereits  im  Sommer  1790  Beichardts  Journal  „Deutschland",  St.  0,  333 
vgl.  E.  Boas,  Schiller  und  Goethe  im  Xenienkampf  1,  173—179.     In  den  W( 
&,  5  ff.  hat  dloBC  Schrift  mehrfache  Abänderungen,  und  zum  Theil  in  nicht 
unwesentlichen  Punctcn,  erfahren.    So  die  Stelle  über  Schillers  Abhandlang  ül 
naive  und  sentimentalische  Dichtung,  Vorrede  S.  X  f.  ■=  6,  i;J  und  die  über  Shilc- 
speare  S.  ti;i^5,  09;  die  Hinweisung  auf  I*etrarca  und  Shakspeare  5.  19  fehlt 
alten  Text,  und  umgekehrt  steht  lüer  S.  249  eiu  sehr  gOnstig  lautendes  Di 
über  Wiclaud,   welches  iu  den  Werken  gestrichen  ist.    Ucbcrhaupt  al 
vielem,  was  zur  rharaUteristerung  der  modernen  Kunst  bemerkt  worden, 
druL'ksweise  des  ursprünglichen  Textes  viel  härter  und  schroffer,   rIs  wie  aJf 
überarbeiteten  erscheint.  Sfi)  l.  Theil.     Berlin  I79H.   s.;  mit  manchen  of 

Einfügungen  in  den  Werken  3,  9-2B6.         S7)  Berlin,  3  Bdc,  S.        86) K««*?* 
berg  \H0\.    2  Bde.   «.  89)  üeber  beide  Werke,  ao  wie  über  Fr  ScU( 

berüchtigten,   nicht  über  den  ersten  Theil  hinausgekommenen  Roman  ^Li 
Berlin   1799.    8.   und  seine   übrigen    dichterischen   Ertindungon   anderwjuts 
Nähere.  90)  Vgl.  einen  Brief  Schlegels  aus   dem  J.  ISOS   in   Vamhig« 

T.  Enae  „Galerie  von  Bildnissen  aus  Raheis  Umgang"  1,  2'M  t,  worin  erScUrifl^y 
macher  der  „PcrtidJe"  beschuldigt,  die  zwischen  ihnen  beiden  verabredete  TH 
Setzung  ohne  weitere  Aufrage  allein  ontemommen  zu  haben. 


Entwickclungsgang d. Literatur.  1773— 1S32.  Lileraturgescbichte.  Kr.Schlegel.  391 

Facult&t  in  Jena"',   wo   er  auch  Mitarbeiter  an  der  Literaturzeitune*, 

wie  niebrere  Jahre  später  an  deu  Heidelberger  Jalirbüelieru,  wurde. 

>iaclideni  er  Jena  verlassen,  lebte  er  kurze  Zeit  wieder  in  Dresden. 

■Tcm    wo   er   im   Frübjabr    1S02   nach   Pari»  gieug.     Er   boft'te   dort 

neben  seinen  eigenen  Studien  so  viel  mit  scbriftatelleriscLen  Arbeiten 

iwnd    mit   Vorlesungen    zu    gewinnen,    dass    ibm   und   seiner  Gattin 

[einer  Tochter  von  Moses  Mendelssohn)  der  Aufenthalt  in  jener  Stadt 

Jcht  schwerer  als  in  Deutschland  fallen  würde".    In  Paris,  wo  ei 

itiis  in  den  Anfang  des  Jahres  18(hl  blieb,    bescbAftigte  er  sich  viel 

l;Tuit  romanischer  Literatur,    vorzüglich  aber  auch  mit  orientalischen 

»prachen,  namentlich  mit  dem  Sanskrit".    Nach  seinem  Fortgange 

von  Pari«  trat  er.  der,  wie  sein  eigner  Bruder  von  ihm  gesagt  hat**, 

80  mannigfaltige  Verwandlungen  seiner  Denkai-t  erfuhr,  und  dessen 

reistcsbahn  von  jeher  mehr  als  kometenhaft  war'\  mit  seiner  Gattin 

Cöln,  wo  er  eine  Zeit  lang  lebte,  zur  katholischen  Kirche  über, 

'aa  aber  erst  im  Sommer  18(>S  in  Deutschland  bekannt  \vurdc•^  und 

lachte  Reisen  durch  die  Niederlande,  die  Kbeiugegcuden,  die  Schweiz 

ind  einen  Theil  von  Frankreich.     Im  J.   ISUS  wandte  er  eich  nach 

'ien,  wo  er  als  Hofsecretilr  bei  der  Staatscanzlei  angestellt  wurde, 

■end  des  Krieges  im  nächsten  Jahre  war  er  dem  nau]>t(|uartler 

Erzherzogs  Karl  beigesellt  und  wirkte  durch  die  Abfassung  der 

teterreichiscben  Proelaraationen   gegen   Napoleon  auf  die   Belebung 

des   öffentlichen  Geistes  kräftig  ein.    unterdessen   hatte  er,  ^iisser 

idem    poetischen    und   prosaischen  Schriften ,   unter   deu    letztem 

lanientlidi  auch  die  „Sammlung  romantischer  Dichtungen  des  Mittel- 

^«Itcrs;  aus  gedruckten  und  handschriftlichen  Quellen  herausgegeben"", 

■tine  Zeitschrift  „Europa"'';  „Lessings  Geist  aus  seinen  Schriften,  oder 

m  Gedanken  und  Meinungen  zusammengestellt  und  erläutert*'"; 

Lund   die   Schrift  „Ucbcr   die  Sprache  und  Weisheit   der  Indier"**" 

[lierausgegeben.    In   den  Jahren    ISIO   und    1S12   hielt  er  in   Wien 

[i,Vorle8ungcn  über  die  neuere  Geschichte"'"'  und  aber  die  „Geschichte 

*ler  alten  und  neuen  Literatur"'**;  auch  gab  er  um  diese  Zeit  ein 


317 


^li  Kr  disputierte  aber  erst  im  Anfang  des  J.  tSoi;  vgl.  Briefwechsel  zwischen 
Gwihe  und  Schiller  6,  li»  f.  92)  Varuhagen  a.  a.  0.  U  'i:jl  f.  93)  Vgl. 

Zeitung  für  die  elegante  Welt  1904»  N.  jT.  Sp.  456.  94)  A.  W,  Schlegels  e. 

Vokc  *»,  202.  95t  Vgl.  auch  Varnhagen  &.  a.  0,  t,  225  ff.  06)  A.  W. 

|^««cls  a.  Werke  ?,  290,  Note.  97)  Leipzig  IS04.    2  Bde.   S,    Sie  »ollen 

""te»  figcntlich  von  seiner  Gattin  herrühren,  welche  auch  Verfasserin  des  Romaus 
Arentin"  (1.  Theil.  Leipzig  ISOI.  S)  ist;  vgl.  Briefwechsel  zwischen  Goethe 
•^Schiller  fi,  20:  22.        OS)  Frankfurt  a.  M.  1803—5.    4  Stücke  in  2  Bdn.    ^. 

fll))  Leipzig  IN04.    3  ThJe.    S.;    neue  unveräuderte   Ausgabe   1S1D. 
'1*»0)  Heidelberg   lhü9.    S.  101)  Wien  ISII.   S.  102)   Wien   1815. 

^  T])le.  s  ;  in  den  &.  Werken  Bd.  I  und  2. 


392    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jalirliunderti  bis  zu  (ioctbo*s 


Tod.   ■ 


§317  ., Deutsches  Museum^'  heraus"".  Von  1815  au  lebte  er  einige  Jalin 
als  Legationsrath  der  österreichischen  Gesandtschaft  heim  Bund 
tage  zu  Frankfurt  a.  M,  Nach  seiner  Rückkehr  nach  Wien  zog^ 
er  sich  im  Jahre  1S19,  in  welchem  er  noch  eine  kurze  Rebe 
nacli  Italien  machte,  von  den  Staatsgeschiiften  zurficki  unternahm 
die  Zeitschrift  „Concordia"''*'  und  hielt  Vorlesungen  Qher  „Philo» 
Sophie  des  Lehens*'"*  und  Über  ,, Philosophie  der  Geschicble'*. 
Gegen  Ende  des  Jahres  1S28  gieng  er  nach  Dresden'",  wo  er  dna 
Reihe  von  V'orträgen  hielt"*  und  zu  Anfang  des  Jahres  1S29  starb*. 
Bereits  vor  dem  Bekanntwerden  der  Prolegomena  hatte  Fr.  Schlegel 
angefangen  sein  Werk  Über  die  Geschichte  der  griechischen  Poe«c 
vorzubereiten  und  die  Entwürfe  einzelner  Abschnitte  darau»  io  t 
schiedcnen  der  erwähnten  Abhandlungen  rerOfiTentlicht.  Das  Wei 
selbst  kam  zwar  in  dem  Umfange,  wie  er  es  angelegt  hatte,  d 
vOlUg  zu  Stande;  allein  schon  das,  was  davon  179S  im  Druck 
schien"^,  darf  auf  diesem  Gebiet  als  die  erste  ausgezeichnete  ec 
wiasenschaftliche  Leistung  in  deutscher  Sprache  angesehen  wenk 
in  der  nach  dem  Vorbilde  von  Wiuckelmanns  Geschichte  der  bilde 
den  Kunst  bei  den  Griechen  die  Geschichte  ihrer  epischen  Diel 
kunst  und  der  ionischen  Lyrik,  nach  ihrem  vielverzweigten  ZuHammei 
hange  mit  der  religiösen,  politischen,  socialen  etc.  Bildung  des  Vol 
Tortrefflich  entwickelt  und  dargestellt  ist.  Wenn  dieses  Werk  da 
seinen  Stoff  in  keiuem  unmittelbaren  Bezüge  zu  der  Geschieh; 
vaterländischen  Dichtung  stand,  so  war  dicss  in  reichem  >i^  r 

Fall    bei    der   andern    hier    in   Betracht    kommenden    Ilauptscfan 
Schlegels,  die  er  ein  Jahr  früher  unter  der  Ueberschrift  „Ueber 
Studium  der  griechischen  Poesie"  hatte  erscheinen  lassen.    Sie  Wi 
schon  unter  dem  Eintiuss  von  Schillers  Abhandlung  über  naive  and 
aentimcutalische  Dichtung  abgefasst  worden.    Schlegel   hatte  d 
den  Charakter  unserer  neuen  schönen  Literatur  einer  Prüfung  nni 
worfen,  sie  der  gnechiscben,  wie  sie  sich  im  Laufe  der  Zeit  n 


I 


ana 
ian|^ 

'hUil 


103)  Wien  lS12-t3.    4  Bde.   8.  I04l  Wien  IMo— 21.    «  Hefte, 

105)  Wien  l<i2S.   S.        106)  Wieu  IS29.   2  Bde.   8.        l(»7j  üeber  die 
seines  Aufenthaltes  in  Drcsdcu  unil   seine   damalige  ßichtung  vgl  R.  Köpki 
Tiecks  Leben  2,  13  f.  108)  Sie  erBcliiencD  iiacliher  unter  dem  Titel  ,^1 

sopUifiche  Vorlesaiigen ,   Insbesondere  über  die  Pbilusophlc  der  Sprache  and  d^ 
Worts",  Wien  l-^ao.  109»  Sämmiliche  Werke  (die  aber  bei  weiten  nicWt 

alles  euthalteu,  was  er  geschriebou  hat)  Wien  1S22— 25.  10  Bde.  6.;  dam  »a* 
seinem  Nachla&s  als  11.  u.  12.  Band  „Philosophische  Vorlesungen  aus  dca  Jalireo 
IS04— isoo,  nebst  Fragmenten,  vorzüglich  philosophisch-theologischen  lahalto"- 
herauagg.  von  Windifichmann ,  Bona  1S3(V  37.  2  Bde.  8.,  und  In  dm«' w< 
vermehrten  Aufl.  in  den  sämmtl.  Schritten  Wien  lS4ß.     14  Bde.  S.  110) 

Anmcrk.  S6. 


ikeloagsgangd. Literatur.  1773 — 1S32.  Literaturgeschichte.  Fr.Schlegel.  303 

^Btgcniäsfi  entwickelt,  gegeuQbergeBtelltf  die  mangelbafto  Be-  §  317 
IbUheil   der  eineu  an   dem  vollendeten  Organismus  der  andern 
Dessen  und  darzuthun  gesucht^  was  für  die  eine  aus  dem  rechten 
um   der  andern   gewonnen   worden   könne.     Und   hier  war  er 

Krst  auf  Goethe's  Bedeutung  in  der  Geschichte  der  neuern 
entlieh  der  deutschen  Poesie  näher  eingegangen,  indem  er 
Ift  denjenigen  Dichter  der  Neuzeit  cimrakterisierte,  mit  dessen 
en  eine  dem  Geiste  und  der  Form  nach  sich  der  griechischen 
Hpide  echte  Dichtung  wieder  begonnen  habe.  Es  springe  in 
■pn,  beginnt  SchlegeL  das»  die  neuere  Poesie  das  Ziel,  nach 
etn   sie  strebe,  entweder  noch  nicht  erreicht  habe,   oder  dass 

Kben  Überhaupt  kein  festes  Ziel,  ihre  Bildung  keine  bestimmte 
f^  die  Masse  ihrer  Geschiclite  keinen  gesetzmässigen  Zu- 
ilang,  das  Ganze  keine  Einheit  habe.  Bei  allem  Reichthum 
erkeu  von  unerschüi)flichem  Gehalt,  von  Übermächtiger,  alle 
D  hinreiftsender  Gewalt,  finde  sich  in  ihr  doch  nicht  die  Be- 
ping  des  vollständigen  Genusses,  wo  jede  erregte  Erwartung 
t,  »ucb  die  kleinste  Unruhe  aufgelöst  werde,  wo  alle  Sehnsucht 
lige;  und  bei  einer  Fülle  einzelner,  treftlicber  Schönheiten  fohle 
|g|>  eine  vollständige  Schönheit,  die  ganz  und  beharrlich  wäre. 
Kunächst  folgenden  Schilderung  des  damaligen  verworrenen 
ttSes  der  modernen  Dichtkunst  heisst  es  dann  u.  a.:  ., Gerade 
r  bessern  Kunst  selbst  offenbaren  sich  die  Mängel  der  neuern 
3  am  sichtbarsten.  lu  den  meisten  Fällen  scheint  das,  worauf 
lunst  am  ersten  stolz  sein  ddrfte,  gar  nicht  ihr  Eigcnthum  /.u 
Es  ist  ein  schönes  Verdienat  der  neuern  Poesie,  dass  so  vieles 
und  Grosse,  was  in  den  Verfassungen,  der  Gesellschaft ^  der 
iweisboit  verkannt,  verdrängt  und  verscheucht  worden  war,  bei 

^ Schutz  und  Zuflucht,  bald  Pflege  und  eine  Heimath  fand, 
cbsam  an  die  einzige  reine  Stätte  in  dem  unheiligen  Jahr- 
legten die  wenigen  Edlem  die  BUUhe  ihres  höhern  Lebens, 
ieste  von  allem,  was  sie  thaten,  dachten,  genossen  und  strebten, 
«rf  einen  Altar  der  Menschheit  nieder.  Aber  ist  ,  nicht  eben 
t  und  öfter  Wahrheit  und  Sittlichkeit  der  Zweck  dieser  Dichter 
Ä8  Schöne?  Das  Schöne  ist  so  wenig  das  herrschende  Princip 
leuern  Poesie,  dass  viele  ihrer  vortrefflichsten  Werke  ganz  offen- 
)ar8tell(ingen  des  Hässliehen  sind.  So  verwirrt  sind  die  Grenzen 
ft'isgenschaft  und  der  Kunst,  des  W'ahron  und  des  Schönen, 
sogar  die  Ueberzeugnug  von  der  Unwandelbarkeit  jener  ewigen 
fast  allgemein  wankend  geworden  ist.  Die  Philosophie  ver- 
in  das  dichterisch  Unbestimmte^  und  die  Poesie  neigt  sich 
grüblerischen  Tiefe;  die  Geschichte  wird  als  Dichtung,  diese 
Geschichte  behandelt.    Selbst  die  Dichtarteu  verwechseln 


394     VI.  Vom  zweiten  Viertel  dea  XVm  Jahrhunderts  bia  «u  Uoetbe't  Tod. 


317  gegenseitig  ihre  Bestiramung;  eine  lyrische  Stimmung  wird  der  Gcg 
stand  eines  Drama,  und  ein  dramalisdier  Stoff  wird  in  lyriscle  Fo 
gezwängt.     Diese  Anarchie  hleiht  nicht  an  den  ftiissern  Cremen  Bte! 
sondern  erstreckt   sich   Über  das  Ganze  dea  Kunstgefühls,   wie 
Kunst  selbst.     Die  hervorbringende  Kraft  ist  rastlos  und  unstät; 
einzelne  wie  die  öffentliche  EmpfringHchkcit  ist  imiuor  gleich  uner 
sättlich  und  gleich  unbefriedigt.    Die  Wissenschaft  selbst  scheint 
einem  feston  Punkt  in  dem  endlosen  Wechsel  völlig  zu  verzwoife 
Das  allgemeine  Kunstgefühl   —   doch   wie   wäre  da  ein  öffentlic 
Kunstsinn  maglich,  wo  es  keine  Öffentlichen  Sitten  gibt?  —  die  C 
CAtur  des  wahren  Kunstsinns«  die  Mode^  huldigt  mit  jedem  A 
blicke  einem  andern  Abgotto.  Jede  neue  glänzende  Firscheinung  err 
den  zuversichtlichen  Glauben,  jetzt  sei  das  Ziel,  das  höchste  8chü 
erreicht,   das  Grundgesetz   des  kQnstlerischon  Sinns,   der  äusse 
Massstab  alles  Kunst  werthes  gefunden.     Nur  das*  der  nächste  , 
blick  den  Taumel  endigt;  dass  dann  die  nüchtern  Geworden 
Rildniss  des  sterblichen  Abgotts  zerschlagen  und  in  neuem  erktlnstoli 
Knusch  einen  andern  an  seiner  Stelle  einweihen,  dessen  Vergütterufl, 
wiederum  nicht  länger  dauern  wird  als  die  Laune  seiner  Anbeter. 
Der   eine   Künstler   strebt   allein   nach    den    fliipigen   Reizen   eine« 
wollüstigen  Stoffs,   dem   blühenden  Schmuck,  dem  schmeichclndca 
Wohllaut  einer  bezaubernden  Sprache,  wenn  auch  seine  abenteuer- 
liche Dichtung  W^ahrheit  und  Schicklichkeit  beleidigt  und  die  Seri« 
leer  lässt.    Jener  andere  täuscht  sich  wegen  einer  gewissen  Rundaog' 
und  Feinheit  in  der  Anordnung  und  Ausfühnmg  mit  dem  voreilig 
Wahne  der  Vollendung.    Ein  Dritter,  um  Reiz  und  Rundung  unbfr 
kümmert,  hält  ergreifende  Treue  der  Darstellung,  das  tiefste  Auffassen 
der  verborgensten  Eigcnthümlichkeiten  für  das  höchste  Ziel  derKuiwl 
Diese  Einseitigkeit  des  italienischen;  französischen  und  engl'        '^ 
Kunstsinns  findet  sich  in   ihrer  schneidenden  Härte  in  De 
beisammen    wieder."    Die   metai>hysi sehen    Untersuchungen 
wenigen  Denker  über  das  Schöne,  fährt  Schlegel  fort,   hntf 
den  mindesten  Einfluss  auf  die  Bildung  des  Kunstgefühls  ^> 
der  Kunst  gehabt.    Die  praktische  Lehre  von  der  Poesie  nher  wi 
bis  auf  wenige  Ausnahmen    zcither  nicht  viel  mehr  als  der  Si 
dessen  gewesen,  was  man  verkehrt  genug  ausübte.     Die  G«Bobio1 
der  neuern  Kunstlohro  und  Kunstkritik,  worin  sich  auch  die  sUkr 
Widersprüche  her\^orgetban,  die  äussersten  Entgogcnsotzuugcn  einander" 
abgelöst  haben,  wird  in  einigen  HauptzUgen  angedeutet.    W^euu  m 
irgend  eine  Behauptung  gäbe,   in   welcher  die   Anhänger   der  v 
schiedenen  Kunstsystcmc  einigcrmasscn   Übereinzustimmen  schien 
80  wäre  es  allein  die:   dass  es  kein  allgemein  gültiges  Gesetz  d 
Kunst,  kein  beharrliches  Ziel  für  den  Sinn  des  Schönen  gebe,  oder 


d«^ 


d.  Literatur.  1713— IS32.  Literaturgeschichte.  Fr.  Schlegel.  395 


r 

■|Usli 

fflPis,  falls  es  ein  solches  gebe,  doch  nicht  anwendbar  sei;  das» 
die  Richtigkeit  de«  Kunstgefllhls  und  die  Schönheit  der  Kunst  allein 
vom  Zufall  abhänge.  Die  Anarchie,  bo  sichtbar  in  der  künstlerischen 
Theorie  wie  in  der  Praxis  der  Künstler,  erstrecke  sich  sogar  auf 
die  Geschichte  der  neuern  Poesie.  Kaum  lasse  sich  in  ilirer  Masse 
beim  ersten  Blick  etwas  Geineinsanios  bemerken,  geschweige  denn 
in  ihrem  Fortgange  Gesetzmässigkeit,  in  ihrer  Bildung  bestimmte 
Stufen,  zwischen  ihren  Theilen  entschiedene  Grenzen  und  in  ihrem 
Ganzen  eine  befriedigende  Einheit  finden;  wenn  man  nicht  einen 
ganz  andern  Standpunkt  für  die  moderne  Kunst  zu  erforschen  strebe 
und  aufzustellen  vermöge  als  die  bisher  gewöhnlichen.  Cbarakter- 
'eit  scheine  mithin  der  einzige  Charakter  der  neuern  Poesie, 
\;i  irrung  das  Gemeinsame  in  der  Masse  ihrer  Hervorbringungen 
■d  Bestrebungen,  Gesetzlosigkeit  der  Geist  ihrer  Entwickelungsge- 
Ehichte  und  ein  skeptisches  Hin-  und  Herschwanken,  oder  ohne 
Siel  umherirrendes  Grübeln  das  Resultat  der  wissenschaftlichen 
■itersuclmngen  über  die  Kunst  zu  sein.  Nicht  einmal  die  Eigen- 
ntlrnlichkcit  habe  bestimmte  und  feste  Grenzen.  Die  deutsche  Poesie 
lameutlicli  stelle  ein  beinahe  vollständiges  geographisches  Naturalien- 
■>inet  aller  Natioualcharaktere  jedes  Zeitalters  und  jeder  Welt- 
l^end  dar;  nur  der  Deutsche,  sage  man,  fehle.  Im  Grunde  gloich- 
;altig  gegen  alle  Form  und  nur  voll  unersättlichen  Durstes  nach 
Hoff,  verlange  auch  das  feinere  Publicum  von  dem  Künstler  nichts 
ils  das  lntere.sse  einer  charalltenstischen  Eigenthümlicbkeit  oder  den 
Effect  der  Leidenschaft.    Wenn  nur  gewirkt  werde,   wenn  die  Wir- 

rig  nur  stark  und  neu,  so  sei  die  Art,  wie,  und  der  Stoff,  worin 
geschehe,  dem  Publicum  so  gleichgültig,  als  die  Uebcreinstiramung 
Jcr  einzelnen  Wirkungen  zu  einem  vollendeten  Ganzen.  Durch  jeden 
-•*  würden  die  Begierden  nur  heftiger,  mit  jeder  Gewährung 
^_(_jn  die  Forderungen  immer  hoher,  und  die  Hoffnungen  einer 
■dlichen  Befriedigung  entfernten  sich  immer  weiter.  —  Sollte  es 
Rnn  aber  niclit  möglich  sein,  einen  Leitfaden  zu  entdecken,  um  die 
rÄthselhafte  Verwirrung  der  neuern  Poesie  zu  lösen,  den  Ausweg  aus 
diesem  Labyrinth  zu  finden?  Vielleicht  gelinge  es,  aus  dem  Geist 
ihrer  bisherigen  Geschichte  zugleich  auch  den  Sinn  ihres  derzeitigen 
Strebens,  die  Richtung  ihrer  fernem  Laufbahn  und  ihr  künftiges  Ziel 
bufinden.  Vielleicht  sei  der  entscheidende  Augenblick  gekommen, 
dem  Kunststreben  entweder  eine  gänzliche  Verbesserung  bevor- 
rtae,  nach  welcher  es  nie  wieder  zurücksinken  könne,  sondern 
ihwendig  fortschreiten  mUsse,  oder  die  Kunst  werde  auf  immer 
len,  und  das  Zeitalter  müsse  allen  Hoffnungen  auf  Sehönheit  und 
Wiederherstellung  echter  Kunst  ganz  entsagen.  Gelänge  es,  den 
irakter  der  neuem  Poesie   bestimmter  zu   fassen,   das   leitende 


§  317 


■« 


398    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVHI  Jahrhunderts  bi«  zu  Goethe'»  Tod. 


4 


317  wieder  auf  die  rechte  ßnhn  zurückführen.  Eine  vollendete  Ka 
theorie  sei  also  höchet  wUnschenswerth  und  notbwcndig.  Gä! 
es  aber  auch  eine  solche,'  und  wäre  sie  zugrleich  allgemein  aner- 
kannt ,  so  mllsste  noch  etwas  anderes  hinzukommen :  die  Elr- 
fahrung  von  einer  Kunst,  welche  ein  durchaus  voUkommeocs 
Beispiel  ihrer  Art,  ein  wirklich  gewordenes  Ideal,  und  deren 
besondere  Geschichte  eine  allgemeino  Naturgeschichte  oder  roU- 
kotnmene  Natiirentfaltnng  der  Kunst  selbst  wäre.  Damit  werde 
sich  dem  Kunstforscher  sowohl  wie  dem  Künstler  eine  Anschauung 
darbieten,  in  welcher  das  Gesetz  in  gieichmiiKsiger  VollslÄndigkeit 
gleichsam  sichtbar  erscheinen  werde,  ein  höchstes  Urbild  des  ScbOnen 
und  der  Kunst.  Bedienen  werden  sich  beide  dieses  Urbilde«  aber 
nur  dann  auf  die  rechte  Weise,  wenn  sie  sich  die  Gosetzm&Baigkeit 
desselben  zueignen,  ohne  sich  durch  die  Eigentbümliohkeit,  welche 
die  äussere  Gestalt,  die  Hülle  des  allgemeingültigen  Geistes  immer 
noch  mit  sich  führen  mag,  beschrfmken  zu  lassen.  Wo  ander* 
könne  nun  dieses  Urbild  gesucht  und  gefunden  werden  als  bei  den 
Griechen?  Bei  diesem  Volke  allein  habe  die  schöne  Kunst  in  »licn 
ihren  Theilen  und  Zweigen  ganz  der  hohen  Würde  ihrer  Bestimmuii; 
entsprochen.  Bei  ihm  allein  sei  sie  von  dem  Zwange  des  Bcdflrf- 
nisses  und  der  Ilerrschaft  des  Verstandes  immer  gleich  frei  und  al* 
schönes  Spiel  heilig  gewesen;  allen  Nichtgriechen  hingegen  sei  die 
Schönheit  an  sich  selbst  nicht  gut  genug  und,  nach  dem  M«» 
ihrer  ßobheit  oder  Verfeinerung  bald  mehr  bald  weniger,  enwedcr 
eine  Sclavin  der  Sinnlichkeit  oder  der  Veniunft.  —  Inwiefern  nun 
die  Dichter  der  Griechen  uns  jene  vollkommene  Anschauung,  »l* 
hnchstes  Urbild  des  Schönen  in  der  Kunst,  nach  den  verschiedenen 
Arten  und  Bildungsstufen  derselben,  darstellen,  ist  der  Gegenßt»o4 
cter  Betrachtung  in  den  folgenden  Kapiteln.  Der  Inhalt  dcjs  drittfo 
nämlich  ist:  ein  ,, kurzer  Abriss  von  dem  Ideal  des  Schönen  in  den 
Werken  der  griechischen  Dichtkunst  und  von  ihrer  classischeu  Voll- 
kommenheit, von  dem  frühesten  Zeitalter  der  ersten  NaturentfaltuDf 
bis  zu  der  spätem  Epoche  der  schon  entarteten  Kunst,  durch  ftH« 
Stufen  der  alten  Bildung  hindurch,  nach  dem  ganzen  Enwickelonp- 
gange  und  Kreislauf  derselben ;  und  wie  auf  der  Höhe  der  vollendet» 
tragischen  Kunst  der  Gipfel  des  höchsten  Schönen  erreicht  wordcu-" 
Das  Endergebnifis  dieses  Kapitels  ist:  „die  hellenische  ? 
eine  ewige  Naturgeschichte  des  Schönen  und  der  Kunst.  > 
eigentlich  die  reinen  und  einfachen  Elemente,  in  welche  man  die 
chaotisch  gemischten  Erzeugnisse  der  modernen  Dichtkunst  cr«t  w!- 
lösen  muss,  um  ihr  labyrinlhisohes  Gewirre  völlig  zu  onträthMli- 
Hier  sind  alle  Verhältnisse  so  echt,  ursprunglich  und  noihworfi^ 
bestimmt,   dass   der   Charakter   auch  jedes    einzelnen   griechisch«« 


^1^ 


ickeiuDgfgangd. Literatur.  1773— IS32.  Literaturgeschichte.  Fr.Schlegel.  399 

shters  gleichsnm  eine  reine  und  einfache  kliostleriscLe  Elementar-  § 
inschuuung  darbietet."  Das  vierte  Kapitel  gebt  erst  die  Einwendungen 
Itirch,  die  gegen  die  griechische  Poesie  vorgebracht  werden  können, 
lesonders  wegen  ihrer  sittlichen  Flecken  und  Mängel,  gibt  dann 
len  Versuch  einer  Grundlegung  zu  einer  vollständigen  Theorie  des 
3ä8slichen  und  Kunstwidri<^en  nach  allen  seinen  Arten,  als  Gegen- 
atz zu  der  Idee  des  Schönen  in  der  Kunst,  und  beantwortet  und 
»ruft  zuletzt  jene  Einwürfe  und  Fehler.  Das  ftinfte  und  letzte 
landelt  von  den  Fehlern  und  IrrthHmern  in  der  Nachbildung  der 
lotiken  Dichtkunst  und  von  den  Schwierigkeiten,  welche  dem 
nodernen  Dichter  dabei  Überhaupt  im  Wege  stehen,  und  zum  Schluss 
'OD  der  Wiedergeburt  der  neuern  Poesie,  besonders  für  Deutschland. 
n  diesem  Kapitel  stehen  vortreffliche  Bemerkungen  über  die  ver- 
;ehrte  und  falsche  Art,  die  Griechen  zu  benutzeu.  Es  wird  namentlich 
^nuf  hinge\vie8eu,  dass  die  Neuern  bei  ihrer  Anlehnung  an  das 
■ecbische  Altcrthum  sich  immer  an  das  Einzelne  und  Besondere 
Balten,  sei  es  dass  sie  sich  besondere  Gattuugen  zum  Muster 
■ime 


imeu,  sei  es  dnss  sie  bestimmte  Dichter  nachahmten:  sie  hätten 


tn  die  griechische  Poesie  im  Ganzen  fassen.  Es  wird  ferner 
ortrefriich  gezeigt,  wie  fehlerhaft  die  romantischen,  die  Ritter-  uüd 
leldeugeschichten  des  Mittelalters  von  den  Neuem  bearbeitet  worden, 
ind  wie  ganz  verwerflich  es  sei,  antike  Sagen  und  Geschichten,  die 
licmand  kenne,  zum  Inhalt  dichterischer  Darstellungeu  zu  verwenden. 
Jei  derCharakterisierungderritterlichen  Stoflle  wird  darauf  aufmerksam 
fetnachi,  wie  wenig  künstlerisch  sie  behandelt  worden,  wo  denn 
|Bxltcb  eine  noch  buchst  luangelhafte  Kenntniss  der  mittelalterlichen 
ptbtungen  durchblickt.  Doch  lässt  Schlegel'"  schon  ein  verständiges 
md  sehr  anerkennendes  Wort  Über  das  Nibelungenlied  fallen,  dessen 
3erder,  so  viel  mir  bewusst  ist,  nirgend  auch  nur  im  Vorübergehen 
;edeukt.  Bei  Besprechung  der  Schwierigkeiten,  die  sich  dem  tragi- 
felieu  Dichter  der  Neuzeit  in  der  Wahl  der  Gegenstände  entgegen- 
ntcn,  wird  Schiller  mit  besonderer  Auszeichnung  genannt:  als  ein 
■ntsches  Beispiel'",  welches  grosse  Hoffnungen  errege  und  alle 
Reinniüthigen  Zweifel  an  dem  Gedeihen  der  tragischen  Kunst  in 
Deutschland  niederschlage.  Schillers  ursprüngliches  Genie  sei  so 
»Ischieden  tragisch,  wie  etwa  der  Charakter  des  Aeschylus  etc.  — 

[eiterhin  warnt  Schlegel  besonders  vor  der  Nachbildung  der  griechi- 
len  Formen  in  Sprache  und  Metrik.    .,Wehe  dem  Künstler**,  ruft 

fUiSj  „welcher  sich  nach  den  Griechen  bilden  will,  wenn  er  sich 
^h  den  grossen  Uebersetzer  des  Homer  verführen  liessei    W>nn 


317 


111)  Werke  5,  ns. 
Eist  f. 


112)  Nach  dem  ersten  Texte  S.  2üSf.;  vgl.  Werke 


■«■« 


4iH)     TT.  Tom  zweiten  Viert«!  des  XVin  Jalirliunderta  bis  lu  Oo^tbe'» 


T04l        ^' 


er  liier,  wo  sie  am  innigsten  verschmolzen  sind,  den  objectireu Grill 
von  der  localen   jlussern  Form  uielit  zu  solieiden  vermsig,  an  g«ht 
sein  ganzes  Streben  verloren;   denn   Über  dem  ang'estren^cn  rM 
misehen  Kunstfang,   wobei   das  Ziel  einer  vCdli^^en  Gleichheit  d 
unerreichbar  bleibt,  wird  der  Geist  gewiss  entfliehen,  der  clawiflc 
90  gut,  wie  aller  eigene.    Man  mag  der  deutschen  Sprache  immcrhi» 
zu   der,    wenn   gleich   entfernten    Aehnlicbkeit   ihrer   rhythmiwbi 
Bildung   mit    dem    griechischen    Versmaas    Glück    wünschen;    n 
tausche  man  sich   nicht   über  die  Grenzen  dieser  Acbniichkeit 
aus  localer  Eigenthümlicbkeit  hen'orgegangeue  Weise  und  Regel  d 
Griechen  kann  für  uns  keine  Autorität  und  Regel  haben."    Wan  d 
moderne  Dichter,  welcher  nach  echter  Bildung  streben  wolle,  w 
von  den  griechischen  Dichten  zueigneu  solle,  sei  „die  sittliche  Fol 
die   freie   Gesetzmässigkeit ,    die   edle   Menschlichkeit^    das   8cb6i 
Ebenmass,    das   zaite    Gleichgewicht,   die  trefl'ende  Schickliclikeit, 
welche  mehr  oder  weniger  über  die  ganze  Masse  zerstreut  sind,  den 
vollkommenen  Stil  der  erhabenen  Kunst  in  ihrer  blühendsten  E\m 
die  richtige  Umgrenzung   und  Reinheit  der  griechischen    Dichtun 
arten,  die  objective  Klarheit  und  idealische  Würde  der  Darstellung 
kurz  den  Geist  des  Ganzen,   die  reine  Idee   des  Schönen   und  die 
wesentliche  Kunstform  desselben  in  allem  hellenischen  Leben."    Der 
unglücklichste  Einfall,  den  man  je  gehabt  habe,  und  von  des-wi 
allgemeiner  Herrschaft   noch  immer  viele  Spuren   übrig  seien ,  wire 
unstreitig  der  gewesen,   der  griechischen   Kritik   und    Kunsttbeori^^ 
eine  Autorität  beizulegen,  welche  im  Gebiet  der  Wissenschaft  Ob< 
haupt  durchaus  unstatthaft  sei*'*.  —  Indem  Schlegel   nun   noch  ^k 
jenigen  Zeichen  aufzählt,   welche  ihm   die  Reife  der  Zeit  fflr  eil 
grosse  Wiedergeburt  der  Kunstbildung  verkündigen,   weist  er, 
auf   das   bedeutungsvollste,    auf  die   Höhe   hin,    welche   vor  all! 
andern  Landern  gerade  in  Deutschland  „die  wissenschaftliche 
geschichtliche  Kunstforschung  und  das  Studium  der  Griechen'* 


I 


1 1 3l  Sehr  bezeichnend  fDr  die  von  der  lessingschcn  abweichende  Richtui 
der  schlegolscben  Kritik  ist  das  Urtheil,  welches  i  Werke  \  20o)  ober  die  thtett- 
tischc  und  praktische  Kunstlehre  im  Aristoteles  gefällt  ist.  Die  ertter«  wii  ^ 
ihm  noch  in  der  Kindheit,  die  andere  schon  ganz  von  ihrer  Hohe  gesunkea.  Sdt^ 
'Lehre  ron  der  Bestiniuiung  der  Knust  im  S.  Buche  der  Politik  beweise  (lof  s»^ 
fassende  Denkart  nnd  nicht  ganz  unwürdige  Gesinnungen;  aber  dennoch  wi  dtr 
Gesichrepankt  scheu  nicht  mehr  politisch  indem  umfassenden,  hohen  platoot 
Sinne  des  Wort«,  sondern  nur  moraUsch.  In  der  Rhetorik  aber  und  in  Jen  fr 
menten  der  Poetik  bebandle  er  die  Kunst  wie  jeden  andeni  Naturgegenstand  ot 
alle  Rücksicht  auf  die  Idee  der  Schtinheit,  bloss  hislorisch  und  Ihroretisch  ^^ 
er  eigentlich  als  Kunstrichter  urtheüe.  da  äussere  er  nnr  einen  scharfen  Siao 
die  strenge  Richtigkeit  im  Gliederbau  des  Ganzen,  für  die  YolIVomin«h<!il  **j 
Feinheit  der  Verknüptung. 


Lckelungsgangd.  Literatur.  1TT3-Ü932.  Literaturgeschicbte.  Fr.  Schlegel.  401 

en,  und  den  stufeuweiseu  Entwickelungsgang  der  pbilosopbiscLen  §  317 

etlehrc  bei  uns  in  seinen  Uauptmomentea   verfolgend,   bemerkt 

on  Leasing:  uiul  Herder:   „In   der  alten  Manier  der  classischeu 

stkritik  übertrifft  unser  Lessing  anScbarfsinn  und  an  ecbtem  ScbOn- 

ßgefübl  seine  Vorgänger  in  England  unendlicb  weit.    Eine  ganz 

5  und  un^'leicb  bubere  Stufe   des  griechischen  Studiums  aber  ist 

:b  Deutäcbe  herbeigeführt  und  wird  vielleicbt  noch  geraume  Zeit 

ausschliesslicbes  Eigentbum   bleiben.    Statt  der   vielen   Nameu, 

hier  genannt  werden  könnten,  wollen   wir  nur  Herder  nennen, 

eher  die  umfassendste  Kenntniss  mit  dem  zartesten  Gefübl  und 

biegsamsten  Empfänglichkeit  vereinigt**"*.    Zuletzt  werden  grosse 

fnuDgen  für   die  Zukunft   der   deutschen   Dichtung   aucb    darauf 

rtiadet,  dass  wir  schon  einen  Elopstock^  einen  Wieland,  einen 

iUer,  einen  Bürger  und.    vor  allen  Andern,    einen  Goethe   be- 

ven.  —  So  st'bloss  sich  diese  Öchrift«dnrch  ihren  Inhalt  und  ibre 

chtnng  sebr  nabe  au  Scbillers  erwäbnte  Abhandlung  an  und  er- 

mete   gleicb    in    vielversprechender   Weise   die   Reihe   derjenigen 

riftstellerischen   Arbeiten    der   beiden   Schlegel,    in    welchen  die 

etisebe  Kritik  nach  Lessings  Zeit  auf  dem  von  Schiller  angebahnten 

^e  einen  neuen  Höhepunkt  erreichen   und  wieder  aufs  kräftigste 

ien  Bildungsgang  unserer  schönen  Literatur  eingreifen  sollte. 

Wir  hatten  dem  nach  eine  Kunstlehre  erlangt,  die  ibre  principielle 

;rtlnduug  in   einer  wahrhaft    speculativen   Philosophie    gefunden 

te,  und  die  durch  eine  geistvolle  Auffassung  literargeschichtlicher 

'hältnisse  und  Bildungen  in  der  Fremde  und  in  der  Heimath  sich 

h  immer  mehr  mit  einem  erfahrungsmässigen  Gebalt  erfüllte.    Aus 

erwuchs   wieder  eine  ästhetische  Kritik,    welche  eben  so  ent- 

ictiieden  und  energisch  den   schlechten  Richtungen,  in   welche  die 

leutftche  Dichtung  gerathen   war,   entgegentrat  und  sie  bekämpfte, 

ine  sie  umsichtig  und  scharfsinnig  auf  eine  gründlich  und  lebendig 

rakterisierende  Besprechung  wertbvoller  Erzeugnisse  der  Literatur 

eng.    Die  Jenaer,  oder  wie  sie  von  Anfang  an  biess,  „Allgemeine 

raturzeitung"  war  —  wie  sie  für  die  Ausbreitung  der  kantiscben 

iiosophie    seit    dem    Jahre    17S5    ein    weithin    wirkendes   Organ 

rde"^  —  unter  allen  Zeitschrifteuj  welche  über  die  neuen  Erschei- 

114l  So  nach  dem  alten  Text:   mit  dem  Zusatz  in  dea  ^Ve^ken&,  214  f.:  „und 
cb  olne  beeoudere  Gabe  gescblchtUchpr  Divinatlon,  tief  fühlender  Charakteristik 
illürisi'h  aoffasseoder,  aUes  nachdichtender,  in  jegliche  Weise  und  Form 
lerapändender  Phantasie  den  ersten  Grund   geleg^t   und   die  Züge  vor- 
hat zu  der   neuen  Art   von  Kritik ,   welche  als   die   eigen thtunlichste 
idit  (itir  deutschen   Geislesbildung   und   Wissenschaft  aus   beiden  gemeinsam 
•9i|egangen  ist"  115i  Vgl.  $  243,  22;  Niiherea  über  die  Unternehmer 

^  die  Bedactoreo  findet   man  in   Bottigers   Uterarischeu   ZustAndeu  und  Zeit- 
!.  2Ö5;  2ü9  ff. 
^b«kUta,  UnadCiM.   &.  Xat.  IV.  20 


402     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIll  Jahrhuuderta  hU  zrx  Gocthe'i  T«d 


§317  nungen  der  schönen  und  der  wissenscliaftlicleu  Literatur  Dctttocii- 
lands  kritisierend  berichteten,   diejenig:e,  in  welcher  eine  Zeil  lang 
der  Geist  der  neubclebten  und  frisch  gekrÄftigten  äHthctischcD  Kritik. 
zur  entschiedensten  und  in  den  weitesten  Kreisen  wirkenden  Ge! 
kam.   Diess  zeigte  sich  vornehmlich  wilbrend  der  Jahre,  in  welchi 
sie  A.  W.  Schlegel  zu  ihren  Mitarbeitern  zählte.     In  der  «  r 

ihres  Bestehens  brachte  sie  noch  wenig  oder  gar  nichts  I3cu. :::-.. :s 
im  Fach  der  Astbetischen  Kritik;  die  meisten  Beurtheilun|ren  fh» 
Werken  der  schOnen  Literatur  waren  nngcfflhr  in  demselben  Grri'^t 
und  Ton  abgefasst,  wie  die  allgemeine  deutsche  Bibliothek  zu  dw- 
selben  Zeit  kritisierte"*.  Von  1788  an  brachte  sie  schon  hin  und 
wieder  grtlndliche  und  gut  geschriebene  Beurtheilungcn :  ausser  denen 
von  Schiller,  der  in  diesem  Jahre  Mitarbeiter  an  ihr  wurde  ua^ 
neben  einigen  Anzeigen  von  geringerer  Bedeutung  die  RecengliiDen 
von  Goethe's  Egmont'",  von  Borgers  Gedichten"*  und  MatthissonsOe- 
dichten"**  lieferte,  gehören  hierher  besonders  verschiedene  Beitrife 
von  L.  F,  Ruber'"  und  W.  von  Humboldt'",  so  wie  die  von  mir 
unbekannten  Verfassern  tlber  Schillers  „Don  Carlos"***  und  M)er 
Schillere ,, Geisterseher'* '".  A.  W.  Schlegels  sehr  zahlreiche  Beitrife* 
begannen  mit  dem  Jahre  1796  und  reichten  bis  in  die  zweite  Hälnr 
des  Jahres  1799,  wo  sieh  Schlegel  mit  Schlitz  entzweite  und  iui 
Intelligenz -Blatt  der  allgemeinen  Literaturzeitung  von  dieser  Abschied 
nahm  '^\  —  Alsbald  fieng  auch  die  dichterische  Production  an  einen  gaza 


116)  Ich  renreise  in  der  Reihe  der  bemerkenswertheroRecexisiODeit 
weise  auf  die  schon  oben  angcfUhTteDf  in  den  Anmerkungen  auf  S  rvtf.  ttberVTi^ 
Unda  auserlesene  Gedichte,  S.  2:Kt  ül>er  J.G.  Müllers  Romane  und  über  Mtiifff 
AJcibiados,  S.  278  über  Goethe's  IphigCDie.  117)  ns^.  3,T(i9ff.  US»  IW 
U  97  fr.  1 19)  179^.  3,  665  ff.  120)  Einige  seiner  Keccnsionen  sind  «Mr 
al)gednickt  in  den  ,,Tenni£cbten  Schriften*'  2,  IT  ff.;  andere  in  den  „s&ouBtBdfl 
Werken  seit  demJ.  \Wr%  2,  107  ff.;  vgl.  auch  oben  S.2I<»:  279;  291;  iWt;  M' 
I21l  Vgl.  S.  299.  12*2)  I7*^&.    2,  529  ff;  Tgl.  Schillers  Brief»«i«i* 

mit  Körner  1.  309  f.;  sie  scheiot  mit  Veranlassung  zu  des  Dichters  BrioCen  Ahr 
seinen  Don  Carlos  gewesen  zu  sein;  vgl.  jedoch  Hubors  Brief  in  den  sUBaOfic^ 
Werken  1,  2'.t4  f.  123)  1790,    3,  617  ff.  124)  Vgl.  S.  251  oben:  V 

sind  jetzt  zasammengostellt  im  10.  und  II.  Bde.  seiner  sjimmUicben  Werk» 
125)  Vgl.  seine  s&mmtl.  Werke  II,  427  ff.,  wo  auch  die  unmittelbar  TW 
^Abschiede"  zwischen  Schlegel  and  Scbütz  gewecbselten  Bride  ans  N.  (S 
Jahrgangs  1799  von  jenem  Intelligenz^Blatt  abgedruckt  sind.  —  Teber  dm 
Verlaufdes  äusserst  ärgerlichen  Handels,  der  sich  mit  eioem  gleichzeitigen  rwiids 
SrhcUing  und  Schütz  verflechtend,  einen  völligen  Bruch  zwischen  deo  flMpt* 
Vertretern  der  Romantik  und  der  idealistischen  Philosophie  einerseits  QImI  ^ 
Uedactoren  der  allgemeineu  Literalur-Zeituiig  andrerseits  zur  Folge  hatte  osd« 
feiner  Zeit  sehr  grosses  Aufsehen  machte,  vgl.  das  IntcJligcDS-Blatt  tob  171*- 
N.  142,  Sp.  1150  f.;  „Ueber  die  Jenaer  Literatur-Zeitung .  ErlLoternages  ^vo 
Schelling"  (.aus  dessen  Zeitschrift  für  speculative  Physik.  Jena  und  Lelpsli;  ^^^ 


IPV^^W^^^^^^^^^^^PP 


EAtwickelungflgaug  der  Literatur.    1^3 — IS32.    Goethe  und  Schiller.     lt>3 

ueu  Aufschwung  zu  nehmen  und  den  hüchBten  Kuustzielen  zuzu-  §  317 
ebcu,  welche  die  neue  Theorie  bezeichnet  hatte,  auf  welche  die 
ae  ^tbctische  Kritik  foi'tAvährend  hinwies.  Diess  geschah  von  dem 
itpunkt  au,  wo  Goethe  und  Schiller  sich  zu  gemeinsamem,  Theorie, 
itik  und  Production  in  lebendigem  Verbände  einigendem  Wirken 
^  an  einander  schlössen. 

§  318. 
Während  Schiller  sich   eifrig  mit    der  kritischen  Philosophie 
Msbäftigte    und    seine   kunstphilosophisehen   Schriften   theils  aus- 
jeitete,    theils  vorbereitete '^   hatte  Goethe,  neben  seinen  natur- 

Eensehaftliohen  und  artistischen  Studieu  und  der  Abfassung  oder 
■beitung  anderer  sowohl   grosserer  als  kleinerer  Sachen  in  ver- 
biedenen   Dichtungsarten  ^   auch    eins   seiner  Hauptwerke   in   der 
leiiden   Gattung,    ,, Wilhelm   Meisters  Lehrjahre",    wieder   auf- 
mmen.    Einen  ersten  Anlass,   den  Plan  dieses  Romans  zu  ent- 
\n ,  scheint  Goethe  in  seinem   Verhflltniss  zu   dem  bald  nach 
^r  Ankunft  in  Weimar  errichteten  Liebhabertheater'"  gefunden  zu 
m ;  demuächst  aber  haben  dazu  gewiss  auch  das  grosse  Interesser 
(hes  damals   Überhaupt  in  Deutschland  an  der  Schaubühne  ge- 


aach  besonders  abgedruckt!  und  jenes  Intelligenz-Blatt  vom  J.  1^00.  N.  &7; 
fT;  104.  und  dazu  den  grossen  Artikel  Fr.  Nicolai's  iu  der  n.  allgemeinen  d. 
»thek  bü,  t,  142  S.j  womit  er  bei  der  Wicderübernabme  derRedaction  dieser 
'Mritt  den  ibm  vcrhasstcn  Romautikeni  und  idcalisüscben  Pbüosopben  gleich 
>täcklag  versetzen  zu  können  meinte.  —  Diese  ZerwOrfhisae  und  andere 
:be  Ereignisse  in  dem  Leben  der  Jenaer  rniversiUt  verleideten  dem 
Schutz  den  Aufenthalt  in  Jena;  die  preussische  Regierung  suchte  unter 
vorthcilhaUen  Anerbietungen  die  a.  Lit.-Zeitung  für  die  Universität  ^lallc  zu 
len.  Es  gelang  ihr  damit:  Schutz  nahm  den  Ruf  dahin  an,  und  seine  Zeit- 
erschien  nun  seit  1SU4  unter  iltrem  alten  Titel  in  Halle,  von  ihm  selbst 
Bd  dem  ebenfalls  von  Jena  bemfenen  Prof.  Ersch  redigiert.  Allein  auch  die 
'noiarische  Hegierung  war,  benouden  auf  Goethe's  Veranlassung  uud  Betrieb. 
Iftranf  bedacht  gewesen,  das,  was  Jena  mit  Schützens  Abgang  einbtisstc,  sich  iro 
ich  in  einem  noch  werthvoUorcn  Besitzthum  wieder  zu  verschaffen;  eine 
tjenaische  allgemeine  Literaturzeitung"  wurde  gegründet,  die  ebenfalls  mit 
Anfang  des  J.  IS04  unter  des  Prof.  Eichstadts  Redaction  und  zuerst  auch 
sehr  thAtlger  Betheihgung  Goethe's  an  ihr  ins  Leben  trat  Vgl.  ulver  die 
der  alten  uud  die  Gründung  der  neuen  Lit.-Zeitong,  so  wie  über  manche, 
sehr  böswillige  Klatschereien ,  die  davon  iu  öffentlichen  Blattern  ge- 
rden,  Goethe's  Werke  31,  156  f.;  IHü:  \bi;  Schillers  Briefwechsel  mit 
ler  4,340;  343;  H.  Steffens,  „Was ich  erlebte".  5,*iff.;  114;  den  Freimüthigen 
Xotzcbue  »SI3.  N.  132,  S.  52»;  N.  114,  S.  STt»;  N.  150,  S.  b*M;  N.  172, 
H  i.  und  die  Zeitung  fttr  die  elegante  Welt  1S03.  N.  Iu7,  Sp.  847;  N.  15t, 
1199  IC. 

I  31S.     1)  Vgl.  S.  126—128.  und  333.         2}  Vgl.  HI,  147  f.;  IV.  289-291. 
2t)  Vgl.  UI,  144,  unten. 


t^ 


404    VI-  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe'«  Toi 

318  uommea  wurde,  uud  der  zu  jener  Zeit  stark  hervortretende  Zag 
vieler  juugeu  Leute  zur  Schauspielkunst  mitgewirkt.  Denn  nach  di 
ersten  Anlage  war  die  Tendenz  des  Romans  viel  aussei/ 
als  in  der  ihm  später  gegebenen  Gestalt  darauf  gcricu:;.: 
Schauspieler-  und  Bühnenwesen  von  allen  seinen  Seiten  d 
und  zu  beleuchtend  lieber  den  die  ganze  Dit^htung  tragenden 
gedanken,  der  dem  Dichter  auch  schon  beim  ersten  Entwurf  sei 
Werks  dunkel  vorgeschwebt  habe,  hat  er  sich  erst  in  seinem  Ali 
ausgesprochen'.  „Die  Anfänge  des  Meisters  entsprangen  aus  m 
dunkeln  Vorgefühl  der  grossen  Wahrheit:  dass  der  Mensch  oft 
versuchen  mochte^  wozu  ihm  Anlage  von  der  Nattir  versagt  \A 
unternehmen  und  ausüben  möchte,  wozu  ihm  Fertigkeit  nicht  werden 
kann;  ein  inneres  Gefühl  warnt  ihn  abzustehen;  er  kann  aber  mit 
sich  nicht  ins  Klare  kommen  und  wird  auf  falschem  Wege  zu  falscbea 
Zwecke  getrieben,  ohne  dasa  er  weiss,  wie  es  zugeht  Und  d 
ist  es  möglichj  dass  alle  die  falschen  Schritte  zu  einem  unscbiirzbai 
Guten  hinführen:  eine  Ahnung,  die  sich  im  W.Meister  immer  mt\tt 
entfaltet,  aufklärt  und  bestätigt'*  etc.\  Begonnen  wurde  der  Bkduil 
im  Jahre  1777,  und  in  der  ersten  Hälfte  des  folgenden  Jahre«  wv 
das  erste  Buch  beendigt.  Als  Goethe  nach  Italien  gieng,  nabm  er 
dahin  sechs  (den  jetzigen  vier  ersten  entspreckende,  aber  wei 
ausgeführte)  Bücher  und  den  Entwurf  der  sechs  andern  mit, 
denen  nur  das  siebente  (ein  Theil  des  jetzigen  fünften»  theil 
ausgeführt  gewesen  zu  sein  scheint.  In  Italien  wurde  hin 
wieder  Einzelnes  an  dem  Werke  gethan;  gleich  nach  voTlend 
Redaction  der  letzten  Theile  seiner  bei  Göschen  verlegten  Scb 
gedachte  der  Dichter  mit  Ernst  an  den  W,  Meister  zu  geben 
ihn  zu  Ende  zu  führen".  Aber  erst  als  er  die  Leitung  des  wci 
sehen  Hoftheaters  übernahm  (1791),  fand  er  lebendige  A 
genug,  auf  Zureden  der  Herzogin  Amalie  seinen  Komau  wieder  v< 
zunehmen.  Jetzt  sollten  die  fertigen  Bücher  einer  neuen  und  letiM 
Redaction  unterworfen,  die  noch  fehlenden  ausgearbeitet  und  m«Ö 
das  Ganze  für  den  Druck  zum  Abschluss  gebracht  werden  \   Dttoub 


-kl  I 


3)  Am  5.  August  t?7S  schrieb  Goethe  an  Merck  (Briefe  an  diesen, 
S.  138t,  er  sei  bereit,  das  ganze  Theaterwesen  in  einem  Roman,  wovon  itol 
Buch  schon  fertig  sei,  vorzutragen.  —  Ucber  den  Abschluss  desselben,  vi 
der  Dichter  •  ursprünglich  beabsichtigt  haben  soll .  vgl.  eine  Kotix  'Hecks 
einer  Mittheilung  von  Qoetbc'a  Mutter  in  R.  Eöpke*B  Buch  .^L.  Tieck. 
innoningcn  aus  dem  Leben  des  Dichters"  etc.   Leipzig  1S66      2  Thle.    s    )•  ^^ 

4)  Werke  :it.  s.         5)  Vgl.  auch  Kckermauuä  GesprtLcbe  mit  Goethe  tl^ 
6t  Wprke  29,  21'.».  7)  In  der  ersten  Hälfte  des  J.  ITOI  war  «r  BÖ  ' 

Redaction  der  ersten  beiden  Bücher  oder  des   «nteu  Theüs  endiich  «o  wiit 
kommen,  dass  der  Druck   <ala  dritter  liand  der  .^neuen  SchrUten")  M^Bi 


^^ntvic 


l«9il 


tvickelongÄgang  d.  Literatur.  1773— IS32.  Goethe  und  Schüler.  Diellorön.    405 


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ielten  sich  Goethe  und  Schiller  noch  fern  von  einander,  und  nach  §  318 

Erscheinen  von  Schillers  Abhandlung  ,,tibcrAnmuth  und  Würde", 

wie  Goethe  meinte,   gewisse   harte  Stellen  direct   auf  ihn 

deuteten,  sein  GlaubensLekenntniss  in  einem  falschen  Lichte  zeigrten, 

jind  wenn  das  nicht,   doch   über  den  weiten  Abstand  ihrer  beider- 

ritigen  Denkweisen  keinen  Zweifel   Hessen',  schien  der  Zeitpunkt 

Öner  etwaigen  wechselseitigen  Annäherung  mehr  als  jemals  in  die 

^Feme    hinaumgerttckt   zu  sein.     Da  ergieug  im  Sommer   1791   von 

^■cbiller  an  Goethe  eine  Einladung  zur  Theilnahme  an  den  „Hören", 

^Bner   von    ihm    mit   dem   Buchhändler   Cotta    verabredeten    neuen 

^PIonatsscb^ift^  Dem  Briefe  Schillers  '*^  beigeschlossea  war  die  gedruckte 

Aukftndigung"  für   diejenigen  Schriftsteller,    deren   Beitritt   zu  den 

loren  von  Schiller  gewünscht  wurde.    Sie  enthielt  eine  ausführliche 

ignbe  der  Zwecke,  die  durch  die  Zeilschrift  erreicht  werden  sollten. 

I      v/oethe  wurde  in  Schillers  Briefe  zugleich    eingeladen,   dem   engern 

Aoüscbuss  sich  anztischliessen ,  dessen  Urthcile  über  alle  einlaufenden 

Manascripte  eingeholt  werden    sollten'*.     Das  neue  Journal  sollte 

sich    über  alles,    was  mit  Geschmack   und   philosophischem   Geist© 

^^ehandelt  werden  könne,   verbreiten,  also  sowohl   philosophischen 

könnt«;  and  als  Schiller  ftm  23.  August  d.  J.  bei  Ooethe  angefragt  hatte,  ob  er 
den  WQhelm  Meister  nicht  nach  und  nach  tu  den  Hören  wolle  ertcheinen  lassen^ 
lautete  die  Antwort:   der  Roman   sei  einige  Wochen  vor  Schillers  Einladung  zu 
den  Hören   an   den  Buchhündler  Uuger  (in  Berlin)  gegeben,   und   die   ersten  ge- 
druckten Bogen   seien   schon    in    des  Verfassers   Bünden  (Briefwechsel  zwischen 
Bdiffler  und  Goethe  1,  H);  32  f.).    Vgl.  aber  die  aUm&Mige  EnUtohong  des  Wil- 
Hein  Mehter  die  aus  den  Briefen  Ooethe's  an  Frau   von  Stein ,   Merck ,   ächiUer 
and  tonst  hör  mit  Sorgfalt  zueammengestelltcn  NiLchwcisnngen  Dtlntzers  in  den 
tfesdieQ  zu  Goethes  Werken  S.  25^  ff.  und  dazu  Riemer,  Mittheilungen  3,  591  f. 
S^  Goethes  Werke  (»0,  251  f     Wie  Riemer,  Mittheilungen  2,  344,   und  wohl 
;pttx  richtig  bemerkt,    sei   ohne  Zweifel   die  Stelle   von   Goethe   gemeint,   worin 
^^clffler  das  Genie,  seinem  Ursprünge,   wie  seinen  Wirkungen  nach,  mit  der  von 
Qn  «OfeDannten  architektonischen  Schönheit  vergleiche,  dasselbe  ein  blossea  Natur- 
nsmgnits  nenne,  es  nur  aus  der  verkehrten  Denkart  der  Menschen  herleite,  wenn 
^Gruie  mehr  als  erworbene  Kraft  des  Geistes  bewundert  werde,  und  dem 
tonfo^:  beide  Günstlinge  der  Natur  t  die  architektonische  Schtiubeit  und  das  Genie) 
V  ftrden  bei  allen  ihren  Unarten  —  wodurch  sie  nicht  selten  ein  Gegenstand   ver- 
^i*Wer  Verachtung  seien  —  als  ein  gewisser  Gcburtaadel.   als  eine  höhere  Kraft 
*'**nehiei,   weil  ihre  Vorzüge  von  Natorbedingimgen  abhängig  seien  und  daher 
*Wi  klle  Wahl  hinausliegen  (Schülers  sümmllichc  Werke  S.  I,  die  Anmerkung  auf 
^  O  U     Vgl.  auch  Goethe's  Werke  hi),  54.  9»  Vgl.  S.  127.  10)  Er  ist 

*'»>  IJ  Juni  und  eröffnet  seinen  Briefwechsel  mit  Ooethe.  Hl  Sie  ist  gleich- 
f»ni  tom  13.  Juni  datiert  und  auch  in  den  Briefwechsel  (1.2  ff.)  mit  aufgenommen. 
li)  Pen  Tag  vorher  hatte  Schiller  die  gednicktc  AukOndigung  schon  an 
^^"htt  gesandt  und  ihm  dabei  geschrieben  «Briefwechsel  3.  I'G):  „Unser  Journal 
*^  «b  epochemachendes  Werk  sdn,  und  alles,  was  Geschmack  haben  will,  mus& 
^  Udfen  und  lesen*'. 


406    M.  Tom  zweiten  Viertel  de«  XVUI  Jfthrbundoru  hh  zu  Goctbc's  Tod. 

§  318  UntersucLungen ,  als  poetischen  und  historiBchen  Darstellungen  offen 
stehen  und  mit  dem  Anfang  des  nächsten  Jahi'es  beginnen  '*.  „Alles". 
heisst  es  in  der  Ankündigung,  ,,wag  entweder  hlofts  den  gelebrieu 
Leser  interessieren,  oder  was  bloss  den  nichtgelehrten  befriedigen  kanu, 
wird  davon  ausgeschlossen  sein ;  vorzüglich  aber  und  unbedingl 
wird  sie  sich  alles  verbieten,  was  sich  auf  Staat sreligiDu 
und  politische  Vorfassuog  bezieht.  Man  widmet  sie  iler 
schönen  Welt  zum  Unterricht  und  zur  Bildung  und  der  gelehrten  m 
einer  freien  Forschung  der  Wahrheit  und  zu  einem  fruchtbaren  Um' 
der  Ideen;  und  indem  mau  bemüht  sein  wird,  die  Wissenschai'i 
durch  den  iunern  Gehalt  zu  bereichem,  hofft  man  zugleich  den  Km* 
der  Leser  durch  die  Form  zu  erweitem."  Diese  Ankündigung  war 
aber  nur  für  die  Schriftsteller  bestimmt,  die  zu  Beitragen  aufgefordert 
wurden;  einen  öfFentlichen  Gobraucli  davon  zu  machen,  wurde  aus- 
drücklich verbeten'*.  Dem  Publicum  kündigte  Schiller  die  Uoreu 
erst  am  10.  Decenibcr  1794'^  an;  diese  sehr  schön  geschriebene 
Ankündigung  wurde  sodann  vor  dem  ersten  Stück  der  Zoitsebrift 
als  deren  Programm  wiederholt.  Damach  sollten  die  Hören,  tu 
einer  Zeit,  wo  das  nahe  GerÄusch  des  Krieges  das  Vaterland  ängstige, 
wo  der  Kampf  politischer  Meinungen  und  Interessen  diesen  Krieg 
beinahe  in  jedem  Zirkel  eineuere  und  nur  allzu  oft  Musen  und 
Crazien  daraus  verschcucho,  wo  weder  in  Gesprächen  noch  in 
Schriften  des  Tages  vor  diesem  allverfolgenden  Dämon  der  >■ 
kritik  Rettung  sei,  dem  so  sehr  zertreuten  Leser  eine  Untorli  < 
entgegengef«etztor  Art  bieten.  Je  mehr  das  beschränkte  IntereiK 
der  Gegenwart  die  Gemüther  in  Spannung  setze,  einenge  und 


13)  Vgl.  die  Ankündigung  ft.  a.  0.  14)  Die  gesperrt  gt>druckfc 

hatte  bei  F.  ü.  Jacobi,   als  er  auch  zur  Thcünahme  an  den  Iloron  eiogeUda 
wurde,  Bedenken  erregt,  womit  er  in  einem  Briefe  vom  10.  Soptbr.  17'i4  fJac»bfk 
auserlosener  Briefwechsel  2,  IS2f.|  geigen  Schiller  nicht  zurückhielt.    Dieser  tot 
in  seiner  Autwort  (ft.  a.  0.  X  VMi  f.)  Jacubis  UcUenken,  mit  ilinweisung 
damals  schon  erschienene  erste  Stück  der  Ilorcn,  zu  beben.   Was  er  sei 
Eeichnet  au  einer  Ötclle  mit  wenigen  Worten ,   und  doch  in  so  bestimml 
SctiUlers  damalige  durchaus  idealistische  Auffussung  von  d(^m  Vcrbjiltnist 
Schriftstellers  nach  seinem  Sinne  zn  seiner  Zeit  uud  zn  seiner  Nation,  dus  ie 
diese  Stelle,  um  mich  apMer  darauf  beziehen  zu  können,  hier  gleich  wi^rtlld) 
rackcn  will:     „Sie  finden,   dass   wir  dem   philosophi.schen  Geist    keineswefp 
bieten,  diese  Materie  zu  beriüiren;  nur  soll  er  in  den  jetzigen  WeJthAndcla  w*] 
Partei  nehmen  nnd  sich  jeder  Beziehung  auf  irgend  einen  particulUren  Statt  usd 
auf  eine  bestimmte  Zeitbegebenheit  enthalten.   Wirwollcn  demLeibe  nachßcif 
unserer  Zeit  sein  und  bleiben,   weil  es  nicht  anders  sein  kann;   sonst  abff  m 
dem  Geiste  nach  ist  es  das  Vorrocht  und  die  Pflicht  des  PhiloRophea,  rit* 
Dichters  (!t  zu  keinem  Volk  und  zu  keiner  Zeit  zu  gehören,   sondern  io 
liehen  Sinne  des  Wortes  der  Zeitgenosse   aller  Zeiten  zu   sein'*. 
Intclligenz-Ulatt  der  Jenaer  Literatur-Zeitung. 


|.Vla 


Uri^ü 


408    VI.  Vom  zweiten  Yiortd  des  XVUl  Jahrhunderts  biä  ra  Goethe*«  Tai 

318  letzten  Bände  seiner  Schriften  gefnnden  hatten,  und  seiner  zicmlifli] 
vereinsamten  Stellung;  zu  Weimar  und  nach  aussen  hin  befand^' 
muBSte  ihm  die  Einladung  zu  ,, einem  Bfindniss  der  geineinsain  fQr  du 
Gute  wirkenden  Talente",  wie  es  Schiller  in  Anreping  brachte,  wilWj 
kommen  sein"^;  sie  wurde  freundlieh  aufgenommen,  und  Goethe  t< 
sprach,  „mit  Freuden  und  mit  ganzem  Herzen  von  der  Gesellschaft 
sein'**".  Ein  persönliches  Zusammentreffen  heider  Dichter,  w( 
Wochen  später*',  führte  zu  einem  langen  und  bedeutenden  Gcs| 
über  Kunst  und  Kunattheoric,  iu  welchem  sie  sich  die  Hauptideen  mi 
theilten,  zu  denen  sie  auf  ganz  verschiedenen  Wegen  gekommen  vtsai 
Ein  bedeutendes  Gespräch  zwischen  Goethe  und  Schiller  muss  soh< 


19)  Vgl.  Goeth6*8  Tag-  und  JAJhreahefte  im  31.  Bde.  der  Werke  antcr 
Jahren  1793  und  1704,  besondere  S.  23  t  25  f.  VI,  und  dazu  Julian  Schmidt, 
Rchicbte  der  deatschen  Literatur .  2.  Ausg.  1,  34  f.  BefiondeT§  bezeichnttd  Ar 
die  Sümmung  Goethe's  zur  damaligen  Zeit  ist  seiu  Brief  ao  den  Staataraüi  SeUb 
vom  IM  Jau.  1821t  iBriefwechBel  zwischen  Goethe  und  dem  StaatOTatb  SdudKii 
wohlfeile  Ausgabe  von  H.  Dünizer  S.  3ti|  f  |.  „Ich  endigte'*,  schreibt  er,  ..ebn 
die  Lehrjahre,  und  mein  ganzer  Sinn  gieng  wieder  nach  Italien  zurflck.  MM» 
Gott,  dass  jemand  sich  den  Zustand  der  damaligen  deutschen  Literatur,  Öm 
Verdienste  ich  nicht  verkennen  will,  wieder  Tergegenwirtige '.  thut  e«  aber  «in  f»* 
wandter  Geist,  so  wird  er  mir  nicht  verdenken,  dass  ich  hier  kein  HeU 
Ich  hatte  in  meinen  letzten  Biinden  bei  Göschen  das  Möglichste  gethan.  z.  B. 
meinem  „Tasso"  des  Herzblutes  vielleicht  mehr,  als  billig  ist.  liansfondiert, 
doch  meldete  mir  dieser  wackere  Verleger,  dessen  Wort  ich  in  Ehren  halten 
dass  diese  Ausgabe  keinen  sonderlichen  Abgang  habe.  —  Ich  weiss  wirklich  akk, 
was  ohne  die  schiUcrFche  Anregung  ans  mir  geworden  wAre.  —  Meyer  war  wi« 
wieder  nach  Italien  gegangen,  und  meine  Absicht  war.  ihm  17^)7  zn  folgen,  ibff 
die  Freundschaft  zu  Schiller,  die  Tbeilnahme  an  seinem  Dichten,  Tracfateo  ni 
Unternehmen  hielt  mich,  oder  Hess  mich  vielmehr  freudiger  zuritckkehren,  ak  kfc. 
bis  in  die  Schweiz  gelangt,  das  KriegsgetUmmel  über  den  Alpen  näher  gevikr 
wurde.  Hätt'  es  ihm  nicht  an  Manuscript  zu  den  ..Hören"  und  ..Musenalmaoachr«* 
gefehlt,  ich  hätte  die  „Unterhaltungen  der  Ausgewanderten"  nicht  geschrieben,  iln 
.fCcUini"  nicht  übersetzt,  ich  hatte  die  siLmmthchea  „Üalladeu"  und  »Lieder",  ^ 
sie  die  Musenalmanache  geben,  nicht  verfasst.  die  „Elegien'*  wiren,  wfinigilHf 
damals,  nicht  gedruckt  worden ,  die  „Xenien"  bitten  nicht  gesummt,  and  im  AB- 
gemeinen  wie  im  Besondern  wäre  gar  manches  anders  geblieben".  ^) 

Wechsel  zwischen  Schiller  und  Goethe  1. 9  f. ;  vgl.  Schillers  Brief  an  Köi 
Dass  Goethe  zu  den  Hören  bald   in  das  Verb&ltnise  eines  zweiten  onmit 
Mitherausgebers  trat,  ergibt  sich  schon  aus  Schillers  Brief  vom  TJ.  Sej 
und  aus  Goethe's  Antwort  darauf  vom  l.  Octbr.  iBriefwechsel  1,41  ff.l: 
Goethe's  Werke  31,  42.  21)  In  der  allgemeinen  Monatsschrift  Rif 

Schaft  und  Literatur  1Sj2,  Febniar  S.  151  hat  Düntzer  angemerkt: 
grossen  Ungenauigkeit  in  Goethe's  Erzählnng  von  seiner  ersten  Bekanntachafl  V^ 
Schiller  (Werke  <io.  252  ff.)  wäre  es  nicht  unmöglich,  dass  Jenes  folgesralchi  0*~ 
sprach  zwischen  ihm  und  Schiller  schon  in  den  Aüfang  dei  J.  (793  gtMm  «t^^ 
etwa  kurz  vor  Goethe's  Abreise  zur  Belagerung  von  Mainz  (wobei  auf  da  Bri^ 
Wechsel  zwischen  Goethe  und  Fr.  H.  Jacobi  Nr.  "4  verwiesen  ist).  PtoM  V** 
muthung  DOiitxen  hat  sich  mir  bei  n&herer  Prüfung  als  grundlos  er 


itwickelangsgÄiig  d.  Literatur.  1773—1^32.  Goethe  und  Schiller.  Die  Hören.    409 

[790  Statt  gefunden  bnbenj  wie  sich  aus  einem  Briefe  des  letztem  §  3l9 
M  KruTier  vom  1.  Novbr.  jenes  Jabres  ergibt".  Am  Tage  vorher 
kr  nämlich  Goethe  bei  Schiller  in  Jena  gewesen,  und  schon  da- 
mals hatten  beide  von  Kant  gesprochen".  Jenes  folgenreiche  Ge- 
eprficb  jedoch,  dessen  Goethe  erwähnt,  fiel  wirklich  erst  in  dasJ.  1794 
und  zwar  in  die  Mitte  des  Juli.    Am    12.  Juni  meldete  Schiller  an 

(imer",  dnss  an  Goethe,  Kant,  Garve  etc.  wegen  der  Hören  theils 
lion  geschrieben  sei,   theils  geschrieben  werden  solle.    Der  Brief 
Goethe,  der  die  Aufforderung  zur  Theilnahme  an  den  Hören  cnt- 
h ,  ist  vom  folgenden  Tage  und  Goetbe's  Antwort  vom  24,  Juni. 
Nun  erst  erfolgte  die  Unterredung  beider  in  Jena,  in  welcher  sie 

Kide  eine  unerwartete  üebereinstimmung  ihrer  Ideen  Über  Kunst 
d  Kunsttheorie  fanden";  und  bald  war  der  schöne  Bund  der 
Geister  fest  geschlossen,  welcher  Goethe  mit  Schiller  fortan  zu  „un- 
aufhaltsamem Fortschreiten  philosophisclier  Ausbildung  und  ästhe- 
Ijflcber  Thätigkeit"**  vereinigte.  Beide  Dichter  haben  es  anerkannt 
Bd  ausgesprochen,  dass  ihre  wechselseitige  Annäherung  zu  keiner 
^legnem  Zeit  hätte  erfolgen  können,  als  gerade  damals,  wo  sie  zu- 
ykhst  durch  die  Hören  berbeigofuhrt  wurde.  Als  Goethe  in  Beant- 
I^QDg  des  schillerschen  Briefes  vom  23.  August  1794^,  wenn 
KTiiller  mit  freundschaftlicher  Hand  die  Summe  von  Goetbe's  Exi- 
stenz gezogen,   und   dieser  sieb  durch  dessen  Theilnahme  zu  einem 


33)  2,  207.  23)  Wodurch  dns  widerlegt  vird,  was  Goethe  HO,  3fi5  be- 

thiei:   „Schiller  sog  nach  Jena,  wo  ich  ihn  ebenfalls  nicht  sah".        24)3«n&f. 

251  Schiller  berichtete  darüber  an  Knnier  unter  dem  I,  Seplbr.  (.'*,  190 f. i: 

li^'ir  hatten   vor  sechs  Wochen  über  Kunst  und  Kunsttheorie   ein   langes   und 

MtoB  gesprochen  n.  b.  w.    Am  25.  Juli  schrieb  nun  Uoethe  einen  (kurzen  Brief 

VUiller  (I,  II),  worin  er  ihn  versicherte,   dass  er  sich  auf  eine  öftere  Aug- 

»whselnng  der  Ideen  mit  ihm   recht  lebhaft  freue.    Darauf  erwiederte  Schiller 

von  einer  Reise  Heimgekehrten  am  23.  August  mit  dem  langen,  bedeuten- 

Briefe  |I,  I2ff^  worin  er  Gocthc's  dichterische Natnr  so  vortrefflich  charak- 
^«iriert  bat.  Gocthe's  Antwort  vom  27.  August  (1,  20  ff.)  fand  er  zu  Hause  vor, 
*|«  w  ron  einem  Auaflug  nach  Weisscnfels,  wohin  er  mit  W.  von  Humboldt  «u 
^Ber  Zn.ummenkunfl  mit  Kömer  gefahren  war  (Briefwechsel  mit  Körner  3,  1S8), 
^J«M  wieder  eintraf  i:t,  190  f.):  „Nach  meiner  Zurückkuaft  fand  ich  einen  «ehr 
»■•ttÜchcn  Brief  von  Goetlie,  der  mir  nun  endlich  mit  Vertrauen  entgegenkommt. 
^^  Ii4tten  vor  sechs  Wochen"  etc.  Den  Tag  zuvor  hatte  er  schon  an  Goethe 
^  Brief  abgesandt,  der  gleichsam  als  die  Ergänzung  zu  dem  vom  2.1.  Aag.  au- 
ff**^n  werden  kann,  indem  er  hier  dasgegensätzUcheVerhältnisB  zwischen  seiner 
**P8*ii  dichterischen  Natur  und  Richtung  und  der  goethe'schen  auf  eine  nicht 
*iöd«r  feine  wie  bescheidene  Weise  hervorgehoben  hat  (1,  24  ff.;  vgl.  dazu  Boas. 
^«lieakampf  I,  232  f.).  Es  erfolgte  dann  bald  auf  Goethes  Einladung  der  Be- 
^^h  Srhill^rs  in  Weimar,  wo  er  bei  dem  Freunde  vom  14.  bis  zum  2".  Septbr. 
■"bnte  ivgl   Riemer,  Mittheilungen  2,  3r>:t.  Note  2).  26»  Goethe'»  Werke 

'».41  27)  1,  12  f. 


u     V 


410    VI.  Vom  zvciien  Vierte!  des  XVIII  .tahrhuntlcrta  bis  tu  GofHu^i  Tftd 

3  IS  eniHi^ern  und  lebhaftem  Gebrauch  seiner  Kräfte  aufgemuntert  (ftod, 
ancb  geiluäsert  hatte",  er  freue  sich ,  Schillern  gele^ntlicb  xu  enl- 
wickeln,  was  ihm  dessen  Unterhaltung  gewahrt  hnbe,  wio  t-r  \  i 
jenen  Ta^^eu  an  auch  eine  neue  Kpoche  rechne,  und  wie  /ufniüc^i 
er  sei,  ohne  sonderliche  Aufmunterung,  auf  seinem  Wege  forigcganron 
'/.u  sein,  da  es  nun  scheine,  als  wenn  sie  beide,  nach  einem  an  un- 
vennutheteu  ßogogueu,  mit  einander  fortwandern  müssten;  erwieiierte 
Schiller  wenige  Tage  darauf":  „Wie  lebhaft  auch  immer  mein  Vc^ 
langen  war,  in  ein  näheres  Verhältniss  zu  Ihnen  zu  treten,  all 
/.witschen  dem  Geist  des  Schnftslellcrs  und  seinem  aufmerkiaiBei 
Leser  möglich  ist,  so  hegreife  ich  doch  nunmehr  voUkommcsi,  da» 
die  sehr  verschiedenen  Bahnen,  auf  .deuen  Sie  und  ich  waH'h't'r 
unH  nicht  wohl  früher,  als  gerade  Jetzt,  mit  Nutseu  zusammeiti>.ii  . 
konnten.  Nun  kann  ich  aber  hoffen,  dass  wir,  so  viel  von  drin 
Wege  noch  übrig  sein  mag,  iu  Gemeinschaft  durchwandeln  wer>lf^ 
und  mit  um  so  grOsserm  Gewinn,  da  die  letzten  Gefjlhrten  ani  ■ 
langen  Reise  sich  immer  am  meisten  zu  sagen  haben.*'  [>rci  Jahre 
8]>Äter  schrieb  Goethe  während  seiner  Schweizerreise  au  Schiller' 
,,Fnr  uns  beide,  glaub*  ich^  war  es  ein  Voilheil,  dass  wir  später  ttsJ 
gebildeter  zueammentrafen";  und  noch  lange  Zeit  nadihor.  im  Jibit 
1829.  äusserte  er  gegen  Eckerraann^':  „Uei  meiner  BekauDt^clitA 
mit  Schiller  waltete  durchaus  etwas  Dämonisches  ob;  \^\r  konntco 
früher,  wir  konnten  sp.lter  zusammengeführt  werden;  nber  diws  vir 
es  gerade  in  der  Epool»e  \vurdcn,  wo  ich  die  italienische  Reise  biolcr 
mir  hatte,  und  Schiller  der  philosophischen  Speeulalioneu  mUde  xu 
werden  anfieng,  war  von  Bedeutung  und  für  Beide  vom  gi '  '  -  * 
folg."  Schillers  ganze  Ideeumasse  war"  glei'^h  durch  jene 
tungen  in  der  Mitte  des  JuH  in  Bewegung  gebracht  worden,  denn  sif  b^ 
trafen  einen  Gegenstand^  der  ihn  seit  etlichen  Jahren  lebhaft  l)CMhl/- 
tigte.  ,TUeber8o  manches",  heisst  es  weiter,  „worüber  icli  mit  mir»ell»tf 
nicht  recht  einig  werden  konnte,  hat  die  Anschauung  Ihres  Geistei- 
denn  so  muss  ich  den  Totaleindruek  liirer  Ideen  auf  mich  nennen  -  an 
unerwartetes  Licht  in  mir  angesteckt.  Mir  fehlte  das  Object,  der  KOrpff. 
zu  mehremspecuhitivischen  Ideen,  und  Sie  brachten  mich  auf  die  >]''- 
davon"".   Als  er  sich  wieder  zu  poetischen  Arbeiten  wandle,  cmitiü»" 


28»  I.  20  f  U9}  I.  25.         30)  a.  279.  31 1  Gespräche  mit 

2.  W»  f.  32t  Wie  er  au  üoethe  am  2:i.  August  ITftl  Bchrieb  (I.  I2i    '^^ 

fuUre  hier  zur  weiteren  Begründung  dessen^  was  ich  srlion  ol>en  illl,  t4S  I    '^ 
129  f.)  ober  den  Gewinn  angedeutet  habe,   den   Weide  l»icbter  im  Gaiuten  ößdi** 
fiesoaderu  aus  ihrer  Verbindung  für  sieh  und  ihre  dichterische  Wirksankeitf' 
logen  haben,  nur  einige  darauf  bezugliche  Uaupt:!iteUeu  aus  ihren  Hnefea  u 

33l  Vgl.  damit,  was  Schiller  im  Jauuar  ITnö  schrieb,   als   er  die  «nlfß  ^ 
den  Dacher  des  ..Wilhelm  Meister'  gelesen  hotte,  I,  tfs  t 


twickeluagsgangd.  Literatur.  1773— 1832.  Goethe  und  Schiller.  DieHoren.    411 


■ttwickelubgsg 

kn  bald  ganz  erstaunlich,  was  Goethe^s  nilbereg  Einwirken  auf  ilin  §  31S 
P^SiB  TerÄndert  habe,  und  obgleich,  meinte  er,  an  der  Art  und  dem 
rermögcn  selbst  nichts  anders  gemacht  werden  könne,  so  sei  doch 
ine  grosse  Liluterunjs  mit  ihm  vorgregangen  ^\     Dann  fand  er",  dass 
iu  mehrwöchentlicher  Besuch  Goethe's  in  Jena  wieder  vieles  in  ihm 

r^e  bauen  und  gründen  helfen.  „Sie  gewöhnen  mir*',  schrieb  er 
Goethe,  „immer  mehr  die  Tendenz  ab,  —  die  in  allem  Praktischen 
md  besonders  PoctiachcD  eine  Unart  ist  —  vom  Allgemeinen  zum 
ndividuelleu  zu  gehen,  und  fuhren  mich  umgekehrt  von  einzelnen 
•"allen  zu  grossen  Gesetzen  fort.  Der  Punct  ist  immer  klein  und 
in^,  von  dem  Sie  auszugehen  jtflogon^  aber  er  führt  mich  ins  Weite 
md  macht  mir  dadurch  in  meiner  Natur  wohl,  anstatt  dass  ich  auf 
^Di  andern  Weg,  dem  ich,  mir  selbst  überlassen,  so  gerne  folge, 
■mer  vom  Weiten  ins  Enge  komme  und  das  unangenehme  Gefühl 
(»be,  .mich  am  Ende  ilrraer  zu  sehen  als  am  Anfang."  Worauf 
Ipetbe  erwiederte*':  „Wenn  meine  Natur  die  Wirkung  hat,  die  Ihrige 
B  Begrenzte  zu  ziehen,  so  habe  ich  durch  Sie  den  Vortheil,  daas 
S  auch  wohl  manchmal  über  meine  Grenze  hinaus  gezogen  werde, 
venigstens,  dass  ich  ni^ht  so  laufre  mich  auf  einem  so  engen  Fleck 
lerumtreibe."  Von  zwei  andeni  Stellen  ihrer  Briefe,  in  denen  beide 
dichter  sich  Ober  ihre  wechselseitige,  die  Verschiedenheit  ihrer  beider- 
teitigen  Naturen  ausgleichende  und  ihre  geistigen  Kräfte  für  die  dicbte- 
iache  Prodiiction  steigernde  Einwirkung  ausgesijrocben  haben,  lautet 
iie  in  Schillers  Brief":  „Ich  kann  nie  von  Ihnen  gehen,  ohne  xlass 
etwas  in  mir  gepflanzt  worden  wäre,  und  es  freut  mich,  wenn  ich  für  das 
Viele,  was  Sie  mir  geben,  Sie  und  Ihren  Innern  Reichthum  in  Be- 
£gung  seteen  kann.  Ein  solches  auf  wechselseitige  Perfectiliilitflt 
(bautes  Verbältniss  muss  immer  frisch  und  lebendig  bleiben  und 
rade  destomehr  an  Manuigfaltigkcit  gewinnen,  je  harmonischer  es 
d,  und  je  mehr  die  Entgegensetzung  sich  verliert,  welche  bei  so 
elen  andern  allein  die  Einförmigkeit  verbindert . .  .  Die  schönste 
d  die  fruchtbarste  Art,  wie  ich  unsere  wechselseitigen  Mittheilungen 
uiitze  und  mir  zu  eigen  mache«  ist  immer  diese,  dass  ich  sie  un- 
ittolbar  auf  die  gegenwärtige  Beschäftigung  anwende  und  gleich 
Mactiv  gehrauche.**  Goethe  dagegen  schreibt^":  „Das  gUnstige 
twammentrefTen  unserer  beiden  Naturen  hat  uns  schon  manchen 
f>nlidl  verschafft,  und  ich  hoffe,  diess  Verbältniss  wird  immer  fort- 
»keü.  Wenn  ich  Ihnen  zum  Repräsentanten  mancher  Ohjecte 
^«ttte,  so  haben  Sie  mich  von  der  allzu  strengen  Beobachtung  der 


M)  Brief  aus  dem  Angust  lT9ü.    Bd.  %  1S3  f.  33)  Brief  am  19.  Juni 

^*    Bd.  3.  124.  3Ö)  3,  129.  37)  Aas  dem  Job  17V»7.    M.  3»  Itlü  f. 

ÜB)  Im  Januar  1799.    Bd.  4,  11. 


412    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrbimderts  bis  ru  Goethe*s  Tod. 

31S  äussern  Dinge  und  ihrer  VerbaltnissC  auf  mich  seihst  zurdckgefnlirt. 
Sie  haben  mich  die  Vielseitigkeit  des  inuern  Menschen  mit  melir 
Billigkeit  anschauen  gelehrt,  Sie  haben  mir  eine  zweite  Jugend  Tc^ 
schafft  und  mich  wieder  zum  Dichter  gemacht,  welches  zu  sein  ick 
80  gut  als  aufgebort  hatte'*'*.  Es  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel, 
da88  als  Dichter  Schiller  mehr  durch  Goethe,  als  Goethe  dnrrli 
Schiller  gefördert  worden  ist.  Allein  was  W.  v.  Humboldt**  zutiÄcb«! 
über  das  VerhfiUniss  bemerkt,  in  welchem  Schiller  sich  zu  Kant  lu 
behaupten  wusstc,  das  lässt  sich  ganz  ungethcilt  auch  auf  sein 
innerstes  Verhalten  zu  Goethe  anwenden,  ja  es  ist  darauf  wobl 
hauptsächlich  von  Humboldt  selbst  mit  angespielt.  ,jE»  lag*\  sa^i 
dieser,  ,,in  Schillers  Eigcnthümlichkeit,  von  einem  grossen  Gwite 
neben  sich  nie  in  dessen  Kreis  hinübergezogen,  dagegen  in  dem 
eigenen,  selhstgeschaffenen  durch  einen  solchen  Einfluss  auf  du 
mächtigste  angeregt  zu  werden  .  .  .  Sich  fremder  Individualität  niclt 
untcrauordnen,  ist  Eigenschaft  jeder  grösseren  Geisteskraft.,  jede? 
stärkern  GemÜths,  aber  die  fremde  Individualität  ganz,  als  verscbiedea 
zu  durchschauen,  vollkommen  zu  würdigen  und  aus  dieser  bewundern- 
den Anschauung  die  Kraft  zu  schöpfen ,  dje  eigene  nur  noch  ent- 
schiedener und  richtiger  ihrem  Ziele  zuzuwenden,  gehört  wenigen  « 
und  war  in  Schiller  hervorstechender  Charakterzug*'".  —  Die  BlDthc» 
und  Früchte  des  Bundes  beider  wurden  der  Nation  zunächst  in  ilen 
„Hören"  und  in  einem  neuen,  gleichfalls  schon  im  J.  1794  von  beiden 
Dichtern  in  Aussicht  genommenen  „Musenalmanach'*",  s^Klann  aber 
in  einer  glänzenden  Reihe  grösserer,  einzeln  herausgegebener  poe 
tischer  Werke  dargeboten. 


I 


39)  Vgl  hierzu  in  den  Briefen  Schillers  an  Goethe  3,  317;  4.  ^t  aa  KAtmk 
4,  21;  66  und  an  W.  v.  Humboldt  S.  A{\0  ff.  40)  In  der  Vorcrinnwnng  w 

seineni  Briefwechsel  mit  Schiller  S.  51  f.  41)  Vgl.  auch  Hoffmeiäter.  i^cÜQtfi 
Leben  4,  3I>h  ff.  42)  Die  erste  Andeutung  von  Schillers  Abtiicht.  mit  GokHc 

einen  neuen  Musenalmanach  zu  begründen,  findet  sich  in  ihrem  Briefwechsel  Ofitff 
dem  20.  Octbr.  17U4  {\,  52).  Schiller  berichtet  hier,  er  habe  wegen  des  HvK» 
almanachs,  von  dem  er  Goethen  neulich  in  Weimar  schon  cra&hU  (vgl.  dam  in 
Brief  W.  T.  Humboldts,  den  er  au  Schiller  in  der  Zeit  tou  dessen  erstem  BcnA 
bei  Goethe  Ton  Jena  aus  schrieb  S.  1 07).  mit  einem  Buchh&ndler  ordentlich  eoatn» 
hiert,  and  ex  werde  künftige  Michaelismessc  erscheinen.  Auf  Qoetbe's  Btftstad 
werde  da1>ei  sehr  gerechnet.  In  der  Antwort  vom  2ti.  Octbr.  (t,5M  macht  QoctW 
schon  den  Vorschlag,  seine  venetianischen  Epigramme  in  den  Almansch  vvn- 
rücken.  In  den  Tag-  und  Jahresheften  erzählt  er  iWerke  31,  r>4  f.):  ..ScfaBIcn 
grenzenlose  ThAtigkeit  hatte  uicben  der  Herausgabe  der  Hören)  den  Guteka 
eine«  llnsenalmanachs  gcfasst,  einer  poetischen  Sammlung,  die  jener,  meist  fi«- 
MÜtchen,  vortheilhaft  zur  Seite  stehen  konnte.  Auch  hier  war  Ihin  daa  ZotnaM 
seiner  L&ndsirute  günstif;.  Die  guten  strebsamen  Köpfe  neigten  sich  ni  fidi.  fi 
scbickte  sich  übrigens  trefflich  zu  einem  solchen  Kedacteor;  den  ioncn  W06 
eines  Gedichts  Übersah  er  gidch.  nnd  wenn  der  Terfasser  sich  zn  «dtltaMf  ms- 


i:lntwickeluiigsguig  d.  Literatar,  1773—1832.  Goethe  und  Schiller.  Dielloren.    413 

r§  319. 
Die  Aoktludigung  der  Goren  musate  im  Publicum  sehr  Lohe  Er- 
wartungen erregen.    Man  durfte  hoffen,  dasa  sich  an  ihnen  alles. 
was  Deutschland  an  vorzQglicben  Kräften  in  den  Gebieten  der  schönen 
Literatur,  der  Philosophie  und  der  Geschichte  besass,  tbätig  betheiligeu^ 
dass  das  darin  Dargebotene,   ohne  der  Kunst  und  der  Wissenschaft 
etwa»  von  ihrer  Hoheit  und  Würde  zu  vergeben,  auch  einem  grossem, 
bildungsfähigen  Leserkreis,  nicht  bloss  den  Höchstgebildeten  in  der 
Kaiion  willkommen  sein,  und  dass  diese  somit  eine  Zeitschrift  er- 
balten würde,   wie  sie  zeither  noch  keine  besessen  habe.    Schiller 
i     selbst  glaubte  sich  nach  der  Bereitwilligkeit,  womit  seine  Einladung 
an  die  Schriftsteller,  von  denen  er  Beiträge  wünschte,  aufgenommen 
wurde,  und  nach  dem  Interesse,  welches  die  bedeutende  Zahl  der 
gleich  anfänglich  bestellten  Exemplare  in  dem  Publicum  voraussetzen 
Hess,   den  besten  Erfolg  von  seinem  Unternehmen  versprechen  zu 
^^JOrfen'.    Aber  dem  vielverheissenden  Anfange  entsprach  in  keiner 
^f^eise  der  Forlgang.     Vieles   traf  nach  und  nach   zusammen,  wiih 
'     einerseits  die  Zeitschrift  ihrem  Inhalte  nach  von  der  Höhe  herabzog, 
von  der  sie  ihren  Ausgang  nahm,  und  auf  der  sie  sich  in  der  ersten 
Zeit  auch  noch  hielt,   andrerseits  sich  der  Wirkung,  auf  die  es  bei 
^■Ibr  hauptsAchlicb  abgesehen  war,  gleich   von  vom  herein   in   den 

f  ftÜ 


^Auc 


gethui  hftUe  oder  nicht  endigen  konnte,  irusste  er  das  Ueberflüssige  schnell  auszu- 
ftüQtlem.  Ich  Bah  Ihn  jwohl  ein  Gedicht  uuf  ein  Drittheil  Strophen  reduciercn, 
wodurch  es  wirklich  branchbar  ward,  ja  bedootend**.    Ausser  den  bereits  S.  t2'.i. 

omerk.  *;1  genaunten  Dichtern  lieferten  zu  den  dort  ebenfalls  schon  bezeichneten 
f  Jahrgangen  des  schillerschen  Musenalmanachs  von  bekanntem  Schriftstellern 
und  SchhftsteUerinuen  noch  poetische  Beiträge  Conz,  PfeS'el,  Weltmann,  Kose- 
ffutexL,  Hölderlin,  Langbein,  Matthisäon,  W.  v.  Humboldt,  GrieafTieck,  VermehreQ, 
V.  Steigentescb.  Sophie  Mereau  und  Amalie  von  Imhof. 

§  3l9-  1)  „Wenn  es  uns  gelingt,  wie  ich  mir  gewisse  Hoffnung  mache'S  hatte 
er  am  12.  Juni  U'.U  an  Kömer  geschrieben  (^,  175),  „dass  wir  eine  Auswahl  der 
bnten  homanisUschen  Schriftsteller  zu  diesem  Journale  vereinigen,  so  kann  es  an 
einem  glücklichen  ,KrfoIg  bei  dem  Publicum  gar  nicht  fehlen".  Drei  Wochen 
ipfctAr  hielt  er  sich  des  Beistandes  einer  Anzahl  ausgezeichneter  Mitarbeiter  schon 
n  versichert,  dass  er  gegen  den  Freund  äusserte  (ri,  1S1):  es  lasse  sich  zu  einer 
userlcBCnenSocietätan,  dergleichen  In  Deutschland  noch  keine  zusammengetreten 
Mit  ond  das  gemeinschaftliche  Product  derselben  könue  nicht  anders  als  gut  aus- 
UOen.  Dann  heisst  es  in  einem  Briefe  vom  25.  Januar  1795  (3,  242):  „Zum  Ab- 
Mtz  der  Hören  lasst  sich  alles  gut  an.  Ich  erholte  eine  Nachricht  über  die 
Modert,  dass  in  sehr  kleinen  Städten  zwölf  und  mehrere  Exemplare  bestellt  sind. 

ucb  schreibt  mir  Cotta  äusserst  zufrieden  und  schliesst  aus  den  bcreEU  gemachten 
telluogeu,  dass  der  Absatz  glänzend  sein  werde*'  {vgl.  den  Briefwechsel  mit 
Goethe  1.  102).  Ende  Januars  waren  bald  tausend  Exemplare  bestellt  und  im 
April  war  Cotta  nicht  weit  von  achtzehnbundert  imd  üusserst  zufrieden  U^nef- 
WAciuel  mit  Körner  3,  245;  201;  mit  Uoethe  U  l3t;  U5  f.). 


wm 


414    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des,  XVm  Jahrbtmderts  Us  ra  Oaite'i  1<4 


§  319  Weg  stellte,  die  grosse  Mehrzahl  ihrer  anfanglichen  LttV 
einnahm  und  ihr  ah  wandte,  bald  auch  Schiller  selbst  um 
liehe  Fortführung  seines  Unternehmens  bange  machte,  seinen  Eiftf 
daftlr  abkühlte  und  ihn  endlich  bestimmte,  die  Hören  mit  dem  ScbloM 
des  dritten  Jahrgangs  ganz  eingehen  zu  lassen.  Ihren  Hauptwerrb 
und  ihren  schönsten  Schmuck  verliehen  ihnen  van  Anfang  an  di« 
prosaischen  uud  poetischen  Stücke,  die  von  Schiller  und 
selbst  herrührten;  und  fast  alle  ihre  bedeutenderen  ßeitrigei 
nicht  Uebersetzuugeu  oder  Auszüge  fremder  Werke  waren, 
nicht  weit  Über  den  ersten  Jahrgang  hinaus.  Au  Ucbcrsetznni 
und  Bearbeitungen  lieferte  Schiller  die  „Denkwürdigkeiten  au«  d«B 
Leben  des  Marschalls  von  Vieilleville"";  Goethe  die  V'erdeutscbui 
(oder  bloss  Ueberarbeitung  einer  Uebersetzung  von  anderer  Haml' 
eines  grieebiBcben  Hymnus  ,,Auf  die  Geburt  des  Apollo"';  die  Uebcr 
Setzung  eines  „Versuchs  Über  die  Dichtungen,  aus  dem  Französiscbtt 
der  Madame  Stacl** ',  und  die,  mit  Auslassung  mancher  Stelleo,  flbcr- 
setzte  Selbstbiographie  des  „Benvenuto  Cellini"'.  An  kuustpbilo- 
sophischen  Arbeiten  brachte  der  erste  Jahrgang  von  Schiller  die 
Briefe  ,,übcr  die  ästhetische  Erziehung  des  Menschen'**,  die  Abhxwl- 
lung  „über  die  nothwendigen  Grenzen  beim  Gebrauch  schöner  For- 
men''', und  den  ersten  Theil  der  Abhandlung  ,,flber  naive  und  b»* 
timentaliscbe  Dichtung'**,  äodann  den  historischen  Aufsatz  über  „die 
Belagerung  von  Antwerpen'"*  und  an  poetischen  Stücken  „das  Rot^ 


2)  Id  Wer  Stocken  der  zweiten  Hälfte  vou  dem  Jahi^ng  1797;  r^.M^ 
wecbüel  mit  Goedie  2.  106;  3.  2&  f.;  123.  3i  1795.  St  9;  rgl.  Kieniart  tfi- 

thetlunK«!  2,  (130  f.  4|  17116,  St.  ?.  5)  In  7  Stücken  des  Jfthrguei  HW 

und  in  &  Stücken  des  J&lirgangs  1797.  vgl.  Brief«  von  nnd  anOoeihe  etc.  kerM 
gegel>en  von  Riemer^  Leipzig  1 816.  S.  24  f. ;  Briefwechsel  mit  Schiller  2.  224  ni 
Riemer,  Mittheilungen  2,  5^19  f.;  die  vollständige  Uebersetzung  prvchien  flfitii 
dner  besonderu  Ausgabe:  „Lehen  des  Benvenuto  CelUni,  florentiuiscben  GoU' 
MhmiedB  und  Bildhauers,  von  ihm  selbst  geschrieben.  Cebersetzt  ntul  mit  atav 
Anhange  herausgeg.  von  Goethe".  Tübingen  iWS.  2  Thle.  s.  I>«r  „Dmui— tl 
Celäni  Eine  Geschichte  des  XVI.  Jahrhunderts'* etc.  Bcaunschwaig  IfiOl,  STkIa 
6.  war  ein  ohne  Goethe^s  Vorrissen  veranstalteter  Abdruck  dessen,  was  b  Ab 
Hören  erschienen  war  6)  VglS.  12Soben;  343 ff.  und  dazu  333 ff.  l)üm 
dieser  Ueberschrift  ist  sie  in  die  Werke  (^.  2, 1  ff. ;  GAdekc  I  ü,  3S7  ff.  i  vatgmaamm; 
in  den  Hören  erschien  sie  in  zwpi  Abtheilungen  anter  verschiedene  UcbenokrlftS; 
„Von  den  nothwendigen  Grenzen  des  Schönen,  besonders  im  Vortrag  pkiloMpfaitfiiV 
Wahrheiten"  U7y5,  St.  ii),  und  ..Ueber  die  Geiahr  isthetiacher  Sitten"  <I7S4. » 
11);  vgl.  oben  S.  353  und  Briefwechsel  mit  Körner  3,  311.  Sf  Vgl  S.  12^  nsd 
353  ff.  9)  .^ferkwOrdig«  Belagerung  der  Stadt  Antwerpen  Ia  den  Jakn* 

1584  und  IS8&".  Schiller  cntschloss  sieb  zu  der  schjiellen  und,  wie  er  ^tfMb 
wenig  mOhevoUen  Arbeit  schon  im  Sp&tiicrbst  17^1.  zun&chst.  damit  e«  iiicU  v 
Manuscript  für  das  erste  Stock  der  Hören  fechten  sollte,  dann  auch  tor  Emi^'^ 
des  kleinen  Kebenxwecks,  dass  schon  in  diesem  Stück  das  kittorischc  Feld  WmI^ 


ickelongsgaug  d.  Literatur.  i:73— lbJ2.  Goethe  und  SchüJer.  DieUonn.    -115 


Schatten"'",  späteruntei  der  AufHcLrift  „dns  Ideal  und  das  Leben**, 
jlches  Gedicht  in  den  Hören  die  Reihe  der  didukÜBch- lyrischen 
Elcke  eröffnet,  in  denen  Schiller  von  der  Speculation  wieder  znr  Poe- 
>  Übergien^",  und  in  denen**  sich  die  sonderbme  Mischung  von  An- 
bauen und  Abstraction,  die  in  Schillers  Natur  war,  nun  in  vcdl- 
rmencra  Gleichgewicht  zeigte'';  die  „Elegie"  ^der  Spaziergang"), 
Schiller  unter  allen  seineu  Sachen  für  diejenige  hielt,  „welche 
meiBte  poetische  Bewegung  hat  und  dabei  dennoch  nach  strenger 
veckmässigkeit  fortschreitet"'^  und  die  ihm  das  dichterischste  seiner 
'oilucte  schien",  nebst  einer  nicht  unbeträchtliclien  Anzahl  anderer 
(laktisch-lyrischer  oder  epigrammatischer  Gedichte,  wie  „Natur  und 
lule"  (später  der  „Genius"  betitelt  *'),  „das  verschleierte  Bild  zu 
";  „die  Theilung  der  Erde"  und  anderes**.  Von  Goethe  brachte 
erste  Jahrgang  seine  beiden  „Epistehi",  beide  im  Jahre  1794 
chtet*",   die  ,, Unterhaltungen  deutscher  Ausgewanderten",  nebst 


319 


iBriefwechBel  mit  Goethe  I,  6^));   sie  verzögerte  sich  aber  bis  ins  Frühjahr 

^^  (a.  a.  0.  I»  75  f.:   71»;   132  f.)  und  erschien  daher  erst  ira  \.  und  5.  Stück 

H  Jahrgangs^  U»)  Vgl.  S.  120.    Ks  ersclden  im  ».  Stück.  11)  Dos 

wt«  Toa  allen,  „Poesie  des  Lebens".  Werke  0,  1,  'isef.,  erschien  erst  ira  Musen- 

^moMh  fbi  das  J.  179».  12)  Wie  Goethe  an  ihn  im  Herbst  1795  schrieb: 

■KT  f.  13)  Schiller  selbst  hielt  es  in  dieser  Zeit,  und  bevor  er  die  Elegie 

dr  Spftsiergang'*  vollendet  hatte,   für  sein  poetisches  Hauptwerk,  das  er  je  ge- 

BMht  habe  (Brief  an  Krtmer  3,  281  f.).   W.  von  Hnmboldt  war  ganz  hingerissen 

*l&vo&:  es  war  Ihm  ein  Muster  der  didaktisch-lyrischen  Gattung  und  der  beste 

S**»ff,  die  Krfordemisse   dieser  Dichtungsart   und   die  Eigenschaften,    die   sie  im 

iHcht»  Torausseizt.   daran  zu  entwickeln  (vgl.  seinen  Brief  an  SchiJIer  S.  UOff., 

d*niii«D  Briefwechsel  mit  Körner  3.  2^7  f.;   2*11.    A.  W.  Schlegels  Beurtheilung 

>Q  Gedichts  und  der   übrigen  poetischen  Sachen  im  I.— lo.  Stnck  der  Hören 

^  weiter  unten  naher  l>ezeichuet  werden).    Vgl.  noch  Humbert,  die  Ideale  und 

'Leben,  im  Archiv  f.  d.  Studium  d.  ucucren  Sprachen  37,  253-300. 

)  Sie  erschien  im  Ht   Stück.  15)  Brief  an  Körner,  dem  er  sie  handschrift- 

k den  21.  Sept.   lTii5  sandte  13,  291).  IG)  3.  2in.     Humboldt  fand,  dass 

kägtieh  stark    da.s   I.elH^n  wirke,   das    diess   unbegreiflich  schön   organisierte 

^  beseele;  das  Gedicht  habe  den  reichsten  Stoff,   und  überdiets  gerade  den, 

ilmif  seiner  Ansicht  der  Dinge  nach,  immer  am  nächsten  liege;  das  eigentliche 

MUche  Verdienst  scheine  ihm  darin  sehr  gross,   fast  in  keinem   andern  von 

Utler  seien  Stoff  uud  Form  so  mit  einander  amalgamiert,   erscheine  alles  so 

rchaus  als  das  freie  Werk  der  Phantasie  (vgl.  den  Brief  vom  2:1.  Octbr.  1795, 

J4Tffj.    Welchen  grossen  Fortschritt  in  der  wahrhaft  dichterischen  Production 

>nier  gfTode  in  dieser  F.legie  gemacht  hatte,  merkte  er  selbst  an  sich  uud  an 

ern,  auf  deren  UrtheÜ  er  etwas  geben  konnte,  wie  aus  seinem  Briefe  an  Hum- 

tS.  :11s  ff.  erheUt.  I7i  Werke  y,  I,  221  ff.  IS)  Die  Stocke  hi  den 

■rtea  9.   I,  224;  205;  l'ffl;   243b;  244b;   2:nd;  204a;  2;ne;  277  ff.;  2:i7c;  2S5; 

;235a;  20fi;  23:*;  irt7;  2:»tic.  UD  Die  erste  erhielt  Schiller  druckfertig 

2S.  Octbr.  (Briefwechsel  l,  H6)   und  eröffnete  mit  ihr  das  erste  Stück  der 

«a;  die  andere,  weiche  im  2.  Stucke  erdchien,  am  23.  Uecbr.  (i ,  yo).    Kine 

KiftoUte  folgen,  blieb  aber  aas. 


416    VL  Vom  zweiteu  Viertel  des  XVIU  JaOirhundcrU  bis  zu  Ooeüw't  Ted. 


§  319  dem  ihnen  angehängten  „Märchen"*"  und  die  „römischen  Elegien 
Jene  wurden"  hereits  im  J.  1793  entworfen".  Der  Entwurf  kaou 
damals  aber  nicht  ganz  so  gewesen  sein,  wie  er  später  auageföhrt 
wurde,  sofern  die  „Geschichte  des  ehrlichen  Procurators**  gleich  tob 
Anfang  an  in  den  „Unterhaltungen"  erzählt  werden  sollte.  Denn 
an  die  Ausarbeitung  dieser  Erzählung  wollte  Goethe  im  HerhÄt  17^4 
zuerst  gehen,  als  er  die  Einleitung  zu  den  Erzählungen  überhÄupi 
entweder  schon  ganz  oder  doch  zum  guten  Theile  ins  Reine  gebracht 
hatte.  Ueher  den  „Procurator'*  nämlich,  als  einen  Beitrag  zu  den 
Hören,  wird  gleich  im  October  1794  zwischen  Schiller  und  Goeibe 
verhandelt";  vier  Wochen  später  ist  die  Einleitung  bis  zur  lotttea 
Durchsicht  und  Glfittung  fertig,  und  am  5.  Decbr.  geht  sie  an  Schiller 
als  druckreif  ab".  Zugleich  aber  kündigt  Goethe  nun  die  Ab«kht 
an,  unter  dek*  Voraussetzung,  dass  sie  nicht  schon  zu  bekannt  sa, 
zunächst  eine  gcspenstermässigc  Mystiticationsgeschichte  auszuarbei 
die  der  franzosischen  Schauspielerin  Clairon  begegnet  sein  solle 
Erzählung  von  der  Sängerin  Antonelli),  und  diese  unmittelbar 
jene  Einleitung  folgen  zu  lassen.  Wirklich  macht  er  sich  auch 
an  diese  und  die  sich  daran  schliessenden  drei  Geschichten**;  tob 
dem  Procurator  ist  erst  wieder  gegen  Ende  des  Februar«  1795 
Rede  und  vier  Wochen  darauf  erhielt  ihn  Schiller  zur  Absenduog 
Gotta*".  Die  letzte  Erzählung  und  das  Märchen  wurden  dann 
Sommer  1795  ausgearbeitet  und  der  Schluss  des  letztem  den  26.  Sfpt 
an  Schiller  abgeliefert*^.  Was  die  römische  Elegien  betrifft,  »o 
wie  Goethe  1790  berichtet**,  ihm  „angenehme  häuslich-gesellige  Vi 
hältnisse^  Math  und  Stimmung",  dieselben  ,, auszuarbeiten  und 
redigieren.**  Ihrer  Eutstehung  nach  reichen  sie  aber  etwas  weit 
zurück.  Möglich,  dass  schon  im  Winter  1788—89"  ein  Anfang  d 
gemacht  wurde;  doch  dürfte  jety.t,  nachdem  die  Briefe  ,,Aus  E 
Nachlass"  etc.  erschienen  sind,  kaum  mehr  bestritten  werden  köi 
dass  Goethe  vornehmlich  erst  im  Sommer  17S9,  nachdem  er  «ki 
TasBo  vollendet  hatte",   diese  „Erotica  Romana",   wie  die  degiea 


M 


2U)  Vgl. S.  292 unten.       21 1  Kacb Riemers MitthoUungeD  2,60t.      SStOotU». 
selbst  fuhrt  sie  (31,  'i4).  oebst  „den  Aufgeregten'*,  aJs  In  diesem  Jahre  eatvi 
auf.  23)  1,  60;  63.  24)  I.  60;  CS;  73  f.;  70  f.  25»  K  >';  W^ 

101.  26)   I.  116  f.;  127;  134;  136.  27)  I,  173;  Hlü;   IW;  M2; 

'lt2  ff.  —  Ueber  die  Qaelleo  der  ia  die  Unter baltuDgen  eingerllcktca 
Tgl.  Ouhrauer  im  Anzeige-Blatt  der  Wiener  Jahrbücher  Bd.  116  und  dun 
Studien  etc.  if.  13  ff.  2S)  In  den  Tag-  und  Jahresheften:  3!,  14. 

29)  D.  b.  sein  VerbiÜtuta&  mit  ChristiaDC  Vulpius,  seiner  nachbcrigrn  tiftüü- 

30)  Wie  Dunlzer  (Allgemeine  Monatsschrift  fOr  Wissenschaft  and  |1 
1^2,   Febr  S.  13t:.   und   Guethe's  Tasso  etc.  S.  35|   mit  Scholl  uutfhaa 
mÜBton  meint.  31»  Den  12.  Juli,  vgl.  S.  270. 


luagsgaogd.  Literatur.  1773—1832.  Goethe  und  Schiltcr  Dielloren.    417 

'der  Originalliandschrift  betitelt  sind",  dichtete.     Am  2.   August  §  319 
it'breibt  er  iiämlieU  vou  Eisenacb  aus  an  Herder";  „Einige  Erotiea 
lind  gearbeitet  worden'*,  und  acht  Tage  nacbber,   wo  er  zu  Ruhla 

ITbUringer  Walde  verweilte^*:  „Wie  sebr  freut  es  mich,  dass  Du 
i  Taaso  magst.     Die  zwei   letzten  Acte,   boflP  ich,  sollen  zu  den 
»n  geboren.     Dein  Beifall   ist  mir  reicdie  Belohnung  für  die  un- 
wbte  Sorgfalt^  mit  der  ich  das  Stück  gearbeitet  habe.    Nun  sind 
frei  von  aller  Leidenschaft,  solch  eine  cousequeute  Compositiou 
unternehmen.     Die  Fragmontenart   eroti.scber  Spässc   bchagt  mir 
lt6&8er.     Es  sind  wieder  einige  bearbeitet  wordeiu    Hier  sind  wir  in 
lern  Laude  der  berühmten  Bergnymphen ,   und  doch  kaun  ich  Dir 
rereicheni,  dass  ich  mich  herzlich  nach  Hause  BebnC;  meine  Freunde 
und  ein  gewisses  kleines  Eroticon  wieder  zu  finden,  dessen  Existenz 
lie  Frau  Dir  wohl  wird  vertraut  haben."    Als  er  im  nächsten  FrUh- 
iahr  in  Venedig  war,  schrieb  er  von  da  am  3.  April":  ,, Meine  Elegien 
^d  wohl  zu  Ende;  es  ist  gleichsam  keine  Spur  dieser  Ader  mehr 
ir.    Dagegen  bring'  ich  Euch  ein  Buch  Epigramme  mit,   die, 
ich,  nach  dem  lieben  'schmecken  sollou/*     Bereits  in  demselben 
Ire  war  er  nicht  abgeneigt,  die  Elegien  herauszugeben,  uuterliess 
iaber  auf  Herders  Rath*.    Für  die  Hören  wurden  sie  dann  uocb- 
oiuer    Durchsicht    und    Verbesserung   unterworfen".     Schiller 
:lite  sie  gleich  f(U*  das  erste  Stück",  sie  erschienen  jedoch  erst  im 
rten,  mit  Auslassung  zweier".    Ausser  den  Episteln,  den  Uuter- 
Itungen  etc.  und  den  römischen  Elegien  '"  enthielt  der  erste  Jahrgang 
*ler  Hören  von  Goethe  noch  den  Aufsatz  , .Literarischer  Öanscülottis- 
"»ns"'^  ,1er  gegen  einen  Artikel  von  F.  L.  W.  Meyer"  gerichtet  war**, 
^r  zweite  Jabriran^c  enthielt  von   Schiller   nur  noch  den  zweiten 


32}  Düntzer  in  der  allgemeinen  Monatsschrift  IS&2,  Febr.  S.  U2.        33)  1, 1 12. 

34i  1,  113.  35)  U  US.  30)  BriefwechBel  mit  Knebel  1.  100. 

fj  Oricfwecbflel  mit  Schiller  I,  17;  50  f.  3St  l,  »11.  39)  Der  zweiten 

der  sectuiehQteu  der  UaadäcUrift ;  l,  142;  Ulf.;  151;  Riemer  bezeicimet  sie, 

Inoj^a  2,  6'i2,  als  „vcrf;in glichen  Inhalts,  aber  nothwendig  in  diesen  Kreis 

'l^*tig  und  eiu  Muster,  .wie  auch  solche  Materien  mit  Geist  und  Geschmack  im 

iWn  Stil  behandoll  werden  köuaen".  40)  Vgl.   über  die  Elegien  noch: 

die  antiken  Quellen  von  Goethc's  elegischen  Dichtungen,   in  den  Jabr- 

wrn  f,  Philologie  u.  Pädagogik  SS,  351  flF,;    UH  ff.;  451   ff.;   493  ff.;  Dnntzer. 

»e'B  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte,  ebenda  l»0,  ISO— 201;  und  Heller. 

le's  Elegien  und  Epigramme  und  ihre  Erklärer,   ebenda  »2,  .197  ff.;  4);ti  ff.; 

ff,:  ä&i  ö.        41 1  Im  3.  Stück :  Werke  4>.  127  ff.        42).,  Ueber  Prosa  und  Be- 

it  der  DeuUchen**,  im  MärzatUck  des  Jahrgangs  17U5  von  dem  zu  Berlin 

IcD  „Archive  der  Zeit  und  des  Geschmacks".  43 1  Auch  dieser 

Aufsatz  wurde  von  Nicolai  In  seiner  Schrift  über  die  Xeuien  lAnhang 

^  Fr.  Schillers  Musenalmanach  etc.  S.  i»2  f.)  benuut,  um  Goethe  und  Schiller 

•**»•  SDzahlkDgen. 

CntiulrU«.    h,  Aaft.     )V.  27 


418    VI.  Vom  «weiten  Viertel  des  XVm  Jahrhunderte  bis  zu  tJi>etlio'8  Tod 


§  319  Theil  der  Ahhandlung  ,,fiber  naive  und  sentimoi  '"  '  '^ 
und  den  Aufsatz  „über  den  moralischen  Nutzen  ä-- 
yon  Gf>ethe  „Briefe  auf  einer  Reise  nach  dem  Gotthardt"*; 
dritte  von  jenem  bloss  zwei  Gedichte  ** ,  von  diesem  gar 
Eigenes  mehr".  Auch  von  den  meisten  übrigen  Mitarbeitern, 
deren  Beistand  für  deu  g:edeihlichen  Fortgang  der  Zeitschrift 
ders  gerechnet  war,  erhielt  Schiller  im  Ganzen  nur  wenig 
und  werthvoUere  eigne  Arbeiten,  und  auch  diese  liefen  mehr  ia 
ersten  als  in  den  beiden  folgenden  Jahren  ein.  Von  Herden  m 
Aufsätzen  brachte  die  ersten  drei**,  „das  eigene  Schickual",  „Homer, 
ein  Günstling  der  Zeit"  und  „Homer  und  Ossian****  der  erate  Jal«^ 

44)  Im  -A.  Stück;  in  den  Werken  H.2, 195  ff.  iGödeke  10. 415  ff).  W 

S.  Stflck;  in  den  Werken,  aber  nicht  ganz  so  wie  zuerst  in  den  Hören,  als  xweil 
Iheihing  der  „Briefe  aus  der  Schweiz"  (Iß,  '2I9ff.).  Goethe  hatte  sie  schon  IXüoi 
redigiert,  dasg  er  fiie  in  dem  Kreise  der  Herzogin  Amalie  Torlesea  konnte 
Bncfe  anMerck  1835,  S.22S;  2:i5f.):  als  er  sie  im  Febr.  1706  an  Sobfller  unte, 
überliess  er  es  diesem,  davon  für  diolloren  zu  benutzen,  vras  ihm  puieDd sdiflMI 
würde,  nur  müestc  alles,  was  die  Personen  bezeichnete,  getÜgt  werden  (Briefwcdiri 
mit  Schiller  2,  27;  31  f.j.  46)  Im  10.  Stück  „die  Hofläjung"  und  ..dit  Be- 

gegnung" (Werke  9,  1^  192;  3  f.).  47)  Schiller,  der  sich  immer  mehr  nr 

poetischen  Thätigkeit  hingezogen  fQhltc,  interesai'^e  sich  bald  lebhafler  flkrdr 
Förderung  seiBes  Musenahnanachs  als  für  die  Iloren ,  vumnl  bei  die«en  w  wnk 
auf  dauernde  and  auBreichende  Unterstützung  von  seincQ  Mitarbeitern  zu  xiUa 
war.  tiereits  am  21.  Aug.  I7'J5  schrieb  er  an  Humboldt  (S.  159  f.):  „Sie  «imilcn 
sich  vielleicht  darüber,  daas  ich  noch  so  viel  für  deu  Almanach  thue  und  &kU 
eher  mich  der  Floren  annehme.  Aber  ob  ich  gleich  nicht  Willens  bin,  ^tu  il* 
manach  dem  jetzigen  Verleger  zu  lassen ,  so  halte  ich  diese  Kntreprise  dooh  fte 
solid  genug,  um  einen  Versuch  zu  macheu,  sie  in  Gang  zu  briogeo.  Bfii 
Uoreo  gebe  ich  zuweilen  die  Hoffnung  auf",  und  am  7.  Decbr  (S.  34ttJ; 
beklagen,  dass  ich  die  Hören  aufgeben  will,  und  tadeln,  dass  ich  mich  Toai 
philosophischen  Schrift«tellerH  zurückziehen  will.  Aber  Sie  thun  mir  Di 
wenn  Sie  glauben,  dass  mich  das  Publicum  allein  oder  auch  nur  vorzQgUcI 
lUMem  Entscbluss  bestimmte.  Mein,  I.  Fr.,  was  mich  dazu  bestimut,  bt  i 
die  unwiderstehliche  Neigung,  in  meinen  Arbeiten  keinem  fremden  0«*etz 
horchen  und  besonders  der  poetlscbeu  Thätigkeit  mich  vorzugsweise  eu  dl 
und  zweitens  die  schlechte  Unterstützung  von  Seiten  der  Mitarbeiter 
Hören".  N&chst  dem,  was  er  für  den  Almanach  dichtete,  beechiUltgte^ 
dem  Herbst  1796  auch  schon  sehr  sein  „Wallenatcin*^ ;  im  Januar  1797 
Kömer  dringend  (4,  li),  ihm,  wo  mögUch,  etwas  Gutes  und  Geistreicbes  in 
Eophischen  und  kritischen  Fach  für  die  Hören  zu  verschaffen .  da  er  dcsMB  IV 
dieses  Jahr  höchst  bedürftig  sei.  „Ich  selbst",  bemerkte  rr.  „kann  raeinnn  „WiBtf^ 
stdn**  jetzt  nicht  liegen  lassen  und  muss  also  für  die  Hören  unthAÜg  sein**-  5* 
wie  Schiller,  wurde  auch  Goethe  bald  zu  sehr  durch  andere  Arbeitoi  V09  t^ 
th&Ügen  Theilnahme  an  den  Hören  abgezogen.  In  der  ersten  Zeit  iiMcbM  S* 
noch  sein  „Wilhelm  Meister*'  zn  viel  zu  schaffen,  späterhin  bescbiftlgte  fts  ^ 
sondeTB  „Hermann  und  Dorothea";  zu  beiden  kamen  die  Gedicht«,  w«l<Äi«  fttr  d* 
Masenalmanach  bestimmt  waren.  4S)  in  den  Werken  zar  PhiloiOpUfti^ 

Gwchichte  >^.  9  ff ;  zur  schönen  Literatur  und  Kumt  10,  339  ff.;  IS.  7R 
49)  Das  3.  9.  and  10.  Stück. 


celaogsgAngd.  Literatur.   iTTa— IM2.  Goethe  und  Schiller   DieBoren.     419 

.tJ^,  den  vierten,  ,,I(lnna,  oder  der  Apfel  der  Verjüngung*''*  der  §  319 
?-eite*'.  Auch  schon  im  ersten  Jahrgänge'^  standen  „das  Fest  der 
ra»en*%  eine  „I>ichtung*'-in  ungebundener  Rede"  und,  bis  auf 
Mi,  alle  seine  kleinen  poetischen  Beitrüge  in  Versen,  die  zum 
ksten  Theil  blosse  Nachbildungen  von  StUckcn  der  griechischen 
hithologio  waren.  Fichte  lieferte  nur  einen  Aufsatz,  gleich  im 
ersten  Stück,  „Uober  Belebung  und  Erhöhung  des  reinen  Interesse 
tdr  Wahrheit";  W.  von  riumboldt,  ausser  der  Uebersetzung  einer  der 
pylhischen  Oden  Pindars",  zwei  Abhandlungen  fllr  den  ersten  Jahr- 
gang, „lieber  den  Gcschlechtsunterschied  und  dessen  Einfluss  auf 
die  organische  Natur""  und  ,, lieber  die  männliche  und  weibliche 
Form"**;  sein  Bruder  Alexander  auch  nur  eine  didaktische  Erzäh- 
lung, „die  Lebenskraft,  oder  der  rbodische  Genius"";  F.  IL  Jacobi 
ebenfalls  bloss  einen  Beitrag,  „Zufällige  Ergiessungen  eines  einsamen 
Dpnkers,  in  Briefen  an  vertraute  Freunde"'*;  KOmer  zwei  Aufsätze, 
„lelicr  Charakterdarstellung  in  der  Musik** ^,  und  „Ueber  Wilhelm 
Meisters  Lehrjahre"**;  H-  Meyer  drei,  „Ideen  zu  einer  künftigen 
Geschichte  der  Kunst",  „Beiträge  zur  Geschichte  der  neuem  bildenden 
ittiu»t'**\  und  „Neueste  Zimraerverzierung  in  Rom"";  Woltmann, 
!r  zwei  Gedichten  im  ersten  Jahrgang,  einen  „Beitrag  zu  einer 
jcliichte  des  französischen  Nationalcharakters""  und  eine  historische 
Arbeit,  ,, Theoderich,  König  der  Ostgothen"*';  v.  Archenholz  ein 
historiBches  Fra^ent,  „Sobiesky"";  Engel  die  „Entztlcknng  des 
Im  Casas"  etc.^  und  den  Anfang  seines  Romans  „Herr  Lorenz 
Stark.     Ein    Charaktergemfiblde" " ;    Boie    das    erzahlende    Gedicht 

Cr  Pilger"".    Am  längsten  dauerte  A.  W.  Schlegel  als  Mitarbeiter 
Ton  ihm  erschienen  im  ersten  und  zweiten  Jahrgang  „Dante*s 
HMlle'""  und  „Briefe  Über  Poesie,  Silt)enmass  und  Sprache""";   von 
fincr  Uebersetzung  des  Shakspeare  „Scenen  aus  Romeo  und  Julie", 
wie  aus  dem  „Sturm",  und  „Etwas  über  Wilhelm  Shakspeare  bei 
legenheit  Wilhelm   Meisters"";    im   dritten  Jahrgang  Stücke  aus 
uebersetzung  des   „Julius   Cäsar""   und   ein  Aufsatz   „Ueber 


50)  Werke  zur  schönen  Literatur  und  Kunst  1K.  looff.       51)  Das  1.  Stack. 
52)  St.  IL  53)  Werke  zur  schönen  Literatur  und  Kunst  (>,  25h  ff. 

1797,  St  2.  55)  St.  2.  56)  St  ;*  und  4.  57)  17%,  St  5. 

I7ft5,  St  $;  in  den  Werken  I,  251  ff.  59)  17t)5.  St  b.  6ü)  1796, 

tt:  aus  dem  Briefe  an  Schiller  3.  37G— 3Sfi;  vgl.  S.  390:  391  f.  wieder  ab- 
Nniekt  in  Körners  „Aestbetiachen  Ansichten".    Leipzig  IS08.    S,  119  ff. 
<ilnTitö,  St  7  und  9.  62»  I7i)6,  St  9.  63)  n<»5,  St  6.  64)  I7W(;, 

:8t  7  und  s.  65)  1795.  St  12.  66)  1795,  St  3;  Schriften  2.  279  ff. 

Ö7l  17Ö5,  St  10;  1796,  St  2,  68)  1796,  St  12.  69)  1795,  St.  3,  4. 

i;tgl.  oben  S.  252  unten.  70)  1795,  St.  II;  1796,  St  I  und  2;'Werke 

7l>  1796,  St.  3,  6  und  4;  Werke  7,  24  ff.  72 1  St  4. 

27» 


420    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  Jahrhundert«  bis  zu  Qoethe*i  Toi 


§  319  Shakßpcare's  Romeo  uncl  Julie"".    Je  mehr  es  nun  mit  der  Zdl 
gediegeneren  Beitragen  fehlte'^*,   deato  Läufiger  musste  zur 
der  für  jedes  Monatsheft  versprochenen  Druckbogen   nach  entsrl 
denem   Mittelgut",   nach    Ueberset2uugen '• ,    nach   AaszOgen, 
hinter1a.sBeucu  Papieren  verstorbener  Scliriftstelier^  gegriffen  m 
Wie  Schiller   sich  aber  bei  seinem   Unternehmen   in    dem   Aull 
venechnct  hatte,  den^  %vie  er  hoffte,  die  Schriftsteller  daran 
tigen  würden,  so  hatte  er  auch  bei  dem,   was  er  und  »eine 
arbeiter  gleich  von  Anfang  an  in  den  Hören  ihren  Lesern  boten, 
wenig  die  Stufe  der  Bildung  berücksichtigt,  auf  der  das  deut 
Publicum  im  Allgemeinen    damals   noch   stand.     Gleich  im 
Sttlck  waren  die  Briefe  „Über  die   ästhetische  Erziehung**  nicht 
eignet,   den  Hören   ein  grosseres  Publicum  zu  gewinnen.    Sei 
fflhlte  diess  auch  selbst    „Mein  D^bUt  in  den  Horon",  schrieb  eri 
Goethe'*,  „ist  zum  wenigsten  keine  Captatio  benevoleotiae  bei  di 


73)  St  6;  Werke  1,  71  flF.  74)  Schülers  Briefe  an  Goethe,  &d  Kön«, 

an  Humboldt  sind  voll  von  Klagen  nicht  bloss  über  das  Ausbleiben  wcrthraOBW 
Bdtr&jQfC,   sondern  auch  Qbcr  den  Mangel  an  Manuscript  Qberbaujtt.    iUQB  «v 
die  Ankündigung  der  Hören  ge^rucktf  bo  fühlte  Schiller  sich  schon,  wie  er  Jüem 
am  29.   Decbr.   1704   meldete  (3,  229) ,   in  einer   gcdriincten  Lage.    „Un  kaoMt 
mich*',  6chi*ieb  er,  „durch  einen  Aufsatz,  den  Du  binnen  jetzt  und  drei  Worte 
für  die  Hören  gibst,   aus  einer   wirklichen  Verlegenheit  retsaen.     ÜDfeenv  guM 
Mitarbeiter  sind  bei  allem  rmnk,  den  wir  dem  rublicum  vormachen,  wodf;  ol 
von  diesen  guten  ist  fast  dieHüIfte  für  diesen  Winter  nicht  zurechnen.  —  G«üli 
will  seine  Elegien  nicht  gleich  in  den  ersteren  Stücken  eingerückt ,    Herdtr  «Ä 
auch  einige  Stucke  erst  abwarten,   Fichte  ist  von  Vorlesungen  überhaul 
krank,  Engel  faul;  die  andern  lassen  nichts  von  sieh  börea.   Ich  rufe 
hilf  mir,  oder  ich  sinke  I"     In  Betreff  der  folgenden  Jalire    vgl.  Bricfwi 
Goethe  I.  ici;  2,  21  f.  (wo  nicht  „Joinville".  sondern  „Toanille**  tu 
3,  9  f.;  2ö  f.;  215  f.;  22^;  :*4I;  ri67 ;  Briefwechsel  mit  Kömer  3.  :U2;   mit  Hm- 
boldt  S.  291  f.;  34ti.        75)  Z.  B.  „der  Ritter  von  Tourville"  von  Gerber:  ..G«irf 
und  Zoe.    Neugriechisches  Sittengeinahlde",  von  (i.A.  vonHaJem  Igeb.  IT5Z«  9^ 
l-ül«;   er   war   von    17^0— lU   auch    einer   der  fleissigsten   Mitarbeiter  ao  B«ie"^ 
Museum  [vgl.  Weinhold,  BoicS.  224  f.];  seine  Selbstbiographie  ist  von  Stracksi7i& 
Oldenborg  IMU.  8.,  herausgegeben);  die  Gedichte  von  Kosegarten,  Bürde,  Krittdoft» 
Brun  (geb.  17G5  zu  Gräfentouna,  gest.  ts;t5  zu  Kopenhagen).  Elise  von  der  Rieft' 
ti.  A.        76)  Ausser  dem,  was  Goetlie,  Schiller,  Herder,  A.  W.  Sehlcgel  unJW. 
Humboldt  an  übersetzten  Stücken  geliefert  hatten  (vgl. S.-iUundll^l.i, 
die  Hören  an   hemorkenswerthern  Uebcrsetzungen  aufgenommen  von  J.  H.  Ti 
(der  auch  einige  eigene  Gedichte  einsandte)  eine  Elegie  vonTibnIl,  mehrere  WyO* 
von  Theokrit  und  ein  Stück  aus  Ovids  MetamorphoEcn.  und  von  K.  L   v.  Ka(N 
Elegien  des  Froperz.  77)  Aus  den  in  Goethe's  Besiu  b^mllichen  Vtjia^ 

von  J.  M.  K.  Lenz  wurde  1797,   St  4  und  5,   „der  WaM!  1  Pcodd  p 

Werthers  Leiden",  aus  Gotters  Nachlass  in  demselben  Jn'  "^  hmH  m 

Singspiel  „die  Geisterinsel"  (nach  Shakspeare's  „Sturm'*)  - 
wechseJ  «wiBchen  Goethe  und  Schüler**  3,  9  f.:  22;  25;  - 
20.  Octbr.  1704:  1,  50  f. 


Eelaiigggung  d. Literatur.  ("iTd— 1652.  Go«thcnnil  Schiller.  Dielloren.    421 


nn.     Ich  konnte  es  aber  nicht  schonender  behandeln,  und  ich 
a  gewiss,  dass  Sic  in   diesem  Stücke  meiner  Meinung  sind.    Ich 
UnBcbte,  Sie  wären  es  auch   in  den  (Ibrigeu,  denn  ich   muss  gQ- 
bben,    dasft   meine   wahre   emsflicbe  Meinung*   in   diesen    Briefen 
rtcbt.     leb  habe  Über  den  politischen  Jammer  noch  nie  eine  Feder 
igesetzt,  und  was  ich  in  diesen  Briefen  davon  sage,  geschah  bloss, 
a  in  alle  Ewigkeit  nichts  mehr  davon  zu  sagen;  aber  leb  glaube, 
}ss  das  Bekcnutuiss,  das  ich  darinne  ablege,  nicht  ganz  überflüssig 
|F'■^     Es  dauerte  nicht  lange,  dass  sich  Schiller  die  Ueberzeugung 
Hg^gte,  er  habe  bei  seinem  Unternehmen  und  bei  der  Art^  wie 
^^geführt  wurde,  zu   wenig  den  allgemeinen  Bildungsstaud   des 
mtschen   Publicunis   berücksichtigt.     Als   er  am    15.  Mai    1795  an 
octhe  berichtete,  Cotta  sei  mit  dem  Absatz  der  ersten  Stücke  ziemlich 
irieden,  musste  or  doch  auch  hinzufügen"":  „Nur  bittet  er  sehr  um 
röKsere  Mannigfaltigkeit  der  Aufsätze.    Viele  klagen   über  die  ab- 
racten  Materien,  viele  sind  auch  an  Ihren  Unterlialtungen  irre,  weil 
e,  wie  sie  sich  ausdrücken,  noch  nicht  absehen  können,  was  damit 
rerdeu  soll.    Sie  sehen ,   unsere  deutschen  Gäste   verläugnen  sich 
licht;    sie  müssen  immer   wissen,   was  sie  essen,    wenn  es  ihnen 
ichmecken  soll.    Sie  müssen  einen  Begriff  davon  haben.    Ich  sprach 
noch  kürzlich   mit  Humboldt  darüber;  es  ist  jetzt  jdatterdings  un- 
möglich, mit  irgend  einer  Schnft,  sie  mag  noch  so  gut  oder  noch  so 
Kblccbt  sein,   in   Deutschland  ein   allgemeines  Glück   zu  machen. 
Däb  Publicum  hat  nicht  mehr  die  Einheit   des   Kiudergeschmacks 
und  noch  weniger  die  Einheit  einer  vollendeten  Bildung.    Es  ist  in 
'1er  Mitte  zwischen  beiden,   und  das  ist  für  schlechte  Autoren  eine 
lierrlicbe   Zeit,    aber  für   solche,    die   nicht   bloss   Geld   verdienen 
wollen,  desto  schlechter."    In  einem  spÄtern  Briefe"  bezeichnete  er 
"tlie  göttliche  Platitüde"  als  den  rechten  Empfehlungsbrief  bei  dem 
?iojtt<jn  Haufen  deutscher  Leser.    Aber  schon  vorher  hatte  er  gegen 
Humboldt^'',  mit  Beziehung  auf  die  von  diesem  ihm  aus  Berlin  mit- 
•«beilten  Urtheile  tlber  die  Hören,   bekannt,  sie  beide  hätten  ver- 
•^'cüi,  in  ihren  Erwartungen  getäuscht  zu  werden,  weil  diese  Erwar- 
toögen  nicht  auf  eine  gehörige  Würdigung  des  Publicums  gegründet 
J6*pesen.     „Ich  glaube,   dass   wir  Unrecht  gethan,  solche  Materien 
i5d  in  solcher  Form   in  den  Hören  abzuhandeln;   und   sollten  sie- 
lauem, so  werde  ich  vor  diesem  Fehler  mich  hüten.    Die  Urtheile 
m  allgemein  und  zu  sehr   übereinstimmend,  als  dass  wir  sie 
leich  verachten  und  ignorieren  könnten"".   Um  die  wissenschaft- 


§  319 


79)  Bo»B,  Xenienkarapf  1,7,  hat  diese  BriefsteUe  ganz  falsch  auf  das  Aver- 
leot  der  Hören  bezogen,  das  erst  sechs  Wochen  splter  geschrieben  wurde, 
'80)  I.  H5  f.  81»  l,  280.  >>2l  Brielwechß«!  mit  dieacm  S.  16u, 

S3)  Vgl.  dazu  den  Briefwechse]  mit  Humboldt  S.  340;  34&. 


422    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  JahrhuudcrU  bis  za  Go«tb0*&ltti 


§319  lieben  Abhandlungen  und  Erörterungen  in  dorn  ersten  Jabmif 
verstehen  und  ein  Gefallen  daran  %u  Qnden,  waren  nur  w« 
denen,  welche  Zeitschriften  lasen,  genug  vorbereitet;  und  wie  es  i» 
Deutachland  mit  der  Empfänglichkeit  ftli*  geniale  und  kuiwtTol 
poetische  Erfindungou  stand,  die  sich  von  dem  Gleise  der  gavu'i 
liehen  Unterhaltungsliteratur  des  Tages  fern  hielten,  hatten  die  Auf- 
nahme und  die  ßcurtheilungen  der  von  Goethe  während  und  natb 
seiner  italienischen  Reise  herausgegebenen  Schriften  hinlänglich  ge- 
zeigt. Wie  die  Hören  Überhaupt,  wie  der  Inhalt  einzelner  3tfid» 
von  dem  Publicum  im  Allgemeinen  und  von  kritisierenden  Sdliift» 
fltellern  im  Bosandem  aufgenommen,  verstanden  und  beurtkeit 
wurden,  erhellt  theils  aus  den  Briefwechseln  Schillers  mit  Goethe, 
mit  Humboldt  und  mit  Körner,  theils  aus  gleichzeitigen  Zeitschriftn 
und  andern  Büchern**.  Nach  jenen  machte  von  Schillers  prosaute 
Beiträgen  im  Allgemeinen  das  entschiedenste  GlUck  „die  Belagona^ 
von  Antwerpen";  sie  wurde  aber  nicht  ihm,  gondern  Woltm&niL 
geschrieben  und  die  Meinung  ausgesprochen,  Schiller  könne  so 
Leichtes  und  Verständliches  nicht  mehr  machen.  Demnächst 
sein  Aufsatz  ,, lieber  die  nothwendigen  Grenzen  des  SchOm 
Beifall  zu  finden.  Am  wenigsten  konnte  man  sich  in  die  BriA 
„über  die  ästhetische  Erziehung"  etc.  finden:  im  Publicum  wwd« 
wenig  oder  gar  nicht  davon  gesprochen;  in  Schriften  Hess  ffldi  vv 
Fr.  Gcntz  in  seiner  „Keuen  deutschen  Monatsschrift"  |179&)  Bit 
grosser  Anerkennung  darüber  vernehmen,  anderwärts  wui 
mehr  oder  weniger  heftig  angegriffen,  ja  sie  waren  es  insl 
welche  den  Hören  die  erbittertaten  Gegner  erweckten.  Die 
Sachen,  die  Schiller  in  die  Hören  einröckto,  Hess  man,  wie  c« 
entweder  ganz  unbeachtet  oder  unverstanden  —  wie  „das 
Schatten"  —  an  sich  vorübergehen,  oder  man  tadelte  daraDj 
nicht  zu  tadeln  war;  nur  die  „Elegie"  („der  Spaziergang")  mtfl 
hier  und  da  gleich  grossen  Eindruck.  Von  Goethe  wurden 
vE|)iHteln"  gar  nicht  verstanden;  au  der  ersten  Hfilfte  der  „Uj 
haltun^'en"  wurden  viele  irre'^;  auch  das  „Märchen"  wurde  meUi 
getadelt  und  als  bedeutungslos ,  unwitzig  und  also  als  tiieh!  pil 


84)  Was  tn  diesen  hierauf  Bezügticbos  vorkommt,  wird  weiter  antea  (8. 
bis  427  berührt  wwilen.    In  jenen  Briefwechseln  kommen  voniehmKch  iM* 
fai  Betracbt:   tu   dem  Briefwechsel  zwischen  Schiller  and  Goethe  t,  145  t:  V. 
2!«;  21";  241»;    253;    2,  4  f.;    53;    219  f.;    232;    2St ;    285;    2yl;    mit  Unafco** 
S.  112:  117;  12Sff. ;  214  f.;  292;  2'.IS;  340;  mit  Körner  3,  2i;4;  3ü2  f.        S5)  I^" 
Anfang  hatte  auch  Schiller  gar  nicht  befriedigt,  wogegen  (ianre  nnch  el!wwHr»efr 
an  Chr.  F.  Weisse  2,  ISii  gerade  an  dieser  Einleitung  Wohlgcfai; 
fand,  dasa  die  Unterhaltungen  je  weiter  biu,  desto  acbwAclivr  n  i 
Wechsel  mit  Schiller  3,  222;  22«;  2W  t 


Entwickcluiigagangd.  Litermtur.  1773— 1&32.  Goethe  uadSchiUcr.  DieHoreo.    423 

boüeicljuel.  Viel  mehr  Beifall  erhielten  die  „römischen  Elegien",  §  319 
der  „Benveauto  Cellini"  und  vorzüglich  die  „Briefe  auf  einer  Reise 
nach  dem  Gotthardt'*  A.  W.  Schlegels  „Dante'*  gefiel  in  Berlin 
nur  niittelmäsaig.  Am  meisten  und  allgemeinsten  zufrieden  war  man 
BÜt  £lngel8  „Lorenz  Stark"  und  mit  dem  Anfang  des  Romans  „Agnes 
von  Lilien",  der  Sehilleiii  Schwfigcrin,  Caroline  von  Wolzogen,  zur 
Verfasserin  hatte".  Beider  Romano  Verfasser  sollte  Goethe  sein; 
die  „Agnes  von  Lilien"  hielten  selbst  die  Schlegel  für  ein  goethoschea 
Product,  und  die  Behauptung,  dass  Goethe  Verfasser  des  „Lorenz 
Stark*'  sei,  wurde  für  jemand  der  Gegenstand  einer  ansehnlichen 
Wette.  Der  Buchhändler  Unger  in  Berlin  hatte  schon  im  August 
1795  gegen  Humboldt  geilussert;  die  Hören  müssten  mit  diesem 
Jahre  aufhören,  weil,  die  Schuld  liege,  an  wem  sie  wolle,  alle  Welt 
damit  unzufrieden  sei.  Wielaud  wollte  sie  gar  nicht  lesen ;  er  sollte 
gOBa^  haben,  dass  der  nicht  sein  Freund  sei,  der  ihn  mit  dem,  was 
darin  gegen  ibn  gesagt  worden  (in  Schillers  Abhandlung  „über  naive 
und  sentimcut.  Dichtung"),  bekannt  mache*".  Beäijudere  Umstände 
kamen  hiuzu,  das  Publicum  gegen  die  Hören  mehr  und  mehr 
einzunehmen.  Schon  die  Ankündigung  derselben  hatte  hier  und 
da  Anstoss  erregt";  nachtheiliger  wirkten  eine  Beurtheilung  des 
ersten  Stückes  in  der  Jenaer  Literaturzeitung  *'  und  nicht  ganz  un- 
hegründete  Gerüchte  über  gewisse  Verpflichtungen,  die  der  Verleger 
ir  Hören  gegen  die  Herausgeber  jener  Zeitung  eingegangen  sei. 
sr  Adjunct  Forberg  in  Jena  behauptete  in  einem  Buche  geradezu, 
ie  verhältnissmässige  Länge  jener  Beurtheilung  dürfe  niemand 
Wunder  nehmen,  indem  Cotta  ja  die  Rocensionen  in  der  allgemeinen 
jleraturzeitung  bezahle.  Zwar  drohton  die  Herausgeber  der  letztem*", 
je  würden  Forberg  dieserhalb  gerichtlich  belangen,  worauf  er  eine 
irkl&rung  seiner  Worte  abgab,  welche  die  Herausgeher  befriedigte 
lud  zugleich  zu  dem  Bekenutniss  veranlasste^',  es  sei  allerdings  in 


t6»  1T96,  St.  10  und  »2;  1797,  St.  2  und  :..        ,S7)  Briefwechsel  mit  Hum- 

S.  UO;  410.         8b^  äogar  bei  J.  Baggesen,  dem  enthusiastischen  Verehrer 

iinpn;   er  achriel)  im  März  17*^5  an  Roinhold  (Baggesens  Briefvrecbsel  2,  ts; 

^Viller  fängt  auch  an  als  Schnftäteller  Lei  mir  zu  fallen.   Seine  lioreuanküiidi- 

'^  hat  mir  im  höchsten  Grado  missfallen"  (vgl.  2.  24).  89)  Sie  war  von 

c^öU  luicht  von  L.  l'*.Huber,  wie  Boas,  Xenienkampf  2,  ITH,  behauptet),  in  sehr 

^*rei!n;ndem   Tone   abgefas^t,  und   stand   im  Jahrgang   l'ltS,      1,  '217  ff.     Vgl. 

flulleri  »rief  an  Goethe  l,  105  (in  der  2.  Ausgabe  des  Briefw.  1.  -Jti  steht  statt 

d«r  volle  Nime  Schatz).    Dass  sie  den  lioren  beim  Publicum  nicht  zum  Tor- 

gertriclite,  ergibt  sich  .iub  einem  Briefe  Körners  an  Schüler  (3,  304);  Körner 

)it  war  auch  nicht  mit  ihr  zufrieden;  vgl.  dazu  den  Brief  Humboldts  an  Schüler 

li:*  and  Nicolai's  Besclireibnng  einer  Reise  durch  Deutacbland  II,  ISO. 

|5^>)  1d  ihrem  Intel ligenzhlatt  I7yr»,  N.  Vis.  91)  In  K.  135  des  Intelligenx- 


wm 


424     VT.  Vom  zweiten  Vierte]  des  XVUl  Jahrhunderts  bis  la  Goeüio*i  Toi 

§  311»  Vorschlag  gewesen,    die  Reo^nsionen   von   Journalen,   welcbe  at» — 
führliclier  werden  sollten,  auf  Kosten  der  Verleger  drucken  in  lanMn  - 
aus  der  Sache  sei  aber  nichts  geworden.     Diess  hiess  jedoch,  dio 
Sache,  bei  der  es  in  Wirklichkeit  auf  ein  ganz  besonderes  Abkommca 
abgesehen  war,  unter  dem  Mantel  einer  vorgeblich  ins  Allgemeine 
gehenden   Einrichtung   verdecken.     In   dem   Briefe   nämlich,  worin 
Schiller  am  30.  Septbr.  1704  an  Schlitz  die  Einladung  richtete,  sich 
den  Mitarbeitern  au  den  Hören  anzuschliessen'",  wünschte  er^  diM 
jedes  Monatsstuck  der  Hören,  8»»bald  es  erscheine,  und  «o  v<>rtleiU 
haft,  als  es  mit  einer  strengen  Gerechtigkeit  bestehen  könnte,  in  def_ 
Literatur-Zeitung  angezeigt  würde;  er  gab  dabei  zu  bedenken, 
es  für  sie  beide,  vornehmlich  aus  zwei  mit  aufgeführten  Gründen,  nicl 
vortheilhaft  sein  dürfte,  wenn  die  einzelnen  Monatsstücke  desJour* 
nals  durch  Mitglieder  der  Horen-Societat  recensiert  würden,  wot 
es  sich  von  selbst  verstünde,   dass  der  Recensent  eines  Stück» 
diesem  Stücke  nicht  mit  gearbeitet  haben  dürfte.     Acht  Tage  fÜMitä 
meldete  Schiller  an  Goethe",  mit  Schittz  sei  die  RecensionsangelcfCft- 
heit  ziemlich  in  Ordnung  gebracht:  es  werde  wahrscheinlich  arrangiert 
werden  können,   dass  wenn  in  jedem  Monatsstücke  eine  besonJer«^ 
Anzeige  erfolge,  der  Verleger  der  Hören  die  Hälfte   der  rnk«wtea 
den  Herausgebern  der  Literatur-Zeitung  abnehme.     Durch  diese  A«** 
kauft  hofften  sie  auch  den  Übrigen  Herausgebern  von  Jonmalen,  dt 
sonst  eine    gleiche   Begünstigung    fordern    könnton,    den   Mund  tSi 
stopfen.     Zuletzt   kam    man  jedoch    überein  *",    dass    nur   alle  ih 
Monate  eine  ausführliche  Recension  erscheinen  sollte".     Bald  fehlMi 


92i  Er  ist  in  dem  ßuche  „Cb.  0.  SchOtK.   DarsteUaog  «eines  Lehrr     ' — - 
F.  K.  J.  Schütz".    Halle  IS3J  f.    2  Thle.   S.    2.  419  f.  gedruckt         '• 

94)  Schiller  an  Goethe  1,  ^u.  Vl5l  „Cotta  wird  die  Kosten  dt'r  KeciEi'«» 
tragen,  und  die  Recensenten  werden  >lltglieder  unserer  SocietAt  sein.  Wir  k< 
also  so  weitUultig  sein,  als  wir  wollen,  und  loben  wollet  wir  uns  nicht  for^ 
Langeweile,  da  man  dem  Publicmn  doch  olles  vormachen  muss".  Nach  der  lii  tic 
Anmerk.  ^a  naher  bezeichneten  Beortheilung  des  ersten  Stllcka  kam  e»  lad«« 
nicht  bo  bald  zn  einer  zweiten.  Erst  gegen  Knde'des  Jahres  1705  konnte  ScbShr 
an  (ioethe  schreiben  (l,2S2),  es  werde  nun  Ernst  mit  einer  zu  erwartmil«  unm 
Recension.  Schüler  und  Goethe  waren  beide  damit  sehr  zufrieden,  dan  JL  ^> 
Schlegel  die  Bcartheilung  des  poetischen  Theils  der  anzuzeigenden  Stucke  6^ 
Dommea  hatte;  was  von  historischem  und  philosophischem  InbaJt  war,  sollt«  TM 
Schütz  und  Ändern  recensiert  werden,  so  dass.  nach  Schillers  Au&druck,  tfia^ 
Gcsammtrecension  .,oinc  rechte Harlekins-Jucke"  werden  masstc  (vgl.  f,'>i  t*^ 
ständiger  in  der  2.  Ausg.  1,  125];  2S5.  2Ss  und  den  Brief  N.  UO  In  der  2.Aa«t 
I,  »2^;  dazu  Schülers  Brief  an  Humboldt  S.  :m  ff).  Schlegels  P  -''  '  mj  W 
poetischen  Theils   der  Stücke   I— H)  erschien   wirklich  in  der  I  '•XbH 

1796,  N.  4—6  (in  den  Werken  l(i,  oltff)  als  erste  Abthcilung  der  üe&amroowO" 
slon  (vgl.  darüber  SciiÜlers  Brief  an  Humboldt  39S  f.);  die  venprocto«  fwil' 
bUeb  dagegen  aus. 


1    l 


w 


Efltwick&lung&gang  d.  Ljteratar.  1773— 1S32.  Goethe  und  ScMUer.  Die  Hören.    425 


U 


^  in  verecbiedeneu  Zeitschriften    und    andern   Bllchern   weder   an   §  319 
unglingtigon  und  schiefen   Urthcilen   über  die  Hören  seihst,  zumal 
tlber  einzelne  Beiträge,  noch  an  gehässigen  Auslassuniren  nnd  heftigen 
ngriffen  gegen  sie.    Ziemlich  glimpflich  verfuhr  noch  Manso"*  mit 
en    von    ihm   angezeigten   ersten  vier  Stöcken.     Zu   der  Ursache, 
meinte  er,  welche  zu  einer  nähern  Betrachtung  der  meisten  in  diesen 
Stücken  enthaltenen  AufsfitÄC  auffordere,  gehöre  die  ausgezeichnete 
Vortrefflichkeit  nicht,   die  ihnen  hier  und  da  beigelegt  worden  sei. 
Der  anstreitig  wichtigste  Aufsatz  seien  die  Briefe   „über  die  Ästhe- 
tische Erziehung  des  Menschen",   Über   welche  sich  daher  auch  der 
Recensent  am  weitläufigsten  auslässt,  wobei  er  vielerlei  sowohl  an 
der   Schreibart   wie  an   dem  Inhalt  auszusetzen  findet.     Eines  der 
yor/llglit'hsten   Stücke   sei    „die    Belagerung   von    Antwerpen";   die 
Unterhaltungen"  etc.  seien  freilich  nur  eine  leichte,  aber  darum 
och    nicht   uninteressante    Lecttlre,    u.   s.   w.".     Eine   viel    hiimi- 
here    Beurtheilung   der   schillerschen    Briefe    von   einem    Adjunct 
Mackenscn  in  Kiel,    die  „an  Unverschämtheit  und  Plattheit  alles 
\»crtraf,   was  man  je  gesehen"  "t   brachte  der  erste  Jahrgang  der 
on  L.   H,  Jakob  herausgegebenen  „Annalen  der  Philosophie  und 
es   philosophischen    Geistes"*".      Am    grimmigsten    zog    aber    mit 
iner  ganzen   breiten  Geschwätzigkeit  Fr.  Nicolai'""  gegen  Schillers 
riefe  nnd    zugleich   gegen   die  ganze   neue  Philosojthie  zu  Felde, 
^r  wollte   sich   hierin   , .nachdrücklich   gegen   die  Missbräuche   er- 
Wärcn,   welche   zur  Zeit   mit    einer   spitzfindigen    transcendentalen 
f'^nnalcn   Philosophie,   mit   dem  Gebrauche   sehulmässiger   und    oft 
Unbestimmter    zweckloser    Terminologien    und    mit    dunkeler,    ge- 
i^raubter,  gezwungener  Schreibart  getrieben  würden,  zum  grossen 
daden  unserer  deutschen  Literatur,  zugleich  aber  auch  eines  und 
»  andere  sagen,  was  ihm  am  Herzen  gelegen."    Man  wird,  wenn 
n  Geduld  genug  hat,   diesen  ganzen  Artikel  aufmerksam  durch- 
D,  in  vielem,  was  Nicolai  vorbringt,  um  jene  Missbräuche  zu 
eisen,  ihm  nicht  Unrecht  geben  kennen;  allein   in  sehr  \ielem 
öem  wird  man  nur  den  Erguss  des   blindesten  Eifers  gegen  das, 
Dicht  in  seinen  Kram  passte,  und  die  selbstgefälligsten  Aeusse- 
des  masslosesten  Eigendünkels  erkennen.    Die  Hauptpunkte 
Inrective  stellte  er  kurze  Zeit  nachher   in  dem  Anhange  zu 
ers  Musenalmanach  zusammen,  um  dem  Publicum  zu  erklären, 

^6)  lo  der  neuen  Bibliothek  der  schönen  WisseDschaften  55,  283  ff- 

Vgl.  Hnraboldts  Brief  an  ScMUer  S.  IS!.  9Si  Wie  Humboldt  an  Schiller 

'  ;b,  S.  2119  f-  99)  Halle  1795— '»7.    4.  lüOt  Im  U.  Theile  seiner 

>lbuDg  einer  Reise  durch  Deutschlaud",  zunftchst  in  der  Vorrede  S.  IX  ff", 

S.  120 — I2S  und  vorzüglich  in  einem  eigenen  grossen  Artikel  über  die 

8.  177-312. 


n 


mi« 


426     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVItl  Jahrhunderts  bis  zu  Goctk»*«  Tod. 

319  was  ihm  „die  boscu  Küclicnpräsente''  (tu  den  Xenien)  rerficb&ft 
habe"*':  „Ich  gab  zu  verstehen,  das  Journal  „die  Hören"  »ei 
ungebührlicher  »Selbstfjenügsairikeit  herausgestrichen  worden.  Ich 
behauptete,  da  es  Hrn.  Schillers  Anzeige  zufolge  für  den  „„Gemeio- 
ainn"**  —  sonst  auf  deutsch  gesunder  Menschenverstand  genannt - 
und  für  „„das  schone  Publicum"'*  geschrieben  sein  sollte,  so  wtren 
Aufsätze  voll  scholastischer  Spitzfindigkeiten,  in  dunkle  Schreibvi 
verhüllt,  fUr  ein  solches  Jounial  ganz  unzweckmfissig;  und  ich  hatte 
die  Kühnheit,  diess  mit  Gründen  und  mit  oinleuchtondon  Beininelto 
zu  beweisen.  Ich  sprach  bei  dieser  Gelegenheit  von  den  vieles 
philosophischen  Querköpfen,  welche  mit  einer  Menge  tiefsiniüg  fein 
sollender  Schriften  voll  tvauaccndentalcr  Himgeepinsto  die  deutsclie 
Literatur  verdeibeo.  Ich  sagte  Überhaupt  etwas  Über  den  Miasbrwcb 
der  kritischen  Philosophie  durch  ihre  seelenlose  Anwendung  %d 
Gegenstände  des  gemeinen  Lebens  und  der  Erfahrung  und  macbte 
auf  die  vielen  Unschicklichkeiten  aufmerksam,  welche  daratu  csi- 
stehen,  worunter  auch  die  gehört,  dass  Herr  Schiller  die  tnM?keiuto 
Tenninologieu  der  kantischen  Philosophie  sogar  in  Gedichten  braucht; 
uud  ich  liess  merken,  eiu  solcher  kantischer  Poet  nOthige  uic^t 
weniger  Lächeln  ab,  als  ehemals  Uzcns  dichtender  wolffisobtf 
Magi8ter'*^^  In  der  allgemeinen  deutschen  Bibliothek,  die  du 
grössten  Theil  der  neunziger  Jahre  nicht  unter  Nicolai's  unmiad- 
barer  Leitung  stand'"*,  erschien  damals,  so  viel  ich  weiss,  käw 
ßeurtheilung  der  Hören;  erat  1S03  wurden  sie  von  v,  Rohr***  «oge- 
zeigt  und  im  Ganzen  nicht  mit  Ungunst;  aber  auch  hier  noch  va: 
unter  den  Stücken,  die  als  die  werthvollsten  hervorgehoben  wurden. 
Engels  „Lorenz  Stark^*  allen  andern  vorangestellt.     Dagegen  entbieli 


VXK 


des  Kapellmeisters  Reichardt'**  Jpurual  „Deutschland*""*  maoi 
was  besonders  gegen  einzelne  Beiträge  von  Goethe  gerichtet 
und  diesen  sehr  verletzen  musste.  Ueber  die  „Unterhaltungen"  etc— 
war  n&mlich  vom  politischen,  Über  die  „römischen  Elegien**  to^w 
moralischen  Staudpunkt  aus  Gericht  gehalten"*'.  Später,  im  aw^lto^ 
und  letzten  Stück  des  Journals,  erschien  noch  eine  sehr -scharfe  o»^ 
bittre   Reoension    der   Hören,    welche   Fr.   Schlegel    zum   Vaft 


lOh  S.  U  f.  102)  Tgl.  dos  Gedicht  von  Uz  ..Magister  Dum**  im  1. 

der  lyrischen  Gedichte.        tü3l  Vgl.  III,  V.i,  4S'.        104*  Im  Anh-^--  -  »'!  JH 
S.  S'io  ff.  105)  Geb.  1752  zu  Königsberg,  gebt.  1SI4  zu  '  u« 

Halle:  vgl.  H.  M.  ScMcttorcr,  J.  Tr.  Reichardt.  Sein  Lehen  nnd  t-cn.>  ^'" 

Thttligkeit     1.  Bd.    Augsburg  ls«i:i.   ^,  \Uij)  Berlin  IT'.*6.  I' 

Ou  (f.:  3s4.  Näheres  darüber  bei  Boas,  Xenieukamitf  i,  22-  f.;   und  w  ..'«ini" 
und  Goethe's  Xenien-Manuscript.   zum  crsleumal  bekonut  gemncht  voa  F. 
nud  herausgegeben  von  "W.  von  Maltzahn".    Berlin  1^58,  3.  U3  ff. 


itwickeluugBgang  d.  Literatur.  1773—1932.  Goethe  and  Schiller.  Die  Boren.    427 

ttte"*.     Endlich  erfolgte  im  Intelligenz-Blatt  der  Jenaer  Literatur-  §  319 
situi^  von  1795**™  auch  ein  „hOchst  grober  und  beleidigender  Aus- 
ill'*  Fr.  Aug.  Wolfs  auf  Herders  Aufsatz  „Homer,  ein  Günstling  der 
sir""*.   So  nahm  die  Zahl  der  abgesetzten  Exemplare  immer  sicht- 
Scber  ab*".    Schiller  sah  sich  in  seineu  Erwartungen  getauscht  und 
gab  die  Fortsetzung  eines  Uuternehmeus  auf,  daj*  ihm  wenig  Freude 
id  viel  Muhe,  Sorge  und  Vcrdruss  bereitet  hatte.    Bereits  in  der 
eiteu  Hälfte  des  Jahres  1795  dachte  er  daran  ^  die  Hören  ganz 
aufzugeben "%  aber  erst  am  2G.  Januar  179S  hatte  er,   wie  er  an 
Goethe   meldete'",    „das   Todcsurtheir'    derselben    förmlich   unter- 
achriebcn.    Colta  war  zwar  bereit,  sie  noch   ein  Jahr  fortbestehen 
Mpi  laiijteUf  aber  Schiller  sah   keine   entfernte  Möglichkeit,   sie   fort. 
^■Ksetzen,   weil  es  ganz  und  gar  an  Mitarbeitern  fehlte,  auf  die  er 
Hkli    rerlasseu   konnte,    und   er  selbst,   ohne  eigentlichen   reellen 
^BeUlgewinn,  ewige  Sorge  und  kleinliche  Gcschfifte   bei   dieser  Re- 
^■aetion   hatte.    Er  gieng  auch  auf  einen  Vorschlag  Goethe's  nicht 
ein,  die  monatweise  Herausgabe  der  Zeitschrift  in  eine  jahrweise  zu 
verwandeln,  mehr  ManniL'fultigkeit  hineinzubringen  etc. '^^  denn  die 
Hauptschwicrigkeit  würde  immer  bleiben,  wo  man  die  Aufsatze  her- 
nehmen sollte,  da  sie  „es  nicht  einmal  durch   den  Reiz  eines  un- 
gewöhnlich grosf^n  Honorars*'^  hätten  dahin  bringen  kennen,  gewisse 
B&che  in  ihr  Journal  zu  leiten,  die  in   andern  Journalen   um   das 
Ualbe  Geld  so  ergiebig  flössen"  "^    Die  Herausgabe  des  letzten  Stücks 
vom  dritten  Jahrgang  verzögerte  sich  dann  al>er  noch  bis  tief  iu  das 
Jahr  1798  hinein'". 

§  320. 

So  wenig  Schiller  sich  verhehlen  konnte,  dass  er  selbst  so- 
ll wie  einige  seiner  vorzuglichsten  Mitarbeiter  den  schlechten  Er- 
'f'ig    der  Hören   beim  Publicum   mit  verschuldet  hätten',   so   hatten 


lOH*  Vijl.  Briofwechgel   zwischen  .Schiller  und  Goethe  3,  las  f.   und   Boas, 

A(?nienkarapf  2.  252;  2^7.  109|  Unterm  21.  October.  1I0>  Vgl.  zu 

im  Vorauägehenden  Angeführten  in  dem  Briefwechsel  zwischen  Schiller  und 

•  Mic  I,  23f.  f.  (2.  A.  1,  101  f.;  103  i\\;  2-10;  242  f. ;  244:  2,  4f.;  ifi;  2I9f.;  in 

■'     Briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Humboldt  S.  2(i2  ff.;  285;   29!»  (den  hier 

'     Humboldt  erwähnten  „sehr  platten,  aber  doch  immer  sehr  amUsaotcn  Spass" 

^*'er  die  Hören  in  dur  zu  Berlin  herausgegebenen  Camera  obscura  hat  Boas  wieder 

*^rticken  lassen  im  Xenienkarapf  I.  15  f.):  und  Schiller  an  Körner  :i,  3ü2  f. 

Uli  Vgl.  Briefwechsel  zwischeu Schiller  und  Goethe  1,  212;  2.  Ausg.  I,  llü; 

^^  f.;  1.  Ausg.  2,  23  f.  112|  Dieas  zeigen  die  in  Anmerk.  47  angeführten 

'^fiefstellem  113)  4,  51  f.  114)  4,  eo  f.  115)  Cotta  zahlte  fünf 

y^  Wehs  Louisd'or  fUr  den  Bogen;  Briefe  an  Kömer  3, 175  f.;  254.        Uö»  4,06. 

^^T,  Vgl.  die  Briefe  an  Goethe  4,  162;  219;  222. 

i  320)  Vgl.  S.  421. 


«■« 


42S    VI.  Vom  zwdten  Viertel  des  XVm  Jahrhtuiderts  bis  zu  Qovtbe'»  Toi 


§  320  doch  die  öffentlichen  Beuitbeiluug'enj  welche  dieselben  ttberhaupl  um! 
Beine  Briefe  über  die  ästhetische  Erziehung  ganz  besonder.«  iu  Zeiu 
Schriften   und  anderwÄrta  erfahren,   seinen  Unwillen   zu  tief  cntft 
und  seinen  Zorn  gegen   die  Widersacher  zu  sehr  gereizt,   als  du» 
er  gewillt  gewesen  wäre,  ihre  Angriffe  vor  dem  Publicum  gam  m- 
berücksicbtigt  zu   lassen.     Goethe  hatte  schon  vorher  Anb»s  ^of 
gehabt,  mit  der  Aufnahme  unzufrieden  zu  sein,  welche  seine  iu  den 
letzten  Jahren  herausgekommenen  poetischen  und  naturwidseuscb«! 
liehen  Schriften'  in  Deutschland  gefunden  hatten*;  seine  bedeutend« 
sten  Beiträge  zu  den  Hören  machten  ebenfalls  kein  sonderlicheä  undj 
noch  weniger  ein  allgemeines  GlQck:  auch  er  wollte  seinen  Unwilloi 
und  Verdruss  theils  dartiber,  theiis  Hher  so  manches  ihm  im  höchrtei" 
Grade  widerwärtige  Treiben  in  der  Literatur  und  im  Leben  derZei. 
nicht  länger  zurückhalten,  sondern  bei  der  ersten  sich  darbieteof 
Gelegenheit  unumwunden  aussprechen.     Er  dachte  anfänglich  danw^' 
diese  selbst  in  den  Hören  und  in  einer  Vor-  oder  Nachrede  zu  eiiwrj 
von  ihm  beabsichtigten  Sammlung  seiner  wissenschaftlichen  Arbeil 
zu  thuu';    aber    er    forderte  auch  Schiller   in   Betreff  dessen, 
namentlich  gegen  die  Hören  vorgebracht  worden,  auf»  alles  daliiftj 
Einschlagende  zu  sammeln,   um  seiner  Zeit  darüber  in   den  Hoi 
selbst  Gerieht  zu  halten.    Diess  geschah  scliou  mehrere  Wochen  ta 
Abfassung  des  in  der  vorigen  Anmerkung  angezogenen  Briefes.    An 
16.  Septbr.  1795  nämlich,  als  Goethe  dem  Freunde  von  dem  Erfol 


2)  „Versuch  die  Metamorphose  der  Flianzeu  zu  erklären"  GoUu   KW- 
fWerke  5^.  21  ff.j;  ..Beitruge  zur  Optik".    Weimar  I7S1  f.   S.  ib^,  247  ff.>- 
3>  Vgl  S.  40S  l'J»  und  dazuS.  274,  2'  so  wieCocthe's  Brief  In  der  2.  Ausgabe 
Briefwechsels  mit  Schiller  I.  114  f.  und  "Werke  5S,  121  ff.  4l  Iu  dem 

angeführten  Briefe  au  Schiller,  der  kurz  vor  dem  23.  Novbr.  1795  gcschri^bca 
mas8,  da  die  Autwort  darauf  il.  Au<i?.  U  253  ff.;  2.  Ausg.  I,  lU'.i)  vqd 
Tage  i«t,  heisst  es:  ,,Haben  Sie  scheu  die  abscheuliche  Vonrüo  Stolbecp  ^ 
seinen  pbionischen  Gesprächen  gelesen?  („Auserlesene  Gespriicb«  da  Pkleo. 
übersetzt  von  F,  L.  Gr.  zu  Stolberg".  Königsberg  1796  f.  3  Thie.  *.».  P^ 
Blossen,  die  er  darin  gibt,  sind  so  abscheulich  und  unleidlich,  dass  Sdi  |ii** 
Lust  habe  darein  zu  fahren  uud  ihn  zu  züchtigen.  Es  ist  sehr  leicht,  di«  OttsiBiiif* 
Unbilligkeit  dieses  bornierten  Volks  auschaulich  zu  machen,  man  hat  dabvl  ^ 
vernünftige  Publicum  auf  seiner  Seite,  und  es  gibt  eine  Art  KncgserkUruikg  W* 
die  Halbheit,  die  wir  uuu  in  allen  Fächern  beunruhigen  müssen.  Durch  dfef^ 
helme  Fehde  des  Verschweigens,  Verruckens  und  Verdruckens,  die  sie  gcg»  <*• 
führte  hat  sie  lange  verdient .  dass  ihr  nun  auch  in  Ehren  und  zwar  in  dcrCo*^j 
tinuatiou  (der  Boren)  gedacht  werde.  Bei  meinen  wissenschaftüchett  ArbetUSi 
ich  nach  oud  nach  zusammenstelle,  tinde  ich  es  doppelt  nothig  und  nicht  n 
gehen.  Ich  denke  gegen  Kecensenten,  Journalisten,  Magaziusomoiler  und  Cp0* 
pendieuschreiber  sehr  frank  zu  Werke  zu  geljcn  nnd  mich  darüber,  la  etoef^*" 
oder  Nachrede ,  gegen  das  Publicum  unbewundcn  zu  rrklAren  und  beaoidoi  ^ 
diesem  Falle  keinem  seine  Kenitenz  und  Rcticenz  pasneren  tra)  Itiinn" 


^^tentwfckelu 


Pi 


ntvfckelungBgaog  d.  Lherafur   1773 — ls3!2.  Goethe  und  Schiller.  DieXeoien.    429 


eines  AufsatiCj*  »J.iteninseher  Sanst'Hluttismna"  uml  vnn  den  „grosneu  §  320 

cvercn/.en'^  genielilet,  die  Fr.  Gentz  in  seiner  Monatsschrift  vor  den 

Briefen  „über  die  ästhetische  Eraiehiing"  mache*,  gibt  er  zu  tlber- 

leg'en,   „ob  man   nirlit  vor  Ende  des  Jalires  sich  über  einijres  (was 

die  Hören  beträfe)  erklärte  und  unter  die  Autoren  und  Rocensentca 

Hoffnung  und  Furcht  verbreitete."    Sechs  Wochen  später  antwortete 

CT  auf  Schillers  Brief  vom  26.  Octbr/,  worin  dieser  bemerkt  hat,  da 

Herder  wünsche,  es  möchte  von  dem  Redacteur  der  Hören  etwas 

ber  den  Ausfall  Fr.  A.  Wolfs  auf  den  Aufsatz  „Homer,  ein  Günst- 

g  der  Zeit"  gesagt  werden,   so   „halte  er  es  nicht  für  rathsam, 

HZ  zu  schweigeu  und  dem  Philister  gleich  anfangs  das  letzte  Wort 

u  lassen"':  „Sollten  Sie  sich   nicht  nunmehr  überall  umsehen  und 

mmeln,  was  gegen  die  Hören  im  Allgemeinen  und  Besonderu  ge- 

4Si  ist,  und  hielten  am  Schluss  des  Jahres  darüber  ein  Gericht,  bei 

elcher    Gelegeuheit   „der   Günstling    der   Zeit"   auch    vorkommen 

•könnte'?    Das  halUsche  philosophische  Journal  soll  sich  auch  upge- 

bührlich  betragen  haben.     Wenn  man  dergleichen  Dinge  in  Bündlein 

hindet,    brennen   sie   besser,"     Indess  kam  es,  weder  zu  dem  einen 

noch  zu  dem  andern  auf  diesen  Wegen,  oder  doch  nur  in  sehr  be- 

whränktem  Masse.    In  einem  Briefe  aus  dem  Jahre   1795",  hatte 

«shillcr  an  Goethe  gcschriehen :  ,,Wir  leben  jetzt  recht  in  den  Zeiten 

^tr  Fehde.    Es  ist  eine  wahre  Ecclesia  militans,   die  Hören  meine 

'*^'>'    Ausser  den  Völkern,  die  Hr.  Jakob  in  Halle  commandiert,  und 

"'ß  flr.  Manso  in  der  Bibliothek  der  B((!hÖnen)  Wfissonschaften)  hat 

«Usrücken  lassen,  und  ausser  Wolfs  schwerer  Cavallerie  haben  wir 

^'^h  Jknrhstens  vom  Berliner  Nicolai  einen  derben  Angrifl'  zu  erwarten. 

lehnten  (1.  eilften)  Theil  seiner  Reisen  soll  er  fast  von  nicht»  als 

<Jen  Hören  handeln  und  über  die  Anwendung  kantischer  Philo- 

^^  herfallen,  wobei  er  alles  unbesehen,  das  Gute  wie  das  Hornble,' 

^i«se  Philosophie  ausgeheckt,  in  einen  Tojjf  werfen  soll.     Es  lässt 

^'V'ohl  noch   davon  reden,   ob  man    überall  nur  auf  diese  Plati- 

®^     antworten  soll.    Ich  möchte  noch  lieber  etwas  ausdenken,  wie 

^    ^eine  Gleichgültigkeit   dagegen  recht  anschaulich  zu  erkennen 

'^®^    kann.    Nicolain   sollten  wir  aber  doch  von  nun  an  in  Text 

n,  und  wo  Gelegenheit  sich  zeigt,  mit  einer  recht  insignen 

ätzung  behandeln."    Um    dieselbe  Zeit   arbeitete  Schiller 

^    Tbeil   seiner   Abhandlung   „Über   daive    und    sentimeutalische 

c^nng"  aus,   der  im   letzten  Horenstück  von  1705  erschien;   und 

fct\ieimtzte  eine  Anmerkung  dazu,  auf  jene  Angriffe  Bezug  zu  nehmen: 


^Phi 


I 


5)  l,  'IVJ.  i\)   I,  212  f.;  2.  Ausg.  I.  105.  7l  I.  2U.         8)  I,  2:tn  ff.; 

?*  AitfiK.  I,  loi  t.    Er  iat  ohne  Datum,  mnss  al>pr  vom  I.  Novbr.  sein  (vgl.  Boas, 
^«nieiikampl  I,  13,  Note  2). 


430    VI.  Vom  zwrftcH  Viertel  des  XVIII  JahrhunJn^s  bis  ru  Goethe"!  Toi 

§  320  die  einzige  dircple  Envieilernnjr  der  Art,  die  »ich  in  den  Hören  Mlb« 
findet.    Indem  nümlich  Schiller  angemerkt  hat",  er  wolle  es  nichl 
anrathen,  dass  mit  den  schönsten  Stellen  aus  so  modernen  DiehtuD^CT 
wie  KlopHtocks  Oden^  der  Messias,  das  verlorene  Panidiot^  der  Ns 
than  etc.  seien,  eine  ähnliche  Probe  ihrer  Wirkung  und  ihre»  Werth« 
angestellt  würde,  wie  sie  Moli^re  als  naiver  Dichter  habe  wi 
können,   da  er  es  auf  den  Ausspruch  seiner  Magd  habe  ankonrart 
lassen,  was  in  seinen  Komödien  stehen  bleiben  und  wegfallen  mUi^ 
fährt  er  fort:  „Doch  was  sage  ich?   Diese  Probe  ist  wirklich  aIlf^ 
stellt,  und  die  moliere'sche  Magd  raisonniert  ja  Langes  und  Breit» 
in  unsem  kritischen  Bibliotheken,  philosophischen  und  litenirisebco 
Annalen  und  Reisebeschreibungen  über  Poesie,  Kunst  und  dergleicbea, 
nur,  wie  billig,  auf  deutschem  Boden  ein  wenig  abgeschmackter  all 
auf  französischem,  und  wie  es  sich  für  die  Gesindestube  der  deutsch» 
Literatur  geziemt."    Humboldt,  dem  Schiller  die  Han<i8chrtft  die«« 
Theils  seiner  Abhandlung  vor  dem  Druck  mitgetheilt  hatte,  wQnscbte 
diesen  Ausfall  getilgt"*;  denn  so  gerecht  diese  Züchtigung  sd, 
scheine  es  ihm  doch  angemessener,  wenn  Schiller  schweige.    Gle» 
wohl  Hess  dieser  die  Anmerkung  vollständig  mit  abdrucken.    Aöc 
hatte  er  es  schon  Goethen'*  nahe  gelegt,  dass  er  doch  gleich  di« 
erste  Stück  des  zweiten  Jahrgangs  der  Hören  dazu  benutzen  moclit 
„den  Krieg  zu  erööuen",  durch  den  ,,die  Halbheit  in  allen  Ftchi 
beunmbigt"  werden  sollte.    Indess  noch  vor  Beginn  des  neuen  Jabt 
wurden  beide  Dichter  darübe'r  einig,  dass  nicht  in  den  Hören,  sondtf* 
im  Musenalmanach  dieser  Krieg  eröffnet  würde,  und  zwar  von  ibnei 
beiden  in  Gemeinschaft".    Goethe  hatte  nämlich   noch   vor  Abiwf 
des  ersten  Horenjahres  Schillern  den  Vorschlag  mitgetheilt,  gei 
schaftlich  ein  Strafgericht  Über  alle  deutschen  Zeitschriften  in  Ej 
grammen  nach  Art  der  Xcnien  des  Martial  zu  halten  nnd  dieMÜ 
in    den   nächsten  Jahrgang   des    Musenalmanachs    einzurficken. 
schrieb  nämlich  am  23.  Decbr.*':  „Den  Einfall,  auf  alle  Zeitschril 


9)  Werke9,3,&7(GödeketM,  454).        10» In seiaein  Briefe  vom  l4.r>Kbr.11 
S.  356  f.        11)  Am  3:v  Novbr.  in  der  Antwort  auf  den  in  Anraerk.  4  uf 
Brief:  1,256.        12)  Wenn  Schilter  am  29.Kovbr.  an  Goothe  schrieb  il.  3MV 
dem  letzten  Theil  seiner  Abb&ndlnng  ,,Über  naive  und  sentiment  Dichtung, 
er  über  Platitüde   und  Ueberspannung  —  die  beiden    Klippen   de«  NaUeo  ■■• 
Sentimentalen  —  handeln  werde,  habe  er  Lust,  eine  kleine  Hasenjagd  la  in»«**' 
Literatnr  aniustellen  and  besouder«  etliche  gute  Freunde ,  wie  Nicolai  an*  Oo»* 
Sorten   zu   regalieren:   so   ist  diess   zwar  geschehen,  jedoch  keineawegi  onl  ** 
directer  Bezugnahme  auf  die  in  Büchern  gefällten  Urtheilc  ü1>er  die  Hören.  *^ 
in  jener  Anmerkung  (vgl.  in  den  Werken   besonders  S,  2,  U»* ,   wo  NIcoWb  »* 
Romanachreit>er  eins  versetzt  wird,  und  S.  !T0,  wo  er  und  Gelehrte,  wie  Jb»»* 
ah  Kunstrichtor  überhaupt  abgefertigt  werden.  I3j  I.  17S. 


Entirickeliingsgfingd- Literatar.  1773-1^32.  Literaturgeschichte.  DieXenicn.   4IU 


M. 


M. 


pigramme  in  einem  einzigen  Disticlio  zu  machen,  wie  die  Xeuien  §  320 
e.s  Martial  aiml,  »ler  mir  dieser  Tage  zugekommen  ist,  mflssen  wir 
cultivieren  und  eine  solche  Sammlung  in  Ihren  Musenalmanach  des 
nächsten  Jahres  hringen.  Wir  müssen  nur  viele  machen  und  die 
besten  aussuchen,"  Am  25.  Decbr.  sandte  er  zur  Probe  etwa  ein 
Dutzend  solcher  Xeuien  mit  der  Bemerkung,  mit  hundert  dergleichen 
könnte  man  sich  sowohl  dem  Publicum  als  seinen  Colle,i,''en  aufs  an- 
genehmste empfehlen'*.  Schiller  gieng  auf  den  Vorschlag  nicht  nur 
mit  vollster  Zustimmung  ein,  sondern  er  erweiterte  noch  gleich  den 
bedanken  dahin,  dass  die  Züchtigung  auch  einzelne  Werke  und 
ersonen  des  Tages  treffen  mUsste.  „Der  Gedanke  mit  den  Xenien, 
antwortete  er'*,  ist  prächtig  und  muss  ausgeführt  werden.  Ich  denke 
aber,  wenn  wir  das  Hundert  voll  machen  wollen,  werden  wir  auch 
ober  einzelne  Werke  herfallen  müssen,  und  welcher  reichliche  Stoff 
6ndet  sich  dal  Sobald  wir  uns  nur  selbst  nicht  ganz  schonen, 
können  wir  Heiliges  und  Profanes  angreifen."  Als  sich  gleich 
dÄfbietende  Hauptzielpunkte  der  Satire  werden  nebst  andern  na- 
mentlich aufgeführt  die  stolbergische  Sippschaft,  die  metaphysische 
Welt  mit  ihren  Ichs  und  Nicht-Ichs,  Freund  Nicolai,  die  I>eipziger 
Geschmacksherberge,  Thümmel  etc.  Mit  der  Erweiterung  erklärte 
sich  Goethe  seinerseits  vollkommen  einverstanden '".  „Ich  freue  mich", 
schreibt  er^",  dass  die  Xenien  bei  Ihnen  Eingang  und  Beifall  ge- 
funden haben,  und  bin  völlig  der  Meinung,  dass  wir  weiter  um  uns 
greifen  müssen  .  . .  Wir  müssen  diese  Kleinigkeiten  nur  ins  Gelag 
hinein  schreiben  und  zuletzt  sorgfältig  auswählen.  Ueber  uns  selbst 
dflrfen  wir  nur  das,  was  die  albernen  ßursche  sagen,  in  Verse 
ringen,  und  so  verstecken  wir  uns  noch  gar  hinter  die  Form  der 
onie.*'  Sobald  mit  der  Ausführung  des  Vorsatzes  nur  einmal  der 
nfang  gemacht  war,  wuchs  im  mündlichen  und  schriftlichen  Ver- 
ehr der  Dichter  die  Zahl  der  Epigramme  schon  binnen  wenigen 
ochen  zu  einer  ansehnlichen  Masse  an'*;  zugleich  aber  hatte  ihr 


1-1»  I,  2SS»  15)  Am  29.  Decbr.:  I,  2^4.  16)  Das  auf  diese  Er- 

[Wirung  Schillers  Bezug  nehmende  Schreiben  Goethe's  ans  dem  ScliluBs  des  J.  1795 

erst  in  der  2.  Atisgabe  des  Briefwechsels  abgedruckt  worden,  17)  t,  I2S. 

ISj  Am  'A.  Januar  171*6  kam  Goethe  zu  Schüler,  wie  er  diesem  Tags  vorher 

ekimdlgt  hatte  i2,  II  nach  Jena  und  blieb  dort  vierzehn  Tage.   Sofort  giengen 

U  Dichter  an  die  Förderung  ihres  Vorhabens.    Bereits  am  4,  Januar  schrieb 

ter  an  Hmnboldi  (S.  394),  es  seien  von  den  Epigrammen,  die  er  mit  Goethe 

QiMhen  angefangen  habet  und  in  deren  jedem  ,,nach   einer  deutschen  Schrift 

^liossen  werde'*,  schon  über  zwanzig  fertig.   Damals  hatten  sie  es  erst  auf  ein- 

lert  solcher  Distichen  abgesehen,  die,  wie  sich  Schiller  bald  nachher  gegen 

ler  1:5,  31^1  liusserte,   „eine  wahre  poetische  Teufelei"  ohne  Beispiel  werden 

^]Iten,   und  er  zweifelte,  ob  man  mit  einem  Bogen  Papier,  die  sie  etwa  fallen 

-bten,  80  viele  Menschen  zugleich  In  Bewegung  setzen  könnte,  als  diese  Xenieo 


432    VI.  Vom  zweiten  Viertel  dea  XVHI  J»Uaiunderta  bis  zu  Üoeüie'»  Tod. 

§  320  erster  Gedanke,  bloss  satirische  und  ])olenii8che  Xenien  abzufaMtn, 
sich  allmählig  zu  dem  Plan  ausgebildet,  durch  Verbindung  und  Ver- 
flechtung des  Spottes  und  der  Satire  mit  philosophischem  und  poe- 
tischem Ernst  in  diesen  Epigranintcn  eine  Art  Ganzes  hervono- 
bringen,  das  eben  sowohl  durch  Mnnnigfnltigkeit  des  Inhalts  wie 
der  Form  den  Charakter  einer  gewissen  Allheit  oder  Unermesalicb- 
keit  an  sich  tragen  sollte,  und  an  dessen  einzelnen  Thcilen  die  ^V 
fasser  niemals  ihre  besondern  Eigenthumsrecbte  auseinanderziisctien 
beschlossen '".    Jene  Absicht  wurde  freilich  nicht  vollständig  erreicht 


in  Bewegung  setzen  würden.  Bei  Goethe'ß  Abreise  von  Jena  war  die  Ztbl  da 
fertigen,  in  das  Xenicnbcft  schon  eingetragenen  auf  6ii  gestiegen  (Schulen  imd 
Goethe's  Briefwechsel  2,  tl;  vgl,  Boas,  Xenienkanipf  S  20,  Kote).  AUn  fioiiet  fk 
and  dazu  5(i  andre,  die  noch  his  in  die  ersten  Tage  des  Februars  ni  Stmnde  kaam 
oder  aus  früherer  Fassung  umgestaltet  waren  izusanuncn  also  11 H,  die  ab«r  okM 
aUe  in  den  Masenolmanaeh  aufgenommen  wurden),  mit  Angabc  des  Verfassen  tos 
jedem  tind  dazu  gefügten  Bemerkungen  und  Erläuterungen,  lu  „Schillers  aiJ 
Goethe's  Xenien-Manuscript*'.  S.  -11  — 127.  Es  waren  ihrer  damalf  •>»«' kIicd 
viel  mehr  gedichtet  {vgl.  Goethe's  Brief  vom  30  Januar  1,  I2t.    T  -cj-r 

Verlauf  der  Xenieuabfassuiig  und  über  die  Zeiten,  in  welchen  «i  .^jt.'H 

Hauptgnippen  ilor  eigentlichen  Xenien  und  der  übrigen  Epigramme,  die  von  bcUfi 
Dichtern  dem  Maseualmanach  fOr  17^7  einverleibt  wurden,  gewiss  oder  doch  lrik^ 
scheinlich  gedichtet  worden  sind,  verweise  ich  im  Allgemeinen  auf  den  BriefwecM 
zwischen  Goethe  und  Schiller  in  den  Monaten  Januar  bis  Mitte  August  179«  orf 
auf  Bons,  Schiller  und  Goethe  im  Xenienkampf  I.  l*— »7;  aos— 211;  274.  od 
Schillers  und  Goethe's  Xenien-Manuscript  S.  39 — 1 45.  1 9  >  In  Schillers  fibrf 

an  KOrner  vom  1.  Febr.   \im  heisst  es  u.  a.  (3,  323  f.):    ..Das  Kind.   veldM 
Goethe  und  ich  mit  einander  erzeugen,  wird  etwas  ungezogen  und  ein  s^wQdff 
Bastard  sein.    Es  wäre  nicht  möglich,  etwas,  wozu  eine  strong*.'  Form  «forfco 
wird,  auf  diesem  >Yege  zu  erzeugen.   Die  Einheit  kann  bei  einem  solchen  Prudw^ 
bloss  in  einer  gewissen  Grenzenlosigkeit  und  alle  Messung  überschreitenden  FOllr 
gesucht  werden,  und  damit  die  Ueterogeneität  der  beiden  rrhober  in  dem.£iaxe)Ma 
nicht  zu   erkennen  aei,   muss  das  Einzelne  ein  Minimum   dein.     Kurz  die  cttf^ 
Sache  besteht  in  einem  gewissen  Ganzen  von  Epigrammen^  davon  Jedes  einUoBO* 
distichou  ist.    Das  Mcibte  ist  wilüe,   gottlose  Satire,   besonders  auf  ScbriftsNttsr 
und  sehriftKtelleri^chc  Producta,  untermischt  mit  einznlnon  poetischen,  aach  plA^ 
sophischenGetlankenblitzen.  —  Ueber  zweihundert  sind  Jetzt  schon  fertig,  obflckb 
der  Gedanke  kaum  Über  einen  Momit  alt  ist.  —  AVir  haben  beschlossen.  itsMl9 
Eigenthumsrecbte  an  die  einzelnen  Thcile  niemals  auseinanderxujeUeiu  —  vaichB* 
auch  bei  der  Muthwilligkeit  der  Satirc  nicht  wohl  anxuratbea  wir«  —  aad  Moa* 
mein  wir  unsrc  Gedichte,   so  lüsat  ein  Jeder  diese  Epigramme  i^ane  abdrodifn*^- 
Ib  dem  Bericht  desselben  Inhalts,  der  ebenfalls  am  1.  Febr.  an  Humboldt  %h^Ha0 
fS.  415  f ),  lauten  die  Worte,  in  denen  das  Epigraramenwerk  chat     ■     '  '  n  wird- 
„Bei  einem  solchen  gemeinschaftlichen  Werke  ist  natürlicher  W-  ritad* 

Form  möglich;  allcF,  was  sich  erreichen  lässt,  ist  eine  gewisse  AlUieU  oUer  Ucb^*' 
Unermesslichkeit,  und  diese  soll  dan  Werk 'auch  an  sich  tragen.   Eine  angeoiii^' 
and  zum  Th^U  genialische  Impudenz  und  Gottlosigkeit,   eine  nichts  verscbon»^ 
Satire,  in  welcher  Jedoch  ein  lebhaftes  Strobrji  nach  einem  festen  Punkt  la  cf^ 
kennen  sein  wird,  wird  der  Charakter  davon  seln^   Vgl.  hierxu  in  dem  Bri«f««e>'*' 


<^tirickcliiugsgaiig  d.  Literatur.  1773—1932.  Goethe  und  ScUUler.  DleXenleu.  133 
ielmehr  überzeugte  sich  Scliillcr,  als  er  endlich  dazu  schritt,  den  §  320 
angesammelt eu  Stoff  zu  sichten,  zu  souderu  und  was  davon  gedruckt 
werden  sollte,  in  die  gehörige  Ordnung  zu  bringen,  von  der  Un- 
möglichkeit, hieraus,  ohne  dass  zur  Ausftlllung  bedeutender  Lücken 
noch  eine  grosse  Zahl  neuer  Eiugramme  gedichtet  würde,  ein  nur 
einigermassen  befriedigendes  Ganzes  zusammenzustellen".  Er  fand 
indessen  einen  Ausweg,  keinen  der  beiden  üauptbestandtheile  des 
mit   Goethe  iremeinschaftlich  aua^oflUirteii   Werkes  dem   andern  zu 


zwischen  ScUUJcr  und  Goethe  2»  IG  f.:   5i;   HS;    157.    In  Betreff  der  satirischeu 
und  polemischen  Epigramme  vrQnachte  Goethe,  dass,  wenn  man  darin  auch  noch 
so  bitler  wäre,  mau' sich  doch  „vor  criminellen  Inculpatioaen*' hütete  (2,  :)*t.   Dem 
stimmte  Schiller  hei:   überhaupt,   meinte  er  (2,  41),  wollten  sie  das  Gebiet  des 
frohtD   Humors  so  wenig  als  möglicti   verlassen.    Seien   doch  die  Musen  k^e 
Scharfrichter.    Aber  geachcnkt  sollte  den  Herren  auch  nichts  werden.  —   Die 
Kemsthaften  und  wohlraciüendcu"  Xenien  waren  zu  Aulaug  des  Juli  „so  mächtig** 
geworden,   dass  Goethe  „denen  Lumpenhunden,   dio   (tu  den  andern)  angegriffen 
worden,  raissgönnte,  dass  ihrer  Insoguler  Gesellschaft  erwähnt  werde"  (2,  137). 
20)  Schon  XU  Ende  des  Juni  machte  Schiller  Versuche,  die  verschiedenen  üruppen 
der  in  der  letztou  Zeit  godichtctt^n  und  für  den  Druck   bestimmten  Kpigramme 
xusammenzubriugcu ;  da  sie  ihm  alle  mis^lückten,  so  hoffte  er  noch  einen  bessern 
Krfulg   von   dem  Beistaude  Goethe's  (2,  72  f.;   vgl   2,  137).    Als  jedoch  um  die 
Mitte  des  Juli,  wahrend  Goelhe's  Auweseaheit  in  Jena,  die  Zusammenstellung  des 
(iftozen  ins  Keine  gebracht  werden  sollte,   stiess  Schiller  bei   der  Iledactiou  auf 
UDQbtirwiiidliche  Schwierigkeiten.    Er  schrieb  darüber  am  *23.  Juli  an  Körner  (:», 
Aäi  f.j:   „Mit  dem  Ganzen  (der  Xenien)  ist  eine  Veränderung  vorgegangen.  Nach- 
dem ich  die  Kedaction  davon  gemacht,   fdud  ich,   dasa  noch  eine  erstaunliche 
[p  neuer  Xenien  nöthig  sei,  wonn  die  Sammlung  auch  nur  eiuigcrmassen  den 
indruck  eines  Ganzen  machen  sollte.    Weil  aber  etliche  hundert  neue  Einfalle, 
milers  aber  wissenscluiftHchc  Gegenstände,   einem   nicht  so  leicht  zu  Gebote 
1,  und  auch  die  Vollendung  des  „Meistor"  Goethe  und  mir  eine  starke  Diver- 
ite:  so  sind  wir  übereingekommen,  ilie  Xcnieu  nicht  als  ein  Ganzes,  son- 
Lckelt  dem  Almanach  einzuverleiben".    Goethe  bednuerte  es  sehr,  da&s 
Karten-  und  LuOgebäude,  mit  den  Augen  des  Leibes,  so  Eorstdrt, 
itrlchen  und  zerätrout  sehen  müsste.    Da  sich  indess  die  Sache  eln- 
änderii  liesse,  bat  erden  Freund  nur  uoch  um  zweierlei:  seineu Nameu 
ig  als  mttgUch  unter  die  Gedichte  zu  setzen  und  alles  wegzulassen,  was  in 
^Oa  Rrci?e  und  ihren  Verhiiltnisseu  unangenehm  wirken  könnte :   in  der  ersten 
"rtn  habe  eines  das  andere  gefordert,  getragen,  entschuldigt;  jetzt  werde  jedes 
itht  mir  aus  freiem  Vorsatz  und  Willen  eingeschaltet   und  wirke  auch  nur 
In  fOr  sich  ei,  l5Sf.).   Schüler  hatte,  wie  er  am  Ml.  Juli  antwortete  (2,  lü2ff.), 
so  ungern  den  Gedanken  aufgegeben,  die  Xenien  als  ein  mit  Goethe  gemein- 
:h  ausgeführtes  Ganzes  erscheinen  zu  lassen;   es  sprAche   aber  zu  vieles 
was  sich,  für  die  nächste  Zeit  wenigstens,  nicht  beseitigen  Hesse.    Mit 
_  auf  die  beiden  Punkte,   um  deren  besondere  neriicksichtiguug  Goethe  in 
•BiieiD  Brief  gebeten  hatte,  orwiederte  Suliiller:    „Ihren  Namen   nenne   ich  spar- 
•**L    Selbst  bei  denjenigen  politischen  (Xenicni,  welche  in  einander  greifen,   und 
^Welche»  man  sich  gefreut  haben   würde,   ihn  zu  finden,   habe  ich   ihn  weg- 
"^Imc^d.  weil  man  diese  mit  den  andern,  auf  Keichardt  gehenden,  in  Verbindung 


inürifl    <>rTinilriM 


And.   IV 


'2S 


434    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderte  bis  in  Qoethc'i  Twl 

320  opfern  und  von  der  Aufnahme  in  den  Alnianach  für  das  Jahr  1797 
auBzusehlieBsen,  indem  er  die  emetbaften,  gefälligen  und  unschuldige 
Epigramme  von  rein  poetischer  oder  philosophischer  Natur  von  den 
satirischen  und  polemischen  absonderte,  jene  unter  besondere  Ceber- 
schriftenj  entweder  in  Grui)pen  oder  vereinzelt,  zwischen  andere  G& 
dichte  in  den  vordem  Theil  des  Almanaehs  einschob,  diesen  dafe^a 
in  einer  ununterbrochenen  Folge  und  unter  dem  gemeinsamen  Titel 
„Xenien"  ihre  Stelle  hinter  allen  Übrigen  Beiträgen  anwie«.  K» 
Auskunftsmittel  theilte  er  Goelhen  mit^';  so,  meinte  er.  sei  die  erste 
Idee  der  Xenien,  die  eigentlich  eine  fröhliche  Posse  gewesen.  *•!« 
Schabernack,  auf  den  Moment  berechnet,  wieder  zu  ihrem  K"  i 
gelangt;  denn  in  ihr  seien  ja  die  philosophischen  und  rein  poetihcbcü. 
kurz  die  unschuldigen  Xenien,  die  eigentlich  den  Anspruch  auf  eiuc 
gewisse  Universalität  erregt  imd  ihn  bei  der  Redaction  in  die  gtusw 
Verlegenheit  gebracht  hätten,  gar  nicht  gewesen.  Die  In-" 
gramme,  unter  dem  Namen  Xenien  und  als  ein  eigenes  Gl__  : 
ersten  Theil  des  Almanaehs  angeschlossen,  würden,  auf  einem  Iku/en 
beisammen  und  mit  keinen  ernsthaften  untermischt,  sehr  vicle5  ^'"i 
ihrer  Bitterkeit  verlieren-,  der  allgemein  herrschende  Hura'T  cit 
schuldigte  dann  jedes  einzelne  und  zugleich  stellten  sie  wirklich  eia 
gewisses  Ganzes  vor**.  Hier  war  nun  wirklich  ein  dichteiiscb» 
Strafgericht  abgehalten,  dem  sich,  wie  in  der  Form,  so  in  dem  Be- 
reiche, der  Strenge  und  der  SchÄrfe  seiner  Urtheilssprüchc  und 
Streiche,  aus  der  zeitherigeu  deutschen  Literaturentwicklung  ^icl;^ 
an   die  Seite   setzen  Hess.    Alles  was  in  der  neuesten  Zeit  Mi:  u 


vennaüien  könnte.  Stollberg  kann  nicht  geschont  verdeb.  nnd  das  «oH^  ' 
wohl  seJbst  nicht,  uml  Schlosser  iGoeÜie's  Schwager)  wird  nie  genauer  beic><  >  ' 
als  eine  allgomeino  Satire  auf  die  Frommen  erfordert.  Äu&serdcm  kommfB  dkw 
Hiebe  auf  die  stolbergiflcheSecte  in  einer  solchen  Verbindung  vor.  dass  jediT  nick 
als  den  Urheber  sogleich  erkennen  muss;  ich  bin  mit  Stolberg  in  einer  i^eirclitii 
Fehde  Ivgl.  S.  43r»  f.)  und  habe  keine  Schonung  nöthig.  Wieland  soU  mit  J*r 
«ierlichen  Jungfrau  iu  Weimar"  wegkommen  (Xeuie  76J.  worüber  er  iicb  mf^' 
beklagen  kann.  Uebrigeug  erscheinen  diese  Odiosa  erst  in  der  zweiten  tUll'u  >ii9 
Almanaehs,  dass  Sie  bei  Ihrem  Hiersein  noch  auswerfen  kOaneu,  was  lUnfn  P^ 
düukt.  Um  Iflland  nicht  weh  zu  thuu,  will  ich  in  dem  Dialug  mit  Sbak^p^'* 
lauter  achroedersche  und  koUebuesche  Stücke  bezeichnen"  (Xeuie  4(H;  ti"ii. 
21)  Am   1.  August:    2,  t6ti  ff.  •    22)  Damit  war  auch  Goethe  gauz  xnfrM 

(2,  170  f.;  vgl.  anch  Schillers  Brief  Yom  ö.  August  2,  ITif.,  mit  welchem  ff  i 
Freunde  eine  Anzahl  ernsthafter  Xenien  Übersandte,  die  er  in  Kincn  Stnu* 
sammengebimden  hatte.  —  dicTabulae  votivac  — ;  Goeihe's  Antwort  2,  lT3f  *■' 
Schillers  Brief  an  Körner  3,  :t56).  Am  \'i.  August  kündigte  Ooeibe  wkürr  td 
Besuch  iu  Jena  für  den  folgenden  Tag  an  |2,  193);  w&hrend  seinM  Aufcolb*^] 
doAcIbst,  also  in  der  zweiten  HiUfie  des  Augusts,  wurde  dicRedactioDileT  ^Xt»*^; 
follendet,  mid  schon  am  2f).  Septbr.  sandte  Schiller  an  KCmer  ein  voUstia^^ 
Exemplar  des  Almanaehs  für  das  J.  17**7. 


iatwickelutigsgang  d.  Literatur.  177:4— 1832.  Goethe  und  Schiller.  DieXcuicn.   435 

ligcs  und  Falsches,  Geschmackloses  und  Halbes  auf  den  Crcbicteu  §  320 
echänen  und  zum  Theil  auch   der  wissenschaftlichen  Literatur 
hervorgebracht  worden,   die  ganze  althergebrachte,   engherzige  und 
abgelebte  Kritik  in  den  literarischen  Zeitschriften,  sammt  den  neuesten 
lichten  und  sich  spreizenden  Geschmackslehren,  Kunsttheorien  und 
moralisierenden  Aesthetiken,  alles  was  im  religiösen,  politischen  und 
literarischen  Leben  den  Dichtern  als  Unverstand,  Uebertroibung  und 
erkehrtheit,  voller  Anmassuug  und  Ueberhebung  erschien  und  auch 
wirklich  meisteutheils  so  war:  diess  Alles  hatten  sie  hier  in  seiner 
>.■.  :diren  Natur  hervorgehoben  und  in  einer  langen  Reihe  von  Schrift- 
lern  und   Btlchern   schonungslos   verlacht   und   gezüchtigt.    Am 
fbelsten  war   es  unter   diesen  Vertretern  der  ihnen  widenvilligen 
iitrichtungon  denjenigen  ergangen,  von  denen  die  Dichter  entweder 
lurch  die  öfientlichen  Beurtbeilungen  ihrer  Beitrage  zu  den  Hören** 
[er  durch  andere  gedruckte  Auslassungen  in  ihrem  schriftstellerischen 
Ibaraktcr  gereizt  und  verletzt  worden  waren.    So  waren  namentlich 
[icolai,  Manso,  Reichardt,  Jakob,  und  eben  so  der  jüngere  Stolberg 
td  Friedrich  Schlegel  nicht  bloss  mit  vereinzelten  Xenieu,  sondern 
lit  ganzen  Ladungen  davon  bedacht**.     Gegen  Nicolai  war  besonders 
Schiller  aufgebracht**;  ausser  den  gegen  ihn  gerichteten  eigentlichen 
.enien  brachte  der  Musenalmanach    auch   noch   in   seiner  vordem 
[*lfte,  mit  Schillers  Unterschrift,   eine  Fabel,  „der  Fuchs  uud  der 
Lranich.    An  F.  Nicolai,"  die  dieser  mit  einer,  voll  boshaften,  aber 
»ehr  niedrigen   Witzes,  in  Prosa,  „Faiiuelli   und  Garrick.  ;An  Fr. 
^cliiller*'",  erwiderte".    Reicbardt  stand  frtiher  in  sehr  gutem  Ver- 
ncLmen  mit  Goethe^;  Schiller  hatte   schon  im  Frühjahr  1789,  als 
Reicbardt  der  Composition  von  Goethe's  „Claudine  von  Villa  Bella" 
»"egeu  in  Weimar  war,   einen  starken  Widerwillen  gegen  ihn  em- 
^unden,  und  schrieb  an  Körner":  „Dieser  R.  ist  ein  unerträglich 
iglicher  und  impertinenter  Bursche,   der  sich  in  alles  mischt 

23i  Vgl.  S.  425  ff.  24)  In  Betreff  der  übrigen  Personen,  Schriften,  lite- 

icheu  Hichtun^reu  uud  Zustünde,  auf  wclcbe  die  Xenieu  zielen,  verweise  icht 

^ie  in    Betreff  der  Versuche,  den  Verfasser  eines  jeden  Epigramms  zu  er- 

^^In,  auf  Üoas,  a.  a   0.  I»  ^y — lü"  und  oiif  das  Xenien-Manuscr.  S.  41 -IM. 

25 1  Vgl,  den  Schluss  der  S.  \2\),  unten,  augeführten  Stelle  aus  seineuj  Briefe 

1    Novbr.  I'i95  (1,235  ff.).         20t  In  dem  Anhaugo  xu  Fi-.  Schillers  Musen- 

lach  etc,  S.  (io  f.  27l  Vgl.  Lassou,  Fr-  Nicolai  im  Kampfe  gegen  den 

luw.  im  Archiv  f.  d.  Studium  d.  neueren  Sprachen  32,  257— 2S6.  —  Eben- 

dem  vordem  Thell  des  ^]useualnlauachs,   8.  llu  f.,   uud  nicht  unter  den 

ichen  Xenieu,  stehen,  mit  Goethe's  Unterschrift,   die  auf  Jean  Paul^zielcn- 

»rtits  oben  erwähnten  Strafverae,  „der  Chinese  in  Rom";  vgl.  Brief^cchacl 

'chcn  Schiller  und  Goethe  2,  180;    1S2.  2S)  Vgl.  Briefe  Goethe's  an 

^*^lianU  AUS  den  Jahren  I7SÜ  bis  21.  Decbr.  XVJb   in  Schletterers  Buche   Über 

^^Äwrdt  1,  5:tl  ff.  29)  2,  91. 


436    VI.  Tum  zweiten  Viertel  des  XVin  JahrhanderU  bb  su  tioeUie's  Xi 


320  und  einem  nicbt  vom  Halse  zu  bringen  ist."  Er  liess  sich  im  Früh- 
ling 1795  durch  einen  Andern  zu  einem  Mitarbeiter  au  den  Hm 
anbieten f  und  Goethe  meinte,  man  dürfe  ihn  nicht  abweisen,  b\ 
seine  Ziidnuglichkeit  werde  Schiller  sehr  in  Schranken  halten  mttssea^ 
Ob  dieser  mit  ihm  wirklich  in  Verbindung  getreten,  ist  aus  dl 
Briefwechsel  nicht  ersichtlich,  doch  kaum  wahrscheinlich-  Ge^ 
Ende  Januars  1796  berichtete  er  dagegen  Goethen  von  der  Recen^ 
der  Hören  in  Reichardts  Journal  „Deutschland'',  mit  der  Aiiübrdema;, 
diesen  ihren  ,,8oi-disant  Freund  mit  einigen  Xenien  za  heebreQ", 
und  mit  dem  Zusatz:  „Wir  mQssen  Reinhardt,  der  uns  so  ohuealU 
Grund  und  Schonung  angreift,  auch  in  den  Horcu  bitter  verfolgen" 
worauf  Goethe  erwiederte^:  „Hat  er  sich  emaneipiert,  so  soll  er 
gegen  mit  Caruevuls-Gips-Dragcen  auf  seinen  Büffclri>ck  bi^l 
werden,  dass  man  ihn  für  einen  PerrUckenmacher  haben  *m>II. 
kennen  diesen  falschen  Freund  schon  lange  und  haben  ihm  blc 
seine  allgemeinen  Unarten  nachgesehen,  weil  er  seinen  besom 
Tribut  regelmässig  abti*ug;  sobald  er  aber  Miene  macht,  dieMD 
Tei'sagen ,  so  wollen  wir  ihm  gleich  einen  Rassa  von  drei  hreni 
den  Fuchsschwänzen  zuschicken.  Ein  Dutzend  Disticha  sind  il 
schon  gewidmet".  Schiller  fand  ihn  hierdurch  gut  vcc<mniiandi( 
er  müsste  aber  noch  mehr  und  auch  als  Musiker  angegriffen  wi 
damit  er  auch  bis  in  seine  letzte  Festung  hinein  verfolgt  wBtii^ 
weil  er  den  beiden  Dichtern  auf  ihrem  legitimen  Boden  den  Kn% 
machte".  Jakob  musste  als  Herausgeber  der  „Anualen  der  PWb- 
Sophie"  für  Mackensens  Rccension  der  Briefe  ,,Qber  die  Asthetisoke 
Erziehung**  büssen.  Stolberg  war  mit  Schiller  schon  178S  in  «oe 
Fehde  gerathen*'.  In  diesem  Jahr  hatte  Schiller  im  MärzstOck  A« 
deutschen  Merkurs"  sein  Gedicht  „die  Götter  Grieclienlands**  »K 
drucken  lassen,  das  er,  wie  er  sich  wenigstens  gegen  Kfli 
äusserte,  „in  der  Angst  machte",  weil  Wieland  auf  ihn  bei  di< 
MerkurstDcke  gerechnet  hatte.  Einige  Monate  H]»:itur  erschien 
deutschen  Museum"  ein  Aufsatz  von  Fr.  L.  Gr.  zu  Slolberg,  „ 
danken  über  Herrn  Schillers  Gedicht:  Die  Götter  Griechenlam 
worin  sich  der  Verfasser,  dessen  AuflTusHinig  der  gricchirtchcn  Mrtl 
logic,  wie  er  sie  hier  durchblicken  liess,  Uusserst  beschr^okt 
schief  war,  mit  gewaltigem  Eifer  gegen  die  venneintliche  Tendei 
des  ßchillerscheu  Gedicbts  erhob.  Er  fand  darin  Lästerung,  zu  M 
sich  Satire  geselle.  Man  werde  vielleicht  sagen,  das«  ein  Spiel 
Phantasie  nicht  so  strenge  geprQft  werden  dürfe;  aber  dio  S| 


3U)  1,  147;  149.  31)  2,  4:  Iti;  vgl.  Boas,  Xenieakampf  t,  31,  Svtt 

32)  2,  14.  H3)  2,  21.  34»  Vgl.  S.  434,  Aam.  2(».  3ÖI  I,  JM  * 

36)  I,  269.  37)  1799,    2,  07  S. 


EDtwicketungsgangd. Literatur.  1773—1^3*2.  Goethe  und  Schüler.  DieXcnicn.   437 


Fd 


der  Phantasie  ohne  den  belebenden  Geist  einer  ernsten  Emjtfindun^' 
ien   eines  Dichters,    wie  Schiller,    nicht  würdig.    Ueberdiess  sei 
ieser  C4eist  in  dem  Gediclit  nur  zu  sichtbar.    Ein  Geist  aber^  welcher 
gegen  Gott  lästere,  und  welcher  die  Tugend  verächtlich  zu  machen 
saohe,  sei  kein  guter  Geist.    Stolberg  sab^  wie  er  bemerkte,  wohl 
das  poetische  Verdienst  des  Gedichts,  aber  er  sprach  es  unumwunden 
auBf   der  Poesie  letzter  Zweck  sei   nicht  sie  selbst  il).     Er  mochte 
lieber  der  Gegenstand  des  allgemeinen  Hohns  sein,  als  ein  solches 
Lied  gemacht  haben,   wenn  auch   ein   solches  Lied  ihm  den  Ruhm 
des  grossen  und  lieben  Homers  zu  geben  vermöchte;  und  wenn  eJu 
nmnudigcs  Publicum  ihn  für  das  Gift,   welches  er   ihm  im  Becher 
der  Musen  gereicht  hätte,  vergötterte,   so  würde  er  sich  selber  ein 
muthwilliger  Knabe  scheiuen,  der  seinen  Pfeil  gegen  die  Sonne  los- 
bnelle,   weil  sie  sich  von  ihm  nicht  greifen  lasse.    Schiller  selbst 
ess  damals  diese  Ausfülle  und  Beleidigungen  ungeahndet;  er  liess 
ich  nicht  einmal  gegen  Körner  des  Weiteren  darUber  aus,  sondern 
achte  ihn  nur  ganz  beiläufig  auf  den  Aufsatz  aufmerksam".    Körner 
d  sich  aber  durch  den  Inhalt  desselben  bewogen,   „vortrefflich 
hte  und  mit  Ruhe  u\id  Mässigung  ausgeführte  Betrachtungen*' 
anter  der  Uchcrschrift   „lieber   die  Freiheit  eines  Dichters  bei   der 
Wahl  seines  Stoftes"  fUr  Schillers  Thalia  zu  liefern".  Schiller  erkannte 
das  Verdienst  dieses  Aufsatzes  an*°,   hätte  aber  gewUnscht,   dass 
Körner  mit  etwas  mehr  Ausführlichkeit  ins  Detail  gegangen   wfire 
und  ,, einen  armen  Sünder  wie  Stolberg,  der  eine  gewisse  Schätzung 
beim  Publicum  usurpiere,  in  sein  wahres  Licht  gestellt  hätte.''    Was 
Goothen  zunächst  und  zumeist  gegen  Stolberg   in  Harnisch  brachte, 
aus  der  oben*'  mitgetheilten  Briefstelle  zu  ersehen.    Auf  Schillers 
unsch,  die  von  Goethe  angezogene  Vorrede  Stolbergs  in  Augen- 
bein zu  nehmen  '^  schickte  ihm  Goethe  ,,die  neueste  Sudelei  des 
fliehen  Salbaders^' ^';  er  hatte  die  Stelle  der  Vorrede  angestrichen, 
orauf  man  einmal,   wenn  man  nichts  Besseres  zu  thun  habe,  los- 
hlagen  müsse.    Schiller  fand  denn  auch,  dass  diese  Vorrede  „wieder 
Horribles"  sei".    Als  er  später,  im  Juli  1796,  noch  gemeldet 
*%  er  habe  kürzlich  erfahren,  Slolberg,  und  wer  sonst  noch  bei 
gewesen,  hätte  den  „Wilhelm  Meister''  feierlich  verbrannt,  bis 
das  sechste  Buch  (die  „Bekenntnisse  einer  schönen  Seele"),  denn 


§  320 


ist 


;JH)  I.  344.  39)  Das  (i.  Heft;  vgl.  Uuzu  liriefwechsol  mit  Ki^rner  1,  ühO. 

4(h  1.395.  41)  S.  4'i\  Aimi.  4.  4*2)  „Eines  Meascheu,  bei  dem  Unnkel 
it  Uaverntfi($eD  in  so  hohem  Grade  gepaart  sei,  dass  er  kein  Mitleid  mit  ihm 
ihen  köune":   I.  *2r>4.  4;W  Den  2ö.  Novbr.   ITltö:  1.  25S.  44)  „So 

voruehmc  Seicbtlgkeit,  ein«  anmassunp volle  Impotenz  luid  die  gesuchte, 
reobar  nur  gesachte  Frömmeleil"     i,  Ifüi.  45i  *J,  !4'J. 


wm 


43S     VI.  Vom  zwoiten  Viertel  dca  XTIII  Jabrhauderto  bis  za  GoeÜ>f*s  Tod. 


§  320  er  hielte  diese  iu  allem  Ernst  für  eine  £ni]»feblnn^  der  Herrnhut 
und  hätte  sich  achr  daran  erbaut*',  antwortete  Goethe*:  „Die  Aut 
da  Fe  der  Stolberge  und  die  Epigramme  der  Baggescn**'  sollen  ibne 
Übel  bekommeu ;  sie  haben  ja  nur  einen  Credit,  weil  man  sie  Ifderie 
und  es  wird  keine  grosse  Mühe  kosten,  sie  in  den  Kreis  zu  banneo^ 
wohin  sie  gehören"".    Schlegel  endlich,  damals  in  Dresden  lobend 
und  .Schillern  bereits  bekannt,  als  er  mit  dem  ftltern  Bruder  nAch 
in  keinem  persönlichen  oder  literarischen  Verhältuiss  stand,  war  ihn 
seit   dem  Winter   1793   als  ein  junger  Gelehrter  nnd  Schriftsteller, 
der  für  die  Zukunft  etwas  verspräche,  von  Kömer  mehrfach  enipfolilea 
worden  '°.     Für  einen  seiner  frühem  Aufsähe  hatte  Körner  sieh  aucb 
schon  um  Aufnahme  in  das  letzte  Stück  der  Thalia  bei  Schiller  ver- 
wandt, und  dieser  trat  ihn  zuletzt  nur  deshalb  an  Biester  fUr  dcuMo 
„Borlinische  Monatsschrift"  ab,  weil  dafür  in  der  Thalia  kein  Raam 
mehr  übrig  war^**.     Durch  Fr.  Schlegel  lernte  Körner  auch  xurrrt 
A,  W.  Schlegels  Arbeit  Über  Dante  näher  kennen ,  und  beide  v 
mittelten  es,  dass  dieselbe  zu  Schillers  Verfügung  für  die  Hören 
stellt  und  damit  A.  W.  Schlegel  für  diese  Zeitschrift  überhaupt,  ••►: 
wie  auch  für  den  Musenalmanach  als  Mitarbeiter  gewonnen  wurde 


1 


40)  %  152.  47)  Üeber  die  venetianiBchen  Epigramme  von  Uoeth*, 

Schillers  Brief  3,  149.  48)  Wi«  sehr  das  Treiben  des  stolberg^hen  Krciitt' 

und  seiner  Sinncsverwandten  Goethe'a  Missfallen   und  Äerger  erregt,  und  vip  «r 
gern  die  Gelpgenheit  ergriflen  hatte,   mit  Schiller  diese  Art  von  Frommen  In  dm 
Kenieu  zu  bekriegen,  erheUt  beBOuders  auch  aus  seinem  bald  nach  dem  KrsrhdBB 
des  Xeiiienalmanachs   abgefassten  Schreiben   an  IL  Merer,   als   dieser  in  ItaBs 
war,   in   den  von  Hicmer  herausgegebenen  Briefen   von  und  an  Goethe  S.  43  l; 
vgl.  auch  den  Briefwechsel  zwischen  Schüler  und  Goethe  '2.  2b^;  2f<5  t.    So  hAtti 
er  schon  neun  Jahre  zuvor,   wahrend  seiner  italienischen  Reise,    sich  aoö  (Tit< 
schicdenste  gegen  die  religiösen  lUcbtungen  und  Bestrebuugea  von  Lavater>  (lao* 
dius  und  Fr.  H.  Jacob!   brieflich  ansgesprocben  and  sich  für  die  Äuflusoog  te 
Religion  in  dem  Sinne  Herders  4im  dritten  Theil  seiner  .»Ideen"  and  in  demBocte 
„Gott")  erklärt  (vgl  Goethe's  Werke  2'.»,  1 10 f.;  \\b  ff.  und  dazu  PünUer,  Frtwd» 
büder  S.  107  f  ;    2iH  f).    Daher  wurden   neben  Stolhcrg    auch    CUudius.  Jv^ 
StiUing  und  J.  G.  Schlosser,    mehr  aber  noch  Lavater  mit  Xenien  bedacht  dlt 
Boas,  XiMiienkampf  I,  57  f.;  73:  53  f.;  .V.>f.    Dass  aber  das  [»tsticbon  N.  2^2  wirk- 
lich auf  Klopstock,  und  nicht  auf  Lavater  zu  beziehen  ist,  bezeugt  nun  das  Xcoitt- 
Manuscript  8.  \'I2).   Gocthe's  Abneigung,  ja  Widerwille  gegen  diesen  eheinalf  Uo 
80  theuern  Freund  spricht  auch  recht  energisch  aus  dem  Briefe  an  Schiller  t,  21*» 
der   ira  Herbst   ITitf.   ge.^chriebea  ist.    Wenn  Fr.  H.  Jacobi  in   den  Xeoin  »* 
schont  geblieben  oder  doch  nicht  dlrect  getrofTm  worden  ist,   so  ist  dieu  wai^ 
stens  nicht  von  Anfang  an  Goethe  s  Absicht  gewesen ;  denn  im  Xeuien-ManaKril* 
l3.  07»  findet  sich  ein  Distichon  auf  den  „Woldemar**  und  den  „AUwül-,  wHd» 
dort  iS.  6i)f.)  ganz  richtig  als  eine  „unter  dem  Sammetpfötchen  verborgeue  Knll^' 
bezeichnet  and  demgemftss  gedeutet  wird.       40)  Briefwechsel  mit  E6ni«r  ^.  i^'- 
20t  50)  3,  20T;  211;   217;    226;  230.  51|  3,  224;  22«;  211;  »♦: 


254;  2RS. 


kkeluugsgaDg  d.  Literatur.  17T3—1S32.  Goethe  und  Schiller.  Die  Xenien.   439 

•h  Yon  dem  jUngern  Bruder  hoffte  Schiller  bald  etwas  fllr  die  §  320 
loren.  Nachdem  er  schon  am  5.  Jauuar  1795  an  Kürner  geschrieben", 
tf  erwarte  mit  der  Zeit,  wenn  Selile^els  Ideen,  an  denen  er  sehr 
•eich  sei,  mehr  Klarheit  erhalten  hätten,  und  die  Form  über  den 
jtoflf  erst  Meister  geworden  wäre,  viel  Vortreffliches;  Hess  er  am 
12.  Juni  durch  Körner  hei  ihm  anfragen**,  ob  er  vielleicLt  einen 
\ufsatz  fertig  oder  unter  der  Feder  habe,  der  für  die  Hören  brauch- 
bar wäre;  wodurch  Fr.  Schlegel  „sich  sehr  geschmeichelt  fand'***. 
Freilich  wurde  Schiller,  als  er  den  Aufsatz  ,,Uebcr  die  Grenzen  dos 
•ichünen*'  im  d.  Merkur  gelesen",  wieder  irre  an  ihm  und  fUrchtete, 
BT  habe  zum  Schriftsteller  kein  Talent  =*.  Indess  Köraer  liess  nicht 
Aach,  seinem  jungen  Freunde  das  Wort  zu  reden",  und  Schiller  fand 
lach,  nachdem  er  sich  mit  den  Abhandlungen  Über  die  griechischen 
Frauen ■'•  etwas  bekannt  gemacht  hatte,  dass  der  Verf.  sich  hierin 
merklich  verbessert  habe,  konnte  sich  jedoch  noch  immer  nicht  der 
Bcsorgaisa  erwehren,  dass  „ihn  eine  gewisse  Schworfälligkeit,  Härte 
und  selbst  Verworrenheit  nie  verlassen  werde".  Gleichwohl  wünschte 
ar,  dasa  Schlegel  auf  eine  Materie  gcriethe,  die  ihn  für  die  Hören 
brauchbar  machte,  da  die,  worin  er  jetzt  arbeite,  durch  W.  von 
Humboldt  schon  zu  gut  besetzt  sei*".  So  liess  sich  alles  zu  einer 
Eunebmenden  Annäherung  zwischen  Schiller  und  Schlegel  an,  als  * 
dieser  die  Unvorsichtigkeit  begieng,  in  einem  Briefe,  der  in  Reichardts 
i:il  „Deutschland''*"  abgedruckt  wurde,  eine  Recension  des  ersten 
,ings  von  Schiltera  Musenalmanach  zu  liefern,  worin  manches 
ll;»nc  und  Schiller  Vorletzende  nicht  bloss  über  einzelne  seiner  Ge- 
richte, sondern  auch  über  seinen  ganzen  schriftstellerischen  Charakter 
gesagt  wai '*'.  Zwar  schrieb  Körner  an  Schiller",  die  Recension, 
reiche  manche  gute  Bemerkungen  enthalte,  aber  im  Ton  hier  und 
la  bart  und  anmassend  sei,  mache  den  Verfasser  jetzt  besorgt,  er 
lüöcbte  wegen  einiger  Stellen  von  Schiller  missverstanden  werden; 
>r  'Kömer)  habe  ihn  deshalb  zu  beruhigen  gesucht,  und  Schiller 
mCtge  sich  darauf  verlassen,  dass  er  keinen  wännern  Verehrer  als 
ihn  habe**;  wo  er  aus  einem  andern  Tone  zu  sprechen  scheine,  sei 
DB  bloss  Becensentencostüm  oder  das  Bedürfniss,  seinen  Richterberuf 
strenge  Forderungen  zu  beglaubigen.  Indessen  zog  diese  Re- 
a  Schlegeln  nicht  nur  einige  auf  sie  abzielende  Xenien  zu. 


62»  3.  «6.  53)  3,  268.  54)  3.  272.  55)  Vgl.  oben  S.  3S0,  79. 

56t  3,  2^3.        57)  3,  275.       58l  „Ueber  die  Darstellung  der  weiblichen  Cha- 
in den  griechiscJien  Dichtem"  und  „Ueber  dieDiotima",  vgl.  S.  3S9, 78.  80. 
Brief  an  diesen  vom  IT.  Decbr.  1795.  8.  ,^61  ff.         60(  St.  6,  S.  A4S  ff. 
»tt  Stellen  daraus  hei  Uoas,  Xenieokampf  I,  164  f.;  107  f.  62)  Im  Juli 

16,  a]s  Schlegel  eben  von  Dresden  nach  Jena  al»gercist  war:  3,350.        b'h  Vgl. 
;b  Hoffmeister,  Schillers  Leben  4,  225. 


440    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIIT  Jahrhunderts  bis  zn  Ooetb6>  Tod 

320  ßondern  sie  legte  auch  in  Schiller  den  ersten  Grund  zu  der  Ab- 
neigung gegen  ihn,  die  sich  mit  der  Zeit,  freilich  auch  durch  Schle^b 
Schuld,  immer  mehr  zur  Erbitterung  steigerte  und  nachher  auch  m^ 
VerhältnisB  mit  dem  altern  Bruder  sehr  lockerte.  Andere  Xei 
gegen  den  jüngeren  wurden  durch  rerschiedene  Aussprüche  und 
hauptungen  desselben  in  seiner  Schrift  „Ueber  das  Stoditim 
griechischen  Poesie"  veranlasst,  deren  Inhalt  Schiller  noch  vor  ihi 
Erscheinen  aus  dem  Auszuge  in  IReichardts  „Deutschland""' 
vielleicht  auch  aus  Aushängebogen  kennen  gelernt  hatte".  Kör 
meinte,  nachdem  er  den  Xenienalmanach  gelesen"",  es  kunne  ni 
schaden,  dass  auch  Fr.  Schlegel  darin  „gezüchtigt*'  worden,  1< 
aber  noch  immer  ein  gutes  Wort  für  ihn  ein*".  Das  Aufsehen,  welcbi 
die  Xcnien  gleich  bei  dem  ersten  Erscheinen  des  Almannohs  tlbci 
in  Deutschland  machten,  und  die  Aufregung,  welche  sie  die  mlclwi 
Monate  hindurch  in  der  Schriftstellerwelt  hervorbrachten,  war  j^va 
ausserordentlich".  Die  erste,  für  die  damaligen  Verhältnisse  «hf 
bedeutende  Auflage  des  Almanachs  (sie  bestand  in  2000  Exemplaren*i 


04)  Vgl.  oben  S.  390,  S5.         65)  Vgl  Boas.  a.  a.  0.  I,  I7rt;  173— »T^;  in 
und  Xenien-ManuBcript  S.  142  ff.  60)  3,  362.  67 1  Üebrigens  winl  lais 

jetzt,  um  gerecht  zu  sein,  Schillern  in  seinen  Invectiven  gegen  Schlegels  ,.OrfcM*> 
manie*'  am  venigaten  Heif'all  zollen  dürfen.   Hatte  er  nicht  scthgt,  somnit  tiodho, 
mehr   als   zuviel   in  Versen  und   in  Prosa   die  Bildung,   Poesie    and  Konft 
Griechen  über  alles  erhoben,  was  die  Neuzeit  davon  besass?   Durfte  sieb  ^c 
möchte  man  femer  fraf^en,  durfte  sich  selbst  Goethe  an  fn^^^^^bor  Kenntniu 
griechischen  Poesie  und  der  EntwicUelung  des  ganzen  griechischen  G 
überhaupt  mit  Fr.  Schlegel  in  dieser  seiner  besten  Zeit  wohl  messen, 
sich  um  die  Abschätzung  des  Werthcs  und  der  Kigenthümliclikeit  der  elaen  oA 
der  andern  handelte  V    Wenn  ich  unter  den  verschiedeneu  Ansstellungen.  wcJ(ib0 
in   den  Beurtheilungen  der  Hören   an  Schillers  Briefen  nber  die  ästhetisch*  Br- 
Ziehung  gemacht  wurden,  einer  die  vollste  Beisiimmung  ertbeilcu  kann,  so  ist  19 
diejenige,  welche  Schillers  Auffassung  des  Oriechentfaums  t>etriift  (vgl.  Manfo'i  n/M. 
Schützens  Recensionen).  —  Die  gegen  ihn  gerichteten  Xenien  (vgl.  Qbcr  diocAi^ 
M.  Bcrnays  in  den  Grenzboten  lS6i>,  N.  50,  S.   UMi  ff.  und  Nr.  51,  S.  Aih  v 
klUren  den  scharfen  und  herben  Ton,   wonn  Fr.  Schlegel  seine  oben  anj' 
und  erst  nach  dem  Krscheinen  des  Xenienalraan&chs  abgedruckte  Rrv,-i;.:,,i    i.r 
Iloreji  ftbfasste.   Sie  htltte  beinühc  zur  Folge  geliabt,  dass  sich  schon  «liuiui-  i ..  i 
die  Verbindung  zwischen  Schiller  und   A.  Vv.  Schlegel  völlig  löste   ivc)    Iri  t- 
Schillers  und  Goethe's  an   A.  W.  Schlegel  S.  Iti  ff.   oder  Boas.    Xcnien kaniji 
252  ff.),  6Si  .»Ich  erinnere  mich  jener  Zeit  noch  sehr  geoaa", 

Fr.  Hom  in  seinen  Dichtercharakteren  und  biographischen  Skizxen  iRrrUai^39 
S.  &',  „und  darf,  der  völligen  Wahrheit  gemäss,  erzAhlenV  daais  vom  N'orlir.  \7% 
bis  etwa  Ostern  1797  das  Interesse  Hlr  die  Xenien  in  den  gebildeten  SlAndos.  Wt 
Lesern  und  auch  ImjI  sonstigen  Nichtlesem.  auf  eine  Welse  herrscht«,  die  »ß«* 
andere  Literarische  überwältigte  und  verschlang"  etc.  ivgl.  Boa«.  XeiaiaÜEsof' 
S.  20.  69)  Vgl    Briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Goethe  2,  2ftS ;  SdaBiri 

Brief  an  Kömer  3,  373. 


^ 


Entwickelungsgang  rt.  Literatur.  1773 — IS32.  Goethe  und  Schiller.  tHcXenien.   441 

^^ar  hiinien  wenigen  Wochen  vergriffen.  Am  10.  Octbr.  1796  waren 
davon  bereits  so  viele  verkanft,  dass  Schiller  an  Goethe  schrieb.  Hie 
wtirden  wohl   auf  eine  zweite  Auflage   denken  müssen^";  vierzehn 

KTftge  später  munterte  er  Cotta,  als  Verlefrer  des  Almanaehs,   wirk- 
lich zu  einer  solchen  auf";  in  der  Mitte  des  November  wurde  auch 
ichon  daran  gedruckt,  doch  nur  in  500  Exemplaren'',  und  am  \K  Decbr. 
konnte  Schiller  eines  davon  an  Goetiie  senden'^,  dem  er  drei  Tage 
darauf  meldete,  auf  die  neue  Auflage  seien  bereits  so  viele  Bestellungen 
gemacht,   das  sie  bezahlt  sei'*.    Auch  die  zweite  reichte  noch  nicht 
aus,  um  alle  Besteller  zu  befriedigen,   so  dass  zu  einer  dritten  ge- 
schritten werden  musste".    Bald  erhielten  die  Dichter  auch  von  allen 
Seiten   her,   in   mündlichen  und  schriftlichen  Mittheiliiugen,   Kunde 
von   der  Wirkung  der  Xenien   sowobl   auf  das  Publicum  im  Allge- 
meinen, wie  auf  die  von  ihren  Pfeilen  getrofTencn  Schriftsteller  und 
ren  Freunde  und  Anhänger  im  Besondern"*'.     Dort  hielt  sich  die 
timmuiig  gegen  sie  wenigstens  noch  zwischen  Beifall  und  Unwillen 
getheilt,  wiewohl  dieser  jenen  eher  überwog;  als  gegen  ihn  zurtlck- 
t;    hier  erhob  sich  ein    wahrer  Sturm   der  Entrüstxing,    des  In- 
mms  und  der  Wuth,  der  in  einer  langen  Reihe  von  Journalartikeln 


320 


70)  2,  2IS  f.  71)  2.  244  f.  7-2)  2,  251:  2fiO  f.  73)  2,  2S9. 

74)  2»  294.  75)  Von  dieser  geschieht  zwar  io  dem  Briefwechsel,  wenn 

eh  etvas  darauf  Hindeutendes  nicht  übersehen  habe ,  keine  Erwähnung,  sie  wird 
'mdM5  Ton  Jurdens  4,  4S6  und  von  Andern  angeführt.  Einen  vollständigen  Ab- 
•Ifuck  der  Xenien  lieferte  Überdiees  noch  Im  J.  I7y7  Daniel  Jenisch  in  demBüoh- 
l"n  „Ütcrarische  Spipssnithen»  oder  die  hochadligen  nnd  berilchtigten  Xenien. 
Mit  «Iinteniden  Anmerkungen  etc.  Weimar,  Jena  und  Leipzig".  Die  bedeu- 
tenilri  ■-    Jer  Xenien  aus  spiiterer  Zeit  und  vor  dem  Erscheinen  von  Boas' 

i*"f'  ,iid  Goethe  im  Xenienkampf  *,  StiUtg.  xind  Tubingen  \S't\.   2  Ude.  8., 

»oriD  tl/fiiialU  alle  Xenien  abgedruckt  sind,  ist  die  Danziger  vom  J.  l'^'Xi:  „Die 
Xeuipn  AUS  Schillers  Musenalmanach  filr  das  J  I7f)7.  Geschichte,  Abdruck  und 
»lantoTung  derselben  etc.    KJ.   <von  nicht  bekannter  Handi.  7G)  Vgl.  Brief- 

^*fbe]  zwischen  Schiller  und  Goethe  2,   imi;    207:   2!5  f.;   221  f.;   23»  f.;  235; 
,5^  t;  2:j0  f.  ri.  Aüsg.  1,  234  f »;  242  (i.  Ausg.  I.  2301:  24.if.  (2.  Ausg.  I.  337); 
i!  ff.;  254  f.;  ih^;  277;  27Ö  ff;  2SS;  2»JÜ  f.;  2'.t3  f.;  304  f.;   3,  7;   16;  32; 
.   and  Schillers  Briefwechsel   mit  Körner  3,  3fil ;   371  f.;  375   (aUe  diese 
fallen  in  die  Zeit  vom  Anfang  des  Octobers  17'Jfi  bis  zur  Mitte  dos  Mai's 
das  was  sich  darin  auf  die  Wirkungen  bezieht,  welche  die  Xenien  hcrvor- 
I,   igt  mit  hindern  dahin  einschlagenden  Berichten  aus  derselben  Zeit  von 
Xenienkampf  2,  1—20  gut  zusammengestellt;   vgl.  dazu  Xenien-Mauuscript 
1^7— ?I0  lind  den  Brief  von  Job.  Müller  an  seinen  Bnider  vom  7.  Decbr.  17% 
»mil.  Werke  31,  177  f.],  worin  er  über  dio  Xenien  schrieb:    „Die  Haine  der 
werden  WiOder  vollRüuber;  man  darf  nicht  mehr  darin  lustwandeln,  ohne 
tiss,  nackend  und  bloss  ausgezogen  und  hierauf  bespieen  etc.  zu  werden. 
»ne  hemm,  ob  ich  solche  Inhumanitüt  noch  anderwärts  gelesen.     Indessen 
ser  Muihwille  denen,  die  es  betrifft,  nicht  schaden,  well  er  gegen  zu  viele 
in  arg  ist"). 


442    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XMII  JulirhuwderU  bis  zu  Cioetho'»  Tod.    ^^ 

§  320  und  von  eigenen  Erwiedeniugsäcliriften  auf  die  Xcnicn,  in  gebunden«^ 
und  ungebundener  Form,  j^egeu  die  beiden  Dichter  ausbrach".  Aller- 
dings waren  diese  bei  Ausübung  ihres  Strafrechts  in  Bezeichnungea 
und  Ausdrücken  öfter  zu  weit  ^^egangen,  waren  aus  dem  Ton  dnea 
heilem  Humors  nicht  selten   in  den  Ton   herber  Satire  und  bittem 
Hohns  verfallen,  hatten  sich  hier  und  da  sogar  geradezu  ungerecht 
und  lieblos  gezeigt  und  somit  eine  Art  von  Kritik  gehandhabt,  welcbe 
die  von  ihnen  vorzugsweise  Angegriffenen  aufs  tiefste  verletzen  und 
erbittern  musste,  so  dass  selbst  sehr  heftige  und  starke  Gegenstreiche 
entschuldigt,  ja  gerechtfertigt  werden  konnten,    Aber  die  VerfaMer 
einiger  jener  Gegenschriften,  und  darunter  auch  solche,   die  selbst 
von  den  Xenien  gar  nicht  getroffen  worden  waren,   verg:«-- 
so  Über  alles  erlaubte  Mass  hinauSi  dass  sie  darauf  nur  iin 
gesittetsten,  gemeinsten  Schmähungen  und  den  gröbsten  persünlicbeo 


77)  Boas  hat  im  Xenienkampf  2,  21  ff.  gesucht,  aus  den  ihm  naher  b«kuat 
gewordenen  Recensionen  und  besondern  Gegenschriften  einen  Auszng  ,,dMEige8- 
thQmlichstcn  uud  ^^'it7.igsten,  dos  Ptkanteaten  und  Boshafte&tea"  zu  geben  (NicV 
träge  dazu   im  Xenien- Manuscnpt  S.  213  ff).    Er  f^Lngt   mit  den  JournaUnlkäi 
an  und  mustert   dann   die  eigeucn  XenienbUclilein.    Uutcr  jenen  gehören  n  da 
bemerkenswertheston  der  im  3.  Stück  der  Beitr&ge  von  gelehrten  Sachen  in  des 
Hamburger   unparteiischen   Correspondeuten  von   ITOfi   {er  ist  von  Ebellng;  i|^ 
Weinhold,  Boie  S.  22*^,  der  hier  Claudius  fQr  den  Verf.  h&lt.  und  seine  Berlclif^ 
gung  in  der  Zeitschrift  f.  deutsche  Philologie  l,  382  f.),  der  in  dem  lu.  Stadt  vn 
Reicbardts  ,,Deut8chland'\   der  in  der  aUgemeinen  d.  Bibliothek  Dd.  31,  XSift 
Ivon  Langer),   der   im   n.   deutschen  Merkur  von  1797,  St.  l  a.  'X  (von  MTfalni 
selbst!,   der  in   r.  Henutngs  „Annalen  der  leidenden  Menschheit".    Altooa  IT97. 
Heft  3,  und  der  in  dem  2.  Bde.  der  Zeitschrift  „Humaniora"   (deren  Henuugvbtf 
L.  F.  Hubur  gewesen  sein   soll):    unter  den  eigenen  Xcnienhüclilein   die  ^OegB- 
geschenke  an  die  Sudelköche  in  Jena  und  Weimar  tou  einigen  dankbaren  QIMb^ 
(Manso  uud  J.  G.  Dyk;    \gl.   die  im  JCenieu-Manuscript  S.   Iltl   ff.   rott^bdm 
Ansztige  aus  Manso's  Briefen  an  Nicolai)  1707,  die  „Trogalien  zur  Verdaaiuf  dtf 
Xenien**  etc.     1797   (von  Chr.  F.  Fulda,   damals  Lehrer  in  Halte^   gestorta  ^ 
selbst  als  Superintendent),  der  „Anhang  zu  Fr.  Schillers  Muscnahnanftcb"  Hc  laa 
Fr.  Nicolai   (vgl.  die  im  Xen.-Maouscripi  S.    \W  ff.  mitgetheiltcn   AossÜgv  «tf 
Briefen   an  Nicolai;   dieser  nannte   den  Musenalmanach  den   „FuriebaliBaittch**. 
Auf  Boie,   der   die  Xenien   nicht  t>il1igte,  aber  ebensowenig  den  Kampf  daffV* 
machte  Nicolai's  Gegenschrift,  wie  auch  auf  die  mdsteo  Zeitgenossen,  eines  s^ 
guten  Kindruck,  und  er  hoffte .   dass  die  beiden  Sonder  dadnrch  crmabal  wfvdM 
würden,  femer  nicht  mehr  so  zu  Ihun,   dass  andre  exccntriscliG  Köf''      '"'  *"' 
der  Linie  des  Anstandes   gebalten  worden  würden;  vgl.  Weinhold,   i: 
die  ..Literarischen  Spicssruthcu"  etc.  tüu  Daniel  Jenisch  (Prediger  in  li«ir!in!  ou« 
„die  Ochsiade.    oder   freundschaftliche  Unterhaltungen  der  Herrou   Schilki  ^ 
Goethe  mit   einigen  ihrer  Collegeu*'.  von  A.  F.  Cranti  (abgefietot«ni  Kriegs-  ^ 
Steoerratb  in  Berlin i  I7!)7.    Unter  den  in  den  Xenien  angegrifliBoaD  Schriftitrihrii 
die,  ausser  den  bereits  genannten,   ebenfalls  Krwiedeningeu  iiiOfftuÜlihlW,  ^ 
fanden  sich  auch  Gleim,  Claudius  und  Campe.    Kinc  Hecension  der  OMllta  dte« 
Gegenschriften  erschien  in  der  n.  altgemeinen  d.  Bibliothek  Bd.  34.  14$  ff  l^ 


MI 


Sntwickelnogfigaog  d.  Literatur.  1773— 1S32.  Goethe  und  Schiller.  DieXenien.   443 

Beleidigungen  antworteten^.  Hatten  sich  Goethe  und  Schiller  in  §  320 
lern  Miisenaluianacb  auch  nicht  zu  Urhebeni  der  Xenien  bekannt, 
10  hatte  doch,  ungeachtet  des  Anscheins  vom  Gcgeiitheil,  den  man 
jich  hier  und  da  gab"  niemand  angestanden,  diese  als  ihr  gemein- 
Mttne»  Werk  2u  betrachten;  und  da  nun  in  den  Augen  der  Meisten 
Gk>ethe  als  der  Verführer  und  Schiller  als  der  Verführte  galt**,  so 
mtlnd  sich  der  Grimm  auch  vorzüglich  gegen  den  ersten*'.  —  Ein 
10  niedriger  und  ungesitteter  Ton,  wie  er  in  mehreren  der  gegen 
lie  Seuiendichter  gerichteten  Schriftstücke  herrschte,  war  so  lange 
luter  deutschen  Schriftstellern  etwas,   wenn  auch  nicht  ganz  Uuer- 


Laoger);  über  andere  (wozu  auch  schon  „die  Ocbsiade'*  von  Crantz  in  ihrem 
letjtcD  Theil  gehörte)  vgl  Boa»,  Xenienkampf  2,  214  ff.  Die  Jenaer  Literatur- 
wiuuig  lieferte  weder  Ton  den  Xenipn  noch  von  den  Änti-Xenien  I^eurtheihmgen : 
Schatz  wusste  eich,  wie  Schiller  au  Goethe  den  25.  Octbr.  1796  Bchricb  (2, 
29&I,  „der  Kecenston  des  Almanachs  wegen  nicht  zu  rathea  nnd  zu  helfen"  und 
sah  sich  noch  mehrere  Jahre  8])ater,  ah  seinem  lilatt  diess  Stillschweigen,  als  aus 
Parteirücksichteu  beobachtet,  zumVorwurfgemacht  worden  war,  veranlasst,  darauf 
ift  antworten  [vit\.  Boas.   Xenienkampf  2,  2'*!  f.).  78)  Mit  am   weitesten 

gingea  hieiin  die  Verfasser  der  ,, Gegengeschenke  an  die  Sudelköche",  der  „Tro- 
püra",  der  ^.Ochaiadc'*  und  des  ^U-tikels  in  der  Zeitschrift  ^.Ilumaiuora*'. 

1x0  berlinischen  „Archiv  der  Zeit  und  ihres  Geschmacks"  17^7,  St.  1,  S.  a& 
itete  F.  L.  W.  Meyer,  imch  hier  und  da  laut  gewordener  Vermuthung  sei 
rios  der  Verfasser  der  Xenien.  Wieland  suchte  im  d.  Merkur  die  Sache  so 
erkUren.  dass  der  Herausgeber  des  Musenalmanachs,  als  es  ihm  zur  Füllung 
«forderlichen  Bogenzahl  an  Manuscript  gefehlt,  sich  an  gewisse  Distichen  er- 
uiattthabe.  die  von  ihm  und  Goethe  einst  in  einer  genialischen  Stunde  verfasst 
woriea,  als  sie  „die  bekanntesten  Bewohner  unser»  Parnasses  und  seiner  lltlgel, 
"niUff  nnd  Sumpfe  vor  ein  scherzhaft  kritisches  Tribunal  forderten";  dass  diese 
I^iaticli(*n  zur  Füllung  des  Musenalmanachs  verwandt  werden  sollten,  vorher  aber 
»[»ffpichriebt^n  und  in  Ordnung  gebracht  werden  mussten;  dass  es  dazu  dem 
ncmiiirphei  «elbst  an  Zeit  fehlte,  das  Geschäft  deshalb  „zur  biJsen  Stunde  einem 
'"r!?'Ti  l.'tihiiften,  von  Wit»  und  Muthwillen  strotzenden,  für  ü.  u.  S.  enthusiu- 
iimmenen  Kunsijünger  übertragen  wurde,  welcher  der  Versuchung 
i-.hen  koüDtc,  diese  Gelegenheit  zu  benutzen  und,  vielleicht  weniger 
^  ^r  Ahsichi,  sich  ein  Verdienst  um  seine  magnos  amicos  zu  machen,  als  um 
*-^l>  tn  rüchen  und  ein  schreckliches  Beispiel  an  Ihren  Widersachern  zu  statuieren, 
^  ^tT  Stille  eine  gute  Anzahl  derber,  handfester  Di&ticheo  von  seiner  eignen 
fabrik  hinxuthat'v  Wie  wem'g  es  ihm  aber  mit  dieser  Hrklärnng  ein  Ernst  seia 
ergibt  sich  deutlich  genug  aus  zwei  Uriefen  W^ielauds  an  Göschen  vom 
Novhr.  and  5.  Decbr.  1796,  bei  Oruber  in  Wielauds  Leben  1.  249  (auch  bei 
Xenieukampf  2.  S3).  In  ähnlicher  Art  wie  Wieland  erklärte  der  Verfasser 
ir  groBserf  Artikels  über  die  Xenien  und  die  dazu  gehörigen  Gegen- 
etc.  im  ..Allgemeinen  Anzeiger**,  Leipzig  1707,  S.  54  ff.,  Janus  Eremita 
'j.  i:h.  Gretscheli.  die  Entstehung  der  erstem,  nur  dass  er  nebst  andern 
teoden  „AfteTpoeteu"  bestimmt  H*  V*  (wohl  wieder  Hm.  Vulpius)  bezeich- 
a.  a  0.  2,  21(1».  80)  Vgl    Briefwechsel  zwischen  Schiller  und 

231;  26S  f.;  Boas  a.  a.  0.  2,   159;  2i:t.         81)  Nur  Keichardt  glaubte 
besonders  mit  Schiller  zu  thun  zu  haben  (vgl.  Briefwechsel  aswiscbeu  Schiller 


444    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XYIII  Johrhuaderts  bis  zu  Goetbe'i  Tod- 


SSO  börles"   doch  immer  sehr  Seltenes  uud  Ungewohntes  gewesen.    V 
jetzt  au  ward  es  aber  andere.    Der  Xeuieustreit  war  dag  erste  Glied 
einer  langen  Kette  mit  ähnlichen  WaflFen  geführter  Fehden,  die  Mcifl 
vom  Jahre  1796  an  bis  in  das  neue  Jahrhundert   herein  zft^eu,  h^ 
Beginn  desselben   den  hässlichsten   und  widerwärtigsten  Charaklp 
annahmen  und    besonders   einen  Thcil    unserer  JournaÜiteratur  zu 
einem  Felde  der  gemeinsten  literarischen  Kl«>pffechtercien  und 
pubelhaftesten  Gezänkes  machten.    Lässt  es  sich  nun  nicht  ahlfti 
nen,   dass  die  Xcnicn,   wenigstens  mittelbar,   dazu  das  erste  Si 
gaben,  so  haben  unsere  beiden  grossen  Dichter  freilich  die  viel 
literarischen  Aergemisse  auch  mit  verschuldet,  die  sich  in  Dfth< 
oder  entfernterer  Folge  dem   Sturm   der  Gegenxenicn   anschUsseo. 
Allein  der  Vorwurf,  der  sie  deshalb  treffen  kann,  verliert  gar  liri 
von  seinem  Gewicht,  wenn  man  einerseits  den  allgemeinen  Zustind 
unserer  Literatur  im  Anfange  der  Neunziger  ins  Auge  fasst  und  an- 
erkennen will,   dass,  um  sie  aus  ihrer  Erschlaffung  aufzuschreekcn. 
sie  von   ihren  Irrwegen  auf  riclitigere  Bahnen  zu  bringen  und  dem 
Publicum  in  seinen  Urtheilcn   über  literarische  Dinge  zu  Hülfe  b 
kommen,  zunächst  nichts  wirksamer  sein  konnte  als  die  Stachelvwse, 
in  welchen  Goethe  und  Schiller  den  falschen  Tendenzen  entgegtt- 
traten  und   die  das  grosse  Wort  führenden  Schriftsteller  de«  Tag» 
geisolteU;  und  wenn  man  andrerseits  der  Unmasse  des  Mitteloaftnigo 
und   des  Schlechten  neben   dem   wenigen  Guten  und  Vortrcfftichco 
in  der  Production,  die  den  Xenien  unmittelbar  voraufgegangeu 
dasjenige  gegenüber  stellt,   was  seit   dem  Jahre    1796  Bedeute 
und   Vorzügliches  auf  den  verschiedenen   Gebieten   der   Dirbtk 
und  der  Wissenschaft  bei  uns,  theils  von  Goethe  und  Schiller  sei 
theils  von  den,  besoudera  auch  erst  durch  sie  neu  geweckten  K 
hervorgebracht  wurde.   —  So   laut  und  lärmend  das  Geschrei 
das  sich  gegen  die  Xenien  erhob,   die  beiden  Dichter  Hess  e»  i> 
ihrem  Gleichmuth  so  gut  wie  unangefochten;  sie  kümmerten  sieb 
wenig  darum,  dass  sie  zu  ihrer  Rechtfertigung  und  zur  Abwehr  d 
gegen  sie  gerichteten  Streiche  auch  nicht  ein  einziges  Wort  dnick 
Hessen*'.    Nach  dem  „tollen  Wagestück",  wie  Goethe  selbst  eininJ 


und  Goethe  2. 'J47):  er  liess  daher  in  seinem  Jonnul  auf  die  Rec«o%!on  desVoac^' 
almanacbs  unmittelbar  eine  Erklärung:  an  <las  Publicum  folgen,  wuria  erSddll^* 
Beti-Rgr.u  „nicbtswünlig  und  niedrig'-  nannte  und  Um  fUr  ..ehrlos  erklärte,  fkll»  ^ 
Jen  Urheber  der  ihn  betreffenden  Xenien  nicht  angebe,  oder,  wofern  Seh ilkt  MÄ*^ 
sieb  U&zQ  bekenne,  seine  Ileschaldiginigen  nicht  öffeutUch  beweise  ivsL  Uw** 
n.  a.  0.  2.  :j:  ff.t.  S2i  Vgl.  oben  S.  217  f.  S3»  Ooeth*  tmaai  ►^^ 

wahrte  sich  die  volle  Gleichmüihißkoit  und  heitere  Rahe;  ihm  war  sogar  4eit«^ 
rühr  q%i\y.  rcclit  den  er  mit  SclxUler  erregt  hatte,  wAlirend  dieser  lid  Mter  r^^ 
barern  Natur  doch  hin  uud  wie»ier.  wie  namcntUch  nach  derErklArußf  ReifkaH** 


itwickelunglgaug  d.  Literatur.  1773— IS32.  Goethe  u. Schiller.  WUh. Meister.  445 

die  Xenicn  bezeiebnet  bat,  glaubten  sie  yielmebrj  sieb  „bloss  grosser  §  320 
und  würdiger  Kuustwerke  befleissigen  und  ihre  proteiscbc  Natur,  zu 
Besebamung  aller  Gegner,  in  die  Gestalten  des  Edlen   und  Guten 
umwandeln  zu  müssen"*'. 

§  321. 
Der  Beginn  dieser  neuen,  grossartigen  dicbterisrbcn  Tbütigkeit 
_der  beiden  Freunde  batte  sieb  bereits  mit  der  Vollendung  von 
^Wilhelm  Meisters  Lebrjabren"  angekündigt,  die  unmittelbar  Tor 
Icr  letzten  Redaction  der  Xcnien  erfolgt  war*.  Dem  allmÄblicbeii 
erden  dieses  Romans,  in  welchem  sieb,  zumal  in  den  ersten 
!heilen,  Goetbe's  Geist  „in  seiner  ganzen  männlichen  Jugend,  stillen 
raft  und  schöpforiscben  Fülle  anfs  neue  beurkundete,  und  dessen 
Eintiusö  auf  die  ristbetiscbe  Bildung  und  die  schöne  Literatur  der 
deutschen  nicht  leicht  durch  irgend  ein  anderes  Erzeugniss  heimischer 
»esie  aufgewogen  werden  dürfte,  war  Schiller  von  dem  Tage  an, 
ro  Goethe  ihm  das  erste  Buch  mitgetheilt  batte^  mit  dem  leben- 
igsten, sich  stets  steigernden  Interesse  und  der  grOssten  Freude 
•an  gefolgt.  Er  beabsichtigte  eine  Zeit  lang  eine  öfl'entlichc  Be- 
theilung  des  Romans  zu  liefern.  Noch  bevor  der  erste  Tbeil 
icbienen  war,  batte  er  an  Goethe  gemeldet',  er  sei  eebr  geneigt, 


das  rtihlicum,  des  besänftigenden  Zuspruchs  seines  Freundes  bednrfte.  nm  aich 

tcht  grober  Angriffe  auf  seine  persönliche  Ehre  in  offenem  Entgegentreten  zu 

IrvdirfiL   Dns  Kiüzige,  wns  nach  einem  Briefe  Knebels  an  Böttiger  aus  dem  Ende 

6xa  J.  1T'.>;  (Knebels  literarischer  Ntchlass  3.  27;   vgl.  Hicmer,  Mitthcibtngeu  2, 

ftt>)  TOD  Goeüic  zur  ..Abfertigung  der  Antlxenistcn"  gescliah,  war  die  Abfassung 

jteiiier  Ballade  „der  Zauberlehrling**,  die  im  Musenalmanach  für  das  J.  ITitS  er- 

ithicD.    Vgl.  zu  dem  vorher  Bemerkten  den  Briefwechsel  zwischen  Schiller  und 

üorthp  2,  237  f.;  245  f.;  21S  f.;  2f»5  f.;  277;  27fl  ff.;  2S3  ff.:  304  f.;  3.  7;  3B  f.: 

r»7;  TM  und  dazu  Boas  a.  a.  0.  2,  as  ff.;  240  ff.  84 1  Goethe  an  Schiller 

2,25«. 

<J^i21.  li  Der  erste  TheU  (vgl.  S.  4i>3  f.)  erschien  mit  dem  zweiten 
v&d  dritten  tichoa  1795  zu  Berlin,  der  vierte,  dessen  Ausarbeitung  in  die  Zeit 
^\,  in  welcher  die  Xcnien  entstünden,  l'fl'i  (alle  vier  auch  unter  dem  Titel 
»Ooethe's  neue  Schriften",  Bd.  3 — ti).  In  der  Mitte  des  Augusts  I7ii'j  war  das 
leutcMaoascript  an  ünger  gesandt  worden  (Briefwccbsel  mit  Schiller  2,102;  WHt; 
■^^uwbar  darauf  kam  Goethe  nach  Jena,  um  mit  Schiller  die  letzte  Redaciion 
w  Xciüen  zustande  zu  bringen;  vgl- S. -134,  Anm.  22.  2i  Uae  erste  und  zweite 
"öcb  Icmte  Schiller  rrBl  aus  dem  Druck  kennen:  jenes  sandte  ihm  Goethe  den 
''  l*efbr.  1791.  dieses  am  3.  Januar  17'.»5  (Briefwechsel  1,  Sl;  fl5).  Vom  dritten 
™*li  *n  bis  er  ein  jcdra  in  der  Handschrift,  bevor  diese  in  die  Druckerei  gieng; 
''^  dritte  wurde  ihm  am  7.  Januar  1785  zugestellt,  das  vierte  am  II.  Februar; 
"^  ünm  Anfang  des  Ocibr.  war  das  Manuscript  zum  dritten  Baude  fertig,  am 
•*•■  Juni  I7!)6  wurde  Schillern  der  Schluss  in  der  Handschrift  ubersandt,  und  am 
''•■  Octbr.  hatte  er  den  gedruckten  Iloman  vollständig  il,  «fi;  lOb  f.;  22«;  2,  fi5; 
^^  3i  Im  Octbr.  17'J4.    Briefwechsel  1.  47. 


'-"--►^P"- 


446     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  JahrhuudertA  bis  nt  Goct^c'a  Tod 


§  321  einem   Antra^-^e   von   Schfttz,   dass  er    tliescu   Tbeil   für  die  Jena« 
Literatur-Zeitung  recensieren  m<>clite,  zu  willfahren.     Ein  Jahr  dftT 
schrieb  er*:  „Daas  Sie  den  ,,Meifiter"  (die  beiden  letzten  Bliche 
bald  vornehmen  wollen,   ist  mir  sehr  lieb.     Ich    werde  <^ 
säumen,  mich  des  Ganzen  zu  bemächtigen,  und  wenn  es  ni  h 

ist,  so  will  ich  eine  neue  Art  von  Kritik,   nach   einer  genetiscbtt; 
Methode,  dabei  versuchen,  wenn  diese  anders,  wie  ich  jetzt  noc 
nicht  präeis  zu  sagen  weiss,  etwas  Mögliches  ist,**    Sodann  mchi 
Wochen  später":  „Eine  Beurtheilung  Ihres  „Meisters'*  werde  ich  ini 
August  oder  September   künftigen   Jahres   sehr    ausführlich   liefer»j 
können,  und  dann  soll  es,  denke  ich,  recht  ä  propos  sein,  der  lel 
Thoil  mag  nun  auf  Michaelis  OG  oder  Ostern  97  herauskomuea' 
Endlich  am  2.  Juli  1706':  ,,Eine  würdige  und  wahrhaft  ästhetiscb^l 
Schätzung  dos  ganzen  Kunstwerks  ist  eine  grosse  Unternehmung. 
Ich    werde   ihr  die  vier  nächsten   Monate  ganz   widmen,    und 
Freuden" •.    Jene  Absicht  blieb  zwar  damals  fUr  d:is  Publicum 
ausgeführt;  aber  es  ist,  was  damit  verloren  schien,  später  reicblicit 
ersetzt  worden   durch   das,   was   Schillers   Briefwedisel    mit  Giiethe 
über  „Wilhelm  Meister"  enthält.    Goethe  hatte  nämlich  aujidrückiic 
gewünscht,  Schiller  möge  ihm  seineu  Rath  und  sein  kUnstleri^l 
LJrtheil   nicht  vorenthalten;  und   diesem   Wunsche  kam   s 
mündlichen  Verhandlungen  und  in  Briefen  nach.    Als  Goetlr 
Anmerkungen  über  den  Anfang  der  „Unterhaltungen  deutscher  Aitt- 
gewanderten"  erhalten  hatte,  schrieb  er  ihm*,  er  freue  sich     '      "  " 
sogleich  zu  nutzen  und  dadurch  neues  Leben   in   diese  C- 
zu  bringen;  die  gleiche  Wohlthat  hoffe  er  für  den  Romau '^    Liiüj' 
Tage  später  begleitet  er  bei  Uebersendung  des   ersten  Buch«  *oa 
„W.  Meister'*  dieses  mit   den   Worten":    ».Leider   werden   Sic  »ü« 
beiden  ersten   Bücher  nur  sehen,  wenn  das  Erz  ihnen   scboo  <Iie 
bleibende  Form  gegelmn;  dem  ungeachtet  siigen  Sie  mir  Ihre  offc« 
Meinung,  sagen  Sie  mir,  was  mau  wlluscht  und  erwartet.    Die  folgenden 
werden   Sic    noch   im  biegsamen  Maniiscript  sehen  und   mir  Ibreo 
fretmdschaftlichen  Hath  nicht  vorenthalten**'*.   Ueber  das  dritte  Btri 
in  der  Handschrift  hatte  Schiller  dem  Freunde  seine  Bemerkun^^ 
mitgotheilt,  als  dieser'^  in  Jena  war.   Goethe  gieng  es  darauf  n   " 
mals  durch,   bevor  er  es  drucken   liess^*.     Ueber   das  vierte  h-- 
verhandelten  die  Dichter  während  eines  neuen  Besuchs »  den  Goedv 


4)  1,  234  f.  5»  l,  2hb.         6)  Vgl.  auch  don  Bri»'f  an  P 

T)  2,  7s.  8)  Vgl  den  Brief  an  Körner  vom  a.  .TuJi  17' 

9i  Den  '1.  L)tct>r.  r94:  U  74.  10)  Vgl.  den  scliou  iwei  Manaifi  öuber  r 

schriebpiicn  Brief  Schülers  an  KAmer  3,  io.v  IUI.  S\.  lii  V^ 

t*  «6  f.  13)  Zwiacben  dem  10.  und  7i.  Juiuar.  14)  1,  KU 


itwickeloagsigAiigd. Literatur.  1*73— 1(»32.  Goetlie  u. Schiller.  Wüh-Mdstcr.  447 

iler  ersten  Hälfte  des  Februars  in  Jena  machte;  gleich   nach  §  321 
:iner   Heimkehr  und  noch   bevor   ihm  Schillfcr   seine   schriftlichen 
lemerkungen"  über  die-Hc»  Buch  raitgethcilt  hatte}   berichtete   er": 
^T)arch   den  guten   Muth,    den  mir  die  neuliche   Unterredung  ein- 
^eflOgst^  belebt,  habe  ich  schon  das  Schema  zum  fftufteu  und  sechsten 
Buch  aua^'Ciirbeitet.     Wie  viel  vortheilbafter   ist  es,   sich   in  andern 
fls  in  sich   selbst  zu  bespiegeln."    Auch   im  folgenden  Jahre  war 
loethe    wiederholt  in   Jena  und  Schiller  im  März  und   April   vier 
oehen  lang  bei  ihm  in  Weimar,  und  da  damals  das  siebente  und 
:bte   Buch  ausgearbeitet  wurden,  ist   der  Roman  gewiss   oft   der 
tegenstand  der  Unterhaltung  zwischen  ihnen  gewesen.    Besonders 
1«g  dem  Dichter  an  Schillers  Rath  und  Urtheil  bei  Ausführung  seines 
erkes,    als    er  sich    dem  Ende    desselben   näherte.     Als   er   dem 
junde  am  25.  Juni    1796  die  binnen  Kurzem  bevorstehende  Zu- 
sndun^'  des  achten  Buchs  ankUmligte,  schrieb  er'':  „Lesen  Sic  das 
ianuÄcript  erst  mit  freundschaftlichem  Genuss  und  dann  mit  Prüfung, 
and  sprechen  Sie  mich  los,  wenn  Sie  können.    Manche  Stellen  ver- 
langen noch  mehr  Ausführung,  manche  fordern  sie,  und  doch  weiss 
ich  kaum,  was  zu  thun  ist;  denn  die  Ansprüche,  die  dieses  Buch  an 
mich  macht,  sind  uuendlich  und  dürfen,  der  Natur  der  Sache  nach, 
nicht  ganz  bofrietligt  werden,  obgleich  alles  gewissermassen  aufgelöst 
werden  muss.     Meine  ganze  Zuversicht  ruht  auf  Ihren  Forderungen 
und  Ihrer  Absolution."    Zuletzt,  nachdem  Schiller  bereits  die  letzten 
BUcher  gelesen  und   sich   darüber  so  wie   über  den   ganzen  Roman 
in  tief  eingehenden  und  ausführlichen  Bemerkungen  und  Erinnerungen 
•rieflicli  ausgelassen  hatte,  besuchte  ihn  Goethe  im  Juli,  um  mit  ihm 
loch  eine    mündliche   Schlussverhandluug   über  die   beiden    letzten 
^tteher  abzuhalten'*,    Schillers  Briefe  über  „Wilhelm  Meister*',  nach    . 
neinem  Dafürhalten  mit  das  Ausgezeichnetste,  was  unsere  Literatur 
Fach  der  ästhetischen  Kritik  aufweisen  kann,  beginnen  mit  dem 
8.  Deebr.  t794'*,  in  welchem  er  sich  über  den  Eindruck  aus- 
»richt,  den  auf  ihn  und  auf  W.  v.  ITumboldt  das  erste  Buch  gemacht         ( 
Die    gehaltreichsten    und   Schillers    kritisches    Talent    am 
mdstcn  hervorhebenden  Briefe  werden  aber  erst  mit  dem  vom 
ftmi  1796"  eingeleitet,  welcher  unter  dem*  ersten  und  unmittel- 


il  I.  \\\  ff.  lö)  U  10«.  17i  2,  04.  18)  Dags  der  Brief 

1-,  worin   GoRthp  aeinen  Besucb  ankündigt,  vom    12.  Jnli  und   nicht   vom 

Jtmi  ist,  hat  schon  DilnUer  in  den  Studien  zu  Gocthe's  Werken  S.  'l^:\,  Note 

**ippmcrkl;  in  der  2.  Au<5gabe  des  BricfwcchBels  I ,  I^"i  f.  ist  ihm  das  richtige 

^t?ira  Gegeben  und  er  darnacli  auch  an  der  rechten  Stelle  eioeereiht  worden. 

I'Ji  t.  S'iff.        20>  Daran  schliessen  sich  znnächBt  die  Briefe  vom  7.  Janaar 
^^5  jl.in»,  vom  22. Febr.  iMM^ff.i,  vom  15.  Juni  )l.t63ff.)  und  vom  IT.Aayual 

lufte,  sondern  das  sechste  Buch  gemeint  ist). 


44S     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVllI  Jahrhunderts  bis  za  Gocüie'i  Tod 


§  321  barsten  Eindruck  gescbncben  ist,  den  das  achte  Buch  auf  Scbil 
gemacht  hatte.  Nachdem  er  dann  alle  acht  BQcher  des  Born; 
aufs  neue  durchgelesen,  folgten  grleich  in  den  ersten  Tagen 
Juli  ihrer  fUuf"-",  die  sich  theils  auf  die  letzten  Büelier  im  Besoudt 
tbeiU  auf  das  ganze  Werk  beziehen.  »Später»  als  er  auch  den  iel 
Theil  des  Romans  gedruckt  in  Händen  hatte^  kam  Schiller  in  selDi 
Briefe  an  Goethe  noch  mchrnials  auf  diesen  Gegenstand  zurück* 
Beine  Bemerkungen  haben  zu  der  letzten  Gestaltung  und  Abniadac^ 
des  Werkes,  wenn  auch  nicht  gleich  vom  ersten  Thcile  an,  nidt 
unwesentlich  mitgewirkt.  Goethe  gieng  auf  die  allcrmeisleu  ^aa 
Schillers  Vorschlägen  zu  Aenderungeu  und  Ergänzungen  *",  »o  wdt 
sie  sich  noch  ermöglichen  Hessen,  mit  dankbarer  Bereitwilligkeit 
ein^.  So  heisst  es  in  Bezug  auf  öcbillers  Mittheilung  des  von  ilm 
bei  dem  achten  Buche  Empfuudeueu  und  Gedachten  u.  a.*':  „Wenn 
dieses  (Buch)  nach  Ihrem  Sinne  ist,  so  werden  Sie  auch  Ibm 
eigenen  Einfluss  darauf  nicht  verkennen,  denn  gewiss  ohne  oilBr 
Verhältuiss  hätte  ich  das  Ganze  kaum,  wenigstens  nicht  auf  iit^ 
Weise,  zu  Stande  bringen  krinnen.  Hundortmal,  wenn  ich  miili  u  ' 
Hinen  über  Theorie  und  Beispiel  unterhielt,  hatte  ich  die  ftitu:u.  , 
im  Sinne,  die  jetzt  vor  Ihnen  liegen,  und  beurtheilte  sie  im  StiliiiD 
nach  den  Grundsätzen ,  über  die  wir  uns  vereinigten.  Aueb  nan 
schützt  mich  Ihre  warnende  Freundschaft  vor  ein  Paar  in  die  Au^ce 
fallenden  Mängeln...  Was  Sie -mir  sagen,  muss  im  Ganzen  uoil 
Einzeln  in  mir  praktisch  werden,  damit  das  achte  Buch  sich  Ikwf 
Theilnahme  recht  zu  erfreuen  habe.  Fahren  Sie  fort,  mich  mil 
meinem  eigenen  Werke  bekannt  zu  machen,  schon  habe  ich  in  Gt 
danken  Ihren  Erinnerungen  entgegengearbeitet. '^  In  dem  Hric/^ 
vom  9.  Juli  schreibt  Goethe:  „Indem  ich  Ihnen,  auf  einem  l" 
dem  Blatt,  die  einzelnen  Stellen  verzeichne,  die  ich  nach  Ihren 
merkungen  zu  ändern  und  zu  supplicren  gedenke,  so  habe  ich  Ihi 
ftlr  Ihren  heutigen  Brief  den   höchsten  Dank  zu  sagen,   indem 


22l  2,  7ß-HHit  109—119;  \1U-\:u\.  23l  2,  23»;  ff.;  272  ff.;  :*,  31 

Eineu  Versuch,  die  Bcurtheilung  des  ^^'ilh.  Meister  in  Schillers  ÜrieftB  ma  ti( 
als  fia  Ganzem  darzustelleu,  hat  Huffmeister  in  Scliillers  Lohen  4,  H>\  ff. 

24)  Schülers  scliriftlicbe  Erinnerungen  aher  Versohicdenea ,  wornn  er 
vierten  his  zum  achten  Buche  mehr  oder  weui^r  Anstoss  nahm,  oder  wai  er 
misste,  dessen  Ahandeiiing  oder  Ergänzung  er  daher  vorschlug  und  aiirirth,  ta^S^ 
man  im  Briefwechsel  1,  11.";  ff.;  Ib5  f.;  Ivt2  ff.  und  vornehmlich  in  dftn  Brirf^^c* 
aas  den  ersten  Tagen  des  Juli  ITOf^  welche  den  letzten  mündtichrn  VcrbatMttuB#^ 
heider  Dichter  unmittelbar  voranfgiengen  25)  Diess  bezeugt  der  Briefwtflfci*' 

fichon  I.  iiti  f.;  iti',1;  lyT  f,  (wo  aber  nicht  das  siebente,  sondcra  iJ«  •tcA»*' 
Buch  lu  verstehen  isti;  2,  loT  f,,  noch  mehr  aber  das  erst  der  2.  Ausgabe  1, 1^' 
eiüverleibte  Schreiben  und  der  Brief  vom  'J.  JuH  (l.  Aufgabe.,  2,  121  ff-l. 
2Ci  In  dem  Briefe  der  2   Ausg.  \,  l'ö  f. 


Dotwickdungsgang  d.  Literatur.  1773—1832.  Goethe  u.  Schiller.  Wilh,  Melüter.  449 

niieli    durch   die  in   demselben   entlialteiien   Enniierungen    iiötliigeu,  §  321 

auf  die  eigentliche  VoUenduug  dee  G.'inzen  aufmerksam  zu  sein,    leb 

)itte  Sie,  aicbt  abzulassen,  Mxnj  ich  machte  wohl  sagen,  mich  aus 

meinen  eigenen  Grenzen  hinanszutreiheu.    Der  Fehler,  den  Sie  mit 

Recht  bemerken'"',   kommt  aus  meiner  innersten  Natur,  aus  einem 

gewissen  realistischen  Tic,   durch   den  icb  meine  Existenz,   meine 

Handlungen,  meine  Schriften  den  Menschen  aus  den  Augen  zu  rttcken 

behaglich  finde  .  .  .  Ohne  Ihren  Autrieb  und  Anstoss  bUtte  ich,  wider 

besser  Wissen  und  Gewissen,  mich  auch  dieser  Eigenheit  bei  diesem 

^^^nman  hingeben   lassen  j    welches  denn   doch   bei   dem   ungebouem 

^Bknfwand.   der  darauf  gemacht  ist,  unverzeihlich  gewesen  wäre,  da 

^Blles  das,  was  gefordert  werden  kann«  theils  so  leicht  zu  erkennen, 

^■lieils  so  bequem  zu  machen  ist .  .  .   Es  ist  keine  Frage,   dass  die 

^P^heinbaren,   von  mir  ausgesprochenen  Resultate  viel   beschnlnkter 

^sind  als  der  Inhalt  des  Werkes,  und  icb  komme  mir  vor  wie  einer, 

^der,    nachdem  er  viele   und   grosse  Zahlen    Über  einander  gestellt, 

idlich  mutbwillig  selbst  Additionsfehler  mochte,  um  die  letzte  Summe, 

rott   weiss   aus  was  für  einer  Grille,   zu  verringern.'*     Er  spricht 

^odami  Schiller  den  lebhaftesten  Dank  dafür  aus,  dass  er  noch  zur 

Irecbteu  Zeit  auf  eine  entschiedene  Art  „diese  perverse  Manier"  zur 

Sprache   gebracht   halie.     Der  Sache   werde   schon   geholfen    sein, 

■wenn  der  Inhalt  von  Schillers  Krief  selbst  an  die  schicklichen  Orte 

Tertbeilt  wflrde;   was  dann  noch  fehlen  möchte,  —  weil  er  selbst, 

durch  die  sonderbarste  Naturnotbwendigkeit  gebunden,  es  nicht  aus- 

ittsprechen   vermöge   —   bittet  er  den  Freund,   zuletzt   mit   einigen 

kwken  Pinselstrichen  hinzuzufügen**.     Nach  den  letzten  mUndlicben 

Beaprcchungen  mit  Schiller  fand  Goethe,   während  er  das  ihnen  zu 

^nde  gelegte   Manuscript  des  noch    nicht  gedruckton   Theils  ab- 

*-'lireil>en    Hess,    noch    mancherlei    an   dem   Roman   zu   thun**.     An 

«^hiller  sandte  er  die  Reinschrift  aber  nicht  mehr.    Am  10.  August 

^fildete  er  ihm":  ,,Ich  habe  zu  Ihren  Ideen  Körper  nach  meiner  Art 

^cftunlen;   ob   Sie  jene  geistigen  Wesen   in   ihrer  inüschen  Gestalt 

»leder  erkennen  werden,    weiss   ich   nicbt.     Fast  möchte  icb  das 

l'^^k  zum  Drucke  schicken,  ohne  es  Ihnen  weiter  zu  zeigen.    Es 

'"^  iu  der  Yerachicdenbeit  unserer  Naturen,  dass  es  Ihre  Forderungen 

IJcnials  befriedigen  kann;   und  selbst  das  gibt,   wenn  Sie  dereinst 

*h  über  das  Ganze  erklären,  gewiss   wieder  zu  mancher  schönen 


27»  r»«^8  numlich  „das  Bedeutende  der  Maschinerie  der  Miichto  im  Thurm, 
f  I'  Beziohung  derselben  auf   das   innere  Wesen,   dem  Leser"  nicht 

-  le^rt   .-eien.  *2S)  Dos  Wesentliche  aus  den  arhnftUchen   Er- 

lügen und  lUmerkuugen  Schillers  nebst  den  djiniach  von  Goethe  getroffenou 
ideruQgeD  iin  Manuscript  des  Komans  bat  DUntzer  zuBatnmcugestellt  in   dca 
idieu  etc.  S.  271  ff.  29)  2,  152;  löö.  30)  2,  ISO. 


45U     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIXI  Jahrhimderts  bU  n  Goetb«*s 

§  321  Bemerkung'  Aulass'*^'.  —  Die  Aufnahme,  welche  der  Roman  —  den 
Goefhe  öclbst  in  späteren  Jahren"  „eine  der  incalculabelsten  Pro-j 
dactiouen"  nannte,  zu  deren  Beurtheilung  „ihm  beinahe  selbst  d( 
.MaABStal)  fehlte"  —  gleich  bei  seinem  Erscheinen  im  Publicum  fanll 
und  die  Urthcile,  welche  über  ihn  an  die  OcflFcntlicbkeit  traten  od« 
uns  au»  dem  brieflichen  Verkehr  der  Schriftsteller  jener  Zeit 
geworden  sind,  waren  sehr  verschiedenartig;;  von  vielen  Seiten  6rl 
sich  Tadel,  und  der  Beifall,  den  ihm  andere  Leser  und  Beurtbi 
zollten,  war  im  Allg:emeiDen  auch  nur  ein  lauer  und  nicht  entfc 
dem  zu  vergleichen,  mit  welchem  der  Werther  begrttsst  worden: 
fehlte  den  Meisten  an  dem  gehöngen  Verstamlniiss ,  nicht  bloss, 
sie  erst  einzelne  Thoile  gelesen  hatten,  sondern  auch  njvcbdem  ihn« 
doe  vollendete  Ganze  vorlag.  An  H.  Meyer  ßchrieb  der  Dichter' 
„Des  zerbröckelten  Urtheils  nach  der  Vollendung  meines  Roi 
ist  kein  Mass  noch  Ziel.  Man  glaubt  manchmal,  man  hOre  den  Sand 
am  Meere  reden,  so  daes  ich  selbst,  der  ich  nun  nichts  mehr  dar- 
tiber  denken  mag,  beinahe  verworren  werden  könnte.  Gar  schOu 
weiss  Schiller,  gleichsam  wie  ein  Präsident,  die  Vota  mit  Leiobti| 
keit  zusammenzustellen  und  seine  Meinung  dazwischen  hineinzusetsea.^ 
Ueber  die  Aufnahme  der  von  ihm  versandten  Freiexemplare 
ersten  Tbeils  hat  er  sich  in  den  Tag-  und  Jahresheften *"  geäosserl' 
„Die  Beantwortung  war  nur  theilweise  erfreulich,  im  Ganzen  keme»- 
wegs  förderlich.  Die  Meisten  (Mftnner  und  Frauen),  wenn  man  ei 
genau  nimmt,  se  defendendo,  gegen  die  geheime  Gewalt  des  Werke» 
sicii  in  Positur  setzend.'*  Fr.  H.  Jacobi  und  seine  damalige  vornehiDe 
Umgebung  in  Holstein  fanden  ,,das  Reale,  noch  dazu  eines  nteden 
Kreises,  nicht  erbaulich"".  W.  v.  Humboldts  Theilnahme  war 
indess  fruchtbarer;  aus  seinen  Briefen  gieng  „eine  klare  Einsicht  in 
das  Wollen  und  Vollbringen  henor,  dass  ein  wahres  Förderni» 
daraus  erfolgen  musate."  Schillers  Theilnahme  wird  zuletzt,  als  die 
innigste   und  höchste,    genannt*.     Körners   hat  Goethe   hier  nicht 


31)  Kleiner,  Mittheilongen  1,  456  meint,  „die  Qaengeleien  und  NOrgekin'' 
Schillers  Ober  W.  Mehter  hÄtten  zuletzt  doch  aach  Ooetbe  ungeduldig 
wie  der  Brief  vom  10.  Äug.  ahnen  lasse  and  der  Dichter  ihm  beruacb  ai 
lieh  eingeaUnden  habe  i?).  32)  31,  65  f.  33)  Den  5.  Decbr.  IT96:  Brf^ 
von  und  an  Goctbe,  herausgg.  von  Riemer  S.  41.  34)  3t,  46  ff.  35)  V^ 
den  Brief^'cchsGl  Goethc's  mit  F.  H.  Jacobi  S.  205  ff.;  313 ff.  und  dazu  dcnBli^ 
vechscl  zwischen  Schiller  und  Goethe  1.  122—124;  %  264  36)  Ob  Uaa^ 

boldt  über  den  W.  Meister  nocb  andere  Briefe  an  Goethe  geschriebeo  bat  all 
den,  auf  welchen  Goethe  und  Schiller  in  ihrem  Briefwechsel  'i,  2b9  L\  771  ff  1^ 
mg  nehmen,  und  der  verschiedene  Erinnerangen  gegen  Körners  sachber  fast  ^ 
in  die  Hören  aufgenommenen  Brief  an  Schüler  3,  376  ff.  (vgl.  S.  4VJ.  60|  albiA 
weiBs  ich  nicht  In  Schillers  Briefen  an  Goethe  und  in  denea  HumVoMta  tf 
ßcbiUer  kommen  nor  wenige  Stellen  vor.  d]e  Goetben  vidurcod  der  AuarMonf 


lüngsgtng d. Literatur.  1773— IS32.  Goethe  u. Schiller.  Wilh.Meister.  451 

gedacht,  und  doch  geht  es  aus  scineu  Briefen  an  Schiller  hervor,  §  321 
daas  er  sehr  erfreut  über  das  Lob  war,  welches  Kürner  in  seinen 
Briefen  an  Schiller  gleich  den  ersten  Büchern  des  W.  Meister  spendete, 
und  dass  er  grossen  Werth  auf  Römers  nachherige  ausftthrliche  und 
grQndliehe  Beurtbeilung  des  ganzen  Romans  legte  ^.  Das  Urtbeil, 
welches  Herder  in  einem  Briefe  an  die  Gräfin  Baudissin  in  Hol- 
stein Über  den  ersten  Theil  des  Romans  im  Anfang  des  J.  1795 
*te"  beweist,  wie  sehr  er  sich  schon  damals  der  kflnstlerischen 
htung  Goethc's  innerlich  entfremdet  fühlte,  und  wie  auch  er^  wie 
^  viele  andere  Leser,  ein  Kunstwerk  vorzüglich  nur  nach  dem 
gemein  moralischen  Massstab  abgeschätzt  wissen  wollte.  „Vor  vielen 
Jahren'',  schreibt  er,  „las  er  (Goethe)  uns  daraus  Stücke  vor,  die 
ans  gefielen,  ob  wir  gleich  auch  damals  die  schlechte  Gesellschaft 
bedauerten,  in  der  sein  Wilhelm  war  und  so  lange,  lange  aushielt. 
Ich  weiss,  was  ich  auch  damals  gelitten  habe,  dass  der  Dichter  ihn 
lange  unter  dieser  Gattung  Menschen  Hess.    Indessen  war  damals 

Koman  anders.    Man  lernte  den  jungen  Menschen  von  Kindheit 

auf  kennen,  interessierte  sieh  für  ihn  allmühlich  und  nahm  an  ihm 
Theil,  auch  da  er  sich  verirrte.  Jetzt  hat  der  Dichter  ihm  eine 
andere  Form  gegeben;  wir  sehen  ihn  gleich  da,  wo  wir  ihn  nicht 
«hen  mögen,  können  uns  seine  Vcrirrungen  nur  durch  den  Verstand 
erklären;  interessiert  aber  hat  er  uns  noch  nicht  so  sehr,  dass  wir 
mit  ihm  a^inpathiaieren  könnten.  Ich  habe  dem  Dichter  darüber 
iVoretel hingen  gethan;  er  blich  aber  bei  seinem  Sinn,  und  den  zweiten 
ibeil  des  ersten  Bandes,  wo  die  Philine  vorkommt,  habe  ich  im 
^Hanuscript  gar  nicht  gelesen,  Ueher  alles  dieses  denke  ich,  wie 
"lic,  —  und  jedes  feine  moralische  Gefühl,  dUnkt  mich,  fühlt  also, 
[ßoelhe  denkt  hierin  anders.  Wahrheit  der  Bcenen  ist  ihm  alles; 
[fthne  dass  er  sich  eben  an  das  Pünktchen  der  Wage,  das  aufs  Gute, 
Ue,  auf  die  moralische  Grazie  weiset,  flngstlich  bekümmert  Im 
'Gmnde  ist  diess  der  Fehler  bei  mehreren  seiner  Schriften.  Er  hat 
*cb  auch  ganz  von  meinem  Ürtheil  weggewandt,  weil  wir  hierinnen 
Verschieden  denken.  Die  Mariannen  und  Philinen,  diese  ganze 
["irthschaft  ist  mir  vcrhasst;  ich  glaube  der  Dichter  habe  sie  auch 
TerÄfhtlich  machen  wollen,  wie  vielleicht  die  Folge  zeigen  wird, 
^  ist  aber  schlimm,  dass  er  diese  Folge  nicht  mitgab  und  den 
■»«fiQ  Theil   hinstellte."    Auf  welch   ein  Geschöpf,  hcisst  es  dann 


HonuuiB  des  lebhaften  luteresse  Humboldts  an  dem  Werke  versicherUro :  dort 
^  C  und  113  f.;  hier  1^2  f.  und  327  ff.  37»  Vgl.  Schillers  BriefwechMl 

KAmei  3,  2t6  f.;  205;  267;  30-1  f.;  306;  376  ff.  und  dazu  Briefwechsel  zwi^ 
j**»«!»  SchUler  und  Goethe  1,  lon  1;  115;  118;  2,  229;  20»;  263 f.  38)  Zu- 

l*rt  gedrnckt  in  den^Briefen^nAus  Herders  Kachiass"  etc.  I,  20  £ 


452    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jabrbundßrts  bis  xu  Uoetbe's  Tod 


321  weiter,  habe  der  Held  seire  erste  Liebe  geworfen!  Aber  vii 
leicht  in  keinem  Orte  Deutscblauds  setze  man  sich  über  zarte  mon-'' 
liecbe  Begriflfe,  mau  könnte  sagen,  Über  die  Grazie  unserer  Setk, 
in  manchem  so  weit  weg  als  in  Weimar.  Im  ganzen  Buche  habe 
ihm  vorzüglich  der  alte  Oarfenspieler  gefallen;  das  sei  sein  Maoi^ 
Sonst  findet  Herder  sehr  treffende  feine  Bemerkungen  darin, 
das  Gewebe,  worauf  alles  liege ,  könne  er  nicht  lieben.  Gi 
konnte  es,  als  er  den  ersten  Theil  gelesen  hatte,  nicht  hilligen,  eioi 
Roman  stückweise  herauszugeben,  und  zumal  einen  enjteu  Theil  tob 
solchem  Inhalt.  Eins  wunderte  ihn:  daes  ein  Mann,  der  die  Wdl 
im  Grossen  kenne  und  mit  ihren  mittlem  und  obern  Ständen  so  rid 
gelebt  habe,  wie  Goethe,  in  seinen  Schilderungen  Kich  irerade  aof 
die  Schauspielerwelt,  das  Leben,  die  Sitten  und  die  Abenteuer  rnn 
Komödianten,  Seiltänzern  etc.  eingescbränkt  habe,  da  dieser  Oo-cn 
stand  von  Scarrons  Roman  an  schon  so  oft  geschildert  worden.  > 
sei  sichtbar,  dass  sowie  Goethe  selbst  gcwissermassen  ein  S<.;  .: 
ling  in  seinem  Charakter  und  in  seinem  Betragen  sei,  er  aoch  die 
Geschöpfe  seiner  Einbildungskraft  nicht  nach  Modellen  zusammftn- 
setzc,  die  man  gewöhnlich  in  der  Welt  finde.  Poetisch  wüiden  daiiarfi 
seine  Productioneu  reizender,  insofern  sie  mit  Geist  und  Flam  zvt 
geführt  seien ;  aber  wo  er  sich  vemachlitSHlge,  würden  auch  zuweilca 
Missgeburten  daraus.  Indessen  seien  in  :ill,en  seinen  Werken  gt- 
wisse  tief  ins  menschliche  Herz  und  Leben  eindringende  Rertexiou«n, 
die  sie  schätzbar  machten;  dergleichen  finde  man  auch  hiu  uiul 
wider  in  diesen  Roman  eingestreut.  Der  zweite  Theil  machte  Gar?« 
Vergnügen;  für  ein  vollendetes  Kunstwerk  konnte  er  die  Lehrjahre 
aber  nicht  halten**.  Von  den  Recensionen,  die  ich  gelesen,  betriff 
die  „Aus  einem  Briefe**"*  (von  K.  Morgenstemi  nur  die  beiden  ersten 
Bände:  im  Ganzen  sehr  lobend,  aber  flach;  es  wird  darir, 

jemand  entgegengetreten,  der  den  „Werther"  viel  höher  ^. 

den  „W.  Meister",  oder  der  vielmehr  ein  eigentliches  Seilei.-'J  -^ 
zu  jenem  gewünscht  hatte.  Eine  zweite^*  ist  von  Manso  uml.  •!' 
gleich  nach  dem  Erscheinen  der  Xenien  geschrieben*-,  in  eint-w 
durchaus  anständigen  und  bescheidenen  Ton  ahgefasst;  zwar  w^ 
sie  nicht  von  einem  tiefem  Eindringen  in  den  Geist  und  r  *  ^  - 
Werkes,   ist  aber  sonst  ganz  verständig:   für  Wielands   ,     - 


39)  Briefe  an  riir.  F.  Weisse  2,  179  ff.;  20n.  —  Verschieden 
nDt(<  Ürtboile  anderer  tiamliafter  Männer,  die  über  den  engten 
dessen    Erscheinen    brioriicli   ausgesjirocbeD    wnnlen .    hat    1  *   : 
S.  2HS  1.   Note  ;*  milifellieiit ;    über   F.    L.   S'olbergs   Vrrb  i  • 
Tgl.  S.  4:17.  uuteii         40)  In  der  n.  ÜibUotbc'k  der  srbAuen  > 

41)  8io  siebt  in  der  u.  allgffmei«en  d.  UibUotiiok  Hl.  .' 
Tier  Bünde.  42)  Xenien-Mauuscript  S.  194- 


i 


rickelnngsgaflgd.  Literatur.  t773— IS32.  Goethe  u.  Schiller.  Wilh. Meister.  453 

eilich  in  einer  Hauptbeziehun^,  in  der  Darstellung  der  Charakter-  §  321 
ung  des  Helden,  ein  höherer  Rang  ah  für  den  Helden  in  Goethe's 
lan  beansprucht;  dagegen   ist  hier  schon  richtig  herausgefühlt, 
im  letzten  Theil  und  namentlich  im  achten  Buch  der  Lehrjahre 
Darstellung  einen  andern  Ton  als  in  den  vorhergehenden  habe, 
dasa  besonders  hier  manches  zu  wUuschen  übrig  bleibe.     Eine 
le  Recension^   die  aber  erst  einige  Jahre  nach  Vollendung  des 
lans  erschien,   und  deren  Verfasser  wahrscheinlich  Ruber  ist" 
et  «ich  in  der  Jonaer  Literatur  -  Zeitung  von   ISOP*:  sie  ist  mit 
it  geschrieben   und  enthält  feine  und   treffende  Bemerkungen". 
i  eigene  Schrift,   „lieber  die  hervorstechendsten  Eigenthümlich- 
en    von   Meisters   Lehrjahren,    oder   über    das,    wodurch    dieser 
lan  ein  Werk  von  Goethe's  Hand  ist.    Ein  ästhetisch  moralischer 
mch",  wurde  1797  zu  Berlin  von  D.  Jenisch  herausgegeben,    Sie 
g    davon    aus,    dass    man   „über  den   buuteu  Trödelmarkt  der 
tschen  Lesewelt  kaum  mehr  mit  HUchtigem  Fuss  hineilen  könnte, 
dass  einem  nicht  aus  jeder  Gross-  und  Kleinkrämer-Bude  dieses 
ktes,   von  Kaufleuten   und  Käufern,   die  lautesten  Klagen   Über 
ters   Lehrjahre  ins  Ohr   schallten,  wegen  langweiliger  .Stellen; 
achlUssigtcr  Einheit  des  Plans  und  unnatürlich  herbeigeführter 
öden  dieses  neuesten  Geisteserzeugnisses  eines  unserer  genievoll- 
Schriftsteller.'*  Ohne  dass  die  Mängel  des  Werkes  vorhehlt  werden 
Uten,  will  der  Verf.  diesen  Anschuldigungen  entgegentreten  und  be- 
eu,  dass,  was  dem  Roman  einerseits  an  gewissen  Vollkommen- 
abgehe,  darin  durch  andere  und  viel  höhere  reichlich  ersetzt  sei ". 
Durch  Wilhelm  Meister  war  in  Schiller  —  und   darin  äusserte 
am    unmittelbarsten    und    mächtigsten    der    Einfluss    des    Ro- 
fl  auf  die  productiyen  Kräfte  in  unserer   schönen  Literatur  — 
t  wieder  die  Neigung  zur  Poesie  so  lebhaft  erregt  und  der 
g  zu  schöpferischer  Wirksamkeit  so  stark  geworden,  dass  er 
M  mit  Entschiedenheit  der  philosophischen  Speculation  den  Rücken 
wandte  und  einen  Uebergang  zu  der  Gattung  dichterischer  Production 
cbte,  in  der  er  seinen  Ruhm  zuerst  begründet  hatte,  und  zu  der 
ihn  aufs  neue  unwiderstehlich   hinzog.    Mit  wahrer  Herzenslust 
er,  wie  er  am  9.  Decbr.  1794  schrieb*",  schon  das  erste  Buch 
Lehrjahre  durchgelesen  und  verschlungen,  und  er  dankte  dorn- 
en einen  Genusa,  wie  er  lange  nicht,  und  nie  als  durch  Goethe 


43)  Vgl  Ana  Schleiennacbers  Leben  3.  142,  Note.  44)  N.  I,  8p.  \  ff, 

45)  Bei  Goethe  selbst  hat  sie  nur  eine  beschränkte  Anerkennnng  gefunden 
den  Brief  an  Rochlitz  in  „Goethe's  Uriefcn  an  Leipziger  freunde,  heraus- 
von  0.  Jahn*'.  Leipzig  ls49.  S.  S.  'iST  f.  46)  Von  Fr  Schlegels  und 
Romantiker  Auffassung  und  Beurthcilung  des  »W.  Meister*'  wird  weiter 
die  Rede  sein.  47)  Briefwechsel  mit  Ooethe  I,  82  f. 


PMH 


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Toi.^M 


454    Vi.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  JabrliuoderU  bis  xu  Goethe's  Tod 


(  321  gebabt  batte^*.  Als  er  den  ganzen  ersten  Band  gelesen^  äusserte  er 
sich  vier  Wochen  spilter**:  „Ich  kann  da»  Geftlbl,  das  mich  beim 
Lesen  dieser  Schrift,  und  zwar  im  zunohmoaden  Grade,  je  weiter  ich 
darin  komme,  durchdiin^t  und  besitzt,  nicht  besser  als  durch  eine 
stlsse  und  innige  Behaglichkeit ,  durch  ein  Gefühl  geistlicher*^  and 
leiblicher  Gesundheit  ausdrücken,  und  ich  wollte  dafttr  l>ürgoü,  dass 
es  dasselbe  bei  allen  Lesern  im  Ganzen  sein  muss.  Ich  kann  llineu 
nicht  ausdrucken,  wie  peinlich  mir  das  Gefühl  oft  ist,  von  einem 
Product  dieser  Art  in  das  philosophische  Wesen  hineinzusehen- 
Dort  ist  alles  so  heiter,  so  lebendig,  so  harmonisch  aufgelöst  und  sa 
menschlich  wahr,  hier  alles  so  strenge,  so  rigid  und  ubstraet  und  so 
höchst  unnatürlich,  weil  alle  Natur  nur  Synthesis  und  alle  Pbil 
aophie  Antithesis  ist.  Zwar  dai'f  ich  mir  das  Zeugniss  geben , 
meinen  Speculationen  der  Natur  so  treu  geblieben  zu  sein,  als  eii 
mit  dem  Begriff  der  Analysis  verträgt;  ja  vielleicht  bin  ich 
treuer  geblieben,  als  unsere  Kantianer  für  erlaubt  und  für  mOgUl 
hielten.  Aber  denntM^h  fühle  ich  nicht  weniger  lebhaft  den  nueni 
liehen  Abstand  zwischen  dem  Leben  und  dem  Raisonuement  —  uod 
kann  mich  nicht  enthalten,  in  einem  solchen  melancholischen  Augen* 
blick  für  einen  Mangel  in  meiner  Natur  auszulegen,  was  ich  in  emiff 
heiteni  Stunde  bloss  für  eine  natürliche  Eigenschaft  der  Sache  an- 
sehen muss.  So  viel  ist  indcss  gewiss,  der  Dichter  ist  der  einzig 
wahre  Mensch,  und  der  beste  Philosoph  ist  nur  eine  Caricatur  gtgtii 
ihn."  Dass  er  die  Vollendung  des  „W.  Meister''  erlebt  habe,  da« 
sie  noch  in  die  Periode  seiner  strebenden  Kräfte  gefallen,  dass  er 
aus  dieser  reinen  Quelle  noch  schöpfen  konute,  rechnete  er  tu  di 
schönsten  Glück  seines  Daseins.  Er  nahm  sich  vor,  der  ästhetisci 
Schätzung  des  ganzen  Kunstwerks  die  nächsten  vier  Monate  g« 
zu  widmen-,  das  schöne  Verhältuiss,  das  zwischen  ihm  und  Guet 
bestand,  machte  es  ihm  zu  einer  gewissen  Religion,  dessen 
hierin  zu  der  seinigen  zu  machen,  alles,  was  in  ihm  Re:'*' 
zu  dem  reinsten  Spiegel  des  Geistes  auszubilden,  der  in  di' 
lebe,  und  so,  in  einem  höhern  Sinne  des  Worts,  den  Namen  eil 
Freundes  des  Dichters  zu  verdienen '''.  Ohnehin  wusste  er  für 
eigenes  Interesse  nichts  Besseres  zu  zu  thun.  Es  kounte,  wie 
glaubte,  ihn  weiter  fördern  als  Jedes  andere  eigene  Product,  dwcf 
in  dieser  Zeit  auszuführen  vermöchte;  es  werde  seine  EmpfängUt 
keit  mit  seiner  Selbstthätigkeit  wieder  in  Harmonie  bringen  und  i\ 
auf  eine  heilsame  Art  zu  den  Objecten  zurückführen'^'.     Die  Bi 


48)  Vgl.  Briefe  an  Körner  X  22»i.  49»  1,  97  C  50)  So  in 

Ausgaben.  51 1  2.  "'s.  52»  Briel'wecUsel  mit  Köruer  3,  34e.    Wfl 

Tage  zuvor,  als  er  eben  das  Ende  des  „Wilhelm  Meister"  erlmlteu  und  datia- 


ntwickelimgsgang  d.  Literatur.  1773— 1S32.  Goethe  u.  Schiller.  Wilh.  Meister.  455 

ir  dichterischen  Production  bildete  er  sich,  wie  bereits  oben  hier  §  321 
ad  da  angemerkt  worden*^,  zunächst  durch  eine  Reihe  didaktisch- 
Tischer  Gedichte  und  Epigramme",  welche  theils  in  den  Hören, 
leils  in  dem  Musenalmanach  erschienen",  so  wie  durch  die  Ab- 
Bindlung  über  naire  und  sentimentalische  Dichtung*^.  —  Unterdessen 
ätte  Goethe  in  der  Zeit,  in  welcher  er  die  letzten  Bände  seines 
Omans  ausarbeitete,   sich  an   den  Hören  thätig  erwies   und  mit 

sen  angefangen  hatte,  fühlte  er  sich  von  Goethe's  Dichtergrösse  —  besonders  in 
aem  LiedeMignons  —  so  durchdrungen,  dass  er  gegen  Kömer  äusserte  (3,345): 
!)a8S  Euch  mein  Gedicht  —  die  Klage  der  Ceres  —  Freude  machte,  war  mir 
hr  angenehm  zu  hören.  Aber  gegen  Goethe  bin  und  bleib'  ich  eben  ein  poeti- 
her  Lump«.  53)  Vgl.  S.  12S  f.  und  S.  366  f.,  sowie  S.  415,  11. 

t)  Am  2.  Juni  1795  arbeitete  Schiller  noch  an  den  Briefen  „über  die  fi^sthetiscbe 
rdefaung",  das  Meiste  daran  war  aber  schon  getban  (Briefwechsel  mit  Kömer 
266);  als  er  damit  abgeschlossen,  schrieb  er  an  Goethe  den  12.  Juni  (1,  160): 
)er  Vebergang  von  einem  Geschäft  war  mir  von  jeher  ein  harter  Stand,  und 
tzt  vollends,  wo  ich  von  Metaphysik  zu  Gedichten  hinüberspringen  soll.  Indessen 
Lbe  ich  mir,  so  gut  es  angeht,  eine  Brücke  gebaut  und  mache  den  Anfang  mit 
aer  gereimten  Epistel,  welche  „Poesie  des  Lebens"  überschrieben  ist  und  also, 
ie  Sie  sehen,  an  die  Materie,  die  ich  verlassen  habe,  grenzt".  So  untüchtig  er 
ch  nun  auch  ganze  Wochen  lang  zu  jeder  Arbeit  fühlte,  und  so  langsam  daher 
Lch  seine  Poesien  vorrückten  ( 1 ,  184),  konute  er  doch  über  seine  poetische  Fmcht- 
urkeit  in  den  letzten  sieben  Wochen  am  17.  Aug.  an  Körner  berichten  (3,  279), 
kss  er  für  den  Musenalmanach  schon  etwa  fünfzehn  kleine  und  grosse  Gedichte 
rüg  habe  und  ebenso  zwei  grössere  für  das  9.  Stück  der  Hören  („das  Ideal  und 
L8  Leben"  und  „der  Genius").  -  55)  Uober  die  in  den  Hören  gedruckten  vgl. 
.415;  4IS,46;  in  dem  Musenalmanach  für  1796  standen  von  den  in  der  ersten 
.btheO.  des  9.  Bandes  der  Werke  befindlichen  Stücken :  „die  Macht  des  Gesanges", 
der  Tanz",  „Pegasus  im  Joche",  „die  Ideale",  „der  Abend",  „Würde  der  Frauen", 
Ibschied  vom  Leser"  und  die  Stücke  auf  S.  237ab;  196;  204b;  229;  236a; 
12;  198;  194;  235b;  195;  261a;  245d;  276;  200;  ausserdem  aber  auch  noch 
n  schon  im  J.  1TSS  abgefasstes  Gedicht,  .,£iner  jungen  Freundin  ins  Stamm- 
ich'* (Werke  3,  435  f.),  und  ein  nicht  in  die  Werke  aufgenommenes  Epigramm, 
Deutschland  and  seine  Fürsten"  (bei  Hoffmeister  3,  210  und  bei  Boas,  Nachträge 
1  Schillers  Werken  1,  S3);  —  .in  dem  Musenalmanach  für  1797,  ausser  den 
enien,  .,das  Mädchen  aus  der  Fremde",  „Pompeji  und  Herkulanum",  „Klage  der 
eres"  {vgl.  Briefwechsel  mit  Goethe  2,57  und  dazu  Riemers  Mittheilungen  2,633), 
üe  Geschlecliter",  „Dithyrambe"  (zuerst  „der  Besuch"  überschrieben,  S.  3()),  so- 
ainn  die  kleinen,  meist  epigrammatischen  Stücke  auf  S.  215;  241a;  243 ad;  244  a; 
15b;  246bc;  252c— 2ö7c:  259abc;  2'.)r>a;  29fia;  ausserdem  noch  eine  Anzahl 
i  die  Werke  nicht  mit  aufgimommener  Distichen,  die  im  Musenalmanach  entweder 
;reinzelt  oder  unter  den  allgemeinen  Ueberschriftcn  .,Tabulae  votivae",  „Vielen", 
Einer"  mit  der  Unterschrift  G  und  S  standen  (vgl.  Bd.  HI,  149),  worüber  das 
ühere  bei  Boas,  Xenieukampf  1,  215  ff.  zu  finden  ist.  Ueber  Schillers  Fabel 
der  Fuchs  und  der  Kranich"  vgl.  S.  435.  —  Ueber  diese  didaktische  Lyrik 
nd  die  Epigrammenpoesic  Schillers  vgl.  Hoffmeister  3,  124—167;  179 — 272. 
6)  Einen  „kleinen  Versuch  über  das  Naive"  hatte  Schiller  zwar  schon  im  Septbr. 
794  auszuarbeiten  begonnen,  als  er  von  dem  ., Wilhelm  Meister"  noch  nichts 
anute  (Briefwechsel  mit  Körner  3,  192;    197:   mit  Goethe  1,  02);   aber  erst  ein 


456    VL  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIIl  Jahrbuoderta  bis  za  Goellie'i 


Tüd.     ■ 


§  821  Scbiller  gemeinsclmftlicli  die  ,;Xenien",  nebst  den  unter  den  allge- 
meinen UcberscLriften  „Tabulae  votivae",  „Vielen"  und  „Ein 
zugammeugestellten  Epigrammen,  abfasste,  auch  noch  verschicdeoi 
tbeils  in  den  zunächst  voraufgegangeneu  Jahren  entstandene,  thal 
ganz  neue  Gedichte  zu  den  beiden  ersten  Jahrgängen  des  Momb- 
almanachs  geliefert,  nämlich  im  ersten  ausser  einer  Anxabi  roo 
Gedichten"  die  ^Venetianischen  Epigramme'',  welche  aber  auouyi 
erschienen".  Sie  waren,  unmittelbar  nach  den  „römischen  Elegien 
im  Frühling  1790  in  Venedig  entstanden*'.  In  dem  ersten  Abd 
befand  gich  noch  nicht  das  schöne  Epigramm  zum  Preise  des  He 
Karl  August***;  höchst  wahrscheinlich  war  es  aber  auch  schon  in 
April  1790  gedichtet  und  dasselbe,  welches  Goethe,  während  er 
andere  an  Herder  sandte,  dem  Herzog  besonders  schickte'".  Defl 
zweiten  Jahrgang  des  Musenalmanachs  eröffnete  gleich  die  berrlii-he 
Elegie  „Alexis  und  Dora"",  damals  „Idylle"  bezeichnet,  gedirbtei 
im  Sommer  1796";  sodann  enthielt  er  von  Goethe,  ausser  seinem 


Antheil 
„Einer'* 
Mark*'** 


an  den  Epigrammengruppen  „Tabulae 
und  an  den  Xenien,   noch  „Musen 
;  die  Ötrafverse  auf  Jean  Paul,  „der  Chinese  in  Rom'**;  di« 


votivae'S  „Vielen  ij 
und  Grazien  in  der' 


}   ir 


Jahr  Bpüt^r,   bIs   er  diese  Arbeit  wieder  aufnahm,  erweiterte  sie  sich  ihm  tn  iif 
Abb&ndlung  Über  naive  und  sentimontalif^che  Dichtung  (Briet Wechsel  mit  K^ncf 
3,  292;  311:  3171.  die  er  am  4.  Jan.  179»   beendigte  (Briefwoclisel   mit  ÜumboUl 
S.  392).    An  einer  Stelle  ( Werke  H,  2.  121)  ist  darin  schon  aul  ..WiUielin  MoHT* 
Bezug  genommen.    Leber  das ,   was  Schiller  gerade  durcli    diese  A1)baiidlung  (&r 
seine  ktlnstlcrische  Ausbildung  gewonnen  zu  haben  glaubte,  vgl.  S.  ?tm  f. 
57)  In  den  \Verken  1,  05;  2,  105  n.:  1,  41  f.;  73ab;  u:f  f.  (diese  beiden  SlQckft. 
die  „Küphtischen  Lieder",   waren  schon  nS9  gedichtet  und  ursprüogiicfa  ttt 
boabaichtigteOper  „der  Gross-Cophta**  bestimmt;  Werke  :u,  II;  vgl.  obenS.  IWI 
t,  39  f.;  Prolog,  11,  363  S.  58)  Vgl  Briefwechsel  zwischen  SchiUcr 

Goethe  I,  187  f.  59)  Werke  31,  M:   vgl.  die  Briefe  „Aus  Herde«  N 

las»"  1,  US  f.;  120  f.  60)  N.  34b.  6l)  A.  a.  0.  l,  HS  f .  —  la 

Anzeige  dos  Musenalmanachs  für  1T96  in  der  ii*aUgcmoinea  d.  Bibliothek  30,  tU 
(von  Langen  wurde  Qber  die  andern  goethcschen  Stücke  nur  weniges,  »her  1« 
berichtet;  etwas  ausführlicher  dagegen  von  den  veuelianifichen  KpigrammtB 
sprechen ,  das  Meiste  darin  zwar  auch  geloht ,  allein  einiges  doch  aach 
spitzig  und  giftig  angestochen.  Ueber  ein  hassliches  gegen  sie  gericbteici  E(^ 
gramm,  welches  im  J.  1790  in  Umlauf  war^  und  als  dessen  Verfanser  Ba^iiiS 
galt,  vgl    Schülers  Brief  an  Goethe  2.  149  and  dazu  Boae^  Xenicnkampf  l.  iMf 

02)  Werke  I,  295  ff.  63)  Briefwechsel  mit  Schüler  2,  3S:  U. 

64)  Werke  I,  Ifil  ff.;  veranlasst  durch  den  „Kalender  der  Mnsen  und  Onri» 
för  das  J.  n«fi*'.  (Berlini,  von  F.  W.  A.  Schmidt,  Prediger  in  WerneuchfB  bei 
Bertin;  vgl.  Tiecks  kritische  Schriften  1,  7ft  ff.  und  dazu  S.  VIII  der  Vorrede- 
Ein  Seitenstock  zu  den  ..Musen  und  Grazien  in  der  Mark"  ist  du  179?  vedaflM 
Gedicht,  , .Haaspark",  welches  zuerst  ».die  empfindBame  Oärtnexin'^  hdaaea  toOlBi 
Werke  3,  59  f.;  vgl.  Briefwechsel  mit  Schiller  3,  Hl ;  Riemer.  Mitiheilungen  l«Jt 
65)  Werke  2,  »36;  vgl.  oben  S.  435,  Anm.  27. 


I 


itwickelongsg.  d. Lit.   IT7S— 18112.  Goethe  u.  Schiller.  Uermannu.  Dorotlioa.   457 


unter  der  Uebersohvift  „Eisbahn*'  an  einander  gereihten  Distichen*"  §  321 

md   eine  Anzahl   einzelner  Distichen,   die  eptlter  ttberarbeitet  dem 

iHerbst"  in  den  „vier  JahiMMzeiten"  eingefügt  wurden'".   Kaum  hatte 

den  Wilh.  Meister  zum  Absebluss  gebrncbt,  als  er  auch  schon  an 

ie  Auafllbrung  einer  neuen  grossen  Dichtung,  des  bürgerlichen  Epos 

[ermann  und  Dorothea"  gieng^  wozu  er  die  Idee  schon  langer  mit 

Ich    herumgetragen  hatte.    Den  Grundstoflf  mit  den  allgemeinsten 

[otiven  hat  Goethe  wohl   ohne  Zweifel  mittelbar  oder  unmittelbar 

ler  Geschichte  der  1731  vertriebenen  Salzburger  entlehnt,  wovon 

lehrere  im  Wesentlichen  übereinstimmende  Bearbeitungen  gibt". 

D*88  in  dem  Dichter  die  Lust  zur  Ausführung  seines  Werkes  zunächst 

lurch  die  „Luise"  von  J.  H.  Voss  geweckt  wurde,  ersehen  wir  aus 

oi  Briefen,  einem  von  Schiller  an  Kömer  und  einem  andern  von 

'Goethe   selbst  an  Schiller'*.     Den   Uebergang  von  seinem   Roman 

<i6)  nriefvechsel  mit  Schiller  2,  tS5;  nachher  als  ,, Winter*'  den  »vier  Jahre«- 
leiten"  einverleibt,  Werke  1,  -106  ff.;  vgl.  Boas  a.  a.  0.  1,  2 IS  f.  67 1  Worko 
1.39^  ff.  N.  jiS;  fi6— S:i;  vgl.  Boas  a.  a.  0.  1 ,  259  ff.;  265;  200  f.  —  Zwei 
»ud«rc  fJedichtf?  Goethe's,  die  damals  gedruckt  wurden.  ..die  Liebesgötter  auf  derti 
Markte*^  und  „das  Wiedersehen"  (^Verke  I.  43  f.;  322).  brachte  der  Musenalmanach 
ton  J.  H   Voss  für  das  J.  17%.»  68)  Vgl.  Viehoff,  Goethe's  Leben  3,  445  ff. 

h&  Morgpoblatt  von  1^09,  K.  138  wurde  zuerst  darauf  aufmerksam  gemacht  und 
^Stelle,  welche  aller  Wahrscheiulichkeit  nach  dem  Dichter  die  erste  Idee  zu 
ttfettn  Werke  gegeben  habe,  aus  ü.  O.  Göking's  „Vollkommener  Emigrations- 
fHchichte  von  denen  aus  den  E.  B.  Sah^burg  vertriebenen  —  Lutheranern**  etc. 
i^'naUurt  and  Leipzig  1734.  4)  mitgethdlt  (daraus  bei  JOrdens  0,  2t.sf.).  Was 
^mtr,  Mittheilungen  2, 589  f.  vorbringt,  um  diese  Herleitung  des  Stoffes  in  Frage 
w  ilellm,  ist  blosses  (Jerede.  69)  In  jenem,  der  schon  vom  2s.  Octhr.  1796 

üt,  hiiut  es  (3,  394  f.):  „Goethe  hat  Jetzt  ein  ueueb  poetisches  Werk  nuter  der 
irbeit.  ilas  auch  grösstontheils  fertig  igt.  Es  ist  eine  Art  bürgerlicher  Idylle, 
'lorch  dio  „Luise"  von  Voss  in  ihm  zwar  nicht  veranlasst,  aber  doch  neuerdings 
■^rch  geweckt:  übrigens  in  seiner  ganzen  Manier,  mithin  Voss  völlig  eutgegen- 
P*^\xi.  r»aa  Ganze  ist  mit  erstaunlichem  Verstände  angelegt  und  im  echten  epi- 
*«l>*Ti  Ton  ausgciiihit.  Ich  babe  zwei  Drittheile  davon,  nämlich  vier  Gesänge  {es 
•*f  ursprünglich  nur  auf  sechs  Gc.sftngo  angelegt,  Briefwechsel  zwischen  Schiller 
^  Ooethe  2.  Ausg.  1 ,  227)  gehört,  die  vortrefflich  sind.  Die  Idee  dazu  hat  er 
"*' Diphrerc  Jahre  schon  mit  sich  herumgetragen,  aber  die  Ausführung,  die 
^^cKtam  unter  meinen  Augen  geschab,  ist  mit  einer  unbegreiflichen  Leichtigkeit 
^"J  !^thu€Uigkeit  vor  sich  gegangen".  In  dem  andern  Briefe,  vom  2s.  Febr.  179» 
'ßrntfwwhsel  zwischen  Schiller  und  Goethe  2.  Ausg.  2,  55  f.»,  nimmt  Goethe  zu- 
*''"ierst  Bezug  auf  ein  Urtheil,  welches  J.  D.  Voss  über  „Hennann  und  ■Dorothea" 
^»llt  halte,  wie  es  ihm  nach  W.  v.  Humboldts  Mittheilung  von  Schiller  herithtet 
und  fikhrt  dann  fort:  „Ich  bin  mir  noch  recht  gut  des  reinen  Enthusias- 
itewuBSt .  mit  dem  ich  den  Pfarrer  von  Grlinau  aufnahm ,  als  er  sich  zuerst 
fwkur  sehen  liess,  wie  oft  ich  ihn  vorlas,  so  dass  ich  einen  groBsen  Theil 
^^n  noch  auswendig  weiss,  und  ich  habe  mich  sehr  gut  dabei  befunden,  denn 
^Freude  ist  am  Ende  doch  productiv  bei  mir  geworden,  sie  hat  mich  in  diese 
lockt,  den  Hermann  erzeugt,  und  wer  weiss,  was  noch  daraus  entstehen 


wmm 


458    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrliuuderts  bis  zu  Uo«üifr*B  Tod. 


I 


§  321  zu  dem  Epos  machte  Goetbe  aber  mit  seiner  Idylle  „AlexU  na4 
Dora*',    wie    er    auch    an    H.    Meyer'"    schrieb:     „Durch    meine 
Idylle . , ,  bin  ich  in  das  verwandte  epische  Fach  geführt  wordei 
indem  sich  ein  Gegenstand,   der  zu  einem  ähnlichen  kleinen  C 
dichte  bestimmt  war,  zu  einem  grossem  ausgedehnt  hat,  das  a 
völlig    in    der   epischen   Form   darstellt,    sechs  Gesänge   und  etwi 
zweitausend    Hexameter   erreichen    wird ;    zwei    Drittel    sind  schon 
fertig. . .  .  Ich  habe  das  rein  Menschliche  der  Existenz  einer  klcinec 
deutschen    Stadt    in    dem    epischen    Tiegel    von    seinen  »Schlacken 
abzuscheiden^'  gesucht  und  zugleich   die  grossen  Bewegungen  miJ 
Veränderungen  des  ^yelttheatcr8  aus  einem  kleinen  Spiegel  zurück- 
zuwerfen   getrachtet.     Die    Zeit    der    Handlung    ist    ohngeffibr  im 
vergangenen  August,   und    ich    habe   die    Kühnheit   meines   Unter- 
nehmens nicht  eher  wahrgenommen,  als  bis  dos  Schwerste  sohoa 
überstanden   war.     In  Absiclit  auf   die   poetische   sowohl   als  pn>- 
sodische  Organisation  des  Ganzen  habe   ich    beständig   vor  Au^ 
gehabt,  was  in  dieser  letzten  Zeit,  bei  Gelegenheit  der  vossiscben 
Ary>eiten ,    mehrmals  zur  Sprache  gekommen  ist. .  .  .  Schülers  Unk- 
gang   und    Briefwechsel    bleibt    mir    in    diesen    Rücksichten    n 
immer   höchst  schätzbar.'*    Angefangen    wurde  das  Work  iriü» 
des  langem  Aufenthalts  des  Dichters  in  Jena^^  nach  der  RedtetM 
der  Xenien ;   in  Jena  dichtete   er  auch  zu  verschiedenen  Zeiten  du 
Meiste  daran  und  beendigte  es  ebendaselbst''.    Am  17.  Obtbr.  i*''^ 
waren  die  ersten  drei  Gesäuge  so  ziemlich  durchgearbeitet  und  ilcf 
vierte  sollte  vorgenommen  werden";  in  den  Tagen  um  Nenjahr  !7i^ 
wurde  auf  einer  Reise,  welche  Goethe  mit  dem  Herzog  nach  Lcipiij 
und  Dessau  machte,  der  Schluss  des  Gedichtes  „vollkommen  8ch^ 
matisiert"";   den    IS.    Febr.   wurden    die   drei   ersten    Gesinge  u 
Schiller  gesandt  und  dieser  gebeten,  sie  mit  Humboldt  aufmerksam 
durchzugehen   und    ihre   Bemerkungen   dem  Dichter   mitr.utheilen^ 
Im  Anfang  des  März,  als  Goethe  wieder  längere  Zeit  in  Jena  xtr- 
weilte,  rückte  die  Arbeit  zu  und  fieng  schon  an  „Masse  zu  macben"^' 
Nach  Weimar,  im  Anfang  des  Aprils,  zurllckgekehrt,  hielt  er  daaelbi* 
gleich   mit  Humboldt   über  die  letzten  Gesänge  ein  genaue«  pn>»<>" 
disches  Gericht'*,    und    bald    damuf  giengen    die  vier   ersten  "*■" 
Druck    ab'".     Am    28.   April    schrieb    der  Dichter  au   H.   Mc. 
sein,  Gedicht   sei   fertig   —    was   indess   noch    nicht  gan«  der  F»I^ 


70)  Am  5.  Becbr.  1796:   Briefe  von  und  an  Goethe  S.  46  f.  TH^ 

wird  woU  stAtt  abzuscbueidra  gelesen  werdea  müssen.  72)  V.>       -    ■ 

bis  in  den  Anfang  des  Octbr.  ITyi..  73»  Vgl.  Griefwecfasel  nrn 

41—4**;  inu  f.;  US.  74i  BriefVechael,    2.  Ausg.    t,  2-jT.  7*.  ^   • 

7()i  :t,  40,  77»  3.  4S.  78(  3,  59.  79»  X  t>ii.  sO»  ürü*' 

von  und  an  Goethe  5.  51 :  auch  in  den  Werken  43,  5  f. 


eri 


^^9 


itvickeluo)^^. d.  Lit  I77:i—is;i2.  Goethe  u.  Schiller.   Uermann  u.  Dorothea.   459 


war  —  und  sei  in  neun  Gesänge  getbeilt.    In  der  Mitte  des  Mai's  §  321 

giengen  wieder  vier  GcBänge  in  die   Druckerei",   und  am  3.  Juni 

erhielt  Schiller  den  letzten  Gesang,  der  auch  gleich  abgesandt  werden 

sollte".     Im  October  war  der  Druck  beendigt".    Vorangestellt  war 

ie  reizende  Elegie  ,;II ermann  und  Dorothea'"".    Sie  war  bereits  zu 

nfaug  des  Decl)r.  1796   fertig,   und  Goethe  sandte  sie  damals  an 

hillcr  mit  dem  Wunsche,    dass   mit  ihr  der  neue  Jahrgang  der 

Hören  eröfifnet  werden  möchte"^:  sie  sollte  das  epische  Gedicht  an- 

kQndigen  und  der  Anfang  eines  neuen  Buchs  von  Elegien  werden, 

zugleich  aber  auch  eine  Antwort  auf  die  Angriflc  sein,  welche  der 

Dichter  wegen  seiner  „römischen  Elegien'*  und  seiner  „venetianischen 

Epigramme*'  erfahren  hatte  und  wegen  der  ..Xenien"  eben  erfuhr; 

denn  die  Menschen  wurden  daraus  sehen,  dass  man  auf  alle  Weise 

t  stehe  und  auf  alle  Fälle  gerüstet  sei.    Auf  Schillere  Bemerkung 

dessen*",   dass  wegen  der  durch  die  Xenien  im  Publicum  hervor- 

erufcnen   Stimmung    der   gegenwärtige    Moment   für  die   Bekannt- 

acbung    der  Elegie  nicht   günstig   sei,    Überlioss   es  Goethe   dem 

undo,  eine  gelegenere  Zeit  für  den  Druck  zu  finden";  sie  wurde 

doch  erst  als  poetisches   Vorwort   zu  dem  epischen  Gedicht   mit 

einselben  veröffentlicht.  ^  Hermann  und  Dorothea  ist  unzweifelhaft 

nC8  der   vorzüglichsten  Meisterwerke  des  Dichters,  von  einem  so 

urch  und  durch  volksthUmlicb  deutschen  und  zugleich  echt  meusch- 

chcn  Gehalt",   dass  sich  diesem  Werke  kaum  ein  zweites  unserer 

honen   Literatur  von    gleichem   Kunstworth   und  einem  ähnlichen 

.tioualen  Charakter  wird  au  die  Seite  stellen  lassen.    Hier  war  auf 


Sl)  3,  loö.  32)  3,  US.  S3)  „Taschenbucb  für  179S.    Hermann 

Dorothea  von  J.  W.  von  Goethe.   Berlin*'  ibei  Fr.  Vieweg  d.  Äe).    12.    Vgl. 
l,  310  uuil  Sdiillor  an  Krtmer  4,  -i".  S4)  Werke  i,  330  flF.  S5)  2,  283. 

S6l  2.  2Sij  ff.  Sl)  2,  2!>M;  :t02.  S8i  ;,Deutsche  selber  fülir'  ich  euch 

«4  in  die  stillere  Wohnung,  Wo  sieb,  nah  der  Natur,  menschlich  der  Menach 
Mth  erzieht.  Atich-tlic  traurigen  Ttilder  der  Zeit,  sie  führ'  ich  vorüber;  Aber  es 
drir  Mulh  in  dem  gesunden  Geschlecht".  Werke  1,331.  —  Die  Ausführung 
IHchtunpt  nach  äor  Vollendung  des  „Williclm  Meister*'  wai%  wie  Goethe  cr- 
ni,  061,  „eine  leichter  /.u  tragende  Last  oder  vielmehr  keine  Last,  weil  sie 
i^n*  V.trstellungen,  Gefühle,  Begriffe  diT  Zeil  auszusprechen  Gelegenheit  gab". 
HltHt  halte  Gegenstand  und  Ausführung  dergestalt  durchdrungen,  dass  er  das 
icbt  niemals  ohne  grosse  Rahruug  vorlesen  konute,  und  dieselbe  Wirkung 
ihm  auch  noch  immer  bis  in  seine  spatesten  Jahre.  Gegen  Eckermana 
Ie  dat  Dichtet  1^25^  (OesprJLche  mit  Goethe  1,  l»3  f.):  .«Hermann  und 
lea  ist  fast  das  einzige  meiner  grössern  Gedichte,  das  mir  noch  Freude 
;  Ich  Ikann  es  nie  ohne  innigen  Antheil  lesen".  Wer  sollte  aber  nicht  er- 
:keiu  wenn  er  sodann  ilber  dieses  herrliche  deutsche  Werk  die  Worte  liest: 
iders  hob  ht  es  mir  in  der  iuteinischcn  Uebersctzung;  es  kommt  mir  da 
Tor,  als  würe  es,  der  Form  nach,  zu  seinem  Ursprünge  zurückgekehrt"* 


■i 


460     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderti  bis  in  Goeth»*»  Toi 


§  321   die  glücklichste    und    üherraschendste  Weise  eine  Aixfgabe  gel 
deren   Ausführung    für   die   Kunstdichtung   überhaupt   und   fOr 
moderne   insbesondere   mit   untlberwindlichen    Schwierigkeiten  v 
bunden  zu  sein  schien;   ein  StolT  aus  der  unmittelbarsten  Wirklich- 
keit gegenwärtiger  Zustände  und   Verhältnisse   mit   echt   epiMbeo 
Geiste  erfasst  und  innerlich  verklärt,  mit  dem  höchsten  KunstTeretancic 
zn  einer  in  allen  ihren  Tlieilen  als  ein  vollendetes  Ganzes  sich  klar- 
stellenden epischen  Handlung  entfaltet  und  durch  die  bildende  Kral^ 
der  Phantasie  zur  vollen  Schönheit  künstlerischer  Form  im  reins' 
epischen  »Stil   erhoben.     Wie  gross   und  allgemein  der  Erfol 
den  das  Werk  gleich   nach  seinem  Erscheinen  im  Publicum 
und  worin  Schiller  mit  Recht  den  Hauptgrund  die-ses  Erfolge»  m 
ist  aus  der  oben*^  mitgelheilten   Briefstelie  zu   entnehmen.    Goeths 
selbst  hatte  schon  einige  Monate  frUher,  als  ihm  Schiller  einiges  Qlcr 
eine  Recension  des  Gedichts  in  der  Nörnberger  Zeitung  geschrieben*, 
sich  dahin  geUusserf:  ,Jn  Hermann  und  Dorothea  habe  ich,  vai 
das  Material  betrifft,  den  Deutschen  einmal  den  Willen  gethan,  un4 
nun  sind  sie  äusserst  zufrieden."    Allein  aus  den   dieser  Briefste 
vorhergehenden  und  folgenden  Worten  ergibt  sich  leider  auch, 
wenig  der  Dichter  die  beim  Publicum  erlangten  Vortheilc  zu  schflttef 
und  zu  benutzen  wusste,  und  niit  wie  wenigem  Ernst  er  daran  daclitft 
durch  ein  Fortschreiten  auf  dem  in  diesem  Gedicht  eingesehlageoes 
Wege  neue  poetisclie  Werke  hervorzubringen,  die  durch  ihren  stMii 
liehen  Inhalt  von  vorn  berein  auf  das  Verständniss  und  den  ßcifj-'l 
eines  grössern  Publicums  rechnen   kOnnten    und   dabei  doch  allen 
Anforderungen  echter  Kunst  gerecht  wären.     Eine  so  gllnstigc  Auf 
nähme  aber  auch    im  Allgemeinen    die   goethische  Dichtung  faoi 
80  fehlte  es  doch  keineswegs  an  solchen  Lesern,  welche  sie  der  „l 
von  J.  H.  Voss  nachsetzten.    A.  W.  Schlegel  bemerkte*^,  man 
Hermann   und   Dorothea   schon    vor   dem    Erscheinen    mit  V 
Luise  verglichen;  die  Erscheinung  hätte  der  Vergleiebung  ein  Ende 
machen  sollen;  allein  sie  werde  jenem  Gedicht  immer  noch  richtig 
als  Empfehlungsschreiben  an  das  Publicum  mit  auf  den  Weg  gegebea- 
Rei  der  Nachwelt  werde  es  ^J^uison'*  empfehlen  können,   das»  d 
Dorntheen  zur  Taufe  gehalten  liaHe.    Voss  selbst  gab  sich  wohl 
das  Ansehen,   als  wisse  er  den  ganzen  Werth  von  „Hermann 
Dorothea"  zu    würdigen   uud   die   Vorzüge  anzuerkennen,    wod 
dieses  Werk  seine  Idylle  Überrage;  aber  im  Grunde  war  er  viel  *^ 
eitel,  von  seinen  metrischen  Kunststücken  zu  sehr  eingenommen  ao" 
tlberhaupt  zu  beschränkt  in  seinem  ästhetischen  Urtheil,  als  dau  ^^ 


I.4UM'V 

a  babia 
'ooeflifl 


89)  m,  loe,  Anm.  II.         90)  4,  3.  91)  4,  6.  92)  Ijb 

I,  J,  71;  samratlicfae  Werke  S  15. 


d.  LIt.    1773—1^1)2.  Goethe  u.  Schiller.  Hennauii  u.  Dorothea.    461 

ticriu  je  uubefan^en  und  klar  liTittc  scheu  künncn;  gegen  »eiue  §  321 
A'ertrauteu  hielt  er  daher  auch  gar  nicht  mit  seinem  Aergcr  Ober 
■18  grosse  Aufheben  /.urllck,  das  von  dem  goetheschen  Gedicht  ge- 
macht würde"'.  Von  den  öffentlichen  Beurtheihm^^en  und  Charak- 
terisierungen dos  goetheschen  Gedichts,  die  ich  kenne,  sind  die 
beiden  einzigen,  die  eine  besondere  Beachtung  verdienen,  die  von 
W.  Schlegel*'  und  der  erete  (und  einzige»  Tlieil  der  ,,Ae8theti8cheu 
^ersuche'*  von  W.  von  Humboldt",  der  allein  der  kritischen  Zer- 
iederung  und  Betrachtung  von  j^Hermann  und  Dorothea''  gewidmet 
Sohlegels  Kecension  gehört  unstreitig  zu  seinen  Meisterwerken 
Fach  der  ästhetischen  Kritik.  Selbst  Schiller,  der,  bevor  er  sie 
deeen  hatte,  weder  dem  altern  noch  dem  jUngern  Schlegel  die 
mze  Corapetenz  dazu  zutraute,  weil  es  beiden  an  dem  fehle,  was 
irzugswoise  zur  Würdigung  dieses  Gedichts  gehöre,  nämlich  an 
smütb,  oh  sie  sich  gleich  der  Terminologie  davon  aumassten^.  und 
JT  auch  spater,  bei  seiner  zunehmenden  Abneigung  gegen  beide 
Ider,  in  ihren  Urtheilen  eine  solche  Dürre,  Trockenheit  und  sach- 
Wortstrenge  linden  wollte,  dass  er  oft  zweifelhaft  war,  ob  sie 
irklich  auch  zuweilen  einen  Gegenstand  durunter  dächten;  selbst 
sbiller  musste  doch  zugeben,  dass  A.  W.  Schlegel  Goethe's  Genius 
irklich  fasse  und  namentlich  Hermann  und  Dorothea  gefühlt  habe"', 
imboldts  Buch  sollte  nach  den  kunstphilosophischen  Grundsützenj 
»er  welche  er  sich  während  seines  Aufenthalts  in  Jena  mit  Schiller 
rreinigt  hatte,  und  nach  den  Ergebnissen  seiner  homerischen  Studien 
m  Goetho's  (iedicht  die  Gesetze  der  epischen,  ja  der  ganzen  Poesie 
kberhanpt  entwickeln  und  zugleich  Goethe's  individuelle  Dichtematur 
sharaktcrisicrcn.  Humboldt  glaubte,  in  dem  eigenthümlichcu  Geiste, 
ler  ,, Hermann  and  Dorothea*'  beseele,  in  vorzüglich  sichtbarer 
itirke  die  doppelte  Verwandtschaft  zu  erkennen,  in  welcher  derselbe 
tuf  der  einen  Seite  mit  der  allgemeinen  Dichter-  und  Künstlernatur 
l^erhau]^t,  auf  der  amiern  mit  der  bcaondorn  Eigcnthttmlicbkeit 
[»ctbe'ä  stehe.  Die  poetische  Gattung  und  die  epische  Art  erscheine 
ir  «elten  sc»  rein  und  so  vollständig,  als  in  der  meisterhaften  Com- 
dlion  dieses  Ganzen,  der  dichterischen  Wahrheit  dieser  Gestalten, 
n  stätigen  Fortschreiten  dieser  Eraählung;  und  wenn  Goethe's 
ieenthümlichkeit  in  einzelnen  ihrer  Vorzüge  stärker  und  leuchtender 


03l  VäI.  Uricfe  von  J.  H.  Voaa  2.  :rt'i  t. ;  :(,  1 .  2im;  3, 2»  50  un<l  Onzn  Uri''fwrr,h»cl 

zhea  Schiller  und  Goethe  2.  Ausg.  2,  hO;  55  f.  91)  In  der  Jcnanr  Litu- 

i-Zritunp  VOM  171tT,  N.  ;i^l3  ff.  (mit  gcringm  Aendcrunucn  wiodtT  K''drnckt  In 

,CharaUerish*k*?u  um!  Ki-itikt?n'  2, -JOn  ff. ;  in  den  kritiflchcn  Schriften  1,:t|(r 

itl  b  dru  aiiranitUchcn  Werken  11,  !**-i  Ö.  9ö)  »rnuriH.-!  '     H., 

Aull.   mit  einem  Vorwort  von  IT.   Hetmcr  iSöl.  00)  H:  1   mit 

»«•tbe  3.  372  f.  97 1  4,  25h  t. 


m^mmmm 


-162    Tl.  Vom  zweiten  Viertel  des  WIU  Jahrhtmdcrls  IjU  zu  Gucujc  •  iui 


§  3'2I  aus  andern  seiner  Werke  liervorstrable,  so  finde  mau  in  keinem,  w 
wie  in  diesem ,  alle  diese  einzelnen  Strahlen  in  Einem  Brennpuokt 
Tereammelt^.  Seliiller  erblickte j  wie  er  sich  in  einem  Briefe  u 
H.  Meyer"*  ausdrttckte,  in  Hermann  und  Dorothea  den  Gipfel  nie' 


9Sl  Einleitung  zu  den  ästhetischen  Versuchen  S.  VI  f.    Humboldt  hAO»  mb 
Wel-k  in  Paris  ausgeArbeitet,  von  wo  er  es  handschriftlich  im  Mai  IT1»>  anScIuDet 
sandte  (Briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Goethe  4,  2<)S  f.).    Als  dieser  davus 
Goethen,   mit  dem  er  es  bald  zusammen  zu  lesen  und  durchzusprecbco  boflkc. 
nähere  Kunde  gab,  schrieb  er  ibm  (4,  213):  „Die  schöne  Gerechtigkeit,  dii 
darin  durch  einen  denkenden  Geist  und  durch  ein  gefohlvolles  Herz  erzeigt 
muss  Sie  freuen,    so   wie  dieses  laute  und  gründliche  Zeugniss  aoch  das  utl 
stimmte  Urtheil  unserer  deutscheu  Welt  leiten    helfen    und  d*>u  Sieg  Ibrcr  Mi 
über  jeden  Widerstand,  auch  auf  dem  Wege  des  Raisonnements,  entschetdco 
beschleunigen  wird".    Ind<«sen  stiegen  ihm  bei  n&herorKonnlnissuabine  derSchnft 
bald  mancherlei  Bedenklichkeiten  aber  ihre  Wirksamkeit  auf.     Nacb  einem  Mir« 
wöchentlichen  AiLfenüialtGoctlic's  in  Jena  |im  Mai  und  Juni  I79S).  wiiireDd  teMi 
sie  die  beiden  Freunde   sehr  beschäftigte,   und  darüber   auch   schon  an  KAtSksr, 
nicht  unbedingt  beifällig,  berichtet  wurde  (4,  77  f.i.  schrieb  ScliiUcr  am  37.  Josl 
an  Humboldt  einen  ausführlichen  nnd  für  Schillers  kOnstlerische  Bildnngfigescbicbt» 
höchst  interessanten  Brief  (S.  4^14  ff.),   auf  den   ich   bald  zurückkommeo  ir«d<' 
faieria  Hess  er  den  Tugenden  von  Humboldts  Schrift  die  vollste  Gerechtifkritwid«^ 
fahren,  setzte  jedoch  auch  Verschiedenes  von  Bedeutung  daran  aus ;  d>*na  «r  W 
in  seinem  Verkehr  mit  Goethe  bereits  auf  einen  ganz  andern  Standpunkt  in  dff 
Kunsttheorie  gelaugt,  als  von  welchem  aus  Humboldt  seine  Arbeit  cuDcipicrt  asd 
ausgeführt  hatte,   so   dass  ihm  „die  Gedankennchtung"  darin  „überhaupt  etvw 
fremd  und  widerstrebend*'  geworden   war   (an  Goethe  4,  227»,    Humboldt,  dwth 
Schillers  Brief  durchaus  nicht  verletzt,  vielmehr  ganz  zufrieden  damit.  «inAittM 
von  dem  Freunde  die  Durchsicht  und  ATerbessenuig  seines  Werkes,  und  &o  «nitf 
gelegen  Schüleru  diese  war,  und  so  wenig  Goethe  eine  MögUciikeit  sab.  ein«  Bt- 
vision,   wie  sie  erwartet  wurde,   zu  veranstalten,   so  hatten   beide  doch  gcvfapc 
,,Arrangemcnts"  vorgenommen .  mit  denen  der  Verf.   „wohl  rufricden"  war  iBifcf- 
Wechsel  zwischen  Schiller  und  Goethe  4.  2hH;    2Gt;   30S).    Als  das  Buch  aadlkb 
gedruckt  war,  konnte  Schiller  wieder  nicht  nmhin,  an  Kömer  zu  schreiben  (4,  IÄ>- 
es  enthalte  uuUkugbar  einen  Schatz  an  Gedanken,  «ei  aber  freüicb  sehr  trodn* 
und  fast  scholastisch  geschrieben.    KOrner  antwortete  li,  l.'^2):  die  ersten  Ksptef 
hatten  ihm  schon  Angst  gemacht;  er  habe  jetzt  weder  Zeit  noch  Lust,    io  di* 
•cbauerliche  Tiefe  hinabzusteigen;   das  Buch  werde  bei   aller  Reichhalb^Mt  <<■ 
■ebr  kleines  Publicum  haben  etc.    Die  letztere  Bemerkung  veAnlasste  SeUHs 
IQ  dem  Wuusche,   es   möchte   ein   passender  Auszug  aus  der  Schrift  fcsaetf 
werden,   damit  das  Gute  und  Schützens werthe  von  Humboldts  Ideen  in  Cois  ^ 
setzt  würde  (au  Goethe  2.  Ausg.  2,  179).    Dazu  kam  es  aber  nicht.    iWie 
Humboldts  Schrift  den  Beifall  der  Schlegel  hatte,  erhellt  aus  der  boshaften 
Presi&age   im  Athenäum  2.  2,  'A:\i  [in  A.  W.  Schlegels  s&mmtl.  Werken  $.  <*!• 
noch  weniger  geöel  sie  den  Aesthetikern  der  altem  Schule,  wie  z.  B.  Mozuo;  vft 
0-  allgemeine  d.  Bibliothek  S^,  345  ff.).  —  Vg).  über  Hermann  und  r>orolh**  o^ 
Cbolevius,   ästhetische  und  historische  Einleitung  nebst  fortlaufeudfr  ErluntcrUtf 
«u  (Tocthe's  H.  oud  D.    Leipzig  lh63.    s.;   und  Kratfert,  über  Veriulasmw '>' 
Tendenz  von  Goetbe*s  H.  und  D. .   in  den  n.  Jatirbücheru  für  PhlJul   oud  Vi^ 
Bd.  100,  11.  Heft  99)  Briefwechsel  zwtocheD  Schiller  und  Goethr  S.  11*= 


"* 


iDtwickeluiif;^.  d.  Lit  I7T3  — 1632.  Goethe  u.  ScbQIür.  Hermanu  u. Dorothea.    463 

tlleiii  der  goetLeschen,  sondern  unserer  ganzen  ncucrn  Kunst,    „Ich  §  321 
ibe,  heisat  es  in  dem  Briefe  von  dem  Gcdiehte,  es  entstehen  sehen 
id  mich  fast  eben   so  sehr  Über  die  Art  der  Entstehung  als  Über 
Werk  selbst  verwundert.    Während  wir  andern  mühselig  sam- 
lelu  und   prtlfen  mUssen,  imi  etwas  Leidliches  langsam   hervorzu- 
bringen ^  darf  er  nur  leis  an  dem  Baume  schtitteln^  um  sieb  die 
jUönsten  Früchte,  reif  und  schwer,  zufallen  zu  lassen.    Es  ist  un- 
glaublich, mit  welcher  Leichtigkeit  er  jetzt  die  Früchte  eines  wohl- 
igewandtcn  Lebens  und  einer  anhaltenden  Bildung  an  sich  selber 
einerntet,   wie  bedeutend  und  sicher  jetzt  alle  seine  Schritte  sind, 
wie  ihn  die  Kla.rheit  Über  sich  selbst  und  Über  die  Gegenstände  vor 
jedem  eiteln  Streben  und  Herumtappen  bewahrt."     Schiller  fand, 
wie  er  an  Goethe  selbst  schrieb,   in  „Hermann  und  Dorothea"  die 
Khönsten  Eigenschaften   eines  poetischen   Werks:    Ganzheit,    reine 
Klarheit  der  Form  und   den   völlig  erschöpften  Kreis  menschlicher 
Geföhle;   er  fand  das  Werk  schlechterdings  vollkommen  in  seiner 
Gattang,  pathetisch  mächtig  und   doch   reizend   im    höchsten  Grade, 
kura  schön,  was  man  sagen  könne'**.    Er  wtlnschte,   nach   einem 
Briefe  an  Böttiger  ^°',  in  allem  Ernste,  es  kämen  in  der  speculations- 
wichen  Zeit  einige  gute  Köpfe  auf  den  Einfall,  ein  solches  Gedicht 
von  Dorf  zu  Dorf  auf  Kirchweihen  und  Hochzeiten  zu  recitieren  und 
80  die  alte  Zelt  der  Rhapsoden  und  Minstrels  zurückzuführen.    Er 
bemerkte  nun  erst  recht,  indem  er  an  dieses  Gedicht  den  „Wilhelm 
Meister"   hielt,    was  eine  äussere  Form    bedeute.     Die   Form    de« 
ti^ilbelm  Meister",  wie  überhaupt  jede  Romanform,   sei  schlechter- 
•lingB  nicht  poetisch ,  sie  liege  ganz  nur  im  Gebiet  des  Verstandes, 
*teLe  unter  allen   seinen   Forderungen    und    participiere   auch   von 
*lien  soinen  Grenzen.    Weil  es  aber  ein   echt  poetischer  Geist  sei, 
^r  sich  dieser  Form  bedient  und  in   dieser  Form  die  poetischsten 
Züst&nde  ausgedrückt  habe,  so  entstehe  ein  sonderbares  Schwanken 
'i'iichen  einer  prosaischen  und  poetischen  Bildung,  für  das  er  keinen 
^JUnen  wisse.     Er  möcbte  sagen:   es  fehle  dem  „Meister"  an  einer 
Stwisaen  poetischen  Kühnheit,  weil  er,  als  Roman,  es  dem  Verstände 
^JDmcr  recht  machen  wolle  —  und  es  fehle  ihm  wieder  an  einer 
eigentlichen  Nüchternheit,   wofür  er   doch   gewissermasseu   die  For- 
mierungen rege  mache,  weil  er  aus  einem  poetischen  Geiste  geflossen 
Wer  fühle  nicht  alles  das  im  „Meister",  was  „Hermann  und 
[Dorothea"  so  bezaubernd  mache?    Jenem   fehle  nichts,  gar  nichts 
J<*n  6oetbe*8  Geist,   er   ergreife  das  Herz   mit    allen  Kräften   der 


le't  „episclies  Gedicht  haben  Sie  gelesftn;   Sie  werden  gestehen,  dase  es  der 
tfi\  MÄner  aod  anserer  gauzea  neuem  Kunst  ist**  100)  3,  *iTI ;  Jio. 

'/  Literarische  ZustÄnde  etc.  2,  205. 


■im 


464    Vi.  Vuin  zweiteu  Viertel  dcä  Will  jAhrhuadciis  Uis  xu  Goe(lie*a  To4. 


321  Dichtkunst  uud  gewähre  einen  immer  sich  erueucrndcQ  Genui 
doch  fUlne  den  Leaer  „[Termaun  uud  Dorothea",  und  zwar^ 
durch  die  reine  poetische  Form,  in  eine  göttliche  Dichtenvclt, 
ihn  der  „Meister'*  aus  einer  wirklichen  Welt  nicht  ganz  henu 
lasse'*".  War  nun  „Wilhelm  Meister*'  für  Schillers  Rückkehr 
Poesie  entscheidend  gewesen,  so  hatte  „Hermann  und  Doroih«*' 
einen  nicht  minder  entscheidenden  Einfluss  auf  den  Charakter  mntr 
künstlerischen  Bildung.  In  seiner  unmittelbaren  Nfthe  war  Aiwtt 
Werk  zum  allergrössten  Theil  entstanden,  und  da  Goethe,  gegen 
seine  sonstige  Gewohnheit,  schon  während  der  Ahfassung  seil 
mit  ihm  Uher  Plan  und  Ausführung  im  Allgemeinen  und  Bi 
Tielfach  hesprochen.  ihn  auch  mit  den  einzelnen  Tlieilen 
sich  nach  und  nach  aus  einander  herausbildeten,  bekannt  gemi 
hatte,  so  hatte  er  es  gleichsam  unter  seinen  Augen  von  Anfange 
werden  uud  sich  mit  Leben  erfüllen  sehen,  und,  wie  er  sei 
gestand,  hatte  er  aus  jenen  Gespn'ichon  sowohl  wie  aus  der 
tung  selbst,  als  Dichter  und  KUustler  mehr  als  aus  irgend  etxnt, 
auderm  in  der  Welt  gelernt "".  Er  hatte  sich  nun  schon  seit  Bcgifl« 
des  FrUbjahrs  1790  dahin  entschiedcu,  aufs  neue  zu  vür»uchen,  mi 
er  in  der  dramatischen  Gattung  und  namentlich  in  der  Tragödie  u 
leisten  vermochte,  und  zunllchst  bei  der  Bearbeitung  eine«  reii 
historischeu  Stiift'es  die  ganze  Energie  seines  Talents  aufKubietOb^ 
Allein  von  dem  Tage  an  gerechnet,  wo  er  jene  Entscheidung 
und  mit  grösserem  Eifer  und  besserer  Zuversicht  als  zeither 
Plan  und  seine  Vorarbeiten  zum  „Wallenstein*'  wieder  aufnahm, 
zur  Vollendung   dieses  Werks   vergieng^  noch   drei   volle  Jabit 


Die» 


102)  lirief  an  Goethe  M.  310  ff.  lO:))  Am  7.  April  ITHT,  tU 

sclion  srit  Jahr  iinil  Tag   sich  cmatUcher  und  anhÄltendcr  mit  seinem  „Wl 
stein'*  zu  bosohftftitfen  angefangen  hatte,  schrieb  er  an  Körner  {i,  211: 
war  sechs  Wochen  hier.     Das  opische  Geilicbt  von  ihm,  dss   ich  habe  eoG 
sehen,  cind  welches,  in  iinsem  Gesprächen,   alle  Ideen  nbor  epische  nnd 
tische  Kunst  in  Bewegung  brachte,  hat  —  verbunden  mit  der  LectOre  dm 
speare  und  Sophokles,   die  mich  seit  mehreren  Wochen  bescbüfiijct  —  aacfc^ 
meinen  ..Wallenstein*'  grosse  Folgen;   und   da  ich  bt-i  dieser  Gelt^«iy 
Hticice  in  die  Kunst  getban.  so  muss  ich  manches  in  meiner  Anaiclil 
reformieren".    Als  Goethe  im  Ocibr  1797  von  der  Schweiz  ans  dem  Frei 
neuen  Gegenstand  bezeichnet   hatte,  den  er  episch  bearbeiten   wuU«.  ftflt 
ihm  Srhiiler  iX  'M'\:    ,,Wie  sehr  wünschte  ich  auch  dieses  Gedichts  ¥«901 
wieder  mit  Ihnen  vereinigt  zu  sein.    Sie  werden  sich  vielleicht  jetzt  «her  irff»*''to^ 
mit  mir  darüber  zu  siTccben,  da  die  Kinheit  und  Reinheit  Ihn-s    "■ 
Ihre  Mittbeiiuni^en  au  mich,  Wtihreud  der  Arbeit,  so  i?ar  nicht  _ 
Und  ich  gi-stt^be,    dass   ich   nichts  auf  der  Welt  weiss»    woltci   ilL 
hatte.   dU  jene  Communicationcn ,   die  mich  recht  ins  Innere  Act 
lahrten". 


^kelttngaguig d. Literatur.   1773—1432.  Goethen.  Schiller.  Achilleis  etc.  465 

m}n  waren  es  die  jrrosseTi  Sfliwierigkeiten,  womit  Schiller  bei  §  321 
nvältigtin^^  seines  Stoffes  zu  kämpfen  hatte,  um  den  Anforderungen 
■[enQgen,  welche  die  tragische  Kunst,  nach  seinen  durch  Setbst- 
miiim  und  in  dem  Verkehr  mit  Goethe  je  lilnger  desto  mehr  an 
efe,  Bestimmtheit  und  Reinheit  gewinnenden  Begriffen  von  ihr, 
zi  au  ihn  machte,  wodurch  ein  schnelles  Vorschreiten  der  Arbeit  ver- 
idert  wurde;  theils  die  häufif;en  Unterbrechungen  derselben,  welche 
raehmlich  die  alljährlich  wiederkehrende  Sorge  für  den  Musen- 
nanach  '"*  und  die  Kränklichkeit  des  Dichters  herbeiführten.  Auch 
»ethe  lüste  in  dieHen  Jahren  keine  der  grOsHern  poetischen  Auf. 
ben,  die  er  sich  gestellt  hatte.  Durch  „Hermann  und  Dorothea'* 
die  epische  Gattung  eingeführt  und  mit  ihr  vertraut  geworden, 
ad.  er  sie  „sowohl  seineu  Jahren  als  seiner  Neigung,  so  wie  auch 
tn  Umständen  Überhaupt  am  angemessensten'"'*;  so  entwarf  er  nach 
id  nach  die  Plane  zu  drei  neuen  epischen  Dichtungen,  zu  „der 
igd'*,  zu  einem  „Teil"  und  zu  einer  „Achilleis."  Auf  seiner  Reise 
ttTch  die  Schweiz  im  Herbst  1707  gelangte  er  in  Mitten  der  Oert- 
clikeiteu,  die  den  Schauplatz  der  Teilsage  bilden,   zu  der  lieber- 

tuug,  dass  diese  Sage  sich  sehr  gut  zu  einer  epischen  Dichtung 
9,  und  dass  er  sie  dazu  werde  gestalten  können'*".  Nach  seiner 
104)  Dies«  Sorge  t  die  mit  der  Redaction  verhiindenen  Plackereien  nnd  das 
^«bktten  des  Publicums  zum  Almanach  verleideten  ihm  daher  dessen  Herausgabe 
'wtB  mehr,  je  weiter  er  in  Beinem  „WallenBtoin"  TorrUcktc.  Am  lö.  Aug.  IIM 
tKHdb  er  an  Kürner  (4,  61  f.):  .,^5  fehlt  mir  dieses  Jahr  an  aller  Luat  zum 
lieben;  ja  ich  habe  sogar  eine  Al)nLMgung  dagegen,  weil  mich  das  Bedürfniss 
fc»  Atmanacbs,  wider  meine  Neigung,  aus  dem  besten  Arbeiten  um  ,.WalIeü8tein" 
••pief.  Ich  habe  es  auch  verschworen,  dass  der  Almantich  ausser  dieser  (für 
^  J.  1711*1)  nur  noch  eine  einzige  Tortseuung  erlehen  und  dann  aufhören  soll. 
Idi  kian  die  Zeit,  die  mir  die  Redaction  und  der  eigene  Anlheil  wegnimmt,  zu 
•fc«r  hfihem  Thätigkeit  verwenden;  die  Kälte  des  Publicums  gegen  lyrische  Poesie 
■mI  «He  gleichgültige  Aufnahme  meines  Almanacha ,  die  er  nicht  verdient  hat, 
■»tken  mir  eben  nicht  viel  Lust  zur  Fortsetzung:  deswegen  werde  ich,  wenn  der 
''»BteBteio  mir  gelungen  ist,  beim  Drama  bleiben  und  in  den  (ihrigen  Stunden 
ttftimiiehe  und  kritische  Arbeiten  treiben".  Vgl.  den  Brief  an  Körner  vom 
^  Aojiitutt  1791*  t4,  148i,  worin  Schiller  meldet^  dass  er«  da  nun  auch  die  letzte 
^Ickiicht  geschwunden  sei,  die  ihn  zu  einer  Fortsetzung  des  Almanachs  hätte 
^^MfaBmen  können.  ..diese  Bürde  abgeworfen"  habe.  105)  Vgl.  den  Brief  au 

^Wbflvrtmä.  Mai  I79S  (Briefwechsel  zwischen  Goethe  und  Knebel  I.  t73fj.   Goethe 
5>Uc  damals  bereits  den  Gedanken  gefasst,  eine  „Achilleis*' zu  dichten;  er  meinte, 
A'orfolg  des  angeführten  Briefes,    vielleicht   dürften   wir  Deutschen   En  keiner 
irt  uns   50  nahe   au   die  echten  alten  Muster  halten  als  in  dieser,   und  es 
viel  Umstände  zusammen,  die  ein  schwer,  ja  fast  unmöglich  scheinendes 
len  begünstigten.     Habe  er  in  „Hermann  und  Dorothea'*  sich  näher  an 
tsefi  gehalten .   so   möchte   er   sich   wohl  in  einem  zweiten  Falle  der  llias 
lOßi  Am  11.  Octbr.  benachrichtigte  er  davon  Schiller  in  einem  Briefe 
Schweiz  \X  293  f.). 

ilB.  Oruodrirt.    &.  Au(L    IV.  SU 


e-1  Tod  ^ 


4Ü6    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVin  Jakrhuiiderts  bis  zu  Go#the' 


§  321  Heimkebr  wollte  er  sich  zunächst  durch  Wiederaufnahme  des  „Fat 
KU  einer  höheru  uud  reiaera  Stimmung,  vieHeieht  zum  ,,Tell'', 
bereiten'*".  Am  30.  Juni  1798  hatte  er  auch,  wie  er  an  Scbill 
schrieh'**,  die  ersten  Gesänge  des  „Teil**  wirklich  näher  motiTif 
und  war  sich  darttber  klar  geworden,  wie  er  dieses  Gedicht  in 
sieht  auf  Behandlung  und  Ton  ganz  von  „Hermann  und  Doroth< 
trennen  könne,  wobei  ihm  Humboldts  ,, ästhetische  Versuche"  fui 
lieh  geAveseu.  Allein  bald  wurde  der  Plan  zurtlckgelegt  und  uacbl 
ganz  aufgegeben'"'.  Der  Stoff  der  erstgenannten  Dichtung.  ,,Sf 
Jagd",  wurde  zwar  nach  vielen  Jahren  wieder  aufgenommen,  a*»« 
zu  etwas  ganz  anderm  umgebildet,  als  worauf  es  der  Dichter  ursprOnjC- 
Hch  abgesehen  hatte "^  Die  „AohiUeis**  endlich  gelangte  in  der 
Ausfuhrung  niemals  weit  Über  den  Anfang  hinaus,  lu  der  Zelt,  io 
welcher  Goethe's  und  Schillers  Untersuchungen  und  VerhandluDpm 
Über  epische  und  dramatische  Dichtung  besonders  lebhaft  im  Gaage 


107)  3,  349  f.  lOS)  4,  230.  1U9)  Später  tat  io  dem  BriüfincM 

mit  Schiller  keine  Hede  mehr  von  diesem  epischen  „Teil".    Etvas  N&hertt  tbff 
die  Art,  wie  Goethe  den  StoÜ'  ku  bebandeln  gedachte,  den  er  nftchber  aa  S«hlOv 
zu  dramatischer  IJearlieitwng  abtrat,  hat  er  in  den  Tag- und  Jahresheften  CM    ■   ' 
mitgetheilt ;  vgl.  daselbst  :fl,  24'.f  f  ;  Kiemer.  Mitlheihingen  'i,  CkC^  f   nnü 
mann,  (iesprache  3.  lüS  fl*.  110»  Nach   GoeUie's  Bericht  in  den  WmV-i. 

31,  71  f.  mQsste  man  annehmen,  der  Plan  zu  dorn  „neuen  cpisch-romari-'^" 
Gedieht"  ^vür<'  überhaupt  iTsl  nach  dem  Erscheinen  von  ..Hermauu  und  I*ot<  ''^ 
gefasst  worden.  I>eni  widerstreitet  aber  der  Uriefwecbsel  mit  Schiller;  hier  »itn«« 
GoeUie  bereits  den  19.  April  1*97  von  dem  Plan  seines  „zweiten  Gvdk^. 
worunter  offenbar  „die  Jagd**  gemeint  ist.  In  der  Art,  da«s  er  darüber  mitSdilftr 
SchoQ  mündlich  vcrhnndelt  haben  musstc  (während  seines  letzten  sechsiNkta^ 
Ucheu  Aufenthalts  in  Jena;  vgl.  Schillers  Hnef  an  Körner  4,  21),  was  sich  Mtk 
bestimmter  aus  Schillers  Brief  an  Goethe  vom  *Jf>.  April  ergibt  (3,  7«  ff»;  W 
erschieo  dieser  riiiu  ihm  damals  noch  nicht  so  fehlertos ,  dass  er  schon  an  Ar 
Ausführung  denken  konnte.  Niedergeschrieben  hatte  er  ihn  allerdings  noch  tkhi 
denn  erst  einige  Tuge  sputer  wollte  er  diess  für  Schiller  tbuu.  unterliess  «  jfdod 
als  ihm  ciutieU  ..dass  er  uichtü  ferüg  machte,  wenn  er  den  Phui  zur  Arbeit 
irgend  vertraut  oder  jemand  offenbart  hatte'*  {'A,  s"  f.).  Wie  er  ind« 
Werken  31,  72  lH.'merkl,  so  hatte  er  unglücklicherweise  doch  schon  aeini 
den  fSchiller  und  Humboldt,  vgl.  SchUIcrg  Brief  an  Goethe  :i.  '9  f.  mid 
Mittheilungen  2,  OHI  f )  zu  viel  davon  entdeckt.  Sie  riethen  ihm  ab,  und  c« 
trübte  ihn  noch  in  »piiteru  Jahren,  dass  er  Lbuen  Folge  geleistet  hatte. 
und  Humboldts  Bedenken,  so  weit  sie  gegen  Goethe  schriftlich  ausgf«{ii 
wurden,  enthält  der  zuletzt  angeführte  Brief  Schillers.  Indes«  auch  noch  diip 
Monate  darauf  hatte  Goethe  die  Absicht  mit  seinem  neaen  episcbeti  Vhn  ^ 
immer  nicht  gatiz  aufgegeben  (vgl  Briefweclisel  mit  Schiller  3,  UOi,  und  S^iii^ 
fand  es  ganz  angemes^ien,  wenn  der  Dichter,  was  dieser  zunlchat  als  eiora  tJrt 
möglichen  Fall  hingestellt  hatte,  was  ihm  aber  bald  daranf  audgemacht  täo^ 
wirklich  thitte,  d.  h.  für  da»  Gedicht  nicht  die  Form  des  Uexamcten  wftjkhr, 
dem  es  in  Keimen  und  Strophen  behandelte  (3,  13Sf.  I37<.  AUein  schon 
Goethe,  „dass  das  eigentlich  Interessante  des  Sujet«  sich  zuletzt  gar  in  eü« 


jang  d.  Literatur.    1773—1832.  Goethe  u.  Schiller.  Achüleis  «tc.   467 


n'"  und  beide  Dichter,   vorneliralieh  der  erstere,  sich  viel  mit  §  321 

homerischen  Gesängen  beschäftigten,  verfiel  Goethe  auch  darauf, 

die  Frage  gründlich  zu  beantworten:  ob  zwischen  Hektors  Tod 

d  der  Abfahrt  der  Griechen  von  der  trojanischen  Küste  noch  ein 

hes  Gedicht  inne  liege  oder  nicht? "^    Hierin  lag  der  Keim  zu 

em  Plan  einer  „Achilleis*';  er  besprach  sich   seitdem  Ober  eine 

he  Arbeit  vielfach  mit  Schiller;  zu  Ende  Aprils  179S   fühlte  er 

unendliches  Verlangeu,  sich  an  dieselbe  zu  machen,  und  hoffte, 

Orden  ihm  in  diesem  Jahr  noch   ein  Paar  Gesänge  gelingen*". 

xn  er  zu   dem   Ende   in   dem   angefangenen  Schematisieren   der 

und  den  auf  dieselbe  gerichteten  Untersuchungen   fortfuhr  und 

h  immer  liefer  in  den  Geist  und  Charakter  der  homerischen  Dich- 

einzustudieren  und  einzuleben  suchte,  „erweiterte  sich  sein  Plan 

innen  aus  und  wurde,  wie  die  Kenntniss  wuchs,  auch  antiker"'". 

16-  Mai   schrieb   er  an   Schiller"*,  sein   erstes  Aper^'U  einer 

Ileis  sei  richtig  gewesen,  und  wenn  er  etwas  von  der  Art  machen 

e  und  solle,  so  müsse  er  dabei  bleiben;  er  habe  »ich  Überzeugt, 

Achilleis  sei  zwar  ein  tragischer  Stoff,   verschmähe  aber  nicht, 

en  einer  gewissen  Breite,  eine  e|>iscbe  Behandlung.    Er  könne 

in ,    wenn    der   Freund    hiernach    glaube ,    das«   ein    Gedicht    von 

ossem    Umfang   und   mancher  Arbeit   zu   unternehmen    sei,  jede 

;ande  anfangen;  denn   Über  das  Wie  der  Ausführung  sei  er  meist 

U  sich  einig,  werde  aber  nach  seiner  alten  Weise  daraus  ein  Ge- 

niss  machen,    bis    er  die  ausgeführten   Stellen  selbst  vorlesen 

'.    Jedoch,  80  sehr  auch  Schiller  zu  dieser  j\jbeit  aufmun- 

*",  zogen  Goethen   in  den  folgenden  Monaten   des  Jahrs  doch 

Acre  mehr  an,  oder  er  vermisste   ganz  die  poetische  Stimmung, 

lu'i  erst  nach    einer    langen   Pause""   kam   er  im    März   1799  auf 

tßen  Plan  zurück,  in  den  ersten  Tagen  dieses  Monats  organisierte 

i  ein  grosser  Theil  der  Achilleis,  dem  es  noch  an  Gestalt  gefehlt 

te,  in  seine  kleinsten  Zweige,  und  der  Dichter  glaubte,  wenn  er 

seine  Kräfte  darauf  wende,  bis  Ende  Sej>tembers  fertig  sein  zu 

üien'";   den   16.  März   waren   schon   fünf  Gesängo  motiviert  und 

dem   ersten    160  Hexameter  geschrieben"'';  zehn  Tage  später. 


hen  nöchte**.  Pas  geschalt  nun  freilich  nicht,  vielmehr  scheint  der  Dichter 
B  Gegeastand  fortan  auf  lange  Zeit  aus  den  Augen  verloren  zu  babea  KrtC 
f.  IS^6  kam  er  wieder  darauf  zurück  und  bildete  daraus  die  „Novelie"  (vom 
I  uiJ  Lüwenl,  Werke  16,  2')7  ff.  (Vgl.  Eckerroaun .  Gespniche  I.  2Sö  ff.; 
1).  tu»  Vgl.  den  folgenden  §.  I  lii  Brief  an  Schüler  3.  3M  f., 

ider  2.  Au«g.   1.  «r.,  vom  IX  Decbr.  1797;  vgl,  :t,  'My^■  ll3i  1.  173. 

J14)  4,  201  f.  llöj  4,  20S  ff.  116)  Vgl.  auch  den  »clion  Anm.  1U5 

fhhrtun  «rief  au  Knebel.  117)  4.  211  ff.  118)  ö,  IS  ff. 

Tfl5.  2Ö— 2S.  120)  5,  3:i. 

30* 


468    VI.  Vom  zweiten  Viert«!  des  XVin  JahrliunderU  bis  ru  Goeth«'s  Toi 


§  321  als  Goethe  sich  wieder  mehrere  Wochen  in  Jena  aufhielt,  wollte  er 
Schillern  das  vorlesen,  was  his  dahin  von  dem  ersten  Gesauge  ge- 
dichtet worden,  und  den  2.  April  schickte  er  ihm  den  ganzen  ervtei 
Gesang,  mit  dem  Bemerken^  er  wolle  nun  eine  kleine  Pause  maebn, 
um  sich  der  Motire,  die  nun  zunächst  zu  hearheiten  w&ren,  specieUtf 
zu  vorsichem"*.  Seitdem  wird  in  dem  Bnefwechscl  mit  Schiller  d» 
„AchHleia**  nicht  mehr  gedacht,  und  auch  die  auf  sie  Bezug  nchmcudw 
Briefe  au  Knebel'"  reichen  nicht  üher  den  März  des  J.  MW. 
Eben  so  wenig  wie  diese  epischen  Dichtungen  rückte  das,  was  noch 
am  „Faust"  zu  thun  übrig  war  und  von  Zeit  zu  Zeit  auch  wirklich 
geschah,  sehr  vor,  obgleich  Goethe  schon  jetzt  die  Absicht  haitc^ 
das  Werk  zu  einem  Abschluss  zu  bringen'**.  Im  Herbst  179-1  bi 
Schiller  grosses  Verlangen  ge&ussert,  die  noch  nicht  gedruckt 
Bruchstücke  des  „Faust"  zu  lesen,  worauf  Goethe  aber  nicht 
gieng:  er  wagte  nicht,  das  Manuscript  aufzuschnüren,  da  er  ni( 
abschreiben  könnte,  ohne  auszuarbeiten,  und  dazu  in  sich  koii 
Muth  fühlte*".  Im  Anfang  des  nächsten  Jahres  wiederholte  Schill 
seinen  Wunsch '**;  wirklich  scheint  Goethe  nun  während  eines 
in  die  erste  Hälfte  dieses  Jahres  fallenden  Besuche  in  Jena  di 
Freunde  gewillfahrt  zu  haben,  wenigstens  erbellt  aus  einem  Bi 
Hum>KtMt8  au  Schiller"^,  dass  diesem  damals  scheu  der  ganze 
zum  ,, Faust"  so  bekanut  geworden  war,  dass  er  darüber  hatten 
fohrliche  Nachricht  crtbeilen  können.  Nicht  lange  darauf  verspncfa 
Goethe  ihm,  wenn  es  möglich  wäre,  etwas  vom  „Faust"  für  di» 
beiden  letzten  Stücke  des  ersten  Jahrgangs  der  Hören  zu  liefen)'*, 
woraus  aber  nichts  wurde.  Sodann  ist  von  dieser  Dichtung  in  des 
Briefwechsel  lange  Zeit  nicht  weiter  die  Rede;  nach  der  Chrono- 
logie etc.  jedoch'**  wurde  gegen  Eude  des  Jahres  ITlttJ  wieder  ,,eiai|» 
am  Faust  gethan."  Erst  als  Goethe  und  Schiller  sich  im  Somaer 
1797  der  Balladendichtung  zugewandt  hatten,  nahm  sich  der 
vor,  sich  wieder  anhaltender  mit  jenem  Werk  zu  beschUftigeo.  ft 
sich  in  seinem  damaligen  unruhigen  Zustande  (nach  Vollendung 


121)  5,  i\  f.  I22l  I.  20!^;  207.  I2:t)  Nach  deu  Tag-  und  Ji 

heften  (31,  70  f.)   leitete   den   Dichter  von   dpr  WcitcrfOhning  dieser  Arboil 
Richtung  auf  die   bildende  Kunst  ab,   die  seine  Tliätigkeit  vorzügUcli  den 
pylÄen"    zulenkte.      Der   erste   Gesang   der  „AchiUeis"    erschien    dann   1^0^ 
10.  Baude  der  seit  1n(H>  herauskommenden  Wnrke  Goethe*s;   nach  den  Tutf* 
Jahresheften  a.  a.  0.  hat  der  Dictiter  auch  noch  einen  zweiten  Gesang 
von  dem  icli  aber  durchaus    nichtit  weiter   wHss.     Wie  Riemer  narh  «iiur 
liehen  Mittheiliing  Goethe's  berichtet  (Miuheilungen  2,  h2'S\   roy).    war  M  fii 
des  Dichters  Absicht,  die  .fAchilleis**  in  einen  Roman  xu  verwandeln.        114*^P 
S.2:i,  Anm.  70.  125)  Briefwechsel  I,  72;  74.  J26)  1.  9«.  t27t  T« 

17.  Juli  1793:   S.  110.  I28>  I.  »90;  vgl.  S.  11*3.  1291  Goeüw'*  Vatt^ 

60.  320. 


cdaogBgang  der  Literatur.    1773—1832.  Goethe  und  Schiller.   Faust.    469 

lann  und  Dorothea"  und  vor  Antritt  seiner  Reise  in  die  Schweiz)  §  31 
Rvae  zu  thun  zu  geben,  hatte  er  sich  cntschlossenj  wie  er  den  22. 

rl  an  Schiller  schrieb"*',  an  seinen  ,, Faust*'  zu  gehen  und  ihn, 
nicht  zu  rollenden,  doch  wenigstens  um  ein  gutes  Theil  weiter 
I  bringen,  indem  er  das,  was  gedruckt  sei,  wieder  auflöse  und  mit 
OD«  was  schon  fertig  oder  erfunden  sei,  in  grosse  Massen  disponiere 
td  so  die  Ausführung  des  Plans,  der  eigentlich  nur  eine  Idee  sei, 
iher  vorbereite.  Er  habe  jetzt  eben  diese  Idee  und  deren  Dar- 
bllnng  wieder  vorgenommen  und  sei  mit  sich  selbst  ziemlich  einig. 
Sun  wünschte  ich*\  fährt  er  fort,  „dass  Sie  die  Güte  hätten,  die 
fccbe  einmal,  in  schlafloser  Nacht,  durchzudenken,  mir  die  For- 
■rangen,  die  Sie  an  das  Ganze  machen  würden  >  vorzuleben  und 
i  mir  meine  eigenen  Träume,  als  ein  wahrer  Prophet»  zu  ei*zählen 
|id  £U  deuten. . . .  Unser  Balladenstudium  hat  mich  wieder  auf 
bsen  Dunst-  und  Nebelweg  gebracht,  und  die  Umstände  rathen 
pr,  iu  mehr  als  Einem  Sinne,  eine  Zeit  lang  darauf  herum  zu 
pn""*-  Vorerst  sollten  nur  die  grossen  erfundenen  und  halb  bear- 
liteten  Massen  zu  Ende  gebracht  und  mit  dem,  was  gednickt  war, 
ßammengestellt  werden;  doch  werde  das  Werk  wohl  immer  ein 
■Bgment  bleiben*".  Allein  schon  am  5.  Juli  berichtet  Goethe***: 
hDit  ist  die  Zeit  zurückgelegt  worden;  die  nordischen  Phantome 
^Pdurch  die  südlichen  Reminiscenzen  (welche  die  Anwesenheit 
^  Archäologen  Hirt  in  Weimar  hervorgerufen  hatte)  auf  einige  Zeit 
rückgedrängt  worden;  doch  habe  ich  das  Ganze  als  Schema  und 
fcbereicht  sehr  umständlich  durchgeführt."  Nach  der  Chronologie 
■c.***  waren  iu  dieser  Zeit,  ausser  „Oberons  und  Titanias  goldener 
ocbzcit"  —  die  ursprünglich  keineswegs  zur  Aufnahme  iu  den 
ratut'',  sondern  als  neue  Xeniendicbtung  für  den  MusenalmaDacb 
kn  1798  bestimmt  war,  aber  auf  Schilleret  Rath  fürs  erste  zurllck- 
telegt  wurde,  um  später  ihre  Stelle  in  dem  Drama  zu  finden,  iu 
Icaen  vollständigem  ersten  Theil  sie  als  „Intermezzo*'  1808  er- 
feW«n'*  —  auch  die  Zueignung  und  der  Prolog  (im  Himmel) 
twchrieben  "*.  Nach  seiner  Rückkunft  aus  der  Schweiz  (gegen  Ende 
povbr.  1797)  gedachte  Goethe  von  poetischen  Arbeiten  zunäcbst  den 
[,F«i8t"  wieder  vorzunehmen,  theils  um  ihn  los  zu  werden,  iheil» 
sich  dadurch  vielleicht  auf  seinen  „Teil"  vorzubereiten**'.     lud 


1301  3,  I2yf.  131)  Vgl.  Schillers  Antwort  3,  131  ff.  und  den  Brief  vom 

yjani  .1,  IS'.i  ff.  132l  :»,  134;  »36.     Ueber  den  Fortgang  der  Arbtit  wih- 

der  nächstfoIgCDden  Zeit  vgl.  3,  150  f.  133|  3,   154.  134)  Wertej 

320.  135)  Vgl.  Briefwechsel  mit  Schiller  3,  2S6  f.;  370.  13*;.  V 

MDg  ZU  den   von   Riemer  heransgegehenen  Briefen    von    nnd   hn  Oo^l 
t  und  DduUtT,   Ooethe'fi  Faust  I,  87.  137»  :»,  Mik;  %^  S<i 

u  KOmer  4.  ti6. 


470    VI-  Vom  Ewetten  Viertel  des  XVm  JaUrhunderU  bU  ku  GocÜie'B  ToA. 


§  321  kam  es  dazu  nicht  sogleidi'";  erst  im  Ajiril  des  J.  1798  machte 
Dichter  wieder  ernstlicher  Anstalt  dazu;  das  Werk  sollte  ann  eudl; 
fertige  gemacht  werden,   wurde  auch   bis  iu  den  Anfang  des  Maj 
„um   ein  Gutes   weiter  gebracht*' '",   scheint   dann   aber   bis  in  d 
Anfang  des  J.  ISOO  ganz  liegen  geblieben  zu  sein^  obgleich  e« 
der  Chronologie  etc.  unter   dem  J.  1799  heisst:   ,,deu  Faust  wi< 
aufgenommen.**     Mancherlei    durch   äussere   Dinge  veranlasste 
Streuungen  und  Störungen,  seine  naturwissenschaftlichen  und  aj 
sehen  Studien,   die  letztem  besonders  seit  der  Zeit,   wo   er  mit 
Meyer  die  ,jPro|jyUien"   vorbereitete   und   herausgab'*",  endlich 
ihn  im  Verein  mit  Schiller  vielfach  und   anhaltend   beschäftigend« 
theoretischen    Arbeiten,   namentlich    die    Untersuchungen    über 
Wesen    und    den    Unterschied    der   beiden    grossen    Gattungen 
Poesie"',  zogen  ihn  nicht  nur  von  grösseren  dichterischen  Arl 
zu  sehr  ab,   sondern  liessen  in  ihm  auch  nur  selten,  und  biswf 
sogar  für  Wingcrc   Zeit  nicht,   die   rechte   poetische   Stimmung 
kommen.    So  beschränkte  sich  das,  was  beide  Dichter  in  der 
nach  Vollendung  von   „Hermann   und  Dorothea'*   bis  zu  dem 
schluss   des    letztin    Theils   von    „Wallenstein"    Poetisohee    herF< 
brachten  und  veröffentlichten,   nur  auf  die  kleineren,  znm 
Theil  allerdings  ausserordentlich  schönen  Stücke  —  Balladen,  Elegie 
Lieder  und  Liederartiges,   lyrisch •  didaktische  und   rein  didaktüscl 
Gedichte  etc.  —  für  die  letzten  drei  Jahrgänge  des  Musenalmaiiacl 
Auf  das  Balladenstudium  waren  Goethe  und  Schiller  in  der  Zeit  ffr^ 
kommen,  wo  sie,  der  eine  noch  mit  „Hermann  und  Dorolhea"*,  6tt 
andere  mit  dem  „Wallenstein"  beschäftigt,  sich  über  die  Theorie  «fcr 
epischen   und    dramatischen   Dichtung   schriftlich   und    mOndlich  n 


» 


138)  Vgl.  Briefwechsel  ziriscben  Schiller  und  Goethe  4,  74.  I3t^)  4. 

und  2.  Ansg,  2,  75;    1.  Au&g.  1.  191:   2.  Ausg.  2.  S3.  140)  Vgl.  Wl 

31,  7U;   Sü:  S4.    ^.Bie  Propyläen.    Eine  periodische  Schrift,  heraasge^lua 

Goethe".    Tübingen  I7!*s— isou.    0  Stücke  ia  3  Bänden.    S.    Sie  cnüüdtca 
Goethe:   die   „Kinlcitnng*'.   den  Äafsnti!  .,Uber  Laokoon*',  das  Gesprftrh  Jji 
Wahrheit  und  Wahrschpiiilichkeit   der  Kunetworlce"  tzusamraen   aufgenomaxm   Iß 
den  as.  Bd.  der  Werke) ,  die  mit  Anmerkungen  begleitete  Uebcrsetzuug  »od  «P^* 
derots  Versuch  Aber  die  Mahlerci'M  Werke  ßd,  3ü),  „der  Summier  und  digSiiiii|Wfl'' 
in  Briefen  (Werke  Bd   :t>),   und   „einige  Sceneu   aus  Moliomet,   uacK  Voltafr^ 
Auch  Schiller  lieferte  einen  Artikel  „An  den  HerauBgeber  der  Propy! 
S,  2,  24l»fi'.;  G«>dcke  10.  52tiff.;  vgl.  Hriefwechscl  mit  Goethe  ö,  'M*<>; 
330ff.i.   Die  ZeitÄcbrift  fand  aber  wenig  Beifall,  wenigstens  warder  Abvft'/      -■-■:- 
inarhSehlllcr»  Brief  an  Körner  4,  2!»D,  nur  :u)n  Kxemphire),  daasSchnN- 
daran  denken  mochte,   wenn  sein  Blut  nicht  iu  Bewegung  gesetel  >«' 
und  dass  ihm  „noch  nichts  einen  so  niedertrttchtigcu  Begriff  Ton  de. 
Publicum  gegeben  hatte"  (Brief  an  Goethe  vom  5.  Juli  17<»9,  Bd   5.  •• 
I4ll  Vgl.  den  folgenden  §. 


I 


Entwickelangvgaag  der  Literatur.  t773~lS32.  Goethe  und  Schiller.  Balladen. 

verfttändigea  suchteu,  seit  Ausgaug  Februars  1797  "\  wahrend  Goethe  §  321 
8ich  im  Mai  uud  Juni  iu  Jena  aufhielt "\  Die  meisten  Balladen 
fftssten  die  Dichter  nun  gleich  im  J.  1797  ab,  welches  Schiller  daher 
auch  ale  das  Balladenjahr  bezeichnet  bat*'\  Dürfte  mau  sich  darauf 
verlassen,  dass  die  Reihenfolge,  in  welcher  die  Chronologie  etc. 
unter  jedem  Jahre  die  in  demselben  fertig  gewordenen  Stücke  Goethe'a 
auflUhrt,  auch  die  Zeitfolge  ihrer  Vollendung  streng  beobachtete,  so 
würden  die  beiden  Balladen  von  Goethe,  „der  Schatzgräber*'  und 
„der  Zauberlehrling""",  die  von  allen  zuerst  gedichteten  sein  und 
die  erstere  noch  spätestens  in  den  Mai  fallen,  da  sie  vor  einem 
andern  Gedicht  („der  neue  Panaias'O  steht,  das  Goethe  schon  gegen 
Ende  dieses  Monats  an  Schiller  sandte*'";  der  „Zauberlehrling" 
würde  ,,der  Braut  von  Korinth*'  unmittelbar  voraufgegangen  sein'". 
'ie«e  aber  sammt  „dem  Gott  und  der  Bajadere**  sind  im  Juni,  als 
Goethe  in  Jena  war,  und  zu  derselben  Zeit  „der  Taucher"  von 
Schiller  vollendet'*',  welchem  auch  noch  im  Juni  die  Er/tiblung 
„der  Handäcbuh'""'  und  die  Ballade  „der  Ring  des  Poivkrates" 
folgten'^'.    An   „die  Kraniche  des  Ibycus^',   einen  Stofl*,   den  sich 


142)  Vgl.  Schülers  Brief  au  Körocr  4,  21  f.  143)  Briefwechsel  3,  IMO 

nnü  Goelhe's  Brief  an  H.  Meyer  in  den  Werken  4.1,  16.    Hoffmeister  (im  Leben 
Schillers  ;i,  SSS)  findet  es  hiichst  wahrücheinlicb ,   Uass   den  ersten  Anatoss  dazu 
nicht  Goethe,   gondem  Schiller  gegeben  hat,  als  dieser  am  2.  Mai  sich  von  dem 
Freunde  den  Test  vom  „Don  Juan'*  auf  einige  Tage  erbat,  weil  er  „die  Idee  habet 
nue  BoUulc  daraus  zu  machen",  was  (iocthe  einen  sehr  glücklichen  Gedanken 
nuflte  (der  inde&s  unausgeführt  blieb  3,  93;  'J5;   die   Fragmente,   die   sich   in 
SctiUlen  Nachlass  gefunden,   stehen   in  Goedeke*s   kritiacher  Ausgabe  11,  3H)fi; 
»gl.  (Uzu    Schröer    in    der   N.    Freien   Presse   vom   2l>.    Sepibr.    IS72).     Aller- 
lei ist    diess    im   Briefweclisel   die   erste  Hindeutung   auf  die   nun   bald   be- 
giiutuidr  Balladendiclitung  beider  Freunde;   möglich  wUrc  es  jedoch  Immer,  dasa 
*cboü  während  jenes   sechswöchentlichen   Besuchs   in  Jena   (vom   Ausgang   des 
hbrtur  bis  zum  Anfang  des  April),   über  den  Schiller  an  Körner  in  dem  eben 
ifuhnen   Schreiben   berichtet,    Goethe  Schillern   säuerst    auf    den   Gedanken 
ite,  sich  in  Üalladeu  zu  versuchen.    Ganz  fest  dagegen  steht,  nach  Goethe*» 
(ber  ErktUrung  an  Eckermami  iGesprtiche  It,  3U4>,  dass  er  selbst  hauptsachlich 
'^t  «iif  Schillers  Antrieb  sich  entschloss,  mehrere  Halladen ,    die  er  bereits  „seit 
Mm  Jjitireu  im  Kopfe  hatte**,  jetzt  eigentlich  auszuführen.  I44i  U,  271. 

I45i  Vgl.  S.  4-15.  Anm.  h;i.  UOi  Hrinfwechsel  i.  Ausg.    l.  :J12;  vgl  310, 

^r  I-  Ausg.  :t,  114  f.;  112;  130.  147t  Gedacht  wird  seiner  im  Briefwechsel 

^ch  rrst   am   23.  Juli,    Bd.  3,   170,    er   konnte  damals   aber   schon  länger  In 
iere  Händen  sein.  MS)  Vgl.  Boxberger,  eine  poetische  Bearbeitung  der 

sKer-Sage  vor  Schiller,  in  Gosche's  Archiv  f.  Lit-Gesch.  l,  öitl  ff. 
Ii  Vgl,  Laun,  eine  albjpanische  Romanxe  zur  Vergleichung  mit  Schiller»  H*«d- 
\cbendas.  I.  507  ff.  I5()|  3,119;  Til;   \T.H    125;   1*28;   133;  135;  Ho€- 

a.  a.  0.  3,  2S8:  2\)\  hat  beidemal  geirrt,  wenn  er  dort  »ul*  „die  Bna^  to» 
itli*'  bezieht,  was  offenbar  auf  „den  neuen  Pausiaa**  gehl,  und.  h>er  die  Wort« 
''WHcs.  dass  er  seine  „Paare  in  das  Feuer  und  aus  dera  Feuer  briaff**,  bot  %vt 
"^Uoine  Paar,   „den  Gott  und  die  Bajadere",   und   nicht  zugkadi  Äoch  wä  4m 


m 


n 


472     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  JahrliunderU  bis  zu  Goeth«*»  Tod. 

§  321  zuerst  Goethe  zu  einer  Ballade  gewählt  hatte'",  dessen  Bebanillan^^ 
er  auch  noch  nicht  gleich   ganz  aufgab,  als  sich  Schiller  ebcnf&l 
dafttr  entschieden  hatte,  und  auf  dessen  Gestaltung  unter  des  Freuiw 
Hand   er   nachher   einen    nicht   unbedeutenden    Einfiuss   atiflUbte'' 
hatte  Schiller  zwar  schon   im  Juli  gedacht,  sie  aber  damals  nc 
nicht  angefangen*'*;  erst  in  der  Mitte  des  Augusts  waren  sie,  in 
ihnen  zuerst  gegebenen  Gestalt,  bis  auf  die  letzte  Feile  fertig*"  ihre 
Vollendung  verzog  sich  aber  bis  in  den  September  hinein  "*.    Olei« 
zeitig  mit  dieser  Ballade  muss  Schillers  „Ritter  Tnggeuburg"  eat»5 
standen   sein'",  und  am   22.  Septbr.   war   auch  schon  seine  leltttt^ 
aus  dem  Jahr  1797,  „der  Gang  nach  dem  Eisenhammer''  grusstentbeil 
fertig^*'.     Alle  bisher  genannte  Balladen  erschienen,   sammt  ..deml 
nandscbuh'*,  im  Musenalmanach  für  1798  („die  Braut  von  Korinth'*^ 
als  Romanze,   j^dev  Gott  und   die   Bajadere''  als  indische  IjtgtAM 
bezeichnet^    Goethe  dichtete  ausserdem   im  Herbst  1797  noch  di 
andere,  ,,der  Edelknabe  und  die  Milllenn*',  „der  Junggesell  und  d( 
Mühllmch**  und  ,.der  Mnllciiu  Reue*',  die  nebst  einer  erst  im  näc! 
Jahr  vollendeten  vierten,  „der  Müllerin  Verrath",  „zusammen  (j( 
in  etwas  anderer  Folge»   einen  kleinen  Roman   bildeten'*  und 
Musenalmunacli  für  1799  gedruckt  wurden.     Die  drei  ersten  hat 
Dichter  selbst  „Gcsprüche  in  Liedern"  genannt.    Er  war  auf  di< 
„poetische  Genre"  im  August,  als  er  auf  dem  Wege  in  die  Schwe 
war,  gefallen'".    Zu  derselben  Zeit  entstand  auch"*  seine  fQnfte 

andere,  ..die  Braut  voo  Koriuth"  deutet;  aber  diese  vgl.  auch  Schiller  •■  KAov 

4,  üfl  f  und  Uiemer,  MittliPÜUDgcn  2.  531.  151  i  :*.  Ml;  »30;  vgL  Goetbe'i 
Werke  31,  IS7.                1Ü2)  3,"  ISO;  217  f.;   221  f.;  22S  f.;  251  ff.;  111. 
153t  3,  IH5;   IÜ8.            154)  3,  2U  f.             155»  3,  261—254.  156)  J.  ß* 

157»  3.  271  f.  158)  „Wir  haben',  achrieb  er  den  31.  August  \Vi'  la 

Schiller  (3,  2.'VM,  ,,in  einer  gewissen  Altem  deutschen  Zeit  recht  artige  Sncheo  roo 
dieser  Art ,  und  es  lasst  sich  in  dieser  Form  manches  sagen ,  man  nuM  Dor  flit 
hineinkoinineu  und  dieser  Art  ihr  Elgenthamlichea  abgewinnen.    Ich  habe  m  ^ 
Gespriich  zwischen   einem  Knaben,   der   in  eine  Müllerin  verliebt  t!»t.   nnd  d9 
MOhlbach  angefangen  und  hoff*  es  bald  zu  Uberschickeu".    Tod  vientha  T>f* 
ap&ter  (3,  21^;  das  Datum,    welches  in  beiden  Ausüben   des  Briefwechaeh  trblU 
geben   die  Werke  13,  I3ü»:    „Zum  Schlüsse  lasse  ich  Uinen  noch  einen  Uiiff» 
Scherz  abschreiben  i..der  Edelknabe  und  die  Müllerin.    AitengUsclj"».    Ka  folg^ 
anf  diese  Introduction  noch  drei  Lieder  in  deutscher,  französischer  und  apaiiUcl»" 
Art".    Das  zweite,   „der  Junggesell  und  der  Mühlbach",  wurde  an  SchiUcr  ^i*** 
U.Octbr.  gesandt  (2.  Ausg.   1,  3'J2  ff.  oder  1.  Ausg.  3,;*03;  Tin;  AM  und  daa  tta**^ 
,»der  Müllerin  Reue",  den  lü.  Novbr.  j3,  321  f.;  im  Mnscu-Almanach  üher*c 
„Itcuv     Altapanisch").    Das  dritte,   „der  Müllerin   Verrath"»   i^l 
Juni  l'us  während  eines  mehrwöchentlichen  .\ufenthaltes  in  Jen  ^ 
vielmehr  aus  einer  französischen  Romanze  umgebildet  zu  habru  (».  2t>»:  vgl 
den  Uriefwech&stl  mit  Knebel  1,  1^3  und  Uiemer  in  den  Briefen  von  und  an 

5.  l«Tff.  159)  Nach  dem  tnhaluvcrzeichniss  vor  fid.  1.  Ähth.  I  der  Wi 
In  3  Binden. 


enalmanach  für  1799  einverleibte  Ballade,  „das  Blünilein  Wunder-  §  3"2l 
pbon.  Lied  des  gefangenen  Gnifeu.**  Schiller  lieferte  für  diesen 
lnbi^ang'  von  Balladen  nur  j,den  Kampf  mit  dem  Drachen*'  (im 
ilmanach  als  Romanze  bezeichnet)  und  „die  Bürgschaft'*,  beide  in 
Jen  letzten  Tagen  des  Augusts  und  den  ersten  des  Septbr.  1793 
lerfaast***.  Aus  dem  J.  1799  haben  wir  von  Schiller  keine  Ballade, 
Jon  Goethe  nur  die  dramatisch,  und  zwar  cantatenartig  behandelte 
lerate  \Vali>Hrgi8nacht",  welche,  obgleich  sie  schon  im  August  fertig 
rar'*',  doch  nicht  in  den  letzten  Jahrgang  des  Musenalmanachs 
ingerQckt  ward,  wie  derselbe  überhaupt  nichts  mehr  von  Goethe' 
trachte.  An  Elegien  brachte  der  Musenalmanach  von  Goethe  ,,dcr  neue 
^aasias  und  sein  Blumenmädchen'*,  gedichtet  im  Mai  1797 '•*;  „Arayn- 
ks",  gedichtet  im  Septbr.  1797  beim  Eintritt  in  die  Schweiz"^,  und 
lEuphrosyne**,  zum  Andenken  der  jung  gestorbenen,  von  dem  Dichter 
Ir  die  Bühnenkunst  ausgebildeten  Schauspielerin  Christ.  Becker, 
eb.  Neumann  "".  Dieses  unvergleichlich  schöne  Gedicht  wurde  im  Octbr. 
797  begonnen,  aber  erst  im  Juni  des  folgenden  Jahrs  abgeschlossen"*. 
in  Liedern  enthielt  der  Jahrgang  179S  von  Goethe  drei*"*;  von 
|chiHer  das  ,, Reiterlied*'  aus  „Wallensteins  Lager*',  das  der  Dichter 
phon  den  7.  April  1797  an  KÖmer  sandte"'  und  sechs  andere^**, 
ler  folgende  von  jedem  eines'"*;  der  letzte  bloss  ,^die  Erwartung" 
►on  Schiller,  die  aber  auch  schon  1790  gedichtet  war.  An  lyrisch- 
lidaktischcn  und  rein  didaktischen  Sachen  von  Goethe  der  Jahr- 
gang 179S  die  „Legende"""  und  ausserdem  noch  „der  neue  Amor""*, 
iw  jedoch  aus  dem  Jahre  1792  herrührte;  1799  „die  Muaageten"*", 
„die  Metamorphose  der  Pflanzen'*'"  „Schweizeralpe" '^*,  „Deutscher 
"  und  „Stanzen"*";   von  Schiller  der  Musenalmanach  für 


tiOt  BricfwGchBcl  mit  Goethe  4.  2ft7;  2S7  :  MU— 2flG.  16  h  Briefwechsel 

en  Goethe  und  Zelter  l,  8;  10;  3*i  und  Uiemer,  Mittbeilangen  2.  IUI. 

l02)  Vgl.ri.  ITI,  IIU;  gedruckt  im  M.-A.  für  HiiS.        163)  Den  Anlassgabeiu 
mit  Kpheu  umwundener  Aplelbaum,  Werke  -13,  Iti'i;  vgl.  briefwecbsel  tuii  SchiUcr 
S,3:t5;  :i:*S;  :i40;  mit  der  folgenden  Elegie  gedruckt  im  M.-A.  für  ny'J. 
l64iVgl.  Werke  31,  |k_20:  75  f  165|  Werke  4.'*,  234;  Briefe  von  UDd 

«n  OnetUö  etc.  S.  65  und  Riemer.  MittheiUingea  2,  561  f.        166)  In  den  Werkeo- 
1.  101  l  (bereits  im  J.  17%  gedichtet);  ()4:  45.  167)  4.  22.  16SI  ta' 

den  Werken  M,  »,  5  (aus  dpm  J.  17yti};  226  f.;   41  flF.   (au  Goethe  :j,  U7;    llVH 
'  l;  2:i-2;  6  f.  169)  Von  Goethe  I,  Qh;  von  Scliüler  *.»,  I,  12  f.        170.  b 

erken  13,  ii9  ff.         171)  2,  i:i9.  172)  2.  100  f.  173^  t.  ««f^fi 

em  J.  I7«7,  doch  scheint  der  Dichter  nicht  eher  als  im  Sommer  ds  Utgt 
^  Julift'3  ganz  damit  fertig  geworden  zu  bciu.   wenigatena  sendet  er  OM  A^' 
'^cifi  ,j«e  Gedichts  an  Knebel  erst  den  VX  Juni  I7!IV;    Uricfwechsel  flu  Kacbd 
^  »TS  I74i  2.  141:  auch  aus  dem  J.  1797,  vgl.  BricfwrcfcMl  aü  ScUDer 

\^m.         IV^D  -j,  23  ff.;  erschien  zuerst  unter  der  UffbericJirift  ,SaafHW>iiU". 
^^-  Brieiwechsel  mit  Schiller  4.  21'J  f.;  254;  Riemer,  B&itthcilugai  t,  Ui  t 

17ÜI  Der  „Moskeuzug.    Zum  30.  Jan.  1798'.    Werfte  13,  SU  f 


474    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  JabrhuaderU  bis  zu  Gcethe'a  Tod. 


321  179S  vier  Disticheu'"^,  die  bIcL  alle  schon  aus  dem  Jahre  1795  hor- 
scbrieben;  fOr  1799,  auBsor  dorn  ebenfalle  sclion  1705  abgefuBleo 
Gediclit  „Poesie  des  Lebens'"";  „das  Glück'*'",  „das  eletisüebe 
Fest"*"  und  den  „Prolog  zu  Wallensteins  Lager*"";  für  ISoo  d«ft^ 
zweiten  ,, Spruch  des  Confucius"  und  „das  Lied  von  der  Glocke.^H 
Die  erste  Idee  zu  diesem  schonen  und  inhaltreichen  Gedicht  batt« 
Schiller  bereits  I78S  gefasst"-;  erst  im  Sommer  1797  nahm  er  sie 
Wieder  auf,  und  ihre  Ausführung  lag  ihm  sehr  am  Herzen;  er  moaite 
aber  auch  jetzt  noch  davon  abstehen^  kam  nicht  früher  als  im  AogiMt 
1799,  als  bereits  alle  drei  Theile  des  „Wallenstein"  zur  theatraliseliea 
Darstellung  gelangt  waren,  darauf  zurllck,  nun  aber  auch  zum  Ziele*". 


§  322. 

Als  Schiller  im  Sommer  1795  von  der  Speculation  wieder  lu 
der  Poesie  zurückkehrte  und  nach  den  ersten  glllcklicheu  Erföl^a 
in  der  didaktischen  Lyrik  sich  im  Herbst  anschickte,  zu  gru»«reo 
dichtcrischeu  Arbeiten  überzugehen,  befand  er  sich  noch  in  ciMin 
ganz  eigenen  Zustande  inneren  Schwankens.  Ein  Jahr  früher  hatte 
er  au  seinem  Beruf  zum  Dichter  Überhaupt  und  besonders  zum  ilrft- 
matischen  Dichter  gezweifelt;  Jetzt  war  er  wenigstens  noch  ungowiÄ 
in  welcher  der  beiden  grossen  Gattungen .  der  epischen  oder  der 
dramatischen,  er  am  ersten  etwas  Hedeuteudes  würde  leisten  küDneß, 
für  welche  er  sich  also  zunächst  entscheiden,  an  welchem  Stoffe  die 
Reife  und  Stfirke  seines  Talents  prüfen  sollte.  Am  1.  Septbr.  I7?>A 
schrieb  er  an  Körner':  .,Ich  schreibe  nunmehr  an  meiner  Abhand- 
lung Über  das  Naive  und  werde  zugleich  an  den  Plan  zum  „Wallco- 
stein*'  denken.  Vor  dieser  Arbeit  ist  mir  ordentlich  angst  ua< 
bange,  denn  ich  glaube  mit  jedem  Tag  mehr  zu  linden,  diuw  id 
eigentlich  nichts  weniger  vorstellen  kann  als  einen  Dichter, 
dass  höchstens  da.  wo  ich  philosophieren  will,  der  poetische  Ott 
mich  Überrascht.  Was  »oll  ich  thun?  Ich  wage  an  diese  ÜoW 
uehmuug  sieben  bis  acht  Monate  von  meinem  Leben,  das  ich  L' 
Sache  habe,  sehr  zu  Rathe  zu  halten ,  und  setze  mich  der 


177)  Die  beiden  letiten  in  den  Werkeu  %  l,  259  und  die  beiden  enttu  »^** 
8.  2»0.  17S)  Vgl.  S.  415.  Anm    U.  179)  n.  i.  2isff.:  vgl.  Brirf»«ha*' 

xult  KAnier  4.  *»3— **ä.  ISO)  Im  M.-A.  ..BUrgerliwi"  ubcrschriebcD :  diät«'*' 

offeubar  das  Gedicht,  mit  dessen  Auäführung  Schiller  ganz  zu  Knde  dis  Aag»0^ 
l*yS  boscUuftigi  war;  Briefwechsel  mit  Goethe  4.  2S7.  ISI»  '»,  2,  -i  ft; 

wurde  gegen  Lnde  Septbr.  und  Anfang  Octbr.  ITHb  gedichtet;  an  (ioethe  I,  ' 
bis  316.  1S2)  Hofl'meister  4.  U7.  183)  BrlctVechael  mit  Gorthe  ).  1 

2tt7:  271;  5,   152. 

§  322       1)  3.   192  f. 


Ig d. Literatur.   1773-1932.  Goethe u.  Schiller.   Wollenstem.  475 


nglücktes  Product  zu  erzeugen.  Was  ich  je  im  Drama-  §  32! 
elt  Kcbracht,  ist  nicht  sehr  geschickt,  mir  Muth  zu 
Machwerk  wie  der  ,, Carlos'*  ekelte  mich  nunmehr 
ich  es  auch  jener  Epoche  meines  Geistes  zu  vor- 
Im  eigentlichsten  Sinne  des  Worts  betrete  ich 
te,  wenigstens  unversuchte  Bahn,  denn  im 
ei,  vier  Jahren  einen  völlig  neuen  Menschen 
s  Du  Dir  ein  Geschäft  daraus  machtest, 
meine  Abfertigung  zu  schreiben.  Sei 
egen  Deinen  Feind,  wie  gegen  Dich 
in  die  Hand  nimmst.  Ich  will  Dir  huch- 
ömers  vorläuiiger  Antwort '  bemerkte  Schttlor 
„Du  meinst,  dass  ich  den  „Wallenstcin**  zu  sehr 
Verstand  und  zu  wenig  mit  Begeisterung  angreife.  Aber 
nur  von  dem  Plan,  der  nicht  streng  genug  berechnet  werden 
Ausführen  muss  ihn  die  Imagination  und  die  augenblickliche 
findung.  Diese  ist  es  aber,  wofür  ich  fürchte:  dass  mich  die 
ildungskraft,  wenn  ihr  Reich  kommt,  verlassen  werde."  Unter 
19.  Septbr.  erfolgte  dann  ein  ausführliches  Sclireibeu  Körners, 
rin  dieser  ihn  über  sein  Bedenken  zu  beruhigen  und  ihn  in  dem 
wbcn  an  seinen  Dichterberuf  zu  befestigen  suchte,  ihm  aber  auch 
lischläge  ertheilte,  worauf  er  bei  der  Ausübung  desselben  noch 
Bflglieb  bedacht  sein  mUsste*.  Wie  ihm  liier  Über  den  Zweifel 
rner  hatte  forthelfen  sollen*,  so  holte  er  auch  jetzt,  um  aus  seiner 
gewisflheit  zu  kommen,  seinen  und  Humboldts  Rath  ein,  bevor 
ach  cntschloss,  dem  Schwanken  ein  Ende  zu  machen  und  sich 
3  ernsten  Drama,  als  dem  Hauptgegenstande  seiner  dichterischen 
Utigkeit,  zuzuwenden.  Dass  er  bereits  seit  dem  Herbst  17SS  mit 
n  Plane  umgegangen  war,  ein  grosses  episches  Werk  zu  dichten, 
oben"  angeführt  worden.  Diesen  Plan  zu  einer  eigeutlicbeD 
DpOe  hatte  er  nun  zwar  aufgegeben,  aber  er  meinte,  dass  er  doch 
besten  thun  werde,  wenn  er  sich  in  andern  Arten  der  epischen 
ttung  versuchte.  Am  21.  August  1795  schrieb  er  an  Humboldt*: 
li  kenne  nun  bald  meine  Stfirke  sowohl,  als  meine  Schranken  im 
rtiflchen  Felde.  Diese  letzteren  werden  mir  wohl  da«  Dramatische 
tiefen,  aber  auf  das  Epische  werde  ich  dafür  ernstlicher  losgehen, 
bt  auf  die  grosse  Epopöe,  versteht  sich.*"  Als  er  sodann  einige 
>chen  sp&ter  seine  Elegie,  „der  Spaziergang",  au  KOrner  und  an 


2l  3,  195.  3l  3,  19S.  4)  3,  199 ff.  5)  InteresRante  Vergldchungs- 

n  ta  den  eben  angeführten  Briefstollen  zwei  frühere  von  Schüler  im 
lait  KürDL'r,  2,  -iS  tf.  (vgl.  2,  *i3|  und  2,  3inf.  ivgl.  an  Goethe  2,  :u>, 
lahri'U  ir-JÜ  und  1792.  ö)  S.  124.  -IT.  7)  S.  IÖ2. 


476     VI-  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIIl  Jalirhnnderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

§  322  Humboldt  sandte,  bat  er  seine  Freunde,  ihm  zu  rathen,  welche  Kk 
tung  er  nun  vorzüglich  im  poetischen  Gebiet  einschlagen  solle. 
Brief  an  Könier  ist  v(mi  21.  Septbr.  und  stellt  die  Fnigre  mehr 
gemein*:  ,,Nach  allem,  was  Du  jetzt  von  mir  gelesen,  stelle  mir  nun 
die  Nativitüt,  an  was  ich  mich  in  der  Poesie  nun  vorzüglich  hAu^ 
soll;  denn  Deine  philosophische  Ode.  wie  Du  sie  nennst  (und  wi>i 
ihn  Körner  „für  einzig"   hielt •*,   halte  ich  für  keine  Grenze,  bli 
für  eine   Branche  meines  Faches.     Vergleiche  die  neuen  Arbetl 
mit  den  alten  und  urtheile,  oh  sie  mehr  oder  weniger  wahrhaft  did 
terisch  sind."    In  dem  „Glaubensbekenntnisse^  welches  Körner  lilenu 
tlber  des  Freundes  Dichtertalent  ablegte '°,  schien  diesem  >nel  Wahrai] 
zu  liegen";   es   frage  sich  nun,  oh  er  sich  jetzt,   da  er  so  ziemlicll 
hoffen  dürfe,   es  werde  ihm  an  Zeit  nicht  fehlen,  an  eine  TragiHÜe 
machen  solle?    Der  Brief  an  Humboldt  ist  erst  vom  5.  Oetbr. 
habe,  schreibt  Schiller",  die  Absicht,  um  sich  in  einer  neuen  Oatti 
zu  versuchen,   eine  romantische  Erzählung  in  Versen  zu   mach« 
wozu  auch  schon  der  Stoff  gefunden  sei;  doch   schwanke  er  mxh, 
an  die  Ausführung  zu  gehen,   und  Humboldt   möge  ihm  ratheD.  ob 
er,  nachdem  er  sich  nach  und  nach  in  Vielen  Fächern  und  Formen 
versucht  habe,  nicht  den  Kreis  durch  diese  epische  Arbeit  vollenden 
solle.     Er  möchte  aber  auch  gern  au  etwas  Dramatisches  gehen  tud 
gleich   den   Plan  zu   seiner  Tragödie,   „die   Malthcser"    aufnebmen. 
wozu   ihn  ein   recht  ungeduldiges  Verlangen  treibe.    „Denken  Sie, 
heisst  es  zuletzt,   „noch   einmal   recht  streng   über  mich  uacb  und 
schreiben  mir  Ihre  Meinung.     Poesie  wird  auf  joden  Fall  mein  Ge- 
schäft sein;  die  Frage  ist  also  bloss,  ob  episch  —  im  weiten  Sinne 
des  Worts  —  oder  dramatisch?'*     Humboldt  antwortete  am  16,  0<:iir. 
in  einem  sehr  ausfuhrlichen  und  gehaltvollen,  auf  Schillere  Aufni^ 
tief  eingehenden  Briefe''.     Er  fand  Schillers  dichterische  Eigenihllni* 
lichkeit,   die   ihn  vorzugsweise  charakterisiere,  in   der  Anlage  ui 
Neigung  zur  Darstellung  des  Erhabenen  und  Heroischen,   und  r 
des  Erhabenen  und  Heroischen  in  der  dramatischen  Gattung;  d: 
sei  die  Tragödie,  oder  besser  das  heroische  Drama,  sein  eigeniücbi 
Gebiet,  wo   eich  ihm  der  schönste  und  seiner  am  meisten  wQi 
Kranz  darbiete ;  einen  leichtern  und  in  einem  weitern  Umfange  bii 
ihm  die  epische  Gattung.    Etwas  Dramatischem  jetzt  vor  der  romaA' 
tischen   Erzählung  den  Vonug  zu  geben,  musste  Humboldt 
rathen,  weil  er  Ubuczeugt  war,  daas  die  letztere  doch  immer  gew; 
wäre  und  nicht  ausbleiben  würde,  da  hingegen  der  erste  Versuch,  d« 
Schiller  im    Dramatischen  wagte,   mehr  Hindernisse  linden  mllM^ 


8)  3,  r.t2. 
12)  8.  22»  ff. 


9)  3,  26«. 
13)  S.  234  ff. 


10)  3.  VM 


I  U  3,  2«T. 


iilDtwickelungsgftDg  d.  Literatur.   1773—1632.  Goethe  n.  Scluiler.  W&ilenstein.  477 


^mHci 


nun  kounte  Scliiller  wieder  uicbt  ao  bald  mit  sieb  einig  werden,  §  322 
hen  von  den  beiden  dramatiscUen  Planen ,  mit  denen  er  aicb 
bereits  seit  einiger  Zeit  trug-,  er  zuerst  ausführen  sollte,  den  zu  „den 
Malthesern*"*  oder  den  zum  „Walienstein'*'*  und  unterdessen  dachte 
er  nicht  allein  daran,  in  einer  Idylle,  nach  dem  von  ihm  aufgestellten 
Be^fT  von   dieser  Dichtung:8art",  ein  Höchstes  in  der  sentimentali- 


1        u.. 


14)  Fn  Tcrtots  „Histoire  des  che\'aUers  de  Malte**,   zu  deren  im  J.  17fl2  er- 
ener  deutschen  Bearbeitung  Schiller  eine  Vorrede  schrieb  (Werke  7.  5tK>  ff.), 
er  doen  Stoff  gefunden,  der  ihm  zu  einer  dramatigchen  Bearbeitung  vorzOg- 
jif^iirnet  schien.    Mit  Goethe  miiss  er  gleich  in  der  ersten  Zeit  ihrer  nrthern 
erbinduug  über  seine  Absiebt,  diesen  Stoff  zu  einer  Tragödie  zu  benutzen,  ge- 
rochf-n  haben;  denn  schon   am   iß.  Octbr    I79t   schrieb  ihm  dereclbe  (I.  4S): 
lAVeuden  Sie  nur  manchmal  Ihre  Gedanken  den  Maltheser  Rittern  ku",  and  wirk- 
th  war  Schiller  damals  gewillt,  gleich   nach  Vollendung  seiner  Briefe  „Über  die 
ehetische  Erziehung"  an  diese  Tragwlic  zu  gehen  II,  ft'2».    Alter  erst  im  Octbr. 
a  folgenden  Jahrs  hoffte  er.  diese  Arbeit  vornehmen  zu  können ,  und  er  schien 
dazu  fest  entschlossen  (Briefwechsel  mit  Körner  3,  ^00  fj,   nnch  ehe   ihm  Hum- 
boldt gerathen  hatte.   b'*i  der  Ausführung  seiner  dramatischen  Plane   „den  Mal- 
eaem*'  den  Vortritt  vor  dem  ..Walluusiein*'  einzuräumen,   so  sehr  auch  dieser 
toff  an  Grösse  und    tragischer  Wucht  jenen   Übertreffe  i  Briefwechsel   mit  Hum- 
boldt S.  2451.    Ais  er  nachher  doch  dem  „Wallenstein"  den  Vor/.ug  gab,  Hess  er 
darum  ,,(Ue  MalihestT"  nicht  aus  dem  Auge,  und  bisweilen,  wenn  ihm  die  Bewälti- 
gung des  Stoffes  für  jenen  zu  viel  Not h  machte,  dachte  er  wohl  daran,  diese  lieber 
Torzunehmen  und  eher  zu  Knde  zu  bringen  lan  Goethe  2,  2fn  f.).    Schon   dieser 
ragAdie  wollte  er  eine  Form  gehen,  ähnlich  der,    welche   später  ^die  Braut  von 
essina"  erhielt:  es  sollte  darin  (iebrauch  von  dem  Chor  gemacht  werden,   „der 
ie  Idee  des  Trauerspiels   erweitern  könnte'',  ja  in  den  Chören  sollte  die  Macht 
er  griediiachen  SilbeumaBBC  versucht   werden   (an  Körner  :\.  3U0;   an  Humboldt 
2."J0).    In  dieser  Absicht   befestigte  er  sich  noch  mehr,  als  er  die  Poetik  dea 
teles  studiert  halte  und  sich .  um  von  der  Arbeit  am  „Walleustein'*  auszu- 
,  zuweilen  mit  ..den  Malthesern"   beschäftigte.    „Dieses  Stück",   schrieb  er 
Decbr.  I7i»7  an  Goethe  Ci.  353  f.t.    ..wird  eben  so  einfach  behandelt  werden 
üssen.  als  der  „Wallenstcin"  coropliciert  ist.  und  ich  freue  mich  im  voraus,   in 
einfachen  Stoff  alles  zu  finden,  was  ich  brauche,  und  alles  zu  briiuchen.  was 
ch  Bedeutende?  finde.     Ich   kann   ihn   ganz  in  der  griecliischen  Form   und   nach 
de6  Aristoteles  Schema  mit  Chören  und  ohne  Acteintheihiug  ausfuhren  und  werde 
«s  ftnrh  tbun".    I>ass  Schiller  auch  nachher  den  Plan  zu  dieM>m  Werk  niemals 
hat  fallen  lassen  und  hin  und  wieder  daran  arbeitete,  ergibt  sich  aus  den  Briefen 
aa  Ijoeihe  und  an  Kömer  ivgl.  in  dem  Briefwechsel  mit  jenem  ö,  ivt"!  und   l'JSf.; 
^  h2;  mit  diesem  4,  2lß):  viel  mehr  als  der  Plan  ist  indess  nicht  zustande  ge- 
kommen (diesen  und  ein  Fragment  der  ersten  Sceue  tindet  man  in  deu  Werken 
'2,^01  ff),  I5t  ücber  die  Zeit,  in  wcirlier  Schiller  zuerst  den  Gedanken 

^"  fftsste,  vgl.  S.  129.  Dort  sind  auch  die  Stellen  in  dem  Briefwechsel  mit 
KAnier  angegeben,  welche  bezeugen,  daas  der  Dichter  von  dem  J.  1701  au  bis 
*"  »<üner  nAhcrn  Verbindung  mit  Goethe  diesen  Gegenstand  immer  als  einen 
'"'"rtiorwurf  seiner  künstlerischen  Th&iigkeit  im  Auge  belüelt,  und  dass  er  auch 
JJ^n  von  Zeit  zu  Zeit  den  Plan  dazu  weiter  ausarbeitete  (vgl  auch  Caroline  von 
"olaogen  in  Schillers  Leben  etc  Stuttgart  und  Tübingen  I*j4&,  S.  231)). 
Tgl.  S.  360;  361  f. 


p 


mmmm 


'od.  V 


478     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhunderts  bis  ru  Goethc's  Tod 

§  322  sehen  Poesie  zu  versuchen",  sondern  es  regte  eich  aufs  neue  die  Ln«t 
in  ihm,  ein  episches  Gedicht  in  Stanzen  abzufassen.  Am  7.  Januar  1796 
schrieb  er  an  K»Vner'*:  „Ueber  naive  und  sentimentnlische  Poesie  e 
hält  das  erste  (Hören-)  Stück  des  neuen  Jahrs  noch  drei  Bo^en.  d 
damit  ist  meine  philo80])hische   und  kritische  Schriftstellerei  für  die 
Hören  auf  eine  ziemlich   lange  Zeit  geseldossen.     Welche   pnetiacbe 
Arbeit  ich  zunächst  vornehmen  werde,   kann  ich  noch  nicht 
Zu  einem  Schauspiel  aber  kann  ich  nicht  eher  kommen,  alff  bis  ii 
sechs  ganz  freie  Monate  für  mich  voraussehe,    welches   in  d» 
Jahre,  auch  schon  des  neuen  Musenalmanachs  wegen,  nicht  wohl 
hoflfen  ist."    Die  Xeniendichtung  hatte  begonnen;  bis  in  den  Feb; 
hierin  war  noch  nichts  weiter  gedichtet  worden;  aber  nach  etliche 
Wochen  hotfte  er  dazu  zu  kommen,   „den   Plan  zu   einem   kleine 
romantischen  Gedicht  in  Stanzen  vorzunehmen",  welches  er  für  Je»! 
nftchsten   Almanach    bestimmte,    auf  dessen    Vollendung   vor   de« 
August  er  aber  nicht  rechnen  konnte.     Alsdann    wollte  er  »chcp, 
seine  ,, Ritter  von  Malta  einmal   zur  Ausführung  zu  bringen*'".    U» 
dieselbe  Zeit,  aus  der  dieser  Brief  datiert,  d.h.  im  Februar  1796^ 
muss  Schiller   auch   gegen  Humboldt  die  Absicht,    demnftcbst  da 
„episches  Gedicht  in  Stanzen*'  abzufassen,  in  einem  (wie  es  «cbein^ 
verloren   gegangenen)    Briefe   ausgesprochen    und    den    Freund  üb 
nilhere  Auskunft  Über  die  rechte  Behandlung  jener  metrischen  Form 
gebeten  haben  ^.     Endlich  in  der  Mitte  des  März  1796  entschied  cr 
sich,  zunächst  mit  Ernst  und  Eifer  an  den  „Wallenstein"  zu  geben. 
Von   der  Mitte  des   Februar   bis  in  die  Mitte  des  Mlrz    1796  w 
Goethe  in  Jena,  und  in  diesen  Wochen  des  Beisammenseins  heider 
Dichter  muss,   wahrscheinlich   von  Goethe  dazu   bestimmt ,  Schill 
seinen  Entschluss  gefasst  haben".    Zwei  Briefe,  beide  vom  2I.Mlr^ 
meldeten   den  Freunden  Kömer  und  Humboldt   die   getroflfene  Ent- 
scheidung.    ,,ln    meinen    Arbeiten'*,   heisst  es  in   dem    an  K«'>nier'*i 
„wo  ich  seit  Keujabr  zu  keiner  Entscheidung  kommen  konnte,  bin 


a 


17)  Diese  Idylle  wollte  Schiller  dichten,   sobiUd  er  Mftase  bekftme.  ab  ^ 
Almanach  für  I'/ÖT  zu  denken;  vgl.  den  Brief  an  Hnmlioldt  vom  7*.*.  Kovbr  I' 
woraus  das  Wesentlichste  der  hierher  bezüglichen  St^^llc  S.  him  f.  mitgotheilt  IM- 

18»  3,  317.  I9l  Au  Körner  3,  Tift  f.  20 1  Das  er^bt  Pich  «nt  ^ 

Anfang  des  Briefes  an  Humboldt  vom  21.  März:  S.  425  f.  2li  Den  |s.M*fl.j 
gleich  nach  Goethe*s  Heimkehr,  schrieb  Schiller  an  denselben  42,  .^4  f.): 
habe  (seit  Ihrer  Abwesenheit)  an  meinen  Wallenstein  gedacht,  sonst  abrr 
gearbeitet.  —  Die  ZurOstungen  zu  einem  so  verwickelten  Ganzen,  wio  tin  1 
ist,  setzen  das  Qemüth  doch  in  gar  sonderbare  Bewegung.  Schon  die  all«i0<" 
Operation,  eine  gewisse  Methode  für  das  (.leschäft  zu  suchen ,  um  uiclit  kwk^ 
berumKutappen,  ist  keine  Kleinigkeit.  Jetzt  bin  ich  erst  an  dem  Kuocboogrt'Äi>^ 
Ich  tinde,  dass  von  diesem,  ebenso  wie  in  der  menscbliu-hen  Strnciur,  iQfi»  * 
dieser  dnunatischeu  alles  abhängt".  22)  3,  XiO  t 


H 


^^ EnhrickelungsgÄng d. Literatur.   1773 — 1832.  Goethe d. SohlUer.  Wallenstein.   479 

^Hch  nun  endlich  ernstlieb  bestimmt,  und  zwar  fUr  den  f,WaUen8toin."  §  322 
^H&eit  etlichen  Tagen  habe  ich  meine  Papiere  vor,  weil  ich  doch 
^Kcfaon  manches,  den  Plan  betretfeud,  darüber  notiert,  und  ich  gehe 
^^Dit  grosser  Freude  und  ziemlich  vielem  Muthe  an  diese  neue  Art 
I  von  Leben.  Von  meiner  alten  Art  und  Kunst  kann  ich  freilieb 
'  wenig  dabei  brauchen;  aber  ich  hoffe  in  der  neuen  nun  schon  weit 
genug  zu  sein,  um  es  damit  zu  wagen.  So  viel  weiss  ich,  ich  bin 
auf  gutem  Wege,  und  erreiche  ich  auch  das  lauge  nicht,  was  ich  von 
mir  fordere,  so  erreiche  ich  doch  mehr,  als  ich  in  diesem  Fach 
sonst  geleistet  habe."  Näher  lernen  wirScbillers  damalige  Auffassung 
seine«  Gegenstandes  und  die  Art,  wie  er  ihn  zu  behandeln  gedachte, 
mit  dem  aus  seinem  neu  ^^ehobenen  dichterischen  Selbstbewusstsein 
gewonnenen  Mnth  zum  Werke  aus  dem  andern  Briefe  kennen- 
Schon  dass  er  die  Einmischung  gereimter  Scenen  nicht  als  schlecht- 
hin unmöglich  abwies",  deutet  bestimmt  jrenug  auf  des  Dichters 
Absiebt  hin,  das  Stück  in  Versen  abzufassen,  wovon  er,  wie  wir 
heu  werden,  auf  Humboldts  Rath  für  eine  Zeit  lang  abstand, 
dann,  an  ähnliche  Worte,  wie  die  in  dem  Briefe  an  Körner,  Über 
len  neu  betretenen  Weg  anknüpfend,  bemerkt  er-':  „Vordem  Ic^te 
h  das  ganze  Gewicht  in  die  , Wahrheit  des  Einzelnen,  jetzt  wird 
lea  auf  die  Totalität  berechnet,  und  ich  werde  mich  bemühen,  den- 
Iben  Reichthum  im  Einzelnen  mit  eben  so  vielem  Aufwand  von 
unst  zu  verstecken,  als  Ich  sonst  angewandt ,  ihn  zu  zeigen  und 
las  Einzelne  recht  vordringen  zu  lassen.  Wenn  ich  es  auch  anders 
oUte,  90  erlaubte  es  mir  die  Natur  der  Sache  nicht;  denn  Wallen- 
ist  ein  Charakter,  der  —  als  echt  realistisch  —  nur  im  Ganzen, 
nie  im  Ein^celneu  interessieren  kann.  ...  Er  hat  nichts  Edles, 
erscheint  in  keinem  einzelnen  Lebcnsact  gross,  er  hat  wenig 
Würde  und  dergleichen;  ich  hoffe  aber  nichts  desto  weniger  auf  rein 
ealifttischem  Wege  einen  dramatisch  grossen  Charakteren  ihm  auf- 
ustellen,  der  ein  echtes  Lebonsi)rincip  in  sich  hat.  Vordem  habe 
cht  wie  im  Posa  und  Carlos,  die  fehlende  Wahrheit  durch  schöne 
deaiitiit  zu  ersetzen  gesucht,  hier  im  Wallenstein  will  ich  es  pro- 
^n  und  durch  die  blosse  Wahrheit  für  die  fehlende  Idealitat  — 
e  sentimentalische  nämlich  —  entschädigen/'  Nachdem  er  hierauf 
gedeutet  hat,  worin  das  eigenthümlich  Schwierige,  aber  darum 
tb  besonders  Intcressaute  dieser  Aufgabe  liege,  führt  er  fürt: 
Sie  mich  auf  diesem  neuen  und  mir  nach  allen  vorher- 
igenen  Erfahrungen  fremden  Wege  mit  einiger  Besorgniss  werden 
ideln  sehen,  will  ich  glauben.  Aber  fürchten  Sie  nicht  zu  viel, 
ist  erstaunlich,   wie  viel  Realistisches   schon   die  zunehmenden 


')  Briefwechsel  mit  üumboMt  S.  4'2b, 


24 1  S.  429  ff. 


4S0    VI.  Tom  zvclten  Viertel  des  XVIII  JiiUrhnnderts  bis  zo  Goethe*!  Tod. 

§  322  .Talire  mit  sieb    liringeii,   wie   viel  der  Umgang  mit  Goethe  und 

Studium   der  Alten,  die  icb  erst  nach  dem  „Carlos"  hubc  kenw 
lernen,  bei  mir  nach  und  nach   entwickelt  hat.    Da«8  ich   auf  den" 
Wege,  den  ich  nun  einschlage,  in  Goethe'a  Gebiet  geratlie  und  mich 
mit  ihm  werde  messen  mttssen,  ist  freilieb  wahr;  auch  ist  es  an»- 
gemacht,  dass  icb  hierin  neben  ihm  verlieren  werde.    Weil  mir  al 
auch  etwas  Übrig  bleibt,  was  Mein   ist  und  Kr  nie  erreichen  kai 
80  wird  sein  Vorzug  mir  und  meinem  Product  keinen  Schaden  ih\ 
und  ich  hoffe,   dass  die  Rechnung  sich  ziemlich   heben   soll.    Mi 
wird  uns,   wie  ich   in   meinen   muthvollsten  Augenblicken   mir  ti 
spreche,  verschieden  specificieren,  aber  unsere  Arten  einander  nicht 
unterordnen,  sondern  unter  einem  hohem  idealischen  Gattungsbt 
einander    coordinieren/'     Die    Ausarbeitung    und    Vollendung    di 
Walicnstcin  blieb  nun   wirklich   drei  Jahre  hindurch   das  Haup(zi( 
seines  dichterischen  Strebeus.    Gleichwohl  vergiengen  wieder  «iel 
Monate",    bevor   er  anhaltender  Hand   ans  Werk    legen    koonle' 
liis  tief  in  den  November  hinein  studierte  er  besonders  fleisei^ 
Quellen  zum  ,,Wallcnstein*''%   und  auch  schon  in  der  Oekonomäl 
des  Stücks  hatte  er  einige  nicht  unbedeutende  Fortschritte  gewotmc 
aber  je  mfehr  er  seine  Ideen   Über  die  Form  desselben    r» 
desto  ungeheurer  erschien  ihm  die  Ma^se,   die  zu  beberrs' . 
und   nur   ein   gewisser  kühner  Glaube  an  sich   selbst   koimte  ü 
bestimmen,  in  seiner  Arbeit  fortzufahren".     Dass  ihm   dieselbe  (!( 
ganzen  Winter  und  wohl   fast  den  ganzen  Sommer  kosten  könuU 
glaubte  er  nun  schon  einzuselien,  weil  er  den  widerBpenstigsteu  Sl 
zu   behandeln   hätte**.     „Da  mir  ausserdem",   bemerkte  er  wi 


2.'))  Ausser  Schillers  Arbeiten  für  den  Xenienalinanacb  und  der  Kortfftltfi^ 
seines  doppcUeji  RedactionsgescUUfls  tielen  in  diese  Zeit  auch  sein  Stndinm  dcf 
..Wilhelm  Meister"  und  seine  Briefe  über  denselben.  Von  dem  ..WaUeofttelB"  i*l 
tu  Beinen  Briefen  uu  Goethe  und  an  Körner  nur  einmal  beiliiuüg  die  Keile:  ^ 
Schiller  im  Frühjalir  einige  Wochen  in  Weimar  war  und  dasi'Uxi  (joethf's  „E|* 
mont"  für  die  Uühne  einrichtete,  mehlete  er  Köniern  am  lo.  April:  „GcArbwtt* 
hälfe  ich  unter  diesen  rmstÄnden  freilich  nichts  fOr  meinen  eignen  He^rd:  »1* 
,.EgmoDt*'  hat  mich  doch  interessiert  und  ist  fOr  meinen  „W' allen  stein"  }t«8t 
nnnützliche  Vorbereitung  gewesen"  i'i,  33^  f.).  2Ü)  Am  23.  Uctbr.  bewch- 

richtigte  er  Goethe  (2,  233),  er  bedürfe  jotrt,  nachdem  pr  die  Arbeit  um  AlmsMci 
abgeworfen,  gar  sclir  eines  lebendigen  Interesses.  Zwar  habe  er  den  „Walloiitril** 
vorgenommen,  aber  er  gehe  noch  immer  darum  herum  nnd  warte  auf  eine  micbäf 
Hand,  die  ihn  ganz  hineinwerfe.  Oass  er  unter  dieser  marhligen  Hand  die  J» 
Freundes  verstand,  ist  aus  dem  Zusammenhang  der  Brietslelle  uuxweifethaft  fvi 
Tage  Bpüter  war  er  aber  schon,  ohne  Goetho's  gehuffte  Hemberiunft  okch  )t^ 
abgewartet  zu  haben,  ernstlich  und  ausschliessend  mit  seiner  Arbeit  betchsAif^ 
in  der  er  langsam  fortrückte  lan  Körner  3, 'n5f.:  an  Goethe  2. '21t).  27)  ^1^ 
über  die  Quellen  des  Wallenstein:  Boxberger  in  Gosche's  Archiv  f.  Lit.-fiewbc** 
2,  i:»9  ff.  2Sl  An  Goethe  2.  252.  29)  2,  2Öt, 


ttwickelnugsgangd. Literatur.    n;3— IS32.  Goethe  u.  Schiller.  Wallenstein.    4SI 


loch  80  ruancbe,  selbst  die  ^^emoinstcn  Mittel  fehlen,  wodurch  man  §  32' 

ib  das  Leben  und  die  Menschen  ujlhcr  bringt,  aus  seinem  engen 

heraus  und  auf  eine  grössere  ßUhne  tritt,  so  muss  ich,  wie 

Thier,   dem  gewisse  Organe   fehlen,   mit   denen,   die  ich  habe, 

hr  thun  lernen  und  die  Hände  gleichsam  mit  den  Füssen  ersetzen. 

der  That  verliere  ich   dartlber  eine  unsägliche  Kraft  und  Zeit, 

ich  die  Schranken  meiner  zufillligen  Lage  Überwinde  und  mir 

e  Werkzeuge  zubereite,   um  einen  so  fremden  Gegenstand,   als 

die  lebendige  und  besonders  die  politische  Welt  ist,  zu  ergreifen,** 

er  war  damals  noch  nicht  einmal  der  vollkommenen  Qnalißcation 

in^r  Fabel  zu  einer  Tragödie  gewiss.    Mit  dem  rohen  Stoffe  hatte 

*  auch  noch  zu   Ende  des  Novembers  zu  thun,   da  er  ihn  noch 

imer  nicht  beisammen  hatte;  doch  fUhlteersich  ihm  jetzt  gewachsen, 

id  in  die  Form  hatte  er  auth  schon  manchen   hellen,   bestimmten 

ick  gethan:  es  war  ihm  nun  wenigstens  klar,  was  er  wollte  und 

Ute,  auch  was  er  hatte.     In  Rücksicht  auf  den  Geist,  in  welchem 

arbeitete,  hofifte  er,   würde  Goethe  mit  ihm  zufrieden  sein.     Es 

Dllte  ihm   ganz  gut  gelingen,  seinen  Stoff  ausser  sich  zu  halten 

|il  nur  den  Gegenstand  zu  geben.    Er  hätte  sagen  mögen,  das 

ihject  interessiere  ihn  gar  nicht«  und  er  habe  nie  eine  solche  Kälte 

ir  seinen  Gegenstand  mit  einer  solchen  Wftrme  für  die  Arbeit  in 

ich  vereinigt.    Den  Hauptcharakter,  so  wie  meisten  Nebencharaktere, 

meliere  er  wirklich  bis  dahin  mit  der  reinen  I^iebc  des  Künstlers; 

flog«  für  den  nächsten  nach  dem  ELiuptcharakter,  den  jungen  Piccolo- 

>*in\,  sei  er  durch  seine  eigene  Zuneigung  interessiert*.     Am  meisten 

pachte  ihm  noch  die  eigentliche  Hauptsache,  die  ilramatischo  Hand- 

Dj?.,  zu  schaffen,  wegen  der  Sprödigkcit  des  Stoffs;  es  waren  noch 

Ocken  im  Gange  derselben,  und  manches  wollte  sich  gar  nicht  in 

^  engen    Grenzen    einer   Tragödien -Ookonomic    hinein    begeben- 

och  that  dem  Dichter  in  der  tragischen  Entwickelung  das  eigent- 

c  Schicksal   noch   zu  wenig  und  der  eigene  Fehler  des  Helden 

zu   viel    zu"  seinem    Unglück^'.     In    den    ersten  Wochen    des 

n  Jahres  war  er  seines  Stoffes  noch  immer  nicht  vollständig 

worden  und  selbst  mit  dem  Plane  noch  nicht  ganz  im  Reinen, 

er  auch  schon  seit  einiger  Zeit  mit  der  Ausarbeitung  einzelner 

'<aen  den  Anfang  gemacht  hatte,  freilich  noch  in  einer  Form,  von 

UnStatthaftigkeit    er    sich    spater    überzeugen   musste".     Er 


30)  Ad  Kömer:   „Zwei  Figuren  ausgenommen,  an  die  mich  Nei^ng  feafiell". 

31)  An  Goethe  2.  270  ff.;  vgl.  dazu  die  Briefe  au  Ki5raer  :».  3'.M  und  vor- 
S.  394  ff.  32»  lu  dem  Briefe  au  Körner  3.  391  ff.  »etat  SchiUer 
b(UK»ndem  Schwierigkeiten  auseinander,  die  dieser  Stoff  für  eine  drama- 

Uung  habe,  wie  sie  der  Dichter  beabsichtigte:  von  don  Inhalt  kötm« 

Ontmlriai.  &.  Anfl.    [V.  31 


4S2    Yl.  Vom  KWcitfiQ  Viertd  des  XVni  Jaiirliuiiderts  bis  zu  Goetbc i  Tod 

^§  3*22  recbnote  auf  Goethe'a  Beistaud,  iibor  or  lueiute,  dass  dieser 
nicht  eher  iu  der  rocbteu  Weise  forderlich  seiu  wttrde,  alu  b 
ihm  die  ganze  Idee  vou  Beineui  Stück  mittheilen  kOunte.  Gegen 
Endo  de»  Janiiars  gieng  C8  wieder  langsam  mit  der  Arbeit*  weil  da 
Dichter  gerade  iu  der  schwersten  Krise  war.  Da  er  dainaU  Goctk 
erwartete,  wollte  er  ihm  doch  nicht  eher  etwas  von  dem  Ange- 
fangeneu rorlegou,  als  bis  er  mit  sich  selbiit  im  Heiuca  w 
„Mit  mir  selbst",  schrieb  er  iluu^,  „können  Sie  mich  nicht 
machen.  Was  ich  Ihnen  also  vorlege,  muss  schon  mein  G 
sein,  ich  meine  just  nicht  mein  ganzes  Stück ,  sondern  mciiio 
Idee  davon.  Der  radicale  Unterschied  unserer  Naturen,  in  Rite 
auf  die  Art,  lasst  flberhau|)t  keine  andere,  recht  wohlthätigcMittheil 
zu,  als  wenn  das  Ganze  sich  dem  Ganzen  gegenüberstellt ;  im  Einzei 
werde  ich  Sie  zwar  nicht  irre  machen  können^  weil  Sie  fester  auf  nck 
selbst  ruhen  als  ich,  aber  Sie  würden  mich  leicht  Über  den  Häufet 
werfen  können**^'.  Bevor  er  zur  Mittheilung  der  Idee  gelangte,  kam 
Goethe  in  der  zw^eiten  Hälfte  des  Februars  auf  sechs  Wochen  tiA 
Jena,  um  hier  in  seiner  Arbeit  au  „Hermann  und  Dorothea"  fort- 


er hier  fast  nichts  erwarten ,  alles  müsse  durcb  eine  glQckliche  Form 
stelligt  -werden,  und  nur  durch  eine  kunstreiche  Führung  der  Hn ; 
aus  diesem  StuflT  eine  schöne  Tragödie  bililcn.  Aber  gerade  so 
er,  habe  es  sein  müssen,  an  dem  er  sein  draniatiiächcs  Leben  (tuUiimi 
hier,  wo  er  auf  der  Breite  eines  Scheermessers  gehe,  wo  jeder  S>oiteM( 
Ganze  zu  Grunde  richte,  kurz,  wo  er  nur  durch  die  einzige  innere  Wl 
Nothwendigkeit,  Stetigkeit  und  rtestimmtheit  seinen  Zweck  erreicbeo  koane, 
die  entscheidende  Krise  mit  seinem  poetiBchen  Charakter  erfolgen.  Hier  t»ericUBtt 
er anch  (3.  3ns I :  „Humboldt  meint,  ich  aolle  den  „WaUenstdn"  in  Proft«  ftckniAii.' 
mir  ist  es  inKück&icht  auf  die  Arbeit  Ktcmlicb  einerlei,  ob  ich  Jamhes  oderPrai 
mache.  Durch  die  ersten  würde  er  mehr  poetische  WUrdc,  durch  die  IVo»  o^ 
Ungezwungenheit  erbalten.  Da  ich  ihn  aber  im  strengen  Sinne  für  die  Üifit»- 
liscbe  Vorstellung  bestimme,  so  wird  es  wold  besser  gethan  sein,  numholdi  hfert 
zu  folgen".  Ungeachtet  Körners  Abmahnung  von  der  prosaischen  Form  (3.  IW 
blieb  ijchilier  fürs  erste  doch  dabei  stehün,  Humboldts  itatli  anzunehmen.  Ab  tf 
im  Decbr.  Goethe  l>enttchrichtigto  (2,  299  f.i,  die  Arbeit  rücke  mit  lobüaö» 
Schritt  weiter,  es  sei  nicht  möglich  gewesen,  noch  langer  die  Vorbercitnaig  stA 
den  Plan  von  der  Ausflihning  zu  trennen,  und  daher  hnbe  er,  ohne  (Iam 
die  eigentliche  Absicht  gewesen,  schon  rielc  Scenen  im  ersten  Act  aus^ 
an  KOmer  3.  401  f.;  4.  6  f.);  fügte  er  dem  hinzu:  „Ich  bib,  nach  relier 
legang,  bei  der  heben  Prosa  geblieben ,  die  diesem  Stoff  aofh  ti«!  nebr 
—  Im  Anfang  des  Jahres  171)7  T^unturwarf  sieb  ihm  der  Stoff  immer  mehi* 
Goethe  3,  6».  33)  3,  13  f.  34)  Im  ^Vnfang  de»  Febniaw  „bewegt«  Bb« 

eine  Liebessceue  im   zwdten  Act  den  Kopf  tan  Goethe  3,  30),   und  gegen 
dieses  Monats  hoffte  er.  erst  in  achtWüchoD  entschieden  zu  wissen,  vie  ^tii 
ihm  der  „Wallenatein**  noch  kosten  würde  (an  Körner  4,  I3j.    Toterdes»«!! 
er  iich  auch  noch  nacb  astrologischen  Büchern  umthnu,  um  sein  Matchal  M 
vollständigen  (an  Kömer  4,  U ;  22 ;  Tgl.  an  Goethe  3,  &»). 


in"  ein; 


EDtwickdangbgang  iL Lttcratur.   1773— I5a2.  GooÜie  u.  ScMlIor.  "Walloustm.   493 

Kufalren.    Damit  trat  eine  neue  Epoelie,   wenn   auch   nielit  für  die  §  322 

Grundlegung,  ho  docli  für  den  künstlcrisclien  Aufbau  des  „Walleu- 

denn  nun  begannen,  zunächst  vemnlasst  durch  die  ße* 

np  Goetlie*3  mit  jenem  epischen   und  Schillers  mit  diesem 

'hen  Werke,  die  mündlich  eröffneten   und  sodann  über  ein 

ahr  lang  flchrifilich  und  mündlich  fortgesetzten  Verhandlungen  der 

iden  Dichter  über  die  Theone  des  Epos  und  des  Drama's,  oder 

elmehr  der  Tragödie^*,  die  zu  mannigfachen,  auf  die  Ausbildung 

ihrer  kunsttheoretiscben  Ideen  und  auf  ihre  dichterische  Production 

sehr   einflussreiehen  Studien   und   kritischen  Erörterungen   führten. 

Bereits  am  4.  April,  gleich  nach  Goethe'«  Abreise  von  Jena,  Bchrieb 

m  Schiller^";  „Ich  wende  diese  Stille  dazu  an,  über  meine  tragisch- 

amatischen   Pflichten   nachzudenken.     Nebenher  entwerfe  ich   ein 

fitailliertcs  Scenarium  des  ganzen  Wallenstein,  um  mir  die  Ueber- 

der  Momente  und  des  Zusammenhangs  auch  durch  die  Augen 

aniseh  zu  erleichtern.    Ich  finde,  je  mehr  ich  über  mein  eignes 

chfift  und  über  die  Behandlungsart  der  Tragödie  bei  den  Griechen 

achdeuke,   dass  der  ganze  Cardo  rei  in  der  Kunst  liegt,  eine  poe- 

che  Fabel  zu  erfinden".    Der  Neuere  schlügt  sich  mühselig  und 

itUeh  mit  Zufälligkeiten  und  Nebendingen  herum,  und  über  dem 

hen,  der  Wirklichkeit  recht  nahe  zu  kommen,  beladet  er  sich 

em  Leeren  und  Unbedeutenden,   und  darüber  läuft  er  Gefahr, 

e  tiefliegende  Wahrheit  zu  verlieren,  worin  eigentlich  alles  Poetische 

egt.    Er  möchte  gern  einen  wirklichen  Fall  nachahmen  und  bedenkt 

nicht,  dass   eine  poetische   Darstellung  mit  der  Wirklichkeit  ebeu 

ilAnim,  weil  sie  absolut  wahr  ist,  niemals  coincidieren  kann. ...  Es 

U\  mir  oufgefallen,  dass  die  Charaktere  des  griechischen  Trauerspiels 

mehr  oder  weniger  idealische  Masken   und  keine  eigentlichen  Indi- 

Tüluen  8ind,  wie  ich  sie  in  Shakapeare  und  auch  in  rhren  Stücken 

finde. . . .  Man    kommt   mit   solchen   Charakteren    in   der   Tragödie 

'enbar  viel  besser  aus,  sie  exponieren  sich  geschvrinder,  und  ihre 

sind  permanenter  und  fester.     Die  Wahrheit  leidet  dadurch 

,  weil  sie  blossen  logischen  Wesen  ebenso  entgegengesetzt  sind, 

blossen  Individuen/'    Indem   sich   hiermit  Goethe  ganz  einver- 

■ 

3.1)  Vgl.  was  S.  4R1.  AniD.  \0X  ttus  einem  Briefe  an  Körner  vom  7.  April  mit- 

^^^beÜt  ist.    Nach  den  tlüit  angeführten  Woiien  ScMUers  heiest  es  in  dem  Briefe 

Jj^t/r:   „Diese  grosse  Krise  hat  iiidess  den  eigentlichen  Grund  meines  Stücks  nicht 

^T'^tiiiittpri:  ich  muss  also  glauben,  dass  dieser  echt  und  solid  ist;  aber  freilich 

""•^ibt  mir  das  Schwerste  noch  immer  übrig,   nämlich  die  poetische  Änsführnng 

^^**^  5i>  schweren  Planes,   wie  der  meinige  in  der  That  ist".    iMit  diesem  Hriefo 

^*»d(c  Srhiller  an  Kflmer  das  MR^i'erlied"  aus  dem  Wallenstein:  vgl.  S. -17;<,  IßT. 

1^^  3'>i  -^  SO  f.  37)  Wie  völlig  entgegengesetzt  jener  Theorie  der  8timn- 

^^ti  DraDgxcStl  vgl.  S.  36  ff. 

31? 


u  ■ 


484    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  JaUrUuudcrts  bU  zu  Goethe*«  Tod. 

322  gtaudeii  erklärt",  hemerkt  er  nocL:  da»  Abstractuui,  welches  in  dn 
Gestalten  der  alten  Dichtkunst  sowohl,  vrie  in  der  Bildhauerkunit 
erscheine;  erreiche  seine  Höbe  nur  durch  das«  was  mau  Stil  ncnotj 
wogegen  andere  Abstracta,  z.  B.  die  der  französischen  Kunst,  du 
nur  durch  Manier  seien.  Beide  Dichter  versprachen  sichj  auf  dii 
Materie  bei  ihrer  nächsten  Zusammenkunft  tiefer  einzugchen*;  Schill 
insbesondere  freute  sich,  alsdann  mit  des  Freundes  Hülfe  seine 
griffe  von  der  Behandlung  der  Charaktere  im  Drama  noch  recht 
Klare  zu  bringen.  Die  Sache,  die  er  berührt  habej  ruhe  gewiBs 
dem  innersten  Grunde  der  Kunst.  Auch  in  Shakespeare'»  ,^i 
Cäsar"  sei  es  sehr  merkwürdig,  wie  er  das  gemeine  Volk  mit  einer 
80  ungemeinen  Grossheit  behandle.  Hier,  bei  der  Darstclluug  des 
Volkscliaractcrs  habe  ihn  schon  der  Stoff  gezwungen,  mehr  ein 
poetisches  Abstractum  als  Individuen  im  Auge  zu  haben**.  Ao 
19.  April,  als  Goethe  sich  bereits  mit  dem  Plan  zu  der  „Jagd**  b^ 
schäftigte '}  meldete  cr^',  dass  er  in  grosser  Eile  das  alte  Testament 
und  Homer  studiere»  zugleich  lese  er  Eichhorns  Einleitung  ins  entfl 
und  Wolfs  Prolegomena  zu  dem  letzten  '\  Bei  diesem  Studium  ond 
dieser  LectUre  giengen  ihm  die  \vunder barsten  Lichter  auf,  worüber 
er  künftig  mit  Schiller  gar  manches  werde  zu  spreclien  babeH' 
Einige  seiner  Gedanken  über  epische  Dichtung  und  über  den 
Satz  zwischen  ihr  und  der  dramatischen  theiltc  er  aber  schon  ji 
dem  Freunde  mit'*.  Sie  wirkten  auf  diesen  gleich  anregend  ui 
gaben  ihm  vieles  zu  denken;  in  seiner  Antwort  waren  schon  Fol^ 
rungen  aus  Goetbe's  Sfitzen  gezogen,  und  er  erwartete  mit  groocr 
Begierde  weitere  Resultate,  besonders  für  das  Drama".  Wcni^ 
Tage  später  führten  Schiller  und  Goethe  in  den  Briefen  die  Ver- 
handlungen über  diesen  Gegenstand  weiter**;  Goethe  machte  darüliff, 
80  weit  sie  in  Schillers  Briefen  gediehen  waren,  einen  kleineti  Aat^ 
salz  und  forderte  Schiller  am  2S.  April"  auf,  die  Sache  doch  w< 


HSl  'A,  54.  39)  3,  54 — 60.  40)  Hieran  schliesseo  Btcb  iIadd  die  Bemeri 
SchiUera  und  Ooethe's,  welche  obeo  S.  2(>2,  Aum.  :^l  aus  ihrem  Brici'wcclisd 
sind.  *lll  Vgl.  S.  4ti6,  110.  42)  3, Gfl.  43)  Von  die«eD  wolfi 
snchungcn  hatte  er,  wie  aus  der  2.  Ausgabe  des  Rrierprechscls  1,  fl6 
im  Mai  171)5  nähere  Kcnntniss  genoniinen;  er  fand  sie  damals  iuteresttil 
war  aber  schlecht  davon  erbaut;  spAterbin  schwankte  er  bin  und  hts* 
dem  Glaubeu  an  die  ursprüngliche  Einheit  der  komeriscbon  Üedichte  und  d<rJ 
nähme  der  Grundgcdonkca  in  Wolfs  Frolegomencn ;  vgl.  1.  Aosg.  3,  Sh  1.^ 
sich  auch  über  Fr  Schlegels  Abhandlung  „Ober  doa  epische  fledicht"  io. 
„Dcutecbland"  (vgl.  oben  S.  :i90,Anra.  S2)  ausspricht;  4.  171  (rnJl  4, 1*9  Ms 
207  f.;  dazu  die  Elegie  „Hermann  und  Dorothea**  und  Werke  HS,  llh;  l# 
46.  fi5.  Ui  3,  70  ff.  45l  :i,  72  ff.  40)  :*.  S5  ff.;  7S  ff.;«' 

isio  sind  in  der  ersten  Aufgabe  falsch  geordnet);  Tgl.  2.  AasR.  1,  297  ff 
47)  3,  89  ff. 


rickelangagang  d.  Lit.  1773— IS32.  Goethe u,Schiller,ftbcr Epos u.  Drama.   485 

zuarbeiten ,  da  sie  ihnen  beiden  in  theoretischer  und  praktischer  §  321 
laicht  Jetzt  die  wichtigste  sei.    Zugleich   meldete  er,   dass  er  die 
ihtkunst  des  Aristoteles  wieder  mit  dem  grösaten  Vergnügen  durch- 
lesen  habe,   wenn  sich  auch  darin  Über  das  epische  Gedicht  gar 
In  AufschluBS  in  dem  ihnen  wüuschenswerthen  Sinne  finde.    Was 
■weiter  darüber  sa^^to,  veranlasste  auch  Schiller,   sieb  mit  dieser 
•kwllrdigen  Schrift   bekannt  zu  machen.    Schon  am   5.  Mai  be- 
llete dieser  ausführlich  Über  den  Eindruck,  den  sie  auf  ihn  ^^emacht 
er  war  mit  dem  Aristoteles  sebr  zufrieden,  und  nicht  bloss 
ihm,  auch  mit -sich  selbst:  es  begegne  einem  nicht  oft,  dass  mau 
sb  Lesung  eines  solchen   nUcbtorneu  Kopfes  und  kalten  Gesetz- 
»ers  den  inuem  F^rioden  nicht  verliere.    „Der  Aristoteles  ist  ein 
irer  Ilüllenricbter   für  alle,  die  entweder  an   der  äussern  Form 
Lviscb   hruigen^   oder  die  Über  alle  Form  sich  wegsetzen.    Jene 
er  durch  seine  Liberalität  und  seinen  Geist  in  beständige  Wider- 
^he  stürzen:   denn  es  ist  sichtbar,   wie  viel  mehr  ihm  um  das 
[esen  als  um  alle  äussere  Form  zu  thun  ist;   und  diesen  niuss  die 
renge  fürchterlich  sein,  womit  er  aus  der  Natur  des  Gedichts,  und 
Trauerspiels  insbesondere,  seine  unverrückbare  Form   ableitet. 
st  begreife  ich  erst  den  schlechten  Zustand,  in   den  er  die  fran- 
«apben    Ausleger   und    Poeten    und   Kritiker   versetzt   hat;    auch 
ICD  sie  sich  immer  vor  ihm  gefürchtet,   wie  die  Jungen  vor  dem 
tken.  Shakspeare,  so  viel  er  gegen  ihn  wirklich  sündigt,  würde  weit 
ser  mit  ihm  ausgekommen  sein  als  die  ganze  französische  Tragödie, 
tdeasen  bin  icb  sebr  froh,  dass  ich  ihn  nicht  früher  gelesen;   ich 
ifttte  micb  um  ein  grosses  Vergnügen  und  um  alle  Vortheile  gebracht, 
lio  er  mir  jetzt  leistet.     Man   miiss   Über   die  Gnindbegriffe  schon 
-cbt  klar  sein»  wenn  man  ihn  mit  Nutzen  lesen  will:  kennt  man 
UeSocbe,  die  er  abhandelt,  nicht  schon  vorläufig  gut,  so  muss  es 
Sfilhrlich  sein,  bei  ihm  Rath  zu  holen.     Icb  freue  mich,  wenn  Sie 
HCrgjud,  diese  Schrift  mit  Ihnen  mehr  im  Einzelnen  durchzusprechen, 
er  in  der  Tragödie  das  Hauptgewicht  in  die  Verknüpfung  der 
ibenheiten  legt,  heisst  recht  den  Nagel  auf  den  Kopf  getroffen, 
^ie  er  die  Poesie  und  die  Geschichte  mit  einander  vergleicht  und 
ler  eine  grössere  Wahrheit  als  dieser  zugesteht,  das  hat  micb  auch 
ir  von  einem  solchen  Verstandes-Menscben  erfreut."    Was  Schiller 
diesem  sehr  interessanten  Briefe  noch  sonst  über  die  Dichtkunst 
istotelee  bemerkt  hat,  beweist,  wie  tief  er  in  deren  Geist  ein- 
igen war,  obgleich   er  sie  nur  in  einer  Uebersetzung  gelesen 
Im  Mai   und  Juni    war  Goethe  wieder  mehrei*e  Wochen  in 


48)  3,  95  ff.         49)  Vgl.  ilazu  den  vier  Wochen  später  goechriebeneo  Brief 
kKoroer  i,^\  f-  Damach  hatte  Aristoleles  dea Dichter  mit  seinem «WaUwittehi*' 


4S6    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XYIU  Jahrhunderts  bU  zu  Goeüie's  T«L 


i 


322  Jena,  wo  er  „Hermaim   und  Dorothea**   beendigte  und  mit  Schi 
auf  das  Balladeustiulium  kam^.    Gewisa  aber  wurden  in  dieser  ii 
aueb  zwischen  beiden  die  IheoretiBcbon  Verhandlungen,  die  i 
so  sehr  am  Herzen  lagen,  fortgesetzt.    Die  nächsten  Briefe  nach  der 
Trennung,  die  auf  ilire  poetischen  Arbeiten  Bezug  nehmen,  betreffen, 
ausser  Balladen  und  anderem  für  den  Älmanach,   den  „Faust" 
den  Plan   zu  „der  Jagd"''.    Hofrath   Hirts  Besuch   in  Weimar 
Jeua^^  führte  sie  mittelbai*  wieder  dahin,  gewissen  Grundfragcti 
der  Theorie  der  beiden  giossen  poetischen  Gattungen  ihre  Aufmerk- 
samkeit zu   schenken.     Goethe  fand  in  einem  Aufsatz  Hirt«  Bher 
Laokoon,  den   er  Schillern  am  5.  Juli  Übersandte,  sehr  zu  lobeo« 
dass  darin  aufs  Charakteristische  und  Pathetische  auch  in  den  hildes- 
den  Künsten  gedrungen   war^'.    Schiller  billigte  dieses  nicht  bl««, 
er  wünschte  auch,  doss  in  der  Poesie  das  Gleiche  geschähe.    ..All- 
gemein",  schrieb   er*\   , (herrscht  noch  immer  der  winrkelniaiini 
und  lessingische  Begriff  (in   Betreff  der  griechischen   Kunstwerk 
und  unsere  allerneuesten  Aesthetiker,  sowohl  über  Poesie  al«  P 
lassen  sichs  recht  sauer  werden,  das  Schone  der  Griechen  von  al 
Charakteristischen  zu  befreien  und  dieses  zum  Merkzeichen  de* 
dernen  zu  machen.  .  . .   Wie  hat  man  sich  von  jeher  gequ&lt 
quält  sich   noch,   die   derbe,   oft  niedrige   und  hässliche   Natur 
Homer  und  in  den  Tragikern  bei  den  BegrifTen  durchzubrinsen.  die 
man  sich  von  dem  griechischen  Schönen  gebildet  hat.     ' 
doch  einmal  einer  wagen,  den  Begriff  und  selbst  das  Wort  r.vu.iM*^lr 
an  welches  einmal  alle  jene  falschen  Bogriffe  unzertrennlich  geksfipA 
sind,  aus  dem  Umlauf  zu  bringen  und,  wie  billig,  die  Wahrheit 
ihrem  vollständigsten  Sinn  an   seine  Stelle  zu  setzen.  .  .  .  Auch  i 
fände  meine  Rechnung  dabei,  wenn  diese  Materie  Über  das  Cbainkte- 
ristische   und   Leidenschaftliche   in   den   griechischen    Kunstwerkai 
recht  zur  Sprache  käme  iwozu  sich  vielleicht  für  Goethe  und  Mcj« 
bald  die  Gelegenheit  bieten  wUrde);  denn  ich  sehe  Toraus,  ^ 
mich  die  Untersuchungen   tlber  das  griechische  Trauerspiel,  die 
mir  vorbehalten  habe,  auf  den   nämlichen  Punkt   fuhren  wcrdeB-* 
In  Goethe's  Aufsatz  über  Laekoon"",  der  ihm  jetzt  mitgetheilt  w 
fand  Schiller  ein  Muster,  wie  man  Kunstwerke  ansehen  und 


keineswegf)  nn/.ufriedener  gemacht  ^^Ich  fQhle,  daB&  ich  Ihm.  den  nmcrlflckii* 
Unterschied  der  neuen  von  der  alten  Tragödie  abgerechnet,  lu  allen  iire«CAtIidH0 
ForderuDgen  Genüge  gelastet  habe  und  leisten  werde".  Vgl.  auch  (juhf»a«*f 
der  Fortsetzung  von  Danzels  Lessing  etc.  Abth.  l,  IS7  f.  :>(»»  Vgl.  S.  »"*' 

51)  3.  1*2.1—157;  bcbouders  interessant  sind  liier  die  Beznerkungea . 
SchiUer  auf  Goethe's  Vorlangen  al>er  die  Weiterfülirung  deis  „FadÄi" 
3,  ni;  ins  ff.  52)  a,  t49;  151.  53»  3.  155.  54)  a,  ihs  ff 

55)  Vgl.  S.  470.  Anm.  140. 


^_£iitirickelungsgaDgd.Lit.  I773^t832.  Ooethen. Schiller, uberEposu. Drama.  4S7 

^■heilen  sftlle;  er  fand  darin  aber  auch  ein  Master,  vrie  man  Grund-  §  322 
^■tötzo  anwenden  solle;  in  Rncksicht  auf  beides  lernte  er  sehr  viel 
^fBarans''.  Eine  Woche,  die  er  im  Jtdi  bei  Goethe  7.nm  Besuch  war, 
^™liatte  wieder  so  manches  für  die  Gegenwart  entwickelt  und  für  die 
Zukunft  vorbereitet,  so  dass  Goethe  dieses  Zusammensein  für  sehr 
fruchtbar  Lielt''.  Aus  Schülers  Antwort"'*  ist  die  hierher  bezügliche 
[auptstelle  bereits  oben"*  eingerückt,  worauf  die  Worte  folgen:  „Und 
botVe  ich,  soll  mein  ,, Wallenstein"  und  was  ich  künftig  von  Be- 
mtung  hervorbringen  mag,  das  ganze  System  desjenigen,  was  bei 
isemr  Commercio  in  meine  Natur  hat  Übergehen  können,  in  concreto 
ligen  und  enthalten.  Da«  Verlangen  nach  dieser  Arbeit  regt  sieb 
ieder  »tark  in  mir,  denn  es  ist  hier  schon  ein  bestimmteres  Objecto 
ras  den  Kräften  ihre  Thätigkeit  anweist,  und  jeder  Schritt  ist  hier 
ihon  bedeutender,  statt  dass  ich  bei  neuen  rohen  Stoffen  so  oft  leer 
greifen  muss."  Jetzt  habe  er  noch  mit  dem  Almanach  zu  thun,  mit 
,dem  S€])tember  jedoch  hofle  er  zur  Tragödie  zurückzukehren,  — 
*isde  Juli  trat  Goethe  seine  dVitte  Reise  in  die  Schweiz  an,  von  der 
erat  gegen  Ausgang  des  Novembers  wieder  in  Weimar  eintraf**. 
lucL  in  dieser  Zeit  ruhten  die  Verhandlungen  über  die  Theorie  der 
Kunst  nicht  ganz,  wenn  sie  auch  nicht  so  unmittelbar  wie  früher 
»der  später  die  Natur  und  das  gcgcnsUtzliche  Verhältniss  des  Epos 
id  des  Dmma's  beti'afen.  Die  Nachrichten  Goetho's  Über  einige 
Ünstlor  in  Stuttgart,  namentlich  Über  Dannecker"',  veranlassten 
;biller,  seine  Meinung  Über  die  Neigung  so  vieler  talentvollen 
ihiBtlerneuerer  Zeiten  zum  Poetisieren  in  der  Kunst  auszusprechen". 
Auch  diese  Verirrung'',  bemerkte  er,  ,,erklflrt  sich  mir  liiureichend 
ts  unsern  Ideen  Über  realistische  und  idealistische  Dichtung  und 
lefert  einen  neuen  Beweis  für  die  Wahrheit  derselben.  Ich  denke 
lir  die  Saclie  so.  Zweierlei  gehört  zum  Poeten  und  Künstler:  dass 
sich  Über  das  Wirkliche  erhebt,  und  dass  er  innerhalb  des  Sinn- 
lobeo  stehen  bleibt.  Wo  beides  vorhanden  ist,  da  ist  ästhetische 
[onst."  Es  folgen  hierauf  Sfiti-e,  die  in  der  Abhandlung  ..Über  naive 
[d  sentiment.  Dichtung**  begi-Ündet  und  ausgeführt  sind;  dann  heisst 
:  „Die  Reduction  empirischer  Formen  auf  ästhetische  ist  die  schwie- 
^"  ration,  und  hier  wird  gewöhnlich  entweder  der  Körper  oder 
-t,  die  Wahrheit  oder  die  Freiheit  fehlen.  Die  alten  Meister, 
»wohl  im  Poetischen  als  Plastischen,  scheinen  mir  vorzüglich  den 
itnen  7.U  leisten,  dass  sie  eine  empirische  Natur,  die  bereits  auf 
Ine  iVsthetische  reduciert  ist,  aufstellen,  und  dass  sie,  nach  einem 
fen  Studium,   über  das  Geschäft  jener  Reduction  selbst  Winke 


56)  3,  l(i3. 
3,  isi;  322. 


57)  3.  ifts. 
61»  :j.  242  f. 


58t  3,   )tiG  ff. 
62»  3.  261   flf. 


59)  8.  411,  37. 


48S    VI.  Vom  zweiten  Yierld  des  XVin  JalirhuDderts  bis  su  Goethe*!  To4. 


§  322  geben  können.    Aus  Verzweiflung,  die  empirisohe  Nalur.  womit 
umgehen  ist,  nicht  auf  eine  ästhetische  reducieren  zu  können»  verl 
der  neuere  Künstler  von  lebhafter  Phantasie  und   Geist  sie  lieber 
ganz  und  sucht  bei  der  Imagination  Illllfe  gegen  die  Em]>irie,  g 
die  Wirklichkeit.    Er  legt  einen  poetischen  Gebalt  in   sein  We 
das  sonst  leer  und  dürftig  wäre,  woil   ihm  derjenige  Gebalt  fch 
der  aus  den  Tiefen  des  Gegenstandes  geschupft  werden  muss.'' 
dem  Ende  wünschte  Schiller";  daas  Goethe  und  Meyer  ihre  Gedonk« 
über  die  Wahl  der  Stoffe,   für  poetische  und  bildende  Darstelltmft 
entwickeln  möchten,  eine  Materie,  die  mit  dem  Innersten  der  KuuÄ 
communiciere.     Ein  grosser  Vorthcil  durfte  es  dabei  sein ,  vou  dar 
Begriff  der  absoluten   Bestimmtheit   des  Gegenstandes  auszugehca, 
wo  dann  zu   einer   durchgängig    bestimmten   Darstellung  sich  vull- 
kommen  das  eignen  möchte  ^  was  man  einen  prägnanten  Moi 
nenne;  zugleich  aber  müsste  die  Bestimmung  des  Gegenstandes dufck 
die  Mittel  geschehen,   welche  einer  Kunstgattung  eigen  seien,  uad 
auch   innerhalb   der   besondeiii   Grenzen    einer  jeden    Kunstspecie 
absolviert  werden*".     !Nach   seiner  Rückkehr  aus  der  Schweiz  lii 
Goethe  A.  W.  Schlegels  Kecension   von  ,, Hermann  und  Dorothea'; 
sie  hatte  ihn"  bewogen,   die  Gesetze  der  Epopöe  und  des  Dmna'i 
wieder  durchzudenken,   und   er  glaubte  auf  gutem   Wege  zu  seil 
Die  Schwierigkeit  bei  diesen  theoretischen  Bestimmungen  sei  immeri 
die  Dichtarten  von  allem  Zufälligen   zu   befreien.     Nslcbstens  w. 
Schiller  einen  kleinen  Aufsatz  darüber  erbalten.    Es  gcächab  ai 
drei  Tage  darauf**.    Dieser  Aufsatz,  der  mit  der  Ueberscbrift  „ü 
epische  und   dramatische  Dichtung  von  Goethe  und   Schiller"  d 
Briefwechsel  eingeschaltet  isf'^  und  den  zu  „beherzigen,  aiunwendes, 
zu  modificieren  und  zu  erweitem",  Schiller  gebeten  wird,  umfuitdie 
Ergebnisse  der  zwischen   beiden  Dichtern  zeilber  gepflogenen  Vci* 
bandluugeu,  nebst  neuen  Gedanken  von  Goethe,   und  enthält 
vortreffliche   Sfttzo.     Die   Uaupttendenz   desselben   ist,    die 
grossen  poetischen  Gattungen  in  ihrer  Begrenzung  zu  hestimroeBt 
in  ihrer  Gegensät^liclikeit  zu  sondern,  von  ihnen  alles  Fremd 
auszuscheiden  und  von  jeder  den  vollständigsten  und  reinsten 
aufzustellen.    Zwei  Briefe  Schillere  aus  dem  Scbluw  Ueä  Jabr«0 


63)  3,  264  ff.  64)  Goethe  und  Mcycr  giengen  (wirklich  glci«h 

über  die  Gcgenfitandc  der  bildeodea  Kunst  einen  Aufsatz  zu  scfaemftUfiereii  tfä 
auszuführen f  und  da  sie  sich  darin  btoBs  an  die  bildende  Kunst  hielten,   M  ff* 
munterten  sie  Schiller  dazu,  dass  auch  er  sein  ähnlicbcs,   die  GegcjisUad«  dv 
Poesie  betreffendes  Vorhaben  ausfuhren  möchte.     Vgl.  3,  306;  3U  f.;  :i24. 
65»  Wie  er  den  20.  Decbr.  schrieb:  3,  370.  66)  3,  3S0;  da«  Datum  ^  §$ 

2.  Ausg.  I,  426.  67)  3,  374  ff.  68)  3,  3S«  ff.;  S94  ff.. 


49U     VL  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  Jahrhunderts  b«  zu  Uoethe«  Tod 


322  Eine  uumittell)ave  Folge  dieser  Erörterungen  war  das  lebhÄfieln- 

tereßse,  welches  beide  Dichter,  und  besoudere  Schiller ,  der  Pottik 
dos  Aristoteles  widmeten"'*',  so  wie  ihr  Studium  der  Schrift 
Humboldt"'.  Wie  enistlich  und  anhaltend  sich  Goethe  mit  Hm 
und  vorzUg^lieh  mit  der  llias,  bc8chäfti;rt6 ,  belegen  mehrere  Stell 
in  den  Briefen  au  Schiller^'.  Schiller  las  in  dieser  Zeit  obeofa 
Homer,  und  zwar  mit  einem  ganz  neuen  Vergnügen,  wozu  die  ^Vli 
die  ihm  Goethe  darttbor  gegeben,  nicht  wenig  beitrugen^; 
aber  noch  führte  ihn  seine  Arbeit  am  „Wallenstein''  auf  das  Studia«' 
der  griechischen  Tmgiker  und  des  Shakspeare  hin.  Die  Lectöre 
des  letztern  und  die  des  Sophokles  beschäftigte  ihn  im  Frnbjahr 
1797  mehrere  Wochen  hindurch^*;  im  Herbst  desselben  Jähret  anM 
er  besondere  Studien  an  dem  ,, König  Oepidus'^  gemacht  haben,  tk^ 
er  einen  Stoff  zur  Tragödie  auffinden  wollte,  der  von  der  Art 
jenigcn  iu  dem  sophokleischen  Stück  war",  und  im  r"  '  '  ^-"M 
jähr  las  er  die  „Phädra"  des  Euripides  in  Steiubrüchels  l 
Shakespare's  „Julius  Cäsar"  gieng  er  im  Ajtril  1797  mit  A.  W.  5iehi< 
durch ^,  und  im  Spätherbst  las  er  die  historischen  Stücke,  die  dev 
Krieg  der  beiden  Rosen  abhandeln.  Gerade  diese  LectOre  seheiol 
besonders  einflussreich  auf  die  Gestaltung  seines  ..Wallonstein** 
wesen  zu  sein.  Als  er  „Richard  III"  beendet  hatte,  war  er 
einem  wahren  Stauneu  erfüllt.  „Es  ist  dieses  letzte  Stück", 
er  an  Goethe '%  .,eine  der  erhahenstou  Tragödien,  die  ich  kenne. 
und  ich  wUsste  iu  diesem  Augenblicke  nicht,  ob  seibat  eia  «hak- 
speariscbes    ihm    den   Rang    streitig    machen    kann.      Die  groCMB 


Vorzuj^s  wiUcQ  irerden  Sie  keiner  aosschliessend  anf^ebören**.   Uebrigcni,  »ctit « 
hinzu,  würde  ihucu  beiden  Uumboldts  Work  über  ..Hermann  and  Dorotboi*'  NJ 
Gelegenheit  geben,  noch  recht  viel  (ibcr  diese  Materie  mit  ciiiAndcr  zu  fpnclift 
„Wir  wollen  es,   wenn  es  ütnen  recht  ist,  miteinander  lesen;   es  wird  lila  tm 
SSprache  bringeUf   was  sich  durcli  Rftisonnement  aber  die  Gattung  und  die  AiM 
der  Poesie  ausmachen   und  ahnen  lässt".     Und  wirklich  beachitftij^e  HnnboyD 
buch  beide  Freunde  sehr,  ala  Goethe  vom  20.  Mai  hU  zum  21.  Juni  nu>>  iaJm* 
verweilte  (vgl.  an  Körner  4^  77);  und  daas  sie  auch  nachher  in  ihren  ZmmiBft 
känt'teu  ihre  Erörterungen  Über   das  Tragische  und  Epische  nicht  ala  pBM  §ß' 
schlössen  betrachteten,  darf  man  aus  Gocthc's  Brief  vom  22.  Äuguat  179S  »tSW 
und  aus  Schillers  Antwort  darauf  (4.  273  &.)  folgern.    Noch   am  22.  Man  ITM» 
schrieb  Goethe  au  Knebel  (I.  207):    „Diese  Arbeit  (die  ..Achilleis'-i  fuhrt  ditfr 
auf  die  wichtigsten  Punkte  der  i>oetisclicn  Kunst ,   indem   ich  iiber  das  Vif^n^ 
nachzudoukcu  alle  Ursache  habe:   Schiller  fördert  indessen  das  TrsuerapU»  vad 
so  kommt  man  theoretisch  und  praktisch  immer  weiter".  70)  Mehräm 

her  BcÄhgliche  ist  eben  erwähnt  worden.  71»  Vgl  Anm.  ÜH.  72» 

sonders  :»,  ü\*;  'Mii  4,  201:  2i»7.  73)  4.  IM»  f.;  vgl.  l%i«;  \\t\.  'h 

Goethe  X  51  f,;  an  Kömer  4,  21.  75j  An  Goethe  X  2Sy  f.;  vgl.  dara  ^ 

70»  4,  löii.  77i  3,  Ä7.  7S»  3,  33^  ff. 


cfllni^sgang  d.  Literatur.  IT73-1S32.  GoetKe  u.  Schiller.  Wallonstein.  491 

Ichicksale,  angespouueu  in  den  vorbergehenden  Stflckcn,  sind  darin  §  322 
mf  eine  wahrhaft  grosse  Weiso  geendigt,  und  nach  der  erhabensten 
[dee  stellen  sie  sich   neben  einander.     Dass   der  StoÖ^  Bcbou  alles 
eiebliche,   Schmelzende,   Weinerliche  nusschliesst,    kommt  dieser 
bobeu  Wirkung:  sehr  zu  Statten ;  alles  ist  energisch  darin  und  g-roes, 
licbts  Gemeinmenschliches  stOrt  die  rein   ästhetische  RtJhrung,  und 
ist  gleichsam  die  reine  Form  des  Tragischfurchtbaren,   was  man 
geniesst.     Eine  bebe  Nemesis  wandelt   durch  das  Stück   in    allen 
Gestalten,  man  kommt  nicht  aus  dieser  Empfindung  heraus  von  An- 
fang bis  zu  Ende.     Zu  bewundern  ist's,   wie  der  Dichter  dem  un- 
bebülflicben   Stoffe   immer   die    poetische    Ausbeute   abzugewinnen 
wiisste,    und   wie   geschickt   er   das    repräsentiert,    was   sich   nicht 
repräsentieren  lässt,  ich  meine  die  Kunst,   Symbole  zu  gebrauchen, 
wo  die  Natur  nicht  kann  dai'gestellt  werden.    Kein  shakspeare^scbes 
Stück    hat    mich    so    sehr    an    die  gi*iechiscbe  TmgOdie    erinnert.'^ 
Er   fand   es  sehr  der  Mühe  werth,  diese   Folge  von  acht  Stücken 
in   der  rechten  Art  für  die  deutsche   Bahne   zu   bearbeiten;    da* 
irircb    könnte   eine   Epoche   eingeleitet   werden™.     Er   wollte  mit 
<;..i*the   darüber   conferieren,   der   auch,    wie   er   erwiederte,    sehr 
wünscLie»  dass  eine  solche  Bearbeitung  Schillern  anlocken  könnte*''. 
^unterdessen  rückte  die  Ausarbeitung  des  ,.Wallenstein'S  anfänglich 
^■edoeb    noch   immer  langsam  genüge   vor.     Im  Mai   und  Juni    1797 
^Kam  das  zunächst  zu  einem  blossen  Prolog  der  Tragödie  bestimmte, 
^^acbber  aber^  mit  auf  Goetbe's  Ratb,  zu  einem  eigenen  Vorspiel  er- 
hobene „Lager  Wallensteins"    zu   einem    ersten    Abschluss".    Den 

79)  Vgl.   Leasiuga   Aeusserungen   aus   dem  J.  I*.S'.»   oben   III.  '\**'. 
SO)  •%  341.  Sl)  In  der  zweiten  Hälfte  des  Aprils  gedachte  Schiller,  ehe  er 

der  Ansnrlipitung  weiter  fortführe,  die  poetisrJie  Fiihel  des  Stih-ks  mit  völliger 
ifabrlicbkctt  iiicdorzuscbrciben,   um   sich  dadurcii  zu  versichern,  dass  sie  eio 
Ganzes,  und  du£s  alles  durchgängig  hestininit  würe.   Diese  detaillierte  £r- 
üollte   dann    Goethen   zu   Regenspitiifer    B*^?prerhunff    darüber  vorgelegt 
Um  (3,  Q'>),    Als  (heser  einige  Wochen  später  wäbrend  seines  Aufenthalts  in 
den  Prolog  wicderholcntlich   und  mit  grosser  BerViedigimg  gelesen   hatte. 
len  ihm  doch  „der  Aufwand  fOr  ein  einziges  Drama  zu  gross";  er  rieth  daher 
2>4.  M&i),   in   einem  eigenen  Cyclus  von  Stücken  diese  Zeitepoche  zu   be- 
äteu.  um  so  mehr,  als  Schiller   schon  selbst  ganz  neuerlich  eine  solche  Idee 
lert  liabe  (3,  llfi  f.).    Bereits  am  f}.  Juni  konnte  er  Meyem  melden  (Werke 
9  f.):   „Schillej  hat  einen  sehr  guten  ücdauken  gehabt,   dasä  er  ein  kleines 
„die  Wallensteiner** ,   als  Prolog  vorausschickt,   wo  die  Masse  der  Aimee, 
»Schsam  wie  der  Chor  der  Alten,  sich  mit  Gewalt  und  Gewicht  darstellt,   well 
Ende  des  Ilanptstucks  doch  alles  darauf  ankommt,  dass  die  Masse  nicht  mehr 
ihm  iWaUen&teini  bleibt,  sobald  er  die  Formel  des  Dienstes  verändert".    Am 
Juni  übersandte  Schiller  das   kleine  Stack,   das  schon  damals,  wo  sich  der 
[cliter  noch  nicht  itber  die  äussere  Form  der  eigentlichen  Tragödie  entschieden 
bttc.   In  Versen  war.  an  Kömer,  der  besonders  ,.dufch  das  Gocthesche  in  der 


492    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVlö  Jahrhunderts  his  zu  tioeike's  Tod 

322  granzen  Sommer  an  der  Fortführung  des  Werkes  rerhindert,  än%  d< 
Dichter  nun  wenigstens  im  Plane  als  ein  Ganzes  poetisch  orgftni«i< 
zu  haben  glaubte,  konnte   er  es  erst  im  Hcrb?t  wieder  atifucbtix 
„Jetzt^  da  ich  den  Almanach  hinter  mir  habe,  schrieb  er  am  2.  Oc 
an  Goethe  '*,  kann  ich  mich  endlich  wieder  zu  dem  Wallenstcin  wendei 
Indem  ich  die  fei*tig  gemachten  Scenen  wieder  ansehe ,   bin  leb  ii 
Ganzen  zwar  wohl  mit  mir  zufrieden,  nur  glaube  it'b  einige  Tr<>ck< 
beit  darin  zu  finden,  die  ich  mir  aber  ganz  wohl  erklären  and 
wegzuräumen  boften  kann.    Sie  entstand  aue  einer  gc^nsscn  Farcl 
in  meine  ehemalige  rbetorisclie  Manier  zu  fallen,  und  aus  einem 
ängstlichen  Bestreben,  dem  Objecte  recht  nahe  zu  bleiben.    Nun 
aber  das  Object  schon  an  sich  selbst  etwas  trocken  und  bedarf 
als  irgend  eins  der  poetischen"  Liberalität;  es  ist  daher  hier  nötW 
als  irgendwo,  wenn  beide  Abwege,  das  Prosaische  und  das  RBi 
torische,  gleich  sorgfältig  vermieden  werden  sollen,  eine  recht 
poetische  Stimmung  zu   erwarten.    Ich  sehe  zwar  noch  eine  nn^ 
heure  Arbeit  vor  mir,  aber  so  viel  weiss  ich,  dass  es  keine  faux-fr 
sein  werden;  denn  das  Ganze  ist  poetisch  organisiert,  und  ich  dj 
wohl  sagen,  der  Stoff  in  eine  reine  tragische  Fabel  verwandelt. 
Moment  der  Handlung  ist  so   prägnant,  djiss  alles,   was  zur  Voll 
ständigkeit  derselben  gehört,  natarlicb,  ja  in  gewissem  Sinne  oo(b 
wendig  darin  liegt,  daraus  hervorgebt.    Es  bleibt  nichts  Blindes  dar 
nach  allen  Seiten  ist  es  geoflfnet.    Zugleich  gelang  es  mir^  die  Han^' 
lung  gleich  von  Anfang  in  eine   solche  Präcipitation   und    Nei| 
zu   bringen,   dass  sie  in   stätiger  und  beschleunigter  Bewegung 
ihrem  Ende  eilt.     Da  der  Hauptcbarakter  eigentlich  retardierend  b 
so  thun   die  Umstände  eigentlich  alles  zur  Krise,   und   diess 
•wie  ieh  denke,  den  tragischen  Eindruck  sehr  erhöben'***.    Jetzt 
schied   er  sich  endlich,  auch  für  die  Theile  desselben,  die 
dem  Vorspiel  entweder  schon  ausgearbeitet  waren,  oder  er»t 
arbeitet  werden  mussten,  die  Prosaform  aufzugeben  und  sie  in 
füssigen  jambischen  Versen  abzufassen.    Am  20.  November  b< 
richtigte  er  Knnier  davon  *\  und  er  begriff  es  nun  kaum,  wie  er 


Behandlung"  überraschl  wurde  (vgl.  -1,  ;U  ff.».  Der  Dichter,  froh  Ober  den 
fall  de«  Freundes,  glaubte  schau  viel  gewonnen  zu  haben.  das&  er  ans  seincBi 
Unarten  grösstentbeils  glücklich  heraaswüre,  und  da£s  er  bei  dieser  Krü«  M^ 
noch  d&B  Gute  aus  der  alten  Kpoche  gerettet  hätte.  Aber  noch  immer  mack*^ 
ihm  sein  Stoff  viel  zu  schaffen :  in  seiner  ,, abgeschiedenen,  von  ollem  Welttanf  (fr^ 
getrennten  Lage"  wurde  es  ihm  erstaunlich  schwer,  ..eine  solche  fremdartigf  a«**- 
wilde  Masse  zu  bewegen  und  eine  ho  dürre  Staatsaction  in  eine  raenschlichriUiA-' 
lung  umzuBChaffen"   lan  Korner  A,  :vi)  S2)  3,  2bl.  S3)  So  ia^9^ 

•2.  Ausgabe,  in  der  ersten  steht  „praktischen".  84)  Vgl.  dazu  den  Britf*^ 

Kömer  von  demselben  Datum  \,  53  f.  S5i  4,  60. 


itwickelungBgaogd.  Literatur.  1773—1932.  Goethe  u.  Schiller   W&UeDstciji.   403 

habe  anders   wollen   können;  es  sei  unmüglicb,   ein  Gedicht  in  §  322 
Vosa  zu  schreiben;  alles,  \tas  er  schon  gemacht  babo,  müsse  nun 
anders  werden  und  sei  es  zum  Tbell  schon.     Er  habe  in  der  neuen 

Kieatalt  ein  ganz  anderes  Ansehen  und  sei  jetzt  erst  eine  Tragödie  zu 
kennen**.     Vier  Tage   später  schrieb    er   darüber   ausführlicher  an 
loethe*^;  ,,Ieh  habe  noch  nie  so  augenscheinlich  mich  überzeugt,  als 
ei   meintm  jetzigen  Geschäft,   wie  genau  in   der  Poesie  Stoff  und 
Form,  selbst  fliissere,  zusammenhängen.   Seitdem  ich  meine  prosaische 
Sprache   in   eine  poetisch -rhythmische  verwandle,   befinde  ich  mich 
unter   einer  ganz  andcin  Gerichtsbarkeit   als   vorher;    selbst   viele 
Motire,   die  in  der  prosaischen  Ausführung  Techt  gut  am  Platz  zu 
stehen  schienen,  kann  ich  jetzt  nicht  mehr  brauchen.  .  .  .     Man  sollte 
I    wirklich  alles,  was  sich  Über  das  Gemeine  erheben  muss,  in  Versen, 
^Krenigstens  anfänglich,  concipieren,  denn  das  Platte  kommt  nirgends 
^TO  in'a  Licht,   als  wenn  es  in  gebundener  Schreibart  ausgesprochen 
wird.  .  .     Der  Rhythmus  leistet,  heisst  es  dann***,   bei  einer  drama- 
icben  Production  noch  dieses  Grosse  und  Bedeutende,  dass  er,  in- 
ixü  er  alle  Charaktere   und  alle  Situationen   nach   Eiuem   Gesetz 
^handelt  und  sie,  trotz  ihres  inneni  Unterschiedes,  in  Einer  Form 
isftibrt,  dadurch  den  Dichter  und  seinen  Leser  nöthiget,  von  allem 
:h   so   Charakteristisch -V^erschiedenen   etwas  Allgemeines.    Rein- 
[enschlichcs  zu  verlangen.    Alles  soll  sich  in  dem  Geschlechtsbe- 
■iff  des  Poetischen  vereinigen,  und  diesem  Gesetz  dient  der  Rhyth- 
loB  sowohl  zum  Repräsentanten  als  zum  Werkzeug,  da  er  alles  unter 
seinem  Gesetze  begreift.    Er  bildet  auf  diese  Weise  die  Atmosphäre 
k^r  die  poetische  Schöpfung,   das  Gröbere  bleibt  zurtick,   nur  das 
^B^istige    kann    von    diesem    dUuncn    Elemente   getragen    werden.'' 
^Boethc  antwortete'*':   er  sei  nicht  allein  Schillers  Meinung,   sondern 
^rche    noch    weiter.     Alles   Poetische    sollte    rhythmisch    behandelt 
werden;  dass  man  nach  und  nach   eine  poetische  Prosa  einführen 
konnte,   zeige  nur.   dass  man  den  Unterschied  zwischen  Prosa  und 
Poesie  gänzlich   aus  den  Augen   verloren  habe.     ,, Indessen  ist  das 
Uebcl  in  Deutschland  so  gross  geworden,  dass  es  kein  Mensch  mehr 
I    sieht,  ja  dass  sie  vielmehr,   wie  jenes  kröj)rige  Volk,  den  gesunden 
Bau   des  Halses  für  eine  Strafe  Gottes   halten.    Alle  dramatischen 
Arbeiten,  und  vielleicht  Lustspiel  und  Farce  zuerst**,  sollten  rhyth- 
tniBch  sein,   und  man  würde  alsdann  eher  sehen,  wer  was  machen 


8^))  Vgl.  W.  V.  Humboldte  Einleituug  zum  Briefwechsel  mit  Schüler  S.  32  f., 
:u  at>er  auch  Hoffmeister  in  Schillers  Leben  5,  34?.  STi  3.  ;j27  ff. 

i)  >acb  einer  Bemerkung  Ober  den  Tfaeil  des  poetiscbec  Interesse»  der  in  dem 
itBgoniHmus  zvlsrhen  dem  Inhalt  und  der  Darstellung  liege.  89)  3,  333  ff. 

90)  So  die  2.  Ausgabe,  die  erste  bat  „überhaupt". 


494    VI.  Vom  ziroiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhnudorts  bis  xn  Ooetlie*t  Tod. 

322  kann.    Jetzt  aber  bleibt  dem  Tbeatordicbter  weiter  niV^^  "'-nf 
sich  zu  ftceonimoiliereu. .  .  .    Auf  alle  Flille  sind  wir  ^»  ■  lUi 

Jahrhundert   zu  verg-esseü,   wenn  wir  nach    unserer  Ueberzortj 
arbeiten  wollen:  denn  so  eine  Salbaderei  in  Principien.   wie  sie 
Allgemeinen  jetzt  gelten,  ist  wobl  noch  nicht  auf  der  Welt  gcwtten, 
und   WI18  die  neuere  Philosophie  Gutes  stiften  wird,   ist    ni»cb   btbI 
abzuwarten.  .  .    Lassen  Sie  uns  —  immer  strenger  iu  Grnndsfltzm 
und  sicherer  und  bebaglicker  iu  der  Ausführung  werden.    Dafl  Letxte 
kann  nur  geschehen,   wenn   wir  während  der  Arbeit  unsere  Blinl 
nur  innerhalb  desllahmcns  fixieren"".  —  Seitdem  gewann  diüDicbtiii 
von  Tag  zu  Tag  mehr  Gestalt*',  nur  wurde  es  Scbillem  fast  xo 
wie  das  Stück  ansehwelle,  besonders  seit  der  Umsetzung  in  Jambos; 
der  erste  Act  sei  grösser  als  die  drei  ersten  der  „Iphigenie^^;  fitsKrt 
wtlrden  die  hintern  Acte  viel  küi-zer  werden,  aber  die  Expofitioa 
verlange  Extensität,  so  wie  die  fortschreitende  Handlung  von  wlbrt 
auf  Intensität  leite.    Es  kam  dem  Dichter  vor,   als  ob  ihn  eio  ?^ 
wisser  epischer  Geist  angewandelt  habe,  der  aus  der  Macht  von 
Goethe's  unmittelbaren  Einwirkungen  zu  erklären  sein  möge".  Hioraif 
erwiedcrte  dieser  mit  der  Frage:  ,, Sollte  Sie  der  Gegenstand  nW 
am  Ende  noch  nöthigen,  einen  Cyclus  von  Stücken  aufzui*telicn  '' 
Bis  dahin  nämlich  scheint  Schiller  noch  immer  die  Absicht  und  Ü^ä- 
nung  gehabt  zu  haben,   das  ganze  Stück,  abgesehen  von  dem  Vor- 
spiel,  in  fünf  Acte  zusammenzudrängen.    Wann  Scbiller  mit  -i:l 
einig  wurde,  zwei  Stücke  daraus  zu  machen,  „ilie  Piccolouiini"  utd 
„Wallensteius  Tod**,   lässt  sich  nicht  genau  angeben.     Wahnscheiyj 
lieh  fasste  er  seinen  Entschluss  während  einer  iler  ZusanimenkttnfH 
die  er  im  FrUbjahr  und  Sommer  17DS  mit  Goethe  hatte  "^;  denn  ii 
August  las  er  Goetbeu  sebon  „die  zwei  letzten  Acte  vom  Wallcnsttti' 
(d.  b.  von  „den  Piccolomini'*)  vor,  und  am  30.  Septbr.  gehrieb  er 
Körner**:  „Das  Stück  selbst  habe  ich  nun,  nach  reifer  Ueberlegungi 
vielen  Conferenzen  mit  Goethe,  in  zwei  Stücke  getrennt,  wobei  miob 
schon  vorhandene  Anordnung  sehr  begünstigt  hat****.  So  wie  tile  Aul 


91)  Vgl.  dazu  -«ras  Goethe  über  die  Unaetznog  einiger  suerst  in  Proii  i^ 
gctas&ten  tragischen  Faustsceuen  iuKeünverse  schneb,  2.  Auag-2»^3,  ondSdiilkBS 
Brief  in  der  1.  Ausg.  !*,  143  f.  —  Zu  dem  Einnuschen  von  ReimstellPD  untB  ^ 
reinüoscu  jambischen  Verse,  wna  im  „Don  Carlos"  noch  nicht  geschehen  wir.  »b* 
im  „AVallenstein"  begann,  erliielt  der  Dichter,  wie  Ich  vennuthe,  dio  onte  Afr* 
regung  durch  A.  W.  Schlegels  (in  den  Hören  von  1700  gednidrtrn»  Au/»»ti,rEi*** 
über  William  Shakspeare''  etc.  (vgl.  sämmtliche  Werke  ',  43  f.  und  dtts  *^ 
S.  179,  23.  *»2)  Au  Goefhc  den  2S.  Novbr.  (3.  340».  93j  :*,  Hl  U  ««fe 
Tage  nach  dem  vorher  citierten  Briefe.  94)  3,  345.  9b\  Vgl 

215  ff..  230  f.  dO)  4,  89.  97)  Er  hlett  Bich  ana  Werk,  00 

vermochte,  aber  „das  pathologische  Intereeae  der  Natur  «n  einer  solehCB 


Intwickelongagvig  d.  Literatur.  1773—1832.  Goethe  u.SclüUer.   Wallenstein.   495 


les  Ganzen  gieug  Schiller  auch  die  Fassung  des  Einzelnen  ^ederbolt 
lit  Goethe  durch,  der  dabei  auf  beide  in  mehr  uder  minder  bedeu- 
mdeiD  Grade  einwirkte".    Nachdem  die  Veitheilung  des  geaammtcn 
itofla  zu   der   eigentlichen  Tragödie   in  zwei    fünfactige  Stücke  be- 
iblosseu  war,   und  die  Bearbeitung  desselben   zuerst   in  der  Äi't 
unternommen  wurde,  dass  ,,die  Piccolomini"  auch  noch  die  nach- 
lerigcn  ersten  beiden  Acte  von  „Wallonsteins  Tod'*  befassen  aolllcn 
id  für  die  theatralische  Aufführung  auch  wirklich  anfangs  mit  ent- 
iielteu"'\  führte  der  Dichter  dieses  erste  Hanptatück   bis  zur  Mitto 
SoDtmers  179S  zum  grossten  Theil  aus.    Zu  Anfang  des  Januars 
1798  hatte  er  den  ersten  Act  ganz  und  den  zweiten  bis  auf  einige 
;enen  ausgearbeitet,   was  sch(m  viermal  mehr  betrug  als  das  Vor- 
liel'**.     Seine  Arbeit,  die  er,  von  einer  fremden  Uaud  reinlich  ge- 
^briebeu,  vor  eich  hatte,  machte  ihm  jetzt  wirklich  Freude.   Er  fand 
Igen  seh  ein  lieh,   dass  er  Über  sich  selbst  hinaungegangen  sei,  sah 
iriu   die  Frucht  seines  Umgangs  mit  Goethe  und  hatte  sich  ver- 
sichert,  dass  er,   wenn  er  an  Klarheit  und  Besonnenheit  in  dieser 
M-iiier  spüteru  Dicbterepoche  gewonnen,  doch  nichts  von  der  Wärme 
-einer  frühem  verloren  habe'"'.    Ungeachtet  mancher  Unterbrechungen, 
die    besonders    durch    seine    Kränklichkeit    herbeigeführt    wurden, 
»rderte  er  iu  den  nächsten  acht  Wochen  sein  Werk   so  weit,  dass 
am  3.  März  schon  das  Schwerste  hinter  sich,  und  drei  Viertel  der 
m  Arbeit  ahgethan  zu  haben  vermeinte'".    Das  Fertiggewordene 


§  322 


&rb«K  batte  viel  Aogreifendes  fOr  Üin*'  (2,  352.  Diese  Worte  voranlaasten  Ooetbe 
tu  dem,  in  seinem  letzten  Thoil  sehr  bemerkenswerthen  Geständniss,  3,  :t&ü:  ,,kli 
liAiin  mir  den  ZitsUnd  Ihres  Arbeiten^  recht  gut  denken.  Ohne  ein  lebhaftes 
latholo^ächcs  InteresBC  ist  es  auch  mir  niemals  gcinngen,  irgend  eine  tragische 
itioM  zu  bearbeiten,  und  ict^habe  sie  dalier  lieber  vermieden  als  gesucht.  -^ 
kenne  mich  zwar  nicht  selbst  gonag.  um  zu  wissen,  ob  ich  eine  wahre  Tra- 
LI«  schreiben  könnte;  ich  erschrecke  aber  bloss  vor  dem  Unternehmen  und  bin 
le  überzeugt,  dass  ich  mich  durch  den  blossen  Versuch  zerstören  Uüunte'S 
!a  Schillers  Gegenbemerkungen  3,  3GÜf|.  US)  Vgl.  an  Goethe  4,  Sf; 

jy  i.\   272  ff.;    365;    357;   :n;5— 37f.;   2.  Ausgabe  2,  ls7  f.;  1.  Ansg.  5,  13; 
Bach  au  Körner  4,  ^Sf.;  Goetlic's  Werke  46,  2(i5  und  Eckcrmanns  Gespräche 
the  2,  :m»  f.  99l  Die  jetzigen  sieben  Acte,  nämlich  die  fünf  „der 

ini"  und  die  zwei  ersten  von  „Wallensleins  Tod",  bildeten  so  fünf  Acte, 
es  der  erste  länger  war  als  die  zwei  letzten   zusammengenommen.     Die 
drei  Acte  des  zweiten  btücks  waren  dagegen  in  fünf  zerlegt.   Nach  dieser 
leflung  des  Ganzen  wurden  beide  Stücke  in  Weimar,   Berlin  etc.  aufgeftlhrt, 
xo   iliesem   Zwecke  in   den   hauüschriftUchen   Buhnenexemplaren   von  dem 
«elbst  sehr  gekürzt,  namentlich  „die  Piccolomini**  ivgl.  anGoethe't,  101  f.). 
langen  über  die   tilteste  Gestalt  des  „Wallenstein"   von  E.  Köpke   tinden 
,  Herrigs  Archiv   fUr  das  Studinm  der   neuern  Sprachen   und  Literaturen 
M5ff. ;  12,  is'f'iff.;  13,  2ii  ff.  100)  In  seiner  ersten  Gestalt.  101»  An 

Goethe  4,  Sf.;  au  Körner  4, 67  f.        102)  An  Goethe  4.  Ulf,  au  Körner  4.70  t'. 


496    VI.  Vom  zweit«u  Viertel  des  XVlll  Jahrhunderts  bis  za  Goethe«  Tod. 


i 


322  wurde  Goetben  niitgetbeilt,  als  derselbe  in  der  2\velteo  Hsilftc 
März  auf  vierzehn  Tage  nach  Jena  gekommen,  war'"^.     Mitte  J 
machte  ihm  der  „Wallenstein"   wieder  viel  Noth.     „Man  sollte  «cb 
hüten",  schrieb  er  au  Körner"**,  „auf  ein  so  compliciertes,  weitläufti^« 
und  undankbares  Geschäft  sich  einzulassen,  wo  der  Dichter  alle  »eine 
poetischen  Mittel   verschwenden   muss,    um    einen    widerstrebenden 
Stoff  zu  beleben.    Diese  Arbeit  raubt  mir  die  ganze  Gemächlichkeit 
meiner  Existenz.  .  .  .     Und  gerade  jetzt  scheint  sie  sich  noch  zu  er 
weitem:  denn  je  weiter  man  in  der  Ausführung  kommt,  desto  klarer 
werden  die  Forderungen,  die  der  Gegenstand  macht ,  und  LQckts 
werden  sichtbar,  die  man   vorher  nicht  ahnen  konnte*'.     Er  munti 
nun  zunächst  für  den  neuen  Almanach  sorgen  und  darum  den  „Wallcit 
stein''   wieder  zurücklegen"".    Im  August   konnte  er  indes«  Khuo 
die  beiden  letzten  Acte  „der  Piccolomiui**,  so  weit  sie  fertig  waren. 
Goetben  vorlesen*'''.     Nuu  aber  nahm  er,  einem  dringenden  Wuniebe 
Goethe's  sich  fügend,  „Walleusteins  Lager"  nochmals  vor,  indem  ei 
es  nicht  bloss  Überarbeitete,  sondern  auch  beträchtlich  erweiterte*, 
so  dass  es  als  ein  Stück  für  sich  allein  im  October  zu  Weimar  g^ 
spielt  werden  konnte*'^.    Die  letzten  Monate  des  Jahrs  wurden  notfc 
ganz  auf  „die  Piccolomini**  verwandt,  um  sie  für  die  Bühnconir 
Stellung  zu  vollenden.    In  der  zweiten  Hälfte  des  Octobera  sacbte 


103)  Briefwechsel  mit  Goethe  4.  157;  159.  104»  ■»»  ^0.  lO.^^  Aa 

Humboldt  S.  -115  f.;  vgl.  au  Ki^ruer  4,  Sl  f.  und  an  Goethe  1,  3S7  f.;  I«0.  ri 
nach  der  2.  Ausg.  2.  130  das  Datum  in  den  7.  Scptbr.  zu  verbeuen  ist:  ikr 
auch  an  Goethe  4.  24).  10t>)  4,  26S;  an  Körner  4,  »H;  die  Au8föhnuig4N 

dritten  hatte  der  Dichter  noch  verschoben.  107)  In  der  ersten  HAlA«  4e» 

Septembers  kam  Schüler  nach  Weimar,  wo  er  acht  Tage  bheb.    Hier  ,.batte  Qs 
Goethe  keine  Kuhu  gelasBen.  bis  er  ihm  das  „Lager"  zur  EröfiTnung  der  ifaetn^ 
lischen  Wiutenorstellungen  und  eines  rfcuoviericn  TheatergebÄad««"  v«nproeftB' 
Gleich  nach  seiner  Heimkehr  nahm  er  eti  daher  wieder  ror:   es  musst«  ..ikCte' 
rakter-  und  Sittengemiihldo  noch  etwas  mehr  Vollständigkeit  und  RetchthOD  ff* 
halten,    um  auch  wirklich  eine  gewisse  Existenz  zu  versinnlichen'*,   und  n  da 
Ende  sah  sich  Schiller  gcntithigt,  ,,noch  einige  Figuren  hineinzusetzen  und  elniia, 
die  schon  da   waren,   noch   etwas   mthr  AusfQhrunij;   zu  geben"      !So  «nrd«  Jv 
..Lager'  betnicbtUch,   gewiss  um  die  Hälfte,    vermehrt  und  ,,tnit  i»ehr  >iel  ona 
Figuren  beseUt"  lan  Körner  4,  BS  f ;    an  Goethe  4,  3^i'^  f.).    Jetzt  cni  tarn  4K 
Capuziner  hinein,  und  Goethe  sandte,   um  den  Dichter  „zu  der  CapuzmerpriW 
zu   begeistern*',    ihm  einen  Band  von  den  Schriften   des  Abraham  a  8cta  CltO 
(Briefwechsel  mit  Goethe  4,  :{0S;  317  ff.;  332  f.    Vgl.  Wollt,  die  Capuzioefpridigt 
in  Schillers  Wallersteins  Lager,  in  Üosche's  Archiv  f.  Li( -Geacb.   1,321  ff.).  K<«A 
soUte  manches  Andere  in   das  StUck  fOr   die  erste  Aufführung  cingeftigt  wi 
was  dabei  aber  schon  zum  Theil  fortfallen  musste  und  nachher  uicht  ::.  ' 
aufgenommen  ward  tvgl.  4,  410  f.;  325  f.;  :v2^  f  ).    Jetzt  wiirdc  auch  u 
gedichtet,  womit  die  Vorstellung  des  „Lngers"  eingeleitet  w 

lOS)  Am   12.   October  179*;   vgl,   Caroline  \oa.  WoU.  , 
S.  373:  Hoffmeiater  3,  ;jT2  und  den  Brief  an  Körner  4,  03. 


äckelangsgangd. Literatur-   (773— ISa2.   Goethe u. Schiller.   Wallenstein.    497 

liller  die  fertig  gewordenen  Tbeile  des  Stücks  für  die  Aufführung  §  322 
iDZurichten,  womit  es  uiolit  so  schnell  ^'ieng,  als  er  gedacht  hatte**". 
,01  S.  Novbr.  gieug  er  endlich  an  den  Thcil  des  SiUcks,  „der  der 
►e  gewidmet  ist**,  und  vor  dessen  Gelingen  ihm  immer  am  meisten 
;q  gewesen  war"^  Er  bezeichnete  ihn  jetzt'"  als  „den  poetisch 
itigsten*'  (?),  der  sich,  seiner  frei  menschlichen  Natur  nach,  von 
geschäftigen  Wesen  der  Uhrigen  Staatsaction  Töllig  trenne,  ja 
iselbenj  dem  Geiste  nach,  entgegensetze.  ,,Nun  erst,  da  ich  diesem 
:tern  die  mir  mögliche  Gestalt  gegeben,  kann  ich  mir  ihn  aus 
öui  Sinne  schlagen   und  eine  ganz  verschiedene  Stimmung  in  mir 

RLommeu  lassen;  und  ich  werde  einige  Zeit  damit  zuzubringen 
en,  ihn  wirklich  zu  vergessen.  Was  ich  am  meisten  zu  fürchten 
abe,  ist,  dass  das  Überwiegende  menschliche  Interesse  dieser  grossen 
»de  an  der  schon  feststehenden  ausgeführten  Handlung  leicht 
verrücken  möchte:  denn  ihrer  Natur  nach  gebührt  ibr  die 
rrschaft  .?i,  und  je  mehr  mir  die  Auüführung  derselben  gelingen 
^Hte,  desto  mclir  machte  die  übrige  Handlung  duhci  ins  Gedränge 
Hamen.  Denn  es  ist  schwerer,  ein  Interesse  für  das  Gefühl  als 
m  für  den  Verstand  aufzugeben*'.  Seine  bisherige  Arbeit  wurde 
iit  diesem  Briefe  an  Goethe  mitgosandt"-.  In  den  Anfang  dos  De- 
miberrt  fallen  die  schriftlichen  Besprechungen  mit  Goethe  Ober  die 
Bandlung  des  Astrologischen  im  Anfang  des  damaligen  vierten 
ds  ,,der  Piccolomini**  (nachherigen  ersten  Acts  von  ,,Wallensteins 
ad")"\  Am  24.  Docbr.  gicng  das  Stück,  mit  Ausschluss  der  ein- 
Bn  Scene  im  astrologischen  Zimmer,  die  nachgesandt  werden  sollte, 
ff  Iffland  nach  Berlin  ab,  und  am  31.  Decbr.  konnte  der  Dichter 
inz,  aber  „orschrocklich  gestrichen**,  zur  Vorstellung  nach  Weimar 
len"',  wo  es  am  30.  Januar  1799  zum  ersten  Male  gespielt 
'de*'*.  Was  nun  noch  an  dem  zweiton  nauptstück  zu  thun  war, 
[icug  in  dem  neuen  Jahre  rasch  von  Statten '"':  in  den  ersten  Märztagen 


lOdt  In  dem  Briete  aa  «>oethe  4,  :i;j'J  f.  heisst  es:  .  ..Die  Urasetznng  meines 

iD  eine  angemL^sscoe,  deutliche  und  maulrechte  Theatersprache  ist  eiue  sehr 

le  Arbeit,   wobei  das  Schlimmste    noch   ist.   das»   man    über  der  noth- 

und  lebhafien  Vorstellung  der  Wirklichkeit,   des  Persunals  und  aller 

m  BtHÜngungen  allen  poetischen  Sinn  abstumpft.  —   Ucbrigens   konnte  es 

fehlen,  dass  dieser  deutliche  Theaterzweck,  auf  den  ich  jetzt  losarbeite,  mich 

tach  zu  einigen  neuen  wesentlichen  Zusützon  und  Vohiuderangen  veranlasst 

ii  welche   dem  Ganzen  zaträj^Uch  sind".    Vgl  an  Körner  4,  92;  an  Goethe 

f.  IIÜ.  V«L  an  Goethe  3,  3ö0:  t.  S3.  IHM.  -l'i»  f. 

W  I,  335.  113»  4.  3H5-375.  l  UM.  40t  ff.  1 15)  ä,  H  f.;  an 

*W  1,  I2y.  llbi  WiUrend  eines  fünfwGchentUchen  Aufenthalts  in  Weimar, 
*'n  Schiller  im  Anfang  des  Januars  zu  den  Proben  „der  Piccolomini*'  gegangen 
•  hutte  wenig  dafdr  geschehen  können.  Aber  er  fühlte  sieb  durch  das  ihm 
iwnhnte  Loben  and  Treiben  in  Weimar  so  erfrischt  oud  gekrliftigt,-dass  ihm 

ti|i»ni»lo.  Grmilrlrt.  5.  Attti.  IV.  32 


m 


498    VI>  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  JalirbuaiierU  bis  zu  6o«Üie*«  Tod. 

322  waren  zwei  Acte,  gleich  nach  der  Mitte  des  Monats  die  tlbrigen 
weit  gebracht,  dass  auch  der  Aufführung  von  ,.WaiIenstcins  To^ 
nichts  mehr  im  Wege  stand'".  Am  17.  März  erhielt  Goethe 
Werk,  „80  weit  es  unter  den  gegenwärtigen  umstanden  gebt 
werden  konnte".  „Wenn  Sie  davon  urthcilen'*,  «chrieb  Hchilh 
„dass  es  nun  wirklich  eine  Tragödie  ist,  dass  die  Hanptfordei 
der  Empfindung  erfüllt,  die  Hauptfragen  des  Verstandes  und 
Neugierde  hefricdigt,  die  Schicksale  aufgelöst,  und  die  Einheit 
Hauptempfindung  erhalten  sei,  so  will  ich  hnchlich  zufrieden  sein"" 
Goethe  fand  die  beiden  ersten  Acte  „fUi*trefflich'""*;  und  das  Gl 
„tbat  ihm  ganz  besonders  genug".  Nur  den  „Schluss  dmrh 
Adresse  des  Briefes"  fand  er,  und  gewies  nicht  ohne  guten  Gi 
eigentlich  erschreckend,  besonders  in  der  weichen  Stimmung,  io  M 
man  sich  befinde.  Der  Fall,  meinte  er,  sei  woU  einzig,  da«« 
nachdem  alles,  was  Furcht  und  Mitleid  zu  erregen  fähig  sei. 
worden,  mit  Schrecken  habe  schliessen  kennen'".  Am 
wurde  „Wallensteins  Tod"  in  Weimar  aufgeführt"'.  Aber  fflr  den 
Druck  bedurften  alle  drei  Stücke  noch  einer  letzten  Ueberarbeitanfi 
sie  zog  sich  bis  in  den  Anfang  des  Jahres  ISOü  hinein"*»  und 
die  Mitte  desselben  erschien  das  Ganze  mit  dem  allgemeinen 
„Wallenstein,  ein  dramatisches  Gedicht**'". 


in  Jena  die  Arbeit  leicht  von  der  Hand  gieng  lan  Körner  4,  130;  an  Goethe^ 
dem  ScHUler  anch  noch  drei  Wochen  in  Jena  zusaromou  seweseo  war.  5,  U). 
1 17)  Am  7.  März  wurden  die  idazoaligeu)  ersten  beiden  Acte  an  GoeUrt 
Bandt  i.^,  24  f.);   fünf  Tage  spikter  meldete  Schiller,  ^,dio  Arl>eit  avaocievt  jctf 
mit  beschleunigter  Bewegung"  (5,  29).  HS)  5»  34.  lUfi  6,  23 f. 

I2ü)  2.  Auag.  2,  187  f ;  in  der  l.  Ausg.  fehlt  dieser  Brief.  -  Goethe*«  BmaJ»* 
rang  des  „Wallenätein"  blieb  immer 'gl^<^b  gross,  und  er  hat  sie  oft  genojc  nA"^ 
lieh  und  scbriltlich  ausgesprochen:    „Schillers  Wallenstein'\   bdi     '  i^^'' 

gegen  Eckermann,  ..is*  so  p*oss,  dass  in  seiner  Art  zum  zweiten  ^  ^ 

hohes  vorhanden  ist".    Allein  wie  er  in  der  zuletzt  angelogenen   ' 
den  Dichter  selbst  den  Schluss  ties  herrlichen  Werks  fur  sehr  he-.  .  . 

so  hat  er  auch  sputerhin  gegen  Freunde  and  Pubhcum  d»s  nicht  vri»üi»i<got> 
was  nach  seiner  Meinung  Schiller  verbindert  hatte,  in  dieser  Dichtung  all«.  «* 
er  damit  beabsichtigte,  wirklich  xu  erreichen;  vgl.  hes^mders  Werke  4^, lUt  Bvi 
Eckermauus  Gespriiche  I,  *«Sf.;  asof.  I21i  An  Kftrner  4,  lliS.  122»  l*nrf* 
Wechsel  mit  Körner  1,  161»;  17^:   175.  \'1'\)  ZwpJ  Thrüe  t»  einem  HmU 

Tübingen  l^MO.  S.  Bereits  zn  Anfang  des  Septembers  wnr  eine  Auflage  voo  Si** 
Kxemplarcn  beinahe  gans:  vergriffen  lan  Körner  4.  192),  and  Im  J  IS'H  wbt  «cA^* 
eint*  dritte  nöthig.  trotz  verschiedenen  Nachdrticken.  —  Von  ßccf^nsiooen  ans  ili* 
ersten  Jahren  nach  dem  Ersclieineu  des  Werks  führe  ich  nur  die  iu  der  J«»^ 
Utcratnr-Zeitung  I^ui.  i,  2Hö  ff.  an:  es  wird  darin  mit  höchster  ADerkmaMtf 
seine?  Wenhes  besprocben;  indessen  macht  der  Kecensent  auch  manchet,  nul  H^ 
Theil  bedeutende  Ausstellungen  daran,  die  sowohl  dos  iiA\:  '  rin«faiÄ** 
betreffen.   lAmlerc  Beurtheüungengibt  Jördens  4,  477  an.)   I..  [i-re,  gtl»*^ 

»olle  Schrift  gab  W.  Sttvem  „Ueber  Schülers  Wallenstein  inlliuiicU  auI  jjrtöäb«** 


Entwickeiontisgaiigd.  Literatur,   t"^— I^:i2.    Goethe a. Schiller.   Wallenstein.  499 

Die  Volleuiluiig  des  „Walleusiein'*  Le/eicLuet  einen  der  bedeu- 

I tangsvollsten  und  l'olgeurcichsfen  Zeitpunkte  sowolil  in  der  Geschichte 

Ter  neuern  Dichtung  überhaupt,  ala  in  dem  beBondem  Bildungs- 

;ange  Schillers.     Eine  poetische  Hauptj^attuug,  das  ernste  Drama, 

latte   in   ihrer  Entwickelung  schon  damit  einen  ganz  ausaerordent- 

Lichen  Foriscliritt  gemacht,  dasa  sie  hier  wieder  aus  der  kleinbflrger- 

ücheu  Welt  in  das  offeutlicbo  Volkslebeu  hinaustrat,   indem  sie,  im 

»toffe  der  alUüglicheu  Wirklichkeit  enthohen,  einen  grossen  national- 

reftchichtlicben  Gegenstand  aus  der  nicht   zu   fern   gelegenen   und 

[arum  dem  Gedächtniss  des  Volkes  auch  nicht  ganz  fremd  gewordenen 

raterländischeu  Vorzeit  in  einer  Reihe   reich  helehter  und  markiger 

lilder  zur  Anschauung  brachte',    die  zu  einem  bis   dahin  in    der 

lentschen  Poesie  noch  nicht  gekannten  grossartigen,  und  von  einer 

lolien  Idee  getragenen;  in  fast  allen  Charakteren  und  in  den  meisten 

übrigen  Besouderheiten  mit  bewundernswürdiger  Dichterkraft  ausge- 

Ibrteu  Ganzen  verbunden  waren.    Es  war  hier  ferner  zuerst  dem 

lifitorischen  Drama  von  der  Hand   eines  grossen  Dichtei*s  die  ihm 

lesscnsto  und  würdigste  Kunstform  gegeben  ^  und  endlich  war 

kueh  gerade  diese  Dichtung,   welche  das  rhythmisch  abgefasste 

rama  wieder  in  einen  unmittelbaren  Bezug  zur  Bühne  brachte  und 

die  deutscbc  Schauspielkunst  aufs  neue  an  den  Vortrag  gebundener 

Rede   zu  gewöhnen  begann \    Was  Schiller  betrifft,   so  hatten   die 


Tragvi<üe*\  Berlin  1^00.   <.  hemus  (vgl.  Schillei-s  Brief  an  Süvcm  in  seinem  Bricf- 
irecW!  mit  Goethe  h.  2S5  ffJ. 

f  32:1     1'  Vgl,  S.  km;  ff.;  -293.    In  dem  „Prolog"  vor  „WaUensteiiis  Lager'* 

rat  der  Dichter,  Indem  er  an  die  Wiedoror Öffnung  des  woimarischcn  Theaters 

uch  seiner  Erneuerung  anknüpft  und  auf  die  grossen,  auch  Deutschland  bctreffen- 

^  Zeitereignisse  m  Frankreich  Bezug  nimmt,  die  Ankündigung  seines  Werks  mit 

4ni  Worten:    .»Die  neue  Aera,  die  der  Kunst  Thab'eus   Auf  dieser  BQhne  heat 

Mnnt.  macht  auch  Den  Dichter  kühn,  die  alte  Kahn  verlassend.  Euch  aus  de» 

Bi^i^orlebens   engem   Kreis   Auf  einen   höhern  Standpunkt   zu   versetzen,   Nicht 

■^erth  des  erhabenen  Moments  Der  Zeit,  in  dem  wir  strebend  uns  bewegen.  — 

«rfaUen  aeben  vnr  In  lUesen  Tagen  Die  alte  feste  Form ,  die  einst  vor  hundert 

^^^  fnnfzig  Jahren   ein  ^-illkomraner  Friede  Europens  Reichen   gab,  die  theure 

^'ücht  Von  dreissig  jamraer\olleu  Kriegesjahren.   Noch  ehimal  lasst  des  Dichters 

"*ütasieDic  düstre  Zeit  an  euch  vor« herführen ^  Und  blicket  froher  in  die  öegen- 

**rt  r,ir(  {n  iior  Zukunft  hoffnungsreiche  Feme'*.  2)  Alle  eigrntlich  histori- 

^''"  !o  von  nur  eini:er  BcdiMilung  waren  seit  dem  .\nfang  der  Siebziger 

.  ^'  rieben;   denn  den  anfänglich  auf  ein  blosses  ,.  Familiengema  hl  de  in 

'""  ■!    ui;  ;1;.  hon  Hause'  angelegten  „Don  Carlos'*  'vgl.  Schillers  Briefe  an  Dal- 

''"i     A'i^-jl)''  Ton  tS3*.   S.  32',  wird  man  wohl  auch  in  der  Ausführung,  die  er 

i*^her  erhielt,  katira  für  dn  eigentlich  historisches  Drama  ausgeben  wollen  (vgl. 

p    '20.  3)  Vgl.  S.  2tn  f.;   24ü  ff.;   293;   Roethe's  Werke  15,  h  i.  und 

•  l^evTi<Tit,  Geschichte  der  deutschen  Schauspielkunst  S,  2/;t  ff.;  2H1  ff. 

32* 


500    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  Jabxhundorts  bis  za  Gwih©'«  To.l 

323  grossen  Scliwierigkeiten ,   mit  cleiien  er  bei  der  Bewältigung  äU 
Stoffes  zu  kampfou  gelabt,  das  Aufbieten  und  Anwenden  aller 
geistigen  Kräfte  erheischt,  und  in  dem  Zeitraum,  der  zwischen  dl 
Anfängen  und  dem  AbBchluss  des  „Wallenstein"  lag,  hatte  er  di< 
Kräfte  so   lange  geübt,   bei  dem  Ernst   und   der  UnTerdroBsenbt 
womit  er  dabei  zu  Werke  gieng,  sie  so  vielseitig  entwickelt  und 
gestählt,  dasa  er  sich  nicht  allein  im  Praktischen  und  Thcoretiscl 
der  dramatischen  Poesie  ausserordentlich  gefördert  fand*,   »oo( 
mit  dem   endlichen  Gelingen  seines  grossen  Works  auch   die  rol 
Gewissheit  von  seinem  Beruf  zum  tragischen  Dichter  gewonnen  hatt 
Er  wollte  sich  daher  —  diese  stand  nun  bei  ihm  fest  —  die  nilchi 
sechs  Jahre  ganz  aussehliessend  an  das  Dramatischo  hultenT  und  um 
dabei  immer  die  wirkliche  Bühne  im  Auge  zu  haben,  entschloM  er 
sich,  seinen  bisherigen  Wohnsitz  aufzugeben  nnd  sich  in  Weiaur 
niederzulassen \     Hier  bewährte  sieh,   wenn  auch   nicht  im  ganten 
Umfange,   was  ihm  Goethe  einst  |während  der  Arbeit  am  „Wä11«b- 
stcin**  vorbergeaagt  hatte":  er  war  dahin  gelangt,   dass  er  wahrand 


4)  Er  schrieb  au  Knrner  den  h.  Mai  17!»9  {\,  \A2\  als  er  ihm  meldrt«,  da« 
CT  sich  wieder  auf  eiu  neues  Trauerspiel   („Maria  Stuart")  fixiert   habe:    JA 
hoffe  am  Ende  des  \\'interB  aUcrspätegtcns  damit  fertig  zu  sein :   denn  fftrs  env 
ist  der  Gegenstand  nicht  so  widerstrebend  als  ..WaDeHStein",    und  daim  Uab«  ki 
an  diesem  das  Handn-erk  mehr  gcleiiit".    Noch  sicherer  ftihlte  ct  sich  ein  Ji 
später,  als  ihm  auch  dieses  neue  Trauerspiel  gelungen  war;  tinmittelltar  nach 
ersten   Aufführung    der  „Maria  Stuart"    bemerkte   er  geffen   densoH" "   ^■>^'" 
(4,  l"2):    „Ich  fange  endlich  'an  mich  dos  dramatischen  Organa  zu  1 
und  mein  Handwerk  zu  verstehen".  5l  Lebhaft  fUhlt«  er  mit  j.. 

das   ßeddrfiiiss   theatralischer   Anschauungen   (an   Goethe   den   **.  August  17» 
5,  I46K    ,,Wcil  ich  mich  far  die  n&chsten  sechs  Jahre  f;auz  anssrhlir&MtuI  m 
das  Dramatische  halten  werde,   so  kann  ich  es  nicht   umKohen,   den  Winiff  l> 
Weimar  zuzubringen,  um  die  Anschauung  des  Theaters  zu  haben.     Dadiireli  vM 
meine  Arbeit  um  vieles  erleichtert  werden ,  und  die  riianiasie  f*rhiUt  eine  vifA- 
massige  Anregung  von  aussen,  da  ich  in  meiner  hishengen  Kxisletiz  oJlei.  «w  i0 
Leben  und  in  die  siunlicbe  Welt  treten  sollte,  nur  tlurch  die  horhste  inoeri  As- 
strengung   und    nicht  ohne   grosse    faux-frais   zu   StAode   brachte"   (an   K4arir 
l.  147;  vgl.  an  Goethe  5,  iSOf.i.    Goethe  berichtet  in  seinem  (!SI5  ge^chri(4i«uat 
Aufsatz   „ücher  dos   deutsche  Theater"   iW^erke  45,  \*<\:     „Als    der  irerT»i|Ä 
Schüler  —  bewogen  ward,  seinen  jenaischen  Aufenthall  mit  dem  weimariärbfn  a* 
vertauschen  und  der  Einsamkeit  zu  entsagen,   der  er  sich   bisher' auaseUlMaUc^ 
gewidmet  hatte;   da  war  ihm  besonders  die  weimariscbe  Bcdino  vor  Anjttii.  n»» 
er  beschlosB ,  seine  Aufmerksamkeit  auf  die  VorsteJIungi'u  der^elbc^n  »charf  bd^ 
entschieden  zu  richten.    L'nd  einer  solchen  Schranke  bedurflt*  -1  ■   *>:^'  r;  <«* 
ausserordentlicher  Geis^t  suchte  von  Jugend  auf  die  n^ben  und  1  UO' 

bildungskraft,  seine  dichterische  Thäti^keit  fahrten  ihn  ins  Weit-  ■•,  o«*^ 

so  leidensrhaftlich  er  auch  hierbei  verfuhr,   konnte  doch  bei  1a-  i'murf 

seinem  Scharfblick  nicht  entgehen,  dass  ihn  diese  Eigenschnft^fn  auf  dci  Ihmtf^^ 
bahn   nothwendig  irre  fuhren  mtlssten".  6i  Am  «i.   Jiuiuar  171»*  «lll** 

Goethe  (4.  n»:    „ich  wQusche  in  gar  vielen  Rücksichten,  üass  Ihr  ^WaUöiMl^* 


ickelang&gftngd.  Lit.    1773 — 1632.   Gucthe  u.Scbillor.  Schillers Drainou.    501 

\T  ihm  nocli  übngoa  Lebensjahre  in  rascher  Aufeiuandorfolge  vier  §  32Ii 
Tosse  BflhneiistÜcke  dichtete,  zu  verschiedenen  andern  die  Plane 
usarbeitete  und  einen  davon  auch  zum  guten  Theil  ausftlhrte,  dabei 
och  Zeit  und  Lust  genug  behielt,  fünf  dramatiache  Werke  des  Aua- 
mdes,  thcils  in  Bearbeitungen,  theils  in  Uebersetzungcn  dem  dcut- 
ehen  Theater  zu  liefern  und  dazwischen  eine  ziemlich  ansehnliche 
'«afal  kleinerer  Gedichte,  zumeist  von  episch-  und  didaktisch-lyrischem 
der  von  rein  lyrischem  Charakter,  abzufassen.  Von  diesen  kleinern 
Sachen^  entstanden  im  Jahre  ISOO:  die  Stanzen  „An  Goethe,  als  er 
len  Mahomet  von  Voltaire  auf  die  Bühne  brachto"*,  „die  deutsche 
fase'*  und  „die  Antiken  in  Paris"";  im  Jahre  1801:  „der  Antritt 
[es  neuen  Jahrhunderts";  ,, das  Mädchen  von  Orleans**"*;  „Hero  und 
^eander^'*'  und  „Sehnsucht"*'^;  im  Jahre  1S02:  die  geselligen  Lieder 
pAn  den  Erbprinzen  von  Weimar",  „die  vier  Weltalter"  (zuerst 
,der  Sänger"  Überschrieben ) ,  „die  Gunst  des  Augenblicks"  und 
an  ilie  Freude"";  „Kassandra"",  „Tbekia,  eine  Geisterstimme"'*, 
jid  „Parabeln  und  Rfith8cl"*^    Im  Jahre  1803:  die  geselligen  Lieder 

einscblied",  „Punschlied,  im  Norden  zu  singen",  und  ,,das  Sieges- 
"";  „der  Jüngling  am  Bache"'",  „der  Pilgrim'^'"  und  die  Ballade 
der  Graf  von  Habsburg"*';  endlich  im  Jahre  1S04;  das  „Berglied"", 

ald  fertig  werden  möge.  Lassen  Sie  uns,  sowohl  wahrend  der  Arbeit  als  hinter- 
r^,  die  dr&mati&cheo  Forderungen  aochmab  recht  durcharbeiten!  Sind  Sie 
ttnftig  in  Absiebt  des  Plans  und  der  Anlage  genau  und  vurausbcstimmeDd ,  so 
ndsste  es  nicht  gnt  sein,  wenn  Sie,  bei  Ihren  ^übtcn  Talenten  und  dem  Innern 
ietcbtlmm.  nicht  alle  Jahre  ein  Paar  Stücke  schreiben  wollten^'.  7i  Sie  er- 

tddenen  zuerst  gedruckt  theils  in  der  von  ScJiiller  selbst  veranstalteten  Sammlung 
wSner  ..Gedichte".  Leipzig  IbOO  und  isO-J.  2  Thie.  b,  (vgl  an  Körner  ■),  lyi  f.; 
195  £.;  329  und  HoÜmcister  h,  5  ffj.  theils  in  Gotta's  „Taschenbuch  für  Damen" 
uf  d.  J.  1  si>'i  ff. ,  in  Beckers  „Taschenbuch  zum  geselligen  Vergnügen'*  und  in 
dMSCD  „Erholungen".  8)  Vgl.  Brief  au  Goethe  5,  2U»,  vom  8.  Januar, 

tti  Werke  9,  1.  2SS  ff.;   193;  207.  U»  Zuerst  „Voltairc's  Pucelle  und  die 

Juagfrau  von  Orleans"  betitelt;  vgl.  Hoffmeister,  Schillers  Leben  4,  3S3  f. 
B)  VgL  an  Goethe  6,  52t'.  12)  Alle  vier  in  den  Werken  9,  t,  299f.;  2IOf. ; 

Hff.i  ir,  f.  13l  "Werke  9,  1,  297  f.:  :vi  ff.;  24  f.;  :»if.;  über  die  EnUtehung 

^kr  und  der  übrigen  geselligeu  Lieder  Schillers  —  uud  auch  Goethe's  —  in  den 
Hwo  Jahren  des  neuen  Jahrhunderts .  so  wie  Über  die  Absichten ,  die  Schiller 
^  der  Abfassung  der  seinigec  im  Besondem  hatte «  vgl.  den  Briefwechsel  mit 
4,  247  f.;  203  f.;  271:  Goethe'b  Werke  'M ,  127  f.;  Schiller  au  Goethe 
Ist  f;  an  Humboldt  S.  453  f.  und  dazu  Ilumneister  5,  35  ff.  14)  9,  1, 

vgl.  an  Goethe  H,  SS;  an  K6ruer  1,  293.  15)  9,   1 ,  29S  f.;  vgl.  au 

ler  4,  29Ü.  16)  9, 1, 14sff.;  gedichtet  für  die  verschiedenen  Vorstetlongen 

„Torandot"  auf  der  weimarischen  Bühne,  vgl.  lloffmeister  5,  29  ff. 
Werke  9,  I,  35:  38  ff.;  44  ff.  18)  9,  I,  14;  gedichtet,  nm  im  „Parasiten»' 

ru  werden.  19)  9,  i,  |s  f.  20)  9,  i.  125  ff.;  vgl.  an  Körner 

>19  f.  21 1  0,  If  26  f.;  vgl.  an  Körner  4,  354  und  Briefwechsel  mit  Gucthe 

töI  f. 


502    yi.  Vom  zweiten  Vierlei  des  XVIII  JaUrhuuJerts  bis  zu  Goetbe^i  Tod 

§  323  die  ,,Vrilhelm  Teil*'  tlbersi'Lriebeueu  Stanzen  und  „der  AlpetyÄ^r^***. 
Indesseu  war  er  iui  Tbooi-etiscbeu  der  draoiatiscben  Kunst  noch 
immer  nicbt  zu  der  Sicberbeit  gelaugt,  doss  er  sieb  fortan  von  allwa 
Scbwauken  in  gewissen  Grundsätzen  frei  gebalten  b^tte,  und  e«  ksoo 
nicbt  in  Abrede  gestellt  werden,  das»  Goetbe's  Eiuüuss,  bei  desMa 
längst  ausgesproebener  Bevorzugung  der  antiken  Kunst,  der  reden- 
den wie  der  bildenden,  vor  der  ueueru  und  bei  der  in  seineiu  elgcocn 
Dicbten  immer  entscbiedener  b  er  vortretenden  Hinneigung  zum  Anti- 
kisieren ",  —  trotz  der  bobeu  ßewtinderung,  die  er  in  mancben  l'r- 
tbeilen  einigen  Dicbtern  und  Dicbtungeu  aus  neuem  Zeiten  hei  tier 
Absebfitzung  sowobl  ibres  abgoluteu  Wertbes,  wie  ibrer  Bedcuias^ 
ftlr  ibre  Zeit  und  ihre  Nation  zollte",  —  hieran  mit  Scbuld  ww. 


22 1  ^>,  I,  2*>();  28  f.    Auch  entstand  in  diesem  Jahr  das  Festspiel  ,,die  HiU- 
gimg  der  KUnsie"   (vgl.  oben  S.  131,  27  und  an  Körner  4,  371  ff.  23»  Vb 

Goethe  schon  gegen  Ende  des  J.  lT9.ö  Scliillern  bekannte,  hatte  ihn  seine  ilUn 
grosse  Vorliebe  für  die  alte  Dichtung  oft  ungerecht  gegen  die  neuere  grma'hT 
(Tgl.  oben  6.  366i,  ja  er  hatte,  wie  er  sich  in  einer  spätem  Zeit  ausgedruckt  br 
(Werke  50.  54  f.).  hartnäckig  imd  eigensinnig  die  Vorxüge  der  griechi-  '. 
luDgsart,  der  darauf  gegrüiideton  und  herkömmlicUeu  Poesie  niclit  n 
gehoben,  sondern  sogar  aussrhlicsslich  diese  Weise  für  die  einziii  kc'uu  _:.! 
wünschen? werthe  angesehen.  Zwar  erklärte  er  damals^  die  Abhandlung  ..über  uaü' 
und  sentimentaliacbe  Dichtung"  habe  in  seinen  Ansichten  eine  Aendenmg  hendr 
gebracht,  und  er  müsse  der  Theorie  Schillers  hi  den  Principieu  Beilall  geben  uA 
die  Folgei-ungen  für  richtig  halten  (an  Schiller  1,  2üi>);  da^s  jedoch  dioie  Atü/k- 
rung  im  Allgemeinen  uud  Besotideni  ui<-bt  viel  bedeuten  wollte,  bewiescD  In  wiati 
dichterischen  Praxis,  noch  bei  Schillers  Lebzeiten,  die  ..Achilleis"  die  nHciifift^ 
und  „PaUopliron  und  Keoterpe**.  so  wie  späterhin  die  ..Pandora".  ,A&  Epfanfi*^ 
Erwachen**  und  im  zweiten  Theil  des  ..Faust"  noch  neles  ausser  dar  JB^im^'- 
und  im  Theoretischen  der  Kunst  und  der  Poesie  so  manches  iu  dca  Fh>pyte. 
in  den  Prcisanfgaben  der  weimarischen  Kunstfreunde,  in  der  Schrift  ..Wtiicfcii- 
mann  und  sein  Jahrhundert"  nebst  zahlreichen  Stellen  in  den  Briefen  an  ScUDk 
2.  B.  5,30G:  310  <über  die  Fortfühniug  des  ..Faust*');  0,  24  (.,U«brigeoi  ngttiiA 
neulich  zn  Meyer:  wir  stehen  gegen  die  neuere  Kunst**  —  e«  ist  «hf^^<^  Sf 
bUdeudc  gemeint  —  „wie  Julian  gegen  das  Christenthum,  nur  das«  ivir  «in  bJMCfca 
klarer  sind  wie  er"t.  24»  Hierhin  gehören  boBondera  eiidge   be4tal«4i 

Aeusseruugen  über  Shakspeare  und  Calderon.    So  heisst  es  in  den  Aomerkinv* 
zu   „Rameau's   Neffen"   (aus  dem  J.  ISOöi,   wo   vom  Geechmack  gebanddl  vi(l 
(Werke  :V),  ltj*J  f.i:   ,,Aber  im  h<ihern  Sinn  kommt  doch  allej  darauf  an.  «elcb« 
Kreis  das  Genie  sich  bezeichnet,  in  welchem  es  wirken,  wtu  es  für  Elemente  tf* 
Bammenfasst,  aus  denen  es  bildcu  will.    Hierzu  wird  es  theils  durch  innern  M«^ 
und  eigi^e  Ueberzeugung  bestimmt,  theils  auch  durch  die  Kation,  durdi  daiJi^^ 
hundert,    für  welche  gearbeitet   werden  soll,    liier  trifft   das  Ci^nie  IraBcft  »BS 
allein  d(>n  rechten  Punkt,  sobald  es  Werke  hervorbringt,   die  üim  Ehre 
seine  Mitwelt  erfreuen  und  zugleich  ÄHter  furderu-   Denn  indem  psseinea« 
Lichtkreis  in  den  Brennpunkt  seiner  Nation  zusammendrängen  "ftn^chtö.   «i* 
CS  olle  iunern   und  äussern  Vortheile   zu    benutzen  und  zugleich  die  gramum' 
Menge  zu  Iwfriedigen.  ja  zu  überfiüleu.    MaugeileukeShakspejire'iiundrBJdtwi** 
Vor  dem  höchsten   ästhetischen  Kichterstuble  bcstehn   ne  antade%,   ■»! 


EütvickelnngsgÄDg  d.  Ut.    ITT3— IS32.   Goethe  u  SchiUer.  Schillers  Dramea.   503 

""Kiclit  bloss  in  der  Wahl  der  Stoffe  zu  den  Schauspielen,  die  Schiller  §  323 

auf  den  „Waüenstein**  folgen  Hess,  offenbarte  sieb  diess  Schwanken 

bei  ihm,  auch  —  und  faHt  noch  mehr  —  in  den  Formen,  an  welchen 

^ er  sich  versuchte"',  und  beides  hieug  wieder  mit  den  verschiedenen 

Hkünstlerischen  Absichten   zusammen,   die  er  bei  dem  Entwurf  und 

der  AuHfUlinin^   seiner  Stücke  im  Rc8<mdern  verfolgte,   so   wie   mit 

^dem  jedesmaligen  Staudpunkt,  auf  den  er  sich  der  BUhuc  und  dem 

BPublicum  gegenüber  gestellt  hatte.     Dennoch  ist,   wenn  schon   ia 

^beiiien  kunat|)hiIo8ri))hiächen  Schriften,  so   wie  in  seinen  kuusttheo- 

^Bretischen  und   kritischen  Verhandlungen   mit  Goethe  und  Humboldt 

^Hor  und  während  der  Abfassung  des  „Wallcnstein'*  ein  sehr  augen- 

^^^lUger  Uebergang  von  dem  reinen  Idealismus  zu  einem  praktischem 

Realismus  sich  hervortbut^,  auch  in  seinen  spätem,  die  Theorie  des 


iigend  ein  verständiger  Sonderer,   wenn  gewisser  Stollen,  hartnäckig  gegen  sie 

klagen  sollte,  so  würden  sie  ein  Bild  jener  Nation ,  jener  Zeit,  für  welche  sie  ge- 

articitet,   lächelnd  vorweisen   und  nicht  etwa  dadurch  bloss  Nachsicht  erwerben, 

tondcm  deshalb,  weil  sie  sich  so  glücklich  befiucmen  konnton,  nene  Lorbem  vcr- 

leneu".    Nachdem  er  hierauf  bemerkt  hat,  dass  der  Geschmack  zwar  dein  Uenle 

»oren  sei,   aber  nicht  bei  jedem  zur  voUkommcnen  Ausbildung  gelange;  wie 

tenswertb  es  daher  wure.  dass  die  Nation  Geschmack  Kntte,  damit  sich  nicht 

einzeln  nothdürt'tig  auszubilden  brauchte;  dass  sich  bei  den  Griechen,  bü  wie 

»1  manrhen  Römern   der  Gcachmack   auch  namentlich  in   der  Sondonmg  und 

luteruuK  der    verschiedenen   Dichtarteu   zeigte,   wir  Nordländer   aber  auf  jene 

[ostcr  ausschliesslich  hingewiesen  werden  könnten  —  schliesst  er:    „Wir  haben 

ans  anderer  Yoreitem  zu  rtihmeu   und   haben  manch  anderes  Vorbild  im  Auge. 

WAxc  nicht  durch  die  romantiäche  \Vendung  ungebildeter  Jahrhunderte  das  Un- 

|i>hcure  mit  dem  Abgcschmackteji   in   lierohrung  gekommen,   woher  hätten  wir 

leo  Hamlet,  einen  Lear,  eine  Anbetung  des  Kreuzes,  einen  standhaften  Prinzen  V 

fos  auf  der  Höhe  dieser  barbarischen  Avjintagen  (!l,  da  wir  die  antiken  Vortheile 

Fohl  uieinaU  erreichen  werden,  mit  Muth  zu  erhalten,  ist  unsere  Ptlicht,  zugleich 

aber  auch  Ptlicht,  dasjenige,  was  andere  denken,  nrtheilen  und  glauben,  waa  sie 

hervorbringen  und  leisten,  wohl  zu  kennen  und  treulich  zu  schätzen".    (Er  meint 

tiier  insbesondere  den  französischen  Geschmack  und  die  französischen  Classiker.) 

Mon  einige  Zelt  vorher,  im  Januar  ls04,  hatte  Goethe  an  Schiller  Über  Calderons 

..ütÄudhaHen  Prinzen"  geschrieben  (b,  2h\i  f ):   man  werde,  wie  bei  den  vorigen 

Ifoa  A.  W.  .Schleijiel  übersctzteul  Stücken,  aas  mancherlei  Irsachcn  im  Genuss 

Einzelnen,  brsondcrs  beim  ersten  Lesen,  gestört;   wenn  man  aber  durch  sei 

die  Idee  sich  wie  ein  Phoenix  aus  den  Flammen  vor  den  Augcu  des  Geistes 

'O'porhelw,  so  glaube  man  nichts  Vortrcfll  ich  eres  gelesen  zu  haben.    ICb  verdiene 

'jfeas  Stuck  gewiss  neben  „der  Andacht  zum  Kreuz"  zu  stehen ,  ja  man  ordne  es 

^licr,  vielleicht  weil  mau  es  zuletzt  gelesen  habe,  und  weil  der  Gegenstand,   so 

die  Bebandbing,  im  höchsten  Sinne  liebenswürdig  sei.   Ja  man  möchte  sagen: 

die  Poesie  ganz  von  der  Welt  verloren  gienge,  so  könnte  man  sie  aus  diesem 

*k  wieder  herstellen.    Und  In  ganz  Ähnlichem  Sinn  und  fast  mit  denselben 

«^Tteti  fijirarh  sich  Goethe  später  (Werke  5«,  1H(1)  über  Sbakspeare's  „Heinrich  IV" 

.   Vgl.  auch  Werke  45,  tni  ff.  2r»)  Näheres  darüber  im  folgenden  §. 

26i  Manches,   was  dafür  Zeugniss  ablegt,   findet  sich  in  den  Anmerkungen 

vorigen  3> 


504     VI.  Vom  zweiteu  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bia  zu  Ooeth*'»  Tod. 


323  Draiiia*8  betreffenden  Sätzen  und  in  deren  Anwendung  beim  Erfindi 
und   Gestalten  seiner  Werke,    ein  zwar  nicht  stetiges  ujid  gleit 
noÄssiges,  aber  in  seinen  letzten  Zielpunkten  und  Erfolgen  »ebr 
deutendes  Fortschreiten  zu   dem  Rechten  und  Wahren   in  der  di 
matischen  Kunst,  die  nicht  durch  das  Buch,  sondern  von  der  Bohne 
herab   wirken  soll,  unverkennbar.    In  dieser  Rücksicht  iM  au»  d« 
Zeit  der  Abfassung;   des  Wallenstein  vorzüglich   beachten» werlh 
Brief  an  Humboldt  über  dessen  ,, ästhetische  Versuche**''.    „Der 
Sichtspunkt'',  schrieb  Schiller  u.  a.,  „den  Sie  gewonnen  1'  n 

dem  geheimnissvollen  Gegenstände  —  denn  das  ist  doch  jcul 
rieche  Werk  —  mit  Begriffen   beizukommen,   ist  der  freiesto  und 
höchste,  und  für  den  Philosophen,  der  dieses  Feld  beherrschen  wil 
ist   er   ohne  Zweifel    der   geschickteste.    Aber   eben    wegeu  dit 
philosophischen  Höhe  ist  er  vielleicht  dem  ausübenden  Künstler  nid 
bequem  und  auch  nicht  fruchtbar,  denn  von  da  herab  führt  eigeol 
lieh  kein  Weg  zu  dem  Gegenstande.    Ich  betrachte  auch  deswcg«^ 
Ihre  Arbeit  mehr  als  eine  Eroberung  für  die  Philosophie  als  für 
Kunst  und   will   damit  keinen  Tadel  verbunden  habeu.     Es  ist  j 
überhaupt  noch  die  Frage,   ob  die  Kunstphilosophie  dem  Köi 
etwas  zu  sagen  hat.     Der   Künstler  braucht  mehr  empirische  obiI 
specielle  Formeln,   die  eben  deswegen  für  den  Philosophen  zu  esf 
und  zu  unrein  sind;  dagegen  dasjenige,  was  für  diesen  den  geh>Vigea 
Gehalt  hat  und  sich  zum  allgemeinen  Gesetze  qualiticiert,  für  d< 
Künstler  bei  der  Ausübung  immer  hohl  und  leer  erscheinen  wjnl. . . 
Sie  mUssen  sich  nicht  wundem,  wenn  ich  mir  die  Wissenschaft  uul 
die  Kunst  jetzt  in  einer  grössern  Entfernung  und  Entgegensetian 
denke,   als  ich   vor  einigen  Jahren  vielleicht  geneigt  gewesen  bii 
Meine  ganze  TliAtigkeit   bat  sieh   gerade  jetzt  der  Ausübung 
wendet,  und  ich  erfahre  lilglich,  wie  wenig  der  Poet  durch  allgeroeii 
reine  Begriffe  bei  der  Ausübung  gefördert  wird,  und  wäre  in  dii 
Stimmung  zuweilen  unphilosophisch  genug,  alles  was  ich  selbst 
Andere  von  der  Elementarästhctik  wissen^   für  einen  einzigen 
risehen   Vortbeil,   für  einen  Kunstgriff  des  Handwerks  him 
In  Rücksicht  auf  das  Hervorbringen  werden  Sie  mir  zwar  selbst 
Unzulänglichkeit  der  Theorie  einräumen,   aber   ich   dehne 
Unglauben  auch  auf  das  Beurtheilen  aus  und  möchte    bei 
dass  es  kein  Gefäss  gibt,  die  Werke  der  Einbildungskraft  zu 
als  eben  die  Einbildungskraft  selbst,   und  dass  auch  Ihnen  die  A^' 
straction   und   die  Sprache  Ihr  eigenes  Anschauen   und   Empitodcit 
nur  unvollkommen  hat  ausmessen  und  ausdrücken  können. ...   I* 
allen  wesentlichen  Punkten  ist  zwischen  dem,   was  Sie  sagen f  >^ 


ickeliingBgangd.Lit.    KU— IS32.   Goothe  u.  Schiller.  Schillers  Dramen.    505 

was  Goethe  inul  ich  diesen  Winter  über  Epopöe  nnd  Tragödie  §  323 
lustellen  gesucht  haben,  eine  merkwürdige  Uebcreiustimmimg, 
Wesen  nach,  obgleich  Ihre  Formate  metaphysischer  gefasst  sind, 
die  unsrigeii  mehr  für  den  Uaiisgebmiicb  taugen.  .  .  Es  seheint, 
(in  Ihrer  .Schrift  zwischen  dem  dogmatischen  und  dem  kritischen 
dl)  ein  mittlerer  fehlt,  ein  solcher  nfimlich,  der  jene  allgemeinen 
mdsfitze,  die  Metaphysik  der  Dichtkunstj  auf  4fccsondcre  rcduciert 
die  Anwendung  des  Allgemeinsten  auf  das  Individuellste  ver- 
littelt.  Der  Mangel  dieses  praktischen  Theils  fühlt  sich  jedesmal, 
>  nft  nicht  bloss  der  allgemeine  Charakter  des  Dichters  oder  seines 
»^erk»,  sondern  ein  einzelner  Zug  aus  diesem  unter  den  ßegrifl'  sub- 
umicrt  ^vird.  ...  Ich  sagte  oben,  dass  ich  in  diesem  Fehler  meinen 
Unrtuss  zu  erkennen  glaube.  Wirklich  hat  uns  beide  unser  gemein- 
paftliches  Streben  nach  Elementarbegriffen  in  ästhetischen  Dingen 
Mihiu  geführt,  dass  wir  die  Metai)hysik  der  KOust  unmittelbar  auf 
^e  Gegeuatfinde  anwenden  und  sie  als  praktisches  Werkzeug,  wozu 
doch  nicht  genug  geschickt  ist,  handhaben.  Mir  ist  diess  vis  k 
von  Bürger  und  Matthisson-',  besonders  aber  in  den  Horenauf- 
seu  öfters  be-gegnet.  Unsere  solidesten  Ideen  haben  dadurch  an 
ittheilbarkcit  und  Ausbreitung  verloren"".  Der  Rückfall  in  einen 
salisicnus,  der  mit  den  begründetsten  Forderungen  der  neuern  Kunst 
»chrcieiidem  Widerspruch  stand,  indem  für  das  tragische  Drama 
«fi  Boden  gesucht  ward,  der  ausserhalb  aller  Wirklichkeit  lag,  und 
dem  sich  die  volksthUmliche  Anschauungsweise  nimmermehr  zu- 
t  finden  konnte,  zeigte  sich  vornehmlich  in  der  Zeit,  wo  Schiller 
Bniut  von  Messina"  dichtete.  Aber  wie  bald  ward  er  inne, 
pCs  mit  den  griocbischen  Dingen  doch  eine  missliche  Sache  auf 


2Sl  Id  den  Receasionen  ilirer  Ciedichtß.  29)  Eine  andere  hier  anzu- 

le  Beweis&teUe,    die  zwar   er«t   nach   Vollendung   des   „Walleustein"    ge- 
geben ist,  aber  noch  in  cincui  mittelbaren  Bezüge  d&za  st4^t,   findet  sich  in 
§  322,  Anm.  \2',\  citierten  Briefe  an  Süvern  (vom  2ü.  Juli   ISOO);    „Sie  werden 
<l«n  gedruckten  „Wallcustein"  ersehen  haben,   dass  verschiedenen  Ihrer  Er- 
lügen schon  in  der  ersten  Anlage  des  Stacks  von  mir  begegnet  war;  nur  die 
itt  Idee,  dasselbe  auf  die  Bühne  zu  bringen,  war  Schuld,  dass  ich  gewisse 
lerungen  der  Kunst  dem  BedUrfnißs  des  Theaters  aufopfern  musste.   Ich  theile 
thcen  die  unbedingte  Verehrung  der  sophokleischeu  Tragödie,   aber  sie   war 
Encheiuuug  ihrer  Zeit,   die  uicbt  wiederkummen  kann,   und   das  lebendige 
loci  einer  individuellen   beslimmten   Gegenwart  einer   ganz   heterogenen   Zeil 
kb  und  Muster  aufdringen,  hiesse  die  Kaust,  die  immer  dynamisch  und 
itehon  und  wirken  musB,  eher  tAdieu  als  beleben-    Unsere  Tragödie, 
wir  eine  solche  hütten,  hat  mit  der  Ohnmacht,  der  Schlaffheit,  der  Charakter- 
leil  d«'si  Zeitgeistes  und  mit  einer  gemeinen  Denkart  zu  ringen,  sie  muss  also 
h  und  Charakter  zeigen,   sie  muss  das  Oomüth  zu  erschüttern,  zu  erheben, 
nicht  aufzulösen  suchen.    Die  Schönheit  ist  für  ein  glückliches  Geschlecht, 
ein  unglückliches  muss  man  erhaben  zu  rühren  8ucfaen*^ 


■■m 


506    VI.  Vom  zwftten  Viertel  des  XYUl  Jahrhuaderts  bU  tu  OoHb«!  T<td 


JJUL, 

ide^ 


323   uuserm  Theater  sei"*'!    An&lalt  sein  VorLabeii   mit  dem  Küuig 
dipus,  den  er  für  die  deutsche  Bühne  bearbeiten  wollte,  aussuf&hnn, 
hörte  er  nun  auf  Ifflauds  Rath   und   nahm  wieder  den  „Teil* 
Iffland  nämlich  hatte  ihm  geschrieben,  der  Oedipiis  »ei  nur  fOr 
Auserwählten,   Teil   für  alle.     Es  sei  mit  den  griechi;?cheii  SiO 
eine  eigne  Sache:  die  hf^he  Einfalt  tauche  die  leeren  Köpfe  voll 
unter,  iind  deren  aei  Legion.     Der  Sturm  der  Leidenschaften  in  an 
Sttlcken  reisse  sie  mit  fort,  mache  sie  zu  handelnden  Thcilen  und 
erhebe  sie  gegen  Willen    und  Wissen.    Mit  den   Stücken  aiw  der 
römischen  Geschichte  werde   wogen  der  Austerität  der  Sitten.  «Ui 
Stan'sinns  in  den  Charakteren  das  Publicum  roUendd  ganz  zurück* 
geschreckt.    Sollte  nicht  die  deutsche  Gesdiichte  aus   der  Zeit  der 
Reformation  oder  aus  früherer  und  spüterer  ein   biätoriscbes  ScW^ 
spiel  liefern?    Bedeutende  Vorgänge  und  Charaktere  seien  ja  in 
genug  vorhanden.    Als  Schiller   auf   diese  Bemerkungen    und 
mutbungen  geantwortet  hatte^   und  wie  es  scheint,   nicht  ohne 
pfindlichkcit,  schrieb  Iffland";  „Gott  behüte  mich,  ein  Werk-^on 
zu  verlangen,  wozu  der  Geist  Sie  nicht  geführt  hätte,  der  In  II 
wohnt!    Nur  denke  ich.  ehe  man  den  Stoff  erwählt,   withreiui 
Geist  über  der  Tiefe  schwebt,  sei  eine  unmerkliche  Richtung,  w» 
er  sich  niederlasse,  noch  mOglich,    Dann  wäre  das  Interesse,  nt\< 
für  die  Sinne  eine  gewisse  äussere  Herrlichkeit,   wie  Jeanne  JA 
darbeut,  eher  zu  wählen  als  ein  anderes,  welches  ahstracte  K< 
uiss  und  einen  feinen  Geist  fordert.    Das  Leidenschaftliche,  du  B**' 
mantische  und  Phantasiereichc  ergreift  alle  Theile,  erhebt  die  C^fBble 
der  Bessern  und  beschäftigt  die  Sinne  des  Haufens"^'.     Da««  dab 
Schiller,  als  er  wirklich   im  „Tell^'  aus  seiner  idealistiBchen  Hui 
wieder   zur   geschichtlichen    Wirklichkeit   herabstieg    und   dem 
achmack,  den  Neigungen,  der  Anacbauung^weiso  und  den  BUdi 
zuständen  der  Nation  Rechnung  trug,   ohne  dabei  der  Kunst  etnfc_ 
von  ihrer  Würde  zu  vergeben,  dicss  mit  der  üeberzeugung  thsi, 
habe  damit  als  dramatischer  Dichter  keineswegs  einen  KUckict 
gemacht}  bezeugen  zwei  Briefe,  der  eine  an  Huiubuldt  (vom  2.A| 
1805),  der  andere,  ein  Jahr  ältere,  an  Körner  (vom  12.  April  1M> 
In  jenem,  wo  er  seine  neueste  Verfahrung» weise  im  DramAti9cb( 
nur  mehr  erklären  als  rechtfertigen  zu  wollen  scheint,   hei»?t  #*• 
„Ich  wünsche  auch  von  Ihnen  selbst  zu  hören,  wie  Sie  mit  mein* 
„Toll'*  zufrieden  sind.  .  .  .    Noch   hoffe   ich    in  meinem  podiwÄ 


30)  An  Goethe  ß,  263.         31)  Am  30.  April  1803.  32)  Tgl.  uebft 

boidu  Brief  vom  n.  Oetbr    ISn3.  S.  474  ff  ,   woraas  der  iDhiilt  der  hkibn 

BügHchcii  Stellen  weilet-  unten  S.  52J  f.  mitgetheflt  ist-  33)  BnrfwKi»^ 
Uumholilt  S.  4S5  f. 


itwickeiungsgaag  d.  Lit.  1773—1832.  Goethe  u.  Schiller,   ächillerä  Dramen.   507 

treben  keiuen  Rückschritt  gethan  zu  habe»,  einen  Seitenschritt  viel-  §  323 
:eicht,  indem  es  mir  begegnet  sein  kann,  den  materiellen  Forderungen 
der  Welt  und  der  Zeit  etwas  eingeräumt  zu  haben.    Die  Werke  des 
dramatischen   Dichters  werden  schneller  als  alle  andern   von  dem 
ZeitHtrom  ergriffen,  er   kommt  Belbst  wider  Willen  mit  der  grossen 
Masse  in  eine  vielseitige  Berührung ,   bei  der  man  nicht  immer  rein 
bleibt.    Anfange  gefüllt  es,  den  Herrscher  zu  macheu  über  die  Ge- 
mttther,   aber  welchem  Herrscher  begegnet  es  nicht,   dass  er  auch 
ieder  der  Diener  seiner  Diener  wird,   um  seine  Herrschaft  zu  be- 
pten;  und  so  kann  es  leicht  geschehen  sein,  dass  ich,  indem  ich 
e  deutschen   Bühneu    mit   dem  Geräusch   meiner  StUcke  erfüllte, 
cb   von   den  deutschen  Bühnen  etwas  angenommen  habe".     Da- 
hatte sich  in  dem  Brief  an  Körner  unversteckter  jene  Ueber- 
ng  ausgesprochen":    „Der  Teil  hat  auf   dem  Theater   einen 
groftsern  Effect  als  meine  andern  Stücke,  und  die  Vorstellung  hat 
mir  grosse  Freude  gemacht.     Ich  fühle,  dass  ich  nach  und  nach  des 
Theatralischen  mächtig  werde'*.    Wie  wenig  er  in  den  letzten  Jahren 
noch    an    die   Möglichkeit   einer   allgemein    gültigen    Kunsttheorie 
täubte",   wie  sehr  ihm  sogar  „das  leere  metaphysische  Geschwätz 
er  Kunstphilosophon  alles  Theoretisieren  verleidet"  hatte,  und  wie 
nfruchtbar  ihm  eine  ästhetische  Kritik  erschien,  die  ein  poetisches 
Werk  nicht  „aus  sich  selbst  heraus",  sondern  ,,aus  allgemeinen  und 
eben   (hirum   hohlen   Formeln"    beurthcilcn   wollte:    das   kann  man 
wbon  hinlänglich  aus  verschiedenen  Stellen  seiner  Briefe  ersehen '\ 

§  324. 

Kaum  war  „Wallensteius  Tod"  so  weit  ausgeführt,  dass  er  in 
Weimar  gespielt  werden  konnte,  als  Schiller  auch  schon  AnsLilt  zu 
<nier  neuen  Tragödie  machte.  Es  gehörte  zu  seinen  Eigenheiten, 
3»tt  er,  wenn  er  erst  in  der  Mitte  einer  dramatischen  Arbeit  war, 
tiich  Dach  andern  Stoffen  umssih ,  um  in  gewissen  Stunden  an  ein 
ttCües  Stück  denken  zu  können*.  So  hatte  er  bereits  im  Herbst 
IW  sich  viel  damit  beschäftigt,  einen  tragischen  Stoff  von  der  Art 
'^ö8  Königs  Oedipus  aufzufinden,  von  dem  er  sich  unormessliche 
'"rlbeile  versprach;  allein  die  Besorgniss,  dass  ihm  diess  nicht 
heutigen  würdet  seheint  ihn  bald  bestimmt  zu  haben,  sein  Suchen, 


•M)  4,  359.  35)  An  Goethe  6,  76  f.;  an  Schütz,  in  der  Darstellung  seines 
^tens  ¥on  seinem  Sohne,  Th  2,  -122  f.;  an  Kfimer  4,  380  und  an  Unmboldt 
**•  1*9  f. 

I  324-     1)  An  Goethe  2.  Ausg.  2,  211.  *2)  An  Goethe  den  2.  Octbr 

'J*T  (3 ,  '2S9  ff ) :  „Diese  Vortheile  sind  unermessHch ,  wenn  ich  auch  nur  des 
erwihne,    dass  man   die    susammengeeetzteste  Handlung,    welche   der 


50S    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  JahrhtindcrU  bis  au  tioetiet 

324  wenigstens  fttrs  erste,  aufzugeben.  Jetzt,  wo  es  ihn  dränge,'' 
Gedanken  wieder  auf  einen  bestimmten  dramatischen  Gegci 
mit  Hoffnung  und  Neigung  zu  richten,  Bchwankte  er  aufäugllcb 
seiner  Walil  zwischen  verschiedenen  tragischen  Stoffen  von  fr 
Erfindung;  denn  obgleich  er  erst  vor  Jahr  und  Tag  sich  vorgenot 
hatte,  fortan  keine  andern  aln  hiBtorische  Gogenstünde  zu  wäbirn' 
80  zogen  ihn  nun  doch  Neigung  nnd  Bedürfniss  zu  einem  frei  phac- 
tasierten,  nicht  historischen,  und  zu  einem  bloss  leidenHchaftlicbeo 
und  menschlichen  Stoff  hin\  Indessen  dauerte  as  nicht  laa^^e,  ))ü 
er  sich  anders  entschloss  und  der  englischen  Geschichte  den  Vfl^ 
wurf  zu  seiner  nächsten  Tragödie,  der  ,,MÄria  Stuart'',  cntnaboi. 
Nachdem  er  wegen  der  Aufführung  von  ,,\Vallen8teins  Tod"  ^wift 
Zeit  in  Weimar  gewesen  war,  schrieb  er  bald  nach  seiner  Heimkeltf' 
an  Goethe:  „Indessen  habe  ich  mich  an  eine  Regieruogsg^Mhietlr 
der  Königin  Elisabeth  gemacht  und  den  Process  der  Maria  Stört 
zu  studieren  angefangen.  Ein  Paar  tragische  Hauptmotive  habeo 
sich  mir  gleich  dargeboten  und  mir  grossen  Glauben  an  dicMo  Stoff 
gegeben,   der   unstreitig  sehr  viel   dankbare  Seiten   hat.     Besosikn 


trogischca  Form  ganz  widerstrebt,  dabei  zum  Grunde  Ic^n  katm,  indlf 

Handlun^r  ja  schon  geschehen  i^t  nnd  mitbin  gaius  jcuseits  f1t*r  Tra^^üilif  &tt 
Dazu  kommt«  dass  das  Geschehene,  als  uualiänderUch,  seiner  Natur  nodi  n^i, 
fttrchterlicher  ist,  und  die  Furcht,  dass  etwas  gcscliehen  sein  mfkhte.  das  Oe 
ganz  anders  afticiert,  als  die  Furcht>  dass  etwas  geschehen  möchte.  DcrCMi^' 
iat  gleichsam  nur  eine  tragische  Aoalysis.  Alles  ist  schon  da,  und  es  wird  V 
herausgewickelt,  Das  kann  in  der  kleinsten  Handlung  und  in  einem  sehr  kkba 
Zeitmoment  geschehen,  wenn  die  Begehenliciten  auch  noch  so  coxniiliciert  oad  ftf 
Umständen  alihiingig  waren.  Wie  begünstigt  das  nicht  den  Puctpo!  Ab«  ^ 
fürchte,  der  Oedipus  ist  seine  eigene  Gattung,  uuü  fs  gilit  krine  xwcit«  &p<Ö> 
davou;  am  allerwenigsten  x^nirde  mau  aus  weniger  fahelh.tften  Zeiten  cioesOcfW 
stand  dazu  auftinden  können.  Das  Orakel  bat  einen  Antheil  an  der  Tragödie,  te 
Bchlechterdin|j:s  durch  nichts  anderes  zu  ersetzen  ist;  und  wnUte  mandasWcMt- 
liche  der  Fabel  selbst  bei  veränderten  Personen  und  Zeiten  beibchaltrn,  so  «ti^ 
lächerlich  werden,  was  jetzt  furchtbar  ist'*  (vgl  unten S.  fit 5,  öl.  3i  AoGr^ 
den  h.  Januar  17!iS  (4,  0):  ..Ich  werde  es  mir  gesagt  sein  lassen,  keine  udfrf 
als  historische  Stoffe  zu  wählen;  frei  erfundene  würden  meine  Klipi»««  *<••■'■■  ' 
ißt  eine  ganz  andere  Operation,  das  Realistische  zu  Idealisieren,  als  das  l>i 
realisieren,  und  letzteres  ist  der  eigentliche  P'all  bd  freien  Fictionen.  Ki  'f- 
in  meinem  Vermögen,  eine  gegebene,  bestimmte  nnd  hcschriknkte  Materie  zu  tr- 
ieben, zu  erwärmen  imd  gleichsam  aufquellen  zu  machen,  w&hrend  daaa  £•  ^ 
jecti?e  Bestimmtheit  eines  solchen  Stoffes  meine  Phantasie  zQ^U  und  meiflcrWift' 
kür  widersteht".  |4t  An  Goethe  den  19.  März  170U,  also  zwei  Tfttttd 

Cebersendung  des  für  die  Bilhuendarstellung  bestimmten  letzten  Tbeib  von  nWalkr 
stein"  (f>.  35  f  j:  ..Soldaten.  Helden  und  Herrscher"  hatte  er  ..vgr  jrtrt  b«Bfc* 
satt''.  Kr  wollte  dem  Freunde,  wenn  er  nach  Jena  kftme,  seine  „tra^ftckM  Sc^ 
von  freier  Erfindung  vorlegeu.  um  nicht  in  der  ersten  InatAnx,  in  4iem  Gt^ 
stAnde,  dneu  Misagriff  zu  thon*'.  'fi\  Den  26.  April:  5,  43. 


ickeloQgsganffd  Literatur.  1773— IS32.  Goethe  u.  Schiller.   Maria  Stuart   509 

leint  er  sich  zu  der  euripideisclicn  Methode,   welche  iu   der  voll-  §  324 
ändigsten  Darstellung  des  Zustaudes  besteht,  zu  qualificiereu;  denn 
b   sehe  eiue  Muglichkeit,   den  g^inzen  Gcriclitsgnng  zugleich  mit 
lem  Politischen  auf  die  Seite  zu  bringen  tind  die  Tragödie  mit  der 

EBTurtheilung  anzufangen/'  Goethe  freute  sich  tlber  dieses  Zutrauen 
m  Stoffe;  nur  im  Granzen  angcsehn,  schien  ihm  derselbe  viel 
thalten,  was  von  tragigcher  Wirkung  sein  kujine'.  Kömern 
hrichtigte  Schiller  am  S.  Mai',  er  sei  jetzt  Gottloh  wieder  auf 
n  neues  Trauerspiel  fixiert,  nachdem  er  sechs  Wochen  lang  zu 
öiner  Resolution  habe  kommen  können.  Von  den  dazu  erforder- 
dien Vorstudien"  bald  zu  der  Feststellung  des  Plans  Übergehend, 
ter  mit  diesem  noch  nicht  völlig  in  Ordnung,  als  er  auch  schon 
dem  Ausführen  begann.  Am  31.  Mai  lag  sein  ,, Pensum  noch 
er  sehr  ungestaltet  da'*";  am  4.  Juni  aber  schrieb  er  an  Goethe'"*: 
Tch  habe  mich  nicht  enthalten  können,  weil  das  Schema  zu  den 
'.rsteo  Acten  der  „Maria"  in  Ordnung,  und  in  den  letzten  nur  noch 
zin  einziger  Pimkt  unausgemacht  ist,  um  die  Zeit  nicht  zu  verlieren, 
gleicb  zur  Ausführung  fortzugehen.  Ehe  ich  an  den  zweiten  Act 
ime,  muss  mir  in  den  letzten  Acten  alles  klar  sein.  Und  so 
ich  denn  heute  —  dieses  Opus  mit  Lust  und  Freude  begonnen 
hoffe  in  diesem  Monate  schon  einen  ziemlichen  Theil  der  Expogi- 
zurUckzulegen."  Ungeachtet  verschiedener  Nebenbeschäftigungen  " 


6)Sf  45  f.  7t  4,  142.  S)  Am  2ß.  April  Hess  er  sich  dazu  von 

Bftcher  schicken  |n,  44;  4iii;  die  englische  Geschichte  von  Kapin  Thoyras. 

tut  im  Juli  Ins,  hatte  .,den  guten  Eintliiss.  ihm  das  englische  Lncale  und 

immer  lebhaft  vor  der  Imajfination  zu  erhalten"  (5.  Hi*).  9i  An  Goethe 

^«  &'.  lOl  ö.  (iu  f.  Ih  Von  diesen  standen  aber  mehrere  mit  seiner 

•litoatischen  Hauptarbeit  in  einem  gewissen,  so  zu  sagen,  theoretischen  Bezüge. 

Sola»  RT  in  den  letzten  Tagen  des  Mai's  n^>0  einige  Tragödien  von  Corneille,  die 

ikn  »ber  wenig  Freude  [gewahrten  (5.  55  ff.).    Diese  Lecttlrc  scheint  ihn  dann 

H^rh  m  Lesnogs  Dramaturgie  geführt  zu  haben,  von  der,  was  auffallend  genug 

W,  In  den  früheren  schriftlichen  Verhandlungen  zwischen  Schiller  und  OoetUe 

'•'-fr  .IrAmiiiiaohe  Poesie  niemals  die  Rode  ist.   und   die   sie   auch  kaum  in  ihren 

li>.'n  Ulier  diesen  Gegenstand  naher  berücksichtigt  haben  können     sonst 

liiller  dem  Freunde  wohl  nicht,  wie  von  einer  ganz  neu  gemachten  Bekaant- 

-••mL'Idet  (5,  Ol  f.»:  „Icb  lese  jetzt,  in  den  Stunden,  wo  wir  sonst  zusammen 

'       Inga  Dramaturgie,  die  in  der  That  eine  sehr  geistreiche  und  belebte 

i,nbt     Es  ist  doch  gar  keine  Frage,  dass  Lessing  unter  allen  Deutschen 

it  über  das.  was  die  Kunst  betrifft,  am  klarsten  gewesen,  am  schiirfsten 

Ififh  am  HberalRten  darüber  gedacht  und  das  Wesentliche,  worauf  es  an- 

nverrücktesten  ins  Auge  gefasst  hat.    Liest  man  nur  ihn,  so  möchto 

.  gl&iiben.  dass  die  gute  Zeit  des  deutschen  Geschmacks  schon  vorbei 

Wie  wenig  l'rtheilc.  die  jetzt  über  die  Kunst  gefällt  werden,  drtrfen  sich 

dnigeo  stellen*"    BaM   nachher  trug  er  Verlangen  nach  einer  griechisch 

rot^rhakung  und  bat  deshalb  Goethen  um  Zusendung  des  Aeschyhis  f&.  1^). 


mm 


510    TL  roH  svcftcB  Tiertd  te  XTm 


Hb  im  0«elk**i  T«a. 


kle  er 
fttM 


§  324  ond   einiger   lingeni    oder    kOrreni    Unterbrecliinigcn '*    rückte  er 
mit  der   Arbeit  nach  tot.     Während  er   Mitte  Jitni    noch 
mit  tdnen  drei  ExpootkmBseenen  zn  tknn  hAtte  and  einen 
Gntod  fOr  das  Künftig  zn  legen  suchte",  schrieb  er  wenige  Tage 
anf '* :  er  fange  schon  jetxt  an,  bei  der  AnsfahniDg  sich  mn  der 
liehen  tragiocheo  Qualität  seines  Stoffes  hnmer  mehr  zu  Btjerseo^ 
and  darunter  gehöre  besonders,  das«  man  die  Katastrophe  gleieh  n 
den  ersten  Seeoeo  sehe,  nnd,  indcnt  die  Handlang  des  Sttleks  M 
davon'  wegTuhe^ben  seheine,  ihr  immer  näher  nnd  näher  gefülrrt 
werde.    An  der  Fnrtht  des  Aristoteles  fehle  es  also  nicht,  und  du 
Mitleiden  werde  sich  auch  schon  finden.    ..Meine  Maria  wird  kmt 
weiche  Stimmung  erre^n.  es  ist  meine  Almicht   ni<'bt,   ich  will  lie 
immer  als  ein  physi&ches  Wesen  halten,  und   das  Pathetische  riw 
mehr  eine  allgemeine  tiefe  Rührung  als  ein  pen^öulich   und  tudi^ 
duelle»  Milg^eföbl  sein.     Sie  empfindet  nnd  erregt  keine  Ziirtlicbkfit. 
ihr  Schicksal  ist  nur,  heftige  Passionen  zn  erfahren  und  zu  cntzflmk^i 
Bloss  die  Amme  fQhlt  Zärtlichkeit  für  sie/"    Der  erste  Act  koAtere 
deswegen  viel  Zeit,  weil  der  Dichter  den  poetischen  Kampf  n 
historischen  Stoff  darin   bestehen   musste   und   MOhe  braucht«] 
Phantasie  eine  Freiheit  über  die  Geschichte  zu  verschaffen, 
er  zugleich  von  allem  (?),  was   diese  Brauchbares  hatte,  ßeatx  0 
nehmen  suchte'*.    Am  25.  Juli  ww  der  erste,  am  25.  August  d» 
zweite  Act  vollendet'*.     Schiller  hatte  nun  achmi  die  Hoffnung,  „du» 
in  dieser  Tragödie  alles  tbeatralisch  sein  sollte,  ob  er  sie  gleich  ftr 
den  Zweck  der  Repräsentation  in   etwas  enger  zusammenzog ''.    2a 
Anfang  des  Septembers  war  die  Handlung  bis  in  die  Scene  geftllirCi 
wo  die  beiden  Königinnen  zusammenkommen^*.    Zugleich  meldett  <i» 
er  fange  in  der  „Maria  Stuart**  an  sich  einer  grossem  Freiheit  odar 
vielmehr  Mannigfaltigkeit  im  Silbenmass  zn  bedienen,  wo  dieGdflfW 
heit  es  rechtfertige";  diese  Abwechselung  sei  ja  auch  in  den 
sehen  Stücken,  und  man  müsse  das  Publicum  an  alles  ge^vüLaes' 


12)  üotor  den    bedcutondcrn  Unterbrechungen  der  Arbeit   an  der 
Stuart"  war  ciuo  ktlrzere  dnrcli  den  Almanach  (an  Go«tb«  '»,    r^;  »fl' 
4,  tM),  eiuo  längere  durch  die  llearbeiliing  und  Aufführung  des  ..MAcbHt' 
»nlaRiit.  t3)  5,  73.  Ni  5,  Tu  i'.  15)  Vgl.  5.  lOS;  115  f 

IC)  Iloffmeistor  J,  54S;  vgl.  an  Körner  1.   Ufif.  ond  an  Ooelh*«  5.  175 
I7l  An  (JootheS.  16:  f.  IS)  Sthiller  beraerktG  darüber  (an  •  t| 

„Die  Situation  Ut  an  sich  selbst  moralisch  uninftglich;    ich    bin 
wi«  ca  mir  gelungen  ist.  sie  mügKch  zu  marhcn.    Ih'e  Frag«  g»?ht  xugki« 
Poetle  überhaupt  au.  und  darum  bin  Ich  doppelt  hegierig.  »11»  mit  IlitieB  w  •»• 
handeln".  Ilh  Act  :\,  Scene  1.  2t)»  Wie  Schiller  Ms  PraMlfte»* 

„den  IMccoIomini*'  an  bis  zur  ,,ßrant  von  Messina"  In  der  Anwendung  dfl»B< 
imiDCr  weiter  vorschritt,  bo  »teigerte  er  ntm  in  den  beiden  nächrten  SttiiOkn 


ickelQBgsg&ug d. LiC«r«tur.  1773— 1832.  Güetlieu. Schiller.  MariaSta&rt.   5H 


tzt  traten  Untcrbrechnujren  ein  ■' ,  andere  wurden  durch  haus- 
te Ereignisse  und  Krankheit  herbeigeführt";  und  obgleich  die 
[ptarbeit  ge^en  Ausgang  des  alten  und  im  Anfang  des  neuen 
re«  keineswegs  ganz  ruhte",  konnte  Schiller  doch  erst  im  FrUh- 
ISOO  sich  ihr  wieder  anhaltender  hingehen:  zu  Anfang  des 
)B  waren  vier  Acte  „för  den  Theaterzweck  in  Ordnung"";  den 
en  beendigte  der  Dichter  in  Ettersburg,  wohin  er  sich,  um  ganz 
estOrt  arbeiten  zu  können,  im  Jini  und  Juni  einige  Wochen 
ckgezogen  hatte.  So  konnte  das  Stlick  schon  binnen  Jabresfrist 
dem  Beginn  auf  die  Bühne  gebracht  werden".  Unterdessen 
e  er  auch  J^hnkapearc's  ,. Macbeth*',  zunächst  für  das  weimarieche 
tere,  bearbeitet.  Mit  diesem  hatte  er  schon  vor  Mitte  Januar 
)  angefangen  sich  zu  beschäftigen**;  am  20.  Januar  waren  zwei 
Hgc  ans  dem  Rolien  gearbeitet '-\  und  zwar  nach  den  üeber- 
ungen  von  Wieland  und  Eschenburg.  Erst  später  nahm  er  das 
inal  zur  Hand  und  fand  nun.  dass  er  besser  gethan  h;ttte,  sich 
fh  anfangs  daran  zu  halten,  so  wenig  er  auch  das  Englische 
tand,  weil  der  Geist  des  Gedankens  viel  unmittelbarer  wirke, 
er  oft  unnOthige  Mtthe  gehabt  habe,  durch  das  schwerfällige 
aam  «einer  beiden  Vorgänger  sich  zu  dem  wahren  Sinn  hindurch 
ringen^.  Die  Bearbeitung  wurde  dann  Goethen  zur  Prüfung  vor- 
ftgt**,  und  am    14.   Mai  wurde    das  Stück   gespielt^".     Auch   zu 

.,äUri&  Stuart*',  auch  ganz  altgeseheu  von  den  Cborou   in  „d^r  Braut  von 

die  Mannigfaltigkeit  der  Versarteu.    Aber  er  kehrte  zu  der  einfacheru 

wie  wir  ttie  in  „Wallenst*:^ins  Tod**  finden,  xuruck,  als  or  den  „Teil"  dichtete, 

nril  weniger  gereimte  Stellou  enthält,  als  die  drei  ihm  vurangeheudcu  Stücke, 

che  Silbenraass  t'esth:Ut  und  nur  ganz  vereinzelt  stehende  Verse  von 

l'Oder  mehr  als  timf  Füssen  hiit.  21)  Vgl.  Anm.  12.  22)  Vgl. 

r  l.  2i^t'.  23)  All  Körner  -1,  I5i>.  2-1)  An  Goethe  2.  Ausg. 

I.  25  t  Am  14.  Juni  fand  die  erste  Vorstellung  des  Stucks  in  Weimar 

lau  Kürner  4,   171  f.;   vgl.  Briefwechsel  mit  Goethe  5,  277  f.J.    Für  den 

vnrdc  es  zu  Anfang  des  n&chsten  Jahres  nochmals  durcbgp>^ngen  (Brief- 

¥t\  mit  Krtmer  4.  2()f>;  '»os  f»;  vor  der  ersten  (Stuttgarter)  Ausgabe  stand 

üa$  I>ruckjaljr  ISOO.    Die  Recension  in  der  Jenaer  Literatur -Zeitung  ts02. 

ff^  von  der  Schiller,  wie  es  scheint,  wenig  befriedigt  war  (vgl.  an  Goethe  t>, 

MI  von  F.  F.  Delbrück  sein.  26)  An  Goethe  5,  246.  27i  5,  2Ut, 

28)  5.  251.  2'J)  5,  272.  'Mh  An  Goethe  2.  Ausg.  2,  2iH  f.;  Huff- 

l,  2My.    AI»  Schiller  «einen  „Mncbeth"  im  Manuscript  (gedruckt  Stuttgart 

Tübingen  IVH.  ^.i  an  Körner  sandte,  bemerkte  er  U,  17}):  „FreUich  macht 

Q  das  etttflische  Original  eine  schlechte  Figur ;  aber  das  ist  wenlptens  nicht 

Schuld,  sondern  der  Sprache  und  der  vielen  Eiuscbränkuntfcn,  welche  da% 

ter  nothwondig  machte",    Indess  hat  er  sich ,  ohne  dazu   durch  liusserliche 

sichlrn  genöthi«t  zu  sein,  sehr  starke  Veränderungen  erhinht,  die  kelncswcjifa 

werden  können.    Eine  gnindliche  Beurtheilung  lieferte  Schleiprma(her  in 

rUnger  Literaturzeilung  ISül,  2,  \r.  14k  ff;  wieder  abgedruckt   in  «Au« 

Itl^iennachcrs  Leben"  4,  &4i)  ff. 


§  321 


512     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe*a  Tod. 

§  324  einer  eigenen  neuen  Tragödie,  „Warbeck",    zu   äer   er   den  Stoff 
ebenfalls   in    der   englischen  Geschichte  gefunden  hatte,    hatte  er 
während  der  Arbeit  au  „Maria  Stuart"  den  Plan  gefasst.    In  einem 
Briefe  vom  20.  August  1799^'  schreibt  er  von  dem  Stoff  dazu,  dem 
er  während  der  letzten  Tage  auf  die  Spur  gekommen   sei.    Dabei 
äussert  er  —  und  diese  Aeusserung  ist,  wie  Goethe's  Antwort  darauf, 
bemerkenswerth  für  die  Theorie  beider  Dichter,  sofern  sie  die  dia* 
matische  Behandlung  historischer  Gegenstände  betrifft  — :  von  der 
Geschichte  des  Betrügers  Warbeck  und  der  Regierung  Heinrichs  VII 
sei  zwar  selbst  so  gut  als,  gar  nichts  zu  gebrauchen,  aber  die  Situation 
im  Ganzen  sei  sehr  fruchtbar,  und  die  beiden  Figuren  des  Betrttgew 
und  der  Herzogin  von  York  könnten  zur  Grundlage  einer  tragischen 
Handlung  dienen,   welche  mit  völliger  Freiheit  erfunden    werden 
raüsste.    „Ueberhaupt  glaube  ich",  heisst  es  weiter,  „dasa  man  wohl 
thun  wtirde,  immer  nur   die  allgemeine  Situation  der  Zeit  und  die 
Personen  aus  der  Gescliichte  zu  nehmen  und  alles  Uebnge  poetisch 
frei  zu  erfinden,  wodurch  eine  mittlere  Gattung  von  Stoffen  entstflndc, 
welche  die  Vortheile   dos  historischen  Drama's  mit  dem  erdichteten 
vereinigte"*^-.    Goethe  erwiederte"    der  neue  tragische  Gegenstand 
habe  auf  den  ersten   Anblick  viel   Gutes  und  fordere  zu  weitem 
Nachdenken  auf.    Es  sei  gar  keine  Frage,  dass,  wenn  die  Gescbiebte 
das   simple  Factum,   den   nackten  Gegenstand   hergebe^   und  der 
Dichter  Stoff  und  Behandlung,  so  sei  man  besser  und  bequemer 
daran,  als  wenn  man  sich  des  Ausführlichem  und  Umständlichem  der 
Geschichte  bedienen  solle;  denn  da  werde  man  immer  genothigt,  du 
Besondere  des  Zustandes  mit  aufzunehmen,  mau  entferne  sich  rom 
Menschlichen,  und  die  Poesie  komme  ins  Gedränge^'.  Wiewohl  SchiliftT 
noch  später  wiederholt  auf  den  Stoff  zurück  kam,  so  rückte  die  Aas 
ftthrung  doch  niemals  \veit  Über  das  Schema  hinaus  vor^*\  —  ünmitfelbur 


31)  Kr  ist  erst  in  dio  2.  Ausgabe  des  Briefweclisels  mit  Goethe  (2.  24<*  fi 
aufgononimen.  32)  Daran  schliesscn  sich  Sätze  tlber  die  etwaige  Bebandlö^ 

dieses  Stoffes  im   IJcsomlern  etc.  33)  Seine  Autwort  steht  schon  in  H* 

t.  Ausgabe  5,  103  f.  31)  Bequemer  war  diese  Verf ahm ngs weise  allerW 

dass  sich  aber  die  höchsten  poetischen  Zwecke  auch  anders  und  wohl  noch  be>?f 
erreichen  Hessen,  liätteu  beide  Dichter  von  Shakspcare  lernen  können. 
3.5)  Als  Schiller  im  Mai  ISUl  nach  Beendigung  „der  Jungfrau  von  Orleans"  »"■ 
gewiss  war,  welchen  unter  mehreren  tragischen  Stoffen,  deren  Bearbeitoiig  w  »^ 
vorgesetzt  hatte,  er  zunächst  wühlen  sollte,  war  auch  der  ,,Warbeck"  daranW- 
und  „das  punctum  salions  zu  dieser  Tragödie*'  war  damals  schon  gefunden;«** 
ihre  Btrhandlung  düuchte  ihn  schwer,  weil  der  Held  des  Stücks  ein  Betrü?«**'' 
und  der  Dichter  auch  nicht  den  kleinsten  Knoten  im  Moralischen  zurQckltf" 
wollte  (an  Körner  4,  210  f.i.  Seitdem  scheint  er  an  dem  Plan  von  Zritza^» 
fortgearbeitet  zu  haben  (Briefwechsel  mit  Körner  4,  225;  243»;  an  die Ausföln'i'* 
hoffte  er  aber  erst  dann  mit  der  gehörigen  Lust  gehen  zu  können,  wenn  «** 


Entwickelung>gang d. Lit.   1773—1832.  Goethe  u. Schiller.  Jungfrau  v.  Orleans.  5lri 

nach  Beendigung  der  „Maria  Stuart"  wandte  er  seine  Neigung  einem  §  •'^24 
Charakter    der    französischen   Geschichte    zu,    der    „Jungfrau    von 
Orleans",  welche  die  Heldin  seiner  dritten  neuen  Tragödie  wurde: 
er    kam    damit   noch  rascher  als  mit  der  zweiten  zum  Abschluss, 
indem  er,  um  sie  zu  entwerfen  und  vollständig  auszuarbeiten,  nicht 
viel  mehr  als  neun  Monate  brauchte*'.    Am  13.  Juli  ISOO  gedenkt 
er  gegen  Körner  zuerst  seines  neuen  Stllcks.  ohne  jedoch  den  Gegen- 
stand desselben  näher  zu  bezeichnen".    Von  alten  Zeiten  her  hänge 
er  au  solchen  Stoffen,   die  das  Herz  interessieren.     „Mein  neues 
Stück  wird  auch  durch  den  Stoff  grosses  Interesse  erregen  (was, 
wie  im  Vorhergehenden  gesagt  ist,  im   „Wallcnstein"  und  in  der 
„Maria  Stuart"  nicht  so  der  Fall  gewesen).    Hier  ist  eine  Haupt- 
person,   und  gegen  die,    was   das  Interesse  betrifft,    alle   ttbrigen 
Personen,  deren  keine  geringe  Zahl  ist,  in  keine  Betrachtung  kommen. 
Aber  der  Stoff  ist  der  reinen  Tragödie   wUrdig;   und  wenn  ich  ihm 
durch    die  Behandlung   so  viel    geben    kann,   als   ich    der  „Maria 
Stuart"  habe  geben  können,  so  werde  ich  viel  Glück  damit  machen," 
Gegen  Ende  des  Monats  und  im  Anfang  des  Augusts  war  er  mit 
dem  Schema  noch  nicht  in  Ordnung  und  hatte  auch  noch  grosse 
Schwierigkeiten  aus  dem  Wege  zu  räumen,  besonders  deshalb,  weil 
«eh  das  StUck  nicht,  so  wie  der  Dichter  wünschte,  in  wenig  grosse 
Maaseu  ordnen  wollte,  und  weil  er  es  in  Absicht  auf  Zeit  und  Ort 
in  zu  viel  Theile  zerstückeln  musste.     Er  sah   hier,   wie  mau  sich 
durcli  keinen  allgemeinen  Begriff  fesseln  dürfe,  vielmehr  müsse  man 
es  wa^eu,  bei  einem  neuen  Stoff  die  Form  neu  zu  erfinden  und  sich 
*^€n  Gattungsbegriff  immer  beweglich  erhalten  ■'\    Auch  in  der  Mitte 
des  Septembers  gieng  es  mit  der  Arbeit  noch  immer  sehr  langsam, 
doch  {resebah  kein  lUiokschritt^'.    Am  19.  Novbr.  hatte  er  die  Scencn 

^^^  -Jurantlot"  fortig  gowortlcn  wiiro,   dorcn  Boarbcituiig  ihn   im  Herbst   l^oi 

fepsihatiigte  fau  Körner  4,  217).    Auch  im  Frühjahr  1nü2,  als  ihn  schon  andere 

Stoffe  mehr  anzogen,  tlaclito  er  noch  immer  lUuan,  den  Thui  zum  „Warbeek**  wieder 

*^Jzuaehmen  und  auszufnhren  (an  Körner  4,  2T(i:   vjrl.  an  (ioethe  *i.  lOJ):  wenn 

A  Braut  von  Messina-'  beendigt  wiiro,  wollte  er  hurtig  daran  gehen,  da  unterdess 

^r  Pia»  viel  weiter  gerückt  war,  und  erst  dann  sollte  der  ..Toll"  vorgenommen 

**filen  lan  Körner  4,  ■2!i2i.    AHoIn  dieser  erhielt  doeh  den  Vorzug  (vgl.  IIoftmeiÄter 

^- in\:  2T2i.   und  von  dem  ,.^Varhe^:k"  fanden  sich  nach  dem  Tode  des  Dichters 

y  '»einen  Papieren  nur  der  Tlan  und  Fragmente  aus  den  ersten  Scenen  des  ersten 

^^^^  f?edruckt  hi  den  Werken  12,  'W.*  tl'.i  :i(>)  Nach  lloftmeister  4.  317  f., 

***  auch  die  «»Juellen  angegeben  sind,  die  Schiller  für  dieses  Stück  studierte  ivgl. 

^^^h  an  Kcirner  4.  \^:i;   l^^  und  an  Gootho  ^,  2'.)^  f),  begann  er  .,die  Jungfrau 

J**Q  Orleans-*  am  1.  Juli  IMIO.  'M\   1.  1^2  f.  :iS)  An  Goethe  ö.  2<3; 

?;*''f.:  vgl.  an  Körner  4,  l^sf.  :J9)  ..Bei  der  Armnth  an  Anschauungen  und 

■^^^ahrungen  nach   aussen,  die  ich   habe*,  schrieb  Schiller  an   Goethe   (.'i,  :tn'.»), 

I'ltostet  es  mir  jederzeit  eine  eigene  Methode  und  viel  Zeitaufwand,   den  Stoff  zu 

kleben.     Dieser  Stotl"  ist  koiuer  von  den  leichten  und  liogt  mir  nicht  nahe". 

Kober4t<*in.  fTrundrUs.    .V  Aufl.    tV.  •»•* 


■H 


514    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  Jahrhundcrtö  bis  xu  Goothe^l  Tfl 

§  324  mit  den  Trimelcrn  (im  zweiten  Act)"  beendigt**;  am  24.  Dwbr. 
die  Tragödie  wieder  um  einige  Schritte  vorwilits  gebracht,  docj^ 
noch  immer  viel  zu  thun  Ubri^.     Mit  dem,  was  der  Dichter 
in  Ordnung  gebracht  hatte,  war  er  sehr  zufrieden,  und  er  bi 
solle  auch  Goethe^s  Beifall  haben.    Das  Historische  war  Überwui 
und  doch,  so  viel  Schiller  urtheilcu  konnte,   in  seinem  miVlifhi 
Umfang  benutzt;   die  Motive  waren  alle  poetisch  und  grögstentl 
von   der  naiven   Gattung  '*.    ,,Schon   der  Sloff  erhiUt  mich  w; 
schrieb  er  den  5.  Januar  ISOI  an  Körner*';  „ich  bin  mit  dem 
Herzen  dabei,   und  es   lliesst   auch  mehr  aus  dem  Herzen  als 
vorigen  StUcke,  wo  der  Verstand  mit  dem  Stoffe  kämpfen  mi 
Am    U.   Februar  waren   7,drei   Acte  ih  Ordnung   geschrieben" 
wurden  Goethen  am  Abend  desselben  Tages  vorgelesen  '\    Im 
fang  des  März  gieng  Schiller  auf  einige  Wochen  nach  Jena,  um 
in  der  Stille  seines  Gartenhauses  sich  zur  Beendigung  seiner 
zu  sammeln**;  am  24.  März  hoffte  er  den  vorletzten  Act,  den  ff 
Jena  angefangen  hatte,  als  Ausbeute  seines   Dortseins  fertig 
Weimar   mitbringen  zu   können  *',   wohin   er  mit   dem   beginn« 
April  zurückkehrte.     Er  beendigte  das  Stück  gerade  in   der 
desselben  Monats".    Nun  aber  trat  in  seiner  dramatischen  Tbit% 
keit  eine  Zeit  der  Unsicherheit  und  des  Hin-  und  Hertastens  etn. 
schwankte  in  der  Wahl  eines  neuen  Gegenstandes  zwischen  mehi 
deren  Bearbeitung  er  sich   vorgesetzt  hatte.    Sobald  „die  Jm 
von  Orleans"  beendigt  war,   hatte  er  gewünscht  auch  schon 
in  einer  neuen  Arbeit  zu  stecken**;  zu  einer  solchen  wollte  er  web 
gleich  übergehen,  wenn  er  zwei  neue  dramatische  Sujets,  mit  üeaea 
er  sich  damals  trug,   durchdacht  und  durchgeprüft  hätte".    Am  |5. 
Mai  schrieb  er  an  Körner'":  „Ich  habe  in   diesen  vierzehn  Tag« 
noch  zu  keinem  festen  Entschluss   in  Absicht  auf  meine  kllnftip 


40i  Vgl.  oben  III,  210,  'M;  2f.O,  Anm.  35.  41 1  An  Goethe  5,331 

42]5,34yf.        4:J.  4,20;»f.        44»  ü,  3f.       -45t  Au  Kflmer  <,20l»f.        46* 
Goethe  \\,  30.  47)  M\  Guelhc  2.  Ausg.  2,  :it[    Od  der  I.  Aasg.  d,  IS, 

an  falscher  Stcllo;  der  Brief  N.  700  muss  vor  N.  7S(;  Melietii.  Goethe  Eud 
„Bo  brav,  gut  and  schöD,  dass  er  ihm  nichts  zu  vergleichen  wosst«*'  (ß, 
Schiller  wuUte  es  aniUngllch  uiefat  für  die  BulinendnrstoUung  rinrichtra.  vd 
es  dazu  nicht  (jeeifniei  hieh;  andträ  dachte  Goethe  \Vg\.  Briefwechsel  6.  *l 
Dud  der  Dichter  Uüss  sich  bestimuien.  die  Klnrichtong  vorzunehrnsn,  voaicki 
bald  an  veri^rhiedenen  Orten  aafireführt  und  dn  LiebHngsstUck  dm 
Pnblicums  wurde  (vgl  Iloffmeiäter  -1,  :\J.l  S.:  nnK0rnor4.  325  audO^ctbo^ 
ai,  t20i.  Ueber  die  ersten  Drucke  vgl.  oben  S.  IHO,  Anm.  9.H.  Die  ai 
Rocension  in  der  Jenaer  Utemtur-Zeituug  lSn2.  !,  105  ff.  ist  fon  A  Afrt; 
Schillers  UrtheU  darüber  in  den  Briefen  an  Goethe  0,  T*i  f,  und  an  Scbfttl, 
der  Darbtelluug  Bcinea  Ivebens  von  adnem  Sohne,  Tb.  2,  122  f.  4i>l  AnT 

*;  211.  49)  An  Goethe  fi,  45.  50)  4.  215  ff. 


^^<m 


.vkicelmig^gaug  ii.  LH.  177:1-1632.  Goethe  u.  Schiller.  Juugirau  v.  Orleaus.  515 

'lieit  kommen  künncn.    In  meinen  Jubreu  und  auf  meiner  jetzigen  §  324 
ttfe    des    Bewusstseinn    ist    die    Wahl    eine»    Gogensiandes    weit 

werer. ...  In  meiner  jetzigen  Klarheit  über  mich  selbst  und  über 

Kunst,  die  ich  treibe,  hatte  ich  den  ,,Wallen8teiu"  nicht  gewählt  (!). 
habe  grosse  Lust,  mii^h  nuinuchr  in  der  einfachen  Tnigndie,  nach 

Btrefl^ten  griechischen  Form  zu  vcrguclieu,  und  unter  den  Stoffen, 

ich  vonäthig  habe,   sind  einige,   die  sich   gut  dazu  bequemen. 

a  einen  davon  kennst  Du  —  „die  MalthescrV;  aber  noch  fehlt  mir 

B^punctum  saliens  zu  diesem  Stück ,  alles  andre  ist  gefunden.  .  .  . 

Pandres  Sujet,  welches  gauz  eigne  Erfindung  ist,  mochte  frflher 

r^e  Reihe  kommen;  es  ist  ganz  im  Reinen,  und  idi  könnte  gleich 

die  Aasfabruug  gehen.  Es  besteht,  den  Chor  mit  eingerechnet, 
aas  zwanzig  Seenen  und  aus  fünf  Personen.  Goethe  billigte 'den 
ian  ganz;  aber  es  erregt  mir  noch  nicht  den  Grad  von  Neigung, 
n  ich  brauche»  um  mich  einer  poetischen  Arlieit  hinzugebeo.  Die 
auptsache  mag  sein,  weil  das  Interesse  nicht  sowohl  in  den  hau- 
^ndon  Pei*8onen,  als  in  der  Handlung  liegt,  so  wie  im  Oedipus  des 

p^oklcs";  welches  vielleicht  ein  Vorzug  sein  mag,  aber  doch  eine 
msse  Kälte  eraeugt^'.  Noch  habe  ich  zwei  andere  Stoflc,  die  zu 
trer  Zeit  gewiss  auch  an  die  Reihe  kommen,  aber  sich  bis  jetzt 
CT  Form  noch  nicht  haben  unterwerfen  wollen".  Ausser  einigen 
ndem,  noch  mehr  emhrvonischen  Stoßen  habe  ich  auch  noch  eine 
Utt  v\  einer  Komödie,  fühle  aber,  wenn  ich  darüber  nachdenke, 
Hie  fremd  mir  dieses  Genre  ist.  Zwar  glaube  ich  mich  derjenigen 
SoaOilic,  wo  es  mehr  auf  eine  komische  ZusammenfUgung  der  Bc- 
Sebeibeitcn  als  auf  komische  Charaktere  und  auf  Humor  ankommt, 
«wacbsen,  —  aber  meine  Natur  ist  doch  zu  erast  gestimmt^'-,  und 
*T*«  keine  Tiefe  hat,  kann  mich  nicht  lange  anziehen.  Du  siebst, 
8  irh  an  Entwürfen  nicht  arm  bin,  aber  die  Götter  wissen,  was 
WrAtwfUbrung  kommen  wird."  In  den  nächsten  sechs  Wochen  kam 
er  war  zu  einem  Entschluss,  denn  den  2S.  Juni  meldete  er  Goethea 
DMh  Pyrmont**:  „Das  Schauspiel  fängt  an  sich  zu  organisieren,  und 


_.  All  Vtr!.  obeu  S.  507  uuten.  52*  i>aas  hier  nur  der  Plan  zur  „Braut  um 
«*^«oä"  leemeint  wiu  kann<  versteht  sich  von  selbst;  deshalb  wird  Frau  ».  Wel* 
J"vui  mit  ilirer  Nachricht  in  Schillers  Lehon  S.  2ii6  Recht  behalten  ivgt  aach  aa 
Kirrrr  4.  2*Jl).  ilftÄ  lu  nofliiieiBters  Werk  &,  58  dagegen  erhobene  Ik4«ek«a  whtr 
imbegrunJctcr  erscheinen .  als  f>-'hincr  in  dem  dort  ang«7.og«Ma  M(fc  BB 
rn>  lom  t»  Miirr  !s(i2  nicht  die  „Braut  von  Messina",  sondctv  4n  Trf  a»- 
'    i'i't«:  TirLnnien  Anm.öS.  53j  Der  euie  davon  war  „Warbeck^; 

namhaft  ^emrichi.  54)  Einen  kleinen  dramAtiacks  S* 

I  tfire  .Jch  habe  mich  rasieren  lassen'-  oder  „KdnMTB  V«n 
'    ;ii  seines  Aufenthaltes  hei  Körner  in  Dresden  i^i'hf  ■  «"  i»t  g»- 

-'•K'  I liiK-'ä  Ausgabe  1,1^'iff.  und  in  besonderer  Attiig»b>  rocKttml  1^2t 

^9J.aochK.Fificher,  Schiller  als  Komiker   FraDkf.a.H.  16«|.    fc    -         3>>  ».»&. 


p 


516     \'I.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVltl  Jahrhunderts  Wa  zu  G««t1ioi  T* 

§  321  in  acht  Tagen  denke  ich  an  die  Auaftibniug  zu  ^^eben-  Der 
ist  einfach j  die  Handluug  ratsch,  und  ich  darf  nicbt  besorgen. 
Breite  geti-ieben  zu  werden**''*.  Allem  \m  zum  0.  Juli  war  er  i 
an  keine  Ausarbeitung  gegangen,  und  er&t  nach  einer  ßadi^cue^ 
er  gegen  Anfang  des  Augusts  anzutreten  geda4*hte.  die  sich  aher  ii 
eine  Reise  nach  Dresden  verwandelte,,  wollte  er  mit  der  AiJ^fOlimi^ 
der  drei  Plane,  die  er  ausgeda^^ht  hatte,  den  Anfang  macben".  YÄgtai 
Erfahrungen,  die  er  auf  dieser  Reise  nber  den  Zustand  des  dcolaeki 
Buhnen  wegen«  und  Über  die  Erapffinglicbkeit  des  Pul'! 
und  Nacliriehten  Über  die  AulTUhrung  einiger  eeiuer  iiu  .  -. 
die  er  von  Köiiier  erhielt,  scheinen  ihn  nun  wieder  ungewiss 
zu  haben ,  welchem  »einer  Stoffe  er  den  Vorzug  vor  den  ffl 
gehen  sollte'*.  Nach  einem  mehrwöcheutlicben  Unwohlsciu  nkhii 
Stande,  sieb  gleich  in  eine  ganz  freie  productive  Thätigkeit  ta  n 
setzen,  ^ieng  er  zunächst  Ende  October  an  die  Pk 
„Turandot",   die  ihn   bis  zu   Ende   Decembcrs  besch  lkA_ 

(Ibiigen  Thoil  des  Winters  tbat  er  so  viel  als  nichts,  weÜ  er 
nicht  bestimmen  konnte,  und  weil  die  weimarische  Exisieiu 
zerstreuend  für  ihn  war"".    Uiess  Über  ein  Jalir  lau*  dauernd**  Sohl 


r>6i  Ooethe  wusste  nicht,  ob  Schiller  „die  MaltlirftT"   odw  ih*n  «Wi 
gemeint  habe.  5.  (>ü ;  ich  deiilcp,  es  wird  nicht,  wie  Uüifinri^tpr'«.  ^^^  nntiir 
.,Warbeck'\  sondern  wieder  „die  Draut  von  Mei^sina"  zu  \  A 

jft  der  Dichter,  nach  dem  Driefe  an  Körner  vom  t'i.  Mai.  i^ 
gesprochen  hnbeii  mnsste.  57t  An  Körner  4.  ^V>.  öS)  l»jr«i  «r 

ich  wenigstens  ans  einer  Stelle  in  dem  liriefe  an  Körner  vom  ^    Orthr.  it.  \V-\ 
„Maria   Stuart  ist   freilich   Veine   Aufgahn   fiir   eine   uolirhe   GfS/'Ilichdft  th 
aerond.i'sohe  idAtnais  in  Leijtzigi,  —  und  wenn  ancb  der  Srbauspii^Nr  »11« 
th&te,  so  kann  sich  das  Publicum  nicht  darein  Hndcn.  an  einer  rrlnou  \U 
ohne  Interesse  t'Ur  einen  Helden,  ein  f reie»  firf Allen  zn  finden;  und  thnt 
werden  wir  dramatische  Scbrittijtellrr  in  der  Wahl  derStnlf*'  so  sehr 
die  reiuston  Stoffe  in  Absicht  auf  die  Kunst  worden  n  i  ' 
sehr  selten  bisst  aich  eine  reine  und  sctuüo  Foira  mir 
des  StolFee  vereinliren'*.    Diese  Worte,  nnd  noch  inelu   •! 
ich  weiter  unten  mitrlieile,  durften  auohzu  der  Aniiahmo  b«  : 
jetzt  „die  Braut  von  Me«sina'*  llir»  erste  zurftcktielegt  hatte  uu'i 
des  , .Warbeck**  dachte  ivrI.  anKomer  4,  27rt).    Aber  vierreh«  *! 
die  Wa);;e  wieder  bei  ihm  ein.  was  er  zuerst  schreiben  sollte"  t 

ä9i  Am*27.Dechr.  war  die  Arbeit  beendigt  lan  Kijrner  4.  245  ff 
Werke  4.H.  13  H'.).  (5lh  4,   21:*  f.     Indess  bcsclmfiigte  ihn  M>it  dem  Ai 

des  Januars  schon   sehr  lebhaft  ein  neues  Intere«&e,  der  TUn  zum   ..IfQ' 
(tocthe  6.  102;  an  KJirner  4,  27(J;   vgl.   unten  S   525);   wie  laii){«  d-^* 
iflt  aus  seinen' Briefen  nicht  zu  entnehmen:  bis  gegen  Ende   de«  Jii^- 
ihm  üüch  nicht  glucken  wollen,  sich  zu   tixiere.n  und  Ober  einen  *'■ 
Ktrcunng  Herr  zu  werden,   der  sich  »einer  Immichtifft  hatte**   (an  di'eriii' 
Die  erste  Nachricht,  dasf;  er  eifrig  an  ..der  Urani  vnu  Messina**  arlwlip. 
der  Mitte  des  Augnats  (au  Goethe  H.  ISüt;  vgl.  au  Körner  I,  MVf*.^ 


EntwickelungsgaDg d.  Literatur.    1773—  \$:vi.   Goethe  und  Schiller.   Turandot.    Ü17 

ken  machte  ihn  sogar,  wenn  auch  nur  mehr  vorübergehend,  ungewiss,  §  324 
ob  er  in  neuen,  für  die  theatralische  Vorstellung  bestimmten  Stücken 
nicht  besser  thun  würde,  von  der  rhythmischen  Form  zu  der  prosaischen 
zurttckzukchren".    Das  einzige,  was  noch  vor  Ablauf  des  Jahres  1801 
zu  Stande  kam,  war  die  Bearbeitung  des  schon  erwähnten  märchen- 
haften Schauspiels  von  Gozzi,  „Turandot".    Sie  war  die  Ausführung 
eines  alten  Vorsatzes;   zunächst  jedoch   wurde  Schiller  dazu  durch 
das  Bedürfniss  des  weimarischen  Theaters  bestimmt.    Ob  er  gleich 
an  der  Handlung  selbst  nichts  zu  ändern  wusste,  hoffte  er  dem  Stück 
doch  durch  eine  poetische  Nachhülfe  bei  der  Ausführung  einen  hühern 
Werth  zu  geben.    Die  komischen  Scenen,   deren  Inhalt  bei  Gozzi 
bloss  angedeutet  ist,   da  die  Ausführung  dem  Stegreifspiel  der  Dar- 
steller überlassen  war,  sind  von  Schiller  nach  diesen  Andeutungen 
ganz  neu  gedichtet;  auch  sind  für  zwei  Räthsel  bei  Gozzi  andere  er- 
fanden, und  das  dritte,  von  Schiller  beibehaltene,  ist  etwas  erweitert ^. 
Mit  Entschiedenheit  und  Ausdauer  Hand  an  eiu  eigenes  Werk  zu 
legen  vermochte  Schiller  nicht  eher  als  in  der  zweiten  Hälfte  des 
folgenden  Jahres.    Er  gab  jetzt  jener  Neigung  wirklich  nach,  der  er 
schon  gleich  nach  dem  ersten  Abschluss  des  „Wallenstein"  hatte  folgen 
wollen,  und  gieng  an  die  ])oeti8che  Gestaltung  eines  von  ihm  selbst 
erBonnenen  Stoffes,  der  ihm  auch  die  Gelegenheit  bot,  eine  bereits 
fttr  „die  Maltheser"  in  Aussicht  genommene  dramatische  Form   in 
Anwendung  zu  bringen:   denn  „die  Braut  von  Messina"  sollte  eine 
Tragödie  im  antiken  Kunststil  werden.    Diess  war  auch  unter  den 
l^fftnden,  die  Schiller  für  die  Bevorzugung  dieses  Stoffes  vor  andern 
'n  einem  Briefe  an  Körner  aufführt",  der  zweite:  „Ich  bedurfte  eines 

61)  Nach  seiner  Rückkehr  von  Dresden  schrieb  er  d.  ö.  Octhr.  au  Körner 

Wt  230i  :  „Die  Theater,  die  ich  in  den  letzten  drei  W oclien  pcsehen,  haben  mich 

Jiüi  gerade  niclit  znr  Arbeit  l)egei9tert,  und  ich  muss  sie  eine  Weile  vergessen 

~*ben,  um  etwas  Ordentliches  zu  machen.    Alles  zieht  zur  Prosa  hinab,  und  ich 

***be  mir  wirklich  im  Ernst  die  Frage  aufgoworfeu:   ob  ich  bei  meinem  gegen- 

^nigen  Stücke    .,'Warbeck"yi.  so  wie   bei  allen,  die  auf  dem  Theater  wirken 

***Üen,  nicht  lieber  gleich  in  Prosa  schreihen  soll,  tla  die  Declamatiou  doch  alles 

J**^*,  um  den  Bau  der  Verse  zu  zerstören,  und  das  Publicum  nur  an  die  lit-bc 

"®^Tieme  Xatur  gewöhnt  ist.    "Wenn  ich  anders  dieselbe  Liebe,  welche  ich  für 

?**üie  Arbeit  nothwendig  haben  muss ,  mit  einer  Ausiulirung  in  Prosa  vereinigen 

?*^n,  so  werde  ich  mich  wohl  noch  dazu  eutschliessen".  02i  Vgl.  hierzu 

^*>1,  Anm.  16.   Dassder  Bearbeitung  des  Stücks  nicht  der  italienische  Originaltext, 

r^ldem  dieUtbersotzung  von  Wcrthes  vgl.  oben  S.  l'.tl,  '-y'-h  zu  Grunde  liege,  schliesse 

'^  »US  mehreren  ganz   wörtlich  ühereinstimmendcn  Stellen  bei  dem  l'ehersetzcr 

^^  dem  Uebcrarbeiter,   namentlich    in  dem  beibehaltenen  Kiithsel.     i  Gedruckt 

^*^**^e  „Turandot"  Stuttgart  und  T(il)ingen  K02.  S.    Nicht  lange  vor  Schiller  hatte 

^«Oji   Fr.   Rambach   eine  Bearbeitung   des  Murchenstücks  geliefert:   ,J>ie  drei 

?*tlisel.   Tragikomödie  nach  Gozzi  \   Leipzig  ll^'i;  auch  in  seinen  „Schauspielen-*. 

*^pzig  17%— t*iOO.   3  Bde.    S.)  63)  4,  ütl. 


.518    '^^■  Vom  zweiten  Viertel  des  XVTII  Jululrnndcrts  bis  ru 

324  gewissen  Stachels  von  XcuLeit  in  der  Form,  und  einer 
die  einen  Schritt  näher  zur  antiken  Tragödie  wäre  —  w 
der  Fall  iät ;  denn  das  Stück  lässt  sich  wirklich  zu  einer  ■ 
Tragödie  an.'*  Nirgend  zeigte  sich  wohl  mehr  als  h^ 
dieser  Ahsicht,  wie  weit  Schiller  durch  jenes  antikisierend  h 
Streben  von  seinen  besten  Einsichten  und  üeberzeiignni 
matischen  Dingen  abgeleitet  und  somit  irre  geführt  werd 
Nicht  allein  hatte  er,  als  er  den  „Wallenstein**  dicht^i 
Aristoteles'  Poetik  gelesen  hatte  „den  unrertilgbareu  Unte 
neuen  von  der  alten  Tragödie'*  zugegeben"*  und  zugleic 
dass  es  ihm  das  Zeitalter  gar  nicht  gedankt  hütte,  wen 
sein  ,,Wallen8teiu"  freilich  gar  nicht  hutte  werden  kön 
daraus  zu  machen  vermocht  hiltte,  eine  griechische  Traj 
war  auch  bei  aller  Verehrung  für  sophokleische  Tragtidie 
dass  diese  nie  für  uns  gesetzgebend  sein  könnte**;  er  h 
Goethe  von  seinem  Bestreben,  als  Epiker  in  allem,  seil 
was  für  fehlerhaft  gehalten  werde,  dem  Homer  so  nahe  wie 
möglich  zu  kommen,  durch  die  Mahnung  abzubringen  ge 
es  eben  so  unmöglich  als  undankbar  für  den  Dichter  sei 
seinen  vaterländischen  Boden  ganz  verlassen  und  sieb 
wirklich  entgegensetzen  wolle";  und  er  fand  endlich  in  Sl 
Richard  III  alle  Eigenschaften  der  erhabensten  und  wirkuo 
Art  tragischer  Kunst  vereinigt*':  —  gleichwohl  dichtetoÄ 
von  Messina;  und  nicht  etwa,  um  sich  bloss  zur  Uebungn 
terischen  Kräfte  in  einer  neuen,  aber  für  unsere  Zeit  ] 
passenden  Form  zu  versuchen,  sondern  um  ein  Höchst«^ 
gischen  Kunst  der  Gegenwart  zu  erreichen  und  dam« 
geschichtlichen  Entwickelung  des  neuereu  Drama's  wid) 
Reform  der  tragischen  Bühne  in  Deutschland  einzuloitei 
antike  Colorit  zu  wahren,  entschloas  er  sich  der 
Chor  zu  geben,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  er  nid 
griechischen  Tragödien,  als  ein  in  sich  einiger  und  ti 
sondern  als  ein  bald  sich  spaltender,  bald  sich  zusammenac 
Doppelchor  aufträte  und  selbst  in  die  Handlung  hier  n 
eingriffe.     Mit  der  Einführung  des  Chors,  meinte  SchilleA 


64)  Au  Körner  4,  32.  65)  4,  69.  66)  An  &Qv«ra.  ia 

mit  Goethe  5,  2Sti  f.  67f  4.  212.  GS)  An  Gootbe  ^ 

09)  Ja  er  konnte   nach  der  ersten  Vorstellurg  seines  StQckä,  dB 
war.  als  die  Chöre  eigentlich  gar  keine  Chöre  mehr  waren,  «u  K<H 
(I.  32h:  er  habe  während  dieser  Vorstellung  zum  erstonmale  *?n  EJ 
wahren  Tragödie  bekommen,  und  ebenso  sei  es  Goeihe  OT^t> 
der  theatralische  Boden  wäre  durch  diese  Erscheiflung  «u  et» 
weiht  worden. 


Entwickelnngsgang  d.  Lit.   I77:i— is:j>.  Goethe  u.  Schiller,   llraut  v.  Messina.    519 

neueu  TragOdie  erst  ihre  volle  poetische  Kraft  und  Würde  verlieheu  §  324 
werden  können.  Diese  Meinung;;  suchte  er  in  einer  eigenen,  dem 
Druck  „der  Braut  von  Messina"  vorangestellten  Abhandlung,  „Ueber 
den  Gebrauch  des  Chors  in  der  Tragödie",  zu  begründen.  Indem 
er  hier  den  allgemeinen  Satz,  dass  der  Künstler  kein  einziges  Element 
au8  der  Wirklichkeit  brauchen  könne,  wie  er  es  finde,  dass  vielmehr 
sein  Werk  in  allen  seinen  Theilcn  ideell  sein  müsse,  wenn  es  als 
ein  Ganzes  Realität  haben  und  mit  der  Natur  Übereinstimmen  solle, 
im  Besondern  auf  die  Tragödie  anwandte,  hob  er  es  zuerst  hervor, 
wie  man  auch  in  ihr,  so  wie  in  allen  andern  Gattungen  der  Poesie 
und  der  Kunst,  von  lange  her  und  noch  immerfort  mit  dem  gemeinen 
Begriff  des  Natürlichen  zu  käm])fen  habe,  welcher  alle  Poesie  und 
Kunst  geradezu  aufhebe  und  vernichte.  Durch  Einführung  einer 
metrischen  Sprache  sei  man  indes«  der  poetischen  Tragödie  schon 
um  einen  grossen  Schritt  niiher  gekommen.  Es  seien  einige  lyrische 
Versuche  auf  der  Schaubühne  glücklich  durchgegangen,  und  die  Poesie 
habe  sich  durch  ihre  eigene  lebendige  Kraft  im  Einzelnen  manchen 
Sieg  Über  das  herrschende  Vorurtheil  errungen,  wonach  von  dem 
Drama  schlechterdings  Illusion  gefordert  werde.  Aber  mit  dem 
Einzelnen  sei  wenig  gewonnen,  wenn  nicht  der  Irrthum  im  Ganzen 
falle,  und  es  sei  nicht  genug,  dass  man  das  nur  als  eine  poetische 
Freiheit  dulde,  was  doch  das  Wesen  aller  Poesie  sei.  „Die  Ein- 
Mrung  des  Chors",  heisst  es  dann  weiter,  „wäre  der  letzte,  der 
entscheidende  Schritt,  —  und  wenn  derselbe  auch  nur  dazu  diente, 
dem  Naturalismus  in  der  Kunst  offen  und  ehrlich  den  Krieg  zu  er- 
klären, so  sollte  er  uns  eine  lebendige  Mauer  sein,  die  die  Tragödie 
um  sich  herumzieht,  um  sich  von  der  wirklichen  Well  rein  abzu-  , 

scLliessen  und  sich  ihren  idealen  Boden,  ihre  poetische  Freiheit 
2ü  bewahren"'".  Die  poetische  Freiheit  und  der  Schauplatz  der 
Handlung  sollten  es  auch  rechtfertigen,  dass  der  Dichter  in  seinem 
Stock  die  christliche  Religion  und  die  griechische  Götterlehre  ver- 
Utiscbt  anwandte,  ja  selbst  an  den  maurischen  Aberglauben  erinnerte. 
—  Aber  nicht  nur  Vorliebe  für  die  antike  Form  Hess  Schillern  unter 
^eu  verschiedenen  Stoffen,  zwischen  denen  er  so  lange  hin-  und  her- 
Seschwankt,  zuerst  nach  diesem  greifen,  sondern  auch  weil  er  damit 
**^  Absicht  auf  den  Plan  schon  am  weitesten  war,  und  weil  er  es 
Jach  der  langen  Pause  für  sich  nothweudig  fand,  in  verhiiltnissmässig 
kürzester  Frist  wieder  etwas  fertig  vor  sich  zu  sehen,  was  die  Wahl 
**^e8e8  Gegenstandes  ihm  versi)rach''.    Und  in  der  That  wurde  das 

*       70i  Lessing  hielt  bekanntlich  die  Vorthoile  der  Wiedereinführung  des  Chors 
jjf  bloss  ..eingebildete'S  vgl.  Sämmtliche  Schriften  11,  174.  7l!  Vgl.  den 

■^*^of  an  Krirnor  vom  9.  Septbr.  l*^o2  (4,  201  f.». 


wmmmm 


>20     VI.  Vom  xweiteu  Viertel  des  XVUI  Jahrhiiudert^  bis  zu  Govtfav'fi  T«4. 


§  324   Werk  ausserordentlicb   rascb  gefördert.     Am  is.  Au^Ti«t  IS(V2  hl 
er  sieb  seit  etlieben  Tageu   „niclit  obiic  Success  luit  i^ciDcm  oem 
Stock  bescbäftigt";  und   er  glaubte  nocb   bei   keiuer  Arbeit  so 
gelernt  zu  haben,  als  bei  dieser'-.    Mitte  Novembers  waren  fßnfiel 
hundert  Verse  fertig.   „Die  ganze  neue  Form  bat  auch  mich  veijon; 
schrieb  er  an  Körner",  „oder  vielmehr  das  Antikere  bat  mich  i^fil 
altcrtbtlmlicher  gemacht;  denn   die   wahre  Jugend  ist   ddcb  in 
alten  Zeit.    Sollte  es  mir  gelingen,  einen  historischeu  Stoff,  wie  ei 
den  „Teil"  in  diesem   Geist  aufzufassen,   wie  mein  jetziges  Sti 
geschrieben  ist  und  auch  vie!    leichter  geschrieben    werden   konnl 
80  würde  ich  alles  geleistet  zu  haben  glauben,  was  billigcrweise  j< 
gefordert  werden  kann**''.    Er  hatte  zu  dieser  Zeit  die  ^ier  Stockt 
von  Aeschylus^  weiche  Fr.  Stolberg  nocb  in  seiner  guten  Zeit 
setzt,  aber  eben  erst  herausgegeben  hatte ^\  gelesen,  und  er, 
sicherte,  dass  ihn  seit  vielen  Jahren  nichts  so  mit  Hespect  dnrchdi 
nichts  ihm  eine  so  echt  poetische  hohe  Stimmung  gegeben  habe, 
diese  hochpoetischen  Werke'*,  ohne  deren  nähere  Bekann t:icbafi  )lm 
die  Versetzung  in  die  alte  Zeit  viel  schwerer  geworden  wÄre".    Am 
Abend   des  31.  Dccbr.   konnte  er  „die   Braut   von  Messina**  »ct.i'n 
seiner  Familie  vorlesen".     Es  fehlte   nur  noch   die   letzte  verti 
ständigende  und  glättende  Ueberarbeitung  daran,  die  sich  auch  a» 
länger  als  bis  in  den  Anfang  des  Februars  iS03  hinzog.    Gegen 
des  Januars  1S03  hatte  er  „die  Ausfalhiug  der  vielen  zurückgeb 
Ltlcken  in  den  ersten  fitnf  Sechstheilcn  des  Ganzen  fertig  und 
lieb  hinter  sicli*',  und  am  4.  Februar  war  die  Arbeit  beendigt^.  Allein 
wie  das  Stück  nun  in  der  Handschrift  vorlag,  konnte  es  wohl  geh 
werden,  doch  zur  Aufführung  eignete  es  sich,  wie  der  Dichter 
bald  einsah,  durchaus  nicht;  dazu  musste  er  erst  wieder  die  Chi 
von  deren  Einbürgerung  auf  der  deutscheu  BUbne   er  sich  so 
für  die  Veredelung  unserer  tragischen  Kunst  versifrach,   beeeit 
.  denn   das  geschah    doch    eigentlich   mit  ihrer  Verwandlung  in 
wenigen  Personen,  unter  die  alle  ihre  Reden  und  lyriscben  Ei 
ftlr  die  Autflthnmor  vcrtheilt  wurden*^.    Am   19.  M.'ii-z  fand  di« 


72»  An  Goethe  rt,  15S.  73)  4.  300  f.  74f  Er  ibchre  sk^  »!*♦ 

damals,  wenn  ich  die  letzteu  Worte  recht  verstehe,  die  MdgUchknt.  die  4aliU«ä^~ 
rende  Form  in  ,.tii'r  Braut  von  MeBsiim"  nach  beim  „Teil"   anzmrcnJeiL. 
75)  Vgl.otenS.24S  Anra  14.        76)  Au  Körner  4.  301 ;  :n)0.        77<AnUai 
3.  448.  78)  Caroline  von  Wolzogen  in  Schillers  Leben  S.  301.  79» 

Ooclbc  f.,  172;   vgl.  S.  171.    Die  erste   Ausgabe   (1er   Traa^rtlic   „die 
Messina,  oder  die  feindlichen  Brader*'.  erschien  inStuttg^iirt  und  Tobingtu 
Vgl,  dazu   Liebrochi,   zu  Schillers  Braut  von  Mcssiua  im  .lahrbarb  f.  roi 
u   englische  Literatur  lo,  331  IT.,   wo  Auklituge  an  Legouvt-   nacbgtiric««»  ^i 

Sü)  Schon  am  ti.  Febr.   wurde  Körner  benachrichtigt  >4.   Sit):  -TVw  * 


kuffabrung  Jes  Stückes   in  Weimar  Statl**'.     In   <leu  letzten  Tagen  §  324 
?s  Mai's  arbeitete  Scliiiler  die  Abhandlung  „über  den  Gebraueb  des 

lors  in  der  Tragödie^*  aus,  nicbt  ohne  sich  rerle^^en  zu  ftihlen,  wie 
tr  Chur  auf  das  neue  Theater  gebracht  werden  künne**.    Auch  hat 

die  Beantwortung  Jener  Hauptfrage,   auf  die  es   doch  vor  allem 

idern  ankam,   eigentlich  umgangea.    Die  Urtbeile,   die  über  dag 

Itlck  bald  nach  seinem  Erscheinen  verlautbarten,  giengen,  so  weit 

mir  aus  Briefen  und  Zeitschriften  bekannt  geworden  sind,  sehr 

tfteiuander;  im  AUgemeineu  jedoch  waren  sie  viel  mehr  tadelnder 

s  lobender  Art.     Hninbfddt  spendete,  wie  sich  erwarten  Hess,  dieser 

uen  Production  seines  Freundes,  wenn  auch  nicht  ganz  unbedingten, 
och  sehr  grossen  Beifall ^\  In  Rücksicht  der  strengen  Form  könne 
cb  mit  ihr  keins  von  Schillers  früheren  Stücken  messen:  in  ihr 
Ki  alles  poetisch,  alles  folge  streng  aufeinander,  und  tiberall  sei 
Bftndlung.  Auch  über  den  Chor  war  Humboldt  einstimmig  mit  dem 
Dichter:  er  sei  die  letzte  Hohe,  auf  der  man  die  Tragödie  dem 
prt»»aischen  Leben  entreisse,  und  vollende  die  reine  Symbolik  dos 
Kunatwerks.  Niemand  habe  auch  zeilber  «^eine  Idee  so  rein  auf- 
pefasMl,  als  Schiller  in  seiner  zugleich  unübertrefflich  geschriebenen 
finleitung.    Nur  mit  der  Art,  wie  von  dem  Chor  in  ,,der  Braut  von 

e««in;i**  Gebrauch  gemacht  worden  war,  konnte  sich  Humboldt  nicht 


AÜsche  KeprA&eDtution  betrifft,  so  habe  ich  jeut,  nachdem  ich  (Us  Stack 

in  ein<T  sthrgemischleii  GrsoUfccliaft   -   mit  grossem  und  libcrcinstimmendera 

iMilriciert  habe  ivgl.  an  Goethe  ti,  I7r>  f.»,  etwas  mehr  iloffmiDg.  c^  mit 

.1  t'hor  auch  auf  lUe  Blthne  bringen  zu   können.    Ks  ist  nichts  nötbig, 

li  den  Chor,  oiine  an  den  Worten  das  Geringste  zu  verundcm.  in  fünf 

IntMviducMi  auflöse,  womit  ith  mich  jetzt  beschäftige,  —  Sie  BoUen  mir 

P'*     '  'n,  ohne  zu  wissen,  dass  sie  den  Thor  der  alten  Tragödie  {?i  auf 

r    *  licht  haben".    Zwei  Tage  siiiUer  „halte  sich  der  Chor  liercits  in 

"'  *n,  Berengar,  Manfred,  liuhcmund,  Roger  und  lUppolyt  verwandelt"  t»& 

^  :7^.l.    Lald  darauf  wollte  tT  diesen  „ersten  Versuch  cinor  TragtHÜ«  a 

{*^f  r  form"  nach  Itom  au  Humboldt  seuden,  der  daraus  urthcilc«  feollle,  ob  ia* 

•^tor.  aU  Zt3itgeno>se  des  Sophokles .  auch  einmal  einen  Preis  davon  g«tnccB 

^*^^  mOcble.     ..Ich  habe  es  nicht  vergossen",   bemerkte  er  in  seinem  BHrfr 

^   44^'.  .,dae^  8ie  mich  den  modernsten  aller  neuen  Dichter  gonftnnt  oad  mdä 

p*  im  gröbsten  Gegensatz  mit  allem,  was  antik  heisst,  gedacht  haben.    &  m^ 

*^^  aUo  dopi'ell  freuen,  wenn  ich  ihnen  dae  üestäudnisa  abzwingen  kf^ne.  Ak 

"   auch  djpsen  tremden  Geist  mir  zu  eigen  machen  können'*.  ^Il  XiCmv 

;  ^2(1  f.:  vjfl.  den  llrief  von  Schillers  Gattin  in  den  Beilagen  zu  dea  .Jkätfa  »#« 

^^Üm  and  dessen  Mutter  an  Kr.  Frhm   von  Stein,    üeraus^cf.  f««  Btei  es'i 

^Im-     Leipzig  IStii.  h.  S.  )5S  f.  und  Uoltmeister  5.  til  f.  *J>  Er  «ekk» 

***  Gve'.lic  ifi,   P.U):  „Ich  habe  jetzt  auch  meine  Noth  — ;  dcia  4»  iii  *■«  Am« 

***,  eiuAVort  ul)er  den  trafnächcn  Chor  zn  sagen  — ,  so  diHdt  4w  ^^B^ThtaAtr 

n»H  lamrat  dem  ganzen  Zeitalter  anf  mich  ein.  und  icii  »«Ä»  kMB,  «it  k*  « 

*l>(ertjf«n  8oU".  83)  In  dem  Briefe  vom  22.  Odbr  S.  4C  C 


522    VI.  Vom  zweiten  VierteJ  des  XVTII  JahrbtinderU  bis  tu  Oowüit'i  Tod 


§  324  ganz  eiuverstaudcu  erkUircn;  er  hatte  zweierlei  zu  tndcJn;  da»  ^^^m 
Chor  liier  deu  linndeladeu  Personen  zu  nahe  sei;  und  doss  er  in  sUi( 
nicht  den  Reicbthupi  habe,  den  er  haben  könnte,  dass  es  ihm  ats9 
zugleich  an  Ruhe  und  an  Bewegung  fehle.    Auch  befriedige,  w< 
die  Tbeihmg  des  Chors  in  zwei  Uiilfteu  an  und  fUr  sieb  aueb  unn 
wertiieh  sei,  ja  uuter  gewissen  Redingungen  selbst  vortrefflich 
könne,  die  Art,  wie  Schiller  ihn  gotheilt  habe,  nicht  ganz.    Sodi 
wttnscbte  Humboldt   —  und  diess  ist  in  dem  Briefe  vnrzQglich 
aebtenswertb"^  —  Schiller  mochte  mit  den  neuen  Forderungen, 
er;   nach   dem  Gelingen   dieses  Stücks,  mit  Hci'ht  An   ^iob  maclic 
könne,   bald  wieder  einen  in  sich  mächtigen,  schon  durch  selltfl 
Umfang  mtthsnm  zu  bändigenden  Stoff,   wenn   nicht  so   - 
„Walleneteiu",   doch    wie  „die  Jungfrau"  behandeln.     Dci 
leriöche  Theil  des   Publicums  werde  gewiss  zwischen   „der  ßrai 
und  diesen  Stücken  Vergleichungen   anstellen  und   deu  letzt«ra  i\ 
joder  RUcköicht  den  Vorzug  geben,  schon  darum,  weil  sie,  nel 
der  künstlerischen  Wirkung,  auch  einer  andern  durch  ihren  bloMM 
Stoff  fähig  »eien.    Und  diesen  Urtheilon,   wjenn  man  sie  wirküA 
fälle,   liege  eine  gewisse  Wahrheit  zum  Grunde".     Eine  der  boro* 
boldtschen  ganz  entgegengesetzte  Aufnahme  fand  Schillers  Tni^<itie 
bei  Herder   und   dessen  Gattin,   was  sich  freilich   ebeufalls  uiedet, 
von  Herders  damaliger  Stimmung  gegen  Schiller  und  Goethe  erwi 
Hess:   für  sie  war  das  Stück  „eine  wunderliche  Fata  Morgans" 
„ein  grasses  Unding*'"*.    Aber  auch  von  andern  Seiten  her,  wo 
Urtheil  weniger  durch   persönliche  Verhältuisse   bestimmt 
konnte,  lautete   es   sehr  ungünstig  und   strenge •\     Unter  den 
näher  bekannten   öffentlichen   Bcurthcilungcu  ist   die  strengsttf, 
manchen  ihrer  Ausstellungen  selbst  ungerechte,   in  andern  Qau] 
punkten  dagegen  gewiss  auch  das  Rechte  treffende,  die  von  Mi 
Laguna.   in   der  ueuen  allgemeinen    deutschen  Bibliothek**.     Cs 
bekannt,  beginnt  sie,  dass  Schiller  dahin  arbeite,  die  neue  TrifOÄ 


Sl»  Vgl.S.  Snfi,  Äüm.  .'12.        S5)  Aiif  jeden  diesfr  Funkte,  und  b^ofidm 
deo  letzten,  gebt  der  Brief  näher  ein.        86)  Vgl.  Knebels  litorarkrhrn  N'afW«* 
2,  »44;  3-JT.  S7i  So  «chrieb  Fr.  11.  Jacobi  an  cioo  Fr»>airi  '  " 

etwas  sonderbarer  Ausdrucks  weise  (Auserlesener  Briefwechsel  2.  '••^'^ 

bat  ., die  Braut  von  Messioa",  f-inige  scböne  Stellen  ausgenommen,  uugel*hr»^ 
fallen,  wie  der  „Älarcos"  (von  F*r.  Schlegel),  und  nicht  viel  weniger  xu  hi:beü  ftiomä^ 
Alle  Personen  in  diesem  Stuck  handeln  nirht,  sondern  werden  gthandidt;  eisjüV» 
Schicksal  thut  aUes.  Wir  lernen:  der  Mensch  ist  lauter  Wahn,  und  ts  g(bi  !»•■■ 
Weg  für  ihn  weder  zur  Wahrheit  noch  zur  Tagend.  Wie  könnte  es  auch  i** 
Weg  geben  zu  etwas,  das  überall  nicht  ist?  AJlos  ist  nur  Gestalt,  nicht  d«rSi** 
sondern  der  Gestaltung.  Welch  ein  ekelhafter  Spuk  mos  zasuiiiBcng«au*cbt<rlftt' 
und  Himmel  diese  ganee  Brantl'*  88)  S8,  3,  4til  f. 


4 

U«*^ 


m 


twickelungsgoog  d.  Lit.   1773—1632.   Goethe  u.  ScbiUer.  Braut  v.  Mo&sina.    523 

^r   alten   wieder   näher   zu   liringcn;    dicaa  Ahsiclit   trete   nirgend  §  324 
deutlicher  hervor  als  in  „der   Braut  von  Messina."    Auf  die  Aus- 
[Idung  der  DandluTig  sei   wenig  Kunet  gewandt,   so   wenig: ^  dass 
[bst  zweideutige  Gr>ttcr8])rllche  und  der  Kunstgriff  des  Verschweigeua 
ichl  verschmäht  worden,  um  sie  im  Gange  zu  erhalten;  statt  aller 
itsL'heideuden   Motive   wirke   nbcrall   ein   uuhekauutcH  F^.twu«,   das 
rbicksal ,   das,  man   wisse   nicht,   welche  Schuld  rächen  und  den 
"evel  des  Vaters  iu  den  Kindern  auslöschen  wolle.     Bei  der  Form 
Htttekes  sei  alles  darauf  augelegt,  dass  ja  alles  recht  antik  ans- 
ehe, daher  denn  auch  an  der  Handlung,  ausser  den  wirklich  dabei 
nerten  Personen ,  zwei  Chore  Theil  nehmen ,  die  zugleich  er- 
diuen,    warneu  und  ahnen.     Allerdings   werde   man,   wie  es  sich 
lebt  anders  von  einem  StUcke  Schillerg  erwarten  lasse,   auch  hier 
le  die  grossen  Schönheiten  seiner  frUhero  Schauspiele  wieder  finden, 
\er  —  in  weit  geringerer  Anzahl,   und   so  sehr  sich    in  mehreren 
LZelaen   Stellen    der  Genius  des   grossen  Dichters  ausgesprochen 
ibe,  80  sehr  vermisse  man  ihn  im  Ganzen.    Er,  der  unter  allen 
mtscben    Tragikern  ,  am    entschiedensten    gegen    die    französische 
-agödic  und  deren  endlose  Tiradcn  geeifert,  habe  uns  hier  nichts 
|8  Tiraden  gegeben (!j.    Gleich   durch  die  Eingangsscene  und  die 
Lrauf  folgenden  Betrachtungen  des  Chors  könne  der  Leser  zu  dem 
tauben  verfuhrt  werden,  er  habe  einen  weit  ausgesponnenen  Roman 
Dialogen,  nicht  ein  Trauerspiel  vor  sich.    Wenn  irgend  ein  dra- 
Ltischer  Dichter  in  Gefahr  sei,   das  Object  mit  dem  Subject  zu 
verwechseln,  so  sei  es  Schiller;  aber  anstatt  dieser  Gefahr  aas  dem 
'ege  zu  gehen,  scheine  er  sie  hier  reclit  aufgesucht  zu  haben:  denn 
istatt  eine  Handlung  zu  erfinden,  die  ihn  genOtbigt  hatte,  aus  sich 
\i  heraus  und  in  den  Charakter  der  handelnden  Personen  ein- 
igehcn,   habe  er  eine  Reihe  bewegungsloser  Scenen  gegeben,  die 
Lesen  ermllde  und,  wie  die  Erfahrung  auch  schon  gezeigt  habe, 
der  Vorstellung  nicht  die  geringste  Wirkung   hervorbringof?), 
feil  ühei-all  nur  der  Dichter  reflcctiere,  dedaraiere  und  poetisiere. 
fnd   die  Ursache   dieses  Missgrill»?    Keine  andere  als  die  Sucht, 
was  in  der  griechischen  Tragödie  theils  zufällig,  theils  bloss 
Ltional,   Ibeila  sogar  tadelnswortb   sei,  auf  unser  Theater  zu  vcr- 
tnzen.     Um  sie  in   ihrer   Einfachheit  zu    erreichen,    knüpfe    der 
ichter  »eine  Geschichte  an  eine  Vorzeit,  von  der  wir  nichts  wissen 
id    nichts    erfahren.     LTm    das    tragische   Schrecken    über    seine 
Zuschauer  zu  bringen,    rufe   er  ein  blindes  Schicksal  herbei,   ein 
inding  für  die  Neuem.     Endlich,  um   das   tragische  Gedicht  theils 
reinigen,    d.  h.    die  Reflexion   von  der  Handlung    abzusondern 
id   durch   diese  Absonderung  sie  selbst  mit  poetischer  Kraft  ans- 
äten, theils  in   die  Sprache  Leben  und  in  die  Handlung  Ruhe 


mmm 


524     VI.  Vom  «weiten  Viertel  des  XVm  JalirlutuUerU  bü  *u  Qo«Üi«*s  Tod 

§  324  zu   bringeu,   faire  er  il«u  alten  Chor  zurück,  obne  zu  ))edenke 
doss    08    wohl    weit    natUrlicbov    sein    würde ,    den    Zuschauer   di 
Reflexion  fltr  sieb  macben  und  sie  aus  der  HaudluDg  selbst  hcrvo 
gehen  zu  lassen,    und  das   nOtbige  Leben   der  Sprache  nicbt  \ 
dem  Cbor  zu  erborgen,  sondern  ilureh  eigene  Kraft  zu  verleihen". 
Um  sich  von   seiner  letzten  Arbeit  zu   erholen  und   sich   zu  ein 
neuen  p-rossen  Werk   zu  sammeln,   Ubersetzte  Schiller  nun  zunäch^ 
zwei  französische  Lustspiele  von  Picard,  das  eine  freier,  das  andere 
wörtlicher*';   dann  grieng  er  in  der  Mitte  den  Sommer«  mit  vollem 
Eifer  an  den   „Wilhelm  Teil""'.    Für  diesen  Oej^^enstand   hatte  n. 


89)  Kachdetn  hierauf  der  Keceusvnt  noch  angedeutet  bat.  d&ss  darcb  den 
Chor  die  Sprftclio  nicht  einmal  belebt  und  gehoben,  nocli  das  hunte  GemUcb  x^a 
chribtlicber  UeUgion ,  beidniscber  (iötterlidire   und  luaurischem  Aberglauben  tob 
dein  Dichter  hinlUnglich  gerechtfertigt  worden  sei,   scliliesst   er   mit  den  Wort»: 
„Wir  hoffen,  Hr.  Schiller  werde  es  bei  diesem  venitiKlOckten  Ver^ucho,  aaatf 
Theater  zu  gruecisieren .  bewenden  lassen,  ond  die  Muse  ihn  and  una  vor  tUo 
weitern  Streben  darnach  bewahren.    Ein  Dichter,  der  xugicich  riu  s»  treßlicfctr 
Kritilser  ist,  wie  er,  sollte  dorh  den  l'nterscbied  zwischen  Zeiten,  Sitten  und  V^Üm 
richtiger  ins  Auge  fassen,  als  die  exccntriachen  Kuustjünger,  die  airh  durch  ir 
loses  Geschwätz  über  Griechen  und  Griechheit   ein  Ansehen  zu   gel»fn 
Wie  tief  er.  wenn  er  luibeiangen  zu  Werke  geht,  in  das  Wesen  ilrr  Kunst 
«bis  beweist  uuter  andern  eine  Stelle  des  Vorbetichts,  die  uns  lieber  ist  %h  -    tloA 
wozu  ventleichenV    Hier  ist  sie  selbbt'"  (sie  beginnt  mit  den  Worten:  „Wi« 
nun  die  Kunst  zngleirli  ganz  ideell"  —  und  schliesal:  „wenn   es  al«  ein 
ReaJitAt  haben  und  mit  der  Natur  übereinstimmen  soll";  vgl.  Werke  10,  43 
Vgl.  hierzu  die  Recension  von  L.  F.  Iluber  im  Freimüthigeu  von  Isü3,  N.  li* 
S.  4r)nff.  und  einen  Artikel  über  die  Aufführung  „der  Braut  vonMessina"  auf 
Berliner  Theater  in  der  Zeitung  fßr  die  elegantt-  Welt  I8(U,  N.  1,  Sp.  rlff 
Ol»)  Das  erste»  im  Fransiösischen  ..Mi^diocre  et  rarapant.  ou  le  moveu  de  [ 
betitelt  und  in  Alexandrinent  abgefasst,  ist  ..der  Parasit,  oder  die  Kuntt, 
OlQck   zu  machen*\  in  einer  freier  1>ehandeltea  prosaisehca  Uebersetznng; 
andere  „Encore  des  Mt-nechmes",  schon  von  Pitard  in  Prosa  ge6chrieb«ii,  „4e^ 
Neffe  als  Onkel'*.    Schiller  fieng  diese  Cebersetzuniien  gleich  nach  Beeüdiguag  ^d*' 
Braut  von  Messina"  Im  Miirz  f^o:)  au  und  war  im  Beginn  des  Mai'ü  damit  fenäf 
(anKörner  1,  '.m-,  325;  :U'tf.:  vgl.  an  Goethe  (i.  MU  t.  und  Iluffrot-ister  6,  ir 
„Der  Parasit"  zuerst  gedruckt   im  2.  Bde.,  ..der  Neffe  als  Unkel"  im  h.  Bde. 
„Theater*  von  Scldller*.     SlntTgart  und  Tnbingen  ISm5— 1^07.  5  Bde.  H 
9n  Zuerst  war  er  auf  diesen  Stoff  durch  Gootbe  aufmerksam  com:u  ht  «ordtfl^ 
„Ich  hatte  mit  Schiller",  erzahlt  dieser  (Werke  ai,  ts"i.  „dlwicA»  Mfte* 

epischen  Teil,  vgl.  oben  S.  Jfiöf.j  oft  besprochen  und  ihn  mit   :  ifw» 

Schilderung  jener  FelBwände  und  gedrängten  ZustänJe  oft  genug  r  ^'' 

eestalt  dafrs  sich  bei  ihm   diese«  Thema  nach   seiner  Weise  «ui. . ...........  nn' 

formen  musste.    Auch  er  machte  mich   mit  seinen  Ansichten  hek&Dnl  iHfi^t^ 
sich,  viel  später,  als  in  Uuu  der  Gedanke  aufgeganj^eu  war.  diesen  Oei 
etucm  Schauspiel  zu  benutzen),  und  ich  entl>ehrte  nichts  an  t'inem  Stoff, 
mir  den  Ueiz  der  Neuheit  und  des  unmittelbaren  Anschatiens  verloren  batti^ 
überliess  ihm  daher  denselben  gerne  und  fflrmlicb   — ;  da  sich   denn  tkm  jn^ 
obigen  Darstellung  (von  der  epischen  Behandlung,  wie  sie  Uoethe  im  Sinai  lut^ 


ickelungsgang a.  LUeratnr.  177:»— IS32.  üoethe u.  Schiller.  WaiielinTell  525 


\U  2U  Anfang  des  Jnhies    IS02   ein  sehr  lebbaftes  Interesse  g:e- 

,,Eiu  nii'iclitijrer  Iiiterefise  als  der  ,.li\''arbeck",   achriel)  er  an 

c",  bat  mich  seit  sechs  Wochen  bearhilftijjt  tintl  mit  einer  Kraft 

Inni.irkeit  nngo/.open,  wie  es  mir  lange  nifbt  begegnet  ist.    Noch 

war  bloHH  der  Moment  <ler  Hoftüun^^  und  der  dunkeln  Alinung:. 

er  ist  fruchtbar  und  viel  vcr3]»rechend,  und  ich  weiss,  dass  ich 

th   auf  dorn   rechten  We^re  befinde".     Dass  Schiller  hiermit  deu 

11",  und  nicht  Mdie  Braut  von  Messina*'  jremeint  hat%  beweisen 

i  Stellen   in  Briefen  an  Körner.     Die  erste y  aus  derselben  Zeit 

dem   Briefe  an  Goethe**,   lautet:   „Ein   anderes  Sujet  hat  sich 

uidenj   dan  mich  jetzt  ungleich   stärker  anzieht  (als  der  „War- 

"),   und  welches  ich  getivist  auf  „die  Jungfrau  von  Orleans'* 

10  (olt;eu  lassen.    Aber  es  fordert  Zeit;  denn  es  ist  ein  gewagtes 

temohmen  und  werth,  dass  mau  alles  dafür  thue".    Die  andere, 

frn  Ausschlag  gebende  Stelle  steht   in  dein  Briefe  vom  9.  Septbr. 

b02".    Nachdem  Schiller  berichtet,   was  ihn  veranlagst  habe,  zu- 

»t  „die  Braut  von  Messina"  zu  dichten,  worauf  es  hurtig  an  den 

arbeck*'  gehen  solle,  schreibt  er:  „Unmittelbar  nach  diesem  (geht 

an  den  ..Wilhelm  Teil";  denn  diese  ist  das  Stück,  von  dem  ich 

einmal  schrieb,  dass  es  mich  lobhaft  anziehe.     Du  hast  vielleicht 

n  im  vorigen  Jahre  davon  reden  hören,  dass  ich  einen  „Williolni 

"*  bearbeite;  denn  selbst  vor  meiner  Dresdner  Reise  wurde  des- 

aus  Berlin  und  Hamburg  bei  mir  angefragt.     Es  war  mir  nio- 

in  den  Sinn  gekommen.     Weil  aber  die  Nachfrage  nach  diesem 

:k  immer  wiederholt  wurde,   so  wurde  ich   aufmerksam   darauf 

ficng  an  Tscluidi's  schweizerische  Geschichte  zu  studieren.    Nun 

1^  mir  ein  Licht  auf;  denn  dieser  Schriftsteller  hat  einen  so  treu- 

igen,  herodotischon.  ja  fast  homerischen  Geist,   dasA  er  einen 

6»ch  zu  stimmen  im  Stnnde  ist.  ...    Ob  nun  gleich  der  Teil  einer 

ittliäohcik  Behandlung  nichts  weniger  als  gllnstig  scheint,  da  die 

idlung  dem  Ort  und  der  Zeit  nach  ganz  zerstreut  auseinander 

da  sie  grossentheils  eine  Staatwuction  ist  und  —  das  M/irchen 

dem  Hut   uml  Apfel  iiusgonommen   —  der   Darstellung  wider- 

M:  80  habe  ich  doch  bis  jetzt  so  viel  poetische  Operationen  da- 

vorgeuommeu,  dass  sie  aus  dem  Historischen  heraus-  und  iw 


glichen  mH  dorn  scltUlonichcn  Drama,  d(?atUch  orj^bt,  tlass  ihm  aUet 

nnd  dass  er  mir  nichts  als  die  Anreguugitnd  eine  lebendig«!« 

•ein  mag,  als  Uim  die  cinfaclio  Legende  btlttc  geirihna  fcl^M*" 

an  Trate  die  Stelle  aus  dem  Briefe  an  Körner  rom  9.  Ctflti   t9Ki^ 

Vom  IM.  März  1S02  (0,  in2i.  93)  Dicss  ist  bertNs  9km  ^  MS 

larifltor  behaujiU't   worden;  Riemer .   Mittheiluugen  2,  *•'-   fc«Äi*  x 

gar  auf  den  „Demetrius*'.  94»  Brief  vom  »T-  Uätt  *»C:  L  I"i 

4, 2n  f. 


526     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jahrhunderts  bis  eu  Giiethc'i 

324  Poetiscbe  eiugctreten  ist.    Uebrigens  bvanche  ich  Dir  nicht  zu 
ikss  es  eine  verteufelte  Aufgabe  ist;  denu  wenn  ich  auch  von 
Erwartungen,  die  das  Publioiun  und  da«  Zeitalter  gerade  zu  die«eni 
Stoffe  rnitbriugl,  wie  billig  a])strahiere,  so  bleibt  mir  doch  eine 
hohe  poetische  Forderung  zu  erfüllen  —  weil  hier  ein  ganze«,  h» 
bedingte-*  Volk,   ein  ganzes  und  entferntes  Zeitalter,   und,  wa« 
Hauptsache  ist,  ein  ganz  örtliches^  ja  beinahe  individuelles  ood  i 
ziges  Phänomen,  mit  dem  Charakter  der  hüchsten  Nothweudifl 
und  Wahrheit,  soll  zur  Anschauung  gebracht  werden.     Inde«»  »tebe» 
schon  die  Säulen  des  Gebiludes  fest,   und  ich   hoffe  einen   solid« 
Bau  zu  Staude  zu  bringen**^.    In  der  Zwischenzeit  war  schon  maocl 
ftlr  die  Rehandluug   des  Stoffes  vorbereitet  worden.     Indess 
ihm  die  Organisierung  desselben  noch   immer  viel  zu  schal 
dass  die  Arbeit  anfänglich  nur  langsam  vorrückte.  Am  9,  August  ISt 
stand  der  Dit-hter  „noch  immer  auf  seinem  alteu  Fleck  und  bew( 
sich  um  den  Waldsteltersee  herum'"'\    Am  IS.  August  schrieb  er 
Humboldt '*•;    .^Wilhelm  Teil   ist  jetzt,  was  mich  beschäftigt,  aber 
dieser  Stoff  ist  sehr  widerstrebend  und  kostet  mir  grosse  MOhc;  di 
er  aber  sonst  grossen  Reiz  hat  und  sich   durch  seine  Volk8nii«if 
keit  so  sehr  zum  Tbeater  empfiehlt,  so  lasse  ich  mir  die  Arbeit  aicl 
verdriessou,   ihn  endlich  noch  zu  überwältigen''.    So  klagt  er  *i 
am  12.  Septbr.  gegen  Körner'*,  dass  die  Arbeit  noch  nicht  viel  , 
fördert   worden»   weil   er  leider  mit  einem   verwünschten  Stoff  n 
kämpfen  habe,  der  ihn  bald  anziehe,  bald  abstossc.    Er  sei  genötliipt. 
viel  zu  lesen,  weil  das  Locale  an  diesem  Stoff  so  viel  hedeulc,  ni"^ 
er  gern   so  viel   möglich   örtliche  Motive  nehmen   möchte,    v^' 
mir**,  fügt  er  aber  hinzu,  „die  Götter  günstig  sind,  das  auszufii! 
was  ich  im  Kopfe  habe,  so^  soll  es  ein  mächtiges  Ding  werden  uii' 
die  Bllhncn  von  Deutschland  erschüttern".     Am   30.  September  wi-' 
Shakspeare*»  ,, Julius  Cäsar"  zum  erstenmal  in  Weinnir  aufgcfühil, 
worden"";  den  Tag  darauf,  wo  Schiller  nach  Jena  zu  geheu  Im 
griff  war,  schrieb  er  an  Goethe'*':  „Für   meinen  Teil    ist  mir 
Stück  von  nnschiltzbarcm  Werth;  mein  Schifflein  wird  auch  dadi 


95^  l'eher  SchÜJera  Staditfu  zum  „Wühclm  Teil"   und  die  tod  ihm  < 
nützten  Quellen  vgl.  Hoffmeister   5,  15:i  ff.  nnd  nnd  Joach.  Merrr  in  de 
berger  SchalprogramiQ   fUr  das  J.  IS39 — 10:   .^Schiller«  ^Vtlfaclm  T«U,  ui 
QaellcQ  zttrttckgcführt  und  sachlich  und  siirachlich  erlUut*r''  '    Lnru, 

Schillers  Wilhelm  Teil.    Halle  1S«!S     ^.;   Jänicke.   in  der  f.  dcoü* 

Philologie  1.  3.'j3f.;  Hildebrand  ebendas.  2,  I^Sf;  und  I'epi"^  -i  dr4i<)o(ö* 

des  SchiUrrHchcn  W.  Teil,    in  GoBcht'B  Archiv  f.  Lit.-Oeai       i     i    i  ff. 
97»  An  Goethe  ß,  20«.  9S)  S.Abt.  99)  i.  33tlf. 

«,  217.  lülj  6,  209;  der  Brief  steht  hier  an  aurechter  Sw- 

N.  &94  folgen;  vgl.  2.  Änsg   V.  417. 


^ntvickcliuigsgaa^  d.  Literatur.  UTa— 1^.12.  GoeÜio  u.  Schillor.  Wilhcliu  Tdl.  527 

jebobcn.  Es  hat  raioh  gleich  gestern  in  die  (hfltigHte  Stimmung  ge-  §  321 
;t2t*'"*^  Goethe  antwortete'"^:  er  wolle  gern  gestehen,  daea  er  es 
well  darum  unteruomraöu  habe,  den  „Julius  Cäsar"  in  Scene  zu 
>tzen,  um  Sehillers  wichtige  Arbeit  zu  fördern.  Auch  in  der  ersten 
[&lfte  des  Ottobers  konnte  er  noch  nicht  schnell  fortrückeuj  weil  er 
ich  mit  dem  histttrischeu  und  geographischen  Theil  seines  Stoffes 
srat  befreunden   rausste"".    Am  7.  Novbr.   endlich  w^ar  er  ziemlieh 

seineni  Stück  und  mit  dem,  was  bereits  fertig  war,  ganz  gut  zu- 
iedeu;  doch  blieb  noch  immer  viel  Arbeit  Übrig '*^.    Rascher  gieng 

damit  nicht  eher  als  in   den   ersten  Monaten  des  neuen  Jahres: 
fegen  die  Mitte  des  Januars  war  der  erste  Act  beendigt,   und  bald 
iwb  der  Älitte  des  Februars  wurde  das  ganze  Werk  zum  Abschluss 
sbracht"".    —   Im    j^Wallcustein"    hatte    Schiller   als   dramatischer 
achter  den  einen  Höhepunkt  seiner  Kunst  erstiegen;  in  keiner  seiner 
Irei  zunächst  fidgeuden  Tragödien  vermochte  er  sich  auf  dieser  Hohe 
loz  zu  halten,  und  tiefer  als  in  den  tlbrigen  war  er  von  ihr  in  der 
letzton,  in  „der  ßraut  von  Messina'*  hinabgeglitten.     Nun  aber  halte 
er  einen  neuen  Aufschwung  genommen,   und  es  war  ihm  gelungen, 
im  „Wilhelm  Tcir'  einen  zweiten  Gipfelpunkt  zu   erreichen;   denn 
mg  an  dieser  Dichtung  auch  noch  Einzelnes  nicht  in  voller  Ein- 
stimmung mit  den  höchsten  und  reinsten  Kunstgesetzen  stehen»   im 
Giuizeu  wird  sie  immer  neben  dem  ,, Wallenstein"  den  Rang  eines 
vortrefflichen,  natur\vahren ,  durch  und  durch  von  echt  deutschem 


102»  Vgl.  waa  oben  S.  VMi  f.  über  den  KintlusB  der  shakspcftre'Bchen  Stücke 
•'ü  der  euglischen  Geschichte  auf  den  „"Walleustein"  luii^eführt  ist         103j  i»,  217. 

I04>  AnKöruer  I.  314.  105}  Zu  Ende  des  Jahres  IStn  iind  im  Bt'ginu  des 

foll^odcü  Würde  der  Dichter  wie<icr  mehrfach  in  seiner  Arbeit  durch  die  Auwcsen- 
heil  der  Fnia  von  Stael  in  Weimar  gestört  (an  Goethe  (i,  TMi  ff.;  an  Korner  4, 
^3:  3S7  lOö)  Am  \x  Januar  hatte  Goethe  den  groBsen  ersten  Act  gelesen 

niid  sandte  ihn  dem  Dichter  mit  den  Worten  zurück  (C,  249):  „Das  ist  denn 
it^ch  kein  erster  Act,  sondern  ein  gauzes  Stück  und  zwar  ein  filrtieftÜches, 
»Wa  Irh  Ton  Herzen  Glück  wünsche  und  bald  mehr  zu  sehen  hoffe.  Meinem 
*i^  Anblick  nach  ist  alles  so  recht,  und  darauf  kommt  es  denn  woU  bei  As- 
^tcn.  die  auf  gewisse  Effecte  berechnet  sind,  haupCäftchlich  au**.  Nur  au  zwei 
^Öen  wtUiachte  er  einen  ergänzenden  Vers  und  eine  Abänderung.  Schiller,  der 
ii  dem  Briefe  des  Freundes  einen  grossen  Trost  fand .  versprach  demnächst  das 
»ftlß  zu  genden.  welches  3chon  ins  Reine  geschrieben  würde  (<»,  2Uy:  der  Brief 
•***it  wieder  an  unrechter  Stelle,  er  ist  die  Antwort  auf  N.  UI2).  Auch  erhielt 
^ 'i  ichon  wieder  am  !S.  Januar  zurück;  Goethe  fand  es  alles  Lobes  imd  Preises 
**tlj;  ,,der  Gedanke,  gleich  eine  Landesgemeindc  zu  cousiituieren",  erschien  ihm 
J^^rtr^fflich.  sowohl  der  Würde  wegen,  als  der  Breite,  die  es  gewahre"  Am  1^. 
***>rnir  war  der  „Teil"  beendigt  mach  ein(^r  Notiz  von  Schiller  selbst  bei  Hoff- 
"•^ijtcro.  !4I;  vgl.  deu  Briefwechsel  mit  Goethe  (l,  2')5  ff.  und  dessen  Briefe 
JJ'Xciter  1,  lOü;  12s).  Am  IT.  März  war  in  Weimar  die  erste  Vorstellung  des 
'^üki  i»g|   Hoffmeister  5,  144  ff.;  an  Kömer  4,  359. |. 


m 


528     VI.  Vom  swoiten  Viertel  des  XYlli  Jftbrhtuiderls  bis  ku  GdcÜw*«  Tt4. 

§  324  GeiAte  beseelten  liiAtnrigchen  Scliauspiels  im  grossen  Stil  bcliaupl 
kimnen.    Und  allem  Auschein  nach  wtlrde  sieb  za  die^eu  »eiaea 
beiden   MeiHterworken    als    dnttes    der  „Demetrias"    ircsellt   babcu. 
wÄre  es  dem  Dii-bter  noch  vergönnt  gewesen,    den  Plan  dazu  n 
ständig  auezuftthrcn.    Wann  dem  Dichter  dieser  Gegenstand  zn( 
bekannt  geworden  sei  und  zu  einer  dramatii^cben  nehandlung  geeijn 
geschienen  habe,  weiss  icli  nicht  bestimmt  anzugeben-     Da*»  er 
scbon  im  Sommer  ISOl   damit  beschäftigt  babe"\  mu««  io  Ali 
gestellt  werden'*^.     Dagegen  wäre  es  möglieh,  dasn  zu  der  Zeit, 
eine  nahe  Verbindung  zwischen  dem  woimarischeu  und  dorn  niSÄisoU 
Hofe   bevorstand,   ein  Brief  Körner»  vom   25.  Scptbr.    l^iS" 
Dichter   die  erste  Anregung  gegeben  habe^  sich  iu   der   r  i 
Geschichte  nach  einem  dramatischen  Stotfe  umzusehen.    Sei 
nämlicli   von  dem   KOnig  von   Schweden,    als  Zeichen  de«  seiD< 
„dj'eissigjjlhrigeu  Kriege''  ge^wdlten  Beifalls,  einen  schöncu  Brilh 
ring  erhalten;  daraufschrieb  ihm  Körner:  ,,Zu  einem  andern  Brillii 
ring  könntest  Du  leicht  k«immen,   wenn  Du  dem  Kaiser  AlexaiK 
eine  Galanterie  machtest.    Aber  die  rusaische  Gc»chichte   hüt  nrj 
genug  grAssliclie  und  traurige  Begebenheiten,  doch  ich  wüÄistc  dai 
keinen  tragischen  St«»ff  voi-zuschlageu.  besonders  keinen  solchen,  dtf 
der  Nation  zur  Ehre  gereichte**   etc."".    Zur  Bearbeitung;  halte  «t 
sich  gleich  nach  Beendigung  des  ,, Wilhelm  ToU**  eutschlonsen,  luui 
dazu  aber  erst  nach  einer  langem  Zwischenzeit^",  in  ;velcbe  »»eli 


1U7)  Wie  in  ilem  Kegister  zur  2.  Anag.  des  HrietVochsfls  mit  CrwtlwS.Kt 
(iintor  «,l)pmetriu8**i  angDaonimeii  ist  löS)  Peuu  mit  dfiu  in  ilen  BM^ 

N. S22  (in  der  I.A.X. TMP,»  nol.en  „den Maltlieseru"  erwAlintcn  ..uQttrgiHckaha« 
PriDzen"  ist  sicherlich  der  „Waibeck"  und  nicht  der  „OeuiLtriub"  gemeiol. 
H)9i  t,  33«  f.  I  10)  Vgl.  dfizn  auch  den  von  Fr.  von  WoUo^n  in  ..><rh=^« 

Leben"  S.  üHi  ff.  ntitgctheilten  Itrief  au  ihren  Gatten.  11  |i  Am  l>< 

ISOi   schrieb  Schüler  in   st^in  'lagebiK-h:   ..Mich  zum  IW-motrius 
(Hoffmcistpr  n,  2^:'|;  um  12.  April  an  Körner  li,  ^59>:   ..Ich   cehe  wi«< 
auf  eine  ganz  neue  Aiiioit  los  und  In'n  in  gaiu  ;^utcrSi'> 
seine  Heise  nach  Uerlin,  Krankheit  und  nnJeres  vcn 
Am  II.  Oktober,  als  er  in  sich  wie<ler  Nciffting  und  lü.itU'  sui 
war  er  sogar  unschlüs&ig.  welchen  von  zwei  Planen  er  ziicrüt  n-i , 
siud  wohl  „Warbeck''  und  „Donietrius"  geraeinl;  an  Ki>rn«r  4.  .wjt.    K«Wi^ 
er  die  Ucberaetzung  der  „PUädra"  vollendet,  bchrieb  er  an  Goeili»   nttL  M.H^ 
ISüö.  ti,  2s*;):  „Nun  werde  ich  die  nächsten  acht  Tage  daran  ^ 
«o  TDcinem  Mt>euielriu8**  in  die  gehörige  Stimmung  set'<"ii  l^mii 
zweifle.    Gelingt  es  nicht,  so  werde  ich  eine  neue  hall 
Sachen   inüssen".     Ein    neues   mebrwiVhentliches   li...   .... ...    ...... 

wieder  zu  jtilcr  jiroductiven  Thäiigkeit  unfähig;  erst  im  Anfange  de«  y 
et  an  seine  „Haupiarbcit"  gehen  (an   Körner  4,  »^9  t.\.    un«) 
Monats  liatte  ersieh  ..endlich   mit  ganzem  Em»l'-  an  ai*  .ji  . 
dachte  nun  nicht  mclir  so  leicht  zerstreut  zu  werden.    ..Ks  bat  r-uv 


r 


LtwtckeiuiigBgang  der  Literatur.  1773—1432.  Goethe  u.  Schiller.   DemetrioB.   529 

Feslainel  „<lie  HuMignng  der  Künste"'"  und  die  üebersetzung  von  §  324 
ine'ö  ,,Phädra*'^"  fielen,  wcni^'e  Wochen  vor  Beinem  Tode,  so  dass 
iiDfl    VCD  dieser  seiner  letzten   Arbeit  ausser  dem   PLan  nur  eine 
Eahl  ^rossartiger  mehr  oder  minder  ausgearbeiteter  Scenen  hinter^ 
ea  kounte"\ 

§  325. 

Der   rastlosen   und    viclschaffcndcn  Thätigikett   gpgenUber,    die 

iller  nach  der  Beendigrung  des  „Wallcnstein"  bis  zu  seinem  Tode 

dem    poetischen  Gebiet  entfaltete,    schien   Goethe    als   Dichter 

hrend   derselben  Jahre   eher  zu  feiern,   als  mit  dem  Freunde  zu 

tteiforn.    Mitunter  hatte  os  selbst  den  Anschein,  als  habe  ihn  alle 

Dducti^'itat  verlassen".     Viele  Zeit  wurde  wieder  auf  kunettheore- 

he  Arbeiten    und    auf   naturwissenschaftliclic  Studien    verwandt 

I  jenen  gehörte  in  der  Zeit,  wo  er  den  „Sammler'*  etc.   fttr  die 

„Pntpyl&en**  beendigte*,   das  mit  Schiller  und  Meyer  gemeinschafl- 

lii'h  i»nt\v()rfonc  Schema  „über  den  sogenannten  Dilettantismus  oder 

die  iiraktisehe  Liebhaberei  in  deu  Künsten",  das  auch  wohl  für  jene 

Zeiifichrift  ausgeführt  werden  sollte,  aber  liegen  bliebt    Sodann  ist 

Wer  zu  gedenken  des  AufsatJ^es  „über  Polygnots  Gcmählde  in   der 

Lewhe  zu  Delphi*'  aus  dem  Jahre  1S03';  der  Schrift  „AVinckclniann 

un»i  «ein  Jahrhundert,     In  Briefen  und  Aufsätzen  (mit  Beiträgen  von 

Fr.  A,  Wolf  und  H.  Meyer)  herausgegeben  von  Goethe",  welche  ISOl 

*^el)  er  an  Goethe  (t>,  309  f.).  „nach  langen  Pausen  und  unglücklichen  ZwIscUen- 
fAlWn  wieder  Posto  lu  fassen,  und  ich  musste  mir  Gewalt  anihun.  Jetzt  aber 
bin  ich  in,  Zuge'*.  Vgl.  au  Uumholdt  S.  4H<1  f.;  an  K/irner  -1,  39:t.  und  Qoethe's 
^'«^n],  1911.  ir>)Vgl.S.ö02,  Anm.22.  I  l3|Sie  wurde  arn  n.Dfcbr.  1*104 
''«Ituuiieu  und  am  14.  Jan.  war  sie  beendigt  (vgl.  Hoflmeiattir  5,  2S3fT. ;  an  Goethe 
^  2^'i;  au  Körner  1.  3S31.  Der  erste  Druck,  mit  beiffcfngtom  Originaltext,  als 
T*nhailiiich.  TübinKOu  1805.   12  tt4l  Gedruckt  in  den  Werken  12,  2*>3ff. 

i'h  nach  Schillers  Tode  irefasste  Absicht,  die  Tragödie  «u  vollenden, 
-ct'uhrl  (vgl.  (loelhe'a  Werke  :il,  tM2  fl'.i;  dagegen  erschien  ein  ,.I>e- 
'i  dem  hiuterUsseneu  Entwürfe  des  nichtere  bearbeitet",  von  Fr.  von 
i^ruhe  IMT.gT-  12-,  wozu  in  neuerer  Zeit  andere  Vprsuchc  von  Laube  etc. 
ind.  V^^l.  noch  ^^Idol]^h,  nlier  Schillers  DemetriuR.  im  Archiv  f.  d.  Studium 
■  '  ^(»rächen  3h,  ItWff  ;  Schnier  in  der  östcrr.  Wochenschrift  1H72,  Nr.  210; 

■vT,  tlbor  Schillers  dramatische  Kntwürfe.  im  trenanuten  Archiv  41,  »21  ff. 
;.    _.  .     1)  Am  2t(.  Septhr.   IT'.m  schrieb  Schiller  fin  KAnier  (1,  ISH:  „Leider 
*^''>«nt  iliettsmnl  von  Ooetho  gar  nichts  im  Almanach ;  alleProJuctlvUäi  hut  Ihn 
^-11  ^-.T■^lc^  verlassen.**    F.in  Jahr  spater  aah  derselbe  einen  Gmnd,  wöshalb 
■  achtet  seine«  noch  immer  unverkennbaren  Reirhthums  au  Eründung 
-ninrung.  SO  wenig  hervorbringe,  darin,  dass  sein  <.4emi\th  nicht  ruhig  genug 
■.il  Uun  „seine  elenden  häuslichen  Verhidtnisse*'.   die   er  zu    schwach  sei  «u 
^"'Tu,  TielVerdniss  erregten  (an  Kftnier  1,  !*■»"  f-;  »g*-  auch  au  Schiller  «,  1V3). 
2)  Vgl.S.  4'ifl,  Aum.  14(1.        3)  M^erke  44,  264  ff. ;  vgl  Briefwechsel  mit  Schiller 
'^•4«  f ;  Sä  ff.;  S9  f.;  in,  und  Werke  »1.  84  f.  4)  Werke  14.  95  ff. 

KvbftMtolB.  UrtttidriM.   ö,  Aufl.    JV.  ^^ 


530    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XYIII  Jahrhunderts  bis  xu  Goethe*s  Tod. 

325  begonnen  und  im  nächsteu  Jahr  abgeRcblossen  wurde  ^;  sowie  der  mit 
dem  J.  ISOO  beginnenden  Anzeigen  und  Bericbte*  über  die  weimari- 
seben  Kunstausstellungen  ^  Für  seine  naturwissenscbaftlicben  Studien, 
welcbe  in  dieser  Zeit  besonders  die  Farbenlehre  betrafen',  war  die 
Nahe  Scbellings  und  der  persönliche  Verkehr  mit  ihm  von  nicht 
geringer  Bedeutung  ^  Daneben  beschäftigte  er  sich  viel  mit  Ueber- 
setzen  und  Erläutern  verschiedener  poetischer  und  prosaischer  Werke 
des  Auslandes.  Ausser  den  beiden  Tragödien  von  Voltaire,  von 
denen  bald  die  Rede  sein  wird,  verdeutschte  er  einen  ungedrucktes, 
ihm  in  der  Handschrift  durch  Schiller  zugekommenen  Dialog  Diderots, 
„Rameau*s  Neffe",  und  begleitete  denselben  mit  Anmerkungen". 
Auch  wurde  bis  zum  J.  1803  noch  manches  zur  Vervollständignng 
der  Uobersetzung  der  Selbstbiographie  desBenvenuto  Cellini  getfaan". 
Die  Leitung  des  Theaters,  der  auch  die  beiden  kleinen  AufsJUie 
„Weimarisches  Theater"  (IS02)'-  und  „Regeln  für  Schauspieler" 
(1803)*^  ihre  Entstehung  verdanken,  nahm  ebenfalls  Zeit  in  Ansprueli, 
femer  die  Reccnsionen  für  die  Jenaer  Literaturzeitung"  und  manclier- 
lei  Geschäfte  sonst".  Sein  immer  stärker  hervortretender  Hang,  sifi 
gegen  die  weitere  Aussonwelt  abzuschliessen  und  deren  unmittelbu« 
Einflüsse  auf  seine  Stimmung  und  Thätigkeit  sich  fem  zu  halten^, 

5)  Gedruckt  Tübingen  1S04.  S.;  vgl.  Briefwechsel  mit  Schiller  6,  2W:  M; 
312;  Werke  31 ,  19ö  ff.  G)  In  der  allgemeinen  Zeitung  und  in  der  Jesiff 

Literatur-Zeitung.  7)  In  einem  gewissen  innem  Zusammenhange  mit  seäs 

artistischen  Aufsätzen  steht  auch  „der  gesellige  Scherz",  den  Uoetbc  im  J.  Ji* 
unter  der  Uehorscln-iit  „die  guten  Frauen**  als  Gegenbilder  der  bösen  Weibrr  uf 
den  Kupfern  des  Damenalmanachs  für  ISOI,  schrieb,  und  der  in  dem  von  Hate. 
Lafontaine,  rfofl'ei  etc.  herausgegebenen  Taschenbuch  für  Damen  auf  das  J.W 
zuerst  gedruckt  wurde  (^Ve^ke  IT»,  2.ji»  ff.;   vgl.  31.  S7).  8l  Vgl.  Rieofri 

503  ff.;  Briefwechsel  mit  Schiller  ö,  7«  f.;  Ul ;  2t)0;  6,   Ul;    143  f.;  1Ü6;  ISöÄ: 
315.  9)  Vgl.  AVerko.'U,  Sn;  So;  IKi;  5J.  3IH  ;  Briefwechsel  mit  ScbÜler  1, *^ 

14  ff.;  120;  2U;;  320  f.  10)  Piess  geschah  in  den  Jaliren  l'^OJ  und  I* 

vgl.  "Werke  3  MS3  f.;  UtOf.;  Briefwechsel  mit  Schiller  (;,  2S3f.;  29f>;  2l)!M': -Wi; 
30S  f.;  ;u2  ff);  gedruckt  Leipzig  isOO.  S.    (Werke  3«,  I  ff.).  II)  Vil  ota 

5.  4il,  6;  Biicfwcchsel  mit  Schiller  4,  13^;  6,  100;  104  f.;  174.        12)  AnS* 

6,  73  (Werke  45,  3  ft.).  I3j  Werke  44,  200  ff.  14)  Aus  denJil«' 
1S04— 1^00,  nach  der  Gründung  der  ncueu  „Jenaischeil  Literaturzeitnng"  ** 
Eichstädts  Rodaction  (vgl.S.  l03,Anm.).  Sic  sind  wieder  abgedeckt  ia  den  ^t*** 
33,  127  ff.;  die  gehaltvollsten  und  interessantesten  sind  die  über  die  „lyn**^ 
Gedichte"  von  J.  H.  Voss  (l^o4,N.9l  undtri),  über  die  „allemannischenGwtit^ 
vonJ.  IMIebel  und  über  Grübeis ., Gedichte  in  Nürnberger  Mundart-'  (IMw.  ^'f* 
und  über  „des  Knaben  Wunderhonr*  (1>»06,  N.  IS.  H»);  vgl.  HoffmanDT.F* 
Weimar.  Jahrbuch  2, 2ÜS  ff.  15)  Vgl.  darüber  die  Tag-  und  Jahresbefte,  i>|f 
Werken 31, 83 -102.  iGi  Als  er  I7U7  im  Begriff  war,  seine  Keise  in  Üie^^ 
anzutreten,  schrieb  er  an  Schiller  (3,  \hi]:  „Sie  sagten  neulich,  dass  zur  Poesie  »**  • 
Poesie  Stimmung  gäbe,  und  da  das  sehr  wahr  ist,  so  sieht  man,  wie  viel  Zeit  derW^ ; 
verliert,  wenn  er  sich  mit  der  Welt  abgibt,  besonders  wenn  es  ihm  aa  Stoff  »f 
fehlt.    Es  graut  mir  schon  vor  dör  empirischen  AVeltbrcite**.   Dann  auf  der  B* 


£iitwickeliiDg8gaiigd.Lit.  1773—1832.  Goethe  u.  Schüler.  Hameau*s  Neffe  etc.  531 

war  auch  nicht  geeignet,  sein  dicliterisclies  Vennögen  zu  grossem  §  325 
Schöpfungen  anzuregen,  durch  welche  er  auf  die  Nation  iu  ähnlicher 
Weise,  wie  früherhin,  oder  wie  Schiller  damals,  hätte  Avirkeu  können 
oder  wirken  wollen.  Wie  er  es  seiner  innersten  Natur  nach,  aus 
einem  gewissen  realistischen  Tic,  behaglich  fand,  seine  Existenz, 
seine  Handlungen,  seine  Schriften  den  Menschen  aus  den  Augen  zu 
rücken",  und  damit,  je  länger  desto  mehr,  ein  allgemeineres  und 
unmittelbares  Verständniss  seiner  poetischen  Werke,  besonders  der 
dramatischen,  erschwerte,  die  Empfänglichkeit  dafür  selbst  bei  dem 
gebildeteren  Publicum  abstumpfte;  so  verschloss  er  sich  durch  die 

selbst  von  Frankfurt  aus  (:),  194):    „liier  möchte  ich  nun  mich  au  ein  grosses 

Stadtleben  wieder  gewöhnen,  mich  gewöhnen,   nicht  nur  zu  reiben,  sondern  auch 

auf  Reisen  zu  lehen;  wenn  mir  nur  dieses  vom  Schicksal  nicht  ganz  versagt  Ist, 

denn  ich  fühle  recht  gut,  dass  meine  Natur  nur  Dach  Sammlung  und  Stimmung 

strebt  and  an  allem  keinen  Genuss  hat,  was  diese  Mndcrt.    Hätte  ich   nicht  an 

meinem  „Hermann  und  Dorothea''  ein  Beispiel,  dass  die  modernen  Gegenstände, 

in  einem  gewissen  Sinne  genommen,  bich  zum  Epischen  bürjuemen,  so  möchte  ich 

von  aller  dieser  empirischen  Breite  nichts  mehr  wissen.   Auf  dem  Theater,  so  wie 

Ich  anch  hier  wieder  sehe,   würe  in  dem  gegenwärtigen  Augenblick  manches  zu 

thun,  aber  man  müsste  es  leicht  nehmen  und  Inder  gozzischen Manier  tractieren; 

doch  ist  es  iu  keinem  Sinne  der  Mühe  werth".    (Vgl.  auc^h  den  drei  Monate  altem 

Brief  an  H.  Meyer  in  den  Werken  4:i,  6).   Er  hatte  gesucht,  sich  von  der  Wirkung 

Bechcnschaft  zu  geben,  die  eine  gewisse  Art  von  Gegenständen,  von  ihm  als  sjm- 

iMlische  bezeichnet,  in  ihm  hcrvorbracliten,  und  er  glaubte  damit  die  Hebung  des 

Widerspruchs  gefunden  zu  haben,   der  zwischen  seiner  Natur  und  der  unmittel- 

Weti  Erfahrung  lag,  und   den  er  in  früherer  Zeit  niemals  hatte  Kisen  können". 

'ȧeau  ich  gestehe  Ihnen*',  bemerkte  er  gegen  Schiller  iu  dem  hiervon  handelnden 

Briefe  aus  Frankfurt  {:*,  202ff.),  ,.dass  ich  lieher  gerad  nach  Hause  zurückgekehrt 

*Äre,  nm  aus  meinem  Innersten  Phantome  jeder  Art  hervorzuarbeiten ,   als  dass 

ich  mich  noch  einmal  wie  sonst  —  da  mir  das  Aufziihlcn  eines  Einzelnen  nun 

euuQal  nicht  gegeben  ist  —  mit  der   milliontachen  Hydra  der  Empirie  herum- 

Ä^Schlagen  hätte:  denn  wer  bei  ihr  nicht  Lust  und  Vortheile  zu  suchen  hat,  der 

?*g  sich  bei  Zeiten  zurückziehen-*.   Diese  Tioise  hatte  ihn  nach  seiner  ursprüng- 

n  -*'*'  nachher  aber  aiifgegebcnen  Absicht  wieder  nacli  Italien  führen  sollen,  wo 

•'lein  er  zu  lindeu  meinte,  was  ihn  auf  die  rechte  Art  anregen  und  stimmen,  woran 

*  8ich  in  der  ihm  wünschenswerthesten  Weise  lortbilden  könnte.   Diese  Meinung 

.  ^^*lte  Schiller  nicht;  ihm  schien  es  \ielmehr,  dass  alles,  was  Goethe  bei  einem 

^Seru  Aufenthalt  in  Italien  für  gewisse  Zwecke  auch  gewinnen  möchte,  für  seinen 

*®chsten  und  nächsten  Zweck  verloren  sein  würde  (Brief  an  II.  Meyer  im  Brief- 

Tj^hsel  mit  Goethe  3,  ITl).    Aber  Goethe  konnte  nun  einmal  auf  die  Dauer  kein 

^^htes  und  glückliches  Verhültniss   zu   ileutschem  Wesen   und  Leben   wieder- 

?~*iunen;  so  äusserte  er  noch  im  J.  l>o:t  gegen  Schiller  (li,  220):    „Wenn  ich 

^*  ^emow  spreche,  so  ist  mir's  immer,  als  käme  ich  er>t  von  Rom,   und  fülile 

•ta..*^^  zu  einiger  Beschämung  vornelimor  als  in  der  so  viele  Jahre  nun  geduldeten 

*  **dertracht(!)  nordischer  Umgebung,  der  man  sich  doch  auch  mehr  oder  weniger 

_  **ttjiliert".    Wiederholentlich  sprach  er  sich  im  J.  ITlü»  dahin  ans,  dass  er  es 

j      das  Beste  lialte,  sich  um  das  Urtheil  der  Well  gar  nicht  zu  kümmern,   son- 

Vq**  ^"  ^^^^  selbst  zu  verweilen,  um  irgend  ein  leidliches  NVerk  nach  dem  andern  her- 

"^Ubriugen  (vgl.  Briefwechsel  mit  Schiller  5,  IIS;  124).        17)  Vgl.  oben S. 449. 


532     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhunderte  bia  ro  Gocthe's  Tod. 


\y- 


%  325  Mauer,  die  er  schon  früher  um  seine  Existenz  gezogen  batte  und 
nun  noch  immer  höher  aufzuführen  gedachte",  als  Dichter  nicht  nur 
gegen  jede  bedeutende  Anregung  von  auseeu  her,  sondern  schnitt  eich 
selbst  mehr  oder  minder  die  Quellen  ab,  aus  denen  er  GegeustAnde 
fDr  grosse  lebcusvolle  und  wirkungsreiche  Dichtungen  hätte  schöpfen 
können:  das  Leben  der  Gegenwart,  woraus  „Werthers  Leiden" 
heim  Meister"  und  „Hermann  und  Dorothea"  her\orgegangen 
und  die  Geschichte,  der  er  die  Stoffe  zu  seinem  „Götz'*  und  „Egmoi 
entnommen  hatte,  in  die  Schiller  so  glückliche  Griffe  that.  So  nahm 
zwar  früher  Be^'onnenes  wieder  auf,  fllhrte  es  auch  weiter»  ohne  jede 
zu  einem  Abschluss  damit  zu  kommen,  und  suchte  Anderm,  w« 
voller  Abgeschlossenheit  bereits  lange  ein  Eigenthum  der  NatN 
geworden  war,  för  einen  bestimmten  Zweck  eine  neue  Gestalt 
geben ;  angefangen  dagegen  wurde  jetzt  von  eigenen  grossem  Di( 
tungen  nur  eine  einzige  und  von  den  drei  Tbeilen,  w>rauf  »ie 
gelegt  war,  nur  der  erste  vollstfludig  ausgeführt,  sonst  blos» 
Anzahl  kleinerer  Sachen,  theils  in  di-amatischcr,  theils  in  lyriscl 
Form,  abgcfasst.  —  Die  erste  grössere  poetische  Arbeit,  der 
Goethe  noch  im  Jahre  1709,  nach  dem  Liegenlassen  der  Acbiflei«' 
und  neben  der  Redaction  seiner  neuern  kloinen  Gedichte^, 

IS»  Brief  an  SchUlor  vom  •>:.  Juli  \V^%  VM  Vul.  obpo  S   M  t 

20)  Vür  den  eielwuten  Band  der  „neuen  Schriften".  Berlin  IMMi.  h. 
Ausgang  des  Juui  1T99  liess  er  sie  znerst  zuaammeuschrviben  tui 
5,  IM):  Ende  Juli  bezog  er  auf  sechs  Wochen  sein  Gartenhaus  bei  1V( 
und  verwandte  diese  Zeit  vornehmlich  auch  auf  die  llcdoction;  am  17 
achrieb  er  von  Jena  aus  an  Knebel  (l,  217):  '  ^Ich  habe  sechs  WocIm 
meinem  alten  Garten  zugebracht.  In  der  rieraUchcn  AbgcsomlerthHt,  i& 
ich  daselbst  lebte,  nahm  ich  meine  kleinern  Uedichte  vor,  die  etwa  seit  zehn  Jj 
das  Licht  lier  Welt  erblickten  Ich  stellte  sie  zusammen  und  suchte  ihnen 
wohl  an  Gehalt  als  Form,  was  fehlen  mochte,  zu  geben,  und  ich  werde  noch  liv 
Zeit  lang  zu  arbeiten  haben,  wenn  ich  mir  ^uz  geuufc  tfaun  w  Ul.  Es  i«t  isdei* 
eine  angenehme  Beschäftigung.  Der  Ruckblick  auf  so  mancherlei  Sttit 
man  durchlebte,  die  Erinueningen  au  so  viele  Stimmungen,  in  die  mi 
setzt  fühlte,  macht  uns  gleichsam  wieder  jung,  und  wenn  mui  ftlhlt, 
mit  den  Jaliren  vielleicht  an  Uebersicht  und  Üeschmack  gewonnen  hat,  iO 
mau  einigen  Ersatz  zu  sehen,  wenn  sich  Energie  und  Fülle  nach  und 
licrcn  will"  (vgl.  hierzu  den  Briefwechsel  mit  Schiller  5,137;  130— 14&;  M 
Sammlung  —  ,,Lieder.  Elegien.  Kiiigramme,  Venedig  1790.  W« 
Bakis.  Vier  Jahrazelten.  Theaterreden"  —  enthielt  nicht  aHes,  wu  lefit 
scheinen  der  „vermischten  Gedichte"  im  S.  Bande  der  „Schriften"  ivgl, 
Anm.  7d  ff.  I  bereits  anderwiirts  (inden  Hören,  den  Musenalmanachen  and 
heim  Meister")  von  kleinem  Gedichten  gedruckt  worden  war.  dagegen 
Balladen,  die  schon  aus  den  „Schriften"  bekannt  waren,  dann  aber  auch 
seither  noch  nicht  veröffentlichte  Sachen.  IHess  waren  die  Lieder  (indflaW«!* 
I,  12.  25  f.;  115;  til  f.  (die  beiden  Lieder  „die  Spröde"  und  .,di«  B^B^"^ 
I,  21  f.,  die  hier  ebenfalls  eingereiht  wurden,  sollen,  nach  der  Chronolofit  ■''^ 
00,  319f  1791  gedichtet,  nach  dem  InhaltsrenEelduiiss  vor  dem  6rst«n  Baad«^ 


lg  d.  Liiemtnr.   1773—1832.   Goethe  und  Schiller.  Mahomet.    533 

war  tlie  zunächst  für  die  weimarische  ßühiic  uiiteniominenc,  von  dem  §  325 
Inginal   weni^  abweichende  Uebersetzung  von   VoUaire's  Tragödie 
Kahoraet''.     Die  Vorliebe  des  Herzogs  Karl  August   fttr  das   fran- 
Isischc  Trauerspie!  gab  wolil  zunfichst.  unmittelbar  oder  mittelbar, 
istoss  tu  Goetbe's  und  Schillers  hier  einscblagcuden  Arbeiten:  er 
artete  davon,  und  namentlich  von  dem  verdeutscbten  „Mahomet'*, 
'£pocbe  in  der  Verbesserung  des  deutschen  Gesclmnicks^'.   Goethe 
ftlhrt*^  als  bestimmende  Gründe  zur  Uebertragung  an  „üebung 
ler  gewissen  gebundnem  Weise  (der  Scbauspieler»  in  Schritt  und 
dlung,  nicbt  weniger  Ausbildung  rednerischer  Üeclamation"  ".    AU- 
jmeiner  und  höher  erscheint  die  Absiebt,   welche  Goethe,  und  mit 
Schulen  bei  Verpflanzung  des  Mahomet  auf  die  deutsche  Bühne 
Auge   hatte,   wenn   wir   uns  au   Schillers  Stanzen   halten'*,   mit 
denen  er  den  Ucbersctzer  bcgriisstc,  und  die  gleichsam  als  ein  Prolog 
das  Stück  beim  Publicum  einführen  sollten^*:  nicht  sollte  dadurch 
das  deutsche  Schauspiel  iu  alte  Fesseln  gesehlagen,  nicht  zu  den 
l'ageu  charakterloser  Minderjährigkeit  von  dem   Dichter  zurUckge- 
mkt  werden,   der  uns  zuerst  vom  falschen  Regelzwange  zur  Wahr- 
idt und  Natur  zurückgeführt  habe;   sondern   weil  Jetzt  die  Kunst 
\t\  uns  vor  einem  rohen  Naturalismus  ganz  von  der  Scene  zu  ver- 
wWinden  drohe,  soll  die  französische  Tragödie  uns  behüflich  sein, 
wieder  eine  bessere  Richtung  für  die  unsrige  zu  finden  und  die  ent- 
irabte  Scene  zu  reinigen,   keineswegs  aber  für  uns  Muster  werden. 
Den  Anfang  der  Uebersetzung  niuss  Goethe  bereits  im  Septbr.  oder 
OctM>er  1799  wahrend  eines  Aufeutlmlts  in  Jena  gemacht  und  darüber 
auch  schon  mit  Schiller  verhandelt  haben,  der  an  der  Arbeit  ein 
lebhaftes  Interesse  nahm  und  verschiedene  Vorschläge  zu  nicht  un- 
bedeulenden  Abänderungen  in  dem  Stück  machte,   die  indess  nicht 


QoWaiwgabe  der  Werke  bereits  ITDT  gedruckt  seiu  (vgl.  Hirzcls  (Toethe-Biblio- 
^  ä.  37);  die  beiden  in  Distichen  abgefassten  Stocke  „Spiegel  der  Muse*'  und 
•iPboebo«  und  Hermes"  2.  137  f.,  erscbieoeu  nyy  im  2.  Bande  der  Propyläen 
«tßrwU  a.  0.  S.  401;  die  Ballade  „die  Spinueriü"  (1,202  f.);  die  „Weissagungen 
^•Ißakia'*  (1,  377  ff-;  nach  Riemer,  Mitlheilungen  2,  52S  f.  hatte  Goethe  dabei 
^  Absicht ,  auf  jeden  Tair  im  Jahre  ein  solches  Distichon  zu  machen ,  damit 
^UJi  eine  Art  von  Stechbücblein,  in  dej  Weise  der  ehemaligen  SpruchkäsÜein, 
«UUlnde;  er  fieng  damit  im  Frühjahr  179^  an,  dodi  unterhielt  Um  diess  nur 
**wZL'ii:  vgl.  Werke  1.  7t»  und  Pricfwechsel  mit  Sdiiller  5,  27(i)»  und  verschic- 
"^^  ,.Th»jaterreden'*  ^Prologe  und  Epiloge»  ans  den  neun2iger  Jahren.  Die  „Wer 
Jitifi^z^.jtfu"  (Werke  l»3M»ff.i  eind  aus  DisUchpn  zusaramengostellt,  die  im  Musen- 
"^ifiwh  fdr  I7*n  standen  (vgl.  Boas.  Xcnienkampf  l,2lSf.  uud  oben 0-457,  oben, 

2li  Vgl.  seinen  Briei  in  Knebels  nternrischem  Nachlasu  1,  ISl;  dozn  2,  ^31. 

22)  Werke  1ö,  G.  2;^)  Vgl.  ancb  den  Schluss  der  weiter  unten  raitgc- 

^len  Stelle  aus  dem  Briefe  an  Knebel  !,  23^.  21)  Werke  it,  I,  2S^  öf. 

25)  Vgl.  Brieiwechsel  zwischen  Schiller  und  Goethe  5.  239—212. 


534     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrbunderte  bis  cu  Go«itli«*a  ToJ. 

325  ausgefulirt  wiinlon".  Ein  iu  diese  Zeit  fallender  Bericht  Hamboli 
über  das  französiscbe  Theater  und  die  Bearbeitung  des  Mahoi 
selbst  ,, stellten  Goetheu  ein  neues  Licht  Über  die  französische  Bfll 
auf*',  und  er  las  scrifdem  ihre  Stflckc  lieber  als  sonsf .  Am  17. 
cembcr  las  er  dem  Herzog  und  der  Herzogin  seine  Uebersetzung  voi 
und  am  30.  Januar  ISflO  wurde  das  SlUck  in  Weimar  anfgefObit! 
und  nachdem  einzelne  Seenen  bereits  ISOO  gedruckt  worden' 
erschien  das  ganze  StUck  1S02''.  So  viel  Beifall  der  Uebereetn 
als  solcher  von  einigen*'  gezollt  wurde,  so  wenig  war  L.  F.  Hnbcr 
mit  ihr  und  mit  der  andern  von  einer  zweiten  Tragödie  Voltaii 
,,Tancred",  zufrieden**.  Diese  wurde  in  Jena  in  der  andern  HäI 
des  Juli  tSOO  begonnen,  dann  eine  Zeit  lang  bei  Seile  gelegt, 
im  Decbr.  wieder  vorgenommen  und  nun  auch  becudigt*'.  Auä 
angeführton  Briefstellen  ersiebt  man,  dass  Goethe  anfjlnglich  bttb* 
sicbtigtC;  das  Stück  mit  Chören  auszustatten:  „Diese  Uebei 
hoisst  es  in  dem  ersten  Briefe,  „wird  uns  wieder  in  manchem' 
fördern.  Das  StUck  bat  sehr  viel  theatralisches  Verdienst  und 
in  seiner  Art  gute  Wirkung  thuu"^;  iu  dem  zweiten:  ,,Es  ist  eij 
lieh  ein  Schausp»ielj  denn  alles  wird  darin  zur  Scban  aufgestellt, 
diesen  Charakter  des  Stücks  kann  ich  noch  mehr  durchsetzen, 
ich  weniger  geniert  bin  als  der  Franzose.  Der  theatralische  Eflfert 
kann  nicht  aussen  bleiben ,  weil  alles  darauf  berechnet  ist  und  bdi 
rechnet  werden  kann.  Als  öfifentliche  Begebenheit  und  Handli 
fordert  das  Stück  nothwendig  Chöre,  für  die  will  ich  auch  soi 
und  hoffe,  es  dadurch  so  weit  zu  treiben,  als  es  seine  Natur  ui 
die  erste  gallische  Anlage  erlaubt.  Es  wird  uns  zu  guten  neueo 
Erfahrungen  helfen'^  ^*    Er  gab  es  aber  auf,  die  Chöre  biiuuxufQ^ 

2H)  Vgl.  deu  Briefwechsel  zwischen   Srhiller  uod  Goethe  5,  IST— Ivhi. 

27)  b,  201 .  28)  5.  227  f.  20)  An  demsolbeu  Tufre  hatte  GixrUiv  na  Ki»ibd 
geschrieben  (1,23S):  ,,lla  das  Stück  &o  obUgat  und  in  sieb  selbst  zusaininrote«Mt<HM 
ist,  so  cutsteht  eine  Wirkung  sui  goneris.  der  man  nicht  ontrinnco  kann,  uui)  jrfa  Mfiu 
denken,  es  mOsäte  fur  die  Menge  imposant  und  rührend  sein,  wenn  nv  gicÜ 
abrigcns  die  Regungen,  welche  die  neuesten  TbcaterätUcke  hervorbringe,  vr  rmiMfn 
wird.  Mir  igt  übrigens  aUcs  rocht,  Büvobl  wie  das  Stock  gefallt,  als  was  ttbrifoi 
daraus  entsteht.  Ich  sehe  es  als  einen  Versuch  au,  bei  welchem  Autor,  Sthit- 
Spieler  und  Publicum  wenigstens  manche  gute  Ix'hre  gewinnen  kunnen"  HaiK 
missbUligte  das  ganze  rnternehmen.  „Vortret'lliche,  vortrefHiche  Verse",  sup^tfO 
seiner  Gattin,  als  er  der  Vorlesung  ain  17.  Decbr.  beigewohnt  hatte,  .»a her  der 
—  ist  eine  VersOndigung  gegen  die  Menschheit  und  gegen  alles"  iKrrbrh 
scher  Xachlass  2,  32'.»;  vgl.  dazu  deu  Brief  von  Herder,  der  uum 
Aufführung  des  „Mahomcf*  geschrieben  ist.  2,a3l).         3'h  Vgl   - 

31)  Tübingen  ^.  32)  Z.B.  von  Knebel:  HriefwechÄ«!  mit  OurtJic 

33)  Vgl.  seine  Recension  aus  der  Jenaer  Literatur-Zeitung  und  besang 
aus  dem  Freimathigeu  iu  den  „BämmtKchon  Werken  bcit  dem  .1.  lv>5**  »te.  TU. 
l&(iff.nnd  181»  ff.      34jAnSchUlcr5.2SI;  iST  f.j  2i*4f.:  34»  f.:  346;  351     35)1 
stimmte  ScbiUer  bei  5,  2S2.       36)  Auch  doniit  war  Schiller  cJnwreUoaA  S. 


itwickelangsgaog  d.  Lit.   1773—1832.   Goethe  u.  Schiller.  Taccrcd.   Faust.    535 

und  dadurch  dem  Stllck  mehr  Leben  und  Masse  zu  geben)  weil  Iffland  §  325 

ihn   mit  der  Vollendung  der  Uebersetzung;  für  das  Berliner  Theater 

.rängte-^.    Einzelne  Scenen  wurden  gedruckt  in  der  zu  Jena  heraus- 

f^egcbenen  Zeitschrift  „Janus**,  ISOl,  da«  Ganze  1S02^*.    Inzwischen 

•ar  Goethe  auch  wieder  zu  dem  ,, Faust''  zurückgekehrt"  und  hatte 

namentlich  an  der  „Helena**  gearbeitet,  deren  erster  Entwurf  in  eine 

sehr  frühe  Zeit  hinaufreichte *^     Zuerst  geschieht  ihrer  um  diese  Zeit 

in  dem  Briefwechsel  mit  Schiller  Erwähnunjr  am  12.  Septbr.  1800, 

als    Goethe   in    Jena   verweilte.     Vorher   müssen   aber    schon    Be- 

iprechungen  mit  Schiller   über   die   Ausführung  des  zweiten  Theila 

[er  Dichtung  überhaupt,  oder  doch  über  diese  Scenen  Statt  gefunden 

laben;   denn  in  jenem  Briefe  beisst  es^':  „Glücklicherweise  konnte 

ih  diese  acht  Tage  die  Situationen  festhalten,  von  denen  Sie  wissen, 

und  meine  Helena  ist  wirklich  aufgetreten*'.    Was  hierauf  in  dem- 

dben  Briefe  folgt,   und   was   damit  und  mit  Schillers  Antwort  in 

erbindung  Stehendes  in  andern  Briefen  vorkommt,  zeugt  auf  sehr 

^emerkenswerthe  Weise,   in   welche  Unsicherheit  Goethe  bei  seiner 

Iflckkchr   zu   der  dramatischen   Behandlung   der  Faustsage   durch 

seine  Verkennung  deutscher  Art  und  seine  einseitige  Vorliebe  für 

lie    antike  Dichtung  und   Kunst  gerathen    war.    ,,Nun  zieht  mich 

iber'',  80  lauten  nämlich  die  dort  folgenden  Worte,  „das  Schöne  in 

ler  Lage  meiner  Heldin  so  sehr  an,  dass  es  mich  betrübt,  wenn  ich 

zunächst  in  eine  Fratze  (!)  verwandeln  soll.    Wirklich  fühle  ich 

[mcht  geringe  Lust,  eine  ernsthafte  Tragödie  auf  das  Angefangene 

37»  K  M\  f.;  vel.  Werke  3i,  S7  if.       38»  Tabingen.  8.       39)  VgLS.4fiSff. 
Jus  der  Dichter  im  Mäi'z  ISOU  auf  seinem  Gute  zu  Oberrossla  verweUte,  meldete 
6r  am  (ItcD  an5cldller(5,  250):  ,,An  „Faust"  ist  in  der  Zeit  auch  etwas  geschehen. 
Ifli  iioffc,  dass   bald  in  der  grossen  Lücke  nur  der  Disputationsactus  fehlen  soU 
\'^%\  die  „Panilipomeua  zu  Faust"  in  den  Werken  57.  2t;5ff.),  welcher  denn  freilich 
il»  rin  eiifone»  Werk  anzusehen  ist  und  aus  ilom  Stegreife  nicht  entstehen  wird". 
"A'ochen    spater   arbeitete    er  in    Weimar   noch  an   der  AasfüUung   der 
Lücke'*  (in  dem   bereite   gedruckten  Fragment»   Bd.   7  der  Schriften, 
t»fiÄcliCii  S.  IS  und  U>U  und  zwar  an  der  Beschwönmgsscene  (Werke  12,  04  tf.); 
^1  nrn  Ift  April  schrieb  er  an  Schiller  (Ti,  277»:  „Der  Teufel,  den  ich  beschwöre, 
-ich  sehr  wunderlich".    Dann  wird  in  dem  Uricfwechsel  der  Arbeit  am 
■  ist  wieder  am  1,  August  gedacht,  wo  der  Dichter  in  Jena  war  und  eben 
^^f-  \A\itP  im  Uebersetzeu  des  ».Tancred"  gemacht  hatte,  i5,  205):  „Heute  habe 
^  ''iuen  kleinen  Knoten  im  „Faust"  gelost  (vgl.  Däntzer,  Gocthe's  Faust  I,  99). 
^^''Qtc  ich  von  jetzt  noch  vierzehn  Tag^  hier  bleiben,  so  sollte  es  ein  ander  An- 
,**b*!n  damit  tjewinnen;  allein  ich  bilde  mir  leider  ein,  m  Weimar  nöthig  zu  sein, 
r?^  opfwc  dieser  Einbildung  meinen  lebhaftesten  Wunsch  auf^'.  40)  Nach 

■•ttbpr,  Mittheilunifen  2.  .'isi,  war  die  „Helena"  eine  der  ftlteslcn,  auch  auf  das 
'**Ppeiispiel  ..Faust"  zurückgehenden  Conceptionen  des  Dichters,  die  er  schon 
JJ^i  I'riukftirt  nach  Wumar  mitbrachte  und  hier  im  Frühjahr  17S0  der  Herzogin 
•"■'tttcr  vorlas ;  sicherlieh  aber  war  sie  damals  in  einer  ganz  andern  Form  als  in 
ytem  niedergeschrieben  ivgl.  dazu  Duntzcr  a.a.O.  L  79;  uü).  41)  &,  306. 


536    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVin  .Tolirhunderts  bis  rn  lioetfae'«  Tod. 


§  325  zu  gründen;  allein  ich  werde  micli  hüten,  cHo  Obliegonhoiten  z« 
mehren,  deren  kUmtnerliche  Krföllun^  ohnehin  schon  die  Freude 
Lebens  verzehrt**;  worauf  Schiller  antwortete":  ,, Lassen  Sie  »ich  ja 
nicht  durch  den  Gedanken  stOren,  wenn  die  schönen  Gestalten  and 
Situationen  kommen ,   dass  es  Schade  sei ,  sie  zu  verbarlarisiereo. 
Der  Fall  könnte  Ihnen  im  zweiten  Theil  des  Faust  noch  öfter»  vur- 
kommen,  und  es  möchte  einmal  für  allemal  gut  sein,  Ihr  poeti«cl 
Gewissen  darllher  zum  Schweigen  zu  bringen.     Das  Barhariflche 
Behandlung,  das  Ihnen  durch  den  Geist  des  Ganzen  auT 
kann  den  höhern  Oehalt  nicht  zerstören  und  das  Scii 
heben,  nur   ea  anders  8]>ecificieren   und   für  ein  anderes  Seelenv« 
mögen  zubereiten.     Flben  das  Höhere  und  Vornehmere   in  den  5fc 
tiven  wird   dem  Werke  einen  eijceuen  Reiz  gehen,    und  Ileleun  i< 
in  diesem  Stück  ein  Svmhol  für  alle  die  schönen  Gestalten,  die  rtirli 
hinein  verirren  werden.     Es  ist  ein  sehr  bedeutender  Vorthcil,  von 
dem  Reinen   mit  Bewiisstsoin  ins  Unreine  zu  gehen,  anstatt  eintu 
Aufschwung  vun  dem  Unreinen  zum  Reinen  zu  suchen,  wie  bei  ms 
Übrigen  Barbaren  (I)  der  Fall  ist".     Ein   solcher  Zuspruch  gereicht 
Goethen  zum  Trost,   und   er  fand  diesen  durch  die  Erfahrung  b«l 
an  sich  bestätigt,  indem  aus  dieser  Verbindung  des  Reinen  und  du 
Abenteuerlichen  seltsame  Erscheinungen  hervorträten,  an  denen 
selbst  einiges  Gefällen  hätte*'.    Zwischen   dem    17.  und  23.  Septl 
las  Goethe  dem  Freunde,   der  ihn  in  Jena  besucht   hatte,   das  \f 
was  damals  von  der  „Helena"  fertig  war.     Diese  Vorlesung  hinU 
liees  in  Schiller  „einen  grossen    und  vornehmen   Eindruck"", 
den  nUchntcn  Tagen  rückte  die  Arbeit  wieder  etwas  vor:  die  Hftaj 
mouiente  des  Plans  waren  in  Grdnung,   uud  da  der  Dichter  in  d( 
Hauptsache   Schillers   Beistimmung  hatte,   so   konnte  er  mit  d( 
besserem  Muthe  an  die  Ausführung  gehen".     In  den  letzte»  MonatOl 
des  Jahrs  ruhte  die  Weiterbildung   der  „Helena"  zwar  nicht  vAIIi^, 
indess  scheint  doch  nicht  viel  dafürgeschehen  zusein".     Im  Be^i 
des  Jahrs    JSOI    wurde   der  Dichter  von  einer  sehr  schweren  oi 
gefährlichen  Kranklieit   befallen;  kaum   davon  genesen,  wandte 
sieh  wieder  dem  „Faust"  zu"  —  wahrscheinlich   der  ,. Helena" 
und   arbeitete   darau   bis  gegen  Ende  des  März  sachte  fori".    Tu 
da  an  scheint  wAbrcnd  der  nächsten  sechs  Jahre  nichts  für  die  Fui 
derung  dieser  Dichtung  geschehen  zu   soin*^.    Ausserdem   hatte  ff 


42)  ä.  307  f.  43)  m  310.  44)  5,  31^-  45»  ^.  -»'»^ 

40)  Vgl.  Schüler  an  Kftrncr  4,  19":  Goethe  au  Knebel  I»  24«:  an  Sr  I 

•I7l  Am  7.  Kel.r.;  Werke  :i1 ,  *Vi.  4Sl  An  ScMMrr  «.  13;  t.;  . 

49i  Am  27.  April  ISOt  schrieb  Schiller  anKf>nier(4,  2ia>:  „OoctJic  isl 
gaiui  bergwteUt  and  liat  indessen  vieles  ah  seinem  Faust  gothftn  —  iIim 


tvricVdaagsganga.  Lit.    1773— IS32.    Goethe  u.  Schiller.  Natürl.  Tochter.    537 

!n  auch  schon  vor  einigren  Jahren  begonnenen  ,, zweiten  Theil  der  §  325 
.uiterflüte*',   der  aber  immer  Bruchstück  geblieben  ist,   weiter  ge- 
führt^, das  kleine  Festspiel  ,,Paläophron  nnd  Neoterpe"  gedichtet" 
und  endlich  sich  ancb  mit  der  Ansarbeitung   des  Schemata  zu  „der 
natQrlicIien  Tochter*'  beschäftigt,  wozu  der  Plan  bereits  gegen  Ende 
de«  Jahrs    1799  gefasst   worden   war.     Im  November  dieses  Jahres, 
Goethe  in  Jena  war",  las  er  die  in  französischer  Sprache  ge- 
iriebenen    abenteuerlichen    und    unechten    Denkwürdigkeiten    der 
iphanic   Louise   von    Bourbon  Conti ,   die  nicht   lange  vorher  er- 
jbienen  waren".    Sie  erregten  in  ihm   die  Conception  „der  natUr- 
sben  Tochter".     In  dem  Plan,   den   er  faaste",   ».bereitete  er  sich 
GefiUs,   worin  er  alles,   was  er  so  manches  Jahr  tlber  die  fran- 
ische  Revolution  und  deren  Folgen  geschrieben  und  gedacht,  mit 
geziemendem  Ernste  niederzulegen   hoifte'*".    Als  er  zu  Ende  de« 
Ä^lgendcn  Jahres  in  Jena  den  ,,Tancred'*   bearbeitete,   Hessen  seine 
Hortigeu  Freunde  den  Vorwurf  laut  werden,   dass  er  sich  mit  fran- 
^Hsidchen    Stücken,    welche   bei    der   herrschenden   Gesinnung   von 
Deutschland  nicht  wohl  Gunst  erlangen  könnten,  so  emsig  beschflftigte 
nnd  nicht  Eigenes  vornähme,  wovon  er  doch  so  manches  hatte  merken 
lassen.     Er  rief  sich  daher  ,,die  natürliche  Tochter*'  vor  die  Seele, 
deren  ganz  ausgeführtes  Schema  schon  seit  einiger  Zeit  unter  seinen 
Papieren  lag.    Gelegentlich  dachte  er  an   das  Weitere,   verschwieg 


als  eine  unerschOpHicUe  Arbeit  vor  ihm  Hegt:  denn  deoi  Plan  uach  tst  dns, 

ras  gedruckt  ist  liin  7.  BiU*.  der  Schriften»  nur  hCtchstens  der  vierte  Theil  des 

Lnz«n,  und  was  BPitdem  fertig  geworden  ist,  bctrilgt  noch  nicht  8o  viel,  als  das 

*lruckte*.  50)  Er  hatte  ihn  etwa  im  J.  ny.s  angefangi'n;  als  IfHand  \'i\)>* 

Weimar  war  und  von  dieser  Arbeit  erfuhr,  wünscht«  er  lebhaft,  das  Stück  fDr 

Berliner  Theat«r  zu  erhalten:  das  veranlasste  den  Dichter,  es  im  Mai  dcsselbm 

ircs  wieder  vorzunehmen  und  einiges  daran  zu  tliun  lau  Schiller  4.  I!i5f.;  2o:t): 

J   tMKi  k.ini  er  darauf  zurück  und  tührte  die  Kxposition  aus  (Werke  uu,  :vi\  {.). 

Irucki  wurde  das  Fra^ent  ..derZauberilöte  zweiter  Theil.    Entwurf  zu  einem 

ttiRchpn  Märchen*',  zuerst  !n  dem  zu  Bremen  herausgegebenen  ..Taschpubuch 

J.  ISO-J     Tier  Liebe  und  Freundschaft  gewidraPt";  dann  1^07  auficrenommen 

den  ~.  Bd.  der  Werke,  Tubingen  ISOßff.  Til)  Goethe  schrieb  dieses  Fest- 

»iel  im  Sommor  \^(H)  und  legte  am  27.  Jnni  gleich  den  ersten  Eulwurf  Schillern 

ir  Bcurtheilnug   vor   (f>,  2791.    Am   'U.   f)ctbr.,   dem   Gt'bnrtstav'e  der  Herzogin 

Llie.  ward  es  ..im  engern  Kreise-  zu  Weimar  gegeben;  fünf  Figuren  spielten 

Masken  und  so  „bereitete  diese  rarsielhing  jene  MaakenkoraOidicn  vor,  die  in 

;r  Folge  eine  ganz  neue  Unterhaltung  jahrelang  gewährten"  (Werke  :(l.  *iii  f.). 

leret  gednickt  in  dem  von  v.  Scckendorf  herausgegebeneu  „Neujahrs-Taschen- 

ich  von  Weimar,  auf  das  J.  isüi".  52 1  Briefwechsel  roh  Schiller  5.  2IS; 

\t\;  beide  Uriefc  sind  hier  falsch  datiert,  vgl.  2.  Ausg.  2.  2«4  f.  53)  Eine 

»ulsche  Üt'tiirsHzune  kam  zu  Lübeck  isui».   2  Bde.   s.  heraus;   vgl.  Vnmhagen 

Äüse.  Dcnkwnrdigkeitpu  1,  41-ltr.  54)  Nach  Kiemer,  Miitheilungcn  2,  557. 

uml  7.  Dccbr.  öä)  Werke  3I,'84. 


538     VI.  Vom  sweiwn  Viertel  de«  XVTIT  Jahrhanderts  bis  zn  Go«llie*8  Toi 

§  325  aber  selbst  Schillern  dieso  Arbeit,  dem  er  daher  als  nntbeilncbinei 
glauben-  und  thatlos  erschien.    Ende  Decembers  ISOl  hatte  er  d< 
ersten   Act    vollendet^.     Im    niichslen   Jahr    ,,lieft8    er,    un^^enohl 
mancher  Störungen,  nicht  ab,  seinen  Liebling  .,Eugenien"  im  Still« 
zu  hegen.    Da  ihm  das  Ganze   vollkommen  gegenwärtig  wxr, 
arbeitete  er  am  Einzelnen,  wo  er  giong  und  stand:  daher  denn  aq< 
die  grosse  Ausführlichkeit,  indem  er  sich  auf  den  jedesmaligen  Paul 
concentricrte,  der  unmittelbar  in  die  Anschauung  treten  sollte'*, 
zweite  Act  wurde  in  diesem  Jahr,  der  ganze  erste  Theil  im  Anfai 
des   folgenden   beendigt   und  am   2.  April   in   Weimar  aufgeführt 
Die  Aufnahme  des  Stücks  im  Publicum  war  eben  so  ungleichartj| 
wie  die  Urtheile  darüber,   die  uns  in  Briefen  und  andern  Bericbl 
aufbehalten   sind.     In   Lauchstädt  fand   es,    wie   in   Weimar,  ni 
Schillers   Bericht""    vielen   Beifall,    besonders   die   zweite    Hälfte' 
anderwärts  Hess  es  hei  der  Vorstellung  den  grösston  Theil  der  Zi 
schauer  kalt**,   eine  feste  Stiltte  konnte  es  auf  deutschen  BOhn« 
nicht  gewinnen.    Goethe  selbst  hat   gegen   Eckermann    bemerkt"! 
j.Dass  ich  oft  zu  viel  motivierte,  entfernte  meine  Stücke  vom  Theater.^ 
Meine  Eugenie  ist  eine  Kette  von  lauter  Motiven ,  und  dieaa 
auf  der  Bühne  kein  Glück  machen^*.    Jener  Ausspruch  L.  F.  Hober^J 
ffdie  natürliche  Tochter  sei   marmorglatt,  aber  auch   marmorkäll'V 
ist  oft  Aviedcrholt  worden.     Schiller  war  höchlich   von  ikr  orhaot: 
,, sie  wird  Sie  sehr  erfreuen'*,  schrieb  er  an  Humboldt",  .,und  wpun 
Sie  dieses  Stück  mit  Goethe's  andern,   den   frühern   und  rntttlera, 
vergleichen,  zu  interessanten  Betrachtungen  führen.     Die  höbe  Sy\ 
bolik,  mit  der  er  den  StofT  behandelt  hat,   so  dass  alles  ^-^ 
vertilgt  und  alles  nnr  Glied  eiues  idealen  Ganzen  ist,  dien- 
lich  bewundernswerth.     Es  ist  ganz  Kunst   und   ergreift   dabei  ai 
innerste  Natur  durch   die  Kraft  der  Wahrheit",     Körner  meinte*: 
„lieber  den  Plan  dos  Ganzen  Ifisst  sich  noch  nicht  urtiieilcn,  aber^ 
der  erste  Theil  Iflsst  viel  erwarten.     Der  StofT  ist  zum  Theil  drückend 
und  widrig,  und  es  thut  mir  fast  leid  um  die  grosse  Kunst,  die  Goclbf 
dai-an  verwendet. ...     Er  ist  tief  eingedrungen,  und  in  der  gaiucfl 
Behandlung  erkennt  man  den  Meister.    Aber  auf  einen  lauten  ßei 


56)  Werke»  31,  n  f.:  vgl.  Sobiller  an  ITumholdt  S.  492.  und  RiMw-r.  V^ 
theilnngea  2,  ft5T.  57*  Werkp  31,  1-16  f     Dor  erste  Druck  tles  TmiimpWi 

in  dem  von  Oolla  verlegton  „Tascheubuch  auf  das  J.  1S04"  t-nüiiclt  auf  äemW 
keine  Audentun;  davon,  dass  dasselbe  nur  als  erster  TboU  ein««  grAsstm  Oivo 
anzusehen  *ci.  5St  An  Goethe  6.  202.  59)  Etwa*  aodn?  Uut*t  *» 

Mittbeiluug  von  Frau  Herder  au  Knebel  in  dessen  titerarischein  XachUM  3,  ^'l- 

(5<Ji  Vgl.  Goethe's  Briefwechsel  mit  Zelter  I.  (i3  f.:  aber  auch  1,  Hl  f. 
61)  Gespräche  l,  VJl.  62)  Den  IS  Aug.  1*^03;  S.  451  t  03» ** 

Schiller  4.  34S. 


Eni  wickelungsgang  d.  Lit.   1773—1932.   Goethe  u.  ScLiller.   Natflrl.  Tochter.    539 

fall  des  Publicurae  darf  er  nicht  rechnen,  und  ich  wünsche  nur,  dass  §  325 
er  durch  eine  kalte  Aufnahnio  nicht  abgeschreckt  wird,  das  Werk 
Klu  vollenden.  Fdr  jeden,  den  der  Stoff  überwältigt  muss  diess  Stück 
nnaussteblich  sein,  je  lelihafter  er  fühlt.  Es  wird  also  von  vielen 
gehasst,  von  noch  mehreren  nicht  veretanden  und  nur  von  wenigen 
bewundert  werden."  Zu  diesen  Bewunderem  gehörte  namentlich 
auch  Fichte;  er  fand  es  iu  der  ihm  gegebenen  Gestalt  ganz  und 
rond,  und  glaubte,  es  könne  durch  AbkÜrzcu  für  die  Aufführung  nur 
leiden**.  Der  Frau  Herder  hatte  die  erste  Vorstellung  in  Weimar 
,»eiQO  reine,  hohe,  lange  nicht  genossene  Freude  gemacht;*'  sie  sah 
in  „der  natürlichen  Tochter"  „ein  wahrhaft  hohes,  elassiBches  Stück, 
Goethe'a  ganz  würdig*',  und  nach  diesem  Anfang  zu  urthcilen,  sei 

168  .fdas  lluc^iste,  Schünate,  was  er  je  gemacht  habe,  ein  Licht  der 
Knnst.  hei  dem  das  schillorscho  Irrlicht  verschwinde".  Allein  ein 
luübes  Jahr  darauf  ward  sie  durch  einen  Brief  Knebels  auf  ganz 
andre  Gedanken  über  das  Stück  gebracht,  sie  hatte  gutmüthig  ge- 
glaubt, der  Dichter  wolle  die  Stünde,  denen  er  alles  grässlich  Herz- 
lose gegeben  habe,  in 'ihrer  V^erworfenheit  darstellen;  aber  es  sei 
nur  allzu  wahr,   dass  er  das  StUck  zu  Gunsten  der  Stände  auflösen 

»werde.  Geschehe  diess,  so  sei  er  ein  Teufel,  und  sein  Talent  möge 
in  die  ürdlo  fahren.  Und  ach,  er  habe  eine  Wolfs-Natur"!  Herder 
aelbst  wandte  sieh  ebenfalls  dieser  letztern  Auffassung  des  Stücks 
zu**,  nachdem  er  sich  zuerst  auf  das  günstigste  darüber  geflussort  hatte. 
Als  er  mit  Goethe  darüber  sprach,  begann  -er  ,,mit  Ruhe  und  Rein- 
heit das  Beste  davon  zu  sagen,  endigte  aber  mit  einem  zwar  heiter 
ausgesprochenen,  aber  höchst  widerwärtigen  Tnunpf,  wodurch  das 
Ganze,  wenigstens  für  den  Augenblick,  vor  dem  Verstände  vernichtet 
ward***^.  Von  den  Recensiouen,  die  ich  habe  einsehen  können,  sind 
xwei  besonders  lobende,  die  eine  von  Martyni  Laguna"*,  die,  wie  ea 
scheint,  absichtlieh  das  Gegenstück  zu  der  ihr  unmittelbar  vorauf- 
l^henden  Beurtheilung  von  Schillers  „Braut  von  Messina"  bilden 
ioll**;  die  andre  von  L.  F.  Huber*",  Ilineu  schliesst  sich  eine  dritte 
atx"  von  einem  mir  unbekannten  Verfasser,  in  ernstem,  würdigem 
Ton  geschrieben,  wogegen  einige  Monate  später,  als  Merkel  so  eben 
»ein  Bündniss  mit  Kotzebue  geschlossen  hatte,  Merkels  Blatt''  eine 
tote  und  niedrige  Verspottung  „der  natürlichen  Tochter''  in  der  „vor- 


64)  Uriefwechse]  xvisclien  Goethe  und  Zelter  1,  Tß  f.;  vgl  S.  SO. 
6.11  Knebels  literarischer  Nachlas«  2,  a45— 35(».  66)  A.  ft   0.  S.  348. 

67)  Üoeüic's  Werke  »iO.  2tt4  f.  68)  In  der  ii.  allgemeinen  d.  Bibliothek  fiS, 

2,  400  f,  611)  Vgl.  oben  S.  522  ff.  70)  Im  Freiinülhigen  von  I80.H,  N. 

'^0,  S.  n-Sf.  71)  In  G.  Merkels  Zeitschrift  „Scherz  und  Ernst",  1^03.  N.7, 

*   27  f.  72)  N.  U,  S.   135. 


540    Tl.  Vom  sweiten  Viertel  des  XVin  JahrbanderU  bU  zu  Gorth»*!  Tod. 

§  325  läufigen  Anzeige  eines  noch  ungetlruckten  Kunstwerki«,  Kakogenii 
oder  die  uunntürliche  Tochter''  brachte.     KcincBweg's  Ubcreinstimmciij 
mit  der  angrefHhrten  Recension  Hubers  ist  eine  andere  von  ihm, 
etwas  jüngerer  Zeit".    Allerdinirs,   heisst  es  hier  u.  a. ,   dürfe 
Nation  stolz  auf  dieses  Denkmal  Micken,  da»  den  von  ihr  crrcichti 
Grad  poetischer  Bildung  auf  das  vollendetste  darstelle.     Stelle 
aber,  in  aller  seiner  Schönheit,  dennoch  nicht  auch  die  Erscböpfni 
und  Erkaltung  dar,   die  seit  einiger  Zeit  selbst  an   dem   hoch 
Schwung  des  deutschen  Genius  zu  spüren  sei  und  nicht  ohne  Gnii 
besorgen  lasse,   dass  der  Kreislauf  unsers  poetischeu  Vermögcna 
schnell  beschriehen  worden  sei   und  sich  nun,  fViT  den  Angcnhiic 
wenigstens,  gcschlf^ssen  finde?".  —  Neben  der  Ausfühning  des  w 
Theils  dieser  dramatischen  Dichtung",   die  mehr  als  alles  Uebrij 
was  Goethe  in   der  Zeit  seiner  Verbindung    mit  Schiller  dickt 
seine  mit  den  Jahren  immer  entschiednere  Hinneigung  zu  dem  S>i 
bolischen  und  Typischen  in  der  Poesie,  zum  Personificiercn  und  li 
dividualisieren  des  Allgemeinen  in  Gattungen,  Arten  und  StAnd< 
und  somit  zu  einem  von  dem  vollen  sinnlichen  Leben  und  von  d< 
fassliehen    Uumittclbarkcit  des  GegenstUndlichen    sich    stats   weit 
entfernenden  ICunststil  bezeugt  und  charaktensicrt,  entstanden  in  der 
gelben  Zeit  noch  das  Vorspiel  „Was  wir  bringen"  und  eine  nicht  unbe- 
trächtliche Anzahl  kleiner  strophischer  Gedichte,  Lieder,  Balladen  «le. 
Jenes  Vorspiel  war  zur  F>üfl'nung  des  neuen  Schauspielhauses  in  Laaeb* 
Stadt  gedichtet,  welche  am  26.  Juni  1S02  Statt  fand.    „Auf  symhnliKfci 
und  allegorische  Weise"  sollte  in  dem  Vorspiel  dasjenige  vorgesU 
werden,   „was  in  der  letzten  Zeit  auf  dem  deutschen  Theater  Ul 
haupt,  besonders  auf  dem  weimarischen  geschehen  war"'*  etc.  Goed«^ 


73»  Sie  ist  (entweder   aus  der  ZeiUchnft  „Klio",  oder  »ns  der 
Lileratur-Zeitungi  in  aeiueu  „sämniHicheu  AVerkeii"  etc.  2.  21^  ff.  v  . 

74'  Aus  neuester  Zeit  steht  ein  sehr  boachtenswcrthes  und  E.r 
über  „die   nntlirliche   Tochter"  in   Ilettners  Srhrift    ..die  roiuaiit.-.        -    iia«  a, 
ihrem  innem  Zusammenhange  mit  Goethe  und  Schiller**.    BruunMiiA  ;,    »■I'-O.  ^^ 
S.  9S  ff.  IT))  An  die  Ausarbeitung  der  beiden  letzten  Tbciln  ist  iL-fthiO'* 

gegauü^eu.  ..Das  Schuina  des  Ganzen  lag  Scenc  nach  Scene  vor  ihni.  I't  xtraic 
Theii  sollte  auf  dem  Land^'ut,  dem  Aufenthalt  Kugrnicns.  vorgelien-,  dfj  Jnitc 
df*r  Hauptstadt,  wo  mitten  in  der  j^rösstcn  Ver^vi^^«n^  das  wif^Ifrrpefnndcoe 
freilich  kein  Heil,  aber  doch  einen  schönen  Austeublick  wuHi'  hervoi 
haben".  Bald  nach  dem  Krscheinen  des  ersten  Thoils  war  der  Dicht*r 
mal  versucht,  denselben  zu  eigentlich  theatralischen  Zwecken  xa  ier»lörw 
aus  dem  Ganzen  der  erst  heabsichtigten  drei  Theile  ein  einziges  Stück  xo  a»tbBt 
aber  auch  das  unterblieb  (vgl-  Werke  3l,  151  f,  wo  auch  nngcgrbrn  int,  w«  *• 
Ansarbeituiig  dieser  Theile  vereitelte;  dazu  Üriefwechs»'!  mit  Zeller  I,  132  f-  ^ 
Kiemer,  Mittheilungen  I,  3im;  2,  Sävff.i.  T)as  Schema  des  zweiten  TheiJi  WH*' 
druckt  in  den  Werken  iT.  2y5  ff.  7G(  Werke  31.  130  f. 


I A*L 


Kutwickclun^Bgongd.  Lit.   1773—1832.   Goethe  o. Schiller.  GDCtlte'fiUedcrctc.  541 


^1 


eil 

t 


heiDt  sieb  mit  weuig  Lust  dieser  Arbeit  unterzogeu  zu  Uabeu;  am  §  325 
6.  Juni    1S02  beschriftigto  sie   ilm  in  Jena,   und  fünf  Tage   darauf 
konnte  sie  Schillern  vorgelesen  und  liie  Leseprobe  angesetzt  werden", 
DsLA  StUck   war  anfänglich   nicht  fflr  den   Druck    hestiiumt,   indess 
aeh  nochmaliger  Durchsicht  gab  es  der  Dichter  an  Cotta".    Schiller, 
Wem  die  Idee  und  Anlage  vor  der  Ausarbeitung  mitgetheilt  worden 
war,   und  der  sie,  wie  es  dem  Dicliter   wenigstens  schien,  gebilligt 
hatte'',  war  von  der  Ausführung  keineswegs  befriedigt.    Als  er  das 
Vorspiel  gedruckt*"  an  Körner  sandte,  schrieb  er  diesem*';  es  habe 
trefÜiche  Stellen,  die  aber  auf  einen  platten  Dialog,   wie  Sterne  auf 
einem  Bettlermantel,  gestickt  seien.    In  der  theatralischen  Vorstellung 
nehme  es  sich  ganz  gut  aus,   bis  auf  die  allegorischen  Knoten,   die 
ein  unglücklicher  Kinfall  seien"-.    An  kleineren  Gedichten  am  frucht- 
arsten  war  das  Jahr  1S02.    Seit  dem  Winter  1801  —  1802  bestand 
Weimar  eine  geschlossene  Gesellschaft,  die  sich  von  Zeit  /u  Zeit 
Fikniks  in  Goethe's  Hause  versammelte,  und  zu  der  auch  Schiller 
{geborte.    Sie  gab  Anlass  zur  Abfassung  „mehrerer,  nachher  ins  All- 
gemeine verbreiteter  Gesjinge'*",    Am  19.  Febr.  1S02  schrieb  Goethe 
von  Jena  aus  an  Schiller*':   ,.Mein  hiesiger  Aufenthalt  ist  mir  ganz 
erfreulich,   sogar  bat   sich    einiges  Poetische  gezeigt,   und  ich  habe 
ederein  Paar  Lieder,  auf  bekannte  Melodien '^  zu  Stande  gebracht 
ist  recht  hübsch,   das^  Sie  auch  etwas  der  Art  in  die  Mitte  des 
leinen  Zirkels  bringen'*".     Auch  im  Mai,  als  Goethe  aufs  neue  in 
ena  war,  hatte  ,,sich  wieder  einiges  Lyrische  eingefunden*' *\    Am 
5.  Jnni  1803  übei*saudte  er  seine  Lieder,  wahrscheinlich  die,  welche 
r  für  den  Druck  redigiert  und  geordnet  hatte,  an  Schiller,  mit  der 
itte,  ,,das  Einzelne  und  Ganze  zu  behemgen*',   auch  einem  Liede 
^eine  Ceberachrift  zu  geben"*'.    Sie  erschienen  in  dem  von  Wieland 
nd  Goethe  herausgegebenen  „Taschenbuch   auf  das  Jahr    IS04"**; 
bcr  nicht  alle  darin  aufgenommenen  und  zum  ei-stenmal  gedmckten 
StUcke  von  Goethe,   die  zusammen  als  ,,der  Geselligkeit  gewidmete 
Lieder*'  bezeichnet  waren,  stammten  aus  diesen  Jahren;  von  mchrcrn 
lisst  sich  die  Zeit  ihrer  Abfassung  nicht  mehr  genau  angeben "^    Das 


77)  Ad  Scliüler  0,  131— 13&;  vgl.  auch  S.  141.  78)  «,   152:  155  und 

[Ooellu!  an  Zelter  I,  29.  79l  G,   Iil2.  80)  Tttbiiigcil  l>02.    S. 

»Ij-I.  Hol.  S2)  Noch  weniger  scheint  Kürner  damit  zufrieden  jrewescu  xu 

«.  303  U.         83)  Werke  31,  127  f.  S4l  0.  »3.  So»  \'^.  Schiller 

Kftmer  4,  33%.  80t  Vjjl.  C,  lOÜ  und  oben  S.  50l.  17.  87)  «»  117. 

'^U,  lt>7.         89)  Tübingen  H».         VM)t  I.  Als  Balladen  tindeu  hieb  von  ihm  in 
Wtrkcn:    „Ritter  Gurts  Brautfahrf  d,  l'.u  f.i;   „nochxeitlicd"  (1,   Vih  ff.; 
Stio|ihcu  dÄVon   warm  schon   iin  Frühjahr  ls(t2   gedichtet,  gegen  Ende  dos 
wurde  das  Ganze  an  Zelter  gesandt:  vgl.  Briefwccliscl  mit  demselben  I.  22; 
Inder  H«tt«Drikngcr"  il,20Uf. ;  wohl  schon  in  den  achtziger  Jahren  entstanden, 


542     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  jAlu-buudetts  bis  zu  Goeib«**  Tod. 

§  325  Jalir  1804  und  die  erste  Hälfte  des  folgenden  gieugen  vorüber,  ol 
dnss  Goethe  irgend  etwas  Neues  dichtete  oder  auch  nur  früher 
gefangene  und  uubeendigt  gebliebene  poetische  Werke  fortsetzte. 
Dagegen  fiel  in  jenes  Jahr  die  Umarbeitung  des  „Gütz  ron  ßerii- 
chingen"  für  die  thcatmlisirhe  AuflTührung*',  auf  die  Schiller  mit 
Rath  und  That  einwirkte:  sie  machte  dem  Dichter  viel  zu  ftcbafTeo, 
und  erst  nach  mehreren  Verwandlungen,  in  denen  sie  nach 
nach  in  Weimar  vorgestellt  wurde,  erhielt  sie  die  Gestalt,  in 
sie  späterhin  im  Druck  erschien".  Auch  die  andere  üälfte 
Schillers  Todesjahr  gab  keinen  weitern  poetischen  Ertrag  als 
schönen  „Epilog  zu  der  Gloeko"". 


da  e«  aus  einem  der  Kinderballete  stammt,  welche  z-wischeu  dea  JAhreo  1*M  vti 
171)1  jn  Weimar  aufgeführt  wurden,  und  zu  denen  Goethe  die  PntgrmimM  i»- 
fertigtc;  vgl.  Riemer,  Mittlieilungeu  2,  620);  ..Wanderer  und  PÄchlerin*'  jI,  2IBI 
oachKicmer,  a.a.O.  i,  <>12,  wahracbeinlich  aus  dem  J.  l^o2).  —  2.  Von  des 
in  deo  Werken  einfach  „Lieder*'  benannten  Stücken  fanden  sich  iu  Jeoer 
lung:  I.  31;  32  f  ;  90  f.;  n  f.;  VMi  f.;  HS;  99  C;  103  ff.:  —  von  den 
Liedern":  1.  IlOff.  („Zum  neuen  Jahr*',  lM»2t;  122  f.  tgedirhlcl  1^02;  tgl.Wfftt 
31.  12S);  124  f.;  126  ff  ;  132  f.;  i:U  f.  (gedichtet  zum  22.  Febr.  Uoi;  vgl  Wii*! 
31,  I2S|;  139  f;  141  f.;  —  von  den  „vei-mischtcn  Gedichten":  2,  ItiG  f.  (luffl  l 
Mai  1803).  —  :t.  waren  hier  auch  die  Stanzen  für  don  „Maskcnzug  Zob  M 
Januar  ls02"  r Werke  i:^  210  f.),  zuerst  gedruckt  91 1  Auch  dir  .JptlifMJr 

sollte  buhnengerechter  gemacht  wtrdei|.  Scliiller  hatte  .bereits  im  Anfnn?  i!r»  J 
1900  an  dem  guten  t>folg  einer  Vorätelluag  derselben  gar  nicht  gczv.- 
Wechsel  mit  Goetlie  5,  242  f.),  abor  erst  zwej  Jahre  später  wnrdo 
daran  gedacht,  einenderartigcu  Versuch  zu  wagen.  Xach  manchen,  den  imil^ 
konsttheoret Ischen  Staudpuiikt  der  beiden  Dichter  sehr  bedeutsam  chanütlflfl«««' 
den  Verhandlungen  zwischen  ihnen  über  die  Dichtnog  selbst  und  Dber  dit*  >lu- 
nöthig  scheinenden  oder  doch  wftBBchenawertheu  Abüuderuugen,  <lic  damit  eorfi;»^ 
das8  Goethe  selbst  nichts  mit  dem  Stock  anzufangen  wnsste  und  SilMilmi  e> 
Oberiiess,  die  Sache  ins  Werke  zu  richten,  kam  es  jedoch  ,5  einige  Vcrkurwusf» 
abgercciini't.  unverAndort  auf  die  Bllhnc  (vgl.  (i,  "ü  f.;  75;  ^Off.;  107;  IM;  Ja« 
Schillers  Briefwechsel  mitKönier  4.  25>f.i  2(>of.  WasRiemer. Mittheiluageii?,  T'^' 
über  diese  Vorhaudluugen  vorbringt,  beweist  nur,  dass  seiue  bltudo  Einsruiiumw*" 
heit  für  (iocthe  lim  nicht  bloss  ungerecht  gegen  ScliüJjjr  machte,  junidtro  u»^ 
8ur  EnUtellung  dea  wahren  Sachverhalts  verleitetet.  \}2)  Ooffh'-  hmsa  "» 

Umbildung  schon  in  der  Mitte  des  Sommers  ISO;i,  nachdem  dar  -  '^'^t 

dem  er  „das  erste  Concepi".  d.  h.  das  Stück  iu  der  ersten,  <: 
gedruckten  Abfassung  (vgl.  oben  IU.  140  und  FV,  *,ni  am  23- 
hatte.  Besprechungen  musaten  Statt  gefundt»n  haben  i Brief w. 
199  f.;  204  .  Aber  andere  Beschüftigungen  traten  bald  dazwischen,  und 
Febniar  1^04  nahm  fioethe  die  Arbeit  von  neuem  vor  (au  Zelter  I .  Hhm.  W*" 
den  weitem  Fortyiang  der  Neugestaltung,  iq  welcher  das  Stßck  xum  erstcnmftl  tf 
22.  Septbr.  1S04  anigefQhrt,  dann  aber  noch  mehrfach  abge:indert,  ja  *eltoai» 
Kwci  Stücke  zerlegt  wurde,  vgl.  di^n  Brielwechsel  mit  fichüler  (>»  269*  27«;  ■* 
Zelter  I,  127  f.;  132;  112:  Goethe's  Werke  45.  31  ff.  und  gaus  bwonJcr*  *• 
auf  Acten  des  weimarischen  Theaters  beruhenden  Aufsat*  ^a  (JootlM'i  tiDü"* ' 
0.  Schade   im  weimax.  Jahrbuch  5.  i'S^  S.  93)  Zuorst  in  L&oduOA 


^^ 


HPü« 


544    VI.  Vom  zweiteu  Viertel  des  XVUI  JohrhimUcrts  bis  lu  Go«the*s  Tod. 

320  bereitete  sich  auch  schon  in  Berlin   und  in  Jena  die  Wendung  v 
durch  welche  eine  Anziihl  junger  Männer,  zunächst  in  Folge  der 
Goethe   und   Schiller   ausgehenden    dicliterischen   und   kiinÄtj>hilo( 
pbischen  Anregungen,   sodann  vorzüglich  auch   unter  dem  £iai 


hervor,  „lieiträ^e  zur  Uerichtigung  der  Crtbeiie  des  PabHcum«  Ql>er  dl« 
zösische  Revnlation'*  (Donzig  ll'Jü.   ^.).    Sie  imd  eine  andere,   ..Zurtickfordi 
derUenkfreiheit  von  den  Fürsten  Europa's"  etc.  iHeliopoIif..  d.i  Dauzi;^.   I*f>3. 
brachten  ihn  in  den  Hut'  eines  Demokraten  und  Koia:en  ihm  noch  »jiuterhia 
Anfcclitung  zu.    Zugleich  entwickelte  sidi  schon  diimnls  in  ilim  sein  philo^opkb« 
System   immer   mehr  zur  ICeife   und   Klarlieit:    die   frahesten   Andeutungen  ftb« 
seine  Lelire   gab  er    I7^t:i   in    einer  Recension   (Jenaer   Liieratur-Zeitung   X. 
S.  20t  ff.):  seine  erste  eigentlich  speculntive Schrift,  „Ueber  den  Hegriffdcr  Wii 
Bchaftslebre  oder  der  äogenannten  Philosophie'^   erschien   erst    ein  Jahr 
(Weimar  IT»4.   »s. ;  in  der  Folge  unterwarf  er  diese  I.ehrc  mehrfacher  Vt 
tungi;  auch  hielt  er  noch  vor  seinem  Scheiden  aus  derSchweix,  nufl  "'*' 
anderer  Freunde  Verlangen ,  in  Zürich  Vorlesungen  über  die  Wissen 
Seine  erste  Schrift  hatte  ihn   in  Verbindung  mit  Niethammer  in  Jrnii  et-üiücii 
mit  dem  er  nachher  eine  vertraute  Freundschaft  scbloss:  jetzt  bildete  w'rb  Mci 
ein  nlkhcrcs  Verhältnids  zwischen  Fichte  und  Reinhold.    Als  dieser  vrinJenaoari 
Kiel  gieng,  wurde  Fichte  au  seine  Stelle  berufen;   er  trat  sie  xu  Ostern  1"W  « 
Während  der  Verwaltung  seines  Lehramts  schrieb  er  „Vorlesungen  \r 
Stimmung  des  Gelehrten"  (Jena  JTyi.   *».),   eine  „(inmdlage  des  'Safv- 
(Jena  und  Leipzig  171*15  f.    2  Thlc.   >.),   ein  „System  der  SitUi 
nyS.   8.1   und  verschiedene  Abhandlungen  für  das  von  Niethini 
nachher   von   ihm   und  Fichte   gemeinschaftlich   herausgegebene   „K  . 
Journal'*  (Neustrelitz  und  Jena  17^tft— Istin.     In  Bde.   **.l    Nachder.. 
reits  mehrfachen  Verdruss  in  seinen  amtlichen  Verlüdtnissen  erfahren  • 
er  gegen  Ende  des   J.  1T9S  bei  den  herzogl.  sHchsischen   Rejrferun^  :.    - 
kursÄchsiscben  we»en  eines  Aufsatzes  in  jenem  Journal  des  Ätheismos  iingflUli 
Dieser  Antjchnldigung  gegenüber  benahm   er  «ch  nicht  mit  der  -,•*-»■•—'• 
legung  und  Vorsicht;  er  drohte  zu  tibereilt  mit  seinem  Abgänge  ^ 
und  erliielt  wider  sein  Erwarten  sofort  seine  Entlassung,  im  Fniiij  mr  i. 
Wunsch,  sich  demniidisi  nach  Rudolstndt  zurückzuziehen,  wurde  vereitelt: 
waren  die  Regierungen  von  Kursuchsen  aus  vor  ihm  gewarnt  wonlen 
wurden  seiner  Cebersiedelung  nach  Berlin  von  höchster  Stelle  kein' 
niss»  in  den  Weg  gelegt;  er  gieng  dahin  in  der  Mitte  des  Sommers  m. 
fortan  immer  in  dem  treisinnigfu  Preussen  zu    bleiben.     Fürs   ereto   I' 
den  Seinigen  von  Schriftstrllerci  und  Privatvorlesungen;    dann  folgte  tr  ii 
ling  l*>05  einem  Huf  an   die  damals   preussische  Universität  Erlangen,  wo 
doch  nur  wahrend  des  Sommers  lehren  solUe,  da  von  obenher  gewünscht 
dass  er  im  Winter  in  Berlin  philosophische  Vorträge  hielte.    Erlaii'.?»'n  V-i** 
bloss  einen  Sommer;  die  Vorzeichen  des  Krieges,  der  bald  darauf, 
und  Frankreich  ausbrach,  hielten  ihn  in  Berlin  auch   nach  All..  .: 
znrttck.    tjem  hilte  er  im  Herbat  das  ins  Feld  ziehende  Heer  bejflrifet, 
der  Nabe  durch  Hede   und  Scbrift  auf  die  Krieger  einzuwirken,    tndöi 
ficine  darauf  abzielenden  Anerliietungcn  abgelehnt.    Bei  dem  Vorracken  dfrrfia**^ 
auf  Berlin  \erlies8  l'ichte  diese  Stadt  und  gieug  zuerst  nach  Stargani.  dann  ai^ 
Königsberg,  wo  ihm  im  darauf  folgenden  Winter  provisorisch  eine  ProfwmT  ^^^ 
Philosophie  verliehen  wurde.   Im  Frühling  »chiffte  er  sich  nach  Kopiiiilmiii  ftN^ 


EatwickeluDgsgaug  der  Literatur.    1773 — 1832.    Die  Romantiker.       545 


von  Ficbte's  Wisseuschaftslehre^  sowie  griechisclicr,  südromaniscber,  §  326 

eugllscLer  und  altdeuldcber  Poesie  und  Kuust,   unsere  Literatur  iu 

der  Ästlietiacben  Kritik,   in    der  Kunsttbeorie,   in   der  dichterischen 

Voduction  und  Reproduction  der  neuen  Gestaltung  zuführte,  die  mit 

Namen  der  romauti sehen  bezeichnet  zu  werden   |)flegt^  — 

lerlin  hatte  seit  der  Zeit  der  Literaturl)riefe  zwar  fortwillirond  einen 

»edeutcnden  Rang  unter  den  deutschen  Städten  behauptet,  iu  denen 

sieb'  das  geistige  Leben  der  Nation  vorzugsweise  conceutrierte ,  es 

irde  Von  bieraus  selbst  in   gewissen  Richtungen  mit  am  eutsehie- 

lensten   bestimmt;  aber  Berlins   Einfluss   auf   die   Fortbildung   der 

Literatur  war  nun,  besonders  seit  der  Mitte  der  Siebziger,  im  AU- 

smeinen  demjenigen  ganz  entgegengesetzt,   den   es  ausgeübt  hatte, 

lange  Leasing  selbst,    und   mittelbar  auch  durch  seine  Freunde, 

ron  dort  aus  wirkte.    Statt  sie  durch  eine  gesunde  und  unbefangene 

[ritik    zu    fnrdern,    ihr   Emporringen    zu    neuen    und    höhern    Ent- 

wickelungsstufcu  zu  begünstigen,  den  Aufschwung,  den  die  deutsche 

Dichtung  iu  den  Siebzigern  nahm,  in  seiner  Bedeutung  anzuerkennen, 

ie  höhe   Kuustvollendung  iu  Goetbe's  jUngern  Werken   nach  Vor- 

L'ienst   zu    würdigen,    verhielten    sich    die    namliaftcn    Dichter   und 

fclehrten,  die  in  Berlin  lebten  und  hier  für  das  literarische  l'rtbeil 

den  Ton  angaben,  wie  Nicolai,  Ramler,  Engel,  Biester^,  festhaltend 


h^on  wo  pr  narh  Abschluss  des  Friedens  nach  BcrUn  zu  deu  dort  zurückgelassenen 

Soiniiitn  zurückkehrte.    Iu  den   uilchsten  Wintcrmonaten  ivou  IbüT  -Si  hielt   er 

^ie  ..Ufilcn  an  die  deutsche  Nation"  (vgl.  oben  IU ,  \\2  ff.).    Ala  die  Uiuversität 

Jft  lierlia  gegründet  Trurdo,    wozu  er  vorzüglich  mit  gewirkt  hatte,   erhielt  er  au 

'*'r  dif  orste  Professur  der  Philosophie,    Beim  Ueiximi  der  Freiheitskriege   wollte 

steh  in  ähnlicher  Weise»  wie  es  seine  Absicht  lS(m  gewesen  war,  an  dem  Feld- 

'"ffe  butheiligen:   aber  auch  diessmal  stiess  die  Ausführung  auf  Schwierigkeiteu, 

Itt  Ficliie  blieb,   für  die  valcrlfiu<iische  Sache  mich  allen  Ivräften  wirkend,  in 

Ulli.   Von  einem  bösartigen  Nrncnfiebcr.  welches  seine  Gattin  bei  ihrer  Kranken- 

In  deu  Lazaretben  ergriffen  hatte,  selbst  Ubert'anen,  starb  erim  Januar  1814. 

['  J-  0.  Fichte's  Leben  und  Uterariscber  Briefwechsel,   herausgeg.  von  seinem 

*P  J.  H.  Fichte.    Sulzlach  1^30  t*.    2  Jhlc.   >.   Fichte's  „sanimtHche  Werke*' 

iiter,  ausser  den  schon  angeführten,  „die  Bestimmung  des  Menschen**.  I'^oo. 

'tA.nweisung   Kum  seligen  Lehen",  ISOH),   ebenfalls  von  seinem  Sohn  hcraus- 

'n,  sind  in  S  ßäudru  zu  BerUu  1S4j  tf.   erschienen.  2)  Vgl.  zu  dem 

'dfo   insbesondere  Hettucr.  die  roraautiscbe  Schule   in  ihrem   inneren   Zu- 

ihange  mit  Goethe  uudScliiller,    Brannschweig  ISöil.    &.;  Haym,  die  roraan- 

Schule.   Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  deutschen  Geistes.   Berlin  1S70.   8.; 

^    Kichendurff.   über  die   ethische   und   religiöse   Bedeutung   der   neueren 

Itiachen  Poesie  in  Deutschland.    Leipzig  1S47.   8.,  sowie  dessen  Geschichte 

/Fetischen  Literatur  Deutschlands.  2.  Theil.   2.  Auflage.    Paderborn  1S6L    16. 

^1  J.  E.  Biester,  geb.  17411  zu  Lübeck,  studierte  in  Göttingen,  übte  dann  zu- 

»iio  Hochtspmxis  in  seiner  Vatprstadt,   erhielt   I77:i  eine  Anstellung  au   der 

i|  ^^^kudemie  zn  Bützow  in  Mecklenluirg,  gab  sie  aber  bald  wieder  auf.    Von 

^Ui  uinptohleu,  wurde  er  1777  SccretÄr  des  Minister»  von  Zedlitz  iu  Berlin; 


w« 


54B    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVllI  Jahrliunderts  bis  za  G^tbe's  Tod. 


§  326  an  veralteten  oder  an  missverstandenen  LeLnjiltzeu  und  nocb  b&ufi^r 
von  Parteigeist  und  persönlichen  Abneigungen  bestimmt,  selbst  den 
Besten    und    Vortrefflicbsten    der  Jüngern  Literatur    gogenOber^ 
Scbrift  und  Rede  fast  nur  verneinend  und  ablehnend,  suchten  m 
den  Äugen  des  Puhlicums  in  seinem    dicbterischeu  Wertb  hi 
setzen,  oder  verdüchtigten  es  als  gefährlich  för  die  .Sittlichkeit 
verderblich    für    den   Geschmack,     Berlin   war   der    Uauptsitjs 
grossen  Partei  in  Deutschland,   die,  dem  gesunden,  d.  h.  geoaeii 
Menschenverstand   als   dem   allein    untrüglichen    Erkenntnisa- 
UrtbcilsvermOgen  huldigend^   Überall  im  Leben  aufklären,  fOr 
geistige  und  sittliche  Streben  bloss  das  Gemeinnützliche  aU   Ictel 
Zweck  zur  Geltung  bringen  wollte  und  ihre  Aufkhirung   mit  ili( 
Nützlichkcitslebre  in  die  Religion,  in  die  Philosophie,  in  die  Geld 
samkeit,  in  die  Erziehung,  in  die  Kritik,  in  die  Bildung  üherbat 
hineintrug*.     Hier  erschienen  auch  und  äusserten  am  unmittel hai 
ihre  Wirkung  die  beiden  Hauptorgane  dieser  Partei,  die  „allgei 
deutsche  Bibliothek"  und  die  ,, berlinische  Monatsschrift'*,  jene  «choo 
seit  der  Mitte  der  Sechziger,  nur  in  den  Neunzigern  eine  Zeit  Innr 
anderswo  verlegt",  diese  seit  I7S3".    Wie  in  der  Berliner  Liici:  : 
je  mehr  sie  sich  im  Allgemeinen   unter  den  Händen   der  AnfklArtt 
verflachte,  und  je  geringfügiger  ihr  Ertrag  im  Einzelnen,  namentM 
auf  dem  Gebiete  der  dichterischen  Production   und  der  ästhotüebco 
Kritik^  war,  der  Ton  der  Aninassuug  und  des  AlUvissons,  der  kriti* 
sehen  Zuversicht  und  der  Unfehlbarkeit  zunahm,  so  gelangte  er  iad 
immer  mehr  zur  Herrschaft  in  den  gesellschaftlichen  Kreisen  di«**' 
Stadt,  in  denen  sich  irgend  ein  über  die  BcdQrfnisHe  und  GesdUfki 
des  alltfiglichen  Lebens  hinausgehendes  Interesse  regte\    Im  GaatCft. 


17S4  prnaiiute   ihn  Friedrich   der  Grosse  zam  Vorsteher  der  nerltner  BSI 
und  vier  .Tahre  bpätcr   wurde   er  Mitj^lied   der  Akademie.    Er  starb   l^lfl 
über  ihn   Bürger  bei  Wf-inhold,   Boie  S.  2iiö  4»  Vgl    U\.  20  f. 

5i  Virl.  III,  71»;  in  den  Jahren  17*12— ISOu,  wo  sie  in  Bubua  VHh-  ■ 
Kiol  i;edt'uckt,  erschien,  wurde  sie  von  M.  G.  Hermann,  damals  Oirectur  iIb' 
Erziebiingsanjitalt  in  Hamburg,  spater  Professor  in  Kasan,  redi^erl.  G>  iltm»- 
gegeben  von  Biester  und  F.'Gedike  (geb.  1751  zu  Boberow  in  der  PricBmU.  Ä* 
diorte  in  Frankfurt  a.  d.  0.  und  wurde  nach  Verwaltung  raehrerw  andttrer^Ju^ 
imter  177'JDirector  des  friedriehs-worderschfu,  \''.K\  des  Oymiuuiuin£  j.ixmgrvi^ 
Klobter  in  Berlin;  auch  war  er  ObercoDBistoriai-  und  ObersriiulratJ):  er  toA 
I8M3I  in  den  Jahren  I7s3— yii;  fortffesetzt  von  Biester  allein  als  »Bcffialtfte 
BlÄttw"  nf»7  f.  und  aU  „Neue  berlinische  Moual-Hbchrifl"  n09-t*»ll.  Su  ««# 
man  jetzt  doo  Geist  und  die  Tcndon«  dieser  Zeit«chnft  itberbaupt  wird  tuuiM 
wollen,  so  brachte  sie  doch  manche  treffliche  Aufsiktze  von  herühmtwi  GdftW* 
und  in  der  ihr  »o  oft  zum  Vorwurf  gemachten  und  verspotteten  Jesnit^-imwÄ** 
war  sie  nur.b  wohl  nicht  imnii^r  auf  falscher  FahrttJ.  Vjrl.  E.  Mrjen.  dir  Bat 
Monatsschrift  etc.  in  Prutz  liierar- historischem  Taschenbuch  ^^47.  S.  I>» 
Hettoer,  Literaturgeschichte  2.  2(10  ff.  7)  Ein  iuterossantoi »  abiv  in 


I 


aoer  gab  es  deren  nur  wenige,  in  denen  die  vaterländische  Literatur  §  326 
einen  Jeu  geistigen  Verkehr  belebenden  Mittelpunkt  bildete.  Ueber- 
dicss  pflegten  sie  sich  lange  bloss  auf  Männer  zu  beschränken,  und 
so  fehlte  es  auch  gleich  buitre  an  jener  feinem  geiötiiren  Gesellig- 
keit gilnzlich,  zu  dcrcu  Aufkommen.  Wachsthum  und  BlÜtbe  der 
Un3gang  der  Männer  mit  gebildeten  und  geistvollen  Frauen  eine 
Haupthedingung  ist*.  Von  dem  Theater  hütte,  besonders  seit  der 
Zeit,  da  Fleck  ihm  angehürte*,  dem  andere  bedeutende  Talente  zur 
Seite  standen,  für  die  Bildung  des  Geschmacks  in  den  höhern  und 
mittlem  StÄnden  manches  geschehen  können,  und  wirklich  bot  es 
den  Bildungsfähigem  auch  vielfache  Gelegenheiten,  ihren  Sinn  für 
das  echte  Schone  und  Grosse  in  der  dramatischen  Kunst  zu  beleben 
und  zu  l/iutern.  Allein  so  lange  Dübbelin  es  leitete,  stand  einer 
derartigen  stätigen  Wirkung  auf  das  Publicum  im  Grossen  nicht 
bloss  der  zu  häutige  Wechsel  in  den  Vorstellungen  von  guten  StUeken 
mit  mittelmässigen  und  ganz  schlechten,  sondern  auch  die  roh 
naturalistischo  Art  seiner  Leitung  zu  sehr  im  Wege,  und  als  Engel 
an  die  Spitze  trat'",  der-  mit  Geschick  und  mit  Einsicht  in  das 
Technische  des  Bühnenspiels  Zusammenhang  und  künstlerische  Hal- 
tung in  die  Darstellungen  brachte,  so  hatte  bereits  das  Familieudrama 
mit  seinen  Ausläufern  auf  den  deutschen  Buhnen  festen  Fuss  gefasst, 
und  crt  dauerte  nicht  lange,  so  behorrschto  mit  IfTland  K(»tzebue  auch 
das  Berliner  Theater:  im  Anfang  der  Neunziger  waren  beide  schon  die 
bevorzugten  Lieblinge  des  grossen  Publicums".  —  Bei  diesem  Stand 
der  Dinge  konnte  ein  Dichter  wie  Goethe  natürlich  nur  wenig  Aner- 
kenuuug  bei  denjenigen  finden,  die  sich  in  Berlin  um  deutsche  Dichtung 
und  Literatur  bekümmerten  und  Freunde  des  Theaters  waren.  Er  hatte 
selbst  mit  seiner  Persunlichkeit,  als  er  1778  dort  war,  allgemein 
missfallen,  wie  er  seinerseits  wenig  Behagen  an  den  Berlinern  fand'*. 


^ 


dnakeln  Farlwn  aiisgefiihrtes  Riltl  vnn  dem  e«  Ende  der  siebziger  Jfthre  in  Berlin 

herrscbendcn  üeisto,  von  den  dortigen  Dichtern  und  Uclehrten,  von  den  Frauen, 

Ihren  Sitten  und  dem  gespllschaftiichpii  Ton   Imt  uns  G.  Forster  lu  einem  Briefe 

gtHef»?rt,  den  er  an  Fr.  FI.  Jacobi  Bchrieb,  nuchdcm  er  sich  zu  Aufanif  des.).  |T7ti 

fOnf  Wochen  in  dieser  Stadt  aufgehalten  und  das  dortige  gegellächaftliche  Lebm 

m  wenigstens  ftinf?!tg  bis  sechirig  verschiedenen  Häusr^ni  als  deren  Uii«t  keamm 

emi   halte   (in    seinem    Briefwechsel  l,  200  ff.).    Vgl.    dazu  Tiecks  ScfttiftcD 

8.  XXXI  f  and  R.  Köpke  in  Tiecks  Leben  1,  187  ff.  8)  Vgl.  Mb»  4h 

Dch  von  J.  Fürst,  „Henriette  Fleni.   Ihr  Leben  und  ihre  Erinnemnc™*'-  ^  ■*■*• 

rlin   IS5V    S.    8.  123  ff.  Vt)  3.   nS3.  10)  Vgl.  Bd.  V.  f  JSr. 

\[)  Vgl.  Tiecks  Schrift.?n  1,  8.  XIH  ff.;    dazu  E.  Devri*«.  BtaMf^tt  d«r 

d*t»t5'-»i«?ö  Schauspielkunst  2.  390  f.;  :i,  61  tf.  12)  In  <i<«  efce»  «pifcteB 

Förster»  heibsi  es  (1,  204  f.»:    ,,Wie  wahr  ist  ea.  dws  wir  toCm  nti- 

<im  am  ekelhaftesten  geworden,  weil  ich  raicJi  in  ißt  »«  «ie,  »r  a. 

Min-  Tencluedene  Leute  habe  schicken  müssen.  —  Ich  fiMWv  ■■■  ^  zieHf 


548    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhunderts  bis  eu  Goethe*«  Tod 


§  326  AI«  seine  wälirend    und   unmittelbar   nach   der   italienischen 

vollendeten  Werke  bekannt  geworden,  erregten  einige  dem  Dichl 
;rUn8tigo  Rccenßioiien ,  uamentlicb  die  von  Ruber'*,  wie  anderw&rta, 
so  auch  bei  den  Berliner  Kritikern  und  Tonangebern  viel  eher 
stoss,  als  dass  ihnen  beigestimmt  wurde'*.    Indessen  gab  es  danu 
Hchon  einzelne  ältere  Mflnuer   von   literariscbem  Anscbon   und  vi 
Einfluss  auf  den  Geschmack  und  das  Urthcil  des  gcbildeteni  Thci( 
der  Gesellschaft,  sowie  auf  die  strebsame  Jugend,   die  von  eini 
warmen  Verehrung:  für  Goethe  bcfteelt  waren  tmd  in  ihm  den  ersti 
und  grOsstcn   deutschen   Dichter  erkannten.     Unter    ihnen   Btaodi 
K.  Pb.  Moritz'"'  und  der  Kapellmeister  Reiehardt.  dessen  gastlicbi 
Haus  ein  Sammelplatz   für  Kunst,    Künstler  und  Kunstfreunde  wi 
obenan'*.     Von  jUngern    Männern,    die   diese   verehrende    Bewim-l 
derung   theilten    und   sieb   auch    bald   in    der  Literatur  einen  Ni- 
men  machten,  zählten   unter  den  ersten  Bemhardi '^  und  Hchleieh 


mit  mir  zufrieden  gewesen,  aber  icti  habe  mir  gar  zu  oft  Gewalt  antfaan 
Das  SonderharRtc  ist,  dass  die  Herhner  darrhaus  diese  Uiegsamkett  des  ChJUik&B 
—  wodurch  der  Mensch  so  leicht  zum  Schurken  und  Spitjshuben  wird  —  »« 
einem  Fremden  fordern.  Wus  Wunder  also,  dass  Goethe  dort  so  sehr  tllfnHb 
missfallen  hat  und  seinerseits  mit  der  verdorbenen  Brut  so  unzufrieden  ge»*«i 
ist**.  Goetbe  selbst  bchrieb  im  Au;^at  I77s  über  tjcinen  berliner  Auferithilt  « 
Merck  i Bride  an  Mt^rck  ISaö,  S.  139):  „W^ir  waren  wenige  Tage  da.  und  ui 
guckte  nur  drein  wie  das  Kind  in  Schön-Raritäteukasteu.  Aher  Du  »riiAt,  wk 
ich  iai  Anschauen  lebe;  es  bind  mir  lausend  Lichter  uuljj;egaugen.  ~  Mit  ^ 
Menseben  liab'  ich  sonst  gar  nichts  zu  verkehren  gehabt  und  hah'  iti  preu*tt»/Ji«« 
Staaten  kein  l.iut  Wort  herrorgebracbt.  das  sie  nicht  kunuteu  druckea  Uh^a 
Dafür  ich  gelegentlich  ak  stolz  etc.  ausgeficbricen  bin'\  13)  Vgl.  S.  27»  < 

14)  Tiecka  Schriften  «,  S.  XXXIIl.  iö)  Vgl.  R.  Köpke  t.  ä  0  I,**: 

192;  dazu  auch  J.  Kürst  a.  a.  O.  S.  133  ff.  10)  jähere«  Ubi*r  du  tAet 

und  den  Geist  in  Reichardts  Hause  bei  R.  Köpke  a.  a.  U.  1 ,  7f;  ff 
17)  A.  F.  Hemhardi,  geb.  1*70  zu  Rerliu,  atudierle  in  Ilalle.  wo  er  iich  h0tar 
ders  an  Fr.  A.  Wolf  hielt ;  naclihcr  wandte  er  sich  mit  dem  lebhal'testcu  IntffMtf 
dem  Studium  der  Philosophie  Fichte's  zu,  mit  dem  er,  als  ilorndbe  in  ßoriio  Wi* 
iu  den  engsten  und  vertrautesten  Verkehr  kam.  Nach  Vollendung  seiner  ilHÜwl 
scheu  Studien  war  er  I7!»l  Mitglie<l  des  von  Gedike^Tf^loiieten  Seminar»  für  jdciblK 
Schulen,  dann  ordentlicher  Lehrer  an  domfriedrichswerder^cheu  Gymnasiuiotiil* 
Vaterstadt  geworden;  hier  gehörte  er,  noch  als  Seminarist,  zti  Tierka  UrbfO 
und  knöpfte  mit  ihm  zugleich  ein  freundschaftliches,  für  Tiecks  .TugendhiUnf 
behr  eiuHuBsreiches  Verhultniss  an«  das  späterhin  wiederum  iu  Bernhardt'i  cign' 
schriftstellerischer  Thätit^keit  seine  Früchte  trug.  Nachdem  er  nach  und  nacfc  » 
höheren  Stelleu  an  dem  Gymnasium  bloauligerackt  war,  wurde  er  l*»S  «  %\ttt^ 
Director,  nachher  auch  zum  Consistorialrath  ernannt.  F.rsi  seil  huwiT  M  ■■ 
die  Spitze  des  Friedrich-Wilhehu»  Gymnasiums  und  der  Realschule  In  Kcriin  fr> 
stellt,  starb  er  is2(».  Vgl.  über  ihn  Varnhagen  von  Kuse  in  der  Zuschrift  tot  ^ 
„Reliquien.  Erzählungen  und  Dichtungen  von  A.  F.  Berahardl  und  dooB 
Gattin  etc.  Ilerausgeg.  von  deren  Sohne  Wilh.  Rernharüi".  Alleuborir  1^ 
3  Ddc.  kl.  '^  :  über  sein  Verhahniss  zu  Tieck  R.  K6pkö  a.  o.  ü.  t,  in.  IVT; 
22tl  ff.:  zu  Fichte  dessen  Leboo  und  literarischen  Uriefwech&el  I,  IU  1 


^^m 


EntwicktiliiDgsgang  der  Litesatur.     1773 — 1S32.    Die  Koinantiker.        549 

er".  Bei  weitem  wirksamer  für  eine  allgemeinere  Anerkennung  §  326 
von  Goethe's  Dichtergrösse  und  für  die  rechte  Würdigung  seiner  Werke 
war  al)er  die  Begeisterung,  mit  der  ihm  einige  junge  und  hocbgcbildetc 
Jadinnen  anhiengen.  „Mit  Moses  Mendelssohn*',  berichtet  Henriette 
Herz  aus  ihren  Erinneniugcn'"  über  das  Streben  der  Berliner  Juden 
nach  deutscher  Bildung  und  Gesittung,  sowie  über  den  Charakter, 
den  die  literarische  Bildung  der  Tochter  manL'Uer  reichen  oder  wohl- 
habenden Juden  aunahm^  und  den  Einfluss,  den  sie  auf  weitere 
Kreise  hatte,  „war  das  Streben,  sich  deutsche  Bildung  und  Gesittung 
anzueignen,  in  den  Juden  Berlins,  und  namentlich  in  der  jüngeren 
Generation  erwacht.     Die  Männer  wendeten  sich,  durch  ihn  angeregt, 

klS)  Fried.  K.  D.  Sclileiermacher,  geb.  I7il*^  zu  Breslau,  erhielt  seine  wiaseu- 
ftliche  Vorbfldang  auf  dem  Pädagogium  der  Ürütlergeinelnde  xn  Niesky,  gieng 
da  in  deren  Seminar  zu  barby,  trat  aber  n^T  aus  der  Gemeinde  und  studierte 
in  Halle  Theologie  und  Philologie.    Zunächst  wurde  er  Hauslehrer  in  eloer  grät- 
|,      liehen  Familie  Ostpreussens .  sodann  in  Berlin  Mitglied  des  Seminars  für  gelehrte 
[      Schulen.     17iM  uieug  er  als  Hülfsprediger  nach  Laudsben:  a.  d    \V..    von   wo   er 
rei  Jahre  spüter  uacb  Berlin   als  Prediger  an   der  L'haritt'   zurllcUkebi-te.     Kiac 
^it  lang  vertrat  er  in  Potsdam  einen   andern  Geistlichen,    nnd   damals,    in    den 
rstcü  Alonateu  des  J.   179'.»,    schrieb   er   sein  erstes  gnisserea    mu\    Belbstüniliges 
^erk,   „Feber   die  Hcligioii.     Retlen   an   die  Gfibildcten  unter  ihreu  Verächtern" 
lin  U'.tii.   **.),    Ktvras  sputer  vereinigte  er  sieb  /u  einer  UebcreeUiing  des  Plato 
Fr.  Schlegel,   führte  sie  aber  nachher  allein  aus  {vgl.  S   iV.Mi,  IM);   der  erste 
|3and  erschien  IMUi.    Im  J.  1S02  wurde  er  zu  der  nofprcdigorstelle  zu  Stolp  iu 
Vomineru  hef(">rdert   und   von  da  isul  als  Universitätsprediger   uud   ausaerordent- 
Mcher  Professor  der  Tbenlogie  nach  Halle  beruteii.    Die  ftir  Preusseu  so  unglöck- 
nchen  Ercitmisae  der  Jahre  l>o'i  uud  7   veranlassten  ihn,  vou  Halle   zu  scheiden 
QBd  lieh  nach  Ilerlin  ku  begeben,  wn  er  die  erste  Zeit  ohne  .\mt  lebte.  ISoii  aber 
f'jne  Pri^tligerstelle  und  bei  Errichtung  der  Universität  au  dei*selbcn  eine  ordeni- 
kcbp  Prufeasur  der  Thecdogie  erhielt.   Er  hatte  mit  zu  denen  gehört,  welche  sich 
**"  meisten  darum  bemühten,  dass  diese  gelehrte  Anstalt  ins  Lebpn  gerufen  ward, 
j™  fitaud  nnlcr  den  berliner  Gelehrten,   die  für  die  Erhebung  des  preussischen 
^*1  deutschen  Vaterlandes  mit  dem  regsteu  Eifer  wirkten,   in  erster  Reibe  (vgl. 
W,  rti).    Er  wurde  MitgUed   der   Akademie   der   Wissenschaften   und    ISU 
*^  ihrer  philosophischen  Classc;  auch  war  er  einige  Jahre  in  der  höchsten, 
"  _den  TJntrrriibtsrtngelegeuheiten  betrauten  Behörde   thatig.    Im  J.  1M7   hatte 
^wicii  nicht  geringen  Autlieü  an  dem  Zustandekommen  der  Union  in  der  evau- 
**chf?n  Ijaudeskirche.    Wilbrend  der  ganzen  Zeit,   in  der  er  wieder  in  Berlin 
>Ut  war.    wirkte   er   buchst  segensreich  sowohl  als  Geistlicher  wie  als  Uni- 
kUlehrer.  and  in  dieser  letzten  Eigenschaft   nicht  allein  durch  seine  theolo- 
'^.   sondern  aucli  durch  seine  philosoiihischeu  Vorlesungen.    Er  starb  1^31. 
Aus  Schleicrmachers  lieben.     In  Briefen.     4   Bde.     Berlin   ISISS     ÜX    h.    and 
r's  Leben  Schleiermachers.     1.  Bd.    Berlin  IsTU.    S.   Eine  Sammlung  seiner 
^ihh^ichfu  Werke,    mit  Ausschluss  der  Uebersetzung  des  Plato,    aber  mit 
ifui,'ung   seines   hterarischeu  Nachlasses ,   habcu   zu   Berlin   mehrere  seiner 
ler  uud  Freunde  seit  dem  J.   ts:i-t  in  drei  Äbtheilungeu  (zur  Theologie,  Pre- 
zur  Philosophie)   veranstaltet  \\)\  in   dem  Buche   von  J.   Flirrt 


560    VI.  Vom  Bwoiten  Viertel  des  XVITI  Jahrhundcrta  bis  «u  üoethe'i  Toi 

§  326  philosophischen  Studien,  —  die  Frauen,  theils  durch  Mendclsöoho 
persönlich,  theils  durch  seine  Anfafitzo  in  den  Literaturbriefen  und 
in  der  allgemeinen  deutschen  Bibliothek  veranlasst,  mit  dem  Feue^fl 


i 


mit  welchem  lebhafte  Naturen  ihnen  bis  dahin  gjinzlich  Unbekaaut 
erfassen,    der   schönen    Literatur   zu.  . .  .    Zuerst   war    es    die   an 
drastischesten  wirkende  Poesie,   die  dramatisclie,  mit  welcher  man 
sich  vorzugsweise  beschäftigte.    In  den  Häusern  der  reicheren  Juden 
wurden  bereits  in  meiner  Kindheit  (im  Anfange  der  Siebziger)  8ch 
spiele  aufgeführt.  .  .  .  Später  war  das  Lesen  mit  vertheilten  Roll 
sehr  an  der  Tagesordnung*"  und  blieb  es  bis  in  das  erste  JahrzcLe 
dieses  Jahrhunderts  hinein.    Aber  man  war  bald  nicht  bei  der  dn.- 
matisclien   Literatur   stehen    geblieben.     Man   suchte   sich    mit  d 
deutschen  schönen  Literatur  in   ihrem   ganzen  Umfange  bekannt 
machen,  und  eine  besondere  Gunst  des  Geschicks  wollte ,  dnm 
Blüthezeit  derselben  eben  damals  begann.    Ihre  "Meisterwerke  wurd 
mit  uns,  und  es  ist  etwas  Anderes, 'eine  grosse  Literaturepoche 
leben,  schon  was  das  Interesse  an  ihren  Erzeugnissen  und  das  V 
ständniss  dei*selben  betrifft,    und  an   dem  ersten  Urtheil   über 
letztem  mitarbeiten,  als  sie  als  ein  Abgeschlossenes  nebst  den  fertigt» 
Urtheilcn  über  sie  und  ihre  Werke  tJberkommen.     Der  danoben  noci 
fortdauernde  Einfluss  der  französischen  Literatur  auf  einen  Theil  lier 
deutschen  führte  bald  auch  auf  sie  hin.  .  .  .  Die  französische  Spnw^he 
war  von  den  Töchtern  der  wohlhabenden  Juden  schon  ctw.aH  frübefi 
wie  oberflächlich  auch  immer,  getrieben  worden;  —  jetzt  wollte  ma» 
sich  durch  sie  befflbigen,  die  altern  und  neuern  Schriftsteller  Frank- 
reichs in  der  LVsprache  zu   lesen.     Aber  doch   hatte  damals  äcIj«^ 
Lessing   die   dramatische   Poesie    der  Franzosen   mit   geiner   hell 
kritischen  Leuchte  beleuchtet  und  zugleich  die  Aufmerksamkeit 
Shakspeare  gelenkt.     Die  Uebcrsetzungen  der  Dramen  de>  T    ■       , 
welche  man  vor  der  schlegelsclien  besass,  waren  weniger  gt-«- ,-         i 
befriedigen,  als  auf  die  Quelle  hinzuleitcn,  und  dieser  Weisung  gcntt^ 
zu  können,  suchte  mau  sich  Kenutniss  der  englischen  Si       '      " 
erwerbeu.    Sie  eröft'nete  zugleich  den  Zugang  zu  manchen  < 
der  Zeit,  welche  der  Liebesschwarmerei  der  jugendlichen  MÄdrh 
herzen  süsse  Kost  boten.  ,  .  .  Auch   die  Kenntniss  der  italicnis^'hc*' 
Dichter  in  der  Ursprache  eröffneten  sich  Mehrere  aus  unserm  Kt6£^ 
der  allgemach  um  so  mehr  nun  auch  schon  junge  Ehefrauen  urafuiMte, 
als  die  judischen  MTidohen  damals  sehr  früh   heirathcten.     Da  nnu 
manche  der  jungen  Ehepaare  ihr  Haus  den  beiderseitigen  rJekannleJ] 
eröffneten,  so  wurde  diess  Gelegenheit,  den  Geist,  welcher  >■ 
die  Beschäftigung  der  Frauen  mit  der  Literatur,  ihre  ünu; -r- 


wmmmmmm 


Entwickelungsgang  der  Literatur.    1773--1S33.    I>ie  Romantiker.       551 


rOber  und  die  Ideen,  welche  sich  durch  beide  in  ihnen  erzeugten,  §  326 
bildet  halte,  zur  Kunde  und  Theilnahme  weiterer  Kreise  zu  bringen. 
Und  dieser  Geist  war  in  der  That  ein  eigenthümlicher.     Er  war  aller- 
dings einerseits  aus  der  Literatur  der  neuern  Völker  hervorgegangen, 
aber  die  Saat   war  auf  einen   ganz   urßi)rüng:liclieu,  jungfrilulicbeu 
Boden  gefallen.    Hier  fehlte  jede  Vermitteliing  durch  die  Tradition, 
dureh  eine   von   Geschlecht  zu  Geschlecht  sich   fartptlanzende,   mit 
dem  Geist  und  dem  Wissen  der  Zeit  Schritt  haltende  Bildung;  aber 
auch  jedes  aus  einem  solchen  Bildungsgänge  erwachsene  Vorurtheil. 
iner  solchen  Nntur  dieses  Geistes   und  dem  Bewusstsein  derselben 
geinen  Trflgeriuuen  ist  die  Ueppigkeit,  der  Uebermuth,   eiu  sich 
Hinaussetzen  über  hergebrachte  Formen  in  den  Aeusserungen  desselben 
zuzuschreiben;  aber  er  war  unleugbar  sehr  originell,  sehr  kräftig, 
sehr  pikant,  sehr  anregend   und  oft  bei   erstaunenswerther  Beweg- 
lichkeit von  grosser  Tiefe.  .  .  .     Die  christlichen  Hfluaer  Berlins  „boten 
dererseits  nichts,  welches   dem,   was  jene  jüdischen  an  geistiger 
eselligkeit  boten,  gleichgekommen  oder  nur  ähnlich  gewesen  wäre", 
ar  08  demnach  zu  verwundern,  dass  diese,  „trotz  der  damals  gegen 
e  Juden   herrschenden   Vonirtheile,   begierig  von   denjenigen  auf- 
acht  wurde,  welche  Überhaupt  auf  dem  Wege  mündlichen  Ideen- 
tauaches   geistige  Fönlerung  suchten?     Nicht  minder  begreiflich 
r  ist  es.  dass  es  unter  den  Männern  die  jungem  waren,   welche 
ch  zuerst  diesen  Kreisen  ujlherten.    Denn  der  Geist,  welcher  iu  diesen 
Itete,  war  der  einer  neuen  Zeit,  und  nächstdem  waren  die  Träge- 
nen  desselben  durdi  eine  Gunst  des  Zufalls  zum  Theil  sehr  seh  One 
ngc  Mädchen   und  Frauen.     Und   ebenso  lag  es  iu   den  Verhült- 
issen,   dass  zuerst   der  strebende  Theil   der  adeligen  Jugend  sich 
schloss,  denn  der  Adel  stand  in  der  hUrgerliehen  Gesellschaft  den 
den  zu  fern,  um  selbst,  indem  er  sich  unter  sie  mischte,  als  ihres 
leichcn  zu  erscheinen**.    So  wurde  in  diese  Kreise  „nach  und  nach 
ie  durcb  einen  Zauber  Alles  hingezogen,  was  irgend  Bedeutendes 
ü  Jünglingen  und  Jungen  Männern  Berlin  bewohnte  oder  auch  nur 
uohto.  .  .  .      Auch    geistesverwandte   weibliche    ADgehorige   und 
undinnen  jener  Jünglinge  fanden  sich  allgemach  ein.    Bald  folgten  ' 
cb  die  freisinnigen  uuter  den  reifem  Mflnnern,  nachdem  die  Kunde 
Icber  Geselligkeit  in  ihre  Kreise  gedrungen  war.     AVir  knmen  zu- 
t  iu  Mode,  denn  auch  die  fremden  Diplomaten  verschmähten  uns 
cht.     Und  so  glaub'  ich  nicht  zu  viel  zu  behaupten,  wenn  ich  sage, 
es  damals  in  Berlin   keinen  .Alaun   und   keine  Frau  gab,   die 
h    Bjtäter  irgend  wie   auszeichneten ,    welche  nicht   längere   oder 
Clrzerc  Zeit,  Je  nachdem   es  ihre  Lebensstellung  erlaubte,   diesen 
Kreisen  angehört  hätten. ...     Ja  eben  so  wenig  fürchte  ich  zu  über- 
treiben, wenn  ich  ausspreche,  dass  der  diesen  Kreisen  entsprossene 


552    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Johrbundem  bis  zu  Goethe'g  Tod. 


§  32G  Geist  in  die  Gesellschaften  selbst  der  höchsten  Sphären  Berlins  ei 
drang,  denn  schon  die  äussere  Stellung  Vieler,  welche  ihnen  an, 
hörten ,  macht  diess  erklärlich.  Nächstdem  aber  fand  dieser  G 
fast  überall  leere  Räume".  In  diesen  judischen  Kreisen*'  bild 
sich  im  Anfange  der  Neunziger  allmählig  eine  Partei,  die  5m  voll» 
Gegensatz  zu  den  altern  Dichtern  und  Kunstrichteni  Berlins  in  G 
den  Anfänger  und  Begründer  einer  neuen  Poesie  sah,  ihn  als  so! 
verktlndigte  und  anerkannt  wissen  wollte.  Vornehmlich  gilt  d 
von  dem  glänzeiulen  Kreise,  dessen  Mitte1|)uukt  Rahel  Levin 
Diese  (nachher  Kabel  Robert)  wurde  1771  in  Berlin  geboren. 
Vater,  ein  geistreicher  und  witziger,  doch  gegen  die  Seinigon  sehr 
despotischer  Mann,  war  ein  wohlhabender  Juwelenhändler  und  machte 
auf  gewisse  Weise  ein  Haus,  welches  vorzugsweise  Schauspielcra 
geöffnet  war.  Rahel  zeichnete  sich  schon  als  junges  Mädchen 
allen  ihren  Glaubensgenossinnen  durch  einen  seltenen  Verein 
glänzendsten  Eigenschaften  des  Geistes  und  Her/ens  aus.  Im  An- 
fang der  Neunziger  stand  sie  bereits  mit  jungen  Männern  wie  W. 
von  Humboldt  und  dem  geistvollen  Schweden  G.  von  Brinckmano" 
in  näherer  Verbindung,  und  im  Lauf  dieses  Jahrzehnts,  sowie  spätw- 
hin,  erweiterte  sich  der  gesellschaftliche  Kreis  von  Männern  aod 
Frauen,  der  sich  um  sie  im  Hause  ihrer  verwittweten  Mutter  ver- 
sammelte,  und  den  sie  geistig  beherrschte,  immer  mehr.  Im  Sommn 
ISOO  begleitete  sie  eine  gräfliche  Freundin  nach  Paris,  wo  sie  bi* 
zum  nächsten  Frühjahr  verweilte  und  interessante  Bekanntachaftcti 
anknüpfte.  Nach  ihrer  Rückkehr  lebte  sie  die  meiste  Zeit  wieder 
in  Berlin,  bis  zu  ihrer  Verheirathung  mit  Varnhagen  von  Ense  ia 
Herbst  ISN.  Sie  begleitete  ihren  Gatten  in  der  Congresszcit  o«li 
Wien  und  blieb  dort  bis  zum  Juli  lSt5^  worauf  sie,  als  Varahsf^ 
zum  preussisclien  Geschäftsträger  in  Karlsruhe  ernannt  worden  snr. 
mit  ihm  in  dieser  Stadt  bis  zum  Sommer  1810  wohnte.  Seit'ltoi 
lobten  beide  wieder  in  Berlin,  wo  Rahel  IS33  starb".     Ueber  ihre 


21»  Vgl.  über  sie  auch  einen  von  Berlin  aus  im  Winter  nfil»— *<>  gw-iim. 
benen  Brief  Boic's  (bei  Weinliold  S.  2^.  29;  vgl.  auch  S.  00».  worin  er  von  na« 
Ab cndgosell schuft  in  einem  reichen  jüdischen  Uuiise  erziihlt:     „Ich  fam)  rin  pttf 
sehr  artige  Jüdinnen  da.  die  mit  Verstand  und  Geschmack  von  luucror  UtcraiBT 
redeten.    Wenn  ich  hier  länger  wäre,   ich  wurde  oft  in  jüdischen  Gebdl»clui/Uo 
sein,  und  ich  muss  sagen,  dass  ich  den  steifen,   ungeseUfirbaftücbon  Zwaas  täfi 
noch  weniger  hier  finde  wie  in  den  andern  Gesellschaften**.         22(  V*'    i  rr^M 
ft.  a.  0.  S.  [US  und  Briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Goethe  2.  A 
4S;  60f.;  '5.        23)  Vgl.  „Rahel.    Ein  Buch  des  Andenkens  für  ihit-  ri<  ' 
vouVarnhagon  von  Ense.   Berlin  IS34.    3Thle.   S.:  dazu  J.  Fürst  a.  a.  0.  * 
tmd  tthcr  eine  Reihe  bedeutender  Persönlichkeiten  aus  KahcU  Krei»r  di*  „t'»*' 
von  Bildnissen  aus  RaheLs  Umgang  und  Briefwechsel'*,   von  Vamhafeu  ».  ^^ 
Leipsig  1&36.     2  Thle.    S.  —  Unter  denen,  welche  in  TerBchiedc^nco  2Mta  f^ 


Entwickolangsgang  der  Liter Atur.     1*73—1632.    Die  Romantiker.       553 

Flöhe  Begeisterung  fttr  Goethe,  den  sie  im  Sommer  1795  iu  Karlsbad  §  326 

auch  persönlich  kennen  lernte'^',  bemerkt  Varnhagen";  „Schon  sehr 

frrth,  weit  früher,   als  irgend  eine  literarisclic  Meinung  der  Art  sieh 

gebildet  hatte,  war  Rahel  von  Goethe's  Ausserordeiitlichkeit  getroffen, 

von  der  Macht  seines  Genius  eingenommen  und  bezaubert  worden, 

hatte  ihn  fil)er  jede  Vergleirhung  hinausgcstellt,  ihn  fttr  den  hOehsten, 

,den  einzigen  Dichter  erklfirt,   ihn  als  ihren  Gewährsmann  und  Be- 

lUltigcr  in  allen  Einsichten  und  Urtheilen  des  Lebens  eutliusiastisch 

mgepriesen.  .  .  .     Die  Liebe  und  Verehrung  ftlr  Goethe   war  durch 

ihel  im  Kreise  ihrer  Freunde  langst  zu  einer  Art  Cultus  gediehen, 

nach  allen  Seiten  sein  leuchtendes,  bekräftigendes  Wort  eingeschlagen, 

in    Name   zur   höchsten    Kcglauhigung   geweiht ,    ehe   die    beiden 

iblegel  und  ihre  Anhänger,  schon  berührt  und  ergriffen  von  jenem 

laltus,  diese  Richtung  in  der  Literatur  festzustellen  unternahmen"**. 

[hm  und  andern  verwandten  Kreisen'^  schlössen  sich  seitdem  J.  1704 

»ach  und   nach   in  nilherem  oder  entfernterem  Bezüge  mehrere  von 

len  jungen  Talenten  an  und  blieben  mit  ihm  auf  längere  oder  kürzere 

leit  in  [»ersönlirher  und  brieflicher  Verbindung,  welche  die  Gründer 

ler  sogenannten   romantischen  Schule  in  der  deutschen   Literatur- 

entwiekelung  ^viuden.     Der  erste  von  ihnen  war  Ludwig  Tieck. 


irem  Kreise  gehörten,   wenlen  in  „RaheJ.    Ein  Buch  des  Aadeukens"  etc.  voa 
;in  llernusgeber,  S.  l*.i.  mit  Ändern  genannt:  Prinz  Louis  Ferdinand  von  Prcusaen, 
lenU,  Kr.  ScliU*gel  (vgl.  „Uahrl**  I,  170)^  heitlpHumboUlt  O»alerio  von  Bildnissen 
;,  32K  G.  von  Brinckmnnri ,  \V.  von  Burgsdorff  („Uahel**  I,  144  f  ;    154:    H'.O  f.; 
p.Oftlerie'*  K  n>1  ff».  Ludw.  Tieck  ( .Gaierie"  I,  \\\  f.).  24i  „Uabel"  I,  I4S; 

^Xhl  C  25*  „Kohcl"  1,  21  f.  2Ö)  Vgl.  dazu  in  iliroD  Briefen  Stollen  wie 

M4?  I**3;  33H  f.  —  Mit  welchem  sichern  Tiefblick  und  scharfen  VcrsUnde  sie 
*reits   17M4   iii   literarische  Erscheinungen,   die  lon  andern,   und  gewiss  nicht 
stellten  Kritikern  mit  Bewunderung  begrlisst  wurden,  tindrang,  und  wie  sie  daher 
;hun  nh  pDgej)  Mädchen  wohl  im  Stande  war,  Goethe's  (Grösse  und  dichterische 
Lrutuug  in  ihrer  tiefsten  Innerlichkeit  zu  lassen,  tiitt  recht  klar  aus  dem  Briefe 
lel"  I,  Iü6  ff.;  vgl.  ..GiUeiio"  l,  -12  f.)  hervor,  in  dem  aie  sieh  über  F.H.  Ja- 
[tobi  s  „Wuldemar*  und  über  W.  v.  Huiiiboldis  Recensiou  die&es  Komaiis  ausspricht. 
27t  Neben  Rahel,    und  mit  ihr  sehr  nahe  befreundet,   ragten   unter  den  ge- 
|i\ild«tt)ten  Jüdiunen  Berlins  zwei  andiTC,   um  einige  Jahre  ältere  Frauen  hervor, 
!Benri«tte  Hons,  geb.  de  LemoB.  seit  1779  die  Gattin  von  Marcus  Herz,  einem  an- 
frtchenen  und  gelehrten  Arzte,  und  die  langjährige  treue  Freundin  Schleiemiachera, 
oud  UoroUiea  Veit,   eine  Tochter  von  Moses  Mendelssohn,   seit    ll'iS  mit   einem 
Banciuirr  Veit  verheirathet,   von  dem  sie  sich  später  trennte,   um  sich  mit  Fr. 
Scld<i»fl  zu  vf^rbinden.     Auch  sie  hatten   sich   mit  vollster  Hingebung    der   neuen 
wil  nomentlich  der  goethe'acben  I'oesie  zugewandt,  und  ihre  Uauser  waren  eben- 
falls Mtiupwtäiten  einer  durch  geistige  und  literarische  Interessen   gehobenea  (ie- 
»f^keil   ivfil   ober  Henr.  Herz   das  Buch  von  J.  Fürst,  Über  Dorothea  Veit,   in 
Ikror  fruhorn  Zeit,  ebendaselbst  S.   III  ff.,  in  ihrer  spliteru,  „H.  K.  G.  Paulus  und 
MuwZvki  tiU^  v&n  k.  A.  Frhrn.  von  iWichUu-Meldeag'^   Stotuaut  l$S3.  2 Bde.  b. 


mm^ 


554    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVHI  JAhrhunderts  bU  zu  GoetKe'»  ToiL 


Berl^ 


§  327. 

Jobann  Luilwig  Tieck*  wurde  den  31.  Mai  1773  zu 
geboren.    Sein  Vater,   der   das  Seilerbandwerk   betrieb,   wftr  nicht 
allein  ein  wackerer  und  verständiger  Bürger,   sondern  auch  da  för 
seinen  Stand  gebildeter  und  mit  mancherlei  Kenntnissen  ausgestatteter 
Mann.    Bei  einem  offenen  Sinne    für  Poesie   und   für   (iramatiscbe 
Vorstellungen  nahm  er  einen  besonders  lebhaften  Authcil   an  des 
neuen  Dichtorwerken,  die  in  den  siebziger  Jahren  entstanden,  nam 
lieh  an  Goethe's  ersten  Hauptwerken:   sie  durften  daher  auch  ni 
in  dem  kleinen  Bucherschatz  fehlen,   der  sich  allmtlhlig  in  sein 
Hause  sammelte.     Von  seinen  drei  Kindern  war  Ludwig  das  ftl 
Bei   ihm   zeigten  sieb  Vorstellungskraft,    Empfindungsvermögen  und 
der  Trieb  zu  einer  geregelten  Beschäftigung  ungemein  früh.    Sobald 
er  lesen  konnte»  wurde  die  Bibel  in  ihren  geschichtlichen  und 
tiBchen  Theilen  sein  Lieblingsbuch;   daneben  machte  er  sich  e 
so  früh   mit  den   Liedern   der  lutherischen   Kirche    vertraut 
tiefsten  und  nachhaltigsten  Eindruck  emiilieag  er  sodann  von  GoetW 
Götz  von   Berlichiugen,     Nachdem   er   verschiedene   Vorbereitu 
schulen  besucht  hatte,  kam  er  im  Sommer  17S2  auf  das  iint<»r  C 
dike's  Leitung  stehende  friedrich-werdersche  Gymnasium.     Durch  dil 
untern  Classen  rückte  er  schnell  vor,  und  manche  glänzende  Erf' 
im  fernem  Lauf  seines  Schullebens,   die  er  zunächst  der  Leb! 
keit  seiner  Pliantasie  und  seinem  ungewöhnlichen  Gcdächtui 
dankte,   brachten  ihn  bei  Lehrern   und  Schülern   in   den  Ruf 
Genie's.    Unterdessen  haue  sich  auch  bereits  der  Trieb  zum  elj 
dichterischen  Producieren,  some  zu  mimischen  Vorstellungen  ind 
Knaben  zu  regen  angefangen:  seit  dem  Sommer    1779,   wo  ör  n 
ersten  Mal  ins  Theater  geführt  worden  war,  hatte  er  dasselbe  wicd* 
holt  besucht;  bald  erfand  er  selbst  kleine  Dramen  für  sein  Papi 
theater   und   führte  mit   seinen  beiden  jungem  Geschwistern. 
Schwester  und  einem   Bruder,    dramatische   Scencn  aus  geseb««« 
oder  gelesenen  Schauspielen  auf,   vorzüglich  aus  Schiller«  Riubwo. 
die  nach  dem  Götz  von  Berlichingen   sein  Lieblintrs^itürk  gewori» 
waren.     Früh   hatte  er  auch  schon  angefangen  sj^iolend   Verw  » 


§  327.     1)  Vgl    dA6   treffliche  Buch    tüü  Rudolf  Kr.pkc»   ..Ludwiij  75^* 
KriDn^rungeo  nus  dem  Leben   des  Dichtern  Dach  dessen  müuilUrhoit  und 
UcUen  Mittheilungcu'*.    Leipzifl  IS55.    2  Thle.   gr.  IJ. ;   dazu  Tiocks 
t>erichte  zum  1.,  (>.  und  1 1.  Theil  seioer Schriften;  ferner  J.  L.  Hnff^'- 
Eine  Uterar-historiBohc  Skizze",  im  Album  des  literar.  V'eroinfi  i 
S,  I  —  Ivi;  Briete  an  L.  Tieck.    Ausgewählt  und  berausg.  vou  K.  v    ri 
Breslau  tst>4  ff.  ^. ;  und  Krhr.  7.  Friesen,  L.  Tieck.    Krinneruu^o  au> 
!S25— IS'12.    2  ßUc.    Wien  isTI.   S. 


ttwickelaogigaDg  der  Literatur.    1773— 1S32.    Die  RomaDtiker.    Tieck.    555 


eben,  nach  und  nach,   bei  ziinebmender  Bekanntschaft  mit  alten  §  327 
d  neuen  Dichtern,  mehrten  sich  diese  Uebungeu  in  verschiedenen 
benmasseu:  so  versuchte  er  »ich,  nachdem  er  sie  schon  einmal  in 
Übertrajren  hatte,  auch  noch   an   einer  hexametrischen  Ueber- 

un^    der  Odyssee,    die  ihn   unter  den  antiken   Dichtungen   am 
isten   anzog.     Kein   Dichter  aber  re^te    ihn    bedeutender  an    als 

kspcare:  er  lernte  ihn  zuerst  aas  dem  Hamlet  in  Esobenburgs 
►bersetzuuia:  kennen,  und  von  da  an  bot  er  alles  auf,  um  so'vieler 
ade  Tou  dieser  üebersctzun'i:,  wie  nur  irgend  möglich,  habhaft  zu 
micD.  Ungefähr  um  dieselbe  Zeit  wurde  er  auch  durch  Bertucha 
Übersetzung  mit  dem  Don  Quixote,  so  wie  mit  Holbergß  verdeutschten 
^mödieu  bekannt;  und  „der  Bund  mit  Goetlio,  Shakspeare  und 
n'antes  war  für  das  Leben  geschlossen".  In  die  italienische  Lite- 
Uir  wurde  er  durch  Taaso  eingeführt,  den  er  noch  während  seiner 
ihOlerzeit  im  Originaltext  verstehen  lernte.  In  der  Schule  selbst 
nd  er,  je  hüber  er  hinaufrückte,  desto  weniger  das,  wonach  er 
erlangen  trug;  die  Art  des  Unterrichts,  besonders  auch  die  Er- 
l&rung  der  Classikcr,  •reuO^rte  ihm  nicht:  er  fand  sie  trocken  und 
Bistlos.  Manche  Aeusseningen  und  manches  kecke  Urtheil  Hessen 
in  den  Lehrern  als  einen  eigensinnigen  Sonderling  erscheinen,  der 
Sn  Gplftst  habe,  sie  durch  wunderliche  Meinungen  irre  zu  fuhren; 
Iwh  mussteu  am  Knde  alle  sich  in  dem  Urtheil  Über  ihn  vereinen, 
3a^,  wenn  er  auch  scb\ver  zu  leiten  sein  mochte,  mau  doch  in  ihm 
ein  aelteues,  mit  sich  selbst  ringendes  Talent  vor  sich  habe.  Unter 
Wineu  Schiilgcnossen  fand  er  besonders  zwei,  mit  denen  er  eine 
heralicbe  Freundschaft  für  das  Leben  achloss,  Wilhelm  Heinrich 
^ackcuroder  und  Wilhelm  von  Burgsdorflf.  Die  Vorbinduug  mit 
•inem  dritten,  Wilhelm  Hensler,  wurde  dadurch  für  ihn  wichtig,  dass 
Ärvftn  ihm  in  das  Haus  seines  Stiefvaters,  des  Ka[»ellmeiÄter8  Reichardt, 
«iiigefuiirl  ward,  in  dem  er  bald  beimisch  wurde  und  sich  auf  die 
BSünigfaltigste  und  belebendste  Weise  in  seiner  Bildung  gefördert 
Md.  Zunächst  bot  sich  hier  seiner  Keiguug  für  die  Bühne  in  einem 
»icbhahcrtbeater  nicht  nur  neue  Nahrung,  sondern  auch,  da  dasselbe 
tach  Reichardts  Absiebt  und  unter  seinen  Augen  eine  Schule  des 
Wen  Geschmacks  und   feiner  Sitten   werden  sollte,   ein   treffliches 

Efttel  zu  weiterer  .Ausbildung  seiner  künstlerischen  Anlagen.  Sodann 
blte  es  hier  niemals  an  den  bedeutendsten  musikalischen  Genüssen 
»d  Anregungen;  und  endlieh  vorschaffte  die  Verbindung,  in  die 
^eek  und  Reichardt  mit  K.  Ph.  Moritz  kam,  ihm  und  «einem  Freunde 
^Wkenroder  auch  die  Gelegenheit,  die  ersten  Einblicke  in  das  Wesen 
d  den  Charakter  der  biblendeu  KUusle  zu  gewinnen,  indem  Moritz, 
r  für  künstlerische  Bildung  in  weitem  Kreisen  eifrig  zu  wirken 
i'bte,  ihnen   erlaubte,   seinen  Vorlesungen   über  Altertbümer   und 


«^1 


556    VI.  Vom  zireiten  Viertel  des  XVm  Jtfcbrhuuderu  bis  zu  Goethe*«  Tod. 


j 


§  327  Kunstgeschiclito  beizuwohnen.  Aber  eine  so  heitere  Seite  da«  Lei 
hier  dem  Jünglinge  zukehrte,  so  sehr  trübte  und  verdOsterte  e» 
in  anderer  Beziehung.  Er  verlor  mehrere  seiner  liebsten  Freasde, 
zwei  durch  den  Tod;  diese  Verluste  berührten  ihn  nicht  blos»  wshm 
lieh,  sie  versenkten  ihn  in  die  tiefste  Schwermuth,  die  zu  Zeiten 
die  vollste  Trostlosigkeit,  ja  Verzweiflung  an  sich,  an  der  Welt. 
der  Vorsehung  übergieng.  Die  einzige  Linderung  seiner  Qualen 
er  noch  in  der  Natur.  Da  fiel  ihm  das  Fragment  von  Goet 
Faust  in  die  Hftndo;  an  ihm  erhob  sich  sein  Gemüth;  die 
erlangte  wieder  Gewalt  Über  ihn,  er  vermochte  sich  selbst  wi 
dichteriscl»  auszusprechen,  und  zuletzt  erwärmte  sich  sein  Herz  ancli 
noch  durch  die  Neigung,  welche  ihn  zu  einer  nahen  Verwandten 
Keichardts  binxog.  Mit  dem  Fortgange  Reichardts  von  Berlin,  in 
Beginn  der  Neunziger,  verlor  Tieck  zwar  sehr  viel^  aber  er  wir 
darum  nicht  vereinsamt  und  auf  sich  allein  gewiesen.  Schon  hattet 
seine  Talente  Aufmcrknamkeit  genug  erregt,  dass  er  inabesondfln 
auch  unter  den  Jüngern  Lehrern  des  Gymnasiums  Freunde  fand, 
nicht  nur  seine  dichlerischc  Begabung  anerkannten,  sondern  ihn 
in  die  Literatur  einführten.  Er  dichtete  mit  unendlicher  Leichtigki 
und  hatte  sich  schou  in  allerlei  Formen  versucht;  unter  allen  bli 
ihm  aber  die  dramatische  die  anziehendste  und  Shakspeare  d 
sein  höchstes  Vorbild,  den  zu  le^eu  und  zu  studieren  er  nicht  mOde 
wurde.  Ihn  zu  verherrlichen,  dichtete  er  bereits  17S9  ,,die  SolnIBe^ 
nacht,  ein  dramatisches  Fragment'**.  Zwei  Jahre  später  waren  dif 
ersten  Kapitel  des  „Abdallah'^  geschrieben,  den  er  1792  volleiiiru. 
und  mit  dem  er,  nachdem  er  ihn  nochmals  überarbeitet  hatie,  xue^"t 
als  Schriftsteller  auftrat^  Diese  schaurige  und  grausenhafte  Ersiihlutur 
war  eine  Abspiegelung  jener  düsteren  und  verzweifluugsvolleo  Sti»- 
mung,  die  ihn  eine  Zeit  laug  beherrscht  hatte.  Von  andern  Jt^eid- 
versuchen  entstand  ein  dreiactigcs  Schauspiel,  .,Allamt»ddin*",  «h 
Schularbeit,  und  Ilambacb,  einer  jener  jungem  Lehrer,  der  diuato 
Anlass  gegeben  hntte,  war  davon  so  überrascht,  dai^s  er  zu  des 
talentvollen  Schüler  fortan  nicht  bloss  in  ein  vertrauteres  VcrBb- 
niss  trat,  sondern  sich  auch  bald  seiner  Hülfe  bei  eigenen  «hiift- 
Btellerischen  Arbeiten  bediente.  Einem  andern  Lehrer  musste  erdift 
Uebersetzung  von  Middlctons  Leben  des  Cicero  vollenden  bdta- 
Viel  einfliissreicher  jedoch  als  sein  Vcrhältuiss  zu  dieaoa  bflUlS 
Lehrern  wurde  für  Tieck  seine  Verbindung  mit  einem  dritten,  rf 
A.  Fr.  Bernhardi,  der,  ihm  schon  an  JahiTm  am  nüchsten  stebnd 
mit  einer  grössern   Durchbildung    und   einem   Schürfern   ßliek  ^ 


2)  Zuerst  gedruckt  im  rliGinischeD  Tascheobucb  fUr  l$5l.        3)  Bertfa  H 
4)  Gedruckt  I7ü». 


Entwickelongsgang  der  Literatur.    1773— 1S32.    Die  UomanÜker.    Tieck.    5^7 

sbendigste  Interesse  für  neuere  Literatur  und  den  regsten  Eifer  fUr  §  327 
ie  Hebung  und  Kräftigung  der  vaterländisclieu   verband.    Ostern 
i792  verliess  Tieck  das  Gymnasium  und  bezog  die  Universität  Halle. 
Ir  hatte  seine  Neigung  zur  Bübne  bekämpfen  müssen,    weil  der 
'"ater  aufs  entscbiedeusle  dagegen  war,  dass  sein  Snlin  Schauspieler 
würde.     In  Halle,  wohin  ihn  ausser  Fr.  A.  Wolf  besonders  auch  die 
Nähe  Hcichardts  zog,  der  in  Giebiehenstein  wohnte,  Hess  er  sich  als 
Student  der  Theologie  einschreiben,  obgleich  ilim  diese  Wissenschaft 
ihr  fem  lag:  fürs  erste  wollte  er  Literatur  und  Alterthumswissen- 
rhaften  studieren.    Aber  so  viel  Interesse  er  auch  an  Wolfs  Vor- 
lesungen fand,  er  fühlte  sich  in  Halle  nicht  befriedigt  und  dazu  auch 
>cb  sehr  vereinsamt,   da  von  seinen  Freunden  nur  Burgsdorff  dort 
idierte,  dieser  aber  durch  neue  Verbindungen  von  ihm  fern  gehalten 
le.    Auch  jetzt  suchte  er  wieder  Trost  und  Erhebung  in   der 
fatur;   doch   sie  vermochte   ihn   nicht  gegen  die  Wiederkehr  jener 
tstem«  au  Wahusinn  grenzenden  Stimmung  zu  schütÄCu.     Erst  eine 
iu  den  Harz,  die  er  im  Sommer  antrat,  brachte  ihm  den  Glauben 
Gott  und  an  sich  selbst  zurück.     Schon  im  Herbst  I7G'2  verliess 
Halle  und  gieng  nach  Göttingen,  wo  er  sich  bald  heimischer  fühlte 
id  seine  philologischen  Studien  unter  Heyne  fortsetzte.    Auch  ßurgs- 
>Tfr  hatte  Halle  mit  Göttingen   vertauscht;  mit  ihm   und  mehrern 
idern  Studierenden  bildete  Tieck   eine  literarische  Gesellschaft,  in 
der  mnu  sich  wechselseitig  geistig  zu  fördern  suchte.     Eine  besondere 
Anziehungskraft  Übte  aber  auf  Tieck  die  Bibliothek;  in  ihr  fand  er 
»llca,  was  sein  Studium   der  englischen  Literatur,  und  namentlich 
dw  illteni  englischen   Drama'H.   begünstigen   konnte,   das  jetzt  der 
ittelpunkt  seiner  wissenschaftlichen  Bestrebungen  war.  Das  Interesse, 
^ölcbcs  Ben  Jonson  wegen  seines  vollendeten   Gegensatzes  gegen 
[«•kspeare   in   ihm   erweckte,   gab  Anlass  zu   seiner  Ucbersetzung 
seiner  Stücke,  des  „Volpone"*.    Um  deu  Don  Quixote  im  Ori- 
**Uext  lesen  zu  können,    lernte  er  jetzt  auch  spanisch.    Dabei 
■hte  er  den  ,,Abdallali*'  zum  AbBclilus«,   machte  den  ersten  Ent- 
zu  dem  Homau  „William  Lovcll"  und   schrieb,  ausser  einigen 
kleinen  Sachen,  auf  Bernhardi's  Verlangen,  dem   er  es  als 
ithum   Überliess,   ein   zweiactiges  Trauerspiel,  „der  Abschied"- 
I79:i  gieng   er  von   Göttingen   über   Berlin   nach   Erlangen, 
ihn  jetzt  Wackenrodor  begleitete.    Was  der  Ort  und  die  Lehrer 
ter  Universitilt  die  Freunde  vermissen  Hessen,  dafür  leistete  ihnen 
Katur  des  Fraukenlaudes  und  dessen  alte  Städte,  vor  allen  das 


>  Sjp  erschien  zuei"st  untor  dorn  Titel  „Ein  Schurke  Über  den  midern,  oder 
''  iu-h^])relle'\  zusammen  mit  dem  .,AUHinoddiu'*  und  dein  Trauerspiel  „der 
*^ie<I",  Leipzig  171»*«;  später  in  den  Schriften  als  ,»Herr  von  Fuchs**. 


55S    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIIl  Jahrhunderts  bU  zu  GoeU«*t  T<m). 

327  kunstreiche  Nürnberg,   einen  reichen  Ersatz.     In  Nttmberp,   wo 
JUnglinge  häufig  verweilten,  trat  ihnen  die  deutwhe  Vorzeit  mit  Ih< 
Kunstleben  in  zahlreichen  Denkmalen  entgegCD;  welche  die  tiefi 
Eindrücke   in  ihren  Seelen  zurllckliessen    und   mit   der  Gem. 
Sammlung  zu  Pominersfelden   bei  Bamberg  die  ersten  Ideen  zu 
„Herzensergieasuugen  eines  kunstliebenden  Klosterbruders"  und  za 
dem  Roman  „Fniuz  Sternbalds  Wanderung:en"  in  ihnen  weckten.  Xacb 
Ablauf  des  Sommers  kehrte  Tieck  in  Wackenroders  Be^leitun^  iiad 
Göttingeu  zurück.    Tiecks  Lieblingsstudien  wurden  nun  nieder 
Ernst  aufgenommen-,  der  Plan  zu  einem  grossen  Werke  über 
spearo  und  seine  Zeit  bildete  sich  immer  mehr  aus;  eine  Bearbci: 
des  „Sturms"  begleitete  er  mit  einer  Abhandhing  über  „Shak 
Behandlung  des  Wunderbaren**';  in  einer  andern,   in  Bricffonu  ab- 
gefassten  Arbeit  beurtheilte  er  die  Kupferstiche  nach  der  ShakifiCftR- 
Galerie  in    London'.     Um  diese  Zeit   kam   Tieck    auf  Kbert«  bmI 
EschenburgH  Em])feliluu^,   denen  er  auf  einer  Reise  nnch  Wolfci 
bllttel  und  Braunschweig  persönlich  bekannt  geworden   war,  «Wrtl 
in  Verbindung  mit  Fr.  Nicolai,  zu  dem  er  bald  in  ein  näheres  V«^ 
bältniss  treten   sollte.     Im   Herbst   1791   verliess  er  Gottingon  vai 
kehrte  über  Hamburg,   wo   er  Schroeders  und  Klopstock»  BekMil* 
Schaft  machte,  nach  Berlin  zurück.    Hier  kam  er  bald  mit  den  Krdiv 
von  Frauen  und  Münnern.  die  in  Goethe  den  Aufllnger  und  BegrtoAr 
einer  neuen  Poesie  verehrten,  in  geselligen  Verkehrj  in  einem  to* 
selben,   der  eich  im  Hause  des  Bauquiers  Veit  versammelte,  warf« 
er  1797'  zuerst  mit  Fr.  Schlegel  bekannt   und   durch  diesen  wiedtf 
mit  Schi  ei  erm  ach  er.    Von    seinen   Berliner    Freunden    aus   frflbew 
Zeit  blieben  Wackcnrader  und  Bernbardi  ihm  auch  jetzt  die  nleW 
verbundenen;  mit   ihnen   und   einigen   andern,   zu  denen  auch  »W 
Bruder  Friedrich,  der  Bildhauer,  gehörte,   bildete  er  einen  ciy»« 


0)  Zuerst  gedruckt  Horhu  undXdpzig  1796.        7»  Schon  n!>4  Iti  tlrr 
Ribliüthfk  der  achönon  Wissenschaften   gedruckt  S)  Xai'b  K  * 

müs^te  Fr.  SchJegcl  schon   1790   in  Berlin  und  in  das  Baus  drh   h 
eingeführt  gewesen  sein.    Die&s.  muss   ich   aber   sehr  boxneifeln,    - 

auch  schon  —  was  doch  aus  dem  ganzen  Zusamnipuhaog  der  angviu 

bei  KOpke  geschlossen  werden  darf  —  Schlegel  den  Vlan  gcfa&st  hahcu  wU.  M 
Verbindung  mit  seinem  Freiuide  Schleiormacher  den  Plato  zu  Ob#»r8ctim" 
die  erste  Uckauutscbart  Schlegels  und  Sehloiermachers  fiel  nicht  fiiiber  ii«  ift 
Sommer  lTi»7,  wozu  jetzt  das  Buch  «.Aus  Scbleiennachers  Lebeu"  c«c  I.  '* 
den  sichersten  Beweis  liefert,  und  eben  so  sicher  ist  es,  das«  anch  er^t  in  S0f 
Zeit  Schlegel  in  Kabels  Kreia  eingeführt  wurde  (Itahel  etc.  1,  170).  O«»»* 
glaube  ich.  dass  er,  sollte  er  ja  schon  frulirr  einmal  In  Berlin  gew«M»D  ua.  ^ 
erst  im  Sommer  1*;97,  so  wie  mit  Rahel  und  Schleiermachcr,   *•■  H*. 

Herz,  Doroihe«  Veit  (vgl.  das  Uuch   aber  Ucur.  Her*  tou  J.  Fu.  '**^j 

Tieck  und  Bernbardi  in  Verbindung  kam. 


itwickelungsgBDg  iler  Literatur.     1773—1832.    Die  Romantiker.    Tieck.    559 


telHg'en  Kreis,  uachdem  er  mit  seiner  Schwester  Sophie,  die  sich  §^327 

iter  mit  Bernhiirdi  verheirathete,   das  elterliche  Hans  verlasaeu 
l  eine  eigene  Wohnung  bezogen  hatte.    Rambach  blieb  ihm  fern,  i 

b  lieferte  er  für  das  von  demselben  damals  herausgegebene 
terlinische  Archiv  der  Zeit  und  ihres  Geschmacks"  seit  ni»5  einige 
e^  zum  Theil  unter  Bernhardi's  Namen.  Nun  trat  er  auch 
Nicolai  nahe,  der  ihm  anfänglich  viel  Gunst  bewies  und  ihm 
h  die  Fort?*etzungder„Strau88federn''  übertrug,  einer  von  Musaeus 
7  begonnenen  und  von  Johann  Gottwerth  Müller  bis  1791  forl- 
hrten  Sammlung  von  Eraählungen,  die,  theils  Originale,  theils 
bbildungen  und  Umarbeitungen  fremder  Stücke,  eine  satirisch- 
lische  Richtung  verfolgen  und  zugleich  unterhaltend  und  be- 
end  sein  sollten.  Nicolai  lieferte  zu  der  Fortsetzung  dem  jungen 
ter  in  französischen  Btichem  Material  genug;  dieser  indess  ward 
ald  müde,  daraus  zu  schrijtfen,  und  gab  dafür  lieber  eigene  Er- 
ungen'.  Aus  jenen  französischen  Büchern  dagegen  entnahm  er 
n  Stoff,  den  er  in  einem  kleinen,  unvollendet  gebliebenen  Roman, 
r  Lebrecht,  eine  Geschichte  ohne  Abenteuerlichkeit",  frei  ge- 
te"*.  Obgleich  Tieck  in  diesen  kleinen  Arbeiten  schon  den 
oriBtisch-satirischen  Ton  angeschlageu  hatte,  bo  gab  er  es  doch 
t  auf»  den  „William  Lovell'^  auszuführen,  zu  dem  er  in  derselben 
und  Stimmung,  worin  der  , .Abdallah'*  entsttinden  war,  bereits 
Entwurf  gemacht  hatte;  in  der  nun  vbllendetcn  Gestalt  des 
ans",  auf  die  auch  Schillers  Geisterseher  Einfluss  gehabt  hatte, 
ihrte  der  Dichter  schon  eine  über  sein  Alter  weit  hinausgehende  , 

»tige  und  künstlerische  Reife.  Noch  im  J.  1790,  in  welchem; 
»er  mehreren  Stücken  in  erzählender  und  in  dramatischer  Form 
die  „Straussfedern**,  auch  verschiedene  lyrische  Gedichte  und  die 

Enge  des  ,,Zerbino"  entstanden,   gieng  er  an   die  Bearbeitung  | 

er    alten   Volksbücher   und   Volksmärchen,    die   er    bereits  am 
las«  des  „Peter  Lebrecht"  angekündigt  hatte,  und  die,  zusammen 
einigen  dem  Dichter  ganz  eigenen  Erfindungen,  im  J.  1797  unter 
D  Titel  „Volksmärchen,   herausgegeben  von  Peter  Leberecht''  er- 
fencn".    Ihnen  schlössen  sich  in  diesem  Jahre  noch,  ausser  seinem 


9)  Die  16  Stocke,  die  er  überhaupt  lieferte,  fWIon  den  grössten  Theil  der 
teü,  in  den  Jahren  1705 — ÖS  erachlenenon  Bände,  andere  darin  rühren  von 
tb  Schwester  und  von  Bernhnrdi  her.  H))  Berlin  1705  f.    2  Thle. 

Ö«rlin   nyö  f.    3. Bde.  12)  Berlin,   3   Bde.:    „Bitter  Blaubart.    Ein 

DKQroärcbun  in  4  Acten'*;  „der  blonde  Etkhert";  „die  Gei-chichte  von  den 
BJönskinJem.  in  zwanzig  altfrÄnkischen  Bildeni'-;  ..der  geßdefelte  Kater  Kinder- 
tlien  in  'A  Acten**  etc. ;  „Wundersame  Liebcsge&chichtc  der  schönen  Magelone 

des  Grafen  Peter  aus  der  Provence*';  ein  ,,Prolog";  „Karl  vun  Bemeck. 
Benpiel  in  5  Anflügen",  wozu  der  erste  Entwurf  aas  dem  J.  1793  herrührte; 


IMH 


500     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  JahrlmoderU  bis  zu  Gaethc'i  Tod. 

§  3?7  Antlieil  au  den  „Heraeusergiessung^en  eines  kunstliebeiulcn  Kloster- 
bruders*', von  eigenen  Erfimiungen  die.., Geschichte  der  sieben  Weibei 
des  Blaubart"'^  und  eine  dramatische  Arbeit  an,  die  ihrem  Hatiriwhen 
und  ironischen  Charakter  nach  in  der  näehfiten  VerwandtBobftft 
dem  (^gestiefelten  Kater*'  stand  und   der  erste  Anlnss  des  Zerwt 
nisscs  zwischen   dem   Dichter  und   Nicolai    wurde,    ,,die   vorkehi 
Welt,  ein  historisehea  Schauspiel  in  5  Aufzligen*'";  die  Arl>eit 
„Zerhino"  wurde  fortgesetzt  und  die  Ausarbeitung  de«  >,Sfen)b»l 
begonnen.     Ira  nächsten  Jahre  verlor  Tieck  durch   den  Tod  sein« 
treuesten  und  geliebtestcn  Jugendfreund,  Wackenroder,   dessen  li 
rarischen  Naohlass,  mit  einer  Anzahl  eigener  Stücke,   er  als 
gänzungen  zu  den  Herzensergiessungen  unter  dem  Titel  ..T' 
Über  die  Kunst  ftlr  Freunde  der  Kunst""  Lerausgab.     „Fi 
bnlds  Wanderungen**,    die  beide  Freunde   gcnieinscbaftlich   twl 
schreiben  wollen,  und  wovon  auch,   was  den  Inhalt  und  GciÄt 
Buches  betrilTt,  ein  Thcil  Wackenrodern  mit  angehOrt.  mussten 
von  Tieck  allein  ausgearbeitet  werden,   blieben  aber  unvollendet' 
Auch  wurde  in  diesem  Jahr  der  „Zcrbino'S  durch  Form,  Inhalt  ai 
Tendenz  ,,dem  gestiefelten  Kater"  und  ,,de.r  verkehrten  Well"  ut\ 
verwandt,  vollendet,  aber  erst  im  folgenden  veröffentlicht,  die  fil 
schichte  des  „Abraham  Tonelli"  (fttr  die  Straussfedern)  und  ein  mi 
kalisch-dramatisches  Märchen,  „das  Ungeheuer  und  der  vcrzaulrt 
Wald""  geschrieben,   sowie  an  der  Uebersetzung  des  Dou  QuLv» 
gearbeitet.    Ira  Sommer    1798    kam   A.   W.  Schlegel    nach    ßerl 
dessen  persönliche  Bekanntschaft  Tieck  erst  jetzt  machte,  nnch 
beide  schon   seit  einiger  Zeit  in    brieHiclicr  Verbindung  ge«U«d« 
hatten.    Man  verständigte  eich  jetzt  nach   allen  Uicbtuugcn;  Sl 
speare   und   das   gemeinsame   Studium    der   Altem   englischen  ni 
spanischen  Literatur  boten  hauptsächlich  AnknÜpfun--       "       ibi 
Gespräche.    Schlegel  trat  ganz  den  Freunden   bei.   V'  h 

Tieck  gesammelt  hatten.    „Die  hier  herrschenden  Ideen  gewannen  i| 
ihm  einen  gefnrchtotcn  Vertreter  in  der  kntischcn  Well".     In  dsMCll 
Jahr  fiel  auch  Tiecks  Verheirnthung  u»it  lieichardls  Schwft^nn. 
nächstfolgenden  fand  sich  H.  Steffens  in  Berlin  ein.  der  zwarjcM 


und  „Denkwürdige  GeschiclttBcbronik  der  Schildbürger'  ftc.-,  —  dftr*a  v»  li 
demselben  Jahr  schon  tinzeln  erschienen  der  ..ttitier  ßlatibsrl**.  l»)*  >tinfen 
roTn  Bltiubart  und  vom  gestiefelten  Kater,  bei  deren  rraiuatisleruug  Gooi  nidl 
ohne  Kin6us!i  nuf  ihn  war.  fand  er  in  dom-ersU^u  Uande  der  ,  UlAora  BHMhifc 
aller  Nationen"  vgl.  S  237  f..  72),  der  ihm  ftpAter  Auch  die  M^rvben  xiA  Ri^ 
k&ppcben  und  O.lumling  lieferte.  13)  Kinzeln  gedruckt   lTi*7.  Ht  *>- 

druckt  17tiy  in  dem  zweiten  Theil   der  von  Bernhardi  herausgeir' 

ciflden**.  15)  Hamburg  1799.  IG)  Berlin  ITUS.    2  IK 

Ausübe  1.  373  ff.  17)  Bremen  ISOO. 


Eitwickelangsgiog  der  Literatur.    177^)— 1S32.    Die  RotnaatOcer.    Tieck.    561 
ocb  iu  kein  näheres  Verhältniss  zu  Tieck  trat,  später  jedoch  ihm  §  327 
ianig  befreundet  und  auch  verwandt  wurde.    War  Tieck  von  seinen 

titen  düstem  und  herben  Diclitungen   durch  die  Fortsetzung  der 
traussfedern**  zur  humoristiachen  Batire  Übergegangen,  so  trat  jetzt 
seiner   inuern   Entwickelung    und   in    seiner   schriftstellerischen 
Thätig^keit  eine  neue  Epoche  ein»  die  sich  bereits  in  eiuigeu  frühereu 
^jbeiten,  vornelimlioh  in  dem  „Sternbald",  angekündigt  hatte.     In 
■er  Autfassung  des  Christenthums  erzogen,  welcher  die  Partei   der 
T.afklärer  unter  den  gebildeteren  Classen  Berlins  die  ausgedehnteste 
^feltung  zu   verschaffen  gewusat  hatte,   war  sein  Jugendliches  Herz 
Hkubensleer  geblieben,  sein  ferneres  Verhalten  zu  den  hergebrachten 
■Ircblicheu  Formen  ein  gleichgültiges  gewesen;  in  der  Natur  und  in 
■er  Poesie  hatte  er  daher  in  der  Zeit  seiner  schwersten  Seclcnkämpfe 
Trost  und  Erhebung  gesucht  und  gefunden.    In  den  Schöpfungen  der 
^Idendeu  Kunst  war  ihm,  wie  seinem  Freunde  Wackenroder,  zuerst 
Be  Ahnung   von   der    beseligenden   und    begeisternilon  Macht   der 
Religion  aufgegangen,  und  die  Gewissheit  davon  hatte  ihren  beredten 
Ausdruck  in  den  ,,Herzen3ergies8ungen"  und  in  dem  ,,Stembald" 
gefunden.     Das  BedUrfuiss  nach  eigner  religiöser  Erwärmung.,   nach 
einem   tlas  Gemüth   beruhigenden  und  erquickenden  Glauben  regte 
^ob  in  dem  Dichter  und  wuchs   allmählig  um  so  mehr,  je  unauT. 
Hprlicher  er  nach  einem  entsprechenden  poetischen  Ausdruck  der  in 
ihm  wogenden  tieferen  Gedanken  suchte.     Da  fiel  ihm  Jacob  B5hme's 
^Morgenrüthe*'  iu   die  HAnde  und  bemächtigte  sich  binnen  kurzem 
ller  seiner  Lehenskrfifte:  von  hier  aus  glaubte  er  erst  das  Christen- 
lum  und  die  Natur  zu  vorstehen'*.     Der  in  ihm  liegende  Hang  zm* 
[^Vfltik  kam  zum  Durchbruch ;  er  fand  neue  Nahrung  in  den  Werken 
irer  Mystiker,  namentlich  in  Taulera  Schriften.    Die  Uebersetzung 
Don  Quixote  brachte  ihn   der  spanischen   f.iteratur  näher;   er 
irde  mit  den  spanischen  Dramatikern  und  Lyrikern  bekannt.    Der 
ist   des  Mittelalters    hatte  schon    augefangen    aus  Kunstwerken, 
m  und   Dichtungen  zu  ihm   zu  sprechen;   nun  wandte  er  sich 
Ibat  in  der  Poesie  dem  katholischen  Glauben   der  Vorzeit,    den 
riehen  und  blendenden  Formen  der  spanischen  Dramatiker  zu.    Das 
kte  Werk,  das  iu  dieser  Zeit  und  Stimmung  und  dabei,  seiner  all- 
leinen  F(trm  nach,  noch  unter  dem  besondorn  Einfluss  von  Shak- 
»*R  ,,Perikle»  von  Tyrus"  entstand,  war  das  Trauerspiel  „Leben 
Tod  der  heiligen  Genoveva",  deren  Legende  er  ans  dem  Volka- 
ich    179S  hatte   kennen   lernen;  es   wurde  im  Sommer    1799  zu 
kebichensteiu  in  Reichardts  H^use  angefangen,  in  Jena,  wo  Tieck 
shon  iu  demselben  Somuicr  einige  Zeit  verweilte,  und  wo  er  dann 


18)  Vgl.  seinen  Ürief  an  Sol^er  in  dessen  nachgclasseucn  Schriften  1,  53^  i". 

EotMttWlii.  Grimiri».  t>.  Aufl.  IV.  '^^ 


562    VI.  Vom  zweiten  Yiei*tel  des  XYIll  Jahrhunderts  bis  zu  GoeÜic's  Tod. 

327  mit  seiuer  Familie  vom  Herbst  an  bis  iu  den  Juli  1800  seinen  Wohn- 
sitz uabm,  fortgrefHbrt  und  noch  vor  dem  JaUresscbluss  beendi^t"^ 
und  erschien  sodann  mit  dem   ,,Zerbino"  und  einigen  andern,  in 
Jena  abgefassteu  und  sieb  ihrem  allgemeinen  Charakter  nach  an  die 
Volksmiirchen  anschliessenden ,  theils  erzählenden,  theils  dramatischen 
Stücken*"  in  den  ,,romantischen  Dichtungen"''.    Unterdessen  hatte  er 
auch  die  Uebersetzung  des  ,,Don  Quixote"  zum  Äbschluss  gebracht*', 
seine  schauerliche  Romanze  ,,die  Zeichen  im  Walde*'*^  und  verschiedene 
Sachen  in  Prosa  und  in  Versen  für  ein  von  ihm  selbst  herausgegebenes 
„poetisches  Journal"''*  geschrieben  oder  übersetzt.   Wie  der  AufenthaU 
in  Jena  ihn  den  Brüdern  Schlegel  wieder  nahe  brachte  und  ihm  den 
lebendigsten  und  anregendsten  geistigen  Verkehr  mit  denselben  ermög- 
lichte, so  bot  er  ihm  auch  unmittelbar  oder  mittelbar  die  Gelegenhdt, 
sowohl  sich  mit  andern,  ihm  schon  früher  werth  gewordenen  Persön- 
lichkeiten näher  zu  befreunden,  als  auch  mit  einer  Anzahl  bedeutender 
Männer,  unter  denen  mehrere  schon  lange  sein  höchstes  Interesse 
erregt  hatten,  mehr  oder  minder  iu  persönliche  Bertthiiing  zu  komtnen. 
Er  fand  hier  neue  Freunde  in  Schelling  und  Gries;  mit  Novalis,  der 
damals  in  Weissenf  eis  lebte,  aber  häufig  nach  Jena  herüber  kam, 
wo  Tieck  durch  A.  W.  Schlegels  Vermittelung  schon  im  Sommer 
1799  mit  ihm  zusammentraf,    wurde  der    innigste  Seelenbund  gt 
schlössen;  Fichte,  der  ihm  bereits  von  Berlin  her  bekannt  war,  eah 
und  sprach  er  oft,  als  derselbe  im  Winter  auf  einige  Monate  nach 
Jena  zurückgekommen  war,  um  seine  dortigen  Verhältnisse  {[snz 
aufzulösen ;    endlich  blieben   ihm  nun  auch  nicht   länger  Goethe, 
Schiller,  Ilerder  und  Jean  Paul  persönlich  fremd.    Allein  soviel  Bell 
und  Gcnuss  das  Leben  in  Jena  dem  jungen  Dichter  auch  bot,  w 
blieb  es  doch  für  ihn  nicht  frei  von  trüben  Erfahrungen  und  Leiden. 
In   den  geselligen   und  literarischen  Kreis,   dessen  Mittelpunkt  das 
Haus  des  altern  Schlegel  war,  brachte  die  Eigenthümlichkeit  einzelner 
Persönlichkeiten,  sowie  das  Auseinandergehen  in  Ansichten  und  Ur- 


10)  Vgl.  dazu,  und  besonders  über  das  Verhältniss  von  Tiecks  Dichtung n 
der  ihm  in  der  Handschrift  bereits  das  Jahr  vorher  bekaunt  gewordenen  ..G«*- 
veva"  vom  Mahler  Müller,  Schritten  1,  S.  XXVI  ff.,  die  Briefe  in  SoJgers  XäcU» 
!,  -153;  ■J'ir)  f.;  501  f.  und  K.  Köpke  in  Tiecks  Leben  1,  242  ff.  '>(»)  .J^ 

getreue  Kckart  und  der  TanuhiiuserS  „Loben  und  Tod  des  kleinen  Rothtiff" 
chens'*  und  „sehr  wunderbare  Historie  von  der  Mclusina".  21)  Jena  I"f*^' 

2  Tble.  22)  Berlin  l7'JO_|soi,    4  Thle.   S.  23)  Gedruckt  I^^Oiindffl 

von  ihm  und  A.  W.  Schlegel  herausgegebenen  Musenalmanach.  2-li  J^ 

ISO*);  bis  auf  ein  Paar  Beitrüge  von  andern  Verfassern  ist  in  den  beiden Stüfkn 
des  allein  erschienenen  ersten  Jahrgangs  alles  von  Tiecks  eigener  Hand.  Januw 
.jBriefc  tiber  Shakspeare" ,  ..der  neue  Hercules  am  Scheidewege ,  eine  Parodh'*- 
„das  jüngste  Gericht,  eine  Vision'*,  und  eine  Anzalil  Sonette. 


itidtrlcolaiigsgiuig  der  Litcratar.     1773—1832.    Die  Romantiker-    Tieck.    503 


KEntidtrlcola: 

teilen  mich  nnd  nach  mancherlei  Missklänge  und  Irrungen,  und  §  327 
rheumatische  Schmerzen,  von  denen  Tieck  schon  seit  einiger  Zeit 
iquült  worden  war,  bildeten  sich  jetzt  zu  einer  Gicht  aus,  die  eine 
igwierige  Cur  im  Laufe  des  Winters  ihm  nuthig  machte  und  ihn 
allen  Arbeiten  verhinderte.  Erst  mit  dem  beginnenden  Früh- 
ig  erholte  er  sich  wieder,  und  im  Juli  verliess  er  Jena,  um  zu- 
ihst  nach  Hamburg  zu  gehen  und  von  da  im  Herbst  nach  Berlin 
irückzukehren.  In  Hamburg  fiel  ihm  das  Volksbuch  vom  „Kaiser 
»tavianus**  in  die  Hände;  es  wurde  die  Grundlage  einer  neuen, 
leichnamigen,  im  Laufe  der  beiden  nächsten  Jahre  ausgeführten 
»mantischen  Dichtung  von  grossem  Umfange  und  in  einer  ähnlichen 
»rm  wie  die  ,,Gonoveva*'**.  Unterdessen  war  von  verschiedenen 
titen,  besonders  aber  von  Berlin  aus^  ein  erbitterter  Kampf  gegen 
Schriftsteller  der  sogenannten  neuen  oder  romantischen  Schule 
it,  und  Tieck  war  nicht  der  letzte,  gegen  den  sich  die 
-  und  gehässigsten  Angriffe,  nebst  manchen  geheimen  Ver- 
dächtigungen, richteten.  Jeder  Polemik  abgeneigt,  welche  die  Grenzen 
mnes  heitern  Humors  und  einer  scherzhaften  Satire  überschritt,  Hess 
er  Schmähungen  und  Verunglimpfungen,  die  ihn  bloss  als  Dichter 
betrafen,  ungerügt  und  unerwiedert  über  sich  ergehen;  als  er  aber 
^egen  Ende  des  Jahres  ISOO  mit  seinen  Freunden  kenntlich  genug 
|bn  der  Berliner  Bühne  herab  nicht  bloss  verspottet,  sondern  auch 
in  seinem  sittlichen  Charakter  angetastet  und  herabgewürdigt  wurde, 
erlaubte  er  nicht  länger  schweigen  zu  dürfen  und  schrieb  einige 
polemische  Blätter,  die  unter  den  unverständigen  und  böswilligen 
Gegnern  aufräumen  sollten.  Indess,  obgleich  Bernhardi  ihre  Ver- 
öfientlichung  schon  angekündigt  hatte,  konnte  Tieck  sich  doch  nicht 
entAchiic^sen,  sie  zu  vollenden  und  drucken  zu  lassen*.  Dagegen 
•ntwarf  er  im  Sommer  1801,  auf  dem  Grunde  der  Fabel  eines  Stücks 
von  Ben  Jonson,  den  Plan  zu  einem  umfassenden  humoristischen 
Lastspiel,  worin  er  seinem  Herzen  Luft  machen  und  mit  dichterischem 
Scherze  ein  Strafgericht  über  die  Gegenpartei  halten  wollte:  es  sollte 
,,Anti- Faust*'  heisseu,  bliel»  aber  auch,  als  sich  dem  Druck  augen- 
blickliche Hindernisse  entgegenstellten,  unvollendet^.  Der  längere 
Aufenthalt  in  Berlin  war  ihm  nun  verleidet,  auch  sehnte  er  sich 
nach  einer  reidiern  und  schöuorn  Natur,  als  ihm  die  Umgebung 
•dn^  Vaterstadt  bieten  konnte;  so  verlegte  er  seinen  Wohnsitz  im 
RUlyahr  1601  nach  Dresden.    Allein   er   brachte  dorthin  nicht  den 

1>b\  .^aiscr  OctariAtius,  ein  Lustapiel  id  zwei  TheUen".    Jena  IS04. 
1^'   Da*  fertig  Gewordene  steht  jetzt  iu  L.  Tiecks  uachgelasseaen  Schriften  etc., 
'rp!«.  TOD  R.  Köpke.    Berlin  ISää.    '2  Bde.   %.    Bd.  2,  35  ff.  27)  Was 

ikh  düvun  vorfaod.  steht  jetzt  ebenfalls  in  den  nacbgel.  Schriften  1,  127  ff. 


564    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe*s  Tod. 

§  327  frohen  Muth  mit,  der  seine  diehterisebe  Thätigkeit  in  den  letzten 
Jahren  gehoben  und  in  Schwung  erhalten  hatte.    Zweifel  Über  den 
wirklichen  Werth  dessen,  dem  er  so  lange  nachgestrebt,   an  das  er 
seine  besten  Kräfte  gesetzt  hatte,  bemächtigten  sich  seiner:  er  wurde 
irre  an  sich  selbst  und  rerfiel  aufs  neue  in  Trübsinn  und  finstere 
Schwermuth;  sie  wurde  gesteigert  durch  herbe  Verluste,    die  ihn 
trafen,  denn  im  März  1801  war  Novalis  gestorben,  ein  Jahr  später 
folgten  ihm  Tiecks  Eltern.    Der  Hang  zur  Mystik  fieng  an  ihn  mehr 
als  je  zu  beherrschen,  er  versenkte  sich  ganz  wieder  in  die  Schriften 
Jacob  Böhme's,  der  mittelalterlichen  Mystiker  und  endlich  auch  6a 
Kirchenväter.    In  dieser  Gemttthsstimmung  kam  ihm  Steffens,  der 
damals  in  Tharand  lebte  und  von  da  häufig  Dresden  besuchte,  in 
seiner  naturpbilosophischen  Richtung  gewissennassen  entgegen;  beide 
schlössen  sich  daher  jetzt  enger  aneinander;  Tiecks  schauerliebes 
Märchen,  „der  Runenberg" ",  gieng  aus  ihren  Unterhaitangen  her- 
vor.   Die  Arbeit  am  „Octavianus''   rückte  nur  langsam    vorwärts, 
Anderes,  was  er  dichten  wollte,  kam  nicht  über  die  Entwtlrfe  nnd 
ersten  Ansätze  hinaus;  ein  Musenalmanach,  den  er  schon  1800  nach 
dem  Eingehen  des  schillcrschen    mit  A.  W.  Schlegel  in  Aussiebt 
genommen  hatte,  kam  für  das  Jahr  1S02  nur  mehr  in  Folge  von 
Schlegels  als  Tiecks  Thätigkeit  zu  Stande.    Wackenroder  hatt«  sich, 
schon  vor  seinen  Universitätsjahren  in  Berlin  von  E.  J.  Koch  dan 
angeregt,  in  Göttingen  viel  mit  altdeutscher  Literatur  beschäftigt: 
jetzt,  im  J.  ISOl,  suchte  auch  Tieck,  durch  die  Mystiker  dem  deut- 
schen Mittelalter  näher  gebracht,  sich  mit  unserer  alten  Poesie  ht- 
kannter  zu  macheu,  und  bald  versuchte  er  sich  in  Uebersetzung. 
Nachbildung  und  Umbildung,   zunächst  von  lyrischen  Sachen  aus 
der   mittelhochdeutschen  Zeit**.     Mittlerweile   war   Burgsdorff  von 
seinen  Reisen  durch  das  westliche  Europa  heimgekehrt;  er  forderte 
seinen  Jugendfreund  auf,  ihm  von  Dresdin  auf  sein  zwar  verkauftes, 
aber  noch  von  ihm  bewohntes  Erbgut  Ziebingeu   in   der  NeumaA 
zu  folgen.    Tieck  nahm  die  Einladung  an  und  zog  dann  ge^n  Ende 
des  Jahres  1802  mit  den  Seiuigen  ganz  nach  Ziebingen.     In  dieser 
Zeit  knüpfte  sich  seine  Bekanntschaft  mit   dem  Grafen  Finkenstein 
auf  Madlitz  bei  Frankfurt  a.  d.  0.  an,  und  der  geistige  Verkehr  mit 
diesem  gebildeten  Edelmann    und  dessen   liebenswürdiger  Familie 
trug  viel  dazu  bei,  den  Dichter  wieder  mehr  innerlich  zu  beruhigen 
und  aus  seiner  Schwermuth  zu  erheben.    Im  Sommer   1S03  mafhw 
er  mit  Burgsdorff  eine  Reise  durch   einen   Theil  des  mittlem  unti 

2S)  Gedruckt  in  dem  zuC'til«  crschieiioncQ  Taschenbuch  für  Kunst  umiUiu:^ 
auf  dag  J.  \>()'l.  2\))  ..Minnelieder  aus  dem  schwäbischen  Zeitalter,  n^a  l^ 

arbeitet",    lierhn  ISo:*. 


Entwicltelangsgaug  der  Literatur     1773— 1*'32.    Pie  Romiinükcr.    Tieck.    565 


(IwestlichenDeutschlflnds,  die  ebenfalls  auf  seine  geistiffc  Erfrischung  §  327 
oliltbätig  wirkte.  Er  verweilte  nun  wieder  einige  Monate  in  Dres- 
den und  grieng  daan  mit  seiner  Schwester,  die  sich  nach  einer  nicht 
glöckliehen  Ehe  mit  Beruhardi  von  diesem  trennte  und  zur  Her- 
stellung ihrer  tief  erschütterten  Gesundheit  nach  Italien  reisen 
I  wollte,  zunächst  nach  MQuchen,  wo  die  Geschwister  sich  aber  erst 
kMregcn  des  im  Herbst  1804  sehr  verschlimmerten  Gesundheitszustandes 
^Birphiens,  dann  weil  auch  der  Druder  lebensgefährlich  an  der  Gicht 
^Brkrankte,  weit  länger,  als  sie  beabsichtigt  hatten,  aufhalten  musateu. 
^^idessen  durfte  die  Schwester  ihre  Weiterreise  nicht  zu  lange  auf- 
gebiebeu,  und  Tieck  sah  sich  genöthigt,  in  MUnchen  allein  unter  der 
Pflege  von  Runuihrs,  eines  neugewonnenen  Freundes,  zurückzubleiben. 
In  dieser  Leidenszeit  vermochte  er  es  ^dennoch  Über  sich,  litcrariachon 
Beschäftigungen  sich  zuzuwenden:  die  altdeutschen  Studien  wurden 
mit  neuem  Eifer  aufgenommen;  sie  richteten  sich  hauptsUchlich  auf 
die  Nibelungen  und  die  damit  verwandten  nordischen  Sagen  und 
Diebtungen.  Schon  früher  hatte  er  den  Gedanken  an  eine  Um-  und 
Nachdichtung  des  alten  vaterländischen  Epos  gefasst  und  mit  der 
ueführung  auch  bereits  einen  Anfang  gemacht*".  Endlich  im  Sommer 
05  konnte  Tieck  von  Mtlnchen  aus  die  Reise  nach  Italien  antreten, 
r  gieng  gerades  Wegs  nach  Rom,  wo  er  diese  erste  Zeit  von  seiner 
icht  noch  viel  zu  leiden  hatte  und  darum  auch  in  einer  sehr  ge- 
drückten Stimmung  blieb.  Er  kehrte  zu  seinen  altdeutschen  Studien 
£urUck ,  wozu  ihm  die  vaticauische  Bibliothek  ganz  neue  und  sehr 
reiche  Mittel  bot;  vorzugsweise  beschäftigten  ihn  noch  immer  die 
ibelungen-^'.  Daneben  dichtete  er  auch,  wie  in  den  vorhergehen- 
en  Jahren,  eine  Reihe  kleiner,  besonders  lyrischer  Sachen  und  ver- 
8te  eine  Art  von  Tagebuch  in  ganz  freier  poetischer  Form,  ,, Reise- 
dichte eines  Krauken''.  Allmählig  fühlte  er  sich  genesen,  und 
Sommer  ISOG  kehrte  er  in  die  Heimath  zurück.  Unterwegs  hielt 
sich  zuerst  in  St.  Gallen,  der  Nibelungen-Handschrift  halber,  dann 
Mannheim  auf,  um  hier  aun)ewahrte  Papiere  vom  Mahler  Müller, 
persönliche  Bekanntschaft  er  in  Rom  gemacht  hatte,  und 
poetische  Werke  er  herauszugeben  beabsichtigte  und  spater 
wirklich  herausgab,  durchzusehen.  In  Weimar  verlebte  er 
hrcrc  Abende  bei  Goethe.  Im  Herbst  befand  er  sich  wieder  in 
efiden,  wo  er  die  nächsten  Wochen  bleiben  wollte.  Unterdessen 
der  Krieg  zwischen  Preussen  und  Frankreich  ausgebrochen, 
eck  begab  sich   nach  Sandow,   dem  Gute  Burgsdorff*,   wo  er  bis 


;60i  r»eu  ersten  Gesang  hat  v.  d.  Hugeu   im  U».  IJde.   des   „ueuea  Jahrbuchs 
berliuibcheü  GeseUschaft''  etc.  abdrucken  lassen.  3U  Vgl.  den   Brief 

W.  8cfalegeU  aus  Küm  iu  dea  säuimtlichcit  Werken  9,  'JOD  f-h 


566     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

§  327  zum  Herbst  des  folgenden  Jahres  verweilte.    Zu  den  Männern,  mit 
denen  er  während  des  letzten  Jahres  in  Dresden,  Berlin  und  Sandow 
zuerst  in  Berührung  gekommen  war,  gehörten  OehlensehlSger,  Achim 
von  Arnim  und  von  der  Hagen.    Mit  diesem  vermittelte  die  alt- 
deutsche Literatur  bald  einen  literarischen  und  freundschaftlicheD 
Verkehr;  Tieck  gab  seinen  Plan  mit  den  Nibelungen  auf,  nachdem 
von  der  Hagens  Erneuerung  derselben  erschienen  war;   es  sollten 
nun  damit  verwandte  Arbeiten  in  Gemeinschaft  mit  dem  Freunde 
unternommen  werden,  indessen  hinderten  Krankheit  und  wechselnde 
Verhältnisse  Tieck  an  der  Ausführung,    Im  Winter   1807  —  8  und 
den  nächsten  Sommer  hindurch  lebte  er  in  Sandow,   Dresden  und 
Wien,  dann  gieng  er  im  Herbst  wieder  nach  München,   wo  er  im 
Winter  aufs  neue  sehr  schwer  erkrankte;  erst  im  Sommer  1810  ver- 
liess  er  die  Stadt,  noch  immer  leidend,  und  auch  der  Gebrauch  ve^ 
schiedencr  Bäder  in  diesem  und  dem  nächsten  Jahre  gab  ihm  seme 
Gi3sundheit  nicht  wieder.    Zu  den  interessantesten  Bekanntschaft^, 
die  er  in  dieser  Zeit  machte,  gehörte  die  von  Heinrich  von  Kleist 
im  Sommer  1808  zu  Dresden  und  die  von  Fr.  H.  Jacob!  im  Herbst 
desselben  Jahrs  zu  München.    Im  Herbst  1810  war  er  wieder  in 
Ziebingcn,  wo  unterdess  die  Scinigen  gelebt  hatten.    In  den  nächsten 
Jahren  liemmten  körperliche  und  Seelenleiden  vielfach  seine  dichte- 
rische Kraft,    ohne  dass  jedoch  seine  literanschc  Thätigkeit  gau 
unterbrochen  wurde.    Im  Jahre   1811   erschien    sein    „altenglischa 
Theater"  und  1S12  die  Bearbeitung  von  „Ulrichs  von  Lichtenstein 
Frauendienst''.    Schon  1810  gieng  er  damit  um,  für  eine  zu  veran- 
staltende Sammlung  aus  seinen  Jugendversuclien  geringern  Umfang 
diejenigen  auszuwählen,  die  ihm  der  Erhaltung  werth  schienen,  st 
zum  Theil  umzuarbeiten,  ihnen  eine  Anzahl  neuer  Erzählungen  mi 
Dramen  hinzuzufügen  und  alle  diese  Poesien  durch  einen  novelM- 
sehen  Rahmen  zu  einem   Ganzen    zu  verbinden.    So  entstand  ds 
„Phantasus",  von  dem  zwei  Bände  bereits  1812,  der  dritte,  mit^ 
schon  seit  lange  entworfenen,   aber  erst  in   den  Jahren  1815  aW 
1816  voUendeteu  ,,Fortunat",    1816    zu  Berlin    erschienen",   ö» 
Sommer  1813  verlebte  der  Dichter  mit  seiner  Familie  in  Pra^,  ** 

32)  Im  l.Bde.  „Kinleituni;,  fortgeführt  als Rahmenerzähluug,  mit  äagtüfi 
lyrischen  Stücken,  durch  die  andern  Bünde;  „PhantasuB",  ein  Gedicht:?.* 
blonde  Eckbert";  „der  getreue  Eckart"  etc.;  „der  Runenberg";  „Liebosa"^' 
aus  d.  J.  isil;  „die  schöne  Magelone";  „die  filfen";  „der  Pokal",  b«*' 
d.  J.  l**Il;  „Rothkäppchcn" ;  —  im  2.  Bde.  der  „Blaubart";  „der  festii** 
Kater";  „die  verkehrte  Welt" ;  „Duumcheu",  aus  d.  J.  ISIl;  —  im  ;».  Bde.>; 
tunat*'  in  zwei  Theileii.  Die  Fortsetzung,  durch  welche  die  GesammtaU ■  | 
Stücke  auf  fünfzig  gebracht  werden  sollte,  unterblieb.  Ueber  den  „Phanttais» 
Entwurf**  aus  dem  J.  I SOO,  vgl.  Oödeke  im  Weimar.  Jahrbuch  4,  '25  f. 


w^^m 


ntwickelangsgang  der  Literatur.     1773 — IS32.    Die  Romantiker.    Tiock.    567 

iiu  ihn  die  Kriegrsiniruben  zu   gehen  veranlasst  hatten.     Nach  Zie-  §  327 

binden  ztirUckgekehrt,  besuchte  er  von  dort  aus  im  nüchsten  Sommer 

Berlin.    Hierhin  togen  ihn    besonders  Freunde    aus   Mherer   oder 

apäteror  Zeit,   vor  allen  Solger,   mit  dem  er  zuerst    ISÖS  bekannt 

«worden  war,  und  mit   dem  er  einige  Jahre  darauf  ein  sicli   für 

Mne  fernere  Enlwickelung,  innere  AhkUrung  und  die  Herstellung 

^nes  Gleichgewichts  seiner  KrHfte  höchst    wohlthfttig   erweisendes 

Freundschaftshaud  geknüpft  hatte.    Wie  Solger  ihm  zuerst  ein  frucht- 

bftrores  VerhäUniss  zur  Philosophie  vermittelte,  so  traten  dem  Dichter 

jetzt  auch,   nachdem  er  sich  mit  Fr.  von  Räumer  befreundet  hatte, 

die  Politik,  die  Geschichte  und  die  historische  Gegenwart  näher,  als 

ejj  bisher  der  Fall  gewesen.     In  der  engern  Umgebung  seines  hlnd- 

^hen  Wohnortes  fehlte  es  ihm  bei  seinen  Studien  und  Dichtungen 

Benfalls  nicht  an  Anregung  und  Theilnahme:  er  lebte  hier  in  tilg- 

Itchem    Verkehr  mit  der  Familie   Finkenstcin,   mit  Burgsdorff  und 

JITilhelm   von   Schütz,   einem  seiner  friliiesten   Schulfreunde.    Nach 

fcllendung  dos  „Fortunat**  trat  wieder  för  mehrere  Jahre  ein  Still- 

Bind  in  seiner  dichterischen  Thätigkcit  ein;  Jedoch  stets  literarisch 

BschUftigt,  gab  er    IS17   eine  mit   lehrreichen  A'orreden  begleitete 

Sammhing  alter  deutscher  Schauspiele  (., Deutsches  Theater")  heraus. 

Iq  demselben  Jahre  ward  ihm   ein  langst  gehegter  Wunsch  erfüllt: 

0r  reiste  in  Burgsdnrft's  Gesollsclmft   nach  England  und  Fraukreioh. 

ftiBser  den  Bibliotheken  zu  London  und  Paris,  die  er  für  seine  auf 

TOe  Geschichte  der  dramatischen  Literatur  bezüglichen  Studien,  und 

uamentlich  für  das  von  ihm   beabsichtigte  grosse  Werk    über  Sliak- 

►eare  und  seine  Zeit,  mit  dem  ausdauerndsten  Fleiss  benutzte,  waren 

auch    die    damaligen   Theaterzustände    in    beiden    Hauptstädten, 

ICO  er  ein  besonderes  Interesse  widmete.     Nicht  lange  nach  seiner 

Ickkebr  starb  der  Graf  Finkenstein;  dieser  Verlust  und  mancherlei 

lere  Gründe  bewogen  Tieck,  im  Sommer  IS19  aus  dem  Ziebinger 

reJse  zu  scheiden;  die  Aussicht  auf  eine  Anstellung  in  Berlin  zer- 

dag  sieh;  er  Hess  sich  mit  seiner  Familie  und  der  Ältesten,  unver- 

itheteo  Tochter  des  Grafen  Finkenstein  in  Dresden  nieder.    Hier 

le  er  bald  der  Mittelpunkt  eines  geselligen,  literarisch  gebildeten 

laes,  in  dem  einzelne  Glieder,  wie  0.  von  Malsburg,  Graf  Loeben 

A.,  sich  auch  dichterisch  sehr  regsam  erwiesen.     Kinen  viel  weitem 

reis  aber  bildete  Tieck  um  sich  als  Vorleser  dramatischer  Stücke: 

den  Einheimischen,  die  seinen  Vorlesungen  beiwohnten,  gesellten 

dl  alljährlich,   zumal  in  den  Sommermonaten,  zahlreiche  Fremde 

m  nah  und  fern.    Zeither  hatte  er  verschiedene  an  ihn  ergangene 

itr&gc  von  Aemtern,   theils  an  Universitäten,  theils  an  Theatern 

id  andern  öffentlichen  Anstalten,   entweder  abgelehnt,   oder  ihre 

inahme  war  anderweitig  behindert  worden.    In  Dresden  hatte  er 


w 


mmmi 


56S     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  JuliHiuoderts  bis  tu  OoeUi«*i  I«d. 


§  327  sowohl  durch   Bcine  Vorlesungea,  wie   durch  seine  in   den  Ja 

1S23   und  24   in    die  „Ähendzcitung"  gelieferten   Theaterkritiken 
schon  mittelbar  einen  bildenden  Einfluss  auf  die  dortige  Bühne 
geUbt;  daran»  gieng  von  selbst  ein  näheres  Verhilltnisd  zu  derselbefl 
hervor,   welches  zu  Anfang  des  Jahres    IS25  zu   einer   festen  An 
Stellung  als  Dramaturg,  mit  dem  Titel  eines  königl.  Hofraths,  wurde 
Noch  in  demselben  Jahr  bogleitete  er  den  lütcndauten  der  Rofbllh 
auf  einer  theatralischen  Rundreise  durch  Deutschland,  die  bOt^Uc 
Schweiz  und  das  Elsass,  auf  der  er  überall,  rorzflglich  in  Wien, 
Auszeichnung  empfangen  und  als  Dichter  gefeiert  wurde.     Sein  N 
hatte  |in  [den   nächst  (vorhergegangenen  Jahren  einen  'neuen  OUm 
erlangtj  wie  er  sich  durch  seine  Theaterkritiken  als  Dramaturg  den 
nächsten  Platz  neben  Lessing  eroberte  hatte,  *so  hatte   mit  seine» 
Novellen,  deren  lange  Reihe  im  J.  1S2I  „die  Gem&hlde"  eroflfneti 
eine    ganz  neue  Epoche  in   seinem   poetischen  Schaffen  nr 
in  welcher  er  durch   die  zumeist   aus   dem  Leben   der   *.. 
gewählten,    oder  sich   mit    den   Problemen   de»  Tage»  bertlbren 
Gegenstände  seiner  Novellen  und   die    Art   ihrer  Behandlung  d« 
hohem  und  mittlem  Kreisen  des  lesenden  PuLlicums  ungleich  niber 
getreten   war,   als    durch    die   Dichtungen   aus  seiner  frähem 
Dieser  Gattung   erzählender  Werke  gehörte  fortan  näher  oder 
fernter  fast  alles  an,  was  er  bis  zu  dem  im  Jahre  1S40  ernchienfn 
Roman  j,Vittoria  Aecorombona"  dichtete*'.     Neben  der  N<»vcllendir!K 
tung  war  er  in  diesen  Jahren  auch  noch   anderweitig  vielfach  lil 
rarisch   thätig.     An  seinem  grossen  Werk   Über  Shakspearo 
fortgearbeitet '\  mit  der  Unterstützung  jüngerer  Freunde  ,,8hak8pMit 
Vorschule"*  herausgegeben;  die  von  A.  W.  Schlegel  nicht  zu  EnJi 
geführte  und  unter  Tiecks  Aufsicht  (von  «einer  Tochter  Dorodi«» 
und  dem  Grafen  Baudissin)  ergänzte  Ucbersetzung  von  Sha* 
dramatischen  Werken"   mit  Erläuterungen  begleitet'''.     Mii 
liehen  Einleitungen   gab  er  heraus  ,,n.  von  Kleists  naohgelas«ene". 
sodann  dessen  „gesammelte  Schriften"",   sowie   die  „gesaromeltea 


^Ibefl* 
An- 

rde. 

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[am 
dcD 
neft 

I 


33)  Gesammelt  mit  andern  auf  das  Tboater  bezüglichen  AnfsAtzni  ah  J^ 
maiurj^sche  Blader**.  Breslau  IS2fi.  2  Thie.  31)  Darunter  „die  VerfobiiiC 
tS22;  „Dichtcrioben*',  iii  zwei  Thoilen,  IS35  und  IS29:  „der  Aufralu*  ta  d«  f'*' 
vennen*'.  unTollendet.  1-^2«;  „der  Hexen-Sabbatb"  l<OI;  i,,der  Tod  Mes  Pifkun^ 
1S33;  „die  Vogelscheuche"  1^.14;  „df^r  jnngc  Tisrhlormcister'*  lS3f.;  die  abn^ 
werden  au  einer  andern  Stelle  aufgeführt  werden.  35i  Von  dem  )nAtr^ 

zu  Stande  gckommeacn  Ituch  sind  zwei  Kapitel   der  Einleitung  gedmclt  tu  ^ 
nach(»classei.en  Schriften  2.  !M  ff.  HO»  Leipzig  IS23.  19.     2  TWe. 

37)  BerUn  1S25-33,  ft  Thle.  38i  Ausserdem  noch   „vier  Scha««pic!e  ^ 

Shakspearc",  olxnsetüt  von  Tieck  und  dem  Gr  Bandissin.   Stuttgart  and  Tiliincff 
1^3fi.  3»li  licrlin  IS21  und  f^i*;. 


■1 


EatwickeluDgsgang  der  Literatur.    1773— 18:«2.    Die  Romantiker.    Tieck.    569 

Schriften  von  J.  M.  E.  Lenz"  flS28)  und,  in  Geraeinschaft  mit 
Fr.  von  Raumer,  „Solgers  nnchgelassöne  Schriften  und  Brief- 
wechsel*^ (18'2öi.  Endlich  schrieb  er,  nebst  den  reiehhaltifjen  Vor- 
berichten zu  der  Sammlung  seiner  eigenen  Schriften*^,  auch  noch 
mehr  oder  weniger  umfangreiche  Einleitungen  oder  Vorreden  zu 
verschiedenen  fremden  Büchern,  namentlich  zu  einer  Bearbeitung 
des    Romans     „die    Insel    Felscnburg'^    (1S27)    und    zu    den    von 

E,  von    Balow    (1831J    herausgegebenen    „dramatischen    Werken 

F.  L.    Schroeders***'.      Die    eilf    ersten    Jahre    seines    Aufenthalts 
Dresden  waren  für  ihn  eine  bei  weitem  gllicklicherc  und  geuuss- 

iehere  Zeit  als  die  eilf  folgenden:  in   diesen  trafen  ihn  mehrere 
tbmcrzliehe  Verluste  durch  Todesffllle   in  seiner  Familie  und  unter 
linen  Freunden;  auf  einer  Badereise  wurde  er  lebensgefährlich  ver. 
mdet,  seine  Kränklichkeit  nahm  zu,  vielfache  von  dem  sogenannten 
Igen  Deutschland  und  von  gewissen  Abzweigungen  der  Legelscben 
sbule  gegen  die  Romantiker  überhaupt  gerichtete  Angriffe  wurden 
tn  ihn    insbesondere   bis  zur  frechsten  Kohbeit  und  schnödesten 
'^erunglimpfiing  getrieben;  und  wenn  es  ihm  andrerseits  auch  nicht 
mannigfacher  ehrender  Anerkennung  seiner  literarischen  Verdienste 
ihlte,  80  bemächtigte  sich  seiner  doch  immer  mehr  eine  trübe  Stim- 
luog,  die  ihn  nachgerade  auch  gegen  manches,  wofür  er  sich  sonst 
rafe    lebhafteste   interessiert    hatte,    theiluahmlos   und    gleichgültig 
lachte.     Und  dennoch  schien  ihm  noch  einmal  ein  neues  Leben  er- 
blühen zu  wollen,    als  ihn  König  Friedrich  Wilhelm  IV  im  J.   1841 
seine  Nähe  zog  und  seine  äussere  Lage  in  jeder  Hinsicht  gUnstig 
r,>.    Von  der  Mitte  des  Sommers  lebte  er,  mit  dem  ihm  ver- 
:  Titel   eines  Geheimen  Hofraths  und   von   dem  Könige   mit 
den  beschenkt,  zuerst  abwechselnd  in  SansSouci  bei  Potsdam  und 
Dresden,   dann  seit  dem  Ende  des  Jahres   1S42  in  Berlin  und 
fotfldam«  zuletzt  bloss  in  Berlin.    Allein  Alter  und  Krankheit  machten 
Rechte  zu  sehr  geltend:  obgleich   auch   noch  in  diesen  Jahren 
risch  beschäftigt,  fühlte  er  doch^  dass  die  Zeit  des  dichterischen 
Pens   v<»rOher  sei.     Im  J.    1847   starb   seine  treueste  Frcinidiu, 
Gräfin    Fiukenstein ,   die  ihm   von   Dresden   nach   Potsdam   und 
^^lin  gefolgt  war.    Seine  Gattin   und   die  ältere  Tochter  Dorothea 
'ön  ihr  im  Tode  schon  vorangegangen,  die  jüngere  hatte  sich  ver- 
'••'ftilw't:  So  stand  er  zuletzt  ganz  allein  in  dem  Preundeskreiae  da, 
isicii  auch  in  Berlin  um  ihn  gebildet  hatte.    Seine  körperlichen 
ieu  mehrten  sich,  die  Kräfte  schwanden  allmählig,  und  er  starb 


§  327 


^Ul  ßcrlio  1S2S — 1)>.    20  Bde.  41)  Die  meisten  dieser  Einleitangeo  nnd 

len  sind  wieder  ahgedrnckt  in  „Tiecka  kritischen  Schriften".    Leipzig  IMS 


570    VI.  Vom  zveiten  Viertel  des  Will  Jahrhunderts  Ms  xa  Hru^hri 


§  327  in  seiuer  Vaterstadt  am  2S.  April   IS53.  —  Tieck   war  zu  b( 

der  Zeit  geboren  und  erzogen,   wo  dort  die  AiifkläruDgttniilDQer 
unbeschränktesten  alle  RicLtungen  des  geistigen   und   gescllachsft- 
lieben  Lebens  beberrscbten.    Gleiobwolil  war  die  Entwickelufif  wiÄ«» 
gUlcklicben  Anlagen  von  frUbester  Jugend  an  durch  EindrBeke  bfr 
stimmt  worden,   die,  je  nachhaltiger  sie  sich  zeigten,   ihn  um  » 
mehr  den  allgemein  geltenden  Ansichten  und  Bestrebungen  auf  dem 
geistigen  Gebiet  entfremdeten  und  ihm  deren  Bekämpfung  allm&hlije 
zu  einer  innem  Nothwendigkeit  machten.   Die  früheren  Werke  Goetbci 
waren  mit  die  erste  Nahrung  seines  Geistes  gewesen;  au  dem 
von  Berlichingen  hatte  er  „gewissermasson  das  Lesen  gelernt" 
dieses  Schauspiel  eine  unbegrenzte,  sein  Lebelang  dauernde 
derung  gefasst:  es  war  ihm  „eine  höhere  Offenbanmg**,  durch 
seine  „Phantasie  für  immer  eine  Richtung  nach  Jenen  Zeiten,  Offa- 
den, Gestalten  und  Begebeuheiten  bekommen*'  hatte.     Nicht  mMer 
mächtig  hatten  ihn  Schillers  Jugendwerke,   besonders  die  RIal 
ergriffen  und  eine  Zeit  laug,  wo  sein  Gemüth  ron  nagenden  Zval 
zernssen,  von  qualvollen  Aengsten  verdüstert  wurde,  fast  ai 
lieh  behen-scht.    Auch  Sbakspeare  und  Cervantes  hatte  er  frfth 
Uebereetzungen  kennen  gclemt  und  beide  wurden  mit  GoelLe  foj 
seine  Lieblingsdichter,  wie  sie  ihm  spilter  immer  als  die  leuchten 
Vorbilder  und  die  zuverlässigsten  Berather  auf  seiner  dicht« 
Laufbahn  galten.     Sbakspeare  insbesondere  regte  ihn  schon  dannb 
auf  das  gewaltigste  an,  als  er  in  seinen  Werken   noch   nicht 
mehr  als  das  grosse  Tragische,   die  Wahrheit  und   die   Knh 
CharakterdarsteUung  zu   fassen   und  zu  bewundern  vermochte, 
erwuchs,  als  sich   sein  dichterisches  Talent  zu  entwickeln  b< 
dasselbe  so  zu  sagen  aus  dem  Boden  und  in  der  Atmoepblro  te 
Sturm-  und  Drangzeit;  auch  waren  die  ersten  grossen»  Werk«,  w^ 
mit  er  (im  Jahre  1795)  an  die  Oeffentlichkeit  trat,   der  „AI 
und  der  „William  Lovell'*,   noch  ganz  von  dem  düster  leidi 
liehen,  die  Tiefen  der  Menscbenbrust  durchwühlenden,  selbst 
sehen  Geiste  dieser  Zeit  erfüllt.    Jene  ErzÄhlung  steht   in  ni 
Geistesverwandtschaft  mit  den  zu  derselben  Zeit,  wo  we  ent 
erschienenen  Romanen  Klingers**.    „Schon  früh",  berichtet  an»  te 
Dichter'^  „führte  mich  mein  Gemüth  zu  den  ernstesten  und  finsieHt* 
Betrachtungen.     Unbefriedigt   von    dem    Unterrichte,    den  ich  ^m 
Lehrern  und  Böcbem  erhielt,  verseukte  sich  mein  Geist  in  Abgrfl»^* 
die  zu  durchirren  und  kennen  zu  lernen,   wohl   nicht  die  An^jiÄ» 
unser«  Lebens  ist. . .    Ein  vorwitziger,  kecker  Zweifel,  ein  on< 

42)  „F«Mt^  „Bapboel  vou  Aquillaa"  etc.;  vgl  Bd.  S.  302.        43'  SäsSm 
6.  S.  V  ff.  j 


Entwickelungsgang  der  Literatur.    tT73 — tS32.    Die  Romantiker.    Tieck.    571 

liebes,  finsteres  GrQbelB  hatten  für  mich  den  Baum  des  Lebens  ent-  §  327 
blättert. . . .    Der  Schatten,  der  sich  über  mein  Gemüth  ausbreitet«, 
verdichtete  sich  durch  „Werther"  noch  finsterer.    Aber  am  meisten 
ward  ich   durch  die  neu  auftretende  Kraft  Schillers  zerrissen  und 
vernichtet.    So  wie  Poesie  das  erhöhte  Leben  ist  und  sein  soll,  — 
80  melden  sich  doch  Zeiten  und  Stimmungen,  die  das  Grauen  des 
Todes,  die  Angst  vor  der  Vernichtung  erfassen  und  mit  wilder  Er- 
hitzung, im  Verzweifeln  an  Leben,  Schicksal  jind  Tugend,  den  Tod 
selbst  mit  der  Kraft  der  Poesie  abspiegeln  und  verkündigen  wollen. 
Liebe,  Schönheit,  Glaube,   Ordnung  und  Heiterkeit  erscheinen  dann 
als  nichtige,  trügerische  Gespenster,  die  sich  vor  der  Wahrheit,  der 
Wirklichkeit  gleissend  und  mit  nüchterner  Heuchelei  hinstellen ;  und 
diese  sogenannte  Wahrheit  und  Wirklichkeit  verkündet  sich  als  Ver- 
niehtang,  als  ungeheurer,  leerer  Abgrund,  wenn  sich  jene  Schein- 
geatalten  von  ihm  weggezogen  haben. ...    In  dieser  geschilderten 
Sinnesart  war  schon  früh  die  Erzählung  „Abdallah"  entworfen,  selbst 
der  Anfang  niedergeschrieben  worden.    Nach  einigen  Jahren,  als 
die  Nebel,  die  das  Gemüth  bedeckten,  —  sich  schon  grossentheils 
wieder  verzogen  hatten,  ward  das  Buch,   so  wie  es  si)äter  erschien, 
mit  grosser  Anstrengung,  in  Erinnerung  jener  frühern  Zeit,  ausge- 
arbeitet.   War  der  Autor  selbst  auch  nicht  mehr  in  den  dargestellten 
Lebensansichten  immerdar  befangen,  so  hielt  er  sie  dpch  nicht  für 
die  unrichtigen  und  meinte,  sie  in  Poesie  und  Darstellung  verkün- 
digen zu  müssen".    Auch  über  die  Entstehung  und  den  Charakter  des 
Romans  „William  Lovcll"  mag  Tieck  selbst  sprechen :  „©er  Verfasser" 
sagt  er",  „schildert  (in  seinen  frühesten  Versuchen)  hauptsächlich  seine 
Umgebung  und  Erziehung  in  der  grossen  Stadt  des  nördlichen  Deutsch- 
lands, die  so  lauge  den  Ton  in  Philosophie,  Theologie  und  Kritik  angab 
und  alles,  was  nicht  in  ihr  gestempelt  wurde,  als  kleinstädtisch  ver- 
achtete. Im  Kampf  gegen  diese  herrschenden  Ansichten  suchte  er  früh 
einen  Ruheplatz  zu  gewinnen,  wo  Natur,  Kunst  und  Glaube  wieder  ein- 
licimisch  sein  möchten;  ohne  Unterstützung  von  Lehrern  und  Freunden 
musste  er  selbst  Schritt  vor  Schritt  erobern,  was  er  für  das  Seinige 
anerkennen  wollte,  und  in  diesem  Kriege  mit  sich  selbst  und  Andern 
suchte   er  der  Gegenpartei  ein  Geniiihlde  ihrer  eigenen  Verwirrung 
Und  ihres  SeelenUbennuthes  hinzustellen,  der  seine  Abweichung  von 
ihr  gleichsam  rechtfertigen  sollte".    Und  später '':   „Kannte  mir  ein 
Schein,  Uehereinkunft  und  das  Nachsprechen  des  Zweiten  und  Dritten 
Von  Einsichten,  Kunsturtheilen   und  leerer  Bewunderung  nicht  ge- 

44)  In  der  Vorrede  zur  zweiton.  weniger  durch  Zusätze  als  durcli  Weg- 
l^Asangcn  verbesserten  Auflage  (Berlin  191  :t;  so  auch  in  die  Schriften  aufgenom- 
1%ien :  Schriften  6.  5).  45)  In  dem  Vorbericht  zum  (>.  Hde.  der  Schriften, 

R.      VTV    ff 


572    VI  Vom  zv«itea  Viertel  des  XVIU  JahrbundcrU  bU  xa  Oodb«*«  Tod. 

327  nUgen^  oder  mich  antreiben,  auf  .Ihnliche  Art  zn  leben  und  xa  denl 
80  ward  mein  Unwille  noch  starker  erregt,   wenn  ieh  lu  bemerl 
glaubte,   dass  man  mit  Wahrheiten ^   die   mau  die   heiligen   D&nnt(, 
mit  Moral,  Tugend,   Religion  und  den  Geheimnissen  des  GcmUtitc» 
eben  nicht  anders  verfuhr.    Mein  Zweifel  verschmähte   es,  weil  ieli 
ihn  für  die  Kraft  der  Seele  hielt,  den  Ulauben  und  die  Gegemi  der 
Religiosität  wieder  aufzusuchen^  die  sich  mir  völlig  entfernt  und  ver- 
dunkelt hatten,  aber  ich  meinte   den  leeren  Enthusiasmus  oder  die 
sophistisierende  Leidenschaftlichkeit  so  vieler  Gemtllher  zu  verstebes. 
die  für  die  kraftigen  und  erleuchteten  galten.  ^  Denn  allerdings  hatte 
fiich,   abgesehen  von  der  Schule  der  Philosophen,  der  AufgekUrtei 
und  Erzieher,  von  dem  neuem  Umschwung  der  deutschen  Lilen'^r 
angeregt,  eine  Art  Socte  gebildet,  die  meist  die  besseren  KOpfe  imii  • 
den  jungen  Leuten  zu  den  ihrigen  zählte.    Diese,  auf  die  muh 
Erhitzung  ihres  GemÜthes  eitel ^    stolz  auf  den  Werth   den  ncm-ns 
im  Aufschwung  der  Leidenschaft  das  Höchste  suchend,   führten  iIa* 
Wort  Genie,  Kraft»  Originalität  immer  im  Munde  und  konnten  s-ibi 
stisch   mit   scheinbaren  Tugenden   ihren  Egoismus  verkleiden.    Z*jg 
mich  ihre  höhere  Genialität,  das  Spiel   mit  der  Poesie,  die  Bewao- 
derung  unserer  deutschon  Genien  an,  eo  stiess  mich  doch,  wie  gcro 
ich  hier  meine  Freunde  gesucht  hätte,  wieder  die  Sicherheit  ab,  der 
es  sogar  gelang,  die  Pedanterie  und  das  Phantastische  zu  vereinig 
So  blieb  mir  nichts  als  eine  gewisse  trübe  und  nüchterne  ReeignatiHU 
Übrig,    die  mir   nicht  genügte,   mich  aber  noch   weniger  zu  jeoeit 
fuhren   konnte,  die  gegenüber  als  die  Besseren  standen,  zu  jenen 
ruhigeren,  kiilteren,  einfacheren  und  wahreren  Menschen,  die  allco 
jenen  Tniggestalten   Lebewohl  gesagt  hatten,  aber  dafür  in  eiacr 
engen,  traurigen  Umgrenzung  lebten,  die  man  ihnen  nicht  beneida) 
konnte.     Das  Kühne,   Geniale,  sich  Erhebende  schien   «ich  immer 
dar  mit  Scheiu  und  Trug,  das  Wahre,   Gute  mit  dem  £ngberxi|«tt 
verbinden  zu   müssen:   wer  die  glänzenden  Schatten  verschmAbie, 
musste  sich    bei  Jenen  schwachen,    unwissenden,    trObnelig  Wohl- 
wollenden einbürgern.     Wie  gieng  es  aber  dem,  der  sich  zu  knaff 
von  beiden  Parteien  entschliessen  konnte  und  wollte?     Und  iu  dic»rr 
Lage  befand  sich  der  Autor,   als  er  den  ,,Lovcir*  entwarf  uii*I  '"' 
führte.  .  . .     Das  Bestreben,  in  die  Tiefe  des  meuschlichen  G«n> 
hinab  zu  steigen,  die  Enthüllung  der  Heuchelei,   Wcichlichkci»  u:u 
Lüge,  welche  Gestalt  sie  auch  anuehmen,  die  Verachtung  dci*  !-<  '^ '  ■ 
die  Anklage  der   menschlichen  Natur:   diese  Aufgabun   und  lii- 
Stimmungen    wurden   hier  nicht   oberflächlich    hingemahlt,   -^i  ::-k 
mit  Ernst  aufcefasjjt*' '".    Die  Zeit,  aus  der  heraus  diese  Die 


40)  Vg].  Oaxu  iu  äolgers  N«chlaas  die  BHele  I,  »38  und  343. 


rickcltmgsgang  der  Literatur.     1773— !§32.    Die  Romantiker.    Tieck.    573 

»ren  waren,  galt  ihm  bis  in  sein  hohes  Alter  für  eine  sehr  be-  §  327 
eutende,  ja  grosse  Zeit,  für  deren  hervorragendere  poetische  Er- 
öugnisae,  namentlich  in  der  dramatischen  Gattung,  er  fortwährend 
tne  besondere  Vorliebe  bewahrte '\  Bald  aber  wandte  er  von  jenen 
Chauergcmahlden  seiner  Jugend  '^  sich  ab,  wurde  der  Stimmungen 
[err,  die  sich  im  „Abdallah"  und  im  „Lovell"  abspiegeln,  und  er- 
|h?c  in  seinem  Innern  eine  Umwandlung,  die  ihn  nun  zu  seinen 
Bioriatischen  Dichtungen  binüberflihile.  „Alles  dasjenige",  berichtet 
r*,  „was  ich  zu  besitzen  glaubte,  verwandelte  sich  fast  plötzlich  in 
Inen  andern,  höhern  Reichthum,  der  alles  Dürftige,  Alltägliclie  und 
unbedeutende,  das  Leben  selbst  durch  Glanz  und  Freude  erhöhte. 
■BBS  war  das  innigere  Gefühl  der  Poesie,  ein  Entzücken ,  das  un- 
^elbar  aus  den  Werken  der  Kunst  die  Seele  durchdrang  und 
orch  ein  geistigeres  Auffassen,  als  auf  dem  Wege  der  Beobachtung 
od  des  Verstandes,  dem  begeisterten  Sinne  das  Wesen  der  Poesie 
ufschloBS.  .  .  .  Wenn  diese  trunkene  Stimmung  auch  durch  einzelne 
tundcn  der  Melancholie  unterbrochen  wurde,  so  besiegte  sie  doch 
ald  jede  Störung.  Fand  mein  GemÜth  doch  alles  in  diesen  An- 
:hauungeu,  und  ich  glaubte  es  nun  erst  einzusehen,  warum  sich 
lein  störriger  Sinn  der  Philosophie  der  Schulen  so  starr  widersetzt 
atte.  Was  meine  Kindheit  in  der  Religion  suchte  und  ahnet©, 
laubtc  ich  jetzt  in  Poesie  und  Kunst  gefunden  zu  haben. .  . .  Hatte 
fh  früher  die  Schilderung  der  Leidenschaft,  Kenntniss  des  Herzens 
Xki   aller  menschlichen  Verirrungen   und  Gebrechen   in  neugieriger 

»bachtung  vielleicht  zu  hoch  angeschlagen,  so  begeisterte  jetzt  das 
ie,  die  Anmuth  und  der  Schera,  die  tiefsinnige  Weisheit  der  Er- 


*A7\  Vgl  Ticcks  Killleitimg  zu  den  gesammeltea  Schriften  von  J.  M.  R.  Lenz 
ind  U.  Köpkp,  a.  tt.  O.  2,  Mis.  ..Dio  Dichter",  uusscrt  er  hier,  ,,dic  damnls  nM)on 
ie  auftraten,  erregen  unser  höchstes  Interesse.  Die  Wirkung  des  „Götz''  war 
ongoheurc,  und  mit  dein  Uc^uu  der  »iebziger  Jahre  licng  aucii  für  die  deutsche 
»g  ein  neues  Lebon  an.  Die  ursprüngHc listen  und  eigenthürolichsteii  Seiten 
I  deutschen  Charakters  traten  mit  neuer  Stärke  wietier  hervor.  Das  Natur- 
der  Sinn  i'iXr  dos  Individuelle,  d(T  bis  zur  Isolierung  uud  zum  Souderbareu 
it,  das  Streben  nach  Unal)hängigkoit,  dfts  Festhalten  an  der  Familie,  Derb- 
die  zum  Trotze  wird,  ein  uulaugbar  demokratischer  Zug:  diess  Alles  spricht 
kdi  namentlich  in  den  Dramen  jener  Zeit  oft  in  der  stärksten  Weis«  aus".  — 
Ule  jene  Dramen  {dieStücke  von  Leiix  und  Klinger,  von  Törring  und  Babo,  Gross- 
mnnii  ..Nicht  mehr  als  sechs  Schüsseln"  und  Ifllands  ,.JSger'*)  „tragen  den 
iiteinpel  des  deutschen  Geistes  und  wttrdcn  eine  Grundlage  zu  einem  deutschen 
^■■'  •  ifthcAter  geworden  sein,  wozu  überhaupt  in  jener  Zeit  mehr  Anssicht  war, 
'•m  jemals  wicdpr*\  4S)  Zu  ihnen  gehörte  auch   das  Trauerspiel 

.nui  von  Bcnieck**.  ein  Seitenstack  zum  ..Abdallah",  in  seiner  ersten  Gestalt  aus 
Sota  J.  I"yn.  die  nachher  für  dio  -.Volksmärchen"  umgearbeitet  wurde;  vgl. 
len  II.  S.  XXXVri  IT.  49)  In  den  Schriften  G.  S.  XVIII  ff. 


574    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XA^III  Jalirhunderts  bis  zu  Goethe*»  Tod. 

§  327  findung  und  jener  mnthwillige  Wahnsinn,  der  oft  die  selbst  erfundenen 
Gesetze  wieder  vernichtet,  meinen  Sinn  und  meine  Forschung,  und 
das  Spiel  der  Kunst,  der  edle  Leichtsinn  der  Freude  verdunkelte 
mir  wohl  auf  Momente  wieder   die  Grösse  der  Leidenschaft,  die 
Schilderung  des  tiefen  Seeleuschmerzca  in  Shakspeare  und  Sophokles. 
Unzählige  Gebilde  und  Erßnduugen  tauchten  aus  meiner    erregten 
Phantasie  empor. . . .    Dasjenige,  was  meine  Jugend'  bedrängte,  die 
Widerwärtigkeiten  in  der  Zeit,  die  mich  gestört  hatten,   die  Bittw- 
keit  und  Verfolgung,  die  ich  frllher  gern  gegen  Albernheit,  Irrthom 
und  Abgeschmacktheit  in  den  Kampf  geftlhrt  hätte,  trat  jetzt  in  der 
Gestalt  parodierender,   aber  uothwendiger  Nebenpersonen  in  dem 
magischen  Zaubergemähide  der  Poesie,  auf.    Der  heitere  Scherz  mnMte 
sich  dieser  Gebilde  mit  milder  Spasshaftigkeit  bemächtigen,  und  in- 
dem mir  selbst  ein  Wohlwollen  gegen  Dinge,  Lehren,   Bdcher  nnd 
Menschen,  die  meinem  eigensten  Wesen  feindlich  waren,  mfigfieh 
und  nothwendig  wurde,  begriff  ich  erst,  weshalb  Swift,  Juvenal  nad 
ähnliche  Satiriker  mir  widerwärtig,  und  die  Absicht,  durch  Bcharfen 
Spott  Laster  des  Tages  zu  geissein ,  und  dergleichen  ähnliche  Aa»- 
sprüche  und  Anmassungen  mir  unverständlich  gewesen  waren.  So 
entstanden  jene  Gebilde  der  Poesie,  mit  Scherz  und  Laune  omkläde^ 
die  damals  entweder  Freude  bei  Gleichgesinnten,  oder  mehr  nod 
minder  Aergerniss  erregten".    Diesem  Genre  der  humoristischen  Satin 
gehörten  zunächst  die  für  die  „Straussfedem"  erfundenen  oder  be- 
arbeiteten erzählenden  und  dramatischen  Stücke '^,  so  wie  der  „Peter 
Lebrecht"  an.    Letzterer  kleine  Roman  machte  bei  seinem  ErschdnflB 
viel  Glück,  weil  er  „die  mittlere  Bildung  vieler  Menschen,  die  leichte 
Aufklärung,   den  massigen  Spass  und  die  sanfte  Satire  aussprtcli, 
die  man  verstand  und  billigte"*'.    Als  „eine  Geschichte  ohne  Ab»- 
teuerlichkeiten",  wie  er  sich  gleich  auf  dem  Titel  ankündigte,  sfell» 
er  sich  nicht  bloss  im  Allgemeinen  den  damals  besonders  belicbW 
Classen  von  Romanen  schroff  gegenüber*',  sondern  er  enthielt  «rf 
schon  mehrfach  directe  satirische  Beziehungen  auf  diese  Gattung  t« 
ünterhaltungsliteratur  und  auf  die  Gegenstände  und  die  Darstellmi?' 
manier  einzelner  viel  gelesener  Rom  an  Schreiber,  wie  Spiess,  K.  Gro« 
K.  G.  Gramer,  Meissner.    Gegen  die  Leser  dieser  Schriftsteller nima* 


50)  Die  Stücke,  welche  Tieck  zu  den  „Straussfedern"  geliefert  uudspW* 
verschiedene  Bände  seiner  „Schriften"  vertheilt  hat,  sind  Terzeichnet  von  RK^ 
a.  a.  0.  2,  2s!i  ff.,  unter  den  Jahren  l"<Jö— «**  (vgl.  daselbst  \.  200 ff.  nndTie* 
Vorbericht  zum  11.  Bde.  der  Schriften  S.  XXX  ff.,  XL  VI  ff.  51)  Tgl.*» 

S.  559,  dazu  Tiecks  Schriften  U,  S.  XXXIV  ff.  und  R.  Köpke  1,  2u4. 

52)  Wie  der  der  Zeit  seiuor  Abfassung  nach  sich  unmittelbar  dvanschli«!*' 
„Ritter  Blaubart"  den  gewöhnlichen  Ritterstückeu;  vgl.  S.  5S7. 


£ntwickelungsgang  der  Literatur.    17T3~1S3*2.    Die  Romantiker.    Tieck.    575 

er  denn  auch  schon  die  alten  Volksromane  in  Schutz,  den  , .gehörnten  §  327 
Siegfried",  „die  Heymonskinder'',  den  „Herzog  Ernst**  und  die  „Ge- 
noveva'*,  die  mehr  wahre  Erfindung  hätten  und  ungleich  reiner  und 
besser  geschrieben  wären  als   die  beliebten  ModebUcher".    Damit 
hatte  er  sich  für  die  „Volksmärchen"  den  Uebergang  zu  den  „SchUd- 
bürgem"  und  dem  „gestiefelten  Kater** ^^  vermittelt.    Dort  wurden, 
nach  den  bereits  berührten "  Auslassungen  gegen  die  Aufklärer  und 
die  von  denselben  dem  Volk  aufgedrängten  „Noth-  und  Hülfsbticher", 
moralischen  Volkserzählungen  und  ntttzlichunterhaltenden  Lieder,  im 
achten  Kapitel  auch  die  deutschen  Theaterzustände  im  Allgemeinen 
verspottet  und  die  beiden  damaligen  Btlhnenbeherrscher,  Iffland  und 
Kotzebue,  zwar  nicht  mit  eigentlicher  Namennennung,  aber  darum 
doch  kenntlich  genug,  charakterisiert.    „Der  gestiefelte  Kater"  war 
durch  und  durch  eine  im  heitersten  Humor  gehaltene  und  von  dem 
schlagendsten  Witz  sprtlhende  Satire  auf  das  deutsche,  und  insbe- 
sondere das  Berliner  Btlbnenwesen  um  die  Mitte  der  Neunziger,  auf 
die  damals  beliebtesten  dramatischen  Stücke,  auf  die  durchschnitt- 
liche Bildung  und  die  vorwaltenden  Geschmacksrichtungen  des  The- 
aterpublicums  und  auf  eine  gewisse  Art  von  Theaterkritik,  welche 
die  mimische  Kunst  Iffiands   beleuchten   und  verherrlichen   sollte. 
„Von  frühester  Kindheit",  äussert  sich  Tieck"  „war  es  mir  ver- 
gönnt gewesen,  ein  gutes  Theater  zu  sehen  und  mich  an  treffliche 
Darstellung,  an  Natur  und  Wahrheit  so  zu  gewöhnen,  dass  mir,  als 
ich  älter  war,  das  Gute  etwas  Unerlässliches  zu  sein  und  das  Voll- 
endete  nicht  fem  zu  liegen  schien."    Aber  schon  glaubte  er  auch 
.  den  Verfall  der  deutschen  Bühne,  ihr  Versinken  in  das  Ohnmächtige 
erlebt  zu  haben,  als  die  Stücke,  welche  Iffland  auf  seine  „Jäger" 
md  seine  „Mündel"  folgen  Hess,  und  die,  welche  Kotzebue  in  rascher 
Aufeinanderfolge  seit  17S9  lieferte,  die  bessern  aus  früherer  Zeit  fast 
^anz  vom  Schauplatz  verdrängten  und  „nach  und  nach  auch  ein 
^Qivisses  matteres  Spiel,  ein  willkürliches,  unbedeutendes,  an  die 
Stelle  des  charakteristischen  trat."    Durch  diese  Veränderungen  in 
^eiiier  Liebe  für  das  Theater  sehr  abgekühlt,  war  er  höchlich  erstaunt, 

53)  Bald  nachher  trat  Tieck  im  ersten  Kapitel  der  ..denkwürdigen  Geschichts- 
.^^*X)nik  der  Schildbürger"  aufs   neue  und  kräftiger  als  Vertheidiger  der  alten 

V'*^*tBbflcher,  sowie  der  alten  guten  Jägerlieder  und  anderer  Gesilnge  auf,  an  denen 
**^li  das  Volk  noch  immer  erfreute,  die  ihm  aber  die  modernen  Aufklärer  und 
^^*te^lichen  ■Volksschriftsteller  zu  verleiden  und  aus  den  Munden  zu  spielen 
^^«sliten  (vgl.  Schriften  11,  S.  XU  f.).  54 1  Die  „denkwürdige  Geschichts- 

j„JjJ*'ODik  der  Schildbürger"  ist  aus  dem  J.  179t;,  nach  Anleitung  des  alten  Volks- 
^^*»to8  Ton  den  „Schildbürgern"  (vgl.  Bd.  l  WA  f.  und  Tiecks  Schriften  (J,  S.  XXII  f.), 
JrJ^»  gestiefelte  Kater"  aus  dem  J.  1797.  55)  Vgl.  Anm.  ö;t.  56)  In 

^**»  Vorbericht  zum  l.  Bde.  der  Schriften  S.  VIII  ff. 


m 


576    VL  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jalirbimilcrls  bis  ru  OoHh«'^  Tod. 

327  iu  einem  1796  erschienenen  Buch  von  Böttiger,  .,EDtwick6lnog 
ifflandiscben  Spiels  in  vierzehn  Darstellungen  auf  dem  weimarncbea 
Hoftbeater  im  Aprilmonat  1796'*,  allerlei  „Kleinlichkeiten  und  Nebeo- 
sachon"  in  Ifflands  Spiel,  „die  böchBteus  einen  kleinen  epigTunni- 
tischen  Witz  aussprechen  konnten",  gar  hoch  angeschlagen,  ja  ftr 
das  Wesen  der  Kunst  ausgegeben  zu  finden.  Alle  seine  Erinnerofl^ffiL 
was  er  zu  verschiedenen  Zeiten  im  Parterre,  in  den  Loijen  oder 
Salons  gehört  hatte,  erwachten  wieder;  dass  die  Buhne  mit 
seibat  Scherz  treiben  könne,  hatte  er  schon  früh  von  llölberg,  Fl 
und  Ben  Jfmson  gelernt:  „und  so  entstand  und  ward  in  ein 
heitern  Stunden  dieser  Kater  ausgeführt.  Es  kam  dem  Dichter  niebt 
darauf  an,  irgend  etwas  durch  Bitterkeit  erniedrigen  zu  wollen,  eiaai 
Satz  eigensinnig  durchzufechten,  oder  das  Bessere  nur  anzuprttfett, 
sondern  das,  was  ihm  als  das  Alberne  and  Abgeschmackte  endüen. 
wurde  als  solches  mit  allen  seinen  Widersprüchen  und  lächeriiebea 
Anmassungen  hingestellt  und  an  einem  eben  so  albernen,  aha 
lustigen  Kindormärchen  deutlich  gemacht."    „Der  gc  " 

war  in  der  Zeit,  wo  er  erschien,  eine  sehr  bedeutenü'.  i. 
Wer  sich  mit  den  allgemeinen  Zuständen  etwas  nAher  bei 
gemacht  bat,  in  welchen  unsere  schöne  Literatur  8i**h  wfthrend 
achtziger  und  in  der  ersten  Hälfte  der  neunziger  Jahre  befand, 
auch  die  Ueberzeugung  gewonnen  haben,  dass  dieselbe  dorch 
durch  krankhaft  erschlafft  war,  und  dass  vornehmlich  daa 
und  der  Roman  in  ihrem  sittlichen  wie  in  ihrem  ästhetischen 
rakter  unzählige  Merkmale  tiefer  Verderbniss  an  sich  trugen, 
entfernt,  zu  einem  wahren  ßildungsmittel  der  Nation  zu  dieo 
musste  diese  Literatur  nur^  höchst  nachtheiiig  auf  den  Ge*ch 
das  sittliche  Gefühl  und  das  ganze  geistige  Leben  des  lemUes 
Publicums  und  der  Theaterbesucher  wirken.  Dieae  Wirkvaftl 
gritTcn  um  so  tiefer  und  weiter  ein,  je  mehr  es  dem  danuUlfli 
geistigen  und  sittlichen  Leben  in  Deutschland  an  andern  allireacioM 
Anregungen  fehlte  als  an  literarischen,  da  sich  fast  alle«,  was  bä 
uns  noch  den  Charakter  einer  gewissen  Oeffentlicbkcit  an  sich  tni^ 
auf  die  Bewegungen  in  der  Literatur  und  auf  das  Theater,  an(Ä 
thätige  oder  geniessende  Theilnahme  daran  beschränkte.  Die  fcMtf 
Literatur  mit  der  Bühno  war  damals  bei  weitem  mehr  als  jetd  &tt 
geistige  Macht  bei  uns,  weil  das  Interesse  an  ihr  wenig  oder  |ff 
nicht  durch  andere  allgemeine  Interessen  aufgewogen  wurde,  waAff 
durch  religiöse  und  politische,  noch  durch  industrielle  und  artistüK^ 
wie  in  unsern  Tagen.  Und  so  war  denn  auch  ganz  vorzOgliA  ^ 
Theater  in  seinem  Einfluss  und  in  seiner  Wirksamkeit  auf  die  uö*" 
nale  Bildung  von  der  grössteu  Bedeutung.  Unter  solchen  Umstlad«^ 
wo  sich  bereits  Jahre  lang  Schriftsteller  und  Publicum  jvecl 


itirickelungsgarig  der  Literatur.     1773—1832.    Die  Komauiiker.    Tiock.    577 

▼erdarben  und  sich  in  dieser  zunehmenden  Verderbniss  immer  mehr  §  327 
gefielen,  konnte  einem  bessern  und  gesundem  Zustand  der  Literatur 
nnd  der  Bühne  nur  duroh  sehr  kräftige  Mittel  vorgearbeitet  werden. 
Eine  ruhige,  verständige  und  gründliche  Kritik  vermochte  etwas, 
aber  nicht  viel:  denn  der  Kreis  derer,  welche  darauf  achtoten  und 
sie  verstanden,  war  bei  der  allgemeinen  GescUniacksverwilderung 
nur  klein.  Aber  Spott,  Satire  und  humoristische  Parodierung  des 
Alberneu  und  Abgeschmackten  in  der  Tagesliteratiir  vermochten 
mehr  und  griffen,  wenn  auch  nicht  tiefer,  doch  in  weiterem  Umfang 
and  unmittelbarer  ats  ernstes  Raisonncmcnt  das  Uobel  an.  Auf  dem 
poetischen  Gebiete  selbst  musste  der  Krieg  gegen  die  schlechten 
Tendenzen  begonnen  werden,  sollte  er  gleich  die  Massen  in  Bewegung 
setzen.  Das  Signal  dazu  gaben  die  „Xenien"  im  Herbst  179ü.  Die 
„Xenien''  waren  aber  nw  kurze  Ausspruche  über  Bücher  und  Schrift- 
steller und  dabei  für  die  grosse  Menge  in  der  Leserwolt  vielfach 
ganz  unverständlich  in  ihren  Beziehungen.  Anders  griff,  fast  gleich- 
xoitig  mit  dem  Erscheinen  jener  Stachelverse,  Tieek  die  Sache  an. 
Wftbrend  er  in  einzelnen  Stücken  der  „Straussfedern'',   dem  ,,Pctcr 

►recht**  und  den  erzählenden  „Schildbürgern**  uoch  mehr  mittelbar 

Verkehrtheiten  der  Zeit  verspottet  und  unmittelbar  nur  gegen 

le  Schriftsteller  seine  Pfeile  gerichtet  hatte,  stellte  er  in  dem 

ftfelteu  Kater''  das  deutsche  Theater  selbst  mit  seinem  Publicum, 

sBcb  wechselseitig  ironisierten,  in  dramatischer  Lebendigkeit  dar, 

lern  er  so  an  einem  albernen  Gegenstande  mit  Witz,  Laune  und 
beiterm  Spott  den  Deutseheu  zeigte,  wie  albern  und  gesehmacklos 
sie  selbst  wären,  wenn  sie  sich  an  dou  „Familiengeschichten  und 
Lebensrotlungcn,  der  Sittlichkeit  und  deutschen  Gesinnung**  in  den 
beliebtesten  Stücken  des  Tages  erbauen  und  iunerlich  erheben 
könnten^'.  Eia  Gegenstück  zum  „gestiefelten  Kater"  war  die  „ver- 
le   Welt'*",    zu    welcher    die  gleichnamige   Komödie  von   Chr. 

186**  einen  äussern  Anlass  gab".    Sie  war  ur8])rünglich  für  die 
kussfederu*'   bestimmt;  als  Tieck  sie   nachher   seinem   Freunde 

rnhardi  für  die  „Bambocciaden''  abtrat,  schrieb  er  dazu  eine  Yor- 

le,  worin  er  in  des  Herausgebers  Namen  berichten  musste,  diese 
iposition    sei   von    ihnen    beiden  gemeinsam   entworfen   worden, 

jb  babe  Tieck  den  grOssten  Theil    davon  ausgearbeitet"'.    Von 


57)  Vgl.  auch  R.  Köpke  n.  a.  0.  I,  211  f.  -  Alg  „der  gestiefelte  Kater"  in 
»PhautÄBUs"  aufcenommen  werden  sollte,   erhielt  er  mehrero  bedeutende  Zu- 
narapTitlicb  iu  den  UolUm  dos  Königs,    Böttitjers  (weitere  Hindentimgeu  aiif 
Perstmlirhkcii  und  falsi-heufieschmacki  uud  Schlosser&lAuspielungen  auf 
Weruere  Hang  zur  Mystik).  5&>  Vgl.  S.  500,  U.  59)  Vgl. 

S&7,  43.  öOj   Vgl,  Phautasua  2,  3S7.  61)  Hiernach  !it  das  zu 

iligcu,  woä  Tieck  selbst  in  den  Schriften  i,  S.  XXI  ff.  von  der  GescUicUte 

lin    Grctidrut.    %.  AaA.  tV.  37 


57S     VI.  Vom  üwpitcn  Viertel  des  XVIII  .7 


«o 


§  327  der  grossen  drarafttisclien  Dichtung  „Prinz  Zerbino,  oder  die  R< 
nach  dem  guten  Geschmack*'  in  sechs  Aufzügen",  die  zucr*t  far 
Volksmärchen  hestimmt,  ,,]»üeti8ch  und  launig,  parodierend  und  die 
Missverständuisse  des  gemeinen  Lebens,  so  wie  der  damaligen  Ki 
darstellend**,  in  ihrem  humoristisch  satirischen  Theil  mit  der  Tagt 
literatur  die  Bestrebungen  und  Erfolge  der  Aufklarer  auf  allen 
bieten  ihrer  Thiltigkeit  ironisierte,  enthielten  die  fünf  ersten  Acte 
die  nach  des  Dichters  Versicherung  bereit»  vor  dem  J.  179S  U 
waren,  schon  das  Allermeiste  von  dem,  was  sieh  in  diesem  Wi 
auf  die  Literatur  und  auf  die  Schriftsteller  jener  Zeit*'  bezieht  Al 
sprach  sich  Tieck  hier  schon  in  dem  Garten  der  Poesie,  iu  wekl 
die  Schatten  der  fremden  und  heimischen  Dichter  aus  alter 
neuer  Zeit  auftraten,  die  er  allein  als  wahre-  Poeten  anerl 
(Act  5),  deutlich  dahin  aus,  dass  ihm  unter  den  Verstorbenen 
Cervantes  nnd  Sliak8peare  als  die  drei  ,, heiligen  Meister  der  IH 
Kunst"  galten,  denen  sich  unter  den  Lebenden  als  vierter 
zugeselle.  Tiecks  humoristisch-poetische  Kritik  war  gewissem» 
die  Einleitung  iu  dem  kritischen  Feldzuge,  den  bald  darauf  A- 
Schlcgcl  gegen  die  schlechten  Literaturtendenzen  und  deren  Hu 
Vertreter  in  der  Jenaer  Liteiatur-Zeitung  und  im  „ Athcnaeuni"  erüffnc 
in  seinen  zu  Berlin  gehaltenen  Vorlesungen  und  in  der  ;,Enro| 
fortführtet  und  es  war  nichts  weniger  als  blosser  Zufall,  da^s 
mit  seiner  Satire  und  heitern  Polemik  der  Kritik  Schlegels  d< 
Sprung  abgewann:  denn  iu  einer  Stadt  wie  Berlin  hatte  jcnefi 
früher  und  in  viel  ausgedehnterem  Masse  Gelegenheit,  als  dl 
zuerst  im  Auslande  und  dann  von  Jena  aus,  die  Wirkungen 
bevorzugten  Tagesliteratur  auf  den  Geschmack  und  die  Bildun?  J*' 
Publicums  kennen  zu  lernen  und  sowohl  im  Theater  wie  in  dert?^J 
Seilschaft  fortwährend  zu  beobachten.  —  Die  humoriBtische  Polt 
die  Tieck  in  diesen  in  den  Jahren  1706  und  97  entstandenettj 
tungon**  vornehmlich  gegen  die  herrschenden  schlechten  Lil 
tendenzen  und  die  beliebtesten  TagesschriftsteUer  err>fFnete, 
wenigstens  in  ihren  Anlässen  und  Zielpunkten ,  den  satiriscl 
griffen  nicht  unähnlich,  welche  Goethe  und   seine  Freunde 


dieses  Stücks  mittheilt;   vgl    dazu  Köpke    I,  "212  ff.  62)  V,l 

und   5ti2;    dazu  Tieck&  Schriften  6,  S.   XXXI  ff.    oüd   Kopke    i.  2;" 
63)  Besonders  auf  die  Roinonschroüicr  in  dem  ,Sn  der  Mahle"  ob( 
Auftritt  des  vierten   und  in  dem   mit  einem  „Chor  rou  waudemdea  Hi 
gesellen*'  beginnenden  Auftritt  des  fünften  Actes.  64)  Ihnen  %ch\m 

Betreff  ihrer  Tendenz  gegen  die  Aufklärer  und  ihrer  Vexspotluug  der 
Schriftsteller  des  Tages  auch  noch  dtirch  das  Eingangskapilel  und  duftb 
audere  Stellen  die  gleichfalls  im  J.  1797  geschriebene  Geschichte  rao  da 
Weibern  des  Blaubart"  an  (vgl.  Schriften  6,  S.  XXDl  ff.;  Kfvpke  1,  lU^ 


Enlwickelurigsgang  der  Literatur.     i:"3— IS32,    Die  RomauUkcr.    Tieck.    579 

^siebziger  Jabren  gegen  damals  beliebte  Dicbter  uud  deren  Treiben  §  327 
^bericbtet  batten*";  nur  blieb  Tiecks  sebcrzbafte  Satire  nicbt  auf  das 
^Biarariscbc  Gebiet  und  noeb  weniger  auf  die  Vers|>ottuug  einzelner 
^Hpltöulicbkeiteu  in  ibrem  scbriftätolleriscbeu  Cbarakter  beBcbräukt, 
sie  breitete  sieb  vielmcbr  Über  alle  Seiten  des  geistigen;  eittlicben 
and  gesellscbaftlicben  Lebens  in  Deutscbland  aus,  wie  er  es  in  seiner 
Zeit  uud  aus  seinen  Umgebungen  keuuen  gelernt  batte.    „In  Berlin 


65)  Vgl   oben  S  20  f.;   52.  22;   77  f.;    107  ff.  —  Wie  Goethe  aicb   schon 
,   aber  bis  zu  seiocD  reifem   Mannesjahren   hin   nur  mehr  vorübergehend, 
den  Frankfurter   gelehrten  Anzeigen  aul'  Uteraiiache   Kritik   in   lachmiissiger 
^onn  einlicss  (vgl.  S.  31),   so  geschah  diess  auch  uud  eben   m   vorübergehend 
Tieck  in  dem   „Berlinischon  Ärcliiv  |dcr  Zeit  and  ihres  Geschmacks".    Er 
uferte  nämlich  in  dasselbe,  nachdem  er  sich  bereits  179rt  als  artistischer  Kritiker 
den  S.  5^S,  7  erwähnten  Briefen  über  die  Kupferstiche  nach  der  Shakspeare- 
lerio  (wieder  abgedruckt  in  den  kritischen  Schriften  1,  I  ff.;   vgl.   die  Vorrede 
VII  r.i  versucht  hatte,  für  die  Jahrgänge  l7«Mi  (I,  215  ff.|  und  17'JS  (1,  301  ff.) 
jrwei  Briefen,  welche  die  Herausgeber  des  Archivs  als  vou  Beruhardi  kommend 
Beurth<-i)ungen  „der  neuesten  Museualiuauache  uud  TascheubQcher**  lin 
[tischen  bchrifteu  U7&ff|.    Sie  gohorcu  zu  dem  Besten,  was  ich  derartiges 
den  kritischen  Blattern  jener  Jahre  gefunden  habe.    In  dem  ersten  Briefe  ist 
»Oders  bemerkeuswcrth,  was  über  den  Hang  Schillers ,   in  seinen  neuem  Ge- 
lten ,.eine  subtile  Philosophie  in  die  Grenze  der.  Dichtkunst  zu  ziehen",  gesagt 
und  die  Bemerkungen  über  die  dichterische  Auffassung  der  Natur  und  die 
itellung  ihrer  Gegenstände,  mit  besonderer  Anwendung  auf  die  Gedichte  von 
Werueuchner  Prediger  Schmidt  in  dem  ,,Kalender  der  Musen  and  Grazien*' 
tl.  S.  456,  ül)   uud    in   dem  „Berlinischen  Musenalmanach   für    1797",  so   wie 
den   ersten  Jahrgang  des   schillerschen  Musenalmanachs   (namentlich  über 
lers  „Wilrde  der  Frauen"  und  Goethe's  „venetianische  Epigramme").   In  dem 
Briefe  über  Musenalmanache  und  Taschenbücher  für  das  J.   171*8  sind 
lieh  lesenswerth  die  Kritik  des  Tübinger  „Taschenbuchs  für  Damen"  (was 
reck  D.  B.  über  die  ChurakterdarsteHungen  in  Lafontalne*s  Romanen  sugt,  ist  nur 
wohn,  die  Andeutungen  über  „Hermann  und  Dorothea"  und  das  Verhallen  des 
PiiblicDins  KU  dieser  Dichtung,  über  den  damaligen  allgemeinen  Zustand  der  deut- 
schen Lyrik  gegenüber  der  schillerschen  imd  goethe'schen  (in  dem  Abschnitt  über 
ie  „Göttinger  Blumenlese**.   „Wenn  man",  heisst  es  hier,  „Schillers  und  Goethe's 
Lichte  im  Sinn  behält,   die  alle  eine  freie  Natur  uud  edle  Individualität  aus- 
:ben,  die  unser  schönstes  Gefühl  wecken,  ohne  uns  einzuschränken,  die  sich 
jedem  Moment  ihrer  verklärten  Existenz  so  ganz  hingeben,   mit  ihrer  Musik 
!re  Innersten  Gedanken  und  dnnkelstcn  Empfindungen  aosprechon   und   be- 
ten, die  das  Feme  mit  dem  Naheliegenden,   das  Seltene  and  Hohe  mit  dem 
röhnlichen  verbinden  und  uns  so  unser  eigenes  Wesen  lieb  und  theuer  machen : 
iü  weiss  man  nicht,  zu  welcher  Gattung  man  die  meisten  dieser  uudichterischen 
)iciiter  rechnen  soll"»,  über  den  Missbrauch,   der  noch  immer  mit  der  Form  der 
fAbfl  gelrieben  werde  (in  demselben  Abschnitt),  und  Über  das  „Taschenbuch  für 
!ande  des  S<:herzes  uud  der  Satire"  von  J.  D.  Falk,   dessen  Lob  als  Satiriker 
^ieland  laut  verkündet  hatte,  der  als  solcher  damals  sehr  bewundert  und  selbst 
h  von  A.   W    Schlegel  gerühmt   wurde  ivgl.   Jenaer  Literatur-Zeitung  1"M7, 
103;   17^»S  N.  47;  in  den  sammtlichen  Werken  II,  23  ff.;  254  ff.i,   und  gegen 
itn  AnmassuDg  txnd  Anpreisung  zuerst  Tieck  hier  sehr  entschieden  auftrat. 

:i7» 


5S0    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jalirhunderts  hh  xa  Gocüi^«  ToJ- 


§  327  geboren  und  eraogeu,  sagt  er*",  nacb  den  Uuiversit&t^abren  d< 
wieder  lebend,  mit  den  meisten  Zirl^olu  und  Gelebrlen 
hatte  ich  früh  diesen  Ton  der  Anmassung  und  des  AllmsMits  ki 
gelernt,  der  so  oft  die  Ausländer  verletzte.  Was  wir  mit  dem  W« 
Aufkläning  bezeiclinen,  im  scblimmcu  oder  tadelnden  Siuoe, 
von  Berlin  aus  vorzOglich  verl>reitet  worden,  jene  Seiebtigkeit| 
ohne  Sinn  für  Tiefe  und  Gelieimniss  alles,  was  sie  nicht  faum 
konnte  und  wollte,  vor  den  Ricliterstulil  des  sogenannten  gesnate 
Menscbcnverstaudes  zog.  Wenn  diese  Aufklärung  in  der  Thit 
manchen  Missbraucb  rQgte,  manchen  im  Finstem  schleichenden  Aber 
glauben  anklagte  und  der  Verachtung  Preis  gab,  so  setzte  «e  «ich 
doch  auch  bald  in  Verfolgung  um  und  verschmähte  nicht  inquisiturische 
Bösartigkeit  und  Verketzerung. .  .  ,  Allenthalben  war  ein  MiaiM» 
wie  die  Menschhoit  vorscbreite,  eine  kindliche  Hofifnung,  Amm  bald 
keine  Vorurtbeile  den  armen  Menschen  mehr  quälen  würden.  I)i- 
zwischen  tummelten  sich  die  verschiedenen  Lieblingsschnftvt^Qerond 
namhaften  Autoren.  Goethe's  Ruhm  —  hob  sich  von  oeoem  m 
1792  und  verbreitete  sich  immer  mehr.  Einige  Recensiooea  hatta 
Anstoss  und  Aufmerksamkeit  erregt.  Es  schien  andcni  SchriftUdlttl 
und  Kritikern  ärgerlich,  dass  diesem  Einen  schon  bei  seinen 
Zeiten  der  Ruhm  der  Nachwelt  auf  lauge  hinaus  zugesichert  w( 
sollte,  und  dass  man  diesen  als  ciucn  Genius,  der  dem  gaofteo  V( 
angehörte,  verkündigte.  In  Berlin  schieden  sich  diejenigeu,  die 
ein  Urtheil  zutrauten,  offenbar  in  zwei  Parteien.  Die,  die  sieh  (L 
die  Bessern  hielten,  und  denen  ich  mich  jugendlich  zxiroraiefedid 
anschloss,  verkündigten,  erläuterten  und  priesen  diesen  groflaen  GM 
und  fühlten  sich  mehr  oder  minder  von  ihm  begeistert.  Man  kamli 
sich  an  diesem  Vereinignu^spunkt  wieder,  und  Freundsebaft  nÜ 
Wohlwollen  verband  rasch  die  ähnlich  Denkenden.  Doch  war  ikm 
neue  und  seh  wannende  Kirche  die  unterdrückte.  Fast  alle  ittan 
Männer  strebten  ihr  entgegen.  Die  namhaften  oder  bcrflbmtea  Ge- 
lehrten Berlins  bekämpften  und  verspotteten  diesen  Schwindel  4» 
unerfahrenen  Jugend,  wie  sie  diese  Liebe  zur  Poesie  nannten...' 
Mehr  als  ein  Moralist  führte  die  alten  Klagen  Über  „StclU*^ 
noch  lautere  über  „Werther**  wieder  auf;  die  wenigen 
bedauerten  des  Dichters  Freigeisterei,  und  die  erhitzten  Demi 
schalten  auf  den  „Grosö-Coj»bta**  und  „Bürgergenerar*.  Di6„H«ti*^ 
„Meister'S  „Hermann  und  Dorothea",  am  meisten  aber  die  „X< 
vermehrten  den  Kampfund  steigerten  die  Heftigkeit  des-selben. 
für  den   ruhigen   Beobachter,    für   den   Freund   des   Scherzes  Wi 


G()i  lu  den  Scbriften  t»,  S.  XXXJ  ff, ,  wo  er  über  die  £nuteliiui|  vaA  & 
Xcadcuz  dc6  Zerbiuo  berichtet. 


'ntviclcdiuigsgaiis  der  Literatur.    177:1— isn2.    Die  Homantncor.    TIcck.    551 

nche  Splitter  nbfielen,  die  der  Dicbter  brauchen  konnte,  vorsteht  §  327 
b  von  selbst;  und  rannrhes  in  meinen  Schriften,  waa  zuweilen  der 
ser  wohl  tli»ertrieben  oder  zu  g:ewagt  linden  könnte,  vieles  nament- 
ti  im  ,, Kater",  der  „verkehrten  Welt"  und  dem  „Zerbino",  ist  nur 
irtlicb  wiederholt,  was  ich  zufällig  in  diesem  oder  jenem  Zirkel 
mabm,  oder  was  auch  wohl  im  Streit  als  scharfe  Waffen  gelten 
Ite."  —  Zugleich  aber  hatte  Tieck  auch  aohon  in  den  ,, Volks- 
ircben", mit  der  fttr  die  Gegenwart  unternommenen  Bearbeitung? 
r  Volksbücher  von  den  „Heynionskindern*',  der  „Magelone"'"  und 
n  „Schildbllrgern",  jene  auf  die  Neubelebung  mittelalterlicher 
genstoffc  ausgehende  Richtung  eingeschlagen,  die  uns  in  Goethe*« 
bestem  Dichterleben  sein  „Faust"  und  die  BmcbstUcke  des  „ewigen 
den""*  bezeichnen,  eine  Richtung,  der  Ticck  auch  nachher  noch 
jeinen  drei  grOssten  und  poesiereichsten  Werken  in  dramatischer 
hl,  der,,Genoveva",  dem  „Kaiser  Octavianus"  und  dem  „Fortunat", 
ti  blieb.  Endlich  war  es  ein  jener  jugendlichen  Begeisterung 
■etbe's  filr  die  deutsche  Vor/eit  und  ihre  Kunst,  aus  welcher  seine 
brift  zu  Ehren  Erwin's  von  Steinbacb"  und  sein  Gedicht  auf 
ins  Sachs  hervorgiengen ,  ganz  ahnliches  Ergriffeusein  von  der 
Herrlichkeit  des  Vaterlandes,  seinem  Leben  und  seinen  Kunst- 
,  in  welchem  er,  mit  seinem  Freunde  Waekenroder™  aufs 


i?)  Vgl.  aber  beide  Bd.  I.  :i9<)  und  dazu  Tiecks  Schriften  U,  S.  XU  f.  und 
Vtl  f.;  aber  den  Entwarf  Tiecka  zu  einem  DraroÄ  „Mapelone",   der  in  dns 
t&«2  fiel,  ScUriftcn  I,  S.  XL;    It,  S.  LXXVUI  (der  hier  erwähnt©  Prolog  zu 
.MAgeJone"   steht  in  Tiecks   Gedicht«u   3,  24  S    und   in  den   Scbriftou 
!9ff,).  68)  Vgl,  Bd.  m,  U'A  4S.  69)  Eine  Andeutung  des  inneru 

In  welcUt'm  die  „IlerzonBergiessungcn**  etc.   und  was  sich   unmittelbar 
loss,    zu    (ioetho's  Schrift   Über  den   Strassbui*gor   Mflnster   stnndon. 
im   „Phontasus"    1,11.  7(1)  Wilhelm   Heinrich   Wacl(enroder 

177:1   in   Berlin  geboren,   wo  seiu  Vater  eins  der  höchsten   städtischen 
iT  tiekltndete.     Er  wurde   auf  das  sorgfAltigtite   erzogen    und   besuchte   das 
lich-werdersche  Gymnasium ,   wo  er  mit  Tieck  bekannt  ward.     Bei   scijjoin 
hr  gewiasenh&Aen  Flcissc  entwickelten   sich  seine  glOcklicbcn  Anlagen  auf  da» 
ific^tc.     Er   gehfirtc   zu   den   tief  innerlichen ,   ahnungsvollen   und  kindMcIi 
Naturen .   di«  sich  nur  scliwer  in  den  äusserlichen  Lebcnsvcrhdltuissen 
tinden   können.    I>ie  Musik,   in   der  er  den  gründlichen  Unterricht  von 
I,  dem  Stbtcr  der  Berliner  Öingakademie,  genoss   und  in  der  er  sich  unter 
Augen  immer  mehr  ausbildete,  liebte  er  leidenschaftlich:   sein  näheres 
Itnüs  zu  dcB  bildenden  Künsten  wurde  zuerst  durch   K.  Vh.  Moritz  vcr- 
L  oben  S.  r»55.  unten».   Als  er  zu  Ostern  t7'.i2  mltTieck  das  Gj-mnasimn 
durfte  er  seinen  Freund  nicht  gleich  auf  die  Universität  begleiten:   er 
ich  er  sich  vor  allem  .(Vndern  zur  Kunst  hingezogen  fühlte,  nach  dem 
Vaters  die  Rechte  studieren  nnd  dazu  noch  ein  Jahr  lang  durch  Privat- 
l?Rl   vorbereitet  werden.    In  dieser  Zeit  führte  ihn  E.  J.  Koch  in  die  Ge- 
drr  deutschen  Literatur  ein.    Ostern  gieng  er  mit  Tieck  nach  Erlangen 


5S2    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe'a  Tod. 

357  innigste  flymi>iithisiereDd,  seinen  Antheil  an  den  „Herzcnserj^iessungen 
eines  kunstlichendcn  Klosterbruders",  so  wie  an  den  ,.PLantasien 
llber  die  Kunst'*"  selirieh  und  sodann  die  beiden  fertig  gewordenen 
Theile  des  Romans  „Franz  Stcrnbalds  Wanderungen"  ausavheitete^. 
Dieser  KUnstlcrroujan,  der  die  Ideen  des  Klosterbruders  weiter  ans- 
führt  und  seiner  ganzen  Anlage  und  allgemeinen  Composition  nach 
offenbar  mit  unter  dem  Einfluss  des  „Wilhelm  Meister"  entstanden 
ist,  sollte,  wie  Tieck*^  berichtet,  „erst  unter  dem  Namen  des  Yer- 
fassers  der  Herzen sergiessungen  etc.  erscheinen.    Die  meisten  Ge- 


und  Michaelis  nach  Göttingen  (vgl.  oben  S.  öST,  unten).    Ohne  Trieb  und  Beruf 
zur  Hechts  Wissenschaft  in  sich  zu  fühlen,  gab  er  sich  wUhrend  seiner  UnireniUts- 
zeit,  in  Göttingen  besonders  unter  der  Anleitung  Fiorillo*s,  immer  mehr  der  Be- 
trachtung, dem  Studium  und  selbst  der  Ausübung  der  Kunst  hin  und  suchte  nrb 
dabei  mit  der  altdeutschen  Literatur,   soweit  ihre  Quellen  für  ihn   damals  sclioa 
zugänglich  waren,  genauer  bekannt  zu  machen.    Seine  Kunstanschauungen,  die  er 
auf  seinen  An sHügen  von  Erlangen  undGöttiugen  in  Nürnberg  und  in  dcnOalerkn 
zu  Pommersfelden ,  Cassel  und  Salzthal  gewonnen  hatte,  erweiterten  sich,  ab  er 
nach  seiner  Heimkehr  von  der  Universität  im  Sommer  17%  mit   Tieck  Dresden 
besuchte.    Kurz  vorher  hatte  er  angefangen,  seine  Gedanken  über  die  Knust  la 
einer  Reihe  dichterischer  Bilder  zu  gestalten,  von  denen  Tieck  erst  auf  der  Raff 
nach  Dresden  etwas  erfuhr,  und  von  denen  das  eine,  „Ehrengedäcbtniss  Albrecbt 
Dürers",  ohne  des  Veifassers  Namen  in  Rcichardts  Journal  „Deutschland"  {\'9i. 
St«  7,  yj  ff.),   und  alle  zusammen,   mit  einer  Vorrede  und  einigen  Zugaben  tw 
Tieck,  als  „Herzensergiessungen  eines  kunstlicbendcn  Klosterbruders*^   lein  VHä, 
den  Keichardt  voi^oschlagen  hattet  zu  BcrKn  1797.   S.,  auch  ohne  Wackenioda 
Namen,  gedruckt  wurden.    Unterdessen  war  er  als  Referendarius  in  den  Jiatii' 
dienst  eingetreten,   der  ihm  widerstand:   dass  er  sich  der  Kunst  und  narae&tliih 
der  Musik  widmete,   wollte  der  Vutcr  nicht  zugeben.     So  verzehrte  er  sich  k 
inuerm  ^Vide^yt^eit ,  er  tieng  an  zu  kränki'lu  und  starb  im  Anfang  des  J,  iTsr. 
Vgl.  R.  Kopko  a.  a.  0.   1,  70  ff.;   124  f.;   151  ff.;   170  ff.;   I*<3  ff.;  21h  ff. 
71)  Vgl.  S.  5(;(>,  15.    Was  in  den  ,. Herz ensergiessun gen**  etc.  und  in  den  „Plu^ 
tasien"  etc.  Tiocks  Kiireiithum  ist,  hat  R.  Köpkc  2,  29'i  und  294  verzeichnet;  «l 
2,  270  f.    Damit,   sowie  mit  Tiecks  eigener  Erklärung  in  der  Nachschrift  n» 
1.  Th.  des  „Sternbald",  S.  ;i74,  stimmt  jedoch  nicht  ganz  genau,  wai*  TiecfaViir 
rede  zu  der  von  ihm  veranstalteten  Sammlung  der  in  jenen  beiden  Büchtni  W» 
von  AVackenroders  Hand  herrührenden  Stücke  berichtet,  die  als  „eine  vi?rJD<ifrt' 
Auflace"  dor  ..I'hantasien  über  die  Kunst,  von   einem  kunstliebenden  KJ'^ 
bruder",  zu  Berlin  1S14.   ^.  erschienen  ist.     Darnach  nämlich  hat  Wackenw*' 
auch  Antheil  an  dem  „Briefe  eines  jungen  deutschen  Mahlers  in  Rom  an  *«>■ 
Freund  in  Nürnberg"  (llcrzensergiessungen  S.  179  ff.)  und  an  dem  GedifM  J* 
Bildnisse  der  Mahler"  idas«>lbst  S.  191  ff.»  gehabt;  ja  Tieck  berichtet  soffsr. ä« 
selbst  irehijre  in  diesen  beiden  Stücken  „nur  einiges**  an.  was  er  jetzt  wcki* 
vielen  Jahren  nicht  mehr  zu  unterscheiden  wisse,  nur  erinnere  er  sich,  „dsM* 
(iedanken  ganz  AVackonroders  Eigentluim  seien  und  er  selbst  nur  einig»  * 
geschrieben  und  hinzugefügt**  habe.    Daher  sind  die  Stücke  auch  in  diPwSi* 
lung  mit  aufgenommpu  worden.  —  Ueber  einige  anderwärts  gedruckte  tie&^ 
und  sonstige  srhriftst^'Uerische  Arbeiten  Wackenroders  vgl.  R.  Köpke  2.  T.-'  t 
72)  Vgl.  S.  5«o.  l'M  In  der  Nachschrift  zum  I.  Th.  S.  37:*  f. 


I 


EntwickeluDgsg.  d.  Lit.   1773— IS32.  Die  Romantiker.  Tieck  u.  Wackenroder.    5S3 

Spräche,  die  ich  seit  mehreren  Jahren  mit  meinem  nun  verstorbenen  §  327 
Freunde  Wackenroder  führte,  betrafen  die  Kunst;  wir  waren  in 
unsern  Empfindungen  einig  und  wurden  nicht  müde,  unsere  Gedanken 
darüber  gegenseitig  zu  wiederholen.  .  .  .  Nach  jenem  Buch  (den 
Herzensergi essungen  etc.)  hatten  wir  uns  vorgenommen,  die  Geschichte 
eines  Künstlers  zu  schreiben,  und  so  entstand  der  Plan  zu  dem 
gegenwärtigen  Romane.  In  einem  gewissen  Sinne  gehört  meinem 
Freunde  ein  Theil  des  Werks,  ob  ihn  gleich  seine  Krankheit  hinderte, 
die  Stellen  wirklich  auszuarbeiten ,  die  er  Übernommen  hatte''  ''*. 
Die  Gedanken,  welche  in  den  „Herzensergiessungen",  den  „Phan- 
tasien" etc.  und  dem  „Sternbald"  über  die  bildende  Kunst  und  ihr 
Verhaltniss  zur  Religion  ausgesprochen  wurden,  die  Betrachtungs- 
weise der  vaterländischen  Vorzeit,  die  Auffassung  ihres  Lebens,  ihrer 
Bildung  und  insbesondere  ihrer  Kunstdenkmale:  diess  alles  war  in 
der  zweiten  Hälfte  der  Neunziger  etwas  ganz  Neues,  noch  nicht  da 
Gewesenes,  wogegen  damals  und  späterhin  vielfach,  und  zum  Theil 
von  sehr  gewichtigen  Stimmen,  Widerspruch  erhoben  ward,  was  auch 
unläugbar  manche  und  grosse  Verirrungen,  vornehmlich  auf  dem 
kflnstlerischen  Gebiete,  nach  sich  zog,  wovon  aber  nichts  destoweniger 
sehr  bedeutende  und  fruchtbare  Anregungen  für  die  Eutwickelung 
nicht  allein  der  bildenden  Kunst  des  neunzehnten  Jahrhunderts, 
sondern  auch  der  deutschen  Alterthumswissenschaft  ausgieugen.  Bei 
der  gegen  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  allgemein  herrschenden, 
völlig  weltlichen  und  dabei  meist  sehr  flachen  Art,  womit  man  in 
Dingen  der  Kunst  überhaupt  urtheilte^'',  und  bei  der  damals  eben 
so  allgemein  gültigen  Ansicht  von  der  Barbarei  des  Mittelalters  und 
der  durchgängigen  Geschmacklosigkeit  in  dessen  künstlerischen  Ge- 
bilden, waren  jene  Schriften  die  ersten  entschiedenen  Kundgebungen 
einer  sich  gegen  diese  Betrachtungsweise  und  Denkart  bildenden 
Opposition.    Die  Kunst  galt  den  beiden  Freunden  als  eine  andere 


74)  Vgl.   das  Nachwort  zur   zweiten,   wesentlicli   umgcarbeitetou  Ausg.  des 

Auch  hier  unvollendet  gebliebenen  llomans  in  den  Schriften  Bd.  tO,  am  Ende  und 

daza  Köpke  1,  225  f.;  272  f.    Wenn  Köpke  aber  an  der  ersten  Stolle  bemerkt, 

Tieck  habe^'bereits  zu  den  Herzensergicssungen  etc.  in  dem  „Briefe  eines  jungrai 

^«ntschen  Mahlers  in  Rom"  etc.  einen  Beitrag  gegeben,  in  dem  der  Charakter  des 

»»Sternbald"    schon  vollständig  ausgebildet  war,   so   wird  diess   nach   der  über 

^*»i  eigentlichen  Verfasser  jenes  Briefes  in   der  Anmerkung  71  ;angcfQhrten  An- 

Ä^be  Tiecks  dahin  abzuändern  sein ,  dass  diese  Vorarbeit  zum  „Sternbald"  viel 

"JJ'^niger  Tiecks  als  Wackcnroders  Werk  war.  75 1  Z.  B.  Ramdohr  in  seinen 

^<5liriften  „Veber  Mahlerei  und   Bildhauerei  in  Rom".     Leipzig  17S7.    ;»  Bde.; 

y  ^karis,  oder  über  das  Schöne  und  die  Schönheit  in  den  nachbildenden  Künsten'*. 

**^pzig  1793.    2  Bde.  und  andern,  an  welchen  der  kunstliebeude  Klosterbruder 

^•"^nig  Gefallen  fand,  vgl.  die  Vorrede  zu  den  „Herzensergiesssungen"  S.  9. 


r>84    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVHI  Jahrhunderts  bi§  za  6oethe*B  Tod. 

327  Religion,  die  ihre  tiefsten  und  kräftigsten  Wurzeln  in  dem  frommen 
und  echten  Glauben  habe,  ein  jedes  wahres  Kunstwerk  als  eine  von 
einem  begeisterten  Gcmtltbo  empfangene  und  von  ihm  fOr  den  Süssem 
Sinn  zu  voller  Anschaulichkeit  ausgebildete  OfTenbaning,  die  deutsche 
Vorzeit  als  eine  grosse  Vergangenheit,  reich  an  Leben,    Bildung, 
Poesie   und    Kunst.      Verhasst    war    ihnen   daher   jene    kltlgelnde, 
svstematisierende  Kritik,   die  an  alles  den  von  einer  bestimmten 
Theorie  hergenommenen  Massstab  legt  und  darnach  Lob  und  Tadel 
abmisst.    So  heisst  es  in  den  „Herzensergiessungen"^*:  „leb  kenne 
zwei  wunderbare  Sprachen,  durch  welche  der  Schöpfer  den  Menschen 
vergönnt  hat,   die  himmlischen  Dinge  in  ganzer  Macht,  so  viel« 
nftmlich  sterblichen  Geschöpfen  möglich  ist,  zu  fassen  und  zu  be- 
greifen.   Sie  kommen  durch  ganz  andere  Wege  zu  unsenn  Innern 
als  durch  die  Hülfe  der  Worte ;  sie  bewegen  auf  einmal ,  auf  eine 
wimderbare  Weise,  unser  ganzes  Wesen  und  drängen  sich  in  jede 
Nervo  und  jeden  Blutstropfen,  der  uns  angehört.    Die  eine  dieser 
wundervollen  Sprachen  redet  Gott,  die  andere  reden  nur  weni^ 
Auserwähltc  unter  den  Menschen,  die  er  zu  seinen  Lieblingen  gesalbt 
hat.    Ich  meine  die  Natur  und  die  Kunst. . . .  Die  Kunst,  eine  Xrt 
von  Schöpfung,  wie  sie  sterblichen  Wesen  hervorzubringen  vergönnt 
wird,  schliesst  uns  die  Schätze  in  der  menschlichen  Brust  auf,  richtet 
unsem  Blick  in  unser  Inneres  und  zeigt  uns  das  Unsichtbare,  ieb 
meine  alles,  was  edel,  gross  imd  göttlich  ist,  in  menschlicher  G^ 

stalt Die  Kunst  stellt  uns  die  höchste  menschliche  Vollendung 

dar.  ...  Ist  es  aber  erlaubt,  also  von  dergleichen  Dingen  zu  reden, 
so  möchte  man  vielleicht  sagen,   dass  Gott  wohl   die  ganze  Natur 
oder  die  ganze  Welt  auf  ähnliche  Art,   wie  wir  ein  Kunstwerk,  an- 
sehen möge."    Weiterhin":  ,Jcb   vergksiehe  den  Genuss  der  edlem 
Kunstwerke  dem   Gebet. . . .    Kunstwerke   passen    in    ihrer  Art  ^ 
wenig,   als  der  Gedanke  an  Gott,  in   den  gemeinen  Fortfluss  de? 
Lebens.  .  .  .    Die   Kunst  ist  über  dem  Menschen :    wir    können  die 
herrlichen  Werke  ihrer  Geweihten  nur  bewundern  und  verehren  und. 
zur  Auflösung  und  Reinigung  aller  unserer  Gefühle,   unser  ganze« 
Gemllth  vor  ihnen  auftlum.*'     Und  in  Bezug  auf   die    altdeutsche 
Kunst'*:  „Nürnberg!   du   vormals  weltberühmte  Stadt!     Wie  jrenic 
durchwanderte  ich  deine  krummen  Gassen,   mit  welcher  kindlicben 
Liebe  betrachtete  ich  deine  altvaterischen  Häuser  und  Kirchen,  dcDfn 
die  feste  Spur  von  unserer  alten  vaterländischen  Kunst  cingedrfiekt 
ist!    Wie  innig  lieb'  ich  die  Bildungen  jener  Zeit,  die  eine  so  derl»f 
kräftige  und   wahre  Sprache  führen!     Wie  ziehen   sie  mich  zurßf» 
in  jenes  graue  Jahrhundert,  da  du,  Nürnberg,  die  lebendig  wiramebdc 

76»  S.  vxi  tt'.  77)  S.  i:.^  ü'.  78)  S.  lOit  f. 


iDtwickelongsg.d.Lit    1773— lS:i2.  Die  Romantiker   Tierk  n.  Wackenroder.    565 


Bchnle  der  vaterländischen  Kunst  warst,   und  ein  recht  fruchtbarer,  §  327 
üherfliessenderKnnstgcistin  deinen  Mauern  lebte  und  webte:  da  Meister 
ans  Sachs  und  Adam  Kraft,  der  Bildhauer,  und  vor  allen  Albrecht 
Brcr   mit   seinem   Freunde.    Wilibaldiis  Pirkheimer,    und    so   viel 
andere  hochgelohte  Ehrenmänner  noch   lebten!     Wie  oft  haV  ich 
ich  in  jene  Zeit  zurnckgewllnscht!"    Und™:  ,Jch  stimme  keines- 
eg«   in    die   Redensarten   derer   ein ,    welche   sprechen :    ,, .,  Hätte 
Ibrecht  Dürer  nur  in  Rom  eine  Zeit  lang  gehauset   und  die  echte 
hönhoit  und   das  Idealische  von  Raphael  abgelernt,  so  wäre  er 
n  grosser  Meister  geworden ;  mau  muss  ihn  bedauern  und  sich  nur 
ndern,  wie  er  es  in   seiner  Lage  noch  so  weit  gebracht  hat."'* 
ch  finde  hier  nichts  zu  bedauern,  sondern   freue  mich,   dass  das 
Schicksal  dem  deutschen  Boden  an  diesem  Manne  einen  echt  vater- 
ländischen Mahler  gegönnt  hat.  .  .  .  Nicht  bloss  unter  italienischem 
Hiromel,   unter  majestätischen  Kuppeln  und   korinthischen  Säulen; 
aach  unter  Spitzgewölben,  kraus-verzierten  Oebäuden  und  gothischen 
Thürmen  wächst  wahre  Kunst   hervor.  .  .  .   Gesegnet   sei   mir  deine 
Idene  Zeit,  Nürnberg!  die  einzige  Zeit,  da  Deutschland  eine  eigene 
»terldndische  Kunst  zu  haben  sich  rühmen  konnte"".  —  Auf  diesem 
nkle  seiner  innern  Entwickelung  und  schriftstellerischen  Tlifitig- 
it  stand  Tieck  bereits",  als  sich  zwischen  ihm  und  A.  W.  Schlegel 
eben   erst  ein   unmittelbares  und  persönliches  Verhilltniss  zu  bilden 


79)  S.  124  ff.  SO)  Noch  eine  Stelle.  8.  102  ff.    „Warum  verdammt  ihr 

Indiftner  uicbt.   doss  er  indianiscli   und  nicht  unsere  Sprache  rodet?    Und 
doch  wollt  Ihr  diis  Mittelultpr  verdammen,  dass  es  nicht  solche  Tempel  baute,  wie 
'iecheniand?   —   Schouheit:   ein   wimdcrseltsames   Wort!     Erfindet   erat   neue 
^orte   fiir  jedes   pinzflne  Kunstgefnhl ,    für  jrdes  einzelne  "Werk  der  Kunst  I     In 
ipielt  eine  andere  Farbe,  und  für  jedes  sind  andere  Nerven  in  dem  Ge- 
des  Menschen  geschaffen.    Aber  ihr  spinnt  aus  diesem  Worte,  durch  Künste 
▼erstandes,  ein  strenges  System  und  wollt  alle  Menschen  zwingen,  nach  eueru 
ichriften  und  Regeln  xu  fahlen,  —  und  fühlet  beiher  nicht.     Wer  ein  System 
bot  die  allveracine  Liebe  ans  seinem  Herzen  vordriinj^!    ErtrÄgUcher  noch 
des   Gefühls    als   Intoleranz   des    Verstandes;   Aberglaube    bes?pr 
kobe".  81 1  Bis  2um  J.  l7'.tH,  wo  der  ,.Stembald"  nie  von  ihm 

i"  erschien,  hatte  sich  Tieck  vor  seinen  Schriften  nur  als  Rearbeiter 
lakspeare's   .^turm"   (vgl.   S.  559.  6)   genannt,   alte   übii^en   waren   ent- 
E^anz  anonym  oder  unter  den  Namen  Peter  Leberecht  und  Gotllieb  F&rber 
leu-     Erst  im  Intelli^ienz- Blatt  der  Jenaer  Literatur- Zeitung  von    I79S, 
p.  ff«  war  er  (nrnstreüig  von  A.  W    SchlcgHt  als  Verfasser  der  „Volks- 
ilrchen"  bezeichnet,   unmittelbar  darauf  in  N.  10,   Sp.  "O   nannte   er  sich  als 
leben  selbst  in  einer  Erkliinmg  vom  23.  Pec.  1797,  und  im  „Athenaeum"  t,  2. 
fuhrt*'  Fr.  Schlegel  bei  einem  iTtheil  irtier  den  .JiOvell'*  seinen  Namen  an. 
»er  Cess  der  Verleger  der  meisten  Schriften,  die  Tieck  bis  dahin  vcröffenl- 
ittf.  K.  A.  Xicftlat,  ein  Sohn  Fr.  Nicolai'«,  mit  dem  der  iJiciiter  damals  schon 
guten  Vernehmen  mehr  stand,  in  den  Anzeiger  dn  „B^rUner  Archltri 


586     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  WJU.  JalirhundertB  bis  zu  Goethe*s  Tod. 

§  327  angefangen  hatte  und  seine  geistigen  Bcrllbrungen  mit  Fr.  Schlegel, 
der  während  der  ersten  Zeit  seines  Aufenthaltes  in  Berlin  noch  Tor- 
zugsweise  mit  seinen  auf  die  griechische  Literatur  bezüglichen  Studien 
und  Schriften  beschäftigt  war,  sich  kaum  viel  weiter  erstreckten,  als 
auf  Uebereiustinimung  in  der  dem  Genius  Goethe's  dargebrachten 
Huldigung  und  in  der  Auffassung  und  Beurtheilung  der  damaligen 
durchschnittlichen  Bildung  und  der  allgemeinen  Literaturzustände  in 
Deutschland.  Im  Anfang  des  Jahres  1797  hatte  Schlegel  in  der 
Jenaer  Literatur-Zeitung"  Tiecks  Bearbeitung  des  „Sturms"  mit  der 
ihr  vorausgeschickten  Abhandlung  angezeigt  und  die  erstere,  wenn 
auch  die  mit  dem  Stück  vorgenommenen  Aenderungen  mancher 
Tadel  traf,  doch  im  Ganzen  gebilligt  und  gelobt:  Tieck  scheine  dai 
englischen  Dichter  mit  Liebe  studiert  zu  haben,  sollte  er  auch  nicht 
überall  in  den  Geist  desselben  eingedrungen  sein;  der  Aufsatz  ent- 
halte einige  treffende  Bemerkungen,  andere  seien  zu  sehr  von  der 
Oberflache  geschöpft,  es  fehle  darin,  ungeachtet  der  vielen  Ein- 
theilungen,  an  Ordnung,  überhaupt  an  gründlicher  Bestimmtheit; 
indess  werde  der  Verfasser,  wenn  er  seine  Gedanken  über  Sbakspeare 
erst  mehr  reifen  lasse,  gewiss  viel  Gutes  für  ihn  leisten  können. 
Hierauf  folgte  gegen  Ende  des  Jahres  in  derselben  Zeitung"  auch 
noch  ehe  Schlegel  „mit  dem  Verfasser  in  persönlicher  Bekanntschaft, 
in  Briefwechsel  oder  irgend  einem  Verh&ltniss  stand,  ja  ehe  er  nur 
seinen  Namen  wusste''**,   von   ihm  eine  Beurtheilung  des  „Bitter 


der  Zeit"  Octob.-St.  von  179S,  S.  31  f.  eine  boshafte  „Kachrioht  für  Freunde  der 
schönen  läteratur"  einrücken,  worin  mit  alleiniger  Auslassung  der  ^.sieben  Wtifc<r 
des  Blaubart*,  denen  ein  fingierter  Verlagsort  und  ein  tingierter  Verleger  vor- 
gedruikt  waren,  ilie  bei  ihm  erschienenen  Schriften  Tiecks   aufgezählt  wuea. 
d.  h.  ausser  dorn  „Sturm'-,  dem  „Lovcll"  und  den  „Volksmärchen '  noch  der^Ab- 
dallah"  und   der  ..Peter  Lebrecht'*,  dazu  aber  auch  die  Uebersefzungen  ton  dn-i 
englischen  Moderomanen  f,,der  Demokrat".  „Kloster  Netley''  und  ..Schlosa  Mont- 
ford"),  die,  obgleich  sie  von  Andern  angefertigt  waren  (vgl.  Küpke  !,  2U(,  ebfli- 
falls  von  Tieck  herrühren  sollten.    Zugleich  benachrichtigte  er  den  Dichter,  rf 
sei  gesonnen,  alle  diese  Schriften  unter  dem  Titel  „Tiecks  sämmtUche  WeAf" 
zu  verkaufen,  und  obschon  dieser  sich  aufs  bestimmteste  dagegen  erklärte,  folü^* 
der  Verleger  doch  seinen  Vorsatz  dahin  aus,  dass  er  die  Schriften  mit  Moss  wr- 
gedrucktem  neuen  Allgemcintitel  in  12  Bände  vertheilte  imit  der  Angabe  des  fa* 
halts  der  einzelnen  Bände  in  W.  Engelmanns  Bibliothek  der  schönen  Wfcffn- 
schaften  ls37,   S.  \\'\  stimmt  mein,   auch    12  Bande  belassendes  Exemplar  T^« 
„Ludwig  Tiecks  Werken".   Berlin  o.  J.,  nicht  ganz  überein:  in  diesem  fohlend* 
„Peter  Lebrecht"  und  das  ,.Schloss  Montford").    Vgl.  hierzu  die  „Gegenanzfllc" 
Tiecks  hinter  der  angeführten  „Nachricht"  Kicolai's  im  „Berliner  An-biv  -if' 
Zeit*,  das  Intelligenz-Blatt  zur  Jenaer  Literatur-Zeitung  170S  N.  UÜ,  Sp.  I:»»'^' 
den  Anzeiger   des  „Berliner  Archivs"  Xov.  ITftS.   S.  4*>  ff.  und  Tiecks  SchriftH 
H,  S.  VITI  f.  S2!  N.  T*^.  Sp.  Gl'.»  ff.    Werke  11,  h>  ff.L  S3»  N*.  ■*■'>'• 

Sp.  Ui\  ff.  S4)  Werke  11,  143  f. 


itTrfckeltmgsg.  d,Lit.  1773—1932.   Die  Romantiker  Tieck  und  die  ScJJegela,  597 

Blaubart"  und  des  „gesHefelten  Katers'' '^    Sie  kündigte  zuerst  dem  §  327 
doufxchen  Publicum  Tieok  als  „einen  Dichter  im  eigentliclien  Sinne, 
«1b  einen  dichtenden  Üichtcr"  an,  und  Schlegel  freute  sich  noch  in 
feineia    Alter   und    war   „gewisBormassen    stolz    darauf,    zuerst   in 
Deutschland   den   seltenen   dichterischen  Genius  bcgrlisst  zu  haben, 
der  nachher  sein   (des  Recenftenten)  den  Zeitgenossen   verpfändetes 
'<^rt,  aus  seiner  schöpferischen  Ftille  sei  Neues  und  Ausserordent- 
'hcs  zu  erwarten,  so  glänzend  gelOst  habe"*".     In  dem  „Blauhart", 
iraerkte  Schlegel,  habe  es  dieser  Dichter  gewagt,   einen  unschein- 
iren  Stoff  zu  einer  ausführlichen  dramatischen  Dichtung  zu  entfalten. 
[eineswegs  aber  dürfe  man  in  ihm  einen  dialogisierten  Ritterromau 
finden  hoffen:  der  Verfasser  sei  ein  wahrer  GegenfUssler  unserer« 
swappneten  ritterlichen  Schriftsteller:  da  diese  nur  darauf  arbeiteten, 
LS   Gemeinste,   Abj^edroschenste   als    höchst  abenteuerlich,  ja  un- 
ktürlieh  vorzustellen,  so  habe  er  sich  dagegen  bemüht,  das  Wunder- 
■e  80  natürlich  und  schlicht  als  möglich,  gleichsam  im  Xachtklcide, 
sheinen  zu  lassen.    „Die  Charaktere  geben  sich   nicht  für  dieses 
oder  jenes:  sie  sind,  wie  sie  sind,  ohne  zu  wissen,  dass  es  auch 
anders  sein  könnte.    Alles,  was  den  wesentlichern  Theil  der  Hand- 
lung aufmacht,  ist  mit  Meisterhand  den  echtesten  Zügen  der  Natur 
nachgezeichnet."    Nur  könnte  man  wünschen,  dass  die  vorhergehenden 
Scenen  rascher  zu  dem  eigentlichen  Ziele  der  Handlung  eilten,  und 
durch  das  Wegbleiheu  einiger  fast  nur  episodischer  Personen,  aber 
nicht  etwa  des  Karren  und   des  Kathgebers,   hätte  das  Stück   wohl 
nicht  viel  eingebüsst".    Wenn  Lesern,  welche  durch  die  ohnmächtige 
Ueberspanuun.'c  bloss  leidenschaftlicher  Darstellungen  verwöhnt  seien, 
*on  und  Weise  hier  zu  wenig  pikant  vorkommen  sollte,   so  könne 
dem  Verfasser  ein  Beweis  sein,  dass  er  seine  Umrisse  recht  rein 
id    einfach    gezogen    habe.     Denn    offenbar  sei  es  nicht  Mangel, 
mdem  überlegte  M/lssigung,  wenn  er  nicht  grellere  Farben  dicker 
•age.     In  dem  ,, gestiefelten  Kater"  bleibe  die  komische  Laune, 
lit  das  Kindermärchen  dramatisiert  sei,  nicht  in  den  Schranken 
Gegenstandes  stehen.      Es  spiele  in   der  wirklichen   Welt,   ja 
litten  unter  uns:  eine  kecke,  muth willige  Posse,  worin  der  Dichter 
ich  alle  Augenblicke  selbst  zu  unterbrechen  und  sein  eigenes  Werk 
zerstören  scheine,    um   nur  desto   mehr  Si)öttereien  rechts   und 
Inks  und  nach   allen  Seiten   wie  leichte  Pfeile  fliegen  zu  lassen. 
►och  geschehe  dies  mit  so  viel  fröhlicher  GutmUthigkeit,  dass  man 
ergetzlich  finden  mttsste,  wenn  auch  unsere  eignen  Vettern  und 


I)  Werke  II.  136  ff.  S6)  Werke  II.  144.  S7»  D^ni  hat  Tiwk 

neuen  Bearbeitung  des  Stückes  für  deu  ..Phantastia"  auf  andcrm  Wegt 
»liiuUelfen  gesucht. 


588     Vr  Vom  z-weitcn  Viertel  iks  XYIII  JahrhundorU  l>is  zu  Go«ttir*»  T| 

S  327  Basen  Wlclierlidi  ;remaoht  sein  sollten.  —  Diese  Receii-* 
einem  Briefweclisel  und  noeb  vor  Ablauf  des  Jalires  si- 
den  Wunsch   aus,   Ticcks  persönliche  Bekanntschaft  xu  mMba! 
Noch  bevnr  es  daxu  kam**,   nahm  der  erstcMe  von  einer 
des  „Lovell",   die   von  einer  mir  unbekannten  Hand  in  die 
Literatur-Zeitung*^  geliefert  worden  war,  Anlass,  die  darin  eutItalleM 
Aeusserung,  dieser  Roman  sehe,  obschon  der  Titel  nichts  davon 
einer  Uebersetzung  eines  mittel  massigen  englischen  Originals  gU 
zu  widerlegen.    ,3fan  muss*',  bemerkte  Schlegel,  „gar  nicht  einiai 
die  Physiognomie  eines  englischen  Romans  kennen,  um  den  »»Lovell* 
der  nicht  eine  englische  Ader  in  sich  hat.   dafür  zu  halten.    Sei 
die   eingestreuten,    geistvollen    und    durchaus   originellen    Gedj< 
hätten  den  Rec.   eines   Bessern   belehren  sollen.    Auf  den  tll 
Tadel  dieses  Eunstrichters  verlohnt  es  sich  nicht  die  Mtthe,  «ich 
zulassen.    Da  er  aber  dem  Verf.  Schuld  gibt,  l)  er  habe  sich  fremi 
Eigenthum  zugeeignet  und  es  verheimlicht,  2)  verstehe  nicht 
das  Englische  recht:  so  versichere  ich  ihn  hiermit  ans  nähcfv 
kanntächaft:    I)  dass   der  Verf.   ein   grosser  Kenner   der   engKwchci 
Sprache^  2,i  dass  der  „LovelV'  ein  deutsches  Original  ist.     Ich  fordi 
den  Rec.  auf,  seine  ehrenrührige  Behauptung  entweder  durch  Auf' 
findung  des  englischen  Originals  zu  beweisen,  oder  nach  Schuldigkeit 
zu   widerrufen."    Hier  also  trat  Schlegel  schon  für  den  neugewm» 
nenen  Freund,  der  damals  noch  nicht  als  Verf.  des  „Lovell'*  bekam 
war,  in  die  Schmnken.  —  Wenn  man  von  A.  W.  Schlegels  Reoeasi« 
absieht,   erfuhren  Tiecks  bis  ins  J.  179S  herauagegebeno  Schrifti 
die  in  ihrem  Charakter,  ihren  Tendenzen  und  ihrem  Wcrthe  zunieiwt 
von  den  allermeisten  Lesern  wenig  oder  gar  nicht  verstanden  wunJfli. 
daher  auch    in   den   verbreitetsten  kritischen  Zeitschriften  fa«t 
theils   seichte  und  schiefe,  thcils  abholde  oder  ganz   wegwerfend»' 
Beuriheilungen.     lieber  die   Bearbeitung  des  ,. Sturms''   wunle 
Eschenburg  in  der  neuen  allgemeinen  deutschen  Bibljotbek 
berichtet  und  kein    eigentliches  Urtheil   abgegeben,    von   dem  ittr 
vorangestellten  Aufsatz  dagegen  mit  vieler  Anerkennung  gespfncheB' 
Der  „Abdallah*'  gab  in  derselben  Zeitsichrift"  einem  andern  Eccet 
senten  Anlass  zu  der  allerdings  weder  unrichtigen   noch   uiuieilip* 
Bemerkung:  zum  Hohn  des  guten  Geschmacks  seien  noeh  imotf  Ct 
Grfiuel  der  Zauber-  und  Gespenstergeschichten  an  der  Tagwordwiaf; 
aber  er  sah  auch  „in  dieser  abenteuerlichen  ErzAhlung**  nicht«  weiter, 
al«  solche  ..falsche  Waare";  woircgcn  die  Rcurtlicihmg  in  der  Jeo»«' 


8Si  Vgl.  Köpke  t.  i.'il  f  S^)  Vgl,  S,  bUM.  um  WJ'i,   X.  2^' 

91)  In  (lern  lottflligeuz-Blatt  der  Literatur -Zeitung  von  IT-.tS.  N.  U.  Sj'.  •"■ 

92)  30.  ».  *;9  ff.  U3)  39,  2,  340  ff. 


icketongsg.  d.  liit  1773—1832.  Die  Romantiker.  Tleck  uud  die  ScUlegeh,   5SD 


eratur- Zeitung**   sich   weni^teuB   mit   einer   gewitiBen   Billigkeit  § 
iacLeu  Lob  uud  Tadel  thcilte.    Aebulicber  Art  war  der  Beriebt 
ler  den  „Lovell"  in  der  genaiuiteu  Bibliotbek'''':  daruacb  feblte  es 
■ar  dem  Verf.,  der  noch  ein  junger  Schwärmer  soiu  mtlsstc,  unge- 
btet  der  oft  zu  bunten  und  bilderreichen  Sprache,  uicbt  an  Talenten 
r  Darstellung  und  Menscbenbeobachtung,   wohl  aber  noch  an  der 
tust  einer  bestimmton  Cbaraktorzeicbnuug ;  er  lasse  seinen  Helden 
unvortheilhaft  auftreten  und  beleidige  überhaupt  durch  sein  Buch 
,  sehr  den  guten  Geschmack.    In  dem  ersten  Theil  fand  auch  der 
Daer  Rccensent"  nicht  alles  tadelnswerth,   denn  ungeachtet  der 
irch  die  Briefform  herbeigeführten  grossen  Weitläuftigkeit  der  Er- 
lang und  der  zu  vielen  leeren   und  unbedeutenden  Briefe,  die 
gemischt  worden,  unterhalte  er  doch  vornehmlich  durch  die  Schreib- 
weiche die  Manier  der  Britteu  im   humonstiscben  sowohl   wie 
ernsthaften  Vortrage  gut  copiere  uud  demnach  viele  originelle 
der  und  Wendungen  habe.    Desto  ungünstiger  lautete  das  Urtheil 
r  die  beiden  andern  Baude *":  die  Rolle  des  Heldeu,  der  als  der 
äehtliebstc,  ekelhafteste  Mensch  erscheine  (etwa  der  Absicht  des 
bters  zuwider?)  und  das  blosse  Werkzeug  eines  Andern,   eines 
gera  und    Vorstehers  einer  mystischen  Gesellschaft    sei.    der- 
chen  Jetzt  in  so  vielen  Romanen  gefunden  würden,  sei  noch  in 
netu   80   matt   und   kraftlos   ausgeführt    worden,  als  in  diesem; 
uf    dann    der    bereits    vorher    berührte    Verdacht    von    einem 
heimlichten  englischen  Original  dieses  Werkes  erhoben  wird.  — 
Uen  Beifall  zollte,  wie  sich  nach  dem  Wohlgefallen,  das  die  beiden 
\a\  an  dieser  Geschichte  hatten'",  erwarten  Hess,  die  Bibliothek*" 
„Peter  Lebrecht":  sie  fand  ihn  einfach  uud  belehrend,  dabei 
doch  auch  unterhaltend,  freilich  nicht  fQr  den,  der  auf  Geister 
Unholde  laute   und  gern   neine   Haare  bergan  gezogen   haben 
e,  der  gern  zwischen  betrunkenen  Rittern,  auf  Turnierplätzen, 
rstürten    Burjren ,    verbrannten    Klöstern ,    zwischen    lüsternen 
hen,    vollen    Humpen,    Rüdengebell    weile   und  Mönchs-   und 
»pcnwitt  gerne  höre;  hier  sei  ein  unterhaltendes,   wahres  uud 
endes  Gemähide  des  alltäglichen  Menschenlebens,  voll  gesunden 
nements  und  feinen  geschliffenen  Witzes,  mit  vieler  Laune  und 
Mensebenkenntniss  ausgeführt.    Um   so  tiefer  setzte  der  Rec. 
Jenaer  Literatur -Zeitung'*  den  kleinen  Roman  hemb:   die 
[Hang  der  Begebenheiten  und  die  Charakterzeichnungen  seien 
t  matt,   die  Vortragsart  von  unausstehlicher  Gcschw.1t2igkeil, 


Vr».    2,  47S  i.  \ib)  20,  2,  3Sü  f.  und  32»  l,  154  f.  96»  I'9ä. 

97l  I7*»7.    4.  l*Hi  t.  981  Tiecki  Schriften  11,  8.  XXXIV  ff. 

l3.  2.  :.26  und  ;j2.  i.  155  r         100)  ny".    i,  tu  f.  und  ■».  oi. 


i 


'^om  rwejten  Viertel  des  XVIII  Jahrlmndorts  bis  zu  Goetiie*  X 


§  3*27  godclint  uud  mit  ädiloppcndcn  KandglosBeu  überladen;  zur  Suti^H 
der  der  Verf.  oft  ,,nacLliasclie",  maugle  es  ihm  nicht  allein  3ff 
Enerj^ie,  sondern  aucli  au  Feinheit  u.  8.  w.  —  Ueber  die  beidea 
ersten  Bünde  der  „Volkamfirchen"  bemerkte  die  Bibliothek''", 
Verf.  habe  seine  Absicht  vollkommen  erreicht,  „ein  Ideal  eines  nil 
geseheidten  Werks  aufgestellt  zu  baben^';  die  Jenaer  Literal 
Zeitung""  erkannte  dagegen  iu  der  ^'leichfalls  nur  jene  beiden  Bfat 
betreffenden  Anzeige  an,  der  Verf.  habe  sich  hier  seit  der  Abfassi 
seiner  eignen  Geschichte  (des  „Peter  Lebrecbt")  merklich  verv< 
kommnet,  uud  gicng  dann,  auf  die  bereits  iu  ihr  erschienf 
Bourtheilung  des  „Blaubart''  und  des  „gestiefelten  Katera"  (vou 
W.  Schlegel)  verweisend,  auf  „den  blonden  Eckbert",  „die  Geschiclit« 
von  den  Hcymonskindoru",  „die  scliöne  Magelone"  und  den  „ProK 
näher  ein.  Der  „Eckbert"  habe  durch  ein  romantisches,  dtirch 
ganze  Geschichte  fortlaufendes  Gewebe  mehr  Interesse  als  ,,Bhiuha 
aber  es  mangle  ihm  an  der  hinlänglichen  Motivierung  der 
lungen,  und  Über  dem  Ganzen  schwebe  ein  widriges  Dunkel,  ad! 
ein  Machtspruch  aus  dem  Geisterreiche  wTire  crträgliclier  gevrosea 
als  dieser  gänzliche  Mangel  einer  befriedigenden  Aufklärung. 
„Heymonskiuder"  wären  der  Bearbeitung  nicht  werlh  gewesen 
noch  weniger,  dass  diese  dem  Publicum  vorgelegt  worden;  wc 
Phantasie  und  Laune,  sondern  Unwissenheit  und  Aberwitz  büt 
diese  unnatürlichen  und  charakterlosen  Menschen  und  diese  Schöpf 
einer  allgemeinen  Verwirrung  der  moralischen  und  politischen  W< 
hcrvorgebnicht,  weshalb  dieses  Märchen  billig  zu  den  Jabnn] 
buden  zurlick  zu  verweisen  sei,  in  welchen  es  vor  dem  V«t 
Rause  gewesen.  Das  Märchen  von  der  „Magelone",  wiewohl 
der  nämlichen  Quelle  geschupft,  habe  doch  weit  mehr  Aolait 
einer  interessanten  Erzählung  und  sei  es  in  dieser  Bearbeitimg 
wirklich  geworden,  „Freilich'*,  setzt  der  Reo.  hinzu,  „inuss  mau  tt 
immer  als  Volksmärchen  betrachten ,  wo  man  manche  UBW»kr- 
scheiulichkeit ,  manches  Wunderbare,  manches  Abweichende 
charaktermässigen  Reden  und  Handeln  als  nothwendig  anzu?e 
hat.  Doch  iu  welchen  Gattungen  des  romantischen  Gebiets  mfiflAi 
wir  dieses  in  unsem  Tagen  nicht?'*  Am  günstigsten  fOr  Tieck, 
in  seinem  Schlnsssatz  ganz  zutreffend,  ist  das  Über  seinen 
Gesagte.  Dieser,  heisst  es,  beschäftige  sich  mit  einigen  Erscheii 
am  philosophischen  Firmament  und  sei  mit  reicher  Laune  at 
mit  der  er  lachend  manche  treffende  Wahrheit  predige.  ,,Er 
uns  die  im  Publicum  verbreitete  Vermuthung  zu  bestätigen,  da» 
hier  gesammelten  Arbeiten  Producte  eines  jungen  Genie's  sin<l. 


101)  38,  2,  439  f. 


102)  1797.    4,  591  ff. 


1—" 

k 


Kntwickeluagsgaog  der  Literatur.    1773— is;t2.    Die  Romautiker.    Tieck.    591 

sich  als  einen  eben  ao  kecken,  als  kraftvollen  Verfolger  der  Thor- 
eit  angekündigt  hat  und  zu  gegründeten  Hoffnungen  berecLtigt, 
'etwas  VorzUglicles  zu  leisten.  Doch  scUeint  es  dem  Verf.,  er  sei, 
wer  er  wolle,  minder  an  Kraft,  gewisser  Schwierigkeiten  müclttig 
zu  werden,  als  an  Willen  und  Geduld,  die  Feile  lange  und  fleisaig 
in  brauchen,  zu  gebrechen.*'  —  Dem  Verf.  „der  sieben  Weiber  des 
Blaubart"  sollten  in  der  Bibliothek '"  Talente  zum  Erzählen,  Funken 
von  Witz  und  besonders  ein  gewisser  sarkastischer  Ton»  der  oft 
treffend  sei,  nicht  abgesprochen  werden,  nur  scheine  das  Ganze  mehr 
eia  Cento  momentaner  Ergiessungen  einer  satirischen  Laune  als  ein 
planmÄs-siges  Werk  der  Kunst  zu  sein,  mehr  geschrieben,  um  Gelegen- 
heit zu  erhalten,  einige  gemachte  Bemerkungen  über  den  Gang 
unserer  Literatur,  besonders  der  schönen,  anzubringen,  als  um  nach 
hulgcreehten  Regeln  zu  belelyen  oder  zu  unterhalten.  —  Den 
ternbald  endlich  zeigte  in  der  Bibliothek'"^  Langer  an.  Eine 
lebe  Arbeit,  meinte  derselbe,  könne  dem  Verf.  nicht  viel  Mühe 
kostet  haben.  Obgleich  hier  und  da  Ton  und  Farben  des  Vortrags 
nicht  ganz  verfehlt  gelten  konnten,  so  bliebe  das  Ganze  doch 
Toll  innera  Widerspruchs ,  leerer  Ausdehnung  nud  unfruchtbarer 
Abenteuerlichkeit;  ein  Mann  von  gebildetem  Geschmack  werde  diese 
Leserei  schwerlich  bis  au  den  Schluss  aushalten  können.  Auch  in 
Hinsicht  auf  die  Sittlichkeit  herrsche  eben  so  viel  Zweideutigkeit 
d  Inconscquenz  in  diesem  Roman,  wie  in  seinen  Übrigen  Bcstand- 
eilen.  Was  habe  man  von  der  Geduld  oder  von  dem  Geschmack 
»eres  Zeitalters  zu  denken,  wenn,  wie  hier,  viele  Bogen  sich  an 
lebe  Possen  verschwendet  fänden  und  eben  dadurch  dem  Leser 
ztigcmuthet  würde,  „der  Anmassung  halber  oder  Petulanz  eines 
Dichters"  tbürichter  Weise  sich  wieder  auf  die  niedrige  Stufe  von 
Ciiltur  zu  stellen,  der  wir  mühsam  und  spät  genug  entkommen  seien! 
Nicbt  viel  besser,  wie  mit  der  Prosa,  sei  es  mit  der  Poesie  des  Dar- 
iers bewandt:  „alter  Rost  und  modische  Schminke  lösen  darin 
80  grell  und  oft  einander  ab."  Allerdings  finde  man  auf  so 
mit  Versen  angefüllten  Blättern  auch  wohl  Stellen,  die  nicht 
ne  Herzlichkeit,  kräftigen  Ausdruck  und  poetischen  Worth  seien, 
ilhelm  Meister'*  ganz  vorzüglich  und  hier  und  da  Meister  Jean 
1  seien  die  Muster,  denen  „Sternbald"  sich  anzuschmiegen  suche; 
der  Willen  aber  sei  der  Verf.  mitunter  auch  in  Fussstnpfen  getreten^ 
jlche  der  Roman  „Hildegard  von  Hohenthal '*'*''  hinter  sich  gelassen 
Dagegen   wurde  der  ,»Stembald"  in  der  Jenaer  Literatur- 


§  327 


103)  41.  1,  53,  104)  4*1.  2,  a2W  ff.  105i  Vgl.  S-   136,  Anm.   102. 

ReceuBion  sollte,  wie  zuletzt    aagedeutet    wird,    das   UrlhvU 


002     VI.  Vom  zwL'itca  Viertel  des  XYUI  Jahrhimderts  bis  zu  Goetlie's  Tod. 

§  327  Zeituug  '"^  im  Gauzcn  »ehr  gelobt,  uur  au  deii  Versen  (die  allerdings 
zum  uicbt  genügen  Theil  au  einer  grossen  Verscbwommenbeit  leiden 
und  zu  den  allerscbwäcbsten  Partien  des  Werks  gehören)  wurde 
maucbes  ausgesetzt.  Wie  „Wilbelm  Meister"  und  „Ardingbello",  sei 
diese  Dichtung  ein  Kuustroman,  den  man,  wenn  man  wollte,  f&r 
eine  Nachabmuug  des  gocthe'schen  Werks  halten  konnte.  Um  aber 
wirklich  eineu  ähnlichen  Weg  zu  betreten,  dazu  gehöre  etwas,  das 
Über  dem  Vorwurf  der  Nachahmung  weit  erhaben  sei:  es  gehöre 
dazu  ein  verwandter  Sinn  etc. 


§  328. 

A.W.  Schlegel*  hatte  schon  als  Jtlngling  seinen  rorzQglichen 
Beruf  zu  den  beiden  Richtungen  schriftstellerischer  Wirksamkeit,  in 
denen  er  sich  späterhin  so  glänzend  hervorthat,  den  Beruf  zur  ä8tb^ 
tischen  Kritik  und  zum  kunstmässigen  Uebersetzen  poetischer  Werke 
des  Auslandes,  in  verschiedenen  Zeitschriften'  unverkennbar  beur- 
kundet.   Als  Kritiker  gehorte  er  in  Deutschland  zu  den  allerersten. 
die  über  einzelne,  zuerst  in  den  „Schriften"  erschienene  Hauptwerke 
Goetbe's,  sowie  Über  verschiedene  dichterische  und  prosaische  Arbeiten 
aus  Schillers  mittlerer  Periode  einsichtige  und  von  einem  tieferen 
Verständniss    zeugende  Urthcile    abgaben.    Nachdem   er  zuerst  im 
Jahrgang  17S9  der  Göttingischen  gelehrten  Anzeigen'  über  den  achten 
Band  der  güschenschen  Ausgabe  von  Goethe's  Schriften  kurz  ht- 
richtet  hatte,  gieng  er  auf  den  sechsten  und  siebenten  Band  im  JAr- 
gang   1 790 '  schon  etwas  ausführlicher   und  tiefer  ein.     „Torqnato 
Tasso"  bat  zunächst  seine  Verwunderung  darüber  erregt,   dass  di> 
Idee,   den  Charakter   eines   wirklichen   Dichters  zum  Gegensttnde 
einer  dichteriscbcii  Darstellung  zu  machen,  nicht  schon  häufiger  be- 
nutzt worden  sei.    Denn  so  wie  ein  Dichter  am  fähigsten  sei,  einen 
andern  auszulcjren.  wie  er  oft  einen  dichterischen  Zug  mit  lebendigem 
Gefühl  auflasse,   der  Andern  nur  verworrene  Ahnungen  errege,  » 
werde  er  auch  tiefer  ergründen,  wie  sich  in  einer  Dicbterseele  di* 
Triebe  zart  in  einander  weben,  feiner  belauschen,  wie  da  die  Regung 
sich    alhnählig    zur    That    bilde.      Nach    dieser    Bemerkung   ffö^t 


berichti£Teii.  welches  nicht  lange  zuvor  A.  "W.  Sclilcgelim  „Athenacum"  1,  I.  l^-f 
über  Ticcks  „Ton  und  Art'*  und  über  seine  ».DichterijabeD''  uiedergelegi  haw- 

10")  nint.    1,  3g:{  ö". 

8  '•\'2S.     ]  I  Vgl.   S.  250  ff.  2)  In  den  Göttinger  gel.    Anzcigeu  ^a 

17v>  171)1  (Werke  In,  I  — .'iti),  in  Bürgers  „Akademie  der  schönen  RoliekünsV 
(Berlin  IT'JO  i\  ;i  Stiickei  ITiU,  und  in  der  „poetischen  Bhimenlese*'  oiler  üa 
Göttinirer  Muscuahnanach  von  IT'^'.»  ff.  :t»  St.  in^:  Werke  10.  :U".:  t?*-  "• 

S.  XVI  1'.  4i  St.  it3  und  154;  Werke  10,  4  ff. 


latwickdtmgBgtAg d. Literatur.  1773— tS32.  Die  Eomantiker.  A.W.Schlegel.  593 


BcLlegol  darauf  hin;  Avie  sehr  gerade  Tasso's  Charakter  sich  zu  dicbte- 
riscLer  Darstellung'  eigne,  und  wie  treu  und  wahr  Goethe  nicht  nur  die 
ganze^  aus  der  Geschichte  bekannte  Individualität  desTasso  in  seinem 
Bildnisse  zusammongefasst,  sondern  auch  feinere  Schattierungen  aus- 
gedrückt habe,  die  er  nur  durch  tiefes  Studium  der  Werke  des 
Dichters  li.'lt^e  wahrnehmen  können.  Was  endlich  die  dramatische 
Behandlung  des  Gegenstandes  betrifft,  so  lautet  das  UrtheÜ:  ,,Der 
Plan  des  StUcks  ist  sehr  einfach:  gerade  nur  so  viel  Handlung,  als 
erfordert  wurde,  um  den  Charakter  des  Tasso  sich  völlig  out- 
wickeln zu  lassen.  Ohne  dass  unerwartete  Ereignisse  oder  mlichtige 
Leidenschaften  zu  Hülfe  gerufen  würden,  um  den  Knoten  zu  schürzen, 
fiiesst  alles  aus  dem  Contrast  zwischen  den  Charakteren  des  Tasso 
und  des  Antonio  leicht  und  natürlich  her.  Der  Schluss  ist  nicht 
ganz  befriedigend  Das  schöne  Gleichniss,  worin  Tasso  sich  und 
den  Antonio  schildert,  kann  die  dauernde  Disharmonie  zwischen 
ihnen  nicht  auflösen,  durch  die  der  erste  in  so  quälende  Situationen 
gerieth.  Für  die  Bühne  scheint  der  Verf.  das  Stück  überhaupt  nicht 
bestimmt  zu  haben:  ein  Schauspiel^  das  sich  mehr  durch  Schönheiten 
des  Details,  durch  Feinheit  und  Eleganz  des  Dialogs,  durch  Sitten- 
Sprüche,  die  mit  attischer  Urbanität  vorgetragen  sind,  als  durch 
^^appante  Scenen,  durch  Kühnheit  und  Kraft  auszeichnet,  muss  auch 
Hbothwendig  auf  den  Leser  stärker  wirken  als  auf  den  Zuschauer. 
Aber  auch  jener  wird  mehr  bei  der  einschmeichelnden  Anmuth  ein- 
zelner Stellen  verweilen,  als  in  das  Interesse  des  Ganzen  hinein 
gezogen  werden.  Keine  der  handelnden  Personen  ist  so  geschildert, 
dass  man  ihr  Wohl  und  Wehe  mit  vollem  Herzen  zu  dem  seinigen 
maefaen  könnte.  Tasso  selbst  erregt  nur  eine  mit  Unmuth  Über  sein 
illenhaftes  Betragen  gemischte  Tlicünahme;  und  die  Prinzessin 
ert  zu  matte,  kränkliche  Gefühle,  als  dass  man  lebhaften  Antheil 
n  sollte  nehmen  können*'.  —  Der  Sinn  des  „Faust"  liege  zu 
f,  »ei  zu  umfassend  und,  da  das  Stück  nur  Fragment  sei,  zugleich 
wenig  entwickelt,  als  dass  nicht  zu  befürchten  wäre,  ein  grosser 
Qlioil  der  Leser  werde  ihn  übersehen  und  sich  nur  bei  Nebenwerken 
eilen.  Faust,  wie  Goethe  die  Volkssage  nach  seinen  Zwecken 
öbt  und  erweitert  habe,  sei  ein  Mensch,  für  dessen  Verstand  die 
issenschaft,  für  dessen  ungestümes  Herz  sittlich  gemässigter  Genuss 
eng  sei;  dessen  Empfindungen  das  Gepräge  angeborner  Hoheit  und 
rtiter  Liebe  zur  Natur  an  sich  tragen,  und  dessen  Thun  schwankend, 
ocklos  und  verderblich  sei;  ein  Mensch,  der  in  dem  einen  Augen- 
ck  »ich  über  die  Grenzen  der  Sterblichkeit  hinausdränge,  um 
dnisso  mit  höhern  Geistern  zu  stiften,  und  in  dem  nächsten  dem 
'el  wilder  Sinnlichkeit  sich  preisgebe-,  edel  genug  um  von  der 
llosen  Spoitaucht  des  Dämons,  der  ihm  in  der  Befriedigung  seiner 

Ocudfüfc    S»  A.ttfl.    IV.  ^^ 


§  32S 


594    VL  Vom  zwcitou  Viertel  des  XVlll  JaUrbuuderts  bis  zu  GovUic'a  Ted 

§  328  Begierdeu  dient,  nicht  angesteckt  zu  werden,  und  nicht  ntark 
die  Leidenschaften  zu  Übernieistern,  die  ihm  einen  solchen  Bi 
nothwendig  machen.    Dann,  nach  einer  knrzen  Inhalt 
Fragments:  .^DiesB  Alles  ist  hinreissend  darjerestclit  und  n»cb 
Art  mit  einer  Art  von  Sorj^losigkeit  und  mit  der  treueetea  Wal 
hingeworfen. .  .  .    Wie  die  Anlage  dieses  SchauspieU  einzig  isi  (d( 
eft  lässt  sich   mit  keinem   von  Goethe's   eignen,   noch   irgeud  eini 
andern  dramatischen  Uicliters  Producten  vergleichen),   »o  int'* 
die  Behandlung.     Es   herrscht  hier  kein   Hauptton,    keine  Manier 
keine  allgemeine  Foitd,  nach  der  sich  der  einzelne  Gedanke  fO^vü 
und  umhilden  muss.     Nur  das  eiue  Gesetz  scheint  sieh  der  Üicbtti 
gemacht  zu   haben,   dem  freiesten  Ganire  seines  Geistes  zu  folfWL 
Daher  die  plötzlichen  Liebergänge  von  populärer  Einfalt   zn  philo-j 
sophischem  Tiefsinn,   von  gcheimnissvollen  magischen   Orakela 
Sprllchen   des  gemeinen  Men<»chenver3tandeB,   vom  ErhabeuCD 
Burlesken.    Audi   in  der  Vcrsification  findet  man  eben  so  mai 
faltigen  Wechsel :  bald  Hans  Sachsens  Vereart,  bald  gereimte  Zäh 
von  allen  Massen  und  Längen;  hier  nnd  da  auch  regcHo««  Ui 
Rhythmen.     Diejenige  Politur   des  Vershauos,    die   ein    Werk  d< 
mechanischen  Fleisses  ist,   vormisst  man  in  vielen  Stollen;  E-aerric 
des  Ausdrucks  nirgends.     Es  zeigt  sich  auch  hier  ein   (Lberl€gt»ef 
Geist,  der  manche  Vorsicht  vemachlS^isigen  darf,  und  doch  mm  Zid 
nicht  verfehlt" ^  —  Als  Seblcgel  über  Schillers  „Thalia"',  liericbttde' 
(wobei  er  absichtlich  das  Ubergieng,  was  dort  von  dem  „Don  CaH«** 
in  der  ersten  Abfassung  gedruckt  war*),  bemerkte  er  in  Betreff  <iff 
drei  Gedichte  Schillers  ,,An  die  Freude",  ,,Froigeisterei  der  Leidet- 
Schaft"  und  „Resignation",  welche  im  zweiten  Heft  zuent  gedneto 
erschienen:  alle  drei  verriethen  bei  einem  ganz  cntgegengesAlilei 
Charakter  die  klihue  Hand   desselben  Verrasycrs   und   verluren  W 
durch  kleine  Ineorrecthciteu  nnd  Dunkelheiten  hier  und  da  ctt 
an  ihrer  Schönheit;  aber  er  setzte  sehr  richtig  hinzu:  „Sellirt 
denen,    die  die  schauderv(dle   Erhabenheit   in  den   bdden   ItfttttO' 
Stöcken  ganz  fühlen,  müchtc  doch  eine  leise  Stimme  gegen 
Stelle  sprechen.    Sie  werden  es  dem  Dichter  nicht  verargwi,  di»j 
er  so  etwas  im  Drange  der  Leidenschaft  sagte,   aber  wohl,  düsff 
C8  bei  ruhiger  Ueberlegung  drucken  Hess.    Die  kränkende  Bcciacktufi 


5)  Unstreitig  die  grandlichBte  Auffassung  des  „FAtut**  und  dju  tsclrtlpiil^ 
thell  über  tlenselben  aus  der  eratcn  Hälfte  der  NeuaziKer;  irgL  S.  2>1  ff- —  W* 
übrigen  Stücke  dc5  «.  und  7.  Bdcs.  („Lila**,  „Jpry  und  BÄU»ly".  ..Srhrtr  UK  aä 
Rache")  »ind  nur  mit  wenigen  Worten  cUorAkterisJert. 

7)  In  den  Göttinger  gclelirteu  Anzeigen  17S9,  St.  162;    . 
St.  70;  Werke  10,  30  ff.  S)  Vgl.  8.  122,  Aam.  30. 


KntwickclungsgaDg  d.  Literatur.  1773— 1S32.  Die  Romantiker.  A.W.Schlegel.  595 

dass  Kraft  auch  unwillklirlicb  oft  schadet  und  zerstört,  sollte  den  §  32S 
Mann  von  Genie  um  so  behutsiimer  machen,  es  nie  willkürlich  zu  thun.** 
Bei  den  andern  Sachen,  welche  diese  Hefte  der  „Thalia'*  von  Schiller 
selbst  enthielten,  zeugten  nicht  minder  die  hin  und  wieder  gemachten 
Ausstellungen,  wie  das  diese  bei  weitem  überwiegende  Lob,  eben- 
falls von  einem  gereiften  und  sichern  Urtheil.  Besonders  beachtens- 
werth  ist  aber  die  ausführliche  Analyse  von  Schülers  Gedicht  „die 
Künstler",  welche  in  Bürgers  ,. Akademie  der  schönen  Redekünste"' 
eingerückt  wurde,  und  die  vier  Jahre  S])äter  der  Dichter  selbst  in 
einem  Briefe  an  Schlegel  als  '„so  geistreich'*  bezeichnete,  dass  er 
einem  solchen  Leser  und  Kunstrichter  Genüge  zu  thun ,  lebhaft 
interessiert  sei  *".  Hier  kündigt  sieh  schon,  sowohl  in  der  Form  des 
Vortrags,  wie  in  dem  Gedankcngehalt,  die  künftige  Meisterschaft  in 
der  ein  bestimmtes  Literaturwerk  eigentlich  charakterisierenden  Kritik 
in  hervorstechendster  Weise  an.  —  Als  Uebersetzcr  gehörte  Schlegel  zu 
denen,  welche  sich  bereits  vor  der  Mitte  der  neunziger  Jahre  beim  Ueber- 
tragen  südromanischer  Gedichte  den  metrischen  Formen  der  Originale 
mit  dem  meisten  Erfolge  anzunähern  vermochten  ".  Als  Dichter  fehlte  es 
ibm  an  eigentlich  schöpferischer  Kraft,  desto  mehr  Anlage  besass 
öT,  ein  Meister  im  Technischen  der  Poesie  zu  werden,  in  der  Hand- 
tutbung  der  Sprache  und  im  correcten  und  zierlichen  Gebrauch  me- 
trischer Formen '-.  Das  Verhültniss,  in  welches  er  seit  dem  Anfang 
des  Jahres  1795  zu  den  „Hören""  und  zu  Schillers  Musenalmanach 


9)  1791.  St,  2,  S.  127  C;  Werke  7,  :i  tf.        10)  Briefe  Schillers  und  Goethes 
-Ä-D  A.  W.  Schlegel  S.  4;  vgl.  dazu  Körner  au  Sdiillw  2,  2M).  11)  Unter  den 

^^^Äclibildungen  einer  Anzahl  lyrischer  Stücke  des  Petrarca,  welche  in  den  Göt- 
^^"^^r  Musenalmanach  für  17'.»»  ff.  und  hi  Beckers  „Taschenbuch  zum  geselligen 
^^^jKÄÜgen"  von  1791  f.  aufgenommen  wurden  i Werke  1,  i(  ff.),  sind  die  aller- 
|***'8t«n  in  Sonetten-  und  eine  in  Canzonenfonn;  aber  beide  Formen  sind  lüer  noch 
***  mehr  oder  weniger  Freiheit,  namentlich  iii  der  Keimfolge,  behandelt,  und  nur 
*_  «inigen  Sonetten  entspricht  auch  diese  der  gemeinen  italienischen  Regel,  l'ebcr 
^^__  "Q-bersetztca  Stücke  aus  Dante's  „göttlicher  Komödie'*,  welche  mit  einem  die 
^-^*  ^Hetzten  Theile  ergänzenden  Prosaauszug  und  einer  Abhandlung  über  dieses 
^™J^4dit  seit  dem  J.  17iti  crscliienen  und  zuerst  einen  Einfluss  des  Geistes  und 
7^  ^orm  dantescher  Poesie  auf  die  deutsche  Dichtung  einleiteten,  vgl.  S.  2rr2. 
Z^^  dem  Spanischen  übersetzt,  waren  drei  kleine  Romanzen  dem  Göttinger 
r^:*^»ialmanach  für  17i)2  einverleibt  (Werke  l,  \V,S)  ft'.i;  in  den  beiden  ersten  die 
^^^■^Äi  weder  durch  Assonanz,  noch  durch  Reim  gebunden,  in  der  dritten  und 
'aten  ein  nach  der  gewöhnlichen  assonierendon  Bindeart  durchgeführter  Reim. 
X2i  Seine  von  1TS7  — 1795  im  Göttinger  Musenalmanach ,  in  Bürgers  „Aka- 
!**  etc.  und  in  Beckers  „Taschenbuch  zum  geselligen  Vergnügen'*  vcröffeut- 
Gedichto  sind  nach  der  Angabe  der  Inlialtsverzeichuisse  vor  den  beiden 
'»»  Theilen  der  Werke  unter  den  '.»vermischten  Gedichten*',  den  „Liedern  und 
^      ^nzen",  den  „Sonetten*'  und  im  „Anhang**  (zum  2.  Tlieill  aufzusuchen. 

vVie  Schlegels  thiitige  Theiluabme  an  den  „iloreu*'  und  am  „Musenalmanach"* 


Vi 


596    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jalirhundorts  bis  ku  UoeduTt  Tod. 


§  32S  trat",  die  Verbindung,  in  die  er  ein  Jabr  später  mit  der  Jenaer 
Literatur^eitung  kam,  das  grosse  Unternehmen^  tSbakspeare's  dnuui 
tische  Werke  ihrer  ganzen  £igentbUmlichkoit  nach  in  deotiebcr 
Sprache  nachzubilden,  der  persönliche  Verkehr  endlich,  in  doB 
seit  dem  Jahre  1706  mit  Schiller  und  Goethe  stand  und  der,  \m 
den  Frühling  des  folgenden  Jahres  wenigstens,  mit  bei  den  ooch 
ein  ununterbrochen  freundlicher  war'%  boten  seinen  Talenten  die 
günstigste  Gelegenheit  und  den  weitesten  Spielraum,  sich  nach  jcder 
Seite  hin  zu  entfalten,  auf  den  Bildungsgang  unserer  schönen  Litenior 


Ol- 


noch  vor  seiner  Niederlassung  in  Jena,  vermittelt  wurde,   ist  S.  438  f.  (t^ 
Briefe  SctiÜlers  und  Goethe's   an   A.  W.  Schlegel  S.  1  f.   und   die   Aasidge 
Schlegels  Briefen   an  Schiller,   die  lloflOoieiäter  in  Schillers  Leben  4,  XXl  £  gÜiU 
angegeben,  sein  Antheil  an  den  erstem  S.  419  f.  namhaft  gemacht  «orAoL 
14)  Schlegels  zwölf  Beiträge  zu  Schillers  „Musenalmanach**,   voa  dm 
beiden  ersten  schon  aus  den  Jahren  1780  und  1790  stammten,    die 
179ti — l"ys  entstanden,  wurden  in  die  vier  Jahrgange  für  lT'»(i— !7i»9 
and  Btehen  im  ersten  TheÜ  der  Werke  theils  unter  den  »vermischten  GAtesT. 
theils  unter  den  „Liedern  und  Homauzeu".   (Ueber  die  Aufuahme.  wdclM  te  ^ 
seinen  bei  Schiller  und  Qoethe  fjauden,   vgl.  beider  Briefe  au  Schlecel  S.  39—)!; 
29  f.  und  dazu  Briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Goethe  3,  1^0:  and  SclxäWr  »a 
Kömer  4,  57.    Kömer,   der  A.  W.  Schlegel  schon  früher  ni^$  fftr  product« 
halten  hatte  -1 ,  33 ,  schrieb  bei  Bcurthoilung  des  MusenalmauMhs  für   t79t 
Schiller  4.  119:    „Ich  werde  immer   mehr  von  Schlegels  Mau^l  «n   pi 
Phantasie  überzeugt.    Er  ist  zum  Uebersetzer  geboren.    Dasa  hat  a 
pfÄnglichkeit   und   viel   Praclik   in  Sprache   und  Versitication**), 
Briefwechsel  zwischen  A.  W.  Schlegel  and  Schiller  war.    nachdem 
Arbeit  über  und  aus  Dante  durch  Körner  und  Fr.  Schlegel  für  d»e  ^Hl 
Wonnen  worden,   bereits   in  der  ersten  Hälfte  des  J.   1795,  als  Schlegci  MI 
Jena  entfernt  lebte,  angeknüpft  worden.   Stellen  aus  des  letztem  Briefen,  ia 
sich  die  grösste  Verehrung  für  Schiller  ausspricht,   findet   man   bei  Hol 
Schillers  Leben  4,  232  ff.;  Schillers  Briefe  aus  derselben  Zeit  stehen  in  derS^B^ 
luflg  seiner  und  Goethe's  Briefe  an  A.  W.  Schlegel  S.  1  —  15.    Am  lö.  Die.  IW 
fragte  Schiller  an,   ob  Schlegel   nicht  in  Jena  leben  könnte.     ^JHl»ss  «oDMaifi 
schrieb  er  ta.a.  OS.  9),  „grosso  Freude  machen;  das  Gespräch  wOrdtr  so  «ac^ 
rege  machen,   was  eine  schriftliche  l'ommunication   nicht  berührt".    Wwf  D»- 
ladung  begegnete,  wie  Schlegel  (nach  Ilolfmeister  a.  a.  0)  aiitwortHr.  lupf 
hegten  Wünscheu.     Denn  für  schriflstellcrifichc  Th&ttgkeit   und   für 
Laufhahn  überhaupt  lasse  sich   jetzt   kein  günstigerer  Ort  linden  als  JcsAi 
schon  Schillers  persÖuUcher  Umgaug  allein,  auf  den  er  nach  so  rielen  schriMk^ 
Beweisen  der  Freundschaft  rechnen  dürtc,    werde  für  ihn   ein  nnschattbanv 
winn,  dessen  Beifall  ihm  bei  seinen  Unternehmungen  die  günstigstP  Vt 
sein.    Schiller  eröffnete  ihm  die  Aussicht,   dass  er  sich  als  PrivatdooOBl  M 
Universität  werde  habilitieren  können,   und  hoffte  auch,    e&   wtTdc  riA 
lassen,  ihn  ,^,uf  eine  noch  honorablere  Art"  in  Jena  zu  tixteren,  bosoodiffB  ll 
auf  Schützens  Gesundheit   gar   nicht   mehr   zahlen   künn<'.    Er  hatt«  das 
gutes  Vorartheii  für  alles,  was  Schlegel  schnell,  weil  derselbe  sieb  «dUC 
wäre  und  die  Materien  lange  mit  sich  herumzutragen  schieoc  ionKönerlHI 
Kach  seiner  Ankunft  in  Jena  schneb  Goethe  an  H.  Meyer,  dco  SM   3l«t  l' 


Entwickelungagangd.  Literatnr.  1773— 1F.32.  Die  RomAntÜter.  A.  W.  Schlegel.  597 

einzuwirken  nud  ihm  aowolil  bei  den  in  verdientem  Ansehen  stehen-  §  32! 
den  Schriftstellern,  wie  in  dem  gebildeteren  Theil  des  Publicums 
Anerkennung  zu  verschaffen.  Mehr  als  ein  Jahr  vor  dem  Ideenaus- 
tausch Schillers  und  Goethe'a  von  der  Nothwendigkcit  einer  me- 
trischen Form  für  alles  Poetische'"  hatte  Schlegel  schon  in  dem 
Horenaufsatz  „Briefe  (Ihor  Poesie,  Silbenmass  und  Sprache^'  darzu- 
thiin  gesucht,  „dass  das  Silbenmass  keineswegs  ein  äusserlicher  Zier- 
rath,  sondern  innig  in  das  Wesen  der  Poesie  verwebt  sei,  und  dass 
sein  verborgener  Zauber  an  ihren  Eindrücken  auf  uns  weit  grossem 
Antheil  habe,  als  wir  gewöhnlich  glauben**";  wenn  der  dramatische 
Dichter  diesen  Schmuck  verwerfe  oder  vernachlilssige,  so  müsse  er 
zugleich  alle  Ansprüche  auf  eigentlich  dichterische  Schönheiten  des 


fBriefe  von  und  aa  Goethe,  berausg.  von  Riemer  S.  31  f . ,  wo  ^  aber,  der  Note 
nach  zu  schüeasen,  scheint,  eine  Aeiiaaening  in  Schillers  Brief  an  Goethe  vom 
8,  Ang.  I79C  müsse  auf  A.  W.  Schlegel  bezogen  werden,  da  sie  doch  seinen 
Binder  Friedrich  betrifft;  vgl.  Körner  an  Schiller  ;i,  344;  3410:  „Wilh.  Schlegel 
ist  nan  hier,  nnd  es  ist  zu  hofi'en.  dass  er  einschlügt.  So  viel  ich  habe  wahr- 
nehmen können,  ist  er  in  ubthetitichen  Huupt*  und  Grundideen  mit  uns  einig«  ein 
sehr  gnter  Kopf,  lebhaft,  thütig  nnd  gewandt.  Leider  ist  freilich  schon  bcmerk- 
Uch,  d^s  er  einige  demokratische  Tendenzen  haben  mag.  wodurch  denn  manche 
Oeslchtspiinkte  sogleich  verrückt  nnd  die  üebersicht  aber  gewisse  Dinge  eben  so 
schümin.  als  durch  die  eingeÜeiscbt  aristokratische  Vor  stell  ungsart  verhindert  wird. 
Doch  mehr  von  ihm.  wenn  ich  ihn  näher  kenne".  Das  gnte  Vernehmen  und  den 
geselligen  Umgang,  worin  nun  ein  Jahr  lang  Schiller  und  Schlegel  blieben,  so  wie 
den  freundschaftlichen  Antheil,  den  Goethe  an  dem  letztern  nahm,  und  das  zwi- 
schen ihm  und  Schlegel  noch  Jahre  lang  fortdauernde  gnte  VerhältniBs  bezeugen 
*Üe  Briefe  Kömers  an  Schiller  3,  344;  Goethe's  an  Schiller  2,  43;  45;  50;  143; 
Schillers  und  Goethe's  an  Schlegel  S.  15  f.;  29  ff.  Aber  Fr.  Schlegels  Reccnaion 
der  ^orcn"  (vgl.  S.  42G  f.;  inS),  die,  wie  es  scheint,  Schillers  Verdacht  erweckt 
hatte,  der  ältere  liruder  habe  davon  vor  dem  Abdruck  gewusst,  ja  von  der  iiiJena 
erz^k  wurde.  A.  W.  Schlegels  Gattin  sei  dabei  nicht  iinbetheiligi  gewesen ,  ver- 
»alasste  Schüler,  in  einem  Briefe  vom  31.  Mai  1797  (S.  15),  A.W.  Schlegeln  jedes 
flemere  Verhültniss  aufzukündigen  und  sich  damit  auch  dcsse  Beiträge  zu  den 
Jßjoren*^  für  die  Zukunft  zu  verbitten.  Diese  Autkündigung,  die  anfänglich,  troti 
Schlegels  brieflichen  Betlieueningen  von  dem  Ungrund  des  gegen  ihn  und  seine 
Tnn  gefasfiten  Verdachtes,  nnwidermflich  bleiben  zu  sollen  schien  (S.  17 — 19; 
8chffler  an  Körner  4.  30),  wurde  nachher  doch  in  soweit  zurückgenommen,  diit 
Scblegel  sowohl  an  den  „Hören*' ,  wie  am  „Musenalmanach**,  Mitarbeiter  blkh. 
and  dass  Schiller  mit  ihm  auch  noch  bis  zum  J.  1801  bin  und  wieder  BiMt 
irechseHe  iSchüIera  Briefe  an  ihn  S.  20 — ^(1).  Scblügel  verdankte  diess  wob!  h«i|*- 
'  'i<  h  Goethen,  der  hierin  als  Vermittler  auftrat,  und  dem  es  auch  gelaaf.  ■■ 
.-n  ein  leidliches  VerhäJtniss  herzustellen,  wiewohl  Schiller  zu  ScWf^  ■'^ 
atiiix  ein  rechtes  Vertraut-n  fassen  konnte  und  in  seinem  Urtbeil  gnf^  *■  ***" 
^DOnunen  blieb,  ja  mitunter  ungerecht  war  (vgl.  Bricfwechael  xihchi*  ?<wi'" 
und  Goethe  3,  173;  4,  117  f.;  und  in  der  2.  Ausgabe  2,  51;  W>;  21«;  SciBo-  na 
Körner  4,  57;  oben  S.  4til  und  Goethe  an  Zelter  ü,  3i8  <t|.  IIM  V||.S-t«ff 
17)  Werke  7,  107. 


59s    V\.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVin  Jahrbunderts  bU  n  Goeth«'t  T«d. 

^  32S  Diaiojrs  aufjreben.  und  selbst  der  tragische  SebauRpielertliue  in  dii 
Falle   wohl,   den  Kothurn  abzulegen"'*.     Er  hatte   mm  in  dea 
fachen  Anla^ren  zur  Metrik  den  Beweis  ihrer  Wichtigkeit,  ja  Uw 
behrÜchkeit  aufgesucht,  hierauf  in  ihrer  fortsclircitenden  AitsVtli 
im  Allgemeinen   die  Schönheit  entwickelt,   welche  sie   tu  ci 
strebe,   und   endlich   gezeigt,  wie  diese   durch   den    uDend1i«fa  xer- 
schiedenen  Bau  der  Sprachen  in  jeder  eigenthflmlich,  nnd  zwar 
abweichend  bestimmt,   bald  begUnstigt   und   bald  gehindert  wer 
Er  hatte   hier  aber  auch  schon  die  genetische   oder  geaehicbtr« 
Verfahrungsweise  als  den  Weg  bezeichnet.,   den   er   für  den  ilh 
richtigen  bei  kunsttheoretischen  Untersuchungen  nnd  FeKtstcIlni 
hielt,   den  er  mit  seinem  Bruder  seitdem,  im  Anschluss  an  Herd« 
in  Kritiken  und  literar-historischen  Werken  verfolgte,   nnd  auf 
beide  und  nach  ihnen  Andere  zu  so  bedeutenden  ErgebuiMeu 
langten.     ,,Du  weisst",  schrieb  er  gleich  in  dem  ersten  Briefe 
ich  selbst  die  Theorie,   an  sich   betrachtet,  nicht  üebe,   8on< 
nur  als  ein  nothwendiges  Uebel  ansehe.    Sie  ist  für  die  PoeaiV  tfer 
Baum   der  Erkenutniss   des  Guten   und  Bösen;   sobald    die«  dar« 
gekostet  hatte,  war  ihr  Paradies  der  Unschuld  verloren.     Da*  Ölfl« 
des  goldenen  Zeitalters  bestand  darin,  keine  Gesetze  zu  heildrfc 
aber  in  dem  unsrigcn  können  wir  leider  so  wenig  in  der  Kunst, 
in  der  bürgerlichen  Gesellschaft,  ihrer  entrathen.     Der  Eifer  mancl 
warmen  Freunde  des  Schönen  gegen  sie  darf  sich  daher,  irai  ro< 
unbillig  zu  sein,  nur  wider  die  Machtgebote  des  System«  oder  J»" 
Vonirtheils,  welche  man  ftlr  echte  Gesetze  der  Kunst  ausgibt,  nltr 
wider  die  gesetzgebenden  Anmassungen  des  Philnsoplici»  in  eiafl» 
ihm    fremden    Gebiete   autlehnen.     Diesem    MissverstündnisiM   wije 
vielleicht   vorgebeugt   worden,    wenn   man  der  Theorie,   statt  ^ 
wissenschaftlichen  Vortrags,   die  mehr  anziehende  historische  \-   ■ 
geliehen  hätte.    Sie  kann  sie  annehmen:  denn  indem  man  cik 
wie  die  Kunst  wurde,  zeigt  man   zugleich  auf  das  einleuchicn<i*'r 
was  sie  sein  soll.    Auch  ist   nicht  zu  besorgen,   die  Auhi 
Theorie  möchten  dadurch  bcschrälnkt  werden;   sie  hat  vi«_  i 
Weiterung  davon  zu  hoffen.    Eben  deswegen  haben  ja  viele  Kuw) 
richter  ein  so  enges  Regelgebäude  errichtet,  weil  «ie  nur  die  Werke 
ihres  eignen  Volkes  und  zwar  im  Zeitalter  der  künstlirhen  BiWun? 
vor  Augen  hatten;  weil  sie  sich  nie  bis  zur  Weltgeschichte  der  Pb»- 
taaie  und   des  Gefühls  erhoben"*'.     Die   beiden   folgenden  AafsiB« 
Schlegels  in  den  Hören  standen  im  nächsten  Bezüge  t\i  seiner  IVber- 
setzung  dea  Shakspeare.    Der  erste,  „Etwas  über  William  Shik 


18)  S.  tU2.  19)  S.  106  f. 

an  A.  W.  ScWegel  S  41;  7. 


20)  Vgl.  Briefe  SchOlai  oml  Giw^^ 


^PEotwickoli 


wickoluDgfijtans  d.  Literatur.  I7i:i— 1S32.  Die  Romantiker  A.W.Schlegel.   599 


re  bei  Gelegenheit  Wilhelm  Meisters**",  gieng  ebenfalls  den  §  32S 
riefen  Schillers  und  Goethe'9  üher  die  poetischen  Werken  allein  an- 
emesfiene  UiiFsere  Form  vorauf  und  war  in  seinem  Haupttheil  wohl 
iciit  ohne  EinHuss  auf  die  Form ,  welche  Sehiller  zuletzt  seinem 
Wallenstein"  grab^.  In  dem  mehr  einleitenden,  vornehmlich  Goethe's 
nrt'iissung  des  Shakspeare  und  seine  Auslegung  des  Hamlet  be- 
■ertendcn  Thcil  des  Aufsatzes  war  ausser  dem,  was  von  Schlegel 
•elbst  Über  dieses  StQck  und  den  Hauptcharakter  darin,  so  wie  llber 
iire  im  Allgemeinen  gesagt  wurde,  noch  besonders  schon  und 
t  '  !i   das   rechte   Verhiiltniss  auseinander  gesetzt,  in  welchem 

er    auslegende   Reurtheiler   eines    Dicliterwerks   und   der    Urheber 
esselben  zu  einander  stehen  mUgsten,  und  dabei  zugleich  das  Wesen 
nd   die   Aufgabe   der   echten   ästhetischen   Kritik  scharf  bestimmt. 
Der  andere  Aufsatz,   „lieber  Shakspeare's   Romeo  und  Julia",   der 
ess  nicht  ganz  von  Schlegel  allein  war,  sondern  zum  Thcil  auch 
B  der  Hand  seiner  Gattin  herrührte**,  begleitete  diess  StUck,  von 
den  übersetzten  das  erste,  gleichsnm  als  ein  die  Leser  in  das  rechte 
Verständniss    einführender   Commentar.      In    der   auslegenden    Zer- 
gliederung der  beiden  Haupt-  und  der  bedeutendsten  Xobencharaktere 
scbloss  er  sich  als  ein  würdiges  SeitenstUck  an  die  Gespräche  über 
Hamlet"  im  „Wilhelm  Meister"  und  erülTnete  mit  diesen  bei  uns 
erst  die  tiefere  Einsicht  in  das  eigenthümliche  Wesen  von  Shak- 
speare's  dramatischer  Kunst,   wie  sie  sich  sowohl  in  der  Benutzung 
nd  Behandlimg  der  gewählten  Stoffe  und  in  der  Com[)09ition  seiner 
tacke  im  Ganzen  und  Grossen,  als  in  der  Oestaltnng  der  Charaktere 
nd  der  Ausbildung  alles  Einzelnen    Überhaupt  zeigt.    In  ersterer 
e/teiiung  hiess  es  gleich  im  Anfange  des  schlegelscben  Aufsatzes"; 
Man  hat  viel  Gewicht  auf  den  Umstand  gelegt,   dass  Shakspeare 
ie  diesem  Schauspiel  zu  Grunde  liegende  Geschichte  sogar  in  kleinen 
esondorheitcn   ohne  alle   eigene    Erfindung  gerade   so  genommen, 
e  er  sie  vorfand.    Auch  mir  scheint  dieser  Umstand  merkwürdig, 
r  in  einer  andern  Hinsicht.     Der  Dichter,  der,  ohne  auf  den  Stoff 
cb   nur  entfernt  Ansprüche  zu  machen,   die  ganze  Macht  seines 
«nie's  auf  die  Gestaltung  wandte,   setzte  ohne  Zweifel  das  Wesen 
ines  Geschäfts  einzig  In  diese,  sonst  hätte  er  fürchten  müssen,  man 
erde  ihm  zugleich  mit  dem  Eigenthum   des  Stoffes  alles  Verdienst 
sprechen.     Er  hatte  also  feinere,  geistigere  Begriffe  von  der  draraa- 
^hen  Kunst,  als  man  gewöhnlich  ihm  zuzuschreiben  geneigt  ist''. 
nd  weiterhin":  „Shakspcare's  gewöhnliche  Anhänglichkeit  an  etwas 


21)  Vgl.  S.  255,  96.  22»  Vgl.  S.  494.  Anm.  91.  23)  Vgl.  Kritische 

rhriften  l,  S.  XVH  f.  und  dazu  obeu  S.  251.  24)  Werke  7,  7ft. 

.»  S.  75  f. 


^^ 


^fVQBi 


600    VI.  Tom  zweiten  Viertel  des  XVTTI  Jahrhundert«  bis  zq  Ooeth«*t  Toi 


§  32S  Yorb&ndeues  läsM  sich  nicht  ganz  aus  der  vielleicht  von  ihm  gebeetea 
Meinuujr  erkläreü,  als  ob  dies»  Pflicht  sei,  noch  weniger  aus  cäneai 
blossen  Bedürfnisse;  denn  zuweilen  hat  er  dreist  genug  durch  ein- 
ander geworfen,  was  ihm  in  der  ursprünglichen  ßeschaffenbeit  un- 
tauglich schien,  und  seine  Erfindsamkeit,  besondere  in  komisoiMn 
Situationen,  glänzend  bewährt  ...   In   der  entlehnten  Fabd  brat 
er  immer  noch  einen  höheren,  geistigem  Entwurf,  worin  sieb  s«iBd 
Eigenthtlmlichkeit  offenbart.    Sollte  nicht  eben  die   Fremdheit  d« 
rohen  Stoffes  zu  manchen  Schönheiten  Anlass  gegeben  haben,  ioden 
die  nur  durch  gröbere  Bande  zusammenhängenden  Tbeilc  liurch  die 
Behandlung  erst  innere  Einheit  gewannen?    Und  diese  Einheit,  «o 
sie  sich   mit  scheinbaren  Widersprüchen  beisammeu   findet»   brio^ 
eben  jenen  wundervollen  Geist  hervor,  dem  wir  immer  neue  Geheim- 
nisse ablocken  und  nicht  müde  werden,  ihn  zu  ergründen"**.  —  Die 
Verbindung  mit  der  Jenaer  Literaturzeitung  wurde*"  im  Herbst  1795 
durch  Schiller  vermittelt,   der  Schlegeln  auch  zuerst  zur  RccesnoD 
des  poetischen  Thoils  der  „Hören"  aufforderte,  die  Scbtttz  nrar  an- 
fänglich   selbst    übernehmen   wollte,    nachher  aber   doch  Schlegeln 
überliess".     Mit  ihr  trat  dieser  nun  zuerst  in  der  Literatundttinf 
als  Recenaent  auf  ".     Der  dichterische  Inhalt  der  beurtheilten  Stücke 
brachte  es  von  selbst  mit  sich»  dass  die  Kecension  zum  allergrdestea 
Theil  Poesien  von  Goethe  und  Schiller  betraf.    Sie  war  mit  fdncm 


26)  Einzelnhciten  betreffend,  die  fcn  Sbakfiprarp  getadelt  worden 
Schlegel  (S,  92  f.):  Garrick  habe  ca,  nebst  andern  Aenderuugen  in  „Konm 
Julia",  für  nöthig  gehalten  ,  das  Stiick  von  drm  nnnaturUchen,  LindeJndni  Witv 
zu  reinigen,  der  darin  nach  seiner  Meinung  dem  Augdrucke  der  Em{i6ni)anguCff- 
geschoben  sei,  und  auch  Johnson,  der  borohmte  Kritiker,  behaupte,  die  paÜMiS- 
schen  Reden  seien  immer  durch  unerwartete  Vcrftlschnngen  |ent»telh;  wonvfff 
fortfährt:  „Echt«  Poesie  wird  ja  sehr  selten  verstanden,  und  jeder  Gebrückte 
Einbildungskraft  erscheint  denen  unnatürlich,  dio  keinen  Funken  da\on  bcMlHiL 
Man  vergisst,  dass,  wenn  uns  ein  Gegenstand  in  einer  he&iiuimtto  Fora  ifr 
Daratellung  gezeigt  wird,  jeder  Theil  durcli  diess  Metfium  gefärbt  sein  muxs.  Xa 
nimmt  das  Dichterische  im  Drama  historisch ,  da  o»  doch  **in<**  TWrirhTninj«1 
ist,  deren  Unwahrheit  gar  nicht  verhehlt  wird,  die  al»er  dem.'  '  ' 

der  Sache  richtiger   und  lebendiger  zur  Anschauung   7,u   bi  .  -i- 

ge wissen haflesto  Protocoll.  Eben  dadurch  fuhrt  uns  der  Dichter  niciir  ia  ^ 
Innere  der  GcmUther,  dass  er  seinen  Personen  ein  voBkommneres  Oi^gan  dirSOt- 
theilung  leibt,  als  sie  in  der  Natur  haben;  und  da  oftdieGewaJt  derl.eidrmcM 
ihren  Ausdruck  hemmt  und  dos  Vermögen  der  Acussernng  fessoU.  wi# 
auch  das  Verlangen  darnach  sein  mag,  so  darf  er  dieaa  Hindernii»«  aus  dMi' 
rinmen.  Nur  den  wesentlichen  Cnterschied  zwischen  beredten  und  stummen^ 
aussen  hin  strchondcn  oder  auf  den  innem  Menschen  sich  conceutrierendenO 
hebe  er  nicht  auf.  Nie  hat  der  reiche  Strom  seiner  Bilder  Shakspe«m 
diese  Grenze  binweggerissen."  27)  Vgl.  Schillers  und  Goethe*8  Briefe  an  i 
S.  5;  S  und  oben  S.  424,  Anm.  05.     2S)  Vgl.  S.  402,  I24. 


wmmß^m^mm 


£ntwlckelnngsg«Dg  d.  Uteratur.  1773—1832.  Die  Romantiker.  A.W.  Schl^el.  601 


Sinn  fflr  das  Schöne,  mit  scharfer  Auffasannfr  und  Bezeichnung:  des  §  328 
Charaktenstischen  dieser  Poesien,  mit  taotvoller  Andeutung  des 
weniger  Gelunfreuen  darin,  mit  Zierlichkeit  und  Geschmack  ge- 
Bobrieben.  Von  Goethe's  .»Episteln'*  hiess  es  u.  a. :  „Eine  heitere 
Laune,  welche  die  Angelegenheiten  des  Lehens  auf  die  leichte  Achsel 
nimmt,  gutniüthige  Schalkheit  und  freundlicher  Ernst  heseclen  in 
diesen  Briefen  den  schmucklosen,  aber  selbst  in  seiner  Geschwfitzig- 
keit  gefUllij^^en  Vortrag-  Sie  vereinigen  den  Reiz,  den  man  an  pro- 
saischen Rriefcn  vorzüjrlich  lieht,  den  zutniulichen  Ton  und  unvor- 
bereiteten freien  Gang  des  mündlichen  Gesprächs,  mit  dem  fliessenden 
Wohlklange  eines  Silbenmasses,  dem  sich  die  Worte  ebenfalls  ohne 
allen  Aufwand  von  Kunst  gefügt  zu  haben  scheinen.  Wie  der  Dichter 
seihst  nichts  von  Ansprüchen  weiss,  so  Überlässt  er  sich  auch  seinen 
Einfällen,  unbekümmert  um  die  Forderungen,  die  es  dem  Leser  be- 
lieben könnte  an  ihn  zu  machen leder  schmeichelt  sich,  der- 
gleichen selbst  hervorbringen  zu  können;  erst  bei  dem  Versuche 
wOrde  er  gewahr  werden,  dass  ihm  die  unlernbare  Gabe  der 
Verwandlung  fehlt,  wodurch  das  aus  dem  gewöhnlichen  Leben  Auf- 
gegriffene 80  sehr  geadelt  wird'*.  Die  „römischen  Elegien"  wurden 
als  eine  merkwürdige,  neue,  in  der  Geschichte  der  deutschen ,  ja 
man  dürfe  sagen,  der  neuern  Poesie  Überhaupt  einzige  Erscheinung 
be^rüsst.  Was  an  ihnen  bezaubere,  was  sie  von  den  zahlreichen 
und  zum  Theil  sehr  geschickten  Nachahmungen  der  alten  Elegien- 
diobter  in  lateinischer  S|»rache  wesentlich  unterscheide,  sei  das  Ori- 
ginelle und  dennoch  echt  Antike  dieser  Gedichte.  Der  Genius, 
der  in  ihnen  walte,  be^rüsse  die  Alten  mit  freier  FluUligmig;  weit 
entfernt,  von  ihnen  entlehnen  zu  wollen,  biete  er  eigne  Gaben  dar 
und  bereichere  die  römische  Poesie  durch  deutsche  Gedichte.  Von 
den  drei  römischen  Elegikem  sei  der  Charakter  des  deutschen  eigent- 
lich keinem  ahnlich:  über  den  Ovid  erhebe  ihn  der  Adel  seiner  Ge- 
dnnungen  am  weitesten;  aber  er  sei  auch  männlicher  in  den  Gefühlen 
Tibull  und  in  Gedanken  und  Ausdruck  weniger  gesucht  als  Pro- 
Dass  Rom  die  Sccne  dieser  Darstellungen  sei,  erhöhe  noch  um 

'ieles  ihren  Reiz.     Dem  Einwurf,   der  gegen  die  Benennung  dieser 
lichte  gemacht  werden  könnte,  wird  mit  der  Hinweisung  auf  das, 
man  im  AUerthum  unter  dem  Worte  „Elegie*'  verstand,  begegnet. 

le  .jUnterhaltungen  deutscher  Ausgewanderten'*  seien  das,  wofür 
ler  Verf.  sie  gebe,  eine  leichte,  angenehme  Erholung,  welche  nicht 
iowohl  den  ermüdeten  Geist  von  sich  selbst  ablenke  und  zerstreue, 
iU  durch  den  nihigen  Ton,  der  darin  herrsche,  zur  Sammlung  ein- 
le.     Indem   man  sich   hier  von   dem  Schauplatze   der  politischen 

Tfüttung  flüchte,   habe  die  Einleitung  dazu   freilich  das  Ansehen 
inc9  Widerspruchs;  denn  gerade  die  GegeustÄnde,   welche  eniferut 


602    Tl.  Tom  zweiten  Ticrtel  des  XYIII  JahrhundcrU  bis  zu  GodLht'i 


32S  werden  sollte«,  wUnleii  tlom  Gedächtiusse  sein  uaLe  |;ebrac)it. 
das  Uehel  habe  nocli  einmal  so  lebendig  {reschildert  werden 
dass  es  jedem,  wekher  je  Partei  genommen,  leioht  wllrde,  söck  rui" 
dem   Dasein    desselben    durch    eine    aufwallende  TbeilnehiaiEBfr 
diesem  Gespräch  zu  überzeugen.    Nun  gewinne  mau  Raum,  wh 
den  folgenden  Gesptiichon  zu   erfreuen,   worin   Vernunft    itwl  VTä 
allgemeine    und   besonilere  Wahrheiten    aufs   glUckliob^te   joni 
seien,  wo  es  der  Namen  nicht  bedürfe,  um  die  SprecheBdea 
einander  abzusondern,  und  ein  jeder  seinen  Charakter  behaapte. 
bis  in  die  kleinste  der  kleinen  vorgetragenen  Gesohicbton  Iab» 
jene  feine  und  lebhafte  dramatische  Wendung  nicht  verkennen. 
Bedenken  lasse  sich  nur  gegen  zwei  der  eingeflocbtenen  EIrzibh 
erheben,  gegen  die  eine  wegen  ihres  Inhalts,  gegen  die  andere 
der  ihr  gegebenen  Wendung.     Das  Schönste  sei    das  Märcbl 
lieblichste,  das  je  die  Phantasie  erfunden  habe:  hier  verw 
das  sanfte  Wohlgefallen,   das  wir  bei  den  voraufgegangencB 
haltungen   und   Erzählungen  empfunden   haben,   in    das  lebl 
Vergnügen.    Alle  Jugend  und  Fröhlichkeit    der   PhAut&sie  iCl 
in  dieser  Dicbtung  wach  geworden  zu  sein;  so   bunt    sie  aber 
ihr  Gemühble  mische,  so  gemildert  sei  es  dennoch  in  seiner  Halt 
Wer  sich  nicht  an  diesem  Märchen  erfreuen  wollte,  mtisste  wi 
nicht   mit  unbefangenem  Geiste  sich   belustigen   künnen,  oder 
Werke,   woran  die  Einbildungskraft  allein  Theil  hat,   lÄetip 
SchiUers  poetische  Beitrage  sind  ebenfalls  alle  mit  grosiier 
unJ  voller  Anerkennung  ihres  zugleich  dichterischen  und  philnaopl 
sehen  Gehalts  besprochen  t  namentlich  ,,der  Spay.ierg  >     "       1 
Reich  der  Schatten".    In  allem,  was  dort  in  den  kii 
eines  idealischen  Gesichts  vor  dem  Geiste  des  Dichters  voiHl 
herrsche  ein  grosser  Zusammenhang:  nicht  nur  nach  ihrem 
Stande,  sondern  durch   die  Beziehung  desselben   auf  die  Seele 
Dichters,  sei  diese  Elegie  ein  Ganzes;  sie  habe  Einheit,  sowohl  kiäek 
als    philosophisch    betrachtet.     Von    den   einzelnen    Anschauai 
worunter  die  Phantasie  lustwandle,   sei  fast  jeder  Zug  auf  du 
deutendste  gewählt;  sie  seien  immer  krjlftig,  grösslcntheil» 
fallender  Neuheit  und  oft    wahrhaft  erhaben  dargestellt    Üi' 
Reich  der  Schatten''  werde,  wer  Sinn  für  das  Idealische  habt, 
mehr,   wer  jemals  unter  dem  Bemühen  erlegen  sei,   ihm 
seines  eignen  Innern  Wirklichkeit  zu  geben,   mit  eben   «o 
Wohlgefallen  als  Erstaunen  eintreten;  denn  die  reinste  unkörperl 
Schönheit  sei  die  Muse,  wie  der  Gegenstand  dieses  ('    '    '        Wl 
hier   geleistet   worden,   habe    bis    dahin  fast    unglau 
mOasen,  wenn  man  die  Härte  des  Stoffes  kannte,  der  sieb  in  die 
gUnzenden  äussern  Rundung  verberge,  und  die  unendliche  Last  dci 


EutwickelungsgAiig  d.  Lit(?ratur.  I773-1S32.  Die  Komantikor.  A.W.  Schlegel.   603 

Gewulbes  ungefähr  bereelineu  könne,  das  hier  voti  ficliun  ireordoeten  §  31 
84uleii  «rt  leiobt  getragen  werde.     Die  Frage,  ob  es  erlaubt  ^rewcsen, 
viel  zu  leisten,  müsse  einer  ausfnhrlichem  Prüfung  vorbehalten 
leiben.     Wenn  man  aber  bedenke,  wolrli  ein  fiedankengebalt  (den 
Soblegel   dar/ule;i;on  gcsucbt  bat)   hier  nicht  in  einem  Lehrgodicbt, 
►ndern  in  einem   lyrischen  Werke  seinen  Ausdruck  finden  sollte, 
ro  nicht  bb>aH  innere  Anschauung,  sondern   innige  Regung  vnraus- 
jresetzt  und  eine  so  zu  sagen  vergeistigte  Empfänglichkeit  gefordert 
rerde,  um,  von  solchen  Gegenständen  berUlirt,  ihren  Eindruck  melo- 
ich  zurückzugeben :  so  werde  man  sich  eher  wundem,  dass  Sprache 
^d  Silbenmass  dem  Dichter  so  oft  zu  Gebote  gestanden  haben,  als 
sie  hie  und  da  widerf^jienstig  hinter  dem  Gedanken  zurUckge- 
ieben  seien.     Der  be/.auborudc  Wohllaut  der  Strophen,  deren  Um- 
ig^  das  Ohr  noch  eben  fassen  könne,   und  die  sanft  verschmelzte 
irmonie  des  Ausdrucks  werde  nur  selten  unterbrochen.     Die  Bilder 
>r  alten  Mythologie  seien   hier  bloss  idealisch  mit  einer  dcutcudon 
iwendung  eingeflnchten,   und  es  sei  aufs  glücklichste  ein  neuer 
lub  an  ihnen  begangen**.     Unter  den   äusserst  zahlreichen  Receu- 
►nen,  kleinern  und  grossem,  welche  Schlegel,  zum  Thcil  mit  dem 
Beistande  seiner  Grattin,  nach  der  über  die  „Hören'*  für  die  Jenaer 
iteratur-Zeifimg  bis  nach  der  Mitte  des  J.  1799  schrieb"    verdienen, 
■OS  geiliegcneu  Gehalts  wegen  und  als  im  Fache  der  Kritik  Epoche 
icbend,  vor  allen  übrigen  hervorgehoben  zu  werden  die  über  .,Hf>- 
icrs  Werke  von  .1.  H.  Voss"^'  und  *Iie  über  Goethe's  ,, Hermann  und 
Dorothea'*".     An  die  eine,   in  welcher  der  Verf.  neben  gründlicher 
felebrsamkcit  eben  sowohl  ein   tiefes  Eindringen  in   den  Geist  der 
•meriachen  Dichtung   und   in   den  Geist  der  griecbiscbeu  und  der 
deutschen  Sprache,  wie  Klarheit,  Strenge  und  dabei  doch  Liberalität 
in  seinen  Begriffen  von  den  Forderungen  beurkundete,   die  an  den 
[Übersetzer  aus  der  einen  dieser  Sprachen  in  die  andere  zu  machen 
ien»  so  wie  von  den  Grundsätzen,  von  denen  der  treue  und  kunsl 
erfahrene  Verdeutscher  des  Homer  ausgeben^  die  er   bei  Ausübung 
«einer  Kunst  in  der  Wiedergabe  des  Inlialtfl  und  der  poetischen  Form 
des  Originals,   des  Stils  und   der  Farbe  der  Daratellung;  befolgen 
mOsse,  reichte  das,  was  früher  in  diesem  Fache  der  Kritik  in  Deutscb-J 
land  geleistet  worden  war,  auch  nicht  einmal  entfernt  heran.    War] 
«e  Oberhaupt  ein  Muster  für  jeden  folgenden  Kunstricbter  auf  dem 
Gebiete   der  poetischen   Uehersetzungen ,   so   legte  sie  insbeeonderoi 


t 


29)  Vgl.  zu  dieser  Recension  ScIiUIers  und  Goethe*s  Briefe  an  ScUe^d  S.  9  ff^ 

mnch  den  Hricf  Schillers  an  Humboldt  S.  398  f.  30»  Sie  fMle«  in  d« 

crkea  nahe  au  zwei  »iinde.  3D  ni>ü,  N   262  ff.;  Werite  l\  HS  ff- 

32»  Vgl.  oben  S.  461,  04. 


■ 


604     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVTII  JaHrbunderts  bis  m  Goethe*»  Tod 

^  32S  erst  einen  feston  Grund  fttr  die  richtige  Wllr<ligung  der  bisher 

nachher  bald   Über-  bald  unterschätzten  Verdienste  Vossen«  um  die 
Einbürgerung  <lcr  bnmeriachen  Dichtungen  in  Deutschiaud.     Die  Ee- 
cension  über  „Hermann  und  Dorothea"  hatte  das  doppelte  Verdienst. 
dasfl  sie   unmittelbar  nach   dem  Erscheinen  des  Gedichts  dieses  in 
der  trefflichsten  Weise  charakterisierte  und  damit  dem  richtigen  Ver- 
st&ndniss  der  Zeitgenossen   näher  rllckte,   und  dass  sie  die   Ideen 
aber  das  Wesen  des  eigentlichen  Epos  und  seinen  Unterschied  vm 
der  Kunstepopöc,   die  durch  Fr.  A.  Wolfs  Untcrsnchungen  Über  die 
Entstehung  und  Fortpflanzung  der   homerischen  Gesänge    angere^ 
waren,  noch  vor  der  VcrOflfentlichung  (jedoch  schon  mit  Benutzun^i 
von  Fr.  Schlegels  „Geschichte  der  Poesie  der  Griechen  und  ROracr'' 
aus  dem  engen  Bereich  der  Gelehrten  •  vom  Fach  in  den  viel  weitem 
Kreis  des  gebildetcru,  sich  für  die  vaterländische  Literatur  lebhafter 
interessierenden  Publicums  binüberführte.     A.  W.  Schlegel  gab  n 
lieh  zuerst  eine  gedrängte  Charakteristik   der  ursprttngUcb  epiwl 
Gattung  und  gieng  sodann   zu   der  Beantwortung  der  Frjt^  0 
wie  Goethe  die  Aufgabe  gelöst  habe,  jene  in  unserem  Zeitalter 
unseren  Sitten  einheimisch  zu  machen.    Man  mfisse,  begann  er^ 
einer  solchen  Charakteristik  alle  gangbaren  und  in   unseren 
büchem  immer  wiederholten  Begriffe  von   der  sogenannten 
gänzlich  bei  Seite  lassen.     Man   habe  dem  Homer  die  unv 
Ehre   ei-zeigt,   ihn  zu    deren  Stifter  zu   machen.    In   Wolfe 
suchnngen    sei    zum   GKlck    ein    fester   Punkt  gegeben,    wovna 
künstlerische  Betrachtung  des  Homer  in  einer  ganz  entgegen, 
Richtung  ausgeben  könne.     Durch  die  Herleitung  der  lüas  n 
Odyssee  aus  einigen   zusammengeffigten  grossen,    für  sich  Boi^ 
habenden  Stücken  oder  Rhapsodien  würden  diese  nur  von  den 
ursprünglich    fremdartigen  Banden  des  Ganzen  erlöst,    Ma«. 
hältniss  und  Ordnung  würde  man  noch   in   den  kleinsten  Tli 
des  homerischen  Epos  gewahr,   da  man  sie  hingegen  in  <1' 
mengesetzten  Länge  der  Hias  und  Odyssee  aus  den  Auger    f 
Allerdings  könne   die  epische  Rhapsodie,  wie  jode  Dichtart 
ohne  ihre  eigenthdmlich   poetische   Einheit   bestehen.    Di' 
Einheit  beziehe  sich  aber  nicht  auf  die  Vernunft,  sondern  - 
für  die  Phantasie,  d.  b.  sie  sei  uichts  weiter  als  Umriss, 
Begrenzung,     Daher  lasse  sie  sich  auch   nicht  absolut  beiti 
sie  könne  einerseits  vergrössert  und  erweitert  werden,  bisdifl 
der  Anschauungen  die  sinnliche  Auflassungskraft  Übersteige;  'B^^PLrfij 
seits  sei  sie  auch  theilbar,   indem  sie  sich  noch  in  kicinea 
der  Ilias  und  Odyssee,  selbst  in  Episoden  von  wenigen  Zeilen 
Der  Unterschied   der  epischen    und   dramatischen   Dirbtart, 
neuere  Theoristen  unter  dem  Namen  der  pragmatischen  dem 


wmm 


Katwickeluogsgang d.  Literatur.  1773—1*432.  Die Bonumtiker.  A.W.Schlegel  6U5 


f^^fl 


nach  für  einerlei  erkläi-t  hätten,  möchte  doch,  wenigrstens  in  Betreff  §  328 
defi  Epos  und  der  Tragödie  der  Griechen,   etT^^as  tiefer  liegen,  als 
in  der  äusseren  Form.    Der  Gegenstand   der  Tragödie  sei  eine  ein- 
fache, untheilbare  Handlung,   das  im  £])os  Dargestellte  immer  eine 
Mehrheit  von  Vorfällen,  Begebenheiten,  das  Epos  selbst  ruhige  Dar- 
tellung  des   Fortschreitenden,   niemals  Darstellung   des  Ruhenden, 
er  sogenanntes  poetisches  Gemähide.    Alles  zur  Darstellung  Kom- 
mende werde,   wenn  es  auch  noch  so  schnell  vortlhergleite,  bis  zur 
vollendeten  Entfaltung   des   in   ihm  sich  drängenden  Lebens  festge- 
halten; nirgend  ein  Stillstand  des  GeaangCB,  aber  auch  nirgend  ein 
unzeitiges  Forteilen,  sondern  das  schönste  Gleichgewicht  und  Mass 
der  atätigeu  und  unermüdlicheu  Bewegung;   in  jedem   Augenblick 
daher  zugleit-h  sanfte  Anregung  und  Beruhigung.     Von  diesem  innem 
geistigen  Rhythmus  im  Vortrage  des  Epos  sei  dann  der  demselben 
^igenthlimliche  Vers  nur  Ausdruck  und  hörbares  Bild.     Eine  Raupt- 
che  für  den  richtigen  Begriff  der  Gattung  sei  es,  den  Charakter 
r  Reden,   die  den  grössten  Theil  der   homerischen  Gesäuge  ein- 
ehmen,  recht  zu  fassen.    Selbst  in  den  kürzesten  und  leidenschaft- 
Ichaten  werde  sich  etwas  nachweisen   lassen,   wodurch  sie  episiert 
ien:  in   den  ausführlicheren   finde  man   alle  wesentlichen  Eigen- 
f«cbaftcn   der  ganzen   Rhapsodie   deutlich  ausgedrückt:   nirgend  ein 
tcmerkbares  Hinstreben   zu  einem  Hauptziel,  wenn   diess  auch   in 
Wn  Inhalt  der  Rede  vorhanden  sei;  jedes,   wodurch  das  Folgende 
orhereitet  werde,  scheine  doch   nur  um  sein  selbst  willen   da  zu 
en:  ganz  das  verweilende  Fortschreiten,   die  sinnlich  belebende 
t^'*i8tändlichkeit,   die  begonnene  Anordnung,   die  leichte  Folge,  die 
Jose  Verknüpfung,  wie  im  Epos  überhaupt.     In  diesem  Sinne  seien 
den  Reden  auch  die  zusammengesetzten  Beiwörter,  die  Episoden, 
®  Oleichnisse  zu  nehmen.    Unter  die  verworrenen  Begriffe  der  Neu- 
**  Von  dem  Wesen  der  epischen  Gattung  gehöre  auch  der  von  der 
**naiftchung  des  Wunderbaren,  d.  h,  von  der  Daz wisch enkunft  höherer 
^eu,  die  man  zu  einer  uncrlasslichen  Bedingung  für  die  Epopöe 
<:ht  habe.    Allein  der  Mythus  —  in  der  Bedeutung,  da  er  noch 
der  historischen  Sage  unterschieden    wird   —  könne  nur  dann 
die  Poesie  begünstigend  sein,   wenn  er  lebe,   d.  h.  wenn  er  als 
^hus,  als  die  unwillkürliche  Dichtung  der  kindlichen  Menschheit, 
*iurcb  sie  sich  die  Natur   zu  vermenschlicheu   strebe,    entstanden 
^  noch  bestehender  Volksglaube  sei.    Er  könne  nicht  die  willkür- 
j^e  Erfindung  eines  Einzelnen  sein.    Aus  diesem  Grunde  gewähre  die 
**er-  und  Zaubersage  de»  Mittelalters  dem  romautischeu  Heldenge- 
^•it  den  Vorzug  der  Lebendigkeit  und  volksmflssigen  Wahrheit,  den 
**  künstlich  ersonnene  Wunderbare  der  modernen  Epopöen  durchaus 
^■11  haben  könne.  Aus  allem  Vorhergehenden  ergebe  sich  nun,  dass  das 


604     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jalirhunderts  bis  za  Goetfafi'i  Tod. 


MS  in 
er  dH 


§  32S  erst  einen  festen  Grund  für  die  richtige  Wnrdigrimg:  der  bisher  und 
nachher  haUl  über-  bald  unterschätzten  Verdienste  Vossens  um  di« 
Einbürgerung  der  homerischen  Dichtungen  in  Deutschland.  Die  Rfr- 
cenaion  Über  „Hermann  und  Dorothea"  hatte  das  doppelte  Verdienst 
dass  sie  unmittelbar  nach  dem  Erscheinen  des  Gedicht«  die«es  in 
der  trefflichsten  Weise  charakterisierte  und  damit  dem  ricli 
ständniss  der  Zeitgenossen  näher  rllckte,  und  dass  sie 
über  das  Wesen  des  eigentlichen  Epos  und  seinen  Unterschied 
der  Kunstepopöe,  die  durch  Fr.  A.  Wolfs  Untersuchungen  über 
Entstehung  und  Fortpflanzung  der  homerischen  Gesiiuge  ani 
waren,  noch  vor  der  VeröfTentlichung  (jedoch  schon  mit  Benutmag) 
von  Fr.  Schlegels  „Geschichte  der  Poesie  der  Griechen  und  Büner" 
aus  dem  engen  Bereich  der  Gelehrten  •  vom  Fach  in  den  viel  weitem 
Kreis  des  gebildetem,  sich  fUr  die  vaterländische  Literatur  lebhafter 
interessierenden  Publicums  hinüberfuhrte.  A.  W.  Schlegel  gab  niki- 
lich  zuerst  eine  gedrängte  Charakteristik  der  ursprlluglich  epncben 
Gattung  und  gieng  sodann  zu  der  Beantwortung  der  Frafe  flb©r. 
wie  Goethe  die  Aufgabe  gelöst  habe,  jene  in  unserem  Zeitalter  und 
unseren  Sitten  einheimisch  zu  machen.  Man  müsse,  be^nn  er,  bei 
einer  solchen  Charakteristik  alle  gangbaren  und  in  unseren  L^ 
büchern  immer  wiederholten  Begriffe  von  der  sogenannten  Epoi 
gänzlich  bei  Seite  lassen.  Man  habe  dem  Homer  die  unverdiei 
Ehre  erzeigt,  ihn  zu  deren  Stifter  zu  machen.  In  WolCs  Üa 
suchungen  sei  zum  Glück  ein  fester  Punkt  gegeben,  woToa 
künstlerische  Betrachtung  des  Homer  in  einer  ganz  entgegepgeaetti« 
Richtung  ausgehen  könne.  Durch  die  Herleitung  der  Ilia«  und  der 
Odyssee  aus  einigen  /usammcngefügten  grossen,  für  sich  Besttoi 
habenden  Stücken  oder  Rhapsodien  würden  diese  nur  von  den 
ursprünglich  fremdartigen  Banden  des  Ganzen  erlöst.  Mam, 
hältuiss  und  Ordnung  würde  man  noch  in  den  kleinsten  Tbeil* 
des  homerischen  Epos  gewahr,  da  man  sie  hingegen  in  der  xiuam- 
mengesetzten  Länge  der  Ilias  und  Odyssee  aus  den  Augen  veri<li*v 
Allerdings  könne  die  epische  Rhapsodie,  wie  jede  Dichtart,  nicj 
ohne  ihre  eigenthümlich  poetische  Einheit  bestehen.  IHo 
Einheit  beziehe  sich  aber  nicht  auf  die  Vernunft,  sondern  gelW  W 
für  die  Phantasie,  d.  h.  sie  sei  nichts  weiter  als  Umriss,  RJdrtbiw 
Begrenzung.  Daher  lasse  sie  sich  auch  nicht  absolut  bestinnDca: 
sie  könne  einerseits  vergrössert  und  erweitert  werden,  bi»  die  Ma«ß 
der  Anschauungen  die  sinnliche  Auffassangskraft  übersteige;  an 
seits  sei  sie  auch  theilbar,   indem  sie  sich  noch  in  kl<  i  "  "' 

der  Rias  und  Odyssee,  selbst  in  Episoden  von  wenigf^i  j^^ 

Der  Unterschied  der  epischen   und  dramatischen   Diebtart,  w 
neuere  Theoristen  unter  dem  Namen  der  pragmatischen  dem  Wi 


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ickelungsgangd.  Literatur.  1773— 1&32.  Die  Komautiker.  A.  W.  Schlegel.  605 

:b  für  einerlei  erklärt  hätten,  möchte  doch,  wenigstens  in  Betreff  §  328 
LftB  Epos  und  der  Tragüdie  der  Griechen,   etwas  tiefer  liegen,   als 
in  der  AusBeren  Form.    Der  Gegenstand   der  Tragödie  sei  eine  ein- 
fache, untheilbare  Handlung,   das  im  Epos  Dargestellte  immer  eine 
Mehrheit  von  Vorfällen,  Begebenheiten,  das  Epos  selbst  ruhige  Dar- 
stellung des  Fortschreitenden»  niemals  Darstellung   des  Ruhenden, 
oder  sogenanntes  poetisches  Gemäblde.    Alles  zur  Darstellung  Kom- 
mende werde,   wenn  es  auch  noch  so  schnell  vorUbergleite,  bis  zur 
vollendeten  Entfaltung   des  in   ihm  sich  drangenden  Lebens  festge- 
halten; nirgend  ein  Stillstand  des  Gesanges,  aber  auch  nirgend  ein 
unzeitiges  Forteilen,   sondern  das  schönste  Gleichgewicht  und  Mass 
der  stfitigen  und  unei-müdlicheu   Bewegung;   in  jedem   Augenblick 
^-dafaer  zugleich  sanfte  Anregung  und  Beruhigung.    Von  diesem  inuern 
^feeistigen  Rhythnuis  im  Vortrage   des  Epos  sei  dann  der  demselben 
^fcgeuthflmliche  Vers  nur  Ausdruck  und  hörbares  Bild.    Eine  Haupt- 
^■ache  für  den  richtigen  Begrilf  der  Gattung   sei  es,  den  Charakter 
der  Reden,  die  den  grössten  Thcil  der  homerischen  Gesänge  ein- 
nehmen, recht  zu  fassen.    Selbst  in  den  kürzesten  und  leidenschaft- 
lichsten werde  sich  etwas  nachweisen   lassen,  wodurch  sie  episiert 
Kien:  in   den  ausführlicheren  finde  man   alle  wesentlichen  Eigen- 
haften  der  ganzen   Rhapsodie  deutlich  ausgedrückt:   nirgend  ein 
n     bemerkbares  Hinstreben  zu  einem  Hauptziel,   wenn  diess  auch  in 
^Mexn  Inhalt  der  Rede  vorhanden  sei;  jedes,   wodurch  das  Folgende 
^^xjrbereitet   werde,  scheine  doch  nur  um  sein  selbst  willen   da  zu 
stehen:  ganz  das  verweilende  Fortschreiten,  die  sinnlich  belebende 
UmMtändlichkcit,   die  besonnene  Anordnung,   die  leichte  Folge,  die 
^^osc  Verknüpfung,   wie  im  Epos  überhaupt.     In  diesem  Sinne  seien 
^■p  den  Reden  auch  die  zusammengesetzten  Beiwörter,  die  Episoden, 
^Hie  Gleichnisse  /m  nehmen.     Unter  die  verworrenen  Begriffe  der  Neu- 
^fteit  von  dem  Wesen  der  epischen  Gattung  gehöre  auch  der  von  der 
Einmischung  des  Wunderbaren,  d.  h.  von  der  Dazwisehenkunft  höherer 
esen,  die  man  zu  einer  unerlasslichen  Bedingung  für  die  Epopöe 
Lcht  habe.    Allein  der  Mythus  —  in  der  Bedeutung,  da  er  noch 
»n  der  historischen  Sage  unterschieden   wird  —  könne  nur  dann 
Ir  die  Poesie  begünstigend  sein,   wenn  er  lebe,   d.  h.  wenn  er  als 
tythus,  als  die  unwillkürliche  Dichtung  der  kindlichen  Menschheit, 
wodurch  sie  sich  die  Natur  zu  vermenschlichen  strebe,   entstanden 

Rad  noch  bestehender  Volksglaube  sei.  Er  könne  nicht  die  willkür- 
che  Erfindung  eines  Einzelnen  sein.  Aus  diesem  Grunde  gewähre  die 
itter-  und  Zaubersage  des  Mittelalters  dem  romantischen  Heldenge- 
icbt  den  Vorzug  der  Lebendigkeit  und  volksmässigen  Wahrheit,  den 
dad  künstlich  crsonneue  Wunderbare  der  modernen  Epopöen  durchaus 
nicht  haben  könne.  Aus  allem  Vorhergehenden  ergebe  sich  nun,  dass  das 


60t>    Vi.  Vom  zweitea  Viertel  des  XVni  Jahrhauaerts  bis  za  Qo«ÜMt*t  Tod. 


328  homerische  Epos  nicht  als  die  huchstc  oder  vorzuglichste,  aber  ala  ^ne 
reiue,  vollendete  Gattung  ewig  gültigen  Werth  habe.  Seiner  Cinfachbcil 
wegen  könne  man  es  noch  ohne  Kunstsinn  als  Natur  genieätteii,  wubd 
den  KuuBthilduugen  eines  Sophokles  z.  B.  nicht  mehr  möglich  tei; 
und  in  diesem  Stücke,  wie  in  allem  VA^^eseutliehen,  stimme  ,  Uemaiia 
und  Dorothea'',  ungeachtet  des  grossen  AbstandeH  ilcr  ZdtBJter, 
Nationalcbaraktere  und  Sprachen ,  bewundernsvvttrdig  mit 
grossen  Vorbilde  Ubereiu.  Der  Dichter,  dem  es  nicht  darum  xo 
war,  ein  Studium  nach  der  Antike  zu  verfertigen,  sondero 
ursprünglicher  Kraft  national  und  volksmässig  zu  wirken, 
einem  epischen  Dichter  gezieme,  habe  seinen  Stoff  bo  gewählt,  di« 
sein  Werk  festen  Boden  der  Wirklichkeit  unter  sich  1'  '  '  - 

nur  durch   die  Beglaubigung  der  Sitte  oder  der  Bagr  ^  .^ 

Konnte   oder   wollte    er  von  Sagen   keinen   Gebrauch    machen, 
musste  er  nothwendig  in  seinem  Zeitalter,  unter  seinem  Volke  dabc 
bleiben.    Liier  hatte  er,   wenn  in  seiner  Darstellung  der  Gdst 
echten  Epos  walten  sollte.,   nur  eine  enge  Wahl  unter  den  »ittli 
Ständen,   wo  e^s  immer  noch   nicht  so  leicht  war,   Lnj'^^*  '"•  «iw 
Personen  zu  ersinnen,  wodurch  sie  entfernt  von  steifen  *  -oea, 

unverdorben,  gesund  an  Leib  und  Gemüthe,  nud  doch  nicht  in  nUn 
dumpfer  Beschränktheit  erhalten  werden,  wie  diess  Goethe  in  aamt 
Dichtung  aufs  glücklichste  getrofTeu  habe.  Die  Einführung  gemk 
dieser  Personen  habe  ihm  den  Vortheil  verschafft,  das«  au  d«t 
Handelnden  jene  Entwickelung  der  Geisteskräfte,  wodurch  eine  Weh 
von  hohem  sittlichen  Beziehungen  sieb  aufthue,  die  für  den  nih( 
Menschen  gar  nicht  vorhanden  sei,  mit  Einfalt  der  Sitten  vcrträpW 
werde.  Eben  so  glücklich  wie  die  Sitten  habe  dj;r  Dichter 
epische  Begebenheit  gefunden:  er  bedurfte  zwar  keiner  tragücba 
Verwickelung,  aber  doch  eines  Vorfalles,  welcher  Gri>«e  für  4t 
Phantasie  hätte;  seine  Menschen  mussten  in  ent^cheideode  Ij^n 
gestellt  werden,  damit  nicht  bloss  die  Oberfiäche  ihre«  DaseiM 
schildert,  sondern  ihr  Innerstes  an  das  Licht  gedrängt  würde.  Ol 
ein  ZusammeutreD'en  ausserordentlicher  Umstände  würde  die  IJ< 
die  zu  dem  grossen  Stil  der  Sitten  in  „Hermann  und  Durtithet' 
passto,  nicht  mit  schleuniger  Gewalt  unerwartete  Erscbeinui^cB 
hervorrufen  können:  diess  aber  habe  der  Dichter  durch  ein  ehic^ 
Mittel  bewirkt,  woraus  dann  alles  mit  der  grösslen  Leichtigkeit  bfl*- 
fliesse.  Auf  den  Umstand,  datts  Üermann  Dorotheen  als  ein  fimia^ 
durch  den  Krieg  vertriebenes  Mädchen  unter  Bildern  der  allgesn^iatt 
Nnth  zuerst  erblicke,  gründe  sich  die  Plützlichkeit  seiner  KnbH'liGtfr 
sung,  der  zu  befürchtende  Widerstand  seines  Vaters  und  da«  Zwnfll^ 
hafte  seines  ganzen  Verhältnisses  zu  ihr.  das  ernt  mit  dem  Sobloa« 
de«  Gedichts  vOllig  gelöst  werde.    Durch  die  zugleich  ersebttttcrai» 


^i^ 


wm 


Entwif^elongsguig d. Literatur.  17 13^183.2,  Die Komautiker.  A. W.Schlegel.  GÜ7 

tmil  crhebeuiie  A(is?iicht  auf  die  grossen  Weltbegebenbeiten  im  Elinter-  §  328 
gründe  sei  alles  um  eine  Stufe  Luber  ^ebobeu  und  Jurcb  eine  grosse 
Kluft  v(im  Allt:i^li(dien  ^cscbieden.  Die  individiicUon  VtirfuUo  knüpfen 
sich  dadurch  au  das  Allgemeinste  und  Wichtigiste  an  und  tragen  das 
Gej^rä^e  des  ewig  denkwürdigen  Jabrhuuderta.  Es  sei  das  Wunder- 
bare de»  Getiirbts,  und  zwar  ein  solches  Wunderbares,  wie  es  in 
einem  Kpoa  aus  unserer  Zeit  einzig  Statt  finden  dürfe:  nicht  em 
sinnlicher  Reiz  für  die  Neugier,  sondern  eine  Aufforderung  zui*  Theil- 
unhnie  an  die  Menselihcit  gerichtet.  Was  die  e]>iscbo  Einheit  betreffe, 
so  habe  hier  der  Stoff  seiner  Natur  nach  eine  vollkommnere  Be- 
friedigung, eine  strengere  Begrenzung  nothwendig  gemacht,  als  sie 
für  die  Rluvpsmlie,  deren  Gegenstand  aus  einer  schon  durchgängig 
ilichterisch  gestalteten  Sage  herausgehoben  sei,  gefordert  würde;  im 
Uebrigen  aber  sei  die  Anlage  des  Ganzen  durchaus  episch  und  nicht 
dracnutiHch:  alles  sei  einfach  und  gleite  ohne  S]iruug  in  einer  unver- 
Äaderteu  Richtung  fort,  deren  Ziel  man  bald  vorhersehe.  Gleich 
eittfacli  sei  die  Zeichnung  der  Charaktere:  alle  starken  Contraste 
vermieden,  und  nur  durch  ganz  milde  Schatten  das  Licht  auf  dem 
Geraiihlde  geschlossen,  das  eben  dadurch  harmonische  Haltung  habe. 
Nachdem  Schlegel  diess  noch  im  Besondern  sehr  schün  ausgeführt 
bat»  weist  er  nicht  minder  schön  nach,  wie  echt  episch  und  dabei 
et:bt  deutsch  und  dem  Geiste  unserer  Sprache  angemessen  der 
»unmHKUugslose,  dem  Werke  nicht  von  aussen  mit  schmückender 
Willkür  angelegte,  sondcra  als  noth wendige  Hülle  des  Gedankens 
von  innen  hervorgebildete  Stil  sei,  in  welchem  alles  behandelt 
worden;  zieht  aus  allem  Vorhergehenden  die  Folgerung,  dass  alle 
weaeDtlicben  Merkmalt!  des  Epos,  die  überlegene  Ruhe  und  Partei- 
o^i^keit  der  Darstellung,  die  volle,  lebendige  Entfaltung,  haupt- 
lich durch  Roden,  die  mit  Ausschliessung  dialogischer  Unruhe 
ün(»rdnung  der  epischen  Harmonie  gemäss  umgebildet  werden, 
•der  unwandelbare,  verweilend  fortschreitende  Rhjthmus,  sich  eben 
t  an  dem  deutschen  Gedicht  entwickeln  lussen,  als  an  Homers 
ngeu;  uutl  fasst  zuletzt  seine  Betrachtung  des  goetheschen  W^erks 
tn  die  Ergebnisse  zusammen:  ,,Es  ist  ein  in  hohem  Grade  sittliches 
^'  '  'r.  nicht  wegen  eines  moralischen  Zwecks,  sondern  insofern 
keit  das  Element  schöner  Darstellung  ist.  In  dem  Dargestellten 
überwies  »ittliche  Eigenthllmlichkeil  bei  weitem  die  Leidenschaft, 
inud  diese  ist  soviel  möglich  aus  sittlichen  Quellen  abgeleitet.  Das 
Würdige  und  Grosse  in  der  menschlichen  Natur  ist  ohne  einseitige 
Vorliebe  aufgefasst;  die  Klarheit  besonnener  Selbstbeherrschung  er- 
[«cheint  mit  der  edlen  Wfirme  des  Wohlwollens  innig  verbunden  und 
:leichc  Rechte  behauptend.  Wir  werden  überall  äu  einer  milden, 
freien j   von  nationaler  und  politischer  Parteilichkeit  gereinigten  An- 


tt08    VI.  Vom  Äwwten  Viertel  de«  XVlll  Jahrhunderts  bis  lu  Gorthe*!  Tod. 

§  328  sieht  der  meDacblieUen  Angelegeubeiteu  erhoben.  Der  Haupteüsdrud 
ist  Rührung,  aber  keine  weicbiicbe,  leidende,  «oudern  xu  woldtl 
Wirköamkeit  erweckende  Rübrung.  Hermann  und  Dorotbea 
vollendetes  Kunstwerk  im  grossen  Stil  und  zugleich  faBalicb, 
vaterländisch,  volksmässig ;  ein  Buch  voll  goldner  Lehren  der  Wi 
heit  und  Tugend."  —  Von  den  Rcoensionen,  deren  Inhalt  un^ 
Richtung  bereits  vor  Schlegels  Ueberkuuft  nach  Berlin  gleichsam  chi 
Band  geistiger  Verwandtschaft  zwischen  ihm  uud  Tieck  nebst  dtmm 
Freunden  auf  dem  kritischen  Gebiete  knüpfte,   sind  -1     ■  a.  die 

eigne  Schriften  Ticcks  betrafen,  schon  oben"  berückbi 
Mit  dem  „Ritter  Blaubart'^  und  „dem  gestiefelten  Kater"  wurde  uiglc 
der  erste  1707  zu  Berlin  orschi^ene  Theil  der  „Baml 
Bernhardi's^'  angezeigt".  Er  enthielt  die  „Geschichte  ein©§ 
welcher  mit  seinem  Verstände  auf  das  Reine  gekommen^'  und  r.J 
Stunden  aus  Finks  Leben'"'.  Schlegel  hatte  an  diesen  launipen 
Zahlungen  Gefallen  gefunden:  er  bezeichnete  sie''  als  leicht,  DatflrÜcL, 
frei  von  Uebertreibungen  und  ohne  die  materielle  Beihffllfe  d«r 
Leidenschaft  unterhaltend.  In  ihnen  verrathe  sich  keineswegs 
Vielschreiber,  und  das  Buch  nehme  eher  ein  Ende,  als  IMH 
wünsche.  Der  Verf.  wisse  die  Gravililt  des  Vorurthcils.  die 
massungen  der  Leerheit,  die  schiefen  Riehtungen  der  Eitelkeit 
manchen  gesellschaftlichen  Verhältnissen  der  höhern  St&ade 
Feinheit  zu  bezeichnen.  Die  zweite  Erzählung,  die  neben  ikrtf 
belustigenden  Seite  auch  einen  ernsten  Gehalt  habe,  verrathe 
noch  reifere  Bildung  und  geübtere  Hand  als  die  erste.  Sie 
zuerst  im  „berlinischen  Archive  der  Zeit*'"  gestanden,  erschein 
aber  mit  beträchtlichon  Zusätzen  vermehrt,  die  im  Schoosse 
Zeitschrift  so  zu  sagen  eine  Art  von  bürgerlichem  Kriege  bitfn 
stiften  müssen.  Schon  früher^  hatte  Schlegel  die  ,.Herzeusergietflmi|ll 
eines  knnstliebenden  Klosterbruders"  besprochen  und  gleich  n  i^- 
fang  bemerkt,  die  Ansicht  der  bildenden  Künste,  welche  dse«er 
angenehmen  Schrift  znm  Grunde  liege,  sei  nicht  die  gew5hüßdM 
des  Zeitalters.  Die  Absicht  des  Klosterbruders  sei ,  angeheite 
Künstlern  und  Liebhabern  seine  an  .\nbetnng  grenzende  Ehrforrkl 
vor  den  grossen  Meistern  mitzutheilen,  und  aufs  nachdrückUekitt 
widei*8etzo  er  sich  überall  einer  gewissen  selbstgefälligen  KeniKr«i> 


33)  S.  5SGff.  34)  Bemhardi'ti  Name  stand  erst  uatcr  dn  Vi 

J. Theil,  1799.        35)  Berlin  1797  ff.   3Thcile.  h.        36»  Mii  Fink  wut 
meint,  dem  Herubardl,  ,.der  Goethe-Enthusiast  ia  den  wieder  kehrenden 
gfgen  die  alte  Schule  Lanigkeit  vorwarf,   oder  wohl  gar.   dass  rr  MJiie 
vcrUugue'»;  vgl.  K^pke  u.  a.  0.  I,  227.  37)  Jenaer  Literatur -Zcsti 

N.  3X*:  Werke  It.  \U\  ff.  3S)  1790.     1.  354  ff.  3«'  17»T 

Werke  10.  ;i63  ff. 


^^FV 


bKuimckeluDgsgangd.  Literatur.  1773— 1S32.  Die  Romaotlker.  A.  W.  ScUegel.   609 

^äie  mehr  auf  einer  fertigen  Zunge  als  im  Innern  des  Geistes  wobiie  §  32S 
;  und  die  erbabensten  Schöpfungen  des  Genie'S;  als  Avaren  sie  wirklich 
1  ihrer  Gerichtsbarkeit,  zuvcTsichtliob  durchmustere.  Es  sei  gewiss, 
Dar  dem  stehe  es  zu,  über  ein  Kunstwerk  zu  richten,  der  es  ganz 
verstehe,  der  tief  in  seineu  und  seines  Urhebers  Sinn  eingedrungen 
sei;  diess  werde  nur  dem  möglich,  der  alle  eitelu  Anniassungen 
wegwerfe  und  sich  mit  stiller  Sammlung  und  liebevoller  Empfanglich- 
keil des  GemlUbs  der  Betrachtung  hingebe.  Um  eine  solche  Stimmung 
orzuberciten,  solche  Lehren  eindringlich  vorzutragen,  sei  der  von 
m  Verf.  angenommene  Charakter  eines  Klosterbruders  vielleicht -der 
gemessenste  gewesen.  Selbst  ein  Anstrich  von  Schwärmerei  könne 
cht  verwerflich  scheinen ,  wo  er  nur  als  Gegengewicht  gegen  die 
eberhand  nehmende  Kälte  gebraucht  werde,  welche  in  der  Kunst 
cbts  suche,  als  einen  zerstreuenden  Sinnengenuss,  und  es  ihr  un- 
6glich  mache,  anders  zu  wirken.  „Es  ist  unleugbar",  holsst  es 
eiter,  „dass  die  neuere  Kunst  bei  ihrer  Wiederherstellung  und  in 
rer  grüssten  Epoche  mit  der  Religion  in  einem  sehr  engen  Bunde 
nd.  Es  ist,  als  ob  immer  ein  religiöser  Antrieb  das  Streben  des 
dcnden  Künstlers,  Ideen  von  hOhern  Naturen  in  die  Form  der 
.easchheit  aufzufassen,  anregen  und  bestimmen  mllsste.  Die  Uber- 
ischen  Darstellungen  der  alten  Kunst  hat  der  Volksglaube  durchaus 
asst,  und  was  die  neuere  in  diesem  Fache  Eigenthllmliohes 
itze,  hat  ebenfalls  alles  eine  religiöse  Beziehung.  An  einem 
ttesdienste,  der  zum  Untergange  der  alten  Kunst  nur  allzu  viel 
i^etragen  hatte,  richtete  sich  die  neuere  wieder  auf;  sie  empfieng 
lil  nur  Beschäftigung  von  ihm,  sondern  auch  ihre  höchsten  Gegen- 
lide.  .  ^  ,  Wenn  wir,  der  Forderung  gemäss,  dass  der  Betrachter 
ti  in  die  Welt  des  Dichters  und  Künstlers  versetzen  soll,  sogar 
^»i  mythologischen  Träumen  des  Alterthums  gern  ihr  luftiges  Dasein 
J**iUün,  warum  sollten  wir  nicht,  einem  Kunstwerk  gegenüber,  an 
stlichen  Sagen  und  Gebräuchen  einen  nähern  Antheil  nehmen, 
sonst  unserer  Denkart  fremd  sind?"  In  dieser  Bedeutung  sei 
Wort  „glauben*'  an  einer  Stelle  der  „Her/.ensergiessungen"*  zu 
tehen,  und  dieser  Gesichtspunkt  müsse  besonders  bei  einigen 
^«ätzen  festgehalten  werden,  um  den  Verf.  gegen  den  Vorwurf  zu 
crn,  seine  Kunstlicbo  habe  eine  Tendenz  zum  Katholicismus".  — 


40^  9.  192:    „Kauust  Üu  eiu  bolies  Bild   recht  verstehen  und   mit  heiliger 

:ht  CS  betrachten,  ohne  in  diesem  Momente  die  Darstelhing  zu  glauben"? 

41 1  Oass  ScUl<'ffcl  damals  auf  dieselbe  Weise  auch  Herdern  lohte,   dass  er 

.durch  die  nur   allzu  gewöhuliche  einseitige  Denkart  derer,   die  immer  ver- 

d&ss  für  die  Foo»ic  nlles  Schöne  wahr  ist,   nicht  habe  abhalten  lassen, 

Gedichte  an  und  auf  die  Jungfrau  Maria  in  seine  „Terpsichore"  aufzu- 

1,  hat  schon  Julian  Schmidt  (Geschichte  der  üeutscbea  Literatur  etc.  2.  Ausg. 

OnindfliM.   ö.  AbO.    IV.  3U 


010     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  Jahrhunderts  bis  xu  Goetlio»  Toi. 

§  328  unter  den  auf  Oauptvertreter  der  falacheu  und  eclilecbten  Literni 
tondenzen  bezüglichen  Recensionen  endlich,  deren  Inhalt  and  Rh 
taug  sich  ebonfulls  mit  den  Strehnugen  Tiecks  auf  dem  bunioristi- 
satirischeu  Felde  berührten,  sind  die  bemerkenswertbesten  die  al 
einige  Stücke  von  Iflfland  nnd  von  Kotzebue.  Ueber  eins  der  fröl 
Schauspiele  IfFlands,  „Friedrich  von  Oesterreicb",  ein  Feststücl 
Hchlej^el  bereits  1791  in  den  Gottiii^^er  gelehrten  Anzeigen*'  Im 
und  noch  mehr  darin  gelobt  als  getadelt  und  das  Getadelte  vorKfigli 
auf  Rechnung  der  Eile  gesetzt,  mit  der  diess  Stück  hatte  ansgeföl 
worden  müssen.  Ganz  anders  s]>rach  er  sich  im  Jahre  1797"  nl 
drei  jüngere  Schauspiele  aus,  „das  Vcrmächtnisa'*,  „die  Adv( 
und  ,,Dien8tpflicht*'**,  indem  er  zugleich  Iflflands  dram  '-  ' 
stellerei  Überhaupt  nach  ihrem  zeitherigeu  Veilaufo  i- i 


1 ,  405)  angemerkt.  „Wenn  die  zarten  Täuschnngcu  des  Herzens  in  der 
heilig  sind**,  lautete  eine  Stelle  in  Schlegels  Rccension  der  „Terpsichore^'UtiTimr-' 
Zeltimg  17117,  N.  53  ff.;  Worko  In.  37(1  ff.),  „wie  sollten  wir  nicht  gtn  Harm 
Dichter,  der  auf  der  Krdc  keine  Laura  fand,  noch  finden  durfte,  seine  anbcSttdf 
Uiugcbung  au  ein  über  deu  Wolken  schwebendes  BUd  tiiuuuli&rhpr  WeJbUelkiit 
nachfühlen  vollen?    Die  Mahlerei  hat   es   sich   oft  angelegen  ?•<'  lü'^' 

verklärte  Gestalt,  die,  was  kein  Ideal  der  alten  Götlerwelt,  Juii.  ■■■-  '^^'^^ 

Mütterlichkeit,  in  sich  vereinigt,  zu  verherrlichen:  seltener  die  Uir  vtsivdiviiltftc 
Poesie  auf  eine  Trlirdigc  Weise  —  denn  die  kirchlichen  Oes&nge  sind  äoe^  nW* 
für  Kunstwerke  zu  rechnen  — ,  und  unsere  jetzt  lebenden  Dichter  eatfcr«!  *i 
OeiätdesZeitaliers  immer  mehr  davon.  Desto  vrillkoramuer  ist  es.  daas  IbNiss 
eines  frommen  verstorbenen  Saugers  der  heiligen  Jungfrau  in  dieser  Sun^ 
eine  Kapelle  gestittet  worden  ist**.  Nicht  lauge  nachher  bot  sich  in  «ber  driUa 
Recension,  Über  zwei  Klopstocks  „Messias"  betreffende  Preisscliriften  <LiC«r»öB" 
Zeitung  1707,  N.  351;  Werke  U,  153  ff.),  für  Schlegel  Gelegenheit.  AndeuMBS" 
darüber  zu  geben ,  inwiefern  seiuer  Ansicht  nach  (ler  Dichter ,  wenn  er  lU  M 
den  Inhalt  der  kathulischeu  Glaubenslehre  halte,  deu  Anforderungen  der  rM^ 
gegenQlier  viel  günstiger  gestellt  sei,  als  wenn  er  wbcr  dos  p rotes tantiäcbe  BekWt- 
niss  nicht  hinausgeben  wolle.  Bei  Entscheidung  der  Frage  nimlitb,  ob  ^ 
Katliohcismus  oder  der  Protestantismus  eüier  dichteriBchcn  Behaadlune  ftUfV 
sei,  werde  es  wohl  hauptsächlich  darauf  ankommen,  dass  man  uclt  klar  okH 
ob  in  dem  letztem  nicht  ein  Streben  uach  Unsinnlicbkeit  der  Gott«STin6mC 
liege,  dict  um  cousequent  zu  seiu,  alle  christlichen  Gedichte,  OenuÜüde  ctt.  i^ 
bieten  sollte,  während  bei  den  katholischen  Vorstellungsarten  zu  besUmmtt  W^ 
würde,  welchen  Werth  das  Ideal  der  Madonna,  die  reinste  und  schöusto  ^f^rt^ 
bringung  der  neuem  Mahlerei,  für  die  Poesie  haben  könne.  Einigcrma»en  wtti* 
Dante  einen  Begriff  davon  gebeu  etc.  (Die  „Herzeusergiessungwi''  rtc.  aad  •• 
..Terpsichorc"  scheinen  Schlegel  erst  angeregt  ku  haben,  selbst  Gedichte  tfen* 
fosson,  die  Gegenstände  der  katholischen  Religion  zum  Inhalte  hatten ;  w«oigl*V 
erschien  von  seinen  hierher  zu  rechnenden  Sonetten  kcins  dicr  als  17W  öBh^^ 
n&um'*;  vgl  auch  die  Anmerk.  auf  S.  XV  des  ersten  Theils  der  Wcrkej- 
12»  St.  44;  Werke  10,  IS  f.  43'  Literatur-Zeitung  N.  !m8;  Werke  H.  »1 

vgl.  das  «u  einer  Stelle  aus  dieser  Recension  8.   IM*»,  Anm.  itt  Bemerkte. 
44j  Alle  drd  im  J.  I7'.)H  gedruckt 


im 


twickelangsgangd.  Literatur.  1773—1*^32.  Die  Romantiker.  A.W.Schl^cl  611 


'öTi  Anfang  an  habe  derselbe,  wie  allgemein  anerkannt  werde,  den  §  328 
Hauptzweck  seiner  Darstellung:en,  die  moralische  Belehrung,  im  Ge- 
dchte  behalten.     Bis  in  ihre  kleinsten  Theiie  seien  alle  seine  Werke 
ron  dem  Bestreben  nach  Nützlichkeit  durchdrungen ,   und   oft  habe 
tlie  Freiheit  des  Dichters   der  strengen  Gerechtigkeit  des  Sitten- 
ticbters  aufgeopfert.     Bürgerliche    und    häusliche    Zucht,    ßchlicbte 
^btechaffenheit   und    vernünftige   Genügsamkeit    seien   uns  durch 
.wiederholte  Contraste  in  vollständigen  Schattierungen,  ja  selbst  durch 
eingeschobene  Reden,  die  ganz  gut  in   Predigten  eingefügt  werden 
t^rrnntcn,  vielfältig  ans  Herz  gelegt.     Aach  habe  sich  des  dramatischen 
tbeus  wegen,  das  diesen  Schauspielen,   wenigstens  durch  die  Ge- 
wandtheit des  Dialogs  und  gewisse  Charaktere,  eigen  gewesen,  das 
Publicum   bisher  die  Predigten  bestens  gofallon  lassen.    Selbst  wo 
■lieb    lö'land   nicht  neu  gezeigt,   sei   er  bewundert  worden;  denn 
,^kgeuttich  zeige  er  sich  als  Schriftsteller  nur  immer  in  einer  einzigen 
BOfestalt,  und  besonders  lasse  er  sich  seit  einigen  Jahren  so  zu  sagen 
mit  stehenden  Lettern  drucken:   Inhalt,   Gang,   Hauptgedanke  und 
WAasflilmmg  im  Einzelnen,  alles  sehe  sich,  in  dem  letzten  Dutzend 
^keiner  Stücke  ungefähr,  zum  Verwechseln  gleich.    Nur  werde  der 
^BTsprUngliche  Hang,  die  Hässlichkeit  des  Bösen  mehr  als  die  Liebens- 
"Vtlrdigkeii  des  Guten  ans  Licht  zu  ziehen,   immer  sichtbarer.    Er 
habe  für  sich  auch  nicht  Unrecht,  mit  künstlerischem  Wohlgefallen 
bei  solchen  Schilderungen  zu  verweilen;  sie  glückten  ihm  am  besten. 
Das  Gute  erscheine  bei  ihm  stäts  beschränkt  und  unter  Bedingungen, 
oft  auf  Kosten  einer  hrdiern  Ausbildung  erkauft,  ja  geradezu  in  Be- 
gleitung der  Einfalt,  oder  durch   übertriebene  Reizbarkeit  entstellt, 
oder  durch   harte,   rauhe,  trockene  Formen  aller  Anmuth   beraubt. 
Das  Laster  hingegen  zeige  sich   ganz  unbegrenzt.    Aber  nicht  jene 
CUwe  aufrichtiger  Büsewichter,  die  von  jeher  sehr  viel  auf  unserer 
Bohne  gebraucht  wordeu,   die   durch  Kraft  oder  Leidenschaft  und 
ii^nd  einen  Zusatz  von  Sittlichkeit  ihre  Stelle  verdienen,   führe  er 
BBS  vor;  ItTland   habe  vielmehr  das  Verderbte  mit  dem  Kraftlosen, 
'     das  Verworfene  mit  dem  Lächerlichen  gepaart.     Durch   dergleichen 
Darstellungen,   wo   man   den   Zuschauer  oder  Leser  mit  dem  Ekel 
fegen  die  mögliche  Ausartung  der  menschlichen  Natur  übersättige, 
könne  nur  Widerwillen  gegen   dieselbe  enveckt  werden;   denn   die 
ebung  der  sogenannten   poetischen  Gerechtigkeit  stelle  das  Uebel 
icht    wieder   her.     Sprechende  Belege  hierzu  seien  (wie  Schlegel 
lUM-'hweist)  „das   Vermächtniss*'   und   j,die  Advncaten."    Das  dritte 
lUck,  ..Dienstpflicht",  zeichne  sich  durch  die  Rolle  eines  ehrlichen 
uden  vortheilbaft  aus;  in  ihrer  Auffassung  und  Darstellung  bewähre 
ch  wahre  Kunst;  die  übrigen  Personen  seien  wieder  alte  Bekannte, 
d   das  Stück   endige  auch  wieder  mit  einer  lebhaften  Vergegen- 

3V 


^ 


Ö12    VI.  Vom  zweiten  ^lei-tel  des  XVUI  Jthrhunilerta  lU  zu  ÜQclhes  Tod 

§  32S  wärtigung  des  meuscblichen  Elouds.    Ifland  babc,  da  er  zaersl  &b 
Schriftsteller  aufgetreten,  zu  solchen  ForderuLgen  berechtigt^  daw  u 
schmerzlich  falle,  im  Lobe  rückwärts  gehen  zu  mlisseu.    „Wohin 
er  gerathen?    Er  Bebilderte  uns  anfangs   die  Gefahren  der  Leid< 
Bchoft,  die  schlüpfrige  Bahn  des  Ehrgeizes.     Er  versetzte  uns  in 
Mitte  acbtuDgswürdiger,    vielleicht  durch   den   Fehltritt  eine«  i\ 
Mitglieder  bekümmerter  Familien.    Aber  er  Hess  dem  Tröstend« 
dem  Bessern  noch  die  Oberhand.    Jetzt  zeigt  er  uns  allentiuJb« 
nichts   als   Zerrüttungen,    Versunkenheit ,    Zwiespalt,    unglöckliclrt 
Ehen,  Verbrechen,  die  vor  Criminalgerichte  gehören,  herab^ewQrdi^ 
Naturen,  die  ihre  eignen  Henker  sind.    Mit  dem   UtUslicben  and 
Schlechten  will   er  unsere  Einbildungskraft  ergetzen;    nie  iiaet  er 
seine  Personen  den  Kopf  Über  ein  gemeines,  eingeschränktes  V( 
dienst  emporheben,   damit  nur  nicht  die  gehörige  Mässignng  Ol 
sprangen  werde.    Er  räumt  dem  Schönen  auch  nicht  das  kleii 
Plätzcheu  ein;  ja  er  nimmt  fast  keine  andere  Leidenschaft  auf, 
die  aus  den  niedrigsten  Trieben  entspringt.     Wo  er  Liebe  sehildei 
ist  es  nur  nothdürftig  so  viel,  als  sich  für  einen  ordentlichen 
halt  schickt.    Versinkt  auf  diese  Ait  die  Kunst  an   der  Hand 
gepriesenen  Natur  nicht  endlich  in  den  Sehlamm,   der   sieb  freÜieh 
auch  im  Gebiete  der  letztem  befindet?"'*...   „Wir  sind  so  wdt 
gediehen,  dass  an  unsern  gewöhnlichen  dramatischen  Produotioott 
•keine  Spur  mehr  vom  Begriffe  eines  freien ,  echten  Kunstwerks  n 
entdecken  ist.    In  dieser  Richtung  ist  es  fast  nicht  möglich,  nocb 
weiter  vorwärts  zu  kommen,  oder  richtiger,  noch  tiefer  binabzusteigca. 
Vielleicht  ist  der  Zeitpunkt  nicht  mehr  entfernt,  wo  man  anf  da 
Theater,  wie  in  andern  schönen  Künsten,  nur  gewählte  Natur 
das  Medium  erhöhter  Darstellung  wird   erkennen  wollen,  und 
Poesie  und  Drama  nicht  mehr  für  fremdartige,  ja   eitt 
sondern  für  unzertrennliche  Dinge  werden  gehalten  \^  Vi 

Eotzebue   zeigte   Schlegel,    und   zwar   noch   mit    verhältiiMBn>lflfl| 
grosser  Schonung  und  selbst  nicht  ohne  Einzelnes  zu   loben*' 
Spanier  in  Peru,   oder  Rolla*8  Tod,  ein   romantisches  Tram 
und  das  Schauspiel  „die  Verläumder"  ausführlicher,  ,.die  Witti 
das  Reitpferd,  eine  dramatische  Kleinigkeit"  ganz  kurz  an.    leb 
aus   diesen    Beurtheilungen    nur   Folgendes   heraus.      Auch   iu  d« 
weiblichen  Hauptrolle  des  ersten  Stücks  entferne  der  Verf.  «ich  tot\ 
von  dem  Wege,   durch   die  nackte  sinnliche  Natur  Rührung  la 
wecken,  und  dabei  bleibe  ihm  kaum  das  Verdienst,  gewi»»«  Ai 


45»  Hieran  schliesst  sich  diebcrcitsS.  lys,  Anm.  iritnitgctbeiHoStAtl»: 
die  im  Texte  lolgende  Stelle.  46)  t79r..  N.  351  und  1T1»7.  X.  IS1*;  ITl 

10,  mo  ff.;   11,  07. 


mg  der  Literatur.    1773— IS32.   Die  Romantiker  Fr.ScUegel   613 

nicht  bis  zum  Empörendeu  j^etrioben  zu  baben.    Ebenso  sei  es  Über-  §  325 
haupt  ein  Febler  desselbeD,  auf  KoBten  der  indiWdaellen  Scbicklicb- 
keit   nach    allgemeinea   Sentenzen   zu   baseben,    so   wie  aucb   die 
Rasobbeit  dos   Diabi^^s   durcb  Witznmcbcrci   zu  befördern.     In   dem 
zweiten  Stück  offenbare  sieb  wieder  in  einer  Scene  auf  ganz  unscbick- 
licbe  Weise  der  Hang  Kotzebne's,  alle  natürlicben  Dingo  dem  Publicum 
recht  nabe  zu  rllckcn.    Jedes  neue  Prodiict  desselben  mUsse  aber  den 
Beartheiler  überzeugen,    dass  es  vergeblich  sein  würde,  bei  seinen 
beständigen  Versündigungen  an  echter  Sittlichkeit  und  Schönheit  zer- 
gliedernd zu  verweilen.    Im  Schlechten  und  im  Guten  und  in  seiner 
eilfertigen  Fruchtbarkeit  bleibe  er  sich  ungefähr  immer  gleich,  und  wenn 
luch  einmal  eins  seiner  Werke  das  andere  übertreffe,  so  mache  er  doch 
Ganzen  keine  Fortschritte  zur  Vollkommenheit.    Allein  fürs  erste 
werde  er  wohl  der  Liebtiug  unserer  gewöhnlichen  Schauspieler  und 
dee  grossen  Haufens  ihrer  Zuschauer  bleiben,  weil   sich  weder  die 
Darstellungsgabe  der  ersten ,   nocb  die  Empfänglichkeit  der  andern 
zu  Kunstwerken  in  einem  höbeni  Geschmack  erheben  könne". 
K         Noch  waren  die  „Hören"  nicht  geschlossen,  Schlegels  Betheiligung 
^um   „Musenalmanach''  und  an  der  Literaturzeitung  noch  in  voller 
^^Begsamkeit,   die  Arbeit  an  seinem  Shakspeare  kaum  über  einige 
'Stöcke  hinaus**,  als  er  sich^    nicht  lange  vor  seiner  persönlichen 
Bekanntschaft  mit  Tieck,  zur  Gründung  und  Herausgabe  einer  neuen 
literarischen  Zeitschrift,    des  „Athenäums",  mit  seinem  Bruder  ver- 
;te.  —   Friedrich  Schlegel   war  in  Dresden,   wo  er   1794 
li  als  Schriftsteller  auftrat  ^%  schon  früher  mit  Körner  und,   wie 
scheint,    durch  diesen  aucb  mit  Schiller  und  Wilh.  von   Hum- 
'l>oIdt   bekannt   geworden**^.     Seit  dem   Jahre    1796   wurde   er  in 

-17)  Sehr  viele  der  kleineru  Receusiouun  lietreffeu  mul  geisehi  Machwerke  der 

r-hlcchtcn  und  schlechtesten  rnterlialttingsliteraiur;  die,  welche  Über  Sachen  von 

bekannten  Vielschreibern  Zschokke,   ttrosse,   Albrecht,   Cramer  und  Spiess 

»dein,  tindet  man  in  den  Werken  lo.  230  ff.;  25ti  ff.;  2611«  f.;  ;iü9;  11.  133  ff.; 

»2  f.;  341»;  'MW.  —  Als  Schlegel  mit  den  Herauagehem  der  Literatur-Zeitung  xer- 

(vgl  S.  4i)2i'.,  125  und  dazu  Friedr.  SclUegels  Brief  iu  Fichte's  Leben  undBrief- 

rechscl  2,  3Wf.i,  und  diese  in  ihrem  Intelligcnz-HIutt  {\l\i9,  N.  lir>i  zu  verateheu 

kbcu.   er  würde  sich  zu  mauchen  seiner  Recensionen   nicht  i^eru  nennen  wollen. 

er  dos  voUstäudige  Verzeiclmiss  derselben  in  einem  Anhange  zum  „Athenäum". 

3,  St  I,  drucken.  4Sl  Der  erst«  und  zwdte  Theil  erschienen  1797,  der 

te  l"'.>H;  vgl  S.  250,  \i\).  100.  49)  Vgl.  S.  3S8  ff.  50)  Gegen  Ende 

J.  1793   Bchrieb  Könier  un  Schiller  (3,  i57j:     „Ich   woiss   nicht,    ob  ich  !•:- 

geschrieben  habe,  daas  der  Schlegel,  den  Vn  kennst,  eine  Ho£meisU'r:>  i' 

■ncht**.   Wahrscheinlich  rührte  diese  liekftuutschaft  aus  dem  KrOhling  des  Torher- 

gehonden  Jahres,  wo  Schiller  Körnern  in  Dresden  besucht  hatte  (2,  305  f.».   Huia- 

ildt  kam  im  Sommer  1793  dahin,  war  viel  in  Körners  Hause  (3,  13S  f. ;  ITti  tind 

kb  dort  Tielleicht  auch  Schlegeln  zuerst,  für  dessen  schriftsteUemcbe  Arbeiten  «r 

[*tcb  seitdem  lebhaft  interessierte  (vgl.  3,  180;  183;  207;  211;  SI«;  230t. 


614     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  X\7II  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

§  328  Jena*"  mit  Goethe  durch  seinen  Bnuler  bekannt  und  mit  Fichte  ver- 
traut" und  als  er  Im  folgenden  Jahre  für  lungere  Zeit  seinen  Aufenthalt 
in  Berlin  nahm,  kam  er  dort  bald  in  nahe  Beziehungen  zu  den  gesell- 
schaftlichen Kreiflen  Raheis  und  ihrer  Freundinnen   und  in  freund- 
schaftliche Verbindungen  mit  Tieck,  Bernhardi  und  Sehleiennachcr. 
Schleiermachers  Briefe"  nebst  den  in  der  vorigen  Anmerkung  an- 
gezogenen Stellen  aus  Briefen  Fichte's  an   seine  Gattin    und   den 
Mittheiinngen  von  Heinrich  Herz"  geben   uns  auch   die   beste  und 
vollständigste  Auskunft  über  Schlegels  Persönlichkeit  und  Charakter 
in  dieser  Zeit,  so  wie  über  sein  Verhältniss  zu  Dorothea  Veit  und 
zu  Schleiermachcr.  „Es  ist",  so  schildert  ihn  dieser  seiner  Schwester" 
„ein  junger  Mann  von  25  Jahren,  von  so  ausgebreiteten  Kenntnissen: 
dass  man  nicht  begreifen  kann,   wie  es  möglich  ist,   bei  solcher 
Jugend  so  viel  zu  wissen,  von  einem  originellen  Geist,  der  hier,  wo 
es  doch  viel  Geist  und  Talente  gibt,  alles  sehr  weit  Oberragt,  und 
in  seinen  Sitten  von  einer  Natürlichkeit,  Oifenheit  und  kindlichen 
Jugendlichkeit,   deren  Vereinigung  mit  jenem  allen    vielleicht  du 
Wunderbarste  ist.    Er  ist  überall,  wo  er  hin  kommt,  wegen  seines 
Witzes  sowohl,  als  wegen  seiner  Unbefangenheit  der  angenehmste 
Gesellschafter,  mir  aber  ist  er  mehr  als  das,   er  ist  mir  von  sehr 
-grossem,  wesentlichem  Nutzen. ...  Es  fehlte  mir  gänzlich  an  einen, 
dem  ich  meine  philosophischen  Ideen  so  recht  mittbeilen  konnte, 
und  der  in  die  tiefsten  Abstractionen  mit  mir  hinein  gieng.    Diew 
Lücke  füllt  er  nun  aufs  herrlichste  aus;  ich  kann  ihm  nicht  nur, 
was  schon  in  mir  ist,  ausschütten,  sondern  durch  den  unversiegbares 

51)  Zum  ersten  Male  Itosuchte  er  dort  vou  Dresden  aus  seiueu  IJruJcric 
Juli  {'W  iKönioi-  an  Schiller  H,  :U-I;  041»*'.;  Schiller  au  Goethe  2,  177)  und  bfeb. 
wie  OS  scheint,  bei  ihm  bis  in  das  Frtthjahr  1797  (Schiller  an  Goethe  2.  i^'l:  « 
Körner  4.  *>).  Ueber  die  Stellung,  in  die  er  schon  damals  zu  Schiller  gertde 
war,  vgl.  oben  S.  4:J'.»  f.  Als  der  ältere  Bruder  mit  seiner  Frau  im  April  l''*' 
von  Jena  aus  auf  mehrere  AVochen  nach  Dresden  gieng  (Körner  an  Schiller  4.2^; 
30),  begleitete  Friedrich  sie  voiTnuthlich  dahin  und  begab  sich  dann  nach  Berfa: 
wenigstens  scheint  er  hier  erst  gegen  Anfang  des  Sommers  angekommen  ru  «ä 
Vgl.  oben  S.  55\  Anm.  8.  52)  Als  Fichte  im  Sommer  1799  sich  von  Jen*«** 
Berlin  zu  wenden  gedachte  (vgl.  oben  S.  044,  Anm.i,  holte  er  deshalb  zunächjrfi' 
Schlegels  Hath  ein  und  Hess  sich  durch  denselben  in  seinem  Entschluss  bcstisoO' 
Durch  Schlegel  wurde  er  in  Berlin  auch  zuerst  mit  Tieck,  SchleiennÄctf/ "* 
Bernhardi  bekannt  und  kam  mit  ihnen  in  nähern  Verkehr.  In  der  ersten^ 
seines  dortigen  Aufenthalt?  waren  Schlegel,  der  damals  schon  mit  Porotli»^' 
zusammen  lebte,  und  dessen  nächste  Freunde  fast  sein  einziger  Umganff.  o>'' 
fürchtete,  dass  er  in  Berlin  völlig  verlassen  sein  würde,  wenn  Sclileffel  sei^^ 
sieht,  den  nächsten  Winter  nach  Jena  zu  gehen,  ausführen  sollte.  Vgi>^ctt* 
Leben  und  literarischen  Briefwechsel  2,  339  ff.;  1,  373  f.;  37";  379  Ui*^ 

53)  In  ..Aus  Schleiermachers  Leben".  54)  Bei  J.  Fürst  S.  If?'- 

55)  In  dem  Briefe  vom  22.  Octbr.  1797:   1,  lOS  f. 


k 


w 


Entwickelunpgang  der  LUeratnr.    1773—1832.  Die  Romantiker.  Fr.Schlt^l.   615 


Jtrom  neuer  Ansichten  und  Ideen,  der  ihm  unaufhürlich  zufliessf.  §  328 
pwird  auch  in  mir  manches  in  BeAvegung  gesetzt «  was  geBchlummert 
hatte.  Kurz  für  mein  Dasein  in  der  jdiilr)8oi)hi8cheu  und  literarische] i 
^  Welt  geht  seit  meiner  nähern  Bekanntschaft  mit  ihm  gleichsam  eine 
Hpeuc  Periode  an,  . .  .  Er  hat  keine  sogenannte  Brotwisseuschaft 
^Btudiert,  will  auch  kein  Amt  hekleiden,  »oudern,  so  lange  es  geht, 
^^bpftrlich,  aber  uuahhängig  von  dem  Ertrage  seiner  Schriftstellerei 
leben,  die  lauter  wichtige  Gegenstände  umfasst  und  sich  nicht  so 
ett  eniiedrigt,  um  des  Brotes  willen  etwas  Mittelmässiges  zu  Markte 
u  bringen.'*  Nachdem  Schlegel  Schleiermachers  Hausgenosse  ge- 
rordeu  war",  schrieb  dieser  wieder":  „Was  seinen  Geist  betrifft, 
ist  er  mir  so  durchaus  8up(5neur,  dass  ich  nur  mit  vieler  Ehrfurcht 
ivon  sprechen  kann.  Wie  schnell  und  tief  er  eindringt  in  den 
reist  jeder  Wissenschaft,  jedes  Systems,  jedes  Schriftstellers,  mit 
'clcher  hohen  und  unparteiischen  Kritik  er  jedem  seine  Stelle  an- 
reist, wie  seine  Kenntnisse  alle  in  einem  herrlichen  System  geordnet 
lastchen,  und  alle  seine  Arbeiten  nicht  von  ungefähr,  sondern  nach 
linem  grossen  Plane  auf  einander  folgen,  mit  welcher  Beharrlichkeit 
alles  verfolgt,  was  er  einmal  angefangen  hat:  —  das  weiss  ich 
iles  erst  seit  dieser  km-zeu  Zeit  völlig  zu  schützen,  da  ich  seine 
leen  gleichsam  entstehen  und  wachsen  sehe."  Sodann  auf  sein 
reoiUth  übergehend,  das  Schleiermacher  zwar  wieder  als  ^,offen,  froh 
i\d  naiv  in  allen  seinen  Aeusserungeu*'.  aber  auch  als  ,,etwa8  leicht- 
:rtig,  allen  Formen  und  Plackereien  feind^  heftig  in  seinen  Wünschen 
md  Neigungen'*  etc.  bezeichnet,  bemerkt  er  noch:  „Sein  Charakter 
M  noch  nicht  fest  und  seine  Meinungen  Über  Menschen  und  Yer- 
iflllnisse  noch  nicht  so  bestimmt,  djiss  er  nicht  leicht  sollte  zu 
leren  sein,  wenn  er  einmal  jemand  sein  Vertrauen  geschenkt  hat. 
Vns  ich  noch  vermisse,  ist  das  zarte  Gefühl  und  der  feine  Sinn  für 
lie  lieblichen  Kleinigkeiten  des  Lebens  und  für  die  feinen  Aoussorungcn 
sböner  Gesinnungen,  die  oft  in  kleinen  Dingen  unwillkürlich  das 
inze  GemUth  enthüllen. .  .  .  Das  bloss  Sanfte  und  Schöne  fesselt 
in  nicht  sehr,  weil  er  zu  sehr  nach  der  Analogie  seines  eigenen 
[GemUths  alles  flir  schwach  hält,  was  nicht  feurig  nnd  stark  er- 
Kheiut"   etc.'^.     In    den    ersten   Jahren    nach    Vollendung    seiner 


'H)  Am  21.  Decbr.  lTy7.  57)  Am  31.  Decbr.  1,  177  f.         5S)  Schlegel 

68,  der  Schleicrmachpj  durch  sein  unablässiges  Drangen  zur  Schriftstellerei 

!li.  —  Zu  Anfanff  des  JuU  I7'js  begleitete  Fricdr.   Schlegel   seinen  von  Jena 

J»  Berlin  gekommenen  Bruder  auf  mehrere  Wochen  nach  Dresden  (I,  !S4  f.), 

'O  öch  damals  auch  Schelling  und  Gries  befanden,  und  Novalis  die  Freunde  öfter 

'O  Froiberg  aus  besuchte  (Aus  dem  Leben  von  J.  D.  Gries  8.  2(1  f.;    1H2);  den 

Theil  dieses  und  den  grOssern  des  folgenden  Jahres  verlebte  er  wieder  iaj 


616    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  JjUirhundcrU  bis  zn  GoeUie't  ToO. 

32S  akademischen  Studien  hatte  es  den  Anschein  gehabt,  als  würde  er, 
Avic  in  seinen  wisaenscbaftlichon  Forschimgeu,  so  auch  in  seiner 
schriftstellerischen  Thätigkcit,  sich  ausschliesslich  oder  niinde^u 
vorzugsweise  innerhalb  des  Gebietes  der  classisehen  und  Damentii 
dergriechischenAIterthumswissenschaft  haiton  und  bewegen^.  Ii 
änderte  sich  dicss  schon  mit  dem  Jahre  1795.  Zwar  bcschJ 
ihn  zunächst  noch  immer  am  meisten  seine  auf  die  alte  Lil 
bezüglichen  gelehrten  Arbeiten»  und  von  seinen  beiden  mssenscl 
liehen  Hauptwerken,  die  noch  vor  Ablauf  dos  Jahrhunderts  erschien« 
fielen  ihrem  Inhalt  nach  die  in  ,,den  Griechen  und  Kölnern'* 
haltenen  Stücke  zum  grossem  Theil  und  die  „Geschichte  der  Poesie 
der  Griechen  und  Rümcr*'  ganz  in  jenes  Gebiet*^.  Mit  den  «Od- 
romanischen  Literaturen  scheint  er  damals  sich  erst  sehr 
bekannt  gemacht  zu  haben,  in  der  altdeutscheu  noch  fast  ganz  fi 
und  in  der  englischen  seine  Bekanntschaft  mit  Öhakspearc  n< 
mehr  eine  oberÜächliche,  als  eine  auf  tieferem  Studium  seiner  Werl 
beruhende  gewesen  zu  sein.  Auch  trat  er  damals  noch  nicht» 
vier  bis  fünf  Jahre  später,  mit  dichterischen  Erfindungen  herror' 
wozu  ihm  überdiess  die  höhere  Begabung  eben  so  sehr,  wo  ni« 
mehr,  als  seinem  Bruder,  abgieng,  ohne  dass  er  es  diesem  auch  nur 
iu  dem  rein  Technischen  der  Poesie  jemals  gleich  zu  thun  vermocht 
Dagegen  hatten  ihn  die  Werke  aus  Goethe*»  mittlerer  Periode, 
namentlich  der  „Wilhelm  Meister^^,  einer-  und  die  kritische 
idealistische  Philosophie  Kants  und  Fichte's  nebst  Schillers  Abi 
lung  „über  naive  und  sentiraentalische  Dichtung""  audrerseite 


Berlin.  Wie  es  aber  scheint,  wirkten  seine  dortigen  VerUältni&se  je  lingtr, 
eracliladender  auf  die  Energie  und  Regsamkeit  seines  Geiste«  eiu:  denn  in 
110'.»  bpfcichneto  Fichte  (a.  a.  0.  1.  aSl)  Schlegels  „Eiislenz"  als  eine  ,JideM 
langweilige  uud  faule'*.  Bald  darauf  verUess  er  auch  Berlin  und  gieng  naefajat. 
wohin  ihm  einige  Wochpn  später  Dorothea  Veit  folgte  (vgl.  darüber  und  aber  «ai 
Verhältnisse  in  Jena  S.  3'.M»  f.;  Fichte's  Leben  etc.  I.  3S9;  3l»3;  2,  3«,  sb4 
„Aus  Schloiermachcrs  Leben"  1,  213  f.;  247;  252;  255;  26ti  f.;  270».  Zu 
Decembers  isoi  kam  er  nochmals  nach  Berlin  uud  blieb  dort,  wieder  bei: 
macher  wohneed.  bis  über  die  Mitte  des  Januars  1^02  („Aus  SchlcM 
Leben'*  I,  2i»s  f.;  ;ioi  f.);  dann  scheint  er  dort  nochmAls  im  AprÜ  dicsw 
gewesen  zu  sein,  nachdem  er  sich  mit  der  Veit  hatte  trauen  lassen,  und  bi 
mit  ihr  nach  Krankreich  gieng  |a.  a.  0.  1,  3üM.  59)  Vgl.  S.  ;js9, 

00)  S.  3S8  ff.  61)  Die  „Lucinde"  erschicu  171*!»,  die  ersten  (r«dicbte  ( 

im  3.  Baude  des  Athcniiums  (die  Stanzen  „HeUodora**  S.  1—4;  die  Tt 
die  Deutscheu*'  S.  165— itjS,  und  vier  Sonette,  überschrieben  „Die  Reden 
Religion",  „SchelUngs  Weltseele",  „das  Athenäum"  und  „Zerbino"  S.  5W 
und  in  Tiecks  „iwietischem  Journal'*  leine  Cauzone  „An  Ritter'*  I,  I,  217  €.1 
62»  Daas  Schlegel  in   Üoethe  denjeuigeu  |Dichter   der  Neuzeit  *■:■:*  aj 

seiner  Schrift  „über  das  Stadium  der  griechischen  Poesie"   char..: 
üeaseu  Werken  eine  dorn  Geist  und  der  Form  noch  sich  der  grjL-duictai  *»• 


^p 


Entwickclungsgang  der  I.itoratur.    i  773—  1 S32.   Die  Romantiker    Fr.  Schlegel.   6 1 7 

mächtig  erpnfifen,  als  dasB  er  nicht  ein  Behr  lebhaftes  luteresse  an  §  32S 
dem  Umschwung  hätte  nehmen  sollen,  der  in  der  vaterlfindischen 
BChrmen  und  wissenschaftlichen  Literatur  begonnen  hatte  und  ihm 
für  deren  nächste  Zukunft  so  viel  zu  verheissen  schien.  So  gesellte 
er  sich,  um  auch  seinerseits  in  die  neue  geistige  Bewegung  mit  ein- 
zup-eifen,  das  Verkehrte,  Verfehlte  und  ganz  Verwerfliche  in  den 
allgemeinen  Literatur-  und  Bildungszustfinden  der  Heimath  zu  be- 
kämpfen und  zurückzudnlngen,  das  Gute,  Treffliche  in  den  Leistungen 
der  letzten  Jahrzehnte  duge^-'en  hervorzuheben  und  den  Zeitg-enossen 
zur  Nacheiferung  anzuempfehlen,  so  wie  ganz  besonders  die  Bedeu- 
tung der  grossen  Aobahner  eines  neuen  Geisteslebens  der  Nation  zum 
BewTi8ßt.sein  zu  bi-ingen  und  ihre  Wirksamkeit  vermittelnd  zu  fordern, 
seinem  Bruder  in  dessen  kritischen  Bestrebungen  bei,  theils  in  der 
Schrift  „Über  das  Studium  der  griechischen  Poesie'**"  und  in  der 
»naer  Literaturzeitung "',  theils  in  den  Charakteristiken  und  KritikeUf 


lemde   echte   Dichtung  wieder    begonnen    habe,    ist    bereits  S.   393  tl'.    an- 

rkt   worden.     Alles,   was   in  jener  SL-hrift   ilic  Theorie  der  Dichtkunst  im 

f^rinen  betraf,  ruhte  auf  den  Siitzen  der  kaniischen  „Kritik  der  UrtheÜs- 

t"  und  auf  Schillers  Abhandlung.    In  Beziehung  auf  diese  letztere  bemerkte 

legftl  in  der  Vorrede  mach  der  ersten  Ausgabe  S.  X  f. ,   wovon  die  entspre- 

ide  Stelle  im  5.  Bde.  der  silmmtl.  Werke  S.  I3  verschiedentlich   abweicht): 

len   Abhandlung   hat,   ausser  dass  sie   meine   Einsicht  in   den  Charakter 

int^^rt'ssanlon  Poesie  erweiterte,  mir  selbst  über  die  Grenzen  des  Gebiets  der 

Lsiichen  Poesie  ein  ueues  Licht  gegeben.    Hätte  ich  sie  eher  gelesen,  als  diese 

it't  dem  I>ruck  iibrrgebcn  war,  so  würde  Iwaonders  der  Abschnitt  vom  Ur- 

igc  imd   der    ursprünglichen   Künstliclikeit    der   modernen   Poesie   ungleich 

'oiger  tmvollkommen  geworden  sein",   t! eher  die  Folgen,  die  er  sich  vonFichte's 

isiischer  Lehre  für  die  Aesthetik  versprach,   äusserte   er  sich  S.   23ß  ivgl. 

^J'ke  5, 20i'i):  „Seit  durch  Fichte  das  Fundament  der  kritischen  Philosophie  ent- 

■'   worden   ist.  gibt  es  ein   sicheres  Princip,   den  kantischen  Grundriss   der 

l^'iBcben  Pliilosophie  zu  berichtigen,  zu  ergänzen  und  auszuführen,   und  über 

!-Ucit  eines  objectiven  Systems  der  praktischen  und  theoretischen  ästheti- 

'.nsc haften  findet  kein  gegründeter  Zweifel  mehr  Statt".  63t  Vgl. 

"•*   fl.,   dazu  S.  3WII,  si).     H.  SteiTeua  geht  zwar  zu  weit,   wenn  er  behauptet 

ich  erlobte**  4.  2nTi:  der  Unterschied  zwischen  der  antiken  und  modernen, 

'**^n  der  dassischcn  und  romantischen  Zeit,   der  seit  den  letzten  Jahren  des 

'©tj  Jahrhunderts  immer  entschiedener  bei  BeurtbcUung  der  Werke  der  alten 

'leuon  Zeit  zu  Gründe  gelegt  wurde,   sei   durch    diese  Schrift  Fr.  Schlegels 

uiufongsreich  und  bedeuteud  ausgesprochen  wurden;   das  Richtigere  ent- 

Goethe's  auf  S.  3i')H,  53  aus  den  Gesprticlien  mit  Eckermann  mltgetheiltcn 

Aber  darin  wird  man  Steffens  ganz  beistimmen  dürfen,  dass  jener  Unter- 

seit  dem  Krscbemen  der  scblegelschen  Schrift  immer  herrschender  wurde 

ieog  sich  als  eine  gescbiehtUche  Anschauung  auszubilden.  G4)  In  ihr 

l^ii  im  J.  1797,  t,  7i3  ff.  seine  Beurtbeilung  der  vier  ersten  BUnde  des  von 

imer  herausgegebeaen  „philosophischen  Journals**,   welche  nachher  in  die 

*'a.kteribtiken  und  Kriükeu"  I,  47— JS7  aufgenommen  wurde.    Ob  sonst  noch 

■^«cenaion,  ist  mir  unbekannt. 


■ü 


OT 


618    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  X^TII  Jahrliuudem  bU  «a  Goethe*!  Tod. 


§  32$  die  er  für  zwei  von   dem  Kapellmeister  ItcicLardt   berausgi 
Zeitschriften,  „Deutschland*'  und  j,Lyceuui  der  scbönen  ROi 
den  Jahren  17%  und  1797   schrieb ''*.    In  jener  befinden   sich 
ihm   folgende  Sachen:  „Goethe.     Ein  Frag:meut**    aue    der 
r,über  das  Studium   der  irriechischen  Poesie****;   das  Schreiben  ,4a 
den  Herausgeber  Deutschlands,   Scbiller^  Musenalmanach  (für  171 
betreffend"";   ,, Versuch   über  den  BegrilT  des  Republicanismaa, 
anlagst    durch    die   kantische    Scbrift  zum    ewigen    Friexlcn*'"; 
(anonyme)  Recension  vou  F.  H.  Jacobi's  „Woldemar'*"":  der  el 
anonyme  , »deutsche  Orpheus.     Ein  Beitrag  zur   neuesten   Kii 
geschichte"    (gegen   ein    1797  von  J,  6.  Schlosser   berausgegebca« 
„Schreiben  an    einen   jungen  Mann   der   die   kritiscbe  PbiU 
studieren    wollte*',    gerichtet'";    „Ueber   die   homerische   Po< 
Rttcksicht    auf   die    woltisehcn    Untersuchungen** " ;    die    (anon^ 
Receusion  des  S— 12.  Stücks  vom   zweiten  Jabrgaug   der  Hi>reo' 
Das  „Lyceura"  enthielt  vou  Schlegel  zwei  bedeuteude  Aufsätze, ,,( 


05)  Beide Zeitachrit'ten  kamen  iuBcrlia  heraus,  die  erste  ITV0  iu  }3 
oder  4  Bänden,  dio  andere  t'üT  in  zwei  Tbeileu  zu  cincu  Unndc,  beide  tft  ? 

6rt)  St.  2,  S.  258  ff.;  Werke  5,  Sti — ^S3,  aber  mit  eiuzcUio»  AbänderunipCl  i 
AuBilrack.        67)  St.  0»  S.  31^  ff.;  vgl.  oben  S.  i:t9,  r.ii.         6Si  St  V  3.  I» 

t>9i  St.  ft,  S.  1S5  ff.;   bis  auf  die  Aenderung  einiger  Ausdrücke  gmos 
in   deu   (.'harakteristiken   und   Kritiken    1.  3  ff.,    vgl.   S.  29U.  701* 

S.  -19  ff.:  vgl.  Bricfwechfiel  zwischen  Schiller  und  (Joethe  2.  Ausg.  l.aiOfl 

7li  St.  II.  S.  124  ff;  in  einer  Note  bezeichnet  als  ..Bruclistiuk  tu 
Abhandlung  über  die  Zeitalter.  Scbnlen  nnd  Dicbtarten  der  griechisdicn 
und  als  „Probe  eiues  Grundrisses  der  Geschichte  der  cliissischen  Pcm-a»  ilff 
Griechen  und  Römer',  welche  im  künftigen  Jahr  erscheinen  werdr;  p=  :  ■  '-  '*^- 
handluiig  über  das  epische  Gedicht*',  über  die  sich  Goethe  uiegen  br' 
ausspricht:  sie  bildete  nachher,  aber  mit  verschiedeneu  Ümstonmij-h 
und  bedeutenden  Kinsehaltungenf  einen  ßestandthcil  der  „(t(^i  )ii<  J' 
der  Griechen  und  n«:)mer'.  72t  St.  !'^.  S.  :ifiU  ff.:  vgl.  obi  i    ^ 

440, 67' und  597,  I.S'.  Auch  wird  wohl  schon  der  Rccenseut  des  foti.*. 
diesem  .lahrgaug,  St.  ^,  S.  217  ff.,  kein  anderrr  als  Fr.  Schlegel  . 
gleich  mir  ein  Beweis  dafttr  fehlt;  und  vou  dem  siebcuten.  St  i 
6chluss  schon  auf  den  Anfang  der  Heurthoiliuig  der  Stacke  S  -  11  hinvcsi.  Mff 
es  gewiss  gexvesen.  ( Dagegen  rühren  die  Anzeigen,  welche  in  dem  Joamal  «Dvttti^ 
laud''  die  HorenstUcke  des  Jahrgangs  1795  uud  die  tünf  ersten  dt«  folgflw  be- 
treffen, nicht  von  ihm  her,  sondern  riellcicht  Rlle.  oder  doch  wealfrtiw  ^ 
früheren,  von  Heichardt  aelbst).  Ebenso  möchte  ich  die  Recenaion  von  tkMiK» 
Muftenatmanach  für  das  J.  1797  in  St.  10,  S.  h:)  ff.«  an  die  sirb 
Reicbarüts  „Erklärung  au  das  Publicum  über  die  Xenien"  (vgl.  otxui  S.  4IÜC, 
anscbliesst,  Fr.  Schlegel  beilegen,  wogegen  der  Auszug  aus  sniner  Seht 
das  Studium  der  griechischen  Poesie"  in  St.  «.  S.  393  ff.  wohl  nWht  Totti 
eigenen,  sondern  einer  andern  Uanü  angefertigt  sein  durfte  Ob  Ihn  nocft 
ein  Antheil  nn  den  Receusioneu  in  dieser  Zeitschrift  zogescbriebofl 
weiss  ich  nicht,  möchte  es  aber  bezweifeln. 


EntfrickeluDgsgang  der  Literatur.   1773—1932.  Die  Romantilipr.  Fr.  Schlegel.  619 

W  Forster.  Fragment  einer  Cbarakteristik  der  deutschen  Classiker"^,  §  3Ü8 
und  den  unvollendeten  „Uebor  Lessing*'".  Sein  letzter  Beitrag  zum 
Lycenm,  die  ,,kntiüiclion  Fra^^mcnte""  konnte  schon  als  ein  Vorläufer 
[tu  <ierjeni;ren  Partie  im  ersten  Bande  des  ..A-thenännis'*  jrelten,  die 
:leicb  hei  ihrem  Krscheinen  in  dieser  Zeitschrift  das  meiste  Aufsehen 
»rregte,  und  mit  der,  so  zn  sagen,  gewisse  mehr  oder  weniger  i»aradoxe 
loctrinen  der  romantischen  Schule  zuemt  in  vollem  Lichte  hervor- 
traten. Du  das  ,,Lypoum"  jetzt  nicht  mehr  so  leicht  zu  haben  ist, 
'ie  die  ,, Charakteristiken  und  Kritiken",  so  will  ich  von  den 
,,kritisoben  Fragmenten",  in  denen  diese  Doctrinen  entweder  schon 
ganz  olTen  vorliegen  oder  sich  mindestens  sehr  deutlich  ankündigen, 
ier  einige  der  bemerkenswerthesten,  die  nicht  unter  den  .»Eisen- 
ilen"  stehen,  wörtlich  mittheilen,  auf  andere  dagegen,  die  in  den 
..Charakteristiken'*  aufgesucht  worden  können,  meist  bloss  verweisen. 
L  ,,Die  Philosophie  ist  die  eigentliche  Heimath  der  Ironie,  welche  man 
^klogische  Schönheit  detinieren  möchte:  denn  Überall,  wo  in  raQnd- 
^■lieben  oder  geschriebenen  Gesprächen,  und  nur  nicht  ganz  systemn- 
VtiBcb,  philosophiert  wird,  soll  man  Ironie  leisten  und  fordern;  und 
sogar  die  Stoiker  hielten  die  Urbanität  für  eine  Tugend.  Freilieb 
;ibt'H  auch  eine  rhetorische  Ironie,  welche,  sparnani  gebraucht, 
Vortreffliche  Wirkung  thut,  besonders  im  Polemischen;  doch  ist  sie 
regen  die  erhabene  Urbanität  der  sokratischen  Muse,  was  die  Pracht 
[er  glänzendsten  Kunstrede  gegen  eine  alte  Tragödie  in  hohem  Stil. 
►ie  Poesie  allein  kann  sich  auch  von  dieser  Seite  bis  zur  Höhe  der 
'hiloeophie  erheben  und  ist  nicht  auf  ironische  Stellen  begründet, 
ie  die  Rhetorik.  Es  gibt  alte  und  moderne  Gedichte,  die  durch- 
•fingig  im  Ganzen  und  überall  den  göttlichen  Hauch  der  Ironie 
ibnien.  Es  lebt  in  ihnen  eine  wirklich  transcendentale  Buffonerie. 
[m  Innern,  die  Stimmung,  welche  alles  übersieht  und  sich  über 
dies  Bedingte  nnendlich  erhebt,  auch  über  eigene  Kunst,  Tugend 
»der  Genialität;  im  Aeussern,  in  der  Ausführung  die  mimische  Manier 


73)  1,  1,  H2ff. ;  mit  einigen  Auslassungen  und  kleinen  Abündeningcn  im  Aus- 

ick  wiederholt   in   den  t'harakteristilcen   und  Kritiken  I.  SS  tt*.  71t  1,  *2, 

[6  IT.;   vgl   Schl»jgt>ls  Krklüruug  iu   dem  lutcIligcnz-Blatt  der  Jenaer  Literator- 

ig    I7W7.   l>ccbr.  N.  1(13,    Sp.   iaö2;   spater   mit  einem   sehr  merkwurdigeo 

'^orte  versehen  nud  in  gleicher  Art,  wie  der  vorige  Aufsatx.   ebenlaJls  in 

irnkterißtiken  iind  Kritiken  d»  ITOff.i  aufgenommen.    Vgl.  Schleiermachen 

ision  lier  ..CharakteriKtiken*',  F>rlangor  Litrratiir-Zeitung  ISOI.    2.  Nr.  r>"; 

fedcr  abgedruckt  in  „Aus  Sohleiermachers  Leben"  4, 554  ff.        75)  I,2,li3ff. — 

W.  Schlegel  hat  in  dem  Briefe  über  seinen  Bruder  an  WindiscUmaun  («»  Jan 

I.  I^^4;  siimmtliche  Werke  *>,  2yi}  u,  a.  bemerkt:  ,.T)a8 Fragment  war  QtB  ac^a 

ein  liyi>osUi6ierter  Lieblingsbegritl'  geworden  und  ist  es  immer  gfbüehm.  Eine^ 

Itgd  auf  den  Schein  des  Parodoxen  ist  unverkennbar*'     Diesrr  leCd9  SaJct  finta 

icfa  schon  auf  diese  „kritischen  Fragmente*^  volle  Anwendoof. 


620    VI.  Vom  Eweiten  Viertel  des  XTIII  Jahrhundert«  bis  lu  Goethc's  Tod. 

326  eines  gewöLnlichen  guten  italienischen  Buffo**™. ..  „Die  Poesie 
Einen  heisst  die  philosophische,  die  des  Andern  die  philologische 
die  des  Dritten  die  rhetorische  u.  s.  w.    Welches  ist  denn   \v 
poetische  Poesie*'?".  .  .  „Die  ganze  Geschichte  der  modernen  i 
ist  ein  fortlaufender  Commentar  zu  dem  kurzen  Text  der  Philosophie; 
Alle    Kunst    soll    Wissenschaft ,    und  alle   Wissenschaft    soll    Kunst 
werden;  Poesie  und  Philosophie  sollenjvereinigtsein""  .  .  .  „Die  Alten 
sind  weder  die  Juden,   noch  die  Christen,   noch  die  Engländer  da 
Poesie.      Sie    sind    nicht    ein    willkOrlich    auserwähltcs    Kuns1?<ilk 
Gottes,  noch  haben  sie  den  alleiu  seÜgmnchenden  Schönheitttglaubeo, 
noch  besitzen  sie  ein  Dichtungsmonopol**"'.  ,  .  ,,Wer  Goethe*«  Meister 
gehörig  charakterisierte,  der  hilttc  damit  wohl  eigentlich  gesagt,  was 
es  jetzt  an  der  Zeit  ist  in  der  Poesie.    Er  dltrftesich,  wa»  poeriwbe 
Kritik  betrifft,  immer  zur  Ruhe  setzen''**.     Von  den    tibrigon  krit}» 
sierenden    und    charakterisierenden    Aufsätzen    Fr.    Schlegels, 
der  Herausgabe  des  ,,  Athenäums*'  vorausgieugen ,  bezeichneten 
jenigon,  welche  sich,  sei  es  ausschliesslich,  sei  es  nur  thcihveise. 
Lessing.  Goethe  und  Schiller  bezogen,  nebst  der  ReurthciluD^' 
„Woldemar",  schon  im  Voraus  mit  am  bestimmtesten  den  Chj 
der  ästhetischen  Kritik ,  wie  er  sich   während  der   nächstfolgend!«' 
Jahre  innerhalb  der  romantischen  Schule  entwickelte,  und  die  Stiui( 
punkte,  welche  sie  im  Besondem  jenen  drei  Hauptvcrtretem 
neudeutschen  Literatur  gegenüber  nahm.     Leasings  flchrift^lellei 
Verdienste,  beginnt  Schlegels  Charakteristik  desselben  im  „L\ceon' 
seien  schon  mehr  als  einmal   der  Gegenstand  beredsamer  Ai 
gewesen.    Wenige  Schriftsteller  nenne  und  lobe  man   so  gern  «b' 
ihn;  ja  es  sei  eine  fast  allgemeine  Liebhaberei,  gelegentlich  etiw 
Bedeutendes  ftber  ihn  zu  sagen.    Ganz  natürlich,   da  er  der  ei^l 
liehe  Autor  der  Nation   und  des  Zeitaltei*6*',   so   rielseitig  und 
durchgreifend  wirkte,  zugleich  laut  und  gliinzend  fttr  alle,  and 


76)  Lycetun  1,  143  f.    Hierzu  vgl.  ituui  das  andre,  l&ngere  FragüMOt 
„die  Bokratische  Ironie'*  in  dm  Charakteriatiken  l,  üö4  f.,  dem  aber  d^r  S< 
wie  ihn  das  Lyceum  hat,  fehUiS.  \fii:    „Lesäiiigs  Ironie  ist  lustinet ;  bi^i  llem^t 
hnys  ist*8  clnssisches  Studium;   Ilulsens  Ironie  entspringt   aus    Phl' 
Fhilnsophie  und  kann  die  jener  noch  weit  übertreffen"»;  ein  gaux  k  . 
(„Ironie  ist  die  Form  des  Paradoxen.    Paradox  ist  alles»   was  zugleich  goL 
gross  JBt")  schlieast  sich  unmittelbar  d^kran.  77)  Lyceum  I ,  \h^. 

78»  S.  Itil.  791  S.   156.  bOi  S.  niti.    In  den  ..CliaraktTrisätaB" 

1,  226  nb«T  „die  beiden  Hanptgntmlsiitze  der  histürischoi»  Ivritik";  S.  JA 
I'oleinik  gegen  Individuen;  S.  2 IS  über  die  verschiedenen StJmmungeii.  in  die 
ein  recht  freier  und  gebildeter  Mensch  inUsste  versetxeu  können;  S.  Töuat«, 
nur  durch  Poesie  kritisiert  werden  könne",  81j  In  den  CliarakI 

„der  eigentliche  AuU>r  der  deutschen  Literatur*'. 


IntwickcluogBg.d.Lit.   1773— IS32.  Die  Romantiker.  Fr.  Schlegel  ub.Lessiug.  G2l 


inig-e  tief.  Daher  sei  denn  auch  vielleicht  Über  kein  deutsches  Genie  §  3'28 
80  viel  MerkwUrdi^'cSj  oft  aus  sehr  verschiedenen ,  ja  entgegen- 
^setzteu  Standpunkten,,  gesagt  worden.  Dennoch  dürfe  ein  Ver- 
ich,  Lessinga  Geist  im  Ganzen  zu  charakterisieren,  nicht  ftlr  über- 
lüssig  gehalten  werden.  Denn  eine  so  reiche  und  umfassende  Natur 
tonne  nicht  vielseitig  genug  betrachtet  werden  und  sei  durchaus 
lerschöpflich ;  er  sei  ja  einer  von  den  revolutionären  Geistcni 
wesen,  die,  wohin  sie  sich  auch  im  Gebiete  der  Meinungen  w^enden, 
gleich  einem  scharfen  Scheidungsmittel,  die  heftigsten  Gähruugeu 
ind  gewaltigsten  Erschütterungen  allgemein  verbreiten.  In  der 
Theologie,  wie  auf  der  Bühne  und  in  der  Kritik  habe  er  nicht  bloss 
^^poche  gemacht,  sondern  eine  allgemeine  und  dauernde  Revolution 
^Blleiu  hervorgebracht  oder  doch  vorzüglich  veranlasst.  Uebcr  eine 
^Holche  Erscheinung  irre  das  allgemeine  Urtheil  nur  zu  leicht,  und 
^^ie  Macht  einer  öffentlichen  alten  Meinung  zeige  dann  ihren  Einfluss 
,  auch  auf  solche  Münncr,  welche  selbständig  urtheilcu  konnten.  So 
werde  man  nicht  möde,  nur  die  Vortrefflichkeiten  in  Lessing  zu 
reieen,  die  er  immer  streng  und  ernst  von  sich  ablehnte,  nur  die- 
snigen  unter  seinen  zahlreichen  Bemühungen  und  Versuchen  mit 
iseitiger  und  ungerechter  Vorliebe  fast  allein  zu  zergliedern  und 
loben,  von  denen  er  selbst  am  wenigsten  hielt,  und  von  denen 
rohl  eigentlich  vergleicluiugsweise  am  wenigsten  zu  sagen  sei, 
rälirend  man  das  Eigenste  und  das  GrOsste  in  seinen  Acusserungen, 
ie  es  scheine,  gar  nicht  einmal  gewahr  werden  wolle  und  könne. 
Ir  Helbst  würde,  wenn  er  wiederkehrte,  erstaunen,  dass  gerade  die 
literarischen  Moderantiston  und  Anbeter  der  Halbheit,  welche  er,  so 
Ige  er  lebte,  nie  aufhörte  eifrigst  zu  hassen  und  zu  verfolgen,  es 
tben  wagen  dürfen,  ihn  als  einen  Virtuosen  der  goldenen  Mittel- 
lässigkeit zu  vergöttern  und  ihn  sich  ausschliessend  gleichsam  zu- 
leignen,  als  sei  er  einer  der  Ihrigen;  dass  sein  Ruhm  nicht  ein 
lantemder  und  leitender  Stern  für  das  werdende  Verdienst  sei, 
mdern  als  Aegide  gegen  jeden  missbraucht  werde,  der  etwa  in 
llora,  was  gut  ist  und  schön,  zu  weit  vorwärts  gehen  zu  wollen 
■obe;  das«  träger  Dünkel,  Plattheit  und  Vorurtheil  unter  der  Sanction 
les  Namens  Schutz  suchen  und  finden  etc.  Schlegel  sucht  nun 
im  Ganzen  henschende  Meinung  über  Lessing,  nebst  den  wesent- 
Ichen  Abweichungen  einzelner  Gattungen,  mit  der  Genauigkeit,  die 
in  mittlerer  Durchschnitt  erlaube,  im  Allgemeinen  positiv  und  negativ 
bestimmen  und  durch  kurz  angedeutete  Gegensätze  in  ein  helleres 
»cht  zu  setzen.  Demgemäss  geht  er  die  Urtheile  und  Meinungen 
»er  ihn  durch,  nach  denen  er  ein  sehr  grosser  Dichter,  namentlich 
der  dramatischen  Gattung,  ein  unübertrefflich  einziger,  ja  beinahe 
dlkommeuer  Kunstkenner  der  Poesie  and  ein  Universalgenie  ge- 


622    VI.  Vom  sweitou  Viertel  Ues  XVIU  Jahrhuudorts  bis  xa  Goetbc«  Tod. 

§  328  wcäen  mn  solle;  rtlgt  es  sodaun  als  besonders  auffallende  Mcrkmalo 
der  Kurzsiditi^koit  in  der  Art,  wie  man  ihn  im  Allgemeinen  aul- 
zufassea  und  seine  ßedeutung  zu  würdigcu  ])f!c^c,  dsiss  von  wilMD 
Witz  und  von  seiner  Prosa  gar  wenig  die  Rede  sei,  ungeachtet  Mtt 
sein  Witz  classisch  genannt  zu  werden  verdiene,  und  eine  pragss- 
tische  Theorie  der  deutschen"-  Prosa  wohl  mit  der  Cbarakterätik 
seines  Stils  gleichsam  würde  anfangen  und  endigen  mdssen,  und  dl 
noch  weniger  sein  Charakter  (dessen  herrliche  Eigenschaften  hier 
begeisterten  Worten  hervorgehoben  werden  i  zur  Sprache  koi 
berührt  die  Urtheile  über  Lcssings  bibllothckarischo  und  anti<ji 
Mikrologic  und  Über  seine  Polemik,  Über  seine  PhiloiM>i»bie  nai 
Philologie,  und  gelangt  endlich  zu  den  Anjireisem  seiner  weh* 
ahmungswürdigen  Universalcorrecthcit,  die  ,,denn  auch  seine  iliama- 
lurgischen  und  sonst  zur  Poetik  und  Theorie  der  Dichtarten  gehOri^ 
Fragmeute  und  Fermente  fixiert  und  zu  heiligen  Schriften  nad 
symbolischen  Bücbcm  der  Rnnstlebre''  erkoren  hätten.  Diess  atM, 
fährt  Schlegel    fort,    ungcfrt.hr   die   hauptnächlichstcn  i  "luktt 

und  Rubriken,  nach  welchen  man  von  Lessiug  überha  .,  .  .:  .oj^ 
urtheilt  oder  gemeint  habe.  Wie  alles  das,  was  er  in  jedem  £<Nr 
Fächer  sein  solle  oder  gewesen  sei,  wohl  zusaninienhängen  tai^ 
welcher  gemeinsame  Geist  alles  beseele,  was  er  denn  cigeodieh  ia 
Ganzen  gewesen  sei,  habe  sein  wollen  nnd  werden  milsaen:  darflber 
scheine  man  gar  nichts  zu  urtlieilen  und  zu  meinen.  Diese  Aa* 
sichten  und  Meinungen  aber,  insofern  sie  Urtheile  sein  sollen,  om 
Sohlegel  nicht  bloss  wegen  dessen,  was  sie  im  Ganzen  unteriüMO. 
sondern  auch  wegen  des  Positiven,  was  sie  im  {«Einzelnen  enthallea. 
ihrer  Form  und  ihrem  Inhalte  nach  missbitligcn.  Lessing  \Afm  M 
loben,  ohne  die  strengste  Prüfung  und  das  frcieste  Urtheil,  ad  idaer 
durchaus  unwürdig.  Mau  sollte  doch  auch  einmal  den  VtaaA 
wagen,  ihn  nach  den  Gesetzen  zu  kritisieren,  die  er  selbst  f Qr  die 
Beurtheilung  grosser  Dichter  und  Meister  in  der  Kunst  vorgeHhfMka 
habe".  Von  diesen  Gesetzen  hat  sich  Schlegel,  ^vie  er  beiocflL 
leiten  lassen  in  dem,  was  er  nach  einem  sorgfältigen  Sttidion  ra 
Lessings  Schriften  als  seine,  von  der  herrschenden  so  anendlich  w- 
schiedene,  Meinung  Über  ihn  hier  öffentlich  zu  sagen  wage,  mu  er 
im  Ganzen  durch  Lessings  Maximen  vertbeidigcn  und  im  Cimelaes 
durchgängig  mit  Autoritäten  und  entscheidend  beweisenden  StdW« 
aus  dessen  Schriften  belegen  zu  können  glaube.  ZucrM  tritt  er  der 
Ansicht,   Lessing  sei  einer  der  grössteu  Dichter  gewesen,  anis 


&2)  Clianiktcristiken :  „der  polemiscben**.  S3)  Vgl.  SammtUdw 

3.  3(>«»  imt«n:    „Einen  elenden  Dichter**  etc.  und  &,  208  „Wano  Ich  Kl 
Ware"  etc. 


Entwickelangsg.d.Iilt.  1773— 1&32.  Die  Romantiker.  Fr.  Schlegel  üb.  Leasing.   623 


^^cbiedenste  entgegen;  er  zweifelt  Hogar,  ob  er  Uberbmipt  ,,ein  Dichter  §  328 
^Hpeweseu  sei,  ja  ob  er  poetiseben  Sinn  und  Kun.'srgcfUbl  gebabt  babe*'^ 
^fndeni  er  sieb  auf  die  bekannte  IIftU]>tstelIe  in  der  Dramaturgie  be- 
ruft*'. Dass  es  Lessing  mit  dicHer  Aeusserung  nicbt  so  erustlicb 
gemeint  babe,  dem  widersprecbe  nicbt  nur  der  offene,  freie,  biedere 
Cbarakter  dieser  Stelle,  sondern  aucb  der  Geist  und  Bucbstabe  vieler 
andern;  und  ganz  unstatthaft  würde  es  aucb  sein,  auzunebnien,  er 
babe  gicb  selbst  nicht  gekannt.  In  keinem  Fache  habe  er  sich  selbst 
besser  gekannt,  als  gerade  iu  dem  poetiseben^  denn  in  keiueni  babe 
er  Sit  \nel  h2rfabrung,  (lelebrsamkeit,  Uebung,  Studium,  Anstrengung, 
Ausbildung  jeder  Art  gehabt.  Keines  seiner  Werke  reiche  in  Rllcksicht 
auf  kUnstleriscben  Fleiss  und  Feile  an  ,,Emilia  Galotti",  wenn  auch 
juulre  mehr  Reife  des  Geistes  verratben  sollten;  überhaupt  seien 
wohl  wenige  Werke  mit  diesem  Verstände,  dieser  Feinheit  und 
dieser  Sorgfalt  ausgearbeitet.  In  diesem  Punkte  und  in  Rtteksiubt 
auf  jede  andere  formelle  VoUkonimonheit  des  conventiouellen  Dranm's 
mdsse  ..Nathan''  weit  nachstehen,  wo  selbst  die  massigsten  Forderun- 
geu  an  Consequenz  der  Charaktere  und  Zusammenhang  der  Begeben- 
heiten oft  genug  beleidigt  und  getäuscht  wllrden.  In  ,,Emilia  Galotti'' 
»eien  die  dargestellten  Gegenstände  Uberdiess  am  entferntesten  von 
sings  eigenem  Selbst ;  es  zeige  sieb  kein  uukünstlerischer  Zweck, 
pe  Nebenabsicht,  die  eigentlich  Hauptsache  wäre.  Sie  sei  daher 
eigentliche  Hauptwerk,  wenn  es  darauf  ankomme,  zu  bestimmen, 
Lessing  in  der  poetiseben  Kunst  gewesen,  wie  weit  er  darin 
kommen  sei.  „Und  was  ist  denn  nun  diese  bewunderte  und 
wiss  bewundernswürdige  Cmilia  Galotti?  Unstreitig  ein  grosse» 
xempel  der  dmmatiscben  Algebra.  Man  muss  es  bewundern,  dieses 
Seh  weiss  und  Pein  producierte  Stück  des  reinen  Verstandes;  man 
088  es  frierend  bewundern  und  bewundernd  frieren;  denn  in's 
mflth  dringt's  nicbt  und  kann's  nicht  dringen,  weil  es  nicbt  au» 
m  Gomtltb  gekommen  ist.  Es  ist  in  der  Tbat  unendlich  viel 
eretand  darin,  nämlich  prosaischer,  ja  sogar  Geist  und  Witz.  Gräbt 
aber  tiefer,  so  zerreisst  und  streitet  alles,  was  auf  der  Ober- 
be  so  vernünftig  zusammenzuhängen  schien.  Es  fehlt  au  jenem 
etischen  Verstände,  der  sich  in  einem  Guarini,  Gozzi,  Shakspeare 
^068  zeigt"*.  In  den  genialischen  Werken  des  von  diesem  poetischen 
ierstande  geleiteten  Instincts  enthüllt  alles,  was  beim  ersten  Blick 
wahr,  aber  aucb  so  inconsequeut  und  eigensinnig,  wie  die  Natur 
bet  auffällt,  bei  gründlicherem  Forschen  stäts  innigere  Harmonie 
d  tiefere  Nothwendigkeit.    Nicht  so  bei  Leasing!     Manches  in  der 


84}  Vgl.  S.  1  f.,  Amn.  1.  85t  In  den  Charakteristiken:    ,.Es  fehlt  an 

poetiscbeu  Verstände  eines  Shakspeare,  Oocthe  oder  Tieck." 


624     VI.  Vom  xwciten  Viertel  des  XVIU  JaUrhund^rta  bb  ni  GoetLe*«  Toi 

§  32fe  EmiliaGalotU  bat  sogar  den  BewuDderern  Zweifel  abgedruugen, 
Leasing  nicht  beantworten  zu  köiiuen  gestaud.    Alier  wer  mag 
Einzclue  geben,  wenn  er  mit  dem  Ganzen  anzubinden  Lust  bat 
beiuabe  nichts  obue  Anmerkung  vorbeigehen  lassen  könnte**?    Do^ 
bat  dies»  Werk  nicht  Beine»  Gleichen   und  ist  einzig  in  seiner 
leb  möchte  es  eine  prosaische  Tragödie   nennen.     Sonderbar, 
nicht  eben  interessant  ist's,  wie  die  Charaktere  zwiscbca  Allgemi 
heit  und  Individualität   in   der  Mitte  schweben" '\     Hierauf  wen 
zwei  Bricfßtcllen  Lessing's"  angeführt,   um  zu  beweisen,    wie  .,, 
and  lieblos  er  selbst  von  diesem  seinem  vollendetsten  und  künstliche 
Werke'*  gesprochen  habe,    und   ihnen   eine  dritte  Aeusserung" 
gegcngestoUt  als  Zeugniss  des  f^gchaltencn  Enthusiasmus*'   und 
iu  jeder  Rücksicht   andern  Art,   womit  er  vom  „Nathan**  sprede. 
Dieser   komme   aber  freilich    aus   dem   Geinüth   und    dringe  wi( 
hinein;  er  sei  vom  schwebenden  Geiste  G4»ftes  unverkennbar  di 
glüht  und  überhaucht.    Nur  aeheiue  es  schwer,  ja   fast   uumögl 
das  sonderbare  Werk  zu  rubricieren.     Wenn  man  auch  mit  eioi 
Recht  sagen  könnte^    es    sei    der  Gipfel   von  Lesstugs   poeti:>ct 
Genie,  wie  „Emilia"  seiner  poetischen  Kunst  — :  so  habe  doch 
Philosophie  wenigstens  gleiches  Recht,  sich  das  Werk  zu  vi    '   ' 
welches  für  eine  Charakteristik   des  ganzes  Mannes  eigt. 
classiacbe  sei,   indem   es  seine  Individualität  aufs   tiefste   und 
stÄndigsto,  und  doch  mit  vollendeter  Popularitilt,  darstelle.     Wer 
,,Natban",  ein  „vom  Enthusiasmus  der  reinen  Vernunft  erieugtei 
beseeltes  Gedicht",  recht  verstehe,  der  kenne  Lessing.     Die 
tische  Form    sei    dem  Geist   imd   Wesen  dieses  Werkes  mii  eil 
liberalen  Nachlfisslgkeit  Übergeworfen   und   müsse  sich  nach  Alt 
biegen  und  schmiegen*,  die  Darstellung  überhaupt  weit  biiigewi 
wie  iu  „Emilia  GaUitti/'     ., Daher  treten  die  natürlichen  Fe! 
lessingschen  Dramen  st^irker  hervor  und  behaupten  ihre  alten,  sc\ 
verlornen   Rechte   wieder.     Wenn   die   Charaktere   auch  lebeiidil 
gezeichnet  und  wftrmer  coloriert  sind,   wie   in  irgend  einem 
Beiner  Dramen,  so  haben  sie  dagegen  mehr  von  der  Affectatioo 
manierierten   Darstellung,    wie   in    Minna   von    ßarnbelm 
Charaktere  zuerst  anfangen   merklich   zu   lessingisieren,    Ni 
und  Manier  zu  bekommen  und  eigentlich  charakteristisch  za  m 
am  meisten  herrscht,  in  Emilia  Galotti  hingegen  schon  weg^. 
ist.     Selbst  Alhafi  ist  nicht  ohne  Priitension  dargestellt,  weh 
freilich   recht   gut   steht,  —  dem    Künstler  doch   aber  nfcbl' 


86)  Cliarakteristikeii ;  „wenn  er  dem  Ganzen  allen  Werth  Äbsprrctien 
S7)  Alle«  \ou  ..Doch  but  diesa  Werk'-  etc.  au  fehlt  iu  den  ChonüiM 
SS)  12,  :yi>i  und  37a.  ö9)  ii,  536. 


gesehen  werden  kauu.  Und  dann  ist  das  Werk  so  auffallend  ungleich, 
wie  sonst  kein  lessingsches  Drama.  Die  dramatische  Form  ist  nur 
Vehikel,  und  Recha^  Sittah,  Daja  sind  wohl  eigentlich  nur  Staffelei: 
denn  wie  ungalaut  Les:*in^  dachte,  das  Ubcrsteii^t  alle  Begriffe.  Der 
durchgängig  cynlsierende  Ausdruck  hat  sehr  wenig  vom  orientalischen 
)on,  ist  wohl  nur  mit  die  hoste  Prosa,  welche  Lessing  geschrieben 
bat,  nnd  fallt  sehr  oft  auä  dem  Oostum  heroischer  Personen.  Ich 
tadle  das  gar  nicht;  ich  sage  nur  so  ist's;  vielleicht  ist's  gar  recht  so'***. 
lu  dem  zu  Ende  dieses  ersten  Thoils  der  Charakteristik  Lessings 
verhcisseuen,  aber  ausgebliebenen  zweiten  Theil  sollte,  wie  Schlegel 
ungefähr  vier  Jahre  später^'  angab,  ,,der  ausführlichere  Beweis  folgen, 
auch  die  Meinung  sei  irrig,  Lessing  für  einen  Kunstrichter  zu  halten ; 
gegründet  auf  das  Factum,  dass  es  ihm  au  historischem  Sinn  und 
ao  historischer  Kenntniss  der  Poesie  fehlte'^  „Und  wie  ist*',  heisst 
es  nach  dieseu  Worten  weiter,  , .Einsicht  auch  bei  kritischem  Geist 
in  diesem  Gebiete  mjglich,  wenn  es  so  ganz  an  Gefühl  und  An- 
[schauuug  gebricht?  VVer  bedarf  noch  des  Beweises,  dass  die  Fran- 
»n  keine  Dichter  haben  und  keine  gehabt  haben ,  man  mUsste 
etwa  Büffou  und  vielleicht  Rousseau  so  neuneu  wollen?  Und 
[dach  kann,  was  Lessiug  gegen  Corneille  oder  Voltaire  sagt^  nicht 
ifttr  Kritik  gelten  (!i,  wegen  jener  Mängel ;  soll  es  aber  Polemik  sein,  so 
:hat  er  bessere  aufzuweisen,  auch  dürfte  der  Gegenstand  eine  andere 
[forderD,  nicht  so  schwerfällig  (!f  vielleicht  in  den  Anstalten  zum  Zweck, 
\f  poetischer  in  der  Form.  Hört  doch  endlich  auf,  an  Lessing  nur 
zu  rühmen,  was  er  nicht  hatte  und  nicht  konnte,  und  immer 
wieder  seine  falsche  Tendenz  zur  Poesie  und  Kritik  der  Poesie  (!), 


90»  Was  ziinäcbat  folgt.  hetriflFt  theÜs  »lie  verschiedenen  GcaiohUpunkte,  unter 

[denen  der   „Nathan"   gewühnlich   autgefasat  und  jijedeutet   werde,    theils    fuhrt 

khlGgcl  darin  seinu  Charakterisierung  des  ScUcks  fort:  ich  iiberi^ehe  es  hier  aber, 

ireÜ  alles  mehr  oder  weniger  bloss  auf  den  philosophischen  und  religiösen  Gehait 

«Icj-  DicUtttug  und  auf  deren  polemische  Tendenz  Beziehuug  hat:   es  lüuft  darauf 

'lünaus.    dass   , .Nathan   der  Weisfi"   nicht   bloss   die  Fortsetzung  des  Anti*Goeze, 

iKumeru  Zwölf,  sondern  auch  und  eben  so  sehr  ein  dramatisiertes  .»ElementAirbuch 

^dm  hohem  Cynisnius"  sei.    Die  letzten  beiden  Absätze,   die  im  Lyceum  stehen, 

felUcn  in  den  CUarakteristikon  etc  ,  sie  lauten:   ..So  paradox  endigte  Lessing  auch 

Poesie,   wie  überall:    D^s  erreichte  Ziel  erklärt  und   rechtfertigt  die  ex- 

■ische  Laufbahn;  „Nathan  der  Weise"  ist  die  beste  Apologie  der  gesammten 

«og^c-hen  Poesie,  die  ohne  ihn  doch  nur  eine  falsciie  Tendenz  scheinen  mOäst* 

wo  dit'  rtiigowandte  Elfectpoesio  des  rhetorischen  LJuhnendrama*s  mit  der  reinen 

Poe«ie  <lr.uniiischer  Kunstwerke  ungeschickt  verwirrt  und  dadurch  da»  tortkommen 

btfl  zur  Unoiuglichkeit  aiinlitz  erschwert  sei  iso!»   —  Ganz  leiao  fieng  Lessiug,  wfe 

abcrall.  Bu  auch  in  der  Poesie  an.  wuchs  dann  gleich  einer  Lawine,  errt  anaehelD- 

bar.  xuletzi  aber  gigantisch".  91)  In  den  „Charakteristiken  uad  Kritiken" 

L  220  ff, 

Kober^Uin,  OriinJrUG.  :>.  Anfl.    IV.  ^ 


626    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

§  328  statt  sie  mit  Schonung  7ai  erklären  und  durch  die  Erklärung  zu  recht- 
fertigen, sie  nur  von  neuem  in  das  grellste  Licht  zu  stellen.    Und 
wenn  ihr  denn  einmal  nur  bei  dem  stehen  bleiben  wollt,  was  wirk- 
lich in  ihm  zur  Reife  gekommen  und  ganz  sichtbar  geworden  ist, 
so  lasst  ihn  doch  wie  er  ist,  und  nehmt  sie,  wie  ihr  sie  findet,  diese 
Mischung  von  Literatur,  Polemik,  Witz  und  Philosophie**.     So  sollte 
diese    Abhandlung    „den    Namen   des   verehrten  Mannes    von  der 
Schmach  retten,  dass  er  allen  schlechten  Subjectcn  zum  Symbol  ihrer 
Plattheit  diente,  ihn  wegrttcken  von  der  Stelle,   wohin  ihn  Unver- 
stand und  ]^Iissvcrstand  gestellt  hätten,  ihn  aus  der  Poesie  und  poe- 
tischen Kritik  ganz  wegheben  (!),  ihn  hinüberführen  in  .jene  Sphäre^ 
wohin  ihn  selbst  die  Tendenz  seines  Geistes  immer  gezogen  habe, 
in  die  Philosojihie,  und  ihn  dieser,  die  seines  Salzes  bedurfte,  vindi- 
eieren".    In  dem  Nachwort  zu  den  „Eisenfeilen"  kam  er  nochma!» 
auf  Lessing  zurück".    Den  Grad  und  die  Art  der  Ehrfurcht,  die  er 
für  ihn  hege,  würde,  sagte  er  hier,  besser  als  alles  andre  die  Stelle 
die  Lessing  in  dem  nachfolgenden  Gedicht,  „Herknies  Musagetea^ 
einnehme*^  auszudrücken  vermögen.    Er  ehre  ihn  wegen  der  grossen 
Tendenz  seines  philosophischen  Geistes  und  wegen  der  symboliscbea 
Form  seiner  Werke.    Wegen  jener  Tendenz  finde  er  ihn  genialiKh; 
wegen  dieser  Form  weise  er  seinen  Werken  ihre  Stelle  in  dem  Gfr 
biet  der  hohem  Kunst  an*'. 


92)  Charakteristiken  1,  2ti2  ff.  93)  S.  273  „Lessing  und  Goethe,  die 

haben  die  Bildung  der  Deutschen  gegründet".  94)  Was  als  Begriindanfir  «ai 

Erläuterung  dieser  Sützo  dienen   soll,   muss  in  den  Charakteristiken  etc.  sfX-^ 
nachgelesen  werden.   Spiiter,  in  seinem  Buche  ^I^^ssings  Geist  aus  seiuea  Sclirii- 
ten"  etc.  d*»!)!!,   äusserte   sich  Schlegel   bei  weitem  weniger   absprechend  tlft 
Lessing  als  ästhetischen  Kritiker.    Nicht  nur  rechnete  er  es  ihm  il,  34  ff.l  uca 
als  nicht  geringe  Verdienste  an,  dass  er  als  Aesthctiker  die  Gattungen  gesondst 
und  das  Unechte  vertilgend  ausgeschieden  habe,   indem  dadurch  die  ästhetiäcbi 
Kritik  wenigstens  auf  den  rechten  Weg  geführt  worden  sei ;  sondern  er  stand  mä 
von  seiner  frilhern  Behauptung  ab,  dass  Lessingen  zum  wahren  Kunstrichter  scla 
die  historische  Kenntniss  fremder  Literaturen  gefehlt  habe.    Dabei  hob  er  Bxi 
besonders  hervor,  dass,  so  viel  seine  Kritik  auch  umfasst  habe,  sie  doch  durckw 
populär  und  ganz  allgemein  anwendbar  gewesen  sei,  und  noch  mehr  (S.  (if>\  ^ 
ein  Schriftsteller  einer  erst  werdenden,  aus  der  Gemeinheit  sich  erst  emponri'fl" 
tenden  Literatur  ganz  anders  zu  beurtheilen  sei,   als  der  einer  schon  rriteßo' 
der  höchsten  Bildung  fähigen.     Am   anerkennendsten  und   würdigsten  nrtkf* 
aber  Schlegel  über  die  Bedeutung  und  die  Erfolge  der  lessingschen  Kritik  in  ^ 
Abschnitt  seines  IJuchea,   der   „Vom  combinatorischen  Geist"  überschrieb«^ 
<2,  3  ff.).    Er  zeigte  hier  nämlich,  „wie  es  eine  Kritik  geben  könne,  die  mc^^ 
wohl  der  Commcntar  einer  schon  vorhandenen,  vollendeten,   verblühten ,  son^ 
vielmehr  das  Organon  einer  noch  zu  vollendenden,  zu  bildenden,  ja  anzu&Di»* 
Literatur  wäre,  eine  Kritik  also,  die  nicht  bloss  erklärend  und  erhaltend,  soni" 
die  selbst  produciercnd  wäre,  wenigstens  indirect  durch  Lenkung,  AnorJ»"* 


twiekelufiflsg.  d.  LH.  1773-1833.  Dio  Romantiker.  Fr.  Schlegel,  üb.  Goethe.  627 


Wie  über  Goellie  in  der  Schrift  „üLer  das  Studium  der  griecUi-  §  32Ö 
schon  Poesie'*  von  Fr.  Schlegel  geurtheilt  wurde™,  war  bereits  vor 
dem  Erscheinen  derselben,  im  ersten  Viertel  des  J.  1796,  durch 
ßeichardta  „Deutschland"  bekannt  geworden '^  Diese  Charakteri- 
sierung Goethe's  bildete  von  nun  an  so  zu  sagen  die  ihn  betreffende 
allgemeinere  Grundanschauung  der  romantischen  Schule.  Goethe 
galt  ihr  unter  den  bisherigen  deutschen  Dichtem  nicht  Lloss  als  der 
grL>8Ste  von  allen,  sondern  auch  als  der  einzige,  der  Dichter  im 
vollsten  Sinne  des  Worts  wäre".    Aber  in  der  Würdigung  der  Werke 


Erregung";  doss  eine  solche  Kritik  im  neuern  Deutschland  durchaus  nothvendig 
gcircRen.  damit  wir  erst  wieder  eine  lebensvolle,  selbständige  Literatur  erhielten, 
und  dass  sie  mit  Lessing  zuerst  ins  Leben  getreten  und  von  ihm  in  der  geist- 
vollsten und  folgereich &ten  Weise  ausgeübt  worden  sei.  Indessen  hielt  Schiegel 
auch  nof.h  später  an  der  Ansicht  fest,  dass  Lessing  als  „Wahrheitaforscher  und 
Philosoph"  bei  weitem  merkwürdiger  sei,  denn  als  scharfsinniger ivritiker  oder  gar 
Alb  Theaterdichter  (vgl.  das  von  Urni  hernusgegehcne  deutsche  Museum  H,  H4,  uud 
die  „Vorlesungen  Aber  die  Cieschichte  der  alten  und  neuen  Literatur*',  Werke 
'-lt.;  Iskj;  2sO  ff.).  —  Wie  die  Ansichten  überLessing  als  Dichter  und  Kunsl- 
r,  die  mit  aller  Scbroffheit  und  im  schneidendesten  Widerspruch  gegen  die  so 
;C  vornehmlich  in  der  alten  Berliner  Schule,  herrschenden  Meinungen  über  ihn 
it  im  „Lyceum"  vorgctrayicn  waren,  von  Fr.  Schlegels  Bruder  und  ihren  beider- 
\h  Freunden  damals  uud  während  der  nkcbsten  Jahre  getheilt  wurden,  spater- 
,  wenigstens  bei  Tieck.  sich  bedeutend  modificicrtcn ,  kann  man  ersehen 
Bernhardi^s  Theaterkritiken  im  „Berliner  Archiv  der  Zeit  1799.  1,  157  ff.; 
SS5  und  1799.  I,  347  ff.  (vgl.  auch  in  dem  Jahrgang  ISOO  die  „Abfertigung** 
213  f.i;  aus  A.  W.  Schlegels  Aussprüchen  in  der  Zeitschrift  „Europa",  i,  I, 
f.;  »5;  in  der  Zeitung  für  die  elegante  Welt  ISO'2.  N.  fiS,  Sp.  1024  (Werke 
221)  und  in  den  „Vorlesungen  Über  dramatische  Literatur**  etc.  Werke  ti,  II  f. 
rl.  Giihrauers  Fortsetzung  von  DanzeU  Lessing,  I,  IM  ff.i  nnd  S.  4ü<i  ff.;  end- 
au£  Tiecks  Parodie  „der  neue  Herkules  am  Scheidewege"  im  poetischen  Journal 
114,  nnd  dem  Fragment  „Bemerkungen  Überparteilichkeit"  etc.  in  den  ,,uach- 
isenen  Schriften"  2,  5 j  f.,  womit  zu  vergleichen  sind  dessen  »Jvritische  Öchrilten'* 
Ifi  f.;  Ib5  i.;  190  f.  und  Tiecks  Loben  von  Köpkc  2,  ISil  ff.  (au  allem  vgl, 
Müllen»  „Vorlesungen  über  deutsche  Wissenschaft  und  Literatur*'  S.  (>4  ff.) 
|&)  Vgl.  das  oben  S.  616  f.,  Anm.  02  Angeführte.  96)  Vgl.  S.  filS  öB. 
IS  bezeugen  eben  sowohl  ausführlichcrt^  Aufsit/e,  namentlich  A.  W.  Schlegels 
ioo  von  „riermann  und  Dorothea",  und  Fr.  Schlegels  Charakteristik  des 
dm  Meister*'  (Athenäum  1.  2,  117  ff.;  Werke  Kl,  12:»  ff.l,]  nebst  dessen 
ich  über  den  verschiedenen  Stil  in  Ooethe*a  frühem  und  spätem  Werken" 
..Gesprilch  über  die  Poesie",  Athenäum  '.i,  l"ii  ff.;  Werke  5,  301  ff.»,  wio 
le  Auspruche:  von  Fr.  Schlegel  (im  Athcnilum  1,2,  lis:  „Goethes  rein 
^he  Poesie  ist  die  vollständigste  Poesie  der  Poesie^i;  von  A.  W.  Schlegel 
der  Europa  2,  1.  91:  „Goethe  bleibt  der  W'ieder herstelle r  der  Poesie  in 
ilKrhlaiid**);  von  Novalis  (im  Athenilum  I,  I,  103:  „Goethe  ist  jetzt  der  wahre 
Ithalt.T  des  poetischen  Geistes  auf  Erden");  von  Tieck  (im  Zerbino  S.  3IÖ  des 
ilsder  romantiäcfaen  Dichtungen:  „Joner  Künstler  — ,  mit  dessen  Namen 
Is  Kunst  erwacht";  vgl.  oben  S.  j7S;  „Poetisches  Journal  I,  6;  uud 
tien  It,  S.  LXI). 


628    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XMU  Jabrbuadorts  biß  lu  Ooeihe's  Tod. 

§  32S  Goctbo's  aus  seiner  ersten  und  aus  seiner  zweiten  Periode  wicli  Ti( 
in  bedeutendem  Masse  von  den  beiden  Scblcgel  ab,  wie  er  d( 
überhaupt  sich  nie  vollständig  zu  ihren  und  namentlich  zu  des  jtti 
Bruders  kunsttbeoretiscben  Sätzen  bekannte.  Die  Schlegel  «aben 
den  %vahren,  in  jeder  Beziehung  vollendeten  Dichter  nur  in  dem 
Goethe,  der  die  mit  der  ,,Iphigenie**  anbebende,  in  dem  „WUh< 
Meister"  und  in  „Hermann  und  Dorothea"  auf  ihren  Höhepunkt 
langte  Reihe  ktlnstlorischer  Werke  hen'orgebracht  hatte;  Tieck 
gegen  hielt  fest  an  der  Liebe,  die  er  von  seinen  Knaben-  und  Jl 
liugsjahren  an  für  die  Dichtungen  aus  Goethe^s  erster  Periode  gefa 
hatte ;  und  zog  sie  bis  in  sein  spätes  Alter  allen  Übrigen  vor.  Er 
bewunderte  und  liebte  am  meisten  in  ihm^  was  er  uns  als  rater- 
läudischer  Dichter  schon  vor  der  italienischen  Reise  geworden' 
Jene  beiden  legten  in  ihrer  Bewundening  den  meisten  ^^ 
auf  seine  eigentlich  künstlerische  Bedeutung  und  hoben  in.- 
die  Stellung  hervor,  die  er  darnach,  gegenüber  der  poetischen  Kl 
der  Griechen,  Überhaupt  iu  der  modernen  Dichtuns:  einnähme. 
Jugendwerke  galten  ihnen  ,, weniger  als  Kunstwerke,  ilenu  als 
testationen  gegen  die  conventionelle  Theorie,  als  Vertheidigi 
der  Natur  gegen  die  Eingriffe  der  VerkWnstelung".  Nach  ihrer 
sieht  war  er  bei  dem  Hervorbringen  dieser  Werke  ., selbst  D'kJi 
Missverständuissen  befangen  und  hatte  auch  andere  irre  geleitet, 
er  selbst  gestünde.  Er  babe^  wie  es  scheine,  durch  diese  VerkeaiiDi 
der  Kunst  hindurch  gemusst,  um  bei  vollendeter  Reife  zü  U» 
reinsten  Ansicht  durchzudringen'"". 


98)  Vgl.  die  KinleittiQg  zu   den   Schriften  von  J.  M.  R.  Lenz  und 
l^bcn  etc.  von  K6pke  2,  IST  ff.  *m  Vgl.  A.  W.  Sc(ilei,'el  In  den  CbmM' 

Btiken  und  Kritiken  1,  rt;  in  d*?r  Kuropa  2,  1,94:  in  dein  Briefe  an  Koaijne,  W| 
«).  I43f.;  und  Fr.  Schlegel  in  dem  ..Oesiirach  über  die  Poesie".  AtbenAomJ^; 
Werke  5,  303  ff.    W'ie  Novalis  zuerai  über  Goethe   urtheilte,    bezeugt  di« 
angeführte  Stelle  aus  dem  Atben^kunif  zu  der  mau  ein  Fragment  in  meinen  S'*! 
|3.  171  ll.i halte,  das  wahrscheinlich  nicht  viel  jünger  ist.   Dass  er  aber 
anfänglich  unbedingten  Bewunderung  des  „Wilhelm  Meisler"  mit  der  ' 

kam  und  sein  Urtheil  Qber  deu  Dichter  überhaupt  sehr  änderte,  V 

Stellen  aus  den  „Fragmenten"  (Schriften  2,  ls4  ff.  der  Ausg.  vrn 

ist  ganz  praktischci-  Dichter.    Er  ist  in  seinen  Werken ,  waa   m  r  i^^i 

seinen  Werken  ist:   buchst  einfach,  nett,  bequem  und  dauerhaft.    Er  fai 

deutschen  Literatur  das  getlian,  was  Wedgewood  in  der  enj" 

thau  hat.    Kr  hat,   wie  die  Engländer,    einen  natürlich  o>  > 

durch  Verstand  erworbenen  edeln  Geschmack.    Beides  vertr.*.;   ■ 

hat ^  eine   nahe  Verwandtschaft  im   chemischen  Sinn,     In    ^.iu-i.    ( 

Studien  wird  es  recht  klar,  dass  es  seine  Neigung  ist.  eher  etwas  l'ub« 

ganz  fertig  /u  machen,  ihm  die  höchste  Pobtur  und  Bequemlichkeit  la 

eine  AVeit  anzufangen  und  etwas  eu  thuu.  wovon  man  voraus  wissen  ktai. 

mau  es  nicht  vollkommen  ausflthren  wh'd.  daas  es  gewiss  un^escbirkt  Udbt, 


EntiHckdaugsg.d.Lit.  17T:)-1&32.  Die  Romaiitikcr.  Fr.  Schlegel,  üb.  SckiUer.  629 


lieber  ScliiÜer  lassen  sieb  von  Fr.  Scbiejrel,  seiner  gaiueu  In- 

dividualitüt  nach,  unbefangene  Urtbcile  nur  vor  dem  £i*scheiuen  des 

Xenienalmanacbs  voraussetzen;   uacbber  war  er  geg^n  Sebiller,  wie 

dieser  gegen  ibn,   i»ersrinlipb  ein^^enonimen,  nnd  diese  sieb  wccbscl- 

Beitig  bis  zur  Ungerecbtigkeit  steigorudo  Eingenommenheit  gieng  auch 

bald  auf  den  altem  Schlegel   Über.    Der  erste  Grund  dieses  Miss- 

verbfdtnisses  wurde,  wie  schon  oben  bemerkt  ist,  durch  Fr.  Schlegels 

Recensiou  des  schillerscben  Musenalmanachs  für  das  Jahr  1706  ge- 

le^'*',  und  auf  das,  was  hierin  und  in  der  Schrift  „tlber  das  Studium 

T  griechistdieii  Poesie""*'  gesagt  ist,   beschränkt  sich  allein,   was, 

viel    mir   bekannt  geworden,   von   Fr.   Schlegel    Über   Schillers 

dichterischen  Charakter  und  einzelne  seiner  Gedichte  Oftentlicb  aus- 

tsproehen  ward,  bevor  die  Xenien  herauskamen.     In  der  Recension 

Le,   nachdem   dem  Almanach  im  Allgemeinen  grosses  Lob  ge- 

"spendet  worden,  unter  Schillers  Beiträgen  am  meisten  ausgesetzt  an 

dem    , .Pegasus*'    und    an    der   „Würde    der   Frauen''.     Würde    sich 

Schiller^   fragte  Schlegel,  in  der  schönen  Zeit  seiner  ersten  BItttbe 

^vobl  ein  solches  Gedieht,  wie  das  erste  von  diesen  beiden,  verziehen 

^Babeu?    Ohne   ursprüngliche  Fröhlichkeit  und  eine  wie  von  selbst 

^■berschäumende  Fülle  sprudelnden  Witzes  künnten  komische  nnd 

^■kdeske  Gedichte  nicht  interessieren,  und  ohne  Grazie  und  Urbanität 

^HHvteii  sie  beleidigen;   die  MeisterzUge  im  Einzelnen  vermochten 

mit  der  Grellheit  des  Ganzen  nicht  auszusöhnen.    Doch  dürfte  diese 

niemand  die  Freude  Über  Schillers  Rückkehr  zur  Poesie  verderben; 

noch  zu  rechter  Zeit  wäre  er,   mit  gewiss  unversehrter  Kraft,  aus 

den   unterirdischen  Grüften  der  Metaphysik   wieder  ans  Tageslicht 

I     emporgestiegen.     Von  der  „Würde  der  Frauen'*  heisst   es  sodann: 

,. Diese  im  Einzelnen  sehr  ausgebildete  und  dichterische  Beschreibung 

der  MAniiliehkcit   und  Weiblichkeit   ist   im   Ganzen   monoton   durch 

den  Kunstgriff,   der    ihr  Ausdruck  geben  soll.     Der  Gebrauch  des 

Rhythmus  zur  Mahlerei  solcher  Gegenetilnde  läset  sich   nicht  recht- 


32S 


moa  &6   nie  dariu   zu    einer  mcitit^r haften  Fertigkeit  bringt.   —  Wilhelm 

isien  Lehrjahre  sind  gcwissermasscn  durchaus  prosaisch  und  modern.     Das 

»mautische  geht  darin  zu  Grunde,  auch  die  Nftturpoeeie,  das  Wunderbare.   Das 

Lcfa  handelt  bloss  von  gewöhnlichen   menschlichen  Dingen,   die  Natur  und  der 

stlctsTnii!  sind  ganz  verß:e$sen.    Hs  idt  eine  poettsicrtc  bürgerliche  und  hUua- 

she  beschichte,  das  Wunderbare  darin  wird  ansdrücklich  als  Poesie  und  Schwdr- 

rei  bebandelt.    KuuBtlerischcr  AthciBmus  ist  der  Geibt  des  Buches.    Dio  Oeco- 

ie  ist  merkwürdig,  wodurch  es  mit  prosaischeni,  wohlfeilem  Stoff  einen  poetischen 

fect  erreicht.    Wilhelm  Meister  ist  t'igeutlich  ein  Candide,  gegen  die  Poesie  ge- 

das  Buch  ist  undichtt'risch  in  einem  hohen  Grade,  was  den  Geist  betrifft, 

SÜsch  auch  die  Daratelhuig  ist".  UlO»  Vgl.  S.  Gl^  67.  lOli  Der 

derselben  fiel  noch  vor  den  Herbst  1796. 


■i^MV 


630    VL  Vom  zwdten  Ticrtel  des  XVm  Jahrbttadena  hts  ra  Goete't  Tod. 


ä 


ISCU.     Pocfc    I 


f  32S  fertigren.    Strenjfe  g^n<nnmcn,  kann  diese  Scbrift  nicbt  fttr  eta 

dicht  gelten:  weder  der  Stoff  noch  die  Einheit  ist  i>oetiscli.    Dock 
gewinnt  sie,  wenn  man  die  Hhythinen  in  Gedanken  venrediMlt 
das  Ganze  strophenvreisc  rückwärts  liest  (!j.    Aach  hier  ist 
Schiller   überhaupt  den   Han^   zum   Idealen   habe)   die 
idealisiert;  nur  in  verkehrter  Richtung,  nicht  aufw&rts,  aondera  ab- 
wärts, ziemlich  tief  unter  die  Wahrheit  hinab.    Männer,   wie  dkie, 
roOasten  an  Esindeu  und  Beinen  gebunden  werden;   ftolch.eD  Fnoei 
ziemte  Gängelband    und   Fallhut".     Als   voraUglicb   geluniren   wifii 
onter  den  Epigrammen  ^jCclumbus'*  bezeichnet,  ein  Epigramn,  4u 
man  in  der  Kunstsprache  des  Verf.  ein  sentimentales  nennen  kÖBBte; 
„der  Tanz/*  dagegen  scheine  für  ein  Epigramm  zu  l:i' 
sam  zu  ernstlich,   und  für  eine  Elegie  sei  er  nicht  p   .  ...    ^      , 
der  Ton  vereinige  die  Weitschweifigkeit  des  Ovid   mit  der  Scbwcr 
fälligkeit  des  Proporz.     Ueherhaupt  scheine  die  Elegie,   welch«  ein 
sanftes  Ueberströmen  der  Empfindungen  fordere ^  Schillers  nucli«n 
Feuer  und  gedrängter  Kraft  nicht  angemessen'*".    Seine  kühne  Männ- 
lichkeit werde  durch  den  Ue])er6u88,  wozu  selbst  der  FI!      '         '    k: 
wie  verzerrt.    Fast  könnte  es  scheinen,  dass  er  in  fr ^ 
ihm   angemessene  Tonart  und  Rhythmus  unbefangener  zu  wäUen 
und  glücklicher  zu  treffen  gewusst  habe.     Grosse  Anerkennung  fiinlCA, 
trotz  einzelnen  daran  wahrnehmbaren  Mängeln,  „die  Ideale".    Dw 
begeisterte  Schwung,  der  binreissende  Fluss,  welcher  einige  frflh« 
Gedichte  dieses  grossen  Künstlers  zu  Lieblingen  de»  Public 
macht  habe,  werde  auch  „den  Idealen'*  viel  warme  Freun 
schaffen.    An  Bestimmtheit  und  Klarheit  habe  Schillers  EinbO 
kraft  unendlich  gewonnen.    Ehedem  sei  seine  üppige  Bild 
„ein  streitendes  Gestaltenhoer"  gewesen,  wie  eine  im  Werken 
lieh  angehaltene  Schöpfung;  jetzt  habe  er  den  Ausdruck  in  9m9 
Gewalt.    Nur  selten  stosse  man  noch  auf  nicht  reif  gewordene  Gi 
nisse  und  auf  Erinnerungen  an  jene  sorglose  Kühnheit,  mit 
er,  was  sich  nicht  gutwillig  vereinigen  liesa,  gewaltsam  t 
fügte.    Meisterhaft  und  einzig  seien  in  „den  Idealen'%   wie 
der  „Würde  der  Frauen",  ja  in  allen  schillerschen  Ge<licbtcn.  ÄllJ^ 
zogenc  Begriffe  ohne  Verworrenheit  und  Unschiokiicbkeit  belebt  A» 
wenigsten  ist  Schlegel  in  „den  Idealen"  mit  der  vierten  und  rtiö» 
Strophe  zufrieden.    „Was  hier  dargestellt  wird,  ist  nicht  die  friKbc 
Begeisterung  der  rüstigen  Jngend,    sondern   der  Kranipf  der  Ve^ 
zwciflung,  welche  sich  absichtlich   berauscht,  zur  Liebe  foltert  tuJ 
mit  verschlossenen  Augen  in  den  Taumol  eines  erzwungenen  Glanbcns 
stürzt.  Zwar  kann  diese  unglückliche  Stimmung  auch  mit  der  hüchMtfl 


102)  Und  docli  war  donuda  schon  ..der  Spaziergang**  enddouBl 


w 


wmm 


itwickcluügsg.  d,  Lit  1773—1832.  Die  Ronaamker.  Fr.  Schlegel  Ob.  Schüler.  631 


^Hfcutwickcluogsg 

^^iigendkraft  gepaart  sein,  wo  yeruacblassigte  Erziehung  die  risinere 
Uamaaitüt  unterdrückte.  Docb  ist  sie  hier  nicht  |»oeti8ch  behandelt 
und  mit  dem  Ganzen  in  Harmonie  gebracht.  Schillers  UuvoUenduuit 
entspringt  zum  Theil  aus  der  Unendlichkeit  seines  Zieles.  Es  ist 
ihm  unmöglich,  sieb  selbst  zu  beschranken  und  unverrüekt  einem 
endlichen  Ziele  zu  nahem.  Mit  einer,  ich  möchte  fast  sagen,  er- 
ibenen  L'uniässigkeit  drängt  sich  sein  rastlos  kämpfender  Geist 
imer  vorwärts.  Er  kann  nie  vollenden,  aber  er  ist  auch  in  seinen 
Lbweichungcn  gross".  Auf  diese  sicherlich  viel  Wahres  entbalten- 
)u  Worte  folgt  znuöchst  eine  kurze  Besprechung  der  goetheschen 
itrftge  zum  Ahnanach,  die  Schlegeln  zu  der  Bemerkung  htnttber- 
Htet,  dass  eine  Ncbeneinanderstellung  beider  Dichter  eben  so  lehr- 
licb  wie  unterhaltend  sein  werde,  wenn  man  nicht  bloss  nach  An- 
tbesen  haschen ,  sondern  nur  zur  bestimmten  Wtlrdiguug  eines 
*08sen  Mannes  auch  in  die  andere  Schale  der  Wage  ein  mächtiges 
lewicbt  lege;  worauf  er  fortfilhrt :  „Es  wäre  unbillig,  jenen  [SchiUer) 
iit  diesem  (Gitethe),  der  fast  nicht  umhin  kann,  auch  das  Geringste 
seiner  Art  rein  zu  vollenden,  der  mit  bewundernswürdiger  Selbst- 
iberrscbuug.  selbst  auf  die  Gefahr,  uninteressant  und  trivial  zusein, 
tineni  einmal  bestimmten  Zwecke  treu  bleibt,  als  Dichter  zu  ver- 
leicben.  Schillers  Poesie  übertrifft  nicht  selten  an  philosophischem 
ihatte  sehr  hochgeschätzte  wissenschaftliche  Werke,  und  in  seinen 
itorischen  und  philosophischen  Versuchen  bewundert  man  nicht 
Hein. den  Schwung  des  Dichters,  die  Wendungen  des  geübten  Red- 
ters,  sondern  auch  den  Scharfsinn  des  tiefen  Denkers,  die  Kraft 
md  WOrde  dos  Menschen.  Die  einmal  zerrüttete  Gesundheit  der 
.inbitdungskraft  ist  unheilbar,  aber  im  ganzen  Umfange  seines  Wesens 
inn  Schiller  nur  steigen  und  ist  sicher  Tor  der  Flachheit,  in  die 
noh  der  grösste  Künstler,  der  nur  das  ist,  auf  fremdem  Gebiete, 
Augenblicken  sorgloser  Abspannung  oder  muthwilliger  Vernach- 
tsigung,  in  der  Zwischenzeit  von  jugendlicher  BlUthe  zu  mflnn- 
icher  Keife,  oder  im  Herbste  seines  geistigen  Lebens  versinken  kann.'* 
der  Schrift  ,,Über  das  Studium  der  griechischen  Poesie**  finden 
(abgesehen  vOu  der  Vorrede)  drei  Stellen,  in  denen  von  Schiller 
Rede  ist'*^.  Von.  der  ersten  ist  der  allgemeinere  Theil  seinem 
'esentlicheu  Inhalt  nach  bereits  oben"'*  angeführt;  der  sich  daran 
shliessende  besondere  lautet  im  ersten  Text:  „Zwar  ist  im  „Dou 
lHos"  das  mächtige  Streben  nach  Charakterschöubeit  und  schöner 
Organisation  des  Ganzen  durch  das  colossale  Gewicht  der  Masse  und 
'den  künstlichen  Mechanismus  der  Zusammensetzung  niedergedrückt 


328 


103)  Ihre  FasBong   im  erstoo  Druck  (S.  209  f,:   247;   248  f.)  hat  In  den 
Werken  (6,  1S4  f.:  2Ui;  217»  nur  geringe  Abänderungen  erlitten.        104)  S.  3'.»^». 


«m 


G32     VI.  Yom  zweiten  Viertel  de»  XVTII  J&luliimderts  hü  za  Go«tbo'a  Tod. 

§  32S  oder  doch  aufgebalten:  aber  die  Starke  der  tiagiachen  Ener^e 

weist  nicht  nur  die  Gn'jsso  der  genialischen  Kraft,  sondeni  die  toII- 
konimeno  Reinheit  derselben  zeugt  auoh  von  dem  Siepc ,  welc! 
der  Künstler  über  den  widerstrebenden  Stoff  davon  getragen  hj 
Die  zweite  schrieb  Schillern  unter  den  „grossen  Meistern**  der  d< 
sehen  Poesie  das  Verdienst  au,  ilir  „st&rkere  Kraft  und  hOh( 
Schwung"  gegeben  zu  haben.  In  der  dritten  endlich  heiast 
„Noch  ein  anderes  Zeichen  von  der  Annäherung  zum  Antiken  in 
der  deutschen  Poesie  ist  die  auffallende  Hinneigung  zum  Chnr 
den  höhern  lyrischen  Gedichten,  wie  „die  Götter  Griechenland 
und  „die  Künstler"  von  Schiller;  eines  Dichtere,  der  »oust,  dui 
seinen  ursprünglichen  Hnss  aller  Schranken  vom  elastischen  All 
thum  am  weitesten  entfernt  zu  sein  scheint.  So  verschietlcn  ai 
die  Tiussere  Ansicht,  ja  manches  Wesentliche  sein  mag,  so  ist  de 
die  Gleichheit  dieser  lyrischen  Art  selbst  mit  der  Diehtart  de« 
darus  unverkennbar.  Ihm  gab  die  Natur  die  Si^ke  der  Empfindüi 
die  Hoheit  der  Gesinnung,  die  Pracht  der  Phantasie,  die  Würde 
Sprache,  die  Gewalt  des  Rhythmus,  die  Brust  und  Stimme,  welcl 
der  Dichter  haben  soll,  der  eine  sittliche  Masse  in  sein  Geml 
fassen,  den  Zustand  eines  Volks  darstellen  und  die  Menschhcil  8( 
sprechen  will".  Wie  sich  nun  aber  gleich  nach  dem  Erschfini 
des  Xenienalmanachs  der  Ton  änderte,  in  welchem  Fr.  Schle^l  t( 
Schiller  sprach,  erhellt  aus  der  Recension  der  fünf  letzten  Hör« 
stücke  vom  J.  1796  und,  sofern  ich  mich  in  ihrem  Verfasser  nh 
getäuscht  habe,  aus  der  oben'*^  berührten  Anzeige  des  Xenicw 
manachs  selbst.  In  dieser  nämlich  wird  gegen  das  Ende  hin, 
Anführung  des  Xenions  „Wem  die  Verse  gehören?  Ihr  [werdet 
schwerlich  errathen.  Sondert,  wenn  ihr  nun  könnt,  o  ChoriÄf^nu 
auch  hier!''  mit  bitterer  Ironie  bemerkt:  die  Churizonten  wOrdi 
doch  wohl  die  Kenner  fragen,  ob  denn  nicht  wenigstens  die^i 
gramm  ein  vollkommenes  Beispiel  eines  naiven  Epigramms  (d. 
eines  schillerschen)  sei?  Denn  wenn  die  Trojaner  auch  überall  eoi 
in  Gefahr  wären,  den  für  sein  Heil  zu  dreisten  Patroklus  (Schill 
der  geborgten  Rfistun^'  wegen  mit  dem  grossen  Peliden  (Go< 
verwechseln:  so  erkenne  doch  jeder -leicht  die  Stimme  de« 
hier  frohlocke,  Mass  er  der  Andere  scheinen  könne.  In  der 
theilung  jener  HorenstUcke  aber  sprach  sich  eine  gewisse  SchÄÜt 
freude  über  das  Sinken  der  Zeitschrift  und  eine  Verhfthnunf  d( 
Herausgebers  aus.  So  hcisst  es  u.  a. :  jetzt  scheine  für  die 
wechselnden  und  oft  von  ihrer  Bahn  abweichenden  Hören  die  Peri< 
der  Uebersetznngen  gekommen  zu  sein,  und  dabei  erlaube  sich  m\ 


Dl^ckelangsg  d.  Lit.  1773—1632.  Die  Romantiker.  Fr.  Sthlegel,  üb.  Schiller.  633 


Ai 


den  tibersetzten  Stöcken  eine  Elegie  des  Properz,  so   wie  eine  Er- 
zählung au3  dorn  Decaraeron,   doch   mehr  Freiheit,   „als  mit  guten 
d   schönen  Sitten   verträglich    sei""*.    Wie   zuversichtlich   müsse 
icht  der  Flerausgeber  darauf  rechnen,  dass  das  Publicum  sich  alles 
gefallen  lasse,  um  ein  übersetztes  Werk  von  solcher  Länge,  wie  der 
\uszug  ans  dem  .,Bonvenuto  Cellini**,  in  einer  Monatsschrift  von  dem 
lane  der  Hören  zerstückeln  zu  dürfen!    Von  dieser  Vomachlilssigung, 
omit  glänzend  begonnene  Unternehmungen,   denen   man  nicht  ge- 
wachsen sei,  gewöhnlich   endigen,  seien  in  diesen  letzten  Stücken 
der  Hören,  durch  die  Aufnahme  so  manches  äusserst  unbedeutenden 
der  durebaus  schlechten  Beitrages,   vorzüglich   viele  Beweise  ent- 
alten »'^. 


§  328 


106)  Anspielung  auf  eine  Stelle  in  der  Ankündigung  üerHoreii.  107)Aa8 
rAs  späterer  Zeit  bezeugen  einige  Briefe  Fr.  Schlegels  an  Rahel,  wie  wenig  er 
)ii  Schillers  (hchterischen  Leistungen  hielt,  und  welchen  liefen  Groll  er  gegen 
in  hegte.  In  dem  einen,  aus  dem  Febr.  IS02  {Varnhagens  Galerie  von  BUdnißscn 
IS  Rahels  Tmgang  I,  2'(0K  spricht  er  von  dem  „bleiernen  moralischen  Schiller" 
u\  rechnet  ihn  unter  die  „Aucm])üuder.  die  immer  gerade  auf  das  fallen,  was 
len  am  fremdester»  ist".  Mit  dem  andern,  einige  Monate  spater  geschriebenen 
TAA\y  sandte  er  der  Freundin  fünf  „gereimte  und  ungereimte  Scherze  gegen 
^hiller'*.  indem  er  dabei  bemerkte,  derselbe  habe  es  nicht  um  ihn  und  seinen 
ler  verdient,  dass  er  von  ihnen  verschont  wurde.  Diese  „Scher/e"  blieben 
zwar  iingedruckt,  und  erst  lange  nach  Schlegels  Tode  wurden  die  platten 
leien  aus  Uahels  Papieren  von  Boas  dem  Buche  „Schiller  und  Goethe  im 
Xenieukampf"  ?,  *Jü(;  einverleibt;  ihr  Vorhandensein  kam  aber  mindestens,  und 
luf  eine  für  Schlegel  nichtsweniger  als  schmeicbelbafte  Weise,  schon  ISO«  zu  all- 
leiner  Kunde  durch  Ad.  Muller  in  seinen  zu  Dresden  gehaltenen  „Vorlesungen 
Iber  deutsche  Wissenschaft  und  Literatur  (vgl.  die  Ausgabe  von  1^01.  S.  IS9  und 
izu  Fr.  Schlegels  Recension  des  müllerschen  Buchs  in  den  Heidelberger  Jalir- 
ichem  IHOS.  Heft  ■•.  335  f ».  Dass  Schiller  in  dem  Abschnitt  des  „Gesprächs 
*r  die  Poesie*'  lim  3.  Bde.  des  Athenäums),  der  .^pochen  der  Dichtkunst"  über- 
irieben  ist.  nicht  erwähnt  wurde,  Usst  sich  vielleicht  damit  entschuldigen,  dasrf^ 
jeues  Oespriich  ab;»efasst  ward,  der„Wallen8tein"  von  Schlegel  noch  nicbt  ge- 
mt  st'tn  mochte ;  viel  auffallender  aber  ist  es.  dass  sein  Name  auch  in  dem  erst 
tOi  gedruckten  Gedicht  „Herkules  Musagetes"  fehlt.  Dagegen  sprach  Schlegel 
item  Schriften,  wo  er  Schillers  gedenken  musste,  von  demselben  immer  sehr 
igFvoll  und  Hess  ihm  namentlich  als  dramatischem  und  lyrisch -didaktischem 
iliter  volle  Gerechtigkeit  widerfahren  (vgl.  in  der  „Europa"  I,  1 ,  57  ff.;  aus 
Iner  Recension  in  den  Hpidelberger  Jahrbüchern  vom  J.  ISO^  in  den  Werken 
►,  155  f.;  ITit;  lüö  f.;  und  die  Vorlesungen  über  die  Geschichte  der  Literatur  in 
Werken  2,  20S:  300;  302;  311  ff).  In  Betreff  des  Verhaltens  von  A-  W. 
il«gel  gegen  Schiller  seit  dem  J.  I'OS  will  ich  hier  zundchsl  anfuhren,  dass  der 
;re  in  den  in  der  „Euro|>a*'  2,  I,  3  ff.  gedruckten  Berliner  Vorlesungen  tlber 
Ltur,  Kunst  etc.  aus  demJ.  1H(i2  nirgend  genannt  ist.  und  dass  nur  etwa  auf 
Dichtungen  aus  seiner  letzten  Periode  in  den  Worten  (S.  9ö):  „Was  seit 
^the  in  der  Literatur  geschehen,  ist  zum  Tbeil  noch  zu  neu.  um  es  historisch 
leflcn   zu   können"  etc.   angespielt   sein   mag;    sodann  hinweisen   auf  eine 


634     VI.  Vom  zwcitcu  Viertel  des  XVIII  JatirbunaerU  bU  sa  Gocthi>*8  Tod. 

328  Aber  nicht  nur  mit  der  ästhetischen  Kritik  sehen  wir  Fr.  &chl< 

eindringend   beschäftigt;    sondern   seine   beiden  in  das  Gebiet 
neuesten   Philosophie  einsclilnirendeu  Aufsatze,  der  y,Vtt8aoh 
den   Begriff  des  Ropublicanismus''   etc.""    und  die  ^^Reoeiisioii 
vier  ersten  Bände  des  von  Niethammer  herausg^ebenen  phUosopbf- 
sehen  Journals"  "**,   legten   ein  vollgültiges  Zeugniss  davon  ab,  ww 
enist  und  gründlteh  sich  Fr.  Schlegel  bereits  vor  dem  J.  179's  «adi 
mit  den  Schriften  Kants  und  Fichte's  beschäftigt  hatte.    ZuoiHat 
war  es  wohl  das  Studium  des  Plato  gewesen,  das^  wie  za  dendbea 
Zeit  für  Schleiermacher  von  der  Theologie,  für  ihn  von  der  Philologift 
die  ßrUcke  dazu  bildete,  sich  mit  dem  Geist  der  neuesten  Pbilotophie 
näher  bekannt  zu  machen.     Bald  schloss  er  sich,  wie  im   {»eraOa* 
liehen  Verkehr,  so  auch  im  Philosophieren  eng  an  Fichte  an,  dcüCfi 
, , Wissenschaftslehre"  er  als  eine  Geistesarbeit  von  welt^eschicl 
Bedeutung  und  als  eine  der   „grösslen  Tendenzen   des  Zeil 
ansah  "^     Kant  war   in   der  „Kritik   der  reinen  Vernunft'*  oder 
dem  theoretischen  Theile  seiner  kritischen  Philosophie,  der  von 
Rrkenntniss  der  äussern  Gegenstände  handelte,  darauf  ansgegan^w^ 
zu  zeigen ,   dass  diese  Erkenntniss  immer  innerhalb  der  Sphäre  der 
Subjectivität  stehen  bleibe,  d.  h.  dass  wir  die  Dinge  nie  an  ack, 
sondern  nur   ihre  Erscheinung   in   unsem   Vorstellungen   erkenatt. 
Er  läugnete  also  nicht  eine  Welt  des  objectiven  Seins  geseftlWr 
unserm  Denken,  aber  er  verneinte  es  schlechthin,  dass  unser  Deokcn 
je  in  diese  Welt  selbst  eindringen,   sich  ihrer  bemächtigen,  sis  b^ 
stimmen  könne:  was  wir  an  und  von  einem  Gegenstande  erkonucD, 
sei  weiter  nichts,  als  die  Art  und  Weise,   wie  der  Gegenstand,  der 
Beschaffenheit  unsera  Erkouutuissvermögcns  gemäss,  sich  uns  dar* 


SctüUcrs  Bearbeitung  der  „Turundof*  hotrcffßDüo  StcUe  in  der  Zeltnflg 
^cgante  Welt  !SU2.  N.  "S,  8p.  (J2G  f.,  auf  eine  sehr  ffeh&gaigc  briefliche 
ruog  au8  dem  J.  inOß  in  den  Werken  6,  148  und  auf  dea  vou  SchUler  InMh 
dwi  AbBchnitt  in  den  „Vorlesungeu  über  dramaüsc ho  Kunst**  et*..  Werke  «c4ttC4 
endlich  auf  die  durch  die  Vcrülfentlichung  des  BricfwüchBOls  zwiscbtn  ScMlv 
and  Goethe  vemulasstcn  sehr  uncrtrenlichen  und  unwUrdigun  MEpignuBM  srf 
literarischen  Scherze"  etc.  in  den  Werken  2,  204  ff.  Wie  hart  oU  die  hääm 
Schlegel  um  tTlMj  über  äcbiller  in  dorn  geselligen  Kreise  urtbeUteii.  der  äcb  n 
Jena  im  Hause  dos  altern  Bruders  r.u  vensnmineln  pflegte,  hat  nna  H.  SMAh 
berichtet  !.,Wa3  ich  erlebte"  4,  loO;  104).  Ticck  «ich  in  seinen  Ansicbtea  ul 
Crtheilcii  auch  iu  dieser  Beziehung  von  seinen  Freunden  bedcalcnd  ab.  Kkkl 
nur  bewunderte  er  „die  Rauber'*,  welche  die  Schlegel  —  ftr  ihn  vtibtfftiOA  *- 
«xoh  und  barbarisch'*  fanden;  sie  verstanden  überhaupt,  seiner  ViiBaBg  vA 
Schiller  nicht,  hatten  von  seiner  Grossartigkeit  keine  Ahnung  und  beorMIlB 
seine  Dichtungeo  Bchonungslos^  ja  ungerecht.  Vgl-  Köpke  a.  a>  O.  1,  It3  f.  nl 
I.  255  ff.  lOS)  Vgl.  S.  61**,  t>N.  109)  V«l  8.   ftU,  kam.  *M- 

110)  Vgl.  Bd.  in,  25,  Anm.  13. 


EutirickdaxkgBg.  d  Lit.  17:3—1932.  Die  Romautilcer.  Fr.  Sthlegel,  üb.  Fichte.    ij\\b 


jtelle,  so  daös  die  pliilosoji bische  Speculation  ihre  Aufgabe  nur  darin  §  328 
letzen  köuue,  das  ErkeuutiiitJä vermögen  seiner  Natur,  seiaeu  Fonueu 
und  seinen  Grenzen  nach  zu  bestinnmcn  und  die  Gesetze  aufzufinden, 
nach  welchen  das  Denken  innerhalb  der  ihm  ^^esteckten  Grenzen 
'erfahre.  Indem  er  nun  einer  solchen  Bestimmung  des  Erkenntnies- 
Vermögens  nacbgieng,  fand  er,  dass  der  menschliche  Geist  in  sich 
*elb«t  all;L'einein  gültige,  von  jeder  Erfahrung  unabhängige  Formen 
|de9  AnschaueuB  und  des  Denkens  trage,  auf  welche  er  die  Vor- 
ilellungen,  die  er  sich  von  der  äussern  Welt  bilden  kann,  n^th- 
endig  zurückführe.  Diese  Formen  waren  ihm  theils  Raum  und 
it,  die  er,  weil  sie  die  nothwendige  Grundlage  alle»  Anschauens 
reine  Anschauungen  nannte,  theils  die  Kategorien  des  Ver- 
les,  die,  an  sich  inhaltlos,  die  festen  Gesetze  und  Formen  des 
Denkens  bilden  iwie  Einheit,  Vielheit  und  Allheit,  Substanz  und 
'Accidenz,  Ursache  und  Wirkung  oder  Cauaalität,  Wechselwirkung  etc.j, 
theils  endlich  die  Ideen  der  Vernunft,  unter  der  er  das  Venuögen, 
das  Unbedingte  und  Unendliche  zu  erkennen,  und  unter  den  Ideen 
derselben  die  an  sich  unbedingten  und  unendlichen  Principieu  alles 
Denkens  und  Erkeuuens  (die  Idee  der  Seele,  die  Idee  der  Welt  und 
die  Idee  Gottes i  verstand.  —  Fichte's  System   wurzelte  ganz  in  der 

I'     Jcritischen  Philosophie,  ja  nach  seiner  Ueberzeugung  und  ausdrück- 
lichen  Erklärung  stimmte   seine  Lehre,    wie   er   sie   zuerst  in  der 
jBehrift  „Ueber  den  Begriif  der  Wissenschaftslehre  oder  der  söge- 
{nannten  Philosophie"  il794)  vortrug,  ihrem  Wesen  nach  vollstilndig 
Unit  der  kautischen  überein.    Er  vermisste  jedoch  in  dieser  noch 
das.  wodurch  ihm   das  philosopluHche  Wisseu  erst  zu  einem  wirk- 
lichen Wissen  in  streng  wissenschaftlicher  Form  werden  konnte,  die 
strenge  Folgerichtigkeit  und  den  festen  Zusammenhang  eines  Systems, 
ruhend  auf  einem  unuiittelbur  gewissen  Grundsatz  und  in  allen  seinen 
^'rheilen  aus  diesem  Grundsatz  stätig  entwickelt.     Denn  so  lange  das 
l^bV'issen  noch  in  der  Abhängigkeit  von  den  Einwirkungen  äusserer 
^Pbinge  stehe,  die   uns  an   und  für  sich  uubekanut  bleiben  und  nur 
ihren  Erscheinungen  nach  in  unser  Bewusstsein  aufgenommen  werden, 
)i  ein  derartiges  Princip  nicht  gefunden  und  das  Wissen  weder  ein 
ibedingtes,   noch  ein  in  seiner  gesammten  Gliederung  fest  zusam- 
lenhangcndcs  uud  zu  voller  Gewissheit  erhobenes.     Um  nun  das 
ißsen  von  dieser  Bedingtheit  zu  befreien,  sah  er  zunächst  in  dem 
tbeoretischen  T heile  seiner  Philosophie,  in  der  „Wissenachaftslehre", 
rn  der  Existenz  einer  realen  Welt  ausser  uns  ganz  ab,  verwarf 
jede  Erklärung  unsers  Wissens  von   ihr,  die  sich  auf  die  Voraua- 
letzung  eines  äuBsern  Einflusses  auf  unser  geistiges  Innere  stützte, 
id  suchte  in  dem   denkenden  Subject  oder  dem  loh  allein  jenes 
ifRte  Princip   alles   Seins   wie  alles   Wissens.     Der  absolut  erste, 


636     VI.  Vom  8W«iten  VierteJ  des  XYIU  J&hrhimdcrts  bis  zu  Gocthc's  Tod. 


§  32S   schlechthin  unbedingte  Grundsatz  der  WissenschaftBlebre  und  zugleich 
die  Urthat  alles  Denkens  und  Wissens  war  der  Satz:     Ich   gleicb 
Ich,   oder  das  Ich   setzt  sich  selbst,   d.  h.  das  Ich   «teilt   sich 
selber  vor,  ist  zugleich  das  vorstellende  Subject  und  das  vorgestcll 
Object,  ist  sich  demnach  seiner  selbst  bewusst.    Damit  aber  wtxt 
eich  zugleich  —  und  diess  war  der  zweite,  mit  dem  ersten  unmil 
bar  verbundene  Grunrlsatz   —  jedem  Andern   entge^'en,   was  nn 
diese  Vorstellung  seiner  selbst  ist,  d,  h.  das  Ich  setzt  ein  Nicht-Icli. 
ohne  aber  noch  etwas  anders  davon  zu  wissen,  als  daas  es  der  ein- 
fache Gegensatz    vom   Ich    ist.     Die   Vereinigung  dieser  durch   die 
beiden    ersten    GrundsÄtze   gegebenen,    einander   entgegengesetatwi 
Vorstellungen  in   einem  und   demselben   Bewusstsein    kann  flodano 
nur,  zufolge  eines  dritten  Grundgesetzes  im  Donken,  durch  ihre  gi^en- 
seitige  Beschrilnkung  geschehen:   das  Ich  setzt  sich  —  oder  stellt 
sich  vor  —  als  beschränkt  oder  bestimmt  durch  Nicht- Ich;  mit  der 
Vorstellung  des  letztem  nimmt  das  Ich  die  Vorstellung  eines  Anden 
in  sich  auf,  aber  mit  dem  Bewusstsein,   dass  es  sich  in  dieser  Vor- 
stellung eines  Andern,  als  einer  besondern  Bestimmung  seiner  sell«t. 
nur  selbst  auschaut.     Aus  dieser  ThUtigkeit   des  loh  in  dem  Setzen 
oder  Vorstellen  eines  Nicht-Ich  und  aus  der  Reflexion,  dass  es  M 
in  diesem  Object  nur  selbst  als  ein  Anderes,  mit  ihm  aber  zugleich 
Identisches,  habe  und  anschaue,  d.  h.  aus  einem  in  sich  selbst  seinen 
Grund  habenden  Acte  des  Selbstbewusstseins,  soll  sich  nun  in  r'^.,- 
fortschreitenden  Reihe  von  Oandlungen,  aus  denen  immer  neue  J  m 
ducte  hervorgehen,  fQr  uns  alles  das  entwickeln  und  gestalten,  witf 
dorn  gemeinen  Veretande  als  Realität,  als  eine  Welt  ausser  uiw  tf- 
scheint.     Den  Fortgang  dieser  Entwickelung,  wie  er  sich  dem  spem- 
lativen  Denken  enthüllt,   vorfolgte  die  Wissenschaftslehre  und,  wie 
nicht  in  Abrede  gestellt  werden  kann,  mit  einer  bewundemswllriücm 
Consequenz  des  Verfahrens,   wodurch   sie  denn  allerdings  auch  il'.r 
Forderung   eines  streng    systematischen  Zusammenhangs    in    Cjucid 
ungleich  hohem  Gnulc  Genüge  leistete,  als  Kants  ,,«Kritik  der  rc'^'n 
Vernunft**.    Damit  war  aber  die  über  das  Gebiet  der  Subjectiiv^' 
nicht  hinausgehende  Speculatiou  an   ihre   äusserste  Grenze  gclnnr 
der  kritische  Idealismus  Kants  hatte  sich   bei  Fichte  zum  rein  -»i* 
jeetiveu  gesteigert,   das  schlechthin   freie  Ich  war  als  das  ab^     :> 
Princip  alles  "Wissens,   aller   Vernunft   und   Erkeuntniss   fest-esu-Ut 
und  aller  Inhalt,   der  dem  Ich  gelten  soll,  nur  als  durch  das  I«*!;. 
aber  nothwendig,   nach   den  ihm  inwohnenden  Denkger«etzcu,  art 
seiner  Natur  gesetzt  und  anerkannt.     „Das  Sein  —  die     * 
Realität  —  kann'"  fdr  uns  bloss  gedachtes  sein,   ge<lachi'    -> 


Itl)  Wie    sich  Ficbto   1S01    ia   ednem   „SoimenkUrca  Bttfeht   u 


JBatwickelungsg.d.Ut.   1773—1932.  Die  Komaatikcr.  Fr.  Schiegel,  ab.  Ficbto.    Oli? 
I 

sein,  von  uns  geilacbte,  mitbiu  in  diesem  Siune  selbstproducierte.  §  328 
Haben  wir  nur  das  Gesetz  erkannt,  wonacb  diese  Constnietiou  und 
Projection  gesebiebt,  so  mtlssen  wir  aucb  mit  völliger  Uebcrzeugung 
lugcsteben:  die  Objectivität  und  Realität,  das  Sein  selbst,  ist  nur 
eine  subjeetive  Vorstellung:  wir  kennen  die  optiscben  Gesetze,  wo- 
nacb dieser  Scbein  bervorgebracbt  wird;  vor  dem  bOberu  Bewusst- 
sein  aber  verscb windet  alles  objective  Dasein,  als  wirkliebes,  ganz; 
nicbtfl  bleibt  als  wabrbaft  Wirkliches  Übrig,  als  eben  das  Wirken 
in  uns,  bloss  das,  wovon  wir  ausgiengen,  nämlich  die  subjeetive 
Thfitigkeit;  es  gibt  nur  Denken,  Vorstellen,  Bilden,  eine  an  gewisse 
ihr  selbst  inwobnende  Gesetze  gebundene  Thittigkeit;  diese  Gesetze 
sind  nicbts  anders  als  die  sieb  gleichbleibende  Art  und  Weise  dieser 
freien  Tbätigkeit,  und  diese  Thätigkeit  selbst  ist  das  Absolute  und 
allein  Wirkliche'"", 

In  der  Recension  llber  Niethammers  Journal  zeigte  sieb  Fr. 
Scblegel  scbon  als  entschiedenen  Bekenner  der  tichteschen  Wissen- 
schaftslebre,  namentlich  in  dem  Abschnitt,  der  einen  dem  Journal 
eingerückten  Aufsatz  Ficbte's  betrifft'".  In  der  „Wissenschaftslebre" 
glaubte  er,  sei  aucb  erst  ein  sicberes  Princip  zur  Berichtigung  und 
volist&ndigen  Ausführung  des  kautischeu  Grundrisses  der  praktiscben 
Philosophie,  sowie  zur  Aufstellung  eines  objectiven  Systems  der  Kunst- 
pliilosopbie  gegeben"*.  Fichte  selbst  hat  weder  in  der  frühern  noch 
in  der  spätem  Periode  seiner  schriftstellerischen  und  akademischen 
Thätigkeit  ein  System  der  Aesthestik  aufgestellt.  Nur  mehr  gelegent- 
lich ist  er  einmal  in  dem  „System  der  Sittenlehre*'  auch  auf  die 

rePablicum  über  das  eigeatlicbe  Wesen  der  neuesten  Philosophie"  etc.  au9- 

112t  Wie  Fichte  spüterhin  seine  WlBsenschiifislehre  diesem  ersten 

idpunkt«  entlioh  und  wesentlich  mudifioierle.  geht  uns  hier  nichts  an.    Da- 

Igegeo  muss  noch  bemerkt  werden,  dass  auch  echun  nach  der  Wisseuschatt^lehre 
blhrer  t-rsten  (testalt  und  sodnnn  nach  der  bosundern  Ausführnng  des  praktiscben 
^eils   seiner  Philusophie   in   dem  „System   der  Sittenlehre'*  etc  ,   wie   er  es  t79S 
aufstellte,   erst  auf  dem  praktischen  Gebiet,   und   auch   hier  bloss  in  unendlicher 
Annäherung,    das  Ich    sich   in    seiner   absoluten  AViihrheit   finden    und  zn  voller 
Rcalit&t  gelangen  kann,  insofern  wir  in  uuserm  sittlicheu  Handeln  nur  dem  Gebot 
des  absoluten  Sollens,  wie  es  uns  das  Gewissen  vorschreibt,  folge  leisten,  d.  h.  uns 
darin   durcb   die   PÜicht   allein   bestimmen    lassen.   —   Eine  sehr   hchtvolle  Aiu- 
^^oiumdersetzung  des  Charakters  und   des  Inhalts  von  Fichte's  Lehre  gibt  H.  AI. 
^HChalybAus  in  seiner  „Uistorischeu  Eniwickelung  der  Hi>eculativen  Philosophie  tob 
^"Kant  bis  Hegel"  etc.     2.  Auflage.    Dresden  und  Leipzig  1h39.   S.   S.  145  flF.;  duti 
Tgl.  C.  L.  Michelet,  „Geschichte  der  letzten  Systeme  der  Philosophie  in  Deui«ch- 
id  von  Kant  bis  Uegel".    Berlin  1837  f.    2  Thle.   s.     1.  -I.'U  ff.  113)  C^- 

^ristiken  und  Kritiken  1.  74  ff.  114)  Vgl.  die  aus  der  SchriÄ  ^thar  iu 

Studium  dcT  griechischen  Poesie"  auf  S.  017,  Anm.  G2  angefahrt«  SttU«  ifc«  £e 
■olgcn.  die  sdch  Fr.  Schlegel  von  Fichte's  idealistischer  Lehre  Ar  Äe  Aetfketik 
räch. 


63  S    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe'»  Tod. 

328  Kunst  zu  sprechen  gekommen,    wo  er  ihr  Wesen  aber  eben  nur 
berührt,  um  auf  ihre  Wirkungen^  als  sehr  bedeutende  Beförderungs- 
mittel  des   höchsten  Vernunftzweckes,   der   ihm  in   dem  sittlichen 
Handeln  bestand,  aufmerksam  zu  macheu.    Indem  er  nämlich  ,,Qber 
die  Pflichten  des  Menschen  nach  seinem  besondem  Berur*  bajidelt"* 
und  in  dieser  Beziehung  dem  ,,äsHietischen  Künstler''   seinen  Platz 
zwischen  dem  Gelehrten   und  dem  moralischen  Volkslehrer  ange- 
wiesen hat,  sagt  er"':  Die  schöne  Kunst  bilde  nicht,  wie  der  G^ 
lehrte,  nur  den  Verstand,  oder,  wie  der  moralische  Volkslehrer,  nur 
das  Herz,  sondern  sie  bilde  den  ganzen  vereinigten  Menschen;  das, 
woran  sie  sich  wende,  sei  das  ganze  Gemüth  in  Vereinigung  seiner 
Vermögen,  ein  aus  Verstand  und  Herz  zusammengesetztes  Drittes* 
Was  sie  thue,  lasse  sich  vielleicht  nicht  besser  ausdrücken,  als  wenn 
man  sage:  sie  mache  den  transcendentalen  Gesichtspunkt  zu  dem 
gemeinen.    Der  Philosoph  erhebe  sich  und  Andere  auf  diesen  Ge- 
sichtspunkt mit  Arbeit  und  nach  einer  Regel;  der  schone  Geist  stehe 
darauf,  ohne  es  bestimmt  zu  denken;  er  kenne  keinen  andern,  nnd 
er  erhebe  diejenigen,  die  sich  seinem  Einflüsse  überlassen,  eben  so 
unvermerkt  zu  ihm,   dass  sie   des  Uebergangs  sich  nicht  bevrowt 
werden.    Auf  dem  transcendentalen  Gesichtspunkte  nämlich  werde 
die  Welt  gemacht,  anf  dem  gemeinen  sei  sie  gegeben :  auf  dem  Ssth^ 
tischen  sei  sie  ebenfalls  gegeben,   aber  nur  nach  der  Ansieht,  wie 
sie  gemacht  ist.    „Die  Welt,  die  wirklich  gegebene  Welt,  die  Xatun 
hat  zwei  Seiten:  sie  ist  Product  unserer  Beschränkung;   sie  ist  Pro- 
duct  unsers  freien,  es  versteht  sich,  idealen  Handelns  —  nicht  etv» 
unserer  reellen  Wirksamkeit.  —  In  der  ersten  Ansicht  ist  sie  selbst 
allenthalben  beschränkt,  in  der  letzten  selbst  allenthalben  frei.   Die 
erste  Ansicht  ist  gemein,   die  zweite  ästhetisch".     Jede  Gestalt  im 
Kaum  z.  B.  sei   anzusehen  als  Begrenzung  durch  die  benachbarten 
Körper;    sie  sei   aber  auch   anzusehen  als  Aeusserung   der  inneni 
FlUle  nnd  Kraft  des  Körpers  selbst,   der  sie   hat.    Wer  der  ereten 
Ansicht  nachgehe,  der  sehe  nur  verzerrte,  geprcsste,  ängstliche  Fir- 
men, er  sehe  die  Hässliehkeit;   wer  der  letzten  nachgehe,   der  sehe 
kräftige  Fülle  der  Natur,  er  sehe  Leben   und  Aufstreben,  ersehe 
die  Schönheit.    S<^  auch  im  Gebiet   der  Sittlichkeit.     „Das  Sitten- 
gesetz  gebietet  absolut  und   drückt   die  Naturneigung  nieder.    Wer 
es  so  sieht,  verhält  zu  ihm  sich  als  Sklav,    Aber  es  ist  zugleich  das 
Ich  selbst;   es  kommt  aus  der  Tiefe  unsers  eigenen  Wesens,  and 
wenn  wir  ihm  gehorchen,  gehorchen  wir  doch  nur  uns  selbst.    Wer 
es  so  ansieht,  sieht  es  ästhetisch  an.    Der  schöne  Geist  sieht  alles 
von  der  schönen  Seite;   er  sieht  alles  frei   und  lebendig*',    Fichte 

115)  Sämmtliche  Werke  4,  343  ff.  IIG)  S.  ^b:^  ff. 


Entwickclangsg.  d.  Lit.  1773—1832.  Die  Romantiker.  Fr.  Schlegel,  üb.  Fichte    639 

will  hier  nicht  von  der  Anmuth  und  Heiterkeit  reden,  die  diese  An-  §  328 
sieht  unserm  ganzen  Leben  gehe;  er  will  nur  aufmerksam  machen 
auf  die  Bildung  und  Veredlung  für  unsere  letzte  Bestimmung',  die 
wir  dadurch  erhalten.  Die  Welt  des  schonen  Geistes  sei  nirgend 
sonstwo,  als  innerhalb  der  Menschheit.  Also  führe  die  schöne  Kunst 
deB  Menschen  in  sich  selbst  hinein  und  mache  ihn  da  einheimisch. 
Sie  reisse  ihn  los  von  der  gegebenen  Natur  und  stelle  ihn  selb- 
ständig und  für  sich  allein  hin:  Selbständigkeit  der  Vernunft  sei 
aber  unser  letzter  Zweck.  Aesthetischer  Sinn  sei  nicht  Tugend: 
denn  das  Sittengesetz  fordere  Selbständigkeit  nach  Begriffen,  der 
erotere  aber  komme  ohne  alle  Begriffe  von  selbst.  Allein  er  sei 
Vorbereitung  zur  Tugend;  er  bereite  ihr  den  Boden,  und  wenn  die 
Moralität  eintrete,  so  ündo  sie  die  halbe  Arbeit,  die  Befreiung  aus 
den  Banden  der  Sinnlichkeit,  schon  vollendet.  Aesthetische  Bildung 
habe  sonach  eine  höchst  wirksame  Beziehung  auf  die  Beförderung  des 
Vernunftzweckes,  und  es  lassen  sich  in  Absicht  ihrer  Pflichten  vor- 
schreiben. Man  kann  es  keinem  zur  Pflicht  machen :  sorge  für  die  ästhe- 
tische Bildung  des  Menschengeschlechts;  —  aber  man  kann  es  im  Na- 
men der  Sittenlehre  jedem  verbieten :  halte  diese  Bildung  nicht  auf  und 
mache  sie  nicht,  so  viel  an  dir  liegt,  unmöglich,  dadurch  dass  du 
Geschmacklosigkeit  verbreitest.  Geschmack  nämlich  kann  jeder 
haben,  dieser  lässt  durch  Freiheit  sich  bilden:  jeder  sonach  kann 
wissen,  was  geschraackwidvig  ist.  Durch  Verbreitung  der  Geschmack- 
losigkeit für  ästhetische  Schönheit  lässt  man  di^  Menschen  nicht 
etwa  in  der  Gleichgültigkeit,  in  der  sie  die  künftige  Bildung  er- 
warten, sondern  man  verbildet  sie".  Hierauf  folgen  noch  zwei  Regeln 
in  Betreff  dieses  Gegenstandes,  die  eine  für  alle  Menschen,  die  andere 
fttr  den  wahren  Künstler. 

In  Fichte*s  „Wisscr.sehaftslehre"  lagen  endlich  die  Keime  nicht 
nur  einiger  der  auffallendsten  unter  jenen  schlegelschon  Sätzen,  die 
als  „kritische  Fragmente**  schon  im  „Lyceum"  erschienen'"  sondern 
auch  eines  Hauptbestandtheils  der  Kunst-  und  Lebenstheorie,  welcher 
er  seit  dem  Jahre  1798  bis  gegen  die  Zeit  hin,  wo  er  zur  katholischen 


117)  Dahin  gehören  vor- allen  amiern  die  Sätze  über  die  Ironie,  welche  ich  oben 
8.  619  mitgetheüt  habe.  Die  Z.  1—3  von  unten  im  Text  stehenden  Worte  können 
gewissermassen,  wenn  auch  nicht  für  das  alleinige,  doch  für  das  vornehmste  leitende 
Frincip  bei  der  Kunst-  und  Lebenstheorie  Fr.  Schlegels  gelten,  wie  wir  sie  in 
nehrem  seiner  Schriften  aus  den  nächsten  Jahren  vorgetragen  und  angewandt 
finden.  Sie  werden  zugleich  die  strenge  und  harte  Beurtheilung  erklären  und  wohl 
lach  zum  nicht  geringen  Theil  rechtfertigen,  welche  Fr.  Schlegel  von  Hegel  in 
der  Einleitung  zu  den  „Vorlesungen  über  die  Acsthetik"  erfahren  hat,  auf  die  ich 
noch  besonders  in  Betreff  des  Innern  Zusammenhanges  der  schlegelschen  Kunst- 
ttnd  Lebenstheorie  mit  den  Principien  der  tichteschen  Philosophie  verweise. 


640    VI.  Tom  Ewoitcn  Viertel  des  XV11I  Jahrhuuticrts  bU  cu  Goc-tb€'s  Tod. 

§  328   Kirche   »bertrat,  durch   seiue  Schriften    allgemeinere  Auerkenni 
und  Geltung  zu  verschaffen  suchte.  — 

Während  seines  Aufenthaltes  in  Jena  seil  I79t>  bef» 
die  schon  einige  Jahre  vorher  geschlossene  Freundschaft  Fr  :  :..- 
mit  Friedrich  von  Hardenberg  fNovali»),  welchem  unter 
Häuptern  der  romantisohen  Schule  ebenfalls  eine  Stelle  gebttl 
Dieser»  der  sich  als  Schriftsteller  nach  einem  Land^'-ut  seiner  Fi 
Novalis  nannte,  wurde  1772  zu  Wiederstedt  in  der  Grafschaft  Mi 
feld  geboren.  In  Beinen  ersten  Kinderjahreu  sehr  scbwilchlieb 
träumerisch  still,  vorrieth  er  nur  wenig  Anlagen;  erst  im  neuni 
Jahre»  nachdem  er  eine  schwere  Krankheit  überstanden  hatte, 
wachte  sein  Geist;  er  wurde  ein  munterer,  regsam  thiitiger  Knat 
der  besonders  in  den  sprachlichen  und  geschichtlichen  Uuierrid 
stunden  schnelle  Fortschritte  machte;  seine  Lieblin^serbolung  h 
er  im  Lesen  von  Märchen.  Sein  Vater,  der  als  Director  der  s&cl 
scheu  Salinen  auf  Geschäftsreisen  hAutig  von  Hause  entfernt 
musste  den  wichtigsten  Theil  der  Eraiehung  seiner  Kinder  der  Mut 
und  Hofmeistern  überlassen.  Beide  Eltern  gehörten  der  herrohi 
achen  Brlldergemeine  au;  einem  Geistlichen  derselben  zu  Neudict< 
dorf  wurde  Friedrich  zunächst  anvertraut,  als  seine  weitere,  u 
uehmlich  religiöse  Ausbildung  die  Entfernung  vom  Yaterhause  cütl 
machte.  Allein  sein  aufstrebender  Geist  fand  in  dem,  was  ihm 
Lehrer  bot»  zu  wenig  Förderung  und  Befriedigung;  mehr  sagte  »1 
der  Umgang  mit.einem  gebildeten  und  kenutuisareicbeu  Oheiffl 
Braunschweigischen  zu,  bei  dem  er  ein  Jahr  verlebte,  worauf 
um  sich  vollständig  für  die  Universitätsstudien  vorzuberei;  ^ 
ein  Jahr  das  Gymnasium  zu  Eisleben  besuchte.  Im  Hr 
gieng  er  nach  Jena,  wo  er  sich  von  einer  enthusiastiBcben  Liebe 
Schiller  und  demnächst  zu  Reinhold  hingezogen  fublie,  zu  deol 
beiden  er  auch  in  ein  näheres  persönliches  Verhältniss  kam"*.  Ki 
einjährigem  Aufenthalt  in  Jena  begab  er  sich  nach  Leipzig,  wi 
er  noch  von  Ostern  179;)  bis  ia  den  Sommer  des  nächsten  Jab( 
in  Wittenberg  studierte"*.  Er  hatte  sich  während  seiner  sktAi 
scben  Jahre  vorzüglich  mit  Philosophie,  schöner  Literatur  und  Pohlij 
als  seinen  Lieblingsfächern»  beschäftigt,  dabei  aber  keineswegs 
Studium  der  Hechte  verabsäumt ;  auch  muss  er  schon  damals  iu  ^ 
Mathematik  und  Chemie  gute  Vorkenntnisse  erlaugt  haben.  Bcrwl» 
1702  oder  zu  Anfang  des  nächsten  Jahres  wurde  er  —  aUo  wd 
scbeinlich  in  Leipzig  —  mit  Friedr.  Schlegel  bekannt  und 
dessen  wärmster  Freund;  seine  erste  Bekanntschaft  mit  Fichte. 


1  IS)  Vgl.  die  Briefe  an  aie  im  3.  Theil  von  Kovailifi  ScUri^a  S.  i: 
und  dazu  v.  BqIow's  Vorwort  S.  IX.  liOi  Vgl.  Schriften  Th.  $,  IM. 


von  Hardenbergs  Vater  auf  der  Schule  und  Universität  mit  unter-  §  33 
stützt  -worden  war,  dürfte  iu  eine  noch  frühere  Zeit  zurückreichen, 
da  Fichte  zu  der  Zeit,  als  Hardenberg  nach  Leipzig  kam,  nicht  mehr 
da  war**".  Im  Herbst  1794  begann  er  seine  praktische  Laufljahn 
im  Justizdienst  zu  Tennstadt  in  Thüringen.  Hier  gewann  er  in  dem 
Kreisamtmann  Just,  der  später  für  Schlichtegrolls  Nekrolog  Harden- 
berg« Biograi)hie  achrieb,  einen  seiner  vertrautesten  Freunde.  In 
diese  Zeit  seines  Aufenthalts  in  TennstUdt  fielen  zwei  Ereignisse» 
die  für  seine  innere  Entwickehuig  und  die  Richtung  seines  Geistes- 
lebens entscheidend  waren:  das  Erscheineü  der  drei  ersten  Theile 
des  „Wilhelm  Meister**  und  Hardenbergs  Bekanntschaft  mit  seiner 
ersten  Braut,  Sophie  von  Kühn.  Gootho's  Roman  wurde  alsbald 
sein  Lieblingsbuch:  er  studierte  es  so  eifrig,  dass  er  es  fast  aus- 
wendig lernte  und  vieles  daraus  seinem  Gedilchtnisa  vollständig  ein- 
prägte; doch  kühlte  diese  begeisterte  Bewunderung  fUr  das  Werk 
ßich  nachher  sehr  ab,  ja  sie  schlug  in  eine  den  poetischen  Gehalt 
desselben  vOllig  verkennende  Abneigung  um'^'.  Sophie,  damals  erst 
dreizehn  Jahre  alt,  lernte  er  auf  einer  Gescbüftsrciso  kennen;  die 
Liebe,  die  ihn  gleich  für  dieses  holdselige  Mädchen  erfnsste,  uud 
der  Wunach,  sie  sobald  wie  möglich  ganz  zu  besitzen,  bestimmten 
ihn,  seines  schnelloru  Fortkommens  wegen  die  juristische  Laufb.ahn 
aufzugeben  und  sich  dem  Salinenfach  zu  widmen.  Nachdem  er  sich 
dazu  von  einem  namhaften  Chemiker  in  Langensalza  hatte  vorbe- 
reiten lassen,  trat  er  im  Februar  1796  iu  das  Salinenamt  zu  Weissen- 
fcla,  dem  sein  Vater  vorstand,  als  Auditor  ein.  Als  im  Sommer 
dieses  Jahres  seine  Braut  einer  Cur  wegen  ihren  Aufenthalt  bis  in 
den  Winter  hinein  iu  Jena  nehmen  musste,  und  er  sie  oft  besuchte, 
traf  er  daselbst  schon  Fichte  uud  Fr.  Schlegel  und  lernte  nun  auch 
den  altern  Bruder  des  letztern  kennen'".  Ohne  die  gehoft'te  Hülfe 
in  Jena  gefunden  zu  haben,  kehrte  Sophie  nach  dem  vilterlichen 
Gute  GrUningen  zurück,  wo  sie  im  Frtibjahr  1797  starb.  Harden- 
berg lebte  »unSchst  nur  seinem  Schmerze;  „es  ward  ihm  natürlich, 
die  sichtbare  und  unsichtbare  Welt  nur  als  eine  einzige  zu  betrachten 
und  Leben  und  Tod  nur  noch  durch  die  Sehnsucht  nach  diesem  zu 
trennen.  Zugleich  aber  ward  ihm  auch  das  Leben  ein  verklärtes, 
nnd  sein  ganzes  Wesen  zeriloss  wie  in  einen  hellen,  bewusstvollen 
Traum''.     Alles  und  jedes,  was  er  seitdem  empfand,  dachte  und  be- 


120)  Vgl.  oben  S  543.  Anm.  1.        l'll)  Vgl.  Briefe  an  L.  Tieck.  «•^•»Wt 
von  K.  V.  Holtet  1 ,  307  f.  122)  Die  Angabc  Tiecka  in  der  YorpeJe  rar 

3.  AdfUgp  von  XoTalis  Schriften  S.  XXITI,  Hardenberg  habe  A.  W.  ScU^ritB^- 
Vauntachafl  erat  i;9'J  in  Jena  gemacht,  kann  durchans  nichl  ric&^Js  •*^:  ll' 

,An8  dem  Lebcü  von  J.  D.  Gries",  S.  26, 


012     VI.  Vum  zweiten  VicrtEÜ  des  XVni  JahrbunderU  bü  JU  Go«Üie'ft  Tod. 


328  trieb,  stand  in  einer  wunderbaren  Bexiehung  xu  soitfer  Golie^tMD 
Die  ersten  Wochen  nach  ihrem  Tode  verweilte  er  in  stiller  Einaai^ 
keit  zu  Tennstädt:   er  las  viel  in  religiöseu  Schriften,   und  seitdi 
ward  ihm  mit  jedem  Jahre  die  Beschäftigung  mit  der  Reli^riön  m 
zum  Bedürfniss;  sie  war  ihm,  wie  er  einmal  au  Ju8t  schrieb,  „du 
herzliebe  Phantasie  nahe  gekommen'^    Sein  ganzes  innere«  Lfbea 
gestaltete  sich   nun  zu  einer  stillen  Mystik :    Lavaters   und  Zinxea- 
dorfs  Schriften,    katholische   ErbnuungsbUcher    und   Jncoh   ß^fame^i 
"Werke  wurden  nach  und  nach  Lieblingsgegenstände  seiner  Lecmr«. 
Nach   seiner  Rttckkehr  von  Tennstädt  in   das  väterliche  Haus  vs- 
lebtc  Cr  den  Sommer  abwechselnd  in  Weissenfeis,  auf  den  Sslinei, 
auf  kleinen  Reisen  und  bei  seinen  Freunden.    Im  Herbat   fohlte 
sich  wieder  gestärkt  und  lebensmuthig  genug,  sieb  mit  neuem 
wissenschaftlichen  Beschäftigungen  hinzugeben.    Auch  entstanden 
dieser  Zeit  oder  nicht  lange  nachher  die  meisten   von  den  in 
zweiten  Theil  seiner  Schriften   aufgenommenen  „Fragmenten" 
die  „Hymnen  an  die   Nacht*^    Im  December   1797  ^eng  er  na^h 
Freiberg,  um  sich  daselbst  unter  der  Anleitung  des  bertibmten  Mine- 
ralogen Werner  noch   weiter  für  das  Salinenfach  und  den  ßei^bitt 
auszubilden.    Hier  lernte  er  seine  zweite  Braut  kennen,   mit  der 
sich  im  nächsten  Jahre  verlobte.     In  demselben  Jabr  or-  '        n 
bereits  unter  Novalis  Nameu  verschiedene  schriftstellci :  idd 

fhßils  in  den  Juni-  und  Julistücken  der  „Jahrhficher  der  prcussisrhefi 
Monarchie",   theils  im  ersten  Bande  des  ,, Athenäum«"'*'.     Im  FrtJb-     j 
ling  1799  kehrte  er  nach  Weissenfels  zurück  und  wurde  bei  den  kH^     , 
fllrstlichen  Salinen  unter  dem  Directorium  seines  Vaters  als  Awcüt 
angestellt.    Jetzt  kam  er  wieder  öfter  nach  Jena,   wo  er  nuo  jurrt 
Schelling  fand   und  durch  A.  W.  Schlegel  Tiecks   persönliche  B^    J 
kanntschaft  machte'**,  der  sich  in  ihm  schon  seit  einem  Jahre  da; 
die  „Volksmärchen"  einen  Freund  gewonnen  hatte.     ,,Die  Lehrli 
von  Sais"  konnte  er  Tieck  bereits  in  diesem  Sommer  vorlesen,  nach 
waren  schon   einige  seiner  ,. geistlichen  Lieder'*  gedichtet  und  dcf 
erste  Gedanke  zum  .^Heinrich  von  Oftcrdingen'*  in  ihm  entgtandib 
Als  Tieck  im  Herbst  1799  seinen  Aufenthalt  in  Jena  nahm 
auch  Fr.  Schlegel  wieder  dahin  gekommen  war,   besuchte  H 
berg  seine  Freunde  zu  wiederholten  Malen,   bald  auf  kflrzcre. 


l23)  nioe  sehr  interessante  briefliebe  Aeusserung  Scbldennachen  Mi  te 
J.  I^O'i  aber  Hardenbergs  Uraut  in  ihrem  mutbmass liehen  ^istlgeft  Veriiüln' 
XU  ihm  und  üher  ihren  EiiiHuss  auf  BPinen  ..Heinrich  von  OflffdingCB"  ftwiK  tf> 
in  dem  Buch  „Au-*  Schleiennacbera  Loben  In  Briefen**.  I,  324  f  12-Ii  FrtT 
mcnte,  unter  der  Ueberschrift  „BlilthensUub*';  erst  im  ».  Bdt^.  die  „HymaaH 
die  Nacht".  125)  Vgl.  oben  S.  562, 


Entwickeltingsgang  der  Lätvratur.    1773— lS3i7.    Die  Romantiker.    Novalis.    643 

auf  längere  Zeit,  Einen  grossen  Tbeil  de»  nächsten  Winter»  liielt  §  328 
er  sich  auf  der  Saline  zu  Arteru,  am  Fusse  des  Kyfbäusers,  auf,  wo 
er  viel  au  seinem  ,,Ofterdiugen'^  arbeitete.  Das  Ganze  sollte,  wie 
er  im  Februar  ISOO  an  Tieck  schrieb,  eine  Apotheose  der  Poesie 
werden-,  der  Roman  werde  mancherlei  Aebnlicbkeit  mit  dem  „Steru- 
baJd"  haben;  es  sei  ein  erster  Versuch  in  jeder  Hinsiebt,  die  erste 
Fnjeht  der  bei  ihm  wiedererwacbten  Poesie ,  um  deren  Entstehung 
Tiecks  Bekanntschaft  das  ^rüsste  Verdienst  habe;  ihm  wimmle  jetzt 
der  Ko|»f  von  Ideen  zu  Romanen  und  Lustspielen.  Als  er  im  Frllh- 
jabr  ISoO  wieder  einmal  in  Jena  war,  konnte  er  den  Freunden  den 
ersten  Theil  des  „Ofterdingen**  schon  in  derselben  Gestalt  mittheilen, 
welcher  er  nachher  gedruckt  wm*de**".  Es  orofl'nctc  sich  ihm  jetzt 
io  sichere  Aussicht,  als  Assessor  in  der  Salinenverwaltung  zugleich 
ie  erle<ligte  Amtsbauptmannestelle  in  Tbttringen  zu  erhalten.  Doch 
mg  sein  Gesundheitszustand  schon  au  bedenklich  zu  werden;  der- 
rtbe  verschlimmerte  sich,  als  er  nach  einem  längern  Aufenthalt  in 
isden  im  Anfang  des  nächsten  Jahres  nach  Weissenfeis  zurGck* 
lehrte,  und  er  starb  um  25.  März  ISOl*^'. 

§  32V). 

Waren  die  jungen  Männer,  welche  als  die  Begründer  der  neuen 

ler  der  romantischen  Schule^  anzusehen  sind,  auch  schon  vor  dem 

ire  179S  als  Geaiurfungsgenossen  einander  näher  getreten,  indem 

ler  von  ihnen  mit  allen  Übrigen,  wenn  auch  noch  nicht  persönlich 

»kannt  und  befreundet,  so  doch  mittelbar  in  eine  die  Geister  ver- 

»fende    Beziehung   gekommen    war,    in    der    wechselseitige  An- 

m  und  Einflüsse  auf  einander  nicht  ausbleiben   konnten:  su 


1  26)  Im  ersten  Tbeil  der  Sclirirten.  127)  Vgl  Jast  „Üeber  das  Leben 

cbs  von  Hardenberg*',  ans  SchUclitegrolU  Nekrolog  in   den  3.  Tbeil  von 

Alis  Schriften  aufgenommen,  S-  1—4*,  und  Tiecks  Vorrede  zur  'A.  Auflage  der 

^U  ersten  TheÜe  derselben  (sie  wurden  von  Tieck  und  Fr.  Schlegel  gesammelt 

■Äuerst    IS)t2   in   Berlin  herausgegeben;    der   dritte,    von  Tieck   und  Ed.  von 

^*''  liT/iusgegebcne  Theü  erschien  erst  IS  IG;  eine  neue  Ausgabe  der  Gedichte  (mit 

'her  Einleitung»  von  Beyschlag  erschien  Halle  is(in.  in.   Vgl   noch  -Fr.  v. 

^.  Kiue  Nachlese  aus  den  Quellen  des  FamiJieuarchivs.  GotlialS73.  kl.  S. 

i^  '•\'1\>-     It  Dass  sie  mit  Uiren  rteunden  je  eine  eigentliche  Schule  in  der 

■  i-».ndischen  Literatur  haben   bilden   wollen  oder  gebildet  haben ,   ist  von  Fr. 

•«I  and  Tieck  eütschieden  in  Abrede  gestellt  worden;  vgl.  Fr.  Schlegels  ».Vor- 

«n  über  die  Geschichte  der  alten   und    neuen  Kiteralnr»*,  in   den  Werken 

f.  und  L.  Tieck  von  Köpke  2,  173;  VA  f.;    dazu  auch  Fr.  Hörn,  „Umrisse 

«schiebte  und  Kritik  der  schönen  Literatur  Deutschlands  während  der  Jahre 

^l^i>.     Berlin  IS21.  S.'*.    S.  lOit  tf.    Fasat  man  dfts  Wort  aber  im  weitem 

und  versteht  darunter  eine  Anzahl  von  Schriftstellern ,  die  in  ihren  theore- 

Orundsät7cn,    ihren   lite-rarischen   Richtungen   und   in   dem   Geist  ihrer 

sich  l>egegnend  und  darin  auch,  den  meisten  und  wesentlichsten  Punkten 

41* 


^e 


644     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  m  Goethe*!  Tai. 


{  329  hatte  sich  bis  dahiu  aus  ihren  verwandten  Bestrebungen  doclij 
keine  Art  sohriftstelleriöcher  Verbindung  unter  ihnen  zur  Ern 
bestimmter  theoretischer  und  praktischer  Zwecke  gebildet 
geschah  zuerst  durch  die  Gründung  des  „Athenäums*',  einer' 
Schrift,  deren  Herausgabe  von  den  Brüdern  Schlegel,  noch  vor  dcffi_ 
Erscheinen  des  letzten  Stückes  der  „Hören*',  von  Jena  und 
aus  begonnen  und  nachher,  als  der  jüngere  Bruder  von  dem  lebt 
Orte  sich  nach  Jena  übergesiedelt  hatte,  von  hier  aus  fortgeftll 
wurde,  die  aber,  gleich  den  ,, Hören'*,  die  Ihiuer  ihres  Bestehet 
auch  nur  auf  drei  Jahre  brachte'.  Die  Absicht  der  Ueraa8geli«r 
war\  in  Ansehung  der  Gegenstände  nach  möglichster  AIlgemeiBheil 
in  dem  zu  streben,  was  unmittelbar  auf  Bildung  abziele*,  und  i» 
Vortrage  nach  der  freiesten  Mittheilung,  wobei  der  Grundsatz  leil 
sollte,  das,  was  ihnen  für  Wahrheit  gelte,  niemals  aus  RQckciefal 
nur  halb  zu  sagen.  In  der  Einkleidung,  verhiessen  sie,  würden 
handlangen  mit  Briefen,  Gesprächen,  rhapsodischen  Betrachtui 
und  aphoristischen  Bruchstücken  wechseln,  wie  in  dem  Inhalte 
sondere  Urtheile  ^mit  allgemeinen  Untersuchungen,  Theorie 
geschichtlicher  Darstellung,  Ansichten  der  vielseitigen  Strehi 
des  deutschen  Volks  und  des  Zeitalters  mit  Blicken  auf  das  AuiUad 
und  die  Vergangenheit,  vorzüglich  auf  das  classische  AltertlniB. 
Was  in  keiner  Beziehung  auf  Kunst  und  Philosophie  stehe,  toQtfi 
ausgeschlossen  bleiben,  so  wie  auch  Aufsätze,  die  Theile  von  gröaien 
Werken  seien.  Für  die  Unterhaltung  aller  Leser  endlich  wQn»d»ttti 
sie  so  viel  Anziehendes  und  Belebendes  in  die  Vorträge  zu  Iegi% 
als  ernstere  Zwecke  erlaubten.  Die  Schlegel  erklärten  dabe^j 
bloss  die  Herausgeber,  sondeni  auch  die  Verfasser  der  Zeitwl 


nach,   auf  lungere  oder  kürzere  Zeit  mit  eioandcr  übercinstinunend, 
andern  gleiclizcitigen  Literaturteadenzenaufs  ciitaohiedeaste  eatgeffcntnlen. 
auch  eine  ganz  neue  Wendung  in  dem  Bildung3gargc  der  schönen  und  6tr 
BchaflHcben  Literatur  Deutschlands  entweder  wirklich  durchsetztm .   od« 
stena  vorbereiteten;   bo   wird  sich  die  Bezeichnung  „Schule**  hier   imncf 
fertigen  lassen.  2)  Dos  „Äthcnitum**  erschien  in  t\  Octmrbfcnden.  jeder  M 

zwei  Stücken,  in  BerUn  IT9S  bis  isoo.  Einer  Nachricht  aas  Berlin  rofoli^i  vtUi 
im  n.  deutscheu  Merkur  von  IT^s,  St.  .'{,  2'04  f.  staud.  hieäs  es  dort  aU^nvcis.  dtf 
Verleger  würde  die  Zeitschrift  schon  mit  dem  zweiten  Stucke  schUcssen,  wtn>  *i 
dazu  nicht  mehr  Leser  oder  vielmehr  Kfiufer  tinden  sotlten.  Diesi  beit4l£gie  M 
lu  sofcm*  als  die  beiden  letzten  Bünde  in  einem  andern  Verlag«  bgmimfciwwi 

3)  Vgl.  die  von  Ä.  W.  Schlegel   verfosste  „Vorerinnemng^   »or  ilem  «ntai 
Bande  (in  dessen  sümmtlichen  Werken  ",  S.  XJX  f.).  4)  ^Vm  uns",  waf, 

der  Vorerinnernng  bemiTkt,    „dieser  Allgemeinheit  niüier  zu  bringen,  hiekn 
eine  Verbrüderung  der  Kenntnisse  nnd  Fertigkeiten,  um  welche  sich  c«a  io4tr 
ans  an  seinem  Theile  bewirbt,  nicht  für  unntttz".   Vgl.  daan  Kr.  Schlngcb 
..das  Atheu&um"  in  dessen  sämmtUchen  Werken  9,  46. 


Kntwickclangsg&ng  (].  Literatur.  1773— iS32.  D!c  RomontikGr.  Das  AtheDaam.   645 


ein,  indem  sie  dieselbe  ohne  alle  Mitarbeiter  iinternähtnen,   ohne  §  329 
doch  fremde  Beiträge  von   ihr  ausschliessen  zu  wollen,  spfern  sie 
von  der  Art  wären,  dass  sie  sie  wie  ihre  eigenen  vertreten  konnten. 
Und  wirklich  ^vurden  die  meisten,   und  daninter  gerade  die  bedeu- 
tendsten   oder   doch    merkwürdigsten    und    das   grösste    Aufsehen 
erregenden  Artikel  von  den  Brüdern  selbst  geschrieben.    Von  A.  W. 
Schlegel  enthielt  der  erste  Band  „Die  Sprachen.    Ein  Gespräch  Über 
Klopstocks  grammatische  Gespräche*";   eine  bedeutende  Zahl   der 
,, Fragmente"'*;  „Beiträge  zur  Kritik  der  neuesten  Literatur'*'';   der 
zweite  Band  ,,l)ie  Gemähide.    Gespräch*'  (mit  einer  Anzahl  Sonette, 
„Verwandlung  von  Gemählden",  welche  Gegenstände  aus  der  heiligen 
chichte  darstellen,  „in  Gedichte",  und  der  Legende  „der  heilige 
ucÄs")';   „Die  Kunst   der  Griechen.     Elegie  an  Goethe"'*;   „Üober 
eichnuDgen  zu  Gedichten   und  John   Flaxmans  Umrisse**";   „Der 
nde  Roland.    Eilfter  Gesang**,  mit  einer  „Nachschrift  des  Ueber- 
tzers  an  L.  Tieck**";  mehrere  Stücke  in  den  zumeist  in  das  Fach 
ir    Kritik   einschlagenden  „Notizen"'-   und   „Literarischer  Reichs, 
nzeiger  oder  Archiv  der  Zeit  und  ihres  Geschmacks"'^;   der  dritte 
Band  unter  den  „Notizen"  oder  Kritiken  die  Zusammenstelluug  von 
tthisson,  Voss  und  F.  W.  Schmidt,  ncbdt  dem  „Wettgesang"  dieser 
Dichter";  ein  Sonett  an  L.  Tieck"";  und  in  den  „Notizen"  des 
tzten  Stucks  tlber  „La  guerre  des  Dieux**  von  Pamy;  über  Soltau's 
ebersetzung  des  „Don  Quixoto";  und  „Abfertigung  eines  unwissen- 
Recensenteu  der  schlegelschen  Uebersetzung  des  Shakspeare**'"- 
on  Fr.  Schlegel  brachte  der  erste  Band  den  bei  weitem  grössten  Theü 
er  „Fragmente*' " ;  „Ueher  Goethe's  Meister'*,  eine  Charakteristik  des- 
Iben'*;  der  zweite  Band  „Ueber  die  Philosophie.   An  „Dorothea** 
eit)'*;  in  den  „Notizen**  des  zweiten  Stücks  über  die  „Reden  über 
ie  Religion"  von  Schleierraacher ""'  und  den  kleinen  .\ufsatz  Über  den 
Don    Quixote**   in   Tiecka   Uebersetzung    und   andere   Werke   des 

5l  1,  3— «9;  8.  Werke  7,  IflT  fif.  6)  2,  3  ff.;  ftusgwchieden  und  bu- 

»engestellt  in  üpd  h.  Werken  8.  3-33;  vgl.  7,  S.  XXXIII  f.  7t  „Ueber 

»che  Zeitschriften**;  „Moderomane.    Lafontaine";  „L.  Tiecks  Volksmirchen"; 

lH-177;  s.   Werke   12,  3  —  3«;  vgl.  Anraerk.   37.  8)    1,39—151; 

Werke  H,  3  ff.;    vgl.   ebenfalls  Anmerk.  37.  <))  2.  181—192:   s.   Werko 

5  ff.  U»  2,  193—240;  s.  Werke  9,  Ii»2  ff.  U)  2,  247—251;  8.  Werke 

93  ff  12)  2,  2S5  ff.;  nämUch  lUe  Stücke  S.  2^5— 2S8  und  S.  306—324; 

^erkf  12.  3H-55  l3»  2,  32K-340;  8.  Werke  S  MfL         14)  3,  139— Iß4; 

W^rke  \l.  55  ff  15)  3.  233;  a.  Werke  I,  367.  16)  8.  252—266; 

--334;  a.  Werke  il,  92  ff.  17)  2,  3  ff;  vgl.  S.  646,  33.  18)  2,  147 

ns;  8.  Werke  10,  V2:\  ff.;  die  versprocbene  Fortsetzimg  bUeb  aus.         19)  1. 

;.^S.  20)  Pie  Beurüieilung  von  „Kanta  Anthropologie**  (S.  289—306)  ist 

't  von  Fr.  Schlegel,   sondern  von  Schleiennacher;  vgl.  „Aus  Schlei ermachera 

3,  141  tmd  den  Wiederabdruck  4,  533  f. 


646    VI-  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhunderts  bis  eu  Goethe'i  Tod. 

§  329  Cervantes** ;  der  dritte  Band  das  Gedicht  „An  Heliodora"**;  „Ideen'*"; 
,, Gespräch   über  die  Poesie*' '';  ein  Gedicht   in  Terainen   „An  die 
Deutschen'*";  vier  Sonette";  und  „Ueber  die  UnverständHchkeit**, 
gleichsam  ein  Epilog  zum  Athenäum'^.    Von  beiden  BrBdem  rührten 
her  die  Artikel  „Elegien  aus  dem  Griechiscben*"*  und  „Idyllen  at» 
dem  Griechischen"*':  dem  altem  gehörten  voraugsweise  die  lieber- 
Setzungen,  dem  jUngern  die  Einleitungen  und  literargescbicbtlicben 
Bemerkungen  an^.    Doch  enthielt  auch  schon   der   erste  Jahrgang 
Beiträge  von  Novalis  und  Schleiermacher,  denen  beide  nachher  noch 
andere  folgen  Hessen.    Novalis  lieferte  die  unter  der  allgemeinen 
Ueberschrift    „ßlUtheiistaub**    zusammengefassten    Fragment^"   ood 
die  „Hymnen  an  die  Nacht"";  Schleiermacher  hatte  einen  Theil  der 
im  zweiten  Stück  gedruckten  „Fragmente"  geschrieben,  ungefähr  so 
viel,  als  zur  Füllung  eines  Druckbogens  gehörten''.    Im  letzten  Bande 
lieferte  er  dann  auch  zu  den  „Notizen"  des  ersten  Stacks  einen  Auf- 
satz  über   „Garve's    letzte    noch    von    ihm    selbst    herausgegebene 
Schriften"'*  und  zu  den  „Notizen"  des  zweiten  Stücks  Kritiken  über 
den  3.  Theil  von  „Engels  Philosophen  für  die  Welt"*  und  fiber 
Fichte s  Schrift  „die  Bestimmung  des  Menschen"'*.    An  der  Abfaasoof 
eines  Artikels  im  ersten  Stück  hatte  A.  W.  Schlegels  Gattin  Antbeil 
gehabt,  die  auch  zu  einem  andern  im  dritten  Stück   beisteuerte''. 


21)  S.  324—327:   vgl.  A.  W.  SchlegcU  8.  Werke  U»  424  ff.    Note. 
•22'  S.  l— a;   s.  Werke  s,  io2  ff.  23i  S.  4—33.  24»  S.  5^-l^; 

HiH— 1*^7;  s.  Werke  .*>.  21!»  ff.:  hier  aber  mit  mehrfachen  AbRnderungpD  ontl  s'-i 
zum  Theil  crvPt'iUTt.  2.").  S.  in.=)-li;'i:  s.  Werke  n,  13  ff.  20)  S.  2i4-:!:i" 
s.  Werke  n.  l^  1'.:  4«  f.  27»  S.  :{35— 352:  die  Glosse  am  ScbJuss  wieder  ?- 

druckt  in  den  s.  Werken  0,  4ii;  das  voraufgehende  Sonett  von  A.  W.  SchlwÜ; 
dessen  s.  Werken  1.  3:>1.  2*^»  1.  I,  107—140.  29»  3,  21(;— 212. 

30)  Vt?l.  s.  Werke  von  A.W.Schlegel  3.  1U3— 106:  iü;>— 12«;  101-173  und  i-: 
Fr.  Schlefiel  4.  Hi— «:>.  ;3h  Bd.  1,  St.  K  S.  70—106.  32»  BJ.  -^  i"^ 

bis  204.  X))  Soweit  hatte  Fr.  Schlegel  schon  damals  Schleienuachers  i--- 

ncigung  gegen  jede  selbständige Schrit'tstellerei  besiegt  (vgl.  oben  S  fti.%.  Aiiai.'*- 
doch  war  dieser  nooli  fest  entschlossen,  sich  auf  die  Abfassung  eine^  »töüä 
Werkes  nicht  einzulassen:  vgl.  „Aus  Schleicrniachers  Leben''  1.  235.  TelcbeStii*' 
aber  einem  Briete  aus  dem  .1.  l7'.tS  uicht  17l»o,  angehört.  34»  S.  I;':'-f-^' 

35»  S.  243— 2r(2.  30)  S.  2*»1  — 2U.i:  alle  drei  Aufsätze  wieder  aligeiirtri' 

in  Schleiermachers  s.  Werken  3.  Abtheil.    IJd.  I.  37 1  Ich  habe  ihM^- 

einer  GeliüHin  ihres  zweiten  Gatten  schon  mehrmals  gedenken  müssen  ivgL^-!=*' 
Anm.  Ii>;  2."tl.  Tu;  oMi.  Anm.  15.  und  5*.t'.t,  23.  Sie  war  Mitverfasserin  der -1*" 
träge  zur  Kritik  d<'r  neuesten  Literatur"  und  namentlich  des  Ahschaittt^  i^'^ 
Moderomane.  insbesondere  die  von  Lafontanio  (1,  I.  14'.»— 167).  und  in  dt«'«* 
spradi  ,.4lie  fJeniäblde"  war  der  Dialog  nebs-t  den  eingdegton  Gedichten  iT»r\* 
A.  W.  Schlegel  selh.st.  die  Heschreibungen  der  Bilder  aber  mir  zum  Theil  un^^' 
übrigen  von  der  Frau  ivgl.  kritische  Schriften  I .  S.  XVII  f.  und  dazu  i:i  *- 
Inhiilis Verzeichnis.-,  des  ersten  Theils  No.  VIL  3:  in  dem  des  zweiten  .Nu.  MX 


Entwickclungflgang d. Literatur.  17T3— lfii32.  D!o Romantiker.  DasAthecäum.  647 

Ausserdem  nber  befanden  sieb   in  den  letzten  Bänden  AufsAtze  ron  §  329 

Httlsen",   der  zwei   Artikel  „Ueber   die   uatörliche  Gleichbeit   der 

Menschen****»  und   „Natur-Betrachtungen  auf  einer  Reise  durch  die 

Schweiz**'"  lieferte;   von   Heruhardi   eine  Beurlheilung   von  Herders 

Buch  „Verstand    und  Erfahrung.     Eine  Metakritik    zur  Kritik   der 

reinen  Vernunft''^';  von  seiner  Gattin  Sophie,  der  Schwester  Tiecks^^, 

ler  Aufsatz  „Lebensansicht^'^^;  endlich  von  Dorothea  Veit*'  die  Be- 

Lrthcilang   von   ^^Ramdohrs   moralischen    Erzählungen*'  '\     Mit    der 

rUndung  des  ,,Athouäums^'  gewann   die  neue  Schule  zuerst  einen 

■igentlicheu  Mittelpunkt   und   ein  selbständiges  Organ  für  die  Ver- 

Sflentlicbuug  und  Ausbreitung  ihrer  Theorien*,  die,  bei  der  grossen 

:samkeit  dieser  jungen  Schriftfitellor,  zur  selben  Zeit  auf  den  Gebieten 


^ 


iftlh 


tlM>9 


3S)  Lndwig  August  Ilülseu,  geb.  1765  im  Üraiideuburgiscben«  hatte  sieb  früh 
TDit  der  kantifichen  Philosophie  beschlfligt  und  hielt  eich  von  17H4  bis  1707  in 
Jena  auf.  wo  er  Ficble's  Srhuler  wurde  und  zu  dem  Kreise  gehörte,  der  sich  in 
H&asern  A.  Vi.  Scblegels  und  des  Buchhündlei-s  Krommann  zu  versammeln 
cgte.  Xaclilier  zog  er  sich  aus  der  gelehrten  und  äbrl;;eu  Welt  ganz  zurück 
und  lebte  mit  seiner  Familie  um  das  J.  1S(»0,  wo  ihn  ScMeiermacher  in  Beiiin 
kennen  lernte,  ciuige  Meilen  von  da  entfernt,  auf  dem  Laude  in  groBser  Einfach- 
heit uiid  Stille.  Sein  Todesjahr  weiss  ich  nicht  an/.ugebcn,  ea  mnss  aber  vor  1S13 
en  »Tgl.  Julian  Schmidt,  Geschichte  der  d  Literatur  2.  Auil.  I,  :j37;  „Aus 
chleirnnachers  Leben*'  in  dem  Briefe  an  seine  Schwester  vom  2.  März  ISüO; 
chelet,  Geschichte  der  letzten  Systeme  der  Philosophie  2,  211  f.),  wahrscheinlich 
oder  Anfang  iSlo  ivgl.  Fichte's  Leben  2.  Ausg.  2,  4S4;  475).  39)  2,  1, 

52— l&ü.  40)  -A,   1,  34-57.  41)  3,  2,  2G6— 2HI.  42)  Geb.   \"b 

1  Berlin,  lebte,  nachdem  ihre  1799  mit  iJcrnliardi  geschlossene  Ehe  1S04  getrennt 
orden,  eine  Zeit  lang  in  Rom  (vgl.  S.  5fi5,  oben,  und  A.  W.  Schlegels  s. 
erVe  %  204  i.i,  heiratbete  dann  einen  Herrn  von  Knorring,  dem  sie  nach  Lief- 
d  folgte,  hielt  sich  später  in  Heidelberg  aut  und  starb  li^33.  43)  3,  205 

la  215,  44i  Vgl.  S.  hb:\  Anm.  27.  45)  In  den  „Notizen"  des  3.  Üdes., 

,  SS*»— 243.  Dass  dieselbe  von  Dorothea  herrühre,  kann  ich  zwar  nur  aus  dem 
welches  dem  Titel  des  beurtbeilten  Huchs  im  InhaltsverzeichDiss  des  letzten 
Ücks  beigesetzt  ist,  vermutben;  ich  wüsste  aber  nicht,  wer  sonst  unter  diesem 
,  verstanden  werden  könnte  als  die  Dorothea,  welcher  Fr.  Schlegel  seineu  Auf- 
XX  „Über  die  Philosophie"  (2, 1,  1  ft*.)  gewidmet  hat;  und  dass  diese  keine  andere 
Dorothea  Veit  war.  wird  wohl  niemand  in  Zweifel  ziehen.  46i  Was  den 

t  der  wichtigsten  und  den  Geist  dieser  Zeitschrift  vorzugsweise  charaktcri- 
den  Artikel  in  ihr  betrifft,  wird  weiterhin  angedeutet  werden;  eben  so  das 
escntlichste  Über  die  Aufnahme,  welche  sie  fand,  und  über  die  Wirkungen, 
che  sie  hervorbrachte,  liier  möge  nur  noch  angefühlt  werden,  was  darauf  Be- 
licbes  wenige  Jahre  nach  ihrem  Aufboren  von  Fr.  Schlegel  selbst  in  der 
uropa"  1,1,  52  ausgesagt  wurde:  „Das  Athenäum  hat  auf  eine  kräftige  Art 
it^cwirkt,  die  Scheidung  des  Vortrefflichen  und  des  Schlechten  in  der  Kunst  und 
iteratur  zu  Staude  zu  bringen;  es  kann  diese  Zeitschrift  in  Rücksicht  ihrer  Um- 
»aUiat  und  ihres  freien  Geistes  mit  Nntzen  als  eine  Einleitungsschrift  zu  der 
ern  Epoche  der  deutsclien  Literatur  überbauiit  dienen,  für  diejenigen,  welch* 
udc  zu  verstehen  wünschen.  Im  Anfange  derselben  ist  Kritik 


I 


648     VI.  Vom  zweiten  VicrUü  des  XVIII  Jahrbimderts  bis  zu  Goethe*»  Tod 


§  329   der    dichtensehen  Production  and  Reproduction ,    der    üstheti^bea 
Kritik  und  der  Wissenschaft,  thoils  in  hesondern  Werken,  theils 
„Athouäum"    selbst    oder    in  andern  Zeitschriften,    nach    den   y> 
scbiedonsten  Riditnnj?cn   hin  zur  Anwendung   kamen.     Tieck   h 
sich  bei  dem  ,, Athenäum"  in   keiner  Weise  bctheiligrt,   obgleich 
die  Zeit  der  Ausführung:  dieses  Unternehmens  sein  längeres  Zusamm 
leben   mit  den  Freunden  in   Jena  Hei";  ihn   beschäftiglen    damaU 
seine  „romantischen  Dichtungen",  die  Uebersetzun*  des  „Don  Qiüxote 
und  sein  ^^poetischea  Journal"  ^*.     Dasselbe  sollte  mit  iu  die  groM^ 
nach   einer  Neugestaltung  der  Poesie  und  Kunst  hinstrebende 
wegung  der  Zeit  eingreifen  und  dieselbe  fördern  helfen.     Nach  Ti 
Ansicht,  wie  er  sich  in   der  Einleitung  vernehmen   Hess»   ^w 
eigentliche  Schule  der  Poeten  in  Deutschland  mit  den  Minncsüugeni 
und  Hans  Sachs  untergegangen;  nur  wenige  Funken  echter  Po 
hatten  noch  'in  Anfange  des  17.  Jahrhunderts  in  Opitzens,  Weckberl 
und  Flemmings  Cicdichten  geleuchtet.     Von  dieser  Zeit  schriebe 
ein  Stillstand,  eine  Geistestragheit  her,   die  sich  nicht  blos»  In 
Poesie  und  Kunst  bemerken  liesse;  es  hatte  eine  Periode  angchol 
deren  Geist  es  gewesen,  den  Enthusia.smus  zu    versjjotten  und  die 
Geistlosigkeit  als  das  Fundament  aller  menschlichen  Erkenntnis»  uad 
DemUhung  zu  setzen.    „Mit  den  frlänzonden   GeistesproUucten  rer 
schwinden   in   dieser   neuern  Zeit   die  ^^rossen  Thaton,    ein 
Skepticismus  tritt  an  die  Stelle  der  Untersuchung  und  des  Glau 
alle  Bemühungen  sind  unmittelbar  oder  mittelbar   darauf  gerieb 
das  Unbedeutende   vollk(»mnion  zu  machen,   die   uiLchste  sie 

und  rniverBalitiit  der  vorwalteüde  Zweck;  in  den  spfiieru  Theilcn  ist  d«r 
des  Älyslicisrans  uns  Wesentlichste.  Man  scheue  dieses  Wort  nicht;  es  beuU 
die  VerkQndigung  der  Mysterien  der  Knnst  nnd  AVissensclinfi,  die  ihren  "Stein 
ohne  solche  Mysterien  nicht  verdienen  würden;  vor  aUem  aber  die  krAfÖre  Vw- 
theidigiing  der  aymholischcn  Formen  und  ihrer  Nothwendigkeit  ge-gen  den  profcnfl 
Sinn.  Mit  VergnCigen  bemerken  wir.  dass  mehrere  zuerst  in  den  ,.Ide«i' 
5.  Stück  dieser  Zeitschrift)  vorgetragene  Aiisichleu  der  Art  von  mehreren 
sophen  angenommen  worden  und  in  die  Denkart  der  Bessern  ttben?eganjca 

47)  Ueber  diese»  Zusammenleben  der  Freunde  in  Jena   uud  den 
dortigen  Geselligkeit  im  sehlogelsehen  und  frommannschcn  Hause  T|d.  K< 
Tiecks  Leben  I,  249  ff.  und  dazu  H.  Steffens  „Was  ich  erlebter*,  4,  »21  tL: 
dem  Leben  von  J.  D.  Griea"  etc.  S.  32:   39  f.;   50;  A.  W.  Scble^s  b. 
II,  144  f.;   in   dem   ßoman  „Godwi,   oder  das  steinerne  Bild  der  Mnl 
Maria"  (d.  h.  Cl.  Brentano).    2  Thle.    Bremen  tSOl.   8.    Tb.  2.  431  ff  dlp 
richten  von  den  Lebensumstiindeu  des  verstorbenen  Maria  ^  mUgetbrilt  von 
Zurückßoblicbenen*'  ^St.  A.  Winkelmann,  der.  wie  Brentano,  zu  den  jftnj 
dem  des  schlcgelschen  Kreises  gehörte,  geb.  ITSO  zu  Brsunschweitr   e»^ 
1810  als  Professor  am  dortigen  anatomiach-chirurpschen  College  m 
Cl.   Brentano's   gesammelten   Schriften.   Bd.   S.  18  ff.;   Julian    > 
1,  33T  ff.,  und  „da»  Frommannschc  Hans  und  seine  Freunde.   2.Auti.   Jeuai^Tt 

4S)  Vgl.  S.  5ü2,  24. 


£ntwickeluiig8g.d.  Literat.  1773—1832.  Die  Romantiker.  Tieckg  poet.  Journal.  ß4D 


Umgebung  zu  erheben,  und  das  Streben  nach  dem  UnBichtbareu, 
das  Ringen  nach  dem  Höchsten  erscheint  nach  diesem  ohnmächtigen 
Zeitalter  als  Schwärmerei  und  Ueberspannung,  und  die  Meisten,  die 
den  Kampf  dafür  unternehmen,  erliegen,  ehe  sie  noch  Helden  ge- 
orden  sind,  da  es  ihnen  gleichsam  an  einem  äussern  Elemente 
fehlt,  dessen  Kraft  und  Ktthnheit  als  einer  Nahrung  nur  selten  ent- 
behren konneu."  Unterdessen  wäre  die  Poesie  fast  zu  Null  herab- 
gesunken: auf  der  einen  Seite  schwache  Nachahmungen  schwacher 
französischer  Versuche,  die  man  um  so  correcter  gefunden,  je  matter 
sie  gewesen,  auf  der  andern  ein  kräftiges  und  fast  übertriebenes 
Anstrengen  blinder  Talente,  die  kunstlose,  aber  für  erhabene  und 
geniale  ausgegebene  Ausgeburten  hervorgebracht  hätten.  Endlich  sei 
dieses  so  oft  gepriesene  goldene  Zeitalter  der  deutschen  Literatur 
überstanden ;  j,einem  grossen  Künstler,  Goethe,  war  es  vorbehalten, 
mit  einem  neuen  FrUldingshauchc  die  erstorbene  Welt  zu  beseelen 
und  den  Glauben  an  Poesie  und  Schönheit  wieder  herzustellen,*' 
Fnst  um  die  nämliche  Zeit  habe  sich  ein  lebendiger  Geist  in  allen 
Zweigen  der  Literatur  geregt,  und  die  Wirkung,  die  Goetlie  noch  in 
Zukunft  durch  sein  Beispiel  auf  alle  Wissenschaften  haben  werde, 
i  eben  so  gross,  als  sie  sich  nicht  berechnen  lasse.  Nun  wäre  aber 
ch  die  Zeit  gekommen,  in  welcher  sich  nothwendig  die  Wider- 
cbe  der  verschiedenen  Parteien  und  Meinungen  am  heftigsten 
d  schneidendsten  zeigen  mUssten.  Jetzt  sähe  man,  wie  einige  mit 
verzehrendem  Feuer  die  alten  Vorurtbeile  stUrzeu  und  Licht  und  Wärme 
eraufflihren  wollten,  wie  andere  in  ewigen  Widersprüchen  und 
rigcm  Gegenstreit  arbeiteten,  ohne  zu  ermüden,  und  noch  andere 
von  allem,  was  geschehe,  nichts  wüssten,  sich  um  nichts  kümmerten 
d  gerade  die  Meinung  und  das  Buch  für  die  besten  hielten,  die 
ncn  der  Zufall  zuführte.  So  wenig  man  also  auch  in  einer  solcheo 
isis  auf  ein  Publicum  und  auf  allgemeine  Theilnahrae  rechnen 
nnte,  sollte  doch  jeder,  der  sich  dazu  berufen  fühlte,  in  dem  Kampf 
it  auftreteu,  seine  Stimme  hören  lassen  und  seine  L'eberzeugungen 
verbreiten  snchen,  damit  er  dazu  beitrüge,  die  Lebhaftigkeit  des 
teresse  und  der  Forschung  zu  befördern.  In  keiner  andern  Ab- 
sei diese  Zeitschrift  unternommen,  die  durchaus  der  Kunst  und 
ie  gewidmet  sein  solle,  so  dass  jeder  Beitrag  eine  unmittelbare 
er  mittelbare  Beziehung  auf  diese  Gegenstände  habe.  Sie  werde 
er  den  Lesern  Beurtheilungen  einzelner  Werke  bieten,  Darstellun- 
von  Ansichten  der  Kunst,  Gedichte  und  unterhaltende  und 
^herzhafte  Aufsätze,  auch  Nachbildungen  mancher  Werke  der  vor- 
«hmsteu  englischen,  italienischen  und  spanischen  Dichter,  wie 
chricbteu  von  der  altern  deutscheu  Literatur.  Da  von  dem  Journal 
in  Jahrgang  in  zwei  Stücken   erschien,   konnte  natürlich   von 


§  329 


lobt 


^ 


650    VI.  Vom  Kweiteo  Vierte!  des  XVm  Jahrhunderts  bU  su  Oo«tbe'«  Toi 

329  dem  Versproclieuen  wenig  geleistet  werden".     Es  enthielt  von  d 
älteren  Schlegel  gar  keinen  Beitrag  und   von   dem  jQugem  nur 
Gedicht"':  dennoch  legt  »las  Journal  in  einer  Anzahl  Sonette'*,  wel 
Tieck  ihm  einverleibte,  unmittelbar,   und  durch  den  Übrigen  Inhalt 
desselben  wenigstens  mittelbar,  Zeugniss  ab  von  Tiecks  enger, 
Geistesverwandtschuft   und   ähnliche  Bestrebungen  sich    grUuden 
Verbindung  mit  den  beiden  Schlegel,  Novalis  und  Bembardi.    V 
Fr.  Schlegel   erschien   der  erste  Theil   seines   Kamana  ,.Lucinde' 
an   einem   andern ,   ,,Floreutin'\    der  zu   den    bessei-u    Romanen 
Gefolge  von  Goetbe's  ^Wilhelm  Meister"  gebort"  und   den  er 
Publicum    einführte,    schrieb    unter   seinen  Augen   Dorothea   Vei 
Der  ältere  Bruder  lieferte  bis  in  die  zweite  HAifte  des  Jahre*  IT 
wo  er  mit  ihr  sich  überwarf '^^  kritische  Beitnlge  zur  Jenaer  IJt 


49t  Vgl,  Tiecks  Schriften  M.  S.  LXIV  f.  50»  Ausser  Fr.  Schli 

(licht  ..An  Ritter"  (l.2iTff. ;  in  seine  s.  Werke  nicht  aufgenommen;  t>rfii 
darin  il,  l)i5-2ir»i  von  fremder  Hand  nur  ein  Artikel  „Cehcr  die  iiirthoU 
Dichtungen  der  Indier'*  von  Fr.  Maier  Igob.  IT7'i  im  Reussi«chen,    »tudifrtf 
1791  in  Jena,  privatisierte  dann  ebendaselbst  und  in  Weimar  und  starh  als  mueachff 
Legationsrath  in  (lera  ISI^).  01t  Diese  Sonette  itilden  mit  andern  an  scUmi 

verstorbeueu  Freund  Wackenroder,  seine  Schwester,  seinen  Ürudcr  n.  A  to 
Schluss  des  ersten  und  einzigen  Jatirgangs.  52)  Der  erste  Tbeil  ßerlio  iTW 

6.,  eine  Fortsetzung  ist  nie  erschienen,  wohl  aber  eine  Anzahl  Gedichte,  die  ftr 
die  noch  beabsichtigten  Theile  beistimmt  waren ,  iu  dem  Mus^nalmanMb  *>• 
A.  ^V.  Schlegel  und  Tieck  unter  der  allgemeinen  rehersrhrifi  „AbfairtÄT' 
(S.  n:i  — 167;  B.  AVorke  S,  W.)  ü.)  und  iu  Üernhard  Vermehrens  MnseoaliBUMl 
fOr  IS02  (Leipzig)  12;  vgl.  Varnhagen  v.  Ensc.  Galerie  von  Uildniäsen  au«  B«faek 
Umgang  1,  U32;  Fr.  Schlegels  ..EurDpa'*  I,  I,  SS,  Anmerk.  und  daio  ^tmm^ 
Werke  S,  ISS— i:n.  5Hi  Vgl.  Briefwechsel   zwischen  Schiller  und  OMÜt 

H.  20;  T2  und  Solgers  nachgelassene  Schriften  1,   15  5-1)  ..Florcntiii    Sh 

Roman,  herausgegeben  von  Fr.  Schlegel".  Erster  Band  Lübeck  und  Li^^ 
IMOI.  ^.  {Voran  stehen  zwei,  in  seine  s.  Werke  K  i:v.*f.  aufgenommene  SoiKÜt 
von  dem  Herausgeber)  Auch  von  diesem  Bomau,  obgb^ich  er  eini;^c>  Jahre  j^mA- 
her  noch  einmal  von  der  Verfasserin  vorgenommen  ward,  blieb  die  FortsetxnflC  *» 
(Vgl.  einen  Brief  von  Dorothea  Schlegel  vom  \i.  Juli  ISuäin  „H.  E.  0.  Paulus 
Zeit*' etc.  von  Reichtin-Meldegg.  2.333.  dazu  nber  auch  den  Brief  vom  l.r< 
ebenda  S.  334.  55t  Mit  A.  W.  Schlegel  brachen  auch  seine  Freunde  alle  V 
mitderLiteraturzeitungabtvgt.  S.  402.  Anm.  \2bi  S.iin.  Aum.  47»diuuaack' 
jioelisches  Journal  1.  t.24Tf.l,  und  einzelne  von  ihnen  sprachen  ct-legentffc 
tiefe  Verachinnt;  i;egen  dieselbe  Ötlenilith  ans.   wie  Fr  Schletf»*!   im  Athenen  l 

I.  117  f.  und  Tieck  in  dem  Artikel  des  poetischen  Journals  ..da-  rioU* 

II.  1.  240  ff.).  In  Folge  diescä  Zerwürfnisses  suUlen  di-uu,  wie  •im  ^ 
allgemeiuen  d.  Bibliutbek  5t;,  It»**,  schadenfroh  Wrichiete.  die  r<ifcff 
und  Philosophen  der  neuen  Schule  damit  nmge;t:ang<'u  sein.  .  ■  »f 
LitcraturzeiliuiK  in  einer  andern  Gestall  zuzurichten*';  da  diese  nicht  swgtricfcb«^ 
zu  Stande  kommen  wollen,  so  seien  ihnen  einstweilen  andere  W^irkung»!  ■  »■*  ^ 
ihre  Bestrebungen  geschaffen  wurden,  al.<;  welche  man  anznaehes  hab« 
Schrift  für  spcculalive   Physik"  von  Schelling  und  das  „poeüfirl"-  J'"' 


Gntwickolun^gang  der  Literatur.    177^— 1S32.    Die  Romantiker.        651 


Zeitung»  unter  denen  aber  seit  dem  Anfang  des  J.  179S  keiner  mehr  §  329 

von  dem  Gehalt   und  der  Bedeutung  der  vorzttglicbstcn  unter   den 

früher  gelieferten  war;  die  meisten  betrafen  jetzt  verschollene  Sachen; 

besonders  hervorgehoben  zu  werden  verdienen  kaum  andere  als  die 

Röceneion  über  v.  Knebels  Liobersetzung  der  „Elegien  des  Properz" 

und  die  letzte  von  allen,  über  den  ersten  Band  von  Tiecks  lieber- 

^^teung  des  „Don  Quixote****,  jene  179S",  diese  1799".    Ausserdem 

^■Übrte  er  die  Uebersotzung  des  Sbakspeare  bis  zum  sechsten  Bande, 

^Kab  die  erste  Sammlung  seiner  Gedichte  heraus^'  und  verfasste  die 

P^jEbrenpforte   und  Trium])bbogen   für   den  Theater- Präsidenten   von 

Kotzebue  bei  seiner  gehoffteu  Rückkehr  ins  Vaterland.    Mit  Musik. 

Gedruckt  im  Anfange  des   neuen  Jahrhnn<]ert8"^'.     Novalis  schrieb 

„die  Lehrlinge  zu  Sais"  und  viel  Fragmcntarisc-lies  über  Philosophie, 

Physik   und  Moral,    über  Aesthetik   und  Literatur,    dichtete   seine 

l^^eistUchen  Lieder"  und  arbeitete  an  seinem  Romane  ^^Hciorioh  von 


k  (Vgl.  dazu  Aus  Schleiermachera  Leben  3,  I6{l  f.:   tS3  f;   196  ff.;  319  ff.; 

?3  ff.-.  2:13  ff.;  237;  241;  212-25H).    Im  Dachslen  Jahre  jedoch^  d,  h.  1^01,  er- 

ffnct(>  sirli  für  sie  dio  Aussicht,  in  der  seit    nn'.t   bestehfiiidon   und    von   den 

Professoren   Meuael   und   Mehroel    redigiertcu   ,, Erlanger   Literat urzeitunK"    noch 

anderes  kritisches  Organ  zu  gewinnen,  als  darin  eine  sehr  lobpreisende  Kecen- 

n  von  Ä.  W.  Schlegels  „Ehrenpforte  für  Kotzebue"  (sie  soll  von  Schelling  ge- 

meu   sein:   vgl.  Aus  Schleicrmachers  Lehen  .1.  309  Note»  erschienen  war,  die 

ennlassiing  wurde,  dass  Meusel  von  der  Keilaction  zurücktrat,  dessen  Stelle 

ebeu  Mehmel  durch  Langsdort"  ersetzt  ward.    Und  wirklich  galt  nun  auch  diese 

langer  Zeitung  in  Deutschland  fllr  das  kritische  Haupiblatt  der  poetischen  und 

osophischen   Romantiker   oder  der  sogenannten   „Cliiiuc"    in    der  Literatur. 

ein  sie  konnte  sich  nicht  halten  und  gieiig  bereits  in  der  Mitle  des  Kommers 

ft02  wn  (Vgl.  H.  Steffens,  a  a.  U.  5,  !i  ff.;   Aus  Schleiennachers  Leben  1,  312; 

2;  und  als  Belege  zu  den  klatsch liaften  und  böswilligen  Ucrichten,  die  von  den 

crn  der   Romauiiki'r   an    das  Publicum  tibcr  diese   Angelegenheit   erstattet 

rden,  die  IntelUgenz-Blatter  zur  n.  allgemeinen  d.  Bibliothek  5S,  276  f.;  Bd. 

,  :iS7  (f.;  Bd.  «m.  5r».>  ff.;  Kotzebue'»  Freiraüthigeu  ls()3.  N.  24,  S.  Viht;  N.ttO, 

.  ar.ii.  und  Merkels  „Briefe  an  ein  Frauenzimmer"  etc.  2,  474).   Als  nachher  die 

rtlndung  der  noucn  Jenaer  Litoraturzeitiin<»  nnter  Eichstädts  Kcdaction  im  Werke 

ftP,   suchte   üoethe  als  Mitarbeiter   auch   A.  W.  Schlegel   und   dessen   Freunde 

Or  zu  gewinnen  (vgl.  Briefe  Schillers   und  Goelhe's   an  A.  W.  Schlegel  S.  V; 

;  41»  f.  und  U.  Steffens,  a.  a.  O.i.    llieniuf  lieferte  Schlegel  zu  derselben  tob 

04  bis  IMjs  die  JJd.  12,    157—221   der  s.  Werke  wieder  abge*inickte.n  Rec«»- 

oncn-,  auf  deren  eine  (über  den  von  Kostorf  herausgegebenen  ,.Dicbt«rgirt«»"» 

weiterhiu  noch  besonders  zurückkommen   werde.  5(ji  Ein  Hrüiea  to« 

es  aber  Tiecks  Don  Quixotc  s.  im  Weimar.  Jahrbuch  3,  151.         j7»  X,  »4. 

5S»  N.  230  f:  vgl.  s.  Werke  lU  357  ff;  41»*^  ff.        59)  Heidelh#r?  "?•••   *- 

ehrt  in  den  „Poetischen   Werken*'.     Heidelberg   IS  11.     2  TW»-   < 

)  Wieder  abgedruckt  in  den  s.  Werken  2,  25H—3I2   (vgl  «b«r  Am  InkaJu- 

cjchiiiss  dieses  Theüs  S.  XII>     Am  h.  Jan.  IM»1   hatte  SeUl«  Äw  Satire 

im  Druck  gelesen;  vgl.  an  Körner  4,  205. 


652     VL  Vom  zweiten  Viertel  des  XMII  JaJirhunderU  bis  lu  Ooeüie*t  Tod. 

329  OfterdiBgen"".  Bernbardi  lieferte  die  beiden  letzten  Bände  der 
,,Bambocciaden",  an  welcben  ausser  Tieck  aucb  dessen  Scbwester 
Antbeil  hatte"  und  im  „Berlinischen  Archiv  der  Zeit  und  ihres 
Gescbmacks*'^  eine  lange  Reihe  kritischer  Artikel  über  das  Berliner 
Theater  und  die  auf  demselben  vorgestellten  Stücke,  so  wie  fiber 
die  neueste  Literatur.  Die  Theaterkritiken  begannen,  nachdem  das 
JanuarstUek  des  Jahrgangs  179S  sie  angekflndigt  und  die  Grandsätxe 
angegeben  hatte,  die  der  Becensent  befolgen  würde,  mit  dem 
Februarstück  und  wurden  die  beiden  ersten  Jahre  hindurch  allmonat- 
lich regelmüssig  fortgeführt;  im  letzten  Jahrgang  blieben  einige 
Monatsstücke,  namentlich  die  beiden  letzten,  damit  aus.  Die  Artikel, 
welche  die  „neueste  Literatur**  betrafen,  traten  erst  mit  dem  Anfeng 
des  Jahres  1800  ein  und  hörten  mit  dem  November  anf.  Im  Decembe^ 
stück  von  1800*^'  erschien  dann  noch  unter  der  Ueberscbrift  „Deutsches 
Theater  und  neueste  Literatur"  Bemhardi's  Abschied  von  den  Lesern 
des  Ai'chivs,  wobei  es  besonders  auf  ein  scharfes  und  sarkastisches 
Schlusswort  über  Iffland  als  Dichter  und  tragischen  Schauspieler 
abgesehen  war''^  Schleierraacher  Hess  auf  die  „Beden  über  die 
Religion"*^  alsbald  seine  „vertrauten  Briefe  über  Fr.  Schlegel« 
Lucindc'*  imd  seine  „Monologen"^^  folgen.  Jene  erschienen  anonym'*, 


61)  Vgl.  S,  042  f.  02»  Vgl.  S.  60S,  34,  sowie  S.  577  unten  iöber 

Tiecks  „Verkehrte  Welt"),  und  Kopke  in  Tiecks  Leben  l,  229.  63)  I>as- 

selbe  wurde  in  Berlin  in  monatlichen  Stücken  seit  1795  herausgegeben,  und  nnr 
bis  zum  Juni  1707  von  F.  L.  W.  Meyer  und  F.  K.  Kambach,  seitdem  bis  ran 
Schluss  des  nächsten  Jahres  von  letzterem  allein,  endlich  in  den  beiden  Jahren 
17'.)9  und  \HH)^  mit  dessen  Knde  es  authörte,  von  Rambach  und  J.  A.  Fesslfr 
(vgl.  Jahrg.  17US.  IJd.  2,  .'»'.IS,  und  über  die,  den  verschiedensten  Liteniturricii- 
tungou  und  BilUung>kreisen  augehörigen  Mitarbeiter  daselbst  S.  öitii  ff ;  u.  til» 
gemeine  d.  Bibliothek,  Anhang  zu  Bd.  29— «iS.  S.  "Cl  f.  und  Köpke  a.a.O.  I.I'^m. 
()4t  Bd.  2,  4(>4  ff.  65)  Bemhardi  hatte  sich  als  Verfasser  dieser  Doppel- 

reihe von  Kritiken  niclit  {wie  unter  einem  besondern  Aufsatz  ,,1'eber  llflainfe 
mimische  Darstellungen",  im  Januarstück  von  1799)  genannt,  blieb  jedoch  ^ 
solcher  nicht  verborgen  und  wurde  auch  seit  dem  J.  ImmI  in  öffentlichen  Blatten 
geradezu  als  der  Becensent  bezeichnet  (vgl.  seine  „Abfertigung  des  Ungeuanctm 
im  2" — 30.  Stück  der  [von  J.  G.  Rhode  in  Berlin  herausgegebenen]  Theatc- 
Zeitung"  und  eine  zweite,  den  Herausgeber  dieser  Zeitschrift  selbs^t  betreffwi^ 
im  Archiv  ISOO,  Bd.  2,  2UI  ff.;  379  ff.;  so  wie  Nicolai  in  der  n.  allgemeiniffli 
Bibliothek  r>ß,  159  f.,  Note.  Kineni  frühzeitig  verbreiteten  Gcfücht,  Tieck  sei  de 
Verfasser  der  Theaterkritiken  oder  habe  wenigstens  einen  bedeutenden  ADtbrl 
daran,  traten  die  Herausgeber  des  Archivs  schon  im  Octobcrstück  von  17!K(S.  >?' 
mit  einer  bestimmten  Krklärung  entgegen;  vgl.  auch  Köpke,  a.  a.  0.  2,  27>. 
üöi  Vgl.  S.  549,  Anm.  IS.  CT)  „Monologen.    Eine  Neujahrsgabc".    Beriia 

1*^00.  12.  Neueste  Ausgabe  mit  Einleitung  von  C.  Schwanz.  Leipzig  I^l»^.  - 
(l.Bd.  der  National-Bibliothek  des  ts.  und  19.  Jahrhs.l;  vgl.  auch  SchleienMcbfß 
Monologen.    Eine  Keujahrsgabe.    Bremen  IS70.   S.  (>St  Lübeck  und  LqiE? 

iSüO,   6. 


£ntwic]ielaQgsgiuig  der  Literatur.     1773 — !S32.    Die  Romantiker.  ScbeHing.   653 


der  Name   des  Verfassera  wurde  aber  auch  bald  im  Publicum  be- 
kannt, und  es  erregte  p'osses  Aergerniss,  dass  ein  junger  GeistlicLer 
ein  derartiges  Buch  habe  schreiben  können '^    Schleiermacher  selbst 
scheint  schon   wenige  Jahre  nach  ihrem  Erscheinen   die  Abfassung 
dieser  Schrift  bitter  bereut  zu   haben'".    Zu   den  bisher  genannten 
trat  nun  noch  Friedrich  Willielm  Joseph  Schelling,  der  sich 
^in  Jona  aufs  engste  dem  schlegelschen  Kreise  anschloss.    Geboren 
775  zu  Leonberg  ^*  im  Wilrterabergischen,  entwickelte  er  sich  unge- 
'öbnlicb  frtlh,  so  dasH  er  Kclvon  mit  fünfzehn  Jahren  in  das  theolo- 
'gisehc  Stift  zu  Tübingen  eintreten  konnte,  wo  er  mit  Hegel  zusammen- 
traf und  sieh  innig  befreundete.    Neben  seinen  andern,  namentlich 
mch  philologischen  und  mythologischen  Studien  beachäftijrte  er  sich 
lesonders  viel  mit  der  kantischen  und  nachher  auch  mit  der  fichteschen 
Philosophie.    Bereits  1792  und  im  nächstfolgenden  Jahre  Hess  er  zwei 
.bbandliin^'on    drucken,   worin   er  sagengeschichtliche   und   mytho- 
jogisclic  Gegenstände  philosophisch  beleuchtet  hatte.    Dann  verfasste 
noch,  bevor  er  im  Anfange  des  J.  1796  Tübingen  verliess,  zwei 
kchriften,  „Ueber  die  MiVli*=hkeit  einer  Form  der  Philosophie  über- 
laupt*',   und  „Vom  Ich  als  Princip  der  Philosophie,   oder  Über  das 
fnbedingte  im  menschlichen  Wissen**,  beide"  noch  ganz  im  Geist 
ler    Ochteschen    Wissenschaftslehre.     Von   Tübingen    gieng   er   als 
Ittlirer  junger  Edelleute  nach  Leipzig,  verweilte  hier  aber  nicht  lange, 
lern  begab   sich  nach  Jena,  wo  er  Fichte*«  Schüler  und  Mit- 
tter  au  dem  von  Niethammer  gegründeten  philoso[)hischen  Journal 
•de"»     Indessen   hatte  er  schon  unter  dem   Einflusa  der  natur- 
isaenftchaftlichen   Schriften  Kants,   der  Philosophie  Spinoza's  und 
[es.  neueu  und  frischen  Lebens,  welches  sich  gegen  Ende  des  vorigen 
Ftihrbnuderts  in   den  Naturwissenschaften  aufthat,  angefangen  sich 
len   eigenen  Weg  für  die  philosophische  Speculation  zu  suchen. 
.US  dem  einseitigen  subjectiven  Idealismus  Fichte's  hinausstrebend, 
[eng  er  nicht  allein  von  dem  Subjectiven  aus,  um  von  da  zu  dem 
►bjectiven  zu  gelangen,  sondern  stellte  au  die  Philosophie  zugleich 
ie  Forderung,  dass  sie  auch  in  entgegengesetzter  Richtung  von  dem 
^bjeetiven    zum    Subjectiven    gelangen    müsse,    oder    mit    andern 
orten,   dass  sie,  wie  „aus  der  Intelligenz  eine  Natur",  so  auch 
Lus  der  Natur  eine  Intelligenz"  entstehen  lasse,   so  dass  er  also 
lor  Transcendentalphilosophie  als  deren  nothwendigo  Ergänzung  eine 


§  329 


69»  Vgl.  u.  a.  die  Jenaer  LKerator- Zettung  ISOO.    4,  ß94.  70)  Vgl. 

^UB  SciUoiermachers  Leben"  einen  Brief  vom  25.  Mai  1b03.    1,  390.        71)Kach 
lagifl,  Vorlesungen  über  die  Geschichte  der  Philosophie  :i,  646  1  zu  Schorndorf. 
72l  Gedruckt  Tübingen  nu5.  73)  Bereits  1795  hatte  er  dazu  „Philo- 

»bische  Briefe  über  Dogiualismus  und  Kriticismus"  geliefert. 


654    YL  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  su  Goethe's  Tod. 

329  Naturphilüsopliie  gegeuUber  gestellt  wissen  wollte:  es  m&Mten  sich 
n&mlich  die  Gesetze  der  Natur  als  Gesetze  des  BewusstseiDS   nach- 
weisen lassen,  wie  umgekehrt  die  Gesetze  des  Bewusetseins  als 
setze  der  Natur.     Die  ersten    Er^^obnisse  seiner  in  dieser   zwei 
Richtung  sich  bewegenden  Speculation  legte  er  nieder  in  den  „Ii 
zu  einer  Philosophie  der  Natur"^*  und  in  der  Schrift  „Von  der  W< 
seelc,  eine  Hypothese  der  hohem  Physik   zur  Erläuterung   des 
gemeinen  Organismus"'".    Itu  Jahre  1798  wurde  er  an   der  Jei 
Universität  ausserordentlicher  und  zwei  Jahre  darauf,  nach  Fiobt 
Abgang,    ordentlicher   Professor  der    Philosophie.      In    dieser 
erschien  sein  ,, Erster  Entwurf  eines  Systems  der  Natuq)biI<>8opbi 
nebst  einer  „Einleitung**  zu  demselben,  „oder  über  den  Begriff 
speculativen  Physik  und  die  innere  Organisation  eines  System»  di< 
Wisaenschaft^'^^  und  sein  „System  des  transcendentalen  IdeaÜM 
woran  sich  demnächst  anschlogaen  die  Herausgabe   der  „Zeii 
ftlr  speculative  Physik""  und  der  „Neuen  Zeitschrift  für  speculatil 
Physik'*",  so   wie  das  Gespräch   ,, Bruno,   oder  Über  das  göttli« 
und    natürliche  Priucip    der   Dinge"*^,    die  „Vorlesungen   Ulwr 
Methode   des   akademischen   Studiums'"",  und   das    im   Verein 
Hegel  herausgegebene   „Kritische  Journal  der  Philosophie'**'. 
Dichter  betheiligte  er  sich  an   dem  von  A.  W,  Schlegel   und  Tidck^ 
herausgegebenen  Musenalmanach;  auch   soll  er  der  Verfasser  eiwa 
in  das  Fach   der  Romanliteratur  einschlagenden  Werkes  seio,  lUf 
unter  dem  Titel  „Nachtwachen**  1805  zu  Penig  ersi'hien".    In  Je» 
blieb  Schelling  bis  ins  Jahr  1803,  in  welchem  er  einem  Kuf  adJü^i 
Universität  Würzburg  folgte.     Von  da  gieng  er  1807  als  Mit/''^'-  ■'^ 
Akademie  der  Wissenschaften  nach  Mtlnchen,   wurde  das. 
im    nächsten   Jahr    Generalsecretär    der   Akademie    der    hil^ii^ü^iB 
Künste  und  von  dem  Könige  von  Baiem  geadelt.     1820  fand  fcr  »* 
veranlasst,  sich  von  München  nach  Erlangen  überzusiedeln,    ^<»' 
philosopliische  Vorlesungen   an  der  Universität  hielt,   kehrtfe     je 
1827  nach  München  zurtlck  als  ordentlicher  Professor  der  Pbi' 


74)  Leipzig  1797.  75»  namburg  1795.  76)  Bcid« 

77»  Tübingen  ISOO.  7S)  Jena  und  Leipzig  isim  ff.,  dariD 

Streit  mit  den  Heransgebem  der  Jenaer  Literatur -Zeitung  betreffen 
„Uel>er  die  jenaiscbe  Literaturzeitung.   Krläuteruogen" ;  auch  betoadcn 
ISOO.  7*fi  Tübbgeu  IS03.  SOi  Berlin  i<i02.  8lt  Str  «/(JrW 

Trtbinge«  isoa.  S2»  Tübingen  IS02  f.    Von  seinen  8iiät«rD  phil 

Schriften  will  ich  hier  mir  uuch  die  „Rede  ttber  daä  VerbäUnis*  d'-^^^r 
Künste  zu  der  Natur".    Mtinoheu  Iho;.    4.   aiifiibreu;  dio  xM  ^J^/f 

mischer  Natur  sind,  findet  man  verzeichnet  bei  Pischon.  Uenu 
Sprache  *s,  S2\  f.  83}  Darin  stehen  aber  keine  Gedichte,  wie  hoMtitM 

^iM  Büchern  deutscher  Dichtung*'  2.  TSb  angibt 


Entwiekelangftgang  der  Literatur.     1773— 1632.    Di«  Romantiker.   Schelling.    6551 

%n  der  neuerrichteteu  UnivoreitiUr  wurde  zum  Geh.  Hofratb  und 
»pftter  zum  wirklichen  Gebeimenrath,  Vorstände  der  Akademie  der 
Wisseoschaften  und  Conaervator  der  wissensi'haftlifheu  Sammlungen 
in  Mönchen  ernannt.  Als  Friedrich  Willielra  IV  den  preussiacben 
rhron  bestiegen  hatte ,  wünschte  derselbe  den  berühmten  Männern 
ier  Wissenschaft  und  Kunst,  die  er  aus  andem  deutschen  Ländern 
nach  Berlin  zog.  auch  Schelling  xugesellt  zu  sehen.  Dieser  verliess 
lemnach  1841  München  und  nahm  fortan  seinen  Wohnsitz  in  Berlin, 
wo  er,  zum  wirklichen  geheimen  Oherregierungsrath  ernannt,  als 
Mitglied  der  Akademie  der  Wissenschaften  Vorlesungen  an  der 
Qniversitftt  hielt.  Er  starb  IS54  in  der  Schweiz,  wohin  ihn  eine 
^mmerreise  geführt  hatte".  Schon  in  seinen  ersten  philosophischen 
Sohriften  bereitete  sich  der  durch  ihn  binnen  Kurzem  herbeigeführte 
[Jmschlag  des  speculativen  Denkens  von  Fichtc's  rein  subjectivem 
In  einen  objectiven  Idealismus  allnu'lhlig  immer  unverkennbarer  vor. 
Nun  trat  er  mit  dem  „ersten  Entwurf  eines  Systems  der  Natur- 
[ibilosophie'S  dem  ,, System  des  transcendentalen  Idealismus"  und 
iler  ,, Zeitschrift  für  speculative  Physik"  hervor  und  erhob,  während 
BT  durch  die  in  diesen  Schriften  entwickelten  Ideen  überhaupt  einen 
^efgreifenden  Einfluss  auf  die  Kunsttheorien  der  romantischen  Schule 
lUBQbte,  in  der  zweiten  die  Kunstphilosnphie,  zu  der  Kant  und  Schiller 
etierBt  einen  tiefern  Grund  gelegt  hatten,  zu  einem  hOhern,  echt  specu- 
iven  Standi)unkt,  auf  dem  sie  in  der  Folge  theils  von  ihm  selbst, 
von  Andern  vollständiger  und  reiner  ausgebildet  werden  konnte. 
m  in  der  Einleitung  zn  dem  „System  des  transcendentalen  Idea- 
ls" gibt  Schelling  die  Stelle  an,  welche  er  im  speculativen 
Len  ftlr  die  Kunst  beansprucht.  Gleich  zu  Anfang  mlmlich  wird 
Beantwortung  der  Frage:  wie  können  die  Vorstellungen  zugleich 
richtend  nach  den  Gegenständen  (in  unserm  Wissen  oder 
inen),  und  die  Gegenstände  als  sich  richtend  nach  den  Vor- 
togen (in  unserm  freien  Handeln i  gedacht  werden?  als  die  höchste 
ibe  der  Transcendental-Philosophie  bezeichnet,  die  weder  in  der 
»tischen,  noch  in  der  praktischen  Philosophie  gelöst  werden 
le,  sondern  nur  in  einer  hohem,  die  das  verbindende  Mittelglied 
T,   d.  h.  beides  zugleich,  theoretisch  und  praktisch,  sei.    Wie, 


!)  8dnc  „BAfnintlifhcu  Werke*'  erschienen  in  U  Bden..  Stuttgart  nnd.idi 
tSb— lU.   S.     Eine  sehr  klare.   ueistvoU  ansgchihrte  l'ebersitht  üb<r 
tinente  in  Schellings  phiiosüphiachem  Bütliingsgauge  gibt  R.  »*fin  ia  arm 
legel  und  seine  Zeit-  etc     Berlin  »s57.    S.    S    \Vi  ff;  AaiiUkriieher« 
Sst  bei  CbalyhaeiiB  a.  a.  0.  S.  190  ff.  und  bei  MicUelet»  r  »■  0  -t  *** 
m.    Vgl.  noch  (Iajeu  „Aus  .SchoUings  Leben.    In  Brieten**.  (VotG.U- PÄtf 
41775-1820).    Leipzig  Ibßy  f.    N 


J 


■H 


656     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrlmnderte  bis  «u  Co^tho's  TaA 


j 


329  sagt  Scbellingj  die  objectivc  Welt  nach  Vorstdluii^-en  in  uhh, 
Vorstellungen  in  uns  nach  der  objoctiven  Welt  sich  betiaeüien»  b' 
unbegi'eiflicb,  wenn  nicht  zwischen  den  beiden  Welten^  der  ideeUca 
und  der  reellen,  eine  vorherbestimmto  Harmonie  bestebtT  welcbe  «ber 
wiederum  selbst  nicht  denkbar  ist,  sofern  nicht  die  Thätigkeit,  daitk 
welche  die  objective  Welt  produciert   ist,   ursprünglich  identiacli 
mit  der,  welche  im  Wollen  sich  äussert,   und  umgekehrt,     Nun 
es  allerdings  eine  productive  Thätigkeit,    welche  iuQ   Wollen 
äussert;  alles  freie  Handeln  ist  productiv,  nur  mit  Bewusstsein 
ductiv.    Setzt  man.  da  beide  Thätigkeiteo  doch  nur  im  Princip 
sein  sollen,  dass  dieselbe  Thätigkeit,  welche  im  freien  Handelo 
Bewusstseiu  productiv  ist,   im  Producieren  der  Welt   ohne  BeirunI* 
sein  jjroductiv  sei,   so  ist  jene  vorher  bestimmte  Harmonie  wirkl 
und  der  Widerspruch  gelöst.    Die  Natur,  als  Ganzes  sowohl,  wie 
ihren  einzelnen  Producteu,   wird  als  ein  mit  Bewusstseia  heiT' 
brachtes  Werk  und  doch  zugleich  als  Product  des  blindesten  Mi 
mus  erscheiueu  müssen;  sie  ist  zweckmässig,   ohne  zweckmfts»^  er 
klärbar  zu  sein.    Es  fragt  sich  nun  aber,  ob  sich  im  Subjecttteo, 
im   BewusstBcIn   selbst ,    diese    zugleich    bewusste    und    hewiis»tl««e 
Thätigkeit  aufzeigen   lasse?  und   solche  ist  wirklich  vorhanden, 
ist  die  lUthotische,  und  zwar  diese  allein,  und  jedes  Kunstwerk 
nur  zu  begreifen  als  Product  einer  solchen.    Die  idealische  Welt 
Kunst  und  die  reelle  der  Objecto  sind  also  Producte  einer  und  der 
selben  Thätigkeit;  das  Zusammentreffen  beider  (der  bewnssten  uoi 
bewusstlosen)  ohne  Bewusstsein  gibt  die  wirkliche,  mit  Bewu«rt»eiB 
die  ästhetische  Welt.     Die  objective  Welt  ist  nur  die  ursprDnglicbfc 
noch   bewusstlose  Poesie  des  Geistes;  das  allgemeine  Organon  der 
Philosophie   —   und  der  Schiusastein   ihres  ganzes  Gewölbes  —  i* 
die  Philosophie  der  Kunst.     Die  Philo80|»hie  beruht  eben  so  gut,  wie 
die   Kunst ,   auf   dem  pn^ductiveu    VermOgeu   und    der   rntendudd 
beider  auf  der  verschiedenen  Richtung  der  productiven  KmfL 
der  Kunst  richtet  sich  die  Production  nach  aussen,   um  das  Uo 
wusste   durch  Producte  zu  reflecticren .  in  der  Philosophie 
unmittelbar   nach    innen,    um   es   in  inlellectueller  Anscbauuof 
i'efleciieren.    Aus  der  gemeinen  Wirklichkeit  gibt  ^es  nur  «rcl  A»* 
wege,  die  Poesie,  welche  uns  in  eine  idealische  Welt  vorsetzt  xni 
die  Philosophie,  welche  die  wirkliche  Welt  ganz  vor  uus  verwhvriodfli 
lässt.  —  Indem  Schelling  nun  zu  der  Ableitung  eines  hüchsten 
cips  des  Wissens  übergeht,  zeigt  er  zunächst,   dass  ein  Punkt  | 
funden  werden  müsse,  in  welchem  das  Object  und  sein  Be^rül^ 
Gegenstand  und  seine  Vorstellung,  ursprünglich,  schlechthin  und  t 
alle  Vermittelung  Eins  sind,   also  eine   unvermittelte  Identität  d 
Subjects  und  Objects.    Diese  Identität  findet  er  nur  im  Sclh*li^' 


I 


1^ 


Eotwlckelungsgang  der  Literatur.    1773— IS32.   Die  Romantiker.   Schelliog. 


tigstsein,     DieBes  i*t  der  Act  des  Denkens,  in  welchem  dessen  Su 
t*cl  nnd  Object  wirklich  Eins  sind,  oder  der  Act,  wodurch  sich  das 
Denkende  unmittelbar  zum  Object  wird.    Es  ist  diess  eine  absoIutS 

■■.freie  Handlung,  zu  der  man  wohl  angeleitet,  aber  nicht  genöthigt 
l-werden  kann.  Durch  dieselbe  entsteht  uns  der  Begrifl'  des  Ich,  und 
das  loh  selbst  ist  nichts  als  dieser  Act,  als  reines  Thun,  was  schlecht- 
bin  nichtobjectiv  sein  muss  im  Wissen,  eben  deswegen,  weil  es 
Princip  alles  Wissens  ist.  Sollte  es  also  Object  des  Wissens  werden, 
80  nuiss  dioss  durch  eine  vom  gemeinen  Wissen  ganz  verschiedene 
Art  zu  wissen  geschehen.     Es  muss  erstens  ein  absolut  freies,  d.  b. 


ein  Wissen  sein,  wozu  nicht  Beweise,  Schlllsfie,  überhaupt  Vemiittelung 

von  Begriflcn  fuhren,  also  ein  Anschauen ;  und  es  muss  zweitens  ein 

.Wissen  sein,  dessen  Object  nicht  von  ihm  unabhängig  ist,  also  ein 

iBsen,  das  zugleich  ein  Producieren  seines  Objecta  ist,  —  eine  An- 

uung,   welche  überhaupt  frei  produciereud,   und  in  welcher  das 

ducierende  mit   dem  Producierten   eins  und  dasselbe  ist.     Eine 

Bolcbe  Anschauung   aber   wird   im  Gegensatz  gegen  die  sinnliche, 

welche  nicht  als  Producieren  ihres  Objccts   erscheint,   wo   also   das 

Dschauen  selbst   vom  Angeschauten  verschieden   ist,   intellectuclle 

oscbauung  geuannt,   und   sie  ist  das  Organ  alles  transcendent^Uen 

enkens.  —  Es  folgt  nun,  wobei  wir  uns  nicht  aufzuhalten  brauchen, 

ic  alläreraeine  Deduction  des  tianscendentalen  Idealismus,  das  System 

er  theoretischen  Philosophie   nach  deto  Grundsätzen  dieses  Idealis- 

08   und   das  System   der  praktischen  Philosophie   nacb    denselben 

rundsätzen.     Hieran  schliessen  sich  die  Hauptsätze  der  Toleologie, 

mit   welchen  Schelling  den   Tebergang  aus   der   praktischen  Philo 

Sophie  überhaupt,  und  aus  dem  von  der  Geschichte  bändelnden  Ab^ 

bnitt  insbesondere,   in   die  Philosophie  der  Kunst   macht.     Die» 

lebergang   wird   dadurch    bewerkstelligt,    dass    der   von  Schell 

©reits  'm  der  Einleitung  aufgestellte  Satz  über  die  Tbatigkeit,  d 

elcho  wir  die  Natur,   als  Ganzes  sowohl,    wie  in  ihren  ein 

fdtjcten,    hervorgebracht   denken   müssen,    hier   seine 

'Ondung  und    weitere  Ausführung  erhält,   und    dass 

icb   schon  in  der   Einleitung  gestellte  Forderung  an   die 

;luift  wiederholt  wird,  im  Bewusstsein  oder  in  der  InldU 

fime  Anschauung  aufzuzeigen,   durch  welche  in  einer 

Irscbeinung  das  Ich  für  sich  selbst  bewusst  und 

Denn  erst  durch  eine  solche  Anschauung  w 

■letchsam  ganz  aus  sich   selbst   herausgebracht 

Las  ganze  Problem  der  transcendeutalen   Pbil 

itimmung  des  Subjectiven  und  Objectiven  za 

.nschauung  künne  aber  keine  andere  al»  die 

Und   so  enthält  denn   der   letzte  Haup 

Kwb«rfi«ia,  Onindrii«.    !>.  Aotl.     IV. 


Ab^ 

lli^ 


658    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XYIIl  J&hrhunderu  bis  zu  üoetbe*i  Tod. 


r  Fre^ 
:isti^l 


3*29  Werkes  die  ,,Dediiotion  eines  allgemeinen  Organs  der  PhilosopUe, 
oder  HnitptsAtze  der  Philosophie  der  Kunst  nacb  Grund^ätzea  des 
transceudoDtalon  Idealismus".  Die  postulierte  Ansetaaaung.  heisst 
es  zunäobst,  soll  zimammenfassen,  was  in  der  Erscheinung  der  Frei- 
heit  und  was  in  der  Anschauung  des  Naturproducts  getrennt  exi 
Dämlich  Identität  des  Bcwussten  und  Bewusstlosen  im  leb  and 
wusstseiu  dieser  Identität.  Das  Product  dieser  Anschauung  wird  aii9 
einerseits  an  das  Naturproduct,  andrerseits  au  das  Freiheit^prot 
grenzen  und  die  Charaktere  beider  in  sich  vereinigen  mfUsen. 
diesem  wird  es  gemein  Laben,  dass  e«  ein  mit  ßewusstsein  Ben 
gebriichtesj  mit  jenem,  dass  es  ein  bewusstlos  Hergebrachtee 
Die  Natur  fUngt  bcwusstlos  an  und  endet  bewusst  (im  Mensobi 
die  Production  ist  nicht  zweckmiUsigi  wohl  aber  das  Prodact, 
Ich  in  der  Thritig;keit  der  Kunst  muss  mit  Bewusstseiu  (subjt 
anfangen  und  Im  Bewusstlosen  oder  objoctiv  enden,  das  leb  i*t 
wusst  der  Production  nacb,  be\vuB8tlo8  in  Ansehung  de«  Pn 
Eine  solche  Ansrhauung  mns«  aber  trau&neudenlal  erklärt  werd< 
wie  diese  Erkhlrnng  von  Schelling  gefanden  und  gegeben  wi 
muss  in  dem  Buch  selbst  nachgelesen  werden.  Treffen  nun  i\ 
wirklich  im  Producieren  die  bcwusste  und  bewusstlose  Thäti^l 
absolut  zusammen,  so  ist  in  der  Intelligenz  aller  Streit  atifgeboboi. 
aller  Widerspruch  vereinigt.  Die  Intelligenz  wird  in  einer  vollkt 
menen  Anerkennung  der  im  Product  ausgedruckten  Identität , 
einer  solchen,  deren  Princi|>  in  ihr  selbst  liegt,  enden,  d.  b.  incfw 
vollkommenen  Selbstanschauung.  Das  GefUbU  das  diese  AuRcbsoai 
begleitet,  wird  das  Gefühl  einer  unendlichen  Befriedigimg  sein.  Xi\i 
Trieb  zu  producieren  steht  mit  der  Vollendung  dea  ProdurU  stil!« 
alle  Widersprüche  sind  aufgehoben,  alle  Räthsel  gelöst.  Da 
Production  ausgegangen  war  von  Freiheit,  d.  h.  von  einer  iincB' 
lieben  Entgegensetzung  der  beiden  Thätigkeitcu ,  so  wird  die 
telligenz  jene  absolute  Vereinigungr  beider,  in  welcber  die  Prot 
endet,  nicht  der  Freiheit  zuschreiben  können;  bIc  wird  sicfa 
jene  Vereinigung  selbst  Oberrascht  und  beglllckt  fQblen,  d.  k 
gleichsam  als  freiwillige  Gunst  einer  buhem  Natur  an  *  *i« 
Unmögliche  durch  sie  möglich  gemacht  bat.  —  Die?;*  > 
aber,  was  hier  die  objective  und  die  bewusstc  Thritigkeit  in  ui 
Harmonie  setzt,  ist  nichts  anders  als  jenes  Absolute,  weld 
allgemeinen  Grund  der  praestabilierten  Harmonie  zwischen  dl 
wusstcn  und  dem  Bewusstlosen  ontbUlt.  Wird  also  jenes  AI 
reüectiert  aus  dem  Product,  so  wird  es  der  InieUigoni  «rwl 
als  etwas,  das  über  ihr  ist,  und  was  selbst  entgegen  der  FrdW 
zu  dem,  was  mit  Bewusstsein  und  Absicht  begangen  war,  (in  i^ 
ßichtslose  hinzubringt.    Dieses  Unbegreifliche,  was  obne  Ziitbu«  ^ 


EfltwickolongtgaDg  der  Literatur.   177;)— 1^32.  Die 


Freiheit,  und  gewissermassen  der  Freiheit  eutgegODi  n  iem  Be^ 
wuBsteu  das  Objective  hinzubriogt,  wird  mit  den  dnaMi  B^grif 
des  Genie's  bezeichnet,  und  da  das  Genie  aar  in  der  Kaart  wtS^Uk 
ist,  80  ist  das  postulierte  Product  das  Ennstproduct.  —  Hienaf  wM 
nachgewiesen^  dass  alle  Merkmale  der  [Kistulierten  ProdaeSioft  ia  im 
ästhetischen  zusammentrefifeu.  Schelling  findet  sie  darin  nmmmm' 
gefasst,  dass  alle  Künstler  nach  ihrer  eigenen  AaMiga  dardi  Fra- 
dnction  ihrer  Werke  nur  einen  unwiderstehlichen  Trieb  ikrcr  Balar 
befriedigen^  dass  die  Hsthotiscbe  Prnduction,  ebcnfalli  Badb  da»  Be- 
kenntniss  aller  Künstler  und  aller,  die  ihre  Begeisteniag  thcflco.  Im 
Gefühl  einer  unendlichen  Harmonie  ende,  und  daM  dieiei  GdMl, 
welches  die  Vollendung  begleite,  zugleich  eine  Rohnio^  mL  Cr  ba- 
merkt  dabei,  dass,  da  jenes  absolute  Zusammcntrcflea  der  beftdaa 
sich  fliehenden  Thätigkeiten  scblechthiu  nicht  weiter  erUirkar, 
sondern  bloss  eine  Erscheinung  sei,  die,  obst'hoD  sabcsiaifillly  4ecb 
Dicht  geläugnet  werden  könne,  die  Kunst  die  eiadga  aaA  av%a 
Offenbarung  sei,  die  es  gebe,  und  das  Wunder,  da«,  weaa  ca  aack 
nur  einmal  existiert  hütte,  uns  von  der  absoluten  BfaJittt  Jeaea 
Höchsten  Überzeugen  mUsste.  Er  unterscheidet  feroar  ia  deai  klaiL 
leriflchen  Producieren  das,  was  insgemein  Kunitt  genannt  werde,  vaa 
der  Poesie  in  der  Kunst:  die  erstere  sei  dasjenige,  wta  der 
mit  Bewusstsein,  Ueherlegung  und  Reflexion  auiiObe>  wa* 
lehrt  und  gelernt,  dmch  Ueberlieferung  und  durch  ei£aaa 
erreicht  werden  könne;  die  andere  dagegen  «ei  daa 
was  in  die  Kunst  mit  eingehe,  was  au  ihr  nicht  ^ekaü 
Cebaag,  noch  auf  andere  Art  erlangt  werden,  »oadam 
freie  Gunst  der  Natur  angeboren  sein  kunne.  Ummm 
mlhetf  dass  keinem  von  beiden  Bestandthcilea  dar  T« 
lern  zukomme,  da  nur  durch  beide  zunama 
ibracht  werde.  Es  lasse  sich  jedoch  wjtk 
(im  engem  Sinne)  ohne  Poesie,  ab  da« 
zu  leisten  vermöge,  theils  weil 
ohne  alle  Poesie,  obgleich  viele 
vaQ  das  anhaltende  Studium  der  Ideea 
Mangel  an  objectiver  Kraft 
sei,  obgleich  dadurch  immer 
könne.  Es  erhelle  endlich 
daich  das  Genie  möglich  sei, 
dasselbe  sei,  was  das  iefc 
abftotut  Reelle,  was  selb«  i 
kObjecdven  sei.  -^  Indem 
Caastproducts   näher 

^hafteuj  der  bewwi^i^H  fe^^ns^b^x      ^ 


660    Tl.  Vom  zweitea  Viertel  des  XVUI  Jahrhunderts  bii  so  UoeUte's  Tod. 


329  lieher  Vcrstaud  ganz  zu  entwickeln   fähig  eei,   und  dem  Am8( 
der  Ruhe  und  stillen  Grösse  in  dem  Aetisscrn  des  Kunstwerks, 
der  unmittelbaren  Folge  des  seine  Vollendung  begleitenden  GefUl 
vollkommenster  Befriedigung ,   zu   der   dritten,  jene   beiden   in  gi 
begreifenden  Grundeigenschaft,  der  Schönheit,  nlme  die  kein  Kui 
werk  sei.     Dabei  wird  der  Unterschied,  der  noch  zwiselieu  MchOi 
und  erhabenen  Kunstwerken  gemacht  werden   könne.    Insofern  ai 
geglichen,   daas  der  Gegcnsntz  zwischen  Schönheit  und  Erhabenh 
nur  in  Ansehung  des  Objects.  nicht  aber  in  Ansehung  des  Subji 
der  Anschauung  Statt  finde.     Hierauf  wird  noch  der  Unterschied 
Kunstwerks   von   allen   andern  Produeten   und   ebenso   das  Verhül 
niss  der  Kunst  zur  Wissenschaft  ins  Licht  gesetzt.     Den  Sehlufts  M 
ganzen  Abschnittes  Qber  die  Kunst  bildet  eine  Reihe  von  Fnlgesfitzen: 
sie  sollen  das  Vrrbftltniss  angeben,  in  welchem  die  Philosophie  der 
Kunst  zu  dem  ganzen  System  der  Philosophie  Überhaupt  stebc.    Ilior 
kommt   nun  zunächst  das  wieder  zur  Sprache,   was,   wie  oben  er- 
wähnt wurde,  nach  Schellings  Lehre   das  Organ  alles  transceuden- 
taleu  Denkens  ist,   die  intellcctuelle  Anschauung.     Frage  man  Dfiot- 
lieb,   ob  es  denn  wirklieh   eine  solche  Anschauung  gebe,   die  nicht 
auf  einer  bloss  subjectiven  Täuschung  benibe,  sondern  wirklich  ob- 
jectiv   werden  könne,  so  crtheile   die  Kunst    darauf  die   Antwort; 
denn  die  ästhetische  Anschauung  sei   die   objektiv  gewordene  iulci 
lectuelle,  und   die  allgemein  anerkannte  und  auf  keine  Weise  Mo- 
wegzul&ugnende  Objectivitüt   der  iutelleetuellen  Anscbauung  sei  die 
Kunst  seHmt.     ,,Das  Kunstwerk  nur  retlectiert  mir,  was  sonst  dun'ii 
nichts  reÖectiert  wird,  jenes  absolut  Ideutische,   was   selbst  im  hh 
8cbon  sieb  getrennt  hat;   was  also   der  Philosoph   schon  im  erstfo 
Act  des  BewuBstseins  sich  trennen  lässt,    wird ,    sonst  flir   jede  Aa- 
schauung   unzugänglich,    durch    das  Wunder  der   Kunst    aus  Ibro^ 
Produeten  zurückgestrahlt'*.    Aber,  heisst  es  weiter,   nicht  nar 
erste  Princip  der  Philosophie  und  die  erste  Anschauung,  von  wel( 
sie  ausgehe,  sondern  aucb  der  ganze  Mechanismus,   den  die  PW 
Sophie  ableite,  und  auf  welcher  sie  selbst  bemhe,  werde  erst  tlimi 
die  ästhetische  Production  objectiv.     Die  Pbilosophie  i-r^      ■  ■-  T« 
einer  unendlichen   Entzweiung  entgegengesetzter  Thu    _ 
derselben  Entzweiung  beruhe  auch  jede  ästhetische  Productioo.  atrf 
dieselbe  werde  durch  jede  einzelne  Darstellung  der  Kunst  vtdlriÄodif ' 
aufgehoben.    Wenn  nun  nach   der  Behauptung  des  Philosophen  *»j 
unendlicher  Gegensatz  sich  aufbebe,  so  sei  es  das  Dichtung»venn'*'.r«- 
was  in  erster  Potenz  die  ursprUugliehe  Anschauung  sei,  und  aw«- 
kehrt,  ea  sei  nur  die  in  höchster  Potenz  sieh   wiederholende  irt»» 
ductive  Anschauung,   was  wir  Dichtungsvcmiögcu  nei  •   cu 

und  dasselbe,   was  in  beiden  sich  thätig  erweise,   das  i.„.  _    «^ 


Entvickelimgsgang  der  Literator.    1773 — 1832.   Die  Komantiker.    Schelling.    661 


durch  wir  fähig  seien,   auch   das  Widersprechende  zu  denken  und 
zusammenzufassen,   —  die  Einbildungskraft.    Wenn  aber  die  ästhe- 
tische Anschauung  nur  die  objectiv  gewordene  transcendentale  (in- 
tellectuelle)  sei,  so  verstehe  es  sich  ron  selbst,   dass  die  Kunst  das 
einzige  wahre  und  eWige  Organon  zugleich  und  Document  der  Philo- 
sophie sei,  welches  immer  und  fortwährend  aufs  neue  beurkunde, 
was  die  Philosophie  äusserlich  nicht  darstellen  kOune^   nHmllch  das 
Bewnsstlose  im  Handeln  und  Producieren   und  seine  ursprüngliche 
Identität  mit  dem  Bewussten.     ,,Die  Kunst  ist  eben  deswegen  dem 
bilosophen  das  Höchste,   weil  sie  ihm  das  Allerheiligste  ^^leichsam 
ffnet,  wo  in   ewiger  und  ursprünglicher  Vereiniguug  gleichsam  in 
iner  Flamme  brennt,  was  in   der  Natur  und  Geschichte  gesondert 
t,  und  was  im  Leben  und  Handeln,  ebenso  wie  im  Denken,   ewig 
ich  fliehen  muss.     Die  Ansicht,  welche  der  Philosoph  von  der  Natur 
ttnstlich  sich  macht,  ist  für  die  Kunst  die  ursprüngliche  und  natür- 
liche.    Was  wir  Natur   nennen,   ist  ein  Gedieht,   das  in  geheimer, 
wunderbarer  Schrift  verschlossen  liegt.    Doch  könnte  das  Räthsel 
sich  enthüllen,  würden  wir  die  Odyssee  des  Geistes  darin  erkennen, 
der,  wunderbar  getäuscht,  sich  selber  sucliend,  sich  selber  flieht.  — 
ie  Natur  ist   dem  Künstler  nicht  mehr,   als  sie   dem  Philosophen 
t,  nilmlich  nur  die  unter  beständigen  Einschränkungen  erscheinende 
idealische   ^elt,   oder  nur    der  unvollkommene  Widerschein  einer 
elt,   die  nicht  ausser  ibm,   sondern   iu  ihm  existiert.  —  Wenn  es 
un  aber  die  Kunst  allein  ist,  welcher  das,   was  der  Philosoph  nur 
subjectiv  darzustellen  vermag,  mit  allgemeiner  Gültigkeit  objectiv 
zu  machen  gelingen  kann,  so  ist  zu  erwarten,  dass  die  Philosophie, 
wie  sie  in  der  Kindheit  der  Wissenschaft  von  der  Poesie  geboren 
d  genährt  worden  ist,  und  mit  ihr  alle  diejenigen  Wissenschaften, 
eiche  durch  sie  der  Vollkommenheit  entgegengeführt  werden,  nach 
rer  Vollendung  als  ebenso  x\e\  einzelne  Ströme  in  den  allgemeinen 
n    der   Poesie   zurückfliessen ,    von    welchem   sie   ausgegangen 
ren.    Welches  aber  das  Mittelglied  der  Rückkehr  der  Wissenschaft 
r  Poesie  sein  werde,   ist  im  Allgemeinen  nicht  schwer  zu   sagen, 
ein  solches  Mittelglied  in  der  Mythologie  existiert  hat,  ehe  diese, 
e   es  jetzt  scheint,    unauflösliche  Trennung  geschehen    ist.     Wie 
r  eine   neue  Mythologie,   welche   nicht  Erfindung   des  einzelnen 
ichters,   sondern   eines  neuen,   nur  Einen  Dichter  gleichsam   vor- 
eilenden Geschlechts  sein  kann,  selbst  entstehen  könne,  diess  ist 
D  Problem,  dessen  Auflösung  allein  von  den  künftigen  Schicksalen 
Welt  und  dem  weitem  Verlauf  der  Geschichte  zu  erwarten  ist**". 


§  329 


85)  unter  deu  spütern  Schiiften  Scbellings  ist  für  die  Geschichte  der  Philo- 
pihie  der  Kunst  die  vichtigstc  uud  iDtert^sBanteate  die  Rede  ^über  dos  VerhlÜtiiiBS 


662    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrliundcrts  bis  zu  Goethe'i  Tod 


i 


329  In    der    zweiten    Hälfte    de»   Jahres    1799    war  Jena    für   die 

Gründer  der  romantischen   Schule  und    einige  ihrer  hervorragend 
sten    libriiccn    Mitglieder   der   sie  auch    örtlich    vercini^'onde   Mitl 
punkt  geworden:  zu  den  beiden  Schlegel  und  Scheiling   hatte  »i 
Tieck  gesellt,  Novalis  verweilte  hier  hei  ihnen  bald  lungere  bald 
kllrzere   Zeit,    und   auch    Fichte    kehrte   dahin    auf   einige   Mnn 
von  Berlin  zurück.     Erweitert  wurde  der  Kreis  der  Freunde  dn 
mehrere  andere  junge  Männer,  wie  Gries,  Cl.  Brentano  etc.,  die  t 
Thoil   noch   ihre  Universitfitsstudien  in  Jena  fortsetzten,    bald   a 
auch  als  Schriftsteller  auftraten.     Die  Romantik   entfaltete  in  dieser 
Zeit  ihre   vollste   und   Üppigste  Blüthe.    ,,Die  immer   erneuerte 
trachtuug  volleudeter  Geisteswerke ",  sagt  A.  W.  Schlegel'*»  indem 
des  Zusammenlebens  mit  Tieck  und  seinen  andern  Freunden  in  Jena; 
denkt,  ^  war  unsere  Lieblingsbeschäftigung ;  unsere  grOsste  Freude, 
verkaunten  oder  in  Vergessenheit  gerathenen  Urkunden  des  Genius 
entdecken ;  selbst  der  offen  ausgesprochene  Widerstreit  der  Meinmii 
wirkte  anregend  auf  den  Geist.    Das  Meiste,  was  wir  später  ausgeführt 
oder  nicht  ausgeführt  haben,  wurde  in  diesem  Zeitraum  entworfen. 
Jener  freien  und  fruchtbaren  Gemeinschaft  der  Geister  in  dem  b 
nungstrunkenen  Lebensalter  wendet  sich  meine  Erinnerung  noch 
mit  Sehnsucht  xu,  wie  denn  auch  mein  Freund  i  Tieck  i  dieses  Geffil 
in  seiner  Zueignung  des  y,Phantasus**  au8ge<\rl)ckt   bat''" 
Zusammenleben  der  Freunde  in   dem  Jenaer  Kreise   dauerte  bIc 
lange:  Tieck  schied  aus  demselben  bereits  im  Sommer  ISOo.  im  An 
fange  des  nächstfolgenden  Jahres  starb  Novalis,   und  gegen  F.ni 
desselben  giengen  beide  Schlegel  von  Jena  fort,  der  ältere  Bmi^* 


Alrt     wi-lrfc«       ■ 


der  bildenden  Künste  zu   der  Xatiir"  (1807).  —  TJeber  den  Standpunkt,  wW 
in  der  Geschichte  der  Kunstphtlosopbie  Scheiling  ScJüllorn  gcgenUtKT   oiiii> 
Äussert  »ich  Hegel  in  der  Einltutung  seiner  Vorlesuni^n  Ober  dir  Acfttti -f'^ 
Einheit  nun  des  Allgemeinen  und  Besoudern,   der  Freiheit  und  der  > 
keit,  der  Geistigkeit  und  des  Natürlichen,  welche  S*:hiller  als  rrinci|. 
der  Kunßt  wissenschnftlich  erfa^ite  und  durch  Kunst  und  ksthetischi   ' 
wirkliche  Leben  zu  rufen  unablässig  bemüht  war,  ist  sodann  als  Idt'* 
Princip  der  Erkeuntnisa   und  des  Daseins  gemacht  und  die  Idee    al- 
Wahrhaftige  und  Wirkhche  erkannt   worden.     Dadurch    erstieg    mit  'r^-  i  ;    . 
Wiaseuschaft  ilireu  absoluteu  SlÄnd|ninkt,  und  wenn  ilie  Kunst  biM>ii:i  ih\>  «.;: 
thOmltche  Natur  und  Würde  inRcEichung  auf  die  hüchstcn  InteTesscn  desMco^ci/B 
ru  behaupten  angefangen  hatte,   so   ward  jetzt   aucli  der  Be^ff  und  dl«  «is«*' 
schaftliche  Stelle  der  Kunst  gefunden  und  sie ,   wenn   auch   nach  eiik«r  Sfiu  ^ 
noch  in  schieft-r  Weise.    —   dennocli  in  ilirer  hohen  und  wahrhaft«D  B«tnD«a| 
aufgefaast".  S6)  In  einer  l**2"  geschriebenen  Anjncrkuugr  tn  «Mmt  ob* 

S.  5Sti  ff.  angeführten,   in   den  „Kritischen  Schriften"  vieder   abgedruckten  B^ 
wrnsion  über  Tieck's  „Blaubart"  und  „gestiefelten  Kater":  s.  Werk«  U.  IM  t 
87)  Vgl.  da7u  Köpke  a.  a.  0.   l,  2«5  f. 


Entwickelungsgang  der  Literatur.     tT73 — 1S33.    Die  Romantiker.    Jena.    663 


» 


im  sich  in  Berlin  niederzulassen ,  wo  er  schon  den  grossem  Theil 
[es  Sommers  sieb  aufgehalten  hatte",  der  jüngere,  um  bald  darauf 
sich  nach  Paris  zu  heorebcn;  nur  Schelling  verweilte  noch  etwas  Ober 
zwei  Jahre  in  Jena.  Auch  Berlin  wurde  nicht  wieder,  was  es  frUher- 
bin  gewesen,  ein  Vereinigungspunkt  für  die  meisten  altern  Mitglieder 
der  romautiscben  Schule:  bei  seiner  Ankunft  daselbst  fand  A.  W. 
Schlegel  Tieck  nicht  mehr  vor,  bald  darauf  gieng  auch  Schleier- 
macher nach  Pommern  ab;  nur  Bernhardi  und  Fichte  blieben  dauernd 
jener  Stadt.  Allein  mit  der  örtlichen  Trennung  der  Freunde  hörte 
er  geistige  Verkehr  und  die  literarische  Verbindung  unter  ihnen 
keineswegs  auf.  Ein  Unternehmen  von  der  Art  des  Athenäams 
kam  allerdings  nicht  wieder  zu  Stande:  in  den  von  den  beiden  Schlegel 
ISOl  herausgegebenen  „Charakteristiken  und  Kritiken""  befanden 
sich  nur  Aufsätze.  Fragmente  etc.  von  ihrer  eigenen  Hand,  und  diese 
waren  überdiess  zum  grössten  Theil  schon  durch  Druck  bekannt. 
So  enihielten  sie  von  schon  früher  godnickten  Schriftstücken  A.  W. 
Schlegels:  „Ueber  Shakspeare's  Romeo  und  Julie"*"';  „Briefe  über 
Poesie,  Silbenmass"  etc."';  die  Rccensionen  Über  „Homers  Werke 


§  329 


roeeie 


881  Vgl.  „Aas  Schleiermachers  Leben"  1, 274;  2^*8.  Dbbs  Schlegel  wahrend  seines 

Lufcnthalts  in  Berlin  (vom  Herbst  ISOl  bis  zum 'Frühling  isol)  alljährlich  in  den 

Inti^nnrinftion  Vorlegnngen  hielt,  ist  bereits  R.  251,  74  erwähnt  worden:  sip  betrafen 

»rzOgUeli  thctls  die  Geschichte  der  mittelalterlichen  und  neuem  abendländischen 

überhaupt,  theils  den  Zustand  der  deutschen  Literatur  in  der  jüngsten  Ver- 

leit  nnd  der  Gegenwart  insbesondere^  wurden  von  vielen  Männern  und  Frauen 

icbt  und  trugen  sehr  viel  dazu  bei,  den  üruudsätzen  und  Ansichten  der  Komautiker 

Berlin  allgemeinere  Geltung  zu  verschaffen  (vgl.  Zeitung  f.  die  elegante  Welt  IS03, 

142,  Sp.  Ii:u).    Gedruckt  sind  davon,  so  viel  ich  weiss,  nur  die  vier  zu  Ende 

J.  IS02  gehaltenen  „über  Literatur,  Kunst  und  Geist  des  Zeitalters"  in  der 

iropa  2,  I,  :j— nr»,  die  „über  das  Mittelalter"  aus  dem  J.  lSO;t  in  Fr.  Schlegels 

Museum  2,  -132—462,   und  das,   was  sich  .,über  das  VerhiUtniss  der  schftueu 

[unsi  zur  Xaiur.  über  Täuschung  und  Wahrscheinlichkeit,  Ober  Stil  und  Manier', 

dem  ersten  Druck  in  der  Zeitschrift  „Prometheus",  in  den  s.  Werken  U,  2'.».'j  ff. 

tct.   In  der  Ucbcrsicht  von  der  Geschichte  der  deutschen  Poesie,  die  er  thunals 

le  es  scheint,  im  Winter  lsnH~|so4)  gab,  erstattete  er  auch  Bericht  über  das 

„Lied  der  Nibelungen":  dieser  Uericht  enthielt  die  Keime  seiner  acht  Jahre  sp&tcr 

in  Fr.  Schlegels  d.  Museum  (I,  uff.;  Mia  ff  ;  i,  1  ff.;  vgl.  auch  2,  ;t6«)  gedruckten 

,hi8torischei\  Untersuchung  über  das  Lied  der  Nibelungen*'.    In  diese  Zeit,  und 

Kvrar  in  die  Jahre  1S02  und  lSo3,   fallen  auch  seine  in  die  Zeitung  für  die  ele- 

gaot«^  Welt  gelieferten  Theater-  und  Kunstkritiken  (in  den  s.  Werken  9,  15S  ß.). 

Sy»  Kömcrsl>erg  ISul.   2  Bde.  s.    Der  Vorrede  znfolge  wünschten  dieSchlegel, 

dWB  die  Aufmerksamkeit,  welche  ihre  kritischen  Bemühungen  und  Grundsatze  bei 

drm  Publicnra  erregt  hätten,  mit  einer  gründlichem  Bekanntschaft  als  seither  ver- 

turidcu  würde;  letztere  bei  allen  denen,  die  eiu  ernstliches  Interesse  an  der  dcut- 

^hen  Litemtur  nühmcn ,   zu  befördern ,   wurde  als  der  Zweck   dieser  Sammlung 

zeichnet.    Vgl.  die  oben  S.  i>iy.  Anm.  74  erwAhnte  Kecension  der  „Charaktcri- 

90;  Vgl.  S.  599,, 


664    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhanderts  bis  zu  Ooethe*«  Tod. 

§  329  von  Voßß"%  „Goetbe's  röniiscbe  Elegien'*",  die  „Herzensergiessungen 
eines  kunstliebenden  Klosterbruders""*,  den  „Ritter  Blaubart''  und 
„den  gestiefelten  Kater**  von  Tieck"*,  ,,Goetbe's  Hermann  and  Doro- 
tbea"",  den  „Don  Quixote,  tibersetzt  von  Tieck"",  so  wie  über 
„Romane  und  Erzählungen  von  Fr.  Scbulz*'^,  „die  Gesundbrunnen 
von  Neubeck*'";  endlich  unter  der  gemeinsamen  Ueberschrift  „Cha- 
rakteristiken und  einzelne  Bemerkungen''  Sttlcke  aus  verscbiedenen 
Recensionen  in  der  Jenaer  Literatur-Zeitung*"*;  von  Fr.  Scblegel:  die 
Recenaionen  von  „Jacobi's  Woldemar*'  und  von  „Niethammers  philo- 
sophischem Journal",  die  Aufsätze  „Georg  Försters  Schriften"  und 
„Ueber    Lessing",    die  „Eisenfeile"    überschriebenen    Fragmente"" 
und    die   „  Charakteristik    des   Wilhelm    Meister**  *"*.      Neu    hinm- 
gekommen  waren  von  A.  W.  Schlegel  ein  ausgezeichneter  Aufsatz 
„Ueber  Bürgers  Werke'"**^,   von  Fr.  Schlegel  das  Sehlusswort  zu 
dem  Aufsätze  „Ueber  Lessiug"****,    das   ihm    angehängte    Gedicht 
„Herkules  Musagetes"  **"   und  die  „Nachricht  von    den    poetischen 
V\^erken  des  Johann  Boccaccio"***.    Auch  in  der  Zeitschrift  „Europa", 
welche  zwei  Jahre  später  von  Fr.  Schlegel  gegründet  und  redigiert 
wurde '%  waren  die  meisten  Artikel  von  ihm  selbst  und  seiner  Gattin 
verfasst.    Sie  enthielten  von  Pr.  Schlegel:  die  „Reise  nach  Frank- 
reich*'***; „Literatur"  (Bemerkungen  über  die  neueste  deutsche,  dazu 
einiges   über   die  französische)'*;    mehrere  Gedichte"";  „Nachricht 
von  den  Gemählden  in  Paris""'  nebst  vier  Fortsetzungen"*:  „Bei- 


92)  Vgl.  S.  ii03,  :u.  93)  Vgl.  S.  «Ol.  94i  Vgl.  S.  6os:t9.  95i  T?l. 
S.  5S7,S5.  90)  Vgl.  S.  fioaff.  97)  Vgl.  S.  «51,5«.  9S)  Jenaer  Literaiur- 
Zeitung  1797,  N.  VAO  f.;  vgl.  s.  Werke  11,  :tO,  Xoto.  99)  Jenaer  Literatur- 

ZcitUDg  1797,  N.  243  und  17US,  N.  :n4;  vgl.  s.  Werke  11,  71  tf.  lOOi  Pie>f 

Recensionen  Bind  in  den  s.  Werken  10,  232  ff.;  370  ff.;  11,  -15  ff.:  pi,  331  ff-:  H. 
215ff.;  375  ff.;  3S2  ff.  und  390  ff.  wieder  abgedruckt.  10l)Bis  auf  wenige  neue? 
vgl.  S.  «17  ff.  und  Anm.  102)  Vgl.  S.  IU5.  IS.  103)  In  üou  s.  Werk« 

8,  «4  ff.  104)  Vgl.  S.  «19,  Anm.  74;    demselben  sind  das  Sonett  der  »- 

Werke  9,  17  und  die  „Eiacnfcile"  eingefügt.  105}  S.  Werke  •^,  307Jf. 

106)  S.Werke  1 0,3  ff.  107)  Sie  erschien  zu  Frankfurt  a.  M.  in  zweiBacilfi; 

jeder  zu  zwei  Heften,  die  ersten  drei  Hefte  1S03,  das  letzte  tS05.  s.  „Bestiiumt.  a 
allem  Anthcil  zu  nehmen,  was  die  Ausbilduug  des  menschlichen  Geistes  am  aiachatea 
angehe,  und  das  Licht  der  Schönheit  und  Wahrheit  soweit  als  möglich  zu  vorbrcitni" 
sollte  sie  „die  mannigfaltigste  Verschiedenheit  der  Gegenstände"  umfassen  und  lii'* 
bieten.  Schlegel  befand  sich,  als  er  diese  Zeitschrift  unternahm,  in  Paris  ivgl.ul^ 
sein  Leben  und  seine  Studien  in  den  Jahren  1S02  -  ISO«  „H.  E.  G.  Paulus  nnd  seär 
Zeit"  von  Reich lin- Meldegg,  2,  315  -  342)  108)  Aus  dem  J.  IS02:  I.  I..V-J"' 

darin  die  Gedichte  der  s.  Werke  9,  95  ff.;  101  ff.  109.)  I,  I,  41-fi3. 

HO)  1,  1,  7«  ff.  (in  den  s.  Werken  S,  135;  137;  109;  IS2  f.;  125  f.;  MM. 
111)  1,  1,  lOS-  157.  112)  „Vom  llaphaeW,  1.  2,  3—19,  „Xadiira?  iwirfif- 

scher  Gemähide"  2,  1,  9«-!1ß,  „Zweiter  Nachtrag  alter  Gcmählde"  2,  *■;.  ^'[ 
„Dritter  Nachtrag  alter  Gemähide"  2,  2,  109—145  (alle  diese  artlstisclieDArtili'- 


,£ntwickelang6gAng  <1.  Lit.   1773— lb32.   Die  Romantiker.   Schlegels  Europa.    665 

;e  zur  GescLiclite  der  modernen  Poesie  und  Nacbriebt  von  proven-  §  329 
iHscben  Mivnuscripten" "^;    „Probe    einer  metrischen   UeberseUun^ 

les  Racine.     Erster  Act  des  Bajazet'*   (mit  einer  Vorerinnerung:)"*; 

ron    Dorothea    Schlegel"^    zwei    Gedichte"";    „Gesprficb    Über   die 

leuesten  Romane  der  Französinnen*'"*;  und  in  den  „Ansichten  und 
Miecellen"  (in  denen  aucli  wohl  das  Eine  und  das  Andere  von  Fr, 
ÖcblegeU   Hand  sein  mag),   wenn   nicht  noch  mehrere  andere,   so 

loch  gewiss  einen  Artikel"*.  Von  andern  ehemaligen  Mitarbeitern 
am  „AtbenÄiim'*  betheiligten  sich  daran  mit  grüssern  Beiträgen  nur 
A.  W.  Schlegel'"'  und  durch  ihn  noch  mit  ein  Paar  Gedichten  Sojibie 
Bernbardi"".  Das  einzige  literarische  Unternehmen  aus  dem  Anfang 
des  neunzehnten  Jahrliiiiiderts,  das  von  den  Begründern  der  Ro- 
mantik und  den  mit  ihnen  eng  verbundenen  Philosophen  ausgieng 
und  als  eine  Art  gemeinsamen  Organs  der  neuen  Schule  gelten 
konnte,  dabei  alier  in  seinem  ganzen  Cliarakter  sich  wesentlich  von 
dem    „Athenäum'*   unterschied,   war  der  von  A.    W.  Schlegel   und 


mehr  oder  weniger  abgeämlert  und  erweitert,  zusarameu  io  deu  s.  Werken  6,  3 

220.  I13i  l,  2,  40—71  (8.  Werke  10,  3T^«0;  das  hierauf  noch  Folgeude 

späterer  Zusatz.  114)  2,  !,  117 — 139;  ohne  die  Vorerinnerung  in  den  s. 

Werken  S,  2^5  ff.  1 15>  Sie  ist  offenbar  wieder  unter  der  Ueberschrift  D. 

Terstehen.  116"  K  1,  75;  77.  ||7t  l,  2.  '^H— Hm.  IIS)  1,  1, 

1 — ISO.  119)  Ausser  deu  S.  6t;3.  Aum.  8S  angeführten  „Vorlesungen"  aus 

izn  J.  1^02  (die  nicht  in  die  s.  Werke  aufgenommen  sind),  .ein  Aufsatz  „Ucbcr 

das  spanische  Theater"  I,  2,  72—87  (auch  nicht  in  den  b.  Werken);  eine  Recen- 

in  der  -Sprachschule  von  A.  F.  Bernhanli"-  (Berlin  l'^nl  und  1S03.    2  Thle.  *?.) 

I,  I9;i— 204  <8.  Werke  12,  Mit  ff.);  und  mehrere  eigene  Gedichte  oder  Nach- 

Idungen    griechischer  1.   1.  so— S2;    1,  2,  117  t.;    11*)— 121  (in  deu  s.  Werken 

Ul  — 141;  2,  52—34  und  3»  107—109;   174).  12t»)  Zwei  Glossen  1,  I.  7h  f. 

id  S2  f.     Sie  bildeten   in  der  .Europa"    mit  zweien   von  A.  W.  Schlegel  Varia- 

men  eines  und  desselben  Thema*s,  waren  so  unterzeichnet,  als  rührten  alte  vier 

ihm  her,  und  wurden  auch  in  seine  s.* Werke  1.  I4*t  ff   mit  einer  fünften,  in 

Kuropa  üicli  daran  ^cblicssenden  Ton  Fr.  Schlegel,  anfgenomnieti.    Dasä  die  in 

Note  zu  A.  W.  &>chlegeis  s.  Werken   1,  141  als  Verfasserin  jener  beiden  Glossen 

ichnete  Freundin  des  Dichters  ,FrauI(*".  keine  andere  alsTiecks  Schwester 

,   ist   mir  nach  dem,   was  Henr.  Herz  in  J.  Fürsta  Üuch  Über  Schlegels  Ver- 

hltniss  zu  Sophie  Bernhard!  liericlitet.  unzweifelhaft.  —  Unter  den  andern  Stücken 

,£uropa'.  deren  Verfasser  entweder  genannt  oder  sonst  kenntlich  genug  sind. 

einige  Ton  zwei  jungem  Romantikern,  von  Achim  von  Arnim  und  Fouqut': 

':  von  jenem  (wie  anf  dem  Umschlage  des  letzten  fTeftes  angegeben  wari  ,Er- 

khlnngen   von   Schauepielen "   (in  Gesprächsform,   mit   einer  Vorerinnerung  des 

•rmusgebers»  2,  1,  140—192;   von  diesem  drei  Gedichte  i^der  gehörnte  Siegfried 

der  Schmiede",  «der  Ritter  und  der  MOnch",  «der   alte   Held-,  jedes  unler- 

Ichnet  D.  L.  M.  F.i  2,  2,  *'2    '.M.     Die  »Gespr&che  Ober  Tiecks  Poesie-,  2,  2, 

)*IOS,  mit  der  Unterschrift  H.  von  Hastfpr.  waren  von  Helnuua  von  Cbözy  ver- 

it.   deren    erster   Gatte    v.    Hastfor    hiess.   und    wahrscheinlich    ist   auch   der 

»•*»r  unterzeichnet©  -Brief  einer  Deutschen-  ans  Paris,  I,  I,  159— UiÄ,  von 


6Ö6    VI.  Vom  «weiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bfa  cu  GoeAlic'f  Tod. 

§  329   L.   l^eck    herauRgegebene   „Musenalmanach   für    das  Jabr   1602^' 
Der  Gedanke  dazu  war  von  Schlegel   und  Tieck  bereits  im  Jal 
1800    gefasst    worden,    als  Schillers  Musenalmanach'"    » 
Ausser  Gedichten   von  den  Herausgebern  selbst'*^  und  ai.     . 
Nacblass***,   enthält  der  Schlegel -Tieck'scbe  Musenalmanach  n 
Beiträge  von  Fr.  Schlegel'^,  Bernbardi  und  dessen  Galtin,   Fl 
und   Schelling.     Von   Bernbardi   ist   „der   Traum""";    seiner  Ga 
gehören    an    eine   „Ballade''    in    dramatischer  Form    UheiU  Prott 
tbeila  Verse)'"  und  die  „Bilder  der  Kindheit'"=*.  Fichte'*  baoe 


lüto 


ihrer  Feder.    Von  den  wenigen  noch  übrigen  Beiträgen  mag   hier   tmr  dl*  ,i 
schichte  von  llachrüm  Giir.     Aus  dem  Persischen  des   Ferdusi*   |m  Kel«ti 
übertragen)  von  Gottfried  Ilageniann.  2,2.  42-t;2,  als  ein  Anzeichen  de$  ta  te 
romantischen  Schule  (zuerst  hei  Fr.  Schlegel)  geweckten  Interesse  nn  der  moifi» 
Undischeu  Poesie,  besonders  angeführt  werden.  l'2l)  Tübingen  HOX   1«. 

122)  Zu  diesem  hatte  auch  Tieck  fär  den  Jahrgang  171^9  einige  Iieitr*fr 
liefert;  drei  stehen  in  seinen  -Gedichten'*.  1,  1  — H;  UT — 121,  der  vierte  in 
nachgelassenen  Schriften  I,  2U5  f.  123)  Vgl.  Köpke  a.  il.  0.  t,  2%  f. 

124)  Von  A.  W.  Schlegel  die  Gedichte  iu  den  s.  Werken  I,  127—14«; 
368  f  :   2,  3:.b.c;    lOa;  Ml»-lti2;  3,  1^*9—191;  von  Tieck    die  in  d«r 
seiner  .Gedichte-  I,  22— 50;  Sft—r>l;    1(15-109;    122—143;    1 15  t;  'i,  !MI  t. 
bis  20S  stehenden.         125)  .An  Tieck".  Schriften  i.  1.1-4&;  -Bergnum 
und  -Loh  des  Weins"  (beide  aus  dem  -Heinrich  von  Ofterdingen-)  t, 1*5  II. 
80  wie  I— VIT  der  „geistlichen  Lieder-,  2,  20—31.  12*>)  In  den  8. 

8, 105— im»  oben;  113—116;   M3-14S;  14<)— 174  (vgl.  S,«50,  Anm.  52);  9, 
45;  ein  kleines^  ..Klage"  über»chr!ehenes  Gedieht  (Mnsen-AlmAD&ch  S.  iilt 
8.  und  W.  Bde   der  s.  Werke  nicht  zu  finden.  127)  S.  201—272. 

V2H)  S.  64-7S.  129)  S.  129—132;  vgl.  G.  Merkels  .Briefe  an  ein  FoM- 

zimmer**  etc.  4,  105  f.  und  K^pke  a   a.  0.  1.  297.  13lfi  Firhte  stellte  nK 

wie  sein  Sohu  iu  der  Vorrede  zum  s.  Bde.  der  s  Werke  S,  XVII  f,  berichtrt.  to 
der  ncnern  Poesie  dem  objectiven  Werthe  narli  Goethe  unbedingt  am  hAebitn 
und  unter  dessen  Werken  wieder  ..die  uAtürliche  Tochter-  (vgl.  Fichte'*  UWa 
2,  320  f.)  „Dennoch  war  er  auch  der  Romantik,  namentlich  der  rtdigiuäfn.  Im 
ihre  Nebenabsenker,  mit  Vorliebe  zugethau,  während  ihm  Jean  Paul»  ii 
Weichheit  ebenso,  wie  sein  geschraubter  Humor,  ungeniessbar  blieb.  In 
besonders  seinen  geistlichen  Liedern,  sah  er  neue  Quellen  e<hter,  tief 
der  Poesie  seinem  Zeitalter  geöfTnet.  und  Tiecks  -heil.  ÜenoveTu*  ei 
ilirem  ersten  Krscbeinen  ?'m  so  nachhaltiges  Interesse  in  ihm.  dass  er  dieatf 
tung  romantisch  religiöser  r)n)men  selbst  zur  Dtirstt^llung  phdusophisdkr  I<1m* 
glaubte  erheben  zu  können *^.  fu  einem  romantischen  Traurr?piel,  .der  Twd  *t 
heil.  Bonifacius**,  von  dem  noch  der  ausführliche  Kniwurf  vorhanden  »K,  kifcr 
den  Sieg  der  Idee  eben  dadurch,  dass  sie  äusaerüch  sich  opf(*re  and  in 
Gegenwart  untergolie,  zu  schildern  gedacht.  In  spatem  Jahren .  als  ihn  dit 
dium  des  Italienischen^  Spanischen  und  Portugiesischen  beschäftigte.,  h%\*e  iki 
sondors  I»aatc  mächtig  ergriffen  und  sein  Interesse  anhaltend  «efessrli.  Vm  i 
pPurgatorio-  habe  er  eine  zum  Thcil  metrißche  Uebt-rselzung  mit  C 
hiuterlussen  (wovon  auch  ein  Fragment  in*der  Zeitschrift  -^'eftU^  KO 
I%i07,  gedruckt  worden»,  ebenso  viele  Teberäetzungsversuche  aus  den  Werk« 
Petrarca,  Cenautes,  Calderon  und  Camoens  leinige  davon  sind  in  den  s-  ^^i 
8,  472  ff.  mitgetheilt. 


1 


ckeluDgBgang  d.  Lit.    1773— IS32.   Die  Romantiker.    Gries.   Brentano.    667 


"dylle"  Uberschriebenes  kleines  Gedicht  gesteuert'^'.  Schelling 
lieferte  unter  dem  Namen  Bonaventura  „Die  letzten  Worte  des 
Pfarres  zu  Drottning  in  Seeland.  Eine  wahre  Geschichte**'";  und 
drei  kleinere  Sachen  *".  —  Inzwischen  hatten  die  Stifter  der  roinan- 
tiflchen  Schule,  trotJi  den  heftigsten  Anfeindungen  und  den  boshaf- 
testen Verunglimpfungen,  die  sie  von  vcrechiedcnen  Seiten,  und  be- 
eondcrs  von  mehreren  Berliner  Schriftstellern,  erfuhren,  nicht  allein 
schon  durch  ihre  Kritik  einen  sehr  bedeutenden  Einfluss  auf  das 
ürtheil  eines  nicht  geringen  Theils  ilirer  Zeitgenossen  in  literarischen 
Dingen  gewonnen,  sondern  auch  hinnen  Kuraera  einen  ansehnlichen 
Zuwachs  an  neuen  mitwirkenden  Kräften  erbalten.  Vornehmlich 
unter  den  jungem,  seit  dem  Jahr  ISüO  mit  ihren  Erstlingsversuchen 
hervortretenden  Dichtern  zählten  sie  bald  viele  Anhänger,  ja  man 
darf  sagen,  dass  von  den  wirklichen  neu  auftauchenden  Talenten 
die  allermeisten  von  dem  Geist  der  Romantik  ergniTen  waren,  den 
Theorien  der  Schlegel  huldigten  und  in  ihren  eigenen  Poesien  auf 
die  romantischen  Tendenzen  mehr  oder  weniger  eingieugen.  Fast 
alle  standen  heim  Beginn  ihrer  schriftstellerischen  Laufhahn  ent- 
weder in  einer  unmittelbaren,  oder,  wo  diess  nicht  der  Fall  war, 
th  in  einer  mittelbaren  persönlichen  Beziehung  /.u  den  Häuptern 
Schule-,  fast  alle  hielten  sich  zu  der  Zeit  theils  in  Jena,  theils 
in  Berlin  oder  in  der  Nähe  dieser  letztern  Stadt  auf.  Dort  gehörten, 
wie  bereits  bemerkt  wurde,  dem  schlegelschen  Kreise  als  nah  be- 
freundete Glieder  J.  D.  Gries'"  und  Clemeus  Brentano  an. 
Letzterer,  ein  Enkel  von  Sophie  La  Roche,  war  I77S  im  Hause  seiner 
öroaseltern  zu  Tbai-Ehrenbreitstein  geboren'".  Nachdem  er  eine 
Zeit  lang  das  Gymnasium  in  Cobleuz  besucht  hatte,  sollte  er  zuerst 

i 

^f  131)  9-  170:  io  seinen  s.  Werken  S,  400  wieder  abgedruckt.  (Auch  in 
den  MuscnftlmaniK'h  %'on  Chamisso  und  Varniiftgeu  U\r  !sn&  lioferto  er  rimge 
Gedichte;  v^'l.  .1.  E.  Ilitzigs  ..Leben  und  Uriele  von  Ad.  v.  Chamisso".  Li'ipzig 
^ho.     2  Me.    S.     1.  46).  \H2)  Vgl   -die  Trauung-,   eine  ErzilMung  von 

Bt  Steffens  in  den  ^Geschichten,  Sagen  und  Märchen-  von  v.  d.  Hagen,  HoiF- 
nann  und  Stcflciis.    Breslau   \<2H.   S.  133)  «Tliier  und  Pflanze^   „Lied", 

^Looa  der  Erde".  —  Scholling  stand  damals  nicht  mehr  mit  allen  Ilaiipt- 
^Klnehmern  am  Musenalnianacb  in  gutem  Vernelirnen;  mit  Fr.  Schlegel  war  er 
Vk^s  völlig  Keri'ailen  (vgl  H.  Steffens.  -Was  ich  erlebte-  4,  3ri.  —  Von  andern 
Tertaaaem  als  den  genannten  sind  nur  sehr  wenige  Gedichte  in  dem  Almauach; 

KUaron  iS.3l-3ä:  7S— 100»  sind  Sz.  unterKeichnet ;  mit  denselben  Buchstaben 
Rnch  einer  der  Freunde  Tiecks  bezeichnet,   au   welche  die  Sonette  im  .poet. 
mal-   S.  4*i9)  gerichtet  sind.    Sollte  AVilb,   von  Schütz  darunter  zu  verstehen 
Bcin?    Das  Sonett  .der  Streit   für  das  Heilige",   S.  2.ST,  ist  von  Kr.  A.  Schulze 
^toannt   Fr.    Caun);    vgl    dessen    -Memoiren".     Buuzlau   l*«37.     3  Thle.   *'.    l, 
Hbf:  210.  134)  Vgl  S.  254.  I3öi  Nocli  der  gewöhnlichen  Angabe  zu 

Frankfurt  a.  M,,  wo  sein  Vater  uisässig  war. 


§  329 


mm 


668    VI.  Vom  zweitea  Viertel  des  XVm  Jahrhunderts  bis  zn  Goetbt*«  Tod. 

§  329  ia  dem  Geschüft  seiues  Vaters,  danu  in  Laogensaiza  niid  zuletii 
wieder  in  Frankfurt  sich  zum  Kaufmnun  ausbilden,  zeigte  aber  so 
wenig  Neigung  und  Beruf  dazu,  das»  ibm  endlicb  gestattet  wurde, 
aufa  neue  eine  Schule  zu  besuchen,  uui  sich  für  die  ÜniversitSt  To^ 
zubereiten.  1797  gicng  er  nach  Jena  (einige  Zeit  war  er  aacb  in 
Halle).  Durch  Wieland,  den  Freund  seiner  Grosgmutter,  gewann 
er  in  Jena  und  Weimar  bald  Zutritt  bei  andern  hervorragenden 
Männern  der  Kunst  und  Wissenschaft;  am  engsten  aehloss  er  siek 
dem  scblegelschen  Kreise  und  dem  Physiker  Ritter  an.  Schon  179S 
fieng  er  seinen  Roman  „Godwi**  an,  brachte  ihn  zu  Anfang  de?  1 
1799  zu  einem  erstcu  Ahschlnsfi,  arbeitete  aber  nachher  n<>cb  mehr- 
fach daran'**.  Schon  vorher  hatte  er  unter  dem  Autnrnaxnen  Marii, 
unter  welchem  auch  der  „Godwi"  erschien,  als  erstes  Bändcbei 
„Satirischer  und  pnctischer  Spiele",  eine  muthwillige,  sich  aof  dia 
damaligen  Literaturzustände  beziehende  Dichtung,  ,,GufltaT  Wa»**, 
herausgegeben''^.  In  Jena  ergriiT  ihn  eine  leidenschaftliche  Liebe 
zu  der.  auch  als  Dichterin  bekannten,  Gattin  des  Professors  Merefts, 
Sophie,  gebornen  Schubert,  mit  der  er  sich  spÄter'",  nachdem  M 
von  Mereau  geschieden  worden,  verheirathete'*".  Brentanu  war  woW« 
habend  genug,  um  ein  ganz  unabhängiges  Leben  7ai  ftlhren;  ohl 
je  an  ein  Amt  gebunden  zu  sein,  wechselte  er  nacb  soiuer  Vm 
sitätszeit  sehr  häufig  seinen  Aufenthaltsort  und  verweilte  nur  seil 
mehrere  Jahre  hintereinander  in  einer  und  derselben  Stadt.  AU 
im  Sommer  1800  Jena  verliess,  gieng  er  zunächst  nach  DtmiI« 
von  da  im  Herbst  an  den  Rhein,  lebte  danu  eine  Zeit  hing 
Sarigny  und  Achim  von  Arnim,  seinen  nacbherigen  Schwfigeni,  n* 
sammen  auf  des  erstem  Landgut  Träges  in  der  Xähe  von  lüoA 
und  reiste  in  den  nächsten  Jahren  viel  umher,  so  da«»  er  bild 
Jena,  bald  bei  Savignv  in  Marburg  oder  in  Träges  war,  oder 
zu  Zeiten  in  Frankfurt,  in  Wien,  Cohlenz  etc.  aufhielt,  his  er  ^B 
verheirathete  und  nun  länger  in  Heidelberg  verweilte.  An 
Stadt  fesselte  ihn  auch  noch  nach  dem  Tode  seiner  Fnvu  die 
Wesenheit  von  Görres  und  Arnim,  doch  machte  er  auch  von 
aus  häufige  Ausflöge  nach  Coblenz  und  Frankfurt,  rnterdessca 
schienen  von  ihm  das  Singspiel  „die  lustigen  Musikanten*"* 
das  Lustspiel  ,,Ponce  de  Leon*'^*'.    Mit   Achim   von  Arnim  gab 


IBC)  .Godwi,  oder  dos  steinerne  Bild  der  Mutter.  Ein  verwUdArier 
Bremen  ISOI,  2  Thie.  S.;  vgl.  Gesammelte  Schrillen  \  12— is.  137»  h 
1800.  K;  ebensowenig  wie  der  -(lodwi"  in  die  .gesanuneltcn  Schrift'«" 
genommen.  138)  1803  und  nicht  ISUS,  wie  gewöhnlich  augcgebvD  nn( 

139)  Sie  starb  aber  schon  im  Herbst  ISOG  eu  Heidelberg-  HOt 

SU  Dflaseldorf  IS02,  gedruckt  j:h  Frankfurt  a.  M.  ISO»,    ü.  NI?  G( 

im  Sommer  ibui,  gedruckt  zu  Göttingen  1S<)4.   b. 


EntwickcluiigsgaDg  der  Literatur.    I77:t— 1S32.    Die Romanttker.  Brentano.   669 


ie  Sammlung    deutsolier   Volkslieder    „des   Knaben    Wunderhorn"  §  329 
iraus"^,  mit  GOrres  sehrieb  er  „des  Uhrmachers  Bog  wunderbare 
leschichte"'",   mit  Arnim,  Görres   und  J.  Grimm  gründete  er  die 
^Zeitung  für  Einsiedler"'"  nnd  1S()9  gab  er  seine  Bearbeitung  von 
Wickrams  „Goldfaden"''*  heraus.     Nach  einer   kurzen   zweiten 
Ihe  und  einem  eben  so  kurzen  Aufenthalt  in  Cassel  und  Landshut 
wo  damals  Savigny  lehrte),  gieng  er  im  Herbst  1809  nach  Berlin^ 
ro  er  schon  im  Herbst   1804  gewesen  war'**.    Wahrscheinlich  war 
tamals  schon  vollendet,  was  er  von  seinen  „Romanzen  vom  Rosen- 
kranz*' gedichtet  hat"\     In  Berlin  dichtete  er  die  Cautate  zur  Ein- 
reibung der  neu  errichteten  Universität   und  schrieb  den  „Philister 
>r,  in  und  nach   der  Geschichte^'"*.     Im  Sommer   IHIO  reiste  er 
ich  Böhmen»  wo  die  Oeschwistor  Brentano  oinc  Herrschaft  besassen. 
kd  verweilte  dort  längere  Zeit,  während  welcher  er  sich  vomehm- 
sh   mit  den  Vorstudien   zu   seiner  grossen   dramatischen   Dichtung 
lio  Gründung  Prags" '^'*  beschäftigte.     Nachdem  er  wieder  eine  Zeit 
ing  in  Berlin  gewesen   war,   wo  er  damals  wohl  seine  erst  lS4ö 
»n  Guido  Görres  herausgegebenen  „Märchen**   niederschrieb,   hielt 
sich  seit  dem  Ende  des  Sommers  1811  in  Prag  auf;  hier  traf  ihn 
Sommer  1813  Tieck'".     In  demselben  Jahre  war  Brentano  auch 
Wien.     1S15  kehrte  er  nach  Berlin  zurück,  wo  er  nun  bis  in  den 
rbet   ISIS  wohnen   blieb,   und   die  beiden  Novellen  „Geschichte 
im  braven  Kasperl  und   der  schönen  Annerl"  (wohl   das  vortrefT- 
jhste  seiner  erzählenden  Prosastdcke''")  und  „die  mehreren  Weh- 
llÜler  und  ungarischen  Nationalgesichter "'"  schrieb.   In  diesem  Zeit- 
raum trat  der  grosso  Umschlag  in  seinem  innern  Leben  ein,  der  ihn 
aus  eiuem  dämonisch  muthwilligen,   von  Witz  und  bunten,  glänzeu- 
m  Gebilden  der  Phantasie  Übersprudelnden  Weltmenschen  zu  einem 
sng   gläubigen,   ascetisch    frommen   und  sich   selbst  peinigenden 
tboHken  machte.    Diese  neue  Richtung  seines  GemUths  spiegelte 


142)  HeidelberR  ISOil— ISOS.    3  Bde.   S.  143t  Heidelberg  1S07.   8.    In 

Namen  .tiogs"  sind  die  Anfangs-   und  Schliissbucbstabcn  der  Namen  beider 

iser,  B— 0,  nnd  G— s.  vpreinigt.  144»  Es  erschienen  davon  aber  nur 

ite  im  J.  ISOti.    Nachher  bekam  sie  den   Gesammtiitel  „TröRteiosamkeit. 

von  L.  Ä    V.  Arnim-.     Heidelberg  IM'-?.    4.  I45i  Vgl.  Bd    I,  404. 

ti2.         I4Gl  VrI.  Leben  und  Briefe  von  Ad,  von  Cbamisso   U  AI;  2.tit. 

\lt  Gedruckt  im  3.  Bde.  der  ifesammeJten  Schriften.  NS)  Uerbn  \h\\.   4.; 

andere  Schriften  von  ihm,  die  seit  I^^IU  erschienen,   und  die  ich  nicht  noch 

londers  anführe,  vgl.  Gödekc.   Edf  Bdcber  deutscher  Dichtung  2,  'Mii  f.  und 

iindriss  ni.  :u.  11'.))  Pesth  u.  Leipzig  \**ib.   S.;   vgl.  über  die  Entstehung 

ickB   die  Zeitschrift   -Kronos"»    Prag  1S1;1.    S.      l ,  "9  ff.  150)  Vgl. 

a.  a.  0.  1.  ai>3  ff.  und  daxu  2.  204.         1^1)  Zuerst  gedruckt  ia  Gubitzeus 

der  Milde".  152»  Gedruckt  in  Gubitaen»  „GeseUschafter". 


670    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhimderta  bis  za  üoethe*i  Tod. 

329  sieb  von  nun  an  auch  in  den  meisten  seiner  dicbteriscben  Erfindangen 
ab.    Im  Herbst  ISIS  zog  ibn  das  Interesse,  welches  die  wunder- 
baren Erscbeinungen  an  der  ehemaligen  Nonne  Emmerich  zu  Dolmen 
bei  Münster  in  ihm  erweckt  hatten,  in  ihre  unmittelbarste  Nähe;  er 
blieb  von  da  an,  mit  wenigen  Unterbrechungen,  bis  in  den  Anfang 
des  Jahres  1824,  wo  die  Emmerich  starb,  in  Dülmen,  hielt  sich  daan 
längere  oder  kürzere  Zeit  in   verschiedenen  Orten   am  Rhein,  in 
Frankfurt,  Regensburg,  München  und  Aschaffenburg  auf,  machte  da- 
zwischen Reisen  nach  Frankreich,  nach  der  Schweiz  und  nach  Tyrol 
und  starb  1S42  im  Hause  eines  seiner  Brüder  zu  Aachaffenburg'". 
Zu  Gries  und  Brentano  gesellte  sich  als  Dritter,  diesem  Kreise  en^ 
Verbundener   der   Norweger  Henrich  Steffens,    der  zwar  erst 
viel  später  mit  Erfindungen  im  Fach  der  schönen  Literatur^  jetzt  aber 
wenigstens  schon,  im  Anschluss  an  Scbelling,  mit  naturphiloBOphischen 
Arbeiten  auftrat.    Geboren  1773  zu  Stavanger  in  Norwegen,  kam  er 
als  sechsjähriger  Knabe  mit  seinen  Eltern  nach  Dänemark  und  be- 
suchte nach  einander  verschiedene  Schulen  dieses  Landes,  znletit 
eine  in  Kopenhagen,  wo  er  auch  1790  seine  Universitätsstudien  be- 
gann.   Von  der  Theologie,  der  er  sich  widmen  sollte,  zog  ihn  seioe 
durch  Buffon  geweckte  Begeisterung  für  das  Studium  der  Natur  ib. 
1794  trat  er,  von  der  dänischen  Regierung  unterstützt,   eine  fieise 
an,  zunächst  nach  Norwegen,   wo  er  den  Sommer,  Ton  da  null 
Hamburg,  wo  er  den  Winter  verlebte,  sodann  nach  Kiel.    Hier  fienj 
er  an  Vorlesungen  Über  Naturgeschichte  zu  halten;  zugleich  ertheilte 
er  Privatunterricht.    Er  wurde  mit  Fr,  H.  Jacobi  und  den  ihm  näbff 
oder  entfernter  Verbundenen  bekannt;  Jacobfs  Briefe  über  Spin^a 
und  das  Fragment  von  Goethe's  Faust,  die  er  jetzt  las,  ergriffen  iiw 
■   aufs  tiefste;  dazu  lernte  er  einige  Schriften  von  Scbelling  kennen;  ff 
glaubte,  dass  er  seinem  Wissenstrieb  und  dem  Verlangen,  seinen  uarar- 
wissenschaftlichen  Bestrebungen  eine  tiefere  philosophische  Graoö" 
läge  zu  geben ,  nirgend  besser  werde  genügen  können  als  in  Jen«. 
Aufs  neue  mit  einem  Rcisestipendium  ausgestattet,   traf  er  zu  dff 
Zeit  in  Jena  ein,  wo  die  Schlegel  bereits  das  „Athenäum*'  begonnca 


153)  Was  er  soit  seiner  Bekanntschaft  mit  der  Emmerich  noch  va^ 
Gedichten  geistlichen  Inlialts  schrieb,  bezog  sich  vorzugsweise  theils  auf  öeM 
Wundergeschichte,  theils  auf  ascetiache  Zwecke  und  auf  Förderung  ^^ 
lischer  Wohlthütigkeitsaiistalten ;  doch  Hess  er  sich  im  Jahre  is;w  noch  iiberrftia' 
sein  MUrdien  ..Gockel,  Hinkel  nnd  Gackeleia"  herauszugeben.  (Frankfurt  a.  M.  *■■ 
Vgl.  über  sein  Leben  -Cl.  Hrentano's  gesammelte  Schriften-.  Frankfurt  «■  1*^ 
|s52,  ;)  Bde.  s.  Bd  S.  1  ff.  (dieser  nnd  der  letzte  Bund  enthalten  seine  g"^!»^ 
melten  Briefe  von  17i)D — 1M2);  dazu  -Cl.  Brentano*s  Frühlings  kränz  ans  Ju?f^ 
briefen  ihm  geflochten-  etc.  (von  seiner  Schwester  Bettina,  der  Gattin  Achime* 
Arnims, i.    Bd.  1.    Charlotteuburg  1844.    8. 


Entwickclungsgang  der  Literatur.    1773—1632.    Die  Bomautiker.    Steffens.    67  t 

latten,  und  Scbelling  als  auBserordentlicher  Professor  an  der  Uni-  §  329 
versität  lehrte.  Er  schloss  sich  eng  an  den  geselligen  Kreis  A.  W. 
Schlegels  an  und  wurde  Sehellings  eifrigster  Schüler  und  Anhänger. 
Dieser  hatte  gewlinscht,  zum  Recensentcn  seiner  „Ideen  zu  einer 
Philosophie  der  Natur"  in  der  Jenaer  Literatur- Zeitung  Steffens  zu 
rhalten ;  da  diesem  Wunsclie  nicht  gewillfahrt  wurde,  worüber 
jheüiug  mit  den  Herausgebern  der  Literatur -Zeitung  zerfiel,  so 
le  die  von  Steffens  bereits  rerfasste  Recension  in  Sehellings 
', Zeitschrift  für  speculative  Physik"  (ISOO)  abgedruckt:  das  erste 
8chriftHtUckj  mit  welchem  er  in  der  deutschen  Literatur  auftrat.  Mehr 
jedoch  als  durch  diese  Recension  selbst  wurde  sein  Name  in  Deutsch- 
id  durch  die  zwischen  Scbelling  und  G.  Schütz,  als  erstem  Heraus- 
iber  der  Literatur-Zeitung,  gewechselten  Streitschriften,  so  wie  durch 
ie  darüber  in  öffentlichen  Blättern  erstatteten  Berichte"'  bekannt. 
Sommer  1700  war  StetTens  über  Berlin  nach  Freiberg  gegangen, 
unter  Werner  seine  naturwissenschaftlichen  Studien  erweiternd 
fortzusetzen;  er  schrieb  hier  seine  „Beiträge  zur  innern  Naturge- 
schichte der  Erde"'"  Im  J.  ISOl,  wo  er  in  Tharand  wohnte,  kam 
er  häutig  nach  Dresden  zu  Tieck,  den  er  bereits  1799  in  Berlin 
itte  kennen  lernen  '"\  Im  folgenden  Jahre  kehrte  er  nach  Kopen- 
;en  als  Universitätslehrer  zurück,  folgte  aber  IS04  einem  Rufe  nach 
ile,  wo  Scbleiermacher  einer  seiner  vertrautesten  Freunde  wurde. 
Hause  seines  Schwiegervaters  Reicbardt  zu  Giebichenstein  kam  er 
ih  in  nähere  Verbindung  mit  Achim  von  Arnim  und  Brentano.  Als 
Universität  in  Halle  von  Napoleon  eine  Zeit  lang  aufgehoben  war, 
[eng  StetTens  zu  Freunden  in  Holstein,  Hamburg  und  Lübeck,  kehrte 
»er  später  nach  Halle  zurück  und  betheiligte  sich  hier  aufs  leb- 
fteste  an  den  geheimen  Uuternehmungeu  der  Vaterlaudsfreunde 
^on  die  französische  Zwingberrschaft.  Im  Herbst  IS II  kam  er  als 
rofessor  nach  Breslau,  wirkte  von  hier  aus  viel  mit  zu  dem  Auf- 
twnnge  der  studierenden  Jugend  beim  Ausbruch  des  Kriegs  gegen 
inkrcicb  und  trat  selbst  in  das  Heer.  Nach  dem  Einzüge  der  Verbün- 
tten  in  Paris  übernahm  er  wieder  sein  Lehramt,  das  er  lS3t  mit  einem 
der  Universität  zu  Berlin  vertauschte,  und  starb  daselbst  1845'", 


154)  Besonders  einen  von  Nicolai  in  der  n.  allgemeinen  d.  Bibliothek. 

»5)  Freiberg  1601.  156l  Vgl.  S.  büO,  tinten;  ö»»4.  157)  In  seiuen  spatern 
m  erst  war  er  auch  auf  dem  Felde  der  schonen  Littratur  als  Schriftsteller  auf- 
ten,  znorst  mit  der  Änm.  I.ri  angeführton  Erzählung  ^die  Trauung-,  welcher 
Novelleucyklen.  -die  Familien  Walseth  und  Leith-  {Breslau  1826  f.  3  Thie. 
und  .die  vier  Norweger"  t  Breslau  1S2^.  b  Thle.  S.i,  sodann  «Malkolra, 
norwegische  Novelle"  ( Breslau  ls.1l.  2  Bde.;  alle  drei  Werke  sammt  jener 
thlung  aU  Qesamut ausgäbe  seiner  „NoveUen*-,  Breslau  ISI^TI.  15  Bdchen.), 
ich  -die  Revolation,  eine  Novelle*"  «Breslau   I&37)  folgten.    Vgl.   seine   unter 


672    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe*«  Tod. 

§  329  Einen  vierten  treuen  Anhänger  hatten  die  Schlegel  in  Jena  an  dem 
früh  verstorbenen  J.  Bernhard  Vermehren'",   der  zuerst'**  mit 
seinen  „Briefen  über  Fr.  Schlegels  Lucinde,  zur  richtigen  Würdigung 
dorsclbon"""*  in  der  gelehrten  Welt  auftrat.    Für  die  Jahre  1802  und 
1S03  gab  er  einen  Musenalmanach '"  heraus.    Ausser  Gedichten  von 
ihm  selbst  enthielt   der   erste  Jahrgang   neben  Beiträgen   von  Fr. 
Schlegel  und  jungem  Dichtern  der  neuen  Schule  auch  noch  viele 
Stücke  von  altern  und  jungem  Dichtem  anderer  Richtungen,  welche 
dagegen  in  dem  zweiten,  vorzüglich  der  Sonettenpoesie  gewidmeten 
Jahrgange  fast  gar  nicht  mehr  vertreten  waren  "".     Femer  zählte  auch 
E.  Aug.  Fr.  Klingemann"^,  einer  der  vertrautesten  Universität*- 
frounde  Brentano*s,  zu  den  Jüngern  Romantikem  dieser  Gruppe.  £r 
gab  im  Jahre  1800  eine  Zeitschrift  ,,Memnon*'""  heraus,  zu  welcher 
ihm  auch  Brentano  Beiträge  lieferte*".     Einem  zu   derselben  Zeil 
veröffentlichten  Roman,  „Romano"  *",  hatte  Klingemann  bereits  ver- 
schiedene andere  (seit  1795)  vorauf  gehen  lassen,  die  noch  ganz  im 
Stil  der  beliebten  Rittergeschichten  der  achtziger  und  neunziger  Jährt 
abgefasst  waren.  Späterhin  schrieb  er  besouders  dramatische  Sachen*^. 
Im  Anfang  des  Jahrhunderts  wurde  er  von  den  Gegnern  der  neuen 
Schule  immer  den  ausgesprochensten  Anhängern  derselben  beigezählL 
Endlich  ist  den  jungem  Romantikem,  insofern  er  in  Jena  seine  aka- 
demischen Studien  begann  und  zu  gleicher  Zeit  seinen  ersten  Romu 
schrieb,  auch  beizuzählen  Franz  Hörn.    Geboren  1781  zu  Braim- 
Bchweig,  besuchte  er  das  dortige  Carolinum  und   war  noch  Scbfller 
desselben,  als  er  sich  schon  mit  Schriftstellerci  abgab,  studierte  seit 


dorn  Titel  „Was  ich  erlebte-  herausgegebene  Selbstbiographie,  Breslau  IS-H'II. 
10  IJde.  S. ;  dazu  -zur  Erinnerung  an  Heinrich  Steffens  Aus  Briefen  an  sMufi 
Verleger**.    Herausg.  von   M.   Tietzen.    Leipzig   IS71.   S.  15*^l  Geb.  1"* 

zu  Lübeck,  war  um  l*^nn  Trivatdoccnt  in  der  philos.  Facultüt  zu  Jena  uni 
starb  daselbst  180H.  Was  Goethe  in  einem  Uriefe  an  Schiller  ifi,  2'J7.  (l»nit 
gemeint  hat,  dass  Vermehren  die  Postexpedition  tödtlich  geworden  sei.  veise 
ich  nicht.  159)  Nach  der  n.  allgemeinen  d.  Bibliothek  50,  3W  ff. 

I6()i  Jena  f^oo.   S.  KUi  Leipzig  1S02.    1*2.;   Jena  1*^03:    16.  It52t  >'ffi 

erschien  von  ihm  ein  Märchen,  -Schloss  Roseuthal-.  Berlin  1Su3.  S.  lö^i*"* 
1777  zu  Braunschweig,  studierte  in  Jena  die  Rechte,  war  dabei  aber  auib  ^- 
tieissiger  Zuhörer  von  Fichte ,  Schelling  und  A.  W.  Schlegel.  Xach  seinem  Ab- 
gänge von  der  Universität  war  er  kurze  Zeit  Registrator  bei  dem  Collegium  rnivt- 
cum  in  Braunschweig,  widmete  sich  dann  ganz  der  Bch(>nen  Literatur  und  iB-» 
besondere  der  dramatischen  Schriftstollerei ,  betheiligte  sich  seit  lSi:t  an  iff 
Leitung  des  Braunschweiger  Theaters  und  wurde  ISIS  alleiniger  Director  ^* 
selben.  Allein  solion  im  nächsten  Jahre  gab  er  diese  SteUung  wieder  aofacj 
wurde  Professor  am  Carolinum.    Er  starb  1S3I.  164  t  Leipzig  S.:  norflE 

Band.  l()5i  Vgl.  Brentano's  gesammelte  Schriften  R.  21.  166i  L«P^ 

iHOOf.  2  Bde.  s.  167)  Vgl.  darüber  W.  Engelraanns  Bibliothek  der  «huiiß 
Wissenschaften  1,  IS7  f. 


Entwickelungsg.  d.  Literatur.  !773~lA:r2.  Dlo  Romantiker.  KHugemann.  Hom.  ft7Il 


799  in  Jena  und  Leipzig:,  indem  er  sich  aufänglicli  der  Rechta- 
isaenschaft  widmete,  daneben  aber  auch  schon  seinen  Fleias  auf 
Philosophie,  Aestbetik,  alte  und  neue  Sprachen  verwandte,  bald 
jedoch  die  Jurisprudenz  ganz  aufgab  und  sich  hauptsächlich  mit 
hiloBophie,  Philologie  und  schöner  Literatur  beschäftigte.  In  dieser 
Zeit,  wo  er  auch  mit  Fr.  Schlegel  und  Tieck  in  Berllhrung  kam'"*, 
ga)>  er,  auerst  anonym,  dann  mit  seinem  Namen,  verschiedene  seiner 
dichterischen  Erfindungen,  meist  von  der  ei*2ählenden  Gattung ""^ 
eraus.  Da  er  nach  Beendigung  seiner  Universitätsstudien  in  seiner 
aterstadt  nicht  gleich  eine  Anstellung  fand,  so  wurde  er  von  dem 
Gymnasialdirector  Gedike  in  Berlin,  dem  er  empfohlen  worden,  in 
das  Seminar  für  gelehrte  Schulen  zu  Ostern  tS03  aufgenommen. 
Nun  begauu  auch  seine  Thätigkeit  als  Literarhistoriker:  im  Winter 
ISO  1  und  1805  hielt  er  Vorlegungen  Ober  die  Geschichte  der  deutschen 
oesie  und  Beredsamkeit,  aus  denen  seine  erste  literarhistorische 
hrift,  „Geschichte  und  Kritik  der  deutschen  Poesie  und  Beredsam- 
it'*'"*  hervorgieng.  Im  Herbste  18^5  erhielt  er  eine  Stelle  am 
iVceum  zu  Bremen.  Seine  schwankende  Gesundheit  nöthigte  ihn 
indess,  von  seinem  Amte  zurückzutreten,  nachdem  er  bereits  von 
Mitte  1809  an  anderthalb  Jahre  als  Beurlaubter  in  Berlin  gelebt 
Lttc.  Ungeachtet  seiner  fortdauernden  Kränklichkeit,  war  er  in 
lin  unausgesetzt  mit  schriftstellerischen  Arbeiten  beschäftigt; 
Ittch  hielt  er  zu  verschiedenen  Zeiten  Vorlesungen  Über  deutsche 
iterat Urgeschichte  imd  über  Shakspeare.  Er  starb  1837'".  Hörn 
Lt  efl  in  seinen  „Umrissen  zur  Geschichte  und  Kritik  der  schönen 
Literatur""*  geradezu  in  einer  Weise,  in  der  sich  die  grosse  Selbst- 
»fälligkeit  und  Eitelkeil  des  Mannes  ausspricht,  in  Abrede  gestellt, 
er  der  sogenannten  neuen  Schule  zugethan  gewesen  sei,  ja  er 
[1!  «ich  sogar  als  ihren  Gegner  gezeigt  haben.  Allein  in  seinen 
ifüngen  hangt  er  als  Roman-  und  Novellenschreiber,  als  Kritiker 
id  Literarhistoriker  durch  Fäden  genug  mit  ihr  innerlich  zusammen, 
id  ihre  sie  im  Anfang  des  Jahrhunderts  bekämpfenden  Gegner'" 
iben  ihn  immer  als  einen  der  Jüngern  Romantiker  betrachtet  und 


§  329 


\(*S)  Vgl.  Fr.  I.auua  Mouioiren  t,  204.  169)  ^Phaotastisclie  Gemälilde" 

iil  *Iio  Uomane  -dor  Kinwime,  oder  der  Wisi^  des  Todes*  und  «Ouiskardo  der 
;hter,  oder  das  Idcah,  alle  drei  Bftcher  Letpzij;  ISOI.  S.;  im  folgenden  Jahr 
ichicn  ein  dritter  Roraan,  .Victors  WalUahrten".  l'enig.  S.;  ftber  seine  zahlreichen 

'D Schriften  vgl.  W.  Engelmann  a.  a.  O.  t,  Itil  f.  170)  Berlin  l<*05.   «. 

17  li  Vgl.  -Franz  Hern,  ein   biographiaches  Denkmal"  (von   Caroline  Uern- 

,  einer  vertrauten  PVeundin  Homs»,   Berlin  IS.'iO.    S.  (in  einem  Auszöge  von 
1,  Schwab  in  der  -Psyche.    Aus  Fr.  Homs  Nachlasse.   AiisgewAhlt  von  O.Schwab 

Kr.  Förster-.    Leipzig  l*»n.    3  Bde.    Ui.     I  ,  3  ff .  172)  2.  Ausgabe. 

332  f.  173)  In  der  n.  altgemeinen  d.  Bibliothek,  im  Freimüthigon  etc. 

KotwiBtcl».  Qnndiiu,    ^  AnO.     IV.  43 


674    VI.  Vom  zwfüten  Viertel  des  XVIII  Jahrbanderta  bis  zu  Goietfae's  Tod. 

329  behandelt.    In  Berlin,  wo  wir  Fr.  Hörn  später  finden,  und  wo  die 
bIcU  ftlhleudon  jungen  Talente  die  unmittelbarsten  und  bedeutendsten 
Anregungen  in  den  Vorlesungen   von  A.  W.  Schlegel  und  Fichte 
fanden*^*,  sahen  sich  einzelne  noch  besonders  durch  den  persönlichen 
Verkehr  sowohl  mit  dem   einen   oder  dem   andern  dieser  beiden 
Männer,  als  auch  mit  Bemhardi "',  ihrer  Bildung  gefördert.    In  Berlin 
waren  Wilhelm  Ton  Schutz  und  Adam  Müller,  mit  Tieck  schon 
von  der  Schule  her  bekannt,  geboren  und  erzogen.     Jener*"  war 
geboren  1776  und  ein  jüngerer  Schulgenosse  Tiecks,  ohne  jedoch 
schon  damals  zu  dessen  nähern  Freunden  zu  gehören-,   erst  später, 
und  vorzüglich  während  Tiecks  Aufenthalt  in  Zeibingen  und  Dresden, 
schloss  sich  ihm  Schütz  mehr  an*".    Wo  er  studiert  hat,   weiss  ich 
nicht,  ebensowenig,  in  welchen  Verhältnissen  er  nachher  in  Berlin 
lebte.    Hier  kam  er  mit  A.  W.  Schlegel  in  Verbindung,  von  dem 
1803   seine  erste   grössere  Dichtung,   „Lacrimas",    ein   spanischen 
Mustern  nachgebildetes  Schauspiel  (mit  einem  von  Schlegel  an  den 
Dichter   gerichteten  Sonett)   herausgegeben  wurde"*.     Bald  d»r»uf 
suchte  Zacharias  Werner  von  Königsberg  aus  durch  Hitzig  Schfltz 
für  sich  zu  interessieren*^.    Wenig  später  knüpften  Chamisso  and 
dessen  Freunde  mit  ihm  Verbindungen  an*"*.    Nach  Fichte*s  ßfick- 
kehr  von  Königsberg  nach  Berlin,  im  Jahre  1807,  hielt  sich  hier 
Schütz  mit  Bemhardi  und  Vamhagen  treulich  zu  ihm.    Schfltz  lebte 


174)  Vgl.  Varnhagen  in  dem  Lebensabriss  von  W.  Neumann  vor  des  tetzton 
Schriften,   S.  4.  175)  Ueber  den  Verkehr  Bemhardi's   mit  einzelnen  der 

Jüngern  Dichter  in  Berlin,  die  er  durch  Urtheil ,  Ratb  und  auch  mitunter  dnrcb 
eigentlichen  Unterricht  in  ihrer  Bildung  zu  fördern  suchte,  findet  man  rerschie- 
dene  Andeutungen  in  dem  Buch  «Leben  und  Briefe  von  Ad.  v.  Chamisso-  eit.; 
eine  ganz  bestimmte  Nachricht  !,7I.  —  Eines  der  von  den  SchriftsteUeru Beriits 
besuchtesten  Pläuser  war  in  den  ersten  Jahren  des  gegenwärtigen  JahrhunderrE 
das  des  Buchhändlers  Sander.  Während  die  Männer  der  alten,  den  Romantiken: 
feindlichen  Richtung  sicli  in  dem  Ofeschäftslocal  Sanders  zu  treifen  pfl(^en .  t?- 
ßammelten  sich  in  dem  Zimmer  seiner  liebenswürdigen  und  geistvollen  Gattin  die 
Häupter  und  Anhänger  der  neuen  Schule.  Vgl.  Fr.  Launs  Memoiren  1 .  1S9  t<ii 
191;  IDS  f.;  20f>;  209-213.  Dass  zu  den  jungem  Männern,  die  dort  mit  A.  W 
Schlegel,  Bemhardi  und  Tieck  zusammentrafen,  auch  Chamisso  und  dessen  Freuni" 
Vamhagen,  Neumann  etc.  gehörten,  geht  aus  Chamisso's  Briefen  hervor. 
176)  Ueber  seineu  Lebenslauf  genauere  Auskunft  zu  erlangen,  als  die  nachfolgiii' 
den  fragmentarischen  Notizen  gewahren,  habe  ich  mich  vergeblich  bemüht. 

177)  Küpke,  a.  a.  0.  1,  7:»;  .169;  2,  20.  17S)  Berlin  S.  179»  Wem«« 
Lebensabriss  von  Hitzig  S.  4S  ff.  Die  Erkundigung  nach  ihm  in  einem  ilt^ 
Briefe  Werners  S,  15,  dem  aber  wohl  die  Jahreszahl  IS02  und  nicht  )N»1  n«a- 
setzen  ist,  geschieht  in  einem  Zusammenhange,  dass  die  oben  S.  067,  Anm.  133  «ü- 
gestellte  Vermuthung  über  die  Bedeutung  der  Unterschrift  Sz.  im  Muspnatoaiwck 
von  Schlegel  und  Tieck  dadurch  eine  Bestätigung  zu  erhalten  scheint. 
180}  Leben  und  Briefe  von  Ad.  v.  Chamisso  1,  51;  vgl,  l,  71. 


tffjckt!un«8g.d.Ut   1773—1832.  Di«  Romantiker.  W.v.Schüta.  A.MttUer.  675 

lamals  auf  dem  Lande,  kam  aber  öfter  nach  Bcrliu.    Um  diese  Zeit  §  329 

.      erschienen  von   ihm   zwei .   den    Foimcn   der  giicchisehon  Tragüdio 

^^ichgekünstelto  Trauerspiele,    „Niobe"'*'    und    „der  Graf  und  die 

^Bräfin  von  Gleichen""*',  so  wie  „romantische  Wälder"  'ISOS)   und 

^^uige  Jnhrc   darauf   das   erste  Buch    einer   erzählenden   Dichtung, 

^^,der  Garten  der  Liebe"*".    Als  er  in   den  Jahren   1812  und  1813 

einige  Beitifige  zu  Fr.  Schlegels  deutschem  Museum  lieferte'"',  war  er 

Landrath  in  der  Mark;  auch  soll  er  Director  der  Ritterschaft  in  der 

Neumark  geworden  sein.    Von    1814    bis   ISIO  scheint  er  meistens 

in  Zei  hingen  oder  in  dessen  Nähe  auf  seinem  Gut,  aber  auch  häufig 

in  Berlin  oder  auf  Keisen  gewesen  zu  sein  *".    Später,  wo  er  zunächst 

ni>ch  einige  dramatische  Werke  venlftentlichte"^',  beschäftigte  er  sich 

Iyiel  mit  Politik  und  Nationalökonomie   und.  gab   auch  verschiedene 
lahin  einschlagende  Schriften   höraus.     Um  das  Jahr  1814   war  er 
kr  katholischen  Kirche  übergetreten;  seit  dem  Anfang  der  zwanziger 
labre  hielt  er  sich  theils  in  Dresden,   theüs  auf  seiner  Besitzung  in 
kr   Nahe  von   Frankfurt  a.  d.  0.   auf.     Er  starb   1847    in  Leipzig 
luf  einer  Reise  in  ein  böhmisches  Bad.  AdamMllller,  1779  geboren, 
studierte  von  179S  bis  ISOO  in  Göttingen  die  Rechte,  widmete  sieb 
in  unter  der   Leitung   von   Fr.   Gentz  den  Staatswissenschaften, 
Lt  als  Referendarius  bei  der  kurmärkiscben  Kammer  in  Berlin  in 
m  Staatsdienst,  betrieb  dabei  aber  seine  Liebliugsstudien,  machte 
ich  eine  Reise  nach  Schweden  und  Dänemark  und  hielt  sich  nachher 
ingere  Zeit  in  Polen  auf.     In  Berlin  gehörte  er  zu  den  fleissigsten 
leauchem  des  sanderschen  Hauses,  wo  er  mit  A.  W.  Schlegel  und 
leruhardi  näher  bekannt  wurde'*'.     Seine  frühe  Bekanntschaft  mit 
ieck  führte  nie  zu  einem  vertrautem  Verbältniss  zwischen  beiden'", 
[it  Varuhagen  und  dessen  Freunden  knüpfte  sich  um  dieselbe  Zeit, 
ro  Mniler  im  sanderschen  Hause  verkehrte,  eine  Verbindung  an'". 
Frühjahr  1&05  trat  er  iu  Wien,  wohin  er,  seinen  Freund  Gentz 
besuchen,  aus  Polen  gereist  war,  zur  katholischen  Kirche  Über, 
»hrte  unmittelbar  darauf  nach  Polen  zurück,   Hess  sich  aber  noch 


ISll  B«-linlS07.        1S2)  Berlin  ISO».        183)  Berlm  1811;  vgl.  Vamhagena 

!okwürüigkeUGnn\a2;  :i6r.;  58.         1S4'  Zwei  Seutlschreiben  an  Atl.  Müller,  vcr- 

»lassi  durch  dessen  gleichfallR  im  d.Muscnm  gedruckte  -agronoraischo  Briefe**,  2, 

las  ff. ;   I.  26y  fl'.  und  -BctrachtunKen  aber  das  Trauerspiel  Hamlet-,  3,  2*i6  ff. 

,h5)  Vgl.  im  I.  Theil  von  SolKcra   niichirelassenen  Schriften  die  zwischen  Solger 

Tieck  wuhrend  dieser  Jahre  gewechselten  Briefe,  in  det»en  seiner  oft  gedacht 

180)  -Oral'  von  Schwarzenberg,  Trauerspiel".    Berlin  1S19;  ..Karl  der 

I.    Drama".    Grimma  1821;  und  unter  dem  Tittd  «dramatische  Wälder"  die 

iden  Stücke  -Gismunda-   und  „Evndue-,  Leipzig  1S21.  IST)  Fr.  Laans 

loiren  1.  2t»i  ff.  iSSl  Köpke  a.  a.  0.  1.  73;  :)3h.  1S9)  Yanihagens 

ikwdrdigkeiten  2'.  27  f.;  ;il. 

13* 


676    VI.  Vom  zweiten  Viertel  dos  XVIII  Jahrhunderts  bis  m  Goetlie*8  Tod. 

§  329  im  Herbst  desselben  Jahres  in  Dresden  nieder'*".    Hier  hielt  er  vom 
Sommer  lSt»fi  an  Vorlesungen"**,  von  denen  die  bcnierkenswertbesten, 
die  „ttber  die  deutsche  Wissenschaft  und  Literatur"  (aus  dem  Winter 
ISOG),  gleich  in  demselben  Jahre  zu  Dresden  im  Druck  erschienen 
und  schon   1S07   wieder  aufgelegt  wurden.    Im  Jahre    ISOS  wnrde 
er  von  dem  Herzog  von  Weimar  zum  Hofrath  ernannt***.    Zw  dieser 
Zeit  lebte  auch  Heinrich  von  Kleist  in  Dresden,   mit  dem  Möller 
sich  zur  Herausgabe  einer  neuen  Zeitschrift,  „Phoebus.     Ein  Journal 
fUr  die   Knnst",    verband '"^     Zu  Ausgang   des* Jahres    ISOS   oder 
gleich  in  den  ersten  Tagen  des  neuen  Jahres  verliess  Malier  Dresden 
und  gieng  nach  Berlin,  wie  es  scheint,  zunächst  durcb   Geldnoth 
dazu  veranlasst,  und  mit  der  Absicht,  in  dieser  Stadt  Vorlesungen 
über  Friedrich  den  Grossen  zu  halten"*.     Seine  Bemühungen  nm 
eine  Wiederanstcllung  im  prcussischen  Staatsdienste  waren  fruebtloB; 
er  Hess  sich  in  politische  Umtriebe  ein,  welche  misslangen,  und  fand 
es  endlich  besser,  anderswo  seinem  GlUck  nachzugeben.    So  be^b 
er  sich  im  Frühjahr  1811  nach  Wien.    Fürs  erste   lebte  er  hier  im 
Hause  des  Erzherzogs  Maximilian  von  Este  und  hielt  Vorlesung. 
1813  wurde  er  kaiserlicher  Landescommissar  und  SchUtzenmajor  in 
Tyrol.     1815  folgte  er,  dem  Feldlager  des  Kaisers  beigegeben,  dem 
Heere  nach  Paris.    Nach  dem  Frieden  zum  österreichischen  General- 
consul  für  Sachsen  und  Geschäftsträger  an  einigen  kleinen  deutschen 
Höfen  ernannt,  lebte  er  in  Leipzig.     1827  nach  Wien  zurllckberufai, 
wurde  er  als  Hofrath  im  ausserordentlichen  Dienst  angestellt  und  ^ 
adelt.    Er  starb  IS29.    Seit  der  Zeit  der  Congressc  und  der  Verfolgung 
der  Demagogen  geliörte  er,  im  Bunde  mit  seinem  Freunde  Fr.  Gent2. 
zu  den  eifrigsten  und  hartnäckigsten  Beförderern  der  Restaurations- 
politik und  zu  den  gefährlichsten  Gegnern  und   Bckämpfern  jeiier 
freiem  politischen  Regung  in  Dcutscliland.    Von  seinen  Sehrifteo.  üie 
nicht,  wie  die  meisten,  von  staatswissenschaftlichera  Inhalt  sind,  sind 
die  „Vorlesungen  Über  die  deutsche  Wissenschaft  und  Literatur"  und 
„Zwölf  Reden  über  die  Beredsamkeit  und  ihren  Verfall  in  Deutsch- 
land"'"  die  allgemein  interessantesten.  —  Auch  Ludwig  Achim  von 
Arnim,  seit  seiner  Studienzeit  in  Halle  mit  Brentano  freundscbaft- 
lich  verbunden,  war  aus  Berlin.     1781  geboren,   studierte  er  zucr?: 
in  Halle  Naturwissenschaften  und  gab  hier  schon  1790  eine  Schriiu 

W190)  Vgl.  den  «Briefwechsel  zwischen  Fr.  Gentz  und  Ad.  Müller".   Stuiu 
1857.   ^.'  S.  59  f.  191)  Briefwechsel  S.  S4  f.;  02  f.  192)  Briefvp-rt-'«- 

S.  152.  1915}  Erster  und  'einziger  Jahrgang,  Dresden  ISO^.   4.;  üVr -i:'' 

Tendenz  des  -Phoebus",  der  etwas  ganz  Anderes  und  Besseres  werden  soDte  ä-> 
die  „Hören-*  und  das  «Athenäum-,  vgl.  den  Briefwechsel  S.  123  f.  und  vorziU«'- 
don  Brief  vom  (i.  Febr.  l^o«^,  S.  12«  ff.  194)  Briefwechsel  S.  15*». 

195)  Leipzig  ISIO.   8. 


Etttwickelungsgang  der  Literatur.  1773— 1832.  Die  Romantiker.  A.  von  Arnim.   677 

„Versuch  einer  Theorie  der  elektrischen  Erscheinungen",  heraus.  §  329 
Wahrscheinlich  in  demselben  Jahre  wurde  er  in  Halle  oder  Gieblchen- 
stein  mit  Tieck  bekannt*".  Gemeinhin  wird  seines  Aufenthalts  in 
Halle  nicht  gedacht,^  vielmehr  Göttingen  als  der  Ort  angegeben,  wo 
er  studiert  habe.  Allein  nach  Tiecks  Mittheilungen  "'  scheint  Arnim 
erst  später,  nachdem  er  von  dem  Studium  der  Naturwissenschaften 
zur  Poesie  übergegangen  war,  in  Göttingeu  gelebt  zu  haben.  Im 
Herbst  hielt  er  sich  bei  Savigiry  auf  dessen  Gut  Träges  bei  Hanau 
auf,  wohiu  damals  auch  ßrentano  kam*".  Auf  seinen  Reisen  durch 
Deutschland  machte  er  sich  mit  den  Eigentbümlichkeiten  des  heimi- 
schen Volkslebens  nach  seinen  landschaftlichen  Verschiedenheiten 
bekannt,  und  da  er  ein  besonders  lebhaftes  Interesse  für  deutsche 
Volkspoesie  hegte,  spürte  er  überall  den  noch  gesungenen  oder  in 
Drucken  vorhand^ien  Volksliedern  deutscher  Zunge  für  eine  Samm- 
lung nach,  die  nachher,  von  ihm  und  Brentano  herausgegeben,  als  „des 
Knaben  Wunderhorn"  erschien"*.  Im  J.  1802  erschien  von  ihm 
y,Hollins  Liebelieben,  ein  Roman  in  Briefen"*",  von  dem  nachher 
ein  erzählender  Auszug  in  „die  Gräfin  Dolores"  aufgenommen  wurde"*. 
In  demselben  und  dem  folgenden  Jahr  machte  er  eine  Reise  durch 
die  Schweiz,  Oberitalien  und  Frankreich"**,  wahrscheinlich  besuchte 
er  damals  auch  Holland  und  England"^.  In  Paris  entstand  das 
Gespräch  „Ei-zählungen  von  Schauspielen",  welches  iS03  in  Fr. 
Schlegels  „Europa"  gedruckt  wurde***.  1804  gab  er  das  erste  Buch 
von  „Ariels  OflFenbarungen" ***  heraus,  worin  er  seine  naturphiloso- 
phischen Ansichten  mit  den  Ergebnissen  seiner  Studien  der  germa- 
nischen Urzeit  verband.  Im  Anfang  des  Jahres  1805  schrieb  er  in 
Berlin  den  Aufsatz  „von  Volksliedern""";  nachher  war  er  abwechselnd 
in  Berlin  und  am  Rhein,  namentlich  in  Heidelberg*";  im  Spätherbst 
1806  hielt  er  sich  auf  v.  BurgsdorfTs  Gut  Sandow  auf,  wo  er  mit 
Tieck  zusammentraf'**.  Nachher  scheint  er  wieder  in  Berlin  seinen 
Wohnsitz  gehabt  zu  haben;  als  Brentano  im  Herbst  1809  dahin  kam, 
wohnte  er  mit  diesem  zusammen,  versprach  sich  im  Winter  1810 
mit  dessen  Schwester  Bettina  und  vermählte  sich  mit  ihr  im  nächsten 


196)  Köpke,  a.  a.  0.  l,  334;  vgl.  oben  S.  561,  unten.  197)  Bei  Köpke, 

a.  a.  0.  198)  Brentano*3  gesammelte  Schriften  8,  25;  35  f.  199)  Vgl. 

Arnims  Aufsatz  ^YonyoUcsliedcrn"  im  ersten  Bande  des  Wuuderhorns,  Ausg.  1S19. 
S.  462  ff.  200)  Göttingen  S.  201)  Als  Kap.  9  der  2.  Abtheilung. 

202)  Brentano's  gesammelte  Schriften  8,  116.  203)  Vgl.  Wunderhorn 

1,457;  461»  f.  204)  Vgl.  S.  «05,  Anm.  120.  205)  Göttingen  S.;  nachGödeke, 
f^Bücher  deutscherDichtung2, 311,  ..völliger  Unsinn  in  Versen".  206)  Vgl. 

Anmerk.  199.  207)  Vgl.  Wunderhorn  1,  474  unten  und  Brcntano*s  gesam- 

melte  Schriften   S,  134.  208)  Vgl.  S.  506,  oben,   und  Köpke  a.  a.  0. 

S.  a34  f. 


678    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  JahrhundertB  bis  zu  Goethe'a  Tod. 

329  Jahre ^.    Seitdem  lebte  er  tbeils  in  Berlin,  theila  auf  seinem  Gate 
Wie)>er8dorf  in  der  Mark,  wo  er  1S31  plötzlich  starb.    Seit  dem  J. 
1S09  waren  von  ihm,   ausser  einigen  kleinen  Sachen,   erschienen: 
„der  Wintergarten.    Novellen"*"*;  der  Roman  „Armuth,  Reichthum, 
Schuld  und  Busse  der  Gräfin  Dolores*"";    „H^^^  ^^^  Jerusalem. 
Studentenspiel  und  Pilgerabenteuer"***;  Tier  Erzählungen  und  Novellen 
(„Isabella  von  Aegypten"  etc.)*";  „Schaubtthne"*";  der  Roman  „die 
Kronenwächter"*";   „die  Gleichen*',- Schauspiel*";  Erzählungen  im 
„Landhausleben"*"  und  Erzählungen  aus  seinem  Nachlass*".  —  End- 
lich gehören  durch  Geburt  Berlin  an  auch  Friedrich  Wilhelm  Nen- 
mann  und  J.Eduard  Hitzig.   Neumann,  1781  geboren,  stand, 
nachdem  er  in  seinem  vierzehnten  Jahre  den  Besuch  eines  Gymna- 
siums hatte  aufgeben  müssen,  zehn  Jahre  lang  im  Dienst  eines  der 
angesehensten  Handlungshäuser  seiner  Vaterstadt,  versäumte  aber  in 
dieser  Zeit  nicht,  sich  wissenschaftlich  fortzubilden.     Vorzüglich  be- 
schäftigte er  sich  in  seinen  Mussestunden ,  ausser  mit  Poesie  nnd 
Musik,  mit  Philosophie  und  Geschichte,  sowie  mit  mehreren  neneni 
Sprachen,  von  denen  er  sich  sehr  gründliche  Kenntnisse  aneipete. 
Im  J.  1S03  wurde  er  mit  Yamhagen  bekannt  und  bald  aufs  engste 
befreundet*'*.    Als  er  einige  Zeit  darauf  eine  kleine  Erbschaft  machte. 
entschloss  er  sich,  sein  bisheriges  geschäftliches  Verhältniss  aufzugeben 
und  zu  studieren.    Er  gieng  zunächst  nach  Hamburg,  um  sich  unter 
Gurlitts  Anleitung  die  ihm  noch  fehlenden  Vorkenntnisse  zu  erwerben 
und  sodann  im  Frühjahr  1S06  mit  Yamhagen  nach  Halle,  wo  er 
besonders   von   den  Yorträgen   Fr.   A.  Wolfs   und   Schleiermachen 
angezogen  wurde.    Als  ihm  die  Fortsetznng  seiner  Studien  in  Halle 
durch  die  Kriegsereignisse  unmöglich  gemacht  wurde,  wandte  er  ^ch 
nach  Göttingen,  wo  er  neben  ])hilo8ophischen  auch  theologische  Vor- 
lesungen hörte,  kehrte  aber  nach  einiger  Zeit  nach  Halle  und  von 
da  nach  Berlin  zurück.     Zunächst  suchte  er  sich  hier  im  UebcreetzcD 
aus  dem  Italicnisclien  eine  Erwerbsquelle  zu  öffnen**";  sodann  Übe^ 


209)  Brentanos  gesammelte  Schriften  S,  UÜ;  Ifi4.         210)  Berlin  IS'"».  * 
211)  Berlin  o.  J.  (ISKh,  2  Bde.   S.        212)  Heidelbei^  tSU.   s.:  zuGnitife 
liegen  das  Trauerspiel  -Cardenio  und  Gelinde"  von  A.  Gryphlus  und  die  Sago  v.ic 
ewigen  Juden.  213)  Berlin  IS12.   S.  214t  J.  Bd.     Berlin  isn.  ?. 

215)  I.  Bd.     Berlin  ISiT.   ^.  216)  Berlin  IMiK    '^.  217»  I-W 

Leipzig  is2rt.   *n.  2 IS)  Beflin  1S35.   S.  —  Sämmtliche  Werke,  herausje?*^*^ 

von  AV.  (Irimm  und  Bettina  von  Arnim,  Berlin  1h3<.»-56,  mit  dem  -Wanderton' 
22  Bile.  S.  Ytr].  über  Arnim  auch  Varnhagens  Denkwürdigkeiten  P.  'M'i  ff. «"! 
den  Abriss  von  Brentano*8  Leben  S.  Ct>7  ff.  219)  Damit   kam  er  in  ^ 

Kreis  der  jungen  Männer,  welche  Mitarbeiter  an  dem  von  Vamhagen  und  Charnl-s- 
verabredeten  Musenalmanach  wurden.  220)  -Macchiavells  Üorentiniscbc  t*^ 

pchichte-,     iMi'.t.    2  Bde. 


Entnickelungsgang d.  Lit«rntar.  1T73— ti»33.  DieRomanttker.NGomann.  Hitzig.  679 


^ 


nahm  er  die  Erziehung  der  Söhne  in  einem  adeligen  Hause  und  §  329 

studierte  noch  zwei  Jahre    lang   auf   der  Berliner  Universität  die 

Canieral Wissenschaften.     1S12  gab  or  mit  Foiiqu^  die  Zeitschnft  ,»di3 

lusen"  heraus.    Zu  Anfang  des  folgenden  Jahrs  wurde  er  ein  thätiger 

ehUlfe  in  der  Buchhandlung  seines  Freundes  Hitzig  in  Berlin,  bald 

darauf  jedoch,  beim  Ausbruch  des  Krieges,  nahm  er  eine  Anstellung 

im  Feldconimissanat  an,  stand  vom  Sommer  1815  als  stellvertretender 

Kriegscommissarius  theils  in  Coblenz  tbeils  in  Trier,  wurde  1818  nach 

Berlin  versetzt   und  vier  Jahre  später  daselbst  zum  IntendantuiTath 

ernannt.     Fortwährend  wissenschaftlich    beschäftigt   uud   literarisch 

thUtig,  lieferte  er  seit  dem  Ausgang  der  Zwanziger  zahlreiche  und 

hr  gchiltzbare,   feinsinnige  Kritiken,  vornehmlich  über  Werke  aus 

em  Fache  der  schönen  Literatur,  in  verschiedene  periodische  Blätter 

r  starb  auf  einer  Dienstreise    zu   Brandenburg   1S34"\     Hitzigi 

eboren    1780,  arbeitete  n.ach  Beendigung  seiner  Schulstudien   erst 

ine  Zeit  lang  in  dem  Comptoir  eines  Ilandhingshauses  und  studierte 

ann  von  1796  bis  1709  die  Rechte,  zuerst  in  Halle,  wo  er  mit  Cl. 

rentano  sich  befreundete,  und  das  letzte  Jahr  in  Erlangen.     Im 

Herbst  1799  trat  er  als  Auscultator  bei  der  Regierung  (d.  h,  dem 

Obergericht)  zu  Warschau  ein,  bei  der  er  auch  als  Referendarius  bis 

um  J.  ISOl   arbeitete  ^^,   worauf  er  nach  Berlin  an  das  Kammer^ 

ericht  gieng.     1804  wurde  er  als  Assessor  aufs  neue  bei  der  Regie- 

ng  in  Warschau  beschfiftigt.    Als  er  1S06  in  Folge  der  Besetzung  Stld- 

reussens  durch  die  Franzosen  sein  Amt  verlor,  suchte  er  sich  und 

eine  Familie  in  Berlin  zunächst  durch  Schriftstellerei  zu  erhalten 

nd   legte  sich   dabei   auf   die  Erlernung   des  Buchhandels.     1808 

ndcte  er  selbst  ein   Vcrlagsgeschäft,    das    sich    in   den    nächst- 

Igcnden  Jahren  durch  Verbindung  mit  andern  Zweigen  des  Buch- 

andets  auselinlich  erweiterte,  von  ihm  aber  ! SM  aus  Rücksicht  für 

eine  mutterlos  gewordenen   Kinder  verkauft  wurde.     Er  trat  nun 

ieder  in  den  Justizdienstj  arbeitete  beim  Kammergericht  in  Berlin, 

ard    1SI5  Criniinalrath    und    1S27   Director   des  Kammergerichts- 

iquisitoriats.     In    seiner   amtlichen   Stellung  war   er   zugleich    ein 

iBsiger   und    geschätzter  Schriftsteller,   besonders   im  juristischen 

nd    biographischen   Fach;    auch    war   or   eifrig    bemUht,   in  seiner 

aterstadt  durch  Stiftung  verschiedener  Gesellschaften  Mittelpunkte 

ur  Erloichtenmg  eines  lebendigen  literarischen  Verkehrs  zu  bilden. 

r  stitrb  1S49.     Hitzig  und  Neumauu  standen  in  naher  und  freund- 


221)  ».W.  Neamanns  Schriften"  (mit  dem  Abriss  seines  Lebens)  wurden  g©- 

immt^U  und  herausgegeben  (von  Vamhagi.mt,  Leipzig  1*^35.  2  Thle.  h.  ((lerLcbena- 

(brUd  findet  sich  auch  in  Varuhagens  Doukwiirdigkoilen  l',  :iAb  ff.        222)  Vgl. 

tariaa  Werners  Leben,  S. 


680    VI.  Vom  siratten  Viertel  des  XVm  Jahibvnderte  Us  m  Qofltke*!  Tod. 

29  sehaftlicfaer  Beziehung  zu  Karl  Äugnst  Varnbagen  von  Em« 
und  Adelbert  von  CbamiBso.    Eraterer,  geboren  1785  xu  Dfiasel- 
dorf,  verlor  früh  seinen  Vater,  wurde  darauf  in  Hambai;g  enogei 
und  widmete  sich  seit  1803  in  Berlin  dem  medieiniBchen  Stadion, 
ttberliess  sich  aber  bald  mehr  seiner  angebomen,  durch  den  penöH- 
liehen  Einfluss  Fiohte*s  und  durch  die  Vorlesungen  A.  W.  Sdilegeh 
gesteigerten  Neigung  zu  der  classisoben  Literatur  and  xor  Poeia 
Im  Herbst  1804  gieng  er  nach  Hamburg  zurOck,  wo  er  Fr.  H.  JuoV 
kennen  lernte  und  mit  Neumann  Gurlitts  Unterriebt ,  beBonden  m 
Griechischen,  genoss,  sodann  im  FrttVJftbr  1806  auf  die  Unirenitfl 
Halle,  wo  jedoch  seine  Studien  durch  die  Folgen  der  Seblaehtn 
von  Jena  und  Auerstftdt  abgebrochen  wurden.    Vom   Herbst  1801 
verweilte  er,  kurze  Zwischenziüten  abgerechnet,  in  denen  er  meto 
in  Halle  und  in  Hamburg  war,  zwei  Jahre  in  Berlin,   von  wo  «r 
sich  im  Herbst  1808  nach  Tttbingen   wandte,  um,  dem  Wons^ 
seiner  Angehörigen  willfahrend,  seine  in  Berlin  so  viel  wie  mfisJiel 
fortgesetzten  medioinischen  Studien  wieder  mit  Ernst   aufzonduiMa 
Allein  wiederum  zog  ihn  die  schöne  Literatur   weit  mehr  aa  ib 
die  Arzneiwissenschaft  ^.    In  Tübingen  wurde  er  mit  Justinus  KenMr 
und  Uhland  bekannt,  die  eben  im  Begriff  waren,  ihre  Univentt- 
Studien  zu  beendigen.    Der  Ausbruch  des  Krieges  zwischen  OeilBr-  j 
reich  und  Frankreich  im  J.  1809  bewog  Vamhagen,  in  das  Mr  i 
reichische  Heer  einzutreten.    Nach  der  Schlacht  \m  Aspem  wari  1 
.    er  zum  Officier  befördert  und  bei  Wagram  schwer  verwundet  M  1 
seiner  Wiederherstellung  einen  hohem  österreichischen  Offieer  nf  f 
Beisen  begleitend,  kam  er  1810  zum  erstenmale  nach  Paria  ilff 
1812  ein  österreichisches  Httlfsheer  mit  den  Franzosen  gegm  Bat  f 
land  zog,  gab  er  seine  zeitherigo  dienstliche  Stellung  auf  und  so^  I 
in  Berlin  ein  Amt  zu  erhalten ;  da  er  hierbei  aber  auf  viel/ieh'  I 
Schwierigkeiten  stiess,  so  trat  er  zu  Anfang  des  Jahres  1513  ifci 
Hauptmann  in  das  russische  Heer,  machte  den  Feldzug  dieses  irf  I 
des  nächsten  Jahres  als  Adjutant  des  General  Von  Tettenbonirfl 
und  kam  mit  ihm  zum  zweitenmal  nach  Paris.    Hier  wurde  er  «•  / 
dem  Staatskanzler  Hardenberg  in   den  preussischen  dipiomatisek* 
Dienst  berufen  und  folgte  demselben,   nachdem  er  sieh  zororrf 
Rahel  Levin  in  Berlin  verheirathet  hatte,  auf  den  Wiener  Confi* 
und  nach  dem  Wiederauabruch   des  Krieges  1815  nach  Paris.  >■ 
1816  bis  1819  war  er  preussischer  Ministorresident  in  Karlsruhe;* 
er  darauf  in  gleicher  Eigenschaft  bei  den  vereinigten  Staaten  ff 
Nordamerika  beglaubigt  werden  sollte,  zog  er  es  vor,  ins  PriTatie^ 

223)  Vgl.  seine  Denkwi^rdigkeiton  3',  120  und  dazn  ^  Leben  und  Bn^' 
Adelbert  von  Chamisso"  l,  224  f. 


Eatwlckeluiigsg.d.  Literat.  1773—1^32.  DieHomantiker.  Variikagcn.  Chamisso.  681 

zurückzutreten:  er  lebte  fortan  mit  dem  Titel  eines  Geh.  Legations-  §  329^ 
raths  in  Berlin  und  beschäftigte  sich  mit  literarischen  xVrbeiten.    Er 
starb  1S58.    Varnhagen  hat  sich  als  Schriftsteller  besonders  in  den 
Fächern  der  Biographie  und  der  literanschen  Kritik  einen  Namen 
gemacht  und   grosse   Anerkennung   gefunden.     Gedichte   von   ihm 
enthalten  die  verschiedeneu  Jahrgänge  des  vou  ihm  und  Chamisso 
besorgten  Musenalmanachs,  andere  der  von  Just.  Kerner ,  Fouquö 
und  ühland  herausgegebene  „deutsche  Dichterwald"  *",    Von  seinen 
andern  Schriften  mögen  hier  nur  noch  angeführt  werden:  seine  und 
Wilh.  Neumanns  „Erzählungen  und  Spiele"^,  der  mit  A.  F-  Bern- 
bardi,  W.  Neumann  und  Fouque  gemeinschaftlich  vei*fasste,  unvoll- 
endet gebliebene  Roman  „die  Versuche  und  Hindernisse  Karls,  eine 
deutsche   Geschichte  aus  neuerer  Zeit"***;    „die  Sterner  und  die 
Paitticher.  ^Novelle""';  „biographische  Denkmale"**  und  andere  Bio- 
graphien'^;  „Denkwürdigkeiten  und  vermischte  Schriften"*"  und  seine 
aus  dem  Nachlass  herausgegebenen  „Tagebücher""*.    Chamisso, 
eigentlich  Louis  Charles  Adelaide  de  Chamisso,  aus  einem  uralten 
lothringischen  Geschlecht,  wurde   1781   auf  dem  Schlosse  Boncourt 
in  der  Champagne  geboren.    Als  neunjähriger  Knabe  folgte  er  seinen 
darcb  die  Revolution  alles  ihres  VcnnOgens  beraubten  Eltern  auf 
ilirer  Flucht  aus  Frankreich  nach   den  Niederlanden  und  von   da 
nach  Deutschland.    In  WUrzburg,  wo  die  Familie  1795  ihren  Wohn- 
sitz genommen  hatte,  war  Adelbert  den  zeichnenden  Künsten  ergeben; 
späterhin,   als  die  Scinigen  die  Erlaubniss  erhielten,  sich  in  Berlin 
niederzulassen,  und  er  Page  der  Königin  geworden  war,  besuchte  er 
das  dortige  französische  Gymnasium  und  trat  dann  1798  als  Fähndrich 
in  ein  Regiment  der  Berliner  Besatzung,   in  welchem  er  zu  Anfang 
des  Jahres  1801  zum  Lieutenant  befördert  wurde.    Inzwischen  waren 
seine  Eltern  nach  Frankreich  zurückgekehrt;  er  selbst  widmete  sich 
neben  seinem  Dienst  mit  dem  regsten  Eifer  dem  Studium  der  deutschen 
Spmchc  und  Literatur.    Bald  versuchte  er  sich  auch  in  der  Dicht- 
—'^»t.     Von  wichtigen  Folgen  für  ihn  war  seine  Bekanntschaft  mit 
r^' ^  ^eumann  und   mit  Varnhagen"*.     Alle  drei,    bald   durch    die 
'^'^^e'ste  Herzensfreundschaft  und  Geistesverwandtschuft  verbunden, 

_    ■i=?^4l  Tübingen  IM:t;  «ine  Sammlung  seiner  «vcrmiscliteu  Gedichte-  erschien 
^^     '"Äükfurt  a.  M.  l**!«.    12.  225i  Hamburg  l^^oT:  s.  220)  Berlin  und 

;«j^**K   !**<»*(.    ^.;  wieder  abgedruckt  in  W.  Neumanns  Scliriften  2,  245  ff. 
^2j^*    tfcerlin  \<M.   S.x  zuerst  ls2i  im  Gesellschafter  von  Gubitz.         22S)  Berlin 
•^J*    ft.     :»  Bde.   h.  22i)t  Von  Helden  des  siebenjährigen  Krieges  und  der 

^l'^Siu  Sophie  Charlotte  von  I'reussen,  aus  d«nJahrcn  1S34  — IS15.        230)Man- 
i^^    ^nd  Leipzig,  lS;n  ff.    <>  Bde.;  2.  Ausgabe.   Leipzig  1«^  1.1;  in  dieser  enthalten 
^^  ^^'steu  drei  Bände  die -Denkwürdigkeiten  des  eigenen  Lebens-.       231  »Leipzig 
4.    4  Bde.    S.  232)  Vgl.  des  Icutem  Denkwürdigkeiten  2',  2^  ff. 


6S2     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe*s  Tod. 

§  321*  waren  von  jrkicher  Liebe  zur  Poesie  beseelt.    Wenn  sie  sieb  in  ihren 
diebteriscben    Bestrebungen   auch   nicht   unbedingt   zu   den   Kunst- 
ansicbten  und  Theorien  der  Schlegel  bekannten,  so  folgten  sie  doch 
im  Ganzen  und  auch  in  manchen  Besonderheiten  der  yoü  ihnen  und 
ihren    Freunden   angegebenen    und   inne  gehaltenen    Richtung   im 
Dichten.     Als   sie   sich   im   J.   tS03   zur   Herausgabe   eines   neuen 
Musenalmanachs  für  das  nächste  Jahr  entschlossen  ^    fanden  sie  in 
dem  Kreise  neugewonnener  Freunde,    unter  denen  Hitzig  oben  an 
stand,  für  den  ersten  und  auch  fttr  die  beiden  folgenden  Jahrgänge 
Bereitwilligkeit  genug  zur  Unterstützung.    A.  W.  Schlegel  interessierte 
sich  für  die  jungen  Dichter,   noch  mehr  Fichte,  der  selbst  zu  dem 
Almanach  Beiträge  lieferte ;   auch  mit  Bernhardi  kamen  sie  in  Ver- 
bindung, und  besonders  Chamisso  verdankte  dem  Umgang  mit  dem- 
selben und  dem  Unterricht,  den  ihm  Bernhardi  ertheilte^  rielfaehe 
Förderung  in  seiner  Ausbildung.    Nach  und  nach  kam  man  brieflich 
in  näheres  VerhUltniss  zu  Zacharias  Werner  und  Fr.  Schlegel^,  in 
mehr  oder  weniger  vertraute  Verbindung  mit  Wilhelm   von  Schfiö, 
Achim  von  Arnim  und  Fouquö.    Unterdessen  versäumte  Chamiaw 
nicht,  sich  wissenschaftlich  weiter  fortzubilden,  und  betrieb  zu  den 
Knde  eine  Zeit  lang  das  Griechische.    Seit  dem  Frühjahr  1804bfttte 
sich  der  Kreis  der  Freunde  in  Berlin  zwar  zum  grössten  Tbeile  auf- 
gelöst, da  die  meisten  Mitglieder  desselben  diese  Stadt  verlasM 
hatten,  doch  dauerte  in  einem  regen  Briefwechsel  der  geistige  Yw- 
kehr  zwischen  den  zunächst  Verbundenen  fort,  und  fttr  alle  bildete 
wenigstens  der  Musenalmanach  immer  noch  einen  zusammenhaltendes 
Mittelpunkt.     Gciren  Ende    des  Jahres    1S05   schied    endlieh  aofi 
Chamisso  von  Berlin:  sein  Regiment  erhielt  eine  andere  Bestimmsc-'. 
rückte  in  das  Hannoversche  und  bekam  nach  vielem  Umberaieio 
zuletzt  seinen  Standort  in  Hameln.    Hier  erlebte  er  die  schmacinT/fe 
Uebergabe  der  Festung  im  Spätherbst  ISOG.    Der  Kriegsdienst  w 
ihm,  der  schon  vorher  gewünscht  hatte,  sich  Varnhageu  und  XeiaMH 
als  Studierender  in  Halle  zuzugesellen,   nun  vollends  verieidcr.  fr 
reiste  nach  Frankreich,  hielt  sich  zunächst  in  Paris,  dann  heis&BS 
Verwandten  in  der  Provinz  auf,  gefiel  sich  aber  so  wenig  in  ^ 
'  Gcburtslande ,    dass   er   sich    nach    Deutschland   zuriickseliiif&  * 
flerbst  1S07  traf  er  wieder  in  Berlin  ein.    Hier  verlebte  er.  ^^ 
und  verdüstert,  ohne  Stand  und  Geschäft,  zwei  traurige  Jahre.  * 
Aus.sicht,  die  ihm  von  einem  alten  Freunde  seiner  Familie  ai"^** 
Professur  an  dem  zu  errichtenden  Lyccum  in  Napoleonnlle  «r'®* 
wurde,  bewog  ihn,  zu  Anfang  des  Jahres  IS  10  aufs  neue  nach P*'" 


23H)  Vgl.  Varuhagons  Dcukwürdigktiten  2',  70  f. 


CntwickelUDgsgAiig  der  Literatur.  1773— 1S32.  Die  Romantiker.  A.  T.ChamJsßo.  6S3 


I 


reich  zu  gehen.  Er  fand  sich  dort  in  seinen  Hnftnung:en  getäuscht:  g  1529 
ans  seiner  Anstcllunfr  wurde  nichts.  Zuerst  hielt  er  sich  eine  Zeit 
lang-  in  Piiris  auf,  wo  er  A.  W.  Schleg-el  nnhe  kam  und  von  diesem 
aufgefordert  wurde,  mit  Wilhelmine  von  Chezy  die  „Vorlesuntren 
über  dramatische  Kunst**  etc.  ins  Französische  zu  übersetzen;  auch 
lernte  er  in  Paris  Uhland  kennen,  Durch  Schlegel  scheint  er  bei 
Frau  von  Slacl  eingeführt  zu  sein,  deren  Gast  er  schon  im  Sommer 
IStO  für  mehrere  Wochen  war,  als  sie  in  Schlegels  und  anderer 
ausgezeichneter  Männer  Geseilschaft  zu  Cbaumont  wohnte.  Den 
Winter  Über  war  er  zu  Niipoieüuville  im  Hause  des  Prüfectcu  de 
BarantOt  dem  er,  da  derselbe  Vorlangen  trugt  sieh  mit  deutschen 
Ideen,  mit  deutscher  Sprache  und  Literatur  vertraut  zu  machen,  von 
derStael  empfohlen  wor<len  war.  Im  Frühjahr  ffdgte  er  dieser  nach 
der  französischen  Schweiz,  wo  er  bei  ihr  bald  in  Genf  bald  in  Coppet 
wohnte.  Als  sie  im  Frühjahr  1812  genöthigt  war,  die  Schweiz  zu 
vorlassen,  blieb  er  noch  daselbst  bei  ihrem  (lltesten  Sohne  und  be- 
schäftigte sich  nun  hauptsächlich  mit  Botanik.  Im  Herbst  war  er 
wieder  in  Berlin,  wo  er  mit  Neumanu  und  Varnbagen  zusammentraf, 
und  widmete  sich  auf  der  Universität  mit  vielem  Fleisse  dorn  Studium 
der  Naturwissenschaften.  Beim  Beginn  des  Krieges  gegen  Frank- 
reicb  empfand  er  aufs  schmerzlichste  das  Eigenthümliche  seiner 
La^e,  die  ihm  als  geborenen  Franzosen  nicht  erlaubte,  die  Bogeiste- 
raug  seiner  Freunde  für  die  deutsche  Sache  zu  theilen.  Er  folgte 
daber  gern  einer  Einladung  auf  das  Landgut  einer  adeligen  Familie 
ond  venveilte  auf  demselben  bis  zum  Herbste,  wo  er  sich  zur  Fort- 
»etznng  seiner  Studien  nach  Berlin  zurückbegab.  Während  seines 
Aufenthalts  auf  dem  Lande  hatte  er  das  Märchen  von  „Peter  Scblemihl" 
geschrieben.  Von  der  Mitte  dos  Juli  1815  bis  gegen  Ende  de» 
Octobois  ISIS  war  er  von  Berlin  entfernt:  er  machte  in  dieser  Zeit 
als  Naturforscher  auf  einem  russischen  Schiff  eine  Entdeckungsreise 
in  die  SQdsee  und  um  die  Erde  mit.  Im  Frühling  IS  19  erhielt 
von  der  Universität  das  Doctordi|)lom  und  von  der  Regierung  ämt 
Anstellung  im  botanischen  Garten.  Ib25  reiste  er  in  Faai&a- 
Angelegenheiten  nochmals  nach  Paris.  Als  Dichter  wurtie  er  «ä 
dem  J.  1^20,  in  welchem  seine  Erzählung  in  Tei-zinen  „Säle»  r 
io  A.  Wendts  Musenalmanach  erschien,  immer  mehr 
bcliclit.  1S32  Übernahm  er  zusammen  mit  Gustar  SAub  die 
weitere  Herausgabe  des  von  Wendt  gegründeten  Mi 
Zunehmende  Kränklichkeit  nöthigte  ihn,  I83S  wA  A«<  «ed«- 
zulegen,    und  sehr  bald    darauf  starb   er*".   —  Der 


234»  Jahrgang  4—10;  der  letzte  heraoBge;.  tob 
Leipzig,    1(i.  235)  Von  den  veräcbiedeaai 


itvickclungsgADgd.LUeratTir.  1773 — 1932.  DieRom&ntiker.Fouque.  Werner.  6*^5 

sr  Bich  Pollep'in  minnto;  im  nächsten  Jahre  folgten  „Romanzen  vom  §  329 

Thale  Ronceval"'"  und  verscbiedeno  Schauspiele;  auch  lieferte  er 

drei  Gedichte  zu  Fr.  Schlegels  „p]ui'opa""\     In  diese  Zeit  fällt  seine 

Bekanntschaft  mit  Chami^so ,   durch   welchen  er  wieder  mit  Varn- 

hagen  und  Neumann  in  freundschaftliche  Verbindung  kam   und  als 

Mitnrheiter  an  ilirem  Musenalmanach  »rewonnen  wurde^'\    Von  seinen 

.ichtcriöchcn  Arbeiten  aus   den  Jahren  1S06  bis  Ende  1S12  waren 

lie  bemerkenswerthesten  die  „Historie  vom  Ritter  Galmy  und  einer 

[er/og^in    von   BretHj^rne""";    „Alwin,   ein   Roman"*"*;    ^Sigurd    der 

!blangcutüdter.    Ein  Heldenspiel  "^'",   spater  als  erstes  Stück'  der 

ntheiligen  Dichtung  ^der  Held  des  Nordens"*";  „Vaterlrindisehe 

ichnuspiele"*"';  .Undine,  eine  Erztlhliing"'";  ^der  Zauberring,  ein 

Kitterroman**"-*".     Im  J.    1812  gründete    er  mit  W.  Neumann   .,die 

[usen,  eine  norddeutsche  Zeitschrift"  =*',    Im  J.  1S18  trat  er  wieder 

ein  Reiterregiment  und   machte,  zuerst  als  Lieutenant,   dann  als 

Rittmeister,  den  Feldzug  bis  an  den  Rhein  mit,  mnsste  jedoch  noch 

»r  dem  Einrücken  der  Verbündeten  in  Frankreich  aus  Geaundheitp- 

icksichten  um  seinen  Abschied  einkommen,  der  ihm  mit  dem  Majors- 

tnge  ertheilt  wurde.     Er  lebte   fortan  abwechselnd  in  Berlin  und 

Nennhausen,    fortwührend    mit    Scbriftstcllerei    beschäftigt    und 

lerst  fruclitbar   im   Fn)ducieren"^\     Im  J.  1S31    Hess  er  sich   in 

klle  nieder,  kehrte  aber    IS42  nach  Berlin  zurück,  wo  er   1843 

irb*".    Schon  vor  Fouque  hatte  aus  der  Ferne  ein  anderer,  bereits 

»kannt  gewordener,  der  romantischen  Schule  sich  verwandt  fühlender 

lohter,   Fr.  L.  Zacharias  Werner,   durch   Hitzig   mit    dessen 

rcunden   eine   engere  Verbindung  anzuknüpfen  gesucht.     Werner 

irdo    ITtiS  zu  Königsberg   in  Pr.  geboren;   noch   im   Knabenalter 

Ines  Vaters  beraubt,  blieb  er  in  der  Zeit,  wo  sich  sein  Geist  zu 


24  li  Berlin  v        212»  Vgl.S.f>(l5.  Anm.  120.       213)  Vgl.  .Leben  uml  Briefe 

A.  T.  Chamisso-,  I,  T9f.;  141;   151;  206 f.        244»  BerÜQ  HUH.    2Thle.  ^.i 

dorn   alten  -Bnch  der  Liebe";   vgl.  Bil.  I,  :in^,  *',  aber  anch  -Leben  nnil 

(tiefe  von  A.  Chamisso-  L  70  f.  245)  Berlin  l*-rtS,    2  Thie.    « 

16)  Berlin  ISOH.   4.      .  247)  Berlin  ISin.    3  Thio.    *».        24S)  Berlin  I^ll.   8. 

249l    Berlin    IHll.    s.   (in  den   -Jahreszeiten,   einer   Vierteljahrsschrift  für 

itische  Dichtungen*,  ISU— IS14,  das  erste  oder  Fröblingshefl.        250)Nüm- 

1812  (2.  vei-besserte  Ansgabe  ISt«),  3  Thlo.   8.  251*  Berlin,  :*  Jalir- 

8.  2ö2)  -Corona,   ein    Bittergedicht  in  drei  Bttchem".    Tfibingen 

I-  «.;   -die  Fahrten  Tbiodulfs  des  Isländers-.    Hamburg   tSlS.    2  Thle.   S.; 

ÄchsiBcher  Bildersaal-.    Nürnberg  ISIS  ff.     4  Thle.   S.;   .Bertrand  du  Crue«- 

Ein  historisches  Rittergedichl"  etc.     Leipzig  \%2\.    3  Thle.   S.;   von  ihm 

t  .ausgewählte   Werke-.    ITalle  1841.     12  Bde.    16.     Ein  Verzeicbniss   der 

übrigen  in  W.  Engelmanns  Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften  1,  9t  bis 

3,  t*0.  253)  Eine  -Lebonsgeschichte"  Fouqut's,  „anfgezeichnet  durch 

Ibst",  erschien  1940  zm  Halle  **. 


6SG    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVin  Jahrlmuilerts  bis  zu  Goethe*B  Tod. 

329  entwickeln  begann,  der  alleinigen  Leitung  seiner  Mutter  aberlassen, 
einer  zwar  sehr  begabten,  aber  übers])annten  und  in  ibrem  reiferen 
Alter  von  einer  Gemüthskrankbeit  ergriflfenen  Frau.     Der  Cbarakter 
und  die  Krankheit  der  Mutter  blieben  nicht  ohne  Einfluss  auf  das 
Gcmtltb  des  Sohnes,  wenn  sich  die  Folgen  davon  auch  erst  in  sdnen 
spätem  Jahren  recht  zeigten.     1784  fieng  er  an  auf  der  Universität 
seiner  Vaterstadt   die   Rechte   und    die  Cameralwigaenscbaften  za 
studieren,  besuchte  aber  auch  die  Vorlesungen  Kants.     Als  Student 
soll  er  ein  sehr  ausgelassenes,  sinnlichen  GenQsflen  hingegebenes 
Leben  geführt  haben.    Dass  er  damals  noch  sehr  fem  von  jeder 
religiösen  Schwärmerei  war,   bezeugen  seine  Jugendgedicbte,  von 
denen  bereits  1789  in  Königsberg  eine  Sammlung   erschien.    Nach 
einer  1790  unternommenen  Reise  über  Berlin  nach  Dresden,  wo  er 
längere  Zeit  vei-weilte,  wurde  er  1793  Kammersecretär  und  stand 
diesem  Amte  bei  mehreren  LandescoUegien  in  dem  damaligen  SOd- 
preussen  vor,  am  längsten  bei  der  Kriegs-  und  Domamenkanmier 
in  Warschau,  wo  ein  Beamter  bei  der  Lotteriedirection,  der  auch  als 
Schriftsteller  bekannte  J.  J.  Mnioch,  einen  entschiedenen,  vomefamlieh 
auch  durch  gemeinsame  freimaurerische  Interessen  vermittelten  ^- 
fluss  auf  ihn  gewann.    In  Warschau  lernte  er  auch   zuerst  Hitzi; 
kennen^"  und  schloss  mit  demselben,  ungeachtet  des  Unterschied 
im  Älter,   ein  enges  Freundschaftsbündniss.     Leichtsinnig,  wie  er 
war,  löste  Werner  um  diese  Zeit  schon  eine  zweite  Ehe.    Im  J.  l^ 
begann  er  sein  erstes  und  wohl  auch  sein  bestes  dramatisches  Haspt- 
werk,  „die  Söhne  des  Thals*****.    Mit  seiner  dritten  Gattin,  dner 
jungen    Polin,   gieng   er    ISOl    nach    Königsberg,    wohin   ihn  dif 
zunehmcude  Krankheit  seiner  Mutter  rief,  bei  der  er  bis  zu  ihrem 
am  24.  Februar  1804^"  erfolgten  Tode  blieb,  wo  er,  im  Besitz  ein« 
ererbten,  nicht  unbedeutenden  Vermögens,  nach  Warschau  in  seine 
frühere  amtliche  Stellung  zurückkehrte.    Während  seines  Aufenthalte 
in  Königsberg  bereitete  sich  schon  vollständig  in  Werner  vor,  w« 
er  später  wurde;  dieses  erhellt  sowohl  aus  den  mystisch-freimaure* 
rischen  Grundideen,  die  durch  „die  Söhne  des  Thals",  zumal  dorcb 
deren  zweiten  Theil   durchgehen,  als  auch  aus  den  Absichten,  die 
er  mit  diesem  Werke  verband ,  wie  er  sie  namentlich  in  seinen  an 
Hitzig  und  au  den  Buchhändler  Sander,  als  seinen  Verlegen  gerich- 
teten Briefen^'  ausgesprochen  hat.    Aus  diesen  Briefen  erfahren  wir 
auch,  wie  er  damals  über  seinen  eigentlichen  sittlichen  Zustand  und 


254)  Vgl  S.  670,  222.         255)  I.  Theil:  -die Templer  aufCypern-:  iThri: 
,die  Kreuzosbrüder-.    Berlin  1S03  f.   8.  256)  An  demselben  Tft?e  >tx^ 

rtuch  sein  Freund  Mnioch  in  Warschau.  257)  Gedruckt  in  dem  von  Hici; 

abgefassten  «Lebensabriss  Werners  *•.    Berlin  lb23.   8.    S.  13  ff. 


Entwickelongfigaiig  der  Literatur.  1773 — 1S32.  Die  Romantiicer.  Zacb.  Werner.  6S7 


Hber    deu    poetischen   Charakter   und    künstlerischen  Werth    seines  §  x 

Werks  urtheilte;   sodann,   ein   wie  lebendiges  Interesse  er  an  den 

Bestrebungen  der  Häupter  der  romantischen  Schule  nahm,  und  wie 

ir  er  wünschte,  einzelnen  von  ihnen  bekannt  zu  werden,  andror- 

'its  aber  auch,  wie  wenig  er  sich  daran  genügen  liesa,  dass  es  ihnen 

nur  um  fortschreitendes  Producieren  und  Kritisieren  zu  tbun  schien, 

nicht,   worauf  es  ilim  vor  allem  andern  ankam,    und    worin  er  das 

erste  und  dringendste  Bedürfniss  der  Zeit  sah,  um  die  Bildung  eines 

auf  dem  Grunde  der  Freimaurerei  und  eines  idealisierten  Katholicis- 

mu8  fnssemlen  Bundes,  der  es  sich  zur  Aufgabe  mache,  daa  Leben 

der  Gegenwart,  der  prosaischen  Nüchternheit   zu  entheben  und  mit 

einem  neuen  geistigen  Inhalt  zu  erfüllen.    Daher  war  es  für  ihn  eine 

grosse  Freude,  als  er  in   dem  Verein  der  jungen  Berliner  Dichter, 

die  er  durch   Chamisso's  und  Varnhagens  Musenalmanach   kennen 

tte,  die  Keime  zu   einer  Verbrüderung,  wie  er  sie  in  Aussicht 

lommen    hatte,    zu    entdecken    meinte.      Sofort    suchte    er    durch 

fitzigs  Vermittelung  sie  als  Mithelfer  zur  Erreichung  seiner  Zwecke 

gewinnen  und  durch   sie  wieder  Miinner  wie  A.  W.   Schlegel, 

'ieck,   W.  von  Schütz  etc.  seinen  Absichten  geneigt  zu  machen*^. 

fach  seiner  Rückkehr  von  Königsberg  dichtete  er  in  Warschau  sein 

luerspiel  ^das  Kreuz  an  der  Ostsee"^.     Im  Herbst    1S05  wurde 

als   geb.    expedierender   Secretilr   bei    dem    neu  -  ostpreussischen 

Departement  nach  Berlin   versetzt,    tiberliess   sich    hier   aufs   neue 

»iner  zügellosen  Genusssucht  und  trennte  sich  auch  von  seiner  dritten 

in.     Nachdem  er  für  das  ^'beater  die  Tragödie  „Martin  Luther, 

ler  die  Weihe  der  Kraft ''*^  gedichtet  hatte,   trat  er  im  Sommer 

>07   eine  Reise   über  Prag  nach  Wien  an,  wandte  sich   von  hier 

■h  München  und  Frankfurt  a.  M.,  bereiste  den  Rhein  und  kehrte 

ir  Weimar,  wo  er  drei  Monate  verweilte,  im  Frühling  1S08  nach 

jrlin  zurück.    Allein  noch  im  Sommer  dieses  Jahres  war  er  schon 

ler  in  der  Schweiz.    Hier  machte  er  die  Bekanntschaft  der  Frau 

>n  Stael,  war  eine  Zeit  lang  ihr  Gast  in  Coppet,  gieng  von  da  im 

pälherbst  nach  Paris  und  von  da  im  Winter  wieder  nach  Weimar, 

er,  wie  auch  schon  bei  seinem   früheren  Aufenthalte  daselbst, 

fig  bei  Goethe  war,  dem  er  schon  damals  sein  erst  viel  spfiter 

ruckten  Trauerspiel,   „der  vierundzwanzigste  Februar",  vorlegen 

nnte.     Im   Frühjahr   1809    verliehen    ihm    die  Grossherzoge    von 

kfurt  und  von  Hessen-Darmstadt,  der  eine  ein  Jahrgehalt,  das 

im  spater  von  dem  Grossherzog  von  Weimar  fortgezahlt  wurde,  der 


tS)  Vgl.  Vambaf^na  DenknrQrdigkeiten  2'.  57  and  dazu  Werners  Brief  En 
jriss  seines  Lehens  S.  -i:»  ff.  259»  Der  crsto,  alleia  aiisi^eführte     Thei 

'B^a^tnacht^  erBcbien  in  Berliu  lb06.   S.  260)  Berlin  )S07.   8. 


Cs8    VI.  Vom  zweiten  Viertel  »les  XVIIl  Juhrhunilerts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

3*29  andere  den  llofrathslitel.    Den  Sommer  Uhcr  war  er  zum  andcrntnal 
bei  Frau  von  Staöl  in  Co|)]>et  und  im  Spatherbst  auf  der  Reise  nacli 
Rom,  wo  er  im  Frühjahr  1S1I  Katholik  wurde  und,  seinen  Aufent- 
halt  in   andern   italienischen  Stildtcn,    namentlich    in   Neapel  und 
Florenz,   abgerechnet,    bis  in  die  Mitte  des  Sommers    IS13  blieh. 
Unterdessen  waren  von  ihm  nach  der.  Weihe  der  Kraft**  zwei  neue 
„romantische   Tragödien"    herausgegeben    worden,    ^Attila,    Könii 
der  Hunnen"'*'^*'  und  ,  Wanda,  Königin  der  Sarmaten"^    Nicht  laufe 
nach  seiner  Rückkehr  aus  Italien,  zu  Anfang  des  Jahres  tSU,  trai 
er  in  das  Seminar  zu  Aschatfcuburg,  wurde  daselbst  im  Sommer 
zum  Priester  geweiht  und  begab  sich  bald  darauf  nach  Wien,  wn 
er  während  der  Cougresszeit  als  Prediger  auftrat.    Seitdem  hielt  er 
sich  fast  immer  im  Winter  in  Wien  auf,  wahrend  er  die  Sommer  in 
andern  Thei Ion  des  Kaiserstaats  zu  verleben  pflegte;  nur  vom  Früh- 
ling ISIß  an  brachte  er  ein  Jahr  bei  einer  gräflichen  Familie  in 
Podolien  zu,   wo  er  auch  zum   Ehrendomherm  eines  bischöflichen 
Capitels  ernannt  wurde.     IS  15  erschienen  sein  romantisches  Schau- 
spiel .,Kunigundc,  die  Heilige",  und  sein  Trauerspiel  „der  viernnd- 
zwanzigste  Februar '**\  im<l   1S20  sein  letztes  dramatisches  Werk, 
„die  Mutter   der  Makkahäer,  eine  Tragödie""*,     Gegen  den  Pro- 
testantismus hatte  er  einen  solchen  Hass  gefasst,  dass,   wie  er  l'^t" 
an  Hitzig  schrieb,  er  tausendmal  lieber  zum  Judenthum  oder  zum 
Braminenthum    (Iborgehen    wollte,    als    wieder   Protestant  werden. 
Ohne  jemals  in  Wien  eigentlich  angestellt  zu  sein,  predigte  er  dort 
und  anderwärts  hilniig  bis  kurz  vor  seinem  Tode,  der  zu  Anfang  des 
Jahres  lS2:t  erfolgte'""'.  —  Zu  keiner  der  beiden  Hauptgruppen  der 
Jüngern  Romantiker  stand    der    entschieden   begabteste    und   !äel->- 
ständigste,  aber  aucli   unglücklichste  von  ihnen  allen,   Heinrioli 
von  Kleist,  in  einem  dauernden  uÄhcm  Verh.lltniss ;  allein  seiner 
Heimath,  seinem  zeitweiligen  Aufenthalt  und  den  vorübergehender. 
Beziehungen  nach,  die  er  zu  einzelnen  unter  den  vorher  genanntea 
jungen  Alünnern  hatte,  kann  er  noch  am  füglichsten  den  Berliner 
Dichtern  beigezählt  werden.     Er  wurde  geboren  1776  zu  Frankfurt 
a.  d.  0.    Zuerst  von  einem  Hauslehrer  unterrichtet,  sodann  im  eilften 
Jahre  zu  seiner  weitem  Ausbildung  einem  Geistlichen  in  Berlin  ilh^r- 


■2I>1)  Berlin  l*»Os.   <.         2*»2)  Stuttgart  l^in.  s         2(i3)  Beide  Le ipi^ ' 
"li^A)  Wien  S.  2()" )  Seine  ..Aus.!?ewiUiItcn  Schriften.     Aus  seinem  btc"^- 

scbriftl.  Nachlasse  hcrausgeg.  von  seinen  Freunden-  (weltliche  und  geistliche  <''^ 
dichte,  dramatipche  Werke,  ausgewählte  Predigten)  erschienen  in  13  Rdn  * 
(rrimma  isil;  dazu  in  demselben  Jahre  als  l-t.  und  lö.  Bd.  «Zacharias  Wotü:^ 
Biograjthic  und  Charakteristik  etc.  heransgeg.  von  Schütz".  Sehr  lesensTprtli  '<^ 
der  vorhin  (Anm.  '2'üi  angeführte,  von  Hitzig  vcrfasste  Lebensabnss  ^Ve^ne^■ 


piei 


f^^^^^^^^^^^i* 


Eutwickeluagsgang  der  Literatur    1773—1832.  I^Ie  Romantiker.   H.v.  Kleist.    689 

geben,  bewiea  er  seine   auBgezeiobneten  Anlageu   durch   die  ung;e- 
wöbnlicbe  Schnelligkeit  seiner  Fortschritte  in  allen  Lehr/jcgenstäuden. 
Etwa  fünfzehn  Jahre  alt.  trat  er  als  Junker  in  das  Potsdamer  Garde- 
Jnfanterieregimeüt,  in  welchem  er  den  RhoinfeldÄUg  mitmachte.     In 
ncm  Dieustvcrhfiltiiiss  versäumte  er  nicht  sich  wissenschaftlich  zu 
beschuftigen,   vorzUgHcli  aber   Uberliess  er  sich  seiner  Neigung  zur 
3Iusik,  fUr  die  er  auch  ein  nicht   unbedeutendes,  wiewohl   niemals 
zu  eigentlicher  Ausbildung  gelangendes  Talent  besass.     Ein  plötzlich 
abgebrochenes  Herzeusverhilltniss  zu  einem  jungen  Mädchen  brachte 
m  dem  bis  dahin  ele^^anten  und  lebeusfrischen  jungen  Officier  eine 
grosse  Veränderung  hervor:  er  vernachlässigte  fortan  sein  Aeusseres, 
sog  sich  von  den  Menschen   zurück  und  begann  sich   ernstlich  mit 
Philosophie  zu  beschäftigen.    Schon   früher  war  durch   eine  Schrift 
Wielands  in   ihm  der  Gedanke  geweckt  worden,   dass  Bildung  das 
eiuzigc  würdige  Ziel  menschlichen  Bestrebens,  Wahrheit  der  einzige 
des  Besitzes  würdige  Rcichthum  sei.     Dieser  Gedanke  wurde  ihm 
nun  zu  einer  festen   Ueberzeugung   und    sollte   das  Prineip    seiner 
fernem   Thätigkeit   werden.     Da  er  glaubte,  als  Soldat  ihn  nicht 
Terwirkliehen  zu  können,  so  kam  er  im  J.  179S  um  seinen  Abschied 
ein,   den  er  als  Seeonde-Lieutenant  erhielt,    ualim  darauf  zunächst 
in  Potsdam  Privatuirterrieht,  um  sich  für  die  Universität  vorzubereiten, 
und   kehrte   1799  in  seine  Vaterstadt  zurück.     Dort   wollte  er  ein 
Jahr  bleiben  und,  ohne  mehr  als  ein  CoUegium  zu  hören,  seine  Vor- 
bereitungsetudien  für  sich  beendigen,   worauf  er  nach  Göttingen  zu 
gehen  wünschte,   pum  sich  dort  der  hohem  Theologie,    der  Mathe- 
matik, Philosophie  und  Physik  zu  widmen",    Wirklich   studierte  er 
nun   in  Frankfurt  fleissig  Philosophie   und  alte  Sprachen  und  lebte 
iu  heiterer  Geselligkeit  mit  seinen  Freunden  und  Geschwistern.    Eine 
Zeit  lang  trug  er  sich  mit  dem  Gedanken,  sich  für  ein  akademisches 
Lehramt  auszubilden,  spater  änderte  er  seine   Absicht  und  wollte 
sich  der  diplomatischen  Laun)alin  widmen.     Sich  so  bald  wie  möglich 
eine  Anstellung  zu  verschaffen,  bestimmte  ihn  vorzüglich  der  Wunsch, 
sich  mit  einer  jungen  Fraukfurterin,   mit   der  er  sich   vor  Kurzem 
verlobt   hatte,    ehelich    verbinden   zu   können.     Schon   im  Sommer 
1800  verliess  er  Frankfurt  wieder,  gieng  aber  nicht  nach  Göttingeo, 
»ondern  nach  Berlin,  theils  um  hier  seine  Studien  fortxusotzen,  theil« 
ixra  seine  künftige  Anstellung  im  Staatsdienst,  und  zwar  im  Fiiiaiu- 
fach  vorzubereiten.    Im  Herbst  hielt  er  sich,  man  weiss  nicht,  wodnreh 
veranlasst,  einige  Zeit  in  WUrzburg  auf,  war  aber  schon  wieder  vor 
Beginn   des  Winters  in   Berlin.     Dass  er   schon   damaU.   wie  eine 
Nachricht  lautot,   iu  einem  Ministerium  angestellt  worden,  ist  mehr 
als  zweifelhaft.    Er  hatte  in  Berlin   ungefangen,   sich  mit  der  kan- 
tischen Philosophie  ernsthch  zu  beschäftigen.     Statt  lur  Befesl^uDg 

Kob«r*telti  GnndtUa.  b.  Anß.  IV. 


690    VI.  Vom  zweiten  Viert«!  des  XVm  JahrliundertB  Mb  zu  Goetlie*s  Tod. 

§  329  seines  innern  Friedens   beizutragen,   ihn  in    seinem  Streben    nacb 
Bildung  und  Wahrheit  zu  kräftigen,  untergrub  sie  den  einen  und 
Hess  ihm  das  andere  als  ein  ewig  vergebliches  AbmQhen  erscheinen: 
denn  sie  hatte  es  ihm  zweifelhaft  gemacht,  „ob  das,  was  wir  Wahr- 
heit nennen,  wahrhaft  Wahrheit  sei,  oder  ob  es  uns  nur  so  scheine". 
Damit  war  ihm  ^sein  einziges,  sein  höchstes  Ziel  gesunken,  und  er 
hatte  keines  mehr."    Von  innerlichem  Ekel  an  allem  wissenschaft- 
lichen Arbeiten  erfasst,  versank  er  in  ünthätigkeit,  und  kein  Mittel 
ihn  diesem  Zustande  zu  ontreissen,    schlug  bei  ihm   an.     Eudlieh 
setzte  er  sciue  Hoifnung,  von  dieser  tiefen  Verstimmung  befreit  zq 
werden,  auf  eine  Beise  nach  Paris,   die  er  auch  mit  einer  seiner 
Schwestern  im  Frühling   1S<U   antrat.    Aber  auch  in  Paris  fand  er 
nicht,  was  er  suchte:  das  dortige  Leben  widerte  ihn  bald  an;  er 
war  des  Aufenthalts  in  grossen  Städten   ttberdrttssig  und   wollte  in 
die  Natur  zurUek.    Seine  Gedanken  richteten  sich  nach  der  Schweiz. 
Der  Trieb  nach  Thätigkeit  war  wieder  in  ihm  erwacht,   aber  dag 
Ziel  seines  Strcbens  hatte  sich  völlig  verändert:  er  fühlte  das  ße- 
dürfniss  in  sich,   .etwas  Gutes  zu  thun",  und  glaubte  ohne  dessen 
Befriedigung  niemals  glücklich  werden  zu  können.     Da  er  sich  jedoch 
für  ganz  unfähig  hielt,  sich  in  irgend  ein  couventionelles  Verhältniss 
zu  schicken,  und  die  Wissenschaften  ganz  aufgegeben  hatte,  so  wollte 
er  mit  dem,    was  ihm  von  seinem  Vermögen  noch  übrig  war,  sieb 
.einen  Bauerhof  in   der  Schweiz  kaufen,   der  ihn   ernähren  würde, 
wenn  er  selbst  arbeitete.    In  Folge  dieses  Entschlusses«  zu  dessen 
Ausführung  er  im  Spätherbst  ISOl   von  Paris  über  Frankfurt  a.  ItL 
wo  er  sieh  von  seiner  in  die  Heimath  zurückkehrenden  Schwester 
trennte,  nach  Bern  in  der  Schweiz  aufbrach,  löste  sich  das  Verhält- 
niss  zu  seiner  Verlobton.    Üie  ersten  Monate  verlebte   er   in  Bern, 
späterhin  hielt  er  sich  am  Thuner  See  auf;  zu  seinem  nähern  Um- 
gänge gehörten  Heiurich  Zschokke  und  Ludwig  Wieland,  ein  Sobfl 
des  Dichters.    Der  erstcre  fühlte  sich,   wie  er  berichtet  hat,  beson- 
ders v<m  Kleists  -gemttthlichem,  zuweilen  schwärmerischem.  tfÄmt- 
rischem  Wesen,  worin  sich  immerdar  der  reinste  Seeienadel  offenbarte', 
angezogen.    Kleist  war  damals,  eben  so  wie. der  junge  Wieland,  eiii 
begeisterter  Anhänger   -  der   neuen    poetischen   Schule   in   Deut.**li- 
land.''    :, Goethe  hiess  ihr  Abgott;  nach  ihm  standen  ihnen  Sehte' 
und  Tieck   am    höchsten.'*     In    der    Schweiz   ficng   nun   auch  der 
poetische  Geist  in  ihm  selbst  an,  ihn  zum  Producieren  zu  dräuiren; 
er  vollendete  hier  seine  erste  grosse  Dichtung,  «die  Familie  Schroffw- 
stein'',   ein  Trauerspiel,    das   gleich   bei   seinem    Erscheinen^  t<ib 


2()(>)  Es  erschien  ohue  des  Verf.  Namen,  Bern  und  Züdch   l<oa.   S. 


mm 


£otwickelimg9gAiig  der  Literatur.    1773—1832.  Die  Komantiker.   U.  v.  Kleist    691 

mehreren  Seiten*'"  als  ein  sehr  geniales,  för  die  Zukunft  von  dem  §  329 
Dichter  viel  versprechendes  Werk  angezeigt  ward**,  und  fasste  die 
erste  Idee  zu  dem  Lustspiel  „der  zerbrochene  Krug",  dessen  Aus- 
arbeitung vielleicht  auch  schon  damals  begonnen  wurde.  Die  Ab- 
sicht, sich  in  der  Schweiz  anzukaufen^  hatte  er  aufgegeben.  Gegen 
Ende  seines  dortigen  Aufenthalts  verfiel  er  in  eine  schwere  Krankheit; 
nach  seiner  Genesung  kelirtc  er  mit  seiner  Schwester,  die  zu  seiner 
Pflege  herbeigeeilt  war,  im  Herbift  1802  nach  Deutschland  zurlick. 
Er  wandte  sich  zunächst  nach  Weimar,  wo  er  sich  Goethen  vorstellte, 
der  ihm  Thoilnahme  bewies,  obgleich  er  sich  v<m  Kleists,  wie  sie 
ihm  schon  damals  erschien,  unheilbar  krankhafter  Persönlichkeit 
nichts  weniger  als  angezogen  fühlte.  Im  Anfang  des  Jahres  iS(i:i 
lebte  er  eine  Reihe  Wochen  zu  Osmannstedt  in  dem  Hause  Wielands, 
dem  er  durch  seinen  Sohn  Ludwig  bekannt  und  empfohlen  worden 
war;  er  bcschüftijrte  sich  zu  dieser  Zeit  vornehmlich  mit  einem  neuen 
Trauerspiel,  -Uobert  Guiskard'*,  und  was  er  davon  Wieland  mil- 
theilen  konnte,  gab  diesem  die  Gewissheit,  ^  Kleist  sei  dazugehören, 
ie  grosse  Lücke  in  unserer  dramatischen  Literatur  au^zufUlleu,  die 
leb  von  Schiller  und  Goethe  noch  uicbt  ausgefüllt  worden  sei." 
.ber  Wieland  erkannte  auch  die  bisweilen  an  Geisteszerrüttung 
jnzende  Verstimmung  und  Ueberspannung,  worin  sich  Kleist  damals 
ifand'**.  Nachdem  er  von  Osmannstedt  und  Weimar  geschieden 
rar,  hielt  sich  Kleist  fürs  erste  in  Dresden  auf,  wo  er  die  Arbeit 
Robert  Guiskard",  seinem  Lieblingsstück,  das  er  im  Unmuth 
»reits  zweimal  vernichtet  hatte,  wieder  aufnahm;  auch  hoH  er  hier 
ie  drei  ersten  Sceuen  von  «dem  zerbrochenen  Krug"  einem  Freunde, 
lern  nachherigen  preussischen  General  von  Pfuel,  dictiert  haben. 
diesen  begleitend,  reiste  er  dann  noch  im  Sommer  1S03  zum  zweiten- 
d  in  die  Schweiz,  wo  wieder  am  ., Robert  Guiskard"  gearbeitet 
nrde.  Beide  Freunde  dehnten  darauf  ihre  Reise  bis  nach  Mailand 
18  und  von  da  zurück  durch  die  deutsche  und  französische  Schweiz 
Iber  Lyon  nach  Paris.  Auch  wfihrend  dieser  Reise  litt  Kleist  öfter 
tiefer  Seelenverstimmung;  er  entzweite  sich  in  Paris  mit  Pfuel, 
kI  in  seiner  darüber  entstandenen  Verzweiflung  an  sich  und  an 
ler  Welt  verbrannte  er  alle  seine  Papiere  und  damit  zum  dritten- 
mal sein  LieblingsstUck.  Als  er,  an  der  Ausführung  eines  unglück- 
lichen Entschlusses  noch  zeitig  genug  verhindert,  allein  nach  Deutsch- 


207)  Namentilch  iu  der  Recension  Habers  im  ^FreiraOthigen"  (ISOA,  K.  36), 
id  eben  so  in  der  .Zeitung  für  die  elegante  Welt-  (ISü3,  N.  Ol.  Sp.  724  f.). 
>h)  Vgl.  Auch  Langers  Anzeige  in   der  n.  allgemeinen  d.  Bibliothek  S5,  370  ff. 
209,1  Vgl.  den  sehr  iiiteressanteo  Brief  Wielaads  aus  dem  J.  1§04   in  E.  v. 
tdJows  {Äum.  2b\)  angeführtem  Buch,  S.  32  ff. 

44« 


602    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIil  Jahrbunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

§  329  land  zurückkehrte,  ergriff  ilin  in  Mainz  eine  todtliche  Krankkeit, 
von  der  er  erat  nach  sechs  Monaten  hergestellt  war,  worauf  er  in 
der  Heimath  eintraf.    Er  verweilte  nun  im  J.  1S04   eine  Zeit  lang 
in  Berlin,  kam  doi-t  mit  Varnhagcnf  Ghamisso  und  Neumann  zusammen 
und  schloss  sich  ihnen  freundschaftlich  an,  verhehlte  ihnen  aber  soi^'- 
fältig,    dass    er   schon   als  Dichter  aufgetreten  w&re"^".     Vielleicht 
wurde  er  auch  schon   damals,  wo  nicht  früher,  mit  Adam  Mttller 
bekannt  und  nicht  erst  ISOS  in  Dresden"'.    Da  ihm   die  Aussiebt 
auf  eine  Anstellung  im  Finanzfach  eröifnet  worden  war,  so  legte  er 
sich  jetzt  mit  Eifer  auf  das  Studium  der  Cameralwissenschaft.    Schon 
im  Lauf  des  Winters  von  1 804 — 5  ^vurde  er  nach  Königsberg  in  Preusaen 
als  Diätar  bei  der  Kammer  geschickt.    Hier  soll  er  durch  mflnd- 
liehe  Mittheilung  die  Geschichte  des  Kohlhaas  kennen  gelernt  haben, 
die  ihm  den  Grundstoff  zu  einer  seiner  meisterhaftesten  Erzählungen 
lieferte*-"*.     Auch  schrieb  er  in  Königsberg   die  nicht  minder  auÄ- 
gezeichnete    Novelle    „die    Marquise    von    0..."      Seine    amtliche 
Stellung  war  ihm  bald   unbehaglich  geworden,    sein   Gemüth  ver- 
düsterte sich  aufs  neue,  und  das  Unglück,  welches  im  Herbst  ISOU 
Preusscn  traf,  zerriss  sein  von  der  edelsten  Vaterlandsliebe  erfftUtes 
Herz  aufs  allerschmerzlichste.    Er  gab  seine  Stelle  auf,  vermied  allen 
Umgang  und  suchte  in  der  Einsamkeit  und  in  der  Poesie  Trost  ftir 
seinen  Kummer  und  Stärkung  des  Gemüths;  er  „dichtete,   weil  er 
es  nicht  lassen  konnte",  und  hofiftc,  rSich  durch  seine  dramatischen 
Arbeiten  fortan  ernähren "  zu  können:  „der  zerbrochene  Krug"  wurde 
zu  Ende  geführt,  die  „  Penthesilea "  begonnen  und  eine  Bearbeitung 
von  Molid're's^Amphitryon"  unternommen.    Im  Januar  1S07  wandene 
Kleist  mit  Pfucl  und  zwei  andern  Officieren  von  Königsberg  zu  Fns? 
nach  Berlin,   wurde  hier  als  ein  den  französischen  Behörden  Ver- 
dächtiger verhaftet  und  nach  dem  Fort  de  Joux  in  Frankreich  ab- 
geführt,   dort  zuei-st  in  strenger  Haft   gehalten  und   alsdann  nach 
Chalons  an  der  Marne  gebracht,  wo  er  viel  gedichtet   haben  *olI- 
Unterdcss  wurde  seine  Bearbeitung  des   -Amphitryon"   von  Adam 
Müller  herausgegeben"'.    Nach  seiner  Entlassung  aus  der  Gefangen- 
schaft im  Juli  1S07   nahm  er  seinen  Aufenthalt  in  Dresden,  fQbrte 
hier  seine  bereits  angefangenen  Arbeiten  fort,  nahm   den  -Robert 
Guiskard"  wieder  auf,  schrieb  das  Ritterachauspiel  -das  Käthchen 
von  Hcilbronn",  gab  das  Trau erspieKPenthesilea"-"*  und  mit  AdaiR 
Müller  ISOS  die  Zeitschrift  „Phoebus"  heraus ^%   worin  Proben  au? 


2701  Vgl.  Varnhagens  Denkwürdigkeiten  *2S  (lli.  271)  Vgl,  d*rn  Brj'^' 

Wechsel  zwistlien  A.  Müller  und  Kr.  Gentz  S.  93.  272)  Vgl.  C.  A.  IL  Burk- 

liardt,  der  historische  Hans  Kohlhasc  und  Heinrich  von  Kleists   Mich.  Kohlba*^ 
Leipzig  iSfii.    s.  273)  Dresden  isOT.   s.  274)  Stuttgart  I^mS.  *• 

275)  Vgl.  S.  07«,  103. 


.XntvickeloDgsgang iter Literatur.    iTva— 1&32.   Die Rom&ntiker.  n.v.KIcist.    693 


^den  meisten  seiner  noch  niclit  gedruckten  Werke  erschienon*".    In  §  329 
Dresden  machte  Kleist  während  des  Sommers   180S  Tiecks  persön- 
liche Bekanntschaft;  er  war  damals  mit  dem  ^Kätbchcn  von  Heil- 
■^ronn"  schon  so  weit  vorgeschritten,  dass  er  das  Stück  in  der  Hand- 
^M^hrift   Tieck   mittheilen    konnte**".     Schmerzliche    Erfahrungen    in 
^Aeinen   persönlichen   Verh.lltnissen;   vor  allem  aber   die  Lage   des 
^pTaterlandes  unter  dem  Druck  der  von  ihm  glühend  gehassten  Fran- 
■  sosen  und  die  trübe  Aussicht  in  eine  drohende  Zukunft  liesaeu  in-' 
zwischen  in  Kleist  keine  freie   und  unbefangene  GemUthsstimmung 
Rofkommcn;  seine  injieru  Qualen  steigerten  sich  öfter  bis  zu  momen- 
taner Geistesabwesenheit  und  bis  zur  Verzweiflung,  so  dass  er  schon 
jetzt  bisweilen  an  Selbstmord  dachte.     Indessen  fand  er  immer  noch 
^^eistige  und  sittliche  Kraft  genug  in  sich,  seinen  Zorn   über  den 
^^ochmuth  der  Feinde  und  seinen  Hass  gegen  sie«  sammt  der  Sorge 
über  die  Uneinigkeit  der  Fürsten  und  Völker  Deutschlands  und  die 
ans  dieser  hervorgehende  Schwache  desselben,  in  dichterischer  Form 
energisch  auszusprechen;  er  schrieb  sein  Schauspiel  ^ die  Ilermanns- 
l^pcblacht".  in  welchem  sich  von  Anfang  bis  zu  Ende  die  Verhältnisse 
^■ler  Gegenwart  abspiegelten.    Ais  der   Krieg   zwischen  Oesterreich 
tmd  Frankreich   im  J.    1809  ausbrach,   wurde  er  wieder  hoffnungs- 
voll; er  gieng  «ach  Prag,  um  als  Schriftsteller  der  deutschen  Sache 
j.    au  dienen ;  seine  Absieht,  sich  nach  Wien  zu  begeben,  wurde  durch 
^■las  Vorrücken  der  Franzosen  vereitelt.    Der  Abscbluss  des  Friedens 
^Täubte   ihm  endlich  die  letzte  Hoffnung  auf  die  Befreiung  Deutach- 
lands.    Er  begab   sich   nun  mit  Adam   Müller  wieder  nach  Berlin, 
[euer  Kummer  erwuchs  ihm  daraus,  dass  seine  Dichtungen  so  wenig 
igang  und  Anerkennung  beim  Publicum  fanden.    Dem  Wunsche 
ller  Seinigen,   wieder  eine  Anstellung  zu  suchen,  mochte  er  nicht 
willfahren;   er  glaubte  von   seinen   literarischen   Arbeiten  leben   zu 
können,  verbesserte  seine  „Erzählungen",   die  demnächst  in  zwei 
Bünden*",    so  wie  auch  das  „Käthchen  von  Heilbronn,   oder  die 

IFeuerprobe*"*^  erschienen,  woran  sich  dann  noch  ISIl  „der  zer- 
brochene Krug""*"  schloss,  gab  in  dem  letzten  Vierteljahr  von  1810 
Inter  dem  Titel  ^Berliner  Abendblätter''  eine  Wochenschrift  heraus, 
in  welcher  zwei  seiner  kleinen  ErzÄhlungen  zuerst  gedruckt  wurden, 
Innd    zu  der   u.   A.  auch  Achim   von  Arnim   und   Fouqu^  Beitrage 


276)  üeber  seine  damalige  Stimmung,  sein  Streben  tmd  den  Cbftraktcr,  tome 
die  Tendenz  Bclner  Poesie  nach]  Müllers  Auffassung  vgl  den  S.  676,  Anm.  lyu 
Uigeiührten  Briefwechsel  S.  1^6—134;  dazu  nnch  Fr.  Launs  Memoiren  2,  162  ff. 

277)  Vgl.  Küpke  a.  a.  0.  I,  339  f.        27S)  Berlin  IMO  f.   b         279)  Berlin 
8,  280)  Berlin  k. 


694     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XMII  Jahrhunderts  bis  zn  Goethe*«  Tod. 

329  Werk,  „Prinz  Friedrich  von  Homburg".  In  der  Mitte  des  Augiwta 
hoffte  er  seinem  Freunde  Fouquä,  wie  er  ihm  schrieb,  dieses  vater- 
ländische Schauspiel  demnächst  vorlegen  zu  können.  Allein  sein 
GemUtli  war  bereits  zu  tief  und  zu  unheilbar  zerrüttet ;  äussere  Notb 
kam,  %vie  es  sehr  wahrscheinlich  ist,  dazu;  er  glaubte  das  Leben 
nicht  länger  ertragen  zu  können  und  endete  am  21.  Nov.  ISll  in 
der  Nähe  von  Potsdam  durch  Selbstmord,  nachdem  er  unmittelbar 
zuvor  eine  Freundin  auf  ihr  Verlangen  getödtet  hatte*". 

§  330. 

Die  Richtung,  welche  die  Romantiker  bei  ihrem  ersten  Auftreten 
von  verschiedenen  Ausgangspunkten  her  eingeschlagen  hatten,  und 
in  der  sie  schon  vor  der  Grtlndung  des  Athenäums  zusammentrafen, 
war  eine  den  hen-schenden ,  mit  dem  Charakter  der  allgemeinen 
Bildungszustände  in  Deutschland  innig  verwachsenen  Literatnrtenden- 
zen  schlechthin  entgegengesetzte  und  entgegenstrebende.  Sie  fanden  in 
der  Literatur  des  Tages  „eine  solche  Menge  prosaischer  Plattbeitr 
so  erbärmliche  Götzen  des  öffentlichen  Beifalls  vor,  eine  so  nllchterne 
Beschränktheit,  die  sich  der  Poesie  anmasste,  so  gemeine  Ansichten 
und  Gesinnungen  aus  der  Prosa  des  wirklichen  Lebens,  verkleidet 
und  unverkleidet,  in  die  Poesie  eingeschlichen***,   dass   sie  in  dem 


2S1)  Seine  beiden  bei  seinen  Lebzeiten  noch  nicht  gedruckten  Schauspiele, 
.Prinz  Friedrich  von  Homburg"  und  ^die  Hermannsschlacht",    nebst  dem  unv«- 
frleichlichen  F'ragment  des  ..Robert  Guiskard-,  welches  bereits  in   dem  -Phwbus' 
erschienen  war,  und  mehrern  Gedichten  aus  seinem  Nachlass   gab  Tieck  herat?: 
«Heinricli  v.  Kleists  hiutcriassene  Schriften".    Berlin  1S2I.    ^.,    und  später  api!j 
seine   -(Jesammelten   Schriften",   Berlin  1S20.     3  Bde.    s.,   endlich   noch  -Aus- 
gewählte  AVorke-,   Berhn    IMO.     4   Bdchcn.    ^.     -H.   von   Kleists   Kcsamictite 
Schrifttjn-,  hsg.  v.  L.  Ticck,  revidiert,  ergänzt  und  mit  einer  biographischen  tiQ- 
leitung  vorsehen  von  Jul.  Schmidt.    Berlin  Is59  ff.    H\.  (dazu   v-il.  Rcinh.  Köbi<. 
zu  Heinricli   von  Kleists  "Werken.     Die  liCsartcn  der  Originalausgaben  uüd  i' 
Aendorungcn  T..  Tiecks  und  J.  Schmidts.    Weimar  It-di.  12.:   und    denselbrn  it 
Gosche's  Archiv  f.  Lit.-(iescli.  1 ,  'AU\  ff.).    Vgl.  Tiecks  Vorrede  vor  Kleists  .sf 
sammelten  Schriften-;  Heinrich  v.  Kleists  Lehen  und  Briefe.    Mit  einem AiiIisulV 
herausgeg.  von  Ed.  von  Bülow".   Berlin  I'sJh.   *s.;  H.  von  Kleists  Briefe  au  s^Lm 
Schwester  Ulrike.    Herausg.  von  A.  Kobcrstein.   Berlin  1S60.   *>.;  R.  Köpke'sJic- 
leitung  zu  Kleists  -politischen  Schriften  und  antlern  Kachträgen  zu  seinen  Werkri;' 
Berlin  i^lV*.   ^.;  Ad.  'WÜhraudt.  Heinrich  von  Kleist.  Nördlin^eu  \'<^X   ^.:  mc^ 
die  geistvolle  Cliarakteristik  des  Dichters  in  den  preussischen  JahritücheriJ  *^-- 
K.  Haym,  Bd.  :.",  Heft  0,  S.  59«  ff.;   so  wie  Schillmann,  Heinrich  v.  Kleist,  sn-x 
Jugend  und  die  Familie  Schroffensteiu,  nebst  einem  noch  ungedruckteii  Stink  an- 
dem  Katechismus   der  Deutschen.     Frankfurt  a.  0.  1m;3.    -I.    (Prügnuraui.  ^t- 
S.  F.  A.  Stjenistedt ,   om  Heinrich  v.  Kleist  och  hana  poesi.     Uppsala   !'*•".  * 
(Dissertation). 

8  330.     1)  A.  \\.  Schlegels  sämmllichc  "Werke  *•,  US  und  12.  2'*u. 


IntwickelungflgADg  d.  Literatur.  1773— 1S32.  Die  Romaoüker.  Aesthet.  Kritik.   695 


'Masse,  in  welcliem  diese  Unpoesie  ihren  rTeschmack  anwiderte  und  §  330 
dem  widersprach,  was  sie,  nach  ihrer  Anschaiuiugsweise  und  Donk- 
art, nach  dem  Grade  ihrer  allgemeinen  Bildung  und  ihrer  besoudern 
Bekanntschaft  mit  den  dichterischen  Meisterwerken  alter  und  neuer 
Zeil,  fUr  eigentliche  und  echte  Dichtung  hielten,  sich  zur  Auflehnung 
oud   zum  Kampfe  gegen   alle  diejenigen  getrieben   fühlen   mussten, 
die  auf  dem  Gebiet  der  aeliüuen  Literatur  iu  der  Produetion  und  in 
der  Kritik  den  Ton  angaben  und  den  Geschmack  wie  das  Ürtheil 
ics  grossen   Puhlicunis   bestimmten.     Sie   wollten  also    eine    durch- 
:reifeude  Reform  der  auf  diesem  Gebiete  herrschenden  Zustände  her- 
beiführen und  eine  andre  Dichtung  zur  Geltung  bringen,  als  die  war^ 
welche  sie  iu  der  Gunst  des  Puhlicums  vorfanden.     Insofern  begeg- 
neten sie  sich  iu  ihren  Absichten  und  Bestrebungen  mit  denen  Goethe's 
and  Schillers.     Aber   während   diese  beiden   Männer  weniger  als 
Kritiker  denn  als  Dichter  reformierend  wirkten,  trat  das  Umgekehrte 
i^bei  den  Romantikern  ein:  ihre  jtoetischen  Ilervorbringungen  blieben 
^■m  Ganzen  hinter  ihren  Leistungen  iu  der  fisthetischen  Kritik  und 
^^en  Erfolgen,   welche  dieselben  hatten,  weit  zurllck.    Diese  raftssen 
.     demnach   bei   einer  Charakteristik   des  Einflusses,   den  die  roraan- 
HtiAche  Schule  auf  den  Bildungsgang  unserer  Literatur  gehabt  hat, 
^Hunächst  und   hauptsächlich  in  Betracht  kommen.  —  Je  tiefer  die 
^■Isthetische  Kritik   von   der  Höhe,   zu  welcher  sie  Lessing  erhoben 
^Blatte,  nach  und  nach  herabgesunken  war,  Je  abgelebter  und  seichter, 
P^e  enghentiger  und   parteiischer  sie  sich   namentlich  in  den  ihr  ge- 
gewidmeten Zeitschriften  zu  allermeist  zeigte,   und   mit  je  grosserer 
Anroassung  sie  trotz  dem  den  Gang  der  Literatur  zu  leiten  suchte, 
desto  nothwendiger  war  es,  dass  diese  Kritik  des  Tages  auf  ihren 
wahren   Werth    herabgesetzt,    dass   ihre  Nicbtberechtigung  zu   den 
Urtheils^prllchen,   die  sie  ergehen  liess.  erwiesen  wurde,   und  dass 
ihr  gegenüber  eine  Kritik  ganz  anderer  Art  sich  Geltung  verschaffte, 
welche  nicht  allein  die  zahlreichen,   tiefgreifenden  Gebrechen   und 
»cbäden  der  damaligen  deutschen  Literatur  aufdeckte   und  für  ihre 
»ereits   vorhandenen    edlern   Erzeugnisse    bei    dem    Publicum   eine 
•Wissere  und  allgemeinei*e  Empfänglichkeit  erweckte,  so  ^vie  deren 
erstUudniss  ihm  vermittelte,   sondern   auch  dazu  beitragen  konnte. 
iass    die    Literatur   selbst    im    neuen   Producieren   eine   mächtigere 
»chwungkraft  gewönne.    Sie  musste  demnach    zuvörderst  in  zwie- 
Tacber  Richtung  hervortreten  und  wirken,  in  einer  negierenden  und 
in  einer  positiven,  oder  als  Polemik  gegen  alles  Schlechte,  Mittel- 
massige  und  Unbedeutende,   und  als  Charakterisierung  des  vorhan- 
denen Guten  und  Rechten  oder  mindestens  in  irgend  einer  Beziehung 
Bedeutenden;   von  den  Erfolgen  dieser  beiden  Arten  der  Kritik  zu- 
rammen  bieng  es  dann  ab,  iu  wiefern  daraus  auch  ein  wirksames 


01)6     VI.  Vom  zweiten  Viertel  dee  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethes  Tod. 

330  Förderungsmittel  fftr  die  weitere  Entwickelung  der  Literatur  im  Felde 
der  Produetion  hervorgeben,  oder  iu  wiefern  die  Kritik  sich  als  eine 
productive  Kraft  bewahren  konnte.  —  Dus  Signal  zu  der  verneinen- 
den und  polemischen  Kritik,   wie  sie  von   den  Romantikern  geflbt 
wurde,   hatten   die  „Xenien"  gegeben':  wie  in  diesen,   so  stimmte 
sie  fast  zur  selben  Zeit  den  Ton  humoristischer  Satire  und  Polemik 
in  verschiedenen  Dichtungen  Tiecks  an^,  und  nicht  viel  später  be- 
gann auch  schon  der  ältere  fJchlegel  als  Mitarbeiter  an  der  Jenaer 
Literaturzeitung  den  Kampf  gegen  die  schlechten  und  herabzieheo* 
den  Literaturtendenzen  und  einige  der  beliebtesten  Tagesschriftsteller*, 
während  der  jüngere  Bruder  sich   in  einzelnen  Abbandlungen  oder 
Charakteristiken  wenigstens  im  Allgemeinen  über  den  niedrigen  Stand 
der  deutschen  Dichtung  und  der  deutschen  Kritik  aussprach  \  Nun  aber 
brachten  das  Athenäum  und  die  Übrigen  Zeitschriften,  die  von  den  Ro- 
mantikern ausgiengen,  oder  woran  sie  sich  als  Rceensenten  betheiligten, 
eine  Reihe  von  Aufsätzen  und  Fragmenten  kritischen  Inhalts,  in  denen 
die  literarische  Polemik  von  einem  viel  entschiedenem,  herbem  und 
schonungslosem  Charakter  war,   als  in  welchem  sie  sich  bis  dabin 
gezeigt  hatte,  und  mit  denen  eigentlich  erst  die  Kritik  anhob,  welche 
die  vorzüglichste  Ursache  des  Hasses  gegen  die  neue  Schule  in  der 
ttbrigen   Schriftstellerwelt   wurde.    Denn-  in  dem  Athenäum   dureli 
keine   der  Rücksichten  bestimmt  und  gebunden,  welche  ihnen  bis 
dahin  doch  immer  mehr  oder  weniger  die  Herausgeber  der  kritiscbea 
Zeitschriften,  deren  Mitarbeiter  sie  waren,  auferlegten,  hatten  es  Bicii 
die  Schlegel  .,zum  Princip  gemacht,  keinen  Namen  als  ein  vor  der 
Prüfung  schützendes  Privilegium  anzusehen  und  vor  keiner  Paradöxie 
zu  ersch recken*' ^    Zunächst  erklärte  sich  A.  W.  Schlegel,  von  dem 
überhaupt    die    meisten   und   die   bedeutendsten   kritischen   Artikel 
(lieser  Zeitschrift  herrührten,  in  der  Einleitung  zu  seinen  ..Beitnigea 
zur  Kritik  der  neuesten  Literatur"  unumwunden  gegen  die  dermal!^ 
ästhetische  Kritik,   wie  sie  in  den  verschiedenen  Recensieranstalten 
Deutschlands   betrieben  wurde'.    Das  Recensieren  sei,    bei  den  ob- 
waltenden Verb<ältui8sen  zwischen  dem  lebenden  Publicum  und  den 
Schriftstellern,  ein  uothwendiges  Uebel:  man  würde  seine  ganze  Zeit 
und  Mühe  darauf  verwenden  müssen,  um  zu  erfahren,  was  und  wie 

2)  Vgl.  S.   134  f.;  414.  3)  Vgl.  S.  573-579.  4)  Vgl.  S.  «lM-»ii-. 

f).)  Resomiers  ia  der  Schrift  ..über  das  Studium  der  griechischen  Poesie*  n?' 
S.  'M).i  ff.i  und  in  der  Charakteristik  Lessiiigs  (vgl  S.  «10.  "4  uiul  S.  HM*  ff.|. 

*>i  Schelling,  -über  die  Jenaer  Literatur-Zeitung**  s.  Werke  3,  tiOiK  -'^^ 
Gegner  griffen  den  Ausdruck  Yt.  Sehlegela  -göttliche  Grobheit*',  dessen  er  iÄ'k  a 
der«Lucindc"  S.  30  bedient  hatte,  auf  und  wandten  ihn  häutig  auf  die  Kritik '-ß^ 
die  Polemik  der  neuen  Schule  an.  1\  Atbenaura  !,  I.   14'>  ff.   (^   ^Vaif 

12,  4  ff.K 


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EutwickclungsgaQgd.  Literatur.  1773— 1$32.  DieRomanUker.  AestbeL  Kritik.   697 


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geacbrieben  wordea  sei ,  wenn  es  keine  Institute  gübe,  die  darüber  §  330 
officielle  Berichte  ertbeilten.  Als  ein  Uobelatand  stelle  sich  indcsa 
hierbei  schon  heraus,  dass  auch  in  dem  urafassendstcn  llterarischcu 
Tageblatt  die  Anzeigen  vieler  neuen  Bücher  verspätet  würden  oder 
r  unterblieben.  Eine  Folge  davon  sei,  dass,  am  so  viel  Anzeigen 
und  90  schnell,  wie  nur  irgend  möglich,  zu  liefern,  die  ßoccnsenten 
oft  die  Bücher,  Über  welche  sie  urtheiten  sollten,  nicht  einmal  ganz 
durchlfisen:  ein  Blatt  vorn  und  eiu  Blatt  hinten  gfiben  schon  ^^el 
Licht,  besonders  aber  wären  für  ihr  Geschäft  die  Vorreden  von  un- 
öchatzbarem  Werthe.  Ein  Hauptnachtheil  der  allgemeinen  kritischen 
Intstitute  sei  es  aber,  dass  sie  die  verschiedenartigsten  Dinge  auf 
einerlei  Fuss  behandeln  müssten.  Von  den  guten  Büchern  niüsste 
dargethan  werden,  dass  sie  gut,  von  den  schlechten,  dass  sie  schlecht 
wfiren.  Wozu  aber  diese  Anwendung  des  lieiligen  Grundsatzes  der 
Gleichheit,  da  die  Gerechtigkeit  doch  niemals  verpflichte,  etwas 
UcberflUssiges  zu  thun?  Entweder  man  nehme  an,  dass  alle  Bücher 
schlecht  seien,  bis  zur  Erweisung  des  Gcgentheils;  so  werde  man 
sich  bloss  mit  dem  Vortrefflichen  beschäftigen  und  das  Uebrige  mit 
Stillschweigen  übergeben.  Ein  solches  Institut  sei  nicht  vorhanden, 
und  es  würde  sich  aus  mancherlei  Ursachen  auch  nicht  lange  halten 
können.  Oder  man  nehme  ajle  Bücher  als  gut  an,  bis  das  Gegen- 
theil  enviesen  sei,  und  dai-aus  werde  das  umgekehrte  Verfahren  ent- 
stehen. Diese  demUthige  Maxime  scheine  die  allgemeine  deutsche 
Bibliothek  —  die  das  erste  Beiwort  wohl  imr  pleonastisch  für  ,jge- 
meiu"  führe  —  im  Fache  des  Geschmacks  zu  befolgen,  indem  sie 
loas  bemüht  sei,  die  armseligsten  Producte  noch  tiefer  herunter  zu 
bissen,  von  den  Meistorwerken  aber»  die  den  Fortschritt  der  Bildung 
»zeichnen,  gar  keine  Notiz  zu  nehmen.  Diese  Kritik  sei  dem  Wesen 
Lch  viel  milder,  als  man  nach  ihren  finstcrn  Gebärden  glauben 
rtlle,  ja  vielleicht  liege  dabei  eine  stille  Selbsterkenntniss  der  Re- 
tnsenten  zum  Grunde,  die  nur  so  die  Ueberlegenbeit  behaupten  zu 
»nnen  meinten,  welche  fälschlich  als  das  nothwendige  Verhültniss 
iflchen  dem  Beurtheiler  und  dem  Beurtheilten  angenommen  werde, 
jr  auch  in  Zcitscbrifleu,  in  denen  mau  zuweilen  MeiBterstUcke 
Kritik  finde,  müsse  die  Abfertigung  des  Schlechten  und  Unbe- 
itenden  einen  viel  zu  grossen  Raum  anfüllen  und  dadurch  die 
Urdigung  dessen  beengen,  was  die  Wissenschaft  oder  die  Kunst 
»iter  bringe.  Nachbarlich  sehe  man  hier  sich  Autoren  und  Werke 
irübren,  die.  sich  ewig  nicht  kennen,  sondern  tu  ganz  getrennten 
thftreu  ihr  Wesen  treiben:  alles  werde  nur  durch  die  Begriffe  Buch 
[d  Recension  zusammengehalten.  Manche  Reccnsionen  seien  die 
kbdchriften  der  angezeigten  Bücher,  andere  nichts  als  ihre  Tauf- 
giheiue.    Nehme  man  noch  die  vor>värts  gekehrteu  Taufscheine  der 


69S    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe*!  Tod. 

§  330  Buchhändler  —  ihre  Ankündigungen  nämlich   —  und  das  GeBchrd 
der  Antikritiken  dazu,  so  habe  man  ein  Concert^  worin  bei  allen 
Dissonanzen  doch  im  Ganzen  eine  ziemliche  Einförmigkeit  beirsche. 
Was  die  specicllen  Journale  betreffe,  durch  welche  für  das  Bedflif- 
niss  der  verschiedenen  Fächer  gesorgt  werden  solle,  so  finde  hier 
der  Gelehrte  allerdings  dasjenige  schon  aus  der  chaotiscben  Masse 
gesondert,  was  ihn  angehe,  und  der  beschränktere  Plan  lasse  bei 
dem  Einzelnen   mehr  Ausführlichkeit  zu.     Allein   es   liege  in  der 
Natur  der  Sache,   dass  solche  Anstalten  bei  gleicher  Gute  in  allem, 
was  zum  Gebiete  des  Schönen  und  der  Kunst  gehöre,  doch  weniger 
befriedigend   sein    können,   als  für   eigentliche  Gelehrsamkeit  uod 
Wissenschaft.    Hier  reiche  oft  ein  treuer  und  mit  Einsicht  gemachter 
Auszug  vollkommen  hin ;   dort  sei  die  Form  des  Urtheils  eben  so 
wichtig  als  der  Gehalt:  denn  sie  sei  gleichsam  das  Gefäss,  worin 
allein  sich  die  flüchtige  Wahrnehmung  auflassen  lasse.     Der  Genuse 
schöner  Geisteswerke  dürfe  nie  ein  Geschäft  sein ;  sie  treffend  cha- 
rakterisieren, sei  ein  sehr  schweres,  aber  es  müsse  nicht  als  solches 
erscheinen ;   und  wie  könne  diess  anders  vermieden  werden  als  da- 
durch, dass  es  nach  Lust  und  Liebe  und  losgesprochen  von  dem 
Zwange  äusserer  Verhältnisse  getrieben  werde?    Sobald  man  recen- 
siere,  sei  man  in  der  Amtskleidung;  man  rede  nicht  mehr  in  seinen 
eignen  tarnen,  sondern  als  Mitglied  eines  CoUegiums.     Wer  eigeo- 
thümlichen  Geist  habe,  müsse  ihn  dem  Zweck  und  Ton  des  Institoti 
unterordnen;  und  es  frage  sich,  ob  durch  Theilnahme  an  der  Würde 
desselben  die  Aufopferung  ersetzt  werden  könne,  da  es  mit  einen 
collectiveu  Geist  immer  eine  verwickelte  Bewandtniss  habe.     Hierfto? 
entstehe  gar  leicht  etwas  Steifes  und  Zunftmussiges ,    das  mit  Jener 
beseelten  Freiheit,  welche  das  gemeinschaftliche  Element  der  bilden- 
<ien  Kraft  und   der  Em]>fänglichkoit  für  ihre  Scho])fungeu  sei,  im 
Widerspruch  stehe.     Ueberdicss  liege  in  diesem  förmlichen  Vnnrai'e 
ein  Ausi)nicli  auf  allgemeine  Gültigkeit,   den  nur   die  wissenäcliai't- 
liehe  Anwendung  wissenschaftlicher   Wahrheiten    zu   machen  bH 
der  aber  keineswegs  auf  Gegenstände   ausgedehnt    werden  könne. 
die  erst  in  der  Seele  des  Betrachtenden  durch  ein  wunderbares  Sjtel 
der  innern  Kräfte  ihre  Bestimmung  erreichen.    Ein  Kunstrichter  jo 
sein,  nämlich  der  über  Kunstwerke  zu  Gericht  sitze  und  nachBwliT 
und  Gesetz  Urtheil  spreche,   sei  etwas  ebenso  Unstatthaftes  als  l'n- 
erspriessliches   und    Unerfreuliches.     „Mit   einem    Worte*',   sehlie>3 
dieser  Abschnitt,  „da  die  Wahrnehmung  hier  immer  von  subjecti«n 
Bedingungen  abhängig  bleibt,  so  lasse  man  ihren  Ausdruck  so  ißd'- 
viduell,   d.   h.   so  frei   und   lebendig  sein  wie  mOglieh'"*.    Die  C!u- 

S)  Vgl.  dazu  im  Athenäum  A.  W.  Schlegels  Acusscrungeu  über  die  Bibliwt^ 


Entwickelungsgangd.  Literatur.  1773— IS32.  Die  Romantiker.  Aesthet.  Kritik.  699 

rakteristik,  welcbe  Schlegel  liierron  den  Recensieranstalten  und  ihrem  §  330 
Treiben  lieferte,  wiederholte  er  nachher  in  noch  prägnanteren  Zügen 
in  den  1802  zu  Berlin  gehaltenen  und  nachher  in  der  „Europa"  ab- 
gedruckten Vorleeungen '.  Schlegel  geht  hier  von  der  Behauptung 
au8,  dass  die  recenaierenden  Zeitungen  eine  verkehrte  Nachahmung 
der  politischen  seien,  was  er  zunächst  zu  erweisen  sucht.  Sodann 
die  allgemeinen  recensierenden  Institute  ins  Auge  fassend,  die  in 
Deutschland  beständen,  und  worin  flir  jeden  Leser  eine  Menge  Bticher 
aus  allen  Fächern  der  Literatur  beurtheilt  würden^  bemerkt  er,  dass 
die  Recensionen,  um  zweckmässig  zu  sein,  solche  Gesichtspunkte 
fassen  mUssteu,  wodurch  sie  den  zu  beurtheilendeu  Schriften  eine 
allgemein  fassliche  und  interessante  Seite  abgewönnen.  Dazu  aber 
würde  bei  den  Recensenten  nicht  weniger  erforderlich  sein,  als  voll- 
kommene Universalität.  Wie  viel  fehle  aber,  dass  die  meisten  von 
ihnen  nur  in  einem  auch  beschränkten  Fache  wahre  Gelehrte  wären, 
geschweige  denn  allumfassende  Denker!  Das  allgemeine  Herkom- 
men, dass  die  Recensenten  anonym'  bleiben,  sei  eine  treffliche  Mass- 
regel zu  Gunsten  so  vieler  beschränktem  Gelehrten,  die  mit  Unter- 
zeichnung ihres  Namens  gar  nicht  wagen  würden,  ein  dreistes  Urtheil 
zu  fällen,  und  ein  geschickter  Kunstgriflf,  um  das  ganze  Ansehen 
der  recensierenden  Journale  zu  erhalten,  welches  sonst  schleunig 
verfallen  würde.  Wenn  die  Leser,  die  den  Urtheilen  der  kritischen 
Zeitschriften  vertrauten,  nur  wüssteu,  wie  solche  Blätter  fabriciert 
würden!  Ja  wenn  noch  irgend  ein  ausgezeichneter  Geist  an  der 
Spitze  stünde,  der  das  Ganze  beseelte  und  die  untergeordneten  Mit- 
arbeiter durch  seine  Leitung  zu  tüchtigen  Werkzeugen  zu  bilden 
wUsste!  Aber  wo  sei  das  allgemeine  rcccnsiereudc  Institut,  das  von 
einem  unserer  ersten  Nationalschriftsteller  dirigiert  würde?  Höchstens 
seien  es  akademische  Gelehrte,  zuweilen  aber  auch  Buchhändler. 
die  dann  ihre  eigenen  Speculationen  dabei  haben  möchten.  Wie 
schlecht  es  aber  auch  Boit  den  Recensionen  in  allen  Fächern  bestellt 
wäre,  so  fielen  doch  die  zur  schönen  Literatur  gehörigen,  wo  von 
eigentlichen  Kunstwerken  die  Rede  sei,  noch  am  erbärmlichsten  aus. 
Sie  hielten  sich  an  Aeusserlichkeiten,  rissen  einzelne  Stellen  aus 
dem  -Zusammenhange  und  lobten  und  mäkelten  auf  gut  Glück  an 
Versen,  Worten    und  Silben,   wobei  sich   doch  überall  die  gröbste 


der  schönen  Wissenschaften  etc.  1,  2,  54  und  2»  2,  337  (s.  Werke  b,  (>f,;  -lö)  und 
Fr.  Schlegels  über  die  Jenaer  Literatur-Zeitung  3, 1,  HS  (in  den  Werken  5,  21)0  f. 
weaeDtlich  abgeändert),  so  wie  über  die  Recensieranstalten  auch  Fichte,  «Grundztige 
des  gegenwärtigen  Zeitalters",  Vorles.  t>,  in  den  Werken  7.  S6  ff.  9)  Vgl.  S.  663, 
Anm.  S8.  Der  Abschnitt  in  der  ersten  Vorlesung,  der  von  den  recensierenden 
Zeitungen  und  dem  deutschen  Hecensionswesen  tlberhaupt  handelt,  reicht  im  ersten 
Stock  des  2.  Bandes  der  „Europa-  von  S.  17—22. 


700    YI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  Jahrhunderts  bis  za  Goethe*s  Tod. 

330  Ignoranz  in  dem  technischen  Theile  der  Poesie  und  die  augenfälligste 
Geschmacksrohheit  verriethen.    Wäre  nun  das  Geschwätz  über  Bücher 
mcistentheils  aus  Unvernunft,  Unwissenheit,  Trägheit  und  Verkehrt- 
heit zusammengesetzt,  so  kämen  dann  auch  noch  die  PriTatinteressen 
und   die  Leidenschaften  mit  ins  Spiel,  die  in  mancherlei   Verhält- 
nissen und  Beziehungen  der  einzelnen  Recensenten  sowohl,  wie  der 
Herausgeber  der  Zeitschriften  Gnind  und  Anlass  hätten.     Bei  alle 
dem  würde  aber  der  Schein  von  Mässigung  und  Billigkeit  gewahrt, 
und  diese  Halbheit,  das  Nicht  verwerfen  und  Nichtanerkennen  wäre 
eben"  den    meisten  Lesern    recht.    Schriftsteller   von    entschiedener 
Consequcnz.  die  immer  bis  auf  den  Grund  giengen  und,   wie  sie  in 
.    ihrer  Strenge  sich  selbst  nie  befriedigten,  auch  gegen  andere  keioe 
Rücksichten  kennten,  gegen  diese  wären  alle  und  jede  Recension»- 
institute  verschworen,  um  sie  mit  Aufbietung  aller  Mittel,  die  alier- 
verächtlichsten   nicht  ausgenommen,    in   der    öffentlichen    Meinung 
herabzusetzen.  —  In  gleichem  oder  ähnlichem  Sinne  sprachen  sieb, 
wo  sich  die  Gelegenheit  dazu  bot,  auch  seine  Freunde  über  diesen 
Punkt  aus,  wenn  sie  auch  nicht  immer  so  tief  auf  die  Sache  ein- 
giengen'".    Von  der  Schilderung,  welche  die  Beschaffenheit  derästhfr 
tischen  Kritik   in   den  Neunzigern  betraf,  gieng  Schlegel  in  jenen 
Beiträgen  zu  einer  Beurtheilung  der  dichterischen  Production  Aber', 
und  zwar  beleuchtete  er  hier  gleich  „den  Punkt,   wo  die  Literatur 
das  gesellige  Leben  am  unmittelbarsten  berührt",   den  Roman:  mit 
wenigen,  aber  sichern  und  scharfen  Strichen  bezeichnete  er  den  der- 
zeitigen  allgemeinen  Zustand   der  deutschen  Romanenliteratar  und 
das  Verhalten  des  Publicums  zu  derselben.    „Die   gesetzlose  Unbe- 
stimmtheit", bemerkter''',  „womit  diese  Gattung  nach  so  unzähligen 
Versuchen  immer  noch   behandelt  wird,  bestärkt  in    dem  Glauben., 
als  habe  die  Kunst  gar  keine  Forderungen  an  dieselbe  zu  machen, 
lind  das  eigentliche  Gehcimniss  bestehe  darin,  sich  alles  zu  erlauben. 
.  . ,  Wer  hält  sich  nicht  im  Stande,  einen  Roman  zu  schreiben?  Das 
nebst  vielen  und  wichtigen  Erfordernissen   unter  andern  auch  ein 
bedeutendes  Menschenleben   dazu  nüthig  sei,   lässt  man  sich  nicli: 
im   Traume   einfallen.     Wie   könnten   sonst   die    beliebten  Rnmaih 
Schreiber  so  fruchtbar  und  die  fruchtbaren  so  beliebt  seiu?...M!a 

10)  Vgl.  Bernhanli  im  IJcrliner  Archiv  der  Zeit  ISOO.  \  ,  -js  f.:  ^tiT  ulü  ir. 
«Kyuosargcs"  1,  :(t'. ;  voriu'hmlicli  aber  Fichte  in  (Ut  Schrift  _Fr.  Nicola TsI/ihe 
und  sonderbare  Meiiiiinpeii"  S.  loi  ff.  (s.  Werke  Bd.  S.  75  tf.).  IJiViv 

diese  Heiträjic  enthielten,  sollte  sich  nicht  znni  Uaoge  von  Reconsionen  erbebfli; 
Schk'gel  wollto  sie  für  nichts  weitt-r  als  für  Privatansichten  eines  in  und  mit  dtt 
Literatur  Lebenden  genommen  wissen.  Es  solle  nur  das  charakti'risiert  w^rdfU. 
was  eine  Art  von  Leben  habe,  entweder  durch  seine  ausgebreitete  Popularitä;  inier 
durch  seinen  inuern  Werth.  12)  S.  150  f.  (8.  Werke  12,  11  ff.}. 


itirickeliiDgsgang  d- Literatur.  1773— IS32.  Die  Romantiker.  Aestlict.  Kritik.   701 

IU88  beinahe  mit  jeder  Mesae  wieder  eracbeinea. .  . .  leb  babe  sogar  §  330 
m  Scbriftstellem  gebort,  welcbe  gestebeu,  dasa  sie  aua  allen  Kräften 
ilen,  den  Vorrath  von  Rnmancu,  den  sie  uocb  in  sieb  tragen,  aus- 
iscbütten.   ehe   die   Geläufigkeit   ihrer    Feder  und   ihrer  Phantasie 
lit  den  zunehmenden  Jahren  erstarrt.  .  .  .  Bei  so  uneiTntldlicben  Er- 
[essungen  muss  man   natürlich  auf  seltsame  Htllfsmittel  verfallen, 
die  Armuth  an  selbstUndigem  Tieisle   zu  beraSnteln,  und   wirk- 
lich ist  auch   bis  zur  mbcstcn  Abgescbniacktheit   nichts  unversucht 
geblieben.    Wer  Romane  anfertigen  kann,  ohne  Gespenster  zu  eitleren 
und  die  Riesengestalten  einer  ohimririscben  Vorwelt  aufzurufen,  wer 
sieb  ohne  Geheimnisse  mit  simj>eln  Leidenschaften  behilft,   der  hält 
schon  etwas  auf  sich  und  sein  Publicum.    Macht  er  sich  dann  auch 
mit  Charakteren  nicht  viel  zu  schatten,  wenn  ihm  nur  jene  in  einer 
iwirtsen  Fülle  zu  Gebote  stehen,  so  kann  er  gewiss  sein,  den  mittlem 
irehschnitt  der  Lesewelt  für  sich  zu  gewinnen,  der,  für  das  grobe 
Ibenteuerlicbe  schon  zu  gesittet,  für  die  heitern,  ruhigen  Ansichten 
ihter  Kunst  noch  nicht  euipfänglicb,   starke  BodUrfuisse  der  Sonti- 
lentalität   hat.     ^olch   ein   Schriftsteller  ist    Lafontaine".     Diesen 
larakterisierte  er  sodann  im  Besondem,  als  noch  einen  der  bessern 
itor  den  beliebtesten  Schriftstellern  in  dieser  Gattung '\     In  seinen 
imanen   (deren  mehrere  namhaft  gemacht  und  mehr  oder  minder 
Wahrlich  besprochen  werden)  wiederhole  er  sich  fortwahrend  in 
»wissen  Lieblingsscbilderungeu   und  Scenen.     Dabei   habe   er  sieb 
ir  Bequemlichkeit  eine  Moral,  eine  Tugend,   eine  Unschuld,  eine 
jiebe  gemacht,  die  ein  für  allemal  dafür  gelten  mtissten,  ein  wenig 
den  Kauf  gemacht,   unhaltbar,  aber  gut   in  die  Augen  fallend, 
allem  guten  Willen  und  Glauben,  sittlich  zu  sein,   befördere  er 
:b  den  Hang  zur  Erschlaifung  und  Passivität.    In  seinen  frühern 
icben  babe  es  gescbienen,  als  wolle  er  einen  zugleich  eigcnthüm- 
Icben  und  gefälligen  Gang  nehmen,  ob  er  gleich  von  dem,  was  ein 
sht   ist,   nie  einen    reinen  Begriff  gehabt  haben  müsse.    Bald 
»b  habe  es  sich  gezeigt,   wie  sehr  es  ihm  an  Sinn  für  die  Ein- 
it  und  organische  Bildung  eines  Werkes  fehlte,  und  dass  er  sich 
[in   mindesten   nicht  um  Zeichnung,    sondern   nur   um   ein   üppiges 
dorit  bekümmerte.     Dieses  liefere  ihm  die  blosse  Leidenscbaftlich- 
Eolt,  ohne  irgend  einen  echt  geistigen  oder  schön  sinnlichen  Zusatz, 
tine  Schriftstcllerci  sei  recht  sichtlich  die  unerzn*;eno  „Tochter  der 
ir"*'.    Nichts  sei  unnatürlicher  und  zugleich  unsittlicher  als  seine 
Jnderliebscbaften,   nichts  bedenklicher  und  gefährlicher  für  einen 
len  Sinn  als  seine  vermeintlich  unschuldigen   Vertraulichkeiten 


13)  Vgl.  oben  S.  «4(i.  Aum.  37. 
ie  Drama.* 


14)  Anspielung  auf  das  S.  23.f,  35  aa- 


702    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

33i)  zwischen  Jnngliiigen  uml  Jungfrauen.    Ein  moralischer  Hebel  Lafon- 
taine*s  sei  auch  die  Woblthätigkeit  und  überhaupt  alle  die  Rührungen, 
die  aus   der   rohen   Gutherzigkeit   entspringen.     Könnte   man  mit 
Worten  allein  dichten,  so  wäre  er  der  Mann.    Aber  aus  dem  Ganzen 
ergebe  sich,  wie  wenig  poetischen  Sinn  seine  Worte  im  Hinterhalt 
haben,  und  dass  sie  höchstens  als  eine  musikalische  Verzierung  za 
betrachten  seien.    Den  Verstand  habe  er  nie  besonders  in  Anschlag 
gebracht;  er  gehe  nur  immei'  auf  das  Herz  los  —  ein  solches,  das 
weder  Kopf  noch  Sinne  habe.    Mehr  als  Lieblingsschriftsteller  seiDW 
Zeit  könne  Lafontaine  nicht  werden,  das  sei  wenig  genug,   aber 
immer  zu  viel  fUr  die  im  Ganzen  so  herabziehenden  Tendenzen  seiner 
Producte,  denen  es  an  Poesie,  an  Geist,  ja  sogar  an  romantischem 
Schwünge  fehle".    Mit  Lafontaine  verglich  Schlegel   in  kurzen  An- 
deutungen, ausser  andern  erzählenden  Dichtern*®,   namentlich  aach 
Jean  Paul.    Dass  Lafontaine  bei  dem  Publicum,   welches  auf  eiser 
gewissen  mittlem  Stufe  der  Bildung  stehe,   ein  so  grosses  GlOck 
mache,  dtlrfe  niemand  Wunder  nehmen;  die  Vorliebe  für  Jean  Paul 
sei  schon  etwas  viel  Ausgezeichneteres,  da  derselbe   nicht  mit  so 
leichten  Speisen,  wie  jener,  bewirthe".  .  .  .  ^Jean  Paul  musiciert  m* 
weilen  auch  so  (mit  Worten,   wie  Lafontaine);  doch  ist  es  wirküch 
seine  Phantasie,  die  da  spielt,  nicht  bloss  eine  mechanische  Fertig- 
keit der  Hände.    Jenes  ergreift  wieder  die  Phantasie,   und  oft  bot 
allzu  stark;    dieses  soll   unser  Herz  rtthren,    allein''   etc. '^    ÜieM 
beiden  Stellen  deuten,  wie  mich  dUnkt,  hinlänglich  an,  was  A.  W. 
Schlegel  von  Jean  Paul  hielt:   er  fasste  ihn  als  einen,   wenn  anfh 
dem  Grade,  doch  nicht  der  Art  nach  von  Lafontaine  verschiedenen 
Romanschreiber  auf;  er  legte  seinen  Werken  einen  bedeutend  hübeni 
Werth  bei  als  den  lafontaiuesehcn,    aber   er  konnte  sie  nicht  för 


löi  Nochmals  kam  Sdileiicl  im  Athenäum  (Bd.  2,  St.  2)  auf  Lafoiitaiw  » 
si»reclteii  in  den  -Notizen"  (J>.  .ilTä'.;  s.  Werke  12,  V^  if.),  wo  über  ilcss*rü-Si^ 
aus  dem  Altcrtlmm-  oiu  rrtheil  abgesebeu  wird.    Dieselben   müssten  fieat&i 
..S'ajren  in  das  Altortbum  hinein**  heissen,  und  der  darin  enthaltene  -Khob/*' 
wäre  auf  dem  Titel  passender  ..Ronmlus  und  Romnlisca,  oder  der  cliristüfic  ^ 
mulus"  bezeichnet  worden.     Alles   darin,   die   erzählten  IJegebenheitfu  m»' « 
geschilderten  Charaktere,  verstehe  sich,  ohne  die  geringste  Einmischung  «■"  '^ 
stand,  bloss  vermittelst  des  Herzens.   —  In  der  Jenaer  Literatur-Zeitung  '*s''_J 
422  f.  (s.  Werke  11,  IK»  f.i  hatte  Schlegel  einem  Romaue  Lafontaine'^  iwi* 
Günstiges  nachgesagt,  und  Bernhard!  fand  (im  Berlinischen  Archiv  der  Z^i^  '** 
I,  3HV1  auch  noch  die  Beurthcilungen  im  Athenäum  viel  zu  schoDeiid.  (^^[rf 
Lafontaine  auch  die  Stellen  in  Tiecks  kritischen  Schriften  l.  Iu4  f.  uud^fl™' 
Romantische  Dichtungen  I,  2(i;if.).  115-  Nebst  Anton  Wall,  dessen  Tsl»^ 

Fach  der  Erzählung  gerühmt  wird,  noch  J.  Gottwerth  Müller,  Wezel  und  Mf^j^ 
iS.  159;  Ii;2  f.;  IH7 ;  dazu  auch  Athenäum  2,  2,  .'HO  f.;  in  den  s.  «'wk^^'" 
20;  2:t;  2T ;  4S  f.).  17)  S.  151  (s.  Werke  12.  13).  iS)  S,  Itü''-* 


Eotwickelnogsgangd.  Literatur.  1773— 1S32.  Die  Romantiker.  Aesthet  Kritik.    703 

Romaue  anerkenneu,  welche  den  Forderungen  der  Kunst  genügten'*.  §  330 
Zuletzt  stellte  er  „der  materiellen  Masse  und  breiten  Natürlichkeit'* 
der  gelcaensten  Unterhaltun^ssfhriften  die  y, lustigen  Bildungen  der 
Phantasie"*  in  Tiecks  ^ Volksmärchen "  gegenüber,  deren  poetischer 
Werth,  nach  Schlegels  Ansicht,  noch  immer  viel  zu  sehr  verkannt 
würde  und  deshalb  um  so  eher  verdiente,  in  das  rechte  Licht  gestellt 
zu  werden.  Der  Crrund,  meinte  er*',  dass  eine  so  gofilUige  Erschei- 
nuDg,  wie  diese  „Volksmärchen",  nicht  mit  der  Aufmerksamkeit  be- 
willkommnet worden  sei,  auf  die  sie  wohl  hätte  rechnen  dürfen,  läge 
darin,  dass  es  noch  immer  gar  wenige  gäbe,  welche  in  der  Dichtung 
nur  die  Dichtung  suchen.    Ob  diess  letzte  daher  rühre,  dass  die  Ur- 


19)  Was  der  ältere  Broder  hier  und  im  -literarischen  Reiclisauzeiger-  elc 
lAtheiiutim  2,  2,  330;  b.  Werke  ft,  iJ»  noch  mit  grosser  Zurüekhallung  Mobs  an- 
deutete, sprach   mit  grösster  Kntscbicdenbeit  und  ^chrofflieit  Fr.  Schlegel  in  den 
.Fn^xnenteii*  des  Athenäums  0,  2,  \'M  ff.)  aus.    .Der  grosso  Haule  liebt  Fr. 
lUcbtertt  Uomane  vielleicht  nur  wegen  der  anscheinenden  Abenteuerlichkeit.    Teber- 
haupt   interi?Bsiert  er  wohl  auf  die  verschiedenste  Art  und  aus  ganz  entgegen- 
gesetzten Ifrsarhen.    Während  der  gebildete  Oekonom  edle  Tbränen  in  Menge  bei 
ihm   weint,   und  der  streuge  Ktm&tier    ihn  als  das  blutrothe  Hiramel^zeicheii  der 
voUcndclcn  l'uptiesie  der  Nation  und  des  Zeitalters  bosst,   kann  sich  der  Mensch 
Tou   universeller   Tendenz   an  den   grotesken  Porzellanfiguren   seines   wie  Reicha- 
truppeo  zusammengetrommelten  BUderwitzes  ergetzeni  oder  die  WIllUurlichKeit  in 
ihm  Tergöttern.    Ein  eignes  Phlinomen  ist  es:   ein  Autor,  der  die  Ant'iing.sgr(lnde 
der  Kunst  nicht  in  der  Gewalt  bat,  nicht  ein  Itonmot  rein  ausdrücken,  nicht  eine 
Geschichte  gut  crzUhlen   kann,   nnr  so  was  man  gewöhnlich   gut   erzählen  nennt. 
Qud  dem  man  doch  —  den  Nameo  eines  grosscu  Dichters  nicht  oline  lirjgerechtigknt 
ftbsprccheu  dürfte.    Wenn  seine  Werke  auch  nicht  übermässig  viel  lüldung  eot- 
Ibalten,  so  sind  sie  doch  gebildet;  das  Ganze  ist  wie  das  Einzelne  und  umgekeloi; 
kurz,  er  ist  fertig.  —  Zu  den  falschen  Tendenzen,  deren  er  so  viele  bat,  gehflrs 
auch  die  Frauen  .  .  .  :  sie  haben  rotbc  Augen  und  sind  Kxempe),  Glioderfraiira  ^ 
pBvoholoiiisch-moralischen  Reflexionen  über  die  Weiblichkeit  und  Ober  dieSxkviv- 
merei.    Ueberhaupt  liisst  er  sich  fast  nie  herab,  die  Personen  darzusteUea:  9Bi& 
^da«9  er  sie  sich   denkt   und   zuweilen   eine  tretTende  Remerkiing  Über  «r  m^  — 
tSetn  Schmuck  besteht   in  bleiernen  Arabesken   im  Nürnberger  Stil.    Sv  i*  ^ 
BD  Annuth  grenzendv  Monotonie  seiner  Phantasie  und  seines  Oömib  ^  a^ 
fallendsten;   aber  hier  ist  auch  seine  anziehende  Schwerfälligkeit  n  Aav  ■i< 
seine  pikante  Geschmacklosigkeit,  au  der  nnr  das  zu  tadeln  ist,  ^m  «rä^  ib 
s(e  ui  wissen  scheint.  —  Je  moralischer  seine  poetischen 
mittelmasstger  und  gemeiner;  je  komischer,  je  näher  dem  B«0kk=  ^ 
bischer  und  je  kleinstädtischer,   desto  göttlicher  etc."    iHlsp^v 
[ftiiiem  gewissen  Fr.  von  Oertel  ein  Aufsatz  voll  leeren  Gcnte  ^rf 
i1m,  worauf  eigentiicb  Schlegels  Ausstellungen  giengea,  iB  m  4. 
[I,  174  ff.).    Vgl.   do/u   Fr.   Schlegels  .Gesprftch   über  ^  W^mm^ 

I.    113  ff.    (s.   Werke  5,  2m;  ff.),   und  Tiecks   jmg^^  ^"^ 

>n   Joum.  U  23S  f.     Wie   für    Fichte  Jean  Paito 
(Tgl   obeu  S.  ßtifi.  Anm.  \M\},  so  fand  aocä 
besonders  ihrer  Formlosigkeit  wegen  <vgi  J.  fta 
2.  Ausg.  8.  lt>2).  -20)  S.  lt>^;  ».  Wa*r  B. 


704    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

§  330  heber  derselben  ihre  Unabhängigkeit  so  selten  zu  behaupten  wü&sten, 
oder  ob  der  Mangel  an  reinem  Sinne  dafür  genOthigt  hätte,  zu  fremden 
liUlfsniitteln  seine  Zuflucht  zu  nehmen,  um  Eingang  zu  finden,  solle 
hier  nicht  untersucht  werden.  Allein  gewiss  sei  es,  dass  vieles,  vu 
für  Poesie  gegeben  und  genommen  werde,  durch  etwas  ganz  Anderes 
sein  GlUck  mache.  Wie  man  guten  Seelen  immer  die  Gewalt  der 
Liebe  aus  Ilcrz  lege,  werde  durch  Lafontaine'»  Romane  bezengt; 
andere  und  mitunter  berühmte  Männer  seien  in  dem  Falle,  dass  die 
Lüsternheit  bei  ihnen  eiu  nothwendiges  Ingrediens  zu  einem  Gedicht 
sei,  ohne  welches  sie  sich  gar  nicht  getrauten,  es  schmackhaft  ca 
machen  (gewiss  eiu  Stich  auf  Wieland).  Gegentheils  könnten  andere 
die  Tugend  niemals  los  werden  und  ergössen  ihr  Bächlein  voll  pter 
Lehre  und  Warnung  hinter  dem  Dichterlande  vorbei,  um  die  Aecker 
der  Pädagogik  und  Ascetik  zu  wässern.  Und  so  komme  es,  da» 
die  Unschuld  einer  Muse,  welche  weder  eiu  bloss  leidenschaftHches 
lutercsso  zu  erregen  suche,  noch  dem  grobem  Sinne  schmeichle, 
noch  moralisclicn  Zwecken  fröhue,  leicht  als  Unbedcutendbeit  mm 
verstanden  werden  könne.  Wie  in  diesem  Artikel  die  Beschaffen- 
heit der  damaligen  Romancnliteratur  in  den  W^erken  des  beliebtesten 
Schriftstellers  des  Tagea  einer  scharfen  Kritik  unterworfen  wurde, 
so  rügte  Schlegel  in  einem  andern,  welchen  das  vorletzte  Stück  des 
Athenäums  brachte,  sowohl  im  Ton  des  Ernstes  wie  der  Verspottotg, 
die  groben  Verirrungen  der  vaterländischen  Poesie  auf  dem  Gebiete 
der  Lyrik,  iudemj  er  die  neuesten  Erzeugnisse  dreier  Dichter  cha- 
rakterisierte, von  denen  zwei,  J.  H.  Voss  und  Fr.  Matthisson-'t  als 


21 1  (ich.  ITül  zu  Huhomlodolebcn  bei  Magdeburg,  besuclito  vou  seiueti  >w- 
zcUiUcu  .lahrc  an  die  Scliulc  zu  Kloster  Ilergcn.  studierte  dann  in  Halle  eiiif  7«! 
lang 'TlicoU)gi(N  bi^scbaftigie  sich  aber  später  avif  dieser  Universität  mthr  li: 
IMiilologie,  Naturwissenschaft  und  schöner  Literatur,  begleitete,  uaclidem  erU^'^ 
einitie  Zeit  Lehrer  an  der  Erziehungsanstalt  in   Dessau  gewesen   war.  al«  ll''t- 
moiBter  einen  jungen  lietliimlischen  Orafen   auf  lleisen  durch  DeutschlaaJ  aiJ 
lebte   darauf  zwei  Jahre   bei  seinein  Freunde  Bonstetten  zu  Nyon  am  <,>cW' 
sce.     \'*M)  wurde  er  Krzielier  in  einem  Ilandlungahause  zu  Lyon   und  vier  Jül'^ 
später  J-,eetor  und  Keisegeschäftsf (ihrer  der  regierenden  Fürstin  von  AnhaU-lKs>i^ 
der  er  auf  ihren  Reisen  durch  Italien,  die  Schweiz  und  Tyrol  folgte.    T.^n  li-^ 
J^andgrafen  von  Ilessen-IIomhurg  erhielt  er  den  Hafraths-,   von   den  Slarkr--''' 
von  Baden  1**01  den  Legationsrathstitel.   Im  J.  li>0U  von  dem  König  vonVtittC- 
berg  geadelt,  trat  er  tM2.  nach  dem  Tode  der  Fürstin  vou  Dessau,  io  nr^^- 
bergische  Dienste   als  Geh.  Legationsrath ,   Mitglied  der  Oberintendanz  ilis  H'- 
theaters  und  Oberbibliothekar  zu  Stuttgart.     ISlli   bereiste   er   im  Ocioi^  ^'■' 
Familiu  eines  würteniberglschen  Prinzen  noch  einmal  Italien.     Seit  i'*2ft  IriTc  ^ 
in  Wörlitz  bei  Dessau,   vo  er   Iv'il    starb.    Die  erste  Sammlung  seiner -U'Jj' 
erschien  zu  Breslau  17^1.   s.  (2.  vermehrte  Ausg.    Dessau   IT'^'i.    S.l:  diuin  ••'^ 
dichte-,  llanlieim   17<T.   '^.   (oft,   theils  mit  Vermehrungen   und  Vcrliesstfai^ 
theils  mit  Auslassungen  wiederholt),    l'eber  andere  Schriften  Matthisäons  fs«* 


n 


utwickelangBgAngdcrLUeratar.    1773— IS32.   Die  RümantJker.  üeberVoss.    705 

iyriker  sich  des  grössten  Ansebens  in  weiten  Kreisen  erfreuten,  der  §  330 
dritte,   Fr.  W.  August  Sclimidt''",   durch  die  Gercenstfinde ,  die  Be- 
handlung und   den  Ton  seiner  Gedichte  seit  einigen  Jahren  wenig- 
stens eine  gewisse  Aufmerksamkeit  erregt  hatte.     Ueber   Voss  als 
Lyriker  hatte  sich  Schlegel  bereits  in  der  Beurtheiluug  des  von  dem- 
kpelbeu  herausgegebenen  Musenalmanacbs  für  1796  und   1707"  ziem- 
^■tob  ausführlich  vernehmen  lassen.     Hier  ward  ihm  aber  nicht  allein 
^Bl9  dem    ..vortrefflichen   Herausgeber''   d^a  Alnianachs   volle  Aner- 
i^^eonung  zu  Theil,    sondern  auch   uuter   seinen   eigenen   BeitnXgen 
I     €ipigcu  ein  ;rn>sse8,   wenn  auch  nicht  durchgehcnds  unbeschränktes 
^fc^ob  gespendet.    Weniger  günstig  lautete  freilich  schon  das  Urtheil 
^Bber  seine   Ubrigeu  Lieder  in  diesen  beiden  Jahrgängen  des  Alma- 
^^achs.     Schlegel   charakterisierte  sie  nach   den   beiden  Hauptarten, 
in   die  sie  zerfielen:  als   solche,   ^wo  das  GemUth  des  Sängers  in 
ihilösophiscben  und  religiösen  Betrachtungen,  oder  auch  ira  Gange 
ler  Weltbegehenhciten  einen  allgemeinen  Aulass  für  seine  Regungen 
ind,  und  solche,   die  dem  gesolligen   Vergnügen   ihr  Dasein   ver- 
inkten  und  es  wiederum   begünstigen  sollten-.    In  den  Gedichten 
Ler  ersten  Classe  wurden  zwar  die  Gesinuungeu  des  Verfassers,  wie 
Überall   hervorleuchteten,    als   derartige  bezeichnet,    daüs  jeder 
Sn  mit  Theilnahme  entgegenkommen    würde,    allein    die   Form, 
rorin  sie  sich  darstellten,  verriethe  Öfter  Mangel  an  Kunstninn.  es 
'ürdc  zuweilen  Anmutb,   Leichtigkeit  und  Harmonie  des  Tons  ver- 
lisst,  und  im  Ausdruck  wäre  vieles  steif  und  fremd,  manches  sogar 
iinlich.    Aber  als  noch  viel  weiter  von  echter  Poesie  abstehend 
wurden  die  Lieder  der  zweiten  Ciasso  bezeichnet.    Während  einige 
noch   einen    feinem  Naturgeuuss  besilugon,    hättcu  viele  bloss  ein 
^terielles  Gewicht:  es  würde  darin  fleissig  gegessen  und  getrunken, 
''oss  schiene   in  manchen  dieser  Stücke    den    wesentlichen  Unter- 
schied zwischen  Natur  und  Kunst,  den  unermesslicben  Abstand  von 
;emeiner  Wirklichkeit  bis  zu  schöner  Dichtung  ganz  aus  den  Augen 


.SÄluriRen"   Überhauijt  erschienen  £n  einer  Ausgabe  k'tzter  Hand  Zürich  l«25  ff^ 

Bd«.  fff-  12)  vgl,  Jurdens  3,  460  tf.;  n.  ö20  ff.  und  Engelmanns  Bibliothek  der 

icb6nuu  Wissen HL'liafteu  I,  245  f.  22)  Geb.  n(;4  zu  Fabrland  bei  Potsdam, 

rar  zuerst  Prediger  am  ncrliner  InvfiUdenhausc.   wurde  von  da  in  das  Pfarramt 

Wenieuchen  bei  Berlin  versetzt  und  starb  is:ts.    Er  gnb   heraus,   im  Verein 

E.  C.  Üindcmann,  einen  «Neuen  BerüuiscJjeu  Musenaliiiauach'-  für  \''J'A — ft' 

!rlin  (in  verschiedenen  Formalem;  allein,  -Gedichte".   Berlin  1707.  S.:  ..Kalender 

loT  Musen  und  Grazien"  für  17f>fi.  97-     Berlin;  -Almauadi  romantiach-Jändlicher 

rcmJihlde-.    Berlin  t7i)8.  s.:  -Alraanach  für  Verehrer  der  Natur,  Freimdscbaft  )md 

liebe".     Berlin  isoi.    S.:   und  .Almanach  der  Musen  und  Grazien *•  für  lSü2  (als 

jrstc  Fortsetzung  des  Kalenders  der  Musen  etc.).   Berlin.  23)  In  der  Jenaer 

.iteratur-Zeitung  I7y7,  N.  1  und  2:  b.  Werke  10,  331  ff. 

Kdl»en)t«io,  Grandrlü.    i.  An(L    IV.  ,  45 


706    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jalirhunderts  bis  zu  Goethe*i  Tod. 

330  verloren   zu  haben.    Diese  hausbackenen  Poesien  seien  bisweilen 
ganz  aus  entstellenden  Zttgen,  unedlen  Bildern  und  gezwungenen 
oder  niedrigen  Ausdrücken  zusammengesetzt '\    Matthisson  war,  wenn 
ich  nicht  irre,  von  den  Romantikern  bis  zum  Erscheinen  des  Athe- 
näums unangefochten  geblieben.    In  der  sehr  kurzen  Anzeige  der 
vierten  Auflage  seiner  Gedichte"  hatte  A.  W.  Schlegel  diese  neue 
Auflage  selbst  „einen  angenehmen  Beweis ""  genannt,   dass  es  nicht 
immer  eines  leidenschaftlichen  Interesse  bedürfe,  um  unserer  Leae- 
welt    ein  Buch  zu    empfehlen,    und   dass  Empfänglichkeit  fOr  die 
sanfte  Verschmelzung  landschaftlicher  Gemfthlde,  fttr  zarte  Harmonie 
des  Ausdrucks  und  auserlesenen  Wohlklang  nicht  selten  unter  uns 
seien.    Ueher  Schmidts  dichterische  Richtung  und  Manier  hatte  aich 
schon   1796  Tieck**  des  Weitern  ausgelassen.    In  den  91  Stöcken; 
welche  der  „Kalender  der  Musen  und  Grazien  für  1796"  von  Schmidt 
enthalte,  so  wie  in  denen,  die  im  „Berlinischen  Musenalmanach *"  Ar 
dasselbe  Jahr  gedruckt  worden,  sei  der  Dichter  von  der  Idee  ans- 
gegangen,   die  Natur  getreu  und  ohne  Verschönerung  zu  copieren, 
was  ihm  an  einigen  Stellen  auch  gelungen  sei.    Allein  die  Katur 
nur  so  schildern  und  copieren  wollen,  wie  man  sie,  ohne  Zusammen- 
hang mit  dem  menschliehen  Herzen  und  ausser  Bezug  zu  gewissen 
Stimmungen   des  GemUths,   bloss   an  und  fUr  sich  wirklich  finde, 
mdsse,  wie  Tieck  nachweist,  grosses  Bedenken  erregen,  und  nimmer- 
mehr werde  man  den  einen  Dichter  nennen  dürfen,  der,  wie  Schmidt, 
sich  daran  gentigen  lasse,  uns  alle  Gegenstände  iu  der  gemeinen 
Natur  nach  einander  aufzuzählen,  angenehme  und  widrige,  und  iß 
ewigem  Widerspruch  mit  unserer  Empfindung  Dinge   zu  sobilden». 
welche  gewiss  jeder  Mensch,   wenn  sein  Herz  nur  irgend  erwärmt 
>verde,   Übersehe,  oder  wenigstens  schnell  aus  der  Phantasie  weg- 
streiche, wenn   sie  ihm  unvermuthet  vor  Augen  konamen"*.    Nacb- 


24)  Vgl.  hierzu  Tiecks  IJeurtheilungen  der  vossischeu  Alnianacbe  für  I> 
und  1T9S  im  Borliiiischen  Archiv  der  Zeit  und  daraus  in  den  kritischen  Sctrifm 
I,  77  ff.  !20  f.  Die  Reeension  Wielands,  auf  die  Tieck  hier  in  BctreÖ'  des  Cb> 
rakters  der  vossisclien  Lyrik  beistimmend  verweist,  steht  im  u.  d.  Merkar  i>" 
1,  64  ff.;  107  ff.  In  der  Schilderung,  die  Tieck  von  dem  traurigen  Zustand«  u*^ 
deutschen  I^rik  überhaupt  macht,  bevor  er  die  Göttiuger  Biumeuiese  a  a  i'. 
1,  IKt  ff.  im  Besonderu  bespricht,  theilt  er  auch,  ohne  ihn  jedoch  zu  uoca*- 
scharfe  Hiebe  gegen  Voss  aus  wegen  dessen  Braten-  und  KartoffelUeilfr  cr-^ 
anderer  poetisclier  Ergetzungen.  25)  Jenaer  Literatur-Zeitung  \'>\'\  N  ■''■ 

s.  Werke  II,  243.  20)  Im  Berlinischen  Archiv  der  Zeit  (kritische  Sotrii'«» ' 
Sl— *-7;  02  ff.).  27)  Vgl.  dazu  Wieland  im  n.  d.  Merkur  17r»fi.     i,  44!*  f. '^ 

Schmidts  Poesien  im  -Kalender  der  Musen"  etc.  nur  Gutes  nachgesagt  unJ  i- 
Benrtheiluiig  im  Berlinischen  Archiv  der  Zeit  -gar  zu  streng  und  einseirir  -^ 
nannt  wird. 


itwickelaogsg.  d.  Literat.  1773—1832.  Die  Romantiker.  UebcrMatthisson  etc.  707 


dem  Bodaun  in  der  Jenaer  Literatur -Zeitung  1797"  ein  mir  unbe- 
kannter Recensent  eine  in  demselben  Jabr  zu  Berlin  erscbienenc 
Sftmmluni;  von  Scbmidts  „Gedicbten"  im  Ganzen  zwar  sebr  nacb- 
sicbtig  und  luilde  beurtheilt,  dabei  aber  docb  scbon  vielen  Stücken 
ihren  Anspruch  auf  den  Namen  Poesie  streitig  gemacht  hatte,  wurde 

Rieses  Urtheil  von  A.  W.  Schlegel  in  der  Anzeige  und  witzigen 
harakterisierung  von  Schmidts  „  Almanach  nnnantisch  -  läudlicber 
^emrihhle***-*  dahin  ergflnzt,  dass,  wie  es  scheine,  sich  nicht  bloss 
Abwesenheit  der  Poesie  bei  Schmidt  bemerken  lasse ^  sondern  dass 
^  er  in  AuHichten  und  Gesinnungen  wahrhaft  autipoetisch  sei*".  Diesen 
^■rereinzelt  erschienenen  Recensionen  und  Anzeigen  folgte  nun  im  J. 
^^SOO    der  Artikel   A,   W.   Schlegels  im   Athenäum",    der   die  drei 

I Dichter  in  einer  vergleichenden  Zusammenstellung  und  in  einem 
Bire  Diehlungsmanieren  parodierenden  Wettgesange  charakterisierte, 
hatlhisson  hatte  vor  Kurzem  herausgegeben  ein  .  Basrelief  am  Sar- 
kophage de»  Jahrhunderts'',  „  Alins  Abenteuer''  und  einen  „Nachtrag'* 
kt  seinen  Gedichten:  hierauf  gieng  Schlegel  in  seiner  Kritik  zunächst 
ein.  In  dem  „Basrelief"  enthalte  schon  der  lyrische  Charakter  des 
i  Gedichts  und  die  üim  ertheilte  Ueberschrift  eine  Art  Widerspruch 
■■b  sich,  der  verrathe,  dass  der  Verf.  nur  eine  venvorrene  Vorstellung 
PS'on  seiner  eigenen  Absicht  gehabt  habe.  Dazu  aber  sei  das  Ganze 
r  voller  PrÄtension,  kalter,  peinlicher  Künstelei  und  vieles  darin  ein 
bloss  hohler  Wortklang.  Das  zweite  Gedicht  solle,  soviel  sich  ent- 
I  det'ken  lasse,  ein  spasshaftes  Märchen  sein;  aber  das  Märchen  sei 
^khne  Verwickelung  und  Auflösung,  Oberhaupt  zusammenhanglos  und 
^Krhne  Fortgang,  ohne  Erfindung ^  ohne  Darstellung,  und  der  Spass 
^B^^^uugcu ,  frostig,  feierlieh  ernsthaft^  unlustig,  ohne  Geist  und 
Gehalt.  Und  dieses  .,  Petrefactum  von  Fratzen  ohne  Phantasie,  von 
nüchternen  FiebertrAumen,  von  ungeuialiscber  Tollheit"  habe,  was 
merkwürdig  genug  bleibe,  ein  Dichter  geliefert j  der  immer  unter 
den  r^Correcten**  gepriesen  worden  sei.  Als  eine  ganz  vereinzelte 
^^Verirrung  der  Poesie  Matthis8<(ns  könne  dieses  Stück  um  so  weniger 
^KOgesehen  werden,  als  man  auch  anderwärts,  und  insbesondere  in 
^Bem  „Nachtrage"*,  der  grOsstentheils  in  den  schillerschen  Museual- 
I^VATiAchen  abgedruckte  Sachen  enthalte,  Gedichte  finden  könne  von 
auftauender  Aehnlichkeit  in  der  ganzen  Manier,  z.  B.  die  „Sehnsucht 
nach  Rom^  In  .Alins  Abenteuern**  zeige  sich  diese  Manier  nur  bis 
zum  Extrem  vorgeschritten,  Spuren  und  Keime  derselben  liessen  sich 


§  330 


2Sl  4,  ftS8  ff. 


29l  Jenaer  Literatur-Zoituug  IT^IS.  N.  3S2;   s.  Werke 


II,  XU  ff.  30)  Vgl.  dazu  Ticck  in  den  kritischen  Schiiften  I.  122  ff.  uud 

A.  W.  Schlegel  im  Athenäum  2,  2,  :t3»;   s.  Werke  8,  48  unter  der  üeberschriit 
feue  Fabrik-.  31)  3,  1,  139  ff.;  a.  Werke  12,  55  ff. 

45* 


706    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  JabrhundertB  bis  za  Goethe*8  Tod. 

§  330  selbst  in  deu  frühem  Gcdiebteu  Mattbissons  entdecken,  die  seinen 
Ruhm  hauptsäcblicb  gegründet  htitten,  in  den  Gredichten  von  der  land* 
scbaftlichen  Gattunj:;  nur  wllre  man  durcb  andere  Vorzüge  darüber 
verblendet  worden.    Ein  pbilosopbiscbor  Beurtbeiler  (Schiller)'-  habe, 
luimcntlich  in  der  enfirern  metrischen  Begrenzung  dieser  Gemäblde, 
d.  h.  in  dem  Gebrauch  lyrischer,  in  Strophen  abgetheilter  Silben- 
massc,  die  Praxis  des  Dichters  mit  seiner  Theorie  von  der  Möglich- 
keit der  ganzen  Gattung  übereinstimmend  zu  finden  geglaubt:  aber 
es  könnte  leicht  ein   tieferes  Nachdenken  bei  der  Betrachtung  all 
hei  der  Hervorbringung  aufgewandt  worden  sein,  wenn  man  erwöge, 
wie  willkürlich  und  unpassend  Matthisson  die  Silbenmassc  Öfter  ge- 
wählt, und  wie  er  in  andern  Stücken  die  Bilderreihe  gar  nicht  bin- 
länglich  lyrisicrt  habe,   dass  sie  zu  dem- Gebrauch   selbst  leichter 
Liederstrophen  berechtigten.    Dabei  wisse  er  selbst  in  den  kleinsten 
Compositionen  nicht  Ton  und  Colorit  zu  halten.     Wenn  dessen  un- 
geaclitet  diesem  Dichter  seine  Correctheit  nachgerühmt   werde,  so 
lasse  sich  diess  nur  daher  begreifen,  dass  die  meisten  Leser  sieh 
nie  dazu  erheben,  irgend  eine  geistige  Hervorbringung  als  ein  Ganzes 
zu  betrachten,  sondern  sich  nur  an  einzelne  gelungene  Stellen  und 
schöne  Zeilen  eines  Gedichts  halten,  woran  es  allerdings  in  Mattbis- 
sons Poesien  nicht  fehle.  —  Zu  dem,  was  Schlegel  über  Voss  ni 
sagen  hatte,  gab  ihm  dessen  Alusenalmanach  für  1800  den  nächsten 
Anknüpfungspunkt.     Dem  lobenden  Theil  der  drei  Jahre  altem  kriti- 
schen Bemerkungen  Schlegels  über  Vossens  poetische  Riehtimg  and 
Manier  entsprach  in  dem  Artikel  des  Athenäums  nichts;  die  Beur 
theilung  der  etwa  dreissig  neuen  Lieder,   die  Voss  im  letzten  Jabr- 
gango  seines  Ahnanachs  hatte  abdrucken  lassen,   hatte  es  nur  mi: 
schon  früher  gerügten  Mängeln  und  Verkehrtheiten  seiner  Lyrik  zß 
thun,   die  jetzt  aber  mit  viel  weniger  Schonung  aufgedeckt  wurden. 
Von   einer   neuen  Seite    lerne  man    den   Dichter   in    seinen  neues 
Liedern  eben  nicht  kennen:  aber  gerade  diess  unverrUckte  Steher- 
bleiben  oder  Henundrehen  im  Kreise  gebe  einen  Aufschluss,  dem 
*      es  sei   ein   Kennzeichen   der  schon   in  Verhärtung   Übergegangenes 
Manier.    In  einigen  Stücken  ernstern  Inhalts,  worin  der  Dichter  ach 
dem  gcnäliert  habe,   was  aufgeklärte  Kirchenlieder  leisten  sollea 
sei  die  Gesinnung  zwar  löblich,   der  Gedanke  aber  und  die  ganze 
Ansicht  des  Lebens  und   seiner  Verhältnisse  gehe   nicht   nber  des 
Horizont  des  gemeinen  Menschenverstandes  hinaus.     Bei  andern,  w 
einer  fremden  Person  gedichteten,  verrathe  sich  zu  sichtlich  dasßf- 
streben,   die  gemeinsten  Naturen  in  ihrer  ganzen  Beschränktheit w 
ergreifen,   was  im  Zusammenhange  eines  Romans   oder  Schauspiel? 


32)  Vgl.  oben  S.  35;}. 


r^ntwickelungsgang  der  Literatur.   1773—1532.   Die  Romantiker.   UebcrVoBs.    709 


K 


lehr  verdienstlich  sein  könne,   nicht  aber  da,  wo  sie  für  sich  allein 
et^'as   bedeuten   sollen,  in   einem   lyrischen  Gedieht;  denn  hier  er- 
arte man  schöne  oder   weni^^^stcns  anziehende  Individualität.     Der 
össte  Theil   der  Licdei;  aber  beziehe  sich   auf  Familienfeste;  sie 
vrQrden,  mit  den  filtern  von  derselben  Art  ziisammengetrayen,   ein 
enilich  vollstiiniiiges  ökonomisch-poetisches,  nicht  gerade  Noth-  und 
ttifs-,  aber  doch  Lust-  und  Arbeitsbüchlein  ausmachen.    Versilication 
tind  Sprache  mOssten  das  Beste  thun,  um  das,  was  bei  einer  gewissen 
Gelegenheit  nach  Zeit  und  Ort  vorkomme,   imd   die   darüber  ange- 
ellten  Betrachtungen   zn  einem  Gedicht  zu  stempeln.     Und  welch 
n  Ton  geselliger  Lustigkeit  herrsche  in  einzelnen!     Wo  die  Dar- 
ellung  ihren  Fleiss  nicht  an  gemeine  Wirklichkeit  verschwende, 
ndern  sicli  einem  iilealischen  Bilde  nähere,  fehle  doch  ein  gewisses 
twas,  jener  zauberische  Duft,  der  alles  lieblich  verschmelze  und 
des  Wort,  jeden  Laut  in  der  Verbindung  zu  etwas  Höherem  und 
edeutenderem  mache.    Gfibe  es,  ausser  der  Kunst,  noch  ein  Hand- 
werk der  Poesie,   so  würde  Vossens  Liedern  der  erste  liang  nicht 
bzustreiten  sein.  Nachdem  Schlegel  noch  die  Verwandtschaft  zwischen 
en  vossischen  und  den  schmidtschen  Liedern,  die  einleuchtend  genug 
i,  berührt  und  auch  die  Zllge  iu  Matthissons  Gedichten  hervorge- 
ben hat,  in  denen  sich  Aehnlichkeiten  mit  Vossens  und  Schmidts 
'oesien  zeige,  schliesst  er  den  ganzen  Artikel  mit  dem  die  Manieren 
eser  drei  Poeten  parodierenden  .,  Wettgesange  ** ".  —  Auf  eine  kritische 
esprechnug  der  falschen,  von  echter  Kunst  immer  weiter  abführen- 
den Richtungen,  in  welche  die  dramatische  Literatur,  je  länger  desto 
mehr,   hineingerathen  war,  Hess  er  sich  im  Athen.lumj   wenn  man 
einigen  Kotzebue's  theatralisches  Treiben  betreffenden  Stellen •"' 
Bieht,   noch   nicht  näher  ein;  ein  Ersatz  dafür  fand  sich  aber  in 


330 


■TOD 


33)  Vgl  üftzu  Bemliftrdis  schon  utwAs  früher  erschieneoeu  Artikel  int  Berliner 
rhiv  der  Zeit  1^^I0.     1.  30  ff.  34)  Zwei  Stellen  tinden  sich  in  den  Mprag- 

iten-  (Athentinm  t.  2,  mf.;  125;  8.  Werke  ^,  4,  X.i>;  II  f ,  N.  3r,);  die  erste 
It  anf  KoUebue's  Klagen  and  Keschwenlen  Über  die  Tyrannei  und  Vngereditig- 
it  seiner  KeceiiB^nteu,  die  andere  höht  ihn  unter  den  schlechten  Roman-  und 
laiiBpieldichteni .  welche  mit  der  Mildtbütigkeit  Missbrauch  treiben,  als  den- 
ken besonders  hervor,  der  diese  -schmühHche  Tugeud-  seiueu  Personeu  bei- 
[e  »Is  ein  Mittel,  durch  welches  „audei-weitige  Schlechtigkeit  wieder  gut  gemacht 
■den  solle-.  Sodann  gehören  hierher  iu  den  , Notizen-  das  Fragment  eines 
riefes  von  Paris  über  Koi^ebue's  Men^chenhass  und  Reue"  (Athenäum  2,  2, 
£;  B.  Werke  12.  53)  und  in  dem  .literarischen  Reich Banzcigcr**  etc.  die  ,Aa- 
ignng-  .AthenÄum  2,  2,  3;MI  f.;  s.  Wwke  >,  4sf.K  dass  «auf  dem  nicht  vor- 
idenen  Nationaltbeater  der  nicht  vorhandenen  Hauptstadt  der  nicht  vorhandenen 
mtschen  Nation  bei  der  EröÜTnuntc  aufgefrtlirt  werden  solle:  .Kotzebue  in  Eng- 
oder die   Auferweckung   der    schlummernden   Plattheit ,    eine   weinerliche 


710    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhuaderts  bis  zu  Goethe'i  Tod. 

330  den  Theaterkritiken,  welche  während  der  drei  Jahre,  in  denen  jene 
Zeitschrift  erschien,   Bemhardi  für  das  ^ Berliner  Archiv  der  Zeit'' 
abfasste**.    Hauptgegenstäude  derselben  waren  die  neuen,  auf  der 
Berliner  BUhne  zur  Aufführung  gekommenen  Stücke  Ifflanda*^  und 
Kotzobue*s:  an  ihnen  und  an  ihrem  Einfluss  auf  andere  Schauspiel- 
dichter  sowohl ,   wie  auf  das  Publicum,  wies  Bernhardi  daher  auch 
vorzugsweise  nach,  wie  wenig  die  dem  Geschmack   des  Zeitalters 
am  meisten  zusagenden,  bei  den  Theaterbesuchern  in  der  grössten 
Gunst  stehenden  Arten  dramatischer  Vorstellungen  auf  wahren  Eonst- 
wertb  Anspruch  machen  könnten,  und  wie  hoffnungslos  der  Zustand 
der  deutschon  Bühnendichtung  überhaupt  bliebe,   so  lange  sie  nocb 
die  Irrwege  verfolgte,  auf  welchen  besonders  jene  beiden  Dichter 
ihre  Führer  waren.    Unter   den  Kritiken  über  Iffland  sind  wegen 
der  Bemerkungen    über  die   dramatischen  Familiengemählde  Über- 
haupt und  über  Ifflands  besondere  Leistungen  in  dieser  Gattung  die 
lesenswertbesten  die  über  ^dcn  Mann  von  Wort",  »den  Fremden*, 
den  ^ Frauenstand " ,    ^die   Künstler"   und   „das  Vaterhaus ^     Sehr 
treffend  hatte  Bernhardi  schon  die  Natur  der  Gattung  im  AUgerndneD. 
wenn  auch  nur  indirecter  Weise,  charakterisiert,  bevor  er  noch  An- 
lass  gefunden,  sich  über  einzelne  Stücke  Ifflands  im  Besondem  aus- 
zusprechen.   Diess  war  in  der  Beurtheilung  eines  nach  dem  Itali^ 
nischen  bearbeiteten  Lustspiels  von  Vogel  geschehen'^.     „Der  Verf.*. 
bicss  es  hier  u.  a.,  „hat,  ganz  dem  neuem  Geschmack  zuwider,  gar 
keine  Scene  darauf  verwandt,  uns  etwa  mit  der  Lage  des  Haiuei, 
dem  Einkommen  der  Familie,   den  Schulden   des  Sohnes  und  dfl. 
Dingen,  die  sich  unserer  Theihiahme  und  Rührung  versichern  können, 
bekannt  zu  machen.    Auch  sind  die  spielenden  Personen  ordentlicli 
gekleidet  und  wahrscheinlich   im   Wohlstande.     Trotz    diesen  Ve^ 
letzungen  der   neuesten  Einheiten,  hat  diess  Stück  doch  so  grof*e 
Sensation  gemacht,  als  sich  kein  SGhaus])ie]  seit  lange  rühmen  kann. 
Vielleicht  naht  die  Zeit,  in  der  sich  Zuschauer  wieder  für  schuldig« 
Charaktere  interessieren,   in   der  sie  an  einer  unterhaltenden  Ver- 
wickelung und  einer  gut  durchgeführten  komischeu  Idee  mehr  Ge- 
schmack finden,  als  au  den  Jammertönen  eines  comi>leten  Hausstande?, 
in  dem  Vater,   Mutter,   Kinder,    Geschwister,  Verwandte  unter  dec 


35t  Vgl.  S.  i»52.  Mi)  Die  theils   neue   tbeils   ältere   StUcke  IffiAob 

botrctfendcn  Kritiken   stehen  im  Archiv   1T9S.     1,  362  tf.   („der  MajErHetismur' 
•2y  IS5  ff.  («der  Veteran-):  302  tf.  (..der  Mann  von  Wort-):  493 tV.  („SWb&tbj'hitT- 
schung");  —  ITO'X    1.  OS  ff.  (..der  Fremde-):  2,  Ti»  f.  (.Albert  von  ThurnfiM-'ü 
547  ff.  (..Franenstand-I:   —   1S(Mi.    !.  3y  fi*.  (»die  Künstler-);  303  ff.  (-das.  Va;^. 
hau9");  37«  ff.  (..die  Ilühcu"):   2.  134  (.der  rierbsttag-).  :\~)  Arcliiv  i:t'? 

1.  35G  ff. 


Entwickelaugsgang  der  Literatur.  1773—1832.  Die  Romantiker.  Ueber  Ifiland.   711 


Drucke  eines  Hofraths,  oder  Advocaten,  oder  sonst  beliebigen  Böse-  §  330 

ichts  80  unausspreeblieh  leiden"  etc.  Indessen  ^ieng  Bernhardi 
^keineswegs  so  weit,  die  sogenannten  Familiengcnialilde  als  eine  eigene 
Gattung  theatralischer  Darstellungen  schlechthin  zu  verwerfen,  oder 
la»  Verdienstliche  in  manchen  Stücken  liTlands  ganz  zu  überaofaen. 
Tür  Kuhstworke  konnte  er  freilich  auch  die  besten  nicht  halten; 
^^allein  so  lange  Theater  und  dramatisches  Kunstwerk,  wie  es  zeither 
^Hcr  FalJ  gewesen,  getrennt  blieben,  so  sei  nicht  einzusehen,  warum 
^Bliese  Stücke  vor  den  vielen  elenden  und  geschmacklosen  Mach- 
|Bwerken,  die  sonst  aufgeführt  würden,  nicht  einen  vorzüglichen  Platz 
einnehmen  sollten''.  Auch  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  er  in  der 
ersten  Zeit  viel  lieber  die  guten  Seiten  der  itflandischen  Stücke  ber- 
rorzukehren  und  iu  ein  vortheilhaftes  Licht  zu  stellen  sucht,  als  ihre 
tbwiichen  und  Felder  aufdeckt:  er  lobt  gern,  wo  er  loben  kann, 
•enn  er  auch  öfter  durch  sein  Lob  eine  gewisse  Ironie  durchblicken 
)t,  und  tadelt  milde  und  massvoll.  Allmahlig  aber  ändert  sich 
ler  Ton  dieser  Kritiken:  in   dem  «Frauenstaud",   -den  Künstlern" 

Knd  pdem  Vaterhaus'*  findet  ßeruhardi   nur  zum  Tadel  Aulass:   er 
lebt  in  diesen  Stücken  nur  grobe  Veiirrungcn  nicht  allein  der  Kunst 
berhanpt,  sondern   selbst  der  besoudem  dramatischen  Manier  Iff- 
lands.    Als  dieser  dann   in  einem   neuen  Schauspiel,   -die  Hüben'', 
eine  Figur  eingeführt  hatte,  in  welcher  Bernhardi  boshafte  Beziehungen 
luf  sieb  als  Kritiker  zu  erkennen  meinte,  hielt  er  es  nicht  mehr  au 
ler  Zeit,  noch  irgend  welche  KUeksicht  gegen  Iffland  zu  beobacliten: 
kit  seinem  scharfen  Witze  verspottete  er  ihn  in  einem  der  Anzeige 
'on  der  Aufführung  jenes  Schauspiels  angehängten  Gespräch-",  paro- 
iierte  im  dritten  Theil  der  „Bambocciaden'*  seine  rührenden  Fami- 
lengemähble  in  einer  Posse,  ^Seobald,  der  edle  Nachtwächter** '"  und 
erklärte  in  seinem  Abschied  von  den  Lesern  des  Archivs  ** ;  wenn  er 
lie  Leser  in  den  drei  Jahren,  wo  er  Theaterkritiken  für  das  Archiv 
;eliefert,  tiberzcu^t  habe,  dass  Itfland  kein  Dichlor,  kein  tragischer 
sbauspieler   und   die    Familieugcmählde    keine   poetische   Gattung 
neu,  80  gehe  er  vergnügt  von  diesem  Platze.  —  Viel  entschiedener 
tls  gegen  Iffland  trat  Bernhardi  gleich  von  Anfang  an  gegen  Kotzebue 
die  Schranken.     Diess  beweist  schon   eine   Stolle  in   der  Beur- 
leilung    des    ifTlandiscben    Schauspiels    ^der   Mann    von   Wort"**. 
Wenn  man'',  lautet  sie,   -vom  Verfall  des  Geschmacks  spricht,   so 
tnu  Iffland  dieser  Tadel,  wenn  man  gerecht  sein  will,  nicht  tretfen, 
la  er  aus  der  Gattung  (der  Familiengemählde),  eiu  Paar  Ausnahmen 


18)  1799.    2,  »04.  39l  Archiv  ISftO.     l,  3-i(  ff.  40)  Wieder  ab- 

rckt  in  deu  von  Wilh.  Bernhardi  geBammelten  „Reliquien-  seines  Vaters  aud 
Muller.  2,  IW5  ff.  41)  i^m.    2,  46-1  ff.  42)  1795.    2,  :U>6  f. 


712     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jalirhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

330  abgerechnet,  nichts  gemacht  hat,  als  was  sie  sein  kann ;  aber  trauri*: 
ist  es  zu  bemerken ,  wenn  Kotzebue  das  Höchste  und  Tiefste  im 
Menschen  greifen  will,  die  Natur  mit  allen  ihren  Abgründen  fassen, 
und  darüber  ins  Pöbelhafte  fallt,  dass  er  die  Regeln  der  dramatischen 
Kunst  zu  verachten  affectiert,  da  er  nicht  Sinn  für  den  Zusammen- 
hang einer  Anekdote  hat,  der  nicht  unrichtig  rechnet,  indem  er 
Galerie  und  Publicum  gar  nicht  trennt,  und  nur  auf  Unterhaltutig 
losarbeitet.  Ihm  sind  Geisterbeschwörer,  Hunger,  Elend,  Liederlicli- 
keit,  angebissene  Marionetten ,  Verachtung  der  .Tugend ,  alle  Mittel 
gleich,  wenn  er  nur  nach  seiner  Meinung  neu  sein  kann^.  Gleich- 
wohl war  er  nicht  blind  für  die  guten  Eigenschaften  und  Züge  in 
Kotzebue's  dramatischen  Erfindungen,  ja  er  gieng  mitunter  in  der 
ÄncrkenntnisB  derselben  fast  zu  weit.  So  äusserte  er  sieb  Über  den 
„Grafen  Benjowsky ^ ' ' :  diess  Schauspiel  habe  alle  Fehler  und  Vor- 
züge der  kotzebue'schen  bessern  Stücke,  Fehler,  als  da  seien:  eine 
unzusammenhAugende  Handlung,  überflüssige  oder  locker  mit  dem- 
Stücke  zusammenhangende  Personen,  überflüssige  Züge  in  ibreni 
Charakter,  mllssige  Scencn,  falsche  Delicatesse,  Unlauterkeit  und  Im- 
moralität  der  Gesinnungen,  verfehlte  Naivetät,  Mangel  an  Schlusseto.; 
Vorzttge,  nämlich ;  Spannung  der  Neugier  und  der  Phantasie,  Rührung', 
komische  Kraft,  schöne  Charakterschilderungen,  feinen,  treffenden 
Witz,  reine,  schöne  Sprache,  theatralische  Tendenz  und  Wirkung  etc. 
Dazu  halte  man  das  Über  Kotzebue*s  frühere  Stücke  Gesagte  im  An- 
fang der  Beurtheilung  ,dc8  Epigramms''"  und  die  Bemerkungen 
über  .Johanna  von  Montfaucon"",  und  über  die  Posse  -das  neue 
Jahrhundert"  ^  Allein  die  Benrtheilungen  der  allermeisten  Stücke  ' 
liefen  darauf  hinaus,  den  allgemeinen  Satz  im  Besondern  zu  begrlin- 
dcn  und  zu  erhärten,  dass  Kotzebue  -ein  elender  Dichter"  sei'. 
Als  Bernhardi  einige  Zeit  nachher  eine  eigene  Quartalschrifr, -Kyu«'- 
sarges",  herauszugeben' an fieng*^  und  hier  in  einem  läutern  Artikel  "^ 
über  den  damaligen  Zustand  des  deutsehen  Theaters,  namentlich  ik^ 


43)  17!)*^.     1.  *2r.fi  ir.  44)  IT'.Ht.     U  72  f.  4:>l  17i»9.    2.  r.7  ff.:  au-i. 

von  Interesse  wogen  der  avif  die  Gattimir  der  KamilicntremiUilde,  ihren  scliiidlid;';!! 
Eintiuss  auf  den  Geschmack  des  l'ubiicums  nud  die  Kritik* geworfenen  StreifiMiUr. 
so  wie  we^eii  der  Andexitungon  über  den  Hegriff  Natur,  wie  er  /nm  STb-^^i''- 
Schaden  und  Verderben  der  Kunst  von  den  dramatischen  ScliriftsteUem  insaiiurin 
gofasst  werde.  46)  l'^On.     t.  151.  47)  -Die  Korsen-.  I7i>s.    i,  Stio:  _ii,i- 

SchreibepuU,  oder  die  Gefahren  der  Jugend-.  2,  ö7n  ff.;  „das  Epjgramnr,  !>' 
1,  72  f.;  ..Lohn  der  AVahrheit".  1,  ir>!i  f.;  _die  beiden  Klingsberge-,  I.  :y2^  n . 
-Gustav Wasa-,  IMiO.  I,  •My.it:  -Octavia^  2,  4**ff.;  _der  Resuch,  oder  die  Siui." 
zu  glänzen",  2,  3Ui  f.;  „Bayard",  2,  ai7  fl".  4S)  ISO«.  2.  22:?.  4'i''  Heni- 
1S02.  S.;  ich  habe  nicht  ennitteln  können,  ob  mehr  als  das  erste  Stück  'lifcf' 
schon  selten  gewordenen  Zeitschrift  erschiene«  ist.  50i  I.  l,  lOM  ff. 


twickelungsgftDgd. Literatur.  in3 — 1832.  DieKomantiker. ÜebeiKotzebue.   713 

erliniseiien,  handelte,  Buchte  er  darzuthun,  dass  ^ sowohl  das  Theater  §  330 

und  die  Schauspielkunst,  wie  die  dramatische  Dichtkunst",  im  Ver- 

I      gleit'h  mit  einer  tVnliorn  Zeit,   «im  tiefsten  Verfall  lägen".    Sehiono 

i     e»  drtch,  als  hätten  Publicum  und  Komödianten  sieh  gegenseitig  das 

Wort  gegeben ,    einer  den  andern   in   die  niedrigste  Plattlieit  und 

Hliefste  Gemeinheit  herjibzuziehen;   tmr   in   wenigen   grossen  »Städten 

^■rfirdc  diese  gegenseitige  Stimmung  mit   dem  dünnen  Schleier  einer 

^■Hvialen  Moralit/it,  einer  precären  Decenz  und  einer  falschen,   er- 

^Kunstclten  Delicatesse  bedeckt.     WArc   so  das  Verderben   zwischen 

^B^ublicum   und   Komödianten  gegenseitig,    so  hätten   wiederum    auf 

diese  wie  auf  jenes  die  dramatischen  Dichter  den  allerschädlichaten 

'      EinHuss  ausgeübt,   die,   als   die   zwei   HanjitheUlen   der  derzeitigen 

Bühne,  die   elendeste  Gattung   des  Scbausj)icls,   welche  jemals  er- 

Rcht  worden,  zur  Vollendung  gebracht  hätten,  Kotzebne  und  Iffland. 

auffälligem   Widerspruch    mit   den   Kritiken   im  Archiv   der  Zeit 

d,  wie  ich  vermuthen  muss,  hauptsächlich  wohl  mit  in  Folge  seiner 

rsOnlichen  Gereiztheit  gegen  Iffland ,  stellte  nun  aber  Bernhardi 

eide   nach    ihren  Wirkungen   auf  die   deutsclie  Huhne  einander  so 

nübcr,    dass   Iffland    viel    tiefer  zu  stehen  kam   als  Kotzebue. 

Dieser  sei  der  bei   weitem   unschuldigere.    „Seine  Zeichnungen  und 

Stücke  sind  kühner  und  kraftvoller,   er   ist  im  Innern  reicher  und 

poetischer,    seine   Darstellungen  sind  individuoller,    und    bei   einer 

guten  Truppe,    wo   seine  Stücke  tnit    einer  gewissen   Energie  und 

Glanz  dargestellt  werden  könnton,   mCisste   bei  manchen   selbst  das 

Kennerauge  für  einen  Augenblick  Über  den  wahren  Werth  irre  werden 

können.     Bei   manchen,   sagen  wir,   denn   andere  seiner  Familien- 

I    gemählde  sind  —  es  klingt   lächerlich-, —  seiner  unwürdig;   und  in 

^kelcen  historischen  und  romantischen  Stücken  schwimmt  die  Armuth- 

^Beligkcit  und  Unwissenheit  jeder  Art  gar  zu   sehr  oben  auf.    Tief 

unter  Kotzebue  steht  Iffland,  nn<l  es  sind  nur  ein  Pnar  Kleinigkeiten, 

in  denen  er  Kotzebue  übertrifft.     Iffland  ist  wirklich  ein  ])oetischer 

Bettler,  seine  Stücke  haben  eine  auffallende  Monotonie  und  Inhalts- 

lecrheit;  und  was  das  Schlimmste  ist,  so  treibt  er  mit  dieser  Armuth 

eine  grosse  Coquetterie  in   der  Dai-stelinng.     Er  ist  weit   mehr   der 

ollender  des  Familiengemähldes  als  Kotzebue,  ein  Rnlim,  der  ihm 

gönnen  ist;  nur  in  fünf  bis  sechs  Stücken,  welche  wir  aber  auch 

tä  gewürdigt  und  anerkannt  haben,  hebt  er  sich  ein  paarmal  über 

ine  ordinäre  Ansicht".  —  Indessen  wandte  der  ältere  Schlegel  die 

nfTen  seiner  Kritik  im  Athen^ium  nicht  bloss  gegen  die  angegebenen 

blechten  und  verkehrten  Riehtungen    der  TagcsUteratur  im  Allge- 

iuen  und  gegen  einige  ihrer  Hauptvertreter 'im  Besondern;  auch 

verschiedene  Schriftsteller  in    andern  Fächern,   die  zum  Theil 

on  seit  lauge  in  grossem ,   wenig  oder  gar  nicht  verkümmertem 


714    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe*B  Toi 

330  Ansehen  gestanden  hatten,  wie  Klopstock,  Wieland^  Herder,  Ramler, 
Kästner,  Engel,  Garve,  wurde  von  ihm,  und  ausserdem  auch  noch 
von  seinem  Bruder  und  seinen  Freunden,  in  den  .  Fragmenten  ",  in  den 
,. Notizen"  und  vornehmlich  im  „literarischen  Reichsanzeiger-  etc.", 
bald  im  ernsthaft  kritisierenden,  bald  im  ironischen  oder  scharf 
satirischen  Tone,  so  manches  vorgebracht,  was  deutlich  genug  zeigte, 
wie  wenig  die  Romantiker  in  dem  Urtheil  Über  den  innem  Gehalt 
den  künstlerischen  oder  wissenschaftlichen  Wertb  und  den  ganzen 
Charakter  der  vaterländischen  Literatur  des  achtzehnten  Jahrhunderts 
mit  der  Auffassung  derselben  übereinstimmten,  die  damals,  von  der 
zeithcrigcn  Kritik  begünstigt,  die  fast  allgemein  herrschende  war. 
Am  wenigsten  wurde  unter  den  Genannten  noch  Klopstock  von  der 
neuen  Kritik  angegriffen  und  an  seinem  Ruhm  becintrAehtigt.  Die 
Schlegel  verkannten  keineswegs  seine  grossen  Verdienste  um  die 
neuere  vaterländische  Literatur-,  aber  sie  setzten  sie  nicht  sowohl 
in  den  dichterischen  Werth  seiner  Werke  überhaupt  und  in  den 
Geist,  den  er  damit  in  die  deutsche  Poesie  gebracht  habe,  ah 
vornehmlich  nur  in  das,  was  durch  ihn  in  Praxis  und  Theorie 
für  die  freiere,  schwungvollere  Bewegung,  die  Bereicherung  und 
Veredlung  der  poetischen  Sprache  geschehen  war.  In  Rücksicht 
hierauf  nannte  ihn  A.  W.  Schlegel"'  «einen  grammatischen  Poeten 
und  einen  poetischen  Grammatiker".    Indess  war  er  weder  mit  allen 


51)  Vgl.  S.  ti*5.  Pio  einzclncu  Artikel  dieses  Aiisohnitts  hildeteu  gleicli- 
sam  t'inc  Kort>t'tzimii  der  „Xenion"  in  der  Form  von  Zeitungsaimouccn.  Kr 
beissende  ^V^tz,  die  herbe,  mitiiiiter  giftige  Satire  und  die  Rücksiclitslnsijrkeit  v- 
mit  darin  iiltere  wie  jüiifrere  bchriftsteller  angejrriflen  wurden,  oder  DÜ!iJe>ti:ii: 
Seitenhiebe  erhielten,  erregten  im  Puldieum  ganz  besonderes  Aergerni?s  iilier  .la? 
Athenäui«  und  erweckten  den  Herausgebern  die  meisten  Feinde.  Am  übc-'üet 
fuhren  unti-r  den  unmittelbar  oder  mittelbar  Angegriffeneu.  die  theils  bei  ihren 
Kamen  genannt,  tlieils  auf  andere  Weise  kenntlich  genug  gemaolu  waren.  Bi^tiiiror, 
V.  Hennings  illerausgeber  mehrerer  Zeitschriften,  der  auch  gegen  dicXeniei:  aul- 
getrcteu  war;  geh,  1746  zu  Pinneberg,  gest.  Is2i»)',  der  Archäologe  Hin  iwaipl 
seines  Aufsatzes  in  den  Hören  „über  die  Charakteristik,  als  Hauptgrundsatz  tie' 
bildenden  Kunst  bei  den  Alten",  und  seiner  Erwiederung  im  Berliner  Archi* 
der  Zeit  lT!is.  2.  4'i'i  ff.  auf  ein  jenen  Aufsatz  betreffendes  Fragment  im  Max- 
imum l,  2.  ^.'>  ff.;  vgl.  nucli  Athenäum  2,  2.  22tif.»,  Jenisch  (vgl.  amh  Athi-usij- 
2.  2,  10'.>).  die  Herausgeber  der  berlinischen  Monatsschrift  und  der  HiMioihek  öff 
schönen  Wissenschaften  etc.,  Schmidt  zu  Wcrnenchen.  Kotzebue  und  vor  il>- 
andern  Nicolai.  Aber  auch  Wieland  und  Kästner  waren  stark  mitgenommen  ivd-i^t 
folgenden  Seiten  des  Textes).  J<'an  I*auls  Unart,  sich  leicht  zu  wiederholen,  wenig^ttt? 
angestochen ,  und  neben  Matthisson  selbst  W.  v.  Humboldt  (wegen  seinor  a«tii  * 
tischen  Versuche,  in  einem  Ausfall  gegen  von  Uamdohr  (dem  nacbher  auch  v.<*^ 
in  den  Notizen  des  X  Bdes.,  2,  23S  ff.  über  seine  „moralischen  ErzahlunjieD**  ^^'- 
Dorothea  Veit  viel  Vnangenehmes  gesagt  wurde)  unsanft  berührt.  ö2  fc 

Athenäum  1,  2,  :U;  s.  Werke  S.  4. 


M 


nbrickelougsg.  d.Lit  1773- 1SU2.  Die  Romantiker.  UeberElopstock,WieUud.  715 


A 


Sfttzen,   die  Klopstock   in   seinen  BprachwiBsenschaftlichen  Schriften  §  330 
Aufgestellt  hatte,  einverstanden,   noch  billigte  er  durchgebends  die 
Art  und  Weise,  wie  der  Dichter  die  Sprache  für  seine  Zwecke  ge- 

andhabt  hatte.    Von  jenen  Sätzen  erschienen  ihm  viele  theils  als 

inseitige  oder  willkürliche ,  auf  keine  historische  Grundlage  sich 
stützende  oder  aus  MissverstAndnisa  hervorgegangene  Behauptungen, 
theils  als  reine,  von  Übergrossem  patriotischen  Eifer  herstammende 
Giillen;  und  in  Klopstocks  praktischer  Sprachbehandlung  sab  er  zu 
viel  Gewaltsamkeit  und  Zwang,  zu  viel  Manier  und  zu  viel  Künstelei^ 
den  antiken  Dichtem  nahe  zu  kommen".  Gegen  Wieland  können 
die  Schlegel  anfänglich  lauge  nicht  so  eingenommen  gewesen  sein, 
wie  nachher.  Der  jüngere  Bruder  wenigstens  sprach  über  ihn  noch 
it  grosser  Anerkennung  in  der  Schrift  „über  das  Studium  der 
echischen  Poesie"'*.  Nach  den  Mittheilungen  Tiecks"  hätte  haupt- 
chlich  dieser  auf  die  Aendorung  des  frühem  Urtheils  der  Schlegel 

her  Wichmd   eingewirkt '^.     Von   Fr.   Schlegel   entsinne   ich   mich 
cht,  einen  directen  Ausfall  auf  Wielaod  aus  der  Zeit  dea  Athenäums 

nd  der  Europa  gelesen  zu  haben.  Der  ältere  Bruder  dagegen  ver- 
spottete ihn  zuerst  in  den  « Fragmenten**",  indem  er  die  von  Wie- 
land'"*  geäusserte  Meinung:  seine,  heinahe  ein  halbes  Jahrhundert 
umfassende  Laufbahn  habe  mit  der  Morjrenrötbe  unserer  Literatur 
angefangen  und   endige  mit  ihrem  Untergänge  — ,   als  -ein  recht 

flfenes  Gestand uiss  eines  natürlichen  oj^iscben  Betrugs''  bezeichnete. 

o  bezog  sich  denn  auch  eine  Stelle  in  der  satirischen  Ankündigung 
einer  neuen,  jenem  von  Hennings  beigelegten  Zeitschrift,  „Annalen 


53)  Dio  Belege  zu  dem  Eiucn  liefert  gleich  der  erste  Artikel  des  AthenÄums, 

»ie  Sprache.    Ein  Gesprüch  aber  Klopstocks  grammatische  Gesprüche".  zn  dem 

tdcru  folgende ,   auch  Schlegels  anclorwoitigc   Auffasaiing   dor   klopstockischen 

lie  kurz  charakterisierende  Stelle  aus  den  Vorlesungen  in  der  ,. Kuropa"  i2,  1, 

f.):    „Im  KlupEitock,   uugeachiet   er  die  MissverstikadiUsse  und  die  AfTcctatloa 

ins  Grosse  getrieben,  wie  schwerlich  vor  iljm  du  anderer  Dichter,  ist  dennoch 

twas,  das  nicht  gun/.  untergeheu  kauu;   er  muss   wenigstens   im  gramni atischon 

Theilc  der  Poesie,  wiewohl  auch   hier  seine  Krüudungen  von  Missversländuisseii 

petriibt   waren,   gewissennasseu   als   ein   Stifter  hotraclitot  werden".     iVgl.   dazu 

Schlegel  in  der  Europa  1,  I,   VM ).        64i  Vgl.  S.  ayn,  Anm.  s5,        55)  Bei 

ipkc  2,  1***i.         5Gl  „Ich  darf  wohl  sagen",  Äusserte  dieser  gegen  Köpke,  „daas 

ia  meinen  Kreisen  und  in  meiner  Weise  zuerst  mit  Nachdruck  ausgesprochen 

I,  dass  ^Vieland  kein  Dichter  im  grossen   Sinne  des  Wortes  sei.    Ich   habe 

IS  früher   als   die   Schlegel  gethan.     Sie   haben   diese   Ansicht  von   mir  an- 

lommen,   doch  wurde  sie  von  ihnen  übertrieben,  so  dass  es  mir  seihst  ver- 

rieeslich  wanl,  obgleich  ich  mir  auch  einige  Späase  mit  Wieland  erlaubt  hatte" 

lamentlich  im  .Zerbiao"  S.  3Kt  des  ersten  Theils  der  romantischen  Dichtungen; 

fl.  auch  Tiecks  Schriften  f>,  S.  XLVIli.  57)  I,  2,  72:  s.  Werke  S  -!. 

58)  In  der  Vorrede  zu  der  Ausgabe  seiner  sämmtlichen  Werke. 


716    VI.  Vom  zwcitou  Viertel  dos  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

330  der  leidenden  Schriftstellcrei",  im  „literarischen  Eeichsanzeiger*'", 
dass  in  diesem  «allen  Mühseligen;  Beladenen  und  Zerschlagenen 
geöffneten  Lazarcth  einige  A'on  den  bejahrteren  Schriftstellern  Klagca 
darüber  anstimmen  AvUrden,  das»  das  goldene  Zeitalter  unserer  Lite- 
ratur vorüber  sein  solle",  zunilchst  auf  Wielaud.  Dann  berichtete 
dieser  Reichsanzeiger**,  Wieland  werde  Supplemente  zu  den  Sop- 
])lcmcnteu  seiner  sammtlichcn  Werke  herausgeben,  unter  dem  Titel: 
W^erke,  die  ich  sogar  ftlr  die  Supplemente  zu  schlecht  halte  nnd 
völlig  verwerfe  etc.;  und  schloss*"  mit  der  das  meiste  Aergemiss 
erregenden  -Citatio  edictalis**  zu  einem  Über  die  Poesie  Wielamls 
eröffneten  .»Conenrsus  Crcditorum*,  wovon  bereits  oben'^'*  die  Rede 
gewesen  ist.  Herder,  im  Athenäum  zwar  nirgend  von  einem  der 
beiden  Schlegel  angegriffen  oder  nur  in  ungünstiger  Weise  erwäliut, 
wurde  dafür  von  Bernhardi  desto  weniger  in  der  Beurthcilung  seiner 
H  Metakritik '^  und  den  allgemeinern  Bemerkungen  Über  seine  schrift- 
stellerische Art  geschont '■'%  nachdem  schon  Tieck  am  Sehluss  des 
„Zerbino"  die  der  Metakritik  einverleibte  Allegorie  von  Hugo  und 
Hägesa  zum  Gegenstande  eines  muthwilligen  Scherzes  gemacht  hatte. 
Ramler  wurde  im  Athenäum  nur  einmal,  und  zwar  beiläufig  erwähnt: 
A.  AV.  Schlegel  musste  in  seiner  Kritik  matthissonscher  Poesie  aaf 
Ramlers  ^Ode  an  den  Frieden"  Bezug  nehmen"^  und  nannte  sie 
.,  einen  von  den  wenigen  schönen  jugendlichen  Blicken  von  seinem 
nachher  bis  zur  gilnzlichen  Austrocknung  dürftigen  Geisten  Weit 
übler  ergieng  eti  ihm  bald  darauf  in  den  „Charakteristiken  und  Kri- 
tiken"*"'': es  sei  erbarmungswürdig,  wenn  Ramler  immer  noch  als 
der  Held  der  Correctbeit  aufgestellt  werilc,  der  all  sein  Leben  lang 
nicht  habe  lernen  können,  einen  ordentlichen  Hexameter  zu  macher. 
der  den  Gedichten  Anderer  immerfort  die  unpassendsten,  mattesten 
und  Übellauteudsten  Veränderungen  aufgedningen  habe,  dem  man 
endlich  in  seinen  eignen  Sachen  wahre  SchÜlerhaftigkeit  iu  iler 
Technik,  wenn  man  damit  nicht  hei  dem  nächsten  Herkommen  steheu 
bleibe,  nachweisen  könnte.  Von  Kästner,  der  auch  noch  in  der 
letzten  Zeit  Ei>igramnie  in  Taschenbücher  geliefert  hatte,  mehleie 
der  -literarische  Itcichsanzeiger "*^,  ^sein  Witz  sei",  in  Erwiigtinf 
von  fünf  Gründen,  die  nach  einander  angegeben  waren,  -mir  Aiiei- 
kennung  der  vieljährigen  geleisteten  Dienste  und  Beiheliultung  aÜer 
Titel  und  Besoldungen  gnädigst  in  einen  ehrenvollen  Ruhestaiitl  ver- 
setzt wrirden".    P'ngel,   der  auf  die  beiden,  zuerst   in  den  sicb/ii'ff 


ÖU)  Athenäum  2.  2.  X^n  f.;  s.  Werke  S,  ;i7  f.  t>0>  2,  2,  X'U;  ä.  ^Vt-r*- 

*^.  3^.  Ol»  2.  2.  :U0:  s.  Werke  S  41t.  «2)  Bd.  III.   HU.  03;  Mh^ 

näum  :t,  2.  2r,(;  tf.  Ol)  ;i,  i,  UO;  s.  Werke  12,  .=»7.  65)  2.  75:  A-  ^^ 

Schlegels  s.  Werke  **.  123.  60)  2,  2,  335. 


Entwickelungsg.  d.  Lit.  It73— 1832.  DieRomantiker.üeberRamler,  Kästner  etc,  717 

Jahren  erschienenen  Theile  seines  „Philosophen  für  die  Welt*"  im  §  330 
J.  1800  noch  einen  dritten  hatte  folgen  lassen,  fand  im  Athenäum*" 
an  Schleiermacher  einen  unbarmherzigen  Kritiker.  Dem  Satze,  dass 
Engel  gar  wohl  im. Stande  sei,  auch  jetzt  noch  etwas  Gutes  zu 
schreiben,  wie  der  Inhalt  dieses  Theils  beweise,  stellte  er  die  Con- 
jectur  entgegen,  dass  fast  alles  darin  Enthaltene  ohne  Veränderung 
aus  alten  Papieren  genommen  sein  möchte,  so  antiquiert  zeige  sich 
der  Verf.  darin,  und  so  alte,  abgemachte  Sachen  bringe  er  vor. 
Das  Buch  mache  gerade  den  Eindruck,  als  ob  Engel  Gott  weiss 
wie  viel  Jahre  geschlafen  hätte  und  nun,  ohne  sich  erst  die  Augen 
zu  waschen  und  sich  in  der  Welt  ein  wenig  umzusehen,  gleich  so 
weiter  fortredete.  Wenn  aber  das  Gerücht  noch  immer  unterhalten 
werde,  dass  Engel  ein  Meister  in  d*er  Composition  kleiner  Aufsätze 
sei,  so  möchte  auch  in  dieser  Rücksicht  etwas  Schlechteres  als  die 
Stücke  dieses  Theils  schwer  zu  finden  sein.  Zu  loben  sei  nur  zweierlei: 
erstens  alles,  was  Anekdote  heissen  könne,  da  in  dem  Vortrag 
solcher  Sachen  Engel  wirklich  Virtuose  sei;  zweitens  die  einzelnen 
Perioden  in  seinen  Aufsätzen,  die  von  einer  für  das  Ohr  sehr  an- 
genehmen Structur  und  von  einem  bis  ins  Kleinste  hinein  sorgfältig 
herausgearbeiteten  Wohlklange  seien,  lieber  Garve  war  schon  in 
den  „  Fragmenten  ^  ^  die  Aeusserung  gefallen :  „  Wenn  Nichts  zu 
viel  80  viel  bedeutet  als  Alles  ein  wenig,  so  ist  Garve  der  grösste 
deutsche  Philosoph^.  Besonders  aber  enthielt  die  Beui*theilung  seiner 
„letzten,  noch  von  ihm  selbst  herausgegebenen  Schriften",  die 
Schleiermacher  lieferte*^,  so  hoch  auch  der  sittliche  Charakter  Gane's 
gestellt  und  so  sehr  die  vortrefflichen  Seiten  seines  wissenschaft- 
lichen und  schriftstellerischen  Strebens  hervorgehoben  waren,  manches, 
was  die  zahlreichen  Verehrer  des  würdigen  Mannes  tief  verletzen 
musste.  In  dem,  wurde  n.  a.  gesagt,  was  er  auf  dem  Gebiete  der 
Philosophie  oder  vielmehr  des  Denkens  überhaupt  geleistet  habe, 
verrathe  sich  der  Kampf  eines  redlichen -Willens  mit  einem  kleinen 
Gemüth  und  eines  kleinen  Geistes  mit  grossen  Gegenständen,  die  er 
am  liebsten  hätte  zersplittern  mögen,  um  sie  nur  umfassen  zu  können. 
Was  in  seinem  Denken  nnd  in  seinen  Untersuchungen  auf  den  ersten 
Anblick  etwas  Grosses  zu  sein  scheine,  verwandle  sich  wie  unter 
den  Händen  in  ein  Unendlich-Kleines :  es  fehle  ihm  an  einem  Mittel- 
punkt und  Anfang,  er  komme  nie  zu  etwas  Ganzem  oder  Ursprüng- 
lichem. Alle  seine  Schriften  seien  gleichsam  nur  Ausströmungen  eines 
unerschöpflichen  Chaos  von  Uuphilosophie  und  Geistlosigkeit  etc.™. 

*67)  3,  2,  243  ff.  6S)  Athenäum  i,  2,  89.  69)  3,  1.  120  if. 

70*  Auch   Fr.  H.  Jacobi    entgieng    nicht   ganz    den   Streichen   der  negierenden 
Kritik  im  Athenäum:  mehr  Lob  als  Tadel  über  ihn  als  philosophischen  Schrift- 


7 IS    Tl.  Vom  zweiten  Viertel  des  XYIO  Jahrhunderts  bU  su  GoeÜie'&  Tod. 

§  330  In  volles  Licht  trat  das  gegensätzliche  Verh&ltnisa  rwischec  d 

Ansicht  der  Romantiker  von  der  Beschaffenheit  und  dem  Standimn 
der  vorhandenen  Literatur  und  der  in  der  illtcnt  Schriftstellern 
und  iu  der  grossen  Mehrheit  des  Publicums .  auf^kommenea  oai 
festgehaltenen  Meinung  erst  in  jenen  der  „Europa"  einverlei 
Vorlesungen  A.  W.  Schlegels  „ober  Literatur,  Kunst  und  Gei«  d 
Zeitalters";  denn  hier  hatte  es  Schlegel  mit  dllrron  Worten  a 
sprochen:  es  komme  ihm  vor,  als  hätten  wir  nc»eh  gar  keine 
ratur,  sondern  wären  hdcbstens  auf  dem  Punkt,  eine  zu  bekomm 
doch  hätten  eich  dazu  bis  dahin  nur  die  ei'sten  Faden  angeknDp: 
und  gleich  entschieden  bestritt  er  auch  die  Richtigkeil  der  vornehm* 
lieh  von  den  Aufkiärungsmannem  gehegten  und  im  Leben  wie  ia 
der  Literatur  zu  weit  reicheudfer  Geltung  gebrachten  Meinung  ton 
den  grossen  und  bewundernswürdigen  Forschritten  des  Zeitalter»  b 
allen  Richtungen  des  Strebens  der  Menschheit  nach  VorvollkomiB- 
nung.  Bevor  er  seine  angedeutete  Ansicht  von  dem  derxeitigefl 
Standimnkte  der  deutschen  Literatur  im  Besondern  entwickelt  acd 
zu  begründen  sucht,  gibt  er  an,  in  welchem  Lichte  ibm  du  er- 
scheine, was  man  gemeinhin  unter  deutscher  Literatur  idoA  Wortia 
engem  Sinne,  d.  h.  mit  Ausschliessung  der  gelehrten  und  wisc»- 
schaftlichen  Werke,  genommen)  verstehe,  um  sodann  den  Bei^nff 
des  Wortes  Literatur,  wie  er  ihn  gefasat  haben  will,  zu  be«tifBaM& 
„Wenn  man'',  sagt  er,  „unter  dicBem  Worte  einen  unvenlautea  Wiat 
ein  rohes  Aggregat  von  DUchern  versteht,  die  kein  gemeimcbilt- 
licher  Geist  beseelt,  unter  denen  nicht  einmal  der  ZusammeohaBf 
einer  einseitigen  Nationalrichtung  bemerkbar  ist;  wo  die  etmalMi 
Spuren  und  Andeutungen  des  Bessern  sich  unter  dem  imBbenBb' 
baren  Gewühl  von  leeren  und  missverstandenen  Strebungen,  »•• 
Verkehrtheit  und  Verworrenheit,  von  Ubelverkleideter  GeislesarBirtk 
und  fratzenhafter,  anmassender  Originalitütssucht  fast  uomerkBel 
verlieren,  weit  entfernt,  dass  der  Gipfel  der  Vollkommenbeat  fftrcioe 
durch  Nationalität  und  Zeitalter  bestimmte  Gestaltung  der  Poeai«  üi 
einer  bedeutenden  Anzahl  von  Werken  der  verschiedeneu  Gattunffii 
wirklich ^ erreicht  wilre:  dann  haben  wir  allerdings  eine  U 
denn  man  hat  mit  Recht  bemerkt,  dass  die  Deutschen  eine  t 
hauptschreibenden  Mächten  Europa*«  seien.  Heisst  aber  Li 
ein  Vorrath  von  Werken,  die  sich  zu  einer  Art  von  System 
einander  vervollstÄndigen,  wonn  eine  Nation  die  bervoratecbeadUBi 
Anschauungen  ihrer  Welt,  ihres  Lebens  niedergelegt  findet,  dio  tA 


rel^ 


ittUDM     , 

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gtellcr  enthielt  noch  ein  Fragment  Ton  A.W.ScMegel  (I.  5,  37;  ».  Wtfkc  % 
wogegen  ihm  Fr.  Sclüegcl  sowohl  über  seine  Romane  wie  ober  seiii«  Pf*  "" 
1,  2,  101  f.  und  2,  2,  295  f.  harte  Dingo  sagte. 


wm 


Enndckcluogagang  der  Literatur.  1773—1832.  Die  Romantilter.  Acsthet.  Kritik.  719 


"^  ihr  för  jede  Neigung  ihrer  Phantasie^   fOr  jedes  geistige  BedUrfniss  §  330 
go  befriedigend  bewährt  haben,  das»  sie  nach  Menschenaltern,  nach 
Jahrhunderten  mit  immer  neuer  Liebe    zu   ihnen    zurtlckkehrt:   so 
leuchtet   es  ein,   dass   wir  keine  Literatur  haben"*.     Man   möge  zu- 

^vu^der8t  bemerken,  wie  völlig  getrennt  die  berühmten  und  verehrten 
Schriftsteller  bei  uns  von  den  beliebten  wären,  wie  wenig  jene  ge- 
legen, geschweige  denn  zu  bestftndigeu  Begleitern  und  vertrauten 
Freunden  erwählt  wtlrden.  Und  was  besitze  man  denn  nun  an  den 
Einen  und  an  den  Andern?  Die  meisten  als  classisch  geschätzten 
Schriftsteller  unsers  sogenannten  goldenen  Zeitaltera  verdienten  kein 
anderes  Schicksal,  als  ausser  Umlauf  gesetzt  zu  werden,  von  solcher 

»Kleinlichkeit  und  Schwäche  wären  sie  entweder,  oder  so  sehr  hätten 
ftie,  durch  falsche  Muster  und  falsche  Maximen  missleitet,  auf  ihrer 
Laufbahn  ihre  anfänglich  gediegnere  Kraft  zersplittert.     Die  beliebten 

■  Schriftsteller  dagegen  wären  Geschöpfe  der  Mode,  die  immerfort 
darch  andere  verdrängt  und  dann  rein  vergessen  würden.  Noch 
kuhner  wird  Schlegel  in  seinen  Behauptungen,  wenn  er  nur  dem 
Volke,  dem  gemeinen  Manne,  den  Besitz  einer  Literatur  zuspricht, 
nicht  aber  den  huhcrn,  gel)ildeten  Ständen  der  Nation :  diese  Literatur 

»des  Volks  bestehe  aus  den  unscheinbaren  BUchclchen,  in  deren  Auf- 
schrift -Gedruckt  in  diesem  Jahr*"  sich  schon  das  naive  Zutrauen 
kund  gebe,   daas  sie  nie  veralten  können.    Von  dem,   was  er  über 

»deo  Ursprung  und  den  G'eist  dieser  Volksbücher  sagt,  wendet  er 
«ich  in  der  allgemeinen  Charakterisierung  der  deutschen  Literatur 
und  Bildungszustände  zunächst  zu  Bemerkungen  voll  Unmuths  über 
das  woitschichtigo  äussere  Gerüste  unserer  sogenannten  Literatur,  über 
die  seichten  und  platten  schriftstellerischen  Producte,  die  alljährlich 
zweimal  durch  die  Buchhändlermessen  und  ausserdem  noch  durch 
die  Journale  an  den  Markt  gebracht,  von  dem  grossen  Haufen  der 
Lesewelt  mit  krankhaftem  Ileissliunger  verschlungen,  aber  sogleich 

■  wieder  vergessen  würden  und  in  den  Schmutz  der  Lesebibliotheken 

■  ttbergiengen ;  Über  die  rastlos  nach  dem  vermeintlich  Neuen  greifende 
Lesewuth,  in  der  es  den  Allermeisten  bloss  um  den  Taumel  wirb- 
lichter Zerstreuung  zu  thun  sei;  über  die  Stumpfheit  und  Unempfiud- 
licbkeit  des  grossen  Publicums,   wenn  ihm  echte  Dichterwerkc  dar- 

tgeboten  würden;  über  die  in  unserer  Literatur  epidemische  Seuche 
[er  Nachäfferei;  die  gleich  einen  zahllosen  Tross  von  mittclmässigen 
id  schlechten  Schriftstellern  in  eine  von  einem  bedeutenden  Geiste 
leu  eröffnete  Bahn  hineintreibe.  Dabei  worden  besonders  auf  die- 
jenige Hauptgattung  der  Literatur,  In  der  das  grosse  Lesepublicum  ror- 
EUgaweise  Mittel  zur  Unterhaltung  und  Zerstreuung  sucht,  auf  'Jen  Ro- 
lan  Schlaglichter  geworfen,  die  über  ihren  tiefen  Standpunkt  keinen 

Zweifel   Obrig  lassen.    Hierauf  lenkt  Schlegel  die  Beümchltukg  ftuf 


720     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bü  zu  Goethe'B  Tod. 

330  unsere  dramatische  Literatur.    Mit  dieser  stehe  es  eben  nicht  besser} 
als  mit  dem  Roman.    Zwar  sei  darin  nicht  eine  solche  Ueberhftufung 
von  einem  Wust  schlechter  Sachen,  vielmehr  falle  es  in  den  letzten 
Messcatalogen  auf,  wie  gering  die  Anzahl  der  im  Dnick  erschienenen 
Schauspiele  gegen  die  der  Romane  sei.    Vielleicht  liege  der  Grund 
dieser  Arniuth  mit  darin,  dass  es  in  Deutschland  an  einer  einzigen 
grossen   Hauptstadt  mangele.    Auch  hätten   überhaupt  nur  weni^ 
unserer  eminenten  Kopfe  im  dramatischen  Fach  gearbeitet  und  dann 
nicht  immer  mit  Rücksicht  auf  die  ßuhne,  und  von  noch  wenigem 
.    ihrer  StUcke  könnte  man  sagen,  dass  sie  wirklieh  auf  dem  Theater 
wären.    Schon  durch  die  geringe  Anzahl  ihrer  Werke   werde  be- 
wiesen, dass  sie  keine  eigentlichen  Theaterschriftsteller  seien.    Ein 
solcher  müsse,  um  sowohl   die  Zuschauer  wie  die  Schauspieler  für 
die  Absichten  und  Wirkungen  seiner  StUcke  horauzubilden ,  frucht- 
bar sein,  und  es  lasse  sich  nicht  Islugnen,  dass  darin  unsere  beliebten 
Theaterschriftstellcr  auf  dem  richtigem  Wege  seien  als  die  berühmten. 
Uebngens  aber  habe  sieh  bei  den  Deutschen  nirgend  eine  grössere 
Armuth  im  Erfinden  gezeigt,  als  gerade  hier.    Unser  Theater  biete  ein 
buntes  Quodlibet  dar  von  Uebcrsetzungen  und  zum  Theil  schlechten 
Bearbeitungeu  aus  dem  Französischen,  Englischen,  Italicuischen ;  und 
was  Original  sein  solle,  darin  sei  kaum  eine  eigeutbttmliche  Bicbtnng 
w^ahrauuehmcn :  ^von  den  Gomählden  der  alltäglichen  Wirklichkeit, 
die  zwar  beinahe  porträtmässigc  Wahrheit  haben,   aber   in  Lang^ 
weile  und  Peinlichkeit  verfallen,  bis  zu  der  von  Verstand  entblifesten, 
aber  der  Anlage  nach  nicht  unpoetischen  Phantasterei  unserer  Zauber- 
openi,   tappen   wir  alle  echten  und  unechten  Gattungen  durch  und 
wichen  erst  noch  uns  angemessene  Form   und   Gehalt".     Der  vi^t 
Diderot,  hauptsiiclilich  durch  Leasings  Vermittelung,  auf  unsere  BDbne 
ausgeübte  Einfluss  habe   die  naehtheilige  Folge  gehabt,    dass  »üe 
Natürlichkeit,  d.  h.  die  Kunstlosigkeit,  zum  Princip  erhoben  wortiec 
sei.    Bei  dem  Ernst  der  Deutschen  und  ihrer  geringen  Anlage  ziira 
mimischen  Witz  habe  zum  gänzlichen   Verunglücken  der  KomrHiie 
bei  uns  nur  nocli  gefehlt,  dass  die  selbstbewussten  und  eingestaudeueE 
Uebertrctungen  der  komischen  Darstellung  ver^vorfen  worden.    Au« 
habe  sich  durchaus  kein  nationales  Lustspiel  gebildet,  das  uns  deut- 
sche Sitten   und  Charaktere  vorstellte:  unsere  bürgerlichen  Sitten- 
^^cmählde  hätten  nur  die  Engigkeit  der  Verhältnisse  aufgefasst.  ob^ 
sieh   durch   freie  Heiterkeit   des  Geistes   darüber   zu    erheben.  ^^ 
seien  ilaher  auch  schou  sehr  wieder  aus  der  Mode  gekommen,  ua-' 
eine    Mischung   von   Scherz   und    Rührung,    von    AlUäglicbem  uc^ 
Wunderbarem,  das  uns  das  Romantische  bedeuten  müsse,  habe  den 
Vorzug.     Wo  sei   demnach  unsere   dramatische  Literatur  zu  fim'öi 
die  wir  den  unermesslichen  Schätzen  anderer  Nationen  in  die:?fW 


itvickelangsgangd.Uteratur.  1773— 1832.  Die Rornftotlkcr.  Ae&Uiet.Eritlk.   721 


^^■ntvickelangs 

^V&ch  entgeg:eu8tellen  könuten?    Alles  werde  sieb  bei  uns  auf  einige  §  3^0 
Datzeud  wabre  Originale  zurückfuhren  lassen,  die  irgend  mit  Achtung 
genannt  werden  möchten,  und  unter  diesen  seien  noch  verschiedene, 
die  in  der  allgemeinen  Meinung  sehr  Uberächätzt  wUrdeu,  andere, 
von  denen  es  sich  erst  ausweisen  mtlsste,  ob  sie  der  Vergänglichkeit 
er  Modeerzeugnisse  zu  entgehen  vermrtcbten.    Weiter  spricht  Schlegel 
on  der  Art,  wie  der  Dilettantismus  der  Versemacberei  in  den  kleinem 
attuugeu  sich  ergiesse:   hier  linde  man,   wenn  mau  es  bei  der  Be- 
chtung   der   allttlglichen   Romane   und   Schauspiele    mit    grossen 
aasen  der  Plattheit  und  Gemeinheit  zu  thuu  habe,   das  Fade  und 
Tnbedeutendo  herrschend.    Diese  Tändelei  sei   indess  immer   noch 
sclu'idiicher  und  auch  schon  dadurch,  dass  sie  sich  an  die  Gcsctz- 
Äsaigkeit  gewisser  Formen  binde,  eher  einiger  Disciplin  unterworfen, 
lils  die  Roman-  und  Schauspielschreiberei.     Den  Schlus»  der  ersten 
Vorlesung,   welche  die  TrUehersicbt    des  derzeitigen   Zustandcs  der 
deutschen  Literatur"  gibt,  bildet  der  schon  oben^'   berttcksichtigte 
Abschnitt  Über  die  Kritik  und  das  Recensiousweseu  jener  Zeit.     In 
der  zweiten  handelt  Schlegel  zuerst  von  dem  ^  Zustande  der  Literatur 
i  den  übrigen   gebildeten  Nationen",  sowie  von  dem  ^ Zustande 
r  schönen  KUnste*',  und  gelangt  zu  dem  Ergebniss:  dass  an  dem 
tern  auch  nicht  viel  zu  rühmen  sei^   und  dass  der  andere  in  fast 
len  Beziehungen  die  Zeichen   eines  tiefen  Verfalles  an  sich  trage. 
dem  Zustand   der  Künste  siebt  er  aber  nur  eine  einzelne  Er- 
heinung  unter  vielen  von  dem  Geist  des  Zeitalters  im  Ganzen,  in 
elchem  er  keineswegs  die  ihm  insgemein  zugeschriebenen  und  ge- 
nesenen Fortschritte   und   Vortreft'lichkeiten  entdecken   kann,    da 
ie  Bestrebungen  der  Menaeben  viel  mehr  auf  das   Nützliche,   die 
ermcbrung  ihrer  irdischen  Wohlfahrt,  als  auf  das  Gute,  ilen  Anbau 
res  himmlischen  Erbthcils  in  Wissenschaft  und  Kunst,  in  Religion 
d  Sittlichkeit   gerichtet   seien.     Der   herrschende  Charakter   des 
italtcrs  bestehe  nUmlicb,  wie  es  zu  Anfang  der  dritten  Vorlesung 
ewfit,  in  einem  allgemeiuen  Verkennen  der  Ideen,  wo  nicht  gar  in 
aem  Verschwinden  derselben  von  der  Erde:   man  habe  jene  vier 
ealen  Sphären  nicht  nur  ihren  Grenzen   nach  aufs  äusserste  ver- 
irrt, sondern  auch  das  Positive  in  ihnen,  das  wahrhaft  Reelle,  ganz 
c^geluugnet  und   aus  dem  entgegengesetzten  Negativen  abzuleiten 
raucht.     Dem  zufolge  werde  alle  wahre  Speculation  für  Transcen- 
inz,    für   Verirrung  der  Vernunft  ausserhalb  ihrer  Grenzen,   alle 
ligiöse  Mystik  für  Ahorglaubcu  uud  Schwärmerei,  alle  genialische 
esie  für  Exeentricitilt  der  Phantasie  erklärt,  und  an  die  Stelle  der 
bten  Idee  von  diesen  Dingen  substituiere  man  ihre  nichtigen  Be- 


ll» S.  690  f. 


4ß 


722    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIIZ  Jahrhonderts  bis  ta  Goethe's  Tod. 

§  330  griffe.    Worauf  gründe  sieb  also  der  Ruf  von  den  bewundemswQr- 
digen  Fortschritten  des  Zeitalters  und  die  stolze  Verachtung  aller 
vorhergehenden?    Es  könne  diess  nur  entweder  in  der  Cultur  der 
Gelehrsamkeit  und  mannigfaltiger  Kenntnisse,  in  den  von  einigen 
unter  diesen  zum  Theil  abhängigen  mechanischen  Künsten  bestehes, 
oder  in  den  Einrichtungen  des  Lebens,  den  politischen,  bttrgerlicbai 
und  häuslichen,  oder  endlich  in  Ansichten  und  Gesinnungen.    Ohne 
Zweifel  fussc  man  bei  jenen  Aussprüchen  auf  alles  Dreies;  es  er- 
fordere daher  eine  Prüfung  im  Einzelnen.    Diese  Prüfung  fällt  nun, 
was  die  Kenntnisse  betrifft,  .die  den  Geist  für  sich  interessieren  und 
zu  seiner  Bildung  beitragen  können'',  d.  b.  —  die  Philosophie  ab- 
gerechnet —  Geschichte,   Philologie,    Mathematik   und   die   physi* 
calischen  Wissenschaften,  in  Bezug  auf  das  in  der  Geschichte  Ge- 
leistete keineswegs  günstig  für  das  Zeitalter  aus;  nicht  viel  besser 
fährt  dabei  die  Philologie,  und  selbst  an  der  „  unstreitig  glänzendsten 
Seite  unserer  Gelehrsamkeit",    an    den    physicalischen   Erfahnings- 
Wissenschaften,    nebst   dem   vervollkommneten  und    auf  sie  ange- 
wandten CalcuK  hat  Schlegel  rUcksichtlich  der  Ziele,  die  man  hier 
vorzüglich  im  Auge  habe,  und  der  Behandlung  dieser  Wissenschaften 
sehr  viel  Ausstellungen  zu  machen.    Am  merkwürdigsten  ist  in  die9«D 
Abschnitt  die  Stelle  über  die  Verluste,  welche  die  Poesie  bei  ^ 
modernen    Behandlungsart  der  Naturwissenschaften    erlitten    haben 
soll:  sie  ist  zu  charakteristisch   für  den  Standpunkt,   von   welchem 
aus  die  romantische  Schule  in  ihren  poetischen  Productionen  und  iu 
ihrer  Kunsttheorie  die  Natur  auifasste,  als  dass  ich  anstehen  könnte. 
sie  hier  ganz  einzurllcken,   zumal  diese  Vorlesungen   Schleirels  in 
seine  sänimtlichen  Werke  nicht  aufgenommen  sind.     Indem  vou  den 
Stande  der  Astronomie  die  Rede  ist,  in  der  die  frühere  dynamische 
AutTassung   der  himmlischen   Bewegungen    durch   Newton  zu  eiuer 
mechanischen   herabgezogen  worden  sei,   hcisst  es    weiter*':    -Ah: 
ähnliche  Alt  (wie  sich  Newton  die  Centrifngalkraft  zu  erklären  sucLtf 
haben  die  mathematischen"  Erklärungsarten  alles  ertödtet,  und  die 
mathematischen  Physiker,   die  alles  durch   den  blossen  Calcul  an*- 
machen    wollen ,   sind   wiederum    Maschinen   dieser  ihrer  MaächiDt 
geworden.    So  lange  man  bei  Massen  und  Entfernungen  und  meoba- 
uischen   Wirkungsarten  stehen   bleibt,    kann   ich    nichts  sonderliti 
Erhebendes   und   das  Gemttth  Nährendes  in  der  Astronomie  tiuden. 
In  dem  Sinne,   wie  man    Keplern   den  letzten  grossen  Astrold^v:; 
nennen  kann,  muss  die  Astronomie  wieder  zur  Astrologie  wenicn. 
Wir  wollen  nicht  bloss  die  Gestirne  zählen  und  messen  nud  ihrew 
Lauf  mit  den  Ferngläsern  folgen,  sondern  die  Bedeutung  vnn  deiii 

72»  S.  54  f. 


Entwickelnugsgang  d.  Literatur.  1773—1832.  Die  Romantiker.  Aesthet.  Kritik.   723 


L      Entwickelnugi 

pSillen  begehren  wir  zu  wissen.  Uio  Astrologne  ist  durch  anmassliche  §  330 
I  Wissenschaftlichkeit,  wobei  sie  sich  nicht  behaupten  konnte,  in  Ver- 
achtung gerathen;  allein  durch  die  Art  der  Ausübung  kann  die  Idee 
derselben  nicht  heral)gcwUrdigt  werden,  welcher  unvcrgÄnglichc 
Wahrheiten  zum  Grunde  liegen.  Die  'dynamische  Einwirkung  der 
^^eätirno.  dass  sie  von  Intelligenzen  beseelt  seien  und  gleichsam  als 
^Büntergottheiten  über  die  ihnen  unterworfenen  Sphären  Schöpferkraft 
ausüben,  diess  sind  unstreitig  weit  höhere  Vorstellungsarten,  als 
wenn  man  sie  sich  wie  todte,  mechanisch  regierte  Massen  denkt. 
Selbst  in  dem  am  meisten  phantastisch  und  willkürlich  hehandolton 
Theile,  der  judiciären  Astrologie,  ist  die  innige  .Anschauung  von  der 
Einheit  und  Wechselwirkung  aller  Dinge,  da  jedes  ein  Spiegel  des 
Universums  ist,  aufbewahrt,  und  gewiss  erhebt  es  den  Menschen 
mehr,  dem  der  Anblick  der  Gestirne  nur  darum  vergönnt  zu  sein 
^^cheint,  um  ihn  über  das  Irdische  zu  erheben,  wenn  er  Überzeugt 
^^pt,  dass  sie  sich  auch  individuell  um  ihn  bekümmern,  als  wenn  er 
^sich  für  einen  blossen  glebae  adscriptus,  einen  Leibeigenen  der  Erde 
hält.  Die  Beziehung  der  Planeten  auf  die  Metalle  und  so  manche 
verworfene  Vorstellungsarten  der  Astrologie  werden  durch  gründ- 
lichere Physik  wieder  emporgebraoht.  Die  Astrologie  ist  wenigstens 
für  die  Poesie  eine  unentbehrliche  Idee;  sie  kann  derselben  nicht 
entrathen,  wenn  sie  sich  irgend  mit  den  Sternen  einlässt,  und  ohne 
den  Sinn  dafür  machen  die  Erweiterungen  der  neuern  Astronomie, 
auf  das  prjlchtigsto  in  ihr  aufgeführt,  wie  z.  B.  in  Klopstocks  Messias, 
nur  eine  trübselige  Erscheinung.  .  .  .  Ebenso  wie  die  Astrologie  fordert 
die  Poesie  von  der  Physik  die  Magie:  unmittelbare  Herrschaft  des 
Geistes  Über  die  Materie  zu  wunderbaren,  unbegreiflichen  Wirkungen. 
16  Magie  ist  ebenfalls  durch  die  schlechten  Zauberer  in  Misscredit 
kommen.  Die  Natur  soll  uns  aber  wieder  magisch  werden,  d.  h. 
rwdlen  in  allen  körperlichen  Dingen  nur  Zeichen,  Chiflfern  geistiger 
itentionen  erblicken ,  alle  Naturwirkungen  müssen  uns.  wie  durch 
oberes  Geisterwort,  durch  geheimnissvolle  Zaubersprüche  hervor- 
ifen  erscheinen,  nur  so  werden  wir  in  die  Mysterien  eingeweiht, 
weit  unHcre  Beschränktheit  es  erlaulit,  und  lernen  die  uuauflu"»r- 
1  »ich  erneuernde  Schöpfung  des  Universums  aus  Nichts  wenigstens 
Hierauf  werden  die  geselligen  Einrichtungen  des  Lebens 
ibt'en  verschiedenen  Zweigen  und  Abstufungen  betrachtet.  Auch 
ihnen  will  Schlegel,  im  Vergleich  mit  andern  Zeitaltern  der  Ge- 
liebte, woniger  Fortschritt  und  Vervollkommnung  als  Rückschritt 
1  Verfall  erkennen.  Vornehmlich  rügt  er  hier  auch  die  Selbst- 
»efbebung  und  Grossthuerei  des  neuen  Erziehuugswesens.  Alles 
[ebrige  endlich,  dessen  sich  das  Zeitalter  in  Ansichten  und  Ge- 
igen berübio^^^^^^^unter  den  von  ihm  selbst  constituierten 

4<(* 


724    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhanderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

§  330  Bcjp-iff  der  Aufklärung  zusammenfassen,  worauf  sich  letztlicb  Toleranz, 
Denkfreiheit}  Fublieitüt ,  Humanität,  und  was  dergleichen  mehr  Bei, 
reduciere.    Die  CharakterisJerung  dieser  Aufklärung  und  des  damit 
im  nächsten  Zusammenhang  Stehenden,  so  wie  die  Abschätzung  des 
wirklichen  Werthes  von  dem,  was  dadurch  fflr  das  Heil  der  Mensch- 
heit gewonnen  worden,  bilden  den  Schluss  der  dritten  Vorlesung: 
hier  findet  man  so  ziemlich  alles  aufgeführt  oder  doch  bertlbrt,  wae 
die  Romantiker  gegen  die  so  vielfach  angepriesenen  beilsamen  Folgen 
der  Aufklärung  und  den  Segen,  den  sie,  sammt  ihrem  Zubehör,  der 
Menschheit  gebracht  haben  sollte,  einzuwenden  hatten,  und  dabei 
werden  von  Schlegel,  wo  sich  nur  die  Gelegenheit  dazu  bietet,  dem 
Mittelalter  mit  seinen  Zuständen,  Ansiebten  und  Gesinnungen  Tugen- 
den und  Vorzttge  zugeschrieben,  welche  der  neuesten  Zeit  entweder 
gänzlich    oder   doch    zum    grossen  Theil   verloren    gegangen  seien. 
Dass  der  Geist  des  Zeitalters  in  Wissenschaft  und  sonst,  hebt  die 
vierte  und  letzte  Vorlesung  an,  als  eine  ungebührliche  HerrscbaR 
des  Verstandes  im  Verhältniss  zur  Vernunft  und  Phantasie  in  dem 
bisher  Vorgetragenen  richtig  charakterisiert  worden  sei,  erhelle  aneb 
aus  den  Begebenheiten  selbst,  welche  auf  die  derzeitige  Gestalt  and 
Bildung  Europa's  am  entscheidendsten  eingewirkt  haben:  die  R^ 
formation,  die  Erfindung  des  Schicsspulvers,   die   Entdeckung  tob 
America   und   Wioderfindung   von  Indien    und    die   Erfindung  der 
Buchdruckerei.    In    dem  nun,  was  zur  nähern  Begründung  diesee 
Satzes  dienen  soll,  sind  wieder  besonders  bemerkenswerth  die  An*- 
lassungen  über  die  Reformation'*.    Von  ihr  stamme  die  Aufklänwf 
her,   ja   sie   sei  schon  selbst  die  Aufklärung  im    Keime  gewesen 
Bewundernswürdig  wegen  der  heroischen  Wahrheitsliebe  ihrer  Ur- 
heber, habe  sie  doch  ebenso  wie  jene  andern  Begebeuheiteu,  rfli? 
verderblich  auf  Euro|)a  gewirkt.    Die  Reformation  habe  wider  Mi^ 
l)räuche  geeifert,  deren  Abstellung  in  der  Gcsammtheit  der  Kirfi? 
vielleicht  allmähliger,   später,  aber  universeller  und   dauernder  n 
Stande  gokonnncn  wäre.    Die  Reformatoren  glichen  schon  darin  d« 
neuern  Theologen,  dass  sie,  Gegner  aller  Mystik,  gleichsam  um  da 
Wunderglauben  markteten,  wie  wohlfeil  sie  etwa  damit  abkomm« 
möchten;   dass  sie  die  Nothwendigkcit  und  Bedeutung  einer  siw- 
bildlichen  Entfaltung  der  Religion   in   Gebräuchen   und  Mytliol«^V 
verkannten,  und  endlich,  dass  sie  sehr  unhistorisch  zu  "Werke  gienrto 
indem    sie    die   ganze   Geschichte   des  Christenthums    von  toalif 
anderthalb  tausend  Jahren,  nur  etwa  die  ersten  Generationen  abit- 
rechnet,  mit  einem  Streiche  vernichteten.     In  den  protestanriscii^ 
wordenen  Ländern   habe  die  Reformation  anfänglich   einen  ^r^y^ 

73)  S.  Tii  flF. 


Entwickelungsgang  d.  Literatur.  1773— IS32.  DieRomantÜcer.  Aesthet  Kritik.   725 


Rüokscliritt  in  eine  barbarische  Controvcrszeit  herbeigeführt;  die  §  330 
nachherigen  Fortschritte  iu  den  Wissenschaften  seien  mehr  indirecte 
Wirkung  gewesen.  In  den  katholisch  gebliebonon  Ländern  sei  eben- 
falls eine  Hcramung  und  ein  Stillstand  der  schon  blühenden  Bildung 
^erfolgt,  indem  die  um  ihre  Existenz  kämpfende  Kirche  illiberal  und 
'öhnisch  geworden.  Vornehmlich  in  den  Schicksalen  der  Künste 
:önne  man  die  schädlichen  Folgen  der  Reformation  wahrnehmen, 
„Europa",  heisst  es  zuletzt,  -bestimmt,  nur  eine  einzige  grosse  Nation 
auszumachen,  wozu  auch  die  Anlage  im  Mittelalter  da  war,  spaltete 
sich  in  sich:  das  ^vissenschaftliche  Streben  zog  sich  nach  Norden, 
die  Kunst  und  Poesie  blieb  im  Südens  und  da  ohne  die  Reformation 
Rom  Verdientermassen  (!)  der  Mittelpunkt  der  Welt  geblieben  wUre, 
und  die  ganze  europäische  Bildung  italienische  Farbe  und  Gestaltung 
angenommen  hätte  <!i.  so  gaben  jetzt  Frankreich  und  England  den 
Ton  an,  und  unnatürlich  verbreitete  sich  von  daher  aus  der  West- 
welt vieles  auch  Über  Deutschland,  den  eigentlichen  Orient  von 
Europa.  Deutschland,  als  die  Mutter  der  Reformation,  hat  auch  an 
ich  selbst  die  schlimmsten  Wirkun.iron  von  ihr  erfahren:  in  zwei 
fationen,  die  nördliche  und  südliche  geschieden,  die  ohne  Zu- 
neigung und  Harmonie  von  einander  nicht  wissen  und  sich  hinder- 
lich fallen,  statt  gemeinschaftlich  herrliche  Erscheinungen  des  GeiHtes 
^hervorzurufen,  hier  durch  Missbrauch  der  religiösen  Freiheit  erschlafft, 
»rt  durch  geistlichen  Despotismus  gedrückt  und  dumpf  geworden  ". 
lehr  paradoxe  Behaui)tungen,  allerdings  neben  andern  |  denen  mau 
gerne  beistimmen  wird,  finden  sich  sodann  in  dem,  was  Über  die 
Buchdruckerkunst  gesagt  ist:  z.  B.  der  einzige  wesentliche  Dienst, 
den  sie  der  Welt  geleistet  haben  möge,  sei  wohl  gleich  zu  Anfang 
die  Verbreitung  der  classischen  Autoren  des  Älterthums  gewesen; 
;hdera  sie  diess  bewirkt,  hiltte  sie  nur  wieder  untergehen  mögen, 
Buigstens  wären  dann  die  vielen  monströsen  Erscheinungen  der 
modernen  Literatur  nicht  zum  Vorschein  gekommen  etc.  —  Von 
allem  bisher  Geschilderten  sei  nun  der  nnvermeidlifhe  Einftuss  auf 
te  Poesie  leicht  einzusehen.  Die  aussehliessende  Richtung  aufs 
[QtKliche  ipüsse  ihr,  eonsequcnt  durchgeführt,  eigentlich  ganz  den 
abschied  geben.  Die  Quellen  allor  Fictionen  seien  versiegt,  indem 
in  die  Mythologie  unter  die  Rubrik  des  Aberglaubens  verwies,  und 
der  Natur  die  Symbolik  verschwand.  Es  habe  sich  eine  gleich- 
im  protestierende  Kritik  aufgethan,  die  auf  lauter  bloss  negative 
*u^cnden  dringe:  Vermeidung  des  Anstössigen,  Unschicklichen  etc.; 
nnd  so  bestehe  denn  auch  ihr  Ideal  des  poetischen  Stils  darin,  dass 
tan  in  Versen  nichts  sage,  was  man  nicht  auch  in  Prosa  (der 
trgerlichen,  gemeinnützigen  Sprache»  sagen  dürfe.  —  Damit  ist 
Schlegel  2u  dem  Punkte  gelangt,  wo  sich  ihm  die  Frage  aufdrängt, 


726     Vt  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  J&lirhundert«  bii  zu  tioethe'a  Tod. 


330  welcbe  Aussicht  m  die  Zukunft  miserer  Geistesbildung  und  Literatur 
sich  eröffne?     Und  diese  scboint  iLn»  denn  dt)cb  mebr  LdfrQuugsroU 
als  hoffnungslos  zu  sein:  er  glauht  schon  in  den  gegen wSirti^n  Zu* 
ständen   Spuren    und    Andeutungen    einer  RElckkebr    zum    hemen 
wahrzunehmen.     Auch  sei  bereits  von  raehrem   seiner  Freunde  and 
von  ihm  seihst  der  Anfang  einer  neuen  Zeit  auf  mancherlei  Art,  io 
Gedichten  und  in  Prosa,   in  Ernst  und  Scherz,   verkündigt  worden, 
und   das  entsetzliche,  gar  nicht  aufhörende  Geschrei   dawider  vob 
allen  Seiten  scheine  zu  verrathen,   dass  diejenigen,  die  e»  erhebo^ 
zu  fürchten  anfangen,   im  ruhigen  Besitz  der  Nichtigkeit  giÄtort  m 
werden.     Indem  er  sich  hierüber  noch  näber  erklärt   und  dem  B»» 
wurf  begegnet»   die  von  ihm   dargelejrte  Ansicht   der  vorhandenes 
Bildung»-  und  LiteraturzustÜnde  sei   ein  empörtes  und  undankbattf 
Kind  des  Zeitalters,   und   er  hestreite  dieses  Zeitalter  mit  deasoi 
eignen  Waffen,   fasst   er  noch   die  geschilderte  Periode  von  der  fftr 
ihre  Beurihcilung  am  wenigsten  unvortheilbaften  Seite  auf,  aU  ein 
bedeutendes  Moment  in  dem  allgemeinen  Bildungsgänge  der  Welt 
in  welchem  sie  mit  allen   ihren  Eigenheiten  vielleicht  nur  för  eine 
einzige  grosse  Reflexion  des  Menschengeschlechts  über  sich  selbtf  n 
halten  sei   und  dosw^en   nothwondig  ein  negatives  Auseben  habt 
gewinnen  mUssen.    So  viel  sei  gewiss,  dass  in  der  Form  der  ooofiiftea 
Philosophie  ein  gesteigertes  Bewusstsein,   ein  Grad   des  Sclbstnr 
Btändnissos  sich  ausdrücke,  wie  es  sich  zuvor  noch  nie  in  pbüoiophi- 
schen  Unternehmungen  offenbart  habe.    So  müsse  auch  der  bei^|« 
Dichter  über  das  Wesen  seiner  Kunst  mehr  im  Klaren  »eia,  als  «• 
ehemalige  grosse  Dichter  konnten,   die  wir  daher  be«Her  begrete 
mUssten,  als  sie  sich  selbst  begriffen;  eine  höhere  Reflexion  mtae 
sich  in  seinen  Werken  wieder  in  Unbewusstaein  untertauchen.    Des- 
wegen sei  jetzt  Universalität  das  einzige  Mittel,  wieder  etwas  GmaNi 
zu   erschwingen:   ein    Dichter   müsse   nicht   nur   die   umfaaaeaJAMa 
Studien  antiker  und  moderner  Poesie  gemacht   haben ,   er  roDase  iä 
gewissem  Grade  auch  Philosoph,  Physiker  und  Historiker  »ein.    VT» 
aber  endlich  die  Regungen  des  wiedcrauHebcnden  Geiste«  in  aotcffCr 
Literatur  betreffe,  so  sei  das,  was  dazu  zu  rechnen  sein  (ICLrfte,  aa 
Theil  nicht  ho  ganz  neu;  nur  habe  es  sieh,  isoliert  unter  dem  Harfta 
der   Missverstünduisse,   scheinbar   verloren    und    scheine   erat  jlttf 
wieder   vereinigt   auf  einen    Brennpunkt  za  wirken.     Hier  werdei 
nun  auf  dem  wissenschaftlichen  Gebiet  insbesondere  die  Leiatno^ 
und  Verdienste  W^inckelmanns,    Leasings  und  Kants  bervonf^boto 
und  charakterisiert,   und  die  neue  Lebensregung  in  der  Physik  V 
rtlhrt,    zuletzt    aber    die   Dichter   genannt,    in    deren    Werkea  tiwf 
Wiederherstellung  der  Poesie  in  Deutschland  tfaeils   sich  erst  ug^ 
kündigt,  theils  schon  begonnen  habe.    Dass  er  das  Meiste,  im  ift 


itirickciuDgsg&ng  d. Literatur.  1773— IS32.  Die  Romautiker.  Aesthet.  Kritik.   7'27 

der  Poesie  der  letzten  Periode  hervorgebraclit  uud  von  den  Deutschen  §  330 
verehrt  worden  sei,  für  durchaus  null  halte,  sagt  Sohlegel  hier,  habe 
er  schon  öfter  geäussert.  Er  sehe  wenigstens  nicht,  wie  sich  auf 
die  wielandische  mattherzige  SchlaflTheit  und  manierierte  Nachahmerei 
sollte  weiter  fortbauen,  oder  was  sich  aus  der  Dürftigkeit  eines 
Ramler^  Kleist,  aus  der  faden  SUsslicbkeit  eines  Gessner,  oder,  um 
Neuere  zu  nennen,  aus  der  pretiOsen,  geistlosen  Künstelei  eines 
Matthisson  sollte  entwickeln  hissen.  Anders  verhalte  es  sich  schon 
it  Klopstock"*  und  mit  BUrger:  dieser  gebe  ein  Beispiel  ab,  wie 
ohlthätig  oft  eine  einzige  poetische  Anschauung  aus  einem  fremden 
I  Zeitalter  wirken  könne;  denn,  nur  durch  seine  Bekanntschaft  mit 
^Uen  altenglischen  Balladen  habe  er  sich  dazu  erhoben,  Töne  echter 
^Holkspoesie  anzugeben,  da  er  sonst  vcrmuthlich  bei  kalter  Schul- 
fRoeeie  stehen  geblieben  wäre.  Der  Wiederhei'steller  der  Poesie  in 
'  Deutschland  bleibe  Goethe"  Wenn  viele  seiner  Sachen  nur  als 
nichstücke  und  Studien  anzusehen  seien ,  so  habe  er  dagegen  in 
dem  gediegenen  Werken  theils  die  Formen  des  Alterthums  im 
ilden  Wiederschein  seines  Geistes  gesjiiegelt,  theils  das  romantische 
leraent  wieder  nnfgefuudon  und  Werke  von  uncrgWindlicher  Ab- 
cbtlichkeit  damit  durchdrungen.  Es  siehe  zu  hofl'en,  dass  mit  Ihm 
dlicli  eine  Schule  der  Poesie  anheben  werde,  das  heisse  nicht. 
no  solche  von  Dichtern,  die  ihn  blindlings  anbeten,  oder  ilin  auch 
iür  für  das  höchste  Muster  halten,  sondern  die  mit  ähnlichen  Maximen 
Studium  und  in  der  Ausübung  der  Kunst,  auf  der  von  ihüi  er- 
öffneten Bahn  ohne  Nachahmung  selbständig  und  erweiternd  fort- 
hreiten.  Ueber  das,  was  seit  Goethe  in  der  Poesie  geschehen  sei, 
ag  Schlegel  nichts  sagen,  theils  weil  es  noch  zu  neu  sei,  um  es 
historisch  heurtheilen  zu  können ,  theils  weil  es  ihm  persönlich  zu 
nahe  «tehe^V 


741  Die  Stelle  über  ihn  ist  bereits  S.  715,  Aum.  ö3.  mitgetbeilt         751  Wm 

seine  früheru  Sclrifteu   Iwinerkl  ist,   steht   oben  S.  h'lS.  76i  Hier- 

it  vergleiche  man  den  „I^iteratur"  überschriebeuen  Artikel  Fr.  Soblegela  in  der 

ipa  U  1,-11  IT.,  in  welchem  er  schon  auf  die  zwar  gehaltenen,  aber  noch  nicht 

ickten  Vorlesungen  seines  Bruders  Bezug  nimmt  (S   42i.     Er  bespricht  hier. 

kt  KUckitlickeii  auf  die  Männer  des   1^.  Jahrhunderts,  die  ah  die  Begründer 

lerer  neuem  Literatur  (Klopstock,   Winckelmaun  und  Lessingi   und  als  „die 

is  unscrrr  Bildung"  (Goethe)  zu  betrachten  seien,  die  deutschen  Üilduugs-  und 

Iteraturverhältnisse  der  Hllemeuesten  Zeit  und  geht  dabei  insbesondere,  und  naher 

W.  r>chlegel  in  seinen  Vorlesungen  getbaii  hatte,   auf  die  Kr&cbeinuugcn 

denen  er  sichere  Bürgschaften  für  eine  reiche  und  glänzende  Zukunft  des 

idtscben  Literaiurlcbens  zu  erkennen  glaubt.    Philosophie,  Physik,  Poesie 

letirsamkeit  im  kräftigsten  und  wirksamen  Bunde  verbeiaseu  ihm  den  glück- 

Fortgang  derErtindung  und  Bildung  in  einer  ätatcn  Reihe  wahrhaft  neuer 

vortrefflicher  Godauken  und  Werke  (S.  47).  —  In  einem  gewissen  inuem 


728    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  JahxhunaerU  bis  za  Goethe's  Tod. 

§  331. 
Eiuen  Grundfehler  der  zeitherigcD  ästhetischen  Kritik  fand  A.  W. 
Schlegel  darin,  dass  dieselbe  bei  Abmessung  des  Werthes  dichterischer 
Erzeugnisse  an  der  Lehre  von  der  Correctheit,  wie  dieser  Begriff  in  der- 
alten  Schule  gefasst  wurde,  so  fest  hielt.  Durch  diese  Lehre  nämlich 
würden  die  Keceusenten  verleitet,  an  lauter  Einzelnheiten  hängen  zu 
bleiben,  immer  nur  auf  negative  Tugenden  zu  dringen,  das  wahrhaft  Po- 
sitive in  der  Poesie  und  Kunst,  das  Genie,  beinahe  als  das  feindselige 
Princip  anzusehen  und  es  unter  die  Botmässigkeit  des  sogenannten 
Geschmacks  zu  stellen.  Dictlon  und  Versbau  wären  ihre  Losung,  ohne 
dass  sie  selbst  davon  ein  grUndliches*\^erständniss  besässen,  von  der 
organischen  Entstehung  eines  Kunstwerks  dagegen  hätten  sie  in  der 
Regel  nicht  den  mindesten  Begriff  und  an  dessen  Einheit  und  l> 
theilbarkeit  keinen  Glauben,  weil  es  ihnen  an  Fähigkeit  und  Uebung 
gebräche,  es  als  ein  Ganzes  zu  betrachten.  Indess  war  Schlegel 
weit  davon  entfernt,  die  Bedeutung  der  Correctheit  in  künstlerischen 
Darstellungen  gering  anzuschlagen;  er  verstand  nur  darunter  etwas 
Anderes  und  Höheres,  als  was  den  Kritikern  der  alten  Schule  dafür 
galt.  Allerdings,  sagte  er,  gebe  es  in  der  Poesie  Geist  und  Buch- 
staben, einen  schaffenden  und  einen  ausführenden  Theil:  ein  Gedicht 
könne  nur  unter  bestimmten  Bedingungen  äusserlich  existieren,  uad 
insofern  es  diese  in  Uebereinstimmung  mit  dem  Innern  und  ohne 
Widerspruch  unter  einander  erfülle,  könne  es  correct  heissen.  Ni^ 
mand  dUrfe  auf  den  Namen  eines  Künstlers  Ans])ruch  machen,  d^ 
nicht  in  dieser  Technik  Meister  sei.  Allein  sie  gebe  zuvörderst  anf 
das  Grosse  und  Ganze,  Reinheit  der  Dichtart,  Anordnung,  Glieder- 
bau und  Verhältniss,  und  betrachte  das  Einzelne  immer  in  Bcziehtm.' 
auf  jenes*.    Aus  dieser  Grundanscbauung  von  dem  Wesen  der  Correct 


.  Verwandtscbaftsvcrhältiiiss  zu  A.  W.  Schlegels  Vorlesungen ,  obschon  ia  ndtr 
Beziehungen  wiederum  wesentlich  davon  vei-schieden ,  standen  die  ebenfalls,  i«' 
einige  Jahre  später  (im  Winter  lsul~lSo;>)  in  Berlin  gehaltenen  Voricsmi^'H: 
Fichte's  über  ,,t]ie  Grundzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters'*  is.  \Vcrke  Bü  '• 
besonders  die  6.  Vorlesung;  vgl.  Julian  Schmidt,  Geschichte  der  schönen  Litfratir 
•2.  Ausg.    1,  au  ff. 

§  331.  1)  Vgl.  Charakteristiken  und  Kritiken  2,  73  ff.  (s.  Werke  S.  13'  f' 
und  Europa  2,  I ,  S2  f.  Nachdem  Schlegel  in  der  zweiten  Stelle  bemiTkt  La' 
jener  Kritik  der  Correctheit.  die  gegen  das  wahrhaft  Positive  in  der  Kirnst  nsl 
Poesie  gleichsam  protestiere,  sei  die  soinige  diametral  entgegengesetzt,  fugl  fm^'- 
hinzu:  „Ich  glaube,  dass  man  in  der  Kunst^  wie  unbwlingt  verworfeu.  so  auft 
unbedingt  anerkennen  muss.  Wo  man  einmal  das  Göttliche  gefunden,  tfeix-  e*:' 
sich  mit  einer  Art  von  Andacht  hin.  um  sich  ganz  davon  durchdringen  zu  Iss'«: 
erst  dnrch  vorgäugige  Anbetung  der  grossen  Meister  erwirbt  man  sich  das  K«b:- 
sie  nachher  etwa  zu  tadeln". 


HnCwickcluDgbgaiigd.  Literatur.  1773 — 1&32.  DicRomantiker.  Acbthet. Kritik.    720 


i 

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^np' 


teit,  um  die  es  sich  alleiu  iu  der  ^rrdadlichen  Beurtheilung  poetischer  §  331 
Kunstwerke  handeln  könne,  entwickelte  sich  die  positive  oder  cha- 
rakterisierende Richtung  der  ästhetischen  Kritik  der  Romantiker. 
Wie  sie  den  Begriff  und  die  Tendenz  derselben  näher  bestimmten, 
aollte  sie  zuvörderst  „den  grossen  Sinn,  den  ein  sehopferischer  Genius 
in  seine  Werke  lege,  den  er  oft  im  Innersten  ihrer  ZusanimensetzuDg 
aufbewahre,  rein,  vollständig,  mit  scharfer  Bestimmtheit  zu  fassen  und 
zu  deuten,  alles  im  Ganzen  nicht  sowohl  beurtheileud  zu  würdigen, 
al«  zu  verstehen  und  zu  erklären  suchen,  so  dass  ^dadurch  weniger 
selbständige,  aber  empfängliche  Betrachter  auf  die  Höhe  des  richtigen 
Standpunktes  gehoben  werden  könnten" '.  Demgemäss  sollte  sie 
weitens  in  den  engsten  Verband  mit  der  Literaturgeschichte  treten, 
a  jedes  einzelne  dichtorische  Erzeugnis«  aus  dem  Geist  einer  be- 
stimmten Zeit  hervorgegangen  sei  und  mehr  oder  weniger  treu  den 
allgemeinen  Charakter  der  Nation,  welcher  der  Urheber  angehöre, 
in  sich  abspiegele,  da  auch  bei  seinem  Entwurf  und  seiner  Ausfllhrang 
era  Dichter  gewisse  Vorbilder  vorgeschwebt  haben  können,  er  in 
der  Wahl  des  Gegenstandes  und  der  äusserlichen  Form  vielleicht 
durch  verschiedene  Unistnnde  von  aussen  her  bestimmt  worden  sei, 
nnd  da  es  endlich  für  die  Beurtheilung  des  Werks  nicht  gleichgültig 
sein  könne  zu  wissen,  ob  ihm  schon  Aehnliches  voraufgegangen  sei, 
wie  es  sich  zu  seiner  Gattung  verhalte,  und  wie  diese  sich  entweder 
istorisch  gebildet  habe,  oder  durch  ihren  Begriff  unwandelbar  fcst- 
esetzt  sei^  Sie  sollte  drittens  darnach  stieben,  ihren  Gegenstand 
mit  philosophischem  Geiste  aufzufassen,  ihn  als  ein  Moment  in  dem 
ossen  Organismus  aller  Kunst«  und  Wissenschaften  zu  begreifen 
nd  in  Beziehung  auf  diesen  Organismus  genetisch  zu  construiercn  *. 


2)  Vgl  A.  W.  Schlegel  in  dem  Horenaufsati  „Etwas  Ober  William  Shak- 
3.  Werke  7,  2G;  Fr.  Scblegel  in  ilcn  Charaktoristikon  und  Kritikca  1,257  f, 
'8)  Vgl.  A.  W.  Schlpgel  in  den  Chnrakloristiken  und  Kritiken  i,  luf.;  und  im 
.thendum  l.  I.  tl'J  .s.  Werke  s,  72:  12,  lu  f.i.  Da  er  von  eintra  Reccnsenten 
Facli  der  schOnen  Litemtur  verlaiigtü,  derselbe  müsse,  wo  von  eiuem  elgeni- 
Ichcn  Kunstwerk  die  Rede  sei,  ein  solehes  nicht  allein  im  Ganzen  nach  seinem 
tau  und  Wesen  zu  conatruieren .  sondern  es  auch  historisch  an  die  in  derselben 
.rt  vorhandenen  Meisterwerke  anderer  Zeiten  und  Nationen  anzuknitpt'en  ver- 
tehen.  so  Uiflt  er  die  „Kenutniss  der  nniverseUen  Geschichte  der  Poesie"  fttr 
lur  Kritik  durchaus  nothwenditres  Erfoidcrnlss  (Europa  1,  1.  20;  20». 
4)  Fr.  Sohlegel  hielt  zu  licni  Ende  die  Begründung  und  Aushildnnß  einer 
igenen  Wissenschaft  Irtr  nothweudig.  In  der  Nachrede  zu  der  Charaklerisljk 
,c«3ingB  und  den  „Eisenfeilcn-  i  Charakteristiken  und  Kritiken  I.  25^  ff.l  sprach 
sich  nämlich  dahin  aim:  „Wenn  ihr  e^  wirklich  erkannt  habt,  daas  man  ein 
'erk  nur  im  System  aller  Werke  des  KüMsllera  ganz  verstehe,  »o  werdet  ihr  Ober 
in  oder  lan«  auch  wohl  anerkennen  miissen.  dassnur  der  di-n  Geist  de«  Konmlera 
kennt,  der  diiyenigen  gdunden  hat.  aof  die  er  sich,   dusaerhch  ,vieUeicbt  durch 


730    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bia  zn  GoetheV  Tod. 

331  Sie  soUto  endlich ,  zufolge  des  von  Fr.  Schlegel  ausgesproebenea 
Grundsatzes  j  Poesie  könne  nur  durch  Poesie  kritisiert  werden '^  in 
der  Charakteristik  eines  Tortrofflichen  Werkes  oder  eines  bedeuten- 
den Schriftstellers  seihst  wieder  ein  Kunstwerk  zu  liefern  suchen. 
„Ein  Kunsturtheil,  fügt  Fr.  Schlegel  jenem  Grundsatze  binzu^  welches 
nicht  selbst  ein  Kunstwerk  ist,  entweder  im  Stoff,  als  Darstellang 
des  nothwendigen  Eindrucks  in  seinem  Werden,  oder  durch  eine 
schöne  Form,  hat  gar  kein  Bürgerrecht  im  Reiche  der  KunBt''^ 
Ausfuhrlich  lässt  sich   hierauf  Bernhardi  im  Kynosarges  ein:  ^Nur 


Nationen  und  Jahrhunderte  getrennt^  unsichtbar  dennoch  bezieht,   mit  denen  er 
ein  Ganzes  bildet,   von  dem  er  selbst  nur  ein  Glied  ist.  —  So  muss  auch  d&s 
Einzelne  der  Kunst,   wenn   es  Rundlich  genommen  wird,   zum  unennesBlicfaen 
(ianzeu  führen.  —  Wollt  ihr  zum  Ganzen,  seid  ihr  auf  dem  Wege  dabin,  so  köoBt 
ihr  zuversichtlich  aunehinen,  ihr  werdet  nirgends  eine  natürliche  Gren2e  tinden, 
nirgends  einen  objoctivcn  Grund  zum  StillBtande,  che  ihr  nicht  an  den  Mittelponkt 
gekommen  seid.    Dieser  Mittelpunkt  ist  der  Organismus  aller  Künste  und  Wissen- 
schaften, das  Gesetz  und  die  Geschichte  dieses  Organismus.    Diese  lUldnngslelire. 
diese  Physik  der  Phantasie  und  der  Kunst  dürfte  wohl  eine  eigene  Wissenschaft 
sein,  ich  möchte  sie  Encyklopädie  nennen :  aber  diese  Wissenschaft  ist  noch  nicht 
vorhanden  (vgl.  hierzu  auch  das,  was  über  eine  solche  Encyklopädie  von  Fr.  Schieß 
in  dem  Buch  „Lcssings  Geist"  *i,  1 1  f.  bemerkt  ist).  —  Entweder  hier  (in  dieser 
Kncyklop:idiei  ist  die  Quelle  objectiver  Gesetze  für  alle  positive  Kritik,  oder  Dir- 
gends'*.    Weiterhin  (S.  'HVM  gibt  er  auch  noch  die  Ilauptgesichtspunkte  au,  unter 
welchen  die  charakterisierende  Kritik  ein  Werk  aufzulassen   habe:     „Wenn  är 
versuchen  wollt,   Autoren  oder  Werke  zu  verstehen,   d.  h.  sie  in  Beziehung  auf 
jenen  Organismus  aller  Kunst   und  Wlssenschatt  genetisch  zu   construierea.  so 
werdet  ihr  boniorkcu,  dass  es  vier  Kategorien  gibt,  in  die  sich  alles  scheitlcr,  »is 
ihr  bei  einer  solchen  (imstiuction  Cliarakteiistisches  in  dem  Phänomen  der  KiiiiMsroli 
findet,  vier  Begriffe,  unter  dit;  sich  das  alles  füj;t:    Form  und  Gehalt,  Absicht  uni) 
Tendenz.    Aber  nicht  alle  diese  Kategorien  sind  auf  jedes  Werk,  auf  jeden  Autor 
anwendbar".   —  In  dem  Buch  j.Lc^sings  Geist  aus  seinen  Schriften"  (i,  :.i9ff,i  »ril 
Fr.  SchU'gcl  die  Kritik  als  ein  Mittelglied  der  Historie  und  der  Phi!osü]ibie  sreda-rliJ 
wissen,  das  beide  verbinden,  in  dem  beide  zu  einem  neuen  I»ritten  vereinigt  soia 
sollen.    Ohne  ]diilosoiihischen  Geist  könne  sie  nicht  gedeilien  und  eben  so  veni? 
ohne  historische  Kenntniss.    „Man  kann  nur  dann  sagen,   dass  man  ein  Wert 
einen  Geist  verstehe,  wenn  man  den  Gang  und  Gliederbau  naebconstruiereii  k«nn. 
Die.«s  gründliche  Verstehen  nun,  welches,   wenn  es  in  bestimmten  Worten  «uj- 
gedrückt  wird,  Charakterisieren  heisst,   ist  das  eigentliche  Geschäft  und  innf-K 
Wesen  der  Kritik".    Vgl.  hierzu  die  von  Bernhardi  im  Kynosarges  1,  122  !f.  cr.> 
wickelten  Grundsätze,  nach  dcnon  der  Kunstkritiker  verfahren  müsse.  ö'  It 

Lycenm  und  daraus  in  den  Charakteristiken  und  Kritiken  I,  250.  Schlegpl>  >y^ 
enthielt,  nur  paradoxer  ausgedrückt,  dasselbe,  was  ein  Jahr  darauf  Schilicr  a: 
Humboldt  schrieb  iS  4:t^):  die  Theorie  sei  nicht  bloss  unzulänglich  inlUiOn'iil- 
auf  das  künstlerische  Hervorbringen,  sondern  auch  da,  wo  es  sich  um  Jio  H:^ 
urtheilung  eines  Kunstwerks  handle,  und  er  möchte  behaupten .  dass  es  kciu  t»r 
fäss  gebe,  die  Werke  der  Einbildungskraft  zu  fassen,  als  eben  die  Einbildnn?- 
kraft  selbst.  (y\  Vgl.  dazu  ein  Fragment  von  ihm  im  Athenäum  1.  2.  N^  i^^^^ 
A.  W.  Schlegel  im  Athenäum  2.  2,  2^5  (s.  Werke  12,  :*<»). 


Entwickelungsgangd-Literator.  1773—1832.  Die  Romantiker.  Aesthet  Kritik.   73t 

das  freundschaftliche  Besprechen  der  Wissenschaft  mit  dorn  Kunst-  §  331 
werke,  das  Bestrehen,  die  imaginative  Anschauung  als  vollendet  in 
Verstand  aufzulösen,  verdient  den  Namen  der  Kritik.  .  .  .  Wissen- 
schaft und  Kunst  unterscheiden  sich  nur  durch  ihre  Formen  und 
verschiedene  Beziehung.  Der  Künstler  produciert  nach  harmonischer 
Empfindung  eine  harmonische,  vollendete  Anschauung  und  erweckt 
durch  diese  letztere  die  erste  in  ihrer  vollen  Reinheit.  In  der  Rein- 
heit oder,  was  dasselhe  ist,  Einheit  der  Empfindung  liegt  also  der 
Vereinigungspunkt  zwischen  dem  Kritiker  und  dem  Künstler.  Allein 
der  erstere  stellt  diese  in  der  Form  des  Verstandes,  der  letztere  in 
der  der  Einhildungskraft  dar.  . . .  Die  Darstellung  der  Kritik  aher 
in  ihrer  höchsten  Vollkommenheit  soll  symbolisch  sein ,  —  das 
Kunstwerk  wirklich  in  der  Form  des  Verstandes  darstellen*'^... 
„Der  Weg,  welchen  man  bei  der  Schilderung  eines  Kunstwerks 
betreten  kann,  ist  doppelt:  der  erste  ist,  den  Eindruck,  welchen 
dasselbe  als  ein  lyrisches,  auf  die  Empfindung  berechnetes  Product 
macht,  wieder  lyrisch  darzustellen,  die  Kunst  durch  die  Kunst,  die 
Poesie  poetisch  zu  erläutern,  sei  es  durch  eine  Uebersetzung  in  eine 
andere  schöne  Kunst  oder  in  eine  andere  Art  derselben  Gattung'. 
Ein  zweiter  Weg  ist  folgender.  Die  Kunst,  sofern  sie  mitgetheilt 
werden  soll,  bedarf  eines  Stoffes,  an  dem  sie  sich  äussert,  und  durch 
welchen  sie  begreiflich  wird.,  an  dem  sie  sich  ausdrückt,  und  den 
sie  eben  darum  beherrscht.  In  der  Darstellung  entsteht  hierdurch 
die  Kttnstlichkeit,  welche  man  sehr  genau  von  der  Kunst  unter- 
scheiden muss^  Die  summierte  und  aufgezählte  Künstlichkeit  nun 
gibt  eine  Reihe  von  Punkten,  an  welche  die  Empfindungen  des  er- 
läuterten Kunstwerks  sich  anreihen,  und  durch  deren  Aufzählung 
das  Kunstwerk  prosaisch  begreiflich  wird.  Beide  Arten  haben  eine 
und  dieselbe  Regel,  nämlich  nie  eine  Nebenempfindung  oder  Neben- 
partie des  Werks  in  anderes  Verhältniss  zu  stellen,  als  sie  im  Kunst- 
werke selbst  steht,  die  höhere  und  niedere  Künstlichkeit  nicht  zu 
verkennen  oder  zu  vermischen.  Beide  Arten  sind  Einleitungen  in 
das  Kunstwerk  selbst,  beide  macheu  die  Einheit  bemerkbar,  ordnen 
die  Einbildungskraft,  zeichnen  durch  den  kleinen  Umfang  die  Haupt- 
empfindung deutlicher  aus,  machen  das  Colorit  bestimmter.  Nun  ist 
aber,  der  Natur  der  Sache  nach,  eine  dritte  durch  die  Vereinigung 

7»  S.  7  ff.  St  S.  4hl  f.:  als  Beispiele  werden  angeführt  die  Gemählde- 

schilderuDgen  in  den  „Herzcnsergiessungon  eines  kunstlfebenden  Klosterbruders 
S.  90  ff.;  die  versificierten  Partien  in  Tiecks  Sternbald  l,3U»ff.  und  dessen  roman- 
tische Dichtungen  1 ,  290  ff. ;  so  wie  A.  W.  Schlegels  Sonette  im  Athenäum  2, 
1,  137  ff.;   s.   Werke  1,  ;i»5  ff.  9)   Vgl.  oben  S.  (i59   den  von   Schelling 

bezeichneten  Unterschied  zwischen  dem.  was  insgemein  Kunst  genannt  werde,  und 
der  Poesie  der  Kunst. 


732    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe*B  Tod. 

I  331  beider  möglich,  und  wenn  hierbei  die  historischen  Notizen  beigebracht 
und  der  Platz,  welchen  das  Kunstwerk  im  Verhältniss  gegen  andere 
ähnliche  Produete  einnimmt,  angegeben  wird :  so  entsteht  ein  Kunst- 
urtheil,  welches  unmittelbar  unter  dem  Kunstwerke  steht,  welche« 
es  veranlasst,  und  nichts  anderes  als  das  Kunstwerk  Ton  einer  andern 
Seite  angesehen  ist,  nichts  anderes  als  ein  Gelegenheitsgedicht,  welches 
aber  seine  individuelle  Beziehung  ganz  verliert,  weil  das  Correlat 
nicht  eine  nflchterne  Wirklichkeit  und  Alltäglichkeit  ist,  sondern 
etwas  Idealisches,  aus  dem  wieder  etwas  Idealisches  entsteht  und 
entstehen  mues,  wenn  von  jenem  würdig  gesprochen  ^vird ".  —  Ent- 
sprachen nun  die  eignen  Leistungen  der  Romantiker  in  der  positiven, 
charakterisierenden  Kritik  auch  nicht  gleichmässig  und  vollständig 
allen  von  ihnen  seihst  an  dieselbe  gemachten  Fordcningen,  so  waren 
doch  einzelne  darunter  in  ihrem  Gehalt  und  in  ihrer  Form  gleich 
vortrefflich.  Am  glücklichsten  und  glänzendsten  bewährte  sich  auch 
hier  wieder  A.  W.  Schlegels  kritisches  Talent.  Als  wahre  Muster 
in  ihrer  Art  konnten  namentlich  seine  Recension  von  Goethes 
„Hermann  und  Dorothea"'"  und  sein  Aufsatz  „tlber  Bürgers  Werke""' 
gelten,  woneben  von  seinen  übrigen   hier  einschlagenden  ArbcitCDt 


IQ)  Vgl.  S.  M'i  ff.  11 1  Zuerst  gedruckt  in  den  „Charakteristiken  und 

Kritiken"  2,  I — iHJ  (s.  Werke  S,  (U  ff.t.  Der  Standpunkt,  von  welchem  ans  in 
diesem  Aufsätze  die  Charakteristik  Bürgers  entworfen  und  ausgeführt  wurde,  vir 
ein  sehr  vertichiedener  von  dem,  auf  welchen  sich  Schüler  gestellt  hatte,  alätf 
seine  bekannte  lleceusion  der  liürgerschen  Gedichte  schrieb  (aus  der  Jeujcr 
Litoratnr-Zeitunif  ITfM.  i,  !i7  ff.  in  Schillers  s.  Werken  S,  2,  2(>v  ff).  Sdüller 
hatte,  indem  er  die  'rronnuiijr  iles  Dichters  von  dem  Menschen ,  die  Sohlegel  lifa 
KuiibtrichterzurTriicIit  niat-hte.  nicht  zugeben  wollte,  zu  bestimmt  au9«respröcli'ai. 
dass  dem  Menschen  Bürger  abgehe,  was  man  an  dem  Dichter  vermisse.  ..Meua 
wir  uns*',  bemerkte  Schlrfrel  dagegen,  ..ohne  über  den  Urheber  richten  zu  woi!»«. 
bloss  an  ilas  Geleistete  halten,  so  bekommen  wir  statt  eines  unbekannten,  ucfl"- 
gi'ündlichen  und  ins  Unoudliclie  hin  bestimmbaren  Subjects.  das  auf  sich  seli-^t 
hätte  handeln  sollen  und  können,  bestimmte  Objecte,  auf  die  der  Dichter  gelupdeii 
hat:  niimlich  seine  Vorbilder,  die  |)oetii?chen  Gattungen  ^,  die  gewühlten  GeÄt2- 
stände  — ,  endlich  die  sjiirache  und  die  ünsscrliclien  Formen  der  Poesii?.  Ji? 
Silbenmasse,  wie  er  sie  vorfand  und  bearbeitete".  „Xach  diesen  Rficksicliteii  ^n■i 
ihrer  Zusammenhaltung  mit  dem  unbedingten  Mas-sstabe  des  Kunstgcseizes*"  wanitii 
nun  in  diesem  Aufsätze  die  bürgerschon  Gedichte  einzeln  oder  gruppeuwei^t  -'e- 
])rüft  und  die  Ergebnisse  der  Prüfung  in  dem  Vrt heil  zusammengefasst :  ..üiiritf 
ist  ein  Dicliter  von  mehr  eigcnthümlicher  aß  umfassender  Phantasie,  von  ifljl'f 
biederer  und  treuherziger  als  zartiT  EmpHndungswcise;  von  mehr  Grüntllicbkrl: 
im  Ausführt'u,  besonders  in  tier  grammatischen  Technik,  als  tiefem  Verstirniv  b 
Entwerfen:  mehr  in  der  Piomanze  und  dem  leichten  Liede  als  in  der  b«'heni  l«Ti* 
sehen  Galtung  einheimisch:  in  einem  Theil  seiner  Hervorbringungen  echter  Yfl»*- 
dichter.  dessen  Kunttstil.  wo  ihn  nicht  Maximen  und  Gewöhnungen  hinJem.  ^-^^^ 
ganz  zu  dcm&elbcn  zu  erheben,  IvJarlieit.  rege  Kraft,  Frische  und  zuweilen  Zi?:- 
hchkeit,  seltner  (irossc  hat**. 


EütwickelungsgÄDg d.  Literatur.  1773— IS32.  Die  Homaatiker.  Aestbet.KHiik.   733 


lofern  dieselben  nur  deutsche  Literaturwerke  betrafen,  die  Beurtbei-  §  331 
langen  von  Scbillers  Gedicbt  „die  Künstler*"*,  von  den  ersten  zehn 
HorenstQcken'^    und    von    der    „Tei])8icbore''   Herders*'    die    wertb- 
vollsten   waren.    Unter  den   Cbarakteristiken ,   welche  Fr.  Schlegel 

ron  vaterlnndißcben  Schriftsteilem  und  ihren  Werken  lieferte,  zeicb- 

nelen  sich  als  die  trefTeudsteu   und   belehrendsten  aus  der  Aufsatz 

11  her    „G.    Forsters   Schriften"",    die    Cliarakteristik    des    „Wilhelm 

[eister**,  die  freilich  nur  Fnignient  blieb  "\  und  der  dem  ,  Gespräch 

tber  die   Poesie"   eingeschaltete   .Vei-such   Über  den   verscliiedenen 
Stil  in  Goethe*8  frühern  und  späteru  Werken'"';  denn  die  Charakteri- 

itik  Lessings'*,  so  viel  Tiefgedaehtes  und  Wahres  sie  auch  enthielt, 
"ergieng  sich  doch,  weil  sie  absichtlich  den  in  der  alten  Schule 
herrschenden  Ansichten  von  Lessings  Bedeutung  als  Dichter  und 
Kunslrichter  so  schroff  entgegentrat,  zu  sehr  in  ]>aradoxen,  ja  in 
^schlechthin  unhaltbaren  Behauptungen,   die  Schlegel  selbst  nnchlier 

m  beschränken,  wo  nicht  ganz  zurückzunehmen,  für  gut  fand.    Diesen 
Kritiken    und   Charakteristiken   der  beiden   Schlegel   gesellten   sich 

rjlann  noch  einige  von  Bernhardi  zu,  deren  Gegenstände  Tiecks 
GenoveTa"***,  Ä.  W.  Schlegels  „Gedichte**"  und  der  von  diesen 
leiden  herausgegebene  n  Musenalmanach  ^  *'  waren.  Zwar  haben  sie  nie 
I  den  Ruf  der  schlcgelschen  erlangt,  sind  aber  jetzt  wohl  nur  darum 
Htfast  ganz  in  Vergessenheit  gerathen,  weil  sie  in  ihrem  viel  zu  weit 
igehenden  Lobe  die  Farbe  der  Partei  zu  grell  an  sich  trugen,  auch 
^nieht,  wie  jene  aus  deu  Zeitschriften,  in  die  sie  eingerückt  waren, 
■resammelt  und  wiederholt  abgedruckt  worden  sind.  —  Setzte  die 
^Kegierende  und  polemische  Kritik  der  Romantiker  den  schlechten 
Hnnd  herabziehenden  Literaturtcndeuzen  einen  starken  Damm  ent- 
gegen, und  brachte  sie  bei  dem  verständigem  und  für  Belehrung 
jCmpf^nglichern  Theil  des  Publicums  die  Werthlosigkeit  und  Ver- 
verflichkeit  der  sich  der  Gunst  der  Menge  erfreuenden  Tagesliteratur 
Jlmühlig  zu  dciitlieherm  Bcwnsstsoin,  so  trug  ihre  i)08itive  Kritik 
jbr  wesentlich  dazu  bei,  dass  reinere  Begriffe  von  dem  Wesen  der 
loetischen  Kunst  in  Umlauf  kamen,  dass  die  Münner,  welche  sich 
dahin  um  unsere  Literatur  am  meisten  verdient  gemacht  halten, 


12)  Vgl   S.  595.  13)  Vgl.  S.  W)0  ff.  14)  Vgl.  S.  609  f.,  Aum.  41. 

lese  Rcci'usioii  ghh  niclit  bloss  eine  vortreffliche  Cbarakteristik  der  lateiuischeu 

'oesie  Jacob  Ualde's,  sondern  charakterisierte  anch  sehr  schfln  das  grosse  Talent, 

!n  feinen  Tact  und  der  zarten,   für  das  Schone  jeder  Art  gleich  offenen  Sinn 

lerders .  womit  er  volks-   und  kunslraässigp  Gedichte  aus  fremden  Sprachen  der 

isrigen  anzueignen  verstand.         15)  Vgl.  S.  Bis  f.,  73.         16)  Vgl.  f>.  i>45,  18. 

17)  AtheniuiD  :i,  2.  170— ISl  (s.  Werke  5,  301  ff.).  18)  Vgl  8.  620  ff. 

19)  Im  licrliner  Archiv  der  Zeit  ISOÜ.    l,  457  ff.  "20)  Daselbst   ISOO. 

124  ff.  21)  Im  KynoGarges  1.  121  ff. 


7^4     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

§  331  eine  riclitigerc  Beurtheilung  und  eine  bessere  Würdigung  fanden, 
dasB  ein  tieferes  Verständnias  ihrer  Werke  eingeleitet,  und  dass 
endlich  auch  ein  lebendigeres  Verhältniss  zwischen  der  Literatur  und 
dem  Leben  vermittelt  wurde". 

S  332. 

Es  war  sehr  bezeichnend  für  die  Riehtungen,  welche  die  neue 
Schale  seit  ihrem  engern  Zusammenschluss  in  ihrer  Kunsttbeorie 
und  in  ihrer  schriftstellerischen  Praxis  verfolgte,  dass  ihre  Stifter 
und  Häu|iter  schon  früher,  ja  gleich  bei  ihrem  ersten  Auftreten,  an- 
gefangen hatten  zwischen  der  deutschen  und  den  fremden  Literaturen 
alter  und  neuer  Zeit  ganz  andere  Verhältnisse  anzuknüpfen,  als  sie 
bis  dahin  zwischen  der  einen  und  den  andern  bestanden  hatten. 
Bis  weit  über  die  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  berein  hatten 
vorzüglich  die  römische,  die  französische  und  die  jüngere  englische 
Literatur  die  stärksten  Einflüsse  auf  die  deutsche  Poesie,  namentlich 
auf  alles  Formale  in  ihr,  ausgeübt;  die  gi*iecbische  gewann  den 
ihrigen  in  bedeutendernr  Grade  zuvorderst  durch  J.  H.  Voss  und 
Goethe,  aber  hauptsächlich  nur  auf  dem  praktischen  AVege  dicbt^ 
rischcr  Reproduction  und  Production;  auf  dem  kritiscb-wissenscbaft' 
liehen  dagegen  suchte  ihn,  im  Anschluss  an  das,   was  nach  dieser 

22i  Auch  auf  die  Schöpfungen  der  bildenden  Kunst,   namentlich  auf  Jie 
Werke  der  Mahlcrei  aus  den  Zeiten,  wo  diese  in  der  höchsten  Blüthc  stand,  er- 
streckte sich  die  charakterisierende  Kritik  der  romantischen  Schule.     Den  ersten 
Anstoss  dazu  hatten  schon  ilie  „IIcTzensergiessungeu  t^iuos  kuiistlie!>endcu  Kloster- 
bruders" gegeben  (vü:I.   ??.  :t\i  tt'.j.     Was  dort  und  dann   auch   in   den   ..I'IjUi- 
tasien  über  die  Kunst*'  und  in  „Franz  Stcrubalds  Wanderungen*'  von  neuen  Wftü 
über  die  bildende  Kunst  niedergelegt  wurden  war.   hatte   sich    noch  vurzug-'Tcist 
aus  den  Gefiihlsreijungeu  entwickelt,   wrlche  die  Anschauung   vortrofllicher  l'<?- 
inaliltlo  in  einem  sinnigen  Geniüth  hervorzubringen  vermag.     Die  Schlegel  stf-n&n 
in  ihren  hierher  tauenden  Arbeiten  weiter  (A.  W.  Schleg»»!  in  dem  (.icsprucii  -.'IJ* 
Gemablde'  und  in  dem  Aufsatz  „über  Zeichnungen  zu  Gedichten  uud  Jobu  Flü- 
mans   Umrisse-,    vgl.   S.  ti4.'>,  Ki    und    dazu   noch    s.   Werke  it.    lö^  ff.:   2^1  ff: 
'2\Ky  R'.,  sowie  auch  Verschiedenes  in  den  ..Fragmenten*"  des  Athenäums.  =.  V^rl* 
^,  '\  tt". ;    -     Fr.  SclilcKel  in  der  „Nachricht  von  den  Gemahlden  in  Paris-,  noist 
deren  vier  Fortsttzuugcn,  vi-l.  S.  »üM,  1 1.   12.  und  in  den -Grundzügen  di^ritothis'-i-t 
Baukunst*,  zuerst  in  s<.'inrm  jtoetischen  Taschenbuch,    lierlin   Im»:»  f.  und  diiü-j 
in  den  p.  Werken  <»,  i'JI  ff.\:    sie  suchten  durch   eine  mehr  hrgriflfsmä5>iir<' Au:- 
fassung  und  Deutung  den  geistigen  Gehalt  und  die  Form  dos  Kunstwerks.  il»'Lvii 
oder  die  Manier  des  Künstlers  dem  Verständniss  des  Betrachters  nahe  zn  l-rintf'' 
Dadurch  und  durch  die  Aufstellung  und  Entwickelnng  allgemeiner  Grundsätze  Va 
die  bildende  Kunst  haben  sie,  weniger  jedoch  der  jüngere  als  der  ältere  BruJrr. 
in  nicht  trerinireni  Masse  dazu  mitgewirkt,  dass  nach  und  nach  auf  diesem  GiiK*. 
das  Theoretische  der  Kunst  tiefer  gefasst  wurde  und  in  die- Ueurtheilur^-   'E 
Kunstwerken  grossere  !>icherheit  und  Klarheit  kani.     Vg).   de»    Drief  vnu  ^:lh-• 
Boisseree  in  den  Briefen  an  L.  Tieck  !,  "^. 


Wf 


Entwickelungsgangd. Literatur.  1773— lb32.  DieRomaatUcer.  CeberseUungen.  735 

Seite  hin  bereits  von  Winckelmann,  Lessing  und  Herder  angebahnt 
worden,  vorzüglich  erst  Fr.  Schlegel  zu  vermitteln,  theils  durch  die 
eigentlichen  litcrarhi«toriHfhen  Arbeiten  au»  den  ersten  Jahren  seiner 
achriftstelleriscben  Thätigkeit'j  theils  und  vornehmlich  durch  die 
icjirift  „Über  das  Studium  der  griechischen  Poesie''*.  Au  bedeuten- 
den Anregungen  durch  italienische  Dichter  hatte  es  den  unsrigen 
seit  den  siebziger  Jahren  zwar  auch  nicht  gefehlt,  und  noch  machtiger 
nnd  tiefer  greifend  hatte  Shakapeare  auf  unsere  Dichtung  eingewirkt; 
^«Jlein  in  eine  unmittelbarere  und  lebendigere  Fiezichung  zu  den 
:ro9sen  Italienern  und  zu  Shakspeare  kam  die  deutsche  Literatur 
doch  auch  erst  durch  die  Romantiker,  und  zu  den  poetinchen  Schützen 
ler  Sj)anier,  von  denen  man  in  Deutschland  zeithcr  nur  sehr  mangel- 
lafte  Kenntnisse  gehabt  hatte,  eröffneten  sie  eigentlich  erst  den  Zu- 
iDg.  Das  eine  und  das  andere  bewerkstelligten  sie  theils  durch 
besondere,  jenen  Charakteristiken  deutscher  Schriftsteller  Ähnliche 
>ufgiltze  nnd  durch  literargeschichtliche  Uebersicliteu,  theils  durch 
unstmässigc  Ueberselzungen  einzelner  Werke  der  von  ihnen  am 
lOchstcn  geschätzten  italienischen,  englischen  und  spanischen  Dichter. 
Verschiedenes,  was  von  der  beiden  Schlegel  und  Tiecks  Arbeiten 
derber  zu  rechnen  ist,  war,  gleich  jenen  ersten,  die  griechische 
^^Litoratur  bctrefTcnden  Aufsjitzen  <lc9  jUngcrn  Schlegel  schon  vor  der 
Hfertißdung  des  Athenäums  erschienen:  von  dem  (iltem  der  beiden 
^Brüder  eine  Charakteristik  Daute's  vor  den  metrisch  übertnigencu 
^Bind  durch  prosaische  Mittelglieder  verknüpften  Stücken  der  «gött- 
lichen Komödie'^,  die  altern  Nachbildungen  einer  Anzahl  lyrischer 
redichte  des  Petrarca  und  einiger  spanischen  Romanzen \  die  beiden 
jjfsütze  in  den  Hoicn,  ^Ktwaa  Über  William  Shakspearc"*,  und 
Ober  Romeo  und  Julia'*^  so  wie  die  beiden  ersten  Theile  seiner 
febersetzung  des  englischen  Dichters";  von  Tieck  die  Abhandlung 
lObcr  Shakspcare's  Behandlung  des  Wunderbaren'*',  und  von  Fr. 
Icblegel  ein  längerer  Abschnitt  über  den  Charakter  der  dramatischen 
id  namentlich  der  tragischen  Kunst  Shakspeare'a  in  der  Schrift 
iQber  das  Studium  der  griechischen  Poesie"'.     Als  dann  aber  1^ eck 


§  ;^32.     \)  Vgl.  S.  :U)'i  und  :1S9  f.    An  jene  Aibeiten  schlössen  pich  sodann 

inÄclist  Fr.  Schlci^els  Einleitungen  und  bterargeschichtlirhe  Bommkiingen  zu  den 

stiücm  llruder  aus  dem  Uriechischen  Ubor»etzteu  elegiaihun  und  idjllischeu 

kken  im  Athenäum  an;  vgl.  oben  S.  6 UV, 2^.  "ÜK         2l  Vgl.  S.  a'i2f.  und  vor- 

mlich   das   auf  S.  JM7  ff.   aus   Schlegels   Schrift   Mjtgethcilte.  3»  Vgl. 

595,  Anni.  II.  4l  Vgl.  S.  2ö5»  IMl  und  S.  -V.is  f.  5)  Vgl.  S.  51W  ff. 

t)»  Vgl.  S.  lin,  Änm.  4«.  7)  Vgl.  S.  55«,  0  und  dazu  S.  ;)<»(i. 

f)  Uieeer  Abschuitt  fs.  Werke  5,  Ttfl  'S.),  in  welchem  es  auch  mit  darauf  Abgefieben 

',  die  im  ^Wilhelm  Meister-  gelieferte  Charakteristik  shak3ppare'«cher  Poesie. 

xü  Goctbc's  AutYassung  des  «.Hamlet**  im  Besondern,  noch  anderweitig,   aU  wie 


§  332    ^i 


736    VI.  Tom  zweiten  Viertel  des  XVUI  Jalirbunüert«  l>i5  zu  GoeUi«*s  Tod 


§  332  und  der  ältere  Sclilegel  einander  näher  getreten  waren,  der  jüngm_ 
Bruder  in  seinen  literargeschichtlichen  Studien  sich  von  dem  vh 
scheu  Alterthnm  mehr  der  Neuzeit  zuwandte,  nnd  auch  in  Grie« 
Uebersetzertalent  sieh  zu  entwickeln  begann,  steigerte  sieb  das 
streben  der  Freunde,  ein  allgomeiueres  Interesse  an  der  Poesie 
aUdroiuanischen  Nationen  im   deutschen  Publicum  z«  erwecken 


deren 


vorzüglichste 


Dichter    durch    kunstgerechte    Uebertragnn^< 


es  [von  A.  W.  Schlegel  iu  dem  AufaaU  . Etwas  über  WiU.  ShAkspftaxe"  tU. 
Bchelieu  var,  zu  vervoUetilndigen  oder  zu  berichtigen,  enthält  zwar  viele  treffH( 
Gedanken;  allein  in  dem  Ganzen  venuisat  man  Unbefangen  heil  des  Urtheili 
AVeite  des  Gesichtskreises,  weil  behlegel  damals  fUr  die  Ucslimmung  des  hol 
Kuuätwerthes  moderner  Poesien  noch  keinen  andern  Masestab  wollte  gelten  \i 
als  den,  welchen  er  aus  seinem  Studium  der  griechischen  Kuuat  gewoim« 
und  weil  er  zu  jener  Zeit,  ausser  mit  dem  -Hamlet",  mit  andern  Tra^ödi« 
speare'ß  sich  wolil  noch  uiclu  in  gründlicherer  Art  beschiiftigt  hatte,    Ii 
DÄmlich  der  idealischen  Kunst  der  Griecheu  eine  churftkteristische  entgegei 
und  unter  diesem  Begriff  alles  zusainmenfasste,  was  in  der  Poesie  der  hVuf^ni  fOT 
Goelhe's  zweiter  Periode  bedeutendes  und  Grosses  hervorgebracht   worden,  iaa^ 
er,  dass  ^ilirc  eigctie  natürUche  Entwickelung  und  Fortschrei tung  die  chankMil> 
stische  Kunst  zur  philosophischen  Tragödie  führe,  dem  volIkommtM»ii  n.^./i 
der  alten,  auf  dos  Schöne  gerichteten  tragischen  Kirnst*-.   l>ie  pli 
gödie  sei  das  höchste  Kunstwerk  der  didaktischen  Dichtung  iwu..„. 
wie  vorher  auseinandergesetzt  war.  etwas  ganz  amleres  verstanden  wiaaea  v( 
aU  was  gewöhnlich  mit  diesem  Ausdruck  bezeichnet  wird):  sie  besteh« 
charakterisliächeu  ßestondtheileu,  und  ihr  endhches  Resultat  «ei  die  böcl 
harmonie  der  zerrütleteten  Nntur  im  dissonierenden  Weltall,  dessen 
worrenheit  sie  im  getreuen  Bilde  schrecklich  abspiegle.     Dieser  Beigriff  dci 
sopbischCQ  TrauorspieU  lasse  sich  am  besten  durch  ein  Beispiel  crlantcm.  wetckM' 
an  Gehall  und   vollendetem  Zusammenhang  des  Ganzen  bis  jetzt   vifllMcht  die 
vortroifUchste  seiner  Art  sein  möchte,  durch  Shak^pcare's -Hamlet  *.    Ganz  ricUar 
ist  es,  wenn  Schlegel  sagt :  es  gette  vielleicht  keine  voUkommnere  Daratrilung  4s 
uiiautlOslichcn   L>i»harmonie  des  menschlichen   Gemuths.   welche   der  eigoÜiite 
Gegensiaud  der  philo&ojthischcu  Ti*agödie  sei,  als  ein  so  grenzenloses  BChtbAD^ 
niss  der  denkenden  und  thatigen  Kraft ,   wie  in  HamletA  Charakter.     Aüeia  bÜ 
den  darauf  zunächst  folgenden  S&tzen  wird  wohl  nur  der  unbedingt  eim 
sein  können,  der  die  Tragödie  mit  Hamlets  Tode  geschlossen  haben  will 
I'ortinbras  für  einen  unwesentlichen  Bestandtheil  des  Ganzen  halt.     .Ixr1 
eindmok  dieser  Tragödie-,   so  lauten  diese  S&tze,   -ist  die  höclwte  Intel 
Verzweiflung,  inmitten  einer  durchaus  zerrütteten  Welt.    Alle  KindrOcke» 
einzeln  gruas  und  wichtig  schienen,  verschwinden  als  untergeordnet  und 
deutend  vor  dem,  was  hier  als  das  letzte,  einzige  Resultat  aUes  Seins  nnd 
erscheint,  vor  der  ewig  unauflöslichen,  rtosenhaft  farchtbareu  Dis^oaaiu, 
die  Menschheit  und  das  Schickaal  unendlich  trennt-.    Ich  übergehe.  wasScbb|rf 
an  Shakspearc  rühmend  benorhebt.  um  die  beiden  Satze  zu  begrundeo,  enUM. 
dass  dieser  Dichter  unter  allen  Künstlern  derjenige  sei,   welcher  ikm  G*irt  ^ 
modernen  Dichtkunst  am  vollständigsten  nnd  am  tretfendsten  charaktfri^f^n?.  w' 
zweitens,  duss  er  ohueUebertrribung  derOipIel  der  neuen  P*>e8J'^  ■* n(« 

dürfe;  ebenso  lasse  ich  die  Grimdc  unberührt,  die  nach  Schlegel.^  ■  cjw 


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EstwickelungsgADg  d.  Uteratur.  1T73 — 1933.  Die  Romantiker,  üebersetzuagen.  ' 

ihrer  Werke  bei  uns  einzubürgern,  zum  refrsten  Wetteifer".  Di._. 
der  poetischen  Literatur  des  Südens  zugewandte  Nei;*nmg  wollte  Fr. 
Schlegel"'  aus  dem  CLai-akter  und  der  geschichtlichen  Rntwickelung 
des  deutsehen  Volkes  herleiten.  Es  sei,  meinte  er'\  ein  angeborner 
Trieb  des  Deutschen,  dass  er  das  Fremde  liehe;  besonders  ziehe 
ihn  die  Schönheit  der  südlichen  Länder  mit  unwiderstehlichem  Reize 
an.  Stolz  auf  seine  Hoheit  und  nordische  Kraft,  sehne  er  sich 
dennoch  unablässig  nach  dem  Glänze  jener  Gegenden  wie  nach 
seiner  alten  Heimath.  Diese  Neigung  sei  so  alt  als  die  Geschichte: 
sie  habe  zur  Zeit  der  Völkerwanderung  die  Scharen  deutscher  Helden 
Aber  die  südlichen  Provinzen  dos  römischen  Reichs  verbreitet,  im 
Mittelalter  Deutschland  an  Italien  gefesselt  etc.  GegonwÜrtig,  da 
die  politische  Existenz  der  deutschen  Nation  zum  Theil  ganz  anders^— 
modifieiert  worden  sei,  zum  Tbeil  ganz  und  gar  aufgehört  habo,B 
könne  sich  jene  vielumfassende  Neigung  nur  im  Gebiete  der  Wissen- 
schaft und  der  Kunst  zeigen,  und  insbesondere  trete  sie  hervor  in 
einer  unermüdlichen  Thätigkeit,  neue  Quellen  der  Wahrheit  und  der 
Schönheit  zu  entdecken  und  zu  ergänzen,  und  auch  die,  welche 
Bchon  in  alten  Zeiten  bei  andern  Nationen  sich  ergossen  haben,  von 
neuem  zu  beleben  und  auf  die  vaterländischen  Fluren  zu  leiten. 
So  sei  es  denn  auch  sehr  zu  loben,  dass  einige  vortreffliche  Dichter 
€B  sieb  angelegen  sein  lassen,  die  Schönheiten  der  italienischen  und 
der  siianischeu  Poesie  auf  einheimischen  Boden  zu  verpflanzen,  da 
der  frische  BllUhenreiz  und  die  kunstreiche  Zierde  derselben  recht 
eigentlich  dazu  gemacht  schienen,  den  nordischen  Ernst  altdeutscher 
Dichtkunst  zu  schmücken  und  zu  erheitern.  Gleichzeitig  wurden 
Ton  Shakspeare's  Stücken  durch  A.  W.  Schlegels  meisterhafte  Nach- 
bildansren unserer  Literatur  immer  mehr  angeeignet  und  damit  einem 


«prechen  würden,  wenn  Shakspeare's  Poesie  als  scböue  Kunst  nach  dem  anl 
Mussstabe  bcurlheilt  werden  soUto  (obgleich  Schlegel  diess  doch  eigentlich  seil 
tboU,   und   füge  nur  noch   einiges   recht  Auffälligo  aus  dem  ScUluss  des  gane« 
Abschnittes  hinzu:    .Dass  er  den  Menschen  mit  seinem  Schicksal  auf  die  freui 
lichate  'Weise  bekannt  mache-  (vgl.  Goethe's  Werke  IS,  3ü9i,    sei   wohl  eine  z« 
weit  gntriebene  Milderung.    Ja  eigentlich  könne  man  nicht  einmal  sogen,  dass 
Dus  zu  der  reinen  Wahrheit  führe.    Kr  gebe  uns  nur  eine  einseitige  Ansicht  <" 
Iben,    wenngleich   die  nachhaltigste  (und   umfassendste.     .Seine  Darstellung 
rle  der  urspraugliche  Text  lautete,   vgl.  S.  ii'io,  Anm.  ^h)  nie  objecdr, 
urchgangig  manieriert;   wiewohl  ich  der  erste  bin,   der   eingesteht,   datt, 

nier  die  grösste,  seine  Individualität  die  iuterftSBanteate  sei,  welche  wir 
ennen.   Unter  Nfanicr  verstehe  ich  (aber»  in  der  Kunst  eine  iudiiridtudle 
'4e8  üeistes  und  eine  individuelle  Stimmung  der  Sinnlichkeil,  wcja«  nch  in  I>ar- 
Rteliungen,  die  idealisch  sein  sollen,    äussern".    Vgl   Anmerk.  II.  9t  ^gl- 

Köpke  in  Tiecks  Leben  I,  240  f.;  2^1-  10>  Id  einem  wtow  dtr  -Europ** 

eioTerleibten  Aufsätze.  11)  I,  2.  49  f. 

Kobcn>t«ut,  OroiiJrm.        *   *     '" 


738    VI.  Vom  zweiten  Viertel  de«  XVIII  Jahrhunderte  bis  za  GotUit'a  Tod. 

332  allgemeinern    und   tiefem    Verstflndniss   näher  gerOckt".    Was  aa 

Iheilwei*  oder  voUfltftndig  überaetztou  Dichtuu^u  der  ItAÜener, 
Spanier  und  Portugiesen  der  ältere  Schle-gel  und  Giies  innerhalb 
der  Jahre  1799  bis  1806  lieferten,  ist  schon  nu  anderer  Stelle  auf- 
geführt worden '^  daüwiachen  fiel  Tiecks  Verdeutschung  de«  -Dot 
Quixote"',  die  erste,  welche  (dine  Auslassungen  nach  dem  Original* 
text  gefertigt  war"^  und  auch  die  in  gebundener  Rede  abgefaestoft 
Stellen  desselben  in  mOglichBt  tieueu  Nachbildungen  gab".    Sie  ve^ 


d«.Ä 


12)  Nur  in  viel  geringerm  Orad«  konnte  diese  b«ir(r«  werden  durdi  das. 
geit  dtm  J.  1T%  bis  zum  Krscheincn  von  A.  W.  Schlettels  ..Vorlosungön  über  ilm- 
matische  Kunst  und  Literatur-  il*«'>^  ff.|  auf  Shakspeare  Heztlf^liches  in  d*m  SchrifleB 
der  Romantiker  znr  S|)rachi'  kam.    Ks  hielt  «ich  entweder  zu  sehr  itn  All|^*nmiiiat 
wie  die  den  Pichter  betreffende  Stelle  in  Fr.  ScUle«eIs  «Ueiti>r4rli      '         '-    v      ' 
Ivgl.  a.  711.   unten),    oder    bestand    nur  iu  aphori&lischo»  und   . 
merkungen,  wie  ein  Fragment  A.  W.  Schlegels  im  AtUvaäum  il.  i.  '  »e 

H,  29)  aber  die  Correctht-it  und   das  Systematische   in  Shakh|)eare"s  n 

Werken,  und  eine  Stelle,    die  zwar  erst  ISO^i  im  Druck  erachien,    ni  t- 

lesungeu   herrührte,   die  A.  W.  Schlegel  schon  sechs  Jahr   Irtlher  a  ■" 

(S.  Werke  '.».  %\h.     Sie  verdient  indoss  darum  <*ine  besondere  Bcncht 
gonx  augenscheinlich  gegen  den  die  Schrift  Fr.  Schlegelü   ..über   da^ 
griechischen    Poesie'*    tragenden    und    behcrrschcndt'u    Gnindgedankea     ' 
besondere  wieder  gegen  die  auffiilligstc  Behauptung  in  dem   oben   befpr 
Abschnitt  dieser  Schrift  gerichtet  ist.     Das  Verworrene  und  Chaotische  dt- 
Anblicke  der  modernen  Kunst,  bemerkt  nämlich  der  altere  Bruder,  könutr  jir.i;. 
dessen  Geist  mit  den  einfachen  grosscji  Mustern  des  rta&sischeu  Alti-rthum)  &l 
gefüUt  und  »n  ihre  Vergleichung  gewohnt   wäre,   leicht   r.u  der  ljekau(i 
anlassen»  es  gebe  in  der  neuen  Kunst  keine  bettimmteu  BüduQ^<istufen 
so  wie  der  ganz  entgegengesetzte  Charakter  derselben,  die  nach  d<?n  G 
der  alten  Kunst  irrationalen  Gatiun^ren  etc..  die  moderneu  T^ichtur  und 
h&tteu  eigentlich  keinen  StiJ,  sondern  bloss  Manieren.    Diese  w'w 
Behauptung  müsse  aber  bei  iihherer  Prüfung  durchaus  zurück^' 
W^er  könne  z.  H.   lÄugnen,   dass  Shak&peare  einen  Stil  hal«;,    • 
Knnstfaches,  und  zwar  ein  erstanneuswürdig  gründliches  nud  ti(t. 
der  Anwendung   nacli   Massgahe   der   verschiedenen   Gegeoatände   soiiMr  Dnuae» 
sich  auf  das  mannigfaltigste  abändere.    Ja  man  könne  auch  das  GtsvtxmHiügt  k 
dem  Gange   seines  Kunstlorlebeus .   seine  verschiedenen  Epocheu   oder  Std«  i^ 
gut  angeben).    Ausführlich  wollte   zwar   schon  jetzt  in  einer  Rpihr  voo 
Tieck   über  den  Dichter  handeln:   aber  was  davon   im  .poetischen  Joi 
schien  () .  18  ff.:   45^  ff.i.   kam  nicht  über  einleitende  lietrachtuugeu 
denen  auf  Shakspeare  selbst  noch   wenig  eing«ganfceu  war.    Vgl.   auch 
Schriften   >,  IS6  f  13)  S.  254  f.  14)  Vgl    S.  öfi2,  T2. 

S.  161.  16)  Tieck  hatte,  wie  er  später  an  Solger  sclirieb  (vgl.  d 

gclofsene   Schriften    1.374),    die   Ceberset^ung   ohne   alle    Uulfimittel 
unbrauchbarsten  Ausgabe  und  dem  schlechtesten  WuHerbucb  UDKrnominflO. 
d«m   er   seit   Jahren   kein   Spanisch  gelesen.    Daher   war  yon   ihm   (m  < 
freilich  vieles  missversiauden  und  ungenau  oder  gani  CaUcli  wiotlrn^^vebHO 
im   Ganzen  jeiioch   wurde  diese   Verdeutschung   nicht   bloss  zi- 
scheiucus,    sondern  auch   noch  viel  spater  von  den  Kennern  ü< 


'tliitmj  iL' 

SM 

»d  InHIH 


vi/gqßki^ 


Eutwickelongsgang  d.  Literatur.  1773 — 1S32.  DieKonuiDtilier.  Ucbersetzmtgcn.  739 


anlasste  die  beideu  Schlegel  gleich  zu  einer,  weuu  auch  uur  auf  deu  §  332 
allgemeinsten  Umrias  und  auf  einzelne  Andeutungen  beschrn.nktcn 
Charakterisierung  der  poetischen   Kunst  des  Cervantes '\     In    dem 
Artikel  Fr.  Schlegels  wird,  nach  einigen  allgemeinen  Bemerkungen 
Ober  den  „Don  Quixote",   die  „Galatea",   den  „Persilea",   und  die 
„  Novellen ",  besonders  der  Prosa  des  Cervantes  ein  grosses  Lob  ge- 
zollt.    Schlegel  glaubt,   es  sei  die  einzige  modenie,  welche  wir  der 
Prosa  eines  Tacitus,  Demosthenes  und  Plato  entgegenstellen  kannten ; 
^sebeu  weil  sie  sr»  durchaus  modern,  wie  jene  antik,  und  doch  in  ihrer 
^■Art  eben  so  kunstreich   ausgebildet  sei.     „In  keiner  andern  Prosa ^, 
^Btthrt  er  fort,  ^ist  die  Stellung  der  Worte  so  ganz  Symmetrie  und 
^Masik;  keine  andere  braucht  die  Verschiedenheiten  des  Stils  so  ganz 
wie   Massen   von   Farbe  und   Licht;    keine   ist  in   den   allgemeinen 
nsdrtUrken  der  geselligen  Bildung  so  frisch,   so  lebendig  und  dar- 
Itellend.     Immer  edel  und  immer  zierlich,  bildet  sie  bald  deu  scharf- 
m  Scharfsinn  bis  zur  äussersten  Spitze,   und  verirrt  bald  in  kind- 
:h   süsse  Tändeleien.     D«arum  ist  auch   die   spanische  Prosa  dem 
loman,  der  die  Musik  des  Lebens  phantasieren  soll,  und  verwandten 
Kunstarten  so  eigenthümlich  angemessen,   wie  die  Prosa  der  Alten 
den  Werken  der  Rhetorik  und  der  Historie.     Lasst  uns  die  populäre 
^Schreiberei    der    Franzosen    und    Engländer    vergessen    und   diesen 
orbildern  nachstreben""!    A.  W.  Schlegels  Andeutungen  betrafen 
mächst   den  kdnstlerischen  Charakter   des  Cervantes,   wie  er  sich 
Don  Quixote^  zeigt.    Diese  Dichtung  .des  göttlichen  Cervantes" 
li  etwas  mehr  als  eine  geistreich  gedachte,  keck  gezeichnete,  frisch 
nnd  kräftig  colorierte  Bambocciate;  sie  sei  zugleich  ein  vollendetes 
I     Meisterwerk   der   hohem   romantischen  Kunst,     In   dieser  Rücksicht 
^beruhe  alles  auf  dem   grossen  Gegensatz  zwischen   parodischen  und 
^T-omantischen  MaBsen,   der  immer  unaussprechlich  reizenrl   und   har- 
monisch   sei,    zuweilen    aber   ins   Erhabene    übergehe.    Indem    der 
tehter  die  abgeschmackte  und   colossalo  Romaneuwelt  der  Ritter- 
?her  zerstöre,  erschaffe  er  auf  dem  Boden  seines  Zeitalters  und 
Lnheimischer  Sitten  eine  neue  romantische  Sphäre;  es  sei  gleichsam, 
Is  wollte  er  sagen,  „seht,  so  muss  man  es  machen,  wenn  man  ein- 
Uber  das  gewöhnliche  Leben  hinausgehen  will".    Weit  entfernt 


e  geistreiche,   in  vielem  Betracht  lobenswerthe  Arbeit  anerkaunt    Vgl.  A.  W. 

hlegels  Recension  in  der  Jeiiacr  Litcratur-Zcitiing  vou  I79^i.  N.  230  f.  (s.  Werke 

,  40S  ff.i.  dazu  dessen  Artikel  im  Athenilum  3,  *i,  '.MIS  ff.  la.  Werke  12.  106  ff.) 

»er  Soltau'ü  Uebenitt/ung  des  ,L>on  yuijtote"  (Königsberg  l**tio  f.   s.»  und  ..Aus 

Leben  von  J.  D.  fJries"  S.  115  f.  17t  Von  Fr.  Schlegel  im  Athenäum 

2,  :i24  ff.,   von  dem  Bruder  in   der  vorher  nngeführten  Recension  des  „Don 

ote-  von  Tieck.  IS)  Vgl.  damit  die  Stelleu  über  Cervantes  im  Athenftum 

>()  tf.  und  in  den  Charakteristiken  und  Kritiken  2,  US6  t\ 

41 


■■ 


740     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVQI  JahrlitinderU  bh  zn  Goetbe's  T«d. 


332  sei  Cen'anted  davon  gewesen,  durcb  Einflechtuug  der  Novellen  eini 
verderbten  Zeitgeschmack  huldigen  zu  wollen:  noch  weni;^er  w( 
man  ^ie  fllr  den  Auswuchs  einer   flppigen    und  noch  unreifen  Du 
tungskraft  ausgeben  können.    Die   Bebau]>tung,    durch    die  ein 
flochtencn  Novellen  habe  der  Zusammenhang  des  Roniaufn  gcHtl 
schreibe  sich  wohl  hauittsAchlich  davon  her,  daas  man  den  frei« 
dem  epischen  Gedichte  analogen  Gang  des  Romans  an  die  Rtreo) 
Gesetze   des  Drama's  gebunden  glaube.     Der   Rnmau   bestehe 
aus  Begebenheiten,   die  zwar  aus  einem  gcmeinBchaftUchon  Grm 
herfliessen,  deren  Folge  aber,   nach  dem  blossen  Begriff  betrmrhl 
zufällii;  sei,  die  jede  ihre  Verwickelung  und  Auflösung  fttr  sich  bahef 
und  zu  nichts  weiter  führen.     Im  echten  Roman   sei  entweder  alle» 
Episode  oder  gar  nichts,  und  es  komme  bloss  darauf  an,   dass  die 
Reihe  der  Erscheinungen   in   ihrem  gaukelnden  Wesen    barnutnijjct* 
sei,  die  Phantasie  festhalte  und  nie  bis  zum  Ende  die  Bezaubcnjp^ 
sich  auHüsen  lasse.    Wenn  je  ein  Roman  dieas  auf  das  vollkommenste 
geleistet  habe,   so  sei  es  •Don  Quixoto".    Sobald   einen    dt     ' 
reissende   Eindruck    vom   Reichthum    des   Ganacn    zur    Betr 
einzelner  Theile  zurückkehren   lasse,  so  erkenne  man  Überall  den 
besonnenen  Künstler  in  der   weisesten  Anordnung  und  Verthr ' 
Was  noch  ftdgt,  bevor  Schlegel  auf  die  Uehersetzung'  näher  ; 
besteht  in  Andeutungen   über  die  Vertheilung   und  Anordnung  d«r 
stofflichen  Dauptmassen  im  Don  Quisote. 

Nieht  lange  darauf  erschien  von  Fr.  Schlegel  eine  ausführiichi 
Charakteristik  des  Boccaccio".    Einen  Aufsatz  ^über  das  epanisclic 
Theater"  von   dem  altern,   einen  andern  über  verschiedene  n«*:"^" 
stände  aus  dem  Fache  der  romanischen  Literatur  von  dem  j 
Bruder  brachte  die  „Europa-*'.    Der  Inhalt  des  zweiten  wäre 
träge  zur  Geschichte  der  modernen  Poesie*"  (der  altern  italier 
spanischen  und  portugiesischen)  und  Nachricht  von  „provenza 
Manuscripten"".     Hier  wurde,  so  viel  ich  weiss,  zuerst  von  Chi:  ^ 
als  vou   einem  Dichter  ersten  Ranges  gesprochen.     Er  diUiV  'i"  ' 
der  Grösse   seiner  Absicht   unstreitig   neben    die    hAchsten   ^■ 
werden,  deren  Italiener,   Spanier  oder  die  nordischen  Nationcu  ^ 
zu  rühmen  hätten;   was  aber  die  vollendete  Schönheil  nnd  nc'  <\*'^ 
innern  Grösse  auch  äussere  Blllthe  und  Anniuth  betreffe,  so  i 
unter  den  Neuern  nichts  Gleiches  noch  gefunden  werden.     S 
sei  das  einzige  heroische  Nationalgedicht,  das  die  Neuern  ;; 


10)  In  den  Charakteristiken  und  Kritiken  *2.  :tOii  ff.  .Narbricht  toc  4ft 
poetischen  Werlten  des  Johannes  Boccaccio'*  (s.  "Werke  10,  3  ff.);  eine  EiK*<*"'f 
dazu,  üher  die  .Teseide  des  Boccaz".  in  der  Europa  I,  2,  51  ff.  26t  !•! 

72  ff.  und  49  tf.  21)  Vgl.  oben  S.  tiiö,  \\X 


IntwickeluDgsg.  d.  Literat.   1773— lb32.  Die  Romantiker.  Literaturgeschichte.  741 


ätten;  es  sei  ttberhaupt  das  einzige^   das  nach  Homer  ein  episches  §  332 
Gedicht  genannt   zu   werden   verdiene.     In  dem  Aufsatz   ^ttber   das 
spanische  Theater",  welches,  wie  es  im  Eingange  heisst,  dem  deut- 
^Mchen   Publicum  noch   so  gut  wie  gänzlich  unbekannt  sei ,    theilte 
^Bchlegel  Bemerkungen  mit,  welche  die  Leser  in  der  Geschichte  der 
^Bbamatischen  Literatur  der  Spanier  einigermassen    orientieren    und 
^läen  Meisterstucken  der  spanischen  Bithne,  die  er  zu  Übersetzen  unter- 
nommen hatte",  zu  einer  empfehlenden  Ankündigung  dienen  sollten. 
Ungefähr  iu  demselben  Tone,  in  welchem  Fr.  Schlegel  von  Camoens 
als  epischem  Dichter  sprach^  äusserte  sich  sein  Bruder  Über  Calderon 
als  Dramatiker,   von   dem  man   auch  zeither  wenig  in  Deutschland 
hört  hatte.    Wenn  es  je  einen  Dichter  gegeben  habe,  sagte  Schlegel, 
sei  es  Calderon   gewesen.    Bei  dem   fast  unübersehbaren  Ueber- 
soincr  gri^ssern   und  kleinern  Stücke    werde   es  unglaublich 
einen,  dass  sich  darunter  nichts  aufs  Gerathewohl  Hingeworfenes 
efinde,  sondern  alles  nach  sichern,  consequenten  Maximen  mit  den 
fsten  künstlerischen  Absichten  iu  vollkommener  MeiBtersehaft  aus- 
rbeitet  sei,  so  dass  auch  nicht  eine  verwahrloste  Zeile  aus  seiner 
Feder  geflossen.    Was    in   seiner  Kunst  anfünglicb   als  Manier  er- 
scheinen könne,   bewähre  sich   bei  näherer  Bekanntschaft  mit  dem 
chter  als  ^der  reinste  und  potenzierteste  Stil  des  Romantischthea- 
lischen".    Was  seinen  Vorgängern  schon  für  Form  gegolten,  habe 
überall  wieder  zum  Stoff  gemacht;   in  allem  habe  ihm   nur  die 
eiste  und  feinste  BlUthc  genügen  können.    Schlegel  kannte  keinen 
matiker,  „der  den  Effect  so  zu  poetisieren  gewusst  hätte,  der  zu- 
eäch  so  materiell  energisch  und  so  ätherisch  wäre ",  als  Calderon, 
Schon  vorher  hatte  Fr.  Schlegel  im  Athenäum"  dem  ^ Gespräch 
er  die  Poesie^  einen  Vortrag  über  die  ^Epochen  der  Dichtkunst" 
eingefügt,  worin  die  Stellung  näher  bestimmt  war,  welche  nach  seiner 
d  seiner  Freunde  Ansicht  die  Dicljter,   die   ihnen  als  die  Haupt- 
rtreter  der  romantischen  Poesie  der  Italiener,  Spanier  und  Eng- 
nder  galten,  in  der  allgemeinen  Bildnngsgeschichte  der  poetischen 
iteratur  von  Homers  bis  zu  Gocthe's  Zeit  herab,  sowohl  den  Dichtern 
classischen  Alterthums,   wie  denen   der  spätem  Neuzeit  gegen- 
er,  beanspruchen  dürften.    Der  ganze  Vortrag  sollte  einen  histori- 
hen  Ueberblick  über  das  gewähren,  was  die  alte  classische  Poesie 
weson,  was  im  Mittelalter  und  in  der  neuern  Zeit  an  dessen  Stelle 
treten  ist,  oder  die  Hauptmomente  der  ..Kunstbildung  nach  ihrem 
etinimten   und   abgesonderten  Stufengange   der   gesummten   alten 
d  neuen  Poesie*"  charakterisieren '^    Die  Poesie,  wird  darin  zu 


22)  Vgl.  S.  253,  »57.         23)  3,  I,  67  ff.  {9.  "Werke  5.  230  ff.».         24)  Vgl 
Werke  5,  319,  eine  Stelle,  die  im  ersten  Texte  fehlt. 


742     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhunderts  bis  eu  Ooe<be*a  ToA 


S  332  Anfange  gesagt,  ist  eine  Kunst;  wo  sie  es  noch  nicht  war,  soll 
es  werden.  Die  Kunst  ruht  auf  dem  Wissen,  und  die  Wisgenae 
der  Kunst  ist  ihre  Geschichte.  Es  ist  aller  Kunst  wesentlich  ei 
sich  an  das  Gebildete  anzuschUessen,  und  darum  steigt  die  Oeschic 
von  Geschlecht  zu  Geschlecht,  von  Stufe  zu  Stufe  immer  höher  i 
Alterthum  zurlick  biß  zur  ersten,  ursprünglichen  Quelle.  Diete  lie^ 
für  uns  Neucrc,  für  Eurojia,  in  Hellas,  und  für  die  Tlellenea  <ni^^ 
ihre  Poesie  war  es  Homer  und  die  alte  Sehule  der  Homeriden.  Kai^H 
Andeutungen  Über  den  Bildungsgang  der  griechischen  Poesie,  wi^^ 
er  sich  während  ihrer  BlUthezeit  in  dem  allmähligen  Hervortrc 
ihrer  verschiedenen  Gattungen  zeige,  wird  die  erste  Masse  hell 
scher  Dichtkunst,   das  alte  Epos,  die  Jamben,  die  El  '  <•  fi 

liehen  Gesänge   und  Schauspiele,   als  die  Poesie  »ell^^  ihn 

Alles,  was  noch  folge,  bis  auf  unsere  Zeiten,  sei  Ueberbleibsel,  N 
hall,  einzelne  Ahnung,   Annäherung,   Rückkehr  zu  jenem  h^jch 
Olymp  der  Kunst.     Die  Romer  haben  nur  einen  kurzen  Anfall  v 
Poesie  gehabt:  sie  strebten,   sich   die  Kunst  ihrer  gnecbiscben  V 
bilder  anzueignen.    Einheimisch   war  bei  ihnen  nur  die  Poesie 
Urbanität,  und  bereichert  haben  sie  das  Gebiet  der  Kunst  blo«« 
der  Satire.     Was  sie  ihre  goldene   Zeit  der   Poesie   nannten,   war 
gleichsam  die  taube  ßlüthe  in  der  Bildung  dieser  Nation.     Die  M<^ 
dernen,  die  Cinquecentisten  Italiens,  die  Franzosen  unter  Ludwig  XIV, 
die  Engländer  unter  der  Königin  Anna,  haben  das  nacbgeiban,  wa* 
iiuter  Augustus  und  Maccenas  geschah;   keine  Nation  wollte  fenff^ 
hin  ohne  ihr  goldenes  Zeitalter  bleiben;  jedes  folgende   war  nock 
leerer  und  schlechter  als   das  vorhergehende.    Aus   dem   weat^. 
was  nun  über  das  Mittelalter  folgt,  kann  man  ersehen ^   wie  weat^ 
noch  Fr.  Schlegel  um  das  Jahr  ISOO  von  der  Poesie  jener  Zeit«i 
und  ihrer  Geschichte  wusste.    „Nachdem",  sagt  er,   „die  Kraft  4» 
Poesie  im  Alterthum  erloschen,  verstrich  Über  ein  Jahrtausenii«  tkt 
wieder  ein  grosser  Dichter  im  Oceident  aufstand.    Mit  den  Qenmam 
strömte  ein  unverdorbener  Folsencpiell  von  neuem  HcldengeMB^flker 
Europa,    und  als  die  wilde   Kraft  der  gothischen   Dichtung  donA 
Einwirkung   der  Araber   mit   einem    Nachhall    von    den    reJsaota 
Wundermarchen  des  Orients  zusammentraf,  blühte  an  der  südliekCR 
Küste  gegen   das  Mittelmecr  ein  fröhliches  Gewerbe  von  Erfimltn 
lieblicher  Gesän&re  und  seltsamer  Geschichten,  und  bald  in  ditttf 
bald  in  jeuer  Gestalt  verbreitete  sich   mit   der  heiligen  lateiRiacbiD 
Legende  auch  die  weltliche  Romanze,  von  Liebe  und  Waffen  tia^cn^ 
Die  katholische  Hierarchie  war  unterdessen  ausgewachsen ;  die  Jura 
prudenz  und  die  Theologie  zeigte  nianciien  Rückweg  zum  Altertbw 
Diesen   betrat,   Religion  und  Poesie  verbindend,   der  grosse  Dani 
der  heilige  Stifter  und  Vater  der  modernen  Poesie.    Von  den  AI 


I 


I 


Entvickelungsg.  d.  Literat,    17:3-^1932.  Die  Romantiker.  Literaturgcscfaiclite.  743 

vordem  der  Nation  lernte  er  das  Eigenste  und  Sonderbarste,  das 
HeilifTste  und  das  Süsseste  der  neuen  gemeinen  Mundart  zu  olassischer 
Würde  und  Kraft  zusammenzudrängen  und  so  die  provenzalische 
Kunst  der  Reime  zu  veredeln,  und  da  ihm  nicbt  bis  zur  Quelle  zu 
steigen  vergönnt  war,  konnten  ihm  auch  Römer  den  allgemeinen 
Oedanken  eines  grossen  Werkes  von  geordnetem  Gliederbau  mittel- 
bar anregen.  Mächtig  fasste  er  ibn,  in  Einen  Mittelpunkt  drängte 
sich  die  Kraft  seines  crfindsnmen  Geistes  zusammen,  in  Einem  im. 
gebouern  Gedicht  umfasste  er  mit  starken  Armen  seine  Nation  und 
sein  Zeitalter,  die  Kirche  und  das  Kai.sertbum,  die  Weisheit  und 
die  Offenbarung,  die  Natur  und  das  Reich  Gottes.  Petrarca  gab  der 
Canzone  und  dem  Sonett  Vollendung  und  Schönheit.  Sein  Gefühl 
bat  die  Sprache  der  Liebe  gleichsam  erfunden.  Boccaccio's  Ver- 
stand stiftete  für  die  Dichter  jeder  Nation  eine  unversiegbare  Quelle 
merkwürdiger,  meistens  wahrer  und  sehr  gründlich  ausgearbeiteter 
Geschichten  und  erhob  durch  kraftvollen  Ausdruck  und  grossen 
Periodenbau  die  Erzilhltingssprache  der  Conversation  zu  einer  soliden 
Grundlage  für  die  Prosa  des  Romans.  Diese  drei  sind  die  Häupter 
vom  alten  Stil  der  modernen  Kunst.  Der  Strom  der  Poesie  konnte 
nun  bei  den  Italienern  nicht  wieder  versiegen.  Zwar  Hessen  jene 
Erfinder  keine  Schule,  sondern  nur  Nachahmer  zurück;  dagegen  ent- 
stand schon  früh  ein  neues  Gewächs:  man  wandte  die  Form  und 
Bildung  der  nun  wieder  zur  Kunst  gewordenen  Poesie  auf  den  aben- 
teuerlichen Stoff  der  Ritterbücher  an,  und  so  entstand  das  Romanzo 
der  Italiener^  Hierin  habe  Ariosto  das  Vorzüglichste  geleistet.  Die 
Fülle  klarer  Bilder  und  die  glückliche  Mischung  von  Scherz  und 
Ernst  mache  ihn  zum  Mustor  und  Urbilde  in  leichter  Erzählung  und 
sinnlichen  Phantasien.  Der  Versuch,  das  Romanzo  durch  eineu  wür- 
digen Gegenstand  und  durch  clasftiHche  Sprache  zur  antiken  Würde 
der  Epopöe  zu  erheben,  sei,  so  oft  er  auch  wiederholt  worden,  nur 
ein  Versuch  geblieben,  der  den  rechten  Punkt  nicht  treffen  konnte. 
Auf  einem  andern,  ganz  neuen,  aber  nur  einmal  anwendbaren  Wege 
sei  es  dem  Guarini,  im  Pastor  fido,  gelungen,  dem  grössten,  ja  ein- 
zigen Kunstwerke  der  Italiener  nach  jenen  Grossen  (!),  den  roman- 
tischen Geist  und  die  classische  Bildung  zur  schönsten  Harmonie  zu 
verschmelzen.  Die  Kunstgeschichte  der  Spanier,  die  mit  der  Poesie 
der  Italiener  aufs  innigste  vertraut,  und  die  der  Engländer,  deren 
Sinn  damals  für  das  Romantische,  was  etwa  durch  die  dritte,  vierte 
Hand  zu  ihnen  gelangte,  sehr  empfänglich  gewesen  sei,  dringe  sich 
zusammen  in  die  von  der  Kunst  zweier  Männer,  des  Cervantes  nnd 
de«  Sbakspeare,  die  so  gross  gewesen,  dass  alles  Uebri^  ge^n  sie 
nur  vorbereitende,  erklärende,  ergänzende  Umgebang  fl«beine.  Dift^ 
Fülle  ihrer  Werke  und  der  Stufengang  ihres  nnenaeaatklien  Gei! 


§  332 


m- 


744     Tl.  Vom  zveitcD  Viertel  des  XVin  Jahrhonderta  bis  za  Gocifao^s  Tod. 


§  332  würde  allein  Stufl'  für  eine  eigene  Geacbicbte  seia**.  Nach  dem 
Tode  jener  Grösgen  (des  Cervantes  und  de«  Sbakspearci  «ei 
BchOne  Phantasie  in  ihren  Ländern  erloschen.  Der  Scbluss 
Vortrages  berührt  ganz  im  Allgemeinen  die  Auäbildung,  welche  seit- 
dem der  Philosophie  zu  Tbcil  geworden,  und  den  Charakter  der 
Dichter^  die  seit  Lope  de  Vega  bis  zu  Gozzi  aufgetreten  seien,  ge- 
denkt  dabei  der  Fülle  faUcher  Teudeueen,  die  in  allen  gelehrtea 
und  populären  Gattungen  und  Formen  der  Poesie  iuimer  mehr  au- 
gewacbseu  sei,  leitet  ihren  Ursprung  und  ihre  Ausbreitung  vou  der 
in  Frankreich  aufgekommeneu  falschen  Theorie  der  Dichtkunst  her, 
bezeichnet  sodann  die  Wendung,  welche  die  detitßche  Bilduu 
Literatur  seit  Winokelmann  und  Goethe  genommen,  und  vv: 
zuletzt  der  vaterländischen  Poesie  eine  glänzende  Zukunft,  wenn  die 
Deutschen  die  Mittel,  durch  welche  ihre  geistige  Bildung  in  den 
letzteu  Jahrzehnten  schon  in  so  bedeutendem  Grade  und  auf  ein^ 
so  vielseitige  Weise  gefördert  worden  sei,  auch  feraer  bnü 
dem  Vorbilde,  da«  ihnen  Goethe  aufgestellt  habe,  folgton,  an  ^-^ 
Quellen  ihrer  eigenen  Sprache  und  Dichtung  zm-ückgiengcn  and  tlk 
alte  Kraft^  den  hohen  Geist,  der  noch  in  den  Urkunden  der  v 
ländischen  Voraeit  bis  dahin  verkannt  öchlummere,  wieder  frei  mach 
In  diesem  Aufsatz  waren  die  Grundideen  der  Romantiker  von  i 
Entwickelungsgange  der  antiken  und  der  neuern  Poesie,  dio 
den  spätem  literargeschichtliehen  Werken  der  beiden  Schlegel  i 
weitere  und  vollständigere  Ausbildung  erhielten,  zuerst  im 
samraeuhang  vorgetragen.  Das  Lob,  welches  hier  den  KorAph 
der  sUdromauischeu  und  englischen  Poesie  gespendet  war,  vfM 
anderwärts,  wo  sich  Gelegenheit  dazu  bot,  wiederholt,  auf  die  lil 
historische  Bedeutung,  auf  den  ei^^euthiltnlichen  Geist  de& 
des  andern  immer  aufs  neue  aufmerksam  geutacht,  ihre  n 
llerrlichkeit   in    Sonetten   und    andern  Dichtungen   gefeiert' 


25)  Im  NBclistfoIgouden  deutet  Sclilegel  -den  Faden-  dieser  U««e!iklil6 
Calderoos  wird  von  ihm  in  dem  arsprüngUchcu  Text  noch  gar  «icht  ^c<Ui:M; 
den  s.  Werken  5.  lUi  f.  ist  aber  eine  Stelle  über  ihn  fingcschaltet.  SO» 

A.  W.  SchlcgeJ   zuerst  den   Dante  in  »einer  EigenthUrnJichkeit    dem   d< 
Publicum  näher  zu  bringen  suchte,  so  beliehen  sich  auch  auf  ihn   diu 
hier  in  Betracht  kommenden  Stellen.    Schon  vor  dem  Erscheinen  de8,G«i 
über  die  Poesie"  waren  in  einem  Fragment  des  Athenäums  H,5.  Ks»  Üai 
spcare  und  Ooethc  von  Kr.  Schlegel  „der  grosse  Dreiklang  der  tnoilrmi»«] 
genannt,    »der  Inueräte   und   all  er  heiligste  Kreis    unter  allen   enscrn   und 
Sphiiren  der  kritischen  Auswabl  der  Claasiker  der  neuem  IHchtkunst 
andern  Stelle  jener  Zeitschrift,  in  einem  Aufsatz  vnn  A.  W.  Sr) 
s.  Werke  l».  Il^j  hiess  es,  Dante,  -der  i^rosse  Proiihet  d^s  Katl 
seinen   Darstellungen  bald  der   Uapbael   und  bald  d-- 
Ucber  Boccaccio  ^sprach,    wie  schon   erwähnt,  Fr-  St  i. 


EotwickcluDgBg.  d  Literat.  1773—1832.  Die  RonaBÜker  Literaturgeschichte.   745 


^—UebertreibungeB  fehlte  ea  zwar  uiclit  in  diesen  Anpreisuugen ,  und  §  SSi 
^vieles,  was  an  jenen  Dichtern  gerühmt  wurde,  konnte  nur  einem 
^^on  der  Schönheit  und  dem  glänzenden  Reichthum  jiußserer  Formen 
^Hebleudeten  Auge  in  einem  so  vortheilhaften  Lichte  erscheiuen;  im 
^^B^Dzen  jedoch  wird  man  den  Romantikern  das  Verdienst,  eine  grttnd- 
^liebere  und  umfassendere  Kenntniss  der  südeuropäischen  Literaturen 
und  eine  gerechtere  Würdigung  der  grossen  italienischen,  spanischen 
nnd  portugiesischen  Dichter  nicht  bloss  eingeleitet,  sondern  auch 
schon  hinnen  wenigen  Jahren  sehr  bedeutend  gefördert  zu  haben, 
nicht  abstreiten  können. 

Wie  die  Schlegel  in  ihrer  den  fremden  Literaturen  zugewandten 
Richtung  sich  tlberhan]»t  am  nilchsten  an  Herder  anschlössen,  so 
giengen  sie  auch  im  Besoudern  frühzeitig  auf  sein  Interesse  an 
der  Poesie  des  Morgenlandes  ein.  Bereits  in  der  Nachschrift  zu 
dem  aus  Ariosts  „rasendem  Roland ■*  Übersetzten  Gesänge  äusserte 
A.  W.  Schlegel  das  Verlangen  nach  einer  Gelegenheit,  die  Sanskrit- 
uud  andere  orientalische  Sprachen  lebendig  zu  erlernen".  Bald 
darauf  sprach  der  jUngcre  Bruder  in  dem  ^Gespräch  über  die 
Poedie'*^  sein  Bedauern  dardber  aus,  dass  uns  die  poetischen 
Schätze  des  Orieuts  nicht  so  zugänglich  wären,  wie  die  des  classi- 
s«heu  AlterthuniiJ.  Üa  er  es  nämlich  für  durchaus  nothwendig  hielt, 
dass  für  die  neue  Poesie  eine  neue  Mythologie  entstünde,  zu  welchem 
Ende  ausser  der  griechischen  auch  die  andern  Mytliologieu  nach 
dem  Mass  ihres  Tiefsinns,  ihrer  Schönheit  und  ihrer  Bildung  wieder 
erweckt  werden  müsateu,  ao  erwartete  er  für  das  Zugtandekommeu 

eignen  Artikel  der  Charakteristiken  und  Kritiken,  worin  aber  auch  mehrores  hier- 
her Gehörige  über  Dante,    Petrarca,   Ariosto  und  tiuariui  vorkam  rit  *'*i>'-  ff.;  ». 
Werke  10,  iM  ff).    Merkwürdig  ist  die  grosse  Vorliebe  der  biiilen  Schlegel  für 
Guariui;  der  jü.ngoro  hatte  ihn  schon  im  Lyceum  I,  2,  111.  mit  Gozzi  zusi^mmen, 
als  Dramutiker  neben  Shukspcaro  gestellt;    vgl.  oben  S.  t)^.!,  85.    Welche  ganz 
einzi^^e  Stellung  unter  den  Italienern  er  ihm  in  dem  ..GesprAch  über  die  Poesie* 
auwies,   ist   aus  S.  743  zu   ersehen.     In   gleicher  Art   urthcUte  er  über  ihn  ia 
Aufsatz   (iher   Boccaccio,   Charakterisilken   und  Kritiken  1,  3'J2  f.     Auch 
W.  bchlejb;3l  saii  in  ihm  ..den  crstcu  grossen  Verbinder  des  Antiken  und  Mo- 
rnen":  Charakteristiken  und  Kritiken  i,  15.  —  Uichteribch  gefeiert  wurden  die 
imten  iulienischeo,  spanischen  und  portugiesischen  Dichter  vornehmlich  von 
W.  Schlcißel,  und  zwar  einzeln  in  Sonetten,  tue  zuerst  iu  der  Ausgabe  seiner 
ichto  vom  J.  tHOO  und  in  den  -ptlumensträussen"  etc.   erBchienen  (in  den  s, 
^<erk«Q  I,  3IC  ff.;  a.iSff. ;  ;»7*2),  zusammen  in  der  „Zueignung"  vor  den  ^Blumt-n- 
iwcn"  (8.  Werke  3,  l*.t7  f.).    Uuter  Kr.  Schlegels  üedichten  befinden  sich  zwei 
laette,  eins  aul'  Calderon,  das  andere  an  Camoens  (s.  Werke  \^,  35  t'.*,  von  denen 
aber  nicht  weiiȊ,   wann   und  wo  sie  zuerst  gedruckt  wordeu  sind.    Tieck  hat 
Dante.  Petrarca,  Ariobto«  Taeso  und  Cervantes  im  «Zcrbino"  gehuldigt,   wo 
(Romantische  Dichtungen  I,  'M)h  ff.)  ihre  Schatten,  nebst  dem  des  Shakspeare, 
der  LlAupter  der  neuern  Poesie  vor  Goethe,   auftreten  lässt.  27>  Vgl. 

U  Athenäum  3,  I,  103  f.;  a.  Werke  5,  Tri  f. 


746     VI.  Vom  Kwräten  Viertel  des  XVIU  .Uhrbiiaderts  bis  zn  GoMhe'a  Tod 


§  232  dieser  neue»  Mythologie  auch  viel   von  einer  nähern  Rekanntiu' 
mit  den  Poesien  des  Orients.     Welche  neue  Quelle  von  Poesie,  moi 
er,  könnte  uns  aus  Indien  fliedsen,  wenn  einige  deutsche  KOn 
mit   der   Dnivorsalität   und   Tiefe  des  Sinnes,   mit   dem   Genie 
Ucbersetzunii:,  das  ihnen  eigen  sei,  die  Gelegenheit  bcsfissen, 
den   Einblick  in   die  poetische   Literatur  Indiens  zu  erOfTnen! 
Orient  inUssten  wir  das  höchste  Koniantische  suchen,  und  wenn  wir 
erst  aus  der  Quelle  schöiifcii  könnten^   so  würde  uns  vielleicht  der 
Anschein  von  südlicher  Gluth«  der  uns  jetzt  in  der  spanlscheu  Fo 
Bo  reizend  sei,  wieder  nur  abendländisch  und  sparsam  erschein 
Die  Ergebnisse  der  auf  die  morgcnUndischc  Poesie  »ich  beiie 
Studien   der  »Schlegel  mit  dem,    was  sich  daraus  auf  dem   wi 
schaftlichon  Gebiet  bei  uns  weiter  entwickelte,  traten  allerdings  eist 
später  an  die  Oeffentlichkeit'"  und  gewannen  erst  dann  EinfloM  laf 
die  vaterländische   Dichtung.     Aber  zwei   andere,   mit   den  Ronafe 
tikeni   in  Verbindung  stehende  Schriftsteller  hatten    in   deren 
Schriften  bereits  ISrto  und  i80!>  zwei  Artikel  geliefert,  von   ' 
eine  über  indische  Mythologie  handelte,  der  andere  in  l  - 
einer  Episode  ans  ilcni  ]»orsi8chen  Heldenbuch  des  Ferdusi  hes 
Früher  und  bei  weitem   unmittelbarer,  tiefer   und   auch 
baltiger   griffen    die    Romantiker    in  die   sicli    neu    bildenden  Ver- 
hältnisse unsoier  schönen   und   wissenschaftlichen  Literatur  dsdurcli 
ein,   dass  sie,   und  zwar  zuerst  A.  W.  Schlegel    und  Tieck,  d«a 
Mittelalter   Überhaupt  und  der  altdeutschen   Dichtung    insbe^oodttt 
grössere  Anerkennung,  als   ihnen   zeithcr  zu  Tbeil   geworden  wir, 
zu  %'erschatTcn  bemUht  waren,  und  dass  sie,  indem  sie  die  scboti  n 
Ende  des  vorigen  und  zu  Anfang  des  gegenwärtigen  JahrhundcJü 
zugünglichorn   poetischen   Erzeugnisse  jener  Zeiten   mehr  an^ 
zogen,   durch  Besprechung,    Umbildung   und  Erneuerung  ein 
meineres  Interesse  daför  zu   erwecken  suchten".     A.   W.  Scblc.tl 
hatte  sich  vor  Ende  des  Jahres  170S  mit  altdeutscher  T* 
beschäftigen  angefangen  und  war,   wenn  nicht  gleich  dfim 
im  nächsten  Jahre  an   die   Vorarbeiten  zu  seiner   Umdicbtnn^  dct 
.Tristan"  gegangen,  auch  mit  den  Nibelungen  und  dem  neldenbuit 
hatte  er  sich  bereits  vertraut  gemacht,  und  beabsichtigte  die  erstem 
für  ein  leichteres  Verstflndniss  umzuarbeiten"     Irre   icb   nicht}  tf 


29)  Vgl,  dazu  eineStellevon  A.W.  Schlegel  und  eine  (iniiere  von  AmWaM 
In  der  Europa  2,  I.  4a  t*.  und  1,  1,  32  ff.  ^0)  Fr.  Sclilorrol«  Bnrh  .fil* 

Spfflchp  miil  Weisheit  der  Indicr"  erschien  1*»U^;  A.  W.  Si  ! 
rhck"  erst  seit  1h2m.  31)  Vgl.  S.  rtio,  Anm.  äo.  nnd  .al 

32i  Vgl.  III.  h»T  f.         33)  Alles  dicas  frgiht  sirh  mu«  Ura  Knd« 
uud  Goethe's  an  ihn  S.  31;  37,  aus  dem  AÜienftum  :2, 2.ancff.  u  Werk**  r] 


Eatirickelungag.  d.'Literat  1773—1832.  Die  Romantiker.  Altdeutsche  Studien.  747 


war  Schlegel  der  erste,  welcher"  die  Minnesänger,  d.  h.  die  hi^fiscben  §  332 
Dichter  der  mittelhochdeutschen  Zeit,  von  den  eigentlichen  Volks- 
dichtem  unterschieden  wissen  wollte  und  den  Charakter  des  eigent- 
lichen Volksliedes  vom  geschichtlichen  Standpunkte  aus  genauer  be- 
stimmte. Dass  seine  in  Berlin  gehaltenen  Vorlesungen  auch  auf  die 
Geschichte  der  mittelalterlichen  Literatur  eingien^en^  er  in  den  nach- 
her in  der  Europa  gedruckten  besonders  auch  den  Werth  der  alten 
Volksbücher,  den  schon  vorher  Tieck  gegen  ihre  Verächter  in  Schutz 

genommen  hatte ^,  hervorhob  und  ebenda  dem  Mittelalter  viele 
Tugenden  und  Vorzüge  zuschrieb,  welche  der  neuesten  Zeit  abgehen 
sollten,  ist  oben'"  erwähnt  worden.  Er  fand*^  in  allen  jenen  «ur- 
alten Dichtuntreu  und  Geschichten'*  (den  Volksbüchern),  in  deren 
einigen  sich  der  Riesengeist  eines  freien  Heldenalters  rege,  in  andern 
ein  klarer  Verstand  die  Lebensverhältnisse  auf  muntre  Weise  dar- 
,le^e,  eine  unvergängliche  poetische  Grundlage;  bei  einigen  sei  sogar 

[ie  Ausfuhrung  vortreflflich,  und  wenn  sie  bei  andern  formlos  er- 
scheine^  so  sei  diess  vielleicht  bloss  die  Schuld  einer  zufälligen  Ver- 
witterung vor  Alter.  Sie  durften  nur  von  einem  wahren  Dichter 
berührt  und  aufgefrischt  werden,  um  sogleich  in  ihrer  ganzen  Herr- 
lichkeit hervonsutreten.  Seine  Auffassung  des  Mittelalters  war  frei- 
lich noch  viel  zu   einseitig  und   viel  mclir  die  eines  Liebhabers  als 

ligentlichcn  Kenners,  und  so  mahlte  er  dessen  Bild  auch  mit  \iel 
zu  hellen  Farben  in  seiner  Vorlesung  über  dasselbe",  wie  ea  um 
dieselbe  Zeit  auch  sein  Bruder  in  Prosa  und  in  Versen  that*".  Je 
ungerechter  indess  bis   dahin  im  Allgemeinen  jene  Zeiten  mit  ihren 

iUStänden  und  Leistungen  beurthcilt  worden  waren,  und  je  weniger 

Anstand  nahm,  sie  als  schlechthin  barbarische  zu  bezeichnen, 

ohne  auch  nur  die  Neigung  zu  haben,   sie  näher  kennen  zu  lernen, 

--eil  es  in  Deutschland  noch  zu  selir  an  allem  eigentlich  historischen 

linn  fehlte;  desto  weniger  konnte  es  schaden,  wenn  diejenigen,  die 
für  das  Mittelalter  ein  Interesse  zu  erwecken  suchten,  in  ihren  An- 
^ureisungen  desselben  zu  weit  giengen".  Von  Tiecks  Studien  über 
^EUe  altdeutsche  Literatur"  und  unter  allem  was  vor  dem  Jahre  1S00 

fgl    I.  51.  Anmerk.  2\  und  aus  Tiet'k«  Vorbmcht  zum    II.  Bde.  seiner  Schriften 
LXXIX.    Vgl.  auch  oben  S.  420.        34i  In  den  Cbanikteristikeu  vind  Kritiken 
lü  ff        -35)  Vgl.  S.  575.  oben.         3tj)  S.  ß«.X  Anm.  SS;  S.  TIft:  und  S.  724. 
37)  Europa  2,  1,  7.        3S)  Vgl.  S.  *W\  Anm.  8«*.        39>  Kuropa  !,  1,  h  ff. 
4<M  Gesteht  doch  selbi^t  ein  f^eistToller  Schriftsteller  der  neuesten  Zeit,  Julian 
bmidt.  der  sonst  von  den  Romantikern  mehr  Böses  ols  Gutes  aussagt,  dass  ans 
iÜettanliscben  Symitathieu  für  das  Mittelalter  eine  gründlichere  Behandlung 
cbi«'htlit'h<^n  Studien   und   eine  neue  Wissenschaft   des   grüssien  Stils,  die 
c  AlterthurnKwisspnschnft,   henr orgegangen  sind  fGesehichte  der  dentsoUen 
Qttntnr  1,  d43l.  41 1   Ueber  die  Zeiten,  in  denuo  sich  Tieck  viel  mit 


f>«i 


ob 


748    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe*8  Tod. 

332  für  die  Wiederbelebung  und  wissenscbaftHcbe  Erforscbung  der  alt- 
deutHcben  Poesie  gescbab,  haben  vielieicbt  seine  neu  bearbeiteten 
„Minnclieder  aus  dem  Bchwäbiseben  Zeitalter"  (1803),  mit  der  dazu 
gehörigen  Vorrede,  am  anregendsten  und  folgereicbsten  gewirkt. 

So  hatten  sich  an  die  ersten  Anfänge  einer  geistvollen  geschicht- 
lichen Auflassung  und  Darstellung  heimischer  und  fremder  Literatur- 
zustände  der  Vorzeit,  die  wir  in  Herders  Schriften  finden,  unter  den 
Händen  der  Romantiker  jetzt  schon  so  viel  neue  Elemente  angesetzt, 
dass  darnach  der  baldige  Beginn  einer  eigentlichen  Literaturge- 
Bchichtschreibung  in  Deutschland  erwartet  werden  konnte  ''^. 

§  333. 
Die  Kunsttheorie  derl  neuen  Schule,   die  hauptsächlich  von  Fr. 
Schlegel  aufgestellt  und  verkündigt  wurde,  fusste  in  ihren  AnfäDgen 


derselben   beschäftigte,   vgl.  S.  504  f.,  dazu  dessen  f-chriften  11,  S.  LXXVIII  i 
und  Köpke,   im   Leben  des   Dichters  1.  297  f.;   315  f.;   326  f.;    335  f. 

42)  Was  dafür  bis  zum  J.  1SU3  vorbereitet  worden  sei,  was  daraus  dleG«gen- 
wart  schon  für  Gewinn  gezogen  habe,  und  was  sicli  in  dieser  Beziehung  von  der 
nächsten  Zukunft  erwartcu  lasse,  deutete  Tieck  im  Eingang  seiner  Vorrede  zu  deo 
-MinneUederu*'  au  (Kritisclie  Schriften  I,  Ibü  fF.j:  «Sehen  yvir  auf  eine  unlÄogst 
verftossenc  Zeit  zurllck,  die  'sich  durch  Gleichgültigkeit,  Missverstäudnisse  od» 
das  Kichtbeachtcn  der  Werke  der  schönen  Künste  auszeichnet,  so  müssen  vir 
über  die  schnelle  Veränderung  erstaunen,  die  in  einem  so  kurzen  Zeitraum  l«- 
wirkt  hat,  dass  mau  sich  nicht  nur  für  die  Denkmäler  ' vertiossener  ZntalM 
interessiert,  sondern  sie  würdigt  und  nicht  nur  mit  einseitigem  und  verblcnd£tf3i 
Eifer  bewundert,  sondern  durch  ein  höheres  Streben  sich  bemiüit.  jedeu  Geis*  aof 
seine  eigne  Art  /.u  verstehen  und  zu  fassen  und  alle  Werke  der  verschieden ät^^ 
Künstler,  so  sehr  sie  alle  für  sich  selbst  das  Höchste  sein  mögen,  als  Theüe  eJiiti 
Poesie,  einer  Kunst  anzuschauen.  —  De^n  es  gibt  doch  nur  eine  Poesie ,* die  ir 
sich  selbst  von  den  frühesten  Zeiten  bis  in  die  fernste)  Zukunft,  mit  den  Werkm. 
die  wir  besitzen,  und  mit  den  verlornen,  die  unsre  Phantasie  ergänzen  mrdt?. 
sowie  mit  deu  künfti^'on,  welche  sie  ahnen  will,  nur  ein  unzertrennliches' Giii» 
ausmacht.  -  Erfreulich  ist  es  zu  bemerken,  wie  diess  Gefühl  des  Ganzen  scboE 
jetzt  in  der  liicbc  zur  Poesie  wirkt.  Wenigstens  ist  wohl  noch  kein  Zeiisi'.fr 
gewesen,  welches  so  viele  Anlage  gezeigt  hätte,  alle  (jattungen  der  Poesit  7i 
lieben  und  zu  erkennen  und  von  keiner  Vorliebe  sich  bis  zur  Parteilichkeit  ui«i 
Nichtanerkennung  verblenden  zu  lassen.  So  wie  jetzt  wurden  die  Alten  nccli  Li« 
gelesen  und  übersetzt ,  die  verstehenden  Bewunderer  des  Sliakspeare  sind  nicb: 
mehr  selten,  tlie  italienischen  Poeten  haben  ihre  Freunde,  man  liest  und  studirTt 
die  spanischen  Dichter  so  lleissig,  als  ea  in  Deutschland  möglich  ist.  von  ^'^ 
Uebcrsetzung  des  Caldoron  darf  mau  sich  den  besten  Kintiuss  versprecben;  « 
steht  zu  erwarten,  dass  die  Lieder  der  Provenzalen,  die  Romanzen  des  NüfdiCi 
und  die  Blüthen  der  indischen  Imagination  uns  nicht  mehr  lange  fremd  bleibe 
werden ;  was  mau  von  der  Poesie  fordern  darf,  welche  Stelle  sie  einnehmen  kMfl- 
auch  diess  scheint  mehr  anerkannt  zu  werden;  man  ist  in  Grundsätzen  fast  eitif. 
die  man  noch  vor  wenigen  Jahren  Thorhcit  gescholten  hatte,  und  dabei  sind  dit^e 
Fortschritte  der  Erkenntnisu    nicht  von  mehr  Widersprüchen   und  iVerimutti's 


^ 


Kniwickeliingsgang  der  Literatur.    1773 — J832.   Die  Romautiker.  Kunsfctlieone.  749 


St 

I      de 

de 


ocli  ganz  auf  den   kunstpliilosophiecbcn   Schriften  Sebillers',   ent-  §  333 
wickelte  sieb  aber  bald  eig-enartiger,  thcils  unter  den  Einflüssen  der 
fichteschen  ^  Wissenachaftalchre " ,    der    scbleiermachcrschcn  ^  Reden 
ober  die  Religion^   und  der  scbellinjcschen  Naturphilosophie,  theils 

it  der  Erweiterung  von  Schlegels  Gesichtskreis  für  die  Auffassung 

bnd   vergleichende  Gogenttherstellung    der  vergchiedcnen  Litcratuv- 

epochen  alter  und   neuer  Zeit.    In  systematischem  Zusammenhange 

t  er  seine  Lehre  nie  vorgetragen";  er  hfltte  es  auch  kaum  ver- 

ocht,  da  er  als  Acsthetiker  eigentlich  nicmnls  einen  dauernd  festen 
Standpunkt  gewann,  auch  in  der  Zeit,  in  welcher  ihn  die  Theorie 
der  Kunst  viel  beschäftigte,  zu  sehr  an  die  fragmontaxiscbe  Form 
des  Vortrags  gewohnt  war.  Er  hat  uns  daher  nur  Hilemcnte  einer 
Kunstlehre  Überliefert,  die,   wie  sie  im  Laufe  seiner  Studien   nach 

ud  nach  in  ihm  auftauchten  und  sich  gestalteten,  in  seineu  Schriften 
rstreuf  sind:  ausser  in  der  altern  :,über  das  Studium  der  griechi- 

hen  Poesie "^  vornehmlich  iu  den  «Fragmenten"  und  deu„  Ideen" 
des  Athcnriunis,  in  dem  ^GeapWlch  über  die  Poesie"  und  in  ilem  ^ Lite- 
ratur" überschriebcnen  Aufsatz  der  Europa.  Anfänglich,  wo  er  iu 
seinen  ästhetischen  Grundsätzen,   mit  denen,   Über  welche  Schiller 

ud  Goethe  sich  verständigten  und  einigten,   noch  im  Wesentlichen 

liereinstimmt,  ist  auch  ihm  der  alleinige  Zweck  der  poetischen  wie 


!t  und  gestört,  als  jede  grosse  nieu3chUche  Bestrebung  notbvendig  immer 
bpfbddehen  wird"*. 

§  K33-  L  Aucb  noch  in  den  »Fra^meoteD"  dee  Atbeniiums  (1,  2,  64  f.)  ist 
ic  in  der  Abhandlung  -tib^r  naive  und  senlimentnliBobeDicIitung**  gcmachtf^  Kin- 
icilung  der  sentiroentaliscben  Poesie  in  die  satirische,  elegische  und  idyllische 
[1.  S  'MtH  ff.)  Von  Schlegel  auf  die  Poesie  angewandt,  die  er  nach  der  Analogie 
philosophischen  Kunstsprarhc  die  trflnscendentale  heissen  möchte.  2)  VTie 
sich  zu  der  Zeit,  da  das  Athenäum  erschien,  eine  .eigentliche  Kunstlelire  der 
^oeeie"  dachte  und  wie  eine -Philosophie  der  Poesie  überhaupt",  die  er  beide  von 
LUider  unterschied,  ist  aus  einem  seiner  -Fragmente"  (Athenäum  I,  2,  ^^\if.)  ku 
len.  3i  Von  seiner  klcineu  Schrift  -über  die  Grenzen  des  Schönen",  die 

ten  frOhesten  gehört  ivgl  S.  :is«i ,  7<)),  sehe  icb  hier  ganz  ab.  In  ihrem 
Tngang  ist  der  EiuHuss  der  tUtern  ästhetischen  Abhaudlun^en  Schiller^;,  nament- 
kh  der -über  Anmuth  und  Würde-,  nicht  zu  verkennen;  weiterhin  leidet  sie  wirk- 
Ich  an  der  Verworrenheit  di's  Ufgrift's  -vom  Scht5nen  nnd  an  der  Harte  der  t>ar- 
?llung~,  die  Schiller  darin  fand  (an  Körner  3,  ■l'^).  Klarheit  und  Uestimmlheit 
T  Pet^riffc  und  leicht  fasslichen  Zusammenhang  der  Gedanken  vermiast  man  bei 
T.  ScbU'gel,  wo  er  sich  auf  theoretischem  Gebiet  bewegt  oder  philosophiert,  auch 
)&terhin  immer  mehr  oder  wp:niger;  nicht  nur.  dass  er  sich  711  sehr  in  Para- 
lOMen  geliel  nod  die  l'nverständlichkeit  zu  wenig  vermied,  er  fand  in  der  letztern 
bucb  gar  nicht  etwas  ko  durchaus  Verwerfliches  und  Schlechtes,  ja  in  seinem 
ieberrotith  tbat  er  sich  gewissermasscn  etwas  darauf  zu  gute,  d&ss  seine  Schriften 
ielen  so  nnverständlich  wären.  Vgl.  den  Artikel  ..über  die  Uhverst&ndlichkeit* 
Athenäum  H.  2.  A'Ah  ff. 


333  jeder  andern   wahren  Kunst  die  Darstellung  des  Scböoen.    Die«er 
Zweck  ist  in  der  Poesie  wahrend  des  ganzen  Verlaufs  ihrer  Geschichte 
nur  vun  einem  Volke,    von  den  Griechen,   tu  der  ßlUthezcit  ihrer 
Dichtung,   vollständig  erreicht  worden;  daher  muss  sich  die  neuere 
Poesie,  die  hei  allem  Grossen  und  Trefflichen,  das  eiurelne  Dicbtcr 
hervorgebracht   haben,   im  Ganzen   doch   an   so   vielen    und   st)  \tf 
deutenden  Mängeln  leidet,  die  griechische  zum  leitenden  Vorbilde 
nehmen,  wenn  sie  sich  zur  wahren  Kun^t  veredeln  soll.     I' 
sie  auch   ui<-ht   mehr,    wie  sie  es  zeither  so  ntt  getfaan    u 
Zweck  in  der  Wahrheit  oder  in   der  Sittlichkeit  »neben,    aad 
werden,    wie  Wissenschaft   und   Dichtung,    so    auch   die   üna 
poetischen  Gattungeii  schÄrfer  und  reiner  gegen  einander  al 
sein.    Indessen  können  wir  zu  der  letzten  und  höchsten  kfinifilenscbeä 
Vollkommenheit  in  der  Poeaie  nicht  mehr,  wie  die  Griechen,  au 
Hand  der  Natur  gelangen,  «ondern  nur  durch  Bildung,   welche 
Werk  der  Freiheit  ist,   und  deshalb  muss  das  Streben  de»  Dicht 
in  unserer  Zeit  vor  allem  andern  dahin  gehen,  sich  so  vielseitig 
so  harmonisch,  wie  nur  irgend  möglich,  zu  bilden \     Aber  schoo  in 
jenen  oben  berührten  S.^tzen   au?  den  ^kritischen  FVa^mentea'  d» 
Lyceums*  finden  wir  Anzeichen  genug,  dass  Schlegels  Ansichten  tlbir 
die  letzten  und  höchsten  Zielpunkte  der  neuern  Poesie  nicht  mehr 
dieselben  sind;  es  veri-Uth  sich  darin  bereits  der  Uebergang  xo  »di»ff 
neuen  Lehre  von  einer  Zukunftspoesie,' die  er  in  Aussiebt  genommi 
bat,  und  gleich  im  zweiten  Sttlcke  des  Athenfiunis  beginnt  er  dii 
Lehre  vorzutragen.    Vielseitige,  wo  nicht  universelle  BiM 
welche  in  der  neuem  Zeit  ein  einheitliches   und   harniou 
sammenwirken  aller  geistigen  Kräfte  im  Menschen  allein  ermöglic 
werden   kann,   bleibt  ihm  zwar  noch   immer  ein  Haupterford« 
fUr  den  Dichter,   wie  er  ihn   verlangt;   allein  durch  den  lichw 
Idealismus,    den  er  nebst  der  Poesie  als  die  ^Centra  der  deotMl 
Kunst  und  Bildung**   betrachtet*,  irre  geleitet,    hat  er  jetzt 
Ziehung  der  Kunst  und  der  künstlerischen  Thätigkeit  zur  obji 


■ll  Vgl.  die  Schrift  , über  das  Studiumilerpriech  Poesie",  bo6und«r»  (a.  Wi 
S.  72  f.;   100:  2"2;  27  1'.;  SO.    AI»  auf  Beispiele  der  Uetyereinslimmaog  miti 
sehen  Sätzen  verweise  ich  auch  noch  siif  S.  41  ff.;  07;  IS).  00  T 
S.  Kiv)  f.  6)  Athenäum  3,  2»  34 K    Kbenda  erkUrt  er,  dass  er  ,( 

fOr  dea  Kern  der  Menschheit  balte".    Anderwärts  (Athcn&um   ^,  t,  Sit  ufi 
»alle  Philosophie  ist  IdeoUsmus,  und  es  ^iht  keinen  wahren  RcalismuB  ak 
Poesie,**.    Poesie  und  Philosophie  seien  aher  nurKxucroc,  und  «o  laiipi  la 
sage,  einige  seien  schlechthin  Idealisten,  andere  ent^ihiedea  Reaüsten,  ht 
nichts  anders  als^  ch  gehe  noch  keine  durchaus  gehihloie  Meuscbcn,  »  gdw^ 
keine  Religion.    Cnd  spater  iu  der  Europa  II,  I.  45;    48):    «iler  Ui 
der  Mittelpunkt  und  die  Grundlage  der  deutschen  Literatur.  —  So  wk 


K 


Eotwickelungsgaog  der  Literatur.    1773—1632.  Die  Homontiker.  Kunsttboorie.  751 


nnlichcD  Welt,  die  Schiller  und  Goethe  bei  allem  ihrem  Streben  §  333 
nach  oiuer  idealeu  Dichtuug  doch  immer  anerkannt  und  berück- 
sichtigt wissen  wollten \  gänzlich  aus  dem  Gesicht  verloren.  Das 
Kunstwerk  soll  als  ein  schlechtbin  freies,  durch  keine  vorhandene 
Realität  von  vorn  herein  in  seinem  StofT^  seinem  Gehalt  und  seiner 
Form  bedingtes  Erzeugniss  der  Pbautasie  aus  dem  subjectiven  Geiste 
hervorgehen^  der,  um  im  Vollbesitz  seiner  schöpferischen  Freiheit  zu 
verbleiben  und  sich  nicht  selbst  in  seinem  Werke  zu  verlieren,  es 
mit  Ironie  hervorbringen  muss.  Auf  den  Begriff  der  Ironie  wurde 
Schlegel  zunächst  durch  sein  Studium  der  platonischen  Schriften 
geführt.  Bloss  von  der  sokratischen  Ironie  spricht  er  in  dem  Anf- 
satz  über  G.  Forster  und  in  einem  der  grössern  kritischen  Fragmente 
des  Lyceums.  Dort  meint  er",  man  könnte  auf  sie,  die  von  den 
Zuuftgelehrten  von  jeher  so  breit  und  schwerfällig  missdeutet  und 
misshandelt  worden,  anwenden,  was  Plato  vom  Dichter  sage:  es  ist 
ein  xartes,  geflügeltes  und  beiliges  Ding.  Hier  beschreibt  er  sie  aus- 
führlich'*': .^Dio  sokratische  Ironie  ist  die  einzige  durchaus  un- 
willkürliche und  durchaus  besonnene  Vorstellung.  Es  ist  gleich 
unmöglich,  sie  zu  erkünsteln  und  sie  zu  verrathen.  Wer  sie  nicht 
hat,  dem  bleibt  sie  auch  nach  dem  offensten  Geständniss  ein  Räthsel. 

• 
_»]b  iIaa  letzte  Ziel  und  ilic  hachste  Vollendung  des  6an7.eii,  so  ist  der  Idealismus 
dte  wesentliche  ßedingiung  sine  qua   non,  &ls  Erhaltuugsmittel  und  Grund- 
unaerer   neuen  Literatur   zu  betracbten-.  7»  Vgl.  oben   S.  -IST  dio 

lle  aus  Schillers  Brief  an  Goethe  (3»'i02):   ..Zweierlei  gehört  zum  Poeten'*  etc. 
Sj  Bis  auf  die  äusserste  Si>itze  getrieben  erscheint  Schlegels  Fonlerung,  das« 
•h  der  stibjective  Geist,  wie  im  Denken,  so  auch  im  Dichten  bis  zur  PussivitJU 
auf  und  in  sich  zurückziehen  müsse,  in  dem  Abschnitt  der  ,Luciude'*.  welcher 
die  Über  den  Müsaiggang"  überschrieben  ist  (S.  7Tff.^   Die  Faulheit  wird  eine 
dinhche  Kunst  genannt,  der  Müsaiggang  sei  die  Lebensluft  der  Unschuld  und 
UfgeisteruDg,  welche  die  Seligen  athmen.  das  einzige  Fragment  von  Guttähn- 
,   das   lins  noch  aus  dem  Paradies«  geblieben  sei.    -Der  Fleiss  und  der 
sind  die  Todesengel  mit  dem  feuri};eu  Schwert,  welche  dem  Menschen  die 
shr  ins  Paradies  verwehren.    Nur  mit  Gelassenheit  und  Sanitmuth.   in   der 
Stille  der  echten  PassivitiU  kann  man  sich  an  sein  ganzes  Ich  eriuuern 
Welt  und  das  Leben  unscliaueu.   Wie  geschieht  alles  Denken  und  DicUlen, 
man  sich  der  Einwirkung  irgend  eines  Genius  i^an/  überhi.sst  und  hingibt? 
ist  das  Sprechen   und  Bilden   nur  Nebensache  in   allen    Künsten   ui.d 
Bhafteu:    das  Wesentliche  ist  das  Denken  und  Dichten,    und  das  ist  nur 
:ch  Pa.ssivität  möglich.  —  In  der  That,  man  sollte  das  Studium  des  MUssiggangs 
straflich  vernachlässigen,  sondern  es  zur  Kunbt  und  Wissenschaft,  ja  xur 
\n  bilden!    Um  alles  in  Kins  zu  fassen:  je  göttlicher  ein  Mensch  oder  ein 
des  Menschen  ist,  je  ähnlicher  werden  sie  der  PHaaze;  tUesc  ist  unier  allen 
leu  der  Natur  die  sittlichste  und  die  schönste.   Und  also  wäre  ja  das  höchste, 
[Ivodetste  Leben  nichts  als  ein  reines  Vegetieren".  V*)  Charakteri}*tikcn 

Kritiken  I,  t12.  lOi  Lyceum  8.  1U'.>.  dann  im  Athenäum  3,  2,  U\  f. 

in  den  Charaktei-isiiken  und  Kritiken  t,  254  f. 


752    Tl.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVin  Jfthrbunderls  bis  ru  GoftWi  Tod 

§  333  Sie  soll  niemand  täuschen,  als  die,  welche  sie  fUr  Täuschung  hall 
und  entweder  ihre  Freude  haben  an  der  herrlichen  Schalkheii, 
Welt  zum  Besten  zu  hahen,  »ider  böse  vrerden,  wenn  sie  ahnen, 
wären  auch  wohl  mit  gemeint.    In  ihr  goll  alles  Scherz  and 
Ernst  sein,  alles  treuherzig,  offen  und  alles  tief  versteckt.    Sie 
springt  aus  der  Voreinigung  von  Lebenskunstsinn  und  wisscnscl 
liebem   Geist,    ans   dem   Zusammentreffen  von   YoUendeier 
Philosophie  und  vollendeter  KunstphiloBophio.    Sie  ent'    '        «1  ei 
ein  Gefühl  von  dem  unauflrislichen  Widerstreit  de»  In  -".en 

des  Bedingten,  der  Unmöglichkeit  und  Nothwendigkeit  einer 
ständigen  Mittheilung.  Sie  ist  die  freieste  aller  Licenzen,  denn 
sie  setzt  man  aich  über  sich  selbst  weg;  und  doch  auch  die  g< 
liebste,  denn  sie  ist  unbedingt  nothwendig.  Es  ist  ein  «ehr 
Zeichen,  wenn  die  harmonisch  Platten  gar  nicht  wissen,  wie^ 
diese  stäte  Sßlbst]>arodie  za  nehmen  haben,  den  Scherz  geradei 
Ernst  und  den  Ernst  für  Scherz  halten*'.  Auch  in  dem  aaJem 
grössern  Fragment,  welches  aus  dem  Lyceum  oben"  raitgctheilt  ist 
spricht  er  im  Anfange  von  der  Ironie,  die  in  der  Philosophie  ihrf 
eigentliche  Heimath  habe,  dauu  aber  auch  schon  von  ihrer  * 

düng  in  der  Rbetorik  und  in  der  Poesie.    Indem  er  sodann  cW 

noch  im  Lyceum  die  Ironie  schlechthin  fflr  die  Form  des  Paradoxw 
erklärte'"  imd  sein  Bedauern  darüber  jlu^serte,  da^s  er  selbst  r« 
ihr  in  seiner  Schrift  -über  das  Studium  der  griechischen  Ptieofi* 
keinen  Gebrauch  gemacht  habe,  und  dass  der  gänzlicbo  Mangel  diiu 
das  Schlechteste  an  diesem  Versuche  8ei'^  wandte  er  sie 
paradoxen  Behauptungen,  die  er  im  Athenäum  aufstellte ,  s- 
an,  dass  er  vorzüglich  daraus  den  Vorwurf  der  ünverständlit bei- 
der dieser  Zeitschrift  gemacht  wurde,  zu  erklären  suchte*'.  Zu  Ats 
am  wenigsten  klaren  und  fasslichen  Sätzen  gehörten  aber  aucli  ü;^ 
in  welchen  er  diroct  oder  indirect  neue  Definitionen  des  Begriffji 
Ironie  gab,  wie:  ^Naiv  ist,  was  bis  zur  Ironie,  oder  bis  zum  «t 
Wechsel  von  Selbst3chö|)fuMg  und  Selbstveruichtung  natUrlicb, 
viducll  oder  classiach  ist  oder  scheint '*";  und  „Ironie  ist  kl 
Bewusstsein  der  ewigen  Agilität,  dos  unendlichen  Chaos*" 
lieber  tritt,  was  er  insbesondere  unter  der  poetischen  Ironie  v« 
an  einer  andern  Stelle  hervor":  ^ Selbst  in  ganz  populären 
(der  Poesie),  wie  z.  B.  im  Schauspiel,  fordern  wir  Ironie,  wie  U 
dass  die  Begebenheiten ,  die  Menschen,  kurz  das  ganze  Spiel 
Lebens   wirklieb    auch    als  Spiel   genommen    and    dargestellt 


II)  S.  610. 
\i)  Atken&um  3,  2, 
17|  3,  1,  107. 


12)  Vgl.  oben  S.  (i20,  Anm. 
344  ff.  15)  Alhenium  1,  2, 


131 S.  Ni^ 
16i  3. 


PV 


EutirickelungsjBjang  der  Literatur.    1773— !832.  Die  Romanliker.  Kxmsttlieorie.   753 


^. 


jWie  wenig  sicher  gelbst  Schlegels  lulcbste  Freunde  dartiher  waren,  §  333 

as  er  mit  dem  Worte  Ironie  in  der  dichterischen  Praxis  eigentlich 
bezeichnen  wollte,  erhellt  schon  aus  der  Aeusserung  von  Novalis'*: 
nach  seinem  BcdÜnkon  sei  ^das,  was  Schlegel  als  Ironie  charakteri- 
siere, nichts  anders,  als  die  Folge,  der  Charakter  der  Besonnenheit, 
der  wahrhaften  Gegenwart  de^  Geistes^.  Auch  Tieck  hlieh  darüber 
lange  im  Unklaren ,  in  wiefern  die  Ironie  dem  wahren  Dichter  un- 
ntbehrlich  sei/V  Man  darf  sich  daher  nicht  wundem,  dass  Fr. 
Schlegel  8o  vielfach  missverfitanden  worden,  wenn  er  in  der  Dich- 
tung die  Intnie  für  unerlasslieh  hielt.  Er  wollte  damit  andeuten, 
ie  sich, Tieck  später  überzeugte**,  „jene  letzte  Vollendung  eines 
etischen  Kunstwerks,  die  Gewähr  und  den  höchsten  Beweis  der 
hten  Begeisternng,  jenen  Aethergeist,  der,  so  sehr  er  das  Werk 
is  in  seine  Tiefen  hinab  mit  Liebe  durchdrang,  doch  befriedigt  und 
befangen  über  dem  Ganzen  schwebt  und  es  von  dieser  Höhe  nur 
80  wie  der  Geniessende  —  erschaffen  und  fassen  kann"*'.  Dem- 
ch  war"  die  Ironie  nur  ein  neuer  Name  für  eine  alte  Sache,  für 
s  ewige  Gesetz  der  freien  Form;  aber  in  seiuer  Anwendung  ist 
eses  Gesetz  von  den  Romantikern,  ganz  ihrer  suhjectiv  phantasti- 
hcn  Weise  gemäss,  suhjectiv  verzerrt  worden. 

Indem  nach  dieser  Auffassung  die  Kunst  von  dem  wirklichen 
eben  getrennt  und  zu  absoluter  Selbständigkeit,  gleichsam  in  freier 
chwebe,  über  dasselbe  erhoben  wird,  das  Dichten  Gefahr  hluft,  zu   ' 

em    auf   reiner  Willkür    beruhenden   Spiele    der   Pbautusie    und 
es   Witzes ,    das  Gedicht   zu   einem   ]>hantasti8chen    Gebilde    ohne 
Ion  Inhalt  zu  werden,  vorwirrt  Schlegel  die  ästhetischen  Begriffe 
h  noch  besonders  dadurch,   dass  er  nicht   allein  alle  poetischen 
attungen  vereinigt,  sondern  auch  die  Wissenschaft  und  dann  auch 
ie  Religion  in  den  engsten  Verband  mit  der  Poesie  gebracht  wissen 
ll*",   die  seiner  Ansichtjiach  der  Neuzeit  als  Aufgabe  gestellt  ist. 
Se  »ich  Schlegel,  als  er  die  „Fragmente**  des  Athenäums  schrieb, 


18»  Athenäum  1 ,  1 .  70.  1*,*)  .,T)or  Gedanke  der  Ironie-,  äusserte  er 

R.  Ktipke  (2,  173  f.)  «hat  sich  bei  mir  erst  später  vollstiindij?  entwickelt, 

tonde'rs  seit  ich  mit  Solgcr  in  nähern  Verkehr  getreten  vrar.    Vorher  alinle  ich 

die  Nothwcndigkfit  eines  solchen  Gedankens  für  den  Dichter,   als   dass   er 

\It  zu  klarer  Ucberzeugung  geworden  wäre.    Diese  dunkeln  Ahnungen  hatte  icl» 

iiDCutlich  bei  dem  Studium  Shakspeare's ;  ich  fühlte  heraus,  das  sei  es,  was  ihn 

im  grösBten  Dichter  mache  und  von  so  rielea   bedeutenden,   höchst  treiflichen 

:iUeutDu  unterscheide-.  2(1)  Schriften  6,  S.  XXVIII  f.        JI  21)  Vgl.  auch 

kpko  a.  a.  O.  2,  23S  f.  22)  Wie  Dettner  in  seiner  trefflichen  Schrift,  »die 

lantiscbe  Schule  in  Uircm  Zusammenhange  mit  Goethe  und  SchUler"  (Braun- 

iweig  iSäÜ.   S.),   S.  »U  tr.  bemerkt.  23)  Hanptbelege  hierzu  liefern   die 

reiter  unten,  S.  7aü  ff.  und  Anm.  41  angeführten  Stellen. 


754    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

333  das  Verbältuiss  zwischen  der  Poesie  und  Philosophie  dachte,  und 
weshalb  er  so  sehr  auf  die  Verbindung  beider  drang,  zeigen  u.  a. 
folgende  Stellen'":  nJe  mehr  die  Poesie  Wissenschaft  wird,  je  mehr 
wird  sie  auch  Kunst.  Soll  die  Poesie  Kunst  werden,  soll  der  Künstler 
von  seinen  Mitteln  und  seinen  Zwecken,  ihren  Hindeiniissen  und 
ihren  Gegcnstiinden  gründliche  Einsicht  und  Wissenschaft  haben,  so 
nuiss  der  Dichter  Über  seine  Kunst  philosophieren  ....  In  der 
Philosophie  geht  der  Weg  zur  Wissenschaft  nur  durch  die  Kunst, 
wie  der  Dichter  im  Gegentheil  erst  durch  Wissenschaft  ein  Künstler 
wird'''.  . .  .  Universalität  ist  W^echselsättigung  aller  Formen  und  aller 
Stoffe.  Zur  Harmonie  gelangt  sie  nur  durch  Verbindung  der  Poesie 
und  der  Philosophie:  auch  den  universellsten,  vollendetsten  Werken 
der  isolierten  Poesie  und  Philosophie  scheint  die  letzte  Synthese  zu 
fehlen;  dicht  am  Ziel  der  Harmonie  bleiben  sie  unvollendet  stehen*'''. 
In  den  „Ideen"  äusserte  er  dann''^:  „Was  sich  thun  lässt,  so  lauire 
Philosophie  und  Poesie  getrennt  sind,  ist  gethan  und  vollendet.  Als-) 
ist  die  Zeit  nun  da,  beide  zu  vereinigen".  Auch  sah  er  schon  dieseu 
neuen  Tag  anbrechen  und  begrüsste  seine  Morgenrothe :  er  sah  ihn 
in  Novalis'  Geist  aufgehen,  in  welchem,  wie  er  fand,  Poesie  uinl 
Philosophie  sich  innig  durchdrungen  hatten''*.  Auf  den  Gedanke«, 
die  Religion  in  den  ßercich  seiner  ästhetischen  Anschauungen  n 
ziehen  und  auch  sie  als  ein  Centrum  der  Bildung  aufzustellen,  kau 
■  Schlegel  erst  durch  Schleiermachers  „Reden  über  die  Religion";  dei:n 
erst  seit  deren  Erscheinen  tritt  er  mit  diesem  Gedanken  hervor,  zu- 
nächst in  dem  an  Dorothea  gerichteten  Aufsatz  .,  über  die  Philosophie", 
sodann  in  den  ., Ideen",  und  Überall,  wo  er  dort  und  hier  von  der 
Religion  spricht,  hat  das  Wort  die  gleiche  oder  ähnliche  Bedeutuni;. 
wie  in  jenen  Reden,  auf  die  er  auch  in  den  -Ideen''  mehrfach  ar>- 
driicklich  verweist.  Wie  er  die  Religion  noch  in  den  ^FragmeutCj' 
ansah,  sollte  sie  ^meistens  nur  ein  Supplement  oder  gar  ein  Siirro^:V. 
der  Bildung"  sein'\  In  den  ^ Ideen"  dagegen  ist  sie  ihm  .ni'-.t 
mehr  bloss  ein  Theil  der  Bildung,  ein  Glied  der  Meuscbheit,  ^oude.a 
dan  Ceutrum  aller  übrigen,  überall  das  Erste  und  Höchste,  i-* 
schlechthin  Ursprüngliche.  .  .  .  Nur  durch  Religion  wird  aus  h^c\i 
I*hilos(tphie,  nur  daher  kommt  alles,  was  diese  mehr  ist  als  Wi^?'-"*> 
Schaft.  Und  statt  einer  ewig  vollen  unendlichen  Poesie  werden  •^■r 
ohne  sie  nur  Ronuinc  haben,  oder  die  Spielerei,  die  man  jetzt  scLrnt 
Ktinst  nennt.  .  .  .  Nur  derjenige  kann  ein  Künstler  sein,  welo;/.-.' 
eine  eigne  Reli^::ion,  eine  originelle  Ansicht  des  Unendlichen  \iM 

24)   1,  ->,  71.  20'   I.  2.  ^i.  2üi  1,  2.  [4V>.  27i  Atfceßist 

■tt  I.  :i:i.  28)  Athenäum  :*,  I,  :(2  f.  29»  Athenäum   1.  2.  w. 

30)  Athenäum  3.  1,  *;. 


■■■■■ 


£utwickc]tiugsgaogderLiteratui.  1773— -1^32.  Die KomantQior.  Kousttheorie.   755 

Wer  Relipon  hat.  wird  Poesie  reden.  Aber  um  sie  zu  suchen  und  §  333 
zu  enldeckeu.  ist  Philosophie  das  Werkzeug  ■'*•.  .  .  .  Poesie  und  Philo- 
sophie sind,  je  niichdena  man  es  nimmt,  verschiedene  Sphären,  ver- 
schiedene Formen,  oder  auch  die  Factoreu  der  Religion.  Denn  ver- 
sucht es  nur,  beide  wirklich  zu  verbinden,  uud  ihr  werdet  nichts 
anders  erhalten  als  Religion"^'. 

Diese  erst  im  Werden  begriffene  mit  Jleligion  und  Wissenschaft 
innig  verbundene  Poesie  nennt  Schlegel   die  romantische"  und 


31)  A.  a.  0.  S   lt.  32)  A.  a.  0.  S.  12.  —  Die  Frucht   dieser  Lehre 

te  and   charakterisierte   sieb   nirgend   gchnelier  als  in  den  Dichtungen   von 

Lchariab  Werner,  dem  die  Begriffe  der  Kunst  und  der  Religion  so  völlig  in  ein- 

ider  nutgiensen.  dass  er  bedauerte,  fUr  diese  -beiden  Synonyma"'  in  der  Spruche 

Icht  einen  und  denselben  Namen  vorzufinden  (vgl.  im  Lcbensabriss  etc.  den  Brief 

Hitseig  ttus  dem  Fnlhjahr  IMH.  S.  26».  —  Mit  den  anjiet'übrten  Sätzen  Schlegels 

*r  <lie  Heligiüu  iu  ihrem  Verhältoiss  zur  Bildung,  zur  Pucsie  uud  AVUaen^cbatt 

tmmi  nun  freilich  der  Missbrauch  wenig  abcroin,  den  er  mit  dem  Worte  iu  f^einer 

»acinde*-  trieb:  hier  liess  er  uümlich  die  Liebenden  sich  ,mit  ebeu  so  viel  Atis- 

fgr* '  '   als  Religion   umarmen-   und   verlangte,    man  solle   das  Studium   dos 

^1  ^s  zur  Kunst  und   Wissenschaft,  ja  zur  Religion  bilden.    Durch  ihn 

rujüe  daa  Wort  Religion  ein  Stichwort  für  die  Auhanger  der  Schule,  besonders 

der  Kedonsart:   »etwas  big  zur  Heligion  treiben**«  die  so  sielfacb  und  oft  ^o 

»ern  angewandt  wurde,  dass  schon  im  poetischen  Journal  (I,  i:u)f.;  Kiof.;  \'^'^) 

leck  seinen  spottenden  Witz  dagegen  richtete.  H3)  Der  Begriff  des  Koman- 

sben  hatt**  um  dssJahr  Is<K)  nicht  bloss  ausserhalb  der  neuen  Schule  (vgl.  den 

kfifang  der  -Briefe  über  Schillers  Jungfrau  von  OrltauE"  in  der  n.  Bibliothek  der 

scLoncu  Wissenschaften  üi-,  135  ff.i,   sondern  auch  inucrbalb  derselben   und  bei 

tbreii  Stiftern  seihst  sehr  verschiedene  Botieutung.    Als  Tieck   den  ^Zerbino",  die 

.Gennveva"  etc.   unter  dem  Titel   -romantische  Dichtungen**  herausgab,  kam  es 

ihm.  wie  er  selbst  lierichtet  hat.  nicht  in  den  Sinn,  dem  Worte  ..romantisch"  eine 

l»e«!Oudcre  Bedeutung  geben  zu  vroUen;   er  nahm  es  in  dem  unbestimmten  Sinne, 

s  damals  allgemein  genommen  wurde:   höchstens  wollte  er  damit  andeuten, 

:u  diesen  Dichtungen   da^  Wunderbare  in  der  Poesie  mehr  hervorgehoben 

wer^ii-n  sollte  (vgl.  Köpke  a.  a    O.  2,  172),    In  der  Vorrede  zu  den-Minneliedern" 

tS  Vlllt  verstand  er  unter  der  »romantischen  Poesie- die  erzählende  Ritteidichtung 

littelalters,  in  deren  Bltttiiezeit  „sich  Liebe,  Religion,  Hitterthum  uud  Zauberei 

.n  grosses  wunderbares  Gedicht  verlebten,  zu  welchem  alle  einzelnen  Epopöen 

Tbeile  eines  üauzeu  gehörten";   und  im  -Octavianus-  wollte  er  seinp  Ansicht 

dieser  Poesie  des  Mittelalters  „allegorisch,  lyrisch  und  dramatisch  niederlegen, 

h.  darstellen,    wie  die  Poesie   in  einer  beatimmtm  Zeit  erschienen   sei**.    Die 

mtische  Poesie  aber  als  eine  besondere  Gattung  aufzustellen,   oder   mit   ihr 

m  (icgensatz  gegeu  die  classische  zu   bezeichnen ,   fiel  ihm   niemals  ein  (vgl. 

ifte«  1.  S.  XXXVIII  und  R.  Köpke,  a.  a   O.  2,  173;  237  f.i.    A.W.Schlegel 

{en  stellte  (iu  den  i'harakterisUken  uud  Kritiken  2,  20  ff.)  die  chiasische  Poesie 

Alterthums   und   die   romantische   des    Mittelalters   und   der  Neuzeit  insofern 

inder  gegenüber,  als  beide  auf  ganz  verschiedene  Weise  entstanden  wären,  in- 

er  zugleich  den  Zusammenhang  der  ursprünglichen   Bedeutung  des  Wortes 

»nianiiäcb"  mit  romance,  als  der  Benennung  der  aus  der  lateinischen  entätandcnen 

^oUfssprachen  des  Mittelalters,  uaciiwies;   und  spiter  (in  den  Vorlesungen  bber 

4fe' 


756    VI.  Vom  acweitea  Viertel  des  XVUI  JatirliaaderU  bis  za  Qoetbe^  Tod. 

§  333  charakterisiert  sie  als'eiue  progressive  UniAcrsalpoosie*'.     »Ihre  Be- 
stimmung? ist  uicbt  bloss,  alle  getrennten  Galtungen  der  Poesie  w-iedi 
ÄU  vereini^ren  und  die  Poesie  mit  der  Plnlosojibie  und  der  Rbetoi 
in  Berührung  zu  setzen"'"'.    Sie  will  und  soll  auch  Poesie  und  Pros 
Genialität   und  Kritik,   Kunstpoesie  und  Naturpoesie  bald  mischi 
bald  verscbuielzen,  die  Poesie  lebeudig  und  gesellig  und  das  Lei« 
und  die  Gesellschaft  poetisch  machen,  den  Witz  poetisieren  und  d 
Formen  der  Kunst   mit  gediegenem  BildungsstofF  jeder  Art  auftllh 
und  s/ittigen  und  durch  die  Schwingungen  des  Humors  beseelen. 
umfasHt  alles,  was  nur  poetisch  ist,  vom  grössten  wieder  moh] 
Systeme  in  sich  vereinigenden  Systeme  der  Kunst  bis  zn  dem  Seufi 
dem  Kuss,  den  das  dichtende  Kind  aushaucht  in  kunstlosen  G«sao( 
Sie  kann  sich  so  in  das  Dargestellte  verlieren,  dass  man  glaabeo 
möchte,   poetische  Individuen  jeder  Art  zu  charakterisieren,  sei  ilir 
Eins  und  Alles;   und   doch  gibt   es  noch  keine  Form,   <lie   so  daiu. 
gemacht  wäre,   den  Geist  des  Autors  voUstÄndig  auszudrücken; 
dass  manche  Künstler,  die  nur  auch  einen  Romau  schreiben  wollt 
von   ungonilir  nicb   scDist   dargestellt   haben.     Nur   sie   kann   glelJ 
dem  Epos  ein  Spiegel   der  ganzen  umgebenden  Welt,    ein  Bild 
Zeitalters  werden.     Und   doch   kann  auch  sie  am  meisten  zwiscbi 
dem  Dargestellten  und  dehi  Darstellenden,  frei  Aon  allem  realen 
idealen  loterossc,  auf  den  Flügeln  der  j)oeti8cheu  Reflexion  in 
Mitte  schweben,  diese  Reflexion  immer  wieder  ]H>tenziereD  nnd 
in   einer  endlosen   Korbe   von  Spiegeln   vervielfachen.      Sie  ist 
höchsten  und  der  allseitigs^ten  Bildung  ffihig,  nicht  bloss  von  im 
heraus,  sondern  auch  von  aussen  hinein,  indem  sie  jedem,  was 
Ganzes  in  ihreu  Produeten  sein  soll,  alle  Tbeile  ähnlich  organisic 
wodurch  ihr  die  Aussiebt  auf  eine  grenzenlos  wachsende  Ch 
eröffnet  wird.    Die  romantische  Poesie  ist  unter  den  Künsten , 
der  Witz  der   Philosophie  und  die  Gesellschaft,   Umgang» 
Schaft  nnd  Liebe  inj  Leben  ist.     Andere  Dichtarten   sind 
können  nun  vollständig  zergliedert  werden.     Die  romauti- 
art  ist  noch  im  Werden ;  ja  das  ist  ihr  eigentliches  Wesen,  dass 
nur  werden,  nie  vollendet  sein  kann.    Sie  kann  durcb  keine 
erschöpft  werden,  und  nur  eine  divinatorieche  Kritik  dürfte  es 
ihr  Ideal  charakterisieren  zu  wollen.    Sie  allein  ist  unendlich. 


dramatische  Kunat  etc.  8.  Werke  5, 9 ff.;  6,  W)  suchte  er  beide  in  flif««*n 

suUlichen  Verhiiltniss  genauer  zu   charakterisieren.    In  versrhv  i.r 

deutung  ist  aber  das  Wort  „rom-intisch-   von  Fr.  Schlegel  gt 
frühorn  Zeit  bald  für  mittolalterlich,   bald  in  solchen  Reileasar 
tischer  Dutt  des  ersten  Frühling3-  (s.  Werke  5,  'S>\  ^>);    wie  kj 
onserem  Texte  S.  756  flf.  und  Aum.  4it  zu  ersehen.  34  ►  Athenäum  t.  X  i>' 

'd^)  Vou  der  Religion  ist  hier  also  noch  nicht  die  Bede. 


Entwickelungsgang  iler  Literatur.  1773— |S;32.  Die  Romantiker.  Kunstthcorie.   757 


^8ie  allein  frei  ist,  und  das  al8  ihr  erstes  Gesetz  anerkennt,  dass  die  §  333 
Willkür  des  Dichters  kein  Gesetz  über  sich  leide.    Die  romantische 
Dichtart  ist  die  einzige,  die  mehr  als  Art  und  gleichsam  die  Dicht- 
kunst selbst  ist:    denn  in   einem  gewissen  Sinn  ist  und  soll  alle 
Poesie  romantisch  sein."    Aus  diesem   ^ romantischen  Gesichtspunkt 
haben  denn",  wie  er  in  einem  andern  ^Fraj^^ment"*'  sagt,  ^auch  die 
Abarten  der  Poesie,  selbst  die  excentrischen  und  monströsen,  ihren 
Werth,  als  Materialien  und  Vortlbungen  der  UnivcrsalitÄt,  wenn  nur 
Irgend   etwas   drin    ist,    wenn    sie    nur   original    sind."      In    einem 
dritten*^  würde  der  ein  vortrefflicher  romantischer  Dichter  sein,  der 
Jean  Pauls  groteskes  Talent  und  Tiecks  phantastische  Bildung  in 
sich  vereinigte.    Eine  neue  Erklärung  des  Romantischen  enthält  das 
„Gespräch  über  die  Poesie"".     Darnach  ist  das  ntmantisch,  was  una 
einen  sentimentalen  Stoff  in  einer  phantastischen  ^d.  i.,  wie  im  neuen 
Text  hinzugesetzt  ist,  in  einer  ganz  durch  die  Phantasie  bestimmten) 
Form  dai-8tellt,  wobei  aber  von  der  gewohnliclien,  Übel  berüchtigten 
Bedeutung  des  Sentimentalen  ganz  abzusehen  sei.     Unter  dem  Sen- 
timentalen sei  hier  vielmehr  das  zu  verstehen,  was  uns  anspreche, 
wo  das  Gefühl  herrsche,  und  zwar  nicht  ein  sinnliches,  sondern  das 
geistige.     Die  Quelle  und  Seele  aller  dieser  Regungen  sei  die  Liebe, 
ind  der  Geist  der  Liebe  müsse  in  der  romantischen  Poesie  tiberall 
isichtbar  sichtbar  schweben :  das  soll  jene  Definition  sagen.    Die 
galanten  Passionen  seien  dabei  gerade  das  Wenigste,  oder  >'ielmehr 
iie  seien  nicht   einmal  der  äussere  Buchstabe  jenes  Geistes.    Nein, 
sei  der  heilige  Hauch,  der  uns  in  den  Tönen  der  Musik  berühre. 
lasse  sich  nicht  gewaltsam  fassen  und  mechanisch  greifen,   aber 
lasse  sich  freundlich  locken  von  sterblicher  Schönheit  und  in  sie 
rerhöllen;  und  auch  die  Zauberworte  der  Poesie  können  von  seiner 
•aft  durchdrungen  und   beseelt  werden.     :,Aber  in   dem  Gedicht", 
leisst  es  weiter,  ^wo  er  nicht  llberall  ist,  oder  Überall  sein  könnte, 
er  gewiss  gar  nicht.    Er  ist  ein  unendliches  Wesen,   und  mit 
nebten  haftet  und  klebt  sein  Interesse  nur  an  den  Personen,   den 
^gebcnheiten  und  Situationen   und  den  individuellen  Neigungen: 
den  wahren   Dichter  ist    alles  [dieses,   so  innig  es  auch  seine 
»ele  uuiscbliessen   mag,    nur  Hindeutung  auf  das  Höhere,   Unend- 
[ohe,  Hieroglyphe  der  einen  ewigen  Liebe  und  der  heiligen  Lebens- 
llle   der  bildenden   Natur.     Nur  die   Phantasie   kann   das  Räthsel 
[ieser  Liebe  fassen  und  als  Räthsel  darstellen;  und  dieses  Htlthsel- 
fte  ist  die  Quelle  %on  dem  Phantastischen  in  der  Form  aller  poe- 
ischen Darstellung.     Die  Phantasie  strebt  aus  allen  Kräften  sich  za 


mmm 


75^    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  JahrhtmderU  bis  lu  Goetii*'«  Tod. 


§  333  äusseru,  aber  das  Güttlicbe  kann  sieh  in  der  Spbftre  der  Natur 

indirect  mittbeilcn  und  äussern.    Daher  bleibt  von  dem,  was  urgi/rtin^- 
licb  Phantasie  war^  in  der  Welt  der  Erscheinungen  nur  das  zurtlrk, 
was  wir  Witz  nennen.    Noch  eines  liegt  in  der  Bedeutung  de«  Sen- 
timentalen, was  gerade  das  Eigenththnliche  der  Tendenz  der  roman- 
tischen  Poesie  im  Gegensatz  der  antiken  betritTt.     Es   ist    darin  pkT 
keine  Rücksicht    genommen   auf  den    Unterschied  von   Schein 
Wahrheit,  von  Spiel  und  Ernst.     Darin  liegt  der  grosse  Uuter»cbi 
Die  alte  Poesie  sebliesst  sich  durchgängig  an  die  Mvtholo^^ie  an 
vermeidet  sogar  den  eigentlich  historischen  Stoß".     Die  alle  Tra^i 
sogar  ist  ein  Spiel.   —   Die  romantische  Poesie  hingegen  ruht  ga 
auf  historischem  Grunde,  weit  mehr,  als  man  es  wei8.s  und  glaubt? 
—   Indessen   sei  ja  nicht  anzunchuuMi,   dnss  das  Romantische  und 
das  Moderne  als  völlig  gleich  gelten  könnten.    Um  den  Uuterschi^l 
sich  völlig  klar  zu  machen,   brauche  man  nur  „Emilia  Galotü*  1^ 
lesen,  die  so  unaussprechlich  modern  und  doch  im  geringsten  aicbi 
romantisch  sei,  und  sich  dann  an  Shakspeare  zu  erinnern,  in  (leo 
mau  das  eigentliche  Ceutrum.  den  Kern  der  romantischen  PbauU«e 
setzen  möchte.     Da  sei   das  Romantische  zu  suchen  und  zu  findefi, 
bei  den  älteru  Modernen,  bei  Shakspeare,  Cervante«.  in  der  italicui- 
sehen  Poesie,    in  jenem  Zeitalter  der  Ritter,    der  Liebe  und  Jcr 
Märchen,   aus  welchem   die  Sache  und  das  Wort  selbst  herstamme 
Dieses  sei  bis  jetzt  das  Einzige,  was  einen  Gegensatz  zu  den  clawi- 
scheu  Dichtern  des  Altertbums  abgehen  könne.     Und  gewiss  »ei  ei|^ 
dasB  alles  Vorzuglichste   der  modenien  Dichtkunst  dem  Geiste 
selbst  der  .\rt  nach   dahin  neige;  es  mllsste  denn  eine   T'    ' 
zum  Antiken  sein  sollen.    In  dem  Buch  „Lessiugs  Geist  ~  i 

er  endlich  die   romantische  Poesie  bloss   dem  Mittelalter  zu,  ab 
ganz  nnmittel1)are  Blüthe  des  Lebens  dieser  Zeiten ,   das»  sie 
an  dieses  geknüpft  gewesen  sei   und  mit  dem  Untergänge  der  Vi 
fassung   und   Sitten,   besonders  in  Deutschland,   zugleich   habe  mit 
untergehen  müssen  "*,  —  Vollständig  verwirkliebt  aber,  glaubt  Scbb 


39)  I,  35  ff.  40)  Wie  Schleife]  späterhin,  als  er  katholisch 

war  und  in  Calderon  den  grösstea  Dichter  der  Netizvit  »ab .  den  B^ilff 
manttschcii  fasste  und  entwickeltet  ist  aus  seinen  .Vorlesuogea  flljcrdifGi 
der  alten  und  neuen  Literatur"   zu  ersehen  is.  Werke  2,  Ml  ff.,   vas 
alles  iu  der  ersten  Ausgabe  steht ;  vgl.  die  Anzeige  der  Zusätze  liinter  doQ 
der  s.  Werket.  —  Die  ganze  Vorstellung  und  Lehre  vom  Romantischen,  du 
sich  schon  deutlich  genug  aus  dem  ^'orstehendeu  ergeben,  war  Tremor 
Zeichnung  fnr  das.  was  ifian  darunter  verstand,   eint'  mehr  odpr 
lieh  gewählte;  selbst  die  Poesie  des  Mittelalters  konnte  nur  in  In 
romantisch  heisseu,  sobald  das  Wort  iu  der  eigeutlichcu  Bcdeuttn  v.  ff. 

Scbicgel  angab,  genommen  wurde:   denn  die  altdeutsche,  die  atig>2i(i;ii nu^ru*  vril 


M  aei 


EntwickelungBgang  der  Literatur.  1773— 1 832.  Die  Romantiker.   Kunsithcoric,   759 

;ann  diese  romantische,  diese  progressive  Universal poesie  nicht  eher  §  333 
werden,  als  bis  wir  —  eine  neue  Mythologie  besitzen;  und  kui'zsichtig 
genug,  bält  er  es  für  möglich,  dasg  sich  eine  solche  mit  ausgesprochner 
Absieht  theils  aus  den  verschiedenen  uns  aus  der  Vorzeit  Überlieferten 
Mythologien,  theils  aus  neuen  wissenseliaftlichen  und  poetischen  Ele- 
menten werde  bilden  lassen.  Diese  Nothwendigkeit  einer  neuen  Mytho- 
»gie  sucht  eine  in  die  ^ Gespräche  Über  die  Poesie"  eingerückte  Rede 
darzuthun  ^'.  Dieselbe'"'  geht  davon  aus,  dass  jeder  Dichter  es  im 
Dichten  oft  gefühlt  haben  mUsse,  es  gebreche  ihm  an  einem  festen* 
Halt  für  sein  Wirken,  an  einem  mütterlichen  Boden,  einem  Ilimmeb 
einer  lebendigen  Luft.  Der  moderne  Dichter  müsse  das  alles  aus 
dem  luiiern  herausarbeiten,  und  von  vielen  sei  es  auch  herrlich 
»tban,  aber  bis  jetzt  nur  von  jedem  allein,  jedes  Werk  wie  eine 
neue  Schöpfung  von  vorn  an  aus  nichts.  Es  fehle  nämlich  unserer 
Poesie  an  einem  Mittelpunkt,  wie  es  die  Mythologie  für  die  Poesie 
der  Alten  gewesen,  und  alles  Wesentliche,  worin  die  moderne  Diebt- 
■■kunst  der  antiken  nachstehe,  lasse  sich  in  die  Worte  zusammen- 
^■bissen :  wir  haben  keine  Mythologie.  „  Aber",  wird  hinzugesetzt, 
f^irir  sind  nahe  daran,  eine  zu  erhalten,  oder  vielmehr,  es  wird  Zeit, 
idass  wir  ernsthaft  dazu  mitwirken  sollen,  eine  hervorzubringen". 
Denn  auf  dem  ganz  entgegengesetzten  Wege  werde  sie  uns  kommen, 
ie  die  alte  ehemalige,  die  überall  die  erste  Blüthe  der  jugendlichen 
'bantusie  gewesen,  sich  unmittelbar  anschliessend  und  anbildend  an 
La  Nftchste,  Lebendigste  der  sinnlichen  Welt.  Die  neue  Mythologie 
iQsse  im  Gegentheil  aus  der  tiefsten  Tiefe  des  Geistes  herausgebildet 

altnordische,  ja  selbst  d!c  eogUsche  Poesie  hatten  sieb  doch  nicht  io  dcn- 
iracben  entwickelt.  ,(lie  sieb  durch  die  Vermischung  des  Lateinischen  mit  den 
[undftrten   des  Altdeutschen  gebildet  hatten*.  41)   Efc  kann   zweifelhaft 

HO,   wer  von   beiden.   Fr.  Schlegel  oder  Schelling  <vg1.  oben  S.  6til)  zuerst  auf 
^u  Gedäuken  von  der  Nothwendigkeit  einer  Mythologie  für  die  neue  Dichtung 
gekommen  ist,  du  duö  fünfte  Stück  doü  Athenäums  mit  Jeu  «Ideen"  und  demTheile 
des  -Ciesprächs  über  die  Poesie-,  der  die  -Rede  über  die  Mythologie"  enthielt. 
ungefähr  zu  derselben  Zeit  erschien,  wo  das  System  des  transcendcnialeu  Idealis- 
mus herauskam  jSchelling  hatte  sein  Werk  Ende  März  ISOO  vollendet).   Allerdings 
batte  Schlegel  ihn  schon  zwei  Jahre  früher   in  einem  Fragment  des  Athenflums 
L2.^2f.)  uigedeuiet;  allein  der  Zweifel  ist  damit  nicht  gehobeu,  da  der  Zubammen- 
kg  des   ganzen  Fraj;meiiis   die  Annahme   zuläßt ,    der  Gedanke  sei   wenigstens 
m  Schelling  in  Schlegel  angeregt,  wo  nicht  geradezu  ihm  mitgctheilt  worden.*— 
den  -Ideen-  bereitete  Schlegel  die  Leser  des  Athenäums  schon  auf  den  Inhalt 
,Rede  Über  die  Mytholosie-  vor  durch  Satzr  wie  3,  l,  17:    »Lasst  uns  alle 
jtligiouL'u   aus  ihren  Gräbern  wecken  und  diu  unsterblichen  neu  beleben   und 
Iden  durch  die  Allmacht  der  Kunst  und  Wissenschaft-;  und  S    IS:    „Der Kern, 
Gentium  der  Poesie  ist  in  der  Mythologie  zu  linden  und  tu  den  Mysterien  der 
Iten".  42(  Nach  dem  ersten  Text,  Athenüum  3.  1.  9t  ff.,  welcher  in  den 

Werken  f5,  2U1  ff.)  vielfache  und  nicht  unwesentliche  Zusätze  erhatten  hat. 


§  333  werden:  e»  mlisse  das  ktliistlichste  aller  Kunstwerke  sein,  denn  ck 
solle  alle  ■Hiulern  umfassen,  ein  neues  Bette  und  Gefilss  für  den  alle 
ewigen  Urtiuell  der  Poesie  und  selbst  das  unendliche  Gedieht,  welch 
die  Keime  aller  andern  Gedichte  verhülle.     K'inue  sie  sieb  aber  n 
aus  der  innersicn  Tiefe  des  Geistes  wie  durch  sich   selbst   heniu 
arbeiten,   so   6nde  man  einen  bedeutenden  Wink   und   eine  merk 
wUrdige  Bestätigung  für  das,  was  gesucht  werde,  in   dem  grooen 
Phänomen  des  Zeitalters,   im  Idealismus.     Dieser  sei   auf  eben  di 
'Weise,  gleichsam  wie  aus  nichts,  entstanden,  und  es  sei  uuu  auch 
der  Geisterwelt  ein  fester  Punkt  oonstituiert,  von  wo  aus  die 
des  Menschen  sich   nach  allen  Seiten  mit  steinender  Entwickel 
ausbreiteu  kunne,  sicher,  sich  selbst  und  die  ItUckkehr  nie  zu  v 
tieren.    Natürlich   nehme  das  Phänomen  in  jedem  Individuum  d 
andere  Gestalt  an,  wo  denn  oft  der  Erfolg  hinter  unserer  Erwartu 
zurückbleiben  mtlsso.     Aber  was  nothwendige  Gesetze  ftlr  den  Gsn 
des  Ganzen  erwarten  lassen,    darin  könne  unsere  Erwartung  nie 
getäuscht  worden.    Der  Idealismus  in  jeder  Form   müsse   auf  ei 
oder  die  andere  Art  aus  sich  herausgehen,  um  in  sich  zurUokkeh? 
zu  können  und  zu  bleiben,  was  er  sei.    Deswegen  müsse  und 
sich  aus  seinem  Schooss  ein   neuer,    ebenso  grenzenloser  Real 
erheben,  und  der  Idealismus  also  nicht  bloss  in  seiner  Entstehung- 
art  ein  Beispiel  für  die  neue  Mythologie,  sondern  selbst  auf  tndirec 
Art  Quelle  derselben  werden.     Die  Spuren  einer  ähuUcben  Teudt 
könne  man  schon  jetzt  fast  überall  wahrnehmen,    besonders  in  d 
Physik,  der  es  an  nichts  mehr  zu  fehlen  scheine,  als  an  ein» 
logischen  Ansicht   der   Natur.    Da**   Ideal   eines   solchen    i 
könne  aber  nur  in  der  Poesie  gefunden  werden*  denn  in  Gestalt  d 
thilosophio  oder  gar  eines  Systems  werde  der  Realismus  ti' 
auftreten  können.    Und  selbst  nach  einer  allgcuieiueu  Tm-  » 

es  zu  erwarten,  dass  dieser  neue  Realismus,  weil  er  doch  idealiacb 
Ursprungs  sein   und  gleichsam   auf  idealischem   Grund   und  Bodi 
schweben  müsse,  als  Poenio  erscheiuen  werde,   die  ja  auf  der  Ha 
monie  des  Ideellen  und  Reellen  beruhen  solle.     Spinoza,  ao  »ch^: 
es,  habe  ein  gleiches  Schicksal,  wie  der  gute  alte  Saturn  der  Fib 
Durch   die  neuen  Götter  sei   der  Ilerrlicbe  vom   hoben  Thron 
Wissenachaft  herab  gestürzt.     In   das  heilige  Dunkel  iler  P 
seil  er  zurückgewicbcn,  da  möge  er  weilen  und  gebalten  werde» 
bleibe  seine  Philosophie  von  unschätzbarem,   ja    einigem   Vi 
fltr  den  Dichter.     Denn  in  Erfindimg  des  Einzelnen  n 

eigne  Phantasie  reich  genug,  sie  anzuregen,  zurTLi^:  ,_ „„ 

und  ihr  Nahrung  zu  geben,    nichts  geschickter  sein,  als   die 
tungen  anderer  Künstler;  in  Spinoza  aber  werde  er  den  Ai'' 
das  Ende  aller  Phantasie  finden,  den  allgemeinen  Grund  ut. 


CK 

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EDtvickduD^ang  der  Literatur.  1773— 1S32.  Die  RomaDiiker.   KuDsttheorie    7ül 


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if  dem  seiu  Eiuzelaes  ruhe,  und  eben  diese  Absonderung  des  Ur-  §  333 
«prHuglicben,  Ewigen  der  Phantasie  mllsse  ihm  sehr  willkommen 
sein:  es  werde  ihm  hier  ein  liefer  Blick  in  die  innerste  Werkstatte 
der  Poesie  gegönnt.  Und  von  der  Art,  wie  die  Phantasie  des  Spinoza, 
sei  auch  sein  Gefühl:  nicht  Reizbarkeit  für  dieses  und  jenes,  nicht 
Leidenschaft,  die  schwelle  und  wieder  sinke;  aber  ein  klarer  Duft 
schwebe  unsichtbar  sichtbar  über  dem  Ganzen,  Überall  finde  die 
ewige  Sehnsucht  einen  Anklang  aus  den  Tiefen  des  einfachen  Werks, 
•welches  in  stiller  Grösse  den  Geist  der  ursprünglichen  Liebe  athme. 
Und  sei  nicht  dieser  milde  Widerschein  der  Gottheit  im  Menst-lien 
die    eigentliche  Seele,   der   zündende   Funk<yi    aller   Poesie?     Das 

iosse  Darstellen  von   Menschen,    J^eidenschaften    und  Handlungen 
Rche  es  wahrlich  nicht  aus,  so  wenig  wie  die  künstlichen  Formen: 
kB  sei  nur  der  sichtbare  Äussere  Leib,   und  wenn  die  Seele  er- 
sehen, gar  nur  der  todle  Leichnam  der  Poesie.     Wenn  aber  jener 
inke   des  Enthusiasmus  in  Werke  ausbreche,   so   stehe  eine  neue 
Erscheinung  vor  uns,  lebendig  und  in  schöner  Glorie  von  Licht  und 
Liebe.     Und  was  sei  denn  jene  schune  Mythologie  anders  als  ein 
hieroglyphischer  Ausdruck   der  umgebenden   Natur    in    dieser   Vei*- 
klärung  von  Phantasie  und  Liebe?     Ein  grosser  Vorzug  der  Mytho- 
logie  bestehe   darin,   dass,  was  sonst  das  Bewusstsein  ewig  fliehe, 
hier  dennoch  sinnlich  geistig  zu  schauen  und  festgehalten  sei.     Das 
^Bi  der  eigentliche  Punkt,   »luss   wir  uns  wegen  de»  Höchsten  nit'bl 
^B  ganz  allein   auf  unser  Gemüth  verlassen.     PVeilich,   wem  es  da 
^Bokea  sei,   dem   werde  es  nirgends  quellen.    Aber  wir  sollen  uns 
^Bcrall   an   das    Höchste    durch    die   Berührung   des  Gleichartigen, 
|(ebnlichen,  oder  bei  gleicher  Würde  feindlichen   entwickeln,  ent- 
zünden, nähren,  mit  einem  Worte  bilden.     Die  Mythologie  sei   nun 
ein    solches   Kunstwerk   der   Natur,   in    ihrem  Gewebe   das  Höchste 
wirklich  gebildet;  alles  Beziehung  und  Verwandlung,  angebildet  und 
umgebildet,    und  dieses  Au-  und  Umbilden  sei  eben  ibr  eigentbüm- 
licbes  Verfaiiren,   ihr  inneres  Leben,   ihre  Methode,   wenn    man   so 
.  sagen  dürfe.    Da  ßude  sich  denn  eine  grosse  Aehnlichkeit  mit  jenem 
grossen  Witz  der  romantischen  Poesie,    der  nicht  in  einzelnen  Eiu- 
llcn,  sondern  In  der  Construction   des  Ganzen  sich  zeige,  und  der 
}b  besonders  au  den  Werken  des  Cervantes  und  des  Shakspeare 
iwickeln  lasse.    Ja,  diese  künstlich  geordnete  Verwirrung,    diese 
Izendc  Symmetrie  von  Widersprüchen,  diesen  wunderbaren  ewigen 
^echsel  von  Enthusiasmus  und  Ironie,    der  selbst  in  den  kleinsten 
liedern  des  Ganzen  lebe,  könne  man  schon  selbst  als  eine  indirecto 
Ihologic  ansehen.     Die  Organisation  sei  dieselbe  und  die  Arabeske 
kwiss  die  älteste  und   ursprüngliche  Form  der  moDschlicben  Phan- 
lie.     Weder  dieser  Witz   kOnue  bestehen,    noch   eine  Mythologie, 


wmmt. 


m 


762     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  JahrbunderU  bla  xu  Goethes  Tod. 

333  obne  ein  erstes  Ursprüngliches  und  Unnacliahmlicbefl.  was  scbkekih 
hin  unauflöslich  bleihe,  was  nach  allen  T'mhildiingen  noch  die  ahe 
Natur  und  Kraft,  wo  der  naive  Tiefsinu  den  Sehciii  des  Verkehrten 
und  Verrückten  oder  des  Einfältigen  und  Dummen  durcbscbimmero 
lasse.  Denn  das  sei  der  Aufan?  aller  Poesie,  den  Gan^  und  (Üe 
Gesetze  der  vernünftig  denkenden  Vernunft  aufzuheben  und  uiu 
wieder  in  die  schöne  Verwirrnnj;  der  Phantasie ,  in  da«  uivprQi^ 
liehe  Chaos  der  inenschlidien  Natur  zu  versetxcn.  für  das  k^D 
schöneres  Symhid  Ins  jetzt  bekannt  sei,  als  das  bunte  GevrimiMl 
der  alten  Götter.  Warum  wolle  man  sich  nicht  erbeben,  diese  bes^ 
liehen  Gestalten  des  Alterthums  neu  xu  beleben?  Wer  es  einmal 
versuche,  voll  von  Spinoza  und  von  jenen  Ansichten,  Vielehe  di« 
jetzige  Physik  in  jedem  Kachdenkenden  erregen  mUsse,  die  alt» 
Mythologie  zu  betrachten,  dem  werde  alles  in  neuem  Glanz  uad 
Leben  erscheinen.  Aber  auch  die  andern  Mytholo^en  seien  wiedir 
zu  erwecken  nach  dem  Mass  ihres  Tiefsiuns,  ihrer  Schönheit  and 
ibrer  Bildung,  um  die  Entstehung  der  neuen  Mythologie  zu  beechlett- 
nigon".  Ueborhaupt  müsse  man  auf  mehr  als  einem  Weg-e  inn 
Ziele  dringen  können  und  insbesondere  sidi  auch  dein  Studium  d« 
Physik  zuwenden,  aus  deren  dynamischen  Parailoxien  Jetzt 
heiligsten  Offenbarungen  der  Natur  von  allen  Seiten  ausbriri 
Alles  Denken  sei  ein  Divinieren,  aber  der  Mensch  fange  erst  e| 
an  sich  seiner  divinatorisehen  Kraft  bewusst  zu  werden.  W( 
unermessliehe  Erweiterungen  werde  sie  noch  erfahren!  und  eben 
jetzt  I  „Mich  dünkt  %  schliesst  der  Redner,  „wer  das  Zeitalter.  <Lb' 
jenen  grossen  Proeess  allgemeiner  Verjüngung,  jene  Principien 
ewigen  Revolution  verstünde^  dem  müsste  es  gelingen  köuneOi 
Pole  der  Menschheit  zu  ergreifen  und  das  Tbun  der  ersten  Meosdii 
wie  den  Charakter  der  goldneu  Zeil,  die  noch  kommen  winl. 
erkennen  und  zu  wissen.  Dann  würde  das  Gcsehwütz  aufhöre« 
der  Mensch  inne  werden,  was  er  ist,  und  würde  die  Erde  verrt«! 
und  die  Sonne.  —  Dies«  ist  es  was  ich  mit  der  neuen  Mytliol* 
meine."  In  dem  femern  Fortgange  des  .»Gesprüehs'*  wird 
noch  als  auf  eine  Hauptquelle  der  neuen  Mytholo^e  auf  die 
schichte  hingewiesen  und  unter  den  christlichen  Dichtern  Dante 
der  einzige  bezeichnet,  „der  unter  einigen  bcgtlustigenden  und 
Bäglich  vielen  erschwerenden  Umstunden  durch  eigne  Kie«eBl 
er  selbst  ganz  allein,  eine  Art  von  Mythologie,  wie  sie 
möglich  gewesen,  erfunden  und  gebildet  habe*"**. 


43)  Vgl.  oben  S.  14b  f.  44)  Vou  der  durch  die  XanirphiUwonMi 

geistifften  Physik  hoffte  auch  A.  W.  Schlegel,  der  seine«  Bmdfrn  und  Sei  ~ 
Grundansicht  vod  der  Mythologie  und  ihrem  VerbttltnifiS  zur  IVrne  noATl 


^9m 


j!^atwickelungsgang  der  Literatur.  ITT»— 1932.  Die  Romantiker.   Kunattheorie.  763 

Bis  wir  zur  Lrmun^  dieser  iiloulen  Aufgaben  gelangt  sind,  niiid  in-  §  333 
ischen  «olthe  Grotesken  und  Araliesken,  wie  sie  uns  in  den  Werken 
der  ueuern  Humoristen  und  nameiitlicli  in  Jean  Pauls  Romauen  vor- 
liegen, nebst  Bekenntnissen,  die  ein/Jg'en  roniantiseheu  Erzeugnisse 
iBers  unromantiachen  und  unphantastisclien  Zeitalters.     DiesB  sollte 
>r  ebenfalls  dem  ^Gespräche  über  die  Poesie"  eingeschaltete  ^ Brief 
Iber  den  Roman'*  ausführen '\     Eh  würe,  heisst  es  darin,  behauptet 
'orden,    Fr.  Richters  Romane   seien    keine  Romane,    8<»Ddern   ein 
buntes  Allerlei  von  kränklichem  Witz;  die  wenige  Geschiebte  sei  zu 
Bcblecht   dargestellt,   um   fUr  Geschichte   zu  gelten,   man   mÜHse  sie 
nur  errathen.     Wenn  man  aber  auch  alle,  /.usammeunehmen  und  sie 
sin  erzählen  wolle,  wUrde  das  doch  böchstens  Bekenntnisse  geben. 
^ie  ludividualitilt  des  Mensehen  sei  viel  zu  sichtbar,  und  n(»eh  dazu 
üne  solche!  —  Auf  das  letzte  soll  nicht  eingegangen  werden;   ..das 
lunle  Allerlei  von  krilnklicbera   Witz"    wird  allerdings  zugegeben, 
kher  in  Schutz  genommeu  und  die  eben  angeführte  ßohauptung  auf- 
gestellt.    Die  Arabeske,   wie  sie  in   Diderots  Fataliste  zwar  nicht 
;lg  hohe   Dichtung,  aber  sicherlich   als  Kuustwerk  sich   zeige,  sei 
üne  ganz  bestimmte  und  wesentliche  Form  oder  Aeusserungsart  der 
*oesie.     Die  Poesie  sei  nämlich  so  lief  in  dem  Mcuschen  gewurzelt^ 
dafis  sie  auch  unter   den   ungunstigsten  Umständen  immer  noch  zu 
Zeiten  wild  wachse.    Wie  man  nun  fast  bei  jedem^  Volk  Lieder, 
Geschichten   in  Umlauf,   irgend   eine  Art  wenn   gleich   rohe  .Sehau- 
ßpiele  in  Gebrauch  fände,  so  hätten  selbst  in  unserem  unphantasti- 
schen  Zeitalter,   in   den   eigentlichen  Stünden  der  Prosa,   d.h.  den 
sogenannten  Gelehrten  und  gebildeten  Leuten,  einige  Einzelne  eine 
«eltone  Originalität  der  Phantasie  in  sich  gespUrt  und  geäussert,  ob- 


Ite«  viel  für  das  Eutfilelicn  einer  neuen  Mythologie  (vgl.  Europa  2,  t,  03),  — 

Schlegel  gieng  aber  in  seiner  Vorstellung,  dass  so  etwas,  wie  eine  Mjrtliologle, 

ichtlich  hervorgebracht,   also  gemacht  werden  könnte ,   bald  noch  viel  weiter. 

im  er  äicU  eine  Literatur  dachte,  die  »u  durchaus  vollständig  aeiu  sollte,  dasB 

■ht  etwa  nur  dicae  oder  jene  Gattung,  wie  es  das  Ulück  eben  wollte,  zu  einiger 

leutung  gelaugte,   »oudern   du;>^  vielmehr  sie  selbst  ein  grosses,   durchaus  zu- 

lenhangendos  und  gleich  organisipries.  in  ihrer  Einheit  viele  Kuustwcltpu  um- 

Ics  und  einiges  Kunstwerk  wäre,  j^lanbte  er,   dass  eine  solche  wahre  Lite- 

wenn   man  nicht  darauf  warten  wollte,   ob  sie  etwa  von  selbst  euFstebeu 

ite,  mit  Absiehi  hervorgebracht  werden  könnte,  sobald  nur  erst  dos  wichtigste 

»rderuiss  «ur  Erreichung  dieses  Endzweckes  vorhanden  wiire:   eine  ganz  neue 

'»senschaft  naralich,    eine  „Bildungslebrc.    eiue  Physik  der  Phantasie   und   der 

inst",   d.  h.  eine  Encyklopadie ,   welche  die  Einheil   und  Verschiedenheit    aller 

^hern  Wisseuschafien  und  Künste  und  alle  gegenseitigen  Verhaltnisse  derselben 

Grund  aus  7u  bestimmen  versuche  (vgl.  das  Buch  .Leasings  Geist"  1,  ll  ff. 

dazu  Charakteristiken  und  Kritiken  I,  25!t).  45)  AtUen&uin  3,  I,  M'iff.; 

•ke  h,  2x5  ff. 


764    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  JahrhunderU  bis  zu  Go«Ui«'i  Tod- 


§  333  gleich  sie  darum  von  der  eigentlichen  Kunst  noch  weit  eoUmU 
gewesen  wären.  Der  Humor  eines  Swift,  eines  Oteme,  kunoe  lut 
sagen,  sei  die  Naturpoesie  der  hohem  Stände  unsers  Z< 
Wer  für  diese,  für  den  Diderot  Sinne  habe,  sei  schon  b< 
dem  Wege,  den  göttlichen  Witz,  die  Phantasie  eines  Ariost,  Cei 
Shakspeare  versteheu  zu  lernen,  als  ein  anderer,  der  auch  nw 
einmal  bis  dahin  sich  erhoben  habe.  Wir  dürften  nun  eini 
Forderungen  in  diesem  Stück  an  die  Menschen  der  jetzigen 
nicht  zu  hoch  spannen,  und  was  in  an  kränklichen  VcrhAlti 
aufirewachsen  sei,  könne  selbst  natürlicherweise  nicht  anden 
krfinklich  sein.  Diess  Bei-  aber,  so  lauge  die  Arabeske  keia  Kt 
werk,  sondern  nur  ein  Naturprodukt  wäre,  eher  fflr  einen  Voi 
zu  halten,  und  Richter  darum  auch  über  Sterne  zu  stellen«  weil 
Phantasie  weit  kränklicher,  also  weit  wunderlicher  und  phantastisc) 
sei.  —  Nachdem  hierauf  dem  gegen  Richter  erhobenen  Tadel, 
er  sentimental  sei,  der  Wunsch  entgegengestellt  worden,  er 
es  nur  in  dem  rechten  Sinne  sein,  schlie»st  sich  daran,  wm  «cbM 
oben'*  ftber  die  wahre  Bedeutung  des  Wortes  -sentimetitAl*  nad 
über  das  „Romantische",  als  Darstellung  eines  sentimentalen  Stoia 
in  phantastischer  Form,  milgethellt  worden  ist.  Sodann  nher  die 
Definition,  was  ein  Roman  sei,  leicht  wegglcitend,  zieht  der  BrW 
die  Grenzlinie  zwischen  Roman  und  Schauspiel,  vcrwi.scbt  sie  aber 
wieder  halb  und  geht  von  da  zu  den  Bedingungen  über,  mlff 
welchen  die  Aufstellung  einer  wahren  Theorie  des  Romans  mOgM 
sein  wUrde.  Sie  würde  selbst  ein  Roman  sein  mDsseu,  der  jedes 
ewigen  Ton  der  Phaniasie  phantastisch  wiedergilbe  und  das  Cbsos 
der  Ritterwelt  noch  einmal  verwirrte.  Da  würden  die  alten  Wc 
in  neuen  Gestalten  leben;  da  würde  der  heilige  Schatten  des 
sich  aus  seiner  l*nterwelt  erheben.  Laura  bimmlisch  vor  un« 
dein  und  Shaks]>earc  mit  Cervantes  trauliche  GesprÄche  we<hi 
und  da  wtlrde  Sancho  von  neuem  mit  Don  Quixote  ecLerzcD.  Omi 
wären  wahre  Arabesken,  und  diese,  nebst  Bekenntnissen,  scMen,  trii 
im  Eingang  des  Briefes  behauptet  worden,  die  einzigen  romaotiMkei 
-  Naturproducte  unsers  Zeitalters.  Bekenntnisse  aber  mtlsaten  iLuioi 
dazu  gerechnet  werden,  weil  wahre  Geschichte  das  Funditment 
romantischen  Dichtung  sei.  Auch  werde  man  bei  eini^'Cm  Ni 
denken  sich  leicht  Überzeugen  können,  dass  das  Beste  in  ilcn  ü« 
Romanen  nichts  andei's  sei,  als  mehr  oder  minder  verhQlltes  Seil 
bekennlniss  des  Verfassers,  der  Ertrag  seiner  Erfahrung,  die  Qi 
essenz  seiner  Eigenthümlichkeit. 

In  unserer  Zeil  hat  nur  Goethe,  der  uniTcrseHsie  aller  Diel 


» 


I 

t 


deasen  Vielseitijrkeit  ihrem  ganzen  Umfan^'e  nach  sich  noch  am  ersten 
im  „Wilhflui  Meister"  Überöchaiien  lässt,  psicli  in  Reiner  lang-en  Lauf- 
bahn von  solchen  Erg^iessungen  deserBten  Feuers,  wie  sie  in  einer  theils 
noch  rohen,  theils  schon  verbildeten  Zeit,  überall  von  Prosa  und  falschen 
Tendenzen  umgeben,  nur  möglich  gewesen,  zu  einer  Höhe  der  Kunst 
hinaufgearbeitet,  welche  zum  erstenmal  die  ganze  Poesie  der  Alten  und 
Modernen  umfasst  und  den  Keim  eines  ewigen  Fortschreitens  enthält." 
p  Der  Versuch  Über  den  verschiedenen  iStil  in  Goethe's  frühern  und 
spätem  Werken"*',  worin  Schlegel  diess  ausspncht,  hebt  mit  den 
beiden  Bemerkungen  an,  dass  Goethe's  Universalität  schon  aus  der 
mannigfaltigen  AH  einleuchte,  wie  seine  Werke  auf  Dichter  und 
Freunde  der  Diclitkunst  wirken,  und  dass  man  nicht  leicht  einen 
andern  Autor  finden  werde,  dessen  früheste  und  dessen  spätere  Werke 
Bo  äufialleud  verschieden  wären.  In  den  einen  zeige  sich  der  ganze 
Ungestüm  der  jugendlichen  Begeisterung,  in  den  andern  bilde  dazu 
den  schärfsten  Gegensatz  die  Reife  einer  vollendeten  Ausbildung 
oud  zwar  trete  diese  Verschiedenheit  nicht  bloss  in  den  Ansichten 
und  Gesinnungen,  sondern  auch  in  der  Art  der  Darstellung  und 
in  den  Formen  her\-Qr,  so  dass  sie  durch  diesen  künstlerischen  Cha- 
rakter eine  AehnÜchkeit  habe  theils  mit  dem,  was  man  in  der 
3Iahlerci  unter  den  verschiedenen  Manieren  eines  Meisters  veretehe, 
theils  mit  dem  Stufengange  der  durch  Umbildungen  und  Verwand- 
hiugeu  fortschreitenden  Kntwickelung,  welchen  wir  in  der  Geschichte 
der  alten  Kunst  und  Poesie  wahrnehmen.  Zwischen  jenen  beiden 
Aeussersten  lasse  sich  aber  noch  eine  Mittelstufe  bemerken.  Dem- 
nach theilo  sich  die  Geschichte  von  Goethe's  dichterischem  Schaffen 
in  drei  Perioden,  deren  verschiedener  Charakter  sich  am  bestimm- 
testen für  die  erste  am  „Götz  von  Berlichiugen'*,  für  die  zweite  am 
„Tasso*",  für  die  dritte  an  ^ Hermann  und  Dorothea'*  herausÄtelle. 
Diese  Werke  werden  nun  mit  Rücksicht  auf  den  verschiedenen  Stil 
de»  Kflnstlere  zunächst  in  Betracht  gezogen  und  einige  Erläuterungen 
aus  den  übrigen  Dichtungen  einer  jeden  Periode  hinzugefügt.  Ob 
der  .Fausf*  wegen  der  altdeutschen  Form,  welche  der  naiven  Kraft 
und  dem  nachdrücklichen  Witz  einer  männlichen  Poesie  so  günstig 
»ei,  wegen  des  Tragischen  und  wegen  anderer  Spuren  und  Verwandt- 
schaften zu  der  ersten  Manier  des  Dichters  gezählt  werden  dürfe, 
solle  dahin  gestellt  bleiben;  gewiss  aber  sei  es,  dass  dieses  grosse 
Bruchstück  nicht  bloss,  wie  der ,» Götz",  der  „Tasso"  und  „Hermann 
und    Dorothea",   den   Charakter   einer  Stufe  repräsentiere,   sondern 

17)  AUieiiaum  3,  2,  l^ii;  s.  \Vt»rke  5,  :tn  f.  Dteser  -Versuch-  i*l  dw  U^xt^ 
nnd  nach  mciuem  Dafürhalten  auch  das  beste  uater  den  abUaudelndea  Stucittß 
in  dem  .GesprAch  über  die  Poosie*-. 


766    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

§  3o3  den  {rauzcu  Geist  des  Dicbter»  offenbare,  wie  seitdem  niehtä  wieder; 
ausser  auf  andere  Weise  der  „Meister**,  dessen  Gegensatz  in  dieser 
Hinsicht  der  .Faust"  sei,    der  zu  dem  Grüssten  gehöre,  was  die 
Kraft  des  Äleueclieu  je  gedichtet  habe.    Auch  %'on  ^Meisters  Lehr- 
jahren" Süll  nicht  entschieden   werden,  welcher  Periode  sie  eigent- 
lich angehören:  bei  der  künstlichen  Geselligkeit,  bei  der  Ausbildunj,' 
des  Verstandes,  die  in  der  zweiten  Manier  den  Ton  angebe,  fehle 
es  nicht  au  Hemintsecnzen  aus  der   ersten,   und    im   Hintergründe 
rege  sich  überall   der  classischc  Geist,   der  die  dritte  Periode  cha- 
rakterisiere.    In  den  Erzeugnissen   der  ersten  Manier   sei   das  Suh- 
jectivc  und  da«  Objective  durchaus  vermischt.    In  den  Werken  der 
zweiten  Epoche  sei  die  Ausführung  im  höchsten  Grade  objectiv;  aber 
das  eigentlich  Interessante  derselben,   der  Geist  der  Harmonie  unl 
der  Reflexion,  verrathe  seine  Beziehung  auf  eine  bestimmte  Indivi- 
dualität.    In    der  dritten   Epoche  sei    beides  rein   geschieden  unil 
„Hermann   und    Dorothea"   durchaus   objectiv.      Nochmals  auf  den 
T  Wilhelm  Meister"  zurückkommend,  hebt  Schlegel  daran  drei  Eigen- 
schaften als  die  wunderbarsten    und  die  grüssten  hervor.     Erstlieb. 
dass   die   Individualität ,    welche   darin  ersefaeijie ,    in   verschiedene 
Strahlen  gebrochen,    unter  mehrere  Personen  vertbeilt   sei.     Dann 
den  antiken  Geist,   den  man  bei  näherer  Bekanntschaft  unter  der 
modernen   Hülle    überall  wiedererkenne:   diese  grosse   Combination 
eröflne  eine  ganz  neue,   endlose  Aussicht  auf  das,   was  die  hücbste 
Aufgabe  aller  Dichtkunst  zu  sein  scheine,  die  Harmonie  des  Clas- 
sischen    und    des    Romantischen.     Das   Dritte   sei ,    dass    das  eine, 
untheilbiire  Work  in  gewissem  Sinne  doch  zugleich  ein  2wieiaeln>. 
doppeltes  sei :  es  sei  nämlich,  so  zu  sagen,  zweimal  geiujicht,  iu  zwei 
schö|»feri.schen  Momenten,  aus  zwei  Ideen.    Die  erste  wäre  hla?5  dit 
eines  Kunstromans  gewesen;  nun  aber,  überrascht  von  derTendew 
seiner  Gattung,   sei  das  Werk  plötzlich  viel  grösser  geworden,  ai' 
seine  erste  Absicht;  es  sei  die  Bildungslehrc  der  LebcnskiiDSt  liin- 
zugekommen  und  der  Genius  des  Ganzen  geworden.     Die  Ricbiunr. 
welche  Goethe  in  seiner  langen  Künstlerlaufbahn  genommen,  scbliesi 
dieser  -Versuch",  müsse  auch  der  Geist  nehmen,  der  jetzt  reirc  ^i- 
und  so  werde  es,  dürfe  man  hoffen,   nicht  an  Naturen   t'ehleu.  Jif 
fähig  sein  werden   zu   dichten,   nach  Ideen  zu  dichten.     -\Veuu>'^^ 
nach  Goethc^s  Vorbilde  in  Versuchen  und  Werken   jeder  Art  im?-''- 
müdet  nach   dem   Bessern   trachten;  wenn  sie   sich    die  unirerwlt^ 
Tendenz,  die  progressiven  Maximen  dieses  Künstlers  zu  eigen  macbea. 
die  noch  der  mannigfaltigsten  Anwendung  fähig  sind;  wenn  sie.  «i^ 
er,  das  Sichere  des  Verstandes  dem  Schimmer  des  Geistreichen  ^ '■■* 
ziehen:   so   wird  jener  Keim-   (eines  ewigen  Fortschreitens,  de:  i:» 
Goethes  Poesie  enthalten  isti  r,  nicht  verlorengehen,  so  wird  G"etlf 


£DtwickeluiigsgaQ9*i«r Literatur.  1773—1632.  Die  Roinaotiker.   Kunsttheorie.  707 


der  Stifter  und  das  Haupt  einer  neuen  Poesie  sein,   für  uns  und 
die  Nachwelt,  was  Dante  auf  andre  Weise  im  Mittelalter"". 

Indem  nun  ferner  die  Poesie  in  der  Richtung,  die  ihr  Schlegel 
vorzeichnet,  gleichsam  über  sich  selbst  hinausgehen,  die  künstlerische 
Reflex-ion  über  den  Vorgang  des  Hervorbringeus  in  ihren  Producteu 
mit  darstellen  und  so  zu  einer  Poesie  der  Poesie  werden  solT",  fuhrt 
seine  Theorie  sie.  zugleich  der  Didaktik  und  einer  symbolisierendeu 
Mvslik  zu.  „Den  Werth  und  die  Würde  der  Mystik  und  ihr  Ver- 
hiiltniss  zur  Poesie"  hatte  Schlegel  schon  in  der  „Rede  Über  die 
ythologie"  zur  Sprache  gebracht  und  deshalb  eben  „einen  so  grossen 
ccent  auf  Spinoza  gelegt ''^  weil   er  ^an   diesem  Beispiel  am  anf- 


§  333 


48)  Vgl.  dazu  Knropa  I,  1,  41  f.  —  Uebcr  deu  inoern  Zusammenhaug,  ia 
»Icheni  Schlegel  «lie  verschiedenen  Vorträge  üi  dem  .Gespräche  über  die  Poesie** 
r.Kpochen  der  DicUtkuust".  «Rede  tlber  die  Mythologie"  etu.)  aufgefasst  wissen 
wollte,  vgl.  s.  Werke  5.  ;ils  f.  40)  Diese  Forderung  sprach  Sclilegel,  wenu 

icli  nicht  irre,  zuerst  io  dem  schon  oben  iu  Aiimerk.  I  berührten  Kragmeule 
(Atiieaäum  U  2.  04  f.i  ans.  Darnach  gibt  ea  eine  Poesie,  deren  Eines  und  Alles 
dfts  Verhlltniss  des  Idealeti  und  den  Hcalen  ist,  und  die  also  nach  der  Analogie  der 
pUilusuphischeu  Kuuitt spräche  Tninsceudentalpoesie  heisscn  musste.  Sie  beginnt 
Als  >aiirp  mit  der  absoluten  Verschiedenheit  des  Idealen  und  Uealcu,  schwebt  als 
legie  in  der  .Mitte  und  endigt  als  Idylle  mit  der  absoluten  Identitüt  beider.  So 
man  aber  wenig  Werth  auf  eine  TranscRiidonTalphilosophie  leiten  würde,  die 
it  kritisch  wäre,  nicht  auch  da«Producierende  mit  dem  Produkt  darstellte  und 
System  der  tranacendentaleu  (if>dankeu  zugleich  eine  rharakterlstik  des  trau- 
lentaleu  Denkens  enthielte:  so  sollte  wobt  auch  jene  Poesie  die  in  motiemen 
:btern  uicht  selten  transcendcntalea  Materialien  und  Vorübungen  zu  einer 
irhcn  Theorie  dos  DichtnngsvcrmOgens  mit  der  künstlerischen  Ketlexion  und 
lAnen  Selbstbespiegelung,  die  sich  im  Piudar,  den  lyrischen  Fragmeuten  der 
•hen  und  der  alten  Elegie,  unter  den  Xeuern  aber  in  Goethe  Huiiet,  vereinig**n 
in  jeder  ihrer  Darstellungen  sich  selbst  mit  darstellen  und  tiberall  zugUich 
lie  und  Poesie  der  Poesie  sein".  Nacli  einem  andern  Fragment  (Athenäum 
2,  6^t  war  ihm  „Dante's  prophetisches  i^Jedicht  das  einzige  Sy*;tera  der  traus- 
identalea  Poesie .  und  (ioethe's  rein  poetische  Poesie  die  voUstikndigstc  Poesie 
ic".  —  Wie  von  einer  Poesie  der  Poesie,  sprach  Schlegel  dann  auch  vi»u 
'hUosophie  der  Pbilosuiitde  {Atüeu^nm  I,  2,  77 1  und  von  einem  Genie  des 
(1,  2,  7*i.  Ueberhaupl  getiul  er  sich  in  dergleichen  gleichsam  potenzierten 
und  AußdrOcken ,  z.  B.  -genialischer  Scharfsinn  ist  scharfsinniger  Ge- 
dos  Scharfsinns **,  Athenäum  I,  2,  IM,  etwas  „noch  über  die  Verachtung 
18  verachten"  1,  t,  llc  .ich  geiio.SH  nicht  bloss,  sondern  ich  ftihUc  und  genosa 
den  Genuas-,  Lucinde  S.  y).  —  Eine  solche  Steigening  des  kllnstlerisch''n 
^ns  und  der  wisseuschaftUchen  Leistungen  aber,  wodurch  die  Kunst  noch 
Icher  werden  wurde,  als  sie  es  vereinzelt  sein  könne,  die  Poesie  poetischer, 
itik  kritischer,  die  Historie  historischer  etc.,  würde,  wie  er  iu  den  ..Idetn'* 
aus  der  wahren  Universalitat  hervorgehen,  die  entsieheu  könnte,  wenn  der 
Strahl  der  Religion  und  Moral  ein  Chaos  des  combinftturischen  Witaea 
und  belrucbtete,  indem  da  von  selbst  die  höchste  Poesie  und  Philosophie 
(Atbenai 


TOS     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  za  Goethe's  Tod. 

§  333  fallendstcu  uud  einleuchtendsten  seine  Gedanken ""  darüber  glaubte 
zeigen  zu  können.  Spinoza  sei  nämlich  t-der  allgemeine  Grund  und 
Halt  fllr  jede  indiriduclle  Art  von  Mysticismus*',  an  ihm  lasse  sich 
am  besten  -der  Urquell  der  Poesie  in  den  Mysterien  des  Realismus 
zeigen,  gerade  weil  bei  ihm  an  keine  Poesie  der  Form  zu  denken 
8ei"^\  Aus  den  schon  früher  von  Schlegel  aufgestellten  Sätzen,  dass 
erstens  eigentlich  Jedes  Gedicht  zugleich  romantiscli  und  didaktisch 
sein  sollte^',  und  dass  zweitens  das  Wesen  der  höhern  Kunst  und  Form 
in  der  durch  Allegorie  und  durch  Symbole  zu  erreichenden  Beziehuo» 
aufs  Ganze  bestehe^^,  hat  sich  die  Lehre  von  einer  esoterischen 

öDi  Athenäum  H,  1 ,  104;  109.  —  Am  ausführlichsten  hat  sich,  soviel  ich 
weiss,  über  das,  was  die  romantische  Schule  unter  der  Mystik  in  der  Poesie  to*- 
stand,  und  über  den  Charakter  des  mystischen  Gedichts  nach  ihren  Begriffen  Ben- 
hardi  ausgelassen,  als  er  deu  Musenalmanach  von  A.  AY.  i?chlegel  und  Tieck  in  seinem 
Kynosarges  beurtlieilte  0, 121  Ä'.).  Im  Wesentlichen  läuft  es  auf  dasselbe  hiwus 
was  Fr.  Schlegel  ein  Jahr  spater  imter  der  esoterischen  Poesie  verstanden  wiSB« 
wollte.  51)  Nach  dem  Vortrag  der  -Rede  [über  die  Mythologie-  bemerki 

eiuer  von  denen,  welche  das  -Gespräch  über  die  Poesie**  führen:  im  Ganzen  htlie 
ihm  die  oben  vorgetragene  Theorie  eine  neue  Aussicht  über  die  didaktische  odsr. 
wie  sie  auch  genannt  werden  könne,  über  die  didaskaltsche  Gattung  gegeben.  Er 
sehe  nun  ein,   wie  dieses  Kreuz  aller  bisherigen  Eintheiluugen   uothwendig  rt 
Poesie  gehöre.    Denn  unstreitig  sei  das  Wesen  der  Poesie  eben  diese  höhere  idrt- 
lische  Ansicht  der  Üiuu^e,  sowohl  des  Menschen  als  der  Äussern  Natur.   Es  vpr^ 
begreiflich ,  dass  es  vortheilhait  sein  könne,  auch  diesen  wesentlichen  Theil  d» 
Ganzen  in  der  Ausbildung  zu  isolieren.    Darauf  erwicdcrt  aber  ein  Anderer:  Ad 
kann  die  didaktische  Poesie  nicht  für  eine  eigentliche  Gattung  gelten  lassen,  sc 
wenig  wie  die  romantische.    Jedes  Gedicht   soll  eigentlich   romantisch  und  ji'^^ 
didaktisch  sein  in  jenem  weitern  Sinne  des  Wortes,  wo  es  die  Teudeuz  nach  eüti 
tiefen,   unendlichen  Sinn  bezeichnet.    Auch  machen  wir  die   Forderung  üti?ra!j 
ohne  eben  den  Namen  zu  gebrauchen.    Selbst  in  ganz    populären   Anen.  »"-: 
z.  B.  im  Schiiuspiol,  forJorn  wir  Ironie,  wir  fordern,  dass  die  Begebenheiten,  'h 
Menschen,   kurz  das  ganze  Spiel  des  Lebens  wirklich  auch  als  Spiel  geuoinDri 
und  dargestellt  sei.    Dieses  scheint  uns  das  Wesentlichste,    und   was  liegt  dai 
alles  darin V    Wir  halten  uns  also  an  die  Bedeutung  des  Ganzen;  was  den  ?ia^ 
das  Herz,  den  Verstand,  die  Einbildung  einzeln  reizt,   rührt,   beschäftig  nsd  rJ- 
getzt.  scheint  uns  nur  Zeichen,  Mittel  zur  Anschauung  des  Ganzen  in  demAügt:- 
blick,  wo  wir  uns  zu  diesem  erheben".    Daran  schliessen  sich  im  weitem  Viri»- 
des  Gesprächs  die  Sixtze:    -Alle  heiligen  Spiele  der  Kunst  sind   nur  freie  >'Ji:t- 
bilduugen  von  dem  unendlichen  Spiele  der  Welt,  dem  ewig  sich  bildenden  Kar.- 
wt^rke.   Mit  andern  Worten :  alle  Schönheit  ist  Allegorie ;  das  Höchste  katü  ^=^ 
eben  weil  es  unaussprechlich  ist,  nur  allegorisch  sagen.    Darum  sind  die  iiinrPi': 
Mysterien  aller  Künste  uud  Wissenschaften  ein  Eigenthum   der  Poesie.    Voa  '■i 
ist  alles  ausgegangen,  und  dahin  muss  alles  zurückHiessen.     In  einem  ideiliift^': 
Zustande  der  Menschheit  würde  es  nur  Poesie  geben,   nämlich  die  Kimsu  2^ 
Wissenschaften  sinil  alsdann  noch  eins.     In  unsenn   Zustande   würde  nur  <i^ 
wahre  Dichter  ein  idealisclier  Mensch  sein  und  ein  universeller  Künstlcf  lAÜ^ 
näum  :k  1.  i(M>  tf.v  52i  In  der  Nachrede  zu   dem  Aufsatz  uher  LfSiis-' 

Charakteristiken  und  Kritiken  U  200  ff".    Eben  darum,  weil  das  Wesen  der  K-i«^ 


flntrickelungsgang  der  Literatur.  1773—1832.  Die  Romantiker.  Kunsttheorie.    769 

Poesie  eutwickelt;  die  einer  exoteriscLen  eutgegeugesetzt  wird.  Als  §  333 
die  letztere  wird  die  jedem  nicht  ganz  Verwabrlosten  verständliche 
Poesie  bezeichnet,  die  das  Ideal  des  Schönen  in  dem  Verhältnisse 
des  menschlichen  Lebens  darstelle  und  sich  in  die  Sphäre  desselben 
beschränke,  d.  h.  die  dramatische;  unter  der  esoterischen  hingegen 
sei  diejenige  zu  verstehen,  die  über  den  Menschen  hinausgehe  und 
zugleich  die  Welt  und  die  Natur  zu  umfassen  strebe,  wodurch  sie 
mehr  oder  weniger  in  das  Gebiet  der  Wissenschaft  übergehe  und 
auch  an  den  Empfänger  ungleich  höhere  oder  doch  combiuiertere 
Forderungen  mache.  Zu  dieser  Gattung  würden  nicht  nur  umfassende 
didaktische  Gedichte  gerechnet  werden  müssen,  deren  Zweck  doch 
kein  anderer  sein  könne  als  der,  die  eigentlich  unnatürliche  und 
verwerfliche  Trennung  der  Poesie  und  der  Wissenschaft  wieder  auf- 
zuhebtn  und  zu  vermitteln;  oder  solche  Gedichte,  deren  eigentlicher 
Zweck  es  wäre,  die  Poesie  auf  ihre  Quellen  zurückzuführen,  die 
Mythologie  wieder  herzustellen  und  den  alten  Fabeln  ihre  Naturbe- 
deutung wiederzugeben;  sondern  auch  diejenige  Poesie,  welche  davon 
ausgehe,  das  der  Poesie  entgegengesetzte  Element  des  gemeinen 
Lebens  zu  poetisieren  und  sein  Entgegenstreben  zu  besiegen,  wobei 
sie  nicht  selten  den  Schein  haben  könne,  als  wolle  sie  die  Form 
und  das  Costum  desselben  annehmen,  d.  h.  der  Roman".  —  Als 
einen  viel  versprechenden  Anfang  dieser  esoterischen  Poesie  in  der 
Form  des  Romans  betrachtete  er  den  „Heinrich  von  Ofterdingen" 
Ton   Novalis'*,   vor  dessen   Bedeutung  in  dem  Ent wickelungsgange 


Kunst  and  Form  in  der  Beziehung  aufs  Ganze  bestehe,  seien  sie  unbedingt  zweck- 
mässig und  unbedingt  zwecklos,  halte  man  sie  heiüg  wie  das  Heiligste  und  liebe 
sie  ohne  Ende,  wenn  man  sie  einmal  erkannt  habe.  Darum  seien  alle  Werke 
ein  Werk,  alle  Künste  eine  Kunst,  alle  Gedichte  ein  Gedicht,  da  von  allen  ja 
dasselbe,  das  Überall  Eine  und  zwar  in  semer  ungethellten  Einheit  erstrebt  werde. 
Aber  eben  darum  wolle  auch  jedes  Glied  in  diesem  höchsten  Gebilde  des  mensch- 
lichen Geistes  zugleich  das  Ganze  sein.  Und  dieser  Wunsch  sei  keineswegs  uner- 
reichbar; dennr  er  sei  schon  oft  erreicht  worden  durch  dasselbe,  wodurch  überall 
der  Schein  des  Endlichen  mit  der  Wahrheit  des  Ewigen  In  Beziehung  gesetzt  und 
eben  dadurch  in  sie  aufgelöst  werde:  durch  AU^orie,  durch  Symbole,  durch  die 
an  die  Stelle  der  Tauschung  die  Bedeutung  trete,  das  einzige  Wirkliche  im  Dasein, 
weil  nur  der  Sinn,  der  Geist  des  Daseins  entspringe  und  zurückgehe  aus  dem, 
WAS  über  alle  Täuschung  und  über  alles  Dasein  erhaben  sei.  53)  Europa 

1,  I,  55.  54)  „Es  ist  vielleicht'*,  lautet  die  in  der  vorigen  Anmerkung  be- 

eeichnete  Stelle  der  Europa  weiter,  ^ einer  Missdeutung  unterworfen,  wenn  ich 
sage,  dass  jeder  Roman  nach  Art  eines  Märchens  construiert  sein  sollte,  jede 
wahre  Mythologie  es  aber  unfehlbar  ist,  weil  die  nähere  Anwendung  dieses  Satzes 
viel  Modificationen  erfordern  würde.  Glücklicherweise  aber  kommt  mir  ein  Bei- 
spiel zu  Statten,  welches  jedem,  der  es  studieren  will,  meine  Behauptung  deutlich 
machen  und  ihm  den  Uebcrgaug  vom  Roman  zur  Mythologie  zeigen  kann.  Es 
ist  der  unvollendet  gebliebene  Heinrich  von  Ofterdingen  von  Novalis.    Hätte  er 

Koberstcio,  Grundrus.    S.  Aafl.    IV.  49 


770    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  Jahrhunderts  bis  zn  Goetfae*8  Tod. 

§  333  des  poetiscbeo  Geistes  der  Neuzeit  ihm  jetzt,  wie  es  scheint,  selbst 
die  des  .Wilhelm  Meister"  znrUcktrat;  von  eigentlich  didaktischen 
Gedichten,  wie  er  sie  verlaugte,  sah  er  nur  erst  einzelne  sich  dieser 
Gattung  annähernde  Versuche"  (als  Beispiele  werden  nebst  Schiller» 
Elegie  «der  Siiaziergang"  noch  zwei  Gedichte  von  A.  W.  Schlegel 
genannt,  der  -Prometheus"  und  -der  Bund  der  Kirche"),  dagegen 
von  mythischer  Poesie  überhaupt  ein  glänzendes  Beispiel  in  Tiecks 
„Genoveva"*".  —  Die  Vorstellungen  von  dieser  esoterischen  Poesie, 
wie  die  Grundausichten  seiner  Kunsttheorie  überhaupt,  waren  bei 
Fr.  Schlegel  w*ohl  hauptsächlich  in  seinem  Umgange  mit  Schelling 
und  Novalis  geweckt  worden.  Auf  die  Uebereinstimmung  zwischen 
Schlegel  und  Schelling  in  der  Ansicht,  dass  fUr  die  Dichtkunst  der 


den  Cyclui)  von  Komanon.  den  er,  um  die  Welt  und  das  Leben  ans  den  wichtig- 
stcu  vorschiedeucn  Standpunkten  dos  menschlichen  Geistes  darzustellen,  ent-woifen 
liatto,  Ydllendeu  können,  so  würden  wir  daran  ein  Werk  besitzen,  welchem  für  die 
Bildung  und  Errettung  der  Phantasie  kein  anderes  an  Nützlichkeit  gleich  kommen 
dürfte,  und  welclies  uns  den  Keicbthum  der  Alten  an  philosophischen  Dialoffn 
weniger  beneiden  lassen  würde.  (Wie  Tieck  in  den  Schriften  von  Xovalis  I,  34ä 
berichtet,  sollten  dem  li.  v.  Ofterdingen  noch  sechs  Romane  folgen,  in  dcoea 
Novalis  seine  Ansichten  der  Physik,  des  bürgerlichen  Lebens,  der  Handlung,  der 
Gescliichte,  der  Politik  und  der  Liebe  niederlegen  wollte,  wie  er  im  ÜfterdingcQ 
seine  Ansichten  der  Poesie  ansgesprochen  hatte).  Denn  auch  diese  Gattung  köniien 
wir  nicht  anders  als  hierherstellen  und  müssen  sie  der  Poesie  vindicieren,  iber 
der  esoterischen,  die  allerdings  auch  Philosophie  sein  soll**.  Hierauf 'wird  Scbelliogs 
-Bruno-  als  orstcr  Versuch  der  Art  in  unserer  Sprache  genannt,  der  grosses  Lob 
verdiene,  obgleich  nnch  Verschiedenes  dabei  zu  wünschen  übrij;  bleibe. 
r»r>)  Kuropa  I.  I.  '>'.  -Kij^ontlich  didaktische  Gedichte  von  grossem  ImfaD.".'. 
welche  das  Ganzf  dos  Idealii>mub  in  symbolischer  Korm  darzustellen  &ui.btfj. 
haben  w^ir  noch  uiclit  aufzuweisen,  aber  doch  manchen  bedeutenden  Versuch.  JtT 
sich  durchaus  nur  auf  den  Zweck  und  Begritf  dieser  Gattung  beziehen  liisst". 

56i  A.  a.  <->.    -Für  den  Begrifi"  einer  mythischen  Poesie  überhaupt  ist  Tkh 
derjenige.  wr-Icher  aniroführt  werdyn  muss.    So  wie  Goethe  die  Poesie  zur  Kut^: 
gebildet  hat,   so  strebt  er  hingegen  überall,   sie  zu  ihrer  ursprünglichoii  VooIJe 
alter  Fabel  zurückzuführen.   Die  ..Genoveva-  bleibt  in  dieser  Rücksicht  eice  gii:- 
liche  Erscheinvmg".  -    Zuletzt  berührt  Schlegel  noch   einen  wichtigen  Punkt:  in 
wie  weit  sicli  nämlich  eine  Empfänglichkeit  für  die  höhere  Poesie  und  u'a  V.t- 
ständniss  derselben  bei  dem  Publicum  voraussetzen  lasse,    und  hier  den  etwii?« 
Mängeln  wohl  abzuheilen  sei.    Kr  halt  sich  dabei  an  die  Aufnahme,   wekbo  ^ 
Ahnanach  von  A.  W.  Schlegel  und  Tieck  gefunden  hat.    Diese  beweist  ihm.  JäS 
es  zwar  im  Ganzen  gar  nicht  au  poetischem  Gefühl  bei  dem  Publicum  fehle.  ^'-'^ 
aber  an  richtigen  Begriffen  iiber  die  Poesie,  selbst  an  den  ersten  Gnmdb«nft=3- 
Man  scheine  es  ^o  wenig  zu  wissen,  dass  höhere  Poesie  und  Mythologie  nur  F:3- 
sei,   dass  man  sogar  an  einigen,   obgleich  sehr  schonenden  und  nur  vörliEiiSP*i 
mythischen  Versuchen  Anstoss  genommen  habe;  es  sei  also  nothwendig.  dass  iit- 
jenigen,   welche  sich  damit  beschäftigen,   die  Theorie  der  Kunst  zu  verlTi'ü';!!. 
ihren  Eifer  und  wo  miigli^h  auch  ihre  Popularität  verdoppeln,  um  die  ersten  Et' 
mentarbegriöc  in  Umlauf  zu  bringen. 


Kl 


w 


twickdoDgsgaDg (2er Literatar.  1773 — 1632.  Die RomantUcer.   Kunstthcoric.    771 


N 


euzeit.  wenn  sie  ihre  büchsten  Zielpunkte  eneicbeü  solle,  »icli  61*81  §  331^ 
eine  neue  Mythologie  bilden  müsse,   ist  bereite  oben**  bingewiesen 
worden.    Von   besondern  Stellen  aus  den   Schriften   von  Schelling 
und  Novalis,  welche  die  nahe  Verwandtschaft  zwischen  ihren  und 
den  scblegelscheu   Grundansichten   von   der  Poesie  und   deren  Ver- 
hflltnias  zur  Wissenschaft  bezeugen,   will   ich   hier  nur  folgende  an- 
fuhren.   Von  Schelling":   es   werde  wohl  am   Ende  der  Arbeiten, 
welche  er  fUr  die  speculative  Physik   (in   der  ihr  gewidmeten  Zeit- 
schrift) unternommen  habe,   offenbar  werden,   dass  die  durch  sie  in 
der  einen  Wissenschaft  der  Natur  bewirkte  Revolution,   ausser  den 
nmittel baren  Früchten,   die  sie  bringe,   noch    Uberdiess  das   Eut* 
scheidendste  sei,  was  jetzt  noch,  nicht  nur  für  Philosophie,  sondern 
IJr  das  Höchste  und  Letzte,  die  Poesie,  welche  in  der  That  bis  jetzt 
ren  einzigen  und  absoluten  Gegenstand,  das  schlechthin  ObjectivO; 
nr  in  Brnchstticken  dargestellt  habe,  vom  wissenscbaftlichcn  Gebiet 
II«  jrescheheu  kr»nne.    Er  sei  überzeugt,  dass  die  Zeit  nun  gekom- 
sei,  wo  alle  Wissenschaften  unter  einander  in   das  genaueste 
nd  engste  Bündniss  treten  müssten,  um  das  n^iehste  hervoi-zuhringeu. 
a.    wo   selbst   das  Interesse   der  Kunst  und   Poesie  mit  dem   der 
riesenschaft,  und  umgekehrt,  absolut  ein  und  dasselbe  zu  werden 
anfange,  und  dass  aläo  dieses  gemeinschaftliche  Interesse  der  Wissen- 
schaften,   namentlich   das  der   Philosophie  und   Physik   und   dieser 
ider  mit  Kunst  und   Poesie  nicht   getrennt   werden    dürfe.     Von 
ovalis,  —  der,   wie  sein  Freund  und   Biograph  Just   berichtet''', 
Quschte  und  sich  bestrebte,  nicht  nur  alles,  was  man  bisher  Kunst 
d  Wissenschaft  genannt  hatte,  auf  ein  Princip  zurückzuführen  und 
wahreu   Wissenschaft  zu   erheben,    sondern   auch   alle  Wissen- 
ihaften  und  Künste  in  ein  Ganzes  zu  vereinigen  — :  „  Die  Welt  musa 
luantisicrt  worden.     So  findet  man  den  ursprünglichen  Sinn  wieder, 
mautisieren    ist   nichts   als    eine   qualitative   Potenzierung.     Das 
edere  Selbst  wrd  mit  einem   bessern  Selbst  in  dieser  Operation 
ntificiert.    So  wie  wir  selbst  eine  solche  qualitative  Potenzenreihe 
d.     Diese  Operation   ist  noch  ganz  unbekannt.    Indem   ich  dem 
meinen  einen  hohen  Sinn,  dem  Gewöhnlichen  ein  gebeimnissvolles 
sehen,  dem  Bekaunteu  die  Würde  des  Unbekannten,   dem  End- 
hen  einen  unendlichen  Schein  gebe,  so  romantisiere  ich  es.     Um- 
kehrt ist  die  Operation  für  das  Höhere,   Unbekannte,   Mystische, 
nendliche:  diess  wird  durch  diese  Verknüpfung  logarithmisiert.     Es 
kommt  einen  geläufigen  Ausdruck*". .  .  Die  romantische  Poetik  ist 
m  f. die  Kunst,  auf  eine  angenehme  Art  zu  befremden,  einen  Gegen- 


67)  S.  75»  ff 
tuag",  8,  Werke  3 


58)  Ans  den  Erläuterungen  .über  die  jenaiscbe  Literatar- 
t,  ti-15  f.  59)  Schrilten  3»  !3.  60)  Schriften  H,  23fi. 


4Ü' 


772     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

33:3  staud  fremd  ym  machen  uud  doch  bekannt  und  auziebeud'V  .  .  Der 
Sinn  für  Poesie  lirtt  viel  mit  dem  Sinn  fUr  den  Mystieismus  gemein ; 
er  ist  der  Sinn  für  das  EigentbUmlicbe,  Personelle,  Unbekannte,  Ge- 
bcimniesvoUe,  zu  Offenbarende,  das  Notbwendig-Zufällige.  Er  steUt 
das  UndarstcUbarc  dar;  er  siebt  das  Unsiebtbare,  fUblt  das  Unftibl- 
bare.  Kritik  der  Poesie  ist  ein  Unding;  es  ist  schon  schwer  zu  ent- 
scheiden, ob  etwas  Poesie  sei  oder  nicht.  Der  Dichter  ist  wahrhaft 
sinnberaubt,  dafür  kommt  alles  in  ihm  vor.  Er  stellt  im  eigentlichen 
Sinne  das  Subject-Object  vor:  Gemüth  und  Welt.  Daher  die  Un- 
endlichkeit eines  guten  Gedichts,  seine  Ewigkeit.  Der  Sinn  för 
Poesie  hat  nahe  Verwandtschaft  mit  dem  Sinn  für  Weisssagung  und 
dem  religiösen  Sinn,  dem  Wahnsinn  überhaupt,  Der  Dichter  ordnet, 
vereinigt,  wühlt,  erfindet,  und  es  ist  ihm  selbst  unbegreiflich,  warum 
gerade  so  und  nicht  anders".  .  .  Der  echte  Dichter  ist  allwissend: 
er  ist  eine  wirkliche  Welt  im  Kleinen "^  .  .  Die  Poesie  ist  der  Held 
der  Philoso]>hie.  Die  Philosophie  erhebt  die  Poesie  zum  Grundsatz; 
sie  lehrt  Juns  den  Werth  der  Poesie  kennen.  Philosophie  ist  die 
Theorie  der  Poesie ;  sie  zeigt  uns,  was  die  Poesie  sei :  dass  sie  Eins 
und  Alles  sei*". .  .  Die  Trennung  von  Philosoph  und  Dichter  ist  nur 
scheinbar  und  zum  Nachtheil  beider.  Es  ist  ein  Zeicbeu  einer  Krank- 
heit und  krankhaften  Constitution"'^*. 

Nächst  Schelling  und  Novalis  hatte  die  nähere  Bekanntsebat't 
mit  Jacob  ßOhme's  Schriften,  die  in  der  romantiacben  Schule  eine 
Zeit  lang  zu  einer  ausserordentlich  hoben  Geltung  gelangten '^  zur 


Öl)  2,  22'».  62)  %  223  f.  63»  2,  TIS.  f>4i  2.  22'». 

Or>)  2,  22ü.  60)  Welchen  Einfluss  Jacob  Böhmens  -MorgenrotUc-  auf  Tir'i 

gewann,  ist  oben  S.  :>til,  l^  angedeutet*  worden.  Wie  er  sich  iu  der  dort  i::- 
gefillirten  Stelle  ;nocb  |weiter  gegen  Solger  äussert,  fand  er  in  jenem  Ruch  ->^^ 
Zauber  dos  wundersamsten  Tiefsinns  und  der  lebendigsten  Poesie*- :  alte  und  r-efn 
Philosopliie  wurde  ihm  nun  -nur  historische  Erscheinung" :  Fichte  und  ScIidLn: 
kamen  ihm -leicht,  nicht  tief  ^enug  und  gleichsam  nur  als  Silhouetten  oder  Schwb^ 
aus  jener  unendlichen  Kugel  voll  Wunder-  vor  (Vgl.  dazu  in  Uem  poet^d«! 
Journal  das  Gedicht  .,der  neue  Hercules  am  Scheidewege**,  1,150  f.  und  Solirihf- 
11,  S.  LXXII  ff.t.  Als  Tieck  nach  Jena  kam,  wurde  er  hier  der  bogeisli^rteVfr- 
kündiger  Jacob  Böhme's.  Einige  in  dem  Kreise  seiner  Freunde  vorhieher.  si ' 
zwar  gegen  seine  Anpreisungen  zweifelhaft  oder  abweisend,  namentlich  Fichtf.  "-:? 
sich  mit  Böhme  nicht  befreunden  konnte;  andere  dagegen  liehen  ihm  eit  -'^ 
neigteres  Olir,  und  namentlich  fand  er  bei  Novalis  vollen  Anklang  (vgl.  iint^fi  '- 
L.  Tieck  1,  ;i07  f.).  der  die  ..Morgenröthe"  nun  erst  kennen  lernte  und  ii'- 
darauf  in  einem  an  Tieck  gerichtoton  Gedicht  (zuerst  gedruckt  im  Mnsenalnw'»*'- 
vün  A  W.  Scldcgel  und  Tieck,  S.  35  ff-,  daraus  in  den  Schriften  2.  43  iTiü'-v 
selben  als -VerkUndiger  der  Morgenröthe-  feierte  (vgl.  Kftpke  1,  2r»2  f.t.  Wahrsiifi^* 
lieh  wurde  auch  Fr.  Schlegel  erst  jetzt  mit  Böhme  bekannt;  wenigstens  frirj:trr 
ich  mich  nicht  i'iner  Erwähnung  desselben  iu  einer  schlegelschen  Schrift  mr  ä-f- 
J.  I'jOo.  —  Wie  Jac.  Böhme  von  Bernhard!  aafgefasst   wurde,   können  »ir  i^-* 


EntwickelTiBgsgang  der  Literatur.  1773— IS32.  Die  Romantiker.  Kunsttheorie.  773 

Befestigung  von  Scblegels  Vorstellungen  wesentlich  beigetragen.  Nach-  §  333 
dem  er  ihn  in  den  ^ Ideen""  neben  Albrecht  Dürer,  Keppler,  Hans 
Sachs  und  Luther,  als  einen  „unserer  alten  Helden  deutscher  Kunst 
und  Wissenschaft"  genannt,  deren  Geist  der  unsrige  bleiben  müsste, 
Bo  lange  wir  Deutsche  blieben,  lässt  er  sodann  in  dem  „Gespräch 
Über  die  Poesie"  denjenigen,  welcher  die  „Rede  tlber  die  Mythologie" 
vorgetragen  h'at,  bemerken":  es  sei  in  der  That  wunderbar,  wie  die 
Physik,  sobald  es  ihr  nicht  um  technische  Zwecke,  sondern  um  all- 
gemeine Resultate  zu  thun  sei,  ohne  es  zu  wissen,  in  Kosmogonie 
gerathe,  in  Astrologie,  Theosophie,  oder  wie  man*s  sonst  nennen 
wolle,  kurz  in  eine  mystische  Wissenschaft  vom  Ganzen;  —  und 
auf  die  ihm  eingeworfene  Frage,  ob  Plato  von  dieser  Wissenschaft 
nicht  eben  so  viel  gewusst  haben  sollte  als  Spinoza,  antworten:  „Ich 
habe  in  der  Rede  selbst  gesagt,  dass  ich  den  Spinoza  nur  als  Re- 
präsentanten anführe.  Hätte  ich  weitläufiger  sein  wollen,  so  würde 
ich  auch  vom  grossen  Jacob  Böhme  geredet  haben"*".  Worauf  noch 
von  einem  Andern  bemerkt  wird:  an  Böhme  hätte  sich  zugleich 
zeigen  lassen,  ob  sich  die  Ideen  über  das  Universum  in  christlicher 
Gestalt  schlechter  ausnähmen  als  die  alten,  die  der  Redner  wieder 
einführen  wolle.    Als  Schlegel  nachher  in  der  Europa™  die  Poesie 


seiner  Beurtheilung  des  Musenalmanachs  von  A.  W.  Schlegel  und  Tieck  erseben. 
Indem  er  nämlich  nach  den  einfachen  und  allegorischen  Gedichten  noch  eine  dritte 
Gattung  annimmt,  in  welcher  das  Universum  als  solches  aufgestellt  und  poetisch 
angeschaut  werde»  fährt  er  fort  (Kynosarges  1,  120):  «diess  ist  der  Sinn  aller 
Theogonien  und  kosmologischen  Gedichte,  diess  das  Ziel  ihres  Strebens.  Sie  wollen 
das  All  darstellen  als  solches,  diess  ist  die  Tendenz  des  Hesiodus,  Pherecydes,  Empe- 
dokles,  Lucrez,  Dante  und  Böhme  und  einer  Reihe  anderer  göttlicher  Menschen**.  Diese 
Art  der  Darstellung  heisse  das  mystische  Gedicht,  und  wenn  es  ein  Kunstwerk 
sei,  so  sei  es  das  reine  Lehrgedicht.  C'nd  weiterhin  iS.  131):  .Die  poetische  Kos- 
mologie des  Böhme,  mit  welchem  schicklichem  Namen  könnte  sie  belegt  werden, 
als  einer  mystischen  EpikV**  —  Zu  den  begeistertsten  Verehrern  Jac.  Böhme's 
zählte  damals  auch  Zacharias  Werner.  In  dem  Briefe  vom  t^.  März  1801  an 
Hitzig  {Lebensabrisg  S.  2:5  flf.)  schreibt  er,  nachdem  er  der  .Reden  über  die  Reli- 
gion" gedacht  und  dabei  bemerkt  hat,  Schleiermacher  habe,  so  zu  sagen,  auch 
cur  einem  andern,  weit  grössern  Verfasser  nachgebetet,  nämlichdem  Jacob  Böhme: 
„Ich  habe  hier  in  Königsberg  Gelegenheit  gehabt,  nur  ein  Bändchen  der,  wie  ich 
bore,  zahlreichen  Schriften  des  alten  Jacob  Böhme  zu  erschnappen,  habe  dieses 
Bändchen  mit  frommer,  unschuldiger  Andacht  —  gelesen  und  hal)e  gefunden,  nicht 
nur,  dass  er  das  Original  oder  Vorbild  der  jetzt  Mode  werdenden  Dichtkunst,  — 
-was  noch  nicht  gar  viel  wäre  —  wirklich  ist,  sondern  auch,  dass  er  eine  artem 
poeticam  für  den  Künstler  enthält,  wie  sie  wohl  die  bisherigen  Geschmackslehrer, 
von  Horaz  bis  Heidenreich ,  nicht  geliefert  haben  möchten.  Mehr  aber  als  alles 
giesst  dieser  fromme  Geist  Oel  in  die  verwundeten  Herzen".  67)  Athenäum 

3,  1,  25;  2S.  OS)  Athenäum  3,  1,  108  f.  09)  Mit  einem  Zusatz  in  den 

8.  Werken  5,  2Mj.  70)  1,  1,  47  f. 


4  i 


■1    VI.  Vom  iwoiten  Viertel  des  XVIII  Jahrbimderta  bis  m  Goethe^s  Tod. 


31)3  ala  den  Mittelpunkt  in  dem  Ganzen  der  Kunst  und  Wissenficliaft. 
als  die  erste  mid  höchste  aller  Künste  und  Wissenschaften  bezeich- 
nete und  sie  selbst  auch  als  -Wissenschaft  im  vollsten  Sinne*  an- 
gesehen wissen  wollte,  berief  er  eich  dabei  zugleich  auf  Plato  und 
auf  Jacob  Böhme;  denn  sie  sei  dieselbe  Wissenschaft,  welche  jener 
Dialektik,  dieser  Theosophie  genannt  habe,  die  Wissenschaft  von 
dem,  was  allein  und  wahrhaft  wirklich  sei.  Insofern  habe  die  Philo- 
sophie mit  ihr  denselben  Gegenstand;  was  beide  jedoch  unterscheide, 
sei,  dass  die  letztere  nur  auf  eine  negative  Weise  und  durch  indi- 
recte  Darstellung  diesem  Ziele  sich  nähere,  da  hingegen  jede  positive 
Darstellung  des  Ganzen  unverraeidlich  Poesie  werde'*. 

So  wie  nun  aber  in  der  Poesie,  so  sollte,  wie  Schlegel  verlangte, 
auch  in  der  Philosophie  eine  Scheidelinie  zwischen  einer  exoteriscben, 
profanen  und  einer  esoterischen,  gehcimnissvollen  Behandlungsweise 
gezogen  werden,  um  das  Anstreben  zu  den  höchsten  Zwecken  des 
Idealismus,  wozu  eine  völlige  Umgestaltung  des  geistigen,  religiösen 
und  politischen  Lebens  der  Nation  gleichsam  nur  die  Vorstufe  bildeo 
sollte,   zu  erleichtern  oder  vielmehr  tlberhaupt  zu  enuöglicheu.   In 
dem  Aufsatz  -Über  die  Form  der  Philosophie"",  bcisst  es  gleich  zu 
Anfang:    -Zu  einer  Zeit,  wo   die  Sitten  entartet,   die  Gesetze  ver- 
dorben,  wo  alle  Begriffe,  Stände  und  Verhältnisse  vennischt»  ver- 
wirrt und  verfälscht  sind,    in  einem  Znstande  endlich,   wo  in  der 
Religion  selbst  die  Erinnerung  an  den  göttlichen  Ursprung  nur  nwl 
eine  Seltenheit  ist,  da  kann  durch  Philosophie  allein  die  Wohlfabn 
der   Menschen    wieder    hergestellt    und    aufrecht    erhalten    werden. 
Durch  Philosi>iihie.   d.  h.   durch   bestimmte  und   tiefgcgrilmlcte  Er* 
keuntui:*s  des  höchsten  Wc>ens  und  aller  göttlichen  Dinge;  'Ickü 
wo  das  Wort  m-alter  heiliger  IJeberliefcrnng  einmal   vergessen  "tlfT 
verunstaltet  wurde,   da   müssen   zuvörderst  alle   die  Trrthümer  iiu-' 
Vorurthcilc  vernichtet   und  weggeräumt  werden,    die    es   venlerHoü 
und  verkennen  nmcliton,  da  kann  der  Mensch  nur  durch  die  Kuii>i 
und  die  Wissenschaft  zu  seiner  ursj)rUnglich  anerschatfenen  Hi'lieit 
zurilrkgeftihrt  werden,  und  da  ruht  das  Gebäude  aller  hohem,  tl.  l- 
auf  das  Göttliche  sicli  beziehenden  Kunst  und  Wis^^enschaft  niif -ler 
Anerkennung   eben   dieses  Höhern  und  der   damit    n*UhwendiL-  ve;- 
bundenen   Autlösung   des  niedrigem   Scheines,   oder   auf  der  Pi.-'" 

71)  Hnhmo's  Siir.iclio  horührto  Schlegel  in  dem  Buch  über  I^essiujr  1. 1**:  ^^^ 
thcosopbischen  AVcrko  hielt  er  für  dasGrösste,  was  in  Rücksii-ht  aufSiira'tv  j*«' 
(lein  Untergänge  der  mittelhoehdentschen  Dichtung  her\orgebraclit  wonleii  «'i.  ci' 
dem  seines  Schlusses  weiren  sehr  liomerkenswerthen  Zusatz:    _tHe>e        Wirkt  - 
aber  würden  gar  niilit  vorhanden  sein,   hätten  gar  nicht  entstehen  könEtii  ■:- 
Luthers  liibelnhorfietzunjr.  die  also  wenigstens  durch  den  Krfoljj  gerechttonir  i-' 

"2j  Im  :i   Theil  des  IJuchä  über  Lessiug,  S.  411  ff. 


Entirickelongsgang  der  Literatur.  1773—1832.  DieKomantlker.  Eansttheorie.   775 

Sophie".  —  Der  Ungeheuern  Masse  von  Schlechtigkeit,  die  wie  ein  §  333 
weitverbreitetes,  vielverseblungenes  Gewächs  tiberall  sich  einge- 
wurzelt und  so  manches  Edlere  mit  ihrem  Unkraut  verdeckt  habe, 
stehe  bis  jetzt  nichts  entgegen,  als  das  stille  Feuer  dei-  Philosophie, 
die  wie  durch  ein  Wunder  gerade  jetzt,  da  es  am  meisten  Noth 
gethan,  in  hellere  Flammen  als  jemals  ausgebrochen  sei.  Und  zwar 
in  dem  einzigen  Lande,  wo  es  noch  möglich  gewesen,  in  dem  Lande, 
wo  wenigstens  der  Begriff  von  Tugend ,  Ehre  und  Ernst  geblieben, 
und  wenigstens  einzelne  Spuren  der  alten  Denkart  und  Freiheit  tioch 
übrig  gewesen  wären,  wo  also  auch  in  der  Fülle  der  Gelehrsamkeit 
der  strenge  Kunstsinn  eher  habe  wieder  erwachen,  in  die  Morgen- 
röthe  der  höchsten  Erkenntniss  das  Äuge  einweihen  und  ihm  das 
Yerständniss  öffnen  können  für  den  verborgenen  Sinn  der  alten 
Offenbarungen,  die  der  Aberwitz  und  Unsinu  der  neuen  Zeit  ver- 
schüttet und  vergessen  hätten.  Diese  bewundernswürdige  Lehre  des 
Idealismus  der  neuen  Schule  zeige  uns  das  Aeusserste,  was  der 
Mensch  bloss  durch  sich  selbst  vermöge,  durch  die  Kraft  und  Kunst 
des  freien  Denkens  allein  und  durch  den  festen  Muth  und  Willen 
dazu,  in  stäter  Befolgung  der  einmal  erkannten  Grundsätze.  Dieser 
neue,  bloss  menschliche,  d.  h.  durch  Menschengeist  und  Menschen- 
kunst erfundene  und  gebildete  Idealismus  müsse  nothwendig,  je 
höher  gesteigert,  je  künstlicher  vollendet,  je  reiner  geläutert  er  sein 
werde,  von  allen  Seiten  zurückführen  zu  jenem  alten,  göttlichen 
Idealismus,  dessen  dunkler  Ui-sprung  so  alt  sei  wie  die  ersten  Offen- 
barungen, die  man  nicht  erfinden  könne  und  auch  nicht  zu  erfinden 
brauche,  sondern  nur  zu  finden  und  wiederzufinden,  der  überall  in 
den  frühesten  und  unwissendsten  Epochen,  wie  in  den  verderbtesten 
und  verwildertsten,  von  Zeit  zu  Zeit  hervorgetreten  sei,  die  alten 
Offenbarungen  durch  neue  Göttlichkeiten  zu  deuten  und  zu  bestätigen, 
und  dessen  reichste  Fülle' himmlischer  Erleuchtung  sich  besonders 
und  vor  allen  herrlich  in  Einem  deutscheu  Geiste  der  vergangenen 
Zeiten  (Jacob  Böhme?)  entfaltet  habe.  —  Aber  der  philosophische 
Geist,  80  selten  er  erscheine,  eben  so  schnell  verschwinde  er  wieder, 
ohne  bedeutende  Wirkung  zu  hinterlassen,  ausser  wo  eine  kunst- 
gerechte Form  und  Gestalt  das  flüchtige  Wesen  festhalte  und  bleibend 
mache.  Nicht  die  Philosophie  selbst,  aber  ihre  Dauer  und  ihr  Werth 
hange  ab  von  ihrer  Form.  Die  Wohlfahrt  der  Menschen  und  die 
Begründung  aller  höhern  Wissenschaft  und  Kunst  ruhe  auf  der  Philo- 
sophie, der  Bestand  dieser  aber  auf  ihrer  Form.  Wie  wichtig  also 
und  wie  bedeutend  sei  die  Form  der  Philosophie  und  wie  gross  ihr 
Werth!  —  Nun  habe  man  sich  zwar  bestrebt,  die  wahrhafte  und 
beste  Form  des  Idealismus  zu  finden,  allein  dieselbe  meist  auf  eine 
verkehrte  Weise  und  au  einem  falschen  Orte  gesucht.    Alle  Philo- 


776    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  biq  m  Goethe's  Tod. 

§  333  Sophie  sei  nothweudiger  Weise  mystisch,  denn  sie  habe  keinen  andern 
Gegenstand  und  könne  keinen   andern   haben  als   denjenigen,  der 
das  Geheimniss  aller  Geheimnisse  sei;  ein  Geheimnisa   aber  könne 
und  dürfe  nur  auf  eine  geheimnissvolle  Art  mitgetheilt  werden.    Da- 
her die  Allegorie  im  Ausdruck  des  vollendeten  positiven  Philosophen, 
die  Identität  seiner  Lehre  und  Erkenntniss  mit  Leben  und  Religion 
und  der  Uebergang  seiner  Ansicht  zur  höhern  Poesie;   daher  aber 
auch  diejenige  Form  der  Philosophie,  welche  unter  allen  Bedingungen 
und  in  allen  Zuständen  die  bleibende  und  ihr  eigentlich  wesentliche 
ist:  die  dialektische.  —  -Ein  schöne»  Geheimniss  also  ist  die  Philo- 
sophie;  sie  ist  selbst  Mystik  oder  die  Wissenschaft  und  die  Kmi«t 
göttlicher  Geheimnisse.     Die  Mysterien  der  Alten  waren  in  der  Form 
vortrefflich;  wenigstens  ein  Anfang  der  wahrhaften  Philosophie;  die 
christliche  Religion  selbst  ward   lange  nur  als  das  Mysterium  eines 
geheimen  Bundes  verbreitet,  und  wie  manches  Verderben  in  ihr  mag 
sich  nicht  gleich   aus  der   ersten  Zeit  ihrer   Öftentlichen   Bekannt- 
machung oder  Profanierung  herschreiben?  —  Ja,  auch  wenn  Phil'V 
Sophie  öftcntlieh  gemacht  und  in  Werken  dargestellt  wird,   so  niRss 
Form  und  Ausdruck   dieser  Werke  geheiranissvoll    sein,   um  an^'e- 
messen  zu  scheinen.    Bei  der  höchsten  Klarheit  dialektischer  Werte 
im   Einzelnen  muss  wenigstens   die  Verknüpfung    des   Ganzen  fiuf 
etwas  Unauflösliches  führen,  wenn, wir  sie  noch  für  Nachbildung  de* 
Philosophicrens  oder  des  endlosen  Sinnens  erkennen  sollen;  denn 
nur  das  hat  F>nn,  was  sich  selbst  hedeutet,  wo  die  Form  den  Si'"»^ 
symbtdiseh    reflcctiert.   —    Aber   nicht  in   der  Darstellung   hat  die 
Philosojthie  ihr  vorzügliches  Wesen  und  Treiben,  sondern  im  LoVti 
selbst,  in  der  lebendigen  Mittheilung  und  der  lebendigen  Wirks-iu!- 
keit.     Mitgctheilt  darf  sie   werden   und   soll   sie   werden ,   nur  nr;** 
eine  profane  Form  der  Mittheilung  nicht   gleich  von  vorn  an  ihrew 
Wesen  widersprechen  und  es  zerstören.     Nicht  auf  den  Märkten  ui:il 
in  den  Buden,  und  nicht  in  den  Hörsillen.  die  diesen  ähnlich  ^in-- 
werde  die  Philosophie  verbreitet,  sondern  auf  eine  würdigere,  heili;;ere. 
auf  eine  philosophische,  d.  h.  auf  eine  mystische  Weise,  wie  hei  di-n 
das  Würdige  würdig  l)chandelnden  Alten,  wie  hei  den  im  Gehcinir.i*> 
verbundenen  ersten  Bekennern  der  wahren  Religion  I     Ferne  sei  •> 
von  uns,  auch  nur  die  Zwecke  der  wahren  Philosophie,  geschwei-c 
denn  ihren  ganzen  Inhalt,  in  öflcntlichen  Reden  und  Schriften  üvii: 
Pöbcl   preisgeben   zu   wollen !     Nur  allzu  deutlich  hat   uns  erst  lüe 
Reformation  und  mehr  noch  die  Revolution  gelehrt,  was  es  auf  ■iich 
habe  mit  der  imbedingten  Oeffentlichkcit  auch  dessen,    was  anfaii-'* 
vielleicht  recht  gut  gemeint  und  sehr  richtig  gedacht  war.  und  ^»^ 
für  Folgen  es  mit  sich  führe.     Zwar  der  erste  Grad  aller  Mysicrier 
kann  jedem  «dnie  Gefahr  mitgetheilt  werden.     Es  kann  \ind  es  dar      l 


Entwickehxngsgang  der  Literatur.  1773— 1S32.  Die  Romantiker.  Kansttheorie.  777 

laut  gesagt  werden ,  dass  es  der  Zweck  der  neuen  Philosophie  sei,  §  333 
die  herrschende  Denkart  des  Zeitalters  ganz  zu  vernichten  und  eine 
ganz  neue  Literatur  und  ein  ganz  neues  Gebäude  höherer  Kunst 
und  Wissenschaft  zu  grttnden  und  aufzuführen.  Es  kann  und  es 
darf  gesagt  werden,  dass  es  ihr  bestimmter  Zweck  sei^  die  christ- 
liche Religion  wieder  herzustellen  und  sich  endlich  einmal  laut  zu 
der  Wahrheit  zu  bekennen,  die  so  lange  ist  mit  Füssen  getreten 
worden.  Es  kann  und  es  darf  gesagt  werden,  dass  es  der  ausdrücke 
liehe  Zweck  der  neuen  Philosophie  sei,  die  altdeutsche  Verfassung, 
d.  h.  das  Reich  der  Ehre,  der  Freiheit  und  treuen  Sitte  wieder  her- 
vorzurufen, indem  man  die  Gesinnung  bilde,  worauf  die  wahre  freie 
Monarchie  beruht,  und  die  nothwendig  den  gebesserten  Menschen 
zurückführen  muss  zu  dieser  ursprünglichen  und  allein  sittlichen  und 
geheiligten  Form  des  natürlichen  Lebens.  —  Alles  das  darf  laut  und 
deutlich  gesagt  werden ;  aber  wie  vieles  andre  eben  so  Nothwendige 
und  eben  so  Gewisse  ist  noch  zurück,  was  entweiht  sein  würde,  so 
wie  es  gesagt  wäre,  und  welches  nur  näher  zu  bezeichnen,  ich  mich 
hier  enthalten  muss".  —  Zuletzt  wird  noch  daraufhingewiesen,  dass 
alle  wahrhaften  Philosophen  von  jeher  einen  unsichtbaren,  aber  fest 
geschlossenen  Bund  von  Freunden  gebildet  hätten,  wie  der  grosse 
Bund  der  alten  Pythagoräer  gewesen  wäre.  Jetzt  scheine  der  Geist 
und  die  Kraft  dazu  freilich  beinahe  verschwunden;  aber  alles,  was 
nothwendig  sei,  sei  auch  ewig  und  müsse  früher  oder  später  wieder- 
kehren". 

§  334. 

Schon  auf  die  Kunsttheorie  der  Romantiker  hatte  der  Umschlag, 
der  sich  in  der  Auffassung  des  Wesens  der  Religion  und  ihres  Zu- 
sammenhanges mit  allem  geistigen  und  sittlichen  Leben  auf  der 
Grenzscheide  des  achtzehnten  und  neunzehnten  Jahrhunderts  zutrug, 
einen  sehr  merklichen  Einfluss  ausgeübt;  noch  viel  folgenreicher  und 
nachhaltiger  war  der,  den  er  auf  die  dichterische  Production  hatte. 
Es  muss  daher,  bevor  wir  diese  selbst  näher  ins  Auge  fassen,  jene 
Wendung  wenigstens  in  ihren  Hauptmomenten,  nach  ihrer  besondern 
Beziehung  zur  schönen  Literatur,  angedeutet  werden.  —  Das  Band, 


73)  Wenn  hierin  Schlegel  Ansichten  ausgesprochen  hat,  wie  sie  sich  bei  ihm 
vorzugsweise  noch  vor  seinem  Uebertritt  zur  katholischen  Kirche  gebildet  und 
festgesetzt  hatten,  so  verräth  sich  darin  doch  auch  schon  mehrfach,  und  zum 
TheÜ  sehr  unverhüllt,  der  Geist  des  werdenden  Katholiken  und  des  Mannes  der 
Bestaurationszeit.  Und  dass  er  damals,  als  er  diesen  Aufsatz  schrieb,  wirklich 
achon  -neue  philosophische  Erfahrungen**  gemacht  und  damit  Ansichten  von  einer 
noch  ganz  andern  Gestalt  gewonnen  hatte,  deutet  er  selbst  in  dem  Nachwort 
(S.  422)  an. 


778    VI-  Vom  zweiten  Viertel  des  XXUl  Jahrhunderts  bis  m  6o«the*s  Tod. 

§  334  welches  noch  während  der  ersten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts 
die  deutsche  Dichtung  an  die  Religion  geknüpft  hatte,  dessen  Kräfti- 
gung und  Festigung  für  Klopstock,  den  Theoretiker  wie  den  Dichter^ 
ein  Hauptziel  seines  Strebens  gewesen  war,  hatte  sich  in  der  Folge- 
zeit immer   mehr  gelockert  und  gelöst.    In   dem   Verhältniss,  in 
welchem  der  Rationalismus  und  dsis,  was  man  Aufklärung  nannte, 
vorschritten  und  in  der  Wissenschaft,  im  praktischen  Leben,  in  der 
Kirche  selbst  die  Grundpfeiler  des  positiven  Christenglaubens  und 
der  religiösen  Denkart  der  Väter  untergruben,   schwand  auch  das 
positiv  christliche  Element  aus  der  Dichtung,  und  die  philosophierende 
Theorie  schien  gar  nicht  einmal  auf  die  Frage  eingehen  zu  wollen, 
in  wiefern  alle  Aeusscrungeu  eines  höbern  geistigen  Lebens  unter 
einem  Volke,  also  auch  seine  Poesie  und  Kunst,   wo  sie   wirklich 
aus  dem  Leben  erwachsen  und  auf  dasselbe  veredelnd  zurtickwirkeD, 
mit  seiner  Religion  zusammenhängen,  durch  deren  GrundansehauungeB 
und  auch  in  vielen  Beziehungen   durch   deren  Fonn  bedingt  sind'. 
Zwar  felilto  es  nicht  an  einzelnen  in  der  wissenschaftlichen  oder 
auch  in  der  dichterischen  Literatur  hervorragenden  Männern,  welche 
entweder  an  dem  biblischen  OfFenbarungsglauben  mit  achlichtem  und 
einfältigem  Sinne  festhielten,  oder  mit  Ernst  nach  einer  tief  gemfiih- 
lichen  Vcrmittelung  zwischen  Glauben  und  Wissen,   zwischen  den 
Ansprüchen  des  Herzens  und  denen  des  Geistes  rangen,  die  den 
Widerspruch,  welchen  die  mächtig  vorgeschrittene  Bildung  der  Zeit 
gegen  die  Grundwahrheiten  des  Cbristenthums  und  die  auf  dieAut**- 
rität  der  Refommtorcn  sich  stützende  Kirchenlehre  von  allen  Seiten 
erliob,  in  sich  und  für  andere  auszugleichen  suchten  und  damit  eißcr- 
Kcits  ebent?o  entschieden  der  starren,  abgestorbenen  Orthodoxie,  wie 
andrerseits  der   immer  weiter  um  sich  greifenden  Aufklänm^ssni'bT 
und  Freigeisterei  entgegentraten.    Ausser  Hamann  und  LaA'ater  »1'^ 
scliou  anderwärts  als  diejenigen  l)ezeichnet  worden  sind?  von  denff 
hauptsächlich  eine  solche  von  einem  lebendigen  christlichen  Rewii«^- 


§  Xi4.  1)  Mit  Kocht  lipbt  es  dabor  auch  Hoftmeister  in  SohilWr?  ^i« 
(M,  ;ir>  f.)  als  (Ion  gr(»sston  MaiiKol  au  den  Brieten  ^übcr  die  ästhetische  Eradcr: 
des  Menschen-  hervor,  dass  Schiller  das  Religiöse  jrauz  unbeachtet  la^sC  '"' 
innigen,  nothwondigen  Zusammenhang  des  Aesthetischen  mit  dem  Keliio*'s-'t  ^-* 
thirnach  die  grosse,  durchgreifende  Bedeutsamkeit  des  Schönen  und  Erut-*= 
für  das  ganze  Volksleben  und  für  die  Menschheit  habe  weder  Schiller  nofKn-ft- 
erkannt.  Daher  seien  ihre  ästhetischen  Ansichten,  so  ausgezeichnet  sie  in  goEr?^ 
Beziehung  ?ein  möchten,  im  Mittelpunkt  ihres  Wesens  kalt  und  todt  und  auf  «s* 
engen,  unbcileutenden  Spielraum  beschränkt.  Schiller  zoUc  aucli  in  diesen  i»Hf:^ 
don  Gnechen  seine  Bewunderung:  aber  was  am  meisten  liervorzulifben  i.««;^* 
dass  das  ganz*'  (ilfentlicbe,  gottesdienstliche,  häusliche  Leben  der  (Jricchf£  ^** 
dem  (iei&te  des  Scliöneu  und  Erhabenen  geweiht  war,  und  dass  allo»  Erittl-* 
und  Scluine  nur  im  Dienste  ihres  religiösen  Glaubens  stand,  davon  spreche  er  c-J^ 


EntwtckehiDgsg.  d.  Literat.  1773—1832.  Die  Romantiker.   Religiöse  Dichtung.   779 

sein  gehobene  Opposition  ausgieng%  waren  die  hervorragendsten  §  334 
unter  den  zu  ihnen  gehörigen  Schriftstellern,  wenn  auch  in  ihrer 
Denkart  sehr  verschieden  und  ebenso  in  ihren  Bestrebungen  und 
den  dabei  eingeschlagenen  Wegen  mehr  oder  weniger  von  einander 
abweichend,  Jung  Stilling,  M.  Claudius,  J.  G.  Schlosser,  Fr.  H.  Jacob! 
und  He^der^  Allein  es  waren  diess  eben  nur  einzelne  Geister,  die, 
wenn  man  etwa  von  Herder  absieht,  der  auch  vor  allen  andern  seit 
Beginn  seiner  schriftstellerischen  Laufbahn  bemüht  war,  den  innigen 
Verband  zwischen  Religion  und  Poesie  ihrem  Ursprung  und  ihren 
Wirkungen  nach  dem  Bewusstseiu  der  Zeitgenossen  näher  zu  bringen, 
zunächst  immer  bloss  auf  verhältnissmässig  kleine  Kreise  einen  nach- 
haltig wohlthätigen  Einfluss  auszuüben  vermochten ;  die  grosse  Masse 
der  Schriftsteller,  und  darunter  die  ersten  und  grössten  Dichter  der 
Nation,  verhielt  sich  gleichgültig  oder  gar  ablehnend  gegen  die  Re- 
ligion. Eine  bedeutende  Aenderung  hierin  begann  erst  mft  dem  J. 
1799  einzutreteu:  sie  bereitete  sich  einerseits  als  eine  Erweckung 
des  erschlafften  und  in  Gleichgültigkeit  versunkenen  religiösen  Sinnes, 
andrerseits  als  ein  Streben,  Kunst  und  Poesie  wieder  in  einen  nähern 
und  lebendigem  Bezug  zur  Religion  zu  bringen,  gerade  an  dem  Orte 
vor,  wo  die  Partei  der  Rationalisten  und  Aufklilrungsmänner  von 
lange  her  am  festesten  Fuss  gefasst  und  den  weitesten  Spielraum 
ihrer  Wirksamkeit  gefunden  hatten,  in  Berlin,  und  kam  zuerst  in 
zwei  kurz  hinter  einander  erscheinenden,  sehr  verschiedenartigen 
Werken,  in  Schleiennachers  „Reden  über  die  Religion"  und  in  Tiecks 
^Genoveva"  zu  vollem  Durchbruch.  In  den  «Reden",  welche,  wie 
schon  ihr  Titel  ankündigte^,  an  die  Gebildeten  unter  den  Religions- 
verächtern gerichtet  waren,  hatte  Scbleiermacher  diesen  Gebildeten 
gegenüber,  die  er  wieder  für  die  Religion  gewinnen  wollte,  einen 
Standpunkt  eingenommen,  welcher  der  Höhe  der  Bildung,  wie  sie 
»ich  auf  wissenschaftlichem  und  künstlerischem  Wege  das  Zeitalter 
errungen  hatte,  vollkommen  entsprach.  Zwischen  dieser  Bildung  und 
der  Religion  suchte  er  nach  einer  lebendigen  Vermittelung  in  den 
Tiefen  des  Gcmüths,  und  hierin  berührte  er  sich  mit  Fr.  H.-Jacobi": 


2)  Vgl.  III,  47'^.  3.1  Uebcr  sie  in  ihrer  Stellung  zur  Religion  und  iu 

ihrer  "Wirksamkeit  für  dieselbe  verweise  ich  vorzüglich  auf  K.  R.  Hagenbachs 
^Kircheugeschichte  des  IS.  und  1  it.  Jahrhunderts  aus  dem  Standpunkte  des  evau- 
getischen  Protestantismus  betrachtet,  in  einer  Reihe  von  Vorlesungen".  2.  Auf- 
lage. Leipzig  1^4**  f.  2  Thle.  S.  Vgl.  auch  die  diese  Männer  betreffenden  Ab- 
schnitte bei  H.  Gclzer,  «die  neuere  deutsche  National -Literatur"  etc.  4)  Vgl. 
ß.  541»,  Anm.  IS  (auch  J.  Fürsts  Buch  über  Henriette  Herz,  S.  KtOf.).  Ich  habe  für 
dfts  Folgende  nur  die  fünfte  Auflage  (Berlin  1S43)  benutzen  können,  die.  wie  gleich 
die  aweite  (ISOG),  von  dem  ursprünglichen  Text  mehrfach,  und  nicht  bloss  in 
einzelnen  Ausdrücken,  abweicht.  b)  Dass  er  ihm  vieles  verdanke  und  mehr, 
als  er  selbst  wisse,   bekennt  Scbleiermacher  selbst  in  der  Zuschrift  an  G.  von 


780    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVllI  Jahrhunderts  bis  zu  Goethes  Tod. 

334  er  fand  das  Wesen  der  Religion  in  dem  „unmittelbaren  Bewusstsein 
der  Gottheit,  wie  wir  sie  finden ,  eben  so  sehr  in  tins  selbst,  als  in 
der  Welt'*'';  und  da,  wie  er  Überzeugt  war,  die  Abkehr  der  Gebildeten 
von  der  Religion  nur  in  einem  Missverstelien  des  wahren  und  eigent- 
liehen  Wesens  der  letztern  ihren  Grund  haben  konnte,  so  bemfihte 
er  sich  zuvörderst,  die  unter  ihnen  gangbaren  Vorstellungen  von  ihr 
als  falsche  und  im  Leben  irreführende  zu  erweisen,  worauf  er  nach 
einander  von  ihrem  Wesen,  von  der  Bildung  zur  Religion,  von  dem 
Geselligen  in  ihr,  oder  von  Kirche  und  Priesterthuni ,  und  endlich 
von  den  Religionen  handelte.  Ohne  hier  einen  zusammenhängen- 
den Auszug  aus  diesen  Reden,  der  alle  darin  zur  Sprache  gebrachten 
Momente  berührte,  liefern  zu  wollen,  begnüge  ich  mich,  aus  den 
beiden  ersten  einige  Hauptstelleu,  welche  das  Wesen  der  Religion 
nach  Sctileiermachers  Auifassung  betreffen,  und  ausserdem  noch  einige 
aus  den  übrigen  Reden  herauszuheben,  in  welchen  sich  die  innere 
Verwandtschaft  seiner  religiösen  Grundanschauungen  mit  den  kunst- 
theoretischen der  Romantiker,  so  wie  ihrer  beiderseitigen  praktisoben 
Tendenzen  offenbart.    „Wenn  Ihr  nur  die  religiösen  Lehrsätze  und 


llriiikmauu  vor  der  Auflage  von  1^21;  vgl  die  .5.  Auflage  S.  IX.  —  Er  wollte, 
wie  er  in  der  ersten,  -Rechtfertigung-  überschriebenen  Kede  erklärte,  nicht  als 
Priester  sprechen ;  als  Mensch  würde  er  reden  von  den  heiligen  Geheimnissen  dsr 
Menschheit  nach  seiner  Ansicht,  von  dem,  was  in  ihm  gewesen  wäre,  als  er  Docb 
in  jugendlicher  Schwärmerei  das  Unbekannte  suchte,  von  dem.  was.  seitdem  iT 
dächte  und  lebte,  die  innerste  Triebfeder  seines  Daseins  sei,  und  was  iliia  »af 
ewig  das  Ilochste  bleil»on  würde.  —  -Krtimmiirkeit  war  der  niütterlirhe  Lei!»,  ic 
dessen  heilim-m  Duukel  mein  junges  Leben  !,'euahri  und  auf  tlie  ihm  nofh  v-'J- 
schlosseno  M'clt  vorbereitet  wurde;  hi  ihr  atlimete  mein  ^.ieist.  cho  or  noch  st-ü 
eigeuthümliches  Gebiet  in  Wissenschaft  und  Lebenserfahrung  gefunden  iiüttr:?!? 
half  mir,  als  ich  anfieng  den  väterhchen  Glauben  zu  sichten  und  Gedanko:  iisd 
(Jefühle  zu  reinigen  Aon  dem  Schutte  der  Vorwolt;  sie  blieb  nur.  als  an«!'  •> 
Oott  und  die  Unsterblichkeit  der  kindlichen  Zeit  dini  zweih-luden  Auji?  t.!- 
schwanden;  sie  leitete  mich  absicht-slos  in  das  thätige  Leben;  sie  zeiutc  mir.  »i*: 
ich  mich  selbst  mit  meinen  Vorzügen  und  Mangeln  in  nieinein  uuL'viheiite:;  Tu- 
sein  heilig  halten  solle,  und  nur  durdi  s^ie  habe  ich  TreundsvLaft  und  Lii"l<  s* 
lernt.  —  Nicht  einzelne  Empfindungen  will  ich  aufregen,  die  violleicbt  in  Ar  i'fc" 
Keligion)  üeliiet  gehören;  niclit  einzelne  Vorstellungen  will  ich  reehtlVriiftn -!*)•' 
bestreiten:  sondern  in  die  innersten  Tiefen  m'lichte  ich  Kuch  peleittn.  au-  Jfctc 
überall  eine  jede  Gestalt  derselben  sich  bildet;  zeigen  mOcbte  ich  Kihh.  jus 
welchen  Anlagen  der  Menschheit  sie  hervorgeht,  und  wie  sie  zu  dorn  ceh-rt.  »= 
Euch  das  Höchste  und  Tlieuerste  ijt:  auf  die  Zinnen  des  Tempels  Imniht«^  /" 
Euch  führen,  dass  Ihr  das  ganze  Heiligthum  übersrhauen  und  seine  iniursKi: hf- 
heimnisse  entdecken  könnet-.  —  An  niclits  andei"s  aber  glaubte  er  dU  T:-- 
nelimung.  welche  er  von  denen  forderte,. die  er  wieder  für  die  Reliü^ion  "Ott-io- 
wuUte,  anknüjifen  zu  können,  als  an  ihre  Verachtung  selbst,  und  er  forilirrt  -^ 
nur  auf,  in  dieser  Verachtung  recht  gebildet  und  vollkommen  zn  «ein  t'.^rje* 
S.   122. 


twlcltcluQgsgangd.  Literatur.  1773— i'!j32.  Di«  Romantiker.  Scbleiermaclicr.  7S1 

eioiingen  lu»  Auge  gefa^Bl  liabt,  so  keunt  ILr  noch  gar  nicbt  <lic  §  334 
^ßeligiön  selbst,  und  was  Ihr  veracLtet,  ist  uicbt  sie.  Aber  warum 
^H6ul  Ibr  Dicht  tiefer  ciiigedrun^eu  bin  zu  dem,  was  das  lunere  dieses 
^■leussern  ist?  .  .  .  Warum  betrachtet  Ihr  uicht  das  religiöse  Leben 
^^elbst?  Jene  frommen  Erhebungen  des  Geniütbs  vorzüglich,  in  welchen 
fillc  andern  Euch  sonst  bekannten  Thiitigkeiteu  znrückgedriingt  oder 
fast  aufgehoben  sind,  und  die  ganze  Seele  aufgebest  in  ein  unmittel- 
bares  Gefühl  des  Unendlichen  und  Ewigen  und  ihrer  Gemeinschaft 
mit  ihm?  Denn  in  solchen  Augenblicken  offenbart  sich  ursprüng- 
ich  und  anschaulieh  die  Gesinnung,  welche  zu  verachten  ihr  vor- 
bt. .  .  ,  In  das  Innere  einer  frommen  Seele  müsst  Ibr  Euch  ver- 
tzen,  und  ihre  Begeii^terung  mÜsst  Ihr  suchen  zu  vorstehen;  bei 
r  That  selbst  mtisst  n»r  jene  Licht-  und  Wftrme- Erzeugung  in 
nem  dem  Weltall  sich  hingebenden  GemUthe  ergreifen;  wo  nicht, 
erfahrt  Ihr  nichts  von  der  Religion....  Ich  fordere  hIro,  das« 
.  von  allem  sttnst  zur  Religion  Gerechneten  absehend,  Euer  Augen- 
k  nur  auf  die  innem  Erregungen  und  Stimmungen  richtet,  auf 
eiche  alle  Aeusserungen  und  Thateu  gottbegeisterter  Menschen  hin- 
deuten'. .  .  .  Um  Euch  ihren  ursprünglichen  und  cigcnthUmlichcu 
itz  recht  bestimmt  zu  ofteubaren  und  damuthun,  entsagt  die  Re- 
gion vorläufig  allen  Ansprüchen  auf  irgend  etwas,  das  den  beiden 
ebleten  der  Wissenschaft  und  der  Sittlichkeit  angehört,  und  will 
lc8  zurückgeben,  was  sie  von  dorther  sei  es  nun  geliehen  hat,  oder 
i  es,  dass  es  ihr  aufgedrungen  worden.  .  .  .  Euer  Wissen  um  die 
atur  geht  auf  das  Wesen  eines  Endlichen  im  Zusammenhange  mit 
d  im  Gegensatz  gegen  das  andre  Endliche,  wie  Euere  Gotteser- 
enntniss  auf  das  Wesen  der  hüehsteu  Ursache  an  sich  und  in  ihrem 
erhältnisB  zu  alle  dem,  was  zugleich  Ursache  ist  und  Wirkung. 
ie  Betrachtung  der  Welt  des  Seins  (dagegen),  wie  sie  dem  Frommen 
en  ist,  ist  nur  das  unmittelbare  Hewusstsein  von  dem  allgemeinen 
n  alles  Endlichen  im  Unendlichen  und  durch  das  Unendliche, 
iUcfl  Zeitlichen  im  Ewigen  und  durch  das  Ewige.  Dieses  suchen 
d  finden  iu  allem,  was  lebt  und  sich  regt,  in  allem  Werden  und 
ecbscl,  in  allem  Thun  und  Leiden,  und  das  Leben  selbst  im  un- 
ittelbaren  Gefühl  nur  haben  und  kennen  als  dieses  Sein,  das  ist 
ligion.  Ihre  Befriedigung  ist,  wo  sie  dieses  findet;  wo  sich  dieses 
birgt,  da  ist  für  sie  Hemmung  und  Aengstigung,  Noth  und  lV>d. 
nd  80  ist  sie  freilich  ein  Leben  in  der  unendlichen  Natur  des 
nzen,  im  Einen  und  Allen,  in  Gott,  habend  und  besitzend  alles 
Gott  und  Gott  in  allem.  Aber  das  Wissen  und  Erkennen  ist  sie 
icbt,  weder  der  Welt  noch  Gottes,  sondern   diess  erkennt  sie  nur 


7)  S.  18  ff. 


782    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XMII  Jahrhanderts  bis  zu  Uoethe^s  Tod. 

334  an,  ohne  es  zu  sein....  Ebenso,   wonach  strebt  Eure  Sittenlehre, 
Eure  Wissenschaft  des  Handelns?    Auch  sie  will  ja  das  Einzelne 
des  menschlichen  Handelns  und  Hervorbringens  auseinander  halten 
in  seiner  Bestimmtheit  und  diess  zu  einem  in  sich  gegründeten  und 
gefügten  Ganzen  ausbilden.    Aber  der  Fromme  bekennt  Euch,  daes 
er  als  solcher  auch  hiervon  nichts  weiss.    Er  betrachtet  ja  freilich 
das  menschliche  Handeln,  aber  seine  Betrachtung  ist  gar  nicht  die^ 
aus  welcher  jenes  System  entsteht;  sondern  er  sucht  und  spört  nur 
in  allem  dasselhigc.  nämlich  das  Handeln  aus  Gott,    die  Wirksam- 
keit Gottes  im  Menschen. ,  .  .  Ebenso  ist  es  auch  mit  dem  Handeln 
selbst....  Wenn  freilich  auf  jedem   Handeln  aus   Gott,   auf  jeder 
Tbätigkeit,  durch  welche  sich   das  Unendliche  im  Endlichen  offen* 
hart,,  die  Frömmigkeit  mit  Wohlgefallen  verweilt,    so  ist   sie  doch 
nicht  diese  Thätigkcit   selbst.    So  behauptet  sie   denn   ihr  eigen« 
Gebiet  und  iliren  eigenen  Charakter  nur  dadurch,  dass  sie  aus  dem 
der  Wissenschaft  sowolil  als  aus  dem  der  Praxis  g(lnzlich  heraus- 
gebt, und  indem  sie  sieh  neben  beide  hinstellt,  wird  erst  das  gemein* 
schaftliche  Feld  vollkommen  ausgefüllt  und  die  menschliche  Xamr 
von  dieser  Seite  vollendet.    Sie  zeigt  sich  Euch  als  das  nothwendige 
und  unentbehrliche  Dritte  zu  jenen  beiden,  als  ihr  natürliches  Gegen- 
stllck,  nicht  geringer  an  Würde  und  Herrlichkeit,   als  welches  von 
jenen  Ihr  \vollt\    Wahre  Wissenschaft  ist  vollendete  Anschauung; 
wahre  Praxis  ist  selbsterzeugte  Bildung  und  Kunst;  wahre  Religion 
ist  Sinn  und  Geschmack  für  das  Unendliche.    Eine  von  jenen  haben 
zu  wollen  ohne  diese,  oder  sich  dünken  lassen,  man   habe  sie  so, 
das  ist  verwegene,  übermüthige  Täuschung,  frevelnder  Irrthum,  bej^ 
vorgegangen  aus  dem  uulieiligen  Simi,  der,  was  er  in  sicherer  Ruhe 
fordern  und  erwarten  könnte,  lieber  feigherzig  frech  entwendet,  ua 
es  dann  dool»   nur  scheinbar  zu   besitzen.  .  .  Was   ist  alle  Wissen- 
schaft, als  das  Sein  der  Dinge  in  Euch,  in  Eurer  Vernunft?    V!» 
ist  alle  Kunst   und  Bildung,  als  Euer  Sein  in  den  Dingen,  denen 
Ihr  Mass,  Gestalt  und  Ordnung  gebet?  und  wie  kann  dieses  beides 
in  Euch  zum  Leben  gedeihen,  als  nur  sofern  die  ewige  Einheit  def 
Vernunft  und  Natur,  sofern  das  allgemeine  Sein  alles  Endlichen  ia 
Unendlichen  unmittelbar  in  Euch  lebt?  .  .    Wenn  der  Mensch  niS 
in  der  unmittelbaren  Einlieit  der  Anschauung  und  des  Gefühls  ciß» 
wird  mit  dem  Ewigen,  bleibt  er  in  der  abgeleiteten    des  Beweist' 
seins  ewig  getrennt  von  ihm.     Darum,  wie  soll  es  werden  mit  de: 
höchsten  Aeusserung  der  Speculation  unserer  Tage,  dem  vollenfi^en. 
gerundeten  Idealismus,   wenn   er  sich  nicht  wieder  in  diese  Einbeii 
versenkt,  dass  die  Demuth  der  Religion  seinen  Stolz  einen  aniirrt 

S)  S.  41  ff. 


twickelongsgaog  d  literator.  177:1—1531.  Die  Bomantiker-  SchleiermAcbcr.   7d3 

tealismus  abnen  lasse,  als  den,  welchen  er  so  klllin  und  mit  vollem  §  ;J34 
teclite  sich  unterordnet?  Er  wird  das  Universum  vernichten,  indem 
er  e»  bilden  zu  wollen  scheint,  er  wird  es  lierabwürdijcen  xu  einer 
blossen  Allegorie,  zu  einem  nichtigen  Schattenbilde  der  einseitigea 
Beschränktheit  seines  leeren  Bewusstseins.  Opfert  mit  mir  ehrer- 
bietig eine  Locke  den  Manen  des  heiligen ^  verstossenon  Spinoza  1 
Ihn  durchdrang  der  hohe  Weltgeist,  das  Unendliche  war  sein  Anfang 
und  Ende,  das  Universum  seine  einzige  und  ewige  Liebe;  in  heiliger 
Unschuld  uud  tiefer  Demuth  spiegelte  er  sieh  in  der  ewi^^en  Welt 
tmd  sah  zu,  wie  auch  er  ihr  liebenswürdigster  Spiegel  war;  voller 
Religion  war  er  und  voll  heiligen  Geistes;  und  darum  steht  er  auch 
da  aliein  und  unerreicht,  Meister  in  seiner  Kunst,  aber  erhaben  über 
die  profane  Zunft,  ohne  Jünger  und  ohne  Bürgerrecht.  .  . .  Warum 
soll  ich  Euch  erst  zeigen,  wie  dasselbe  gilt  auch  von  der  Kunst? 
rie  Ihr  auch  hier  tausend  Schatteu  und  Blendwerke  und  Irrthümer 
kbt  aii8  derselben  Ursache".  Nur  schweigend,  denn  der  neue  uud 
ife  Schmerz  hat  keine  Worte,  will  ich  Euch  statt  alles  andern  hin- 
reisen auf  ein  herrliches  ßeispiel,  das  Ihr  alle  kennen  solltet,  ebenso 
it  als  jenes,  auf  den  zu  früh  entschlafenen  göttlichen  JUngling,  dem 
lies  Kunst  ward,  was  sein  Geist  berührte,  seine  ganze  Weltbe- 
»ktung  unmittelbar  zu  einem  grossen  Gedicht,  den  Ihr,  wiewohl 
kaum  mehr  als  die  eisten  Laute  wirklich  ausgesprochen  hat,  den 
»ichstcn  Dichtem  beigesellen  müsst,  jenen  seltenen,  die  oben  so 
luig  sind  als  klar  und  lebendig.  An  ihm  schauet  die  Kraft  der 
^terung  und  der  Besonnenheit  eines  frommen  Gemüths  und  be- 
mt,  wenn  die  Philosophen  worden  religiils  sein  und  Gott  suchen, 
ie  Spinoza,  und  die  Künstler  fromm  sein  und  Christum  lieben,  wie 
»valis,  dann  wird  die  grosse  Auferstehung  gefeiert  werden  für  beide 
'"elten".  Damit  nun  aber  verstanden  werde,  wie  er  es  meine  mit 
ler  Einheit  der  Wissenschaft,  der  Religion  und  der  Kunst  und 
gleich  mit  ihrer  Verschiedenheit,  so  fordert  Schleiermacher  seine 
rer  auf,  mit  ihm  hinabzusteigen  in  das  innerste  Ueiligthum  des 
»bens,  um  dort  das  Werden  des  Bewusstseins  zu  bemerken.  Dieser 
,  der  das  erste  Zusammentreten  des  allgemeiuen  Lebens,  mit 
lem  besondern  sei,  der  keine  Zeit  erfülle  und  nichts  Greifliches 
;  in  dem  sich  unmittelbar  über  allen  Irrthura  und  Missverständ- 
hinaus eine  heilige  Vermählung  des  Universum  mit  der  fleisch- 
iwordenen  Vernunft  zu  Hchaffender,  zeugender  Umammug  offenbare, 
der  Meusch  unmittelbar  an  dem  Busen  der  unendlichen  Welt 
:e  und  für  einen  Augenblick  ihre  Seele  sei,   da  er,  wenn  gleich 


9)  S<  46;   das  zunächst  Folgende  Aber  Novalis  warde  orst  der  zweiten  Ana- 
der  Heden  eingefügt. 


7S1     VI.  Vom  zweiten  Viertel  de«  XVIU  .lalirhunderts  bis  xn  Goethe^G 


Tod^^l 


g  33*1  nur  durch  einen  ihrer  Theile,  doch  alle  ihre  Kräfte  und  ihr  unend- 
liches Leben  wie  sein  eigenes  fUble:  löse  sich   in  dem   v^  erdenden 
BcwusHtscin  Bogleich  in  Anschauung  und  Gefühl  auf,  woraijs,  lUs  bi 
unter   sich    begreifend,   das  Wissen   und   das  Handeln   licrvor;ce! 
Denn  dieses  seien  die  Go^ensAtze,   durch   deren   beständiges 
und  wechsolseitige  Erregung  unser  Leben  sieb  in  der  Zeit  ausdt 
und  Haltung  gewinne.    Sonach  seien  das  Erkennen,  das  Gefühl 
das  Handeln  zwar  uii-bt  einerlei,  aber  doch  unzertrenuücli;  und 
nun  von  den  beiden  Keilien  jener  Momente,  woraus  einerseits 
]>raktisches  oder  im  engern  Sinne  sittliches,  andrerseits  unser  wü 
schaftlicbes  Leben  bestehe,   nicht   eine  allein   ohne   die  ani 
inenschliohcs  Leben    bilden    könne,   beide  aber   doch    unte: 
werden  niUssen,  wenn  wir  unser  Leben  verstehen  wollen:  ho 
es  sich  auch  mit  der  dritten  Reihe,   mit  der  Reihe   des 
Beziehuu^^  auf  jene  beiden   verhalten,  mit  der  Reihe,    v 
religiöse    Leben    bilde".     ^ Dieses   ist    das    eigenthünilicho   Gebid 
welches  ich  der  Religion  anweisen  will,  und  zwar  ganz  un  *  ~"  - 
Euer  Gefühl,  iusofern  es  Euer  und  des  All  gemeinHCha! 
uud  Leben  auf  die  boschriobcno  Art  ausdruckt,  iusofern  Ihr  die  ciä- 
zelnen  Momente  desselben  habt  als  ein  Wirken  Gottes  in  E^y-'  *"'• 
mittelt  durch  das  Wirken  der  Welt  auf  Euch,  diess  ist  Eare  Ft 
kcit,   und   was  einzeln  als   in  diese  Reihe  gehörig    hcrvortriu.  li*» 
sind  nicht  Eure  Erkenntnisse  oder  die  Gegenstände  Eurer  Fr^-nn' 
niss,  auch  nicht  Eure  Werke  und  Handlungen  oder  die  vcrscli 
Gebiete  Eures  Handelns,  sondern  lediglich  Eure  En»; 

CS  und  die  mit  ihnen  zusammenhängenden  und  sie  b»     ... 

Wirkungen  alles  Lebendigen  und  Reweglicben  um  Euch  her  anf  Eaci 
Diess  sind  ausschlicsscnd  die  Elemente  der  Religion,  aber  dleie^ 
hören  auch  alle  hinein;  es  gibt  keine  Empfindung,  die  nicht  fmrt 
wäre,  ausser  sie  deute  auf  einen  krankhaften,  verderbten  ZuftiM^ 
des  Lebens,  der  sieb  dann  auch  den  andern  Gebieten  mittbolv 
muss.  Woraus  denn  von  selbst  folgt,  dass  im  Oegenthcil  B* 
und  Grundsütze.  alle  und  jede  darcbaus,  der  Religion  a»  sich 
sind"* . .  Aus  zwei  Elementen  besteht  das  ganze  roligiOise 
dass  der  Mensch  sich  hingebe  dem  Universum  uud  sich  erreget 
von  der  Seite  desselben,  die  es  ihm  el>en  zuwendet,  und 
diese  Berühruug,  die  als  solche  und  in  ihrer  Bestinuntheit  effl 
zelnes  Gefühl  ist,  nach  innen  zu  fortpflanze  und  in  die  innci« 
heit  seines  Lebens  und  Seins  aufnehme;  und  das  religiöse  Ij^Wb- 
nichts  anders  als  die  bestündige  Erneuerung  dieses  Vcrfahnsi 
Nur  das  gesanimtc   Handeln  soll  eine  Rückwirkung  sein  nio 


10)  S.  411  ff, 


11)  S.  54. 


^EntwjckclungsgaQgd.  Literatur.  1773 — 1S33-  DieRomAutiker.  SctUdenuftchcr.   7S5 

^Beftammtbeit  des  Gefühls;  die  einzelacu  Haudlun^en  aber  mUssen  vou  §  334 
m&nz  etwas  Andemi  abhanden  iu  ihrem  Zusammcubangc   uud  ihrer 
Folge  als  von   einem  augenblicklichen   Gcfdhl.  .  .  .  Wie  nichts  aus 
Iteli^OD,  so  soll  alles  mit  Reli^on  der  Mensch  handeln  und  ver- 
richten, ununterbrochen  sollen  wie  eine  heilige  Musik  die  religiösCD 
,     Gefühle  sein  tbätigos  Leben  hegleiten,  und  er  soll  nie  und  nirgends 
I     erfunden  werden  ohne  8ie'^  .  .  Das  Gemütb  ist  für  uns,  wie  der  Sitz, 
I     so  auch  die  nüchste  Welt  der  Religion;  im  Innern  Leben  bildet  eich 
^■las  Universum  ab,   uud  nur  durch  die  geistige  Natur,  das  Innere, 
^Hrird  erst  die  körperliche  verständlich '\  . ,  Was  heisst  Ofteubarung? 
,     Jede  ursprOngliche  und  neue  Mittheilung  des  Weltalls  und  seines 
innersten  Lebens  an  den  Menschen  ist  eine'*.  .  .  Jedes  Gefühl   gilt 
uns  nur  insofern  für  eine  Regung  der  Frömmigkeit,  als  in  derselben' 
nicht  irgend  ein  Einzelnes  als  solches,   sondern  in  und  mit  diesem 
das  Ganze  als  die  Offenbarung  Gottes  uns  berührt,  und  also  nicht 
Einzelnes  und  Endliches,  sondern  eben  Gott^  in  welchem  ja  allein 
auch  das  Besondere  ein  und  alles  ist,  in  unser  Leben  eingeht,   und 
80  auch  in  uns  selbst  nicht  etwa  diese  oder  jene  einzelne  Function, 
sondern   unser  ganzes  Wesen,   wie  wir  damit  der  Welt  gegenüber 
treten    und  zugleich   in  ihr  sind,   also   unmittelbar  das  Göttliche  in 
^^ns  durch  das  Gefühl  erregt  wird  und  hervortritt.    Wie  könnte  also 
^^femand  sagen,  ich   habe  Euch  eine  Religion  geschildert  ohne  Gott, 
^^a  ich  ja  nichts  anders  dargestellt  als  eben    das  unmittelbare  und 
sprUnglichc  Sein  Gottes  in  uns  durch  das  Gefühl".  .  .  Die  gewöhn- 


K 


he  Vorstellung  von  Gott  als  einem  einzelnen  Wesen  ausser  der 
elt  und  hinter  der  Welt  ist  nicht  das  Eins  und  Alles  für  die  Re- 
ligion, sondern  nur  eine  selten  ganz  reine,  immer  aber  unzureichende 
Art  sie  auszusprechen. .  . .  Das  wahre  Wesen  der  Religion  ist  weder 
dieser  noch  ein  anderer  Begriff,  sondern  das  unmittelbare  Rewusst- 
«ein  der  Gottheit,  wie  wir  sie  finden  eben  so  sehr  in  uns  selbst  als 
in  der  Welt.  Und  ebenso  ist  das  Ziel  und  der  Charakter  eines 
religiösen  Lebens  nicht  die  Unsterblichkeit,  wie  viele  sie  wünschen 
und  an  sie  glauben,  oder  auch  nur  zu  glauben  vorgeben,  —  nicht 
jene  Unsterblichkeit  ausser  der  Zeit  und  hinter  der  Zeit,  oder  viel- 
mehr nur  nach  dieser  Zeit,  aber  doch  in  der  Zeit,  sondern  die  Un- 
sterblichkeit, die  wir  schon  in  diesem  zeitlichen  Loben  unmittelbar 
haben  können,  und  die  eine  Aufgabe  ist,  in  deren  Lösung  wir  immer- 
fort begriffen  sind.  Mitten  in  der  Endlichkeit  eins  worden  mit  dem 
Unendlichen  und  ewig  sein  in  jedem  Augenblick,  das  ist  die  Un- 
sterblichkeit der  Religion'*. . .  Religion  und  Kunst  stehen  (jetzt)  neben 


12)  8.  70  f.  131  S.  86. 

EotMmaln.  Grnoflflw.  i.  AuÜ.  IV. 


14)  S.  lOT. 


15)  S.  113. 
50 


786     VI.  Vom  zweiten  Viertel  dos  XVTU  Jahrhundertfi  bU  za  Goethe'i  Tod. 

334  eiuandor  wie  zwei  befreundete  Wesen^  deren  iouere  Verwandtscbaft, 
wiewohl  gegenseitig  uiierkaDiit  und  kaum  geabnet,  dach  auf  mancl 
lei    Weise    berausbricbt.      Wie    die    unglcicbartigeu    Pole    zwi 
Magueto  werden  sie  von  einander  angezogen  heftig  bewegt,  venni 
aber  nicht  big  zum    gUu£licheu   Zusannncustoitöen    und   Elniswei 
ihren   Schwerpunkt   zu    Ubenvinden.     Freundliche    Woiie    und 
giesaungeu  des  Herzens  schweben  ihnen  immer  auf  den  Li|)pen  uii4 
kehren  immer  wieder  zurUck,  weil  sie  die  rechte  Art  und  den  leti 
Grund  ihres  Sinnens  und  äehneus  doch  nicht  wiederfinden  kOni 
Sie  harren  einer  nähern  OffeDbarung,    und  unter  gleichem   Di 
leidend  und   seufzend,  sehen  sie  einander  dulden ,   mit  inniger 
neigung  und  tiefem  Gefühl  vielleicht^  aber  doch  ohne  wahrhaft 
einigende  Liebe.    Soll  nun  dieser  gemeinschaftliche  Druck  den 
liehen  Moment  ihrer  Vereinigimg  berbeifubron?  oder  wird  aus 
Liebe  und  Freude  bald  ein   neuer  Tag  aufgehen   für   die  eine. 
Euch  so  wcrth  Ist?  idic  Kunst;.    Wie  es  auch  komme,  jede  vi^ 
befreite  wird  gewiss  eilen,  wenigstens  mit  schwesterlicher  Treue 
der  andern  anzunehmen".  .  .  So  ist,   Ihr  mogct  es  nun  wollen 
nicht,  das  Ziel  Eurer  gegenwärtigen  höchsten  Anstrengungiin  zugb 
die  Auferstehung  der  Religion.     Eure  Bemühungen  sind   es,   weh 
diese  Begebenheit  herbeifuhren  müssen,  und  ich  feiere  Encb  al«  d«? 
wenn  gleich  unabsichtlichen  Retter  und  Pfleger  der  Religion.    V 
nicht  vou  Euerem  Posten  und  Euerem  Werke,  bis  Ihr  das  1: 
der  Erkenntniss  aufgeschlossen   und  in   priesterlicher   Demu 
Heiligthum  der  wahren  Wissenschaft  eröffnet  habt,  wo  allen,  ^ 
hinzutreten,   und  auch  den  Sühnen  der  Heligion,   alles  er^etci  t... . 
was  ein  halbes  Wissen  und  ein  übermüthiges  Poeben   daraaf  rcr* 
Heren  machte.    Die  Philosophie,   den  Menschen   erhebend  zum  B^ 
wusstsein  seiner  Wechselwirkung  mit  der  Welt,  ihn  sich  kennen  lehrend 
nicht  nur  als  abgesondertes  und  einzelnes,  sondern  als  lebendij:?^ 
mitschaffendes  Glied  des  Ganzen  zugleich,  wird  nicht  langer  lei»!«», 
dass   unter  ihreu  Augen   der  seines  Zweckes   verfehlend  arm 
dtirftig  verschmachte,  welcher  das  Auge  seines  Geistes  standhaft« 
sich  gekehrt  hält,   dort  das  Universum  zu  suchen.     Eingens9ca 
die  ängstliche  Scheidewand,  alles  ausser  ihm   ist   nur   ein 
in  Ihm,  alles  ist  der  Widerschein  seine«  Geistes,   so  wie  sein  Geel 
der  Abdruck  von  allem   ist;   er  darf  sich  suchen  in  diesem  Wider 
schein,  ohne  sich  zu  verlieren  oder  aus  sich  herauszugehen,  er  ktfi 
sich  nie  erschöpfen  im  Anschauen  seiner  selbst,    denn  alles  hcgi 
ihm.    Die  Sittenlehre  in  ihrer  züchtigen  himmlischen  Schöxih< 
von  Eifersucht  und  despotischem  Dlinkel,  wird  ihm  selbst 


17)  S.  166  f. 


itWickelungBgaDg d.Liierattir.  177;^— 1832.  Di« Romantiker.  ScUleiermucUer.  787 


ng  die  himmliscLe  Leier  und  den  manischen  Spieg:el  reieben,  um  §  331 
ernste,  stille  Bilden  des  Geistes^  in  uuxaiili^'en  Gestalten  irauaer 
dosäelbe  durch  das  ganze  unendliche  Gebiet  der  Menschheit,  zu  er- 
blicken und  es  mit  göttlichen  Tönen  zu  begleiten.     Die  Natur>vi88en- 
I Schaft  stellt  den,  welcher  um  sich  schaut,  das  Universum  zu  erblickeuj 
feit  ktihnen  Schritten  in  den  Mittelpunkt  der  Natur  und  leidet  nicht 
Anger,   dass  er  sich   fruchtlos  zerstreue  und  bei  einzelnen  kleinen 
Eflgen  verweile.     Das  Spiel  ihrer  Krilftc  darf  er  dann  verfidgcn  bis 
ili  ihr  geheimstes  Gebiet,  von  den  unzugänglichen  Vorrathskammem 
Bes  beweglichen  Stoffs  bis  in  die  künstliche  Werkstätte  des  organi- 
schen Lebens;  er  ermisst  ihre  Macht  von  den  Grenzen  des  Welten 
gebärenden  Itaumes  bis  in  den  Mittelpunkt  seines  eigenen  Ichs  und 
findet  sich  Überall  mit  ihr  im  ewigen  Streit  und  in  der  unzertronu- 
liebsten  Vereinigung,   sich  ihr  innerstes  Centrum  und  ihre  äusserstc 
Grenze.    Der  Schein  ist  geflohen  und  das  Wesen  errungen;  fest  ist 
sein  Blick  und  hell  seine  Aussicht,  Überall  unter  allen  Verkleidungen 
dasselbe  erkennend   und  nirgends  ruhend  als  in  dem  Unendlichen 
und  Einen.    Schon  sehe  ich  einige  bedeutende  Gestalten,  oingeweihet 
in  diese  Geheimniese,  aus  dem  Tleiligthum  zurückkehren,   die  sich 
nur  noch  reinigen  und  schmücken,  um   im  jiri esterlichen  Gewände 
hervorzugehen.    Möge  denn  auch  die   eine  Göttin  (die  Kunst)  noch 
säumen  mit  ihrer  hülfreichon  Erscheinung;  auch   dafür  bringt   uns 
die  Zeit  einen  grossen  und  reichen  Ersatz.     Denn  das  grosste  Kunst- 
werk ist  das,   dessen  Stoff  die  Menschheit  selbst  ist,   welches  die 
Gottheit  unmittelbar  bildet,  und  für  dieses  muss  vielen   der  Sinn 
l>ald  aufgehen.     Denn  sie  bildet  auch  jetzt  mit  kühner  und  kräftiger 
Kunst,  und  Ihr  werdet  die  Neokoren  sein,  wenn  die  neuen  Gebilde 
aufgestellt  »ind  im  Tempel   der  Zeit.     Leget  den  Künstler  aus  mit 
raft  und  Geist,   erklärt  aus  den  frühern  Werken  die  spätem    und 
ese  aus  jenen.    Lasst  uns  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft 
schlingen,  eine  endlose  Galerie  der  erhahensten  Kunstwerke  durch 
nd  glänzende  S]»iegel  ewig  vervielfältigt.     Lasst  die  Geschichte, 
e  es  derjenigen  ziemt,   der  Welten  zu  Gebote  stehen,  mit  reicher 
nkharkeit  der  Religion  lohnen  als  ihrer  ersten  Pflegerin  und  der 
igen  Macht  und  Weisheit  wahre  und  heilige  Anbeter  erwecken"'*. 
Indem  Sclilciermacher  das  Grundolement  der  Religion  Überhaupt 
dem  Gefühl  sah,  sofern  es  ,.der  innerste  Kern  des  Menschen,  der 
eil  und  die  Wurzel  all  unsers  Denkens,   Strebens  und  Handelns 
i",  und  darzuthun  suchte,  dass  sie  „nicht  von  aussen  gelehrt  und 
gebildet,   nicht  durch  Dogmen  und  Satzungen  mitgetheilt  werden 
ane,  sondern  als  ein  ursprünglich  Empfundenes,  selbst  Erfahrenes 


18)  S.   H)7  flf. 


50* 


pp« 


wmmm 


7S8    VI.  Vom  zirclten  Viertel  des  XVIH  J&hrUonderts  bU  zu  Goeüie'a  Tod. 

334  und  Erlebtes  sich  im  GemÜth  des  Frommen  erzeugen  und  als 
alles  beherrschende,  alles  sich  aneignende  Macht  sich  .inkUn 
müsse'' ^*:  wurde  ihm  die  Religion  etwas  ganz  Individuelles,  aas 
Subjectivität  des  Einzelnen  Hervorgehendes,  bedingl  in  ihrer 
und  Kraft  durch  die  Fähigkeit  des  Subjects,  sieh  durch  die  Hi 
an  das  Universum  von  ihm  berühren  und  cri'egen  zu  lassen.  Traf 
er  schon  in  dieser  Gruudanscbauung  nahe  zusammen  mit  jenem 
Grundzuge  in  der  Kunstlehre  der  Romantiker,  der  das  könstlcrisdic 
Producieren  betraf  ""j  so  zeigte  sich  auch  in  Schleiermacbers  Sitwo 
Über  dag  innere  Band  zwischen  der  Religion,  der  Wissenschaft  nsd 
der  Kunst,  so  wie  über  die  an  ihre  Wechselwirkung  auf  oinaudcr 
gokntipfte  höhere  Belobung  und  Vergeistigung  jeder  einzelnen 
ihnen  so  viel  Verwandtes  mit  der  Kuusttheorie  der  Romantiker  Q 
haupt,  dass  die  Reden  über  die  Religion  von  ihnen  als  ein  n 
ihre  Lehrsätze  bekräftigendes,  ihre  Tendenzen  fürdemdea  Evringeliam 
begrtisst  wurden".  Und  weil  Schleiemiacher  auch  das  baldige  Der 
vorgehen  neuer  Religionen  aus  dem  Christcnthum  in  Aussicht  fMteUt 


19)  Hagenbach,  a.  a.  0.  2,  34t  f.  20)  Vgl.  oben  S.  751.  21)  Vfl^ 

uehmlicb  geschah  dicss  durch  Fr.  Schlegel.  Er  glaubte  die  .kritischen  Aosidila;' 
im  i.  Bande  des  Athenäums  (S.  2SH  ff.)  ^nicht  nn^rdiger  eröffnen  zu  kennen*,  tk 
mit  der  Besprechung  ^<lcr  so  eben  ergchienenen  Reden  über  die  ReUgloa.  vnl 
gcviES  seit  langer  Zeit  aber  diesen  Gegenstand  aller  Gegeostiinde  äirht  pfma 
und  herrlicher  geredet  worden".  Er  wolle  jedoch  lieber  nicht  vergltückusgsniK 
sprechen.  Religion  In  dem  Sinne,  wie  der  Verf.  sie  achme.  sei  —  etwm  äna 
unverstandenen  Wink  Leasings  abgerechnet  (in  der  «Erziehung  de*  Mraitfla- 
geschlechts":  ..Ja  ea  wird  kommen  das  neue  Evangelium"  etc.)  —  eins  ma  dott 
Dingen,  die  unser  Zeitalter  bis  auf  den  Be^ff  verloren  habe,  und  d» 
neuem  wieder  zu  entdecken  seien,  ehe  man  einsehen  könne,  dAi 
auch  in  alten  Zeiten  in  anderer  Gestalt  schon  da  gewesen  w&retu  Es  gcM* 
Heden  ein  sehr  gebildetes  und  auch  ein  sehr  eigenes  Buch,  das  eigcnst«,  das 
haben,  könne  nicht  eigener  sein.  Und  eben  daram,  weil  es  im  Ct«wand«>  dv 
gemeinsteu  VcrsUindlichkeit  und  Klarheit  so  tief  und  so  unendlich  siibjflctSr  Mi 
kenne  es  nicht  leicht  sein,  darüber  zu  reden,  es  raOsste  denn  ganz  oWfJiiMrt 
geechehcn  sollen,  oder  auf  eine  eben  so  subjective  Weise  geschehen  dorfcn:  d^ 
von  der  Religion  lasse  sich  nur  mit  Religion  reden.  Und  dazu  mtlase  er  ikii 
denn,  wenigstens  was  die  Form  betreffe,  die  Erlaubniss  erbitten  Er  wolle  «iv 
Meiuuüg  über  das  Buch  sa^en,  weil  er  in  dem  Fall  sei,  bs  ganz  xu  vcmelMil  ■»* 
also  zu  wissen,  dass  es  ein  sehr  ausserordentliches  Ph&nomen  »«i«  tmd  ditt  v^ 
nicht  viele  mit  ihm  in  gleichem  Falle  sein  möchten.  Diese  seine  Hcinaof  ^ß'"^ 
er  nämlich  nicht  liesser  abgeben  zu  können,  als  indem  er  im  AQtxQg«  x««li 
über  das  Buch  an  zwei  Freunde  mitiheÜe,  von  denen  der  eine  ganx  f&gUch,  k( 
wcgs  im  Mass  der  Bildung,  wohl  aber  in  der  Irreligion,  als  Repräa<ot«at  der 
heiligen  Majorität  aller  Gebildeten,  der  andere  aber  als  Reprteentant  der  k)fiafC 
unbedeutenden  Minorität  der  Religiösen  gelten  könne.  —  Dasn  Uvt  maa  Tr. 
Schlegels  Aeusserungen  über  die  Reden  in  den  „Ideen*,  Athen.  :t,  1,  !4a:  V>A: 
32  a    oad    in    der    Europa    1.    t ,  St.     Vgl.    auch    oben   S.    754, 


itvickeltmgBg.d.Literatiu*.  i'lA~\^Z2,  DleHoinautiker.  ReligiüsoRichtong.  789 


latte"  so  setzte  sich  bei  ihnen  der  Gedanke  fest,  dass  die  Zeit  ent- 
weder schon  gekommen  oder  doch  nicht  mehr  fern  «ei,  die  aus  sich 
eine  neue  Relij;ion  gehären  werde,  und  dass,  wie  die  Philosophie, 
80  auch  ilie  Poesie  und  die  Kunst  dazu  berufen  seien,  zu  ihrer  Ge- 
burt mitzuwirken.  Fr.  Schlegel  bezeichnete*^  Plato's  Philosophie  als 
,eine  würdige  Vorrede  zur  künftigen  Religion**,    Novalis  behauptete 

geradezu'-'*,  noch  sei  keine  Religion;  man  müsse  eine  ßitdung3S(*hule 
:hter  Religion  erst  stiften^.    Schelling  schrieb  im  „kritischen  Journal 


§  334 


ichAfias  Werners  von  Hitxlg  S.  23,  und  R.  Uayms  preusKisclic  JahrbUcIicr  l8&s. 
r,  2,  211  f.;  21'.» f.  22)  S.  294  ff.  „Wenn  es  nun  aber  immer  Cliristen  geben 
ird,  soll  deswegen  das  Christonthum  auch  in  seiner  ullgemetneu  Vert}roiiUDg 
tnbegrenzt  und  als  die  einzige  Gestalt  der  Reli;?ion  in  der  Menschheit  allein 
lemcbeiid  8010?  Ea  verscbmiiht  diese  beschränkende  Alleiuberrscbaft :  ea  ehrt 
jedes  seiner  eigenen  Elemente  genug,  um  es  gern  auch  als  Mittelpunkt  einet 
^^igcaeu  Ganzen  anzuschauen;  es  vrill  nicht  nur  in  sich  Mannigfaltigkeit  bis  ins 
^KTnendlicbe  erzeugen,  sondern  möchte  auch  ausser  sieb  alle  anschauen,  die  es  aus 
^^Uch  selbst  nicht  herausbilden  kann.  Nie  vergessend,  dass  es  den  besten  Beweis 
^Bdner  Ewigkeit  in  seiner  eigenen  Yerderblichkeit ,  in  seiner  eigenen  oft  traurigen 
^^teeschichte  hat,  und  immer  wartend  einer  Erlösung  aus  der  UnvoUkommenheit, 
von  der  es  ebeu  gedrückt  wird,  sähe  es  gern  ausserlialb  dieses  Verderbens  andere 
^^tand  jüngere,  wo  möglich  kräftigere  und  schönere  Gestalten  der  ReUgion  hervor- 
^Q^hen  dicht  neben  sieb  aus  allen  Punkten,  auch  von  jenen  G^enden  her,  din  ihm 
'  als  die  äusaerslen  und  zweifelhaften  Grenzen  der  Religion  ftberbaiipt  erscheinen. 
—  Vielfache  Gestalten  der  Religion  sind  möglich  in  einander  und  neben  einander; 
wenn  es  nothwendig  ist,  dass  jede  zu  irgend  einer  Zeit  wirklich  werde,  so 
ire  es  wenigstens  zu  wünschen,  dass  viele  zu  jeder  Zeit  könnten  geahnet  werden. 
He  grossen  Momente  können  nur  selten  sein,  wo  alles  zusammcutrifft,  tim  einer 
ihnen  ein  weit  verbreitetes  und  dauerndes  Leben  zu  sichern,  wo  dieselbe  Ansicht 
in  einer  grossen  Masse  zugleich  und  unwiderstehlich  entwickelt  und  viele  von 
Iben  Eindruck  des  Göttlichen  durchdrungen  werden.  Doch  was  ist  nicht  zu 
tcn  von  einer  Zeit,  welche  so  offenbar  die  Grenze  ist  zwischen  zwei  vcr- 
lenen  Ordnungen  der  Dinge?  Wenn  nur  erst  die  pewaltifre  Krisis  vorüber 
kann  sie  auch  einen  solchen  Moment  herbeigebracht  haben;  und  eine  ahnende 
;le,  wie  die  dammenden  Geister  unserer  Zeit  sie  in  sich  trogen,  auf  den  schaffen- 
Genius  gerichtet,  konnte  vielleicht  jetzt  schon  den  Punkt  angeben,  der  künf- 
ta  Gcschlethtcm  der  Mittelpunkt  werden  muss  fQr  ihre  Gemeinschaft  mit  der 
»ttbeit.  Wie  dem  aber  auch  sei,  und  wie  lange  ein  solcher  Augenblick  noch 
lebe:  neue  Bildungen  der  Religion,  seien  sie  nun  untergeordnet  dem  Chriaien- 
oder  neben  dasselbe  gestellt,  müssen  hcn'orgehen,  und  zwar  bald;  sollten 
teil  lange  nur  in  einzelnen  und  tiAchtIgen  Erscheinungen  walirgenommen 
-  In  der  -N:\chrede*.  die  aber  noch  nicht  so  in  der  ersten  Ausgabe 
Reden  gelautet  haben  kann,  wenn  sie  nicht  überhaupt  erst  der  zweiten  za- 
rogt  wurde,  fand  Schleiermacher  es  uöthig,  sich  in  Bezug  auf  die  eben  mitge- 
l«Oten  Stellen  gegen  die  Annahme  zu  verwahren,  er  habe  im  Sinne  gehabt,  ^sich 
lachliesseu  au  eiuige  Aeusserungen  trefflicher  und  erhabeoer  Männer,  welche 
so  verstanden  habe,  als  wollten  sie  das  üeidenthum  der  alten  Zeit  zurück- 
oder  gar  eine  neue  Mythologie  und  durch  sla  eine  neue  Religion  willkür- 
ichaffeu"  (S.  310).  23t  Athenäum  3,  t,  8,  24)  Hcbrifteu  2,  2i)5. 

1)  «Glaubt  ihr**,  fragte  er,  ..daaa  es  Religion  gebe?'  und  seine  Antwort  war: 


790    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  biß  zu  Goethe's  Tod. 

334  der  Philosophie"":  ,0h  dieser  Moment  der  Zeit,  welcher  für  alle 
Bildungen  der  Zeit  und  die  Wissenschaften  und  Werke  der  Menschen 
ein  so  merkwürdiger  Wendepunkt  geworden  ist,  es  nicht  auch  fßr 
die  Religion  sein  werde,  und  die  Zeit  des  wahren  Evangeliums  der 
Versöhnung  der  Welt  mit  Gott  sich  in  dem  Verbältniss  nähere»  in 
welchem  die  zeitlichen,  bloss  äussern  Formen  des  Christenthams 
zerfallen  und  verschwinden,  ist  eine  Frage,  die  der  eignen  Boant* 
wortung  eines  jeden,  der  die  Zeichen  des  Künftigen  versteht,  über- 
lassen werden  muss.  .  . .  Die  neue  Religion,  die  schon  sich  in  einzelnen 
Offenbarungen  verkUndet,  welche  Zurüekfühning  auf  das  erste  Myste- 
rium des  Christcnthums  und  Vollendung  desselben  ist,  wird  in  der 
Wiedergeburt  der  Natur  zum  Symbol  der  ewigen  Einheit  erkannt; 
die  erste  Versöhnung  und  Auflösung  des  uralten  Zwistes  muss  in 
der  Philosophie  gefeiert  werden,  deren  Sinn  und  Bedeutung  nur 
der  fasst,  welcher  das  Leben  der  neuerstandenen  Gottheit  in  ihr 
erkennt ". 

Diess  schien  den  Romantikem  aber  nur  dann  erreichbar,  wenn 
Poesie  und  Kunst  wieder  in  einen  so  nahen  und  unmittelbaren  Bezug 
zur  Religion  gebracht  würden,   dass,  wie  in  den  Zeitaltern,  da  sie 
am  reichsten  und  schönsten  geblüht  hätten,  das  religiöse  Element 
beim  dichterischen  und  künstlerischen  Hervorbringen  zu  voller  Gel- 
tung und  lebendiger  Wirksamkeit  käme.    In  der  Lehre  und  in  den 
kirchlichen  Formen  des  Protestantismus  glaubten  sie  dieses  Element 
weder  in  der  sinnlichen  Fülle  noch   in  der  Ausbildungsfähigkeit  n 
finden,  worauf  es  ihnen  hei  Verfolgung  ihrer  Zwecke  vorzüglich  an- 
kam.   In   der  Poesie  und  der  Kunst  des  Mittelalters  und  der  s-v 
genannten  Renaissance,  wie  sie  sie  bei  deu  südromauischen  Völkera 
vorfanden  und  sich  dafür  begeisterten,  cntgieng  ihnen  dagegen  nicbt 
der  tiefe  und   innige  Zusammenhang,  in   welchem   beide  mit  dem 
Katholicisnius  standen,  und  geblendet  von  dem  Glanz,   dem  Reiob* 
thum  und  der  Schönheit  der  Formen,    die  sie  an    der  Poesie  ußi 
Kunst  jener  Zeiten  und   namentlich  in  Calderons  Werken  bewnn- 
dcrfen,  sahen  sie  in  dem  Glauben  der  alten  Kirche,   in  ihrer  Sym- 
bolik und  ihrem  Cultus,  in  ihren  Wunder-  und  Heiligengescbicto 
den   allein  fruchtbaren  Boden  für  das  Gedeihen   einer   neuen;  vr.a 
der  Religion  durchwärmten  und  verklärten  poetischen  und  bihieniift 
Kunst.    Leise  angekündigt  und  vorbereitet  hatte   sich  diese  katM:- 


„Roli^Mon  muss  gemacht  und  liervorjyebracht  werden  durch  die  Vereiniffiinsrmelir^r^' 
Mcnstlu'u-.  ..Si)ll",  lioisst  es  iu  oiuom  andern  seiner  Fraffmeiite  \2,  J"!  •'■' 
Protestantismus  nicht  endlich  aufhören  und  einer  neuen,  dauerhaften:  Kir-^ 
Platz  machon  y-  26)  Nach  den  von  Julian  Schmidt,  Geschichte  der  Je«tKl'^ 

Literatur  I,  l.iO  f.  austrehobeuen  Stellen. 


K 


Entwickclangsg.  d.  Literatur.  1773— 1S32.  Bie  Romantiker.  Kftthol.  Richtung.   791 

^nerende  Riehtuug   unter   protestantischen  Schriftstellern  schou  seit  §  334 
B^iniger  Zeit^;  bestinuulcr  trat  sie  erst  iu  den  „  Herzensergiessungen 
^Keines  kunstliehenden  Klostorbruders""  und  in  ein  Paar  Recensionen 
^UL.  W.  Schlegels^  hervor.    In  jenen  verrieth  sich  das  Einlenken  iu 
Bdie  katholisierende  Richtung  besonders  iu  dem,  ofTenbar  zur  Aufnahme 
in  den  „Franz  Sterabnld"  bestimmten  «Briefe  eines  jungen  deutscheu 
Mahlers  xu  Rom  an  seinen  Freund  in  Nürnberg"*',    „Ich  bin  nun", 
schreibt  der  junge  Mahler,    „zu  jenem  Glauben  (dem  katholischen) 
liullbergetreten ,    und   ich    fllhlc   mein    Herz   froh    und  leicht.     Die 
iunst  hat  mic)»  allmächtig  hinübergezogen,  und  ich  darf  wohl  sagen, 
(8  ich  nun  erst  die  Kunst  so  recht  verstehe  und  innerlich  fasse. 
kannst  Du  es  nennen,  was  mich  so  verwandelt,  was  wie  mit  Engels- 
timmen in  meine  Seele  hineingeredet  hat,  so  gib  ihm  einen  Namen 
und  belehre  mich  Ober  mich  selbst;   ich   folgte  bloss  meinem  inner- 
lichen Geiste,  meinem  Blute,  von  dem  mir  jetzt  jeder  Tropfen  gc- 
I     läutert   vorkommt.     Ach !   glaubte   ich    denn    nicht   schon    ehemals 
^Hie  heiligen  Geschichten   und  Wunderwerke,   die  uns  unbegreiflich 
^^heinen?     Kannst    Du    ein    hohes    Bild   recht   verstehen    und  mit 
heiliger  Andacht  es  betrachten,   «^hne  in  diesem  Momente  die  Dar- 
teilung zu   glauben?     Und  was  ist  denn  nun   mehr,   wenn  diese 
"oesie  der  göttlichen  Kunst  bei  mir  länger  wirkt"-^'!    Innerlich  hicng 

27»  Die  sinnvolle  Symbolik  des  katholischen  rultus  hatte  berdta  Lavater  in 

itteca  Lio'le.  ^Emptindiiiigen  eines  Proteiituitteu  in  einor  kathoüsclien  Kirche",  im 

f.  I7SI  ^priesen;  vgl.  Hagenbach  a.  a.  0.  2,  HO*);  322  ff.    Als  Vorläiifer  der  bald 

beüPutenderZahl  gedicliteten  Sonette  und  Linder  an  tmd  auf  die  Jungfrau  Maria 

tnnco  die  Stücke  in  Herders  -TerpRif^hore-  ansreseben  werden,  die  er  aus  Jacob 

|alde*B  Gedichten  übertragen  und  nnter  dem  gemeinsamen  Titel  „Maria"  zusammeu- 

It  hatte  »Werke  zur  schönen  Literatur  u.  Kunst  U,  27!  if.;  vgl.  auch  Herders 

[lunaniUits- Briefe  (>,  70  ff,).    Doch  fand  er  "sich   noch  bewogen,  die  Aufnahme 

ieser  Stücke  in   die  Terpsichore  gewisäennaasen  zu  entschuldigen.    Der  kleine 

irienterapel.  der  am  Ende  der  Sammlung  der  Schntzgflttin  des  Dichters  errichtet 

,,  meinte  Herder  (S.  Hü"),   werde   niemand   befremden.     „Ihr  weihte   er  seine 

ito.n  Kmptindungon  und  bedang  sie  in  jeder  Geatalt,  so  dass  man  ihm   eine 

r-bOne  Blume  seines  Dichtorkranzes  nehmen   würde,  wenn   man  ihm   diese   und 

kehrero  nnübersetzte  iTesange  raubte.     Wer  die  Besungene  nicht  für  eine  neiliui! 

Iten  will,   dem  sei  sie  die  Muse  unsera  Dichters,  eine  christliche  Aglnja  nd'T 

Ltrice,  das  Ideal  jungfräulicher,  miitterlichor  Tugenden,  oder  die  himmlische 

'"eiHheit."    Schon  zwei  Jahre  nachher  schrieb  Fr.  Schlegel  im  Athenänm  1,  2,  fil: 

»ristus  ist  jetzt   verschiedentlich  n  priori  deduciert  worden:   aber   sollte   die 

lonna  nicht  eben  üü  viel  Anspruch   haben,  auch  ein   ursprüngliches,   ewiges. 

»thweudiges  Ideal,  wenngleich  nicht  der  reinen,  doch  der  weiblichen  und  mÄnn- 

leo  Vernunft  zu  seiuV-  2S)  Deber  die  Bedeutung  der  ..Herzensergiessungen" 

|Dd  der  sich   ihnen  zunächst   anschliessenden  Schriften  von  Wackenroder  und 

icck  für  die  neue   .-VufTassung  des  Verhaltniasca  der  Kunst  zur  Religion  vgl. 

m  S.  5*2  ff.         291  Vgl.  oben  S.  fiOs  tf.         'Mh  S.  17fl  ff.;  vgl.  oben  S.  ft»*2, 

»Dra.  71,  Ende.  3li  Herzensergiessungen  S.  101  f. 


792     VL  Vom  zweiWD  Viertel  des  XVIII  Jalirhunderts  bis  zu  Gocthr'a  Tod; 

S  334  diese  künstlerische  Hinneigung  iwm  Katholicisinuß  und  «eine  Berj 
Zugang  vor  dem  Protestantismus  in  der  Dichtung  mit  dem  Glat 
der  ronmntisrhen  Schule  zusammen,  diws  die  neue  Poesie  dnrcl 
einer    mythologischen    Grundlage    hcdürfe".      Den    Ausschlag 
Tiecks  ^Genoreva",  welche  für  eine  voIlstAndige  Verherrlichung 
katholischen  Glaüh'eus  durch    die  Poesie  gelten  konnte".    Um 
Stimmung    des   Dichters,   aus   der   sein   Werk    herrorgieng,    niher 
kennen   und   darnach   dessen   kathotisierenden  Charakter   aus   dem 
rechten  Standjmnkte  auffassen  zu  kOnnen,  sind  die  darOber  zwiai 
ihm    und   Solger   gewechselten   Briefe  aus  dem   J.    ISIG   besoi 
lesenswerth.    Schon  zwei  Jahre  frflher  hatte  Tieck  an  den  Fi 
geschrieben**,   die  Genovera  sei   damals,  als  sie  gedichtet   woi 
seine  „natürlichste  Herzensergicssuiig  in  Sprache  wie  in  Darstell 
gewesen";   »ie  habe  sich   so  zu  sagen  selbst  geschrieben.     In 
lieber  Art  sprach    er  sich  dann  1S1(5  aus",   als   er  Solger  bat, 
ganz  aufrichtig  zu  sagen^  was  er  gegen  die  „Genovera'*  habe. 
interessiert  mich   sehr**,   schrieb  Tieck,   -weil  dieses  Gedicht 
ganz  aus  meinem  GcmOth  gekommen  ist,   weil  es  mich  seihst 
rascht  hat  und  gar  nicht  gemacht,  sondern  geworden  ist.     Es  ist 
Epoche  in  meinem  Leben."    Hierauf  erwiederte  Solger ":  ,Ni 
habe  ich  gesagt,   ich   mOchte  die  Genoveva  nicht,    nur  da«s  u 
nicht  für  so  rein  hielte  als  viele  Ihrer  andern  Werke,  dass  Ich 
Absichtliches,   Willktlrliches   darin   wahrzunehmen   glaubte... 
sagen,  dass  Sie  sich  bewusst  seien,  tlurchaus  unbefangen  bei  dies« 
Werke   gewesen  zu   sein,   dass  es  eine  Epoche  in   Ihrer  Sioncnrt 
gemacht  habe.    Jenes  will  ich  unbedingt  zugeben,  ja  fast  m<'r' -      ' 
sagen ,   das  Zweite  sehe  man  eben  dem  Werke  an.     Dass  ^ 
nicht  willkürlich  und  zum  Spiele   in   die  alterthflniliche   und  .-r-vi 
in  diese   Form   religiöser  Sinnesart   versetzt  haben,   die   dtt>  Wtiii 
voraussetzt,  das  gebe  ich  unbedingt  zu,  denn  sonst  kunnle  e^  uirM 
so  hinroissen,  nicht  in  vielen  Stellen  und  Scenen  so  ganz  v<m 
keit  und  Liebe  durchdrungen  sein,   wie  es   ist.     Dennoch  n\- 
annehmen,  dass  diese  Sinnesart  nicht  ganz  Iltr  damals  gegen v    ' - 
Zustand,  vielmehr  dieser  eine  tiefe  Sehnsucht  nach  der 

ist,  sonst  wUrde  sie  mehr  uumillelbar  gegenwärtige  j;l  

wahre  und  mögliche,  wie  dem  Künstler  der  Moment  allefnal 
lieh  sein  sollte,  in  uns  eindringen *'^.    Tieck  meinte*,  das 


32)  Vgl.  Hettjicr,  dio  romantische  Schale  8.  !3*»  ff.  33»  VAm  ^ 

Entstehung  der  „Genoveva"  vgl.  oben  S.  501  f.  34»  Solgi-rt  uuh^tkfoß 

Schriften  I,  3ni.  35i  Am  13.  Octob,:  1,  4fi:i.  36»  I,  4G6  ff. 

X7j  Was  Sol^r  eouat  uoch  mit  feinem  Sinne  über  die  ..UenoTCT«"  ta 
Briete  bemerkt,  gohürt  zimftclst  nicht  hierher;  ick  werde  aber  wpitrrhtD 
zurückkommen  müssen.  38)  l,  4^ö  f. 


^ 


EntirickeUiugsg.  d.  Literatur.  1773 — 1832.  Die  Romantiker.  Tieck»  Genoveva.    793 


MißSTeretfindniöses  zwischen  Solger  und  ihm  möchte,  seliarf  aus- 

iprochen,   das  sein,   dass   dem   einen  aU  Verijitimmung  erscheine, 

fwas  dem  andern  Begeisterung  gewesen  sei.    Dem  widersprach  aber 

fBoIger":  nicht  Verstimmung  finde  er  in  der  „Genoveva^,   aber  eine 

-Anwandlung  von  Zeitstimmung,  uiclit  die  reine,  die  zugleich  momentan 

nnd  absolut  sei.     Wenn  Tieck    nun  auch    noch   in   seinem   hohen 

I Alter  versicherte,  er  habe  die  „Genoveva"*  in  vollster  Begeisterung 
^dichtet",  so  hat  er  doch  auch  andrerseits  es  deutlich  genug  aua- 
l^eßprochen,  dass  bei  der  Conception  und  Ausführung  dieses  Werkes 
ter  sich  nur  einer  dem  Dichter  zustehenden  Freiheit  in  der  Wahl  und 
ni  der  Behandlungsart  seiner  Stoffe  bedient  habe,  und  dass  bei  dieser 
^Verherrlichung  der  katholischen  Religion   die  Opposition  gegen  die 
nerrscheuden   Zeitrichtungen   im   Leben    und   in   der  Literatur  sehr 
entschieden   mit  im  Spiele  gewesen  sei.    „Der  Dichter'',    sagt  er^', 
ist  zum  Glück   frei   und   braucht  sich  als  solcher  um  theologischen 
id  poetischen   Widerstreit  nicht  zu   kümmern.     Sonderbar  ist  es, 
renn  man  ihm  anmuthen  will,  dass  seine  Phantasie,  wie  Laune  und 
lingebung  regiert,   nicht  den  Göttern  des  Olymp  huldigen  soll.  .  .  . 
dieselbe  ßeschräuktheit  ist  es,  den  grossen  Gestalten  und  glfinzeuden 
•scbeinungen,  die  die  katholische  Form  des  Chriatenthums  in  Cultus, 
rende,  Wundersage,  Poesie  nnd  Mahlerei,  Musik  und  Architektur 
Intfaltet  und   erschaffen   hat,   das  Auge  verschliessen  oder  gar  dem 
dchter  verbieten  zu   wollen,    sich  dieses  Reiches  zu   bemächtigen. 
LD  jenen  Tagen   war  es  um  so  natürlicher,   wenn  die  Begeisterung 
liese  80  ganz  untergegangene,  verschmfihte  Liebe  wieder  verkündigte 
md  dem  Herzen  nälier  bringen  wollte;  denn  wenn  das  Christenthum 
tlbst  vergessen  war,  so  wurde  die  katholische  Form  desselben  als 
tlödsinn  und  Abenvitz,  Aberglaube  und  Pfaffentrug  von  den  Gebil- 
leten  charakterisiert.    Wenn  damals  jene  Liebe,    die  sich  des  Ver- 
!hmähten  und  Verhöhnten  in  Wort  und  Lied  wieder  annahm  und 
las  Fidle  der  verkannten  alten  Zeit  verkündigen  und  rechtfertigen 
"wollte,  hie  und  da  gegen  die  i)rot08tantische  Form  des  Chnstenthums 
^unbillig  schien,  so  ist  auch  diess  mit  der  allgemeinen  Stimmung  zu 
»ntflchuldigen.    Denn  Unglaube,  seichte  Aufklärung.   Unphilosophie, 
[ass  alles  Heiligen,  Goheimnissvollcn  und  aller  Uebcrlicferinig  galt 
Ir  Protestantismus,  und  kaum  der  Gelehrte,  viel  weniger  der  Laie 
EOBnte  die  völlige  Unwahrheit  der  verfolgenden  Verneiner  einsehen, 
ie  sich  für  vorgeschrittene,  höher  stehende  Leute  ausgaben"**. 


§  334 


39}  1,  493.  40>  Vgl.  sein  Leb«D  von  R.  Köpke  3,  173.  41)  In  (lan 

^orbericht  zum  II.  Thoil  seiner  Schriften,  S.  LXVni  f         42)  Dass  Fr.  Schlegel 
der  .Genoveva"  ein  glauzenJes  lieispiel  von  dorn  sftb,  was  er  nnter  mythischer 
»esie  vcrataud,  ist  bereitb  oben  S.  770,  56  beincrltt  worden. 


794    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

§  334  Zu  derselben  Zeit  wie  die  -Geuovova"  oder  nicht  viel  später  er- 

schien von  A.  W,  Schlejirel  auch  schon  jene  Reihe  „geistlicher  Gemähide* 
in  Sonetten  form,  deren  Gegenstände  DarsteUungen  aus  der  heiligen 
Geschichte  durch  die  grossen  italienischen  Mahler  bildeten":  die 
Mehrzahl  stand,  nchst  der  von  ihm  kurz  vorher  gedichteten  Legende, 
„der  heilige  Lucas '^'*,  in  nilchster  Beziehung  zu  dem  MariencuUus, 
und  wie  dieser  darin  dichterisch  'erhoben  wurde,  so  wurde  von 
Schlegel  in  einem  andeni  gleichzeitigen  Gedichte,  dem  .Bund  der 
Kirche  mit  den  KUnstcn"'S  der  katholischen  Kirche  als  derjenigen 
geistigen  Macht  gehuldigt,  der  allein^  nach  dem  Absterben  \md  Unter- 
gange  der  Kunst  des  classischen  Alterthums,  die  christliche  Zeit  das 
Aufkommen  und  die  BlUthe  einer  neuen  Kunst  in  allen  ihren  Ver- 
zweigungen zu  danken  habe.  Hatte  nun  aber,  wie  man  wold 
annehmen  darf,  die  katholisierende  Richtung  Tiecks,  als  er  die 
pGcnoveva"  dichtete,  noch  immer  mehr  ihren  Grund  in  einer  tiefen 
Sehnsucht  nach  einer  religiösen  Sinnesart,  wie  sie  sich  in  seinem 
Werke  aussprach,  als  in  der  vollen,  ihn  innerlichst  durchdringenden 
Wirklichkeit  dieser  Sinnesart  selbst,  und  gicng  bei  A.  W.  Schle^l, 
nach  seiner  eigenen  spätem  Erklärung  nicht  bloss,  sondern  aoeh 
seiner  ganzen  Charakteranlage  nach,  die  Vorliebe  für  die  katholiscbei 
Religion  nicht  über  ein  künstlerisches  Interesse  an  dem  Reichthnm 
ihrer  Symbole,  an  der  sinnlichen  Pracht  ihrer  gottesdienstlichen 
Formen  und  an  der  Fülle  der  in  der  Geschichte  und  in  den  Sasrea 
der  Kirche  enthaltenen  mythologischen  Mittel  für  poetische  Zwecke 
hinaus'*:  so  neigte  sich  dagegen  Novalis  in  seiner  ganzen  religiöst'ii 
Denkart  und  nach  seinen  geschichtlichen  Anschauungen,   wie  nahe 


4-T)  Acht  dio?:or  Sonette  standen   zuerst  m  dem  fiespräch    ..die  (roraithl-i^"" 
(Athenäum  2.  1,  i:t7ff.),  zwei  andere  in  der  ersten  Ausgabe  der  »Godichto~  i'^"" 
\i!\.  s.  Werke  1.  :i'tö  ff.  Ah  Aus  dem  J.  ITl**^;  zuerst  el)oiit"alli  in  jinfüäii- 

spriU-h  (Athenihini  *.*.   1,   \\~  ft'.:;  vi^l.  s.  Werke  I,  21."»  ff.  -4.>)  Ans  dtm  .A> 

lang  des  J.  1mm>  und  zuerst  iiedruekt  in  den  ..Gedichten":  \q\.  s.  Werke  1,  **' 

40)  In  einem  IJricfe  an  eine  französische  Frau,  den  er  nicht  lanjre  vnr^fii'^ 
Tode  ge?chriehen  hotte,  und  der  sich  in  seinem  Nachliiss  vorfand  (v£jl.  I.bfiiii?-:':'* 
Jahrhuch.  herausircr.  vim  L.  Schiurkinj?,  1^*40).  erklärte  er:  es  sei  ihm  nur  '!arr- 
zu  thnn  "zeweseu.  in  dio  IVtesie.  zur  Wiederbelebung  derselben,  Frinneruriiin  i- 
Mittelalters  und  chriätHche  Störte  zurückzuführen,  und  da  ihm  derPrott>tar.ii*r'> 
hierzu  nichts  jrchotpn,  so  habe  er  nothiredningen'  au?  den  Uobcrliet'ennir^"  ■■- 
römischen  Kirciie  scliöiiten  müssen.  Aber  weit  entfernt  von  ilen  ycr^rcrn  - 
Triuuucreien  eines  Novalis,  so  wie  von  der Je>nitcn-Alliany.  seines  Hruders  io-- 
Hell,  hair  er  es  niemals  mit  der  Kirche  ornstlicli  gemeint  oder  je  da!"an  rC?.-'^'- 
eine  neue  Tnion  mit  den  l)eidcn  christlichen  (Jemeinscbaften  finzu-johon.  -.'i'-"' 
sich  an  eine  aligcnn-ine  innerliche  l'rrrliirion  gehalten  mach  dem  *Iiii:li  * '- 
JosepJi  von  Kichendorfl"  ..Zur  Geschichte  des  Drama's".  Leipziir  l**'»!  "^  '"^ 
da  mir  das  rheinische  Jahrhuch  nicht  zur  Hand  ist).  So  bezoicimete  er  ilfiii.  i';'' 
in  diesem  Briete  «^eirie  ijeistlichen  Sonette  als  Kinder  ..d'nne  iin'düecTion  li'.irry^ 


Sotwickclungsg.d.  Literatur.  t7T3-t<t32.  Die  ßomantiker.  Kathol.  Richtung.    795 


die  erstcrc  ancb  an  Pantheismns  streifen  mochte,  aufs  entschiedennte 

dem  Katholicismus  in  seiner  niittelaltorlicb-liiorarchisclicu  Gestaltung 

und  weltgeschichtlichen   Bedeutung  unmittelbar  zu.     In  Beziehung 

auf  die  pautheistiBcbe  F;lrbun^  seiner  religioseu  Anschauung  berührte 

er  öich  wie  in  andern  Beziehungen  nahe  mit  Schleiermachers  Ansichten 

in  den  ^ Reden  über  die  Religion",  gegen   welche  ja  auch  die  Au- 

iklage  erhoben  wurde,  dass  sie  pantheistisch  seien*'.    Wenn  an  einer 

itelle  dieser  Reden"  Schleiermacher  gesagt  hatte;  „der  Verstand 

eiss  nur  vom  Universum ;  die  Phantasie  herrsche,  so  habt  ihr  einen 

lott",   und  Schlegel   hinzufügt:   -ganz  recht,   die  Phantiisie   ist  das 

►rgan  des  Menschen   für  die  Gottheit":  so  war  sie  diess  Organ  in 

ler  That   und  in   aller   Kraft   bei  Novalis»   wie  er   es   selbst"  aus- 

Iprach.     Ihm  sei,  schrieb  er,  die  Religion  durch  hcr/liche  Phantasie 

iahe  gekommen,  denn  diess  sei  vielleicht  der  hervorstechendste  Zug 

üues  eigenthünilichen  Wesens.    „Wenn  ich  weni;j:er  auf  urkundliche 

Gewissiieit,  weni^ror  auf  den  Buchstaben,   weniger  auf  die  Wahrheit 

|nd  UmstÄüdlicbkeit  der  Geschichte  fusse;  wenn  ich  geneigter  bin, 

mir  selbst  höheren  Einflüssen  nachzuspüren  und  mir  einen  eignen 

'eg  in  die  Urwelt  zu  bahnen;  wenn  ich  in  der  Geschichte  und  den 

ihren  der  christlichen  Religion  die  symbolische  Vorzeichuung  einer 

ilgemeinen,  jeder  Gestalt  fähigen  Weltreligion  —  das  reinste  Muster 

ler  Religion  als  historische  Erscheinung  überhaupt  —  und  wahrhaftig 

Iso  auch   die   vidlkommen.ste  Offenbarung  zu   sehen   glaube;   wenn 

lir  aber  eben   aus  diesem  Standpunkt  alle  Theologien    auf  mehr 

ler  minder  glücklich  beuritTonen  Otfcnbarungon  zu  ruhen,  alle  zu- 

immen  jedoch  in  dem  sonderbarsten  Parallelism  mit  der  Bilduugs- 

ichichte  der  Menschheit   zu    stehen    und  in  einer    aufsteigenden 

»he  sich  friedlich  zu  ordnen  dünken:  so  werdeu  Sie  das  vorzOg- 

ihste  Element  meiner  Existenz,  die  Phantasie,  in  der  Bildung  dieser 

sligionsansicht  nicht  verkennen''^'.    Seine  Hinneigung  zum  mittel- 


§  :^34 


47l  Vgl.  Hagenliftch  a.  a.  O.  2,  343  f.  48)  Sie  musB  in  der  ersteo  Aus- 

übe gestanden  haben,  da  Fr.  Siihlogel  sie  im  Athcutinm  3.  1,  5  aut'uhrt,   ich  (*r- 
tre  UiicU  jcilocb  nicht  sie  noch  in  der  fQuften  gefnudf^n  zu  haben.  49)  lu 

lem  Briefe  an  seinen  Freund  Just  aus  dem  Knde  des  Jahres  I79S :  Schriften  ^,  :tT  ff. 
50)  Zu  den  bemrrkcnswerthestrn  SAtzcn  in  den  Fra:rmenten  von  Novalis,  ans 
ten  mau  seine  Ansichten  von  der  Religion  überhaupt  und  von  der  rhristlichen 
»besondere  kennen  lernen  kann,  gehören  folgende:  2,  iOtt  f.    .Indem  daä  Herz, 
!Ogen  von  allen  einzelneu  wirklichen  Gegenständen,  sich  selbst  eniptindet,  airb 
Ibat  eu  einem  idealischen  Gegenstände  macht,  entsteht  Religion.     Alle  einzelnen 
»gen  vereinigen  sich  in  eine,  deren  wunderbares  Ohject  ein  höheres  Wesen, 
»ttbeit  ist.  daher  echte  Gottesfurcht  alle  Emjitindungcn  und  Neigungen  um- 
Diesej*  Xatnr;?ott  ist,  gebiert  uns,  spricht  mit  uns,  erzield  uns,  lüsst  «-ich  von 
e^sen,  von  uns  zeugen  und  gebäreu  und  i^t  der  unendliche  Stoff  unserer 
ktigk^'it  und  uusors  Leidens.  —  Macheu   wir  die  Geliebte  zu  einem  solchen 


796     VL  Vom  iweiten  Viertel  dea  XVIII  Jahrhimderts  bis  ca  tio^tlie*»  Tod. 

334  alterlichen  Katholicismus  tritt  am  deutUcbstea  in  einem  sdner 
Frag^nente  bervor,  welches  aus  dem  J.  1799  berrllhrt*^  »Es  waren, 
bcisst  es  bicr,  scbüne  glänzende  Zeiten,  wo  Europa  ein  christlii 
Land  war,  Uhernll  eine  Cbristeubeit,  ein  gmeses  gemeinscbaftlit 
Interesse,  ein  Oberhaupt;  wo  die  Geistlichen  nicht«  als  Lielte 
digten  zu  der  heiligen  wunderschönen  Frau  der  Christenheit, 
mit  göttlichen  Kräften  verseben,  jeden  Gläubigen  aus  den  scbi 
liebsten  Gefahren  zu  retten  bereit  war.^    Novalis  geht  aber  in 


Gott,  »0  ist  diesB  angcwiadte  KcligioD-.  —  S.  2B0.    ^Absolute  Abstraktion, 

Dichtung  des  Jctsi^eo,  Apotfaco&e  der  Zukuuft,  dieser  eigentlicben  bf^sem 

dicBä  ist  dtT  Kern  der  Gefaeisfic  de»  ChristeulhuiDs*'   —  ,I>ie  ■  ' 

Ist  die  eigt'iiüiche  Rüligion  der  Wollust.    Die  Sünde  ist  drr  g\ 

Liebe  der  Uullheit;  je  sUudtgcr  sieb  der  Meosch  füldr.  desto 

Unbedingte  Vereinigung  mit  der  Gottheit  ist  der  unbediog^te  Zw  . 

Liebe.     IhthjTainbcn  lÜDd  ein  echt  christliche»  Producf      S.  201  Ö,  (i 

im  Athenäum  1,  l/JOfT.).    »Nichte  ist  ziu*  wahren  Religiosität  oucnibt^Uc 

ein  Mittelßlied,  das  una  mit  der  Gottheit  verbindet,    rmnitielbar  kann  d(^M< 

schlecliterdings  nicht  mit  derselben  in  Verhältniss  stehen-     lu   der  Wahl 

Mittflglieds   muss  der  Mensch  durchaus  trei  sein.    Der  roiadeste  Zwang 

schadet  seiner  KeUgiou.  —  Pa  aber  so  wenig  Menschen  einer  fruieu  Waid 

haufit  fähig  gind,  so  werden  manche  Mittelglieder  allgemeiner  werden^  sei  c« 

Zufall,  durch  Association,  oder  ihre  besondere  Srhicklichkeit  dajcu.     Auf 

entstehen  Laiidesreligioncn.    Je  selbbt&mHger  iler  Mensch  wird ,   desto   mehr 

mindert  sich  die  Quantität  des  Mittelg:liedeB,  die  t^ualitat  verfeinert  sich,  ODd 

Verhültniäsc  zu  demselben  werden  manuiglaitigrr  uud  gebildeter.  —  Man  siebt  Mi 

wie  relativ  diese  Wahlen  äind,  und  wird  UDvcrnicrkt  auf  die  Idee  geirieheo,  dia  hä 

Wesen  der  Kcligion  wuhl  nicht  von  der  Beachaifeuhe it  des  Mittlers  abhanvr.  towlff« 

lediglich  in  der  Ansicht  desselben,  in  den  Verhüll nisse«  zu  ihm  beti' 

ein  Götzendienst  im  weitem  Sinne,  wenn  ich  diesen  Mittler  in  der  That  i 

ansehe.     Ks   ist  Irreligion.   wenn    ich   gar  keinen  Mittler   anndtine 

Religion  ist.  die  jenen  Mittler  als  Mittler  annimmt,  ihn  gleichsam  fitr   i 

der  Gottheit  halt,  für  ihre  sinnliche  Erscheinung.  —  r>ie  wahre  I; 

aber  bei  einer  niUiern  Betrachtung  abermals  antiuomtsch  getbeilt  iu  .  ... 

uud  Monotheismus.    Ich  bediene  mich  hier  einer  LIcenz,  indem  ich  Pai; 

nicht  im  gewöhnlichen  Sinne  nehme,  sondern  darunter  die  Idee  verstehe,  .1 

Organ  der  Gottheit  Mittler  sein  könne,  indem  ich  es  tbizu  erhebe;  6o«i 

theismus  im  Geij;entheil  den  Glauben  bezeichnet,  daa.s  e«i  nm     . 

in  der  Well  für  uns  gebe,  das  allein  der  blee  eines  Mittlers  m 

wodurch  Gott   allein   sich   voruebmen   lasse.   —  So   unvet ; 

sein   scheinen,   so  lüssl   sieb    doch    ihre  Vereinigung   htm 

den  monotheislischen  Mittler  zum  Mittler  der  Mittelwelt  de»  Vnrn: 

uud  diese  gleichsam  durch  ihn  centriert,  so  d&ss  beide  Mnandfr.   i 

schietlene  Weise,   nothwendig  machen".  61i  !' 

Europa"  überschriebcne  Fragment  (vgl.   dosu   «Aus 

KH3  i.|   Ündet   sich,    soweit  es   die  Stellen  enthält,  weiche  die 

pathien  des  Verfasserü  am  unzweideutigsten  und  atArkslen  ausdr 

Ausgabe  der  Schriften,  d*ir  vierten  (Ih^iiK  in  welche  es  Fr.  S* 

der  fünften  ist  es  von  Ticck  wieder  aasgescliiedeu  worden.     Ai^»  .-.  •^'...«-'  — 


ktwickelungsg.  d.  Literatur.  1773— 1832.  Die  Rontantiker.   Kathol.  Ricbtucg.   797 


Vorliebe  ftlr  den  mittelalterliclien  KatboIiclBmus  noch  riel  weiter:  er  §  334 
preist  das  Oberhaupt  der  Kirche,  weil  es  sich  den  frechen  Aushil- 
«Inngen  menschlicher  Anlagen  auf  Kosten  des  heiligen  Sinnes  und 
unzeitigen.  gefÄhrlichen  Entdeckungen  im  Gebiete  des  Wissens  wider- 
settt  und  es  den  kühnen  Denkern  verwehrt  habe,  öffentlich  zu  be- 
haupten, die  Erde  sei  ein  unbedeutender  Wandelstern;  denn  der 
Pabst  habe   es  wohl  gewusst,   dass  die  Menschen  mit  der  Achtung 

Iftlr  ihren  Wohnsitz  und  ihr  irdisches  Vaterland  auch  die  Achtung 
»or  der  himmlischen  Heimath  verlieren  und  das  eingeschränkte 
r 


"issen  dem  unendlichen  Glauben  vorziehen  würden.    Wie  wohlthätig 

Liese  Regierung  gewesen,  zeige  die  hamioDiscbe  Entwickclung  aller 

Aulagen,  die  staunenerregende  Höhe,  die  einzelne  Menschen  in  allen 

'ächem  der  Wissenschaft  und  der  Künste  erreicht,  und  der  blühende 

[andelsverkehr  mit  geistigen  und  irdischen  Waaren  in  dem  Umkreis 

'on  Europa  und  bis  in  das  fernste  Indien  hinaus.     Aber  noch  sei  die 

[enschheit  für  dieses  herrliche  Reich  nicht  reif  genug  gewesen.    Es 

iel,  und  es  entstand  jene  Insurreotion ,  die  sich  Protestantismus 

Lnnto.     ,  Luther  behandelte  das  Christenthum  willkürlich,  verkannte 

ünen  Geist  und  führte  einen  andern  Buchstaben   und  eine  andere 

tligion  ein,  nämlich  die  beilige  Allgemeingültigkeit  der  Bibel,  -und 

lit  wurde  leider  eine  andere,  böcbst  fremde  irdische  Wissenschaft 

die  Religionsangelegenheiten  gemischt,  die  Philologie,  deren  aus- 

»brender  Einfluss  von  da  an  unverkennbar  wird."     Der  heilige  Sinn 

vertrockne,   das  Weltliche   gewinne  die  Oberband,   der  Kunstsinn 

leide  sympathetisch  mit,  die  Zeit  nähere  sich  einer  gänzlichen  Atonie 

der  böhern   Organe".     Nur  der  entstehende  Jesuitenorden  sei   der 

tttangsanker  der  Kirche  gewesen;  aber  auch  ihn  habe  die  weltliche 

jbt  gelähmt.    Jetzt  aber,  nach  dem  Gäbrungsprocess  der  franzö- 

iscben  Revolution,   sei   die   Zeit  der  neuen   und  gründlichen   Auf- 

itebung  gekommen,  das  könne  einem  historischen  Gemüthe  nicht 

'eifelbaft  bleiben.    „Wahrhafte  Anarchie  ist  das  Zeugungselement 

ler  Religion.     Aus   der  Vernichtung  alles  Positiven   erbebt  sie  ihr 

lorreiches  Haupt  als  neue  Weltslifteriu   empor"".    Für  die  Umge. 

dtung  der  Kirche,  für  die  Wiedergeburt  des  wahren  Katholicismus 

►fit  Novalis  viel  von  der  neu  aufblühenden  Poesie:   reizender  und 


eilende  Stellen  dagegen  waren  schon  in  den  frohem  Ausgaben  daraus  abgedruckt 
"%2,  3^t— 201).  Da  ich  die  vierte  nicht  besitze  und  dos  in  den  übrigen  von  diesem 
Frazraente  Fphlcnde  nur  aus  den  Büchern  von  Hagejihach  (2,  2'.il  ff.)  und  Hettuor 
i%.  \tib  fT.i  kenne,  so  kann  ich  hier  nur  gcl)cn,  was  sich  aus  ihren  MJttheitungen 
UDd  aus  dor  dritten  Ausgabe  der  Schriften  zusammensteUcn  lieüs.  U2)  Hier 

etwa  mag  urspritngUch  der  Anfang  des  in  den  übrigen  Ausgaben  der  Schriften  ge- 
druckten Fragments  2, 2SI— 2S5  eingefügt  gewesen  sein.  53)  Vgl.  Schriften 
2^5. 


7yS     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIll  Jahrhunderts  bis  za  Goethes  Tod. 

§  3IJ4  farbiger  stehe  sie  wie  ein  gesclmiUcktes  Indien,  dem  kalten  todten  Spitz- 
bergen jenes  St  üben  Verstandes  gegenül)er.   Auch  die  politischen  Revo- 
httioiien  sind  ihm  ein  Anzeichen,  dass  eine  neue  und  bessere  Zeit  im  Ad. 
zugc  sei.    Noch  bestehe  aber  alles,  was  in  der  neuesten  Zeit  in  Deutsch- 
land geschehen  sei,  nur  in  Andeutungen,  unzusammenhrmgend  und  roh: 
allein  in  ihnen  verrathe  sich  dem  historischen  Auge  eine  universelle 
Individualität,   eine   neue  Geschichte,   eine  neue   Menschheit;   die 
süsseste  Umarnmug   einer  jungen    überraschten    Kirche    und   eines 
liebenden  Gottes'*'.     In  der  Politik    seien  alte  und   neue  Zeit  im 
Kampfe,  die  Mangelhaftigkeit  der  bisherigen  Staatseinrichtungen  sei 
in  furchtbaren  l'hänomenen  offenbar  geworden.     ,.Es  ist  unmöglieh, 
dass  weltliche  Kräfte  sich  selbst  ins  Gleichgewicht  setzen;  ein  drittes 
Element,  das  weltlich  und  überirdisch  zugleich  ist,  kann  allein  die« 
Aufgabe  lösen.    IJnter  den   streitenden  Mächten   kann   kein  Friede 
geschlossen   werden.  . .  .  Auf  dem  Standjyunkt   der  Cabinetter,  des 
gemeinen   Bcwusstseins,   ist   keine   Vereinigung   denkbar-...  AVer 
weiss,  ob  des  Krieges  genug  ist;  aber  er  wird  nie  aufhören,  wenn 
man  nicht  den  Palmenzweig  ergreift,  den  allein  eine  geistliche  Macht 
darreichen  kann.    Es  wird  so  lange  Blut  über  Europa  strömen,  bis 
die  Nationen  ihren  fürchterlichen  Wahnsinn  gewahr  werden,  der  sie 
im  Kreise  umhertreibt,  und  ivon  heiliger  Slusik   getroflen  und  bt 
sänftigt,  zu  ehemaligen  Altären  in  bunter  Vermischung  treten,  Worte 
des  Friedens  vernehmen,  und  ein  grosses  Liebesmahl  als  Friedens- 
fest auf  den  rauclicnden  Wahlstätteu  mit  heissen  Thränen  gefeieit 
wird.    Nur  die  Religion  kann  Europa  wieder  auf  erwecken  und  die 
Vrdkcr  versöhnen  und  die  Christenheit  mit  neuer  Herrlichkeit  sicht- 
bar auf  Erden  in  ihr  altes  friedcustiftendes  Amt  installiren. ...  Da* 
Christenthura  ist  dreifacher  Gestalt.    Eine  ist,  als  Zcugungselemeci 
der  Religion.    Eine,  als  Mittlerthum  tlberhaui»t,   als  Glaube  an  die 
Allfähigkeit  alles  Irdischen ,   Wein  und  Brnt  des  ewigen  Lebens  m 
sein.     Eine,  als  Glaube  an  Christus,  seine  Mutter  und  die  Heiligeo. 
Wählt,  welche  ihr  wollt,  wählt  alle  drei,  es  ist  gleichviel,  ihr  werdet 
damit  Christen  und  Mitglieder  einer  einzigen,  ewigen,  unaussprecfc* 
liehen  Gemeinde.    Angewandtes,  lebendig  gewordenes  Christenthnw 
war  der  alte  katholische  Glaube,  die  letzte  dieser  Gestalten,    ^eiue 
Allgegenwart  im  Leben,  seine  Liebe  zur  Kunst,  seine  tiefe  Humaaliä'- 
die  Unverbrüchlichkeit  seiner  Ehen,  seine  menschenfreundliche  Mii- 
theilsamkeit,  seine  Freude  an  Armuth,  Gehorsam  und  Treue,  machen 
ihn  als  echte  Religion   unverkennbar  und  enthalten   die  Gnmd/üce 
seiner  Verfassung.    Er  ist  gereinigt  durch  den  Strom  der  Zeiten:  :r. 
inniger,   untheilbarer  Verbindung  mit  den  beiden  andern  Gestulica 

54)  Vgl.  Schriften  2,  2S5— 2S7. 


£DlwickeluDgs?.  d. Literatur.  ITM—lSSa.  Die Komautiker.  KatUol. Kichtuug.   791» 


[es  Chriatentbums  wird  or  ewig  dieseu  Erdboden  beglückeu.    Seine  §  334 
ifäilige  Form  ist  so  gut  wie  vernichtet;  das  alte  Pabstthum  liegt 
im  Grabe,  und  Rom  ist  zum  zweitenmal  eine  Ruine  geworden.    Soll 
er  Protestantismus  nicht  endlich  aufhören  und  einer  neuen,  dauer- 
aftern   Kirche  Platz   machen?    Die  andern  Welttheilo  warten  auf 
Enropa's  Versöhnung  und  Auferstehung,  um  sich  auzuschliesscn  und 
Mitbürger  des  Himmelreichs  zu  werden"*.  .  .  .  Die  Christenheit  musa 
wieder  lobendig  und  wirksam  werden  und  sich  wieder  eine  sichtbare 
■Kirche  ohne  Rücksicht  auf  Laudesgrenzen  bilden,  die  alle  nach  dem 
^■Jeberirdiscben  durstigen  Seeleu  in  ihren  Sehooss  aufnimmt  und  gern 
^^^ermittlerin  der  alten  und  neuen  Welt  wird.    Sie  musa  das  alte 
^rüllhorn  des  Segens  wieder  über  die  Vülker  ausgiessen.    Aus  dem 
heiligen  Schoosse  eines  ehrwürdigen  europäischen  ConciliiuuB  wird 
die  Christenheit  aufstehen  und  das  Geschäft  der  Religionserweckung 
■Mach  einem  allumfassenden  göttlichen  Plane  betrieben  werden.    Keiner 
^Brird  dann  mehr  protestieren  gegen  christlichen  und  weltlichen  Zwang; 
t     denn  das  Wesen   der  Kirche   wird  echte   Freiheit    sein,    und  alle 
öthigeu  Reformen  werden  unter  der  Leitung  dcreclben  als  friedliche 
d  förmliche  Staatsjirocesse  betrieben  werden.    Wann  und  wann  eher? 
darnach  ist  nicht  zu  fragen.     Nur  Geduld,  sie  wird,  sie  muss  kommen, 
ie  beilige  Zeit  des  ewigen  Friedens,  wo  das  neue  Jerusalem  die  Haupt- 
dl  der  Welt  sein  wird,  und  bis  dahin  seid  heiter  und  muthig  in  den 
efahren  der  Zeit,  Genossen  meines  Glaubens I  verkündigt  mit  Wort 
d  That  das  göttliche  Evangelium  und  bleibt  dem  wahrhaften,  un- 
endlichen Glauben  treu  bis  in  den  Tod."  —  Aus  diesem  Fragment 
t  sich  denn  auch  am  besten   ersehen,    welche   die  Religion   und 
reu  Zusammcubaug  mit  allen  höhern  Lebensrichtungen  betreffende 
Ideen  damals  in  dem  Kreise  der  Romantiker  zu  Jena  zur  Sprache 
kamen,   welche  Hoffnungen  sie  an   eine  Wiedergeburt  des  wahren 
Katholicismiis  knüpften,  und  wie  damit  so  manche  späterhin  aus  der 
romantischen  Schule  hervorgehende  Erscheinungen  auf  dem  poetischen, 
dem  religiösen   und  dem   politischen  Gebiete   vorbereitet  wurden**. 


55»  Vgl.  Schriften  2,  2&9— 291.        5Ö)  Wie  bereite  1802  der  von  demJeuaor 
ise  ausgvhcüde  Geist  atif  die  HeUgionsassicktea  der  Dichter  eingewirkt  hntte, 
der  Feme  dca  Doctriueu  der  ueuea  Schule  huldigteu,  zeigt  vor  alleu  audereu 
von  ZachAriaa  Werner.    Nach  einem  Briefe  vom  29.  Septbr.  jenes 
KB  Hitzifc  (Lebensabrisfi  S.  29),  der  also  lauge  vor  seinem  Uebcrtritt  zur 
loUscliea  Kirche  geschrieben   iat.   war  der   ..idealisierte   Katholicismus"   sein 
fötze";  und  etwas  später  berichtete  er  dem  BuchhiUidlcr  Sauder  in  BerUn  (a.  a.  0. 
36ff.l:  er  nehme  den  jetzt  aufs  neue  Mode  werdt^ndea  KathuHcismuä,  nicht  ata 
Lbenfisystem ,   »oudern  als  eine  wieder  aufgegrabene  mythologische  Fundgrube, 
idorrtisch  uuU  praktisch,  in  Schutz.   Kr  sei  fest  davon  überzeugt,  dass,  die  Sache 
poetisch  angesehen,  der  Kathohclsmus  nicht  nur  das  grösste  Meisterstück  menscb- 


SÜO     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIIl  JfthrlittndrrU  tiis  lu  Goetbe's  T«il 


§  335. 

Bei  der  Rundlichen  und  umfassenden  litoTorisnlion  Bildung  der 
HUupter  der  rrmiantisclien  Schule,  hei  ihrer  frischen  Empfänglichkeit 
für  alleH  SehOne  und  Grosse,  was  das  AUcrthum^  das  Mittelalter  uud 
dje  Neuzeit  auf  dem  poetischen  Gehiete  hcr\orgehracht  hatten,  und 
bei  ihrem  feinen,  warten  und  geübten  Sinn  für  die  Auffassung  und 
WUrdigunjc  echter  Kunstwerke^  hatte  es  der  Entwickelun^  der  vater- 
ländischen Literatur  in  ihrer  ästhetisch-kritischen  Richtung  nur  zum 
grössten  Vortheil  gereicht,  das«  sie,  indem  sie  gleich  von  vorn  herttD 
in  einen  so  entschiedenen  Gegensatz  ge^^en  die  in  Deutschland 
herrschenden  Bildungszustände  und  allgemeinen  Litoratiirtendeozes 
traten,  mit  der  gegenwärtigen  Wirklichkeit  des  vaterläodiichfltt 
Geisteslebens  überhaupt  l»rachen  tind  ein  anderes,  das  Aufkomracn 
echter  Poesie  und  Kunst  mehr  begünstigendes  herbeizufubren  suchten. 
Ganz  anders  stellten  sich  die  Folgen  dieses  oppositionellen  Verhaüeiu 
der  Romantiker  zu  den  verschiedenen  Bestrebungen  der  Gcgeniwt 
für  die  schöne  Literatur  in  deren  producierender  Richtung  bertm: 
wie  darunter  ihre  dichterische  Production  an  und  für  «ich,  vomebm-, 
lieh  von  Seiten  ihres  iuncrn  Gehaltes,  bedeutend  litt,  so  wurde  da- 
durch auch  die  Wirkung  ihrer  Erzeugnisse  auf  die  Nation  nichl 
allein  iu  der  ersteu  Zeit,  sondern  auch  späterhin,  so  sehr  heeis- 
trächtigt,  das«  daa  Allermeiste,  was  aus  der  neuen  Schule  an  Po«ie« 
hervorgieng,  von  dem  grossen  Publicum  wenig  beachtet  wai  ! 
doch  uur  eine  vorübergehende  Aufmerksamkeit  erregte',  Vielem»  *»•- 


Heber  ErtinduDf^kraft.  sondern  auch,  auf  seine  Urform  zurückgefohrt,  allra  al 
chriBtIichen  und  UDchrieiUIchen  Religioasformen  für  ein  Zeitalter,  wridicv  lUnl 
der  schönen  Griechheit  auf  Immer  verloren  habe,  voneuziehea  sd;  (Ust  oBtir 
Erzeugnissen  der  Cbristus-Kcligion  KalbolicUmus  dio  bdste  —  sei,  liod  da« 
europäischen  KunsLgeiiius  und  Kunst^chmack  allm&hUg  der  Teufe)  holen  nttit 
wenn  wir  nicht  zu  einem  geläuterten  (X.  IJ.  nicht  metamorph osicrtcn)  Kal^ofic^ 
muB  wiederkehrten,  von  dem  wir  ausgegangen  wären. 

§  335.     It  Xflch  dem  Briefe  A.  \V.  Schlegels  an  Fouqu^  aus  dem  Fr 
tS06  ts.  \ycrke  S.  U'i  ff.K   der  auch  noch  andere  sehr  Uit^ressaat«  Bck( 
Über  die  pnedsebeo  Tendenzen  der  Romantiker  in  ilirer  ersten  ZcU  eathUt 
ii»  auch  gar  nicht  einmal  die  Absicht,   auf  ein   grüftseres  Publicum  dvrd 
Poesien  einzuwirken.    »Was  den  Werken  der   neuesten  Periode  xnr  vslflkM 
gelungenen  Wirkung  fehlt",   hcisst  es  hier  S.  U>  f ,    .liegt    keinrsvtfs  » 
Masse  der  aufgewandten  Kraft,   sondern  an  der  Richtung  and  Absic&L  — 
Richtung  rührt  zum  ThcU  vou  den  ümsUiuden  her.  unter  welch««  wir  die  F' 
wieder  zu  beleben   gesucht   haben.     Wir  fanden   einr   solche   Mash" 
Plattheit  vor.  so  erbiirmlichc  Götzen  des  öffentlirlieu  Beifalls,    dtts  wir  >• 
als  möglich   mit  einem  gemeinen  Publicum   wollten   zu    Bchaffen    haben  aal 
schlössen,   für  die  Paar  Dutzend   echte  Deutsch«,    welche    in    anaeni  Aig« 
einzige  Nation  ausmacbteu,  ausschliessend  zu  dichtea". 


Zntwickelungsff. d. Lit.  1773— IS32.  PieRornftotiker  Dichterische Production.   SOI 


m 


völlig  in  Vergessenheit  gerictb,  nur  Weniges  in  weiteren  Kreisen  §  335 
einen  nachhaltigen  Eindruck  zurUcklicss  und  einen  dauernden  Erfolg 
hatte.  Vnr  dem  J.  1798  hatte  A.  W.  Schlegel  für  den  Dichter,  der 
benavolle  Gebilde  schafFcu  und  fQr  dieselben  seine  Zeit  und  Um- 
bung  gewinnen  wolle,  noch  Grundsätze  aufgestellt,  die  nicbts 
weniger  erwarten  liessen,  als  dass  er  und  seine  Freunde  im  Dichten 
dem  wirkliclien,  gegenwärtigen  Leben  so  entschieden  den  Rucken 
kebreu  würden';  wie  sieb  aber  in  ihrer  Wechselwirkung  auf  ein- 
ander die  Dichtung  und  die  Theorie  der  Romantiker  seitdem  ont- 
ickelten^,  widersprach  die  eine  wie  die  andere  in  der  auffälligsten 


2)  Ich  hahc  hierbei  besonders  zwei  Stellen  schlegeUcher  Recenaionen  aus  den 
ihren  l*i»6  und  1707  im  Slnue.    Die  eine  findet  gich   in  dem  Abschnitt  seiner 
[orenrecension,  der  von  Ooethe's  -römischen  Elegien^  handelt,  worin  es  hcisst  (s. 
""erke  lO,  63  f.»:    -Die  ursprünglichen,  einfach  schönen  Formen  der  alten  Kunst 
kben  das  Schicksal  aller  Formen  uehabt,   ihren  Geist  zu   überleben.    Fehlt  es 
rem  modenien  Bewunderer  au  der  Zaubergewalt,  diesen  aufs  neue  hervorzurufen. 
ist  es  vergeblich,  dass  er  sie  nacbzubildeu  sücht:  er  umarmt  in  ihnen,   wie  in 
»stÜchen  Urnen,  nur  die  Äsche  der  Todten.  —  Nur  an  der  lebenden  Well  kann 
Ich  die  Brust  des  Künstlers  und  Dichters  erwärmen;   nur  eigene  Ansichten  des 
Wirklichen  treten  wie  unabhängige  Wesen  hervor,  wenn  sie  der  Spiegel  einer  reinen, 
ichtheUen  Phantasie  zurUckwii-ft.     Der   unbefangene  Freund   des  Wahren   und 
rbönen,  welcher  nicht  an  diesen  oder  jenen  Aen^serlichkeiten  desselben   hängen 
[»leibt,  sondern  !u  das  Innere  driüjjl.  wird  hingegen  wünschen,  dass  sich  eigenthUm- 
licher  Geist  immer  !n  der  angemessensten,   natürlichsten,   eigensten  Form   oflTen- 

Kiare-.    Die  andere  Stolle,  in  der  Recension  tiber-üermann  und  Dorothea **,  lautet 
B.  Werke  11.  197  f.i:     .Wer  wird  es  läugnen,   dass  die  Über  alles  rei/ende  Vn- 
pemunft  der  homerischen  Götterlehre  seine  Dichtung  mit  der  blühendsten  Mannig- 
kltigkeit  bereichert  und  die  auserwählte  Gefährtin  des  frischen,  lustigen  Helden- 
ebens  ist?    Allein  soll  man  mit  Floraer  in  demjenigen  wetteifern,   was  ihm  die 
Zeit  verliehen  hat,  und  sich  qu^cn.  es  ihr  zum  Trotz  hervorzurufen ?    Der  Mythus 
—  in  der  Bedeutung,  da  er  noch  von  der  historischen  Sage  unterschieden  wird  — 
i       kann  nur  dann  für  die  Poesie  begünstigend  sei»,  wenn  er  lebt,  d.  h.  wenn  er  als 
^HpAythutj,  als  die  unwillkürliche  Dichtiuig  der  kindhchen  Menschheit,   wodurch  sie 
^Bttie  Katur  zu  verracnRchlichen  stricht,   entstanden  und  noch   bestehender  Volks- 
gluiihe  ist.     Kr  kann   nicht  die    willkürliche  Krfindung  eines  Einzelneu  sein".  — 

KMese  beiden  Stellen  wurden  denn  auch  sp:lterhin  in  Kotzebue*s  .,FreimlUhigem** 
on  1S03,   N.  ISO,   S.  7:iü  von  I-.  F.  Hubor  als  das  Treffendste  angeführt,   was 
gejfren  den  schlegcl-tiockschen  Almanach,  gegen  den  Alarcos,  den  Lacrimas.  die 
Jenoveva,  gegen  die  Sonette  und  kiUholischen  Poesien  der  Gehrader  Schlegel  und 
I       öirer  Freund»;,  gegen  all©  ihre  italienischen,  spanischen  und  altdeutschen  Tendenzen* 
I       gesagt  werden  kfinnte.         Hi  Wie  die  Dichtungen  von  Tieck  und  Novalis  gewiss 
rieles  von  dcra,   was  Fr.  Schlegel  als  neue  poetiachc  Doctriu  hinstellte,  bei   ihm 
ent  angerogt  babea.  so  hat  er  mit  seinen  theoretischen  SUt/en  und  Schollinff  mit 
?iner  Naturphilosophie  wiederum  auf  die  dichterische  Praxis  zurückgewirkt.   Zwar 
;laube  ich,  dass  H.  Steffens  zu  weit  geht,  wenn  er  behauptet  üWas   ich  erlebte" 
3901,   Tieck  habe  sich  erst   durch  Fr.  Schlegel  zu  jener  auücinanderfliessoudcti 
fJLrt  der  r>ramen,-wie  die  ..Geuoveva'  und  der -Octavianns**  sind,  verleiten  lassen, 
die,  indem  sie  eine  Welt  darstellen  wollen,  eine  kaum  zu  ftberschauende  Mannig- 


fl 


802    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVin  Jahrhuoderts  bia  za  GoeUw'»  Tod. 

g  335  Weise  Jonen  Grundsätzen  uiclit  allein  iu  RDcksicht  der  von  der  Schi 
am  meisten  bevorzugten  poetischen  Formen,  sondern  auch  in  Bell 
der  gewählten  Stoffe  und  des  darin  niedergelegten  geistigen  Gel 
Freilich  bot  siuh  in  den  damaligen  vatertänditichen  ZustJ^ndeUr 
wie  in  der  geschichtlichen  Vergangenheit  der  letzten  Jahrbundei 
wenig  genug  dar,  woran  und  wofllr  der  Dichter  sieb  1" 
ihn  zu  künstlerischer  Gestaltung  reizen  konnte;  allein  _ 
von  allem  Stoff  für  echte  Dichtung  und  völlig  widerstrebend  j< 
wahrhaft  poetischen  Auffassung  und  Darstellung  waren  \\ 
noch  diese:  das  hatte  so  eben  Goethe  durch  den  -Willielii 
und  in  noch  ausgezeichneterer  und  schlageuderer  Weise  durch  .Mcr- 
mann  und  Dorothea"  bewiesen;  das  bewies  nicht  minder  Uber/.c  u-  :  ' 
in  eben  denselben  Jahren,  in  denen  die  ersten  grossem  DicWl^ 
der  romantischen  Schule  erschienen,  Schiller  durch  den  »W;»!-!- 
stein."  Aber  anstatt  denselben  oder  einen  ilbnlichen  W(^  ciü/n- 
schlagen  und  den  wahrsten,  eigensten  und  schönsten  Beruf  Aa 
Dichters  darin  zu  sehen,  dass  er  die  Wirklichkeit  in  ihrem  inncnt< 
Wesen  zu  erfassen  suche  und  dieses  durch  die  Kunst  in  anftch 
lieber,  lebensvoller  Gestaltung  verklärend  darstelle,  damit  aber  at 
anzuerkennen ,  dass  er  seine  Schöpfungen  aus  dem  sich  uDmitiell 
darbietenden,  doch  niemals  ganz  unfruchtbaren  Boden  des  ge^ 
wärtigen  oder  des  geschichtlichen  Volkslebens  hervorgehen  lausen, 
in  sie  einem  dem  Geiste  der  Zeit  entnommenen,  ihrer  Anschammpi 
weise r  ihrer  Denkart  und  dem  gesammten  Stande  ilirer  Bildung 
entsprechenden  und  verständlichen  Gehalt  legen  müsse:  giengen'die 
Romantiker  darauf  aus,  die  Kluft  zwischen  der  v<trgefundeneB 
Wirklichkeit,  wie  sie  ihnen  erschienj  und  der  Poesie,  wie  sie  detm_ 
Wesen  und  Bestimmung  fassten,  dadurch  auszufüllen,  dass 
Leben  selbst  romantisieren   oder  poetisieren  wollten*.     Die 


e  de»«^j 
sie  d^H 
geisti^l 


fiütigkcit  des  Ver&mas&es,  vie  der  dargestellten  Leidenscli«ft«n  uud  riilgiiiM 
herbeiführten.    Allein  bestärkt  haben  mag  Schlegel  durch  ;!re  Ton  Aar 

romantischeu  Poesie  wohl  den  IHehtcr  in  seiner  Nei^o^.  k<  .  .   .  slcr  ilm»- 

tischen  Kunst  für  biniteud  zu  halten.  &ubald  sie  dem  frvicn  N^aUra  ilcr  PhutMc 
nicht    mehr   den    weilostcn    Spielraum   liess.  4l  Vgl     oben   S.  771.     W#» 

in  diesfi  Richtung  hineintrieb,  mochte  os  nur  mehr  dunkel  (^miifqudon.  ote  «ni 
klar  erkannt  sein,  hat  Tieck  späterhin  angedeuteL    -Betrachtet  man*, 
der  EinleituDf^  zu  E.  v.  Bülow's  Ausgabe  von  F.  L-  Sclirocdi-rs  Wirriten 
(Kritische  iSctiriflou  2.  313  f.).  „die  Umstände,  unter  welchen  sich  die  All« 
uud  die  neuere  entwickelt  haben,   so  zeigeu  sich  die  gröästeo  Vcrschie>dcnl 
und  Getrensätze.    Alles  gieng  bei  den  Oriechen  vom  öffentlichen  I  ■'-  -  tmt 

religiösen  Culius  und  berührte  und  bewegte  wiexicr  die  Nation,    i  -rsi- 

geistige  Erzengniss  sogleich  den  Oesiunuiigen  und  nächsten  Beduri  at^scn  umiff^ 
verbinden  kunule.  Seit  lauge  war  die  Bildung  der  Neuem  im  GegemlMa  niaEte* 
a&meu,  Uolicrtea  ausgegangen«  um  wieder  aof  Einsame,  Zuruckgeto^ow  sn  «irlM 


IcEeTtingsg.  d.  Lit.  1773— IS32.  Die  Romantiker.  Dichterische  Proilaction.   803 

Kraft,  durcL  welche  dies«  zu  bewerkstcUigen  sei,  salicn  sie  in  der  §  335 
Pbantaslc;  sie  talsn  sollte  ihnen  den  Boden  schaffen  und  bereiten, 
aus  döin  ihrer  Meinung  nach  erst  eine  neue  Diclitunj;;  erwachsen 
könnte,  die  wahre  Kunst  wäre  und  das  verdräng"te,  was  so  lange  in 
^Deutschland  hei  der  Menge  für  Poesie  ge^^olten  hatte.  Damit  stellten 
^Bftie  zwar  aufs  entschiedenste  ihre  Dichtung  dem  geraeinen  Naturalis- 
mus entgegen,  dem  unsere  schone  Literatur  im  Allgemeinen  anheim  ge- 
fallen war,  führten  sie  Jedoch  zugleich,  worauf  bereits  oben  hingedeutet 
wurde*,  zu  einer  schrankenlosen  und  mir  zu  häufig  spielenden  und 
in  tranmartigen  Bilderreihen  sich  gefallenden  Phantastik  hinüber. 
Wohin  eine  sich  selbst  Uberlassene,  ttber  alle  Wirkliciikeit  sieh  er- 
hebende, in  dem  Vollgefühl  ihrer  freien  Schüpfnngakraft  schwelgende 
and  bildende  Phantasie  den  Dichter  führen  müsse,  hatte  Schiller  im 
letzten  Drittel  seiner  Abhandlung  -über  naive  und  sentimentalische 
Dichtung"  warnend  gezeigt,  indem  er  auseinandersetzte,  in  welchem 

kVerhähniss  der  Phantast  in  der  Poesie  zu  dem  gemeinen  Natura- 
listen stehe,  uuil  wie  von  beiden  sich  der  eigentliche,  echte  Dichter, 
piöge  er  Realist  oder  Idealist  sein,  unterscheide.  Wenn  trotzdem 
die  Romantiker  der  Phantasie  so  sehr  den  Zügel  schiesseu  Hessen, 
Bo  hatte  diess  seineu  nächsten  Grund  eben  darin,  dass  sie  fürs  erste 

Ikein  Heil  fiU  unsere  schöne  Literatur  anderswo  sahen,  als  in  iler 
Verdtfingung  des  gemeinen  Naturalismus  und  der  realistischen  Platt- 
peit,  wovon  sie  beherrscht  wurde;  und  in  dieser  Rücksicht  hat  auch 
die  dichterische  Prodnction  der  Romantiker  in  ihren  Verirrungen  ihr 
^Gutes  gewirkt.  A.  W.  Schlegel  selbst  ist  aufrichtig  genug  gewesen, 
dcfat  bloss  in  einer  vertraulichen  Mittheilung  an  einen  Freund, 
sondern  auch  öffentlich  anzuerkennen,  dass  von  ihm  und  seinen 
rcunden  mit  jenem  .\nstrebcn  und  Ankämpfen  gegen  die  vorherr- 


Diul  sie  gegou  das  gemcinBame ,  öffentliche  Leben  noch  gleichgtlltiger  zu  machen. 
;r»t  in  der  neuesten  Zeit  ist  der  Trieb  und  Wunsch  M-ieder  erwarbt,  Kunst  und 
^^enschaft  mit  Staat  und  Volk  zu  verbinden .  und  vielfach  hat  nuiu  versucht, 
fasik.  Mahlerei,  Poesie  und  Denken  wieder  mit  Kirche  und  wirklichom  Leben  zu 
inigen".  Ganz  richtig,  nur  dass  die  Wege,  auf  welchen  die  Romantik  jenen  Trieb 
befriedigen,  das  Wünöcbeuswerlhc  für  die  Poesie  zu  erreichen  suchte,  vielfach 
die  Irre  führten.  Doch  wird  mau  iuimer,  um  gegen  tUe  Romantiker  nicht  ganz 
IDgcrecht  zu  bein.  erwtigcn  mÜSBeu.  dass  das  deutsche  Leben,  und  namentlich  das 
rectlirh*',  damals  der  Art  wnr,  dass  seihst  so  energisch  poetische  Naturen,  wie 
Soethe  und  Schiller,  statt  kräftig  an  der  Gegenwart  oder  an  der  vaterländischen 
Iwchirbt«  mit  einer  realistischen  Tendenz  festzuhalten,  der  eine  nach  Volieudang 
m  .Menuann  und  Dorothea-,  der  andere  nach  dem  Abachluss  des -Walleustein-, 
ich  d»vc»u  wenigstens  zeitweilig  ganz  abwandten  und  nun,  von  ihrer  bewuudpruden 
Vorliebe  für  die  altelassische  Poesie  verleitet,  auch  nicht  frei  von  grossen  Ver- 
■aiig*a  blieben.  Vgl.  Hettner,  S.  ss  ff.,  dem  ich  hier  vollkomraeii  beistimme 
5l  Vgl.  S.  753. 


S04     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVOI  Jahrhunderts  bis  su  GoHWI  T<fl 

335  achendeu  LitcraturteiKlenzen  der  Phantasie  zu  viele  und  zu 
greifende  Reclite  heim  dichtcnscheu  Hervorbringen  eingeriumt 
seien,  und  dass  die  von  ihnen  eingeschlagene  Richtung  nur  rortber- 
gehend  den  Bedürfnissen  der  Zeit  liabe  entsprechen  künnena 
zwar  ist  diess  von  ihm  schon  ziemlich  früh  geschehen,  als  dei 
und  der  Druck  der  üfTeutlichen  Vorhältnisse  in  Deutschland  die 
hohem  Fluge  erhobenen  Geister  aus  der  Welt  der  Phantasien 
Träume  in  die  Wirklichkeit  gewaltsam  zurückzogen.  In  jenem  Bri( 
an  Fouquö  schrieb  er**:  „Wie  Goethe,  als  er  zuerst  auftrat,  und  m 
Zeitgenossen,  Klinger,  Lenz  u.  s.  w.  —  diese  mit  rohen  MLssti 
Stündnissen  —  ihre  ganze  Zuversicht  auf  Darstellung  der  Leidcnsc) 
setzten,  und  zwar  mehr  ihres  äussern  Ungestüms  als  ihrer  inn« 
Tiefe,  so,  meine  ich,  haben  die  Dichter  der  letzten  Epoche 
Phantasie,  und  zwar  die  bloss  spielende,  müssige,  IrÄuroei 
Phantasie,  allzusehr  zum  herrschenden  Bcstaudtheil  ihrer  Dichlungvt 
gemacht.  Anfangs  mochte  diess  sehr  heilsam  und  richtig  sein  w< 
der  vorhergegangenen  Nücbtcmheit  und  Erstorbenheit  dieser  Seeh 
kraft.  Am  Ende  aber  fordert  das  Herz  seine  Rechte  wieder, 
in  der  Kunst  wie  im  Leben  ist  das  Einfältigste  und  Nächste  wi< 
das  Höchste....  Von  dem,  was  ich  über  die  Freunde  und  Z^- 
genossen  gesagt,  nehme  ich  mich  keineswegs  au«.  Ich  weis«  gir 
wohl,  dass  viele  meiner  Arbeiten  nur  als  KunstUbnngen  zu  betrachtei 
sind,  die  zum  allgemeinen  Anbau  des  poetischen  Gebiets  das  ifarij 
beitragen  mochten,  aber  auf  keine  sehr  eindringliche  Wirkung 
Spruch  machon  ki'Snnen."  Und  ein  Jahr  spater,  als  er  den  .  Dirhi< 
garten"  von  Rostorf ^  anzeigte*  Uusserte  er  sich":  „Wenn  nflchtcme 
Beschrftnktheit  sich  der  Poesie  anmasst,  wenn  die  gemeinen  An- 
sichten und  Gesinnungen,  über  welche  uns  eben  die  Poesie  erheben 
soll,  aus  der  Prosa  des  wirklichen  Lebens  sich  verkleidet  und  im- 
verkleidet  wieder  in  ihr  einschleichen,  ja  sich  ganz  darin  ausbreiten, 
durch  ihre  Schwerfälligkeit  ihr  die  Flügel  lähmen  und  sie  hud 
trügen  Element  herunterziehen:  dann  entsteht  ein  Bedürfniss,  du 
Dichten  wiederum  als  eine  freie  Kunst  zu  üben,  in  welcher  die 
Form  einen  vom  Inhalt  unabhängigen  Werth  hat  Der  Phantasie 
werden  also  die  grossten  Rechte  eingeräumt,  und  sie  verwendet  die 
Übrigen  Kräfte  und  Antriebe  der  menschlichen  Natur  zu  slnnroHica 
Bildungen  gleichsam  nur  in  ihrem  Dienst  und  mit  keinem  aiul«ni 
Zweck,  als  sich  ilirer  grenzenlos  spielenden  Willkür  bewuMt  n 
werden.     Diese  Richtung  liess  sich  vor  einigen  Jahren   in  Dotllrih 


6)  8.  Werke  s,  143  fl.  7»  Von  Hardenberg,  einem  BnuSer  Too  NonlH 

8)  In  der  Jenaer  Literatur-Zeitung  ISO"»  K.  220.         9i  Ö.  Werke  15, 
vgl.  8,  2:n— 250. 


EntwIckeluDgBg.  d.  Lit.  1773—1632.  Die  Komantiker  Dichterische  Prodaction.  S'05 

land  spuren.    Mau  gieng  den  kühnsten  und  verlorensten  Ahnungen  §  335 
nach;  oft  wurde  mehr  eine  ätherische  Melodie  der  Gefühle  leise  an- 
gegeben, als  dass  man  sie  in  ihrer  ganzen  Kraft  und  Gediegenheit 
ausgesprocheu  hatte;  die  Sprache  suchte  man  zu  entfesseln,  während 
man   die  künstlichsten  Gedichtformen  und  Silbenmaase  aus  andern 
Sprachen  einführte,  oder  neue  ersann;  man  gefiel  sich  vorzugsweise 
in  den  zarten,  oft  eigensinnigen  Spielen  eines  phantastischen  Witzes. 
Unstreitig  ist  hierdurch  manches  zur  Entwickelung  gekommen,  und 
die  Einflüsse  davon   dürften  sich  selbst   in  den  Hervorbringungen 
solcher  Dichter  nachweisen  lassen,  die  unmittelbar  an  jener  erneuern- 
den Bewegung  am  wenigsten  Antheil  genomimen.    Die  Ausartungen 
in  eine  leere,  mühselige  Gaukelei  sind  gleichfalls  nicht  unterwegs 
geblieben.     Andere  Umstfiude  schaffen   andere  Bedürfnisse.  ...   In 
einer  Lage,  wo  man  nur  an  einem  begeisterten  Glauben  einen  festen 
Halt  zu  Hnden  wüsste,  wo  dieser  Glaube  aber  durch  den  Lauf  der 
weltlichen  Dinge  gar  sehr  gefährdet  wäre:   da  würde  in  der  Poesie 
jenes  luftige  Streben,  das  wohl  der  Erschlaffung  dumpfer  Behaglich- 
keit mit  Glück  entgegenarbeiten  mochte,  nicht  mehr  angebracht  sein. 
Nicht    eine   das  Gemtith   obcrHächlicb   berührende  Ergetzung   sucht 
man  alsdann,  sondern  Erquickung  und  ^Stärkung:  und  diese  kann 
die  Poesie  nur  dann  gewähren,  wenn  sie  in  ungekllnsteltcu  Weisen 
ans  Herz"  greift  und,  ihrer  selbst  vergessend,  Gegenständen  huldigt, 
am   welche   Liebe   und    Verehrung  jene    unsichtbare   Gemeinschaft 
edler  Menschen  versammelt.  "*  —  Trotz  den  der  Phantasie  eingeräumten 
Rechten    bedurften    indcss  die   Komantikor,    um    die  Gebilde   ihres 
Geistes  verkörpern,   ihren  Erfindungen   eine  Unterlage  und  einen 
äiuasem  Anhalt  geben  zu  können,   doch  immer  mehr   oder  minder 
einer  schon  vorhandenen  Realität,   und  diese  glaubten   sie  nun  am 
besten,  sowohl  für  das  Stoffliche  wie  das  Formelle  ihrer  Kunst,  in 
dem  Mittelalter,  doch  mehr  in  dem  romanischen  als  dem  heimischen  *% 
mehr  in  ihrer  Vorstellung  von  demselben  als  in  seiner,  ihpcn  doch 
noch   zu  wenig  bekannten  Wirklichkeit,  so  wie  in  den  Sagen  und 
Geschichten,  den   Bildern   und  Symbolen  der  katholiscben  Kirche, 
die  vorzüglichsten  Vorbilder  für  ihre  Kunst  aber  in  den  südromani- 

lÜl  Hierin  schloss  sicli  die  Romantik  nahe  an  Wieland  an.  WJa  dieMr  tu 
kdnen  eraöUlendcn  Gedichten  die  Stoffe  nieist  aus  neuem  AuszQgen  a]tfirttoi6iischer 
Werke  entnahm,  so  legte  Tieck  seinen  humoristischen  und  ernsten  Dramen  niclit 
minder  als  beinen  in  erzählender  Form  at)gcfa58tcn  Stücken  in  seiner  frühem  axd 
mittlem  Zeit  vorzugsweise  Märchen  und  Volkshucher  zu  Grunde,  die  aas  Fimnk- 
reich  stammten:  so  dem  .Blaubart-,  dem  .gestiefelten  Rater-,  dem  .RoUtkäpp- 
chen-  und  dem -Düumling-  ^vgl.  ohen  S.  5r»0,  Anm.  12):  so  der  Geschichte  lon  de» 
»Heymonskindcrn'-,  der  .Magelone-,  der  ^Melusina*.  der  -GeaoTer«-.  dem  A 
Tianoft-  und  dem  .Fortunat"  (vgl.  Bd.  I,  399  t). 


S06     VI.  Vom  zweiten  Viertel  de«  XVni  J&lirbuaticrU  liis  xu  GoeUie's  Tod. 

§  335  scheu  Poesien  aus  den  Zoiteu  von  Daute  big  zu  Cahleron  und  df 
näebät  etwa  noch  in  Slmkspeare  zu  fiudeii,   ohgleifb  dieser  Diclil 
ei^'enllich  nur  auf  Tiecks  grössere  drainatiÄche  Arbeiten  einen  Eil 
flu»«    aufiübte".      Lag    demnach    der    Inhalt    ihrer    Werke   zutnei*t 
ausserhalb  der  fregenw.irtigen   deutschen  Welt,   der  geistige  ' 
zum  nicht  geringen  Theil  aus.-terhalb   des  allgemeinen  Ideenki..-.^ 
der  Zeit  und  uameutlicb  ausserhalb  der  protestantischen  Denkweise, 
uud    waren   die   metrischen  Formen,   die  vorzugsweise   ftir  die 
kleidung  gewählt  wurden,  ebensowenig  durch  läupcru  Gebrauch 
gebürgertCt  wie  in  der  Heimath  auf  organischem  Wege  entstand! 
sondern  zu  allermeist   eben   erst  der  Fremde  abgeborgte   und 
Theil  dem  Geist  unserer  Sprache  weuig  zusagende,    die  daher 
den  ZeitgenoBsen  ganz  ungewohnt  sein  mussten*':   so   konnten 
Dichtungen  der  neuen  Schule  in   der  Regel   viel   eher    für  zwar 
Hinnreiche,  aber   dabei   mehr  oder  minder  erkünstelte  und  will) 
liehe,  mit  Retlexiou  und  bestimmter  Absicht  gemachte",  dem  m 
naien  Gefühl  und  Geist  sich  fremdartig  gegenüber  stellende  Erfind 
geo,  als  für  Erzeugnisse  einer  wahren,  in  dem  volkflthüuilii'bcn  Lei 
wurzelnden,  atis  innern  Antrieben   hervorgangeuen   Kunst  gell 


\\\  Ktncn  nnmittelbftrea ,  aber  keineswegs  vortbeilhaften ,  nur  auf  dif 
des  -Zerbino",  der  -GenoTeva"  nnd  des  .Octavianas'  durch  den  ..PerUd«" 
gehört**,   wie  Ticck  an  Solger  schrieb  iXachlass  l,  .SOS),  .zu  meinta  Kieenbf 
dass  ich  lauge  Jahre  deu  Penkies  von  ähakspeare  vieUeicUt   ülitTtriebirii  v< 
habe;  ohne  diesen  wäre  Zrrbino  nicht,  noch  weniger Genoveva  oder  Oftavian 
standen.    Ich  hatte  mich  in  diese  Form  wie  vergafft  die  so  wnndrrVrar  F.\Äk  d 
Drama  verschmelzt:  es  schien  mir  möglich,  selbst  Lyrik  hinein?! 
12)  Vgl  in,  'iWi:  234;  '2tlO  f.;  'i7ü— 2T3:  275  f.  131  Fr  luUf 

Rückblick  auf  das  vielUosprochcne  Fragment,   in   welchem    er   dit'     i 
Revolution,    Fichte*s  Wissenschaftslehre  uud   tioethes  Wlbelra    Mti-;  : 
gröBsten  Tendenzen  des  Zeitalters  bezeichnete  (Athenäum  1,  2,  ^ß)  in  licm 
.aber  die  Unverstandlichkeit"  (Athouüum  3.  2,  342)  gerade  heraus  erkl&rt 
sei  nur  noch  TeudeuB,   das  Zeitaller  aei  das  Zeitalter  der  TtMidonie-n.    So 
denn  auch  die  romantische  Production  viel  weniger  Rine  organisch  Wbcii 
kräftige  und  kerngesunde  Dichtun^r,  als  ein  Streben  mit  bestimmten  Ahsid 
einer  neuen  Poesie,  also  eine  Tendenzpoesie.  14  >  Worin  slcti  die«* 

liätischer  Poesie  mit  der  goethe-schÜIcrschtn  berührte,   worin    aber  auch 
von  der  andern  sich  sehr  wesentlich  uutei  schied,  hat  Heltner  sorf  r     ' 
-Die  Romantiker-,  sagt  er,  S.  25  tf.,  „stehen  ursprünglich  mit  ( . 
auf  gleichem  Roden    Sie  Iheilon  mit  ihnen  die  Erkenntniss  uail  O^l»  (iiuum 
der  echten   Poesie  gegenüber   der   herrscbeuden    L'njiueaie     —    Her   c-rnw 
Gnnidfohler  dieser  getiammten  Poe.sie,  der  spatem  goeihe^chill»',  ..^ 

der  romantischen,  ist,  dass  sie  nicht  durch  die  Zeit.  Svud«:ni   i:  /<ii 

steht.     iDer  Grund  ist  in  einem  falschen  Idealismus  tu  suchen,  li.  L  \   I^imt! 
der  Poesie  erwhch'&t  nicht  nach  (ieütalt  und  Wesen   in   innerer  Nauimot 
keit  aus  dem  Volke,  sondern  wird  von  oI>en  herab  vun  «'inzeltiPti  &bsol 
Souveränen  octroyiert.  —  Esatnd  mheri  innerlialh  dieser  gcmeuisaixicA  K 


£iitwickelimg8g.  d.  Lit.  1773—1^32.  Die  Romantiker.  Dichterische  ProductioQ.  S07 


m. 


Die    Theorie    der    Schule    hatte   jene    Sätze    von    Kant    und    von  §  335 
Schiller,  dass  das   Weseutliclie  aller  acbönen   Kunst  nicht  iu  dem 
>toiF,   anndcrn  in  der  Form  liege,   und   dass  das  eigentliche  Knnst- 
geheimniss  des  Meisters  darin  bestehe,   den   Stoff  durch  die  Form 
zu  vertilgen  *\    so  vorfltanden,   als   komme    beim   Dichten    auf   die 
rt    und    Beschaffenheit    des    gewählten    Stoffes    wenig    oder    gar 
nichts  an.     So   durfte  Jean   Paul'"  sagen:    ^Eine  nun   halb  einge- 
fallene Schule,    deren    poetische   Schiller  und   Schulscbriften,  z,  B. 
lie    Fr.    Schlegelschen ,    ihre   kurze    Unsterblichkeit   aber   Überlebt 
iftben,  lehrte:  man  künue  seinen  Vers  und  seinen  Souettenrcim  auf 

kulles  machen,  möge  man  nebenher  eui|ifiuden,  was  man  wolle;  denn 
die  Form  sei  alles  und  auch  der  wahre  Inhalt."  Auf  die  formelle 
fiebaudlung  ihrer  GegenstÜndo  legten  daher  die  Romantiker  beim 
|)icbton  das  Hauptgewicht;  es  schien  sogar  in  vielen  Fällen,  als 
habe  man  viel  eher  für  die  eine  oder  die  andere  Form,  die  in  Auf- 
labme  gebracht  werden  sollte,  erst  einen  objet'tiveu  oder  subjectiven 
[obalt,  als  für  einen  zu  dichterischer  Darstellung  geeigneten  Stoff 
ider  für  eine  bestimmte  Empfindung  die  ihnen  angemessensten  Formen 
resucht.  Und  hier  blieben  sie  wieder  viel  zu  sehr  bei  der  Äussern 
'orm  stehen,   bei  metrischen  und  ReimkUusfen'^  zu  welchen  ausser 


mdlage  wieder  zwei  verschiedene  Wege  möglich,    und  hier  iat  der  Punkt ,  wo 
»eide  UidUiifigcu  auseinander  gehen,   hier  zeigt  es  sich,   warum  die  Roniaiiiiker. 
rotzilem  das^  sie  m!t  Goethe  und  Schiller  anf  gleichem  Boden  stehen,  so  uueud- 
ich  weit  hinter  diesen  ziinick  geblieben  sind .  und  warum  die  goethc-scbiUersche 
lichtnnir  zu  ihnen  in  offene  Opposition   treten   musRte.    Davon  uämlit-h  hilngt  es 
Ji.  ob  die^e  Idenlistik  in  mehr  ohjectiver  Weine  durchgeführt  wird  oder  rein  sub- 
[ectiv     (SchiUer  unterscheidet  in  den  oben  S.  4S7  1.  rnitgctheilten  Stellen  aus  dem 
iefe  an  Goethe  :i. 'io^fl*.  f^treng  zwischen  reinen  IdeaUsten  und  Phantasten,  und 
diesem  Unterschied  beruhen   alle  Sonderbarkeiten   ttnd  Ansschwoifnn^en    der 
iintikerK   (ioethe  und  Schiller  Hüchten  aus  ihrer  Wirklichkeit,  aber  nicht  aus 
[er  Wirklichkeit   überhaupt.   —   Sic   crstrfhen    überall,    trotz   ihres  ideülisiischen 
^usgangsimnktes,  ileu  Schein  der  WirkUchkeit.     Iu  fahler,    unplastischer  Gegen- 
wart erstrebnn   sie  Plastik  und   wenden   sich   daher  zu  den  ewigen  Musterbildern 
ilastischer  Dichtung.    Sie   ergreifen   das  AuskunFtsmittel,  das  SchUler   (in  jenem 
iefe)  angibt,  uml  das  er  zum  TheU  von  (ioethe  gekernt  hatte:  sie  gehen  auf  die 
itiken  Muster  zurück  und   suchen  diese  bald  freier,  bald  UngstJicher  nachzu- 
»ililen.  —  Jene  jungem  Dichter  dagegen  thun  wflrtllch  das,   was  SchiUer  —  ge- 
igt hatte.    Sie  verlassen  aus  Verzweiflung  Ober  die  empirische  Katur.   die  bi« 
icngibt,    Natur  und  Wirklichk**it  gnuz   und    gar;    sie  suchen  nicht  aus  dieser  zu 
;)iOpfen,  Bondcrn  kiVmpfen  mit  der  Imagination  gegen  sie.    Sie  versehmäben  Plastik 
ixUi  Gegenstündlichkoit  der  Gestaltung  ans  Princip-.     Vgl.  auch  S.  4**  ff. 
5>  Vgl.  S.  3.11  f.  und  S.  ;t60.  Hit  In  der  .,klyiiien  Biicherschau**:  s.  Werke 

15,  'v^  f.  17|  Kine  die  Fonnktlnstelden  in  Kr.  Schlegels  Irüheni  Gedichten 

»IrefTendp  und  erkbtrende  Aeusserung  seines  Bruders,   die  mir  bemerkenswerth 
icbcint.  tiud.H  sich  in  der  «chon  augefllhrten  Kecension  des  „Dicbtergartens"  von 
ttorf  (s.  Werke  12,  2\'l):   wenn  ein  in  die  Speculation  versenkter  und  durch 


m 


W^mm 


80S     VI-  Vom  zweiten  Viertel  des  XVin  Jahrhuudextä  Ua  xu  Go«the*s  Toi 

335  der  Lyrik,  worin  vür  allen  andern  romauiäclien  Fonnen  das  Soi 
bevorzugt  wurde,  auch  die  draniatisclie  Üichtung  in  der  Gestaltung 
die  sie  in  der  roniaiitieclien  Schule  erhielt,  ein  weites  Feld  zur  Ein-' 
führung   und   Anwendung   der  manuigfaltigHten   uietrisoheu   Formen 
bot,  wobei  vornehmlich  Calderon  als  Vorbild  diente,     Deu  Anfang 


znannigfaltigeB  Wisscu  bereicherter  Geist  vom  Nachdenken  über  das 
Wesen  der  Poesie  sich  zu  deren  Ausübung  vcnde,  lo  venlc  er  anfAoflich 
künstlichsten  Formen,  als  seinem  Zwecke  am  meisten  entsprechend.  Torxi€hcB.  — 
Fr.  Sclilegel  hatte  sich  in  seinen  zu  dem  .Dichtcrgarten"  gelieferieu  ^achirti  «ekoB 
einfachem  Formen  zugewandt,  wie  er  denn  auch  vom  theoretischen  StAndponkte 
aus  das  metrische  Formenwesen  und  namentlich  die  Nachbildung  fremder  SQben* 
XDOsse  späterhin  ganz  anders  auffasstc  als  in  früherer  ZeiU  Er  legte  dieMrKMk- 
bildung  nur  einen  sehr  relativen,  auf  eine  gcwi8.«;e  Zeit  und  die  damalige  Beaehtitt* 
heit  unserer  gohöiieii  Literatur  bescbräukten  Werth  bei  und  mls^)  auek 

fernerhin   dabei  zu   verharren.    In   seiner   Recensiou   der   goethc  nfta 

(Heidelberger  Jahrbücher  ISOfc,  Heft  4,  S.  162)  hatte  er  gesagt:  ,lin  die  deutac 
Sprache  aus  der  Gemeinheit,  in  der  sie  noch  in  der  ersten  HiJfte  des  X' 
sehnten  Jahrb.  durcli  alte  VeroachläsBigung  und  Venrimiug  dos  ZviigcisCet 
Bunken  war,  herauBzii&rbeiteu»  gab  es  zunächst  wohl  kein  wirksaueres  Mittel, 
jene  Nachbildungen  der  strengsten  Kunstformen  (der  antiken),  woku  ilirc  ttildMffl- 
keit  reichen  Aulass  gab,  und  wodurch  so  manche  Meister  sich  ein  aniergünglicba 
Verdienst  um  sie  emorben  haben.  Als  nothwendige  Bildungsstufe  der  dcutsrlia 
Sprache  und  Kunst  müssen  diese  gelehrten  Kai-hbildangen  zum  mindesten  gwis 
in  ihrem  Werthe  bleiben-.  Von  der  Nachbildung  romanischer  Formen  lit  Uv 
noch  gar  nicht  die  Rede;  dagegen  heisst  es  nach  jenen  ^^'o^teo  der  Beceodoi» 
wie  sie  in  die  s.  Werke  aufgenommen  worden  (lo,  173  f.)  weiter:  *Atta  da 
gleichen  Grunde  ist  auch  die  späterhin  erfolgte  Nachbildung  der  kuuatrciehra 
rumänischen  SUbeumasäe  der  Italiener  und  Spanier  »Is  eine  kaum  eutbehrUdbe, 
weun  gleich  auch  nur  vorübergehende  Bildungsstufe  der  deutschen  Pue&Ie  uuMTcr 
Zeit  zu  betrachten,  um  nur  erst  das  Gefühl  für  deu  Zauber  des  Keims  und  lUft 
romantischen  Uesaugeb,  für  alle  diese  magische uAnklünge  der  Phantasie  nod  Qu« 
sinnreiche  Verschlingung  in  den  mannigfaltigsten  Kuustformeu  wieder 
wohin  schon  das  UedUrfniss  selbst  leiten  musste,  gerade  als  Gegeusatz  der 
vorherrschenden  antiken  Trockenheit".  Einige  Jahre  nach  Abfassung  jen« 
cension,  als  er  seine  Vorlesungen  Über  die  Geschichte  der  alten  und  ueucn  L 
ratur  hielt,  sah  er  (Werke  l,dl|  diejenige  Nachahmung  als  eine  todte  an,  . 
statt  der  allgemeinen  Erweiterung  und  Belebung  des  Geistes,  bloss  einzelnen  KoAft* 
formen  einer  Natiou,  die  sel^m  ganz  für  eine  andere  passen,  ingstlicb  naciiMreM 
und  durch  Kunst  erzwingen  w^ill,  was  doch  niemals  recht  gedeiht,  wo  es  nicM 
mehr  an  seiner  natürlichen  Stelle  ist".  Am  unumwundensten  jedoch  er 
sich  in  einem  spaiern  Zusätze  zu  domGespr&che  über  die  Poesie  i»,  Werke 
vgl  Athenäum  a,  1/tl  f.),  wie  gegen  die  -rhythmischen  Silbendrecbsler^.  die 
ihre  ^cyklopische  licbaudlung"  der  Sprache  ihrer  Natur  und  Lcbfoüwele  »u 
Gewalt  angethan  htitten,  so  auch  gegen  die  Einführung  «der  kunstreldieo  roma^ 
tischen  Silbenmasse  der  Italiener  und  Spanier  in  diesem  künstlich  venchlongoMtt 
Gedanken-  und  Periodenbau ".  So  sehr  er  sie  selbst  liebe,  köune  er  sie  doi 
nicht  als  die  eigentlich  angemessene  Form  unserer  Sprache  und  V^mkunst 
kennen.  In  den  lockenden  Klüngen  und  Liefen  Anklingen  der  Natur  m  unicn 
wirklichen   Volksliedern,  die  mau  freilich   nicht  im  Einzelnen  nachkOa«t«lii  as4 


Utes 


£ntwickclaiigäg.  d.  Lit.  t77ä— 1632.  Die  RQxnantiker.  DicbtcrischcProdactiou.  S09 

machte  Tieck  in  der  ;,Geuoveva'"*,  doch  noch  mit  ^[ass.  Viel  weiter  §  335 
t^ieng  er,  uucbdem  Fr.  Schlegel  so  eben  in  seinem  von  Vers-,  Reim- 
uad  ABsonaijzkUnsteleien  strotzenden  „Alarcos"  (IS02)  sogar  eine 
Verschmelzung^  antiker  und  romanischer  Formen  versucht  hatte,  im 
..Octavianus-'"*.  Neben  dem  «Alarcos"  und  dem  -OctAvianus'*  liefern 
von  gleichzeitigen  dramatischen  Dichtungen  der  Romantiker  die 
Haaptbelege  ftir  die  Verwendung  aller  möglichen  metrischen  Formen 
der  ^.Lncrimas"  von  W.  von  Schutz  (IS03),  und  die  „dramatischen 
Spiele"  von  Pellegrin,  d.  i,  Fnuqu*^  tlS04).  Mit  diesen  metrischen 
Künsten  wurde  oft  nur  ein  gedankeu-  und  empfindungsleorcs  Spiel 
getriebeu;  und  dabei  ^^leichwohl  nicht  selten,  trotzdem  dass  man  der 
Sprache  bisweilen  Gewalt  anthat  und  selbst  die  Grammatik  verletzte^", 
der  eigentliche  Versbau,  die  Reimgebflnde  und  die  Strophenbiidung 
zu  nachlääsig  oder  doch  zu  frei  behandelt'^  Indessen  würden  solche 
NachlKssigkeiten  und  Verstösse  noch  immer  von  geringem  Belang 
sein ,  wenn  sich  in  den  Hervorbringungen  dieser  Dichter  nur  mehr 
Kunstverstand  und  Geschick  ftlr  die  Anlage,  mehr  Mass  und  Sorgfalt 
\e\  der  Ausführung  der  inncrn  Form  zeigte,  wenn  ihnen  also  nicht 
lehr  oder  weniger  das  abgieuge,  was  Goethe  die  künstlerische 
^Architektonik  im  höchsten  Sinne '^  nennt,  d.h.  ..diejenige  ausübende 
j*aft,  welche  erschafft,  bildet,  constituiert**",  vermöge  welcher  der 


;h^en  dürfe,  möchten  am   ersten   die  zerstreuten  Elemente  und  Keime  zu 

ichen  sdü^  iius  denen  sich  das  (.irundgeäct^   des  dcutsclien  Wohll&uts  und  die 

fachen  Naturformen  für  deutsche  Lieder  und   Gedichte  wieder  herstellen  und 

>rvorrufen  Hessen,  was  aber  freilich  nicht  ohne  Krkeuntniss  und  Kunst  mtiglicb 

iSi  Vgl.  Schriften  I,  S.  XXVlIIf.  19)\Man  hatte-,  berichtet  uns 

Dichter  selb&t  (Schriften  U  S.  X\XIX|,  ^damals  zuerst  die  Assonanz  versucht. 

\cr  seltsame  Zauber  dieses  Klanges  getiel  meinem  Ohr  so  achr,  dass  ich  im  Octa- 

ihn  in  allen  Lauten  sprechen  Hess.    Es  schien  mir  gut,  fast  alle  Versmasse, 

ich   kannte,   ertönen   zu  lassen,  bis   zu  der  Mundart  und   dem   Humor  des 

in«   Sachs    hinab,    so  wie   mir   auch   die  I'ro5fl__^unerUsslicb    schien,    um    den 

•,en  Cmkreiä  des  Lebens   und  die  mannigfaltigsten  Gesinnungen   anzudeuten". 

■2Ui  V«l.   in,  207,  u'.     Wortformen,    wie  die  dort,  als  alterihümlich  sein 

iU«Qde.  HU9  Dichtungen  von  Ticck  und  Yt-  Schlegel  angeführt  üind.  giengen  doch 

das  Mass  hinaus,  bis  zu  welchem  es  erlaubt  war.  .dieS[irache  zu  entfesseln-. 

21)  Belege  dazu  können   in  Tiecks   und  Fr.   Schlegels  Werken  nat:h  den 

lUt«u  in  Ul,  2i3,  43';  25;i,  22";  2".  ÜO,  gefunden  werden.    A.W.Schlegel,  bei 

man,  so  wie  auch  bei  Novalis,  auf  dergleichen  Nachlässigkeiten  oiler  Freiheiten 

icbt  so  leicht  stosben  wird,    und  die  auch  im  Sprachlichen  bei  weitem  correcter 

td,   hat  selbst  in  den   kritischen  Schriften  \s.  Werke  II.  \Ab)  seinem  Freunde 

[eck  den  Vorwurf  gemacht,  die  Ansprüche  der  metrischen  wie  der  dramatischen 

Technik  vernachlässigt  zu  haben.  22)  In  dem  Schema  »über  den  sogenannten 

Icttanlismus  oder  die  praktische  Liebhaberei  iu  den  Künsten"  <  Werke  44,  2«4  ff  ), 

271  i.     hti  ist  mehrfach,   namentlich  auch  von  Gervluus  |5\  571);  ti'^b  f.)  und 

Itaer  iS.  1S2),  behauptet  worden.  Goethe  habe  dieses  Schema  im  beftoadera 


p^piVB^a 


BIO    VI.  Vom  zwuteu  Viertel  des  XYIU  Jahrhunderts  bis  ni  OoeChe'i  Tod. 

335  Dichter  seinen  Stoff  sowohl  im  Ganzen  wie  in  allen  seinen  Theih 
und   in   deren  Wochaelverbfiltniss  zu  jenem   und  zu  einander  vo| 
kommen  belierrscbt,  um  in  seinem  Werke  ein  in  sich  jrescbl<^89en< 
orgranisch  gegliedertes  und  ciuheitlicli  beseeltes  Gebilde  bervorbrin;^ 
zu  können.     Die  Mängel  der  innern  Form  treten  in  der  romautiKb^ 
Dicbtnng:  vornehmlieb  an  den  Werken  von  grösserem  Unifauffp  hi 
vor;  und  je  künstlicher,  mannij^faltiger  und  fremdartiger  die  fitr 
äussere  Form  verwandten   Versarten  gewöhnlich  sind,    desto  \tn 
scheint  diese  dann  ans  einer  bloss  spielenden  WillkOr  her\-' ■ 
zu  sein.    Was  schon  von   vorn  herein   eine  wahrhaft  kun^; 
innere  Gestaltung  der  bedeutendsten  unter  den  grössern  Dirbtun| 
der  neuen  Schule   verhinderte,    war  die  auf  pnetiscbe  Univemalii 
zielende  Vermischung  der  Gattungen.     Wenn  Lessing  um  ihre  «cbai 
Sonderung  und  Reinhaltung  hemllbt  gewesen  war,  wenn  Gi>ethe 
Schiller  lange  darüber  verhandelt  hatten,   wie  sich  die  Gebiete 
epischen  und  dramatischen  Gathing  genau  bestimmen  und  um| 
liesseo,  so  bildeten  dagegen  die  Romantiker  in  ihrer  Theorie  und 
ihrer  Praxis  den  schrofl'sten  Gegensatz.     Fr.  Schlegel  '  ' 

als  eine  Bestimmung  der  romautiscben  Poesie,  alle  '^' 
tischen  Gattungen  >vieder  zu  vereinigen";  Tieek  suchte  dieae  Vi 
eiuigung  wirklich  zu  Stande   zu  bringen,  indem  er  im  Gegen«! 
liehen  wie  im  Formellen,  zum  grossen  Nachtbeil  der  küm*Uen»cL< 


m 


Hinblick  auf  die  Romantik  eatworfeu  und  als  MAuifest  gegeu  sie  i^ricbtrt 
BO  viele  Sätze  darin  sich  auch  anf  die  dichirrischc  Prodnrtion  der  neuen  Sfki 
anweoden  lassen,  so  kann  ich  jener  Hehaoptnng  doch  nicht  IteUtimmea.  «<if 
dArin  GUthaltco  Bcin  soll,  Goethe  halit'  gh^ch  damals,  &ls  er  hojqc  Säix«'.  die 
nilettauliBDios  in  der  Dichtkunst  helreflen,  niederschrieb  (redigiert  für  deo 
wurde  das  Schema  erst  riete  Jahre  nachher),  damit  insbesondere  auf  die 
tiker  gezielt.  Daa  Schema  wurde  im  Mai  tT99  begonnen ,  und  im  JoÜ 
zuletzt  in  dem  UrietVcchBcl  zviBchcD  Goethe  und  Schiller  die  Hede  (vgl.  die  r.1 
S.  62'.).  3'  ungezogcucu  Stelleu  und  dazu  noch  5,  :-i3  f.;  114  f.L  PAmate 
war  die  romantische  Poesie  noch  nicht  weit  aber  ihre  Anfange  hinau« :  lofl 
grossem  mit  und  nach  der  (■rUndtiug  dt.'s  Athenäums  ersditeDcnen  Prodi 
lernten  fioethe  und  Schiller  die  ..Lucindo-  frühCBlen»  gegen  Fnde  ihrvr 
lungen  über  den  IHlettantismus  keiuien  (Briefwechsel  5,  lU):  den  tnt 
der  .romantischen  Dichtungen "  von  Tieck  mit  dem  .Zerbino"  liatte  $rhlIUr  gi^ 
Ende  Septembers  ehen  erst  gelesen  \&n  Körner  4.  152j.  und  viel  frt^ber  wtN  « 
auch  wohl  Goethen  nicht  zu  Hundi'n  gckommt^n  ^eia;  mit  der  .Genorrti*  wvdrc 
sie  natürlich  noch  viel  später  bekannt  Ks,  i&t  mir  sehr  wuhräcbeihlich,  1»»  n 
den  Besprechungen  und  zu  dem  Schema  über  den  Pilfitantiamits.  nri*efi  dra 
Vcrhaudlungeu  zwischen  den  beiden  Dichtem  und  U.  Meyer  über  di#  hSdisAr 
Kunst  und  der  Ahfassung  „des  Sammlers"  (vgl.  oben  S  ?i7u.  'i^  nn»^  ta^fff 
gleichzeitigen  diloUaiiti!:«dieu  Poesien  t>esouders  auch  'i-  -      .    . 

Ton  Lealios-,  von  Amalia  von  Imhof.  den  nacheten  Aiii  >  ■■,  ■■■ 

5.  38;  ay  f.;  52—54:  auch  S.  115.  23»  Vgl.  S.  Tab. 


Entvickeluugsg.  d.  Lit.  1773—1832.  Die  Romaotiker.  Dichterische FroducUuu.   811 


Pk{ 


heit  luid  der  innem  Geschlossenheit  des  Diirgcstelltcn,  die  Um-  §  335 
ge  des  ^Zerbino",  der  „Genoveva'*  und  des  „Octavianus'^  aber  aWes 
zeither  übliche  Kunstmass  hinaus  ausweitete**.  Als  er  die  „Genoreva'* 
zu  dichten  an6oiig,  glaubte  er,  man  könne  noch  auf  andere  Art  wie 
die  Alten  die  Er/,rihlnng;  und  die  Lyrik  in  den  Dialojr  einführen  und 
^wohl  auf  seltsame  Weise  Fels  und  Wald,  die  einsame  Natur,  die 
^feefühle  der  Andacht,  die  Wunder  der  Legrende,  im  Gegensatz  mit 
^ber  bewegten  Leidenschaft,  und  das  Unglauldiche  in  Verbindung 
^Bnit  der  nächsten  und  übei-zeugcndsten  Gegenwart  vortragen.  Er 
^tatte  sich  vorsätzlich  von  allem  Theater  und  dessen  Einrichtungen 
entfernt,  um  grossem  Raum  zu  gewinnen,  um  einige  Stellen  ganz 
musikalisch,  andere  ganz  raahlerisch  behandeln  zu  können.  Die 
egeisterung  des  Kriegers,  die  Leidenschaft  des  Liebenden»  die  Vision 
nd  das  Wunder  sollte  jedes  in  einem  ihm  geziemenden  Tone  vor- 
etragen  und  das  Ganze  durch  Prolog  und  Epilog  in  einem  poetischen 
bmen  trauraühnlich  festgehalten  und  auch  wieder  verflüchtigt 
rden,  um  auf  keine  andere  Wahrheit  als  die  poetische,  durch  die 
bantasie  gerechtfertigt,  Anspruch  zu  machen".  Im  „ Octavianus ", 
orin  er  seine  Ansicht  der  romantischen  Poesie  allegorisch»  lyrisch 
nd  dramatisch  niederlegen  wollte,  war  der  Prolog  bestimmt,  diese 
bsicht  deutlich  anzukündigen,  und  die  Romanze  hier  und  im  ersten 
heil  des  Gedichts»  sowie  Felicitas  und  die  schöne  Türkin  in  der 
eiten  Hälfte,  sollten  in  Poesie  und  als  lebende  Pcreonen,  umgeben 
oti  andern  poetischen  Charakteren,  ausser  ihren  Schicksalen  zugleich 
ie  dichterische  Ansicht  der  Poesie  und  der  Liebe  aussprecheu. 
ierzu  konnte  er  wieder  nur  eine  phantastische  Bühne  gebrauchen, 
ie  alles  zuliess.  Da  die  Handlung  nur  ein  Theil  des  Gedichte  sein 
Ute,  80  sind  der  lyrischen  Ergüsse  viele,  und  die  Erzählung  wird, 
llglicb  im  ersten  Theil,  mehr  als  einmal  selbständig*'.  —  Wie  in 

24)  Vgl.  Anm.  n.  20)  Schrifteu  I,  S.  XXIX  f.  26)  SchrUten  I, 

^CXXVlil  ff.  —  Vgl.  S.  Hl3  f.  und  Hettner  S.  153  ff.  unstreitig  zielt  auch 
ror^tig^woise  niif  Tierka  romantische  Schauspiele  die  Stelle  in  A.  W.  Sciilegels 
BToW^stinKen  über  dramatlRche  Kunst  (s.  Werke  (i.  131),  auf  die  wieder  SoI^er  in 
ö/D^r  Rccensinn  (Nftehgelassone  Schriften  2,  f»23  f.)  BcÄiig  nimmt.  —  Von  den 
^oxrlcGn  der  jungem  Romantiker,  die  in  ihrer  Coniposition  der  «Genoveva-  und 
*■"  -*  OctAvianns"  iihnhch  sind,  aber  dabei  Im  Besondern  viel  ärmer  au  echter 
^^^*^  ,  gehören  zu  den  bemerkenswerthesten  von  Cl.  Brentano  ,die  Gründung 
**  Ugl  S.  mü*.  U9;  mit  welchem  Selbstgefühl  Brentano  davon  sprach,  ist 
»eben  aus  dem  Weimar.  Jahrbuch  4,  I7B),  von  Ach.  von  Arnim  -Halle 
*'^«rus:ilem*  und  «die  Gleichen^  (vgl.  S.  fi's).  Wenn  schon  zum  nicht  ge- 
Thoilc  auf  jene  Werke  von  Tieck,  so  tindet  noch  v\c\  mfhr  auf  diese 
'  tlas  Anwcndunst,  wn»  Goethe  im  Herbst  I>»S  nn  Zelter  Rchrieb  ii,  .MOf.«; 
^ Aftern  DIcliter,  "Werner,  Oehlenschliiger .  Arnim,  Brentano  u.  A.  suchten  in 
^'Qst  das.  worauf  es  ankäme,  immer  anderswo,  als  wo  es  entspringe,  und 


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812    VI.  Vom  SEweitcn  Viertel  de»  XVUI  Jahrhunderts  bis  ca  Qocthe't  Tod. 


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1*1— H- 


335  der  Composition  des  Ganzen  einer  DicLtuug.  so   verräth  fdch 

nicht  selten  m  der  Bebandluu^^  des  Besondern  Mangel  au  der  rechU» 
poetiHchen  (4cstaltungBkraft:  den  Charakteren  fehlt  es  bald  an  plMÜ 
scher  Rundung  und  lobenBVoller  IndividualitiU)  bald  an  glcichm 
Haltung  und  folgerechter  Durchführung,  den  ihnen  beigelegt 
sinnungen   und  Handlungen   öfter  an  gründlicher  Motiviening. 
geschilderten  Situationen   und  Begebenheiten  an  fcBtem  Umrids  nnd 
anschaulicher  Gegeustündlichkeit,  und  die  ausgcsfirochenen  Empäc- 
dungen   verschwimmen   zu   leicht  ins  Unbestimmte   und    Nebelhafte 
und  versinnlichen  sich  zu  wenig  in  klaren  und  fassliehen  !?il<!rrD'. 
Endlich  aber  haben   die  Romantiker  der  energischen  Lei 
und   unmittelbaren   GegenstäDdlicbkeit  ihrer   Poesien   auch  da 
grossen  Eintrag  gcthan,  dass  sie  theils  auf  die  Allegorie  als  K 
mittel  zu  grosses  Gewicht  legten,  theils  sich  zu  tief  in  eine  t>-  '-: 
lose,  phantastisch  symbolisierende  Mystik  verirrten. 


§  336. 

Das  reichste  und  schönste  dichterische  Talent  besass  unter  dai 
Begründern  der  neuen  Schule  ohne  alle  Frage  Tieck.  »Eine  uuibe- 
rische  Phantasie",  sagt  A.  W.  Schlegel  an  einer  Tieek»  Dicbtcmator, 
wie  es  mir  scheint,  ihren  vorztlglichsten  Eigenschaften  nach  &a& 
treffendste  charakterisierenden  Stelle',  „die  bald  mit  den  Farben  dos 
Regenbogens  bekleidet  in  ätherischen  Regionen  gaukelt,  bald  in  da» 
Zwielicht  unheimlicher  Ahnungen  und  in  das  schauerliche  Dunkel  der 
Geisterwelt  untertaucht;  ein  hoher  Schwung  der  Betraebtung 
den  leisen  Ankliingen  sehnsuchtsvoller  Schwermutb-,  Unerscbi 
keit  au  sinnreichen  Erfindungen;  heiterer  Witz,  der  meidtent^ 
zwecklos  umherzuschwärmen  scheint,  aber,  so  oft  er   will. 


wenn  sie  die  Quölle  je  einmal  erblickten,  so  könolcn  sie  den  W^i;  doni  sickt 
tindeu ;  alles  gieoge  hei  ihnen  durchaus  ins  Fonn-  und  CbaraJcterlote.  JMi 
Mensch  wilJ  begreifen,  doss  die  höchste  und  einzige  Opcraiion  der  N&tar  omI  im 
Kunst  die  Geätaltung  sei,  und  in  der  Gestalt  die  Spei'ilic&tiuD ,  da.nit  «ia  Jito 
t'in  Uesonderes,  Bedeutendes  verde,  sei  und  bleibe*.  27»  Hier  triflt 

vollständig  zu.  was  Goethe  den  Dilettanten  in  der  Kun^f  nachf>&gi  äie 
Charakter  desObjects  und  wollen  Phautasiebilder  unmittelbar  d&r»t«lira  144.  D; 
26Si.  Tnd  auch  die  Aussprüi^be  von  ihm  werden  auf  vieles  anvradliw  smil  w 
AUS  der  romantischeD  Schule  hervorgegangen  ist,  dass  der  Dilettant  nie  U—flig« 
stand,  immer  nur  sein  Gefühl  über  deu  GegeiiKlaud  schildern  werde,  aod  daM  <r 
immer  mehr  von  der  Wahrheit  der  GegenstAnde  abkomme  uod  sich  »ttf  iv^iocCbCi 
Irrwegen  verliere  <S.  279;  2««7». 

§  33G.  1)  In  der  den  ^kritischen  Schriften-  l.  3tSff  \n.  Werke  11,  iMf* 
eingefügten  Anmerkung  zu  seiner  dreissig  .Jalire  früher  gescLHcbenni  riTlfciiBi<( 
des  .Ritter  Blaubart-  und  des  .gestiefelten  Katers-  (tgl.  oben  :?.  16«  C». 


Intwickelongsg.  d.  LiierAtar.  I7T3— 1932.  Die  Romantiker.  Production.  Tieck.  S13 

Ge;ren8tflU(l  richtig  triflft,  jedoch   immer  ohne  Bitterkeit  unil   ernst-  §  336 
hafte    KnegsrUstungen ;    Meisterschaft   in   allen   Schattierung:en    der 
koroischen  Mimik,  90  fern  sie  schriftlich  aufzufassen  sind;  feine,  nur 
allzu  schlaue  Beobachtung  der  Wirklichkeit  und  der  gesellschaftlichen 
Verhältnisse:  dies«  sind  die  V^orzüge,   die,   bald  die  einen  bald  die 

idern  mehr,  in  Tiecks  Dichtungen  glänzen.    Ich  vcrgass  noch  die 
frazie,   eine  ihm  so  angeborne  Eigenschaft,   dasa  sie  sich  wie  von 

»Ibst  einstellt,  und  das«  er  ihr  nicht  entsagen  könnte,  wenn  er  auch 
wollte".  Wäre  mit  diesem  Talent  ein  gleicher  Grad  von  Besonnen- 
heit und  Gründlichkeit  im  Entwerfen,  von  ausdauernder  Gewissen- 
haftigkeit und  Sorgfalt  im  Ausfuhren  seiner  Werke  verbunden  ge- 
wesen, so  hllttc  ihm  nur  wenig  gefehlt,  um  das  Höchste  in  der  Kunst 
leisten  zu  künnen.  Allein  wovor  er  schon  frühzeitig  gewarnt  worden*, 
das  blieb  ihm  immer  eigen ^:  er  arbeitete  zu  leicht  hin,  zu  sehr,  so 
zu  sagen,  aus  dem  Stegreif,  gebrauchte  die  Feile  nicht  genug  und 
hielt  seine  Phantasie  zu  wenig  unter  der  Herrschaft  des  künstlerischen 
Verstandes,  als  dass  sie  nicht  nach  Willkür  und  Laune  ihn  auf  allerlei 
Abwege  geführt  und  dadurch  der  inueru  Gediegenheit,  harmonischen 
Gliederung  undkunstmässigen  Abrundung  seiner  bedeutendsten  Werke 
Abbruch  gethan  hatte.  Da  er  besonders  bei  der  Ausführung  dos 
Einzelnen  in  einer  Dichtung  seiner  Phantasie  zu  leicht  deu  Zügel 
scbiessen  Hess,  sich  im  Ausmahlen  von  Situationen  und  im  Aus- 
spinnen der  seinen  Personen  in  den  Mund  gelegten  Reden  zu  wenig 
zu  beschranken  vermochte,  so  ist  in  seinen  Erfindungen,  zumal  in 
denen  von  grOsserm  Umfange,  gar  hfiufig  das  rechte  Mass  der  oin- 


2)  Vgl.  oben  S.  5!»0  f.   das   Urtheil  des   Recenseoten   (Huber?)   der  beiden 
iton  Bände  der  „Volksmiirchen*  in  der  Jenaer  altgemeinrn  Litcrattir-Zcitung. 

3»  A.  W.  Schlegel  fand  sich  daher  noch    Ih*»"   in  jener  vorher  augczoi^enen 

imerkung  veraulatist,    das    dem   BVeundc  genpcndete  Lob  durch  einige  dahin 

lende  Worte  zu  bcachrAnken.     „Tiecks  reifere  Werko".  bemerkte    er,    ,den 

ibaJd.  die  Gouovcvn,  den  Ocfavian,  den  Phantasus  mit  alJer  darin  enthaltenen 

faltigkeit,  die  Novellen,  den  leider  noch  nicht  vollendeten  Krieg  der  Cevenuen, 

man   nicht   nach  ihrem  wahren  Werth  und  Geiialt  wilrdiKen,  ohne  in  die 

ten  Geheimnisse  der  Poesie  einzugehen  und  man  würde  sich  dabei  nur  uogeTa 

itacbliessen,  die  vernachliisBigten  Ansprache  der  dramatischen  und  der  metrischen 

*echnik  geltend  zu  machen,  wo  die  Falle  und  Leichtigkeit  des  ersten  Wurfs  zu 

sehr  in  die  Breite  gebt,  weil  der  reichbegnbte  Künstler  sich  niemals  entschliessen 

könnt«,  anders  als  alla  prima  7.11  mahlen**.     R.  Kf^pke  berichtet  in  der  Vorrede 

m  L.  Tiecks  nachgclasseneu  ^cbriften  (I.  S.  VIII):  , Tiecks  eigenthümliohe  Natur 

es.  Wfts  er  lange  in  sich  durchgebildet  hatte,  mit  stannenswertbcr  Schnelle  zu 

mden,   wenn  es  reif  war;  er  arbeitete  Äusserlich  mehr  atossweise  als  mit  be- 

rhnetcr  Thätigkeit.     Was   er  nicht  gleich   aus  der  Falle   der  Anschauung  voll- 

lete,   kam  nur  selten  zum  Abschluaa.    Er  änderte  selten  und  wenig,  Umi  war 

mite  Wurf  der  giackllchste". 


^ 


^*«M 


814     VI.  Vom  aweiteu  Viertel  des  XVIU  Jahrhundert«  bis  xa  Go^t^--*'»  T'"l 


§  336  zelnen  Theile,  sowohl   in  ihrem  Verlulltinsa  zum  Gnnzeii  wie  unt-*: 
einander,   Überschritten.     Spiue  Darstellungren   leiden    daher   im 
gondern  nicht  selten  an  grosser  Weitschweifigkeit,  nnd  einem  Ganx* 
fehlt  es  dann   an  fester   ebenmOssiger  Haltung.     Und   zwar   trch 
diese  Mfln^rel   in   seinen   grössern  Dichtungen  gemeiniglich  viel  «nl 
fälliger  in  deren  zweiter  aU  in  der  ersten  Hfllfte  hervor;  er  hui, 
weiter  er  in  der  Arbeit  vorgerückt  ist,  seine  Phantasie  iitn  so  wenig 
in   der  Gewalt   des  künstlerischen  Verslandes  zu   hatten   vermochl 
und  es  scheint  sodann,  als  sei  er  damit  auch  Je  länger  desto  rai 
unter  die  üerrschaft  seines  Stoffes  gerathen,  anstatt  ihn  von  Anft 
bis  zu   Ende   yollständig   und    gleichniAsaig   zu   behern^hen.     Ai 
Stellungen  dieser  oder  ähnlicher  Art  haben  an  seinen  drei  zn-ischi 
1798   und    1806  erschienenen  Hauptwerken   seihst  ihm  so  nahe 
freundete  Kritiker,  wie  A.  W,  Schlegel  und  Solger,  erhoben.     Vf 
den  ^Zerbino"*,  aus   dem   auch   der  Dichter  8]>äTerhiu  luat» 
fernt  oder  abgeändert  wünschte  %  schrieb  ihm  Solger';    ^  ^ 
Ganzen  kann  man  sagen,  dass  es  zu  sehr  auseinander^bt,  und  du 
entsteht  wohl  daraus,   dass  der  dramatische  Plan  selbst  nicht  rte\t 
gerundet  ist.     Ich  meine  nicht  in  den  Begebenheiten,  das  kann  maa 
wohl  bei  einer  Komödie  dieses  echten   und  hohen  Stils  gerade  wm 
wenigsten  verlangen ,  sondern  in  dem  komischeu  Sinne  selbst.    S* 
bleibt  Polykomikus  und  dio  Weltvcrbesseruug  durch  Stallmeiätcir  Cmt 
zu  wenig  mit  dem  Uebrigcn  verbunden.    Wäre  also  der  Plan  rack 
concentricrt,  so  würde,  glaube  ich»  auch  manches  Einzelne  weni( 
auaeiuanderfallen  und  Aveniger  weitläufig  seiu*'  etc.*.     In  iler  J 
noveva"  fand  A.  W.  SchlegeP  „in  der  ersten  Hälfte  das  Phantjwtlscl 
zu  sehr  verschwendet  oder  vielmehr  nicht  genugsam  zusammen^) 
drängt  und  auf  wenige  Brennpunkte  versammelt**;  im  .Octavianiu' 
worin   auch   für  Solger  manches   zu  lang   ausgesponnen   war*.   .*li 
phantastischen  Scenen    viel   weniger  kräftig  und   wahrhaft  |M>et 
als  die  komischen  und  dabei   manchmal  viel  zu  weit  au»^ge«iK>iui< 
und  ins  Blaue  allegorischer  Anspielungen  ermUdend  verschwommeo' 
Tieck   habe  „die  orientalische   Sinnlichkeit    mehr  didaktisch  ai 
handelt,    als  sie  wie  einen  elektrischen  Funken  sprfihen  lassen' 
Solgcr  bemerkte   in   seinem   bereits  oben'  angezogenen  Hriefe  lll 
die  „Genoveva",   nachdem   er  sich   über  die  zu  wahrnebiubAre  A 
sichtlichkeit  in  der  ganzen  Darstellung  näher  ansgelasseu,  u. 
es   fehle   <len   Partien,    worin    sich    diese  Absichtlichkeil   v 
vcrrathe,  an  der  innem  gegenwärtigen  Nothwendigkeit,     Die 


4\  Solsrers  narligdasaene  Schriften  I.  30t  f.  5»  I.  :*S';  f.  6)  V| 

•uch  Tiecks  Antwort  I,  39H.  7)  In  dem  Briefe  &n  Fmiqi»*,   »  Wal» 

146  f,  S)  Nachlass  I,  3b4.  Ib  S.  793. 


;ketuiigEg.d, Literatur.  1773 — \b^^%  DieHoniftutiker.  Production.  Tieck.  815 


'poaition  habe  sich  eben  deshalb  nicht  recht  gerundet.  Die  Ungleich- 
heit, die  aus  allem  dem  entstehe,  dass  der  Dichter  tiberall  zu  sehr 
besondere  Absichten  verfolgt  habe,  habe  auch  auf  die  Sprache  Ein- 
fluas  •gehabt:  es  sei  eine  grosse  Verscbieilenheit  darin,  wenn  man 
i,  B.  die  Reden  der  Genoveva  und  ihres  Sohnes,  die  leidenschaft- 
lichen ,  so  hinreisseuden  Reden  Golo's  und  die  der  Diener  mit  ein- 
ander rergloiche,  eine  Verschiedenheit,  die  llber  das,  was  dip  Cha- 
raktere und  Situationen  erfordern ,  hinauszugehen  scheine.  Tieck 
selbst  bekannte  dem  Freunde'",  dass.  wenn  er  ilun  auch  nicht  zu- 
geben könne,  mit  der  Absiehtiichkeit,  die  derselbe  in  der  „Genoveva" 
gefunden,  das  Einzelne  angelegt  und  ausgeführt  zu  haben,  ihm  doch 
jet/t  das  Gedicht  uuliarmoniscli  erschiene:  „dieTüne,  die  Anklänge, 

i Führungen,  Ahnung,  Wald,  Luft  etc..  gehen  in  Harmonie  und  ^lusik 
uf,   —  diess  Klima,   wie  ich   es   nennen  möchte,   dieser  Duft  des 
^minerabends,   der  Waldgcnud»   und   Hpätere  Herhstnehel,   ist  mir 
nch  ganz  recht;  aber  was  eigentliche  Zeichnung,  Färbung,  Stil  be- 
ifft,  da  bin  ich  unÄufrieden  und  finde  die  Dishannonie".    Manche 
artien  seien  fast  durchaus  iu  der  Art  ausgefüiirt,   die   man   in  der 
Mahlerei  deu  edlen,  grossen  Stil  nenne;  vieles  dagegen  wie  zu  emsig^ 
isflig  und  altdeutsch  ausgeraahlt.  anderes  gut  gedacht,   aber  in 
iner  Grossartigkeit  manieriert,   noch  anderes  erscheine,  dem  Aus- 
enaahlten  gegenüber,  gleichsam  nur  iu  Unjrissen". 

Tieck  war  zwar  von  den  Mänuern  der  neuen  Schule  nicht  der 
8te,   dessen  Xanie   unter   den  deutschon  Dichtern  gegen  den  Aus- 
ng  des  vorigen  Jahrhunderts  genannt  wurde,  schon  mehrere  Jahre 
r  ihm  hatte  sich  A.  W.  Schlegel  durch  verschiedene  kleinere  Ge- 
chte   bekannt  gemacht";  aber  er   war  derjenige,  der,   indem   er 
eich  mit  einer  Reihe  von  Werken  in   den  grossen  Gattungen  her- 
ortrat '\  die  deutsche  Poesie,  wie  zuerst,  so  auch  am  entschiedensten 
die  Bahn  der  Romantik  durch  seine  Productionen  hinUberlcnkte, 
m   am   nächsten   stand  in  der  dichterischen  Begabung  Überhaupt 
valis,   und  als  Lyriker  überragte  er  sogar  Tieck  um  ein  Reden- 
des.    Wo  er  aber  Grösseres  unternahm  und  insbesondere  darauf 


§  336 


10)  1,  ^01  f.  II)  Gaiiz  anders  urtheilte  Bornhardi  hi  ä^ncr  Analyse  der 

lOvevtt",   im  Berliner  Archiv   der  Zeit  iv'io.   l,  457  ff.,   über  die  CompOBition 

ler  Dichtung::  er  sab  dann  ein  dem  Stoff  wie  der  Form  narh  enggescblosseneg, 

»enhiingendes  und  nhgenmdetes  Kiinstßauzes,  dessen  vprscliiedene  Farben- 

Übenso  durch  die  Natur  der  darzubic>Ileiidi?n  Charaktere  und  durch  die  Be- 

iheit  der  zu  schildemdcu  Situationen  becUitgt  und  Uincn  durchaus  ango- 

verwandt   und  bohnndelt  seien,   nie  die  Etnmischunju;  der  epischen  nnd 

tcben  Bebtandtheile  iu  diedranmlisclicn,  sanimt  dem  Gehrauch  der  vorschicden- 

Ligsien  Silb<.'ura*sse  mit  untermischter  Prosa,  sich  rechtfertige.  12)  Vgl. 

»05.  Anm.  12.  13)  Vgl.  S.  570  ff. 


^^WÜW^P^ 


1 


S16    VI-  Vom  «weiten  Viertel  dw  XVlll  Jahrhunderts  bis  tu  OoftheS  T"l 

336  aosgieng,  das  Äussere  Leben  mit  dem  iniiern  in  (\tr  Dieb  tun;:  lu 
versöhnen,  verlor  er  sich  in  seiner  Art^  die  Wirklichkeit  zu  pocti- 
siercu  und  zu  romantisieren,  und  in  dem  Streben,  die  ihm  un^tt- 
haft  scheinende  Trennung  und  Entgegenstellung  von  Poesie  tmd 
Wissenschaft  in  einem  hohem  Dritten,  in  einem  solchen  Kalnr-  nod 
Woltgedicht  nufzuiiebeu,  wie  es  Fr.  Schlcj2:el  als  Grnudla^e  pi;:- 
neuen  .Mythologie  verlangte'*,  zu  sehr  in  träum-  and  nehelt^nltr 
Phantasiegehilde,  worin  bald  die  Wirklichkeit  zur  Vi»ioii,  bald  i.c 
Vision  xur  Wirklichkeit  wurde,  und  zuletzt  alles  mehr  oder  weniger 
in  Mystik  und  Alleg:orie  au8lief'\     Bei   weitem   weniger  als  Tieck 

14)  Es  kann  diess,  wie  sich  von  selb&t  versteht,  nur  auf  s«in«D  nuvoUenik« 
gcbliebünen  .Heinrich  von  Oftorilingcu-*  bezogen  werden.  Wie  Solg«r  tttM  udi 
dessen  Erscheinen  urthcilte  (Nachgelassene  Schriften  1,05),  war  dieser  Roman  «ia 
neuer  und  Äusserst  kiUiner  Versuch ,  die  Poesie  durch  das  Leben  selbst  tUno- 
stelleu,  ausgeführt  mit  einem  für  das  Unendliche  flammenden  Herzen,  rintr  nkhn 
und  schöpferischen  Phaotasio  und,  so  viel  mau  sehen  k^'Une,  nach  mit  «tsoB 
klugen  Verstände.  Nach  Solgers  Einsicht  sollte  der  Koman  in  dem  «irldldMi 
Leben  absichtlich  anfangen,  und  je  mehr  Heinrich  selbst  nach  und  DSch  bi  pMlii 
übergienge,  auch  sein  irdisches  Leben  darin  Übergehen  .£&  würde  slso  dicas  äat 
mystische  (ieschichte  sein,  eine  ZeiTeissung  des  Schleiers,  welchen  das  EiuDbte 
auf  dieser  Krde  um  düä  l'ucmlliche  hält,  eioe  Erscheinung  der  Gottheit  suiErtau 
kurz  ein  wahrer  Mythus,  der  Bich  von  andern  Mythen  nur  dailurch  ontcfiddaie. 
dass  er  sich  nicht  in  dorn  Geiste  einer  ganzen  Nation,  sondern  eines  fiiiKthiw 
Mannes  bildete".  I>ie  Idee  sei  kühn,  wohl  ausgebildet  und  ganz  elno 
Geistes  würdig,  alter  sie  werde  jetzt  noch  wenig  Hoden  finden.  Sie  sc{ 
ein  vortreffliches  Glied  in  der  Kette  der  WeUrerbi*ßerungeu .  die  je« 
fangen  schienen.  —  Noch  bemerkenswerther  ist  über  Novalis'  Iiichtrmsuir 
wohl  wie  über  seine  poetischen  Tendenzen,  wie  sie  die  neue  ^schule 
und  Ober  die  Tendenz,  welche  er  im  .OficnHngt^n-  im  Be»ondrm  vcrfoliir 
eine  Stelle  in  Ad.  Müllers  -Vorlesiujgen  ober  die  deutscbr  WusenKh*ft  mi 
Literatur**  (2.  Au&gabe.  S.  73  f.).  Wie  Goethe  in  -Wilhelm  Mnst^r*^.  »o  m 
Novalis  in  seinem  Roman  durch  Absicht  und  Zeit  auf  das  Problem  f  eSonltt 
in  der  Dichtung  «las  äussere  mit  dem  innern  Leben  zu  versöhoen.  ^Notdbi 
durch  germanische  Poesie.  Nainrwiasenschafi  und  durch  die  Kiagarakeit 
ehrwürdigen  Gewerbes  (des  Bt-rgbanes)  gebildet,  bc^chloss.  mit  dem  G«ule  Alf 
Poesie  alle  Zeitalter.  Stünde.  Gewerbe,  Wissenschaften  und  VerltAltniM«  itwck* 
schreitend,  die  Welt  zu  erobern,  fest  überzeugt.  wieHyacinth  im  Mjlrd»tn  bei  4m 
Lehrlinge  zu  Sais,  im  innersten  Heiiigthume  der  Natur  seine  en*te  Liebe  wMtna- 
findcn.  Eben  diese  sichtbare,  durch  alle  seine  wunderbaren  Werke  KiSTvorkocft- 
tende  Zuversicht,  dass  alle  jene  taugendfarbisen  Krscbeinuogen  dvr  Wii^emtM 
nnd  Kunst  mit  ihren  unendlichen  Retlcxen  endlich  in  dinen  BrennpaidEt  zmaaaa- 
strahlen  müesten,  und  dass  dieser  auf  die  Stelle  hinfallen  wanle.  aaf  licr  49 
Dichter  steht,  diese  endliche  notliwendige  Ycrkliirung  der  eigeustm.  irüwl^s 
Gefienwart  —  erbebt  Novinlis  über  alle  Freunde,  die  gern  ein  scUafUick  nit  te 
wirkten.  —  Wenn  je  ein  Mensch  zu  dem  hciligou  Mittlcramte  d<T  dcvCMkia  uä 
aller  Wissenschaft  überhaupt,  knr?  zur  Kestauration  dt?s  riatoo  anlar  iff  vtr- 
schiedenartigsten  Fonn  bestimmt  zu  sein  schien,  lo  war  es  Nof»Us-. 
15)  Wenn  diess  l'rtboil  seine  Hcstütiguug  schon  durch  die  ferlif 
Kapitel  des  .Ofterdingen-.  je   weiter  man  im  Lweo  forrOcift,  desto 


itwickelujigsg. d. Literat.  1773 — 1832.  Die Uom»ntiker.  Poetische Prodaction.  SIT 

md  Novalis  konnten  die  beiden  Schlegel  darauf  Anspruch  machen,  §  336 
geborene  Dichter  zu  beisseu:  indess  zeichnen  sich,  wie  schon  oben 
angedeutet  ist",  die  Gedichte  des  altern  Bruders  im  Technischen 
loch  durch  Vorzüge  aus,  die  denen  des  jungem,  so  viel  metrische 
id  KcimkUnsteleien  er  darin  auch  anj;ebracht  hat,  weit  weniger  eigen 
"sind,  und  noch  mehr  stehen  die  letztcru  dcu  erstem  an  Klarheit,  Be- 
[timmtheit  und  fasslicher  Gegenständlichkeit  des  Dargestellten  nach. 
Wenn  nun  auch  die  romantische  Schule  in  ihrer  Kunstlehre 
ie  Vereinigung  aller  einzelnen  poetischen  Gattungen  als  einen  Haupt- 
delpunkt  der  von  ihr  in  Aussicht  genommeneu  progressiven  Uni- 
versat[roesie  bezeichnete,  und  wenn  in  mehrern  ihrer  bedeutendsten 
Werke  eine  solche  Verschmelzung  auch  wirklich  erstrebt  und  zum 
Theil  durchgeführt  worden  ist,  so  treten  in  der  Gesammtheit  ihrer 
dichterischen  Üervorbriugungen  die  besondern  Gattungsunterschiede 
doch  immer  noch  deutlich  genug  hervor.  Darnach  aber  haben  sich 
die  Begründer  der  Schule,  wenn  auch  nicht  in  gleicher  Ausbreitung, 
in  den  meisten  poetischen  Haupt-  und  Nebenarteu  versucht.  Auf 
die  Abfassung  grosserer  erzählender  Werke  in  gebundener  Rede  sind 
sie  nicht  weiter  eingegangen,  als  dass  A.  W.  Schlegel  sich  mit  feinem 
Sinn  und  vielem  Geschick  einer  erneuernden  Umdichtung  des  -Tristan" 
ron  Gottfried  von  Strassburg  unterzog,  die  aber  nicht  über  den  ersten 
ing  hinausgeführt  ist",  und  Fr.  Schlegel  nach  Turpins  Chronik 
ine  Reihe  Romanzen  von  Rtfland  dichtete,  die  durch  ihren  Inhalt 
episches  Ganzes  bilden'*.  Mehr  Pflege  widmeten  sie,  zumal  der 
itere  Sehlegel,  dem  kleinen  erzählenden  Gedicht  in  Balladen-  und 
»manzenform '\    Zu  Romanen  wurden  grosse  Anläufe  genommen, 


besonders  aber  vou  da  au,  wo  der  Vortrag  des  M&rcheu3  begiont,   so  wird 

noch  viel  mehr  durch  das  unterstatzt  werdeu,  was  Tieck  im  Anhange  darilber 

^ellt,  wie  Novalis  seinen  Koman  tortzufiihren  gedachte.    Vgl.  auch  Jul.  Schmidt, 

I.  d.  d.  Literatur  1,  u:^  ff.  und  Hetiner,  a.  a.  ü.  S.  S2  ff.  10)  Vgl.  S,  5!t5  und 

[|(.  17)  Gedichtet  ISOO,  aber  emt  gedruckt  in  den  »po3liscbeu  Werken". 

sideibergtSll.  H.  I,  9Sff.  ;8.\Verke  1,  lOüff.i.    Vgl.S.  74H.  unten.  IS)  Aio- 

I.    Ein  lleldengedicht  in   Romanzen  nach  Turpins  Chronik-,  erschien  zuerst 

dem  zweiten  Jahrgaug  (tnoti)  des  von  Fr. Schlegel  herausgegebenen  ^poetischen 

»chenbuchs-    (HerHn  8.);   s.  Werke  8,  55  ff.  l'J»  Dahin  gehären  von 

"W.Schlcgel  -Äriadne-  (171)0),  „rygraalion- (lT'.mi,  „Arion"  initTt.  „Kampaspe" 

.der  ht'iJige  Lucas"  (beide  iT'Jsi,  „Leonardo  da  Viuci  (1"'J9),  ,die  Warnung** 

.Fortunai-  (beide  ISUII;  von  Tieck  .Ariou"  iWiS),  „die  Zeichen  im  Walde" 

.Siegfrieds  Jugend'-.  ^Siegfried   der  Drachenlödler"  und  „Weland"  idiese 

IS  dem  J.  1SU4,  aber,  wie  es  scheint,  erst  l>i2l  ff.  in  den  „Gedichten"  ge- 

t);  vou  Fr.  Schlegel  .Sanct  Keynold"   und  ,das  versunkene  Schloss"  (vou 

ersten  Gedicht  weiss  ich  jedoch  nicht,  ob  es  schon   um  ISOG  verfasst  und 

»oüicbt  war,  das  zweite  erschien   lSi)7   in   Rostorfs  -Dichtergarteu");  von 

das  Gedicht  „^a  Tieck"  (Schriften  2.  4:1  f.)  uud  das  Lied  vom  Säuger  im 

nigen  (l«  59  ff.).  —  Zu  dem  Rosten,  was  die  romantische  Schule  überhaupt 

KolMr»U'ln.<>GruiiJiUi.    b.  AuO.    IV,  52 


81 S     VI-  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  Jahrhundt^rU  Vis  xu  Goethe*»  Tod. 

§  330  allein  nach  dem  «William  Lovell"**  gedieh  keiner  mehr  zum  Abschhi 
wie  Tieok  „Franz  Sternbftlds  Wanderungen'*  niemals  v 
Hessen  es  Fr.   Schle^jel   bei   dem    ersten  Theil   seine ? 
„Lucinde*"*  und  Dorothea  Veit  bei  dem  ersten  Theil  ihre«  ,Flot 
tin"^^  bewenden,  und  mitten  in  der  Arbeit  an  meinem  ^Heinrich 
Ofterdingen""'  starb  Novalis.    Unter  allen  Erfindungen  der  R^i 
tiker  erregte  die  Lucinde  wegen   ihres  das  sittliche  GefQhl  tief 
letzenden  Inhalts  den  meisten  Anstoss.     Hier  fand  man  nicht  all 
in  ge^visseu  Schilderungen  eine  Verlfiuguung  aller  Scham  uu<l  dj 
den  Sinnengenuss  so  dargestellt,  als  erhalte  durch  ihn  die  Liehe 
die  rechte  Weihe,  es  wurde  darin  auch  eine  Lobenspbilogophie 
Lebenskunst    gelehrt   und    anempfohlen,    die,    wenn    sie    Anonl 
fanden,   den  Mtissiggang  zimi   höchsten  Lebenszweck    machen, 
Grundlagen  der  Gesellschaft  untergraben  und  einen  Hanptpfeilcr 
Bittlichon  Lebens,  die  Heiligkeit  der  Ehe,  umstürzen  mussten^. 
Tendenz  der  „Lucinde"  griff  daher  unmittelbarer  als  die  irgend 
andern  Werks  der  neuen  Schule  in  das  praktische  Leben  ein,    GH 
Ucherweise  wnrde  aber  die  schädliche  Wirkung,  die  das  Buch 
haben  krmnen,   dadurch  sehr  gehemmt  und  aufgebnben.    da«a  et] 
durchaus  jedes  Reizes  der  Form   entbehrte,  ja  schlecbthiu  U 
war":  es  schien,  als  habe  es  dem  Verfasser  an  allem  Gtsschick  ftr 
künstlerische  Compnsition  gefehlt,   ao  seltsam  war  dieac^ 
lauter  theils  reflectierenden  und  j^hautasierenden,  theils  vi. 
mit  Dialogen  und  Briefen  untermischten  Bruchstücken  zufKan  m 
fögt.     Schiller  sehrieb   Über  die  Lncindo  au  Goethe'*'   —   ima  man 
wird  ihm  gewiss  vollkommen  Recht  geben,  wenn  man  auch  in  >*»" 
schlag  bringen  wollte,  wie  sehr  er  schon  damaU  gegen  Fr.  S 
eingenommen  war  — :  „Sie  müssen  dieses  Product  Wunder*  n;  i  ^ 
ansehen.    Es  charakterisiert  seinen  Manu,  so  wie  alles  Darstellend- 
besser  als  alles,   was  er  sonst  von  sich  gegeben,  nur  dass  e»  ifc» 
mehr  iu's  Fratzenhafte  mahlt.    Auch  hier  Ist  das  ewig  Formlose  ml 


an  Ideinern    erzählenden  Oedicbten   geliefert   hat,    die   nicht    in   BArU/t.t>- 
Romanzenforjn  aligefa&st  sind,  gehören  Schclhngs  Ttinsinen,  .die  lei. ' 
Pfarrers  zu  Drottning  in  Seeland";   vgl  S.  Oft*,  oben.  20.  ' 

21)  Vgl.  S.  5Ä2  f.  22t  Vgl.  S-  650,  52.  23»  V«L  aj 

24 1  Vgl.  Änm    M   nnd  15   und  dazu    oben  S.  612  f.     Im   xmtaltta' 

NovalU  nicht  weit  Aber  den  Anfang  hinan sgegangäo.  —  Ueber  daa  Vi 

in  welchem  der  -Stcrnbald-,  die  ..Lucinde-   und   der  -Ofterdingen*   ^anJk 

und  Tendenz  zti  einander  stehen,  gibt  Hettner  S.  7M  ff.  gdstvüUe  Andcut 

25)  Wie  Fr.  Schlegel  über  Weiblichkeit  und  Ehe  dachte,  hatt«  «r  arikOD 
Jahre  früher  In  der  Schrift  „über  die  Diotima-  nnd  dann,  Vun  T«  dBB 
Bcheinen  der  ^Lucinde-,  in  den  «Fragmenten"  des  .\thei11Lum9  \,  t,  II 
ratheu.  26)  Vgl.  Tiecks  Schriften  II,  S.  LXXV  ff.  o?)  \  \U 


itirickehingsg.  d.  Literat.  1773— 1S32.  Die  Romaatiker  Poetische  Production.   S19 

•a^'-mentariscbe  und  eine  hüchst  seltsame  Paaninir  des  Nohulistirtclien  §  33& 
lit  dem  Charakteristist'beu,  die  Sie  nie  für  nin^lich  gehalten  liflttcn. 
Da  er  fnhit,  wie  schlecht  er  im  Poetischen  fortkommt,  so  hat  er  sieh 
ein  Ideal  seiner  selbst  au»  der  Liebe  und  dem  Witz  zuBamniengesetzt. 
Er  bildet  sich  ein,  eine  heisse  unendliche  Liebesfj'lhi^koit  mit  einem 
entsetzlichen  Witz  zu  vereinl«:en,  und  nachdem  er  sich  so  constituiert 
hat,  erlaubt  er  sich  alles,  und  die  Frechheit  erklärt  er  selbst  für 
Beine  Göttin.  . . .  Nach  den  Rodomontaden  von  Griechheit  und  nach 
der  Zeit,  die  Schlegel  auf  das  Studium  derselben  gewendet,  hätte 
ich  gehoflFt,  doch  ein  klein  wenig  an  die  Simplicität  und  Naivetflt 
der  Alten  erinnert  zu  werden;  aber  diese  Schrift  ist  der  Gipfel  mo- 
derner Unform  und  Unnatur,  man  glaubt  ein  Gemengsei  aus  „  Wolde- 
mar**,  aus  ^Sternbald"  und  aus  einem  frechen  französischen  Roman 
zii  lesen"".  Schlegel  bekannte  bald  darauf,'  es  sei,  indem  er  in  der 
-Lucinde^  „die  Natur  der  Liebe  zur  ewigen  Hieroglyphe  naiv  und 
nackt  dargestellt"  habe,  diess  aus  jugendlicher  Unbesonnenheit  ge- 
schehen". Was  die  Aufnahme  des  Buchs  in  „dem  engern  Kreise 
der  Verbündeten''  betrifft,  so  soll  der  Eindruck  auf  denselben,  wie 
uns  H.  Steffens*"  versit.'bert,  nichts  weniger  als  gross  gewesen  sein, 
id  namentlich  soll  es  bei  Schelling  viel  Aergemiss  erregt  haben, 
W.  Schlegel  will  auch,  „wiewohl  selbst  noch  ziemlich  jung  und 
kllkUhn  genug,  den  Druck  dieser  thürichten  Rhapsodie  abgerathen" 
►en".  Das  letztere  mag  wahr  sein;  dass  jedoch  die  „Lucindo**, 
der  erste  Theil  ausgegeben  war,  nicht  nur  als  eine  herrliche,  ja 
ioimlische  Erscheinung  von  Fr.  Schlegels  Bruder  und  seinen  Freun- 
m  be^üsst  nnd  selbst  als  ein  tief  religiöses  und  moralisches  Werk 
spriesen  wurde,  sondern  auch  in  formeller  Beziehung  als  kllnst- 
isch  gerechtfertigt  werden  sollte,  dafür  liegen  zu  gewichtige  Zeug- 


2S)  Wie  XDAu  in  Berlin  bei  seinem  ErBclieinen  die  darin  auftretenden  Ilaupt- 

ionen  nnd  ihr  Verhältnis^  zu  einander  deutete,  ist  au&  J.  Fürsti  Buch  über 

iette  Herz,  S.  lU  f.  zu  ersehen;   vgl.  dazu  „Aus  Schleicnnachers  Leben"  I, 

29»  Athenäum  3.  2,  337  f,  301  -Was  ich  erlebte"  1,  :M9. 

1}  Kftch  dem  Briefe  an  Windischmann  aus  dem  3,  1S3I,  s.  Werke  H»  291. 

Ich  verweise  auf  den  Schluss  von  A.  W.  SchlcßelB  Sonett  an  seinen  Bruder 

fUhrt  zur  Dichtung  Andacht  brüiißt'gcr  Liebe,   Du  willst  zum  Tempel  Dir 

Leben  bililan,  Wo  Gfitterrecht  der  Freiheit  lös'  imd  binde.    ITnd   daas  ohn* 

Ter  der  Altar  nicht  bliebe,  Entführtest  du  den  himmlischen  Gefilden  Die  hohe 

der  IcucbttmUen  Lucindc**;  zuerst  gedruckt  in  den  „Gedichten"  1M)0,  in  den 

^etken  1,  354);  uuf  den  Artikel  Über  die  Lucinde  Im  Berliner  Archiv  der  Zeit 

Hl.  2,  H7  ff.,  der.  wie  schon   ISOi»  angenommen  wurde  (vgl.  n.  allgemeine  d, 

lothek  J9,  :U1>  fi"),  von  Schlcicrmacher  herrührto  (vgl.  -Aus  Schleicnnachers 

sn"  3.  239  f.;  2U  f.,  Note;  211  f.; -wiederabgedruckt  daselbst  4,  537  ff.)  und  durch 

■nhardi's  Vermitteltmg  in  jene  Zeitschrift  AufnaJunc  fand ;  sodann  und  vonEttg- 


S20    VI.  Vom  zvcilcn  Viertel  des  XVIU  Jahrhunderts  bb  zu  Goethe's  Tod. 

3:^0  Reicher  füllte  sich   wieder  das  Fach  der  kleinem  Erzäbluugg- 

werke  in  Prosa,  der  ernsten,  launigen  und  satirischen,  theils  frei 
erfundenen,  theils  nach  fremden  Büchern  bearbeiteten  Geschichten 
aus  dem  Leben  der  Gegenwart,  der  Märchen^  und  Sagen  und  der 
Erneuerungen  alter  VolksbUcher:  das  Meiste  in  diesen  Terschiedenea 
Arten  und  theilweisc  auch  das  Beste  wurde  von  Tieck  geliefert", 
einige  Stücke  von  Bemhardi  und  mehr  von  seiner  Gattin  **,  von  No- 
valis nur  zwei  allegorisierende  Märchen,  das  eine  dem  ^  Ofterdingeu ', 
das  andere  den  „Lehrlingen  zu  Sais"  eingeschaltet,  dagegen  von 
dem  altern  Schlegel  nichts  und  von  dem  jungem  wenigstens  nichtä, 
was  von  seiner  eignen  Hand  herrührte  *". 


lieh  auf  Schloicrmachcrs  .vertraute  Briefe  über  Fr.  Schlegels  Luclade"  tvgl.  oben 
S.  (>52f.,  dazu  J.  FUrsts  Buch  S.  llü  und  Fr.  Schlegel  in  der  Europa  1.1,  Vn'.; 
die  Briefe  sind  auch  in  die  Sammlung  der  Schriften  Schleiermachers,  Abth.  :i.  Bd.  I 
aufgenommen):  Bernhardi*s  Anzeige  derselben  im  Berliner  Archiv  tSui».  3,  4'i  f. 
una  J.  B.  Yemiehrcns  „Briefe  über  Fr.  SchlegeUt  Lucinde,  zur  richtigen  Woidigoof 
der&elbcn".  Jenalv)0.  S.  33)  Üas  Märchen  ist  von  Hettncr(S.  02  f.  »mit  Recht  &U 
die  einzig  wahrhaft  naturgemässe  Dichtungsart  far  die  Komantik  —  iu  dieser  ihrer 
ersten  Periode  wenigstens  —  bezeichnet  worden.  ^Das  Märchen",  sagt  er,  .istnicli; 
eine  einzelne  poetische  Form :  es  ist  spccitisch  verschieden,  es  ist  ctnc  ganz  anden' 
Gattung  der  Poesie,  es  ist  der  realistischen  Poesie  gegenüber  die  rein  phantastische ;  im 
Gegensatz  zur  Poesie  der  Wirklichkeit  die  Poesie  des  Wunders.  Das  Märchen 
ist  durch  und  durch  Phantasie.  Ks  macht  die  Phantasie  zum  Schöpfer  uiiil 
Lenker  der  Dinge,  es  hebt  den  natilrUchon  Wcltlauf  auf  und  erblickt  imGeirtflia- 
lichsten  und  Nächsten  ein  Wunder,  und  umgekehrt  im  Fremdesten  und  C*her- 
natürhchsten  ein  Gewöhnliches  (vgl.  dazu  Kovalis,  Scliriften  2,  234  f.).  —  Wer  äi 
Komantik  von  ihrer  liebenswürdigsten  Seite  kennen  lernen  will  und  noch  Kindlifbkn; 
derPhautaiie  gfiiut?  liat.  sich  in  diese  traumhafte  Wunderwelt  oiuk'ben  zu  k-'^nn»:' 
der  halte  sich  an  ihre  ejiischen  und  dramatischen  Märchen  (von  Tiecki.  l^'ir^ 
unter  allen  Diclituni;ou  der  Romantiker  einzig  lund  allein  erfiillen  das  Gpsw  ->- 
Kunst  und  zoigoii  Form  und  Inhalt  iu  innigster  Einheit  unrt  Wcclisplwiri;r.i.:' 
(Vgl.  auch  (TCTvinu»  .'»",  51»**  f.i.  —  Ks  war  der  Kunstlohre  ujul  jHietischni  l'^isi? 
der  Kümantik*'r  j^anz  semiiss,  dass  Novalis  (Schriften  :i,  Km)  bchaupit-tc.  -Ji- 
Märchen  sei  gleichsam  der  Kanon  der  Poesie,  alles  Poetische  müsse  uKircho-hän 
sein,  der  Dichter  bete  den  Zufall  au;  und  dass  Fr.  S<'hleÄel  für  den  ll*^:Dan  iiv 
besouderc  den  Satz  aufstellte,  jeder  sollte  nach  Art  eines  Märchens  ('■.in>tr .-.:?' 
sein  (Vgl.  oben  S.  Thll  f.,  Anra.  54).  34)  Die  Krzählungen  in  den  ->tra>>- 

federn-  und  die  ..(ieschitrhto  von  Peter  Lobrecht-  (vgl.  :^7^'>  ff.  und  h'\\,  ia  ■:■- 
-Volksmärchen"  .Avr  blonde  Kckborf,  ein  Märchen,  -die  Geschichte  ^-m.  >- 
Ileymonskindern-,  -die  scliönc  Magelonc-,  ..die  Goschichtsohronik  der  NÜ^^- 
bürgor-,  dazu  die  -Gesrhiclite  der  sieben  Weiber  des  iJlaubart-  (vgl.  S.  "-V-.-: 
iu  den  _romnntischen  Diditungen"  -der  getreue  Kckart  und  der  Tannhj::?'' 
uebst  der -Historie  von  der  Melusina-  (vgl.  S.  5(i2.  Anm.  2t)t.  endlich  dasM.l^•'■'- 
..derKunenbcrir"  (vd.  S.  :)(M,2**).  Für  die  besten  Stücke  halte  ich  deu.K«kl"rT 
die  -Majrolone-.  ..»lie  Schildbürger-  und  den  ..getreuen  Eckart-.  H.*»'  \r.  i-'- 

-Straussfedern-  (vgl.  S.  r»r>0,  und  Köpke  in  Tiecks  Leben  2.  27i>  zu  i?. -""  =• 
Bernhardi's  ..Hambniciailon"  (vgl.  S.  tios,  :i4i  und  in  seiner  Gattin -WunderM'-'T 
und  Träumen,  in  eilf  Märchen".   Königsberg  ISO'i.  ^. 


l 


itwickelungsg.  d.  Literat  1773— lb32.  Die  Romantiker.  Poetische  Production.  821 

Die  TlaupterzeugrniBae  der  mmantiBchen  Poesie  aus  ihrer  frühem  §  336 
leit,  die  nicht  unvollendet  gebliehen  sind,  fallen  der  dramatischen 
tattun^:  ZM]  an  ihnen  stellt  sich  auch  vorzugsweise  der  eigen- 
fhtimliche  Kunstoharakter  der  Schule  mit  seiner  guten  und  seiner 
fehlerhaften  Seite  heraus.  Inshesondere  gilt  diess  wieder  von 
Tiecks  dramatischen  Werken:  wie  sie  alle  vorzüglichen  Eigen- 
schaften des  Dichters  bezeugen,  die  ihm  zugesprochen  werden  können 
und  von  A.  W.  Schlegel  zugesprochen  sind^',  so  lassen  sich  an 
ihnen  auch  am  augenscheinlichsten  alle  seine  Mängel  und  Ver- 
irrungen  nachweisen.  Im  Allgemeinen  hat  er  es  aber  darin  ver- 
sehen, daas  er  bei  seinen  Erfindungen  zu  tpenig  die  wirkliche  BUhne 
im  Auge  behalten  und  daher  auch  zu  wenig  darauf  Rücksicht 
^^enommen  hat,  was  sich  zur  theatralischen  Darstellung  eigne  und 
^■ramatidch  wirken  könne:  sie  sind  damit,  im  Widerspruch  mit  dem 
^^BegrifT  der  Gattung,  zum  grossem  Theil  zu  blosseu  Lesedramen  ge- 
^nrordcu.  Weniger  ist  diess  mit  den  kleinern  und  Altern  Stücken 
^Bbr  Fall,  namentlich  mit  dem  „Karl  von  Berneck*''  und  den  beiden 
^dramatisierten  Märchen,  dem  -Ritter  Blaubart"  und  dem  „ge- 
stiefelten Kater",  das  zweite  und  dritte  dieser  Stücke  sind  auch, 
wenigstens  in  der  Umarbeitung,  wie  sie  in  den  Phantasus  auf- 
genommen wurden,  die  der  Anlage  und  der  Ausführung  nach  inner- 
lich geschlossensten  und  äusserlich  abgerundetsten";  mehr  aber  schon 

36)  Von  der  «Geschichte  des  Zauberers  Merlin'  uud  der  .Geschichte  der 
lOnen    nnd    bigcndsamcn   Enryanthe-,    welche    die   «Sammlung   romantischer 
Icbtnn^en  des  Mittelalters ;  aus  gedruckten  und  bandschriftlichen  Quellen  heraas- 
[eben".   Leipzig  l^(l■l.  2  Bde.  K  bUden.  ist  zwar  die  erste,  so  wie  auch  „Lother 
Maller.    Eine  Rittergeschichte  ans  einer  nngednicktcn  Handschrift  bcarbeit/tt**. 
licturt  tS05.  S.  in  seine  BtünmtUchen  WerkeUd.  7.  aufgenommen;  es  sind  dies« 
Itcarbcitungen  von  Dorothea  Schlegel  und  von  ihrem  Gatten  bloss  hcrnus- 
»hen.  ;H7)  Vgl.  S.  812  f.  38)  Diess  Stück  gebort  seinem  ersten 

(twnrf  nach,   nebst  -dem  Abschied"  und  dem  -Alla  Moddin"  (vgl.  S.  566.  i) 
den  ersten  dramatischen  Versuchen  Tiecks  (vgl.  S.  ^>^^M.    Das  kleine  bürger- 
te TranerspieKder  Abschied"  bereitete,  wie  uns  Tieck  im  V^orbericht  zum  H.Th. 
Schriften,   S.  XXXVIII   crzfihlt,  gewissennaeseu  die  Schicksalsiragödieo   in 
rotachland  vor;  der  ..Karl  von  Bcrueck"  war  der  erste  Versuch,  sie  wirklich  ein- 
ren.    Das  Stück  sollte  nuigeführt  werden,  es  wurde  aber  nichts  daraus. 
39.1  Dafiir  hielt  auch  Solger  beide  StUcke.    Im  Mai  IhI5  schrieb  er  an  Tieck 
fbgelasscDo  Schriften  1,  'Abii):   „Im  „«Blaubart""  ist  (nach  der  Redactiou  für 
..Phantasus"*)  wenig  verändert,  und  doch  scheint  er  mir  jetzt  erst  recht  voll- 
nnd  erst  das  wahrhaft  classischc  Werk  geworden,  wofür  ich  ihn  halte.   Für 
*o  hab'  ich,  wie  Sie  wissen,  eine  Vorliebe,  so  dusa  ich  wenig  deutsche  Dramen, 
von  ganz  anderer  Gattung,  ihm  an  die  Seite  zu  setzen  wUssto~.   Und  ändert- 
Ib  Jahre  später  (I,  4ü&f)-.   Unter  allen  (Iliren)  dramatischen  (Werken)  sind  mir 
Haubarf*"  und  ^-der  gestiefelte  Kater""  die  liebsten;   ..die  verkehrte  Welt"** 
le  ich  diesen  ganz  an  die  Seite  setzen,  wenn  sie  mehr  zusammeugedrftAgt  w&re 
die  vollendete  Kuuduog  des  .„Katers""  häitte.    Ich  möchte  fast  sagen,  jene 


82i    \l.  Vom  zwcileu  Viertel  des  XVin  JAUrhuniierts  hU  tu  Uoetbe'«  Tod, 

330  mit  der  „verkehrten  Welt**  und  am  meisten  mit  den  drei  jQngOTi 
und  umfaugreioltsten  Dichtungen  in  dramatiscbcr  Form,  dem  »Zer* 
bino",  der  „Genovevtt'*  und  dem  „Oetarianus""'.    Die  '      '  '  '  .«l, 

die  sich  in  ihrer  PncMe  weniger  als  Tieck  von  der  i{« 

Rirhtuiig  Goetbe's  und  Schiller»  enrferutcn,    haben   jeder  nur  eia 
grösseres  Drama  gedichtet"*:   der  ältere,  im   Anschlnss   an  (httAt, 

meine   lidden  LieblingsstOcke  seien  die  Tollkomroensten  Dninien,    in  eigeaiHi 

Sinne  des  Worts.    Es   ist  alles   dftrüi  gans  gegenwärtig  oud  lebendig  tind  «itir 

in  dem  einen  lUs  Mftrchenliftfte  durch  eine  wanderhorc  Ditrchdrio^nng  mit  6m 

ganz  NVirklicben  zu  unsenn  eignen  Zustande  gemacht;   im    andern   die  tS^mm 

Gegenwart  durch  das   MArchen  veredelt  und  die  SaUre   zur  roin^^t^n  Irod^  ir- 

hoben".     Auch  in  der  Rccension  von  A.  W.  Schlegels   Vorh-  •^- 

gelasaene  Schriften  '2,  6*24 1  will  Solger  diese  beiden  Stacke   u:  't- 

kehrte  Welt"  von  dem  Tadel   ausgeschlossen  wissea,    dem  ScUtrgcl,  ohne  itao  b 

neiiuen,  über  Tiecks  romAutische  Schaospiela  MMgesprochen  hatt«.    ihsura.  l>«Ma- 

ders  dem  .Blaubart"  und  dem  .Kater',  fehle  nicht«,  um  üramatiach  zu 

es  könne  nur  dem  traurigen  Geiste,   der  die   deutschen  Schaubulmt^n  h' 

zur.uHch reihen  sein,  dass  sie  nicht  wirklich  aufgeführt  würden ;    drnn  um 

gelangen,   müsstcn   RJe  nicht   volksmlLsBig  original  sein.     (Bekanntlich  mufüt<i - 

spliter   in  Düsseldorf  durch  Immermann  tind   dann  auch    in  Potsdjim  und  Bofe 

auf  die  Huhne  gebracht ;   es  ist   über  bei  den  ectten  Versuchen  geblicbeoL   V|I 

oben  S.  5S7  f.  und  Hettner  8.  66  ff.  —  Man  hat  es  Tieck  zum  Vorwurf  e«o*^ 

daas   er  sich  als    .moderner    Aristoiihancs-   in    seinen   humor' 

dem    ^.Kater",   der   ^verkehrten    Welt-    und   dem   «Zerbino- 

dem  Gegenstande   beschäftige  >   den   er   allein   verstehe,    mit    lier   i 

er  die  Phantasie  von  den  Gegeoatänden  der  wirklichen  Welt  auf  «h 

selbem  ablenke  und  dadurch  allen  realistischen  Sinn  autergrahe;  Ai 

gegen  gelsele  sukbe  Vvrirrungeu  seines  Zeitalters,  die  sehr  ernst  ir 

und    rettgiöseu  Zustande   seiues   Vaterlandes  etugriifcu  uTuIian 

1,  :iU4)     lodess  wird   man  dag(^n  zwei  Fragen  aulwerfen  diu. 

es  denn   überhaupt  Tadel  verdiene,    wenn  jemand  sich  nur  mit  d' 

was  er  versteht':'    Zweitens,   ob   es   zu  der  Zeit,   wo  Tieck  jeu«  S 

wohl  ein  anderes  allgemoines  Interesse  unter  den  gebildetem  Stande 

gab  und  seihst  o[u  wichtigeres  und  eindussreicherea  als  das  an  de 

an  dem  Theater?    Wie   weiügo  künuncrtea  sich  damals    ura    dir    \ 

stände  des  Vaterlandes,   un^  in  wie  wenigen  war  auch    erst    der 

andere  als  eine  Kannengiesserpolitik  geweckt!    Dass  abor   unter    li 

Stknden  im  AUgemeiuen   nicht  bloss  grosse  Glricbgultigkeit,    ^ 

achtung  gegen  die  Religion  berrächtc.   wog<*^n   mit  einer    h. 

wobl  wenig  auszurichten  gewesen  wAre,   wurde  schon   allvix) 

und  Inhalt  vou  SchleicrmacherB  „Kedcn  über  diy  Keligloii'-   h» 

40)  Vgl.  S.  Sil  und  Sui  ff.  —   Von   andern   nichuingeu     iieck* 
tischer  Fonn   fallen  vor  das  J-  ISOO   noch  -Lebeu   und  Tod    dr^    kkfuu 
käppchens"    {In   den    .romantiäcben   Dichtungen")   und    ..der    dcuc , iistsk» 
Scheidewege,  eine  Parodie-  (iin  poetischen  Journal ;  in  dem   IX  Tl»!]l  d<r: 
unter  dt.-m  Titel  .der  Autor,   ein  Fastnachtsschwanb't,  41)  Ai 

-Ion"    haben   wir    von  A.   W.  Schlegel   noch   zwei    l.■h-In.^r,^    i» 

*  polemisches,  »Kotzehue's  Rettung,  oder  der  tugendhix: 
sam-romantJsches  Schauspiel  in  2  Anfzügen~,  als  Haiti. 


n-uv-^mtiiiiai-tj  ij(< 


Entwickeltingsg.  d.  Literat.  1773— IS32.  Die  Romantiker.  PoetiacheProduotion.  823 

dessen  ^Ipbigenie"  ihm  als  Muster  vorschwebte,  das  Schauspiel  „Ion",  §  336 
nach   der   Fabel    dos   g:1eichnaTnigen  Stückes  von   Euripides'*;    der 
jüngere,    nach   dem   Inhalt    einer   alten    spanischen   Romanze^    das 
pTraucrspiel  «Alarcos'',  bei  dem  es  auf  nichts  Geringeres  abgesehen 
rar  als  auf  eine  ^Tragödie,  im  antiken  Sinne  des  Worts,  vorzüglich 
lach   dem    Ideale   des  Aeschylus,  aber  in   romantischem  Stoff  und 
)o8tum  **  *\  Was  die  dichterischen  Erzeugnisse  des  altern  Schlegel  über- 
laupt  auszeichnet^  Geschick  in  derComposition  und  Eleganz  der  äussern 
'orm,  gilt  auch  von  dem  „lon^.    Schiller  fand  darin  auch  manches 
ieistreiche  und  schön  Gesagte,  aber  die  schlegelache  Natur  schimmere 
dann  wieder  sehr  zum  Kacbtheil  hindurch ^\    Goethe  rühmte*^  dem 
Stücke  nach :  es  lasse  sich  ohne  Vorliebe  sagen,  dass  es  sich  sehr  gut  ex- 
poniere, dass  es  lebhaft  fortschreite,  dass  höehst  interessaute  Situationen 
lut^tehen  und  den  Knoten  schürzen,  der  theils  durch  Vernunft  und 
feberrcdung,  theils  durch  die  wundervolle  Erscheinung  zuletzt  gelöst 
'erde  ^     Was  Fr.  Schlegels  Drama  betrifft,   so  dürfte  kaum  irgend 


.Ehreopfortc   und  Triumphbogen   für  den  l*hcater-PräBidpDten  Kotzcbue"   (Tgl. 

k  ft5i.  üui,   woraut  ich   weiterhin;  zurückkommen   muss;   uud  „Ein  schön  kurz- 

reUig  Fastnarhtstipiel  vom   alten  uud    neuen  Jahrhundert**  etc.  (zuerst  in  solnem 

ind  Tiecks  Musenalmanach  S.  2'tA  ff-,  in  den  s.  Werken  2.  Ui»  ff.).         42)  Der 

Jou"  lin  jambischen  FAnffüsfilem,  wonebcn  aber  auch  stellenweise  andere,  antiken 

lachgebildeto  Silbenmiisse  gebraurht  sind:  vgl.  III,  256,  5':  260,  :ir»';   26h,  2'i  er- 

!hien  xa  Hamburg  ISO:»,   h  ,  nachdem  er  bereit8  ganz  im  Anfang  des  J.  !SÜ2  zu 

^eimar  und  narhher  auch  in  Berhu  aufgetührt  worden  war,  was  in  Weimar  ein 

^roäses  ZcrwUrl'niss  in  den  graclligenlKrr'isen  veranlasEte  und  in  otfentlichcn  Blftt- 

n   heftige   Streitigkeiten    hervorrief,    worüber  anderwärts   N&heres   mitgethoilt 

rerden  soll.  43 1  Fr.  Schlegels  eigene  Worte  in  der  Europa  1,  I,  ßO.    Der 

iftrcoB"  wurde  in  licrlin  tS02.   h.   herausgegeben  ^(in  den  s.  Werken  S,  219  fF. ; 

tber  die  mancherlei  darin  verwandten  metrischen  Formen   vgl.  Bd,  lil,  254.  27'; 

a  ;  257,  s;  2t*.n,  :t.S* ;  27a,  45).   Nicht  lange  vorher  (l71ts—ISO0i  waren  «Schau- 

iele**  von  Fr.  Rambarh  m  M  B&nden  erschienen,   in  deren  zweitem  sich  ein  auf 

»rselben  Ucberlicfcrung  beruhendes  Stück,   .Mariano,   oder  der  schuldlose  Ver- 

tr^her".  befand,   zunächst  nach  dem  Inhalt  eines  spanischen  von  Lope  de  V<^ 

•beitet     Rambacli  hatte  denaflhen  aus  Bertuchs  -spanisL-hem  Magazin"  kennen 

lernt;  in  einem  besondern  Anhange  zu  seinem  Schauspiel  hatte  er  ausser  dem 

des  Stückes  von  Lope  auch  eine  Uebersetzung  der  alten  spanisr.hen  Itomunzc 

fom  »Grafen  Alarcos   uud  der  Infantin  Solisa"  mitgethcllt  (vgl.  die  n.  allgemeine 

Bibliothek  tu,  3itl   f.  und  Tiecks  Schriften  d,  S.  XLI  f.».     WohrscheinHch  war 

;hlegel  durch  Rambachs  Arbeit  auf  diesen  Stoff  geführt  worden.  44»  Ati 

^rner  I.  2*^**.  —  Körner  erwiederle  darauf  (4.  :v27):   Sprache  und  Vers^itication 

ioe  viel  Gutes,  und  es  gehöre  allerdings  Talent  dazu,  so  etwas  hervorzubringen. 

sr  das  Ganze  komme  ihm  in  seiner  Art  vor  wie  Barthelemi's  Anacharsis,  — 

Oborfltiche  eines  griechischen  Stoffes  in  eijier  eleganten  Form:   pji  fehle  an 

^iefe  und  Innigkeit,  wie  fast  in  allen  Gedichten  A.  W.  ScblegeU,   sei  kein  Mark 

tu  Uesrhöpfen  seiner  Phantasie.  45i  In  seinem  Aufsatz  „Wcimarisrhes 

:  Werke  4^,  ^.  ,40»  Kccht  bezeichnend  aber  für  Goethe  in  seiner 

lung  zum  Publicum  als  Leiter  der  weimariEchen  Bühne  ist  der  Zusatz:  .Uebrigen» 


824     VI.  Vom  «weiten  Viertel  des  XVIH  JahrbunderlÄ  bis  rn  Gaetbc's  Tod. 

§  336  ein  anderes  dramatiscbes  Erzeugniss  der  Roniantiker  zu  nennen 
das  dtircli  den  ganzen  Ideenkreis,  in  dem  es  sich  bewegt,  und  di 
da«  tragische  Grundnioliv  der  Denk-  und  GefUlilsweiHC  der  DeutM] 
zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts  fremdartiger  erscliieo,  sich  ihr  Bebi 
und  abstosaender  gegenüberstellte,  als  der  AlarcoSi  in  welchem 
Tragik  des  Aeschylus  mit  der  des  Calderon  verst-hraolzen  sein  «iil 
In  Bezug  auf  seinen  Kunstwerth  im  Allgemeinen  traf  Könier«  ÜrtI 
gleich  in  allen  Stücken  das  Richtige.    ^  Es  ist",  schrieb  er  an  SohUler^ 
„wirklich  ein  merkwürdiges  Product  für  den  Beobachter  einer  Geittet- 
krankheit.     Man  sieht   das  peinliche  Streben,   bei  allem  Mangel  u 
Phantasie,  aus  allgemeinen  Begriffen  ein  Runstxverk  herrorzobriBgct. 
Dabei  ist  viel  Mühe  auf  einen    künstlichen  RhythmuA   verwendet. 
Trimeter,   TrnchAen  und  Anapästen,   auch  Keime  sind    mit   groiW 
Verschwendung  angebracbt.     Man  sieht,  es  war  völliger  Enist,  setDC 
ganze  Kraft  aufzubieten,  und  doch  bat  das  Ganze  so  etwas  Possier- 
liches,  duss  man  oft  versucht  wird,   es  für  eine  Parodie  zu  haltn. 
Für  den   eigentlichen  Wohlklang  der  Verse  muss  er  gar  keii    ' 
haben.     In  dem  Stil  ist  ein  Gemisch  von  Schwulst  und  Gemei;  • 
bald  das  Abontouerliche  von  Jean  Paul,   bald   der  Ton    der  Stau- 
action"'"^     Gleichwohl   fand  Schleiermacher,  der  es  schon   kannte 
als  noch  daran  gedruckt  wurde,  alles  Einzelne  in  diesem  Traucrsf> 
dnrehaus  und  rein  tragisch  und  das  Ganze,  so  viel  viele  anrb  g( 
die  Composition   würden  einzuwenden  haben,  in  einem   so 
Stil,  dass  alle  theoretischen  Einwendungen  bei  keinem  UnbefAngei 
den  Eindnick   besiegen   wMlrden*^.     Allein  es  kam  andere*    Gi 
der  den  .Alarcos*'  zu  Ende  <le8  Mai's  1S02  in  Fr.  ScblegcU 
wart,  unmittelbar   vor  dessen  Abreise  nach  Paris,  auflUhren  lii 
hatte  zwar  gleich,  wie  er  an  den  illlcm  Bruder  schrieb **,  viel  Vi 
gnügen  an  dieser  Dichtung  gefunden.     Bei  Schiller  dagegen  stie^ 
als  sie  zur  Aufllibrung  kommen  sollte,  grosse  Bedenken  titiL    II 
schien   sie   ein    „so   seltsames   Amalgam   des   Antiken    und   Nea< 
modenien",  daas  sie  weder  die  Gunst  noch  den  Respect  des  Pub! 
cums  werde  erlangen  können;   fast   fürchtete  er»  man  werde  di 
eine  totale  Niederlage  erleiden,   die,   zu  seinem  Bedauern,   nnr  d( 
„elenden  Partei*',  mit  der  er  und  Goethe  zu  kÄmpfeu  hatten  /Kotiehi 


ist  das  Stück  für  gebildete  Zuschauer,   tienen   m  'uitif  sidli 

fremd  suid,  vöUig  klar,  und  (?ppen  den  übrigen,   '^  ^  i  iidl  wwrtt 

es  sich  das  pädagogische  Vcrtlienst,  dass  ea  ihn  veranlasst,  zn  H«n»o  mMn  m- 
mal  ein  roythoIogiBclies  Lexicon  zur  Hand  zu  nehmen  und  sich  Obfr  deo  &K^ 
thonius   und  fZrcchthcQS    aufzuklären".  47)  4,  iSa  f,  4Si  V|L  * 

gleichzeitiges  Triheil  von  Knebel  in  dessen  HterariMbem  NaeWis»  X,  4»  f- 
49)  -Ans  Schleiennachers  Leben"  I,  2I)S  f.         50i  Briefe  Schillen  wd flotfW*» 
An  A.  W.  Schl^el  S.  44. 


V 


Entvickelnngsg. d. Literat  1773— 1S32.  DieKomantiker.  FoetischeProdQctioTi.  S25 

und  Genossen)  einen  Triumph  bereiten  wdrde^'.  Goethe,  obgleich  §  335 
nan  vüllig:  derfielben  Meinung  Ub(^r  das  Stück,  meinte  doch,  dosä 
alles  gewagt  werden  niüsste,  da  am  Gelingen  oder  Nichtgelingen 
nach  aussen  gar  nichts  läge'\  Was  Schiller  gefürchtet  halte,  trat 
ein:  der^Alarcos"  fiel  bei  der  AuflUhrung  eigentlich  durch.  Freilich 
versicherte  A.  W.  Schlegel*'",  „dieses  hen-liche  Werk**  habe  nicht 
allein  bei  der  Lesung  alle  diejenigen  ergriffen,  welche  wUssten, 
warum  es  zu  thun  sei,  sondern  auch  bei  wiederholter  Aufführung  in 
Weimar  und  Lauchi*tridt  die  grösste  Wirkung  getban".  Aber  andere 
gleichzeitige  Berichte  aus  Weimar  selbst  bezeugen  ein  völliges  Miss- 
lingen".  —  Von  ziemlich  geringem  poetischen  Belang  sind  Bern- 
hardi's  humoristieche  Sachen  in  dramatischer  Form,  die  in  den  „Bam- 
bocciaden"  erschienen*". 

Ira  lyrischen  Fach  waren  dic'GrUnder  der  Romantik  sehr  frucht- 
bar. Aber  ihre  Lyrik,  so  riel  Innigkeit  und  Tiefe  des  Gefühls  sich 
darin  auch  theilweise.  zuraal  in  den  Gedichten  von  Novalis  und 
Tieck,  ausspricht,  leidet  im  Allgemeinen  daran,  dass  sie  erstens  in 
ihrem  Gehalt  zu  verschwommen  und  nebelhaft  ist  und  zu  wenig 
fassliche  und  scharf  umgrenzte  Bilder  gibt,  indem  sie  zu  häutig  in 
einer  gestaltlosen,  mystischen  Unendlichkeit  schwebt;  dass  sie  zweitens 
entweder  in  ihren  Formen  zu  riel  Fremdartiges  und  Erkünsteltes 
bat,  oder  auch  drittens  die  Form  mit  einer  zu  springenden  Willkür 
in  dem  Gebrauch  [der  in  sich  wechselnden  Versarten  behandelt, 
wie  sie  weder  der  kunstmässigen  noch  der  volksmässigcn  Gliederung 
de«  echten  Liedes  entspricht.  Der  erste  Mangel  haftet,  wenn  man 
die  geistlichen  Lieder  von  Novalig  und  einige  weltliche,  die  seinem 


bi)  An  Gofithe  G,  124  f.  52)  -Was  wir  dabei  gewinnen'',  schrieb  er 

(6*  126  f).  und  das  ist  wieder  cliarakteristisch  gemig  für  spine  Theaterleitung. 
.acherjot  mir  liauiitslkchlich  das  zu  sein,  Idaea  wir  diese  äusserst  obligaten  Silbcn- 
masae  sprechen  lassen  tmd  sprechen  Iniren".  üebrigens  kOnne  man  auf  das  stoff- 
artige  Interesse  doch  auch  etwas  rechnen.  IÖ3)  lu  der  Zeitung  fftr  die  ele- 

gaatG  Welt  lh02,  X.  KU.  Sp.  SI2.  '54i  Vgl.  auch  den  R rief  au  Fou([UfS  a. 

Werke  s.  I  Itl.  5f»  Von  Schiller  erfahren  wir  bloss  (an  K6mer  4.  2Hhk  das 

Stnck  sei  in  Weimar  nur  einmal  und  völlig  ohne  allen  Beifall  gtynbeii  worden: 
Goethe  hohe  sich  allenlings  damit  compromittiert  (vgl.  üoethc's  WVrke  31,  I22t. 
TJÄhrrc  Angaben  über  die  Haltung  des  Publicuma  bei  der  Auffuhruu«  sind  ans 
einem  Hriefe  von  Herders  Gattin  an  Knebel  (dessen  Uterarischer  Nachiass  2.352», 
ans  der  Anzeige  des  Alarcos  von  Martj-ni  Lft(runa  in  der  n.  allgemcinon  d-  Biblio- 
thek 74,  35'.>  f.  und  aus  einem  Bericht  in  Koizebue's  -FroimUlhigem"  1^03,  N.  ö, 
,3.  I»  f  XQ  entnehmen.  56»  -Die  Witzlinge.     Ein  MiniaturgemAhMe-  (w'i«dcr 

ickt  in  den  Relinuieo  etc.  2.  l  ff.',  »nd  die  Posse  .Seebald.  der  Mle  Nacht- 
•htef  (vgl  S.  TU,  40).  -Die  vernünftigen  Leute-  »anoh  In  dn»  Heli-inien  2« 
22&ff.i  ist  nach  Tiecks  Vorbericht  zum  l.Theil  der  Schriften  S.  XXI?  tob  aiid«s«r 
Hand,  wahrscheinlicii  von  Bemhardi'a  Gattin. 


^WP 


820    VI.  Vom  zweiten  Viertel  de«  XVm  JalirhundcrU  bis  tu  Goetite*!  Tod 

§  330  Koman  einge9clm1tet  sind"',  so  wie  einige  mehr  im  Vollutton  geLalteae 
Lieder  von  Tieck"  ausnimmt,  mehr  oder  weniger  Allen  nbrigvn 
lyrischen  Sachen  dieser  beiden  Dichter"  und  vorzüglich  auch  deoen 
von  Fr.  Schlegel***  an,  während  die  Lyrik  des  altern  Bnider». 
wie  in  andern  Gattungen,  so  auch  in  dieser  mehr  den  Weg'en  Gi>etl 
und  Schillers  folgte,  sich  im  Ganzen  freier  davon  gehalteti  ImI 
Der  zweite  Vorwurf  trifft  vornehmlich  die  Sonetteupocsie  der 


hl)  Zuerst  in  Schlegels  uudTiocksMuseiialmaDach;  in  den  ScfarÜtcn  2.2*1 
sie  gehören  mit  dem  Kreuzzugsliedo  im  Üftcrdingen  (1,  6S  ffj,  so  nie  nn^hrtvt 
übrigen  Lieder  in  dieäom  Roman,  namentlich  das  auf  den  Wein  M,  141  ff. ;  es  •! 
auch   schon   im  Musenalmanach  i   unstreitig  zu   dem  SrhönBtr>n,    was  die  roi 
tische  Lyrik  hcnrorgebraclit  hat,  5St  Alle  Ij-rischen  Stücke  von  Ti«k. 

vor  1806  gedruckt  wurden  und  nicht  in  Schillers  Musenalmanach  and  in  dco  T«t 
ihm  und  Ä.  W.  Schlegel  herausgegebenen  erschienen  waren,  sinii.  mit  AusnabiB 
von  20  Sonetten  im  poetischen  Journal  und  einigen  Stücken  in  den  .Hemm- 
ergiessungeu"  etc.  und  in  den  . Phantasien  Über  die  Kunst",  seinen  ci 
und  dramatischen  "Werken  eingefügt,  die  meisten  dem  , William  LotcII". 
.Stcrnbald",  der  »Magelone"  und  dem  «Zerbino",  einige  auch  dem  .  Btaobcrt*» 
«verkehrten  Welt-,  der^Genoveva- unddem -Octavianus"  <vgi.  das  .rhroi 
VerzeichnisB"  etc.  vor  dem  3.  Theil  der  «Gedichte*  und  dazu  K^pke  2«, 
worin  aber  einige  Angaben  mangelhaft  sind).  b9>  Was  Novalla 

habe   ich    hier   insbesondere   seine   theils  in  Prosa  tbeils  in  Vmen    at>i 
.Hymnen  an  die  Is^acht"  im  Sinne  (zuerst  im  Athenäum  gedruckt;  vgl.  S.  6IA, 

60)  Die  altem  lyrischen  Gedichte  von  ihm  erschienen  venniuelt  im  AU*- 
xiftum  (vgl.  S.  (U6.  oben),  in  den  Charakteristiken  und  Kritiken  U,  321,  t^ 
Sonett,  „Etwas  das  Lessing  gesagt  hat*-*,  in  v.  Seckendorfs  , Ost^r-Tasr htfttbwt 
von  Weimar  auf  iSol-  idas  Sonett  „An  Tieck",  s.  Werke  9»  22).  im  Mi 
almanach  von  seinem  ßrudcr  und  Tieck  (vgl.  S.  tiüB,  26k  in  dem  von  R 
meliren  (vgl,  S.  ti5u,  h2'),  vor  dem  Florentin  (vgl.  tiSit,  54'),  in  der  Ei 
S.  Iiß4,  110)  und  in  dem  von  ihm  herausgeg.  «Taschenbuch  für  dos  JaJir  M 
1^06".    Eine  Sammlung  seiner  -Gedichte-  veranstaltete  er  erst  (Rörlloi 

61)  Wo  seiuc  Altern  hierher  gehörigen  Gedielte  xuersl  crscfaioocn. 
12';  536,11";  ti<5;  (>*;•>.  Uli':  rifiti.  124'.  die  erste  Sammlung  derselben  $.<>6K 
geführt.    Wenn  Schlegel  nach  der  obenS.  so4f  angozogenen  Stelle  ftu  den: 
an  Fouqui?  selbst  sugnh.  dass  viele  seiner  Arbeiten  uur  als  Kunsiabongm  J 
trachten  seien,  so  bezeichnete  er  dagegen  auch  mehrere,  zu  denen  Uuiciap< 
Itches  Getüht  getrieben   habe,   die  daher  auch  am  meisten  das  Gen&Üi 
würden.     Diese  Stücke,   in  denen  entweder  wirklich  ein  warmf^ .   ItmJire?  OfftfcL 
oder  ein  tieferes  Ergriflcnsein  von  grossen  Gegenstftndcn  j-i 
Elegie  an  seinen  verstorbenen  Bruderf-N'eoptolemas  und  Ih  i. 

ISOrt.  8.  Werke  '2.  IM  ff),  das  ^Todtenopfer  für  Auguste  Böhmer-  (»«in^äw»> 
tochter,  auch  aus  dem  J.  ISOi»;  s  Werke  I.  137  ff.i  und  die  FJcfir  .Rom*  MU 
dem  J.  ISOS:  s.  Werke  2,  21  ff).  Eine  ftUero.  an  Goethe  gerichtHe  Kle^  .* 
Kunst  der  Griechen"  (ITyi*:  s.  Werke  2.  5  ff.)  hielt  selbst  SchiU"-  ■''- 
, dörre  und  herzlose  Kftlte"  in  Schlegels  eigenen  Gedichtet»  fand 
trotz  ihrer  grossen  Länge  für  eine  gute  Arbeit,  worin  viel  ^rU  ■: 
grössere  Warme  sich  herausfühle,  als  man  von  Schlegels  WcrU  ■  j.  7 
und  mehreres  ganz  vortrefflich  gesagt  sei  (an  GoHhe  ö.  lii  t.l 


Ennrtckelungsg.  d.  Literat.  1773—1832.  DieRomaDÜker.  PoeÜscheProduction.  $27 

blegel,  der  dritte  die  Mehrzahl   von  Tiecks  lyrischen  Ergüssen,  §  336 
Wer  einen  ungefähren  Ueberblick  Über  die  Lyrik  der  altern  Roman- 
tiker gewinnen  und  sie  im  Aligemeinen  von  ihrer  guten  und  ihrer 
mangelhaften   Seite  keunen   lernen  will,    der  greife  zunächst  nach 
dem  Musenalmanach   von   A.  W.  Schlegel   und  Tieck.     Ich  glaube, 
er  wird   mit  mir  dem  Urtheil  Körners*''  über  den  lyrischen  Inhalt 
dieses  Almanachs    im  Ganzen  beistimmen.     Körner   spricht   zuerst 
über  Tiecks  Romanze  ^die  Zeichen  im   Walde",   worin  das  Gräsa- 
liche  des   Inhalts  alle  Schönheiten   des   Rhythmus  und  des  Reims 
efordert  hätte,  um  den  Geschmack  zu  versöhnen,  welcher  Forderung 
ber  keineswegs  Genüge  geschehen  sei.     Und  nun  heisst  es  weiter: 
In  den  , Lebensmelodien"  (von  Tieck)'"  ist  die   Form  anmuthiger, 
aber  im  Stoffe  eine  Heilsame  Mystik  von  der  Art,  wie  man  sie  in 
eu  meisten  Gedichten  des  Almanachs  von  beiden  Schlegels  und 
on  Novalis  findet.    Ich  ehre  gewiss  jedes  echte  Gefühl  und  kann 
t  jedem  sympathisieren,    der  sich  Über  ein   Grashälmchen   freut, 
er  den  irgend  eine  religiöse  Vorstellung  begeistert;  —  aber  das 
niversum   kann   mau  nicht  lieben  und  darstellen.    Darauf  geht  es 
ber  eigentlich  bei  dieser  Sccte  hinaus;  und  diess  ist's,  ^vorauf  diese 
Herren  so  vornehm  thuu.     Das  Herz  fordert  ein  Bild  von  der  Phan- 
ie,   wenn  es  sich  erwärmen  soll;   aber  diese  Poesie  gibt  keine 
ilder,  sondern  schwebt  in  einer  gestaltlosen  Unendlichkeit "".    Um 
ber  zu  erfahren,  wie  man  in   dem  Kreise  der  Romantiker  selbst 
iese  Lyrik,  an  der  Kömer  so  wenig  Gefallen  fand,  auffasste  und 
heoretisch  zu  begründen  suchte,  inuss  man  Hernhardi's  Beurtheilung 
es  Musenalmanachs**  lesen.    Schon    ohen*^  ist  angeführt  worden, 
8  Bemhardi  drei  Gattungen  von  Gedichten  unterschied:  die  ein- 
iben,  die  allegorischen  und  die  mystischen,  und  dass  in  dieser 
ritten   Gattung   das  Universum    als  solches  aufgestellt  und    ange- 
baut würde.      pWenn   nun  aber",  fragt  er,   „kleine,   nicht  ganz 
Tische  Ganze   mystisch  dargestellt   werden  sollen,   wie   ist   diess 
öglicb?    Welches  Streben  muss   hier    der   Dichter   haben?"     Die 
ntwort  lautet:  rKein  anderes,  als  dass  er  das  Einzelne,  den  Aus- 
hnitt  des  Ganzen,  ausdrücklich   und   bestimmt  zum  Uuiverso  um- 
eutet.   hierdurch   die  mystische  Ansicht  voraussetzt  und  sie  durch 
ie  Darstellung  des   Einzelnen  rechtfertigt.    Es  ist  klar,   dass  auf 
iese  Art  sogar  die  mystische  Poesie  eine  Allegorie  darstellen  könne, 
ie  nämlich  das  allegorische  Gedicht  eine  höhere  Potenz  des  ein- 
eben, das  mystische  eine  des  allegorischen  war,  wie  hierdurch  der 


62)  All  Schiüer  1.  251  f.  (^3»  In  dossen  Godichten  1.  122  ff. 

►4)  Vgl.  hunu  ftucli  Iletfncr  S.  59  ff.  iyb)  Im  Kynosarge.s  t,  t2l  ff. 

1)  S.  773,  Aum.  (16. 


S2S    VI.  Tom  zvetten  Vicrtd  des  XVUI  Jahrhunderts  Vis  tu  OocUif*fi  Tod. 


§  3'36  Mystieismus  als  die  hOcbste,  letzte  Spitze  gesetrt  ward:  so  kann  der 
Dichter  wieder  vom  Mystizismus  als  dem  Ersten  aufsuchen  und  cii 
einzelnen  Gegeustand  mit  Willkür  dahin  umdeuten  \     Bemhardi 
hierauf  zuiiÄchat  auf  Fr.  Schlegels  ^AbendrMhe*"^  ein.     Er  bc^eic] 
^das  Ganze"  als  r,ein   mystisch -lyrischeJi  UnndschafN 
nahenden  Abends,  eine  Schilderung  nach  den  zwei  li  i  , 
der  Bcbeidendon  und  untergegangenen  Sonne".    Der  Dichter  habe 
sich  einen  bestimmten  Absclinitt  des  Universums  gewählt  und  du 
mit  Freiheit  zum  Bilde  des  Alls  umgedeutet.     E«  wäre  alsr»  eiu 
gorisch- mystisches  Gedicht,   und  indem  der  Dichter  sich  oinnf 
der  Oberfläche  der  Natur  gehalten,  so  entstehe  ihm  eine  plttoi 
Tendenz,  welche  aber  dem  Mystieismus  keinen  Ahbnich  thue,  ehei 
wenig  wi%  die  durch  das  Ganze  gehende  Klarheit  (!)  und  Simplii 
Diese  „ Abendröthe^,  ein  „vollendetes  Gedicht**,   wäre  allein 
hinreichend,  die  Ansprüche  Schlegels  auf  den  Namen  eines 
Dichters   zu    rechtfertigen ''\     Auch    FV.   Schlegels    ..Romanie  t«d 
Liebt"**  sei  ein  mystisches  Gedicht;  hier  werde  das  Univer«uin  dmth 
eine  .Vermischung  aller  Metaphern  und  eben  dadurch  die  ab^oht« 
Identität  bewnndcrnswHrdig  ausgedrückt '*.  Nicht  minder  an 
durch  ihre  Form  als  durch  ihren  Inhalt  seien  desselben  Ij.v. 
die  Poesie,  Natur  und  Mystik  beztiglicben  «Hymnen"   in  S^ 
form"".     Der  grOsste  Theil  von  Novalis'  ^gcifitlicbcn  Liedern 
einer  kindlichen,  elegischen  Stimmung  gedacht  und  drücke  in 
faltige  VerbältniEsc  des  religiösen  Menschen  zu    dem    GegreiN'.'i^ 
seiner  Liebe  aus,  und  obgleich  der  Zuftanimenhang  sehr  loci 
lose  gehalten  sei ,  so   erhalte  doch  dadurch  das  Ganze  eine  ^ 
und  einen  gleichsam   historischen   Faden,   welchen    die  mystenu« 
Hymne,  die  Bedeutung  des  Abendmahls  erklärend,  auf   ' 
und  rührendste  beschliesse.    Zu  den   mystischen   G^ 
in  diesem  Almanach  werden,  ausser  dem  „Zornigen **  und  der.Stt^ 
mutb""',  als  dem  symbolischen  Ausdruck  der  Thätigkeit,  und  affpy 
der  „Einsamkeit "^^j  ganz  vorzüglich  die  ^Lebenselemeiite*'  gei 
Hierin  sei  eine  Umdeutung  des  Körperlichen  und  Irdischen  in 
verschiedenen  VcrbÄltnissen  zum  Geistigen  und  zur  Natur  des  Men^^ 
enthalten.     Ein  vollendetes  Meisterstück  aber,   ein    nicht  geiu.; 
bewunderndes  Kunstwerk  (!)  sei  die  mystisch-dramatische  R< 
„die  Zeichen  im  Walde". 

Am  leersten  sind  die  verschiedenen  Arten  der  didaktiseben  P'' 


67)  S.  "W'erlcfl  S,  lÄfl  ff.  68)  Vieso  AnfTiLwuncr  und  Deutxuig  dtir 
röthe"  fand  Fr,  Schlegel  selbst  ^in  aUem  Kruste  gründlich":  vgl.  Vi 
Galerie  I,  23i).  69)  S.  Werke  S,  107  ff.  70)  S.  Werke  9,  in  C 

71)  Gedichte  2,  265  ff.;  I,  VS  ff.  72)  I,  105  ff. 


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^■urc 


twickelaugsgang  der  Litcratar.  1773— ts:t2.  DieRomautIker.  Anfclnduogca.  S29 


usg^gangen;  will  man  nicht  die  in  Prosa  gesehriehenen  „Lehrlinge  §  336 


zu  Sais"  von  Novalis  hierher  rechnen,  so  wird  die  ganze  Gattung  nur 

■ch  einige  Gedichte  der  beiden  Schlegel  und  Tiecks   vertreten; 

'on  dem  filtern,  ausser  verschiedenen  Epigrammen,  vornehmlich  durch 

Iden  ^Prometheus"  (in  Ter/ineu,  1797),  „die  Erfindung  des  Kusses- 
(in  reimlosen  FtinffUsslem,  1799)  und  den  ^Bund  der  Kirche  mit 
den  KUuöten"  'in  achtzciligcn  Stanzen,  1800)";  von  dem  jungem 
Burch  die  Terzinen  ,,An  die  Deutschen"  (1800),  den  „Hercules  Musa- 
ketea"  (in  Distichen,  tSOl  i,  einen  Prolog  und  einen  Epilog  zu  Lessings 
Nathan  (der  eine  in  Trimetcrn,  der  andere  in  Terzinen,  1804),  und 
I  „ Eiilenspiegels  guten  Rath""  (in  kurzen  Reimpaaren,  1806)";  von 
■tf  ieck  durch  die  in  Terzinen  abgefasste  „  Neue  Zeit "  ( 1 800) ". 

B  §  337. 

^B  Die  Stifter  der  neuen  Schule  hatten,  me  wir  gesehen  haben, 
^Kron  Anfang  an  in  ihren  Schriften  wenig  Neigung  gezeigt  die  herr- 
Bschenden  Ansichten  über  den  Stand  und  Werth  der  vaterländischen 
Literatur  zu  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  zu  theilen,  das  grosse 
Ansehen,  in  welchem  mehrere  Ältere  Schriftsteller  standen,  als  ein 
g-unz  verdientes  unbedingt  anzuerkennen  und  die  Gunst,  deren  viele 
jUugere  von  Seiten  des  Publicums  genossen,  auch  nur  im  geringsten 
gerechtfertigt  zu  linden.  Sie  waren,  indem  sie  sich  mit  ihrer  theils 
humoristisch  poetischen  theils  ernst  wissenschaftlichen  Kritik  den 
vorwaltenden  Literaturtendenzen  entgegenwarfen,  in  ihren  launigen 
Meckereien  und  ihrer  scherzenden  Satire  wie  in  ihrer  herben  Polemik 
weit  genug  gegangen,  um  nicht  bloss  vielfach  zu  reizen,  sonderu 
ch  vielfach  zu  erbittern.  Sie  hatten  ferner  durch  ihre  Kunstlehre 
el  Änstoss  und  Aergernias  erregt;  ihre  Vorliebe  für  gewisse  Zeiten 
d  deren  religiöse  wie  anderweitige  Bildungszustände  hatte  sich 
fs  schroifste  einer  lang  hergebrachten  Auflassung  jener  Zeiten  und 
er  im  protestantischen  Deutschland  tief  wurzeludeu  Abneigung 
en  ihre  religiösen  Anschauungen  und  Formen  entgegengesetzt, 
dlich  hatten  sie  in  ihren  eigenen  dichterischen  Hervorbringungen 
ege  eingeschlagen,  die  im  Stoflflicheu  wie  im  Formellen  der  Poesie 
eit  abführten  von  allem  Herkömmlichen  und  Gewohnten  und  dabei 
och  keineswegs  den  wahren  Zielen  einer  vaterlfindischen  Dichtkunst 
ufUhren  schienen.  Es  war  daher  sehr  natürlich,  dass  ihnen  bald 
Ireichc  Gegner  erstanden,  ja  dass  fast  das  ganze  ältere  Geschlecht 


73)  AJJe  drei  iu  den  8.  Werken  I,  49  ff.;  73  ff.;  87  ff.  74)  SÄmmtlich 

den  a.  Werken  %  \:\  ff.;  S,  3i»T  ff.;  31«  ff.;  %  5S  ff.  75)  Im  poetischen 

mroal  l,  1,  u  ff. 


S30    YI.  Vom  zweii«n  Viertel  dos  XVIIl  JfibrhuudGrts  lua  xn  Goväit'i  ItA. 


g  337  der  deutschen  Schriftsteller  gegen  sie  aufgebracht  und  von  allen  Seil 
her  die  Federn  gegen  sie  in  Bewegung  p;esetzt  wurden.    Es  -•: 
neben  einer  mehr  im  Stillen  sich   bildenden  und  nur  im  l  . 
Verkehr  sich  kund  gebenden  Opposition  gegen  die  neue  Schule  öl 
haupt  oder  gegen  einzelne   ihrer  Mitglieder,  ein   i 
literarischer  Krieg  an,  der  sich  der  Zeit  nach   un 
Xenienkampf  ansehlnss  und   mit  der  grössten   Heftigkeit    und 
bittening  von  beiden  Seiten  thcils  in  besondern  Schriften  und 
blättern,    tbeils   in   kritinchen  und   belletristischen  Journalen   bis 
den  Jahren   geführt   wurde,    wo  die  unglücklichen   Schlachten 
Oesterreichcr  und  der  Preiisseu  ^e^on  die  Franzosen  die  GeroOll 
in  Deutschland  von  literarischen  Hiindeln   ablenkten    und   ernsi 
wichtigern  Interessen  zuwamlton. 

Keiner  unter  unsern  iiltem  berühmten  Dichtern  hatte  durch 
Werke  einen  unmittelbarem  und  nachhaltigem  Kinäuss  auf  die  Ho- 
mnntiker  ausgeübt,   als  Goethe,   keinem   hatten  sie  von 
unbedingter  gehuldigt,  und  au  keinem  hielten  sie,  nanieia... 
und  die  beiden  Schlegel,  in  ihrer  Verehrung  fester;  keiner  beortb^ 
sie  aber  auch   in  ihren  Bestrebungen  fortwährend    mit  nichr 
keit  und  Gerechtigkeit  und  blieb  in  einem  freundlicbern  VerhJÜl 
zu  ihnen,  als  6r\    In  den  beiden  Schlegel  schätzte  er  besonders  die 
Kritiker   und    Rekämpfer   der   »chlcchton    Tagesliteratur.     Ah  d» 
zweite  Stück  des  Athenäums   erschienen  war  und  Schiller  ge5u«*rT 
hatte',  „die  naseweise,  entscheidende,  schneidende  und   cii 
Manier  in  den  Fragmenten  mache  ihm  physisch    wehe**. 
Goethe':  ;,Das  schlegelsohe  Ingrediens  in  seiner  ganzen  Iii^ 
scheint  mir  denn  doch  in  der  Olla  potrida  nnsres  deutschen  Jounifl^ 
Wesens  nicht  zu  verachten.     Diese  allgemeine   Nichtigkeit,    P»rt»- 
sucht  fUr's  äusserst  MittelmJiesige ,   diese  Augondienerei,  die  Katiei' 
buckelgebärden,   diese  Leerheit  und  Lahmheit,    in  der  die  weiii|8i 
guten  Producte  sich  verlieren,   hat  an  einem  solchen  Wcspennent 
wie  die  Fragmente  sind,  einen  flirchterlichen  Gegner.    Auch  ist  FrtB«! 
Ubique  (Bottiger),   der  das  erste  Exemplar  erhielt,   schon  gtttthlÄI 
herumgegangen,   um  durch   einzelne  vorgelesene  Stellen  da**  '"""" 
zu  discreditieren.    Bei  allem,  was  Ihnen  daran  mit  Recht  v 
kann  man  doch  den  Verfassern  einen  gewissen  Ernst,   eine 
Tiefe  und  von  der  andern  Seite  Libernlitüt   nicht  ablS'trr 
Dutzend  solcher  Stücke  wird  zeigen,  wie  reich  nnd   p* 
sind".    Allerdings  fand  er,  wie  er  ein  Jahr  si»fiter  an  Schiller  - 


§  337.     1)  Diess  erhellt  nicht  nar  aas  viden  «Stellen  der  swiGcWn 
and  Schüler  KewechscUou  Briefe,  sondern  auch  ans  don  Briefen  beider  SB 


Schlegel. 


2)  Au  Goethe  4.  252< 


3)  4,  r^A  l 


^ntwickelnogsgaog  der  Literatur.  1773— 1632.  I>ieBomanlUcer.  Anfeindungeu.  S31 


ftls  ihm  dieser*  sein  ürtheil  Ober  den  ^litei'ariscben  Reicbsanzeiger"  §  337 
im  Athenäum  mit^^etheilt  hatte*,  dass  es  den  Leiden  Brtidern  leider 
au  einem  gewissen  inncrn  Halt  mnn^lC;  der  sie  zusammonlialte  und 
^festhalte.    Gleichwohl  nahm  er  ihr  Verfahren  wieder  in  Schutz,  auch 
Vauf  die  Gefahr  hin,  von  ihnen  geleg:entlich  selbst  gerupft  zu  werden. 
Er  wollte  es  ihnen  lieher  verzeihen,  wenn  sie  etwas  verletzen  sollten, 
als   ^die  infame  Manier  der  Meister  in  der  Journalistik  \    Die  Im- 
pietät  gegen  Wieland  im  Reichsanzeiger',  meinte  er.  hätten  sie  unter- 
lassen sollen;   doch  was  wolle  man   darüber  sagen,   habe   man   sie 
unter  seiner  Firma  doch  auch  schlecht  tractiert.     Als  die  neue  Jenaer 
Literatur-Zeitung  im  Werke  war^  lag  Goethen  viel  daran,  für  dieselbe 
^A.  W,  Schlegel  mit  seinen  Freunden,  namentlich  Steffens,  Bernhardi, 
BSchjeiermacber,  als  Mitarbeiter  zu  gewinnend     Noch  in  seinem  Alter 
Hgeetand  er,  es  sei  ihm,  neben  der  Verbindung  mit  Schiller,  von  der 
HMripBten   Wichtigkeit  gewesen,    dass    die  Gebrtider   Humboldt    und 
^^Hlegel  angefangen  hätten  unter  seinen  Augen  aufzutreten;  es  seien 
ihm  daher  unnennbare  Vortheile  entstanden*.    Gegen  Tieek,  dessen 
Persönlichkeit  ilim  gleich  wolil  gefallen   hatte,   blieb  Goethe  immer 
freundlich  gesinnt'-*.     Im  Jahre   1824   äusserte  er'":   .Ich   bin  Tieck 
herzlich  gut,   und  er  ist  im  Ganzen   sehr  gut  gegen  mich  gesinnt; 
allein  es  ist  in  seinem  Verhaltniss  zu  mir  doch  etwas,  wie  es  nicht 
sein  sollte.     Und  zwar  hin  ich  daran   nicht  Schuld,   und  er  ist  es 
auch  nicht,   sondern  es  hat  seine  Ursachen  anderer  Art.    Als  näm- 
lich  die  Schlegel  ansengen  bedeutend  zu  werden,  war  ich   ihnen 
zu  mächtig,  und  um  mich  zu  balancieren,  mussten  sie  eich   nach 
einem  Talent  umsehen,   das  sie  mir  entgegen  stellten.     Ein  solches 
fanden  sie  in  Tieck,  und  damit  er  mir  gegenüber  in  den  Äugen  des 
Publicums  genugsam  bedeutend  erschiene,  so  mussten  sie  mehr  aus 
ihm  machen ,   als   er   war.     Dieses   schadete   unserem   VerhäUniss ; 
denn  Tieck  kam  dadurch  zu  mir,   ohne  es  sich  eigentlich  bewusst 
zu  werden,  in  eine  schiefe  Stellung.    Tieck  ist  ein  Talent  von  hoher 


^ 


4)  6,  tO^  f.  5)  5,  tüO  f.  6)  Vgl.  S.  715  f.  7l  Vgl.  Briete 

Schillers  uod  Cioethe'a  au  A.  W.  .Schlegel  S.  531-,  47;  49  f.  8)  Eckermauua 

Gespnicbe  I,  21V).  Dass  Goethe  indoss,  wenn  er  ftuch  ilie  «Krankheit-*  haiti*. 
-sich  ^r-r  Schlegel  anzunehmen^  keineswegs  mit  dem  Treiben  der  Brüder  iu  ftllcu 
Siucken  zufrieden  war  und  schon  l>t02  im  Gespräch  «bitterlich  über  sie  schimpfen 
und  schmähen"  konnte,  erfahren  wir  aus  Srhillers  Brief  an  Körner  4,  'i^*^  Vgl. 
hierzu  Riemer.  MittheUiiugeJi  1,  :U2  ff.  und  von  l'rtbeilon  Ooeiho'i  über  di« 
Schlegel  aus  seiner  spätem  Zeit,  ausser  der  gleich  anzufahrenden  Suilr  in  Kckcr- 
iMims  Gesprächen,  den  BrietVochsel  mit  Zelter  0.  31^  ff.  \h  YifL  an  Schiller 
ft,  ttH:  nricfe  ScWners  undGoethe's  an  A.  W.  ScUeeol  S  HU;  45,  Uoetbe's  Werke 
31,  SBj  !»3  und  Köpke  a.  a.  0.  i,  2äu  ff.  UM  Im  GespriVch  mit  Kckenunnn 

t.  143  f. 


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832    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XHII  JahrbimderW  bis  tu  GocOie's  Tod. 


§  337  Bedeutung,  und  es  kann  seine  auäserordentlicbeo  Verdiengte  uienu 
besser  erkeuuou  als  ich  selber;  allein  wenn  man  ihn  ober  ihn  sei 
erbeben  und  uair  irleichstellen  will,  so  ißt  man  im  Irrthum.     Ich  kann 
dieses  gerade  hcrauBsagcu,   denn   was  geht   es  mich  an»  ich  hal 
mich  nicht  gemacht.    Es  wäre  ebenso,  wenn  ich  mich  mit  5h 
speare  vergleichen  wollte,  der  sich  auch  nicht  gemiirht  hat,  und 
doch  ein  Wesen  höherer  Art  ist,   zu  dem  ich  hinaufblicke,  u 
ich  zu  verehren  habe". 

Ganz  anderer  Art  war  die  Stellung  Schillers.  Wiolanfls 
Herders  zti  ihnen.  Wie  Schiller  zuerst  mit  Fr.  Schlegel  verfciB 
worden,  dann  auch  die  Verbindung  mit  dem  altern  Druder  sich  pl 
lieh  gelöst  und  nur  locker  wieder  angeknüpft  batte^  findet  sich  be 
oben  augegeben".  Schiller  war  fortan  gegen  alles  von  vom  h 
eingenommen,  was  von  den  beiden  BrUderu  und  ihren  Frcandeu 
au8gieng'\  In  einem  Briefe  an  Goethe"  kann  Schiller  zwar  einen 
gewissen  Ernst  und  ein  tieferes  Eindringen  in  die  Sachen  den  beiden 
Schlegel,  und  dem  Jüngern  insbesondere,  nicht  absprechen ;  aber  di<*f 
Tugend  sei  mit  so  vielen  egoistischen  Ingredienzien  venniscbl,  da» 
sie  sehr  viel  von  ihrem  Werth  und  Nutzen  verliere.  „Wenn  dai 
Publicum",  hcisst  es  weiterhin,  pCine  glückliche  Stimmung  für  da» 
Gute  und  Kechte  in  der  Poesie  bekommeu  kann,  so  wird  die 
wie  diese  beiden  es  treiben,  jene  Epoche  eher  verzögern  als 
schleunigen;  denn  diese  Manier  erregt  weder  Neigung  noch  Vi 
trauen,  noch  Kespect,  wenn  sie  auch  bei  den  Schwiltzem  und  Seh; 
Furcht  erregt,  und  die  Blosse,  welche  die  Herren  sich  in  ihrer 
seitigen  und  übertreibenden  Art  geben,  wirft  auf  die  gute  S 
einen  fast  lächerlichen  Schein".  Im  Juli  ISOO  schrieb  er  an  Goethe 
„Ich  lege  ein  neues  Journal  bei,  —  woraus  Sie  den  EinfliiM  itt 
Bchlegelschen  Ideen  auf  die  neuesten  Euusturtheile  zu  Ibrer  Ver- 
wunderung eraehen  werden.  Es  ist  nicht  abzusehen,  wag  am  dieiea 
W^en  werden  soll;  aber  weder  für  die  Hervorbringung  selbst,  aork 
für  das  Kunstgefühl  kann  dieses  hoble,  leere  Fratzenwcacn  ersprict«' 
lieh  ausfallen''.  Nach  einem  Briefe  von  Schillers  Gattin  aus  dco 
Anfang  des  Jahres  tS02'*  stand  in  dem  Athenftum  „wahrer  l'ijiiiDD*. 
und  Schiller  habe  gemeint,  wenn  man  es  fasste.  so  w&re  e«  n» 
aohlimmes  Zeichen  für  die  eigene  Geistoefähigkeit,  denn  da  ffilMt 


1 1)  S.  43S  ff.  und  596  f.,  15';  vgl  auch  S.  629  ff.  12»  Zvä  Bsaf^ 

BteUoii,   die  diesB  iu  Betreff  der  beiden  Schlegel  bezeugen,  aiod  S.  4A|  Uff  da 
Uriefwi'cbscl  mit  Goethe  (3,  372  f.,  und  4,  '259)  auszugsweise  mltgetbcflt 

13)  £r  ist  itcr  zweite  der  obeo  augcgebenen,   and   eothAlt  die  ErvMifiinf  Mf 
Gocthe'e  Auslassongen  aber  die  Fragmeate  im  AtbenäiUD;  rgl.  Abul  3 

14)  h,  2S3  r  15)  Briefe  von  Goethe  liBd  dessen  Matter  an  Fr  Frtn.  t« 
Stein,  hcrausgeg.  von  Ebers  uod  KahJert.   1846.  S   Beilagen  S.  15T. 


I 


^9¥^m 


KntwickcluDgsg.d.  Liter.  177»— tS32.  Die  Bom&Dtikcr.  VerhiUtniss zu  Schiller.  833 

es  in  dem  Kopfe,  der  es  fassen  künnte,  auch  so  verschroben  aus-  §  337 
sehen'*'*.  Als  ihm  Körner  sein  Urtbeil  über  den  Musenalmanach 
rou  Schlegel  und  Tieok  geschrieben  hatte,  antwortete  er'':  er  habe 
es  schlechterdings  nicht  von  sich  erhalten  können,  mehr  als  einig'e 
Gedichte  daraus  zu  lesen ;  die  Manier  dieser  Herren  und  ihre  ganze 
daraus  hervorschimmernde  Individualität  sei  ihm  so  ganz  zuwider, 
dass  er  gar  nicht  dabei  verweilen  könne  ^'.  Dem  Talente  Tiecks  Hess 
Schiller  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Gerechtigkeit  widerfahren". 
Derselbe  hatte  bei  seinem  ersten  Besuch  im  vSomraer  1799  auf  Schiller 
einen  an;^enehmen  Eindruck  gemacht.  „Sein  Ausdruck",  schreibt  er*" 
in  dem  Briefe  an  Goethe  »ob  er  gleich  keine  grosse  Kraft  zeigt,  ist 
fein,  verständig  und  bedeutend,  auch  hat  er  nichts  Kokettes  noch 
Unbescheidenes.  Ich  habe  ihm,  da  er  sich  einmal  mit  dem  Don 
Qoixote  eingelassen,  die  spanische  Literatur  sehr  empfohlen,  die  ihm 
einen  geistreichen  .Stoff  zufuhren  wird  und  ihm,  bei  seiner  Neigung 
zum  Phantastischen  und  KomautischeUf  zuzusagen  scheint.  So  mUssto 
dieses  angenehme  Talent  fruchtbar  und  gefällig  wirken  und  in  »einer 
Sphäre  sein''.  Zwei  Monate  später  schrieb  er  an  Körner^':  -Hast 
Du  denn  die  Reden  Über  die  Religion  und  Tiecks  romantische  Dich- 
tungen (Th.  I)  gelesen?  Beide  Schriften  las  ich  vor  kurzem,  weil 
man  mich  darauf  neugierig  machte;  und  ich  fasse  sie  hier  zusammen, 
weil  es  Berliner  Producte  sind  uud  gewissermassen  aus  der  näm- 
lichen Coterie  hervorgiengen.  Die  erste  ist,  bei  allem  Anspruch  auf 
Wärme  und  Innigkeit,  noch  sehr  trocken  im  Ganzen  und  oft  prä- 
tentioniert  geschrieben;  auch  enthält  sie  wenig  neue  Ausbeute. .  .  . 
Tiecks  Manier  kennst  Du  aus  dem  gestiefelten  Kater:  er  hat  einen 
angenehm  romantischen  Ton  uud  viele  gute  Einfälle,  ist  aber  doch 
zu  hohl  und  dtlrftig,  . .  Ihm  hat  die  Relation  zu  Schlegels  viel  ge- 
schadet''.  Zu  Ende  des  nächsten  Jahres  hatte  ihm  Kdrner  von  der 
„Genoveva"  berichtet-':  er  habe  darin  viel  echtes  poetisches  Talent 


16*  Wie  erbittert  Schiller  gegen  Fr.  Schlegel  schon  1797  war,  beveisi  der 
Brief  an  Goethe  C^,  107  ff.i.  worin  er  jenen  einen  Laffen  nennt  und  Him  Unver- 
schäuntheit,  gepaart  mit  CnTissenheit  und  Oberfl:ich]ichkeit.  vorwirft;  und  was 
er  TOD  dem  Altem  Bruder  in  nicht  vii.«]  spaterer  Zeit  argwöhnte,  er  habe  die 
StAnxcn  über  Romeo  und  Julie  (s.  Werke  I,  35  if.»  vielleicht  gestohlen,  ein  Brief 
AD  Kömer  il,  57).  17»  4,  253  f.  ISi  Goethe  berirhtet  in  dem  schon 

»B^ührten  Briefe  an  Zelter  (fi.  3lSff.):  Schüler  habe  die  Schlegel  nicht  nur  nicht 
geliebt,  sondern  gehasst.  .Kr  sagte  mir  einmal,  da  ihm  meine  allgemeine  Toleranz 
—  nicht  gefallen  wollte:  Kotzebue  Ut  mir  respectabler  in  seiner  Fruchtbark«^it  als 
jenes  unfruchtbare,  im  (inindc  immer  nachhinkende  und  den  rasch  Fort  ^  -n 

aurückrufende  und  hindernde  Geschlecht-.  19»  Ueber  Tiecks  i     -  '-s 

VerbÄltnisa  zu  Schiller  vgl.  KOpke  a.  a.  0.  1 ,  257  ff,  20)  In  dem  briete-  an 

Goethe  5.  UM.  21»  4,  \h\.  22)  4,  201. 

Kcrbemlftin.  OniDJrUi.    i.  Aa«.    IV.  ^ 


S34    VT.  Vom  zwdtcn  Viertel  des  XVIII  Jalirhundert»  bi»  ta  Oo«Uie'B  Tod. 


:  »Dein  Crth< 
er  ist  eine  »ehi 


§  337  gefunden;   an  Plmntasie  und  Innigkeit  des  Gefühls  feble  es  Ti 
gewiss  nicht;  auch  habe  er  schon  ziemliche  Gewandtheit  in  Sprarhi 
und  Vcrsifioation;   sein  Geschmack  sei  noch  nicht  ans*;ebildel,  aJ 
unter  den  jetzt  ansehenden  Diclitorn  düi-fte  keiner  sein,  der  eich  mi 
ihm  messen  könnte.     Hierauf  antwortete  Schiller" 
tther  Tiecks  Genoveva  ist  auch  ganz  das  meinige; 
graziöse,  phantasiereiche  und  zarte  Natur;  nur  fehlt  e»  ihm  an  Krti 
und   an  Tiefe    und   wird  ihm  stäta  daran  fehlen.    Leider  hat  di 
schlegelsche  Schule  schon  viel  an   ihm   verdorben ;  er   wir»!  es 
ganz  verwinden.     Sein  Geschmack   ist   noch    unreif;  er   erhält  nt 
nicht  gleich  in  seinen  Werken,  und  es  ist  sog^ir  viel  Leeres  dariD*J 
Am  wenigsten  jrHnatig  äussert  sich  Schiller  in  einem  Briefe  an  K.'.rü< 
aus  dem  Frühjahr  ISüI,  als  Tieck  in  Dresden  war  und  Körner  i»< 
seinem  Umgange   Gefallen   fand**:    ^Mich   macht   das   ohumlehti| 
Streben   dieser  Henen   nach   dem   Höchsten  nur  verdriessUch ,  um 
ihre  Pratensinnen  ekeln  mich  an.     Genoveva  ist  als  das  Werk  eiiM 
sich   bildenden  Genies  schätzbar,    aber  nur  als  Stufe;  denn  es 
nichts  Gebildetes  und  voll  Geschwätzes,   wie  alle  seine  Productct 
Es  ist  schade  um  dieses  Talent,  das  noch   so  viel  an  sich  za  thi 
hätte  und  schein  so  viel  gethan  glaubt:  ich  erwarte  nichts  Volleudetet^ 
mehr  von  ihm.     Denn  mir  däucht,  der  Weg  zum  Vortrefflichen  gebt 
nie  durch  die  Leerheit  und  das  Hohle:  wohl  aber  kann  das  Gewalt- 
same, Heftige  zur  Klarheit  und  die  rohe  Kraft  zur  Bildung  ^langes. 
Tieck  besitzt   llhrigeuH   viel  literarische  Keuutuisse,   und   sei« 
scheint  mir  wirklich  genährter  zu  sein,  als  seine  Werke  zeigeiii 
man  das  Bedeutende  rnid  den  Gehalt  noch  so  sehr  verraisst*. 

Wieland,  der  Überhaupt  meinte,  das  goldene  Zeitalter  der  deot-1 
scheu  Literatur  sei  schon  vorüber,  als  das  erste  Stück  de«  AlhenJ 
noch   nicht  einmal   erschienen   war*',  der  gleich   an    diesem   wi 
Gefallen   fand   und   auch   zu   den   kflnftigeu  Leistungen  der  Heru»- 
geber  kein  rechtes  Vertrauen  hatte'",  dem  bald  darauf  selbst  in  dieser 


23»  4.  204.  24)  4.  -in  f.  25)  Zu  dpr  S.  " 

der  Vorrede  zu  der  Ausgabe  sciuer  Bämmtlichen  Werke  cnt!. 
Wielands  bildet  die  Anmerkung  in  dem  n.  d.  Merknr  ITIH   (.i,  ;  ! 

Abdruck  einer  Ins  dahin  noch  nicht  veröffentlichten  Ode  Klopslockt  •  it^ 

(worauf  im  Brielwecbgel  zwischen  Schiller  und  üoetiie  X  350  Itcxu;^  gt'nommra 

2(>)  V^'l   WIcüuids   Brief  an   BOUiger  aus  dem   Frnt«iihr   ^''*s  in  JV. 
literarischen  Zustanden  und  Zeitgenossen  2,   ISO  ff.     „Ui.  >  im-,  hdsit  i9 

hier  u.a.,  «ist  eine  merkwt^rdlge  Eracheinung,  und  dlo  b.; ._  .  .  .kurrn  »chmn 
eine  grosse  UoÜe  in  der  literarischen  Welt  des  IM.  Jahrh.  spielen  zu  woUen.    U 

der  That  sind  sie  durch  ihre  Fähigkeiten  zu  keiner  so  subÄilerncc  *  "-•= »^ 

sie  pro  tempore  unter  dex  Fahne  ..des  zeiti^po  wahren  Stattluilterv  -Im 

Geistes  auf  Erden--  tvgl.S.  ö27,  Anm.i»7f  »pielen;  indessen,  wimn  i>v  ■ '-^ 


m 


Kntwiclcpliingsg.d. Liter.  I77:t— 1^32.  Die  Romantiker.  Verhältniss zu WielaniV  835 

Zeitschrift  so  Übel  mitgespielt  wurde'',  vermied  zwar  jede  öffentliclie  §  33' 
Kundgebung  seiner  Gcsianung  gegen  die  Schlegel,  wie  er  auch  keine 
Freude  an  den  von  Andern  gegen  sie  gerichteten  Satiren  und  Schmilh- 
schriften  hatte;  doch  verhehlte  er  in  Briefen  an  Freunde  seine  Un- 
zufriodcubeit  mit  dem  Treiben  der  neuen  Schule  Ubcrhnupt  eben  so 
wenig,  wie  er  mit  meiner  Entrüstung  Über  den  Uebermuth  der  beiden 
Schlegel  insbesondere  zurückhielt".  In  einem  Briefe  au^  dem  J.  1799 
billigte  er  es  gar  sehr,  dass  ein  Freund  mit  eiuer  .kleinen  Stache!- 
Bchrift  gegen  die  beiden  tlbernituhigen  Gobrlldcr-  zurückhalte;  denn 
es  sei  zu  hoffen,  dass  dereinst  noch  treffliche  Männer  au»  diesen 
noch  mit  dem  ersten  Spiess  laufenden  Schildknappen  Goethe's  uud 
Schillers  (!)  werden  könnten.  In  einer  zweiten,  etwas  jdngern,  bittet 
er  denselben  Freund,  sich  mit  den  Gebrüdern  Schlegel  und  Comp, 
nicht  abzugeben:  „es  sind",  schrieb  er,  -grobe,  aber  witz-  und  sinn- 
reiche Patrone,  die  sich  alles  erlauben,  nichts  zu  verlieren  haben, 
nicht  wissen,  was  errOthen  ist,  uud  mit  denen  man  sich  beschmutzen 
würde,  wenn  man  auch  den  Sieg  über  sie  erliielto,  welches  doch 
beinaiie  unmöglich  ist,  da  sie,  auch  geschlagen  und  niedergeworfen, 
gleich  aufstehen  und  es  nur  desto  ärger  machen  würden".  Diese 
Muthwilligen  hofTten  durch  ein  in  Deutschland  noch  neues  genre, 
nämlich  französische  persiflage,  ihr  Glück  zu  machen,  wllrdeu  sich 
aber  bei  eiuer  Nation  wie  die  uusrige  nur  selbst  dadurch  ruinieren. 


I 


Ze&t  lang  so  treiben,  wie  in  diesem  Athenaeo.  so  werden  sie  doch  nichts  lüa  Irr- 
wische sein  und  nicht  Iiicida  sidem.  wie  tthten  l>ioskuren  gohilhrt.    Sie  werden 
unter  (iiesoni -Itlüihenstaube-  (von  Novalis,  dessen  rechten  Namen  Wielund  damals 
noch  nicht  wusstei  hier  und  da  wirklich  pr*ichti^o  Dinge  finden,  aber  auch  so  viel 
possierliche  Fratzen,  Contorsioueu  und  Affenspriinge  des  verschrobensten,  poetisch 
philosoiihischen  At'tergenie's,   dass  man  seine  Lust    daran   sieht      Der  fichtescbC 
Samen  taugt  au  in  sellHam  neuen  Wundergestalteu  aufzugehen**.     Es  folgen  Be- 
merkungen Über  die „Klegien  aus  dem  Griechischen":  es  gebe  nichts  ludeutscheres 
und  Widerlicheres  als  diese  reborselzungeu ,  über  wekho  ..diese  Sudt^lkocbe"  iu 
j>octischer  Prosa  einen  seltsamen  Senf  herge»;osscn  hatten.    Sodann  wird  Air  Art, 
wie   mit   Lafontaine   verfahren   sei   (vgl.    S.   701  f.i,    als    ungerecht,    ungezogen 
und   BykophantJBch   bezeichnet:   auf  dieseU»c   Weise,   wie    mit   den   beurthcillcn 
Romanen,  könne  man  anHi,  wenn  man  sonst  wolle,  mit  _WUheIra  Mdstor-   »m- 
sprto^n.    Das  bei  weitem  beste  Stück  in  diesem  anmasäUchen  Athenftum  s«?  da» 
.jframmatische  Oespr^ch-.    Kiidlich  wird  gesagt:    «Die  HeiTen   haben  die  Mlone, 
als  ob  sie  uns  noch  viel  zu  lachrn  geben,  wiewohl  mitunter  auch  znwdlen  unsere 
(ralle  in  Uewejtoing  setzen  würden.   —  Indess   ii>t'B   doch   sehr  ml^RH<•h,   Uais  der 
Neologismus  m\;edanken  und  Ausdruck,  der  hesünders  den  ..J1IutJiru«tiiiilr'"  ^n^\ 
Ästhetische  (lewusche  über  HerraesiauRX  und  Comp.  auRÄrirbniit.  in  drm  .ituliscbrn 
lenzirkel  in  «crliu  und  unter  unserer  zum  reinen  Ich  tn.p.ir«.ir»bnndpu  Jugfuj 
Oberhaupt  BewunderprHnde,  die  dem  übrigen  servo  pccori  eine  Zrii  Ihhk  Imvonieren- 
27)  Vgl.  S.  716.  28)  Von  solchen   »rlotVn  ümlen   *lib  mebr«T«!  in 

WieUuds  Leben  von  Gruber  ■(,  204  ff 


^^K^mmm^ 


S3*>    VI.  Vom  zweiten  Viertel  dea  XVni  Jalirliimdcrts  hU  eu  Goethc'fl  Tod. 

§  337  Ueber  das  Treiben  der  Romantiker  überhaupt  spricbt  er  am  en^ 
Bchiedensten   sein    MissvcrguUgen    und    seinen    Unwillen    in    eini 
Briefe  an  den  Buchhändler  Göschen  vom  Anfang  des  J.  ISO!   at 
„Der  seit  den  unvergesslichen  Xenien  unter  unsere  junge  Genii 
Studenten,  Versemänner  und  literurische  Prätendenten  aller  Art 
fahrene  jacohinische  SanscUlottismus  bekleckst  die  Gcschicbte  \itim 
Literatur  und  Cultur  mit  einem  schmählichen  Flecken,  den  die 
zwar  bald  genug  wegbeizen  wird,   der  aber  doch   für   den  Momi 
einen    dreifachen    beträchtlichen    Schaden    tbut:    l)    den    Charakl 
unserer  Nation  einer  an  Stupidität  grenzenden  GleicbgQltigkeit  ge^ 
das  Wahre,   Schöne  und  Gute  verdächtig  zu  machen;    1)  die  gi 
Classc  der  Gelehrten  und  Schriftsteller,   die  so  ohrwürdig  und 
vermögend  sein  könnte,  in   der  öffentlichen  Meinung   tief  hcral 

,  setzen,   ihres  wichtigsten  Einflusses  zu  berauben  und  dadurch  ibi 

Verächtern  und  Verfolgern  unter  den  Grossen  und  den  Aristokrat 
gewonnen  Spiel  zu  geben;  3)  vielen  jungen  Leuten,  tbeils  für  mt 
kleinere  Zeit,  tbeils  für  ihr  ganzes  Leben,  Kopf,  Geschmack  uinl 
Herz  zu  verwirren.  Aber,  wie  gesagt,  alles  will  seine  Zeit  haben; 
auch  diese  Periode  der  schändlichsten  Anarchie  in  der  Gelehrtcs- 
ßepublik  wird  vorbei  geben,  und  das  unfehlbarste  Mittel,  ihr  Enie 
zu  beschleunigen,  wäre,  es  wie  ich  zu  machen  und  zu  tbuu,  als  ob 
gar  keine  Schlegel,  Tiecks,  Bembardis,  Cl.  Brentanos,  und  wie  Att 
Gesellen  alle  heissen,  in  der  Welt  wären.  Indessen  kommt  •  ■ '  - 
der  Menge  jämmerlicher  Ausgeburten  angebrannter  KOpfe,  i. 
hüben  und  ToUhäusler  mitunter  ein  wirklich  witziger  Spass  zran 
Vorschein ". 

Herder,  sowohl  in  Folge  seiner  Stellung  zur  kritischen  und  idf»- 
listischen  Philosophie,  wie  seiner  in  neuester  Zeit  eingct: 
Spannung  mit  Goethe,  schon  vnu  vom  herein  gegen  die  krit;.-..L-, 
kunsttheoretischen  und  dichterischen  Tendenzen  der  Romantiker  cü> 
genommen '•"',  dann  namentlich  über  Fr.  Schlegels  Verfahrungswtäse 
in  der  Kritik  aufgebracht*',   eudlicb  ebenfalls  im  Atheuäum  persiih 


29)  Gegen  Ausgang  de«  J.  1707  sclirieb  er  an  Fr.  H.  Jacobi  «nach  dm  bte 

AnmerkuBg  zu  Th.  2,  S.  31"  f.    „Aas  Ucrders  Nftchlua"  ge^bcnen  Kr^nfü^a 
zu  Jacobrs  anserlesenom  »Briefwechsel  2,  25&  f.):    »Was   sa^t    Du  unfvi^ 
französischen   und   kantiachen   zur    dritten  grossen   HeTolutton,    dor   V 
ScWegelBchcn?    Hinfort  ist  zwar  kein  Gott  mehr,  aber  ein  Forraidol  «hu*  ai 
ein  Mittler  zwischen  dem  üngott  und  den  Menschen,  der  Mensch  Wol&aug  ((io«k>'. 

30)  An  Kr- U.  Jacobi  im  Decbr.  n9S,  mit  Bezug  auf  Fr.  Sch](>g«U  R«^Mi 
des  «Woldomar-  (nach  denselben  Ergänzungen  zu  dem  auserleseuen  Brirfff»^ 
2,  205  ff):  „Den  Seh  . . .  knecht  Fr.  Schlegel  oder  Flegel  vergiss  ^«r-»  "'l  or 
warum  niuss  er  mit  Dir  und  Richter  (Jean  Paul)  6iücn  Vornamen  i  ^ 
eben  dieser  Vorname  sage  Dir  Friede.    Vergib  ihm;  er  wusstc  wAliüiAii. 


Ectwickelungsg.  d  Liter.  1773— 1 932.  Die  Boxnaniiker.  Verhidtiuss  zu  Herder.  837 

lieh  tief  verletzt",  blieb  nicbt,  wie  Scbiller  und  Wieland,  dabei  stehen,  §  337 
bloss  in  Briefen  seinem  Verdruss  und  Zorn  Luft  zu  machen^*,  sondern 
suchte  in  seiner  Erbitterung  auch  in  der  pKalKgone",  und  in  der 
„Adrastea*"  die  Neuerer  zu  züchtigen,  die  ihm  nur  argen  Unfug  in 
und  mit  der  Literatur  zu  treiben  schienen.  Offenbar  bezieht  sich 
auf  die  Kritik  der  Schlegel,  besonders  wie  sie  in  dem  Journal 
^ Deutschland " ,  im  „Lyceum''  und  im  „AthenÄum"  geübt  war,  die 
Stelle  der  „Kalligone"":  lindem  sie  (die  echte  Kritik)  sich  der  Mit- 
genosaenschaft  mit  Halbkennem  und  Muthwilligen  entzieht  und  sie 
als  eine  unehrbare  Gesellschaft  verachtet,  fühlend  den  Verderb,  der 
jQnglingen  auf  ihre  Lebenszeit  zuwächst,  wenn  sie  Kritiker  werden, 
da  sie  noch  lenien  sollten,  und  sich  deshalb  oben  auf  dem  Pamassus 
wähnen»  flberlässt  sie  die,  kraft  der  kritischen  Philosophie,  unter 
jedem  Lehrstuhl  ausgebrüteten  Nester  voll  junger  Habichte,  die  ohn* 
alle  Be^ffe  und  Kenntnisse  kritisch  richten,  ihrer  eigenen  Ignoranz 


er  tfaftt.  Man  bat  mir  gesagt,  dass  er  Deine  Werke  mit  dem  grOssten  £Dt- 
ztkcken  gelesen  und  sich  immer  tiefer  hincingelcsen .  bis  er  Dir  zur  Dankbarkeit 
die  HfcensioD  herausquoll.  Du  siehst  also,  er  ist  am  Tage  der  uufichuldigen 
Kindlein  fieborcn;  diese  uDd  die  Xarren  können  nicbt  sOndigeD,  eben  weil  sie 
Kinder  und  Xarren  8iud.  Uolilngst  erschien  in  der  Lit. -Zeitung:,  die  ich  auch 
nicht  lese,  eine  armselige  Recenaion  meiner  UiunanitiUsbricfe.  Wer  sie  mir 
schickte,  war  der  Verf.  seihet  (Schutz)  in  guter  Meinung.  Mich  wundert,  dasa 
Schlegel  Dir  nicht  auch  die  seinige  geschickt  hat.  Die  Leute  meinen  es  alle  gut; 
ie  glauben  sich  zu  dem  iso!),  was  sie  treiben.  .,,Der  kritische  Weg"",  sagt  Kant, 
..ist  allein  noch  offen"";  den  geben  sie".  31)  Vgl.  S.  "Ili  ff.  32)  Den 

igefiihrten  Briefstellen  von  Herder  selbst  sind  auch  einige  von  seiner  Qatdn 
rizufugen.  So  schrieb  sie,  mit  Bezug  auf  Wielands  (in  der  Anmcrk.  2ti  an- 
gezogenen) Brief  an  Böttiger  diesem  (Literarische  ZustÄnde  etc.  2,  \m):  -Ucber 
die  bchl ....  ana  sind  wir  (sie  und  ihr  Oatte)  ganz  von  Wielands  Meinung:  .»Ea 
Biiidlrr^'ischc*"*:  diess  soU  unser  Motto  über  diese  Herrens  sein*.  Und  im  Sommer 
l<(Mi  an  Knebel  (In  dcaseti  literarischem  Nachlass  2,  334):  .Ich  mussSie  dringend 
it>itteu,  falls  August  »Herders  Suhui  Ihnen  über  Tiecks  Ausfall  schreibt  (ist  die 
:o\\e  gemeint,  die  der  -alte  Mann"  —  Nicolai  —  im  „neuen  Hercules  am  Scheide- 
|:weg€~,  poetisches  Journal  I,  110  ff  spielt?),  ihn  xu  borulugeu.  Richter  sagte  mir, 
sei  gegen  Nicolai  und  Engel.  Wir  woUens  so  glauben,  wenns  auch  nicht  so 
Schweigen  ist  das  Einzige,  was  zu  Ihun  ist.  Die  gittiae  Kröte  mag  in  ihrem 
len  Qifte  umkommen-.  Bald  darauf  (2,  330):  „Ihr  (der  Demoiselle  Brentano) 
truder,  der  Verf.  der  Satiren,  Maria  (vgl.  S.  668,  ta«»),  Ist  auch  hysterisch  im 
;.opr  Er  hat  dieSpasse  und  Brosamen,  die  von  der  grossen  Herren  Tische  6elen, 
it  seineu  eignen  so  kunstreich  k  la  Tieck  aufgetischt.  Wenn  Sie  ihn  sehen 
tollten,  diesen  hohl-  und  tiefiiugigten  insolenten  Menschen,  so  würden  Sie  ihm  bald 
Irrenhaus  prophezeien.  Da  Tieck,  sein  Abgott,  ihn  in  seinem  neuesten  poeti- 
[pchen  Journal  lächerlich  gemacht  und  seine  ihm  nachgeahmte  Manier  satirisiert 
kbcn  soll  (in  der  Figur  des  .Bewimdorers"  im  neuen  Hercules  etc.  t,  I2S  it.) 
[so  soll  Breulano  vor  Wuth  Jena  verlassen  und  sicli  ceHUchtet  haben.  Diess 
^eich  muss  uni«r  sich  selbst  uncins  werden!"  33)  Herders  Werke  zur  Philo- 
»phie  und  Geschichte  19,  67  f. 


S38    "VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

§  337  und  AiTo;:anz  und  Insolenz  etc.  Sclieueud  entzieht  jeder  Edle  sich 
einer  Decke,  unter  welche  namenlos  und  benamt  so  manches  Un- 
reine sich  streckt;  ^md  es  wird  eine  Zeit  kommen,  da  die  Nation 
selbst  sieh  jeder  unwissenden,  unverständigen,  regellosen  Kritik  als 
eines  ihr  zugefügten  Schimpfs  schämet  *■''.  In  der  „Adrastea''  sind 
vornehmlich  zwei  Ausfälle  gegen  die  Poesie  der  Romantiker.  Der 
eine^*:  -Griechen  und  Römer  vermieden  in  ihren  Silbenmassen  l)ei 
allem  Zusammendrange  der  Assonanzen  den  Reim.  Kindern  am 
Jahrmarkte  geben  wir  die  Pfennige  mit  dem  Verbot,  ^„dass  du  dir 
ja  keine  Trommel,  kein  Trompetchen  kaufest I""  Wie?  und  unsere 
Romanzens;lngcr,  unsere  heroischen  Lyriker  selbst  Übten  diese  Kunst, 
und  zwar  auf  arabische  Weise  von  neuem,  betäubend  unser  Ohr  mit 
Reimdrommeten  und  Pfeifchen?  Jene,  indem  sie,  dem  Genius  unserer 
Sprache  zuwider,  auf  fii)anische  Assonanzen,  auf  ein  gehaltenes, 
wioderkcbrendes  A.  0,  U  kindisch  ihre  Kunst  wenden;  indem  sie, 
den  Liedern  der  brittischen  Bedlamssänger  nacheifernd,  rasselnd  und 
prasselnd,  sausend  und  brausend,  gar  alle  Silbenmasse  durcheinander 
ausschütten  und  damit  das  Ohr  des  Volkes  zwar  nicht  verfeinem, 
aber  wie  Kamelsohreu  erhöhen  und  verderben.  .  .  ,  Hütten  unsere 
Musen  kein  anderes,  kein  erfreulicheres  Instrument  mehr  als  A,  E 
I,  0,  U,  das  Nachtwiichterhörnchen?  Ehedem  war  es  nicht  alst>'. 
Der  andere^":  nWie  1700,  so  fand  das  J.  ISOl  den  schwülstigec 
lohensteinischen  oder  jenen  nerviosschlaffen  Geschmack,  den  ich  den 
hundsföttischen  nennen  möchte,  und  befestigte  ihn  in  Sonetten.  Da- 
ma's,  Epopöen,  Romanzen  auf  dem  Blocksberg-Parnass  der  Deutschen. 
Seiten  hinab  kann  man  Wernike  abdrucken  lassen ,  als  hätte  er 
gestern  fUr  heut  geschrieben".  Nachher  werden  noch  die  Geister 
Luthers,  Leasings  und  anderer  grosser  Männer  der  Vorzeit  an^^cmfoc. 
nUm  uns  den  Lobeustein  und  Hofmannswaldau,  die  neuen  P'i?;ti 
und  Stoppe  aus  den  Gliedern  zu  treil>en". 

Von  andern  herlthmtcrn  Schriftstellern,  die  bereits  in  den  sieb- 
ziger Jahren  mit  ihren  Erstlingswerken  aufgetreten  waren,  snra^^^ 
sich,  ohne  dazu  gerade  durch  mehr  als  eine  auf  ihn  zielende  Necte' 
Tiecks  persönlich  gereizt  worden  zu  sein,  keiner  dem  Publicum  gc-ft 
über  mit  grösserer  Bitterkeit  und  Schärfe  gegen  die  neue  Sclraleac; 
und  traf  T)esscr  ihre  verwundbarsten  Stellen,   als   Klinger^'.    >ex^ 


'M)  Dfii  Worten  -Kcstor  voll  junger  Habichto-   ist  die  Stolle  aus  II-' :^ 
Act  1,  Sc.  J  als  Note  lioigegobon:    «Therc  is  an  aicry  of  chiKlren-  etc. 
35)  Worko  zur  schönen  Literatur  und  KuiiÄt  l^.   lu  f.  '^(\)  ]s,  u,s. 

37)  Ich  erinnere  mich  nicht,  irgendwo  in  den  Schritten  der  ScLlfffel,  Ti-xt''-' 
die  vor  dem  J.  imm;  erschienen  sind,  eine  andere,  dlrect  oder  indirect^eiftcKV^ 
gericlaetc  Stelle  getunden  zu  liaben,   als  im  -Zerhino-.     Hier  nämlich  stt-f' 


itwickelusgsg.  d.  Liter.  1773— lbü2.  Die  Homantlker.  Verlialtoifis  zu KlLoger.  S39 

Ausfitlle  flndcu  sieb  in  seinen  „Betracbtungen  und  Gedanken  Ober  §  337 
fTorritibiedene  Gegenstände  der  Well  und  der  Literatur"*,  aus  deueu 
ich  bier  nur  einige  der  stärksten  mittbeiicn  will.  „Man  streute  wohl 
ebenials  Goethen  Weibraucb;  jetzt  aber  erkUbnen  sieb  Knaben,  ihn 
mit  Tenfelsdreek  zu  ]»arfUnjiereu.  leb  würde  sagen,  wa«  für  einen 
Zauber  mu88  Scbmoicbelei  mit  sieb  führen,  da  Goetbo  nicht  au  einem 
.solchen  Gestanke  erstickt !  Aber  ich  denke  zu  gut  von  ihm,  als  dass 
b  einen  Augenblick  glauben  sollte,  er  habe  diesen  Gestank  gerochen. 
Ären  Wilhelm  Meister  und  Hermann  und  Dorothea  nicht  von  so 
Ltem  Atbem,  wie  würde  es  ihnen  unter  eiuem  solchen  Rauehfass 
irgangen  sein?  Und  doch  glauben  verstilndige  Leute  zu  bemerken, 
re  Farbe  sei  etwas  bhtsser  dadurch  geworden^'.  .  .  Einige  unserer 
tzt  lebenden  ersten  Dichter  sind  so  erhaben  gross,  dass  sie  gar 
einen  Sinn  mehr  für  das  Wirkliche  und  für  das  wahrhaft  Grosso 
Menschen  zw  haben  scheinen.  Durch  ihre  scbwölstig-sophistischen 
heorien,  in  welchen  sie  uns  nun  schon  ihre  bloss  aus  dem  Reiche 
er  Phantasie  zusammengesetzten  Dai'stellungen  als  die  einzigen, 
abrhaft  dichterischen  aufstellen,  beweisen  sie  uns  sogar  logisch, 
ass  sie  gar  keine  Achtung  mehr  für  die  wirklich  jmlitische  Grösse 
es  Menschen  haben.  Diese  Theorien  seheinen,  wie  die  Werke  dieser 
ichter,  den  Genuss,  das  Heil  und  Glück,  die  einzige  Möglichkeit 
bt  au  existieren)  allein  iu  ein  mystisches,  phantastisches,  gcheim- 
iSSvollos  dunkles  Gefühl  zu  setzen,  vor  dem  der  Verstand  zum 
arren  oder  Sklaven  werden,  oder  doch  weaigstena  aucrkennen  soll, 
sei  das  Lilstigate  und  Plagendste,  was  dem  Menschen  gegeben 
Dfdeu.  Man  möchte  sagen:  diese  Dichter  strebten  vorsätzlich  dar- 
b,  dem  Menscheu  die  wahre  Ansicht  der  Dinge  und  des  Lebens 
ebt  /um  Kkcl  zu  machen,  für  immer  die  Kraft  in  ihm  zu  ersticken, 
omit  er  seinen  politischen  Zustand  erkennen,  veredeln  und  das 
eaem  Wiilerstrebende  bekilmpfen  kann.  Der  Geist  Jacob  BObme's 
d  die  Geister  der  Verfasser  der  Legenden  ragen  aus  den  düstcrn 
arstclltmgen  einiger  dieser  grossen  Dichter  so  hervor,  dass  mau 
wungen  ist  zu  denken,  sie  hielten  die  Verfinsterung  des  Vorstan- 
leB  und  den  ihr  verbrüderten  Despotismus  für  die  moralische  Selig- 
eit  des  Menschen  und  die  wahren  Quellen  der  .dicbtcrischon  Be- 
iaterung.    So' mächte  dann  vvohl  ein  gewisser  paradoxer  Kopf  Recht 


\  indem  er  von  dem  imStflckc  attftretcmlcu  Hatan  spHcht (HomantlschcDIcIl- 

[CQ  t,  1*1):    «Es  ipbt  fast  nirgonJ  Ein'n  Ileldeu  mehr,  der,  wenu  auch  nicht 

"gcliolt  Von  diesem  Mann,   ducb   wenigstens  mit  ihm  Gcdchafte  macht.     Wie  wird 

^  ^xnao  nicht  alioin  Mit  TenfHoi  von  Petorshurg  versorgtl    Der  Mann,   der  dorttn 

Igt  iintl  Ihrxat  und  schallt,   Tritt  ohun  ihn  in  keinem  Buche  auf".     (Vgl.  dazu 

poeliäche  Journal  1,  215).  dH)  Leipzig  \myl — 5.    3  Thlc.   8.  (iu  seinen 

Werken  lid.  1 1  und  VI).  39»  II,  S  f. 


840    VI.  Tom  zweiten  Vierte  des  XYIII  Jahrhunderts  bis  zu  6ocUie'6  Tod. 


337  haben,  wenn  er  sa^t:  der  DeapotismoB,  die  Unterwerfung  unter  duni 
alle  Geistegkraft  zermalmende  Gewalten,  die  nur  der  Einbildui 
kraft  Thfltigkeit  verstatten  und  nur  den  Genuse  erträumter  Gn 
erlauben,  seien  die  wahren  Schöpfer  der  Dichtkunst.  .  .  .  Sind 
»penater  von  Schicksal,  Zufall,  Myeticismus,  Aberglauben  und  Oi 
nebst  allen  den  scheusslichen  Schrecklarven ,  durch  die  man  ji 
das  Erhabene  und  Rdhrendc  hervorzuzauberu  sucht,  der  Zeit 
m&ss,  in  der  wir  leben?  Sind  sie  wirklich  der  einzige  Stoff  der 
DichtkunHt?  Oder  ist  das  Menschenwesen  überhaupt  einer 
lösung  nah ,  dass  unsre  Dichter,  wie  finstre  Wahrsager ,  ui 
Elend  im  Voraus  beheulen  und  uns  auf  das  nahe  ge\\-altige  Zer- 
malmen des  Schicksals  vorbereiten?  .  ,  .  Sollte  hier,  bei  einer  fearigeii 
Einbildungskraft,  nicht  Nervenschwache  zum  Grunde  liegen?  Vm 
für  das  wirkliche  Leben  keine  Kraft  fllhll  oder  erschrickt,  der  tri 
sich  zum  HeUIeu  in  dem  Lande  der  Pliantasie,  um  doch  auch 
Rolle  und  zwar  ohne  Gefahr  zu  spielen.  Und  damit  auch  wir 
ftlr  einen  Flclden  halten  mögen  ^  sucht  er  uns  die  Wirklicbkei!  cf- 
bÄrmlich  zu  macheu**'...  «Der  Nachhall  der  Genie»,  die  venerrtai 
Geister.  .  .  wollen  uns,  um  den  Sinn  fUr  die  pootiscbe  und  r^mit-^ 
tische  Poesie  in  uns  zu  erwecken,  in  das  15.  Jahrbundort  zi 
treiben.  Die  Mittel  zu  dieser  Geisteserhebung  finden  sie 
der  Verdunkelung  der  Vernunft,  in  der  Vertilgung  des  Vrou 
mus,  in  der  Wiederherstellung  der  Magie.  x\8trologio,  Alchymie" 
die  politische  und  moralische  Welt  ist  nur  um  der  poetis(*hen,  roi 
tischen  Poesie  willen  da;  in  dieser  liegt  das  Heil  der  MensKrhon, 
Vernunft,  Verstund  haben  uns  allein  in  unser  poliliseb-mtiralisfl 
Elend  gestossen,  aus  dem  uns  nichts  als  dieses  auf^cRtellte  Pm 
mehr  retten  kann.  Ich  weiss  nicht,  was  diese  Belebrungen  ia 
Nflhe  wirken,  in  der  Ferne  erregen  sie  nur  das  peinliche  Li 
das  uns  die  wilden  Einfälle  der  Rasenden  bei  einem  Besuci 
Tollhauses  abzwingen,  und  worüber  wir  uns  schon  wäbrei 
Lächelns  Vorwürfe  machen"".  Diese  „ Betrachtungen*'  Klingers 
in  der  Zeit,  wo  Kotzebue  und  seine  Verbündeten  die  Rot 
am  hitzigsten  und  erbittertsten  bekämpften,  fttr  jene  eine  hAclMti 
kommene  Erscheinung.  Sie  wurden  daher  auch  gleich  im 
müthigon"'*  sehr  warm  von  L.  F.  Huber  empfohlen.  Es  ■ 
richtete  derselbe,  eine  wirklich  interessante  Erfahrung,  wie*b*c/t^' 
Unwesen  in  unserer  Literatur  einem  Manne  erscheine,  der  i" '-^ 
grossen  Entfernung  und  ohne  alle  persönliche  Berührung  seiin 


*ir. 


40)  12,  IC4  ff.  41)  12.  2U9  f.  V(d.  aach  12,  IM,  N,  MI;  501  ü--  - 
and  678;  216.  N.  702;  225,  N.  714  (ond  dazu  11 ,  46  f);  229,  5  7r  ' 
42)  1803.  N.  3ü.  


^JEntwickeluogsg.  d.  Liter.    1773—1832.   Die  Romuntütcr.   Verhfiiltiiifla  zuVoas.   841 

^Marauf  werfe;  einom  Manne,  der  auf  dem  We^e  seiner  eigenen  Bil-  §  337 
^dung  habe  lernen  müssen,  gegen  Unarten  und  Excesse  des  Genie's 
tolerant  zu  sein;  einem  Manne,  der  noch  jetzt  als  reifer  Manu  eine 
entschiedene  Vorliebe  für  kecke  Originalitflt  behalte,  der  aber  frei- 
lich bei  der  schalen  Extravaganz,  der  platten  Unverschämtheit,  dem 
grimassierten  Cynismus,  dem  erzwungenen  Wahnsinn,  der  pedan- 
tischen Libertinage  eines  Haufeus  vou  dünkelhaften  Schongeisteni, 
die  sieb,  der  Natur  zum  Trotz,  zu  Genies  und  Originalen  aufwürfen, 
nichts  als  Ekel  empfinde.  —  Ein  zweiter,  und  später  der  heftigste  und 
leidenschaftlichste  Gegner  und  Ankläger  aller  sogenannten  katholisch- 
romantischen  Tendenzen  auf  dem  religiösen  und  politischen  wie  auf 
dem  literarischen  Gebiet,  J.  H.  Voss,  war  zwar  frühzeitig  von  Tieck 
und  besonders  von  dem  filtern  Schlegel  unsanft  genug  berührt"  und 
wie  mit  Hass  gegen  diese  Männer  selbst,  so  mit  dem  grössteu  Wider- 
willen gegen  ihre  und  ihrer  Freunde  Poesien  erfüllt  worden,  trat 
jedoch  erst  seit  dem  Jahre  tSOS  gegen  sie  offen  in  die  Schranken'*.  — 
Fr.  H.  Jacobi  schwieg  vor  dem  Publicum,  als  er  von  Fr.  Schlegel" 
und  nachher  auch  von  Bemhardi"  hart  angegriffen  worden  war,  und 
Hess  sich  darüber,  wie  über  den  in  der  Dichtung  und  Philosophie 
der  Romantiker  herrschenden  Geist  nur  hin  und  wieder  brieflich  aus. 
In  einem  Briefe  aus  dem  Novbr.  1796"  bezeichnet  er  Fr.  Schlegel 
wegen  der  Kecension  des  ^WoUlemar"  als  „einen  seltsamen  Terro- 
risten des  kategorischen  Imperativs",  über  den  man  sich,  bei  allem 
^^Jnwillen,  den  seine  Rohheit  und  Bosheit  erregen  müsse,  des  Lachens 
nicht  enthalten  kOnne.    Seine  Heraensdummheit   habe   ihn  so  un- 


W 


43)  Vgl.   S.   705— 70'J.     Schon    durch   die    schJogcl8che    RecensioD    soiiier 

,    »LTeber&eUuDg   des  Homer  (vgl.  S.  603,  31)  war  Voss  gereizt  worden:   er  fand  sie 

■Mjreder  gerecht  noch  billig  (Uriefe  vonJ.  U.  Voss  3^  2,  U»i.   Die  vouKöpke.  a.a.O. 

^B,  243  f.  berichtete  Art,   wie  sich  Voss, bei  einem  Zusammen trelTen  mit  Tieck  Im 

^B.  1709  gegen  dieeen  benahm  und  sich  ihm  zeitweilig  versöhnte,   ist  ein  interes* 

^Kanter  Beitrag  zu  seiner  Charakteristik.  44)  Zuerst,  so  viel  ich  weiss,  im 

Morgenhlatte  von  ISüS,  N.  12,  mit  einer  seiir  platten,  durch  ein  nicht  gehobneres 

Vorwort  eingeleiteten  Parodie  auf  A.  W.  Schlegels  Uebersetzuug  des  lateiu,  Go- 

dicbu  der  katholischen  Kirche  „Dies  irae*,   die  in  seinem  und  Tiecks  Mnsen- 

lach  erschienen  war  |s.  Werke  3,  IHI  fT.)  und   gleich   damals  die   zunächst 

zum  Vorlesen   im  Freundekreise  bestimmte   Parodie  hervorrief.     Aui   dem 

IVOS  ist  auch  das  Sonett  an  Goethe,  s.  Werke,  Ausg.  von  1^35,  S.  278.    Wann 

darauf  folgende  „KUngsonate*-  gedichtet  und  zuerst  gedruckt  ist,   weiss   ich 

Icht        45)  Vgl.  S.  2'.t0  und  717  f.,  Anm.  70.        46)  In  seine  Zeitschrift  Kyno- 

hatte   er  S.  30  tf.   unter  der  aUgemeincn  Ueberschrifl   «ilfts   Idcftlü"*   drei 

►nette,  »Wisaenschaft-,  -Kunst**,  .Religion"  eingerückt,  denen  er  S.  Ii«»ir.  .daH 

Beiüe'  in  drei   andern  Sonetten,   „der  Wisscnachaftler-,    „der   KUnstllng",    «der 

Vfloimling",   eutgegeustelUe.    Von   diesen  gieng  das  erste  auf  dm  PhIlo»oph<*n 

jiuliüld,   das  zweite  auf  Iffland,  das  dritte  auf  Fr.  H.  Jacobi  47l  Au»- 

leseoer  Briefwechsel  'i,  214. 


S42     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrliunderts  bis  zu  Goethes  Tod. 

§  337  politisch  geniacbt,  dass  er,  vor  dem  „  Woldemar"  warnend.  Vernünftige 
und  Unvernünftige  nur  bejricriger  machen  werde,    ihn    anzusehen. 
^Aber  höchst  grausam'*,  schlicsst  diese  Briefstelle,  -ist  es  doch  von 
diesem  Menschen,   dass  er  erst  so  ängstlich  und  iimstündlich  meine 
Unschuld  darthut,   indem  er  zeigt,  wie  ich  so  ganz  von  Natur  das 
hässliche  und  verächtliche  Ding  bin,   das  man  vor  Augen  hat,  imd 
dann  doch  auf  die  unglückliche  Missgeburt  zuschlägt,   als  wenn  sie 
sich  8eli)St  gemacht  oder   bestellt  hätte".    U'eber  das   Sonett  -der 
FrOmmling"  und  Anderes  im  Kynosarges,  so  wie  über  Bernhardi  und 
dessen  Freunde  überhaupt,  schrieb  er  an  Fr.  Perthes  im  Mäi-z  1802": 
er  habe  sich  in  seinen  Erwartungen  von  jenem  Sonett  sehr  betrogen 
gefimden;  ..denn,  wahrlich,  es  verdross  mich  diese  Albernheit  auch 
nicht  ein  wenig.     Nachdem  ich  die  andern  fünf  Sonette  gelesen  uud 
an  den  drei  ersten  in  ihn>r  Totalität  mich   ergetzt   hatte,   liess  ich 
mir  auch  die  Einleitung  vorlesen  und  hatte  nun  für  diesmal  des  Hni. 
Bernhardi  genug.     Diese  Leute  mit  einander  sind  viel  zu  offenherzig: 
lügen  mögen  sie  wohl,  aber  sie  verstehen  nicht  zu   betrugen.  uH'i 
ohne  dieses  kommt  mau  mit  jenem  nicht  durch". .  .  .  Die  Abhandlung 
,.tibcr  Wissenschaft  und  Kunst"'"'  gibt   den  Comuieutar  zu  deu  vor- 
stehenden drei  Sonetten:  Wissenschaft,  Kunst  luid  Religion,  uüdbai 
mich  über  alle  Massen  ergetzt.     Diese  Leute,  ich  muss  es  noch  ein- 
mal sagen,  sind  allzu  offenherzig.    Der  Bombast,   womit  die  Sache 
angethan  wird,  kann  sie  eben  so  wenig  verl>ergeu  als  verherrlicbcL. 
Diess  aber  ist  die  Sache:   weil  das  Universum  durch  den  Verstanil 
vor  dem   Verstände  in   liauch  aufgeht,  so  sollen   m\y   das  Wiibre, 
diesen  Raucli,  der  nun  unser  isit.  gestalten  zum  edlen  Zeitvcrtivlic: 
für  den  güttlichcn.  nur  siiieleudcn  (UMst:  wir  sollen,  wenn  die  Plil»- 
sophie  alles   aufgerieben    hat  durch   Wissenschaft    und    ErkenntKiv-. 
diess  alles  durch  Poesie  schnner  und  besser  wiederherzustellen  \\i>?e:i 
uud  anstatt  der  wahren  Realität,  die  eine  Thorheit,   uns  eine  i'kai-. 
die  eine  Weisheit  ist,  mit  Freuden  gefallen  lassen;  zulet/,t  aber.  Ci 
es  nicht  anders  sein  kann,  —  nach  Jenem  Käthe  Lessings  hei  m<' 
andern  Gelegenheit   —   nur  ein  Herz   fassen  und  lustig  zum  Teufel 
fahren.     In  dieser  Courage  besteht  die  Freiheit,  die  eigentliche,  «aür? 
Menschheit;   sie  ist  die  Religion  und  wahre  Seligkeit".     Siiater.  irj 
J.   1S0\  schrieb  er  an  Goethe^",  in  nächster  Bezieluiug  auf  Zaclüiri; 
Werners  -Attila"*:   -Das  ist  tiberhani)t  mein  Verdruss  an  der  neu ci; 
Schule,   dass  sie  den  Parnass  zu  einem  Redouten -Saale  ma<*lit -e' 
dann  si»richt:  diess  ist  die  wahre  Wahrheit  und  die  wahre  Dichf'iu'"" 


4S)  A.  ;*.  0   2.  M^l  Ö'.  40)  Im  Kyuosargesi,  worin,  wie  Fr.  SciiJ^i^' 

Rahcl  schrieb  (Varnhayous  Galerie  etc.  I,  2;iO  f.i.   Schleit*niiacUers  Ixetii-:»  «'*• 
die  Religion  überall  wieder  klingen.  ÖO)  A.  a.  0.  2.    lOT. 


Entwickelongsg.  d. Lit  1773 -tS32.  DieBoipantiker.  YerMltnisa  zu  Jacobi  etc.  843 

I 
In  ein  freundliches  Verbältniss  zu  Jacobi  kam  von  den  Stiftern  der  §  337 
romantisclien  Schule,  soviel  mir  bekannt  ist,  nur  Tieck,  aber  erst 
im  J.  1808^'.  Von  den  jÜngern  ausgezeichneten  Dichtem  stand  zu 
der  Zeit,  wo  die  Romantik  ihre  Blüthe  entfaltete,  Jean  Paul  schon  auf 
der  Höhe  seines  Ruhms:  auch  er  war  im  Athenäum '^^  und  im  poeti- 
schen Journal  ^  nicht  ungerupft  geblieben,  und  wenn  ihn  diess  auch 
zu  keiner  offenen  Feindseligkeit  gegen  die  Schlegel  und  Tieck  auf- 
zureizen vermochte,  er  vielmehr  die  Bestrebungen  und  Leistungen 
der  Romantiker  in  seiner  Vorschule  der  Aesthctik  viel  eher  aner- 
kannte als  verwarf,  so  hatte  er  doch  in  frühern  Schriften  nicht  ver- 
fehlt, gewissen  schlegelscben  Kunstlehreu  entgegenzutreten.  So  in 
der  Vorrede  zur  zweiten  Auflage  des  „Quintus  Fixleiu"  (1801),  wo 
unter  dem  Kunstrath  Fraisdorffer  die  Schlegel  gemeint  waren*',  in 
der  „  Erklärung  der  Holzschnitte  unter  den  zehn  Geboten  des  Katechis- 
mus"" in  den  „Palingencsien""  und  iu  den  „Briefen  uud  dem  be- 
vorstehenden Lebenslauf". 

§  338. 

Der  eigentliche  Krieg  gegen  die  Romantiker  brach  im  Jahre 

1799  aus,   als  die  ersten  Stücke  des  Athenäums  erschienen  waren. 

Die  Feinde,  welche  gegen  sie  mit  der  grössten  Erbitterung  kämpften, 

g^ebörten  zu  den   heftigsten  Gegnern  der  idealistischen  Philosophie 

r>l)  Vgl.  Köpke,  a.  a.  0.  1,  341  f.  52)  Vgl.  S.  702  f.  (dazu  den  biogra- 

.phiflchen  Commontar  von  Spazier  4,  103  f.,  wo  aber  in  mehrfacher  Weise  die  beiden  ■ 
Schlegel  mit  einander  verAvcchselt  sind)  und  S.  714,  Anm.  51.  53)  In  der 

Vision  ^ das  jüngste  Gericht**.  1,  2381.:  „Indem  —  kam  Jean  Paul  herbeigesprungen 
und  sagte :  ist  es  nicht  zu  arg,  dass  da  der  jüngste  Tag  hereinbricht,  ohne  ihn  nur 
«in  Bischen  zu  motivieren?  denn  was  wollen  denn  die  Paar  sechs  oder  sieben  tausend 
.Alplifthetc  sagen  ?  Und  »cht  euch  nur  um,  wie  ])rosaisch  und  gewöhnlich  es  dabei 
zugeht.  Das  hätte  ich  ganz  anders  beschreiben  wollen.  Er  hörte  meine  Antwort 
nicht  an,  sondern  lief  in  aller  Eile  den  Prüden  nach,  die  schon  weit  entfernt 
-waren,  und  von  denen  er  noch  die  letzte  erhaschte.  Edle,  reine  Seele!  rief  er 
aus  7  liesest  du  noch  so  Üeissig  die  Holle  der  Clotilde  (im  »Hesperus**)?  Sie  ver- 
neigte sich  und  trat  anständig  zurück,  entschuldigte  sich,  dass  sie  für  diessmal 
-verdammt  wäre,  aber  vielleicht  in  Zukunft  wieder  die  Ehre  haben  würde.  Er 
schüttelte  voll  Verwunderung  den  Kopf  und  verlor  sich  in  der  Menge". 
54)  Vgl.  das  angeführte  Buch  von  Spazier  3,  06  f.;  4,  44  f.  55»  Hinter  dem 

^Kampauer-Thal-;  vgl.  Spazier  4,  BT.  56)  Vgl.  Spazier  4,  90;  92  f. 

Ö7)  Daselbst  4,  113.  —  Als  Jean  Paul  sich  iu  Berlin  aufhielt,  kam  er  dort  in 
freundliche  Verbindung  mit  Tieck,  Bernhard!,  den  Schlegel  und  Fichte,  so  „dass 
er  damals  wirklich  diese  Schule  nun  auch  für  sich  gewonnen  zu  haben  glaubte*. 
Spazier  4,  144.  Er  suchte  daher  auch,  indem  er  das  Treiben  der  Berliner  in  ein 
milderes  Licht  setzte,  bei  Fr.  U.  Jacobi  die  Misstimmung  zu  heben,  die  Bern- 
hardi's  Sonett  in  ihm  erregt  haben  musste.  „AVenn  Du- ,  schrieb  er  ihm  im 
Augast  \W1  (Jacobi's  auserlesener  Briefwechsel  2,  314  f.),  «im  Kynosai^es  Bern- 
hardi*s  Sonett  gegen  Dich  gelesen,  wo  die  höchste  Ungerechtigkeit  zugleich  die 


844    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVLÜ  JfthrbandertB  bis  m  Qoetbe*t  Tod. 


§  338  und  zu  den  alten  oder  erst  jetzt  sich  aufthuenden  Widersaehfni 
Goethe*».  Der  Krieg,  wie  er  in  Tageblättern  und  andern  periodiBche« 
Schriften,  in  poetischen  und  prosaischen  Broschüren,  ia  BBhna- 
stücken  und  Caricaturen,  oder  wo  sich  zu  vereinzelten  An^l 
sonst  eine  Gelegenheit  bot,  geführt  wurde,  war  daher  von  verscl 
denen  Seiten  zugleich  ^^egen  Goethe  sowohl,  wie  gregen  Fiel 
Schelling  gerichtet:  der  eine  wurde  als  Begünstiger  und  Bei 
der  neuen  Schule  verfolgt  und  verunglimpft,  in  den  beiden  aod« 
bekämpfte  mau  die  ihr  durch  innere  wie  äussere  Bezöge  am 
Verbündeleu  Mjinner  der  Wissenschaft.  In  der  ersten  Zeit 
die  Ängriflfe  von  der  Gegenseite  nicht  nnerwiedert;  bald  jedoch 
Goethe's  von  Anfang  an  beobachtetes  Verhalten  Nachfolge:  mu 
lieas  die  Feinde  in  ihrer  Wuth  nach  Belieben  toben  und  »chmlhi 
ohne  darauf  weiter  zu  achten*.  —  Wenn  auch  die  dichteriscl 
Erzeugnisse  der  Romantiker  zu  den  Hau ptgegen standen  gchöi 
auf  welche  die  Streiche  der  Widersacher  sich  richteten,  iodem 
deren  künstlerischen  Werth  und  literargeschichtliche  Bedeutung  cl 
80  heftig  und  boshaft  bestritt  und  herabsetzte,  wie  man  sie  auf 
Gegenseite  enthusiastisch  und  ]>arteii8ch  erhob  und  vertheidigte, 
ward  der  literarische  Krieg  doch  zunächst  durch  das  Auflehi 
gegen  die  Kunstansichten  und  die  Kritik  der  Schlegel  veranl 
und  eingeleitet.  Zu  allererst  geschah  diess,  wenn  auch  noch  «ekr 
mittelbar  und  von  ferne,  im  J.  1790.  wo  Nicolai,  der  bereits  ttt 
Kant,  Fichte  und  Schelling  angebunden  hatte,  in  dem  seiner 
beachreibung  einverleibten  Artikel  über  die  Hören*  dem  jfli 
Schlegel  ein  Wort  der  Ermahnung  und  Warnung  wegen  Her  «ch 
seinen  ersten  literargeschichtlicheu  Schriften  verrathenden  Hinnel 
zur  neuen  Philosophie  zurief.  Nachdem  er  ein  Langes  und  Bi 
über  die  „philosophischen  Querköpfe"  gesprochen,  kommt  er  auf  s<i} 
Schriftsteller  zu  reden,  die  kantischc  Terminologien  missbranrhl 
Da  heisst  es  denn^:  ^Besonders  haben  die  kantischen  abstncin 
Terminologien  das  Schicksal,  dass  sie  da,  wo  sie  cmphatl»cb  ftoQa 
in  concreto  angewendet  werden,  fast  immer  schief  aogeweaietj 
werden   und    daher   gemeiniglich   ins    Lächerliche   falten.     Hr, 

höchste  Dummheit  iät,  so  sage  ich  Dir,  da  ich  ihn  oft  in  Berlin  M  idr 
dass  er,  wie  die  ganze  Classe,  es  nicht  »ehr  bOsc  meint*.  —  Tif«k  Ukb,  v)i' 
seihst  erz&hlt  (Schriften  (i,  S.  LITI)   Btcfs   in  frenndlichem  VcraebmM  oll  J 
Faul,   der  ihm  jene  Neckerei  im  poetischen  Jnunuü  niemals   Dacbg«tnfM  I 
(Vgl.  dagegen  aber  auch  Varnbagens  Denkwürdigkeiten  I.  Aasg.  3^  T8  ffK 

§  '6'^$.     1)  Ueber  den  Ton.  der  in  der  gegc^nseitigen  Befeltduo^  hM  dcrfei 
sehende  wurde,  tinden  sich  die  allgemeinsten  Andeutungen  üben  $.  ilJt  1 
2)  Vgl.  oben  S.  425  f.    Geschrieben  war  dieser  Artikel  bereits  in  Joll  IT«, 
ihn  Gntfaaltende  tt.  Bd.  der  Ueisebeschreibang  erschien  aber  er«l  Otlcrii  IW- 

3)  S.  235  f. 


itwldcelongsg- d.  Liter.  1773— 1832.  Die  Romantiker.  Verbftltnlss  zu  Klcolaj.    845 


Schlegel  —  ist  ein  trefflieber  Kopf,  der  einst  einer  der  vorzüglichsten  §  338 
deutschen  Schriftsteller  werden  kann,  wenn  er  nur  bald  in  die  wirkliche 
Welt  tritt  und  fleissig  mit  Menschen  aller  Shlnde  Gedanken  wechselt,  ' 
aber  nicht  allzu  lange  in  der  der  Eigenliebe  so  behaglichen  Region 
^^igener  abgesonderter  Speculationeu  verweilet,  wenn  er,  der  die 
^Briechen  so  gut  kennt ,  bestAndig  simpel  schreiben  will  wie  dio 
^Briechen. "  Die  Abhandlung  „vom  Werthe  der  griechischen  Komödie"* 
^Hei  sehr  schön,  nur  werde  sie  hin  und  wieder  durch  Auswüchse 
^Hcholastischer  Terminologien  ein  wenig  entstellt.  Dadurch,  scheine 
^^»,  habe  sie  ihr  Verf.  recht  gründlich,  recht  eindringend  machen 
wollen,  und  es  erfolge  gerade  das  Gegentheil;  denn  die  Gedanken 
I  würden  dunkel,  schielend  und  ein  wenig  pedantisch.  Ein  Beispiel 
I  sei  der  Satz:  ^  Dramatische  Vollständigkeit  ist  in  der  reinen  Komödie, 
L  deren  Bestimmung  öffentliche  Darstellung  und  deren  Princip  der 
^■öffentliche  Geschmack  iat,  nicht  möglich.**  Sei  das  nicht  lustig? 
^Hfnd  nun  bemüht  sich  Nicolai  zu  zeigen,  welch  ein  arger  Missbraueh 
^Bait  transcendentalen  Formeln  iu  diesem  Satze  getrieben  sei,  und 
^l)cklagt  sodann,  dass  gute  Köpfe,  die  eben  in  ihrer  Bildung  begriffen 
würen,  durch  solche  Affeetation  sich  so  früh  verdürben  ^  Schon 
viel  missfillliger  und  verhöhnender,  doch  auch  noch  hloss  beiläufig 
sprach  er  sich  zwei  Jahre  später  Über  gewisse,  auf  der  idealistischen 
^Philosophie  fussende  Sätze  der  beiden  BrUder  und  über  den  Cha- 
^■akter  ihrer  ästhetischen  Kritik  in  seinem  nSempronius  Gundihert'' 
^aus*.  Diese  in  der  Form  eines  Romans  abgefasste  Schrift  sollte  den 
^^Widerspruch  zwischen  der  neuen  Phiioso|)hie  und  dem  gesunden 
^■fenschenverstande,  oder  zwischen  den  Philosophen  »von  vorn''  und 
^Ben  Philosophen  „von  hinten"  (wie  Nicolai  das  kantische  a  priori 
^■lod  a  posteriori  verdeutschte),  iu  volles  Licht  setzen,  das  Wider- 
1  sinnige  in  den  Lehren  Kants,  Fichtes  und  Schellings  aufdecken  und 
^^iese  Philosophen  sammt  ihren  Anhängern  und  Nachbetern  lächer- 
^ftcb  machen.  Hier  heisst  es  u.  a.:  ».So  muss  auch  von  der  Schule 
^^Her  neuen  deutschen  Philosophen  durch  ihre  Form  die  ganze  Sinnen- 
^^relt  regiert  und  von  ihr  dafür  gesorgt  werden,  dasa  wenigstens  in 
[  Deutschland  alles  an  dem  Orte  stehe,  wo  es  stehen  soll,  vom  Natur- 
rechte  an  bis  zur  Kateehetik,  und  von  der  französischen  Revolution 
bis  auf  die  allgemein  gültige  Theorie  der  Poesie  von  vom,  ver- 


4)  Tgl.  S.  :is9,  77.  5)  Wip  gut  er  es  auch  mit  dem  ftltem  Schlegel 

:h  ein  Jahr  nachher  meinte,   erheUt  aus  semem  Anhange  zu  Schülers  Musen- 

madi,   wo  jener  (S.  177)  „ein  JUugling  von  herrlicher  Anlage"  genannt  wird, 

isen  -Pygmalion •*  gar  nicht  schlechter  sei  als  die  beiden  besten  Gedichte  von 

Goethe  und  Schiller  im  Musenalmanach  ifür  1797),  «on  dem  finen  „Alexis  und  Dora-. 

ron  dem  andern  .Klage  der  Ceres*.  6)  .Leben  und  Meinungen  Seropronius 

fondiberts,  eines  deutschen  Philosophen"  etc.    Berlin  und  Stettin  179S.  8. 


846    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhonderts  bis  zn  Goethe^s  Tod. 

§  33S  möge  welcher  durch  die  unabänderlichen  Gesetze  des  menschlichen 
GemUths  geboten  wird:  das  Gedicht  Hermann  und  Dorothea  sei  ein 
Epos,  der  Iliade  und  Odyssee  am  Werthe  gleich,   der  gestiefelte 
Kater  sei    hoch   genialisch,    Wilhelm    Meisters    Geschichte    sei  als 
Kunstwerk  den  Leiden  des  jungen  Werthera  gleich  zu  schätzen,  das 
W^eitschweifige  darin  sei  nicht- für  weitschweifig,  das  Ueberflflssige 
nicht  ftlr  Überflüssig  zu  achton,  und  die  Auflösung  des  Knotens  einer 
verwickelten  Geschichte  durch  einen  unbegreiflichen  Abb^  und  durct 
einen    feinen    Lehrbrief    einer   unbegreiflichen    Gesellschaft   sei  ein 
Meisterstück  der  Erfindung"'.    Man  sieht  gleich,   dass  Nicolai  hier- 
bei Recensionen  A.  W.  Schlegels  in   der  Jenaer   Literatur -Zeitnnr 
und  das  zweite  Stück   des  Athenflnms  im   Auge  hatte.     Was  hier 
und  an  einer  andern ,    sich   ebenfalls  auf  einen   Ausspruch  A.  W. 
Schlegels  in  der  Recension  von  Hermann  und  Dorothea  beziehenden 
Stelle*  über  einen  „ kritisch -ilsthctiscben  Kunstrichter    von   vom** 
noch  unterlassen  ist,   Namensnennung  des  einen   oder   des  andern 
Bruders,  das  geschieht  an  einer  dritten '".    Es  ist  da  von  einem  Es- 
rector  die  Rede,  der  sich  ganz  und  gar  ins  „Vonvomige"  und  m 
Unbedingte,   ins  Nothwendige  und  ins  Allgemeingültige  und  besfln- 
ders  ins  Unendliche  vertieft  hat,   und  der  unglücklicherweise  nocL 
dazu  ein  Poet  und  ein  ])oetischer  Kritiker  ist.    Nach  einer  ausführ- 
liclien  Ciiarakterisierung  desselben,  worin  es  nicht   an  Sticlieleien 
auf  Schillci's  Schriften,  namentlich  auf  die  Briefe  über  die  ästhetische 
Erziehung   und   die  Abhandlung   über   naive   und    sentimcntali^cbe' 
Dichtunir,  fehlt,   wird  denn   auch   berichtet:  «Unser  Exrector  btte 
seineu  eijrncMi  Mrt«s«tnb  für  das  Ausserordentliche;  —  über  Wiclan«! 
zuckte  er  einmal   fibcr  das  andere  die  Achseln,   dass  die  Leute  iiir. 
für  etwas  halten  wollten,  da  er  so  iremein  schreibt,  dass  man  ti-i^Är 
seine  Verse  veistehen  kann,  und  seine  Vernunft   in  Prosa  zwar  i.* 
suud  und  hell,  aber  nicht  vonvornig  ist.     Höchstens  gab  er  noch  i% 
dass  W'iclands  Poesie  in  seinen  köstlichsten  Stellen  objectivköEiiM.'h 
sei,  aber  nicht,  dass  r^essinir  jmetischen  Sinn  und  Knnstgefühl  jreha^i 
habe."    Und  dazu  die  Note:  „Hr.   Fr.  Schlegel    muss  sich  iri^cl 
einmal  mit  dem  Exrector  unterhalten  haben,  denn  er  bat  das  letzte 
Urthcil  des  ausgedörrten  Mannes  über  Wieland  und  Lessing  vr^rtliei 
in   sein   Bucli   -die  kriechen   und   Römer""   und    ins   -Lycenra  der 
Knust*"-   eiu'retrageu'*''.     Xun    aber    kam    zu   Anfang:   des  J.  iTt*^' 


7)  S.  S  f.  S)  S.  Worke  11.  is:i  f.  U)  S.  lT->  f.        Uw  S.  ^ii  if 

II)  1.  24U.  12i  2,  lo;t.  13)  Audi  in  der  von  Nicolai  ^'tsohrifl-s': 

Vorroilo  zu  ilcii  „iinu-n  (iospräcUen  zwist-hon  <1ir.  WollT  uml  cmom  Kaniiaiicr" -■* 
(Berlin  und  Stettin  ITü*».  ^.)  muss  etwas  gegen  die  Sclilcgol  onthalton  sein  ivd««*-*^' 
unten  Anm.  17(,  ich  weiss  aber  nicht  was,  da  mir  das  Buch  nicht  7iir  IlAntl  i-' 


£Dtwickclungsg.  d  Liter  1773—1^32.  Die  Romautikor.  VerhlUtui^s  zu  Nicolai.    S47 

in  Betlia  ein  Roman   heraus,   «Vertrante   Briefe  von  Adelheid  B**  §  338 
SkU  ihre  Freundin  Julie  S**",  dessen  Inhalt  hnuptsÄchliclj  gegen  das 
theniium  und  insbesondere  g'egen  die  Fragmente  im  zweiten  Stück 
shtet  war'';  der  Verfasser  hatte  sich  zwar  nicht  genannt,  allein 
wuftätc  haid,    das8  es   niemand  anders   als  "NicQlai  wfire.     Mit 
im  Ei'scheinen  dieses  Buchs  kam  der  Krieg  zwischen  den  Gegnern 
md   den  Graudern    und  Anhängern    der    neuen  Schule  zu  vollem 
Ausbruch:  eine  gllnstige  Anzeige  dcRsellien  in  der  Jenaer  Literatur- 
zeitung'* gab   mit  den  Ausschlag  zu  A.  W.  Schlegels  Rücktritt  von 
iieser  Zeitschrift  und  zu   dem  vollständigen  Bruch  der  Romantiker 
Iberhaupt    mit    ihren    Herausgebern"';    dem   Verfasser   des   Romana 
dbst  aber,  der  damals  auch  schon  mit  Tieck  verfeindet  war'',  zogen 
liue  Angriffe  himioristische  Schaustellungen  und  derbe  Zticbtigungen 
i,  von  dem  altem  Schlegel  im  ^literarischen  ,, Reichsanzeiger"  des 
.thenUums,  von  Tieck  im  Zerbino  und  im  poetischen  Journal,  von 
ihelling  in  den  Erläuterungen  Über  die  Jenaer  Literaturzeitung.     Im 


14)  l^pr  Held  der  Gpschirhto  ist  ein  junger  Moiisrh  von  Anlngeo,   der  eben 

VD  der  Umrersität  zunickuelvonimen  ist,  roll  philosopbtscheu  tiud  belletnstisclien 

>an1iels.     Ihm   sind  iu  den  Urieten .   welche  seine  ^chwiigeriii  Adelheid  über  ihn 

:hxeil)t.  Allerlei  I>ftige  in  den  Mund  gelejOft,  die  in  den  „Fragmenten-  stehen,  und 

ie  er  in  der  Unterhaltunir  rait  seiner  Schwägerin  vortfebracht  Imt.    Auch  gegen 

icbt^.   so  vie  gegen  die  iclealistischfn  Philosoplicn  uherhanpi.   irird  wieder  in 

»Irischer  Weise  polemisiert,  und  nicht  minder  erhAlt  Tieck  (der  als  gestiefelter 

Lter  auf  den  Dachern  der  dramili&chGQ  Kunst  heruuiBpazierei   einen  ^eitenbicb. 

fgl.  daxii  «Aus  SchleiermAchers  Lehen-  l ,  TIA  f.  —  Ob  ein  die  Fragment«  im 

teninm  verhöhnender  Artikel  Im  Berliner  Archiv  der  Zeit  WJ'K     I.  41  ff.,  der 

iit  N.  unterzeichnet  ist,  auch  von  Nicolai  oder  von  anderer  Fland  herrührt,  ver- 

ich  nicht  zu  entscheiden.  ■  15)  Jahrifnng  ITW.    J,  2t<>  ff     Hier  heisst 

n.  au:    -Wer  dk*  Alleiuweisheit  mancher  juntyen  Philosophen,   den  gelehrten 

dstnus.  das  stolze  Hinwegsetzen  Über  bürgerliche  \erhhlfni5fje  und  Convenicnz, 

:,  wer  die  Zeichen  der  Zeit  zu  sehen  und  sich  darüber  zu  argern  (iele^enheit 

»habt  hat,    der  wird  bei  der  LectUre  dieses  Roraun»  den  .^ntyr  preisen,   der  *ie 

irf  ins  Auge  fa.*ste  und  mit  Witz  und  Laune  solche  Thorzeiten  züchliirt"- 

lOl  Vgl  S.  402  f.,  I2ö'   (dazu   auch  Intelligenz  -  Bhit   der  Literatur-Zeitung 

f09,    N.    Mät    und   S.    «SO,   Anro.    'if<.  17)    In    Tiecks    Streit   mit   dein 

^ngem   Nicolai    (vgl.   oben  S.  5^5  f.,   Anm.  ^Ii.    bei    dem    auch   der  Vater   die 

ind   im  Spiel  hatte,    war  dieser  von  dem  Dichter   nicht  unversehout  gehltcben. 

cicr   Erklärung,   welche    im   luteUigeiiz- Blatt    der   Jenaer   Literatur -Zeitung 

IVJ^.  K.  H>L  Sp.  nur»  f  erschien,  hatte  Ticrk  gescluncbcn:   -Was  die  Litr- 

ftturzeitung  und  die  ITerreu  Schlegel  anbetrifft,  «o  bÄtte  er  (iler  jüngere  Xicolni 

Berliner  Archiv  der  Zeit.    Anzeiger   vom  Oet.  IT'.i^,   S.  H2  f.i  sich  wenigstfOH 

icbt  damit  zufrieden  stellen  können,  was  im  Gundibert  und  iu  der  Vorrede  zu 

in  sogenannten  philosophischen  Gesprächen  (vgl.  Anmerk.  1.1»  über  diese Schrit't- 

»IlcT  mit  »0  vieler  Ausführlichkeit  gesagt  m.   und  nicht   das  trivial«'  Sprichwort 

»o  Dcoem  be^tÄtigen  sollen:  So  wie  die  Alten  saugen,  so  zwitschert *^n  die. lungen. 

le*  ist  vi^.•Ueichl  nicht  sonderlich  gesungen,  sondern  mehr  ge&umuit,  «ler  Junge 

il  aber  augenblicklich  im  Zwitschern  desto  mehr  getlian. 


848    VI.  Vom  zweltoa  Viertel  des  XVIU  Jahrhunderts  bis  xu  Goethe's  Tod. 


Tod.  I 


lleriei 
me  !■■ 


338  Athenäum'*  wurde  folgende  Preisaufgabe  gestellt:  ^Der  Buchhändler 
Nicolai  der  ältere  hat  kürzlich  in  einem  krankhaften  Zustande  allerlei 
fremde  Geister  gesehen  und  wünscht  sehnlich,  nun  auch  den  säi 
zu  erblicken.  Demjenigen  Gelehrten,  welcher  ihm  die  Mittel 
weisen  kann,  dieses  schwierige  Unternehmen  auszufUhreD,  wird 
verhältnissmässige  Belohnung  versprochen."  Zweitens  wird  eine 
Fr.  Nicolai'»  Laboratorium  einzig  und  allein  aufrichtig  fabricirte  ai^ 
philosophische  Latwerge  warm  empfohlen,  die  bei  hoffnungsrol 
Junglingen  allen  aus  dem  Philosophieren  hervorgehenden  Uebeln 
beugen  oder  abhelfen  werde.  Ein  dritter  Artikel  betrifft  eine  von  NL 
in  der  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften  neuerlich  rorgel 
Abhandlung,  wonn  er,  zur  völligen  Widerlegung  des  transcendentili 
Idealismus,  eiueu  auf  eigne  Beobachtung  gegründeten  und  also  uoum- 
stösslichen  Unterschied  zwischen  Erscheinungen  und  Dingen  an  sich 
ortere.  Verschwinde  etwas,  wenn  man  sich  sechs  Blutegel  an  den 
setzen  lasse,  so  sei  es  eine  blosse  Erscheinung;  bleibe  es,  so  sei  ci 
eine  Realität  oder,  welches  in  seiner  Sprache  einerlei  gelte,  eil 
Ding  an  sich  etc.  Ein  vierter  zielt  auf  sein  SelbstrUhmen  der  Vi 
dienste,  die  er  sich  um  die  deutsche  Literatur  und  die  Forl»chi 
der  Zeit  erworben  habe;  ein  fünfter  endlich  auf  seine  Uoge 
stocktheit  Im  Zerbino  erscheint  Nicolai  in  der  Figur  des  Ki 
im  poetischen  Journal  als  „alter",  alles  besser  wissender,  sifih 
altklugem  Kunstrichterton  geltend  machender  „Mann**  der 
„der  neue  Herkules  am  Scheidewege"'*  und  unter  seinem 
Namen  als  Auferstandener  in  der  Vision  „das  jtlngste  Geriebt  , 
nirgend  ein  Unterkommen  finden  kann,  weder  in  der  IIOllo  noch 
Himmel,  und  zuletzt  verurtheilt  wird,  sich  in  die  Nichtigkeit  zu 
geben,  wohin  er  auch,  als  in  sein  altes  Vaterland,  mit  Frendeo 
Von  Schelling,  der  wie  Überhaupt  so  insbesondere  in  der  genaoi 
Schrift ***  in  seiner  Polemik  in  herber  Leidenschaftlichkeit  und  ii 
groben  Ausfällen  Über  alles  Mass  hinausgieng*',  wurde  die  Litenta^ 
Zeitung  darin"  als  ^die  StimmfÜhrerin  aller  regressiven  TendenseiL 
das  Centrum  des  wissenschaftlichen  Obscurantismus,  der  Strob^lakr 
des  baufälligen  Herkommens,  die  letzte  Hoffnung  der  ersterfaf«^ 
Plattheit  und  Unwissenschaftlichkeit*'  bezeichnet  und"  als  ,cl«si 
unheilbar  Schlechtes,   ein  fauler  Fleck  der  Literatur,   ein  Siti  aad 


18i  2,  2,  333  ff.  19l  V?!.  Tieclcs  Schriften  U ,  S.  LXV.  M)  ta 

grössten  Tbeil  denelben  &ull  A.  W.  Scblegol  Rbgcfasst  haben ;  xgL  JU»  SdUr 
inachcrs  Leben"  :i,  13^,  Not«.  21)  Vgl.  die  Sadrc  darauf  ia  dea  rickl  i^ 

witzigen  Schreiben  aus   Paris ,    Über  die  Ausbreitong   der   nrhBJIingccibMi  tU^ 
■ophie  dabeihat,  in  Kotzebue'a  Freimüthigem,  ISö3,  N.  125.  JflSff  1^|  S^Wsli 


3,  64ti. 


23)  S.  ööi*. 


Eotwickeluiigsg.d.  Liter.  1713*1932.  Die  Romantiker.  Yerliiütüisi  zu  Nicolai.    849 

Heenl  der  Veracbwörung  gegen  jeden  jetzt  noch  zu  machenden  §  338 
Fortschritt  in  Wissenscbuft  und  Kunst,  eine  Herberge  aller  niedrigen 
Tendenzen  und  Leidenschaften,  die  jetzt  in  der  literarischen  Welt 
geweckt  worden  seien'*,  endlich  als  nein  Abgrund  von  Gemeinheit 
und  Schlechtigkeit ^  Aber,  bemerkt  Schelling-'  —  und  hier  kommt 
er  auf  Nicolai  —  die  Literatur-Zeitung  zeichne  sieh  auch  durch  Feig- 
heit aus,  und  wie  weit  diese  Feigheit  bei  ihr  gehe,  konnte  man, 
wenn  man  nicht  ihre  eignen  Geständnisse  darüber  hätte,  allein 
schon  au»  der  Furcht  wissen,  welche  selbst  die  verächtlichsten 
Scribenten  ihr  einzuflüsen  im  Stande  seien.  „Es  ist,  um  nur  ein 
Beispiel  anzufllbren,  bekannt,  dasa  der  Buchhilndler  Nicolai  seit 
Jahr  und  Tag  nicht  nur  gegen  Goethe,  Kant,  Schiller,  Fichte  u.  A. 
liUtert,  sondern,  was  noch  mehr  ist,  gegen  die  Kantianer  Bchreibt^ 
welche  gewnssermassen  zu  der  Si|ij)schaft  und  Brüderschaft  der 
Literatur-Zeitung  gehören.  Hr.  Schütz  hat  alles,  was  von  andern 
Seiten  her  seit  mehreren  Jahren  über  diese  Menscbenclasse  ergangen 
ist,  treulich  mit  auf  sich  bezogen  und  sich  für  Ausfälle  auf  sie  über* 
baupt  mehrmals  reizbar  gezeigt.  Was  thut  nun  die  allgemeine 
Literatur-Zeitung?  —  Sie  schweigt.  —  Warum?  Aus  Verachtung? 
—  Diess  kann  nicht  der  Fall  sein,  da  die  Redactoreu  im  Innersten  doch 
wohl  80  schlecht  von  ihm  (Nicolai)  nicht  denken,  dass  sie  ihn  nicht 
noch  immer  einer  Receneion  werth  hielten.  Warum  also?  —  Aus 
keinem  andern  Grunde,  als  weil  sie  selbst  vor  dem  Abschaum  der  Lite- 
ratur Furcht  haben,  wenn  er  nur  sich  bewegt.  —  Einen  Anfang  jedoch 
hat  die  Literatur-Zeitung  mit  Nicolai  gemacht.  Eine  Schrift,  worin 
er  alte  Geck  sich  noch  geplagt  hat,  den  ßriefton  einer  jungen 
rau  nachzuahmen,  und  welche  fast  ausschliesslich  gegen  das  Athe- 
aftum  gerichtet  ist,  hat  man  vielleicht  eben  deswegen  noch  am 
ehesten  gewagt  zu  recensieren,  und  zwar  als  eine  geistreiche  Dich- 
^^ung,  obgleich  unter  wohlüberlegter  Verschweigung  der  Namen  sowohl 
^Bles  unverkennbaren  Hrn.  Verfassers,  als  auch  der  beiden  Schrift- 
^nCeller,  gegen  welche  sie  geschrieben  ist,  auf  folgende  Art  anzu- 
^»preisen***^.  Weiterhin  werden  Nicolai  und  Kotzobue  als  die  „ver- 
f  Achtlichsten  Wesen  der  Schriftsteller  weit''  bezeichnet ,  mit  denen 
jptzt  —  so  sei  sie  herabgeiiunken  —  die  Literatur -Zeitung  eine 
„Allianz"  geschlossen  habe".  —  Nicolai  war  durch  die^c  Angriffe  zu 
»ehr  gereizt  und  zu  tief  verletzt  worden,  als  dass  sein  Temperament 
ihm  gestattet  h&tto,  sich  fortan  ruhig  zu  verhalten.  Zudem  hielt  er 
eich,  bei  der  hohen  Meinuns,  die  er  von  seiner  literarischen  Wirk- 


,     ha 


24)  S.  (»)U  ff. 
16)  i?.  <.r.3. 

KottnULtt,  OrandrlM.   ft.  Aftfi.  IV 


25i  Es  folgt  die  Anmerk.  ib  aogefoUrte  Stelle. 


M 


o(L  ^^ 


S5U    VL  Vom  Eweit^u  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  his  su  Goethe'«  Tod 

§  338  samkeit  und  von  seinem  lenkeudeu  Einfluss  auf  die  iceistige  Bild 
der  Nation  hatte,  aucb  verpflichtet,  in  seinem  Ankämpfen  ge^rett 
ihm  für  die  ^'esunde  Vernunft,  für  die  Literatur,  die  Aufklilruiig  u 
den  Geschmack  in  Dcutachland  so  überaus  gefährlich  und  verderbU 
Bcheinendc  Bündniss  der  Romantiker  und  idealistiscben  PhiK>sop 
•»der,  wie  die  jetzt  bei  ihren  Gegnern  üblich  werdende  Bexeirhnt 
lautete,  gegen  die  Clique,  nicht  nachzulassen.     Er   wartete  nur 
die  rechte  Gelegenheit  zu  einem  HauptBtreiche,   um  sie  vOllip 
dem  Felde  zu  schlafen,   und   sie  bot  ttich  ilim  sehr  bald:   mit  den 
Beginn  des  Jahres  ISOl  übernahm  er  wieder  die  Kedaction  der  ai 
gemeinen   deutschen   Bibliothek",    und   gleich    iu    das    erste 
rückte  er  einen   sehr  ausführlichen  Artikel    von   seiner  Hand   eia 
der  als  eine  Art  von  Manifest  gegen  die  Romantiker  und  die  i 
befreundeten  Philosophen  zugleich  gerichtet  und  in  die  Anzeige  ci 
Anzahl   kürzlich   eiscbicnener  und,    bis  auf  die  letzte,   iituniftel 
oder  mittelbar  die  Händel  A.  W.  Schlegels,    Schellings  und  i 
Freunde  mit  den  Herausgebern  der  Jenaer  Literaturzeitun^  betreffen- 
der äehrifteuj  Erklärungen,  GegenerkläUungeu  etc.  gekleidet  wv". 


27  t  Tgl  IU,  79,  ih'.  Bevor  Nicolai  wieder  an  die  Spitze  der  %.  d.  Biblio&rit 
trat,  waren  die  Alteren  Schriften  von  Tieck  und  den  beiden  Srhl6^el  darin  «dMi 
melirfAcli  besprochen  worden,  die  von  Tieck  §rbon  mehr  mit  Tadel  al«  mit  Lob 
(Vgl.  oben  S.  5S^) ,  die  Arbeiten  der  Schlegel  (vun  dem  älteni  die  Ccbrr- 
setziing  des  Sliakspeare  42,  :i4i  tf.;  55,  47  flf ;  von  dem  jAngt^ni  die  Mftcke  ca 
Lyceum  42,  ^^  f..  das  Kiich  „die  Griechen  nnd  Römer"  i^ .  2^;^  ff.i  im  Gana 
mit  ^ossor  Anerkennung.  Allein  die  Anzei|re  der  beiden  ersten  Bände  des  Athe- 
ntiums  aus  dem  J.  I^ou  (55,  4'i  ff.)  war  schon  mit  entschiedener  Feiodseli^nai 
gegen  die  Schlegel.  Tieck  nnd  Novalis  ubgefasst  Von  wem  sie  ist,  wriaa  ict 
nicht,  des  Stils  wegen  kaum  von  Nicolai  {der  auch  in  der  Zeit,  wo  er  nichl  Hcnuu' 
geber  war.  immer  Beiträge  zu  der  n.  allg.  d.  Bibliothek  liefertei.  Der  Vrrf. 
den  Brüdern,  die  mit  ungemein  p*08sen  Ansprtlchen  aufgetreten  aelen.  .tbMci 
Anmassung  und  Idiude  Vorliebe  für  ihre  Freunde,  am  meisten  aber  l\lr  ihr 
werthes  Ich-  vor.  Tierk  wird  „ein  gar  armer  and  schwächUrher  Hero* 
dem  Ueros  {joethe"  genannt;  der.BlathcnälAiib"  von  Novalis  sei  eine  pleooaiitiMkr 
Bezeichnung  ffu*  -Staub**;  so  schledite  Verse,  wie  A.  W.  Schhjrt»!  in  *Ut  t'<h«r> 
fietzung  des  Gesanges  aus  dem  -rasnulen  Bolnnd-,  die  sich  y  i.stm- 

schlie^seii  sollten,  mache  Wieland  freilich  nicht  nud  habe  •!  >  o/s 

Lehen  nicht  machen  kfinnen;  Botche  Kunststficko  iheile  die  Mtt»i*  imr  thrrc  nr- 
tniutcaten  JUugern,  den  Herreu  J^'chlegel  und  Tieck  mit  etc.  Noch  vjcj  oMAnArr 
verfahrt  dann,  auch  noch  iu  demselben  Bande  iS  116  (Ti,  der  mir  rlimfiJIi  m* 
bekannte  Hecensent  mit  df^m  ersten  Theil  der  ^romantiichen  t^ichtacg««*  iva 
Tieck.  welche  er  unter  dem  Titel  .romantische  narslellung-*  aufftiltrc  ,Wac  )iillh. 
heisst  es  zuletzt.  .Mobilität  der  Kinhilduugskraft,  wcun  solche  ohne  SarJ^nkMaa 
spielt,  mit  dem  Geschmack  sich  nicht  in  Kiiiklang  bringen.  nirt;cnd  fOr  Ge^U  mA 
Herz  fixieren  liissti"  28t  Im  5U  RaiuU  der  n.  allg.  d  Uihr  •'    '     -    ■ 

Fichte  nannte  diesen  Artikel  Nicolai*«  .unsterbliche  Be&itx.I 

'2{h  Ihre  Zahl  belief  sich  auf  acht  oder  eigentlich  nur  auf  ''iel>en      r.s 


InbrSebeltiiigsg.  d.  Liter.  1773—1632.  DieRomanü'ker.  Verhältntss  zu  Nicolai.    851 

Der  literariscbe  Streit,  von  dem  hier  die  Kode  sei,  beginnt  die  An-  §  33S 
seige,  werde  darum  in  der  a.  d.  Bibliothek  umstilndlicb  besprochen, 
^eil  er  tbeils  an  sich  selbBt  einzig  in  seiner  Art  sei  und  Gelegenheit 
^xsbe,   den  literarischen  Charakter  einiger  Leute   kennen  zu  lernen, 
welche  jetzt  viel  Redens  von  sich  veranlassen,  theils  eine  Art  von 
Wichtigkeit  dnrch  die  Rücksicht  auf  eine  gewisse  schiefe  Lage  der 
dentschen  gelehrten  Rejinblik,  besonders  in  Absicht  auf  Pbibisophie 
nnd   auf  philosophische  Ansicht   der  Poesie  und  Künste,   bekomme^ 
zu  welcher  Lnge  allerdings  die  a.  Lit.  Zeitung  seit  einiger  Zeit  eben 
durch  die  Männer  und  Jünglinge  wohl  nicht  wenig  beigetragen  habe, 
•welche  jetzt  so  heftig  Über  sie  hergefallen  seien.    Man  wolle  aber 
auch  von  der  Anzeige  dieses  seltsamen  Streits  Gelegenheit  nehmen^ 
mehrere  sich  natürlich   darbietende  Bemerkungen  hinzuzufügen,   so- 
wohl über  einige  nicht  unwichtige,  die  neue  deutsche  Literatur  Ober- 
haupt angehende  Gegenstände,   als  besonders  Über  den  Unfug,   der 
jetzt    durch   den  Dünkel   einer  afteri)hih>8ophlschcn  Partei   ausgeübt 
werde.     Bei  dieser  Gelegenheit  auch  Sehellings  System  des  transcen- 
dentalen  Idealismus  anzuzeigen,  sei  nöthig  gewesen,  indem  sich  die 
neue   Naturphilosophie,   welcher   die  Zeitschrift  für  die  speculative 
Physik  gewidmet  sei,  ganz  darauf  gründe.    Aus  dem,  was  nun  folgt, 
nur   einige  Hauptstellen.    Hr.  Fichte  (auf  den  ^'icolai  nach   seinen 
irühcrn  AngritTen   aufs   neue   einen  groben  Ausfall   in  seiner  Schrift 
Ueber  meine  gelehrte  Bildung"  etc.  **  gemacht  hatte)  hat .  . .  genugsam 
;ez6igt,  dass  er  keinen  Widerspruch  ertragen  kann,  dass  er  selbst  zwar 
lieht  nur  sehr  geschont,  sondern  auch  ausscliliesslich  gepriesen  sein 
will,  dass  er  aber  niemand  schont,  sondern  alles  verachtet,  was  nicht  zu 
(inem  Anhang  gehört.    In  dieser  Anma^sung  der  Unfehlbarkeit,  in 
liesem  unanständigen  Absprechen,  in  dieser  Verachtung  aller  Anders- 
leakendeu  und  in  dieser  Parteilichkeit  für  alles,  was  zur  Clique  gehört^ 
ird  er  von  seinem  ersten  Schüler,  Hm.  Schelling,  nftch  Uhertroffen. 
►er  Jünger  geht  hierin  Über  den  Meister,  welcher  letztere  doch  noch 


LS  erste  Heft  der  vnn  Sclielling  herauBgog.  ZcilB<*hrif(  fnr  die  speculative  Physiic 
Feaa   und  Leipzig    )H<)<t.    H.);   die  daraus   besonders  abgedrurkteu  ErllXnt^rungen 
Iber  die  Jenaer  allgemeine  Literatur-Zi^itung  von  Schelling:  die  Vertheidigaug  gegen 
kheltings  „sehr  unlautere  Erläuterungen  eto".  von  Schutz,  als  erstem  Redat.'K'ur 
ler  Zeitung  ftm  Intel ligenÄ-Blutt  IS*mi.  N.  h'  und  K2);  die  Erklärung  einer  Stelle 
obiger  Vprtheidigung.    Yon    dem  zweiten  Redacteur,  dem  Justizr.  Hnleland  iln- 
dligenz- Blatt  1'*(M),  N.  77i;   eine   Erklärung   wider  diese  Erklärung,  von  Heinr. 
Ileffens,   nnd   Hulelauds    und    Schützens  Antwort   darauf  i  Intelligenz-Blatt   iSfm. 
tfll);  A.  W.  Schleffel«  Abschied  von  drr  allgemeinen  Literntnr-Zritung,   nehst 
der  Hrratiflgeber  ErlAuieningen  nber  diesen  Abschied  ilntelliiieuz-Bliitt  |7!M»,  X,  I4f>i; 
das  pM'tieche  Joufnnl  von  TIcck;  SchrlUn^s  System  des  transrendenialen  Idealis- 
mus. 30l  Berlin  ITHD.    h. 

5-f 


852     VI.  Vom  xweiten  Vicrua  des  XVIU  Jahrhunderte  bU  zd  Goethe*«  Tod. 

§  33S  zuweileu  etwas  loUe  zu  treten  versucht.  Waa  kennte  die  Al1gem( 
Litoratur-Zeituug  erwarten,  wenn  sie  mit  diesen  MiLnneni  nicht  tll 
einstimmte"!*..  Mit  den  beiden  PhiloKophcn  seien  die  Gebrl 
Schlegel  enge  verbunden  gewesen;  der  ültere  habe  schon-  Im  J.  1' 
auf  den  Grund  des  sich  selbst  setzenden  Ich  eine  allgemein  gül 
Theorie  der  Poesie  nach  den  uotbweudi^on  Riclitnnjreu  de»  meni 
lieben  Gemüthes  iu  der  äIIjc.  Lit.-Zcitiiug  sehr  feierlich  ungekQni 
der  jQngere  durch  den  transccndentalen  Idealismus  in  der  GricchheÜ 
aufrfl.umen  wollen.  Zu  den  BeilAufem  gehöre  sonderlich  ein  gcwii 
Hr.  Tieck,  der,  ohne  irg-cnd  etwas  Sonderliches  geschrieben  zu  hal 
wegen  eines  ganz  elenden  Konmns,  ^  William  Lovell*,  von  A. 
Schlegel  i>lötzlich  im  Intelligenz -Blatt  der  Literatur -Zeitung 
grossen  Dichter  geschaffen  worden  Bei"  ebenso  wie  da«  intcllectm 
Ich  die  ganze  Welt  der  Erscheinung  schaffe  durch  einen  einzigen 
der  Freiheit.  .Diese  Herren",  fAhrt  Nicolai  fort,  ^traten  in  eine 
Verbindung,  welche  man  wohl  den  geheiligten  Kreis  nennen  ki 
deuu  sie  hielten  sieh  wechselseitig  für  die  AuserwShltcii,  welche 
möge  der  von  Herrn  Fichte  erfundeueu  neuesten  Philosophie 
besser  wUssteu  als  andere  Leute,  oder  sie  hielten  sieh  für  diejemj 
welche  allein  alles  wÜHBtcn,  so  wie  mai»  es  wissen  soll.  Sie 
einer  dem  andern  ganz  erustlich,  es  sei  das  ganze  gelehrte  Deul 
land  auf  ihr  Beginnen  höchst  aufmerksam  oder  sollte  es  doch 
und  durch  oftmaliges  Sagen  und  Wiedcrsjigcn  in  ihrem  kleinen  Kl 
glaubten  sie  endlich  ganz  ehrbar,  über  ihre  neuesten,  auf  den  trao! 
dentalen  Idealismus  gebauten  Schriftchen  wäre  das  ganze  Zeitalter 
in  änsserster  Spannung,  und  das  glauben  die  guten  freute  wirklich 
noch,  weil  dieser  Glaube  sie  so  sehr  glücklich  macht.  Daher  «prwb« 
sie  in  ihreu  Schriften  nicht  selten  sehr  feierlich  nvon  dem  neun 
Zeitalter,  das  mächtig  heranrückt  zur  Wiedergeburt  aller  W««- 
schaften  und  Künste".  Daneben  glaubt  jeder  von  den  Herren,  er 
sei  ein  grosser  Mann,  der  transcendeutale  Idealismus  sei  das  einzig 
Wissen,  wer  dieses  nicht  annehme,  sei  ein  Dummkopf,  welcher  «d 
nicht  zur  Hohe  der  Speculation  erheben  könne;  sie  silmmtHch  »ih@ 
über  alle  deutschen  Gelehrten  weit  weg,  das  Zeitalter  verehre 
sie  hatten  schon  dessen  unendliche  ProgressivitÄt  geweckt,  die  Wii 
Schaftslehre  habe  schon  aller  Gedanken  umgekehrt,  und  in 
werde  allenthalben  das  Setzen  des  reinen  Ichs  allein  tv. 
daun  würden  sie,  die  sechs  oder  siebeu  auserwühltcn  Id.,:.,.. 
die  einzigen  grossen  Miluner  in  Deutschland  erkannt  werden,  wd( 


31)  Wie?   eothäh  die  bereits  oben  angezogene  Stelle  in   der  R«c«ni^D  *« 
Hermann  und  Dorothea,  s.  Werket),  1831,  woranfdicssgeht^  doe  AikklUidipai^ 

32)  Vgl  oben  S.  58S. 


iZntwIckelungflg.d.  Liter.  1771^—1632.  Die  Romantiker.  Vorhältniss  zu  Nicolai.  853 


^8c 


sie  eigentlich  jetzt  schon  wfiren.  ...  In  diesem  Glauben  nun  gaben  §  33& 
die  Herren  das  philosophische  Journal,  das  Athenäum,  die  Ideen 
Ober  die  Natuqihilo&ophie,  die  Bücher  über  die  Griechheit  und  die 
objective  Poesie,  nebst  dem  Roman  Lucinde  und  dem  Schauspiel 
Genoveva  heraus,  welche  alle  der  geheiligte  Zirkel,  nebst  der  von 
Hm.  Fichte  angekündigten  pragmatischen  Religionsphilosophie,  als 
unsterbliche  Werke  pries,  „die  den  Wendepunkt  der  Kunst  und 
Wissenschaft  bezeichneten,  an  welchem  das  Zeitalter  jetzt  steht". 
Die  deutsche  vernünftige  Lesewelt  war  nun  aber  nicht  dieser  Meinung, 
sondern  hielt  alle  diese  Bücher,  so  wie  sie  erschienen,  für  unbe- 
deutende Schriften  voller  Prätension  und  leerer,  hochtrabender 
Phrasen,  welche  oft  nahe  an  Unsinn  grenzten".  Ueber  diess  Ver- 
halten des  Publicums  verdrossen,  hätten  die  Herren  ihren  Unmuth 
doch  noch  so  lange  verbissen,  als  man  in  Jena  zu  höflich  und  nach- 
sichtig gewesen,  etwas  an  ihnen  ins  Gesicht  zu  tadeln.  Kaum  wäre 
diess  aber  geschehen,  so  hätten  sie  alle  Fassung  verloren  und  ge- 
glaubt, die  a.  Lit.-Zeitung  sei  mit  Bosheit  wider  sie  erfüllt  und  habe 
folglich  allen  Werth  verloren,  den  sie  sonst  etwa  könne  gehabt 
haben.  ...  Es    folgt  nun   zunächst   die  in   klatschhaftem   Ton,    mit 

usserster  Breite  und  nelen  Wiederholungen  vorgetragene  Geschichte 
von  dem  Bruch  A.  W.  Schlegels  und  Schellings  mit  den  Henius- 
geheru  der  a.  Lit.-Zeitung.  Dabei  wird  den  Idealisten  vorgeworfen, 
sie  hätten  die  Literatur -Zeitung  zu  ihren  Absichten  schamlos  miss* 
brauchen  wollen;  ihre  Werke  hätten  nur  von  ihren  Freunden  recen- 
siert  werden  sollen;  sie  hätten,  wenn  es  nicht  andei*s  zu  beschafleu 
gewesen,  für  ihren  transccndentalen  Idealismus  Anpreisung  zu  er- 
aehleichen  gesucht;  auch  bei  der  a.  d.  Bibliothek  hätten  sie  sich  be- 
mQht,  als  Mitarbeiter  anzukommen  oder  sich  darin  für  sie  günstige 
Recensioneu  auf  allerlei  Schleichwegen  zu  verschaffen.  Neben 
Schelling,  Fichte  und  den  beiden  Schlegel  werden  ^  die  Steffens,  die 
eck,  die  Bernhardi,  die  Schleierraacher  u.  dgl.**  als  ^ idealistische 
Embryonen"  bezeichnet,  ..welche  noch  keinen  Namen  haben".  Vor 
den  Kenntnissen   und  Talenten,   welche   kein  vernünftiger  Mensch 

chelling,  Fichte  und  dem  altern  Schlegel  ganz  absprechen  werde, 
mochten  vielleicht  manche  Gelehrte  Achtung  haben;  die  Übrigen 
aber  seien  .,arme  Sünder".  Hieran  scliliej^sen  sich  weilläuflige  Aus- 
lassungen über  Schellings  Zeitschrift,  worin  besonders  gegen  diesen 
und  gegen  Fichte  aufs  heftigste  polemisiert  wird,  und  über  Tiecks 
poetisches  Journal,  worin  Nicrdai  seinem  Ingrimm  gegen  Tieck, 
auf  den  er  ganz  vorzüglich  verbissen  ist,  Luft  macht.  Derselbe  sei 
durch   den  Macbtspruch  A.  W.   Schlegels  zum   grossen  Dichter 


nur 


gemacht  worden.     Er  habe  sich  zum  Shakspeare  des  heiligen  Krcines 
qualificieren  wollen,  sowohl  im  Komischen  als  im  Tragischen,  bleibe 


854    VI.  Vom  zweitea  Viertel  des  X\'1II  Jahrhunderts  bU  zu  Goethe's  Tod. 

§^  33S  aber  in  beiden  immer  Ludwig  Tieck,  d.  h.  ein  gar  langweiliger  Ge- 
Beile, dessen  eigentliche  Geistesphysiognomie  beständig  dem  Leser 
vor  Augen  liegen  bleibe  etc.  —  Dieser  Artikel  veranlasste  Fichte, 
nach  allen  den  Unbillen,  die  er  und  seine  Freunde  von  Nicolai  seit 
Jahren  erlitten  hatten,  wider  ihn  endlich  auch  einmal  loszubrechen 
und  ihm  einen  zerschmetternden  Hauptschlag  zu  versetzen.  Diess 
geschah  in  der  Schrift  „Fr.  Nicolai's  Leben  und  sonderbare  Md- 
nungen"  etc.,  mit  einer  Vorrede  herausgegeben  von  A.  W.  Schlegel", 
einer  der  ausfallendsten  und  gröbsten,  wenn  auch  nicht  witzlosen 
Erwiederungen,  welche  unsere  polemische  Literatur  aufzuweisen  hat*. 
In  seiner  Schrift  suchte  Fichte  seinen  Widersacher  als  wirklich  exi- 
stierenden Repräsentanten  der  platten  Denkart  aus  Principien  zu  con- 
struieren.  Zu  den  allerstärksten  Stellen  gehören  folgende,  woraos 
man  schon  erkennen  mrd,  welcher  Ton  damals  in  der  literarischen 
Polemik  sich  öfter,  selbst  von  Männern  wie  Fichte  und  Schelling, 
vernehmen  Hess.  Nicolai  hatte  einmal  Fr.  H.  Jacobi  unter  die  mittel- 
massigen Köpfe  gerechnet;  in  Bezug  hierauf  ruft  Fichte  ihm  zu: 
„Armer  Wicht,  ahnete  dir  denn  gar  nicht  von  den  Versuchungen 
des  Teufels,  als  du  diese  Stelle  niederschriebst?  Hattest  du  gar 
keinen  Freund,  der  dir  in  die  Ohren  geraunt  hätte,  dass  wenn  die 
Geisteskraft  dieses  mittelmässigeu  Kopfs,  Fr.  H.  Jacobi,  unter  zehn- 
mal zehnmal  zehn  Nicolai  zu  gleichen  Theilen  vertheilt  würde,  jeder 
dieser  Nicolai  seineu  Kopf  doch  noch  mit  weit  mehr  Ehre  durch 
die  Welt  tragen  wtlrde,  als  du,  allererbännlichster  Fr.  Nicolai"*^! . , . 
«Es  ist  ihm  walirend  seines  Lebens  sehr  häufig  vorgeworfen  worden, 
dass  er  alles,  wag  er  unter  die  Hände  bekomme,   hämischer  Weise 


33)  Tiiliingon  I^^OI.  s.  (wieder  abgedruckt  in  Fichte's  s.  Werkon  Bd»  Aiii 
dem  Titel  war  sie  als  ein  «Beitrag  zur  Literatur-Geschichte  des  verganeenea  uid 
zur  Pädagogik  des  angeheuden  Jahriiunderts-  bezeichnet.  In  Berlin"  war  de: 
Druck  auf  Schwierigkeiten  gestosseu;  Schlegel  besorgte  ihn  daher  in  aller  Stille 
zu  Jena,  und  Cotta  übernahm  den  Verlag,  worüber  Xirolai  auch  mit  diesem  ticfn 
Streit  antieng:  vgl.  die  Beilagen  zum  Ol.  Bde.  der  u.  allgemeineu  d.  BibUoth.-k  \id 
zum  Intelligenz-Blatt  derselben  Bd.  fiT,  St.  1,  Heft  2,  auch  «Aus  Sch^ne^aa^ll'^^ 
Leben-'  1,  231  iwo  der  Brief  aber  nicht  ins  .T.  ITy»»,  sondern  ins  J.   Imh  ^fUrt. 

34)  Wie  Fichte  S.  ■>**  f  erzahlt,  so  war  \icolai  allerdings  schon  Inibcr  ^'■•■- 
mehrcrn   aus  der  Schule  der  transcendentalen  Idealisten  „oft  etwas  i-esneciwün^' 
behandelt-  worden.    Fichte  selbst  hatte  das  einzige  Mal,   da  er  seiner  orwjLcf. 
ihn  nur  als  ..die  seufzende  Creatur**  charakterisiert,  Schellinj:  ihn  auch  nur  tii.rLü 
-einen  alten  Californicr"  ycscholten,   bevor  er  ihn  in  seinen  Erläutonmiitu  i:!+-' 
die  LiteraturzcMtung  scliarf  mitgenommen   und   -«inen  alten  Geck-  geuaiiai  lu'M 
Am  ärgstpu  aber  hatte  es  Klethammer  gemacht;  er  hatte  die  Hypothose  t'»iU!■^T' 
«Nicolai  s<ri  nun  wirklich  übericschuappt,  und  er  6ei  der  Gott  Vater  zu  bö.il-c:. 
der  seinem  Xachbar,  Jesus  Cliristus,    -  etwa  dem  Ritter  Zimmermann,  die  Z.ib* 
riotsche".  cäi  S.  ;iO  f. 


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^ 


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Dtwickdungsg.  d.  Ltter.  1773 — 1832.  Die  Romantiker  VerhÄltniss  tu  Nicolai     S55 

Terdrebe  und  Bchmutziger  Weise   besudle.     Wir  iiobmen  ihn  gegen  §  33y 
diese  Bescbuldigung  iu  Scbutz.     Es  war  sebr  wabr,  dasd  aus  seineu 
Händen   altes  beBcbniiitzt  und  verdrebt   berausgieng;   aber  es  war 
nicht  wabr.  ciass  er  es  bescbmufzcn  und  verdrehen  wollte.    Es  ward 
ihn»   nur  so   durch   die  Eigenschaft  seiner  Natur.    Wer  möchte  ein 
Stiuktbier  beschuldigen,   dass  es  hoshafter  Weise  alles,   was  es  zu 
lieb  nehme,  in  Gestank,  —  oder  die  Natter,  dass  sie  es  in  Gift  ver- 
andle?     Diese  Thiere  sind  daran   sebr  unschuldig;  sie  folgen  nur 
ihrer  Natur.     Eben   so   unser   Held ,    der    einmal    zum   literarischen 
Stinktbiere  und  der  Natter  des  18.  Jahrhunderts  bestimmt  war,  ver- 
breitete Stjink  um  sich  und  spritzte  Gift,  nicht  aus  Bosheit,  sondern 
sdiglicb  durch  seine  Bestimmung   getrieben  "^''.     Zu  solchen  Stellen 
:am  nun  noch  der  Hohn  in  Schlegels  Vorrede:  Was  könnte  Nicolai . .  . 
Glorreicheres  begegnen,   als  dass  Fichte  auf  ihn   als  eiu   wirklich 
eiiatierendes  Wesen  sich  förmlich  einlasse,   ihn  aus  Principicn   con- 
^jtruiere  und   ihn   wo  möglich  sich   selbst  begreiflich   mache?    Der 
^Kag,  wo  diese  Schrift  erscheine,  sei  unstreitig  der  ruhmbekrönteste 
^Beines  langen  Lehens,  u]id  man  könnte  besorgen,  er  werde  bei  seinem 
^ohnehin  schon  schwachen  Alter  ein  solches  Ueberraaass  von  Freude 
üud  Herrlichkeit  nicht  Überleben".  —  Aber  auch  diese  Schrift  brachte 
den   alten  Berliner  Kritiker  nicht  zum  Schweigen,   vielmehr  fHhrte 
er  in  Gcraeiuscbaft  mit  mebrern  gegen  die  neue  Schule  nicht  minder 
ergriminten  und  schlagfertigen  Gesinnungsgenossen  seinen  Krieg  in 
der  allgemeinen    deutschen   Bibliothek    bis  zu    deren   Eingeben    im 
J.    ISOO  ununterhrorben    und    mit   nicht    nachlassendem   Eifer   fort. 
Einen   Fichte's  Schrift    unmittelbar   beantwoiienden   langen   Artikel 
;yon  Nicolai  brachte  der  Gl.  Band  in  einer  Beilage  unter  der  Ueher- 
rhrift  -Uober  ilie  Art.  wie  vermittelst  des  transcendentalen  Mealis- 
108    eiu    wirklich    existierendes  Wesen    au»    PrincijMen    construiert 
werden   kann.      Nebst    merkwllrdigen    Proben    der    Wahrheitsliebe, 
sifen    Heberlegung,    Bescheidenheit,  Urbanität  und  gut  gelaunten 
rrossmuth  des  Stifters  der  neuesten  Philosophie"*.     Keineswegs  in 
sin  groben,  ungesitteten  Ton  der  fichteseben  Schrift  abgefasst,  vicl- 
lebr  bei  aller  Entschiedenheit   der  Sprache  die  Grenzen   des  An- 
mdes  beobachtend,   sollte  dieser  Ai-tikel   beweisen,    dass  Fichte 


i 

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f»  S.  7s.  37  t  Nicht  hlofts  Schiller  fand  ran  Kömer  1,  2P),  dassNicoUi 

zwar  ..die  derben  Wahrheiten",  die  ihm  von  Fichte  gesagt  wttreu,  rerdienl  hätte. 
as«  «her  der  gegen  ihn  iprchraiichio  Ton  .>lorh  xu  prosniiHi,  zu  ;.'roh  um)  zu 
pnig  witzig"  wikre;  auch  in  der  ut'uen  !>rhiUe  seihst  war  man  theih  mit  der 
Vtrtn  Ihtrilfl  mit  dem  Inhalt  des  Kihells  nicht  ^mnz  ztifriinlen:  vgl.  ..Aus  Srhleler* 
acbf^rs  Lelieu"  I.  Z^\  ;  'ii)ö;  Fr.Sihlegcl  in  der  F.uropa  t.  I,  5:t  und  Adnm  MUlIore 
Yorle&uncoD  über  die  deutsche  Wiäsenscfaaft  S.  Oti.  3Sl  Berlin  lv>l.   6. 


85  6    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhxmderts  bis  ca  Goethe's  Tod. 

§  33S  durch  Verdrehung  oder  Verstttmmelung  und  Verfälschung  von  Worten, 
die  Nicolai  hatte  drucken  lassen,  Beschuldigungen  auf  ihn  gebracht 
habe,  die  ganz  unbegründet  seien.  Hiergegen  trat  nun  wieder,  nicht 
Fichte  selbst,  sondern  Bemhardi*  auf  mit  einer  „Untersuchung, 
Nicolai  contra  Fichte";  sie  schloss  mit  einem  Sonfett,  worin  Nicolai'« 
Gesinnung  von  sich  selbst,  wie  er  sie  oft  in  seinen  Schriften  äussere, 
ausgedruckt  sein  sollte.  Diese  Untersuchung  beleuchtete  wieder 
Nicolai  *° ,  unter  dessen  Gesinnungsgenossen  der  rüstigste  und 
wüthigste,  der  jede  Gelegenheit  ergriff,  seinen  Grimm  in  den  un- 
würdigsten und  gemeinsten  Schmähreden  gegen  die  Romantiker  und 
namentlich  gegen  Tieck  auszulassen,  J.  Fr.  Schink  war".  Zu  seinen 
zahlreichen  dramatischen  und  andern  Arbeiten  geborte  auch  ein 
„  Marionottenspiel  Hamlet"^';  darauf  und  auf  einen  „  Faust  %  an  dem 
Schink  schon  längere  Zeit  gearbeitet  hatte,  der  aber  erst  1804  ab 
„dramatische  Phantasie"  erschien,  zielte  A.  W.  Schlegels  Spott'', 
durch  den  Schinks  Galle  wohl  zuerst  gegen  die  Romantiker  erregt 
worden  ist.  Zu  den  fleissigsten  Recensenten,  die  gegen  die  neue 
Schule  in  ähnlicher  Art  wie  Schink  kämpften",  gehörten  noch  von 


39)  Im  Kynosar^s  1,  157  ff.  40)  In  der  Beüa^  zum  Intelligenz-Blatt 

der  n.  aUgemeinen  d.  Bibliothek  Bd.  67,  St.  l,  Heft  2,  S.  XIX  ff.  41)  Geb. 

1755  zu  Magdeburg,  lebte  als  Prlvatgclelirter  in  verschiedenen  Städten,  war  eise 
Zeit  lang  auch  Dramaturg  und  Theaterdichter  in  Hamburg. und  starb  ISS^  als 
Bibliothekar  der  Herzogin  von  Sagan.    Als  er  fQr  die  n.  aUgemeine  d.  Bibliothek 
recensicrtc,  hielt  er  sich  zu  Ratzeburg  auf,  wohin  er  1797  gezogen  war. 
42)  Berlin  179'.».  43)  Im  Athenäum  2,  2,  319.  44)  AVer  sich  näher  üKr 

Geist  und  Ton  unterrichten  will,  die  in  den   Kecensioncn  von  Schink,  v.  Rohr. 
Lauger  und  den  ihnen  ähnlichen  Mitarbeitern  herrschten,  den  verweise  ich  aui  IM 
r>7.  72  ff.  (über  -das  Ungeheuer  und  der  verzauberte  Wald"  von  Tieck).  79.  ^iV^t 
(über  die  ..AVunderbilder  und  Träume"  von  Sophie  Bernhard!  und  -Victors  WäII- 
fahrten-  von  Kr.  Ilorn),    Pto,  :(!<)  ff.  (über  Tiecks  „Octavianns-,  ganz  hc?ontl'T> 
lesenswerth) ,  loi,  u  ff.   (über  die  „dramatischen  Phantasieu**  von  Sophie  Btni- 
hardi),  lOI,  174  f.  (über  die  von  Fr.  Schlegel  herausgeg.  „Sammlung  n)manii>chfr 
Dichtungen  des  Mittelalters-),  von  Schink  (vgl.  auch  103,  14  tf.   die  Anzeiii.*  v-n 
-Harlekins  Wiedergeburt-  von  H.  Storch,  Erfurt  1*^05.  ^.:  vgl.  Weimar.  Jahrl'j:^ 
3,  2(»2ff.);  —  iVA,  Kl^ff.  (über  die -Ehrenpforte  vonKotzcbue-  von  A.  W.Schlcjtl. 
»10.  I(t7  ff.  (über  Clemens  Brentano's  -Godwi-),  (ft»,  :i4.=>  ff.:  "4,  34."»  ff.  lalifrci 
Musenalmanache  von  Schlegel  und  Tieck  und  von  Vermehren).  *»o,   ptff.  «ub*r  «ü 
Schriften  von  Novalis),  9Ü.  497  ff.  lüber  A.  W.  Schlegels  -BlumenstrUusse-  t:- 
vun  V.  Rohr;  —  59,  ;i45  ff.   (über  die  -Lucinde-  und  Schleiemiachf-rs  uml  Vrr- 
mehrens  Briefe  über  dieselbe),  91,  3(i4  ff.  (über  Tiecks -Minuelieder-i,  von  LaiiJ--: 
—  7:(,  313  ff.  (über  eine  Schrift  von  A.  Klingeraann.  _Was  für  Grundsätze  raüwt 
eine  Theaterdirectiüii  bei  der  Auswahl  der  aufzuführenden  Stücke  leiten."  b'ii.-i- 
l**r)2.   s.),  von  Pappe;  —  5«,  352  ff.  (über  den  zweiten Theil  von  Tiecks  -maü:- 
tischen  Dichtungen"),  von  mir  nicht  bekannter  Hand.  -    Von  Manso  >ind  5'*.  I"K' 
der  3.  lid.   des  Athenäum's  und  (»9,  v7  ff.  die  -Charakteristiken    und  KrinJcn" 
recensiert;  von  Martvnl  Laguna  71,  3JÜff.  der  -Alarcos-  und  S5.  356ff.  Jer.K:' 


l 


K 


ntwickelungsg.  d.  Liter.  1773 — 1632.  Die  Romantiker.  Verbälimss  zu  Nicolai.  K57 


m 


[ohr*  und  Langer**,    Einer  der  verständigsten  und  auch  noch  billig- 
sten ihrer  Gogner  war  Manso.     Die  Bcurtheiliingen  von  Dichtungen 
and  andern  Arbeiten  der  Romantiker,  welche  Eachenburg  und  Mar- 
ni  Laguna"  in  die  neue  allgemeine  d.  Bibliothek  lieferten,  waren 
srecht  in  Lob  und  in  Tadel.    Auch  aus  diesen  Kccensionen  mögen 
hier  ein  Paar  Stellen  zur  Charakterisierung    des  Tons  mitgetheilt 
werden,  in  welchem  namentlich  v.  Rohr  und  Schink  sich  öfter  ver- 
nehmen Hessen.    In  der  Anzeige  von  A.  W.  Schlegels  „  Ehrenpforte " 
bemerkt  der  erstere:  Bllrger  habe  in  einigen  trefflichen  jugendlichen 
^J^eraen  an  Schlegel  einen  jungen  Aar  zu  erkennen  geglaubt,  welcher 
^Ber  Sonne  zufliegen  würde;  nun  zeige  er  sich  aber  oft  als  einen 
^ftemeinen  Geier,  der  mit  Wohlgefallen   im  Aase  wtihle.    An  einer 
^nindcm  Stolle >  wo  er  den  Musenalmanach  von  Schlegel  und  Tieck 
I     bespricht:  das  Ganze  bestehe  grossentheils  aus  poetischen  Schau- 
gerichten, theils  mit  Asa  foetida  und  Knoblauch,  theils  mit  geschmack- 
^losem  Saffran  und  Wasscrpfefier  oder  Fl  r»li  kraut  gewürzt;  Fr.  Schlegel 
^■ehinde  die  Poesie;  Tieck   habe  wahrscheinlich   entweder  kurz  vor 
^%der  nach  dem  ersten  Anziehen  der  Beinkleider  den  Blaubart,   die 

NHevmonskindcr  und  den  gestiefelten  Kater  geschrieben;  Novalis 
iiesen  Almanach  mit  geistlichen  Liedern  verunziert,  die  beinahe  das 
J Weiler  geht's  nicht"*  des  mysteriösen  Unsinns  in  der  Uberströmend- 
sten  Fülle  enthielten.  An  einer  dritten,  bei  den  Schriften  von  No- 
^Kaiis;  das  ewige  Geplauder  lebloser  Dinge  sei  eigentlich  Tiecks 
^^fahrer  Wolfszahn,  auf  dem  sich  dieses  poetische  Kind  die  Milch- 
zähne fast  aushcisse.  Scbinks  wahrhaft  niederträchtige  Rcccusion  des 
„Octavianus"  beginnt:  „Wie  quersinnig,  flach,  breit  und  uni>oetiRch- 
poctisch  Hr.  Ludwig  Tieck  auch  bisher  seinen  soi-disant  Geist  in 
den  Werken  seiner  Feder  ausgedrückt  hat,  so  hat  er  es  doch  in 
keinem  so  vollendet  und  unübcitrefTbar  als  in  dem  gegenwärtigen 
»than.  Selbst  seine  —  leider!  hingst  schon  verblichene  heil.  Ge- 
>veva  muss  diesem  Meisterwerke  der  tieekschen  Natur-  und  Ur- 
(sie,  d.  i.  der  Poesie  ohne  Poesie,  weichen.  So  tief  einwirkend, 
ganz  ihn  regend  und  bewegend  hat  noch  nie  der  Geist  der  han;*- 
Lchsischen  und  jacob-böhmeschen  Schusterpoesie  auf  diesem  ersten 
liier  Vers-  und  Reimschmiede  geruht,  als  in  diesem  Octavianus.  Wie 
u  allen  seinen  bisherigen  Fiugerkribbelproductionen  liegt  auch  hier 


§  338 


and  der  -Lncrimas-;  Ton  Eschenburg  102,  Sflff.  ,,LpssIo^  Geist*  von  Fr.  Scblegel, 
i4.  M)  ff.  A.  W.  Schlegels  .spaniathea  Theater"  Bd  1.  und  tn4,B2ff.  Pellegrins 
^oaqiid*B)  -dramatiBclic  Spiele".  -ib)  PamalB  Kegierungsrath  in  Bt*rKn. 

46»  Hofrath  und  Bibliothekar  in  Wnifeohaitel.        47)  Geb.  1755  zu  Zwickau , 
>ie  zu  jener  Zeit  anf  seinem  Landgute   in   der   Nbhc   seiner  Vaterstadt  und 
ftarb  1^34. 


S58    VI.  Vom  zm-elten  Viortel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe*B  Tod. 

§  33S  ein  höchst  abgedroschenes  abenteuerliches  Ammen-  und  Spinnrocken* 
märchen  zum  Grunde,  aber  in  der  Behandlung  und  Darstellung 
desselben  hat  sich  sein  Nachbildner  zu  einer  Höhe  von  UngcTeimt- 
heit,  Geschmacklosigkeit  und  Langweiligkeit  erhoben,  die  ein  wahres 
non  plus  ultra  aller  poetischen  Mondsucht  ist"  etc. 

Unterdessen  war  der  neuen  Schule  und  insbesondere  den  beiden 
Schlegel  auch  in  der  Jenaer  Literaturzeitimg,  gleich  nach  A.  W.  Schlegels 
Abschied  von  ihr  und  während  der  Fehde,  die  von  ihm  und  Schelüng 
mit  ihren  Herausgebern  geführt  wurde,  und  die  sich  bis  ins  Jahr  ISfl2 
hereinzog ",  ein  neuer  und  nichts  weniger  als  verächtlicher  oder  an- 
bedeutender Gegner  in  L-  F.  Huber  erstanden.  Von  ihm  ist  die 
Beurtheilung  der  beiden  ersten  Bände  des  Athenäum*'.  Sie  ist  in 
durchaus  anständigem  und  massvollem  Tone  abgcfasst,  lobt  die 
meisten  Stücke,  hat  an  einigen  nur  wenig  auszusetzen,  erklärt  »ifb 
aber  gegen  die  Art,  wie  die  Schlegel  überhaupt  in  ihrer  Zeitschrift 
aufgetreten,  und  wie  insbesondere  in  gewissen  Artikeln  ihre  Grund- 
sätze in  Anwendung  gekommen  seien,  mit  grosser  Entschiedenheit 
Zuvörderst  meint  Huber,  die  Herausgeber  hielten  so  sehr  auf  ihre 
schriftstellerische  Individualität,  machten  dieselbe  so  sehr  zu  einem 
und  demselben  Dinge  mit  jedem  denkbaren  Objeet,  dass  sie  wenig- 

4S)  In  dem  genauntcn  Jahre  hatte  Schclling  in  seine  .neue  Zettschrift  für 
speculativc  Pli)>ik'*  ciucn  Aufsatz,  .Bcuclimeu  des  Obscurantismus  gegen  di« 
Naturphilosophie",  eingerückt,  der  ps  besonders  mit  der  Literaturzoitun^  za  ihnn 
hatte.  Bald  darauf  erschien  in  dieser  die  Recension  einer  Fluffschrift .  ▼»Vtc 
eine  Stdlo  aus  drrsf'lhc»  wörtlich  wiodcriial»,  worin  SchelUnir  in  sehr  lnHii3Hfr 
Weise  bcstliuldiirt  war,  durch  seine  ärztlichen  Aiiorduunueu  den  Tod  \on  A.  ^V. 
Schlegels  Stieftochter,  Aujtuste  Böhmer,  li erbeige tührt  zu  halpcn.  Diess  vcmiiU-^ic 
Sihh'ml  zur  Abfas>unjf  einer  hauptsachlich  gegen  Schütz  gerichteten  Br•^^^h:l^. 
..An  <las  }*iibliruni.  Knjre  einer  in  der  Jenaer  allgemeinen  Literatur-Ze'.iuiu  i'-'- 
jrangenen  Khri'u^chündung".  Tübingen  isnj.  s  Schütz  autwurieio  wU-dr-r  iä 
einer  Broschüre,  -SpfTies  Facti  nebst  Actcustücken,  zum  Bewoi&e,  das:*  ITr.  Kai: 
A.  W.  Schlegrl  -  mit  smicr  lUigo  —  niemaudeu  als  sich  sell»si  be&<  himplt  taif. 
nebst  einem  Anhange  über  das  Benehmen  des  schelUugschen  Üb»rurantiii:MJ 
l>er  fiegenstand  dieses  neuen  Zunkes  wnrde  in  andern  Blattern  viel  be^prutl.-: 
und  bot  nanientUeb  der  n.  allgemeinen  d.  Bibliothek  und  dem  _Freinȟthi::or.-  ^e. 
hcsfinders  \^i*'\,  Nr.  *il,  S.  ii.'i  f.)  willkommene  Gelegenheit  zur  Vers|.ottuni:  -:.' 
Verhöhnung  Sclielliiigs  und  seiner  Freunde.  49)  \~W.     A.   I7:i  tt".    Il  *-::■.'■ 

Nute  berichteten  die  lleraiisgelier  der  Lit.-Zeitung:  die  Vevff.  des  Athen.  L'i:-: 
wiederholt  den  Wuiiseli  nach  einer  baldigen  Anzeii,'e  de>&ellH'n  goi»u>&tit:  ti- 
solehe  wäre  dalier  audi  schon  vor  einigen  Monaten  einem  bekannten  Seluiftst.ii.: 
übertragen  wurden,  der  in  sehr  beträchtlicher  Kntternung  vou  .lena  wohne.  1'--- 
selb(?  sei  sorgHiltig  ausgewählt  worden  und.  so  viel  bekannt,  wie  in  der  un'üih-ir :" 
Opposition  mit  d<'n  Herren  Schlegel  gewesen.  Die  Kecension  sei  :nn  i;-  X-i-* 
eingegangen,  demnach  aueh  nicht  der  gering.-te  Kintluss  von  der  neu- rlii  •;  z\r:- ä  : 
derBodaction  und  A.  W.  Schlegel  entstandenen Zwistigkeit  auf  die  An/Wje 'it-:.!- 
bar,  die  eben  danun  canz  unverändert  sogleich  abcedruckt  wordt-u  sei. 


ntwickduagsg.d.  Liter.  1773— tB32.  Die  Romaotiker.   VerhältnUs  zu  Huber.    S59 


ßtens   darauf  hiUten  Yerzicbt  thua  sollen,  Zeitschriftstcllcr  zu  sein.  §  33S 
Ein  Journal",  Hsi'^i  er,  „steht  mit  dem  Publicum  iu  einem  Verbält- 
gs,   welcbe«  der  Umfang,   den  die  Herren  Schlegel   dem  Begriffe 
er  ^„freiesteu  MittbeiUiug  im  Vortrage""  geben,  nicbt  recht  znUlsst. 
Sie  werden  .  .  .    „^von   dem   gemeinacbaftlichen  Gruadsalz  geleitet, 
was  ihnen  ftir  Wahrheit  gilt,   niemals  aus  Rtlcksichten  nur  halb  zu 
sagen "*'.    Diess  kann  sehr  schön  und  löblich  sein,  je  nachdem  die 
Rücksichten  sind,  Über  welche  man  sich  hinwegsetzt.     Sind  es  aber 
Röcksichten  auf  die  allen  Sprachen, "Nationen  und  Zeitaltem  gleich 
eigenen  Gesetze  des  Ausdrucks  und  Gedankens,  so  läuft  man  Ge- 
fahr, gar  nianclies  zu  sagen,    was  man  weder  halb  noch  ganz  hätte 
sagen  sollen*.     Dieser  Gefahr  hätten   die  Herausgeber  nicht  auszu- 
weichen  vorstanden,   als    in   den    beiden    ersten   Heften  zusammen 
bundertachtzti;  und  zwei  Seiten  mit   dem  „Blüthcnstaub'*   und  den 
-Fragmenten"  gefüllt  worden  wären.    Sie  äusserten  sehr  hiiufig  und 
in  sehr  verscbiedeneu  Wendungen,  dass  sie  glaubten,  das  Publicum 
w&re  sehr  weit  hinter  ihnen  zurUck.     Um  es  nun  durch  ein  Journal 
inigermassen  gleichen  Schritt  mit  ihnen   halten  zu  lassen,   lifltteu 
e  wohl  einen  andern  Weg  einschlagen  mllssen  und  zuvörderst  mit 
jener  Aeusseruug  etwas  zurückhaltender  sein  sollen.     Das  Zeitalter 
se  sich  allerdings  zuweilen  sehr  harte  Dinge  sagen,   allein  ein 
eitschriftstelier,   der  gegen   das  Zeitalter  mit  dergleichen   um   sieh 
werfe,  habe  noch  von  Glück  zu  sagen,  wenn  er  dem  Zeitalter  so 
viel  gelte,  als  ehemals  lustige  R<1tbe  den  Fürsten,  denen  sie  für  ihr 
Geld  derbe  Brocken  auftischten.     Eben  so  wenig  sei  ein  Journal  der 
latz,  wo  man  sich  auf  der  htichsten   von  den   vielen  Stufen,   die 
an  voraus  zu   haben  meine,  zur  Schau  stellen   kt>nne;   den  Auf- 
Äen   einer  ]inriodiftchen   Schrift   zieme   der   herabwürdigende  Ton 
egcn   ihr  Zeitalter  nm  allerwenigsten.    Wenn  also  das  Athenflum, 
elchcs   gewiss   nicht  unfreigehig  mit   Witx  und  Geist  ausgestattet 
sei,   bei   dem  Publicum    wenig   Glück  gemacht   habe,  so   liege   die 
chuld  davon  gar  sehr  an  den  Herausgebern.     ^Manche  feine  Kritik, 
anche  scharfsinnige  Bemerkung,   manches  treffende,   innige,   tiefe 
Wort  über   Kunst   und  Kunstwerke,   Über  manchen  andeni  interes- 
sunteu  Gegenstand  musste  bei  dem  Mangel  au  atlgonioineni  Tnterosse, 
bald   des  Stotfes,    bald   der  Behandlung,  zuweilen  beider,  in   den 
meisten  AufsUtzen  dieses  Journals,  wie  auch  bei  der  Verachtung  des 
llgcmeinen  Interesse,  mit  welcher  so  manches  Blatt  desselben  sich 
rüstet,   fUr  das  Publicum  so  gut  wie  verloren  gehen ^    Weiterhin 
nieiut   dann    Huber,    der  grosste  Dienst,   den   das  Athenäum    noch 
tiften  konnte,  wäre  der,   als  schreckendes  Beispiel  von  dem  Unfug 
,u  dienen,  welchen  Sucht  nach  Originalität  und  literarischer  Factions- 
»t  selbst  in  Köpfen,  denen  es  sonst  au  trefflichen  Aulagen  nicht 


je.. 
^Bei 


S60    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrljanderts  bis  za  Ooetlifi'6  Tod. 


338  fehlen  würde,  anriobten  mögen.  „Ein  wirklich  originaler  Oeiat 
Bcbwerlicb  jemals  original  sein,  und  mit  ihren  AusfAllcn  liegen 
Gemeinlieit  fangen  die  seinwollenden  Originale  an  dieser  gröj 
Vorschub  zu  tbun,  als  sie  es  selbst  je  im  Stande  sein  würde.  W< 
sie  nun  gar  in  ihrem  gemachten  Muthwillen  streben,  die  wol 
worbencn  Lorbeeni  von  WielaniU  grnuem  Haupte  zu  reissen, 
muss  ihn  die  Originalität  solcher  OrakelsprUehe  wie  .»Goethe's 
poetische  Poesie  ist  die  vollständigsto  Poesie  der  Poe»ie*", 
„„die  franzt^sische  Revolution,  Fichte s  Wissenscbaftslehre  und  Q< 
Meister  sind  die  grössten  Tendenzen  des  Jahrhunderts*-,  binl 
für  allen  Spott  trösten^  den  es  ihnen  mit  seiner  Nicht-Oi 
zu  treiben  beliebt  ^  Dieser  letzte  Punkt  schlage  in  das  and< 
berührte  Hauptgebrechen  ein.  „Es  ist  eins  von  den  Kennzei( 
des  literarischen  Factionsgeistes,  sich  auf  gewisse  bereits  gemi 
Reputationen  zu  erpichen^  um  sie  zu  stUrzen,  und  andere,  ohne 
schon  fest  genug  gegründete  immer  höher  und  höher,  bis  zu  eil 
unerschwinglichen  Höhe,  erheben  zu  wollen.  —  versoliiedene 
kungen  desselben  Triebes,  der  Eitelkeit  I  Ausser  etwa  einem  gli 
zeitigen  Genie,  das  man  gleichsam  zum  Postament  seines 
Ruhms  zu  gebrauchen  meint,  und  einigen  grossen  Köpfen  frfll 
Jahrhunderte,  über  deren  Werke  man  zwar  nur  die  Bowundi 
ihrer  ganzen  gebildeten  Nachwelt  wiederht>lt,  aber  in  einem  sob 
Tone  und  mit  solchen  Wendungen  wiederholt,  als  wäre  e«  Üi 
und  ausschliessendste  Adcplenweisheit,  sucht  man  mit  ofther 
wandten  Geistern  ein  BUndniss  zu  stiften,  dessen  geheimes  Wort 
Grunde  kein  anderes  ist  als  das  bekannte  französische:  Nu!  nV 
de  Tesprit,  borg  nous  et  nos  amis.  So  kommt  eine  Faction  her 
und  diese  hat  es  mit  Gegenfaetionen  zu  tbun ;  und  im  aller«eil 
Kampf  und  Treiben  werden  Kunst  und  Wissen  und  Denken 
Werkzeugen  oder  Schiboleths  der  Factionen  gemissbraucht ,  wit 
im  Kampf  und  Treiben  der  politischen  Factionen  Freiheit  und 
setz.  Vor  dieser  Klippe  wird  es  wahrlicb  hohe  Zeit,  die  d( 
Literatur  zu  warnen;  —  um  so  mehr,  als  Männer ^  die  zu  il 
Piloten  berufen  wären»  sich  hin  und  wieder  nach  der  Rollo 
Parteihäuptern  oder  FactionsstUtzen  gelüsten  lassen:  eine  in  Deii( 
land,  wo  es  nur  ein  idealisches  Publicum  gibt,  zweck-  and  weMs- 
lose  Rolle,  die  keinem  Thelle  in  irgend  einer  R(1ck8i<rht  Vortbifl 
bringt".  Indem  Huber  nun  auch  in  der  Kürze  auf  die  eini 
Artikel  eingebt,  bemerkt  er  zuvor  noch  im  Allgemeinen:  ,Von 
einzelnen  AufsUtzen,  ausser  dem  -„BlIltbeuHtaub'**',  den  .«Fr 
menten"-,  dem  Aufsatz  ^^  über  die  Philosophie"*,  einigen  ,,Notii«>' 
und  dem  ..literar.  Reichsanzeigcr*^",  lässl  sich  mil  Gnind  rOl 
dass  den  meisten  wenig  und  einigen  gar  nichts  feblti  tun  dem  Zw« 


ttwickeluDgsg.d- Liter.    ITTS — tS32.   Die  Romantiker.  Verbältuiss  zu  Huber.   861 


und  Geist,   den  man  diesem  Journal   wihiscben  kann,   sehr  zu  eut-  § 
^jprecben " ",     Von   Huber   ist   gleichfalls    die  Anzeige   des    „hyper- 
^Boreischen  Esels*'  ron  Kotzebue".    Auch  hier  verhehlt  er  keines- 
^Brcgs  seine  Abueig:ung  gegen  die  „kauderwelsche,   allem  gesunden 
^nienschenverstande  trotzende  Sprache''   in  den  Sätzen  der  Schlegel, 
die  Kotzebue  hatte  lächerlich  machen  wollen;  doch  ist  er  so  weit 
davon  entfernt,  die  Verfahrungsweise  des  letztern  als  Satiriker  zu 
I     loben,  dass  dieser  sich  durch  die  Receuslou  viel  mehr  unangenehm 
^Berührt,    als  befriedigt  fand".  ^  Viel  weniger    feindlich  als   gegen 
^Schlegel,  ja  im  Ganzen  eher  freundlich  war  das  Verhalten  der  Lite- 
raturzeitung zu  Tieck,  selbst  nachdem  derselbe  in   dem   «jüngsten 
Gericht"  sie  8o  arg  verspottet  und  sodann  jede  Verbindung  mit  ihr 
den  Herausgebern   gekündigt  hatte".     Die   Beweise  liefern   Hubers 
Anzeige  des  ^hyperboreiscbeu  Esels''  und  die,  freilich  auch  manches 
tadelnde  und  warnende  Wort  enthaltenden  Recensioueu  des  ersten 
Thcils    der    p romantischen    Dichtungen""    und    des    musikalischen 
Märchens,  „das  Ungeheuer  und  der  verzauberte  Wald"".    Huber,  der 
zu  Anfang   der  Neunziger  als  Mitarbeiter  an   der  Jenaer  Literatur- 
Zeitung  sehr  entschieden   gegen   den  ganzen  Charakter  von  Kotze- 
bue's  Schriftätelleroi  sich  erklärt,   und  gegen   den   dieser  wiederum 
seine  Streiche  in  den  ..Fragmenten   tlber  Recensenten  -  Unfug "  vor- 
nehmlich gerichtet  hatte  ^,  Hess  sich  später  als  Mitarbeiter  au  dem 
pFroimllthigen*'  von  Kotzebue  gewinnen.     Schon  ein  Jnhr  nach  dem 
^■Erscheinen  jener  Fragmente  näherten  sich   beide  einander:  Huber 
^Bbot,  indem  er  versicherte^  nie  Willens  gewesen  zu  sein,  in  Kotzebue 
den    Menschen  anzugreifeu,    die   Hand  zur   Versöhnung,    die  nicht 
I      aarQckgewiesen  wurde". 

Kotzebue   selbst    hatte  zu  viel   von   dem  Altern  Schlegel    zu 

bO)  Diese  Recension  bpsonderg  scheint  Bemhartii  im  Auge  gehabt  zu  haben, 
als  er  im  Berliner  Ärcbiv  der  Zeit  Ihimi.  |,  3HB  ff  das  erste  Stück  des  dritten 
Itandea  vom  Athenäum  anzeiirte  und  der  eigentlichen  Anzeige  belbst  eine  lange 
Vertheidiguug  der  beiden  ersten  Bande,  namentlich  der  «Fragmente",  vorausgehen 
liesfl.  Sil  niW.    4.  822  ff.  52)  Vgl.  die  .ergebenste  Bitte  etc.  von  dem 

P»ator   Kanzclmann  und    dem   Schulmeister  Wachtel   aus   KrÄhendorf-  etc.   im 
itelügenz- Blatt  der  Literatur-Zeitung  ISOO,  N.  18,  die.  wie  die  abfertigende  Ant- 
rort  des  Recensenten  eben  daselbst  deutlich  zu  verstehen  gibt,   gewiss  von  nie- 
anders  als  von  Kotzebue  selbst  ist.  —  Ob  liuber  auch  Verfasser  der  bitter- 
Anzeigcn  von  Fr  Schlegels  „Lucinde-  (1^*00.    2,  2V*7  ff.(  und  den  Briefen 
diesen  Roman  von  Vermehren  (1800.    4,  Bfl2  ff.)   und  von  ScUleiermacher 
1*00.     4,  B94  ff.)  ist,    kann    ich   nicht  sagen;   ich  bezweifle  es  al>er.     Vgl.  -Aus 
Icblelermachers   Leben-   .'t,  l.lf»  f.;    and   den   Briefwechsel   von  Chr.  G.  Schütz 
1"n.  53>  Vgl.  das  poetische  Journal  I,  1,  240  ff,;  247  f.  54i  l*»oo. 

n2l  ff.  55)  1801.     3,  Mh  f.  .         56»  Vgl  S.  '119  und  2J\.  57)  Vgl. 

[ie  zwischen  beiden  gewechselten  Briere  im  Intelligenz-Blatt  der  Jenaer  Literatur- 
Zeitung  t79S  N.  139,  Sp.  1117  ff.    (Hierauf  zunächst  bezieht  sich  der  Spott  über 


338 


862    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jalirhimderts  bis  zu  Goetlie*s  Tod. 

338  leiden  gehabt,  um  nicht  auf  Vergeltung  zu  sinnen:  er  r&cbte  »eli 
zunächst  dadurch,  dass  er  unmittelbar  vor  dem  Zeitpunkte,  wo 
die  Romantiker  mit  den  Herausgebern  der  Literaturzeitung  zer 
fielen,  ein  kleines  Drama  herausgab,  „der  hyperboreische  Esel*" 
in  welchem  er  die  theoretischen  und  praktischen  Tendenzen  beider 
Schlegel,  wie  sie  im  Athenäum  und  in  der  Lucinde  hervor- 
traten, lächerlich  zu  machen  suchte.  Die  Hauptperson  in  ^eser 
Posse,  worin  die  übrigen  Personen  ganz  die  Phjsio^omie  der 
gewöhnlichen  weichmUthigeu ,  natürlich  und  wacker  seinsollenden 
Gestalten  in  Kotzebue's  Stücken  haben,  ist  ein  dem  Helden  des 
nieolaischen  Romans,  „Vertraute  Briefe  von  Adelheid  B**  an  ihre 
Freundin",  ähnlicher  Charakter:  alle  ihre  Reden,  sehr  wenige  Worte 
ausgenommen,  sind  entweder  aus  dem  Athenäum ,  vornehmlich  aas 
den  Fragmenten,  oder  aus  der  Lucinde  herausgehoben,  und  die 
Stellen,  wo  sie  hier  und  dort  vorkommen,  unter  dem  Text  angegebeo. 
Davon  wird  der  Leser  gleich  durch  eine  Bemerkung  unter  dem 
Personenverzeichniss  benachrichtigt:  „Die  Rolle  des  Karl  ist  ein«? 
und  allein,  und  zwar  wörtlich,  aus  den  bekannten  und  berühmten 
Schriften  der  Herren  Gebrüder  Schlegel  gezogen.  Alle  die  goldnen 
Sprüchlein  dieser  Weisen  sind  sorgfältig  unterstrichen  worden,  theib 
damit  man  nicht  glauben  möge,  ich  wolle  mich  mit  fremden  Federn 
schmücken,  theils  weil  —  wie  gleichfalls  einer  ihrer  goldnen  Sprüche 
behauptet^,  —  in  der  wahren  Prossi  alles  unterstrichen  sein  mus»". 
Auch  in  die  giftige  „Zueignuugsschrift  an  die  Herren  Verfasser  und 
Herausgeber  des  Athenäums  *"  sind  viele  Stellen  aus  dem  Athenäum 
und  der  Lucinde  eingeflochten.  Zu  Ende  derselben  verspricht  Kotze- 
bue,  er  werde  bei  wiederholten  Veranlassungen  den  Brüdern  seine 
Dankbarkeit  auf  eine  ähnliche  Art  zu  beweisen  suchen,  da  der  reicb- 
haltigc  Stoff  dazu  noch  lauge  nicht  erschöpft  8ei''^     Von  den  Gegnern 


den  Recensenten  —  b  —  in  der  Zeitung  für  die  elegante  Welt  IS03,  X.  Ittö.  ^? 
s:u  ff.)-  Ol)  in  Folge  der  Kecension  über  den  „hyperboreischen  Esel-  wieder  eine 
Spannung  ei'nsterer  Art  zwiscben  ihnen  eintrat,  weiss  ich  nicht.  T)^»  -^ 

hyperboreische  Esel  oder  die  heutige  Bildung.    Ein  drastisches  Prama  und  piaii*- 
sophisches  Lustspiel  für  Jünglinge".   Leipzig  1709.  h.  lini  IS.  Bde.  der  s.  diinisU. 
Werke,  Leipzig  1>2h  t.    41  Bde.    lü).    Die  Zueignungssclirift  an  die  Sc  Iil«el  st 
ans   dem   September.     Der  Titel   bezog  sich   auf  ein   Fragment    im  Athenäfiffi 
welcl»es  lautete  (1.  2,  .i2i:    „Schwerlich  hat  irgend  eine  andere  Literatur  so  rtdf 
Ausgeburten  der  Originaiitiit*sucht  aufzuweisen  als  unsere.     Es  zeigt  sich  aaf^ 
hierin,  dass  wir  Hyperboreer  sind.    Bei  den  Hyperboreern  wurden  nämlirh  d«i 
Apollo  Esel  geopfert,    an   deren   wuiiderUchen  Sprüngen   er  sich  ergetztc".   -^^ 
hyporboreiscbcEsel"  wurde  in  Leipzig  wiihrend  tler  Michaelismes-'^o  ITji't.  ah^r  pj^ 
einmal,  aufgeführt:   unter  den  Zuschauern   befand  s-ich   auch   Fr  ScbI(^<I  '^'^ 
II.  Steffens,  „Was  ich  erlebte".  4,  iHit).  5!>i  Athenäum    I.  2.  i?:?. 

GO)  Dürfen  wir  einer  Angabe   von  (i.  Merkel  (Brieft^  an  ein  FranonziinnNT  «*» 


EntwkkeluQgGK.  d.  Liter.  177^—1633.  DieKomantikcr.  VerbUltuisszuKotzebue.  863 

ler  Schlegel  erhobeu,  wie  sich  erwarten  Hess,  die  gemeiuer  gesinnten  §  338 

und  br)sartig:oni   ein  grosses  Siegesgeschrei,    als  Kotzcbue's  Poesie 

erschienen  w^ar.    G.  ilerkel"'  verkündete,  Kotzebue  habe  gleich  mit 

diesem  seinem'  ersten  Schlage  die  Schlegel  vernichtet;  und  in  einer 

platten,  in  Knittelversen  abgefasstcn  Satire,  „Gigantomacliia,  d.  i.  heil- 

>8cr  Krieg  einer  gewaltigen  Riesencorpnration  gegen  den  Olympus" 

'1800)"  wird  berichtet,   wie  die  Schlegel,   als  Giganten,  mit   ihren 

Bondesgenossen;  die  hier  zu  Flundeu  gemacht  sind,  bei  ihrem  Erheben 

gegen  den  alten  Paniass  oder  Olymp  durch  das  Geschrei  von  Sileus 

)sel  —   Kotzebue's   hyperboreischem   —   in    die  Flucht  geschlagen 

rorden,   dabei  aber  auch  Kotzebue  selbst  nicht  ungerupft  gelassen. 

'^erstündigere   Gegner    der  Romantiker,    wie  Wieland    und   Iluber, 

nrtheilten  aber  anders.     Der  erstere  fand  in  dem  „Possensplclchcn'' 

einen  Hauptfehler,  und  der  sei,  dass  mau  in  dieser  Manier  und  durch 

leraushcben   auffallender  Sätze   aus    ihrem   Zusamiucnhange  jeden 

lodern  Schriftsteller  eben  so  Ificherlich  machen  könnte.     Die  Schlegel 

hätten  eine  tüchtige  aristophanische  Lauge  verdient,  aber  Kotzebue 

nehme  sich  zu  wenig  Zeit  zur  Arbeit,   und   sein  Salz  sei  ein  wenig 

dumni*^.     Hubor  meinte  in  seiner  Reconsion"*,  K«ttzebue  habe  seinen 

Witz  in   diesem  Stücke  eben   nicht  sehr  in  Unkosten  gesetzt:  da- 

lurch  dass  er  die  Sprache  der  Schlegel  einem  jungen  Menschen  in 

len  Verhältnissen,  worin  er  ihn  auftreten  lasse,  iu  den  Mund  lege, 

sei  diese  Sprache  eigentlich  gar  nicht  satirisiert,  und  wenn  Über  eine 

dche  Sprache,  wo  sie  auch  geredet  werdeu  mOge,  gelacht  weiden 

lüssOt  so  habe  Kotzebue  zu  dieser  Ergetzlicbkeit  seiner  Leser  aus 

dem  Seinigen  zu  wenig  beigetragen,   als  dass  er  nicht  allen  Dank, 

der  ibm  etwa  dafUr  zuflösse,   billiger  Weise  an  die  rechte  Behörde 

Eurackweisen  sollte". 


b,  S.  120»  trauen,   so  sollte  sich  dem  -hyi>erboreischcu  Esel"  zuiiäcbst  eine 
Fortsetzung,  „das  Tollhaus**  —  in  dos  der  Held  jcucrPosäC  zuletzt  geschickt  worden 
anschliessen;  doch  trat  Kotzebuc's  Alifuhrung  «ach  Sibirien  der  Ausführung 
»er  Ab&icht  in  den  Weg.    Welcher  Mittel  er  sich  biahiT  bediente,  am  seinen 
lem  zu  schaden,  erhellt  u.  a.  auch  aus  dem  Gebrauch,  den  er  vom  «Zcrbino- 
Berliner  Ilofe   machte;    vgl.    Tiecks  Schrlftpu  0,   S.  XXXVl  f.   und   Köpke 
2^3  f.  Ol)   S    die   vorige   Anmerkung.  {}'!)  Vgl.   u.    allgemebie 

BlbUothek  56,  457;  5S,  350  ff.  und  G.  Merkel  a.  a.  0.  Br   ^,  S.  IIa  ff.   A.W. 
hielt   J-  D.  Falk   für   den   Verfasser;   rgl.   Aus  Scbleiermachers  Leben 
19S.  Ö3^  Brief  an  Gflschen,  bei  Gruber  In  WieUmds  Leben  4.  2firi 

i)  Vgl.  S.  SGI,  51.  65)  Wie  Kotzebue's  Product  von  den  Freunden  der 

degel  angesehen  vurde,  erhellt  aus  Aeosscrungeu  vonBcmhardi  und  Schelliitg. 
T  eine  bemerkte  Ln  der  Anzeige  des  ersten  StUcks  vom  3.  Bde.  des  Athenäums 
terliner  Archiv  der  Zeit  l*'Ot).     1,  ;Ui'*f.):    -Kritiker  und  Publicum   vereinigten* 
sich   zu   einem  Vcrdammnngiturthoil  (Qber  die  ..Fragmente-*   im  Athenäum),   und 
V.  Kotzebue  suchte  diess  dramatisch  darzustellen,   welches  ihm  auch  so  wohl 


S61    VI.  Vom  zweiten  Yiertol  des  XVIO  Jahrhonderts  bis  xa  GoeUie*«  Tod. 

§  338  Die  Strafe  fUr  die  platte  und  ziemlich  witzlose  Satire  Uess  meto 

lauge  auf  8ich  warten :  sie  erfolgte  in  A.  W,  Schlegels  ^Chrenpfl 
und  Triumphbit^eu   für  den  Theater- Präsidenten   vr     *^"ebu( 
einer  Zauamraenaiellung  vcrftchiedener  Sonette  und   i  aie, 

andern  Gedichten   und   einem  kleinen   Drama,   »o    \\Te  auch 
Reibe  fingierter  BUcbcrtitel.     Die  Schrift  erschien  ohne  des  Vei 
Namen,  wurde  aber  gleich  Schlegel  zugeschrieben.     lu  dem  Ai 
eines  Schreibens  aus  Nürnberg  vom  1.  Mflrz    ISOl",   war  bericj 
warum  Meuscl  von  der  tiedactiou  der  Erlanger  Lit-Zeitung  z\ 
getreten  sei*%  und  indem  hier  die  in  jener  Zeitung ••  erscbi< 
Uecension   der  „Khrcnpforte"   als   eine  in   ihrer  Lobpreisung  ^ 
lieh  höchst  schändliche"  charaktcriaiert,  von  der  „Ehrenpforte" 
aber  bemerkt  wurde,  man  achriebe  sie  allgemein  A.  W.  Schleg< 
hoffte  der  Beriobter?ituttcr,   dass  man  sich  hierin  irren  möchte, 
dass  Schlegel  üH'entlich  erklären  wUrde,  er  sei  nicht  Vcrfa^i^er  .di 
niederträchtigen  Pasquills".    Hierauf  liess  Schlegel  in  das  Intelli^^ 
Blatt  der  Jenaer  Literatur-Zoitung'"  mit  seiuer  Natnensunlei 
eine  Krklärung  einrücken,  worin  er  sich  nicht  bloss  da^u  bekai 
Urheber  der  ^  Ehrenpforte **  zu  sein,  sundern  auch  nicht  damit  surD^E- 
hielt,  daas  er  sich  „dieses  Kunstwerks  auf  keine  Wei>^i 
vielmehr  etwas  darauf  zu  Gute  ihue.    Wer  sich  auf  r 
vei'stehe,   habe  wohl  nicht  zweifelhaft  über  den  \er{.  sein  ki 
^Äuch  war  es  nie  meine  Absicht",  heisst  es  weiter,  «die   ' 
strenge   zu  behaupten ,   die   mir  nur  mit  zu  der   acbor/ 
kleidung  zu  gehören  schien.     Diess  reicht  hin:  denn  ich  habe 

gelang,  dass  sein  Produkt  sich  an  Plattlicit  und  Schalheil    den   T:\JiAffli 
nähert  und  das  einzige  Verdienst  hat,  jenes  UrlheÜ  treu    ' 
liczcicLnctc  in  jden  Krliiuterungcn  über  die  Jenaer  Lit*n  i 
3.  «>('i3|  den  „hyperboreischen  Esel"   als  _das  Pnjdukt  eines   vor  )u 
schon  wegen  eines  bei  weitem  weniger  unwitzigen  Pasquills  idrs  ,1; 
eisernen  Stiru",  vgl.  S.  217  f.^  vor  dem  Publicum  gebrandiuarkteu   ' 
Produkt  von  der  üeschaffeuheit ,    dass  sogar  selbst  die  Iledactorcu  .i-. 
Zeitung  in  jeder  andern  Lage  es  unt«r  der  Würde  einer  geJcbrtrn  Z- 
halten  hätten,  davon  >iotiz  zu  nehmen«  jetzt  aber,  da  es  darauf  anKürrj 
untersten  Classen  gegen  die  Schlegel  in  Bewegung  «u   bringen,    du: 
Recensenten  h&tten  beurthcilen  lassen,  von  dem  kurz  zuvor  da«  Athru 
siert  worden  wire.  öG)  Ueber  |die  EutsiehungBzeit  der  ..Ehr#»nfi 

Aus  Schleicrmachers  Leben  S,  200;  24i;  249.  67)  Mit^got- 

Blatt  der  n,  a.  d,  Bibliothek  5S,  1 .  27S  f.    Es  lohrte  zu   wi .   ^ 
rangen  xwischon  Mehmcl,   als   einem  der  Herausgeber  der   KrUngcr 
Zeitung,  und  Nicolai;   der  erstere  ergieug  sich  in  einer  ganjE  mt 
gegen  den  audem  und  dessen  »Nürnberger  äplessgeeellen* ;   «gl.  dia 
Blätter  {Icr  Erlanger  Literatur-Zeitung  uud  der  n.  allgemcdneu  d. 
l'j'Ol.  N.  27  und  45.   hier   Bd.  63,  3S7  ff.   und  66.  555  ff.  Qg; 

S.  651,  Anm.  55.         GOi  isoi.  N-  35.  7l)i  ISIH,  X    H3.  Sp.  All' 


n 


tvrickduugäg.d.  Liter.  1773—1832.  DieRomauUker.  VerbäliniaB  zu Kotzebue.  865 


lesserea  zu  tliun,  als  den  verworrenen  Köpfen,  die  den  Unterechied  §  338 

'iscben  literarischer  Satire  und  Pasquill  durchaus  nicht  begreifen 
;önnen,  daa  Verständnis»  zu  öffnen,  oder  denen,  die  es  nicht  wollen, 
ro  eigennützige  Leidenschaften  sich  einmischen ,  das  Gewissen  zu 
schärfen.  Leser,  die  in  keinem  dieser  beiden  Fälle,  aber  doch  in 
die  Orgien  des  Scherzes  nicht  genug  eingeweiht  sind,  um  nicht  hier 
und  da  Austoss  zu  nehmen,  verweise  ich  auf  das,  was  ein  Freund 
von  mir  (unstreitig  Bemhardi)  im  ersten  Stück  der  Zeitschrift  „Krn- 
B08**"  darüber  sehr  treffend  gesagt  hat"  etc.  Der  Zusatz  auf  dem 
Haupttitel  von  Schlegels  Schrift  „bei  seiner  gehofften  Rllckkebr  ins 
Vaterland^,  so  wie  der  zweite  Titel  des  kleinen  Drama's,  „der 
tugendhafte  Verbannte",  beziehen  sich  auf  Kotzebuc's  Abführung 
nach  Sibirien  und  auf  die  Nachricht,  dass  seine  Verbannung  aufge- 
hoben sei  und  er  demnächst  nach  Deutschland  zurückkehren  werde. 
Daas  Schlegel  gerade  die  Zeit  der  Entfernung  seines  Gegners  aus 
dem  Vaterlande  gewählt  hatte,  um  sein  Büchlein  ans  Licht  treten 
zu  lassen,  wurde  ihm  von  denen,  die  es  mit  Kotzebue  gegen  ihn 
'       hielten,  als  Feigheit,   und  dass   die  meisten  Stücke  in  der  als   ein 

t elendes,  nichtswürdiges  Piisquill  angesehenen  „  Ehrenpforte "  im  näch- 
llten  Bezüge  zu  seiner  Abführung  nach  Sibirien  standen,  das  Drama 
ihn 
boa 
Gel 


ihn  aber  als  dorthin  Verbannten  selbst  vorführte,   als  herzlose  und 


boshafte,  racbstlebtige  und  schadenfrohe  Verspottung  sowohl  eines 
Unglücklichen  selbst^  wie  der  „allgemeinen  Theilnabme''  an  seinem 
Issgeschick  ausgelegt".  „Das"  so  „zur  Hülfe  gerufene  sittliche 
[Gefühl  achwiichte  in  der  That  den  Eindruck,  den  die  Ehrenpforte 
BQUBt  unrermeidlicb  hätte  macheu  müssen *''\  obgleich  derselbe  noch 
immer  bedeutend  genug  war,  zumal  bei  der  Jugend.  Denn  mag  an 
dem  Inhalte  oder  dem  Ton  einzelner  Gedichte  und  an  verschiedenen. 
Scenen  in  dem  kleineu  Drama  auch  manches  auszusetzen  sein, 
im  Ganzen  ist  die  „Ehrenpforte"  doch  das  Witzigste,  Treffendste 
und  Vernichtendste,  was  gegen  Kotzebue  als  Schauspieldichter  ge- 
schrieben ist''. 


!  V 


71)  -Kronos.  Ein  Archiv  der  Zeil  und  desüeschmacka"  etc.,  herausgegeben 
von  RAmbach,  erschien  seit  ISOI  in  Berlin  nach  dem  Eingehen  des  -Berliner 
.Archivs  der  Zeit-   als   eine    der    beiden  FortsetzunKen  desselben;    die  andere, 

Eunomia",   wurde  von  Fesaler  n.  A.  redigiert;   Ich  habe  zu  keinem  Sttick   des 
«Kronos"  gelangen,  also  auch  jene  Anzeige  der  «Ehrenpforte"  nicht  lesen  können. 

72)  Vgl.  0.  Merkels  Briefe  an  ein  Frauenzimmer  etc.  in  der  Nachschrift  zu 
Br.  2a  lauB  dem  Febr.  isoi),  S.  a7Sff.,  die  n.  allgemeine  d.  Bibliothek  Ü3,  13Sff. 
und  das  Intelligenz-Blatt  zu  derselben  Bd.  5*.  27Sf.;  «3,3S7ff.  73HI.  Steffens 
a.  a.  0.  4,  265.  74 1  Ausser  diesem  selbst  erhalten  auch  BÖttiger  und  J  Falk 
ihr  Thetl,  nnd  gegen  iluber  ist  wenigstens  ein  Seitcnbieb  gericht«t  (vgl.  In  den  s. 
Werken  2,  322  ff.  und  265). 

ILobtnl«!»,  OruutlrtM.  6.  Aufl.  IV.  5& 


SOß    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIH  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

§  33S  Inzwischen  hatte  sieh  der  Kauipfi^latz  schon  bedeutend  erweitert 

und  die  Zahl  der  Streitenden  auf  beiden  Seiten  vcrgrOasert.  Es  waren 
verschiedene  satirische  und  pas(iuillantisjche  Schriften  in  Versen  und  io 
Proj^a  erschienen,  zu  denen  sich  die  Verfasser  nicht  bekannt  hatten,  und 
in  denen  es*  auf  Versi>ottung:  und  Verunglimpfung  der  Schlegel  sammt 
ihren  Freunden  ahgcseheu  war.  Ausser  der  bereits  angeführten  -  Gi^- 
tomachia*"'  gehörten  dazu  , Diogenes  Laterne",  ein  Taschenbucli^ 
worin  der  eilfte  Artikel,  „allgemeiner  satirischer  Reichsanzeiger", 
sehr  starke  und  boshafte  Invectiven  gegen  Fr.  Schlegel  und  Ficbte 
enthielt  und  insbesundere.  mit  Beziehung  auf  die  „Lucinde",  das 
Verhältniss  des  erstem  zu  Dorothea  Veit  brandmarkte";  sodann  die 
„Reise  auf  den  Bn»cken.  Eine  Geschichte  am  Ende  des  iihilosophi- 
schcu  Jaluhunderts"*";  auch,  aber  nur  zum  Theil,  da  auch  andere 
Schriftsteller,  wie  namentlich  Wieland,  Jean  Paul  und  selbst  Merkel 
darin  nicht  verschont  geblieben  sind,  „der  Thurm  zu  Babel,  oder  die 
Nacht  vor  dem  neuen  Jahrhundert.  Lustspiel,  das  Goethe  krünea 
wird""'.  In  andern  Schriften  dagegen  wurde  den  Widersachern  der 
Schlegel  die  Stirn  geboten  und  den  Männern  der  alten  Schule  nea 
Streiche  versetzt.  So  in  der  Schrift,  «die  Eumeniden,  oder  Noten 
zum  Text  des  ZeitJiltcrs"*".  Hierin  gieng  man  nicht  allein  daraa: 
aus,  die  gellcrtsche  oder  überhaupt  Leipziger  Poesie  und  alles  va* 
ihr  ähnlich  war,  in  der  öffentlichen  Meinung  herunterzuziehen,  we- 


".*)!  Vgl.  S.  «^ti:!.  i\>,  TCn  Leipzig  ITyii.  77i  Als  Verfasser «i-.: 

Buchs  brzt'irhueto  ein  Gcruoht  den  Prediger  D.  Jenisth  in  Berlin,  der  jrtlcfb  i^ 
AutorS'Cliaft  im  Berliner  Anlüv  der  Zeit  llvnt.     2,  ;»TOf.  ahlänjriiete:  vgl.  itev- 
Fr.  Sclih'iTi'l  an  Fichte  in  des  letztem  Leben  und  Briefwechsel  2,  :i44;  Bcmbr.: 
in  jenem  Archiv  l^nii.     i.  äi»  f.  two  nnter  dem  -Gottsclialk  Ncckor-  wieder  ti?- 
mand  anders  als  Jenisch  zu  verstehon  ist)  und  Aus  Schleiermachers  Leben  ?''-" 
I4!i.     Da  in  einer  Beilage  der  ..allgemeinen  Zeitung*-  das  Buch  angcKiinlXt  i^»' 
ein  Auszug  aus  dem  eihten  Artikel  mitgetheilt  wurde,  so  fonlerte  Fr.  ;?ii:if:r-- 
Intelligenz-niutt  der  Jenaer  Literatur-Zeitung  von  ISoo.    X.  ;t,  TM.  denlltti-^i''- 
der  allgemeinen  Zeitung,  M.  h.  Huber.   auf.    sich  jenes  Inserats  w^eu  n  ■-■* 
schuldigen,    ..widrisrenfalls  er  sich  der  Thcilnahme  an  'dem   eleudestin  iicti --" 
losesten  Pasiiuill  schuldig  machen  würde".  7S»  ^  Thlc.    Leipzig  1^"'  * 

vgl.  n.  allgemeine  d.  Bibliothek  **2,  üäO  f.  und  G.  Merkels  Briefe  aii  eir.  irj» 
ziramer  etc.    Heft  21.  S.  önil.         71h  Deutschland  l^ül.    >.;    ivgi.  n.  ■iüt'^- 
d.  Bibliothek  .'iS,  551  f.  und  W'ielands  Leben   von  (»ruber  -l.  20"  tf.t.  —  .t J^- 
jedoch  erst   in  den  Jahren  \><i'i  und  1**04   erschienene  Satiren   oder  i'^Tit'j^'^- 
auf  die  Romantiker  und  die  idealistischen  Philosophen,  oder  auch  auf  «ifsÄ**^ 
beider  sich  feindseligen  Parteien,  findet  man   augezeigt   im  -Freimiithip'C' '' 
1MI3,  X.  m,  S.ia-.;  N.OO,  S.3(iO:  X.  143,  S.  372;  in  Merkels  -Ernst  aü^'^^ 
N.  M,  J>.  43  f.;  N.  12.  S.  4f;ff..  und  in  der  n.  a.  d.  Bibliothek  v*.  Iü6ff:  "■■•*' 
S<»i  Zürich  1^01.   s.    Xach  einem  Briefe  Jean  Pauls  in  Knebels  ÜKrti^:* 
Nachlass  2,421  sollen  zwei  Studenten  diese  selbst  von  den  beiden  ScUtW  ?^ 
billigte  Schrift  verfasst  haben. 


Entwickeluflgsgang  der  Literatur.    1773— lS;t2.    Die  Romantiker.    ü<^er.    bOT 

dem  auch  Wielaud  und  andere  namhafte  Schriftsteller  aus  den  letzten  §  338 
Jahrzehnten,  welche  die  Gegner  der  Romantik  als  die  eigentlichen 
deutschen  Classiker  und  die  wahren  Zierden  unserer  Literatur  im 
Gegensatz  zu  Goethe  und  auch  wohl  zu  Schiller  he rvorzu lieben  nicht 
müde  wurden,  Dass  Wielaud,  hiess  es  u.  a-,  doch  einmal  auf  die 
Nachwelt  kommen  werde,  dürfe  darum  erwartet  worden,  weil  sein 
Name  im  „Wilhelm  Meister'^  stehe.  Die  .,Xenien"  werden  als  ein- 
gerechtes  Gericht  über  die  deutscheu  Schriftsteller  bezeichnet:  Goethe 
und  Schiller  seien  darin  als  echte  RcprÄscntanteu  des  Jupiter  Xenius 
aufgetreten,  welcher  durch  sie  die  Guten  belohnt  und  die  Bösen  bcstmft 
habe.     In   dem  goldnen  Zeitalter,  das  durch  jene  Herrscher  vor- 

»ereitet  worden,  werde  man  eine  pragmatische  Geschichte  der  deut- 

ichen  Poesie  über  die  nXenieu"  lesen  können.  An  den  Gebrüdern 
Schlegel  wurde  besonders  der  Eifer  gerühmt,   mit  welchem  sie  der 

rahren  Poesie  wieder  aufzuhelfen  suchten,  indem  sie  immer  auf  den 

einzigen,  durchaus  vollendeten  deutschen  Dichter  aufmerksam  machten ; 
indcss  wäre  doch  nur  zu  sehr  zu  fürchten,  dasa  die  erschlaffte  Menge 
sieh  an  den  Namen  Goethe  gewöhnen  werde.'  Man  sollte  daher 
diesen  Namen  nicht  so  häufig  aussprechen  und  den  Juden  folgen, 
die  sich  enthielten,  den  Namen  Jehovah  auszusprechen,  fum  seine 
ganze  unendliche  Heiligkeit  zu  bewahren,  und  für  den  Namen  Goethe 
etwa  ftrrrjc  oder  carmarog;  sagen*'.  — \  Inzwischen  hatte  man  auch 
auf  der  Berliner  Bühne,  unter  Ifflands  Autorität  und  Mitwirkung,  den 
Versuch  gemacht,   nicht  allein  die  Hauptvertreter  der  Romantik  im 

ilgemeinen  dem  öffentlichen  Gelächter   preis   zu  jgeben,    sondern 
!h  insbesondere  Tiecks  sittlichen  Charakter  und  gesellschaftliche 
IRtellung   im    nachtheiligsten  Lichte    erscheinen  *zu  lassen.     Iffland, 
durch  Tiecks  eigene  Neckereien,  dann  auch  durch  A.  W.  Schlegels 
id  Berahardi's  Kritiken  vielfach  gereizt,  |brachte  gegen  Eadeldea 

Fahres  ISOÜ  ein  Lustspiel,  ^das  Chamäleon''  auf  die  Bühne,  welches 
einen  Freund  Ifflands,  den  Manheimer  Schauspieler  Heinrich  Bock", 
zum  Verfasser  hatte".  Iffland  hatte  das  Stück  einstudiert,  trat 
selbst  darin  auf  und  hatte  vermuthüch  von  den  entwürdigenden 
und  gehässigen   Charakterattgen   der  Person,   unter  der  nur  Tieck 

^erstanden   werden   konnte,    manche  dem   Veifasser   an  die  Hand 
igeben**.    Sodann  aber  waren  Hm  Laufe  des  Jahres  ISOO  Job.  D. 


SD  Vgl.  die  n.  allgemeine  d.  Bibliothek  73,  3M  ff.  82)  Geb.  zu  Gotha 

f59.  gest.  1N03.        S3)  In  veräoiderter  GesUlt  gedruckt  in  U.  Decks  -Theater-. 

1,  Frankfurt  a.  M.  1S03.   S.  84t  Als  einer  von  Tieck  verlangten  öffent- 

len  Krkläranfr,  dass  nnter  dem  huugrigen  und  f^emeinen  Schriftsteller  im  Stück 

id  unter  der  Clique  der  FUnfe.  von  der  darin  die  Rede  war,  und  zu  der  dieser 

;hrU'tsteller  gehörte,  nicht  er  und  seine  Freunde  gemeiiit  iden ,  Itfltind  auswich, 

55* 


S6S    TT.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  za  Goethe'»  Tod. 

§  R3S  Falk'"',  Garl.  Merkel""  und  K.  A.  Böttiger*"  als  entschiedene  Feinde 
der  Romantiker  hervorgetreten.  In  Falk,  von  dem  schon  seit  1795 
verschiedene  Schriften  satirischen  Inhalts  erschienen  waren,  sollten 
nach   Wielands   Meinung   und   Ausspruch   sieben    grosse  satirische 


schrieb  Tieck,  der  damals  auch  schon  von  Falk  und  Merkel  gröblich  angegriflea 
worden  war,  die  nicht  fertig  gewordenen,  erst  nach  seinem  Tode  gedruckten  -Be- 
merkungen über  Parteilichkeit,  Dummheit  und  Bosheit,  bei  Gelegenheit  der  Hcrrea 
Falk,  Merkel  und  des  Lustspiels  ..Camaelon*"'.  An  diejenigen,  die  sich  unpsr- 
teiisch  zu  sein  getrauen".  Vgl.  oben  S.  563,  26,  wo  auch  schon  eines  andern, 
etwas  später  angefangenen ,  aber  auch  nicht  zu  Ende  geführten  Strafgerichts  voa 
Tieck  über  seine  Widersacher,  des  .Anti-Fanst%  gedacht  worden  ist,  und  duc 
Köpke  in  Tiecks  Leben  1,279  ff.  85)  Geb.  176S  »vgl.  Weimar.  Jahrb.  6,  1;  16Vi 
zu  Danzig,  sollte,  wie  sein  Vater,  Perrückenmacher  werden ,  kam  aber ,  nachdeo 
er  sich  schon  durch  fleissige  Leetüre  mancherlei  Kenntnisse  erworben  und  anch 
Gelegenheit  gehabt  hatte,  die  französische  und  die  englische  Sprache  zu  crkraeDf 
auf  das  Gymnasium  seiner  Vaterstadt,  musste  dabei  jedoch  noch  immer  den 
Vater  bei  seinem  Gewerbe  hülfreiche  Hand  leisten.  Nachdem  er  sich  unter  deo 
ungünstigsten  Umständen  die  nöthige  Vorbildung  verschafft  hatte,  gieng  er  auf  die 
Universität  Halle,  wo  er  sich  besonders  auf  das  Studium  der  alten  und  der  neaen 
Literaturen  legte  und  auch  schon  als  satirischer  Schriftsteller  auftrat.  Vob  di 
wandte  er  sich  ITUS  nach  Weimar,  wo  er  als  Privatgelehrter  lebte  und  besoodos 
von  Wieland,  der  in  ihm  ein  ganz  ausgezeichnetes  Talent  zur  Satire  gefunden  n 
haben  meinte,  viel  Gunst  erfuhr.  1S06  wurde  er  vom  Herzog  zum  Legationinäi 
ernannt  und  mit  einem  Jahrgehalt  bedacht;  späterhin  machte  er  sich  vorzägücb 
um  die  Erziehung  und  Bildung  verlassener  |und  verwilderter  Kinder  rerdint 
durch  Gründung  eines  Vereins  von  Freunden  in  der  Noth.  Er  starb  1S26.  V^ 
J.  Falk.  Erinnerungsblätter  aus  Briefen  und  Tagebüchern  gesammelt  von  desses 
Tochter  RosaÜe  Falk.  Weimar  IS68.  S. ,  und  H.  Döring ,  J.  Falks  Reise  nx'- 
Jena  und  Weimar  im  J.  1794,  im  Weimar.  Jahrbuch  0, 1—27.  S6»  Geb.  !"■'■ 

in  Liertautl,  Wo  er  seine  Schul-  und  Universitätsstudien  gemacht,  habe  ich  ticl' 
ermitteln  können,  ebensowenig  das  Jahr,  in  welchem  er  nach  Deutschland  bn: 
und  ob»  er,  wie  behauptet  wird,  lA-irklich  eine  Zeit  lang  Privatdoceni  in  FmdcJ*- 
a.  d.  0.  gewesen  ist.  In  den  letzten  neunziger  Jahren  hielt  er  sich  in  Vebtir 
auf,  wo  er  ausser  andern  schriftstellerischen  Arbeiten  auch  Beiträge  zum  i  - 
Merkur  lieferte  und  viel  in  Herders  Haus  verkehrte  (vgl.  Knebels  Hteraris^ta 
Nachlass  2,  276).  Seit  dem  J.  1900  lebte  er  in  Berlin,  flüchtete  aber  voa  Ja  !v'^ 
vor  den  Franzosen  in  seine  Heimath.  IS  16  kehrte  er  nach  Berlin  zurück:  R 
wollte  hier  die  von  ihm  während  einiger  Jahre  vor  seiner  Flucht  gettihne  B;^ 
daction  des  «Freimüthigen",  der  untcrdess  in  andere  Hände  übergegangPD  »tf 
wieder  übernehmen  und  fieng,  da  ihm  diess  nicht  gelang,  unter  demselben  Tr-"- 
ein  neues  Blatt  an,  das  jedoch  bald  eingicng,  worauf  er  nach  Liefland  zuniii* 
gieng.    Er  starb  IS50.  S7)  Geb.   1760  zu  Reichenbach  im  Voigtlanlc  «■' 

ein  Schüler  der  Pforte ,  studierte  in  Leipzig  und  stand  dann  nach  cinand-T  t^ 
Rector  den  Schulen  zu  Guben  und  Bauzen  vor.  1791  kam  er  als  ObercousätorA- 
rath  und  Director  des  Gymnasiums  nach  Weimar,  von  wo  er  mo4  nach  Vrtüc- 
als  Hofrath  und  Studiendirector  des  Pageninstituts  gieng;  später  wurde  erStoä?^* 
director  bei  der  Kitterakademie  und  Oberaufseher  über  einen  Theü  der  k«>ni;di:i»'' 
Kunstsammlungen :  nachdem  er  sich  aus  der  erstem  Stellung  schon  vorher  /i^n  '^* 
gezogen  hatte,  starb  er  l*»3r3. 


EntwickelimgBg.  d.  Liier,  1773— IS32.  Die Romanlilier.  Gegner:  Falk.  Merkel.  869 

Geister  der  Vorzeit  versammelt  sein.    Dass  Tieck  anderer  Ansicht  war  §  33S 

LÜ  diesem  Satiriker  seine  rechte  Stelle  in  der  Literatur  anwies,  als  er 
len  zweiten  Jahrgang  des  von  demselben  Lerausgegebenen  „  Tascben- 
mchs  für  Freunde  des  Scherzes  und  der  Satire**"  beurtheilte",  ist  be- 
reits oben**"  erwähnt  worden.  Im  „Zerbino""'  und  im  „jüngsten  Ge- 
richt"" war  Falk  auch  nicht  ungerupft  geblieben,  und  bei  Beurthoilung 
des  Taachenbucbs  von  1800"  hatte  ihn  Beruhardi  nichts  weniger  als 
Bcboneud  behandelt.  Falk,  der  deu  Verfasser  jenes  den  zweiten  Jahr- 
ing  seines  Taschenbuchs  betreffenden  Artikels  im  Berliner  Archiv 
icht  kannte,  hatte  sich  wegen  desselben  zuerst  an  dem  einen  Heraus- 
geber dieser  Zeitschrift»  an  Rambach,  zu  rächen  gesucht '^f  in  dem  Jahr- 
gang 180!  rückte  er  nun  aber  gegen  die  neue  Schule  selbst  ins  Feld: 
^^er  Zerbino.  die  Lucinde  und  das  Athenäum  boten  ihm  die  nilchsten 
^■Lngriffspunkte;  in  einem  beigegebenen  Kupfer  war  Tieck  auf  dem 
^Kestiefelten  Kater  reitend  und  Schleierroacher,  als  eine  kleine  ver- 
^Kachsene  Männergcstalt,  der  .Reden  über  die  Religion**  aus  der 
^^nficho  hervorragten,  am  Arme  von  Henriette  Hera  dargestellt'*. 
^^Indees  scheint  Falk  sich  bald  anders  zu  den  Romantikern,  nament- 
lich zu  den  Schlegel,  gestellt  und  sich  den  Uass  und  die  Verfolgiing 
Kotzebue's  und  Merkels  zugezogen  zu  haben**.  Merkel  war  einer 
ron  den  Seh riftstel lern  jener  Zeit,  die  in  der  niedrigsten  und  scham- 
mesten  Weise  ihren  Hass  zugleich  gegen  Goethe  und  gegen  die 
Männer  der  neuen  Schule  ausliessen.  Wodurch  er  sich  zuerst  von 
jenem  und  diesen  beleidigt  oder  gekränkt  glaubte,  weiss  ich  nicht 
,^nzugeben,  eben  so  wenig,  wo  und  wie  er  bereits  während  seines 
lUfenthalts  in  Weimar  seinem  Ingrimm  Luft  gemacht  hatte.  Jeden- 
musB  er  vor  dem  letzten  Drittel  des  Jahres  ISOO  die  Schlegel 


16»  Leipzig  uöd  spiiter  Weimar,  1797— 1M»3.  89'  Im  ßerliner  Archiv 

Zeit.        901  S.  57*J.  Anm.  05.        91 J  Romaotische  Dichtungen  I,  265  f. 
t)  Poetisches  Journal  t,  22)1.        93)  Im  Jahrgftug  ISOO  des  acgefolirteo  Archivs 
115  ff.    Augobängt  war  dieser  Beurthoilung  du  mit  Aumerkuiigen  begleitetes 
Gedicht,  „die  Kunst  faUrische  Taschenbücher  zu  machen**,  eine  freie  Parodie  von 
Jer  ersten  Scene  des  vierten  Acts  von  Macbeth,  nach  Borger  und  Eschenburg. 
94 1  Vgl.  das  Taschenbuch   von  1799.   S.  137  ff.  und  153  ff;   dazu  Tlecks 
ten  6»  S.  XLVI  ff,  und  Köpke  I,  277.  95)  Dieses  Kupfer  wurde  sogar 

»n  Mericel  (tiriefe  an  ein  Frauenzimmer  etc.  1,  t52  ff.)  gemiiisbilligt .   uud  eine 
in  dem  Taschenbuch  enthaltene  Parodie  de»  goetheschen -Jahrmarkts  zuPInnder«- 
reileni"  in  der   n.  allgemeinen  d.   BibUotlick  r^S,  2'i'i  ff,   ab  ein   .verachthches 
|uiil"  bezeichnet,  wogegen  die  Jenaer  Literatur-Zeitimg  I»*oü.    4,  350  f.  über 
liesea  Jahrgang  nur  beifällig  berichtete.  96)  Vgl.  Kotzebue's  -Expectora- 

iüBW,  von  denen  noch  spator  die  Uede  sein  wird:  MerkeU  .Krust  und  Scherz", 
ItW.     N.  I  und  2;   N.  20,  S.  Ilö;   den  -Freimutbigen-   iSo:».    N.  Ki5 .   S.  540; 
I.  150.  S.  59V:   N.  tSf^.  ^.  7t>0,  and  einen  Brief  von  Herders  üattin  in  Knebob 
»rari^chem  NachJasB  2,  -U3. 


870     VL  Vom  zweiten  Viortcl  dce  XVHI  JahrliundcrU  bis  tu  Go«ttie'i  Tod. 

§  33S  und  ihre  Freunde  binläugUch  dazu  gereizt  haben,  ibn  vnr 
Publicum  zu  zflcbtigcn.  Auf  eine  waLrscheinlich  mtlndUclie  „ei 
harte"  Aousserung  Merkel»  Hbcr  die  Schlegel  aus  dem  J.  1799 
/Joht  sich  Knebel'",  und  mir  unbckanut  gebliebene  Kritikeu  von 
in  Zeitungen  und  Journalen  mögen  auch  schon  manches  Oebi 
gegen  die  Romantiker  enthalten  haben".  Wie  dem  aber  auch 
wcaen  sein  mag,  im  September  ISOO  begann  Merkel  seine  •Hritia 
an  ein  Frauenzimmer  Hbcr  die  neuesten  Produeto  der  Bcbünen 
ratur  in  Deutschland''".  Hierin  wollte  er,  wie  er  im  Vorbei 
verhiesB,  völlig  unparteiisch  nnd  furchtlos  die  neuesten  Pmdi 
unserer  schönen  Literatur  hcurtheilen.  freschmaeklosigkeit  und 
solenz  werde  er  bei  ihren  Namen  nennen,  sollte  er  auch 
LieblingSHchriftsteller  der  Lesewolt  ihrer  bezichtigen  inOsBonr 
sollte  er  auch  das  ganze  Wespennest  gewisser  ilstbetischer  Fi 
lauten  noch  einmal  wider  sich  aufreizen.  Dagegen  werde  er 
Verdienst  seine  Achtung,  seine  Bewunderung  bezeugen,  sollt 
auch  nicht  mehr  Mode  oder  noch  ganz  unbekannt  sein.  Gleich 
erste  Brief  aber,  der  den  Zweck  dieser  Blätter  naher  angab,  dei 
schon  bestimmt  genug  darauf  hin,  was  mit  dem  ersten  Theil  j< 
Verheissung  p:emcint  sei:  Goethe  sollte  herabgesetzt,  seine  enthi 
scheu  Bewunderer  sollten  als  gemeine  Bedientennatureu  di 
die  dichterischen  Erzeugnisse  der  Romautiker  als  gCHchmaeklos,  no- 
sittlich,  kindisch,  ihre  Aesthetik  und  Kritik  als  widersinnig,  anmaflsead 
und  parteiisch  nachgewiesen  werden.  Und  so  bewegt  sich  denn  anrl" 
alles,  was  in  den  folgenden  Briefen  über  Goethe  nnd  seine  V 
derer,  so  wie  Ober  die  Schlegel.  Tieck,  Bernhardi,  Novalis,  i -tj 
und  Schelling  gesagt  wird,  in  einem  Gedankenkreiso,  bei  dci 
nur  zweifelhaft  sein  kann,  ob  darin  die  Dummheit  vorherrsche  «»ÄP 
die  Bosheit,   ob   die   Gemeinheit  oder  die  Frechheit,    und   »»h 


il7)  Im  Uterarisclien  Nachlass  3,  45.         9S)  Diess  muss  ich  sowohl  «ob  ^ 
Sonett  auf  ihn  schlicsscn,   das  nm  die  Mitte  des  Jabros  1T*J9  in  UmUof  jMOt 
und.  obgrlcich  sich  der  Verf.  nicht  geuannt  batt«.  allgemein  dem  aitvn  S<Ak^ 
zugeschrieben  wurde  (es  war  von  A.  W.  Schlogd  und  Tieck  verfaspt;  tfC  A» 
Schleicrmachcrs  Loben  3.  1 20  ff. ;  Merkel  gelb&t  Hess  cb  in  ciiilgea  ZntnnsKK  a^ 
drucken  imd  oalim  es  dann  auch  in  »eine  -Briefe  an  ein  Frauenziramer'  »,  *•» 
auf^   vgl.  A.  W.  Schlegels  s.  Werke  12,  2iH»,   wie  auch  aus  ein  Paar  amt  Mti^ 
zielenden   luvectiven  von   Bernhard!.    In   der   einen,   die   sieb    tm    H.   Tbrfl  4ß 
.Banibücciadcn"  und  daraus  in  Uen  ^Reliquien-  2,  IHfi  ff.  findet,    ist  er  mal  ^e 
„Märker-  gemeint,  welcher  als  Verfasser  der  Posse  „Secbald.  oder  der  c*:l 
Wächter*-,  in  einer  -gelehrten  Gesellschaft-  auftritt;  die  andere,  i^n  l^i-rTir 
der  Zeit  isoo.     i.  42  f.,  bringt  in  Vorschlag,  einen  naseweisen, 
unwissenden  Kritiker  unter  dt-m  Namen  ..Mcrkchen"  zu  einer  si^.^, , 
tigur  zu  machen,  99)  Kr  ftihrtc  sie  in  2i>  Heften  bis  ins  J.   ! 

24  ersten  Hefte  erschienen  in  Berlin,  die  beiden  letzten  in  Leipzig  i 


aBmJi 


9 


Entwickelungsg.  d.  Literatur.    1773— 1S32.   Die  Romantiker.   Gcguer:  Merkel  S71 

Körnchen  Wabrbeit,  die  mit  unterlaufen,  vom  Zufall  herrflliren  oder  §  338 
von  wirklicher  Einsicht.  Zwar  findet  Merkel  auch  au  Jean  Paul 
und  an  Schiller  mancherlei  zu  tadeln,  aber  er  tadelt  hier  wenigstens 
nicht  mit  der  ingrinmiigen  Verbissenheit  und  in  dem  schinipfeuden 
Tone,  wie  da,  wo  er  von  Goethe  und  den  Romantikern  spricht, 
gegen  welche  er  als  die  fleckenlosesten  Zierdon  unserer  neuern 
Literatur  überall  Wieland,  Herder  und  Engel,  demnächst  auch  Klop- 
ttock  und  Voss  und  als  dramatische  Genies  ersten  Ranges  Collin 
(den  Verfasser  des  Regulas)  und  Kotxebue  herausstreicht"*.  Anfäng- 
lich gewilltj  mit  Kotzebue  ^xraeinschaftlich  den  „FreimUthigen**  vom 
Beginn  des  Jahres  ]Si^3  herauszugeben  ^  llberliess  er  doch  die  Re- 
daction  dieser  Zeitschrift  ftlrs  erste  seinem  Freunde  allein"**  und  gab 
vom  4.  Juni  tSO.H  an  in  Berlin  ein  eigenes  Blatt  heraus ^  „Ernst 
und  Scherz",  welches  aber  nur  sieben  Monate  bestand,  worauf 
Merkel  und  Kotzebue  ihre  beiden  Blätter  vereinigten  und  mit  Be- 
ginn des  Jahres  1S04  unter  dem  Titel  -der  FreimlUhigc,  oder  Ernst 
und  Scherz,  ein  Uuterhaltungsblatt  fttr  gebildete  und  unbefangene 
Leser**,  erscheinen  Hessen"'*.  Auch  jenes  „Ernst  und  Scherz"  be- 
nannte Blatt  enthielt  wieder,  ausser  zahlreichen,  mehr  versteckten 
Sticheleien  auf  die  neue  Schule,  eine  Reihe  ausführlicher  Artikel, 
die,  im  Geist  von  Merkels  Briefen  abgefasst,  Goethe  herunterziehen 
nnd    die    Romantiker    Iflcherlich    und    verächtlich   machen    sollten. 


h 


lOOi  Ein  nichts  weniger  aU  gtinatigea  Ürthpü  Herders  über  diese  Briefe  steht 
Knebels  literarisohem  Kachlass  2,  '2ss,  eins  von  Jean  Paul,  der  Merkelu  auch 
im  Anhang  zum  .,  Titan "  und  nachher  m  den  ,.  Flegeljahren  **  Schläge  versetzte,  in 
dem  Buch  „Aus  Hnrdcrs  Kachlass"  I,  r\12f.  A.  W.  Schlegel  machte,  dazu  durch 
einen  groben  Irrthum  in  Merkels  2.  Briefe,  Über  Tiecks  „Genoveva".  I,  30  ver- 
anlasst, auf  ihn  das  Triolet  in  den  s.  Werken  2,  2üO  (vgl.  zu  demselben  .Aus 
Schleierma<.-bor&  Leben"  3,  250};  Bernhard!  charakterisierte  den  kleinen,  hilmischen 
und  unwissenden  Kritiker  Im  Berliner  Archiv  der  Zeit  1S00.  2,  .'t7(i  ff.,  und  Fichte 
bemerkte  in  seiner  Schrift  gegen  Nicolai,  S.  ^0  f.:  wenn  man  einem  Hunde  das 
Vermögen  der  Sprache  uud  Schrift  beibringim  konnte,  so  wttrde  dieser  Hund  äich 
als  SchrillfitoUer  gewiss  nach  und  nach  einen  sehr  verbreiteten  Eintiuss  verschaffen 
kÖcxieD;  seine  Theorien  wurden  das  Zeitalter  ergreifen,  ohne  dass  man  sich  eben 
erinnerte,  dnss  sie  von  dem  Hunde  herkämen;  es  wurde  eine  Aesthetik  entstehen, 
nach  welcher  jeder  Spitz  die  Schönheit  einer  .Kmilia  Galotti"  kunstmusaig  zer- 
eu  und  die  Fehler  in  HHermauu  uud  Dorothea**  so  fertig  nachweisen  könnte, 
CS  jetzt  G.  Merkel  (Jahrgang  l,  Br.  15,  S.  TM  ff.)  vermöchte.  —  Dergleichen 
AusfäUo  rechnete  sich  Merkel  als  ..öffentliche  Ehrenbezeugungen*  au  und  suchte 
sie  noch  melu-  unter  die  Leute  zu  bringen;  vgl.  Jahrgang  2,  53T  ff.  —  Selbst  die 
allgemeine  d-  Bibliothek  ^2.  &45  ff.  urtheilte  gar  nicht  günstig  Ober  die  Briefe: 
lerkel  wurd»-  von  ihr  ein  -Ulerarischer  Zänker"  genannt,  der  auf  nichts  weniger 
Unparteilichkeit  Anspruch  machen  könnte.  101»  Vgl.  die  Briefe  2.  Jahr- 

Uell  22.  S   ö:i2ff.  xxmi  Heft  2S.  S.  ornJ.        102)  Vgl.  „Ernst  iind  Scherz", 
.14,  S.   135  f.;  N.  4S,  S.   lfl*2. 


b72     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVUI  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

33S  Und  ebenBO  benutzte  er  als  Kedacteur  der  literarischen  Artikel  io 
der  baude-spenerBclien  Zeitung  während  der  Jahre  1S02  und  1803 
jede  Gelegenheit,  seinen  Hass  gegen  sie  auszulassen ****.  Böttiger, 
von  Tieck  im  «gestiefelten  Kater"  verspottet  und  von  A.  W.  Schlegel 
im  literarischen  Reich sanzeiger  hart  mitgenommen '%  lieferte  als 
Redacteur  des  n.  d.  Merkur  einen  unstreitig  von  ihm  selbst  ver- 
fassten  Artikel***",  worin  Merkels  Briefe  als  „neue  Literaturhriefe' 
angezeigt  und  höchlich  angepriesen  wurden,  desgleichen  Falks 
Taschenbuch  fttr  1801,  mit  der  Bemerkung :  dasselbe  verdiene  diess- 
mal  darum  eine  besondere  Aufmerksamkeit,  weil  die  meisten  Gedichte 
und  Aufsätze  gerade  die  helUönendsteu. Schellen  im  grossen  Narren- 
schiffe  unserer  Literatur  berührten  und  das  dem  Satiriker  zukommende 
Straf-  und  Zuchtamt  ohne  alle  Barmherzigkeit  übten.  Einen  sehr 
starken  Ausfall  gegen  die  Verbindung  des  Idealismus  mit  den 
„ Bedlamsvisionen  des  hochentzückten  Schusters  in  Görlitz''  und  dem 
Eatholicismus  fasste  Böttiger  in  eine  Note  im  n.  d.  Merkur^'',  und 
in  dem  „Freimüthigen"  aus  demselben  Jahre  erschienen  mehrere 
recht  schnöde  und  böswillige  Berichte  aus  Weimar  über  Goethe  und 
dessen  Verbindung  mit  den  Männern  der  neuen  Schule,  die  wohl  auch 
von  niemand  sonst,  als  von  Böttiger  an  Kotzebue  erstattet  waren. 

Dagegen  hatte  als  neuer  Kampfgenosse  den  Homantikem  sich 
Cl.  Brentano  zugesellt  *°^  Bald  nahm  auch  für  sie  entschieden 
Partei  die  so  eben  von  K.  Spazier  gegründete  „Zeitung  für  die 
elegante  Welt"  und  öffnete  ihre  Spalten  Artikeln,  die  gegen  die 
Feinde  Goethe'»  und  der  Romantik,  namentlich  gegen  Merkel  uu« 
später  aucb  gegen  Kotzebue  gerichtet  waren'".     Anfänglich  war  es 


103)  Oogen  Merkel  orschienon  mm  noch,  ausser  Artikeln  in  ilor  Zeitunc  ;'.: 
die  elegante  AVeit,  mehrere  besondere  Schriften,  so:  M.  Merkel,  als  Schriti>ttl:rr 
und  Kritiker  etc.  vor  das  Forum  tlerKritili,  Philosophie  uml  Kunst  uezngen-  ^:. 
Intcllißenz-Blatt  zur  Zeitung  f.  ü.  elegante  Welt,  iMUt,  N.2ii).  und  von  Vurulüirei 
und  W.  Neumann,  jedoch  anonym.  -Teatimonia  Auctorum  de  Merkolio.  d.  i.  Pardäi'v 
gärtlein  für  G.  Merkel".  Cöln  lSni>.  s.  (vgl.  Leben  und  Briefe  von  Ad.  v.  vU* 
misso  t,  120;  117  und  W.  Neiimanns  Schriften  1,  '>  f.,  dazu  die  neue  Uililivibi 
der  schönen  \Vi«sen Schäften  72,  291  f.  HU)  Vgl.  oben  S.  57*1;  h~',  Ai.n;.  ■*. 
714,  Aum.  .*)!.  1(15)   1*mmi.     St.  lu.  S.  ir.il  ft'.  l(j(»i  Im   I.  StU'k  v" 

Jahrgang  l>o:t.  S.  n.'..  lOTt  In  dem  e^^ten  IJande  si.'inor  .Satiren  uml  i»'.- 

schon  Spiele-  il**int)   und   in   seinem  Roman  ..Godwi"  (1^01)   kamen  nanicn-b 
Kotzebne  und  lü'land  schlecht  weg.   Vgl.  Prentauo's  gesamraelto  Sclirit'teu  \   "''■ 
und  die  n.  a.  d.  liibliothek  ti3.   i:^<  fl'.-  CO,  107  ff.  lOSt  Veber  dio  (.nu-dr- 

und  F<)rtiühning  dieser  Zeitung  v^l.  S.  2.'J'*,  74'.  —  Ausser   von  A.  W   S.-blt-I 
(Vgl.  R.  Schriften  it,  ].'>''— 2:tin  rinden  sich  von  Mitarbeitern  der  romantisi-lieiiS'lii.'-. 
die  sich  genanni   hitben.   in  ihr  Artikel  von  Bernhardi  iJahrgani»  l^nj,   N  : 
Sp.  i(J7:t  f.;  wahrscheinlich  auch  \<ir},  N.  :\]  f.  die  Anzeige  des  Museiialniüi.ivbf 
von  Sclilcgf^l  und  Tieck.  so  wie  X.  si— s;^  „über  die  barstellun*»  dvj-  Ion  .i:.:  ^l-^ 


w 


Pell 


EntwJckeluDgBg.  d.  Literatur.    1773—1632.  Die  Romantiker.  Gegner:  Böttiger.  873 

Spaziers  Absicht'*^,  seiuer  Zeitung  deu  Charakter  vollster  Partei*  §  338 
lo8ig:keit  zu  waliren  und  unter  keiner  Bedingung  jemaU  ihre  Blätter 
mit  Streitigkeiten  anzufüllen;  auf  ungezogene  Spöttereien,  Wider- 
legungen etc.,  wie  sie  dergleichen  schon  mehrfach  habe  erfahren 
mtlSBen,  werde  sie  nie  im  Ernste  antworten,  Grosssprechereien  und 
Neckereien  mit  GleichgtUtigkeit  übergehen.  Allein  dieser  Absicht 
blieb  der  Herausgeber  nicht  treu:  unmittelbar  nach  Veröffentlichung 

ner  Erklärung  begann  seine  Fehde  mit  Merkel,  als  dieser"*"  sich 
äusserst  schnöder  Weise  über  den  Charakter  der  Zeitung  für  die 
elegante  Welt  wi'lhrend  des  ersten  Halbjahrs  iliros  Bestehens  aus- 
gelasseü;  und  Spazier  gleich  darauf  den  kleinen  hämischen  Kritiker 
in  einer  Anzeige  seines  Buchs,  „Briefe  über  Hamburg  und  Lübeck  •, 
derb  abgefertigt  hatte'".  Von  da  an  vergieng  selten  eine  Woche, 
ohne  dass  Merkein  ein  Schlag  in  jenem  Blatte  versetzt  wurde,  wofür 
er    sich    wiederum    nach    seiner   gewöhnlichen    unverschämten    und 

iedrigen  Weise  in  seinen  Briefen  und  nachher  auch  in  der  Zeitschrift 
, Ernst  und  Scherz''  zu  rächen  suchte.  Gegen  Kotzebue  war  das 
yerhalten  der  Zeitung  anfänglich  durchaus  kein   feindliches:   wenn 

e  über  ihn  als  Dramatiker  auch  manchen  Tadel  aussprach,  so 
spendete  sie   ihm  doch   auch  Öfter  Lob,   theilte  Scenen  aus  seinen 

HuBsiten  vor  Naumburg"   mit"^  und   brachte  sogar  von  ihm  ein- 
ndto  Artikcr'^    Erst  als  im  Herbst  1S02  A.  W.  Schlegel   über 

ins  seiner  Stücke  Gericht  gehalten"',  und  bald  nachher  Bernhardi 
auf    eine  Anfi*ag6  Kotzebue's    eine    sehr    scharfe    und    sarkastische 

ntwort  ertheilt  hatte  "S  kam  es  zum  Bruch,  wie  sich  gleich  in  der 

rwiederung  Kotzebue's  auf  jene  Antwort  zeigte.  Dieselbe  ei*schien 
in  Kotzebue's  „Freimüthigem''"",  einer  gleich  von  vorn  herein  in 
der  feindseligsten  Absicht  dem   von  Spazier  redigierten  Blatte  ent- 


^Hui 
^pe&a 
^^ins 


plincr  Theater",  auch  als  Erwiederung  auf  eiuen  Artikel  in  N.  tl  des  Frei- 
lüthigen,  tS03,  N.  12,  das  «Gcsprüch"  zwischon  dem  «Poeten  par  excellence-  uud 
im  ^Kridcus  en  miniature",  d.  i.  Kotzebue  und  Merkel,  Tielleicht  auch  iu  N.  43 
sr  -erste  Brief  eines  Frauenzimmers-  ctc.i;  von  KJingemann  (gegen  Merkel  iso?, 
iteUigCDz-ßlAtt  N.  37;    l8o;},   Iiitelligenz-lilAtt  N.  ;t,   imd  in  der  Zeitung  selbst 

15.  Sp.  3J3  ff.;  dann  -Kinise  Bemerkungen  über  den  Chor  in  der  Tragödie, 
^sonders  in  Beziehung  auf  Schillers  Braut  von  MessiaA",   1^03,   N.  ö7  f.;   and 

inige  Worte  über  L.  Tieck.    Auf  Veranlassung  seines  Lustspiels  Octavianus". 

)U4.   N.  IU7  f.);   und  vielleicht  auch  von  SchclUng  iden  ich  wenigdtcna  für  den 

rerf.  dos  mit  Sg  unterzeichneten  Artikels  über  Schlegels  «Ion**  in  N  "iti  desJabr- 

ings  l''02  halten  mochte).  1(^9)  Diess  erkÜJirte  er  ganz  bestimmt  iu  einer 

^Uage  zu  X.  9rt  des  Jalirg.  ISOI.  IKh  In  seinem  :\^.  Briefe.  Mt)  Vgl. 

50  deä  Intelligenz-Blattes  zum  Jahrg.  isoi  der  Zeitung.        112)  1S02,  N.  113. 
Il3i  1*402,  \.  117.  118.  \\i)  In  N.  130.  1  I5i  In  N.  IIn. 

116)  X.  11  des  1.  Jahrg. 


'  S74    VI.  A'om  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Toi 

338  gogeiigestellteu  Zeitschrift"",  mit  welcher  Kotzebue  zu  Anfang  des 
Jahres  1S03  hervortrat.  Mau  wollte  in  ihr  eine  „furchtbare  Haapt- 
batterio  errichten,  wodurch  alles,  was  auch  nur  mit  dem  Schein  dner 
Waffe  für  die  neuen  Stürmer  des  alten  literarischen  Olymps  sich 
blicken  Hesse,  zu  Grund  geschossen  werden  sollte."  Dass  „der 
Freimtlthige ,  eine  berlinische  Zeitung  für  die  feiner  gebildeten 
Stände"*  herausgegeben  von  A.  v.  Kotzebue  und  G.  Merkel",  vom 
1.  Januar  1803  an  erscheinen  würde,  wurde  dem  Publicum  unter 
dem  30,  Octbr.  1802  angekündigt.  Das  Aeuseere  werde,  wie  Merkel 
am  Schluss  seines  91.  Briefes  verhiess,  wenigstens  eben  so  sauber 
sein,  als  das  der  Zeitung  für  die  elegante  Welt,  der  Inhalt  in  Auf- 
sätzen aller  Art  bestehen,  dazu  geeignet.  Gebildete  und  Geschmack- 
Tolle  froh  zu  unterhalten.  Uebrigens  aber  seien  die  Herausgeber 
gar  nicht  gesonnen,  jener  weltberühmten  Zeitung  in  den  Weg  xu 
treten;  zum  Voraus  werde  von  ihnen  auf  alle  Badechroniken,  Kach- 
richten von  Hoffesten,  Eindtaufen,  Hochzeiten  etc.  Verzicht  gethan. 
wie  auch  auf  Sonette  und  stumpfe  Epigramme.  Die  ausführliche, 
von  den  beiden  Unternehmern  unterzeichnete  und  von  der  sander- 
sehen  Buchhandlung  verbreitete  Ankündigung,  die  auch  jenem  Briefe 
Merkels  angehängt  war,  sprach  unverhUllter  die  polemischen  Ten- 
denzen des  Blattes  aus.  Sie  begann :  „  Die  literarische  Welt  hat  ihr 
System  des  Gleichgewichts,  wie  die  politische.  Wenn  auf  einer 
Seite  Anmassung,  Dünkel  und  mystischer  Wortkram  dem  Publicum 
imponieren  wollen,  so  müssen  auf  der  andern  Geschmack  und  g^ 
sunde  Vernunft  sich  verbinden,  es  zu  schützen.  Jene  schreien  und 
schimpfen,  diese  reden  und  spotten;  jene  prahlen  und  behaupten, 
diese  lächeln  und  beweisen. . .  .  Aber  —  Geschmack  und  gcsundi- 
Vernunft  müssen  ein  Blatt  haben,  in  welchem  sie  täglich  mitsprechet 
dürfen,  sonst  werden  sie  überschrien....  Noch  immer  sind,  G^'^ 
sei  Dank,  die  Verehrer  des  reinen,  durch  Lessing,  "Wieland,  Engel  ere- 
zu  uns  gekommeuen  Geschmacks  bei  weitem  die  grössere,  aber  auet 
die  ruhige  Partei,  da  hingegen  der  absprechende,  arrogante  Modeton- 
der  unter  Studenten  und  Incroyables  beiderlei  Geschlechts  eingerisMs 
ist,  sich  täglich  aller  Posaunen  bedient,  die  etwa  in  Jena  iMler 
Leipzig  zu  haben  sind.    Deshalb  ist  es  nöthig  gewonieu,  einen  Ver- 


117)  Wie  Fr.  Laun  iii  sciueu  Memoiren  1,  20it  ff.  berichtet  (v^l.  i' 
S.  25:iff.),  wurde  auf  dcmComptoir  des  Buckhäudlcrs  Sander  in  Berlin  iv:rl.  o' 
S.  (m-1,  Anm.  ITö),  .einem  eigentlichen  Herde  der  Gegenrevolution  wider  (üe  i^-- 
Ansiclitcn  in  Kunst  und  Literatur-,  wo  sich  mit  Kotzebue  und  Merkel  -Kiii^-'-' 
lauter  solche  Gelehrte  einfanden,  die  für  die  herkömmlichen  (;runJs.:i.'o  v:-' 
Autoritäten  lehen  und  sterben  zu  müssen  meinten-,  die  Gründung  difs^r  :u-' 
Zeitung  besprochen  und  vorbereitet.  HS)  Als  er  erschien,  abcejodirt^ 

«oder  berlinische  Zeitung  für  gebildete,  unbefangene  Leser-. 


£utvicUeluagsg.d.Lit  1773 — 1S32.  DieRomautiker.  Gcgiier:  DerFrciiiiUthigc.  $75 

einigTingspnnkt  für  alle  diejeuigen  zu  suclieuj  die  noch  Freude  am  §  338 
wahren  Solionen  haben ,  sich  den  Genuss  davon  nicht  durch  dunkle 
Machtsprncho  mögen  rerkümmem  lassen,  und  die  sich  nicht  Uber- 
zoufTP.n  kunnen,  dnss  erst  seit  weuifrpu  Jahren  von  ein  Paar  Uber- 
niUthigen  Dichterlingen  die  neue  Soime  herauf;j:cfllhrt  worden  sei. 
Ja,  deshalb  ist  es  nöthi^  geworden,  eine  Zeitung  zu  stiften,  in 
welcher  keinem  Oötzcn  gehuldigt,  keine  Mystik  geduldet,  kein  Spott 
mit  dem  Publicum  .i;etrieben  wird;  in  welcher  man  nicht  aufliürt, 
über  ernsthafte  Thorheiteu  zu  lachen  und  thörichten  Ernst  zu  ver- 
spotten; in  welcher  man  die  Unsittlichkeit  uml  den  Aberwitz  der 
Parteiführer  mit   schalkhafter   Gespriichigkeit    dem   Publicum    zum 

Besten  gibt Das»  wir  nicht,  wie  mancher  unserer  Herreu  Coüegen, 

uns  vermessen  wollen,  keiner  Partei  anzugehören,  erhellt  schon  aus 
dem  oben  Gesagten.    Wir  erklären   indes»  ausdrücklich,  dass  wir 
die  Partei  des  guten  GeschmackH   und  der  gesunden  Vernunft  aus 
allen  Kräften  ergreifen  wollen"".     Zuletzt  heisst  es  noch:  ^Zu  dieser 
Unternehmung  haben  sich^  ausser  den  Redaetoren,  eine  Anzald  von 
Männern  verbunden,  deren  Namen  schon  längst  dem  Publicum  lieb 
geworden  siud,  und  die  sich  iu  der  Folge  nennen  werden.     Wir  und 
sie  haften   dafür,    dass,    trotz   dem  schalkhaften  Tone,    der   diese 
Zeitimg  charakterisieren  wird,  die  Humanität  —  diese  von  gewissen 
Leuten  sn  bespöttoltc  Humanität  —   doch   nie   verletzt  werden  soll. 
an  wird  sich   vielmehr  streng   an  die  Regel   binden,   nichts  ab- 
drucken zu  lassen,   was  nicht  iu  jeder  Gesellschaft  von  gebildeten 
und  gesitteten  Menschen  mündlich   erzählt   werden   könnte."     Ganz 
fthnlich  dieser  Ankündigung  lautete  dann  auch   das  «erste  Wort", 
womit   das   erste   Stück    des  Freimfithigcu   am    3.  Januar   eröfVuet 
Würde.     Es  erklärte  den  Krieg  dem  .Haufen  der  literarischen  Re- 
nommisten", der,  mit  Ausnahme  von  ein  Paar  Männern  an  der  Spitze, 
denen   mau,   bei   aller  ihrer  Arroganz,   doch  keineswegs  Verdienste 
absprechen  wolle,  nur  aus  rohen  Jünglingen  bestehe  und  aus  einem 
kleinen  Theil  des  schönen  Geschlechts,   fast   lauter  reifem,   an   die 
^Stelle   der   aus   der   Mode   gekommenen    Bolschwesteru   getretenen 
^fcehönheiten^     Jene  glaubten  schon  Dichter  zu  sein,   wenn  sie  ein 
^Bonett  drechseln  oder  einen  Hexameter  zusammen  würfeln  knnnten; 
Pnielten  sich  für  Kunstrichter,  wenn  sie  Floskeln,  wie  .sti-euge  For- 
derungen der  Kunst",   „ee  spncht  sich  aus**,  «es  hat  eine  Persön- 
lichkeit", „es  ist  Poesie  der  Poesie"  etc.,  aufgeschnappt  hätten  und 
^Bfcufs  Gerathewfdil  wieder  aniirfichten;  meinten  berühmt  zusein,  wenn 


119)  Ks  (o}gt  die  Angabc  desscu,  was  du?  neue  Blatt  eatlialtcn  eoUc,  und 
WBS  davou  ausgescldossea  bleibe,  worin  wieder  die  Animosität  gegen  deu  Heraua- 
gcber  der  Zeitung  fttr  die  elogunte  Weh  durchblickt. 


876    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  za  Goethes  Tod. 

33S  ibr  Name  eiuigemal  im  scblegclscben  oder  vermebrenscben  Museu- 
almanacb  geglänzt  hätte;  und  möcbteu  geru  jeden  andero  ausgebrei- 
teten Rubm  durch  pöbelhaftes  Schimpfen  unterdrücken.    Diese,  die 
sich  gern  auszeicbnon  möchten,  fürchteten   ttbcrseben  zu  werden, 
wenn  sie  lobten,  was  andere  verständige  Leute  lobten,  und  stimmten, 
um  sieb  ein  Ansehen  zugeben,  in  den  berzlosen,  unartig  absprechenden 
Ton  jener  Jünglinge  ein,  damit  sie  dadurch  deren  bewundernde  Auf- 
merksamkeit  erregten.     Endlich   wurde  in   diesem    „ersten  Wort* 
auch  schon  deutlich  genug  angekündigt,  was  Goethe  von  der  Kritik 
des  Freimüthigen  zu  erwarten  habe:  er  werde  die  Producte  unserer 
ersten   Dichter  mit  inniger   WÄrme  loben,  wenn  sie   lobenswürdi^ 
seien;  er  werde  sich  aber  durch  keinen  berühmten  Namen  und  noch 
weniger  durch  eine  Würde  im  Staat  imponieren  und  verleiten  lassen, 
ein  niittolmassiges  oder  gar  schlechtes  Product  zu  bewundern.    Dm 
Merkel  fürs  erste  von  der  Theilnahme  an  der  Redaction  zurücktrat,  ist 
bereits  oben**'  erwähnt  worden:  wichtige  Ursachen  bestiraiuten  ihn"", 
nicht  anders  als  durch  einzelne  Beiträge  sich  an  dem  Freimtttbi^ea 
zu  betheiligen.    Unter  den  Mitarboiteni,  die  Kritiken  über  neue  Er- 
scheinungen in  der  Literatur  lieferten,  war  unstreitig  F.  L.  Hukr 
der  bedeutendste  und  gewichtigste,  so  wie  er  auch  derjenige  war^ 
der  bei  allem  seinen  Ankämpfen  gegen  die  romantiscben  Tendenioi 
doch  niemals  in  den  gemeinen  und  pöbelhaften  Ton ,    der  sonst  im 
Freimüthigen  herrschte,  mit  einstimmte,  sieb  auch  in  seinem  Unheil 
noch  immer  so  viel  Unbefangenheit  bewahrte,   dasa  er  keinesw^ 
alles  verwarf,  was  von  der  neuen  Schule  ausgegangen  war  und  noch 
ausgieng,  vielmehr  manchen  ihrer  Leistungen,   namentlieli  einige: 
von  Tieck  und  dem  altern  Schlegel,  volle  Gerechtigkeit  widerfahres 
liess'^-.    In  dieser  Zeitschrift  gedachte  Kotzebue,   als  Merkels  wür- 
diger Mitkämpfer,  nicht  allein  die  Romantiker  völlig  aus  dem  Fehle:'; 
schlagen,  sondern  suchte  auch  Goethe  durch  allerlei  elende  Mittel  k: 

I20t  S.  *-7l.  101.  12]»  Wie  fr  am  2**.  Novbr.   isoi  hiutor  sfinea  '■ 

Briofe  anzeigte.  1*22)  Seme  tgcwtihnlkh  mit  der  Cliiffre  — h —  uiitcrzeii!uii<'= 
Beitrage  reichen  vom  Januar  bis  in  den  November  des  ersten  Jalirgiinjw.  Z-:  '!■ 
in  der  einen  oder  der  andern  Ai't  hemerki-nswerthern  iiehitren,  ausi>t*r  den  I'^^*" 
anderwärts  angeführten  (vgl.  S.  y.iX  über  Goethe's  ..Mahomet-,  aus  X.  !J  « 
Freimüthifren;  S.  (i'.H.  Anm.  2(17,  über  „die Familie tScbroffenstein"  vonH.v.K)i' 
S.  H|o  f.  ül)er  Klingers  -Betraehtiingen"  etc.;  S.  ü;t!»,  7o,  über  .die  oaiarL' 
Tochter"  von  fioethe;  und  S.  mM,  Anm.  2,  Emlei,  die  in  N.  i;i.  S.  M  I.;i3«' 
ausserordentlichen  Beila^'C  zu  N. ,")(!:  in  N.  r.n.  S.23^f. :  (17,  S.  Uti.'»  t". :  77.  .>^"*- 
l'Hi.  S.  :iVt7:  107.  S.  IJti  f.;  117,  S.  Kw  f.  (.eine  sehr  anerkeunonde  Anzfii.'i*" 
ersten  Tbeils  von  A.  W.  Schlegels  ..i>i)anischcm  Theater- 1;  >'.  12m.  S.  M^tf.  ■■-■ 
Anzeige  von  Schlegels  ,. Ion",  die  gleichfalls  im  Ganzen  sehr  gUustii?  lauteti:  N  ■'- 
S.  .■(.'»*»:  KU.  S.  n;).">  (Von  den  hierunter  befindlichen  Kccensionen  sind  imr  fi^' 
wieder  abgedruckt  iu  Ilubers  ..sämmtlicheu  Werken  seit  dem  J.   |7iio.  i.  I*"' 


Kntwickcliingsg.d.Lit  1773^18:^2.  Die EomAntiker.  Gegner:  DerFreimüthige.  877 

i 

dem  Publicum  anzuseliwftrzen,  in  dessen  Ang-en  zu  verkleinern  §  338 
und  damit  von  seiner  Dichterhölie  herabzuziehen.  Gegen  Goethe 
war  er  schon  seit  längerer  Zeit  von  bitterstem  Ilasse  erfüllt.  Bereits 
1799,  al8  Kotzebue  nach  seinem  Fortgange  von  Wien'"  sieh  in 
Weimar  aufhielt,  acheint  Goethe  ihn  von  sich  fern  gehalten  und 
Kotzebue  diese  sehr  übel  vermerkt  zu  haben"'.  Als  er  nachher 
^aus  Russland  nach  Weimar  zurückgekommen  war,  hatte  er  sich  um 
.ufnahme  in  die  geschlossene  Gesellschaft  bemüht,  die  eich  im 
Winter  1801 — 1802  in  Goethe's  Hause  zu  versammeln  pflegte*",  die 
ihm  jedoch,  trotz  oinflussreichor  Fürsprache,  aufs  entschiedenste  vor- 
weigert wurde.  Zu  dem  bittern  Verdruss  über  diese  Abweisung 
gesellte  sich  der  Aerger  über  die  den  beiden  Schlegel  von  Goethe 
erwiesene  Gunst,  die  er  als  eine  blosse  Folge  der  demselben  von  den 
Brüdern  dargebrachten  Huldigungen  ansah.  Als  Goethe  im  Januar 
1802  den  „Ion"  des  altem  Schlegel  ohne  alle  Abänderungen  auf  die 
Bühne  brachte,  wie  auch  einige  Monate  später  den  „Alarcos**  des 
jungem  Bruders,  dagegen  in  einem  neuen  Stück  von  Kotzebue, 
^den  deutschen  Kleinstädtern ",  für  die  Aufführung  allerlei  abgeändert 
wissen  wollte,  sollte  diese  verschiedene  Vcrfabrungsart  nur  in  der 
Parteilichkeit  für  und  gegen  die  Verfasser  jener  Stücke  ihren  Grund 
haben.  Und  allerdings  lässt  sich  nicht  in  Abrede  stellen,  dass,  wenn 
auch  Schiller  die  von  Goethe  verlangten  Kürzungen  und  Abilndomn- 
gen  in  Kotzebue's  Lustspiel  billigte  und  ihnen  den  Schein  der  Will- 
kür in  den  Augen  des  Verfassers  zu  benehmen  suchte'**,  Goethe 
doch  darin  etwas  zu  weit  gieng,  indem  er  namentlich  alles,  was  auf 
die  Schlegel  und  auf  Vulpius  auch  nur  von  fern  bezogen  werden 
konnte,  zu  ängstlich  zu  entfernen  trachtete"'.  Einen  sehr  Übeln 
Eindruck  hatte  in  Weimar  ein  Vorfall  gemacht,  der  unmittelbar  auf 
die  erste  Vorstellung  des  «Ion"  folgte.  Böttiger  hatte  eine  Beur- 
theilung  des  Stocks  und  der  Aufführung,  die  für  A.  W.  Schlegel 
gerade  nicht  zum  günstigsten  lautete ,  für  das  von  Bertuch  heraus- 
gegebene „Journal  für  Luxus  und  Moden"  geschrieben,  die  auch 
schon  gedruckt  war,  als  Goetbe  Kenutniss  davon  erhielt,  die  Unter- 
drückung des  die  Rccension  entbaltenden  Bogens  verlangte  und  auch 


123)  Vgl.  S.  315.  12.  124)  DieBB  schliesfie  ich  aus  einem  Briefe  Schillers 
an  Goethe  vom  5.  Mai  l^^oo,  der  erst  in  der  2.  Ausgabe  des  Briefwf^chselB  ab- 
gedruckt ist  «Man  sagt  mir*,  schrdbt  Schiller  (2,291),  «dass  Kotzebue  in  einem 
neuen  Stücke,  «„der  Besuch""*,  sich  Ve^^chiedenc8  gegen  die  Proi»yliien  hcratis- 
genommeu  habe.  Wenn  dem  so  ist,  so  hoffe  ich.  dass  Sie  den  jämmerlichen 
Mcnscht'u  »eine  entsetzliche  Sottise  werden  fühlen  lassen".  12.^1  Vgl.  8.  541. 

126)  Vgl.  Hofifmeister  in  Schillers  Lebpn  5,  43.  127»  Wenn  anders  dem 

Bericht  darüber  nnr  einigermasaen  zu  trauen  ist.  der  im  Freimüthigen  von  1^13. 
H.  80,  S.  SIS  ff.  erschien. 


S7S     VI.  Vom  zweiten  Vk-rtvl  des  Will  JahrhuDilcits  bis  zu  Goethe's  Tod. 

33S  durchsetzte,  nachdem  er,  falls  sie  verweigert  würde,  mit  seinem 
Zurücktritt  von  der  Theaterdirection  gedroht  hatte"*.  Dieses  Ver- 
fahren Goethe's  zojr  ihm  ganz  besonders  den  Vorwurf  zu,  dass  er 
als  oberster  Leiter  der  llofbühnc  sich  seiner  Macht  in  willkürlicher, 
ja  in  de8])otischer  Weise  bediene:  einflussreiche  Personen  in  Weimar 
missbilligteu  es  h»"»chlich  ***,  in  einem  grossen  Theil  der  hohem  Ge- 
sellscliaft  Weimars  entstand  Erkältung  und  Misstimmung  gegen  Goethe, 
und  davon  suchte  nun  Kotzehue  Vortheil  zu  ziehen,  um  demjenigen, 
den  er  für  seinen  entschiedensten  Widersacher  hielt,  eine  Kränkun* 
zuzufügen.  Er  bereitete  für  den  5.  Mära  eine  Feier  vor  zur  Ver- 
herrlichung Schillers,  in  welcher  diesem  als  Deutschlands  grOssten» 
und  geliehtestem  Dichter  gehuldigt  werden  sollte,  und  wodurch  viel- 
leicht auch  eine  Entfremdung  zwischen  ihm  und  Goethe  herbeigeführt 
werden  könnte.  Die  beabsichtigte  Feier,  wozu  Schiller  die  Vor- 
bereitungen sehr  ungern  sah,  stiess  indess  auf  zu  grosse  Hindernisse, 
als  dass  sie  zur  Ausführung  kam.  Als  derjenige,  der  diese  Hinder- 
nisse in  den  Weg  gelegt  habe,  galt  nun  wieder  Goethe,  der  deshalb 
von  vielen,  die  sich  auf  diese  Festlichkeit  gefreut  hatten,  eine  Zeit 
lang  verAvttnscht  wurde.  Kotzebue  aber  musste  auf  andere  Mittel 
sinnen ,  seinen  Hass  gegen  ihn  auszulassen :  er  glaubte,  sie  würden 
sich  ihm  am  besten  in  einer  eigenen  Zeitschrift  darbieten,  in  welcher 
er  seine  Streiche  zugleich  gegen  Goethe  imd  gegen  die  Romantiker 
richten  könnte.  So  gründete  er  denn  den  Freinittthigeu***.  Gleich 
in  der  ersten  Nummer"*  verhöhnte  er  Goethe  wegen  des  in  den 
Propyläen  „auf  das  beste  Lustspiel  gesetzten"  Preises  von  dreissi? 
Ducaten.  Die  zweite*"  enthielt  einen  sehr  boshaften  Bericht  über 
Goethe's  Verfahren  gegen  BOttiger  nach  der  Aufführung  de^s  -Ion": 


12St  Die  Reccnsion  ist  erst  lange  Jahre  nachher  bekaunior  geworJoc  tiuc: 
deu  Abdruck  in  Bottigers  «literarischen  Zuständen  und  Zeitgenossen"  I.""^ 
Ueber  den  -Ion"  selbst,  über  die  Aufführungen  in  Weimar  und  Berlin,  so  v** 
über  das.  was  sich  an  die  Aufführung  in  Weimar  anschloss,  wurde  damalig- 
viel  in  den  Tageblättern  geschrieben;  vgl.  die  Zeitung  für  die  elegante  Welt  >.'- 
N.  7;  25;  41;  st— 83;  IKi  f.;  U»0  f.  (der  letzte  Artikel  war  von  ^^cblml  jelbr 
wieder  abgedruckt  in  deu  s.  Werken  '.t,  VX\  ff.i;  den  Kreimüthigeu  l^ns.  >'  : 
i:!!t;  Merkels  H',\.  Brief  S.  505  ff. ;  und  dessen  -Ernst  und  Scherz-  X.  4;  v-:).  i:  ■ 
Goethe's  Aufsatz  „Weimarisches  Theater-,  in  den  W'erkeu  45,  3  ff.  nn-i  ^■- 
Merkcla  74.  Brief  S.  3bü  ff.  120)  Vgl.  einen  fäln-hlich  in  das  J.  ITi^v^?:- 

legten  Brief  in  Knebels  literarischem  Nachlabs  2,  ;t'2S  von  Ilerdei-s  Gattii:.  'j- 
wie  Riemer  in  seinen  Mittheilungen  l ,  33r»  sich  ausdrückt,  als  -gcistUche  Mt^j-''- 
auf  dem  weimarischen  Topfmarkt  über  (ioethe's  Theaterdespotie  Zeter  gesci-rl.--" 
habe.  13(M  Vgl.  Goethe's  Werke  M.  I'22  ff.;  dazu  Falks  Schrift.  .ü'XtE- 

aus  naherm  persönlichen  Umgänge  dargestellt".    2.  Aufl.     Leipzig  \yMi.    ?.  ' 
und  Briefwechsel   zwischen   Schiller   und  Goethe  2",  rtt;;;  f.;    3r,7_::7u. 
Uli  S.  3.  132)  S.  7  f. 


Entwickelungsg. d. Lii.  IT*::!— 1832.  Die  Romantiker.  Gegner:  Der FreimUlluge.  879 

die  fUufte'**  einen,  womöglich  noch  hümisclieren,  der  wabrsebeinlich  §  338 
von  Böltiger  eingesandt  war,  über  die  Vorgänge  im  weimariscbon 
Theater  bei  der  ersten  Vorstellung  des  „Alarc^is",  Über  die  Mittel, 
welche  der  „Directeur"  umsonst  augewandt  habe,  dem  Publicum  zu 
imponieren,  um  das  Stück  vor  dem  Durchfallen  zu  retten,  und  über 
des  „ Directcurs^  Theaterdespotie  überhaupt,  so  wie  über  seine 
Parteilichkeit  für  die  Schlegel"*.  Von  andern  Artikeln  über  und 
gegen  Goethe  vgl.  besonders*"  die  Anzeige  der  „natürlichen  Tochter" 
und  den  Bericht  über  einen  Vorfall  im  Theater  zu  Lauchstädt  nach 
der  Vorstellung  jenes  Stücks  und  über  „einige  Ui*8achen  dos  Verfalls 
der  literarischen  Cultur  der  Deutschen'*'*'.  Hier  wird  u.  a.  gesagt; 
„Unglücklicherweise  lebte  in  der  Nähe  von  Jena,  dem  Brennpunkte 
der  |ihilosophischen  Tollheit,  ein  Mann  von  vielem,  zum  Theil  ver- 
dientem Ci*edit,  der  sieh  für  den  ersten  aller  deutschen  Dichter  hält 
und  gern  allgemein  dafür  gelten  mochte,  dem  also  jene  allgemein 
gültige  jenaische  Sprache  ^^ar  nicht  Übel  gefiel,  und  der  sich  den 
Spass  bereiten  wollte,  aus  dem  deutscheu  Farnass  eben  so  ein  Bed- 
lam  zu  machen,  als  die  deutsche  Philosophie  .geworden  war. . .  . 
Goethe  hat  in  einigen  seiner  frühem  Schriften,  wie  der  Iphigenie,  dem 
Tasso  und  in  mehreren  kleinen  Gedichten  gezeigt,  dass  er  wirklich 
Geschmack  besitzt,  was  man  jetzt  kaum  glauben  sollte.  Auch  au 
Lebhaftigkeit  und   Erfindungskraft    fehlt  es  ihm   nicht.    Was  fehlt 


SCI 

i 


133)  S.  Il>  f.  134)  Vgl.  auch  N.  21,  S.  S4;  N.  Tu  dos  Schreiben  aus 

Weimar.  wahracheiuHch  von  Böttiger,  uebst  Kotzebue'a  Antwort,  uud  doau  N.  !I2, 
S.  367  f.;  Bodann  noch  N.  80,  S.  3IH  ff.  den  Artikel  „über  einen  Zwist,  welcher 
durch  das  Lust&piel.  die  [deut£cheu  Kleinstädter,  zwischen  tim.  v.  Goethe  und 
um.  V.  Kotzobue  entstanden".  —  In  N.  &s  waren  heftige  Ausfälle  auf  ihn  wegen 
seines  «anmassonden  Tadels"  über  ein  Bild  des  Wiener  Mahlers  Füger  und  wegen 
seiner  Vorliebe  für  das  .abgeschmackte  Graecisieren"  in  neuem  Werken  der 
jtfalilerei.  In  N.  59,  S.  23ö  ward  er  seiner  Eitelkeit  wegen  angestochen  und  dabei 
tiemerkt,  er  halte  denjenigen  für  seinen  besten,  treuesteu  Freund,  der  ihn  mit  den 
orten  anrede:  ..Tendenz  des  Jahrhunderts,  Poesie  der  Poesie,  Basis  der  Bil- 
ung"  etc.  N.  7«,  S.  3tn  lieferte,  mit  Bezug  auf  die  Betheuerung  der  schlegel- 
schcn  Schule,  dans  man  nicht  sicherer  auf  dem  Gipfel  des  Parnasses  anlangen 
kiinne,  als  wenn  man  in  die  Fusstapfeu  des  „Unsterblichen**,  des  ^göttlichen  ätatt- 
batJtera  der  Poesie  auf  Enicu"  tnitc^  ein  ^schwaches  NachbUd"  des  ,,Kömg8  in 
Thule",  d.  h.  eine  nichtswürdige,  den  Dichter  verspottende  Parodie  dieser  Ballade. 
N.  U4,  S.  451  f.  ward  von  Küuigsberg  aus  die  Vermuthuug  geäussert,  in 
nehrcm  Acndcrungou,  dieächiller  mit  seinem  .Lied  an  die  Freude ~  vorgenommen, 
dtirlto  sich  .die  meisternde  Hand  eines  fremden ,  alles  despotisch  beherrBchendeD 
Einflüsaes"  vorratlieu.  .Aber  diesem  Götzen",  hiess  es  weiter,  -sollt«  doch  Scliiller 
nicht  huldigen;  wohin  wird  es  sonst  wohl  am  Ende  mit  unserer  schönen  Literatur 
kommen!  Wenn  Meister  sich  beugen,  ist  es  da  noch  Wunder,  wenn  die  Lehr- 
jungcn,  die  ihre  I*ehrjahrc  noch  nicht  Überstanden,  noch  nicht  zum  Meister  ge- 
langt sind,  faseln"?  135)  In  N    116,  S.  AGi.  t36j  In  N.  124.  S.  403 ff. 


SSO    VI.  Vom  zweiton  Viertel  ües  XYIII  Jahrhunderts  bis  lu  Goethe's  Tod. 

338  ihm  also,  der  erste  deutsche  Schriftsteller  zu  sein?  Bescheidenhei 
und  Achtung  für  das  Publicum  und  seinen  eignen  Ruhm"  etc.  Tu 
weiterhin:  ^Goethe  machte  sich  zum  Vereinigungspunktc  der  Dichte 
und  Dichterlinge,  die  mit  oder  ohne  tiefem  Zweck  den  Geschmac 
der  Nation,  der  vielleicht  hätte  gebildet  werden  können,  wenigster 
auf  dem  Wege  dazu  war,  verbilden,  auf  trübe  Schwärmerei  hinleitei 
von  den  Sätzen  Kants  und  seiner  Äfterjünger  in  den  Künsten  eine 
sehr  gewaltsamen  Gebrauch  machen  und  den  gesunkenen  Credit  di 
deutschen  Literatur  bei  denkenden  und  gebildeten  Menseben  voll 
vernichten.  Er  selbst  führt  Apotheker-  und  Sehenkwirths-Naturt 
in  die  Dichterwelt  ein,  stellt  verunglückte  Tbeaterbelden  als  Romai 
ideale  dar  und  lässt  sich  dafür  von  den  Seinigen  fUr  den  grOsstc 
aller  Dichter  erklären "  *^\  Von  den  insbesondere  gegen  die  Bomii 
tiker,  sowie  gegen  Fichte  und  Schelling  gerichteten  Artikeln  ii 
ersten  Jahrgang  des  Freiraüthigen,  so  lange  ihn  Kotzebue  redigierti 
will  ich  hier,  mit  Uebergehung  der  bereits  angeftlbrten  von  F.  I 
Huber,  nur  folgende  hervorheben :  über  Vennehrens  Musenalmanic 
für  das  Jahr  1803'**;  über  A.  W.  Schlegels  gedruckte  Ankündige 
seiner  Vorlesungen,  in  denen  er  die  griechische,  römische,  italieniscbi 
spanische,  englische^  französische  und  deutsche  Literatur  zu  charakt< 
risieren  und  Proben  davon  zu  liefern  versprach  *^ ;  „  Entachuldignii: 
für  den  Hrn.  Herausgeber  der  Zeitung  für  die  elegante  Welt"'' 
t. Menschen  aus  dem  Monde"'";  „ Vindiciertes  Eigentbum - "',  worii 
Fr.  Schlegel  beschuldigt  wird,  zu  einer  seiner  Romanzen  den  Mi 
einer  Cantate  von  Göckingk  in  sehr  auffallender  Weise  benutzt  r 
haben;   über  A.  W.  Schlegels   Vorlesungen,   mit    Kotzcbue'.s  l'ire- 


137i  Vgl.  noch  X.  143.  S.  372  und  X.  lt>:J,  S.  052  über  den  von  Gihti- - 
wcimarischcn  Lande  aiiSKOUbton   literarischen  Despotismus ;    und    in  X.  1  '*'  "^ 
Schreiben  aus  Weimar  (wahrscheinlich  von  Böttiger)  über  die  Gründuni!  ^Ut  •^'■ 
Literaturzeitung  in  Jena.  —  Wie  Goethe  herabgesetzt  und  vrrunjjlimpft  vlmV.- 
wurde  ihm  gegenüber  bei  allen  Gelegenheiten  Wieland  erhoben  und  als  lw>''- 
lands  erster  Dichter  gepriesen.  —  Nach  Böttigers  Aussage  (liiterarische  Zu^*---" 
und  Zeitgenossen  1,  t»:w  soU  Goethe  nie  ein  Blatt  des  Freiraüthigen  geif sen  b'-^ 
Aucli  hat  er  seinen  Unwillen  und  seine  Verachtung  gegen  das  l'nwest'n.  '''■•■^" 
Kotzebue,   Merkel  und  Böttiger  in  literarischen  Tageblättern  trieben,  r::--- 
beiliiutig  und  ohne  Nennung  seiner  Widersacher  angedeutet,  als  offen  ausj»^!:'"- 
in  den  Anmerkungen  zu  Rameau's  NeflFen.   Werke  3t»,  2oi   ff.   ,vgl.  da::  V*^ 
im  Frcimüthlgen  von  l^'OÖ,  N.  U".  S.  71).    Erst  nach  seinem  Tode  Ur  '-■::•■'-- 
zahl  Gedichte  bekannt  gcworde».  worin  jene  drei  von  ihm  charakterisier:  *■'■' 
sind,  wie  sie's  verdienten;  vgl.  Bd.  47.  2(>ltf.  und  5t>,  M  ff.  (dazu  Werke"-, 
und  Riemer,  Mitthciluugen  I,  iiio  f.:  :Vir>  ff.:  2.  520  f.).  IXg,  x.  ü. - 

139)  N.  10.  S.  :iit.  Hin  K.  ll.  S.  4->  f.  (enthält  neben  der  V-r.  .-■ 

Spaziers  starke  Ausfälle  gegen  Bernhardi  und  den  altem  Sohlcgeli.        IJi 
S.  40  f.  142»  S.  r.l. 


I 


EulwickelougBg.  d  LIt.  1771— 1S32.  Die  Romantiker.  Gegner:  DerFreimtUhige.  S81 


^ 


hrift'";  nUr.  HofratL  Schüu  in  Jena  und  die  beiden  Professoren  §  33S 
chelling  und  Scbleger'";  ^Warnungstafel*'  (vor  dem  vou  A.  W. 
Schlegel  angepriesenen  ^Lacrimna")"*;  „ein  köstlicher  Beitrag  zu 
der  8chclling!»cheu  Modicinal-Yerrücktheit"**";  „Warnungstafel*""  vor 
r,  Schlegels  „Europa*"**;  nW'ie  man  in  grossen  StÄdten  nach  der 
neueölen  Mode  ins  Theater  gebt**''^;  „Ueber  die  Kunstseuche  unserer 
Zeit"'*",  worin  der  Verf.  geradebin  gesteht,  dass  ihm  die  Kunst- 
tendenz der  Zeit  nicht  gefalle,  und  Dank  den  Freunden  dos  bessern 
Gesebmacks,  dass  man  doch  wieder  einmal  frisch  und  frei  von 
Lessing,  Ramler,  Klopstock,  Engel,  E.  v.  Kleist,  Wielaud,  Weisse  u.  A., 
als  ehrenhuften  Männeru  sprechen  dürfe,  die  der  Nation  eine  bessere 
Richtung  in  Hinsicht  auf  ihre  ästhetische  Bildung  gegeben  hatten; 
rDiasyrinen'""  (gegen  Fichte,  Scbelling  und  die  Schlegeli;  „Es 
geschieht  nichts  Neues  unter  der  Sonne"*";  „Erklärung  einer  Cari- 
catar"***;  den  schon  angeführten  Artikel  „einige  Ursachen  des  Ver- 
falls der  literar.  Cultur  der  Deutscheu'*"';  ,. Schreiben  aus  Paris,  Über 
die  Ausbreitung  der  schcllingschen  Philosophie  '• '" ;  ^  das  Eiuge- 
binde"'^  (Parodie  einer  Fabel  von  Pfeilel.,  besonders  auf  Fr.  Schlegels 
^Alaa-os''  und  „Luciude"  zielend,  mit  einem  gegen  Goethe  gerich- 
teten Seitenbiebe);  „Ueber  den  neuesten  Idealismus  der  Herreu 
Scbelling  und  Hegel""',  und  „Einige  PrObohen  aus  Schlegels  spani- 
schem Theatör**'**.  —  Im  Herbste  des  Jahres  IS03  gieng  Kotzebue 
Lfon  Berlin  fort,  mit  Hinterlassung  eines  schändlichen  PasfiiiiUes 
auf  Goethe,  die  beiden  Schlegel  und  Falk,  der  „Expectorationen. 
Ein  Kunstwerk  und  zugleich  ein  Vorspiel  zum  Alarcos*"".    Die  Pcr- 


143)  Nr.  n,  S.  ß5  ff.,  es  isi  ein  äusserst  boshafer  Bericht  über  die  erste 

der  nachher  in  der  .Kuropa**  gcUruckteii  Vorlesungen.  Mit  N.  24,  S.  95  f. 

[vgl.  dazu  N.  2ii.  S.  104  die  Verheaseriing  eines  «Dmcktehlera",  und  oben  S.  S5*», 

im.  4y  145»  N.  42,  S.  1(15  ff.  14Üt  Nr.  54,  S.  2lti.  147l  N.  ä7, 

225  f.  14S)  Bd.  I.  St.  1.  I4'J)  N.  (il,  S.  241  f.  150»  N.  6S, 

L27lf.  151)  Nr.89,  S.aS'lf.  I.i2>  N  114,  S.4:i3f.  153)  N.  115, 

457  f.  <vg1.  dazu  die  Erkl&runi^  derselben  Cartcatur  in  der  Zeitung  f.  d.  elegante 

'eh  iSo;»,  N    ins,  Sp   s:ti  IK).  154)  Vgl.  S.  ST9,  lafi.  155t  X.  125. 

4'.IS  ff.  (vgl.  S.  S4S,  Aum.  21)-  loGl  Nr.  Kil,  S.  5:»:i.  |57)  N.  M.% 

371  f.    Hier  wird  u.  a.  aU  Auszug  aus  einem  Briefe  angefahrt:  .Das  Unwesen 

Jena  g*'ht  weit.    Aber  ea  früst  sich,  wie  gewisae  Thierarten,  wenn  man  sie 

isamiufftii^perrt,   am  Ende  selbst  auf.    Unser  kluger  Furst  hasst  alles  gewaltige 

lingroifen  in  Geiatessachen,  erklärt  aber  die  ganze  S^rte  für  Tollhäusler  und 

illigte  daher  vor  kurzem  den  Vorschlaf;  das  Irrenhaus  von  Weimar  nach  Jenn 

verlegen,  auch  darum,  weil  es  daselbst  höchst  Noth  tbue.     Die  Stutze  dieser 

llique  ist  unser  Goethe.    Bald  werden  sie  ihm  aber  anch  mit  Undank  lohnen**. 

158)  N.  !5*>f.    Dieselben  wurden  deshalb  —  und  wahrscheinlich  von  KoUebue 
Jlbat  —  mitgptheilt,  weil  die  Wortführer  unserer  Literntur.  Goethe  und  Scbiller 
B.,  in  C&lderons  Schauspielen,  wie  Schlegel  sie  hier  geliefert  habe,  den  hnchsieo 
liig  der  Phantasie  fänden.  159»  Berlin  ISOa.   b. 


8^2    VI  Vom  zireilen  Viertel  des  XVm  Ja)irtiasi*!crt2  bb  xa  Goudie'»  IM. 

33S  umien  dieses  in  Kuittclversen  abgcfassten  Vorspiels  sind:  „GoctbCj 
der  GrosRC,  Falk,  der  Kleine,  A.  W.  Sclilc^el,  der  v/  '  i.^  Fr. 
Schlegel,  der  ItAsende'',  nchst  „mchreru  stumaiea,  ^'  i\  und 
gebrntenen  FerHonon. "  -Der  Schauplatz  ist  ein  Saal,  in  welchem 
ringe  umher  die  beröhnilen  GemähhU  ■  •  -•  .  ^[^^{[^  w  '  *  S'- 
kanntlich  aus  allen  Länder«  von  den  •  ■  u  zu  der  •-  '.a 
weinmrKchen  Kunatausatellung  eingesandt  worden."  Die  äeooe  er- 
öffnet sich  diiniit,   dass  „Goethe  anf  einom   hr       --    -   T^ -7!^ 

die  Ilflndc  Über  den   Bauch   gefältelt    und    ..  .a 

schönen  ßilder  betnichtet,  fUr  die  er,  durch  gUtige  VenniMolunf  in 
hochfUrstl.  neuwiedschen  Ilrn-  Uofraths  Spazier,  gor  keine  Transp^wt- 
kosten  bezahlt  hat.  Neben  ihm  liegen,  statt  der  Pudel,  zwei  Greife^ 
die,  wenn  Goethe  es  befiehlt,  apportieren,  Über  den  Stock  Hpringen  nnd 
unter  den  Stuhl  knechen**.  Von  dem  weitem  Gehalt  und  Ton  dieett 
Erzeugni8>4cs  kotzebueschen  Witze«  wird  man  sich  schon  aus  folgendes 
Stellen  und  Andeutungen  eine  Vorstellung  bilden  können.  Die  erste 
Scenc  fttUt  ein  Selbstgespräch  Gocthe's  aus,  worin  er  u.  a,  sagt,  ia- 
dem  er  in  den  Spiegel  sieht:  .Ich  bin  doch  ein  erstaunliph  großer 
Mann!  In  meinem  Hause  zwwfelt  keiner  daran.  Diw«  ich  der 
grüsste  Dichter  auf  £rdcu  sei,  Ist  nun  einmal  meine  Liebhabetti, 
Und  dazu  halt  ich  mir  ein  Paar  Jungen,  Daiss  es  mir  tügtich  wird 
vorgesungen.  Die  bekommen  zum  sUssen  Lohn  Meine  allerhuchste 
Protection.  DUrfen  der  Welt  ein  Rübcheu  schaben  Und  sie 
Floskeln  zum  Resten  haben,  DUrfen  von  Kunst  wie  die 
schwatzen,  Vor  Eigenliebe  wie  Frösche  zendntzen,  Dürfen 
lands  Ruhme  nagen  Wie  ein  Paar  ausgehungerte  Ratzen, 
dem  Voltaire  Schni])pchen  schlagen  Und  den  Euripides  zorkmi 
Dürfen  ihre  Zoten  zu  Markte  tragen  Wie  geile  Böcke  oder  S 
Dürfen  wie  Esel  nach  Löweu  schlagen,  Keck  jeden  Ituhni  aus  u 
Tagen  Anhauchen  wie  die  wilden  Katzen,  Ja,  kurz,  aie  njögeu 
Inconsequenz  Air  Unsinn,  Eigenlob,  Impertinenz  In  ilv  - 
aufspeichern,  Wenn  sie  nur  mich  —  nur  mich  ber;^ 
kleine  Falk  tritt  ein,  wirft  sich  mit  dem  Gesicht  zur  Erde  und  nt 
zwei  demlUhige  Freiuide  an,  die  direct  von  Berlin  komtueu,  -w« 
in  Synagogen  und  auf  den  Gassen  ihr  LämpcbeD  haben  le 
lassen*'  etc.  Die  beiden  Schlegel  werden  sogleich  vorgrelassea 
reden  Goethe  mit  den  Worten  an:  „Du  reine  poetische  Poeait, 
Poesie  der  Poesie.  Hier  naht  sich  dein  getreues  Vieb,  Dem 
Hoheit  Schutz  verlieh".  Goethe,  um  sie  nach  der  Reise  von 
mit  .,einera  Labsal  zu  erfreuen^  spuckt  aus;  -Falk  und 
brtlder  gerathen  sich  in  die  Haare,  weil  ein  jeder  das 
auflecken  will".    Nun  kommt  in  den  Wechsel    '  ". 

und   den  Schlegel  nach  und  nach   alles  zur 


EntiTicki-luugsg-d-Lit.  ITTii— :sj2.  DieRomantiker.  Oe^ii'-T:  IvrrFrfnin'Ulijt«:.  ^>.J 

Kotzebues  un<l  ^[erkels  Zorn  erregt  haben,   nw\   ua«  <l;e-eu  y.nrii  ^  3'{S 
Aerg-erni^s  ^-ereicht:  e*  ist  eine  suiuiuari>»elie  Aiifzühluii;:  aller  jenen 
dreien   in  «len  -Briefen  an  ein  Fraucnzimnicr"  et'*-   nu'l   im   -Frei 
mflthigen"  vorireworfenen  literarischen  und  kritischen  Hündeij.    /n- 
letzt  wird  G<"'ethe  von  den  Gebrüdern  beräuebert:  er  entschliirnrne/t 
in  einer  Dampfw.ilke.     -Ihm  träumt,  er  sei  zum  Pabst  erwählt  -.vür  !en 
uud  finde  in  sich  das  pfibsiliche  Gernüth    rein  aus^esprofhen.     Kr 
lächelt  und  schnarcht.   A.  W.  Schlesel  setzt  die  Mel^-die  seines  .S'-hr/ir- 
chens  sf>rleich    auf  N»iten   und  jireist  es  der  Welt  als  reiii  fii:;-ir;:i 
lische  Musik,  als  Musik   der  Musik-  etc."".    Die    Fortfiil.rii..'   df;ji 
-FreimQthi^'en-  vertraute  Kotzebue  seinem  Freunde  Mejkel  ;u..  ■.Vöüto 
sieb  jedoch  noch  immer  als  Miiherausgeber  angesehen  wissen    .    N  sn 
wurde  der  Krie*:  zwischen   liiesen»  lilatte  und  der  -Zei^i:*-'  fi.   '':!e 
elegante  Weif  in  seiner  ^-anzen  Heftigkeit  und  Krbiner m;:  ;:'fl.  ':;- 
ans  Ende   »ies  Jahrs  :"'rt;:eseTzt''-.    Von  da  an  lies-;  der  K;'-;.'    -c. 


:\ir  die  €l*ca;.:r  W-l:     •■    .  N.  -.jj.   S:     •■'  Kotz-;":.-:^  z-:.;'-.'r'.;.r>\-:.  •.:. .  C:  '.'.:. 
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SS  4     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhnaderts  bis  zu  Goethc's  Tod. 

§  33S  Herausgeber  in  wechselseitig  persönlicher  Befehdung  mehr  und  mehr 
wach"^  wider  die  Romantiker  jedoch  und  fast  noch  mehr  wider 
Goethe  erschienen  noch  immerfort  bis  zum  J.  1S06  feindselige  Artikel 
im  Freimüthigen.  So  gegen  die  Romantiker  noch  im  Jahrgan? 
I8i)3  Über  ^den  deutschen  Sonettismus''  überhaupt  und  über  Goethe*s 
Sonett  in  der  „natürlichen  Tochter"  insbesondere"*,  ein  Artikel 
der  im  Allgemeinen  manches  Wahre  enthält;  -Recension  einer  Re- 
cension  in  der  Jenaer  allgemeinen  Literatur-Zeitung"***-,   der  Gegen- 

noch  X.   1-15.  Sp.   Wü  f.,  aus  diesem  N.  un— im»  (die  Nachricht  aas  einem 
baierachen  Blatte).  I61i)  Nach  Spaziers  Schlussbemorkung  zum  dritteu  Jahr- 

gänge seines  Dlatts  (X.  löT,  Sp.  r25:t  f.),  wollte  er  sich  zuletzt  noch  mit  seinen 
Lesern  über  das  Doppelweseu.  den  Freimüthigen,  als  Person  und  als  Zeitun;. 
verstandigen.    .  Dieser  trat  vor  einem  Jahre,  wie  alle  Welt  sah,  mit  der  eut?dli^ 
denstcn  Absicht  auf,  der  Zeitung  für  die  elegante  Welt,  die  seiner  Eitelkeit  l•^ 
schwerlich  geworden  war,  zu  schaden  und  sie ,  wo  möglich,  aus  der  Zahl  der  g^ 
lescnen  Zeitschriften  zu  verdrängen.    Man  sah  darüber  hin,   nahm  davon  brimif 
zwei  Monate  lang  keine  Xotiz,  bis  endlich  der  Uebermuth  zu  weit  um  sich  giiC 
die  Verwirnmg  zu  gross,  der  Beleidigungen  z«  viele  wurden,  und  Schweigen  Bfr 
kenntuiss  der  Schwäche  undVerrath  an  der  guten  Sache  gewesen  sein  würde*  etc' 
Jetzt  sei  aber  des  Streites  genug  gewesen.    Die  Grenzlinie  des   alten  und  Idcs 
neuen  Jahres  solle  den  Kampf  in  der  Zeitung  scheiden.     .Fest   und  bfmihg  sei 
demnach  hiermit  Folgendes  erklärt:   aUc  und  jede  Angriife  auf  die  Zeitung  oder 
die  Person  des  Herausgebers  sollen  von  nun  an  schlechterdings  unbcacbtä  ani 
uncrwiedcrt  l)leiben,  imd  Streitsachen  werden  unter  keiner  Bedingung  mehr  wr- 
kommen".    Hierunter  wären  aber  natürlich  Erörterungen   nicht  zu  bereifen,  fc 
auf  Literatur  und  Kunst  und  allfi^emein  interessante  Gegenstände  Bezug  bitttt. 
Um  doch  aber  auch  dem  Uebermuth  sein  Spiel  nicht  zu  leicht  zu  machen,  so  solk 
in  unumgänglich  uöthigen  Fällen  eine  ganz  unentgeltliche  Beilage  gegeben  irerdei- 
woriu  den  Mitarbeitern  und  Correspondonten  der  Zeitung  das  Recht  vorheiiil:^: 
bleiben  könne,  sioli  gegen  ungerechte  Angriffe  zu  vertheidigen  etc.  —  AuchMert' 
erklärte  am  Schluss  seines  Blattes   „Ernst   und  Schorz".  N.  :u ,   S.  i;V>  f..  J": 
Frciinüthige-.  wie  er  mit  dem  Beginn  dos  J.  lStt4  erscheinen  werde,  soll-.'  »^! 
-neuer  Kampfplatz  literarischer  oder  persönlicher  Streitigkeiten  der  llerauijo^'" 
werden.    Wie  er  diopem  Versprechen  im  J.  1S(U  nachgekommen   ist.  kaut  ii 
nicht  genau  angeben,  da  ich  den  zweiten  Jahrgang  iles  Froimüthijien  nitbr  hai' 
auftreiben  können;   aus  manchen  Beziehungen  in  der  Zeitung  f.  d.  elesautt  ^'i' 
rausB  ich  aber  schliessen.  dass  Merkel  nicht  strong  Wort  gehalten   hai'i?.  t 
dritten  .Jahrgang  hal»;  ich  mir  nur  einen  starken  Ausfall  auf  S]>azier  aujezi-f^' 
der  inN.  ti,  S. -iaf.  vorkommt.    Die  Zeitung  f.  d.  elegante  Welt  von  l-^^i  tn^V- 
schon,  freilich  nicht  von  dem  Horausgehor  seibat,  in  N.   10   ihres  Intti)  BU'*- 
eine  in  sehr  starken  Ausdrücken  abgefasste  ..Abfertigung  des  Hrn.  Dr.  li.  M-.:*- 
wegen  einer  Recension  im  Frcimüthigou  von  l*»"l,  X.  *J^.     Andere  gt^ren  «l.:';x-'" 
gorichtote  und  sein  Treiben  aufdeckende  Artikel  stehen  im  Int':»lligenz-n):ii:>  * 
in  X.  07  der  Zeitung,  Sil  TTii  ff.  (von  Spazier  selbst);  im  IntoUiiren/-Bhtr  N - 
in  N.  i:io  der  Zeitung.  Sp.  HMi>f.  (vom  Herausgeber),  und  in  K.Ol  de>  Ii:r-i;i:- 
Blattes.    In  dem  Jalirg.  l**o:)  verweise  ich  auf  die  .,riage-  in  K.  l  (!*■>  Irt--;..:  ;■" 
Blattes  (Vgl.  dazu  <len  Freimüthigen  von  l^u").  X.  i:t.  S.  'lii.  16-1  ■  >   ' 

S.  ii:t:t  f.  16ö)  X.  Iii'.i  f.  (über  X'ovalis'  Schriften,  v^l.   Jenaer  L:':-»" 

Zeitung  l'«ii:i.  vom  1'2   Septbr.i 


!ötw!cke!tuigsg.d.LU.  1773— 1S32.  Die  Romaatiker.  Gegner :  Der  FrdmtiUuge.  SS5 


receuBent  im  FreimQthigen  bemerkt  u.  a.  «Wie  weit  wir  . ,  .  mit  der 
neu  cmpnhlenen  Mystik  in  der  Philosophie  kamen,  das  liegt  in  dem 
sc'hellingüchen  System  am  Tage;  und  der  Vei'f.  der  mystischen 
heiligen  Reden  hat,  als  geborner  Herrnhuter,  den  Transcenden- 
talism  mit  bewundernswürdigem  GlUck  in  die  zinzendorfschen  Lieder 
vom  theuern  L^mmlein  Übertragen".  Es  sei  in  der  Rccension  der 
Litenitur-Zeitung  von  den  ausgezeidineten  Talenten  der  neuen  My- 
stiker die  Rode,  t  Ausgezeichnete  Talente?  Die  mit  gen  Himmel 
gekehrten  Beinen  epikurisch-platonisiereuden  Lucinden»  die  Alarcos 
Ini  weise-uhsischen  Stil,  die  gestiefelten  Kater  mit  den  Spinnstuben- 
Trivialitiitcn '.  Aufrichtig!  gegen  diese  —  Ehren  des  deutschen  Genie's 
—  schwinden  die  klopstockiscben  Messiaden  und  die  wielandschen 
Oberone  hin ! !  "  Ferner  über  A.  W.  Schlegels  Vorlesungen  im 
2.  Bande  der  „Europa"'-''  ein  Artikel,  der  ganz  besonders  den  feinem 
Ton  des  Freimüthigen  unter  Merkels  Redaction  charakterisiert. 
Schlegel  spreche  von  dem  Aufseilen^  welches  seine  Vorlesungen  in 
Berlin  erregt  haben  sollten.  Aufsehen  zu  enegen  sei  ein  höchst 
zweideutiges  Diug  —  überall,  und  vorzüglich  in  Berlin,  Von  der 
.Frau  U  ....  8,  einer  bekannten  Giftmischerin,  habe  man  mehrere 
[onate  lang  gesprochen.  „Wir  können  Hrn.  Schlegel  von  Herzens- 
grunde versichern,  dass  es  keiueswegs  die  grossen  und  fruchtbaren 
Ansichten  seiner  Aesthetik,  die  Aumuth  seines  /luaserlichen  Vortrags, 
die  Zierlichkeit  seiner  Wendungen  gewesen,   was  ihn  biebevor  ein 

Kaar  Tage  hindurch  in  der  einen  und  audern  Gesellschaft  zu  einem 
^eustand    der   Unterhaltung    machte.  .  .  .   Nur    die   Schmähungen 
■bd  Wieland,  Klopstock,  Schiller,  Ramler,  Garve  etc.  erregten  den 
nwillen    aller  Kenner    und   Dilettanten.     Man    sab   die  Gebrüder 
Schlegel  über  den  grossen  Markt  der  deutschen  Literatur  hinlaufen  wie 
Iftrmende  und  sehimpfende  Knaben  durch  die  berlinischen  Strassen: 
■^■reicher  ordnungsliebende  Mann  legte  sich  nicht  einmal  ins  Fenster, 
^Him  zu  sehen,  was  es  mit  dem  Getümmel  für  ein  Ende  nehmen  wird? 
Die  Herren  Schlegel   und   Fichte  kamen   nach   Berlin,   um  Berlins 
Verstand  zu  verschlingen,  wie  der  Wallfisch   den  Jonas  verschlang; 
^aber  Berlin  verschlang  sie,  wie  den  Tropfen  der  Ocean.     Da  sitzen 
^ftie  nun  und  organisieren  neue  Staaten  und  übersetzen  aus  dem  Eng- 
^^schen,   Italienischen,  Spanischen,   und  lesen  und  lesen:  und   die 
.     Berliner  fahren  fort,  das  Geld  zu  lieben,   welches  Fichte  in  seinem 
^Btaat  zum  Fenster  hinauswirft;  und   fahren  fort,   Wielanden,  Klop- 
^■tockeu.  Schillern,  Ilerdern  etc.,  dem  Geheimerath  Goethe  zur  Seite, 
^^Ir  die  Zierden  der  Nation  zu  halten,  und  lachen  Über  den  grossen 
^Staatsmann  mit  dem  Staat  ohne  Geld,  und  lachen  über  die  gewaltigen 


§  33S 


IGG»  N.  17p— 17H. 


SS6    VI.  Vom  zweiten  Viertel  de»  XVIH  Jahrhunderts  bis  su  GoeÜie*B  Tod. 

§  33S  Umbildncr  des  Geschmacks  und  der  Literatur  mit   den   endlosen 
Ucbcrsetzungeuj  oder  mit  Meisterstückeu  wie  die  Luciuden,  die  ge- 
stiefelten Kater,  die  Alarcos,  die  Lämmloin-  und  Frablingsliedchen  etc. 
Ecce  infaiistam  Scblegelianisrai  celebritatem !  . . .  Wir  boffen ,  alle 
gerechten  Schätzer  der  deutschen  Literatur  werden   mit  uns  über- 
einstimmen, dankende  Bände  zu  den  Musen  zu  erbeben,   dass  die 
Oberon  und  die  Messiaden  und  dergleichen  Gedichte  früber  erschienen 
als  zu  der  Zeit,  wo  die  Aug.  Wilh.  und  Fr.  Schlegel  das  deutsche 
Publicum  zum  Bewusstsein  seiner  äussersten  Asthenie  und  Ohnmacht 
KurUckzufttbron  suchten,  sie,  die  im  Hochgefühl  ihrer  transceuden- 
talen  Geniuskraft   alles  überreitenden  Centauren -BrUder!"     Daran 
schliessen   sich   die  bekannten   rirgiliscben  Verse  „Ceu  duo  nnhi- 
genae"  etc.  mit  einer  witzig  sein  sollenden,  aber  äusserst  platten 
Ausdeutung  auf  die  beiden  Brüder.     Endlich    noch  in   demselben 
Jahrgang^**'  über  Tiecks  „Minnelieder  aus  dem  sebwäbiscben  Zeit- 
alter*'.   Aus  dem  Jahrgang  1S^5  erv^'ähne  ich  nur  einen  gegen  die 
Romantiker  gerichteten  Artikel  *".    Gegen  Goethe  wenden  sich  iia 
Jahrgang  1803***  „Die  neuen  Wahrheiten.    Eine  Fabel"  (wohlan/ 
Goetbe's  „Beiträge  zur  Optik"  zu  beziehen)*  tine  Anzeige  der  „Es- 
pectoratiouen ",  von  Merkel  selbst"*^.  Er  finde«  In  den  Expectorationen 
zwar  manche  Stellen,  die  nicht  fein  und  sauber  seien,  aber  sie  Beieo 
nichts  weniger  als  schändlich  und  injuriierend.     »Sie  sind  dn  leb- 
hafter, hier  und  dort  zu  derber  Spott  über  die  absprechende,  hoch- 
fahrende Anmassuug,  durch  die  Hr.  von  Groethe  in  der  Literatur  n 
herrschen  versucht  und  so  oft  Anlass  gibt,  sein  glänzendes  Genie 
und   seine  Verdienste  zu  vergessen"  etc.    In  allem,    was  von  unu 
über  Goethe,  Falk  und  die  Schlegel  gesagt  werde,   sei  nichts  Par 
iiuillantischcs.    Im  Jahrgang  1S05  mehrere  Nummern'"*,   darin  über 
Goethe  als  „AVettemiacher  in  der  Literatur."    In  einer  Antwort  aci' 
diesen    Artikel ,    von    Merkel   sel1)st ,    werden    Goethe's   literari?eht 
Leistungen  und  Verdienste  also  charakterisiert:  ^Es  lassen  sieb  am 
dem  Felde  der  Schriftstellerei  zwar  wiebtigere  Verdienste  erwerte 
als  die  seiuigen  sind:  aber  auch  diese  sind  nicht  verächtlich.    Wu 
besitzen  von  ihm  etwa  ein  Viertelhundert  gelungener  Gedichte,  dt 

IGT)  X.  1^7.  S.  745.  IGS)  N.  fi,  S-  23  f.,  gegen  einen  Aufsatz  is -;: 

Zeitung  f.  d.  elegante  Welt  Isft4,  N.  153;  -um  des  Friedens  >TilIen-  möohio  ■'; 
Freiniütliige  ..den  Ghedcni  der  Clique,  die  wie  eine  eben  erschlagene  ScLlic: 
noch  von  'Mi  zu  Zeit  krampfiiaft  die  spitze  Zunge  hervorschiessc ,  einci  V.  r 
schlag  tlum.  AVii-  wollen  zugestehen,  dass  Wieland  nicht  so  viel  ist.  als  Jüj  :: 
schmackvoUe  Publicum  in  ihm  tiudet,  wenn  sie  dagegen  gestehen,  dass  sif  r.'-< 
die  nie  etwas  lieferten,  das  neben  dem  Oberon  nur  nennenswerth  wiire.  - :-' 
nichts  sind".    Vgl.  auch  X.  213,  S.  314  und  K.  245  f.,  S.  5*14.  Ui'».  X   'i 

S.  7nO.  17iH  X.   \<\),  S.  7ö0f.  171)  K.  130,  S.  2>:    141.  S.'44:  UT.  J  ' 


I 


utzeud  Drnmen,  von  deuen  sieh  ein  Paar  jälirlicli  einmal  oLue  §  338 
einzuschlafen  iso!)  ansehen  hiesen,  ein  nicht  ^^anz  schlechtes  episches 
Gedicht,  ein  Paar  Romane,  die  beide  berühmt  sind,  und  von  denen 
der  eine  auch  gut  ist,  —  und  un^effibr  fQnf  bis  sechs  in  verschiedenen 
Schriften  zerstreute  gesunde  Gedanken  Über  schone  Kunst".  Zuletzt 
geht  (lie  Frechheit  Merkels  so  weit,  dass  er  sich  erbietet,  in  seinen 

iFreimUthigen  auch  Aiifsfitze  von  Goethe  aufzunehmen,   .sobald  sie 
geistvoll  goschriehen  und  interessant  seien";  gewiss  wtü-den  sie  sich 
in  diesem  Blatte  meistentheils  in  guter  Gesellschaft  befinden"'. 
t 


$  339. 


In  der  Zeit,  da  sich  bei  uns  durch  Kant,  Fichte  und  Schelling 
[er  grosse,  bald  tief  in  alle  Übrigen  Wissenschaften  eingreifende  Um- 
schwung   in   der  Philosophie    vollzog    und   damit   auch   ganz  neue 
Kunsttheonen  aufkamen,    da  Goethe  und  Schiller  sich  immer  enger 
und  fester  an  einander  schlössen  und  in  ihrer  sich  wechselseitig  an- 
zuregenden  und   fördernden   literaiischen   Thätlgkeit   die  dichterische 
^fcProduction  zum  möglich  höchsten  Grade  wahrer  KunstvoUendung  zu 
^■erheben  suchten,  da  zugleich  auch  die  in  der  romantischen  Schule 
^■HGu   belebte    üsthetische    Kritik    den   schlechten  Literaturtendenzen 
^Bkräftig  entgegenwirkte^  die  beiden  Schlegel  tiefere  und  umfassendere 
Einblicke  in  die  Geschichte  der  alten  und  der  neuen,  der  auslün* 
dischen   und  der  heimischen   Literatur  eröftneten,    und   dabei    von 
ihnen  und  ibreu  Freunden  eine  Reihe  der  bedeutendsten  fremden 
Dichtungswerke  der  Neuzeit  bei   uns   eingebürgert   wurde;  verhielt 
sich   dfT  Mann,    der  unter  unsem   grossen   noch   lebenden  Schrift- 
atellem  zu  dem  Aufschwünge  der  vaterländischen  Literatur  seit  dem 
^nde  der  sechziger  Jahre  mit  am  meisten  beigeti*agen  und  sie  am 
Lninittelbarsten    von   Lessing   zu    den  Jünglingen    der   Sturm-    und 
irangzeit  hinüber   geleitet  hatte,   —   verhielt   sich   Herder  diesen 
lenen  Bewegungen  und  Strebuugeu  gegenüber  nicht  allein  im  Ganzen 
erstimml,   unmuthig  und  verdrossen,   sondern   trat  auch  mehr  als 
uner   ihrer   Richtungen   geradezu   feindlich    entgegen.     Zum    Theil 
lochte  dies«  Verhalten  seinen  Grund  in  der  während  seiner  letzten 
■ebensjahre  zunehmenden  Kränklichkeit  und  in  manchen  häuslii'hen 
Sorgen   haben,   die  in  derselben  Zeit  auf  ihm  lasteten,  zum  Theil 
luch   in   einem   durch   unangenehme  Erfahrungen  verletzten  schnft- 
(lellerischen  Selbstgefühl  und  in  einem  gewissen  eifersüchtigen  und 


172»  Vgl.  noch  N.  Uiö,  S.  143  und  N.  223,  S.  472  f.  ihicr  wird  aus  dem 
Ipilog  zu  Schülers  Glocke  von  Kotzebue  der  -Beweis-  geführt,  -das  Ur.  voa 
foethe  kein  Deutsch  rerstehc"). 


SSS    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jahrbunderts  bis  zu  Goethes  Tod. 

§  339  nicht  neiilloseu  Groll  gcgeu  die  freundschaftliche  Verbindung  zwischen 
Goethe  und  Schiller,  die  den  erstem  immer  mehr  von  ihm  abzojj 
und  gcgeu  ihn  zu  erkälten  schien;  hauptsächlich  aber  war  es  seiu 
zürnender  Uuwille  über  die  verderblichen  Wirkungen  und  Folgen 
der  kritischen  und  idealistischen  Philosophie,  wie  sie  seiner  üeber- 
zeugung  nach  nicht  nur  in  der  Wissenschaft  und  Kunst ,  sondern 
auch  im  praktischen  Leben  hervortraten,  der  ihn  zunächst  gegeu  die 
neue  Philosophie  selbst  in  eine  feindselige  Stellung  brachte  und  ««v 
dann  ihn  auch  gegen  alles  das  einnahm,  was  in  der  Wissenschaft 
und  in  der  Kunst  auf  ihren  Grundsätzen  fusste,  mit  ihren  Lehren 
innerlich  zusammenhieng,  als  eine  Weiterbildung  und  Anwendung 
derselben  angesehen  werden  konnte.  Ueber  die  Verstimmung,  die 
sich  seines  Gemüths  schon  im  Anfang  des  J.  1797  bemächtigt  hatte, 
und  über  die  Art,  wie  sie  sich  äusserte,  findet  sich  eine  bemerkens- 
werthe  Auslassung  in  einem  Briefe  Schillers  an  Körner,  die  freilieh 
sehr  herbe  und  hart  ist  und  wohl  etwas  milder  gelautet  hätte,  viirt 
das  Verhältniss  zwischen  Schiller  und  Herder  damals  nicht  schon 
sehr  gespannt  gewesen.  Körner  hatte  in  Bezug  auf  den  sechsten 
Theil  der  „zerstreuten  Blätter"  geschrieben':  „Herders  eigene  Ge- 
dichte wollen  mir  nicht  recht  behagen,  und  über  den  granzen  Theü 
herrscht  ein  gewisser  missmüthiger  Ton,  der  mir  imaugenehme  Em- 
pfindungen macht".  Hierauf  antwortete  Schiller*:  „Herder  ist  jetzt 
eine  ganz  pathologische  Natur,  und  was  '.er  schreibt,  kommt  mir 
bloss  vor  wie  ein  Krankheitsstoff,  den  diese  auswirft,  ohne  dadurch 
gesund  zu  werden.  Was  mir  au  ihm  fatal  und  wirklich  ekelhaft 
ist,  das  ist  die  feige  Schlaffheit,  bei  einem  inncrn  Trotz  und  Heftig- 
keit. Er  hat  einen  giftigen  Neid  auf  alles  Gute  und  Kuergische  uui 
affectiert,  das  Mittelmässige  zu  protegieren.  Goethe  hat  er  iiher 
seinen  Meister  die  kränkcndsteu  Dinge  gesagt.  Gegen  Kaut  rnii 
die  neuesten  Philosophen  hat  er  das  grösste  Gift  auf  dem  Heizer; 
aber  er  wagt  sich  nicht  recht  heraus,  weil  er  sich  vor  unanger.ctimen 
Wahrheiten  fürchtet,  und  beisst  nur  zuweilen  einem  in  die  Wailen. 
Es  muss  einen  indifrnieren,  dass  eine  so  grosse,  ausserordcntiiclje 
Kraft  für  die  gute  Sache  so  ganz  verloren  geht ".  Zu  Kant  war 
Herder  bereits  um  die  Mitte  der  achtziger  Jahre  in  ein  ges]>aumo 
Verhältniss  gekommen;  jener  glaubte,  Herder  sei  Schuld  daran,  >h-^ 
seine  Kritik  der  Vernunft  nicht  die  von  ihm  gehoflte  Aufnahme  i; 
Deutschland  gefunden  habe,  und  dieser  hielt  sich,  und  wohl  iii<i': 
ganz  mit  Unrecht,  von  Kant  unfreundlich  behandelt,  als  derse:*'«' 
mit  dem  ersten  Theil  der  ^  Ideen  zm*  Philosophie  der  GcsichiVii:'- 
der  Menschheit"  noch   vor   dessen   Erscheinen   im    Buchhandel  ^^ 

§  3^0.    \)  4,  2:i  1".  2)  U  2S  f. 


f 


EotwidEchuigsgaii^  der  laterator.    177:^—1633.    Oerdcr  und  Kaut.      SS9 

Ikannt  ^worden  war.     Kant  lie&s  nämlich  ^leicli  eine  kleine  Schrift  §  339 
Abniichen  luLalts^   .Idee  zu  einer  PLilodophie   der  Geschichte "^^   in 
len  Jahro^iing    1784    der  Berliner  Monatsschrift   (von  Biester;  ein- 
loken',   die  darauf  berechnet  schien,  jede  vortheilhafte  Wirkung 
von  Herders  Buch  im  Voraus  unmöglich  zu  machen,  und  benrtheilte 
dasselbe  nachher  auch  ziemlich  schonungslos'.    Als  Schiller   17S7 
ich  Weimar  kam  und  Herder  kennen  lernte,  schloss  er  seinen  Be- 
icht Über  ihn  in  einem  Briefe  an  KOmer*  mit  den  Worten:  .Herder 
\X  Kant,  wie  Du  wissen  wirst**.    Gleichwohl  sprach  Herder  noch 
der  sechsten  Sammlung  seiner  .Briefe  zur  Beförderung  der  Huma- 
ItÄt",  die  1795  ersi^hieu,  mit  der  „grössten  Dankbarkeit  und  Hoch- 
achtung** von  Kant'  und  hob  es  als  sein  unvergängliches  Verdienst 
ganz  besonders  hervor,  dass  erst  jetzt,  nachdem  von  ihm  .der  Schutt 
des  angemassten  Wissens,  wodurch  die  Vernunft  mit  sich  selbst  in 
Widerspruch  gekommen,  vom  Herzen  geräumt  worden,  dasselbe  ftlr 
^^at  Sittliehgute  frei  schlagen  kt^nnte".    Zugleich    aber  deutete  er 
^Mueh  schon  bestimmt  genug  an,  wie  *riel  ihm  daran  zu  fehlen  schiene, 
^Kdaas  Kants  reine  Absicht  von  allen  seiuen  Schülern  erkannt  und 
^mngewandt  worden  wäre";  denn  sonst  würde  es  niemand  eingefallen 
sein,  .seiner  Absieht  gerade  zuwider,  das  DorugebQsch.   womit  er 
die  verirrte  Speculation   eben  habe  verzÄunen  wollen   und  mtissen, 
zu  einem  Garteugewächs  auf  jeden  nutzbaren  Acker,   in  jede  popu- 
läre Kunst  und  Wissenschaft   zu    verpflanzen^'.    Zwischen   Herder 


%)  Wieder   abgedruckt  in  Kants  Werken  T,  ;itB  ff.  -It  In   der  Jeriat^ 

itor-Zeituog  von  I7S5.  N.  4  f.    Wie  sehr  &icb  Herder  durch  die&K  Verfahren 

i«s  eh«malij7en  Lehrers  and  alten  Freundes  verletzt  fühlte,   erhellt  aus  seinem 

f«  au  Fr.  U.  J&cobi  vom  26.  Febr.   IT'^5  uAua  Herders  Nachlaas-  2,  269  f.; 

rl.  dazu  Jacobiä  Antwort  in  deasen  auserlesenem  Briefwechsel  1.  37t;;   Herders 

Werke   zur   Philosopliie   und   Geschichte  22,    123  ff.;   Merkel   im  Freiinüthigeii 

itö,  N.  42,  S.  \uu.  nebst  einer  Stelle  aus  einem  Briefe  Herders  an  Merkel  bei 

it,  literirische  Zuätdnde  1,   130).  5»  I,  \0b.  fi*  Brief  '%  S.  ITuff. 

7j  Vor  dem  Zusatz  zu  den  Wort r^  über  Kant  in  den  .Briefen  zuj  Beförderung 

HumanitJt'.  den  aus  der  Uaudächrilt  Herder«  Gattin  in  dep  s.  Werken  z. 

iUo50]ihi(  uud  Goäcbichte  22,  141  ff,  mitgetheilt  hat.  ist  bemerkt  dieser  Znaatr 

einer  Zeit  ge*chriel)en,  wo  —  wie  aas  dem  Inhalt  erbeile  —  Qerd^  .durch 

;hc  ilcr  Fnfagen,  welche  die  schwfiLrmeriache,  blinde  Nachbetung  derldeeo 

ilofopbcu  unter  JangUngen.  deren  Sorge  znm  Theo  aoeh  ihn  oblag,  ange* 

\Ut  hatte,  noch  nicht  so  sehr  gereizt  war,  wie  einige  Jahre  spditer*.    Ifideaaen 

kr  ^eini^  Reizbarkeit  auch  schon  damals  gross  gcnnj!.  sonst  bjttte  er  wohl  indM 

«chilJer  w^cn  d?r  Briefe  über  die  &*theL  Erziehung  etc  ,  die  er  .als  kaotnckt 

abhorrit*rto,   ordentlich  gesclunoltt'  ivgL   äcbSlers  Brief  an  Körner  «at 

lovbr    iT'.ii.  3,  2IT   und  dazu  eioen  andern,   kurz  vorher  geschriebenen  an 

*X»  ^^)>     W^  ilui  seitdem  immer  mehr  gegen  die  Lehren  Kanta  ood  seucr 

Aofbracbte  uitd  zn  deren  Uckami^fang  anstachelt«',  hat  seine  Gattia  fai 

Ug«AhrUci  22.  Th.  der  i.  Werk«,  S   (26  ff.  bericktct 


S'.JU    VI.  A'om  zweiten  Viertel  des  XVIH  Jahrhunderts  bU  zu  Goethe's  Tod. 

§  339  und  Schiller  hatte  fsieh  gleich  nach  des  letztem  Ankunft  in  Weimar 
1787  ein  freundlicher  Verkehr  angeknüpft,  der  auch  bis  zu  Herders 
Reise  nach  Italien  im  Sommer  17SS  fortbestand*.  Als  er  von  dieser 
heimkehrte,  wohnte  Schiller  bereits  in  Jena;  im  Herbst  17S9  muss 
dieser  aber  schon  verdriessliche  Erfahrungen  in  seinen  Beziehungen 
zu  Herder  gemacht  haben,  denn  am  28.  Septbr.  schrieb  er  an  Künier. 
als  dersel1>e  beabsichtigte,  sich  um  eine  Anstellung  in  Weimar  ra 
benUlhen'^  „Was  Dich  betrifft,  so  wirst  Du  hoffentlich  die  Bekannt- 
schaft mit  Goethe  und  Herder  bald  auf  ihren  wahren  Werth  herab- 
setzen lernen;  aber  mit  aller  Vorsicht  wirst  Du  dem  allgemeinen 
Schicksal  nicht  entgehen,  das  noch  jeder  erfuhr,  der  sich  mit  diesen 
beiden  Leuten  liierte"*".  Zu  einem  eigentlichen  Bruch  zwischen 
beiden  kam  es  damals  und  in  den  nächsten  Jahren  aber  noch  keines- 
wegs: 1790  stellte  Schiller  seine  junge  Gattin  im  berderscfaen  Hause 
vor",  und  fttnf  Jahre  später  schien  es,  als  sollte  Herders  thäti^ 
Theiluahme  an  den  Hören  und  an  dem  Musenalmanach  das  Band 
zwischen  beiden  noch  fester  knüpfen".  Allein  Schillers  Verhältnis 
zur  kantischen  Philosophie  und  die  Grundsätze,  zu  denen  er  sirb 
in  seinen  kunstphilosophischen  Schriften  bekannte,  nahmen  Herder 
gegen  ihn  je  langer,  desto  mehr  ein;  die„Xenien"  empörten  ihn,  er 
wollte,  wie  er  au  seinen  Sohn  schrieb,  nichts  mehr  davon  böreE. 
weil  ihm  ,.Moralität  über  alle  Talente  gieng"";  seine  bittere  Lanne 
entfernte  ihn  auch  immer  mehr  von  Goethe",  und  am  Ende  würfe 
seine  Abneigung  gegen  Schiller  so  stark,  dass  ihn  ein  zufälliges  Zs- 
sammentreffen  mit  demselben  tief  verstimmen  konnte  ".  Wie  Herder 
seit  der  Mitte  der  neunziger  Jahre  bis  zu  seinem  Tode  zu  G'ietb? 
stand,  den  er  noch  im  Sommer  17S7  „mit  Leidenschaft,  mit  eiwr 
Art  Vergötterung   lichte"""',  hlsst  sich  des  Nähern   aus  den  Friti'er 


8t  V^l.  ScMlIors  Jiricio  an  Kürner  I,  104;  125  ff.;  I3s;  mjT;   ITT:  V^^: :!' 
2%f.:  dazu  ..Aus  Herders  Nachlass"  I,  ISlf.;  Is4.  9)  2.   123.  Idi  Hirn: 

schlicsst  sich  ein  von   sehr  wenig  Sympathie  fUr  Herder  zeus:endcr  Beritli^  i'~ 
zwei  ..unverzeihlich  dumme  Streiche",  die  er  in  letzter  Zeit  gemacht  habe. 
lll  An  Körner  2,  I^**.  12)  Vgl.  «Aus  Herders  Nachlass-   1.  is'?  c  ^^ 

Schiller  an  Körners.  2)1*  f.;  2f>7:  an  Goethe 2.  41.  13»  „Aus  Herders  X^?-^ 

lass"  2.  44ii.  I4i  Vgl.  dessen  Werke  HK  (iit.  15)  V^l.  den  hnd"^ 

Frau  Herder  in  Knebels  literariscliem  Nachlass  2.  3:tT.  auch  den  vom  12.  Aj"' 
I**o;i.  dasolbsi  2.  'MÖ  ff.,  der  von  der  Art.  wie  das  herdersclie  Ehepaur  S'.bi:'^ 
dramati.sche  Poesien  bcurthoilte.  ein  sprechendes  Zeuguiss  ableirt.  Indera  nJiii  - 
Frau  Herder  S».  ;U7  Ooetlie's  niatlriiche  Tochtors  ein  „Licht  "der  Kunst-  t^^- 
..itei  dem  das  i^ohillersche  Irrlicht  verschwinde-,  setzt  sie  hinzu,  das  pHbliv-'-jm  w 
die  jenaisclien  Studenten  seien  freilich  noch  zu  sehr  -an  den  schiller?ci.('i;  Kh^ 
klang  und  Bombast,  der  ilue  Ohren  kitzele-,  gewöhnt,  um  dem  soeihesthfiiSTs»' 
den  Ueifall  zu  zollen,  den  ihm  nur  die  Verständigen  geben  könnten  ett 
Hii  Vgl.  Sclnilor  an  Körner  I.  lol  und  dazu  i:u;  f. 


Entvickelungagaiig  der  Literatur.     »773—1532.    Hei-dcr  und  ScUiller.     891 


roethe's"  uiul  ans  deuen  vou  Herder  uujl  seiner  Gattin  an  Knebel'*  §  339 
\o  wie  aus  einigen  brieflichen  und  sonstigen  Mittbeilungen  Goethe's 
entnehmen.    Daruaeb,  scheint  es,  war  jeder  freundschaftlicbe  Brief- 
verkehr /.wischen  ihnen  seit  dem  FrObjahr    1797   big  zum  Frühjahr 
1S02    abgebrochen,    und   aus  Herders  Brief  vom   ö.  Mai    1799   an 
KoebeP^   könnte  man  schliessen,   dass  er  damals  wenigstens,  wie 
iiit  Sebiller,   so  auch  mit  Goethe  (die  er  siiöttiscb  die  zwei  grossen 
lüulen  Jacbin  und  Boas  nennt)  überhaupt  nicht  mehr  in  irgend  einer 
erbinduug  gestanden  habe.    Aber  zu  Ende  des  Jahres  1799  wohnte 
►r  doch   wieder  der  Vorlesung  des  „Mahomet"  in  Goethes   Hause 
►ei*',   und   seitdem  muss  er  mindestens  hin  und  wieder  bei  diesem 
;ewe^eu  sein  und  auch  sonst  ein  besseres  Vernehmen  sich  aufs  neue 
swischen  beiden  gebildet  haben'*';  doch  scheint  die  Stimmung  gegen 
den  alten  Freund  im  herdei-schen  Hause  öfter  gewechselt  zu  haben**. 
Wie  Herder  die  grosse,   von  Kant  ausgegangene  Bewegung  in 
ler  Philosophie  mit  ihren  Wirkungen  und  den  Fruchten,  die  daraus 
erwachsen  waren,  erschien,  wie  er  Über  »Schillers  bedeutendste  kunst- 
philosophischc  Schriften  urtheiltc,   was  er  von  seineu  und  Gouthe's 
^^Qeuesten  |Kietischen  Werken,  was  von  den  theoretischen,  kritischen 
^Bnd  dichterischen  Bestrebungen  der  Romantiker  hielt,  das  geht  theils 
^biifi  den  von  ihm  in  seinen  letzten  Jahren  herausgegebenen  BUchei-n, 
Haiainentlich   den   spätem  Theilen   seiner  „Briefe  zu  Beförderung  der 
Humanität",  der  „Metakritik",  der  ^Kalligone",  und  der  .Adrastea'', 
so  wie  aus  seinen   und  seiner  Gattin  Briefen  und  aus  mllndlichen 
Aeusserungeu,  die  uns  von  ihm  aufbehalten  sind,  unmittelbar  her- 
Tor,    theils  veiTütb  es  sich  mittelbar  darin,   dass  er  in  eben  jenen 
Bflcbern,  wo  die  Besprechung  heimischer  LiteraturzustAnde  der  neuem 
und  neuesten  Zeit  Anlass  genug  dazu  gab,  sie  zu   berücksichtigen, 
dennoch,  und  wie  ganz  absichtlich,  der  ausgezeichnetsten  Dichtuugeu 

ton  Goethe  und  Schiller,  die  seit  der  Mitte  der  neunziger  Jahre  er- 
ihiencn  waren,  mit  keinem  Worte  gedenkt.  So  anerkennend  er 
cb  noch  in  den  Humanitiltsbriefen  über  Kants  Verdienste  ausge- 
jrochen  hatte",  mit  so  eutschiedcner' Feindseligkeit  trat  er  wenige 
I7i  In  dem   Ruch  .Aus  Herders  Ktclilass"  1,  146  ff.  18l  In  dessen 

;eriu-iBL^hem  Nachlass.  19»  2.  U"*?  f.  20i  Knebels  Uterariscbcr  Nach- 

lass  2,  329.  21 1  Vgl.  ft.  A.  0.  2,  337 ;  Goethe  an  ZeUer  1.  4h:  52  und  -Aus 

Lyaerders  NacUIasa*  S.  2;^  f.;  15(»  ff.  22)  Vgl.  Knebels  literarischen  Xachlass 

Hl  329;  3at;  :t:*H— 339:  H45— S50.  Goethe  hat  uns  in  den  Werken  *10.  2f»3  ff.  eriÄhlt, 
^HasB  und  warum  er  sich  drei  Jahre  vor  Herders  Tode  von  ihm  zurUrki^czoEen. 
H^ber  nach  der  Vorstellung  der  „Euguiiie-  eine  WicderanniXherang  gehotit  habe, 
^dasa  dleae  Hoffnung  aber  bei  einem  Zusammentreffen  in  Jena  durch  Aeusserungcu 
Uerders  aber  jenes  Stück  (vgl    obenS.5:tlt,  tjTi  vereitelt  vrorden  sei.  23»  Vgl. 

669,  H, 


S92    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIll  Jahrhunderts  bis  zu  Goethc^s  Tod. 

§  330  Jalirc  später  gegeu  die  britische  Philosophie  in  der  „Metakritik" 
(1790)  uud  der  „Kalligone**  (ISOO)  auf:  durch  die  eine  sollte  Kants 
„Kritik  der  reiuen  Vernunft",   durch  die  andere  dessen  „Kritik  der 
Urtheilskraft  **  widerlegt,  durch  beide  das  ganze  System  der  kritischen 
Philosophie  samnit  ihren  Fortbildungen   von  Grund   aus  ersehQttert 
werden.    Die  Bezeichnung  Metakritik   entnahm   er  einer  ihm  bald 
nach  dem  Erscheinen  von  Kants  erstem  Hauptwerk  handschriftlich 
mitgctheilten  Arbeit  Hamanns,  die  dieser  „  Metakritik  über  den  Puris- 
mus der  reinen  Vernunft "  betitelt  hatte ;  auch  aus  dem  Inhalt  dieser 
Schrift  nahm  er  gar  manches  in  die  seinige  herüber*'.    Wie  Herder 
zu  der  Zeit,  als  er  die  Metakritik  eben  herausgegeben  hatte,  von 
dem  bittersten  Hasse  gegen  die  neue  Philosophie  und  diejenigen  er- 
fflllt   war,    die   ihr  huldigten   und  sie  nach  allen   Richtungen  des 
geistigen  Lebens  hin  zur  Geltung  zu  bringen  suchten,   kann  man 
schon  aus  einem  seiner  Briefe  an  Knebel  ersehen.    Er  hatte  dem 
Freunde  die  „Metakritik"  zugesandt  und  von  demselben  ein  bei- 
fälliges Schreiben  darüber  erhalten;  hierauf  schrieb  er  ihm**:  ,Das 
dickste  Ende  steht  mir  nun  bevor,  die  Verwirrungen    nämlich  nod 
Absurditäten,  die  diese  Herren  in  die  Kritik  alles  Wabren,  Guten 
und  Schönen,  in  Kunst  uud  Wissenschaft,  ja  auch  in  die  praktiscben 
Doetrinen,  Moral,  Rechtslehre,   selbst  Philologie,  Geschichte,  Mathe- 
matik, Theologie  etc.  gebmcht  haben,  auf  die  kürzeste,  lebendigste, 
fruchtreichstc  Weise  zu  zeigen.    In  allen  Zeitungsblättern  bellen  und 
belfern  diese  Doggen  und  Hunde,  die  kritischen  Kanons  ohne  Kannn, 
ohne  Gefühl,  Gesetz  und  Regel.    Helfe  mir  Gott!     Mein  Symboluin 
aber  ist:  jacta  est  alca,  rein  abe!  von  der  Wurzel  aus!     Die  Obrei: 
habe  ich  mir  mit  Baumwolle  und  weissem  Jungfernwachs  yerst^pft; 
sehen  will  ich  weder  links  noch   rechts,   bis  das  Werk   gcthan  ist. 
Helfe  mir  Gott!"    Auf  den  Inhalt  der  ., Metakritik "  hier  näher  ci'^- 
zugehcn,  halte  ich  für  unuüthig,  da  derselbe  in  keinem  unmittelbartü 
Bezüge  äu  den  die  Dichtungslelire  betreffenden  Partien  in   der  Ge- 
schichte unserer  schönen  IJteratur  steht**.    Anders  ist  es  mit  te 


24)  V^rl.  „Aus  Härders  Nachhiss-  2,  2t;()  uud  die  daselbst  in  der  Note  !  :^'i- 
peiührteu  iStdleu  in  F.  H.  .TacoM's  und  Hamanns  Werkeu;  dazu  deu  BriüM'^ 
ilcrders  Gattiu  iu  Knebels  litorarischeui  Nachlass  2.  3;u  f.  und  Böttiger,  iiterjr 
Zustande  1,  VA2  f.  25 1  Am  ii.  Mai  IT'JO:  Knebels  literarisdicr  ^'aoUJ■^ " 

-T<.  20)  Er  lioss  darin  seinen  Zorn  aus  über  ^die  Verführung  der  jiif'':«;- 

licLen  Phantasie  zu  unnützen  Künsten  des  Wortkrames,  der  l>is]>uticrsucht.  i"'« 
liechthabcrei,  des  stolz-bhndcn  Entlmsiasmus  für  fremde  AVortlarven ,  üI-it  ti.'.' 
A^erOdung  der  Seelen,  die  iirnoranto  Yerleidung  alles  reellen  AVissou5  unJ  Tl""- 
die  unerträgliche  Veraclituug  aller  Guten  und  Grossen,  die  vor  uns  geklt  hai^:* 
was  er  jetzt  alles,  im  Widerspruch  gegen  seine  frühere  Ansicht,  als  "Wirk'j-V 
der  kritischen  l'hilosophic  ansah;  vgl.  Gruber  im  Leben  AVielauds  -I.  V'>^  : 


i 


^ 


it 


Entwickelttugsgaog  der  Literatur.    ITT:^— 1^:i2.    Herder  and  Kant.      S93 

Inhalt  der  „Kalligone'':  aus  diesem  Buch  muss  ich  einige  von  den 
Hauptstclleii  herausheben,  welche  besonders  geeignet  sind,  uns  den 
AViderwillen  zu  erklären,  den  Herder  nicht  allein  gegen  die  auf  Kants 
«Kritik    der   Urtheilskraft"   fassenden    kunstthoorctischeu   Schriften 
khillers  und  gegen  die  ästhetische  Kritik  der  Romantiker,  sondern 
aucli  gegen  die  Kunstpraxis  Goethe's  und  Schillers  während  der  Zeit 
ihres  Zusammenwirkens  empfand.     Nachdem   er   der  Kuusttheorie 
und   der  ästhetischen  Kritik   der  Engländer   rühmend   gedacht   hat, 
fährt  er  fort":  „Durch  Lessiag,  Eschenburg,  Garve.,  Blankenburg  etc. 
war  ein  grosser  Theil  dieser  brittischen  Kritik  uns  so  eigen  geworden, 
daas  wir  die  unsere,  dem  brittischen  Baum  eingeimpft,  als  ein  neues 
eignes  Gewächs  fortblühend  hofften,  als  plötzlich  die  kritische  Philo- 
sophie zeigte,   wie   wir  vor  ihrer  Erscheinung  baar  und  bloss  aller 
Grundslitze  zur  Kritik  des  Schönen  gewesen,  dass  trotz  eines  Dürers 
und  beider  Hagedorne,  trotz  Hallers,  Klopstocks,  Lessings,  Mendels- 
Bohna^  Kästners,  Baumgarteus,  Sulzers,  Engels,  Garre's,  nerasteihuis, 
Mengs,  Winckelmanns  etc.,  wir  dennoch  von  der  echten  Kritik  der 
Geschmacksurtheile   nichts  gewusst,    bis  sie   uns  offenharte:   „^das 
Geschmaeksurtheil  sei   ästhetisch;  das  Wohlgefallen   am  Guten  sei 
nicht   schön.    Schön  sei  der  Gegenstand   eines  Wohlgefallens  ohn' 
alles    Interesse.    Schönheit  sei,    was   ohne  Begriff  als  Gegenstand 
eines  notb\rendigen  Wohlgefallens  erkannt  wird''\    Mit  diesen  Spiel- 
marken zahlt  man  in  Deutschland  seit  dem  J.  1790.    Die  seit  Homer 
und  Plato   bei  allen  cultivierten  Völkern  Europa's  über  die  Natur 
des  Schönen  geprägte  Müuze  ist  verworfen".    Femer  bemerkt  er*: 
*  Mit    dem  Wort  tmForm  ohne   Begriffe   des  Schönen**",    mit    dem 
spielenden  Gegensatz  „^Fonn   der  Zweckmässigkeit  ohne  Zweck"'' 
hat  sich  in  der  Kritik  ein  endloses  Geschwätz  erhoben,   voll  leerer 
Worte,  voll  Widersprüche  und  Tautologien,  die  unglQcklicher  Weise 
auch  eben  so  leere  Werke  zur  W^elt  gefördert  haben.    ^.Was  thut 
Ihr  da,  ihr  geschäftigen  Leute?-"    .„Wir  schneiden  Formen,  Formen 
der  Zweckmässigkeit  ohne  Zweck,  aus  nichts,  zu  nichts.     Diese  Leer- 
heit heisst  uuä  reine  Form,  Darstellung  reiner  Objectivität  ohne  Ob- 
ject,  und  ja  ohne  Beimischung  Eines  Funkens  Subjectivitftt:   denn 
diese  Suljecti>-ität  wäre  vielleicht  gar  Genie,   ein   in  der  kritis<'heu 
Geschmacksurtheilswelt  verschriener  Name**".    Seit  ca  durch  sie  Tag 
worden  ist,  hat  sich  der  Geist  davon  geschlichen;  aber  «.Geschmacks- 
urtheiio  ohne  Begriff  und  Zweck"-  gelten.    Sie  urtheileu  nicld  über 
Gcirteswerke,  sondern  über  Formen,  über  objectiose,  rein  griechische 
Formen  •,    .  Weder  zu  dem  Angenehmen  noeh  zu  dem  Schönen  w*re 
Jcr  Mensch  gelangt,   wenn  es  ihm   nicht  nützlich,  ja  nncntbehrlich 

27»  8.  Werke  zur  Philosophie  uod  Geschichte  l«>,  tll,  2H)  S.  \tU 


.3:^9 


S94    VI.  Vom  zvciteu  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  his  zu  Goethe's  Tod. 

§  3oO  gewesen  wäre;  ein  völlig  nutzloses  Schöne  ist  im  Kreise  der  Natur 
und  Mensclibeit  gar  nicht  denkbar.    ^lithin  sind  Kunst   und  Hand- 
werk nicht  dadurch  unterschieden  (wie4n  der  „Kritik  der  Urtheils- 
kraff*  behauptet  ist),  dass-^Jeno  frei,  diese  eine  Lohnkunst  heissea 
möchte,  indem  jene  nur  als  Spiel,   d.  i.  als  eine  Beschäftigung,  die 
f(tr  sich  selbst  angenehm  ist,  zweckmässig  ausfallen,  diese  als  Arbeit, 
d.  i.  als  eine  ftlr  sich  unangenehme  und  beschwerliche  BcBchäftignng 
nur  durch   ihre  Wirkung,   z.  B.  den  Lohn,  anlockend  ist,   mitbin 
zwaugmäflsig  aufgelegt  werden  kann^';  eine  Abtheilung  polizierter 
Staaten,  von  der  die  Natur  nicht  weiss*". . .  Hinweg  also  jene  falschen 
Principien,    zu    denen    man   die   Kdnste    des    Schönen    erniedrigt, 
„.mttssiges  Spiel,  bedUrfniss-  und  lohnfreie  Hebung,  marktende Mit- 
theihmg  in  der  Gesellschaft'"*.    Ohne  BedUrfniss  und  Ernst  ward 
keine  Kunst:  keine  lässt  mit  sich  spielen;  keine   wird    ohne  Lohn 
geübt. ...  Je  mehr  die  Vernunft  der  Menschen  sieb  besinnet,  desto 
mehr  müssen  auch  ihre  Künste  des  Schönen  vom  Tändeln  zum  Ernst, 
vom  Zwecklosen   zur  Absicht   zurückkehren"^.     Wenn    schon  die 
schlechte  Kuustrichterei,   die  ohne  Beruf  und  Kenntniss  urtheile, 
schädlich  sei,  so  werde  die  Kunstrichterei  noch   schädlicher,  wenn 
sie  nach  falschen  Grundsätzen  blind  richte  und  mit  einer  Kühnheit 
die  ein  Machtwort,  -kritische  Philosophie",  in  die  Faust  gebe,  apo- 
diktiscli  gewiss,  allgemein  geltend  und  nothwendig  postuliere,  wo 
nichts  weniger  als  postuliert  werden  sollte.    Die  ,  Kritik  der  Urtbeils- 
kraft"  sei   aber  seit  Jahren   ein   Codex  solcher  Kunstrichterei  ia 
Deutschland,  sogar  der  Sprache  und  Schreibart  nach,  geworden,  w 
welcher,  sobald   in  dreisten  Worten  dieser  Philosophie   die  Formel 
töne,  alles  sich  bücke  und  schweige^'.  .  .  Nach  der  ..Kritik  der  l'r- 
theilskraft"  bestehe  in  aller  schönen  Kunst  das  Wesentliche  in  der 
Form  etc.^'.     :,Die8S  grosse  Kriterium  der  kritischen  Kritik,  da?  an? 
bereits  formelle  Dichter  und  Künstler  ohne  Materie,  griechische  Fi■'^ 
men  ohne  Fonn  gegeben,   ist  selbst  die  leerste  Wortforra,  die  es  .fr 
gab.    Form  ohne  Inhalt  ist  ein  leerer  Topf,  eine  Scherbe.    AJIe» 
Organischen  schafft  der  Geist  Form,  die  er  belebet;  ohn'  ihn  ist  sf 
ein  todtes  Bild,  ein  Leichnam.    Und  diese  Formen  töpfert  äk^- 
tische  Kritik  bloss  zur  n  „  Beobachtung  und  Beurtheilung"-,  Luftbis*» 
zum  optischen  Spiel.     Bannflnchc  des  Empirismus  fallen  auf.ie(tf* 
der  an  Inhalt  der  Form,   ob  er  zu  ihr  gehöre?  oder  ob  einiger'* 
sei?  an  Geist,  der  die  Form  belebe,  nur  denket.    Schaffte  dicTB»- 
scendentulphilosophie  durch  Beurtheiluug  nicht  sogar --Natur" ^^ 
erklärte,   nur  dieser,  „-der  kritische,  durch  Beurtheilunjr  Nätiirc^ 
scliaffende  Weg  sei  uns  allein  noch   übrig  •"*.    Hilsslich  ist  ibf^s* 

29)  S.  156  f.  30)  S.  174.         31)  \\K  24  f.         32i  Vgl.  S.  3;;i  -^ 


m 


EntwickeluDgsgaug  der  Literatur.    I"73— rü.32.    Herder  und  Kaut.      895 


kr 


ort  Geauss;   „„Genuss,   der  uicbu   in   der  Llee  zuillcklässf,  den 

eist  stumpf,  den  Gegenstand  anekelnd  und  das  Gemütbj  (iuveh  da* 

ewuastöciu  seiner  im  Urtbeile  der  Vernunft  zweckwidrigen  Stimmung 

it  sieb  selbBt,  unzufrieden  und  lannisrb  macbt**";  dagegen  gilt  das 

Ideon8|McI,  die  Lust,  die  zugleicb  Cultur  ist,  d.  i.  die  uns  zu  mebrerer 

deher  Lust   und    Unterhaltung   empfäu^rlioh    maebt'"'.     0   Baubo, 

aubü !"  .  .  „  Da.sB  Kinbildungskraft  und  Verstand  —  in  gewissem  Ver- 

baltuiss  —  das  Genie  ausmachen  (wie  Kant  behaupte),  ist  wahr  und 

nicht  wahr  d.  i.  nichts  sagend.  .  .  Dass  zum  Genie  auch  eine  Disiiosition 

siuuliebcr  Eniptindbarkeiteu  eben  so  wohl,  als  jener  heilige  Trieb,  jene 

stille  Geisteswarme  gebore,  die  Entbusiaamus,  nicht  aber  Schwärmerei 

ist,  wer  könnte  diess  bezweifeln?  wer  wollte  es  aber  auch  bezeich- 

en?    Wie  ohne  Trieb  kein  Gewächs  wächst,  so  am  wenigsten  jene 

brosisch-genialisehe  Frucht,  das  Leben  des  Lebens.    Durchs  blosse 

^rtheln  und  Phantasieren  wird  nichts.     Paare  Kritik  —  den  Herrn 

I Verstand  imd  die  Jungfrau  Ptiantasie  leibhaft  zusammen,  ohne  Stimme 
faine«  heiligen  Orakels,  d.  i.  ohne  Empfindung  und  Trieb  und  das 
feigenste  innen  wirkender  Kräfte  werden  Doukalions  und  der  Pyrrha 
bti 


^>t 


linier  sieb  geworfene  Steine  nie  leben.  Eben  diese  und  allein  dioso 
beredbare,  wo  sie  fehlt,  unersetzbare,  stille  Naturkraft  und  Neigung 

ts,  die  Phantasie  und  Vei-stand,  die  Gegenwart  und  das  Vergangene, 
Sichtbares  und  das  Unsichtbare  zu  Einem  knüpft  und  sowohl  mit 
l^hantasie-,  als  gedauken-  und  empfindungsreichen   Goistesgebilden 

ie  Welt  beseligt.  Auch  die  Vernunft  erbittet  der  Genius  sich; 
dner,  Dichter,  oder  jene  hOhern  Dichter,  Genien  der  Mensebheit. 
die  Erfinder  und  Stifter  aller  Ordnung  und  Harmonie,  die  je  die 
Menscbennatur  bcgltlckte.  wollen  der  Vernunft  nicht  entbehren**.  .. 
«Geschmeckt  und  geschmeckt  haben  wir  lange;  das  Angenehmslo 
ist  uns  zum  Ekel  worden;  beinah  in  allem  sogenannt  Schonen  leiden 

ir  am  Ueherma.ss,  an  Ueberdruss,  am  Mangel  des  Triebes,  Gefllhls 
d  Genusses,  dass  sogar  die  Philosophie  a  priori  es  dem  Gemein- 
sinn dedncieren  dürfen,  „n Kunst  sei  nichts  als  ein  Spiel  der  Em- 
pfindungen und  der  Einbildungskraft  ohne  Zweck  und  Begriff"'', 
Komm  uns  zu  Hülfe,  Geist,  der  diess  kindisch -grausame  Spiet,  das 
Schlenkern  des  Maikäfers  nm  einen  Stab,  damit  er  sumse,  in  Theorie 
und  Uebung,  der  Voraehtiiug  Preis  gebe.  Die  lierrlicbsten  Talente, 
di6  grossesten  Genien  auch  in  unserm  Volk,  woran  mussten  sie  ihre 
Gaben  oft  uud  meistens  verschwenden?  und  wie  missbrauchen  wir 
ihre  Werke?  In  Musik  uud  bildender  Kunst,  in  Dichtuug  und  Rede, 
noch  mehr  in  That  und  ordnenden  Gedanken  gähnen  wir  dem  Ge- 
nius  zu,  höebgt  ungenialisch.    Wer  erweckt  Hunger  in  uns,  damit 


K 

^a:« 


'     »in 


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§  :i39 


33)  S.  '.Mi  f 


31»  S.  35  f. 


'•■.*■  ■  ■  ,       ^    "■*'.., 

iSe  TL  Vm  i«etten  tiertil  des  XVm  Mo^ 

Ü  t39  wir  nictat  nur  gehmeoken,  sondern  auch  LebttUftIt  empluig«! 
weckt  in  nns  Keigungen,  Krftfte***.  —  Dmb  Herder  geg^  8i 
Briefä  ,nber  die  ftsthetiscbe  Eniehang''  den  stirkiten  Wiim 
anp&uid,  und  itm  er  in  der  Abhandlung  „über  naire  nad 
mentaliaebe  Dichtung  ^  so  Tic!  »Fdnes  and  Vortrtfliekea''  er 
auch  ^d,  wenigstens  das  nicht  billigte,  da^  darin  diel 
.nach  Empftadaligen  geordnet"  wftren,  ist  bereits  oben"  aiq 
worden.  Wo  er  der  Behauptung,  «dassFonn  das  Weaen  der 
sd**!  entgegentritt",  hat  er  dcherlich  nicbt  minder  jene 
Schillers  ab  Kants  „Kritik  der  ürtheilskraft"  im  Sinite  gekab 
hier,  wie  nachher  in  der  „Kalligone",  das,  was  Kai&t  und  i 
unter  „Form*'  verstanden',  viel  su  Ansserlieh  gefesst  Als  ] 
wird  Schiller  in  den  „Humanitfttsbriefett"  nur  einmal^  als  ¥< 
Ton  Liedern,  die  von  unserer  Jugend  gesungra  wOr^en,  na 
mit  OTaudius,  Hdlty,  Stolberg,  J.  G.  Jacobi  und  Voss  gen 
und  wenn  damals  auch  noch  nicht,  sdn  „Wallenstün"  erst 
war,  so  bitte  er  doch  auch  s^on  seiner  Mhem  Dramen  wt 
einem  UetMSrblick  Aber  den  Bildungsgang  unserer  neuem  Po« 
eher  eine  besondere  Berlleksichtigung  rerdient,  als  maiicher  \ 
Ton  Herder  h^rorgehobene  deutsehe  Dichter  des  18.  Jabrhs 
Ausfllhrticher'nnd  auch  noch  mit  grosser  Anerkennung  s^ 
in  jenen  Briefen  ttber  Qoethe;  nachdem  suletst  von  Wieiai 
LoMing  die  Bede  gewesen,  heisst  es**.:  «Ein  anderer  Dicht 
sich  der  Form  der  Akra  auf  einem  neuen  Wege  genaht  dun 
theilnahmlose  genaue  Schilderung  der  Sichtbarkeit  und  dun 
tbätige  Darstellung  seiner  Charaktere,  Goethe.  Sein  „Berlicl 
ist  ein  deutsches  Stück,  gross  und  unregelmässig,  wie  das  d 
Reich  ist;  aber  voll  Charaktere,  voll  Kraft  und  Bewegung.'  In 
seiner  spätem  Stücke  hat  er  eine  einzelne  gewählte  Form  im  leic 
Umriss  zu  ihrer  Art  vollendet.  So  sein  „Clavigo",  seine  „i 
sein  „Egmont"^  „Tasso"  und  jene  schöne  griechische  Form, 
genia  in  Tauris".  In  ihr  hat  er  wie  Sophokles  den  Euripide 
wunden.  Auch  aus  dem  Reich  der  Unformen  rief  er  Formen 
wie  sein  „Faust",  sein  {„Cophta";  auch  andere  Gediehtarte 
nach  Form  der  Alten  glücklich  von  ihm  bearbeitet  worden" 
sieht,  es  sind  nur  Werke  erwähnt,  die  vor  dem  J.  «1794  1 
gekommen  waren;  über  den  „Wilhelm  Meister**  findet  sicli  kein 
Freilich  ist  auch  des  „Werther"  nicht  gedacht;  aber  wir  wiss 
einem  Briefe  Herders,  wie  wenig  Gefallen  er  an  dem  ersten  Tb 


35)  S.  44.        36)  S.  889,  Anm.  7,  und  S.  395.  37)  Iq  der  S.  Si 

,der  Humanitatsbriefe-  S.  131  ff.;  136  ff.         38)  S,  129.  39)  s,  t* 


EDtwickeluag&gAug  der  Literatur.     1773— [832.    Herder  und  Goethe.     897 


roethe's  neuen  Roman  fand^",   und  mau  erschrickt,  wenn  Buttger" 
jraÄllt,  Herder  habe,  als  in  seinem  Hause  Wielaud  den  vierten  Theil 
des  nWilhelm  Meister"  vorlas,  darüber  geklagt,  dass  Goethe  so  oft 
blosse  Sophistereien   triebe,   und  zuletzt  ^^ean^t:    „Man  mag  unter 
allen  diesen  Menschen  (in  dem  Roman)  nicht  leben;   nichts  spricht 
uns  au.    Wie  ganz  anders  ist  es  in  Lafontaine's  Romanen  M    Oasa 
er  Goetbe's  Unternehmen,    den  ^Mahomef*   von    Voltaire   auf  die 
deutsche  Bühne  zu  verpflanzen,  im  höchsten  Grade  missliilligte,  und 
dass  er  dem  Dichter  selbst  über  „die  natürliche  Tochter"  sehr  un- 
angenehme Dinge  sagte,  habe  ich  oben"  erwithnt.    Der  Inhalt  der 
beiden  goetheschen   Balladen,  „die   Braut   von  Korinth"  und  „der 
\oU  und  die  Bajadere",  empOrte  ihn".    Stärker  sprach  er  dann  1803 
iine  Entrüstung  Ober  die  Behandlung  solcher  und  ähnlicher  Gegen- 
itände,  mit  unverkennbarer  Beziehung  auf  diese  und  andere  Balladen 
roethe's,   öffentlich  in  der  .,Adrastea"  aus,   da  wo  er  vom  Volks- 
[esange  handelte*'.    Nachdem  er  nAmlich   bemerkt  hat,    dass  die 
[elodien   unserer  alten  Volkslieder  und  eben   so  auch  der  Inhalt 
linfftch  seien,  und  diesen  Inhalt  noch  mit  einigen  Worten  nilher  be- 
sichnet    hat,    fragt   er:     ^Welche  Seite  dieäes   Inhalts   wollen   wir 
wählen?  Rohen  Aberglauben,  wilden  Stolz,  sinnliche  Brunst,  nichtige 
Thorheit?  oder  wollen  wir  die  Enden  des  alten  Glaubens  im  Herzen 
des  Menschen  erfassen,  um  es  zu  besänftigen,  zu  mildern,  für  Tugend 
ind  Liebe  zu  erwärmen?    Wozu  verlieh   uns  die  Muse  Trommeto 
ind  Cither,   Harfe  und  Psalter?     Oder  wollen   wir  gar  den   Gott 
herab-,  das  HiMlenreich  heraufrufen,  um  zu  zeigen,  dass  wir  mittelst 
ines  einfachen  Liedes  das  Herz  umwenden,  heilig  geglaubte  Sitten 
•emichten,  der  Innern  Religion  Hohn  sprechen  können  und  dürfen? 
Wenn  Alles  schweigt  und  der  Schmeichler  lobjauchzet,  tritt  das  er- 
röthcnde  Menschengefühl    beschämt  hervor,  oder  wendet  sich   viel- 
mehr und  spricht  mit  Abscheu:  Schweig,  Entbciliger!  Nichts  Heiliges 
ist  in  Dir!    Aber  lass  sein  Heiliges  dem  Volke!  —  Tod  alles  Schönen 
und  Edlen  ists,  zu  glauben,  dass  die  Kunst  Alles,  auch  das  ekelhaft 
ledrigste,  gefällig  behandeln   und   damit  Töne  des  menschlichen 


§  339 


40)  Vgl.  8.  451.  41)  Literar.  Zust&ude  I.  192.  42)  S.  5:i4.  Aura.  29 

id  530.  67.  43)  Schon  den  5.  Aug.  1797  Kcbricb  er  an  Kocbel  ('2.  270): 

iScMUer  hat  nctir  vier  BaUadeo  des  nächsten  Alman&chs  mitgcthoilt,  zwei  von  ihm« 

roi  von  Goethe  (vgl.  Briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Ooethe  3,  181;   !95  f.). 

In  den  letzten  spielt  Priapua  eine  grosse  Rolle,  einmal  als  Gott  mit  einer  Bajadere. 

BO  da68  äie  ihn  Morgens  an  ihrer  Seite  todt  findet ;  das  zweite  Mal  aU  ein  Heiden- 

jangUng  mit  seiner  christlichen  Brant,  die  als  Gespenst  zu  ihm  kommt,   und  die 

ein»?  kalte  Leiche  ohne  Ilcrz,    zum   warmen  Leben  priapisiort;    —   das  liiid 

leldenballailcn !    Sie  werden  schon  allgemein  gelobt,  und  IhHtigcr  ist  entzückt  von 

men".  44i  5,  271  ff.;  s.  Werke  zur  schönen  Literatur  und  Kunst  18,  15 ff. 

KoWnUlB,  OrondiiM.    5.  Aofl-    IV.  57 


898    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIIl  Jahrhunderts  bia  zu  Goethe's  Tod. 

§  339  Herzens  verwirren  dürfe,  ja  dass  sie  in  diesem  Tumulte  triumj)hiere''. , . 
„Wissen  wir  (Deutschen)  keine  andern  Gegenstände  der  Ballade,  als 
Gefechte  mit  Ratten  und  Mäusen,  Scenen  aus  der  Acerra,  aus  Berken- 
meier,  aus  der  skandalösen  Chronik,  oder  aus  der  Hölle  selbst,  weil 
*     gewöhnlich  zuletzt  in  Gluthen  und  Fluthen,  in  Grüften,  Lüften  und 
Klüften,  indisch  und  welsch,  heidnisch  und  christlich,   der  Teufel 
alles  holet"?    Dann  gehört  hierher  auch  eine  andere  Stelle  in  dem 
Abschnitt  der  , Adrastea"**,  worin  er  die  Frage  erörtert,   ob  dem 
Volke    so    viel  Kunstsinn   als  Sinn   für   Wahrheit   und    Ehrbarkeit 
nöthig  sei?  wo  er  denn  auch  dem  neuen  Kunstevangelium  Goethes, 
Schillers  und  der  Schlegel   schroff  entgegentritt:    ^ Steigt   ihr;  am 
euern  eigenthümlichen   Kunstsinn   und   Kunstgescbmack   zu  zei^n, 
damit  euch  alle  Nachbarn  verhöhnen,  so  tief  hinab,  ihr  Deutschen? 
Vor  euern  Vorfahren  schämt  ihr  euch  freilich  nicht,   da  ihr  sie  ver- 
höhnet und   nach   einer  neuen  Ordnung  der  Dinge  in  Sachen  des 
Geschmacks  auf  dem  Kopfe  tanzet;  tanzt  aber,  wenn  es  euch  also 
beliebt,  für  euch;   warum  vor  dem  Volke?    Wenn  diess  Grädsmus, 
Kunstsinn  der  allein  echten,  seligmachenden  Poesie  ist,  unser  Volk 
wird  dadurch  nicht  selig.    Zerstört  ihr  ihm  sein  Heiligtbum,  zerreisst 
ihm  seine  Religions-  und  häuslichen  Bande,  an  denen  der  Rest  seiner 
Glückseligkeit  hieng,  macht  ihr  ihm  z.  B.  die  Ehe  verächtlich,  seinen 
Gottesdienst,  mit  dem  Schnödesten  zusammengestellt,  widrig,  schickt 
ihm  Kobolde  und  Gespenster  zu,  die  ihm  seine  Pflichten  und  Freodes 
verleiden,  oder  zieht  ihn  gar  aus  dem  Kreise  derselben  vor  eure 
Buhnen,  Läger  und  Opferstätten,  damit  er  das  Widrigste  als  reines 
Kunstproduct  enii>fangen  lerne:   was  habt  ihr  ihm  damit  gegeben' 
deutsche  Nationallieder?    Gewiss  nicht  I    Kunstproduete?   Versttet 
das  Volk  damit;  diesen  Kunstsinn  weiss  es  nirgend  zu  gebrauoLet 
Es  bleibe  euch  und  führe  euern  Namen,  ihr  Kunsterfimler".    Nfci; 
der  Mittheihing  von  Frau  Herder*^  nannte  ihr  Gatte  die  geuiütbloser. 
bloss  in  und  für  die  Formen  dargestellten  poetischen  Producta  dfr 
damaligen  Zeit  ^Brunnen  ohne  Wasser".    So  hoch  er  auch  in  einifea 
Dichtern  jener  Zeit  den  poetischen  Werth  anerkannt  habe,  wenu  s> 
dem  edlen  Geiste  dienten,  so  widrig  und  verächtlich  sei  es  iLin  ?f- 
wesen,  wenn  sie  ihre  Kunst  anwendeten,   die  Sittlichkeit,   die  Br 
ligion,   das  menschliche  Gemüth  zu  misshandelu  und  irre  zu  leiten: 
wenn  sie  die  Vergötterung  der  Kunst  der  Veredlung  der  MenscUfi' 
durch  sie  vorzogen,   unwürdig  ihres  göttlichen  Dichterbenifs,  uow 
antwortlich    verführend   durch   ihr  Beispiel.     Darum    habe  er  JöS 
Paul  80  lieb  gehabt,  der  stehe,  habe  er  oft  gesagt,  gegen  jene  Wfli^ 


45)  5,  291  f.;  Werke  1**,  29  f.  46)  Werke  zur  Fhüosophie  uai '-'*• 

schichte  22,  245. 


Enbrickeluugsgang  der  Literatur.    1773-IS32.    Herder  und  Goethe.     899 


nuf  einer  hohen  Stufe:   nJch   gebe   alle    künstlich    metrische  Form 
hin  ^egen  seine  Tugend,  seine  lebendige  Welt,  sein  fühlendes  Herz, 
seinen  immer  BChafifenden  Genius;   er  bringt  wieder  neues,  frisches 
Leben,  Wahrheit,   Tugend,   Wirklichkeit   in   die  verlebte  und  mies- 
brauchte Dichtkunst".    Aeusserungen  Herders  über  die  Romantiker 
ind  oben"  mitgetheilt".    Das  absichtliche  Verschweigen  der  jüng- 
sten Diclitungen  von  Goethe  und  Schiller  zeigt  sich  am  auffallendsten 
in  <leu  Abschnitten  der  pAdrastcfl",  worin  Herder  über  Drama  und 
Epos  spricht**:   Lessings  „Nathan"   und  ^Emilia  Galotti*"  iässt  er 
nicht  imbcrürksichtigt,  Klopstocks „Messias^  und  Wieland» ei7.ftblende 
Dichtungen  werdeu  Öfter  angeführt,   aber   weder  der  „  Wallenstein" 
and  die  andern  auf  ihn   folgenden  Stücke  Schillers,  die  Herder  er- 
lebte, noch  «Hermann  und  Dorothea"  werden  irgendwo  genannt,  und 
gelbst  Goethe's  und  Schillers  Namen  sucht  man  vergeblich  in  diesen 
.bBchnittoD.     Nach   der  Vorliebe,    die   Herder   für   die  namhaftem 
lichter  und  Prosaisten  der  alten  Schule  vor  und  nach  dem  J.  1773 
in  «einen  letzten  Schriften  zeigte,  und  nach  dem  Lobe,  das  er  ihnen 
spendete,  schien  es,   als  läge  für  seine  damalige  Anschauungsweise, 
snso  wie  für  die  seines  Freundes  Wieland,   das  goblene  Zeitalter 
iserer   neuem    Literatur   bereits   in    der   Vergangenheit.    Deshalb 
lachte  schon  die  achte  Sammlung  der  Humauitätsbriefe  auf  Goethe 
teinen  angenehmen   Eindruck.     Er  schrieb   darüber   an   Schiller'^': 
[Berders  zwei  neue  Bände  habe   ich   mit  grossem  Antheil  gelesen, 
►er  sietiente  besonders  scheint  mir  vortrefflich  gesehen,  gedacht  und 
jschriebon;  der  achte,  ao  viel  Treffliches  er  enthält,  macht  einem 
nicht  wohl,   und  es  ist  dem  Verf.  auch  nieht  wohl  gewesen,   da  er 
ihn  schrieb.     Eine  gewisse  Zurückhaltung,  eine  gewisse  Vorsicht,  ein 
Drehen  und  Wenden,  ein  Ignorieren,  ein  kärgliches  Verlheilen  von 
LfOb  and  Tadel,  macht  besonders  das,  was  er  tou  der  deutscheu 
Literatur  sagt,   äusserst   mager''.     Wa.s  Schiller   betrifft,   so   machte 
ihm  Herders  Buch  ziemlich  dieselbe  Empfindung  wie  Goethen".    „An 
Herders  Confessionen  über  die  deutsche  Literatur",  schrieb  er,  «ver- 
driesst  mich  uoch^   ausser  der  Kälte  für  das  Gute,  auch  die  sonder- 
bare Art  von  Toleranz  gegen  das  Elende;   es  kostet  ihn   eben  so 
wenig,  mit  Achtung  von  einem  Nicolai,  Eschenburg  n.  A.  zu  reden, 
als  vou  dorn  Bedeuteudsten,  und  auf  eine  sonderbare  Art  wirft  er  die 


339 


47)  S,  $H6  tf.  49)  Vgl.  auch,  wie  er  sich  io  den  numanitatsbriefon, 

Sammlung  ^.  160  f.  über  die  Kritik  nacli  Lessini^  Zeit  von  ]Iön?nGiu,'en  aiislAsst, 
wo  gewiss  unter  den  ..unbArtigen  JünglingCD,  die  denr^a,  von  denen  Me  gelernt 
hatten,  das  Kinn  rasierten,  um  doch  auch  an  ihnen  bertihrat  zu  werden-,  Yorftllen 
andern  Fr.  Scblegd  gemeiot  ist  49i  ;i,  2ht>  ff.;  5,  i:i4  ff.;  2IKi  ff. 

50)  2,  4a  f.  51)  2,  52  1 

57« 


900    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderta  bis  sa  Goethe's  Tod. 

339  Stolberge  uud  mich,  Kosegarten  und  wie  viele  Andere  in  Einen  Brei 
zusammen.    Seine  Verehrung  gegen  Kleist,  Gerstenberg  und  Gessner 
und  überhaupt  gegen  alles  Verstorbene  und  Vermoderte  hält  gleichen 
Schritt  mit  seiner  KAlte  gegen  das  Lebendige".    Unter  dem  Eindruck 
dieser  Antwort  Schillers  ist  dann  wenige  Tage  später  Goetbe's  Brief 
an  H.  Meyer  geschrieben":  „Freund  Humanus",   heisst  es  darin, 
„hat  vor  kurzem  noch  ein  böses  Beispiel  gegeben,  was  VP'illkürlich- 
keit  im  Urtheile,  wenn  man  sie  sich  einmal  erlaubt,  bei  dem  grössten 
Verstände  für  traurige  Folgen  nach  sich  zieht    Eine  Parentalion 
kann  nicht  lahmer  sein  als  das,  was  über  deutsche  Literatur  in  ge- 
dachter Schrift  gesagt  wird.    Eine  unglaubliche  Duldung  gegen  das 
Mittelmässige,  eine  rednerische  Vermischung  des  Guten  und  des  Un- 
bedeutenden, eine  Verehrung  des  Abgestorbenen  und  Vermoderten, 
eine  Gleichgültigkeit  gegen  das  Lebendige  uud  Strebende,  dass  man 
den  Zustaud  des  Verfassers  recht  bedauern  muss ,   aus  dem  eine  so 
traurige  Gomposition   entspringen   konnte.    Und    so    schnurrt  aocb 
wieder  durch  das  Ganze  die  alte  halbwahre  Philisterleier,  „„daas 
die  Künste  das  Sittengesetz  anerkennen  und  sich  ihm  unterordne 
sollen*'".    Das  erste  haben  sie  immer  gethan  und  müssen  es  thnn, 
weil  ihre  Gesetze  so  gut  als  das  Sittengesetz  aus  der  Vernunft  ent- 
springen; thäten  sie  aber  das  zweite,  so  wären  sie  verloren,  nndee 
wäre  besser,  dass  man  ihnen  gleich  einen  Mühlstein  an  den  Bals 
hienge  und  sie  ersäufte,  als  dass  man  sie  nach  und  nach  ins  Nflti- 
lichplatte  absterben  liesse".    Als  der  erste  Band  der  „Adrastea""  er- 
schienen war,  sandte  ihn  Goethe  an  Schiller"  als  eine  Erscheinung, 
die,   wie  sie  sage,  vom  Himmel  komme;  allein,   wie  ihn  bedanke, 
habe  sie  gar  zu  viel  von  dieser  altfränkischen  Erde  an  sich.    Der 
Verf.  dieses  Werkleins  scheine  sich  wie  im  Fegefeuer  zwischen  der 
Empirie  und  der  Abstraction,  in  einem  sehr  unbehaglichen  Mittel- 
stande zu  befinden ;  indess  sei  weder  an  Inhalt  noch  an  Form  etwa^ 
über   das   sonst  Gewohnte.    Worauf  Schiller   antwortete*':   -Diese 
Adrastea  ist  ein  bitterböses  Werk,   das  mir  wenig  Freude  gevoifh 
hat.    Der  Gedanke  an  sich  war  nicht  Übel ,   das  verflossene  Jahr- 
hundert, in  etwa  einem  Dutzend  reich  ausgestatteten  Heften,  voröbe' 
zu  fuhren,  aber  das  hätte  einen  andern  Führer  erfordert,  und  Jie 
Thierc  mit  Flügeln  und  Klauen  (das  Greifenpaar  auf  der  Tifehir'- 
nette),    die  das  Werk  ziehen,   können  bloss   die  Flüchtigkeit  ^ff 
Arbeit  und  die  Feindseligkeit  der  Maximen  bedeuten.     Herder  ^t:- 
fällt  wirklieh  zusehends,   uud  man  möchte  sich  zuweilen  im  Erc*«' 
fragen,  ob  einer,   der  sich  jetzt  so  unendlich  trivial,   scb^'afb '^"'^ 

52)  Briefe  von  und  an  Goethe,  herausgeg.  von  Riemer,  S.  37  f,       53'  *!■-'• 
54)  ü,  25  f. 


Sstwickelungsgaiig  der  Literatur.  1773— 1832.  Wleland  und  Goethe  luSchUler.  90t 

hohl  zeigt;  wirklich  jemals  ausserordentlich  gewesen  sein  kann.    Es  §  339 
sind  Ansichten  iu  dem  Buch,  (lio  man  im  Reichsanzeiger  zu  finden 
gewohnt  ist;  und  dieaos  erhiirmliche  Hervarklauben  der  früh crn  und 
fthgelebten   Literatur,   um   nur   die  Gegenwart   zu   ignorieren    oder 
^hämische  Vergleichungon  anzustellen!" 

Auch  das  gute  Einvernehmen  Wielands  mit  Goethe  und  Schiller 
■«erlitt  seit  der  Mitte  der  neunziger  Jahre  manche  Störung  und  Unter- 
brechung. 8chon  durch  eine  Stolle  in  Schillers  Abhandlung  „über 
naive  und  sentimental ische  Dichtung""  hatte  er  sich  unangenehm 
berllhrt  gefllhlt.  Dort  war  Wieland  in  der  Reihe  derjenigen  Dichter 
(Ovid,  Crebillon,  Voltaire,  Marmontel,  Laclos  etc.)  mit  genannt, 
deren  „ verführerische  Gemilhlde"  Schüler  „einer  Entschuldigung 
durchaus  für  unffihig"  hielt'".  In  der  dazu  gehörigen  I^otc  erklärte 
er  zwar  ausdrücklich,  dass  er  Wieland  keineswegs  mit  der  Gesell- 
schaft, in  der  er  ihn  genannt  habe,  verwechselt  haben  wolle:  seine 
Schilderungen,  auch  die  bedenklichsten  von  dieser  Seite,  hätten  keine 
materielle  Tendenz;  der  Verf.  von  „Liebe  um  Liehe"  und  von  so 
vielen  andern  naiven  und  genialischen  Werken,  in  welchen  allen 
eich  eine  schöne  und  edle  Seele  mit  unverkennbaren  Zügen  abbildej 
könnte  eine  solche  Tendenz  gar  nicht  haben.  „  Aber ",  heisst  es  dann, 
er  scheint  mir  von  dem  ganz  eignen  Unglück  verfolgt  zu  sein,  dass 
lergleichen  Schilderungen  durch  den  Plan  seiner  Dichtungen  noth- 
wendig  gemacht  werden.  Der  kalte  Verstand,  der  den  Plan  ent- 
warf, forderte  sie  ihm  ab,  und  sein  GefUhl  scheint  mir  so  weit  ent- 
fernt, sie  mit  Vorliebe  zu  begünstigen,  doss  ich  —  in  der  Ausführung 
selbst  immer  noch  den  kalten  Verstand  zu  erkennen  glaube.  Und 
gerade  diese  Kälte  in  der  Darstellung  ist  ihnen  in  der  Beurtheilung 
schädlich,  weil  nur  die  naive  Erapfinrlung  dergleichen  Schilderungen 
ästhetisch  sowohl  als  moralisch  rechtfertigen  kann.  Ob  es  aber  dem 
Dichter  erlaubt  ist,  sich  bei  Entwerfung  des  Plans  einer  solchen 
Gefahr  in  der  Ausführung  auszusetzen,  und  ob  überhaupt  ein  Plan 
poetisch  heissen  kann,  der,  ich  will  dieses  einmal  zugeben,  nicht 
kann  ausgeführt  werden,  ohne  die  keusche  Empfiudung  dos  Dichters 
sowohl  als  seines  Lesers  zu  empören,  und  ohne  beide  bei  Gegen- 
ständen vorweilen  zu  machen,  von  denen  ein  veredeltes  Gefühl  sich 
80  gern  entfernt,  —  diess  ist  es,  was  ich  bezweifle,  und  worüber 
ich  gern  ein  verständiges  Urtheil  hören  möchte**".    Grossen  Anstoss 


5oi  In  den  8.  Werken  8,  2,  130  ff.  Vgl.  dazu  ein  andres  Crtheü  Schniors 
»er  Wiel&nd  aus  dem  J.  1797  in  dem  Briefe  an  KOmer  4,  2s.  5G)  Vgl. 

kWUer  an  Goethe  1,  257.  57)  Vgl.  Böttiger,  Uterarische  Zustände  1.  ISl  f., 

*r  diese  Stelle  „den  hainischen  Ausfall  Schülers  in  den  noren"  nennt  und  Uim 

sehr  unlautere  SeweggrOnde  unterlegt.    ^SchiUer",  berichtet  er,  »wollte  die  Vor- 


902     VI.  Vom  sweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  xu  Goetbe's  Tod. 

§  339  hatten  Wioland  dann,  obgleich  er  gelbst  in  ihnen  nicht  eigentlich  ver- 
letzt worden  war,  die  „Xenien**  erregt.  An  Göschen  schrieb  er": 
„Ich  für  meine  Person  habe  so  wenig  Freude  daran,  wenn  Männer 
wie  G.  und  S.  der  Welt  eine  solche  Farce  geben  und  durch  einen 
Muthwillen,  der  in  ihren  Jahren  kaum  verzeihlich  ist,  sich  selbst 
eine  so  pöbelhafte  Behandlung  (in  den  „Gegengeschenken  an  die 
Sudelköche *'^')  zuziehen,  dass  ich  darüber  eher  weinen  als  lachen 
möchte"".  Der  Weg,  den  er  einschlug,  um  seinen  Verdruss  über 
dieses  literarische  Strafgericht  öffentlich  auszusprechen*',  musste 
wiederum  den  Verfassern  der  „Xenien"  sehr  missfällig  sein**,  während 
seine  wiederholten  Behauptungen,  dass  das  goldene  Zeitalter  unserer 
schönen  Literatur  so  gut  wie  vorüber  sei",  geradezu  beleidigend  für 
sie   waren".    Nun  war  ihm  Herder,  je  weiter  derselbe  sich  von 

rede  zur  grossen  Ausgabe  von  Wielands  Werken  machen  und  schrieb  desire^ 
an  Wicland.  Dieser  lehnte  es  bescheiden  ab,  daher  die  erste  Misslaune.  Einü^ 
kleine  Billets  von  Schiller  beantwortete  Wieland  nicht.  Das  verdross  viftier. 
Nun  fri^hnt  er  Goethen".  Da  jene  Ausgabe  von  Wielands  Werken  vom  J.  17^4 
an  erschien,  so  muss  man  sich  wundern,  dass  Böttiger  nicht  schon  das,  wu  er 
in  seinem  Tagebuch  g^enEndc  jenes  Jahres  aufgeseichuet  hat  (I,  149  f.  .In  Jens 
spricht  Schiller  mit  seinem  Anhange  sehr  ungdnstig  von  Wielaud  als  Dichter  aad 
productivem  Genie"  otc.)  nicht  aus  denselben  elenden  Beweggründen  hergeIntK 
hat.    Aber  wahrscheinlich  gieng  ihm  dieses  Licht  erst  später  auf.  5S)  IVn 

29.  Novbr.    W.ib.    Wielands  Leben  von  Gruber  4,  249.  59)  Vgl  *beD 

S.  142,  TT'.  60)  Kinige  Tage  später  schrieb  er,  gleichfalls  in  Bezog  auf  jene 

-Gegengeschenke**:  .Hätten  die  Herren  Götterbuben  —  um  mit  dem  Verf.  *ies 
ArdinglicUo  zu  reden  —  nicht  vorhersehen  sollen,  dass  man  beschimpft  wird,  ironn 
man  sich  zum  Spiiss  mit  Gassenjungen  herumbalgt?*  61)  Im  n.  d.  M^ur 

von  ITDT.  I,  l'S  ff.;  vgl.  oben  S.  \4'^,  T9'.  -leb  will  ihnen  doch  einmal  zem'-i- 
dass  ich  koin  lloui  Julc,  wie  die  Schweizer  sagen  {süsser  Julius)  bin-,  sairte  Via 
land,  als  er  eben  die  Kritik  über  den  schillcrschen  Musenalmanach  scbrü: 
Böttig(^r,  a.  a.  0.  1.  201.  62)  Schiller  an  Goethe  d.   11.  Jan.  IT''T    >.* 

«Wiclaml  wird  nun  auch  gegen  die  Xenien  auftreten.  —  Es  wäre  doch  ur-ac* 
genehm,  wenn  er  uns  zwange,  auch  mit  ihm  anzubinden,  und  es  fräst  siob.  «.^ 
man  nicht  wohl  thäto,  ihm  die  Folgen  zu  bedenken  zu  geben";  tind  am  T.  F-^r. 
(:*.  :i2):  ..Ohne  Zweifel  haben  Sie  jetzt  auqh  die  wielandische  Oration  fiKwa  iJ* 
Xenien  gelesen.  Was  sagen  Sie  dazu  ?  Es  fehlte  nichts,  als  dass  sie  im  keVaj 
anzeiger  stünde".  Goethe,  der  damals  Wielands  Gespräch  im  Merkur  noch  ni  ^'■ 
gesehen,  auch  noch  nichts  davon  gehört  hatte,  erwiederte  mit  seiner  nowi-U.*-- 
Gelassenheit :  es  lasse  sich  vermuthen,  dass  er  in  der  heilsamen  Mittel:'tni^?';  i''- 
blioben  sei  i:*,  31).  63)  Vgl.  obouS.  T16  und  S34,  25.  Die  in  dieser  Anraerkjr: 
angezogene  Stelle  aus  dem  n.  d.  Merkur  von  ITH7  lautet:  «Freundschaft  uudt-i- 
falligkcit  haben  mich  in  den  Stand  gesetzt,  diese  noch  ungedruckte  Ode  vcl  uv^ 
grössten  Dichter  unserer  Nation  au  den  Einzigen  noch  lebenden  von  i»':-ieß.  vi' 
welchen  sich  das  goldene  Alter  unserer  Dichtkunst  begonnen  hat  (die  OJe  !•*  >- 
Gleim  gerichtet),  der  kleinen  Anzahl  von  Lesern  mittheilen  zu  dürfen,  die.  In  <li"'- 
Hefen  des  is.  Jahrhunderts,  noch  Sinn  und  Herz  für  die  liebe nswUrdiirsti  'i- 
Musenkünste  aus  einer  bessern  Zeit  gerettet  haben".  6-1)  ludest 't:^:*- 

Wielands  Aeusscrung  im  Merkur  viel  weniger  Goethe's  Unwillen  ;vls  seine  ileirirkr.- 


«■ 


Entwickelongsgang  der  Literatur.  1773— 1S32.  WitOaud  uad  Goethe  u.  Schiller.    903 

fcchiller  und  Goethe  entfernte,  um  so  näher  getreten,  und  bald  hatte  §  339 
essen  grosse  perermliche  Anziehungskraft  und  Charaktcrüherlegen- 
heit  ihre  Wirkung  auf  ihn  im  vollsten  Masse  ausgeübt.  So  liess  er 
sich  darauf  ein,  sich  an  der  Fehde  Herders  gegen  Kant  durch  eine 
preisende  Anzeige  der  Metakritik  zu  betheiligen",  und  stiess  damit 
aufs  neue  bei  Goethe  und  Schiller  an.  „Mit  welcher  unglaublichen 
Verblendung  der  alte  Wieland^  schrieb  Goethe",  ,.in  den  allzufrUhen 
metakritisehen  Triumjih  einstimmt,  werden  Sie  aus  dem  neuesten 
Stücke  des  Merkurs  mit  Verwunderung  und  nicht  ohne  Unwillen 
ersehen.  Die  Christen  behaupteten  doch:  in  der  Nacht,  da  Christus 
geboren  worden,  seien  alle  Orakel  auf  einmal  verstummt,  und  so 
versichcni  nun  auch  die  Apostel  und  Jünger  des  neuen  philosophischen 
.  Evangelii,  dass  in  der  Geburtsstuude  der  Metakritik  der  Alte  zu 
■[Königsberg,  auf  seinem  Dreifuss,  nicht  allein  paralysiert  worden, 
sondern  sogar  wie  Dagou  herunter  und  auf  die  Nase  gefallen  sei. 
Kein  einziges  der  ihm  zu  Ehren  errichteten  Götzenbilder  stehe  mehr 
auf  den  Füssen!  und  es  fehlt  nicht  viel,  dass  mau  nicht  für  nöthig 
und  natürlich  finde,  silmratliche  Kantgenossen,  gleich  jenen  wider- 
spenstigen Baalspfaflfen,  zu  schlachten.  Für  die  Sache  selbst  ist  mir 
es  kein  gutes  Anzeichen,  dass  man  glaubt,  solcher  heftigen  und  doch 
keineswegs  auslangenden  Empfehlungen  zu  bedürfen".  Schiller  ant- 
wortete"':  „DaB  Geschrei,  das  Wieland  vou  Herders  Buch  erhebt, 
wird,  wie  ich  fürchte,  eine  ganz  andere  Wirkung  thun,  als  er  da- 
mit beabsichtigt.  Wir  können  es  in  aller  Gelassenheit  abwarten  und 
wollen  bei  dieser  Komödie,  die  bunt  und  lärmend  genug  werden 
wird,  als  ruhige  Zuschauer  unsere  Plfitze  nehmen.  Unterhaltung  gibt 
es  nna  gewiss.  Was  auch  Wieland  gesagt  haben  mag,  so  wünschte 
ich,  Cotta  setzte  es  in  die  allgemeine  Zeitung,  oder  Böttiger  schickte 
es  dahin,  denn  es  kann  nicht  allgemein  genug  bekannt  werden". 
Einige  Monate  spfiter  schrieb  Wicland  an  Göschen*^,  es  habe  sich 
seit  einiger  Zeit  eine  obscure  Ka1)ale  gegen  ihn  erhoben,  die  viel- 
leicht unter  der  Hand  von  berühmten  Männern  begünstigt  werde. 
Mit  den  Kabalicrenden  waren  unstreitig  vorzugsweise  die  Schlegel 
g^emeint,  die  damals  schon  den  zweiten  Dand  des  Athenäums  heraus- 


Er  schrieb  darüber  In  der  zweiten  oben  S   s;i4,   Anin.  25  citlcrton  BrielsteUe  au 

Schiller:   ..Lassen  Sie  uns  ja  auf  dem  eingeschlagenen  Wej^e  fortfahren!  —  lu- 

isen  mag  der  alte  landator  temporis  acti  in  diesen  Hefen  des  achtzehnten  Jahr- 

lundertg  sich  betrüben;   äo  virl  klaren  Wein.   &U  wir  hrauehcn,   wird   uns  die 

[use  schon  einschenken-.  65)  Sic  steht,  mit  der  Uebei-schrift  »Ein  Wort 

Iber  Herders  Metakritik  zur  Kntik  der  reinen  \'ernnnff\  im  n.  d.  Merkur  1799. 

69  ff.;  die  versprochene  Fortsetzung  blioh  aus.    Vgl.  Gruber  a.  o.  0.  4,  257  Öf". 

ÖO)  An  Schiller,  den  5.  Juni  t7ttü:   5,  *i4  t         ö7)  5,  hSf.  69)  Gruber 

0    4,  295. 


904    VI.  Vom  Eweiten  Viertel  des  XVm  JahrliuadertB  bifi  zu  Goefhe^s  Tod. 

339  gegeben  hatten,  mit  den  berQhmten  Männern  ebenso  gewiss  Goetbe 
und  Schiller".  Gleichwohl  wurde  beider  gutes  oder  doch  leidliches 
Verhältniss  zu  ihm  nie  in  dem  Grade  und  auf  so  lange  gestört,  wie 
das  zu  Herder;  besonders  mit  Goethe  stellte  sich  nach  einer  an- 
getretenen Spannung  und  Erkältung  gemeiniglich  bald  wieder  ein 
freundlicher  Verkehr  her^^  — 

8  340. 

In  den  zehn  Jahren,  die  dem  Tode  Schillers  und  den  in  ihren 
nächsten  Folgen  so  unheilvollen  Kriegen  Oesterreichs  und  Preussens 
gegen  Frankreich  unmittelbar  vorangiengen,  hatte  die  iwetigche 
Literatur,  wie  wir  gesehen,  sofern  sie  sich  höhere  und  edlere  Zwecke 
als  die  Befriedigung  des  gemeinen  Unterhaltungsbedttrfnisses  setzte, 
bei  uns  zwei  theils  weit  auseinander  gehende,  tbeils  aber  auch  sieb 
mehrfach  berührende  Hauptrichtungen  verfolgt,  die  eine  in  Goethe 
und  Schiller,  die  andre  in  den  Romantikern.  So  erreichte  sie  im 
Hervorbringen  einer  Eeihe  entweder  wirklich  künstlerisch  vollendeter 
oder  doch  mindestens  —  sei  es  durch  ihren  Inhalt,  sei  es  durch  ihre 
Form,  oder  auch  durch  den  einen  und  die  andere  zugleich  —  sehr 
merkwürdiger  und  charakteristischer  Werke  den  Höbepunkt  ihrer 
zcitherigen  Entwickelung  zur  schönen  Kunst.  Auf  dem  wissenschaft- 
lichen Gebiet,  auf  dem  überhaupt  eine  immer  freier  and  lebendiger 
werdende,  mannigfaltigere  und  tiefer  greifende  Hegsamkeit  wab^ 
nehmbar  ward,  hatten  von  denjenigen  Richtungen,  die  zu  der  schönen 
Literatur  im  nächsten  Bezüge  standen  und  auf  ihre  Gestaltung  eines 
mehr  oder  minder  grossen  EinÜuss  ausübten,  die  Philosophie  sich 
zu  den  kühnsten  Flügen  der  Speculation  erhoben,  die  classische 
Philologie  ganz  neue  und  höchst  fruchtbare  Einblicke  in  die  Ge- 
schichte der  antiken  Dichtkunst  eröffnet,  eine  im  Vergleich  mit  elie- 
dcm  vorurtheilsloscre  und  gründlichere  Auffassung  und  Beurthciluni: 
literargeschichtlicher  Bildungszustände  und  Entwickelungen  überhaupr 
wenigstens  begonnen,  die  culturgeschichtliche  Forschung  und  Dar- 
stellung, wenn  auch  noch  nicht  mit  vollem  Ernst  und  eindringender 
Gründlichkeit,  doch  mit  grösserer  Neigung  und  unbefangencrem  Blick 
als  früherhin,  sich  auch  dem  Mittelalter  zugewandt,  die  Theolode 
endlich  augefangen,  sich  von  einem  ganz  flachen  und  dürren  Ratii- 
nalisraus  sowohl,  wie  von  einer  starren  und  unfreien  Rechtgläubig;- 
keit  abzukehren  und  sich  mit  einem  lebendigem,  warmem  uud  zu- 
gleich philosophischeren  Inhalt  zu  erfüllen.  Auf  beiden  Gebieten, 
auf  dem  wissenschaftlichen,  wie  auf  dem  poetischen,  hatte  die  Kritik 


09)  Vgl.  dazu  LoobcU.  die  Entwickelung  der  deutscheu  Poesie  2,  TUm  f. 
70)  Vgl.  Düntzer,  Freundcsbilder  aus  Goetlie's  Leben  S.  36l»  ff. 


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EntwickeluDgsgaiig  der  Literatur.    1773—1832.  Zeit  vorilein  Frenieitskriege.    It05 

in  ihrem  frischen  und  kräftigen  Aufschwünge  vielfach  wohlthätig  §  340 
gewirkt,  hald  dem  Schlechten  entgegentretend,  bald  das  Gute  be- 
günstigend und  fördernd,  und  thcils  an  ihrer  Hand^  theils  an  der 
der  Philosophie  hatte  die  Theorie  der  Kunst,  nachdem  das  Feld  der 
poetischen  Anschauungen  auch  noch  durch  NflherrUcken  und  Ein- 
bUrgcrnng  so  vieler  fremder  Dichtungswerke  aus  alter  und  aus  neuer 
Zeit  ausserordentlich  enveitert  worden,  sich  neue  Wege  gesucht  und 
auf  ihnen  ganz  neue  Gesichtspunkte  gewonnen.  Noch  um  die  Mitte 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  war  das  Bessere,  was  in  der  heimischen 
Literatur  hervorgebracht  wurde,  nur  für  ein  kleines,  zumeist  den 
mittleren  Classen  angehürigcs  Publicum  vorhanden;  in  der  grossen 
Masse  hinderte  Mangel  an  Bildung  das  Verständniss  und  den  Genuss, 
die  lateinisch  geschulten  Fachgelehrten  aber  und  die  französisch  er- 
zogenen Vornehmen  sahen  meist  nur  mit  Geringschätzung  auf  alles 
herab,  was  in  deutscher  Sprache  geschrieben  war'.  Erst  seit  dem 
Ausgang  der  sechziger  Jahre  hatte  sich  dicss  merklicher  nach  und 
nach  geändert:  der  Kreis  derjenigen,  die  einen  lebhaftem  Antheil 
an  der  vaterländischen  Literatur  nahmen,  Imtte  sich  mehr  und  mehr 
erweitert,  die  einzelnen  Stände  waren  in  ihren  ßilduugsarten  und 
Bildungsgraden  einander  näher  gerückt,  das  Verständuiss  der  be- 
deutendem literarischen  Erscheinungen,  zumal  der  dichterischen,  und 
der  Genuss  daran  hatten  sich  verallgemeinert;  allein  fdr  das  Beste 
und  Vorzüglichste,  was  in  der  poetischen  Kunst  dem  Publicum  ge- 
boten wurde,  war  selbst  noch  in  deu  Achtzigern  und  im  Anfang  der 
Neunziger  der  Sinn  erst  verhältnissmässig  sehr  wenigen  erschlosse^^ 
Nun  aber  rückte  in  Ähnlicher  Weise,  wie  die  Entwickelung  der 
Literatur  selbst,   so   auch   die  Empfänglichkeit  dafür  und  ihr  Ver- 

ändniss  im  Publicum  vor,  und  die«8  war  zunüchst  und  zumeist  das  " 
Verdienst  Schillers  und  der  beiden  Schlegel,  die  in  ihren  kunst- 
philosophischen und  kritischen  Schriften  hier  als  Vermittler  eintraten  \ 
Dadurch  wurde  ein  unendlicher  Ideenreichthum,  der  sich  in  der 
chriftstellerwelt  nach  und  nach  angesammelt  hatte  und  fortwährend 
nwuclis,  in  allgemeinem  Umlauf  gesetzt,  die  grosse  geistige  Bo- 
egUDg  in  den  Gebieten  der  Kunst  und  der  Wissenschaft  in  alle 
r  höhere  Bildung  empfängliche  Classen  der  Nation  hinUbergeleitet, 
die  Bildung  selbst  damit  ausserordentlich  gehoben,  eine  lebendige 
Wechselwirkung  zwischen  der  Literatur  und  der  Gesellschaft  ein- 
geleitet. —  Indessen  in  so  vorthcilhaftem  Lichte  uns  auch  die  hei- 
mischen Literatur-  und  BiltlungszustHnde  in  den  letzten  Jahren  de» 


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006     VI.  Vom  zwcitca  Viertel  des  XVTII  Jahrhiinderta  bis  za  OoeÜie'4  Tod. 

340  vorigen  und  in  den  ersten  des  jetzigen  Jahrbtinderts  erschdni 
wenn  wir  sie  denen  der  voran^e^rangenen  Zeiten  gegenüberstellen, 
viele  nnd  au  grosse  Missverbiiltnisse  und  Mängel  treten  doch  in  ihi 
noch  immer  hervor,  sobald  wir  sie  nach  ibrcxn  abfloluten  Vfi 
näher  ins  Auge  fassen  and  inabesondere  darnach  fragen,  in  wiefera" 
»ic  uns  den  Oeistf  den  Charakter  und  die  Physiognomie  einer  ei| 
artigen  Volksthttmlichkeit  und  einer  gesunden,  organiecheu 
Wickelung  derselben  von  innen  heraus  in  einem  Gesamii'-"  ' 
gegenwArtigen.  Von  den  hauptsfichlicbritou  und  hervon;t' 
dieser  Missverhältnisse  und  Mängel  ist  bereits  an  einer  andern  Bl 
die  Rede  gewesen'.  Lässt  man  das  dort  Gesagte  gelten»  so 
man  auch  A.  W.  Schlegel  nicht  ganz  Unrecht  geben  können  in 
was  er  schon  im  J.  1802  an  unserer  Literatur,  wie  er  sie  vorfi 
auszusetzen  hatte,  was  er  als  den  grössten  Uebelstand  an  ihr  hei 
hob,  und  was  ihm  uls  schlagendster  Beweis  dafür  galt,  dass  ai 
noch  das  deutsche  Publicum  im  Ganzen  und  Grossen  in  seiner  Mha- 
tischeu  Bildung  sehr  zurllck ,  in  seinem  Geschmack  roh ,  di 
auch  noch  in  seinem  ästhetischen  Urtheil  höchst  bcfangxsn  und 
sicher  sei*.  Das  fortv\nrkende  Grundllbel  war  das  schon  mehrft 
bemerkte:  unsere  neuere  schöne  Literatur  hatte  sich  nicht  aus  eii 
nationalen  Leben  von  naturwüchsigen  Anfängen  organisch  zur  Ki 
heraufgehildet,  sie  war  —  was  sich  schon  in  ihren  äussern  Foi 
aufs  augenfälligste  kund  gibt  —  von  Anbeginn  an  ein  kllnÄtlii 
Erzeugnisa,  das  in  seiner  Entwickolung  fortwährend  durch  Theonea 
heeiuflusst  und  bedingt  wurde;  und  diese  Theorien  waren,  w< 
nicht  ganz  der  Fremde  entlehnt,  doch  fast  durchgebends  im 
blick  auf  fremde  Muster  aufgebaut  worden,  auf  Muster, 
gegangen  aus  Culturzuständen ,  von  denen  die  unsrigen  unco'll 
weit  abstanden.  Dieas  findet  seine  Anwendung  uicbt  allein  auf 
Bildungsgang  unserer  neuern  Literatur  bis  zu  Leasings  Zeit,  auci 
später,  als  nach  der  zuerst  entschiedener  auf  eine  poetische  Rc  ' 
ausgehenden  Sturm-  und  Drangzeit  zunächst  Goethe,  sodann  > 
und  die  Romautikcr  mit  einer  edlcrn  und  gehobenem  Dichtui 
einer  gründlichen,  geistvollen  Kritik  den  schlechten  Literaturteti-i 
entgegentraten,  die,  als  immer  weiter  vorgeschrittene  Ausartm . 
jener  Realistik,  in  einen  rohen  Naturalismus,  ein  von  aller  ^viL 
Kunst  abführendes  Abschildern  der  alltäglichen  Wirklichkeit 
ein  höchst  verwerfliches  Beschönigen  und  Aufputzen  der  Sch-^ 
und  Fehler,  der  Erbärmlichkeiten  und  Sünden  des  ZoitaUci«  Aus- 
liefen: auch  da  leitete  die  Theorie,  die  wieder  den  allerbcdeuteaditeB 
Eiofluss  auf  unsere  sogenannte  classische  und  auf  die  romantirU 


4J  m,  2&— 29.  5)  Vgl.  S.  7 IS  ff. 


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EotwickeluQgsgaag  der  Literatur.    1773—1932.    EosmopoUtisnius.        907 

raduction  gewann,  ihre  SKtze  und  Vorschriften  vorzugsweise,  ja  §  340 
fast  ausschlieHHÜcl»  von  der  Poesie  der  Griechen  oder  von  den  Werken 
er  berühmtesten  sUdromanisehen  Dichter  ab.  Schon  dadurch  hätte 
iese  Prodtiction  einen  jranz  idealistischen  Charakter  erhalten  mUssen; 
entschied  tait-h  aber  noch  mehr  unter  dem  EinHusse,  den  die 
kritische  und  idealistische  Philosophie  auf  die  Dichtungslehre  und 
damit  auch  auf  die  Dichtung  selbst  gewanu.  Wenn  Goethe  und 
Schillert  und  wenn  auch  wohl  die  Romantiker  hin  und  wieder  zu 
ihren  Werken  den  Stoff  aus  dera  wirklichen  Leben  der  Gegenwart 
und  ans  der  vaterländischen  Geschichte  nahmen  und  dann  in  ihren 
Darstellungen  dem  einen  oder  der  andern  vollkommen  oder  wenig- 
lens  zum  guten  Theil  künstlerisch  gerecht  wurden,  so  geschah  diess 
och  nur  mehr  ausnahmsweise  und  im  glücklichen  Abweichen  ihrer 
Praxis  von  ihrer  Theorie;  im  Allgemeinen  verkannten  sie  theoretisch 
80  sehr  die  Bedeutung  eines  national-realen^  der  gegenwärtigen  Wirk- 
lichkeit oder  der  geschichtlichen  Vorzeit  enthobenen  Gehalts  der 
Poesie",  dass  sie  der  gegebenen  Wirklichkeit  das  Ideal  schlechthin 
utgegensetzten  und,  beide  für  vereinbar  haltend,  die  Kunst,  um  ihr 


iie  volle  Würde  und  Reinheit  zu  wahren,  Über  das  wirkliche  Leben 
ihrer  Zeit  und  ihres  Volkes  und  also  über  alle  nationale  Eigenart 
entweder  in  die  Sphäre  des  Allgemein-  und  Rein-Menschlichen,  oder 
I  in  das  Gebiet  einer  in  freiem  Spiel  schaflenden  Phantasie  hinauf- 
^■leben  wollten,  wenn  gleich  sie  sich  hierin  nicht  immer  ganz  folge- 
^Kecht  blieben,  und  namentlich  Schiller  von  dieser  Strenge  und 
HBcbroffhcit  im  Theoretischen  mit  der  Zeit  mehr  und  mehr  abkam'. 
r  Die  wahren,  gehaltvollen  Begriffe  von  Vaterland  und  Volkstbüm- 
lichkeit  waren  damals  in  ihrer  ergreifenden  Lebendigkeit  und  Würde 


6'  Was  ihnen  hieibei  zur  Entächuldigung  gereichte  und  uns  hnincr  genedgt 
lAcben  mas5.  dariUicr  billig  zu  nrtheilen.  ist  im  VorhiTgeheudeu  hier  und  da  an- 
toutct  worden;  vgl.  u.  a.  ausser  der  schon  Anroerk.  4  angefülirtcn  Stelle  noch  be- 
mders  S.  *rt2  f.  und  Anmerkung.  7i  Ich  verweise  beispielsweise  vornehmlich  auf 
ilgcndo  Stellen  in  den  frilhern  Paragraphen:  S.  502,  Ann».  *J4  (Goeihe's  Ausspräche 
^Uak^peäre  und  Caldeioni:  S.  5:n,  Anm  lU  (seine  an  „Ucrmaim  und  Doro- 
i*  gewonnene  Krt'ahrung);  S  4*^6  (Schillers  Bemerkung,  duss  es  für  den  Dichter, 
fQr  den  Künstler,  vortfaeÜhaft  sei,  nach  dem  Charakteristischen  und  PatUc- 
ichen  zu  streben,  und  dass  zu  wanschen  sei,  in  der  Theorie  möge  ao  die  Stelle 
Wortes  Schönheit ,  das  zu  so  vielen  ^lissverständnissen  Anlass  gegeben  habe, 
Wahrheit  in  ihrem  voIUtäudiifSten  Sinuc  geseut  worden  i;  S.  4S9  f.,  m'  (der 
»Scbter  dürfe  in  seinen  Darstellungen  weder  seiuen  vatcrländÜAchen  BodeD  ver* 
i»en.  noch  sich  seiner  Zeit  wirklich  entgegensetzen,);  S.  üuö,  2*»'  (die  Stelle  aus 
Briefe  an  Süvern,  warum  im  „AValleubtein-  gewisse  Forderungen  der  Kunst 
Bedurfntss  des  Theators  aul'geoptVrt  seien);  dazu  noch  S.  öOT  (Schillers  An- 
warum  im  «Teil"  den  materielleji  Forderungen  der  Welt  und  der  Zeit  etwas 
mmt  worden,  und  sein  Zweifel  an  dem  Wcrtbc  der  Theorie  für  die  lebendige 
Production). 


908    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhonderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

§  340  nur  höchst  selten  in  das  Bewusstsein  der  Deutschen  tlberhaupt  und 
der  Schriftsteller  insbesondere  getreten,  und  eben  deshalb  konnte 
in  den  letztem  auch  nicht  leicht  der  Gedanke  aufkommen  und  festen 
Halt  gewinnen,  dass  eine  in  ihrem  Geist  und  ihrer  Gestaltung,  in 
ihrem  Werth  und  ihrer  Bedeutung  nicht  bloss  für  die  Zeit  ihrer 
BlUthe,  sondern  für  alle  Zeiten  der  griechischen  ähnliche  Dichtkunst 
nur  in  dem  Taterländischen  Boden  ihre  Wurzel  haben,  nur  in  der 
gesammten  sittlichen  und  geistigen  Substanz  des  nationalen  Lebens 
ihre  besten  und  nachhaltigsten  Triebkräfte  finden  könnte.  Um  einen 
solchen  Gedanken  zu  fassen,  hätten  unsre  grossen  Dichter  und  Denker 
in  der  idealistisch -philosophischen  Anschauungsweise  aller  Dinge 
weniger  befangen,  und  dagegen  die  historische  Betrachtungsart  ener- 
gischer und  zu  eindringenderem  Tiefblick  in  das  Geschichtlich -Ge- 
wordene in  ihnen  entwickelt  sein  müssen.  Was  noch  kürzlich  einer 
unserer  ausgezeichnetsten  Geschichtschreiber*,  geäussert  hat;  „Wc 
leitenden  Geister  der  Nation  (in  der  Zeit  von  1795—18051,  die  grossen 
Dichter  und  Denker,  waren  der  üeberzeugung,  dass  der  Patriotismos 
eine  Beschränktheit  und  der  echte  Mann  lediglich  zu  äathetiscber 
Bildung  und  hnmnncm  Weltbür^rerthum  berufen  sei**,  das  lässt  sieb 
durch  die  unzweideutigsten  Ausspruche  und  Erörterungen  von  Wie- 
land,  Herder,  Goethe,  Schiller,  Jean  Paul,  Fichte  u.  a.  belegen". 
Goethe  enviederte  schon  1772  auf  die  Klagen,  dass  wir  kein  Vater, 
land,  keinen  Patriotismus  hätten'**:  „Wenn  wir  einen  Platz  in  der 
Welt  finden,  da  mit  unsem  Besitzthümern  zu  ruhen,  ein  Feld,  uns 
zu  nähren,  ein  Haas,  uns  zu  decken;  haben  wir  da  nicht  Vaterland? 
Und  haben  das  nicht  tausend  und  Tausende  in  jedem  Staat?  Una 
leben  sie  nicht  in  dieser  Beschränkung  glücklich?  Wozu  nun  da* 
vergebene  Aufstreben  nach  einer  Empfindung,  die  wir  nicht  weder 
haben  können  noch  mögen,  die  bei  gewissen  Völkern  nur  zu  ge- 
wissen Zeit|mnkten  das  Resultat  vieler  glttcklich  zusammentreffenden 
Umstände  war  und  ist?"  ete.  So  fühlte  und  dachte  er  eigentlich 
sein  ganzes  Leben  lang,  wie  hätte  er  sich  sonst  fortwährend  ans  de: 
„so  viele  Jahre  geduldeten  Niedertracht  seiner  nordij5chen  Umgebung' 
nach  Italien  und  Rom  sehnen  können".  Gegen  Eckermann*'  be- 
zeichnete er  als  die  seiner  Natur  gemasse  Culturstufe,  auf  der  er 
sich  schon  lange  vor  seinem  sechzigsten  Jahre  befestigt  habe,  die- 
jenige, wo  man  gewissermassen  Über  den  Nationen  stehe  und  ein 
Glück  oder  Wehe  seines  Nachbarvolkes  empfinde,  als  wäre  es  dem 

S)  Von  Sybel,   ^die  Erhebung  Europas  gegen  Napoleon-.     München  l"^*'- 
S.  55.  9)  Rücksichtlich  Wielantls,  Herders  und  Jean  Pauls  ven^eise  ith  aoi 

Gerviiuis  5^  .'U.t  ff.  10)  Werke  33,  litT  f.  11)  An  Schiller  6,  22i'. 

12)  Gespräche  a,  316. 


Kntwickehini;&gaDg  der  Literatur.     1773—183*2.    Koamoiwlitlflinus.       909 

eignen  begegnet.  Von  einer  patriotischen  Kunst  endlich  wollte  er  §  340 
eben  go  wenig  wissen,  wie  von  einer  patriotischen  Wissenschaft". 
Von  Schillers  Hintenansctzung  des  vaterländischen  Interesses,  gegen- 
über dem  wehhllrirerlichen  oder  rein-meuschlichen,  in  seinem  Scllrift- 
Btellerthuni  sind  bereits  ohen"  einige  Belege  gegeben.  Ein  anderer 
sehr  bcmerkeuswerther  findet  sieh  in  der  Abhandlung  „Über  das 
Pathetische  '^  ** :  „  Mau  hat  lange  geglaubt ,  der  Dichtkunst  unsere 
Vaterlandes  einen  Dienst  zu  erweisen ,  wenn  man  den  Dichtern 
Natioualgegenstände  zur  Bearbeitung  empfahl.  Dadurch ,  hiess  es, 
wurde  die  griechische  Poesie  so  bemächtigend  für  das  Herz,  weil 
sie  einheimische  Scenen  mahlte  und  einheimische  Thaten  verewigte. 
Es  ist  nicht  zu  lUugnen,  dass  die  Poesie  der  Alten,  dieses  Umstandes 
halber,  Wirkungen  leistete,  deren  die  neuere  Poesie  sich  nicht  rühmen 
kann,  —  aber  gehörten  diese  Wirkungen  der  Kunst  und  dem  Dichter? 
Wehe  dem  griechischen  Kunstgenie,  wenn  es  vor  dem  Genius  der 
Neuern  nichts  weiter  als  diesen  zufälligen  Vortheil  voraus  hätte,  und 
wehe  dem  griechischen  Kunstgescbmack,  wenn  er  durch  diese  histori- 

hen  Heziehungen  in  den  Werken  seiner  Dichter  erst  hätte  gewonnen 
erden  mllösenl  Nur  ein  barbarischer  Geschmack  braucht  den  Stachel 
des  Privatinteresse,  um  zu  der  Schönheit  hingelockt  zu  werden,  und 
nur  der  StUniper  borgt  von  dem  Stoffe  eine  Kraft,  die  er  in  die 
Form  zu  leg^en  verzweifelt.  Die  Poesie  soll  ihren  Wej^:  nicht  durch 
die  kalte  Region  des  Gedächtnisses  nehmen,  soll  nie  die  Gelehrsam- 
keit zu  ihrer  Auslegerin,  nie  den  Eigennutz  zu  ihrem  Fürsprecher 
machen.  Sie  st»!!  das  Hei*2  treffen,  weil  sie  aus  dem  Herzen  tioss,  und 
nicht  auf  den  Staatsbürger  in  dem  Menschen,  sondern  auf  den  Menschen 
in  dem  Staatsbürger  zielen"'*,  Ueber  die  durchaus  uothwondige  Fern- 
haltung der  echten  Poesie  der  Neuzeit  von  der  wirkliclion  Welt, 
worunter  denn  natürlich  ganz  besonders  die  vaterländischen  Zustände 
der  Gegenwart  und  der  Vergangenheit  vei*standen  wurden,  bat  sich 

hiller  meines  Wissens  nirgend  entschiedener  und  schärfer  ausge- 
pprochen  als  in  einem  Briefe  an  Herder  aus  dem  November  1795". 
l>crselbe  betrifft  zunächst  eine  in  Herders  «Iduna,  oder  der  Apfel 
der  Verjüngung""  aufgeworfene  Frage:  ob  die  Verwandtschaft  der 


»nordischen  Göttergeliilde  mit  unserm  germanischen  Geiste  nicht  für 
deren  Einführung  in  unsre  Dichtung  spreche?  „Gibt  man  Ihnen", 
schreibt  Schiller,  »die  Voraussetzung  zu,  dass  die  Poesie  aus  dem 


I3l  Propyläen  1^.  2.  Ifi7  14)  III.  10.  15)  S.  Werke  S  1.  137  f. 

IG»  Vgl  hierzu  Hoffmeister  in  SchiUers  Loben  J,  23S;  5,  »77,  und  Julian 
tmitit,  Oeschiclite  der  d.  Literatur  I,  :(S;  42.  17)  Aus  Herders  NachlasB 

192  f.  ISi  Zuerst  In  den  Moron  1706.    St.  I,  S.  1— 2S;  iu  den  Werken 

schonen  LiteraUir  und  Kunst  IS,  10*<)  ff- 


910     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderte  bis  lu  Goethe'»  Tod. 

340  Leben ,  aus  der  Zeit ,  aus  dem  Wirklichen  hervorgeben ,  damit  eins 
ausmachen  und  darin  zurtlekfliesaen  muss  und  —  in  unsem  Um* 
ständen  —  kann,  so  haben  Sie  gewonnen.  . . .  Aber  gerade  jene  Vor- 
aussetzung läugne  ich.  Es  lässt  sich,  wie  ich  denke,  beweisen,  dass 
unser  Denken  und  Treiben,  unser  bürgerliches,  politisches,  religiöses, 
wissenschaftliches  Leben  und  Wirken  wie  die  Prosa  der  Poesie  ent- 
gegengesetzt ist.  Diese  Uebermacht  der  Prosa  in  dem  Ganzen  unsere 
Zustandes  ist,  meines  Bedtlnkens,  so  gross  und  entschieden,  dass 
der  poetische  Geist,  anstatt  darüber  Meister  zu  werden,  nothwendig 
davon  angesteckt  und  also  zu  Grunde  gerichtet  werden  mttsste. 
Daher  weiss  ich  für  den  poetischen  Genius  kein  Heil,  als  dass  er 
sich  aus  dem  Gebiet  der  wirklichen  Welt  zurückzieht  und  anstatt 
jener  Coalition,  die  ihm  gefährlich  sein  würde,  auf  die  strengste 
Separation  sein  Bestreben  richtet.  Daher  scheint  es  mir  gerade  ein 
Gewinn  für  ihn  zu  sein,  dass  er  seine  eigne* Welt  formiert  und  dorch 
die  griechischen  Mythen  (I)  der  Verwandte  eines  fernen,  fremden  und 
idealischen  Zeitalters  bleibt,  da  ihn  die  Wirklichkeit  nur  beschmutzen 
würde".  Dass  Fichte'n  zu  jener  Zeit  das  Verhältniss  des  höher  ^• 
bildeten  Menschen  zu  seinem  Vaterlande,  wie  er  es  fasste,  noch  als 
ein  sehr  loses  erschien,  kann  allein  schon  folgende  Stelle  in  seinen 
Vorlesungen  „über  die  Grundzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters* 
(1804 — IS05)  bezeugen**:  „Welches  ist  denn  das  Vaterland  des 
wahrhaft  ausgebildeten  christlichen  Europäers?  Im  Allgemeinen  ist 
es  Europa,  insbesondere  ist  es  in  jedem  Zeitalter  derjenige  Staat  in 
Europa,  der  auf  der  Höhe  der  Cultur  steht.  Jener  Staat,  der  (in 
seiner  Politik)  gefiUirlich  fehlgreift,  wird  mit  der  Zeit  freilich  unter- 
gehen, demnach  aufboren  auf  der  Höhe  der  Cultur  zu  stehen.  AV»er 
eben  darum ,  weil  er  untergeht  und  untergehen  muss ,  kommen 
andere,  und  unter  diesen  Einer  vorzüglich  herauf,  und  dieser  steU 
nunmehr  auf  der  Höhe,  auf  welcher  zuerst  jener  stand.  Mögen  dann 
doch  die  Erdgebornen,  welche  in  der  Erdscholle,  dem  Flusse,  dein 
Berge  ihr  Vaterland  erkennen,  Bürger  des  gesunkenen  St.iatti 
bleiben;  sie  behalten,  was  sie  w^ollten  und  was  sie  beglückt:  der 
sonnenverwandte  Geist  wird  unwiderstehlich  angezogen  werden  uiiii 
hin  sich  wenden,  wo  Licht  ist  und  Recht.  Und  in  diesem  ^'elt- 
bttrgersiune  können  wir  denn  über  die  Handlungen  und  Schicksale 
der  Staaten  uns  vollkommen  beruhigen,  für  uns  selbst  und  für  unsert? 
Nachkommen,  bis  an  das  Ende  der  Tage"".  Dass  die  beiden  Sclilegel 
in  ihrer  früheren  Zeit  auch  den  kosmopolitischen  Ideen  huldigten. 
würde  sich  unschwer  aus  ihren  Schriften  und  namentlich  aus  denei; 


19)  S.  Werke  7,  212.  20)  Vgl.  Jul.  Schmidt,  a.  a.  O.  1,  3U  ff. 


p 


KatwickeluDgsgaug  der  Literatur.     1773 — 1832.    Kosmopoliüsmus.        911 


de«  Jüngern  Bruders,  erweisen  lassen;  von  dem  altern  haben  wir  §  340 
darüber  aber  auch  Tiecks  auBdrUckliches  Zeugniss,  der  hierin  zu  den 
Ausnahmen  unter  den  Schriftstellern  jener  Zeit  gehört  haben  will! 
„Wie  oft",  äusserte  er  sich  in  seinem  hohen  Alter^',  ^.babe  ich  nicht 
mit  A.  W.  Schlegel  über  die  kosmopolitischen  Ideen  gestritten,  der 
ihnen  ganz  ergeben  war.  Er  meinte  wohl,  es  sei  ganz  gleichgültig, 
wer  regiere  und  wie  es  geschehe;  und  am  Ende  je  schlechter,  desto 
besser  sei  es:  dann  werde  die  Wissenschaft  um  so  freier  und  unab- 
hängiger sein.  In  dieser  Allgemeinheit  habe  ich  solche  Gedanken 
nie  begreifen  können.  Immerdar  habe  ich  das  wirkliche  Vaterland 
för  das  Erste  und  Nächste  gehalten,  auf  das  der  Mensch  angewiesen 
sei,  und  ai»  das  er  sich  halten  müsse".  Wie  wenig  übrigens  die 
Romantiker  überhaupt  vor  den  Jahren  IS05  und  1806  die  Poesie 
und  die  Kunst  in  ihrer  Gestaltung  durch  eine  gegebene  Wirklich- 
keit bedingt  glaubten,  ist  aus  den  von  ihrer  Kunstlehre  und  ihrer 
dichterischen  Praxis  handelnden  Abschnitten  hinliluglich  zu  ent- 
nehmen. Mit  dieser  wcltbürgerlicben  und  idealistischen  Richtung 
in  der  Theorie  und  in  der  Prodnction  bei  den  nanptvertretorn  des 
bessern  und  besten  Tbeils  unserer  Literatur  hieng  es  denn  auch 
nahe  zusammen,  dass  sie  beim  Hervorbringen  ihrer  Werke  und 
bei  der  in  Aussicht  genommenen  Wirkung  derselben  in  der  Regel 
sich  viel  weniger  bestrebten,  bei  allen  gebildeteren  Classen  der 
KNatinn  Eingang  zu  Hndcn,  von  ihnen  verstanden  zu  wer<len  und 
^auf  sie  weiterbildend  einzuwirken,  als  sich  des  Verstflndnisses 
und  des  Beifalls  von  kleinen,  mitunter  sehr  engen  Kreisen  aus- 
erwfthltcr  und  verwandter  Geister  zu  versichern  *".  Wie  wenig 
Aussicht  nuq^  aber  auch  war,  dass  die  von  unsern  Dichtern  in 
den  letzten  zehn  Jahren  gepflegte  schöne  Literatur  in  kräftig  leben- 
ligem  Fortwuchs  neue  BlUthon  treiben  und  sie  zu  gesunder  Frucht 
entwickeln  würde,  konnte  sich  Schiller  zuletzt  selbst  nicht  ver- 
hehlen". 


21)  Bei  Köpke  2.  247.  22)  Vgl  u.  a.  HI.  Hi'»;   IV,  ö:u .  Ende  von 

Iß;  8U0.  Aom.  1.  23)  In  dem  Briefe  an  W.  von  flumboldt  vom  2.  April 
[605  «also  wGuigc  Wochen  vor  seinem  Tode)  schrieb  er  (S.  490):  „Um  die  poetische 
rodactiou  in  DeuUcUUiid  sieht  es  klAglicb  ans,  and  man  siebt  wirklich  nicht, 
Fo  eme  Literatur  fär  tlie  n&chsten  dreisalg  Jahre  herkommen  soll.  Auch  nicht 
^D  eiazigea  neucg  Product  der  Poesie  weiss  ich  Ihnen  seit  langer  Zeit  2U  oeoneo» 
WAS  einen  neuen  Kamen  an  der  Spitze  trUge.  und  was  einem  Freude  machte. 
Da^egeu  rcfft  sich  die  unselige  Nachahmungssucbt  der  Peutsctien  mehr  als  je- 
malSi  eine  XachahmunR*   die  bloss  in  einem  identischen  Wtederbrini;eu  und  Ver* 

Kblecbtern  dcä  Urbildes  bealoht.   Soloher  Nachahmungen  hut  auch  nnin^Wallon- 
mi"  und  meine. braut  von  Messina**  vielfach  hervorgebracht,  aber  mau  ist  auch 
'     nicht  um  einen  Schritt  weiter  gefördert". 


V¥^ 


Mm 


912    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jabrliunderts  bis  sb  Goethe'«  T«4. 


m 


§  341. 

Als    balfl   darauf  die  Zeit  der  tiefsten  politisclicn  Eni 
über  Deutschland  kam,  das  deutsche  Lcbeu  in  seioer  Ei 
allen  Seiten  so  gefährdet  schion,   dass  hier  und  da  wohl  gar 
Besorgniss  Raum  gewann^   es  kannte  mit  andern    u«  '    '     n  Gt 
auch  die  vaterländische  Sprache  mit  dem  Untergang*  ^d  sein 

da  machte  sich  bei  uns  in  allen  Schichten  der  Gesellftch&ft  die 
brutale  Gewalt  eines  übermüthigen  Feindes  in  ihrem  Druck  auf 
gesammte  geistige  und  sittliche  Leben  und  in  dem  Umsturz 
der  Zersetzung  der  langgewohnten  beimischen  Zust&nde  zu  fUMbtr. 
als  dasB  nicht  auch  unsere  Dichter  und  Denker,  an  ihrem  rwii 
idealistischeu  Streben  irre  werdend ,  ron  dem  hohen  Fluge  in  die 
Welt  der  Ideale  und  in  die  Regionen  freiester  Phantastik 
kühnster  Speculation  den  Rückweg  zur  gegenwärtigen  Wirklic 
hätten  suchen  sollen,  um  ihrer  feindseligen  Uebermacbt  ^mit 
rechten,   Erfolg  verhoissendcu  Waffen   des  Geistes  abu 

gegenzutreten.    Und  da  waren  es  gerade  diejenigen  S  , 

die  in  der  Theorie  und  in  der  Ausübung  am  wenigsten  die 
wendigkeit  eines  wahrhaft  objektiven  Gehaltes  der  Poe«io  an 
hatten,  und  die  deshalb  auch  insbesondere  den  Werth  eines 
gegenwärtigen  oder  dem  geschichtlichen  Leben  ihre»  Volkes  ent- 
nommenen, seinem  Empfinden,  Denken  und  Handeln  ciitsprechcndcft 
Gehalt«  ganz  verkannten,  die  Romantiker,  die  nun  zuerst,  auf  dieMD 
Rückweg  hinweisend,  ihn  den  Zeitgenossen  dringend  ompCaklCB: 
und  noch  unmittelbarer  und  energischer  that  es  Fichte,  der  «>  laa|« 
in  seiner  subjecliv  idealistischen  Richtung  jedes  Bedin^toeiu  geistiger 
Thätigkeit  durch  eine  gegebene  Realität  am  entschiedensten  ge- 
läugnet  hatte.  Schon  im  FrUhjahr  1S06,  als  erst  Ocsterreich  allds 
seine  grossen  Niederlagen  erlitten  hatte,  Preusseu  aber  noch  kam|i(- 
gerüstot  da  stand,  verlangte  A.  W.  Schlegel  von  seinen  Frettikl(% 

S  341.    1)  So  hcisst  CS  z.  B.  ia  ciuem  voq  Drendea  ans  geichri« 
von  H.  V.  Kleist  aus  dem  August  IsuS  (in  den  von  mir  her&ui 
an  seine  Schwester  Uhike".    Berlin  iS60.   S.    S.  145):   .NacbBerUn 
neues  Stück  ron  ihm,  wahrscheinlich  .«Ins  KAthchen  ron  Heilliri>nü*»  iddit, 
dort  nur  L'überselKiuugea   kleiner   französischer  Stucke  g^eheii  w< 
Cassel  ist  gar  das  deotsche  Theater  abfreschafft  und  ein  fraDKOsinche« 
gesetzt  worden.    So  wird  e»  wobi,   wenn  Gott  nicht  hilft,   abwall  wi 
weiss,  ob  jemand  noch  nach  hundert  Johrcu  in  dieser  Geg«ü'l  detii 
Und  in  dem  Recturatsarchiv  zu  Pforte  wird  ein  Sohriftetuck   ung«fiiltr 
selben  Zeit  aulbewahrt,  worin  von  einem  der  dainaÜgcu  hehrer  ftkr 
in  dos  J.  1843   faxenden  Scliuljubil&ums  Vorsrlilüge  goraacht   w«rUMi, 
Yoruusaetzang,  dasb  dann  noch  ein  Dcutichland  bo^Cehc   und   hier 
sprochen  werde. 


EntwicJcelongsg.  d  Uter.  1773—1^32.  !(Atioiuüer  AufBchwung.  A.  W.  SdüegeL  913 

«tatt  ihrer  hisberigeu;  im  freiesten  Spiel  der  Phantasie  sich  erg:eheudeu  §  341 
dichteriscbea  Erliudungcn,  eine  aus  der  Tiefe  und  Fülle  des  üerxeus 
qaellende  patriotische  P^jesie,  eine  Poesie,  die  in  den  Leiden  und  Drang:- 
aalen  der  Gegenwart  Trogt  und  Erhebunjr  gewähren,  die  Gemütber  zur 
Wahrung  der  höchsten  und  heiligsten  Güter  vereinigen  und  sie  daffir 
begeistern  könnte';  und  in  den  nächsten  Jahren  stellte  er  wieder- 
holt ähnliche  Forderungen  an  die  deutschen  Dichter  Oberhaupt.  So 
in  »einer  Anzeige  des  „Dichtergartens'*  von  Roslorf';  auch  als  er 
im  Frühling  ISOS  in  Wien  seine  Vorlesungen  „über  dramatische 
Kunst  und  Literatur"  hielt,  empfahl  er  am  Scbluss  den  deutscheu 
Dichtem  vor  alleu  andern  Arten  dramatischer  Stücke  die  Pflege  des 
historischen  nationalen  Schauspiels*:  ^Man  hat  sich  neuerdings  be- 
müht, die  Reste  unserer  alten  National  -  Poesie  und  Ueberliefemug 
auf  mancherlei  Weise  wieder  zu  beleben.  Diese  können  dem  Dichter 
eine  Grundlage  für  das  wundervolle  Festspiel  geben;  die  würdigste 
Gattung  des  romantischen  Schauspiels  ist  aber  die  historische.  Auf 
diesem  Felde  sind  die  herrlichsten  Lorbeeren  für  die  dramatischen 
Dichter  zu  pflücken,   die  Goethen  und  Schillern  nacheifern   wollen. 


2)  Vgl.  den  Brief  aa  Fouque  aus  Genf  vom  12.  MJUx  l$oti  (s.  Werke  $,  US  fft 

den   bercita   oben  S.  SÜ4  und  !1I,  35,  7'  ausgeliobenen  Stollen  füge  ich  hier 

ich  folgende  (S.  144  f  I:    .Die  Poesie,  tagt  mau,   soll  ein  schönes  und  freies 

nel  sein.   Ganz  recht,  insofern  sie  keinen  untergeordneten,  beschränkten  Zwpckon 

lenen  soll.    Allein   wollen  vir  sie  bloss  zum  Festta^schmack  des  Geistes?  zur 

ipieUn  seiner  ZerslreuuogV  oder  bedärfen  wir  ihrer  nicht  viel  mehr  als  einer 

rhabeneii  Trösterin  in  den  innerlichen  Drangsalen  eines  nnschlQssigen .    zagen- 

m,  bekQmmerten  Gemüthes.  folgUch  als  der  Religion  verwandte    Darum  iät  das 

[itleid  die  hOch^tc  und  heiligste  Muse,   Mitleid  nenne  ich   das  tiefe  Gefühl  de« 

menschlichen  Schicksals .   run  jeder  selbstJBcbeu  Regung  geläutert   und  dadurch 

scbou  in  die  rotigi<^se  Spbilre  erhoben.    Darum  ist  ja  auch  die  Tragödie  und  was 

im  Kpos  ihr  verwandt   ist  das  Höchste  der  Poesie.    Was  ist  es   denn,   was  im 

Homer,   in  den  Nibelungen,  in  Dante.  In  iShakapeare  die  GemQthnr  so  unvidcr- 

stehtich  binreissc,  aU  jene  OrakelsprQche  des  Herzens,  jene  tiefen  Schniorton.  worin 

das  dunkle  Uütbscl  uusers Daseins  sich  aufzulösen  scheint?-  —  Sodann  nach  den 

LV,  35,  ■'  angeführten  Worten,  von  »Unsere Zeit  krankt"  etc.  bis  au  «einerpatrio. 

ichen  Poesie":    ^Diess  ist  eine  gewaltsame,  hartprufonde,  entweder  aus  langem 

täglichem  Uuglack  eine  neue  Gestalt  der  Dinge  hervorzurufen,  oder  auch  die 

Ee  europAisrhe  Rildiing  unter  einem  einförmigen  Joche  zu  vernichten  bestimmte 

it.    Vielleicht  sollte,  so  lange  unsere  nationale  Selbständigkeit,  ja  die  Fortdauer 

deutschen  Namens  so  dringend  bedroht  wird ,  die  PoeBic  bei  uns  ganz  der 

imkeit  weichen,  einer  Beredsamkeit,  wie  z.  B.  Mullers  Vorrede  zum  vierten 

seiner  Schweizergeschichte".    (S.  M9):    -Benutic   fernerhin  Deine  Müsse 

lOnen  Dichtungen,  begeistere  Dich»  wie  Du  es  immer  getban,  an  den  alten 

m  unserer  Poesie  und  Geschichte,   und  wenn  es  noch  eines  Sporns  zu 

phandlung  nationaler  Gegenstände  bedarf,   so  sieh  die  jetzige  Versunkenheit  an, 

fen  das,   was  wir  vormals   waren  —  faclat  indignatio  versum".  [iy  Vgl. 

S04  f.  4  t  S.  Werke  6..  432  ff. 

Koticpiteia,  OruDdHsii.    ft,  A«fl.    IV.  68 


914    YX.  Vom  zweitea  Viertel  dea  XYIU  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe*s  Tod. 

§  341  Aber  unsor  historischOB  Schauspiel  sei  denn  auch  wirklich  allgemein 
national ;  es  hänge  sich  nicht  an  Lebensbegebenheiten  von  einzelnen 
Rittern  und  kleinen  Fttrsten,  die  auf  das  Ganze  keinen  Einfluss 
hatten ;  es  sei  zugleich  wahrhaft  historisch,  aus  der  Tiefe  der  Kennt- 
niss  geschöpft,  und  versetze  uns  ganz  in  die  grosse  Vorzeit.  In 
diesem  Spiegel  lasse  uns  der  Dichter  schaueu,  sei  es  auch  zu  unsenn 
tiefen  Schamerrötben,  was  die  Deutschen  vor  Alters  waren,  und 
was  sie  wieder  worden  sollen.  Er  lege  uns  ans  Herz,  dass  wir 
Deutsche,  wenn  wir  die  Lehren  der  Geschichte  nicht  besser  bedenken 
als  bisher,  in  Gefahr  sind  — ,  ganz  aus  der  Reihe  der  selbständigen 
Völker  zu  verschwinden.  —  Aber  so  unbekümmert  sind  wir  Deutsche 
immer  um  unsere  wichtigsten  Nationalangelegenheiten,  dass  selbst 
die  bloss  historische  Darstellung  (unserer  grossen  und  ruhmvollen 
Vergangenheit)  hier  noch  sehr  im  Rückstande  ist"\  —  Auch  Fr. 
Schlegel  eröffnete  bereits  im  Sommer  1806  die  Reihe  seiner  Gedichte, 
die  —  freilich  schon  stark  gefärbt  von  seinen  neuen,  katholisch 
gläubigen  und  österreichisch  politischen  Anschauungen  —  auf  die 
Erweckung  einer  vaterländischen  Gesinnung  zielten,  in  denen  nament- 
lich auch  die  deutschen  Dichter  aufgeforüert  wurden,  „nicht  länger 
mit  eitlem  Wortgeklinge  zu  buhlen",  vielmehr  in  die  vergegen- 
wärtigende Darstellung  des  Heldenruhms  und  der  Grösse  unserer 
Vorzeit  ihr  „hohes  Ziel  und  Trachten"  zu  setzen,  und  worin  er  die 
deutschen  Stämme  und  die  einzelnen  Classen  des  Volks  zur  Umkehr 
von  den  alten  unheilvollen  Irrwegen   ermahnte*,   während  er  auch 


.^)»  Unter  seinen  eignen  Gedichten  aus  der  Zeit  von  Deutschlands  Ernieüri^nn: 
bezogen  sich  zwei  auf  die  Lage  des  Vaterlandes,  ein  mehrstropbisches.  .Glautt"" 
(ans  dem  J.  ISO"  und  gedruckt  im  folgenden  Jahre;  s.  Werke  I,  2G4  ff.',  imd  tii 
Sonett,  „An  die  Irrefiihrer"  (zuerst  gedruckt  IStl;  s.  Werke  l,  MV,):  das  frs:f 
darauf  hinweisend ,  woran  die  Deutschen  sich  zu  halten  hätten ,  um  sich  rJch: 
seihst  zu  verlieren  und  die  Kraft  zum  Widerstände  gegen  ihre  Bedränger  zn  £f- 
Avinnen;  das  andre  gegen  die  Staatsmänner  und  -Schrittgelehrten-  gerichtet,  (iie 
mit  ihrer  eitclen  Weislicit  das  Vertrauen  des  Volkes  so  schmählich  geiäujcäi 
hätten.  0)  Hirrher  gehören  von  seineu  in  den  Jahren  IbüO  bis  1>!2  fut- 

standenen  und  veröffentlichten,  nachher  dem  9.  Bande  der  s.  Werke  einvtrleititc 
Gedichten:   -Huldigung^  (S.  147  ff.):    -Frieden^   (S.  150  ff.);    „An    die  Diciit*." 
(S.  II;   vgl.   auch  -Frohen  der  neuesten  Poesie-,  S.  52   ft". ,    und   zu  dem  fr>rrri 
A.  W.  Schlegels  s.  AVcrke  12,  207  f.):'-An  seinen  Freund-  (S.  156  flVr,  -Aut'ra*' 
(S.  161  ff.);  «Freiheit-  {S.  Is2ff.):  ..Rückkehr  des  Gefangenen-  «S.  ITI  ff.i;  -lii-i^ 
Zeichen-  (S.  17U):  -Gelübde-  (S.  ISO  f.;  sollte,  als  es  ISO'J  in  der  ersten  Auk^l- 
von  Fr.  Schlegels'Gediohten  erschien,  von  der  Censur  unterdrückt  werden.  ^^'-^ 
jedoch  schon  damals  in  vielen  ihr  entgangenen  Exemplaren  bekannt:  vgl.  .Ll*^fc 
und  Briefe  von  Ad.  v.  Chamisso"  1,  230);  und  «Gesang  der  Ehre-  (S.  11^»  J-  *" 
die  Abfassung   in  das  Ende  des  J.  1812  gesetzt  ist;   allein  nach  Gödekt'.  -ß' 
Bücher  d.  Dichtung-*  2,  2S2  ist  es  schon  im  Sommer  ISOG  entstanden  uud  iß  J«' 
Ausgabe  der  Gedichte  von  ISOl»,    S.  '.VMi  f.  gedruckt.    Dieser  AV idersproch  dunW 


Entwickelungsg.  (1.  Literat.  177:*  — IS32.  Nationaler  Aufschwung.  Fr.  Schlegel.    *J15 


noch  anderweitig  iu  demselben  oder  in  ilbnlicbeui,  besonders  von  §  341 
Beinen  frühem  kimsttheoretischen  Ansicblen  und  poetischen  Bestre- 
bungen weit  abweichendem  Sinne  sich  aussprach  nud  auf  seine  Zeit- 
genossen zu  wirken  suchte.  In  seiner  Kecensiou  der  vier  ersten 
Bände  von  Goethe's  Werken^  heisst  es"  mit  Bezug  auf  Goethes 
Elegien:  „Sollen  aber  lyrische  Gedichte  antike  Nachbildungen  sein? 
odei  müssen  sie  nicht  vielmehr  ihrer  Entstehung  nach  ganz  aus  dem 
Innern  des  Dichters  hervorgehen,  in  der  äussern  Erscheinung  aber 
nicht  fremd  und  gelehrt,  sondern  durchaus  national  sein,  wenn  sie 
auch  wieder  in  das  Innere  eingreifen  sollen?  *•  Bei  weitem  charakte- 
ristischer aber  ist  eine  längere  Stelle  in  einer  andern  Recension, 
Über  Ad.  Müllers  „Vorlesungen  tlber  deutsche  Wissenschaft  und 
Literatur ''\  Hier  schrieb  er'*";  ^Wenn  wir  betrachten,  wie  in  den 
letzteu  Jahren  das  leere  Formenspiel  in  der  Kunst  und  iu  der  Philo- 
sophie so  über  alle  Masse  und  allgemeiner,  als  jemals  zuvor,  um 
sich  gegriffen ,  so  scheint  es  uns  —  eben  weil  das  Uebel  so  gross 
und  der  Zustand  im  Ganzen  so  kläglich  ist,  —  es  nahe  sich  die 
Zeit  der  Ebbe  ihrem  Ende»  und  der  deutsche  Geist  werde  wieder 
^^  einen  neuen  Aufschwung  nehmen.  .  .  .  Unläugbar  hat  auch  die  fran- 
^fezOsische  Revolution  z.  B.  auf  die  Erregung  und  den  Gang  des 
^^  deut-^chou  Geistes  einen  sichtbaren  und  wesentlichen  Einfluss  gehabt. 
^^  Sollte  die  grosse  deutsche  Revolution,  die  jetzt  begonnen,  nicht  noch 
^■gnnz  anders  wirken  müssen?  Wir  sehen  es  als  unvermeidlich  an 
^und  getrauen  uns  mit  Zuversicht  zu  sagen:  es  muss  von  Jetzt  an 
eine  neue  Epoche  der  deutschen  Literatur  beginnen;  nicht  stürmisch 
und  im  chaotischen  Kampf,  sondern  in  ernster  Würde,  kraftvoll 
durchgreifend  und  aus  dem  alten  Traume  endlich  erwacht.  So  viel 
ist  fürs  erste  klar:  der  jirovincielle  Ton,  der  sich  hie  und  da  immer 
noch  wieder  auflebend  vernehmen  lAsst,  muss  völlig  verschwinden 
und  dem  allgemeinen  deutschen  Sinn  weichen.  Es  kann  nicht  fehlen, 
j  die  gemeinschaftliche  Erfahrung  wird  bei  so  nelen  bis  jetzt  nur  allzu 
^Kg'etrennten  deutschen  Völkern  auch  die  einsame  Erinnerung  mächtig 
^"wecken ,  aus  welcher  dann  die  Einheit  der  Gesinnung  von  selbst 
hervortreten  wird,  wo  die  Kraft  und  der  Muth  dazu  da  ist.  In  den 
thäligcrn  und  strengern  Lebensverhältnissen  wird  die  mflssige  V^icl- 
ichreibcrei    und   Siiielerei    zum  Theil    aufhören    oder   doch    minder 


}ich  dadurch  ausgleichen  lasseo.  daas  in  dem  von  Gfidcke  mjtgetheilten  Text«  eine 
[offenbar  erst  nach  dem  Brand  von  Moskau  gedichtete  Stroj>hc  fehlt,  was  den 
Dichter  wohl  vemtilasst  hat,  den  so  erweiterten  Text  in  lUs  j.  \>\'2  zu  setzen). 

7)  lü  der  Ausj;.  von  isoii  ff.  i)  Heidelberger  Jahrbücher  der  Literatur 

isus.    lieft  1,  liKi;  3    Werke  1»,  171  f.  0'  Sie  erschien  in  demselben  Defte 

jener  Jahrbücher  S.  220  ff.,  i^t  aber  in  die  s.  Werke  nicht  aufgenommen. 
10)  8.  211  ff. 

5S» 


916    VI.  Vom  «weilen  Viertel  de«  XVTII  JalirhuiiiiertB  bis  äu  Ooethe's  Tod 

341  werden;  aber  auch  ia  dem  Geist  des  Ganzen  musä  eine  weseuUicl 
Reform  vorgehen.  Eb  ist  ein  Anblick,  der  zum  Tbeil  mit  Staun< 
zum  Theil  mit  Webmutb  erfüllt,  wenn  man  die  von  drohp-^  ^"-  ^ 
zeichen  schwangere,  ruiuenvoUe  Geschichte  de«  letzten  Ju. 
gegenwärtig  hat,  und  nun  die  ersten  Geister  der  Deutschen,  fast 
ohne  Ausnahme,  seit  mehr  als  fünfzig  Jahren  einzig  und  allein 
eine  bloss  ästhetische  Ansicht  der  Ding'e  so  gauz  verloren,  fast 
nur  damit  beschäftigt  sieht,  bis  endlich  jeder  ernste  Gcdauke  an 
Gott  und  Vaterland,  jede  Erinnerung  des  alten  Ruhms,  und  mit  ihi 
der  Geist  der  Stärke  und  Treue  meist,  bis  auf  die  letzte  Spur 
loschen  war.  Einzelne  gab  es  immer,  die  ernster  gesinnt  waren, 
eine  bCthcrc  Begeisterung  kannten  als  die  bloss  ästhetisohfri^ 
was  vermochten  die  Einzelnen  ge^^eu  den  Strom?  Die  flsl 
Ansicht  ist  eine  in  dein  Geist  des  Menschen  wesentlich  bc^ 
aber  ausschli essend  und  allein  herrschend  wird  sie  spielende 
merei,  und  noch  so  sehr  sublimiert,  fQhrt  sie  doch  höchstens 
jenem  verderblich  panthei)*ti>*cheu  Schwindel,  den  wir  j  '  ' 

in  den  Gespinnsteu  der  Schule,  sondern  Überall  in  ta<:^ 
denen  und   losem  Gestalten    beinahe   allgemein   herrschend  sei 
Diess  ist  das  Uebol  eigentlich,  was  die  besten  Kräfte  des  deutscl 
Herzens  verzehrt   und  die  Menschen  endlich   bis  zur  g-efUhlU 
Gleichgllltigkeit  aushöhlt.     Diese  ästhetische  Träumerei,   dieser 
männliche  panthcistische  SchwiadeK   diese  Formens pieloi'ci  mtii 
aufboren:  8ie  sind  der  grossen  Zeit  unwUrdig^  und  nicht  mehr  &i 
messen.     Die  Erkcnntniss   der  Kunst   und    das  Gefühl    der  Ni 
werden  uns  wohl   bleiben,    so  lange  wir  Deutsche  sind;   aber 
Kraft  und  der  Ernst  der  Wahrheit,  die  feste  Rücksicht  auf  Gott 
auf  unsern  Beruf  muss   die  erste  Stelle  behaupten    und    wiederj 
seine  alten  Rechte  eintreten,  wie  es  dem  deutschen  Charakter  get 
ist".  —  Seiue  1810  in  Wien  gehaltenen  j-Vorlesung^eu  ober  die 
Geschichte""  sind  zwar  schon  ganz  von  dem  Geist  der  sogi 
Restauratiouspolitik  erfüllt,  womit  aufs  eugste  zusamraeuhUni 
wie  in  seinen  Gedichten  aus  dieser  Zeit,  die  Wiedergeburt 
TTeil  Deutsoblands  vornehmlich  von  der  Einigung  aller  Volk« 
im  katholischen  Glauben,   unter  dem  Schirm  uud  der  Fühl 
habsburgischen  Hauses,  erwartet  wird;  allein  sie  haben"   för 
Zeit  das  Verdienst,  dass  darin  der  ni     '  '     i  Herrschafl 

über  ein  streng  nationaler,  deutsch-  —  m.m'  Standpunkt  («t- 

gehalten  ist.     Heber  den  nächsten   praktischen   Zweck   dioier  Vm^ 
lesungen,   durch   sie  dem   schwer  lastenden    Druck    * 
entgegenzuwirken  uud  leitende  Gesichtspunkte  für  .i 


It)  Wien  1611.  8. 


12)  Wie  Jul.  Schmidt  {2,  299)  treflend 


m 


XlstwickeluAg&g.  d.  Literat.   1773—1832.  Nationaler  AufBchvnng.  Fr.  Schlegel  917 


H  Xlstwick 

W  Neugestaltung  der  öffentlichen  Zustände  in  Deutschland  anzugeben,  §  341 
B  sowie  über  den  Weg,  auf  dem  er  diesen  Zweck   am   besten  zu  er- 
reichen  geglaubt,    spricht  sich   Schlegel  selbst   aus'*:  .Wenn  man 
nicht  auf  Einzelnheiten   (iu  dem  Gange    geschichtlicher   Entwicke- 
lung),  sondern  auf  das  Ganze  sieht,   giebt  es   kein  besseres  Gegen- 
gevricht  gegen  den  Andrang  des  Zeitalters,  als  die  Erinnerung  einer 
grossen  Vergangenheit.     Aus    diesem  Grunde  glaubte  ich  der  Er- 
klärung der  drei  welterschütterndeu  Zeitalter,  der  Völkerwanderung, 
der  KreuzzUge  und  der  Reformation,  ein  so  starkes  GemUhlde  von 
^.  der  ehemaligen  deutschen  Nation  hinzufügen  zu  müssen,   als  ich  es 
^P  nur  immer  vermöchte;   sowohl  von  ihrem  ältesten  Zustande,   da  sie 
^^  noch  in  ursprünglicher  Freiheit  und  Staramesart  lebte,  als  von  ihrer 
Entwickelung    und  Bildung    im  Mittelalter.    Dieses  erheischte  eine 
besondere  erkb'lrendc  Rücksicht  auf  die  grossen  Kräfte  des  Staats, 
welche  im    Mittelalter  herrschend   waren,  auf  das  Verh.lltniss  und 
Band  der  Kirche  und  des  alten  Kaiserthums  in  Deutschtand,  Italien 
und  Europa,  und  dann  auf  den  Rittergeist.     Um  so  mehr,  da  die 
^K  Hauptfrage  auch  unsers  Zeftalters  die  grosse  Frage  von  der  gesell- 
H  ftchaftlichen  Verfassung  ist,  von  der  Möglichkeit,  das  wesentlich  Gute 
und  Wohlthätige  der  alten  Verfassung  in  den  neucntstandeuen  Welt- 
Verhältnissen  zu  erhalten,  von  der  besten,  zweckmässigsten,  gefahr- 
losesten Vereinigung  der  alten  Rechte  mit  dem ,   was  der  Andrang 
des  neuen  Lebens  unvermeidlich  erheischt".  —  Mit  Anfang  des  Jahres 
1812    erschien    das    von    Fr.    Schlegel    herausgegebene    „deutsche 
Museum".     Auch   bei  Gründung  dieser  Zeitschrift   waren   vornehm- 
lich patnotische  Zwecke  ins  Auge  gefasst  worden.    Nach   der  An- 
kündigung des  zweiten  Jahrgangs'*  wollte  man  hier  für  so  \nelcs 
einzelne  Gute  und  Schöne ^  was  in  deutscher  Art  und  Sprache  ge- 
dacht und  hervorgebracht  worden   oder  gedacht  und  hervorgebracht 
würde,    einen    gemeinschaftlichen    Mittelpunkt   aufstellen,    die  zer- 
streuten geistigen   Kräfte  des  Vaterlandes   immer   mehr   vereinigen 
nnd  eben  dadurch  den  Geist  und  selbst  die  Gesinnung  der  Nation 
aufrecht  erhalten  und  befestigen".    Nach   der  Vorrede  zum  zweiten 
Jahrgange  sollte  der  philosophische  Theil  der  Zeitschrift  vorzüglich 
und   hauptsächlich   die  Philosophie   des  Lebens   behandeln,  als  der 
^^  Hauptgegeustand  einer  wahren  Philosophie  des  Lebens,  einer  solchen, 
^■die  national  genannt  werden  dürfte,  aber  —  um  ihn  mit  einem  ge- 
^^  meinschaftlichen  Namen  zu  umfassen  —  das  germanische  Recht,  den 
Ausdruck  in  einem  philosophischen  Sinne  gefasst,  betrachtet  werden, 
d.h.  ^eiue  geschichtlich  genaue,  zugleich  aber  tief  in  den  Geist  ein- 
dringende Ansicht  und  Darstellung  von  der  ursprunglichen  deutsehen 


131  S.  203  f. 


14)  2,  463. 


«npi"« 


i 


9 IS    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderta  bis  zu  GoeÜat't  Trf. 

341  Staatseinrichtung:,  Rechtsverfassung  und  dem  gesanimten  siftlir! 
und  bürgerlichen  Leben  unserer  Vorfahren*'.  Sodann  werde  ancb 
„wohl  mit  Recht  die  altdeutsche  Literatur  ein  Hauplau^enmerk  des 
Museums"  sein.  Denn  eine  Zeitschrift  dieser  Art  dürfe  nicht  iiDQMr 
den  vorübergehenden  Erscheinungen  des  Tages  Schritt  vor  Schtitt 
eilend  nachfolgen.  Sie  müsse  vielmehr  vorzüglich  aus  der  Vcrgac^C»- 
heit  herbeiführen ,  was  gerade  jetzt  zur  Stelle  nnd  für  den  Ao^e»* 
blick  das  Nothwendigste  und  am  gedeihlichsten  sei,  oder  «uteb  Suua 
ausstreuen,  aus  dem  erst  in  Zukunft  eine  neue  Zeit  lier^'orgebeo 
solle.  Wie  er  jetzt  die  eigentliche  Bestimmung  einer  Literatur.,  wo- 
durch sie  allein  erst  ihren  wahren  und  vollen  Werth  erhalte,  dai« 
setzte,  dass  Hie  national  sein  müsse,  ersieht  man  gleich  aus  der  u 
Ende  des  Jahres  ISIl  geschnobenen  Vorrode  zum  erraten  Ba^ 
des  Museums  und  dann  vorzüglich  aus  einer  Stelle  des  twdt 
wo  er  die  nationale  Einheit  und  Kraft,  die  nationale  WQnle 
Wirksamkeit  hervorhebt,  wodurch  die  englische  Literatur  sich  in 
hohem  Grade  vor  der  unarigen  auszeichne.  In  dte«er  SinDeMfi 
schrieb  er  denn  auch  die  „Vorlesungen  llber  die  Geschichte  der  alten 
und  neuen  Literatur",  die  er  ISI2  in  Wieu  hielt'*.  „Die  Werke  d« 
Geistes",  lautet  eine  Stelle  der  Eiuleituag'*,  ., können  keinen  aodcm 
lebendigen  Hoden  haben,  in  welchem  sie  Wurzel  schla^^cn,  als  la 
die  Gesinnungen  und  Gefühle,  welche  allen  edel  gearteten  und  G 
suchenden  Menschen  gemein  sind,  und  dann  die  Liebe  de« 
dem  Vaterlandes  und  der  Nationalcrinnerun^'en  des  Volk«,  in  d 
Sprache  sie  auftreten,  und  auf  welches  sie  zunächst  wirken  »nik 
Damit  aber  eine  Literatur  national,  aufs  Leben  einwirkend  und  mI 
lebendig  werde,  dürfe  sie  nicht  vom  Leben  getrennt,  nicht  ein  M 
Werk  der  Schule  bleiben.  „In  Deutschland  sehen  wir  die  Litentir 
oder  die  Schule  und  das  Leben  oft  noch  ganz  getrennt,  wie  »ms 
abgesonderte  Welten  ohne  EinHuss  neben  nnd  gegeneinander  dasteb 
oder  nur  störend,  von  der  einen  Seite  beunruhigend  und  rc 
von  der  andern  hemmend  und  lübmeud  auf"  einander 

Im   Winter    ISOfi— 1S07   hielt   Adam   Müller   zu    i  ,, 

q  Vorlosungen  über  die  deutsche  Wissenschaft  und   Literatur 


15»  S.2T4.  16)  Zuerst  gedruckt  tSi5.  2  Bde.  S  17)  8.  v 
ISl  Vgl.  hierzu  noch  besonders  s.  Weike  ! ,  *•!  ff.;  J,  Ut»  ^'^  • 
'2'i  f.  und  2^5  (in  den  bddcn  lety.tcu  Stellen  spricht  er  sich  :: 
Weiae  aus,  als  iu  der  oben  aus  der  ßecension  Ober  Ad.  Maller»  \  wi]tsiii>b;>»  »•• 
gesogenen).  Sehr  braierkcuswcrth  scheint  mir  auch  als  Beweb.  «ip  «chrScbiwfd 
jetzt  Ton  seiner  frühem,  ganz  idealistischen  Kiutsttheorie  iiad  nam-t^lHdi  ««a  iks 
iu  der  Aumcrkung  1 1  zu  S.  *6n  berührten  Venrrungen  i^urttckg^kumiaen  war,  fulyrf* 
Aeusseruug  (2,  :t2ü):    „VIelUichi  ist  der  Zeitpunk!  übcrhaiii.i  kr  ftr%  •• 

es   bei  der  Fortbildung  unsrer  L  teratur)   weniger  auf  die  •  ilu  IfhicBi' 

ankommeu  wird,  als  auf  die  Kutwickelung  der  ganzen  Nation  »«Uk^t,  dir  ZcHjnakt, 


I 


I 


EutwickelangBg  d.  Literat    1773—1831  Nationaler  Aufschwung.   Ad.  Müller.    919 

auch  unmittelbar  darauf  in  zwei  sich  sclmell  folgenden  Auflagen  §  341 
gedruckt  wurden".  Auch  eie  sollten,  wie  der  Sehluss  des  ihnen 
vorgednickten  Programmea  zeigt,  /Air  Anregung  des  Nationalgcftihla 
und  zur  Anfrischung  vom  Bewusatsein  der  Nationalgrüsse  dienen, 
die  nie  nothwendiger  gewesen,  als  gerade  in  den  Augenblicken  der 
Erschntterung  des  Gemeinwesens  durch  die  Schicksale,  die  Deutsch- 
land vor  kurzem  getrotYen  hätten;  sie  sollten  ferner  durch  die  Er- 
innerung an  das,  was  deutscher  Geist  vermocht,  durch  die  Aussicht 
auf  das,  wohii»  deutsclier  Geist  strebe,  nicht  bloss  Deutschen,  sondern 
jedem  mit  der  grossen  Bildungsgemeinschaft  unsers  Welttheils  Ver- 
bündeton zur  Beruliigung  gereichen.  Hierzu  schien  es  aber  durch- 
aus nnthig,  duss  auch  die  Verirrungcn  der  grossen,  zunächst  durch 
die  kritische  Philosophie  veranlassten  literanschen  Bew^egungeu  in 
Deutschland  in  das  gehöiige  Licht  gestellt  würden,  und  daniach  das 
noch  vorhandene  Misäverhflitniss  unserer  neuesten  Literatur  zur 
realen  Gegenwart  und  zu  dem  ganzen  geistigen  und  sittlichen  Leben 
der  Nation  abzumessen  und  die  Noth wendigkeit  eines  engern  An- 
schlusses der  Literatur  an  die  geHchichtlioh  gewordeneu  Bildungen 


wo  nicht  sowohl  die  Schriftsteller  sich  das  Publicum  bilden  dürfen,  wie  bisher, 
sondern  vielmehr  die  Nation  nach  ihrem  geistigen  Bedürfniss  und  inneren  Streben 
sich  selbst  Ihre  Schriftsteller  zuziehen  und  aabildcu  auU~.  10)  Vgl.  S.  tiTü, 

loben.   Müller  gilt  gewöhnlich  fttr  eiucu  Ilanptvertreler  der  romantischen  Tendenzen, 
Isnd  er  ist  es  auch  in  ihrer  frühen  Wendung  zum  KathoHcisnius  and  in  der  nach- 
icrigen  nach  tier  politischen  Seite  hin.    Allein,  wonn  er  sich  auch  in  seinen  Vor* 
langen  nls  einen  grossen  Verehrer  von  Fr.  Schlegel  und  Novalis  zeigt,  so  gehört 
Vt  doch  in  dorn,    was  die  poctischeu  und  phUcsuphischen  Tendenzen  der  Schule 
»etrifft,   keineswegs  zu  ihren  blinden  Anhängern.    Nicht  nur  hat  er  in  den  Vor- 
[lesungen  namentlich  an  Tiecks  Dichtungsweisc  mancherlei  auszusetzen,  schon  aua 
dem  .T.    ISi>3  begegnen  uns  in  seinem    Briet'wccbsel  mit  Fr.  Gentz  Aeusserungen 
TOD  ihm,  die,  wie  für  Ticck   insbesondere,  so  für  manche  Beftrebungen  der  neuen 
Schule  üherhanpt  gar  nicht  gUnatig  lauten.    So  schreibt  er  den  20.  Kcbr.  iS.  H): 
„Die  ziebiugschen  Titanen  (vgl.  S.  5r»j»  liegen  ohnmächtig  und  gol&hmt   unter  der 
Last  des  goethiHcheu  Sonetts  da   (welches?  das  in  der  Quartausgale  unter  ., Epi- 
grammatisch" stehende  aus  dem  J.   IS02,  welches  anfangt  ..Natnr  und  Kunst,  sie 
i€cheinen  sich  zu  tliehcn"  etc.?),  das  über  sie  hingew^Izt  ist',  wie  der  Aetna  aber 
len  Typlion.     Die  firiechen    erheben  sich  wie<ler   über  die  Romautik"   rvgl.   die 
[Vorleüungen  S.  77».     Dann  am  'Ib.  Juni  iS.  Kif.l,  wo  er  Mcb  mit  der  „Lehre  vom 
legen«atz**  beschüftigte.  Über  die  er  1^04  eine  eigne  Schrift  herausgab:     ^Lassen 
lie  den    Toil  erscheinen  als  Aufklärunir  oder  als   hunianisierende,   sonlimentale 
[cnBcheiirettung.  als  inin?<cendentaleu  Id*?al)8mus  in  der  Wissenschaft,  als  Böhmis- 
lus,  spanische   Krankheit  in  der  Knnst,   —   wo  er  sich  noch  regt,   wird  ihn  die 
ICiitere  Lehre  des  Lebens  verfolgen   und  vernichten.    Alle  diese    Erscheinungen, 
tfntCT   denen   sich   das    flinneigen   nach   der  Armiith   und   dem  Tnde  versteckt, 
rerden  weichen  und  sicher  weichen.  —  So  stolz  der  Tdeatismus  auf  die  Aufklärung, 
Ijc  nfue  Bomantik  auf  die  Senlioientalität  herabsieht,   so  ist  vor  Gott  und  dem 
kycusatz  der  Idealismus  doch  nichts  ala  Quintessenz,  als  höchster  Gipfel  der  Auf- 


9S0    TT-  Tom  zweiten  T!crt«1  des  Xvui  JAbrUasderts  bU  zq  Go«cbe*s  Tod. 

841  und  Zustünde  der  Gegenwart  nachtuweiseQ.     Wie  MoUer  das  Mi 

verbältiuös,  iu  wolclie»  die  Wigsenechaft  und  die  Poesie  in  Deul 
land  zur  realen  Gegenwart  und  im  dem  natitaialen  Leben  dnreb 
idealistiscben  Tendenzen  geratbeu  waren,  auffasete,  wie  er  es  gebol 
wissen   wollte,  und   welcbe  AusHicbten   er   darnacb   in   eine  b« 
Zukunft  des  Vaterlandes  erOffneu  zu  können  meinte,  \vird  sieb 
aus  folgenden  Stellen  seines  Buebs  ergeben,  das,  so  unklare 
wunderlicbe  Partien   es  aucb  entbfllt,  und   so  deutlich  daraus 
scbon  der   künftige  Ilauptpenoase  Gentzens   iu   der  Beförderuug 
mettcrnicbHcben    Restauratiunspolitik   erkannt    werden    kann,    d^ 
aucb  sobr  verständige  und  bcacbtenswertbe  Ansiobten,  nainentlicl 
Bezug  auf  die  vaterländisebe  Literatur^  ausspricbt.     Nachdem  iu 
dritteu  Vorlesung  die  günstigen  I'^rgobuisse  der  literanseben 
lution  im  Allgemeinen  cbarakterisiert  worden,  die  ,durcb  die  kritis 
Pbiloso]»bie   veranlasst,  durcb  Goetbe's,  Winckelmanus   und  \V 
Ausicbten    des    classiseben    Alterthums    befrurbtet    und    <lurrb 
Söblegel,  unteisttltzt  durch  das  gefällige  Sprucborgan  seines  Bna 
ausgefübrt   wurde",   geht  Müller   insbesondere   auf   die   Weise 
Bcblegclscben  Kritik   ein,   von   deren   Mängeln   er  den    Haupti 
darin  siebt,   dass  diese  Weise  zu  unbistnriscb  gewesen   sei.    Da 
beisst  es  weiter:  „Die  kritisebe  Revolution  in  Deutschland ^  In 
absolut    wissenscbaffliebcu   Einseitigkeit,    in   der  sie   sich    fant 
scbliessend  gezeigt  bat,  konnte  Überhaupt  keine  grosse  uumittell 
Wirkung  auf  die  deutscbe  Nationalität  hervorbringen,   weil  sie 
das  Wesen  der  gleicbzeitigen  Rewegiingeu  der  Gcsellscbaft,  sei 
iu  ibren   öffentlichen,  als  in  ibren  Privatbeziehuugen,    ibÄtig 
fortgesetzt  einzugeben,  aus  einem  gewissen  ganz  unziemlii-hen  $1 
verscbmäbte.     Den   Staat  und  seine  gc^cuwärtige, '  keineswegs 
Verachtung    zu    übersehende   Gestalt    setzte    sie    mit    idealtödt 
Selbstgenügsamkeit  tibcr  die  Seite.     Natürlich   musste  sie, 
ihre  eigene  Bedeutung  zu  erböbeu,   durch  den  unmittelbareu 


kl&ning,  wie  die  lleck'scbe  Romantilc  nichts  als  Gipfel  der  SentltiK>nUHtät. 
diese  Krscbeiuungen  masBten  notbwendig  neben  einander  golien;  aber  rs  Iit 
nichts  gCMnsser,   als  dass  eine  immer  nur  durch  die  andere  bcgreiflirb  vfnl 
Fichte  zu  kennen,  muss  man  Tieck  nnd  seine  Schule  betrachten,  und  uii< 
Diese  auf  ihrer  Reise  nach  i^üdcu  haben  Shakspeare  schon   weit   hinter 
Europa  kommt  nur  Spanien  noch  in  Betracht;  wenn  aie  erst  in  ImUf'ij  .>!.:  ■  > 
sein  werden,  wird  auch  dieas  verschwinden,  und  vor  unsem  Augen  w- 
unter  dem  Aeqiiator  zeHücsseu  und  verdunsten  sehen.    Fichte  zir] 
der  Philosophie  immer  mehr  zasammen.  sto&st  immer  mehr  I.  ■ 
kreia   heraus,   selbst  seine  neue  Darsiellunjt  der  Wisseiisr 
kürzer,  und  wir  werden  es  erleben,  den  Philosophen  und  seint  Uartuliui«;  * 
wir  ersticken  sehen-. 


Entwickelungsg.  d.  Literat.    1773—18:12.  Nationaler  Aufschwung.   Ad.  Malier.   921 

der  gesellscbaftlicben  Notb  unsrer  Zeit  überwältigt  und  dem  absoluten 
Bewusötsein   ibree  eigenen   Daseins   Überlassen   werden"*'.     In  der 
fünften  Vorlesung:  ^Icb  weiss,   dass  es  hei  manchen  von  derselben 
Miise   (in   dem  Gedicbt   des  jungen  Willielm  Meister,   von   dem  im 
Anfange  der  „Lehrjahre"  die  Rede  ist)  befangenen  und  geblendeten 
unter  unsern  Zeitgenossen  für  Entweihung  gilt,   wenn  man  auf  den 
Luatplätzen    der  Poesie  jener  Sorgestätten  des  häuslichen   Lebens, 
wenn  man  unter  den  Spielen  s.  g.  moralischer  Freiheit  der  dUstern, 
harten   physischen  Schranken  des  btirgerlichen  Lebens,   seiner  Ge- 
setze und  Convenienzeu  gedenkt.    Aus  demselben  Grunde  wurde  ich 
den  Führern  der  deutschen  Philosophie  verdächtig,  wenn  ich  ihnen 
neulich  Vernachliissigung  des  gesellschaftlichen  Zustandes  der  Welt 
und  seiner  Bedingungen  vorwarf.    Ich  glaube  »lieHen  beiden  Unsterb- 
lieben,  der  Philosophie  und  der  Poesie,  auf  meine  Weise  zu  dienen 
und  ihnen  das  Hüchste  zu  opfern,  was  ich   mit  meinem  Leben  ge- 
winne.   Aber   was  sind  denn  diese  Allmächtigen,   und  wo   ist  ihre 
zauberische   Kraft,   wenn   sie  es  verschmähen,  die  Penaten  unsres 
Hauses  zu  werden?    Kann  ich  denn  unbeschränkt  und  ewig  lieben, 
was  mich  dem  Vaterlaude,   gleichviel,   wie   erniedrigt  es  auch  sei, 
was  mich  den  Banden  der  Familie,  die  im  peinlichsten  Drucke  mir 
noch   licilig  sind,   was  mich   meiner  Zeit  und   ihren,   wie  es  mein 
Herz  sagt,   keineswegs  unlieilbaren  Gebrechen  entführt,   was  mich 
buhlerisch    in    eine   hoATnungslosc    Ferne  lockt""?     In  der  achten 
^^"^orlesung"  gieng  er  darauf  aus,  näher  zu  erörtern.  ,.dass  der  Staat 
^■der  die  Gesellschaft  auf  der  Höbe  Eins  sei   mit  der  Wissenschaft; 
^■ass  die  Gesetze  des  speculativen,  wissenschaftlichen   Lebens  und 
Pttie  de«  praktischen,  bürgerlichen  sich  in  einem,  allem  Leben  überhaupt 
gemeinschaftlichen  Gesetze  vereinigen :  „der  Staat  isl  ein  denkender, 
^^Uos    Begriffene    begreifender,    alles    Handeln    behandelnder    oder 
PBegierender   Mensch '^.     Er    missbilligt    den    von    Klopstock    einge- 
BChlagenon  We^,  nns  unsere  Vorzeit,  zur   Krstarkung    der  Gegen- 
^wart,    in   dicbterisohcn   Gebilden  zu    schildom.     Besser   hätte   man 
^ftethan,   durch   die   Geschichte  rückwärts  schreitend,    die  Tradition 
^KoBcrs  Ursprungs  Schritt  vor  Schritt  bis  zu   ihren  Quellen  zu  rer- 
^Klgen,   weil   man  die  Väter  und  Grossväter  erst  verstehen   müsse, 
^^evor    man    zu    entferntem    Ahnherren    zurücksteige.     .,Wen    die 
nächsten  Umgebungen,  die  heutige  traurige,  tief  gebeugte  Gentait  des 


§  341 


20)  S.  Ml  f.;  dazu  S.  I.U:  dto Wissenschaft  in  Deatschbnd  s«!  lan^  In  dem 
[Würdigen  Wahoe  befangen  gewesen,  das  Ideenreich,  welches  sie  im  Aether  er- 
babe,  kOnne  und  solle  nnr  dort  bestoben  und  ewig  ausser  Oemeinschaft  mit 

fyrobcrn  fnteresse  des  Lebens  in  der  irdischen  Atmosphäre  bleiben 
;)  8.  71  f.  22i  S.  i!5  ff. 


922    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bb  m  Goethe'»  Tod. 

341  deutseben  Vaterlande»  selbst  nicbt  mit  erbebenden  Gefflblen,  mit 
Nationalstolz  erfllllen;  wen  Niederlage  und  Unglück  nicht  ganz 
besonders  fest  an  den  Boden  anscbliessen,  der  ibn  erzeugte,  den 
werden  alle  Siege  über  die  Legionen  des  Varus  nicbt  fOr  das 
Vaterland  zu  begeistern  vermögen"".  In  der  neunten  Vorlesung*' 
beisst  es:  „Ich  habe  in  diesem  Vortrage  besonders  darauf  hinge- 
deutet, dass  es  eine  Stelle  in  den  wissenschaftlicben  Fortschritten 
•  einer  Nation  gebe,  wo  der  Geist,  seiner  Schwärme  in  abgelegenen 
Gebieten  des  Wissens,  in  den  entfernteren  Regionen  der  Natur 
halb  flberdrttssig ,  halb  ihnen  entwachsen,  in  seine  wahre  und 
innerliche  Sphäre,  in  den  Kern  seines  Lebens,  in  das  Herz  der 
Gegenwart  zurückkehrt  und,  wie  nach  bunten  Abenteuern  nnd 
weiten  Reisen  der  zurückgekommene  Haushalt  mit  erbabenem  Ab- 
sichten und  tiefcrem,  frömmerem  Gemüth  übernommen  wird,  so  aueb 
hier  das  Gewerbe  und  vielfaltige  Geschäft  des  bürgerlichen  Lebens 
von  der  ordnenden  Kraft  des  wissenschaftliehen  Geistes  ergriffen 
und  das  Einfachste,  Nothwendigste  mit  der  höchsten  Freiheit  erbaat 
und  behandelt,  mit  der  edelsten,  reichsten  Schönheit  geschmflckt 
wird.  Immer  sichtbarer  wird  dieses  Vaterland,  diese  Stadt,  die  eret 
in  wenigen  Herzen  begründet  schon  und  entworfen,  bald  in  Familien- 
vereinigungen leben  wird  —  und  endlich  —  was  ist  leichter  und 
gewisser,  als  dass  die  Natur  gehorchend  sich  anscbliesst,  wenn  erst 
die  Herzen  ohne  Weigerung  das  Gemeinsame  wollen?  —  auch  unter 
der  Gestalt  siegreicher  Waffen  den  Nachbar  ihr  Dasein  fühlen  lassen 
wird.  Bilde  dein  angewiesenes  Werk  nur  ruhig  fort,  du  nelfacb 
verwundetes  und  unterdrücktes,  aber  auch  jetzt  schon  mit  Gtitera. 
die  die  spätesten  Enkel  deiner  Unterdrücker  noch  segnen  werdeD. 
vielfach  entschädigtes  Volkl  Deine  Ströme  fliessen  noch,  wenn  sie 
auch  eine  Weile  nur  die  Beute  getragen  haben,  die  deinen  Fürsten 
abgenommen  worden;  die  alten  Grenzen  werden,  so  lauge  deine 
Berge  stehen,  nicht  vergessen I  Deine  besonders  entweihete,  aber 
auch  von  der  Berührung  der  ehrwürdigsten  und  erbabensten  unter 
den  Zeitgenossen  und  Vorfahren  besonders  geheiligte  Sprache  Mölit 
kräftiger  und  reiner  unter  allen  Erschütterungen  deines  Bodens:  we: 
ihre  innerlichen  Töne  zu  vernehmen  weiss,  muss  das  Vaterlaai 
wenn  er  sich  auch  nicht  in  Betrachtung  deutscher  Wissenscbaft  tc 
seinem  Dasein  erfüllt  hätte,  kommen  hören.  Den  Glauben  an 
Zukunft,  wie  ihn  diese  Sprache  auszudrücken  weiss,  lasst  uu? -"e- 
wahren,  wenn  auch  die  Majorität  der  Zeitgenossen  anderni  Gf^"^ 
folgen  sollte,  als  dem  heiligen  Triebe  menschlicher  Vereini'niü;:  'r-i^ 
schöner  Verschränkung  der  Freiheit,   dem   das  Recht  dient  um! - 


2:ji  S    i:U  f.  211  S.  löo  fi'. 


twickelungsg.d.  Literat.   1773—1932.  X&ttooaler  Aufschwung.   Ad.  Müller.    923 


tietet, .  .  .  Jedes  Herz  belfe  die  eine  Waffe  schmieden  und  vollenden, 
der  wir  bedürfen:  Erkenntniss  des  einfachen,  ewigen  Rechts  unter 
allen  Entstellungen  der  Selbstsucht  und  des  Vorwitzes  um  uns  her. 
Bleibt  ihr  der  Erkenntnis»,  der  Wissenschaft  treu,  so  wird  sie  von 
selbst  zur  Kraft  und  zur  Handlung;  die  jede  einseitige  Macht  beulten 
und  zu  ihrer  Zeit  die  wilde  Tyrannei,  die  euch  jetzt  zu  Boden  wirft, 
bczÄbmen  wird".  Um,  wie  bereits  oben"  angefühlt  wurde,  darzuthun, 
wie  die  politische  oder  die  ökonomische  und  die  poetische  Existenz 
einander  beständig  bedingen,  um  zu  zeigen,  wie  unziemlich  die 
Gleichgültigkeit  der  Dichter  und  der  Freunde  der  Poesie  gegen  den 
gesellschaftlichen  Zustand  in  Deutschland  erscheinen  müsse,  wies 
er  in  der  zehnten  Vorlesung  vor  allen  andern  vaterländischen  Dich- 
tern der  Vorzeit  auf  Hans  Sachs  hin**:  ^Mit  dem  grossen  Meister- 
sÄnger  Flans  Sachs  schliesst  sich  die  Reihe  der  germanischen  National- 
dichter. Dieser  vortreffliche  Poet  stellte,  ohne  seinen  eiKcnthUmlichen 
Standpunkt,  die  Sitte  des  deutscheu  Vaterlandes,  die  geliebte  Geburts- 
stadt  Nürnberg  und  sein  Gewerbe  zu  verlüugnen,  die  ganze  Sphäre 
des  deutschen  Lebens  noch  einmal  mit  kntftigcr  Strenge,  Tüchtig- 
keit und  Fri^niraigkeit  dar.  Jeder  Tag  seines  Lebens  war  mit  irgend 
einem  grossgedachten  und  tiefempfundenen  Werke  bezeichnet,  das, 
aus  der  unmittelbaren  Gegenwart,  den  Zeitläuften  und  der  nächsten 
Umgebung  entsprungen,  sogleich  wieder  ersprieRslich  zurUckfloss  in 
das  Herz  der  glcichgesinnten  Mitbürger  und  der  frommen,  genUg- 
samen,  kunstbeÜissencn  Nation.  .  .  .  Die  Weltgeschichten,  die  sich 
gerade  zu  seiner  Zeit  durch  die  Entdeckung  der  beiden  Indien, 
durch  die  Bibelübersetzung  und  die  Verbreitung  griechischer  und 
römischer  Autoren  so  betrüehtlich  häuften  >  stehen  wie  eine  reiche 
Christbeschening  um  den  frommen,  kindlichen  Alten  her;  er  grift' 
;h  mit  geschickter,  sinnreicher  Hand  eine  nach  der  andeni  heraus 
id  formte  sie  nach  deutscher  Manier  zu  Lehr  und  Nutzen  der 
Ltnistgenosseu  und  Landsleute  um.  Der  wirksame,  rechtliche, 
iristliche  Geist  dieser  Geschichten  Überredet  allenthalben  zu  treuem 
lebarren  in  altviiterischcr  Zucht,  zu  Genügsamkeit  und  Muth  und 
ler  dem  Gemeinwesen  wie  dem  Hausstande  erspricsslichen  Tugend, 
id  eine  unerschöpfliche  Fröhlichkeit  begl^nzt  rlie  ohrbarsteu  Ge- 
ilten »ind  die  heiligsten  Vorgänge,  dass  sie  immer  mit  neuer  Lust 
jedem  Stande  und  bei  jeglichem  Gewerbe  betrachtet  werden 
tonnen.  Wer  ilen  Begriff  von  Geracinnlltzigkeit  und  Popularität, 
m  wir  in  dem  dachen  und  seichten  Sinne  unserer  Zeitgenosi^en  so 
rt  von  der  Hand  haben  weisen  müssen,  in  seiner  echten  Bedeutung 
[leder  autfassen  will,  der  beschaue  sich  die  Zeit  und  Handlungsweiso 


§  341 


25)  III.  31  f.,  7 


20)  8.  157  ff. 


^ 


924    VI.  Vom  «weiten  Viertel  des  XVm  J&hrimndertB  bU  vi  Ooethe'i  Tod. 


§  341   diesea  Meisters"".     AI»  Müller  dann   im  J.  1808  mit  Heinricb  voß 
Kleist  den  «Phoebus,   ein  Journal  fflr  die  Kunst",  gründete,   «o| 
darin  die  Pocbio  den  innigsten  Bund  uicbt  allein  mit  der  Philoso] 
und  der  bildenden  Kunst,   sondern  auch  mit  dem  wirklicben  Lei 
der  Gegenwart  ein^feben,  um  zur  Belebung  des  National^efnbls 
zur  Erweckung  eines   tbatkräftigcn   politiscben  Sinnes  in    Deut 
land   mitzuwirken.     In   einem  ßriefe  an   Gents"   schreibt   Malier: 
„Selbst  in  den  Augen  sehr  vieler  gebildeter  Dcutsclien,  wi 
jetzt  der  Absatz  zeigt,   bat  es  wobl   nie  eine  fibnliebc    \ 
der  Poesie  mit  der  Philosophie  und  der  bildenden  Knust  gegeben. ... 
Den  Vergleich  mit  den  ,  Hören"  können  wir  uns  ans  vielen  C' 
nicht  gefallen   lassen.     Goethe'»  Gemeinschaft    und   seinen    \ 
wird    niemand   verkennen,   aber  Schillers  philosophische   Arbeiten, 
wie  gewiss  sie  auch  sein  McistcrstUck  sein  m«>gen,    <;     '  '^  "  " 

Äu  einer  Art  von  Oberkammerherrn  oder  Ceremonicii.  , 
folge  jenes  königlichen  Dichters;  aber  von  einem  wahren  Ue;: 
zwischen  Poesie  und  Philosophie,  also  von  einer  echten  .^u:.j 
zwischen  beiden,  war  wenigsten»  im  Bezirke  des  Journals  nirl:itd  n 
spuren;  ferner  waren,  dem  eignen  Geständnisse  des  HorausL;2Tb<n» 
nach**,  die  „Hören**  zu  einer  Art  von  Lust-  und  Tbiergnrten  bcstimffit 
zu  einer  sonntäglichen  Retraite  und  Ressource,  wo  man  du»  wirt- 
liche Leben  und  alles  politische  Kreuz  der  Zeitunistande  eine  Wt 
vergessen  sollte.  Dass  ich  in  eine  ähnliche  schlaffe  Ansicht 
Lebens,  eine  ähnliche  Trennung  der  sogen«  heitern  Knust  vou  i! 
ernsten  Leben  nie  habe  eingehen  wollen,  dies«  mlissen  Sie  mir 
zeugen".  Besonders  bezeichnend  für  die  eigentlich  poetischee, 
der  falschen,  antikisierenden  und  romantisierenden  Idcali^ttik 
kehrten  Tendenzen  des  Jimmals,  wie  sie  sich  in  Kleists  Beil 
zu  demselben  aussprachen  und  auch  ferner  aussprechen  sollten, 
folgende  Stellen  des  Briefes:  „Die  Antike  und  die  chrisiHchc 
des  Mittelalters  sind  die  beiden  lichtesten  Ei*s.  '  "  -en  1o 
Weltgeschichte,  aber  für  uns,  die  wir  durch  uns  -  ^-elten 

und  nach  langer  Gebundenheit  wieder  frei  geworden  sind,  kt 
von   beiden  als  Muster  genügend".     Dann   (mit   ei  im 
auf  die  Nachahmer  der  grossen  italienischen  und  spaii 
„Lassen  wir  doch  jene  verwelkten  Kränze,    welche   die 
alten   und  der  christlichen   Dichter  zierten,    in    der    heilii 
ihrer  Gräber;  sie  sind   nicht   ihresgleichen,  jene  Neulinge.] 
nach  dem  Lorheer  der  Verstorbenen  greifen"**. 


27)  üeber  die  Anwendung  dieser  Befrachtung  über  Hans  Sacht  Ufl 
wart  vgl.  m.  34  f.,  ?'.  —  Andere  hierher  heiöcUchc  SieUfn  finden  _ 
20a  und  205  f.  28l  Vom  fi.  Febr.  ISO*«;  vgl.  oben  S.  670   Anoi 

29}  Vgl.  oben  S.  40«  f.        30)  Laan  (Fr.  Schubse)  beri( 


:ntwickduDg6gaog  d.  Literatur.    1773—1832.  Nationaler  Aufscbwuug.  Aradt.   925 

Noch  früber  aU  die  beiden  Schlegel  und  Müller  sich  iu  der  an-  §  341 
gegebenen  Weise  vernehmen  Hessen,  im  Herl)8t  des  Jahres  1S05,  als  die 
furchtbarsten  Geschicke  Über  Deutschland  erst  einzubrechen  dr<>hteUf 
hatte  bereits  Ernst  Moritz  Arndt'"  im  Hinblick  auf  das  Missver- 
liältuiss  zwischen  unserer  Literatur  und  dem  wirklichen  Leben,  den 
deutschen  Dichtern  und  Denkern  in  seinem,  die  kläglichen  und  ge- 
tbrlichen  vaterläudiscbeD  Zustände  mit  erschütternder  Wahrheit  ab- 


2,  161  f.:    -Ad.  Müller  lebte  (l^tOS)   schon  eiaiffe  Zeit  iu  Dresden.  —  Ein  zahl- 
reicher Kreis  von  ausgej^eicbneter  BilduDgf  zum  Tbell  von  hohem  Range  and  ans 
lieiden  Geschlcchlera  bestcheud,  erfüllte  die  Uörsdle,  in  denen  er  seine  geistvollen, 
durch  imponierende  PtTsunlichkeit  noch  mehr  bervorgebobenen  Vorlesungen  hielt. 
Sic  betrafpn  meißt  asthotlscbe  GegcnsUinde.    Aber  —  in  allnn  srinen  Vorlesungen 
machte  er  der  Versammlung  zur  Pflicht,   der  Politik   nach  Kräften  za  huldigen 
und  sieb  den  Aberrbelniächen  neuen  Grundsätzen  und  Waffen,  wie  jeder  Eiuzelne 
solches  nur  in  seiner  Lage  irgend  vermöge,  Öffentlich  oder  insgeheim  entgegenzu- 
stemmen.    Sein  ebenfalls  iu  Dresden  anwesender  l'reund,  Heiiu*.  von  Kleist,   half 
im  durch  Uede  und  Schrift  glfiiche  Moinungm  verbreiten.    Das  von  beiden  ge- 
leinschattlich  herausgegebene  .lourual  .Phorbuä"  enthielt,  nebst  vielen  ihre  poli- 
tischen Ansichten  verfechtenden  Sophistereien,   gar  manches  gediegene  Poetische 
und  Ochaltrciobe   Überhaupt.    Es  war  zu   beklagen,   doss  diese  Zeitschrift  aus 
Maugt'l  an  hinreichender  TheihuLhme  eingehen  musste.   Gewiäsermassen  zeratörteu 
Herausgeber  solche  selbst  durch  die  fondauemde  Belebuui;  und  Fortpflanzung 
»r  Meinung,  dass  zu  einer  Zeit,  wie  der  damaligen,   Witten,   Kunst  und  Alles 
it8  sei  gegen  die  Politik  und  zwar  allein  diejenige  Politik,  zu  der  sie  sich  be- 
tnten,  nach  welcher  jeder  gehalten  war,  nicht  nur  Gut  und  Blut  daran  zu  setzen, 
tondern  auch  das  bedenkliebste  Mittel  zu  Krreichung  des  beabstchtigtou  Zweckes 
nicht  zu  verschmithen.     Von  Kleist   ist  letzteres  in  einer  damals  im  Manuscnpt 
iter  dem  Siegel  des  Schweigens  vonJIand  zu  Hand  umherlaul'enden  Tragödie, 
[der  Hermannsschlacht-',  schauerlich  genug  ausgeBprochen  worden**.        ^ll  Gob. 
f69  zu  Schoriiz  auf  Rügon,   besuchte  das  G>-ranasinm  in  Stralsund,   bezog,   um 
leologie  und  Philosophie  zu  studieren.    l'rM  die  Universität  Greifäwald,   8i»ftter 
rcna,  gab  aber  nachher  die  Theoloj^ie  auf,   machte  von   ITHi  an  Heison  durch 
lehrere  europilischi?  Lander  und  trat  auch  ^choii  früh  als  Schriftsteller  auf.    Im 
\^^\^  wurde  er  Adjunct  und  drei  Jahre  darauf  ausserordentlicher  Professor  der 
ihichte  in  Greifswald.    Sein  von  dem  ingrimmigsten  Hass  gegen  Napoleon  er- 
Iter  «Geist  der  Zeit**  to.O.  I^oti.   b.  und  mehrmals  aufgelegt)  nOthigte  ihn,  bei 
Vordringen  der  Franzosen  nach  Schweden  zu  fliehen.    Er  kehrte  zwar  unter 
jmdem  Namen  nach  Greifnwald  zurück,  niusste  aber  beim  Ausbruch  des  fran- 
nsch-ruBsisebcn  Krieges  aufs  neue  fliehen.    Dicssm&l  gicng  er  nach  Russland. 
[S13  kam  er  wieder  nach  Deutschland  und  trug  nun  durch  Wort  und  Schrift  aufs 
räftigste  zur  Befreiung  des  Vaterlandes  boi.    Nach  Beendigung  des  Krieges  lebte 
afn  Khein,   seit  IMT  in  Bonn,  wo  er  im  nilchstru  Jahr  an  der  neu  errichteten 
lität  als  ordentlicher  Professor  der  Geschichte  nngeatellt  wurde.    Von  der 
ihn  mhübenen  Anklage,  sich  an  den  sogeuAnnten  dcmagogisehca  Tmlrieben 
Jtheiliut  zu  habeu.  wurde  er  zwar  fi*ei  gesprochen,  uichts  desto  wenij^er  aber,  mit 
übchultung  seines  Gebalts,  von  seinem  Amte  subpeadiert  uud  erst  von  König  Fried- 
Ich  Wilhelm  IV  gleich  nach  dessen  Regierungsantritt  wieder  iu  dasselbe  oingeseut 
Ir  suri),  uoch  bis  in  sein  höchste«  Alter  von  einer  selt^neu  Rüstigkeit  des  Körpers 
id  einer  nicht  ouuder .  selioaeu  Frlache  des  Geistes ,  zu  Anfang  dei  J.  l^tiü. 


926    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhonderts  bis  zu  Goetbe*s  Tod. 

341  schildernden  „Geist  der  Zeit",  —  der  jedoch  erst  ein  Jahr  später 
an  die  OefTentlichkeit  trat  — ,  bedeutungsvolle  Winke  über  das  Irrige 
in  ihren  Ansichten  und  Bestrebungen  ertheilt.    In  dem  „die  Schreiber*, 
d.  h.  die  Schriftsteller  seiner  Zeit  charakterisierenden  Abschnitt  sagt 
er  in  Betreff  der  Dichter:  „Diese,  hat  man  wohl  gemeint,  könnten 
in  allen  Zeitaltern  und  unter  allen  Regierungen  sich  behelfen;  llir 
Leben  liege  zu  hoch  über  dem  Wirklichen,  als  dass  sie  von  seinem 
Schlimmen  und  Gemeinen  gefasst  würden.    Wäre  diess  wahr,  so 
würde  man  eben  so  von  der  Geschichte  meinen  können.    Ich  sage 
umgckchi*t,  das  Leben  der  Poesie  und  Geschichte  liegt  eigenst  im 
W^irklichen,  im  Lebendigen.    Es  sind  auch  keine  Lügen  und  Gedichte, 
wenn  dieses  unter  ihren  Händen  reizender  und  majestätischer  vor 
den  Leuten  erscheint;  die  Herrlichen  haben  bloss  klareren  Sinn  und 
tieferes  Gefühl,  die  Schönheit  und  die  Ewigkeit  im  Lebendigen  za 
sehen  und  zu  empfinden  und   sie   andern  mitzutheilen.     Aber  die 
Welt  kann  zu  fein  und  zu  klug  werden  für  den  Dichter.     Man  kann 
mit  einer  so  albernen  Schlauheit  sich  selbst  und  die  W^elt  betrachten 
und  behandeln  und  so  viel  Künstlichkeit  und  Erbärmlichkeit  hin^iB 
bringen,  dass  sie  endlich  nur  noch  als  eine  kümmerliche  Verwand- 
lung dasteht  und  nichts  mehr  von  der  jungfräulichen  Einfalt  and 
Unschuld  hat,  welche  die  Genien  zur  Zeugung  mit  ihr  begeistert 
So  weit  sind  wir  jetzt.    Wo  ist  die  alte  Fröhlichkeit  und  Tapferkdl 
des  Menschen,  wo  ist  Liebe  und  Entbehrung,  wo  ist  der  stille  Sias, 
der  ohne  Klügelei  die  schöne,  volle  Welt  in  seine  Brust  aufnimmt? 
Alles  Klugheit  und  Eitelkeit;  die  Göttevsöhne  wandeln  unter  einea 
verarmten  Geschlecbte.    Ich   weise'  auf  die  europäische   Dicbtkuu^ 
in  den  letzten  fünfzig  Jahren  hin  und  lasse  urtbeileu,  ich  weise  aci 
die  neuesten  Erscheinungen  meines  Vaterlandes.     Unsere  Heroen  der 
Kunst,  die  wir  wunderbar  noch  hatten,  wodurch  hängen  sie  mit  der 
Zeit  zusammen?    Mich  dünkt,  nur  durch  alte  Erinnerungen  an  Aü 
was  das  Volk   einst  war.    Sie  sind  wirklich   Fremdlinjre   und  er 
mangeln  deswegen  des  lebendigen   Einwirkens   und  Mitlebens  it'i 
den  Zeitgenossen,  wodurch  der  Dichter  nur  der  Vollendete  in  Jugei^ 
blüthe  sein  und  bleiben  kann.    Wie  Erscheinungen  grauer  Verganit> 
heit.  wie  Propheten   und  Räthsel,   die  auf  eine   ferne  Zukunft  b- 
deuten,  wandeln  sie  unter  uns.    Die  lose  Menge,   die  mit  dieser Zfi 
lebt  und  empfindet,  wird  auch  von  den  raschen  Wogen  der  Zeit  s^ 
wegges|)ült.     Eine  dritte  Classe  ist  da,    die    es   macht  wie  einij:? 


Vgl.  -Meiue  Wanderungen  und  Wandelungen  mit  dem  Heichsfreiherrn  H-  C  F  ■ 
Stein-.  Von  E.  M.  Arndt.  3.  Abdruck.  Berlin  ISTo.  s.;  liaur,  E.  >[.  J^ 
Leben.  Thaten  und  Meinungen.  3.  Aufl.  Hamburg  lS"o.  ^. ;  A.  ilöU'r.l^ 
Arndt  und  die  Universität  Greifswald  zu  Anfang  unsers  Jahrhs.    Berlio  '^  ' 


■1 


EDlwickelaiigbg.  d.  Lit.  1713—1*32.  Nationaler  Aufschwung.  Arndt.  ScheUing.  927 

The<ilo^'en,     Bei   dem  Gefühle   des  Mangels   der  Gegenwart   möclite  §  3.1) 
sie  die  Zeit  diircb   das  Alte  wieder  jung  machen.    Aber  das  Alte 
kann  so  weni^  juug   werdeu,    als  juug  machen.    Was  Tcrgaogea 
ist,   ist  ewig   vergangen.     Wir   hören   diese    alten   Töne   eines   ver- 
gangenen Lehens  einige  Stunden  und  Tage  wohlgefällig,  sie  bewegen 
ina  wie  alles,  was  durch  die  ZeitenlÄnge  dem  Ewigen  und  Uuend- 
^lichen  ähnlich  wird;  aber  sie  können  das  kluge,  gebildete  ZeiUilter 
licht   wieder  zum  kindlichen   und  einfältigen  macheu''"".     In   dem 
bschnitt  „die  neuen  Völker"  hcisst  es:  „Unsere  Philosophen  geben 
ins  einen  hohen  Rang,    Sie  sagen,   die  Deutschen   seien  das  Volk, 
elches  Freiheit  im  Glauben  und  Denken  geboren  und  erhalten  habe. 
lolche  Verfassung  und  Viellierrsehaft  (wie  in  Deutschland)  habe  sein 
Hssen,   damit  es   der  Freiheit  und  Wahrheit  nie  an  Schutz  fehlte, 
.uch  des  Staates  nnscheiubarer   und   fonnloser  Zustand  sei  trefflich 
gewesen,  von  allem  Politischen  und  VolksihÜmlichen  abzuziehen  und 
auf  das  Allgemeine  und  Menschliche  als  auf  das  Würdige  der  Bil-  ^ 
iung  hinzuweisen.     So  könne  nur  Weltsinn  geboren  werdeu.     Kos- 
lopolitisnuissei  edler  als  Nationalismus  und  die  Menschheit  erhabener 
ds  das  Volk.    So  mOge  das  Volk  verschwinden  wie  die  Spreu  vor 
[em  Winde,  auf  dass  die  Menschheit  werde.    Diese  Ideen  sind  hoch, 
tber  sie  sind  nicht  verständig,  und  das  VerstUudige  ist  höher.    Ohne 
las  Volk   ist  keine  Menschheit   und  ohne   den   freien  Bürger  kein 
der  Mensch.     Ihr  Philosophen  würdet  es  begreifen,  wenn  ihr  Irdi- 
rbes  begreifen  könntet"". 

Dass  ein  gedeihliches  Emporkommen  aller  wahren  Kunst,  und 

Iso  auch  der  poetischen,  davon  abhänge,  dass  die  individuelle  küost- 

«nsche   Begeisterung  aus   der  in    dem   Ganzen    einer   Nation   ver- 

►reitcten  geistigen  Kraft  henorgehe,   von   einer  gehobenen   ötTent- 

icheu  Stimmung  getragen  und  in  ihren  Richtungen  bestimmt  werde, 

irde   jetzt    auch     von    ScheUing    anerkannt    und    in    gewichtigen 

'orten  den  Zeitgenossen  zur  Beherzigung  empfohlen'*,   damit  aber 


32i  Nach  der  4.  Autl.    AlCoua  IS61.   '^.    8.  45  S.  33l  6.  141  f. 

t  lo  der  Rede  ..aber  das  Verhftltuss  dor  bildenden  Künste  xu  dar  Natur",  i\ie 
iin  Herbste  ISu"  am  Nameusfeut  des  Königs  von  Üaiern  in  der  nffentHchen 
Versammlung  der  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Müucbeu  hielt  (München 
1).  .I>ie  Kuust".  l>emerkte  er  hier  {8.  59  ffi.  -entspringet  ttus  der  Icb- 
)Q  Bewegung  der  innersten  Gemuihs-  und  Geisteskräfte,  die  wir  Hegeisterung 
teu.  Alles,  was  von  scbwcrco  oder  klcineii  Anfangen  zu  grosser  Macht 
id  Höhe  herangewachsen,  ist  durch  Bogeistcrung  gross  geworden.  So  Reiche 
id  Staaten ,  KvUiste  und  Wissen  schatten.  Aber  nicht  die  Kraft  des  Kinzelnou 
;ht€t  es  au5;  nur  der  Cteist.  der  sich  Im  Ganzen  verbreitet-  Denn  die  Kunst 
ibesondere  ist,  wie  die  zarten  Pflanzen  Von  Lnlt  und  Wittenuig,  so  von  ölTeut- 
iher  Stimmung  abhungig.  sie  bedarf  eines  allgemeluen  Enthusiasmus  fQr  Krhabeubeit 
Scbönbeit.  —  Nur  dauo,  wenn  das  öffentliche  Leben  durch  die  nämlicheo 


928    VI.  Vum  Kweitcu  Viertel  des  XYUI  JahrhuaderU  bis  za  OoHhe*»  Tod. 


§  341  auch,  wenigstens  mittelbar,  auf  die  Nothwendigkeit  einer  darch- 
greifendcn  Erfrischung,  Stärkung  und  Hebunjr  des  nationalen  I*ebeM 
in  Deutschland  als  der  ersten  und  uuuiul  ^  uguughin* 

gewiesen,  wenn  unsere  Kunst  uud  unsere  .    ,  ., .1  geanndeo, 

kräftigen  uud  reichen  BlUthe  gelangen  sollten.  Mit  welcbein  ener- 
gischen Muthe  uud  mit  welchem  Nachdruck  Fichte  iu  seine»  „Bedea 
an  die  deutsche  Nation"  diese  auf  den  We^  zu  bringen  suehte, 
deiD)  wie  er  glaubte,  jene  Bedingung  sieb  fUr  sie  allein 
könnte,  ist  schon  au  einer  andern  Stelle  angegeben  worden* 
unserer  Genesung  für  Nation  und  Vaterland"  sah  er  jetzt  »die 
Natur  unserer  vollkommenen  Heilung  von  alten  Uebeln,  die 
drtlckten,  unzertrennlich  verknüpft ***".  Und  wie  er  nun  Obe 
war,  diws  selbst  der  Philosoph  von  der  allgemeinen  VcrbiudHc 
seine  Zeit  zu  verstehen,  nicht  loszusprechen  wäre,  »o  beflch 
die  Denker,  die  Gelehrten,  die  Schriftsteller,  die  dieses  Namens 
werth  seien ,  nicht  mehr  so  unbesorgt  im  Gebiete  dea  Den' 
fortzugehen,  ohne  sich  um  die  wirkliche  Welt  zu  bckammcro  ncJ 
nachzusehen,  wie  weit  jenes  au  diese  angeknüpft  werden  könnte, 
sich  nicht  mehr  bloss  ihre  eigene  Welt  zu  beschreibeu  uud  die  wirt- 
liche zu  verachtet  und  zu  verschmähet  auf  der  Seite  liegen  sui  laasM'- 
Als  das  Geschfifi  der  eigentlichen  Dichtung  sah  er  eä  aber  an,  das  f;ta0 
Loben  bis  auf  seinen  letzten  sinnlichen  Boden  herab  geistig  zu  tc*- 
khlren,  dass  es  iu  bewusstloaerTäuschuug  wie  von  selbst  sich  vereük* 
Sehr  bezeichnend  für  die  Wendung,  welche  in  der  Ge*i«niiö 
und  in  den  Neigungen  der  gebildeteren  Kreise  während  der  Z'  r- 
der  Fremdherrschaft  eintrat ,  war  es  nun  auch .  dass  das  U* 
teresse  an  der  vaterländischen  Vorzeit  und  insbesondere  an  der  lt* 
deutschen  Literatur  ein  allgemeineres  und  lebhafteres  wurde.  Jl 
war  es  nameutlicb  in  Berlin.  Henriette  Herz  berichtet  darftbcr*« 
„Dom  Namen  nach  blieb  mach  dem  Tilsiler  Frieden)  ein  riUli* 
bestehen.  Auch  hatte  d:is  Haus  Hohenzollern  nicLt  aufgcl  n  : 
regieren.  Aber  ob  iu  Wirklichkeit  ein  Preusseu  bept  -  ' 
Tbat  Konig  Friedrich  Wilhelm  III  im  Staude  war,  in 
seine  volle  Macht  als  Souverain  auszuüben,   konnte    bei  den  B» 

Krifte  in  Bewegung  gesetzt  wird,  durch  welche  die  Kunst  sich  ;ur  J* 

kauü  diese  von  ihm  Voitbeil  ziuheu.  —  Ohne  groj^sen   allgemt  i 
gibt  efl  nur  Sectrn,  keine  öffentliche  Meinung.    Nicht  ein  bQfeal||^t«r 
nicht  die  grossen  Begrifle  eines  Volkes,  sondern  die  Stimioeii  cioselner 
»afgeworfcner  Richter  entscheiden  über  Verdienst,   und   (Ue  Kaust.   lÜe  ll 
Hoheit  aclbstgentigsam  ist,  buhlt  um  ßclfoll  und  wird  iUeu6l1>ar.  da  ~- -  ^ 
»oUte-.  35i  Vgl  ni  32  f.  :i6i  1.  Ausg.    S.  2<»I ;  tk  \\ 

37)  1.  Ausg.    S.  474  ff.;  s.  Werke  7.  492  f.  ^S)  I.   Amg, 

s.  Werke  7,  ^^r^  f.  39i  thr  Lcbeu  und  ihre  £rinaerange&.    H« 

J.  rarst,  S.  309  ff. 


p 


EntwickcluDgsgangd.  Literatur.   1773—1832.  NationiUer  Aafecbwnng.  Ficbte.  929 


(lingungen  jenes  Friedens  allerdings  zweifelhaft  bleiben.  Aber  scbou  §  341 
an  die  Möglichkeit  davon  sah  man  im  Winter  von  1S07  zu  180S 
«len  ersten  scbtichterne«  Versucb  eines  kleinen  Anlaufs  zu  einiger, 
wenn  auch  nicht  direct  preussischon,  doch,  als  zum  Uebergange  zu 
dieser  geeignet,  deutschen  Gesinnung  sich  knüpfen,  doch  so  schlau 
vermummt,  da.ss  kein  französischer  Spion  herausfinden  konnte,  was 
ei^'entlicb  unter  der  Maske  stecke,  so  unschädlich,  dass  kein  fran- 
zosisches Kriegsgericht  den  Pfiffikus,  wenn  trotz  aller  Vorsicht  aus 
Keiner  Vcrhllllung  ausgcschfilt^  bestrafen  konnte;  eine  Art  Opposition, 
ganz  wie  sie  nach  der  feigen  Apathie,  welche  bis  dahin  geherrscht 
hatte,  eben  allein  möglich  war.  Die  gebildeteren  Classen  legten 
ntlmlich  ohne  alle  Ostentation,  still,  vorsichtig,  die  franzipsische  Lite- 
ratur bei  Seite  und  grifl'en  zur  deutschen.  Aber  zu  welcher?  — 
Zur  altdeutschen,  als  der,  welche  man  —  damals  —  von  allen 
romanischen  Einflflssen  frei  glauben  durfte.  Noch  war  von  derselben 
wenig  publiciert,  was  dem  grössern  Publicum  zugänglich  gewesen 
wÄrr.  Tiecks  «Minnelieder  aus  dem  schwäbischen  Zeitalter",  die 
80  eben  sehr  gelegen  erschienenen  „deutschen  Gedichte  des  Mittel- 
Alters",  von  V.  d.  Hagen  und  Büsching  herausgegeben,  und  eine 
Uebertragung  dos  „Nibelungenliedes"  von  v.  d.  Hagen  bildeten  unge- 
fähr das  zugängliche  Material ,  und  mau  nahm  nicht  Anatand,  in 
kleinen  vertrauten  Kreisen  —  grössere  gab  es  keine  —  Kraft,  Innig- 
keit, Minnigkeit,  Ritterlichkeit,  GemUthlichkeit  der  Altvordern  mit 
derjenigen  gemässigten  Ekstase  zu  bewundern,  welche  einer  Zeit, 
zu  welcher  die  Wände  noch  einige  Ohren  mehr  hatten  als  gewühn- 
lich,  als  die  allein  unbedenkliche  erschien.  Doch  man  erhob  sich 
bald  zu  etwas  grösserem  Muth.  Als  im  Winter  von  1807  zu  1808 
Dreher  und  Schütz  ihr  Marionettentheater  iu  Berlin  aufschlugen,  und 
man  sieb  entsann,  dass  die  StUcke,  welche  sie  darstellten,  alten 
deutschen  Sagen  entnommen  waien,  fiengen  die  gebildeten  Stände, 
eiche  bis  dahin  durch  den  Besuch  von  Puppenspielen  ihrer  Würde 
etwas  zu  vergeben  geglaubt  hätten,  an  sich  zahlreich  bei  diesen 
Vorstellungen  einzufinden,  mit  ktihner  Nichtachtung  der  Gefahr,  dass 
die  fremden  Gflste,  welche  sich  ebenfalls,  freilich  nicht  so  heiligen 
I  Ernstes,  sondern  frivolen  Spasses  wegen,  dabei  einstellten,  diesen 
y  zahlreichen  Besuch  auffallend  finden  könnten".  Mit  dieser  erwachen- 
^fcden  Theilnahme  knU]>fte  man  zunächst,  um  sich  an  dem  Geiste  einer 
^Vgrossen  Vergangenheit  zu  kräftigen,  aus  ihren  Thateu  und  Schöpfungen 
B  Trost  und  Hoffnung  für  die  Gegenwart  zu  ziehen,  in  ausgedehnterem 
Masse,  als  es  zeither  geschehen  war,  die  geistigen  und  sittlichen 
Bande  des  nationalen  Lebens  wieder  an,  oder  festigte  sie,  die  zum 
Theil  schon  durch  die  Reformation,  weit  mehr  aber  noch  durch  den 
dreissigjährigen  Krieg  und  durch  die  neuen,  zn  Anfang  des  sieb* 

KobenUin,  aruodh»»^  &.  AtiA.IV.  &'J 


^^de 
~et' 


930    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVHI  JahrhmidertB  bis  in  Goethe's  Tod. 

§  341  zehnten  Jahrhunderts  eingeschlagenen  und  lange  inne  gehaltenen 
Literatunichtungen  entweder  ganz  zerrissen  oder  doch  sehr  gelockert 
worden  waren.  Und  nun  dauerte  es  gar  nicht  lange,  so  erhielt  die 
deutsche  Sprach-  und  Alterthumswissenschaft  eine  tiefere  und  festere 
Begründung  zu  einem  reichen  und  rasch  vorschreitenden  Ausbao, 
wobei  auch  allmählig  sowohl  im  Formellen  wie  im  Stofflichen  der 
dichterischen  Production  immer  sichtlichere  Spuren  von  dem  Einfloss 
unsrer  wiederbelebten  mittelalterlichen  Dichtung  herrortraten ". 

§  342. 

Der  grossartige  Aufschwung  des  deutschen  Volks,  der  im  J.  18!3 
von  Preussen  ausgieng,  das  Vaterland  von  der  Fremdherrschaft  be- 
freite und,  als  ihm  sehr  bald  darnach  neue  Gefahren  von  aussen  her 
drohten,  auch  diese  glücklich  abwandte,  Hess  hoffen,  auch  die  Lite- 
ratur werde  nun  von  dem  neu  geweckten,  sich  aller  ihm  inwohnen- 
den  Kräfte  und  Mittel  bewusst  werdenden  Geiste  der  Nation  ei^ffen 
und  crfHllt  werden,  um  endlieh  in  einem  wahrhaften,  tiefen  und  all- 
seitigen volksthttmlichen  Gehalt  auch  das  zu  gewinnen,  was  zeitber 
noch  mehr  oder  weniger  dem  grössten  Theil  der  besten  Hervor- 
bringungen  zu  ihrem  eigenen  und  zu  der  allgemeinen  Volksbildon^ 


40)  Zunächst  und  zumeist  zeigte  sich  diess  in  derjenigen  Gatton^;.  die  in  ia 
neuen  Zeit  vor  den  übrigen  noch  immer  am  ersten  einzelnen  ihrer  Arten  ein  Tolk- 
thümliches  Gepräge  bewahrt  hatte,   die  daher  auch  am   empfanglichsten  fönbe 
Einflüsse  des  Geistes  altdeutscher  Diclitung  war.  in  der  Lyrik  und  demnächst  in 
dt^m  epischen  Liede.     Da  war  es  aber  ganz  vorzüglich  das  von  Achim  von  Anüni 
und  Cl.  Brentano  in  den  Jahren  isoti — IS0*<  herausgogebcne  «Wunderhom- iv?1. 1- 
325,  Aum.  und  IV,  GTT;  „zur  Geschichte  des  Wunderhoms"  von  Hoffmann  t. F.  ic 
AVeimar.  Jahrbuch  2,  2(»t  ff),  welches  diese  Einflüsse  vermittelte.    -Das  WuoJti- 
Ikorn  liat-,  wie  von  Guido  Grtrres  irgendwo  und  im  Ganzen  richtig  gesagt  wordfn 
ist   (Vgl.   CI.  Brentano's  gesammelte   Schriften   ^,  42)   -gewiss    nicht  wenig  nr 
Wecliung   des   deutschen  Bewusstseius   beigetragen :   es  hat   den  Deutscher,  d« 
wahren  Genius  ihres  Volkes  wieder  ins  Gediichtniss  gerufen.     Wie  viele  Pifbt'T 
haben  nicht  aus  diesem  Brunnen  geschöpft;  in  wie  viele  Schriften  hat  sich  nirli- 
was  Brentano  und  Arnim  gesammelt,  wieder  als  Samenkörner  zerstreut;  wit*  »i^ 
Componisten  haben  beim  Schalle  jenes  AVunderhorns  nicht  zu  singen  angefangs 
Lieder,  die  seit  Jahrhunderten  vergessen  und  verschollen  waren,  sind  auf  dies«?  ^V(«j? 
wieder,  was  sie  ursprünglich  waren.   Volkslieder  geworden   nnd  im  Munde  aÜ^ 
erklungen.    An  die  Richtung  deutscher  Romantik,  der  das  Wunderhorn  angfie-^ 
uud  die  es  ganz  vorzüglich  förderte,  iiat  sich  bis  auf  den  heutigen  Tag  eine  eip? 
Dichterschule  angeschlosseu,  so  wie  andrerseits  das  Studium  unserer  altera  Sprsfi* 
und  Literatur  nicht  wenig  dadurch   geweckt  und  populär   wurde".     (Vgl  ic?- 
Schade  im  Weimar.  Jahrbuch  H,  250  ff.i.    Welchen  Werth  Goethe  dieser  ?^3io> 
hing  beilegte,  als  er  sich  mit  dem  ersten  Theil  näher  bekannt  gemacht  hatt'"-  '-"^ 
aus  seiner  Beurtheilung  dieses  Theils  zu  ersehen,  die  im  Jahrgang  ISi>ti  tierJ^^i*^' 
Literatur-Zeitung  erschien  (wieder  abgedruckt  in  den  Werken  Sa,  IS5  ff' 


Entwickelongsgang  der  Uteratar.    1773—1832.    Befreiongskriege  etc.    931 

Schaden  gefehlt  hatte.  Wirklich  schien  es  auch  anfänglich,  als  solle  §  342 
Bich  diese  Hoffnung  erfüllen:  in  den  Jahren  selbst,  durch  welche 
sich  der  Kampf  gegen  den  Feind  hinzog,  sah  und  fand  die  Dichtung 
ihren  edelsten  und  wSrdigsteu  Beruf  in  der  lebhaften  Betheiligung 
an  diesem  Kampf;  insbesondere  war  es  die  Lyrik,  die,  ganz  von 
deutsch -vaterländischem  (reiste  durchdrungen  und  gehoben,  Töne 
anschlug,  wie  sie  nie,  oder  mindestens  seit  langer  Zeit  nicht,  in 
Deutschland  vernommen  waren.  Aliein  es  währte  nicht  lange,  so 
traten  Umstände  und  Ereignisse  ein,  die  dem  öffentlichen  Leben  in 
dem  Gesammtvaterlande  wie  in  den  einzelnen  deutschen  Staaten 
eine  solche  Wendung  gaben,  den  vorstrebenden  Geist  der  Nation 
von  allen  Seiten  mit  solchen  Hemmnissen  umringten,  dass  die  Wir- 
kung davon  sich  auch  in  einem  Rückgange  oder  in  neuen  Verirrungen 
der  Literatur,  namentlich  der  poetischen,  nur  zu  bald  auf  die  uner- 
freulichste Weise  fühlbar  machte.  Sie  sind  noch  in  zu  frischer  Er- 
innerung, als  dass  es  nöthig  wäre,  hier  näher  darauf  einzugehen;  im 
Allgemeinen  sind  sie  schon  oben  berührt  worden  ^  Die  schöne  Lite- 
ratur der  nächsten  Jahre,  die  auf  die  Befreiungskriege  folgten,  war 
nicht  viel  mehr  als  eine  krankhafte,  in  ihren  Früchten  immer  mehr 
ausartende  Nachblüthe  der  Dichtung  der  beiden  voraufgegangenen 
Jahrzehnte.  Im  Ganzen  walteten  die  Tendenzen  der  romantischen 
Schule  vor;  aber  was  in  den  Bestrebungen  und  Leistungen  ihrer 
Gründer  noch  zu  loben  gewesen,  worin  sich,  wenn  auch  nicht  ein 
wirklicher  Fortschritt,  so  doch  wenigstens  eine  eigenthümliche  und 
höheren  Zielen  zugewandte  Richtung  des  deutschen  Literaturlebens 
gezeigt  hatte,  das  verschwand  jetzt  so  gut  wie  ganz  aus  den  Er- 
zeugnissen der  Nachfolger,  und  nirgend  that  sich  eine  Kritik  hervor, 
die  der  zunehmenden  Entartung  mit  Einsicht  und  Kraft  zu  steuern 
gesucht  hätte.  Jene  patriotische  Lyrik  der  Befreiungskriege  verirrte 
sich  bald  in  eine  schwülstige  und  ungesunde  Deutschthümelei;  in  er- 
zählenden und  dramatischen  Stücken  drängte  sich  immer  unerquick- 
licher bald  das  Unnatürliche  und  geradezu  Naturwidrige,  bald  das 
Schaudervoile,  Spukhafte  und  Grässliche  mit  dem  roh  Fatalistischen, 
nebelhaft  Mystischen  und  wüst  Barocken  vor;  dazwischen  trieben 
phantastische  Willkür,  süsslicbe  Frömmelei  und  eine  selbstgefällige, 
manierierte,  jede  geschichtliche  Wahrheit  verläugnende  Verherr- 
lichung des  altgermanischen  Heldenthums  und  des  mittelalterlichen 
Ritterlebens  ihr  Spiel;  und  was  das  üebelste  war,  diejenigen,  die 
für  diese  und  ähnliche  grobe  Verirrungen  der  Dichtung  den  Ton 
angaben,  waren  mit  die  talentvollsten  Köpfe  unter  den  Schriftstellern 
des  Tages,  die,  bald  die  Lieblinge  des  Publicums,  den  ailerverderh- 

§  342.    1)  Vgl.  m,  36  f. 

69* 


932    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVm  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

342  liebsten  Einflusa  auf  dessen  Geschmack    und   Bildung  ausflbten*. 
Neben   diesen  Vertretern  der  bis  zur  crassesten   Unnatur  und  Un- 
wahrheit entartenden  Romantik  hielten   sich  andere  Dichter  noch 
mehr  au  die  Art  und  den  Geist  unsrer  sogenannten  classiscben  Poesie, 
indem  sie  sich  im  Drama  und  in  der  Lyrik  vorzflglicb  Schiller  um 
Muster  nahmen,  freilich  ohne  ausreichende  Kräfte,  um  sieb  Je  über 
die  Linie  der  Mittelmässigkeit  zu  erheben,  und  mehr  von  seinen 
Mängeln  irre  geführt,  als  ihm  in  seinen  Tugenden  nacheifernd.    In- 
dcss  gaben  sie,  nebst  einigen  Satirikern,  welche  die  Tborheiten  der 
neuen  Schule  und  den  Unfug,  den  sie  in  der  Literatur  trieb,  ver- 
spotteten, zunächst  bis  zu  einem  gewissen  Grade  wenigstens  ein  an- 
crkennenswerthes  Gegengewicht  gegen  die  Ueberwucbt  der  jungem 
Romantiker  ab.    Zwischen  beiden,  sich  auch  mehrfach  berfibrenden 
und    durchkreuzenden   Hauptrichtungen    unserer    schönen   Literatur 
zogen  sich  nun  noch  in  übergrosser  Zahl  die  bloss  augenblicklicher 
Unterhaltung  dienenden  Erfindungen  hindurch,  in   denen  der,  nur 
mehr  oder  minder  durch  den  Zeitgeist  und  die  Einwirkungen  da 
Romantiker  und  der  Glassiker  modificierte,  Charakter  der  schlechtea 
Unterhaltungsschriften  der  frühern  Jahrzehnte   fortwucberte'.    End- 
lich wurde  jetzt  fast  mehr  wie  je  aus  fremden  Sprachen  übersetit, 
wo  denn  für  das  Bedttrfniss  des  Tages  Tornebmlich  England  und 
demnächst  Frankreich  uns  mit  neuen  Romanen  verBorgten,  dramatisebe 
Sachen  aber,  besonders  Lustspiele  und  Possen,  mehr  aus  Paris  &Ifi 
von  heimischen  Schriftstellern  für  die  deutschen  Bühnen  bezogei 
wurden.    Ausser  den  zahllosen,  vornehmlich  aus  dem  FranzöüscbeD 
und  Englischen,  mehr  oder  weniger  fabrikmässig  tibersetzten,  meisten- 
theils  ganz  schlechten  oder  nur  sehr  mittelmässigen  Romanen,  Er- 
zählungen,  Novellen  und  dramatischen  Stücken,   die   bloss  fBr  di» 
tägliche  Bedürfniss  des  lesegierigen  Publicums  und  der  Theater  ver- 
deutscht waren ,  schwoll  nun  auch  der  übrige  Haufe  der  aus  allet 
denkbaren,  alten  und  neuen,  abend-  und  morgenländischen  Spraebea 
übertragenen  oder  bearbeiteten  Werke  im  Fache    der  schönen  Lite- 
ratur von  Jahr  zu  Jahr  mehr  an.    Wir  erhielten  neben  Anelen  Ceber 
Setzungen  altgriechischer  und   römischer  Dichtungen   Erneuerung« 
altdeutscher,  Üebei-tragungen  altnordischer,  zu  den  schon  vorhandeu« 
neue  Verdeutschungen    älterer   Werke   der  Italiener,    Spanier  on-i 
Portugiesen,  so  wie  älterer  englischer  Bühnenstücke;  sodann  wur^* 
mancherlei  aus  den  Literaturen  der  Schweden,  Dänen  und  Honümä'^ 


2)  Vgl.  hierzu Hettn er.  die  romantische  Schule  S.  ISOtl'.  und  Kupke  inÜ?'*-' 
Leben  2,  s  fi".  3)  Ueber  die  deutsche  rutcrhahungsliteratur  überiu'Ji'^ '? 

ciuen  Aufsatz  von  R.  Prutz   in   desseu  Uterar-historiachem  Taschenbuft  *'*^" 
1S45,  S.  243  ff. 


!ntwickelung8gaog  der  Literatur.    1773— 1B32.    Uebersetzangeu.        933 


zuerst  oder  in  erneuter  Gestalt  bei  uns  eingeführt;  nicht  minder  he-  §  342 
reicherten  wir  uns  aus  den  slavischen  Literaturen,  namentlich  aus 
der  serbischen,  der  böhmischen,  der  polnischen  und  der  russischen; 
ferner  wurde  aus  dem  Litthauischen,  dem  Neugriechischeu,  dem 
Ungarischen  mancherlei  Übersetzt,  endlich  auch  aus  den  orientalischen 
pracben,  aus  der  türkischen,  der  arabischen,  der  persischen,  der 
indischen  und  mittelbar  selbst  aus  dem  Chinesischen.  Nm*  die  be- 
merkenswerthesten  unter  diesen  Ueberaetzungen  (»der  Bearbeitungen, 
die  mehr  oder  minder  auf  Kunstmässigkeit  Anspruch  machen  können, 
mögen  hier,  im  Anschlüsse  an  früher  Aufgeführtes*  etwas  näher  bezeich- 
et werden,  a)  Aus  dem  Griechischen:  „Hesiods  Werke  und  Orpheus 
er  Argonaut"*,  von  J.  H.  Voss;  von  eben  demselben  auch  Theo- 
ritus, Bion  und  Moschus".  Von  Aeschylus  die  Tragödien  einzeln 
von  C.  Pli.  Conz^;  der  Agamemnon  von  W.  v,  Humboldt";  die  Werke 
on  Chr.  Kraus";  von  Heinrich  Voss  (zum  Theil  vollendet  von  J.  H. 
CSS)***  und  von  J.  G.  Droysen^';  Sophokles  von  K.  W.  F.  Soiger*' 
und  von  G.  Thudichum";  Euripides'  Werke  von  F.  H.  Bothe'*; 
Aristophancs'  Werke  von  J.  H.  Voss'';  einzelne  Stücke  von  C.  Ph, 
Conz'"  und  von  F.  G.  Welcker";  „die  Wolken"  von  F.  A.  Wolf; 
Pindars  Werke  von  Fr.  Thiersch'";  die  olympischen  Oden  von  F. 
H.  Bothe  schon  ISOS'".  —  b)  Aus  dem  Lateinischen:  Plautus  von  Chr. 
Kuffner-'  und  von  G.  Köpke  (jedoch  nicht  alle  Stücke)";  einzelne 
Stücke  auch  von  Andern.  Terenz,  in  freier  metrischer  Uebcrsetzung 
von  F.  H.  von  Einsiedcl";  einzelne  Komödien  metrisch  verdeutscht 
von  G.  Köpke  und  von  Andern.  Lucrez  von  K.  L.  von  Knebel*'; 
Horaz  von  J.  H.  Voss",  und  ebenso  Tibull  und  Lygrdamus™  und 
Properz".  —  c)  Ans  dem  Italienischen;  Dantc's  göttliche  Komödie 
von  K.  L.  Kannegiesser^;  von  K.  Streckfuss"*  und  von  Philalethes 
(König  Johann  von  Sachsen,  aber  nicht  wie  jene  beiden  Uober- 
setzungen   in  Terzinen,  sondern  in  reimlosen  jambischen  Versen)**; 

IBoccÄCcio's  Üecameron  von  K.  Witte^';  Pctrarca^s  sämmtliche  Can- 
[  4)  Vgl,  S.  241— 25G;  dazu  S.  736  ff,  5»  Heidelberg  1 800.  8.  ü)  Tübingen 
l80S.   9.  7>  Zürich  \s\\  und  Tübingen  tSI5-20.   S.         8»  Leipzig  («UJ.  i. 

I      9)  Leipzig  IS'ilf.    2  Thle.   S.  10»  Heidelberg  IS'iO.   b.  II»  Berlin 

1632.    2  Bde.   **.  12)  Berlin  ISOS.    2  Bde.   s.  13)  Frankfurt  a.  M. 

|B27  ff.   b.  14)  Berlin  1^00  ff.    b  Bde.   $.  15)  Braunschweig  1921. 

iBde.   A.  16)  Tubiugeo  IS07.   h.  17|  Giessen  ISio  ff.    2  Bde.   8. 

18)  B^rUn  ISII.   -1.  19)  Leipzig  1^20.    2  Bde.   s  20)  Berlin. 

Bde.   8.  21)  Wien  IS06.    5  Bde.   s.         22)  Berün  tsnu.  20.    2  Bde.  8. 

23)  Leipzig  isos.    2  Thle.   s.  24)  Leipzig  IS2I.   «.  25)  Hridel- 

IS06.     2  Bde.   s.  26)  Tobingen   ISIO.   v  27)  Braunschweig 

»30.   8.  28)  Leipzig  isOD— 21.     :)   Thle.   V'.  (lyrische  Gedichte.    Leipzig 

127.   8.).       20)  Halle  1824-26.    3  Bde.  V       30)  Dreadon  IS2sff.   :\  B<le.    l 
dl)  Leipzig  1S30.    •^  Thle.   12. 


1j34    vi.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIU  Jahrhunderts  bis  zu  Croethe's  Tod. 

342  Zonen,  Sonette  etc.  von  K.  Förster";  auch  von  Bruckbriu".  Ariosta 
rasender  Roland  von  K.  Streckfuss**.  Fortiguerra*»  Ricciardetto  von 
J,  D.  Gries".  Tasso*»  befreites  Jerusalem  von  K.  Streckfuss"; 
lyrische  Gedichte  von  K.  Förster".  Bandello's  Novellen  von  Adrian^. 
—  d)  Aus  dem  Spanischen  und  Portugiesischen:  von  Lope  deVega 
einige  Schauspiele  durch  Jul.  Gr.  von  Soden";  andere  durch  E.  0. 
Frhrn.  von  der  Malsburg*";  romantische  Dichtungen  (Novellen  und 
Romane)  durch  C.  Richard".  Von  Calderon,  ausser  den  Stücken 
im  zweiten  Bande  von  A.  W.  Schlegels  spanischem  Theater  (1809), 
eine  Reihe  anderer  von  J,  D.  Gries";  femer  von  von  der  Malsburg" 
und  einzelne  Schauspiele  auch  noch  von  Andern  entvreder  Übersetzt 
oder  bearbeitet.  Von  Cervantes  die  Novellen  dui*ch  F.  S.  Siebmann**; 
Persiles  und  Sigismunda  (1.  Theil)  durch  F.  Theremin".  Altspanische 
Romanzen  übersetzt  von  F.  Diez*^,  auch  von  Andern.  „Der  Cid, 
ein  Romanzenkranz,  im  Versmasse  der  Urschrift  vollständig  fiber- 
setzt von  F.  M.  Duttenhofer"".  —  Von  CamoSns  die  Lusiaden  durch 
Th.  Hell  (Winckler)  und  Fr.  Kuhn'»,  und  von  J.  J.  C.  Donner"*.  - 
e)  Aus  dem  Englischen:  „Altenglisches^Theater,  oder  Supplemente zo 
Shakspeare",  übersetzt  und  herausgegebenen  von  L.  Tieck"  uini 
p  Shakspeare's  Vorschule " ,  herausgegeben  und  mit  Vorreden  be- 
gleitet von  L.  Tieck";  ;beide  Sammlungen  enthalten  Stücke,  die 
zum  Theil  Shakspeare  selbst,  wenigstens  von  Tieck,  beigelegt  werdes, 
theils  von  andern  bekannten  und  .unbekannten  altenglischen  Drama- 
tikern herrühren.  Als  Ergänzungen  zu  der  1810  bis  zum  neuota 
Bande  vorgeschrittenen  üebersetzung  der  dramatischen  Werke  Sbak- 
speare^s  von  A.  W.  Schlegel"  kamen  nach  einander  drei  selhstäuJ;.'« 
Sammlungen  von  Stücken,  die  Schlegel  noch  uuttbersetzt  geloÄseii: 
eine  in  drei  Theilen  von  mehreren  Uebersctzern  (Kessler,  Krai^e 
Dippoldr'\  eine  andere,  ebenfalls  in  drei  Theilen,  von  Heinrich  iic- 
Abraham  Voss^*,  und  eine  dritte,  in  vier  Theilen,  von  Phü.  Kai'- 
mann".  Sodann  „Shakspeare's  dramatische  Werke.  Uebersetzi  v -t 
A.  W.  Schlegel,  ergänzt  und  erläutert  von  L.  Tieck"*".     Zwei  auiie:^ 

32»  Leipzig  ISl**  f.    -1  Rde.   S.  33l  Mitnclien  \^2~.     O  Bdclu-r.    V. 

34)  Halle  I^IS— 2)».     (.  Utle.   *^.  35)  Stuttgart  ls:u— 33.     3  Tlilo  ' 

36)  Leipzig  1^22.   2  Dde.  >.        ;>7tZwickau  1^21.  2  Bdchcn.   IG.       :-{^'fr-:i' 
fürt  a.  M.  ISl^.    3  Bile.   •?.        39l  Leipzig  ivio.  s.        40)  Dresden  l<2l  * 
41»  Aachen  IS2 4  ff.  9  Bde.        42)  Berlin  ISiö  ff.  SBde.  S.        43»  Leipzig  IM-— 
0  Bde.    12.  441  Berlin  tMO.    S.  45)  Berlin  !S*»S.    ^.  4ti(  K.x.- 

furt  a.  M.  t*^l**.  S.:  eine  zweite  Sammlung  Berlin  iS2i.   s.  17»  Stuttgart  1*    ' 

4S)  Leipzig  ISoT.    *^.  49)  Zuerst  drei  Gesänge.     Stuttgart  \'^'i:.  '■'■■  * 

vollständig  daselbst  ISa:j.    S.        oOj  Berlin  1^11.     2  Bdc,    '^.  51,  Lciw:^  '■ 

29.   s.    2  Bde.  52)  Vgl.  S.  25.5  f.  r)3i  Berlin   Isoo  f.    v  51%- 

gart  is|o_i5.    vi^  55)  Berlin  1^3(»  ff.   s.        56)  Berlin   1S25— .i;K    \' U:  ' 

Tieck's  Gehülton    oder    vieliuelir   diejenigen,   die   unter    seiner   Oberleir-i;;  ' 


Entvickelangsgang  der  Literatur.    1775—1^32.    Uebersetzimgen.        935 

ollständige  UeherHetzuugen  von  Shakspcare's  Scbauspiclcn  lieferten  §  3-12 
.  H.  Vo*s  uuil  dessen  Söhne  Heinrich  und  Abraham",  und  J.  W, 
0.  Benda".  Aussordem  aber  eracbieuea  nocb  viele  Stücke  einzeln 
on  verschiedenen  Uebersetzern.  Beaumonts  und  Fletchers  drama- 
8che  Werke  hatte  schon  ISOS  K.  L.  Kannegiesser  übertragen ''". 
09«ian;  den  man  sonst  aus  Macphersons  englischem  Text  verdeutscht 
hatte  und  auch  jetzt  noch  daraus  zu  verdeutschcu  fortfuhr,  wurde 
von  Chr.  W.  Ablwardt  angeblich  aus  dem  Gaolischen  (?)  Übersetzt*^. 
Von  den  neuesten  englischeu  Dichtern  wurden  schon  im  I^ufe  der 
zwanziger  Jabre  Walter  Scotts  und  Lord  Byrons  Werke  häufig  ver- 
deutscht. —  f)  Aus  andern  abendländischen  Sprachen:  „Altdäniscbe 
Ileldenlicder,  Balladen  und  Märchen"  von  W.  Grimm*'.  Eddalieder, 
insbesondere  die  in  die  Nibeluugeusage  eingreifenden,  von  von  der 
Hagen",  von  den  Brlidern  Grimm"  und  noch  von  Andern.  Es. 
Toguörs  (Bearbeitung  der  Fritbiofs-Sage  aus  dem  Schwediscbeu  ward 
übersetzt  von  G.  Mohnicke**',  auch  von  Amalie  von  Helvig"*.  Dainos, 
oder  litthauische  Volkslieder  von  L.  J.  Rbesa".  Serbische  Volks- 
lieder, von  W.  Gerbard*',  und  von  Talvj  (Ther.  Robinsonj  geb.  von 
Jakob)"*.  Neugriechische  Volkslieder,  aus  Fauriels  Sammlung  Uber- 
eetzt  von  Wilhelm  Müller",  eine  andere  Sammlung  mit  deutscher 
Uebersetzung  etc.  von  K.  Tb.  Kind*".  —  g)  Aus  roorgenbludischen 
Sprachen:  durch  Joseph  von  Hammer  der  Üivan  des  Hafis,  aus  dem 
ersiscben'*;  Montenebbi,  aus  dem  Arabischen"  und  von  demselben 
och  vieles  andere  aus  denselben  Sprachen,  so  wie  auch  aus  dem 
Urkiscbcn.  Von  J.  Görres  Firdusi,  Schah  Nameli,  Heldcnbiicb  von 
".    Von  Fr.  Rückert  die  Verwandlungen  des  Ebn  Seid  von  Soru'g, 


der  die  Maka'mcn  dos  Haiiri,  in  freier  Nachbilduni 


Aus  dem  Indi- 


schen Gita-Govinda,  ein  idyllisches  Drama,  schon  1S1)2  von  J.  F.  H.  von 
Dalberg''  (1752— 1812)  und  iS<i5  von  Fr.  Maier'",  dann  von  A.  W. 
Riemschncider''.  Bruchstücke  und  Episoden  aus  grosseren  Werken 
iudischcr  Dichtkunst  zuerst  von  Fr.  Schlegel  in  dem  Buch  „Über  die 

Verdeutschung  der  nicht  sdiou  von  Schlegel  gelieferten  Stücke  ausführten,  waren 
der  Graf  Wolf  %'on  Baudissin  und  Tieck's  Tochter  I.>orotlifa.  Die  Aeuderuutfon. 
fUe  Tieck  in  Jen  Bchlej-elschen  Celiersetxungen  vorgeuomuien  harte,  wurden  auf 
S.'lih'gels  Verlangen  in  den  spätereu  Auflagen  wieder  beseitigt;  vgl.  darüber  A.  W- 
Äjirhlegels  8.  Werke  T,->SI  fF.  57i  Leipzig  ISIS— 2ü.  9  lide.  h.  5Si  Leipzig 
XS2h  f.     II»  üde.    10.        59i  Berlin.    I  Thle,   8.        60)  Leipzig  ISII.   3  Thie.  S 

(jll  Heidelberg  ISIU   ^.  02)  Breslau  ISM.   «.  Gii)  Berlin  l'^is.    S. 

tj4l  Stralsund' IS20.   S.  65)  Stuttgart  1^2«.   ?.  ü6)  Königsberg 

\^:\    s,  t)7)  Leipzig  IS2S.  9.  6S)  Halle  tS25  f.    «  Bde,   v 

i.'Ji  Leipzig  IS2&.    2  TUle.    S-  70»  Leipzig  1^27.   «.  71»  Stuttgart 

l&l.j  f.    2  Thle.   Ä.  72»  Wien  IS2I.  &.  7:j)  Berlin  IS2n.    2  TWe    \ 

74)  i.  Theil.    Stuttgart  ls2ti.    S.  75)  Erfurt.  S.  76)  Weimar.   **. 

77)  Halle  ISIS.    12. 


Entwickeluugsgang  der  Literatur.     1773—1^32.    Weltliteratur. 


937 


eich  begiunende  Abklärung  der  Masse  und  fester  ZuBammenscbluss 

zu  neuen   kunstmuHHigen,   deutsch- volkstbümlicben  Bildungen;   nur 

wenige  vereinzelte  Erzeugnisse  der  noch  lebenden  altern  und  einiger 

jungem  Dichter  schlössen  sich  den  grossen  Dichtungen  aus  früherer 

Zeit  würdig  au.  —  Erst  mit  dem  Beginn  der  zwanziger  Jahre  fiengeu 

Bdie  schlechten  romantischen  Tendenzen  an  in  unserer  schOneu  Lite- 

^  ratur  mehr  und   mehr  zurückzutreten    und    die    ihnen    huldigenden 

Schriftsteller   in    der  Gunst   des   gebildeten    Publicums    zu    sinken. 

Unsre  Dichtung  nahm  von  nun  an  in  den  grossen  Gattungen  sicht- 

^H  lieh  eine  Wendung,  die  sie  ihren  Beruf  mehr  wie  früher  darin  finden 

Bliess,   das  wirkliche  Leben   der  Gegenwart  und  der  Vergangenheit 

^  in  seiner  objectivcn  Wahrheit  darzustellen.    Mehreres  traf  zusammen, 

um  sie  in  diesen  Weg  einzubiegen,  auf  dem,  wenn  auch  nicht  gleich 

das  Vortreffliche  und  in  jeder  Beziehung  Mustergültige  erreicht  werden 

konnte,   doch   ein  stätiges  und  nachhaltiges   Vorschrciteu  dazu  zu 

fuhren  versprach.    Zunächst  waren  es  die  Werke  Walter  Scotts, 

deren  lange  Reihenfolge  sehr  bald  in  Deutschland  überall  Eingang 

•fand,  mit  Begierde  gelesen  wurde  und  die  deutschen  Rouianschreiber 
zu  ahnlichen,  freilich  immer  noch  hinter  den  Vorbildern  weit  zurück- 
bleibenden   Hervorbringungen   anregte.     Sodann   trat  jetzt  Tieck 
mit  seinen  Novellen  auf,   die  sich  entweder  ganz  in  den  Verhall- 
uissen   und   in  den   Gesinnungen   de«  modernen    Lebens   bewegten, 
[asselbe   von  verschiedenen  Staudpunkten  aus  und  nach  einzelnen 
'seiner  Richtungen  hin  beleuchteten,   oder  geschichtliche  Charaktere 
und  Begebenheiten    in  lebensvollen  Bildern  uns  vorführten  und  da- 
^Bpit  den  Hauptanstoss  für  den  nunmehrigen  raschen  Anwuchs  dieser 
^TCattung  erzilhlender  Dai-stellungen  gaben.    Zu  derselben  Zeit  suchte 
^R?ieck  auf  kritischem  Woge"",   indem  er  vornehmlich  dem  wahrhaft 
^■listorischen  Schauspiel  das  Wort  redete^   dem   auf  der  Bühne  ein- 
^^erissenen   fatalistischen  Unwesen   mit  eben  der  Entschiedenheit  zu 
wehren,  mit  der  er  die  Seichtigkeit  und  Gemeinheit  damals  beliebter 
und  häufig  aufgeführter  Lusts]>iole  und   die  auf  eine  Erschütterung 
.durch  das  schlechthin  GWissliche  und  Abscheuliche  ausgehende  Dar- 
tellungsweise  in  gewissen,  vorzüglich  aus  dem  Französischen  hcrüber- 
;enommenen  Producten  bekämpfte.    Mittelbar  tnig  auch  der  Einfluss, 


§  34! 


sieb  aneignou,  was  wir  selbst  innerhalb  on&ers  Kreises  Originelles  bervorge- 

Lcbt.  so  ist  es  doch  nicht  von  geringerer  Bedeutung,  wenn  Fremde  auch  das 

bOtheimiBChe  bei  uus  zu  suchen  haben.    Wenn  uns  eine  solche  Annäherung  ohne 

Toction  wie  bisher  nnch  mehreren  Seiten  hin  gelingt,  so  wird  der  Aiisbeimische 

kurzer  Zeit  bei  uns  zu  Markte  geben  miissen  und  die  Waaren,  die  er  nus  der 

itcnUaudzunebineu  beachwrerlicb  fände,  durch  iiusreVcrmiitolung  enipfangpu".  — 

S2)  Durch  seine  seit  dem  J.    is'i^   erschieneneu   Kritiken   rtber  die  Strecke, 

auf  dem  Dresdener  Hoftheater  aufgeführt  waren;  vgl.  S.  568  oben. 


wm 


Eutwickelungagang  der  Literatur.     1773— 1S32.    Hegel. 


939 


hgen  Rildun^sformeu  in  dem  reli^'iösen  und  im  staatliclien  Leben,  § 
in  der  Wissenschaft  und  in  der  Kunst,  wie  sie  im  Laufe  der  Zeiten 
hervorgetreten,  iu  ihrer  zeitlichen  und  räumlichen  Berechtigung  und 
Wahrheit  dem  begriftsraflssigen  Vergtrmdniss  zu  vermitteln  suchte"*. 
Endlich  blieben  auf  die  Fortentwickeluug  der  dichterischen  Production 
in  einer  mehr  realistischen  Richtung  auch  die  Geschichtsforschung 
Tuid  die  Geschichtsschreibung  nicht  ohne  wohlthätigen  Einfluas,  die, 
sich  immer  sichtlicher  belebend,  vertiefend  und  kräftigend,  den  histo- 
rischen Sinn  hei  den  Schriftstellern  und  beim  Publicum  in  nach  und 
nach  sich  erweiternden  Kreisen  weckten  und  bildeten.  —  Unter- 
Edessen  kündigte  sich  aber  auch  schon  in  einzelnen  Erscheinungen 
der  Eintritt  einer  ganz  neuen  Epoche  in  unserer  schüuen  Literatur 
an^  die  mit  und  nach  der  zweiten  französischen  Revolution  im  J.  1S30 
zum  vollen  Durchbrucb  kam  und  gemeiniglich  als  die  Ejioche  dos 
jungen  Deutschlands  bezeichnet  wird.  Im  schroffsten  Gegensatz  zu 
allen  früheren  idealistischen  Bestrebungen  und  besonders  zu  allem, 
IvtSS  als  romantisch  gegolten  hatte  und  mit  den  romantischen  Ten- 
denzen zuBammenbieng,  schien  es,  als  wollten  die  jungen  Männer, 
Idie  hier  voraugicngcu  ,  vullig  mit  unserer  ganzen  literarischen  Ver- 
gangenheit brechen,  verirrten  sich  jedoch  dabei  iu  ihren  eigenen  Her- 
vorbrinj;ungeu  eben  so  weit,  wo  nicht  noch  viel  weiter,  als  diejenigen 
gethan  hatten,  gegen  welche  sie  feindlich  in  die  Schmnkon  getreten 
waren.  Doch  dieses  fällt  schon  in  eine  Zeit,  auf  deren  literargcscbicht- 
liehe  Entwickelung  hier  nicht  weiter  eingegangen  werden  kann. 


1 

1 


W. 


§  343. 
Was  seit  dem  Tode  Schillers  bis  in  den  Anfang  der  dreissiger 
iJahre  auf  dem  Gebiete  unsrcr  schönen  Literatur  von  bedeutendem 


I „,.,.^. 

Spruch  iGeschiriited.  Litoratur  2,  4ri2):  »Die  classischeu  und  romantischen  Diebtor 
J^_  hatten  das  Ideul  tod  der  VVirklicbkdt,  deo  Inhalt  derKun&t  vom  luholt  des  Lebens 
^■getr^nnt.  Hegels  ernstes  Gemtitlikuunte  sich  mit  dieser  Art,  denZwieäpaltzwisclieii 
^■derKinbildungskraft  und  der  Uildnng  spielend  zu  umgehen,  nicht  befreunden,  und 

«r  koQOtti  den  tbatsüchliebcn  Zwiespalt  zuviächoo  der  poetiacheu  und  der  prusai- 

Iicheu  Welt  nicht  anders  aufheben,  aU  durch  hiüturiBcbe  Perspective  und  Gliede- 
rung. Die  KoDUntiker  hatten  sich  gegen  die  Macht  der  Idee  durch  Ironie  schützen 
inOssen,  weil  die  Göttergestalten  der  verbciii cd eueu  weltaeKchicbtlicheu  Perioden 
sie  ia  buutiT,  gestaltloser  Verwirrung  uindrungtt'n.  Hegel  wusste  In  dieses  Reich 
des  rebersinnlichen ,  iu  diese  Welt  der  Ideale  Ordnung  und  GeseU  tu  briogen. 
So  ine  in  dem  Leben  des  einzelnen  Menschen  verschiedene  Ideale  eiuaadar  ab- 
lösen, ühue  dass  eins  das  andere  widerlü*jt .  da  jedes  aus  einem  bestimmieu  Alter 
des  Herzens  natui^cmäss  hervorgeht,  so  wies  er  es  auch  im  J^uben  der  MeuscU- 
heit  nach.  Iu  jeder  Erscheinung  suchte  er  die  nothwundit;e  Beziehujig  zur  Ver- 
gaugenbeit  und  Zukunft  und  tbat  zuweilen  der  individuellen  kliächetuuug  Unrecht« 
indem  er  sie  gau2  In  Bczichungabegriä'e  auflöste". 


940     VL  Vom  zweiten  Viertel  des  XVM  Jahrhunderts  bis  zu.  Goethe'a  Tod. 

343  Werken  hervorgebracht  wurde,  die  mch  in  ihrem  Werthe  und  in 
ihrer  Geltung:  Über  diese  Zeit  hinaus  behauptet  haben,  oder  auch  erst  in 
unsern  Tagen  zu  der  ihnen  gebührenden  Anerkennung  gekommen 
sind,  das  verdanken  wir  zum  guten  Theil  einigen  älteren  Dichtem, 
deren  schriftstellerischer  Ruhm  bereits  im  vorigen  Jahrhundert  be- 
gründet war.  Vor  allen  andern  ist  hier  wieder  Goethe  zu  nennen. 
Während  der  älteste  von  allen,  während  Wieland  in  seinen  letzten 
Lebensjahren  nichts  Eigenes  mehr  lieferte  und,  von  seiner  frühem 
dichterischen  Regsamkeit  und  Vielgeschäftigkeit  ausruhend  ^  seine 
schriftstellerische  Laufbahn  als  Uebersetzer  beschlossS  mehrere  noch 
Lebende  aus  der  Zahl  derjenigen,  die  in  der  Sturm-  und  Drangzeit 
sich  zuerst  neben  Goethe  einen  Namen  gemacht  hatten,  wie  Fr.  H. 
Jacobi,  J.  H.  Voss,  die  Grafen  Stolberg  und  Klinger,  und  von  den 
Begründern  der  Romantik  die  beiden  Schlegel  dem  poetischen  Pro- 
ducieren  seit  längerer  oder  kürzerer  Zeit  entweder  ganz  entsagt 
hatten  oder  wenigstens  nichts  Grosseres  und  Hervorragendes  mehr 
dichteten,  theilte  Goethe  noch  über  ein  Vierteljahrhundert  hinaos, 
bis  in  sein  höchstes  Alter,  eine  rastlose  Thätigkeit  zwischen  poe- 
tischem Schaffen  und  wissenschaftlichen  Forschungen.  Einige  seiner 
tiefsinnigsten,  kunstvollsten  und  gehaltreichsten  grösseren  Werke, 
wie  der  erste  Theil  des  „Faust"*,  der  im  Winter  1806 — 1807  drack- 
fertig  wurde ^  und  1808  erschien ^  sein  dritter  Roman,  „die  Wahl- 
verwandtschaften'**, und  die  Geschichte  seiner  eignen  Jugend  in 
„Dichtung  und  Wahrheit ***,  wurden  erst  nach  dem  J.  1S05  entweder 
zum  Abschluss  gebracht  oder  neu  erfunden  und  ausgeführt.  Jener 
Roman  sollte  nach  des  Dichters  erster  Absiebt  sich  in  die  Reihe  der 
kleinereu  Geschichten  einfügen,  welche  er  im  J,  1S07  «ersonuec: 
angefangen,  fortgesetzt  und  ausgeführt"  hatte,  und  die  er  -alle  unter 
dem  Titel  Wilhelm  Meisters  Wanderjahre  zu  einem  wunderlich  an- 
ziehenden Ganzen  zusammenschlingen"  wollte.    Allein  -sie  debuieo 

§  343.     1)  Vgl.  III.  122  f.  2)  Vgl.  S.  102  f.;  271   f.:  4t>0  f.:  :yib  i. 

3)  Vgl.  Düntzer,  Goethe's  Faust  1,  ',i2  f.  4l  Im  b.  Bde.   üer  seit  t«*"' 

in  Cotta*8  Verlag  zu  Tühingen  gedruckten  Ausgahe  von  Goethe's  Werken  .safJ 
einzeln).  5t   ..Die   Wahlverwandtschaften"  erschienen    zu    Tülün^en  iv"^- 

2  Tille.    ^.,   und  das  Jahr  darauf  als  13.  ßd.  der  in  der  vorigen  Anraorkuua  40- 
gcführten  Ausgabe  von  Goethe's  Werken.  6)  Die  drei  ersten  Tlieile.  ü*?» 

Inhalt  bis  ins  J.  1774  reicht,  und  zu  denen  die  Vorarbeiten  ISti^i  begonnen  warJt 
erschienen  zu  Stuttgart  ISII  — isu.  *i.  Der  vierte,  sich  durch  seinen  lu^' 
unmittelbar  daran  schliessende,  der  die  Geschichte  bis  zu  des  Richters  l'eKi 
siedelung  von  Frankfurt  nach  Weimar  fortfiihrt  und  l^;n  beendigt  ward.  M  ffi- 
nach  seinem  Tode  1S3:>  als  4b.  Bd.  der  „vollständigen  Aixsgabc  letzter HaDd' !*• 
druckt.  —  Ueber  die  Zeit  der  Abfassung  der  anderweitigen  Werke,  worin  Croti-? 
seine  Erlebnisse  erzählt,  der  „italienischen  Reise",  der  -Campagne  in  Fnui- 
reich"  und  der  -Tag-  und  Jahresheftc",  vgl.  III,  150. 


Entwickelangsg.d.Lit.  17-3-1S32.  Goethe'8  FnuM,  WalilTenraadUchaftea  etc.  941 


I 


I 


sich  bald  aus,  der  Stoff  war  allzu  bedeutenil' und  zu  tief  in  ihm  §  343 
gcwui-zclt;  als  dadB  er  ilin  auf  eine  so  leichte  WcIhc  hätte  beseitigen 
können".  Die  Ausführung  des  Hauptg^edankeus,  dessen  erste  Con- 
ception  ihn  schon  laugst  beschäftigte,  «erweiterte,  vermannigfaltigte 
sich  immerfort  und  drohte  die  Knnst^a-enze  zu  Qherselireiten".  End- 
lich, nach  vielen  Vorarbeiten,  wurde  der  Entschluss  gefasst,  den 
Druck  beginnen  zu  lassen,  welches  im  Sommer  1S09  geschah'.  Der 
Dichter  hatte  sich  mit  diesem  Werke  aus  der  hlnp:erc  Zeit  verfolgten 
antikisierenden  Richtung  wieder  ganz  dem  modernen  Leben  zuge- 
wandt und  sich  mitten  in  dessen  sociale  Verhältnisse  und  Confliete 
vorsetzt,  die,  wie  Riemer*  sich  ausdrückt,  symbolisch  gefasst,  dar- 
gestellt werden  sollten.  vSo  steht  dieser  Roman  au  der  Sjntze  der 
modernen  Socialromane  und  ist  für  alle  folgenden  in  seiner  künst- 
lerischen Durchdachtheit  das  unerreichbare  Vorbild  geworden*.  Daa 
ürtheil  darüber  war  zwar  gleich  von  Anfang  an  ein  sehr  gctheiltes, 
doch  stützte  sich  der  Tadel  theils  auf  die  Ansicht,  dass  der  Roman 
dem  Fatalismus  das  Wort  rede,  theils  rührte  er  von  einer  gänzlichen 
Verkennung  des  tiefem  sittlichen  Gehalts  der  Dichtung  als  eines 
künstlerisch  ausgeführten  Gauzeu  her.  worin  selbst  das  zu  berühren 
oder  auch  eingehender  zu  behandeln,  was  in  seiner  Besonderheit 
gegen  das  allgemeine  Sittengesatz  verstösst,  dem  Dichter  zur  voll- 
ständigen Herausbildung  und  Vuranschaulichung  der  dem  Werke  zu 
Grunde  gelegten  sittlichen  Idee  nicht  allein  erlaubt,  sondern  wohl 
auch  geboten  sein  kann"*.  In  seinem  schon  im  hohem  Alter  ge- 
dichteten „westöstlichen  Divan"*'  beschenkte  Goethe  uns  noch  mit 
einer  Reihe  von  Liedern,  unter  denen  einige  so  schön  und  innig 
sind,  dass  sie  den  besten  lyrischen  Stücken  aus  seinen  jUngeru 
Jahren  an  die  Seite  gestellt  werden  dürfen.  Aber  freilich  machte 
das  Alter  auch  an  ihm,  je  länger  desto  mehr,  sein  Recht  geltend; 
allmählig  nahm  seine  einst  im  Hervorbringen  lebensvoller,   natur- 


7)  Vgl.  Güetlies  Werke  :i2.  U  ;  2*»;  44  f  S)  In  deu  Aphorismen  hinter 

den  von  ihm  herausgg.  Briefen  von  und  an  Goethe  S.  a2.V  *J)  Vgl.  Hortner 

B.  a.  0.  S.  lyj  f.  10)  Eine  der  gromllichsien  und  gHstvoUsten  Beurtheiliingen 
^^der  ., Wahlverwandtschaften-,  die  Uoelhe  selbst  dafür  anerkannte,  ist  die  von 
^■ßolger  in  einem  Aufsatz,  der  seinen  Briefen  aus  dem  J.  Ihik»  emgefngt  ist  (Nach- 
^^^classene  Schriften  und  Briefwechsel  1,  175  ff.;  vgl.  dazu  den  Brief  an  einen 
^■Freund  aus  dem  J.  ibl.V  S.  367  ff  und  KckcnnannsGesiirürhe  mitQocthe  I.SlotT, 
H  mo  e&  aber  onrichtig  heisst,  dass  jener  solgersche  Aufsaij:  an  Tieck  gerichtet  ge- 
■  sresen  sei).  It)  Die  Abfassung  der  darin  gesammelten  Stücke  begann  schon 

,  mit  deraJ.  ISM.  abgeschlossen  und  herausgegeben  wurde  der  «westösiliche  Dlvan* 
erstl^iy,  Stuttgart  '^.  Angeregt  warGoethe  zu  diesen  theiU  rein  lyrischen,  tbetls 
Itetrathtenden  und  lieachaulichen ,  im  Geiste  de*  Orients  abgcfassten  Poesien  vnr- 
ctiglich  durch  den  von  Jos.  von  llammer  aus  dem  Persischen  übersetzten  .Divaa" 
dea  Haös  (vgl.  S.  nh.  7 1  >. 


944     VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe'a  Tod. 

343  Lichter  aufgesteckt,  indem  er  mich  versicherte  —  zwar  freilich  be- 
scheidentlich  und  in  seiner  Art  sich  auszudrfleken  — ,  dass  es  mit 
der  Stimmung  Karrensposseu  seien ;  er  brauche  nur  Kaffee  zu  trinken, 
um,  so  gerade  von  heiler  Haut,  Sachen  zu  schreiben,  wortiber  die 
Christenheit  sich  entzücke.    Dieses  und  seine  fernere  Versicherang, 
dass  alles  körperlich  sei,  lassen  Sie  uns  kflnftig  zu  Herzen  nehmen, 
da  wir  dann  das  Duplum  und  Triplum   von  Productionen  wohl  an 
das  Tageslicht  fördern  werden".  Was  den  „Titan"  angeht,  so  hatte 
der  Recensent  der  ersten  beiden  Bände  desselben,  Manso^  —  so 
wenig  man   sonst  auch  in  der  Regel  den  MitarlTeitern   an   der  all- 
gemeinen deutschen  Bibliothek  ein  gereiftes  und  gflltiges  Kunstur- 
theil  zuzuschreiben  geneigt  sein  mag,  und  so  sehr  das  durch  Jean 
Pauls  offene  und  versteckte  Angriffe  dieser  Recensieranstalt  in  dem 
komischen  Anhange  zum  „Titan"  verletzte  Selbstgefühl  des  ßecen- 
sonteu  dabei  mitsprechen  mochte,  —  doch  gewiss  nicht  in  Allem 
Unrecht,  wenn  er  sagte:  „Die  handelnden  Pereonen  dieses  Romans 
scheinen  uns  von  denen,  die  der  Verf.  in  andern  seiner  Schriften 
aufgeführt  hat,  mehr  dem  Grade  als  der  Art  nach  unterschieden  zo 
sein. .  . .  Was  man  mit  Recht  an  allen  aussetzen  kann,  ist^  dass  m 
80  wenig  hervortreten  und  handeln.    Fast  überall  ist  es  Jean  PaoL 
der  sie  schildert,  von  ihnen  erzählt,   für  sie  empfindet  und  ihnen 
seine  dichterischen  Ansichten  unterschiebt,   oft  unbcsoi^t,  ob  das, 
was  er  ihnen  zueignet,  in  ihrer  Lage  und  in  ihrem  Charakter  schiri- 
lich  ist  oder  nicht.    Sie  selbst  stehen  hinter  den  Coulissen,  während 
er  auf  der  Bühne  paradiert.     Aber  man  weiss  schon,   dass  dieser 
Fehler  ein  Erbfehler  dieses  Schriftstellers  ist.     Der  Grund  des  Ge- 
mähides ist  gar  sehr  dunkel.    Ueberall  Leiden  und  Anlass  zu  TbräneD. 
verwundete  und  leicht  verwundbare  Herzen,   durchsichtig  wie  Fl«? 
und  zerbrechlich  wie  Glas.    Landschaften,  deren  blosser  Anblick  rjr 
Schwermuth  stimmt,  schauderhafte  Vorbedeutungen  und  schauerlifbt 
Erscheinungen,  sogar  Verbindungen  mit   überirdischen  Wesen..- 
Wie  der  Grund,  so  die  Farben,  Umgebungen,   Einfassungen,  Ver- 
zierungen.   Alles  wehmüthig  und  weich;  aber  dabei   alles  zudeirt 
so  bunt  und  kraus  und  Üppig  durcheinander  gemischt,  dass  nus 
seine  ganze  Aufmerksamkeit  nöthig  hat,   um  sich  in   diesen  Ubf- 
rintben   nicht   zu   verlieren. ,  .  In   keinem   seiner  Werke   ist  ?elfi« 
(bekannte)  Bilderjagd  weiter  getrieben,    als  in   diesem;   vielleifii- 
weil  in  keinem  der  gehaltlose  Stoff  dieser  leidigen  Nachhülfe  m& 
bedurfte.  .  .  .  Auch  der  Titan  hat  viel  Gutes,  Sch»nies  und  Herrlicliff- 
aber  mau  rauss  es  unter  vielem  seltsamen  Geschwätz  aufsutlieo*' 

24l  N.  a.  d.  Bibliothek  04,  74  if.  25)  Vgl.  dazu  das.  was  iVh  ?  ^'^ 

lö6'  aus  einer  Recension  über  den  -Hesperus-  in  der  Jenaer  Literatur-Za^' 


r 


wm^^^^m^^^^^^ 


EDtvickduQgsgang  Uer  Literatur.    1773—1832.    Jcad  Pftul.    Tleck.      945 


^JJachdera  Jean  Paul  »ich  dann  zunAchst  in  ein  Paar  Scliriftcn  von  §  343 

^wissenschaftlichem  Charakter  versucht  hatte^,  lieferte  er  zwar  auch 

^Bioch  späterhin  und  bis  in  den  Beginn  der  zwanziger  Jahre  herein  in 

^Klrzahlun^form  verschiedene  kleinere   und  ^roäscrc  poetische  Erßn- 

^piungeu  seiner  Art-';  sie  kamen  jedoch  jenen  beiden  Werken   an 

innerem  Gohalt  nicht  gleich,  und  in  der  Darstellungsweise  litten  sie 

^^D  allen  Mängeln  und  Verirruugen  seiner  voraufgcgangcnon  Romane. 

^■)och  behauptete  er  sich   in   der  Gunst  eines  gewissen  Theils   der 

HSieserwelt  noch  ziemlich  lange;  nach   seinem  Tode  aber  verengerte 

^«ieh  der  Kreis  seiner  Verehrer  immer  mehr,   ohne   das»   der  Grund 

davon  beim   Publicum   grade  in  einer  Verschlechterung  seines  Ge- 

~  1  niacks   und  einer  Abstumpfung  seines  Sinnes  für  das  wahrhaft 

>  :ii'DC  und  Vollendete  in  unserer  Literatur  gesucht  werden  müsste. 

—  Die  erste  Stelle  nach  Goethe  nahm,   als  Schiller  voa  uns  ge- 

ecbleden,  unter  den  Dichtern,  deren  Ruf  bereits  seit  länger  gegrtlndet 

war,   Tieck  ein;   auch   sein   dichterisches  Productionsvermögen  er- 

ielt  sich  bis  in  sein  höheres  Alter,  ja  es  schien  nach  der  Zahl  der 

Irfindungen,   die  den  Jahren  1S2Ü  bis  1S40  angehören,  als  sei  es 

lie   regsamer   und   fruchtbarer   gewesen.    In  ihrem   Innern   VVerthe 

lachte   sich    freilich    auch    allmählig  eine  Abnahme  seiner  Kräfte 

Ihlbar,   und  in  manchen  seiner  spätem  Sachen  verrieth  sich  dabei 

a  noch  mehr  wie  je  seine  alte  Unart,  anstatt  auf  Plan  und  Aus- 

ihrung  die  erforderliche  Sorgfalt  zu  verwenden,   zu  leicht  und  zu 

[hnell  von  der  Hand  weg  zu  schreiben.    Nach  der  Vollendung  des 


sie  soll  von  Fr.  Jacobs  sein  —  mit^etbeilt   babe).    Bei  Anzeige  dea  3.  TbeUs 
a.  d.  Bibl.  7i),  05  f.)   konnte  der  Reo.   kein   anderes  Unheil  als  das  Über  die 
iden  ersten  abgegebene  fiiUeu.    Die  Ueurtbeilungen  der  „Flegeljabre"  C.t3,  4U7  f. 
MU,  :i73  tf.),  die  nicht  von  Mansü  sind,  warnu  überaus  elend.  26)  ,Vor- 

le  der  Aestiietik"  etc.  und-Levana  oder  Erziehun^slebrc-;  vgl.  S.  313.   Schon 
Lfio  hatte  in  seiner  Kecenüiou  des  .Titan**  Jean  Paul  den  Schriftstellern  dea 
zugesellt,  die   ihre  Werke   znit  cineja   neuen  Modewort   nh  genialiäcb   aji- 
idigteuy  -von  dem  genialiscbeo  Spiess  (I»  bis  zum  genialischen  Tieck,  dengeuin- 
rheii  Fr.  Schlegel  mit  eingeschlossen,  obgleich  Jean  l'aul  etwas  Bpäseres  sein 
ite,   wenn  er  sich  an  seine  rechte  Stelle  stellte-.    In  der  Anzeige  der  -Vor- 
iiüe  der  Aesthetik",  die  Martyni  I.aguna  in  die  n.  a,  d,  Bibliothek  (^6,  203  S.} 
ferte,   wurde  es  ihm  dann  besonders  tlbel  ausgelegt,   dasa   er  ein  strenges  und 
Wort  gegen  die  Missbandlnng.  die  Ticck  in  der  a.  d,  Üibliothek  erfahren, 
irocben  hatte,  indem  dabei  höhnisch  bemerkt  ward,  das,  was  er  zum  Lobe 
und  seiner  Freunde  gesagt  habe,  sei  wohl  aus  nichts  anderem  zu  erkliircn, 
aas  der  oft  wahrnehmbaren  Sucht  der  Humoristen,  andere  Leute  zum  Besten 
haben  (vgl   oben  S.  S-43».  27)  „Des  Feldprcdigers  Schmelzlc  Reise  nach 

kte",  «Dr.  Katzenbergers  Badereise**,  -Ijeben  Fibels,  des  Verfassers  der  Bien- 
;hcn  Fibel",  und  «der  Komet,  oder  Nicolaus  Marggraf.    Eine  komische  Ge- 
lte"; vgl.  ä.  313.  —  Für  ganz  vortrefflich  halte  ich  die  Charakteristik  Jean 
von  Gervinus  5*,  lit2  ff. 

I.  Onadfl«.  6*  Aall.  IV. W> 


940    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jalirbundcrts  bis  zu  Goethe's  Tod- 

§  343  „Octavianus",  der  IS04  erschien",  braclite  er  bis  zu  dem  eben  an- 
gegebenen Zeitabsebnitt  im  Ganzen  wenig  hervor  **:  ausser  einer  An-  ^ 
zahl  lyrischer  Gedichte  und  verschiedenen  dramatischen  Bruchstücken 
nur,  um  in  den  ^Phantasus"  aufgenommen  zu  werden,  einige  neue 
tnärchenhafte  Erzählungen  und  die  Dramatisierungen  des  Märchens 
vom  „Däumling*'  und  der  Geschichte  des  „Fortunat"  nach  dem  alten 
Volksroman*'.  Mit  dem  „Fortunat",  einem  seiner  grössten  und  ge- 
lungensten Werke,  beschloss  er  seine  ältere,  vorzugsweise  auf  die 
Bearbeitung  von  Märchen-  und  Sagenstoffen  geriehtete  Dicht^veise. 
Der  erste  Plan  zum  „Fortunat"  reichte  bis  in  das  Jahr  1800  zurtlek, 
an  die  eigentliche  Ausarbeitung  gieng  der  Dichter  aber  erst,  nachdem 
der  zweite  Band  des  „Phantasus"  fertig  geworden  war:  den  ersten 
Theil  der  Dichtung  vollendete  er  1815,  den  zweiten  im  darauf 
folgenden  Jahre.  Diesen  zweiten  Theil  hielt  er  selbst  ^fOr  die 
keckste  Aufgabe,  die  er  sich  in  dieser  Gattung  gesetzt "'^  £r  be- 
absichtigte nun,  seineJFlane  zu  vielen  Schauspielen  aus  der  deutschen 
Geschichte,  mit  denen  er  sich  bereits  seit  einiger  Zeit  getragen 
hatte,  auszufuhren,  wozu  es  aber  nie  kam",  mehrere  Jahre  ver- 
giengen,  bis  er  sich  zu  der  Novellendichtung  wandte*^,  der  er  sich 


28)  Vgl.  S.  5ti3  f.  20)  Womit  er  sich  in  der  Zeit  von  1S04  -IS2i)  son* 

literarisch  beschäftigte,  oder  was  seine  Productionskraft  lähmte,  ist  S.  554  ff.  ao- 
gegehen.  30)  Vgl.  S.  5f>f),  unten,  dazu  Tiecks  Schriften  1,  S.  XL!  ff-,  02^ 

Köpkc  in  Tiecks  Leben*  1,  34s  ff.,  wo  auch  einiges  Ober  die  Herkunft  der  ^toSe 
zu  den  beiden  neuen  Krzählungen,  »der  Liebeszauber^  und  ^der  Pok&l'.  ni:- 
gethcilt  ist.  3 1 1  Vgl.  die  brieflichen  Aeusserungen  Tiecks  und  Solgers  Qbr 

den  ..F'ortunat-  in  Solgers  nachgelassenen  Schriften  und   Briefwechsel  I.  4*!:' 
490  f.:  öOU:  ^^i^^  ff.:  hM\;  tjnß.  32)  Schon  im  Februar  Isi3,  als  der  rrfit' 

Theil  des  .Phantasus-  erschienen   war  und  die  grosse  Zeit   der  BefreiunsskrA'^ 
horanrürktc,  halte  er  an  Solger  geschrieben  (a.  a.  0.  1,  2i.li»>:  «Ich  fürchte,  ili*' 
manche  meiner  Freunde  mich  tadeln  werden,  dass  ich  in  so  wichtigen,  Wräcfl'^ 
Zeiten  die  Spiele  meiner  Jugend  wieder  vorsuche  und  nirgend  in  jenen  ahnofr- 
vollen  Ton  einstimme,  den  wir  jetzt  von  so  vielen  edlen  Geistern  liüreu.   Sie  wffi* 
nicht  zn  diesen  gehören,  auch  dünkt  mich  die  Sache  so  gross  und  emstbaft.  li»-* 
man  recht  ans  voller  Brust  darüber  sprechen  muss  —  was  jetzt  nicht  möglich  ist 
oder  gar  nicht,  am  wenigsten  gelegentlich.    Doch  sind   Plane   zu  vielen  >fJ-i-' 
spielen  aus  der  deutschen  Geschichte  in  meiner  Seele  fertig  und  ich  werde  i>' 
mit  besonderer  I^iehe  ausarbeiten,  um  meinen  Landsleuten  zu   zeigen.  diK  ü- 
mich  wohl  zu  ihnen  rechne.    Ilab'  ich  doch  fast  zuerst  mit  Triebe  von  der  »r- 
sehen  Zeit  gesprochen,  als  die  Meisten  noch  nicht  an  das  Vaterland  dachten  ^ 
es  schalten.    Jet^t  möchte  ich  gern  recht  schnell  den  Phantasus  bescUiw«' 
Ob  es  gerade  ^u  beklagen  ist,  dass  Tieck  diese  Plane  iiiclit  ausigcfOhrt  hit.  av^ 
ich  hezwcifehi:  denn  nach  allem,  was  er  gedichtet  hat.  scheint  er  mir,  he?«*"-'-' 
aller  seiner  tiefen  Kinsicht  in  das  Wesen  der  dramatischen  Kunst,  m  dfsi  ^^ 
baft  historischeu  Schauspiel,  ja  zu  dem  bühnengerechten  Drama  uberbauf'.  ^^ 
dichterischen  Beruf  cehabt  zu  haben.  33)  Ueber  diese  für  die  EntVK't*^'" 

unserer  schönen  Literatur  seit  den  zwanziger  Jahren  so  bedeutuncsvolle  W*?N- 


Entwickelimgsgang  der  Literatur.    1773—1832.    Tieck.  947 

Ton  da  ab,  bevor  er  sie  mit  dem  Roman  „  Vittoria  Accorombona "  im  J.  §  343 
1840  beschloss,  fast  ausschliesslich  widmete**.  Was  Tieck  unter  Novelle 
verstand,  wie  er  die  Idee  dieser  Dichtungsart  gefasst  wissen  wollte,  und 
wie  der  Dichter  dazu  in  den  Verhältnissen  der  Neuzeit,  in  dem  Leben 
der  Gegenwart  selbst  Stoffe  finden  kunne,  hat  er  selbst  auseinander- 
gesetzt^. „Die  Novelle",  sagt  er,  „sollte  nach  jenen  Meistern  (Boccazj 
Cervantes  und  Goethe)  sich  dadurch  aus  allen  andern  Aufgaben 
hervorheben,  dass  sie  einen  grossen  oder  kleinen  Vorfall  ins  hellste 
Licht  stelle,  der,  so  leicht  er  sich  ereignen  kann,  doch  wunderbar, 
vielleicht  einzig  ist.  Diese  Wendung  der  Geschichte,  dieser  Punkt, 
von  welchem  aus  sie  sich  völlig  unerwartet  völlig  umkehrt  und  doch 
natürlich,  dem  Charakter  und  den  Umständen  angemessen,  die  Folge 
entwickelt,  wird  sich  der  Phantasie  des  Lesers  um  so  fester  ein- 
prägen, als  die  Sache,  selbst  im  Wunderbaren,  unter  andern  Um- 
Btänden  wieder  alltäglich  sein  könnte. . . .  Bizarr,  eigensinnig,  phan- 
tastisch, leicht  witzig,  geschwätzig  und  sich  ganz  in  Darstellung  auch 
von  Nebenumständen  verlierend,  tragisch  wie  komisch,  tiefsinnig  und 
neckisch,  alle  diese  Farben  und  Charaktere  lässt  die  echte  Novelle 
zu,  nur  wird  sie  immer  jenen  sonderbaren,  auffallenden  Wendepunkt 
haben,  der  sie  von  allen  andern  Gattungen  der  Erzählung  unter- 
scheidet. Aber  alle  Stände,  alle  Verhältnisse  der  neuen  Zeit,  ihre 
Bedingungen  und  EigentbUmlichkeiten  sind  dem  klaren  dichterischen 
Auge  gewiss  nicht  minder  zur  Poesie  und  edlen  Darstellung  ge- 
eignet, als  es  dem  Cervantes  seine  Zeit  und  Umgebung  war,  und 
es  ist  wohl  nur  Verwöhnung  einiger  vorzüglichen  Kritiker,  in  der 
Zeit  selbst  einen  unbedingten  Gegensatz  vom  Poetischen  und  Un- 
poetischen anzunehmen.  Gewinnt  jene  Vorzeit  für  uns  an  roman- 
tischem Interesse,  so  können  wir  dagegen  die  Bedingungen  unseres 
Lebens  und  der  Zustände  desselben  um  so  klarer  erfassen.  Es  wird 
sich  auch  anbieten,  dass  Gesinnung,  Beruf  und  Meinung  im  Contrast, 
im  Kampf  der  handelnden  Personen  sich  entwickeln  und  dadurch 
selbst  in  Handlung  übergehen.  Diess  scheint  mir  der  echten  Novelle 
vorzüglich  geeignet,  wodurch  sie  ein  individuelles  Leben  erhält"  etc." 

die  von  Goethe  durch  die  Novellen  in  den  ^Unterhaltungen  deutscher  Ausge- 
wanderten", die  ^Wahlverwandtschaften"  und  einige  seiner  nachher  in  die  -Wander- 
jähre"  eingefügten  Erzählungen  schon  seit  Jahren  vorbereitet  war,  vgl.  oben  S.  937^ 
daza  Hettner  a.  a.  0.  S.  31  f.;  ISSfT.  34)  Ausserdem  verfasste  er  noch  zwei 

£rsählungen,  die  an  seine  altern  Lieblingsgegenstände  erinnerten,  .Fietro  von 
Abano,  Zaubergeschichte"  (1825),  und  .die  Klausenburg.  Gespenstergeschichte'^ 
(1637),  sehr  wenige  lyrische  Stücke,  einige  Prologe  und  einen  Epilog  für  Bühnen- 
vorstellungen und  verschiedene  Gclogenheitsgedichte.  35)  In  dem  Vorbericht 
Eitm  11.  Theü  seiner  Schriften  S.  LXXXVI  ff.  3C)  Ueber  Tiecks  Xovellen- 
poesie  vgl.  besonders  Köpke  a  a.  0.  2,  45  ff.  und  W.  Neumanns  Schriften  (Leipzig 
1836.     2  Bde.   S.)  1,  126  ff. 

60* 


04S    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  Ws  zn  Goetho's  Tod. 

§  3-lH  Leider  ist  die,  soweit  sich  darüber  nrtlieileu  lässt,  ircreifteste,  gelialt- 
reichste  inul  in  der  Ausführung  meisterhafteste  seiner  Novellen,  -der 
Aufruhr  in  den  Ccvonnen",  die  er  schon  1S'20  l)egann,  von  der  aber 
erst  sechs  Jahre  nachher  der  erste  Theil  erschien,  unvollendet  ge. 
blieben^.  —  Unter  den  Dichtem,  deren  Namen  erst  in  diesem  Jahr- 
hundert bekannt  wurden,  stand  wohl  keiner  an  innerer  Begabunir 
den  zeitherigen  Hauptvertretern  unserer  schönen  Literatur  naher  und 
war  keiner  mehr  dazu  berufen,  dieselbe  in  den  grossen  Gattungen, 
namentlich  in  der  dramatischen,  auf  dem  richtigsten  und  sichersten 
AVegc  in  ihrer  kunstmSssigcn  und  zugleich  volksthdmlichen  Ent- 
wickelung  zu  fordern,  als  Heinrich  von  Kleist.  Nicht  genug  zu 
bedauern  ist  es  daher,  dass  die  Ungunst  äusserer  Verbältnisse  schon 
frühzeitig  allzu  stOrend  in  seinen  Bildungsgang  eingritf,  und  dass, 
als  er  sich  seines  Dichterberufs  recht  bewusst  wurde  und  die  Idee 
seiner  ersten  dramatischen  Schr»pfung  in  ihm  aufgieug,  sein  ganzes 
Gemüthsleben  bereits  einen  zu  tiefen  Bruch  in  sich  erlitten  liatte,  als 
dass  sich  seine  i)0ctischen  Anlagen  in  ihrer  un verkümmerten  Fülle 
und  Knergie  hätten  entwickeln  und  zu  einer  vollkommen  gesunden 
Blüthc  herausbilden  können.  Diess  war  um  so  weniger  möglich,  je 
trauriger  —  freilich  nicht  ganz  ohne  seine  eigne  Schuld  —  seine 
spätem  Lebeusschicksale  waren,  und  je  mehr  sein  Inneres  davon 
•  zerrüttet  und  in  sich  getrübt  wurde.  So  tritt  denn  auch  in  fast 
allen  seinen  Dichtungen  dieser  Bruch  seines  ganzen  Wesens  nielir 
oder  weniger  als.  eine  die  innere  Harmonie  und  die  kunstmässige 
Geschlossenheit  eines  Ganzen  aufliebende  Üngleiehartigkeit  des  Be- 
soudern  herv4>r:  neben  dem  Schönsten  und  Ergreifendsten  das  Bizarr^ti- 
und  einem  wohltbuendeu  Gesammteindruek  Widcrstrchendste.  neben 


37 1  In  die  Reihe  der  S.  5ns  anirpführteii  grösseren    und  kleineren  Novt-u-;. 
sind  zwischen   „die  Gomühldo"   (zuerst  gedruckt  in  dem  von  Becker  gc^riin.it;T'r^ 
von  Ainad.  WcMidt  foi-tgesetzten  ..Taschenbuch  für  geselliges  Vcrguiiffeu-.  lAyU 
1S22)  und  den  Roman  -Vittoria  Aecorombona"  (Breslau  IS-JO.     2  Thlc.   ^.*  U"--' 
den  Jaliren.  in  welchen  sie  theils  einzeln.  theiU  in  Tasclienbüchom.  nameritlich  i- 
der  von  Brockhaus  verlegten  „Urania-,   theils  in  Tiecks  -KoveUcnkrauz-  iiiii  !-•- 
den  Sammlungen  seiner  Novellen  im  Druck  erschienen,  einzuschalten:  -dieRei.*ei' 
den-  (l*^'2:i),  -Musikalische  Leiden  und  PVeuden-  (1S24),  -die  Gesellschaft  atii  da 
Lande"  (!S2ri).  „(ilück  gibt  Verstand"  (IS27),   „der  fünfzehnte  November-  :' 
„der  Gelehrte"  (I*»2S),   „der  Alte  vom  Berge-  (1^2S),    _das  Kost   zu  Kenehforä 
Prolog  zum  Dichterleben"  MS2'<».  ..dasZaixberschloss- (IS.'U)^,  -dieWiindersüciiti!:^ 
..der  wiederkehrende  griechische  Kaiser"  (beide  1S31),  „der  Jahrmarkt-  unJ 
Ilexen-Sabbath*'  (1^32,   im   2.  Jahrg.  des  Novellenkranzes),    „der  Mondsü'.-ts^- 
<1S32).  „die  Ahnenprobe"  (IS:t3),  „eine  Sommerreise-  (IS34),    „das  alte  Buch  ii- 
die  Reise  ins  Blaue"  (1S35),  „Eigensinn  und  Laune"  (I83»i),   ^Wm^derlithJvviK' 
(1S37),   „des   Lebens   Uebei-fluss**   (1*^39),  „Waldeinsamkeit"   (l*i-in,  nebst  rr^ 
einigen  kleineren  und  wenig  bedeutenden  Erzählungen, 


Entwickelungsgang  der  Literatur.  1773— 1S32.    H.  v.  Kleist.    Uhland    949 

der  reinsten  und  greiflicbsten  Naturwahrheit  ein  Versteigen  in's  §  343 
Uebernatürliche  und  Mystische.  Gleichwohl  gehören  seine  drama- 
tischen Arbeiten,  vornehmlich  „das  Käthchen  von  Heilbronn",  und 
in  noch  höherem  Grade  „der  zerbrochene  Krug"  und  „der  Prinz  von 
Homburg",  nebst  mehreren  seiner  Erzählungen,  zu  dem  Vortreflf- 
lichsten,  was  in  der  deutschen  Dichtung  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
hervorgebracht  worden  ist,  und  was  noch  die  meiste  Berechtigung 
hat,  sich  den  voraufgegangenen  Meisterwerken  unserer  grössten 
Dichter  an  die  Seite  zu  stellen.  —  Kleists  dichterische  Thätigkeit, 
die  zum  allergrössten  Theil  in  die  Jahre  der  Fremdherrschaft  llber 
Deutschland  fiel,  reichte  nicht  mehr  bis  in  die  Zeit  der  Befreiungs- 
kriege. Von  den  jungem  Talenten,  die  in  ihren  Richtungen  den 
altem  Romantikern  mehr  oder  weniger  verwandt,  theils  schon  wäh- 
rend jener  Kriege,  theils  erst  späterhin  hervortraten  und  dann  zu 
Torzttgiichem  und  dauerndem  Ruhm  gelangten,  zeichnete  sich  in  rein 
lyrischen  und  lyrisch -epischen  Liedern  vor  allen  übrigen  Ludwig 
Uhland  aus  und  wurde  das  Haupt  einer  sich  um  ihn  bildenden 
schwäbischen  Dichterschule.  1787  zu  Tübingen  geboren,  besuchte  er  die 
Schule  seiner  Vaterstadt  und  studierte  auf  der  dortigen  Universität  seit 
1805  die  Rechtswissenschaft.  Er  widmete  sich  dann  der  Advocatur, 
wurde  1810  Doctor  der  Rechte  und  machte  in  demselben  Jahre  eine 
Reise  nach  Paris,  wo  er  die  Bibliotheken  für  seine  Studien  der  altfran- 
zösischen  Poesie  fleissig  benutzte,  als  deren  nächstes  Ergebniss  die 
Schrift  über  das  altfranzösische  Epos  1812  erschien^.  Seit  1812  practi- 
cierte  er  in  Stuttgart  und  wurde  auch  eine  Zeit  lang  im  Justizministerium 
beschäftigt.  Die  grossen  Bewegungen  der  Jahre  1813—1815  ergriffen 
ihn  aufs  mächtigste;  er  theilte  die  Begeisterung  für  die  Befreiung 
Deutschlands,  wenn  er  auch  nicht  mit  ins  Feld  zog.  Als  1815 
Würtemberg  eine  neue  Verfassung  erhalten  sollte,  trat  er  als  Sprecher 
für  die  alten  Rechte  und  für  die  Freiheiten  seines  Heimathlandes 
in  mannhaftem  Freimuth  mit  Liedern  hervor,  die  gleich  auf  fliegen- 
den Blättern  von  Hand  zu  Hand  giengen.  Seit  1819  wurde  er  nach 
einander  von  mehreren  Orten  zum  MitgUede  der  Ständeversammlung 
gewählt.  1829  ward  ihm  eine  ausserordentliche  Professur  der  deut- 
schen Sprache  und  Literatur  an  der  Universität  Tübingen  angetragen, 
die  er  annahm,  aber  schon  1833  wieder  niederlegte,  als  ihm  die 
Regierung  den  Urlaub  zum  Eintritt  in  die  Ständeversammlung  ver- 
weigerte. Sechs  Jahre  später  für  dieselbe  aufs  neue  gewählt,  lehnte 
er  die  Wahl  ab  und  lebte  nun  in  stiller  Zurückgezogenheit,  sich 
hauptsächlich  wissenschaftlichen  Arbeiten  und  daneben  der  Dicht- 
kunst widmend.     1848  und  1849   war  er  Mitglied  des  deutschen 

38)  Vgl.  I,  142  f.,  8'. 


950    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVin  Jahrhanderts  bis  za  6oethe*8  Tod. 

§  343  Parlaments,  in  welcliem  er  seinen  Platz  auf  der  Linken  nahm. 
Von  da  ab  hat  er  sich  nur  noch  wissenschaftlich  beschäftigt. 
Seine  frühesten  Gedichte  schreiben  sich  aus  dem  Jahre  1804  her". 
Seine  Liebe  zum  vaterländischen  Aiterthum  führte  ihn  schon  im 
Jünglingsalter  zu  ernster  Beschäftigung  mit  unserer  mittelalter- 
lichen Poesie  und  erweckte  in  ihm  den  Wunsch,  dass  ein  leben- 
diges Band  zwischen  unserer  poetischen  Vorzeit  und  unserer  neuem 
Dichtung  geknüpft  werden  möchte.  Bereits  1807  schrieb  er:  ^0 
dass  erschiene  die  Zeit,  da  zwischen  den  zwei  sonnigen  Beiden 
der  alten  und  der  neuen  deutschen  Poesie,  zwischen  denen  du 
Alter  der  Unpoesie  als  eine  tiefe  Kluft  hinabdämmert,  eine  befreun- 
dende Brücke  geschlagen  und  darauf  ein  frohes  Hin-  und  Herwandeln 
lebendig  würde!"".  Diesem  durch  sein  ganzes  nachheriges  Leben 
fortgeführten  Studium  der  altdeutschen  Poesie  verdanken  wir  seine 
Schrift  über  „Walther  von  der  Vogelweide**"  und  die  treffliche  Samm- 
lung der  „alten  hoch-  und  niederdeutschen  Volkslieder"**,  die  leider 
nicht  über  den  2.  Band  (1845)  hinauskam^.  Durch  den  Druck  be- 
kannt wurden  Gedichte  von  Uhland  zuerst  in  Seckendorfs  Musen- 
almanach für  die  Jahre  1807  und  1808;  andere  brachten  do 
„poetische  Almanach"  von  1812  und  der  „deutsche  Dicbterwald' 
(1813).  Die  erste  Sammlung  seiner  Gedichte  erschien  1S15^*,  die 
ausserordentlich  oft,  mit  neuen  Stücken  nach  und  nach  vermehrt, 
aufgelegt  worden  ist.  Als  Dramatiker  weniger  glflcklich,  denn  al* 
Lieder-  und  Balladendichter,  hat  er  nur  zwei  Schauspiele  geliefeit, 
die  aber  immer  noch  zu  den  bessern  und  besten  unter  den  gleiek- 
zeitigen  gehören:  „Herzog  Ernst  von  Schwaben " '*  und  „Ludwig' der 
Baier ^  '•.    Er  starb  am  13.  Nov.  1862".  —  Ebenfalls  als  gehalt-  'jcd 


39,)  Vgl.  das  Crtheil,  welches  über  die  ihm  im  J.  ISOS  handschriftlith  bekitrt 
gewordenen  Jiigeudlieder  Varnhagen  v.  Enßc  in  seinen  Denkwürdigkeiten  l.  Aw 
;t,  i»6  fällte.  Ut'ber  den  Einfluss  Goethe's  auf  Ühlands  Poesie  vgl.  die  Dis5*Ttat:a 
von  F.  Sintenis.  Dorpat  IS71.  h.;  vgl.  GGA.  1872,  S.  27**.  40)  Vgl.  Weir-jf 
Jahrbuch  5,  3a  ff.  41)  Vgl.  T,  2:>a,  4t'.  42)  Vgl.  I,  32(>,  ;V.         43' i: 

den  nach  seinem  Tode  herausgegebenen  „Schriften  zur  Geschichte  d.  Pichr^ 
und  Sage-.  Bd.  I--S  Stuttgart  1^65  ff.,  erschien  einlhcil  der  Anmerkan;je::  ::Ei 
der  Abhandlung  über  das  Volkslied.  44)  Stuttgart  und  Tübingen,   v 

45»  Heidelberg  IsiS.   8.  16)  Berlin  ISIO.    12.  AT)  Eine  Charakuriri' 

Uhlands  als  Dichter  gab  sein  Freund  Gustav  Schwab  in  dem  von  W.  Mf - 
herausgebeneu  Taschenbuch  -Moosrosen-.  Stuttgart  tS'20.  Xf,.  Von  d*ni  /a^* 
reichen  nach  seinem  Tode  erschienenen  Schriften  über  sein  Leben  und  P^a'-^ 
erwiihnc  ich  hier  nur:  ..Ludwig  Uhland.  Eine  Gabe  für  Freunde.  Zum  M.  A:^ 
1S65.  Als  Handschrift  gedruckt**  (von  der  Wittwe  des  Dichters)  •  K.  Mi?"' 
L.  Uhland,  seine  Freunde  und  Zeitgenossen.  Erinnerungen.  2  Pde.  Sta^'P''- 
\^iü.  S.;  Fr.  Nottcr,  L.  Uhland.  Sein  Leben  und  seine  Dichtungen  etc.  >^' 
gart  ist;:i.   S.,  und  0.  Jahn,  Ludwig  Uhland.    Mit  literar-histor.  Beilagrn    r^ 


EntwlckcIungBgaug  der  Literatur.    I77:i— is:i2.    Uhland.    Rockert.      95) 

'besondere  formreicher,  Uhland  jedoch  an  iDnigkeit  nacbstebeuder 
Lyriker  und  zugleich  als  sprachgewaltiger  Uebersetler  fremder 
Poeeieu  glänzte  Friedrich  Rüekeit.  Geboren  I7S9  zu  Scbwein- 
furt,  erhielt  er  seine  SchulbilduDg  auf  dem  dortigen  Gymnasium  und 
bezog  dann  die  Universität  Jena,  wo  er  sich  philologigcben  und 
holletristiscbeu  Studien  widmete  und  IS  11  sich  als  Privatdocent 
habilitierte.  Indess  gab  er  diese  Stellung  sehr  bald  auf  und  hielt  sich 
nuD|  ohne  ein  Amt  nachzusucbeni  an  verschiedenen  Orten  auf.    1815 

.gieng  er  nach  Stuttgart,   wo  er  bis  zu  einer  im  Anfang  des  Jahres 

'  ISIS  unternommenen  Reise  nach  Italien  sich  an  der  Herausgabe  des 
^Morgenblattes"  betheiligte.  In  Italien  brachte  er  fast  ein  Jahr  zu 
und  beschriftigte  sich  dort  viel  mit  italienischer  Dichtung,  vornehm- 
lich mit  dem  Volksgesange.    Nach  seiner  Rttckkehr  liess  er  sich  in 

[Coburg  nieder  und  verwandte  hier  die  meiste  Zeit  auf  das  Studium 
niorgenländischer  S[)rachen,  besonders  der  pei*sischen  und  arabischen. 
1826  wurde  er  als  Professor  der  orientalischen  Sprachen  und  Litera- 

ttureu  nach  Erlangen  berufen  und  IS-M,  mit  dem  Titel  eines  Geheimen 
Begierungsraths,  als  Professor  an  der  Berliner  Universität  angestellt. 
Indessen  war  seine  Lehrerthätigkeit  hier  nur  von  kurzer  Dauer:  an- 

pfänglich  brachte  er  zwar  nur  die  Sommermonate  auf  seinem  Landsitz 
Keusess  iu  der  Nähe  von  Coburg  zu,  aber  bald  lebte  er  ganz  in  dieser 
ZurHckgezogenbeit.  Er  starb  in  Neusess  den  31.  Januar  IS66.  Rflckert 
trat  zuerst  unter  dem  Namen  Freimund  Raimar  im  J.  1S14  mit 
, deutschen  Gedichten"  auf",  w(trin  die  durch  die  damaligen  vater- 
ländischen Verhältnisse  hervorgerufenen  „gehai-nischten  Sonette"  mit 

.enthalten  waren.    Auch  noch  unter  dem  angenommenen  Namen  gab 

'er  tlan  erste  Stück  seiner  ppolitisohen  Komödie  Napoleons''  lieraus**. 
Seinen  wahren  Namen  setzte  er  zuerst  dem  ^ Kranz  der  Zeit**"*  vor. 
Es  folgton  „Oestlicho  Rosen"",  die  sich  dem  Inhalt  und  Geiste  nach 
lunilchst  an  Goetlie's  Lyrik  im  , westöstlichen  Divan"*  anschlössen; 
„Amaryllis.  Ein  ländliches  Gedicht  ^'^^^  eine  Jugendarbeit  aus  dem 
J.  1*512;  „Gesammelte  Gedichte""    worin  der  .,Liebe8fröhliug''  be- 


Ä  343 


I^P^3.  S.  (Die  Beilagen  bestehen  in  einer. Nachlese  zu  den  Gedichten**.  ^Aul'sätsea 
'  aus  dem  Sountagsblait"  ivon  1M»T),  -Briefen",  -politischen  Reden  und  Aufsätzen" 
und  einem  -chronologischen  Verzeichniss  der  Gedichte"».  IThlaud  als  Gelehrten 
^•charakterisiert  am  besten  der  Briefwecheeh  zwischen  J.  Krhrn.  v.  Lassberg  und 
f'hland.  herausgg.  v.  Pfeiffer.    Wien  1S70,   v  4S)  Heidelberg  >. 

1^1  Stutt^rt  isit).   S.;   das  zweite  erschien  IStS;   ein   drittes,   das  noch  folgen 
»Ute«  ist  meines  Wissens  ausgeblieben.  50)  Als  zweiter  Band  seiner  .dent- 

:hen  Gedichte-,  Siuttg.  I8i7.   9.  51 1  Leipzig  1^22.   S.  b2\  frank- 

•t  a.  M    \S-lh.   S.  5;<)  I.  Bd.    Erlangen  l<^34.  s..  in  3.  Auflage  ISD^.  und 

lie  folgenden  h  BAnde  bis  zum  J.  I83S;  eine  Auswahl  in  2  Bünden.    Franki'.  1S4I. 
12. 


052    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrhunderts  bis  zu  Goethe's  Tod. 

34^  sonders  BcUonc  Stücke  enthält.  Zweier  seiner  Uebersetzungen  oder 
Bearbeitungin  inorgenhlndiscber  Diebtungen  ist  bereits  oben*'  ge- 
dacht worden.  Was  er  sonst  in  langer  Reibe  von  erzählenden, 
lyrischen,  didaktischen  und  dramatischen  Stücken  entweder  selbst 
gedichtet  oder  bear])eitet  bat,  fällt  alles  nach  dem  J.  1S32  und 
braucht  hier  um  so  weniger  besonders  aufgeführt  zu  werden,  je 
mehr  das  Meiste  darunter  seinen  frühem  Sachen  an  Werth  nach- 
steht^-'. —  Nicht  geringere  Sicherheit  und  Gewandtheit  in  allem 
Formellen  poetischer  Darstellung  als  Rttckert  bewies  August  Graf 
von  Platen-Hallormünde.  Geboren  1796  zuAusbach,  verdankte 
er  seine  häusliche  Erziehung  bis  in  sein  zehntes  Lebensjahr  vor- 
nehmlich seiner  Mutter,  die  ihm  frOl>  und  mit  gutem  Erfolg  Ge- 
schmack für  LectUre  einauflössen  suchte.  Schon  damals  zeigte  er 
eine  grosse  Neigung  für  dramatische  Stücke  und  erfand  selbst  allerlei 
von  Hexen-  und  Zaul)erT\'eseu  wimmelnde  Komödien  in  Knittelversen. 
Von  den  Eltern  für  den  Soldatenstand  bestimmt,  wurde  er  1S06  der 
Cadettcnanstalt  zu  München  übergeben,  wo  er  vier  Jahre  blieb  und 
sodann  in  das  königl.  baierische  Pageninstitut  (Ibertrat.  Hier  bfr 
schäftigte  er  sich  besonders  mit  der  Leetüre  römischer  und  griechi- 
scher Schriftsteller,  mit  dem  Italienischen  und  Englischen  und  mit 
vaterländischer  Geschichte.  1S14  trat  er  als  Lieutenant  in  iks 
königl.  Leibregiment  und  machte  1S15  den  Feldzug  nach  Frankreicb 
mit.  Seine  Neigung  zum  Reisen,  die  ihm  immer  eigen  blieb,  fübne 
ihn  nach  seiner  Rückkehr  aus  dem  Felde  zunächst  1816  in  die 
Schweiz;  einen  grossen  Theil  des  folgenden  Jahres  brachte  er  in 
den  baicrischcn  Gebirgen  zu.  Um  sich  eine  gründlichere  und  um- 
fassendere wissenschaftlielie  Bildung  anzueignen,  begab  er  sich  ISl'' 
nach  Wilrzburg  und  anderthalb  Jahre  später  nach  Erlangen,  wo  ihs 
die  Gegenwart  Schellings,  dessen  Haus  er  in  München  schon  nh 
Kind  besuclit  hatte,  und  der  nun  besonders  anregend  auf  ihn  wirkte, 
bis  zum  J.  1S2G  festhielt.  Unterdessen  machte  er  aber  verschiedene 
Reisen  durch  Deutschland  und  die  Schweiz,  auf  welchen  er  mit 
Knebel,  Jean  Paul,  Uhland,  Schwab  und  Rückert  in  Verbindung 
trat.  Die  Bekanntschaft  mit  Rückert  und  Goethes  « westostliche: 
Divan-  führten  ihn  zum  Studium  der  ])ersischen  Sprache  und  zu* 
Gaselen-Dichtung'''.     Während  eines  Aufenthalts   in    Venediir  im  •'■ 


54i  S.  0X51..  74.  *in.  55)  Rückerts  gesammelte  poetische  Werke crsdiiti;-: 
Frankfurt  1^(17- Oi).  12  Bde.  s.:  dazu:  Aus  Fr.  Rückorts  Naclüass-  Heraus^'^: 
von  Heinr.  Rückert.  Leipzig  1S07.  S.:  Lieder  und  Sprüche  aus  dem  IvriM-^' 
Nachlass.  Frankfurt  a.  M.  ls6T.  S.  An  einer  genügenden  Darsteihm^  »■■'^ 
Rückerts  Dichterwirksamkeit  fehlt  es  noch,  56)  Die  ersten  Gaselen  sini  i'- 

dem  J.  lyii. 


EntttickeluugBgang  der  Literatur.     1773 — 1S32.    PUton 


953 


1&24  entstanden  seine  „vcnetianisehen  Sonette".    Da  er  jedoch  damals  §  343 
«ocb  in  einem  jrewissen  Militarverbando  stand  und  in  Venedig  die 
ibm  gewährte  Urlaiihszeit  niclit  inne  g:ehalten  hatte,  so  musste  er 
dafür  IS25  eine  Zeit  lang  in  Nürnberg  als  An-estant  hüseen.    Schon 
früher  hatte  er  seine  ersten,   nachher  in  Druck   gregebenen  Schau- 
spiele gedichtet   (ausser  einem  kleinen  Nachspiel,   ^dic   neuen  Pro- 
»phclen"    IS17,   und    dem   Fragment  „Mathilde   von   Vah>is'*,    IS19, 
waren  es  „der  gläserne  Pantoffel",  1823,  „der  Schatz  des  Rampsinit", 
1824,  „Berengar",  IS2I),  auf  die  nun  zwei  neue,  die  wälirend  seines 
I       Aufenthalts  in  Nürnberg  erfunden  waren,  folgten  («der  Thurni  mit 
^■sieben  Pforten"  und  «Treue  um  Treue^i.    Alle  zeithengen  drama- 
^^  tischen  Sachen  Platens  waren  in  moderner  Form  abgcfasst;  die  Form 
der  aristophanischen  Komödie  dagegen  wählte  er  und  handhal)te  sie 
mit  dem  grössten  Geschick  und,  was  das  Metrische  betraf,  mit  wahrer 
Meisterschaft  in  seiner  „  verhängnissvollcn  Grabcl"*".  einem  satirischen 

i Lustspiel,  das  gegen  den  damals  mit  den  Schicksaistnigödieu  ge- 
triebeneu Unfug  gerichtet  war.  Nach  Herausgabe  dieser  Dichtung 
gieng  er  nach  Italien,  wo  er  sechs  Jahre  ununterbrochen  blieb'.  Die 
ineiete  Zeit  verweilte  er  in  Neapel  und  in  Rom,  dazwischen  machte 
er  vielfaltige  Reisen  durch  das  Land,  um  eich  ein  vollstflndiges  Bild 
der  italienischen  Kunstschulen  und  die  Anschauung  berühmter  histo- 
riacher  Oertlichkcitcn  zu  verschaffen.  Durch  eine  Kritik  Imraer- 
inanns  verletzt,  beg-ann  Platen  in  ähnlicher  Form,  wie  die  ».der  ver- 
liängnissvollen  Gabel",  1S27  sein  satirisches  Lusts])iel  „der  roman- 
tische Oedipus**,  das  er  aber  erst  im  nftchsten  Jahre  vollendete. 
Ebenfalls  noch  in  Italien  entstanden  seine  epische  Dichtung  rdie 
»Abassiden"  (l*i29i'^  und  seine  historische  Schrift  ^Geschichten  des 
Königreichs  Neapel"  (IS31).  Unterdessen  war  er  im  J.  182S  zum 
ausserordentlichen  Mitgliede  der  Münchener  Akademie  der  Wissen- 
schaften ernannt  worden.  Der  Tod  seines  Vaters  rief  ihn  in  die 
Heimath  zurück.  Unterwegs  dichtete  er  mehrere  kleinere  Sachen  in 
elegischem  Versmass  und  in  München  binnen  wenigen  Tagen  sein 
geschichtliches  Drama  ^die  Liga  von  Cambi-ai"  llS32)".  Das  Jahr 
1833  und  die  ersten  Monate  des  folgenden  hielt  er  sich  thoils  in 
Venedig,  theils  in  München  auf.  Im  April  1S34  gieng  er  wieder 
nach  Italien,  und  im  nächsten  Jahre  trieb  ihn  die  Furcht  vor  der 
Cholera  nach  Sicilien,  wo  ihn  zu  Syracus  ein  heftiges  Fieber  ergrift, 
dem  er  im  Deccmber  erlag'*".    Mit  grosser  Formgewandtheit  verband 


57)  Stutt^rt  1S26.  8.  58l  Zuerst  gedruckt  in  dem  zoWien  erscbieaeuen 
Taschenlmch  .Vrsta-,  JahrRMiR  1S:U,  59)  Gedruckt  Frankfurt  a.  M    )S:\3 

liO)  Die  Sammlung  seiner  Werke,  welche  K.  Ooodeke  besorgte  und  mit  einer 
Lebensbeschreibung  des  Dichters  Legleitete«  erschien  nnter  dem  Titel  „GesAmmelte 


1 
/      1 


954    VI.  Vom  zweiten  Viertel  des  XVIII  Jahrbunderts  bis  zu  üoethe's  Tod. 

§  343  Platen  ein  reiches  und  scbüncs,  nur  mit  zu  grosser  Selbstächätzun 
Bieh  geltend  machendes  productivcs  Talent,  das  er  in  allen  drei  Haup 
gattun^en  der  Poesie  bewährte.  -  -  Den  drei  Genannten  kann  da« 
noch  als  würdigster,  mit  dem  gründlichsten  Ernste  in  seiner  dicht 
risehen  Ausbildung  vorstrebender  Kunstgenosse  Karl  Immerman 
beigestellt  werden.  179Ö  zu  Magdeburg  geboren,  erhielt  er  seil 
Schulbildung  auf  einem  der  Gymnasien  seiner  Vaterstadt  und  sti 
dierte  dann  seit  \%V.\  nach  der  Bestimmung  seines  Vaters  die  Rech 
in  Halle.  Seine  Absicht,  schon  an  dem  ersten  Feldzuge  gegen  d: 
Franzosen  Theil  zu  nehmen,  kam  wegen  eines  heftigen  Nervenfiebei 
das  ihn  ergriff,  nicht  zur  Ausführung;  erst  IS15  trat  er  wirklich  i 
die  Reihen  der  freiwilligen  Jäger  ein.  Nach  Beendigung  des  Krieg* 
I  kehrte  er  zu  den  Unirersitätsstudien  zurück.    Als  Student  gab  er  eii 

i  Schrift  -über  die  Streitigkeiten  der  Studierenden  in  Halle"''  herau 

j  welche  die  Entrüstung  der  damaligen  Burschenschaften  in  solche 

!  Grade  erregte,  dass  sie  bei  der  berüchtigten  Feier  des  Wartburgfesti 

1  mit  verbrannt  wurde.    Nachdem  er  bei  den  Gerichten  in  Magdebui 

als  Aüscultator  und  Referendar   gearbeitet  hatte,    wurde    er   1S3 
I  Auditeur    in    München    und    1S27    Landgerichtsrath    in    üüsscldoi 

t  Seine  in  ihm  früh  erwachte  Liebe  zur  Dichtkunst  und  sein  lebhaftf 

)  lutere^^se  an  der  Schauspielkunst  führten  ihn  nicht  allein  zur  AI 

I  fassung  einer  bedeutenden  Anzahl  dramatischer  Stücke,  sondern  rei 

anlassten  ihn  auch,  in  Düsseldorf  eine  Zeit  laug  die  Verwaltung  ik 
Theaters  zu  Übernehmen.     Mit   dem   rastlosesten  Eifer    und    tiefe 
Einsicht  in  das  Wesen  und  die  Bestimmung  der  dramatischen  Kait 
arbeitete   er,    bei   sehr   mangelhafter  Unterstützung    durch   äusse 
Mittel,  daran,   in  der  von  ihm  geleiteten  Bühne  eine  Musteraiwt; 
für  die  deutsche  Schauspielkunst  zu  begründen.    Indess   überzeu 
er  sich  zuletzt,  dass  dem  Gelingen  seiner  Bestrebungen  unühers? 
liehe  Hindernisse  entgegenstanden,  und  so  trat  er,   nicht  ohue 
'  deutende  eigene  Verluste,  von  dem  Unternehmen  zurück.     Im  v.V 

kräftigsten  Mannesalter,  als  er  eben  an  seinen  ^Memoral'i 
schrieb,  wurde  er  im  Sommer  ISIO  von  einem  Schlagflussc  bctr 
der  seinen   schnellen  Tod  zur  Folge  hatte.    Inimermann   hat 


AVcrIce  des  <7rat"oii  August  von  Platon.   lu  tiint'  Haiutcn".   Sumirin-t  •ind'' 
1*»13.    12.    Dazu  kam,  aU  f».  iiml  7.  Ittl..   ..IVictisclu/v  uiui  litoransriior 
ilfs  Gr.  A.  V.  r.   Gesammelt  und  InTausj!t>ir.  von  .1.  MiinUwitz*-.    I.tij./ii; 
Zu  soinfT  Lc'bons^rcschichte  vtl.  ..Piatons  Tai^rlmch.     IT'.hi -1  •>.>.>■■     sri; 
Augsburg  \^M.    ^.    7a\  seiner -Cliaraktm-tik:   .Toli.  Marbaeli.  Plattrs  r 
üer  Kntwickfiung  der  deutschen  Xatioiialliti'ratiir.  im  Weimar.  ..lalirl-u^!; 
und  J.  L.  Iloffmaun.  Platens  Stelluntr  zur  Literatur,  im  Albuui  »1.  ]i:f-: 
in  Nürnberg  !^:.T,  S.  {."il— 2:t:..  Ol)  Leipzig  I^IT. 


Tiol,  besonders  im  dramatiscben  Fach,  gedichtet";  indess  wandte  er 
,     BJcb  erst  nach   dem  Beginn   der  dreiesiger  Jabre  derjenigen   poeti- 

■«cben  Gattung  zu,  für  wclcbe  er  den  meisten  Beruf  batte,  und  worin 
«r  auch  das  Höchste  geleistet  hat,  dem  Roman,  während  ron  Beinen 
dramatischen  Arbeiten,  so  sehr  manche  aucli  die  meisten  gleichzeitigen 
Schauspiele  an  innerem  Werthe  und  an  Kunstform  Überragten,  doch 
keine  mit  seinem  „•Müncbhausen''  auf  gleiche  Linie  gestellt  werden 
kann.  —  Was  sonst  noch  Ober  die  (restaltung  unserer  schönen  Lite- 
ratur, insbesondere  Über  die  Entwickolung  ihrer  einzelnen  Gattungen 
und  Arten  während  der  Jahre,  die  zwischen  Schillers  und  Goethe's 
bde  liegen,  zu  sagen  ist,  bleibt  mit  der  Aufführung  derjenigen 
Schriftsteller,  die  hierbei  noch  vomehmlicb  in  Betracht  kommen,  für 
den  fünften  Abschnitt  vorbehalten.  —  Dass  während  derselben  Zeit 
in  den  Wissenschaften  sieb  eine  ganz  ausserordentliche  Regsamkeit 
zeigte  und  mehrere  in  ihrer  Ausbildung  auf  eine  bewundernswürdige 
Weise  rasch  vorwärts  schritten,  ist  im  Allgemeinen  bereits  oben  an- 
gemerkt worden".  Näheres  darüber  wird  im  sechsten  Abschnitt 
beigebracht  werden. 


I 


k62l  Sein  erstes  Stück  waren  «die  Prinzen  von  Sjrractis.    Roraantisckes  Lust- 
Spiel".   Hamm  1821.   ^.;  darauf  folgten  „Trauerspiele"  < „das  Thal  von  Rouceval". 
pEdwin".  .Petrarca").    Hamm  1S22.   8.;    .König  Periander  und  sein  Haus.    Ein 
Trauerspiel-.    Bonn    1823.   8.;   -das   Auge  der   Liebe.    Ein   Lustspiel**.    Hamm 
IS2-4.  s.;  ..Cardeniü  nnd  Gelinde.   Trauerspiel-  (vgl.  Bd.  H.  §231.  Anm.  Ti.    Berlin 
1520     gr.  \'l.;    -das   Trauerspiel   in  Tyrol.     Dramatisches   Ciediclit".     Hamburg 
1827.   K.   (neu  bearbeitet  als  ..Andreas  Hofer,  Sandwirth  von  Passeyr.    Trauer- 
>iell:  ,die  schelroische  Gr&fin.   Lustspiel-  (182"  im  Jahrb.  deutscher  Narhspiele. 
[7.  Jahrg..  dann  in  Immermauns  .Miacellen".    Stuttgart   l^'My.   8  |;  ,dic  Verklei- 
langen.    Lustspiel'*.   Hamburg   IS2*».   8.;  -Kaiser  Friedrirh  der  Zweite.    Trauer- 
ipiel**.     Hamburg    1828.   S.;   „die  Schule   der   Frommen.    Lustspiel-,    Stuttgart 
E1820.   8.;   ..Alexis.   Eine  Trilo^ie-.   Dttsseldorf  IS»2.   8.:   -Merlin.   Eine  Mythe-. 
KlBseldorf  18;i2.   8.;   -die  Opfer  des  Schweigens.    Trauerspiel-  (im  3.  Jahrgange 
iücs  Tuschenbuchs  dnimatischer  Originalien.    Leipzig   1837  ff.   8.t,  nebst  einigen 
Kleinigkeiten.     Von    seineu    erzählenden    Pichtungen   erschienen    .Tulifiinti'hen. 
Ein  (komisches)  Heblengediclit  in  drei  OesÄngen".    Hamburg  I8:i0.  8.;  der  Roman 
.»die  Kpigonen.   Fainilionmemoiren  in  neun  Büchern ".    Düsseldorf  I8.1ß.  3Thlc.  8.; 
der  -Miiuchhausen.     Kine  Geschichte  in  Arabesken-.    Düsseldorf  I83s  f.  8..  und 
.Tnatan   nnd  Isolde.    Gedicht  in  Romanzen-  (unvollendet).   Düsseldorf  1841.    \ 
Von  seinen  übrigen  Schriften  iKrzahlungen.  lyri.iche  («edicbte,   Dramaturgisches 
u.  A.)  sind  die  merkwürdigsten  das  „Reisejoumal-.    Dtlsseldorf  I83:i   h..   und  die 
.Memorabilien".    Hamburg  iMii  —  l.i.   A  Thle.   8.    Eiuc  Sammlung  seiner  lausge- 
wibllen)  Schriften  erschien  xu  Düsseldorf  l^M.i— 43.    U  Bande.   8.    Vgl.  über  ihn 
.,K.  Immermana,  sein  Leben  und  seine  Werke,  aus. Tagebüchern  und  Briefen  an 
•seine  Familie  zusammengestellt'*  (herausg.  vooG.  zu  Putlitzi.  2  Bde.  Berlin  IHTO.  s. 
lUeber  sein  Verhültniss  zu  Tieck  vgl.  K.  Köpke  2,  84  f.  und  dazu  2,  2üt(  f. 
i\:u  Vgl.  Bd.  HI.  :u  f.;  :n.